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Full text of "Vom Ewigen im Menschen. Bd 1, Religiöse Erneuerung"

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VOM  EWIGEN  IM 
MENSCHEN 


VON 


MAX    S  C  HELE  R 


ERSTER   BAND 
RELIGIÖSE  ERNEUERUNG 


LEIPZIG   1921 


VERLAG  DER  NEUE  GEIST /DR.  PETER  REINHOLD 


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Copyright  by  Der  Neue  Geist -Verlag,  Leipzig.  I9'9 


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Vorrede 


Das  Werk,  dessen  erster  Band  —  durch  die  widrigen  Zeitumstände 
erheblich  verspätet  — ^  hiermit  der  Öffentlichkeit  übergeben  wird, 
enthält  Abhandlungen  und  Studien,  die  im  wesentlichen  Pro- 
blemen der  Ethik  und  Religionsphilosophie  gewidmet  sind;  teils 
sind  sie  entstanden  als  Vorarbeiten  für  größere  systematisch-zu- 
sammen  hängen  de  Werke,  die  der  Verfasser  unter  der  Feder  hat| 
teils  sollen  sie  dasjenige,  was  er  in  solcl^  gegeben  hat  (besonders 
in  seinem  Buche  »Der  Formalismus  in  OTr  Ethik  und  die  materiale 
Wertethik*,  Halle  191 6},  weiterführen  und  auf  bestimmte  Sach- 
gebiete  anwenden.  Die  Aufsätze  über  »Reue  und  Wiedergeburt  *» 
über  die  »Christliche  Gemeinschafts-  und  Liebesidee«,  »Über  das 
Wesen  der  Philosophie«,  >Über  den  kulturellen  Wiederaufbau 
Europas^  sind  (hier  nur  wenig  verändert)  früher  in  den  Zeitschriften 
»Summa <^  und  j«- Hochland«  erschienen.  Neu  geschrieben  ist  der 
zweite  größere  Teil  des  Buches  über  »Religiöse  Erneuerung«, 
der  versucht,  Richtlinien  zur  Begründung  und  zum  Verständnis 
der  Religion  zu  entwerfen. 

Der  Gesamttitel  ^' Vom  Ewigen  im  Menschen-^  soll  andeuten, 
daß  der  Verfasser  aufrichtig  bemüht  ist,  seinen  geistigen  Blick  zu 
erheben  über  die  Stürme  und  Gischte  dieser  Zeit  —  in  eine  reinere 
Atmosphäre,  und  ihn  zu  richten  auf  das  im  Menschen,  wodurch  er 
Mensch  ist,  das  heißt»  wodurch  er  am  Ewigen  teil  hat.  Die  Gnade, 
staunend  und  beglückt  im  Ewigen  zu  ruhen  und  das  sonstige 
Leben  nur  aufzufassen  als  einen  verwickelten  Pfad  zu  diesem 
hohen  Ziele,  wird  nur  Wenigen  zuteil.  Der  Verfasser  will  sich  hier 
begnügen  mit  dem  Minderen,  zu  zeigen,  wie  aus  den  Quellen  des 
Geistes  im  Menschen,  in  denen  Göttliches  und  Nurmenschliches 
zusammen  strömt,  der  Forderung  der  Stunde  zu  genügen  sei,  so 
daß  eine  *  Vita  nuova«  denen  wieder  möglich  werde,  die  am  tief- 
sten an  dieser  Zeit  gelitten  und  gekrankt  haben.  Das  ist  als  Frage 


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2  Vorrede. 

das  geistige  Band,  das  die  hier  veröfTentlichten  Abhandlungen 
zusammenschließt.  Damm  durfte  auch  ein  Aufsatz  wie  jener  über 
den  3fr Kulturellen  Wiederaufbau  Europas«  wohl  hier  mit  er- 
scheinen. 

Einen  schlechten  Begriff  vom  »Ewigen«  hätte  derjenige,  der 
nur  den  Gegensatz  zum  Abfluß  der  Zeit  in  ihm  begreifend,  nicht 
auch  in  der  individuellsten  Forderung  der  Stunde  an  das  Indi- 
viduum die  leise  Stimme  der  Ewigkeit  herauszuhören  vermöchte. 
Das  wahre  Ewige  schließt  nicht  die  Zeit  von  sich  aus,  liegt  nicht 
neben  ihr  —  es  umfaßt  auf  zeitlose  Weise  der  Zeiten  Inhalt  und 
Fülle  mit  und  durchdringt  sie  in  jedem  ihrer  Augenblicke. 

Darum  darf  das  Ewige  kein  Asyl  sein,  in  das  man  flieht,  weil 
man  Leben  und  Geschicl)|e  nicht  mehr  ertragen  zu  können  meint. 
Und  das  wären  schlechte  *  Aeternisten«,  die  nur  aus  Geschichts- 
flucht sich  der  Idee  des  Ewigen  hingäben.  Erhebliche  Gruppen 
junger  Menschen  sind  gegenwärtig  von  solchen  Fluchttendenzen 
bestimmt.  Die  Einen  fliehen  in  die  Mystik  des  Überhistorischen, 
die  Anderen  in  die  nebenhistorische  Idylle  des  Landes,  der  Blumen 
und  der  Sterne,  die  wenigst  Erfreulichen  in  die  unterhistorische 
Sphäre  der  Lust  des  Augenblicks  als  den  Gegenpol  des  Ewigen. 
Diese  Tendenzen,  die  er  zwar  versteht,  möchte  der  Verfasser 
nicht  fordern.  Die  Geschichte  anerkennen,  sie  sehen  in  ihrer  har- 
ten Realität  —  aber  sie  zu  speisen  aus  derii  Borne  des  Ewigen, 
ist  angemessener  als  sie  fliehen.  — 

Mit  einem  Versuche  j  das  große  Gewissensphänomen  der  Reue 
eindringender,  als  es  bisher  geschah,  zu  analysieren,  beginnt  der 
erste,  der  philosophischen  und  religiösen  Gedankenbewegung 
gewidmete  Band  des  Werkes  darum,  weil  es  unter  den  sittiich- 
religiösen  Akten  im  Menschengeiste  keinen  gibt,  der  diesem  Zeit- 
alter so  angemessen  und  für  es  so  fruchtbar  sein  dürfte  als  der  Akt 
der  Reue.  Sie  allein  verheißt  mögliche  Wiedergeburt. 

Die  Abhandlung  über  die  Religion  knüpft  nur  lose  an  die 
Gegenwart  an.  Sie  übergibt  der  Öflfentlichkeit  zum  ersten  Male 
einige  Früchte  der  religionsphilosophischen  Gedankenarbeit,  die 
den  Verfasser  seit  vielen  Jahren  beschäftigte  —  die  ersten  Funda- 
mente des  systematischen  Bau 's  einer  »natürlichen  Theologie«. 


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Vorrede.  3 

Der  Verfasser  hält  diese  Fundamente  bei  allem  erwarteten  Wider- 
spruch für  gesicherter  als  die  überlieferten  und  auch  für  geeignet, 
vom  heutigen  Menschen  tiefer  verstanden  und  besser  gewürdigt 
zu  werden  als  die  traditionellen  Systeme  der  Religionsbegründung, 
die  entweder  mehr  auf  Thomas  Aquinas  oder  auf  Kant  und  Schleier- 
macher beruhen.  Es  ist  —  analog  dem,  was  Kant  den  »Skandal 
der  Philosophie«  genannt  hat  —  ein  »Skandal  der  Theologie  und 
Philosophie«  zugleich ,  daß  die  Fragen  der  natürlichen  Theologie, 
d.  h.,  daß  eben  Das,  was  über  die  positiven  Glaubensgegensätze 
hinweg,  die  Geister  zu  einen  bestimmt  ist,  sie  eher  noch  tiefer 
scheidet  als  die  konfessionellen  Gegensätze  selbst;  daß  femer,  was 
an  Gotteserkenntnis  der  spontanen  Vernunft  in  jedem  Menschen 
allein  soll  verdankt  werden  und  bloße  Tradition  und  Offenbarung 
ebendamit  begrenzen  soll,  am  meisten  in  nur  traditionellen 
Lehrsystemen  gepflegt  wird.  Der  Verfasser  ist  der  tiefen,  hier 
nicht  zu  begründenden  Überzeugung,  daß  weder  auf  dem  Boden 
der  Philosophie  des  Thomas  Aquinas  noch  auf  dem  Boden  der 
durch  Kant  eingeleiteten  philosophischen  Periode  die  natürliche 
Gotteserkenntnis  je  wieder  diese  einende  Aufgabe  zii  erfüllen 
vermag. 

Sie  wird  sie  nur  erfüllen,  wenn  sieden  Kern  des  Augustinismus 
von  seinen  zeitgeschichdichen  Hüllen  befreit  und  mit  den  Ge- 
dankenmitteln der  phänomenologischen  Philosophie  neu  und 
tiefer  begründet;  d.  h.  der  Philosophie,  die  die  Wesensgrund- 
lagen alles  Daseins  mit  gereinigten  Augen  zu  schauen  untei^ 
nimmt  und  die  Wechsel  einlöst,  die  eine  allzuverwickelte  Kultur 
auf  sie  in  immer  neuen  Symbolen  gezogen  hat.  Dann  wird  sie 
jenen  unmittelbaren  Kontakt  der  Seele  mit  Gott  inmier  klarer 
aufweisen,  den  Augustin  mit  den  Mitteln  des  neuplatonischen 
Denkens  an  der  Erfahrung  seines  großen  Herzens  inmier  neu 
aufzuspüren  und  in  Worte  zu  fassen  bemüht  war.  Nur  eine  Theo- 
logie der  Wesenserfahrung  des  Göttlichen  vermag  für  die 
verlorenen  Wahrheiten  Augustins  die  Augen  wieder  zu  öffnen. 

Eine  ausgeführte  systematische  Philosophie  der  Religion  soll 
das  hier  Gegebene  nicht  bilden.  Sie  muß  einer  Arbeit  der  Zukunft 
vorbehalten  bleiben.  Besonders  ist  das  eigendiche  System  der 


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4  Vorrede* 

Erweisarten  des  Daseins  Gottes  hier  nicht  so  entwickelt,  wie  wir 
es  uns  denken,  sondern  nur  in  gewissen  Teilen  gegeben. 

Der  zweite  und  dritte  Band  des  Werkes  wird  in  stetiger  Weise 
weitergedruckt  und  beide  Bände  werden  —  wie  wir  hoffen  —  in 
Kürze  erscheinen.  Der  zweite  Band  wird  züm  Hauptstück  eine 
Abhandlung  geben,  die  bestimmt  ist,  die  Ethik  des  Verfassers 
zu  vervollständigen.  Sie  soll  die  Bedeutung  erwägen,  die  das 
persönliche  Vorbild  in  allen  seinen  Abarten  für  das  moralische 
und  reUgiöseSein  der  Menschen  und  fiir  die  geschichtlichen  Ver 
änderungen  der  Ethosformen  besitzt.  Der  dritte  Band  wird  vor 
altem  das  Verhältnis  von  Liebe  und  Erkenntnis  (die  histo- 
rischen Typen  der  Lehren  von  diesem  Verhältnis  sind  vom  Ver- 
fasser in  einer  älteren  Abhandlung  verfolgt  worden)  rein  sachlich 
und  systematisch  behandeln  und  soll  ein  letztes  Fundament 
geben  für  eine  »Soziologie  des  Erkennens«,  die  der  Verfasser 
später  systematisch  vorzulegen  beabsichtigt, 

Philosophie  —  wie  der  Verfasser  sie  versteht  —  soll  syste* 
matisch  sein  —  aber  ein  ^System«  geben,  das  nicht  auf  der 
Deduktion  aus  wenigen  einfachen  Grundsätzen  beruht,  sondern 
seine  Nahrung  und  seinen  Gehalt  aus  der  eindringenden  Analyse 
der  verschiedenen  Gebiete  des  Daseins  und  des  gerstigen 
Lebens  immer  neu  erwirbt:  Ein  System,  das,  nie  geschlossen, 
wächst  im  Leben  und  durch  des  Lebens  immer  neue  gedanken- 
mäßige Verarbeitung, 

Ein  System  ist  entweder  ein  Geschenk  von  Gnaden  der  Fülle 
und  Einheit  der  Person,  die  philosophiert,  oder  es  ist  ein  künst- 
liches Gemachte  des  willkürlichen  Verstandes.  Auf  ein  »System« 
der  letzteren  Art  wird  ,der  Verfasser  auch  weiterhin  verzichten. 
Aber  es  wäre  die  Schuld  des  Lesers,  nicht  wahrzunehmen,  was 
die  hier  veröffentlichten  Abhandlungen  dazu  beitragen,  den  ein- 
heitlichen  systematischen  Gedankenkomplex  des  Verfassers,  nach 
einigen  Punkten  hin,  zu  enthüllen. 

Köln,  17.  Oktober  1920 

Max  Scheler 


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Reue  und  Wiedergeburt 

In  den  Regungen  des  Gewissens^  in  seinen  Warnungen, 
Beratungen  und  Verurteilungen  nimmt  das  geistige  Auge 
des  Glaubens  von  jeher  die  Umrißlinien  eines  unsichtbaren, 
unendlichen  Richters  wahr.  Diese  Regungen  scheinen  wie 
eine  wort  freie,  natürliche  Sprache,  die  Gott  mit  der  Seele 
redet,  und  deren  Weisungen  das  Heil  dieser  individuellen 
Seele  und  der  Welt  betreffen.  Es  ist  eine  Frage,  die  hier 
nicht  entschieden  sei :  ob  es  überhaupt  möglich  ist,  die  be- 
sondere Einheit  und  den  Sinn  der  sogenannten  » Gewissens  *  - 
regungen  von  dieser  Deutung  als  einer  geheimen  >  Stimme« 
und  Zeichensprache  Gottes  so  abzulösen,  daß  die  Einheit 
dessen,  was  wir  ^Gewissen*  nennen,  überhaupt  noch  fort- 
bestände. Ich  bezweifle  es  und  glaube  vielmehr,  daß  ohne 
die  Mitgewährung  eines  heiligen  Richters  in  ihnen  diese 
Regungen  selbst  in  eine  Mannigfaltigkeit  von  Vorgängen 
(Gefühlen,  Bildern,  Urteilen)  zerfielen  und  daß  für  ihre  Ein- 
heitsfassung überhaupt  kein  Grund  mehr  vorläge.  Auch 
scheint  es  mir  keines  eigentlichen  deutenden  Aktes  zu 
bedürfen,  um  der  seelischen  Materie  dieser  Regungen  die 
Funktion  erst  zu  verleihen,  dadurch  sie  einen  solchen  Rich- 
ter präsentieren.  Sie  selbst  üben  von  sich  her  diese  Gott  prä- 
sentierende Funktion  aus,  und  es  bedarf  umgekehrt  eines 
Augenschließens  undWegsehens,  um  diese  Funktion  nicht 
in  ihnen  selbst  mitzuerleben.  Wie  sich  Farben-  und  Ton- 
erscheinungen, anders  als  Schmerz  und  Wollust,  nicht  als 
bloße  Empfindungszustände  unsers  Leibes  geben  (die  ein- 


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6  Reue  und  Wiedergeburt. 

fach  das  sind,  was  sie  sind),  sondern  von  Hause  aus  sich 
geben  als  gegenständliche  Phänomene,  die  ohne  ihre  Funk- 
tion, uns  mit  ihrem  eignen  Gehalt  zugleich  Kundschaft  von 
den  Gegenständen  einer  wirklichen  Welt  zu  bringen,  gar 
nicht  »empfunden«  sein  können  —  so  wohnt  auch  diesen 
Regungen  von  Hause  aus  die  Sinnbezüglichkeit  auf  eine 
unsichtbare  Ordnung  inne  und  auf  ein  geistig-persönliches 
Subjekt,  das  dieser  Ordnung  vorsteht.  Und  so  wenig  uns 
von  der  ausgedehnten  Roterscheinung  der  roten  Kugel 
auf  deren  Existenz  ein  »Kausalschluß«  führt,  so  wenig 
auch  von  diesen  Regungen  ein  »Kausalschluß«  auf  Gott. 
Aber  in  beiden  Fällen  präsentiert  sich  etwas  im  Er- 
geben, was  dem  präsentierenden  Material  transzendent  ist, 
aber  gleichwohl  in  ihm  miterfaßt  wird.  — 

Von  diesen  Regungen  des  Gewissens  ist  die  Reue  die- 
jenige, die  sich  wesentlich  richtend  verhält  und  auf  die 
Vergangenheit  unsers  Lebens  sich  bezieht. 

Ihr  Wesen,  ihr  Sinn,  ihr  Zusammenhang  mit  unserm 
ganzen  Leben  und  seinem  Ziele,  ist  von  der  ddsordre  du 
coeur  der  Gegenwart  so  abgründig,  so  tief  und  so  häufig 
verkannt  worden,  daß  es  nötig  ist,  durch  eine  Kritik  der, 
meist  überaus  billigen  und  oberflächlichen,  modernen 
Theorien  über  ihren  Ursprung,  Sinn  uud  Wert  freien  und 
festen  Boden  für  ihre  positive  Wesensbestimmung  zu  ge- 
winnen. — 

Fast  ausschließlich  pflegt  die  moderne  Philosophie  in 
der  Reue  einen  nur  negativen  und  gleichsam  höchst  un- 
ökonomischen, ja  überflüssigen  Akt  zu  sehn  —  eine  Dis- 
harmonie der  Seele,  die  man  auf  Täuschungen  verschie- 
denster Art,  auf  Gedankenlosigkeit  oder  auf  Krankheit 
zurückführt. 


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Reue  und  Wiedergeburt.  7 

Wenn  der  medizinische  Laie  an  einem  Körper  Aus- 
schläge, Eiterbildungen,  Beulenbildungen  oder  die  mit 
Wundheilungen  verknüpften  wenig  anziehenden  Umfor- 
mungen von  Haut  und  Gewebe  wahrnimmt,  so  vermag 
er  zumeist  nichts  mehr  als  Symptome  von  Erkrankungen 
darin  zu  sehn.  Erst  der  pathologische  Anatom  kann  ihm 
im  einzelnen  zeigen,  daß  diese  Erscheinungqj  gleichzeitig 
höchst  kunstvolle  und  verwickelte  Wege  sind,  in  denen  sich 
der  Organismus  von  gewissen  Giften  befreit,  um  sich  au! 
diese  Weise  selbst  zu  heilen;  ja  daß  durch  sie  häufig  Schä- 
digungen schon  vorher  gesteuert  werde,  die  der  Organis- 
mus ohne  ihr  Auftreten  erlitte.  Schon  das  einfache  Zittern 
ist  nicht  nur  ein  Symptom  des  Frierens,  sondern  auch  ein 
Mittel,  uns  warm  zu  machen.  Unsre  Natur  enthält  eigen- 
artige Stufen  ihres  Seins,  die  nicht,  wie  flache  Monismen 
wollen,  auf  eine  einzige  zurückzuführen  sind:  Geist,  Seele, 
Leib,  Körper.  Aber  gleichwohl  finden  sich  auf  den  drei 
ersten  Stufen  Gesetzmäßigkeiten,  die  eine  tiefe  Analogie 
untereinander  aufweisen.  Auch  die  Reue  hat  neben,  ja 
infolge  ihrer  negativen,  verwerfenden  Funktion  eine  posi- 
tive, befreiende,  aufbauende.  Nur  dem  oberflächlichen 
Blicke  erscheint  Reue  als  bloßes  Sympton  irgendwelcher 
innem  Disharmonie  unsrer  Seele  oder  gar  als  unnützer  Bal- 
last, der  uns  mehr  lähmt  als  fördert.  Man  sagt:  Fixiert  uns 
nicht  die  *Reue  an  eine  Vergangenheit,  die  doch  fertig  ist 
und  imabänderlich,  und  deren  Inhalt  —  wie  die  Deter- 
ministen hervorheben  —  doch  eben  so  sich  abspielte,  wie 
sie  sich  bei  voller  Gegebenheit  aller  Ursachen  unsers  be- 
reuten Verhaltens  abspielen  mußte.  »Nicht  bereuen,  son- 
dern besser  machen«,  ruft  uns  daher  ein  joviales  Bürger- 
wort jnit  dem  Lächeln  gutmütiger,  wohlwollender  Ent 


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8  Reue  und  Wiedergeburt* 

rüstung  nu  Nicht  nur  ein  > unnützer  Ballast*  soll  nach 
diesem  Urteil  die  Reue  sein;  ihr  Erleben  beruhe  auch 
noch  auf  einer  Art  eigentümlicher  Selbsttäuschung.  Diese 
^1  bestehe  nicht  nur  darin,  daß  wir,  gleichsam  uns  stemmend 
gegen  vergangenes  Wirkliches,  den  absurden  Versuch 
machen^  dieses  Wirkliche  aus  der  Welt  herauszuwerfen  und 
die  Richtung  des  Zeitflusses  umzukehreUj  in  der  unser 
Leben  fortfließt;  sie  bestehe  auch  darin,  daß  wir  das  Ich, 
das  die  Tat  bereut,  heimlich  mit  dem  Ich  gleichsetzen,  das 
die  Tat  vollbrachte,  während  doch  das  Ich  durch  die  see- 
lischen Vorgänge  seit  der  Tat,  ja  durch  die  Tat  selbst 
und  ihre  Nachwirkungen,  ein  bei  aller  Selbigkeit  des  Ich 
inhaltlich  andres  geworden  sei.  Weil  wir  jetzt  die  Tat 
unterlassen  zu  können  meinen^  bilden  wir  uns  —  sagt 
man  -^  die  Möglichkeit  ein,  sie  auch  damals  unterlassen 
haben  zu  können,  als  wir  sie  taten.  Ja  noch  mehr,  meinen 
andre,  wir  verwechseln  im  Reueakt  das  Erinnerungsbild 
der  Tat  mit  der  Tat  selbst.  Der  Schmerz,  das  Leiden, 
die  Trauer,  welche  die  Reue  einschließt,  sie  haften  ja  an 
diesem  Bilde;  sie  haften  nicht  an  der  Tat,  die  so  still  und 
stumm,  —  und  nur  beredt  für  den  Verstand  in  ihren  Wir- 
kungen, von  denen  auch  dieses  Bild  noch  eine  Wirkung 
ist  —  hinter  uns  liegt.  Aber  indem  wir  nun  dieses  gegen- 
wärtige Bild  der  Erinnerung  an  die  Zeitstelle  und  an  die 
Stelle  der  Tat  überhaupt  zurückverlegen ,  scheint  uns  die 
Tat  selbst  mit  jenem  Charakter  umkleidet,  der  nur  eine 
Gefühlsreaktion  auf  dieses  ihr  gegenwärtiges  Bildwirken 
list, — In  solch  *psychologistischer<  Weise  hat  zum  Beispiel 
^  '  auch  Nietzsche  die  Reue  als  eine  Art  innerer  Täuschung 
zu  erklären  gesucht.  Der  bereuende  Verbrecher,  meint  er, 
könne  das  >  Bild  seiner  Tat  *  nicht  ertragen,  und  er  ^  ver- 


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Reue  und  Wiedergeburt.  9 

leumde  *  seine  Tat  selbst  durch  dieses  ^  Bild  * .  Die  Reue 
läßt  Nietzsche,  wie  das  *  schlechte  Gewissen  <  überhaupt^ 
dadurch  entstanden  sein,  daß  durch  Staat,  Zivilisation, 
Recht  einst  eingedämmte^  früher  gegen  Mitmenschen  frei 
ausgewirkte^  Begierden  des  Hasses,  der  Rache j  der  Grau- 
samkeit und  des  Wehtuns  aller  Art  sich  nun  gegen  den 
Lebensstoff  ihres  Trägers  selbst  zurückwenden  und  an 
ihm  sich  befriedigen.  »In  friedlichen  Zeiten  fällt  der  kriege- 
rische Mensch  über  sich  selber  her.  *  Etwas  weniger  »wild* 
als  diese  Hypothese  ist  die  Vorstellung,  die  Reue  sei  etwas 
wie  Rache  an  sich  selber^  respektive  Selbstvergeltung,  eine 
bloße  Fortbildung  einer  Art  von  Selbstbestrafung,  die  in 
ihrer  primitivsten  Form  nicht  notwendig  nur  als  *böse< 
Gewertetes  treffen  muß,  die  auch  in  Ausdrücken  wie  » Ich 
könnte  mir  die  Haare  ausraufen,  daß  ich  dies  getan  habe«, 
» ich  könnte  mich  ohrfeigen «  stattfindet^  wenn  der  Erfolg 
zeigt,  daß  man  gegen  seinen  Vorteil  gehandelt  oder  sonst 
etwas  »falsch«  gemacht  hat  Wird  der  Rachetrieb  eines 
Geschädigten  B  gegen  den  Schädiger  A  durch  Sympathie 
eines  Dritten  C  mit  dem  Geschädigten  (später  durch  Über- 
nahme dieser  Rolle  des  Dritten  C  durch  Staat  und  Obrig- 
keit) also  durch  einen  gleichsam  entindividualisierten  Ver- 
gekungstrieb  abgelöst,  so  ließe  sich  denken^  daß  solcher 
bei  allem  »Unrecht«  einsetzende  Vergeltungsimpuls  sich 
dieses  eben  gekennzeichneten  Selbstbestrafungstriebes  be- 
mächtigtej  daß  also  auch  dann  Vergeltung  gefordert  wird, 
wenn  man  selber  der  Verüber  der  Untat  oder  des  Unrechts 
istj  w^elche  Vergeltung  fordern.  Man  bemerkt,  daß  man 
in  dieser  Theorie  den  Willen  zu  Genugttmng  und  Buße 
als  früher  ansieht  wie  die  eigentliche  Reue,  und  in  ihm 
nicht  so  sehr  eine  Folge  der  Reue  erblickt  als  t^lmehr 


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I  o  Reue  und  Wiedergeburt. 

*ihre  Ursache.  Reue  wäre  hiernach  ein  verinnerlichter 
Bußwille.  —  Endlich  erwähne  ich  noch  drei  vielbeliebte 
»moderne  Ideen«  über  die  Reue:  die  Furchtdieorie,  die 
»Kater «-Theorie  und  jene  Auffassung  der  Reue  als  einer 
seelischen  Krankheit,  die  von  pathologischer  Selbst- 
anklage, Selbstverletzung  und  von  Erscheinungen  wie 
»wollüstigem  Herumwühlen  in  den  eignen  Sünden«, 
kurz  von  irgendeiner  Art  von  geistiger  Leidenssucht 
nur  dem  Grade,  nicht  aber  dem  Wesen  nach,  verschieden 
sei. 
ii  !  Die  Furchttheorie  ist  wohl  die  in  der  Theologie,  Philo- 
sophie und  Psychologie  der  Neuzeit  verbreitetste  Vor- 
stellung. Hiemach  ist  die  Reue  » Nichts  als « (solche » Nichts- 
ais «-Form  haben  ja  die  meisten  »modernen«  Theorien) 
»eine  Art  Wunsch,  man  möchte  etwas  nicht  getan  haben«, 
welcher  Wunsch  in  einer  gleichsam  objektios  gewordenen 
Furcht  vor  irgendeiner  möglichen  Bestrafung  fundiert  ist. 
Also  ohne  ein  vorhergehendes  Strafsystem  auch  keine 
Reue !  Nur  das  Fehlen  einer  bestimmten  Vorstellung  von 
dem  Strafübel,  dem  Strafenden,  der  Strafprozedur,  der 
Strafart,  von  dem  Orte  und  der  Zeit  des  Strafaktes  macht 
hiemach  den  Unterschied  des  in  der  Reue  liegenden 
Angstgefühls  von  der  gewöhnlichen  Furcht  vor  Strafe 
aus.  Die  Reue  wäre  hiemach  genetisch  ein  Nachklang 
früherer  Bestrafungserfahmngen,  aber  so,  daß  die  Mittel- 
glieder der  Assoziationskette  zwischen  Handlungsbild  und 
erfahrenem  Strafiibel  ausgefallen  sind;  vielleicht  ist  sie, 
wie  der  Darwinist  noch  gem  hinzusetzt,  eine  dem  Indi- 
viduum schon  angeerbte,  feste  Assoziationsbahn  zwischen 
den  beiden  Dingen.  Reue  wäre  hiemach  die,  zu  einer  Art 
Konstitution    gewordene    Feigheit,    die   Folgen    seiner 


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Reue  and  Wiedergeburt  I  i 

Handlungen  auf  sich  zu  nehmen,  und  zugleich  eine 
gattungsnützliche  Schwäche  der  Erinnerung. 

Sie  wäre  nicht  ein  Hinweis  auf  einen  götdichen  Rich- 
ter. Sie  wäre  vielmehr  die  verinnerlichte  Polizei  von 
gestern. 

Der  andern  Auffassung  der  Reue,  der  »Katertheorie«, 
begegnet  man  in  der  Philosophie  etwas  seltner,  um  so 
häufiger  im  praktischen  Leben.  Die  Reue,  meint  man,  sei 
in  primitivster  Form  ein  Depressionszqstand,  der  durch 
das  Nachlassen  der  die  Handlung  begleitenden  Spann- 
kräfte und  durch  die  eventuellen  schädlichen  und  unlust- 
vollen Nachwirkungen  der  Handlung  einzutreten  pflegt. 
Reue  sei  von  Hause  aus  also  eine  Art  »moralischer 
Kater«,  der  freilich  nachträglich  durch  das  Urteil  eine 
»höhere«  Ausdeutung  finde.  Insbesonders  Exzesse  in  der 
Befriedigung  sinnlicher  Triebe  (im  Essen,  Trinken,  Ge- 
schlechtsverkehr, Wohlleben  usw.)  und  ihre  depressiven 
Nachwirkungen  bildeten  hiemach  die  Grundlage  für  eine 
traurige  Gemütslage,  in  der  wir  nachträglich  diese  Exzesse 
verwerfen;  »Omneanimal  post  coitum  triste«  und  »junge 
Huren,  alte  Betschwestern« .  Die,  zweifellos  richtige,  Beob- 
achtung, daß  auch  außerhalb  dieser  Sphäre  des  Gesund- 
heitsschädlichen andere  Mißerfolge  zur  Reue  disponieren, 
bildet  eine  weitere  scheinbare  Stütze  für  diese  Auffassung. 

Für  alle  diese  angeführten  Ansichten  ist  natüriich  die 
Reue  ein  ebenso  sinnloses  wie  zweckloses  Verhalten.  Be- 
sonders das  Prädikat  »zwecklos«  ist  das  beliebteste,  mit 
dem  sie  von  der  Menge  heutiger  Menschen  abgetan  wird. 
Feiner  Gebildete  setzen  noch  hinzu,  daß  Reue  nicht  nur 
zwecklos  sei,  sondern  »schädlich«,  da  sie  nur  tat-  und 
lebenshemmend  wirken  könne  und  ähnlich  wie  die  pure 


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Reue  und  Wiedergeburt, 


Vergeltungsstrafe  eine  Unlust  einschließe,  die  sich  keines- 
wegs durch  ihre  Leistungskraft,  die  Lustsumme  des  ganzen 
Lebens  zu  vergrößern  j  legitimieren  könne.  Denn  wenn 
Reue  auch  zuweilen  zu  guten  Vorsätzen  und  zur  Besse- 
rung anrege,  so  sei  sie  doch  hierzu  nicht  notu^endig  und 
könne  im  Laufe  dieses  Prozesses  sehr  wohl  übersprungen 
werden.  Und  was  solle  gar  eine  Reue  am  Ende  des  Lebens, 
kurz  vor  dem  Tode,  wo  sie  doch  mit  besondrer  Kraft  ein- 
zusetzen  pflege, ^wenn  ihr  doch  nichts  als  zuweilen  diese 
bessernde  Bedeutung  zukomme?  Viel  eher  als  bessernd 
aber  wirke  sie  auch  schon  während  des  Lebens  lebens- 
hemmend, indem  sie  uns  an  eine  unabänderliche  Ver- 
gangenheit festkette. 

Alle  diese  Erklärungen  und  Anklagen  der  Reue,  von 
Spinoza  über  Kant  bis  auf  Nietzsche  beruhn  auf  schweren 
Irrtümern.  Die  Reue  ist  weder  ein  seelischer  Ballast  noch 
eine  Selbsttäuschung^  sie  ist  weder  ein  bloßes  Symptom 
seelischer  Disharmonie  noch  ein  absurder  Stoß,  den  unsre 
Seele  gegen  das  Vergangene  und  Unabänderliche  ausfuhrt. 

Im  Gegenteil  ist  die  Reue,  schon  rein  moralisch  gesehn^ 
eine  Form  der  Selbstheilung  der  Seele,  ja  der  einzige 
Weg  zur  Wiedergewinnung  ihrer  verlorenen  Kräfte.  Und 
religiös  ist  sie  noch  weit  mehr:  der  natürliche  Akt,  den 
Gott  der  Seele  verlieh,  um  zu  Ihm  zurückzukehren,  wenn 
sich  die  Seele  von  Ihm  entfernte. 

Eine  der  Hauptursachen  des  Verkennens  des  Wesens 
der  Reue  (und  eine,  die  allen  den  genannten  *  Erklärungen« 
zugrundeliegt)  ist  eine  falsche  Vorstellung  über  den  Innern 
Strukturzusammenhang  unsers  geistigen  Lebens.  Man 
kann  die  Reue  gar  nicht  voll  verstehn,  ohne  sie  in  eine 
tiefere  Gesamtanschauung   der  Eigentümlichkeit  unsers 


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Eeti€  und  Wiederig^eburt.  j  \ 

Lebensabflusses  im  Verhältnis  zu  unsrer  feststehenden 
Person  hineinzustellen.  Das  tritt  sogleich  herv^or,  wenn 
man  den  Sinn  des  Arguments  untersucht,  daß  Reue  der 
sinnlose  Versuch  sei,  ein  Vergangenes  ungeschehen  zu 
machen.  Wäre  unser  persönliches  Dasein  eine  Art  Strom, 
der  in  derselben  objektiven  Zeit,  in  der  sich  die  Natur- 
ereignisse abspielen,  gleich  diesem  Strome,  wenn  auch 
mit  anderm  Inhalt,  dahinrauscht,  so  möchte  dieser  Rede 
Berechtigung  zukommen.  Kein  Teil  dieses  Stromes  der 
»nachher«  ist,  könnte  dann  auf  einen  Teil,  der  »vorher« 
istj  sich  zurückbeugen  oder  an  ihm  irgendeine  Änderung 
bewirken.  Aber  im  Gegensatz  zu  diesem  Abfluß  der  Ver- 
änderungen und  Bewegungen  dei*  toten  Natur  —  deren 
*2eit«  ein  einförmiges  Kontinuum  einer  Dimension  von 
einer  bestimmten  Richtung  ist  ohne  die  Dreiteilung  von 
Gegenwart,  Vergangenheit,  Zukunft  —  sind  uns  im  Er- 
lebnis eines  jeden  unsrer  unteilbaren,  zeitlichen  Lebens- 
niomente  Struktur  und  Idee  des  Ganzen  unsers  Lebens 
und  unsrer  Person  mitgegenwärtig.  Jeder  einzelne  dieser 
Lebensmomente j  der  einem  unteilbaren  Punkt  der  objek- 
tiven Zeit  entspricht^  hat  in  sich  seine  drei  Erstreckungen 
der  erlebten  Gegenwart^  der  erlebten  Vergangenheit  und 
Zukunft,  deren  Gegebenheit  sich  in  Wahrnehmung,  un- 
mittelbarer Erinnerung  und  unmittelbarer  Erwartung  kon- 
stituiert. Vermöge  dieser  wunderbaren  Tatsache  ist  zwar 
nicht  die  Wirklich keitj  wohl  aber  der  Sinn  und  der  Wert 
des  Ganzen  unsers  Lebens  in  einem  jeden  Zeitpunkt  un* 
sers  Lebens  noch  in  unsrer  freien  Machtsphäre.  Nicht 
nur  über  unsre  Zukunft  verfügen  mr;  es  gibt  auch  keinen 
Teil  unsers  vergangenen  Lebens,  der  —  ohne  daß  freilich 
die  in  ihm  beschlossene  Komponente  von  bloßer  Natur- 


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1 4  Reue  und  Wiedergeburt. 

Wirklichkeit  ebenso  frei  zu  verändern  stünde  wie  jene  der 
Zukunft  —  nicht  in  seinem  Sinn-  und  Wertgehalt  noch 
wahrhaft  abänderlich  wäre,  indem  er  als  Teilsinn  zu  einer 
(immer  möglichen)  neuartigen  Einreihung  in  den  Gesamt- 
sinn unsers  Lebens  gebracht  wird.  Denken  wir  uns  unsre 
Erlebnisse  bis  zu  einem  bestinuxjten  Zeitpunkt  als  die  Teile 
einer  Linie  V — Z,  welche  ein  Stück  der  objektiven  Zeit 
darstelle.  Dann  steht  es  nicht  so,  wie  in  der  toten  Natur, 

R 

V- 


a  b  c  d  e  f  g 

daß  b  durch  a,  c  durch  b,  d  durch  c  usw.  jeweilig  ein- 
deutig determiniert  wären.  Es  ist  g,  das  letzte  Erlebnis, 
vielmehr  prinzipiell  durch  die  ganze  Reihe  R  determiniert, 
und  es  vermag  im  besonderen  jedes  der  Erlebnisse  a  b 
c  d  e  auf  g  und  auf  jedes  der  noch  folgenden  Erlebnisse 
wieder  *  wirksam«  zu  werden.  Das  zurückliegende  Erleb- 
nis vermag  solches,  ohne  daß  es  selbst,  oder  ein  soge- 
nanntes »Bild«  von  ihm  zuerst  als  Teilgebilde  in  den 
vor  f  unmittelbar  vorhergehenden  Zustand  g  eingehen 
müßte.  Da  nun  aber  die  Vollwirksamkeit  eines  Erleb- 
nisses im  Lebenszusammenhang  zu  seinem  vollen  Sinn 
und  seinem  endgültigen  Wert  mitgehört,  so  ist  auch 
jedes  Erlebnis  unsrer  Vergangenheit  noch  wertunfertig 
und  sinnunbestimmt,  so  lange  es  nicht  alle  seine  ihm 
möglichen  Wirksamkeiten  geleistet  hat.  Erst  im  Ganzen 
des  Lebenszusammenhanges  gesehn,  erst  wenn  wir  ge- 
storben sind  (bei  Annahme  eines  Fortlebens  aber  nie- 
mals) wird  so  ^in  Erlebnis  zu  jener  sinnfertigen,  »unver- 
änderlichen« Tatsache,  wie  es  die  in  der  Zeit  zurück- 
liegenden Naturereignisse  von  Hause  aus  sind.  Vor  un- 
serm  Lebensende  ist  alle  Vergangenheit,  wenigstens  ihrem 


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Reue  und  Wiedergeburt.  I  c 

Sinngehalte  nach,  immer  nur  das  Problem:  was  wir  mit 
ihr  anfangen  sollen.  Denn  schon,  indem  ein  Teil  jdes 
objektiven  Zeitinhalts  zu  unsrer  Vergangenheit  wird,  d.  h. 
indem  er  in  diese  Erstreckungskategorie  des  Erlebens 
eingeht,  wird  er  jener  Fatalität  und  Fertigkeit  beraubt, 
welche  abgeflossene  Naturvorgänge  besitzen.  Als  Ver- 
gangenheit wird  dieser  Zeitinhalt  »unser«,  wird  er  unter- 
geordnet der  Macht  der  Person.  Maß  und  Art  der  Wirk- 
samkeit jedes  Teiles  unsrer  »Vergangenheit«  auf  den 
Sinn  unsers  Lebens  stehn  also  zu  jedem  Zeitpunkt  unseres 
Lebens  noch  in  unsrer  Macht.  Dieser  Satz  gilt  für  jede 
»Tatsache«  vom  Wesen  des  »historischen  Tatbestandes«, 
sei  es  des  Einzellebens,  sei  es  des  Lebens  der  Gattung  oder 
der  Weltgeschichte.  Der  » historische  Tatbestand « ist 
unfertig  und  gleichsam  erlösbar.  Gewiß  ist  alles,  was 
am  Tode  Caesars  den  Ereignissen  der  Natur  angehört, 
so  sehr  fertig  und  invariabel  wie  die  Sonnenfinsternis,  die 
Thaies  vorhersagte.  Aber  das,  was  davon  »historischer 
Tatbestand«  ist,  also  das,  was  Sinn  und  Wirkungseinheit 
im  Sinngeflechte  der  menschlichen  Geschichte  an  ihm  ist, 
das  ist  ein  unfertiges  und  erst  am  Ende  der  Welt- 
geschichte fertiges  Sein. 

Unsre  Natur  hat  nun  aber  wunderbare  Kräfte  in  sich, 
um  sich  der  fernem  Wirksamkeit  eines  oder  des  andern 
Gliedes  der  Erlebnisreihe  unsrer  Vergangenheit  zu  ent- 
binden. Schon  diese  Funktion  unsers  Geistes,  die  man 
gemeinhin  fälschlich  für  einen  Faktor  hält,  der  Vergangen- 
heit erst  zur  Wirksamkeit  in  unserm  Leben  bringe,  die 
klare,  gegenständliche  Erinnerung  des  betreffenden  Er- 
eignisses ist  eine  dieser  Kräfte.  Denn  eben  das,  was  auf 
Gund  des  oben  auseinandergesetzten  Prinzips  psychischer 


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1 6  Reue  und  Wiedergeburt. 

Wirksamkeit  geheimnisvoll  in  uns  fortlebt  und  fortwirkt, 
eben  das  wird  durch  die  Distanziierung,  durch  die  Ver- 
gegenständlichung, durch  die  feste  Lokalisierung  und 
Datierung,  die  der  kühle  Erkenntnisstrahl  vornimmt,  in 
dem  Lebensnerv  getroffen,  der  die  Kraftquelle  des  Er- 
innerungsaktes ist  für  seine  Wirksamkeit.  Vermöchte  der 
fallende  Stein  an  einer  bestimmten  Phase  seines  Falls 
sich  der  vorhergehenden  Phase  zu  erinnern  —  die  ihn 
jetzt  nur  determiniert,  die  folgende  Phase  nach  einem  be- 
stehenden Gesetze  zu  durchfallen  —  das  Fallgesetz  wäre 
sofort  aufgehoben.  Denn  Erinnerung  ist  schon  der  An- 
fang der  Freiheit  von  der  dunkeln  Gewalt  des  erinner- 
ten Seins  und  Geschehens.  Erinnertwerden  —  das  ist 
eben  die  Art,  wie  Erlebnisse  von  unserm  Lebenskem 
Abschied  zu  nehmen  pflegen;  es  ist  die  Art,  wie  sie  sidi 
aus  dem  Zentrum  des  Ich,  dessen  Gesamthaltung  zur 
Welt  sie  vorher  mitbedingten,  entfernen,  und  in  der  sie 
ihre  bloße  Stoßwirksamkeit  einbüßen;  es  ist  die  Art, 
wie  sie  für  uns  ersterben.  So  wenig  ist  Erinnerung  also 
ein  Glied  im  sogenannten  »Flusse  einer  psychischen 
Kausalität«,  daß  sie  vielmehr  diesen  Fluß  unterbricht 
und  Teile  seiner  zum  Stehn  bringt.  So  wenig  vermittelt 
sie  die  Wirksamkeit  unseres  früheren  Lebens  auf  unsre 
Gegenwart,  daß  sie  vielmehr  aus  der  Fatalität  dieser  Wirk- 
samkeit uns  erlöst.  Die  gewußte  Geschichte  macht  uns 
frei  von  der  Macht  der  gelebten  Geschichte.  Auch  die 
Geschichtswissenschaft  ist  gegenüber  der  durch  die  Kräfte 
der  sogenannten  Tradition  zusammengehaltenen  Folge- 
einheit menschlich-geistiger  Gruppenvorgänge  an  erster 
Stelle  die  Befreierin  von  der  historischen  Determination. 
In  diesen  allgemeinen  Gedankenzusammenhang  ist  auch 


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Reue  und  Wiedergeburt.  I  7 

das  Phänomen  der  Reue  einzuordnen.  Bereuen  heißt  zu-  |  *^ 
nächst  im  Hinbeugen  auf  ein  Stück  Vergangenheit  unseres 
Lebens  einen  neuen  Glied-Sinn  und  einen  neuen  Glied- 
Wert  diesem  Stück  aufprägen.  Man  sagt  uns,  Reue  sei 
ein  sinnloser  Stoß,  den  wir  gegen  ein  »Unabänderliches«  * 
führen.  Aber  nichts  in  unserm  Leben  ist  in  dem  Sinne 
»unabänderlich«,  wie  es  dieses  Argument  meint.  Alles  ist 
erlösbar,  soweit  es  Sinn-  und  Wert-  und  Wirkungseinheit 
ist.  Eben  dieser  »sinnlose«  Stoß  ändert  das  »Unabänder- 
liche« und  stellt  den  bereuten  Unwertverhalt  »daß  ich 
dies  tat«,  »daß  ich  so  war«  auf  neue  Weise  und  mit  neuer 
Wirkungsrichtung  in  die  Totalität  meines  Lebens  hinein. 
Man  sagt  uns,  Reue  sei  absurd,  da  wir  keine  Freiheit  be- 
säßen und  alles  so  kommen  mußte,  wie  es  kam.  Gewiß 
hätte  der  keine  Freiheit,  der  nicht  bereuen  könnte.  Aber 
bereuet  doch  —  so  werdet  ihr  sehn,  wie  ihr  im  Vollzug 
eben  dieses  Aktes  das  werdet,  was  ihr  zur  »Bedingung« 
des  Sinnes  dieses  Aktes  zuerst  törichterweise  errechnen 
wollt:  nämlich  »frei« !  Ihr  werdet  »frei«  von  der  fortstoßen- 
den und  dahinreißenden  Stromkraft  der  Schuld  und  des 
Bösen  in  dem  vergangnen  Leben,  »frei«  von  dem  vor  der 
Reue  bestehenden  eisernen  Zusammenhang  der  Wirksam- 
keit, der  immer  neue  Schuld  aus  der  alten  Schuld  hervor- 
treibt und  so  den  Schulddruck  lawinenartig  wachsen  läßt. 
Nicht  die  bereute  Schuld,  sondern  nur  die  unbereute  hat 
auf  die  Zukunft  des  Lebens  jene  determinierende  und 
bindende  Gewalt!  Die  Reue  tötet  den  Lebensnerv  der 
Schuld,  dadurch  sie  fortwirkt.  Sie  stößt  Motiv  und  Tat, 
die  Tat  mit  ihrer  Wurzel,  aus  dem  Lebenfezentrum  der 
Person  heraus,  und  sie  macht  damit  den  freien,  spontanen 
Beginn,  den  jungfräulichen  Anfang  einer  neuen<  Lebens- 


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1 8  Rene  und  Wiedergebort, 

reihe  möglich,  die  nun  aus  dem  Zentrum  der  eben  ver-' 
möge  des  Reueaktus  nicht  länger  mehr  gebundenen  Per-, 
sönlichkeit  hervorzubrechen  vermag.  Also  wirket  Reue 
sittiiche  Verjüngung.  Junge,  noch  schiildfreie  Kräfte  schla- 
fen in  jeder  Seele.  Aber  sie  sind  gehemmt,  ja  wie  erstickt 
durch  das  Gestrüppe  des  Schulddruckes,  der  sich  während 
des  Lebens  in  ihr  angesammelt  und  verdichtet  hat.  Reißet 
aber  das  Gestrüpp  aus,  und  jene  Kräfte  werden  von  selbst 
emporsteigen.  Je  mehr  ihr  im  Lebensstrom  »fortschritt- 
lich« dahinfliegt  —  Prometheus  nur  und  niemals  Epime- 
theus — desto  abhängiger  und  gebundener  seid  ihr  von 
diesem  Schulddruck  einer  Vergangenheit.  Ihr  flieht  nur 
eure  Schuld,  indem  ihr  die  Krone  des  Lebens  zu  erstür- 
men meint.  Euer  Sturm  ist  eine  geheime  Flucht.  Je  mehr 
ihr  die  Augen  schließt  vor  dem,  was  ihr  zu  bereuen  hät- 
tet, desto  unlösbarer  sind  die  Ketten,  die  eure  Füße  im 
Fortgehn  belasten.  Aber  auch  der  gemeine  Indeterminist 
irrt,  wo  er  von  der  Reue  redet.  Jene  neue  Freiheit,  die 
gerade  erst  im  Akte  der  Reue  verwirklicht  wird,  will 
er  ihr  fälschlich  als  Bedingung  setzen.  Die  jovialen  Herren 
gar  sagen:  Nicht  bereuen,  sondern  gute  Vorsätze  fassen 
und  Zukünftiges  besser  machen!  Aber  dieses  sagen  die 
jovialen  Herren  nicht,  woher  die  Kraft  zum  Setzen  der  guten 
Vorsätze  und  noch  mehr  die  Kraft  zu  ihrer  Ausführung  kom- 
men soll,  wenn  nicht  die  Befreiung  und  die  neue  Sich- 
selbstbemächtigung  der  Person  durch  die  Reue  gegenüber 
der  Determinationskraft  ihrer  Vergangerfheit  vorher  erfolgt 
ist.  Gute  Vorsätze  ohne  ein  mit  dem  Akt  des  Vorsatzes 
unmittelbar  verbundenes  Kraftbewußtsein  und  Könnens- 
bewußtsein ihrer  Ausführung  sind  eben  jene  Vorsätze,  mit 
denen  > der  Weg  zur  Hölle«  am  einladendsten  gepflastert 


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Reue  und  Wiedergeburt.  I  o 

ist.  Dieses  tiefsinnige  Sprichwort  bewahrheitet  sich  durch 
das  Gesetz,  daß  jeder  gute  Vorsatz,  dem  die  Kraft  zu 
seiner  Ausführung  nicht  innewohnt,  nicht  etwa  bloß  den 
alten  Seelenzustand  der  innem  Qual  forterhält,  also  über- 
flüssig ist,  sondern  der  Person  in  diesem  Zustand  einen 
neuen  positiven  Unwert  hinzufügt  und  den  Zustand  selbst 
vertieft  und  befestigt.  Der  Weg  zu  äußerster  Selbstver- 
achtung geht  fast  immer  durch  unausgeführte  gute  Vor- 
sätze, denen  keine  rechte  Reue  vorherging.  Nach  dem 
nichtausgeflihrten  guten  Vorsatz  ist  die  Seele  nicht  auf 
ihrem  alten  Niveau.  Sondern  sie  findet  sich  weit  tiefer 
hinabgestürzt  als  vorher.  Das  also  ist  hier  der  paradoxe 
Tatbestand:  Wäre  es  selbst  wahr,  daß  der  einzige  Wert 
der  Reue  in  ihrer  möglichen  verbessernden  Wirkung  auf 
zukünftiges  Wollen  und  Handeln  liegt,  so  müßte  der  im- 
manente Sinn  des  Aktes  der  Reue  dennoch  einzig  imd 
allein  nur  das  vergangene  Schlechte  und  dies  ohne  jede 
hinschielende  Intention  auf  die  Zukunft  und  das  Besser- 
machen treffen  müssen.  Aber  auch  diese  Voraussetzung 
ist  irrig. 

Ähnlich  steht  es  mit  dem  Einwand,  es  treffe  der  Akt 
der  Reue  ja  gar  nicht  Tat  und  Verhalten  während  der  Tat, 
sondern  nur  das  »Bild«  der  Erinnerung,  das  selbst  nicht  un- 
beeinflußt durch  die  Tat  und  ihre  ferneren  Wirkungen  ent- 
standen sei.  Solcher  Rede  liegt  zunächst  eine  völlig  falsche 
Auflassung  der  Erinnerung  zugrunde.  Erinnerung  besteht 
nicht  darin,  daß  in  unserm  Gegenwartsbewußtsein  sich 
ein  »Bild«  vorfindet,  welches  erst  sekundär  durch  Urteile 
auf  ein  Vergangenes  bezogen  würde.  Im  ursprünglichen  Er- 
innern liegt  vielmehr  ein  Haben  des  in  der  phänomenalen 
Vergangenheit  erscheinenden  Tatbestandes  selbst,  ein 


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20  Reue  und  Wiedei^geburt 

Leben  und  Verweilen  in  ihm ,  nicht  ein  Haben  eines  gegen- 
wärtigen »Bildes«,  das  erst  durch  ein  Urteil  in  die  Ver- 
gangenheit zurückgeworfen  oder  dort  »angenommen« 
werden  müßte.  Soweit  sich  aber  sogenannte  Gedächtnis- 
bilder während  des  Erinnems  finden,  sind  ihre  bildhaften 
Elemente  durch  die  Erinnerungsintention,  durch  ihr 
Ziel  und  ihre  Richtung  bereits  mitbedingt.  Die  Bilder  fol- 
gen dieser  Intention  und  wechseln  mit  ihrem  Wechsel, 
nicht  aber  folgt  die  Intention  zufällig  oder  mechanisch 
nach  Assoziationsregeln  folgenden  Bildern.  Das  konkrete 
Zentrum  unsrer  sich  in  den  Zeitablauf  hinein  erstreckenden 
geistigen  Akte,  das  wir  die  Persönlichkeit  nennen,  ver- 
mag von  Hause  aus  —  de  jure  —  jeden  Teil  unseres  ab- 
gelaufenen Lebens  anzuschaun,  seinen  Sinn  und  Wert- 
gehalt zu  erfassen.  Nur  die  Faktoren,  welche  die  Auswahl 
aus  diesem,  dem  Erinnerungsakte  prinzipiell  zugänglichen 
Lebensbereich  leiten  und  bestimmen,  sind  von  gegenwär- 
tigen Leibzuständen,  femer  den  von  ihnen  abhängigen  re- 
produzierenden Ursachen  und  den  assoziatiativen  Gesetzen 
dieser  Reproduktion,  abhängig.  Und  darum  ist  auch  die 
Reue  als  Akt  ein  wahres  Eindringen  in  die  Vergangen- 
heitssphäre unsers  Lebens  und  ein  wahrer  operativer  Ein- 
griff in  sie.  Sie  löscht  den  moralischen  Unwert,  den  Wert- 
charakter »Böse«  des  betreffenden  Verhaltens  wahrhaft 
aus,  sie  hebt  den  von  diesen  Bösen  ihm  nach  allen  Richtungen 
ausstrahlenden  Schulddruck  wahrhaft  auf  und  sie  nimmt 
ihm  damit  jene  Kraft  der  Fortzeugung,durch  die  Böses  immer 
neues  Böses  gebären  muß.  Das  Licht  der  Reuebereit- 
schaft leuchtet  —  nach  dem  Gesetze,  nach  dem  die  Wert- 
bestimmtheiten unsers  Lebens  vor  allen  übrigen  bedeu- 
tungsmäßigen Wasbestimmtheiten  der  Erinnerung  ge- 


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Keue  und  Wiedeigebort  2 1 

geben  zu  sein  pflegen,  in  unsre  Vergangenheit  erst  sogar 
so  hinein,  daß  wir  uns  durch  ihr  Licht  erst  vieler  Dinge 
bildhaft  zu  erinnern  vermögen,  deren  wir  uns  ohne  sie 
nicht  erinnerten.  Reue  bricht  jene  Schwelle  des  Stolzes, 
die  aus  unsrer  Vergangenheit  nur  das  aufsteigen  läßt, 
was  diesem  Stolz  Befriedigung  gewährt  und  ihn  recht- 
fertigt. Sie  hebt  die  natürliche  Verdrängungskraft  des 
»natürlichen«  Stolzes  auf.  Sie  wird  so  ein  Vehikel  der 
Wahrhaftigkeit  gegen  uns  selbst. 

An  diesem  Punkte  wird  auch  genau  sichtbar  der  be- 
sondere Zusammenhang,  den  Reuebereitschaft  zu  dem 
System  der  Tugenden  in  der  Seele  besitzt.  Wie  ohne 
sie  Wahrhaftigkeit- gegen  sich  selbst  nicht  möglich  ist, 
so  auch  ist  sie  selbst  nicht  möglich  ohne  die  Demut, 
die  dem  die  Seele  auf  ihren  Ichpunkt  und  ihren  Jetztpunkt 
einschnürenden  natürlichen  Stolze  entgegenarbeitet.  Nur 
wenn  die  Demut  —  als  Erlebnisfolge  eines  stetigen  Wan- 
deins vor  der  klaren  Idee  jenes  absolut  Guten,  dem  wir 
uns  nicht  genügen  sehn  —  die  Verdrä^jigungs-,  Verhär- 
tüngs-  und  Verstockungstendenzen  des  Stolzes  auflöst 
imd  den  im  Stolze  gleichsam  von  der  Dynamik  des  Lebens- 
flusses isolierten  Ichpunkt  zu  diesem  Flusse  und  der  Welt 
wieder  in  eine  flüssige  Beziehung  setzt,  nur  dann  ist 
Reuebereitschaft  möglich.  Der  Mensch  ist  verhärtet  und 
verstockt  weit  mehr  aus  Stolz  und  Hochmut  denn  aus  der 
aus  seiner  Konkupiszenz  geborenen  Furcht  vor  Strafe, 
und  er  ist  es  um  so  mehr,  je  tiefer  die  Schuld  in  ihm  sitzt 
und  je  mehr  sie  gleichsam  ein  Teil  seines  Selbst  gewor- 
den ist.  Nicht  das  Bekenntnis^  sondern  zuerst  die  Selbst- 
preisgabe vor  sich  selbst  ist  dem  Verstockten  so  schwer. 
Wer  seine  Tat  voll  bereut,  der  bekennt  auch  seine  Tat 


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2  2  Reue  und  Wiedergeburt. 

und  überwindet  selbst  noch  die  Scham,  welche  im  letzten 
Augenblick  die  Lippe  schließen  wilP. 

Die  Reue  muß  daher  überall  in  ihrem  Wesen,  ihrem 
Sinn  und  in  ihrer  Leistung  verkannt  werden,  wo  man  sie  — 
gemäß  jener  Auffassung  der  Erinnerung,  die  den  Erinne- 
rungspunkt auf  Reproduktion  von  sogenannten  Gedächt- 
nisbildem  zurückführt,  mit  Zuständen  Verwechselt,  die  sie 
wohl  disponieren  und  leichter  auslösen  können,  die  keines- 
wegs aber  d)^  Reue  selbst  ausmachen.  Es  ist  ganz  richtig, 
daß  die  Erfolglosigkeit  oder  die  Übeln  Folgen  einer  » bösen « 
Handlung  die  menschliche  Schwäche  leichter  zur  Reue 
disponieren  als  der  positive  Erfolg;  daß  also  z.  B.  Gesund- 
heitsschädigung, Krankheit  usw.  als  Folgen  von  schuld- 
haften Exzessen,  daß  auch  wohl  Strafe,  Tadel  durch  die 
Außenwelt,  den  Reueakt  häufig  da  erst  auslösen,  wo  er 
ohne  sie  vielleicht  nicht  ausgelöst  worden  wäre.  Gleich- 
wohl bleibt  das  der  Reue  als  solcher  anhaftende  Leiden 
von  dieser  ganzen  Gruppe  der  Unlustgefiihle,  welche  die 
reuevolle  Selbsteinkehr  erst  auslösen,  durch  eine  große 
Kluft  geschieden.  Eine  ganze  Reihe  der  falschen  psycho- 
logischen Reueauffassungen  begeht  —  unbesehn  ihrer 
andern  Irrtümer  —  eben  diesen  Grundfehler,  den  Reueakt 
selbst  mit  den  zu  ihm  disponierenden  Zuständen  zu 
verwechseln. 

Aber  die  Eigenart  der  Rolle,  die  die  Erinnerung  im 
Akte  der  Reue  spielt,  ist  mit  dem  Gesagten  noch  nicht 
erschöpft.  Es  gibt  ?wei  grundverschiedene  Typen  des 
Erinnems,    die   man    als    statischen   und    dynamischen 

^  Mit  Recht  nimmt  daher  die  Kirchenlehre  an,  daß  die  schuldlöschende 
«vollkommene«  Reue  die  Beicht-,  also  Bekenntnisbereitschaft,  von  selber  so 
aus  sich  heraustreibe,  daß,  wo  sie  fehlte,  auch  die  Reue  nicht  als  »voll- 
kommen« zu  erachten  wäre. 


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Reue  und  Wiedergeburt  2  3 

Typus  bezeichnen  kann,  oder  auch  als  Funktions-  und 
als  Erscheinungserinnerung.  Im  Erinnern  des  ersten 
Typus  verweilen  wir  beim  Erinnerungserleben  nicht 
bei  irgendwelchen  isolierten  Inhalten,  Vorkommnissen 
unsrer  Vergangenheit,  sondern  bei  unserm  damaligen 
zentralen  Verhalten  zur  Welt,  bei  unsrer  damaligen 
Denk-,  Willens-,  Liebe-  und  Haßrichtung;  wir  leben 
unser  gesamte^ A/^erhalten  oder  das  Sein  und  Verhalten 
unsrer  damaligen  Ich-  und  Personbestimmtheit  nach.  Wir 
»versetzen«  uns  in  unser  Ich  der  damaligen  Zeit.  Ganz 
scharf  und  klar  tritt  dieser  Unterschied  in  gewissen  patholo- 
gischen Erscheinungen  zutage.  Ich  sah  vor  einigen  Jahren 
in  einem  deutschen  Irrenhaus  einen  70jährigen  Greis,  der 
auf  der  Entwicklungsstufe  seines  18.  Jahres  seine  gesamte 
Umwelt  erlebte.  Das  besagt  nicht,  dieser  Mann  wäre  in 
den  besondem  Inhalten  versunken  gewesen,  die  er  als 
18  jähriger  erlebte,  er  hätte  etwa  Wohnung,  Menschen, 
Straßen,  Städte  usw.  vor  sich  gesehn,  die  damals  seinen 
Umweltsgehalt  ausmachten.  Er  sah,  hörte,  erlebte  vielmehr 
durchaus  alles  das,  was  gegenwärtig  um  ihn  im  Zimmer 
vorging,  aber  er  erlebte  es  »als«  der  Achtzehnjährige,  der 
er  damals  war,  mit  allen  seinen  individuellen  und  gene- 
rellen Willensgesinnungen,  Strebenseinstellungen,  Hoffens- 
und  Furchtrichtungen  in  dieser  Lebensphase.  Die  be- 
sondre Art  von  erinnerndem  Nacherleben,  wie  sie  hier 
extrem  und  als  zuständliches  System  vor  uns  steht,  macht 
uns  möglich,  nicht  nur  zu  wissen,  was  wir  faktisch  taten 
und  wie  wir  gegen  unsre  besondre  Umwelt  faktisch  rea- 
gierten, sondern  auch  was  wir  je  hätten  tun,  je  wollen 
können,  wie  wir  gegen  diesen  oder  jenen  Umstand  rea- 
giert hätten,  wenn  er  uns  entgegengetreten  wäre.  In 


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24  Reae  and  Wiedergeburt 

diesem  Erinnern  führt  der  Weg  nicht  von  den  Inhalten 
unsers  Lebens  zum  Ich,  das  sie  erlebte,  sondern  von  dem 
erlebenden  Ich^  in  das  wir  uns  versetzen,  zu  den  beson- 
dem  Inhalten  des  Lebens. 

Die  in  den  hohem  und  wichtigem  Typus  des  Reueakts 
eingehende  Erinnerung  gehört  aber  der  Art  der  Funktions- 
erinnerung an.  Nicht  die  im  Erinnern  erscheinende  Tat  der 
Vergangenheit,  respektive  der  UnwertvÄrhalt,  daß  wir  die 
Handlung  vollzogen,  ist  hier  der  eigentliche  Reuegegen- 
stand, sondern  jenes  Glied-Ich  in  unsrer  Totalperson  selbst, 
aus  dessen  Wurzeln  die  Tat,  der  Willensakt  damals  hervor- 
floß, wird  nacherlebt,  wird  eben  in  der  Art  des  Bereuens  ver- 
worfen und  aus  der  Totalität  der  Person  gleichsam  heraus 
gestoßen.  Nur  von  einem  je  verschieden  starken  Vorwiegen 
des  objektiven  Unwertverhalts  des  Tat-  und  jenes  Vergange- 
nen Glied-Ichs  in  der  reuevollen  Erinnerung  darf  daher 
auch  dort  die  Rede  sein,  wo  man  mit  einigen  philoso-. 
phischen  Schriftstellern  Seinsreue  und  Tatreue  unterschei- 
det; oder  auch  »Bereuen«  und  »reuevolle«  Selbsteinkehr. 
Besonders  Sdiopenhauer  hat  wiederholt  hervorgehoben, 
daß  die  tiefste  Reueeinstellung  nicht  durch  die  Formel 
ausgedrückt  sei:  »Ach,  was  habe  ich  getan«,  sondern 
durch  die  radikalere  Formel:  »Ach,  was  bin  ich  für  ein 
Mensch«,  öder  sogar  »was  muß  ich  doch  für  ein  Mensch 
sein,  daß  ich  solches  tun  konnte«.  Er  meint  überdies  da- 
mit zu  zeigen,  daß  grade  der  empirische  Determinismus 
erst  der  Reue  ihr  volles  Gewicht  verschaffe,  anderseits 
aber  der  weit  tiefere  und  aufwühlendere  Charakter  jener 
zweiten  Reue  ein  Beyreis  dafür  ^ei,  wie  gleichwohl  dabei 
unser  » in telligibler  Charakter«  (Schopenhauer  setzt  diesen 
fälschlicherweise  gar  noch  dem  »angebomen  Charakter« 


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Reue  und  Wiedergeburt.  2  5 

gleich)  als  Folge  einer  freien  Tat  betrachtet  werde.  Diese 
Auffassung  aber  reißt  den  ganzen  Sinn  der  Reue  entzwei. 
Ein  Reueakt  über  unser  personhaftes  Sein  überhaupt,  ich 
meine  über  seine  Wesensartung,  ist  eine  innere  Unmög- 
lichkeit. Wir  können  allenfalls  darüber  traurig  sein,  daß 
wir  sind,  was  wir  sind,  oder  uns  über  dieses  Sein  entsetzen; 
aber  —  selbst  abgesehn  davon,  daß  auch  diese  Trauer  über 
unser  Wesen  noch  die  Färbung  dieses  gleichen  Wesens 
tragen  wird  — :  wir  können  unser  Wesen  nicht  bereuen. 
Was  wir  allein  noch  bereuen  können,  ohne  dabei  einzig 
und  unmittelbar  auf  unsere  Tatenreihe  hinzublicken,  ist: 
daß  wir  damals  ein  solches  Ich  waren,  das  jene  Tat  tun 
konnte!  Nicht  die  Tat,  auch  nicht  unser  Wesejis-Ich 
liegen  in  diesem  Reueakt  gleichzeitig  »hinter«  und  »unter« 
uns,  sondefn  jene  gesamte  konkrete  Konstitution  des  Ich, 
aus  der  wir  in  unsrer  Erinnerung  die  Tat  —  und  hier 
und  unter  Voraussetzung  dieser  Konstitution  allerflings 
»notwendig«  —  hervorfließen  sahn.  Diese  eigenartige 
Blickrichtung  jenes  tiefem,  keine  bloße  Gesinnungs»ände- 
rung«  oder  gar  bloße  gute  Vorsätze,  vielmehr  einen  wirk- 
lichen Gesinnungswandel  bedingenden  Reueakts  läßt 
sich  nur  verstehn  daraus,  daß  die  Art  und  Weise  unsers 
Uns -selbst -Erlebens  bestimmte  Stufen  der  Sammlung 
und  Konzentration  besitzt,  deren  möglicher  Wechsel  nicht 
wieder  im  gleichen  Sinne  eindeutige  Wirkung  einer  psy- 
chischen Kausalität  ist,  durch  welche  die  psychischen 
Vorgänge  auf  jeder  einzelnen  dieser  Stufen  zweifellos 
kausal  bestimmt  werden.  Die  Änderung  jener  Sammlimgs- 
stufen  der  Persönlichkeit  selbst,  auf  denen  sie  je  lebt,  ist 
also  gegenüber  der  Kaüsalgesetzmäßigkeit,  welcher  die 
Erlebnisinhalte  auf  jedem  dieser  Sammlungsniveaus  fol- 


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26  Reue  und  Wiedergeburt 

gen,  eine  freie  Tat  unsrer  Gesamtperson.  Und  dieser 
Gesamtperson  gehören  ja  in  letzter  Linie  alle  jene  wech- 
selnden Ichkonstitutionen  al^  erlebte  Glieder  an,  aus 
denen  wir  die  Tat  notwendig  (bei  weiterer  Gegebenheit 
dieser  und  jener  Umstände)  hervorfließen  sehn.  Der 
tiefere  Reueakt  gewinnt  nun  eben  daraus  seine  volle 
Verständlichkeit,  daß  eine  solche  frei  erwirkte  Ände- 
rung des  Sammlungsniveaus  unsrer  ganzen  innem 
Existenz  seine  Begleiterscheinung  ist.  Wie  notwendig 
auch  uns  also  die  Tat  auf  dem  Niveau  unsrer  damaligen 
Existenz  erscheint,  ywie  streng  historisch  sie  bis  in  alle 
ihre  Einzelheiten  hinein  —  wenn  wir  dieses  Niveau  ein- 
mal setzen  wollen  —  »verständlich«  ist:  es  war  doch 
nicht  gleich  notwendig,  daß  wir  lins  auf  diesem  Niveau 
befanden.  Wir  hätten  auch  dieses  Niveau  ändern  können. 
Wir  »konnten«  insofern  auch  anders  sein,  nicht  nur  konn- 
ten Vir  anders  wollen  und  handeln.  Darum  ist  auch 
dieses  »Andersgekonnthaben«  keine  ^  bloße  falsche,  auf 
Täuschung  beruhende,  Rückwärtsverlegung  der  ganz 
anderen  Tatsache,  daß  wir  etwa  jetzt  anders  können 
oder  zu  können  meinen*  Vielmehr  zeigt  uns  der  Reue- 
akt dieses  »Können«,  diese  zentralste  Willensmacht, 
noch  als  einen  Erlebnisbestandteil  im  ganzen  und  frü- 
hern Erlebnisbestande  selbst.  Die  Art  aber,  wie  sich  der 
gegenwärtige  Akt  der  Erkenntnis  des  Bösen  in  unsrer 
damaligen  Ichkonstitution,  wie  sich  femer  das  jetzige  Sehn 
des  Besserseins  und  des  Bessern,  das  wir  doch  auch  da- 
mals hätten  sein,  respektive  tun  können,  mit  dem  gegen- 
wärtigen Könnenserlebnis  des  Besserhandelns  durchdringt, 
ist  eine  ganz  eigenartige.  Man  könnte  zunächst  meinen,  daß 
nicht  erst  der  Reueakt  die  Niveauänderung,  die  Erhöhung 

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Reue  und  Wiedergeburt.  2  7 

unseres  Selbst  bewirke,  daß  dieser  Akt  vielmehr  nur 
Zeichen  und  Folge  davon  sei,  daß  wir  jetzt  über  unserem 
damaligen  Ich  und  seiner  Tat  stehn.  Danach  könnten  wir" 
nur  bereuen,  weil  wir  jetzt  freier  und  besser  geworden 
sind.  Ja,  erst  am  jetzt  erlebten  »Können«  des  Bessern 
gemessen,  fiele  dann  auf  unsem  frühem  Zustand  und  seine 
Tat  der  Schatten  schuldhafter  Unfreiheit,  in  dem  wir  sie 
jetzt  tief  unter  uns  liegen  sehn.  Aber  auf  solch  einfaches, 
rationales  Entweder-Oder  läßt  sich  die  Sache  nicht  brin- 
gen. Dies  vielmehr  ist  das  Eigentümliche  des  Reueakts, 
daß  im  selben  Akte,  der  schmerzvoll  verwirft,  auch  die 
Schlechtigkeit  unseres  Ich  und  unserer  Tat  uns  erst  voll 
zur  Einsicht  kommt;  und  daß  im  selben  Akte,  der  nur 
von  dem  »freiem«  Standort  des  neuen  Lebensniveaus  aus 
rational  verständlich  scheint,  dieser  freiere  Standort  selbst 
erklommen  wird.  So  ist  der  Reueaktus  in  gewissem  Sinne 
firüher  als  sein  Ausgangspunkt  und  als  sein  Zielpunkt, 
früher  als  sein  Terminus  a  quo,  und  sein  Terminus  ad 
quem.  Erst  im  Reueakt  geht  uns  darum  die  volle  evidente 
Erkenntnis  jenes  Gekonnthabens  eines  Bessern  auf.  Aber 
diese  Erkenntnis  schafft  nichts ;  sie  ist  Erkenntnis,  Durch- 
dringung der  damaligen  Benebelung  durch  die  Triebe.  Sic 
schafft  nicht,  sie  zeigt  nur  an.  Dieses  Geheimnisvollste  des 
lebendigen  tiefem  Reueakts  —  daß  in  ihm,  nämlich  im 
Laufe  seiner  kontinuierlichen  Dynamik,  eine  ganze  höhere, 
idealische  Existenz  als  eine  für  uns  mögliche  erblickt  wird: 
eine  in  der  Sammlung  fundierte  mögliche  Steigerung  der 
Niveauhöhe  des  geistigen  Daseins;  daß  wir  nun  den  gan- 
zen alten  Ich-Zustand  tief  unter  uns  erblicken:  dieses  hat 
auch  innerhalb  der  theologischen  Konstruktionen  zu  man- 
cher Schwierigkeit  Anlaß  gegeben.  Insbesondre  liegt  diese 


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2  8  Reue  und  Wiedergeburt. 

Frage  auch  da  analogisch  mit  zugrunde,  wo,  das  Verhält- 
nis der  göttlichen  Nachlassung  der  Schuld  zu  der  durch  die 
heiligmachende  Gnade  erwirkten  neuen  Qualität  des  Men-. 
sehen  zur  Verhandlung  steht.  Nur  die  bei  »vollkommener« 
Reue  eintretende  freie  Gnade  kann,  wie  es  scheint,  die 
religiöse  Schuld  wahrhaft  tilgen  und  aufheben;  nicht  also 
bloß  bewirken,  daß,  wie  bei  Luther,  Gott  vor  der  Schuld 
die  Augen  schließe  und  sie  nicht  »anrechne «^  während 
der  Mensch  weiter  in  Sünde  und  Schuld  verharre.  Aber 
anderseits  scheint  die  Aufhebung  der  Schuld  selbst  wie-^ 
der  eine  Bedingung  für  den  Einlaß  der  Gnade  zu  sein. 
Denn  die  Gnade  sowie  der  durch  sie  bedingte  höhere 
Lebensstand  können  nur  insofern  im  Menschen  Platz  grei- 
fen, als  die  Schuld  aus  ihm  schon  entfernt  ist.  Viele 
Theologen,  zum  Beispiel  Scheeben,  gebrauchen  hier  das 
glückliche  Bild,  daß  die  Schuld  eben  vor  der  in  die  Seele 
eintretenden  Gnade  ähnlich  zurückweiche  »wie  die  Fin- 
sternis vor  dem  Lichte«  (Mysterien  des  Christentums, 
S.  531).  Derart  scheint  nun  die  Reue  nicht  mehr  jene 
Niveauerhöhung  des  sittlichen  Seins  schon  vorauszusetzen, 
die  sie  doch  erst  herbeiführen  soll.  Es  ist  also  ein-  und 
derselbe  dynamische  Aktus,  durch  den  sowohl  das  Auf- 
klimmen des  Ich  auf  die  ihm  mögliche  Höhe  seines  idealen 
Wesens  erfolgt,  wie  das  steigende  Untersichsehn,  die 
Verwerfung  und  Ausstoßung  des  alten  Ich^^ 

Wie  wir  im  selben  Aktus  des  Steigens  auf  einen  Berg 
die  Spitze  sich  uns  nähern  und  das  Tal  unter  unseren 
Füßen  versinken  sehen  und  beide  Bilder  durch  diesen 
Aktus  bedingt  erleben,  so  klimmt  die  Person  in  der  Reue 
zugleich  empor  und  sieht  die  ältere  Ich-Konstitution  unter 
sich. 


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Reue  und  Wiedergeburt.  29 

Je  mehr  die  Reue  sich  von  der  bloßen  Tatreue  auf  die 
Seinsreue  hinbewegt,  um  so  mehr  ergreift  sie  die  er- 
schaute Schuld  an  der  Wurzel,  um  sie  aus  der  Person 
auszustoßen  und  dieser  damit  ihre  Freiheit  zum  Guten 
zurückzugeben.  Um  so  mehr  führt  die  Reue  vom  Schmerz 
über  eine  einzelne  Tat,  zu  jener  vollständigen  »Zerknir- 
schung des  Herzens«,  aus  der  die  ihr  selbst  einwohnende 
regenerative  Kraft  ein  »neues  Herz«  und  einen  »neuen 
Menschen«  auferbaut.  In  dem  Maße  ninmit  die  Reue  auch 
den  Charakter  der  eigentlichen  Bekehrungsreue  an 
und  fuhrt  schließlich  von  der  Fassung  neuer  guter  Vor- 
sätze durch  die  tiefere  Gesinnungsänderung  zum  echten 
Gesinnungswandel,  ja  zur  *  Widergeburt«  hin,  in  der  die 
letzte  Wurzel  unsrer  sittlichen  Akte:  das  geistige  Per- 
sonzentrum, sich  selbst  (unbeschadet  seiner  formalen  und 
individuellen  Identität)  in^  seinen  letzten  materiellen  In- 
tentionen zu  verbrennen  und  neu  aufzubauen  scheint.  — 

Noch  ist  einiges  über  zwei  der  vorhin  genannten  skep- 
tischen Thesen  zu  sagen:  über  die  Furcht-  und  die  Rache- 
theorie. 

Schon  im  werdenden  Protestantismus  spielt  die  Furcht-  ^ 
theorie  eine  große  Rolle.  Luther  und  Calvin  setzen  das 
Wesen  der  Kontrition  selber  in  die » Terrores  conscientiae « , 
in  jene  Angst  vor  der  Hölle,  die  sich  nach  Einsicht  in  die 
fehlende  Kraft  des  Menschen,  das  Gesetz  zu  erfüllen,  ein- 
stelle. Dieser  Schreck  ist  Luther  für  den  seine  Sündenlast 
und  sein  notwendiges  Ungenügen  vor  dem  Gesetze  Gottes 
fühlenden  Menschen  das  einzige  treibende  Motiv,  sich  durch 
den  Glauben  an  Jesu  sühnendes  Blut  und  der  durch  dieses 
Blut  bewirkten  Genugtuung  und  Barmherzigkeit  Gottes 
der  Rechtfertigung  zu  versichern.  Indem  Jesus  mit  der  Fülle 


eK 


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30  Rcöe  und  Wiedergeburt. 

seiner  Verdienste  das  sündige  und  bis  zum  Tode  sündig 
bleibende  pienschliche  Herz  vor  den  Augen  Gottes  gleich- 
sam »zudeckt«,  wird  dem  Sünder  >die  Sünde  nicht  ange- 
rechnet«, das  heißt  wohl  die  Strafe  für  sie  erlassen.  Der 
»gute  Vorsatz«,  sowie  eine  gewisse  Verminderung  der 
Sünde  werden,  erst  von  dem  schon  eingetretenen  Erlebnis 
dieser  völlig  unverdienten  Barmherzigkeit  Gottes  und  dem 
damit  gegebenen  neuen  Gnadenstand  erwartet.  Der  Vor- 
satz ist  also  von  der  Reue  hier  völlig  abgelöst.  Weder  eine 
wahre  Auslöschung  der  Schuldqualität  —  wie  wir  sie  als 
Tatbestand  vorfanden  —  noch  eine  darauf  folgende  Hei- 
ligung, die  in  die  Seele  an  Stelle  der  Schuld  eine  neue 
heiligende  Qualität  trüge,  ist  hiemach  der  Sinn  der  gött- 
lichen »Vergebung«  der  Sünde.  Vielmehr  ist  dieser  ganze 
Sinn  allein  die  Nachlassung  der  Strafe  und  die  —  unfaß- 
liche, und  schon  der  Allwissenheit  Gottes  völlig  wider- 
strebende —  Annahme  des  Sünders,  Gott » sehe «  nun  nicht 
mehr  auf  seme  Sünde. 

Aber  auch  die  neue  Philosophie  beginnt  sogleich  mit 
der  Furchttheorie: 

»Reue  (gemäß  Spinoza  Eth.  IV.  45.  Satz)  ist  keine 
Tugend  und  entspringt  nicht  aus  der  Vernunft;  sondern 
Der,  welcher  eine  Tat  bereut,  ist  doppelt  gedrückt  und 
unvermögend.«  »Denn  wer  eine  Tat  bereut,  leidet  dop- 
pelt, indem  er  sich  zuerst  durch  eine  verwerfliche  Begierde 
und  darnach  noch  durch  die  Unlust  darüber  besiegen  läßt. « 
Auch  Spinoza  leitet  die  Reue  (diese  »Unlust,  begleitet 
von  der  Idee  der  Tat,  die  wir  aus  freier  Entschließung 
des  Geistes  getan  zu  haben  glauben«,  wie  seine  ganz  un- 
mögliche Definition  lautet)  aus  der  Furcht  ab.  Nach  der 
Erläuterung  zu  dieser  Definition  ist  die  Reue  eine  Folge 


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Reue  und  Wiedergeburt  %  I 

des  Tadels  und  der  Bestrafungen  durch  die  Umwelt,  re- 
spektive eine  Furcht,  die  sich,  von  der  Wirkung  ausgehend, 
mit  der  Idee  der  uns  als  »Unrecht«  geltenden  Tat  ver- 
bindet. >  Je  nach  seiner  Erziehung  bereut  also  der  Mensch 
eine  Tat  oder  rühmt  er  sich  derselben.«  Die  Reue  ist 
daher  für  Spinoza  nur  eine  relative  Tugend,  nämlich  eine 
Tugend  nur  für  den  Pöbel.  »Der  Pöbel  ist  furchtbar,  so- 
fern er  nicht  furchtet. «  Doch  sei  Reue  keine  Tugend  für 
den  »freien  Menschen« ;  dieser  werde  durch  die  Vernunft 
selbst  geleitet. 

Was  dieser  Furchttheorie  radikal  widerspricht,  das  ist 
vor  allem  die  Tatsache,  daß  es  umgekehrt  gerade  die 
Furcht  zu  sein  pflegt,  die  uns  gar  nicht  in  jene  Gemüts- 
lage der  Sammlung  gelangen  läßt,  worin  die  eigentliche 
Reue  erst  möglich  wird.  Die  Furcht  lenkt  unsre  Aufmerk- 
samkeit und  unser  Interesse  nach  Außen  —  auf  die  na- 
hende Gefahr.  Solange  der  Verbrecher  sich  verfolgt  weiß, 
solange  wird  er,  als  aktiver  Typus,  trotzig  für  seine  Tat 
einstehn,  und  alle  Energie  wird  der  Aufgabe  zufallen,  »sich 
nicht  erwischen  zu  lassen«.  Als  passiver  Typ  wiederum 
wird  er  sich  durch  die  Furcht  niederschlagen  lassen  und  sich 
in  sein  Schicksal  unwillig  ergeben.  Wenn  ihn  in  beiden 
Fällen  nichts  anderes  hindern  würde  an  dem  Vollzug  des 
Aktus  der  Reue  —  die  Furcht  gerade  würde  es  tun.  Erst 
dann  vielmehr,  wenn  er  sich  außer  jeder  Gefahr  weiß,  kann 
er  jene  »Sammlung«  finden,  welche  die  echte  Heue  vor- 
aussetzt. Erst  dann  findet  er  jenes  restlose  Alleinsein 
mit  sich  und  mit  seiner  Tat,  ohne  das  es  keine  Reue  gibt. 
Davon  abgesehn  vermögen  wir  unserem  Bewußtsein  aufs 
deutlichste  die  nach  rückwärts  gerichtete  Reue  über  eine 
Tat  von  der  gleichzeitig  vorhandenen,  auf  die  Zukunft 


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2  2  Reue  und  Wiedergeburt 

gerichteten  Furcht  zu  unterscheiden  und  dabei  festzu- 
stellen, wie  sich  beide  in  gleichsam  ganz  verschiedenen 
Schichten  unsrer  Existenz  abspielen:  wie  die  Furcht  aus 
dem  Zentrum  unsers  Lebensgefühls  hervorbricht  und  mit 
Absehung  von  dessen  Träger,  dem  Leibe  und  seinen 
Erregungen,  ganz  aufgehoben  wäre;  die  Reue  hingegen 
aus  unserm  geistigen  Persönlichkeitszentrum  fühlbar  her- 
vorquillt und  auch  mit  Absehung  von  unserm  Leibbesitz 
nicht  nur  möglich,  sondern  sogar  nach  Aufhebung  der 
unser  Böses  uns  verbergenden  leiblichen  Triebschranken 
erst  ganz  vollkommen  würde.  Schon  diese  Selbsstän- 
digkeit  des  Daseins  im  Gleichzeitigen  von  Furcht  und 
Reue  in  bezug  auf  denselben  Wertverhalt  der  Tat  beweist, 
daß  Reue  keine  seelische  »Entwicklungsform«  der  Furcht 
sein  kann  —  da  dann  doch  die  Furcht  schon  in  dem  neuen 
Gebilde  der  Reue  verbraucht  sein  müßte,  also  nicht  noch 
neben  dieser  in  uns  existieren  und  uns  erfüllen  könnte. 
Diese  Sätze  gelten  natürlich  auch  dort,  wo  es  sich  um 
die  Furcht  vor  den  göttlichen  Strafen  handelt.  Bloße 
Furcht  vor  dem  Strafubel,  »knechtische  Furcht«,  ist  über- 
haupt keine  Reue.  Sie  ist  auch  keine  attritio,  welche  die 
Theologie  von  der  contritio,  des  heißt  der  in  Liebe  zu 
Gott  als  dem  in  sich  selbst  liebenswertem  höchsten  Gute 
gegründeten  »vollkommenen«  Reue  mit  Recht  unter- 
scheidet. Ja,  die  attritio  ist  weder  Furcht  vor  dem  bloßen 
Strafiibel>  noch  gründet  sie  auch  nur  in  solcher  Furcht. 
Sie  mag  durch  Furcht  vor  der  Strafe  als  einer  Äußerung 
der  göttlichen  Gerechtigkeit  ausgelöst  werden;  niemals 
aber  von  Furcht  vor  dem  Strafubel  als  bloßem  Übel.  Der 
Reueaktus  selbst  ist  aber  auch  dann  gegenüber  diesem 
Auslösungsvorgang  etwas  ganz  Neues,  das  nicht  etwa 


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Reue  und  Wiedergeburt.  33/ 

diese  Furcht  vor  der  Strafe  selbst  ist.  Aber  auch  ausge- 
löst kann  sie  hierbei  nur  werden,  wenn  die  sogenannte 
Furcht  vorder  (ewigen  oder  zeitlichen)  Strafe  nicht  primär 
auf  das  bloße  Straf  übel,  sondern  auf  die  Strafe 
als  einen  Akt  und  Ausdruck  der  ewigen  Gerechtigkeit 
gerichtet  ist  —  also  immer  gleichzeitig  in  der  Ehrfurcht 
und  Achtung  vor  der  diese  Gerechtigkeit  handhabenden 
und  strafsetzenden  Gottheit  mitfundiert  ist.  Ist  liierbei  die 
attritio  eine  untere  Stufe  zur  contritio,  so  gilt  doch  auch 
hier,  daß  überall,  wo  die  contritio  einer  Person  möglich 
,wäre,  die  bloße  attritio  auch  eine  Art  Hemmung  für  den 
Eintritt  der  contritio  darstellt — dem  Gesetze  gemäß,  daß 
Furcht  überhaupt  die  Reue  mehr  hemmt  als  entwickelt. 

Nicht  minder  unbegreiflich  ist  vom  Standort  der  Furcht- 
lehre, wieso  die  Furcht  sich  nur  dort  in  Reue  verwandeln 
soll,  wo  der  persönliche  Unwert  oder  die  betreffende  Hand- 
lung ein  sittlich  und  religiös  Bedeutsames  darstellen. 
Wieso  sind  ein  häßliches  Gesicht  oder  irgendeine  Minder- 
begabtheit  oder  ein  Organdefekt  ziun  Beispiel,  mit  denen 
man  tausendmal  anstieß  und  immer  wieder  neu  anzustoßen 
furchten  muß :  wieso  sind  alle  diese  Unwerte  niemals  Gegen- 
stand der  Reue,  sondern  höchstens  Gegenstände  der  Selbst- 
qual, der  Trauer,  des  Ekels  vor  sich  selbst,  der  Rache 
gegen  sich?  -Wieso  bereuen  wir  niemals  ein  schlechtgelun- 
genes Kunstwerk,  eine  schlechtgeratene  Arbeit  im  gleichen 
Sinne  wie  etwa  einen  Diebstahl  oder  eineWechselfälschung? 
Außer,  sofern  wir  die  schlechte  Qualität  dieser  Dinge  wie- 
der auf  die  sittliche  Mangelhaftigkeit  in  der  Ausübung 
der  zu  den  Werken  nötigen  Fertigkeiten  (nicht  aber  auf 
unsre  Begabung)  zurückfuhren  müssen.  Ist  etwa  die  blo(5e 
Unlust  von  Hause  aus  geringer,  die  uns  aus  solchen  De- 
3 


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34  Reue  und  Wiedergeburt, 

fekten,  dazu  aus  Unklugkeit  oder  aus  fehlenden  Anlagen 
quellen  kann?  und  ^bt  sie  in  minderem  Maße  Anlaß  zu 
Furcht  und  zu  Unlust  an  »der  Idee  unser  selbst,  als  der 
Ursache  unsrer  Unlust«?  Gewiß  nicht.  Trotzdem  fehlt  in 
solchen  Fällen  Alles,  was  man  Reue  nennen  könnte.  Wenn 
es  also  notwendig  zur  Reue  gehört,  daß  der  »bereute« 
Unwert  ein  Unwert  von  der  besondem  Qualität  des  >  Bösen « 
ist  —  und  daß  dieser  Unwert  in  dem  die  Reue  mitfundieren- 
den Fühlen  dieses  »Bösen«  gegeben  ist:  warum  sollte  dann 
dieser  Unwert  allein,  das  heißt  die  innere  Natur  des  Bö- 
sen selbst,  nicht  genügen,  um  seine  emotionale  Negation 
im  Akte  der  Reue  zu  bestimmen?  Was  sollte  irgendwelche 
Furcht  vor  den  Folgen  der  Handlung,  als  der  bloßen 
Trägerin  dieser  Qualität  des  »Bösen«,  hinzutun?  Oder  wie 
sollten  erst  Nachwirkungen  dieser  Furcht  hiuzutreteii  müs- 
sen, um  die  Reue  zu  ermöglichen?  Die  Furcht  löst  zu- 
weilen Reue  aus ;  hoch  öfter  aber  verunreinigt  sie  die  R^ue; 
das  ist  das  Ergebnis.  Furcht  ist  in  jeder  möglichen  Form 
—  auch  als  objektlose,  das  heißt  durc^i  einen  besonderen 
Objektinhalt  nichterfüllte  —  ein  Vorfühlen,  einFemfühlen 
gefährdender  oder  lebensschädlicher  Umstände  »vor«  der 
faktischen  Schädigung.  Reue  wendet  sich  notwendig 
zurück.  — 

Etwas  tiefer  schon  greift  die  Rachetheorie.  Es  gibt 
zweifellos  einen  gegen  uns  selbst  gerichteten  Racheimpuls. 
Wenn  das  Kin4  sich  selbst  schlägt,  weil  es  etwas  »Un- 
rechtes« getan  hat,  wenn  wir  uns  »die  Haare  ausraufen« 
möchten,  weil  wir  so  und  so  handelten,  wenn  tausend  For- 
men von  Selbstpeinigung,  welche  die  Geschichte  kennt, 
nicht  notwendig  Bußen  gegenüber  der  Gottheit  darstellen 
oder  der  Entleiblichungsaskese  dienen,  sondern  an  sich 


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Reue  und  Wiedergeburt.  j  c 

alle  Zeichen  einer  natürlichen  Rache  oder  Sühnehandlung 
gegen  das  Ich  tragen :  dann  erscheint  es  wohl  richtig,  einen 
ursprünglichen  Racheimpuls  des  Menschen  auch  gegen 
sich  selbst  anzimehmen.  Denn  es  geht  kaum  an,  einen 
solchen  Impuls  auf  eine  bloße  seelische  Ansteckung  durch 
den  vorgefühlten  Tadel  der  Umwelt  zurückzuführen;  oder 
gar  auf  eine  unwillkürliche  Sympathie  mit  dem  Rache- 
impuls eines  Andern,  das  heißt  einen  ohne  oder  gegen 
unseren  Willen  eintretenden  Mitvollzug  dieses  Rache- 
impulses gegen  uns,  wie  dies  Acjam  Smith  in  seiner  fal- 
schen Sympathielehre  ^  tat.  Der  Racheimpuls  ist  also  in 
der  Tat  ursprünglicher  als  die  besondere  Wahl  zwischen 
Ich  und  Nichtich  als  seinen  Gegenstand.  Er  vermag  sich 
gleich  ursprünglich  gegen  uns  selbst  wie  gegen  andere 
Personen  zu  wenden.  Es  gibt  heute  Schriftsteller,  deren 
ganzes  Schaffen  von  innerem  wilden  Rachedurst  gegen 
sie  selbst  und  Alles,  was  mit  ihnen  verbunden'  ist,  wie 
gespeist  scheint.  Sie  schlagen  in  ihren  Satiren  nur  zum 
Schein  auf  ihre  Gestalten  los.  Sie  meinen  nur  sich  selbst. 
Es  ist  also  gar  nicht  nötig,  mit  Nietzsche  solche  Selbst- 
rache erst  als  eine  Folge  und  äußere  Rückwendung  der 
gestauten  Abfuhr  des  Racheimpulses  gegen  Andere  und 
anderer  ähnlicher  Impulse  anzusehen.  Der  ungemessene 
Racheimpuls  sowie  seine  Vernünftige  Kultur,  der  nach 
Proportion  abgemessene  Vergeltungsimpuls,  sind  Beide 
eine  unmittelbare  Reaktion  auf  gewisse  Arten  von  ge- 
schauten Unwertverhalten,  die  von  sich  aus  »Sühne  for- 
dern « ^.  Besonders  der  Impuls  der  Vergeltung  erfolgt,  noch 

^  Siehe  mein  Buch  über  Phänomenologie  und  Theorie  der  Sympathiegefühle. 
*  Vergl.  meine  Analyse  der  Sühneforderung  im  Buche  „Formalismus  in  der 
Ethik  und  die  materiale  Wertethik". 

3* 


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3  6  Reue  und  Wiedergebnrt. 

ehe  der  Täter  und  Setzer  des  bemerkten  Unwertverhaltens 
bekannt  oder  vorgestellt  ist;  er  sucht  also  erst  danach 
seinen  Gegenstand;  und  er  setzt  darum  auch  nicht  aus, 
wenn  sich  herausstellt,  man  sei  selbst  dieser  Täter.  Aber 
keinerlei  »Vergeistigung«  dieser  beiden  Impulse  vermag 
ims  den  Tatbestand  des  Reueaktes  zu  erklären!  Wohl 
scheint  diese  Theorie  manche  Züge  des  Aktes  verständ- 
lich zu  machen,  welche  zum  Beispiel  der  Furchthypothe  "^e 
ganz  unzugänglich  sind:  so  die  wesensnotwendige  Ver- 
gangenheitsbeziehung des  Reueaktes,  die  besondere  Art 
der  wühlenden  Schärfe  des  Reueschmerzes,  die  aus  der 
Reue  quellende  Bußgesinnung  zur  »Sühnung«  des  Un- 
rechts —  und  anderes  mehr.  Aber  den  Kern  des  ganzen 
Aktes  läßt  auch  diese  Hypothese  ganz  dunkel.  Was  der 
Rache  und  der  Vergeltung  gegen  sich  selbst  besonders 
dazu  fehlt,  um  der  Reue  auch  nur  im  Tiefem  ähnlich  zu 
sein,  das  sind:  i.  die  Geistigkeit^  und  Innerlichkeit  des 
Reueaktes  samt  dem  Medium  von  Stille,  Ruhe,  Ernst, 
Sammlung,  in  die  er  eingebettet  ist;  2.  das  im  Reueakt 
sich  Vollziehende  Ansteigen  auf  ein  höheres  Lebensniveau 
—  und  die  Mitgegebenheit  eines  idealischen  Wertbildes, 
ja  Heilsbildes  unserer  Person,  das  uns  vorher  verborgen 
war  und  auf  das  wir  jetzt  in  Liebe,  in  »Liebe  zu  unserm 
Heile«  bezogen  sind;  3.  die  I^räftigung  und  Befreiung  un- 
sers  sitdichen  Selbst  zu  Vorsatzfassung  und  zur  Gesinnungs- 
änderung durch  die  Reue;  4.  die  Beschränkung  auf  das 
Böse  und  auf  die  sittliche  Schuld  (die  der  Reue  allein  eignet), 
wogegen  Rache  eine  jede  Art  von  empfundenem  Selbst- . 
unwert  und  jede  Verursachung  von  Unwertverhalten  treffen 
kann.  Die  Rache-Einstellung  gegen  das  Ich  ist  ein  Zu- 

^  Veigl.  das  über  die  mögliche  Abstraktion  vom  Leibe  S.  32  Gesagte. 


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Reue  und  Wiedergeburt  1 7 

Stand  voll  Erregung,  dem  jede  Fundierung  durch  den 
Hinblick  auf  ein  positives  Leitbild  des  Selbstseins  und 
Selbstwerdens  fehlt.  Dabei  bleibt  die  Einstellung  noch 
ganz  unfruchtbar. 

Eines  freilich  soll  dabei  nicht  bestritten  werden.  Daß 
wir  eine  starke  Neigung  haben,  —  wenn  nur  irgend  mög- 
lich —  alle  irgendwie,  auch  patholo^j|sch  bedingten  Zu- 
stände der  Selbstqual  oder  der  Unlust  an  uns  selbst,  als 
der  Ursache  gewisser  Handlungen  und  Zustände,  mit  echter 
Reue  zu  verwechseln  oder  sie  als  Reue  uns  gut  zu  schrei- 
ben. Aber  solche  Sdbsttäuschungen,  die  so  häufig  auch 
zu  Fremdtäuschungen  fuhren,  setzen  sowohl  das  Phänomen 
der  echten  Reue  als  auch  die  positive  Wertschätzung 
dieses  Phänomens  voraus.  Die  Menschen  neigen  freilich 
dazu  in  ihre  Grausamkeit  gegen  sich  selbst,  in  ihre  krank- 
hafte Schmerzliebe,  die  »wollüstig  im  Leiden  an  der  Sünde 
wühlt« ,  in  ihren  Rachedurst  gegen  sich  selbst,  in  ihre  mora- 
lischen Schwächezustände,  in  ihre  geheime  Furcht  oder  in 
ihr  zwangsmäßiges  Grübeln  über  ihre  Vergangenheit,  in 
jenen  »schlechten Blick«,  den  sie  zuweilen  wie  gegen  Alles 
so  auch  gegenüber  sich  selbst  haben,  das  Gott  wohlgefäl- 
lige Bild  eines  reuevollen  Herzens  hinein  zu  phantasieren 
und  diese  ihre  geheimen  Laster  oder  ihre  seelischen  Er- 
krankungen unter  dem  Scheinbilde  einer  Tugend  zu  ver- 
stecken. Aber  dieses  Schicksal  der  Reue  (das  sie  mit  jeder 
Tugend,  ja  mit  jedem  Vorzug  teilt),  das  Schicksal,  daß 
sie  sich  selber  und  andern  vorgespielt  werden  kann, 
sollte  niemandem,  der  sich  Psychologe  dünkt,  Anlaß  dazu 
werden,  die  Reue  selbst  hinter  diesen  ihren  Scheinbildem 
aus  dem  Blicke  zu  verlieren. 

Der  Reueakt  ist  nicht  —  womit  man  zimieist  beginnt 


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1 8  Reue  und  Wiedergeburt. 

— ein  zuständliches  >  Unlustgefühl « ,  welches  sich  zu  irgend- 
welchen »Ideen«  von  Handlungen  geselle,  als  deren  Täter 
der  Mensch  sich  kennt.  Überlassen  wir  diese  Platitüde  der 
herkömmlichen  Assoziationspsychologie.  Reue  ist  vielmehr 
eine  zielmäßige  Bewegung  des  Gemüts  angesichts  der 
Schuld,  und  auf  jene  Schuld  hin,  die  sich  im  Menschen 
angesammelt' hat.  Das  Ziel  dieser  »Bewegung«  ist  eine 
emotionale  Negation  und  eine  Entmächtigung  der  Fort- 
wirksamkeit der  Schuld,  eine  geheime  Anstrengung,  diese 
aus  dem  Personkem  herauszustoßen,  um  die  Person  »heil« 
zu  machen.  Erst  die  Rückwirkung  des  im  Akte  der  Reue 
zuerst  ansteigenden  Schulddrucks  auf  diese  Bewegung 
macht  den  Reueschmerz  aus.  Der  Schmerz  steigt  mit  der 
Unnachgiebigkeit  der  Schuld  —  die  selbst  wieder  um  so 
größer  ist,  je  tiefer  sie  im  Kern  der  Person  sitzt.  Nicht 
dieser  Schmerz  also,  vielmehr  die  Bewegung  gegen  die 
Schuld  und  die  Tendenz,  ihre  Fortwirksamkeit  zu  brechen, 
sind  das  Erste.  Der  Schmerz  ist  erst  Folge  und  das  Zweite. 
Die  besondere  Natur  des  Reueschmerzes  ist  scharf,  bren- 
nend, aufwühlend;  ihm  fehlt  jede  Dumpfheit.  Neben  dieser 
Qualität  als  Schmerz  aber  besteht  im  Ganzen  des  Vorgangs 
gleichzeitig  noch  eine  Befriedigung,  die  bis  zur  Seligkeit 
ansteigen  kann.  Befriedigung  und  Lust,  Mißbefriedigung 
und  Unlust  haben  ja  nichts  miteinander  zu  tun;  ja  die  fühl- 
bar tiefer  gelagerte  Befriedigung  steigt  sogar  mit  der 
Stärke  des  Reueschmerzes.  Ist  es  also  etwa  die  innere 
Auffassung  jenes  Schmerzes  als  Sühnung  der  Schuld,  oder 
ist  es  die  Abnahme  des  Schulddrucks  im  Verlauf  der  Reue, 
was  die  Befriedigung  gewährt?  Das  erstere  könnte  man 
annehmen,  wenn  man  die  Reue  als  eine  Art  geistiger  Ver- 
geltung, nämlich  als  Selbstvergeltung,  auffaßte.  Aber  diese 


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Reue  und  Wiedergeburt.  ^g 

Annahme  ist,  wie  gezeigt,  irrig.  Der  Gehorsam  gegen  die 
Sühneforderung  ist  Sache  der  Buße  und  nicht  der  Reue. 
Dieser  Gehorsam  kann  auch  ohne  fundierende  Reue  er- 
folgen. Denn  wohl  wächst  notwendig  die  Bußgesinnung 
aus  der  Reue  so  notwendig  heraus  wie  die  Bekenntnisbereit- 
schaft, nicht  aber  umgekehrt  die  Reue  aus  der  Bußgesin- 
nung. Und  noch  weniger  ist  diese  Gesinnung  die  Reue 
selbst.  Am  wenigsten  aber  ist  Reue  ein  Schmerz,  der  an 
sich  als  Schmerz  befriedigt;  es  sei  denn,  daß  anstatt  echter 
Reue  eben  eine  Reueillusion  vorliegt,  die  in  Schmerzliebe 
gegründet  ist.  Die  Pietisten  zum  Beispiel  haben  diese 
beiden  Dinge  häufig  verwechselt :  daher  die  stark  sinnliche, 
fast  masochistische  Färbung  ihrer  religiösen  Reue-Litera- 
tur. Die  zunehmende  Befriedigung  ist  faktisch  also  Folge 
der  längsamen  Abnahme  des  Schulddrucks.  Sie  vollzieht 
.  sich  mit  der  objektivierenden  Heraussetzung  der  Schuld 
aus  dem  Personkem  wie  von  selbst. 

Ist  die  Reue  eine  Entmächtigung  der  Schuld,  so  muß 
die  Schuld  auch  irgendwie  gegeben  sein,  wenn  die  Reue 
als  Gegenakt  einsetzt. 

Was  ist  nun  aber  diese  »Schuld«  ?  Sie  ist  jene  Qualität  * 
» böse « ,  die  der  Person  selbst,  dem  Aktzentrum,  durch  ihre 
bösen  Akte  dauernd  zugewachsen  ist.  Eine  Qualität  also, 
m'cht  aber  ein  »Gefühl«  ist  die  Schuld.  Das  sogenannte 
»Schuldgefühl«  ist  von  anderen  Gefühlen  selber  nur  durch 
seine  innere  Sinnbeziehung  auf  diese  Qualität  unterschie- 
den. Ob  man  sich  also  auch  schuldig  fühle  oder  nicht  —  die 
Schuld  haftet.  Die  Feinheit  oder  Stumpfheit  des  Schuld- 
gefühls, resp.  die  Schwellenwerte  des  Fühlens  der  Schuld 
,sind  vom  Dasein  der  Schuld  und  ihrem  Ausmaß  sehr  ver- 
schieden. Gehört  doch  gerade  dieses  zu  den  dunkelsten 


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40  Reue  und  Wiedergeburt- 

Wirkungen  der  Schuld,  daß  sie  sich  im  Wachsen  gleichsam 
selbst  verbirgt  und  das  Gefühl  dir  ihr  Dasein  abstumpft. 
Und  gehört  es  doch  umgekehrt  zum  Wachstum  der  Demut 
und  Heiligkeit  im  Menschen,  daß  —  wie  das  Leben  aller 
Heiligen  bezeugt  —  das  Fühlen  der  Schuld  gerade  mit  ihrer 
objektiven  Abnahme  sich  funktionell  verfeinert  und  daß 
daher  immer  geringere  Verfehlungen  schon  schwer  emp- 
funden werden.  Der  Reueakt  richtet  sich  denn  auch  durch- 
aus nicht  gegen  das  Schuldgefühl,  —  das  er  ja  vielmehr 
gerade  breit  entfaltet  und  ausdehnt  —  er  richtet  sich  viel- 
mehr gegen  jene  objektive  Qualität  der  Schuld  selbst. 
Aber  er  richtet  sich  auf  die  Schuld  »durch«  das  Fühlen  der 
Schuld  hindurch,  so  wie  der  Akt  geistigen  Beachtens  oder 
eine  Bedeutungsintention  durch  das  Sehen  eines  Gegen-. 
Standes,  oder  durch  das  Hören  sich  auf  diesen  Gegenstand 
richtet.  Irgendein  Fühlen  von  Schuld  —  meist  zuerst  un- 
lokalisiert  bezüglich  der  Fragen  »was?«  und  »gegen  wen?« 
oder  >  von  wem  verschuldet? «  —  muß  also  auf  alle  Fälle  den 
Reueakt  einleiten.  Seine  Ausbreitung,  seine  Lokalisie- 
rung, Richtung,  seine  Tiefe  jedoch  —  häufig  selbst  erst 
sein  bestimmtes  Objekt  z.  B.  diese  und  jene  Tat  - —  pflegt 
das  Gefühl  der  Schuld  erst  während  der  Reue  und  nur  durch 
sie  finden.  Ist  die  Schuld  freilich  so  sehr  angewachsen,  daß 
sie  selbst  das  Gefühl  ihres  Daseins  ganz  oder  beinah  er- 
stickt, so  ist  jene  partiale  oder  totale  »Verhärtung«  vor- 
handen, welche  die  Reue  nur  schwer  oder  nicht  mehr 
durchbrechen  kann.  Da  die  Schuld  eine  Qualität  der  Person, 
des  Aktzentrums  des  Menschen,  ist,  die  aus  ihren  Akten 
und  Taten  als  ein  die  Person  »Erfüllendes«  der  Person 
zuwuchs:  so  ist  sie  auch,  so  lange  sie  besteht,  in  jedem 
Akte,  den  die  Person  vollzieht,  heimlich  mitgegenwärtig. 


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Reue  und  Wiedergeburt  a  i 

Nicht  die  kausalen  Folgen  der  bösen  Taten  als  reale 
Wirklichkeiten  der  Natur  bringen  notwendig  ein  ferneres 
Böse  hervor;  sie  können  rein  kausal  ebensowohl  Gutes 
bewirken  oder  Gleichgültiges.  Es  gibt  keine  moralische 
Kausalität  in  diesem  Sinne.  Aber  die  Schuld,  das  finstere 
Werk  dieser  Taten  in  der  Seele  selbst,  geht  in  alles  mit 
hinein,  was  der  Mensch  will  und  tut;  und  sie  bestimmt  ihn, 
ohne  sein  Wissen  in  ihrer  Richtung  weiterzuschreiten.  In- 
sofern ist  auch  jede  Tatreue  nicht  unmittelbar  Reue  über 
eine  Tat,  sondern  Reue  über  das  Verschuldetsein  der 
Person  durch  die  Tat.  Von  der  Seins-Reue  bleibt  die  Tat- 
reue gleichwohl  durch  den  primären  Hinblick  auf  den  Un- 
weltverhalt  der  Tat  geschieden. 

Aber  was  vermag  nun  dieser  Stoß  der  Reue  wider  die  f 
Schuld?  Zwei  Dinge,  die  nur  er  allein  vermag  und  nichts  ' 
sonst.  Er  kann  nicht  die  äußere  Naturwirklichkeit  der  Tat 
und  ihre  Kausalfolgen,  auch  nicht  den  ihr  als  Tat  zukom- 
menden bösen  Charakter  aus  der  Welt  schaffen.  Diese 
alle  bleiben  in  der  Welt.  —  Aber  er  verms^  die  Schuld 
als  das  rückgewirkte  Werk  dieser  Tat  in  der  Seele  des 
Menschen  —  und  damit  die  Wurzel  einer  Unendlichkeit 
von  neuer  böser  Tat  und  neuer  Schuld  —  völlig  zu  töten 
und  auszulöschen.  Die  Reue  vernichtet  wahrhaft  jene 
psychische  Qualität,  welche  »Schuld«  heißt.  Sie  vermag 
•dies  wenigstens  in  ihrer  vollkommenen  Gestalt.  Sie  sprengt 
also  die  Kette  der  durch  das  Schuldwachstum  der  Men- 
schen und  Zeiten  vermittelten  Fortzeugungskraft  des 
Bösen.  Sie  macht  eben  damit  neue,  schuldfreie  Anfänge 
des  Lebens  möglich.  Die  Reue  ist  die  mächtige  Selbst- 
regenerationskraft der  sittlichen  Welt,  die  ihrem  steten 
Absterben  entgegenarbeitet. 


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42  Reue  und  Wiedergeburt. 

Das  ist  die  große  Paradoxie  der  Reue,  daß  sie  im  Blicke 
tränenvoll  zurücksieh  t",  aber  doch  freudig  und  mächtig  nach 
der  Zukunft  hin,  nach  der  Erneuerung,  nach  der  Befreiung 
vom  sittlichen  Tode  hinwirkt.  Ihr  geistiger  Blick  und  ihr 
lebendiges  Wirken  sind  sich  genau  entgegengesetzt.  Der 
Fortschrittler,  der  Meliorist,  der  Perfektionist,  sie  alle 
sagen :  Nicht  bereuen,  sondern  besser  machen.  Ja  das  Gute 
—  es  erscheint  ihnen  selbst  nur  das  bessere  von  Morgen 
zu  sein.  Aber  dieses  ist  nicht  minder  paradox:  Je  mehr 
diese  Leute  nach  vorne  sehn  und  immer  neue  Projekte 
des  »Bessern«  in  ihrem  tatenlustigen  Busen  wälzen,  desto 
furchtbarer  zerrt  die  Schuld  der  Vergangenheit  an  ihrem 
innem  Tun,  zerrt  sie  schon  in  der  Inhaltswahl  ihrer  Vor- 
sätze und  Projekte  —  nicht  erst  in  ihrer  Ausführung; 
desto  tiefer  sinkt  der  ewige  Flüchtling  seiner  Gegenwart 
und  Vergangenheit  eben  dieser  Vergangenheit  in  die  toten 
Arme.  Denn  genau  um  so  mächtiger  wirkt  die  Schuld  der 
Geschichte,  je  weniger  man  sie  gegenständlich  sieht  und 
bereut.  Nicht:  »Die  Reue  unterlassen  und  das  Getane 
künftig  besser  machen  wollen«,  sondern:  »Bereuen,  und 
eben  darum  besser  machen«,  lautet  die  rechte  Wei- 
sung. Nicht  die  Utopie,  sondern  die  Reue  ist  die  revo- 
lutionärste Kraft  der  sittlichen  Welt. 

Sehen  wir  also  auf  den  Akt  der  Fassung  des  guten 
Vorsatzes,  auf  Gesinnungsänderung  und  Gesinnungswan- 
del, auf  das  »neue  Herz«:  so  ist  dies  alles  kein  von  der 
Reue  abgelöstes  nur  zeitlich  folgendes  willkürliches  Tun 
oder  eine  ebensolche  Hervorbringung,  welche  die  Reue 
wie  ein  Überflüssiges  überspringen  könnte.  All  dies  quillt 
aus  der  Reue  wie  von  selbst  hervor.  Denn  all  dies  ist  nur 
die  Frucht  der  natürlichen  Tätigkeit  der  sich  selbst 


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Reue  und  Wiedergeburt.  43 

überlassenen,  von  Schuld  freigewordenen,  wieder  in  sich 
selbst  und  ihr  ursprüngliches  Hoheitsrecht  eingesetzten 
Seele.  Je  weniger  der  »gute  Vorsatz«  schon  im  Reuevor- 
gang intendiert  wird,  desto  machtvoller  wird  er  sich  am 
Ende,  eigenmächtig  und  fast  ohne  Nachhilfe  des  bewuß- 
ten Willens,  aus  der  Reue  wie  von  selbst  erheben.  Und 
je  weniger  der  Bereuende  geistig  in  seinem  Reueakt  auf 
die  Güte  des  jetzt  bereuenden  Ich  hinschielt  —  und  damit 
auch  die  Reue  zu  einem  neuen  Anlaß  seiner  Eitelkeit  und 
eines  geheimen  Ruhms  vor  sich  selbst  oder  gar  vor  Gott 
macht  — ;  je  schmerzensreicher  er  wie  verloren  ist  in 
die  Tiefe  seiner  Schuld:  auf  desto  königlichere  Weise 
reckt  sich,  ungesehn  von  ihm  selbst,  seine  gottgeschaffene 
Seele  empor  aus  jenem   Staube  des  Irdischen,  der  sie 
bisher  durchdrang  und  der  ihr  den  freien  Atem  nahm. 
Je  tiefer  hinein  in  die  Seins- Wurzeln  eines  persönlichen 
Aktzentrums  die  Reue  hierbei   greift:   desto  mehr  er- 
scheint sie  uns  als  ein  Vorgang,  der  auf  höherem,  gei- 
stigem Gebiete  dasselbe  ist,  wie  auf  biologischem  Ge- 
biete der  von  Goette  beschriebene  elementarste  Fall  von 
Wiedergeburt  und  Tod  des  Tieres,  in  dem  beide  wie  in 
einem  Prozeß  zusammenfallen  und  das  sich  selbst  zer- 
legende Tier  sich  wieder  neu  aufbaut. 

Denn  es  gibt  keine  Reue,  die  nicht  den  Bauplan  eines 
»neuen  Herzens«  schon  von  ihrem  Anbeginn  in  sich  trüge, 
Reue,  tötet  nur,  um  zu  schaffen.  Sie  vernichtet  nur,  um 
aufzubauen.  Ja,  sie  baut  schon  dort  heimlich,  wo  sie  noch 
zu  vernichten  scheint.  So  ist  Reue  die  gewaltige  Tatkraft 
in  jenem  wunderbaren  Prozesse,  den  das  Evangelium 
»Wiedergeburt«  eines  neuen  Menschen  aus  dem  »alten 
Adam«,  Empfang  eines  »neuen  Herzens«  nennt. 


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i^4  #  Reue  und  Wiedergeburt. 

Es  ist  eine  sehr  äußerliche  Vorstellung,  daß  die  Reue 
nur  angesichts  ganz  besonderer,  zutage  liegender  Misse- 
taten und  Verschuldungen  einzusetzen  habe,  die  dann 
ebensosehr  wie  die  auf  sie  bezogenen  Reueakte  eine 
bloße  Summe  bildeten,  indem  die  Verschuldungen  durch 
eine  Summe  von  Reueakten  beglichen  werden  sollten. 
Das  dunkle  Erdreich  der  Schuld,  von  der  wir  reden, 
hat  solche  Taten  und  Verschuldungen  nur  zu  seinen 
sichtbarsten  Baumgipfeln.  Die  Schuld  selbst  bildet  das 
verborgne  Kraftreservoir  in  der  Seele,  aus  dem  jene  ein- 
zelnen Verschuldungen  sich  nähren.  In  dieses  unterirdische 
Reich  der  Seele,  in  das  verborgene  Reich  ihrer  Schuld 
muß  sich  die  Reue  hinabsenken,  ja  hinabgleitend  das  Be- 
wußtsein fiir  ihr  dunkles  und  verborgenes  Dasein  allererst 
wecken.  Wer  daher  spräche:  »Ich  bin  mir  keiner  Schuld 
bewußt;  also  habe  ich  nichts  zu  bereuen«  —  der  wäre 
entweder  ein  Gott  oder  ein  Tier.  Ist  der  Sprechende 
aber  ein  Mensch,  so  weiß  er  vom  Wesen  der  Schuld  noch 
nichts.  — 

Und  auch  darüber  werde  sich  der  Mensch  klar:  Die 
Reue  ist  nicht  nur  ein  Vorgang  in  der  individuellen  Seele, 
sie  ist  gleich  ursprünglich  wie  die  Schuld  auch  ein  soziale 
historische  Gesamterscheinimg.  Das  große  Prinzip  der 
Solidarität^  aller  Kinder  Adams  in  Verantwortlichkeit, 
Schuld  und  Verdienst  besagt,  daß  Bestand  der  Mitverant- 
wortlichkeit und  Tatsache  und  Bewußtsein  jedes  Einzelnen 
von  seiner  Mitverantwortlichkeit  fiir  alles  Geschehen 
des  moralischen  Kosmos  nicht  erst  geknüpft  sind  an  jene 
je  sichtbaren,  nachweisbaren  Wirkungen,  welche   die 

^  Vgl.  meine  strenge  Ableitung  des  Solidaritätsprinzips  in  „Fonnalismus  in 
der  Ethik  etc."  II.Teü. 


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Reue  und  Wiedergeburt  45 

Einzelnen  direkt  oder  durch  die  Mittelglieder  der  ihnen  er- 
kennbaren sozialen  und  historischen  Kausalgewebe  auf- 
einander ausüben.  Diese  Wirkungen  und  das  Bewußtsein 
von  ihnen  lokalisieren  vielmehr  nur  den  Blick  auf  jene 
Punkte  des  moralischen  Kosmos,  für  die  wir  unsere  Mitver- 
antwortung auch  bestimmt  kennen  können.  Nicht  aber 
schaffen  sie  erst  die  Mitverantwortung  und  das  uns  —  so- 
fern wir  sittlich  geweckt  sind  —  stets  begleitende  Gefiihl 
von  ihr.  Die  pure  Form  der  Mitverantwortlichkeit  aber: 
das  stete  Bewußtsein,  daß  auch  die  gesamte  moralische 
Welt  von  Vergangenheit  und  Zukunft,  aller  Sterne  und 
Himmel,  ganz  radikal  anders  sein  könnte,  wenn  »ich«  nur 
»anders«  wäre;  das  tiefe  Gefühl  dafür,  daß  die  geheimen 
Gesetze  des  Echos  von  Liebe  und  Haß  und  die  Gesetze 
ihrer  Fortpflanzung  durch  die  Unendlichkeit  alle  Regungen 
aller  endlichen  Herzen  zu  einem  jeweilig  anders  gearteten 
Zusanunenklang,  oder  zu  einer  jedesmal  andersgearteten 
Disharmonie  gestalten,  die  von  dem  Ohre  Gottes  nur  als 
ungeteiltes  Ganzes  vernommen  und  gerichtet  werden  — 
diese  ursprüngliche  Mitverantwortlichkeit  ist  für  den 
Bestand  eines  moralischen  Subjekts  genau  so  wesendich, 
wie  es  die  Selbstverantwordichkeit  ist.  Die  Mitverant- 
wordichkeit  wird  nicht  erst  durch  besondere  Akte  der 
Verpflichtung  oder  durch  ein  Versprechen  gegen  An- 
dere »übemonunen«,  sondern  sie  ist  schon  die  innere 
Voraussetzung  auch  für  die  Möglichkeit  dieser  Ver- 
pflichtungen. Darum  ist  auch  die  Reue  gleich  ursprüng- 
lich auf  imsre  Mitschuld  an  jeglicher  Schuld  bezogen 
wie  auf  unsre  Selbstverschuldung;  ebenso  ursprüng- 
lich auf  die  tragische  Schuld,  der  wir  unverschuldet  »ver- 
&IIen«,  wie  auf  die  verschuldete  Schuld,  die  wir  frei  wäh- 


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46  Reue  und  Wiedergeburt. 

lend  auf  uns  nahmen;  ebenso  ursprünglich  auf  die  Ge- 
samtschuld und  Erbschuld  der  Gemeinschaften,  der  Fa- 
milien, Völker  und  der  ganzen  Menschheit  wie  auf  die 
Einzelschuld.  Es  heißt  die  chrisdiche  Lehre,  die  das  Soli- 
daritätsprinzip zu  einer  ihrer  Wurzeln  hat,  sehr  flach  aus- 
deuten, wenn  man  sagt,  man  solle  angesichts  fremder 
Schuld  nur  nicht  »richten«,  vielmehr  seiner  eigenen  indivi- 
duellen Schuld  erinnernd  gedenken.  Man  soll  vielmehr  — 
dieses  ist  der  wahre  Sinn  der  Lehre  —  nicht  nur  seiner 
eigenen  Schuld  gedenken,  sondern  sich  auch  wirklich  mit- 
schuldig fühlen  an  dieser  »fremden«  Schuld  und  an  der 
Gesamtschuld  der  Zeit;  und  man  soll  darum  auch  solche 
Schuld  als  seine  »eigene«  mitbetrachten  und  mitbereuen. 
Das  ist  der  wahre  Sinn  des  mea  culpa,  mea  culpa,  mea 
maxima  culpa! 

Dergestalt  sehen  wir  auch  in  der  Geschichte,  wie  der 
Reueakt  zu  einem  machtvollen  Strome  werden  kann;  wie 
er  ganze  Völker,  ja  Kulturkreise  generationenlang  durch- 
rauscht; wie  er  die  verstockten  und  verhärteten  Herzen 
öffnet  und  lebensweich  macht;  wie  er  die  angesammelte 
Schuld  der  Zeiten  aus  dem  Gesamtleben  der  Gemein- 
schaften herauszustoßen  sich  anschickt;  wie  er  die  dem 
Völkerstolze  verborgene  Vergangenheit  der  Völker  Ge- 
i^chichte  belichtet,  wie  er  die  vorher  immer  mehr  sich  ein- 
engende Zukunft  wieder  zu  einem  weiten  hellen  Plane  von 
Möglichkeiten  erweitert — und  so  die  Regeneration  auch 
eines  moralischen  Gesamtdaseins  vorbereitet.  Diese  Vor- 
gänge einer  Gesamtteue  —  fiir  eine  angesammelte  Ge- 
samtschuld —  kehren  in  eigentümlicher  Rhythmik  durch 
die  Geschichte  fast  aller  großen  Gemeinschaften  hindurch 
wieder.  Sie  erscheinen  in  den  mannigfachsten  Formen 


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Reue  und  Wiedergeburt  a*j 

und  Ausdrucksweisen  —  je  nach  dem  sozialen  System 
und  je  nach  der  positiven  Religion  und  Sittiichkeit  der 
Völker.  Das  junge  Christentum  hat  nicht  zum  mindesten 
durch  die  unversieglichen  Tränen  seiner  Reue  die  in  Ge- 
nuß, —  Macht-  und  Ruhmsucht  verhärtete  Welt  des  aus- 
gehenden Altertums  erneut  und  ein  neues  Gefühl  der  Ju- 
gend dieser  Welt  eingegossen.  Welch  großer  Teil  aller 
Gedanken  und  Gefühle  der  patristischen  Literatur  ist  von 
dieser  Reue  wie  durchdrungen!  Eine  andere  gewaltige 
Reuewelle  durchläuft  die  Völker  Europas  nach  der  immer 
wilder  und  lebensfeindlicher  um  sich  greifenden  Rohheit 
des  elften  Jahrhunderts.  Diese  Reue  vernichtete  die  da- 
malige verzweifelte,  die  letzte  Utopie :  es  werde  demnächst 
das  Ende  der  Welt  eintreten  und  Christus  wiederkommen 
—  und  sie  bereitete  damit  jene  geistige  und  religiöse 
Wiedergeburt  vor,  deren  größter  Führer  der  heilige  Bern- 
hard von  Clairveaux  werden  sollte.  Dona  Lacrimarum, 
so  nannte  man  damals  das  neue  Gnadengeschenk  eines 
Reue-  und  Bußwillens,  in  welchem  Europa  sich  zu  seiner 
großen  Unternehmung  der  Kreuzzüge  zusammenschloß, 
und  in  welchem  die  Erneuerung  des  alten,  unter  einem 
rohen,  verderbten  und  verweldichten  Geiste  der  Geistlich- 
keit und  unter  der  schrankenlosen  Willkür  der  weltlichen 
Mächte  erstarrten  kirchlichen  Lebens  sich  vollzog.  »Es 
erwachte  aus  der  Wut  der  Leidenschaften  und  der  rohen  ' 
Ausbrüche  der  Gewalt  ein  mächtiges  Gefühl  der  Buße« 
(Neander:  »Der  heilige  Bernhard  und  sein  Zeitalter«). 
Aufbau,  Erstarrung  und  Überdifferenzierung  der  Kultur, 
dann  wieder  reuemäßige  Auflösung  und  gleichsam  Zurück- 
nahme ihrer  Bauglieder  in  einen  neuen  schöpferischen, 
alles  wiedergebärenden  Geist  und  Lebenswillen:  dieses 


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^8  •  Reue  und  Wiedergeburt. 

ist  nicht  nur  das  Gesetz,  nach  dem  die  kleine  individuelle 
'  Seele  atmet,  es  ist  auch  das  Gesetz  des  Atems  für  die 
große  Seele  der  geschichtlichen  Menschheit.  Auch  auf  dem 
Boden  der  Geschichte  vermißt  das  tiefere  Auge  in  allen 
Sphären  das  Bild  einer  kontinuierlichen,  » fortschreitenden 
Entwicklung«,  —  das  törichte  Bild,  welches  unser  19.  Jahr- 
hundert so  lange  geäfft  und  unsem  Augen  das  schönere, 
allen  Fortschritt  umschließende  erhabenere  Gesetz  des 
»Stirb  und  Werde«  verborgen  hat. 

Getragen  von  solchepi  Gefühlsausbruch  —  dessen  Macht 
und  Größe  angemessen  sein  wird  der  Größe  unsrer  euro- 
päischen Gesamtschuld,  die  in  diesem  Kriege  mehr  offen- 
sichdich  und  ausgedrückt  als  erst  verschuldet  wurde  — 
getragen  von  der  Reue  wird  auch  jene  Umkehr  erfol- 
gen, welche  allein  die  innere  Voraussetzung  ist  für  die 
Bildung  eines  neuen  außenpolitischen  Systems  der  euro- 
päischen Vereinbarung.  Keine  neue  juristische  Weisheit 
und  kein  noch  so  guter  Wille  der  Staatsmänner,  auch 
keine  »Revolution«  und  keine  »neuen  Männer«  können 
diese  Sinnesänderung  der  Völker  selbst  ersetzen. 
Auch  bei  diesem  großen  Gegenstande  ist  die  Umkehr  die 
der  Seele  unvermeidliche  Form  der  neuen  Vorkehr.  Auch 
hier  ist  das  neue  Gefiihl  der  tiefen  Entfremdung  von 
einem  menschlich-geschichdichen  System,  wie  es  vor  die- 
sem Kriege  bestand;  ist  die  reuegespomte  langsame 
Aufdeckung  der  tiefen  Wurzeln  des  Ereignisses  in  den 
seelischen  Untergründen  des  überall  und  bei  allen  Völ- 
kern und  Staaten  führenden  Menschentypus  die  not- 
wendige Bewußtseinsform,  aus  der  allein  sich  neue  posi- 
tive Gesinnungen  und  schließlich  neue  Baupläne  des  poli- 
tischen Daseins  gebären  können. 


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R«uc  und  Wiedergeburt  ^g 

Alle  jene  zahlreichen  Ideensysteme,  die  sich  der  moderne 
Mensch  ausgeklügelt  und  angezüchtet  hat,  um  der  in  ihm 
wachsenden  Schuld  zu  entkommen:  sie  alle  müssen  in 
diesem  Prozesse  zerbrochen  werden.  Denn  dieses  ist  das 
Grundverhalten  des  jüngsten  Menschentypus,  der  aus  der 
Erlebnisstruktur  des  Christentums  endgültig  herausge- 
treten schien:  Er  ließ  die  Schuld  der  Zeiten  so  lange  an- 
wachsen, bis  er  sie  nicht  mehr  zu  sühnen,  ja  zu  fühlen  und 
zu  denken  wagte,  und  bis  ihm,  eben  hierdurch  die  von 
ihm  selbst  schuldhaft  verdunkelte  Schuld  als  bloße  objek- 
tive Macht  von  »Verhältnissen«,  ökonomischen  Verhält- 
nissen zum  Beispiel,  wie  in  sie  vermummt  entgegentritt, 
—  von  ^»Verhältnissen«,  denen  man  sich  widerspruchslos 
zu  beugen  habe.  Reißt  euren  »Verhältnissen«  die  sie  ver- 
mummende Maske  herunter:  So  gewahrt  ihr  hinter  ihnen 
die  Schuld.  Die  eigene  unbereute  Schuld  oder  die  seiner 
Väter  tritt  dem  Modernen  von  außen  gegenüber  einem 
Gespenste  gleich,  in  dem  sich  seine  Seele  nicht  wieder- 
^  erkennt.  Wie  ein  neues  Ding,  wie  eine  äußre  Macht,  wie 
ein  »Schicksal«,  von  außen  her  stellt  sich  die  Schuld 
vor  seinen  beirrten  Verstand  hin.  Ganze  wissenschaft- 
liche komplizierte  Theorien  fordert  das  Gespenst  zu 
seiner  »Erklärung«.  Alle  historisch -deterministischen 
Theorien  (so  zum  Beispiel  die  ökonomische  Geschichts- 
äufiassung)  sind  ja  heimlich  von  diesem  Gebunden- 
heitsgefiihl  gespeist,  das  Hur  die  natürliche  Folge  eines 
seelischen  Seins  und  Verhaltens  ist,  das  den  einzigen 
Weg  zu  der  immer  wieder  nötigen  Befreiung  prinzipiell 
und  systematisch  ausschlägt:  die  immer  neue  Luftzufuhr 
für  den  Atem  des  unter  der  Last  seiner  Geschichte  er- 
stickenden Selbst,  —  den  Weg  der  Reue.  Selbsttäuschung 


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CO  Reue  und  Wiedergeburt* 

über  die  kaum  mehr  gefühlte,  aber  darum  um  so  mehr 
wirksame  Schuld,  Selbsttäuschung  durch  grenzenlose 
Arbeit,  welche  den  puren  Prozeß  des  Arbeitens  zu  einem 
absoluten  Wert  erhöht;  oder  Selbsttäuschung  durch  Stütz 
in  die  pure  Genußwelt  sinnlicher  Empfindung;  ewig  pro- 
visorisches Leben,  das  jeden  Lebenssinn  automatisch  bis 
zum  Tode^  in  die  Zukunft,  auf  das  » nächste  Mal «  verschiebt 
und  sich  dann  als  » Fortschritts  «wille  und  -lehre  logisch 
und  moralisch  rechtfertigt:  das  sind  einige  solcher 
»Systeme  «.7— 

Wir  sagten  zu  Beginn,  daß  sich  uns  in  den  Regungen 
des  Gewissens  eine  unsichtbare  Ordnung  unsrer  Seele 
und  unsers  Verhältnisses  zu  ihrem  obersten  Haupte  und 
Schöpfer  ganz  von  selbst  —  ohne  Deutung  unserseits  — 
präsentiere.  Auch  die  Reue  nimmt  erst  dann  ihren  vollen 
Sinn  an  und  gewinnt  erst  dann  ihre  volle  Sprache,  wenn 
sie  —  hinaus  über  ihre  noch  der  Ordnung  der  Natur  an- 
gehörige  Bedeutung  der  Schuldentlastung  —  eingefügt 
erlebt  ist  in  einen  metaphysisch-religiösen  Welt-  ^ 
Zusammenhang.  Sie  nimmt  ihren  vollen  Sinn  erst  an,  wenn 
sie  nicht  länger  nur  das  Bös'e  trifft,  sondern  jenes  Böse 
in  den  Augen  Gottes,  das  Sünde  heißt.  In  diesem  Hinblick 
auf  Gott  lernt  die  Seele  die  Befriedigung  in  der  Reue  und 
ihr  eigenes  Neuwerden  durch  die  Reue  verstehn  als  den 
geheimnisreichen  Vorgang  »Vergebung  der  Sünde«  und 
als  Eingießung  einer  neuen  Kraft  aus  dem  Zentrum  der 
Dinge.  Diese  Kraft  heißt  Gnade.  Es  mag  von  sehr  vielen 
Bedingungen  abhängen,  wie  sich  die  Vorstellungen  und  die 
nähern  dogmatischen  Begriffe  über  diesen  großen  Vorgang 
ausgestalten,  und  wie  sich  Reue,  Bekenntnis,  Buße,  Recht- 
fertigung, Versöhnung  und  Heiligung  im  System  einer 


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Reue  und  Wiedergeburt.  5  I 

Kirche  als  objektiver  Heilanstalt  darstellen.  Die  einfache 
Wurzel  all  dieser  Vorstellungen  und  Institute  ist  aber 
inuner  dieselbe.  Sie  gründen  darin,  daß  die  Reue,  obgleich 
sie  als  unser  persönlicher  Akt  sich  auf  unser  eigenes  schuld- 
beladenes Herz  richtet,  unser  Herz  von  selbst  transzen- 
diert  und  über  seine  Enge  hinausspäht,  um  es  aus  seiner 
Ohnmacht  in  ein  geahntes  Zentrum  der  Dinge,  in  aller 
Dinge  ewige  Kraftquelle,  zurücktauchen  zu  machen.  Das  ge- 
hört; zum  immanenten  »Sinn«  der  vollerlebten  Reue  selbst. 
Wenn  es  nichts  anderes  in  der  Welt  gäbe,  woraus  wir  die 
Idee  Gottes  schöpfen:  die  Reue  allein  könnte  uns  auf  Got-" 
tes  Dasein  aufmerksam  machen.  Die  Reue  beginnt  mit  einer 
Anklage!  Aber  vor  wem  klagen  wir  uns  an.^  Gehört  nicht 
zum  Wesen  einer  »Anklage«  auch  wesensnotwendig  eine 
Person,  die  sie  vernimmt  und  vor  der  die  Anklage  stattfin- 
det.? —  Die  Reue  ist  femer  ein  inneres  Bekenntnis  unsrer 
Schuld.  Aber  wem  bekennen  wir  denn,  wo  doch  die  Lippe 
nach  außen  schweigt  und  wir  allein  mit  unserer  Seele  sind? 
Und  wem  schuldet  sich  diese  Schuld,  die  uns  drückt?  Die 
Reue  endet  mit  dem  klaren  Bewußtsein  der  Schuldauf- 
hebung, der  Schuldvemichtung.  Aber  wer  hat  die  Schuld 
von  ims  genommen,  wer  oder  was  vermag  solches?  Die 
Reue  spricht  ihr  Urtieil  nach  einem  als  »heilig«  empfun- 
denen Gesetz,  das  wir  selbst  uns  nicht  gegeben  haben 
wissen,  das  unserm  Herzen  trotzdem  einwohnt.  Und  sie 
entbindet  uns  dennoch  fast  in  dem  selben  Atom  von  den 
Folgen  dieses  Gesetzes  für  uns  und  unser  Tun!  Wo  aber 
ist  der  Gesetzgeber  dieser  Gesetzes,  und  wer  anders  als 
sein  Gesetzgeber  könnte  die  Folge  des  Gesetzes  für  uns 
hemmen?  Die  Reue  gibt  uns  eine  neue  Kraft  zum  Vor- 
satz und — in  gewissen  Fällen  —  ein  neues  Herz  aus  der 

4^ 


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5  2  Reue  und  Wiedergeburt. 

Asche  des  alten.  Wo  aber  ist  die  Kraftquelle  und  wo  ist 
die  Idee  fiir  die  Konstruktion  dieses  neuen  Herzens  und 
wo  die  seinen  Bau  erwirkende  Macht? 

Aus  jeder  Teilregung  dieses  großen  moralischen  Vor- 
gangs zielt  also  eine  intentionale  Bewegung  in  eine  un- 
sichtbare Sphäre  hinein,  eine  Bewegung,  die,  nur  sich 
selbst  überlassen  und  nicht  abgelenkt  durch  irgendwelche 
vorschnelle  Deutung,  uns  auch  wie  von  selbst  die  geheim- 
nisvollen Umrisse  eines  unendlichen  Richters,  einer  unend- 
lichen Barmherzigkeit  und  einer  unendlichen  Macht  und 
Lebensquelle  vor  den  Geist  zeichnet.  — 

Das  hier  Gesagte  ist  noch  kein  spezifisch  christlicher 
Gedanke,  geschweige  denn  ein  auf  positiver  Offenbarung 
beruhender  Lehrgehalt.  Es  ist  nur  in  jenem  Sinne  christ- 
lich, in  dem  die  Seele  selbst,  wie  TertuUian  sagt,  von 
Natur  aus  eine  Christin  ist.  Und  doch  haben  selbst  diese 
natürlichen  Funktionen  der  Reue  erst  in  der  christlichen 
Kirche  ihr  volles  Licht,  ihre  volle  Bedeutung  erhalten. 
Denn  durch  ihr  System  macht  uns  allein  die  chrisdiche 
Lehre  verständlich,  warum  die  Reue  die  zentrale  Funktion 
der  Wiedergeburt  im  Leben  des  Menschen  besitzt. 

Es  ist  furchtbar,  daß  wir  das  Leben  nur  gewinnen  kön- 
nen auf  dem  dunkeln  Schmerzensweg  der  Reue.  Aber  es 
ist  herrlich,  daß  es  überhaupt  einen  Weg  zum  Leben  für 
uns  gibt.  Und  verlieren  wir  es  nicht  notwendig  durch  die 
sich  ansammelnde  Schuld  ? 

Wie  muß  eine  Welt  beschaffen  sein,  in  der  so  etwas 
schon  notwendig  und  doch  noch  eben  möglich  ist.  In  wel- 
chem sonderbaren  Verhältnis  zu  ihrem  Schöpfer  muß  sich 
diese  Welt  befinden?  Und  wieso  ist  es  immer  und  für 
jeden  notwendig?  Ich  antworte  mit  einem  Gedanken  des 


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Reue  und  Wiedergeburt  ^  j 

Kardinals  Newman  aus  seiner  »Apologia  pro  vita  sua<: 
»Entweder  gibt  es  keinen  Schöpfer  oder  das  Menschen- 
geschlecht hat  sich  im  jetzigen  Zustande  von  seiner  Gegen- 
wart ausgeschlossen.  Wenn  es  einen  Gott  gibt  —  und  weil 
es  sicher  ist,  daß  es  einen  gibt  — ,  muß  das  Menschen^- 
gescWecht  in  eine  furchtbare  Erbschuld  verstrickt  sein; 
es  ist  nicht  me^  ihi  Einklang  mit  den  Absichten  des 
Schöpfers.  Das  ist  eine  Tatsache  so  sicher  wie  mein  eigenes 
E)asein.  So  wird  mir  die  Lehre  dessen,  was  die  Theologen 
Erbsünde  nennen,  ebenso  ^ewiß  wie  die  Existenz  der  Welt 
und  die  Existenz  Gottes. « 

Der  so  einfache  wie  große  Gedanke  Newmans  lautet  in 
unserer  Formulierung:  Ich  besitze  eine  vollkommen  klare 
und  in  sich  selbst  evidente,  geistige  Anschauung  vom 
Wesen*  eines  möglichen  Gottes  als  dem  eines  unend- 
lichen Seins  und  eines  Summum  Bonum.  Ich  kann  gewiß- 
machen, daß  ich  diese  Idee  nicht  aus  irgendeiner  Tat- 
sache und  Gestalt  der  innem  oder  äußern  realen  Welt 
entnommen  habe,  auch  nicht  aus  ihr  irgendwie  erschlossen 
oder  sonst  von  ihr  erborgt.  Vielmehf  gewahre  ich  die  Welt 
ebenso  wie  mein  Selbst  nur  unter  dem  Lichte  dieser  Idee: 
in  lumine  Dei,  3vie  Augustin  sagt.  Es  ist  sogar  ein  Wesens- 
bestandteil dieser  vollentfalteten  Idee  einer  geistigen  Per- 
son, daß  nur  eine  ihr  entsprechende  Wirklichkeit  —  wenn 
es  eine  solche  gibt  —  dem  Menschen  allein  sich  bezeugen 
kann:  dadurch  bezeugen  kann,  daß  sie  sich  offenbart. 
Also:  Wenn  es  eine  dieser  Idee  entsprechende  Realität 
gibt,  kann  ich  nie  in  der  Lage  sein,  diese  Realität  durch 

'  Es  ist  hier  nicht  die  Rede  vom  ofienbarungsmäfligen  Wesen  Gottes  an 
sich  (unabhängig  von  Gottes  Weltbezogenheit),  sondern  nur  vom  Wesens- 
inhalte der  natürlichen  Gottesidee. 


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54  Reue  und  Wiedergeburt. 

Spontane  Akte  meines  Bewußtseins  festzustellen.  Ich  weiß 
evident:  niemals  könnte  ich  die Nichtexistenz  einer  Reali- 
tat,  die  dem  Wesen  der  mir  so  klaren  Idee  eines  persön- 
lichen Gottes  genau  entspricht,  von  dem  bloßen  Schwei- 
gen dieser  Realität  unterscheiden :  von  ihrer  Zurückhaltung. 
Aber  ich  glaube,  es  habe  die  Realität  dieses  Wesens  im 
alten  Bunde  und  in  vollendetster  P^rm  in  Christo  sich 
selbst  bezeugt  —  nachdem  Spuren  von  ihr  in  der,  die 
Geschichte  begeistenden,  universellen  Offenbarung  an  ver- 
schiednen  Punkten  mit  verschiedner  Deutlichkeit  sichtbar 
geworden  sind.  — 

Solches  sind  einige  der  Grundlagen  meines  Wissens  um 
Gott.  Weiß  ich  darnach  von  Gottes  Realität,  ohne  diese 
Realität  aus  dem  Dasein  der  Welt  erschlossen  oder  er- 
borgt zu  haben,  so  habe  ich  in  zweiter  Linie  auch  guten 
Grund  zur  Annahme,  es  sei  diese  Welt  nicht  absolut 
selbständig  in  sich,  und  sie  sei  nicht  ebenso  ursprünglich 
wie  Gott,  sondern  aus  seinen  Schöpferhänden  hervor- 
gegangen^. Nun  aber,  und  nachdem  ich  dies  festgestellt, 
fällt  mein  Blick  auf  diese  Welt,  so  wie  sie  ist,  auf  den 
Menschen,  so  wie  er  sich  in  seinem  gesamten  Treiben  in 
der  mir  zugänglichen  Geschichte  wirklich  darstellt.  Können 
Welt  und  Mensch  nun  ebenso  wie  sie  sind,  aus  den 
Schöpferhänden  Gottes  hervorgegangen  sein?  Alles  in  mir 
spricht:  Nein!  Damit  aber  ist  die  Idee  irgendeiner  Form 
des  Abfalls,-  der  Verschuldung  und  der  Erbsünde,  von 
selbst  gegeben  als  die  einzige  Erklärung  des  Unter- 
schiedes einer  von  dem  absolut  vollkommenen  Gott  ge- 
schaffenen Welt  und  derjenigen  Welt,  wie  sie  mir  als 
wirklich  beka.nnt  ist. 

^  Die  zeitliche  Schöpfung  bleibt,  hier  dahingestellt 


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Reue  und  Wiedergeburt.  c  c 

Erst  in  diesem  Zusammenhang  gewinnt,  wie  so  vieles 
andre^  a.uch  die  Reue  ihren  vollen  Sinn  —  wenigstens 
wird  sie  so  zu  jenem  dauernd  Notwendigen,  als  das 
¥rir  sie  früher  ansahn. 

Am  Beginn  dieser  Weltgeschichte  steht  eine  Schuld! 
Wie  sollte  es  darum  eine  andre  Form  der  ewigen  Re- 
generation geben  als  die  Form  der  Reue? 

Über  die  chrisdiche  Kontritionslehre  und  über  die  Ge- 
staltungen, die  diese  Lehre  in  den  christlichen  Kirchen  und 
Sekten  angenommen  hat,  habe  ich  hier  kein  Urteil  ge- 
fiült.  Denn  die  Absicht  war,  zu  zeigen,  wie  weit  allein  phi- 
osophische  Besinnung  hier  führen  kann.  Vergleiche  ich 
nun  aber  mit  diesen  Lehren  das  Gewonnene:  so  finde  ich 
die  tiefste  Erkenntnis  von  Bedeutung  und  Sinn  des  Reue- 
aktes im  Christentum  und  innerhalb  seiner  wieder  in  der 
katholischen  Kirche.  Zu  dem.  Eigentümlichsten  der  christ- 
iTchen  Reueauffassung  scheinen  mir  — :  bei  Absehung  von 
allen  Einzelheiten  der  Rechtfertigungslehren  —  zwei  Dinge 
zu  gehören:  Erstens  die,  zunächst  sehr  paradoxe  Vor- 
stellung, daß  der  Rhythmus  von  Verschuldung  und  Reue 
nicht  nur  notwendig  zum  Leben  des  gefallenen  Men- 
schen gehöre,  sondern  daß  die  vollkommene  Reue  noch 
über  den  Stand  der  Schuldlosigkeit  hinaufführe  in  einen 
höheren  Daseinsstand,  der  ohne  die  vorhergehende  Sünde 
und  folgende  Reue  unerreichbar  gewesen  wäre.  Dieser 
Gedanke  drückt  sich  makrokosmisch  gleichsam  aus  in  der 
Lehre,  daß  die  Erlösungstat  Christi  nicht  nur  die  Sünde 
Adams  getilgt,  sondern  den  Menschen  darüber  hinaus  in 
eine,  fortan  tiefere  und  heiligere  Gemeinschaft  mit  Gott,- 
als  sie  Adam  besaß,  versetzt  habe  —  obzwar  der  im 
Glauben  und  der  Nachfolge  Erlöste  die  volle  Integrität 


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5  6  Reue  und  Wiedergeburt. 

Adams  nicht  wieder  erhält  und  die  ungeordnete  Begierde, 
die  »Konkupiszenz«,  bestehn  bleibt.  Und  wieder  gibt  sich 
derselbe  Rhythmus  von  Fall  und  Aufstieg  über  den  Ur- 
ständ hinaus  gleichsam  mikrokosmisch  kimd  in  dem  evan- 
gelischen Satze:  daß  im  Himmel  mehr  Freude  ist  über 
einen  reuigen  Sünder  als  über  tausend  Gerechte. 

Besonders  der  erste  dieser  beiden  Gedanken  gibt  dem 
Falle  der  Menschheit  in  Adam  und  ihrer  Erhebung  in  die 
Gottesgemeinschaft  durch  die  Menschwerdung  Christi  erst 
volles  Licht  und  letzte  Erhabenheit.  Früh  schon  fühlten  die 
großen  chri^tlichenTheologen,  daß  eine  Auffassung,  die  das 
Wesen  und  den  Grund  der  Inkarnation  ausschließlich  in  die 
mideidige  Barmherzigkeit  Gottes  mit  dem  gefallenen  Men- 
schen und  eine  bloße  Heilung  und  Wiederherstellung  des 
Menschen  verlegte,  die  Gott  durqjh  den  Fall  und  die  Erb- 
sünde gleichsam  abgenötigt  gewesen  wäre,  der  Erhaben- 
heit der  Inkarnation  nicht  gerecht  werde.  Gott  hätte  den 
gefallenen  Menschen  auch  auf  andere  Weise  zu  heilen 
vermocht  und  ihm  seine  Sünde  vergeben  können  als  da- 
durch, daß  er  —  der  Unendliche  —  selbst  Mensch  und 
Fleisch  ward.  Und  andererseits  hätte  die  Inkarnation  — 
nach  allgemeiner  Lehre  der  Theologie  —  auch  ohne  Sün- 
denfall und  Erbsünde  erfolgen  können.  Die  Inkarnation 
bleibt  also  eine  freie  Tat  Gottes.  Zwischen  einer  bloßen 
Rückerhebung  des  gefallenen  Menschen  auf  seine  natürliche 
Höhe  (vor  dem  Fall)  und  der  unendlichen  Erhabenheit  der 
Menschwerdung  des  absoluten  Herrn  der  Dinge  gibt  es 
keine  sinnvolle  Proportion.  Nur  darum  darf  auch  die  Kirche 
angesichts  des  Falles  ihr  »felix  culpa«  singen,  weil  die 
Erhebung  des  Menschen  und  der  Welt  durch  den  süb- 
stanziellen  Eingang  Gottes  in  ein  Glied  der  Menschheit  den 


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Reue  und  Wiedergeburt.  i^y 

Menschen  auf  eine  unvergleichlich  erhabenere  Höhe  hinauf- 
hebt als  diejenige  ist,  auf  der  er  sich  im  Urstande  befand. 
»Da  die  Fülle  des  menschlichen  Geschlechts  —  sagt 
der  hl.  Leo  im  Einklang  mit  vielen  Anderen  —  in  den 
ersten  Menschen  gefallen  war,  so  wollte  der  barmherzige 
Gott  der  nach  seinem  Bilde  geschaffenen  Kreatur  durch 
seinen  eingeborenen  Sohn  Jesus  Christus  so  zu  Hilfe  kom- 
men, daß  nicht  außerhalb  der  Natur  die  Wiederherstellung 
derselben  läge  und  daß  über  der  Würde  des  eigenen  Ur- 
sprungs der  zweite  Zustand  hinausginge.  Glücklich  (die 
Natur),  wenn  sie  von  dem  nicht  abfiel,  was  Gott  ge- 
macht hatte;  glücklicher,  wenn  sie  in  dem  bleibt,  was 
er  wiederhergestellt.  Es  war  etwas  Großes,  von  Christus 
die  Gestalt  empfangen  zu  haben;  aber  etwas  Größeres  ist 
es,  in  Christus  seine  Substanz  zu  haben.«  (Leo  d.  Gr., 
Serm.  2  de  ressurectione.)  Darum  muß  in  der  Tiefe  des 
ewigen  Ratschlusses  Gottes  seine  Menschwerdung  auf 
den  ewig  vorhergesehenen  Fall  des  Menschen  zwar  hin- 
geordnet gedacht  werden,  zugleich  aber  auch  angenom- 
men werden,  daß  Gott  die  Zulassung  der  frei  vom 
Menschen  im  Falle  übernommenen  Sündenschuld  auch 
in  Hinsicht  auf  die  gleichfalls  im  ewigen  Ratschlüsse  Gottes 
beschlossene  Menschwerdung,  beschlossen  hat.  Auch  die 
Idee,  daß  Gott  durch  die  Inkarnation  nicht  nur  ein  Be- 
dürihis  des  Menschen  erfülle  und  einer  selbstverschul- 
deten  Not  des  Menschen  zu  Hilfe  komme,  daß  er  vielmehr 
in  dieser  Tat  aus  unendlicher,  die  immanente  Zeugung  des 
Sohnes  fortsetzender  Liebe  an  erster  Stelle  sich  selbst 
verherrliche  und  auch  den  Menschen  —  mit  diesem  ihrem 
edelsten  Gliede  der  Welt  aber  auch  die  Welt  —  in  diese 
seine  Verherrlichung  aufnehme,  gewinnt  erst  durch  diesen 


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58  Reue  und  Wiedergeburt 

Gedankenzusammenhang  seinen  voyen  Sinn.  —  Doch 
gehen  diese  Gedanken  bereits  über  unser  Thema  hinaus«  — 
i  Das  zweite,  hiervon  unabtrennbare  Moment  ist  das  neue 
Verhältnis,  in  das  jetzt  Reue  und  Liebe  gesetzt  sind.  Die 
»vollkommene«  Reue  erscheint  in  doppeltem  Sinne  ge- 
tragen von  der  Liebe  Gottes.  Einmal  dadurch,  daß  diese 
Liebe,  stets  an  die  menschliche  Seele  anpochend,  gleich- 
sam das  Wertbild  eines  idealen  Seins  vor  dem  Menschen 
herträgt  und  den  Menschen  erst  im  Verhältnis  zu  die- 
sem Bilde  die  Niedrigkeit  und  Verstricktheit  seines  wirk- 
lichen Zustandes  voll  gewahren  läßt.  Sodann  dadurch, 
daß  der  Mensch,  nach  dem  spontanen  Vollzug  der  Reue 
und  im  Rückblick  von  der  mählich  gespürten  Vergebung 
und  Heiligung  her,  die  Kraft  zum  Vollzug  des  Reueaktes 
als  ein  Liebes-  und  Gnadengeschenk  Gottes  erlebt  —  und 
dies  im  gleichen  Maße,  wie  die  in  dem  Reuevorgang 
schon  zu  Beginn  angelegte  menschliche  Liebesregung  zu 
Gott  allmählich  die  volle  Liebesfähigkeit  gegenüber  Gott 
wiederherstellt  und  durch  die  Aufhebung  der  von  der 
Schuld  gesetzten  Schranke  und  Gottesfeme  die  Versöh- 
nung und  Wiedervereinigung  mit  dem  Zentrum  der  Dinge 
bewirkt.  ' 

Zuerst  erschien  uns  diese  Liebesregung  als  unsre  Liebe. 
Dann  sahn  wir,  daß  sie  auch  schon  Gegenliebe  war.  — 


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Vom  Wesen  der  Philosophie 

und  der  moralischen  Bedingung  des 

philosophischen  Erkennens 

Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Philosophie  ist  nicht 
aiis  menschlicher  Unzulänglichkeit,  sondern  aus  der  Natur 
der  Sache  selbst  heraus  mit  Schwierigkeiten  behaftet, 
die  unvergleichbar  sind  mit  den  gleich£dls  nicht  geringen 
Schwierigkeiten,  die  sich  bei  den  Versuchen  einer  genauen 
Umgrenzung  der  Gegenstände  der  verschiedenen  positiven 
Wissenschaften  einzustellen  pflegen.  Denn  wie  schwer  es 
immer  sein  mag,  z.  B.  die  Physik  von  der  Chemie  scharf 
zu  scheiden  (besonders  seit  eine  physikalische  Chemie 
existiert)  oder  gar  zu  sagen,  was  Psychologie  sei,  so  ist 
es  doch  hier  wenigstens  sachlich  möglich  und  gefordert, 
bei  allen  Zweifeln  auf  philosophisch  geklärte  Grundbegriffe 
zurückzugreifen,  auf  Begriffe  wie  Materie,  Körper,  Energie 
resp.  t  Bewußtsein«,  »Leben«,  >  Seele«,  d.  h.  auf  Begriffe, 
welche  in  ihrem  letzten  Gehalte  aufzuklären  selbst  noch 
ein  zweifelloses  Geschäft  der  Philosophie  ist.  Die  Philoso- 
phie dagegen,  die  sich  durch  die  Frage  nach  ihrem  Wesen 
gleichsam  selbst  erst  zu  konstituieren  hat,  vermag  nichts 
Ähnliches,  sofern  sie  nicht  bereits  auf  den  besonderen 
Lehrgehalt  einer  bestimmten  Abart  des  von  ihr  gesuchten 
Wesens  der  Philosophie,  also  auf  eine  bestimmte  philoso- 
phische Lehre  oder  ein  sog.  philosophisches  »System« 
zurückzugreifen  sich  anschickt  —  hierdurch  aber  in  eine 
Art  Zirkel  gerät.  Denn  schon  ob  jener  Lehrinhalt  auch 


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6o  Vom  Wesen  der  Philosophie  osw. 

ein  philosophischer  ist  —  nicht  nur  ob  er  auch  wahr  sei 
und  der  Kritik  standhalte  —  das  setzt  zur  Entscheidung 
ja  eben  zu  wissen  voraus,  was  Philosophie  sei  und  was 
ihr  Gegenstand.  Auch  der  Rückgang  auf  die  Geschichte 
der  Philosophie,  der  ohne  bewußten  oder  halbbewußten 
Rekurs  auf  eine  schon  gegebene  Wesensidee  der  Philoso- 
phie zunächst  ja  nur  das  Eine  zeigen  könnte,  was  alles 
von  verschiedenen  Autoren  zu  verschiedenen  Zeiten  » Philo- 
sophie« genannt  worden  ist  und  was  diesen  verschiede- 
nen Geistesprodukten  an  gemeinsamen  Merkmalen  zu- 
kommen möchte,  überhebt  die  Philosophie  nicht  der  Auf- 
gabe, die  ich  ihre  Selbstkonstitution  genannt  habe.  Nur 
eine  gewisse  Bewährung  undExemplifizierung  der  durch 
diese  Selbstkonstitution  schon  gefundenen  Selbsterkennt- 
nis ihres  eigentümlichen  Wesens  —  eine  Bewährung  und 
Exemplifizierung,  die  sich  darin  verraten  müßte,  daß  die 
grundverschiedenen,  je  Philosophie  genannten  Unterneh- 
mungen unter  dem  Lichte  der  gewonnenen  Selbsterkennt- 
nis einen  einheitlichen  Sinn  und  einen  sinnvollen  sach^ 
liehen  und  historischen  Entfaltungszusammenhang  erst 
annehmen,  kann  von  solcher  historischen  und  systemati- 
schen Erkenntnis  der  Philosophie  der  Vergangenheit  mit 
Grund  erwartet  werden. 

Die  Aufgabe,  die  ich  Selbsterkenntnis  des  Wesens  der 
Philosophie  durch  die  Philosophie  nannte,  leuchtet  in  ihrer 
Eigenart  auch  dadurch  ein,  daß  die  Philosophie,  ihrer 
Wesensintention  nach,  auf  alle  Fälle  die  voraussetzungs- 
lose Erkenntnis  —  oder  sagen  wir,  um  keine  philoso- 
phische; Entscheidung  nach  wahr  und  falsch  vorauszuneh- 
men —  die  sachlich  möglichst  voraussetzungslose  Er- 
kenntnis herstellen  soll.  Dies  alles  besagt,  daß  sie  weder 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  6 1 

Geschichtserkenntnis  (also  auch  nicht  die  Erkenntnis  der 
Geschichte  der  Philosophie),  noch  irgendwelche  Erkenntnis 
der  sog.  »Wissenschaften«  oder  gar  einer  einzelnen  von 
ihnen^  noch  die  Erkenntnisweise  (und  Einzelinhalte)  der 
natürlichen  Weltanschauung,  noch  Offenbarungserkennt- 
nis als  wihre  voraussetzen  darf  —  wie"  sehr  auch' alle 
diese  Erkenntnisarten  und  Erkenntnisstoffe  von  einer  Seite 
her,  —  einer  Seite,  die  sie  in  ihrer  Selbstkonstitution  erst 
selbst  eruiert,  —  in  das  Gebiet  ihrer,  zu  erfassenden  Gegen- 
stände fallen  (z.  B.  Wesen  der  Geschichtserkenntnis,  Wesen 
der  historischen  Philosophiewissenschaft,  Wesen  der  Offen- 
barungserkenntnis, Wesen  der  natürlichen  Weltanschau- 
ung). Vorgegebene  Philosophien,  die  schon  in  der  Inten- 
tion ihrer  Träger,  der  betr.  »Philosophen« ,  solche  Voraus- 
setzungen machen,  verfehlen  sich  also  schon  gegen  das 
erste  Wesensmerkmal  der  Philosophie,  daß  sie  voraus- 
setzungsloseste Erkenntnis  sei  —  dies  wenigstens  dann, 
wenn  es  nicht  ein  in  der  Intention  voraussetzungslosester 
Erkenntnis  selbst  schon  gewonnenes  besonderes  Resultat 
eben  dieser  Erkenntnis  ist,  daß  Philosophie  in  ihrer  Arbeit 
solche  Voraussetzungen  bestimmter  Art  zu  machen  habe. 
Diese  wesenswidrigen  Philosophieversuche  mögen  schon 
hier  besondere  Namen  finden.  Sie  sind  je  nachdem  sie 
Geschichtserkenntnis  von  irgendeinem  Punkte  als  wahr 
voraussetzen  »Traditionalismus«,  wenn  Wissenschafts- 
erkenntnis heißen  sie  » Scientifismus « ,  wenn  Offenbarungs- 
erkenntnis :  » Fideismus « ,  wenn  Ergebnisse  der  natürlichen 
Weltanschauung :  » Dogmatismus  des  gesunden  Menschen- 
verstandes«. Eine  Philosophie  dagegen,  die  sich  wahrhaft 
voraussetzungslos  selbst  konstituiert  und  diese  Fehler  ver- 
meidet, werdö  ich  in  Folgendem  die  autonome,  d.  h.  die  ihr 


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62  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Wesen  und  ihre  Gesetzlichkeit  ausschließlich  durch  sich 
selbst  und  in  sich  selbst  und  ihrem  Bestände  suchende 
und  findende  Philosophie  nennen. 

I.  Die  Autonomie  der  Philosophie. 
Ein  Vorurteil  erkenntnistheoretischer  Art  ist  in  der 
neueren  Zeit  so  allgemein  geworden,  daß  es  als  Vorurteil 
kaum  mehr  empfimden  wird.  Es  besteht  in  der  Meinung, 
es  sei  leichter,  ein  Sachgebiet  oder  eine  »Aufgabe«  zu 
umgrenzen,  als  den  Persontypus  anzugeben  oder  doch 
diesen  Typus  im  einzelnen  zu  erkennen,  der  für  dieses 
Sachgebiet  und  diese  Aufgabe  die  echte  Kompfetenz  be- 
sitze —  und  zwar  schon  fiir  deren  Bestimmung  und  Um- 
grenzung, nicht  nur  für  ihre  Bearbeitimg  und  Lösung. 
Wenn  man  etwa  sagen  wollte,  Kunst  sei,  was  der  wahre 
Künsder  hervorbringe,  Religion  was  der  wahre  Heilige 
erlebe,  darstelle,  predige,  Philosophie  aber  sei  die  Bezogen- 
heit  zu  den  Dingen,  die  der  wahre  Philosoph  besitze  und 
in  der  er  die  Dinge  betrachte,  so  muß  man  fürchten,  von 
vielen  verlacht  zu  werden,  Und  doch  bin  ich  überzeugt, 
daß  zum  mindesten  heuristisch  —  von  der  sachlichenFplge- 
ordnung  der  Fragen  also  abgesehen  —  dieser  Weg  der 
Sachgebietsbestimmung  über  den  Persontypus  hinweg  — 
sowohl  sicherer  als  eindeutiger  in  seinen  Resultaten  ist 
als  jedes  andere  Verfahren.  Wie  weit  leichter  vermögen 
wir  uns  ?inig  darüber  zu  werden,  ob  dieser  und  jener 
Mensch  ein  wahrer  Künstler  ist,  dieser  oder  jener  ein 
wahrer  Heiliger,  als  darüber,  was  Kunst  sei  und  was 
Religion?  Wenn  wir  aber  so  viel  leichter  und  sicherer 
hierüber  einig  werden  können,  so  muß  uns  bei  diesen  ein- 
zelnen Entscheidungen,  ob  dieser  oder  jener,  z.  B.  Piaton, 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  osw.  63 

Aristoteles,  Descartes  ein  »wahrer  Phflosoph«  sd,  doch 
irgend  etwas  leiten,  das  sicher  kein  empirischer  Begriff  ist 
—  denn  dessen  mögliche  Geltungsweite  und  dessen 
Sphäre  möglicher  Abziehung  gemeinsamer  Merkmale  ist 
ja  hier  erst  gesucht.  Und  dieses  Leitende  ist  sicher  kein 
irgendwie  beschaffener  Begriff  des  Sachgebietes,  über  das 
ja  die  Uneinigkeit  und  das  Schwanken  so  viel  größer  ist 
iind  das  gleichfalls  erst  aus  dem  Typus  seines  echten  Ver- 
walters soll  gefunden  werden.  Dieses  Etwas  aber  kann 
nichts  anderes  sein  als  die  uns  für  unser  urteilsmäßiges 
und  begriffliches  Bewußtsein  dabei  noch  verborgene  Idee 
einer  gewissen  gesamtmenschlichen,  an  erster  Stelle 
geistigen  Grundhaltung  zu  den  Dingen,  welche  Hal- 
tung uns  in  der  Seinsform  der  Personalität  so  vor  dem 
Auge  des  Geistes  schwebt,  daß  wir  wohl  Erfüllung  imd 
Abweichung  seitens  eines  Gegenstandes  noch  konstatie- 
ren können,  ohne  sie  doch  selbst  in  ihrem  positiven  In- 
halte zu  sehen.  Freilich:  Wir  bemerken  auch  sofort,  daß 
dieses  Verfahren  des  Denkens,  die  Natur  eines  Sach- 
gebietes oder  einer  sog.  Aufgabe  an  erster  Stelle  nicht 
aus  ihnen  selbst  heraus,  sondern  durch  Vorentscheidung 
der  Beschaffenheit  solcher  persönlichen  Grundhaltung 
zu  finden,  —  nicht  aus  den  Werken,  sondern  an  den 
Werken  z.  B.  der  Philosophen  —  ganz  bestimmte  Gren- 
zen seiner  Anwendung  besitzt.  Ganz  unmöglich  können 
wir  z.  B.  so  auch  finden  wollen,  was  das  Gebiet  der  Physik 
oder  der  Zoologie  sei  usw.  Nur  fiir  jene  schlechthin  auto- 
notnen,  weder  durch  empirisch  abgrenzbare  Gegenstands- 
reihen noch  durch  einen  bestimmten  menschlichen  Bedarf, 
der  vor  Einnahme  dieser  Haltung  und  der  aus  ihr  ent- 
springenden Tätigkeit  schon  bestünde  und  Deckung  und 


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64  ^^'i^  Wesen  der  Philosophie  nsw. 

Leistung  forderte,  zu  definierenden  Seins-  und  Wertregio- 
nen, ist  dieses  Verfahren  möglich,  sinnvoll  und  heuristisch 
notwendig.  Sie  bilden  ein  ausschließlich  je  in  sich  selbst 
bestehendes  Reich. 

Und  darum  wird  die  erwiesene  Möglichkeit,  das  Sach- 
gebiet d?r  Philosophie  von  der  Aufdeckung  jener  »Idee« 
her  zu  finden,  die  uns  gewisse  Menschen  Philosophen 
nennen  läßt,  auch  wieder  eine  rückwärtige  Befestigung 
ihrer  Autonomie  sein  müssen.  Hüten  wir  uns  aber  schon 
hier  vor  einem  Mißverständnis,  das  heutigen  üblen  Denk- 
gewohnheiten naheliegt.  Es  bestünde  in  der  vorweg- 
genommenen Meinung,  daß  —  wenn  das  angegebene 
Verfahren  möglich  und  notwendig  ist,  die  Philosophie 
ein  eigenes  Sachgebiet,  eine  besondere  Gegenstands- 
welt überhaupt  nicht  zu  eigen  haben  könne,  daß  sie  also 
entweder  nur  eine  besondere  Erkenntnisart  aller  mög- 
lichen und  d.  h.  auch  eben  derselben  Gegenstände  sein 
müsse,  mit  denen  es  z.  B.  auch  die  Wissenschaften  zu 
tun  hätten,  nur  eben  von  einem  anders  gewählten  sub- 
jektiven Gesichtspunkt  aus;  so  wie  etwa  heute  manche 
Forscher  (irrtümlich,  wie  mir  scheint)  vermeinen,  es  sei 
die  Einheit  der  Psychologie  nicht  in  einer  eigenen  Tat- 
sachenwelt, sondern  nur  in  der  Einheit  eines  »Gesichts- 
punktes der  Betrachtung«  aller  möglichen  Tatsachen  be- 
schlossen (z.  B.  W.  Wundt).  Gewiß!  Es  könnte  so  sein, 
—  es  könnte  solche  Möglichkeit  stattfinden  —  aber  es 
muß  keineswegs  so  sein.  Jedenfalls  präjudiziert  der  ge- 
wählte Ausgangspimkt  der  Untersuchung  des  Wesens  der 
Philosophie  darüber  noch  gar  nichts.  Denn  es  könnte 
ebensowohl  sein,  daß  die  idealtypische  Einheit  der  Geistes- 
haltung, die  uns  leitet,  wenn  wir  je  entscheiden,  was  ein 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  65 

Philosoph  sei,  zwar  den  wesenhaft  notwendigen  sub- 
jektiven Zugang,  aber  auch  nur  den  Zugang  und  Weg 
ausmachte  zu  einer  besonderen  Gegenstands-  und  Tat- 
sachenwelt —  d.  h.  zu  einer  solchen  Welt  von  Tatsachen, 
die  es  sich  nun  einmal  gestattet,  nur  in  dieser  und  keiner 
anderen  Geisteshaltung  dem  erkennenden  Menschen  zu 
erscheinen  und  die,  obz  war  wir  uns  heuristisch  ihres  Wesens 
und  ihrer  Einheit  erst  durch  die  Umgrenzung  jener  Gei- 
steshaltung zu  bemächtigen  suchen,  gleichwohl  von  dieser 
Haltung  so  unabhängig  existiert  wie  vom  Femrohr  der 
erscheinende  Stern,  den  wir  mit  unbewaffneten  Augen 
nicht  wahrnehmen. 

Nur  dies  allerdings  steht  dabei  a  priori  fest,  daß  es  nicht 
empirisch  abgrenzbare  und  per  species  et  genus  proximum  . 
definierbare  Gegenstandsgruppen  und  -arten  sein  kön- 
nen, welche  den  eigenartigen  »Gegenstand«  der  Philosophie 
bilden,  sondern  nur  eine  ganze  Welt  von  Gegenständen, 
deren  mögliche  Einschau  an  jene  Haltung  und  die  ihr  im- 
manenten  Erkenntnisaktarten  wesensmäßig  geknüpft  ist. 

Was  ist  die  Natur  dieser  »Welt«  ?  Welches  sind  die  ihr 
entsprechenden  Erkenntnisaktarten?  Um  diese  Fragen  zu 
beantworten,  ist  jene  philosophische  Geistes-Haltung,  die 
uns  dunkel  vorschwebt,  wenn  wir  sagen  wollen,  ob  ein  x 
wohl  ein  Philosoph  sei,  zu  erhellen. 

2.  Die  philosophische  Geisteshaltung  (oder  die 
Idee  des  Philosophen). 
Die  größten  Alten  besaßen  den  vorhin  getadelten  Pedan- 
tismus noch  nicht,  die  Philosophie,  sei  es  al3  Deckung 
eines  zuvor  gegebenen  Bedarfs  irgendeiner  sozialen  Orga- 
iHsation,  öder  als  allen  leicht  aufweisbares,  im  Gehalt 
s 

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66  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

der  natürlichen  Weltanschauung  mithin  schon  als  gegeben 
vorausgesetztes  Sachgebiet  zu  definieren.  So  sehr  sie  — 
im  Gegensatz  zu  den  Modernen  —  in  einem  bestimmten 
Reiche  des  Seins  den  Gegenstand  der  Philosophie  ent- 
deckten, nicht  wie  die  wesentlich  »erkenntnis-theoretisch« 
gev^ndte  Philosophie  der  Neuzeit  in  der  Erkenntnis  des 
Seins,  so  wußten  sie  doch,  daß  die  mögliche  Berührung 
des  Geistes  mit  diesem  Seinsireiche  an  einen  bestinmiten 
Aktus  der  ganzen  Persönlichkeit  geknüpft  sei,  an  einen 
Aktus,  der  innerhalb  der  Einstellung  der  natürlichen  Welt^ 
anschauung  dem  Menschen  fehlt.  Dieser  Aktus  —  der 
hier  genauer  zu  erforschen  ist  —  war  den  Alten  zunächst 
ein  Aktus  moralischer,  aber  darum  noch  nicht  einseitig 
willensmäßiger  Natur.  Er  erschien  ihnen  als  ein  Aktus,  in 
dem  nicht  etwa  ein  zuvor  ins  Auge  gefaßter  positiver  Ziel- 
inhalt erreicht  oder  gar  ein  sog.  »Zweck«  praktisch  ver- 
wirklicht werden  wollte,  sondern  durch  den  eine  im  Stande 
aller  natürlichen  Weltanschauung  wesenhaft  liegende 
Hemmung  des  Geistes,  mit  dem  Reiche  des  eigentlichen 
Seins,  als  Seins  der  Philosophie  in  möglichen  Kontakt 
zu  kommen,  vorerst  beseitigt  werden  sollte;  ein  Aktus, 
durch  den  eine  diesem  Stande  konstitutiv  eignende  Schranke 
gesprengt,  ein  jenes  Sein  verhüllender  Schleier  vom  Auge 
des  Geistes  gehoben  werden  sollte. 

Piaton  wird  nicht  müde  überall  da,  wo  er  den  Lehrling 
zum  Wesen  der  Philosophie  hinführen  will,  diesen  Aktus 
immer  aufs  neue  und  in  immer  neuen  Wendungen  in  sei- 
nem Wesen  zu  erleuchten.  Er  nennt  ihn  so  plastisch  als 
tiefsinnig  die  »Bewegung  der  Flügel  der  Seele«,  anderen 
Ortes  einen  Akt  des  Aufschwungs  des  Ganzen  und  des 
Kernes  der  Persönlichkeit  zum  Wesenhaften,  nicht  als  ob 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  67 

dieses  »Wesenhafte«  ein  besonderer  Gegenstand  neben 
den  empirischen  Gegenständen  wäre,  sondern  zum  Wesen- 
haften in  allen  möglichen  besonderen  Dingen  überjiaupt. 
Und  er  charakterisiert  die  Dynamis  im  Kerne  der  Per- 
son, die  Spannfeder,  das  Etwas  in  ihr,  das  den  Auf- 
schwung zur  Welt  des  Wesenhaften  vollzieht,  als  die 
höchste  und  reinste  Form  dessen,  was  er  »Eros«  nennt, 
d.  h.  als  das,  was  er  später  —  hier  freilich  schon  das 
Resultat  seiner  Philosophie  voraussetzend  —  als  die  allem 
unvollkommenen  Sein  einwohnende  Tendenz  oder  Bewe^ 
gung  zum  vollkommenen  Sein  oder  des  /^^  8v  zum  Svicog  Sv, 
genauer  bestimmt.  Schon  der  Name  der  »Philosophie«  als 
der  Liebe  zum  Wesenhaften  —  sofern  das  von  dieser  Be- 
wegung des  Eros  zum  vollen  Sein  emporgetragene  x  nicht 
irgendein  beliebiges  Seiendes,  sondernder  spezielle  Fall 
einer  Menschenseele  ist,  trägt  noch  heute  das  feste  und  un- 
verwischbare Gepräge  dieser  platonischen  Grundbestim- 
mimg.  Ist  schon  diese  nähere  Bestimmung  der  höchsten  Form 
der  Liebe  als  Tendenz  des  Nichtseins  zum  Sein  mit  dem 
speziellen  Inhalt  der  platonischen  Lehre  zu  sehr  behaftet 
als  daß  wir  sie  hier  zugrunde  legen  dürften,  so  sind  dies 
noch  mehr  diejenigen  platonischen  Charakteristiken  dieses 
den  Philosophen  konstituieren<Jen  Aktus,  die  ihn  als  bloßen 
Kampf,  Streit,  Gegensatz  gegen  den  Leib  und  alles 
Leben  in  Leib  und  Sinnen  charakterisieren.  Sie  fuhren 
schließlich  dazu,  das  Ziel  des  Aktus,  nämlich  des  Standes  der 
Seele,  vor  dem  sich  erst  d^r  Gegenstand  der  Philosophie 
dem  Geistesauge  auftut,  nicht  in  einem  ewigen  Leben 
des  Geistes  im  »Wesenhaften«  aller  Dinge,  sondern  in 
ewigem  Absterben  zu  sehen.  Denn  diese  weiteren  Be- 
Stimmungen  setzen  bereits  die  rationalistische  platonische 

5* 


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68  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Theorie  und  die  (nach  unserer  Meinung  falsche)  Auf- 
fassung Piatons,  es  sei  i.  alle  anschauliche,  d.  h.  nicht 
begriffsmäßige  Erkenntnis  auch  notwendig  sinnlich  und  in 
der  spezifischen  subjektiven  Sinnes-Organisation  des  Men- 
schen (Subjektivität  sdler  Qualitäten)  bedingt,  2.  es  sei 
nicht  Tnur  ein  solcher  Hang  unserer  leiblichen  Natur,  son- 
dern diese  Natur  selbst  in  ihrer  Grundartung,  das  in  der 
»Teilnahme  am  Wesenhaften«  zu  überwindende.  D.  h.  Pia- 
ton setzt,  wenn  er  das  Leben  des  Philosophen  ein  »ewiges 
Sterben«  nennt,  den  aus  dem  Rationalismus  seiner  Er- 
kenntnislehre folgenden  Asketismus  schon  voraus.  Ja  diese 
Askesis  wird  ihm  die  für  den  Philosophen  Erkenntnis- 
disponjerende  Haltung  und  Lebensform;  ohne  sie  ist 
philosophisches  Erkennen  unmöglich.  Halten  wir  uns  darum 
hier,  wo  wir  es  mit  dem  Wesen  der  Philosophie  —  nicht 
mit  dem  Eigengehalt  der  platonischen  Lehre  —  zu  tun 
haben,  nur  an  die  beiden  Grundbestimmungen  Piatons,  in 
denen  er  für  alle  Zeiten  das  Tor  zur  Philosophie  dem 
Menschen  aufgeschlossen  hat:  es  bedürfe  eines  Ge- 
samtaktes des  Kernes  der  Person,  der  in  der  natürlichen 
Weltanschauung  und  allem  in  ihr  noch  fundiertem  Wissens- 
verlangen I.  nicht  enthalten  sei,  um  auch  nur  den  Gegen- 
stand der  Philosophie  vor  das  Geistesauge  zu  bringen  und 
2.  es  sei  dieser  Aktus  in  einem  Akt  vom  Wesen  einer  be- 
stimmt charakterisierten  Liebe  fundiert. 

Dann  dürfen  wir  —  noch  ehe  wir  diesen  Aktus  selb- 
ständig charakterisieren  —  das  Wesen  der  Geisteshal- 
tung, die  jedenfalls  allem  Philosophieren  formell  zugrunde 
liegt,  einstweilen  definieren  als :  liebesbestimmter  Ak- 
tus der  Teilnahme  des  Kernes  einer  endlichen 
Menschenperson  am  Wesenhaften  aller  möglichen 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  69 

Dinge.  Und  ein  Mensch  vom  Wesenstypus  des  »Philo- 
sophen« ist  ein  Mensch,  der  diese  Haltung  zur  Welt  ein- 
nimmt und  soweit  er  sie  einnimmt. 

Ist  aber  damit  die  allgemeine  philosophische  Geistes-  7 
haltung  auch  schon  zureichend  bestimmt?  Ich  sage  nein. 
Denn  es  fehlt  noch  ein  Moment,  das  der  Philosophie  und 
dem  Philosophen  abzustreiten,  ganz  unmöglich  ist.  Es 
besteht  darin,  daß  Philosophie  Erkenntnis  ist  und  der 
Philosoph  ein  Erkennender.  Die  Frage,  ob  diese  Grund- 
tatsache den  Philosophen  ziere  oder  nicht;  ob  sie  gar  ihn 
und  seiner  Tätigkeit  den  höchsten  Wesens-Rang  mensch- 
lichen möglichen  Daseins  verleihe  oder  nur  einen  irgend- 
wie imtergeordneteren  Rang  irgendwelcher  Stufe  ihm 
erteile,  ist  eine  Frage  zweiter  Linie.  Auf  alle  Fälle  ist 
Philosophie  Erkenntnis.  Gäbe  es  also  eine  Teilnahme 
des  Seinskemes  einer  endlichen  Menschenperson  am 
Wesenhaften,  die  etwas  anderes  als  »Erkenntnis«  wäre, 
oder  eine  Teilnahme,  die  über  die  Erkenntnis  des  Seien- 
den noch  hinausreichte,  so  folgte  nicht,  es  sei  der  Philo- 
soph kein  Erkennender,  sondern  es  sei  Philosophie  eben 
übeiiiaupt  nicht  die  unmittelbarste  Teilnahme,  die 
dem  Menschen  am  Wesenhaften  vergönnt  ist.  In  diesem 
methodischen  Sinne  ist  also  jede  mögliche  Philosophie  * 
»intellektualistisch«  —  was  immer  auch  ihr  inhaltliches 
Resultat  sei.  Ganz  gewiß  liegt  es  ausschließlich  an  dem 
Gehalte  der  Sachwesenheiten  und  an  ihrer  Ordnung, 
schließlich  an  dem  Gehalte  eines  Wesens,  das  wir  hier  das 
Urwesen  aller  Wesen  uns  zu  nennen  gestatten,  ob  es 
gerade  die  Philosophie  und  d.  h.  ob  es  spontane,  vom 
menschlichen  Subjekt  ausgehende  Erkenntnis  sei,  der 
wesensmöglich  diese  innigste  und  letzte  »Teilnahme«  zu- 

/ 

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70  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

kommen  kann.  Denn  nach  dem  Gehalte  des  Unvesens 
richtet  sich  naturgemäß  auch  die  Grundform  des  Teil- 
nehmens an  ihm.  Der  Orphiker,  dem  das  im  Seelenstande 
der  Ekstasis  »Gegebene«  ein  chaotisches  ungegliedertes 
schöpferisches  Alldrängen  war,  mußte  natürlich  leugnen, 
daß  der  Philosophie  als  einer  apollinischen  Kunst  diese 
Teilnahme  zukomme.  Für  ihn  war  nicht  Erkenntnis,  son- 
dern der  dionysische  Rausch  der  Methodos  zur  letzten 
Teilnahme  am  Urwesen.  Ist  der  Urgehalt  ein  All-drängen, 
so  kann  eben  nur  ein  Mit- drängen,  ist  er  ein  ewiges 
Sollen  —  wie  Fichte  lehrt  —  so  kann  nur  Mit-sollen,  ist 
er  eine  All-liebe  im  johanneisch-christlichen  Sinne,  so  kann 
nur  ein  ursprüngliches  Mit-lieben^mit  dieser  All -liebe,  ist 
er  ein  All-leben  (im  Sinne  etwa  von  Bergsons  >6lan  vital«), 
so  könnte  nur  ein  nur  mit -fühlendes  Mit -leben  oder  ein 
Herausleben  des  Menschen  aus  diesem  Allleben  zu  den 
Dingen,  als  den  Übergangsgestalten  dieses  »Lebens«  hin 
der  rechteMethodos  zur  un  mi  ttelb  arstenTeilnahme  sein. 
Ist  das  Urwesen  im  altindischen  Sinne  ein  all-träumendes 
Brahman,  so  wird  unser  Mit-träumen  die  tiefste  und  letzte 
Teilnahme  sein,  ist  es  —  in  Buddhas  Sinn  —  ein  Unwesen 
oder  das  Nichts,  so  nur  die  eigene  Seinsauf  hebung  in  einem 
absoluten  Tode  —  das  >  Eingehen  in  Nirwana « .  Aber  auch, 
wenn  einer  dieser  Fälle  oder  ein  analoger  Fall  gälte  — 
so  würde  nie  und  nimmer  folgen,  es  sei  Philosophie  etwas 
anderes  als  Erkenntnis,  d.  h.  als  diejenige  besondere 
Artung  von  Teilnahme  am  Wesenhaften,  die  Erkennt- 
nis heißt.  Der  Philosoph  qua  Philosoph  könnte  —  wenn 
er  zu  einem  dieser  Resultate  käme  —  nur  ganz  am  Ende 
seine;ß  Weges,  an  dem  er  das  Wesenhafte  sozusagen  noch 
wie  am  anderen  Ufer  liegen  sähe,  aufhören  Philosoph  zu 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  7  i 

sein;  nicht  aber  könnte  er  der  Philosophie  eine  andere 
Aufgabe  als  Erkenntnis  setzen.  Undimnier  erst  nach  dem 
Stattfinden  einer  so  nichterkenntnismäßigen  Teilnahme 
am  Wesenhaften,  könnte  der  Philosoph  im  reflektiven 
Rückblick  auf  den  Weg,  auf  dem  er  zu  dieser  Teilnahme 
gelangte,  diesen  Weg  durch  Angabe  einer  inneren  Tech- 
nik zur  »Teilnahme«  schildern.  Wer  also  diesem  forma- 
len »Intellektualismus«  der  Philosophie  entrinnen  will,  der 
weiß  selbst  nicht,  was  er  will.  Man  könnte  ihm  nur  sagen, 
er  habe  eben  seinen  Beruf  verfehlt;  er  habe  aber  kein 
Recht,  aus  der  Philosophie  und  dem  Philosophen  etwas 
Anderes  zu  machen  als  sie  sind.  Aber  genau  so  unsinnig, 
wie  den  formalen  Intellektualismus  der  Philosophie  zu 
leugnen,  wäre  das  umgekehrte  Verfahren,  aus  ihm  irgend 
etwas  gewinnen  oder  schließen  zu  wollen  über  den  mate- 
rialen  Gehalt  des  Wesenhaften,  an  dem  der  Philosoph 
ursprünglich  eine  Teilnahme  sucht.  Denn  so  sicher  der 
Philosoph  an  die  Teilnahme  am  Wesenhaften  durch  Er- 
kenntnis (oder  soweit  es  durch  Erkenntnis  möglich  ist), 
gebunden  ist;  so  sicher  ist  das  Urwesen  nicht  a  priori  ver- 
pflichtet, dem  Erkennenden  qua  Erkennenden  letzte  Teil- 
nahme zu  gewähren.  Denn  die  Art  der  Teilnahme  richtet 
sich  ausschließlich  nach  dem  Wesensgehalt  des  Urwesens 
'—  nicht  aber  nach  der  Wesenhafrigkeit  des  Gehalts. 
Der  heute  vielbeliebte  Schluß  vom  methodischen  Intellek- 
tualismus der  Philosophie  auf  den  Satz,  es  sei  auch  ihr 
Gegenstand  das  Erkennbare  oder  die  mögliche  »Erkennt- 
nis« der  Welt,  ist  also^ein  ganz  unsinniger.  Es  wäre  auch 
ganz  falsch,  ^u  meinen,  daß  irgendein  logischer,  theoreti- 
scher Grund  für  die  These  vorliege,  Philosophie  habe  es 
von  Hause  aus  nicht  mit  dem  Wesenhaften  der  Dinge,  son- 


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^  2  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

dem  mit  der  Erkenntnis  der  Dinge  qua  Erkenntnis  zu  tun 
und  es  sei  alles  mögliche  Andere  an  den  Dingen  ein  bloßer 
»Rest«,  der  den  Philosophen  »nichts  angehe«.  Nicht  ein 
logischer,  sondern  ein  moralischer  Grund,  das  moralische 
Laster  des  Hochmutes  der  philosophierenden  gelehrten 
Person  ist  es,  was  den  Schein  hervorruft,  es  sei  schon 
a  priori  ausgeschlossen,  daß  der  methodisch  streng  intel- 
lektualistische  Gang  der  Philosophie  (nach  moralischer 
Besiegung  der  natürlichen  Erkenntnis-Hemmung)  zu  einem 
solchen  Material  des  Wesenhaften  hinfuhren  könne,  das  aus 
seiner  Natur  heraus  als  den  letzten  Aktus  des  Philosophen 
eineselbstnochautonomphilosophischeund  »freie«  Selbst- 
begrenzung der  Philosophie  als  Philosophie  über- 
haupt erfordere;  daß  also  der  Gehalt  des  Urwesens  schließ- 
lich eine  andere,  ihm  angemessenere  Form  der  Teilnahme 
notwendig  machen  könne  als  die  philosophische  Erkennt- 
nishaltung. Es  kann  also  sehr  wohl  sein,  daß  sich  der 
Philosoph  gerade  in  strengster  Konsequenz  seines  Philo- 
sophierens einer  anderen  und  höheren  Teilnahmeform  am 
Wesenhaften  frei  und  autonom  unterordnen  muß;  ja  daß 
der  Philosoph  sich  selbst  als  Philosophen,  wie  die  philo- 
sophierende Vernunft  überhaupt  der  vom  Gehalt  des  Ur- 
wesens selbst  geforderten  nichtphilosophischen  Art  der 
Teilnahme  zum  freien  Opfer  darbringe.  Weit  entfernt,  daß 
der  Philosoph  dadurch  sein  methodisches  autonomes  Er- 
kenntnisprinzip plötzlich  aufgäbe  und  verließe  oder  vor 
etwas  Außerphilosophischem  gleichsam  kapitulierte,  wäre 
es  —  bei  solchem  Ergebnis  seiner  Philosophie  —  sogar 
nur  die  letzte  Konsequenz  dieses  Erkenntnisprinzips  selbst, 
sich  samt  seinem  methodischen  Prinzip  dem  Sachgehalte 
des  von  ihm  erkannten  Wesenhaften  unterzuordnen  oder 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  73 

es  gegenüber  der,  für  diesen  Gehalt  allein  angemessenen 
Form  der  Teilnahme  frei  zu  opfern.  Ja  der  Vorwurf  der 
philosophischen  Heteronomie  und  des  Vorurteils  resp.  der 
mangelnden  »Voraussetzungslosigkeit«  fiele  umgekehrt 
Jenen  zur  Last,  die  diesen  Akt  des  Opfers  ganz  unan- 
gesehen des  positiven  Gehaltes  des  Wesenhaften  und 
des  Urwesens  aller  Dinge  auf  alle  Fälle  nicht  zu  voll- 
ziehen, sich  durch  ein  bloßes  >fiat<  ihres  WoUens  von 
vornherein  entschlossen  hätten.  Denn  ganz  willkürlich 
setzten  Jene  ja  schon  voraus,  daß  das  Urwesen  einen  sol- 
chen Gehalt  habe,  daß  es  durch  «ein  mögliches  Gegen- 
stand-Sein (im  Unterschiede  z.  B.  zu  seinem  möglichen 
Akt-sein),  auch  zur  vollen  Teilnehmung  gebracht  werden 
könne.  Das  Sein  der  Gegenstände  (und  der  Nichtgegen- 
stände) und  das  Gegenstand  sein  des  Seins,  dessen 
letztere  ^öglichkeitsgrenzen  auch  a  priori  Möglichkeits- 
grenzen der  Erkenntnis  sind,  haben  wir  aber  aufs  aller- 
schärf ste  zu  unterscheiden.  Das  Sein  kann  ja  viel 
weiter  reichen  als  das  gegenstandsfähige  Sein.  Nur 
wenn  das  Sein  des  Wesenhaften  —  und  vor  allem  des 
Urwesens  —  seinem  Gehalt  nach  gegenstandsfähig 
ist,  so  wird  auch  Erkenntnis  die  ihm  adäquate  Form 
möglicher  Teilnahme  von  ihm  sein;  und  Philosophie 
wird  sich  in  diesem  Falle  nicht  im  obigen  Sinne  selbst 
zu  begrenzen  haben.  Daß  das  aber  a  priori  sein  müßte, 
wäre  ein  pures  Vorurteil,  eine  gerade  alogische  >  Voraus- 
Setzung«,  und  jeder  Philosophie,  die  diese  Voraussetzung 
macht,  müssen  wir  das  Prädikat  echter  Autonomie  und 
Voraussetzungslosigkeit  radikal  absprechen. 

Schon  hier  sei  ein  Beispiel  gegeben,  das  uns  noch  mehr 
wie  ein  Beispiel  bedeuten  kann.  Die  großen  Väter  der 


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// 


74  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

europäischen  Philosophie  Piaton  und  Aristoteles  waren  mit 
Recht  von  der  Idee  des  Zieles  der  Philosophie  als  einer 
Teilnahme  des  Menschen  am  Wesenhaften  ausgegangen. 
Da  das  Ergebnis  ihrer  Philosophie  das  Urwesen  als  ein 
mögliches  Gegenstand-sein  und  damit  als  ein  mögliches 
Korrelat  der  Erkenntnis  bestimmte,  so  mußten  sie  auch  in 
der  Erkenntnis  (oder  einer  bestimmten  Art  von  Erkennt- 
nis) die  abschließende  Teilnahme  am  Wesenhaften  als  für 
den  Menschen  erreichbar  ansehen.  Und  zwar  durch  spon- 
tane Akte  des  Geistes.  Sie  konnten  demgemäß  konsequent 
nicht  anders  als  im  >  Philosophos  < ,  im  >  Weisen  <  die  höchste 
und  vollkommenste  Form  des  Menschseins  überhaupt 
erblicken.  Eben  darum  hatten  sie  auch  keinen  Grund, 
einen  die  Philosophie  selbst  wesensmäßig  begrenzenden 
Aktus  am  Schlüsse  ihres  Philosophierens  zu  vollziehen. 
Selbst  ihre  Gottesidee  mußte  sich  in  der  Idee  eines  unend- 
lichen Weisen  oder  eines  »unendlichen  Wissens  des  Wis- 
sens« (Aristoteles)  für  sie  darstellen. 

Völlig  anders  —  und  zwar  gerade  aus  dem  philosophi- 
schen Prinzip  der  großen  Alten  selbst  heraus  und  kraft 
eben  seiner  Konsequenz  —  mußte  es  werden,  wenn  — 
sei  es  mit  Recht  oder  Unrecht  —  zu  Beginn  der  christ- 
lichen Epoche  der  Gehalt  des  Urwesens  ak  ein  unend- 
licher Aktus  schöpferischer  und  barmherziger  Liebe  an- 
gesehen und  erlebt  wurde.  Denn  unter  derselben  Voraus- 
setzung, es  sei  Philosophie  ihrem  Ziele  nach  i .  eine  Teil- 
nahme am  Sein  des  Urwesens,  2.  sie  sei  wesenhaft  Er- 
kenntnis, konnte  bei  diesem  materialen  Ergebnis,  Philoso- 
phie und  zwar  Philosophie  in  ihrer  Eigenschaft  als  Erkennt- 
nis, aus  der  Natur  der  Sache  heraus  ihr  autonom  gesetz- 
tes Ziel  nicht  mehr  erreichen.  Denn  Teilnahme  des  Men- 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  7  5 

sehen  an  einem  Sein,  das  nicht  Gegenstandsein,  sondern 
Aktussein  ist,  kann  auch  nur  Mitvollzug  dieses  Aktus 
sein  und  schon  darum  nicht  Erkenntnis  von  Gegenstän- 
aen;  und  es  muß  zweitens  diese  Teilnahme  sich  in  einem 
Hineinstellen  des  persönlichen  Aktzentrums  des  Menschen, 
soweit  dieses  Zentrum  primär  Liebeszentrum  ist  —  nicht 
also  Erkenntniszentrum  —  in  jenes  wesenhafte  Ursein  als 
eines  unendlichen  Liebesaktus,  also  als  ein  Mit -lieben 
mit  ihm  schon  vollendet  haben,  wenn  Philosophie  ihre 
Wesensart  der  Teilnehmung,  eben  die  durch  Erkenntnis 
auch  erreichen,  ja  dem  Urwesen  gegenüber  sogar  aller- 
erst beginnen  will.  Es  mußte  also  die  strenge  logische 
Folge  sein,  daß  —  unter  dieser  Voraussetzung  über  den 
Gehalt  (Liebe)  und  über  die  Seinsweise  des  Urwesens 
(Aktus)  —  die  Philosophie  kraft  ihres  eigenen  Prinzips 
sich  selber  frei  und  autonom  selbst  begrenzte  und  ge- 
gebenenfalls sich  selbst  und  ihre  Erkenntnisquelle,  die  Ver- 
nunft einer  anderen  Wesens  form  der  Teilnehmung  am 
Urwesen  auch  frei  und  autonom  zum  Opfer  darbrachte; 
d.  h.  die  Philosophie  mußte  sich  frei  und  autonom  selbst 
als  »Ancilla  des  Glaubens«*,  nicht  des  Glaubens  als  sub- 
jektiven Aktes,  aber  des  Glaubens  als^objektiven  Gehalts 
bekennen,  da  der  Glaube  an  die  Worte  Christi  als  der 
Glaube  an  die  Worte  der  Person,  in  der  man  die  letzte 
adaequateste  Einigung  und  Teilnahme  mit  dem  Urwesen 
dieses  neuen  Gehalts  annahm,  als  ein  unmittelbarerer  und 
dem  Gehalte  wie  der  Seinsform  dieses  Urwesens  ange- 
messenerer angesehen  werden  mußte  als  die  Teilnehmung 
durch  Erkenntnis.  Die  Philosophie  konnte  sich  —  wenn 

*  Nicht  notwendig  als  »ancilla  theologiae«.  Denn  der  Theologe  verhält  sich 
zum  Heiligen  so  wie  der  Philosophiewissenschaft  Betreibende  (Philosophie- 
gelehrte) zum  Philosophen. 


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^6  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

der  Philosoph  Überhaupt  die  Wahrheit  dieser  christlichen 
Urwesensbestimmung  anerkannte  —  nur  als  vorläufigen 
Weg  für  eine  ganz  andere  Art  der  Teilnehmung  ansehen 

—  methodisch  nicht  anders,  wie  sie  dies  ja  auch  müßte, 
wenn  Fichtes  Lehre  vom  unendlichen  Sollen  öder  Berg- 
sons  Lehre  vom  6lan  vital  wahr  wären.  Und  demgemäß 
mußte  der  Rang  desPhilosophos  oder  des  Weisen  vor 
dem  Range  des  Heiligen  an  die  zweite  Stelle  rücken 

—  und  der  Philosoph  bewußt  sich  dem  Heiligen  unter- 
ordnen —  nicht  anders,  wie  der  Philosoph  sich  unter  der 
Kantischen^  Voraussetzung  eines  sog.  Primates  der  prakti- 
schen Vernunft  dem  moralischen  Exempel  des  praktisch 
Weisen,  unter  Fichtes  Voraussetzung  sogar  dem  sittlich- 
praktischen Reformator,  unter  Bergsons  Voraussetzung 
dem  sich  ein-  und  mit-fuhlenden  Zuschauer  des  universellen 
Lebensschrittes  unterordnen,  sein  freier  Diener  (ancilla) 
sein,  ja  sogar  je  seine  oberste  Quelle  aller  materialen  Daten 
fiir  sein  philosophisches  Denken  in  diesen  Typen  achten 
mußte,  —  Daten,  die  seiner  »Erkenntnis«  so  »gegeben« 
sind,  wie  das  Gegebene  der  Wahrnehmung  zufälligen  Seins 
dem  Denken  in  der  natürlichen  Weltanschauung  >  gegeben  < 
ist.  Selbstverständlich  behielt  (in  unserem  Beispiel)  die 
Philosophie  jene  alte  Würde,  die  sie  bei  Piaton  und 
Aristoteles  besitzt  —  die  Würde,  nicht  »eine  Wissen- 
schaft«, sondern  die  autonome  JCönigin  der  Wissenschaf- 
ten zu  sein,  auch  in  diesem  neueiTStähJe  der  christlichen 
Epochen  durchaus  bei.  Aber  es  wuchs  ihr  zu  dieser  alten 
Würde  der  regina  scientiarum  noch  die  —  unter  Vor- 
aussetzung der  Wahrheit  der  neuen  Wesensbestimmung 

'  Kant  unterscheidet  daher  logisch  notwendig  zwei  Deiinitionon  der  Philoso- 
phie, ihren  »Weltbegriff«  und  ihren  »Schulbegriff«. 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  osw.  j  y 

des  Urwesens  —  neue  und  selbstverständlich  weit  er- 
habenere und  jenes  Königtum  noch  überragende  Würde 
hinzu^  auch  noch  »Ancilla*,  d.  h.  die  gemäß  dem  Bibel- 
worte »Selig  die  (freiwillig)  Armen  am  Geiste«  (fMxdQun 
cl  mcDxol  T0  Ttvtvfjuxti)  freiwillige  Dienerin  und  (sachlich) 
Vorstufe  des  Glaubens  (praeambula  fidei)'zu  sein.  Dieser 
Schritt  freiwilliger  und  sach-notwendiger  philoso- 
phischer Selbstbegr^nzung  der  Philosophie  war  hierbei 
nur  die  letzte  und  äußerste  Verwirklichung  ihrer  wahren 
Autonomie,  war  also  das  genaue  Gegenteil  der  Einfüh- 
rung eines  heteronomen  Prinzips,  das  die  Philosophie  von 
au  ßen  her  begrenzt;  war  auch  das  Gegenteil  jener  anderen 
Begrenzung,  welche  die  Philosophie  nach  den  möglichen 
Gegenständen  der  Erkenntnis  hin  begrenzt  hätte  (etwa  im 
Kantschen  Sinne  gegen  ihre  Dingansichseite  hin  im  Gegen- 
satz zur  Erscheinungsseite  oder  gar  in  einem  agnostischen 
Sinne).  Im  Gegenteil  galt  innerhalb  der  gesamten  Epoche 
der  europäisch-christlichen  Philosophie  die  Philosophie 
nach  der  Gegenstandsseite  hin  überhaupt  für  unbegrenzt, 
indem  sie  ja  den  Anspruch  erhob,  Metaphysik  zu  sein  und 
alles  Seiende  aus  seinen  letzten  Gründen  und  Wurzeln  zu 
erkennen. 

Man  weiß  nun  freilich,  daß  die  innere  Selbstentfaltung 
der  sog.  »neueren  Philosophie«  bis  zur  Gegenwart  (freilich 
in  sehr  verschieden  großen  Schüben)  schließlich  zu  einem 
Zustande  gefuhrt  hat,  der  ungefähr  das  genaue  Gegenteil 
von  dem  darstellt,  was  in  dem  Doppelanspruch  der  älte- 
ren Idee  von  Philosophie,  —  der  Idee,  gleichzeitig  freie 
Dienerin  des  Glaubens  (als  ihrer  höchsten  Würde)  und 
Königin  der  Wissenschaften  zu  sein  (als  ihrer  zweithöch- 
sten Würde)  —  ausgedrückt  war.  Von  einer  »freien Magd« 


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7  8  Vom  Wesen  der  iPhilosophie  usw. 

des  Glaubens  wurde  sie  aufweiten  Strecken  Usurpatorin 
(  /  des  Glaubens,  gleichzeitig  aber  zur  ancilla  scientiarum; 
lezteres  in  verschiedenem  Sinne,  indem  manjhr  die  Auf- 
gabe stellte,  entweder  die  Resultate  der  Einzelwissen- 
schaften zu  einer  widerspruchsilosen  sog.  Weltahschauung 
zu  »vereinigen«  (Positivismus)  oder  als  eine  Art  Polizei 
der  Wissenschaften  deren  Voraussetzungen  und  Methoden 
genauer  zu  fixieren,  als  es  diese  selbst  tun  (kritische  oder 
sog.  »wissenschaftliche«  Philosophie). 

Es  läßt  sich  leicht  —  aus  Gründen  der  Sache  heraus 
—  zeigen,  daß  das  neue  Grundverhältnis  der  Philosophie 
zum  Glauben  und  den  Wissenschaften  die  tiefste,  eingrei- 
fendste und  folgenreichste  Verkehrung  der  wahren  Ver- 
hältnisse darstellt,  welche  die  europäische  Geistesbil- 
dung jemals  erreicht  hat  und  daß  auch  diese  Verkehrung 
nur  ein  Sonderbeispiel  ist  für  die  weit  umfassendere  Er- 
scheinung jenes  inneren  Umsturzes  aller  Wertord- 
n,ung,  jener  D^sordre  des  Geistes  und  Herzens,  welche 
die  Seele  des  bürgerlich-kapitalistischen  Zeitalters  aus- 
macht. Es  ist  recht  eigentlich  der  Sklavenaufstand  in 
der  Welt  des  Intellektuellen,  den  wir  hier  vor  uns 
haben  und  der  mit  dem  gleichen  Aufstand  des  Niederen 
gegen  das  Höhere  im  Ethos  (Erhebung  des  singularisti- 
schen  Individualismus  gegen  das  Solidaritätsprinzip,  der 
Nützlichkeitswerte  über  die  Lebenswerte  und  Geisteswerte, 
dieser  letzteren  Werte  aber  gegen  die  Heilswerte),  in  den 
Institutionen  (Erhebung  zuerst  des  Staates  gegen  die 
Kirche,  der  Nation  gegen  den  Staat,  der  ökonomischen 
Institute  gegen  Nation  und  Staat),  in  den  Ständen  (Klasse 
gegen  Stand),  in  der  Geschichtsauffassung  (Technizismus 
und  ökonomische  Geschichtslehre),  in  der  Kunst  (Bewe- 


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Vom  WÄsen  der  Philosophie  usw.  jg 

gung  des  Zweckgedankens  gegen  denFormgedankert,  des 
Kunstgewerbes  gegen  die  hohe  Kunst^  des  Regisseur- 
theaters gegen  das  Dichtertheater)  usw.  usw.  eine  eng- 
zusammengehörige Symptomatik  eben  jenes  Gesamt- 
Umsturzes  der  Werte  bildet. 

Auch  die  Gleichzeitigkeit  des  Vorgangs,  der  die 
Philosophie  zu  einer  dem  Glauben  feindlichen,  ja  ihn  usur- 
pierenden »Weltweisheit«  (Renaissance),  und  mehr  und 
mehr  zu  einer  würdelosen  Sklavin  und  Hure,  bald  dieser 
bald  jener  Einzelwissenschaft  (bald  der  Geometrie,  der 
Mechanik,  der  Psychologie  etc.)  gemacht  hat,  darf  uns 
pichtbefremden.  Beides  gehört  wesensmäßig  zusammen. 
Diese  Vorgänge  folgen  nur  aufs  genaueste  dem  Prinzip: 
Daß  die  Vernunft  selbst  so  geartet  ist,  daß  sie  —  als 
welcher  Autonomie  und  Macht  nach  unten,  sowohl  gegen- 
über allem  Triebleben  als  in  allen  »Anwendungen«  ihrer 
Gesetze  innerhalb  der  sinnlichen  Vielheit  der  Erscheinungs- 
reihen, mit  ewigem  Rechte  gebührt,  aber  gleichzeitig  ge- 
bührt freie  und  demütige  selbst  noch  autonom  vollzogene 
Unterwerfung  unter  die  götdiche  Offenbarungsordnung  ^ 
—  heteronom  nach  unten  im  selben  Maße  bestimmt 
werden  muß,  als  sie  die  im  Wesen  der  Dinge  selbst  lie- 
gende Bedingung  ihres  Rechtes  zur  vollen  Autonomie 
nadi  unten  verleugnet:  —  nämlich  ihre  lebendige  in  der 
Tugend  der  Demut  und  der  freien  Opferfähigkeit  fun- 
dierte Verknüpfung  mit  Gott  als  den[i  Urlichte  selbst.  Nur  \ 
als  »freie  Magd«  des  Glaubens  vermag  die  Philosophie  i 
die  Würde  einer  Königin  der  Wissenschaften  zu  bewahren 
und  sie  muß  notwendig  Dienerin,  ja  Sklavin  und  Hure 
der  »Wissenschaften«  werden,  wenn  sie  sich  erkühnt,  sich  ; 
als  Herrin  des  Glaubens  zu  geberden. 


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8o  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Wenn  ich  die  Worte  »Philosophie«  und  »die  Wissen- 
schaften« in  einem  Verschiedenes  bedeutendem  Sinne  ge- 
brauche und  es  damit  strengstens  ausschließe,  daß  die 
Philosophie  als  Königin  der  Wissenschaften  selbst  unter 
^sie  gehöre,  oder  »eine  Wissenschaft«  sei  oder  sog.  »wis- 
senschaftliche Philosophie«  sein  müßte,  so  möchte  ich 
schon  hier  diesen  Sprachgebrauch  rechtfertigen.  Insbeson- 
dere sei  gegenüber  Edmund  Husserl,  dessen  sachliche 
Idee  von  der  Philosophie  der  hier  entwickelten  noch  am 
.  nächsten  steht,  der  aber  ausdrücklich  die  Philosophie  als 
»Wissenschaft«  bezeichnet,  der  hier  betätigte  abweichende 
Sprachgebrauch  gerechtfertigt. 

Denn  nicht  um  eine  sachliche,  sondern  um  eine,  was 
^  wenigstens  den  Kern  der,  Sache  betrifft,  nur  terminolo- 
gische Differenz  handelt  es  sich  hier.  Husserl  unterschei- 
det —  prinzipiell  genau  wie  ich  später  —  sachlich  evidente 
Wesenserkenntnis  von  Realerkenntnis.  Realerkenntnis 
verbleibt  wesensmäßig  in  der  Sphäre  der  Wahrschein- 
lichkeit. Die  Philosophie  ist  in  ihrer  Grunddisziplin  aber 
evidente  Wesenserkenntnis.  Husserl  unterscheidet  die 
Philosophie  femer  von  den  deduktiven  Wissenschaften 
der  von  ihm  so  genannten  »idealen  Gegenstände«  (Logik, 
Mannigfaltigkeitslehre  und  reine  Mathematik).  Er  scheint 
dabei  freilich  sowohl  der  Aktphänomenologie  überhaupt 
als  der  Phänomenologie  des  Psychischen  einen  Vorzug 
vor  der  Sachphänomenologie  und  den  Phänomenologien 
anderer  materialer  Seinsgebiete,  zum  Beispiel  der  Phäno- 
menologie der  Naturobjekte,  einzuräumen,  welcher  Vor- 
zug ungerechtfertigt  ist.  Da  aber  Husserl  für  die  Philoso- 
phie nicht  nur  (mit  meiner  vollen  Beistimmung)  »Strenge« 
fordert,  sondern  ihr  außerdem  den  Titel  einer  »Wissen- 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  8 1 

Schaft«  gibt,  ist  er  zunächst  genötigt,  den  Namen  Wissen- 
schaft grundsätzlich  bedeutungsverschieden  anzuwen- 
den :  einmal  für  Philosophie  als  evidente  Wesenserkenntnis, 
dann  für  die  positiven  Formalwissenschaften  der  idealen 
Gegenstände  und  für  alle  induktive  Erfahrungswissen- 
schaft. Da  wir  aber  den  alten  ehrwürdigen  Namen  der 
Philosophie  für  das  Erste  schon  besitzen,  so  ist  nicht 
einzusehen,  waruntiwir  völlig  unnötig  einen  Namen  zwei- 
fach verwenden  sollen.  Angst,  daß  Philosophie,  wenn  sie 
nicht  der  »Wissenschaft«  subsumiert  werde,  etwa  gar 
einem  anderen  analogen  Oberbegriff  subsumiert  werden 
müsse,  sei  es  dem  der  Kunst  usw.,  wäre  ja  völlig  un- 
sinnig, da  doch  nicht  alle  Dinge  »subsumiert  werden« 
müssen,  gewisse  Dinge  vielmehr  als  autonome  Sach-  und 
Tätigkeitsgebiete  solche  Subsumption  auch  abzulehnen 
das.  Recht  haben.  Unter  ihnen  befindet  sich  die  Philoso- 
phie in  erster  Linie,  die  wirklich  nichts  anderes  ist  als  eben 
Philosophie,  die  ihre  eigene  Idee  auch  von  »Strenge«, 
nämlich  von  philosophischer  Strenge  besitzt,  sich  also 
nicht  etwa  nach  3er  besonderen  Strenge  der  Wissenschaft 
(bei  messenden  und  zählendenr  Verfahren  »Exaktheit  «ge-« 
nannt)  als  einem  ihr  vorschwebenden  Ideale  zu  richten 
hat.  Aber  die  Sache  haf  auch  einen  historischen  Hinter- 
grund. Ich  glaube,  Husserl  gebraucht  jenen  griechischen 
Begriff  von  Wissenschaft  für  die  Philosophie,  der  etwa  an 
Sinnumkreis  mit  der  platonischen  imonj/i^i]  zusammenfällt 
und  der  Piaton  die  Sphäre  der  do^a  (d.  h.  auch  aller  Art 
von  Wahrscheinlichkeitserkenntnis)  gegenüberstellt.  In 
diesem  Falle  freilich  wäre  die  Philosophie  nicht  nur  »eine« 
strenge  Wissenschaft,  sondern  sogar  die  einzige  eigent- 
liche Wissenschaft  und  alles  andere  wäre  im  Grunde 


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8  2  Vom  W^sen  der  Philosophie  usw. 

überhaupt  gar  nicht  Wissenschaft  im  strengsten  Sinne. 
Nun  aber  muß  man  sehn,  daß  der  praktische  Sprachge- 
brauch sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  nicht  nur  verändert, 
sondern  daß  er  sich,  und  zwar  aus  den  tiefsten  kultur- 
geschichtlichen Gründen  heraus,  sogar  umgekehrt 
hat.  Eben  das,  was  mit  Ausnahme  der  Formalwissen- 
Schäften,  Piaton  die  Sphäre  der  AJf«  nannte,  ist  der  Inbe- 
griff dessen  geworden,  was  man  seit  einigen  Jahrhunder- 
ten fast  bei  allen  Nationen  »Wissenschaft«  und  die  »Wissen- 
schaften« nennt.  Ich  wenigstens  habe  noch  keinen  Men- 
schen in  Verkehr  und  Büchern  getroffen,  der  bei  dem 
Wort  »Wissenschaft«  nicht  zunächst  an  die  sog.  positive 
Wissenschaft  dächte,  sondern  dächte  etwa  an  die  immi^ßMi 
Piatons  oder  an  die  Philosophie  als  »strenge  Wissenschaft« 
im  Husserlschen  Sinn,  die  doch  auch  alle  deduktive  Mathe- 
matik nicht  in  sich  enthalten  soll.  Ist  es  mm  zweckmäßig 
und  historisch  berechtigt,  diesen  Sprachgebrauch  wieder 
umkehren  zu  wollen  und  den  griechischen  Gebrauch  wieder 
einzuführen?  Ich  kann  es  nicht  finden.  Will  man  nicht  eine 
fürchterliche  Äquivokation  ewig  sanktionieren,  so  müßte 
•man  ja  sogar  allen  induktiven  Erfahnmgswissenschaften 
.  das  Recht,  sich  Wissenschaft  zu  nennen,  absprechen,  was 
doch  auch  Husserl  sicher  nicht  möchte.  —  Aber  nicht  nur , 
bei  den  Worten  Philosophie  und  Wissenschaft  gehn  Hus- 
serls  und  mein  Sprachgebrauch  auseinander,  noch  schärfer 
tun  sie  es  bei  den  Worten  Weltanschauung  und  Welt- 
anschauungsphilosophie. Der  plastische  Ausdruck  »Welt- 
anschauung« wurde  yon  einem  geistesgeschichtiichen  For- 
scher ersten  Ranges,  von  Wilhelm  von  Humboldt,  unserer 
Sprache  gegeben  und  bedeutete  vor  allem  die  (durch  Re- 
flexion nicht  auch  notwendig  bewußten  und  erkannten)  jc- 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  83 

weiligen  faktischen  Formen  des  »Weltanschauens«  und 
der  Gliederung  der  Anschauungs-  und  Wertgegebenheiten 
seitens  sozialer  Ganzheiten  (Völker,  Nationen,  Kultur- 
kreise). In  den  Syntaxen  der  Sprachen,  ^aber  auch  in  Reli- 
gion, Ethos  usw.  lassen  sich  diese  > Weltanschauungen« 
finden  und  erforschen.  So  gehört  auch,  was  ich  »natürlicl^e 
Metaphysik«  von  Völkern  nenne,  in  die  Sphäre  dessen, 
was  Weltanschauung  als  Wort  umfassen  soll.  Der  Aus- 
druck Weltanschauungsphilosophie  bedeutet  nun  für  mich 
so  viel  wie  Philosophie  der  für  die  Gattung  »homo«  kon- 
stant »natürlichen«  und  der  je  besonderen  wechselnden 
»Weltanschauungen«  —  eine  sehr  wichtige  Disziplin,  wie 
sie  besonders  Dilthey  zur  philosophischen  Grundlegung 
der  Geisteswissenschaften  neuerdings  mit  Glück  zu  for- 
dern suchte.  Husserl  dagegen  nennt  Weltanschauungs- 
philosophie genau  das,  was  ich  mit  weit  mehr  histori- 
schem Recht  die  »wissenschaftliche  Philosophie« 
nenne,  d.  h.  den  aus  dem  Geiste,  des  Positivismus  her- 
ausgewachsenen Versuch,  aus  jeweiligen  »Ergebnissen 
der  Wissenschaft«  eine  »abschließende«  Metaphysik  oder 
sog.  »Weltanschauung«  zu  machen  oder  dodi  die  Philo- 
sophie in  Wissenschaftslehre,  d.  h.  in  Lehre  von  Prinzipien 
und  Methoden  der  Wissenschaft  aufgehen  lassen  zu  wol- 
len. In  ausgezeichneten  Worten  tadelt  nun  Husserl  Ver- 
suche solcher  Art,  aus  Grundbegriffen  einer  Einzelwissen- 
schaft (»Energie« ,  »Empfindung« ,  »Wille«)  oder  aller  zu- 
sammen eine  Metaphysik  zu  fabrizieren  und  gibt  Ver- 
suche, wie  sie  Ostwald,  Verworn,  Haeckel,  Mach  gemacht 
haben,  als  Beispiele  an,  an  denen  zu  zeigen  ist,  wie  durch 
sie  dem  wesensunendlichen  Fortschritt  aller  wissenschaft- 
lichen Dingwahmehmung,  -beobachtung,  -Untersuchung  an 
6» 


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84  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

irgendeiner  Stelle  willkürlich  Halt  geboten  wird.  Dies 
ist  ganz  meine  eigne  Meinung.  Die  »wissenschaftliche  Phi- 
losophie« ist  in  der  Tat  ein  Unding,  da  positive  Wissen- 
schaft ebenso  ihre  Voraussetzungen  selbst  zu  setzen, 
alle  ihre  möglichen  Folgen  selbst  zu  ziehen,  und  auch 
ihre  Widersprüche  selbst  auszugleichen  hat,\Philosophie 
aber  sich  dabei  mit  Recht  vom  -Leibe  hält,  wenn  sie  ihr 
dreinzureden  sucht.  Erst  das  Ganze  der  Wissenschaften 
samt  ihren  Voraussetzungen,  z.  B.  die  Mathematik  samt 
den  sie  tragenden  und  vom  Mathematiker  selbst  gefunde- 
nen Axiomen  wird  für  die  Phänomenologie  in  dem  Sinne 
wieder  zum  Problem,  daß  dieses  Ganze  phänomenologisch 
reduziert,  gleichsam  in  Anfuhrungszeichen  gesetzt  und  auf 
seine  anschaulichen  Wesensgrundlagen  hin  untersucht 
wird.  Nicht  richtig  aber  erscheint  es  mir,  daß  Husserl  die 
Phantasieausgeburten  von  Spezialforschem,  die  Philoso- 
phen spielen  möchten  —  und  alle  Wissenschaften  sind 
Spezial Wissenschaften -;— also  eben  die  sog.  »wissenschaft- 
liche Philosophie «  mit  dem  guten  Namen  Weltanschauungs- 
philosophie bedenkt.  Weltanschauungen  werden  und  wach- 
sen, nicht  aber  sind  sie  von  Gelehrten  erdacht.  Und  auch 
Philosophie  kann,  wie  Husserl  richtig  hervorhebt,  nie  Welt- 
anschauung, höchstens  Weltanschauungs  lehre  sein.  Sollte 
man  aber  meinen,  die  Weltanschauungslehre  sei  zwar  eine 
wichtige  Aufgabe,  aber  nicht  der  Philosophie,  sondern 
nur  der  historischen  und  systematischen  Geisteswissen- 
schaften, so  ist  dies  zwar  richtig  für  die  Lehre  von  den 
einzelnen  positiven  Weltanschauungen,  z.  B.  der  indischen, 
der  chrisdichen  usw.  Aber  es  gibt  auch  noch  eine  Philoso- 
phie einmal  der  »natürlichen  Weltanschauung«,  sodann 
der .» möglichen  <  materialen  Weltanschauungen  überhaupt, 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  85 

welche  die  historische  Grundlage  der   diesbezüglichen 
geisteswissenschafdichen  Probleme  einer  positiven  Welt- 
anschauungsleht;e  ist.  Und  diese  Weltanschauungslehre 
wäre  auch  in  der  Lage,  mit  Hilfe  einer  reinen  ideal  voll- 
endet gedachten   philosophischen   Phänomenologie  den 
Erkenntniswert  der  Weltanschauungen  abzumessen.  Sie 
vermöchte  auch  zu  zeigen,  daß  die  Strukturen  der  fakti- 
schen Weltanschauungen  im  Unterschiede  von  den  jour- 
nalistischen Tagesprodukten  der » wissenschafdichen  Philo- 
sophie« die  Struktur  der  faktischen  Wissenschaftsstufen 
und  -arten  der  Völker  und  Zeiten  —  ja  schon  Dasein  und 
Nichtdasein  einer  »Wissenschaft«  in  westeuropäischem 
Sinne  überhaupt  —  noch  fundieren  und  bedingen,  und 
daß  jeder  Variation  einer  Wissenschaftsstruktur  eine  solche 
der  Weltanschauung  gesetzlich  vorhergegangen  ist.  Und 
erst  hier  besteht  vielleicht  auch  eine  tiefe  sachliche  Diffe- 
renz zwischen  Husserls  und  meiner  Meinung  —  insofern 
nämlich  Husserl  geneigt  ist,  den  positiven  Wissenschaften^ 
auch  eine  weit  größere  faktische  Unabhängigkeit  von  den 
mit  ganz  andern  Dauerdimensionen  als  sie  die  Fortschritte 
der  positiven  Wissenschaften  aufweisen,  überaus  langsam 
und  schwer  wechselnden  Weltanschauungen  zuzugestehn 
als  ich  es  tue.  Denn  die  Wissenschaftsstrukturen,  ihre  fakti- 
schen Systeme  von  Grundbegriffen  und  -prinzipien,  schei- 
nen mir  in  der  Geschichte  sprunghaft  mit  den  Welt- 
anschauungen zu  wechseln  und  nur  innerhalb  jeder  ge- 
gjfebenen  Struktur  einer  Weltanschauung,  z.  B.  der  euro- 
päischen, scheint  mir  die  Möglichkeit  eines  prinzipiell  un- 
begrenzten Fortschritts  der  Wissenschaft  zu  liegen.  — 

Angesichts  meiner  Behauptung,  daß  es  eine  moralische 
Haltung  sei,  die  für  die  besondere  Art  der  Erkenntnis, 


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86  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

die  philosophisch  heißt,  wesensnotwendige  Vorbedingung 
sei,  mag  mancher  an  Lehren  denken,  die  besonders  seit 
Kant  und  Fichte  bis  zur  Gegenwart  einen  starken  Anhang 
gefunden  haben.  Ich  meine  die  Lehren,  die  man  »Primat 
der  praktischen  Vernunft  vor  der  theoretischen«  (zuerst 
Kant)  genannt  hat.  In  der  Tat  hat  z.  B.  W.  Windelband 
in  seinem  bekannten  Buche  über  Piaton  die  sokratische 
Reform  und  ihre  platonische  Fortwirkung  mit  dieser  Lehre 
Kants  in  einen  Zusammenhang  gebracht,  der  nicht  nur  • 
nicht  besteht,  dessen  Annahme  sogar  eine  radikale  Ver- 
kennung dessen  einschließt,  was  Sokrates  und  Pläton 
faktisch  gemeint  haben  und  was  (dem  Grundgedanken 
nach)  auch  wir  als  wahr  ansehen.  Eine  Lehre  vom  sog. 
Primat  der  praktischen  Vernunft  vor  der  theoretischen 
kennen  die  großen  antiken  Väter  der  europäischen  Philo- 
sophie nicht  nur  nicht;  es  ist  vielmehr  sonnenklar,  daß 
sie  dem  theoretischen  Leben  (^ecogscb)  einen  unbedingten 
Wertvorzug  vor  dem  praktischen  Leben  (ngdtreiv)  gewäh- 
ren. Gerade  diesen  Wertvorzug  aber  leugnet  jede  der 
Formen,  welche  die  Lehre  vom  Primat  der  praktischen  ^ 
Vernunft  seit  Kant  angenommen  hat.  Das  wahre  Ver- 
hältnis beider  Anschauungen  besteht  darin,  daß  die  antike 
Lehre  eine  bestimmte  moralische  Geisteshaltung  (jenen 
Aufschwung  des  ganzen  Menschen  zum  Wesenhaften)  zur 
bloßen  Vorbedingung  philosophischer  Erkenntnis  macht, 
d.  h.  zur  Bedingung,  in  das  Sachenreich  einzudringen 
oder  doch  bis  zu  seiner  Schwelle  vorzudringen,  mit  dem 
es  die  Philosophie  zu  tun  hat;  und  daß  gerade  die  Über- 
windung aller  nur  praktischen  Einstellungen  auf  das 
Dasein  es  sei,  was  —  neben  anderem  —  Aufgabe  und 
Ziel  dieser  moralischen  Geisteshaltung  ist.  Umgekehrt 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  87 

meint  Kant^  daß  die  theoretische  Philosophie  überhaupr 
keine  spezifische  moralischeVorbedingung im  Philosophen 
besitze,  daß  aber  auch  im  fingierten  Falle  einer  äußersten 
Vollendung  der  Philosophie  es  er§t  das  Erlebnis  des  Sol- 
lens  und  der  Pflicht  sei,  das  uns  Teilnahme  an  jener 
> metaphysischen«  Ordnung  gewähre,  in  die  nach  seiner 
Meinung  theoretische  Vernunft  nur  vergeblich  und  unter 
Trugschlüssen  einzudringen  suche;  Fichte  aber  (und  die 
gegenwärtigehierin  von  ihm  abhängige  Schule  H.  Rickerts) 
machte  die  theoretische  Vernunft  geradezu  zu  einer  For- 
mation der  praktischen,  indem  er  das  Sein  der  Dinge 
der  bloßen  Forderung  (dem  idealen  Gesolltsein)  ihrer  An- 
erkennung durch  den  Akt  des  Urteils  gleichsetzt;  die 
pflichtmäßige. Anerkennimg  des  sog.  Wahrheitswertes 
das  Sein  der  Dinge  also  geradezu  fundieren,  wenn  nicht 
gar  es  in  die  »Forderung«  dieser  Anerkennung  aufgehen 
läßt.  Was  also  bei  Piaton  eine  nur  subjektive,  obzwar 
als  solche  notwendige  Voraussetzung  für  das  Ziel  der  Phi- 
losophie, für  die  theoretische  Seinserkenntnis  ist,  das  ist 
für  diese  Denker  ein  Primat  des  Moralischen  in  den  ob- 
jektiven Ordnungen  selbst  —  wogegen  nun  wieder  fast 
genau  umgekehrt  die  Alten  auch  im  Guten  nur  einen 
höchsten  Seinsgrad  (Svxcog  Sv)  zu  finden  meinten.  Und  darum 
ist  es  gerade  diese  Lehre  vom  Primate  der  praktischen 
Vernunft,  welche  den  Gedanken,  daß  fiir  die  pure  Er- 
kenntms  bestimmter  seiender  Gegenstände  gerade  eine 
gewisse  moralische  dauernde  Lebensform  die  Vor- 
aussetzung sei  und  daß  gerade  die  metaphysischen  Täu- 
schungen an  die  > natürliche«  und  an  die  vorwiegend 
.»praktische«  Haltung  zur  Welt  geknüpft  seien,  am  aller- 
stärksten  verschüttet  und  zur  Seite  gedrängt  ha^t. 


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8  8  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Die  Thesis,  die  hier  vertreten  ist,  fällt  mit  keiner  dieser 
beiden  Ideenkreise  genau  zusammen,  wenn  sie  sich  auch 
der  antiken  Meinung  weit  erheblicher  nähert  wie  jener 
modernen.  Zunächst  ist  es  klar,  daß  es  in  allen  besoÄde- 
ren  Fragen  der  Werteinsicht  und  des  Werterkennens 
(die  ich  im  Unterschiede  von  den  Alten  sowenig  als  bloße 
Funktion  des  Seins-erkennens  ansehen  kann  wie  den  posi- 
tiven Wert  selbst  als  einen  je  höheren  Seinsgrad)  es  das 
der  Werteinsicht  vorangehende  Wollen  und  Handeln  ist, 
welches  die  Hauptmotive  aller  Werttäuschungen  resp. 
Wertblinciheiten  ausmacht.  Gerade  darum  muß  den  Men- 
schen, wenn  er  überhaupt  zu  Wert-einsicht  (und  in  ihr 
fundiertes  mögliches  Wollen  und  Handeln)  gelangen  soll, 
zuerst  Autorität  und  Erziehung  so  zu  handeln  und  so 
zu  wollen  bestimmen,  daß  diese  Täuschungsmotive  seiner 
Werteinsicht  aufgehoben  werdenv  Der  Mensch  muß  zu- 
erst auf  mehr  oder  weniger  blinde  Weise  objektiv  richtig 
und  gut  wollen  und  handeln  lernen,  bevor  er  das  Gute 
als  gut  auch  einzusehen  vermag  und  einsichtig  das 
Gute  zu  wollen  imd  zu  verwirklichen  imstande  ist.  Denn 
obzwar  der  Satz  des  Sokrates,  daß  derjenige,  der  das 
Gute  klar  erkenne  es  auch  wolle  und  tue  (in  den  Modi- 
fikationen, die  ich  ihm  anderwärts^  gegeben  habe),  inso- 
fern richtig  bleibt,  als  ein  vollkommen  gutes  Verhalten 
nicht  nur  die  objektive  Güte  des  Gewollten,  sondern  auch 
die  evidente  Einsicht  in  seinen  objektiv  gegründeten  Wert- 
vorrang als  das  je  »Beste«  in  sich  einschließt,  so  gilt  doch 
nicht  minder,  daß  die  Erwerbung  der  subjektiven  Be- 
fähigung zu  dieser  Einsicht  ihrerseits  an  die  Wegräu- 
^ 

^  Siehe  hierzu  mein  Buch :  Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale 
Wertethik,  Teil  I. 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  89 

mung  ihrer  Täuschungsmotive  —  und  das^ind  vor 
allem  Lebensformen,  die  in  gewohnheitsmäßig  geworde- 
nem objektiv  schlechtem  Wollen  und  Handeln  bestehen, 
—  geknüpft  ist.  Es  sind  immer  irgendwie  vorhergehende 
verkehrte  praktische  Lebensweisen,  die  unser Wert- 
und  Wertrangbewußtsein  auf  dasjenige  Niveau  herunter- 
ziehen, auf  dei^  diese  Lebensweisen  selbst  liegen  und  die 
uns  eben  damit  primär  in  Wertblindheit  oder  Werttäu- 
schung führen.  Ist  dies  zugestanden,  so  liegt  freilich  hierin 
allein  noch  kein  Grund,  auch  für  die  theoretische  Seins- 
erkenntnis —  im  Unterschiede  zu  aller  Werterfassung  in 
Form  von  emotionalen  Akten  (Fühlen  von  Etwas,  Vor- 
ziehen, Lieben)  —  eine  analoge  »praktisch  moralische 
Bedingung«  anzunehmen,  wenn  nicht  zu  dem  Gesagten 
nodi  etwas  Anderes  hinzukäme.  Dieses  »Andere«  betrifft 
das  Wesensverhältnis,  das  zwischen  Werterkennen  und 
Seinserkennen  überhaupt  besteht.  Und  da  scheint  es  mir 
ein  strenges  Gesetz  des  Wesenaufbaus  ebensowohl  der 
höheren  »geistigen«  Akte  als  der  für  sie  stofTgebenden, 
niedrigeren  »Funktionen«  unseres  Geistes  zu  sein,  daß 
in  der  Ordnung  möglicher  Gegebenheit  der  objektiven 
Sphäre  überhaupt,  die  dieser  Ordnung  angehörigen 
Wertqualitäten  und  Werteinheiten  allem  vorhergegeben 
sind,  was  der  wertfreien  Schicht  des  Seins  angehört:  so 
daß  überhaupt  Nichts  ganz  und  gar  wertfrei  Seiendes  zum 
Gegenstand  einer  Wahrnehmung,  Erinnerung,  Erwartung, 
in  zweiter  Linie  des  Denkens Imd  Urteils  »ursprünglich 
werden«  kann,  dessen  Wertqualität  oder  dessen  Wertrela- 
tion zu  einem  Anderen  (Gleichheit,  Verschiedenheit  usw.) 
uns  nicht  schon  zuvor  irgendwie  gegeben  gewesen  wäre 
(wobei  das  »zuvor«  nicht  notwendig  Zeitfolge  und  Dauer, 


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90  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

sondern^nur  die  Ordnung  der  Folge  der  Gegebenheit 
resp.  der  Dauer  in  sich  schließt).  Alles  wertfreie  oder  wert- 
indifferente Sein  ist  solches  Sein  also  immer  erst  auf  Grund 
einer  mehr  oder  weniger  künsdichen  Abstraktion,  durch 
die  wir  von  seinem  nicht  nur  immer  mitgegebenen,  son- 
dern auch  stets  vorgegebenen  Werte  absehen  —  eine 
Abstraktionsweise,  die  freilich  b^im  »Geehrten«  so  ge- 
wohnheitsmäßig und  zur  »zweiten  Natur«  werden  kann, 
daß  er  umgekehrt  geneigt  ist,  das  wertfreie  Sein  der  Dinge 
(der  Natur  und  der  Seele)  für  ursprünglicher  nicht  nur 
seiend,  sondern  auch  gegeben  zu  halten,  als  die  Wert- 
qualitäten der  Sachen;  und  daß  er  sich  auf  Grund  dieser 
seiner  falschen  Voraussetzung  nach  irgendwelchen  »Maß- 
stäben,« »Normen«  etc.  umsieht,  durch  die  sein  wertfreies 
Sein  wieder  Wertunterschiede  zurückerhielte.  Nur  darum 
ist  es  dem  natürlichen  Menschen  so  schwer,  »psycholo- 
gisch«, d.  1}.  wertfrei  zu  denken.  Schon  die  Kreise  von 
äußeren  Sinnesmodalitäten  und  Sinnesqualitäten,  über  die 
eine  Species  verfugt,  ist  —  wie  die » vergleichende « Sinnes- 
lehre genau  zu  erhärten  vermag  —  immer  davon  abhängig, 
welcher  Ausschnitt  aus  den  überhaupt  möglichen  Quali- 
täten es  ist,  der  Zeichenfunktion  für  lebenswichtige 
Dinge  und  Vorgangseinheiten  (lebenswichtig  für  die  be- 
treffende Organisation)  erhalten  kann.  Die  Qualitäten  sind 
ursprünglich  nur  als  Zeichen  für  »Freund  und  Feind«  ge- 
geben*. Das  Kind  weiß  früher,  daß  der  Zucker  angenehm 
ist  als  daß  er  süß  ist  (weshalb  ein  Kind  zeitweise  alles 
ähnlich  Angenehme  Zucker  nennt)  und  daß  die  Arznei 

*  Die  Bedeutung  dieses  Prinzips  für  gewisse  Tatsachengruppen  der  Sinnes- 
physiologie und  -Psychologie,  femer  für  die  Entwicklungsgeschichte  der 
sinnlichen  Wahrnehmung  in  der  £nt£EÜtung  der  Lebewelt,  wird  im  III.  Bd« 
dieses  Werkes  angewiesen. 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  g  I 

unangenehm  (»bitter«  im  Wertsinn  des  Wortes)  als  daß 
sie  bitter  (im  Quälitätssinn  der  Sinnesqualität)  ist.  Daß 
eben  dasselbe  für  jede  Milieugegebenheit,  für  Erinnern 
Erwarten  und  für  alle  konkreten  Einheiten  der  Wahr- 
nehmung gilt,  habe  ich  anderenorts  so  eingehend  ge- 
zeigt, daß  ich  mich  nicht  wiederholen  möchte.^  Auch  fiir 
ganze  Weltanschauungen  von  Kulturkreisen  und -Völkern 
gilt,  daß  die  Strukturen  ihres  Wert bewußtseins,  ihrer  ge- 
samten Weltanschauung  das  letzte  Gestaltungsgesetz 
vorschreiben  (soweit  sie  auf  das  Seiende  Bezug  hat).  Und 
für  allen  historischen  Fortschritt  der  Erkenntnis  gilt,  daß 
die  Gegenstände,  die  dieser  Fortschritt  des  Erkennens  er- 
greift, zuerst  geliebt  oder  gehaßt  werden  mußten,  ehe 
sie  intellektuell  erkannt,  analysiert  und  beurteilt  werdfen. 
Überall  geht  der  »Liebhaber«  dem  »Kenner«  voraus, 
und  es  gibt  kein  Seinsgebiet  (seien  es  Zahlen,  Sterne, 
Pflanzen^  geschichdicne  Wirklichkeitszusammenhänge, 
göttliche  Dinge),  dessen  Erforschung  nicht  eine  empha- 
tische Phase  durchlaufen  hätte,  bevor  es  in  die  Phase 
wertfreier  Analyse  trat  —  eine  Phase,  die  meist  mit  einer 
Art  Metaphysizierung  des  Gebiets  (seiner  fälschlichen  Er- 
hebung in  »absolute«  Bedeutung)  zusammenfiel.  Selbst  die 
Zahlen  waren  den  Pythagoreem  erst  »Götter«,  bevor  sie 
ihre  Beziehungen  untersuchten.  Die  analytische  Geometrie 
hatte  bei  ihrem  Erfinder  Descartes  eine  geradezu  meta- 
physische mit  dem  absolut  Gültigen  der  Physik  zusammen- 
fiallende  Bedeutung;  der  Raum  erstarrte  ihm  zur  Materie; 
der  Differentialkalkül  ergab  sich  Leibniz  als  Spezialfall 
seiner  metaphysisch  gemeinten  »lex  continui« ;  er  galt  ihm 
(ursprünglich  wenigstens)  nicht  als  ein  Kunstgriff  unseres 


^  S.  hierzu  uad  zu  dem  Folgenden  »Formalismus  etc.«  IL 


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9  2  Vom  Wesen  det  Philosq)hie  usw. 

Verstandes,  sondern  als  ein  Ausdruck  des  Werdens  der, 
Dinge  selbst.  Die  junge  Wirtschaftsgeschichte  des  1 9.  Jahr- 
hunderts erwuchs  in  den  Eierschalen  der  metaphysischen 
ökonomistischen  Geschichtsauffassung  wiederum  vermöge 
des  neuen,  aufs  höchste  gesteigerten  Interesses,  das  eine 
ökonomisch  schwer  leidende  Klasse  an  den  Wirtschafts- 
vorgängen nahm.  Die  in  einem  mächtigen  pantheistisch 
gefärbten  Naturtausch  schwärmende  phantastische  Natur- 
spekulation der  Renaissance  ging  als  neue  Interessewen- 
dung des  europäischen  Menschen  der  strengen  Natur- 
forschung vorher.  Für  G.  Bruno  war  der  sichtbare  Him- 
mel zuerst  ein  Gegenstand  eines  neuen  Enthusiasmus,  ehe 
er  durch  die  exakte  Astronomie  wirklich  erforscht  wurde. 
Nicht  in  der  negativen  Wendung,  es  gäbe  ja  jenen  »Him- 
mel« des  Mittelalters  gar  nicht,  d.  h.  das  Reich  der  endlich 
gedachten  Kugelschälen  der  vorkopemikanischen  Astro- 
nomie mit  seinen  besonderen  Stoffen  und  nur  ihm  eigenen 
Bewegungsformen,  mit  seinen  Sphärengeistem  usw.,  son- 
dern mit  der  positiven,  es  habe  Kopemikus  einen  neuen 
Stern  am  Himmel  entdeckt  —  die  Erde  —  und  wir  seien 
ja  »schon  im  Himmel«  und  es  gäbe  umgekehrt  jenes  nur 
»Irdische«  des  mittelalterlichen  Menschen  nicht,  begrüßt 
Bruno  den  Kopemikanismus.  Analog  gingen  die  Alchimie 
der  strengen  Chemie,  die  botanischen  und  zoologischen 
Gärten  als  Gegenstände  eines  neuen  Naturgenusses  und 
einer  neuen  Naturwertung  den  Anfängen  der  strengeren 
wissenschaftlichen  Botanik  und  Zoologie  vorher.  Die  ro- 
mantische » Liebe « zum  Mittelalter  ging  analog  seiner  histo- 
rischen strengen  Erforschung,  die  kongeniale  Liebhaber- 
freude an  den  verschiedenen  Teilen  der  griechischen  Kultur 
(z.  B.  Winckelmanns  an  der  Plastik,  die  Auffassung  der 


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Vom  W^en  der  Philosophie  usw.  gx 

griechischen  Dichtungen  als  ewiger  Musterbilder  in  der 
> klassischen«  Periode  der  neueren  Philologie)  ihrer  nur 
historisch -wissenschaftlich  gemeinten  Philologie  und  Ar- 
chäologie vorher.  Für  die  Erforschung  des  Götdichen  ist 
es  fest  eine  communis  opinio  aller  großen  Theologen,  daß 
ein  emotionaler  Kontakt  mit  Gott  in  der  Gottesliebe,  ein 
Fühlen  seiner  Gegenwart  als  summum  bonum  —  eine  Er- 
regung des  »Göttlichen  Sinnes«,  wie  die  großen  Oratoria- 
ner  Malebranche  und  Thomassinus  anschließend  an  die^ 
Neuplatoniker  und  die  griechischen  Väter  sagen,  allen  Be- ' 
weisen  seines  Daseins  als  letzte  Stoffquelle  vorherginge 
und  vorhergehen  müsse. 

Wenn  sich  so  —  ich  deutete  es  hier  nur  an^  —  nach 
den  verschiedensten  Methoden,  nach  denen  wir  Wert- 
erkennen und  Seinserkennen  untersuchen  können,  .dieser 
Primat  der  Wertgegebenheit  vor  der  Seinsgegebenheit 
erweisen  läßt,  so  folgt  hieraus  indes  eine  an  sich  beste- 
hende Priorität  der  Werte  gegenüber  dem  Sein  mit  nich- 
t  en.  Auch  hier  kan  n  ja  dasjenige,  was » an  sich  das  Spätere  < 
ist,  > das  für  uns  Frühere  sein«,  wie  es  Aristoteles  als  all- 
gemeine Regel  jüber  das  Verhältnis  von  Erkennen  und 
Sein  behauptete.  Ja  —  da  es  ein  einsichtiger  Satz  ist,  daß 
zu  allen  Qualitäten  —  wie  immer  sie  auch  gesondert  von 
ihren  Trägem  gegeben  sein  können  imd  wie  immer  sie 
einer  in  ihrem  Gehalt  gegründeten,  ihnen  wesenhaft  eige- 
nen Ordnung  unterliegen  —  ein  subsistierendes  Sein  >  ge- 
hört«, dem  sie  inhärieren,  so  kann  das  aristotelische  Wort 
hier  nicht  nur  zutreften,  —  sondern  es  muß  es  auch..- 

Aber  gleichwohl  folgt  aus  .der  Priorität  der  Wert- 
gegebenheit vor  der  Seinsgegebenheit  in  Verbindung  mit 

Vgl.  den  dritten  Band  dieses  Werkes. 


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94  ^^^  Wesen  der  Philosophie  usw. 

dem  früheren  Satze,  nach  dem  evidente  Wertgegebenheit 
—  und  um  so  mehr,  je  weniger  relativ  die  Werte  sind  — 
selbst  wieder  eine  »moralische  Bedingung«  voraussetze, 
daß  eben  hierdurch  auch  der  mögliche  Zugang  zum  ab- 
soluten Sein  selbst  wieder  indirekt  an  diese  > moralische 
Bedingung«  geknüpft  ist. 

Das  eigenartige  Verhältnis,  das  wir  also  zwischen  Wert 
und  Sein  einerseits,  zwischen  Theorie  und  Moral  hiermit 
statuieren,  besteht  darin,  daß  die  einsichtige  Wertgegeben- 
heit eine  objektive  Priorität  vor  allem  guten  Verhalten, 
Wollen  und  Handeln  besitzt  (denn  nur  das  einsichtig  als 
gut  Gewollte  ist,  wenn  es  zugleich  objektiv  gut  ist,  auch 
vollkommen  gut).  Die  einsichtige  Wertgegebenheit  ist 
aber  zugleich  von  subjektiver  Aposteriorität  gegenüber 
dem  objektiv  guten  Wollen  und  Verhalten.  Die  einsichtige 
Wertgegebenheit  ist  femer  von  subjektiver  Apriorität 
gegenüber  aller  Seinsgegebenheit.  Der  Wert  selbst  aber 
ist  gegenüber  dem  subsistenten  Sein  von  nur  attributiyer 
Bedeutung.  Und  wir  dürfen  darum  auch  sofort  hinzusetzen, 
daß  die  spezifischen  »emotionalen«  Aktarten  unseres  Gei- 
stes, durch  die  uns  Werte  zuerst  zur  Gegebenheit  kom- 
men und  die  auch  die  StofTquellen  für  alle  sekundären 
Wert-Beurteilungen,  sowie  für  alle  Normen  und  Soll- 
sdnssätze ausmachen,  das  gemeinsame  Bindeglied 
ausmachen  sowohl  für  all  unser  praktisches  Verhalten 
wie  für  all  unser  theoretisches  Erkennen  und  Denken.  Da 
aber  Liebe  und  Haß  die  ursprünglichsten  und  alle  übrigen 
Aktarten  (Interessenehmen,  Fühlen  von  Etwas,  Vorzie- 
hen usw.)  umspannenden  und  fundierenden  Aktweisen 
innerhalb  der  Gruppe  dieser  emotionalen  Akte  sind,  so 
'  bilden  sie  auch  diegemefnsamen  Wurzeln  unseres  prak- 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  g^ 

tischen  und  unseres  theoretischen  Verhaltens,  sind  sie 
die  Grundakte  —  in  denen  allein  unser  theoretisches  und 
praktisches  Leben  seine  letzte  Einheit  findet  und  be- 
wahrt. 

Wie  man  gemerkt,  ist  diese  Lehre  gleich  scharf  von 
allen  Lel^•en  eines  Primates  des  Verstandes  wie  eines  Pri- 
mates des  Willens  in  unserem  Geiste  verschieden,  da 
sie  ja  eben  einen  Primat  von  Liebe  und  Haß  sowohl  gegen- 
über allen  Arten  des  »Vorstellens«  und  >Urteilens«  als 
auch  gegenüber  allem  »Wollen«  behauptet.  Denn  es  geht, 
wie  anderenorts  gezeigt  worden  ist,  nicht  an,  die  Akte  des 
Interessenehmens,  der  Aufmerksamkeit  und  die  Akte  von 
Liebe  und  Haß  dem  Streben  und  Wollen  irgendwie  zu 
subsumieren  und  es  ist  ebensowenig  möglich,  sie  auf  bloße 
Veränderungen  des  Vorstellungsinhalts  zurückzufuhren/ 

3.  Analyse  des  moralischen  Aufschwungs. 
Im  Ganzen  des  Aktus  jenes  Aufschwungs,  durch  den 
der  Kern  der  Person  Teilnahme  am  Wesenhaften  durch 
Erkenntnis  zu  gewinnen  sucht,  sind  verschiedene  Faktoren 
zu  unterscheiden.  Sind  sie  aber  aufgezeigt,  so  ist  erstens 
die  besondere  feste  Erkenntnisstellung,  die  durch  diesen 
Aufschwung  der  ganzen  Person  als  Ziel  gewonnen  wird, 
zweitens  das  Erkenntnisprinzip,  durch  das  und  nach  dem 
in  dieser  Haltung  erkannt  wird,  und  endlich  drittens  — 
'das  wichtigste. —  die  Natur  der  Gegeiütandswelt  und  ihres 

^  über  die  genaueren  Wesensverhältnisse  von  Liebe  und  Haß  zu  den  erken- 
nenden und  willensartigen  Akten  siehe  im  III.  Bdl  dieser  Schrift  die  Ab- 
handlung: »Erkenntnis  und  Liebe« ;  femer  vergleiche  die  historische  Typo- 
logie dieses  Prqjblems  im  Buche:  Krieg  und  Aufbau,  »Ober  Liebe  und  Er- 
kenntnis«. Siehe  femer  mein  Buch  »Zur  Theorie  und  Phänomenologie  der 
SympathiegelUhle  und  von  Liebe  und  Haß«  (Halle  191 2). 


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g6  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Zusammenhangs,  die  in  dieser  Erkenntnisstellung  an  die 
Stelle  des  in  der  »natürlichen Weltanschauung«  Gegebenen 
tritt,  g^enau  zu  erforschen. 

Erst  wenn  dies  geschehen  ist,  können  die  philosophi- 
schen Disziplinen  entwickelt  und  kann  das  Verhältnis  der 
Philosophie  zu  allen  Arten  nichtphilosophischer  Erkennt- 
nisart, I,  zur  natürlichen  Weltanschauung,  2.  zur  Wissen- 
schaft, 3.  zu  Kunst,  Religion,  Mythos  entwickelt  werden. 

a.  Der  Akt  des  Aufschwungs  als  Personakt  »des  ganzen 

Menschen«. 

Nicht  das  Kennzeichen  einer  besonderen  Philosophie, 
sondern  das  Wesen  der  Philosophie  selbst  ist  es,  daß  in 
ihr  der  ganze  Mensch  mit  der  konzentrierten  Gesamtheit 
seiner  höchsten  geistigen  Kräfte  sich  in  Volltätigkeit  be- 
findet. Dies  entspricht  auf  subjektiver  Seite  nur  der  Grund- 
tatsache, daß  die  Philosophie  eine  ist  —  im  Unterschiede 
zu  den  Wissenschaften,  die  —  wesensmäßig  —  viele  sind. 
Auch  dieser  Unterschied  von  Einheit  und  Vielheit  ist  schon 
ein  prinzipielles  Unterscheidungsmerkmal  der  Philosophie 
vom  Wesen  der  Wissenschaft^.  Vermöge  der  besonderen 
Natur  ihrer  Gegenstände  (Zahlen,  geometrische  Gestalten, 
Tiere,  Pflanzen,  tote  und  lebendige  Dinge)  fordern  die 
Wissenschaften  Anwendung  und  Übung  je  ganz  besonderer 
Teilfunktionen  des  menschlichen  Geistes,  z.  B.  je  mehr 
Denken  oder  Beobachtungskunst,  je  mehr  schließendes 
oder  intuitiv-erfindendes  Denken;  dazu  fordern  die  Haupt- 
arten von  ihnen  je  besondere  einseitige,  den  spezifischen 
Daseinsformen  ihrer  Gegenstände  entsprechende  For- 
men der  materialgebenden  Anschauung,  als  ^  sind  z.  B. 

^  »Die«  Wissenschaft  existiert  nibht;  es  gibt  nur  Wissenschaften. 


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Ypm  Wesen  der  Philosophie  usw.  g*j 

die  Form  der  äußeren  Anschauung  für  die  Naturwissen- 
schaft, die  der  inneren  für  die  Psychologie.  Oder  die  Wis- 
senschaften, die  es  mit  in  gewissen  Wertarten  gebundenen 
Güterwelten  zu  tun  haben  (Kunst,  Recht,  Staat  usw.),  for- 
dern eine  besondere  einseitige  Anwendung  und  Übung 
der  emotionalen  Funktionen,  z.  B.  des  Qualitätsgefühles 
in  der  Kunst,  des  Rechts-  und  Billigkeitsgefühls  in  der 
Rechtswissenschaft,  dadurch  die  Werte  dieser  Art  dem 
Bewußtsein  sich  kundgeben.  In  der  Philosophie  hingegen 
philosophiert  von  Hause  aus  das  konkrete  panze  des 
menschlichen  Geistes  und  dies  in  einem  Sinne,  den  ich  die 
je  einzelne  in  Tätigkeit  befindliche  Funktionsgruppe  >  über- 
spannend «  nennen  möchte.  Aucäi  im  speziellsten  philosophi- 
schen Teilproblem  philosophiert  der  ganze  Mensch.  Nur 
indem  er  die  wesenhaft  geschiedenen  Anschauungs-formen 
und  Bewußtseinsstellungen,  die  in  den  »Wissenschaften« 
oder  die  in  Religion  und  Kunst  und  deren  Verwaltern  je 
gesondert  und  differenziert  eingenommen  werden  und  die 
an  die  spezifische  Gegebenheitsmöglichkeit  der  betreffenden 
Seins-  und  Wertregionen  geknüpft  ist,  im  Zentrum  seiner 
Person  zunächst  reintegriert,  vermag  der  Philosoph  das- 
jenige auch  nur  der  Möglichkeit  nach  zu  leisten,  was  alle 
diejenigen,  die  einseitig  in  diesen  Formen  leben  und  wir- 
ken, nicht  leisten  können:  die  Wesens  Verschiedenheit  dieser 
Formen  der  AnschauungunddeszugehörigenDaseins- und 
Gegebenseins  aufzuweisen  und  sie  scharf  zu  umgrenzen ;  ver- 
mag er  femer — was  das  Wichtigste  ist :  die  Anschauungs-, 
Denk-,  Fühl  formen,  in  denen  die  Forscher,  die  Künstler, 
die  Fronunen  leben  — '  und  dies  ohne  sie  gegenständlich 
zu  haben  —  noch  als  besondere  Wesensgehalte  vor  einen 
noch  undifferenzierten  schlechthin  einfachen  Blick  des 


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gS  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Geistes  zu  bringen;  er  vermag  sie  vor  einer  reinen  und 
formlosen  Anschauung,  resp.  vor  reinem  und  formfreien 
»Denken«  zu  vergegenständlichen.  Diealtfe platonische 
Forderung,  daß  der  ganze  Mensch  in  der  Philosophie  — 
nicht  nur  sein  isolierter  Verstand  oder  sein  isoliertes  Gemüt 
usw.  Teilnahme  am  Wesenhaften  suchen  müßte,  ist  also 
nicht  —  wie  Viele  sehr  kindisch  annehmen  —  ein  bloß 
psychologisches  Merkmal  des  Charakters  Piatons:  es  ist 
eine  in  der  wesenhaftenEinheit  und  der  sachlichen  Pro- 
blematik der  Philosophie  gelegene  Forderung  der  Erkennt- 
nismöglichkeit seitens  ihres  Gegenstandes  selber.  Es  ist 
eine  nicht  psychologisch  und  nicht  nur  philosophie-erkennt- 
nis-theoretisch,  sondern  on tisch  gegründete  Förderung. 
Denn  die  wesensverschiedenen  Regionen  des  Seins  selbst 
werden  erst  durch  vorhergehende  Reintegration  der  ihnen 
wesenhaft  je  zugehörigen  Anschauungsformen,  Aktarten 
usw.  im  Zentrum  einer  Person  auf  einen  einheitlichen 
Ausgangspunkt  als  wesensverschiedene  in  ihrer  beson- 
deren Artung  überhaupt  faßbar.  Nur  dann  wird  dieser  Satz 
vom  ganzen  philosophierenden  Menschen  gründlich  miß- 
verstanden, wenn  an  Stelle  des  konkreten  Aktzentrums 
des  Geistes  der  »Mensch«  als  psychophysischer  Gegen- 
stand gesetzt  wird,  als  dürfe  auch  dieser  »Mensch«  seine 
Eigenheiten  in  die  Philosophie  mit  hereingeben  und  die 
Philosophie  so  zu  einem  »Roman«  ihres  Urhebers  machen. 
Und  wieder  wurde  der  Gedanke  mißverstanden,  wenn  er 
im  Sinn  des  von  dem  platonischen  Satze  ganz  verschiede- 
nen Fichteschen  Satzes,  »die  Philosophie,  die  man  habe, 
richte  sich  danach,  was  für  ein  Mensch  man  sei « ,  den  morali- 
schen Charakter  auch  für  den  Inhalt,  für  das  Ergebnis 
der  Philosophie  verantwortlich  machte,  anstatt  nur  für  den 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  99 

Aufschwung  resp.  das  Maß,  die  Reinheit  und  die  Kraft 
des  Aufschwungs,  der  uns  erst  mit  dem  an  sich  bestehen- 
den Seinsreich,  mit  dem  es  Philosophie  zu  tun  hat,  in 
mögKche  Erkenntnisbeziehung  setzt. 

Und  endlich  wäre  es  auch  ein  Mißverständnis  unseres 
Satzes,  wenn  man  verkennte,  daß  jeder  abschließende 
Akt  des  als  Ganzes  plfilosophierenden  geistigen  Menschen  % 
ein  Erkenntnisakt  sein  muß  —  in  der  Ethik  z.  B.  eben- 
sowohl als  in  der  Seinslehre  — ,  daß  dabei  aber  trotzdem 
das  eigenartig  Gegebene,  das  dieser  Erkenntnis  unter- 
liegt, sehr  wohl  nicht  »erkennenden«  Funktionen  des  kon- 
kreten Geistes  verdankt  werden  kann,  ja  bei  gewissen 
Dingen  muß.  ^s  scheint  mir,  daß  z.  B.  Wilhelm  Dilthey 
in  seinen  Schriften  die  gebenden  und  die  erkenntnismäßig 
abschließenden  Funktionen  und  Akte  des  Geistes  im  Philo- 
sophieren nicht  immer  genau  unterschieden  habe  und  so 
gewissen  ganz  mißverständlichen  rationalistischen  Kriti- 
ken seiner  Lehre  Tür  und  Tor  geöffnet  habe.  Es  gibt 
heute  zweifellos  eine  Art  Bestrebung  Sjpf  sog.  *  Erlebnis- 
philosophie«, die  dem  Grundirrtum  huldigt,  es  könne 
Philosophie  je  etwas  anderes  sein  als  Erkenntnis  und  zwar 
streng  objektive,  allein  durch  den  Gegengtandund  nichts 
anderes  bestimmte  Erkenntnis;  —  sie  könne  etwa  auch 
»Erleben«  sein  oder  Urteile  fällen  über  das  je  zufällige  Er- 
leben, z.  B.  über  Evidenzgeftihle,  die  sich  hier  und  dort 
einstellen.  Daß  auch  mein  Aufsatz  über:  »Versuche  einer 
-Philosophie  des  Lebens«  (siehe  Abhandlungen  und  Auf- 
sätze II)  also  psychologisch  mißverstanden  werden  konnte, 
ist  nur  ein  Zeichen  äußersten  Tiefstandes  der  betreffen- 
den Kritiker  oder  eingebildeter  Gefolgschaft.  Es  gibt  aber 
auch  —  merkwürdigerweise  —  Philosophen,  die  auch  die 
7* 


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I OO  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

emotionalen  Wesensformen  des  Werterfassens  und  die 
für  verschiedene  Philosophen  verschieden-reiche  Fülle  der 
von  jenem  Aufschwung  des  ganzen  Menschen  in  ihrer  Ge- 
gebenheit, nicht  in  ihrem  Sein  und  Bestand  abhängigen 
Materien  möglicher  Erkenntnis  für  ein  bloß  »zufälliges 
psychisches  Erlebnisfaktum«  halten;  also  der  grenzenlos 
naiven  Meinung  sind,  es  genüge,  um*  ein  Philosoph  zu  sein, 
über  beliebige  Dinge  richtig  urteilen  und  schließen  zu 
können. 

Indem  das  konkrete  Aktzentrum  des  ganzen  Menschen 
sich  zur  Teilhabe  am  Wesenhaften  aufzuschwingen  sucht, 
ist  also  sein  Ziel  eine  unmittelbare  Einigung  zwischen 
seinem  Sein  und  dem  Sein  des  Wesenhaften,  d.  h.  es  ist  hier 
des  Menschen  Ziel,  das  zentrale  Aktkorrelat  alles  mög- 
lichen Wesenhaften  und  zwar  in  der  diesem  Reiche  imma- 
nenten  Ordnung  zu  »werden«.  Das  besagt  ebensowohl, 
daß  das  Aktzentrum  sich  selbst,  d.  h.  sein  eigenes  Sein 
durch  diese  Teilhabe  zu  verwesentlichen  und  zu  verewigen 
habe,  als  es  besagt,  daß  die  Wesenheiten  in  die  Seinsform 
und  Spannweite  der  Personalität  überzufuhren  seien. 
Insofern  aber  —  wie  ^ich  zeigen  wird  —  die  Idee  eines 
(unendlichen)  konkreten,  personalen  Aktzentrums  als 
Korrelat  aller  möglichen  Wesenheiten  mit  der  Idee  Gottes 
(oder  doch  mit  einer  Grundbestimmung  dieser  Idee)  iden- 
tisch ist,  ist  jener  Versuch  des  Aufschwungs  des  ganzen 
geistigen  Menschen  immer  zugleich  ein  Versuch  des  Men- 
schen, sich  selber  als  natürliches  fertiges  Sein  zu  trans- 
zendieren,  sich  selbst  zu  vergöttlichen  oder  Gott  ähnlich 
zu  werden  (Piaton).  Zu  »versuchen«,  das  Aktzentrum  des 
eigenen  Geistes  aus  seinem  psychophysischen  und  biolo- 
gisch-menschlichen  Zusammenhang  durch  einen  immer 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  i  o  i 

neuen  Aktus  dieses  Zentrums  faktisch^  —  nicht  nur  durch 
ein  abstraktivtheoretisches  »Absehen«  oder  bloßes  »Nicht- 
achten«  dieses  Zusammenhangs  —  herauszulösen  und  es 
in  das,  der  Gottesidee  entsprechende  universale  Aktzen- 
trum »einzustellen«,  um  aus  diesem  Aktzentrum  heraus- 
und  gleichsam  »in«  seiner  Kraft  einen  Blick  auf  das  Sein 
aller  Dinge  zu  tun  —  das  ist  als  immer  erneuter  Versuch 
ein  Wesensmerkmal  des  untersuchten  »Aufschwungs«.  Ob 
es  ontisch  möglich  sei,  daß  dieser  Versuch  gelinge  und  wie 
weit  er  gelinge,  das  ist  eine  völlig  andere  Frage,  welche 
den  Inhalt  der  Philosophie,  nicht  den  Ursprung  der  philo- 
sophischen Haltung  des  Geistes  und  die  ihr  wesensmäßig 
zugehörige  einheitliche  Intention  betrifft. 

b.  Ausgangspunkt  und  Elemente  des  Aufschwungs. 

Man  muß  beim  Studium  <les  Aufschwungs,  der  in  die 
philosophische  Geisteshaltung  (und  von  ihr  aus  erst  zum 
Gegenstande  und  zum  Sein  der  Philosophie)  führt  zwei 
Dinge  unterscheiden:  ihren  Ausgangspunkt  und  ihr  Ziel. 
Nun  aber  bildet  für  alle  Arten  einer  höheren,  der  Wert- 
gruppe, die  ich  in  meiner  Ethik  »geistige  Werte«  nannte, 
zugewandten  Geistestätigkeit  (sei  diese  wissenschaftliche, 

*  Die  später  zu  eruierenden  Verfahrungsweisen  der  »  Reduktion  «  der  Daseins- 
modi  der  Gegenstände,  um  durch  sie  ihr  pures  «Was«,  ihr  »Wesen«,  ihre 
»Essenz«  für  sich  zur  Anschauung  zu  bringen,  ein  Verfahren^das  £.  Husserl 
neuerdings  phänomenologische  »Reduktion«  genannt  hat  und  die  er  nur 
als  »Absehen«  resp.  »Dahingestelltseinlassen«,  »Eingeklammertwerden«  der 
Daseinsmodi  (nicht  derDaseii^  selbst,  wie  er  annimmt)  beschreibt,  haben 
diesen  versuchenden  Aktus,  das  Sein  ides  Aktzentrums  aus  dem  psycho- 
physischen  Seinszusammenhang  wenigstens  der  Funktion  nach  heraus- 
zulösen, also  einen  Seins-Prozeß,  ein  Anders  werden  des  Menschen  zur  Vor. 
aussetzung.  Es  muß  also  die  geistige  Erkenntnis-Technik  dieser  Umstellung 
der  Person  selbst  diesen  nur  logischen  Verfahnmgsweisen  des  Absehens  vor- 
hergehen. 


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I02  Vom  Wesen  dtt  Philosophie  usw. 

philosophische,  ästhetische,  künstlerische,  religiöse,  mora- 
lische) den  gemeinsamen  Ausgangspunkt  die  natürliche 
Weltanschauung^  des  Menschen  und  das  in  ihr  gegebene 
Seiende  und  Wertvolle.  Die  identisch  gemeinsame 
Voraussetzung  aber  für  die  grundverschiedenen  Arten  und 
Stellungnahmen,  die  von  diesem  Ausgangspunkt  weg  und 
in  die  Richtung  irgendeines  Wertbereiches  vom  Wesen  der 
übervitalen  Werte  fuhren,  ist  dasobjektive  Verhalten. 
Es  ist  das  dem  Wesen  sogearteter  Werte  als  solchem  zu- 
gewandte Verhalten  des  Geistes  überhaupt.  Soll  also  die 
Überwindung  des  »moralischen  Hindernisses«  studiert 
werden,  —  jene  Überwindung,  die  eben  in  dem  Auf- 
schwung gelegen  ist  und  durch  ihn  erfolgt,  so  müssen 
wir  zuerst  die  generelle  Natur  der  natürlichen  Weltan- 
schauung kennen  lernen  und  dasjenige  Sein  und  Verhal- 
ten des  Menschen,  das  ihr  selbst  wie  ihren  Gegebenheiten 
entspricht.  Und  nicht  minder  haben  wir  jenes  identische 
Moment  in  dem  Akte  zu  suchen,  das  i.  objektives  Ver- 
halten überhaupt,  2.  philpsophisches  auf  der  Seite  der 
Person  fundiert.  Und  es  wird  sich  hierbei  als  besonders 
bedeutsam  erweisen,  daß  wir  die  drei  wesensmäßig  ver- 
schiedenen gegenständlich  erkennenden  Verhaltungswei- 
sen, I .  Natürliche  Weltanschauung,  2 .  Philosophische  Welt- 
anschauung, 3.  Wissenschaftliche  Weltauffassung,  in  ihrem 
richtigen  Verhältnis  zueinander  gewahren. 

Ein  erstes  Merkmal  aller  natürlichen  Weltanschauung  ist, 
daß  das  in  ihr  stehende  Subjekt  seki  jeweiliges  Um-weltsein 
resp.  alles  mögliche  Umweltsein  überhaupt  für  dasWelt- 
seih  hält  —  und  dies  in  allen  Richtungen,  räumlich,  zeit- 

^  Resp.  das  natürliche  *  Betragen«  (Wollen,  Handeln  usw.),  desgl.  die  »natür- 
liche Werthaltung«. 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  1 03 

lieh,  sodann  in  der  Innenwdts-  und  Außenweltsrichtung, 
in  der  Richtung  auf  das  Göttliche  wie  in  jener  auf  ideale 
Gegenstände.  Denn  in  allen  diesen  Richtungen  gibt  es 
eine  »Umwelt«,  die  so  sehr  sie  für  verschiedene  Einzel- 
oder Kollektivsubjekte  (Völker,  Rassen,  die  natürliche 
Menschengattung),  desgl.  für  verschiedene  Organisations- 
stufen des  Lebens  verschiedenen  Sondergehalt  besitzt, 
einer  essentiellen  Struktur  teilhaftig  ist,  die  sie  zur  »Um- 
welt« macht.  Diese  Struktur  der  natürlichen  Umwelt  ist  das 
System  der  natürlichen  Daseins-Formen  (Dinge,  Begeben- 
heiten, natürliche  Raum-  und  Zeitanschauung)  mit  dem  ihm 
entsprechenden  System  der  natürlichen  Wahmehmungs- 
und  Gedanken-  und  Sprach  formen  (gesunder  Menschen- 
verstand und  volkstümliche  Sprache).  Es  hat  in  dem  Lehr- 
stück der  »Phänomenologie  der  natürlichen  Weltanschau- 
ung« genau  studiert  zu  werden  und  muß  von  der  Katego- 
rienlehre der  Wissenschaft  ebenso  scharf  geschieden 
werden  wie  von  der  Lehre  von  den  Seins-  und  Erkenntnis- 
formen, mit  denen  Philosophie  als  Philosophie  es 
dann  zu  tun  hat,  wenn  sie  ihr  besonderers  Objekt  schon 
erreicht  hat  und  ihm  gegenüber  sich  in  Erkenntnisstellung 
befindet. 

Wie  immer  aber  diese  Struktur  des  Umweltseins  für 
den  Menschen  aussehe,  auf  alle  Fälle  ist  es  dem  ihr  ent- 
sprechenden Sein  eigen,  daß  es  mit  seiner  Struktur  relativ 
ist  auf  die  biologische  Sonderorganisation  des  Menschen  als 
einer  besonderen  Aktspezies  des  universellen  Lebens. 
Und  diese  Daseinsrelativität  oder  diese  Daseinsgebunden- 
heit an  die  »Organisation«  besteht  in  gleichem  Maße  für 
die  Struktur  und  den  Gehalt  der  Wasinhalte  dieser  Um- 
welt (der  in  sie  eingehenden  Wesenheiten)  wie  für  ihr  reales 


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1 04  Vom  Wesen  .dct  Philosophie  usw. 

Dasein  und  die  Formen  ihres  Daseins.  Es  ist  die  Welt 
der  doxa  —  gemäß  der  platonischen  Scheidung  von  i6(a 
und  bwn^^ri  —  in  der  wir  uns  hier  befinden.  Und  es  ist 
dabei  noch  gleichgültig,  ob  wir  bei  der  Umwelt  an  die 
Sonderumwelt  eines  Individuums,  einer  Rasse,  eines  Stam- 
mes oder  Volkes  denken  oder  an  die  generelle  Umwelt 
des  natürlichen  Menschen  als  Vertreters  dieser  vitalen 
Gattung  überhaupt.  Das  Seiende  aber  in  eben  derselben 
Seinsrelativität  auf  das  Leben  überhaupt  so  zu  erkennen 
und  zu  denken,  daß  es  in  größtmöglicher  Vollständig- 
keit und  unter  streng  prinzipieller  Ausscheidung  aller 
Seinsrelativität  (Wesens-  und  Daseinsrelativität)  auf  Indi- 
viduen, Rasse,  Volk  usw.  nur  mehr  auf  die  mensch- 
liche Organisation  überhaupt  oder  auf  das  Identische  in 
jedem  Menschen  seinsrelativ  ist,  das  ist  diejenige  Reduk- 
tion, welche  das  wissenschaftliche  »allgemeingül- 
tige« Erkennen  vom  Sein  und  Gehalt  der  Umwelt  vor- 
nimmt. Aber  die  Grundtatsache,  daß  aus  der  Fülle  deS 
Welt-Seins  überhaupt  nur  dasjenige  in  die  Umweltsphäre 
eingeht,  was  für  die  Trieb-  und  die  der  Triebstruktur  ent- 
sprechende Sinnesstruktur  des  Menschen  von  erfüllender 
resp.  widerstreitender,  auf  alle  Fälle  antwortender  Be- 
deutung ist,  besteht  für  die  vollständige  und  aller  indivi- 
duell-partikularen Seinsbezüge  entkleidete,  also  nur  mehr 
auf  einen  lebendigen  Menschen  überhaupt  be- 
zogene Umwelt  genau  in  derselben  Weise  wie  für  die 
partikulareren  Umwelten  des  Individuums,  der  Rasse  usw. 
Die  Richtung  des  philosophischen  Erkennens  ist  nun  aber 
im  Unterschiede  zum  >  wissenschaftlichen « ,  das  in  den  Struk- 
turformen  —  wenn  auch  nicht  notwendig  den  Struktur- 
Inhalten  —  der  »natürlichen  Weltanschauung«  verbleibt^ 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  105 

nicht  in  SO  gearteter  Erweiterung  der  erkennenden  Teil- 
nahme am  Sein  der  Umwelt  oder  an  der  Gewinnung  einer 
(menschlich)>allgemeingültigen«Umweltgelegen.Das 
philosophische  Erkennen  zielt  vielmehr  in  eine  völlig  an- 
dere Seinssphäre,  die  außer  uns  jenseits  der  bloßen 
Umweltsphäre  des  Seins  überhaupt  gelegen  ist.  Darum 
bedarf  es  ja  eben  des  besonderen  Aufschwunges,  um  an 
das  Sein  der  Welt  selber  heranzugelangen.  D.  h.  es  be- 
darf eines  besonderen  Gefliges  zunächst  moralischer  Akte, 
um  fiir  den  erkennenden  Geist  die  Bande  nach  Möglich- 
keit zu  beseitigen,  die  seinen  möglichen  Gegenstand  inner- 
halb der  natürlichen  Umweltanschauung  überhaupt  (der  ge- 
meinen wie  der  >wissenschafdich6n<)  seinsrelativ  auf  das 
Leben,  seinsrelativ  auf  die  Vitalität  überhaupt  und  darum 
auch  notwendig  auf  irgendein  besonderes  leiblich-sinn- 
liches Triebsystem  machen.  Esbedarf  dieser  Akte,  um  den 
Geist  das  nur  vitalrelative  Sein,  das  Sein  für  das 
Leben  (und  in  ihm  fiir  den  Menschen  als  Lebewesen) 
prinzipiell  verlassen  zu  machen,  um  ihn  mit  dem  Sein, 
wie  es  an  sich  selbst  und  in  sich  selbst  ist,  in  Teilnehmung 
treten  zu  machen^. 

Im  Gefiige  dieser  moralischen,  die  philosophische 
Erkenntnis  wesensmäßig  disponierenden  Grund- 
akte unterscheiden  wir  eine  positive  Grundaktart  und  zwei 
negativ  gerichtete  Grundaktarteny  die  nur  in  ihrem  ein- 

'  Da  diese  Akte  prinzipiell  in  allen  möglichen  Graden  von  Menschen  voll- 
zogen werden  können,  so  ist  auch  die  Gewinnung  des  Gegenstandes  der 
Philosophie  oder  des  absoluten  Seins  (Wesens  und  Daseins)  aller  G^en- 
stände  in  allen  Graden  der  Adaquation  und  der  Fülle  möglich. 

Schon  darum  ist  es  ausgeschlossen,  zu  sagen,  es  könne  Jeder  von  den  ab- 
soluten Sachen  und  Werten  auf  alle  Fälle  entweder  Alles,  oder  doch  gleich- 
viel oder  gleichwenig  oder  gar  nichts  erkennen.  Was  Jeder  auch  nur  erken- 
nen kann,  richtet  sich  vielmehr  nach  dem  Grade  des  Aufschwungs. 


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Io6  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

heidichen  Zusammenwirken  den  Menschen  an  die  Schwelle 
möglicher  Gegebenheit  des  Gegenstandes  der  Philosophie 
gelangen  lassen: 

1.  die  Liebe  der  ganzen  geistigen  Person  zum 
absoluten  Wert  und  Sein, 

2.  die  Verdemütigung  des  natürlichen  Ich  und 
Selbst, 

3.  die  Selbstbeherrschung  und  dadurch  erst 
mögliche  Vergegenständlichung  der,  die  na- 
türliche sinnliche  Wahrnehmung  stets  not- 
wendig mitbedingenden  Triebimpulse  des  als 
»leiblich«  gegebenen  und  als  leiblich  fundiert 
erlebten  Lebens. 

In  ihrem  geordneten  Zusammenwirken  fuhren  diese 
moralischen  Akte  —  nur  sie  allein  —  die  geistige  Person 
als  Subjekt  möglicher  Teilnehmung  am  Sein  durch  Er- 
kennen, aus  der  Umweltsphäre  des  Seins  oder  aus  der 
Richtung  der  Seinsrelativität  überhaupt  heraus  und  in 
die  Weltsphäre  des  Seins,  also  in  die  Richtung  des  ab- 
soluten Seins  hinein.  Sie  lösen  den  natürlichen  Ego- 
centrismus,  Vitalismus  und  Anthropomorphismus 
des  Menschen,  der  fiir  alle  natürliche  Weltanschauung 
charakteristisch  ist,  und  die  ihnen  genau  entsprechende 
Sach-Charakteristik  der  Umweltgegebenheit  als  solcher 
auf  —  und  das  nach  verschiedenen  Richtungen. 

Die  Liebe  zum  absoluten  Wert  und  Sein  bricht  die  im 
Menschen  befindliche  Quelle  der  Seinsrelativität  alles 
Umwelt-seins. 

Die  Verdemütigung  bricht  den  i^atürlichen  Stolz 
und  ist  die  moralische  Voraussetzung  des  für  die  Erkenntnis 
der  Philosophie  notwendigen  gleichzeitigen  Abstreifens, 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  107 

I.  der  zufälligen  Daseinsmodi  von  den  puren  Gas- 
gehalten (Bedingung  der  Intuition  der  puren  »Wesen«) 
und  2.  der  faktischen  Verwobenheit  des  erkennenden 
Aktes  in  den  Vital-Haushalt  eines  psychophysischen  Or- 
ganismus. Der  Bestand  der  zufälligen  Daseinsmodi  an  den 
Wasgehalten  und  diese  Verwobenheit  des  erkennenden 
Aktes  in  den  Haushalt  einer  psychophysischen  Lebens- 
einheit aber  entsprechen  ^ich  gegenseitig  wesens- 
mäßig. Sie  stehen  und  fallen  zusammen.* 

DieSelbstbeherrschungals  Mittel  der  Zurückhaltung 
und  als  Mittel  der  Vergegenständlichung  der  Triebimpulse 
bricht  die  natürliche  Concupiscentia  und  ist  die  Moralische 
Bedingung  einer  sich  von  Null  bis  zur  Vollkommenheit 
steigernden  Adäquation  in  der  Gegebenheitsfülle  des 
Weltinhalts. 

Also  entsprechen  den  drei  voneinander  unabhängig 
variablen  Maßstäben  aller  Erkenntnis: 

1 .  Art  und  Grad  der  Seinsrelativität  ihres  Gegen- 
standes, 

2.  Evidente  Wesenserkenntnis  oder  induktive 
Daseinserkenntnis. 

3.  Adäquation  der  Erkenntnis, 

genau  die  genannten  moralischen  Akte  als  Vorbedin- 
gungen des  Erkenntnisvollzugs : 

die  Liebe,  der  Kern  und  die  Seele  gleichsam  des  ganzen 
Aktgefiiges  fuhrt  uns  in  die  Richtung  des  absoluten  Seins. 
Sie  führt  also  hinaus  über  die  nur  auf  unser  Sein  relativ 
da  seienden  Gegenstände. 

Die  Demut  führt  uns  vom  zufälligen  Dasein  irgend 
eines  Et-was  (und  allen  in  diese  Sphäre  gehörigen  kate- 
gorialen  Seinsformen  und  Seinsverknüpfungen)  in   die 


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I  o8  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Richtung  zum  Wesen,  zum  puren  JVasgehsih  der 
Welt.  ^ 

Die  Selbstbeherrschung  fuhrt  von  inadäquater,  im  äußer- 
sten Falle  vom  nur  symbolischen  eindeutigen  Meinen  der 
Gegenstände  von  der  Fülle  O  in  die  Richtimg  der  vollen 
Adäquation  der  anschauenden  Erkenntnis. 

Zwischen  diesen  moralischen  Haltungen  und  dem  mög- 
lichen Fortschritt  der  Erkenntnis  in  einer  dieser  Grund- 
richtungen —  (zum  absoluten  Sein,  zur  evidenten  Einsicht, 
zur  Adäquation),  besteht  nicht  ein  zufälliger  oder  ein 
empirisch-psychologischer  Zusammenhang,  sondern  ein 
Wesen s^sammenhang  —  ein  Zusammenhang,  in  dem  die 
moralische  und  die  theoretische  Welt  aneinander  —  wie 
mit  Klammem  —  ewig  gebunden  sind.  Denn  genau  von 
denjenigen  Faktoren  in  uns  selber,  denen  innerhalb  der 
natürlichen  Weltanschauung  und  ihrer  Umweltsgebunden- 
heit (desgl.  noch  in  der  »Wissenschaft«)  das  je  primäre 
Haben  des  je  zufälligen  Daseins  der  Dinge  (im  Gegen- 
satz zu  ihrem  Wesen)  entspricht,  befreit  uns  die  Demuts- 
haltung. Sie  hebt  die  systematische  moralische  Hemmung 
damit  auf,  welche  die  betr.  Faktoren,  das  Auge  unseres 
Geistes  verdunkelnd,  der  puren  Wesenserkenntnis  hem- 
mend entgegensetzen. 

Nur  eine'  aus  diesen  drei  moralischen  Grundhaltungen 
wird  sich  hierbei  nicht  nur  als  moralische  Bedingung  der 
,  philosophischen  Erkenntnis,  sondern  (im  Unterschied  von 
Ä  der  natürlichen  Weltanschauung)  auch  der  wissenschaft- 

lichen Erkenntnis  erweisen:  diese  Haltung  ist  die  der 
Steigerung  der  Adäquation  der  Erkenntnis  entsprechende 
Grundhaltung  der  Selbstbeherrschung  der  Triebimpulse 
durch  den  vernünftigen  Willen.  Und  dem  entspricht  es 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  1 09 

genau,  daß  die  Wissenschaft  im  Unterschiede  zur  Philoso- 
phie sich  (sei  es  induktiv,  sei  es  in  deduktiver  Methode) 
in  der  Sphäre  des  zufälligen  Seins  bewegt  (Wesenserkennt- 
nis zwar  voraussetzt,  aber  nicht  selbst  leistet)  und  dies 
auch  da  noch,  wo  sie  z.  B.  Naturgesetze  sucht  und  findet; 
und  daß  sie  zweitens  nicht  das  absolute  Sein,  sondern 
nur  den  Inbegriff  all  der  seienden  Gegenstände  erkennend 
bearbeitet,  die  auf  mögliche  Beherrschbarkeit  und  Ver- 
änderlichkeit vermöge  eines  durch  mögliche  Lebens- 
ziele und  Lebens  werte  gelenkten,  aber  auch  gebundenen 
Vemunftwillens  noch  seinsrelativ  sind.  Denn  wie  sehr 
Wissenschaft  auch  alle  individuelle,  volkliche,  rassen- 
mäßige Seinsrelativität  der  Gegenstände,  ja  sogar  die 
Seinsrelativität  auf  die  positive  menschliche  Naturorgani- 
sation und  damit  die  Phase  natürlicher  Weltanschauung 
bereits  überwindet  und  aus  ihrem  Gegenstande  ausschaltet, 
so  bleibt  sie  wie  ihre  gesamte  Gegenstandswelt  durch  die 
konstitutive  Grundbeziehung  alles  möglichen  Seins  auf 
mögliche  Beherrschbarkeit  durch  einen  vernünf- 
tigen, auf  mögliche  Ziele  universellen  Lebens 
überhaupt  hingeordneten  endlichen  Willen  über- 
haupt an  die  zwei  Grundtatsachen  im  Menschen,  i .  sein 
Wollen,  2.  seine  universellen  Vitaleigenschaften,  doch 
notwendig  gebunden.  Genau  diese  Grundtatsachen  als 
auslesende  Beziehungszentren  alles  Seins  sind  es  aber,  die 
dem  primären  Haben  zufälligen  Seins  wie  seinsrela- 
tiven Seins  in  aller  nichtphilosophischen  Geisteshaltung 
so  genau  entsprechen,  daß  ohne  sie  auch  der  Primat  dieser 
Gegebenheiten  in  Wegfall  käme.  Und  diese  Grundtat- 
sachen sind  es  auch,  die  die  Liebe  zum  absoluten  Sein 
und  Demut  gegenüber  dem  puren  Was  der  Welt  und  der 


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1 1 0  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Weltinhalte  (gleichgültig,  wie  sich  dieses  Was  und  sein 
Zusammenhang  nach  Raum,  Zeit,  Zahl,  Kausalität  usw.  in 
der  Daseinssphäre  des  Zufälligen  überhaupt  über  die 
Welt  verteile)  nach  Möglichkeit  aufzuheben  und  auszu- 
schalten tendieren. 

Und  darum  ist  es  auch  wieder  nicht  zufällig,  sondern 
es  ist  eine  selbst  wesensnotwendige  Tatsache,  daß  auch 
die  moralische  Grundgesinnung  des  wissenschaftlichen 
Forschers  gegenüber  der  Welt  und  seiner  Aufgabe  an 
ihr  eine  von  der  philosophischen  Grundgesinnung  gänz- 
lich verschiedene  ist  ^und  sein  soll.  Der  positive 
Forscher  ist  in  seinem  Erkenntniswillen  primär  beseelt 
von  einem  Herrschafts-  und  einem  erst  aus  ihm  hervor- 
gehenden Ordnungswillen  gegenüber  aller  Natur:  »Ge- 
setze«, nach  denen  sich  Natur  beherrschen  läßt,  sind  auch 
darum  sein  höchstes  Ziel.  Nicht  was  die  Welt  sei,  sondern 
wie  sie  als  gemacht  gedacht  werden  kann,  um  sie  inner- 
halb dieser  obersten  Grenze  als  praktisch  veränderlich 
überhaupt  zu  denken,  interessiert  ihn.  Darum  ist  Selbst- 
beherrschung um  möglicher  Weltbeherrschung  willen  sein 
Grundethos,  nicht  Demut  und  Liebe.  Wohl  muß  auch 
den  Forscher  —  so  wie  Wissenschaft  die  Philosophie, 
Erkenntnis  des  Zufälligen  Wesenserkenntnis  ja  überhaupt 
voraussetzt  —  noch  Liebe  zur  Erkenntnis  der  Dinge 
überhaupt  bewegen.  Nicht  aber  auch  —  wie  den  Philo- 
'sophen  —  Liebe  zu  dem  Sein  der  Gegenstände  selbst. 
Und  auch  seine  Liebe  zur  Erkenntnis  ist  nur  Liebe  zur  Er- 
kenntnis einer  gewissen  Art:  derjenigen  Erkenntnis,  die 
außer  dem,  daß  sie  all  dem  genügt,  was  überhaupt  Er- 
kenntnis adäquat  und  logisch  richtig  macht  (zwei  Maß- 
stabarten, die  für  alle  Erkenntnis  gelten)  auch  noch,  aber 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  u'i 

auch  liur  eine  Beherrschbarkeit  der  Welt  überhaupt, 
nioit  also  zu  einem  bestimmten  Zwecke  oder  Nutzen, 
möglich  macht.  Wohl  muß  auch  den  Philosophen  noch 
Selbstbeherrschung  leiten;  aber  sie  leitet  ihn  nur  als  heu- 
ristisch-pädagogische  Maßregel,  um  —  bei  maximaler 
Adäquation  der  Erkenntnis  der  Gegenstände  mit  ihrer 
disponierenden  Hülfe  angekommen  —  durch  volle  Ver- 
demütigung  seines  willendichen  Seins,  das  »zufällige  Da- 
sein« dem  Sein  des  Gegenstandes  abzustreifen  und  mög- 
lichst ausschließlich  auf  sein  IVas,  sein  ewiges  Wesen 
hinzublicken.  An  der  Schwelle  seiner  Erkenntnis  ange- 
kommen, muß  der  Philosoph  den  Willen  (das  wesens- 
mäßige  Aktkorrelat  alles  zufälligen  Daseins  überhaupt) 
wieder  ausschalten  und  sich  dem  puren  Was  seines  Gegen- 
standes voll  »hingeben«. 

4.  Der  Gegenstand  der  Philosophie  und  die  philo- 
sophische Erkenntnishaltung. 
Mit  Recht  ist  die  Frage,  welche  Einsicht  die  erste  sei 
an  Evidenz,  an  die  Spitze  aller  »klassischen«  Philosophie 
gestellt  worden,  und  mit  Recht  werden  die  großen  Phasen 
der  Philosophie  an  erster  Stelle  daran  unterschiede^,  welche 
Einsicht  die  Stelle  solchen  einsichtigsten  » Ausgangspufik- 
tes«  aller  Philosophie  einnahm.  Der  erheblichste  Einschnitt 
in  der  Geschichte  des  europäischen  Denkens  wird  femer  mit 
Recht  darin  gesehen,  daß  seit  Descartes  das  Problem  der 
Erkenntnis  der  Dinge  vor  dem  Problem  des  Seins  der 
Dinge  in  sich  selbst  den  Vorrang  gewinnt.  Die  antike  wie 
die  mittelalterliche  Philosophie  ist  vorwiegend  Seinsphiloso- 
phie; di^  moderne,  mit  wenigen  Ausnahmen,  vorwiegend 
Erkenntnistheorie.  Ob  sich  aber  die  Philosophie  in  dieser 


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l'l  2  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

oder  jener  dieser  grundsätzlich  voneinander  abweichenden 
Richtungen  gestalte,  das  hängt  wesentlich  davon  ab,  was 
als  jene  voraussetzungsloseste  und  ursprünglichste  und  un- 
umstößlichste Einsicht  ausgegeben  ist  und  in  welcher 
Ordnung  von  Ursprung,  Voraussetzung  und  Folge  sich 
die  ferneren  Einsichten  folgen.  Darum  muß  auch  jede  Er- 
örterung des  Wesens  der  Philosophie  mit  diesem  Problem 
der  »Ordnung  der  fundamentalsten  Evidenzen« 
beginnen. 

Die  erste  und  unmittelbarste  Evidenz,  zugleich  die- 
jenige, die  schon  zur  Konstituierung  des  Sinnes  des  Wor- 
tes »Zweifel  an  Etwas«  (an  dem  Sein  von  Etwas,  an  der 
Wahrheit  eines  Satzes  usw.)  vorausgesetzt  ist,  ist  aber 
die  evidente  Einsicht,  die  in  Urteilsform  besagt,  daß  über- 
haupt Etwas  sei  oder  noch  schärfer  gesagt,  daß  »nicht 
Nichts  sei«  (wobei  das  Wort  Nichts  weder  ausschließlich 
das  Nicht-Etwas  noch  das  Nicht-Dasein  von  Etwas,  son- 
dern jenes  absolute  Nichts  bedeutet,  dessen  Seinsnega- 
tion im  negierten  Sein  das  So- Sein  oder  Wesen  und  das 
Da-Sein  noch  nicht  scheidet).  Der  Tatbestand,  daß  nicht 
Nichts  sei,  ist  gleichzeitig  der  Gegenstand  erster  und  un- 
mittelbarster Einsicht,  wie  der  Gegenstand  der  intensivsten 
und  letzten  philosophischen  Verwunderung  —  wobei 
diese  letztere  emotionale  Bewegung  angesichts  des  Tat- 
bestandes freilich  erst  dann  voll  einzutreten  vermag,  wenn 
ihr  unter  den  die  philosophische  Haltung  prädisponierenden 
Gemütsakten  die  den  Selbstverständlichkeitscharakter 
(und  eben  damit  den  Einsichtscharakter)  des  Tatbe- 
standes des  Seins  auslöschende  Demutshaltung  voran- 
gegangen ist.  Also:  gleichgültig,  auf  welche  Sache  ich 
mich  hinwende  und  auf  welche,  nach  untergeordneteren 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  1x3 

Seinskategorien  schon  genauer  bestimmte  Sache  (als 
da  z.  B,  sind  Sosein -Dasein,  Bewußt -sein  —  Natursein, 
reales  Sein  oder  objektives  nichtreales  Sein,  Gegenstand- 
sein —  Aktsein,  desgleichen  Gegenstand-  und  Widerstand- 
sein, Wertsein  oder  wertindifferentes  »existentiales«  Sein, 
auf  substanzielles-attributives,  akzidentielles  oder  Bezie- 
hungsein, auf  Möglichsein,  Notwendigsein  oder  Wirk- 
lichsein, auf  zeitfreies,  schlechthin  dauerndes  oder  Gegen- 
wärtig-, Vergangen-,  Zukünftigsein,  auf  das  Wahrsein  (z.  B. 
eines  Satzes),  Giltigsein  oder  vorlogisches  Sein,  auf  aus- 
schließlich mentales  »fiktives«  Sein  (z.  B.  der  nur  vor- 
gestellte »goldene  Berg«  oder  das  nur  vorgestellte  Gefühl 
oder  außer  mentales  resp.  beiderseitiges  Sein)  ich  hin- 
blicke:  anjedem  einzelnen,  beliebig  herausgegriffenen  Bei- 
spiel innerhalb  einer  oder  mehrerer  sich  je  kreuzender  sog^ 
Arten  des  Seins  wie  an  jeder  dieser  herausgegriffenen 
Arten  selbst  wieder,  wird  mir  diese  Einsicht  mit  unum- 
stößlicher Evidenz  klar  —  so  klar,  daß  sie  an  Klarheit 
Alles  überstrahlt,  was  mit  ihr  nur  in  denkbaren  Vergleich 
gebracht  werden  kann.  Freilich :  wer  gleichsam  nicht  in  den 
Abgrund  des  absoluten  Nichts  geschaut  hat,  der  wird 
auch  die  eminente  Positivität  des  Inhalts  der  Einsicht,  daß 
überhaupt  Etwas  ist  und  nicht  lieber  Nichts,  vollständig 
übersehen,'  Er  wird  bei  irgendeiner  der  vielleicht  nicht 
minder  evidenten,  aber  der  Evidenz  dieser  Einsicht  doch 
nachgeordneten  Einsichten  beginnen,  wie  z.  B.  der  im 
Cogito  ergo  sum  vermeintlich  liegenden  Einsicht  oder  in 
solchen  Einsichten,  wie  daß  es  Wahrheit  gäbe,  daß  es 
einen  absoluten  Wert  gäbe,  daß  geurteilt  wird,  daß  es 
Empfindungen  gäbe  oder  daß  es  eine  »Vorstellung«  der 
Welt  gäbe  usw. 
8 


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m^,  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

Die  Einsicht,  von  der  wir  reden,  wäre  nicht  einmal 
evident  —  geschweige  die  ursprünglichste  und  bei  jedem 
versuchten  Zweifel  an  Etwas  schon  vorausgegebene  Ein- 
sicht —  wenn  sie  zu  »begründen«  wäre.  Sehr  woM  aber 
bedarf  die  Behauptung  einer  Begründung,  daß  sie  und 
kdne  andere  die  erste  und  unumstößlichste  Einsicht  ist. 
Denn  eben  dies  wird  ja  sogar  von  der  Mehrzahl  der  Philo- 
sophen, z.  B.  von  allen  Phflosophen  bestritten,  welche  die 
Einsicht  in  den  Bestand  von  Erkenntnis,  oder  wie  An- 
dere, die  Einsicht  in  den  Bestand  von  Wahrsein,  Giltig- 
sein  oder  sogar  Wertsein,  dieser  Einsicht  wollen  an 
Evidenz  vorhergehen  lassen.  Darum  sind  besondere, 
allgemein  erkannte  Methoden  zu  finden,  um  den  Primat 
dieser  Einsicht  vor  allen  anderen  zu  erhärten  und  es  wäre 
mit  Hilfe  dieser  Methoden  jeder  Versuch,  an  die  Stelle 
dieser  Einsicht  eine  andere  zu  setzen,  in  extenso  zu  wider- 
legen^. 

Ehe  diese  Methoden  entwickelt  und  an  einigen  Beispie- 
len angewendet  werden,  ist  aber  eine  zweite  Einsicht  auf- 
zuführen, die  auf  Grund  der  ersten  und  auf  Grund  einer 
Einteilung  des  Seins  besteht,  die  aller  Sonderung  der 
Seinsarten,  Seinsformen  usw.  überlegen  ist,  also  von  allen 
sonstigen  Einteilungen  des  Seins  auch  nur  geschnitten 
werden  kann.  Die  Scheidung,  die  ich  meine,  betrifft  den 
Unterschied,  der  zwischen  einem  und  einem  anderen  nicht 
NichtSeiendem  in  der  Rücksicht  obwaltet,  ob  es  nur  in 
einseitiger  resp.  gegenseitiger  Abhängigkeit  von  einem 
anderen  Seienden  oder  mit  Ausschluß  jeder  möglidien 

*  Eingehend  soll  dies  geschehen  in  meinem  demnächst  erscheinenden  Buche : 
>Die  Welt  und  ihre  Erkenntnis«,  Versuch  einer  Lösung  des  'Erkenntnis- 
problems. 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  1 1  c, 

Abhängigkeit*  von  einem  anderen  Seienden  und  das  heißt 
auf  »absolute«  Weise  i  st.  Ein  Seiendes  also,  das  —  wenn 
es  ist  —  ausschließlich  ist,  sein  Sein  in  sich  und  nur  in 
sich  hat,  also  von  Nichts  zu  Lehen  trägt,  wollen  wir  — 
wie  immer  es  sonst  nach  den  übrigen  Seinsunterschieden 
bestimmt  sein  mag,  das  absolut  Seiende  nennen.  Das 
absolut  Seiende  kann  im  Verhältnis  zu  anderen  Seins- 
unterschieden je  verschieden  aufgefaßt  und  begriften  wer- 
den, ohne  daß  diese  Unterschiede  in  ihm  selbst  vorhanden 
sind.  Es  kann  z.  B.  gegenqber  der  gesamten  Sphäre  des 
möglichen^  (stets  relativen)  Gegenstandseins  (für  einen 
möglichen  Akt  des  Meinens)  als  das  auch  »Fürsichseiende« 
( » ens  pro  se « )  bezeichnet  werden.  Es  kann  gegenüber  allem 
Sein,  das  einer  möglichen  urteilsmäßigen  Anerkennung 
resp.  eines  satzmäßigen  Wahrseins  »über«  sein  Sein  zu 
seinem  Sein  bedarf  als  »ensase«,  gegenüber  allem  Seien- 
den, das  nur  »durdi«  (sei  es  nur  logisch  oder  auch  kausal) 
ein  anderes  Sein  ist,  als  »ens  per  se«  bezeichnet  werden. 
Es  kann  gegenüber  allem  absoluten  Sein,  das  nur  abso- 
lutes Sein  einer  nur  gemeinten,  d.  h.  mentalen  oder  fiktiven 
Existenz  ist,  das  nicht  nur  meinungsrelative  absolute  Sein, 
sondern  das  zu  allem  Meinem  absolut-absolute  Sein  ge- 
nannt werden.  Das  Alles  und  Ahnliches  sind  nur  relativ 
sinnvolle  Bestimmungen  des  absoluten  Seins,  die  berech- 
tigt sind,  nicht  aber  in  sein  Sein  selbst  hineingetragen 
werden  dürfen. 

Dann  ist  die  Einsicht,  daß  ein  absolut  Seiendes  ist,  oder 
ein  Seiendes,  durch  das  alles  andere  nicht  absolute  Sein 
sein  ihm  zukommendes  Sein  besitzt,  die  zweitevidente 
Einsicht.  Denn  wenn  es  (wie  wir  an  jedem  Beispiel  eines 
irgendwie  Seienden  klar  erkennen)  überhaupt  Etwas  gibt 
8* 


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1 1 6  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

und  nicht  lieber  überhaupt  Nichts,  so  kann  zwar  dasjenige 
an  unseren  beliebig  zu  musternden  »Beispielen«,  was 
relatives  Nichtsein  (sowohl  Nicht-Etwas-sein  wie  Nicht- 
Dasein) an  ihnen  ist,  auf  die  möglichen  Abhängigkeiten 
und  Relationen  geschoben  werden,  welche  deren  Sein  von 
anderem  Sein  besitzt  (darunter  auch  von  dem  erkennen- 
den Subjekt),  niemals  aber  ihr  Sein  selbst.  Dieses  Sein  sel- 
ber fordert  nicht  vermöge  eines  Schlusses,  sondern  ver- 
möge einer  unmittelbar  anschauenden  Einsicht  eine  Quelle 
in  einem  schlechthin  und  ohne  jede  nähere  einschränkende 
Bestimmung  Seienden.  Dem  Leugner  dieses  Satzes  kann 
man  nur  zeigen,  daß  selbst  der  Versuch  seiner  Leugfnung 
und  alle  seine  Argumente  das  absolut  Seiende  selbst  in 
seiner  eigenen  Intention  als  ihm  faktisch  gegeben  und  von 
ihm  faktisch  anerkannt  voraussetzen.  Er  faßt  es  fak- 
tisch in  jeder  seiner  Intentionen  »mit«  ins  geistige  Auge, 
wie  sofort  sonnenklar  wird  beim  intellektuellen  Versuch 
seiner  Wegnahme;  er  sieht  durch  das  Gewebe  jedes  rela- 
tiven Seins,  also  auch  jedes  relativen  Nichtseins  auf  es 
hindurch  und  i;n  seine  Richtung.  Um  aber  in  seine 
Richtung  zu  sehen,  muß  er  auch  das  Ziel  soweit  sehen, 
als  es  eben  nichts  weiter  ist  als  das  absolut  Seiende  — 
ohne  nähere  Bestimmung. 

Freilich:  das  Leuchten  des  Lichts  dieser  Wahrheit  ist 
nicht  an  erster  Stelle  von  logischer  Akribie  abhängig.  Wie 
die  Einsicht  in  den  ersten  Satz  davon  abhängig  ist,  daß 
man  sich  die  zweifellose  objektive  Möglichkeit,  daß  über- 
haupt Nichts  sei  nicht  nur  dann  und  wann  urteilsmäßig 
zum  Bewußtsein  gebracht  hat,  sondern  gleichsam  in  ihr 
so  lebt,  daß  das  Sein  jedes  Seienden  als  wunderbare  Auf- 
hebung dieser  Möglichkeit  gegeben  ist,  —  als  die  ewiger- 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  117 

staunliche  Zudeckung  des  Abgrundes  des  absoluten 
Nichts,  so  ist  das  Leuchten  des  Lichts  dieser  zweiten 
Einsicht  davon  abhängig,  daß  man  an  allem  relativen  und 
abhängigen  Sein  (und  hier  an  erster  Stelle  an  sich  selbst) 
nicht  nur  das  Sein,  sondern  auch  das  relative  Nichtsein 
mitgewahrt,  also  nicht  —  ohne  es  recht  zu  merken  und 
zu  wissen  —  heimlich  irgendein  relatives  Sein  mit  dem 
absoluten  Sein  identifiziert.  Nicht  das  ist  daher  eine  Frage, 
ob  die  Menschen  das  Sein  des  absoluten  Seins  in  jedem 
Momente  ihres  bewußten  Lebens  mitgewahren,  mit-meinen, 
sondern  nur  das  ist  eine  Frage,  ob  es  sich  auch  für  sie  vom 
relativen  Sein  genügend  streng  und  klar  abhebe  oder  für 
ihr  Bewußtsein  heimlich  mit  diesem  oder  jenem  Teile  dieses 
relativen  Seins  dadurch  verschmelze,  daß  sie  dessen  rela- 
tives Nichtsein  nicht  mitgewahrend  es  dem  absoluten  Sein 
bewußt  oder  unbewußt  gleichsetzen  und  unterschieben.  Wer 
immer  ein  relativ  Seiendes  verabsolutiert,  der  muß  not- 
wendig, da  er  nunmehr  das  absolute  Sein  nicht  melir  ge- 
schieden von  diesem  gewahrt,  dasjenige  werden,  was  man 
einen  Relativisten  nennt.  Immer  —  immer  ist  der  Relati- 
vist ja  nur  der  Absolutist  des  Relativen.  Schon  hier  also 
gilt  das  früher  Gesagte,  daß  eine  gewisse  moralische  Hal- 
tung der  ganzön  Person  eine  Voraussetzung  für  die  Klar- 
heit des  Lichtes  einer  philosophischen  Einsicht  ist.  Denn 
nur  wer  auch,  ja  wer  zuvor  in  dem  Wertaspekt  der  Welt 
und  seiner  selbst  neben  dem  relativen  »Stolz«  des  Seins 
und  des  positiven  Wertes  jedes  Dinges  auch  das  Maß  und 
die  Art  der  ihm  gebührenden  »Demut«  seines  relativen 
Nichtseins  und  seines  Unwertes  mit  wahrnimmt  und 
wessen  Liebe  zugleich  auf  das  absolut  und  positiv  Wert- 
volle (das  Summum  bonum)  als  auf  ein  in  seinem  Bewußt- 


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I  1 8  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw. 

sein  von  den  übrigen  relativen  Gütern  gesondertes  Gut 
klar  gerichtet  ist,  wird  auch  die  oben  genannten  Bedingun- 
gen erfüllen  können,  ohne  deren  Erfüllung  ihm  das  Licht 
beider  Einsichten  nicht  leuchtet.  Denn  sowohl  die  »Selbst- 
verständlichkeit« des  Seins,  die  eben  gerade  das  ist,  was 
die  klare  Einsicht  in  die  unermeßliche  Positivität  des  Tat- 
bestandes, daß  überhaupt  Etwas  ist  und  nicht  lieber 
Nichts,  versperrt,  wie  auch  die  bei  je  verschiedenen  Sub- 
jekten in  verschiedener  Weise  und  an  verschiedenen  Zonen 
des  relativen  Seins  stattfindende  Verleugnung  des  rela- 
tiven Nichtseins  der  Dinge,  ihrer  relativen  »Nichtigkeit« : 
beide  sind  eine  abhängige  Funktion  jenes » natürlichen  Stol- 
zes « ,  jener  natürlich-instinktiven  (freilich  biologisch  zweck- 
mäßigen) Selbstüberschätzung  und  daraus  folgendenSelbst- 
sicherheit  des  Daseins,  die  z.  B.  auch  den  Tod  und  die  un- 
ermeßliche Zeit,  da  wir  nicht  waren  und  nicht  sein  werden 
vor  dem  Bewußtsein  so  merkwürdig  verleugnen  läßt.  Und 
nur,  wenn  wr  uns  zu  wundem  gelernt  haben,  daß  wir 
selber  nicht  nicht  sind,  werden  wir  auch  die  ganze  Klar- 
heitsfülle  des  Lichts  der  beiden  genannten  Einsiditen  und 
ihren  Evidenz -Vorzug  vor  allen  anderen  Einsichten  voll 
empfismgen  können. 

Die  dritte  Einsicht,  die  in  der  »Ordnung  der  Evidenz« 
folgt,  das  heißt  so » folgt « ,  daß  wir  unter  den  Gliedern  dieser 
Ordnung  das  je  vorhergehende  je  schon  wesensmäßig  ein- 
sahen, —  wenn  das  folgende  Glied  einsehen  zu  wollen 
auch  nur  einen  möglichen  Sinn  besitzen  soll ;  oder  —  anders 
gesagt  —  so  folgt,  daß  wir  das  je  folgende  noch  sinn- 
möglich »bezweifeln«  können,  wenn  wir  es  bei  den  vorher- 
gehenden sdion  nicht  mehr  vermögen,  entspricht  in  Urteils- 
form dem  Satze,  daß  alles  mögliche  Seiende  ein  Wesensein 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  ng 

oderWassein  (Essentia)  und  ein  Dasein  (Existencia) 
notwendig  besitzt  und  dies  ganz  gleichgültig,  was  sonst 
es  sein  mag  und  welcher  Sphäre  des  Seins  es  nach  ande- 
ren möglichen  Scheidungen  der  Seinsarten  und  -formen 
es  auch  angehören  mag.  Auch  hier  genügt  jedes. beliebige 
Beispiel  eines  Seienden  (sei  es  Akt-Sein  oder  Gegenstand- 
Sein,  sei  es  »ein«  Seiendes  oder  selbst  schon  eine  beson- 
dere Form  des  Seins,  wie  z.  B.  reales  Sein  und  objektives; 
nichtreales  Sein  oder  subsistentes  und  inhaerentes  Sein), 
um  die  für  jedes  mögliche  Sein  überhaupt  gültige  Scheid-^ 
barkeit  von  Wesen  und  Dasein  aufzuzeigen,  zugleich 
aber  die  Einsicht  zu  gewinnen,  daß  jegliches  Seiende  not' 
wendig  ein  Wesen  und  ein  Dasein  besitzen  müßte.  Auch 
das  Realsein  z.  B.  hat  wieder  sein  besonderes  Wesen.  Es 
muß  also  auch  zu  jedem  Wesen  von  Etwas  auch  irgendein 
Dasein  gehören  und  zu  jedem  Dasein  ein  bestimmtes  Wesen 
. —  obzwar  die  Wesenserkenntnis  eine  vollständig  ver- 
schiedene ist  von  der  Daseinserkenntnis,  verschieden  eben- 
sowohl an  Evidenz  wie  an  Geltungsweite,  wie  auch  an  Er- 
reichbarkeitfiir  uns.Denn  unsere  Da$einserkenntnis  undDa- 
seinszusammenhangserkenntnisistweiteingeschränkter 
als  unsere  Wesens-  undWesenszusanimenhangserkenntnis 
der  Welt.  Dürfen  wir  doch  hier  schon  den  grundlegenden 
Satz  aussprechen,  daß,  was  inuner  im  Wesen  irgendwelcher 
Gegenstände  enthalten  ist  oder  von  ihnen  qua  Wesen  gilt, 
a  priori  und  notwendig  auch  in  allen  möglichen  daseienden 
Gegenständen  desselben  Wesens  enthalten  ist  oder  von 
ihnen  gilt  —  ob  diese  daseienden  Gegenstände  oder  ein 
Teil  von  ihnen  für  uns  erkennbar  seien  oder  nicht;  wo- 
gegen keineswegs  Alles,  was  von  den  als  daseiend  ei^- 
kannten  Gegenständen  gilt  oder  in  ihnen  enthsdten  ist, 


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I  20  ^^^  Wesen  der  Philosophie  usw. 

auch  vom  Wesen  dieser  Gegenstände  gilt  oder  in  ihnen 
enthalten  ist^. 

Haben  wir  uns  den  puren  Wasgehalt  eines  Gegenstan- 
des (oder  eines  Aktes)  zur  vollen  Einsicht  gebracht  oder 
eine  bestimmte  Ordnung  oder  einen  Zusammenhang  sol- 
cher Gehalte,  so  hat  diese  Einsicht  Eigensdiaften,  die  sie 
von  aller  Erkenntnis  des  Reiches  des  ihr  gegenüber  »zu- 
fälligen« Daseins  grundsätzlich  unterscheidet:  Sie  ist  ab- 
geschlossen, also  unvermehrbar  und  unverminderbar, 
d.  h.  streng  evident,  wogegen  aller  Erkenntnis  zufalligen 
Daseins  (wie  immer  es  gefunden  werde,  durch  direkte 
Wahrnehmung  oder  durch  Schlüsse)  nie  mehr  als  Ver- 
mutungsevidenz oder  vorbehaltliche  Evidenz  gegenüber 
neuer  Erfahrung  resp.  einem  erweiterten  Schlußzusammen- 
hang zukommt  (objektiv  also  in  Urteilsform  nicht  Wahr- 
heit, sondern  Wahrscheinlichkeit).  Sie  ist  Einsicht  und 
»gilt«  (in  Urteilsform)  »apriori«  für  alles  möglidie  Da- 
seiende desselben  Wesens,  auch  das  uns  jetzt  unbekannte 
oder  überhaupt  unerkennbare.  Alle  wahre  Apriorität  ist 
insofern  Wesensapriorität.Sieistdrittens  als  bloße  Wesens- 
einsicht ebensowohl  (ja  oft  leichter)  vollziehbar  an  dem 
bloßen  Gemeintsein  der  Ficta  des  betreffenden  Wesens 

'  Da  das  formale  und  materiale  Wesensapriori  nicht  nur  gilt  «für«  das  Da- 
seiende, an  dem  es  zufallig  gefunden  ist  und  das  in  den  Grenzen  unserer 
Daseinserfahrung  gelegen  ist,  sondern  auch  auf  dasjenige  Daseiende  des- 
selben Wesens,  das  jenseits  und  außerhalb  der  Sphäre  unserer  mög- 
lichen Daseinserfahrung  gelegen  ist,  haben  wir  in  ihm  auf  alle  Fälle  ein  . 
Wissen,  das  —  ohne  die  Wesenheiten  der  erfahrungstranszendenten  Sphäre 
erschöpfen  zu  müssen  — für  diese  Sphäre  und  ihr  Daseiendes  auf  alle  Fälle 
mitgültig  ist. 

Wie  sich  daraus  eme  positive  Lösimg  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer 
Metaphysik  gewinnen  und  das  Verdikt  Kants  über  die  Metaphysik  wider- 
legen läßt,  kann  hier  nicht  gezeigt  werden  und  bleibt  einer  systematischen 
Behandlung  des  Erkenntnisproblems  vorbehalten. 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  121 

als  an  wirklidi  daseienden  Gegenständen  dieses  Wesens. 
Wenn  idi  z.  B.  etwas  faktisch  Unlebendiges  durch  Täu- 
schung für  lebendig  halte,  die  Lebendigkeit  des  im  Täu- 
schungsakt gemeinten  Gegenstandseins  also  ein  Fictimi 
ist,  so  muß  doch  das  Wesen  des  Lebendigen  im  Fictum 
ebensowohl  enthalten  sein  wie  im  wahrnehmenden  Auf- 
fassen eines  faktisch  Lebendigen.  Nur  bezüglich  des  ab- 
soluten Seins,  dessen  einsichtiger,  nach  Wesen  und  Dasein 
noch  ungeschiedener  Bestand  dieser  Scheidung  von  Wesen 
und  Dasein  und  den  beide  betreffenden  wahren  Sätzen 
vorhergeht,  nicht  also  folgt,  ist  die  Bemerkung  hinzu- 
zufügen, daß  es,  da  es  seinem  Begriffe  nach  in  seinem 
Sein  überhaupt  von  keinem  anderen  möglichen  Sein  ab- 
hängt, auch  dem  Dasein  nach  nicht  zufällig  sein  kann,  sein 
Dasein  vielmehr  so  beschlossen  sein  muß,  daß  es  aus 
seinem  Wesen  (welch  immer  dies  sei)  selbst  und  ausschließ- 
lich notwendig  folge.  Während  also  die  Scheidung  von 
Wesen  und  Dasein  innerhalb  alles  relativ  Seienden  eine 
ontische  ist,  im  Sein  der  Sachen  selbst  und  nicht  in  unse- 
rem Verstände  gelegene,  ist  sie  gegenüber  dem  absoluten 
Seienden  —  was  immer  es  sei  —  nur  erkenntnisrelativ 
auf  ein  erkennendes  Subjekt.  Da-Sein  und  Wesen  fallen 
im  absoluten  Sein  in  Eins  zusammen,  freilich  so,  daß  unter 
der  Voraussetzung  der  erkenntnisrelativen  Trennung 
sein  Dasein  aus  seinem  Wesen  folgt,  nicht  aber  umgekehrt 
sein  Wesen  aus  seinem  Dasein. 

Schon  damit  haben  wir  zur  Bestimmung  des  Gegen- 
standes der  Philosophie  zwar  noch  nicht  alle,  aber  einige 
wesentliche  Materialien  gewonnen.  Wir  dürfen  sagen: 
Philosophie  ist  ihrem  Wesen  nach  streng  evidente, 
durch  Induktion  unvermehrbare  und  unvernicht- 


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12  2  Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  \ 

bare,  für  alles  zufällig  Daseiende  >a  priori«  gül- 
tige Einsicht  in  alle  uns* an  Beispielen  zugäng- 
lichen Wesenheiten  und  Wesenszusammenhänge 
des  Seienden,  und  zwar  in  der  Ordnung  und  dem 
Stufenreich,  in  denen  sie  sich  im  Verhältnis  zum 
absolut  Seienden  und  seinem  Wesen  befinden. 

Die  Richtung  des  Erkennens  auf  die  Absolut  Sphäre 
oder  das  Verhältnis  zur  Absolutsphäre  alles  möglichen  ob- 
jektiven Seins  und  die  Richtung  auf  die  Wesenssphäre 
alles  objektiven  möglichen  Seins  im  Unterschiede  zu  seiner 
zufälligen  Daseinssphäre  —  das  und  das  allein  macht  die 
Natur  des  philosophischen  Erkennens  an  erster  Stelle 
aus;  und  dies,  im  strengsten  Unterschied  von  den  Wis- 
senschaften, die  es  ebenso  notwendig  mit  auf  mannig- 
fachste Weise  seins-relativem  (und  zwar  daseins-  wie 
wesensrelativem)  Sein  zu  tun  haben  und  die  alle  ihre  Er- 
kenntnisse entweder  (freilich  auf  Grund  von  in  Wesens- 
zusammenhängen gründenden  sog.  Axiomen)  an  dem  in- 
tramentalen Sein  bloßer  Ficta  vollziehen  (so  die  gesamte 
Mathematik)  oder  an  zufälligem  Dasein  und  seinem  Da- 
seinszusammenhang. — 

Indes  schon  in  dieser  unvollständigen  Gegenstandsbe- 
stimmung der  Philosophie  wie  in  allem  früher  über  sie 
Gesagten,  kommt  ein  Begriff  vor,  der  bisher  ungeprüft 
zugelassen  war,  der  aber  angesichts  des  weit  überwiegen- 
den Zuges  der  modernen  Philosophie  seit  Descartes  alles 
Gesagte  in  Frage  zu  ziehen  scheint.  Dieser  Begriff  ist 
jener  der  Erkenntnis  und  aller  mit  ihm  zusammengehöriger 
Begriffe.  Wir  haben  zu  sagen,  welche  Art  Sein  das  Sein 
der  Erkenntnis  ist,  und  wir  sind  um  so  mehr  dazu  ver- 
pflichtet, als  wir  in  der  Ordnuftg  des  Evidenten  oder  der 


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Vom  Wesen  der  Philosophie  usw.  123 

Stufen  möglicher  Bezweifelbarkeit  von  Einsichten  nicht 
wie  Descartes,  Locke,  Kant  und  andere  von  der  »Er- 
kenntnis« oder  dem  »Denken«  oder  dem  »Bewußtsein« 
oder  irgend  einer  Art  voa  »Ich«  oder  d^m  Urteil  usw. 
ausgegangen  sind,  um  erst  mit  deren  Hilfe  die  ontischen 
Grundbegriffe  zu  gewinnen.  Ja  wir  wierden  die  bisher  ge- 
wonnene Evidenzordnung  unserer  drei  Sätze  selbst  nur 
endgültig  aufrechterhalten  können,  wenn  wir  die  von 
diesen  Forschern  angenommene  Evidenzordnung  nicht 
nur  auf  dem  Böden  der  unsrigen  widerlegen,  sondern  auch 
positiv  zeigen,  was  denn  nun  Erkenntnis  überhaupt  \t\ 
einem  Reiche  bloß  seiender  Etwasse  selber  öei  und  bedeute. 
Mit  der  Erörterung  dieser  Frage,  die  über  die  Bestim-, 
mung  des  Wesens  der  Philosophie  und  der  moralischen 
Bedingung  des  philosophischen  Erkennens  beireits  erheb- 
lich hinausreicht,  seien  die  Veröffendichungen  über  »die; 
Welt  und  ihre  Erkenntnis«  begonnen,  die  wir  demnächst 
der  ÖfTendichkeit  vorzulegen  gedenken.     . 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegen- 
wärtige Welt 

(Ein  Vortrag) 
1917 

Jedem  gesunden  menschlichen  Geiste  wohnt  die  Fähig- 
keit ein,  dieselben  Weltereignisse  unter  grundverschiedenen 
Höhenlagen  seiner  geistigen  Blickrichtung  zu  betrachten. 
Auch  das  wilde  Schauspiel  des  uns  umtobenden  Krieges 
steht  unter  dieser  Regel.  Welche  dieser  Höhenlagen  wir 
einzunehmen  hatten,  als  der  Krieg  begann,  welche  wir 
noch  heute  Tag  flir  Tag  einzunehmen  haben,  sofern  wir 
direkt  oder  indirekt,  im  Felde  oder  zu  Hause  an  seiner 
harten  Führung  tätig  mitwirken  —  dies  zu  entscheiden 
ließ  und  läßt  uns  die  Stimme  unseres  Herzens  keine  Wahl. 
Unser  Herz  sprach  deutlich  zuerst  das  Wort:  Deutsch- 
land! Heißen,  immer  neu  aufquellenden  Dankes  voll  da- 
für, was  unserem  Leib  und  unserer  Seele  dieses  geliebte 
Land  täglich  gab  und  gibt,  fühlen  wir  uns  bis  in  unsere 
tiefsten  Existenzwurzeln  als  die  Gebilde  seines  Bodens 
und  seiner  Geschichte.  Demütigen  Sinnes  erkennen  wir 
das  Gute  wie  die  notwendige  Beschränkung  darin,  daß 
Gott  unsere  unmittelbar  von  ihm  selbst  geschaffenen  See- 
len in  die  Geschichte  dieses  Landes  und  in  Deutschlands 
Schicksal  untrennbar  hineingewoben  hat.  So  durfte  uns 
weder  Zeit  noch  Ruhe  bleiben,  eine  andere  geistige  Blick- 
richtung auf  die  Weltereigm'sse  einzunehmen,  als  diejenige 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         125 

ist,  die  der  Ausdruck  ,Deutschland*  bezeichnet.  Worauf 
immer  auch  die  mamiigfaltigste  Not  das  Auge  Jedes  von 
uns  Tag  für  Tag  hinlenken  mußte,  auf  das  Ergehen 
imserer  Lieben,  unserer  Familie,  unserer  Freunde,  Ver- 
wandten, Dorf-,  Stadt-,  Stammesgenossen,  auf  eigene  und 
fremde  wirtschafdiche  Not  der  Gegenwart  und  Zukunft: 
Umspannt  blieben  alle  diese  einzelnen  wechselnden  Blick- 
strahlen  einer  niedrigeren  Höhenlage  von  einem  hellen, 
festen  Grundstrahl  unseres  Geistes:  Deutschland  ist  seine 
Richtung!  Und  so  soll  und  muß  es  bleiben  so  lange,  bis 
ein  ehrenvoller  Friede  unser  wurde.  Noch  haben  wir  kein 
Recht  als  praktisch-tätige  Wesen  unserem  Blicke  eine 
Höhenlage  zu  geben,  die — von  der  Linderung  individuellen 
Kriegsleids  abgesehen  —  über  .die  ragenden  Zinnen  der 
noch  immer,  Gott  sei  Dank,  unverletzten  Burg  ,  Deutsch- 
land* hinausspähte.  Noch  haben  wir  kein  Recht,  in  irgend- 
einem Sinne  für  die  Welt  praktisch  zu  sorgen. 

Aber  so  wahr  dies  ist:  Wir  dürfen  in  jenen  stillen  Stun- 
den, da  uns  die  praktische  Sorge  für  Deutschland  Muße 
läßt,  auch  an  die  Welt  denken:  An  die  Welt,  in  deren 
Ganzheit  und  Einheit  derselbe  Schöpfer,  der  die  Welt  und 
unsere  Seelen  unmittelbar  schuf,  uns  hineingesetzt  hat, 
ihn  zu  lieben,  ihn  zu  preisen  und  ihm  gehorsam  zu  sein. 
Wir  dürfen  dies  nicht  nur,  wir  sollen  es  sogar.  Und  wir 
sollen  es  nicht  nur  um  des  einen  heiligsten  Blutes  selber 
willen,  das  flir  dieser  einen  Welt  solidarische  Sünde  und 
Schuld,  das  um  der  gemeinsamen  all  ineinander  so  wun- 
derbar verwobenen  Drangsale  aller  Kinder  Adams,  ja 
aller  Kreatur  dahinströmte:  Wir  sollen  es  auch  darum 
noch,  auf  daß  wir  unsere  Seden  und  Gedanken  erleuch- 
ten und  frei  genug  machen,  um  auch  unseren  praktischen 


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126         Bw  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

Dienst  an  Deutschland  auf  rechte  Weise  zu  tun,  und  das 
heißt  in  letzter  Linie  auf  eine  Weise,  wie  sie  Gott  wohl- 
igelallig  ist. 

Zu  einer  solchen  stillen  Stunde"^  der  Betrachtung  lade 
ich  Sie  heute  ein,  zu  einer  Stunde  der  Betrachtung,  in 
der  wir  wagen  dürfen,  in  der  wir  wagen  sollen,  unseren 
Geistesblick  über  Deutschland  noch  hinaus  zu  werfen  auf 
die  Welt 

Bevor  ich  in  die  Sache  eintrete,  erlauben  Sie  mir  noch 
ein  Wort,  das  unser  Verstehen  vielleicht  erleichtert.  Ver- 
isuchen  wir  uns  einmal  der  gewohnten  Denk-  und  Fühl- 
weise und  aller  Vorurteile  für  eine  kurze  Zeit  zu  ent- 
ischlagen,  wie  sie  bezüglich  des  Weltkrieges  Parteimeinung, 
täglicher  Verkehr  und  Presse,  ja  in  uns  hineingesponnen 
haben.  Versuchen  wir  mit  reinen  naiven  Menschenaugen 
—  als  gehörten  diese  Augen  einem  menschlichen  Wesen 
an,  das  aus  einem  längst  verflossenen  Jahrhundert  Euro- 
pas in  unser  Zeitalter  gleidisam  nur  zu  Gaste  kommt  und 
sich  verwundert  umsieht,  —  das  Schauspiel  um  uns  her  zu 
betrachten.  Werfen  wir  auf  diese  Dinge  einen  Blick,  der 
genau,  gütig  und  wägend  ist,  aber  der  doch  religiös  und 
metaphysisch,  ich  möchte  sagen  entfremdet  genug  ist, 
um  alles,  was  wir  um  uns  herum  sahen,  nicht  nur  als  einzeln 
längst  gewohnte  Wirklichkeit  des  Tages  zu  sehen  —  und 
vielleicht  hat  sich  unser  Auge  sogar  an  dies  Töten  und 
Hassen  schon  allzusehr  gewöhnt  — ,  sondern  immer  auch 
alles  zugleich  als  Symbol  eines  eigentümlich  moralischen 
Gesamtstatus  der  heutigen  europäischen  Menschheit. 

Im  Mittelpunkt  der  sitdichen  Lebensrichtung,  die  wir 
die  chrisdiche  nennen,  steht  das  gewaltige  Gebot:  »Du 
sollst  Gott  lieben  aus  ganzem  Herzen  und  mit  ganzeip 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         127 

Gemüte  und  deinen  Nächsten  als  dich  selbst. «  Wer  ganz 
unvermittelt  durch  die  Geschichte  und  durdi  eine  Inter- 
pretation dieses  Gebotes  von  diesem  Satze  aus  auf  die 
Nöte  der  Gegenwart  Europas,  ja  der  Welt  blickt:  Wel- 
ches Gefühl  und  welcher  Gedanke  muß  ihn  erfüllen?  Nun, 
das  Gefühl  heißt  um  so  mehr  »Verzweiflung«  als  er 
das  Gebot  ernst  nimmt.  Und  der  Gedanke  heißt:  »Ban- 
kerott des  Christentums«  oder  —  wie  man  auch 
sagte  —  »Außerkraftsetzung  der  Bergpredigt«.  Wun- 
dem wir  uns  keinen  Augenblick,  daß  dieses  Urteil  nicht 
nur  als  selbstverständlich  gefallt  wird  von  Japanern, 
Chinesen,  Indem  (erst  jüngst  z.  B.  vom  indischen  Dichter 
Tagore  in  seinem  sehr  lesenswerten  Vortragt  in  Tokio), 
sondern  auch  von  vielen  hochstehenden  Europäem  aller 
Nationen.  Wie  anders  sollte  denn  das  Urteil  eines  unver- 
bildeten Menschertsinnes  lauten.^  Schreiben  Sie  dagegen 
ganze  Folianten,  in  denen  all  das  geltend  gemacht  wird, 
was  ohne  Zweifel  gegen  das  Urteil  einzuwenden  ist.  Jeder 
naive  Mensch  wird  Ihnen  antworten:  Schwarz  ist  nicht 
weiß;  alles,  was  du  mir  da  erzählst  über  den  wahren  Sinn 
des  Gebotes  oder  darüber,  welche  europäischen  Men- 
schenschichten die  sogenannte  »Schuld«  an  dem  Ereigfnis 
tragen,  wie  es  sich  vorbereitet,  wie  es  geworden  ist,  ist 
mir  total  gleichgültig.  Was  künunert  mich  das  alles! 
Das  verwirrt  nur  mein  Urteil  —  gemäß  der  Regel,  daß 
klare  Wertaussagen  sehr  häufig  verwirrt  werden  durch 
zu  genaue  detaillierte  Kenntnis  des  kausalen  Verlaufs  der 
zu  wertenden  Dinge.  Faktum  ist,  daß  die  europäische 
Kultur  christlich  verwurzelt  ist.  Faktum  ist,  daß  Europa 
sich  selbst  »christlich«  nennt  und  daß  es  sdne  Kinder  fast 

^  In  dem  Buche  *NationalbniU8«i  Leipzig  1919. 


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128         I^i^  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt  ^ 

200oJahre  nach  christlichen  Grundsätzen  zu  erziehen  vor- 
gibt. Und  Faktum  ist,  daß  eines  der  Ergebnisse,  eine  der 
Früchte  dieser  fast  2000  jährigen  christlichen  Erziehupg, 
eine  mit  allen  Mitteln  des  Verstandes,  der  Technik,  der 
Industrie,  des  Wortes  getriebene  Bärberei  ist,  wie  sie  die 
Welt  nie  gesehen  hat.  Das  und  nur  das  ist  das  mich  inter- 
essierende Faktum.  Das  nenne  ich:  »Außerkraftsetzung 
der  Bergpredigt« .  —  So  lautet  die  Aussage  des  unbeteilig- 
ten Zuschauers.  Verhalten  wir  uns  denn  anders  wie  dieser 
Zuschauer,  wenn  wir  das  Haus  und  die  Wohnung  einer 
Familie  betreten,  wo  Schmutz,  Unordnung,  wo  die  niedrigen 
Reden  der  Kinder,  wo  alles,  was  wir  wahrnehmen,  den 
Gesämtzustand  einer  moralischen  Fäulnis  verrät.^  Solch 
Gesamtzustand  ist  zunächst  ein  Unteilbares  —  gleichgül- 
tig, wie  er  geworden  ist,  gleichgültig,  wer  daran  Schuld 
hat,  ob  der  Vater,  die  Mutter,  der  Urgroßvater  oder  sonst- 
wer. Jede  tiefere  Menschenerfahrung  lehrt,  daß  solche 
Gruppen-  und  Gesamtschuld  niemals  in  die  Schuld  Ein- 
zelner vollständig  aufzuteilen  ist.  Jede  aufmerksame  Er- 
fahrung lehrt,  daß  gerade  jedes  tiefere  Eindringen  in  die 
moralischen  Beziehungen  der  Glieder  einer  solchen  Familie 
die  unfaßbare  Gegenseitigkeit  det  Verschuldung  um  so- 
mehr  an  den  Tag  bringt,  je  tiefer  das  Eindringen  ist.  Die 
christliche  Gedankenwelt  enthält  die  wichtigen  Begriffe 
einer  Gesamt-  und  Erbschuld,  und  eine  tiefere  Philosophie 
vermag  sie  zu  bestätigen^.  Wir  sollten  sie  nich  t  nur  kennen 
als  die  dogfmätischen  Begriffe  der  Erbsünde  und  Erbschuld, 
und  nicht  nur  bezogen  auf  die  ganze  menschliche  Gattimg, 
sondern  auch  bezogen  auf  Zeitalter,  Kulturkreise,  Völker. 

'  Siehe  hiezu  mein  »Fonnalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale  Wertethik« 
II.  Teil. 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.  129 

So  Wird  der  Christ  auch  die  europäische  Anarchie  die- 
ses Krieges,  oder  .besser  dieser  Kriegsrevolution,  als  auf 
einer  Gesamt-  und  Erbschuld  der  letzten  Jahrhunderte 
europäischer  Geschichte  beruhend  anzusehen  haben. 

Aber  ebenso  gewiß  als  der  Vorwurf  eines  »Bankerottes 
des  Christentums«  verständlich  ist,  ist  auch  dies:  Wer 
immer  die  Gestalt  Christi  ergriffen  hat  im  Glauben  und 
als  das  erhabenste  Modell  und  Vorbild  jedes  Menschen- 
herzens —  er  kann  die  Rede  vom  endgültigen  Ban- 
kerott des  Christentums  in  Europa  gleichwohl  nicht 
anerkennen.  Was  also  soll  ein  Mensch  in  solcher  Lage  tun? 

Vor  allem  soll  er  sich  nicht  begnügen  mit  zu  lä- ' 
scher  und  billiger  Auskunft  —  ^i  es  des  Unglaubens 
oder  des  unechten  Scheinglaubens.  Der  radikalste  Un- 
glaube meint  es,  wenn  er  vom  Bankerott  des  Christen- 
tums spricht,  so:  Es  sind  nicht  die  Menschen,  nicht  die 
Träger  des  christiichen  Gedankens  —  es  ist  die  christ- 
liche Moral,  das  christliche  Lebensideal  selber,  die  Ban- 
kerott gemacht  haben.  Dieses  Ideal  widerstreite  eben  der 
Natur  des  Menschen;  es  fordere,  was  der  Mensch  nicht 
leisten  könne;  es  sei  durch  ein  anderes,  ehrlicheres,  prak- 
tikableres Idöal  zu  ersetzen.  Bestand  denn  nicht  immer 
und  überall  diese  tiefgehende  Spannung  zwischen  den 
Forderungen  der  Bergpredigt  und  der  historischen  Wirk- 
lichkeit von  Politik,  Geschäft,  sozialen  Zuständen?  Ist  es 
nicht  höchstens  nur  ein  quantitativer  Unterschied,  der  das 
Jetzt  von  allem  Gestern  der  europäischen  Geschichte  schei- 
det? Also  ändern  wir  nicht  den  Menschen;  denn  dies  ist 
unmöglich.  Andern  wir  vielmehr  unsere  sittlichen  Maß- 
stäbe selbst,  geben  wir  dieses  falsche,  »verstiegene«  Ideal 
preis  —  geben  wir  es  auf  für  ein  neues  Ideal,  sei  es  der 
9 

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1 30         ^^  cbristlidie  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

größten  Macht  oder  der  größten  Wohlfahrt  oder  der  kul- 
turellen Höchstieistung  der  Menschheit  —  und  wie  alle 
diese  modernen  »Ideale«  sonst  noch  heißen  mögen.  Ver- 
dammenswert  ist  diese  Rede  auf  alle  Fälle,  wie  sie  sich 
auch  mit  Gründen  decke.  Denn  wie  immer  die  klare  und 
evidente  Idee  des  Guten  auch  inhaltlich  gefaßt  werden 
mag  —  ob  christlich  oder  nichtchristlich  —  niemals  darf  sie 
selber  nur  darum  preisgegeben  werden,  weil  Menschen 
sie  nicht  verwirklichen.  Niemals  darf  das  Ideal  der  Wirk- 
lichkeit angepaßt  und  zu  ihrem  Stande  heruntergezogen 
werden.  Das  Gute  soll  sein  —  auch  wenn  es  niemals  und 
nirgends  geschähe,  sagt  Kant  mit  Recht.  Das  liegt  sc^on 
in  seiner  formalen  Natur  —  nicht  erst  im  Gehalt,  den  das 
chrisdiche  Liebesgebot  ihni  erteilt.  Ist  das  christliche 
Ideal  eine  Irrlehre,  so  kann  sie  es  also  nicht  darum 
sein,  weil  der  Mensch  bisher  dem  Ideale  so  wenig  ge- 
nügte, oder  weil  der  Mensch  sogar  dieses  Ideal  mit 
Füßen  trat.  Gewiß  bestand  stets  und  immer  diese  Span- 
nung zwischen  den  irdischen  Gesetzen  des  politischen 
und  sozialen  Lebens  mit  dem  großen  Gebote.  Aber  erst- 
lich ist  Spannung  ein  Anderes  wie  Verkehrung  ins  Gegen- 
teil. Beides  ist  wesensverschieden  —  nicht  quantitativ. 
Daß  Spannung  allein  bestehe  —  das  sagt  die  christ- 
liche Lehre  selbst  und  sie  erklärt  diese  Spannung  auch 
durch  Fall,  Sünde  und  Erlösungsnotwendigkeit.  Freilich: 
auch  diese  Erklärung  muß  richtig  verstanden  werden. 
Sie  soll  unsere  Lebenseinheit  nicht  in  zwei  Stücke,  zwei 
Hälften  zerreißen,  so  daß  wir  gleichzeitig  als  Leibwesen 
nur  folgen  dürften  den  Trieben  der  Macht,  des  Ehrgeizes, 
daß  wir  der  Herrschaft  rein  irdischer  Kampfregeln  der 
Gruppen  uns  und  unseren  Staat  überlassen  dürften,  als 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt^         x  ^  i 

Sieelen  aber  nur  im  Glauben  oder  in  der  sogenannten 
»Gesinnung«  aufgetan  sein  sollten  Gott  und  den  himm- 
lischen Gütern.  Auf  ein  Recht  solcher  Zerreißung  gibt  jene 
Erklärung  keine  Anwartschaft.  Sie  ist  ein  Irrweg,  ein  Irr- 
weg, der  die  besondere  Gefahr  ist  der  germs^nischen  Seele. 
Sie  ist  der  Irrweg  einer  falschen  Scheidung  von  Gott  und 
Welt,  Seele  und  Leib,  Gesinnung  und  Tat,  Glauben  und 
Werk,  äußerer  politisch-sozialer  und  »innerer« 
Freiheit,  der  Scheidung  auch  von  Politik  und 
Moral.  Der  lutherische  Protestantismus  —  im  Gegensatze 
zu  Lehre  und  Übung  der  von  Calvin  und  Zwingli  gegrün- 
deten Kircheninstitute  —  hat  leider  diesen  germanischen 
Erbfehler  tief  eindringen  lassen  in  sqnen  dogmatischen 
Lehrgehalt  und  nicht  minder  in  seine  ethischen  Auffas- 
sungen. Er  hat  stark  mitgewirkt  im  deutschen  Volke,  das 
Ideal  einer  falschen  Nurinnerlichkeit  auch  da  noch  auf- 
zurichten, wo  das  Luthertum  expressis  verbis  nicht  aner- 
kannt wird,  auch  einer  falschen  Nurgesinnungsethik,  die 
um  eine  innere  Welt  des  Gemütes  rein  zu  erhalten,  alles 
äußere,  öffentliche,  auch  alles  politisch-soziale  Dasein  dem 
christlichen  Sittengesetz  entwendet,  um  es  dem  bloßen 
Stoß  und  Gegenstoß  irdischer  Kraft,  zusammen  mit  einer 
machiavellistischen  Machtpolitik,  zu  überlassen.  Ein  Buch 
wie  das  Buch  von  Baumgarten  über  »Politik  und  Ethik« 
zeigt  diese  Auffassung  bis  zur  Karikatur.  Vermeiden  wir 
aber  diesen  falschen  Verzicht  auf  wahrhaftigen  Einbau 
des  christlichen  Geistes  in  das  öffentliche  und  sichtbare 
Dasein,  in  die  Wirklichkeit  also  auch  der  menschlichen 
Kollektivbeziehungen,  so  haben  wir  den  Unjgläubigen, 
welche  da^Wort  vom  »Bankerott  des  Christentums«  so 
verstehen,  daß  sie  die  christliche  Moral  selbst  in  den 

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1^2         Vit  christliche  Liebesidee  uiid  die  gegenwärtige  Welt. 

Zustand  der  Anklage  erheben,  zu  antworten:  daß  zu  die- 
sem Einbau  noch  eine  ungemessene  Geschichte  der  Zu- 
kunft vor  uns  steht,  und  daß  das  Christentum  zwar  alt  ist 
— ^  verglichen  mit  sonstigen  irdischen  Instituten  —  aber 
npch  jung  und  neu  für  jeden,  der  den  wesensnotwendigen 
Dauersinn  religiöser  Werte  im  Verhältnis  zu  Kulturwerten 
überhaupt  klar  aufzufassen  verstanden  hat. 

Gerade  wenn  wir  aber  festhalten  an  den  christlichen 
Grundsätzen  und  vor  allem  am  Liebesgebot,  wenn  wir  weder 
es  abschwächen  zu  seichter  Wohlfahrtsmoral,  nocK  es 
herausweisen  aus  aller  öffentlichen  Wirklichkeit,  so  trifft 
Europa  die  Rede  vorn^  Bankerott  des  Christentums  in 
anderem  Verstände  nur  um  so  schärfer.  Ist  dieses  Gebot 
ewig  und  gilt  es  absolut  —  und  gilt  es  in  welch  verschie- 
dener Anwendung  immer  auch  für  das  öfifendiche  Dasein 
—  um  wieviel  furchtbarer  scheint  dann  die  Abirrung  der 
europäischen  Geschichte!  Und  wer  verschuldet  dann  den 
Bankerott  ?  Die  Verwalter  des  christlichen  Gesetzes — sagen 
die  Einen,  also  die  Kirchen,  die  ihre  Pflichten  vergaßen  oder 
doch  die  Vertreter  dieser  Kirchen,  ihre  Priester,  ihre  Pre- 
diger, ihre  Lehrer.  Nein,  umgekehrt!  Der  Abfall  von  eben 
diesen  Kirchen  oder  von  einer  Kirche  seitens  der  >  modernen 
Welt«  —  sagen  die  Anderen.  Wie  immer  Wahres  und  Fal- 
sches gemischt  sein  möge  in  diesem  und  jenem  Urteil :  wahr 
bleibt  auf  alle  Fälle  das  klare  Entweder-Oder;  Entweder 
i  s  t  das  Christentum  noch  die  faktisch  führende  Geistesmacht 
in  Europa  oder  es  ist  es  nicht.  Ist  es  noch  die  fuhrende 
Geistesmacht,  ist  es  noch  das  Kemhafte  und  Substanzielle 
des  europäischen  Gesamtgeistes,  so  hat  das  Christentum 
mindestens  in  seinen  Vertretern  und  großen  Vf  rtretungs- 
körpem  Bankerott  gemacht.  Nur  dann  und  in  dem  Maße, 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         133 

als  ZU  zeigen  wäre,  esTiabe  das  Christentum  diese  fuhrende 
Rolle  V  e  r  1  o  r  e  n ,  es  habe  sie  ab  treten  müssen  an  andere,  ihm 
feindliche  Geistesmächte,  nur  in  dem  Maße  also,  als  das 
Christentum  zurückgedrängt,  verborgen,  ohnmächtig  ist, 
kann  überhaupt  dieser  Vorwurf  mit  Recht  und  Grund  abge- 
lehnt und  in  den  anderen  Vorwurf  gewandelt  werden,  es 
habe  nicht  das  Christentum,  sondern  es  habe  der  ihm  feind- 
liche moderne  Geist  diesen  Bankerott  erlitten.  Ich  stelle 
diese  Alternative  mit  Schärfe  vor  Sie  hin!  Denn  es  scheint 
mir  eine  laue  und  fade,  ja  eine  verworrene  und  unehrliche 
Denkungsart  verbreitet  zu  sein,  die  da  gemächlich  Beides 
beweisen  will :  das  Christentum  und  seine  sitdichen  Grund- 
ideen seien  noch  die  faktische  führende  Geistesmacht 
Europas,  sie  seien  noch  die  Substanz  des  europäischen 
Geistes  und  es  habe  das  Christentum  gleichwohl  nicht 
bankerott  gemacht,  sondern  blühe  und  gedeihe  dabei 
ganz  herrlich  weiter.  Das  heißt  nun  doch  den  gewaltigen 
Vorwiuf  z.  B.  der  gesamten  gebildeten  asiatischen  Welt 
etwas  gar  zu  wenig  ernst  nehmen  und  auf  gar  zu  billige 
Weise  sich  über  ihn  hinwegsetzen.  Und  auch  solche  Be- 
wohner der  europäischen  Staaten,  die  in  dieser  furcht- 
baren Frage,  die  gar  nicht  betrifft  die  Zustände  dieses 
und  jenes  europäischen  Landes  (Frankreichs  oder  Deutsch- 
lands etc.),  sondern  betrifft  die  Grundrichtung  der  ge- 
samteuropäischen Geschichte  der  neuesten  Zeit,  die  zu  die- 
sem Kriege  führte,  die  —  sage  ich  in  dieser  Frage  —  unter 
dem  Spotte  und  Gelächter  ganz  Asiens,  nur  die  ihrem 
eigenen  Volke  je  feindlichen  Völker  einseitig  und  aus- 
schließlichverantwortlich machen  wollen,  bleiben  tief  unter 
dem  Ernste  und  der  Größe  des  Problems.  So  falsch  es  ist, 
unser  Volk  oder  unsre  Regierung  im  speziellen  verantwort- 


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^34         ^^^  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

lieh  zu  machen  für  gemeineuropäische  Verirrungen  des 
Lebens,  so  falsch  ist  es  auch,  die  weil  gemeineuropäische 
eben  auch  Deutschland  mit  in  sich  einschließende  —  nicht 
aber  ausschließende  Natur  dieser  Verirrungen  zu  ver- 
kennen. Aller  Streit  der  Kriegsparteieh  um  Recht  und  Un- 
recht hat  bei  dieser  Frage  zu  schweigen,  wenn  nicht  zur 
Tatsache  des  nun  kund  gewordenen  praktischen  Abfalls 
Europas  vom  Christentum  noch  dazutreten  soll  das  grotesk- 
klägliche Rede-Schauspiel,  daß  dieselben  Völker,  die  da 
emsdich  behaupten,  Glieder  einer  Größe  »christliches 
Europa«  und  selbst  chrisdich  zu  sein,  sich  gegenseitig  je 
ihr  Christentum  abstreiten.- 

Hüten  wir  uns  also  vor  diesen  falschen  Wegen,  der  Rede 
vom  Bankerott  des  Christentums  zu  begegnen.  Schlagen 
wir  einen  anderen  Weg  ein.  Wir  müssen  —  so  meine  ich 
• —  zu  allererst  uns  selbst  wie  unseren  Anklägern  ehrlich 
zugestehen:  das  chrisdiche  Ethos  ist  in  Europa  nicht 
mehr  die  führende  Geistesmacht.  —  Wie  viel  echte  christ- 
liche Religiosität  von  großen  Gruppen  und  Einzelnen  auch 
verbreitet  sein  mögen,  wie  weit  immer  die  Ethik  d.  h.  die 
bloße  Lehre  vom  lebendigen  christlichen  Ethos  auch  in 
den  außerreligiösen  und  außerkirchlichen  Kreisen  intel- 
lektuell und  in  Formeln  anerkannt  werden:  die  lebendige 
Potenz,  die  das  öffentliche  und  kulturelle  Leben  Europas 
leitet  und  fiihrt,  ist  diese  sitdiche  Macht  nicht  mehr.  Und 
das  besagt  nicht  etwa  nur,  daß  praktisch  seine  Regeln 
übertreten  wurden  und  dies  viel  oder  wenig.  Diese 
Übertretung  geschah  zu  allen  Zeiten,  wenn'  auch  in  ver- 
schiedenem Maße;  das  ist  eine  Sache  nicht  des  Ethos, 
sondern  eine  Sache  der  praktischen  Moralität.  Vielmehr 
sind  es  die  christKchen  Maßstäbe,  die  Ideale,  die  Normen 


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Die  christliche' Liebesidee  und  die  gegenwärtige. Welt.         i  ic 

selber,  wie  sie  sich  im  Leben  der  Seele  vermöge  der 
sog.  Gewissensregungen  geltend  machen,  sind  es  fer- 
ner die  nicht  nur  im  Urteil  anerkannten,  sondern  in 
Tätigkeit  stehenden  Regeln  des  Vorziehens  und  Nach- 
setzens von  Werten,  die  den  Kern  der  europäischen  Seele 
nicht  mehr  innerlich  beherrschen;  die  den  in  Werken,  For- 
men, Institutionen^  Sitten  niedergeschlagenen  >  o  b j  e  k  - 
tiven  Geist«  nicht  mehr  beseelen  und  leiten.  Das  ist  für 
den  Anhänger  der  chrisdichen  Denkweise  ein  furchtbares 
Zugeständnis.  Aber  es  ist  ein  notwendiges  Zugeständnis. 
Der  zweite  Schritt  einer  also  erschreckten  Seele  wäre, 
zu  ermessen^  wie  sich  dieser  moralische  Gesamtzustand 
Europas  bildete  —  eine  ungeheuere  Aufgabe,  die  ich  hier 
nicht  im  entferntesten  auch  nur  emsdich  angreifen  kann. 
Denn  sie  betrifft  die  Geneologie,  die  Ursprungslehre  der 
ganzen  sittlichen  Bewußtseinsweise,  die  an  Stelle  des  christ- 
lichen Ethos  in  Europa  die  Führung  und  Leitung  über- 
nahm und  dieMch  formell  nach  Zeit  und  ihrer  sozialen 
Trägerschaft  bestinunt  nennen  möchte:  das  Ethos  des 
modernen  speziell  bürgerlichen  und  kapitalisti^ 
sehen  Geistes.  Und  der  dritte  Schritt  wäre,  vermöge 
einer  genauen  Analyse  der  noch  herrschenden  Tendenzen 
unseres  Zeitalters  auf  allen  W^rtgebieten  (Kultur,  Wirt- 
schaft, Staat,  Recht  usw.)  imd  bei  verschiedenen  europä- 
ischen Völkern  herauszufinden,  welche  dieser  Tendenzen 
dem  Ziele  günstig  siijd,  das  christliche  Ethos  wieder  zu 
einer  führenden  Leitpotenz  in  den  öfferidichen  Angelegen- 
heiten Europas  zu  erheben,  welche  nicht,  was  die  Erfah- 
rung dieses  Krieges  —  hier  als  Gesamterfahrung  Europas, 
ja  der  Welt  genommen  —  zu  diesem  Sinneswandel  bei- 
tragen könnte  und  welches  Leitbild  aus  der  Zusammen- 


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136         Die  christliche  Liebesidee  un4  die  gegenwärtige  Welt 

schau  der  ewigen  Ideale  des  Christentums  mit  diesen  fak- 
tischen Verhältnissen  sich  für  uns  ergeben  möchte.  Dieser 
Weg  —  nicht  einseitige  Beschuldigung  oder  Entschuldi- 
gung der  christlichen  Kirchen  oder  dieser  und  jener  Kirche 
oder  ihrer  Vertreter,  scheint  mir  der  einzige  Weg  zu  sein, 
dem  herben  Urteil  vom  Bankerott  des  Christentums  tapfer 
zu  begegnen  und  die  tiefe  Qual  des  christlichen  Gewissens 
angesichts  des  inneren  Zustandes  der  fuhrenden  europä- 
ischen Volksschichten,  die  dieser  Krieg  enthüllte  — 
nicht  schuf!  —  vielleicht  einigermaßen  zu  lindem. 

Wählen  wir  nun  heute  nur  einen  einzigen  der  Kem- 
bestandteile  des  chrisdichen  Ethos  aus,  nämlich  das  christ- 
liche Liebesgebot*  und  die  aus  ihm  abfolgenden  Ideen 
und  "Normen  menschlicher  Gemeinschaft,  also  die  christ- 
liche Gemeinschaftsidee,  um  an  ihnen  aufzuweisen, 
wie  sie  die  geistige  Führung  in  Europas  öflfendichem 
Leben  verloren  haben. 

Es  sind  sehr  verschiedenartige,  aber  im  ganzen  ge- 
schichdichen  Verlauf  doch  zusammen  wirksame  und  sich 
zum  Teil  unterstützende  Geistesmäqjite,  die  zu  einer  Ver- 
drängung des(  christlichen  Ethos  aus  seiner  europäischen 
Führerstellung  geführt  haben.  Bezeichnen  wir  die  wichtig- 
sten dieser  Mächte  zuerst  mit  kurzen  Schlagworten,  so 
sind  zu  nennen:  i.  Der  das  christliche  Liebesgebot  ent- 
setzende Humanitarismus.  2.  Der  einseitige  Individualis- 
mus oder  Sozialismus  in  ihrem  gemeinsamen  Gegensatz 
zum  christlichen  Gedanken  moralischer  Solidarität  selb- 
ständiger Personen.  3.  Der  unbegrenzte  Macht-^und  Herr- 
schaftswille des  den  Feudalismus  zertrümmernden  >abso- 

^  Vgl.  hierzu  in  meinen  Abhandlungen  und  Aufsätzen  Bd.  I :  „Das  Ressen* 
timent  im  Aufbau  der  Moralen". 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         j  3  jr 

luten«  und  »souveränen«  Staates.  4.  Der  moderne  poli- 
tische Nationalismus  und  der  ihn  begleitende  ausschließ- 
liche kulturelle  Nationalismus;  der  letztere  im  Gegensatz 
zur  christlichen^uffassung,  es  seien  die  Nationalkulturen 
bestimmt,  sich  zu  einer  umfassenden  Weltkultur  unver- 
tretbar zu  ergänzen,  y.  Die  Verdrängung  aller  solida- 
rischen Lebensgemeinschaften  und  Standesgliederungen 
durch  bloße,  in  willkürlichen  Rechtsverträgen  wurzelnde 
und  zur  Erreichung  bloß  partikularer  Zwecke  hin  ge- 
schlossene Gesellschaften,  und  der  diesem  Zustande  ent- 
sprechenden vorwiegenden  Klassep-  und  Besitzgliede- 
rung der  Menschengruppen.  6.  Die  Verdrängung  des 
chrisdichen  Wirtschaftsethos  solidarischer  'organisierter 
Bedarfsdeckimg  aller  wirtschaftenden  Gruppensubjekte 
im  Rahmen  höchster  Grundsätze  chrisdicher  Lebenslehre, 
durch  das  bürgerlich  kapitalistische  Wirtschaftsethos  einer 
durch  nichts  begrenzten  Produktion  und  eines  ebenso  un- 
begrenzten Gelderwerbes  —  sei  es  des  Individuums  eines 
Staates  oder  eines  Imperiums  — ,  Kräfte,  die  durch  nichts 
kontrolliert  werden,  sondern  nur  in  den  Grenzen  staat- 
licher Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte  in  freier  Konkur- 
renz völlig  ungebunden  sich  auswirken.  7 .  Die  Verdrängung 
der  Ideen  und  Maßstäbe  christlicher  Kulturgemeinschaft, 
denen  gemäß  sich  Kunst,  Philosophie,  Wissenschaft  dem 
Baugeflige  der  letzten,  höchsten  und  umfassendsten  Men- 
schengemeinschaft, nämlich  dem  sichtbaren  und  unsicht- 
baren »Corpus  Christi«,  der  Kirche,  und  deren  Geist  ein- 
zugliedern haben  durch  die  sog.  »autonome«  Kulturidee^ 
Anstatt  daß  alle  Kulturverwirklichung  der  sich  folgenden 
Generationen  wie  der  gleichzeitigen  Völker  und  Nationen 
in  einträchtiger,  auf  gegenseitigem  Verständniswillen  ge- 


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138         ^^  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

gründeter  Kooperation  erfolge,  soll  die  geistige  Kultur- 
arbeit nun  völlig  unabhängig  von  allen  religiösen  Inspira- 
tionen ablaufen  soll^  Gegeneinanderarbeiten  und  Über- 
treffenwollen der  Generationsfolgen  und  Ng^tionen  wird  nun 
ihr  Triebrad  an  Stelle  einträchtiger  Kooperation  an  einem 
Baue.  Hinsichdich  der  Generationsfolgen  ist  die  Konse- 
quenz dieser  Kulturidee  eine  Gruppe  von  Erscheinungen, 
die  bald  mehr  Relativismus,  Historismus,  Skeptizismus  zu 
nennen  sind.  Hinsichtlich  der  Nationen  flihrt  sie  zu  stei- 
gender Entfremdung  der  nationalen  Kulturen  Mnd  zu  zu- 
nehmender Auflösung  der  geistigen  Einheit  Europas. 

Diese  Punkte  sollen  im  folgenden  Gegenstände  unserer 
Betrachtung  sein. 

I.  Liebesgebot  und  Humanitarismus. 
.  Der  Humanitarismus  erhebt  sich  gegen  den  ersten  Satz 
des  chrisdichen  Liebesgebotes  »Liebe  Gott  über  Alles« 
(und  wie  wir  gleich  hinzufugen,  liebe  darum  auch  den 
Nächsten  in  Golt  und  stets  in  bezug  auf  das  höchste  Gut). 
Er  erhebt  sich  dagegen  in  verschiedenem  Maße  und  in 
verschiedener  Weise  innerhalb  der  europäischen  Renais- 
sancen, dem  sogenannten  Humanismus  und  ganz  beson- 
ders mächtig  im  Zeitalter  der  europäischen  Aufklärung. 
Alle  diese  großen  Bewegungen  arbeiten  am  Aufbau  eines 
Ethos,  das  Mensch  und  Menschheit  von  Gott  isoliert,  ja 
häufig  den  Menschen  gegen  Gott  ausspielt.  Auch  da  wo 
die  christlichen  Werte  festgehalten  werden,  ändert  sich 
doch  die  Emotion  und  der  innere  geistige  Akt  dessen,  was 
Menschenliebe  oder  Nächstenliebe  genannt  wird.  Nicht 
mehr  sein  unsichtbares  geistiges  Teil,  seine  Seele  und  ihr 
Heil  —  solidarisch  eingeschlossen  in  das  Gesamtheil  der 
Kinder  Gottes  —  trifft  jene  neue  sogenannte  Menschen- 


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Dfe  christliche  Liebesidee  und  dii^ gegenwärtige  Welt.         i  lo 

Hebe  und  Nurmenschenliebe  querst,  und  leibliche  Güter 
und  Wohlfahrt  des  Menschen  nur  soweit,  als  sie  seine  Voll- 
kommenheit und  Seligkeit  mitbedingen.  Sie  trifft  vielmehr 
diese  Wohlfahrt  zuerst  und  die  Güter  des  Geistes  und  der 
Seele  nur  soweit,  als  sie  die  Beförderung  dieser  Wohl- 
fahrt mitbedingen,  Sie  trifft  femer  die  »Menschheit«  nur 
in  ihrer  Gleichzeitigkeit,  also  die  je  Lebenden,  nicht  die 
Menschengruppen  in  ihrem  zusammenhängenden  histo- 
rischen Dasein  und  nicht  auf  dem  Hintergrund  einer  über- 
irdischen Ordnung,  die  auch  die  Seelen  der  Verstorbenen 
umfaßte.  Sie  trifft  des  Menschen  äußere  Erscheintmg, 
sein  sinnliches  Wohlsein.  Und  sie  trifft  dieses  Wohl- 
sein in  steigender  Abgelöstheit  von  der  objektiv  gültigen 
Stufenordnung  der  geistigen  und  materiellen  Güter,  die 
stufenweise  zum  höchsten  Gute  hinaufführen.  Aber  noch 
mehr:  Auch  soweit  die  Liebe  noch  als  tiefste  Quelle  alles 
guten  Wollens  und  Handelns  festgehalten  wird  und  nicht 
^ —  wie  es  gleichfalls  geschah,  z.  B.  bei  Kant  —  ersetzt 
wird  oder  werden  soll  durch  ein  rein  rational -formales 
Gerechtigkeitsprinzip,  ist  nicht  sie  selbst  als  Liebe  und 
ihre  Selbstdarstellung  im  Opfer  der  in  sich  höchstwertige, 
den  Menschen  unendlich  adelnde  und  Christus  gleich- 
machende Geistesakt,  sondern  die  Liebe  erscheint  nur  ab- 
geleitet wertvoll,  nämlich  weil  sie  ein  Mittel  ist,  die  Wohl- 
fahrt und  das  sinnliche  Glück  des  Menschen  oder  mensch- 
licher Gruppen  zu  vergrößen>.  Gewiß:  Auch  nachchrist- 
licher Ansicht  sollen  wir  überall  die  Wohlfahrt  unserer  Um- 
welt zu  fördern  suchen,  ökonomisch,  sozial,  hygienisch  usw. 
Das  gebietet  schon  die  eigenartige  Existenz-  und  Wirk- 
einheit von  Leib  und  Seele,  und  nicht  weniger  gebietet  es 
die  moraltechnische  Einsicht,  daß  die  praktische  Mög- 


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1 40         ^^  christliche  LieViiidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

lichkeit,  Menschen  zu  vervollkommnen,  um  sq  größer  ist, 
um'je  niedrigere  Werte  es  sich  handelt.  Aber  wir  sollen  die 
Wohlfahrt  fördern  in  letzter  Linie  um  der  Würde  willen  der 
geistigen  Persönlichkeit  des  Menschen,  in  welche  Würde 
die  freieste  und  reinste  Liebesbereitschaft  gerade  als  ihre 
Krone  und  Kern  eingeschlossen  ist.  Denn  im  Demutsweg 
und  freiem  Dienstschaftsweg  der  Liebe  soll  sich  eben  diese 
Würde  vollenden.  Wir  sollen  die  Wohlfahrt  des  Menschen 
fördern,  auf  daß  er  reif  werde  zur  Liebe  als  der  Wurzel 
aller  Tugenden  ^  Die  humanitaristische  Menschenliebe  ver- 
langt aber  nicht  Wohlfahrt  um  der  Liebe  und  der  freien 
Liebesfähigkeit  des  Menschen  willen  —  sa  wie  es  ent- 
spricht dem  Gleichnis  vom  Scherflein  der  armen  Witwe 
—  sondern  umgekehrt  fordert  sie  Liebe  um  der  Wohl- 
fahrt willen.  Dadurch  ist  der  echte  Begriff  der  Opfer- 
liebe von  Grund  aus  zerstört,  und  es  ist  das  christliche 
Liebesethos  ersetzt  durch  ein  irdisches  Wohlfahrtsethos. 
Wundem  wir  uns  nicht,  daß  sich  darum  die  neuartige 
Menschen-  oder  MenschheitsHebe  nun  so  gerne  in  Gegen- 
satz zur  Gottesliebe  bringt,  ja  daß  sie  sich  häufig  nur  als 
eine  Art  verdrängter  Gotteshaß,  als  bewußter  Aufstand 
gegen  Gott  und  seine  Ordnung  und  schließlich  gegen 
alles  darstellt,  was  auch  an  Menschenwert,  Menschenwerk, 
Menscheninstitution  jene  nur  gemeinsamen  und  bloß  gat- 
tungsmäßigen, d.  h.  immer  wertniedrigsten  Naturmerk- 
male des  Menschen  überragt. 

Ein  stark  revolutionärer,  ein  aufständischer  Affekt  und 
vor  allem  ein  alle  objektiven  Wertunter^chiede  des  Mensch- 
lichen nivellierender  Affekt  ist  diese  moderne  sog.  Liebe 
zur  Menschheit  —  ein  Wort,  das  die  christliche  Sprache 

'  Im  Sinne  des  Augustinischen :  Ama  et  fac,  quod  vis.    - 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtig  Welt         i  ^  i 

nicht  kennt.  Sie  ist  nicht  ein  geistiger  Akt  der  Seele, 
sondern  ein  siedendes  wallendes  sinnliches  Pathos.  Als 
solches  lebt  sie  vor  allem  in  Rousseau  und  also  wüten  in 
ihrem  Namen  die  Robespierres  und  Marats  der  franzö- 
sischen Revolution.  Daraus  resultiert  auch  ihre  unorga- 
nische Art  zu  vereinheidichen,  zu  unitarisieren  und  zu 
zentralisieren,  d.  h.  auszulöschen  die  gottgegebenen,  be- 
sonderen, eigenartigen  Bestimmungen  der  Individuen,- 
Stände,  Völker,  Nationen  zugunsten  eines  AUerweltsbreies 
von  Menschheit,  eines  Menschheitsstaates,  einer  Welt- 
republik usw.  Daher  kommt  auch  ihre  gefährliche  Rich- 
tung, ohne  weiteres  den  je  niu*  größeren  umfassen- 
deren Kreis  als  Liebesobjekt  auszuspielen  gegen  den 
engeren  (z.  B.  Menschheit  gegen  das  Vaterland,  Nation 
und  Nationalstaat  gegen  Stamm  und  Stammesstaat  usw.). 
Nicht  der  höhere  qualitative  Wert  und  die  reinere 
Wertfülle  der  Gott  als  dem  höchsten  Gute  näherliegende 
Wert,  ist  für  sie  das  wahre  Vorzugsobjekt  einer  wohl- 
geordneten Liebe,  sondern  nur  die  je  größere  Zahl  der 
Menschen  —  so  wie  es  ein  Engländer  Bentham  ja  auch 
naiv  genug  war,  zu  formulieren:  »Das  größte  Glück  der 
größten  Zahl. «  Und  hier  sehen  wir  nun  in  voller  Deut- 
lichkeit auch  die  für  die  menschlichen  Dinge  und  ihre  rechte 
Ordnung  bestehende  so  folgenreiche  Bedeutung  der  hu- 
manitaristischen  Streichung  des  ersten  Teiles  des  Lie- 
besgebotes. Ist  der  gemeinsame  Bezug  aller  Menschen 
auf  Gott  und  ist  die  tiefste,  letzte  und  wirksamste  Ver- 
knüpfung der  geistigen  Seelen  untereinander,  die  Verknüp- 
fung durch  Gott  und  in  Gott  einmal  geleugnet,  so  kann 
auch  keinerlei  Stufenordnung  der  Güter  mehr  ange- 
nommen werden,  auf  die  sich  unsere  Liebe  in  je  verschie- 


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1 4.2         Die  christlich«  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

denem  Ausmaße  und  nach  bestimmten  Gesetzen  des  Vor- 
ziehens richten  soll  —  damit  aber  auch  keine  bestimmte 
feste  Ordnung  und  Wechselwirkung  der  Gemeinschafts- 
-suten,  denen  die  Bewahrung  und  Verwirklichung  dieser 
Güter  nach  ewigen  Gesetzen  obliegt  (Kirche,  Staat,  Fa- 
milie, Gemeinde,  Stände,  Berufe  usw.).  Darum  ist  diese 
neue  humanitaristische  Nurmenschenliebe  ebenso  nivellie- 
rend und  auflösend  als  Prinzip  wie  das  christliche  Liebes- 
gebot aufbauend  und  organisierend  ist.  Die  großen 
Geistesbewegungen  in  Europa,  die  zu  dieser  Verdrängfung 
des  christlichen  Liebesgebotes  durch  den  Humanitaris- 
mus  geführt  haben,  können  hier  nicht  geschildert  werden. 
Nur  zwei  Phasen  ihrer  Geschichte  lassen  Sie  mich  kurz 
bezeichnen. 

Die  eine  ist  die  Reformation,  die  andere  der  Übergang 
der  Aufklärungsperiode  zur  realistischen  Bildung  des 
1 9.  Jahrhunderts.  Der  Geist  der  Reformatoren  (und  Luthers 
insbesondere)  war  nichts  weniger  als  humanitaristisch  ge- 
richtet. Im  Gegenteil:  der  Mensch  und  der  menschliche  Wille, 
seine  Leistungen  und  Werke,  erscheinen  in  ihren  Lehren  so 
unselbständig  und  ohnmächtig  wie  nur  möglich;  des  Men- 
schen Willens-Freiheit  wird  bestritten  zugunsten  einer  fast 
zwingend  gefaßten  Gnade  —  einer  Gnade,  die  den  durch 
den  Fall  als  ganz  und  gar  korrumpiert  geltenden  Men- 
schen aus  seinem  passiven  Sündenstande  nicht  eigentlich 
und  wahrhaftig  herausreißen  und  ihn  heiligen  soll,  sondern 
ihm  nur  geben  soll  das  friedliche  Bewußtsein  der  Nach- 
lassung der  Sündenstrafen  durch  den  Glauben  an  Jesu 
sühnendes  Blut.  Überall  sieht  man  den  Geist  der  Re- 
formation in  schärfstem  Gegensätze  wirksam  zum  Hu- 
manismus, zu  Renaissance  und  zu  deren  an  römischen 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt         143 

und  griechischen  Dichtem  uAd  Denkern  genährten  Idealen 
der  Menschenbildung.  Und  dennoch  hat  die  reformatorische 
Bewegung  mit  am  stärksten  in  Europa  die  Idee  verbreitet, 
daß  alle  menschlichen  sqzialen  Verbindungen  und 
Gruppeneinheiten  ihren  letzten  Kitt  und  Zusammen* 
halt  ausschließlich  finden  sollen  durch  rein  irdische  und 
menschlidi  natürliche,  von  der  Beziehung  auf  Gott  gleich- 
sam abgelöste  Seelenmächte  und  Kräfte.  Denn  wie  tiefe 
und  schöne  Worte  sich  z.  B.  bei  Luther  über  das  mensch- 
liche' Gemeinschaftsleben  finden  (Ehe,  Familie,  Kirche, 
Staat):  die  wesentliche  und  zwar  die  zum  Heile  wesent- 
liche Beziehung  des  Menschen  zu  Gott  wurde  doch  ganz 
einseitig  verlegt  in  die  Tiefe  der  individuellen  Einzelseele 
und  ihren  Glauben.  Die  gesamte  Gruppe  der  Seelenakte, 
die  wir  soziale  Akte  nennen  können  (Liebe,  Versprechen, 
Verzeihen,  Herrschen,  Dienen  usw.)  sollte  eine  ursprüng- 
liche Heilsbedeutung  nicht  mehr  besitzen.  »Die  Einzel- 
seele imd  ihr  Gott« :  Darin,  in  diesem  Wechselspiel  allein 
sollte  allef  Heilssinn  beschlossen  sein.  Erst  von  der  durch 
den  Glauben  erreichten  Vergebimg  imd  Rechtfertigung 
wurde  es  als  Folge  erwartet,  es  werde  lebendiger  Glaube 
auch  Liebe,  Gemeinschaft  bewirken  imd  es  werde  dann 
jeder  des  andern  Christus  sein.  Damit  aber  waren  alle 
sozialen  Verbindungen  zwar  nicht  nachträglicher  religiöser 
Sanktion,  wohl  aber  der  primären  Lenkung  und  Leitung 
durch  das  Heilsgebot  der  Liebe  entrückt  Und  was 
hieße  dieses  anderes  als  den  Kräften,  Leidenschaften,  Trie- 
ben des  rein  natürlichen  Menschen  hingegeben?  Gewiß: 
Zunächst  war  es  ausschließlich  die  Zerstörung  des  einheit- 
lichen Begriffs  einer  unsichtbar-sichtbaren  Kirche  als  einer 
gottgeordneten  Anstalt  zum  solidarischen  Heile  aller,  der 


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I  ^^         Die  christlicbe  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt 

dadurch  der  Zerstörung  anheimfiel.  Aber:  Wa)-  einmal  das 
große  Prinzip  der  Gegenseitigkeit  an  dieser  höchsten 
Stelle  des  Menschenlebens  zerbrochen,  nämlich  als  soli- 
darisches Heilsprinzip,  war  Li^be  in  der  Einheit  und  Ge- 
meinschaft einer  Kirche  Gottes  nicht  mehr  ein  gleich- 
notwendiger und  gleichursprünglicher  Weg  zu  Gott  und 
zum  Heile  vielmehr  nur  als  Folge  des  schon  von  Jfedem  Ein- 
zelnen gewonnenen  Heiles  verstanden,  so  mußte  von  dieser 
Höchststelle  aus,  von  diesem  letzten  Lebens-  und  Kräfte- 
mittelpunkt  der  Menschenseele  aus,  sich  die  Zersetzung 
des  Solidaritätsprinzips  und  -Gefühls  gleichsam  inmier 
weiter  und  weiter  auf  alle  Gemeinschaftsarten  verbreiten. 
Staat,  Wirtschaft,  Kultur,  Schaffen  (sei  es  Erkennen,  sei 
es  Bilden)  —  lauter  Gemeinschaftstätigkeiten  ^ —  sollten 
nun  ganz  unabhängig"  »autonom«,  d.  h.  nach  gottfremden 
Gesetzen  ihren  Gang  gehen  und  sich  entfalten.  Der  reli- 
giöse exklusive  Individualismus  —  ich  sage  der  exklusive 
—  zog  den  politischen,  den  kulturellen,  schließlich  selbst 
den  wirtschafdichen  Individualismus  langsam  Stück  für 
Stück  nach  sich. 

Eine  ganz  besonders  eigenartige  Wirkung  aber  hatte 
diese  Umformung  des  Ethos,  eine  Wirkung,  die  bis  auf 
den  heutigen  Tag  reicht.  Was  tun  die  Menschen,  die  ge- 
meinsames historisches  Schicksal,  Territorium,  Abstam- 
mung oder  sonst  eine  elementare  Kraft  zur  Einheit  des 
Lebens  verbindet,  wenn  sie  sich  nicht  mehr  einigen  können 
im  Höchsten  und  Letzten,  darüber  Menschen  sich  zu  eini- 
gen vermögen  —  in  ihrem  Glauben,  in  ihrer  Beziehung 
auf  Grund  und  Sinn  dieser  Welt?  Denken  Sie  z.  B. 
an  eine  gemischte  Ehe  von  gläubigen  Menschen,  die  aus 
tiefer  Liebe  für  einander  in  die  Ehe  traten,  und  die  den 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         145 

ehrlichen  und  guten  Willen  haben^  zusammen  zu  sein,  zu- 
sammen zu  bleiben  und  des  Lebens  Kampf  miteinander 
zu  fuhren.  Auf  einmal  gerieten  sie  heftig  aneinander  — 
imd  sahen  mit  schmerzhaft  aufgewühlter  Seele,  es  sei 
Einigung  hier  nicht  möglich.  Noch  ein  zweites,  ein  drittes, 
ein  viertes  Mal.  Jedesmal  bleibt  zuriick  eine  tiefschmerz- 
hafte Erinnerung  an  diesen  Widerstreit  ihres  Glaubens 
lihd  ihres  Liebeswillens.  Jedesmal  wächst  in  ihnen  eine 
Kraft,  die  dazu  drängt,  diesen  verletzlichsten,  zartesten 
Punkt  ihrer  Verbindung  nicht  mehr  zu  berühren,  ihn  gleich- 
sam aus  den  Augen  zu  setzen.  Was  wird  die  Folge  sein? 
Ich  antworte:  die  Folge  wird  sein,  daß  diese  Menschen 
schließlich  den  zuerst  schmerzhaften,  aber  äußere  Ruhe 
schaffenden  Akt  des  prinzipiellen  Verzichtes  auf  Eini- 
gung in  dem,  was  ihnen  das  Höchste  sein  muß,  voll- 
ziehen. »Quieta  non  movere«  werden  sie  sagen.  Und  was 
wird  davon  die  Folge  sein?  Es  wird  die  Folge  sein,  daß 
die  Gebiete,  die  Wertsphären  ihrer  möglichen  Eini- 
gung von  Stufe  zu  Stufe  immer  tieffer  und  tiefer  herab- 
verlegen, d.  h.  sich  immer  weniger  auf  Ziele,  Zwecke,  Nor- 
men überhaupt  zu  einigen  in  Bereitschaft  sein  werden  und 
immer  mehr  dkfiir  nur  in  bezug  auf  das  Technische,  Ma- 
schinelle in  allen  Dingen,  d.  h.  auf  die  Mittel,  z.  B.  die 
Geschäfte  und  dergleichen.  Der  Prozeß,  den  die  Ver- 
zichdeistung  auf  Einigung  in  der  Stellungnahme  zum 
höchsten  Gute  auslöst,  läßt  sich  seiner  Natur  nach  nicht 
aufhalten.  Er  schreitet  weiter  und  weiter,  zuerst  auf  die 
nächsthöchsten  Güter,  dann  auf  die  etwas  weiter  entfern- 
ten und  so  fort.  Und  was  wird  weiterhin  der  Endzustand 
sein  dieses  Prozesses?  Ein  geistiger  Gemeinschaftsorganis- 
mus —  sind  es  tüchtige,  kraftvolle,  gutbegabte  Menschen 
10 


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146         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

—  von  höchst  merkwürdiger  Beschaffenheit:  Gälnzend 
organisiert  in  allem  Technischen,  ausgezeichnet  diszipli- 
niert in  allen  Fragen  des  »Wie  mache  ich  Etwas,  wenn 
ich  etwas  machen  will«,  von  stärkster  Einigkeit  in  diesen 
Dingen.  Aber  —  die  zentralste^,  die  zielsetzenden, 
formbildenden,  normsetzenden  Kräfte  des  menschlichen 
Geistes,  die  Kräfte,  welche  die  Wasfragen,  die  Fragen: 
Was  soll  ich  tun,  was  ist  meine  Mission  in  der  Welt,  zu 
lösen  haben,  —  die  werden,  da  sie  —  nicht  gebraucht  — 
wie  jedes  nichtfunktionierende  Organ,  langsam  zurück- 
weichen, ja  schließlich  einem  Rückbildungsprozesse  ver- 
fallen. 

Dieses  Gleichnis  gilt  für  ganz  Europa,  seit  es  seine 
einträchtige-  Gemeinbeziehung  auf  Gott  in  einer  Kirche 
verloren  hat.  Europa  wird  gleich  dem  von  seinem  durch- 
gehenden Pferde  herabgeworfenen  und  hängenbleibenden 
Reiter  in  rasendem  Laufe  vorwärts  geschleppt  von  der 
Eigenlogik  seiner  Geschäfte,  seiner  Waren,  seiner  Ma- 
schinen, seiner  Methoden  und  Techniken,  auch  jetzt  sei- 
nes Industriekrieges,  also  auch  seiner  Mordmaschinen. 
Diese  Eigenlogik  einer  vorwiegend  technischen  Sachzivili- 
sation ist  alier  höheren  einheitlichen  Leitung  durch  eine 
gemeinsam  anerkannte  spirituell-moralische  Autori- 
tät entbunden. 

Nichts  Minderes  bedeutet  die  Außerachtlassung  des 
ersten  Satzes  des  Liebesgebotes:  Liebe  Gott  über  alles. 
Es  bedeutet  das  Versiechen  der  zentralen,  leitenden, 
zielsetzenden  Geisteskräfte  im  europäischen  Menschen 
überhaupt.  Das  bedeutet  der  Humanitarismus;  die  Ver- 
treibung aber  des  chrisdichen  Liebesgebots  aus  dem 
öffentlich-sichtbaren  Dasein,  die  Hemmung  der  religiös- 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         147 

kirchlichen  Auswirkung  der  sittlichen  Energien  des  Christen- 
tums im  öffendichen  Dasein  und  in  der  Sphäre  des  objek- 
tiven Geistes,  bedeutet  die  Einsperrung  dieser  Energien 
nur  in  den  individuellen  Innenbereich  des  Menschen. 
Die  Aufklärungsperiode  brauchte  also  nur  den  stark 
überstiegenen  einseitigen  Supematuralismus  der  früh- 
protestantischen Bewegungen  und  seinen  gefährlichen 
Verzicht  auf  wahren  Einbau  des  Gottesreiches  in  diese 
spröde  Welt  Stück  für  Stück  wegzustreichen:  Dann  blieb 
der  reine  Humanitarismus,  blieb  das  Bild  einer  im  Grund- 
ziel des  Menschentums  fuhrer-  und  vorbildlosen  Mensch- 
heit zurück.  Überlassen  den  zufälligen  Schiebungen  ihrer 
Naturtriebe,  hatte  diese  Menschheit  mit  ihrer  gemein- 
samen Beziehung  auf  Gott  auch  die  höchste  Garantie  ihrer 
eigenen  Einheit  verloren.  Denn  ein  Theomorphismus  ist 
die  Idee  des  Menschen,  wie  schon  Augustin  erkannte^. 
Daß  eine  analoge  europäische  Anarchie,  wie  sie  heute 
diese  Kriegsrevolution  darstellt,  nicht  sofort  eintrat,  der 
gottfremde  Humanitarismus  nicht  seine  zersetzenden 
Kräfte  voll  entfaltete,  das  lag  daran,  daß  während  der 
europäischen  Aufklärung  (auch  jenseits  von  Urteil  und 
Bewußtsein)  die  gemeinsamen  Traditionen,  die  eine  viele 
Jahrhunderte  währende  chrisdiche  Bildung,  vereint  mit  den 
Werten  der  Antike,  geschaffen  hatten,  noch  lange  nach- 
wirkten und  ihre  bewußte  Preisgabe  so  überdauerten, 
wie  das  Abendrot  die  untergegangene  Sonne.  Wie  Mu- 
siker, deren  Kapellmeister  plötzlich  nicht  mehr  dirigiert, 
noch  eine  Zeidang  weiterspielen,  so  schienen  die  euro- 
päischen Nationen  noch  eine  gewisse  Symphonie  zu  bilden. 

^  Siehe  meine  II.  Auflage  der  Abhandlungen  und  Aufsätze  ,,Vom  Umsturz 
der  Werte''  Bd.  II :  Idee  des  Menschen. 


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148         ^ic  christliche  Liebesidee  tmd  die  gegenwärtige  Welt. 

Aber  die  endgültige  Verwirrung  mußte  eintreten.  In  dem, 
was  die  großen  Denker  der  Aufklärung,  ein  Voltaire,  ein 
Kant,  ein  Wolff  z.  B.  die  autonome  »Vernunft«  nannten, 
jenem  Inbegriff  vermeindich  zeidoser  und  geschichtsloser 
Prinzipien  der  Ethik,  Logik,  Ökonomie,  des  Rechts  usw. 
•leuchtete  noch  das  ewige  Licht  in  gewissen  Funken  und 
es  leuchtete  auch  da  noch  chrisdich,  wo  es  die  Menschen 
längst  nicht  mehr  Wort  haben  wollten. 

Die  zunehmend  einseitig  realistische  und  historische  Bil- 
dung des  19.  Jahrhunderts  hat  auch  diese  Lichtspuren  all- 
mählichbeseitigt. Sie  hat  in  streng  konsequentem  Fortgang 
des  humanitaristischenGedankens  insbesondere  jene  Einheit 
der  vernünftigen  Menschennatur  als  Idee  mehr  und  mehr ' 
aufgelöst,  in  welche  das  Zeitalter  der  Aufklärung  alle  Be- 
griffe von  Wahr  und  Falsch,  Gut  und  Böse,  Recht  und  Un- 
recht eingesenkt  hatte.  Inmier  dünner  und  dünner,  immer 
abstrakter  und  formaler  wurde  schließlich  all  dasjenige, 
was  noch  als  gemeinsame  Norm  für  den  Menschen  als 
Menschen  gelten  sollte.  Schließlich  wurde  es  für  die  Menge 
unsichtbar  und  ungreifbar.  Was  blieb  übrig?  Die  Idee 
kämpfender  Gruppen,  die  ihren  Interessen  oder  ihren 
Menschinstinkten  folgen,  seien  es  Rassen,  Nationen,  Staa- 
ten, Klassen  usw.  —  ein  Bild  wogenden  Streites  jeder 
Art,  in  dem  nur  noch  Eines  entscheidet:  der  brutale  Er- 
folg. Auch  alles,  was  Idee,  Norm,  sei  es  der  Moral,  sei  es 
des  Rechts,  heißen  kann  —  was  einst  die  menschlichen 
Beziehungen  regieren  sollte  —  ist  nur  mehr  Keule,  Mes- 
ser, Waffe  im  Knechtsdienste  dieser  Interessen  imd  In- 
stinkte, —  ist  Epiphänomen,  ist  Maske,  hinter  denen  sich, 
die  Gruppenegoismen  pharisäisch  verbergen.  Nicht  irgend- 
welche sog.  »idealistischen«  Philosopheme — dünne  Bläs- 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         1 49 

chen,  die  auf  der  Oberflädie  gewisser  Kreise  von  sog. 
BOdung  ohnmächtig  schwimmen  —  sondern  die  Gedan- 
kenwelten von  Darwin  und  Marx  haben  diesem  inneren 
Zustande  Europas  den  deutlichsten  und  wahrhaftigsten 
Ausdruck  gegeben.  — 

Ehe  ich  zeige,  wie  die  anderen  der  genannten  Geistes- 
mächte das  chrisdiche  Liebesethos  verdrängten,  ist  es 
nötig,  die  letzten  Wesensbestimmungen  der  allgemeinsten 
christlichen  Gemeinschaftsidee  —  wie  sie  aus  dem 
Liebesgebot  fließen  —  kurz  zu  entwickeln. 

IL  Die  christliche  Gemeinschaftsidee. 

Es  ist  nicht  möglich,  über  faktische  Gemeinschaftsdinge 
irgendeiner  Art  sich  ein  Urteil  zu  bilden,  ohne  an  die  Grund- 
fragen heranzugehen:  Was  ist  das  Wesen  von  Gemein- 
schaft überhaupt?  Was  ist  das  höchste  Ziel  aller  Gemein- 
schaft, und  was  sind  die  Ziele  ihrer  Wesensarten? 

Der  allererste  Grundsatz,  von  dem  wir  auszugehen  haben, 
ist  folgender:  Der  Mensch,  ja  die  geistige  endliche  Person 
überhaupt  —  und  der  Mensch  nur,  weil  er  eine  solche 
Person  ist  — ,  lebt  nicht  zufällig  und  nicht  nur  faktisch 
(etwa  bloß  auf  Grund  seiner  positiven  Natur  und  Geschichts- 
erkenntnisse) mit  anderen  geistigen  Personen  ein  gemein^ 
sames  Leben.  Es  gehört  vielmehr  zum  ewigen  ideellen 
Wesen  einer  vernünftigen  Person,  daß  ihr  ganzes  geistiges 
Sein  und  Tun  ebenso  ursprünglich  eine  selbstbewußte, 
eine  selbstverantwortliche  individuelle  Wirklichkeit  ist,  als 
auch  bewußte  mitverantwortiiche  Gliedwirklichkeit  in  einer 
Gemeinschaft.  Sein  des  Menschen  ist  ebenso  ursprüng- 
lich Fürsichsein  also  auch  Miteinandersein,  Miteinander- 
erleben  und  Miteinanderwirken.  Beachten  Sie,  daß  nicht 


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ICO         I^ic  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt. 

eine  feine  und  kleine  Differenz,  sondern  eine  unermeßliche 
Kluft  den  Sinn  unseres  oben  ausgesprochenen  Satzes  von 
dem  Sinne  des  Satzes  trennt,  den  ich  jetzt  ausspreche: 
,Die  faktischen  Menschen,  die  wir  irgendwie  durch  persön- 
liche Erfahrung  oder  durch  Dokumente  der  Geschichte 
kennen  lernten  oder  die  so  erkannt  sind,  lebten  zusammen 
in  einer  Gemeinschaft/  Der  erste  Satz  besagt  eine  ewige 
in  sich  völlig  geschlossene  Wesenswahrheit  und  -Notwen- 
digkeit. Der  zweite  Satz  drückt  eine  zufällige  Erfahrung 
aus,  die  wie  jede  so  geartete  Erfahrung  groß  und  klein 
sein  kann,  die  in  der  Geschichte  zu-  und  abnimmt  und  die 
sich  nie  abschließen  läßt.  Alles,  was  auf  sojch  zufälliger 
Erfahrung  beruht,  kann  auch  durch  neue  zufällige  Erfah- 
rung überwunden  werden.  Auch  die  logischen  Subjekte 
der  beiden  Sätze  haben  ganz  verschiedenen  Inhalt  und 
Umfang.  Der  erste  Satz  gilt  für  alle  möglichen  endlichen 
Geisteswesen,  z.  B.  auch  für  solche,  die  unshienieden  un- 
bekannt sind  (z.  B.  die  Schar  der  Engel)  oder  die  uns  jetzt 
verborgen  sind  wie  die  Seelen  der  Verstorbenen.  Sofern 
sie  sind  —  und  wir  glauben,  daß  sie  sind  — ,  leben  sie  in 
Gemeinschaft.  Aber  noch  weit  mehr:  Der  erste  Satz  ist 
wahr  und  der  zweite  ist,  streng  genommen,  grundfalsch. 
Es  ist  ja  gar  nicht  wahr,  daß  alle  wirklichen  historischen 
Menschen  in  Gemeinschaft  mit  Menschen  lebten.  Es  gibt 
auch  Robinsone;  es  gibt  Einsiedler,  Eremiten,  Eingänger, 
Einspänner  aller  Art.  Aber  gerade  der  Robinson  z.  B.  kann 
uns  klarmachen,  was  unser  Satz  besagt.  Unser  Satz  be- 
sagt, daß  das  Bewußtseinserlebnis  zu  einer  Gemeinschaft 
überhaupt  zu  , gehören*,  ein  ,Glied*  ihrer  zu  sein  auch  bei 
Robinson  —  ursprünglich,  und  zwar  genau  ebenso  ur- 
sprünglich vorhanden  war  wie  das  individuelle  Ich-  und 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwartige  Welt         151 

Selbstbewußtsein  Robinsons.  Er  besagt,  daß  dieses  Glied- 
schaftsbewußtsein also  zum  Wesen  auch  solcher  isoliert  le- 
bender Personen  gehört,  und  daß  die  geistige  Intention 
auf  Gemeinschaft  ganz  unabhängig  davon  besteht,  ob  sie 
auch  durch  die  zufällige  Sinneserfahrung  fremder  Men- 
schen, durch  ihren  Anblick  usw.,  und  wie  vieler  solcher 
Menschen  und  was  für  welcher,  Erfüllung  finde  oder  nicht. 
Auch  ein  fingiertes  geistigleibliches  Wesen,  das  nie  imd 
nirgends  seinesgleichen  sinnlich  wahrgenommen,  würde 
eben  durch  das  positive  Bewußtsein  des  UnerfuHtbleibens 
einer  ganzen  großen  Gruppe  von  geistigen,  zu  seiner 
Wesensnatur  gehörigen  Intentionen,  als  da  sind  Lieben 
und  alle  seine  Gruhdarten  (Gottesliebe,  Nächstenliebe 
usw.).  Mitfühlen,  Versprechen,  Bitten,  Danken,  Gehor- 
chen, Dienen,  Herrschen  usw.,  seiner  Gliedschaft  in  einer 
Gemeinschaft  und  seiner  Zugehörigkeit  zu  ihr  gewiß  wer- 
den. Ein  solches  fingiertes  Wesen  würde  also  nicht  sagen : 
,Ich  bin  allein.  Allein  im  unendlichen  Räume  und  unend- 
licher Zeit;  ich  bin  allein  auf  der  Welt  oder  allein  im  Sein 
überhaupt;  ich  gehöre  zu  keiner  Gemeinschaft*,  sondern 
es  würde  sich  nur  sagen:  ,Ich  kenne  die  faktische  Ge- 
meinschaft nicht,  zu  der  ich  mich  gehörig  weiß  —  ich  muß 
sie  suchen;  aber  ich  weiß,  daß  ich  zu  einer  gehöre.* 
Dies  —  nicht  die  dazu  noch  halbwahre  Plattheit,  daß  die 
Menschen  in  Völkern,  Staaten  usw.  zu  leben  pflegen,  be- 
deutet der  große  Satz  des  Stagiriten:  ^Ay^goTtog  fcöov 
noiaix6v\  Der  Mensch,  d.  h.  der  Träger  der  vernünftigen 
Seelenkraft,  ist  ein  Gemeinschaftswesen.  So  wahr  ich 
bin,  so  wahr  sind  wir,  oder  gehöre  ich  zu  einem  ,wir*. 
Wir  dürfen  aber  auch  sagen :  Der  Mensch  ist  als  gei- 
stiges Vemunftwesen  so,  wie  er  sich  von  Hause  aus  als 


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I  c  2         Die  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt 

Glied  einer  universalen  Gemeinschaft,  und  zwar  als  Glied 
einer  Gemeinschaft  mit  einem  imermeßlichen  Reiche  eben- 
solcher vernünftiger  Wesen  weiß,  auch  objektiv  auf 
solche  Gemeinschaft  und  solches  Reich  ursprünglich  hin- 
geordnet. Er  ist  es  geistig  also  nicht  minder  ursprünglich, 
als  er  es  als  leibliches  Lebewesen  schon  vermöge  seiner 
natürlichen  Herkunft  aus  dem  Leibe  der  Mutter,  somit 
auch  vermöge  der  Abhängigkeit  von  ihrer  Sorge  und  den 
dieser  Abhängigkeit  entsprechenden  Instinkten  der  sich 
ergänzenden  natürlichen  Mutter-  und  Kindesliebe,  sowie 
vermöge  der  Organe  ist,  die  ihn  aufs  andere  Geschlecht 
hinordnen  (und  dem  dieser  Einrichtung  entsprechenden 
Geschlechtsinstinkt).  Nicht  aber  etwa  ist  die  geistige  ver- 
nünftige Gemeinschaft  nur  eine  nachträgliche  Entwick- 
lungsfolge dieser  nur  rein  natürlichen  Vitalgemeinschaft. 
Der  Mensch  wird  nicht  etwa  notwendig  um  so  einsamer, 
je  mehr  er  geistig  lebt.  Auch  solche  Denker  irrten  schwer, 
die  annahmen,  alle  Menschengemeinschaft  ,entwickle^ 
sich  erst  aus  jener  natürlichen  Lebensgemeinschaft,  die 
sich  in  Form  sog.  Tiergesellschaften  schon  in  der  unter- 
menschlichen Natur  findet,  oder  sie  ließe  sich  aus  ihr  her- 
leiten; die  demgemäß  auch  alle  Arten  von  geistiger  Liebe, 
Opfer,  Pflichtbewußtsein,  Gewissen,  Reue  als  bloße  Ver- 
feinerungen und  Entwicklungsformen  der  schon  die  tie- 
rische Herde  zusammenhaltenden  Seelenkräfte  verstehen 
wollten  (Darwin,  Spencer). 

Des  Menschen  Geistes-  und  Persongemeinschaft  ist  viel 
mehr  eigenen  und  höheren  Rechts  und  eigenen  und  zwar 
höheren  Ursprungs  als  diese  ,Lebensgemeinschaft'.  Sie  ist 
götdich  geistigen  Ursprungs  wie  götdich  sanktionierten 
Rechtes. 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         153 

Das  wird  sofort  von  größter  Bedeutung,  wenn  wir  zu 
imserem  ersten  Satze  dnen  zweiten  hinzufügen.  Ver- 
möge jenes  mit  dem  individuellen  Selbstbewußtsein  gleich- 
ursprünglichen  und  mit  ihm  wesensnotwendig  zusammen- 
hängenden Glied-  und  Organbewußtseins  in  einer  unabseh- 
baren universalen  Gemeinschaft  geistiger  Naturen,  liegt 
im  Kerne  imserer  Seelen  eine  notwendige  Forderung  und 
ein  schrankenloses  geistiges  Drängen,  in  Gedanken  und 
in  geistigem  Liebesverlangen  nicht  nur  über  unser  ein- 
sames nacktes  Ich,  sondern  auch  über  jede  der  bloß  je 
historisch  faktischen  und  sinnlich  sichtbaren  Gemeinschaf- 
ten, denen  wir  angehören,  hinauszugehen  und  hinauszu- 
verlangen;  d.  h.  aber  auch  ein  vemunftbestimmtes  Drän- 
gen, auch  jede  dieser  faktischen  Gemeinschaften  von 
geistigen  Personen  selbst  wieder  als  ,Organ*  einer  noch 
weiteren,  imifassenderen  und  höheren  geistigen  Gemein- 
schaft zu  betrachten.  Es  ist  Nichts  imserer  Vernunft, 
Nichts  imserem  Herzen  klarer  und  gewisser,  als  daß  uns 
keine  einzige  dieser  faktischen  irdischen  Gemeinschaften 
(Familie,  Gemeinde,  Staat,  Nation,  Freundschaft  usw.) 
auch  in  keinem  Grade  ihrer  möglichen  historischen  Ver- 
vollkommnung je  ganz  genügen  und  unsere  Vernunft  und 
unser  Herz  vollkommen  befriedigen  würde^Und  da  nun 
alle  Gemeinschaften  dieser  Art  nicht  nur  geistige  Ge- 
meinschaften sind,  sondern  auch  Persongemeinschaften, 
so  findet  dieses  im  Prinzip  unendliche  Drängen  und  diese 
Vemunftforderung  nach  immer  reicherer,  umfassenderer 
und  höherer  Gemeinschaft  nur  in  einer  Idee  ihren  mög- 
lichen Abschluß  und  ihr  vollkommenes  Genügen:  In  der 
Idee  einer  Liebes-  und  Geistesgemeinschaft  mit  einer 
unendlichen  geistigen  Person,  die  zugleich  der  Ursprung, 


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I  ^^         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

der  Stifter  und  der  Oberherr  aller  möglichen  geistigen 
Gemeinschaften,  wie  auch  aller  Irdischen  und  faktischen 
ist.  Wie  überhaupt  gewisse  Liebesarten  im  Wesen  unse- 
rer geistigen  Existenz  selbst  angelegt  sind  —  Arten,  die 
sich  nicht  erst  durch  zufällige  Erfahrung  der  zu  ihnen 
gehörigen  Gegenstände  differenzieren,  sondern  von  Hause 
aus  schon  differenziert  sind  als  Erfüllung  fordernde  Be- 
wegungen und  Akte  des  Gemütes  —  als  da  sind  z.  B. 
Kindesliebe,  Elternliebe,  Heimadiebe,  Vaterlandsliebe, 
so  gibt  es  auch  eine  höchste  Liebesart,  die  Gottes- 
liebe, die  wir  schon  erleben  und  besitzen,  ehe  wir  eine 
genaue  Verstandsidee  vom  höchsten  Wesen  besitzen. 
Darum  kann  Pascal  von  Gott  sagen :  ,Ich  würde  Dich  nicht 
suchen,  wenn  ich  Dich  nicht  schon  gefunden  hätte/  Unser 
Herz  und  unsere  Vernunft  sind  sich  gleich  klar  und  ge- 
wiß, daß  nur  diese  höchste  abschließende  Vernunft-  und 
Liebesgemeinschaft  mit  Gott  ihre  Intentionen  voll  zu  er- 
füllen und  sie  voll  zu  befriedigen  vermag;  und  daß  wir 
die  Gemeinschaften,  in  die  wir  uns  einbezogen  wissen, 
erst  dann  im  rechten  und  wahren  Lichte  zu  schauen  und 
zu  denken  vermögen,  wenn  wir  sie  gewahren  gleichsam 
auf  dem  göttlichen  Hintergrunde  dieser  höchsten  und 
abschließenden  Gemeinschaft  aller  geistigen  Naturen;  und 
wenn  wir  sie  gewahren  aus  der  Lichtfülle  heraus,  die  diese 
Gemeinschaft  allein  verleiht:  Aus  dem  Lichte  der  Gemein- 
schaft mit  dem  persönlichen  Gott.  Hier  erst  ruht,  wird 
still  und  friedereich  das  unendliche  Drängen  und  der  not- 
wendige unendliche  Gedankenfortschritt  über  alle  end- 
lichen sichtbaren  Gemeinschaften  hinaus:  ,Inquietum  cor 
nostrum,  donec  requiescat  in  te^/  In  Ihm  und  durch  Ihn 

^  Augustinus:  Confessiones. 


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Die  chnstliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         i  c  c 

sind  wir  wahrhaftig  geistig  auch  erst  unter  uns  verbunden. 
Dies  eben  meint  das  ,vomehmste^  und  ,größte*  Gebot 
(Markus  12,  30 — 31),  Selbstheiligung  und  Nächstenliebe 
in  die  gemeinsame  Wurzel  der  Gottesliebe  einsenkend. 
Es  gibt  sehr  verschiedene  und  vielartige  natürliche  Ek-- 
weisarten  von  Gottes  Existenz.  Jeder  Faden,  den  wir  aus 
dieser  Schöpfung  herausnehmen  —  sei  es  aus  Seele,  Natur, 
Geschichte,  Gewissen,  Vernunft,  .führt  auf  Gott  zurück,^ 
wenn  wir  ihn  nach  -dem  Gesetze  des  uns  bekannten  end- 
lichen Stückes  bis  ins  Unendliche  ausgezogen  denken. 
Alle  Fäden  treffen  sich  zugleich  in  Ihm.  Hier  möchte  ich 
darauf  aufmerksam  machen,  daß  es  auch  einen,  heute  viel- 
leicht etwas  zu  sehr  vernachlässigten  selbständigen  und 
ursprünglichen  Erweis  des  höchsten  Wesens  gibt,  der  aus- 
schließlich aus  der  Idee  einer  möglichen  Gemeinschaft 
persönlicher  geistiger  Wesen  geschöpft  ist.  Dieser  »sozio- 
logische« Gotteserweis  trifft  mit  dem  Ziel  aller  übrigen 
wohl  zusammen,  stützt  sich  aber  nicht  logisch  auf  sie. 

Sagt  uns  also  schon  das  natürliche  Licht  des  Geistes, 
daß  alle  Gemeinschaft  (also  auch  alle  irdische  Gemein- 
schaft) in  Gott  direkt  oder  indirekt  gegründet  ist,  und  daß 
jede  rechtmäßige  Gemeinschaft  in  Gott  ihren  direkten  oder 
indirekten,  d.  h.  durch  geschöpfliche  Ursachen  vermittel- 
ten Ursprung,  -ihren  höchsten  Gesetzgeber,  Richter  und 
obersten  Haushalter  und  Verwalter  besitzt,  so  sagt  uns  das- 
selbe Licht  auch  gleich  noch  das  Folgende:  Daß  nicht  aus- 
schließlich jede  individuelle  Person  nur  für  sich  allein  imd 
nur  vor  ihrem  eigenen  Gewissen  und  mit  ihrem  eigenen 
Gewissen  ihrem  Schöpfer  und  Herrn  für  ihr  eigenes  Sein 
und  Tun  verantwortiich  ist,  sondern  daß  sowohl  das  In- 
dividuum wie  jede  engere  Gemeinschaft  ebenso  ursprüng- 


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I  c6         Die  christliche  Liebesidee  ond  die  gegenwärtige  Welt. 

lieh  wie  sie  selbstverantwortlich  ist  in  ihrer  notwendigen 
Eigenschaft  als  ,Gliecl*  von  Gemeinschaften,  vor  Gott  alles 
mitzuverantworten  haben,  was  das  Ergehen  und  Verhalten 
der  je  umfassenden  Gemeinschaft  in  geistiger  und  mora- 
lischer Hinsicht  betrifft.  Das  ist  der  dritte  Grundsatz  der 
Gemeinschaftslehre.  Denn  wenn  Gemeinschaft  nicht  ein  je 
historisch  zufälliges  irdisches,  etwa  auf  bloßen  klugen, 
willkürlichen,  von  Menschen  gemachten  Verträgen  be- 
ruhendes Zusammenwirken  einer  Gruppe  verständiger 
Leiber  ist,  sondern  wenn  Gemeinschaft  notwendig  hervor- 
geht aus  dem  Entwürfe  und  dem  göttlichen  Wesens- 
bildwerke eines  vernünftigenGeistes  und  Herzens 
selbst,  wenn  sie  in  der  ganzen  Spannweite  ihrer  hödisten 
Idee  das  Übersinnliche,  ja  sogar  dessen  höchsten  Herrn  und 
das  Zentrum  aller  Dinge  von  Hause  aus  mitumfaßt,  imd 
wenn  durch  dieses  götdiche  Zentrum  erst  die  Möglichkeit 
imd  wahre  Verbindlichkeit  gegenseitiger  Versprechungen 
und  Verträge  gewährleistet  ist,  —  so  müssen  wir  auch  von 
Hause  aus  gegenseitig  für  einander  und  nicht  nur  jeder 
für  sich  (obgleich  dies  auch!)  verantwortlich  sein.  Es  ist 
also  Jeglicher  auch  flir  die  Gesamtschuld  und  das  Gesamt- 
verdienst mitverantwortlich,  die  seiner  Gemeinschaft  als 
einer  Einheit  und  Ganzheit  und  nicht  als  einer  ,Summe' 
derjenigen  Individuen  zukommen,  die  ihre , Glieder^  heißen. 
Sie  ersehen  daraus,  wie  grundverkehrt  jene  Lehre  ist 
(Epikur  hat  sie  zuerst  im  Altertum  aufgestellt,  später 
wurde  sie  die  Grundlage  aller  sog.  liberalen  Gemeinschafts- 
lehren bis  zu  Kant),  die  Wesen  und  Dasein  menschlicher 
Gemeinschaft  auf  menschliche  Verträge  aufbauen  will,  sei 
es,  daß  man  der  Gemeinschaft  schon  einen  Ursprung  aus 
Verträgen  erteilt,  sei  es,  daß  man  bloß  behauptet,  es 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         icy 

müsse  die  Struktur  jeder  Gemeinschaft,  um  ihre  Recht- 
mäßigkeit zu  entscheiden,  so  angesehen  werden,  ,als  ob* 
sie  auf  Verträgen  beruhe.  Denn  jeder  Vertrag  setzt  immer 
schon  als  gemeinsames  Maß  über  den  vertragschließenden 
Menschen  ein  Drittes  voraus,  nach  dem  der  Vertrag  ver- 
bindlich ist  oder  nicht;  und  schon  die  rechtmäßige  An- 
nahme eines  Versprechens  seitens  des  Versprechensemp- 
fängers setzt  die  Mitverantwortlichkeit  dieses  Empfängers 
für  die  Rechtmäßigkeit  des  von  ihm  anzunehmenden  Ver- 
sprechens voraus. 

Dieses  dritte  große  moralische  und  religiöse  Prinzip 
heißt  das  der  moralisch-religiösen  Gegenseitigkeit  oder 
der  sittlichen  Solidarität.  Es  besagt  nicht  das  für  jede 
Weltanschauung  Selbstverständliche,  daß  wir  da  oder  nur 
da  mitzuverafctworten  haben,  wo  wir  bewußt  eine  be- 
stinunte  Verpflichtung  auf  uns  genommen  oder  genau 
wissen  und  positive  Kunde  haben,  daß  wir  bei  einer  Sache 
bewußter  Mittäter  und  Mitwirker  waren.  Es  besagt  auch 
nicht  nur,  daß  wir  gut  daran  tun  uns  angesichts  fremder 
Schuld,  anstatt  diese  zu  verurteilen,  mehr  der  eigenen 
Schuld  zu  erinnern.  Es  besagt  vielmehr,  daß  wir  uns  wahr- 
haftig bei  aller  Schuld  mitschuldig  fühlen  sollen.  Es  besagt 
also,  daß  wir  ganz  ursprünglich  und  von  Hause  aus  — 
auch  da,  wo  uns  Maß  und  Größe  unserer  faktischen  Mit- 
wirkung nicht  sichtlich  vor  Augen  stehen,  vor  dem  leben- 
digen Gott  alles  Steigen  und  Sinken  des  moralischen  und 
religiösen  Zustandes  der  Gesamtheit  der  sittlichen  Welt 
als  einer  in  sich  solidarischen  Einheit  mitzuverantworten 
haben^.  Das  jeweilige  genaue  oder  weniger  genaue  Wissen 

'  Nur  das  Maß  dieser  Mitverantwortlichkeit  bestimmt  sich  nach  der  je 
führenden  oder  dienenden  Stellung,  die  wir  im  Ganzen  der  betreffenden 
Gemeinschaft  einnehmen. 


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158         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

um  die  Mitwirkung,  um  ihre  Art,  Größe  usw.  zeigt  unserer 
ursprünglich  sich  mitverantwortlich  wissenden  Seele  wohl 
die  Richtung,  wo  und  woran  wir  mitverantwortlich  zu  sein 
auch  sicher  urteilen  dürfen.  Aber  dieses  Wissen  schafft 
durchaus  nicht  erst  diese  Mitverantwortlichkeit  als 
Qualität  unserer  Person.  Dieses  Wissen  könnte  uns 
auch  bei  der  unendlich  komplizierten  Verwobenheit  aller 
gegenseitigen  moralischen  und  religiösen  Einwirkungen  der 
Menschen  und  der  Seelen  aufeinander,  niemals  die  ganze 
Fülle  dessen,  was  auf  indirektem  Wege  unser  Verhalten 
mitverschuldet  oder  mitverdient  hat,  vor  das  geistige 
Auge  bringen.  Es  gibt  keine  noch  so  kleine  moralische 
Regung,  die  nicht  wie  der  Steih,  der  ins  Wasser  fällt, 
unendliche  Kreise  um  sich  zöge  —  und  auch  diese  Kreise 
werden  nur  fiir  das  rohe,  unbewaffnete  Aiige  schließlich 
unsichtbar.  Schon  der  Physiker  kann  sie  viel  weiter  ver- 
folgen —  und  wie  weit  erst  vermag  es  der  allwissende 
Gott!  Die  Liebe  des  A  zu  B  erweckt  nicht  nur  —  wenn 
kein  hemmender  Grund  vorliegt —  Gegenliebe  bei  B  zu  A, 
sondern  läßt  auch  im  Herzen  des  gegenliebenden  B  not- 
wendig die  Tendenz  an  erwärmender,  lebenweckender  Lie- 
beskraft überhaupt,  also  auch  seine  Liebe  zu  C  und  D 
natürlich  wachsen;  und  so  geht  der  Strom  im  moralischen 
Universum  weiter  von  C  zu  D  zu  E  und  F  —  ins  Unend- 
liche. Und  dasselbe  gilt  für  Haß,  Ungerechtigkeit,  Un- 
keuschheit  und  jede  Art  von  Sünde.  Jeder  von  uns  war  bei 
einer  unermeßlichen  Fülle  von  guten  wie  schlimmen  Din- 
gen mittätig,  von  denen  er  keine  Ahnung  hat,  ja  haben 
kann  imd  für  die  er  gleichwohl  vor  Gott  die  Mitverant- 
wortung trägt.  ,Mir  aber  ist's  ein  Geringes,  daß  ich  von 
euch  gerichtet  werde  oder  von  einem  menschlichen  Tage, 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt  i  cg 

auch  richte  ich  mich  selbst  nicht.  Denn  ich  bin  mir  nichts 
bewußt;  aber  darinnen  bin  ich  nicht  gerechtfertigt;  der 
Herr  ist's  aber,  der  mich  richtet*,  spricht  der  hl.  Paulus 
(i.  Kor.  4,  3—4). 

Aber  auch  die  zentralsten  Grundgedanken  des  christ- 
lichen Glaubens  setzen  dieses  schon  der  natürlichen  Ver- 
nimft  angehörige  Prinzip  voraus,  so  der  Gedanke  einer  all- 
verbindlichen, katholischen,  einheitlichen,  christlichen  Kir- 
chenanstalt, der  Gedanke,  daß  alle  Menschen  zusammen 
»in«  Adam  sündigten  und  fielen  und  alle  zusammen  in 
Christo  auferstanden;  daß  es  Avahre  Erbschuld,  nicht  nur 
schlechte,  untüchtige  Erbanlagen  gibt,  die  Corpus  Christi- 
lehre, ein  Grundpfeiler  der  hl.  Messe  wie  der  Lehre  von 
der  Kirche,  das  stellvertretende  Opferleiden,  die  Fürbitte, 
der  Ablaß  und  noch  —  sehr  viel  anderes. 

Ich  halte  es  fiir  einen  Grundmangel  des  außerchristlichen 
modernen  Ethos  und  der  ihm  entsprechenden  philosophi- . 
sehen  Ethik,  daß  ihnen  im  Laufe  der  Entfaltung  des  mo- 
dernen Individualismus,  des  eng  zu  ihm  gehörigen  ab- 
soluten Staates,  des  Nationalismus  und  der  freien  Kon- 
kurrenzwirtschaft das  erhabene  Prinzip  der  Solidarität 
schon  in  seinen  Vemunftwurzeln,  im  Fühlen,  Wollen  und 
der  Theorie  langsam  abhanden  gekommen  ist;  daß  man 
z.  B.  mit  Marx  und  Hegel  entweder  nur  kennt  einen 
Götzen  und  Leviathan  von  Staat,  Nation  oder  sog.  Ge- 
sellschaft, die  die  gottgeschaffene  Persönlichkeit,  die  Fa- 
milie und  ihre  gottgegebenen  Rechte  z.  B.  das  der  Kinder- 
erziehung, desgleichen  die  Idee  des  Standes  in  das  Meer 
ihrer  irdischen  Zweckgeflige  hineintrinken,  ja  daß  man 
dann  sogar  nur  folgerichtig  die  substanzielle  Existenz  der 
persönlichen  Seele  leugnet;  oder  aber  das  andere  Extrem 


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1 6o        I^ic  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt. 

nur  kennt,  jene  berühmte  ,einsame  Seele  und  ihren  Gott*, 
die  vermeint  ihr  und  der  Welt  Heil  gewinnen  zu  können, 
sei  es  nur  durch  den  Glauben  (sola  fides)  oder  durch  einsame 
mystische  Schau,  oder  Heil  zu  erreichen  auf  einem  anderen 
die  Liebe  zum  Heile  des  Bruders  nicht  notwendigmit  ein- 
schließenden Weg;  also  ohne  den  ursprünglich  gottgewie- 
senen Weg  zu  diesem  Heile  zu  gehen  über  das  Mitein- 
anderdenken,  Miteinanderglauben,  Miteinanderhoffen,  Mit- 
einanderlieben,  Miteinandersichdienen  und  Miteinanderver- 
antworten  im  Geistesbaue  einer  echten  Gemeinschaft.  Erst 
die  Preisgabe  dieses  großen  Prinzips  ursprünglicher  Gegeh- 
seitigkeit  hat  auch  die  richtige  Idee  von  der  Kirche  zu  Be- 
ginn der  protestantischen  Bewegungen  entwurzelt.  Ich  sehe 
daher  eine  unserer  wesentlichsten  Missionen  für  die  Zu- 
kunft darin,  daß  wir  dieses  erhabene  Prinzip  nach  Kräften 
sowohl  immer  schärfer  begründen  und  geistig  verbreiten, 
als  daß  wir  seine,  je  besonderen  Folgen  für  alle  Arten 
menschlicher  Gemeinschaftsverhältnisse  (besonders  im  Hin- 
blick auf  die  heutigen)  studieren,  und  es  praktisch  in  eine 
ihm  fast  völlig  entfremdete  Welt  wieder  einbauen.  — 

III.  Das  Verhältnis  der  christlichen  Gemeinschafts- 
idee zum  gegenwärtigen  Zeitalter. 

Was  uns  nun  aber  auch  zu  einer  gewissen  Hoffnung  be- 
rechtigt, daß  dies  geschehen  könne,  ist  vor  allem  eine  Tat- 
sache, in  deren  Anerkennung  heute  die  Vertreter  des  Chri- 
stentums mit  den  hervorragendsten  Vertretern  anderer 
Weltanschauungen  sich  einig  wissen.  Wir  fühlen  nämlich 
alle,  daß  wir  am  Beginne  eines  historischen  Weltalters  ste- 
hen, das  gegenüber  dem  vorwiegend  kritischen  und  indivi- 
dualistischen, alle  irdischen  Kräfte  des  Menschen  und  der 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegjenwärtige  Welt.         1 6 1 

Natur  bis  zur  äußersten  Leistung  entbindenden  Zeitalter 
der  sog.  Neuzeit  als  ein  positives,  gläubiges  Zeitalter 
bezeichnet  werden  darf;  gleichzeitig  aber  als  ein  auf  Ge- 
meinschaft gerichtetes,  die  zuvor  nur  entbundenen  Kräfte 
geistig  meisterndes,  darum  auch  ,organisatorisches*  Zeit- 
alter. Ein  Zeitalter  scheint  sich  uns  zu  nahen,  in  dem  vom 
Geiste  des  Menschen  diejenigen  Kräfte  wieder  kühn  und 
gläubig  in  die  Hand  genommen  werden,  die  sich  von  den 
zentralen  Mächten  des  menschlichen  Willens  und  Geistes 
freigemacht  hatten,  und  die  das  menschliche  Leben  gleich- 
sam schicksalsmäßig  und  automatisch  bestimmten,  wie  z.  B. 
die  Kräfte  der  sachlichen  Wirtschaftsprozesse,  des  bloßen 
isolierten  rationellen  Erwerbsgeistes,  der  Maschinentech- 
nik, des  sich  ansammelnden,  von  keinem  Kopf  mehr  be- 
herrschbaren Einzelwissens,  damit  mit  ihnen  der  mensch- 
liche Geist  ein  neues,  dauerndes  Wohnhaus  der  niensch- 
lichen  Gesellschaft  aufrichte.  Dieser  allgemeine  Glaube 
wurde  und  wird  geteilt  von  so  entgegengesetzten  Gei- 
stern, wie  Auguste  Comte,  Josef  de  Maistre,  St.  Simon, 
Fourier  in  Frankreich,  in  Deutschland  von  dem  unvergeß- 
lichen Adam  Müller,  Rodbertus,  der  gesamten  Schule  der 
historischen  und  sogenannten  kathedersozialistischen  Na- 
tionalökonomie (A.  Wagner),  vor  allem  aber  von  dem 
christlichen  und  dem  außerchrisdichen  Sozialismus  aller 
Arten  und  Grade.  Der  Gedanke  ist  in  dieser  Allgemein- 
heit das  Programm  aller  Vernünftigen  der  heutigen  Welt. 
Die  europäische  Anarchie  dieses  Krieges,  die  allmählich 
reifende  Einsicht  in  seine  letzten  treibenden  Kräfte  wird 
aber  in  Zukunft  diesen  Glauben  in  noch  weit  höherem 
Maße  entwickeln,  und  wird  ihn  nach  Abschluß  des  Krieges 
ganz  Europa  als  eine  noch  gesteigerte,  gewältig  aufmun- 
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1 6  2         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

temde  und  neuschafiende  Lebensmacht  einsenken.  Aber 
nicht  nur  in  dieser  negativen  Richtung  der  Zersetzung 
falscher  Lehren  wird  der  Krieg  auf  eine  Wiedergewin- 
nung des  christlichen  Gegenseitigkeitsgedankens  hinwir- 
ken: Auch  in  der  positiven  Richtung,  daß  das  innerhalb 
der  Völker  im  engsten  Zusammenhang  mit  den  notwendig 
gewordenen  sogenannten  Kriegsorganisationen  entstan- 
dene Gefühl  und  Bewußtsein  der  Stellvertretung  in 
Arbeit,  Verantwortung,  Leiden,  Tod,  Opfer  jeder  Art 
sich  von  diesem  seinem  Quellpunkte  aus  —  dem  Krieg 
—  hinausschwingen  wird  über  die  Landesgrenzen,  nicht 
nur  zur  Wiedergewinnung  eines  Systemes  der  europä- 
ischen Vereinbarung  zunächst  in  kolonialpolitischen  Fra- 
gen, d.  h.  zu  einer  wenigstens  in  diesem  Punkte  ^stattfin- 
denden Solidarität  der  europäischen  Staaten,  son- 
dern —  was  weit  wichtiger  ist  —r  sich  auch  hinausschwin- 
gen wird  von  dem  einseitig  kriegsbezogenen  Punkte  der 
Seele,  in  dem  es  entsprang,  zu  einer  sitdichen  Grundhal- 
tung des  ganzen  volltätigen  Menschen.  Es  steht  dabei 
glücklicherweise  nicht  so,  daß  das  Solidaritätsprinzip  als 
wechselseitiges  Mitverantwortlichkeitsgefühl  für  das  rechte 
Zusammenwirken  bei  irgendeinem  Werke  ausschließlich 
nur  mehr  in  der  christlichen  Tradition  vorfindbar  wäre. 
Die  zuerst  aus  rein  technischen  Gründen,  vor  allem  in  der 
modernen  ökonomischen  Bewegung  notwendig  gewor- 
dene Kooperation  der  Menschen  in  der  Fabrik,  an  der 
Maschine,  in  der  so  unendlich  arbeitsteüigen  Wissenschaft, 
ja  in  jeder  Art  von  arbeitsteiligem  Großbetriebe  —  so» 
wohl  bei  Unternehmern  als  bei  Arbeitern  —  hatte  schon 
lange  vor  dem  Kriege  zuerst  nur  das  Bewußtsein  der  je 
gemeinsamen   Interessen  der  Zusammenarbeitenden, 


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Die  duistliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         163 

aber  allmählich  doch  auch  das  hinter  allen  bloßen  In- 
teressen* gelegene  sittliche  Verantwordichkeitsgefiihl 
ergriffen  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ausgebildet. 
So  gebaren  technisch  einheidiche  Arbeitsgruppen  zu- 
erst Interessenverbände.  Diese  aber  entfalteten  doch  all- 
mählich auch  leise  Anfänge  eines  Standesbewußt- 
seins. Ein  Streikbrecher  z.  B.  —  ein  Streik  ohne  Ver-  . 
tragsbruch  kann  ja  wohl  berechtigt  sein  —  oder  der  Außen- 
seiter eines  zunächst  nur  aus  gemeinsamen  Erwerbszwek- 
ken  zustandegekommenen  Syndikates  gilt  den  an  den  be- 
treffenden Wirtschaftsverbänden  Beteiligten  nicht  nur  als 
ein  Tor,  der  sein  und  seiner  Klasse  Interesse  nicht  be- 
greift. Er  gilt  besonders  in  den  Arbeiterverbänden  der 
Berufs-  und  anderen  Gewerkschaften  auch  als  ein  mo- 
ralisch fragwürdiger  Verräter,  als  ein  Mensch  also,  der 
auch  im  Falle  daß  er  sein  Interesse  durch  den  Streik- 
bruch richtig  und  verständig  wahrnimmt,  dies  doch  um 
seiner  Brüder  willen  moralisch  nicht  dürfte  und  sollte. 
In  solchen  Fällen  also  sehen  wir  ein  leises  Neuaufquellen 
des  Solidaritätsprinzips  —  unabhängig  von  der  christ- 
lichen Tradition  und  aus  den  inneren  Kräften  der  moder- 
nen Entwicklung  selbst  neu  hervorbrechend.  Wir  gewah- 
ren die  Umbildung  eines  Interesses  zu  einem  Ethos,  bloßer 
gemeinsamer  ökonomischer  Interessen-  oder  Klassenver- 
bände zu  einem  Standesbewußtsein,  Standesgewissen 
und  Standesverband.  Aber  darum  handelt  es  sich  nun, 
daß  diese  beiden  Quellströme  der  Wiederkehr  des  So- 
lidaritätsprinzips in  die  europäischen  Herzen  imd  Ge- 
wissen, der  Strom  von  oben  und  der  Strom  von  unten, 
der  traditionelle  christlichkatholische  Solidaritätsgedanke 
—  denn  gerade  diesen  Teil  des  christlichen  Ethos  hatte 
II» 

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1 64         ^^^  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

der  Protestantismus  am  allermeisten  fallen  gelassen  — 
und  der  moderne  sich  mühsam  an  den  Interessengemein- 
samkeiten emporarbeitende  Strom  so  zueinander  hingelei- 
tet werden,  daß  sie  sich  fruchtbar  treffen ;  daß  der  von  unten 
kommende  Strom,  der  die  Lebendigkeit  der  Gegen- 
wart für  sich  hat,  aber  dafür  in  den  bloßen  Erwerbs-  und 
Wohlfahrtsinteressen  noch  eingebettet  und  wie  von  ihnen 
umklammert  ist,  sich  durch  den  von  oben,  von  Gott  und 
aus  der  Geschichte  der  Kirche  quellenden  Strom  zu  einer 
einzigen  moralischen  Macht  hinaufkläre,  d.h.  zu  einer 
Macht  der  freien  Liebe  und  der  freien  Verpflichtung,  die 
auch  unabhängig  von  bloßer  Interessengemeinschaft  das 
Ganze  der  beteiligten  Menschen  umfaßt.  Auch  der  christ- 
lichkirchliche Gegenseitigkeitsgedanke  kann  ohne  irgend- 
welche Veränderung  seines  klaren,  fqsten  Gehaltes  durch 
die  Berührung  dieses  Alten  und  Neuen  nur  gewinnen. 
Er  kann  es  in  dem  Sinne,  daß  die  Gefahr,  in  der  er  schwebte 
und  schwebt,  nur  ein  Gedanke  fiir  den  Sonntag  zu  sein 
und  zu  sehr  nur  in  den  Glaubensformeln,. nicht  aber  in 
dem  immer  tätigen  lebendigen  Glauben  des  Herzens  zu 
feben,  vermindert  wird;  daß  er  sich  mit  Tat  und  Arbeit 
des  Tages  verbinde  und  so  die  Kirche,  die  auf  diesem 
Gedanken  mitaufgebaut  ist,  und  das  Leben  des  Volkes 
in  den  Völkern  in  eine  innigere  Berührung  setze. 

Aber  nicht  nur  dies:  Von  gleicher  Wichtigkeit  ist  auch, 
daß  die  gewaltige  Organisationsperiode,  vor  der  wir  stehen 
und  für  Weren  Entbindung  man  nicht  mit  Unrecht  den 
mitteleuropäischen  Mächten  eine  besondere  und  über- 
ragende in  ihrer  Geschichte  wurzelnde  Rolle  zuschreibt, 
in  eine  Richtung  geleitet  werde,  die  nicht  nur  Platz  findet 
innerhalb  des  Gefiiges  der  christlichen  Gesellschaftsan- 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         165 

schaining  und  Sittenlehre,  sondern  von  ihr  auch  wahrhaft 
mit  geleitet  und  bestimmt  ist. 

Die  moderne  Staats-  und  Gesellschaftsentwicklung  des 
einseitig  kritischen  und  kraftentbindenden  Zeitalters  hat 
sowohl  auf  dem  Boden  der  Staatsverfassung  und  Staats- 
aufiassung  als  auf  dem  Boden  des  Wirtschaftsgeistes  und 
der  Wirtschaftssysteme,  als  auf  dem  Boden  der  Verhält- 
nisse der  Staaten  zueinander  zu  je  zwei  entgegengesetzt 
gerichteten,  dauernd  miteinander  im  Kampfe  liegenden 
Prinzipien  und  Idealen  geführt,  die  beide  in  gleichem 
Maße  dem  Geiste  der  christlichen  Gemeinschaft  inner- 
lichst zuwider  sind. 

Auf  dem  Boden  der  Staatsaufiassung  lauten  diese  Prin- 
zipien: Absoluter,  streng  zentralistischer,  ,souveräner*, 
d.  h.  von  keiner  Macht  auf  Erden  als  seinem  eigenen  sou- 
veränen Willen  abhängiger,  ausschließlich  rechtsetzender 
Fürstenstaat,  der  sukzessive  (zuerst  in  Frankreich)  mit 
der  trügerischen  Unterstellung,  daß  alle  Korporations- 
rechte ursprünglich  aus  ihm  allein  stammten,  alle  in  ihm 
beschlossenen  älteren  Sondergemeinschaften  (des  Adels, 
der,  Geistlichkeit,  der  Klöster,  der  städtischen  und  son- 
stigen Korporationen  bis  zur  Familie)  ihrer  überlieferten 
eigenen  Rechte  und  ihrer  Eigentümer  beraubte;  solange 
beraubte,  bis  eine  fast  vollständige  rechdiche  Gleichheit 
aller  einzelnen  Staatsuntertanen  vordem  Staat  eingetreten 
ist:  oder  als  Gegenideal  hiezu  die  nicht  minder  souveräne 
Herrschaft  des  sogenannten  Volks  willens  (volont^e  g6- 
n^rale),  und  d.  h.,  da  der  sogenannte  Volkswille  nie  völlig 
in  sich  einig  ist,  Mehrheitsherrschaft  der  Staatsbürger 
(Majoritätsprinzip,  Rousseau). 

Auf  dem  Boden  der  Wirtschaftssysteme  lauten  sie: 


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1 66         I^ie  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

Schlechthin  freie  Konkurrenz, aller  ökonomisch  nur  ihrer 
Selbstsucht  gehorchenden  Individuen  und  Gruppensub- 
jekte —  oder  als  Gegenideal  zwangsmäßiger  Staats- 
sozialismus, der  immer  mehr  die  früher  freie  ungebimdene 
Unternehmung,  den  zu  ihr  nötigen  Boden  und  die  dazu 
gehörigen  Produktionsmittel  in  Staatseigentum  und  Staats- 
verwaltung überfuhrt,  um  dann  den  Gesamtertrag  der 
Staatswirtschaft  nach  irgendeinem  künstlichen  Maßstab 
zu  verteilen.  Auf  dem  Boden  der  Verhältnisse  der  Staaten 
zueinander  lauten  die  analogen  Gegensätze:  absolut  sou- 
veräner, möglichst  nationaleinheitlicher  Macht-  und  Kul- 
turstaat, der  keine  moralischen  Grenzen  seines  Umsich- 
greifens besitzt  als  den  Machtwillen  eines  anderen  eben- 
solchen Staates,  oder  internationale,  auf  Klassenherr- 
schaft aufgebaute,  soziale,  möglichst  einheitliche  Welt- 
republik. Auf  dem  Boden  der  Kultur  endlich  lauten  sie : 
Reflektierte  Nationalkultur  oder  Weltkultur. 

Warum,  aus  welchem  tiefsten  Grunde  widerstreijg^diese 
drei  Idealpaare,  also  sowohl  Ideale  als  ihre  Gegen- 
ideale, dem  innersten  Kerne  der  christlichen  Gemeinschafts- 
auffassung.? Und  welche  radikal  verschiedene  Grund- 
auffassung setzt  diese  ihnen  entgegen.?  Sie  widerstreiten 
ihnen,  weil  sie  allesamt  in  gleichem  Maße,  wenn  auch  in 
entgegengesetzter  Richtung  sowohl  das  oben  bestimmte, 
richtig  verstandene  Solidaritätsprinzip  verleugnen  als 
das  eng  mit  ihm  zusammengehörige  Prinzip,  daß  jedes 
Individuum  wie  jede  sociale  Untereinheit  (Familie,  Ge- 
meinde, Staat  usw.)  ebensowohl  in  einem  gewissen  Um- 
kreise ein  selbständiges  Herrschafts-  und  Rechtssub- 
jekt eigenen  ursprünglichen  Rechts  sein  soll,  als  es  auch 
freier  Diener  und  Träger  sein  soll  von  festumschriebenen, 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         167 

den  Rechten  entsprechenden  Pflichten,  nämlich  als  ölied 
einer  je  umfassenden  sozialen  Einheit:  Jeder  Herr,  Jeder 
Diener  und  alle  zusammen  freie  solidarische  Diener  des 
obersten  Herrn  aller  Gemeinschaft,  d.  i.  Gottes. 

Inwiefern  widerstreiten  sie  dem  Solidaritätsprinzip?  Be- 
antworten wir  diese  Frage  zuerst  fiir  die  Staatsidee!  Das 
und  das  allein  —  verehrte  Anwesende  —  ist  das  absolut 
Neue  der  Gemeinschaftsidee,  die  das  Christentum  schon 
in  seiner  ältesten  Periode  besitzt  und  die  es  als  Sauerteig 
m  die  Welt  brachte,  daß  es  Beideß  in  sich  vereinigt  und  zu 
einer  untrennbaren  Weltanschauung  verschmilzt :  Die  selb- 
ständige, substanzielle  Wirklichkeit  und  die  selbständige, 
moralisch-religiöse  Eigenverantwortlichkeit  jeder  Indivi- 
dualseele,  ihre  unmittelbare  göttliche  Herkimft  (Kreatia- 
nismus)  imd  ihr  übernatürlich  geheimnisvolles  Ziel  der 
Gottschau  in  der  Ewigkeit;  und  gleichwohl  die  solida- 
rische Gliedschaft  und  wahre  Mitverantwortlichkeit  aller 
dieser  Seelen  vor  Gott  in  einem  wahrhaft  sie  umfassen- 
den, dem  Ursprung  und  der  Ganzheit  nach  unsichtbaren 
und  gleichwohl  in  die  Sichtbarkeit  kraftvoll  hineinragen- 
den und  hineinwirkenden  Körper.  Diesen  umfassenden 
Gesamtleib,  dessen  ,Gliexier*  alle  Kinder  Adams  sind, 
lehrt  uns  die  göttliche  Offenbarung  kennen  als  Corpus 
Christi,  als  die  alle  Menschen  (Lebendige  wie  Tote)  und 
alle  Engel  umfassende  Kirche  mit  ihrem  unsichtbaren 
mystischen  Haupte  Christus  und  ihrem  sichtbaren  Haupte, 
dem  Nachfolger  Petri.  Im  rechten  Genüsse  des  heiligen 
Abendmahles  werden  wir  gewiß  und  sollen  immer  neu 
voll  Seligkeit  inne  werden  dieser  heiligen,  höchsten 
Gliedschaft  in  Liebe,  Leiden  und  Dienstschaft  im  Leibe 
Christi.  Ein  wenn  auch  noch  so  schwaches  Nachbild 


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1 68         I^ie  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

dieser  höchsten  Korporation,  der  wir  angehören,  muß 
aber  auch  jede  außerkirchliche,  weldiche  Korporation  und 
Verbandsform  sein.  In  jeder  muß  daher  auch  eine  Nach- 
bildung der  starken  und  doch  so  fruchtbaren  Spannung 
liegen,  die  zwischen  der  gottgeschaffenen  und  zu  Gott  hin- 
bestimmten, selbständigen,  freien  Individual-  und  Personal- 
seele und  der*  ursprünglichen,  organischen  Verbundienheit 
aller  dieser  Personen  in  einer  sie  umfassenden  Korpora- 
tion immer  und  notwendig  bestehen  muß. 

Die  schon  bei  den  ältesten  Kirchenvätern  (ich  nenne  hier 
als  Beispiel  nur  Ignatius  von  Antiochien,  Cyprian,  Cyril- 
lus,  Augustin)  vorfindliche  christliche  Korporationsidee  ist 
das  höchste  Ideal-  und  Musterbild  aller  und  jeder 
menschlichen  Korporation.  Ich  sprach  von  einer  ge- 
waltigen Spannung  und  setzte  gleich  hinzu,  daß  diese 
Spannung  nicht  zugunsten  eines  der  Elemente  der  christ- 
lichen Gemeinschaftsidee  beseitigt  werden  darf:  Sei  es  des 
persönlichen  Individuums,  sei  es  der  Gemeinschaft.  Die 
antike  Gemeinschaftsidee  z.  B.  kannte  sehr  gut  das  Prin- 
zip der  organischen  Lebensgemeinschaft  im  Staate  und 
der  wechselseitigen  Verantwortung  der  Menschen  darin 
für  Wohlfahrt  und  Kultur  des  Ganzen.  Aber  sie  kannte 
nicht  die  selbständige,  in  ihrem  Kerne  jeder  möglichen 
staatiichen  Gemeinschaft  überlegene,  staatsfreie,  gottge- 
schaffene, geistige  unsterbliche  Seele  mit  ihrer  religiös- 
moralischen Innenwelt  und  dem  heimlichen  Reiche  ihres 
Gemütes.  Und  sie  kannte  nicht  das  über  die  Ziele  der  Wohl- 
fahrt und  der  Kultur  des  Einzelnen  wie  des  Ganzen  hin- 
ausliegende Ziel  imd  den  Wert  des  geistigen,  über- 
natürlichen Heiles  des  Ganzen  imd  der  individuellen 
Personen.  Der  Mensch  ging  hier  bis  zu  seinem  Kerne  im 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt.         1 69 

Staate  und  damit  zugleich  im  Irdischen  auf.  Weder  Re- 
ligion noch  höhere  Geisteskultur  vermochten  sich  darum 
von  den  Fangarmen  des  Staates  frei  zu  setzen  und  in  ihm 
selbständig  zu  machen.  In  der  Entwicklung  Preußens  — 
das  von  Hause  aus  viel  mehr  Staat  als  Volk  ist,  und  dessen 
Fürsten  imd  Königen  antike  Staats-  und  Sittenmuster  so 
einseitig  vorschwebten  —  ist  diese  antike  Gemeinschafts- 
idee praktisch  wie  theoretisch  wieder  stark  hervorgetreten. 
Sie  wird  gerade  heute  —  in  besonders  kindischer  Form  — 
wieder  von  einigen  Gelehrten  vertreten.  Machen  wir  uns 
klar,  daß  sie  am  echten,  nämlich  am  christlichen  Indi^ 
vidualismus  der  intimen  Person,  ihrer  Freiheit  und  ihrem 
Gewissen  ihre  stahlharte  Grenze  auch  fiirderhin  zu  finden 
hat.  Sie  hat  ihre  Grenze  zu  finden  an  dem  dem  christlichen 
Gemeinschaftsideal  miteinbeschlossenen  christlichen 
Individualismus!  Denn  es  gibt  einen  Sinn  des  so  unsag- 
bar vieldeutigen  Wortes  ,Individualismus*,  in  dem  der  ,In- 
dividualismus^  nicht  nur  eine  christliche  Glaubenswahrheit 
ist,  sondern  auch  nichts  Geringeres  als  —  ich  möchte  sagen 
—  die  magna  charta  Europas  gegenüber  Asien  und 
schon  gegenüber  Rußland —  nämlich  derjenige  geistige, 
nicht  also  primär  ökonomische  Individualismus,  der  es  ent- 
schieden leugnet,  daß  die  geistige  individuelle  Einzelper- 
son nur  ein  sog.  ,Modus*  irgendeiner  Form  des  Allge- 
meinen, des  Staates,  der  Gesellschaft,  einer  sog.  Weltver- 
nunft oder  eines  aus  sich  herausströmenden  sachhaften 
Geschichtsprozesses  sei,  heiße  er  ein  panlogischer  wie  bei 
dem  preußischen  Staatsphilosophen  Hegel,  heiße  er  eine 
sich  entfaltende  moralische  ,Ordnung*  wie  bei  Fichte  oder 
ein  ökonomischer  Geschichtsprozeß  wie  bei  Karl  Marx. 
Der  chrisdiche  Individualismus  leugnet  eben  damit,  daß  die 


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lyo         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

kleinen  Gemeinschaften,  z.  B.  Familie,  Gemeinde  im  Staate, 
Stammesfiirstentümer  im  Reiche  oder  die  Städte  und  Stände 
im  Staate,  nur  eine  äußere,  dem  sie  umfassenden  Ganzen 
zugewandte  Werksphäre  imd  Rechtssphäre  hätten,  nicht 
aber  auch  eine  gleichurspriinglich  je  nach  innen  gewandte 
Wirk-  und  Rechtssphäre  eigenen  ursprünglichen,  nicht  vom 
umfiaissenden  Gemeinwesen  abgeleiteten  Rechts.  Selbst  die 
imtere  Grenze  all  dieser  Einheiten,  das  einzelne  Individuum 
hat  noch  seine  ursprüngliche  Eigensphäre  des  Wirkens 
und  des  natürlichen  Rechtes,  eine  Sphäre,  die  vom  Staate 
und  dem  von  ihm  gesetzten  Rechte  unabhängig  ist.  Sein  ihm 
eingeborenes,  mit  dem  Wesen  einer  Person  selbst  gesetztes 
sog.  Naturrecht  (z.  B.  Recht  auf  Existenz,  Notwehr  usw.). 
Gewiß  überdauern  alle  echten  Liebes-  und  Lebensgemein- 
schaften z.  B.  Familie,  Gemeinde,  Staat,  Volk,  Nation,  euro- ' 
päischer  Kulturkreis — im  Gegensatze  zu  bloßen  willkürlich 
gebildeten  ,Gesellschaften*,  so  wie  der  Baum  die  fallenden 
Blätter  überdauert,  das  irdische  Leben  des  Individuums. 
Staat  und  Nation  haben  darum  auch  das  innere  Recht 
z.  B.  im  Kriege  das  organische  Leben  des  Individuums  für 
ihr  Sein  und  ihre  Wohlfahrt  als  freies  Opfer  zu  fordern; 
aber  zu  fordern  das  äußere  organische  Leben  —  verehrte 
Anwesende  —  nicht  das  Sein  und  Wesen  der  Persönlich- 
keit, das  unsterblich  ist,  und  das  darum  auch  schon  wäh- 
rend des  irdischen  Lebens  nicht  in  Nation  und  Staat 
vollständig  aufzugehen  und  ihnen  sich  hinzugeben  hat. 
Es  ist  das  Leben  all  dieser  Gemeinschaften,  es  ist  nicht 
das  Sein  der  individuellen  Person,  was  trotz  seiner  Kraft, 
das  organische  Leben  des  Individuums  unbestimmt  lang 
zu  überdauern,  seinem  Wesen  nach  endlich  ist,  wie  alle 
Geschichte  der  Staaten  und  Nationen,  die  zugrunde  gingen. 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         lyi 

zeigt.  Und  es  ist  die  geistige  persönliche  Individualität,  die 
wesenhaft,  troll  des  so  viel  kürzeren  endlichen  Erden- 
lebens, unendlich  an  Dauer  und  Wirken  ist.  Und  nur  weil 
sie  dies  ist,  vermag  und  soü  sie,  gleichsam  ritterlichen 
Sinnes,  das  hohe  Gut  ihres  kurzen  Lebens  für  das  höhere 
Gut  des  Lebens  der  so  viel  länger  lebenden,  aber  doch  im 
Vergleich  zu  ihm  so  armen,  weil  nur  endlichen  irdischen 
Gemeinschaften  hingeben.  Und  gerade  in  diesem  Kriege 
gilt  es  doppelt,  den  rechten  geistigen  Individualismus  fest- 
zuhalten. Warum? 

Wir  sehen  eines  der  sichersten  Keni^eichen  unseres 
Rechtes  in  diesem  Kriege  darin,  daß  wir  nicht  nur  uns 
selbst,  sondern  indirekt  und  auf  die  Dauer  selbst  unsere 
wesdichen  und  südlichen  Feinde  und  ihre  Staaten,  und  so- 
mit also  Gesamteuropa  bewahren  helfen  vor  der  Über- 
flutung durch  die  russischen  Horden,  damit  auch  bewahren 
helfen  vor  deren  Weltanschauung  und  orthodoxem  Christen- 
tum, die  jene  magna  charta  des  christlichen  Europas,  den 
unendlichen  Wert  der  individuellen  Einzelseele, 
noch  nicht  kennen.  Denn  hier  ertrinkt  wirklich  noch  die 
Persönlichkeit  im  Volkstum,  Stamm,  Masse,  Herde.  Wie 
absurd  also  wäre  es,  bei  uns  selbst  das  zu  verleugnen, 
worum  wir  doch  gerade  gen  Osten  kämpfen,  den  Wert  der 
individuellen  Seele! 

Ich  sagte:  Alle  die  jenseits  des  chrisdich-kirchlichen  Bo- 
dens gewachsenen  Gemeinschaftsauffassungen  verleugnen 
diese  notwendige  Spaiffiung.  Der  absoluteFürstenstaat 
zusammen  mit  der  bürgerlichen  ihm  zuerst  dienenden,  spä- 
ter ihn  beherrschenden  Bewegung  des  Nationalismus  be- 
raubte die  Korporationen  aller  Art,  die  Stände,  Adel  und 
Geistlichkeit  ihrer  ursprünglicheren  Rechte  und  Eigen- 


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iy2         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

tümer.  Sein  extremer,  grenzenloser  Macht-  und  Souverä- 
nitätsbegriff wagte  sich  über  das  chrisdiche  Gesetz  und 
seine  oberste  Verwaltung  zu  erheben.  Kein  Wunder,  daß 
sich  der  absolute  Staat  —  am  klarsten  in  Frankreich  1 789, 
in  irgendeinem  Maß  aber  überall,  gegenwärtig  in  Rußland, 
dessen  Revolution  sich  in  diesem  Kriege  nur  fortsetzt  und 
der  französischen  die  Hände  reicht  —  eines  Tages  der 
auch  sein  ,absolutes*  Existenzrecht  bestreitenden  Massen- 
tevolution gegenüber  sah,  die  an  die  Stelle  des  absoluten 
Fürsten  das  absolute  souveräne  Volk,  d.  h.  den  bloßen 
Mehrheitswillen  zu  setzen  sich  anschickte,  —  unter  der 
falschen  Unterstellung,  der  Wille  der  Mehrheit  sei  gleich 
der  Volonte  g^n^rale,  d.  h.  gleich  dem  echten  Gemein- 
willen. Beide  Staatsauffassungen  aber  machen  aus  Staat 
und  Nation  einen,  den  christlichen  Individualismus  ebenso 
wie  das  Solidaritätsprinzip  verleugnenden  Götzen,  der  sich 
bewußt  oder  unbewußt  an  Stelle  des  höchsten  Oberherm 
aller  Gemeinschaft,  an  Stelle  Gottes  setzt.  ^Beide  machen 
den  Staat  zu  etwas,  das  entweder  nur  Herr  oder  nur 
aller  Individuen  resp.  ihrer  Mehrheitslaune  Sklave  sein 
soll,  wogegen  die  christliche  Gesellschaftslehre  besagt,  daß 
niemand  außer  Gott,  also  keine  Institution  auf  Erden, 
,oberster  Herr*  sei,  und  niemand  Sklave,  sondern  jeder 
und  jede  Institution  zugleich  Herr  und  freier  Diener  eines 
höheren  HermT  Beide  Auffassungen  aber  mußten  in  der 
weiteren  Folge  jenen  schrankenlosen  Nationalismus  ent- 
wickeln, der  wie  ein  fressendes  Feuer  fortspringend,  immer 
kleinere  Nationalitäten  fassend  (neuerdings  Ungarn,  Böh- 
men —  bis  zu  den  Esthen  und  Letten)  und  schließlich  im 
Imperialismus  sich  selbst  übergipfelnd,  in  diesem  Kriege 
an  dem  Staatsgedanken  des  mitteleuropäischen  Blockes 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwartige  Welt         1^3 

SO  furchtbar  zusammenbracht.  Wer  verfugte  aber  über  die 
lebendigen  Ideen  —  ob  auch  über  die  Kräfte,  das  müssen 
'wir  Gott  überlassen  — ,  um  auch  nur  zu  versuchen,  aus  die- 
sem katastrophalen  Zusammenbruch  des  seit  lange  schon 
in  innerer  moralischer  und  geistiger  Anarchie  erzitternden 
Europa  das  wahre  christliche  Europa  wieder  aufzu- 
bauen, wenn  nicht  die  Vertreter  des  christlichen  Gemein- 
schaftsgedankens? Was  anders  hielte  das  zerberstende 
Europa  noch  in  der  Tiefe  zusammen  als  dieser  Gedanke? 
Darum  muß  (fieser  Gedanke  uns  auch  auf  dem  Boden 
der  äußeren  Politik  suchen  lassen  ein  System  der  Verein- 
barung zum  mindesten  in  allen  solchen  Dingen,  die  ein 
europäisches  Gesamtheil  und  -wohl  betreffen.  Es  ist  eben 
ein  falscher  Satz,  daß  jeder  Staat  nur  am  Machtwillen 
des  anderen  Staates  seine  Grenze  finde.  Wir  Deutsche 
und  die  Schweiz  haben  durch  unsere  bundesstaatliche 
Gliederung,  die  dem  Einzelstaat  das  Merkmal  sog.  Sou- 
veränität längst  genommen  hat,  wenigstens  hinsichtlich 
der  Verfassimg  den  Anfang  damit  gemacht,  an  einem  gro- 
fSen  Beispiel  zu  zeigen,  wie  wahre  Freiheit  kleinerer  histo- 
rischer St;ammes-  und  Staatseinheiten  mit  den  zentralisti- 
schen  technischen  Notwendigkeiten  des  modernen  Groß- 
betriebes, auch  des  Reichsgfroßbetriebes,  in  allen  Dingen 
zusammen  bestehen  kann.  Möge  diese  Art  Vieleinheits- 
gliederung  im  kommenden  Zeitalter  vorbildlich  werden 
für  das  chrisdiche  Europa  überhaupt!  Denn  in  dieser 
Verfassungsform  desBundesstaates  ist  inheutiger 
Zeit  immer  noch  relativ 'am  stärksten  die  christ- 
liche Gemeinschaftsidee  gegenwärtig.  Gelänge  es, 
den  Bundesstaatsgedanken,  wenn  auch  zweckmäßig  modi- 
fiziert, langsam  und  vorsichtig  auf  das  Ganze  des  unser 


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174         ^'*  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

Reich  und  Österreich-Ungarn  enthaltende  Mitteleuropa 
so  auszudehnen,  daß  in  diesem  umfassenderen  übernatio- 
nalen Bunde  war  dieses  neue  Ganze  stärker  zentralisiert 
würde,  soweit  die  äußeren  gemeinsamen  Lebensbedin- 
gungen (zuerst  der  militärischen  Verteidigung  und  dann 
erst  des  Wirtschaftslebens)  in  Frage  kommen,  daß  aber 
zugleich  die  einzelnen  Stämme  und  Bundesstaaten  unseres 
gegenwärtigen  Reichskörpers  unter,  einer  erheblichen  Ver- 
minderung der  zu  einseitigen  Vorherrschaft  Preußens  an 
Selbständigkeit  in  allem,  was  Religion,  Sitte,  Kultur, 
Lebensführung  betrifft,  erheblich  gewännen:  so  wäre 
darin  schon  ein  bedeutender  Fortschritt  des  christlichen 
Gemeinschaftsgedankens  auf  politischem  Boden  zu  sehen. 
Dieses  größere  materiell  und  als  Ganzes  nach  außen  hin 
stärker  wie  früher  zentralisierte,  aber  geistig  imd  nach 
innen  hin  zugleich  dezentralisiertere  neue  Bundeswesen, 
dürfte  auch  mit  Recht  als  eine  Art  Wiederanknüpfung  an 
die  historischen  Kräfte  und  Ideen  aufgefaßt  werden,  die 
das  mittelalterliche  deutsche  Kaisertum  getragen  haben; 
desgleichen  als  eine  Wiederanknüpfung  an  den  großen 
geistigen,  historischen  wie  geographischen  vorsehungs- 
mäßigen Beruf  Deutschlands  als  des  Herzens  Europas,  in 
der  Bildung  übernationaler  staatlicher  Bundesorgani- 
sationen die  Idee  und  Realität  des  christlichen  Europa,  ja 
schließlich  der  Menschheit  mit  der  eigensüchtigen  Realität 
der  europäischen  peripheren  Einzelstaaten  imd  Nationen 
zu  vermitteln.  Das  nach  meiner  Ansicht  kulturell  zu  stark 
und  einseitig  im  preußischen  Geiste  zentralisierte,  und  noch 
allzusehr  die  alte  Gesinnung  des  absoluten  Fürstenstaates 
mit  seiner  obligaten  hyperdemokratischen  Gegenbewegung 
in  sich  hegende  Deutsche  Reich  seit  1870,  vermochte  auf 

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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         jy^ 

die  es  iimgebende  Völkerwelt,  auch  soweit  sie  national- 
deutscher Herkunft  war,  kaum  eine  Anziehungskraft  aus- 
zuüben. Überall  —  selbst  in  der  Schweiz  und  Holland  — 
wurde  es  mehr  gefürchtet  als  geliebt.  Auch  dies  könnte 
sich  angesichts  des  neuerstehenden  Bundesgebildes  ändern. 
Sähe  diese  politische  Umwelt  deutscher  Abstammung,  daß 
im  Reiche  nach  dem  Kriege  die  Reste  dieses  altpreu- 
ßischen absoluten  Staatsgeistes  gebrochen  sind,  daß  in 
ihm  den  deutschen  Stämmen  und  Ständen  Freiheit,  Eigen- 
art, Bodenständigkeit  in  höherem  Maße  eingeräumt  ist 
als  bisher,  und  daß  ihre  Mitbeteiligung  an  der  politischen 
Leitung  und  Verwaltung  des  Ganzen  sich  vergfrößert  hat, 
so  würden  sie  diese  Sprödigkeit  und  Furcht  allmählich 
von  selbst  verlieren.  Auch  Preußen  selbst  hat  es  vielleicht 
am  stärksten  geschadet,  daß  das  Reich  ein  verlängertes 
Preußen  sein  mußte.  Es  hat  dabei  seine  feine,  helle,  spröde 
Geistigkeit,  es  hat  —  wie  Möller  van  den  Brück  kürzlich 
sehr  gut  auseinandergesetzt  hat  (»Der  Preußische  Stil«, 
München,  Piper)  —  auch  seinen  Stil  in  Kunst  (Baukunst), 
Geselligkeit  und  Leben  verloren. 

Eine  nicht  weniger  verpflichtende  Kraft  geht  aber  von 
der  christlichen  Gemeinschaftsidee  jiuch  aus  für  die 
Wiederherstellung  normaler  seelischer,  und  die  Fragen 
der  Geisteskultur  betreffender  Verhältnisse  zwischen  den 
Nationen.  Wenn  unser  Gemeinschaftsideal  den  politi- 
schen Nationalismus,  gegen  dessen  Aspirationen  die  auf 
^em  Staatsgedanken  fußenden  Mittelmächte  ja  vor  allem 
ihren  Kampf  führen,  verdammt,  so  geschieht  es  nicht  nur 
um  der  religiösen  und  kirchlichen  Einheit  der  Menschheit 
willen,  sondern  gerade  auch  um  des  inneren  Eigenrechtes 
der  Völker,  Nationen,  Nationalitäten  in  allen  Fragen  der 


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I  y  6         Die  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt 

Sprache,  der  Geisteskultur,  der  angestammten  Sitte  und 
der  besonderen  Färbung  ihrer  Religion  und  Frömmigkeit. 
Ich  habe  in  meinem  Buche  »Krieg  und  Aufbau«  *,  gezeigt, 
daß  der  moderne  politische  Nationalismus  merkwürdiger- 
weise durchaus  nicht  echt  nationaler  Herkunft  ist,  son- 
dern daß  gerade  er  der  Herkunft  wie  den  Zielen  nach 
eine  ebenso  gleichförmige  internationale  Klassen* 
er  scheinung  (des  bürgerlichen  nationalengagierten  Groß- 
kapitals) darstellt  wie  sein  Gegenteil,  der  Klasseninter- 
nationalismus der  Arbeiterklasse ;  daß  dagegen  der  geistige 
Kosmopolitismus,  d.  h.  die  Anschauung,  daß  die  natio- 
nalen Volksgeister  berufen  seien,  sich  in  allen  rein  kultu- 
rellen Dingen,  z.  B.  Philosophie,  Wissenschaft,  Kunst,  ja 
selbst  in  der  allseitigsten  Darstellung  des  Reiches  Christi 
solidarisch  zu  ergänzen,  und  zwar  unvertretbar  zu  er- 
gänzen, nicht  ausschließlich  zwar,  aber  doch  in  besonderem 
Maße  ein  national  deutsches  Geistesprodukt  genannt  . 
werden  kann.  Der  politische  Nationalismus  will  die  Geistes- 
kultur, die  in  den  Ideen  des  einen  ^yahren,  Schönen,  aber 
gleichzeitig  in  je  grundverschiedenen,  unersetzbaren  Be- 
stimmungen und  Anlagen  der  Völker,  dieses  Wahre  zu 
erkennen  und  dieses  Schöne  zu  genießen  und  hervor- 
zubringen, notwendig  verwurzelt  ist,  seinen  puren  Macht- 
und  Wirtschaftszielen  dienstbar  machen.  Er  gerade  würde 
es  sein,  der  —  käme  irgend  einer  dieser  Nationalismen  zum 
Siege  —  cde  Fülle  der  eigenartigen  nationalen  Anlagen, 
Werke  und  Lebensideale  auslöschen,  und  die  Welt  zu  einem 
grauen  und  öden  Einerlei  machen  würde.  Darum  gebietet 
uns  in  dieser  Richtung  die  christliche  Gemeinschaftsidee 

^  »Soziologische  Neuorientierung  und  die  Aufgabe  der  deutschen  Katho- 
liken nach  dem  Krieg«. 

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Die  chrjftliche  Liebesidee  and  die  gegenwärtige  Welt.  i'j'j 

alles  zu  tun,  um  die  kulturelle  Befreundung  der  europä- 
ischen Nationen  wiederherzustellen,  dem  hier  ganz  verderb- 
lichen Hasse  entgegenzuarbeiten  und^dafiir  zu  sorgen,  daß 
auch  innerhalb  der  Grenzen  unseres  Reiches  und  Öster- 
reichs die  kulturellen  Nationaleigentümlichkeiten  stärker . 
geachtet  werden  als  bisher,  und  daß  dieser  Geist  in  der 
Verw^tung  z.  B.  Polens  und  des  Elsaß  sich  kraftvoller 
betätigt.  Ein  verschiedene  Nationen  umfassender  Staats- 
gedanke, wie  wir  ihn  fordern,  und  der  sogenannte  »Kultur- 
staat« schließen  sich  logisch  aus.  Nur  als  geschlossener 
Nationalstaat  wäre  ein  sogenannter  Kulturstaat  denkbar. 
Denn  eben  im  Kulturellen  (Sprache,  Sitte,  Literatur, 
Kunst),  nicht  im  Politischen  und  nicht  im  ökonomischen 
liegt  das  ewige  Recht  des  Daseins  der  Nationen.  Den 
sogenannten  »Kulturstaat«,  d.  h.  einen  Staat,  der  die 
geistige  Kultur  direkt  leiten  möchte  (z.  B.  durch  Einheits- 
schule usw.),  der  nicht  nur  die  äußeren  Bedingungen 
der  Kultur  hinsichdich  Wohlfahrt,  Reichtumsverteilung, 
freie  Konkurrenz  der  zum  Kulturschaffen  Tüchtigen  för- 
dern möchte,  verdammt  die  christliche  Gemeinschaft^dee 
genau  so  scharf  wie  den  einheitlichen  Weltstaatsgedankeli. 
Denn  nur  dann  kann  der  ^taat  mehrere  Nationen  um- 
fassen und  sich  über  die  nationalen  Leidenschaften  wahr- 
haft erheben  und  ihr  vernünftiger  Herr  sein,  wenn  er  den 
Nationen  gleichzeitig  kulturelle  Freiheit  gibt  und  wenn 
er  nicht  versucht,  eine  einförmige  sogenannte  Staats- 
kultur über  die  sein  Territorium  bewohnenden  Völker 
auszugießen.  Und  nur  dann  können  wir  Menschen  an- 
gesichts unserer  höchsten  Güter,  der  heiligen  und  reli- 
giösen Güter  eine  wahre  Einheit,  eine  »katholische«  Kirche 
bilden,  wenn  ebensowohl  in  staatiicher  als  in  kultureller 

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1^8         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

Hinsicht  eine  bunte,  und  zwar  voneinander  je  unab- 
hängige Vielheit  von  Gruppen  auf  Erden  vorhanden 
ist  —  angemessen  den  organischen  und  geistigen  Bil- 
dungen der  Völker  und  ihrer  Geschichte.  Darum  verab- 
scheut der  christliche  und  wahre  Kosmopolitismus  ebenso- 
sehr den  politischen  Nationalismus  als  die  altjüdische,  durch 
Christus  überwundene  »auserwählte  Volks «idee  (di?  Eng- 
land durch  Übertragung  der  calvinistischen  Auserwäh- 
lungsidee  auf  Staat  und  »Empire«  übernommen  hat); 
ebensosehr  die  öde,  langweilige  Idee  einer  gleichförmigen, 
einzigen  sogenannten  Weltkultur  als  die  Freimaurerfarce 
einer  politischen  Weltrepublik.  Und  gleichfalls  weist. sie 
zurück  das  jetzt  so  elend  zusammenbrechende  Idol  einer 
internationalen  Klassen-  und  Arbeiterrepublik.  Auch  die 
Kirche,  die  allein  auf  menschenumfassende  Einheit  An- 
spruch erhebt  (mit  dem  innersten  Rechte  der  höchsten  und 
unteilbaren  Werte,  die  sie  und  nur  sie  verwaltet),  auch  die 
Kirche  soll  nicht  und  will  nicht  die  geistige  Kultur  direkt 
leiten  —  und  sie  darf  es  auch  nicht,  wenn  sie  sich  nicht 
selbst  partikularisjpren  will.  Nur  darauf  muß  sie  und  soll 
sie  einen  Ansprudi  erheben,  einmal  die  Fülle  originaler 
Kultur  vor  allem  politischen  Nationalismus  und  Imperia- 
lismus, auch  den  sogenannten  geistigen  Imperialismus  zu 
schützen,  und  sodann  es  klar  auszusprechen,  wo  sie  durch 
eine  Kulturrichtung  die  religiösen  Gesamtheitsgüter  des 
Corpus  Christi  verletzt  oder  in  Frage  gestellt  sieht. 
Gerade  dieser  Anspruch  der  Kirche  und  ihrer  Spitze^ 
der  höchsten  kirchlichen  Autorität,  der  Anspruch  einer 
Oberaufsicht  auch  über  das  geistige  Kulturleben  —  soweit 
es  Heilsdinge  berührt  —  hatte  vor  dem  Kriege  das 
moderne  Europa  in  allen  Nationen  vielleicht  am  stärkstea 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt  17g 

von  der  Kirche  zurückgestoßen.  Wie  man  nichts  mehr 
wissen  wollte  von  dem  christlichen  Sittengesetz  als  oberstem 
Prinzip  der  äußeren  Staatspolitik,  so  wollte  man  auch  nichts 
mehr  wissen  von  einer  christlich-kirchlichen  Inspiration  des 
höheren  Kulturschaffens,  der  Kunst,  der  Philosophie,  der 
Wissenschaft;  und  eben  weil  diese  lebendige,  zusammen- 
haltende Inspiration  der  Kulturgebiete  und  Kultur- 
nationen sich  im  Laufe  der  Neuzeit  immer  stärker  auf- 
gelöst hatte,  auch  sprachlich,  methodisch  und  hinsichtlich 
des  Stiles  zunehmend  von  einem  sich  immer  schärfer  und 
enger  zuspitzenden,  die  Ergänzungsnotwendigkeit  aller 
Nationen  leugnenden  Kultumationalismus  abgelöst  war, 
mußten  in  der  Tat  die  Eingriffe  der  kirchlichen  Autorität 
—  wo  sie  stattfanden  —  auf  die  Träger  jenes  außer- 
christlichen Kulturgedankens  wie  fremde,  mechanische, 
äußere  Eingriffe  wirken.  Von  den  führenden  Gruppen  der 
meisten  Staaten  wurde  der  kirchlichen  Autorität  prinzipiell 
das  Recht  versagt,  in  die  sogenannte  Autonomie  der  Ver- 
nunft und  Kultur  unmittelbar  in  Heilsfragen  einzugreifen. 
Nun  steht  es  aber  so:  Da  alle  menschlichen  Tätigkeiten, 
auch  die  höchsten  geistigen,  immer,  zugleich  Gemein- 
schaftstätigkeiten sind,  so  ist  die  besondere  Natur  und 
der  Gehalt  der  jeweils  das  Leben  beherrschenden 
Gemeinschaftsidee  auch  für  den  Fortgang,  den  Geist  und 
den  Ertrag  dieser  Tätigkeiten  von  größter  Bedeutung. 
Die  menschlichen  Zustände  bilden  stets  und  überall  eine 
strenge  innere  Stil-  und  Struktureinheit.  Wo  z.  B.  staat- 
lich irgend  eine  Form  des  absoluten  Staates  herrscht,  wo 
wirtschaftlich  freie  Konkurrenz  und  ?iusschließlich  Erwerbs- 
wirtschaft im  Gegensatz  zu  Bedarfsdeckungswirtschaft,  wo 
schrankenloser  Individualismus  oder  Sozi^smus  das  christ- 

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1 8o         I)i6  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

liehe  Gemeinschaftsideal  zersetzt  haben,  da  ist  auch  geistig 
nicht  nur  das  Miteinanderglauben  in  einer  Kirche,  son- 
dern auch  das  Miteinandererkennen  sowohl  in  der  zeit- 
lichen Folge  der  Epochen  als  im  räumlichen  Neben- 
einander der  bei  der  Erkenntnis  Mitwirkenden  im  Kerne 
aufgehoben.  Wie  im  Mittelalter  ganze  Generationen  an 
einer  einzigen  Kirche  bauten  —  ohne  die  Stilidentität  des 
Bauwerkes  aufzuheben,  so  vermeinten  auch  z.  B.  die  Philo- 
sophen verschiedener  Nationen  jener  Zeit  generationen- 
lang, trotz  der  verschiedenen  Färbungen  ihres  Weltdurch- 
blicks, an  einer  Philosophia  perennis  zu  bauen.  An 
die  Stelle  dieses  organischen  und  naiven  Miteinander- 
denkens,  -schauens,  -flihlens  der  Zeiten  und  Völker  traten 
im  Laufe  der  neuzeitlichen  Geistesentwicklung  die  zwei 
eng  zusammengehörigen  Prinzipien,  das  Prinzip  des  tausend 
UnterformendurchlaufendensubjektivistischenKritizis- 
mus  und  das  Prinzip  des  Gegeneinanderarbeitens  der 
Nationen,  und  innerhalb  der  Nationen  der  sogenannten 
Schulen,  innerhalb  der  Schulen  wiederum  der  Individuen 
und  dazu  das  Gegeneinanderarbeiten  der  Epochen  und 
Generationen,  von  denen  jede  die  vorhergegangene  über- 
gipfeln, übertreffen  wollte,  um  von  der  folgenden  sofort 
wieder  —  kaum  geboren  —  ins  Nichts  gestürzt  zu  werden. 
Das  Tempo  dieser  Abwechslung  von  Geburt  und  Tod 
beschleunigte  sich  immer  mehr.  An  die  Stelle  einer  naiven, 
geistigen,  liebegeleiteten  Hingabe  an  die  objektive  Welt 
im  Anschauen  und  Denken,  im  steten  Bewußtsein,  der 
menschliche  Geist,  als  aus  Gott,  dem  Borne  der  Wahrheit 
stammend,  sei  auch  fähig,  das  Sein  der  Dinge  selbst  ein- 
sichtsvoll zu  ergreifen,  trat  die  prinzipielle  Mißtrauens- 
stellung in  die  eigenen  Geisteskräfte  und  das,  was  ich  die 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt'         1 8 1 

tiefe  » Weltfeindschaft «  des  modernen  Denkens  nenne,  d.  h.; 
die  Verleugnung  aller  der  Welt  selbst  angehörigen  Quali- 
tätenj  Formen,  Werte,  Gestalten  und  eine  Auffassung  der 
Welt  als  eines  heillosen,  materiellen  Breies  —  aus  dem  der 
Mensch  durch  seine  Verstandestat  und  Arbeit  erst  etwas 
Sinnvolles  zu  machen  habe.  Die  Kantische  Philosophie 
ordnet  sich  z.  B.  dieser  Formel  als  ein  Spezialfall  unter. 
Streng  analog  hierzu  trat  sozial  —  als  regieriende  Seele 
des  Kulturschaffens  —  an  Stelle  des  liebevollen  Zusam- 
men- und  Miteinandersichorientierfens  in  allen  Dingen  der 
geistige,  eitle  Konkurrenztrieb,  je  etwas  gans  Besonderes 
zu  machen  und  die  Wahrheit  nicht  zu  gewinnen  durch  eine 
unmittelbare  Beschäftigimg  mit  der  Stehe  selbst,  sondern 
durch  primäre  Kritik,  durch  Aufdeckung  der  Irrtümer^ 
der  Täuschungen  anderer.  Daß  wir  —  wie  Goethe  sagt 
und  Augustinus  schon  erkannte  —  die  Dinge  recht  nur 
erkennen  können,  soweit  wir  sie  irgendwie  lieben,  daß 
wir  miteinander  erkennen  können  nur  soweit,  als  wir 
auch  vorhergehend  einander  lieben  und  miteinander  die- 
selbe Sache  lieben  —  so  wie  ja  auch  Gott  selbst  nur 
aus  Seinem  liebegeleiteten  Erlösungswillen  heraus  uns  in 
Seinem  Sich  für  unsere  Sünde  opfernden  Sohne  die  offen- 
barungsmäßige Erkenntnis  Seines  inneren  Wesens  er- 
schloß, und  nur  die  Liebe  in  uns  diese  Mitteilung  voll 
aufiiehmen  kann  — ,  das  wurde  prinzipiell  verneint. 

Ein  von  der  Gemeinschaft,  ja  von  der  gesamten  übrigen 
Seele  sozusagen  abgelöstes,  aus  ihr  herausgerissenes  in- 
dividuelles ,Denken*  pder  bei  anderen  ebenso  isolierte 
Sinnesempfindungen  wurden  (das  erstere  z.  B.  durch  Des- 
cartes)  für  die  einzig  berechtigte  Quelle  der  Erkenntnis 
erklärt.  Es  wäre  gewiß  sehr  unsinnig  und  ungerecht,  nicht 


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1 8  2         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

ZU  sehen,  daß  beide  Prinzipien,  der  subjektive  und  ideali- 
stische Kritizismus,  wie  das  sich  überflügelnde  Gegenein- 
andejrarbeiten  gewaltige  Erfolge  auf  dem  Boden  der  Phi- 
losophie, der  Wissenschaften,  der  Natur-,  der  Seelen-  und 
der  Gesellschaftslenkung  bewirkten  und  aus  sich  heraus 
in  ihrer  Art  Großes  vollbracht  haben.  Aber  —  und  dieses 
Aber  ist  die  gewaltige  Lehre  des  Weltkrieges,  der  gewal- 
tige Umkehrruf  Gottes  an  uns  und  ganz  Europa  —  auch 
diese  Erfolge  der  europäischen  Kulturarbeit  waren  nur 
möglich,  weil  die  christliche  Epoche  des  europäischen  Mit- 
telalters und  ihr  geistiger  Universalismus  ein  so  großes, 
inneres  Kapital  an  gemeinschaftsbildenden  Geistes- 
mächten in  allen  Nationen  und  Gruppen  Europas  aufge- 
stapelt hatten,  daß  dieses  Kapital  überall  heimlich  und 
selbst  wider  Wissen  der  Beteiligten  ihre  auseinanderstre- 
benden Geister  in  der  Tiefe  doch  zusammengehalten;  daß 
femer  durch  die  nachdauemde  Kraft  der  älteren  Denkweise 
das  christliche  Vertrauen  auf  die  Fähigkeit  des  mensch- 
lichen Geistes,  die  Welt  selbst  ergreifen  zu  können  — 
und  nicht  nur  ihr  Bild  in  uns  — ,  auch  durch  den  Kritizis- 
mus nicht  völlig  gebrochen  ward.  Die  wichtigste  Neuheit 
für  Europa,  ja  eine  Neuheit,  die  durch  ihre  Wichtigkeit 
verdiente,  auf  allen  Straßen  laut  verkündigt  zu  werden, 
ist  der  zweifellose*  Tatbestand,  daß  außer  der  noch  in  Eu- 
ropa befindlichen  gläubigen  Christenheit  —  und  auch  sie 
ist  schon  weithin,  wie  die  Kampfschriften  der  französischen 
Katholiken  zeigen,  in  das  Übel  mithineingezogen  — ,  die- 
ses Kapital,  diese  unbewußte  Erbschaft,  heute  so  gut  wie 
aufgebraucht  ist. 

Wie  der  Forscher  im  wissenschaftiichen  Experiment 
diie  Ursachen  von  anderen  Ursachen  isoliert,  damit  er 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.         183 

sehen  kann,  was  sie  und  nur  sie  wirken,  so  hat  der  Welt- 
krieg die  Kraft  der  beiden  genannten  modernen  Prinzipien 
gleichsam  auf  sich  selbst  gestellt,  sodaß  wir  sehen,  wohin 
sie  allein  führen:  Zu  einem  Weltkrieg  auch  der  Geister, 
zum  Turmbau  zu  Babel  in  Weltformat.  Aber  gerade  da- 
durch hat  der  Weltkrieg  jenes  tiefste  bisher  verborgene 
Geheimnis  Europas,  das  Geheimnis,  c^ß  Europa  heimlich 
auch  in  seinen  Gruppen  säkularster  Gesinnung  vom  Chri- 
stentum, vom  Geisteserbe  der  Kirche  gelebt  hat,  aller  nur 
irgendwie  zum  Sehen  gutwilligen  Welt  entschleiert.  Er  hat 
diese  Wahrheit  mit  blutigen  Lettern,  die  jeder  sieht,  an 
den  Himmel  geschrieben.  Nicht  die  hoheitsvolle,  christliche 
Neutralität,  nicht  die  einzelnen  Handlungen  des  Hl.  Vaters 
zur  Linderung  des  Kriegselendes,  nicht  seine  und  der 
Kirche  ergreifenden  Friedensgebete  allein  haben  zu  der 
merkwürdigen  Erscheinung  geführt,  daß  heute  bis  tief  hin- 
ein in  die  modernste  Moderne  die  katholische  Kirche  und 
ihr  Oberhaupt  neues  Ansehen  und  eine  neue  moralische 
Würde  gewinnen.  Hinter  diesen  reinen,  /erhebenden  Ein- 
drücken steht  ein  Anderes  und  Tieferes:  Die  langsam 
sich  auch  in  der  unbewußten  Tiefe  der  modernen  Seele 
entfaltende,  wie  ein  lichter  Engel  heraufsteigende  neue 
Einsicht,  daß  nur  ein  bewußtes  Zurück  zu  den  heiligen 
Geistes-  und  Lebensquellen,  aus  denen  die  Geschichte 
Europas  bis  zur  Stunde  auch  da  heimlich  genährt  war, 
wo  es  die  Menschen  bewußt  nicht  Wort  haben  wollten, 
ja  daß  —  konsequent  denkend  —  nur  ein  Zurück  zur 
heiligen  Kirche  und  der  allein  von  ihr  rechterkannten  und 
verwalteten,  christlichen  Gemeinschaftsidee  Europa  als 
den  bisher  führenden  und  leitenden  Kulturkreis  der  Welt 
noch  zu  erretten  vermag.  Es  war  nicht  nur  ein  Irrtum  oder 


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1 84         ^'^  christliche  Licbcsidcc  und  die  gegenwartige  Welt 

eine  Reihe  von  Irrtümern,  die  uns  das  Maß  der  Europa 
zusammenhaltenden  Einheitskräfte  (als  da  waren  Kom- 
munikationstechnik, Arbeiterintemationale,  internationales 
Finanzkapital,  internationale  Wissenschaft,  Kunst,  europä- 
isches Gewissen,  Solidarität  der  weißen  Rasse,  internatio- 
nales Privat-  und  Völkerrecht  usw.)  so  ungeheuer  über- 
schätzen ließen:  Es  war  die  grund verkehrte  Denkme- 
thode und  Fühlgewohnheit,  zu  meinen,  es  könne 
die  unbedingt  nötige  Einheit  des  moralischen  Welt- 
baues durch  irdische  Kräfte  ,von  unten*  her  dauernd 
getragen  werden,  als  bedürfte  die  Einheit  dieses  Baues 
nicht  dauernd  und  wesentlich,  nicht  nur  zu  ihrem  Fort- 
schritt, sondern  nicht  minder  zu  ihrem  Fortbestand  an 
erster  Stelle  mächtiger,  religiöser,  geistiger  und  mo- 
ralischer Zentralkräfte  von  ,oben'  her,  d.  h.  Kräfte,  die 
sich  nicht  auf  Interessengemeinschaften,  nicht  auf  bloße 
Rechtsverträge,  nicht  nur  auf  eine  (so  gewaltig  über- 
schätzte) sogenannte  Gleichförmigkeit  der  menschlichen 
Natur  und  ihrer  isolierten  Verstandesveranlagung  stützen, 
sondern  Kräfte,  die  allein  bestehen  in  Offenbarung,  Gnade, 
Erleuchtung  der  Vernunft  und  der  Herzen,  und  in  einer 
diesen  unsichtbaren  Kräften  entsprechenden,  sichtbaren 
Organisation  —  einer  Organisation,  die  ihrerseits  erst 
auch  jene  unteren  gemeinschaftsbildenden  Mächte  zu  der 
ihnen  möglichen  Wirksamkeit  gelangen  läßt. 

Ist  es  —  wie  ich  sagte  —  heute  die  Einsicht  aller  Be- 
sten, daß  wir  im  Ökonomischen  und  Politischen  vor 
einem  die  Kräfte  organisierenden  Zeitalter  stehen,  so  muß 
auch  —  bei  der  inneren  Zusammengehörigkeit  aller  Teile 
des  sozialen  Lebens  —  das  geistige  Leben,  also  auch 
Philosophie,  Kunst,  Wissenschaft  ap  jenem  tiefgehenden 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwartige  Welt.         185 

Wandel  teilnehmen.  Auch  sie  müssen  sich  allmählich  im 
Sinne  der  Idee  chrisdicher  Gemeinschaft  umbilden.  Es 
müßte  unser  gesamtes  europäisches,  kulturelles  Schaffen 
den  Geist  liebegeleiteter,  wahrer  Kooperation  der  In- 
dividuen, Schulen,  Nationen,  Generationen  wiedergewin- 
nen. Es  müßte  das  geistige  Leben  demgemäß  auch  das 
Prinzip  der  liebevollen  Hingabe  an  die  objektive  Welt 
und  den  Gedanken  ihrer  unmittelbaren  Seins-Erfessung 
in  Wahrnehmung  und  Erkenntnis  an  Stelle  des  bisherigen 
sogenannten  »Idealismus«  und  »Kritizismus«  —  die  alle- 
samt auf  jener  falschen  Weltfeindschaft  beruhen  —  wie- 
der in  sich  aufnehmen.  Und  alle  Philosophie,  Kunst  und 
Wissenschaft  müßte  wieder  lernen,  die  Wesenskonstan- 
ten der  Welt  und  ihre  Zusammenhänge,  die  an  ihren  zu- 
fälligen-Einzeldingen  erschaubaren  göttlichen  Wesens- 
ideen, nach  denen  Gott  die  Welt  geordnet,  gegenüber 
allem  bloß  Veränderlichen  der  Welt  und  technisch  durch 
uns  Beherrschbaren  an  ihr  wieder  zu  sehen,  zu  achten  und 
zu  lieben.  So  sind  die  inneren  Folgen  der  christlichen  Ge- 
meinschaftsidee auch  für  das  ganze  Kulturdasein,  in  Theo- 
rie und  Werk  neu  zu  entwickeln,  und  es  ist  das  hohe  Gut 
auch  der  christlichen  Kulturgemeinschaftsidee  an 
die  leeren  Stellen  zu  setzen,  die  in  den  Gemütern  durch 
den  Zusammenbruch  der  vor  dem  Krieg  so  stark  über- 
schätzten Kräfte  geistiger  Menscheneinigung  durch  die 
außerchristliche  Kulturidee  entstanden  sind.  Das  muß  eine 
unserer  allerwesentlichsten.  Aufgaben  zum  Wiederaufbau 
des  Gemeinschaftslebens  sein.  Sehen  Sie  sich  z.  B.  jenen 
unseligen  Sünder  Friedrich  Adler  an,  der  jüngst  auf  den 
Grafen  Stürgkh  schoß,  der  selbst  so  liebenswert  ist  als 
seme  Tat  furchtbar  und  hassenswert.  Seine  entsetzliche 


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1 86         I>ie  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

und  psychologisch  doch  sehr  wohlbegfreifliche  Tat  war  die 
Folge  seiner  Verzweiflung  an  der  Internationale,  die  dieser 
Arme  allein  als  übernationale,  überstaatliche,  menschlichen 
Zusammenhang  bewirkende  Macht  kannte;  deren  Sekre- 
tär für  den  1914  in  Wien  in  Aussicht  genonmienen  Kon- 
greß er  war;  mit  deren  Existenz  er  sich  und  seine  ganze 
moralische  Würde  identifizierte,  an  die  er  wie  an  einen 
Götzen  glaubte  —  so  glaubte,  wie  der  Mensch  nur  an 
Gott  und  an  keine  irdische  Institution  glauben  darf;  mit 
deren  Zusammenbruch  folgerichtig  auch  seine  moralische 
Existenz  zusammenbrach.  Sehen  Sie  diese  fast  wildtragische 
Figur,  die  aus  falscher,  maßloser,  der  menschlichen  Sünd- 
haftigkeit vergessender  Verdammung  des  Krieges  über- 
haupt, als  ,Massenmordes*  zu  einem  wahren  und  wirk- 
lichen Mörder  wurde  —  nicht  aus  einem  egoistischen 
Grunde,  neiil  mit  der  an  sich  reinen  und  hohen  subjek- 
tiven Intention,  sich  selbst  einer  Idee  zu  opfern.  Betrach- 
ten Sie  diese  Figur  als  ein  Symbol  für  die  gleiche  oder 
analoge  Enttäuschung^  Tausender  und  Abertausender,  die 
nur  weniger  fanatisch,  aber  auch  weniger  sich  selber  treu 
und  von  denen  die  meisten  vielleicht  sogar  nur  viel 
weniger  subjektiv  moralisch  waren.  Dann  werden  Sie 
wissen,  was  Sie  zu  tun  haben. 

Ebenso  wichtig  als  die  Weisungen,  die  uns  die  christ- 
liche Gemeinschaftsidee  für  die  Fortentwicklung  der  poli- 
tischen Organisation  und  der  geistig-kulturellen  Gemein- 
schaft gibt,  sind  die  Fingerzeige,  die  für  unsere  Stellung- 
nahme bezüglich  des  andern  der  genannten  Gegensätze  aus 
ihr  hervorgehen.  Ich  nannte  sie  —  die  Sache  vereinfachend 
—  freies,  wirtschaftliches  Konkurrenzsystem  und 
Staatssozialismus.  Es  steht  hierbei  durchaus  nicht  so,  daß 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         187 

aus  der  christlichen  Gemeinschaftsidee  und  den  Grund- 
Sätzen  der  christlichen  Ethik,  und  der  diesen  Grundsätzen 
geniäßen,objektivgültigenAbstufungderWelt-undGeistes- 
güter,  ein  ganz  bestimmtes  Wirtschaftssystem  hervorginge ; 
oder  gar  aus  diesen  Grundsätzen  logisch  herzuleiten  sei. 
Das  ist  schon  darum  ausgeschlossen,  da  die  christliche  Ge- 
meinschaftsidee und  diese  Abstufung  der  Güter  einEwiges , 
Dauerndes  ist,  die  ökonomischen  Systeme,  unter  denen 
die  Völker  leben,  aber  dem  reichsten  historischen  Wechsel 
unterliegen.  Sie  unterliegen  sogar  einem  noch  reicheren 
Wechsel  wie  die  politischen  Verfassungsformen.  Die  Exi- 
stenz eines  jeden  solchen  Systems  und  seine  Beschaffenheit 
ist  ja  von  einer  schier  unermeßlichen  Anzahl  von  Ursachen 
abhängig,  von  Ursachen,  die  mit  der  religiösen  Weltan- 
schauung der  Träger  des  Sylstems  wenig,  oder  nur  sehr  in- 
direkt oder  gar  nichts  zu  tun  haben;  z.  B.  von  der  tätigen 
oder  kontemplativen  Anlage  der  Völker,  ihrem  Tempera- 
ment, ihrer  nationalen  Erfindirngskraft,  von  Boden,  Klima, 
Naturschätzen,  vom  Stand  der  Technik  und  herrschenden 
inneren  und  äußeren  Rechtsverhältnissen  und  tausend  ande- 
rem mehr.  Aber  wie  sich  überall  in  Natur  und  Geschichte 
der  Geist  den  Körper  baut,  so  ist  auch  jedes  ökonomische 
System  in  erster  Linie  abhängig  von  einem  Faktor,  den 
wir  den  je  grundherrschenden  ,Wirtschaftsgeist*,  oder 
das  je  grundherrschende  , Wirtschaftsethos'  der  je  vor- 
bildlichen und  führenden  Schicht  in  einem  Lande  nennen 
können.  Dieser  Faktor  macht  die  zusammenfassende  innere 
Seele  auch  der  äußeren  Organisation  aus,  und  er  drückt 
sein  Siegel  auf  jede  noch  so  geringe  ökonomische  Hand- 
lung und  Daseinsform.  Durch  die  Vermittlung  dieses  Wirt- 
schaftsethos der  je  führenden  vorbildlichen  Schicht  hindurch 

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1 88         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

Übt  aber  die  religiöse  Weltanschauung,  und  an  erster  Stelle 
die  Gemeinschaftsidee,  die  sie  enthält,  auch  auf  die  Ge- 
staltung des  Wirtschaftslebens  eine  unermeßliche  Wirkung 
aus.  Gerade  neuere  Forschungen  des  ausgezeichneten  Na- 
tionalökonomen Max  Weber,  desgleichen  Forschungen  von 
E.  Troeltsch,  W.  Sombart  u.  a.,  die  in  dieser  Richtung  z.  B. 
die  Beteiligung  des  Calvinismus  und  anderer  protestanti- 
scher Sekten  an  der  Entstehung  des  modernen  Kapitalis- 
mus, neuerdings  den  Zusammenhang  der  großen  Welt- 
religionen auch  Chinas  und  Indiens,  mit  den  Wirtschafts- 
systemen dieser  Länder  genau  untersuchten  (siehe  hiezu 
Max  Webers  Arbeiten  in  den  letzten  Heften  des  Archivs 
für  Sozialwissenschaft  und  Sozialpolitik),  haben  diese  Tat- 
sache über  jeden  Zweifel  erhoben. 

Daß  jenes  ,liberale*  Wirtschaftssystem  des  »laisser 
faire«,  dessen  Geist  ein  durch  keine  Idee  von  Bedarfs- 
deckung  begrenztes  Arbeits-  und  Erwerbsstreben  der 
einzelnen  ökonomischen  Individuen  gewesen  ist,  welches 
ein  besonderes  Verteilungsproblem  (d.  h.  ein  Problem 
»gerechter«  Verteilung)  der  materiellen  Güter  nicht 
kannte,  sondern  nur  das  Problem  der  maximalen  Pro- 
duktion der  Güter  und  das  auf  deistischem  Religions- 
hintergrund in  einem  durchaus  falschen  Glauben  an  die 
natürliche  Harmonie  der  bloßen  Triebe  auch  die  beste 
Güterverteilung  von  einer  absolut  freien  Konkurrenz 
der  Wirtschaftssubjekte  und  vom  grenzenlosen  Freihan- 
del erwartete,  den  Atem  der  Geschichte  seit  langem 
schon  nicht  mehr  für  sich  hatte,  das  brauche  ich  Ihnen 
nicht  zu  sagen,  Längst  leben  wir  ja  schon  im  Zeitalter 
weitgehenden  Staatsbetriebes,  einer  kraftvollen  Sozial- 
politik und  der  aus  ihr  entstammenden  deutschen,  in  Eng- 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.  189 

land  durch  Lloyd  George  nachgeahmten  Arbeitergesetz- 
gebung, im  Zeitalter  der  großen  Arbeiter-  und  Unternehmer- 
organisationen, und  —  wirtschafts-  sowie  außenpolitisch  — 
in  einem  Zeitalter  des  sogenannten  Neomerkantilismus,  in 
dem  der  Staat  der  Arbeit,  der  Ware  und  den  Gütern  die 
Wege  bahnt,  schließlich,  wie  wir  heute  sehen,  mit  der  Ge- 
walt der  Waffen.  Der  Krieg  hat  uns  dazu  das  wunderbare 
Schauspiel  gebracht,  daß  die  Arbeiterorganisationen  in 
unserem  Lande,  voran  die  Gewerkschaften,  auch  die  sozial- 
demokratischen, welch  letztere  von  Hause  aus  mehr  aus 
einem  staatsfeindlichen  als  staatsfreundlichen  Geiste  heraus 
entsprungen  waren,  sich  mit  dem  Staate,  ja  sogar  vielfach 
mit  den  ihnen  früher  so  oft  verhaßten  Untemehmerorgani- 
sationen  zusammenschlössen  zu  einer  einzigen,  geschlos- 
senen, großen,  nationalen  Arbeitsgemeinschaft.  Wir  sahen 
den  demokratischen  Sozialismus  in  unserem  Landö^  auf- 
hören, sich  wie  einen  Staat  im  Staat  zu  fühlen,  sahen  ihn 
seine  Hoffnungen  auf  eine  internationale  Klassenrevolution 
zum  größten  Teile  begraben;  sahen  ihn.sich  praktisch  und 
*  tätig  einordnen  in  den  lebendigen  Staatsorganismus,  sahen 
ihn  seine  Kritiksucht  zurückstellen,  seine  Zukunftstaats- 
utopien vor  praktischer  Gegenwartsarbeit  fallen  lassen. 
Wir  sahen  auch  einen  größeren  Teil  unserer  leitenden  In- 
dustrie-, Handels-  und  Finanzkreise  aus  ihren  Geschäften 
gleichsam  heraustreten,  nicht  nur  unerhörte  Geldopfer  für 
die  Kriegskosten  bringen,  sondern  sich  betragen  wie  frei- 
willige Beamte  des  Staates,  die  in  all  ihren  Maßnahmen 
nicht  mehr  nur  an  ihre  und  ihres  Betriebes  geschäfdichen 
Vorteile,  sondern  an  die  Wohlfahrt  des  Ganzen  denken. 
Der  Geist  des  Opfers,  d.  h.  der  Geist  jener  zentralsten 
Idee  des  christlichen  Glaubens,  die  wir  in  ihrer  erhaben- 


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I  gO         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

sten  Form  immer  neu  anschauen  und  mitvollziehen  in  den 
mystischen  Tiefen  der  heiligen  Messe,  schien  die  ge- 
samte Lebensluft  zu  erfüllen  und  sich  auch  in  die  irdi- 
schen Sphären  des  ökonomischen  Daseins  herabzusenken. 
.  Gewiß,  das  sind  große,  tiefgehende  Wandlungen,  seelen- 
aufwühlende Erlebnisse!  Aber  in  welche  Richtung  soll 
unsere  Weltanschauung  sie  leiten?  Und  wie  soll  sie  diese 
neugeborenen  Kräfte  über  ihre  momentane  Existenz  hin- 
ausführen? 

Nun  viele,  sehr  viele  unserer  besten  Deutschen  sehen 
in  diesen  gesamten  Vorgängen  schon  so  etwas  wie  die  be- 
ginnende Verwirklichung  des  Sozialismus^  zwar  gerade 
nicht  in  der  Form,  wie  sie  Karl  Marx,  nein,  mehr  in  jener 
Form,  wie  sie  etwa  Ferdinand  Lassalle  geträumt  hat,  d.  h. 
in  der  Form  eines:  politisch  zwar  monarchistischen,  aber 
wesentlich  staatssozialistischen,  nationalen  Gemeinwesens. 
Man  denkt  sich  das  so:  Man  will  die  Kriegsorganisationen 
mit  ihren  weitgehenden  Eingriffen  in  die  Freiheit  des  Wirt- 
schaftslebens nicht  nur  zu  einem  großen  Teile  über  die 
Kriegszeit  hinaus  erhalten  —  wieweit  dies  richtig  ist,  ist 
nur  eine  Zweckmäßigkeitsfrage;  m'an  will  sie  vielmehr 
zum  Ausgangspunkte  eines  grundlegenden  Umbaues 
unserer  gesamten  Wirtschaftsverfassung  machen;  ja  man 
will  den  Krieg  und  das,  was  er  und  seine  Not  uns  an  staats- 
sozialistischen Maßnahmen  und  Gesetzgebungsakten  ab- 
gerungen hat,  gleichsam  zu  einer  Auslösung  machen  eines 
dauernden  und  wesendichen  Umschwunges  unserer  Wirt- 
schaftsverfassung —  in  einer  Richtung,  die,  wie  man  uns 

^  Vgl.  hierzu  meine  Bemerkungen  »1789  und  19 14'  zu  Joh.  Plenge's  Buch 
»1789  und  1914«  im  Archiv  f.  Sozialw.  und  Sozialpolitik,  Bd.  42,  Heft  2  und 
meinen  Auüsatz  über  W.  Rathenaus  Buch  »Kommende  Dinge«  im  Hoch- 
land 1917. 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         191 

sagt,  unserer  alten  deutschen  Anlage  und  Geschichte,  die 
uns  jahrhundertelang  das  Bild  einer  in  Ständen,  Zünften, 
Genossenschaften  aller  Art  organisierten  Wirtschaft  dar- 
bot, wieder  mehr  entspräche.  Forderungen,  wie  die  nach 
einem  Frauendienstjahr  —  gleichfalls  stark  staats- 
sozialistisch gefärbten  Ideen  entsprungen,  weiter  nach  einer 
nationalen  Einheitsschule  mit  Beseitigung  der  Standes- 
schulen und  der  KlassendifFerenzen  der  Schulanstalten,  ge- 
sellen sich  gerne  zu  diesen  Gedapken.  Ist  es  der  christ- 
lichen Gemeinschaftsidee  entsprechend,  solche  Denkart 
zu  bejahen?  Ich  beantworte  diese  Frage  mit  einem  be- 
stimmten Nein! 

Es  wäre  ein  grundlegender  Irrtum,  zuerst  mit  vielen  So- 
zialphilosophen und  Nationalökonomen,  z.  B.  mit  Dietzel, 
ein  sogenanntes  Sozialprinzip  und  ein  sogenanntes  Indi- 
vidualprinzip  zu  unterscheiden,  und  dann  etwa  die  christ- 
liche Gemeinschaftsidee  einfach  auf  die  Seite  der  unter 
das  sogenannte  Sozialprinzip  fallenden  Gemeinschafts- 
ideen zu  stellen.  Denn  die  chrisdiche  Gemeinschaftsidee 
ist  ein  Drittes,  also  weder  eines  von  beiden,  noch  eine 
trübe  Zusammensetzung  aus  beiden.  Gewiß  liegt  es  in  der 
innersten  Triebkraft  der  christlichen  Gemeinschaftsidee, 
auch  ökonomisch  das  Gemeinwesen  zu  organisieren, 
zu  organisieren  in  ein  System  von  Ständen,  weiter  in  Be- 
rufs-Arbeitsgemeinschaften aller  Art  usw.  Aber  erstens  hat 
dies  im  Geiste  der  christlichen  Gemeinschaftsidee  in  solcher 
Weise  zu  geschehen,  daß  die  geistig  leibliche,  unteilbare 
Individualeinheit,  deren  Kern  die  gottgeschaffene  Knzel- 
seele  ist,  auch  bis  in  ihr  ökonomisches  Dasein  hinein  einen 
selbständigen,  freien,  nur  ihr  zu  eigenen  Spielraum 
ihrer  Rechte  und  ihrer  Tätigkeiten  sich  bewahrt;  und 


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192         I^ic  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  \yelt. 

zweitens  so,  daß  sie  nicht  von  einer  zentralen  Staatsall- 
macht gesetzlich  erst  gezwungen,  sondern  im  wesentlichen 
—  aus  freien  Stücken  heraus,  mächtig  angefeuert  durch 
eine  moralisch-religiöse,  nicht  aber  durch  eine  staadiche 
Macht,  nämlich  von  ihrem  natürlichen  und  sittlichen  Glied- 
schafts -  und  Mitgliedschaftsbewußtsein  in  einer  gan- 
zen Anzahl  verschiedenartiger,  aber  an  Rang  gleich  dem 
Range  der  Güter  und  Tätigkeiten,  mit  denen  jede  es  zu 
tun  hat,  verschiedenen  und  verschieden  beschaffenen 
Gemeinschaften  sich  selbst  mit  ihresgleichen  zu  einem 
sittlichen  Ganzen  kooperativ  zusammenschließt.  Ich  schrieb 
schon  folgenden  Satz^:  ,In  einer  unter  Inspiration  des  reli- 
giösen Gedankens  organisierten  Menschengemeinschaft 
hat  die  kleinste  Arbeit  eines  jeden  einen  weit  über  ihren 
unmittelbaren  Zweck  und  die  individuelle  Absicht  des  ein- 
zelnen hinausgreifenden  fühlbaren  Sinn.  Er  weiß  sich  in 
ihr  einen  geheimen  Befehl  vollstrecken,  der  durch  die  ver- 
schiedenartigen Gesamtheiten,  denen  er  angehört — Stand, 
Berufsgemeinschaft,  Volkstum,  Nation  usw.  — ,  mit  ver- 
schiedener Stärke  hindurch  ertönt,  der  aber  seinen  letzten 
Ausgangspunkt  im  Gesamtsinne  hat,  den  Gott,  der  Herr 
dieser  Weltordnung,  gegeben  hat.  Dieser  Sinn  und  diese 
höhere  Weihe  der  Arbeit  ist  dem  modernen  Menschen 
verloren  gegangen  und  damit  ein  Weltsinn  seiner  Arbeit 
überhaupt.^ 

Das  heißt  aber:  Nicht  darauf  darf  es  abzielen,  daß 
jeder  von  uns  eine  Art  wirklicher  Staatsbeamter  oder 
Staatsarbeiter  in  einem  großen  Bienenhause  werde,  son- 
dern darauf  kommt  es  an,  daß  auch  der  Nichtbeamte 

^  Siehe  «Soziologische  Neuorientierung«  in  meinem  Buche  »Krieg  und 
Aufbau'. 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         k  93 

und  Nichtstaatsarbeiter  mit  dem  religiös  fundierten  Be- 
wußtsein und  Gefühl  einer  Art  von  Amtscharakter 
und  pflichtmäßigem  Dienstcharakter  seine  Arbeit,  auch 
die  schwere,  gerne  und  mit  Freuden  tue;  seine  Wirt- 
Schaft  führe  an  eben  der  hohen  oder  niedrigen  Stelle, 
wohin  Gott  es  wohlgefiel,  ihn  durch  seine  natürliche  Be- 
gabung, seine  Standeszugehörigkeit  und  durch  den  Gang 
der  gottgeleiteten  Geschichte  hinzustellen.  Eben  in  dem 
Maße,  als  dies  der  Fall  ist,  wird  der  in  unserem  Volke 
vor  dem  Kriege  viel  zu  starke  Gegensatz  von  staatlicher 
Bureaukratie  und  Privatmensch,  von  Staat  und  Volk  er- 
mäßigt und  erweicht,  und  gerade  dadurch  wird  die  bittere, 
den  Nichtbestand  eines  christlichen  Gemeinschafts- 
geistes und  damit  eine  sittliche  Erkrankung  des  Volkskör- 
pers schon  voraussetzende  Medizin  eines  alles  aufzeh- 
renden Staatssozialismus  unnötig  gemacht.  Dieses  Amts- 
geftihl,  das  im  selben  Maße,  als  es  da  ist,  gerade  den  Be- 
amten erspart  und  unnötig  macht,  muß  von  allem  regle- 
mentierenden^ Staat  s  Sozialismus  scharf  unterschieden 
werden.  Dieses  Gefühl  —  nicht  der  Staatssozialismus  — 
ist  nun  allerdings  auch  eine  ebenso  stark  deutsche  als 
katholische  Tradition,  und  es  gibt  nur  ganz  wenige 
Grundelemente  unseres  sittlichen  Bewußtseins,  in  dem  sich 
katholisch  und  deutsch  so  glücklich  und  so  tief  decken 
wie  hier.  Darum  müssen  wir  aber  auch  zwischen  einer 
wesentlich  freien  Wirtschaft,  die  nach  Beendigung  des 
Krieges  die  nur  vorübergehend  notwendigen  staatssozia- 
listischen Maßnahmen  wieder  abwirft,  und  dem  falschen 
altliberalen  ungeordneten  Konkurrenzsystem  scharf  schei- 
den. Der  Geist  und  grenzenlose  Trieb  des  Konkurrierens, 
des  blofien  Mehrhaben-  und  Mehrseinwollens  aller  gegen- 

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194         ^^  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

über  allen,  dieser  Geist,  nicht  die  Freiheit  der  Wirt- 
schaft als  objektive  Rechtsinstitution  ist  das  Falsche,  Und 
dieser  Geist  grenzenloser  Pleonexie,  dieser  spezifisch 
unvomehme,  alles  echte  Selbstwertgefiihl  verleugnende, 
dieser  im  schärfsten  Wortsinne  ,gemeine'  Geist,  kann 
prinzipiell  einen  Staat  und  seine  Wirtschaftsbeamten 
ganz  genau  so  gut  erfüllen,  wie  er  bei  wesentlich  freier 
Wirtschaft  die  einzelnen  nicht  notwendig  zu  erfüllen 
braucht.  Das  ist  die  verderbliche  Schiefe  des  Gegensatzes, 
den  heute  so  viele  machen,  wenn  sie  meinen,  daß  Staats- 
sozialismus und  freie  Wirtschaft  als  objektive  Rechts-  und 
Organisations formen  schon  etwas  über  den  Wirtschafts- 
geist einer  historischen  Wirtschaft  aussagen.  Ist  z.  B.  der 
Geist  der  Pleonexie  und  Konkurrenz  in  der  vorbildlichen 
Minorität  eines  Gemeinwesens  der  Spiritus  rector,  so  über- 
trägt er  sich,  wenn  dieses  Gemeinwesen  individuelle  wirt- 
schaftliche Formen  verläßt  und  vorwiegend  staatssozia- 
listische Formen  annimmt,  nur  einfach  auf  das  neue  Sub- 
jekt ,Staat',  das  jetzt  im  Verhältnis  zu  anderen  Staaten 
und  desgleichen  im  Verhältnis  zu  der  nichtleitenden  Be- 
völkerung des  Staates  diesen  verderblichen  Geist  nur  in 
neuer  Form  befriedigt.  Keineswegs  verschwindet  also 
notwendig  dieser  Geist  durch  ein  staatssozialistisches 
neues  System.  Auch  für  die  gerechtere  Verteilung  der 
Güter  ist  Staatssozialismus  nur  dann  eine  Hilfe,  wenn,  — 
ja  wenn  es  eben  der  Geist  der  Gerechtigkeit  ist,  der 
die  Leiter  und  Beamten  dieses  staatssozialistischen  Staates 
beseelt.  Sonst  kann  Staatssozialismus  genau  so  zu  ein- 
seitigster Bereicherung  der  leitenden  Wirtschaftsbeamten- 
schaft führen  wie  das  freiere  System.  Ist  es  gar  der,  die 
finanzkräftige  und  im  Kriege  zum  Teil  erst  reich  gewor- 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt  195 

dene  Volksschicht  an  die  Spitze  des  Staates  führende 
Krieg,  der  das  staatssozialistische  System  zuerst  als  Not- 
wendigkeit aiislöst,  so  besteht  um  so  iveniger  Grund 
zur  Annahme,  daß  sich  dauernd,  nicht  nur  als  momen- 
tanes Zugeständnis  dieser  herrschenden  Schicht  an  die 
am  Kriege  leidende  Masse  —  schon,  um  sie  während 
des  Krieges  in  guter  Laune  zu  erhalten  — ,  die  Güter- 
verteilung gerechter  gestalten  werde  als  in  der  freien 
Wirtschaft.  Und  dazu  kommt  noch  eins:  Wir  Christen 
glauben  zwar,  daß  die  staatliche  Obrigkeit  überhaupt 
•  von  Gott  stammt  —  niemals  eine  besondere  Verfassung 
oder  gar  Regierung  — ,  auch  daß  der  Staat  das  eventuelle 
Recht  hat,  in  das  Wirtschaftsleben  ordnend  einzugreifen 
und  sich  die  Menschen  als  ökonomische  Subjekte  bis  zu 
einer  bestimmten  Grenze  zu  unterwerfen:  Aber  wir  glau- 
ben auch  fest,  daß  der  Mensch  schon  als  Subjekt  geisti- 
ger Bildung,.  Sprachbetätigung  und  Kultur,  erst  recht 
aber  der  Mensch  als  religiöses  Subjekt  und  als  Glied 
am  Leibe  Christi  dem  Staate,  dem  von  ihm  gesetzten 
Rechte  und  allem  möglichen  ,Zugriflr  durch  ihn  unbedingt 
überlegen  ist.  Wären  wir  aber  bei  der  Herrschaft  eines 
stark  erweiterten  Staatssozialismus  einmal  wirtschaftlich 
imd  in  unserer  ganzen  Lebenshaltung  vom  Staate  gänzlich 
abhängig,  so  könnte  uns  derJStaat  auch  in  diesen  geistigen 
Dingen,  ja  selbst  bis  in  die  Sphäre  des  religiösen  Gewis- 
sens hinein,  in  diejenige  Richtung  zu  zwingen  versuchen, 
die  dem  Geiste  seiner  jeweiligen  Regierung  angemessen 
ist.  In  unserem  Falle  müssen  wir  uns  aber  darauf  gefaßt 
machen,  daß  schon  aus  den  technischen  Gründen, 
welche  die  eminent  schwierigen  ökonomischen,  finanz-  und 
steuertechnischen  Aufgaben  nach  dem  Kriege  mit  sich 

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1 96  Di^  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt 

bringen,  auch  derjenige  Typus  ,deutscher  Mensch'  an  die 
Spitze  der  höchsten  Reichsämter  —  wenn  auch  vielleicht 
nicht  der  höchsten  —  gelangen  wird,  der  vermöge  seiner 
Fachkenntnisse,  seiner  Gewandtheit  und  Erfahrung  in 
diesen  Dingen  die  klügsten  Lösungen  verspricht.  So  hoch- 
achtbar uns  seine  Vertreter  sein  werden,  so  werden  sie 
doch  nicht  nur  ihre  Fachkenntnisse,  sondern  ihre  gesamte 
Lebens-  und  Weltanschauung  auf  ihre  Plätze  mit- 
bringen; und  daß  es  unwahrscheinlich  ist,  daß  diese  der 
chrisdichen  Weltanschauung  besonders  ähnlich  oder  ihr 
freundlich  gesinnt  sein  wird,  das  brauche  ich  Ihnen  hoffent- 
lich nicht  zu  sage». 

Also  nicht  auf  Einführung  eines  systematischen  Staats- 
sozialismus, sondern  auf  die  Ausbreitung  des  der  christ- 
lichen Gemdnschaftsidee  gemäßen  Wirtschaftsgeistes 
kommt  es  an.  Da  aber  können  wir  vor  allem  an  zwei 
Punkten  anknüpfen:  an  die  mit  Sicherheit  eminent  folgen- 
reiche gänzliche  Zertrümmerung  der  Zukunftsstaatsidole 
unserer  Arbeitermassen  durch  den  Krieg  und  an  die 
bestehende  Tendenz  der  besten  Elemente  dieser  Massen, 
aus  einer  fluktuierenden,  staatsfeindlichen  und  oft  auch 
kirchenfeindlichen  Klasse  sich  zu  einem  mit  sicheren 
Rechten  ausgerüsteten  festen  Stand  zu  gestalten,  und 
sich  dem  nationalen  Leben  als  solcher  zu  inkorporieren. 

Man  kann  aus  der  Kenntnis  der  menschlichen  Natur, 
aus  geschichtlicher  Bildung  usw.  über  das  Idol,  in  dem 
ein  so  großer  Teil  unseres  Volkes  vor  dem  Kriege  ge- 
lebt hat,  über  den  sogenannten  »Zukunftsstaat«,  lachen. 
Sicher  widerspricht  dieses  Idol  allen  Grundgesetzen  der 
menschlichen  Natur.  Aber  man  sollte  dabei  erwägen,  daß 
es  immer  lieblos  ist,  nichts  als  zu  spotten  und  zu  lachen 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Weh.         19^ 

über  das — und  wäre  es  auch  irrtümlich — ,  wovon  die  Seele 
eines  Menschen  heimlich  lebt,  auf  was  sie  baut  und  auf 
was  sie  hofft,  um  dessentwillen  sie  ein  schweres  Leben 
erträgt.  Und  hier  handelt  es  sich  nicht  um  eine,  sondern 
um  gar  sehr  viele  Seelen.  Ich  weiß  nicht,  ob  Ihnen  be- 
kannt ist,  daß  gerade  auch  diese  moderne  Zukunftsstaats- 
idee psychologisch  eine  religiöse  Wurzel  hat.  Sie  wissen, 
daß  sie  aus  der  Gedankenwelt  von  Karl  Marx  stammt; 
Sie  wissen,  daß  Marx  Jude  war,  und  Sie  wissen,  daß  das 
gläubige  Judentum  noch  heute  denMessianismus  zu  einer 
seiner  tiefsten  Glaubenswiu'zeln  hat.  All  sein  großes  Leiden 
trugjuda  kraft  dieser  vor  ihm  herschreitenden  messianischen 
Hofihung.  Auch  die  ungläubig  gewordenen  Juden  behielten 
diese  Form  des  Denkens  und  Zukunftshoffens  bei,  wenn 
sie  auch  an  die  Stelle  des  kommenden  Messias  der  gläubigen 
Juden  ganz  andere  Inhalte,  z.  B.  ganz  moderne,  setzten, 
—  Inhalte,  die  sich  ihnen  aus  ,wissenschaftli<4ien*  Über- 
legungen zu  ergeben  schienen.  Wir  wissen,  daß  die  see- 
lische Wurzel  der  Zukunftsstaatsidee  diese  jüdische  reli- 
giös6  Denkform  des  Messianismus  in  Marx  war^  Bei 
einem  gewaltigen  Teil  unseres  Volkes  fungierte  diese 
ihrer  Herkunft  nach  selbst  religiöse  Zukunftsstaatsidee 
ganz  ohne  Zweifel  als  Surrogat  einer  positiven  Religion. 
Der  sogenannte  ,Zukunftsstaat'  stand  im  Bewußtsein  der 
Menschen  eben  da,  wo  Gott  zu  stehen  hat,  und  seine  selige 
Anschauung  im  Leben  der  Ewigkeit.  Kein  Wunder  auch! 
Iph  halte  es  für  einen  genau  beweisbaren  Satz  der  Reli- 
gionsphilosophie und  -Psychologie,  daß  das  endliche  Be- 
wußtsein nicht  die  Wahl  hat,  an  etwas  zu  glauben  oder 

'  Siehe  hierzu  auch  die  treffenden  Ausführungen  von  J.  Plenge  in  seinem 
Buche  ,Marx  und  Hegel'. 


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igS         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

an  etwas  nicht  zu  glauben.  Jeder  Mensch,  der  sich  und 
andere  genau  prüft,  wird  finden,  daß  er  sich  mit  einem 
bestimmten  Gute  oder  einer  Güterart  so  identifiziert,  daß 
sein  persönliches  Verhältnis  zu  diesem  Gute  in  die  Worte 
faßbar  ist:  ,Ohne  dich,  an  das  ich  glaube,  kann  ich  nicht 
sein,  will  ich  nicht  sein,  soll  ich  nicht  sein/  —  ,Wir  beide, 
ich  und  du  Gut,  wir  stehen  und  fallen  zusammen/  Dieses 
Gut  wechselt  freilich  für  die  Individuen  und  Völker,  Klas- 
sen usw.  in  seinem  Inhalt  unendlich.  Den  Mammons- 
dienem  ist  es  das  Geld,  den  absoluten  Staatsgötzen- 
dienern  der  Staat,  demjenigen,  der  die  Nation  zum  ,höch- 
sten  Gute'  macht,  ist  es  die  Nation.  Dem  Kinde  ist  es 
vielleicht  seine  Puppe.  Also  der  Mensch  glaubt  ent- 
weder an  Gott,  oder  er  glaubt  an  einen  Götzen. 
Kein  Drittes!  Daraus  aber  folgt:  Wird  ein  Mensch  an 
seinem  Götzen  irre,  wird  er  über  die  Stelle,  die  er  ihm 
einräumte  im  System  seiner  Güter,  wird  er  in  dem,  was 
er  in  ungeordneter  Weise  liebte,  hoffte,  glaubte,  ent- 
täuscht, so  sollten  alle,  alle  um  ihn  herum  voll  Liebe, 
voll  Ehrfurcht,  voll  Ergriffenheit  auf  diesen  Menschen  hin- 
schauen. In  ihm  kann  sich  jetzt  Großes  begeben :  er  kann 
reif  werden  für  den  Glauben  an  den  wahren  Gott.  Unsere 
Vernunft  und  unser  Herz  haben  einen  natürlichen  Hang  und 
Sinn  nach  Ihm.  Sind  nur  die  Götzen  zerschmettert  und  ent- 
stehen Leeren  da,  wo  jeder  Mensch  immer  voll  ist  und 
voll  sein  muß,  so  neigt  die  Seele  von  selbst  zu  Gott 
zurückzukehren,  und  sie  wird  zurückkehren,  wenn  sie  nicht 
durch  neue  Götzen  vorzeitig  abgelenkt  wird.  Also  ist  jetzt, 
nachdem  dieses  Idol  großer  Massen  zerschmettert  ist,  für 
uns  Unendliches  zu  tun.  Sehen  wir  darauf,  daß  an  den 
Abgrund  unzähliger  leerer  Stellen  der  öl a übe  trete; 


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Die  clirisüiche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt.  199 

und  wir  werden  viel  dazu  beitragen,  daß  unser  Volk  über- 
haupt wieder  zum  rechten  Glauben  zurückkehre. 

Zweitens  —  und  das  ist  mit  dem  ersten  inniger  ver- 
bunden, als  man  denkt  —  wirken  wir  dahin,  daß  aus  der 
Arbeiterklasse  ein  Stand  werde.  Stand  ist  etwas  Stehen- 
des, etwas,  worin  der  Mensch  sich  genügt,  was  der  Mensch 
nicht  gleich  frei  wählt  wie  einen  ,Beruf ,  sondern  worin  er 
sich  , gestellt'  findet;  Stand  ist  aber  auch  wahre  Behei- 
matung  im  Staate,  Beheimatung  im  Bewußtsein  fester, 
abgegrenzter,  sicherer,  von  keinem  antastbarer  Rechts- 
befugnisse. Von  der  christlichen  Gemeinschaftsidee  ist  der 
Standesgedanke  und  eine  bestimmte  Rangordnung  der 
Stände  —  den  Gütern  und  Aufgaben  angemessen,  mit 
denen  es  die  Stände  zu  tun  haben  —  überhaupt  unab- 
trennbar. Dagegen  die  Zahl,  die  Art  der  Stände  und  ihr 
Verhältnis  zum  Staate,  die  können  historisch  wechseln. 
Sie  wissen,  daß  zu  den  sog,  drei  Ständen:  Geistlichkeit, 
Adel,  Bürgertum,  seit  der  französischen  Revolution  ein  so- 
genannter vierter  Stand  hinzutrat.  Heute  wäre  es  ganz  feJsch, 
von  auch  niu-  vier  Ständen  zu  reden.  Zum  mindesten  müßte 
man  auch  von  beginnenden,  werdenden  Ständen  reden  bei 
den  sogenannten  Privatangestellten  und  den  freien  geisti- 
gen Berufen,  die  längst  stärker  mit  dem  vierten  Stand  sym- 
pathisieren als  mit  dem  bürgerlichen  Unternehmertum. 
Doch  darauf  will  ich  hier  nicht  eingehen  und  lieber  sagen, 
was  den  Standesgeist  gegenüber  dem  Klassengeist  charak- 
terisiert. Standesgeist  ist  charakterisiert  durch  die  Liebe 
zum  Werke,  zu  seiner  Qualität  als  erstes  Motiv  der 
Tätigkeit  und  Arbeit,  zum  Bruttoertrag  des  Werkes  als 
zweites,  zum  Nettogeldertage,  d.  h.  zum  Profit,  erst  als 
drittes  Motiv.  Der  bloße  Klassengeist  dagegen  beginnt 


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200         Die  christliche  Liebesidee  und  die  g^en wältige  Welt 

mit  dem  rein  quantitativen  ausmUnzbaren  Geldwert,  und 
alles  andere  ist  nur  unwillig  übernommenes  Mittd  zu 
diesem  Zweck.  Klassengeist  ist  mammonistischer  Geist. 
Im  Stande  findet  das  Arbeitsstreben  und  Erwerbsstreben 
eine  Grenze  durch  den  ,standesmäßigen  Lebensbedarf 
der  Familie.  In  der  Klasse  ist  dieses  Streben  unbegrenzt 
und  findet  erst  durch  die  Konkurrenz  ^ler  mit  allen  die 
Schranke  der  blol^n  Gewalt.  Im  Stande  vergleicht  man 
sich  zwar  mit  Gliedern  desselben  Standes  und  sucht  ihnen 
vorzustreben.  Aber  man  vergleicht  sich  und  seinen  Zu- 
stand nicht  fortwährend  mit  Gliedern  anderer  Stände, 
ein  Vergleichen,  das  wie  von  selbst  zu  ungeheuerem  Haß 
und  Neid  führt.  Dagegen  muß  sich  dort,  wo  es  nur  Klas- 
sen gäbe  und  keinerlei  Stände,  jeder  mit  jedem  fort- 
während vergleichen,  da  hier  nicht  der  Inhalt  der  Arbeit, 
sondern  immer  erst  das  ,Mehr  wie  ein  anderer*  (Mehr- 
sein, Mehrhaben)  als  positives  Tätigkeitsmotiv  empfunden 
wird.  Darum  sind  die  Erscheinungen  des  Klassenhasses 
und  Klassenneides  von  einer  vornehmlich  klassenmäßig 
aufgebauten  Gesellschaft  wesenhaft  unabtrennbar.  Und 
sie  sind  es  um  so  mehr,  als  die  Klassenunterschiede,  die 
immer  an  erster  Stelle  Besitzunterschiede  sind,  bei  der- 
selben formalen  staatsbürgerlichen  Rechtsstellung  der 
Menschen  immer  mehr  wachsen,  was  ja,  Gott  sei  Dank, 
im  modernen  Deutschland  längst  nicht  mehr  der  Fall  ist. 
Eine  solche  Gesellschaft  ist  schon  vermöge  ihrer  Struk- 
turform —  ganz  abgesehen  von  den  besonderen  indivi- 
duellen Charakteren  —  gleichsam  mit  Haß  und  Neid 
geladen.  Ein  Stand  hat  weiter  eine  ,Ehre'  und  ein  , Ge- 
wissen', die  Klasse  nur  ein  Gesamt  inte  r  esse.  Die  Klasse 
hat  nur  die  Rechte,  die  sie  sich  erkämpft,  während  sich 


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\ 

Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt         20 1 

die  Rechte  des  Standes  durch  innere  gegenseitige 
Vereinbarung  mit  anderen  Ständen  und  dem  Staate 
frei  bilden.  Nun,  unsere  derzeitige  soziale  Ordnung  ist 
noch  eine  merkwürdige  Mischung  von  Ständen  und  Klas- 
sen, aber  inuner  noch  eine  Ordnung  mit  bei  weitem  vor- 
wiegender Klassenstruktur,  andererseits  freilich  mit  zwei- 
fellosen Tendenzen  behaftet,  sich  in  neue  Standesein- 
heiten zu  ordnen.  Die  christliche  Gemeinschaftsidee 
gebietet  uns,  diesen  Prozeß  überall  zu  fördern.  Dieser 
Prozeß  kann  nicht  etwa  durch  ein  bloßes  Machen  von 
oben  her  seitens  des  Staates  ersetzt  werden.  Er  muß  sein 
ein  Prozeß  vor  allem  der  freiwilligen  Selbstorgani- 
sation, der  erst  bei  einer  gewissen  so  gewonnenen  Reife 
der  Standesgebilde  auch  zu  einer  bestimmten  formalen 
Rechtsstellung  dieser  Gebilde  im  Staate  führen  kann.  — 

Ich  habe  mit  Absicht  hier  nicht  zu  unmittelbar  praktisch 
gesprochen.  Ich  habe  dies  unterlassen,  weil  mir  heute 
nichts  wichtiger  erscheint,  als  die  ewigen  Werte  der 
christlichen  Gemeinschaftsidee  mit  den  großen  Richt- 
linien der  weltgeschichtlichen  Entfaltung  in  Beziehung  zu 
setzen  und  sie  so  gleichsam  lebendig  und  selbsttätig  zu 
machen. 

Der  Zeitpunkt  eines  neuen,  bisher  freilich  mir  ahnbaren 
morgendlichen  Geistes  und  Frühlings  scheint  nicht  nur  mir 
gekommen  zu  sein  für  die  Wiedergewinnung  eines  großen 
Teiles  der  europäischen  Welt  für  die  chrisdiche  Gen^ein- 
sdiaftsidee.  Tausend  Zeichen  künden  diese  Morgenröte  an. 
Vielleicht  habe  ich  andernorts  einmal  Gelegenheit,  von 
diesen  Zeichen  zu  sprechen  und  zu  versuchen,  sie  zu  deu- 
ten. Aber  eben  diese  Aufgabe,  diese  durch  den  göttlichen 
Umkehrruf  dieses  Krieges  an  Europa  sich  ergebende  neue 


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202         Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwärtige  Welt. 

Situation  legt  allen  Christen  auch  doppeltheilige  Ver- 
pflichtungen auf. 

Bisher  hatten  die  chrisdichen  Elemente  Europas  den 
größten  Teil  ihrer  Energie  darauf  zu  verwenden,  sich  gegen 
die  brausenden  Wogen  der  modernen  Zivilisationen  auf 
allen  »Gebieten  nur  zu  erhalten,  und  die  heilige  Flamme 
ihres  Glaubens  vor  ihren  wilden  Stürmen  zu  behüten.  Das 
hatte  eine  Haltung  und  Stimmung  zur  Folge  des  vorsich- 
tigen, ja  ängstlichen  Sichabschließens  —  einen  gewissen 
Ghettogeist,  einen  Geist,  der  der  weiten,  offenen,  freien 
Katholizität,  der  dem  Seufzer  des  unendlichen  Erbarmens, 
d6r  im  geistigen  Innern  der  chrisdichen  Kirche  stetig  er- 
tönt, nicht  ganz  entspricht.  Es  war  eine  durch  die  Not  ge- 
borene Lage.  Nun  aber  sind  die  Grundfesteh,  auf  denen 
diese  säkulare,  der  chrisdichen  Kirche  fremdgewordene 
moderne  Zivilisation  aufgebaut  ist,  in  ein  mehr  als  be- 
denkliches Wanken  gekommen  —  erschütternder,  als  es 
je  ihre  Geschichte  aufweist! 

Die  skeptische  Erschütterung  dieser  Zivilisation  an  sich 
selbst  und  ihren  Glaubensideen  beginnt  zwar  erst  leise 
sich  zu  regei>.  Aber  der  Ruf  nach  Rettung  wird  immer 
lauter  und  bittender  werden.  Ein  neuer  Büß-  und  Reue- 
wille  und  schwere  Enttäuschung  an  all  dem,  was  sie  einst 
angebetet  und  dem  sie  anfänglich  so  sieghaften  Mutes 
folgte,  keimt  jetzt  schon  in  ihrem  Herzen.  Dieser  Keim 
wird  nach  dem  Kriege,  wenn  die  Völker  erst  langsam  ge- 
wahren werden,  was  sie  getan  haben,  ein  machtvoller, 
breiter,  Europa  durchflutender  Strom  werden,  ein  Strom 
von  Tränen.  Reue  aber  allein  ist  der  Weg  zur  Erneuerung, 
der  Weg  zur  Wiedergeburt  nicht  nur  für  den  einzelnen, 
sondern  auch  für  die  Gesamtheit. 


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Die  christliche  Liebesidee  und  die  g^enwärtige  Welt         203 

In  diesem  Augenblick  aber  wird  unendlich  viel  darauf 
ankommen,  daß  auch  die  christliche  Kirche  jenen  Hilferuf 
erhorche  und  ihm  folge,  und  daß  all  ihre  Angehörigen  an 
der  Hand  einer  neuen  Verlebendigung  ihres  Glaubens  und 
ihrer  Sitten,  zuerst  in  ihrem  eigenen  Herzen,  diese  Herzen 
groß,  offen  und  weit  aufmachen,  um  aus  ihnen  den  leben- 
digen, in  der  chrisdichen  Kirche  heimlich  strömenden  Glau- 
bens- und  Liebesstrom  in  eine  Welt  zu  ergießen,  die  dieses 
Glaubens  und  dieser  Liebe  bedarf  —  die  nach  ihnen  zu 
verlangen  beginnt  —  ja  sie  verlangt  wie  nie  zuvor. 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas  * 

I. 

In  einer  jüngst  erschienenen  Arbeit*  hatte  ich  die  Wogen 
des  Hasses,  die  gegen  das  deutsche  Volk  andrängen,  auf  ihre 
vielseitigen  Quellen  zurückverfolgt.  Ich  hatte  am  Schlüsse 
dieser  Arbeit  die  sittliche  Haltung  geschildert,  die  mir 
gegen  diesen  Haß  fast  einer  ganzen  Welt  angemessen 
schien.  Es  soll  in  Anknüpfung  an  das  dort  Gefundene 
hier  die  Frage  sein:  Wie  ist  die  bis  in  ihre  letzten  Grund- 
lagen erschütterte  geistig-sittliche  Kultur  Europas  —  die 
im  Winde  flattert  gleich  einer  zerschlissenen  Fahne  über 
Leichenfeldem  —  wieder  aufzubauen?  Welcher  Geist, 
welche  Gesinnung  muß  die  Menschen  dazu  erfüllen? 
Welche  Bildungswerte  und  Bildungskeime  sind  —  aus- 
gerichtet auf  dieses  hohe  Ziel  —  zu  fordern,  welche  zu 
verurteilen  imd  zu  bekämpfen?  Welche  Art  von  Erziehung, 
Lehre,  Bildung  muß  die  künftige  Generation  erhalten,  da- 
mit solcher  Wiederaufbau  möglich  sei?  Was  für  ein  in- 

*  Die  nachfolgenden  Gedanken  sind  zuerst  vom  Verfasser  in  Form  eines 
Vortrages  im  Herbst  191 7  an  der  Urania  in  Wien  ausgesprochen  worden. 
Obgleich  die  Einleitung  des  Aufsatzes,  die  für  die  damalige  politische  Situa- 
tion eine  Richtung  der  Lösung  zeigen  sollte,  heute  ihren  aktuellen  Sinn  ver- 
loren hat,  ist  sie  von  mir  gleichwohl  nicht  gestrichen  worden.  Denn  es  darf 
der  Folgezeit  auch  nicht  der  kleinste  Beweis  dafür  entzogen  werden,  dafi 
>man«  auch  schon  zu  diesem  Zeitpunkt  sehen  konnte,  wohin  eine  ver- 
derbliche Politik  der  deutschen  Regierung  und  die  Mentalität  des  deutschen 
Volkes  das  Reich  steuern  mußte. 
'  »Über« die  Ursachen  des  Deutschenhasses«,  Leipzig  1917. 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  205 

haltliches  Bildungsideal  und  was  für  ein  Leitbild  persön- 
lichen Menschentums  an  den  Spitzen  der  Volkstümer, 
Staaten,  Kulturorganisationen  aller  Art,  —  sei  es  als 
Staatsmann,  Lehrer,  Erzieher,  Offizier,  Priester,  Bürger 
—  müssen  unserer  Seele  vorschweben,  soll  die  zunächst 
fast  aussichtslose  Riesenaufgabe  irgendwie  gelingen? 

Ich  beschränke  mich  hier  auf  den  kulturell-geistigen 
Wiederaufbau,  im  Gegensatz  zum  politischen,  recht- 
lichen, wirtschaftlichen.  —  Aber  wir  müssen  uns  bewußt 
sein,  daß  auch  dieser  kulturelle  Wiederaufbau  nur  ein  Gl  i  e  d 
sein  kann  des  ganzen  und  allseitigen  Wiederaufbaues,  und 
daß  er  an  erster  Stelle  vom  politisch-rechtlichen  —  im  ge- 
ringeren Maße  auch  vom  wirtschaftlichen  —  mitbedingt  ist. 

Ein  wahrhaft  positiver  Geist  darf  —  auch  wenn  er  den 
in  die  Weltacht  erklärten  Mittelmächten  angehört  —  die 
große  Tatsache  nicht  übersehen,  daß  die  Teile  der  uns 
jetzt  feindlichen  Welt  im  Verlaufe  des  jetzt  dreijährigen 
Krieges  in  einem  Maße  geeinigt  wurden,  wie  es  durch  ein 
ganzes  Jahrhundert  des  Friedens  kaum  möglich  gewesen 
wäre;  und  dies  nicht  zum  wenigsten  auch  in  kultureller 
Richtung.  Daß  die  Kraft  dieser  Einigung  zuerst  nur  ge- 
meinsamer Haß,  gemeinsamer  Kampf  aller  Art  gegen  die 
Deutschen  war,  ist  furchtbar  zwar  für  ims,  hebt  aber  die 
große  Tatsache  selbst  nicht  auf.  Die  Einigung  selbst,  die 
mannigfachen  Formen,  die  sie  annahm,  können  und  wer- 
den diese  für  uns  furchtbare,  aber  vergängliche  Ursache 
überdauern.  Indem  die  Teile  der  Erdkugel  nicht  wirr  unter- 
einander kämpfen,  sondern  ihre  Speere  gemeinsam  richten 
auf  unser  Herz  allein  —  auf  das  Herz  von  Ländern,  die 
auf  dem  Globus  mikroskopisch  genug  aussehen  — ,  ist  das 
Problem  der  werdenden  Einheit  der  Weltkultur  und  ins- 


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206  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

besondere  des  europäischen  Geisteszusammenhangs  so- 
zusagen gewaltig  vereinfacht  worden.  Nur  noch  der 
große  Schritt  —  das  »nur«  gestattet  der  Maßstab^  nach 
dem  ich  jetzt  hier  die  Dinge  betrachte  —  zu  uns  Deutschen 
hinüber  ist  nötig,  nur  noch  eine  einzige  große  Versöhnung 
und  die  Welt  würde  einiger  sein,  als  sie  je  zuvor  gewesen. 
Ob  dieser  Schritt  vollzogen  wird  oder  nicht,  ob  dieser 
große  Schritt  erfolgt  oder  nicht,  hängt  von  unseren  Fein- 
jien  wie  auch  von  uns  ab.  Aber  nur  uns  selbst  können  wir 
zunächst  beraten  und  Vorschriften  erteilen,  und  darum  sei 
hier  auch  nur  von  uns  die  Rede.  — 

Einheitsbildungen  und  Wege  der  Geistesströmungen, 
die  wir  Kultur  nennen,  folgen  gewiß  nicht  eindeutig  der 
Bahn  der  Staatenbildungen  und  der  Politik.  Sie  gehen  oft 
getrennte,  oft  sogar  entgegengesetzte  Wege  —  so  wie 
z.  B.  Rom  geistig  gräzisiert  wurde,  indem  es  Griechenland 
eroberte.  Aber  so  wahr  dies  ist:  Es  gibt  —  in  der  gegen- 
wärtigen Lage  —  das  Problem  des  politisch-rechdichen 
Rahmens,  von  dem  auch  ein  kultureller  Aufbau  Europas 
unmittelbar  abhängig  ist.  Dieser  bloße  Rahmen  genügt 
keineswegs^  zum  kulturellen  Wiederaufbau,  aber  er  ist 
doch  eine  Bedingung  daflir  und  eine  unumgängliche. 

Die  Artung  des  politisch-rechdichen  Friedensschlusses 
dieses  Krieges  wird  auch  das  Schicksal  des  kulturellen 
Wiederaufbaues  Europas  mitentscheiden;  d.h.  entschei- 
den, ob  Europa  fiirderhin  nur  mehr  sein  wird  ein  gep- 
graphischer  Name  in  sich  zerrissener,  eifersüchtiger  Völ- 
kerschaften oder  eine  mächtige  geistige  Einheitspotenz, 
welche,  wie  sie  bisher  die  Welt  leitete,  der  Welt  auch 
fernerhin  noch  etwas  Bedeutendes  zu  geben  hat.  Über 
Art,  Inhalt  des  Gesamtfriedensschlusses  wissen  wir  noch 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  S07 

nichts  Sicheres.  Vieles  liegt  noch  in  uferlosem  Nebel.  Daß 
wir  mit  Rußland  zu  einem  Waffenstillstand  kamen,  und 
daß  wir  zuerst  mit  Rußland  in  Friedensverhandlungen  ein- 
traten, entspricht  ganz  dem  Wunsche  und  der  Hoffnung, 
die  ich  schon  bei  Beginn  des  Krieges  geäußert  habe,  und 
entspricht  noch  mehr  dem  Zusammenhang  von  Postulaten 
für  einen  kulturellen  Wiederaufbau  Europas,  die  ich  heute 
Ihnen  übermitteln  will.  Vor  allem  aber  möchte  ich  meiner 
Überzeugung  Ausdruck  geben,  daß  der  Geist  der  Note 
des  österreichischen  Kaisers  an  den  Papst  und  die  bedeut- 
same interpretierende  Rede  des  Grafen  Czemin  in  Buda- 
pest im  allgemeinen  mir  eben  diejenige  politische  und 
rechtliche  Grundgesinnung  ziemlich  genau  auszudrücken 
scheinen,  die  solche  Einigung  und  solchen  Wiederaufbau 
nicht  direkt  ausschließen,  sondern  —  bei  Vorhandensein 
sonstiger  Voraussetzungen  -^  ihn  ermöglichen.  Nur  ein 
paar  Bemerkungen  seien  mir  noch  erlaubt  zu  diesem 
Vordergrundproblem  im  ganzen  der  hier  uns  beschäf- 
tigenden Frage.  Es  betrifft  diejenige  politisch-rechtliche 
Form  und  Gliederung  Europas,  die  nach  meiner  Meinung 
das  Minimum  an  Bedingungen  zu  einem  kulturellen  Wieder- 
aufbau Europas  darstellen. 

Ich  gestehe  aufrichtig,  daß  ich  ebensowohl  weniger 
als  mehr  »Pazifist«  bin,  als  es  dem  jüngsten  sogenannten 
Regierungspazifismus  der  Mittelmächte  —  in  seinen  ja 
auch  hinsichtlich  Deutschland  und  Österreich  recht  sehr 
verschiedenen  Färbungen  —  entspricht,  kh  bin  es  weni- 
ger, da  mir  das  Wort  »Weltabrüstung«  —  auch  als  noch 
so  fernes,  aber  historisch  absehbares  Ziel  —  zu  viel  ge- 
sagt und  mit  ihm  zu  viel  verlangt  erscheint,  und  es  mir 
richtiger   erschiene,    dafür  gegenseitige    »systematische 


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208  Vom  kulturellen  Wiederaofbao  Europas. 

Abrüstung  innerhalb  aller  der  europäischen  Geisteszone 
angehörigen  Völker  und  Staaten«  —  und  Abrüstung  nur 
nach  dem  Maße  und  der  Nähe  dieser  Angehörigkeit  —  zu 
setzen.  Und  ich  bin  oder  glaube  mich  mehr  »Pazifist«,  da 
ich  den  wahren  und  allein  chrisdichen  Pazifismus  ernster, 
friedfertiger  Gesinnung  noch  deutlicher  und  schärfer 
möchte  unterschieden  und  abgehoben  sehen  von  dem  Pa- 
zifismus bloßen  Notstandes  und  der  begreiflichen  Furcht 
vor  völlig  unerträglichen  Rüstungskosten  nach  dem  Kriege. 
Nur  jenen  ersten  Pazifismus  friedfertiger  Gesinnung  kann 
ich  aber  als  denjenigen  ansehen,  der  innerhalb  der  Spann- 
weite europäischen  Wesens  und  Geistes  als  notwendige 
Atmosphäre  jedes  kulturellen  Wiederaufbaues  allein  in 
Frage  kommen  kann.  Entschlagen  wir  uns  der  Phrase  des 
utopistischen  Pazifismus  vom  >  letzten  Krieg « ,  einer  Phrase, 
die  ohne  Ehrfurcht  ist  vor  der  Weltgeschichte  und  vor 
der  Fülle  ihrer  Möglichkeiten.  Wissen  wir  denn  Bescheid, 
was  an  kriegerischen  Gegensätzen  noch  liegen  mag  im  ost- 
asiatischen, von  Japan  gefiihrten  Expansionsdrang  gegen- 
über der  europäischen  Kulturzone  und  gegen  Amerika? 
Das  wissen  wir  nicht.  Für  Japan  z.  B.  existiert  jener 
gewaltige  Notstand  gar  nicht,  der  vom  Grafen  Czemin^ 
für  die  Weltabrüstung  so  lebhaft  geltend  gemacht  wurde. 
Auch  die  inneren  Kräfte,  welche  die  Einheit  der  euro- 
päischen Völkerfamilie  ausmachen  und  eben  darum  zuerst 
innerhalb  ihrer  einen  wahren  Geist  friedfertiger  Gesin- 
nung fordern,  in  dessen  Umhegung  allein  alle  kulturelle 
Kooperation  gedeihen  kann,  existieren  nicht  für  dieses  uns 
.  an  Ethos,  Geist,  Sitte  so  grundfeme  ostasiatische  Volk. 
Je  mehr  wir  uns  aber  bescheiden  der  Phrase  vom  »letzten 
Krieg«  entschlagen,  desto  unbescheidener,  desto  drängen- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  209 

der  sollen  wir  innerhalb  der  europäischen  Kulturzone  etwas 
ganz  anderes  fordern  als  bloße  Notabrüstung,  nämlich  den 
positiven,  chrisdichen  Geist  wahrer  und  ernster  Versöhn- 
lichkeit und  den  Aufbau  der  ihm  entsprechenden  Rechts- 
institute. Nie  und  nirgends  stiften  bloße  Rechtsverträge 
allein  wahre  Gemeinschaft;  sie  drücken  sie  höchstens  aus. 
Friedfertiger  Geist,  Treue,  Verständnis,  geistig- kulturelle 
Nähe,  Rechtssinn  muß  die  Verträge  baden  und  umwärmen 
- —  sollen  sie  mehr  sein  als  rebus  sie  stantibus  erfolgende 
Formulierungen  gegenseitiger  Machtverhältnisse  und  ge- 
schäftlicher Vorteile  und  Nachteile.  Und  noch  in  einem 
dritten  Punkte  möchte  ich  einer  gewissen  Abweichung 
von  der  Rede  des  Herrn  Grafen  Czemin  Ausdruck  geben. 
Die  Forderung  nach  einer  Abrüstung  innerhalb  der  euro- 
päischen Staatenwelt  darf  nicht  in  hypothetischer  Form 
und  nur  bezogen  auf  die  jeweilige  wechselnde  Kriegslage 
gestellt  werden,  sondern  muß  es  in  absoluter  Form. 
Diese  Kriegslage  hat  sich  schon  jetzt  ^  wieder  gegenüber 
Rußland  und  Italien  so  weitgehend,  geändert,  daß  eine 
Auffassung,  die  jene  Rede  nur  unter  der  Bedingung  der 
»damaligen  Kriegslage«  gelten  ließe,  mit  der  Vernichtung 
ihres  ganzen  Sinnes  identisch  wäre.  Schon  der  Sinn  der 
Forderung  einer  dauernden  europäischen  Friedensord- 
nung —  in  der  ich  von  Anfang  des  Krieges  an  den  wahren 
Sinn  des  Krieges  erblickte^  —  verträgt  solch  hypothe- 
tische Abschwächung  nicht.  Keine  Zeit  der  Geschichte  ist 
mir  erinnerlich,  die  leichter  geneigt  war,  die  Not  zur 
Tugend  emporzulügen,  wie  die  Zeit  dieses  Krieges.  Und 

*  Diese  Worte  wurden  gesprochen  unmittelbar  nach  der  siegreichen  Offen- 
sive der  Mittelmächte  gegen  Italien. 
'  Siehe  »Genius  des  Krieges«,  Kap.  »Die  geistige  Einheit  Europas«. 

14 


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2 1 0  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

also  gibt  es  heute  z.  B.  einen  starken  Notsozialismus  und 
Notstaatssozialismus,  von  dem  Viele  Wunder  nach  dem 
Kriege,  ja  ein  ganz  neues  Zeitalter  der  Menschheit  er- 
hofften. Und  ganz  analog  gibt  es  auch  den  bloßen  Not- 
pazifismus, der  nicht  minder  verschieden  ist  vom  Geiste 
wahrer  Friedfertigkeit  als  jener  Sozialismus  der  Armut  und 
Steu^echnik  vom  Geiste  wahrer  Solidarität.  >Not«  kann 
aber  immer  nur  auslösen,  nicht  schaffen;  Ideen  auswählen, 
die  immer  noch  überdies  in  sich  selbst  wahr  und  recht 
sein  müssen.  Es  ist  eben  der  Gei^t,  der  sicji  auch  hier  den 
Körper  und  die  Rechtsorganisation  baut.  Wie  ein  galizi- 
scher  Jude,  der  lo  Kronen  den  Tag  verdient,  einen  ebenso 
starken  kapitalistischen  Geist  besitzen  kann  als  ein  Berliner 
Bankier,  der  looo  Mark  verdient,  so  können  Staaten  mit 
proportional  noch  so  kleinen  Heeren  genau  so  unfried- 
fertig sein  wie  Staaten  mit  beliebig  grofSen  Heeren,  be- 
sonders wenn  nur  die  wirtschafdiche  und  finanzielle  Not- 
lage der  Völker  die  Heere  verkleinerte.  Es  scheint  mir 
drei  Zeichen  zu  geben,  die  bezüglich  der  Frage  des  Frie- 
densschlusses den  europäischen  und  christlichen  Pazifismus 
der  Friedfertigkeit  von  dem  Pazifismus  des  Notstandes  und 
der  Nützlichkeitslehre  unterschieden:  i.  Die  Anerken- 
nung, daß  die  rechtliche  Neuordnung  Europas  die  erste 
Friedensfrage  ist  oder  sein  soll  für  jede  Kriegspartei,  und 
daß  erst  in  dem  schon  gewonnenen  und  festgestellten 
Rahmen  dieser  Ordnung  die  staatlichen  partikularen  In- 
teressenfragen der  Kriegsparteien  gegenseitig  ms  Spiel 
treten  sollen  und  dürfen.  2.  der  Verzicht  auf  sogenannte 
,Sicherungen*  und  ,reale  Garantien*  —  ein  Punkt,  in  dem 
leider  zwischen  dem  Inhalt  der  österreichischen  und  deut- 
schen Regierung  eine  nicht  zu  verschleiernde  Kluft  sich 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2 1 1 

auftat.  3.  Die  Auffassung,  daß  die  völkerrechtliche  Neu- 
ordnung Europas  selber  es  sein  müsse,  die  den  positiven 
Friedensschluß  und  seine  Art  aus  sich  selbst  hervorgehen 
lassen  müsse,  nicht  aber  ein  Friedensschluß,  der  nur  nach 
dem  Prinzip  des  Machtausgleichs  und  des  sogenannten 
Machtgleichgewichts  zustande  käme,  hervorgehen  lasse 
aus  sich  erst  hinterher,  als  Ornament  gleichsam  —  eine 
rechdiche  europäische  Neuordnung.  Nur  Weltverhältnisse, 
die  aus  der  Kraft  und  Hoheit  der  Rechtsidee  selber  ge- 
boren sind,  nicht  Verhältnisse,  die  nur  durch  das  Schwert 
gegebene  Machtbezi^hungen  rechtlich  formulieren,  ver- 
sprechen Dauer  und  versprechen  jene  Geistesluft,  in  der 
ein  kultureller  Wiederaufbau  allein  möglich  ist. 

Würde  diesen  Grundsätzen  Gehorsam  geleistet,  so  wäre 
die  fernere  politische  Minimalbedingung  eines  kulturellen 
Wiederaufbaues,  daß  drei  weiteren  Forderungen  Genüge 
geschähe,  die  ich  hier  nur  kurz  bezeichnen  kann.  i.  Es 
muß  ein  Zustand  vermieden  werden,  der  zu  dauernden 
und  die  ganzen  Völker  (nicht  nur  je  einzelne  Interessen- 
kreise innerhalb  der  Völker)  erfüllenden  Rache-  und  Re- 
vancheleidenschaften Anlaß  gäbe;  dies  besonders  gegen- 
über Frankreich  und  Rußland,  wo  die  Versuchung  zu 
gewaltsamen  Annexionen  am  größten  ist.  2.  Es  muß  eine 
Politikmethodik  endgültig  beseitigt  werden,  deren  Wesen 
darin  bestand,  daß  solche  Interessengegensätze  der  euro- 
päischen Staaten  und  Völker,  die  außerhalb  Europas  ge- 
legene Siedlungszonen,  Absatzmärkte,  Kolonialfragen  be- 
treffen, nicht  nur  Rückwirksamkeit  auf  die  innereuropäische 
gegenseitige  Staaten-  und  Bündnispolitik  äußern  (dies  läßt 
sich  schwer  vermeiden),  wohl  aber  grundlegend  bildend 
und  gestaltend  auf  sie  wirken.  Oder  positiv  gewendet:  In 


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212  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

Fragen  außereuropäischer  Interessen  müssen  die  außer- 
europäischen Staaten  solidarisch,  d.  h.  nach  dem  Prinzip 
mitverantwortlicher  Gegenseitigkeit  und  einheitlich  han- 
deln lernen.  Soweit  als  möglich  mit  England  —  auf  alle 
Fälle  aber  die  kontinentalen  Staaten  untereinander.  3.  Es 
muß  endlich  —  ganz  allgemein  gesagt  —  eine  Zerlegung 
der  Aufgaben  und  Zwecke,  die  bisher  den  ungeheuren 
in  diesem  Kriege'  gegeneinander  stehenden  staatlichen 
Machtriesen  zufielen,  auf  eine  Mehrheit  von  Körper- 
schaften nichtstaatlicher  (teils  unterstaatlicher',  teils  über- 
staatlicher und  zwischenstaatlicher)  Art  erfolgen;  und  es 
muß  überall  (in  England,  Rußland,  Frankreich,  Italien, 
Mittelmächte)  gleichzeitig  eine  gewisse  Lösung  jener 
anormal  zentralisierten  Macht-,  Kultur-  und  Wirtschafts- 
riesenzentren, eine  gewisse  Auflockerung  und  Dezen- 
tralisation in  ihre  mannigfach  gegliederte  Untereinheiten 
(Nationen,  Völker,  Stämme,  Gliedstaaten,  Kolonien)  ein- 
treten, die  so  geartet  sein  muß,  daß  sie  den  zentralen 
Spitzen  im  wesentlichen  nur  technisch-geschäftliche, 
also  höchst  nüchterne  organisatorische  Aufgaben  über- 
läßt, ihre  Machtromantik  beseitigt  und  ihnen  den  kultur- 
gestaltenden Anspruch  dauernd  abnimmt.  Es  sei  mir  er- 
laubt, das  Gemeinte  als  Tendenz  zu  gesteigertem  »Fö- 
deralismus« und  national-kultureller  Selbstverwaltung 
zu  bezeichnen. 

XDhne  die  Erfüllung  dieser  Minimalforderungen  kann 
ich  mir, einen  kulturellen  Wiederaufbau  Europas  nicht 
ernsthaft  vorstellen.  Was  die  erste  Bedingung  betrifft, 
so  stehen  hier  zurzeit  im  Mittelpunkte  die  große,  ja  ent- 
scheidende Frage  von  Elsaß -Lothringen  und  (in  etwas 
geringerem  Maße)  die  Frage,  ob  wir  der  starken,  durch 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2  1 3 

die  englische  Politik  genährten  Vefsuchung  folgen  dürfen, 
uns  im  Osten,  also  besonders  gegenüber  Rußland,  durdi 
Annexionen  fiir  das  zu  entschädigen,  was  wir  im  Westen 
nicht  erreichen  können  oder  wollen.  Es  ist  hier  nicht  meine 
Aufgabe,  und  es  ist  auch  nicht  an  der  Zeit,  positive  Vor- 
schläge bezüglich  des  Elsaß  zu*  machen.  Ich  sage  nur  das 
eine,  daß  in  der  Behandlung  dieser  Frage  jede  Art  von 
politischem  Mystizismus  unbedingt  vermieden  werden 
muß.  Ich  verstehe  unter  politischem  Mystizismus  eine 
Auffassung,  sei  es  von  deutscher,  sei  es  von  französischer 
Seite,  die  dieses  Ländchen  nicht,  wie  es  allein  geboten  ist, 
zur  Herstellung  einer  europäischen  dauernden  Friedens- 
ordnung nach  den  realen  Werten  (ökonomischen,  militä- 
rischen usw.),  die  sein  Besitz  darstellt,  in  Rechnung  bringen 
will,  und  zwar  als  ein  Glied  im  Zusammenhang  aller  an- 
deren Territorial-  und  Interessenfragen;  eine  Auffassung, 
die  vielmehr  dieses  Ländchen  mystifiziert,  zu  einem  Fetisch 
macht,  zu  einem  Gegenstand  der  Vergaffung,  zu  einer  Art 
Fahne,  um  deren  Besitz  man  nicht  um  ihres  realen  Wertes 
als  Stück  Tuch,  sondern  als  »Symbol  und  Schild«  —  um 
mich  des  solchen  Mystizismus  kennzeichnenden  Wortes 
des  Herrn  von  Kühlmann  zu  bedienen  —  bis  zum  letzten 
Atemzug  aller  Europäer  zu  kämpfen  habe;  zu  einer  Sache 
zugleich,  die  man  vollständig  herausreißt  aus  allen  son- 
stigen Objekten  möglicher  Verhandlung  und  Verständigung 
und  so  isoliert,  kurz  zu  einer  nicht  relativen,  sondern  abso- 
luten Sache.  An  diesem  politischen  Mystizismus  bezüglich 
des  Elsaß  litt  schon  vor  dem  Kriege  Gesamteuropa;  und  es 
ist  endlich  Zeit,  ihn  als  Methode  ad  acta  zu  legen.  So  wenig 
von  einem  Angebot  einer  ganzen  oder  auch  nur  teilweisen 
Abtretung  von  Elsaß-Lothringen  an  Frankreich  emstliaft 


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214  ^^^^  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

die  Rede  sein  kann;  Hat  doch  auch  dieses  Objekt  einen 
Gegenstand  der  Verhandlung,  und  zwar  einer  direkten 
Verhandlung  mit  Frankreich,  —  nicht  einer  primären  Ver- 
handlung mit  England  —  zu  bilden;  schon  deshalb,  weil 
jede  Verhandlung  mit  England,  ganz  so  wie  es  England 
wünscht,  Frankreich  hoch  viel  rettungsloser  an  England 
ketten  würde,  als  es  schon  gekettet  ist.  Verhandlung  und 
etwaige  Verständigung  bedeuten  ja  weder  schon  Abtre- 
tung, noch  setzen  sie  irgendwie  voraus,  daß  unser  deut- 
sches Bewußtsein,  Elsaß-Lothringen  im  Kriege  von  1870 
rechtmäßig  zurückerworben  zu  haben,  irgendwie  unklar 
oder  gemindert  sei.  Verhandlung  könnte  auch  zu  teil- 
weisem Austausch  führen  und  zu  vielen  anderen  Modis 
der  Festse^tzung.  Starrt  ein  ob  seines  krankhaften  Ehr- 
geizes berüchtigtes  Volk  40  Jahre  auf  ein  Stückchen  Land, 
das  es  sich  entrissen  wähnt,  so  ist  flir  die  Gegenpartei  eine 
günstigere  seelische  Situation,  "als  mit  diesem  Volke  einen 
besonders  guten  Tausch  zu  machen,  d.  h.  einen  Tausch,  bei 
dem  diesem  Volke  die  Wunde  seines  verletzten  Ehrgeizes, 
der  Gegenpartei  aber  erhebliche  reale  Werte  zufallen, 
eigentlich  nicht  denkbar.  Sowohl  dieser  gefährliche  Mysti- 
zismus bezüglich  des  Elsaß,  als  die  oft  damit  verbundenen 
gewaltsamen  Annexionsgelüste  im  Osten  erscheinen  mir 
als  Bestandteile  einer  Politik,  die  inmier  noch  nicht  be- 
greift, daß  England  —  nicht  aus  bösem  Willen,  sondern 
aus  seiner  gesamten  geschichdich- geographischen  Welt- 
position heraus  —  der  Feind  aller  kontinentalen  Soli- 
darität im  Politischen  wie  Kulturellen  sein  muß  oder 
doch  so  lange  sein  muß,  als  es  nicht  durch  eine  äußere 
Kraft  gezwungen  ist,  sich  als  Glied  Europas,  nicht 
aber  —  wie  bisher  —  als  seinen  Herrn  und  Richter  zu 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2 1 5 

fühlen.  Soll  ein  Verständigungsfriede  —  der  einzig  mög- 
liche für  jeden,  der  auf  eine  kulturelle  Einheit  Europas 
nicht  ganz  verzichten  und  nicht  den  dauernden  Hunger- 
frieden neuer  Rüstungen  und  dauernder  Rohstoffebsper- 
rung  der  Mittelmächte  will  —  kommen,  so  müssen  wir 
daher  auch  bezüglich  des  Elsaß  zu  irgendeiner  Art  Ver- 
ständigung mit  Frankreich  kommen,  wie  schwer  dies  auch 
jetzt  noch  scheint.  Und  diese  Verständigung  muß  —  schon 
um  der  zweiten  Forderung  willen,  der  europäischen  Soli- 
darität in  außereuropäischen  Angelegenheiten,  —  an  erster 
Stelle  zwischen  den  Kontinentalen  selber  und  erst  in 
zweiter  Linie  und  nur  womöglich  mit  England  erfolgen.  Auch 
zwanghafte  Annexionen  im  Osten  würden  einen  Revanche- 
gedanken schaffen,  der  jeden  kulturellen  Aufbau  vereitelte, 
würden  Rußland  dauernd  an  England  ketten.  —  Die  dritte 
Forderung  endlich  als  politische  Vorbedingung  eines  kul- 
turellen Wiederaufbaues,  die  Auflockerung  der  staatlichen 
Machtriesen  —  ist  in  Rußland  bereits  zum  größten  Teil 
erfüllt;  sie  drängt  in  der  Neugeburt  Österreichs  immer 
stärker  nach  Erfüllung:  sie  wird  auch  für  das  englische 
Weltreich  nach  dem  Kriege  mit  grofSer  Wahrscheinlich- 
keit im  Sinne  einer  gesteigerten  politischen  Selbstver- 
waltung der  Kolonien  und  Irlands  erfolgen.  Würde  damit 
der  Auf^ndruck  auf  Mitteleuropa  und  speziell  auch  auf 
das  Deutsche  Reich  auf  alle  Fälle  geringer,  so  könnte  und 
sollte  auch  der  Gegendruck  geringer  werden,  —  der 
furchtbare  Gegendruck,  der  zur  staatlich -nülitärischen 
ÜberZentralisation  des  Deutschen  Reiches  unter  der  Vor- 
herrschaft Preußens  geführt  hat  und  bei  der  älteren  Lage 
notwendig  war.  Preußen  kann  zwar  vermöge  seines  wirt- 
schaftlichen und  finanziellen  Gesamtgewichts  innerhalb 


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2 1 6  Vom  kulturdien  Wiederaufbau  Europas. 

Deutschlands  niemals  ein  einfathes  Glied  des  Deutschen 
Reiches  werden,  sofern  dieses  Reich  ira  gleichen  Verhält- 
nis zu  einem  zentralistischen  Österreich  im  älteren  Sinne 
stehend  gedacht  wird,  in  dem  es  si^h  vor  dem  Kriege  be- 
fand. Wohl  aber  könnte  Preußen  in  einem  mitteleuropä- 
ischen Ganzen,  das  als  Ganzes  wirtschaftlich  stärker  ge- 
eint ist  als  bisher,  das  aber  in  seiner  inneren  Konstitution 
sich  politisch  und  erst  recht  kulturell  aufgelockert  hat, 
wahrhaftes  Glied  werden  —  und  es  könnte  dies  werden, 
ohne  seinen  spezifischen,  so  wertvollen  Preußengeist  in 
dem  Maße  aufgeben  zu  müssen,  wie  dies  unbedingt  not- 
wendig wäre,  wenn  es  auch  weiterhin  der  bloße  Herr 
Deutschlands  bleiben  wollte.  Denn  dann  müßte  es  seinem 
Geiste  und  seinen  Institutionen  nach  ein  verkleinertes  Reich 
werden,  d.  h.  das  Umgekehrte  von  dem,  was  Treitschke 
meinte  und  wollte,  wenn  er  das  Reich  ein  verlängertes 
Preußen  nannte.  Beides  aber  ist  gleich  vom  Übel.  Eine 
die  Reichszustände  mehr  oder  weniger  nachahmende  so- 
genannte »Demokratisierung«  Preußens  wäre  ebenso  be- 
dauernswert wie  die  der  Treitschkeschen  Formel  ent- 
sprechenden Zustände!  — 

Der^  zum  mindesten  kontinental-europäische  Solidan- 
tätsgedanke  als  Grundartikel  der  Politik  jedes  europä- 
ißchen  Staates'und  die  entschiedene  Verwerfung  der  bis- 
her alle  innereuropäische  Politik  leitenden  Formel  salus 
publica  suprema  lex  für  das  Verhalten  der  europäischen 
Staaten  untereinander,  hat  heute  aber  noch  eine  ganz 
neue  Rechtfertigung  gefunden  dadurch,  daß  mit  dem  Be- 
ginn der  deutschen  Offensive  vom  Juli  191 8  die  Stellung 

^  Das  folgende  Stück  bis  zum  Ende  der  Einleitung  ist  im  August  19 18 
geschrieben. 


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Vom  kultarellen  Wiederaufbau  Europas.  2  I  7 

Amerikas  innerhalb  der  Entente  eine  grundsätzlich  an- 
dere geworden  ist.  Die  Veränderung  ist  am  einfachsten 
durch  den  Satz  bezeichnet,  daß  der  Hauptsitz  und  die  lei- 
tende Hauptenergie  des  gegen  die  Mittelmächte  geeinigten 
Kriegswillens  deutlich  und  überall  spürbar  von  Frank- 
reich imd  selbst  von  England  nach  Amerika  gewandert 
ist;  und  dies  in  einem  Maße  und  einer  Schnelligkeit, 
daß  gegenwärtig  nicht  nur  Frankreich,^sondem  selbst 
England  unter  dem  Druck  des  amerikanischen  Kriegs- 
willens diesen  Krieg  weiterzuführen  auch  dann  sich  ge- 
nötigt '  fänden,  wenn  ihnen  ihre  besonderen  Interessen 
geböten,  den  Krieg  zu  beendigen  und  Friedensverhand- 
lungen anzubahnen.  Die  Empfindung  dieses  Druckes  in 
Frankreich  und  England  ist  bereits  sehr  rege,  und  die 
Furcht  Englands,  durch  die  eventuelle  »Rettung«  seiner 
Sache  durch  die  Vereinigten  Staaten  in  dauernde  Ab- 
hängigkeit von  Amerika  zu  geraten,  kämpft  bereits 
mächtig  mit  dem  Wunsche,  die  Mittdmächte  durch  das 
Eingreifen  der  frischen,  noch  unverbrauchten  Riesen- 
kräfte besiegt  zu  sehen.  Die  Bedeutung  des  amerikani- 
schen Eingreifens  in  die  Sache  des  europäischen  Krieges 
ist  bis  vor  kurzem  ebensowohl  durch  die  führenden  Per- 
sönlichkeiten der  Mittelmächte  als  durch  die  führenden 
Personen  der  Ententestaaten  in  einer  fast  »ruchlos«  zu 
nennenden  Weise  unterschätzt  worden.  Innerhalb  der  Mit- 
telmächte hat  mar)  —  als  man  das  kindische  Argument 
preisgab,  die  Rüstungen  Amerikas  als  vorzüglich  gegen 
Japan  gerichtet  anzusehen  —  die  amerikanische  Seelen- 
lage tiefgdiend  verkannt.  Man  suchte  noch  nach  Interessen 
einzelner  amerikanischer  Industrie-  und  Finanzkreise  als 
Motor  des  amerikanischen  Kriegswillens,  nachdem  längst 


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2  1 8  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

eine  im  wesentlichen  ideell  und  politisch  orientierte 
»Kreuzzug «Stimmung  die  amerikanischen  Massen  ergrif- 
fen hatte,  die  es  fast  zum  Kennzeichen  jedes  »anständigen 
Menschen«  macht,  'den  Krieg  gegen  Deutschland  als  dem 
vermeintlichen  »Feind  der  Menschheit«  zu  fördern.  In  den 
Tatsachen  unfundierte  Erwartungen,  daß  Amerika /nicht 
emsdich  gewillt  sei,  seine  volle  Kraft  für  den  Krieg  ein- 
zusetzen, daß  der  Unterseebootkrieg  die  amerikanische 
Truppenbeförderung  ganz  oder  zum  größten  Teile  unter- 
binden werde,  daß  die  amerikanischen  Heere  in  Europa 
nicht  genügend  ernährt  werden  könnten,  — '-  ja  selbst  so 
leichtfertige  Redewendungen  wie,  es  sei  die  amerikanische 
Kriegserklärung  »von  Vorteil«  für  die  Mittelmächte,  da 
sie  diese  beim  Friedensschluß  der  Rücksichtnahme  auf 
Amerika  und  die  Vorschläge  Wilsons  über  den  Völker- 
bund enthebe  — ,  verkleinerten  die  amerikanische  Gefahr 
in  einer  Weise,  d^  fast  an  gewollte  Selbstillusioijie- 
rung  streift.  Eine  auf  die  amerikanische  Seele  gerichtete 
moralische  Offensive,  die  sich  sehr  wirksam  erwiesen  hätte, 
wurde  von  Beginn  der  amerikanischen  Munitionslieferungen 
an  zum  wenigstens  nicht  richtig  unternommen.  Denn  nicht 
in  diesen  Lieferungen  an  sich  —  zu  ihnen  hatte  Amerika 
ein  völkerrechtliches  Recht  —  lag  das  Widermoralische 
des  amerikanischen  Vorgehens,  sondern  darin,  daß  es 
grofJe  Teile  seiner  Industrie  auf  Munitionsproduktion  weit 
über  das  Prinzip  größten  Erwerbs  und  größter  Ökonomie 
hinaus  umgestellt  hatte  —  ein  Verhalten,  das  auch  in 
weiten  Kreisen  Amerikas  selbst  wie  Verletzung  der  Neutra- 
lität und  als  »unmoralisch«  herben  Tadel  gefunden  hatte. 
Ebensowenig  aber  als  die  Mittelmächte  hatten  die  Entente- 
staaten das  weltgeschichdiche  Novum  des  Erscheinens 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2  1 9 

amerikanischer  Heere  auf  europäischem  Boden  zur  Lösung 
innereuropäischer  Konflikte  mit  rechtem  Augenmaße  an- 
gesehen und  die  welthistorischen  Folgen  dieses  Vorgehens 
schon  als  Exempel  und  Präzedenzfall  begriffen.  Sie  sehen 
flicht,  daß  das  Prinzip  »Amerika  für- Amerika«,  das  die 
gewaltsame  Einmischung  in  Händel  des  amerikanischen 
Kontinents  seitens  europäischer  Staaten  verwirft  und  das 
einerprinzipiellen  Defensivstellung  Amerikas  gegenEuropa 
als  der  als  leitend  geltenden  Potenz  der  Welt  entsprach, 
die  viel  tiefer  und  im  Gang  aller  bisherigen  Geschichte 
gegründete  Gegenforderung,  »Europa  für  Europa«  nun 
als  Antwort  erheischt  hätte.  Sie  sahen  nicht  das  Maß  von 
Abhängigkeit,  in  das  sie  von  Amerika  nach  allen  Rich- 
tungen geraten  mußten,  wenn  wirklich  Amerika  es  wäre, 
das  in  diesem  Kriege  die  Entscheidung  herbeiführte  — 
undilann  wohl  auch  mit  guten  Gründen  das  Recht  eines 
obersten  Richters  in  allen  europäischen  Fragen  qicht  nur 
beim  Friedensschluß,  sondern  auch  für  die  Folgezeit  be- 
anspruchen könnte. 

Es  scheint  mir  an  der  Zeit  —  ja  es  scheint  mir  die  ein- 
zige Rettung  Europas,  daßxliese  tiefen  Irrtümer  und 
Illusionen  auf  den  beiden  Seiten  der  Kriegsparteien  ein- 
gesehen, offen  zugestanden  und  abgelegt  würden  —  und 
daß  auf  diesem  gemeinsamen  Fundamente  der  Einsicht  in 
diesen  Irrtum  eine  neue  Orientierung  bezüglich  der  sog. 
Kriegsziele  stattfände  —  und  zwar  auf  beiden  Seiten,  auf 
der  Seite  der  Mittelmächte  und  der  Entente.  Bisher  gab 
es  in  diesem  Kriege  kein  Faktimi,  das  in  einer  entfernt 
ähnlichen  Weise  eine  Umstellung  der  Kriegszielpolitik  auf 
beiden  Seiten  erfordert  hätte, wie  es  die  Art  und  Weise 
des  Eingreifens  Amerikas  ohne  Zweifel  tut.  Selbst  der 


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2  20  Vom  kultur^len  Wiederaufbau  Europas. 

Zusammenbruch  des  Zarismus  und  die  russische  Revo- 
lution konnte  keine  gemeinsame  Umstellung  der  Kriegs- 
ziele bewirken,  schon  aus  dem  Grunde,  da  sie  einseitig 
-Ar  Sache  der  Mittelmächte  zuhilfe  kam. 

Jetzt  erst  ist  ein  Faktum  gegeben,  das  den  Gedanken 
einer  Solidarität  im  Handeln  der  europäischen  Staaten 
gegenüber  außereuropäischen  Fragen  von  der  Stufe  und 
dem  Werte  eines  idealpolitischen  Prinzips  in  die  Stufe 
und  den  Wert  einer  realpolitischen  Notwendigkeit  er- 
hebt. 

Die  neue  Lage,  die  durch  den  Übergang  des  gegen 
die  Mittelmächte  führenden  Kriegswillens  auf  die  Ver- 
einigten Staaten  entstanden  ist,  muß  und  kann  —  ohne 
daß  die  Mittelmächte  und  die  europäische  Entente  irgend- 
welche Beschämung  vermeintlicher  >  Inkonsequenz « wegen 
zu  furchten  hätten  —  eine  neue  Revision  der  Kriegsziele 
auf  beiden  Seiten  einleiten. 

Es  duldet  keinen  Zweifel,  daß  es  in  Frankreich  wie 
noch  mehr  in  England  erhebliche  Volkskreise  gibt,  denen 
der  Gedanke,  daß  sie  durch  Amerika  »gerettet«  werden 
könnten,  ein  furchtbarer  Gedanke  ist.  Die  Ausdehnung 
und  die  Stärkung  des  Einflusses  dieser  Kreise  auf  ihre 
Regierungen  kann  aber  durch  ein  richtiges  Vorgehen  der 
Mittelmächte  unschwer  erzielt  werden. 

Es  würde  dazu  genügen,  daß  gleichzeitig  mit  einer 
energischen  moralischen  Offensive  in  dieser  Richtung  die 
hauptsächlichsten  Hindemisse  beseitigt  würden,  die  bisher 
der  Entstehung  eines  ernsthaften  Verhandlungswillen  auf 
Seiten  Englands  und  Frankreichs  entgegenstehen. 

Das  erste  dieser  Hindemisse  ist  das  bisher  unüber. 
windliche  Mißtrauen  in  unsere  Reichsleitung;  das  zweite 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2  21 

betrifft  das  Schicksal  Belgiens,  das  dritte  dasjenige  von 
Elsaß-Lothringen. 

Was  das  erste  betrifft,  so  muß  ein  Zustand  aufhören, 
in  dem  unsere  Reichsleitung  so  offenkundig  den  Eindruck 
einer  nur  intermediären  Übergangserscheinung  macht,  wie 
dies  zuletzt  der  Fall  gewesen.  Dieser  Eindruck  —  gestei- 
gert durch  die  wesentlich  innerpolitisch  und  auf  den  inne- 
ren Frieden  hin  orientierte  Person  des  gegenwärtigen 
Kanzlers  Grafen  Hertling  und  durch  das  wenigstens  nach 
außen  hin  scheinbare  Fehlen  eines  außerpolitischen  Planes 
bei  der  Spitze  der  Reichsleitung  —  nimmt  den  Erklärungen 
der  Reichsleitung  das  Gewicht,  das  sie  beanspruchen  müß- 
ten, wenn  es  zu  ernstem  Verhandlungswillen  kommen  soll. 
Man  glaubt  auf  seiten  der  Entente,  daß  alle  Erklärungen 
mit  einem  Kabinett  wieder  verschwinden,  das  man  für 
ein  solches  des  Überganges  hält. 

Auch  darf  man  —  über  die  Person  der  gegenwärtigen 
Spitze  der  Reichsleitung  hinaus  —  in  starkem  Zweifel 
sein,  ob  ein  »parlamentarischer«  Kanzler,  d.  h.  ein  Kanzler, 
der  schon  auf  Grund  der  Art,  wie  er  an  die  Spitze  ge- 
langte, dreiviertel  seiner  Energie  der  Befriedigung  der 
Parteien  als  seiner  Mitauftraggeber  zu  widmen  hat,  die 
rechte  Person  für  die  Aufgabe  sein  kann.  Auch  wer  einer 
Steigerung  des  Einflusses  des  Parlamentes  auf  die  Führung 
der  Reichsgeschäfte  —  und  einer  dadurch  erst  möglichen 
politischen  Erziehung  der  Parteien  zur  gesteigerten  politi- 
schen Verantwortlichkeit  —  für  die  Zeit  nach  dem  Kriege 
für  durchaus  wünschenswert  hält,  kann  ohne  Widerspruch 
mit  sich  selbst  der  Meinung  sein,  daß  gegenwärtig  —  und 
bei  der  derzeitigen  seelischen  Verfassung  der  Parteien  — 
ein  parlamentarischer  Kanzler  nur  schwer  den  Aufgaben 


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2  2  2  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

gewachsen  sein  kann,  die  ihm  obliegen.  Ein  in  —  womög- 
lich —  hoher  Würde  stehender  Mann,  der  vermöge  seines 
Verhaltens  im  Kriege  bei  den  Ententestaaten  erhebliches 
Vertrauen  besäße  und  der  direkt  vom  Monarchen  aus  in 
einer  Form  mit  dem  Reichskanzleramt  betraut  würde,  das 
ihn  aller  Welt  als  den  Kanzler  sichtig  machte,  der  zur 
endgültigen  Führung  der  Friedensverhandlungen  be- 
stimmt ist,  scheint  uns  —  selbst  wenn  er  dabei  mit  dik- 
tatorischen Vollmachten  ausgestattet  würde  —  weit  ge- 
eigneter zu  sein  als  ein  parlamentarischer  Kanzler.  Hat 
sich  schon  innerpolitisch  —  wie  der  Februarerlaß  betr.  das 
Wahlrecht  in  Preußen  zeigte  —  die  Krone  belehrbarer 
durch  die  Zeichen  der  Zeit  erwiesen  als  die  Parteien,  die 
wenig  nur  gelernt  und  fast  nichts  vergessen  haben  (siehe 
Wahlen  während  des  Krieges!),  warum  sollte  die  Krone 
nicht  außenpolitisch  ein  gleichlautendes  Zeugnis  von  sich 
selbst  ablegen? 

Eine  kurze,  klare,  eindeutige  Erklärung  über  Belgien 
—  nicht  mit  schon  wortetymologisch  unglücklichen  >  Faust- 
pfandtheorien« beschwert,  die  weder  rechtlich  noch  mora- 
lisch einwandsfrei  sind  — ,  eine  Erklärung  also,  die  ein 
bewußtes  Abrücken  von  unserer  bisherigen  Behandlung 
dieser  Frage  auf  Grund  eines  neu  bekundeten  Willens  zur 
Voranstellung  des  europäischen  Gesichtspunktes  gegen 
Amerika  offen  in  sich  schlösse  —  wäre  der  erste  Schritt, 
der  zu  ernster  Verhandlungsbereitschaft  auf  der  Gegen- 
seite fuhren  könnte. 

•Und  der  zweite  Schritt  wäre  die  Bekundung  der  Ver- 
handlungsbereitschaft über  das  Elsaß  in  den  Grenzen,  daß 
irgendwelche  Abtretung  des  Landes  oder  eines  seiner  Teile 
bei  dieser  Verhandlung  nicht  in  Frage  kommen  könne.  — 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  223 

Soviel  von  dem  politisch-rechtlichen  Rahmfen,  der  die 
äußere  Minimalbedingung  ist  auch  für  einen  kulturellen 
Wiederaufbau  Europas.  Denn  mehr  wie  eine  äußere  bloße 
Bedingung  ist  all'  das  natürlich  nicht.  Auch  wenn  wir  eine 
Ausschaltung  fortwährender  Zoll-  und  Wirtschaftskriege 
—  soweit  sich  solche  durch  den  Willen  der  Staaten  aus- 
schalten lassen,  und  das  ist  nur  ein  kleines  Maß,  —  noch 
hinzunähmen:  All"  das  ist  nur  HüUe,  nicht  Kern! 

Die  wahren  positiven  Kräfte  des  Wiederaufbaues  der 
geistigen  Kultur  Europas  liegen  nicht  in  diesen  Dingen. 
Sie  liegen  in  den  frei  wollenden  Menschen,  in  der  Gesell- 
schaft, im  Sinneswandel  des  europäischen  Menschen  und 
in  der  Art  und  Richtung  der  kulturbildenden  Geistes- 
mächte, die  gestärkt  werden  sollen.  Und  damit  betreten 
wir  erst  den  Boden  unseres  eigendichen  Themas.  — * 

Alle  großen  Dinge  einer  machtvollen  Kooperation  — 
wie  solcher  Wiederaufbau  —  haben  eine  moralische  Be- 
dingung zuerst.  Und  diese  erste  Bedingung  ist  hier  die 
rechte  innere  Anschauung,  die  sich  der  Mensch  als  Mensch 
von  diesem  furchtbarsten  aller  historischen  Ereignisse 
bildet.  Wie  er  es  und  ob  er  es  herauswachsen  sieht  aus 
dem  ganzen  Gang  der  europäischen  Geschichte  und  Zivi- 
lisation, und  wie  er  gegen  dieses  Gesamtbild  seelisch 
reagiert. 

Und  da  sage  ich:  Ein  kultureller  Wiederaufbau  ist  nur 
möglich,  wenn  ein  immer  größerer  Teil  innerhalb  der  euro- 
päischen Völker  lernt,  dieses  ganze  Ereignis  als  Folge  einer 
auf  Gegenseitigkeit  beruhenden  Gemeinschuld 
der  Völker  Europas  anzusehen  —  als  ein  schuldhaf 

'  Von  hier  an  ist  das  Folgende  unabhängig  von  der  herrschenden  politischen 
Lage. 


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2  24  ^^°^  kulturellai  Wiederaufbau  Europas. 

tes  Übel  also,  das  auch  nur  durch  Gemeinbuße,  Gemein- 
reue, gemeinsames.  Opfer  aufgehoben  und  innerlich  über- 
wunden, nur  vermöge  sich  gegenseitig  ergänzender  und 
im  Geiste  solidarischer  Verantwortlichkeit  erfolgender  Auf- 
bautätigkeit, Hilfe,  kooperativen  Wirkens  aufgehoben  und 
durch  neue  positive  Kulturgemeinschaftsgüter  ersetzt  wer- 
den kann.  Diese  drei  Dinge :  Gemeinschuld,  Xiemeinreue  ^ 
und  gemeinsamer  Wiederaufbauwille  auf  Grund  des  ge- 
meinsam anerkannten  Prinzips,  daß  jeder  Staat,  jedes 
Volk,  jede  Nation  eine  ihm  zuerteilte  besondere  ,Stelle* 
im  Gottesgarten  hat  und  einen  unersetzlichen  und  unver- 
tretbaren Beitrag  zur  einen  Weltkultur  zu  liefern  berufen 
ist;  und  daß  Europa  in  dieser  wunderbaren  Kooperation 
dpr  geschichdichen  Menschheit  einen  besonderen,  relativ 
einheitlichen  Kulturkreis  mit  besonderer  Begabung  und 
Aufgabe  darstdlt;  diese  drei  Dinge  gehören  enge  zusam- 
men und  sind  nicht  voneinander  zu  lösen. 

Zuerst  also  die  Anerkennung,  es  gäbe  in  letzter  Linie 
nur  eine  Antwort  auf  die  Frage:  Wer  oder  welches  Volk 
ist  schuld  am  Kriege?  Die  Antwort:  Du  selbst,  der  fragt 
—  sei  es  durch  Tun,  sei  es  durch  Unterlassen.  Ich  sage 
damit  nicht :  Es  müsse  die  politisch-  geschichtliche  Schuld- 
frage für  das  bestimmte  Stattfinden  dieses  Krieges,  seinen 
Beginn  im  August  1 9 1 4  ein  für  allemal  vom  Politiker  oder 
Historiker  unterlassen  werden.  Das  wird  nicht  sein,  kann 
nicht  sein.  Die  Historiker  werden  bis  zum  Ende  der  Men- 
schengeschichte vielleicht  darüber  streiten.  Nicht  daß  der 
Krieg  stattfand,  noch  weniger,  wie  er  und  wann  er  begann, 
ist  Gegenstand  der  Gemeinschuld;  wohl  aber,  daß  er  statt- 
finden konnte,  daß  solch  ein  Ereignis  möglich  war  im 
europäischen  Menschenkreise  dieser  Erdkugel,  und  daß 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  225 

er  so,  so  beschaffen  aussah,  wie  er  aussah.  Seine  Mög- 
lichkeit und  sein  Sosein,  nicht  sein  wirklicher  Beginn  also 
ist  Gegenstand  der  Gemeinschuld.  Es  ist  ja  auch  im  Ein- 
zelleben nicht  »daß  ich  das  tat«,  sondern  daß  ich  so  han- 
deln, so  tun  konnte  —  ein  solcher  Mensch  war,  daß  ich 
es  konnte  — '-  der  eigentliche  Gegenstand  jedes  tieferen 
Schuldgefühls*.  Erst  dieser  seelische  Gesamtakt  der  Ein- 
sicht in  die  Gegenseitigkeit  der  Verantwortung,  der 
Mitverantwortung  und  Mitschuld  eines  jeden  Volkes  am 
Kriege,  eines  jeden  Untergliedes  im  Volke  bis  zu  Familie 
und  Individuum  herab  kann  die  Gemütslage  erzeugen,  die 
seelische  Atmosphäre,  aus  der  ein  Wiederaufbau  der 
europäischen  Kultur  möglich  ist.  Das  zweite  aber  ist  ge- 
meinsame Reue  und  gemeinsamer  Büß-  und  Opferwille. 
Es  gibt  keine  so  hellseherische,  in  die  Tiefen  der  Vergan- 
genheit menschlichen  Seins  schärfer  eindringende  Seelen- 
kraft, keine  größere  Heilkraft  als  die  Reue;  als  diese  be- 
freiende und  hellsichtige  Entdeckerin  unserer  inneren 
Wesenheit  an  unserer  Geschichte.  Ja,  sie  erst  ermöglicht 
historische  Erkenntnis,  die  nicht  nur  Vergangenheit  schil- 
dert, sondern  die  das  Wichtigste  tut,  was  historische  Er- 
kenntnis tun  kann  —  die  von  Vergangenheit  entlastet  und 
zu  neuer  Zukunft  und  Tatkraft  unsere  Seele  frei  undTcräf- 
tig  macht.  Ich  wünschte,  daß  die  Geschichte  jener  bürger- 
lichen Zivilisation  Europas,  die  im  Ereignis  des  Krieges 
kulminierte,  auf  lange  Zeit  so  erzählt  würde,  daß  sie  als 
einziger  großer  schmerzvoller  Reueakt  —  gegliedert  in 
Bilder  und  Urteile  —  sich  darstelle.  Denn  Freiheit  und 
Glaube,  es  sei  wahrhaft  möglich,  die  Welt  anders  einzu-^ 
richten,  als  die  Welt  vor  dem  Kriege  war,  d.  h.  als  die 


*  Vgl.  den  Aufsatz:  Vom  Wege  der  Reue. 
15 


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2  26  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

Welt,  die  zu  ihm  führte:  das  ist  erstes  inneres  Erforder- 
nis  aller  Einstellung  zum  Aufbau. 

Ganz  prinzipiell  muß  man  brechen  mit  dem  alten  deut- 
schen Laster  des  Traditionalismus,  des  falschen  historischen 
Determinationsgefühls  in  irgend  einer  der  tausend  Formen, 
die  es  anzunehmen  pflegt,  und  mit  den  zehntausend  Profes- 
sorentheorien, die  es  speisten.  Und  eben  dieses  neue  Frei- 
heitsgefühl kann  uns  nur  die  Gesamtreue  über  unsere 
Gesamtschuld  geben.  Die  sog.  Neuheit  ist  ja  eine  Kette 
von  ganzen  und  halben  Revolutionen.  Ihre  Werke  waren 
wesentlich  künsdiche  Werke  der  verständigen  Willkür. 
Wie  darf  sie  von  »organisch Gewordenem«  reden,  das  man 
zu  bewahren  hätte? 

Es  ist  damit  schon  gesagt,  daß  es  sich  nicht  nur  um 
einen  Wiederaufbau  Europas  handeln  kann  im  Sinne  der 
bloßen  Wiederherstellung  von  Verhältnissen,  wie  sie 
in  kultureller  Hinsicht  in  den  Jahrzehnten  vor  dem  Kriege 
bestanden  haben.  Sage  ich  im  Titel  dieses  Aufsatzes 
»Wiederaufbau«,  so  meine  ich  nicht  dies,  sondern  nur  die 
Wiedergewinnung  der  wahren  Kräfte,  die  Europas 
wesendiche  Einheit  als  Kulturkreis  ausmachen  —  und 
einen  wesentlichen  Neubau  vermittels  dieser  Kräfte. 

Denn  nicht  in  jener  falschen,  von  vielen  Nurpazifisten 
meist  geübten  Weise  dürfen  wir  denken,  als  wäre  eine 
wahre  und  echte  europäische  Geistesgemeinschaft  durch 
einen  Krieg,  den  einzelne  böse  regierende  Männer  wider 
den  Willen  der  Völker  hervorriefen,  zerteilt  und  ausein- 
andergesprengt worden;  und  es  gälte  nun  diese  Geistes- 
gemeinschaft ebenso  »wieder «herzustellen,  wie  sie  ge- 
wesen ist.  Das  ist  genau  so  falsch  wie  der  Satz:  der  Krieg 
habe  den  Haß  geschaffen,  während  er  ihn  doch  nur  ent- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2  27 

hüllte  ^.  Es  ist  genau  so  verlogen  wie  der  Satz  von  der  >  Fried- 
fertigkeit der  Demokratien « .  Das  Alles  ist  widerlichster 
Völkerpharisäismus  und  das  genaue  Gegenteil  der  Ge- 
sinnung, deren  wir  zum  Aufbau  bedürfen.  Es  ist  Lüge,  daß 
die  Völker  friedfertig  waren  und  nur  die  Regierungen  sie 
in  den  Krieg  hetzten*.  Vielmehr  davon  haben  wir  auszu- 
gehen, daß  echte  Geistesgemeinschaft,  so  wie  zwischen 
einzelnen,  so  auch  zwischen  jeneil  Minoritäten  der  Völker, 
welche  die  Geisteskultur  vor  allem  repräsentieren,  über- 
haupt nicht  zerreißbar  ist,  daß  solche  echte  Gemeinschaft 
sich  vielmehr  erst  in  der  Prüfung  des  Krieges  als  Geiste s- 
band  hätte  enthüllen  und  bewähren  müssen  (wenn  sie  ihn 
nicht  geradezu  hätte  verhüten  können)  und  daß  es  darum 
auch  kein  wahres  Geistesband  gewesen  war,  was  vor^ 
dem  Kriege  die  Völker  verknüpfte.  Das  definiert  das  Wort 
» Freundschaft  < ,  daß  sie  sich  zu  bewähren  habe  im  Kampfe 
entgegengesetzter  Interessen  der  Freunde.  Kein  Geistes- 
band und  Freundschaftsband,  sondern  ganz  andere  Dinge 
waren  es,  die  in  der  Welt  vor  dem  Kriege  Geltung  hatten, 
Dinge  wie  internationale  Höflichkeit,  internationale  Ge- 
nüsse und  Luxus,  internationale  gemeinsame  Fachinter- 
essen in  Technik  und  Wissenschaft,  Kundenhöflichkeit, 
grenzenlose  Eitelkeit,  sich  gegenseitig  zu  beweihräuchern 
und  sich  hinwegzutäuschen  über  die  steigenden  Abgründe, 
die  sich  zwischen  den  Seelen  der  europäischen  Völker 
schon  längst  aufgetan  hatten.  Daß  der  Krieg  diese  innere 
Verlogenheit  und  Unwahrheit  einer  längst  nicht  mehr  be- 
stehenden, durch  das  Gift  des  Nationalismus  und  Sub- 

*  Siehe  mein  Buch:  »Über  die  Ursachen  des  Deutschenhasses«,  2.  AufL 

Einleitung. 

■  Vgl.  mein  Buch:  »Krieg  und  Aufbau«. 


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^28  Vom  kultarellen  Wiederaufbau  Europa. 

jektivismus,  durch  Relativismus  und  Kapitalismus  längst 
zerfressenen  europäischen  Kulturgemeinschaft  aufgedeckt 
und  an  den  hellen  Tag  gebracht  hat;  daß  die  verborgenen 
seelischen  Wunden  der  europäischen  Seele  zu  weithin 
sichtbaren  eklen,  übelriechenden,  aber  heilenden  Eiter- 
strömen aufbrachen,  des  sei  sogar  dem  Kriege  Dank! 
Nicht  die  Ursache  der  Erkrankung,  sondern  der  diagno- 
stizierende  Arzt  und  der  Analysator  der  europäischen  Seele 
ist  hier  der  Krieg.  Nach  allem,  was  ich  schon  vor  dem 
Krieg  über  den  moralischen  Status  Europas  geschrieben 
hatte,  darf  ich  die  Worte,  die  der  deutsche  Dichter 
Stefan  George  in  seinem  Gedichte  »Der  Krieg«  ge- 
braucht, auch  mir  zu  eigen  machen:  »Das,  was  euch  äng- 
jstigt,  war  mir  längst  vertraut. «  Und  um  dieser  Ursachen 
willen  muß  es  sich  um  etwas  ganz  anderes  handeln  als 
bloß  darum,  durch  äußere  Wiederanknüpfung  der  Bezie- 
hungen der  Gelehrten,  Künsder  usw.,  durch  internationale 
Zeitschriften,  Kongresse,  Institute,  kurz,  durch  äußerlich 
nur  organisatorische  Maßnahmen  das  vorkriegerische 
Europa  einfach  nur  wiederherzustellen.  Es  muß  sich  darum 
handeln,  die  Bewegungsrichtung  der  neueren  Geschichte 
Europas  auf  den  sicheren  Abgrund  hin,  auf  seine  geistig- 
moralische Selbstauflösung  wenigstens  jetzt,  d.  h.  in  aller- 
letzter Stunde,  klar  zu  erkennen,  das  Ultimatum  Gottes 
an  Europa,  das  dieser  Krieg  für  die  Erhaltung  der  bist 
herigen  Weltmission  unseres  Erdteils  und  seiner  geistigen 
Gesamtexistenz  darstellt,  wirklich  und  wahrhaft  mit  dem 
Ohre  der  Seele  zu  hören;  und  worauf  es  besonders  an- 
kommt: es  muß  sich  darum  handeln,  schon  in  den  ersten 
Anfängen  der  historischen  Bewegung,  deren  früher  so  viel 
weniger  sichtbares  Ziel  und  einzig  mögliches  Ende  dieser 


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Vom  kulturellen  AViederaufbau  Europas.  229 

Weltkrieg  nun  auch  dem  blödesten  Auge  aufweist,  die 
wirklichen  Kräfte  der  Zersetzung  zu  gewahren.  Nicht  also 
bloße  Wiederherstellung,  sondern  Umkehr,  ein  radikaler 
Sinnes  wandel  ist  notwendig  und  der  ernste  Wille  hierzu, 
soll  dieser  Aufbau  möglich  sein.  Es  gibt  gewiß  europäische 
Werte,  die  allein  schon  der  menschliche  Egoismus,  allein 
schon  die  sog.  Interessen  aller  Art,  vereint  mit  den  geogra- 
phischen Verhältnissen  und  verschieden  verteilten  Reich- 
tümern der  Länder,  ihren  spezifischen  Bodenschätzen  und 
sonstigen  Werten  und  Kräften  ohne  solchen  Sinneswan- 
del, ohne  die  Aufbietung  eines  neuen  Herzens  und  eines 
neuen  Willens  wiederherstellen  werden,  —  auf  gleich- 
sam automatische  Weise.  Dazu  gehört  in  weitem,  doch 
auch  nicht  zu  überschätzendem  Maße  der  freie  Warenaus- 
tausch (z.  B.  unser  Warenaustausch  mit  dem  Getreide- 
exportland Rußland;  denn  man^rd  auch  in  Zukunft  das- 
jenige kaufen,  was  am  besten,  billigsten  ist  und  was  am 
nächsten  liegt);  dazu  gehört  der  Austausch  und  die  gegen- 
seitige Befruchtung  auch  all  derjenigen  geistigen  Funk- 
tionen, Leistungen,  Werte  und  Werke,  in  deren  Leistung 
sich  die  Nationen,  Völker,  Kulturkreise  oder  Angehörige 
von  ihnen  beliebig  vertreten  können,  da  das  Eigen- 
tümliche des  Geistes  dieser  Gruppeneinheiten  in  ihnen 
sich  nicht  wesendich  darstellt.  Dieser  Gruppe  von  Werten 
gehören  in  weitem  Maße  die  bloßen  Resultate  —  nicht 
die  schon  national  differenziierten  Methoden  —  der  Ma- 
thematik und  der  exakten  Wissenschaften,  die  technischen 
Fortschritte,  die  Maß-  und  Gewichtssysteme,  die  Termi- 
nologien, die  bekannten  internationalen  Institute  für  För- 
derung der  Landwirtschaft,  Erdmessung,  Meteorologie  und 
tausend  anderes.  Hierher  gehört  —  schon  etwas  weniger 


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230  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

— r-  auch  die  Höherbildung  und  Wiederherstellung  des  inter- 
nationalen Privatrechts.  Auch  die  menschliche  Genußsucht 
und  die  Hotelierinteressen  der  Völker  werden  dafür  sor- 
gen, daß  in  nicht  zu  femer  Zeit  die  reichen  Leute  der 
europäischen  Völker  an  der  Riviera,  in  Kairo  und  in  Monte 
Carlo  sich  wieder  äußerlich  zart  und  sanft  begegnen,  w^ 
sie  ja  z.  B.  in  der  Schweiz  schon  jetzt  tun.  Die  Sinne  und 
ihr  Genuß  sind  so  international  wie  die  Interessen  des  Ge- 
schäfts, und  dies  um  so  mehr,  je  niedriger  und  materieller 
der  Genuß.  Aber  all  das  hat  doch  im  Grunde  mit  euro^ 
päischer  Kulturgemeinschaft  nichts,  gar  nichts  zu  tun! 
Denn  alle  diese  Dinge  haben  ihre  Grenzen  ja  nicht  an  der 
Spannweite  des  europäischen  Geistes,  sie  reichen  vielmehr 
überall  hin,  wo  es  egoistische,  wo  es  genußfähige  und 
verständige  Menschen  gibt,  auch  nach  Japan,  China  z.  B. 
Vielmehr  erst  dabeginnt  fiir  mich  die  Idee  europäischer 
Kulturgemeinschaft,  wo  die  allgemeinsten  Interessen  der 
bloßen  internationalen  Gesellschaft  prinzipiell  aufhören, 
vereinigend  zu  wirken;  erst  da  beginnt  die  Forderung 
einer  sittlichen  Bemühung  des  Willens  und  eines  Sinnes- 
wandels, wo  Völker  in  ihren  Leistungen  unvertretbar, 
einmalig,  individuell  sind  in  ihren  Begabungen,  in  ihren 
Geistes-  und  Liebesrichtungen,  wo  sie  gleichsam  von  einem 
besonderen,  nur  ihnen  eigenen  metaphysischen  Punkte 
her  in  den  einen  Kosmos  der  Wahrheit,  der  Schönheit, 
des  Guten  und  auf  den  einen  Gott  hinblicken.  Die  ver- 
dammens werte  Idee  der  Weltherrschaft  einer  Nation  oder 
eines  Staates  ist  ja  logisch  durch  Anerkennung  und  Be- 
stand —  und  durch  einen  noch  so  großen  Bestand  — 
jener  vertretbaren  oder  internationalen  Leistungen  und 
Werke  durchaus  noch  nicht  ausgeschlossen.  Eben  weil 


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•  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2  3  I 

sich  Völker  in  der  Herstellung  der  oben  genannten  Werte 
beliebig  vertreten  können,  kann  prinzipiell  auch  ein  ein- 
ziges Vcdk,  das  seine  Herrschaft  unbegrenzt  ausdehnte, 
alle  Völker,  ja  die  ganze  Menschheit  vertreten.  Was  diese 
Idee  der  »Weltherrschaft«  verdammenswert  macht,  das 
ist  also  durchaus  nicht  das  internationale  Prinzip  der  Ge- 
sellschaft und  die  zu  ihr  gehörigen  Nützlichkeitswerte  und 
formalen  Rechtswerte;  das  ist  vielmehr  gerade  die  Un- 
ersetzlichkeit, die  Unvertret)>arkeit  der  nationalen 
und  volklichen  Individualität  im  Aufbau  ein^  zusam- 
menhängenden menschlichen  Gesamtkultur.  Daraus  erst 
ergibt  sich,  daß  jedes  Volk,  insofern  es  mitbaut  an  der 
Weltkultur  des  Menschengeistes,  eben  darum  auch  mit- 
verantwordich  ist  ftir  die  Verwirklichung  auch  desjenigen 
Anteils,  den  sein  Nachbarvolk,  ja  den  jedes  andere  Volk 
für  das  Ganze  dieser  Weltaufgabe  zu  leisten  von  Gott 
bestimmt  und  berufen  ist.  Kosmopolitismus  und  kultu- 
reller Nationalgedanke  in  Hinsicht  auf  die  höhere  Geistes- 
kultur sind  also  nicht  Gegensätze,  ja  nicht  einmal  zwei 
verschiedene  Wahrheiten,  sondern  sind  nur  Seiten  einer 
einzigen  Wahrheit.  Und  diese  eine  Wahrheit  steht  im 
Doppelgegensatz  zum  Internationalismus  und.  zum  kul- 
turellen »Nationalismus«.  Erst  also  wo  es  sich  um  diese 
unvertretbaren  Güter  hapdelt,  um  Religion,  Kirche, 
Kunst,  Geschichte  und  Geisteswissenschaft,  Philosophie, 
die  Höhere  Sitte  und  Lebensform,  versagen  die  ego- 
istischen, automatisch  wirksamen  Mächte.  Erst  hier  wird 
über  das  Automatische  der  Interessenverzahnung  hinaus 
der  bewußte  heilige  Wille  ebenso  zur.  Bewahrung  des 
besten  Eigenen  als  der  Achtung  des  besten  Fremden, 
ebenso  zur  gegenseitigen   Ergänzung  als    zur   gegen- 


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232  Vom  ktütarellen  Wiederaufbau  Europas. 

seitfgen  positiven  Befruchtung  ein  notwendiges  Er- 
fordernis zum  Aufbau  der  europäischen  Kultureinheit. 
Bloße  sogenannte  gemeinsame  internationale  Interessen 
der  Völker  auf  der  einen  Seite  und  auf  der  anderen  Seite 
gegenseitige  Mitverantwortlichkeit  jedes  Volkes  für  das 
eigentümlich  Gute  jedes  anderen  Volkes  und  seine  freie 
Auswirkung  in  der  Welt  um  Gottes  und  der  Welt  Besten 
willen,  bedeuten  also  nicht  das  Gleiche,  sondern  das  der 
Gesinnung  nach  denkbar  Verschiedenste.  Erst  bei  den 
stets  und  notwendig  national  gefärbten  Kulturwerten  ist 
Ergänzungswille,  geistige  Befruchtungsbereitschaft  durch 
Gaben  und  Werte,  die  man  selbst  nicht  besitzt,  ist  ein 
liebegeöffhetes  Herz  —  gerade  für  die  besonderen  natio- 
nalen Fremdwerte  als  Fremdwerte  —  nötig,  lauter  Dinge, 
die  für  das,  was  Europa  schon  vor  dem  Kriege  besaß  an 
bloß  internationalen  Zivilisationswerten,  prinzipiell  nicht 
wesenhaft  nötig  sind.  Richtig  aber  ist  dieser  Wille  nur  im 
Falle,  daß  ausschließlich  durch  die  eigentümliche  Geistes- 
kraft der  Nation  selbst  die  Kulturbildung  erfolgte,  nicht 
geleitet  durch  die  Ergebnisse  der  Reflexion  auf  sie. 

Von  der  Empfindung  der  Gemeinschuld  also  durch  Ge- 
meinreue und  -büße  zu  solidarisch  gemeinsamer  Achtung 
jeder  europäischen  Nation  und  jedes  europäischen  Volks- 
tums und  zu  solidarischem  Aufbauwillen  gemäß  dem  eben 
genannten  Prinzip:  das  zusammen  nenne  ich  das  »mora- 
lische Erfordernis«  zu  diesem  großen  Ziele.  — 

Erst  wo  dieser  Sinnes wandel.  vollzogen  ist,  kann  und 
soll  die  ganz  neu  zu  fordernde  intellektuelle  Bemühung 
einsetzen,  in  ganz  anderem  Maße  als.  bisher  durch  ein  Zu- 
sammenwirken aller  Geisteswissenschaften  mit  der  Anthro- 
pologie ernsthaft  festzustellen,  wo  die  wahren  Einheits- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  233 

kräfte  Europas  und  seiner  Kultur  liegen;  worin  sie  be- 
stehen, wie  sie  hinter  den  Nationalismen  wie  den  bloßen 
negativen  Internationalismen,  die  sie  beide  lange  ver- 
deckten, ans  Tageslicht  gebracht' werden  können;  wie  sie 
durch  Bildung,  Erziehung,  Lehre  und  durch  neue  echtere 
FVeundschaften  der  Kulturbildenden  Minoritäten  zu  stärken 
seien  —  so  zu  stärken,  daß  sie  zu  einer  wahren  geistigen 
fuhrenden  Macht  in  der  Welt  wieder  einmal  werden  könnten. 
Leider  kann  ich  auf  diese  gewaltige  Frage  von  der  geistigen 
Einheit  Europas  und  auf  das  Maß  von  Umdenken,  das  ihre 
Beantwortung  erfordert,  hier  am  wenigsten  eingehen.  Ich 
muß  hier  verweisen  auf  das,  was  ich  in  meinem  Buche 
»Der  Genius  des  Krieges«  in  dem  Kapitel  »Die  geistige 
Einheit  Europas«,  desgleichen  in  meinem  Buche  »Krieg 
und  Aufbau«^  darüber  angeführt  habe.  Man  schaut  die 
wahre  Einheit  des  europäischen  Geistes  erst  dann,  wenn 
man  die  geistige  Eigenart  der  anderen  großen  Kultur- 
kreise ahnend  erfaßt  hat  —  denn  mehr  ist  uns  unmöglich 
—  und  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  (Sprache, 
Sitte,  Künste,  Mythen,  Staatsgeist,  Religionen,  Erkennt- 
nisarten und  -ziele)  auf  einheitliche  Geistesstrukturen 
zurückzufuhren  weiß.  Soviel  hier  die  Summe  der  Fach- 
gelehrten schon  längst  wußten  und  wissen:  zu  einer  all- 
gemeinen europäischen  Einsicht,  ja  zu  einer  eingreifenden 
Äisafnmenschauenden  Reduktion  der  Kulturerscheinungen 
auf  je  eigenartige  Geistespotenzen  mit  je  bestimmten 
StrukturbeschaiFenheiten  ist  aber  jenes  vielfache  Fach- 
wissen noch  lange  nicht  geworden.  W.  von  Humboldt, 
Dilthey,  Techet  und  Wölfflin  haben  besonders  zu  diesen 

*  Siehe  hier  besonders  »Westliches  und  östliches  Christentum«,  femer  »Zur 
soziologischen  Neuorientierung  der  deutschen  Katholiken  «,  letzter  Abschnitt. 


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234  ^^"^  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

Erkenntnissen  beigetragen^.  Ja,  ich  wage  zu  sagen,  daß 
der  Durchschnittsgebildete  Europas  heute  noch  wie  zu 
Kants,  Goethes  und  Herders  Zeiten  einen  so  vagen,  un- 
klaren Begriff  des  europäischen  Wesens  und  Geistes  hat, 
daß  er  noch  heute  für  allgemein  menschlich  zuhalten 
neigt,  was  nur  ein  vager,  unklarer,  sich  selbst  noch  nicht 
bewußter  Europäismus  ist.  Daß  sich  in  einer  systema- 
tischen Lehre  von  den  durch  Geistestypen  begrenzten  Kul- 
turkreisen und  von  der  inneren  Gliederung  des  Genius 
der  Menschheit  dieses  Wissen  zusammenschließe,  sich  vei:- 
breite,  und  daß  hierdurch  erst  der  europäische  Mensch 
seiner  selbst,  seiner  Grenzen  wie  seiner  positiven  Kräfte, 
seiner  Einheitsmerkmale  und  seiner  besonderen  Aufgaben 
wahrhaft  bewußt  werde,  das  ist  eines  der  ersten  intel- 
lektuellen Erfordernisse  eines  Wiederaufbaues  der  euro- 
päischen Kultur  oder  besser  ihres  Neubaues. 

Lassen  wir  uns  hier  mit  dem  weit  Minderen  genügen, 
nur  angesichts  der  innereuropäischen  Geschichte  ganz 
kurz  die  vorzüglichsten  geistigen  Einheitsmächte  zu  be- 
stimmen, deren  Stärkung  es  gilt,  ja  deren  Wiedereinsetzung 
in  ihr  zum  Teil  verlorenes  Recht. 

IL 
Drei  große  Grundfermente  hat  bis  heute  das  europäische 
geistige  Dasein:  Die  antiken  Bildungswerte,  das  Christen- 
tum in  seiner  vorwiegend  augustinischen  und  mehr  auf 
Tat,  Liebe  und  auf  Einbau  eines  Gottesreiches  in  die 
Welt  als  auf  Spekulation,  Kontemplation,  Weltflucht  und 
aszetischer  Gnosis  (wie  im  Morgenlande)  beruhenden  einen 

*■  Siehe  neuerdings  auch  die  Schriften  des  Wiener  Kulturgeographen  Hanslik, 
femer  Spengler:  »Der  Untergang  des  Abendlandes«  [Wien,  Brauxnüller]. 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  235 

großen  Spidfonn,  und  die  vorzüglich  seit  der  Renaissance 
erstehende  und  im  Werden  der  modernen  Nationalkörper 
vermöge  der  beiden  ersten  großen  Mitgiften  und  durch 
sie  allein  mögliche  weiterschreitende  Verwebung  und 
gegenseitige  Befruchtung  der  Künste,  Literaturen,  Wis- 
senschaften, Techniken  der  Nationen  und  Völker,  wie  sie 
jede  Geschichte  dieser  Zweige  in  der  modernen  Welt  bis 
heute  zeigt. 

Den  zwei  ersten  geistigen  Formungsmächten  ist  bis 
heute  nichts  nur  irgendwie  Gleichwertiges  an  die  Seite  zu 
stellen.  Und  es  gibt  für  jeden,  der  den  Wiederaufbau  der 
europäischen  Kulturzone  erstrebt,  keine  einfachere  Fol- 
gerung aus  diesem  Tatbestande  als  diese,  es  müsse  sich 
jede  europäische  Nation  angelegen  sein  lassen,  Antike 
und  Christentum  auch  als  die  Einheitsgrundlagen  aller 
elementaren  und  höheren  Bildung  und  Gesittung  unbedingt 
zu  bewahren  —  ja  mehr  als  das,  sie  neu  zu  verlebendi- 
gen. Diese  einfache  Formel  duldet  ebensowenig  irgend- 
welche Abschwächung  und  Einschränkung  als  die  zweite, 
daß  das  eindringliche  Bewußtsein  und  Gefühl  für  die  Ver- 
flechtung und  für  die  gegenseitige  Bedingtheit  aller  euro- 
päischen Nationalkulturen  erst  recht  neu  hervorzurufen, 
überall  zu  fördern,  durch  Verbreitung  der  Sprachkennt- 
nisse und  durch  Übersetzungen,  durch  stärkere  Pflege  der 
Kulturgeschichte  gegenüber  bloßer  Staaten-  und  beson- 
ders Kriegsgeschichte  aber  möglichst  allgemein  zu  machen 
sei.  Aber  andererseits  besagt  diese  Formel  positiv  noch 
sehr  wenig.  Nur  negativ  bedeutet  sie  viel.  Negativ  be- 
deutet sie  vor  allem,  daß  jeder  Versuch,  unsere  Bildung 
und  Erziehung,  sei  es  auf  eine  wesendich  positivistische, 
naturwissenschaftlich-mathematisch  orientierte  Grundlage 


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236  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

ZU  Stellen,  sei  es  auf  eine  vorwiegend  nationalistische,  der 
Muttersprache,  der  vaterländischen  Geschichte,  dem  natio- 
nalen Mythos  einseitig  zugewandte  Grundlage,  auf  alle 
Fälle  a  limine  abzuweisen  ist.  Die  erste  dieser  Richtungen, 
die  positivistische  Bildung,  fiihrt  zwar  über  die  Nation  weit 
hinaus,  aber  auch  weit  hinaus  über  Europa  —  ja  über  den 
Menschen  als  Geisteswesen,  der  nach  Gott  des  Menschen 
erster  Gegenstand  der  Erkenntnis  zu  sein  hat;  die  zweite 
bleibt  hinter  Europa  zurück.  Beides  können  wir  als  Bil- 
dungsgrundlage für  den  europäischen  Wiederaufbau  nicht 
brauchen.  Die  Bildungsideale  und  Bildungsziele,  die  eine 
positivistisch-naturalistische  Philosophie  wie  jene  Comtes, 
Ostwalds,  Machs  entwickeln  muß,  stützen  immer  nur  jene 
internationalen  vertretbaren  Bildungswerte,  d.  h.  sie 
stützen  das,  was  einer  moralischen  Stütze  nicht  bedarf, 
da  es  sich  von  selber  macht.  Europa  als  Geistes-  und 
Liebesgemeinschaft  bringen  diese  Bildungsideale  nur  durch 
die  wichtige  Geschichte  der  Mathematik,  der  Natur- 
wissenschaften und  Technik  und  durch  Erkenntnislehre 
und  Methodologie,  nicht  durch  ihre  naturwissenschaftlichen 
Resultate  zum  Bewußtsein.  Diese  Geschichte  und  Me- 
thodologie aber  fuhren  von  selbst  auf  die  Antike  als  den 
Mutterboden  europäischer  Wissenschaft  zurück. 

Ein  weit  gefährlicherer  Feind  als  der  Positivismus  aber 
ist  für  das  humanistische  Bildungsideal  als  gemeinsam  euro- 
päischer Bestandteil  der  nationalen  Bildungsideale  gegen- 
wärtig der  reflektierte  Kulturnationalismus.  Er  tritt, 
weniger  in  England  und  Rußland,  sehr  stark  aber  in  den 
romanischen  Ländern  und  in  Deutschland  hervor.  Dort 
der  Begehr  nach  einer  spezifisch  >  lateinischen  Renaissance  < , 
d.  h.  einer  wesentlich  rhetorischen  Formkultur,  der  sich 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  237 

auch  schon  einige  besonders  französisch -italienische  Ge- 
sellschaften gewidmet  haben ^.  Hier  ein  Durcheinander  von 
Forderungen!  In  grotesker  Form  fordert  das  Alldeutsch- 
tum eine  resolute  Ausscheidung  sowohl  des  »jüdisch-christ- 
lichen Geistes  < ,  wie  man  hier  zu  sagen  sich  erkühnt,  als  des 
antikischen  »Renajssancegiftes  aus  der  deutschen  Seele«. 
Unter  Anknüpfung  an  den  germanischen  Mythos  und  meist 
mit  der  Forderung  einseitiger  Pflege  der  vaterländischen 
Geschichte  im  Sinne  einer  Helden-  und  Kriegsgeschichte 
verlangt  man  einen  möglichst  luftdichten  Abschluß  des 
germanischen  Geistes  in  sich  selbst.  Weit  besonnener 
wünscht  E.Troeltsch  (»Humanismus  und  Nationalismus  in 
unserem  Bildungswesen«,  Berlin  191 7)  nur  eine  Modifi- 
kation des  humanistischen  Bildungsideals  durch  das  neu- 
aufsteigende Bild  des  »gotischen  Menschen«  des  Mittel- 
alters, d.  h.  des  Menschen  ewig  ringenden,  alle  Formen 
immer  wieder  in  eine  unendliche  Bewegung  des  Willens  und 
Lebens  auflösenden  individuell  schöpferischen  Geistes,  — 
des  Menschen,  dessen  Wesen  ungebundene  Phantasie  und 
irrationale  Grenzenlosigkeit  ist;  sieht  femer  E.  Spranger 
im  humanistischen  Ideal  unserer  Väter  (Goethe  und  W.  von 
Humboldt)  nur  das  Bildungskorrelat  der  indi  vidual-liberalen 
Staatsidee  des  vomationalen  Staates  und  .will  die  neue 
Bildung  und  Erziehung  um  die  Staatsidee  und  um  den 
Einordnungswillen  in  den  Staat  gruppieren. 

Ich  vermag  keiner  dieser  Betrachtungen  zu  folgen 
—  so  viel  Berechtigtes  im  einzelnen,  bei  Trodtsch  und 

*  Wie  unberechtigt  —  historisch  gesehen  —  diese  vermeintliche  Einheit  des 
lateinischen  Geistes  in  betreff  des  Werdens  der  italienischen  Renaissance 
ist,  ais  welche  sie  sich  durchaus  als  nationalitalische  Bewegung  mit  schärfster 
Front  gerade  gegen  die  französische  Kultur  entfaltet  hat,  hat  K.  Burdach 
klar  gezeigt  in  seiner  Schrift:  »Deutsche  Renaissance«. 


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238  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

Spranger,  unterlaufen  möge.  E.  Spranger  hat  sich  in  seiner 
lesenswerten,  feinsinnigen  Schrift  seine  Idee  von  humsuii- 
stischer  Bildung  vor  allem  an  Wilhelm  von  Humboldt  orien- 
tiert, dessen  Leben  und  Wesen  er  so  anziehend  geschildert 
hat.  Dies  geschah  insofern  mit  zweifellosem  Rechte,  als 
das  Humboldtsche  Bildungsideal  die  machtvollste  Einwir- 
kung auf  die  Praxis  der  deutsdien  höheren  Erziehung  und 
des  höheren  Unterrichts  ausgeübt  hat.  Dieses  Bildungs- 
ideal mit  der  ihm  eatsprechenden  Auffassung  der  Antike 
hat  drei  Züge,  die  auch  nach  unserer  Ansicht  nicht  ein- 
fach erhalten  bleiben  dürfen,  sondern  einer  Korrektur  be- 
dürfen. Es  isoliert  die  Antike  —  die  schon  einseitig  genug 
nach  ihren  literarischen  Höhepunkten  der  sog.  klassischen 
Epochen  gesehen  ist  —  stark  von  ihrer  asiatischen 
Vorgeschichte  und  nicht  weniger  von  ihrem  Übergang  in 
Hellenismus  und  Christentum.  Obzwar  ganz  auf  christ- 
lichem Böden  erwachsen  und  heimlich  durch  das  Christen- 
tum viel  erheblicher  gestaltet,  als  es  sein  Urheber  zuzu- 
geben willens  wäre  —  darin  gleich  den  Bildern  der  Antike, 
welche  die  Heroen  unserer  Dichtkunst  besaßen  —  deutet 
dies  Bildungsideal  Humboldts  eine  Idee  von  reiner  >  Mensch- 
lichkeit« in  die  Antike  hinein,  die  tatsächlich  christlichen 
Ursprungs  ist,  der  durchaus  national  oder  imperial  ge- 
bundenen Antike  selber  ganz  ferne  liegt;  die  aber  gleich- 
wohl, eben  weil  sie  sich  als  antikisch  ausgibt,  den  »Men- 
schen« der  pantheistischen  Zeitstimmung  z.  Z.  Humboldts 
gemäß  von  Gott  und  allen  Kräften  der  Gnade  im  Grunde 
vollständig  loslöst.  Es  bleibt  zweitens  in  den  künstlerisch 
gefärbten  Individualismus  desStrebens  versenkt,  sich 
selbst  zu  einem  »vollkommenen  Menschenbilde«  —  gleich 
einem  Kunstwerke  —  zu  formen  und  auf  dieses  oberste 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  239 

»Ziel«  auch  alle  Verhältnisse  der  Menschen  zu  den  Ge- 
meinschaften rückzubeziehen.  Das  Solidaritätsprinzip  als 
oberstes  Prinzip  aller  sozialen  Ethik  —  wie  ich  es  anderen- 
orts entwickelte^  —  ist  den  inneren  Voraussetzungen 
dieses  Bildungsideales  so  weltenferne  wie  es  der  Ethik 
Kants  und  Hegels  ist.  Aber  nur  als  eine  Folge  dieses 
Mangels  viel  höherer  und  allgemeinerer  Ordnung  —  nicht 
als  seinen  primären  Fehler  wie  Spranger  —  vermag 
ich  mit  Spranger  es  anzusehen^  daß  das  Humboldtsche 
»humanistische«  Bildungsideal  auch  einen  echten  Hingabe- 
sinn für  den  Staat  und  seine  Aufgaben  ebensowenig  zu 
erwecken  vermag  wie  einen  rechten  Begriff  seiner  Bedeu- 
tung in  der  Welt  und  Geschichte  —  auch  noch  für  die 
geistige  Kultur  selbst.  Drittens  stellt  dies  Erziehungs- 
ideal in  so  einseitiger  Weise  die  innere  Bildung  der  Per- 
sönlichkeit gegenüber  spezifizierter  Leistung  und  Hand- 
lung in  einem  höchstentwickelten  Gemeinschaftsganzen  in 
den  Vordergrund,  daß  es  unmöglich  auf  unsere  Epoche 
übertragen  oder  darin  festgehalten  werden  kann. 

Der  erste  dieser  Mängel  scheint  mir  auch  bei  Sprangers 
Vorschlägen  und  Zielsetzungen  bestehen  zu  bleiben.  Wir 
müssen  lernen,  als  bewußte  Christen  und  im  klaren  Be- 
wußtsein davon,  daß  wir  in  den  christlichen  Werten  etwas 
viel  Höheres  und  Reicheres  besitzen,  als  uns  die  Antike 
je  geben  könnte,  gleichwohl  die  Antike  verständnisvoll  zu 
lieben  und  an  ihr  zu  lernen,  was  aus  ihr  oder  an  ihr  zu  lernen 
ist.  Nicht  nur  unser  neugewecktes  religiöses  Bewußtsein  — 
das  trotz  seiner  Vielfarbigkeit  auf  alle  Fälle  nicht  panthe- 
istisch  ist  — ,  auch  unser  geschärftes  historisches  Bewußt- 
sein von  den  Grenzen  und  der  nationalen  Partikularität 

*  Siehe:  Der  Formalismus  in  der  Ethik  mid  die  matehale  Wertethik,  II. Teil. 


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240  Vom  kulturellen  Wiederaufbaa  Europas. 

der  antiken  Werte  —  fordert  diese  Haltung  resolut.  Die 
heimliche  Ein-  und  Hinüberflößung  chrisdicher  Werte  in 
die  Antike  —  Goethes  Iphigenie  ist  darin  nur  das  sicht- 
barste Exempel  der  Denkart  unserer  ganzen  humanisti- 
schen Zeit  —  muß  aufhören,  wenn  das  Christentum  wieder 
seine  volle  Würde  und  seinen  ihm  gehörigen  Reichtum,  die 
Antike  aber  ihren  historischen  Wirklichkeitscharakter 
erhalten  hat. 

AVas  den  zweiten  der  genannten  Mängel  dieses  Bildungs- 
ideales betrifft,  so  finden  sich  bei  Spranger  ohne  Zweifel 
eine  Reihe  durchaus  berechtigter  Vorschläge.  Nur  dürfte 
es  weniger  eine  direkte  sog. » staatsbürgerliche  Erziehung« 
sein,  die  den  Staatssinn  zu  entwickeln  hat,  als  der  fort- 
währende, den  gesamten  Kulturunterricht  durchwaltende 
Auf  weis,  wie  die  Literaturen,  Künste,  Philosophien,  Wissen- 
schaftswerte in  den  Staat  der  Zeit  eingeordnet  waren 
(alte  griechische  Kunst  und  Literatur  z.  B.  in  das  Gefüge 
der  Polis),  warum  gewisse  Gruppen  vor  diesen  Werten  wie 
etwa  die  spätstoische  Philosophie  es  nicht  waren,  welche 
Charakterzüge  an  ihnen  durch  die  Natur  der  sozialen 
Gruppen  und  Stände  bedingt  waren,  die  sie  trugen;  was 
alles  vermöge  der  vorhandenen  geistigen  Potenzen  an  kul- 
turellen Werten  auch  hätte  entstehen  können,  aber  unt 
politischer  Ereignisse  und  Zustände  willen  nicht  entstand. 
Diese  indirekte  Pflege  des  Staats-  und  Gemeinsinns,  die 
an  allem  Gegebenem  der  Geschichte  die  staatliche  und 
soziale  Mitbedingtheit  auch  der  höchsten  Früchte  des 
Geistes  heraushebt  (z.  B.  die  Bedingtheit  des  Intellektua- 
lismus aller  griechischen  Philosophie  durch  die  Einrichtung 
der  Sklaverei  und  Sklavenwirtschaft)  prägt  auf  innigere 
und  stillere  Weise  das  gesamte  Denken  in  die  Richtung 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  24 1 

vertieften  Staatssinnes  um,  als  ein  direkter  auf  den  Gegen- 
wartsstaat gerichteter  >  staatsbürgerlicher  Unterricht  < .  Vor 
allem  aber  muß  —  wie  ich  schon  andeutete  —  der  Staats- 
sinn nur  als  besondere  Ausgestaltung  eines  gesteigerten 
Gemeinsinns  überhaupt  erstrebt  werden.  Nur  wenn 
dem  Zögling  ein  Netz  der  soziologischen  Grundbegriffe 
unabhängig  von  der  besonderen  historischen  Abart  der 
menschlichen  Gruppen  zuvor  überliefert  wird,  —  ein  Netz, 
das  alle  Wesens  formen  menschlicher  Gemeinschaft  um- 
faßt und  den  Staat  nur  als  eine  dieser  Formen  zur  Darstel- 
lung bringt,  also  auch  z.  B.  Familie,  Gens,  Stamm,  Volk, 
Nation,  Nationalität,  Kirche,  Sekte,  Schule,  Gesellschaft, 
Partei,  Klasse,  Stand  usw.  —  vermag  der  Zögling  das  je 
in  der  (beschichte  vorhandene  besondere  Miteinander  und 
Zusammenwirken  der  bestehenden  Gemeinschaften  klar 
zu  sehen  und  zu  begreifen.  Nicht  nur  Einordnungswillen  in 
den  Staat,  sondern  ein  differenziierter  Einordnungswille  in 
eine  Mehrheit  gleichzeitig  bestehender  Gemeinschaften 
je, eigenen  Rechtes  und  eigener  Aufgaben  und  Ziele  — 
und  damit  auch  die  stets  vorhandene  Notwendigkeit  des 
Verzichtes  und  Opfers  jeder  dieser  Gemeinschaften  zu- 
gunsten des  Bestandes  und  der  rechten  Entfaltung  der  üb- 
rigen —  muß  ein  Ziel  der  neuen  Erziehung  sein.  Mit  Recht 
weist  Spranger  darauf  hin,  daß  die  neue  Tendenz  in  der 
Jugend  zu  Verbands-  und  Gemeinschaftsbildungen  —  die 
aufs  schärfste  abweicht  von  Zuständen,  wie  sie  noch  vor 
20  Jahren  bestanden  —  wie  von  selbst  dieser  Umbildung 
des  älteren  individualistischen  Bildungsideals  entgegen- 
kommt. Wenn  er  aber  beklagt,  daß  diese  Jugendgesell- 
schaften gegen  den  Staat  eine  große  Sprödigkeit  bisher 
gezeigt  haben,  ja  daß  sie  —  wie  wir  hinzufügen  —  sogar 
16 


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242  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

mit  einer  gewissen  ausschließlichen  Eifersucht  darüber 
zu  wachen  pflegen,  daß  sie  nicht  als  > Vorschulen«  für 
künftiges  »Staatsbürgertum«  angesehen  oder  gebraucht 
werden,  so  vermag  ich  darin  ein  so  großes  Übel  nicht  zu 
sehen.  Das  ist  nur  ein  Zeichen,  daß  der  Gegenwartsstaat 
auf  die  Instinkte  der  Jugend  eine  emotiqnale  Anziehungs- 
kraft nicht  zu  äußern  vermag  und  daß  die  neuen  Staats- 
ideale auf  dem  eigenen  Boden  der  jugendlichen  Gemein- 
schaftserfahrungen selbst  zu  wachsen  unterwegs  sind. 

Was  den  dritten  Mangel  des  älteren  humanistischen 
Bildungsideals  betrifft,  so  scheigt  mir  nicht  so  sehr  die 
ältere  Idee  von  Personbildung  überhaupt  —  gegenüber 
einem  Aufgaben-  und  Leistungsideal  —  die  Ablehnung  zu 
verdienen,  die  es  bei  Spranger  findet,  als  zwei  andere  be- 
sondere Züge  dieses  Personbildungsideals:  i.  Die  in  ihm 
gelegene  Reflexion  auf  Selbstgestaltung,  wie  sie  am  deut- 
lichsten in  dem  »Kunstwerk«  charakter  des  eigenen  Lebens 
bei  W.  von  Humboldt  sich  verrät.  2.  Jenes  falsche  spezi- 
fisch deutsche  Nurinnerlichkeitsideal,  das  die  intime  Per- 
son gegenüber  der  sozialen  Person  so  einseitig  in  den  Vor- 
dergrund rückt,  daß  eine  Art  von  resignativem  Servilismus 
und  Quietismus  in  bezug  auf  alle  Art  von  Mitgestaltung 
des  öffentlichen  Lebens  und  dazu  eine  gewisse  Verachtung 
aller  sozialen  und  politischen  Lebenssphäre  sich  mit  Not- 
wendigkeit daraus  ergibt^.  Die  höchste  Selbstgestaltung 
der  Persönlichkeit  kann  sehr  wohl  als  höchster  Wert  und 
als  objektives  Ziel  auch  der  Erziehung  angesehen  werden, 
ohne  daß  die  subjektive  Intention  auf  Selbstbildung 
zugelassen  wird  oder  gar  noch  eine  besondere  Pflege  durch 

*  über  die  falsche  »Innerlichkeit«  vgl.  auch  meinen  AuCsatz  »Zwei  deutsche 
Krankheiten«  im  »Leuchter«,  191 9  (Reichl,  Darmstadt). 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  243 

den  Erzieher  findet.  Es  ist  nicht  nötig,  —  um  den  letzteren 
Fehler  zu  vermeiden  —  das  Persönlichkeitsideal  der  Er- 
ziehung und  Lehre  durch  ein  vorwiegendes  Leistungs- 
ideal zu  ersetzen.  Weit  entfernt,  daß  wir  zu  viel  hätten  an 
Lebensleitung  der  Jugend  durch  personhaft  geformte  Vor- 
bilder, hatten  wir  davon  viel  zu  wenig.  Die  Personleistung 
der  Beamten  im  Staatsleben  verdrängte  überall  bei  uns 
das  Werden  des  Staatsmanns,  spezifizierte  Fachleistung 
die  geistige  Übersicht  der  wissenschaftlichen  Persönlich- 
keit, in  der  sich  die  Wissenszweige  gegenseitig  befruch- 
ten; einseitigstes  Aufgehen  im  Geschäft  im  wirtschaftlich 
tätigen  Bürgertum  ebensosehr  den  politischen  Gemein- 
sinn als  den  Geschmack  an  höherem  geistigen  Leben. 
Nicht  eine  noch  gesteigerte  Spezifizierung  der  Erziehungs- 
und Unterrichtsziele,  sondern  eher  das  Gegenteil  verspricht 
dagegen  Abhilfe.  Dahingegen  muß  etwas  ganz  anderes 
—  das  mir  bei  Spranger  zu  sehr  mit  dem  Leistungsideal 
zu  verschwimmen  scheint  —  der  Sinn  für  öffentliche 
Auswirkung  des  für  recht  Erkannten  und  das  stete  Ge- 
fühl der  Mitverantwortlichkeit  für  die  Beschaffenheit  aller 
öffentlichen  Zustände  über  den  Rahmen  des  älteren  huma- 
nistischen Bildungsideals  weit  hinaus  gesteigert  werden. 
Auch  die  Forderung  von  Ernst  Troeltsch,  daß  das 
deutsche  Mittelalter  einen  größeren  Raum  in  unserer  hö- 
heren Erziehung  gewinne,  ist  von  tiefer  Berechtigung. 
Insbesondere  ist  es  die  Anknüpfung  unserer  menschlichen 
Ideale  an  jenes  Germanisch-  und  Französisch-Gotische,  das 
selbst  noch  ein  hohes  Maß  europäischer  Universalität 
in  sich  trug,  ja  sogar  mit  asiatischen  und  besonders  indi- 
scljen  Formen  noch  in  einer  tiefen,  heimlichen  Beziehung 
lebte,  das  außerdem  das  Christliche  nicht  ausschloß,  son- 

i6» 


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244  Vom  kulturellen  Wiederauf  bau  Europas. 

dem  in  sich  einschloß.  Nicht  nur  das  in  seinen  Grenzen 
berechtigte  nationale  Moment  als  mitgestaltende  Kraft 
unserer  Bildungsideale  fordert  diesen  größeren  Raum: 
Nicht  minder  fordert  die  mittelalterliche  Welt  als  erhaben- 
stes Vorbild  einer  organisatorischen  Epoche  größten 
Stils  unter  Leitung  des  religiös -kirchlichen  Bewußtseins 
eine  stärkere  Berücksichtigung.  Nur  das  ist  gegenüber 
den  schauderhaften  Einseitigkeiten,  wie  sie  von  Benz  vor- 
gebracht und  von  K.  Burdach  so  ausgezeichnet  zurück- 
gewiesen wurden,  dabei  zu  fordern,  daß  die  ganze  ver- 
wickelte Erziehung  des  germanischen  Geistes  zur  Selb- 
ständigkeit durch  die  Kirche  und  durch  die  antiken 
Vorbilder  dabei  auch  zu  dem  gebührendem  Rechte  ge- 
lange. 

All  diese  Modifikationen  schließen  also  nicht  im  min- 
desten aus,  daß  die  Pflege  der  antiken  Bildungswerte  im 
humanistischen  Gynmasium  der  Ausgangspunkt  höhe- 
rer Geistesbildung  in  allen  europäischen  Völkern  bleibe, 
soll  ein  kultureller  Wiederaufbau  Europas  nicht  auf  Sand 
bauen.  Und  es  kann  nur  das  in  Frage  stehen,  i.  welche 
Seiten  und  Teile  der  antiken  Bildungswerte  bei  den  ver- 
schiedenen Völkern  mehr  oder  weniger  botont  werden; 
2.  wie  femer  diese  Bildungswerte  im  Zusammenhang  der 
ganzen  Weltgeschichte,  insbesondere  ihrer  asiatischen 
Vorgeschichte  und  den  in  ihren  Grenzen  und  im  Rahmen 
des  Europäischen  wohlberechtigten  engeren  nationalen 
Bildungsidealen,  eingeordnet  und  in  dieser  Einordnung 
überliefert  werden.  Es  ist  von  den  gegebenen  Geschichten 
der  Völker  aus  begreiflich,  daß  die  romanischen  Völker  in 
höherem  Maße  an  die  lateinische  Antike,  die  deutschen 
erheblich  stärker  an  die  klassisch-griechische,  die  sla- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  245 

wischeWelt,  insbesondere  die  russische,  aber  stärker  an  die 
späthellenische  Welt  ihre  Bildung  anknüpft.  Aber  ge- 
rade weil  dies  auf  Grund  der  bloßen  Geschichte  selbstver- 
ständlich ist,  muß  der  sittliche  Bildungs  w  i  1 1  e  auf  Ergänzung 
gerichtet  sein.  Eben  darum  darf  keine  reflektiert-gesuchte 
»Renaissance  latine«  existieren,  eben  darum >nüssen  Ger- 
.  manen  und  Slawen  die  spezifischen  Werte  lateinischen 
Form-  und  Ordnungssinnes,  lateinisdier,  praktischer  Lo- 
gik und  Organisationskraft  mit  heißer  Seele  suchen.  Aber 
noch  wichtiger  ist  das  Zweite!  Der  Fortgang  der  Wissen- 
schaften vom  Altertum  hat  es  mit  sich  gebracht,  daß.  wir 
in  antik-klassischer  Kunst,  Philosophie,  Ethos  nicht  mehr 
ewige  Musterbildung  menschlich  erhöhten  Daseins 
überhaupt  zu  sehen  vermögen.  Jene  geheime  Philologen- 
fachmetaphysik  »ewiger  Musterbilder«,  die  Antikes  nur 
im  Gegensatz  zum  Christlichen  zu  sehen  vermochte  und 
eine  Art  Paganismus  fördert,  ist  durch  die  historische  Rich- 
tung der  Wissenschaft  von  der  Antike  selbst  zerbrochen 
worden.  Überall  wurde  Kontinuität  und  nur  relativer 
Bruch  der  griechischen  Kultur  zu  den  asiatischen  Formen 
deutlich,  in  Archäologie,  Religion,  Philosophie,  Mythen- 
geschichte; nicht  minder  wurden  sichtbar  die  vergäng- 
lichen nationalen,  sozialen  und  politischen  Voraussetzungen 
dieser  Kulturwelt.  Völlig  neue  Elemente,  besonders  der 
griechischen  Antike,  die  unsere  humanistischen  Väter  über- 
sahen, wurden  aufgedeckt;  ich  nenne  Mutterrecht  und 
Mutterkultur,  die  Orphik  mit  ihrem  pessimistischen  Tra- 
gizismus,  die  Anfänge  griechischen  Privatrechts,  die  so- 
zialen Kämpfe  in  den  griechischen  Städten,  die  griechische 
Naturwissenschaft,  Mathematik  und  Technik.  Das  konti- 
nuierliche Ausmünden  der  Antike  durch  den  Hellenismus 


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246  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

hindurch,  durch  Gnosis  und  die  spätantiken  Religions- 
bildungen in  die  frühchristliche  Kirche  wurde  neu  und 
kräftig  zur  Anschauung  gebracht.  Daß  »antik -klassisch« 
nicht  menschlich  allgemeingültig  sein  kann,  im  höchsten 
Falle  nur  darstellt  einen  ersten  Höhepunkt  der  Werke 
europäischen  Geistes,  ist  die  sicherste  Erkenntnis  un- 
serer Epoche.  Was  folgt  daraus?  Nun,  vor  allem  folgt 
nicht,  daß  durch  difee  historische  Relativierung  der  an- 
tiken Werte  diese  nun  überhaupt  nicht  mehr  Grundlage 
unserer  europäischen  Bildung  sein  dürften.  Daß  wir  sie 
etwa  nur  als  gleichgültige  Elemente  eines  grenzenlosen 
historischen  Flusses  anzusehen  hätten,  unsere  eigene  Bil- 
dung aber  ganz  anderen  Zielen  zuzuwenden  hätten,  etwa 
einseitig  nationalen  oder  politischen.  Sind  diese  Werte 
auch  nicht  mehr  allgemeinmenschlich -normativ,  so  sind 
sie  es  doch  europäisch.  Und  dürfen  sie  auch  nicht  mehr 
absolute  Vorbilder  genannt  werden,  so  sind  sie  doch  ge- 
meinsame, notwendige  Orientierungstürme,  Leuchttürme 
für  alle  europäischen  Völker,  nach  denen  sie  hinschauen 
sollen  nicht  wie  auf  Ziele  und  vor  sich,  zu  denen  sie  aber 
immer  wieder  zurückschauen  müssen,  um  zu  erkennen, 
ob  sie  noch  im  Kurse  des  europäischen  Geistes  und  We- 
sens überhaupt  fahren.  Unter  diesem  Bilde  eines  »Leucht- 
turms im  Rücken«,  möchte  ich  dasjenige  gemeinsam 
europäische  Verhältnis  der  Völker  zur  Antike  verstanden 
wissen,  das  zu  einem  kulturellen  Aufbau  notwendig  ist. 
Aber  die  gemeinsame  Aufgabe  des  europäischen  Kul- 
turaufbaues verlangt  in  der  besonderen  Weltsituation,  in 
der  wir  uns  befinden,  noch  ein  anderes  gemeinsames  Ziel 
—  ein  Ziel,  dem  unsere  neuen  Erkenntnisse  entgegen- 
kommen: Ich  meine  eine  gewisse  Umkehr  unseres  ge- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  247 

samten  europäischen  Bildungswesens,  von  der  vorzüglichen 
Richtung,  die  es  bisher  hatte,  der  ostwestlichen  zur 
westöstlichen.  Dar^iuf  drängt  meines  Erachtens  alles 
hin.  Einmal:  Es  bedarf  überhaupt  das  hyperaktivistische, 
hyperbetriebsame  Europa  —  ich  möchte  sagen  —  einer 
gewissen  Liegekur  in  den  Tiefen,  in  dem  Ewigkeitssinn, 
in  der  Ruhe  und  Würde  des  asiatischen  Geistes.  Hat  dazu 
Asien  seit  dem  Japanisch-Russischen  Krieg  mit  Sicherheit 
aufgehört,  nur  passives  Objekt  zu  sein  kapitalistischer 
Ausbeutung  einerseits,  christlicher,  aber  zu  oft  nur  Han- 
delspionierschaft  treibender  Missionen  andererseits  — 
regt  es  überall  nun  aktiv  seine  Flügel  und  wischt  sich 
den  Schlaf  von  Jahrhunderten  aus  den  Augen,  wie  wir  es 
überall  sehen,  im  asiatischen  Rußland,  Japan,  China,  In- 
dien, in  der  mohammedanischen  Welt  —  so  hat  Europa 
doppelten  Grund  zu  einer  neuen  Auseinandersetzung 
all  seines  Kultur-  und  Bildungsbesitzes  mit  Asien  und  dem 
Osten  überhaupt.  Der  Weltkrieg  führt  im  kleinen  wie  im 
großen  zu  neuen  Ausgleichen,  zu  Ausgleichen  der  allzu 
großen  Kultumiveaudifferenzen  —  und  dies  vor  allem 
qualitativ.  Wie  Deutschland  demokratischer  in  ihm  wird, 
die  englisch  redenden  Länder  zentralistischer  und  staats- 
sozialistischer, so  muß  auch  in  weit  gewaltigerer  Größen- 
ordnung ein  gewisser  Ausgleich  des  spezifisch  Euro- 
päischen und  Asiatischen  seine  Folge  sein.  Darum 
müssen  wir  auch  die  Antike  der  Jugend  von  vornherein 
mit  ihren  asiatischen  Wurzeln  darbieten,  und  die  histori- 
schen Quellpunkte  innerhalb  der  späteren  Geschichte  an- 
tiker Bildungswerke,  wo  sich  Morgenländisches  und  Abend- 
ländisches vermischte,  wie  im  Hellenismus,  in  Alexandria 
usw.,  um  dann  in  die  getrennten  Arme  der  abendländi- 


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248  Vom  kulturellen  Wiederauf  bau  Europas.  ^ 

sehen  und  morgenländischen  Geschichte  scharf  ausein- 
anderzugehen, weit  stärker  erleuchten  als  bisher.  Diese 
Umstellung  unserer  zentralen  Bildungsinteressen  nach 
dem  Osten  ist  femer  höchst  wünschbar  darum,  weil  Geben 
wie  Nehmen  in  dieser  Richtung  weit  fruchtbarer  sein 
werden,  als  wenn  wir  unser  zu  ausschließliches  Interesse 
an  der  westlichen  Bildung  beibehalten.  Die  französische 
Bildung  zumal  (in  geringerem  Maße  auch  die  englische) 
hat  eine  Eigenständigkeit  und  eine  Reife  der  Form  erreicht, 
die  —  nach  menschlichem  Ermessen  —  nur  schwer  noch 
überboten  werden  dürfte.  In  Frankreich  hat  (im  Gegensatz 
zu  Deutschland  und  England)  das  Bürgertum  bisher  eine 
eigentümliche  geistige  Kultur  im  Grunde  nicht  geschaffen. 
Es  hat  sich  dafür  —  wieder  im  Gegensatz  zu  Deutschlands 
unpolitischem  Bürgertum  —  in  politischer  und  sozialer 
Energie  erschöpft  und  lebt  in  allen  Dingen  des  Geistes  bis 
heute  von  Gnaden  des  Ancien  regime.  Es  ist  unwahrschein- 
lich, daß  es  in  seinen  alten  Tagen  noch  vollbringe,  was  es 
bisher  noch  nicht  vollbracht.  Was  im  jungen  Frankreich 
wirklich  neu  war  gegenüber  den  Traditionen  des  1 7.  und 
I  S.Jahrhunderts  wie  z.  B.  die  Bergsonsche  Philosophie,  wies 
vielfach  deutschen,  noch  mehr  russischen  Einfluß  auf.  Was 
wir  von  Frankreich  in  uns  aufnehmen  können  —  was  die 
Zukunft  bringt,  das  wissen  wir  freilich  dabei  nicht  —  das 
haben  wir  im  wesentlichen  genommeti.  In  England  gilt 
dieses  Verhältnis  von  Kultur  und  sozialer  Gruppenträger- 
Schaft  weniger  als  in  Frankreich,  besteht  aber  gleichfalls 
noch  im  wesentlichen  zu  Recht.  Auch  Englands  Kultur  ist 
durchaus  aristokratisch  dem  Kerne  nach,  mag  diese  Aristo- 
kratie sich  auch  stärker  unter  bürgerlichen  Namen  ver- 
bergen wie  in  Frankreich.  Bei  uns  ist  die  Aristokratie  — 


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'  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  249 

soweit  wir  eine  solche  besitzen  —  kulturell  fast  völlig  un- 
fruchtbar geblieben.  Ihr  Werk  war  Staat,  Krieg,  Politik. 
Es  ist  so  unwahrscheinlich,  daß  sie  in  ihren  alten  Tagen 
geistig  noch  besonders  fruchtbar  würde  wie  das  Gleiche 
unwahrscheinlich  ist  für  das  französische  Bürgertum.  Im 
Gegensatze  hierzu  ist  unsere  sozial  durchaus  von  unten 
heraufgestiegene  Kultur  schon  nach  ihrer  soziologischen 
Bedingung  viel  tiefer  ähnlich  den  in  der  slawischen  und 
besonders  der  russischen  Welt  gegebenen  Verhältnissen. 
Inhaltliche  gegenseitige  Ergänzung  in  bezug  auf  ger- 
manischen Individualismus  und  slawischen  Gemeinsinn, 
Verstandesmäßiges  und  Mystisches,  einseitig  Organisa- 
torisches und  Sinn  für  das  Recht  eigentümlich  dahinströ- 
menden  Lebens,  Christentum  der  Tat  und  die  aus  den  Um- 
hegungen der  Schicksale  lösende  und  rettende  kontem- 
plative Anbetung^,  verspricht  bei  der  noch  beiderseitigen 
Unvollendetheit  der  kulturellen  Formen  reichere  Früchte 
als  sie  versprochen  sind  bei  fortbestehender  einseitiger 
Aufmerksamkeit  auf  den  Westen.  Auch  die  sozialen  Demo- 
kratien Rußlands  imd  Deutschlands,  die  sich  soviel  tiefer 
vom  Bürgertum  geschieden  wissen  als  im  Westen,  ver- 
stehen sich  viel  besser,  als  dies  in  absehbarer  Zeit 
zwischen  deutscher  und  westlicher  Demokratie  der  Fall 
sein  dürfte.  Darum  ist  vor  allem  zu  fördern:  Kenntnis 
Rußlands  und  der  außerrussischen  slawisclj^en  Welt  als 
Übergang  dazu.  In  all  dem  fällt  dem  österreichischen 
Bildungsleben  eine  besondere  Rolle  zu.  Neue  Lehrstühle 
für  russische  Geschichte  und  Kultur,  russisches  Sprach- 
studium müssen  aber  auch  für  unsere  reichsdeutschen 
Unterrichtsministerien  eine  Sorge  sein.  Nationale  Bildungs- 

^  Vgl.  in  Krieg  und  Aufbau:  östliches  und  westliches  Christentum. 


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250  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

ideale  müssen  sich  im  Rahmen  dieser  gemeinsamen  euro- 
päischen Kultur-  und  Bildungsgrundlage  bewegen  —  sie 
dürfen  ihn  nicht  sprengen.  In  diesem  Rahmen  sollen  sie 
ihr  besonderes  Recht  in  vollem  Maß  genießen. 

Aufs  schärfste  zu  bekämpfen  ist  jede  »alldeutsch«  ge- 
richtete Abschlußtendenz.  Sie  ist  widersinnig  und  auch 
undeutsch,  da  sie  dem  Wesen  gerade  des  germanischen 
Geistes  aufs  tiefste  widerspricht.  Die  Definition  ist  ganz 
richtig,  die  K.  Burdach  in  seiner  Schrift  »Deutsche  Renais- 
sance«, vom  deutschen  Geiste  mit  einem  Leibnizschen 
Bilde  gegeben  hat:  Er  ist  ein  »schaffender  Spiegel« ;  er  ist 
nicht  so  sehr  eine  Gruppe  von  Eigenformen,  sondern  der 
Geist  der  Synthese  aller  Formen  durch  eine  grenzen- 
lose Liebe  schöpferischer  Verknüpfung.  Wer  nur  an  »Ori- 
ginalität« mäße,  dem  hätte,  von  der  deutschen  Musik  und 
Geisteswissenschaft  abgesehen,  die  deutsche  Kultur  wenig 
zu  sagen.  Eben  darum  bedarf  der  Deutsche  in  höherem 
Maße  der  Anregung  durch  Fremdes  als  andere  Völker;  und 
seine  ganze  höhere  Bildungsgeschichte  ist  Verarbeitung 
solcher  Anregungen  teils  aus  der  Antike  und  Renaissance 
(Humanismus,  klassisohe  Dichtung),  teils  aus  dem  christ- 
lichen Altertum  (lutherische  Reformation),  teils  aus  Frank- 
reich (deutsche  Aufklärung),  teils  aus  England  (Shake- 
speare, Staatslehre,  Philosophie). » William,  Stern  der  höch- 
sten Höhe,  Dir  verdank'  ich,  was  ich  bin,«  so  Goethe; 
» Rousseau  hat  mich  zurechtgemacht, «  » Hume  hat  mich  aus 
dem  dogmatischen  Schlummer  geweckt, «  so  Kant.  Bei  allen 
großen  Deutschen  findet  man  Reden  dieser  Art.  Was  wäre 
Luther  ohne  Augustin  und  Paulus?  Die  deutsche  Sprache 
hat  einen  organischen  Bedarf  nach  Ergänzung  durch 
Fremdwörter,  d.  h.  einen  Bedarf,  der  nicht  in  den  zufäl- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2  5  I 

ligen  historischen  Schicksalen  des  deutschen  Volkes/son- 
denv  in  ihr  selbst  und  ihren  Fortbildungsgesetzen  wurzelt. 
Und  angesichts  dieser  grundlegenden  Tatsachen  wagt  man 
es,  Deutschland  einen  kulturellen  Abschluß  zu  predigen! 
Diese  Tendenzen  sind  nichts  als  Ideologie  eines  wirt- 
schaftlichen Machtnationalismus,  der  mit  dem  deut- 
schen Geiste  nichts,  gar  nichts  zu  tun  hat,  sondern  ein 
frevles  Spiel  mit  ihm  treibt. 

Doch  nicht  diese  allgemeine  »alldeutsche«  Tendenz  ver- 
dient unseren  resoluten  Kampf.  Auch  geistige  Richtungen, 
die  sich  bisher  stärkster  Teilnahme  unserer  Besten  erfreu- 
ten, sind  nach  meiner  Meinung  starke  Hemmungen  eines 
Wiederaufbaues  europäischer  Kultu^r.  Es  seien  nur  zwei 
davon  genannt. 

Zuerst  sei  erwähnt  jene  Auffassung  der  neueren  poli- 
tischen Geschichte,  die  im  Gefolge  der  Gründung  des 
Deutschen  Reiches  bei  uns  auftrat  und  bald  die  Lehrstühle 
der  deutschen  Universitäten  erfüllte,  und  die  da  besonders 
bezeichnet  ist  durch  die  Namen  Treitschke  und  SybelJSchon 
Friedrich  Naumann  hat  einige  treffende  Worte  gefunden, 
wenn  er  sagt,  daß  unserer  Welt  eine  Auffassung  der  Ge- 
schichte, die  von  der  Wartburg  durch  Potsdam  und  Königs- 
berg möglichst  einlinig  zum  kleindeutschen  Gedanken  und 
zu  Bismarck  führe,  als  Bildungsgrundlage  nicht  mehr  ent- 
spreche. Wir  haben  diese  teleologisch  politischen  Kon- 
struktionen ein  für  allemal  aufzugeben  und  die  Fülle 
deutschen  Wesens  wieder  in  sein  Recht  einzusetzen.  Wir 
haben  nicht  nur  die  innere  Tendenz,  sondern  auch  das 
enge  politische  Pathos  dieser  Geschichtschreibung  zu  ver- 
meiden und  sollten  zu  dem  reineren  und  objektiveren 
Geiste  Leopold  von  Rankes  zurückkehren,  der  noch  ganz 


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252  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

erfuHt  war  von  der  historischen  Freude  über  die  schöne 
Mannigfaltigkeit  des  Menschlichen  in  der  geschichdichen 
Welt  und  von  einer  wunderbaren  Ehrfurcht  vor  der  Zu- 
kunft der  Menschheit.  Die  deutsch-mittelalterliche  Welt 
und  ihre  bodenständige  Kultur,  die  Zeiten  des  großen 
deutschen  Kaisertums,  kurz  die  universalen  organisa- 
torischen Phasen  der  deutschen  Geschichte  müssen  ein 
ganz  anderes  Gewicht  (ur  die  Durchschnittsbildung  ge- 
winnen, als  sie  jetzt  besitzen.  Denn  in  der  Linie  dieser 
Zeiten,  nicht  im  Kleindeutschland  Bismarcks  liegen  un- 
sere Aufgaben.  Gerade  von  den  oben  genannten  Sta- 
tionen der  deutschen  Geschichte  können  wir  zurzeit  am 
allerwenigsten  lernen. 

Nehmen  wir  tlie  Reformationszeit  zum  Beispiel.  Kann 
es  ein  Zeitalter  geben,  dessen  ganzes  Wesen  fremder  wäre 
den  Ansprüchen,  die  an  uns  gestellt  sind?  Der  Individua- 
lismus, der  da  zuerst  in  religiöser  Form  auftritt  und  die 
heiligen  Dämme  der  chrisdichen  Korporationsidee  und 
ihre  Realität  in  der  Kirche  zerbrach:  heute  steigt  €r  nur 
zu  offensichtlich  zu  Grabe;  selbst  große  protestantische 
Theologen  (Hamack,  Troeltsch,  Rade)  bekennen,  daß  es 
sich  heute  vor  allem  darum  handle,  die  Idee  christlicher 
Gemeinschaft  und  Solidarität  in  ihrer  universalen  Natur 
wieder  aufzunehmen  und  ihr  Recht  auf  wahrhafte  Formung 
und  Organisation  auch  der  öffentlichen  Welt  wieder  ein- 
zusetzen. Nicht  in  ein  Zeitalter  neuer  Kirchentrennungen, 
sondern  in  ein  solches  neuer  kirchlicher  Synthesen 
treten  wir.  Die  in  Rußland,  England,  Frankreich,  Italien 
teils  längst  bestehende,  teils  (besonders  in  Rußland  und 
England)  neu  erfolgte  Trennung  von  Kirghe  und  Staat 
gibt  für  die  großen  Probleme  der  Annäherungen  der'da- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  253 

durch  Staats-  und  nationalfreier  werdenden  Kirchen,  zu- 
nächst für  die  anglikanische  und  römische,  die  orthodoxe 
und  die  griechischen  Kirchen,  die  römische  und  die  or- 
thodoxe (wie  sie  Leos  XIII.  Testament  umschrieb)  ganz 
neue  bedeutende  Perspektiven.  Das  Bürgertum,  dessen 
soziologische  Schöpfung  der  Nationalstaat  war 'und  das 
sich  damals  gegen  Feudalismus  und  Kirche  durchzusetzen 
begann  —  heute  hat  es  sich  aufgelöst  in  immer  neue 
Gruppen  und  Stände  oder  doch  Keimen  zu  solchen. 

Der  absolute  Fürstenstaat,  der  die  Reformation  noch 
weit  stärker,  als  wir  es  noch  vor  kurzem  gewußt  haben, 
propagierte,  er  hat  die  ganze  demokratische  Welle  der 
Zeit  gegen  sich.  Europa,  das  damals,  um  neue  Kräfte  zu 
entwickeln,  auseinanderstrebte  (religiös,  national,  staat- 
lich, ökonomisch):  heute  geht  es  daran,  seine  Differenzen 
auszugleichen,  sich  zu  sammeln  und  nicht  so  sehr  ^ 
partikulare  Kräfte  zu  entfalten,  als  die  übermäßig  entfal- 
teten mit  vereinigten  geistigen  und  sittlichen  Kräften  zu 
meistern. 

Aber  aych  von  den  geistigen  Führern  dieser  Zeit  können 
wir  am  allerwenigsten  lernen.  Dies  sage  ich  ebensosehr 
angesichts  Luthers  als  des  Ignatius  von  Loyola,  der  Re- 
formation wie  der  Gegenreformation.  Die  Verbindung 
einer  überspitzten  mystischen  Nurinnerlichkeit  mit  fast 
machiavellistischen  Machtlehren  betreffend  Staat,  Gesetz, 
die  schließlich  die  Kirche  dem  Staate  auslieferte,  die  von 
Luther  ausgegangen  und  noch  in  Bismarcks  Gestalt  nach- 
lebt, dieser  gefährliche  deutsche  Dualismus  zwischen  Ge- 
sinnung und  Tat,  Glaube  und  Werk,  nur  »innerer«  Frei- 
heit mit  politischem  Knechts-  und  Gewaltsinn  ist  eben  das, 
das  wir  energisch  abzuschütteln  haben;  —  und  nicht  min- 


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2  54  ^^"^  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

der  energisch  den  finsteren  Fanatismus  und  die  Verengung 
der  katholischen  Kirche  durch  die  Gegenreformation. 

Eine  zweite  geistige  Richtung,  die  dem  kulturellen  Auf- 
bau Europas  zum  mindesten  stark  hinderlich  ist,  ist  die 
Herrschaft  aller  Art  nationaler  Philosophien.  Ich 
meine  hier  sowohl  in  ihrem  inneren  Wesen  faktisch  zu 
volksmäßig  eingeschränkte  Gedankenbildijngen  als  be- 
wußt reflektierte  Nationalphilosophien.  Eine  Philoso- 
phie erster  Art  ist  z.  B.  die  von  preußischem  Geiste  (im 
engsten  Sinne)  viel  zu  einseitig  durchflossene  Gedanken- 
bildung Kants,  trotz  der  noch  kosmopolitischen  subjek- 
tiven Haltung  ihres  Urhebers.  Ich  kann  dies  im  einzelnen 
hier  nicht  dartun,  muß  vielmehr  solche,  die  sich  dafür  inter- 
essieren, an  meine  philosophischen  Schriften  verweisen^. 
Wenn  Schiller  in  seiner  Schrift  über  Anmut  und  Würde 
^  sagt,  Kant  habe  in  seiner  Ethik  nur  »für  die  Knechte  des 
^  Hauses«,  nicht  für  seine  »Kinder«  gesorgt,  so  hat  er  schon 
das  Wesentliche  getroffen,  was  ich  meine.  Und  »Kinder 
des  Hauses«  zu  werden^  das  ist  heute  der  tiefste  Drang 
im  deutschen  Volke.  Obzwar  Kant  sich  selbst  Jm  Unter- 
schiede zu  seinen  spekulativen  Nachfolgern  (Fichte,  Hegel 
usw.)  noch  ganz  als  »Glied  der  europäischen  wissenschaft- 
lichen Republik«  fühlte,  so  begann  doch  mit  ihm  bereits 
jene  Phase  des  deutschen  Denkens,  die  alsbald  den  nur- 
preußischen Geistesstempel  auf  jede  offiziell  zugelassene 
Regung  des  deutschen  Denkens  legte  und  die  gleichzeitig 
die  deutsche  philosophische  Entwicklung  aus  der  christ- 
lich-europäischen Geistesentwicklung  heraus- 
führte, verengte  und  partikularisierte.  Man  braucht 

*  Vgl.  meine  Kritik  der  Ethik  I.  Kants  in  meinem  Buche:  Der  Forma- 
lismus in  der  Ethik  und  die  materiale  Wertethik,  Halle  191 2. 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  255 

nur  Leibniz  neben  Kant  und  die  Kantische  Richtung  zu 
halten,  um  dies  einzusehen.  Leibniz  steht  noch  voll  in  der 
breiten,  großen  Tradition  der  europäisch-christlichen  Phi- 
losophie und  ihrer  antiken  Grundlagen  in  Piaton,  Aristo- 
teles, Augustin,  dieser  ,quaedam  philosophia  perennis*, 
wie  er  sie  nennt.  Hier  finden  wir  noch  nicht  den  maß- 
losen Konstruktions-  und  Nurorganisationsgeist,  in  dem 
Kant  die  Natur  zu  einer  Art  erweitertem  Preußenstaat, 
d.  h.  einem  künstlichen  Bauwerk  menschlichen  Verstan- 
des herabsetzen  zu  dürfen  glaubt;  noch  nicht  die  Über- 
aktivität und  leere  formalistische  Reglementierungssucht 
in  Kants  geistiger  Grundstellung  zur  Welt;  noch  nicht  die 
den  nachfolgenden  Pantheismus  vorbereitende  Auflösung 
aller  geistigen  Individualität  in  ein  Ding,  in  dem  nichts 
fließt  als  verdünnte  Denktätigkeit;  noch  nicht  den  ganz  ein- 
seitigen, weil  im  Grunde  einsichtsleeren  Pflichtgedanken 
in  der  Ethik;  noch  nicht  die  Ausschaltung  der  Liebe  und 
jaller  Regungen  der  Sympathie  aus  den  moralischen  Kräf- 
ten; noch  nicht  die  Verballhomung  der  Religion  und  des 
Gottesgedankens  zu  einem  »Als  ob«  im  bloßen  Dienste  * 
des  pflichteifrigen  Bürgers;  noch  nicht  die  schreckliche 
altprotestantische  Lehre  von  einem  radikal  Bösen  in  der 
^nenschlichen  Natur,  die  Goethe  so  tief  abstieß;  noch  nicht 
die  gesuchte  Glücksverachtung,  die  gemeinste  Sinneslust 
nicht  zu  trennen  weiß  von  der  griechischen  Eudämonie 
und  der  christlichen  Glückseligkeit  und  beide  mit  gleichem 
Fanatismus  nicht  nur  als  Zwecke,  sondern  leider  auch 
als  Ziele  der  Seele  verwirft.  Kant  ist  ein  gewaltiger 
Denker,  und  wir  dürfen  nicht  aufliören,  uns  mit  ihm 
immer  neu  auseinanderzusetzen.  Aber  als  Grundlage  einer 
allgemeinen  Geistesbildung  auf  Gymnasium  und  Univer- 


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256  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

sität  eignet  sich  seine  dunkle,  vieldeutige  Philosophie  und 
eignen  sich  die  spekulativen  Subjektivismen  und  geist- 
reichen Eigenwilligkeiten  seiner  Nachfolger  nicht.  Wir 
bedürfen  einer  Philosophie,  die  nicht  wie  die  Kantische  . 
einer  geschlossenen  Faust,  sondern  einer  offenen  Hand 
gleicht;  die  wieder  anknüpft  an  das  große  Erbe  der  euro- 
päisch-christlichen Gedankenwelt  und  deren  Seele  zugleich 
der  strengste  Objektivismus  und  die  Anerkennung 
letzter  Wesenstatbestände  und  -zusammenhänge  in  der 
Welt  und  im  menschlichen  Geiste  sein  muß.  Nur  im  Geiste 
Leibnizens,  nicht  im  Geiste  Kants  ist  es  möglich,  daß  die 
europäische  Philosophie  wieder  eine  fruchtbare  Symphonie 
wird  —  ohne  eng  konfessionelle  Voraussetzungen,  wie  sie 
für  Kant  trotz  aller  sog.  Vemunftautonomie  der  Altpro- 
testantismus ist.  Und  noch  weit  weniger  können  wir  eine 
reflektierte  Nationalphilosophie  wie  jene  Fichtes  als 
solche  Grundlage  brauchen  und  ähnliche  »Ich «Philoso- 
phien. Nicht  die  widersinnige  Aufblähung  des  Deutschen 
zum  »ursprünglich  freien  und  vernünftigen«  Wesen  über- 
haupt, sondern  die  Erkenntnis  unserer  nationalen  Indivi- 
dualität und  ihrer  Güter,  aber  auch  ihrer  Grenzen  ist 
unsere  Aufgabe;  nicht  die  entsetzliche  Auffassung  der 
ganzen  Welt  als  gleichgültiges  bloßes  »Material  unend-* 
lieber  Pflicht«,  sondern  die  Bewegung  liebreicher  Hin- 
gabe an  ihr  objektives  Ganzes  und  an  ihre  eigenwertige 
und  eigenseiende  Fülle. 

Aber  ich  hatte  noch  einen  anderen  und  höheren  euro- 
päischen Grundwert  angegeben,  der  uns  geschichtlich 
zusammenhält:  das  Christentum,  zunächst  in  seiner 
abendländischen  Form. 

Es  sei  bei  diesem  großen  Gegenstande  nur  auf  ein 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  257 

paar  Momente  hingewiesen,  die  nur  aufmerksam  machen 
sollen  auf  diese  für  den  kulturellen  Wiederaufbau  wichti- 
gen Punkte. 

a)  Zuerst  ist  von  großer  Bedeutung,  daß  die  christliche 
Religion  in  einer  ihrer  größten  kirchlichen  Formen,  in 
der  Form  der  russischen  Orthodoxie  und  Kirche,  nicht 
— -  wie  es  viele  bei  uns  erwarteten  —  mit  dem  Zusammen- 
bruch eines  der  furchtbarsten  Gewaltstaaten  der  Ge- 
schichte, mit  der  russischen  Autokratie,  mitzusammen- 
gebrochen ist,  sondern  sich  in  diesem  Zusammenbruch 
erhalten  hat,  aber  auch  durch  ihh  sich  tiefgehend  umformtV 
Sie  formt  sich  um,  indem  sie  sich  vom  Staate  trennt,  zu 
ihrer  vorpetrinischen  Gestalt  und  zu  selbständiger  geist- 
licher Spitze,  in  gewissem  Sinne  zurückkehrt  und  sich  — 
wie  wir  jüngst  hören  konnten  —  wahrscheinlich  mit  den 
griechischen  Kirchen  des  Orients  und  der  Balkanländer 
enger  verknüpfen  wird.  Schon  daß  die  gewaltige  Idee 
einer  Wiedervereinigung  der  abendländischen  und  mor- 
genländischen Kirchen  hierdurch  ganz  neue  Aussichten 
erhält,  ist  von  kaum  abzuschätzender  Bedeutung.  In  be- 
treff der  rom-freundlichen  Partei  der  Stundisten  sagte 
Hamack  mehrere  Jahre  vor  dem  Krieg  (»Das  Testament 
Leos  Xni.«):  »Eine  politische  Bedeutung  kann  sie  zurzeit 
nur  auf  indirektem  Wege  gewinnen,  aber  wenn  einmal 
das  starre  Staatschristentum  Rußlands  nicht  mehr  zu 
halten  ist  —  und  wer  darf  sagen,  daß  es  ewige  Dauer  in 
sich  trägt?  — ,  so  hat  diese  Partei  eine  Zukunft,  und  man 
versteht  es,  daß  Rom  schon  jetzt  mit  ihr  rechnet. «  Schon 

*  Vgl.  zu  dem  Gesagten  Dimitri  Mereschkowski :  »Vom  Krieg  zur  Revolu- 
tion«, München,  Piper  1918,  bes.  den  Bericht  über  die  Rede  A.  W.  Karta- 
schow's  »Die  Erfüllung  der  Kirche«. 

17 


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258  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

jetzt  sind  Bestrebungen  im  Gange,  die  nach  dieser  Richtung 
zielen  und  Verständigungs- Bemühungen  zwischen  Rom 
und  der  Orthodoxie  vorbereitend  in  Gang  setzen.  Sie  sind 
noch  nichl  reif  genug,  um  über  sie  zu  sprechen.  Aber  noch 
mehr:  Es  ist  dadurch  auch  für  Westeuropa  das  Beispiel 
geschaffen  eines  ganz  neuen  Zusammengehens  der  christ- 
lichen Gedankenwelt  und  ihrer  tiefsten  Antriebe  mit  der 
sozialen  Demokratie  und  dem  berechtigten  Teil  ihrer 
Forderung  gegen  den  kapitalistischen  Staatsgeist.  Ob- 
gleich die  christliche  Religion  die  äußere  Revolution  der 
Gewalt  und  des  Blutes  tief  verabscheut,  ist  sie  doch  von 
Hause  aus  nicht  eine,  sondern  sie  ist  die  revolutionärste 
Geistmacht  der  Geschichte.  Sie  macht,  wo  sie  in  der  Rich- 
tung ihres  Wesens  wirken  kann,  alles  neu.  Wiedergeburt 
ist  ihr  Grundbegriff  in  allen  Dingen.  Im  Abendlande,  und 
zwar  in  besonderem  Maße  in  Deutschland  und  in  Öster- 
reich —  vermöge  der  hier  besonders  starken  Verflechtung, 
ja  Verfilzung  von  Kirche  und  den  den  Staat  beherrschen- 
den Schichten  —  war  die  christliche  Religion  in  allen 
ihren  Ausgestaltungen  in  einem  Maße,  das  die  edlen 
Flügel  ihres  wahren  Geistes  lähmte,  viel  zu  einseitig  mit 
den  Interessen  der  herrschenden  bürgerlichen  Klassen 
verschmolzen.  Seit  Jahrhunderten  wird  die  christb'che  Re- 
ligion oder  werden  doch  sehr  wesentliche  und  wichtige 
Gruppen,  die  ihr  angehören,  nun  aber  in  Rußland  in  eine 
revolutionäre  Bewegung^  nicht  nur  hineingerissen,  son- 
dern waren  in  ihrer  Erzeugung  auch  stark  beteiligt  (christ- 
liche Sozialrevolutionäre);  welche  Gefahren  sie  auch  (lir 
die  christliche  Religion  in  ihrer  kirchlichen  Ausprägung 
in  sich  berge,  auf  alle  Fälle  wurde  dieses  einseitige  Band 

*  Haben  doch  Mönche  selbst  diese  Bewegung  stark  mitgefuhrt. 


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Vom  kulttirellen  Wiederaufbau  Europas.  250 

des  Christentums  mit  den  herrschenden  Mächten  und  ins- 
besondere dem  bürgerlichen  Kapitalismus  und  seinem 
Geist  zersprengt.  Das  ist  eine  große,  erhabene  Tatsache, 
und  sie  erscheint  eine  solche  Tatsache  besonders  dann, 
wenn  man  sie  mit  der  durch  diese  Trennung  neu  geför- 
derten Einigungsbereitschaft  mit  den  abendländischen 
Kirchen  zusammennimmt.  Auch  als  Beispiel  dir  West- 
europa wird  diese  Tatsache  keinesfalls  ohne  stärksten 
Einfluß  bleiben.  Schon  vor  dem  Kriege  war  die  große 
russische  Literatur  (Dostojewskj,  Tolstoj,  Solowjew  usw.) 
fast  die  einzige,  europäisch  gültige  schönwissenschaft- 
liche Literatur  wahrhaft  christlichen  Geistes. 

b)  Eine  zweite  große  Tatsache  habe  ich  schon  ange- 
deutet. Wie  die  Demokratisierung  mit  Fr.  Meinecke  (wenn 
auch  in  national  sehr  mannigfacher  Form  und  Art)  eine 
» universale  geschichtliche  Tendenz «  genannt  werden  kann, 
der  man  nur  klug  und  verständig  fiir  die  Zeichen  der  Zeit 
begegnen  kann  oder  töricht  und  unverständig,  die  man 
aber  auf  keinen  Fall  aufheben  kann,  so  ist  auch  die  Ten- 
denz auf  Trennung  von  Kirche  und  Staat  und  dem 
Staatsgeist,  der  zu  der  europäischen  Anarchie  des  Welt- 
krieges (lihrt^,  eine  »universale  Tendenz«  zu  nennen. 
Diese  Trennung  ist  in  dem  Maße  für  die  Kirchen  schäd- 
lich, als  sie  aus  Mangel  an  lebendigen,  religiös  bauenden 
Eigenkräften  sich  auf  den  Staat  stützen  mußten;  als  der 
Polizeidiener  schließlich  die  Menschen  in  die  Kifche  treibt; 
für  den  Protestantismus  z.  B.  ist  sie  weit  gefährlicher  als  für 
die  in  sich  festgefugte  katholische  Kirche,  für  den  deutschen 
Protestantismus  gefährlicher  als  für  das  kirchlich  selbstän- 
digere angloamerikanische  System.  Aber  sie  ist  —  so- 
viel politische  Sorgen  sie  noch  bereiten  mag  —  zugleich 


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26o  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

ein  eminent  erweckender,  neuen  religiösen  Idealismus  ent- 
faltender Antrieb  für  diejenigen  Kirchen,  welche  die  Ope- 
ration aushalten,  ihren  Geist  und  ihre  eigenen  Organi- 
sationen zu  erneuern.  Wie  viel  Idealismus,  Opferkraft, 
neue  christliche  Belebung  auch  der  profanen  Kultur  hatte 
schon  vor  dem  Kriege,  ganz  so^  wie  es  Papst  Pius  voraus- 
sah, die  Trennung  der  Kirche  von  einer  bourgeois-kapi- 
talistischen  Regierung  in  Frankreich  zur  Folge  gehabt  I 
Gar  manche  der  Erscheinungen,  die  ich  in  meinem  Buche 
»Krieg  und  Aufbau«  »falsche  Anpassung«  der  deutschen 
Katholiken  nannte,  können  in  der  neuen  Situation,  in  die 
wir  gelangen  werden,  vermieden  werden.  In  England  findet 
sich,  oft  stark  vereinigt  mit  den  romanisierenden  Gruppen 
der  Hochkirche,  auch  zum  Teil  mit  denen,  die  auf  tiefere 
Verständigung  mit  der  russischen  Kirche  drängen,  dieselbe 
Tendenz  zur  Trennung. 

In  Preußen  muß  mit  Sicherheit  erwartet  werden,  daß 
die  konfessionelle  Schule  in  Gefahr  gerät,  wenn  eine  auf 
das  Reichstagswahlrecht  gegründete  Majorität  des  Preußi- 
schen Abgeordnetenhauses  ohne  Verfassungsänderungen 
ans  Ruder  gelangt.  Schon  jetzt  kenne  ich  viele  maßgebende 
katholische  und  protestantische  Stimmen,  die  eine  ener- 
gische Geistes-  und  Opfervorbereitung  auf  diesen 
großen  Umschwung  fordern.  Wie  schwer  diese  Änderung 
der  parlamentarischen  Machtverhältnisse  auch  die  christ- 
lichen Kreise  Preußens  zunächst  treffen  möge:  sie  und 
ihre  Folgen  werden  die  religiösen  Kräfte  reinigen;  sie 
werden  den  völkerumspannenden  und  vereinigenden  Geist 
der  Kirche  steigern,  sie  werden  dazu  führen,  daß  man  den 
Gedanken  tiefer  erfasse:  Man  könne  nicht  zugleich  dem 
Mammon  in  einer  entchristlichten  Gesellschaft  und  Gott 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  26 1 

seine  Dienste  weihen.  Die  Vereinigungs-  und  zum  wenig- 
sten Verständnisbereitschaft  aber  der  christlichen  Kirchen 
und  Gruppen,  ihre  gegenseitige  Verständigung  in  Wissen- 
schaft^ Theologie,  Kult  kann  durch  alle  diese  Vorgänge 
nur  gestärkt  werden  —  und  damit  auch  die  chrisdichen 
wichtigste  der  Einheits-  und  Wiederaufbaukräftfe  der  euro- 
päischen Kultureinheit. 

Wohl  entspricht  es  nur  den  grundsätzlich  verschiedenen 
Dauerdimensionen,  denen  Veränderungen  sozialer  resp. 
politischer  Verhältnisse  einerseits,  religiös-kirchlicher  an- 
derseits wesensgesetzlich  unterliegen^,  wenn  zunächst  be- 
sondere Sicherungen  von  Vertretern  beider  chrisdichen 
Kirchen  gefordert  worden  sind  für  den  Fortbestand  der 
Grundverhältnisse,  die  in  Preußen  Kirche  und  Staat  bisher 
zueinander  einnahmen.  Auch  wir  finden  solche  Forderung 
wohl  berechtigt.  Wenn  wir  aber  nicht  aktuell  politisch  ur- 
teilen, sondern  auf  den  Gang  sehen,  den  mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit die  Dinge  gehen  werden,  wird  man  diesen 
Sfcherungen  weniger  Vertrauen  schenken  dürfen,  als  dies  zu- 
meist geschieht.  Gelänge  es  den  christlichen  Kirchen  nicht, 
die  Masse  des  arbeitenden  Volkes  auf  noch  andere  Art 
sich  zu  erhalten  oder  besser  sie  neu  zu  gewinnen  als 
durch  die  Aufnahme  der  betreffenden  Gesetze  in  die  Ver- 
fassung, nämlich  durch  freie  religiöse  und  geistige,  den 
Aufgaben  der  Zeit  in  wahrhaft  chrisdichem  Tatgeiste 
rechnungtragende  Mission,  so  würden  jene  »Sicherungen« 
schließlich  Versuchen  gleichen,  einen  reifXenden  Strom 
mit  dem  Spazierstock  aufzuhalten*. 

'  Siehe  »Der  Formalismus  in  der  Ethik  usw.«,  II.  Teil. 

'Ich  brauche  nicht  zu  bemerken,  wie  nur  allzusehr  sich  dieses  vor  2  Vt  Jahren 

geilte  Urteil  bestätigt  hat. 


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262  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

c)  Als  Drittes  weise  hier  hin  auf  eine  Frage,  die  ich  so 
stellen  möchte:  Stockholm  oder  Rom  oder  Stockholm 
und  Rom?  Beide  Namen  bedeuten  heute  zwei  Geistes- 
mächte gegen  die  Kriegsfortsetzung  bis  zum  europäischen 
Selbstmord  und  zwei  Geistesmächte,  die  eine  dauernde 
europäische  Ordnung  fordern.  Beide  Namen  erinnern  uns 
an  mächtige  Bestrebungen  großer  Menschengruppen, 
denen  sich  die  Mittelmächte  bedeutend  entgegenkommen- 
der erwiesen  als  die  Entente  —  und  insbesondere  ihr  west- 
licher Teil.  Die  Entente  hat  auf  die  Papstnote  nicht  ge- 
antwortet und  dieselben  Ententestaaten  haben  mit  der 
charakteristischen  Ausnahme  Rußlands  ihren  Angehöri- 
gen den  Besuch  der  Stockholmer  Konferenzen  verboten. 
Auch  in  diesen  Zeichen  bewahrheitet  sich  eben,  was  ich 
in  meinem  Buche  Ȇber  die  Ursachen  des  Deutschen- 
hasses« sagte:  Der  wahre  Ausgangspunkt  des  unversöhn- 
lichen Hasses  gegen  Europas  Herzländer  sitzt  nicht  im 
vierten  Stand,  soweit  er  selbständig  geworden,  nicht  auch 
in  den  christlich-kulturkonservativen  Mächten  Europas,  er 
sitzt  in  den  großen  Kapitalmächten  und  Bourgeoisgruppen 
der  Westländer  mit  dem  ihnen  entsprechenden  individuali- 
stischen atomistischen  Erdengeiste.  Wollen  wir,  was  wir 
nicht  wollen,  die  Welt  in  zwei  Heerlager  den  letzten  geistig- 
moralischen Triebfedern  und  Fahnen  nach  teilen,  so  wie 
es  die  Entente  getan  hat  mit  ihrer  zweideutigen  Formel: 
»Bürgerliche-politische  Demokratie  kontra  Autokratie  und 
Feudalismus«,  so  könnten  wir  schon  auf  Grund  dieser  Tat- 
sachen die  Gegenformel  aufstellen:  die  vereinigten  oder 
sich  vereinigenden  Mächte  christlicher  Autorität  und  christ- 
licher Lebensgesetze  und  des  echten  Sozialismus  des  vier- 
ten Standes,  der  sozialen  Demokratie  gegen  oligarchische 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  263 

Plutokratie  und  ihren  Liberalismus  und  Rationalismus  in 
allen  Dingen  des  geistigen  Lebens.  Und  hier  dürften  und 
müßten  wir  Rußland,  insbesondere  das  uns  durch  die 
politischen  Wirren  noch  ganz  verborgene  seelisch  weit- 
räumige und  großherzige  Rußland  auf  unsere  Seite  stellen. 
Gleichwohl,  die  Strebungen,  die  diese  beiden  Namen 
Rom  und  Stockholm  bezeichnen,  sind  sehr  verschieden 
an  Ursachen,  Geist,  Ziel.  Wird  diese  oder  jene  ein  größe- 
res Gewicht  in  die  Wagschale  des  Friedens  auf  die  Dauer 
werfen  oder  beide  zusammen?  Ich  wage  zu  sagen,  daß  von 
diesen  Fragen  sowohl  das  Ob  als  das  Wie  des  europä- 
ischen Kulturaufbaues  in  hohem  Maße  abhängen  wird. 
Aber  nicht  nur  dies.  Ob  es  jetzt  gelinge  oder  nicht,  daß 
die  beiden  in  diesen  Namen  angedeuteten  Geistes-  und 
Willensmächte  auch  irgend  praktisch  zu  gemeinsamem 
Ziele  zusammenwirken :  Werden  sie  nicht  von  dieser  gro- 
ßen Erinnerung  mindestens  objektiven  Zusammenwirkens 
zu  gleichem  Ziele  aus  überhaupt,  auch  nach  dem  Kriege, 
eine  neue  Verständigung  suchen  müssen:  die  wahrhaft  so- 
ziale, nicht  dife  bürgerlich-liberale  Demokratie  des  vierten 
Standes  und  die  der  Vereinigung  zustrebenden  chrisdich- 
kirchlichen  Mächte?  Ich  meine  die  durch  die  Trennungs- 
tendenz von  Kirche  und  Staat  freier  und  offener,  reiner, 
christlicher  gewordenen  kirchlichen  Mächte?  Könnte  nicht 
ein  Teil  des  Sinnes  dieser  unerhörten  Kriegsrevolution 
Europas  eben  darin  liegen,  daß  in  ihr  der  spezifisch  bür- 
,  gerlich-kapitalistische  Geist  mit  allen  seinen  Hervorbrin- 
gungen, daß  dieser  gemeinsame  Feind  des  aufstrebenden 
vierten  Standes  und  einer  ihres  christlichen  Wesens 
klar  bewußten  Kirche,  langsam  aber  doch  sichtbar  zu 
Grabe  getragen  werde?  Mit  all  seinen  Hervorbringungen, 


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264  ^^°^  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

dem  falschen^  bloß  leibhaft-sinnlichen  Individualismus,  mit 
politischem  Nationalismus,  mit  kapitalistischem  Zentral- 
staat und  Imperialismus?  Nun,  auf  alle  Fälle  ist  die  Frage: 
Wie  wird  sich  die  christliche  Kirche  zur  sozialen  Demo- 
kratie stellen  und  wie  diese  zu  ihr,  für  den  kulturellen 
Wiederaufbau  Europas  von  größter  Bedeutung^  Denn 
ich  wage  zu  sagen:  Keine  dieser  Mächte  wird  es  allein 
vermögen,  das  große  Werk  zu  tun.  Das  können  nur  beide 
zusammen.  Versagt  eine,  so  wird  es  überhaupt  nicht  statt- 
finden. 

Ich  bejahe  diese  Fragen,  trotzdem  ich  genau  weiß,  was 
alles  dem  an  Hemmungen  entgegensteht.  Aber  vielleicht 
gibt  es  doch  Gründe,  diese  mächtigen  Hemmungen  als  sich 
langsam  verringernd  anzusehen.  Betrachten  wir  einige! 

Gewiß  gewaltige  Gegensätze  hier  und  dort!  Dort  zu- 
erst die  von  der  christlichen  Kirche  unabtrennbare  Autori- 
tätsidee in  Glaubens-  und  Sittensachen  und  die  einheit- 
liche Regierung  der  Christenheit.  Hier  die  starke,  vom 
bürgerlichen  Liberalismus  übernommene  Tendenz  gfegen 
die  Idee  der  Autorität  überhaupt!  Hier  eine  stark  mate- 
rialistisch gefärbte,  auf  alle  Fälle  aufs  Irdische  gerichtete, 
alles  nur  vom  Kampf  der  Klassen,  nichts  von  einer  Soli- 
darität der  Stände  erwartende  Weltanschauung  mit  ihren 
mannigfachen  Ideologien,  von  denen  der  Marxismus  nur 
die  bedeutsamste  ist,  —  stark  getragen  auch  durch  die 
Beschäftigungsart  des  Arbeiters  in  einer  naturwissenschaft- 
lich-technisch durchtränkten  Zivilisation.  Dort  der  Sinn  für 

'  Eine  in  die  letzten  Fundamente  der  geistigen  und  geschieh tsphilosophischen 
Grundlagen  von  Kapitalismus  und  Sozialismus  eindringende,  systematische 
Antwort  auf  diese  Frage  gibt  mein  im  Erscheinen  begriffenes  Buch:  Ȇber 
Wesen  und  Werdensgesetze  des  Kapitalismus.  Ein  Weg  zum  christlichen 
Sozialismus.«  Leipzig,  Neuer  Geist -Verlag. 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  265 

das  Übernatürliche  mit  Wurider  und  Gnade,  für  ein  dulden* 
des  Sichfügen  in  eine  sinnvoll  und  zielhaft  geordnete  Welt 
mit  festen  Wesenskonstanteü  ihres  vorsehungsmäßig  gelei- 
teten Ganges,  —  Ideen,  die  irdische  Tatkraft  jeder  Art  zu 
lähmen  scheinen,  die  auf  den  ersten  Blick  den  Glauben  an 
Menschen  kraft  zum  sinnvollen  Ordnen  der  Welt  verrin- 
gern. Hier  immer  noch  stark  wirksame  chiliastische  Utopien 
auf  eine  Art  Paradies  auf  Erden,  auf  alle  Fälle  auf  eine 
Eigentums-  und  Wirtschaftsordnung,  die  das  Privateigen- 
tum an  Grund  und  Boden  und  die  Produktionsmittel  so  stark 
als  möglich  einschränken  oder  ganz  beseitigen  möchte;  die 
natur-  und  gsschichtsgegebene  Gliederung  der  Völker  und 
Stände  aber  zugunsten  einer  nur  quergeschichteten  »inter- 
nationalen« Klassengliederung  verdrängen  will.  Dort  das 
Bewußtsein,  daß  das  Menschenziel  ein  jeder  Seele  eigenes 
individuelles  und  übernatürliches  Geheimnisvolles  ist,  daß 
diese  Welt  voll  ist  der  Sünde  und  dauernd  nicht  sein  kann 
ohne  Gnade,  Erlösung  und  eine  objektive  Anstalt  ihrer  Mit- ' 
teiluh|^  an  den  Menschen;  nicht  sein  kann  ohne  Hoffnung 
ujid  Glaube  an  ein  jenseitiges  Ziel.  Dort  auch  die  schon 
um  der  Freiheit  der  individuellen  Geistespersonen  in  ihrem 
Gewissen  willen  unnachläßliche  Festhaltung  am  Privat- 
eigentum überhaupt  und  die  im  Vorsehungsglauben  ge- 
gründete Anerkennung  einer  natürlichen  Volks-  und  stan- 
desmäßigen Menschheitsgliederung.  Hier  zwar  große 
Gegensätze  der  sozialdemokratischen  Gruppen  der  ver- 
schiedenen Völker,  aber  im  Gegensatz  zu  den  Spaltungen 
der  christlichen  Kirchen  und  ihrer  Tiefe  doch  vielleicht 
nur  vergängliches,  im  Kriegszustand  gegründetes  Aus- 
einander- und  Gegeneinandergehen  der  nationalen  Sozia- 
lismen. Femer:  das  bisherige  Verflochtensein  wichtiger 


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266  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

christlicher  kirchlicher  Gruppen  mit  den  Feudalresten  und 
dem^groß^,  finanzmächtigen  Bürgertum  auf  der  einen 
Seite,  das  entschiedene  Klasseneinheitsbewußtsein  auf  der 
anderen. 

Alle  diese  tiefen  Gegensätze  erkenne  ich  voll  an;  alle 
werden  noch  lange  weiterbestehen.  Aber  alle,  so  behaupte 
ich,  sind  in  einer  zunehmenden,  durch  den  Krieg  stark 
geförderten  Abschleifung  begriffen.  Und  vor  allem: 
Alle  werden  im  Prozesse  dieser  Abschleifung  zunehmend 
kleiner  werden,  vor  allem  allmählich  kleiner  als  die  ge- 
meinsamen Gegensätze  der  noch  christlich  denkenden 
und  fühlenden  Welt  und  der  sozialen  Demokratie  (beson- 
ders Rußlands  und  der  Mittelmächte),  gegen  den  Geist, 
das  Ethos,  die  Institute  des  bürgerlichen  Kapitalismus 
und  seiner  geistigen  Ideenkorrelate. 

Die  christliche  Autoritätsideelsteht  dem  demokratischen 
Sozialismus  nur  da  entgegen,  wo  eine  Art  Solidarität  dieser 
religiösen  Autorität  mit  bestimmter,  je  gegebener  Beschaf- 
fenheit der  Staatsautoritäten  angenommen  wiM.  So 
etwas  lehrt  aber  nicht  nur  nicht  die  christliche  Kirche, 
sie  hat  sich  seit  der  Französischen  Revolution  und  dem 
folgenden  Zusammenbruch  des  Legitimismus  und  der  hei- 
ligen Allianz  auch  zunehmend  von  solcher  Maxime  prak- 
tisch losgelöst.  Alles  mögen  wir  zu  erwarten  haben,  nur 
keine  neue  heilige  Allianz  —  wenn  nicht  die  ganz  neue 
heilige  Allianz  einer  christlichen  und  sozialen  Demokratie 
der  europäischen  Völker.  Die  christliche  Kirche  lehrt  allein, 
es  sei  Bestand  und  Geltung  einer  Obrigkeit  und  Gehor- 
samspflicht gegen  ihre  Anordnungen  —  im  Rahmen  des 
Naturrechts  —  im  Weltplane  Gottes  eingeschlossen.  Die 
inhaltliche  Bestimmung  der  »Obrigkeit«  überläßt  sie  den 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  267 

causae  secundae  der  Geschichte,  zu  denen  Kriege  und 
auch  vorsehungsmäßig  berechtigte  Revolutionen  gehören 
können.  Noch  zu  starke,  da  und  dort  noch  vorhandene 
Solidaritätsgefühle  der  Kirche  mit  überlebten  Staatsein- 
richtungen und  bürgerlichen  Herrschaftsverhältnissen  wer- 
den durch  den  Weltkrieg,  wie  gesagt,  überall  stark  ver- 
mindert werden. 

Nun- die  Weltanschauungsgegensätze:  Die  Forderung 
des  Glaubens  an  ein  übernatürliches  Schicksal  und  Ziel  der 
individuellen  Seele,  das  fordert  als  Allererstes  auch  eine 
Sozialordnung,  da  jeder  Mensch  Muße  und  innere  Frei- 
heit hat,  überhaupt  seiner  Seele  zu  gedenken,  ja  sie 
zu  erleben  —  nicht  nur  in  Worten  zu  wissen,  er  habe 
eine  geistige  Seele  mit  eigenen  Schicksalen  und  Zielen.  Wie 
wenige  Menschen  erleben  und  fühlen,  'daß  sie  eine  Seele 
haben  (Newman).  Ist  es  ein  Wunder,  wenn  dies  der  Mensch 
des  vierten  Standes  in  dieser  plötzlich  im  19.  Jahrhundert 
hereinbrechenden  industriellen  technischen  Welt  so  wenig 
gemerkt,  daß  er  darum  —  nicht  durch  die  sogenannten 
>  Fortschritte  der  Wissenschaft « (die  ihrer  Idee  nach  so  ideal 
ist  wie  die  Wahrheit  selbst),  materialistisch-ökonomisch  zu 
denken  sich  gewöhnte?  Und  waren  die,  echte  Wissenschaft 
überfliegenden  Gedankensysteme,  die  dieser  Mensch  halb 
unbewußt  in  den  Dienst  dieses  gewohnheitsmäßigen  An- 
triebes stellte,  nicht  im  Grunde  Werke  des  bürgerlich- 
liberalen Geistes,  der  als  »Geist«  wenigstens  heute  sich 
selbst  das  Grab  gräbt?  Die  soziale  Demokratie  mit  ihren 
großen,  berechtigten  Forderungen  kraftvollster  Sozial- 
politik mit  Finanzmitteln,  die  durch  unumgängliche  Ab- 
rüstung frei  werden,  mit  Achtstundentag  und  Beseitigung 
einer  falschen,  nationalistisch -imperialistischen,  Arbeits- 


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268  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

raubbau  entfesselnden  Weltkonkurrenz,  gewähren  der 
Seele  des  Arbeiters  zunächst  einmal  die  Besinnung  auf 
ihre  spirituelle  Existenz  selbst.  Weiß  sie,  sie  sei,  dann 
wird  sie  auch  an  ihre  Schicksale  denken  oder  kann  es 
doch  erst.  Freiheit  der  Menschen  zur  Religion  und  zur 
Kirche  ist  Bedingung,  nicht  Folge  der  Freiheit  der  Religion 
und  der  Kirche  in  der  Welt. 

Der  Geist  der  abendländischen  Kirche,  der  auch  den 
Geist  der  morgenländischen  in  Geben  und  Nehmen  tiefer 
durchsetzen  wird,  ist  (vom  quietistischen  Luthertum  abge- 
sehen) in  allen  seinen  Unterformen  dazu  von  Hause  gar 
nicht  einseitig  gerichtet  auf  ein  nu  r  transzendentes  Gottes- 
reich. Eine  Doppelbewegung  nach  oben  und  nach  unten 
ist  ihm  eigen,  d.  h.  auch  die  Bewegung  zum  Einbau  des 
Gottesreiches  in  die  sichtbare  und  öffentlich-rechtliche 
Welt*.  Als  kraftvolle  sichtbare  Organisation  soll  die  christ- 
liche Kirche  in  Geschichte  und  Gemeinschaft  hineinwirken, 
nicht  nur  am  Sonntag,  auch  am  Werktag  und  für  den 
Werktag.  Und  eben  dieser  positive  Organisationsgeist  in 
einem  Zeitalter,  das  bisher  anarchisch  laufende  Kräfte  zu 
meistern  begierig  ist,  ist  der  chrisdichen  Kirche  mit  der 
positiv-sozialen  Demokratie  gemeinsam  eigen,  gemein- 
sam gegenüber  dem  anarchischen  Wesen  des  bürgerlichen 
Liberalismus.  Und  soll,  wenn  die  soziale  Demokratie  den 
Staat  stärker  mit  in  ihre  Hand  bekommt,  wenn  sie  aufhört, 
nur  negative  Kritik  zu  üben  und  wenn  sie  den  Geist  der 
politischen  Verantwortung  in  sich  aufnimmt,  sich  nicht  auch 
ihr  Weltbild  wie  von  selber  langsam  umgestalten- 
von  einem  Weltbild  blind  wirksamer  ökonomischer  Ver- 

*  Vgl  meinen  Aufsatz:  »Westliches  und  östliches  Christentum«  in  «Krieg 
und  Aufbau«. 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  269 

hältnisse  und  Kräfte,  die  den  Menschen  nur  schieben,  zu 
einem  Weltbild  der  abgestimmten  Ordnung  der  Werte 
und  Dinge,  in  deren  oberstem  Regiment  eine  freie  und 
vernünftige  persönliche  Geisteskraft  sitzt,  nur  unermeßlich 
freier  und  vernünftiger,  als  sie  der  verantwortliche,  frei 
schaffende  und  ordnende  Menschengeist,  selbst  erst  defi- 
nierbar durch  seine  Ebenbildlichkeit  zu  Gott,  —  in  der 
eigenen  Tiefe  abbildlich  gewahrt?  Kein  Menschenwesen, 
man  verlasse  sich  auf  dies  stahlharte  Gesetz  des  Lebens, 
kann  mitregieren,  mitordnen,  mitverantwortlich  und  ver- 
nünftig lenken,  das  gleichzeitig  glaubt,  es  sitze  das  blinde 
Atom  oder  eine  blinde  Energie  im  Mittelpunkt  und  im 
Grunde  der  Dinge.  Das  ist  eine  geistige  Wesensun- 
möglichkeit. So  etwas  kann  immer  nur  die  Denkweise 
von  unten  her  sein,  ist  die  Welt  vom  entrüsteten  Dienst- 
boten aus  gesehen,  ein  Weltbild,  mit  dem  man  wohl  un- 
verantwortliche uferlose  Kritik  üben,  mit  dem  man  aber 
nicht  lenken  oder  midenken  kann.  Aber  mit  dem  glei- 
chen Vorgang,  der  die  soziale  Demokratie  —  geistig 
unbürgerlicher  Observanz  —  zur  Mitregierung  fuhren 
wird,  wird  auch  die  weitaus  bedeutsamste  Hemmung 
beseitigt  werden,  welche  die  religiösen  Sehnsüchte  des 
vierten  Standes  von  ihrem  natürlichen  Wege  und  Laufe 
zu  Gott  und  zu  Christus  abhielten.  Diese  Hemmung  war, 
wie  die  Hemmung  alles  und  jedes  religiösen  Glaubens  an 
den  wahren  Gott,  ein  positives  Surrogat  des  höchsten 
Gutes,  ein  oder  der  andere  Götze,  ein  Objekt  der  Ver- 
gafiung  —  wie  die  alten  Mystiker  sagten  — ,  eine  illusio- 
näre Wand,  die  das  Göttliche  verbarg.  Man  könnte  ein 
ganzes  Buch  schreiben  über  all  die  Gottessurrogate, 
die  in  diesem  Kriege  zusammenbrachen,  die  Seelen  frei  zu 


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270  Vom  kulturellen  Wiederauf  bao  Europas. 

machen  für  Gott,  betitelt:  »Vom  Untergang  der  Götzen 
Europas«.  Für  die  soziale  Demokratie  Europas  war  dieses 
Gottessurrogat  der  Zukunftsstaat,  der  Glaube  an  taten- 
losen automatischen  Fortschritt  und  sogenannte  Entwick- 
lung, die  von  selber  das  Paradies  hervorbrächten,  war  vor 
allem  der  Glaube  an  ein  mögliches  irdisches  Paradies 
selber.  Diese  Zukunftsstaatsidee  hatte  sich  Marx  unter 
nachweisbarer  Einwirkung  des  •  jüdischen  messianis ti- 
schen Gedankens  in  Verfolgung  seiner  geschichtsphilo- 
sophischen  Studien  gebildet.  Furchtbar  höhnend  tanzt  die 
Furie  des  Krieges  auf  diesen  Götzen  und  —  schon  sind 
sie  halb  verbrannt.  Ein  unermeßlicher  leerer  Raum  ist 
entstanden  in  der  großen  Seele  des  vierten  Standes,  der 
trotz  alles  sogenannten  Revisionismus  vor  dem  Kriege 
in  seiner  armen  guten  Seele  von  diesen  Götzen  heimlich 
ja  doch  gelebt  hat  —  von  diesen  Götzen,  die  nur  die 
klassenmäßig  geformte  Umkehrung  waren  der  Götzen 
jenes  liberalen  Bürger-  und  Bourgeoistums  —  des  impe- 
rialistisch gewordenen  Mammons  und  einer  ordnungslosen 
Freiheit  —  jenes  selben  liberalen  Bürgertums,  dem  der 
vierte  Stand  geschichtlich  entstiegen  ist,  und  dessen  gei- 
stige, theoretische  Antriebe  zu  überwinden  er,  in  eine  end- 
lose Facharbeit  verwickelt,  noch  nicht  genug  Muße, 
Freiheit,  geistige  Selbständigkeit  und  Zeit  besaß.  Dieser 
leere  Raum  fordert,  ja  heischt  Erfüllung  mit  wahren  reli- 
giösen Gütern.  Es  ist  Sache  der  christlichen  Kirche,  und 
es  ist  ihre  heilige  schwere  Verantwortung  vor  Gott,  ihre 
barmherzigen  Arme  rechtzeitig  und  liebevoll  zu  öffnen, 
um  den  europäischen  Menschentypus  künftiger  Staatsmit- 
lenkung, um  den,  wie  wir  hoffen,  nur  fälschlich  verloren 
geglaubten  Sohn  des  vierten  Standes  —  zu  oft  von  ihr 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  2  7  I 

preisgegeben  für  korrektere  aber  im  Seelengrunde  weit 
mindere  Söhne  —  würdig  zu  empfangen.  Schon  jetzt  ist 
der  Marxismus  nach  seiner  nur  negativen  Seite  hin  so  gut 
wie  preisgegeben,  und  kein  christlicher  Denker  sollte  es 
sich  entgehen  lassen,  mitzuarbeiten  am  Aufbau  der  neuen 
Ideologie  des  vierten  Standes.  Bisher  sah  der  vierte 
Stand  alle  Gebiete  nur  von  vemunftlosen  Kräften  gelenkt. 
Das  wird  aufhören  im  Maße,  als  er  die  Gesellschaft  mit- 
leitet. Geschichtspantheismen  anderseits,  denen  die  Welt- 
geschichte} d.  h.  der  Erfolg  selber  schon  das  Weltgericht 
ist  (nach  denen  ein  Gottesgericht  am  Ende  der  Dinge  also 
überflüssig  wäre),  gleich  der  Geschichtsphilosophie  vieler 
deutscher  Philosophieprofessoren  neuer  und  alter  Zeit  — 
liegen  ja  auch  nicht  im  Geiste  einer  christlichen  Denk- 
weise. Im  Gegenteil:  auch  sie  vermag  nicht  nur,  sie 
muß  als  christliche  Denkweise  blinden  Triebfaktoren  von 
Hunger  und  niederer  Liebe  diese  Menschengeschichte 
weitgehend  dem  Sündenstande  auf  die  Rechnung  setzen; 
und  sie  hat  keinen  Grund,  nur  den  »Geist«  in  dieser  ge- 
fallenen Welt  als  kräftig  in  der  Geschichte  anzusehen.  Sie 
hat  keinen  Grund  zu  pantheistischer  Schönfärbung. 

d)  Auch  die  Differenz  des  extremen  Staatssozialismus 
und  der  Gesellschafts-  und  Rechtslehre  der  christlichen 
Denkweise  ist  in  der  Verminderung  begriffen.  Gewiß  lehrt 
diese  Denkweise  das  Privateigentum  prinzipiell  schon  als 
Hort  der  Freiheit  der  geistig -leiblich  einheitlichen 
Menschennatur  unbedingt  achten.  Aber  sie  gibt  keine 
feste  Grenze  an  für  seine  positive  Ordnung,  für  sein  Ge- 
brauchsrecht, für  seine  Pflichten,  für  seine  Belastung,  für 
seine  Gesamtbedeutung  im  Staate  und  der  Gesellschaft.. 
Vor  allem  weiß  die  christliche  Kirche,  daß  nicht  der 


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2  7  2  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

Gegensatz  von  sogenannter  freier  Konkurrenzwirtschaft 
ak  System  und  staatsgebundener  Wirtschaft  oder  regle- 
mentierter, gesetzerzwungener  Gemeinwirtschaft  aller  Art, 
d.  h.  ein  bloßer  Systemgegensatz  der  wesentlichste  ist 
Rir  die  rechte  Gestaltung  des  Gemeinlebens,  sondern  der 
ganz  andere  Gegensatz  des  Geistes  der  Solidarität, 
der  Kooperation  und  der  liebegeleiteten  Gerechtigkeit 
und  des  Geistes  der  Nurkonkurrenz,  des  Gegenein- 
anderarbeitens  und  des  bloßen  Klassenkampfes,  sei  es 
von  oben  oder  unten,  sei  es  zwischen  Individuen,  sei  es 
zwischen  Völkern  und  Reichen.  Und  sie  weiß,  daß  es  in 
letzter  Linie  total  gleichgültig  ist,  ob  die  Subjekte  und 
Träger  dieser  beiden  Arten  des  Wirtschaftsethos  Indivi- 
duum heißen  oder  Staat.  Ein  Staatssozialismus  kann  genau 
so  kapitalistisch  dem  Geiste  nach  sein,  wie  eine  wesent- 
lich freie  Wirtschaft  vom  Geiste  der  Solidarität  durch- 
flutet sein  kann.  Diese  Systeme  sind  weitgehendst  nur 
Zweckmäßigkeitsfragen,  und  wenn  die  gegenwärtige  Not 
allein  schon  einen  weitergehenden  Sozialismus  für  die 
Zukunft  den  europäischen  Staaten  gebieten  sollte,  so  ist 
nur  zweierlei  notwendig:  i.  dem  stärker  mit  Funktionen 
und  Aufgaben  belasteten  und  in  seiner  Wirtschafts- 
beamtenschaft erheblich  gestärkten  Staate  auch  genug 
politisch  demokratisches  Öl  zuzugießen,  auf  daß  die  per- 
sönlich geistige,  auch  vor  allem  die  religiöse  Freiheit  in 
solchem  Staate  genügend  gewahrt  sei;  2.  die  kulturellen 
und  religiösen  Dinge  diesem  Staate  (Sprache,  Schule, 
Sitte,  Kultus,  Wissenschaft  und  Kunst  usw.)  in  weit  höhe- 
rem Maße  überhaupt  abzunehmen  und  alles  zu  weit- 
gehende staatliche  »Organisatiohsstreben«  in  dieser  Rich- 
tung stärker  zu  beschränken,  als  es  bisher  beschränkt 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  273 

war;  dafür  aber  diese  Dinge  der  Selbstverwaltung  der 
Völker,  Stämme,  Gliedstaaten,  Städte,  Gemeinden,  freien 
Vereinen  und  Stiftungen  in  höherem  Maße  anheimzugeben, 
auf  daß  dieser  wirtschaftlich  so  stark  gewordene  Staat 
nicht  versucht  sei,  die  gebotenen  Grenzen  seiner  neuen 
Machtfiille  zu  überschreiten.  In  diesem  Sinne,  nicht  im 
politischen,  fordern  auch  wir  eine  neue  Selbstbestimmung 
der  Nationen,  Stämme,  Völker. 

5.  Die  Verflochtenheit  aber  der  Kirche  mit  den  feudalen 
Mächten  nimmt  auch  in  dem  Maße  an  bloßer  Gegensätz- 
lichkeit ab,  als  die  feudalen  Mächte  in  die  Opposition 
zu  treten  durch  den  Gang  der  Dinge  gezwungen  werden. 
Das  ist  gegenwärtig  in  Preußen  schon  weitgehend  der  Fall. 
Denn  in  dem  Maße  wird  sich  auch  ihre  Weltanschauung 
und  ihr  Ethos  reinigen  von  der  starken  Versumpfung, 
der  die  kirchentreue  Bevölkerung  sowohl  wie  die  feudalen 
Machtreste  durch  eine  allzuenge  Verbindung  mit  der  groß- 
bürgerlichen Kapitalistenschicht  und  ihrem  Geiste  so  stark 
verfielen.  Die  Geschichte  der  konservativen  Partei  in  Preu- 
ßen stellt  eine  solche  Versumpfung  und  Preisgabe  aller 
wahrhaft  christlich-konservativen  Prinzipien  in  offensicht- 
licher Weise  dar.  Schon  Jetzt  gibt  es  in  Preußen,  wenn 
auch  kleine  konservative  Kreise,  die  sich  der  Pflichten 
einer  christlich-konservativen  Partei  im  Unterschied  zu 
einem  scheinkonservativen  Klassenblock  zwischen  Groß- 
grundbesitz und  Schwerindustrie  zu  erinnern  beginnen, 
wie  z.  B.  des  Herrn  von  Kardorffs  Auftreten,  femer  die 
bekannten  Briefe  des  Herrn  Thimme  an  Herrn  von  Hey de- 
brand  zeigen.  Ja,  ich  sehe  jetzt  schon  selbst  eine  Reihe 
junger  Abkömmlinge  der  preußischen  und  österreichi- 
schen feudalen  Schicht,  die  diesen  Krieg  erlitten  imd  er- 
18 


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2  74  ^0°^  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

lebt  haben^  die  einen  ähnlichen  Weg  zu  beschreiten  be- 
ginnen wie  der  starkwillige  Teil  des  russischen  Adels, 
der  sogar  die  russische  Revolution  jahrzehntelang  geführt 
hat.  Gerade  die  reichsdeutsche,  politisch  allzu  dienstwillige, 
seelisch  gebundene  soziale  Demokratie  bedarf  mehr  wie 
irgend  eine  andere  der  Mitwirkung  und  Führung  au§ 
diesen  starknervigen,  mit  dem  ererbten  Führer-  und 
Herreninstinkt  so  sehr,  ja  leider  zu  übermäßig  geseg- 
neten, bisher  nur  zu  stark  in  den  Dienst  des  Großkapitals 
gestellten  Volkskreisen.  Was  aber  das  christliche  selb- 
ständige Bürgertum,  sagen  wir  besser  seine  historischen 
Reste,  betrifft,  so  wird  das  trotz  aller  gebotenen  Mittel- 
standpolitik auf  alle  Fälle  sehr  sarke  Zurückgehen  des 
Mittelstandes  dem  Zusammengehen  von  christlicher  Kirche 
und  sozialer  Demokratie  sicher  nicht  entgegen  sein. 

Nehmen  wir  all  dies  zusammen,  so  sehen  wir,  daß  sich 
»Stockholm«  und  »Rom«  erheblich  näherkommen  werden. 
Ältestes  und  Neuestes  sich  aber  eben  damit  kräftigen 
kann  im  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

Nun  aber  noch  einige  Worte  zum  Jugendtypus,  der  das 
künftige  Europa  tragen,  der  es  zum  Wiederaufbau  der 
europäischen  Kultureinheit  lebendig  machen  soll. 

I.  Das  Kulturideal  der  Jugend  wird  vor  allem  den 
Menschen  und  im  Menschen  die  geistige  und  individuelle 
Person  in  ihrer  mitverantwortlichen  Eingliederung  in  die 
Gemeinschaft  wieder  in  den  Mittelpunkt  aller  Welt  rücken : 
an  Stelle  bloßer  Sachen,  bloßer  Fächer,  bloßer  Waren- 
dinge, bloßer  Geschäfte  oder  bloßer  verabsolutierter  Un- 
geheuer, wie  ein  vermeintlich  nur  in  sich  selbst  sein  Heil 
tragen  sollender  Staat.  Gewiß  ist  der  Staat  an  Wert  und 
Zweck  erhaben  über  das  bloße  Wohlsein  des  leiblichen 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  275 

Individuums;  aber  er  ist  nicht  Selbstzweck  auch  gegen- 
über dem  geistigen  Individuum.  Und  auch  im  Regi- 
mente  der  Welt  wird  wieder  sitzen  vor  solcher  Weltan- 
schauung nicht  eine  blutlose  und  frei  schweben  sollende 
Ordnungs-  und  Gesetzesidee,  nicht  eine  blinde  Energie, 
eine  tote  Materie  oder  ein  personloser  Allgeist,  sondern  die 
unendliche  Person  Gottes,  der  allein  absoluter,  bedin- 
gungsloser Gehorsam  gebührt,  wenn  er  durch  Gewissen 
und  die  Kirche  zu  uns  redet.  Jeder  andere  Gehorsam  ist 
relativ  und  bedingt.  Ein  konkretes  Persönlichkeits- 
ideal des  spezifisch  deutschen  Menschen  im  Rahmen, 
nicht  im  Gegensatze  zum  weiteren  Typus  des  europäischen 
Menschen,  nicht  also  ein  schäbiges  Bloß-Leistungs- 
ideal wird  diese  Jugend  führen.  Das  Ideal  einer  Person,  die 
Würde  hat  bis  in  den  einfachsten  Arbeiter,  Verantwort- 
lichkeit, Freiheit,  und  in  deren  Knechtsdienst  alle  bfoßen 
sog.  »Organisationen«  zu  treten  haben.  Mit  Personen, 
mit  geistig  vorbildlichen  Lehrern,  nicht  mit  einäugigen 
Zyklopenköpfen  von  Fachbediensteten  und  Fächerver- 
waltem  wollen  wir  unsere  Universitäten  besetzt  haben; 
mit  Staatsmännern,  herangereift  in  der  freien  Luft  des 
öffentlichen  Lebens,  nicht  mit  tüchtigen  Ressortbeamten 
unserer  Ministerien.  Wir  fürchten  nicht  den  »Dilettantis- 
mus«, den  man  in  Deutschland  so  leicht  sofort  besorgt, 
sobald  man  den  Menschen  wichtiger  findet  als  ein  Fach, 
Ressort  oder  Geschäft.  Wir  wollen  sogar  leidenschaftliche 
Liebhaber  ihrer  Sache  in  allererster  Linie  haben  und  erst 
in  ihrem  Dienste  >  Kenner « und  bloße » Pflicht « menschen  <  *. 
Selbständige  Einsicht,  nicht  ein  blinder  »Pflicht« impuls 

*  Vgl.  die  tiefen  und  schönen  Worte  des  Physikers  Einstein  in  seiner  Rede : 

»Motive  der  Forschung«. 

i8» 


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2  ^6  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

möge  regieren  den  Einzelnen  wie  den  Staat.  Diese  Person 
wird  sich  und  soll  sich  —  sie  hat  es  gelernt  in  der  Schule 
des  Krieges  —  frei  einordnen  in  Gemeinschaft  und  Staat, 
aber  nur  im  selben  Maße,  als  es  sich  um  die  zwar  höchst 
wichtigen,  aber  ihrer  Natur  nach  niedrigeren  Werte  der 
mehr  materiellen  Güter  handelt;  im  Maße,  als  es  sich  um 
geistige  handelt,  wird  sie  und  ihre  engere  Gemeinschaft 
den  Kopf  hoch  tragen  gegen  alles  Irdische  und  nur  vor 
Gott  demütig  ihn  beugen. 

Und  dieses  Personideal  wird  ein  gegliedertes  sein  müs- 
sen und  ein  in  sich  abgestuftes.  In  seinem  Mittelpunkt 
steht  der  Mensch  als  religiöse  Person  —  eingegliedert  in 
das  allumfassende  Gottesreich  aller  Seelen,  der  toten  und 
lebendigen  Menschen,  in  jedem  Atemzug  demütig  dem 
Schöpfer  dankend,  daß  er  ist  und  nicht  lieber  nicht  sei; 
steht  der  Mensch  voll  Mitverantwordichkeit  für  das  Stei- 
gen und  Sinken  dieses  erhabenen  Reiches,  das  immer  nur 
als  ein  unteilbares  Ganzes  steigt  und  sinkt.  Ihr  ordnet 
sich  zunächst  unter  der  geistig  schaffende  Teil  im  Men- 
schen, eingegliedert  in  seinem  konkreten  nationalen  Volks- 
bestand mit  Anrecht  auf  Freiheit  in  Sprache  und  kulturel- 
len Idealen,  die  der  Staat  zu  achten  hat.  Das  einseitige 
Idol  des  Nationalstaates  wird  zergehen,  das  Ideal  freier, 
spontan  tätiger  nationaler  Kultur  im  Staate  neue  Frische 
und  Kraft  gewinnen.  Und  dann  erst  folgt  der  Staatsbür- 
ger im  Menschen,  frei  mitbestimmend  Schicksal  und  Füh- 
rung seines  Staates,  aufgewacht  aus  der  Dumpfheit  bloßer 
Geschäfte,  bloßen  Untertanensinns  und  einseitiger  Fach- 
arbeit. Dem  Staatsbürger  in  jedem  Menschen  ist  endlich  das 
ökonomische  Subjekt  in  jedem  Menschen  unterworfen. 
Wie  der  Staatsbürger  seinen  Rang  unter  dem  geistig- 


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Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas.  277 

kulturellen  Subjekt  in  jedem  Menschen  einnimmt,  wie  er 
erst  recht  aber  unter  dem  individuellen  religiösen  Wesen 
im  Menschen  und  seinem  unbegreiflich  geheimnisvollen 
Schicksal  steht,  so  steht  der  Staatsbürger  zugleich  über 
dem  ökonomischen  Subjekt  in  jedem  Menschen.  Darin 
werden  wir  gute  Deutsche  bleiben,  die  den  ökonomischen 
Individualismus  stets  als  Fremdes  in  ihrem  Blute  empfan- 
den. Also  ist  der  Staat  Herr  zugleich  und  Knecht:  Herr 
des  ökonomischen  Individuums,  Herr  aller  zum  gerechten 
Ausgleich  des  Besitzes  führenden  Institute  und  Organi- 
sationen; Knecht  aber  des  Geistes  und  Knecht  erst  recht 
der  Seele  und  ihres  individuellen  Zieles  in  der  Ewigkeit. 
2.  Diese  Person  aber  wird  wieder  zur  Grundkraft  haben 
die  Grundkraft  aller  schöpferischen  Epochen  des  Menschen- 
geschlechts —  nicht  Weltfeindschaft  und  »Kritizismus«, 
sondern  Weltfreundschaft,  Hingabesinn,  Liebe.  Die  ge- 
samte Denkweise  (auch  die  Philosophie  des  bürgerlichen 
Zeitalters  von  Descartes  bis  Kant),  alle  ihre  Formen  des 
sogenannten  »Idealismus«  und  Subjektivismus  war  das  ge- 
naue Gegenteil  eines  solchen  geistigen  Typus,  wie  er  uns 
voranzuleuchten  hat.  Diese  Philosophie  sah  blinzelnd  und 
skeptisch  auf  Gott  und  Welt,  die  sie  nur  als  ein  durch 
den  Menschen  zu  Formendes,  zu  Bearbeitendes,  zu  Len- 
kendes begriff.  Und  da  man  die  Welt  lenken  und  bewegen 
nur  soweit  kann,  als  sie  ein  sogenannter  Mechanismus  ist, 
darum  wurde  diese  an  sich  »glückliche* Arbeitshypothese 
(lir  den  Techniker  im  Menschen«,  die  Welt  zuweilen  so 
anzusehen,  als  ob  sie  ein  Mechanismus  wäre  und  Nichts 
weiter,  flugs  zu  einer  Metaphysik,  d.  h.  zu  einem  (vor- 
gegeben) »wahren«  Bild  der  Welt  gemacht.  Dieser  heil- 
lose Irrtum  ist  überall  im  Rückgang  begriffen.  Schon  be- 


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I 


2^3  Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas. 

seelt  unsere  jüngste  Literatur  diese  neue  Kraft  der  großen 
Hingabe,  der  furcht-  und  angsdosen  Hingabe  an  das  Sei- 
ende, Reale  selbst,  das  herzhafte  Sich-die-Hände-Drücken 
mit  den  Dingen.  Und  schon  beginnt  die  neue  europäische 
Philosophie,  was  auszufuhren  nicht  dieses  Ortes  ist,  auf 
verborgenere  Weise  diese  Wendung  zu  nehmen:  von  der 
Weltfremdheit  eines  überlebten,  formelhaft  gewordenen 
subjektiven  Rationalismus  zum  lebendigen  Anschauungs- 
lüid  Erlebnis-Kontakt  mit  den  Dingen  selbst. 

Wahre  Kultur  des  Menschen  wird  wieder  heißen:  Alle 
Dinge  zu  ihrem  je  besonderen  Sinne  und  Ziele  fuhren  helfen 
durch  Erkenntnis,  Liebe  und  Schaffen:  Zu  dem  Sinne  und 
Ziele,  der  ihnen  vorgezeichnet  ist  in  den  Ideen,  die  Gott 
von  ihnen  hat  — ,  und  dies  alles  im  solidarischen  Miteinander 
des  menschlichen  Erkennens,  des  Liebens,  Schaffens,  des 
Miteinanders  der  Individuen,  Gemeinschaften,  Epochen. 
Nur  indem  die  Person  alle  Dinge  miterlöst  zu  Gott  und  zu 
ihrem  Ziele,  vermag  sie  selbst  mit  Hilfe  der  Gnade  sich  zu 
ihrem  Ziele  zu  fuhren,  d.  h.  werden,  wie  Gott  sie  will. 

Zeichnet  in  diesem  so  noch  abstrakten  Rahmen  auch 
der  deutsch-nationale  Geist  seine  besonderen  Ziele  ein  — 
Ziele,  die  nur  in  Anschauung  und  Gefühl  zu  fassen  sind, 
das  besondere  Ideal  des  deutschen  Menschen  — ,  den 
Zeiten  entnommen,  da  der  Deutsche  auf  seinen  histori- 
schen Höhepunkten  stand,  und  sucht  er  dieses  Ideal  in 
Tat  und  Arbeit  zu  verwirklichen,  dann  vermag  er  viel- 
leicht noch  mehr,  als  nur  einen  Beitrag  zu  leisten  zum 
kulturellen  Wiederaufbau  Europas:  seinem  eigentlich  ger- 
manischen Wesen  und  seiner  geographischen  Herzstellung 
in  Europa  gemäß  mit  den  Besten  der  anderen  Völker  in 
Gemeinschaft  auch  ihn  zu  führen  und  zu  leiten.  — 


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Probleme  der  Religion 

(Zur  religiösen  Erneuerung) 

Wann  und  wodurch  immer  der  Mensch  bis  in  seine 
letzte  Tiefe  aufgewühlt  und  ergriffen  wird,  —  sei  es  durch 
Wonne  oder  Leid  —  kann  solche  Stunde  nicht  enteilen, 
ohne  daß  der  Mensch  sein  inneres  Geistesauge  zum  Ewi- 
gen und  zum  Absoluten  aufschlägt,  und  nach  ihm  laut 
oder  leise,  heimlich  oder  in  Form  eines,  wenn  auch  un- 
artikulierten Schreies  verlangend  wird.  Denn  im  ungeteil- 
ten Ganzen  der  Person  und  im  Kerne  der  menschlichen 
Person  —  nicht  wie  jedes  sonstige  Kulturgebiet  in  einer 
der  Teilfunktionen,  Teilbegabungen,  Teilbedürfnisse  der 
Person  und  nicht  auf  den  Oberflächenschichten  des 
seelischen  Strömens  —  ruht  zu  tiefst  in  uns  jene  wunder- 
bare Spannfeder,  die  stetig,  unter  gewohnten  regelhaf- 
ten Umständen  meist  nur  unbemerkt  und  ungeachtet, 
zum  Götdichen  über  uns  selbst  und  über  alles  Endliche 
hinaus  uns  emporzuleiten,  immerdar  tätig  ist.  Trifft  ein  sol- 
ches den  Kern  der  Menschenseele  aufweckendes  und  diese 
Spannfeder  zu  steigender  Tätigkeit  entbindendes  Ereignis 
nicht  nur  die  Einzelseele  in  der  stummen  Verborgenheit 
ihrer  Leiden  und  Kämpfe,  sondern  die  Geipeinschaft;  trifft 
es  gar  diese  ganze  in  Völker  gegliederte  Weltgemeinschaft, 
die  über  sich  nichts  mehr  hat  als  ihren  Gott;  trifft  es  sie  so, 
wie  noch  niemals  ein  Ereignis  bisheriger  Geschichte  die 
ganze  Menschheit  traf;  ist  das  Ereignis  dazu  so  unaus- 


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28o  Probknie  der  Religioii. 

denkbar  leides-,  todes-,  tränentrunken  wie  dieser  Krieg 
gewesen,  so  darf  man  erwarten,  daß  der  Ruf  nach  reli- 
giöser Erneuerung  mit  einer  Macht  und  einer  Stärke  durch 
die  Welt  hallen  werde,  wie  es  seit  Jahrhunderten  nicht 
mehr  der  Fall  gewesen. 

Einen  einzigartigen  geschichtlichen  Charakter  erhält 
heute  dieser  Ruf  dadurch,  daß  das  bis  ins  Herz  Ge- 
troffene nicht  mehr  und  nicht  weniger  ist,  als  die  ganze 
Menschheit:  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als  dieses 
wunderliche  planetarische  Geschlecht  in  seiner  Ungeteilt- 
heit, das  ist  wie  ein  einziger  Mensch,  wie  ein  Mensch,  der 
hineingeworfen  in  die  Grenzenlosigkeit  von  Raum  und  Zeit 
und  in  eine  stumme  verständnislose  Natur  und  solidarisch 
in  seinen  Gliedern  seinen  Kampf  ums  Dasein,  aber  auch 
seinen  Kampf  um  seinen  Lebenssinn  und  um  seine  Würde 
kämpft.  Was  es  sonst  außer  diesem  Geschlechte  an  Wirk- 
lichkeit gibt  —  Tier-  und  Pflanzenwelt,  Sonne  und  Sterne 
—  alles  weiß  der  Mensch  unter  sich,  unter  sich  an  Würde 
und  Wert,  ja  selbst  unter  sich  an  Kraft.  Aber  dieses  Wesen, 
das  also  alles  unter  sich  weiß  und  zu  beherrschen  lernte,  — 
was  wußte  es  ohne  Gott  über  sich  als  die  mideidlosen  Sterne  ? 
Wo  wäre,  was  würdiger  und  kraftvoller  wäre,  als  es  selbst? 
Leiden  unendlich  an  Zahl  in  seinen  Kämpfen  mit  der  Natur 
und  unter  seinen  Teilen,  Kämpfe  unendlich  an  Zahl  hat  dies 
Wesen  schon  erfahren  im  Laufe  seiner  dunklen,  nur  in 
der  Mitte  und  nur  streckenweise  beleuchteten  Geschichte. 
Aber  wie  imm^r  diese  Erlebnisse  aussahen,  wo  immer 
sie  stattfanden,  —  immer  hatte  bis  zum  Beginn  des  Welt- 
kriegs das  Subjekt,  das  kämpfte  und  litt,  hatten  das  Volk 
und  die  Völker  zum  mindesten  Eines  über  sich;  —  über 
sich  an  Würde  und  Kraft  — ;  es  hatte  etwas  über  sich, 


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Probleme  der  Religion. 


281 


dem  es  eine  Art  moralisches  Richteramt  über  sich  selbst 
erteilte,  etwas,  auf  das  es  zugleich  noch  tief  hoffen  und 
vertrauen  konnte,  und  in* dessen  Schoß  es  wenigstens 
wähnen  konnte,  irgendwie  geborgen  zu  sein.  Dieses  Eine 
war  die  Menschheit.  Es  gab- einen  Appell  vom  Teile  an 
das  Ganze,  es  gab  eine  Hoffnung  des  Teiles  durch  das 
Ganze.  Jedes  Leiden  und  jede  Verzweiflung  konnte  sagen: 
Das  Ganze  leidet  nicht,  das  Ganze  verzweifelt  nicht.  Dieser 
Appell  ist  heute  dahin:  zum  erstenmal,  so  weit  unser  Ge- 
danke reicht.  Niemand  darf  mehr  sagen:  Im  Ganzen  der 
Menschheit  ist  noch  die  Zukunft,  die  Fülle,  die  ungemin- 
derte  Kraft.  Denn  dieser  Krieg,  mit  Recht  Weltkrieg  ge- 
nannt, war  das  erste  Erlebnis,  das  die  Menschheit  als  ihr 
Gesamterlebnis  erlebt.  Es  ist  eine  Sache,  die  nicht  nur  in 
einem  Teile  der  Menschheit  stattfindet,  und  die  nur  als 
fremde  Kunde  oder  als  Bericht  zu  anderen  Teilen  der 
Menschheit  dränge ;  nichts,  bei  dem  die  einen  kämpfen  und 
leiden,  die  anderen  zuschauen  und  sich  nur  mitleidend  oder 
mitfreuend  verhalten.  Solcher  Art  aber  war  bisher  jedes 
historische  Ereignis,  das  uns  bekannt  geworden  ist.  Die 
Sache  des  Weltkrieges  und  des  Weltfriedens  ist  eine  der 
Menschheit  gemeinsame  Sache,  die  jedem  Gliede  des  Ge- 
schlechts—  in  wie  verschiedenen  Graden  immer  —  direkt 
an  Leib,  Leben,  Seele  greift. 

Es  gab  in  Europa  bis  zur  Stunde  eine  weitverbreitete 
Denkrichtung  —  sie  hieß  Positivismus  in  der  Philosophie, 
und  war  auch  in  Dichtung  und  Kunst  lebhaft  tätig. 
Diese  Denkrichtung  hat  all  die  Verehrung  und  Liebe,  die 
der  ältere  Mensch  seinem  Gotte,  seinem  unsichtbaren 
Herrn  und  Schöpfer  entgegenbrachte,  auf  das  »große 
Wesen«  —  wie  es  A.  Comte  nannte  —  auf  die  Mensch- 


y-' 


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282  Probleme  der  Religion. 

heit  geworfen.  »Gott  war  mein  erster,  die  Vernunft  mein 
zweiter,  der  Mensch  mein  letzter  Gedanke«  —  so  sprach 
auch  im  Deutschland  der  sechziger  Jahre  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  Ludwig  Feuerbach.  Zu  einem  Heiligen 
und  Femen,  dem  man  nur  in  scheuer  Ehrfurcht  zu  nahen 
liabe,  wurde  emporgeschraubt,  was  also  Comte,  Feuer- 
liach,  Zola  der  Menschheit  großes  Wesen  nannten.  Bei 
Friedrich  Schiller  findet  sich  —  zumal  in  der  Frühzeit 
seines  Schaffens  —  ein  analoges,  fast  religiöses  Mensch- 
heitspathos. An  die  Menschheit  erging  der  Schrei  der 
Beleidigten  und  all  derer,  die  sich  widerrechtlich  ver- 
letzt und  gedemütigt  fühlten  —  seien  es  gewesen  Indi- 
viduen oder  ganze  Völker.  Wo  ist,  wo  war  diese  Mensch- 
heit, die  noch  eben  über  uns  Allen  als  >Grand-Etre«  zu 
thronen  schien?  Der  Krieg  war  nicht  mehr  —  wie  es  alle 
Kriege  bisheriger  Geschichte  waren  —  in  ihr,  nicht  mehr 
ia  einem  ihrer  Teile.  Sie  selbst  —  die  Menschheit  —  war 
im  Kriege.  Wo  war,  was  sonst,  nicht  litt,  sondern  erhaben 
ruhte,  während  Völker  litten  ?  Sie  selbst  —  die  Mensch- 
lieit  —  war  es,  die  Gewalt  gelitten  durch  sich  selbst. 
Wo  war  der  Sitz  des  Bösen,  des  Gefährdenden,  wo  das 
dämonische,  aufrührerische  Teilelement,  das  ein  Volk  an- 
griff" und  leiden  machte,  auf  daß  die  Menschheit  gegen 
dieses  Element  sich  wappnen  könnte,  um  es  zu  strafen? 
So  sehr  es  die  Politiker  mit  der  Brille  suchen;  Es  war  nir- 
gends. Denn  es  ist  im  Ganzen  der  Menschheit  selbst  und  es 
ist  die  Menschheit  selbst,  die  durch  sich  immer  neue  Gewalt 
erleidet.  Wo  ist  das  Ganze,  das,  wenn  ein  Teil  auf  falsche 
Bahn  kam,  diesen  Teil  noch  leiten,  lehren,  erziehen  könnte? 
Nirgends !  Denn  die  Menschheit  vermochte  alles,  was  unter 
ihr  war,  zu  beherrschen — Sonnenlichtund  jede  ArtEnergie, 


\ 


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Probleme  der  Religion.  283 

Pflanze  und  Tier  —  nur  eines  nicht:  sich  selbst.  Wo  ist 
das  Grand-Etre,  zu  dem  die  Völker  in  Ehrfurcht  aufblick- 
ten? Es  wand  sich  in  Schmerzen  und  in  Blut  —  und  es  ist 
wahrlich  kein  »großes  Wesen«  mehr.  Es  ist  nur  ein  kleines 
Wesen,  ein  ganz  kleines  Wesen,  das  leidet.  Zum  ersten- 
mal fühlt  sich  die  Menschheit  im  All  allein.  Sie  sieht,  daß 
ihr  Abgott,  der  sie  selber  gewesen,  ein  Götze  war  —  der 
schlimmste  Götze,  der  je  gewesen,  —  schlimmer  noch  als 
die  aus  Holz,  Marmor  und  Gold. 

Denn  das  eben  ist  das  Neue  im  gegenwärtigen  Rufe 
nach  religiöser  Erneuerung,  daß  die  Menschheit  selbst 
ihn  ausstößt,  und  daß  dadurch  jenes  sogenannte  Grand- 
Etre,  das  dem  Blicke  so  lange  Gott  verbarg  —  gleichwie 
eine  Wolke  die  Sonne  verbirgt  —  hinweggeweht  ist.  Die 
Menschheit  ist  auf  eine  unerhörte  Weise  kundig  geworden 
ihrer  Schwäche,  ihrer  Niedrigkeit,  ihrer  Krummholzigkeit 
(wie  Kant  sagt).  Es  ist  darum  schwer  faßlich :  Eben  jetzt,  da 
das  Grand-Etre  so  klein  geworden  ist  und  —  der  Raupe" 
gleich,  die,  ihren  Kopf  über  das  Blatt  hinausspähend,  sich 
bewegt  —  sich  ohnmächtig  umblickt  nach  einer  Macht, 
die  ihm  aus  den  Fangarmen  des  furchtbaren  Mechanismus 
heraushelfen  möchte,  in  die  es  sich  verfing,  vermag  Alfred 
Loisy  ^  ein  Buch  zu  schreiben,  das  —  mit  reicher  religions- 
geschichtlicher Gelehrsamkeit  unterbaut  —  Comtes  Mensch- 
heitsreligion aufzuwärmen  sucht.  Moralische  »Verpflich- 
tung« —  das  sei  gleichfalls  nur  das  Gefühl  von  dem,  was 
wir  der  Arbeit  der  vergangenen  Menschheit  schulden. 
Wir  —  der  vergangenen  Menschheit?  Nun,  was  immer 
wir  ihr  schulden  mögen,  sie  —  die  Menschheit  der  Ver- 
gangenheit —  schuldet  un  s  die  ganze  menschliche  Leidens- 

'  A.  Loisy:  La  religion,  Paris,  Emile  Nourry,  1917. 


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2  84  Probleme  der  Religion. 

summe  der  Jugend  im  Weltkrieg:  sie  schuldet  sie  uns,  da 
sie  den  Weltkrieg  verschuldet  hat.  Ohne  die  sonder- 
bare Erscheinung  dieses  etwas  verspäteten  Buches  genauer 
zu  untersuchen,  darf  man  woM  sagen :  Als  erstes  üaJsches 
Surrogat  für  echte  Religion  ist  dieser  positivistische 
Menschheitsglaube  zusammengebrochen. 

Gerade  in  der  Stunde  mußte  er  zusammenbrechen,  als 
die  in  Völkern  und  Staaten  gegliederte  Menschheit  we- 
nigstens den  ernsten  Willen  zeigt,  sich  zu  verkörpern 
in  einem  Bunde,  der  mehr  darstellt  als  eine  bloße  Summe 
von  Verträgen  zwischen  den  Staaten:  ein  selbständiges 
über  Völkern  und  Staaten  thronendes,  reales,  mit  Macht 
ausgerüstetes  Gemeinsubjekt,  das  analog  wie  der  Staat 
über  seine  Bürger  nach  allgemein  anzuerkennenden 
Rechtsnormen  und  ihnen  entsprechenden  Rechtsgesetzen 
alle  Streitigkeiten  zwischen  Staaten  und  Völkern  zu 
schlichten  und  die  in  diesen  Rechtsgesetzen  verkör- 
perte Idee  der  Gerechtigkeit  auch  zwischen  den  Teilen 
der  Menschheit  unter  Umständen  zu  erzwingen  sucht. 
Denn  eben  diese  erstmalige  rechtlich -sittliche  Verkör- 
perung, die  der  bloße  Naturbegriff  der  Menschheit  in 
einem  sog.  Völkerbunde  finden  soll,  schließt  die  Ver- 
gottung des  Gegenstandes  dieses  Begriffes  um  so  schärfer 
und  nachdrücklicher  aus.  Nur  so  lange  die  »Menschheit« 
als  moralisch -rechtliche  Einheit  eine  bloße  ferne  Utopie 
gewesen,  ein  leuchtendes  Traum-  und  Nebelbild,  —  im 
höchsten  Falle  eine  glänzende  Vision  des  Dichters  und 
Propheten  mochte  sie  als  dieser  schimmernde  Traum- 
inhalt gewissen  intellektuellen  Gruppen  als  ein  »Ersatz« 
der  Gottesidee  erscheinen.  Die  im  Welt-  und  Menschheits- 
kriege sich  realisierende  Menschheit,  —  die  Menschheit, 


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Probleme  der  Religion.  2S5 

die  den  ersten  Versuch  macht  in  ihrer  Geschichte,  sich  selbst 
zu  beherrschen  und  nach  einer  übervolklichen  und  Staat 
liehen  Rechtsordnung  ihre  Geschicke  in  Freiheit  zu  lenken, 
wird  dieserTäuschungnichtmehrunterliegen  können. Schon 
der  Beginn  der  Verwirklichung  der  uralten  Vision  —  unter 
'tausenden  von  Hemmungen,  Un Vollkommenheiten^  Stö- 
rungen wie  jede  Verwirklichung —  verscheu ctit  auch  den 
schei  nbare  n  religiösen  Befriedigungswert  des  visionären 
Gehalts.  Sie  verscheucht  das  »Grand  Etre*  genau  im 
selben  Sinne  und  nach  demselben  Gesetze  der  Seele,  nach 
dem  die  Realisierung  des  Sozialismus  die  religiösen  Be- 
friedigungsscheinwerte der  messianistisch  gefärbten  Idee 
vom  Zukunftsstaat  bereits  zu  beseitigen  begonnen  hat  — 
nachdemjedeVerwirklichungschon  des  einfachsten  Jugend- 
traumes, sei  sie  so  vollkommen  wie  immer  —  die  wunder- 
bare Leuchtkraft  des  Trauminhaltes  beseitigt.  Denn  nur 
durch  die  verschönernde  und  alle  Inhalte  in  ein  unsagbares 
Medium  von  Licht  und  Glanz  tauchende  Seelenniacht  der 
Sehnsucht  kann  es  geschehen,  daß  ihrem  Wesen  nach 
endliche  Inhalte  unseres  Denkens  und  Anschauen  s  eine 
auch  nur  scheinbare  Kraft  annehmen,  auch  die  religiöse 
Sehnsucht  unseres  Gemütes  und  die  Forderungen  unserer 
Vernunft  nach  endgültigem  Abschluß  unseres  Weltbildes 
zu  erfüllen.  Auch  der  volladäquaten  Verwirklichung  des 
in  der  Sehnsucht  vor  der  Seele  stehenden  Ideengehaltes 
haftet  die  Enttäuschung  an.  Denn  Eines  fehlt  ihm  als 
verwirklichtem  Inhalte  auf  alle  Fälle:  der  schimmernde 
Glanz,  den  die  Sehnsucht  selber  auf  ihn  ausgebreitet 
hatte. 

Die  realisierte,  in  einem  realen  und  realwirksamen  Ge- 
meinsubjekt gegenwärtige  Menschheit  wird  endgültig 


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286  Probleme  der  Religion. 

aufhören,  sich  mit  Gott  zu  verwechseln.  Gerade  diese 
Menschheit,  die  in  der  Sphäre  irdischen  Rechtes  nichts 
Irdisches  mehr  über  sich  hat,  die  das  blinde  Ohngefähr 
des  Schicksals  und  des  Zufalls  aus  den  Beziehungen  ihrer 
Teile  nach  Möglichkeit  auszuschalten  sich  anschickt,  wird 
gedoppelt  eines  Blickes  bedürfen  in  eine  ewige  Ordnung 
des  Guten  und  des  Rechten,  nach  der  sie  den  ersten 
großen  Schritt  tut  zur  wahrhaften  Beherrschung  ihrer 
selbst.  — 

Bei  den  Deutschen  war  der  Positivismus  und  sein  reli- 
giöses Menschheitspathos  nie  eine  erhebliche  Macht.  Um  so 
regsamer  wirkten  in  den  Kreisen  der  Gebildeten  jene 
mannigfaltigen  Formen  des  Pantheismus,  die  uns  über- 
liefert sind  aus  der  klassischen  Zeit  unserer  Philosophie 
und  Dichtkunst.  In  abgeschwächter,  verdünnter  Form  • 
schwangen  sie  noch  nach,  —  im  Grunde  gegen  die  eigent- 
liche wahre  Lebens-  und  Weltempfindung  der  Zeit.  Es  ist 
aber  wohl  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn  man  behauptet,  daß 
diese  idealistisch-pantheistische  Denkweise  und  Lebens- 
form durch  die  am  Weltkriege  gefundenen  Wesen s- 
erfahrungen  über  den  Menschen  von  allen  Denkweisen  am 
härtesten  getroffen,  ja  bis  in  ihre  letzten  Wurzeln  er- 
schüttert worden  ist. 

Schon  Pierre  Bayle  stellt  in  seinem  Dictionnaire  im  Ar- 
tikel über  Spinoza  die  ironische  Frage,  ob  Gott  wohl  mit 
sich  selbst  im  Kriege  sei,  wenn  Krieg  ist.  Aber  wie  viel  tiefer 
reicht  dieErschütterung  des  Pantheismus,  als  es  angedeutet 
in  dieser  Frage.  Diese  Erschütterung  hatte  sich  schon 
vorbereitet  in  der  Entwicklung,  die  das  pantheistische 
Denken  und  Fühlen  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  und 
in  den  zwei  Jahrzehnten  des  20.  genommen. 


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Probleme  der  Religion.  287 

Das  Gedanken-  und  Gefiihlssystem  des  Pantheismus 
beruht  irgendwie  auf  der  Gleichung  Gott  =  Welt.  Sein 
erster  Irrtum  ist  schon.die  ungeprüfte  Voraussetzung,  daß 
die  Vielheit  der  Dinge,  Kräfte,  Beziehungen,  die  uns 
Menschen  unmngen,  eine  Welt  (nicht  beliebig  viele  Welten, 
wie  sie  seit  Demokrit  jeder  logisch  konsequente  Ma- 
terialismus lehrte)  und  daß  sie  femer  eine  Welt  (nicht  ein 
C  h  ao  s),  also  ein  sinnvoll  geordnetes  Ganzes  zusammen  aus- 
machen. Denn  diese  Annahme  ist  selber  schon  gestützt  auf 
die  Einheit  und  Weltüberlegenheit  eines  einzigen  Schöpfer- 
Gottes.  Nicht  nur  historisch  läßt  sich  erweisen  die  Wahr- 
heit des  Wortes  von  Christoph  v.  Sigwart^,  es  sei  eine 
Frucht  des  philosophischen  Monotheismus  gewesen,  daß 
man  nicht  mehr  kausal  berührungslose  Bezirke  des  Sei- 
enden anzuschauen  meinte  (wie  solche  Darstellung  jedem 
echten  Polytheismus  entspricht),  sondern  ein  einziges, 
allseitig  zusammenhängendes,  geordnetes  Weltganzes: 
auch  sachlich  und  logisch  gilt,  daß  die  Annahme  einer 
Einheit  und  Einzigkeit  der  Welt  aus  der  Annahme  eines 
einzigen  Schöpfergottes  allererst  folgt.  (Auch  darum  läßt 
sich  nicht  ganz  so  leicht  Gottes  Dasein  als  bloße  oberste 
Ursache  der  »Weit«  beweisen,  wie  man  gemeinhin  an- 
nimmt.) Die  Welt  ist  Welt  (und  nicht  Chaos)  und  die  Welt 
ist  eine  Welt  nur,  wenn  und  weil  sie  Gottes  Welt  ist  — 
wenn  und  weil  derselbe  unendliche  Geist  und  Wille  in 
allem  Seienden  tätig  und  kräftig  ist.  Genau  wie  die  Ein- 
heit der  Menschennatur  in  letzter  Linie  nicht  ruht  in  auf- 
weisbaren Naturmerkmalen  des  Menschen,  sondern  in  seiner 
Gottesebenbildlichkeit  und  die  Menschheit  als  Ganzes 
nur  eine  Menschheit  ist,  wenn  alle  Personen  und  Glied- 


'  S.  Vermischte  Schriften:  Über  den  Zweck. 


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288  Probleme  der  Religion. 

teile  vermögd  ihrer  Verknüpfung  mit  Gott  auch  unter- 
einander rechtlich  und  moralisch  verbunden  sind,  so  ist 
auch  die  Welt  nur  um  Gottes  Einheit  willen  eine  Welt. 
Der  Pantheismus,  der  den  Weltcharakter  des  Seienden  und 
die  Einzigkeit  der  Welt  schon  setzt  unabhängig  von  Gott, 
begeht  nur  denselben  Irrtum  auf  gröbere  Weise,  deii  auch 
diejenigen  begehen,  die  von  einer  schon  vorausgesetzten 
Einheit  und  Einzigkeit  eines  Weltbestandes  auf  das  Da- 
sein Gottes  schließen.  Darum  verstehen  wir  gut,  daß  der 
Pantheismus  überall,  wo  er  in  der  Geschichte  auftritt,  nie  ein 
Anfang,  stets  ein  Ende  ist,  nie  das  Morgenrot  einer  neuen 
Glaubenssonne,  stets  nur  das  Abendrot  einer  untergehen- 
den. Er  beruht  stets  darauf,  daß  man  Folgen  einer  religiös 
positiven  Denkweise  für  Weltbetrachtung  und  Weltgefühl 
noch  festhält,  deren  Gründe  und  Wurzeln  man  vergaß. 
Es  ist  daher  meist  die  Öenkweise  reifer,  synthetischer, 
abschließender  Kulturzeitalter,  und  er  kann  als  solche 
Denkweise  von  wunderbarem  Edelsinn  und  heiterster 
harmonischer  Größe  sein.  Der  pantheistische  Gott  ist 
immer  ein  oft  schöner  und  warmer  Nachglanz  theistischen 
Glaubens  —  ein  Satz,  den  wenige  so  tief  erkannt  haben, 
wie  Schopenhauer,  der  den  ganzen  Pantheismus  seiner 
Epoche  (Fichtes,  Schellings,  Hegels)  als  einen  Rest 
theistischer  Glaubensweise  begriff  —  freilich  ihn  eben 
darum  so  herb  verspottete.  In  Zeitaltem  katastrophaler 
Geschichtswendungen  und  Neugeburten  versagt  der 
Pantheismus  nicht  nur  vor  der  Vernunft  —  vor  der  er 
immer  versagt  —  sondern  auch  als  Befriedigungsform 
religiöser  Bedürfnisse.  Er  versagt  in  sogearteten  Zeit- 
altem auch  vermöge  seines  Ausgleichs-  und  Harmonisie- 
rungsstrebens,  das  dem  Moralischen  Entweder-Oder,  das 


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Probleme  der  Religion.  289 

solche  Zeitalter  zur  Erlebnisform  haben,  keinen  Raum 
gewährt. 

Der  Pantheismus  kann  seine  Gleichung  von  Gott  und 
Welt  von  einer  zuvor  gegebenen  Weltidee  oder  von 
einer  zuvor  gegebenen  Gottesidee  aus  gewinnen.  Hegel 
schon  hatte  das  neue  tiefere  Verständnis  der  spinozisti- 
schen  Philosophie,  das  im  Streite  Jacobis  mit  Lessing 
über  Spinoza  zuerst  herauszubilden  sich  anschickte,  das 
klar  und  reif  geworden  war  schon  in  Novalis  Wort  von 
dem  »gotttrunkenen  Spinoza«,  in  die  Formel  gefaßt, 
daß  Spinozas  Lehre  so  wenig  »Atheismus«  sei  (wie  mit 
Friedrich  dem  Großen  das  18.  Jahrhundert  gemeint  hatte), 
daß  diese  Lehre  vielmehr  eine  Art  Akosmismus  dar- 
stelle. Trunken  von  Gott  übersah  der  jüdische  Apostat 
das  Eigenrecht,  die  Eigenmacht,  das  substantielle  Da- 
sein der  Welt.  .Seine  Identifizierung  ist  die  Identifizie- 
rung der  Welt  mit  Gott,  nicht  Gottes  mit  der  Welt.  Und 
dieselbe  Richtung  des  pantheistischen  Denkens  und  Füh- 
lens  glühte  auf  zu  den  waghalsigen  Träumen  G.  Brunos 
und  hielt  sich  im  Grunde  auch  im  mehr  dynamisch  und 
historisch  gearteten  Vemunftpantheismus  der  deutschen 
spekulativen  Schule.  Hegel  und  die  dem  »Meister«  ge- 
nauer folgende  Hegeische  »Rechte«  z.  B.  dachte  nicht 
daran,  die  Gottheit  Christi  zu  leugnen  —  im  Sinne  der 
Renan,  Strauß,  Feuerbach  und  der  späteren  »liberalen 
Theologie « .  Sie  hielten  vielmehr  Ansdiauung  und  Gefiihls- 
gehalt  der  Inkamationslehre  und  des  Satzes  von  der  Con- 
substanzialität  fest,  setzten  aber  (praktisch)  Christus  zu 
einem  bloßen  Lehrer  herab,  der  eine  der  Menschenseele 
überhaupt  zukommende  Beziehung  zu  Gott  zuerst  in 
sich  erkannte.  An  Stelle  der  personalen  Erlösertat  Christi 


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J 


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290  Probleme  der  Religion. 

also  tritt  eine  bloße  Erkenntnis;  an  Stelle  derZweihaturen- 
lehre  und  der  göttlichen  Erhabenheit  Christi  über  alle 
Menschen  tritt  die  Negation  der  selbständigen  Menschen- 
natur und  die  (vermeintliche)  Erhebung  aller  Menschen 
zu  eben  derselben  Gottessohnschaft,  die  Christus  nur 
zuerst  erkannt  hätte.  So  wurde  ihnen  die  christliche  Reli- 
gion nur  das  »vollendete  Selbstbewußtsein  Gottes  im 
Menschen « . 

Wie  grundfalschderPantheismusin  jeder  seiner  Formen 
ist:  man  muß  doch  innerhalb  der  Pantheismen  eine  edle 
und  eine  gemeine  Form  unterscheiden.  Und  diese  For- 
men fallen  zusammen  mit  der  wesentlich  akosmistisch  und 
der  wesentlich  atheistisch  gerichteten  Form.  Diese  Unter- 
scheidung ist  an  erster  Stelle  eine  Unterscheidung  der 
d)  Hämischen  Bewegungsrichtung,  durch  die  der  Geist  zu 
der  Gleichung  Welt=Gott  gelangt.  Macht  man  diese  Unter- 
scheidung, so  ergibt  sich  für  die  Entfaltungsrichtung  des 
Pantheismus  bis  zu  Beginn  des  Weltkrieges :  Der  Pan- 
theismustendierte mehr  und  mehr  von  seiner  edlen 
Form  zu  seiner  gemeinen  Form,  vom  Akosmismus 
zum  Atheismus.  Ganz  offenkundig  ist  dies  fiir  den  sog. 
Monismus  (Häckels,  Ostwalds  usw.)  und  seiner  Anhänger- 
schaft. Es  ist  darüber  kein  Wort  zu  verlieren.  Aber  der 
Satz  gilt  doch  auch  (wenn  auch  weniger  leicht  sichtbar 
und  weniger  roh)  für  die  höher  gearteten  philosophischen 
Gedanken-  und  Glaubenssysteme,  die  sich  nach  dem  Zeit- 
alter des  Materialismus  ausbildeten,  gilt  also  auch  fiir 
Ideen  Systeme,  wie  jene  Fechners,  Paulsens,  W.  Wundts 
—  bis  zur  letzten  Fadenscheinigkeit,  die  der  idealistisch  ge- 
wandte pantheistische  Gottesgedanke  in  den  mannigfachen 
Lehren  unserer  akademischen  Philosophie  vom  Bestände 


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Probleme  der  Religion.  291 

oder  (bei  anderfen)  von  der  bloßen  »Geltung«  und  Welt- 
voraussetzung eines  sog.  »Bewußtseins  überhaupt«  an- 
genommen hatte.  Auch  diese  Lehren,  die — historisch  — 
zurückgehen  auf  Kants  Vemunfttheorie,  insbesondere  auf 
seine  Lehre  von  der  transzendentalen  synthetischen  Apper- 
zeption (auch  der  Pantheismus  J.  G.  Fichtes  in  seiner 
Frühperiode  und  das  Gedankensystem  Hegels  waren  von 
ihr  ausgegangen)  besitzen  das  sichere  Kennzeichen  des 
Pantheismus:  die  geistige  Individualität  des  Menschen 
wird  entweder  wie  bei  Averroes  nur  in  die  Beschränkung 
verlegt,  die  der  Leib  dem  identischen  erkennenden  Subjekt 
in  allen  Menschen  setzt,  oder  sie  wird  verlegt  in  den 
bloßen  zufälligen  phänomenalen  Inhalt  des  empirischen 
Bewußtseins. 

Diese  Entwicklungsrichtung  des  Pantheismus  darf  nicht 
Wunder  nehmen.  Der  Pantheismus  konnte  —  über  ein- 
zelne Einspänner  hinaus  —  die  religiöse  Formulierung  der 
Substanz  der  deutschen  Bildung  gleichsam  ausdrücken, 
so  lange  das  geistige  Leben  der  Nation  einseitig  und 
traumverloren  zugewandt  war  einer  idealen  geistigen  Welt 
als  der  wahren  Heimat  des  mit  dem  »Menschen«  verwech- 
selten Deutschen,  —  so  lange  die  Nation  sich  an  erster 
Stelle  als  Kultumation  wußte  und  fühlte;  so  lange  es 
femer  noch  eine  »Kunst  und  Wissenschaft«  gab,  von  der 
man  noch  mit  einigem  Sinn  meinen  konnte,  es  besitze 
schon  Religion,  wer  sie  besitze,  und  nur  die  von  der  kul- 
turellen Aristokratie  Ausgeschlossenen  hätten  sich  nach 
Goethes  bekanntem  Spruch  dem  Diktum  zu  fügen:  »Wer 
diese  beiden  nicht  besitzt,  der  habe  Religion ! «  Denn  wie 
diese  Kunst  eine  in  sich  wenig  differenzierte  Ideenkunst 
war,  so  war  diese  »Wissenschaft«  synthetische  Bildung  s- 

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2Q2  Probleme  der  Religion. 

Wissenschaft  von  stark  theologischer  Färbung  (frühere 
protestantische  Theologen  waren  auch  die  meisten  der 
deutschen  spekulativen  Philosophen).  Von  der  Kunst  und 
der  bis  aufs  äußerste  differenzierten  Arbeits-  und  For- 
schungswissenschaft unserer  Zeit  ähnliches  zu  sagen, 
wäre  nicht  nur  falsch  —  was  ja  auch  der  Goethesche 
Satz  ist  —  es  wäre  absurd  und  lächerlich.  Verebben  also 
diese  pantheistischen  deutschen  Traditionen  in  unsere 
Welt,  so  müssen  sie  wie  von  selbst  zu  einer  bunt  be- 
schwingten Lüge  werden  —  zu  einer  Form,  aller  Realität 
illusionistisch  aus  dem  Wege  zu  gehen. 

Schon  aus  dieser  inneren  Zusammengehörigkeit  heraus 
des  deutschen  idesJistischen  und  akosmistischen  Pantheis- 
mus mit  einer  in  jedem  Betrachte  überwundenen  Kultur- 
stufe des  deutschen  Volkes  läßt  sich  ermessen,  daß  die 
mannigfachen  Restaurationsversuche  dieser  Gedanken- 
systeme innneiiialb  unserer  akademischen  Philosophie 
weder  eine  ächte  Förderung  und  feste  Begründung  der 
Philosophie  noch  der  Religion  in  Aussicht  stellen.  Ob 
diese  Versuche  gemacht  werden  in  bezug  auf  Fichte,  ob 
auf  Hegel  oder  Schelling,  ist  dabei  ganz  gleichgültig.  Ein 
neuer  lebendiger  Anschauungs-  und  Denkkontakt  mit  den 
Tatsachen  und  Gegenständen  der  Philosophie  —  den 
Wesenskonstanten  des  Universums,  ihrer  Ordnung  und 
ihrem  Zusammenhang  —  wird  durch  solchen  Traditiona- 
lismus prinzipiell  gehindert,  ebenso  sehr  eine  Verwertung 
des  an  der  Geschichte  der  Menschheit  seit  dieser  Epoche 
enthüllten  Wesensgehaltes  der  Welterfahrung  für  die 
Religion.  Dazu  muß  diese  Art  künsdich  restaurativer 
Philosophie  das  philosophische  Forschen  absperren  von 
aller  Zusammenarbeit  der  Philosophen  verschiedener  Völ- 


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Probleme  der  Religion.  203 

ker.  Denn  die  national  deutsche  Bindung  liegt  tief  in  der 
Natur  dieser  Philosophie  als  historischem  Gebilde.  Aber 
nationale  Bindung  überhaupt  liegt  außerdem  im  Wesen 
des  Pantheismus  als  einer  Bildungsreligion  als  solcher 
—  ganz  gleichgültig,  ob  er  national  sein  will  oder  nicht. 
Und  nicht  minder  liegt  die  soziologische  Form  der  »Philo- 
sophenschule« als  Ort  ihres  möglichen  Auftretens  im 
Wesen  dieser  Pantheismen  als  geschlossener  System- 
philosophien. Das  philosophische  System  als  Ideal 
einer  Philosophie  in  dem  Sinne,  wie  es  die  Denker  der 
deutschen  Spekulation  anstrebten,  haben  wir  aber  sofort 
preisgegeben,  wenn  wir  in  der  Theorie  der  Erkenntnis 
zur  Verneinung  des  Satzes  kommen,  es  mache  die  Ver- 
nunft (als  Inbegriff  alles  Akt-Apriori)  selber  ein  geschlos- 
senes System  aus;  wenn  wir  vielmehr  behaupten,  es  gäbe 
eine  Funktionalisierung  der  Wesensanschauungsgehalte 
und  damit  ein  wahres  Wachstum  des  menschlichen 
Geistes  an  und  in  seiner  Geschichte  —  ein  Wachstum, 
das  von  aller  Häufung  zufälliger  Erfahrungstatsachen  auf 
einer  je  gegebenen  Stufe  der  gegenständlich  sinnvollen 
apriorischen  Aktgefüge  dieses  Geistes  grundlegend  ver- 
schieden ist.  Dies  aber  ist  unsere  Behauptung  —  die 
anderwärts  die  genauere  Begründung  empfangen  soll.  Das 
»System«  als  Form  ist  selber  eine  Folge  des  transzen- 
dentalen Subjektivismus  all  dieser  inhaltlich  verschiedenen 
Systeme.  Insofern  ist  schon  die  Systemform  —  die  alle 
Kooperation  auf  dem  Boden  der  Philosophie  im  Grunde 
ausschließt  —  die  Kooperation  der  Generationen  in  der 
Zeit,  wie  die  Kooperation  der  Denkergruppen,  —  die 
Folge  einer  inhaldichen  Behauptung  dieser  Philosophien, 
die  ihnen  gemeinsam  zugrunde  liegt.  Wächst  der  mensch- 


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294  Probleme  der  Religion. 

liehe  Geist  als  solcher  —  nicht  also  nur  die  Ansammlung 
seiner  Erfindungen  und  Leistungien  —  zwar  nicht  durch, 
aber  an  der  Geschichte  seiner  realen  verschiedenen 
Träger,  nämlich  an  der  Erschließung  neuer  und  neuer 
Wesensanschauungen,  und  ist  diese  Art  Wachstum  un- 
abhängig von  der  etwaigen  biologischen  Constanz  oder 
Änderung  der  menschlichen  Naturgattung,  so  ist  eine 
ideal  wahre  Philosophie  als  System  überhaupt  nicht  zu 
erwarten.  Ja  man  darf  dann  sagen,  daß  eine  Systemphilo- 
sophie  falsch  schon  ist  als  Systemphilosophie  resp.  auf 
Grund  dieser  Form  —  ganz  gleichgültig,  wie  ihr  Inhalt 
sei  —  oder  ein  »Wille  zur  Lüge«,  wie  Nietzsche  einmal 
sehr  glücklich  gesagt  hat. 

Aber  noch  eine  andere,  sehr  charakteristische  Entwick- 
lungsrichtung weist  das  pantheistische  Denken  auf.  Um 
trotz  der  unermeßlichen  Flut  der  neuen  Realität  der  ab- 
laufenden Geschichte  selbst  und  nicht  weniger  der  Reali- 
täten, die  Natur-  und  Geschichtswissenschaft  entdeckten 
und  erforschten,  die  Beziehung  Welt  =  Gott  gegen  den 
Theismus  und  Atheismus  zu  erhalten,  mußte  in  die  Idee 
des  pantheistischen  Weltgrundes  eine  immer  zunehmende 
Reihe  irrationaler,  ungöttlicher,  ja  schließlich  wider- 
göttlicher Faktoren  aufgenommen  werden.  Schon  bei 
Hegel  —  dem  Romantiker  der  Logik  —  mußte  Bewegung 
und  Widerspruch,  Werden  und  Entwicklung  (wenn  er  es 
auch  nicht  Wort  haben  will)  in  die  Idee  Gottes  mit  hinein- 
genommen werden,  wenn  sich  die  Weltgeschichte  als  Pro- 
zeß der  Explication  der  Gottesidee  darstellen  lassen  sollte, 
als  den  dieser  Geschichtspantheist  sie  auffaßt^.  Nachdem 

*  Andererseits  mußte  Irrtum  und  Böses  seine  wahre  Natur  verleugnen  und 
sich  gefallen  lassen,  sich  als  immer  neuer  notwendiger  Anreiz  zur  Reali- 


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Probleme  der  Religion.  295 

Versagen  der  Revolution  von  1 848  und  den  Enttäuschun- 
gen der  folgenden  restaurativen  Periode,  die  Schopen- 
hauers zuerst  ganz  unbeachtetes  Werk  in  die  Massen  der 
Gebildeten  einführen  half,  wurde  der  Pantheismus  — 
unter  Erhaltung  des  monistischen  Grundirrtums  —  so- 
gar vorübergehend  Pandämonismus.  Denn  nicht  ein  Gott 
—  auch  kein  pantheistischer  —  sondern  ein  finsterer 
Dämon  ist  der  »Wille«  Schopenhauers.  Aber  er  blieb  doch 
noch  Pandämonismus  unter  christlichen  oder  doch  der 
christlichen  Ethik  ähnlichen  Wertungs Voraussetzungen, 
d.  h. :  der  von  Schopenhauer  behauptete  Weltgrund  — 
jener  blinde,  ewig  ruhelose  »Drang«  zu  Sein  und  Leben, 
den  er  »Wille«  nennt  —  galt  dem  einsamen  Denker,  der 
mit  einem  Beine  noch  im  alten  humanistischen,  mit  dem 
anderen  schon  im  neuen  realistischen  Deutschland  stand, 
noch  als  ein  Schlechtes,  Wildes,  Furchtbares,  also  durch 
Verneinung  des  Willens  zum  Leben  in  Askese  und  Vision 
zu  Überwindöhdes.  Erst  Nietzsche  und  —  nur  in  etwas 
abgeschwächter  und  gallischer  Form  —  Henri  Bergson 
wagten  es,  eben  dasselbe,  was  schon  Schopenhauer  als 
seinen  Weltgrund  erlebt  und  geschaut  hatte,  —  jene 
drängende,gierige,dämonische,immerneueundimmerbun- 
tere. Gestalten  des  Daseins  aufwirbelnde  Macht  als  Welt- 
grund nicht  pessimistisch  zu  beklagen,  resigniert  zu  dulden 
oder  asketisch  zu  fliehen  gleich  Schopenhauer  —  sondern 
zu  bejahen,  zu  bejubeln  und  vom  Menschen  zu  fordern,  er 
solle  sich  restlos  hineinstürzen  in  diese  Macht  —  im  Kopf- 
sprung wie  in  einen  reißenden  Strom.  Dazu  mußte  das 
Wertsystem  natürlich  grundlegend  geändert  werden, 

siening  des  Guten  und  Wahren  umkonstruieren  zu  lassen,  wenn  schon  die 
bloße  Weltgeschichte  selber  auch  das  Weltgericht  in  sich  enthalten  sollte. 


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2^6  Probleme  der  Religion. 

also  alle  christliche  Moral  ebensowohl  wie  alle  humamta- 
ristische  grundsätzlich  verneint  werden.  Diese  neue  Wert- 
setzung —  nicht  die  metaphysische  Konzeption  als  solche 
unterscheidet  Nietzsche  von  Schopenhauer.  Den  »diony- 
sischen Pessimismus«  —  ästhetisch  und  historisch^  aber 
milde  und  apraktisch  auch  in  Jakob  Burckhardt  und  in 
Nietzsches  Freund  Erwin  Rhode  als  Geschichtsaufiassung 
gegenwärtig  —  hat  Nietzsche  einmal  als  sein  »ipsissi- 
mum<  bezeichnet.  Eben  das,  was  Schopenhauer  chrisdich 
beweintCj  wird  nun  dionysisch  bejubelt.  Bergsons  »Elan 
vital«  und  dessen  »schöpferische  Entwicklung«  —  im 
1  Grunde  nur  ein  logischer  Widerspruch,  da  Entwicklung 
und  Schöpfung  wesensverschieden  sind  —  ist  als  der 
genaueste  philosophische  Ausdruck  des  >6sprit  nouveau« 
in  Frankreichs  Jugend  vor  dem  Kriege*,  diesem  diony- 
sischen Pessimismus,  mindestens  sehr  ähnlich  —  nicht 
nur  als  irrationalistischer  Pantheismus,  sondern  auch  im 
neuen  positiven  Wertakzent,  den  beide  Ideen  besitzen. 
Endlich  hatte  auch  E.  von  Hartmann,  der  den  pantheisti- 
schen  Gedanken  vom  logischen  Standpunkte  aus  und  ge- 
messen an  der  Fülle  und  Breite,  in  der  bei  ihm  die  ganze 
Geschichte  der  Weltanschauung  und  Philosophie  verar- 
beitet wird^  am  tiefsten  und  umfassendsten  —  aber  ohne 
metaphysische  Originalität  —  formulierte,  schon  vor  dem 
Auftreten  Nietzsches  und  Bergsons,  einen  absolut  blinden 
dynamischen  Faktor  in  seine  von  den  Merkmalen  des 
Bewußtseins  der  Liebe,  der  Güte  entkleidete  Idee  Gottes 
aufnehmen  müssen,  um  die  pantheistisch-monistische  Glei- 
t^hung  gegen  Theismus  und  Atheismus  zu  halten.  Aber 

'  VgL  E.  R.  Curtius:  »Die  literarischen  Wegebereiter  des  neuen  Frank- 
reich ■,  1919,  Kiepenheuer. 


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Probleme  der  Religion.  297 

das  Werk  des  allzugelehrten  synkretistischen  Denkers 
wurde  nie  eigentlich  lebendig  und  wirksam  und  darf  hier 
—  wo  seine  rein  philosophischen,  sehr  erheblichen  Ver- 
dienste auf  anderen  Gebieten  nicht  zu  würdigen  sind  — 
übergangen  werden. 

Sieht  man  philosophische  Denkrichtungen  nicht  nur  an 
auf  ihren  Wahriieitswert,  sondern  auch  als  Indices  histo- 
risdier  Lebensentwicklung,  so  kann  man  aus  dieser  Ent- 
faltungsrichtung pantheistischen  Denkens  mancherlei  er- 
fahren. Zuerst  sieht  man,  wie  sehr  der  pantheistische  Gott 
mit  sich  reden  läßt  —  mehr  als  einem  Gotte  ziemt.  Er 
schmiegt  sich  den  wechselnden  Strömungen  des  histori- 
schen Lebens  an  —  wie  die  »Gebildeten«,  die  Träger 
dieser  »Bildungsreligion«  sind  — ;  er  macht  bald  ein  starr 
geometrisches,  bald  ein  werdetrunken  fröhliches,  bald 
ein  traurig-leidendes  und  leidenschaftsgepeitschtes,  bald 
ein  im  Leiden  und  in  der  Hingabe  an  die  Leidenschaft 
noch  dionysisch  jauchzendes  Gesicht.  Jede  Würde  und 
Erhabenheit  über  Zeit  und  Mode,  die  selbst  polytheisti- 
schen Göttern  zukam,  fehlt  diesem  sich  ewig  wandeln- 
den Proteus.  Wir  sehen  femer,  wie  in  diesem  Prozesse 
das  pantheistische  Denken,  die  pantheistische  Seelen- 
haltung sich  gleichsam  selbst  zu  verzehren  anschickt. 
Der  Pantheismus  des  19.  Jahrhunderts  ist  nicht  nur  ein 
Proteus,  er  ist  auch  seine  eigene  Selbstauflösung.  Pan- 
theismus, Pandämonismus,  Pansatanismus  —  und  Selbst- 
verbrennung in  des  Weltkriegs  Flammen:  dies  ist  sein 
Lauf. 

Mit  Recht  hat  der  Literarhistoriker  Walzel  vor  einiger 
Zeit  angesichts  unserer  jüngsten  Literatur  festgestellt, 
daß  in  dieser  Literatur  —  diesem  bald  edlen,  bald  un- 


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2  9B  Probleme  der  Relig  ion. 

edlen  Schrei  einer  zertretenen,  entsetzten  Jugend  — 
das  pantheistische  Weltge fühl  jede  Art  von  Bedeutung 
A^erioren  habe.  Insofern  haben  die  Deutschen  gegen- 
wärtig —  trotz  aller  literarischer  Restaurationsversuche, 
wie  sie  jeder  Krieg  als  gewollte  Steigerung  der  Bildungs- 
kontinuität des  Volkes  mit  sich  bringt  —  die  größte 
Entfernung  von  unseren  Klassikern  —  Philosophen  und 
Dichtem  —  erreicht,  die  je  erreicht  war.  Der  Pantheis- 
mus in  jeder  Form  ist  —  abgesehen  von  seinen  Irr- 
tümern —  auch  als  Form  des  religiösen  Bewußtseins  so 
zukunftslos  wie  der  positivistische  Menschheitsglaube. 
Ja,  er  ist  die  ausgeleerteste  Form  unter  allen  religiösen 
Bewußtseinsformen  Europas.  Er  ist  ebensosehr  seinen 
Dogmen  und  Gedankeninhalten  nach  als  seiner  soziologi- 
schen Wesensform  nach  die  Religion  einer  bewußten, 
sich  gegen  das  »Volk«  stellenden  nationalen  Bildungs- 
aristokratie. Auch  die  gefühlsdemokratische  Welle  der 
Zeit  trüge  ihn  zu  Grabe,  —  hätte  er  sich  nicht  selbst 
schon  zu  Grabe  getragen. 

Wenn  diese  beiden  Gedankenwellen,  die  positivistische 
und  die  pantheistische,  dem  Rufenach  religiöser  Erneuerung 
kein  e  Antwort  zu  geben  vermögen,  was  bedeutet  er  dann  ? 
Er  kann  viel  bedeuten,  aber  er  kann  auch  vorübergehen 
wie  der  Hilferuf  eines  Menschen,  der  in  der  äußersten 
Lebensgefahr  des  Ertrinkens  ausgestoßen,  ohne  Antwort 
bleibt-  Denn  wie  gewaltig  ein  Drang,  ein  Bedürfnis,  ein 
tiefempfundener  Mangel,  eine  Leere  im  Herzen,  die  aus- 
gefüllt sein  möchte,  immer  seien:  der  Drang  selbst,  das 
Bedürfnis  selbst  haben  nicht  die  Kraft,  die  Mittel  zu  ihrer 
Befriedigung  herbeizuführen.  Man  hat  das  Bedürfnis, 
den  Mangel,  die  Not  zum  Schöpfer  der  Kultur  und  der 


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Probleme  der  Religion.  299 

technischen  Zivilisa rion  machen  wollen.  Der  große  Phy- 
siologe Pflüger  wollte  sogar  für  das  Leben  des  leiblichen 
Orgajiismus  den  Satz  beweisen,  daß  jedes  Bedürfnis 
schließlich  die  Ursache  werde  für  seine  eigene  Befriedi- 
gung, Lamarck  hat  auf  einen  analogen  Satz  seine  ganze 
Entwicklungstheorie  gebaut.  Man  sagt  auch:  *Not  lehrt 
beten  <j  und  besonders  bei  uns  Deutschen  liebt  man  es 
traditionell  nur  allzusehr  an  die  schöpferische  Kraft  der 
»heiligen«  Not  zu  glauben  und  zu  appellieren.  Aber  auf 
keinem  Gebiete  menschlicher  Werte  ist  dieser  Satz  in  dem 
Sinne  wahr,  wie  man  ihn  meint.  Er  ist  es  am  aller- 
wenigsten auf  dem  Boden  der  Religion. 

Was  die  höhere  Kultur  betrifft,  so  gehen  die  frden 
Schöpfungen  des  Geistes,  gehen  Philosophie  und  Kunst 
nie  und  nirgends  aus  der  Not,  aus  dem  Mangel,  sondern 
aus  der  freien  Muße  hervor.  Dies  wußten  schon  die  Alten. 
Auch  die  Bildung  der  technischen  Werkzeuge,  für  die  Not 
und  Mangel  erheblich  mehr  bedeutet,  ruft  die  Not  nur  in 
dem  Sinne  hervor,  daß  die  Richtungswahl  der  erfinde- 
rischen Tätigkeit  des  Geistes  —  die  aber  selbst  immer 
schon  da  sein  muß  —  durch  sie  gelenkt  wird.  Aber  auch 
in  diesem  Falle  sind  die  sog.  »Bedürfnisse«  selber,  die 
durch  das  Werkzeug  oder  die  Maschine  befriedigt  werden, 
ges  chich  tlich  entstanden  —  und  zwar  entstanden  durch 
Anpassung  des  Trieblebens  an  Güterarten,  die  als  Arten 
vor  ihnen  schon  da  waren;  die  also  schon  gebildet  waren, 
ehe  das  betreffende  Bedürfnis  vorhanden  war;  an  Güter, 
die  schließlich  selber  nicht  aus  Bedürfnissen,  sondern 
aus  freier  positiver  Schöpferkraft  des  Geistes  hervor- 
gingen. Fast  alles,  was  heute  Massenbedürfnis  ist,  war  einst 
Luxus  Weniger, 


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jOO  Probleme  der  Religkm. 

Je  höher  wir  von  den  Nutzwerten  aufsteigen,  im  Reiche 
der  Werte,  desto  irriger  wird  dazu  dieser  Satz.  Er  ist 
darum  eben  da  am  meisten  irrig,  wo  es  sich  um  die  höch- 
sten, die  religiösen,  die  wahrhaft  heiligen  Güter 
handelt.  Gewiß:  Not  lehrt  beten.  Aber  den  Grundakt  des 
Gemütes,  dadurch  wir  unser  inneres  Auge  erst  aufschlagen 
zum  Ewigen,  um  dann  erst  zu  ihm  beten  zu  können,  den 
Akt  der  Anbetung,  femer  die  Akte  der  Verehrung  und 
Hingabe  —  lehrt  die  Not  nicht.  Und  doch  gibt  es  gar 
kein  Gebet  ohne  vorhergehende  Anbetung,  weder  Bitt-, 
noch  Dankgebet,  oder  sonst  eine  Betweise.  Am  aller- 
wenigsten  aber  sagt  uns  die  pure  Not,  sagen  uns  Leere, 
Mangel  irgend  etwas  über  das,  was  wir  anbeten,  zu  was 
und  was  wir  beten  sollen  und  auf  welche  Weise.  Es  gibt 
in  Afrika  Negerstämme,  die  um  fischreiche  Seen  woh- 
nen und  trotzdem  jährlich  in  schwerster  Hungersnot 
zahlreich  dahinsterben,  da  diese  schwere  Not  nicht  ver- 
mochte, die  Erfindung  eines  Angelhakens  anzuregen. 
Wie  viel  eher  noch  ist  es  denkbar,  daß  dies  gewaltige 
Bedürfnis  nach  religiöser  Erneuerung  ohne  positive 
Folge  bliebe.  Nur  dann  wird  dieser  Notruf  der  Welt 
viel  bedeuten  können,  wenn  er  die  positiven  religiö- 
sen Quellströme  im  Menschen  in  Bewegung  und  Tätig- 
keit versetzt,  wenn  er  unsere  Vernunft  in  der  Richtung 
auf  die  Idee  Gottes  zu  neuer  Regsamkeit  bringt  und  un- 
seren geistigen  Blick  öffnet  für  die  positiven  Offenbarungs- 
und Gnadengüter,  die  schon  in  der  Welt  da  sind  und  für 
die  so  grofSe  Mengen  Menschen  wie  erblindet  waren. 
Das  kann,  das  soll  die  Not,  die  Herzensleere,  der  Mangel, 
und  insofern  sind  sie  gewaltige  Flammenzeichen,  die  un- 
sere Seele  suchen  heißen.  Mehr  aber  vermögen  sie  nicht. 


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Probleme  der  Religion.  ßo  I 

Denn  so  ist  diese  Welt  und  die  menschliche  Natur  all- 
überall eingerichtet,  daß  die  je  unteren  naturartigen  und 
triebmäßigen  Kräfte  wohl  höher  geartete  Tätigkeiten  aus- 
lösen können,  aber  nicht  sie  schaffen;  suchen  heißen,  aber 
nicht  notwendig  finden  lassen.  Das  Schaffende,  das 
Einende  ist  inuner  eine  höhere  geistige  Kraft,  die  nach 
ihrem  eigenen  inneren  Gesetze  wirkt  und  die  nichts  an 
Ziel,  Gesetz,  Gehalt,  Idee  von  dem  erborgt,  was  sie  nur 
in  Bewegung  setzte. 

So  ist  der  »Verstand«,  der  in  den  exakten  Wissen- 
schaften operiert  imd  der  die  Erscheinungen  der  inneren 
und  äußeren  Welt  zu  abhängigen  Funktionen  eines  Be- 
wegungsmechanismus umdenkt,  odermöglichstweitgehend 
umzudenken  sucht,  durchaus  noch  von  dem  Grundwert  eines 
Lebewesens  überhaupt,  möglichst  grofJe  Beherrschbarkeit 
und  Lenkbarkeit  der  Dinge  durch  das  Wollen  und  Handeln 
dieses  Lebewesens  zu  erzielen  bestimmt,  aber  auch  eben 
dadurch  beschränkt  und  begrenzt.  Der  »Verstand«  steht 
noch  im  Dienste  der  grofJen  Lebensnot.  Nicht  die  Welt, 
nur  die  Umwelt  des  Menschen  ist  sein  Gegenstand.  Denn 
nur  so  fem  und  so  weit  die  Welt  einem  vollendeten  Mecha- 
nismus gleichartig  ist,  läßt  sich  durch  mögliche  Bewegungs- 
akte eines  Lebewesens,  femer  durch  Werkzeuge,  Maschinen 
—  kurz  durch  Technik  Umwelt  lenken  und  beherrschen. 
Ist  aber  etwa  dämm  die  Welt  nichts  weiter  wie  ein  sehr  ver- 
zwicktes Spiel  Billard  ?  Mit  nichten.  Schon  die  Ve  r  n  u  n  f  t ,  die 
unser  philosophisches  Weltbild  formt  und  die  sich  befreit 
von  dieser  Dienststellung  an  die  große  Lebensnot,  die  nicht 
mehr  ein  Weltbild  ziu-  Beherrschung  der  Dinge,  sondern 
zu  ihrer  adäquaten  Erkenntnis  geben  möchte,  die  nicht 
mehr  die  Welt  von  unten  her,  sondem  auch  von  oben  her 


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102  Probleme  der  Religion. 

anblickt,  vermag  uns  zu  zeigen,  daß  alle  möglichen  Me- 
chanismen und  damit  auch  der  ganze  Weltmechanismus 
im  Dienste  stehen  von  form-,  ziel-,  weltrealisieren- 
den Tätigkeiten,  durch  die  sich  ein  Ideenzusammenhang 
auswirkt.  Noch  höhere  Kräfte  als  Vernunft  aber  —  Offen- 
barung und  Gnade  —  erst  bringen  uns  Licht  über  das 
innere  Wesen  Gottes  und  Kraft  aus  ihm:  ein  Licht  und 
eine  Kraft,  die  keine  Vernunft  erspäht  und  die  wir  nicht 
verdienen.  Ihre  Wesensnotwendigkeit,  ihre  Kriterien  ver- 
mag uns  Vernunft  noch  aufzuweisen,  wenn  ein  All- 
gütiges und  Allmächtiges  und  Allweises  im  Grunde  der 
Dinge  schon  erwiesen  ist.  Der  Gehalt  der  Offenbarung  aber 
liegt  über  der  Spannweite  der  Vernunft.  Wir  haben  ihn  anzu- 
nehmen im  freien  Akte  des  Glaubens.  So  löst  die  große 
Lebensnot  die  Verstandestätigkeit  aus  und  gibt  ihr  Ziel 
und  Richtung  ihrer  Fragen.  So  löst  das  Werk  des  Ver- 
standes die  Tätigkeit  der  Vernunft  aus  und  legt  ihr  zu- 
gleich die  Frage  vor,  zu  welchen  Zielen  dieser  Mecha- 
nismus da  ist;  welche  ewigen  Ideen  und  Werte  und  welches 
System  solcher  sich  in  ihm  verwirklichen.  Und  so  löst  die 
Vernunft  selbst  an  ihrer  Wesensgrenze  —  nicht  etwa  nur 
an  der  Grenze  ihrer  bisherigen  Werke  —  angelangt,  den 
Blick  aus  auf  mögliche  Offenbarung  und  heißt  unser  Herz 
darnach  suchen.  Überall  hat  sich  in  diesem  Stufenreiche, 
das  dem  Wesen  des  Menschen  selbst  entspricht,  das 
Niedrigere  dem  Höheren  frei ,  weil  aus  der  strengen  posi- 
tiven Einsicht  seiner  eigenen  Grenzen  heraus,  unterzu- 
ordnen, und  nur  indem  es  dem  je  Höheren  also  frei  dient, 
vermag  es  selbst  seine  volle  und  ganze  Freiheit  innerhalb 
seiner  Sphäre  zu  bewahren.  Wo  es  dagegen  diese  Sphäre 
überschreiten  will,  wo  es  das  Höhere  beherrschen  will> 


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Probleme  der  Religion.  303 

anstatt  ihm  frei  zu  dienen,  wird  es  zum  erzwungenen 
Knechte  des  Niedrigeren. 

Es  ist  mit  dem  Gesagten  schon  angedeutet,  was  der 
Ruf  nach  religiöser  Erneuerung  auf  keinen  Fall  bedeuten 
darf:  nämlich  einen  Ruf  nach  Erneuerung  oder  gar  Neue- 
rung der  Religion  aus  der  bloßen  Not  heraus.  Religion 
suchen,  nicht  im  Sinne  bloß  der  Frömmigkeit  oder  des 
inneren  Anhangens  an  eine  gegebene  positive  Religion, 
sondern  im  Sinne  neuer  Glaubensgedanken  über  den 
objektiven  Gegenstandsbereich  selbst,  ist  eine  Haltung, 
die  des  gegenwärtigen  Menschen  Weltsituation  ganz 
verkennt.  Der  falsche  Gedanke  von  der  erfinderischen, 
schaffenden,  oder  doch  entdeckerischen  Kraft  der  Not 
hat  leider  eine  große  Menge  von  Menschen  gegenwär- 
tig zur  Meinung  geführt,  es  müsse  der  Weltkrieg  eine 
Art  neue  Religion  aus  sich  gebären  oder  doch  eine 
neue  Entwicklungsphase  der  Religion,  ein  sozusagen  wun- 
derbares und  nagelneues  Wort  als  Antwort  auf  die  an- 
fangs geschilderte  Frage  der  leidenden  Menschheit.  Diese 
Vorstellung  wird  dazu  gerne  genährt  durch  gewisse  Re- 
flexionen über  das  Christentum. 

Das  Christentum  überhaupt,  sagen  die  einen,  habe 
Bankerott  gemacht;  die  christlichen  Kirchen  wenigstens, 
sagen  die  andern;  diese  und  jene  Kirche  sagen  die  dritten 
—  Thesen,  die  auch  schon  früher  und  lange  vor  dem 
Kriege  aufgestellt  wurden.  Nur  die  eine  ältere  Stimme 
fehlt  heute  fast  ganz:  Religion  selbst  habe  Bankerott  ge- 
macht, sie  sei  ein  Atavismus  der  historischen  Entwicklung. 
Das  Fehlen  dieser  Stimme  zeigt,  daß  wir  auf  alle  Fälle  ein 
religiös  äußerst  lebendiges  Zeitalter  zu  erwarten  haben, 
ein  Zeitalter  ganz  neuartiger  schwerer  Geisteskämpfe  um 


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^04  Probleme  der  Religion. 

die  Religion.  Aber  eben  darum  wird  es  auch  ein  Zeitalter 
sein,  in  dem  jede  gegebene  positive  Religion  und  Kirche 
aufhören  muß,  nur  ein  Eiskasten  zu  sein  für  alte  Wahr- 
heiten —  wie  sich  jüngst  ein  schweizerischer  Theologe 
ausdrückte.  Keine  religiös  kirchliche  Position  —  will  sie 
sich  nicht  ganz  aufgeben  —  wird  sich  damit  begnügen 
dürfen,  sich  nur  behaupten  zu  wollen;  jede  wird  sich  viel- 
mehr bemühen  müssen,  ihren  überragenden  Wert  auch 
positiv  der  Welt  aufzuweisen  und  zu  bewahren.  Das  aller- 
dings ist  sicher  eine  neue  Lage,  die  sich  niemand  ver- 
bergen darf:  Wer  heute  seine  religiöse  Position  nur  er- 
halten will,  höchstens  verteidigen;  wer  nicht  das  positive 
Heilmittel  für  die  leidende  Menschheit  in  ihr  zu  sehen  wagt 
und  in  freudiger  Liebe  dies  Heilmittel  ihr  auch  schenken 
und  darreichen  will,  der  wird  auch  dieses  bescheidenere  Ziel 
der  Selbsterhaltung  nicht  mehr  erreichen.  Seine  Sache 
wird  vom  Erdboden  —  nach  aller  menschlichen  Berech- 
nung ^-  verschwinden.  Denn  so  stehen  die  Dinge:  Nie  war 
die  Indifferenz  auch  großei*  und  größter  Massen,  nie  war 
selbst  der  Unglaube  und  Irrglaube,  nie  der  Aberglaube 
und  Afterglaube  eine  wirkliche  —  eine  letzte  Gefahr  für  die 
Existenz  einer  positiven  Religion  und  Kirche.  Eher  das 
Gegenteil:  Nichts  hat  gerade  das  Morsche,  das  wirklich 
Veraltete,  das  nur  Gewohnte  und  der  Trägheit  Folgende 
in  der  kirchlich  religiösen  Sphäre  so  mächtig  gestützt  und 
erhalten,  wie  z.  B.  Indifferenz  und  Unglaube,  besonders 
der  Gebildeten.  Es  gibt  flir  eine  positive  Religion  nur 
eine  wahre  mögliche  Existenzgefahr:  das  ist  der  größere 
Enthusiasmus  und  die  tiefere  Glaubenskraft  der  Träger 
einer  anderen  Religion.  Eben  diese  skeptische  Indiffe- 
renz und  dieser  Unglaube  haben  es  auch  ermöglicht,  daß 


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Probleme  der  Religion.  305 

die  Kirchen  vor  dem  Kriege  es  verhältnismäßig  so  bequem 
hatten  und  so  zufrieden  sein  durften^  sich  zu  »erhalten« .  In 
einer  Zeitlage  dagegen,  wo  die  unfruchtbare  Negation  des 
Unglaubens  und  die  müde  Scheintoleranz  des  Indifferen- 
tismus  aufgehört  haben  werden,  wo  die  Religion  von  allen 
Seiten  wieder  anerkannt  und  ergriffen  wird  als  das,  was 
sie  ist  —  als  die  Hauptangelegenheit  des  Menschen  — 
da  hört  diese  Bequemlichkeit  auf.  Und  mit  ihr  hört  auf 
die  bloße  Haltung  des  mühseligen  Grenzschutzes  der 
eigenen  Werte  und  Ideen,  des  möglichst  luftdichten 
und  starren  Sich-Einkapselns  in  die  Gehäuse  abgeschlos- 
sener Organisationen  und  Isolierräume.  Nur  eine  Alter- 
native gilt  dann  noch :  Entweder  Sichauftun  und  mit  hel- 
fenden ausgebreiteten  Armen  Etwas  geben  der  Mensch- 
heit, schenken,  spenden  und  heilen  die  offene  Wunde  ihres 
Herzens,  oder  gewärtig  sein,  daß  die  nach  Religion  fie- 
bernd verlangende  Welt  annimmt,  man  habe  nichts  zu 
geben,  man  wisse  sich  selbst  nicht  mehr  ganz  im  Wahren, 
im  Rechten,  im  Guten  —  kurz  gefaßt,  im  wahrhaftigen 
Besitze  der  göttlichen  Wahrheiten.  Im  letzteren  Falle  muß 
man  aber  auch  gewärtig  sein,  daß  diese  auflösende 
Überzeugung  auch  in  die  eigenen  Reihen  eindringt  und 
daß  die  bloße  Erhaltungspolitik  —  diese  Geste  stolzen 
Geizes  —  auch  das  vernichten  läßt,  was  man  erhalten 
wollte.  Eine  positive  Religion,  die  heute  in  diesem  Sinne 
nicht  geistig  missioniert,  nicht  auf  jede  Weise  neues  und 
lebendiges  Zeugnis  ablegt  für  ihre  Sache,  ist  in  den  Geistes- 
Jcämpfen,  die  wir  zu  erwarten  haben,  mit  Sicherheit  dem 
Untergang  geweiht.  Jede  muß  —  nicht  im  Sinne  der  äuße- 
ren Kraft  und  Macht,  aber  im  Sinne  der  Beweise  »des 
Geistes  und  der  Kraft«  siegen  oder  unterliegen.  Ein 
20 


■m 


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^06  Probleme  der  Religion. 

Drittes  ist  nicht  mehr  möglich.  Wer  bei  diesem  Welt- 
ereignis nichts  zu  geben  hat,  der  wird  auch  das  verlieren, 
was  er  bisher  besaß.  — 

Noch  zwei  andere  Dinge  mögen  zur  Charakteristik  der 
neuen  Lage  dienen. 

Ich  sagte,  man  spreche  in  denselben  Kreisen,  wo  man 
die  religiöse  Erneuerung  im  Sinne  der  Forderung  nach 
neuer  Religion  versteht,  auch  gerne  vom  »Bankerott 
des  Christentums«.  Ist  die  Scheidung  des  subjektiven 
Glaubensaktes  von  den  objektiven  Glaubensgütem  des 
Christentums  in  Verwirrung  gebracht,  und  vermag  man^ 
in  die  Verworrenheit  der  tiefsten  Ursachen  des  Welten- 
brandes nicht  hineinzudringen,  dann  ist  dieses  Urteil  so  un- 
verständlich nicht.  In  einem  Teilpunkt  ihres  vieldeutigen 
unklaren  Satzes  haben  sie  sogar  recht.  Stünde  es  mit  dem 
Christentum  im  Sinne  des  subjektiven  Glaubens  und  mit 
der  menschlichen  Verwaltung  der  kirchlichen  Bildungen,  in 
denen  es  lebt,  so  gut  und  vortrefflich,  wie  uns  von  manchen 
Gläubigen  so  häufig  versichert  worden  ist,  dürfte  man  ehr- 
lich sagen,  daß  die  moderne  europäische  Zivilisation  der 
letzten  Jahrhunderte  wenigstens  in  ihren  allseitigen  Lebens- 
wurzeln noch  eine  christliche  gewesen  sei  —  wer  ver- 
möchte es  dann  ernstlich  zu  wagen,  den  fiir  die  christliche 
Religion  vernichtenden  Satz  vom  Bankerott  des  Christen- 
tums auch  als  objektiven  Sinninhaltes  zu  erschüttern?  Das 
ist  doch  sonnenklar:  Herrschte  wirklich  die  Lehre  des 
Christentums  in  der  Zeit,  in  den  Völkern,  inmitten  ihrer  Ein- 
richtungen und  Sitten,  die  diesen  Krieg  gebaren,  oder  war 
es  doch  in  ihnen  noch  die  führende  geistige  Lebens- 
macht, dann  ist  —  so  weit  Vernunft  zu  sehen  vermag  — 
auch  das  Christentum  als  positive  Religion  verur- 


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Probleme  der  Religion.  lO? 

teilt.  Wahr  und  göttlich  kann  das  echte  Christentum  nur 
sein  und  so  weit  sein,  als  es  in  dieser  Zeit  nicht  herrschte, 
sondern  verborgen  war  und  zurückgedrängt.  Seine  ,!| 

Wahrheit  und  Göttlichkeit  irgendwie  anerkennen,  das  ^^'^■ 

schließt  also  auch  den  negativen  Mitbeweis  ein,  daß  die 
verborgenen  Ursachen  des  Weltenbrandes  ihren  Sitz  eben 
da  haben,  wo  das  Christentum  als  subjektiver  Glaube 
zurückgedrängt  oder  ausgeschaltet  war  —  kurz  nicht  im 
ChristUchen,  sondern  im  außerchristlichen,  im  wider- 
christlichen Europa.  Und  das  schließt  auch  das  Einge- 
ständnis der  Kirchen  ein,  daß  sie  innerlich  weit  schwächer 
waren,  als  sie  früher  dachten  —  sei  es  aus  eigener  oder 
fremder  Schuld  oder  beidem  zusammen.  Ganz  unmöglich 
kann  man  also  beides  beweisen  wollen:  es  sei  das  Europa 
vor  dem  Kriege  ein  wahrhaft  christlicher  Kulturkreis 
gewesen  und  das  Christentum  habe  nicht  Bankerott  ge- 
macht; die  Kirchen  oder  die  wahre  Kirche  in  ihrer  Schar 
seien  innerlich  in  auch  nur  durchschnittlich  normalem  Zu- 
stande und  nach  außen  hin  in  der  ihrer  Würde  gebühren- 
den Machtfiille  gewesen  und  das  Christentum  habe  nicht 
Bankerott  gemacht.  Vielmehr  gilt:  Waren  die  Kirchen  in 
so  gutem  Zustande,  so  hat  das  Christentum  Bankerott 
gemacht  und  mit  ihm  auch  die  Kirche,  die  sich  von  der 
Würde  und  Autorität  Christi  mit  letztem  Rechte  her- 
leitet. 

So  enthält  der  Ruf  vom  Bankerott  des  Christentums 
wohl  eine  relativ  berechtigte  Gegenerklärung  gegen  so 
viele  falsche  Zionswächter,  die  den  Zustand  der  Kirche  und 
die  den  Bestand  christlichen  Bewußtseins  in  Europa  — 
meist  freilich  nur  mit  national  pharisäischer  Gebärde  in  den- 
jenigen Ländern  und  Völkern,  denen  sie  selbst  angehören. 


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ßo8  Probleme  der  Religion. 

—  nicht  optimistisch  genug  schildern  können.  Um  der 
Macht  willen,  an  der  sie  teilzunehmen  sich  gewöhnt  haben, 
haben  sie  ein  ganzes  System  der  Betäubung  ihres  christ- 
lichen Gewissens  ersonnen  und  nicht  um  der  ewigen  Aus- 
sprüche Christi  willen,  sondern  um  ihre  Macht  zu  bewahren 
und  nach  wie  vor  bequem  zu  leben,  erklären  sie  Europa  — 
oder  doch  ihr  Land  —  als  einen  immer  noch  christlichen 
Kulturkreis  —  im  »Kerne«.  Hätten  also  diese  Zionswäch- 
ter  in  ihren  Aussagen  recht  —  so  hat  das  Christentum 
Bankerott  gemacht.  Sind  die  nationalistischen  Leiden- 
schaften, ist  der  kapitalistische  Geist  der  europäischen 
Bourgeoisien  und  Arbeitermassen,  ist  das  System  gegen- 
seitigen radikalen  Mißtrauens  und  darauf  gegründeten 
Rüstungsfiebers,  das  die  wirkliche  Politik  der  europäischen 
Staaten  bis  zu  Beginn  des  Krieges  und  selbst  die  Theorien 
von  Staat  und  Gesellschaft  beherrschte  und  noch  be- 
herrscht, —  ist  die  gotdose  Frechheit  der  Rede  des  Im- 
perialismus von  der  »Verteilung  der  Erdkugel«,  unbe- 
kümmert um  die  Solidarität  Europas  und  unbekümmert 
um  die  Rechte  der  außereuropäischen  und  außerameri- 
kanischen Völkerwelt  auf  Existenz  —  sind  alle  diese  zum 
Weltkrieg  führenden  Wesenskräfte  des  modernen  Europa 
mit  dem  chrisdichen  Geiste  kompatibel  oder  sind  sie  nur 
»Auswüchse«  kräftiger  und  berechtigter  Bestrebungen, 
nicht  aber  bis  auf  den  Kern  der  europäischen  Existenz  hinab- 
reichende Verkehrungen  und  verdammenswerte 
Verhöhnungen  des  Christentums,  so  hat  das  Christen- 
tum Bankerott  gemacht.  Entweder  man  gesteht  zu  einen 
weit  und  tiefgehenden  Abfall  Europas  vom  Christen- 
tum, anerkennt  die  Schwäche  seiner  Vertreter  resp.  ihre 
religiös  verdammliche  Anpassung  an   widerchristlichen 


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Probleme  der  Religion.  ^09 

Geist,  oder  man  gesteht  zu  den  Bankerott  des  Christen- 
tums! Eines  dieser  beiden  Dinge  muß  man  wählen.  Auch 
von  derSchuldfrage  der  Kriegsparteien  ist  dieses  Urteil 
ganz  und  gar  unabhängig.  Dieses  Urteil  steht  nicht  für, 
nicht  gegen  Deutschland,  nicht  fiir,  nicht  gegen  Frankreich 
oder  England  usw.  Was  kümmert's  mich,  wer,  welche 
Person  in  einer  Familie,  der  ich  von  ferne  schon  ansehe, 
daß  sie  als  Ganzes  innerlich  verfault  und  versumpft  ist, 
daß  ihr  Gesamtzustand  verderbt  ist,  daß  an  Wänden 
und  Stühlen,  an  Bildern  und  Schränken  mir  greifbarer 
Haß  und  wüste  Verwirrung  entgegen  grinst,  die  sog. 
Schuld  hat !  Keiner  und  alle  wird  jeder  in  dem  Maße  sagen, 
als  er  tief  in  die  Seelen  und  Verhältnisse  dieser  Familie 
hineinblickt.  An  der  Oberfläche  ist  die  Schuld  immer  ein- 
seitig —  in  der  Tiefe  immer  gegenseitig,  so  wie  die  \\^elt 
theoretisch  an  der  Oberfläche  immer  nur  eindimensionale 
Ursache  —  Wirkung,  in  der  Tiefe  mehrdimensionale 
Wechselwirkung  ist. 

Es  gibt  einen  Grad  der  Verderbnis  menschlicher  Ge- 
samtzustände, wo  individuale  Schuldabwäg^ng  Kinderei 
wird.  Strindberg,  so  groß  an  Geist,  wie  wüst  und  häßlich 
an  Seele,  —  aber  eben  deswegen  der  reinste  dichterische 
Exponent  seiner  Zeit,  eines  der  vollkommensten  Resumes 
der  Grundinstinkte  des  modernen  Europas  und  eben 
darum  vermöge  der  Tragik  des  zur  Aussprache  der  Zeit 
berufenen  Dichters  einer  fluchwürdigen  Zeit  notwendig 
so  häßlich  und  wüst  —  hat  ein  Stück  geschrieben,  betitelt 
»Der  Scheiterhaufen«.  Eine  Familie  der  Art,  wie  ich  sie 
vorher  schilderte,  geht  hier  samt  ihrem  Hause  in  Flammen 
auf  Dasjenige  ihrer  Kinder,  das  noch  am,  meisten  leidet 
an  einer  Verderbnis,  in  die  es  sich  selbst  und  sein  Leben 


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3 1 0  Probleme  der  Religion. 

hineingezogen  und  von  ihr  wie  erwürgt  weiß,  steckt  selber 
das  Haus  in  Brand,  um  die  ganze  unteilbare  und  einzige 
Verderbnis  dieses  Hauses  aus  der  Welt  Gottes  auszu- 
schließen, —  und  damit  auch  noch  sein  eigenes  Leiden 
und  seinen  eigenen  Ekel  zu  vernichten.  Gleich  einem 
plastischen  Symbol  schauten  die  Zuschauer  dieses  in  der 
Kriegszeit  viel  aufgeführten  Stückes  in  dem  äschyleischen 
Schicksal  dieses  Hauses  Europas  Schicksal  als  abgebildet 
an.  Genau  dieses  ist  das  Urteil  des  Japaners,  der  vom 
Harakiri  Europas  spricht. 

Gewiß,  es  ist  falsch  und  töricht  die  Lagen  des  Blickes 
auf  die  Ereignisse  zu  verwechseln  und  zusammenzumischen. 
Der  Politiker  muß  anders  denken  als  der  religiöse  und 
der  nach  Sinnesänderung  verlangende  Mensch.  Der  Poli- 
tiker mag  streiten  um  die  »Schuld«  am  Weltkrieg  im 
Sinne  der  Parteischuld.  Er  muß  es  sogar.  Ich  verwehre 
es  ihm  nicht.  Man  darf  die  Frage  nach  einer  religiösen  und 
moralischen  Lage  Europas  als  Ganzes  mit  Dingen  ganz 
anderer  Größen  —  und  Wertordnung,  mit  Fragen  der 
politischen  Neuordnung  seiner  Teile  nicht  in  peinlichster 
Weise  durcheinander  wirren.  Man  darf  nicht  reden  wie 
ein  Religiöser,  wo  der  Politiker  reden  soll.  Manche  unter 
uns,  die  allzu  einseitig  nur  die  deutsche  Schuld  da  sehen, 
wo  eine  gesamt-europäische  vorhanden  ist,  haben  dies 
verwechselt.  Aber  ist  solches  Verhalten  peinlich  und  ge- 
schmacklos, ist  es  Zeugnis  gebend  für  eine  mangelnde 
innere  Struktur  der  Persönlichkeit,  für  den  Mangel  zu- 
gleich der  Reinheit  und  Klarheit  auch  ihrer  moralisch- 
religiösen Gedanken  und  Gefühle,  so  ist  die  organische 
Unfähigkeit,  sich  über  die  ganze  Sphäre  des  Nur-Politi- 
kers  zu  erheben  und  die  europäische  Lage,  ja  die  Lage 


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Probleme  der  Religion.  1 1 1 

der  Menschheit  aus  dem  Sonnenblick  des  Christus-Logos 
zu  sehen^  kläglich  und  philisterhaft. 

Es  gibt  gar  nichts,  was  so  gewiß  ist  als  dies :  daß  nur 
die  allmähliche  Gesamterhebung  des  europäischen  Urteils 
und  Geistes  auf  dieses  Niveau,  zu  diesem  Sonnenblick, 
daß  nur  die  klare  Sicht  auf  die  gegenseitig  untrennbar 
ineinander  geflochtene  Gemeinschuld  Europas,  ja  der 
ganzen  Welt  an  diesem  Kriege  den  Beginn  jeglicher 
religiösen  Erneuerung  zu  bilden  vermag.  Allen  Menschen 
ist  zuzurufen :  Erhebet  euch !  Steigt  hinauf  den  heiligen  Berg 
eures  Gewissens  (mit  Hilfe  Christi),  von  dessen  sonnen- 
beglänztem  Gipfel  ihr  in  das  Gewirr  .der  Gemeinschuld 
Europas  hinabblickt  wie  in  ein  Tal  der  Furchtbarkeit,  der 
Sünde,  der  Tränen!  Schauet  es  so,  wie  Moses  die  Juden 
tanzen  sah  um  das  goldene  Kalb,  —  still  und  von  Gott 
noch  trunken  zu  Tale  schreitend  —  schauet  von  eurem 
noch  in  das  Gebet,  in  seinen  Glanz  und  seine  Demut 
eingetauchten  Gewissensgipfel  Europa  tanzen  um  seine 
lächerlichen,  stupiden  Götzen!  Nur  wer  nicht  in  seiner 
Seelentiefe  mittanzt,  aber  es  noch  weiß,  daß  sein  Leib  im 
gleichen  Rhythmus  schwingt,  kann  den  Tanz  erblicken. 
Wer  ihn  tanzt  bis  in  seinen  Seelengrund,  der  erblickt  ihn 
nicht.  Wer  pharisäisch  nur  die  je  »anderen«  tanzen  sieht, 
der  erblickt  ihn  nicht.  Wer  nicht  seinen  Schatten,  seine 
eigene  groteske  Hülle  und  verzerrte  Figur,  wer  sich  nicht 
selbst  in  diesem  Totentanze  mittanzen  sieht,  —  bewußt 
seiner  eigenen  Mitsch^d  —  der  sieht  ihn  nicht. 

Erst  Einsicht  in  die  Gesamtschuld  dieses  Krieges  in 
diesem  Sinn  kann  uns  wie  an  einem  einzigartigen  Beispiel 
der  Geschichte  wiedergewinnen  lassen  das  durch  die  euro- 
päische Neuzeit  in  Stücke  gerissene  religiös-moralische 


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r 


^12  Probleme  der  Religion. 

Prinzip  der  Solidarität  überhaupt,  der  Gegenseitigkeit 
aller  moralischen  Aktionen  und  Werte  im  Reiche  der  end- 
lichen Geister  und  all  ihrer  Gruppen;  kann  uns  wieder 
schauen  lehren  und  fühlen,  daß  diese  ganze  Welt  in  jeder 
Stunde  nur  als  ein  unteilbares  Ganzes,  als  eine  moralisch 
kompakte  Masse  je  steigt  zu  Gott  hinan  und  fallt  von 
Gott  hinab,  daß  in  ihr  alle  für  alle  und  alle  fiir  das  Ganze 
mitverantwortlich  sind  vor  dem  höchsten  Richter.  Und 
erst  dieselbe  Einsicht  in  die  Gesamtschuld  kann  das  große 
Pathos  der  möglichen  gegenseitigen  Verzeihung,  der  mög- 
lichen Gesamtreue,  Gesamtbuße,  fiir  diese  Schuld,  (des 
heu  te  noch  wie  verschämt  erzitternden  Versöhnungswillens) 
in  uns  wachrufen. 

Die  geschilderte  neue  Seelenmacht  ist  —  soweit  ich 
sehe  —  in  ihrer  bisherigen  Artung  und  ihrem  bisherigen 
Ausdruck  nur  die  psychische  Vorbereitung  der  Gesamt- 
reue und  gleichsam  das  psychische  Medium  und  Bett 
für  ihren  heilsamen  Strom.  Sie  ist  diese  Reue  selber  noch 
nicht.  — - 

In  der  Lage,  wie  sie  hier  geschildert  wurde,  hat  eine 
neue  und  besondere  Aufgabe  auch  die  Philosophie,  — 
soweit  sie  sich  mit  der  Religion  beschäftigt.  Diese  Auf- 
gabe ist  nicht  die  höchste  unter  den  Aufgaben,  die  es  für 
die  Erneuerung  des  religiösen  Bewußtseins  gibt.  Denn 
diese  höchste  Aufgabe  wird  immer  zufallen  dem  homo 
religiosus  selbst,  dem  gottinnigen  und  gottmächtigen 
Menschen,  der  durch  seine  geistige  Gestalt  die  Seelen 
selbst  umformt  und  in  die  flüssig  und  bildsam  gewordenen 
Geister  und  Herzen  das  göttliche  Wort  auf  neue  Weise 
einzugestalten  vermag.  Aber  da  das  Sein  und  Auftreten 
solcher  Menschen  selbst  die  wunderbarste  der  Gnaden  ist. 


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Probleme  der  Religion.  i !  t 

die  der  Menschheit  zuteil  werden  kann,  ist  nicht  nur  das 
Hervorbringenwollen  solcher  Menschen,  sondern  schon 
das  Suchen  ihrer  und  das  Erwarten  derselben  etwas  in 
sich  Widersinniges.  Nur  die  Bereitschaft,  sie  zu  hören  — 
wenn  sie  erscheinen  sollten  —  und  die  Kunst,  sie  zu  sehen^ 
wenn  sie  sich  und  wo  sie  sich  darbieten,  sind  Dinge,  die 
der  Ausbildung  und  Pflege  können  unterworfen  werden. 
Diese  religiöse  Aufnahmefähigkeit  ist  aber  in  hohem 
Maße  abhängig  auch  von  den  Gedanken,  die  man  sich 
vom  Wesen  der  Religion,  den  Formen  der  Begründung 
der  höchsten  letzten  Wahrheiten,  der  Stellung  und  Lage 
der  Religion  innerhalb  der  Gesamtstruktur  der  mensch- 
lichen Vernunft,  die  man  sich  femer  von  den  Gesetzen 
des  Ursprungs  aller  echten  Religion  und  dem  Gefijge 
und  der  Ordnung  der  Quellen  religiöser  Erkenntnis  und 
religiösen  Lebens  macht. 

Dieser  Kreis  von  Fragen  sei  im  folgendem  unser  Gegen- 
stand. Streng  systematisch  die  hier  berührten  Fragen  zu 
behandeln,  muß  einem  Werke  vorbehalten  bleiben,  das  seit 
Jahren  wachsend  in  meinem  Pulte  liegt,  das  zu  vollenden 
mich  die  Ungunst  der  Zeiten  aber  bisher  gehindert  hat. 
Hier  muß  es  genügen,  in  einer  Form,  die  den  Anspruch 
auf  jene  Art  von  Präzision,  die  mir  als  Ideal  vorschwebt, 
nicht  erheben  darf  und  die  ein  vollständigeres  historisches 
und  psychologisches  Material  zur  Seite  liegen  läßt,  die 
leitenden  Gedanken  vor  einem  nicht  nur  fachphilosophisch 
gebildet  gedachten  Leserkreis  zu  entwickeln,  die  in  dem 
genannten  Werke  der  Religion  eine  allseitigere  und 
strengere  Begründung  und  Rechfertig^ng  geben  sollen. 
Dies  gilt  vor  allem  von  den  Erweisarten  —  und  Be^veis- 
arten  der  religiösen  Hauptwahrheiten,  die  hier  nicht  syste- 


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2 1 4  Probleme  der  Religion. 

matisch  durchgeführt  sind;  desgleidien  von  der  Kritik 
der  bisherigen  Gk)ttesbeweise. 

p\  Auch  hier  freilidi  gebietet  es  die  Vorsicht,  nicht  zu 

vieles  von  dieser  die  Jugend  der  Völker  schon  durch- 
rauschenden  Gesamtbewegung    des    Gemütes    zu   er- 

l'l  warten.  Ohne  Zweifel!  Sie  ist  der  erste  der  notwendigen 

Ausgangspunkte  möglicher  religiöser  Erneuerung.  Aber 
sie  ist  nicht  diese  Erneuerung  selbst.  Sie  ist  der  einzig 
gemeinsame  Ausgangspunkt  aller  derer,  die  über- 
haupt die  Notwendigkeit  einer  religiösen  Erneuerung 
empfinden  —  wie  grundverschieden  der  Inhalt  der  Re- 
ligion immer  sei,  den  sie  damit  meinen.  Aber  erst  wenn 
sich  aus  diesen  Seelen-  und  herzerweichenden  Geflihlsströ- 
mungen,  die  heute  schon  unsere  gesamte  junge  Dichtung 
erfüllen  —  erfüllen  sogar  bis  zur  Gefiihlsanarchie  —  die 
Sehnsucht  nach  Gewinnung  positiver  Überzeugungen 
und  ein  neuer  religiöser  und  sittlicher  Formwille  erhebt, 
ist  auf  eine  wahre  religiöse  Erneuerung  zu  hoffen.  In  weiten 
Kreisen  der  kämpfenden  Nationen  ist  ja  schon  jetzt  dieses 
neue  Pathos  mächtig,  fast  übermächtig  geworden.  Ein 
unerhörter  Drang  hat  die  Herzen,  besonders  der  Jugend 
ergriffen,  sich  aufzutun,  sich  über  alle  Landesgrenzen  hin- 
weg aneinanderzuschließen,  sich  gleichsam  hinwegzuwär- 
men  die  Eiseskälte  der  Zeit,  —  gleich  wie  in  Tolstois 
>  Herr  und  Knecht « die  Leiber  des  Herren  und  des  Knechtes 
sich,  im  Erfrieren  begriffen,  auf  dem  Schneefelde  gegen-^ 
seitig  zu  erwärmen  suchen  — ;  ein  nicht  weniger  heftiger 
Drang,  sich  gegenseitig  alles  zu  vergeben,  sich  gegen- 
seitig alles  zu  verzeihen,  miteinander  alles  zu  bereuen, 
sich  in  die  Arme  zu  fliegen  und  zu  rufen:  Bruder,  Bruder! 
Die  in  diesen  Worten  angedeutete  Gemütsbewegung  ist 


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Probleme  der  Religion.  xjc 

ohne  Zweifel  das  stärkste  Stimulans  auch  all  der  neuen 
dichterischen  und  künsderischen  Versuche,  welche  die  Zeit 
des  Weltkrieges  gebar.  Ein  mystischer  Gefühlsdemokra- 
tismus  —  ganz  verschieden  von  politischer  und  sozialer 
Demokratie,  aber  doch  auch  das  unterirdische  Nährbecken 
der  universalen  Tendenzen  dieser  Bestrebungen  —  geht 
wie  eine  unaufhaltsame  Flut  durch  die  jungen  Generationen 
aller  Völker.  Er  macht  die  Kunst  wieder  gerichtet  auf  die 
großen  typischen  Gestalten,  Leiden,  Schicksale  des 
Menschentums,  auf  die  Wesenheiten  der  Situationen 
dieses  rätselhaften  Menschendaseins.  »Der«  Mensch  ist 
ihr  Gegenstand!  »Die«  Menschen,  das  Individuum,  sind 
uninteressant  geworden.  Etwas  Äschyleisches  in  der  Auf- 
fassungs-  und  Gestaltungsstruktur  des  Lebens,  aber  mit 
dem  Inhalt  der  gegenwärtigen  Wirklichkeiten  erfüllt,  geht 
durch  diese  wilde  Ausdruckskunst  hindurch.  Ein  bald 
mehr  christlich,  bald  mehr  dämonisch  gefärbtes  mystisch- 
zerflossenes Allgefühl,  das  mehr  auf  die  bloße  Fülle  und 
Macht  unendlich  nuancierter  Emotionen  als  auf  Reinheit, 
Gestalt,  Tiefe  des  Gefühls  und  der  Idee  gerichtet  ist; 
eine  Denk-  und  Fühlweise,  die  alle  festen,  von  der  ge- 
schichdichen  Kultur  geprägten  Strukturen,  Ordnungen, 
Formen  des  Menschendaseins  scheint  ertrinken  lassen  zu 
wollen  oder  doch  sich  baden  und  reinigen  zu  lassen  in 
dem  Glutstrom  der  durch  den  Kriegszustand  so  furchtbar 
gestauten,  aber  nun  mit  vertausendfachter  Macht  hervor- 
brechenden Ursehnsüchte  des  Menschenherzens  —  als 
da  sind  Liebe  aller  Art,  Zärtlichkeit,  Mitfreuen,  Mitleiden 
—  ist  das  weitaus  bedeutendste  neue  Weltanschauungs- 
ferment, das  der  Krieg  bisher  aus  sich  geboren. 

Das  Dasein  dieser  Seelenströmung  ist  auf  alle  Fälle  von 


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1 1 6  Probleme  der  Religion. 

kaum  überschätzbarer  Bedeutung  auch  für  die  neue  reli- 
giöse Lage.  Das  Eis  der  Seelen  ist  flüssig  geworden,  und 
wie  merkwürdig  geformte  Eisbrocken  in  einem  halbauf- 
getauten See  treiben  die  Weltanschauungstrünuner  über- 
lieferter Ideengruppen  meist  halb-,  oft  unverstanden  in  dem 
Gischt  herum.  Man  darf  nicht  leugnen,  daß  eine  soge- 
artete  Verflüssigung,  Erweichung,  ein  solcher  Reduktions- 
prozeß der  zu  stark  gewordenen  Organisation  der  euro- 
päischen Seele  nötig  ist,  sofern  eine  religiöse  Erneuerung 
möglich  sein  soll.  Aber  man  darf  noch  weniger  übersehen, 
daß  diese  orgiastische  Gefiihlstrunkenheit  bisher  nur  ein 
ganz  wirres  Durcheinander  ist,  in  dem  das  Höchste 
neben  dem  Niedrigsten  liegt,  die  Dunkelheit  des  Rausches 
neben  dem  Licht  der  Einsicht,  Dämonisches  neben  Gött- 
lichem, der  nihilistische  Drang,  sich  in  des  eigenen  Herzens 
Abgrund  zu  stürzen,  neben  aufbauender  gottgerichteter 
Gesinnung.  Man  darf  am  wenigsten  übersehen,  daß  diese 
ganze  Bewegung  nicht  mehr  ist  als  Rohmaterial  für  die 
wahren  Baumeister  religiöser  und  sittlicher  Erneuerung. 
Denn  wie  viel  ist  in  all  dem  Gewoge  nur  Ermüdung  und 
Spannungslösung,  wie  viel  wieder  rasch  abflauender  Durch- 
bruch von  Geftihlsmächten,  die  durch  zu  lange  Stauungen 
zurückgedrängt  waren;  wie  vielbloß  tatenlose  und  formen- 
feindliche Negation,  die  sich  hinter  schönen  Namen  nur 
verbirgt!  Was  daran  ist  die  endgültige  Auflösung  des 
Siechtums  und  des  Todes,  was  die  wunderbare  Lösung 
der  Seele,  die  aller  Wiedergeburt,  aller  Sinneswandlung, 
aller  Bekehrung  voranschreitet.?  Das  ist  eine  für  den,  der 
sie  voll  erfaßt,  sehr  dunkle  Rätselfrage  und  —  niemand 
kann  sie  bis  jetzt  beantworten. 


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Probleme  der  Religion.  117 

I.  Religion  und  Philosophie. 
A.  Typik  der  bisherigen  Anschauungen. 
Über  die  Frage,  ob  und  inwiefern  die  Gegenstände  des 
religiösen  Glaubens  —  Dasein  und  Wesen  Gottes,  Un* 
Sterblichkeit  der  Seele  usw.  —  und  inwiefern  das  Glauben 
und  die  Existenzsetzung  dieser  Gegenstände  auch  Gegen- 
stände des  philosophischen  Erkennens  seien,  waren  und 
sind  die  Ansichten  der  Philosophen  und  der  Theologen 
geteilt.  Es  ist  zu  konstatieren,  daß  im  Gegensatze  zu 
den  Lehren,  die  seit  dem  13.  Jahrhundert  bis  zum  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  ziemlich  gleichförmig  die  Geister  in 
Europa  beherrschten,  das  19.  Jahrhundert  eine  kaum  ab- 
sehbare Fülle  von  »Standpunkten«  bezüglich  dieser  Frage 
hervorgetrieben  hat,  die  über  eine  Annahme  in  engeren 
Schulkreisen  nicht  hinausgekommen  sind;  die  sich  wirr 
untereinander  bis  zum  heutigen  Tage  bekämpfen  —  bis- 
her ohne  Aussicht  auf  Durchsetzung  irgendeines  von  ihnen.  • 
Die  Erscheinung  liegt  nicht  nur  begründet  in  der  Proble- 
ftiatik,  in  welche  die  Entfaltung  der  modernen  Kultur  die 
Religion  hineinzog;  sie  ist  nicht  weniger  gegründet  in  der 
steigenden  Unsicherheit  über  Wesen  und  Aufgabe  der 
Philosophie.  Wo  nicht  nur  eines  der  Dinge,  deren  Wesens- 
verhältnis es  zu  erkennen  gilt,  unbestimmt  und  unsicher 
geworden  ist,  sondern  beide  Dinge  zumal,  da  ist  diese 
Erkenntnis  zehnfach  schwierig  geworden.  Die  optimistische 
Annahme,  dieser  Geisteszustand  bezeuge  wenigstens  ein 
tiefes  und  starkes,  ein  mannigfaches  und  reiches  Leben 
und  Ringen  der  Geister  um  diese  Dinge,  mag  für  sehr 
eng  begrenzte  Zeitalter  in  sehr  engen  Spielräumen  natio- 
naler  geistiger  Bewegungen  nicht  ganz  unrichtig  gewesen 


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^  1 8  Probleme  der  Reli^^on. 

sein.  Sie  mag  wenigstens  einen  Schein  von  Gültigkeit 
beanspruchen  für  Deutschlands  Kultur  seit  Lessings  Tod 
und  dem  Erscheinen  der  Kantischen  Vemunftkritik  bis 
zum  Ausgang  der  sog.  »klassischen  Spekulation«.  Für  die 
Gegenwart  wäre  sie  total  unsinnig.  Denn  diese  »Stand- 
punkte* stehen  längst,  jeder  vom  anderen  isoliert  neben- 
einander, eingeschlossen  und  verfestigt  —  ja  verfilzt  und 
erstarrt  —  in  die  »Organisationen«  enger  Schulkreise, 
die  von  der  Welt  der  europäischen  Bildung  überhaupt 
nicht  gehört  werden;  die  sich  sogar  untereinander  kaum 
ernstlich  anhören,  fast  niemals  aber  zu  lebendiger,  frucht- 
barer Auseinandersetzung  untereinander  gelangen.  Nicht 
»Leben  und  Ringen  der  Geister«,  sondern  ödester  Schul- 
traditionalismus  mit  der  Maxime  »Quieta  non  movere« 
ist  das  schließliche  Ergebnis  der  Vielheit  der  »Stand- 
punkte* geworden.  Da  die  »Standpunkte«  meist  beruhen 
auf  traditionalistischen  Versuchen,  ältere  philosophische 
Gedankensysteme  neu  aufzuwärmen  —  im  höchsten  Falle 
mit  geringen  Abweichungen  und  sog.  »Zugeständnissen« 
an  die  »Gegner«  —  so  ist  schon  ein  ernster  Wille  zur 
Verständigung  unter  den  Standpunkts  »Vertretern«  kaum 
zu  erwarten.  Denn  solche  Verständigung  wäre  möglich 
nur,  wenn  man  ohne  vorhergehendes  Hinsehen  auf  bloße 
Traditionen  die  Tatsachen  selbst,  um  die  es  sich  handelt, 
wieder  neu  und  rein  in  Augenschein  zu  nehmen  suchte, 
—  um  erst  hinterher  die  so  gewonnenen  Resultate  mit 
lebendigen  oder  toten  Traditionen  in  Verbindung  zu 
bringen.  Nur  ein  untergeordneter,  in  seiner  Artung  selbst 
sehr  problematischer  Zweig  der  Erkenntnisarten  und 
Wissenschaften,  die  es  mit  Religion  zu  tun  haben,  hat 
dies  getan:  die  sog.  Religionspsychologie,  auf  die  nach- 


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Probleme  der  Religion.  xig 

her  die  Rede  kommt;  die  aber  auf  alle  Fälle  allen  Be- 
gründungs- und  Rechtfertigungsarten  der  Religion  ganz 
ohnmächtig  gegenübersteht.  In  der  Philosophie  der 
Religion  herrschen  dagegen  nach  wie  vor  die  traditio- 
nalistisch in  engsten  Schulkreisen  gepflegten  »Systeme« 
z.  B.  des  Thomismus  und  Neuthomismus,  der  kantischen 
und  positivistischen,  der  hegelschen  und  neuhegelschen 
philosophischen  und  theologischen  Schulen.  Auch  die 
junge  pragmatische  Religionsphilosophie  ist  nur  eine  be- 
wußtere Formulierung  uralter  englischer  Schultraditionen. 
Während  diese  traditionalistisch  in  engen  Schulkreisen 
gepflegten  »Standpunkte«  —  schon  da  sie  von  großen 
Geistern  abstammen  —  wenigstens  Eines  fiir  sich  an- 
führen können:  daß  ihre  »Vertreter«  die  Fragen  mit 
einiger  methodischer  Strenge  und  in  ihrer  zeitlosen  Be- 
deutung behandeln,  steht  —  völlig  getrennt  von  ihnen, 
aber  auf  die  Kreise  der  Bildung  im  Grunde  allein  wirk- 
sam —  eine  bewußt  aktuelle  Popularphilosophie,  die 
schon  wegen  ihrer  Methodenlosigkeit  und  des  ihr  man- 
gelnden Ernstes  für  die  Ewigkeitsbedeutung  der  Fragen, 
wegen  nicht  nur  noch  historisch,  sondern  auch  sachlich 
keine  Art  von  Verbindung  und  Kontinuität  mit  den  welt- 
historischen Höhepunkten  der  Problemstellung  in  diesen 
Fragen  mehr  besitzt.  Ob  diese  Art  Popularphilosophie 
und  modemer  Erbauungsliteratur  gepflegt  wird  von  Natur- 
forschern, gleich  Häckel  und  Ostwald,  die  uneingedenk  der 
Grenzen  ihrer  »Fächer«  ihre  fiir  ihr  »Fach«  wertvollen 
Handwerkskategorien  zu  Weltbegriffen  erweitern,  ob  von 
Pädagogen  wie  Fr.  W.  Förster,  von  »jfecrivains«  wie 
Nietzsche,  von  Predigern  und  Lebensreformatoren  wie 
Johannes  Müller  u.  a. :  Auf  endgültige  Lösung  der  Pro- 


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3  20  Probleme  der  Religion. 

bleme  in  allgemeingültig  lehrhafter  Form  kann  diese 
»Philosophie«  der  Grenzüberschreitungen  oder  doch  der 
»guten  Einfälle«  und  Aphorismen  aus  kritiklos  aufge- 
nommenen Beobachtungen  des  unmittelbaren  Lebens 
heraus  einen  ernsthaften  Anspruch  nicht  erheben.  Sie  ver- 
mag dies  nicht,  wie  wertvoll  sie  im  übrigen  inrnier  sei  und 
wie  sehr  sie  ilir  sich  anfuhren  kann,  sie  sei  das  einzige 
wirkliche  Lebensbrot  eines  geistig  so  tief  gesunkenen 
Zeitalters  wie  es  das  unsrige  ist.  — 

Der  Versuch,  aus  dem  Wesen  der  Philosophie  und  der 
Religion  eine  angemessene  Verhältnisbestimmung  beider 
zu  gewinnen,  sei  eingeleitet  mit  einer  kurzen  Auffuhrung 
der  typischen  Lösungen,  die  diese  Frage  bisher  fand.  An 
diese  Typologie  anschließend  möchte  ich  die  Idee  einer 
philosophischen  Wesenslehre  (Eidologie)  des  religiösen 
Aktes  und  Gegenstandes  entwickeln.  Sie  darf  bean- 
spruchen, die  philosophische  Grunddisziplin  zu  sein,  auf 
der  sich  nicht  nur  alle  anderweitige  philosophische  Be- 
schäftigung mit  der  Religion  (Erkenntnis-  und  Wertungs- 
theorie des  religiösen  Aktes,  Metaphysik  der  Religion, 
Geschichtsphilosophie  der  Religion),  sondern  auch  alle 
Religionswissenschaft  (also  Religionspsychologie,  Reli- 
gionsgeschichte, schließlich  die  mannigfachen  Disziplinen 
der  Theologie)  als  ihrem  gemeinsamen  Fundamente  auf- 
zubauen haben. 

B.  Der  partielle  und  der  totale  Identitätstypus. 

Die  Lehren  über  das  Verhältnis  von  Religion  und  Philo- 
sophie teilen  sich  in  solche,  die  eine  totale  oder  partielle 
Wesensidentität  von  Religion  und  dem  Teile  der  Philoso- 
phie behaupten,  der  seit  Aristoteles  die » erste  Philosophie « , 


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Probleme  der  Religion.  j  2  I 

später  Metaphysik,  genannt  wurde,  und  in  solche,  die  eine 
Wesensverschiedenheit  von  Religion  und  Philosophie 
behaupten.  Erst  wo  das  letztere  der  Fall  ist  hat  es  Sinn, 
von  einer  sog.  »Religionsphilosophie«  zu  sprechen.  Denn 
nur  in  diesem  Falle  ist  nicht  der  Gegenstand  der  Religion 
—  Gott  —  sondern  die  Religion  selbst  der  Gegenstand 
der  Philosophie.  Der  Ausdruck  »Religionsphilosophie« 
ist  denn  auch  neueren  Datums.  Der  gesamten  Literatur 
der  Philosophie  bis  auf  Kant  und  Schleiermacher  ist  er 
unbekannt,  und  auch  die  Theologie  kannte  keine  Disziplin 
dieses  Namens.  Der  Name  birgt  denn  auch  selbst  schon 
eine  besondere  Theorie  über  das  Verhältnis  von  Religion 
und  Philosophie  in  sich:  den  Gedanken  nämlich,  daß  sich 
die  Philosophie  nicht  direkt  mit  Gott,  sondern  —  wenn 
überhaupt  mit  Gott  —  mit  Gott  nur  dujjch  die  Religion 
hindurch  zu  beschäftigen  habe.  Solange  man  einen  be- 
sonderen Zweig  der  Metaphysik  annahm,  der  unmittelbar 
Wesen  und  Dasein  Gottes  zum  Gegenstande  der  Erkennt- 
nis hat,  sprach  man  nirgends  von  »Religionsphilosophie«. 
Man  nannte  diesen  Teil  Natürliche  Theologie,  Rationale 
Theologie.  Diese  natürliche  Theologie  galt  als  gemein- 
samer Teil  der  ganzen  Theologie  und  der  philosophischen 
Metaphysik.  Die  positive  oder  OfFenbarungstheologie  mit 
ihren  wesensmäßig  neuen  Erkenntnisquellen  (Selbstmit- 
teilung Gottes  an  Personen  imd  Tradition,  femer  dogma- 
tische Setzung)  baute  sich  so  direkt  und  unvermittelt 
durch  eine  sog.  Religionsphilosophie  auf  die  natürliche 
Theologie  auf. 

I.  Dieses  partielle  Identitätssystem  von  Religion  und 
Philosophie  (Metaphysik)  ist  jener  Typus  der  Verhältnis- 
bestimmung beider,  der  in  Europa  am  längsten  gegolten 

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3^3 


Probleme  der  Religion. 


hat  und  die  stärkste  Verbreitung,  besonders  in  den  kirch- 
lichen Schulen,  gefunden  hat.  Seit  Thomas  Aquinas  be- 
herrschte dieses  System  auch  mindestens  den  Hauptzug 
der  kirchlichen  Schultraditionen  in  Philosophie  und  Theo- 
logie bis  zum  heutigen  Tage.  Er  wird  von  den  Trägem 
dieser  Tradition  energisch  verteidigt  sowohl  gegen  alle 
Lehren,  die  der  Religion  (auch  der  natürlichen  Religion) 
eine  von  den  Erkenntnisquellen  der  Philosophie  verschie- 
dene Erkenntnisquelle  einräumen  wollen  (Fideismus),  als 
gegen  die  totalen  Identitätssysteme  (Gnosis  und  Tradi- 
tionalismus), die  in  irgendeiner  Form  —  sei  es  zugunsten 
des  einen  oder  des  andern  Teils  —  die  Scheidung  einer 
natürlichen  und  einer  positiv  geofFenbarten  Religion  auf- 
heben —  eine  Scheidung,  die  fiir  die  katholische  Kirche 
auf  Grund  des  bekannten  Pauluswortes  dogmatischen 
G  eltungswert  besitzt.  Der  Mensch  kann  ein  sicheres  Wissen 
um  das  Dasein  Gottes  mit  Hilfe  der  philosophierenden 
Vernunft  gewinnen,  dringt  aber  in  Gottes  inneres  Wesen 
(resp.  in  sein  Wesen  ohne  seine  äußere  Beziehung  auf  die 
Welt)  nur  ein  mit  Hilfe  der  gläubigen  Aufnahme  des  in 
der  positiven  Theologie  dargelegten  Inhaltes  der  Oflfen- 
barung  in  Christo.  Das  »sichere  Wissen«  gilt  dabei  seit 
der  Wiedererweckung  des  Thomismus  durch  Leo  XIII. 
als  ein  mittelbares  Wissen  resp.  als  ein  solches,  das  aus- 
schließlich durch  Schlüsse  gewonnen  wird,  die  sich  auf 
Dasein  und  GrundbeschafFenheit  der  Welt  aufbauen.  Die 
auf  die  aug^stinische  Tradition  zurückgehende,  in  den 
Oratiorianerkreisen  von  Port  Royal  heimische  Lehre  von 
einem  natürlichen  unmittelbaren  Wissen  um  Gott  oder 
doch  um  das  Göttliche  wird  —  meist  ohne  tiefere  Diffe- 
renzierung der  sehr  verschiedenen   Formen,  die  diese 


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Probleme  der  Religion.  j  2  3 

Lehre  annehmen  kann  und  in  der  Geschichte  annahm  — 
ebenso  wie  der  ihr  nahestehende  sog.  ontologische  Gottes- 
beweis meist  kurzerhand  als  »Ontologismus«  abgelehnt. 

Die  totalen  Identitätssysteme  können  wir  in  die  gnosti- 
schen  und  die  traditionalistischen  einteilen,  je  nachdem  die 
gesamte  Theologie  hier  in  Philosophie  oder  die  Philo- 
sophie (wenigstens  als  Metaphysik)  ganz  in  die  (positive) 
Theologie  aufgehen  soll. 

2.  Das  Wesen  der  gnostischen  Identitätssysteme  be- 
steht darin,  daß  die  Religion  (positive  wie  natürliche)  nur 
als  eine  niedrigere  Erkenntnisstufe  der  metaphysi- 
schen Erkenntnis  angesehen  wird.  Religion  wäre  nach 
dieser  Auffassung  also  im  Grunde  selbst  eine  Metaphysik, 
nur  eine  Metaphysik  zweiter  Klasse,  eine  Metaphysik  >in 
Bildern  und  Symbolen  < ,  eine  Metaphysik  durch  das  >  Volk « 
und  für  das  >  Volk« .  Die  Religion  ist  also  nach  gnostischer 
Vorstellung  ein  Versuch,  ohne  methodisches  Denken  und 
ohne  Zusammenhang  mit  der  Wissenschaft,  aber  mit  dem 
Wesen  nach  identischen  Operationsarten  des  menschlichen 
Geistes  und  ohne  andere  und  wesensverschiedene  Stoff- 
quellen der  Anschauung  und  Erfahrung,  als  sie  auch  die 
Philosophie  zur  Verfügung  hat,  dieselben  Gegenstände  zu 
erkennen,  dieselben  Fragen  zu  behandeln,  dieselben  Grund- 
bedürfnisse des  menschlichen  Gemütes  zu  befriedigen,  die 
auch  die  Metaphysik  erforscht,  löst  und  befriedigt  —  nur 
so,  daß  die  Religion  unvollständig,  bildlich-symbolisch  und 
weit  mehr  den  Bedürfnissen  des  menschlichen  Herzens  in 
seiner  je  historisch  bestehenden  Formung  nachgebend  ver- 
fahrt, wogegen  die  Metaphysik  vollständig,  systematisch 
und  in  rational-begrifflicher  Form  im  engen  Zusammen- 
hang mit  der  Wissenschaft  vorgeht.  Dieser  Unterschied 


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Goot 


324  Probleme  der  Religion. 

erklärt  sich  für  die  gnostische  Auffassung  in  letzter  Linie 
soziologisch,  insofern  die  Metaphysik  die  Religion  der 
Denker  ist,  die  Religion  aber  die  Metaphysik  der 
Massen.  Der  charakteristische  Gegensatz  von  Exoteris- 
mus  und  Esoterismus  ist  daher  für  diesen  Standpunkt 
wesendich.  Die  allegorisch-symbolische  Auslegung  der 
für  die  Religion  als  »heilig«  geltenden  Schriften  ist  dann 
meist  das  Mittel,  diesen  Gegensatz  so  zu  überwinden,  daß 
die  in  der  gnosdschen  Metaphysik  gewonnenen  Spekula- 
tionsresultate hinter  den  heiligen  Worten  als  der  »eigent- 
liche Sinn«  gesucht  werden.  Eine  spezifisch  religiöse 
Gegenstands-  und  Wertgruppe,  die  nur  in  einer  beson- 
deren Wesensklasse  von  Akten  zugänglich  wäre  (den 
religiösen  Akten  wie  Glauben,  Anbeten,  Verehren,  Sichab- 
hängig- oder  Errettetwissen  usw.),  gibt  es  hiemach  nicht. 
Ebensowenig  gibt  es  ein  besonderes  Gut  und  Ziel  des 
Menschen  (Heil),  das  nur  durch  Religion  und  nicht  durch 
Metaphysik  zu  erreichen  wäre.  Femer  gibt  es  nach  gnosti- 
scher  Auffassung  keine  besondere  positive  Selbstmit- 
teilung Gottes  über  sich  selbst  an  besondere  Personen  als 
Stoffquelle  für  die  Religion,  d.  h.  keine  Offenbamng; 
wenigstens  keine  solche,  die  von  den  natürlichen  philoso- 
phischen Erkenntnisquellen  der  Vemunft  und  der  Welt-, 
Selbst-  und  Fremderfahmng  in  den  höchsten  Steigerungen 
ihrer  Tätigkeit  (z.  B.  als  philosophische,  künsderische  sog. 
Inspiration)  verschieden  wäre. 

Wir  finden  diese  Auffassung  geschichtlich  in  größter 
Verbreitung  im  Buddhismus,  im  Neuplatonismus,  bei  den 
gnosdschen  Sekten;  wir  finden  sie  wieder  in  einem  Teile 
der  excessiven  mittelalterlichen  deutschen  Mystik,  bei 
B.  Spinoza,  und  wir  finden  sie  vor  allem  als  ausdrückliche 


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Probleme  der  Religion.  ß  2  5 

oder  mehr  stillschweigende  Voraussetzung  bei  den  deut- 
schen Philosophen  der  sog.  »klassisdien«  Spekulation,  bei 
J.  G.  Fichte,  Hegel,  Schelling  —  auch  ganz  ausdrücklich 
bei  A.  Schopenhauer  und  E.  von  Hartmann.  Hegel  drückt 
diese  Auflassung  aus,  wenn  er  die  Philosophie  als  »abso- 
lutes Wissen  in  der  Form  des  Begriffs«,  Religion  als 
»absolutes  Wissen  in  der  Form  der  Vorstellung«  definiert. 
Schopenhauer  wird  nicht  müde,  zu  versichern,  die  Religion 
sei  »Metaphysik  fiirs  Volk«  und  alle  Kirchen,  Dogmen, 
Kulte  seien  Denkmäler  des  »metaphysischen  Bedürf- 
nisses« des  Menschen.  Eduard  von  Hartmann  und  sein 
Schüler  Drews  aber  haben  geradezu  eine  neue,  den  Er- 
gebnissen ihrer  Metaphysik  entsprechende  Dogmatik  ent- 
wickelt, welche  die  positive  chrisdiche  Dogmatik  zu  er- 
setzen berufen  sei.  Wenn  der  letztere  die  Behauptung 
schon  E.  von  Hartmanns,  nicht  Christus  Jesus,  sondern 
Paulus  sei  der  Stifter  der  christlichen  Kirche  gewesen 
durch  eine  Leugnung  der  Existenz  Jesu  und  femer  durch 
den  Versuch  des  Nachweises,  es-sei  der  Ideengehalt  der 
chrisdichen  Dogmatik  nur  ein  verwickeltes  Massenerzeug- 
nis aus  mannigfaltigen  Elementen  der  Religionsgeschichte 
zu  unterbauen  sucht,  so  hat  ihn  die  gnostische  Voraus- 
setzung, Religion  sei  jene  untergeordnete  Form  der  Be- 
friedigung metaphysischer  Bedürfnisse,  methodisch  dabei 
schon  geleitet.  Ganz  bestimmte,  ihm  wesensmäßig  zu- 
gehörige Auffessungen  der  Religion  und  alles  zur  Reli- 
gion Gehörige  sind  mit  dem  gnostischen  Standpunkt 
verknüpft,  a)  Die  Religion  hat  nicht  ihr  Urmaß  und  ihre 
vollkommenste  Urgestalt  im  Sein  und  Wesen  einer  hei- 
ligen Person,  deren  Aussagen  als  wahr  von  Gott  gelten, 
weil  sie  es  ist,  die  sie  aussagt,  sondern  in  einem  von 


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126  Probleme  der  Religion. 

allen  Personen  abgelösten  Ideensystem,  das  nach  außer- 
personalen puren  Sachnormen  zu  beurteilen  ist.  Der 
»Heilige«  bewirkt  daher  weder  ein  neues  Verhältnis  des 
Menschen  zu  Gott,  noch  ist  er  der  Mittler  einer  göttlichen 
Tat  und  Wirksamkeit,  durch  die  ein  solches  Verhältnis 
entstände.  Er  ist  nur  eine  Abart  des  Lehrers  resp. 
eines  Menschen,  der  als  Metaphysiker  tiefer  erkannt 
hat  und  das  Erkannte  aussagt,  b)  Dem  angemessen  ist 
die  soziologische  Form,  in  der  nur  Gott  gewußt  wird, 
nicht  die  Kirche,  sondern  eine  Art  Schule,  die  religiöse 
Form  der  Unterweisung  nicht  Vorstellung  heiliger  Glau- 
bensgüter zu  pflichtgemäßer  Annahme  im  Glauben,  son- 
dern Unterricht  in  einer  metaphysischen  Theorie,  c)  Der 
Glaubensakt  ist  ein  unvollständiger  Akt  des  Wissens  um 
etwas,  das  durch  ein  von  der  Metaphysik  aufzulösendes 
Bild  oder  Symbol  hindurch  dasjenige  erfaßt,  was  der 
Metaphysiker  in  adäquater  Form  in  Begriffen  niederlegt, 
d)  An  Stelle  der  Offenbarung  endlich  als  eines  mitgeteilten 
Wissens  tritt  ein  vom  Menschen  her  spontan  erworbenes 
Wissen,  e)  Da  femer  eine  Person  nach  Dasein  und 
Wesen  —  wir  werden  es  noch  genauer  zeigen  —  über- 
haupt nicht  spontan  und  ohne  ihre  freie  Einwilligung  er- 
kennbar ist,  muß  der  gnostische  Standpunkt  schon  seiner 
Methode  allein  nach,  die  personale  Seinsform  des  Gött- 
lichen leugnen.  Das  Göttliche  ist  ihm  eine  Substanz,  eine 
Sache,  eine  Ordnung,  ein  logisches  Subjekt  —  keinesfalls 
eine  konkrete  Person.  Wie  reich  dies  an  Folgen  ist,  wird 
sich  uns  noch  zeigen. 

Nur  kurz  sei  dazu  bemerkt:  Keine  der  möglichen  An- 
schauungen über  das  Verhältnis  von  Religion  und  Philo- 
sophie ist  so  irrig  und  unzureichend  wie  diese.  Keine  wider- 


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Probleme  der  Religion.  327 

Streitet  femer  so  direkt  und  unrettbar  allem,  was  wir  heute 
über  Wesen  und  Geschichte  der  Religion,  femer  über  die 
Psychologie  des  religiösen  Lebens  wissen.  Nichts  ist  viel- 
leicht heute,  —  wo  sonst  die  religiösen  Stellungnahmen 
so  tief  auseinandergehen,  wie  nur  je  —  einheidicher  und 
sicherer  angenonunen  von  allen,  die  sich  mit  Religion  ver- 
ständnisvoll beschäftigen,  als  dies :  daß  Religion  einen  von 
Philosophie  und  Metaphysik  grund-  und  wesensver- 
schiedenen Ursprung  im  Menschengeiste  hat,  daß  die 
Stifter  der  Religion  —  die  großen  homines  religiosi  — 
völlig  andere  menschliche  Geistestypen  gewesen,  denn 
Metaphysiker  und  Philosophen;  daß  femer  ihre  großen 
historischen  Umbildungen  niemals  und  nirgends  erfolgt 
sind  kraft  einer  neuen  Metaphysik,  sondern  auf  grund- 
verschiedene Weise.  Auch  wenn  es  also  eine  Metaphysik 
gibt  —  eine  vernunftgemäße  Erkenntnis  der  letzten  Seins- 
und Wesensgründe  der  Welt  —  so  muß  sowohl  der  An- 
trieb, der  zu  ihr  fuhrt,  femer  ihre  Methode  des  Vor- 
gehens, ihr  Ziel  und  ihr  Gegenstand  grund-  und  wesens- 
verschieden sein  von  dem  Antrieb,  der  Methode,  dem  Ziel 
und  Gegenstand  der  Religion.  Ich  persönlich  halte  als 
Philosoph  durchaus  eine  Metaphysik  für  möglich.  Aber 
jede  Lehre,  die  in  der  auch  vollendet  und  allgemeingültig 
gedachten  Metaphysik  irgendeinen  Ersatz  oder  gar  das 
höhere  Entwicklungsziel  der  Religion  sieht,  bleibt  darum 
nicht  minder  grundirrig. 

Der  Gott  der  Religion  und  der  Weltgrund  der  Meta- 
physik mögen  real  identisch  sein;  als  intentionale 
Gegenstände  sind  sie  wesensverschieden.  Der  Gott  des 
religiösen  Bewußtseins  »ist«  und  lebt  ausschließlich  im 
religiösen  Akt,  nicht  im  metaphysischen  Denken  über 


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2  2  8  Probleme  der  Religion. 

außerreligiöse  Bestände  und  Wirklichkeiten.  E>as  Ziel  der 
Religion  ist  nicht  rationale  Erkenntnis  des  Weltgrundes, 
sondern  das  Heil  des  Menschen  durch  Lebensgemein- 
schaft mit  Gott  —  Vergottung.  Das  religiöse  Subjekt  ist 
nicht  der  »einsame  Denker«,  sondern  gleich  ursprünglich 
wie  das  heilsbedürftige  und  heilssuchende  Individuum  ent- 
hält das  Subjekt  das  Miteinander  der  Gruppe,  in  letzter 
Linie  der  Menschheit.  Der  religiöse  Gott  ist  der 
Gott  der  heiligen  Personen  und  Volksgott, 
nicht  Wissensgott  der  »Gebildeten«.  Die  Quelle 
aller  religiösen  Wahrheit  ist  nicht  wissenschafdiche  Erör- 
terung, sondern  der  Glaube  an  Aussagen  des  homo 
religiosus,  des  »Heiligen«,  resp.  eines  Menschentypus, 
der  folgende  Kennzeichen  hat:  i.  Er  be$itzt  als  ganze 
ungeteilte  Person  eine  keinem  anderen  Typus  des 
menschlich  Bedeutungsvollen  —  z.  B.  keinem  Genius, 
keinem  Helden  —  eignende  charismatische  Qualität, 
vermöge  der  er  Glauben  findet  nur  weil  Er  es  ist,  — 
der  Träger  dieser  Qualität  —  der  redet,  handelt,  sich 
äußert.  2.  Er  erlebt  eine  besondere,  nur  ihm  eigene 
lebendige  und  reale  Beziehung  zum  Götdichen,  als  dem 
ewigen  Heilsgrund,  auf  die  er  seine  Aussagen  und 
Weisungen,  seine  Autorität,  seine  Taten  stützt.  Seine 
Aussagen  werden  ihm  vermöge  seiner  charismatischen 
Qualität  als  subjektiv  und  objektiv  wahr  von  seiner  Ge- 
folgschaft geglaubt.  Niemals  wird  wie  beim  Genius,  beim 
Helden  usw.  seine  Aussage,  ihre  Wahrheit  und  ihr  Recht 
ermessen  an  einer  außer  ihm  befindlichen  Sachnorm 
(moralische,  logische,  ethische  Normen)  und  nur  anerkannt 
um  dessentwillen,  weil  sein  Wort,  seine  Tat,  sein  Werk 
mit  diesen  Normen  übereinstimmt.  Umgekehrt  ist  er  als 


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Probleme  der  Religion.  329 

Person  die  Norm  seiner  Aussagen,  ausschließlich  ge- 
stützt auf  sein  Gottesverhältnis. 

Aber  nicht  minder  irrig  ist  die  zweite  Verhältnisbe- 
stimmung, zu  der  einige  Kirchenväter  neigen,  die  wir 
femer  neuerdings  viel  ausgesprochener  bei  den  sog.  Tra* 
ditionalisten  finden.  (De  Maistre,  Lamennais.)  Sie  will  die 
Philosophie  —  als  Metaphysik  wenigstens  —  in  Reli- 
gion als  Offenbarungslehre  verschwinden  lassen.  Der 
Traditionalist  benutzt  Begriffe  und  Gedanken  faktisch 
metaphysischer  Herkunft,  um  einen  Glaubensgehalt  wirk- 
lich religiösen  Ursprungs  zu  rationalisieren,  zu  systema- 
tisieren, zu  formulieren.  So  benutzten  die  großen  Väter 
und  Lehrer  der  christlichen  Kirche  die  beiden  größten 
philosophischen  Systeme  der  Griechen,  den  Piatonismus 
und  an  zweiter  Stelle  den  Aristotelismus,  um  die  christ- 
liche Glaubenswahrheit  rational  zu  durchdringen  und  zu 
erleuchten.  —  Für  eine  selbständige  Philosophie 
blieb  hier  kein  Raum.  Aber  auch  gewisse  Richtungen  der 
protestantischen  Theologie  kommen  diesem  Lösungs- 
typus nahe.  Schon  Luther  versuchte  die  Philosophie  ab- 
zuschütteln und  die  positive  Theologie  ihr  gegenüber 
ganz  selbständig  und'  unabhängig  zu  stellen.  In  neuester 
Zeit  hat  die  sehr  erfolgreiche  Theologie  Albrecht  Ritchls 
nur  eine  wesentlich  negative,  das  menschliche  Erkennen 
begrenzende  Erkenntnistheorie  als  philosophische  Grund- 
lage der  Theologie  gelten  lassen;  sie  hat  Metaphysik 
und  hat  Theologie  in  Anlehnung  bald  mehr  an  Kant, 
bald  mehr  an  einen  agnostischen  Positivismus  ganz  und 
gar  geleugnet  und  so  die  Metaphysik  in  die  Religion 
aufgehen  lassen. 

Auch  diese  Verhältnisbestimmung  ist  sicher  eine  grund- 


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I 


'J-r 


XXO  Probleme  der  Religion. 

irrige.  Wie  die  erste  der  Ursprünglichkeit  der  Religion, 
so  wird  diese  zweite  Form  der  Identitätslehren  der  Philo- 
sophie, besonders  der  philosophischen  Metaphysik, 
ihrem  selbständigen  Ursprung  im  Menschengeiste, 
ihrem  besonderen  Gegenstande  und  Ziel  nicht 
gerecht. 

Mit  einem  gewissen  Schein  von  Recht  freilich  kann  sich 
der  Vertreter  dieser  traditionalistischen  Ansicht  auf  die 
historische  Tatsache  berufen,  daß  die  metaphysischen 
Systeme  die  wir  vorfinden,  allesamt  gewisse  Struktur- 
ähnlichkeiten aufweisen  mit  den  positiv-religiösen  Welt- 
anschauungen, aus  deren  geistbindender  Gewalt  die 
Schöpfer  dieser  Systeme  geschichtlich  hervorgewachsen 
sind.  So  wird  man  z.  B.  in  der  griechischen  Philosophie 
—  die  doch  weit  schärfer  von  der  griechischen  Religion 
abgesondert  auftritt  als  z.  B.  die  indische  Philosophie  vom 
Brahmanismus  —  trotz  der  grundverschiedenen  Resultate 
und  Methode  ihrer  Einzelsysteme  gewisse  tiefgreifende 
Züge  der  griechischen  Religion  wiederfinden.  Die  Vielheit 
des  relativen  Nebeneinander  und  der  freischwebende  Cha- 
rakter der  »Ideen«  Piatons  —  erst  Augustin  faßte  die 
Ideen  bewußt  als  »Gedanken  Gottes«  auf  —  hat  mit 
dem  griechischen  Polytheismus  eine  gewisse  Gestalt- 
und  Strukturähnlichkeit.  Malebranche  meinte  von  den 
Entelechieen,  den  selbständigen  Formkräften  des  Aristo- 
teles, vielleicht  historisch  nicht  ganz  unrecht,  daß  sie  nur 
die  rationalisierten  »heidnischen«  griechischen  Natur- 
götter seien.  A.  Comtes  Auffassung  des  »metaphysischen 
Zeitalters«  ist  ihm  darin  gefolgt.  Wie  tief  in  der  Seelen- 
lehre fast  aller  griechischen  Philosophen  aus  Asien  stam- 
mende religiöse  Seelenvorstellungen  nachwirken,  ja  diese 


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Probleme  der  ReligioD.  3  3 1 

Lehre  geradezu  formen,  hat  E.  Rhode  in  seiner  »Psyche« 
eingehend  gezeigt.  Die  organologische  Weltansicht  Pia- 
tons und  Aristoteles',  die  auch  alle  Vorgänge  in  der  toten 
Natur,  aber  auch  die  Seele  und  das  Weltganze  mit  Kate- 
gorien begreifen  will,  die  ohne  Zweifel  zuerst  am  organi- 
sierten Lebewesen  gefunden  sind,  hat  mit  der  gleich- 
falls organologisch  begrenzten  Religion  der  Griechen 
solche  Ähnlichkeit.  Das  Fehlen  eines  Schöpfungsgedan- 
kens in  Philosophie  und  Religion  der  Griechen  ist  darum 
nicht  zufällig. 

Raumhafte  statische  (also  unzeithafte)  Auffassung  alles 
Daseins  und  eine  Auffassung  des  ganzen  Geisteslebens 
nach  Analogie  mit  dem  Gesichtssinn  {Ideiv  t&r  tdeayy)  und 
der  ihm  gemäßen  vorwiegenden  intellektual-kontempla- 
tiven  Welteinstellung,  finden  sich  hier  und  dort.  Wie  vieles 
Ahnliche  ließe  sich  hier  noch  aufzählen  —  weit  hinaus  über 
die  positiv  nachweisbaren  Einwirkungen,  die  z.  B.  auf  den 
Piatonismus  und  die  pythagoreische  Schule  die  griechi- 
schen und  asiatischen  Religionen  ausgeübt  haben. 

Wenn  man  femer  in  der  späteren  christlichen  Philoso- 
phie bis  zur  Spätscholastik  immer  mehr  geneigt  ist,  anzu- 
nehmen, man  vermöge  rein  vernunftgemäß  und  ohne  Re- 
kurs auf  die  Offenbarung  mit  denselben  Denkmitteln  der 
aristotelischen  Philosophie  Sätze  streng  zu  beweisen,  von 
deren  Annahme  Aristoteles  weit  entfernt  war,  z.  B.  die 
Weltschöpfung,  die  Personalität  Gottes,  die  individuelle 
Unsterblichkeit  usw.  —  Sätze,  die  sogar  in  nachweisbarem 
Wesenswiderspruch  zu  diesen  Denkmitteln  stehn  — ,  so 
kann  man  verstehen,  wenn  viele  Forscher  dafürhalten,  daß 
hier  Subreptionen  stattfinden  aus  der  Religion  in  die  Philo- 
sophie, daß  also  das  vorgegebene  rein  rationale  Denken, 


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^  ^  2  Probleme  der  Religion. 

das  solches  zu  beweisen  vermeint,  von  der  religiösen  Tra- 
dition heimlich  imd  unbewußt  schon  genährt  ist.  Und  ganz 
analog  kann  man  in  Kants  Lehre  —  trotz  ihrer  vielfachen 
Wesensgegensätzlichkeit  zum  Luthertum  wie  zum  Calvi- 
nismus  —  sehr  vielfache  Strukturähnlichkeiten  zu  diesen 
Formen  des  Altprotestantismus  finden. 

Wer  aus  Tatsachen  dieser  Art  —  denn  nur  als  Beispiele 
für  eine  fast  unermeßliche  Anzahl  solcher  soll  das  Gesagte 
figurieren  ^ — den  Schluß  zöge,  daß  die  Selbständigkeit  der 
Philosophie  —  soweit  sie  mehr  ist  als  Logik  und  Wissen- 
schaftslehre —  nur  eine  vermeindiche  Selbständigkeit  sei ; 
daß  die  Metaphysik  es  sei,  die  heimlich  von  der  Religion 
gelebt  habe  oder  doch  von  Subreptionen  religiöser  Glau- 
bensbestände in  rationale  Formen,  resp.  in  Formen,  denen 
ein  rationaler  Gedanken-Ursprung  nur  falschlich  ange- 
dichtet worden  sei,  hätte  —  rein  historisch  gesehn  —  ein 
nicht  eben  kleines  Beweismaterial  zur  Hand.  Der  glaubens- 
feindliche Positivismus  wie  der  glaubensfreundliche  Tradi- 
tionalismus —  die  ja  dieselbe  sensualistische  Erkenntnis- 
theorie zur  Basis  haben  —  haben  dieses  Material  auch 
genügend  herangezogen.  Für  Auguste  Comte  ist  z.  B.  die 
ganze  »metaphysische  Periode«  des  menschlichen  Denkens 
und  der  menschlichen  Einrichtungen  im  Grunde  nur  eine 
verwässerte  und  scheinrationale  religiöse  Periode, 
eine  Periode,  die  in  seiner  Gesamtwürdigung  ebensowohl 
gegen  die  religiös-personalistische  wie  gegen  die  im  Wer- 
den befindliche  positive  Periode  an  Bedeutung  und  Wert 
weit  zurücktritt. 

Die  traditionalistische  Auffassung  des  Verhältnisses  von 
Philosophie  und  Religion  ist  bei  ihren  ersten  Vertretern 
(Joseph  de  Maistre,  De  Bonald,  Lamennais)  als  bewußte 


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Probleme  der  Religion.  313 

einseitige  Reaktion  gegen  die  Auf  klärungsphilosophie  des 
18.  Jahrhunderts,  gegen  seine  revolutionäre,  alle  positive 
Religion  verleugnende  »natürliche«  Theologie  und  sein  re- 
volutionäres Naturrecht  entsprungen.  So  trägt  sie  alle  Züge 
einer  einseitigen  Reaktionsphilosophie.  Sie  ist  zugleich 
der  Romantizismus  auf  wesdichem  und  katholischem  Boden . 
Sie  neigt  dazu,  das  Denken  und  die  Vernunft  auf  die  Sprache, 
die  logischen  Kategorien  auf  die  grammatischen  Katego- 
rien zurückzuführen.  Die  Sprache  selbst  aber  leitet  sie  auf 
die  göttliche  Uroffenbarung  zurück.  Wie  der  Sensualismus 
die  sinnliche  Empfindung  und  Wahrnehmung  als  letzte 
Quelle  aller  Erkenntnis  ausgibt,  die  Erinnerungs-  und  Tra- 
ditionsinhalte aberaufdieEmpfindung zurückzuleiten  sucht, 
—  als  abgeblaßte  Residuen  der  Empfindungen  — •,  so  ver- 
suchten die  Traditionalisten  in  der  Erinnerung  und  zwar 
in  der  gemeinsamen  Erinnerung  der  Menschheit  die 
ursprünglichste,  letzte  Quelle  der  Erkenntnis  nachzuweisen. 
Die  Wahrnehmung  erfährt  durch  die  gegebene  Tradition 
eine  so  tiefgehende  Umbildung,  daß  sie  niemals  von  ihr 
völlig  »rein«  ist  und  nur  als  zufällige  Ausfüllung  der  tra- 
ditionellen Kategorien  des  Denkens,  nicht  als  neue  Stoff- 
quelle der  Erkenntnis  gelten  kann.  Diese  Erinnerung  und 
Tradition  selbst  aber  leitet  sich  nicht  aus  früherem  direkten 
Erlebniskontakt  des  menschlichen  Geistes  mit  der  Welt 
selber  her  —  wie  der  Sensualismus  annahm  —  sondern 
geht  auf  das  Wort  Gottes  in  der  Uroffenbarung  zurück. 
Von  großer  Bedeutung  war,  daß  der  Traditionalismus 
die  der  Religion  und  Philosophie  wesentliche  Gemein - 
Schaftsseite  gegen  den  religiösen  Individualismus  der 
protestantischen  Religionsformen  neu  und  stark  hervor- 
hob. Lamennais  steigerte  diesen  Gedanken  in  das  grund- 


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^1^.  Probleme  der  Religion. 

irrige  Extrem,  daß  er  den  sog.  Gottesbeweis  aus  dem  Con- 
sensus  gentium  zum  ersten  und  fundamentalsten  Gottes- 
beweis zu  machen  suchte  —  in  dem  Consensus  selber  aber 
ein  höchstes  Wahrheitskriterium  zu  finden  meinte.  Daß  er 
aber  eben  hierdurch  die  wahrhaft  universale  religiöse  Ge- 
^einschaftsidee  preisgab,  indem  er  sie  auf  Gruppen  ein- 
schränkte, die  gemeinsamer  Tradition  teilhaftig  sind,  und 
daß  er  ferner  in  Konflikt  geriet  mit  der  kreatianistischen 
Lehre  von  der  menschlichen  Seele  und  der  Lehre  vom 
absoluten  Wert  jeder  persönlichen  Menschenseele,  be- 
achtete er  nicht. 

In  neuester  Zeit  ist  der  Traditionalismus  unter  allerlei 
Modifikationen  wieder  erneuert  worden  von  Männern  wie 
Bruneti6re  und  Maurice  Barrys  in  Frankreich,  von  James 
Balfour  in  England.  Philosophisch  und  zumal  erkenntnis- 
theoretisch steht  ihm  nahe  auch  Henri  Bergson,  insofern 
er  die  Vernunft  auf  ein  ursprüngliches  Gedächtnis 
zurückfuhrt,  dessen  Inhalte  nicht  auf  Sinneswahmehmung 
zurückgehen  sollen.'*' 

Der  Traditionalismus  ist  ein  Gedankensystem,  das  die 
Selbständigkeit  einer  Religion  zu  einer  Art  Allein- 
herrschaft der  Religion  steigert,  die  weder  dem  Wesen 
der  Philosophie  noch  dem  Wesen  der  Religion  entspricht. 

Das  erste  was  er  verkennt,  ist  die  selbständige  Ver- 
wurzelung der  Metaphysik  im  menschlichen  Geiste:  der 
Metaphysik  als  Bedürfnis,  als  Problem,  als  Gegenstand 
und  als  Methode  der  Erkenntnis. 

Das  sog.  metaphysische  Bedürfnis  ist  von  den  seelischen 
Motoren,  die  zur  Religion  führen,  verschieden.  Die  Quelle, 
die  alle  Beschäftigung  mit  der  Metaphysik  speist,  ist  die 
Verwunderung,  daß  überhaupt  Etwas  ist  und 


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Probleme  der  Religion.  xx^ 

nicht  lieber  Nichts.  Es  ist  eine  ganz  bestimmte 
Emotion,  die  diese  eigenartige  Grenzfiage  aller  speku- 
lativen Fragen  im  Menschen  auslöst,  —  die  wir  die  meta- 
physische nennen  —  ja  in  gewissem  Sinne  dieser  Frage 
Wurzelist.  Diese  Verwunderung  verdichtet  sich  zur  Frage 
nach  der  Wesensbestimmung  dessen,  was  ist  —  unab- 
hängig von  aller  menschlichen  Organisation  und  mensch- 
lichen Deutung  —  und  was  es  sei,  das  innerhalb  dieses  an 
sich  bestehenden  Seienden  alles  andere  Seiende  trägt,  be- 
stimmt, bewirkt.  Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  an  sich 
bestehenden  Welt  und  des  sie  bedingenden  Urgrundes: 
das  ist  die  metaphysische  Frage  katexochen.  Im  Gegen- 
satze hierzu  ist  Religion  gegründet  in  Gottesliebe  und  in 
Verlangen  nach  einem  endgültigen  Heile  des  Menschen 
selbst  und  aller  Dinge.  Religion  ist  also  zuvörderst  ein 
Heils  weg.  DasSummum  bonum,  nicht  das  absolut  Wirk- 
liche und  sein  Wesen  ist  der  erste  Intentionsgegenstand 
des  religiösen  Aktes. 

Diese  Wesensverschiedenheit  der  dauernden  und  essen- 
tiellen subjektiven  Quelle  der  Metaphysik  und  der  Reli- 
gion schließt  nicht  aus  einen  im  Wesen  der  beiderseitigen 
Intentionsgegenstände  selber*  gelegenen  Zusammen- 
hang, —  einen  Zusammenhang  der  beiderseitigen  Inten- 
tionen im  menschlichen  Geiste  und  der  beiden  Intentions- 
gegenstände in  ein  und  derselben  —  möglichen  —  Rea- 
lität. Denn  das  ist  apriori  klar,  daß  die  Wesenseigenart 
des  absolut  Wirklichen,  d.  h.  des  Wirklichen,  das  allem 
Wirklichen  zugrunde  liegt  Heil  oder  Unheil  aller  Dinge 
—  mit  Einschluß  des  Menschen  —  entscheiden  muß, 
daß  es  für  dieses  Heil  oder  Unheil  sozusagen  eine  letzte 
Instanz  ist.  Und  auch  das  ist  apriori  klar,  daß  das  absolut 


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336  Probleme  der  Religioo. 

Heilige  und  Göttliche,  das  seinem  Wesen  nach  das  Ver- 
langen der  Dinge  befriedigen  kann,  realiter  dies  nur  ver- 
mag, wenn  es  außerdem  auch  noch  ist  das  absolut  Wirk- 
liche, von  dem  alles  andere  abhängt.  Aber  dieser  innere 
Sachzusammenhang  des  Intentionsgegenstandes  der 
Metaphysik  und  der  Religion  schließt  die  grundverschie- 
dene Wesensintention  und  die  auf  dieser  Verschieden- 
heit beruhende  Verschiedenheit  der  Entwicklungsgesetze 
und  Entwicklungsverläufe  von  Religion  und  Metaphysik 
nicht  aus.  Die  Heilsfrage  bleibt  sekundär  fiir  den  Metaphy- 
siker;  die  Erkenntnis  des  absolut  Wirklichen  sekundär 
für  den  Religiösen.  Das  Heil  und  die  Liebe  zum  Heil  aller 
Dinge  bleiben  selbständige  Urkategorien  der  Religion; 
das  Seiende,  wie  es  an  sich  ist,  bleibt  die  selbständige  Ur- 
kategorie  der  Metaphysik.  Niemals  läßt  sich  die  Idee  des 
Heilstiftenden  als  des  absolut  Heiligen-Götdichen,  die  als 
letztes  Ziel  vor  allem  religiösen  Suchen  steht  —  ja  ihm 
die  Einheit  des  religiösen  Suchens  erst  erteilt  —  ana- 
lytisch herleiten  aus  der  Idee  des  absolut  Realen.  Niemals 
auch  umgekehrt  die  letztere  Idee  aus  der  ersteren.  Nur 
das  steht  fest,  daß  Metaphysik  und  Religion  zu  einem 
identisch  Realen  fiihrert  müssen  —  sollen  sie  ihr  Ziel  er- 
reichen — ,  zu  einem  Realen,  das  beiden  *wesens verschie- 
denen Intentionsgegenständen  letzte  reale  Bedeutung  gibt. 
Insofern  gibt  es  allerdings  ein  identisches  Teilelement 
auch  in  den  intentionalen  Gegenständen  von  Religion  und 
Metaphysik,  auf  dem  ihr  notwendiger  Zusammenhang  auch 
im  menschlichen  Geiste  in  letzter  Linie  beruht.  Dieses 
Teilelement  ist  der  Gegenstand  des  Begriffes :  Ens  a  se  — 
wenn  in  ihm  >Ens<  so  gefaßt  ist,  daß  es  sowohl  gegen  den 
Begriff  des  absolut  Realen  als  gegen  den  des  absolut  hei- 

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Probleme  der  Reli^^on.  XX7 

ligen  Gutes  noch  indifferent  ist.  Aber  es  wäre  irrig  zu 
sagen,  die  Religion  übernehme  den  Gedanken  des  Ens  a 
se  aus  der  Metaphysik,  wie  es  auch  falsch  wäre,  ein  ent- 

"  gegengesetztes  Übernehmen  zu  setzen.  Das  >Ens  a  se«  ist 
also  immer  auch  das  letzte  logische  Subjekt  aller  meta- 
physischen und  religiösen  Prädizierungen.  Die  Art  aber, 
wie  es  intentional  gefaßt  wird,  und  der  Wesensaspekt,  in 
denen  es  sich  dem  metaphysischen  und  religiösen  Wissen 
darstellt,  die  Art  auch,  wie  es  in  Beziehung  und  Zusam- 
menhang gebracht  wird  mit  allem  Ens  ab  alio,  bleibt  in 
Metaphysik  und  Religion  verschieden.  Der  Weg  der  Re- 
ligion geht  immer  aus  von  dem  Gehalt  eines  absoluten 
Heiligen  und  Heilskräftigen,  von  dem  sekundär  gezeigt 
wird,  es  sei  dieses  Ens  a  se  auch  der  absolute  Wirklich- 
keitsgrund der  Dinge.  Der  Weg  der  Metaphysik*  geht 
immer  aus  von  einer  Wesensbestimmung  des  absolut 
Wirklichen,  von  dem  sekundär  gezeigt  wird,  die  personale 
Einigkeit  mit  ihm  führe  auch  den  Menschen  (oder  die 
Konformität  der  Ding^  mit  ihm  führe  auch  die  Dinge)  zu 
ihrem  Heile. 

Die  Frage  also,  wie  weit  der  metaphysische  Weg  zum 
Weltgrund  auch  dasjenige  mit  begründe,  was  in  der  Gottes- 
idee des  religiösen  Erlebnisses  enthalten  sei,  setzt  offen- 
bar die  Erkenntnis  des  Wesensgehalts  des  religiösen  Er- 
lebnisses voraus.  Stets  bedarf  dieser  Gehalt  einer  beson- 

^  deren  Untersuchung.  Der  Glaube  an  den  Gott  (der  Religion) 
lebt  —  auch  als  natürlicher  Religionsglaube  —  nicht 
von  Gnaden  der  Metaphysik,  —  sowenig  wie  die  Erkennt- 
nis des  Weltgrundes  von  Gnaden  des  religiösen  Glaubens. 
Beide  Entia  inten tionalia  können  daher  —  de  facto  — 
auch  weitgehend  auseinandergehen,  trotz  ihrer  apriori 

22 


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%xS  Probleme  der  ReligioiL 

gewissen  notwendigen  realen  Identität.  Denn  diese  reale 
Identität  oder  die  Einsicht  in  sie  ist  nicht  beruhend  auf 
einer  vorgefundenen  Inhaltsidentität  der  beiden  Entia  — 
sondern  es  ist  ein  apriorischer  Satz,  daß  sie  bestehe.  Die 
Grundlage  dieses  Satzes  ist  die  Einheit  des  Menschen- 
geistes und  die  notwendige  Widerspruchslosigkeit  aller 
seiner  Setzungen.  Eben  darum  können  (subjektive)  Ver- 
nunft und  religiöse  Akte  (als  Auf&ssungsformen  aller 
Offenbarung,  der  natürlichen  und  der  übernatürlichen) 
sehr  wohl  auf  verschiedene  Inhaltsmomente  des  Ens  a 
se  fuhren  —  ohne  daß  hierdurch  die  Realidentität  des 
Weltgrundes  der  Metaphysik  und  des  Gottes  der  Reli- 
gion in  Zweifel  gesetzt  wäre. 

Eine  ganze  Fülle  von  Gefahren  für  die  rechte  Religions- 
begründung werden  erst  durch  diese  unsere  Auffassung 
vermieden. 

1 .  Die  Gefahr  des  exzessiven  Rationalismus,  der  auch 
Offenbarungsinhalte  (z.  B.  Gottes  Liebe  und  Erbarmen, 
Langmut  und  Güte  im  moralischen  Sinne,  nicht  im  Sinne 
bloßer  Seins -Vollkommenheit)  schon  aus  dem  Ens  a  se 
—  ohne  neue  Stoffquellen  des  religiösen  Anschauens 
und  Wertnehmens  —  ableiten  möchte:  und  der  Offen- 
barung schließlich  überflüssig  machte,  so  er  konsequent 
aufträte. 

2.  Die  andere  Gefahr,  —  falls  dieser  Fehler  vermieden 
wird  und  der  rationalen  Abteilung  zufällige  Schranken  z.  B, 
da  auferlegt  werden,  wo  es  die  Autorität  der  Kirche  ge- 
bietet— :  daß  der  logischen  Entwicklung  willkürlich  und 
ohne  objektiven  Grund  in  der  Sache  zugleich  Halt  geboten 
werde.  Dies  ist  das  Verfahren  vieler  Neuscholastiker,  die 
als  gläubige  Glieder  der  Kirche  ihrer  rational  konstruk- 


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Probleme  der  Religion.  ^39 

tiven  Methode  zwar  Schranken  setzen,  wo  der  offensicht- 
liche Oflfenbarungsinhalt  beginnt,  aber  vermöge  ihrer 
Methode  selbst  gar  nicht  begründen  können,  warum  sie 
es  grade  jetzt  tun  und  nicht  erst  vorher  oder  später. 

3.  Die  Gefahr  des  Übersdiens  der  notwendigen  In- 
haltsdifferenzen des  religiösen  und  metaphysischen  Gottes 
und  seiner  Attribute.  Z.  B. :  der  Intentions-Gott  der  Reli- 
gion kennt  Zorn,  Rache,  Liebe  und  zwar  in  abwechselnden 
Zuständen.  Der  metaphysische  Gott  ist  ein  absolut  unver- 
änderliches Ens  und  —  ohne  diese  möglichen  Prädikate. 
Der  religiöse  »Gott«  wendet  seinen  Blick  mir  oder  ganzen 
Völkern  zu  (im  Gebete  intensiver  als  sonst);  er  ist  bald 
freundlich  zu  mir,  bald  mir  zürnend  über  meine  Sünde. 
Der  metaphysische  Gott  kann  all  dies  nicht  sein.  Der  Gott 
der  Religion  schlägt  die  Sünder  mit  neuer  Sünde,  ver- 
teilt seine  Gnaden  und  Ungnaden  nach  freiem,  unerforsch- 
.lichem  Ermessen  —  der  metaphysiche  Gott  ist  ein  starres 
Ens,  in  dem  alles  ewig  (überzeitlich)  und  notwendig  ist. 
Der  religiöse  Gott  ist  »lebendiger  Gott«  —  womit  alles 
Wesendiche  gesagt  ist. 

Die  apriorische  Einsicht  in  die  Realidentität  des 
Gottes  der  Metaphysik  und  der  Religion  fordert  einen 
wahren  und  wirklichen  Ausgleich  dieser  scheinbaren 
Widersprüche.  Und  d.  h.  etwas  völlig  anderes,  als  die 
Widersprüche  »übersehen«.  Ausgleich  ist  femer  etwas 
völlig  anderes  als  ein  Versehen  fortwährender  Subreption, 
vermöge  der  man  entweder  Inhalte  und  Merkmale  des 
(intentionalen)  Gebets-  und  Glaubensgottes  in  die  meta- 
physische Idee  von  außen  hereinträgt,  aber  sich  einbildet, 
sie  (analytisch)  gefunden  zu  haben;  oder  umgekehrt  in 
den  Gott  der  religiösen  Intention  metaphysische  Attribute 

22* 

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%AO  Probleme  der  Religion. 

einmischt,  die  er  nicht  besitzt.  Diese  Widersprüche  kön- 
nen gelöst  werden.  Sie  werden  es  prinzipiell  dadurch,  daß 
man  das  scheinbare  Wechselnde,  Veränderliche,  was  zum 
(intentionalen)  Gebetsgott  wesentlich  gehört,  femer 
seine  scheinbare  »anthropopathischen«  Bestimmungen 
(Zorn  usw.)  je  auf  den  Wechsel  und  die  Veränderung  bloß 
verschiedener  Gesichtspunkte  des  endlichen  Wesens  auf 
Gott  nachträglich  zurückführt,  oder  was  das  scheinbar 
Anthropopathische  betrifft,  auf  Analogien,  die  zwar  ein 
Wesentliches  in  Gott  treffen,  was  der  rationale  Gottes- 
gedanke nicht  geben  kann,  die  aber  nur  als  Analogien, 
nicht  als  adäquate  Bestimmungen  Gottes  angesehen  wer- 
den dürfen. 

4.  Femer  wird  durch  die  Anerkennung  dieser  »schein- 
baren Widersprüche«  vermieden,  daß  der  »notwendige« 
Schein  sowohl  der  »Leere  und  Starrheit  des  metaphysi- 
schen Gottes«,  als  der  »notwendige  Schein«  der  Anthro- 
popathie  des  religiösen  Gottes  voll  begriffen  wird.  Denn 
auch  der  metaphysische  Gott  —  nicht  nur  der  religiöse 
—  wird  als  Intentionsgegenstand  ein  notwendig  unvoll- 
ständiger. Gott  ist  ja  nicht  sempitem  (immerseiend),  son- 
dern aetem  (überzeitlich).  Gerade  die  Aeteraitas  Gottes 
erlaubt  nicht  nur,  sondem  fordert  sogar,  daß  einem  end- 
lichen Wesen,  dessen  Lebensinhalt  in  der  Zeit  abrollt, 
das  ewige  überzeitliche  Sein  in  seiner  Lebensgemeinschaft 
mit  ihm  nicht  als  sempitem,  d.  h.  alle  Zeit  erfüllend,  son- 
dern als  veränderlich  erscheine;  obzwar  Gott  nicht  ver- 
änderlich ist,  und  obzwar  die  Aetemitas  auch  das  Sein 
und  Wesensidentischsein  des  Ewigen  in  jedem  Teile  der 
Zeit  in  sich  enthält.  Aber  diese  Sempitemitas  erschöpft 
die  Ewigkeit  nicht.  Das  Ewige  enthält  in  sich  auch  die 


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Probleme  der  Religion.  141 

Inhalte  aller  möglichen  Veränderung  —  nur  ohne  die 
Form  der  Veränderung.  Wenn  die  Metaphysik  die  zeit- 
hafte Seins -Form  des  Ewigen,  d.  h.  die  Sempitemitas 
vertritt,  so  vertritt  die  Religion  die  Fülle  des  Ewigen 
als  eines  über  Veränderung  und  stetiger  Dauer  Erhabe- 
nen. Erst  Metaphysik  und  Religion  zusammen  ergeben 
ein  inadaequates  Bild,  einen  inadaequaten  Eindruck  vom 
Ewigen. 

5.  Wir  müssen  also  einsehen,  daß  der  adäquateste 
Gottesbesitz,  die  maximalste  Teilnahme  unseres  Seins  an 
seinem  Sein,  erst  durch  die  widerstreidose  und  wider- 
spruchslose Zusammenschau  des  religiösen  Gottes  und 
des  metaphysischen  »Weltgrundes«  erzielt  werden  kann. 
Sie  kann  also  weder  erzielt  werden  dadurch,  daß  der 
metaphysische  »Gott«,  noch  dadurch,  daß  der  religiöse 
Gott  zum  Maße  des  je  anderen  Intentionsgegenstandes, 
sei  es  ganz  oder  zum  Teile,  gemacht  wird.  Daserstere  zu  tun, 
ist  der  Grundirrtum  jeder  Denkrichtung,  die  behauptet, 
die  natürliche  Theologie  (nicht  die  natürliche  Religion)  sei 
Sach-VoraussetzungfürdieErfahrungstheologiederOffen- 
barung.  Denn  auch  die  natürliche  Religion  ist  Religion 
(nicht  bloß  unvollkommenes,  unmethodisches  Schließen). 
Sie  lebt  in  religiösen  Akten*  Die  natürliche  Offenbarung 
Gottes  in  seinem  Werk,  wie  es  der  Apostel  im  Auge  hat, 
beruht  auf  einem  symbolischen  Ausdrucksverhält- 
nis Gottes  in  der  Natur  und  Seele,  im  »Spiegeln«  seiner 
in  der  Natur,  in  einem  Hinweisen,  Hindeuten  der  Dinge 
selbst  und  ihres  (objektiven)  Sinnes  auf  Gott  als  dem 
Grundsinn  der  Welt,  —  lauter  Dinge,  die  nur  der  reli- 
giöse Akt  in  der  (frommen)  Naturbetrachtung  und  Seelen- 
betrachtung erfaßt  und  erfassen  kann  —  nicht  aber  die 

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^42  Probleme  der  Religion. 

nach  dem  Kausalprinzip  schließende  Vernunft  in  Natur- 
wissenschaft und  Psychologie. 

Das  Zweite  zu  tun,  ist  der  Grundirrtum  des  (vorzüglich 
bei  den  Protestanten)  zu  findenden  Fideismus  und  Tradi- 
tionalismus, einer  Richtung,  die  Metaphysik  und  natürliche 
Theologie  überhaupt  leugnet  und  die  notwendig  die  Gottes- 
idee partikularisieren  muß  und  schließlich  auch  den  Univer- 
saltsmus  der  Religion  untergräbt.  Hier  gilt  vielmehr: 

Der  wahre  Gott  ist  nicht  so  leer  und  starr  wie  der  Gott 
der  Metaphysik. 

Der  wahre  Gott  ist  nicht  so  eng  und  lebendig  wie  der 
Gott  des  bloßen  Glaubens. 

6.  Die  Einfachheit  und  Unteilbarkeit  Gottes  fordert, 
daß  wir  es  streng  vermeiden,  die  verschiedenen  Wege 
zum  Ens  a  se,  die  als  »verschiedene«  einem  endlich  teil- 
baren Geistwesen  konstitutiv  sind,  in  das  Wesen  Gottes 
selbst  hineinzulegen.  Wird  aber  der  Gott  der  Metaphysik 
und  der  Religion  oder  wird  je  eines  dieser  Entia  intentionalia 
der  Vernunft  und  des  Glaubens  uns  irgendwie  zum  Maße 
des  anderen,  so  wird  dieser  Fehler  des  Hineintragens 
geradezu  notwendig. 

C.  Dualistische  Typen  von  Glauben  und  Wissen. 

Die  bisher  betrachteten  drei  Verhältnisbestimmungen 
von  Religion  und  Metaphysik  setzen  die  Existenz  und  die 
Möglichkeit  einer  Metaphysik  voraus.  Ganz  neue  Versuche, 
dies  Verhältnis  zu  bestimmen,  mußten  einsetzen,  wenn  — 
wie  es  durch  weit  verbreitete  Denkrichtungen  geschah  — 
die  Möglichkeit  und  das  Recht  einer  Metaphysik  bestrit- 
ten wurde.  Für  alle  jene,  die  Religion  ganz  oder  partiell 
mit  der  Metaphysik  identifiziert  hatten,  mußte  dann  die 

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Probleme  der  Religion.  x^X 

Religion  ohne  weiteres  in  ihrer  Grundlage  mit  zerstört 
werden.  Da  indes  die  Religion  im  Sein  und .  Leben 
der  Völker  viel  tiefer  wurzelte  wie  die  Metaphysik, 
so  war  es  eben  diese  Preisgabe  einer  Metaphysik  in  den 
mannigfachen  Formen  des  metaphysischen  Agnostizismus, 
die  den  Antrieb  bildete,  die  Religion  ganz  und  gar  von  der 
Metaphysik  zu  scheiden  und  zu  versuchen,  ihr  eine  neue 
und  andersartige  Basis  zu  verleihen.  Diese  Basis  mußte 
auf  alle  Fälle  atheoretisch  sein  in  dem  Sinne,  daß  man  in 
der  Seinserkenntnis  überhaupt  kein  Fundament  der  Re- 
ligion mehr  suchte,  sonclem  in  irgendeiner  Gesetzlichkeit 
atheoretischer  Akte,  sei  es  (wie  bei  Kant)  solcher  aus  der 
Ordnung  der  Moral  imd  des  praktischen  Lebens,  sei  es 
besonderer  und  spezifischer  religiöser  Akte.  (Zuerst 
Schleiermacher.)  Die  beiden  Systeme  einer  exklusiven 
Moraltheologie  und  des  sog.  Fideismus  gingen  hieraus 
hervor. 

Die  metaphysisch  agnostischen  Richtungen  der  Philo- 
sophie kommen  indes  aus  ganz  verschiedenen  Gründen  zu 
einer  Verwerfung  der  theoretischen  Metaphysik.  Hier  sei 
nur  auf  eine  Verschiedenheit  hingedeutet,  die  häufig  über- 
sehen worden  ist  und  die  doch  für  das  Verhältnis  der 
agnostischen  Philosophien  zur  Religion  von  großer  Bedeu- 
tung ist.  Der  positivistisch-sensualistische  Agnostizismus 
kehrt  seine  Spitze  nicht  nur  gegen  alle  möglichen  Antwor- 
ten und  Lösungen  metaphysischer  Fragen  und  Probleme, 
sondern  gegen  Sinn  und  Rechtsgültigkeit  dieser  Fragen 
selbst.  Das  ist  sein  prinzipieller  Unterschied  von  den  Kanti- 
schen agnostischen  Schulen,  die  Sinn  und  Rechtsgültig- 
keit metaphysischer  Fragen  und  Probleme  bestehen 
lassen  und  die  nur  leugnen,  daß  mit  den  Operationen 

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344  Probleme  der  Religion. 

des  menschlichen  Verstandes  eine  Lösung  dieser 
Fragen  auf  dieoretischem  Wege  je  möglich  sei.  So  sind 
für  Kant  die  »Vemunftideen«  von  Seele,  Welt  und  Gott 
als  Ideen  der  Totalität  der  Bedingungen  je  alles  Seelischen, 
Physischen  und  Seienden  überhaupt  so  wenig  auf  Sensa- 
tionen zurückflihrbar  wie  die  kategorialen  Formen  des 
Verstandes  und  die  Formen  der  reinen  Anschauung.  Sie 
sind  »Ideen«,  die  die  Vernunft  notwendig  und  spontan 
als  ihre  ewigen  Probleme  hervorbringt,  deren  Gegenstand 
aber  ebenso  notwendig  unerkennbar  ist,  so  daß  ihnen  für  die 
Theorie  keine  konstitutive,  sondern  nur  die  regulative  Be- 
deutung zukommt,  den  Verstandesgebrauch  in  der  Auf- 
suchung von  Gesetzesbeziehungen  nach  Möglichkeit  zu  ver- 
einheitlichen. Für  den  praktischen  Vemunftgebrauch  aber 
grenzen  dieselben  »Ideen«  gleichsam  einen  bestimmt  um- 
schriebenen, nur  theoretisch  erkenntnisleeren  Bereich  mög- 
licher Gegenstände  ab,  der  durch  die  vernunftnotwendigen 
»Postulate«  der  natürlichen  Moraltheologie  hinterher  aus- 
gefüllt wird. 

Im  Gegensatz  hierzu  verfährt  der  Positivismus  nach 
der  seiner  sensualistischen  Erkenntnislehre  genau  ent- 
sprechenden Maxime  E.  Machs,  daß  Fragen  entweder  ge- 
löst werden  können  oder  daß  ihre  Sinnlosigkeit  müßte 
aufgewiesen  werden  können.  Stellen  wir  eine  Frage,  für 
deren  Entscheidung  keine  mögliche  Kombination  von  sinn- 
lichem Beobachtungsmaterial  kann  angegeben  werden,  so 
ist  die  Frage  selbst  eine  sinnlose  resp.  die  in  ihr  enthalte- 
nen Begriffe  rechtswidrig  gebildet  oder  doch  ihre  Verknüp- 
fung im  Frageverhalt  eine  sinnwidrige.  So  behauptet  der 
sensualistische  Positivismus  weit  mehr  wie  die  theoretische 
Unbeantwortbarkeit  metaphysischer  Fragen;  er  behauptet 


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Probleme  der  Religion.  345 

ihre  Sinnwidrigkeit.  Dies  ist  für  die  geschichdiche 
Auffassung  der  Metaphysik  und  Religion  von  erheblicher 
Tragweite.  Der  Positivismus  kommt  hierdurch  zur  Grund- 
ansicht, daß  die  religiöse  wie  die  metaphysische  Daseins- 
problematik für  den  Menschen  überhaupt  keine  in  seinem 
geistigen  Wesen  gelegene  sei  (also  auch  keine  historisch 
dauernde),  sondern  daß  sie  nur  eine  >  historische  Kate- 
gorie« sei  fiir  einen  bestimtnten  Stand  von  Geschichte 
und  Gesellschaft  des  Menschen,  also  auch  in  Zukunft  ein- 
mal vollkommen  preisgegeben  werden  müsse  und  werde. 
Der  Mensch  wird  in  steigender  Anpassung  an  das  Uni- 
versum die  metaphysischen  und  religiösen  Fragen  über- 
haupt nicht  mehr  stellen,  da  er  ihre  Sinnwidrigkeit  wird 
begriffen  haben.  Dahingegen  bleiben  für  den  Agnostizis- 
mus Kants  und  seiner  Schulen  die  metaphysischen  und 
religiösen  Fragen  dauernd  sinnvolle  und  rechtsgültige, 
nur  ebenso  dauernd  theoretisch  unlösbare. 

Es  ist  nun  auch  klar,  warum  nur  der  theoretische  Agnosti- 
zismus des  zweiten  Typus  ein  Wesensverhältnis  von  Phi- 
losophie und  Religion  annehmen  kann.  Der  positivistische 
Agnostizismus  kann  gegenüber  der  Religion  und  Meta- 
physik nur  eine  theoretische  Aufgabe  anerkennen:  die 
Aufgabe  ihrer  Deskription  als  seelischer  Erscheinungen 
des  Menschenlebens  und  die  psychologische,  historischeund 
soziologische  Erklärung  dieser  Erscheinungen.  Im  höchsten 
Falle  kann  er  für  gewisse  Zeitalter  ihre  biologische  und 
soziologische  Nützlichkeit  dartun. 

Sehr  mannigfach  und  in  ihren  einzelnen  Ausgestaltun- 
gen hier  nicht  zu  verfolgen  sind  die  Formen  der  Religions- 
begründung, die  aus  dem  anderen  Typus  des  metaphysi- 
schen Agnostizismus  dann  hervorgingen.  Ihm  bleibt  ja  fiir 


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i 


%^ß  Probleme  der  Religion. 

eine  religiöse  Erkenntnistheorie  und  Wertungs- 
lehre auf  alle  Fälle  freier  Raum.  Sie  hätte  die  dauernden 
Wurzeln  der  Religion  im  menschlichen  Geiste  auf  alle 
Fälle  bloßzulegen  und  das  Fundierungsverhältnis  der 
Aktgefuge,  in  denen  sich  die  religiösen  Gegenstände  dar- 
stellen und  realisieren,  zu  bestimmen.  Was  über  diese 
Transzendentalphilosophie  und  -psychologie  der  Religion* 
aber  hinausgeht,  das  fiele  dann  sofort  der  Geschichtsphilo- 
sophie als  der  Darstellung  der  Stufen  und  des  Weges  an- 
heim,  in  denen  sich  diese  transzendentale  Uranlage  des 
vernünftigen  Geistes  in  der  Geschichte  realisierte. 

Diese  letztere  Verhältnisbestimmung  von  Philosophie 
und  Religion  stellt  ein  Schema  dar,  in  das  eine  erhebliche 
Anzahl  von  Religionsbegründungsversuchen  hineingehö- 
ren, die  wir  zum  Teil  modernen  Philosophen,  teils  pro- 
testantischen Theologen  verdanken.  Es  seien  hier  genannt 
die  Versuche  von  Ritschi  und  seinen  Schülern  Kaftan  und 
Herrmann,  die  am  resolutesten  die  Metaphysik  ausschalten 
(der  erstere  unter  den  letztgenannten  auf  mehr  positi- 
vistischer, der  letztere  auf  neukantischer  Basis);  ferner 
Ernst  Troeltsch,  der  trotz  allerhand  Einräumungen,  die  er 
einer  an  Hegel  und  Eucken  orientierten  Metaphysik  macht, 
doch  gleichfalls  in  einer  transzendentalphilosophischen  Er- 
neuerung der  Vemunftwurzeln  der  Religion  aus  der  Idee 
ihrer  Möglichkeit  heraus  die  Fundamentallehre  der  Reli- 
gionsbegründung erblickt;  femer  Wobbermin,  der  in  einer 
»Transzendentalpsychologie«  der  Religion  die  Aktformen 
aus  dem  empirisch  religiösen  Lebensmaterial  herausheben 

'  Weder  der  positivistische  noch  der  kantische  metaphysische  Agnostizis- 
mus ist  haltbar.  Vielmehr  gibt  es  eine  klar  umschriebene  (ewige)  Aufgabe 
der  Metaphysik  und  einen  sicheren  erkenntnistheoretischen  Aufweis  ihrer 
Möglichkeit  mit  rein  theoretischen  Mitteln  des  Geistes. 

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Probleme  der  Religion.  14.7 

möchte,  in  denen  sich  der  religiöse  Gegenstand  darsteUt; 
endlich  auch  Rudolf  Otto,  der  trotz  andersartiger  phäno- 
menologischer Ansätze  zur  Wesensbestimmung  des  Hei- 
ligen am  Schlüsse  seines  tiefen  und  schönen  Buches  »Das 
Heilige«,  Breslau  191 7,  doch  wieder  zurückfällt  in  eine 
an  Kant  und  Fries  orientierte  Auffassung  dieses  Heiligen 
als  einer  subjektiven  Vemunftkategorie,  die  dem  gege- 
benen Sinnesmaterial  »aufgeprägt«  (also  nicht  als  Gegen- 
standsbestimmtheit vorgefunden)  werde.  — 

Auch  diese  dualistischen  Verhältnisbestimmungen  von 
Philosophie  und  Religion  halten  wir  für  widerstreitend 
dem  Wesen  von  Religion  und  Philosophie. 

Eine  ganze  Reihe  fundamentaler  Sätze,  die  auch  die 
Religion  aus  der  Sinnlogik  der  religiösen  Akte  selbst 
heraus  als  wahr  setzt,  können  mit  Hilfe  der  Metaphysik 
außerdem  philosophisch  erwiesen  werden.  Ich  rechne 
dazu  (nur  beispielsweise)  die  Existenz  eines  Seienden,  das 
nur  aus  seinem  Wesen  selbst  heraus  Dasein  hat;  die 
Existenz  dieses  Ens  a  se  als  prima  causa  alles  kontingent 
Daseienden  (als  Ausschnittes  des  aus  dem  Inbegriff  des  in 
der  Eidologie  entwickelten  Wesensmöglichen);  die  Geistig- 
keit und  Vemünftigkeit  dieses  Ens  a  se  und  seine  Natur 
als  Summum  bonum  und  Endziel  aller  Regsamkeiten  der 
Welt;  seine  Unendlichkeit.  Keinesfalls  aber  rechne  ich  dazu 
seine  faktische  Personalität.  Zum  philosophisch  Er- 
kennbaren gehört  femer  die  spezifische  Geistigkeit  und 
Vemünftigkeit  der  Menschenseele,  ihre  Wesenszugehörig- 
keit zu  einem  Leibe  und  gleichwohl  ihre  reale  Trennbar- 
keit von  seinem  Dasein;  die  Wesens i de en  von  höheren 
und  reineren  Geistem  als  sie  die  geistigen  Menschen- 
seelen darstellen;  die  personale  Fortdauer  der  Menschen- 


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348  Probleme  der  Religion. 

Seele  hinaus  über  den  Tod  (nicht  aber  ihre  Unsterblich- 
keit überhaupt);  femer  die  Existenz  einer  Freiheit  des 
Geistes  und  speziell  des  Wollens,  die  über  alle  Arten  von 
Gesetzlichkeiten  des  untergeistigen  Seins  und  Geschehens 
im  Menschen  selbst  und  aller  übrigen  Natur  spezifisch 
hinausreicht. 

Was  ich  aber  gleichwohl  aufs  bestimmteste  leugne  (im 
wohlbewußten  Gegensatze  zu  dem  partiellen  Identitäts- 
system von  Religion  und  Metaphysik),  ist  die  Behauptung, 
es  gründe  die  Religion  ihre  eigenen  Fundamentalartikel 
(also  auch  die  natürlichen)  irgendwie  auf  diese  metaphy- 
sischen Sätze  in  dem  Sinne,  daß  diese  Artikel  evidenzlos, 
oder  ungegründet  und  falsch  würden,  wenn  nicht  auf  die 
Metaphysik  Berufung  ergriffen  würde. 

Soweit  einige  der  hier  »dualistisch«  genannten  Theorien 
nichts  anderes  behaupten,  als  die  Selbständigkeit  der 
Religion  (auch  gegenüber  der  Metaphysik),  zollen  wir 
ihnen  vielmehr  Beifall.  Nur  die  Art  und  Weise,  in  der  sie 
diese  Selbständigkeit  begründen,  weisen  wir  zurück.  Da- 
von ist  später  noch  die  Rede. 

Die  These  von  der  Selbständigkeit  und  Insichgegrün- 
detheit  der  Religion  (auch  der  natürlichen  Religion) 
schließt  eine  Verhältnisbestimmung  ihres  Wesens  zur 
Metaphysik  nicht  aus,  die  ich  das  Konformitätssystem 
von  Religion  und  Metaphysik  nenne  und  die  ich  so- 
wohl den  totalen  und  partiellen  als  den  dualistischen 
Systemen  entgegensetze,  die  oben  genannt  wurden. 

D.  Das  Konformitätssystem. 

Das  erste,  was  das  Konformitätssystem  leistet,  ist 
darin  beschlossen,  daß  es  —  ohne  wie  die  dualistischen 


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Probleme  der  Religion.  349 

Systeme  Glauben  und  Wissen  auseinanderzureißen,  ohne 
den  großen  Satz  zu  verletzen:  Gratia  perficit  naturam,  non 
negat  —  ebensowohl  die  Einheit  der  Religion  als  die 
Einheit  der  Metaphysik  wahrhaft  festzuhalten  erlaubt. 
I .  Religion  ist  nun  einmal  in  jeder  Gestalt  Religion  und 
nicht  Metaphysik.  Schon  die  wichtige  und  unerläßliche 
Unterscheidung  zwischen  natürlicher  und  offenbarter  Re- 
ligion ist  eine  Unterscheidung  innerhalb  der  Religion 
selbst.  Sie  ist  ferner  keine  Scheidung  die  im  Gegenstands- 
bereiche und  im  Wahrheitsbestande  der  Religion  selber 
irgendwie  angetroffen  würde.  Es  gibt  keinen  natürlichen 
Gott  und  einen  Offenbarungsgott,  sondern  nur  einen  Gott. 
Auch  in  einem  lebendigen  religiösen  Akt  gibt  es  keine 
Teilfunktionen,  die  dieser  Unterscheidung  entsprechen.  Nur 
ein  Unterschied  in  den  Erkenntnisquellen,  durch  die  be- 
stimmte Attribute  Gottes  (und  anderer  religiöser  Gegen- 
stände) nachträglich  begründet  und  vor  dem  rationalen 
(theologischen)  Bewußtsein  gesichert  werden,  darf  mit  der 
Unterscheidung  gemeint  sein.  Wird  dies  Verhältnis  nicht 
streng  geachtet,  so  ist  die  Einheit  der  religiösen 
Wahrheit  und  noch  mehr  des  religiösen  Lebens 
sofort  schwer  gefährdet.  Es  besteht  dann  sofort  die  Ge- 
fahr, daß  die  natürliche  Religion  sich  also  verselbständigt, 
wie  es  in  der  Natur-  und  Vernunftreligion  des  18.  Jahr- 
hunderts seit  Herbert  von  Cherbury  geschah.  Die  »natür- 
liche Religion«  erscheint  dann  nicht  als  bloße  Begrün- 
dungsstufe der  einen  wahren  an  sich  ungeteilten  Religion, 
sondern  wirft  sich  zur  Norm  und  zum  Maßstab  der  jposi- 
tiven  Religion  auf.  Und  diese  Gefahr  wächst  bedeutend, 
wenn  —  wie  es  im  partiellen  Identitätssystem  geschieht  — 
die  »natürliche  Religion«  gar  noch  mit  einer  ganz  anderen 


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j^O  Probleme  der  Religion. 

Wesensgattung  von  Wissen  gleichgesetzt  wd,  —  näm- 
lich dem  metaphysischen  Wissen.  Sogar  der  Begriff 
»Glaube  an  das  Dasein  Gottes«  wird  dann  evident  sinn- 
los, da  wir  vom  Dasein  Gottes  hiemach  überhaupt  keinen 
Glauben,  sondern  nur  ein  Wissen  haben  können.  Sieht 
man  die  Sache  außerdem  geschichtlich  an,  so  könnte  man 
unschwer  zeigen,  wie  der  ungeheure  Irrweg  des  i8.  Jahr- 
hunderts zu  Vernunftreligion  und  Deismus  seinen  Ursprung 
und  seinen  Nährboden  hatte  gerade  in  dem  System,  das 
wir  das  partielle  Identitätssystem  genannt  hatten.  Religion 
fließt  in  jeder  ihrer  Formen  des  Inhaltsreichtums  eben 
immerdar  aus  einer  Quelle:  objektiv  aus  der  (selbst  stufen- 
förmigen und  stufenreichen)  »Offenbarung«  Gottes,  sub- 
jektiv aus  dem  Glauben.  Hierbei  verstehe  ich  unter  »Offen- 
barung« nicht  das,  was  die  positiven  Theologen  »die 
Offenbarung«  nennen,  auch  nicht  wahre  Offenbarung  (ge- 
schweige »positive«  Offenbarung),  sondern  allein  die  spe- 
zifische Gegebenheitsart  jeder  Art  Anschauungs-  und 
Erlebensdaten  eines  Gegenstandes  vom  Wesen  des  Gött- 
lichen und  Heiligen,  nämlich  die  spezifische  Gegebenheits- 
art des  Mitgeteiltseins  oder  Mitgeteiltwerdens  —  sei  es 
auf  unmittelbare,  sei  es  auf  mittelbare  Weise.  Das  Wesen 
dieser  Erkenntnisart  steht  im  Gegensatze  zu  allen  spon- 
tanen Erkenntnisakten;  und  es  ist  nicht  eine  bloß  ob- 
jektive Unterscheidung  der  kausalen  Art,  durch  die  Wissen 
im  Menschen  zustande  kommt,  sondern  es  ist  eine  im  erleb- 
baren Erkenntnisprozesse  selbst  gelegene  grundverschie- 
dene Art  der  möglichen  Evidenzbildung,  um  die  es  sich 
hier  handelt.  Alles  religiöse  Wissen  um  Gott  ist  ein 
Wissen  auch  durch  Gott  im  Sinne  der  Art  der 
Empfängnis  des  Wissens  selber.  Dieser  alte  große 


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Probleme  der  Religion.  ^  c  i 

Grundsatz  allein  gibt  der  Religion  jene  letzte  Einheit, 
deren  sie  bedarf.  Auch  der  notwendige  Unterschied  natür- 
licher und  positiver  Offenbarungsreligion  kann  diesen 
Grundsatz  nicht  aufheben.  Er  muß  sich  auf  den  Unter- 
schied »natürlicher  Offenbarung«  und  »positiver  Offen- 
barung«, resp.  auf  eine  erweiterte  Lehre  von  der  Glie- 
derung und  den  Stufen  der  Offenbarung  (in  jenem  fonnal- 
sten,  religionsphilosophischen  Sinne)  zurückfuhren  lassen 
und  läßt  sich  auch  darauf  zurückführen. 

Daß  die  Metaphysik  dessenungeachtet  ganz  frei  und 
aus  sich  selbst  heraus  zu  Einsichten  konunt,  welche  die 
eigengesetzliche  Entfaltung  der  Religion  auf  ihren  höch- 
sten Stufen  mitenthält,  das  ist  nur  ein  sicheres  Zeichen 
jener  tieferen  Einheit  der  menschlichen  Natur,  des 
menschlichen  Geistes  und  des  Seins,  die  sich  jenseits 
aller  Absichtlichkeiten  und  bloß  willkürlich  »gewollten« 
(d.  h.  im  Grunde  immer  nur  zu  engen  und  tatsächliche 
Risse  verbergenden)  »Einheit«  von  selber  durchsetzt  und 
darlegt;  eben  dann  darlegt,  wenn  allem,  was  wahrhaft  in 
uns  »vom  Geiste«  ist,  freier  und  eigengesetzlicher  Spiel- 
raum seiner  Entwicklung  gewährt  wird. 

2.  Aber  auch  die  Selbständigkeit  und  die  ganze  mög- 
liche Inhaltsfülle  der  Metaphysik  ist  nur  auf  dem  Boden 
des  Konformitätssystems  gewahrt.  Soll  die  Metaphysik 
oder  doch  ihr  zentralster  Teil,  die  Lehre  vom  Weltgrund 
gleichzeitig  die  natürlicheTheologie  als  notwendige  Grund- 
lage der  positiven  Theologie  sein,  so  ist  —  auch  beim 
besten  Willen,  de  fide  geltende  Glaubenssätze  und  freie 
Vemunftforschung  zu  trennen  —  im  Grunde  gar  nichts 
anderes  möglich,  als  daß  eine  Reihe  Resultate  einer  be- 
stimmten historischen  Metaphysik,  ja  schließlich  eine  ganz 


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1  c  2  Probleme  der  Religion. 

bestimmte  Methode  ihrer  Auffindung  und  eine  ganz  be- 
stimmte Schule,  in  der  diese  Methode  gültig  wurde,  selber 
den  Charakter  einer  vermeintlichen  Glaubenswahrheit 
annimmt.  Nicht  nur  bestimmte  Resultate,  sondern  über- 
dies eine  ganz  bestimmte  Vernunft metho de  ihrer  Auf- 
findung unter  eine  Sanktion  stellen  zu  wollen,  die  ihren 
Rechtsgrund  auf  die  positive  Offenbarung  zurückfuhrt, 
ist  aber  sachlich  widersinnig.  Offenbarung  mag  noch  mit 
Fug  und  Grund  die  Grenzen  ihrer  Gültigkeit  im  Verhält- 
nis zur  spontanen  Vernunfttätigkeit  des  Menschen  selbst 
und  ex  se  bestimmen,  so  wie  es  durch  die  Paulusworte 
über  die  natürliche  Erkenntnis  des  göttlichen  Werk- 
meisters aus  seinem  Werk  ja  auch  prinzipiell  geschieht. 
Über  die  positive  Methode  aber,  nach  der  diese  Er- 
kenntnis zu  finden  sei,  kann  der  Verwaltung  der  positiven 
Glaubensgüter  ein  befugtes  Urteil  mit  dogmatischer 
Geltung  nicht  zustehen.  Wird  ein  solches  Urteil  aber 
gleichwohl  beansprucht,  so  heißt  dies  genau  soviel  als 
eine  bestimmte  Schule  der  Metaphysik  —  indirekt 
auch  einer  ganzen  Philosophie  —  zu  dogmatisieren  und 
eine  Glaubenslehre  aus  ihr  zu  machen.  Dies  ist  aber  für 
den  Glauben  selbst,  der  dadurch  auf  ein  vermeintliches 
Fundament  gestellt  wird,  das  seinem  Wesen  nach  weni- 
ger dauerhaft  ist  als  der  Glaube  von  größtem  Unheil  — 
und  nicht  weniger  ist  es  von  Unheil  für  die  Metaphysik. 
Denn  jenes  Stück  Metaphysik  (das  Glaubensfundament 
sein  soll)  wird  hierdurch  aus  dem  Ganzen  der  Philo- 
spphie  gleichsam  herausgebrochen  und  es  wird  so  er- 
starrt, daß  es  durch  das  lebendige  Denken  weder  nach- 
geprüft noch  fortentwickelt  werden  kann.  Es  ist  dann 
auch  eine  sehr  begreifliche  Reaktion  aller  derer,  die  dem 


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Probleme  der  Religion.  ^5% 

positiven  Glauben,  dessen  »Fundament«  dieses  Stück 
Metaphysik  sein  soll,  nicht  huldigen,  daß  sie  annehmen, 
diese  vorgeblich  freie  spontane  Vernunft meta- 
physik  sei  schon  absichtlich  so  eingerichtet,  daß  sie 
dem  positiven  Glauben  als  »Fundament«  dienen  könne. 
Die  Folge  ist,  daß  sie  eben  darum  diese  Metaphysik  mit 
einem  so  tiefgehenden  prinzipiellen  Mißtrauen  betrachten, 
daß  sie  auch  ihre  Wahrheit  oder  ihre  ewigen  Wahrheits- 
elemente übersehen,  ja  schon  die  Fragen  gar  nicht  mehr 
untersuchen  wollen,  die  jene  Metaphysik  beantwortet.  Ein 
so  gearteter  paradoxer  Geisteszustand  hat  sich  denn  auch 
seit  langem  schon  verwirklicht.  Denn  gibt  es  etwas  Para- 
doxeres, als  daß  gerade  derjenige  Teil  der  Theologie  und 
der  Religionsbegründung,  der  unabhängig  von  dem  posi- 
tiven Glaubensinhalt  und  damit  von  aller  Konfession  die 
höchsten  und  fundamentalsten  Wahrheiten  der  Religion 
begründen  und  damit  eine  gemeinsame  Plattform  ab- 
geben soll  für  jede  Art  weiterer  religiöser  und  kirchlicher 
Auseinandersetzung  gerade  das  Umgekehrte  von  dem- 
jenigen leistet  und  bewirkt,  was  er  bewirken  und  leisten 
soll:  daß  gerade  er  es  ist,  der  die  Geister  am  schärf- 
sten scheidet?  Wenn  aber  das,  was  vernünftig  einsichtig 
sein  soll,  de  facto  ein  gebotener  Traditionsglaube  wird 
und  wenn  das  am  schärfsten  trennt,  was  bestimmt  war, 
das  Minimum  der  Einung  zwischen  den  Trägem  ver- 
schiedener positiver  Religionen  herzustellen,  so  ist  auch 
der  Sinn  der  ganzen  natürlichen  Theologie  in  sein  ge- 
rades Gegenteil  verkehrt.  Das  Konformitätssystem 
schließt  diesen  Zustand  aus;  und  es  schließt  ihn  so  aus, 
daß  die  Resultate  der  Metaphysik  —  b^i  neuer  Prüfung 
—  durchaus  nicht  notwendig  geändert  werden  müssen, 
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XSA  Probleme  der  Religkm. 

SO  wenig  wie  irgendein  Satz  der  positiven  Theologie, 
da  ja  nur  das  vorgegebene  »Fundament «Verhältnis  zu- 
gunsten einer  Konformität  beseitigt  wird. 

5.  Nicht  weniger  einsdmeidend  ist  das  Konformitäts- 
system für  die  Gestaltung  und  die  Bedeutung  der 
Metaphysik.  Metaphysik  hat  den  vollen  Wert,  den  sie 
als  Erkenntnis  gewinnen  kann,  nur  dann,  wenn  sie  dem 
Gegenstand  nach  tief  und  breit  gegründet  ist  in  der 
ganzen  Mannigfaltigkeit  des  Daseins  und  der  Welt  und 
wenn  sie  —  ihrem  Ursprung  nach  —  aus  der  Wurzel  des 
geistigen  Gesamdebens  ihres  Urhebers  und  als  historische 
Gesamterscheinung  aus  ihrer  Weltepoche  herauswächst. 
Der  »Weltgrund«  ist  nur  ihr  letzter  und  höchster  Gegen- 
stand —  wahrlich  nicht  ihr  erster  und  einziger.  Er  ist 
und  soll  für  sie  sein  die  gedankliche  Fassung  des  Schnitt- 
punktes aller  der  unzähligen  Fäden,  die  auf  Grund  er- 
schauter Wesen  und  Wesenszusammenhänge,  (die  sich 
am  erfahrungsmäßig  gegebenen  kontingenten  objektiv 
realen  Sein  der  positiven  Wissenschaft  darstellen  und 
finden  lassen),  über  die  Grenzen  dieses  erfahrungsmäßig 
Gegebenen  der  objektiven  Realität  hinausfuhren  in  die 
Richtung  auf  das  Absolut  Reale.  Der  damit  bezeich- 
nete Sinn  und  das  Wesen  einer  Metaphysik  als  Erkenntnis- 
artung ist  von  ihrer  Wahrheit  und  Falschheit  noch  ganz 
unabhängig.  In  diesem  Sinne  sind  die  metaphysischen 
Systeme  z.  B.  des  Aristoteles,  des  Leibniz,  Hegels,  Schel- 
lings^  Fechners,  Schopenhauers,  Hartmanns,  Bergsons 
*  echte «  metaphysische  Systeme  —  ihrer  etwaigen  Falsch- 
heit ganz  ungeachtet.  Ihre  besonderen  Ideen  vom  Welt- 
grunde  sind  nur  die  abschließenden,  synthetischen  For- 
mulierungen der  Endpunkte  x  y ...  z,  die  für  diese  Denker 

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Probleme  der  Religion.  3  ^  ^ 

die  Fäden  aller  Arten  von  Dinge  und  Begebenheiten  der 
Welt  finden,  wenn  sie  über  die  Sphäre  des  objektiv 
realen,  aber  im  Verhältnis  zum  Übersinnlichen,  Absoluten 
des  Wirklichen  noch  daseinsrelativen  Daseins  hinaus 
bis  in  ihre  gemeinsame  Verwurzelung  im  absolut  Daseien- 
den verfolgt  werden.  Keine  dieser  Metaphysiken  be- 
schränkt sich  darauf,  abgesondert  vom  positiven  Wissens- 
bestande der  Zeit  und  ihres  Urhebers,  bloß  über  den 
Welt gr und  —  ganz  abgesondert  von  der  Welt  und 
ihrem  Inhaltsreichtum  —  formale  und  abstrakte  Fest- 
setzungen zu  treffen.  Jede  dieser  Metaphysiken  ist  wirk- 
lich schwanger  von  »Welt«  und  geistigem  Erfahrungs- 
gehalt und  sucht  zu  zeigen,  wie  diese  Welt  im  »Welt- 
grund« eingewurzelt  ist.  Indem  sich  aber  gleichwohl  ihre 
letzten  und  höchsten  Wahrheiten  zum  Teil  decken  mit  den 
Fundamentalsätzen  des  (entwickelten)  religiösen  Bewußt- 
seins, verankert  sie  diese  Wahrheiten  —  ohne  doch  ihren 
religiösen  »Grund«  zu  bilden  —  in  einer  Weise  in  dem 
Vollgehalt  der  Welt-  und  Selbsterfahrung,  wie 
es  die  Religion  allein  nicht  vermag.  Denn  Religion  geht 
sofort  von  derjenigen  Grundbestimmung  des  absolut 
Wirklichen  —  des  Ens  a  se  —  aus,  zu  dem  Metaphysik 
allein  nicht  vorzudringen  vermag:  Von  der  Personalität 
Gottes,  die  ihre  Existenz  aufweist  —  indem  sie  sich 
offenbart.  Um  so  mehr  aber  vermag  die  Metaphysik 
vom  Ens  a  se  all  dasjenige  als  Bestimmtheiten  seiner 
zu  demonstrieren,  was  auch  die  Sachbedingung  dafür  ist, 
daß  ein  Wirkliches  personal  gestaltet  sein  kann:  So  vor 
allem  Vemünftigkeit  und  Geistigkeit  des  Weltgrundes. 
Die  Personalität  Gottes  aber  entzieht  sich  jeder  Art 
spontaner  Vemunfterkenntnis  seitens  endlicher  Wesen 

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356  Probleme  der  Religion. 

—  nicht  der  sog.  Grenzen  der  Erkenntniskraft  wegen  — 
sondern  weil  es  im  gegenständlichen  Wesen  einer  rein 
geistigen  Person  selbst  gelegen  ist,  daß  ihr  Dasein  — 
wenn  sie  da  ist  —  nur  durch  Selbstmitteilung  (Offen- 
barung) erkannt  werden  kann. 

Eben  diese  selbständige  und  freie  Verankerung  der 
religiösen  Fundamentalsätze  kann  aber  die  Metaphysik 
nicht  leisten,  wenn  sie  schon  als  Fundament  und  Be- 
gründungsmittel des  religiösen  Glaubens  konzipiert  ist  und 
gar  dies  ihr  Fundamentsein  selber  zu  einer  Glaubens- 
wahrheit abgestempelt  werden  soll. 

Jedes  Herauswachsen  aus  der  Fülle  der  Wesenserkennt- 
nisse der  Sachgebiete  des  Daseienden  (und  den  je  dazu 
gehörigen  positivwissenschaftlicheh  Realerkenntnissen)  ist 
Metaphysik  dann  versagt;  und  nicht  minder  versagt,  daß 
sie  aus  dem  Ganzen  des  geistigen  Lebens  entspringe.  Sie 
wird  dann  eine  Summe  versteinerter  formaler  Sätze,  — 
Sätze,  die  freilich  schon  viel  zu  inhaltsreich  sind,  um  sich 
aus  dem  Begriffe  des  Ens  a  se  rein  analytisch  und  ohne 
neue  Anschauungsdata  so  herleiten  zu  lassen,  wie  man 
meint;  eine  des  Geistes  entleerte  Schultradition,  die  nicht 
ohne  tiefere  Gründe  von  Allen,  die  dieser  Tradition  nicht 
angehören,  einer  besonderen  Aufmerksamkeit  nicht  ge- 
würdigt wird.  Dahingegen  reichen  sich  nach  dem  Kon- 
formitätssystem Religion  und  Metaphysik  frei  die  Hände, 
ohne  daß  die  eine  Hand  heimlich  die  andere  schon  zu 
sich  herzwingt,  gleichwohl  aber  den  Anspruch  erhebt,  sie 
frei  empfangen  zu  haben. 

Wie  diese  Metaphysik  möglich  sei,  ist  hier  in  extenso 
2u  zeigen  nicht  unsere  Aufgabe  —  geschweige  ihren  In- 
halt voll  zu  entwickeln. 


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Probleme  der  Religion.  357 

4.  Aber  es  gibt  noch  einen  entscheidenden  Grund  da- 
für, die  Metaphysik  als  Fundament  der  natürlichen  Theo- 
logie und  Religion  abzulehnen.  Nur  zwei  Sätze  der  Meta- 
physik —  die  formalsten,  die  Seins-Metaphysik 
kennt  —  haben  absolute  Erkenntnisevidenz:  der  Satz,  es 
gäbe  ein  vom  Ganzen  aller  kontingenten  Dinge,  Ereig- 
nisse, Realitäten  —  also  vom  Ganzen  der  »Welt«  — 
verschiedenes  Ens  a  se  resp.  ein  Daseiendes,  dessen  Da- 
sein aus  seinem  Wesen  folgt;  und  der  Satz,  es  sei  dieses 
Ens  a  se  die  erste  Ursache  (prima  causa)  und  der  Urgrund 
dafür,  daß  aus  den  wesensmöglichen  Welten,  diese  eine 
kontingente  Welt  wirklich  ist.  (Der  Schöpfungsgedanke 
liegt  darin  noch  nicht,  da  »Schöpfung«  die  Personalität 
Gottes  voraussetzt,  die  nur  der  Religion  zugänglich  ist.) 
Alle  übrigen  Bestimmungen  des  Weltgrundes  haben  zwei 
Eigenschaften,  die  im  radikalen  Widerspruch  stehen  zur 
Natur  der  religiösen,  der  Glaubensevidenz:  die  Urteile, 
die  sie  aussprechen  sind  dauernde  und  niemals  streng 
verifizierbare  Hypothesen  und  sind  —  da  sie  sich 
außer  ihren  Stützpunkten  in  evidenten,  aber  daseinsfreien 
Wesen-  und  Wesenszusammenhangserkenntnissen  stets 
und  notwendig  auch  auf  induktorische  Realurteile  der 
positiven  Realwissenschaften  stützen  müssen  —  nach  der 
logischen  Regel  »Der  Schlußsatz  folgt  der  schwächeren 
Prämisse«  immer  nur  von  Vermutungsevidenz,  also  wahr- 
scheinlich. Denn  alle  Urteile  positiver  Realwissenschaft 
sind  ihrer  Natur  nach  wahrscheinlich  und  nie  evident 
wahr.  Jedes  dieser  Urteile  kann  durch  den  Fortschritt  der 
Beobachtung  seiner  Gültigkeit  wieder  beraubt  werden. 
Denn  —  wie  Husserl  treffend  gezeigt  hat  —  ist  jedes 
reale  Ding  und  Ereignis,  wie  klein  und  arm  es  immer  sei 


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%s%  Probleme  der  Religion. 

im  Verhältnis  zu  anderen  Ereignissen  —  wesens uner- 
schöpflich an  rein  induktorischem  Gehalt  und  wesens- 
mäßig nur  in  einem  unendlichen  Prozeß  des  Bestim- 
mens bestimmbar.  Nur  die  evidenten  Wesenserkenntnisse 
sind  dem  induktorischen  Wissen  gegenüber  geschlossen 
und  schneiden  —  bildlich  gesagt  —  den  unendlichen 
Prozeß,  in  dem  das  induktorische  Forschen  und  Bestim- 
men dahineilt,  an  jedem  Punkte.  Aber  diese  daseins- 
freien Erkenntnisse  allein  geben  auch  niemals  ein  meta- 
physisches Wissen,  das  ja  seiner  Natur  nach  ein  Real- 
wjssen  ist. 

Nun  ist  es  aber  ausgeschlossen,  daß  ein  religiöses  Ur- 
teil (resp.  ein  Glaubensurteil)  die  Eigenschaften  besitze, 
die  jedem  metaphysischen  Urteil  zukommen,  das  über 
die  beiden  genannten  —  vom  Ens  a  se  und  der  prima 
causa  hinaus  —  dem  Weltgrund  attributive  Bestimmungen 
beilegt.  Glaube  im  religiösen  Sinn  ist  entweder  evidenter 
oder  blinder  Glaube  (dann  je  Irrglaube,  Aberglaube  oder 
Afterglaube). 

Es  gibt  keinen  Wahrscheinlichkeits- Glauben;  es  gibt 
keinen  hypothetischen  Glauben.  Die  sich  auf  die  Glaubens- 
evidenz aufbauende  »felsenfeste  Gewißheit«  ist  von  allem 
Vermutungswissen  grundverschieden.  Nur  die  Freiheit 
des  Glaubensaktes  im  Unterschiede  vom  rein  sachgebun- 
denen Verstandesakte  macht  die  Evidenz  des  Glaubens 
und  die  »felsenfeste  Gewißheit«  möglich.  Glaube  ist  freie 
Einsetzung  der  Person  und  ihres  Kernes  für  den 
Glaubensinhalt  und  das  Glaubensgut  —  das  Glaubens- 
urteil  ist  nur  das  Urteil  über  den  im  Glaubensakte  ge- 
gebenen Gehalt.  Für  Hypothesen  und  Wahrscheinlich- 
keiten —  resp.  bloße  Annahmen  und  Vermutungen  auf 


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Probleme  der  Religion.  ^^g 

der  Aktseite  —  ist  im  Glauben  und  im  Glaubensgegen- 
stand nirgends  eine  Stelle. 

Die  klare  Folge  davon  ist,  daß  kein  metaphysischer  Satz, 
der  dem  Weltgrunde  eine  attributive  Bestimmung  erteilt 
ein  genügender  Grund  sein  kann  fiir  die  Annahme  einer 
religiösen,  resp.  einer  Glaubenswahrheit.  Denn  wie  kann  ein 
nur  hypothetisch  Wahres  ein  absolut  Wahres,  wie  eine 
Vermutung  ein  evidentes  Wissen  (wie  es  das  Glaubens- 
wissen subjektiv  ist),  wie  eine  Wahrscheinlichkeit  eine 
Wahrheit  »begründen«.  Nur  von  einer  »Bestätigung«  (auf 
anderem  Wege),  nicht  von  einer  »Begründung«  kann  hier 
die  Rede  sein. 

Aus  dieser  Wesensverschiedenheit  von  Glaubenswissen 
und  natürlichem  Wissen  bezüglich  der  Evidenz  folgt  nun 
aber  ein  sehr  bedeutsamer  Satz  über  das  Grundverhältnis 
der  Glaubensgüter  und  der  natürlichen  Wissensgüter  (auch 
der  metaphysischen  im  materialen  Sinne)  zur  Geschichte. 
Die  Glaubensinhalte  und  -guter  (und  die  »Dogmen«,  die 
sie  formulieren)  sind  ihrem  Wesen  und  Sinn  nach  ewige 
Güter  und  Wahrheiten,  —  die  metaphysischen  Wissens- 
güter sind  notwendig  Glieder  des  Prozesses  der  Ge- 
schichte —  der  Geschichte  metaphysischen  Forschens. 
Was  heißt  es  also:  Den  Glauben  gründen  lassen  in  meta- 
physischen Materialsätzen  ?  Es  heißt  entweder :  die » ewigen « 
Glaubensgüter  und  -Wahrheiten  in  den  Fluß  hineinziehen, 
der  zum  metaphysischen  Wissen  als  spontaner  Wahrschein- 
lichkeitserkenntnis notwendig  gehört;  oder  es  heißt:  Dogma- 
tisierung  gewisser  (dieser  oder  jener)  metaphysischer  Ver- 
nunftsätze resp.  Verkennung  des  Wahrscheinlichkeitscha- 
rakters des  metaphysischen  Wissens  und  falsche  Erhebung 
dieser  Sätze  auf  die  Stufe  absoluter  Evidenz.  Hier  ist  Er- 


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^60  Probleme  der  Religion. 

•starrung  und  Tod  dir  die  freie  Vemunftforschung.  Der 
erste  Weg  ist  der  Weg  der  Gnosis,  der  zweite  war  häufig 
der  Weg  einer  falschen  Überspannung  des  kirchlichen 
Autoritätsbegriffs.  Beides  ist  gleichsehr  von  Übel  und  Re- 
ligion und  Philosophie  gleich  schädigend. 

Die  mit  dem  Gesagten  festgelegte  Selbständigkeit 
der  Metaphysik  gegenüber  der  Religion  darf  indes  nicht 
mit  der  Frage  verwechselt  werden,  ob  und  inwieweit  alle 
mögliche  Metaphysik  (also  auch  alle  historische  gegebene 
Metaphysik)  unabhängig  von  Religion  in  ihrem  (möglichen) 
WerdenundUrsprung  im  Geistedes  Menschen  sei.  Denn 
bei  dieser  Selbständigkeit  handelt  es  sich  um  die  Inten- 
tion des  Philosophen,  resp.  um  die  intentionale  religiöse 
Voraussetzungsfreiheit  seinesForschensundseinesFor- 
schungswillens.  Im  letzteren  Falle  handelt  es  sich  dagegen 
um  den  Ursprung  des  metaphysischen  Erkennens  mit 
Einschluß  dieser  zu  ihm  gehörigen  Intention.  Und  auf 
diese  letztere  Frage  muß  die  Antwort  verschieden  aus- 
fallen, je  nachdem  die  Frage  zu  entscheiden  ist:  Ist  die 
religiöse  Erkenntnis  oder  die  metaphysische,  die  beide 
dem  Geiste  des  Menschen  konstitutiv  zugehören,  in  ihrer 
Aktualisierung  die  ursprünglichere?  Er  scheint  mir  keinen 
Zweifel  zu  geben,  daß  die  religiöse  die  ursprünglichere 
ist  —  und  gar  nicht  nur  in  empirisch-psychogenetischem 
Sinne,  sondern  im  Sinne  der  wesenhaften  Ursprungs- 
ordnung beider  Erkenntnisarten  aus  dem  Geiste  des 
Menschen. 

Der  Mensch  »hat«  immer  schon  eine  geglaubte  An- 
nahme über  seinen  und  der  Welt  Heils  weg,  ehe  er  die 
metaphysische  Geisteshaltung  einnimmt  —  und  hat  sie 
»notwendig«  —  gleichgültig,  ob  er  will  oder  nicht  will„ 


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Probleme  der  Religion.  36 1 

gleichgültig,  ob  er  sich  diese  Annahme  zu  reflexivem 
Wissen  bringe  oder  nicht.  Denn  der  reh'giöse  Akt  ist  in 
der  Ursprungsordnung,  die  keine  geschichtliche  matter 
of  fact-Erfahrung  zu  beweisen  oder  zu  widerlegen  vermag, 
ursprünglicher  als  der  Akt  des  philosophischen  Erken- 
nens.  Die  historisch  bis  ins  Einzelnste  erweisbare  Tat- 
sache, daß  alle  Metaphysiken,  die  je  es  gegeben,  im 
Spielraum  der  religiösen  Grundkategorien  bleiben, 
und  nicht  ihn  zu  sprengen  vermögen,  welche  die  Reli- 
gion der  Metaphysiker  abgesteckt  hat,  ist  nur  eine  Be- 
währung (nicht  ein  Beweis)  dieser  Ursprungsordnung 
der  Betätigung  des  religiösen  und  metaphysischen  Er- 
kennens  und  Verhaltens. 

-  Die  zahlreichen  metaphysischen  Systeme  der  Inder,  der 
Griechen,  der  christlichen  Epochen  —  sie  stellen  Familien 
metaphysischer  Systeme  dar,  die  trotz  der  großen  Ver- 
schiedenheit ihrer  Teile  untereinander  doch  je  einen  cha- 
rakteristischen Gesamtcharakter  bewahren.  Und  es  ist  . 
schließlich  die  Wesensverschiedenheit  der  Religionen,  zu 
deren  Herrschbereich  sie  gehören,  die  ihnen  diese  gemein- 
samen Charaktere  erteilt. 

So  sehr  wir  die  »dualistischen  Systeme«  im  Prinzip 
ablehnen  mußten,  so  ist  doch  die  Geistesarbeit,  die  zu 
ihrem  Aufbau  geleistet  wiu-de,  nicht  ganz  verloren  gewesen. 
Unrecht  hatten  sie,  indem  sie  die  Möglichkeit  einer  Meta- 
physik und  die  organische  Einheit  von  Metaphysik  und 
Religion  bestritten;  unrecht  hatten  sie,  indem  sie  einen 
falschen  Maßstab  auch  an  die  geschichdichen  Leistungen 
der  Metaphysik  anlegten  (Kant  z.  B.  den  Maßstab  der 
mathematischen  Evidenz,  die  Vertreter  der  »induktiven« 
Metaphysik  die  Fortschritts art  und  die  Gewißheitsstufe 


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j  6  2  Probleme  der  Religion. 

der  positiven  Realwissenschaft),  dann  aber  auch  aus  histo- 
rischen Gründen  die  »haltlose«  Metaphysik  verwerfen 
mußten.  Denn  nicht  um  eines  vermeintlich  berechtigten 
Anspruches  auf  adäquate  Sachwahrheit  willen  hat  die 
Mathematik  die  ihr  eigene  Evidenz  ihrer  Resultate,  son- 
dern vermöge  ihres  weit  tiefer  gehenden  Verzichtes  auf 
reale  Setzungen  und  um  ihres  Genügens  willen  an  bloß 
logischer  »Richtigkeit«  und  größter  Ökonomie;  und  nicht 
um  ihrer  adäquaten  Sachwahrheit  willen  ist  die  positive 
Realwissenschaft  so  viel  rascher  und  kontinuierlicher  fort- 
schreitend wie  die  Metaphysik,  sondern  um  ihres  relativen 
Verzichtes  willen  auf  solche  Sachwahrheit,  —  positiv  ge- 
sagt —  weil  sie  sich  auf  soviel  Sachwahrheit  beschränkt 
als  das  vital  bedingte  Ziel  einer  möglichen  praktischen 
Beherrschung  und  Lenkung  der  Welt  es  notwendig  macht; 
femer  auch  weil  sie  alle  Erkenntnisarbeit  in  »Fächer« 
oder  in  die  wesensmäßige  Vielheit  der  Wissenschaften 
nach  nur  subjektiven  Gesichtspunkten  zerlegt,  —  eine 
Zerlegung,  die  —  da  sie  durch  die  Gegenstände  selbst 
nicht  gefordert,  sondern  nur  durch  das  soziale  und  öko- 
nomische Prinzip  der  Arbeitsteilung  —  die  »wissenschaft- 
liche« Wahrheit  an  konkreter  Sachwahrheit  ebensoviel 
verlieren  läßt,  als  sie  an  Fortschrittsfähigkeit  dadurch 
gewinnt.  Denn  es  gibt  keine  mechanische,  physikalische, 
chemische,  biologische,  psychische,  geistige,  historische 
»Welt«,  sondern  nur  die  eine  konkrete  Weltwirklichkeit, 
die  als  solche  und  als  Ganzes  ein  einmaliger  Abfluß  des 
Geschehens  ist  —  ohne  Wiederkehr  des  »Gleichen«.  Nur 
in  den  vermöge  der  Abstraktion  aus  dieser  Weltwirklich- 
keit herausgelösten  Gegenständen  der  (schon  definierten) 
Fachwissenschaften  gibt  es  eine  mögliche  Bestätigung 


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Probleme  der  Religion.  ^gj 

der  Regelmäßigkeitsvoraussetzung.  Es  ist  aber  diese 
ganze  konkrete  Weltwirklichkeit,  der  sich  die  Meta- 
physik durch  integrative  Zusammenschau  und  Zusammen- 
denken der  Resultate  der  positiven  Wissenschaften  —  nach 
selbstgesetzlichen  Wesenszusammenhängen — ^  nach  Mög- 
lichkeit anzunähern  sucht. 

So  falsch  aber  die  den  metaphysikscheuen  dualistischen 
Systemen  zugrundeliegende  Erkenntnistheorie  auch  sei 
und  so  falsch  diese  Art  von  Messung  der  Metaphysik  — 
diese  Systeme  besitzen  doch  ein  Verdienst,  das  ihnen  nicht 
sollte  abgestritten  werden:  Sie  erkannten  die  Selb- 
ständigkeit unddie  Selbstgesetzlichkeit  der  religiö- 
sen Bildungen  und  die  Unabhängigkeit  religiöser  Glaubens- 
evidenz von  theoretischer  Wissensevidenz  überhaupt.  Dies 
—  aber  auch  dies  allein  haben  sie  vor  den  Identitäts- 
systemen voraus.  Aber  auch  dieses  haben  sie  nur  voraus 
in  bezug  auf  die  eine  Seite  der  Religion,  in  bezug  auf  die 
subjektive  Seite,  —  in  bezug  auf  die  Anerkennung  der 
Unreduzierbarkeit  und  Wesensselbständigkeit  des  religiö- 
sen Aktes.  D.  h.  alle  diese  Systeme  —  selbst  noch  der 
tiefe  und  reformatorische  Versuch  Ottos,  der  hier  wenig- 
stens auf  besserem  Wege  sich  befindet  —  tragen  in  irgend- 
welcher Form  die  allgemeine  Irrtumskonstante  der  »mo* 
dernen«  Philosophie  überhaupt  in  ihrem  Wesen:  den  er- 
kenntnistheoretischen Subjektivismus  oder  den  Grundsatz^ 
es  könne  ein  ontischer  Gegenstandsbereich  ausschließlich 
durch  die  Natur  der  Akte  und  der  geistigen  Operationen 
bestimmt  —  wenn  nicht  gar  geschaffen  oder  »erzeugt*  — 
werden,  durch  die  allein  er  für  den  Menschen  zugänglich 
ist.  Nicht  ihre  Behauptung  von  der  Selbständigkeit  und 
Selbstgesetzlichkeit  der  Religion  —  wie  man  oft  fälsch- 


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364  Probleme  der  Religion. 

lieh  meint  —  sondern  diese  subjekdvistische  Auffassung 
ihrer  Selbständigkeit  gibt  uns  das  Recht  und  verpflichtet 
uns  zugleich,  ihnen  den  verwerfenden  Titel  des  *  Fideis- 
mus« beizulegen,  resp.  der  Lehre  von  einem  Glauben 
ohne  objektives  Glaubens-  und  Heilsgut  als  eines  solidari- 
schen Besitzes  der  Menschheit.  Nicht  die  Lehre,  es  müsse 
der  natürliche  Teil  dieses  Glaubensgutes  auf  Metaphysik 
und  rationalen  Schlüssen  gegründet  sein,  ist  —  wie  so 
vielfach  vermeint  wird  —  die  wahre  Gegenlehre  zu  diesem 
Grundfehler,  sondern  eine  auf  dem  Boden  der  Selbstän- 
digkeit der  Religion  gegründete  Wesensuntersuchung  der 
Eigenart  der  Glaubensgegenstände  und  Glaubens- 
werte überhaupt  —  eine  Untersuchung,  die  sich  dann 
erst  —  da  überall  das  Sein  dem  Erkennen,  der  Wert  dem 
Werterfassen  vorangeht  und  die  Eigenart  der  »Akte«  be- 
stimmt —  sekundär  mit  dem  Wesen  auch  der  religiösen 
Akte  beschäftigt.  Eine  solch  religiöse  Gegenstandstheorie 
und  Wesensphänomenologie  besitzen  wir  aber  nur  in 
einigen  wenigen,  meist  unsystematischen  Anfängen;  und 
ebensowenig  besitzen  wir  eine  allgemein-religionsphiloso- 
phische Theorie  der  Offenbarungsgrundarten,  die  von  allen 
theologischen  Fragen  wahrer  und  falscher,  ächter  und  un- 
ächter  Offenbarung  ganz  und  gar  Abstand  zu  nehmen 
hätte,  da  sie  sich  nur  mit  den  wesensverschiedenen  Ge- 
gebenheitsarten und  Empfängnisweisen  beschäftigt,  in  der 
Gegenstände  von  der  Artung  der  religiösen  sich  dem  er- 
lebenden Bewußtsein  darstellen. 

Femer  ist  die  Akdehre  der  Philosophie  der  Religion 
—  die  der  Wesensontologie  des  Göttiichen  zu  folgen, 
nicht  vorherzugehen  hat  —  aufs  schärfste  zu  trennen  von 
der  sog;  Religionspsychologie.  Denn  die  Akdehre  ist  nicht 


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Probleme  der  Religion.  365 

»Religionspsychologie«,  sondern  religiöse  Noetik.  Da  die 
auf  dem  subjektivistischen  und  individualistischen  Boden 
des  modernen  Protestantismus  erwachsenen,  bisherigen 
Lehren  von  der  »Selbständigkeit  der  Religion«  eine  solche 
Wesensontologie  der  religiösen  Gegenstände  nicht 
kannten,  sind  sie  auch  immer  mehr  oder  weniger  in  bloße 
Religionspsychologie  zurückgefallen.  Auf  alle  Fälle  ver- 
meinten sie,  das  Wesen  des  religiösen  Aktes  (und  seiner 
Arten)  mit  begrifflichen  Mitteln  und  Methoden  beschreiben 
zu  können,  die  —  da  sie  nicht  gegenständlich  orientiert 
waren  —  sei  es  bewußt,  sei  es  —  was  noch  schlimmer  — 
unbewußt  der  Sphäre  der  Psychologie  entlehnt  waren. 
Der  beste  Beweis  sind  die  grundfalschen  Fragestellungen , 
—  denn  schon  als  solche,  nicht  erst  als  Antworten ^  sind 
diese  Theorien  auf  falschem  Wege  —  z.  B.,  ob  der  reli- 
giöse Akt  primär  ein  »Gefühl«  sei  (z.  B.  Schleiermachers 
Gefühl  der  schlechthinigen  Abhängigkeit)  oder  —  wie  nach 
A.  Ritschk  ein  der  Willenssphäre  angehöriges  Verhalten 
oder  —  wie,  die  alte  Schule  und  der  religiöse  Rationalis- 
mus behauptet,  ein  Denken;  femer,  ob  die  »religiöse  Er- 
fahrung« durch  das  »Unterbewußte»  unseres  seelischen 
Lebens  vermittelt  werde  oder  nicht.  Alle  diese  Unterschiede 
gehen  aber  am  Wesen  des  religiösen  Aktes  schon  darum 
ganz  und  gar  vorbei,  weil  seine  begriffliche  Einheit  die 
Einheit  einer  gegenständlich  gerichteten  Operations- 
einheit des  Geistes  ist,  —  also  überhaupt  nichts,  was 
mit  psychologischen  Begriffen  irgendwie  getroffen  wer- 
den könnte.  Was  etwa  psychologisch  —  also  nach  mög- 
licher innerer  Wahrnehmung  und  Beobachtung  hin  be- 
trachtet —  in  einem  Betenden  vorgeht  und  wie  es  vorgeht^ 
das  ist  für  das  Wesen  des  Gebetsaktes  so  gleichgültig  wie 


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^66  Probleme  der  Religion. 

das  Magendrücken  oder  die  Phantasiebilder  eines  Mathe- 
matikers, der  über  ein  Zahlproblem  nachdenkt,  für  die 
Noetik  des  Zahldenkens  sind.  Der  Gebetsakt  ist  nur  vom 
Gebets  sinn  her  zu  bestimmen,  und  wie  die  psychischen 
Materialien  psychologisch  zusammengesetzt  sind,  die  in 
diesem  Akte  verwendet  oder  verbraucht  werden  —  wie  sie 
sich  etwa  zusammensetzen  aus  Empfindungen,  Gefühlen, 
Vorstellungen,  Bedeutungsakten,  Worten,  Ausdrucks- 
äußerungen, Handlungen  —  das  geht  die  religiöse  Noetik 
überhaupt  nichts  an. 

Ist  also  die  bisherige  Lehre  von  der  Selbständigkeit  der 
Religion  historisch  eng  verknüpft  gewesen  mit  der  sog. 
Gefiihlsreligion  und  Geflihlstheologie  oder  mit  dem  mora- 
listischen Voluntarismus,  so  war  dies  natürlich  ein  Irrweg, 
—  aber  ein  historisch  zufälliger,  kein  im  Wesen  dieser  Lehre 
gelegener  Irrweg.  Auch  das  Denken,  das  im  religiösen 
Akte  einbegriffen  ist  —  ja  nach  unserer  Ansicht  sogar  die 
Führung  in  ihm  hat  —  ist  von  der  geistigen  Operations- 
einheit des  religiösen  Aktes  schon  umspannt;  es  hat  einen 
Gegenstand,  den  eben  nur  das  religiöse  Denken  hat  und 
kein  anderes  Denken.  Ja  noch  weit  mehr :  Es  ist  schon 
falsch,  den  religiösen  Akt  überhaupt  in  höherem  Maße  der 
sog.  Innenwelt  zuzuordnen  als  der  Außenwelt.  Denn 
nicht  nach  seinem  Aktsinne  hin  angesehen,  sondern  nach 
der  Art  und  Weise  seiner  Realisierung  durch  den  Men- 
schen, ist  der  religiöse  Akt  überhaupt  kein  rein  psychisch, 
sondern  ein  psychophysisch  sich  Darstellendes.  Er  stellt 
sich  z.  B.  ebenso  ursprünglich  als  äußerer  Kultakt  wie 
als  Innenvorgang  in  der  Seele  des  Menschen  dar  —  und 
dies  ganz  kontinuierlich  und  ohne  mögliche  Zerfällung  in 
ein  Äußeres  und  Inneres,  Leibliches  und  Psychisches.  Zu 


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Probleme  der  Religion.  367 

jedem  Gebet  z.  B.  gehört  eine  Ausdrucksaktion — je  nach- 
dem eine  individuelle  und  okkasionelle  oder  eine  generelle 
mit  fester  Form  der  äußeren  Betweise.  Auch  in  diesem 
Sinne  hat  der  Begriff  des  religiösen  Aktes  mit  einem 
psychologischen  Begriff  überhaupt  nichts  zu  tun. 

Die  jetzt  so  beliebte  und  weitüberschätzte  Religions- 
psychologie ist  aber  auch  methodologisch  in  die  Schranken 
zurückzuweisen,  in  die  sie  gehört^. 

Die  moderne  Religionspsychologie  ist  geschichdich  ent- 
standen im  wesentlichen  aus  dem  Geiste  der  positivisti- 
schen philosophischen  Denkrichtungen.  David  Hume  war 
an  erster  Stelle  ihr  Begründer  in  der  modernen  Geschichte. 
Dies  ist  natürlich  kein  Zufall.  Denn  eben  weil  man  hier 
den  Wahrheitsanspruch  der  Religion  mehr  oder  weniger 
zurückwies,  wurde  die  Religion  den  Positivisten  nichts  als 
eine  Gruppe  psychischer  Erscheinungen,  die  man  zu  be- 
schreiben, kausal  zu  erklären  und  im  höchsten  Falle  als 
eine  bestimmte  Stufe  im  Prozesse  der  Anpassung  des 
Menschen  an  seine  Umwelt  auch  teleologisch  (im  biolo- 
gischen Sinne)  zu  begreifen  habe.  Es  ist  aber  auch  ab- 
gesehen von  diesem  historischen  Ursprung  der  modernen 
Religionspsychologie  eine  irrige  Darstellung  der  Sach- 
lage, wenn  man,  um  Sinn  und  Aufgabe  einer  Religions- 
psychologie zu  ergründen,  in  folgender  beliebter  Weise 
argumentiert:  »Wie  immer  man  über  den  Wahrheitswert 
der  Religion  denke  —  ihn  bejahe  oder  ablehne  — ,  welche 
Religion  es  auch  immer  sei,  der  man  im  ersten  Falle 
anhänge;  auf  alle  Fälle  ist  die  Religion  eine  Gruppe  see- 
lischer Erscheinungen  und  Erlebnisse  und  als  solche  ein 

^  Auf  die  pragmatistische  Religionstheorie  und  -psychologie  wird  an  späterer 
Stelle  dieses  Aufsatzes  eingegangen. 


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^68  Probleme  der  Religion. 

zweifelloser  Gegenstand  der  Psychologie.  Dieser  Zweig 
der  Psychologie  heißt  Religionspsychologie  und  diese 
Religionspsychologie  ist  eine  Wissenschaft,  die  ebenso- 
wohl vom  Atheisten  wie  vom  Gläubigen,  ebensowohl  von 
Christen  als  Mohammedanern  usw.  betrieben  werden 
kann.  Sie  ist  also  völlig  voraussetzungslos  und  inter- 
konfessionell.« Diese  Argumentation  ist  eine  pure 
Scheinargumentation  und  es  kommt  ihr  keinerlei 
Bedeutung  zu. 

Wer  sich  ihrer  bedient,  hat  sich  die  Frage  nie  klar  ge- 
macht, unter  welchen  Bedingungen  überhaupt  irgend 
etwas  zum  Gegenstande  der  erklärenden  Psychologie 
wird  und  mit  welchen  gegenständlichen  Voraussetzungen 
jeder  Zweig  der  erklärenden  Psychologie  operieren  muß. 

Es  gehören  zum  Wesen  der  Psychologie  —  oder  besser 
der  Wahmehmungsart  und  Gegebenheitsform,  in  denen 
der  Tatbestand  »Psychisches«  einem  erkennenden  Bewußt- 
sein überhaupt  gegeben  sein  kann,  zwei  Dinge:  Psychi- 
sches ist  primär  immer  Gegenstand  einer  Fremdwahr- 
nehmungj  nie  einer  Eigen  Wahrnehmung;  und  Psychisches 
ist  primär  immer  dasjenige,  was  man  für  Irrtum,  Täu- 
schung oder  doch  für  etwas  irgendwie  Normwidriges 
hält. 

Auch  die  innere  Eigenwahmehmung  und  femer  alle  sog. 
Selbstbeobachtung  hat  sich  zwar  nicht  notwendig  genetisch 
ausbilden  müssen  unter  dem  Einfluß  schon  geübter  Fremd- 
wahmehmung;  aber  sie  ist  doch  ihrem  Wesen  nach  (als 
Aktart  und  Einstellungsart)  Fremdwahmehmung,  der  nur 
zufallig  nicht  das  dieser  Wahmehmungsart  adäquate  Ob- 
jekt, nämlich  der  »Fremde«  und  »Andere«  in  irgendeinem 
Exemplar,   sondern   die    eigenen   Ichmodifikationen    als 

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Probleme  der  Rcl  igion .  j  6  Q 

Gegenstand  untergelegt  werden.  Wir  können  auch  sagen : 
»Psychologisch«  sich  zu  sich  selbst  verhalten,  das  ist:  Sich 
so  zu  sich  verhalten,  als  sei  man  ein  Fremder  und 
Anderer. 

Femer:  Auch  zum  »Anderen«  ist  psychologisches  Ver- 
halten erst  möglich,  wo  man  die  natürlichen  Gnindverhalt* 
nisse  zwischen  geistigen  Subjekten,  —  das  Verhältnis  des 
intentionalen  Miteinandererlebens  derselben  Gegen- 
stände, Werte  usw.  und  das  Verhältnis  des  Verstehens 
—  aus  irgend  einem  Grunde  aufgegeben  hat.  Erst  wo  die 
Personalität  des  Anderen  verschwunden  ist  oder  scheint 
(am  deutlichsten  im  Wahnsinn)  oder  wo  wir  in  künstlicher 
Abstraktion  von  ihrem  Sein  absehen ,  femer  absehen  von 
dem  Intentionssinngehalt  seiner  Intentionen  (und  damit 
von  diesen  selbst)  ist  der  Andere  als  Gegenstand  möglicher 
Psychologie  gegeben.  Und  ganz  analog  muß  ich  auch  von 
meiner  eigenen  freien  Person  und  ihren  geistigen  Inten 
tionen  absehen,  sie  fiktiv  aufheben,  wennn  ich  die  Hal- 
tung der  sog.  Selbstwahmehmung  zu  mir  einnehmen  will. 

Und  endlich:  Urteilt  jemand  2X2=4,  so  ist  die  For- 
demng  einer  psychologischen  Erklärung  dafür,  daß  er 
2X2  =4  urteilt,  eine  absurdeForderung.  Nur  etwa,  warum 
er  jetzt  so,  in  diesem  Zusammenhang  und  nicht  in  jenem 
urteilt,  kann  sinnvoll  gefragt  werden.  Urteilt  aber  jemand 
2X2  =  5,  so  ist  auch  der  Inhalt  seines  Urteils^  nicht  nur 
das  Jetzturteilen  dieses  Inhalts,  möglicher  Gegenstand 
einer  psychologischen  Erklämng. 

•  Die  Psychologie  ist  also  primär  immer  Psychologie  des 
person-  und  geistentleerten  Anderen  und  Psycho- 
logie dessen,  was  man  der  meinenden  Intention  nach  für 
sinnfrei  oder  für  falsch  hält. 
24 


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JTO  ProWcmc  der  Religion. 

Dieser  noe tische  Ursprung  der  erklärenden  Psychologie 
{im  modernen  Sinn  des  Wortes)  ist  aber  auch  für  die  sog. 
Religionspsychologie  von  einiger  Bedeutung.  Religion  ist 
eben  nicht  —  wie  jene  Argumentation  meint  —  »auf  alle 
Fälle*  eine  psychische  Erscheinung.  Sie  ist  solche  nur, 
wenn  und  soweit  sie  auf  Täuschung  und  Irrtum  beruht 
oder  doch  bereits  als  solche  Täuschung  angesehen  wird. 
Wer  also  die  Religion  als  Gegenstand  der  Psychologie 
erforscht 3  der  hat  sie  von  der  Intention  ihres  Sinnes  bereits 
entleert  —  und  sei  es  auch  nur  fiktiv  und  gleichsam  ver- 
suchsweise 211  Forschungszwecken.  Wer  aber  der  Religion 
jegliche  mögliche  Wahrheit  abspricht,  der  sollte  nicht 
sagen  j  er  könne  dann  immer  noch  Religionspsychologie 
treiben.  Er  sollte  sagen:  »Es  gibt  nichts  von  dem,  was 
man  Religion  genannt  hat;  es  gibt  nur  eine  Gruppe 
psychischer  Erscheinungen,  die  man  fälschlicherweise  für 
den  besonderen  Inbegriff  gegenständlich  bezogener  Akte 
»Religion«  gehalten,  und  diese  Krankheitserscheinungen 
der  menschlichen  Seele  will  ich  erforschen.«  Dies  ist 
eine  sinnvolle  Ausdrucksweise,  wogegen  die  andere  sinn- 
los ist. 

Wenn  daher  die  moderne  erklärende  Religionspsycho- 
logie die  pathologischen,  anormalen  Erscheinungen  des 
religiösen  Lebens  offensichtlich  bevorzugt,  so  ist  dies 
keine  zufällige  Neigung,  sondern  beruht  auf  ihrem  Ur- 
sprung und  Wesen  selbst. 

Nicht  minder  ist  es  methodisch  irrig,  eine  religiös  und 
konfessionell  voraussetzungslose  mehr  als  deskrip- 
tive Religionspsychologie  für  möglich  zu  halten. 

Denn  erklärende  Psychologie  setzt  in  jedem  ihrer  Teile 
die  Realität  des  Objektgebietes  bereits  voraus,  dessen 


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Probleme  der  Religion.  3  7 1 

erlebte  Einwirkung  und  Rückwirkung  auf  die  Seele  sie 
untersucht.  So  setzt  jede  erklärende  Sinnespsychologie 
den  Begriff  des  Reizes,  also  ein  reales  Kausalverhältnis 
zwischen  den  Körpern  und  Energiearten  und  dem  Orga- 
nismus notwendig  voraus,  jede  deskriptive  Sinnespsycho- 
logie aber  zum  wenigsten  feste  Gegenstandsbestimmungen 
von  Farben,  Tönen  etc.  Wenden  wir  diesen  Satz  auf  unser 
Gebiet  an,  so  ergibt  sich:  Bestimmte  religiöse  reale  Ob- 
jekte müssen  schon  vorausgesetzt  sein,  wenn  man  den 
Versuch  macht,  ihre  Wirkung  auf  die  Seele  des  Menschen 
zu  erforschen. 

Wie  aber  kann  allein  diese  Voraussetzung  stattfinden? 
Die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  es,  die  für  die  Un- 
möglichkeit einer  interkonfessionellenReligionspsy  chologie 
entscheidend  ist.  Und  diese  Antwort  lautet:  Da  ein  reli- 
giöses Objekt  seinem  Wesen  nach  nur  durch  und  in  einem 
Akte  des  Glaubens  seine  mögliche  Realität  aufzuweisen 
vermag,  ist  für  alle  diejenigen,  die  den  je  betreffenden 
Glauben  an  eine  religiöse  Wirklichkeit  nicht  besitzen,  die 
Voraussetzung  gar  nicht  erfüllt,  unter  der  eine  erleb- 
bare Einwirkung  des  religiösen  Gegenstandes  auf  die 
Seele  beobachtet  und  erkannt  werden  kann. 

Es  ist  z.  B.  klar:  Niemand  kann  die  seelischen  Erleb- 
nisse, die  eine  fronmie  Beiwohnung  eines  Katholiken  bei 
der  hl.  Messe  auslöst,  irgendwie  auch  nur  beschreiben 
wollen,  der  den  Glauben  an  die  reale  Gegenwart  Christi 
im  Abendmahl  nicht  besitzt.  Er  kann  es  so  wenig,  wie 
derjenige,  der  total  erblindet  ist,  das  Empfinden  und  die 
Stimmungswirkung  wahmehmungslebhafter  Farben  be- 
schreibenkönnte. Eine  psychologische  Untersuchung  dieses 
Gegenstandes  kann  also  nur  bei  solchen  stattfinden,  die 

24* 


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^y  2  Probleme  der  Religion. 

dieses  Dogma  glauben,  nicht  aber  auch  unter  solchen,  deren 
einer  Teil  es  glaubt  und  deren  anderer  es  nicht  glaubt. 
Das  ist  eben  das  ganz  eigentümliche  Verhältnis,  das  bei 
der  Religionspsychologie  vorliegt,  daß  nur  im  Glauben 
die  Realität  des  Gegenstandes  gegeben  sein  kann,  um 
dessen  seelische  Rückwirkung  es  sich  handelt.  Auch  die 
sog.  Einfühlung  in  den  Glaubensakt  des  Anderen  —  von 
der  man  vielfach  gesprochen  hat  —  ersetzt  keineswegs 
den  Vollzug  des  Glaubensaktes.  Denn  erst  die  im  wirk- 
lichen und  echten  Glauben  erlebbare  Realität  des  reli- 
giösen Gegenstandes  und  Inhalts,  die  dem  Gegenstand 
des  nur  eingefiihlten  Glaubens  fehlt,  —  und  notwendig 
fehlt  —  ist  es,  die  den  zu  beobachtenden  psychischen  Tat- 
bestand als  diesen  und  keinen  anderen  hervorzubringen 
vermag. 

So  behält  zwar  die  nur  beschreibende  Religionspsycho- 
logie im  Unterschiede  zur  erklärenden  —  die  nur  auf  dem 
Boden  des  Unglaubens  überhaupt  möglich  ist  —  ihr  wohl- 
abgegrenztes Recht.  Aber  auch  diese  Religionspsychologie 
ist  nur  sinnvoll  und  möglich  innerhalb  einer  Glaubens- 
gemeinschaft, nicht  also  auch  zwischen  verschiedenen 
Glaubensgemeinschaften  oder  Mitgliedern  solcher  —  we- 
nigstens nicht  in  bezug  auf  die  seelische  Einwirkung  sol- 
cher Gegenstände,  die  durch  die  Verschiedenheit  der 
Glaubensstandpunkte  betroffen  werden.  Der  Religions- 
psychologien sind  also  soviele,  als  es  Glaubensgemein- 
schaften gibt.  Denn  erst  unter  Einwirkung  je  verschiede- 
ner Metaphysiken  und  Dogmatiken  ersteht  ja  der  hier 
> psychologisch«  zu  erforschende  seelische  Tatbestand,  — 
die  seelischen  Erlebnisse,  die  sich  in  der  Auffassung  der 
religiösen  Gegenstände  einstellen. 


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Probleme  der  Religion.  373 

Gewiß  gibt  es  neben  der  (atheistischen)  erklärenden  sog. 
Religionspsychologie  und  der  die  Einheit  der  Glaubensge- 
meinschaft voraussetzenden  deskriptiven  Religionspsycho- 
logie noch  eine  ganz  andere  Untersuchungsrichtung,  die 
wir  am  besten  bezeichnen  als:  Konkrete  Phänomenologie 
der  religiösen  Gegenstände  und  Akte.  Sie  ist  von  aller 
auf  das  »Wesen«  ausgehenden  eidologischen  oder  Wesens- 
phänomenologie  des  religiösen  Gegenstandes  und  Aktes 
natürlich  grundverschieden.  Denn  sie  geht  oder  zielt  ab 
auf  das  möglichst  vollständige  Verstehen  des  Sinnge- 
haltes einer  oder  mehrerer  positiver  Religionsbildungen 
und  femer  den  verstehenden  Nachvollzug  der  Akte,  in 
denen  diese  Sinngehalte  gegeben  waren  oder  sind.  So 
kann  ich  die  griechische  Götterwelt,  —  wie  sie  einer  be- 
stimmten Phase  der  griechischen  Religion  entsprach  — 
selbst,  —  nicht  also  bloß  die  Vorstellungen  der  Griechen 
von  ihr  —  in  ihrem  Gehalte  beschreiben,  ihre  systema- 
tische Rangordnung  erforschen,  ihr  Verhältnis  zu  Welt 
und  zum  Leben  der  Menschen  aufweisen.  Und  dasselbe 
kann  ich  tun  mit  den  Kultakten,  ihren  Formen  und  Arten, 
in  denen  sich  der  Grieche  dieser  Zeit  ihnen  zuwandte,  sie 
verehrte,  zu  ihnen  betete  usw.  Von  Psychologie  ist  hier 
überhaupt  keine  Rede,  da  ich  nur  das  konkrete  Intentions- 
und Aktmaterial  in  seinem  intentionalen  Verhältnis  zum 
positiven  Sinngehalt  seiner  Gegenstände  aus  dem  Ganzen 
der  »geistigen  Welt«  der  Griechen  dieses  Zeitalters  heraus- 
hebe —  von  der  Realität  dieser  Gegenstände  absehend. 
Die  seelische  Rückwirkung  der  Götter  im  deskriptiven 
psychologischen  Sinne  (als  erlebte  Einwirkung)  auf  das 
griechische  Seelenleben  bleibt  ja  hierbei  außer  Frage;  und 
selbstverständlich  bleibt  außer  Frage  die  Einwirkung  dieser 


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374  Probleme  der  Religion. 

Götter  im  Sinne  einer  objektiv  realen  Einwirkung,  da  ja 
diese  »Götter«  (nach  unseren  religiösen  Anschauungen) 
gar  nicht  real  existieren. 

Diese  konkrete  Phänomenologie  der  Religionen  ist  eine 
grundlegende  Disziplin  für  die  positive  systematische  Re- 
ligionswissenschaft und  eine  Voraussetzung  zugleich  für 
alle  auf  das  Werden  der  Religionen  gerichtete  Religions- 
geschichte, die  man  von  der  systematischen  Religions- 
wissenschaft, die  Bau  und  Gliederung  der  religiösen  Ob- 
jektenwelt der  Menschheit  selber  beschreibend  und  ver- 
gleichend erforscht,  ebenso  streng  scheiden  möge,  wie 
der  Jurist  seit  langem  gewohnt  ist,  eine  Untersuchung  z.  B. 
über  die  Dogmatik  und  Systematik  des  römischen  Rechts 
(zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte  der  römischen  Geschichte) 
zu  scheiden  von  Rechtsgeschichte,  als  welche  diese 
Rechtsbildung  in  ihrem  Werden  aus  den  gesamten  kul- 
turellen Kräften  der  vorhergehenden  Zeit  zu  verfolgen 
hat.  — 

Aber  von  all  den  genannten  Religionsdisziplinen  ist  nun 
grundlegend  verschieden  die  philosophische  Wesens- 
erkenntnis der  Religion. 

Sie  ist  weder  Metaphysik,  noch  natürliche  Theologie, 
noch  Erkenntnistheorie,  noch  erklärende  und  deskriptive 
Psychologie,  noch  konkrete  Phänomenologie  der  Religion, 
sondern  sie  ist  das  letzte  philosophische  Fundament  für 
alle  und  jede  andere  philosophische  und  wissenschafdiche 
Beschäftigung  mit  der  Religion.  Erst  ihre  Vollendung  läßt 
die  von  uns  behauptete  Selbständigkeit  der  Religion 
klar  erkennen :  Sowohl  dem  religiösen  Seins-  und  Gegen- 
standsgebiete nach  als  dem  religiösen  Aktgebiete  nach. 
Indem  sie  diese  Selbständigkeit  aufweist,  leistet  sie  aber 

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Probleme  der  Religion.  37c 

sofort  auch  ein  Zweites :  Sie  entwickelt  gleichzeitig  an  den 
religiösen  Objekten,  die  wir  in  der  positiven  Religions- 
wissenschaft als  geglaubte  vorfinden,  durch  Wesensschau 
die  Wesenheiten,  die  Wesenszusammenhänge  und  die 
Wesensstrukturen,  die  in  aller  vorgegebenen  religiösen 
Wirklichkeit  einer  positiven  Religion  erfiilltsind,  und  sie  ent- 
wickelt das,  was  wir  Sinnlogik  der  religiösen  Akte  nennen 
wollen,  d.  h.  die  der  religiösen  Vernunft  immanenten  Akt- 
gesetze. Diese  sindnichtansich  >  Normen « ,  sondern  wesens- 
mäßige Auf baugesetze  und  Folgerungsgesetze  der  reli- 
giösen Akte  selbst  untereinander  und  auseinander.  Aber  sie 
werden  Normen  für  das  empirische  Subjekt  »Mensch«. 
Da  alle  religiöse  Erkenntnis  aber  in  irgendeiner  Art  von 
Offenbarung  —  im  früher  bezeichneten  Wortsinn  —  ihre 
letzte  Quelle  hat,  so  hat  auch  die  gesamte  religiöse  Sinn- 
logik nur  die  eine  Bedeutung:  Sie  zeigt  die  gesetzmäßige 
Weise  auf,  nach  der  sich  die  religiöse  Vernunft  im  Men- 
schen in  die  Bereitschaft  setzt,  Offenbarungslicht  und  zwar 
Offenbarungslicht  aus  den  verschiedenen  stufenmäßig 
aufgebauten  Grundarten  der  Offenbarung  zu  empfangen. 
Auch  die  Befolgung  dieser  »Normen«  fuhrt  also  nur  an 
die  Schwelle  der  Aufnahme  von  Offenbarung,  deren 
Inhalt  dann  im  Glaubensakte  zu  ergreifen  und  im  evidenten 
Glauben  evident  zu  ergreifen  ist;  sie  fuhrt  nicht  zu  einem 
spontanen  Erkennen  Gottes  oder  gar  (wie  es  bei  Vielen 
scheint)  zu  einem  Erdenken  und  Konstruieren  der  relir 
giösen  Objekte. 


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376 


Probleme  der  Religion. 


1 


1 


II.  Die  Wesensphänomenologie  der  Religion. 
I.  Einteilung. 

Die  Wesensphänomenologie  der  Religion  hat  drd  Ziele : 
I.  Die  Wesensontik  des  »Göttlichen«;  2.  die  Lehre  von 
den  'Offenbarungsformen,  in  denen  das  Göttliche  sich  dem 
Menschen  aufweist  und  zeigt;  3.  die  Lehre  vom  religiösen 
Akt,  durch  den  der  Mensch  sich  für  die  Aufnahme  des 
Offenbarungsinhalts  vorbereitet  und  durch  den  er  ihn  im 
Glauben  ergreift.  Soweit  sich  das  Göttliche  selbst  darstellt 
und  aufweist  in  Sachen,  Ereignissen,  Ordnungen,  die  der 
für  Jeden  prinzipiell  zugänglichen  Naturwirklichkeit,  der 
seelischen  und  geschichtlich  gesellschaftlichen  Wirklichkeit 
aagehören,  reden  wir  von  natürlicher  Offenbarung, 
deren  subjektives  Korrelat  die  natürliche  Religion  ist.  So- 
weit es  hingegen  sich  darstellt  oder  kundgibt  durch  das 
Medium  des  Wortes  und  durch  Personen  (die  homines  reli- 
giosi  im  eminentesten  Sinne),  sei  von  positiver  Offenbarung 
gesprochen.  Soweit  das  »Götdiche«  ein  Sein  von  der  Form 
der  Personalität  ist,  vermag  es  sich  nur  in  der  letzten  — 
der  positiven  Form  der  Offenbarung  zu  offenbaren  und 
nur  soweit  die  Seinsform  der  Person  noch  nicht  in  ihm  ge- 
dacht ist  —  es  z.  B.  nur  bestimmt  ist  als  Ens  a  se,  un- 
endliches Sein,  ewige  Vernunft,  Geist  usw.  —  kann  es 
sich  auch  in  der  Form  natürlicher  Offenbarung  dem  Men- 
schen darstellen.  Es  gibt  ferner  eine  Wesenslehre  von  den 
Stufen  der  natürlichen  und  eine  Wesenslehre  von  den 
Stufen  der  positiven  Offenbarung.  Denn  wenn  sich  das 
Göttliche  auch  auf  allen  Stufen  des  Seins  irgendwie  offen- 
bart, so  offenbart  es  doch  auf  den  verschiedenen  Stufen 
verschiedene  Wesensbestimmungen    seiner    selbst    und 


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Probleme  der  Religion.  377 

offenbart  sich  auf  mehr  oder  weniger  adäquate  Weise. 
Es  offenbart  sich  anders  und  als  Anderes  in  einem  Fall 
vom  Wesen  des  kontingenten  Daseins  überhauptjin  der 
toten  Natur,  in  der  lebendigen  Natur^  in  der  Seele  des 
Menschen  und  in  Gesellschaft  und  Geschichte.  Und  in  ver- 
schiedenartigen religiösen  Akten  werden  diese  seine  ver- 
schiedenen Erscheinungsformen  ergriffen.  Durch  das  Wort 
aber  vermag  sich  das  Göttliche  nur  zu  offenbaren  j  sofern 
es  und  soweit  es  selbst  Person  ist  und  sofern  und  soweit 
es  sich  uns  in  Personen  offenbart.  Auch  diese  positiven 
Offenbarungsformen  aber  besitzen  Wesensstufen ^  inso- 
fern das  Göttliche  nur  Etwas  von  sich  offenbart  ~  einen 
geistigen  Inhalt,  Wissensinhalt,  Denkinhalt,  Willensinhalt 
oder  aber  sein  personales  Wesen  und  Sein  selbst:  Funk- 
tionsoffenbarung  und  Selbstoffenbarung.  Den  verschiede- 
nen Formen  des  Sichmitteilens  des  Göttlichen  an  und  durch 
Personen  entsprechen  femer  die  verschiedenen  Wesens- 
typen der  homines  religiosi,  die  zu  erkennen  wieder 
ein  großes  wichtiges  Forschungsgebiet  der  Wesensphäno- 
menologie  der  Religion  ist:  Sie  beginnen  bei  den  niedrig- 
sten Formen  und  reichen  bis  zur  denkbar  höchsten  hinauf. 
Der  Zauberer,  der  Magier,  der  Seher,  der  heilige  Lehrer, 
der  Prophet,  der  heilige  Gesetzgeber  und  Richter,  König 
und  Held,  der  Priester,  der  Heiland,  der  Krlösefj  der  Mitt- 
ler, der  Messias  und  schließlich  die  Idee  der  denkbar  hoch- 
sten  Form,  die  Wesensidee  der  Person,  der  Gott  sein 
eigenes  personales  Wesen  und  Sein  selber  mitteilt,  sind 
Beispiele,  deren  Wesen  und  Stufenordnung  eingehend  zu 
studieren  sind.  Der  Wesensunterschied  von  homo  religio- 
sus  (»Heiliger« )  als  Wertpersontypus  von  den  Wertperson- 
typen  des  Genius,  des  Helden  usw.  ist  dabei  in  einer 


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3/8  Probleme  der  Religion. 

eingehenden  Wesensuntersuchung  dieser  Typen  als  Grund- 
lage dieses  Lehrstücks  zuerst  zu  gewinnen^.  Der  Wesens- 
unterschied des  sog.  Religionsgründers  (des  ursprünglich 
Heiligen)  und  der  nur  abgeleiteten  homines  religiosi  (z.  B. 
des  Apostels,  des  nachfolgend  Heiligen,  des  Kirchenvaters, 
des  Kirchenlehrers,  des  »Reformators«,  des  »Zeugen«)  ist 
femer  klar  herauszustellen.  Auch  die  Wesenslehre  von  den 
soziologischen  Strukturformen  der  Gemeinschaften, 
an  welche  Offenbarung  als  Gesamtoffenbarung  (in  Unter- 
schied zu  individueller  Erleuchtung  und  zur  Gnade)  ver- 
mittels eines  »Repräsentanten«  ergeht,  sind  bei  der 
wesensmäßig  sozialen  Natur  aller  Religion  in  die  Wesens- 
phänomenologie  der  Religion  aufzunehmen.  Diesem  Lehr- 
stück entsprechen  genau  sowohl  die  wesensontischen  Be- 
stimmungen des  Göttlichen  als  Herr,  Schirmherr,  Ober- 
haupt, Gesetzgeber,  Richter,  König  der  Gemeinschaften 
(des  Volkes,  der  Familie,  der  Berufe  und  sonstiger  sozialer 
Funktionen,  der  Kirche  usw.)  als  die  religiösen  Gesamt- 
akte des  Kultes,  der  Liturgie,  des  gemeinschaftlichen  Ge- 
bets, der  Aiibetungs-  und  Verehrungsformen. 

Endlich  hat  die  Wesensphänomenologie  der  Religion 
auch  noch  die  geschichtlich  sukzessive  Ordnung  der  natür- 
lichen und  positiven  Offenbarungsformen  des  Göttlichen 
einer  Wesensuntersuchung  zu  unterziehen  —  ein  Lehr- 
stück, das  die  Grundlage  zu  aller  Geschichtsphilosphie  der 
Religion  bildet,  wie  das  erste  die  Grundlage  zu  aller  Lehre 
von  den  religiösen  Gemeinschaften  (Kirche,  Sekte,  Schule, 
Orden  usw.). 

Es  ist  nicht  unsere  Absicht,  an  dieser  Stelle  die  ganze 
Phänomenologie  der  Religion  auszubauen.  Wir  werden 


*■  Siehe  hierzu  den  Band  II  dieses  Werkes. 


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Probleme  der  Religion.  ^yg 

uns  im  wesentlichen  darauf  beschränken,  den  religiösen 
Akt  ausgiebiger  zu  behandeln.  Denn  an  ihm  und  seinen 
Sinngesetzen  wird  am  deutlichsten  klar,  wie  es  zu  einer 
in  sich  selbst  ruhenden  religiösen  Glaubensevidenz  kommt 
und  die  Religion  sich  nach  ihren  autonomen  Gesetzen  ent- 
faltet, fortbildet  und  höher  bildet. 

Aber  schon  um  die  Folgeordnung  der  Probleme  einzu- 
halten, —  wie  wir  sie  früher  bestimmten  —  haben  wir  zu- 
erst einiges  über  die  ontischen  Wesensbestimmungen 
des  Göttlichen  zu  sagen. 

2.  Das  Göttliche. 

Wie  auf  allen  Gebieten  der  Erkenntnis  das  Sein  und  der 
Gegenstand  dem  Menschen  früher  gegeben  sind  als  die 
Erkenntnis  des  Seins  und  erst  recht  die  Art  und  Weise, 
wie  ihm  diese  Erkenntnis  zugeht,  so  sind  auch  die  Gegen- 
stände vom  Wesen  des  »Götdichen«  — ^"Gott  oder  die 
Götter  —  zunächst  zu  dem  Urgegebenen  des  mensch- 
lichen Bewußtseins  selbst  gehörig.  Vermöge  der  natür- 
lichen religiösen  Akte  schaut,  denkt  und  fühlt  der  Mensch 
prinzipiell  an  allem  und  durch  alles,  was  ihm  sonst  als 
daseiend  und  soseiend  gegeben  ist,  sich  ihm  ein  Seiendes 
erschließen  (sich  ihm  »offenbaren«),  das  mindestens  zwei 
Wesensbestimmungen  besitzt:  es  ist  absolut  seiend 
und  es  ist  heilig.  Wie  mannigfaltig  auch  sonst  dieses 
heilige  absolut  Seiende  bestimmt  sei  in  primitiven  und 
entwickelten  Religionen  —  diese  Bestimmungen  trägt 
es  auf  alle  Fälle.  Immer  ist  es  ihm  gegeben  als  »abso- 
lut Seiendes«  d.  h.  als  ein  Seiendes,  das  allem  anderen 
Seienden  (einschließlich  dem  es  denkenden  Ich  selbst)  an 
Fähigkeit,  zu  »sein«  schlechthin  überlegen  ist  und  von 


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^So  Probleme  der  Religkm. 

dem  darum  der  Mensch  in  seinem  gesamten  Dasein 
wie  alles  andere  schlechthin  abhängig  ist.  Nicht  aus  einer 
zuerst  bewußten  oder  gefühlten  schlechthinigen  Abhängig- 
keit (diese  könnte  ja  immernoch  beruhen  auf  der  Schwäche 
des  betreffenden  Menschen,  auf  einem  zu  geringen  Einsatz 
an  Willensenergie,  auf  persönliche  oder  auf  historisch  zu 
geringe  Ausbildung  seiner  Fähigkeiten  usw.)  \rird  das  »ab- 
solut Seiende«  konstruiert,  erschlossen  oder  erdacht.  Es  ist 
vielmehr  die  positive  Bestinmiung  der  Allüberlegenheit 
eines  Seins  selbst  (derivativ  auch  seiner  dynamischen  Be- 
stimmungen, der  Macht,  der  Kräftigkeit  usw.),  die  ihm 
an  einem  bestimmten  Seienden  anschaulich  wird.  Und  nicht 
nur  er  selbst  ist  sich  gegeben  als  schlechthin  abhängig  von 
diesem  absolut  Seienden,  nur  in  sich  selbst  gegründeten  und 
»ruhendem«  Seienden,  sondern  auch  alles  übrige  Seiende 
— ohne  vorherige  induktive  Durchgehung  seines  Seins  und 
seiner  Qualitäten  —  er  selber  aber  nur  als  Teil  dieses  zu- 
fällig Seienden.  Eben  dieses  schlechthinige  Sichselbstein- 
schließen  in  die  Sphäre  des  relativ  Seienden — dieses  Sich- 
einschließen auch  bis  zum  letzten,  nur  erdenkbaren  Ich- 
punkt —  ist  für  die  religiöse  Erfassung  dieser  ersten 
Grundbestimmung  des  Götdichen  am  meisten  charakte- 
ristisch. Auch  irgend  eine  Scheidung  am  Menschen  von 
Seele  —  Körper,  Geist  —  Leib,  Ich  —  Du  usw.  ist  hierbei 
nicht  vollzogen.  Die  schlechthinige  Abhängigkeit  betrifft 
ihn  als  ungeteiltes  Ganzes  — als  einfaches  Stück  dieser 
»Welt«  — insofern  er  alles  relativ  Seiende  in  seiner  Tota- 
lität als  »Welt«  erfaßt.  Weder  von  einem  »Schluß«  noch 
von  einer  theoretischen,  philosophischen  Einsicht,  —  wie 
sie  dem  spg.  Kontingenzbeweis  zugrunde  liegt  —  ist  bei 
der  religiösen  Erfassung  dieses  ersten  Wesensinhalts  des 

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Probleme  der  Religion.  ^8 1 

Göttlichen  die  Rede.  Schon  darum  nicht,  weil  eben  nur  das- 
jenige relativ  Seiende,  das  die  je  primäre  Anzeigefunk- 
tion auf  das  absolute  Sein  eines  Seienden  besitzt,  der  Aus- 
gangspunkt solchen  Schlusses  sein  könnte,  dieses  Seiende 
selber  aber  erst  im  reflexiven  Rückblick  auf  die  Tatsache, 
es  habe  das  absolut  Seiende  =  das  Göttliche  »angezeigt«, 
seine  besondere  religiöse  Bedeutung  gewinnt.  »Offen- 
baren« heißt  aber  auch  hier  —  wie  überall  —  das  Gegen- 
teil von  allem  erdacht,  erschlossen,  abstrahiert  werden.  Es 
bedeutet,  daß,  indem  das  absolute  Sein  eines  »götdich« 
qualifizierten  Gegenstandes  von  sich  aus  und  aus  sich 
heraus  »durchscheinend«,  »durchblickend«  an  einem 
empirischen  Gegenstande  relativen  Seins  wird,  es  auch 
erst  durch  dieses  Durchscheinen  und  Durchblicken  den 
betreffenden  Gegenstand  heraushebt  unter  allen  anderen 
Gegenständen  des  relativen  Daseins.  Wie  das  Fenster 
eines  Hauses  sich  aus  der  übrigen  Fensterreihe  erst  da- 
durch heraushebt,  daß  ein  Mensch  aus  ihm  heraussieht, 
so  wird  der  endliche  Gegenstand  erst  dadurch  ein  »be- 
sonderer« und  »heiliger«,  daß  er  das  absolut  Seiende 
symbolisiert.  Mag  sich  die  metaphysische  Idee  des  Ens 
a  se  also  auch  noch  logisch  decken  mit  der  ersten  reli- 
giösen Bestimmung  das  Göttlichen,  so  ist  doch  der 
Weg  der  Erkenntnis  Beider  grundverschieden.  Der  korre- 
kte religiöse  Akt  nimmt  ein  Offenbarwerdendes,  Sich- 
selbstdarstellendes  (in  einem  Anderen)  auf;  der  metaphy- 
sische Erkenntnisakt  tritt  ihm  spontan  vermöge  logischer 
Operationen  entgegen.  Die  Relation,  die  im  »Offenbar- 
werden« steckt,  ist  eine  Relation,  die  in  die  Klasse  der 
symbolischen  und  anschaulichen  Relationen  gehört:  des 
(objektiven)  Zeichens  eins  für  etwas,  des  Hindeutens  eines 


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lg2  Probleme  der  Religion. 

Gegenstandes  auf  einen  anderen  Gegenstand,  eventuell 
und  bei  höheren  Offenbarungsformen  des  Sichkundgebens, 
Sichmitteilens,  Sichausdrückens.  Von  Relationsbegriffen 
ist  hierbei  so  wenig  die  Rede  wie  von  schließenden  oder 
deutenden,  resp.  bedeutungserfassenden  Operationen  des 
Denkens.  Der  Ausgangspunkt  der  symbolischen  Relation 
des  Sichdarstellens  ist  hier  auch  durchaus  nicht  ein  Inhalt 
des  menschlichen  Geistes  —  so  wie  sich  im  gesprochenen 
Wort  die  Bedeutung  des  Wortes  darstellt  —  sondern  es 
ist  der  Gegenstand  des  relativ  Seienden  selber,  an  und 
in  dem  sich  der  Träger  des  absoluten  Seins  darstellt,  in 
dem  er  »sich  erschließt« .  Es  ist  also  eine  Seinsrelation,  um 
die  es  sich  handelt  und  doch  keine  objektive  logische  — 
wie  Gleichheit,  Ähnlichkeit  —  oder  gar  kausale,  sondern 
eine  symbolische  und  Fall  für  Fall  anschauliche  Relation. 
Der  Geist  erblickt  sie  nur  im  religiösen  Akt.  Darum  auch 
der  unermeßliche  Unterschied,  daß  der  zum  Begriff  des 
Ens  a  se  fuhrende  metaphysische  Denkprozeß  an  jedem 
zufällig  und  relativ  Daseienden  ganz  unterschiedslos  ein- 
setzen kann,  wogegen  in  der  religiösen  Erfassung  dieser 
Gnindbestimmung  des  Göttlichen  stets  ganz  bestimmte 
einmalige  oder  doch  der  Art  nach  fest  umschriebene 
konkrete  Dinge,  Geschehnisse,  —  eventuell  auch 
psychische  Erlebnisse  —  es  sind,  in  und  an  denen  sich 
das  Göttliche  erschließt.  Alle  weitere  inhaltliche  Bestim- 
mung der  »Götter«  oder  »Gottes«  über  die  Wesens-Kate- 
gorie des  Göttlichen  überhaupt  hinaus  ist  dann  stets  von 
dem  Wesensgehalte  dieser  Dinge  und  Geschehnisse  auf 
mannigfache  Weise  mit  bestimmt. 

Auch  die  »Abhängigkeit«  der  Welt  von  dem  sich  also 
offenbarenden  absoluten  Sein  ist  nur  im  religiösen  Akt 


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Probleme  der  Religion.  383 

gegeben;  sie  ist  keine  logisch  objektive  oder  objektiv 
kausale  Abhängigkeit,  wie  sie  den  Relationen  von  Grund 
—  Folge,  Ursache  —  Wirkung  entspricht.  Sie  beruht 
vielmehr  auf  der  anschaulichen  Tätigkeit  des  »Wirkens«, 
die  als  unreduzierbarer  phänomenaler  Tatbestand  in  alle 
konkreten  Kausalbeziehungen,  die  wir  wahrnehmen,  ein- 
geht; die  aber  in  diesem  Falle  dadurch  ausgezeichnet  ist, 
daß  Gott  =  Ens  a  se  als  das  schlechthin  Wirksame, 
Kraft-  und  Machtvolle,  alles  übrige  als  das  schlechthin  Lei- 
dende und  Gewirkte  erscheint,  und  femer  erscheint  als  ein 
Gewirktes,  in  dem  sich  das  Wirksame  wiederum  dyna- 
misch und  syntbolisch  darstellt.  In  der  bloß  objektiven 
Kausalverknüpfung  zweier  Ereignisse  oder  Dinge  (vermit- 
tels ihrer  Tätigkeiten)  stellt  sich  die  Ursache  keineswegs 
in  der  Wirkung  dar;  man  kann  der  Wirkung  allein  nicht 
ansehen,  welches  ihre  Ursache  ist;  es  muß  induktive  Erfah- 
rung der  Verknüpfung  von  U  und  W  vorhergehen,  wenn 
man  von  W  auf  U  schließen  will  und  U  mehr  sein  soll  als 
»irgendeine«  Ursache.  Anders  im  religiösen  Akt,  der  das 
endliche  und  zufällige  Seiehde  als  »Kreatur«  des  über- 
mächtig oder  (im  Monotheismus)  des  »allmächtig«  Gött- 
lichen erfaßt.  Hier  erscheint  die  Kreatürlichkeit  der  Krea- 
tur von  vornherein  als  ein  phänomenales  Merkmal  auf- 
geprägt; sie  weist  daher  in  einer  Symbolbeziehung  auf  den 
Schöpfer  hin  und  sie  »spiegelt«  ihn  in  einer  je  einseitigen, 
inadäquaten  Weise.  Wohl  gehen  also  die  Relationen  von 
Grund  —  Folge,  Ursache  —  Wirkung  auch  ein  in  den  reli- 
giösen Erlebnisinhalt.  Aber  sie  sind  erlebte  Relationen, 
nicht  gedachte  und  sie  sind  Relationen,  die  immer  zu- 
gleich symbolische  Relationen  sind.  Darum  kann  von 
metaphysischen  Schlüssen  hier  nicht  die  Rede  sein.  In 


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384  Probleme  der  Religion. 

verschiedenartiger  Weise  —  die  je  entspricht  teils  der 
Höhe  und  Reinheit  der  Religion,  teils  den  verschiedenen 
Attributen  Gottes  —  »drückt  sich  Gott  aus«  in  den  Er- 
eignissen der  Natur — ja  ist  die  ganze  Natur  sein  Aus- 
drucksfeld —  so  wie  sich  auf  einem  menschlichen  An- 
gesichte Freude  oder  Trauer  ausdrückt  im  Lächeln  oder 
in  Tränen  oder  gibt  sich  darin  kund>  erweist  sich  darin 
als  mächtig  und  wirksam.  Überall  steckt  hier  in  und  neben 
der  anschaulichen  Kausalverknüpfung  noch  eine  symbo- 
lische Relation,  die  nicht  zwischen  der  bloßen  Kausalität 
obwaltet.  Daß  eine  bestimmte  Säure  ein  Lakmuspapier 
blau  oder  rot  färben  wird,  das  können  wir  der  Säure  allein 
nicht  entnehmen  —  wie  genau  wir  auch  ihre  Bestandteile 
kennen.  Noch  weniger  umgekehrt  aus  dem  Blausein  die 
Ursache.  Erst  die  Regelmäßigkeitsvoraussetzung  erlaubt 
uns  nach  vielen  Induktionen  hier  einen  Schluß.  Der  Inhalt 
der  Wirkung  ist  nicht  analytisch  im  Inhalte  der  Ursache 
enthalten.  Gibt  es  —  wie  hier,  wo  es  sich  nicht  um  viele 
Götter  und  viele  Welten  handelt,  sondern  um  das  kon- 
krete Kausal  Verhältnis  einer  Welt  zu  e  i  n  e  m  Gott — über- 
haupt keine  »Regelmäßigkeit«,  so  könnten  wir  aus  der 
bloßen  Kausalität  von  Gott  und  Welt  gar  nichts  aus- 
sagen über  das  Was  der  Weltursache.  Ganz  anders  ist 
aber  z.  B.  das  Verhältnis  des  Kunstwerks  zum  Geiste  des 
Künsders  und  der  individuellen  Natur  dieses  Geistes.  Ge- 
wiß ist  der  Künsder  auch  Ursache  seines  Werks.  Aber 
darüber  hinaus  enthält  auch  das  Werk  phänomenal 
Etwas  vom  geistigen  individuellen  Wesen  des  Künsders; 
es  spiegelt  ihn,  sein  Geist  lebt  in  ihm,  ist  uns  im  Werke 
gegenwärtig.  Auch  der  Inhalt  der  Wirkung  deutet  hier 
von  sich  aus  hin  auf  das  Wesen  des  Werkmeisters  —  und 


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Probleme  der  Religion.     ,  ige 

ohne  vorherige  Kenntnis  dieses  Werkmeisters.  Das  Werk 
ist  darum  »ein  Rembrandt«,  »ein  Grünewald«  usw.  Schon 
in  einem  Handwerkserzeugnis  ist  dies  nicht  mehr  der  Fall 
Denn  hier  hat  ein  Werkmeister  nur  eine  überlieferte  Form 
mit  Stoff  ausgekleidet  (z.  B.  eine  Tischform  mit  Holz). 
Inmierhin  schließen  wir  auf  .die  Ursache  des  Tisches  wie 
auf  die  Ursache  eines  Naturereignisses.  Denn  den  Tat- 
bestand, daß  der  Tisch  ein  »Menschenwerk«  ist,  resp. 
daß  Vernunft  und  Werktätigkeit  bei  seiner  Herstellung 
beteiligt  waren,  sehen  wir  dem  Tische  selber  an,  ehe  wir 
seine  Werkmeister  kennen.  Ein  Gegenwärtigsein  Gottes 
in  der  Kreatur,  analog  wie  der  Künstler  im  Kunst- 
werk gegenwärtig  ist,  wird  im  religiösen  Akt  sichtig 
und  fühlbar. 

Diesen  zwei  Grundbestimmungen  des  Götdichen,  dem 
Ens  a  se  und  der  übermächtigen  oder  allmächtigen  Wirk- 
samkeit, entsprechen  genau  zwei  erlebte  Rückwirkun- 
gen auf  das  im  religiösen  Akt  als  sich  offenbarend 
ergriffenen  Göttlichen  auf  das  menschliche  Erleben: 
das  Erlebnis  der  partiellen  Nichtigkeit  und  Unfähigkeit 
alles  relativen  Seins  und  das  Erlebnis  der  Kreatürlich- 
keit  alles  relativen  Seins  und  des  eigenen  Seins  als 
eines  Teiles  oder  Gliedes  davon.  Beide  Erlebnisse  können 
erst  auftreten,  wenn  die  beiden  Grundbestimmungen  des 
Göttlichen  im  religiösen  Akte  schon  ergriffen  sind  —  oder 
doch  im  Maße  als  sie  es  sind  und  als  sie  dem  Geiste  gegen- 
wärtig sind. 

Sie  sind  daher  keineswegs  natürliche  seelische  Erleb- 
nisse, aus  denen  man  Gott  erst  erschließen  müßte  oder 
erschließen  könnte.  Denn  erst  angesichts  Gottes  als  des 
Ens  a  se  erfolgt  jene  überaus  charakteristische  »Umkehr« 
25 


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ß86  .      Probleme  der  Religion. 

des  Daseinsphänomens  im  unmittelbaren  Erleben^  die 
das  vor  dem  Vollzug  des  religiösen  Akts  als  nur  positiv 
daseiend  Gegebene  als  relativ  Nichtseiendes,  ja  als  relativ 
Nichtiges  erscheinen  läßt.  Diese  Umkehr  der  Betrach- 
tung kann  jeder  sich  in  ihrem  Wesen  an  sich  selbst  veran- 
schaulichen, der  aus  einem  Zustand  außerhalb  der  religiö- 
sen Aktsphäre  in  einen  Zustand  innerhalb  dieser  Sphäre 
im  Erleben  übergeht.  Nicht  vor  dem  nur  gedachten 
Begriff  des  Ens  a  se,  sondern  erst  vor  dem  im  religiösen 
Akte  sich  an  irgendeinem  Gegenstande  natürlich  offen- 
barenden Ens  a  se  erhält  alles  übrige  Daseiende  den 
mehr  oder  weniger  intensiven  Nichtigkeitscharakten 
»Ich  nichts  —  Du  alles«  ist  der  primitivste  Ausdruck  des 
religiösen  Bewußtseins  in  jedem  ersten  Stadium  seines 
Werdens.  Erst  im  Rückblick  auf  das  positiv  Seiende,  das 
jedes  Ding  noch  ist  und  das  auch  wir  selbst  als  Menschen 
noch  sind  —  abgesehen  von  diesem  partiellen  Nichtsein 
und  jener  Nichtigkeit,  die  uns  angesichts  Gottes  zuerst 
aufging  —  kann  das  zweite  Erlebnis  der  Geschaffenheit 
und  Geschöpflichkeit  eintreten.  In  ihm  durchdringt 
sich  beides:  die  in  der  Hingabe  an  Gott  erlebte  Nichtig- 
keit und  die  im  Akte  der  Selbstbehauptung  des  »noch« 
positiv  an  uns  Seienden  ergriffene  positive  Selbstheit. 
»Ich  bin  nicht  Nichts  schlechthin,  sondern  ein  Geschöpf 
Gottes«,  ist  der  Sinngehalt  des  zweiten  Erlebnisses. 

Auch  hier  handelt  es  sich  um  ein  Gewirktheits- 
erlebnis,  nicht  um  einen  Schluß  von  der  Wirkung  auf  die 
Ursache.  Es  geht  als  solches  voraus  dem  eigentlichen 
Geschöpflichkeitserlebnis,  das  bereits  die  Analogie  mit 
der  Wirksamkeit  des  persönlichen  WoUens  des  Menschen 
und  d.  h.  die  geistige  und  personalistische  Fassung  des 


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Probleme  der  Religion.  3  g  y 

Göttlichen  voraussetzt.  Denn  Schaffen  ist  was  anderes  als 
bloßes  Ursachesein  und  enthält  schon  die  geistige  Perso 
nalität  der  in  Frage  kommenden  Ursache.  So  wird  erst  auf 
theistischem  religiösem  Boden  das  Gewirktheitserlebnis 
zum  Geschöpflichkeitserlebnis.  Die  Metaphysik  kann  aller- 
dings auch  ihrerseits  zeigen,  daß  es  i.  im  Wesen  des 
zufälligen  Daseins  des  Gegenstandes  irgendeiner  vor- 
bestimmten Wesenssphäre  liegt,  einer  wirkenden  Ursache 
zu  ihrem  Dasein  zu  bedürfen  und  daß  2.  das  Realitäts- 
phänomen nur  im  erlebten  Widerstände  eines  Inhalts  zu 
einem  möglichen  Wollen  ursprünglich  gegeben  ist;  daß 
endlich  3.  nur  im  Falle  der  Art,  wie  uns  in  der  Realisierung 
eines  Willensprojekts  durch  das  Wollen  und  im  Wollen 
—  ganz  unangesehen  der  Mittelprozesse  eines  psycho- 
physischen  Organismus  und  Mechanismus  —  ein  ursprüng- 
liches Wirklichwerden  von  Etwas  nur  Gedachtem  ge- 
geben ist:  die  Artung  irgend  eines  möglichen  Wirklich- 
werdens eines  bloßen  Soseinsgehalts  überhaupt.  Alle 
Arten  der  Kausalität  zwischen  den  zufällig  daseienden 
Dingen  untereinander  betreffen  im  Gegensatz  zu  dieser 
Urkausalität  nicht  Wirklich  sein  und  Wirklichwerden 
eines  zufälligen  Daseienden  überhaupt,  sondern  nur 
der  zufälligen  Dinge  Anordnung  in  Zeit  und  Raum;  sie 
sind  daher  von  der  Idee  jener  ersten  Kausalität  des  Daseins 
irgendeines  Seienden  vermöge  eines  Ens  a  se  abgeleitet. 
Aber  so  sehr  der  religiöse  Akt,  in  dem  uns  die  Kreatur- 
lichkeit  der  Welt  und  unser  selbst  gegeben  wird,  diesen 
metaphysischen  Einsichten  gemäß  ist  und  im  Ergebnis  mit 
ihnen  übereinstimmt,  so  liegen  die  logischen  Operationen, 
durch  die  diese  metaphysischen  Einsichten  Zustandekom- 
men, doch  durchaus  nicht  in  dem  natürlichen  religiösen 

25* 


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%a  Probleme  der  ReligioQ. 

Akt,  durcli  den  uns  das  Gewirktheits-  und  Geschöpflich- 
keitserlebnis  gegeben  wird.  Man  kann  dies  Erlebnis  haben, 
ohne  also  zu  denken  und  zu  schließen;  und  man  kann  also 
denken  und  schließen,  ohne  es  zu  haben.  Auch  ein  Schluß 
des  Inhalts ;  es  müsse  die  Ursache  menschlicher  Vernunft 
und  die  Ursache  des  Daseins  der  ihren  Gedankenformen 
entsprechenden  Seinsformen,  gleichfalls  vernünftig,  —  ja 
vermöge  der  formalen  Verabsolutierung  und  Verunend- 
lichung  aller  göttlichen  Attribute  durch  das  Ens  a  se 
»absolut  und  unendlich  vernünftig«  sein,  ist  etwas  Grund- 
verschiedenes von  dem  erlebten  Hereinleuchten  der  unend- 
lichen Vernunft  in  die  endliche  Vernunft  und  ihrem  Her- 
ausleuchten aus  den  Dingen.  Dieses  erlebte  Hereinleuch- 
ten des  göttlichen  Attributes  in  das  Licht  der  endlichen 
Vernunft  drückt  der  Gedanke  des  hl.  Augustin  aus,  daß 
wir  alle  Dinge  »in  lumine  Dei«  erfassen,  sofern  wir  sie 
wahr  d.h.  so  erfassen,  wie  sie  in  sich  selbst  sind  —  ohne 
doch  dabei  Gott  selbst  anzuschauen. 

Mit  dem  Ens  a  se  und  der  alldurchdringenden  Wirk- 
kraft ist  in  der  Idee  des  Götdichen  notwendig  und  wesen- 
haft für  das  religiöse  Bewußtsein  ohne  weiteres  verknüpft 
die  Wertmodalität  des  Heiligen  mit  allen  ihr  zugehö- 
rigen reichen  Wertqualitäten. 

Die  Metaphysik  mag  versuchen,  diese  Verknüpfung  als 
eine  logisch  notwendige  auf  mannigfachen  Wegen  der  Ab- 
leitung und  des  Beweises  darzulegen.  So  z.  B.  ist  versucht 
worden,  von  der  Idee  des  Ens  a  se  (als  idealer  Grenze) 
aus  alle  Seinsarten  der  Dinge  in  eine  Reihe  zu  bringen, 
die  so  geartet  ist,  daß  die  Dinge  in  ihr  geordnet  werden 
nach  dem  Maße  und  Grade,  in  dem  sie  mehr  oder  weniger 
durch  sich  selbst  oder  nicht  durch  sich  selbst,  sondern 


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Probleme  der  Religion.  ^89 

ab  alio  sind.  In  diesem  Sinne  ist  der  Begriff  des  Seins- 
grades ein  durchaus  sinnvoller  und  berechtigter  Be- 
griff. Der  Mensch  z.  B.  als  selbständiges  Vemunftwesen 
ist  ohne  Zweifel  in  höherem  Grade  durch  sich  selbst  sei- 
end als  das  vemunftlose  Lebewesen;  dieses  als  ein  phä- 
nomenal »Sichselbst«  bewegendes  in  höherem  Grade  als 
der  tote  Körper,  der  sich  als  tot  eben  dadurch  erweist, 
daß  seine  Bewegungen  eindeutig  von  anderen  Körpern 
außer  ihm  determiniert  sind.  Indem  man  diese  Grade  der 
Seins- Vollkommenheit  als  Maß  auch  der  Wert  Vollkom- 
menheit des  Seienden  ansehen  zu  dürfen  meinte,  ging 
man  scheinbar  streng  analytisch  von  den  Seinsbestim- 
mungen zu  den  Wertbestinmiungen  des  Götdichen  über. 
Das  Ens  a  se  ist  dann  ohne  weiteres  auch  darum  das  Ens 
perfectissimum,  weil  sein  Sein  das  vollkommenste  ist: 
als  solches  mum  das  summum  bonum,  als  solches  aber 
das  absolut  Heilige.  Man  kann  noch  weiter  gehen.  Da  es 
Geistigkeit  und  Freiheit  (==  Ursacheseinkönnen  im  Unter- 
schiede von  Wirkungsein)  sind,  die  den  höchsten  Grad 
der  Seinsvollkommenheit  darstellen,  den  unter  allem  Sein 
ab  alio  überhaupt  die  Menschenseele  besitzt,  so  scheint 
es  auch  schon  im  Begriffe  eines  ens  a  se  =  ens  perfec- 
tissimum gelegen,  daß  es  —  wenn  es  wirklich  ist  —  auch 
absolut  geistig,  frei  und  vernünftig  sei. 

Wie. immer  es  nun  bestellt  sei  mit  dem  logischen  An- 
spruch solcher  Ableitungen  —  gewiß  ist,  daß  das  reli- 
giöse Bewußtsein  nicht  auf  diesem  Wege  zur  Idee  des 
heiligen  Gottes  kommt.  Daß  das  schlechthin  Wertvolle  und 
nur  durch  sich  und  in  sich  Wertvolle  auch  Dasein  besitzen 
müsse  —  nicht  daß  das  absolut  Seiende  notwendig  auch 
wertvoll  in  sich  sei  —  ist  ein  ontisches  synthetisches  Axiom 


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3^0  Probleme  ^cr  Religion. 

für  das  religiöse  Bewußtsein;  hierbei  ist  es  gleichg^tig, 
was  je  dem  Volk  oder  der  sonstigen  Trägerschaft  des  reli- 
giösen Bewußtseins  als  schlechthin  wertvoll  gelte.  Darum 
geht  die  Gottesliebe  —  nicht  verstanden  hier  als  Liebe 
zu  einem  schon  als  daseiend  vorausgesetzten  Gott,  son- 
dern als  qualitativer  Charakter  des  Liebesaktes  und 
seiner  Wesensrichtung  auf  »Etwas«  von  der  Wertmoda- 
li tat  des  Heiligen  —  ebenso  die  Gottesfurcht  —  analog 
im  Werden  jedes  bestimmten  religiösen  Bewußtseins 
selbst  dem  Glaubensakt  voran,  in  dem  das  Dasein  dieses 
bestimmten  »Götdichen«  gesetzt  wird.  Und  wiederum  ist 
es  ein  ontisches  synthetisches  Axiom  für  das  religiöse 
Bewußtsein,  daß  das  »schlechthin«  und  nur  dxu-ch  sich 
Wertvolle  von  der  Wertart  des  Heiligen  sei;  welche 
Wertart  in  keine  andersartige  Gruppe  von  Werten  — 
seien  es  logische  Erkenntniswerte,  axiologische,  mora- 
lische, ästhetische  usw.  —  aufzulösen  ist. 

Die  Wertart  des  Heiligen  selbst  mag  in  ihren  beson- 
deren Qualitäten  und  deren  Zusammensetzung 
innerhalb  der  Mannigfaltigkeit  der  positiven  Religionen 
sidi  als  weitgehend  veränderlich  darstellen.  Als  Wertart 
ist  sie  eine  absolut  feste  Größe,  die  sich  in  keinem  Sinne 
aus  irgend  etwas  anderem  »entwickelt«  hat.  Nur  das  kann 
die  Geschichte  der  menschlichen  Wertschätzungen  aller- 
orts zeigen,  daß  viele  Arten  und  Qualitäten  von  Werten, 
die  in  je  älteren  Entwicklungsstadien  in  die  »geltende« 
Wertart  des  Heiligen  aufgenommen  waren  —  religiöse 
»Sanktion«  besaßen  —  aus  ihr  allmählig  herausgefallen 
sind,  also  zu  außerreligiösen,  profanen  Werten  wurden. 
Ebenso  axiomatisch  gilt  der  Satz,  daß  das  Heilige  (d.  h. 
das  je  als  heilig  geltende)  allen  anderen  Werten  vorzu- 

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Probleme  der  Religion.  39 1 

ziehen  sei  und  daher  das  freie  Opfer  jedes  Gutes  einer 
anderen  Wertart  von  sich  aus  zu  fordern  das  Recht  habe*. 

Dieser  Grundsatz  ist  der  ewige  Verknüpfungs- 
grundsatz  von  Religion  und  Moral.  Das  »Opfer  für 
das  Heilige«  —  das  ist  die  Moral  der  Religion  selbst,  aber 
auch  die  Religion  der  Moral  selbst. 

Die  Qualitäten  des  Heiligen  hat  jüngst  ein  um  die 
Religionsphilosophie  höchst  verdienstvoller  Schriftsteller 
mit  bemerkenswerter  Freiheit  und  Tiefe  auseinander- 
gesetzt. 

Rudolf  Otto  unterscheidet  in  seinem  Buche  »Das 
Heilige«  eine  Mehrheit  von  Momenten  in  demjenigen, 
was  über  die  von  ihm  als  »rational«  zusammengefaßten 
Attribute  des  Göttlichen  hinaus  noch  als  »irrationaler« 
Überschuß  im  Heiligen  gelegen  ist.  Otto  gibt  diesen  Mo- 
menten besondere  lateinische  Namen,  um  sie  schon  in 
der  Benennung  vor  den  analogen,  aber  außer  religiösen 
,  Werten  auszuzeichnen.  So  fuhrt  er  auf  das  »Mysterium 
tremendum«,  das  Moment  der  »majestas«,  das  Moment 
des  »Energischen«,  das  Moment  das  »Mysteriösen«,  des 
»Faszinosum«  (d.  i.  das  Anziehende,  Bestrickende,  das 
dem  abdrängenden  Moment  des  tremendum  entgegen- 
wirkt), das  Bedeckung  und  Sühne  gewährende  Moment. 
So  wenig  ich  Ottos  religiöser  Erkenntnistheorie  folgen 
kann,  die  er  in  den  späteren  Abschnitten  seines  Buches 
entwickelt,  so  sehr  begrüße  ich  in  dem  rein  deskrip- 
tiven Abschnitt  seines  Buches  den  erstmaligen  ernst- 
lichen Versuch,  auf  dem  Wege  der  phänomenologischen 
Wesenserörterung  die  wichtigsten  Qualitäten  der  Wert- 

'  Vgl.  meine  Einteilung  der  Weitarten  in  dem  Buche:  »Der  Formalismus 
in  der  Ethik  und  die  materiale  Wertethik«. 


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3^2  Probleme  der  Religion. 

modalität  des  Heiligen  —  die  aller  und  jeder  Religion 
Gegenstandsbestimmtheit  ist  —  aufzuweisen.  Sehr  richtig 
und  ganz  im  Sinne  der  phänomenologischen  Methode  sagt 
Otto  über  den  Weg  seines  Vorgehens:  »Da  sie  (i.  e.  die 
Kategorie  des  Heiligen)  vollkommen  sui  generis  ist,  so  ist 
sie  wie  jedes  primäre  und  elementare  Datum  nicht  defini- 
bel  im  strengen  Sinne,  sondern  nur  erörterbar.  Man  kann 
dem  Hörer  zu  ihrem  Verständnis  nur  so  verhelfen,  daß 
man  versucht,  ihn  durch  Erörterung  zu  dem  Punkte  seines 
eigenen  Gemütes  zu  leiten,  wo  sie  ihm  dann  selber  sich 
regen,  entspringen  und  bewußt  werden  muß.  Man  kann 
dieses  Verfahren  unterstützen,  indem  man  ihr  Ähnliches 
oder  auch  ihr  charakterisch  Entgegengesetztes,  das  in  an- 
deren, bereits  bekannten  und  vertrauten  Gemütssphären 
vorkommt,  angibt  und  hinzufügt : » Unser  X  i  s  t  dieses  nicht, 
ist  aber  diesem  verwandt,  jenem  entgegengesetzt.  Wird 
es  dir  nun  nicht  selber  einfallen?«  Das  heißt:  »Unser  X 
ist  nicht  im  strengen  Sinne  lehrbar,  sondern  nur  anregbar, 
erweckbar  —  wie  alles,  was  ,aus  dem  Geiste^  kommt.« 
(S.  7.)  Diese  (mehr  negative)  Methode  des  sukzessiven 
Abschälens  des  einem  aufzuweisenden  (zu  »demonstrie- 
renden«) Phänomen  in  fühlbar  abgestufter  Weise  Ver- 
wandten, Entgegengesetzten  und  die  so  erfolgende  Heraus- 
schälung des  Phänomens ;  endlich  das  vor  den  geistigen 
Blick  Hinsetzen  des  herausgeschälten  Phänomens,  ist  der 
Weg,  der  zur  phänomenologischen  Wesensschau  führt. 
Die  Undefinierbarkeit  des  gesuchten  X  (per  genus  und 
differentia  specifica)  ist  geradezu  ein  sicheres  Kennzeichen 
dafür,  daß  es  sich  bei  dem  X  um  eine  echte,  elementare 
Was-heit  handelt,  die  letzte  Begriffe  fundiert,  aber  darum 
selbst  nicht  »begriffen«  werden  kann.  Denn  »Begreifen« 


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Probleme  der  Religion.  301 

heißt  eben  ein  durch  einen  Begriff  Gemeintes  auf  andere 
Begriffe  zurückfuhren.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  der  ratio- 
nalistische Philosoph  diese  Methode  meist  unfruchtbar 
schilt.  Indem  er  sich  ihres  Charakters  als  eines  geistigen 
Erweckungs-  und  Zeigeverfahrens  (in  das  mittelbares  Den- 
ken in  Urteilen  und  Schlüssen  nur  als  Mittel  eingeht,  den 
Geist  bis  an  die  Schwelle  des  zu  Erschauenden  hinzuleiten) 
nicht  bewußt  ist,  hält  er  sich  nur  an  diese  Urteile  und 
Schlüsse  und  übersieht  den  Sinn  und  Nerv  des  ganzen 
Verfahrens.  Er  findet  dann  mit  Wilhelm  Wundt,  die  Phäno- 
menologie sei  eine  ganz  unfruchtbare  Sache,  da  sie  aus 
negativen  Urteilen  bestehe  und  schließlich  immer  mit  einer 
Tautologie  (z.  B.  das  Heilige  ist  eben  —  das  Heilige) 
endige.  Das  unsagbar  Verkehrte  an  dieser  köstlichen  Be- 
merkung besteht  darin,  daß  die  negativen  Urteile,  die  bei 
diesem  Vorgehen  nur  geistige  Aufforderungen  bedeuten, 
den  Blick  des  Geistes  in  eine  veränderte  Richtung  zu 
lenken  (um  dem  Gemeinten  näher  zu  kommen)  von  Wundt 
als  theoretisch  rationale  Bestimmungen  einer  Sache  auf- 
gefaßt und  gelesen  wurden;  und  daß  die  vermeintliche 
»Tautologie«  nicht  gewonnen  wird  als  Aufforderung,  jetzt 
auf  das  überbegriffliche  Gegebene  und  Nurerschau- 
bare  hinzublicken, um  es  nach  seiner  vollzogenen  »Heraus- 
schälung« in  seiner  Selbstgegebenheit  selber  ins  Auge 
zu  fassen,  sondern  als  eine  theoretisch-rationale  Bestim- 
mung. Daß  sie  als  solche  absurd  wäre,  —  daran  zweifelt 
natürlich  kein  Mensch.^ 

Vielen,  die  diese  Methode  anwenden  (sei  es  auf  unserem 
oder  einem  anderen  Gebiet)  ist  es  viel  zu  wenig  bewußt, 
daß  sie  (als  pure  Methode)  im  Grunde  keine  andere  ist 

'  Vgl.  W.  Wundt's  Kritik  der  »Logischen  Untersuchungen«  £.  Husserls. 


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394  Probleme  der  Religion. 

als  diejenige  der  sog.  »negativen  Theologie«.  Denn  die 
negative  Theologiemethode  ist  selbst  nur  der  tiefen  Er- 
kenntnis entsprungen,  daß  das  Göttliche  und  Heilige  als 
solches  eine  urgegebene  Qualität  ist,  die  nur  durch  Ab- 
schälung von  Anderem  und  durch  Analogie  langsam  auf- 
gewiesen werden  kann;  die  alle  Begriffe  vom  Göttlichen 
—  positive  wie  negative  —  zu  erfüllen  berufen  ist,  selbst 
aber  unbegreiflich  ist.  Ja  die  Phänomenologie  überhaupt 
ist  —  im  Laufe  der  Geschichte  des  Plotinismus  —  als 
Einstellung  und  Methode  gerade  auf  theologischem  Boden 
zuerst  angewandt  worden.  Auch  die  »negative  Theo- 
logie« ist  sehr  häufig  jenem  Mißverständnis  ausgesetzt 
gewesen,  als  habe  sie  mit  ihren  Negationen  das  Göttliche 
theoretisch  bestimmen,  nicht  aber  umgekehrt  verhüten 
wollen,  daß  es  —  vor  seiner  Wesenserfassung  —  vor- 
eilig überhaupt  rational  bestimmt  werde.  Man  braucht 
sich  nur  eine  stets  wiederkehrende  Tatsache  aller  reli- 
giösen Sprache  klar  zu  machen,  um  den  Sinn  der  nega- 
tiven Theologie  zu  verstehen.  Diese  Tatsache. ist  das  un- 
geheure Mißverhältnis,  das  im  sprachlich-rationalen  Aus- 
druck und  in  der  Kundgabe  des  religiösen  Gotteserleb- 
nisses besteht  zwischen  eigentlich  und  positiv  der  An- 
schauung Gegebenem  und  den  oft,  ja  meist  nur  negativen 
Bestimmungen  des  Gegebenen.  Otto  gibt  selbst  einmal 
ein  sehr  treffendes,  ja  schlagendes  Beispiel.  (S.  36.)  »Was 
kein  Auge  gesehen,  kein  Ohr  gehört,  was  in  keines  Men- 
schen Herz  gekommen  ist«  —  wer  fühlte  nicht  den  Hoch- 
klang der  Worte  und  das  Rauschende,  Dionysische  in 
ihnen.?  Lehrreich  ist  an  ihnen,  daß  in  solchen  Worten,  in 
denen  das  Gefühl  sein  Höchstes  sagen  möchte,  auch  alle 
»Bilder«  wieder  zurücktreten,  daß  das  Gemüt  hier  »von 


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Probleme  der  Religion.  jg^ 

Bildern  kommt«  und  zu  rem  Negativem  greift.  Und  noch 
lehrreicher,  daß  wir  beim  Lesen  und  Hören 
solcher  Worte  ihr  nur  Negatives  —  gar  nicht 
merken.  Daß  wir  uns  an  ganzen  Ketten  solcher  Nega- 
tionen entzücken,  ja  berauschen  können,  und  daß  ganze 
Hymnen  tiefster  Eindrücklichkeit  gedichtet  worden  sind, 
in  denen  eigentlich  nichts  steht.  Lehrreich  ist  das  für  den 
Umstand,  wie  unabhängig  von  begrifflicher  Ausdrücklich - 
keit  der  positive  Gehalt  ist,  wie  stark  er  erfaß tj  wie 
gründlich  er  verstanden,  wie  tief  er  gewürdigt  werden 
kann,  rein  mit,  in  und  aus  dem  Gefühl  selbst.  Wird  nun 
die  negative  Theologie  rationalistisch  mißverstanden,  so 
behält  der  Leser  oder  Hörer  nur  die  rein  negativen  Sätze 
selber  in  der  Hand,  anstatt  das  positiv  Gegebene^  das 
diese  Sätze  uns  aus  dem  Chaos  des  Endlichen,  Ungött- 
lichen oder  nur  analogisch-ähnlichen  aussondern  und  vor 
den  Blick  des  Geistes  stellen  wollen.  Und  ebenso  gilt- 
Wird  die  negative  Theologie,  die  ihrem  Wesen  nach  mehr 
mystische  Techne  und  Kunst  ist  als  Theorie,  von  ihrem 
Vertreter  selbst  als  rationale  Theorie  genommen,  so 
führt  sie  mit  Notwendigkeit  in  religiösen  Nihilismus,  ^ 
ja  sogar  in  den  Atheismus.  Denn  ein  Gegenstand  mit 
nur  negativen  Bestimmungen  ist  —  außer  der  formalen 
Gegenstandsbestimmtheit  eben  —  »nichts«.  So  tritt 
durch  solches  Mißverständnis  an  die  Stelle  der  positiv- 
sten höchsten  Seins-  und  Wertfülle  deren  gerades  Gegen- 
teil —  das  Nichts. 

Wird  aber  die  negative  Theologie  —  oder  besser  ihre 
Methode  —  richtig  und  der  Sache  angemessen  verstan- 
den, so  gilt  der  Satz,  daß  sie  das  Fundament  ist  für 
alle  positive  Theologie  —  nicht  aber  umgekelirt  diese 


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igg  Probleme  der  Religion. 

das  Fundament  jener;  so  gewiß,  als  die  eidetische  Phäno- 
menologie jeder  Gegenstandsgruppe  das  letzte  Funda- 
ment ist  für  die  positive  Wissenschaft,  die  sich  mit  dieser 
Gruppe  von  <jegenständen  beschäftigt.  Alle  positiven 
begrifflichen  Bestimmungen  Gottes  sind  also  ihrem  Wesen 
nach  —  als  begriffliche  nämlich  —  nur  Quasibestimmun- 
gen oder  analogische  Bestimmungen.  Die  Abmessung,  wie 
weit  diese  analogischen  Bestimmungen  das  Gemeinte 
treffen  oder  nicht,  kann  nicht  nur  vorgenommen  werden 
durch  Prüfung  des  rationalen  durchsichtigen  Zusammen- 
hangs dieser  Bestimmungen  untereinander  —  obzwar 
auch  dieser  Zusammenhang  eine  Forderung  ist,  deren  Er- 
füllung in  der  Glaubenserkenntnis  weiterführen  kann.  Die 
letzte  Entscheidung  aber  über  den  Erkenntniswert 
jeder  solchen  Analogie  (und  damit  jeder  positiven  begriff- 
lichen Bestimmung)  und  über  das  je  besondere  Maß  dieses 
Erkenntnis  wertes,  trifft  autonom  nach  seinen  eigenen  Ge- 
setzen das  religiöse  Bewußtsein  angesichts  der  ihm  selbst- 
gegebenen und  durch  die  Methode  der  negativen  Theo- 
logie als  selbstgegeben  aufweisbaren  Qualitäten  des  Gött- 
lichen (und  ihrer  je  besonderen  Ausgestaltung). 

3.  Die  Attribute  Gottes  in  der  natürlichen  Religion. 

Die  drei  Bestimmtheiten:  Ens  a  se,  Unendlichkeit,  All- 
wirksamkeit und  Heiligkeit  sind  die  formalsten  Bestimmt- 
heiten eines  Seins  und  Gegenstandes  vom  Wesen  des 
»Göttlichen«.  Als  solche  sind  sie  eingewickelt  in  den  in- 
tentionalen  Gegenständen  jeglicher  Religion  —  der  nie- 
dersten wie  der  höchsten  und  absoluten.  Sie  sind  die 
einzigen,  die  das  Gegenstandsgebiet  einer  religiösen 
Bewußtseinsweise  unbedingt  konstituieren  und  umgren- 


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Probleme  der  Religion.  307 

zen  —  im  Unterschiede  zu  allen  anderen  Gegenständen 
möglichen  Bewußtseins. 

Prinzipiell  können  diese  Attribute  den  zugehörigen  reli- 
giösen Akten  an  jeglichem  Seienden  —  wie  immer  es 
sonst  beschaffen  sei,  ob  es  der  Natur,  der  Geschichte,  der 
Seele  des  Menschen  angehöre  —  offenbar  werden.  Sie 
sind  auf  kein  materiales  Seinsgebiet  beschränkt.  Aber  sie 
»stanmien«  auch  aus  keinem  in  dem  Sinne,  daß  sie  aus 
Gegenständen  vor  religiöser  Erfahrung  auf  irgendeine 
Weise  abstrahiert  wären  oder  durch  Idealisierung  oder 
Analogisierung  aus  ihnen  gewonnen  wären.  Der  außer- 
religiöse empirische  Gegenstand  ist  immer  nur  zweierlei 
für  sie:  Für  das  Subjekt  das  Sprungbrett,  auf  dem  sich 
der  religiöse  Akt  zu  ihnen  hinaufschwingt,  für  das  jeweilig 
Reale  des  Göttlichen  der  Gegenstand,  an  dem  und  durch 
den  es  offenbar  wird. 

Die  religiösen  Akte  und  ihr  objektiver  Gegen- 
stands-, Seins-Wertbereich  stellen  also  ein  ebenso 
ursprüngliches  in  sich  geschlossenes  Ganzes  dar  wie  etwa 
die  Akte  vom  Wesen  der  äußeren  Wahrnehmung 
und  die  Außenwelt.  Erforschen  wir  sie  nach  ihrem 
Wesensgehalt,  so  hat  diese  Forschung  noch  gar  nichts 
zu  tun  mit  der  Frage,  welche  der  Akte  vom  Wesen 
der  religiösen  Akte  »richtig«  oder  »falsch«  sind  und 
welche  der  Gegenstände  vom  Wesen  der  religiösen  »wirk- 
lich« sind  oder  nur  >  eingebildet«.  So  wenig  jede  astro- 
nomische Vorstellung  z.  B.  die  des  Thaies  von  der  Sonne 
eine  »richtige«  ist,  aber  als  »astronomische«  eben  doch 
wesensverschieden  ist  von  einer  etwa  psychologischen,  so 
wenig  muß  ein  religiöser  Gegenstand  z.  B.  Apollo,  Arte- 
mis, der  primitivste  Fetisch  —  auch  schon  der  wahren 


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^^8  Probleme  der  Religion. 

Religion  und  ihrem  Gotte  entsprechen:  er  bleibt  darum 
doch  zu  einer  Sphäre  von  Wirklichkeit  und  Wert 
»gehörig«,  die  als  solche  Sphäre  ebenso  gewiß  und  so 
unableitbar  von  Uranfang  an  besteht  wie  jene  des  Stern- 
himmels —  wie  lang^sam  auch  und  vielseitig  die  Bilder 
und  Begriffe  von  beiden  Sphären  sich  im  Laufe  der 
menschlichen  Geschichte  entwickeln. 

Daß  der  Mensch  also,  auf  welcher  Stufe  seiner  reli- 
giösen Entwicklung  er  sich  auch  befinde,  immer 
und  von  vornherein  in  einen  von  der  gesamten  übrigen 
Erfahrungswelt  grundverschiedenen  Seins-  und  Wert- 
bereich hineinblickt,  der  weder  aus  dieser  Erfahrungswelt 
erschlossen  ist  noch  durch  Idealisierung  an  ihr  gewonnen, 
der  femer  nur  und  ausschließlich  zugänglich  ist  durch 
den  religiösen  Akt:  das  ist  die  erste  sichere  Wahrheit 
aller  Religionsphänomenologie. 

Es  ist  der  Satz  von  der  UrsprüngHchkeit  und  Un- 
ableitbarkeit  religiöser  Erfahrung. 

Sowohl  alle  genetischen  Probleme,  die  natürliche  Reli- 
gion betreffen,  als  alle  Fragen  nach  der  wahren  und  fal- 
schen Religion,  also  auch  alle  Rechtfertigungsprobleme 
setzen  diesen  Satz  voraus;  sie  dürfen  nicht  verquickt  werden 
mit  dieser  Frage. 

Wie  mannigfaltig  und  reich  Religion  sich  immer  ent- 
falten und  entwickeln  möge,  so  erfolgt  doch  diese  ge- 
samte Entwicklung  —  soweit  sie  nicht  in  der  kon- 
kreten Wirklichkeit  gestört  und  abgelenkt  wird 
durch  die  Wirksamkeit  außerreligiöser  Kulturpotenzen 
—  einzig  allein  innerhalb  dieser  Sphäre  des  religiösen 
Seinsbereichs  und  des  religiösen  Akts,  in  dem  der  Bereich 
zugängig  wird. 


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Probleme  der  Religion.  299 

Eine  Entwicklung  des  Menschen  zur  Religion  überhaupt 
erforschen  zu  wollen,  ist  also  ein  widersinniges  Problem. 

Ebenso  widersinnig  ist  jede  Frage  nach  der  Entstehung 
des  religiösen  Gegenstandes  überhaupt  aus  der  Seele  des 
Menschen  und  die  Frage  nach  der  Entstehung  der  religiö- 
sen Objektvorstellung  als  solcher.  Sinnvoll  gefragt  kann 
nur  werden  nach  der  Entstehung  der  Bestimmtheit 
der  Materie  einer  religiösen  Objektvorstellung  aus 
einer  anderen.  Die  Religion  —  soweit  sie  sich  entwickelt 
—  entwickelt  sich  autogenetisch,  nicht  heterogenetisch; 
oder  besser  die  Religionen  transformieren  sich  —  von 
besonderen  Gottestaten  abgesehen  —  auseinander. 

Die  beliebte  Frage  nach  dem  geschichtlichen  Ursprung 
der  Religion  ist  also  so  widersinnig  wie  die  Frage  nach 
dem  geschichtlichen  Ursprung  der  Sprache  und  der  Ver- 
nunft. Wie  der  Besitz  von  Wort  und  Vernunft  den  Men- 
schen erst  zum  Menschen  macht  ^  (und  wesens verschieden 
vom  Tiere),  damit  aber  auch  den  ganzen  Bereich  m  ö  g  1  i  c  h  e  r 
historischer  Erfahrung  und  Erkenntnis  erst  umschreibt,  so 
ist  auch  der  Bezug  des  Menschen  auf  das  Götdiche  durch 
den  religiösen  Akt  und  durch  das  Offenbarwerden  des 
Göttlichen  für  das  Wesen  des  Menschen  konstitutiv. 
Sehr  treffend  und  plastisch  sagt  in  dieser  Hinsicht  auch 
Otto  in  bezug  auf  alle  (z.  B.  Paul  Natorps)  Versuche,  eine 
»Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  reinen  Vernunft« 
oder  der  »Humanität«  zu  finden:  »Und  übrigens  gleicht 
dies  Verfahren,  eine  Humanität  zu  konstruieren  vor  und 
abgesehen  von  dem  mächtigsten  Vermögen  des  homo, 
dem  Verfahren,  sich  einen  Normbegriff  des  Körpers  zu 

*  Vgl.  meinen  Aufsatz:  »Zur  Idee  des  Menschen«  in  meinen  Abhandlungen 
und  Aufisatzen  (»Vom  Umsturz  der  Werte«),  Bd.  I. 


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400  Probleme  der  Religion. 

bilden,  nachdem  man  ihm  den  Kopf  abgeschnitten  hat.  < 
(S.  40  des  oben  angeführten  Buches.) 

Nicht  weniger  widersinnig  ist  jede  Frage,  wie  der 
Mensch  von  vorreligiöser  Welterkenntnis  auf  das  Gött- 
liche überhaupt  gekommen  sei.  Denn  alle  Vorstel- 
lungen und  Ideen  vom  profan  und  endlich  Wirklichen  (das 
nur  innerhalb  der  theis  tischen  Kulturzone  als  jenes  eine, 
geordnete  Ganze  erscheint,  das  wir  die  »Welt«  nennen) 
haben  sich  überall  und  immer  unter  der  Determination 
bereits  vorhandener  religiöser  Ideen  gebildet;  sie  haben 
es  auch  da  noch,  wo  man  in  der  Erforschung  dieses  Wirk- 
lichen ausdrücklich  und  mit  Absicht  vom  Bestände  eines 
Göttlichen  absieht  oder  wo  man  seine  Realität  leugnet. 
Und  dem  entspricht  es  auch,  daß  sich  alle  mit  dem  Gan- 
zen der  Welt  beschäftigende  Vemunfterkenntnis,  die  Welt- 
weisheit, stets  und  überall  in  den  Spielräumen  von 
Möglichkeiten  bewegt  und  bewegt  hat,  welche  die  je 
herrschenden  besonderen  formalen  Kategorien  der  natür- 
lichen Religion  (nicht  der  positiv  durch  Personen  offen- 
barten) ihr  vorgeschrieben  haben.  >  Vorgeschrieben  < ,  nicht 
im  Sinne  bewußter  Vorschrift,  sondern  im  Sinne  eines  Fun- 
dierungsgesetzes  des  menschlichen  Geistes  in  der  Aus- 
übung seiner  Erkenntnisfähigkeiten  nach  der  Ordnung 
seiner  Erkenntnisarten.  Der  Mensch  kann  —  was  immer 
er  willkürlich  zu  tun  versucht  —  die  Welt  immer  nur  so 
erkennen  und  denken,  daß  sie  mögliches  abhängiges  Sein 
und  mögliche  Wirkung  desjenigen  Wirklichen  ist,  das  er 
primär  für  »göttlich«  hält  —  fiir  göttlich  freilich  nur  in 
der  Variationsbreite  der  genannten  drei  formalen  Kon- 
stituentien  des  Göttlichen.  So  garantiert  z.  B.  nur  die 
Einheit  Gottes  die  mögliche  Einheit  der  Welt. 


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Probleme  der  Religion.  ^O I 

Anders  —  und  prinzipiell  anders  —  steht  es,  wenn  wir 
über  diese  drei  formalen  Bestimmungen  des  Göttlichen 
und  die  durch  sein  Wesen  (essentia)  gefaßten  möglichen 
Gegenstände  hinausgehen  zu  neuen  Attributen  des  als 
»göttlich«  gegebenen  oder  in  Frage  kommenden  Realen. 
Denn  fiir  alle  ferneren  Attribute  wird  mm  mitbestim- 
mend die  Wesensgliederung  der  endlichen  Welttatsachen 
und  Weltwerte,  die  sich  an  der  ganzen  Welterfahrung 
dem  Menschen  erschließen  und  nach  denen  der  Mensch 
alles  zufällig  Seiende  auffaßt. 

Erst  bei  diesen  überformalen  Attributen  (z.  B.  Geist, 
Vernunft,  Wille,  Liebe,  Barmherzigkeit,  Allwissenheit, 
Allgüte,  Schöpfer  usw.)  setzt  auch  für  den  religiösen  Akt 
selbst  (nicht  nur  für  die  Metaphysik)  die  Methode  ein,  den 
realen  Träger  des  Wesens  »göttlich«  so  beschaffen  zu 
denken,  daß  diese  Welt  seine  mögliche  natürliche  We  s  e  n  s  - 
Offenbarung  und  sein  Werk,  sein  Geschöpf  sei,  d,  h. 
nachdem  wir  bereits  das  Glaubenswissen  besitzen,  es  sei 
Gott,  es  sei  die  Welt  und  sie  sei  ihrem  Soseinsgehalt  nach 
eine  Offenbarung  Gottes  und  sie  sei  ihrer  Realität  nach 
sein  Geschöpf,  geht  nun  der  Weg  der  weiteren  attribu- 
tiven Bestimmung  Gottes  von  dem  Wesensgehalt  der 
Welt  auf  diese  Attribute.  Obzwar  auch  hier  kein  Schließen 
vorliegt,  läßt  sich  doch  das  Verfahren  des  religiösen  Aktes 
in  die  Form  eines  Schlusses  bringen.  Aber  dieser  Schluß 
ist  kein  Kausalschluß,  sondern  ein  Analogieschluß;  und 
zwar  ein  Analogieschluß,  dessen  Glieder  ausschließlich 
erschaubare  Wesenheiten  und  Wesenszusammenhänge 
enthalten  müssen,  die  fiir  jede  mögliche  Welt  a  priori 
gelten.  Empirische  Begriffe  und  zufällige  Tatsachen- 
sätze können  also  niemals  in  diese  Quasischlüsse 
26 


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^02  Probleme  der  Religion. 

eingehen.  Nicht  das  »Daß«  der  Kausalität  Gottes  im  Ver- 
hältnis zur  Welt  und  nicht  das  »Daß«  seines  Offenbar- 
werdens, sondern  nur  das  wird  auf  diese  Weise  gefunden, 
was  Gott  sein  müsse,  damit  derjenige  Gehalt  seiner  natür- 
lichen Offenbarung  und  seines  Allwirkens  möglich  sei,  der 
sich  an  der  Welt  enthüllt.  Nicht  weil  Gott  die  Ursache  der 
Welt  ist  und  der  Satz  gälte,  es  könne  die  Wirkung  nicht 
vollkommener  sein  als  die  Ursache,  resp.  es  müsse  die 
Ursache  auch  die  Vollkommenheiten  der  Wirkung  in  sich 
enthalten,  ist  eö  notwendig,  die  Wesenheiten  der  Welt  auf 
Gott  (in  absoluter  und  unendlicher  Form)  zu  übertragen. 
Denn  dieser  vermeintliche  Kausalsatz  ist  an  sich  durchaus 
nicht  sicher.  Fortwährend  sehen  wir  ja,  wie  nach  festen 
Regeln  Vollkommeneres  aus  Unvollkommenerem  sich  bil- 
det. Alle  modernen  >  Evolutions  «theorien  halten  sogar 
diese  Art  von  Kausalität  für  diejenige,  die  grundsätzlich 
die  Wirklichkeit  beherrschte.  Darum  vielmehr,  weil  Gott 
in  der  Welt  und  ihrem  Wesensaufbau  offenbar  wird,  weil 
er  sich  symbolisch  in  ihr  spiegelt,  weil  ihre  Wesensein- 
heiten »Spuren«  und  Bedeutungen,  d.  i.  Hindeutungen 
auf  sein  Wesen  enthalten,  ist  diese  Übertragung  notwen- 
dig. Und  nur  weil  Gott  auch  Ursache  ist  des  Realseins 
einiger  dieser  Wesenheiten,  gilt  für  diese  Ursache  aller- 
dings auch  obiger  Kausalsatz.  Nicht  aber  gilt  er  für  Gott 
als  bloßen  »Anwendungsfall«  eines  allgemeingültigen 
Kausalprinzips.  Es  ist  also  die  symbolische  Beziehung, 
nicht  die  kausale  Beziehung  zwischen  Gott  und  Welt,  die 
zu  dieser  Übertragung  führt. 

Erst  diese  Übertragung  wird  zur  Grundlage  einer 
Gott  positive  Attribute  beilegenden  natürlichen 
Theologie  im  Unterschiede  zur  (richtig  verstandenen) 


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Probleme  der  Religion.  403 

Methode  der  negativen  Theologie;  die  stets  das  Funda- 
ment und  die  Grundlage  der  ersteren  ist.  Der  Preis  gleich- 
sam, mit  dem  diese  positiven  Bestimmungen  des  heiligen 
unendlichen,  allwirksamen  Ens  a  se  bezahlt  werden,  ist 
aber  ihre  bloß  inadäquate,  unausdrückliche  und  nur 
analogische  Geltung. 

Sie  sind  einmal  inadäquat;  d.  h.  es  ist  uns  schon 
in  der  natürlichen  Religion  und  Theologie  klar,  daß  das 
Wesen  Gottes  über  seine  formalen  Wesensbestimmungen 
hinaus  unendlich  reicher  sein  muß,  als  es  fiir  uns  Men- 
schen durch  diese  Methode  erkennbar  sein  kann.  Denn 
wenngleich  die  an  dieser  faktischen  Welt  gefundenen 
und  findbaren  Wesenheiten  und  Wesenszusammenhänge 
über  das  bloße  Faktum  dieser  Welt  grenzenlos  hinaus- 
gelten —  für  jede  mögliche  Welt,  so  fehlt  doch  unend- 
lich viel,  daß  sie  auch  darstellten  den  Inbegriff  aller  mög- 
lichen Wesenheiten  überhaupt.  Denn  nur  diejenigen 
Wesenheiten,  die  auch  von  dieser  Welt  in  irgendeiner 
Form  —  und  sei  es  nur  in  der  Form  möglicher  ficta  — 
realisiert  sind,  können  wir  finden.  Gott  aber  ist  als  Ens 
a  se  der  Inbegriff  nicht  nur  der  an  dieser  Welt  irgendwie 
realisierten,  sondern  der  Inbegriff  aller  möglichen 
Wesenheiten.  Darum  kann  uns  ein  natürliches  Wissen 
von  seinen  Attributen  nur  gegeben  sein,  soweit  er  sich  an 
dieser  Welt  offenbart.  Erst  eine  positive  Selbstoffen- 
barung in  heiligen  Personen  könnte  und  kann  uns  darüber 
hinausführen  und  uns  belehren  über  sein  Wesen,  wie 
es  ist  —  unabhängig  von  seinem  natürlichen  Offenbar- 
werden an  dieser  Welt.  In  dem  religiösen  Akt  der  Ehr- 
furcht vor  Gott  ist  uns  diese  Inadäquatheit  unserer  Er- 
kenntnis Gottes  —  dieses  sein  notwendiges  unendliches 

26» 


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404  Probleme  der  Rdigion. 

Hinausfließen  über  das  Blickfeld  auch  des  alle  Wesen- 
heiten der  Welt  adäquat  Erkennenden  noch  unmittelbar 
gegenwärtig.  Wir  erkennen  noch,  daß  wir  ihn  nicht  er- 
kennen, soweit  er  sich  nicht  im  Wesenscharakter  dieser 
Welt  spiegelt. 

Die  positiven  Bestimmungen  sind  femer  nur  unaus- 
drückliche »Attribute«  Gottes.  D.  h.  wir  wissen,  daß 
wir  mit  Ausdrücken  wie  Geist,  Vernunft,  Wille  usw.  Gottes 
keinerlei  Teile  —  weder  reale  Teile,  noch  abstrakte 
Teile  —  an  ihm  treffen,  sondern  nur  wesens-  und  grad- 
weis abgestufte  Ähnlichkeiten  herausheben,  die  ein 
vollkommen  Einfaches  und  Unteilbares  mit  dem  Wesen 
und  dem  je  verschiedenartigen  Wesen  des  teilbaren  und 
endlichen  Seins  besitzt.  ^  Oder  wir  können  auch  sagen :  Da 
Gott  seinem  Sein  nach  der  kategorialen  Scheidung  des 
Seienden  in  substanzielles  und  attributives  Sein  im  Grunde 
transzendent  ist  (diese  Scheidung  also  nur  dem  end- 
lichen Sein  als  solchem  angehört),  so  stellt  jedes  Attribut- 
sein sein  ganzes  Sein  vollständig  und  jeder  attributive 
Wesensinhalt  die  ganze  Fülle  seiner  einfachen  und  un- 
teilbaren Wesenheit  dar. 

Analogisch  aber  sind  die  positiven  Bestimmtheiten 
Gottes  darum,  weil  sie  —  dem  Wesen  der  göttlichen 
Seinsform  als  absoluten  und  unendlichen  Seins  folgend  — 
auch  ihrerseits  absolut  und  unendlich  sind.  Trotz  der 
Wesensähnlichkeit,  die  Gott  »als  Geist«  mit  dem  Wesen 
des  endlichen  Geistes  besitzt,  »als«  vernünftiger  Wille 
mit  dem  endlichen  vernünftigen  Willen  etc.,  besteht  daher 

*■  Hier  beruht  also  die  Ähnlichkeit  nicht  auf  einer  teilweisen  identitas 
parium,  sondern  die  Quasiidentitat,  die  wir  in  Sätzen  wie:  Gott  ist  Geist, 
Vernunft,  Wille  usw.  meinen,  beruht  nur  auf  Ähnlichkeit  Gottes  mit  dem 
Wese&sgehalt,  der  Begriffen  wie  Geist,  Vernunft  usw.  zugrundeliegt. 


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Prol^eme  der  Rdigton;  405 

nicht  nur  in  der  Existenz  und  der  Existenzart  eine  Ver- 
schiedenheit Gottes  als  unendlicher  Vernunft  etö.  von  der 
endlichen  Vernunft,  sondern  es  besteht  auch  eine  Wesens- 
verschiedenheit,  die  ja  Wesensähnlichkeit  (in  allen 
Graden)  nicht  ausschließt;  denn  ähnlich  kann  nur  sein, 
was  im  Soseih  verschieden  ist. 

Wie  die  Inadäquatheit  der  natürlichen  Gotteserkennt- 
nis, so  kommen  auch  diese  Unausdrücklichkeit  und  die  ana- 
logische Natur  der  göttlichen  Attribute  in  den  religiösen 
Akten  zur  Geltung.  Die  erstere  darin,  daß  Gott  dem  auf 
ihn  im  Gebete  und  in  der  Versenkung  bezogenen  From- 
men im  Maße  seiner  Annäherung  an  ihn  immer  mehr  und 
mehr  als  äggtiröv  gilt,  d.  h.  als  etwas,  das  Scheu  erweckt, 
die  Kategorien  unseres  Denkens  und  unserer  Sprache  auf 
es  anzuwenden.  Denn  wenn  es  gleich  auch  echte  Kate- 
gorien des  »Übersinnlichen«  gibt  (nämlich  die  rein  for- 
malen, wie  sie  vorher  gegeben  wurden),  so  sind  doch  die 
sämtlichen  Kategorien  unseres  Weltdenkens  und  des 
zugehörigen  Weltseins  (die  Kategorien  der  Außenwelt 
wie  der  Innenwelt)  evident  unzureichend,  das  Sein  und 
Wesen  Gottes  zu  treffen.  Haben  wir  etwa  die  Kategorien 
von  Substanz,  Potenz  und  Tätigkeit,  so  müssen  wir 
sagen,  es  falle  Gottes  Potenz  mit  seiner  Substanz,  seine 
Potenz  aber  mit  seiner  Tätigkeit  zusammen  in  Eins,  Und 
ähnlich  verhält  es  sich  in  bezug  auf  andere  Kategorien 
des  endlichen  Seins  ^.  Die  Analogienatur  unseres  Wissens 
der  positiven  Attribute  Gottes  aber  kommt  zum  Ausdruck 
indergroßenFreiheitderBildlichkeit  der  religiösen 

*  Selbstverständlich  auch  mit  der  Kategorie  von  Ursache  —  Wirkung, 
Zweck  —  Mittel.  Die  causa  prima  ist  nicht  nur  eine  andere  Ursache  wie 
alle  sonst  bekannten  Ursachen;  auch  ihr  Ursachesein  ist  ein  anderes  wie 
jedes  sonstige  Ursachesein. 


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j.o6  Probleme  der  Religion. 

Sprache,  ohne  daß  doch  im  ernsten  religiösen  Erlebnis 
diese  Bilder  je  anders  denn  als  Bilder  genommen  werden. 
Insofern  ist  die  Methodik  der  religiösen  Sprache  selbst 
meist  weit  sinniger  und  taktvoller,  aber  auch  adäquater 
als  jene  der  Metaphysik  und  Theologie.  Denn  diese  Me- 
thodik besteht  darin,  daß  vermöge  des  vorhergehenden, 
echt  religiösen  Bewußtseins,  Gott  sei  in  seinen  posi- 
tiven Bestimmungen  allen  eigentlichen  »Begriffen«  trans- 
zendent, das  fromme  Gemüt  eine  gfrofJe  Anzahl  oft  über- 
aus konkreter  Bilder  bezüglich  Gottes  gebraucht,  um 
erst  durch  das,  was  man  ihre  gegenseitige  Interferenz 
nennen  könnte,  eben  das  auszudrücken,  was  der  religiöse 
Akt  selbst  in  überbegrifflicherWeise  an  Gehalt  gegen- 
wärtig hat.  Das  Recht  dieses  Verfahrens  der  religiösen 
Sprache  ^  aber  ist  eben  in  dieser  prinzipiellen  Einsicht  in 
die  gleichmäßig  nur  analogische  Natur  aller  positiven 
Bestimmungen  Gottes  begründet.  Es  ist  nicht  minder  klar, 
daß  der  übersinnliche  Anschauungsgehalt  von  Grott,  der 
in  den  religiösen  Akten  selbst  —  und  nur  in  ihrem  leben- 
digen Vollzug  gegeben  ist,  nicht  nur  »einfach«  ist  im  Ver- 
hältnis zu  der  Vielzahl  der  Bilder,  sondern  auch  im  Ver- 
hältnis zum  Maß  ihrer  Bildlichkeit  und  des  Grades  der 
Ähnlichkeit,  die  zwischen  dem  symbolischen  Bilde  und 
dem  damit  »eigentlich«  Gemeinten  besteht*.  Denn  jene 
»Interferenz  der  Bilder«,  durch  die  sie  zusammenwirkend 

^  Die  innere  Methodik  der  religiösen  Sprache  g^f^z  aufzuklären,  bedürfte 
einer  besonderen,  sehr  eingehenden  Untersuchung  an  Beispielen,  die  hier 
nicht  vollzogen  werden  kann.  Man  denke  z.  B.  nur  an  die  Fülle  der  Be- 
stimmungen der  Gottesmutter  in  der  Lauretanischen  Litanei. 
■  Wie  könnte  sonst  die  größere  oder  geringere  Ähnlichkeit  der  Bilder  und 
Treffsicherheit  der  Gleichnisse  und  Analogien  dem  Bewußtsein  merkbar 
sein,  wenn  nicht  im  einfachen  Gegebenen  des  religiösen  Aktes  selber  ein 
Maß  für  diese  Ähnlichkeit  und  Treflfsicherheit  gelegen  wäre? 


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Probleme  der  Religion.  407 

das  die  Bildhaftigkeit  je  begründende  Moment  in  ihnen  zu 
einem  unteilbaren  Eindruck  zusammenströmen  lassen, 
aber  gleichzeitig  all  das  aneinander  abschleifen  und  für 
das  Meinen  auslöschen,  was  »nur«  Bild  und  »Gleichnis« 
an  ihnen  ist,  ist  nur  möglich  dadurch,  daß  Maß  und  Art 
der  Erfüllung  der  einzelnen  Bilder  im  Gegenstande  des 
religiösen  Aktes  vom  Geiste  noch  bemerkt  und  gleich- 
sam abgemessen  wird.  Es  ist  der  tiefe  Irrtum  alles 
Gnostizismus,  d.  h.  jedes  Versuches,  die  natürliche  Religion 
—  wenn  nicht  die  Religion  überhaupt — in  Begriffsmeta- 
physik aufgehen  zu  lassen  oder  diese  doch  als  »höhere 
Form«  der  Gotteserkenntnis  anzusehen,  daß  er  die  wesens- 
notwendig nur  analoge  Natur  aller  positiven  Bestim- 
mungen Gottes  verkennt.  Er  macht  die  kategorial  ge- 
faßten positiven  Prädikate  Gottes  zu  (mindestens)  ab- 
strakten oder  »metaphysischen«  Teilen  Gottes,  anstatt  zu 
sehen,  daß  sie  nur  relative  Erfüllungen  für  Analogien  des 
götdichen  Wesens  mit  einem  Ahnlichen  durch  das  einfache 
unteilbare  Wesen  Gottes  sind.  Von  diesem  Irrtum  aus, 
gegründet  in  dem  religiösen  Mangel  derEhrfurchtslosig- 
keit  vor  Gott,  als  liefSe  sich  Gott  adäquat,  ausdrücklich  und 
bildlos  direkt  »begreifen«,  erscheint  dem  Gnostizismus 
dann  die  religiöse  Sprache  mit  ihren  oft  stark  konkreten 
Bildern  »anthropomorph«  oder  nur  »Metaphysik  fürs  Volk« . 
So  urteilten  z.  B.  Spinoza,  Hegel,  Fichte,  Hartmann  und  an- 
■dere.  Aber  de  facto  liegt  die  Sache  genau  umgekehrt. 
Der  Anthropomorphismus  liegt  hier  beim  Herrn  Meta- 
physikus,  der  die  prinzipielle  Transzendenz  Gottes 
gegenüber  den  endlichen  Verstandeskategorien  und  die 
Wesensverschiedenheit  aller  göttlichen  positiven  Attri- 
bute von  den  gleichnamigen  menschlichen  verkennt  (wie 


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^o8  Probleme  der  Religion. 

die  deutschen  Pantheisten  z.  B.  göttliche  Vernunft  und 
menschliche  Vernunft  identifizieren),  also  nur  einen  quan- 
titativen Unterschied  (unendlich  und  endlich)  zwischen 
ihnen  anerkennt,  sonst  aber  Wesensidentität  setzt 
Der  religiöse  Mensch  (auch  der  ungebildetste)  weiß  da- 
gegen sehr  gut,  daß  all  seine  tausend  Bilder  und  Namen, 
die  er  Gott  gibt,  eben  auch  »nur«  Bilder  sind  imd  daß 
es  bei  ihnen  nur  ankommt  auf  Klärung  und  eventuell  Er- 
weckung (in  Anderen). des  ganz  einfachen  Gehaltes, 
der  ihm  in  seinem  religiösen  Akte  selbst  inadäquat  gegen- 
wärtig ist.  Niemand,  der  Grott  im  Vaterunser  Vater  nennt, 
hält  das  »Vater«  fiir  mehr  als  die  Analogie,  Gott  ver- 
halte sich  zum  Menschen  wie  der  Vater  zum  Kinde  — 
und  auch  dies  nur,  soweit  das  Wesen  der  Väterlichkeit 
und  Kindlichkeit  in  Frage  kommt  —  nicht  das  empirisch 
'  Gemeinsame  an  allen  faktischen  Vätern  und  Kindern.  Und 
darum  ist  nicht  die  Religion  »Metaphysik  fürs  Volk«, 
sondern  diese  Art  von  (gnostischer)  Metaphysik  ist  nur 
eine  schlechte  und  hochmütige  Standesquasireligion 
der  Gelehrten.  Denn  das,  was  an  den  gnostischen  Be- 
griffen dieser  päntheistischen  Metaphysiker  von  Gott  noch 
wahrhaft  religiösen  Wert  hat,  das  ist  selbst  nur  durch 
eine  gelehrte  Filtrierung  der  tradierten  religiösen  Sprache 
entstanden  und  unterscheidet  sich  von  dieser  nicht  durch 
das  Merkmal  des  direkten  Begreifens  gegenüber  indirek- 
tem, bildhaftem  Meinen,  sondern  nur  durch  die  Mattheit  * 
und  Blutlosigkeit  der  Bilder.  — 

Die  positiven  natürlichen  Attribute  Gottes  sind  —  so 
sagte  ich  —  dem  Wesensgehalt  der  Welt  entnommen. 
Ehe  ich  frage,  welches  diese  Attribute  sind  (im  Unter- 
schiede von  denen,  die  wir  die  formalen  nannten,  und  im 


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Problem^  der  Religion.  409 

Unterschiede  von  denen,  die  positiver  SelbstofFenbarung 
Gottes  in  heiligen  Personen  allein  verdankt  werden  kön- 
nen), sei  gefragt,  wie  sie  in  der  Sphäre  der  natürlichen 
Religion  der  Welt  entnommen  sind, 

Obzwar  hier  die  Gottesidee  des  Menschen  sich  von  sei- 
nem Weltwesensbilde  als  abhängig  erweist  (und  dies  im 
Gegenteile  zu  den  Formalbestimmungen  ^,  von  denen  — 
wie  wir  sehen  —  umgekehrt  das  Weltbild  bereits  seiner- 
seits abhängig  ist),  ist  es  doch  keineswegs  die  reflektierte 
philosophische  Form  des  Weltbildes,  von  der  die  posi- 
tiven Bestimmungen  der  Gottesidee  in  der  natürlichen 
Religion  abhängen.  Nur  die  natürliche  Theologie,  nicht 
die  natürliche  Religion  (als  Teilgehalt  jeder  konkreten 
Religion)  hängt  von  der  Philosophie  und  ihrer  Art  der 
methodischen  Wesenserkenntnis  ab.  Die  natürliche  Reli- 
gion in  allen  Religionen  hängt  vielmehr  ab  von  der  na- 
türlich-geschichtlichen Weltanschauungsform* 
der  Weltanschauung  des  Menschen,  resp.  der  Gemein- 
schaften und  Epochen  von  Menschen,  um  die  es  je  sich 
handelt. 

Es  ist  die  gesamte  Struktur  und  Gliederung  des  inten- 
tionalen Weltseins,  die  fundiert  durch  die  herrschendeRang- 

^  Für  die  Formalbestixnmungen  gilt  also  der  Satz,  daß  wir  Dasein  und 
Wesen  der  Welt  immer  schon  »im  Lichte«  eines  Göttlichen  erkennen  — 
dessen  subjektive  Auffassung  freilich  selbst  wieder  historisch  und  soziologisch 
variabel  ist.  Für  die  Materialbestimmungen  der  natürlichen  Attribute  Gottes 
hingegen  gilt,  daß  wir  sie  erst  erkennen  im  Lichte  unserer  Wesenseinsicht 
in  das  Weltwesen ;  daß  wir  hier  nicht  die  Welt  im  Lichte  Gottes,  sondern 
Gott  in  dem  Spiegel  der  Welt  erkennen.  Unbeschadet  der  qualitativen 
Variabilität  in  der  Auffassung  auch  des  formal  Göttlichen  ist  doch  die 
Variabilität  der  Au£&sstmg  der  positiven  Attribute  Gottes  nicht  nur  quan- 
titativ größer,  sondern  von  einer  ganz  anderen  höheren  Größendimension. 
*  Vgl.  die  Definition  des  Begriffes  von  Weltanschauung  und  »Weltanschau- 
ungsform«  in  dem  Aufsatz:  Vom  Wesen  der  Philosophie. 


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- 


^  I O  ProUeiiie  der  Retigioo. 

Ordnung  der  Werte  (»das  Ethos«),  vor  dem  Geiste  einer 
Gruppe  steht,  die  ihre  positive  lebendige  Gottesidee  be- 
stimmt. DieseWeltansdiauungsform  aber  ist  je  verschieden 
nach  Rasse,  Kulturkreis,  Nation,  Beruf*  —  wenn  auch  in 
den  Grenzen  der  natürlichen  Weltanschauungsformen  des 
Menschen  überhaupt.  Sie  kann  weit  abweichen  von  den 
Lehr  formein  eines  tradierten  Glaubenssystems,  ja  selbst 
—  ohne  daß  es  den  Gliedern  der  Gruppe  bewußt  zu  wer- 
den braucht  —  in  schroffstem  Gegensatze  dazu  stehen. 
Die  Menschen  können  z.  B.  in  der  Urteilssphäre  ihres 
Bewußtseins  fest  überzeugt  sein,  sie  huldigten  dem  christ- 
lichen Gottesbegriff  mit  all  seinen  traditionellen  Attributen 
der  Geistigkeit,  Liebe,  Güte,  Barmherzigkeit,  Gerechtig- 
keit. Dabei  können  sie  aber  gemäß  ihrer  tatsächlichen 
Weltanschauungsform  von  einer  ganz  andersartigen  Gottes  - 
idee  tatsächlich  beherrscht  sein.  Denn  eine  natürliche 
religiöse  Bewußtseinsstruktur  kann  nur  dann  z.  B.  die 
Geistigkeit  Gottes  in  sich  enthalten,  wenn  es  der  herr- 
schenden Weltanschauungsform  entspricht,  d.  h.  wenn  die 
Menschen  den  Geist  als  das  Herrschende,  Leitende,  Len- 
kende auch  in  ihrer  Mitte  erleben  —  nicht  aber  ganz  an- 
dfepg  Dinge  so  erleben:  z.  B.  die  ökonomische  Expansion, 
die  Macht  usw.  Es  besagt  also  auch  nicht  das  mindeste 
für  den  wahren  natürlichen  Glaubensgehalt  einer  Gruppe, 
wenn  ihre  intellektuellen  Vertreter  (ihre  Philosophen,  Theo- 
logen) den  christlichen  Gk)ttesbegriff  auf  den  Schulen 
]  ehren  und  wenn  sie  etwa  die  Machtlehre  Nietzsches  theo- 
retisch verwerfen.  Die  natürliche  Weltanschauung  und 

^  Vgl.  dazu  die  Weltanschauungscharakteristiken,  die  ich  in  meinem  Buche 
*Der  Genius  des  Krieges«  von  verschiedenen  Gruppen  gegeben  habe,  bes. 
im  Kapitel  >Die  Einheit  Europas«. 


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»^ 


f 


Probleme  der  Religion:  411 

Religion  dieser  Gruppe,  ja  diese  ihre  intellektuelien  Ver- 
treter selbst  können  dabei  von  einem  ganz-  andersartigen 
GottesbegrifF,  z.  B.  vom  Ideen- und  Wertgehalt,  der  Nietz- 
sches »Willen  zur  Macht«  entspricht,  de  facto  bewegt 
sein.  Das  Deutschland  vor  19 14  z.  B.  war  in  seiner  herr- 
schenden Weltanschauungs-  und  Weltwertungsform  aus- 
gesprochen materialistisch  und  seine  »Religion«  war  der 
Wille  zur  Macht  durch  ökonomische  und  militärische  Ex- 
pansion. Die  metaphysischen  Formeln  Nietzsches  waren 
seiner  faktischen  Weltanschauung  ungefähr  adäquat.  In- 
sofern konnte  es  gar  nicht  —  als  Ganzes  gesehen  —  von 
einer  natürlichen  Religion  bewegt  sein,  die  dem  Satze  ent- 
spräche: »Gott  ist  Geist«.  Das  s^loß  indes  durchaus 
nicht  aus,  daß  der  Lehrsatz  »Gott  ist  Geist«  in  allen 
Schulen  gelehrt  wurde,  daß  die  Majorität  der  Philosophen 
und  Theologen  an  den  Hochschulen  diesen  Satz  lehrten 
und  zu  beweisen  suchten;  daß  es  bewußten  Anhang  an 
die  Metaphysik  Nietzsches  nur  in  ganz  kleinen  Gruppen 
gab.  Die  natürliche  Theologie  kann  eben  von  der  natür- 
lichen herrschenden  Religion  in  jedem  beliebigen  Maße 
abweichen.  Darum  ist  aber  auch  der  Hinweis  auf  solche 
Verbreitung  der  »rechten  Lehre«  ohne  jede  Bedeutung, 
wenn  er  beweisen  soll,  die  deutsche  Weltanschauung  sei 
mehr  christlich  gewesen  als  den  Formeln  Nietzsches  ent- 
sprechend. Es  ist  vielmehr  sogar  die  Regel,  daß  die  herr- 
schenden Weltanschauungsformen  —  wenn  überhaupt 
ausgesprochen  —  nur  von  einer  ganz  kleinen  Minorität 
ausgesprochen  werden,  während  die  überwiegende  Majo- 
rität zwar  dieselbe  Weltanschauung  teilt,  aber  in  ihrer 
Urteilssphäre  Überzeugungen  anhängt,  die  überliefert 
sind  und  zu  dieser  sie  beherrschenden  Weltanschauung 


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4 1 2  Probleme  der  Religion. 

nicht  passen.  Der  Inhalt  des  lebendigen  Glaufoensaktes 
kann  vom  Glaubensurteil  weit  abweichen.  In  ihrer  Beson- 
derheit allgemein  erkannt  werden  die  Weltanschauungs- 
formen der  Gruppen  meist  erst,  wenn  sie  sich  ändern.  So- 
lange sie  herrschen,  haben  sie  den  Glaubenscharakter  der 
Selbstverständlichkeit  und  werden  —  gleich  dem  Druck 
der  Luft  —  nicht  empfunden  und  bemerkt. 

Die  natürlich-geschichdiche  Weltanschauungsform  und 
Ethosform  einer  Gruppe  zu  erkennen  und  zu  beschreiben 
—  femer  ihre  natürliche  Religion  —  ist  daher  von  größter 
Schwierigkeit.  Denn  es  gilt  hinter  die  Urteile  und  For- 
meln zu  sehen,  die  ausgesprochen  werden  —  ja  hinter  die 
ganze  Sphäre  der  Reflexion  auf  das  verborgene  schwe- 
bende Anschauliche,  das  jenseits  von  Urteil  und  Sprache 
die  Gruppe  geistig  bewegt  und  beherrscht.  Die  Iden- 
tität der  religiösen  Sprache  und  Glaubens-Formeln  in 
verschiedenen  Epochen,  bei  verschiedenen  Nationen  oder 
Berufen,  z.  B.  bei  Ackerbauern  und  Industriearbeitern,  läßt 
dem  natürlichen  Glauben  in  bezug  auf  den,  dem  Akte 
dieses  Glaubens  vorschwebenden  Gehalt  der  Idee 
Gottes  noch  den  weitesten  Spielraum.  Und  nur  dieses 
Vorschwebende  und  die  Bewegungen  des  Denkens  und 
Wollens  Leitende  und  Beherrschende  —  und  gar  nicht 
theoretische,  gelehrte  Meinungen  oder  traditionelle  nach- 
geredete Formeln  gehört  zum  Bestände  der  natürlichen 
Religion  selbst  und  ihrer  jeweiligen  Artung. 

Dahingegen  ist  der  Rekurs  auf  den  wesenhaften  Welt- 
aufbau durch  die  philosophische  Wesenserkenntnis 
hindurch  der  Weg,  den  die  natürliche  Theologie  als 
positive  Bestimmungsmethode  zu  gehen  hat,  um  die  posi- 
tiven Attribute  Gottes  zu  finden. 


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Probleme  der  Religion.  ^13 

Wenn  das  religiöse  Wissen  —  unabhängig  von  allen 
Schlüssen  aus  dem  Bestände  und  Wesen  der  Welt  — • 
feststeht,  es  gäbe  ein  absolut  heiliges  unendliches  Ens  a 
se,  und  wenn  der  religiöse  Akt  alles  endliche  Ens  ab  alio 
von  Gott  (in  diesem  formalen  Sinne)  als  schlechthin  ab- 
hängig und  soweit  es  reales  Sein  ist,  durch  es  gesetzt, 
getragen  und  erhalten  erfaßt  und  erlebt,  so  kann  alles 
der  Weltbetrachtung  entstammende  fernere  religiöse  Wis- 
sen um  Gott,  nur  mehr  die  Beschaffenheiten  betreffen, 
die  dem  Ens  a  se  zukommen.  Das  grundlegendste  und 
erste  positive  (analogische)  Attribut  Gottes  ist  aber  das 
Attribut  der  Geistigkeit. 

Daß  also  dasjenige,  was  sich  in  dieser  Welt  von  Gott 
als  ihrem  Grunde  offenbare  und  kundtue,  Geist  sei  — 
nicht  nur  eine  blinde  Allkraft,  nicht  nur  eine  triebhafte 
Macht,  nicht  nur  eine  Allseele,  nicht  nur  ein  All-Leben, 
erst  recht  nicht  ein  materielles  oder  ein  körperlidies  Sein 
—  dieses,  einem  Soseinsschluß,  nicht  einem  Daseinsschluß 
aus  der  Welt  äquivalente  religiöse  Wissen,  gilt  es  in  sei- 
nem religiösen  Ursprung  und  Sinn  zu  kennzeichnen. 

Mit  dem  Worte  Geist  ist  etwas  bezeichnet,  was  der 
Mensch  erfahrungsmäßig  nur  findet  oder  doch  finden  kann 
in  und  an  der  Welt  und  zwar  an  dem  Teile  der  Welt,  der 
er  selbst  ist.  Wie  kommt  aber  der  Mensch  dazu,  Gott 
als  den  Grund  der  ganzen  Welt  (der  doch  nicht  nur  Geist 
ist,  sondern  außer  Geist  ganz  andere  Tatsachengruppen 
und  ganz  andere  Ursachenarten  enthält)  mit  einem  po- 
sitiven Attribute  auszustatten,  das  nur  an  einem  so  klei- 
nen Teile  der  Welt  gefunden  wird,  wie  es  das  menschliche 
Geschlecht  ist  —  ein  Geschlecht  auf  diesem  kleinen,  kos- 
misch abgelegenen  Planeten?  Da  die  Geistigkeit  Gottes 


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jLlA  Probleme  der  Religion. 

durchaus  nicht  aus  dem  Begriffe  das  Ens  a  se  odpr  der 
Heiligkeit  analytisch  zu  entwickeln  ist,  so  besteht  ein 
sinnvoller  Grund  der  Annahme  (sowohl  in  objektiver  Be- 
ziehung als  in  Hinsicht  auf  sinnvolle  Motivierung  nur  in 
dem  einen  Falle,  daß  der  Mensch  —  ganz  unabhängig 
nodi  von  der  Voraussetzung  des  Daseins  Gottes  — 
nicht  nur  sich  selbst,  sondern  auch,  die  ganze  Wel^  als 
durchgeistet  anschaut  und  erlebt.  Nur  wenn  der  am 
Menschen  gefundene  Inbegriff  sinnvoller  Akte  und  Akt- 
korrelate, der  »Geist«  heißt,  mehr  und  noch  ein  Ande- 
res ist  als  ein  bloßes  »Stück«  oder  ein  »Teil«  der  Welt, 
ist  es  möglich,  Gott  analogisch  Geistigkeit  zuzusprechen. 

Die  Sinngesetze,  nach  denen  der  religiöse  Akt  Gott 
als  Geist  erfaßt  —  die  er  »befolgt«,  ohne  um  sie  in  der 
Reflexion  wissen  zu  müssen,  sind  nun  im  Grunde  über- 
aus einfacher  Art. 

Erste  Bedingung  dafür  ist,  daß  der  Mensch,  der  diesen 
religiösen  Akt  vollzieht,  seinen  Kern  —  seine  Ichstelle  — 
selbst  im  Aktzentrum  seiner  geistigen  Akte  erlebe,  nicht 
also  primär  in  seinem  Leibe,  nicht  in  seinen  wahrnehmbaren 
seelischen  Zuständen.  Geistige  Akte  sind  nicht  innerlich 
wahrnehmbar,  beobachtbar:  sie  sind  nur  als  vollziehbare 
und  existieren  nur  in  ihrem  Vollzug*.  Die  Art  aber,  wie  der 
Mensch  sich  selbst  und  das,  als  w  a  s  er  sich  selbst  gegeben  ist, 
kann  in  weitem  Spielraum  von  Möglichkeiten  wechseln.  Ich 
habe  anderwärts  die  zwei  Grundphänomene  beschrieben,  in 
deren  einem  derMensch  sein  geistiges  Aktzentrum  als  seinen 
Kern,  als  den  Herrn  seiner  Triebregungen  und  Lenker 
und  Leiter  seiner  sinnlichen  Funktionen,  femer  als  das 

'  Oder  in  erlebter  Aktregung,  die  das  spezifizierte  Bewußtsein  des  «Kön- 
nens« (dieser  Aktart)  anzeigt,  d.  h.  die  Aktpotenz. 


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Probleme  der  Religion.  ^.  I  ^ 

Konstante  erlebt,  an  dem  die  Triebregungen  und  Emp- 
findungen gleichsam  vorüberfließen;  und  das  andere  polar 
entgegengesetzte  Phänomen,  bei  deni  er  seine  Kern-  imd 
Ichstelle  im  Leibe  hat,  alles  aber,  was  an  geistigen  Akten 
in  ihm  ist,  nur  als  flüchtige  Hülsen  und  Begleiterschei- 
nungen zu  diesem  konstanten  Leib  ihm  gegeben  ist^.  Von 
diesen  zwei  polaren  Wesensarten  der  Selbstgegeben- 
heit schließt  die  letztere  in  dem  Maße,  als  sie  realisiert 
ist,  den  Vollzug  des  religiösen  Aktes  des  Glaubenswissens, 
>daß  Gott  Geist«  sei,  aus.  Die  erstere  Art  ist  also  auf 
alle  Fälle  eine  Fundamentalbedingung  fiir  seinen  Voll- 
zug. Nur  sofern  der  Mensch  und  im  Maße,  als  er  selbst 
im  Geiste  und  nicht  im  Bauche  (wie  der  Apostel  sagt) 
lebt,  vermag  er  im  religiösen  Akt  Gott  als  Geist  zu 
erkennen.  Hier  ist  wieder  ein  Grundunterschied  zwischen 
metaphysischem  und  religiösem  Wissen.  Denn  die  Wahr- 
heit, es  sei  der  Weltgrund  geistiger  Art,  kann  auch  die 
Metaphysik  ohne  diese  persönlich-moralische  Bedingung 
des  »Lebens  im  Geiste«,  des  Seinesubstanzhabens 
im  Geiste  erkennen.  Aber  diese  Erkenntnis  nur  in  der 
Urteilssphäre  des  Bewußtseins  bedeutet  religiös  gar 
nichts.  Ein  Mensch,  der  dies  Urteil  vollzieht,  kann  gleich- 
wohl nicht  in  seinem  geistigen  Aktzentrum,  sondern  in  sei- 
nem Bauche  sein  Zentrum,  sein  Ich  erleben  und  gewahren. 
Er  hat  dann  keinerlei  religiöse  Erkenntnis  Gottes  als 
Geist.  Auch  das  Umgekehrte  ist  nicht  ausgeschlossen: 
daß  jemand  metaphysisch-theoretisch  (durch  Tradition 
und  Milieuwirkung)  Naturalist  oder  Materialist  ist  und 
doch  diese  Vorbedingung  erfüllt,  Gott  als  Geist  religiös 
zu  erkennen.  Gewiß  ist  dann  seine  Metaphysik  und  sein 

^  S.  Formalismus:  Über  Leib  und  Person. 


d 

^ 


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4 1 6  Probleme  der  Religion. 

religiöses  Bewußtsein  widerspruchsvoll  und  imkompatibel. 
Aber  religiös  steht  er  der  Wahrheit  näher  als  der  spiritua- 
listische  Metaphysiker,  der  in  seinem  Bauche  lebt. 

Ist  der  Mensch  in  dieser  Wesensverfassung,  so  kann 
er  aber  auch  nicht  umhin,  auf  ganz  unmittelbare  Weise 
ein  Verhältnis  der  Welt  zu  den  Akten  des  Geistes 
inne  zu  werden,  das  in  der  Sprache  des  philosophischen 
Bewußtseins  also  zu  beschreiben  ist:  das  Sein  und  So- 
sein der  Welt  (jedes  beliebigen  Gegenstandes  der  Außen- 
welt und  Innenwelt)  ist  evident  unabhängig  von  dem  hie 
et  nunc  Dasein  irgendeines  dieses  Sein  als  Gegenstand 
er&ssenden  Aktes  und  irgendeines  Individuums.  Ob  das 
Seiende  in  irgendeine  der  Seinsrelationen  zu  einem  mensch- 
lichen Geiste  eingeht  oder  nicht,  die  da  heißen:  Erkennen 
—  intentionales  Sein,  Lieben  —  Wertsein,  Wollen  — 
Willenswiderstandsein,  das  setzt  weder  sein  S^n  noch 
hebt  es  sein  Sein  auf.  Diese  Wahrheit  ist  uns  evident  in 
jedem  Erkenntnisakte,  ja  in  jedem  geistigen  Akte  über- 
haupt gegeben.  Sie  ist  vom  Sinn  der  Worte  »Sein«  und 
»Gegenstand«  unabtrennbar^.  Ein  Vergleich  einer  Mehr- 
heit von  Akten  oder  des  in  ihnen  Identifizierbaren  ist  nicht 
nötig,  und  ebensowenig  ist  nötig  ein  Hinblick  auf  Bezieh- 
ungen und  auf  die  Ordnung  der  seienden  Gegenstände.  All 
dies  mag  wichtig  sein  flir  die  Art-  und  Formbestinunung  des 
Seins  und  (lir  seine  Zuordnung  zu  vorher  schon  bestimm- 
tem Wassein  oder  Sosein.  Davon  ist  hier  nicht  die  Rede. 

Aber  nicht  weniger  evident  ist  trotz  dieser  Wesens- 
unabhängigkeit  und  Wesenstranszendenz  alles  Seienden 

'  Dabei  ist  die  »Unabhängigkeit«  des  Gegenstandes  im  Bestände  vom 
Geiste,  —  also  auch  von  allem  hie  et  nunc  erlebten  Bewußtsein  von  Etwas 
eine  Folge  des  Seins  des  Gegenstandes,  nicht  etwa  Wesensdefinition 


i 


des  Seins. 


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Probleme  der  Religion.  ^  1 7 

vom  hic  et  nunc  vollzogenen  Akte  und  vom  Akte,  sofern 
er  von  diesem  oder  jenem  Individuum  vollzogen  ist,  daß 
gleichwohl  alles  mögliche  außergeistige  Seiende  von  einem 
möglichen  Geistseienden  in  wechselseitiger  Ab- 
hängigkeit stehe.  Aller  Erkenntnis  (ja  allen  intentionalen 
Akten)  muß  ein  Sein,  allem  Sein  eine  mögliche  Erkennt- 
nis entsprechen;  analog  allem  Lieben  und  Vorziehen  ein 
Wertbestand,  jedem  Wertbestand  ein  Lieben  und  Vor- 
ziehen. Das  ist  die  Wesensrelation  vom  Akt  als  nur  voll- 
ziehbarem Sein  und  vom  Gegenstande  als  daseiendem 
Sein  (beide  ihrem  Wesen  nach  genommen),  die  ich  auch 
anderwärts  als  eine  der  fundamentalsten  Einsichten  der 
Philosophie  entwickelte*. 

Was  aber  gilt  vom  Wesen  des  geistigen  Aktes  imd  des 
daseienden  Gegenstandes  als  solchem,  das  muß  auch  gel- 
ten für  alles  besondere  zufällig  Seiende,  das  diesem 
Wesen  und  jenem  entspricht. 

Die  Idee  eines  überhaupt  unerkennbaren  Seins  ist  also 
auf  Grund  dieses  Wesenszusammenhangs  und  auf  Grund 
des  Satzes  vom  Widerspruch  widerspruchsvoll.  Sie  ist  es 
aber  nicht  analytisch*,  d.  h.  nur  nach  dem  Widerspruchs- 
satze.  Und  ebenso  widerspruchsvoll  ist  aus  diesem  Grunde 
die  Idee  einer  irgendwie  vorgefundenen  Erkenn tnis- 
intention,  der  keinerlei  Daseiendes  entspräche. 

Diese  fundamentale  Einsicht  ist  —  obzwar  sie  am  Geiste 
des  Menschen  gefunden  ist,  ja  an  jedem  Akte  des  mensch- 
lichen Geistes  gefunden  werden  kann  —  doch  vom  zufäl- 
ligen Dasein  dieses  Geistes  und  des  Menschen  ganz  un- 

^  S.  Fonnalismus  in  der  Ethik. 

■  Dies  glaubt  falschlich  der  subjektive  Bewußtseinsidealismus,  der  Esse  = 

Percipi  setzt,  woraufhin  natürlich  die  Idee  eines  nichtpercipirbaren  Seins 

auch  analjrtisch  widerspruchsvoll  wäre. 

27 


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^  1 8  Probleme  der  Religion. 

abhängig.  Sie  zielt  auch  keineswegs  auf  die  besonderen 
Attribute,  die  der  Geist  als  menschlicher  Geist  besitzt, 
sondern  auf  das  ewige  Wesen  eines  Geistes  über- 
haupt. Sie  zielt  allein  auf  ein  konstitutives  Wesensverhält- 
nis von  Geist  und  Welt  als  solcher,  fiir  das  es  ganz  zu- 
fällig ist,  daß  es  am  Menschen  und  seiner  zufalligen  Er- 
fahrungswelt gefunden  ist.  Sie  ist  also  ebenso  unabhängig 
gültig  vom  Dasein  dieser  zufälligen  Welt,  gilt  vielmehr 
für  jede  mögliche  Welt  überhaupt. 

Es  sind  nun  aber  erst  die  beiden  fundamentalen  Ein- 
sichten  zusammengenommen  und  in  Eins  geschaut,  welche 
die  an  sich  einfache  religiöse  Grundintuition  des  Menschen 
»Gottes  als  Geist«,  d.h.  des  heiligen  Ens  a  se  als  Geist  er- 
geben: die  radikale  Daseinsunabhängigkeit  der  Welt  vom 
faktischen  Geiste  des  Menschen  resp.  ihre  evident  gegebene 
Transzendenz  (in  jedem  ihrer  Gegenstände)  gegenüber 
Allem,  was  dem  Menschengeiste  von  ihr  bewußtseins- 
immanent werden  kann,  und  ihr  gleichwohl  bestehendes 
fevidentes  wesensgemäßes  Abhängigsein  von  einem 
Geiste  überhaupt,  d.  h.  von  Etwas,  das  das  Wesen  der 
Geistigkeit  mit  dem  Menschen  gemein  hat.  Denn  eben 
daraus  folgt,  daß  dasselbe  Seiende,  das  dem  menschlichen 
Geiste  als  unabhängig  seiend  von  ihm  und  als  in  jedem' 
Gegenstande  ihm  transzendent,  d.  h.  sein  Bewußtsein 
überragend  gegeben  ist,  gleichwohl  schon  um  seines  Seins 
allein  willen^  eine  geistige  Macht  zum  Korrelate  haben 
muß  —  eine  geistige  Macht,  die  im  analogen  Verhältnis  zur 
Welt  (so  wie  sie  in  sich  selbst  ist)  steht,  wie  der  Mensch  als 
geistiges  Subjekt  zu  seiner  Umwelt.  In  einem  analogen, 

V  Nicht  also  erst  um  seiner  Beschaffenheit  willen  wie  Gesetzlichkeit,  Ord- 
nung, teleologischer  Aufbau. 


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Probleme  der  Religion;  419 

—  nicht  in  einem  gleichen.  Denn  gerade  die  erste  der  beiden 
Einsichten,  die  Einsicht  in  die  Unabhängigkeit  alles  Seien- 
den vom  Geiste  des  Menschen  und  in  die  Transzendenz  alles 
Seienden  als  Gegenstandes  über  jedes  menschliche  Bewußt- 
sein davon  hinaus,  weist  ja  schon  hin  auf  die  Verschieden- 
artigkeit der  beiden  Verhältnisse  und  schließt  damit  jeden 
Anthropomorphismus  aus.  Das  Sein,  das  unabhängig  »ist« 
vom  Sein  des  menschlichen  Geistes,  fordert  eben  auf  Grund 
der  Wesensabhängigkeit  des  Seins  von  einem  Geiste 
überhaupt  gleichzeitig  die  schlechthinige  Seinsabhängig- 
keit von  einem  Geiste  X,  der  wesensunmöglich  der  mensch- 
liche ist;  das  Sein  des  Gegenstandes,  der  evident  mensch- 
liches Bewußtsein  transzendiert,  fordert  einem  Geiste  voll 
immanent  zu  sein,  der  wesensunmöglich  der  mensch- 
liche ist. 

Wir  sind  also  in  der  eigentümlichen  Lage,  an  der  Re- 
lation des  menschlichen  Geistes  zur  Welt  eine  Wesens- 
abhängigkeit von  Welt  und  Geist  überhaupt  zu  erschauen, 
in  bezug  auf  die  es  doch  zugleich  sonnenklar  ist,  daß  der  • 
daseiende  Geist,  der  der  daseienden  Welt  diesem  Wesens- 
gesetz gemäß  korrespondiert,  keinesfalls  der  menschliche  ' 
ist,  ja  ein  Geist  vom  Wesen  des  menschlichen  Geistes  gar 
nicht  sein  kann.  Denn  daß  diese  Welt  existiert  unab- 
hängig vom  Dasein  und  Sosein  des  menschlichen  Gei- 
stes —  das  ist  ebenso  evident  wie  diese  erschaute  Wech- 
selabhängigkeit von  Geist  und  Welt  überhaupt.  Das  Da- 
seinsunabhängige (die  daseiende  Welt  vom  daseienden 
menschlichen  Geist)  ist  zugleich  qua  Welt  und  Geist 
überhaupt  wesensabhängig. 

Auch  in  die  Form  eines  Schlusses  kann  das  Gesagte 
gebracht  werden.  Seine  Teile  sind: 

27* 


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'-^5r?^^- 


420  Probleme  der  Religion. 

1.  Diese  Welt  ist  in  ihrem  Sein  unabhängig  vom  Da- 
sein meines  geistigen  Akts  und  vom  Dasein  jedes  Aktes 
desselben  Wesens;  jeder  ihrer  Gegenstände  ist  nur  teil- 
weise und  inadäquat  solchem  geistigen  Akte  (möglich) 
immanent. 

2.  Es  gehört  gleichwohl  zum  Sein  jeder  möglichen  Welt 
das  Sein  eines  möglichen  Geistes  und  zu  jedem  Gegen- 
stande volle  mögliche  Immanenz  dieses  Gegenstandes 
in  diesem  Geiste. 

3.  Also  gehört  auch  zur  Welt  ein  Geist,  der  —  wenn 
ich  die  Welt  setze  —  notwendig  mitzusetzen  ist  und  der 
(auf  Grund  der  ersten  Prämisse)  nicht  der  menschliche 
Geist  sein  kann  —  weder  seinem  Dasein  nach,  noch  seinem 
Wesen  nach. 

Aber  wiederum  ist  es  nicht  dieser  Schluß,  den  der  Mensch 
im  religiösen  Akte,  dadurch  er  Gottes  als  Geist  gewiß 
wird,  zöge.  Man  kann  nur  sagen,  daß  der  religiöse  Akt 
selbst  gemäß  den  entwickelten  Sätzen  sich  sinngemäß  be- 
tätige, daß  er  —  indem  er  am  menschlichen  Geiste  ein 
Urbild  des  Geistes  überhaupt  und  am  Verhältnis  des 
menschlichen  Geistes  zur  Welt  eine  wesensmäßige  Rela- 
tion von  Geist  und  Welt  überhaupt  erfasse  —  die  Idee 
dieses  Urbildes  sofort  auf  das  heilige  Ens  a  se  übertrage, 
das  ihm  vorher  schon  als  daseiend  gewiß  ist*. 

*  Es  gibt  theoretische  Philosophien,  die  freilich  —  wären  sie  wahr  —  dieses 
Sinngesetz  des  religiösen  Aktes  zerstörten.  So  der  erkenntnistheoretische 
»Idealismus«,  der  alles  Sein  zum  Inhalt  eines  möglichen  Bewußtseins  herab- 
setzen zu  dürfen  glaubt,  der  sowohl  den  Sinn  des  Begriffes  Sein  als  das 
Wesen  der  Transzendenz  des  Gegenstandes  und  des  Transzendenzbewufit- 
seins  verkennt.  (Berkeley,  Fichte.)  Denn  nur  dem  klar  erlebten  und  ge- 
sehenen Wider  streit  und  der  Spannung  zwischen  der  realen  Transzendenz 
der  Welt  gegenüber  dem  menschlichen  Bewußtsein  und  dem  am  mensch- 
lichen Geiste  gleichwohl  gefundenen  Wesensverhältnis  der  Welt  zu  einem 


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r.-i' 


Probleme  der  Religion«  ^2 1 

Das  Wesen  dieses  religiösen  Aktvorgangs  selbst  genau 
aufzuweisen,  sehen  zu  machen^  ist  mit  so  großen  Schwierig- 
keiten verknüpft,  daß  ich  an  dieser  Stelle  mehr  wie  je  das 
vollständig  Unzureichende  der  menschlichen  Sprache  emp- 
finde. Es  ist  wie  ein  unerhörtes  geheimnisvolles  Drama  in  den 
tiefsten  Tiefen  der  Seele,  dadurch  sich  die  religiöse  Er- 
kenntnis auswirkt,  daß  das  heilige  Ens  a  se  geistiger 
Natur,»  Geist  <  sein  müsse.  Der  Mensch  muß  klar  und  leben- 
dig —  bis  in  jede  Wahrnehmung,  in  jedes  Fühlen  der  Welt 
hinein,  in  jede  Aktion  an  der  Welt  oder  an  irgendeinem  ihrer 
Gegenstände  —  sein,  seines  Ichs  und  seines  Bewußtseins 
vollendete  Gleichgültigkeit  gegenüber  dem  Dasein  der 
Welt  und  seine  ganze  Geistesohnmacht  gegenüber  ihrer 
Fülle  —  ja  gegenüber  jedem  Element  ihrer  Fülle  —  ge- 
wahren. Gefühlsmäßig  hilft  ihm  als  guter  Genius  ziun  Ersten 
die  Tugend  der  Demut  des  Geistes,  durcbdie  er  schon 
vorbereitet  ist  durch  sein  formales  Wissen  um  Gott  als 
heiliges  Ens  a  se  und  seine  Nichtigkeit.  Er  muß  ganz-  deut- 
lich es  inne  sein,  nicht  nur  es  wissen,  wie  erhaben  gleich- 
gültig es  für  die  Sonne  ist,  ob  sie  von  ihm  und  seines- 
gleichen —  von  irgendeinem  *Ich«  —  wahrgenommen, 
gedacht,  gewertet  wird  oder  nicht.  Zum  zweiten  hilft  ihm 
als  guter  Genius  die  Tugend  der  Ehrfurcht,  die  ich 

Geiste  überhaupt,  liegt  das  sinngemäße  Motiv  für  die  Blickrichtung  auf 
den  göttlichen  Geist.  Nicht  minder  aber  mufi  der  absolute  Ontologismus 
das  Sinngesetz  des  religiösen  Akts  auflösen.  Er  ist  z.  B.  auch  eine  Voraus» 
Setzung  des  Materialismus  und  Naturalismus  jeder  Art.  Denn  bei  ihm  wird 
—  im  Gegensatze  zum  erkenntnistheoretischen  Idealismus  —  das  Wesens- 
verhältnis von  Akt  und  Gegenstand,  Geist  und  Welt  verkannt,  das  trotz  der 
evidenten  Unabhängigkeit  der  Weltrealität  vom  Dasein  und  der  kontingen- 
ten  Natur  des  menschlichen  Geistes,  auch  trotz  der  Transzendenz  des  Gegen- 
standes für  den  menschlichen  Geist,  einen  Geist  überhaupt  fordert,  von 
dessen  Wesen  und  Dasein  die  Welt  abhängig  ist  und  deoi  der  Gegenstand 
voll  immanent  sein  kann. 


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^2  2  Probleme  der  Religion. 

schon  anderwärts  als  gefühlsmäßiges  Mitwissen  der 
wesenhaften  Unzureichendheit  unseres  Wissens  von 
jedem  Gegenstande,  aber  doch  als  wirkliches,  ja  sogar 
evidentes  Wissen  von  unserem  partiellen  Nichtwissen- 
können bezeichnete  \  Sie  gibt  nur  deutlich  und  in  der 
Form  des  »Fühlens  von«  die  unmittelbare  objektive  Evi- 
denz, die  jedem  intentionalen  Akt,  z.  B.  der  Wahrneh- 
mung, jeden  Akt  des  Vorstellens  und  Denkens  begleitet: 
daß  nicht  nur  jeder  Intentionsgehalt  dem  Ganzen  des  Gegen- 
standes unangemessen  ist,  daß  sogar  eine  unendliche 
Summe  solcher  Gehalte  ihm  noch  unangemessen  wäre, 
da  mit  jedem  Fortschritt  des  Erkennens  der  Gegenstand 
proportional  zum  Fortschreiten  wachsend  viele  »unbe- 
kannte«, aber  doch  als  erkennbar  gegebene  und  in  ihrem 
Ägtarie?inen'^7?Seft«^d»on  je  vorintendierte  Seiten  und 
Merkmale  darbietet. 

Aber  mit  diesem  BewußtseS'^gifc^*^'^^"**^*^"  Gleich- 
gültigkeit« seines  und  seinesgleicheTtSlg^"^*  ^'"  ^^■ 
stand  und  Artung  der  Dinge  muß  doch  im^S^^T^* 
sein  d.e  unmittelbare  Schau  des  WesensbezugesSlÜ' 
mc^hchenGegenstandseinsundDaseinsüberhau^pTa^^ 
Sache  vom  Wesen  des  Geistes  überhaupt.  M^  2 

Wesen  des  mtentionalen  Akts  und  dem  Wesen  des  da 
-enden  Gegenstandes  (resp.  Widerstandes,  Wen^t 

^!1_I!:!£!!J:!!!!1::!^^^  Diese 

\^^^'  Abhandlungen  und  Aufeätzc  BA  I 

"d  R.»h.it  Alte  FomZä^-^-rT"^—'  »""'•«klWt 


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Probleme  der  Religion.  423 

Würde  und  Erhabenheit  des  Geistes  qua  Geist,  ver- 
möge der  er  —  ist  gleich  der  menschliche  wirkliche  Geist 
nur  ein  Stück  und  Teil  der  Welt  —  doch  seinem  Wesen 
nach  nicht  nur  ein  Stück  der  Welt  sein  kann,  sondern  zu- 
gleich sein  muß  das  Etwas,  in  dem  alles  Sein  der  Dinge 
ein  Miteinandersein  und  Füreinandersein  wird,  dasEtwas, 
durch  das  ideale  Teilnahme  eines  Seienden  an  dem  Sein 
jedes  andern  Dinges  möglich  wird,  das  Etwas  in  dem  aller 
Dinge  Vielheit  zur  Einheit  sich  je  zusammenfassen  kann 
ohne  Veränderung  des  Soseins  der  Dinge  — ,  diese  ewige 
Würde  und  Erhabenheit  des  Geistes  lebendig  zu  emp- 
finden und  sie  lebendig  zu  empfinden  in  und  mit  der  un- 
sagbaren Gebrechlichkeit,  Hinfälligkeit,  Labilität  des 
menschlichen  daseienden  Geistes  als  des  uns  allein  be- 
kannten unmittelbar  gegebenen  Beispiels  einer  Sache 
vom  Wesen  des  Geistes  überhaupt:  das  ist  der  zweite 
Akt  jenes  geheimnisvollen  Dramas,  in  dem  sich  die  reli- 
giöse Erkenntnis  Gottes  als  Geist  vollzieht.  Der  dritte 
und  letzte  ist  der  Akt  der  Beilegung  des  Wesensattributes 
»Geist«  an  das  uns  vorher  schon  gewisse  heilige  Ens  a  se 
und  das  Erlebnis  des  Hereinleuchtens  (Oflfenbarwerdens) 
der  unendlichen  Vernunft  in  alle  rechte  Aktbetätigung  der 
endlichen  Vernunft  resp.  der  Ideen  und  Werte  samt  ihrer 
Ordnung,  die  als  Korrelate  vor  dem  Akt  der  unendlichen 
Vernunft  stehen,  in  die  Gegenstände  der  Welt  und  ihr 
Bedeuten^.  Die  Formalattribute  der  Absolutheit  und 

'  Um  dieses  innere  Drama  kreiste  zeit  seines  Lebens  vielleicht  keines  Men- 
schen Denken  so  stark  und  tief  wie  jenes  Blaise  Pascals.  Descartes  hatte  ihm 
in  einer  unzureichenden  Form  die  Würde  und  Erhabenheit  des  Geistes  zum 
Bewußtsein  gebracht :  Cogito,  ergo  sum.  Pascal  erfoßte  zugleich  die  Gebrech- 
lichkeit des  menschlichen  Gebtes.  Tief  und  schön  gibt  £.  von  Hartmann  in 
folgenden  Worten  das  rechte  Verhalten  des  menschlichen  Geistes  zu  Natur 


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424  Probleme  der  Religion« 

Unendlichkeit,  femer  zwei  Beziehungen,  die  schon  im 
Verhältnis  des  absolut  heiligen  Ens  a  se  zu  den  zufälligen 
Dingen  gelegen  sind  —  wie  wir  zeigten  —  gehen  aber 

und  Gott  wieder  —  indem  er  zagleich  die  falschen  Auffassungen  des  Natu- 
ralismus und  des  Bewußtseinsidealismus  geißelt: 

»Vom  Standpunkt  des  Naturalismus»  wo  die  Natur  ein  letztes,  nicht  mehr 
induktiv  Übdschreitbares  ist,  müssen  die  Naturkräfte  und  Naturgesetze  als 
etwas  Ungewordenes,  abo  Ewiges  und  Unveränderliches  erscheinen.  Da 
kann  der  Respekt  des  bewußten  Geistes  vor  ihnen  gar  nicht  groß  genug 
sein;  das  auftauchende  und  bald  wieder  verschwindende  Individualbewufit- 
sein  hat  sich  in  Demut  vor  der  Allmacht  der  ewigen  Natur  zu  beugen,  deren 
flüchtiges  Produkt  es  selbst  nur  ist.  Der  Geist  steht  ohnmächtigim  Gefühl 
seiner  Kleinheit  und  Nichtigkeit  vor  der  unermeßlichen  Größe  der  Natur  in 
zeitlicher,  räumlicher  und  dynamischer  Hinsicht  Denn  die  Erde  ist  ja  nur 
ein  Stäubchen  im  Weltgebäude,  und  doch  kann  schon  das  kleinste  Teüchen 
der  Erde  in  der  Größe  eines  Steines  den  Menschen  zerschmettern  und 
sein  Bewußtsein  aufheben.  Die  dem  Naturalismus  gemäße  Stimmung  ist 
Schauder  vor  der  Größe  der  Natur  und  Grauen  vor  ihrer  Macht  und 
der  Unerbittlichkeit  ihres  gesetzmäßigen,  alles  zermalmenden  Räderwerks. 
(Preuß.  Jahrb.  Bd.  loi,  Hft.  2,  S.  228—236.) 

Vom  Standpunkt  des  transzendentalen  Idealismus  hingegen  ist  die 
Natur  ein  bloßer  Schein,  den  der  bewußte  Geist  sich  selbst  vorgaukelt 
Ihre  Größe,  Macht  und  scheinbare  Unendlichkeit  ist  ihr  nur  vom  Geiste  ge- 
liehen, und  wie  der  Träumende  aufhört,  sich  vor  den  Schreckbildem  seines 
Traumes  zu  ängstigen,  wenn  ihm  aufdämmert,  daß  er  nur  träumt,  so  schwin- 
det dem  transzendentalen  Idealisten  jeder  Respekt  vor  der  Natur,  sobald 
er  sich  darauf  besinnt,  daß  sie  ja  nur  sein  Geschöpf  ist,  eine  Illusion, 
die  er  sich  selbst  vorzuspiegeln  genötigt  ist  Die  Achtung  vor  der  Größe 
der  Natur,  vor  der  Macht  ihrer  Kräfte  und  der  Unverbrüchlichkeit  ihrer 
Gesetze  schlägt  nun  in  Achtung  vor  der  Größe  und  Macht  des  eigenen 
Geistes  und  der  Unverbrüchlichkeit  seiner  psychologischen  Gesetze  um. 
Der  Geist  könnte  nach  souveräner  Willkür  mit  seiner  Natur  spielen,  wenn 
nicht  die  psychologischen  Gesetze  seiner  Produktivität  dieser  Willkür 
Schranken  zögen.  Immer  aber  bleibt  er  der  Eigner  und  seine  Natur  das 
Eigentum  seines  Bewußtsems.  Die  dem  transzendentalen  Idealismus  ge- 
mäße Stimmung  ist  die  Geringschätzung  der  Natur  und  der  Hoch- 
mut des  bewußten  Geistes  (Fichte,  Stimer,  Nietzsche). 

Der  transzendentale  Realismus  scheidet  aus,  was  an  den  beiden 
Standpunkten  unrichtig  ist,  und  verknüpft  synthetisch  dasjenige,  was  an 
ihnen  richtig  ist  Er  kann  den  Respekt  des  Naturalismus  vorder  Natur  nicht 
teilen;  denn  sie  gilt  ihm  nur  als  ein  Produkt  des  Geistes,  der  ihre  eminente 
Ursache  ist.  Der  Geist  hat  sie  vor  endlicher  Zeit  gesetzt  und  wird  sie  nach 


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Probleme  der  Religion.  425 

mit  diesef  Beilegung  auch  unmittelbar  über  auf  Gott  als 
Geist. 

Das  Erste  besagt,  daß  der  göttliche  Geist  als  Attribut 

endlicher  Zeit  zurücknehmen ;  sie  ist  nicht  ewig,  sondern  war  einmal  nicht 
und  wird  dereinst  wieder  nicht  sein.  Ewig  ist  nqr  der  Geist,  der  sie  setzen 
und  aufheben  kann.  Unabänderlich  sind  ihre  Gesetze  nur  für  die  endliche 
Dauer  des  Weltprozesses,  mit  dem  sie  beginnen  und-«ufhören.  Vor  dem 
Geiste,  der  die  Natur  gesetzt  hat  und  stetig  weiter  setzt,  vor  seiner 
Macht  und  Größe  beugt  sich  der  bewußte  Geist  in  Ehrfurcht,  vor  seinem 
Werke  nicht.  Denn  der  Mensch  weiß,  daß  er  selber  Geist  von  jenem  Geiste 
ist,  daß  er  ihm  weit  näher  steht  als  die  Natur,  daß  jener  Schöpfergeist  in 
ihm  zu  sich  selber  gekommen  ist,  und  daß  die  Natur  in  ihm  ihren  nächsten 
Zweck  erfüllt  hat,  zu  dem  sie  geschaffen  ist  Die  räumliche  Größe  der  Natur 
kann  dem  nicht  mehr  imponieren,  derda  weiß,  daß  es  auf  sie  gar  nicht 
ankommt,  sondern  auf  die  Innerlichkeit  des  Geistes,  die  mit  räumlicher 
Ausdehnung  nichts  gemein  hat.  Die  unermeßliche  Dauer  des  Naturprozes- 
ses schrumpft  zu  einem  Nichts  zusammen  gegen  die  Ewigkeit  des  Geistes, 
an  der  der  Menschengeist  mit  seinem  Wesen,  wenn  auch  nicht  mit  seinem 
Bewußtsein,  teilninmit  Die  rohe  Gewalt  der  Naturkräfte  kann  den  Leib 
des  Menschen,  weil  er  ein  Teil  der  Natur  ist,  zermalmen ;  aber  an  seinem 
Geiste  zerschellt  sie  ohnmächtig,  wenn  sie  auch  mit  dem  Leibe  die  Bedin- 
gung seines  individuellen  Bewußtseins  zerstört.  Der  Geist  ist  unendlich  viel 
mächtiger  als  die  gesamte  Natur;  sind  doch  alle  ihre  mechanischen 
Kräfte  nur  Splitter  von  der  Macht  des  naturschöpferischen  Geistes. 

Aber  wenn  die  Natur  aufhört,  dem  transzendentalen  Realisten  zu  impo- 
nieren, so  blickt  er  doch  darum  nicht  mit  Geringschätzung  auf  sie. 
Denn  er  weiß,  daß  die  Natur  sowohl  in  Gestalt  seines  eigenen  Leibes,  als 
auch  in  Gestalt  der  sein  Leben  fristenden  Außenwelt  unentbehrliche  Be- 
dingung und  wesentlich  mitwirkender  Faktor  für  die  Entstehung  und  den 
Fortbestand  seines  Individualbewußtseins  ist  Auch  der  transzendentale  Idea- 
list sieht  die  Natur  als  Bedingung  seines  Geisteslebens  an,  aber  nur  als  un- 
reale, bloß  vorgespiegelte  illusorische  Bedingung,  so  wie  der  Träumende 
die  Haltbarkeit  der  von  ihm  geträumten  Brücke  mit  Recht  als  Bedingung 
dafür  ansieht,  daß  er  nicht  einzubrechen  und  ins  Wasser  zu  fidlen  träumen 
muß;  wenn  ihm  das  Bewußtsein  aufsteigt,  daß  er  nur  träumt,  so  fürchtet  er 
auch  den  Einbruch  nicht  mehr,  mag  die  geträumte  Brücke  noch  so  unsicher 
sein.  Nur  für  den  naiven  und  transzendentalen  Realisten  ist  die  Natur 
reale  Bedingung  des  bewußten  Geistes,  nur  von  ihnen  kann  sie  wahrheits- 
gemäß als  solche  geschätzt  und  verständigerweise  als  solche  gepflegt 
werden. 

Wie  in  bezug  auf  die  Schätzung  der  Natur,  so  hält  der  transzendentale 
Realismus  auch  in  bezug  auf  die  SchäUung  des  bewußten  Geistes  die 


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4 26  Probleme  der  Religion. 

des  heiligen  Ens  a  se  auch  seinerseits  als  absoluter,  d.  h. 
ausschließlich  in  sich  selbst  gründender  Geist,  ver- 
standen werden  muß.  Dies  aber  bedeutet  für  die  Geistig- 
keit Gottes  sovielwie  die  absolute  Freiheit  oder  Selbst- 
bestimmung des  göttlichen  Geistes,  —  ein  Prädikat, 
das  erst  jetzt,  da  Gott  als  Geist  erkannt  ist,  zum  BegriflF 
des  Ens  a  se  hinzutritt.  Das  Ens  a  se  wird  erst  hierdurch 
Ens  per  se.  Und  erst  damit  kann  die  Art  seines  Wirkens 
und  Er-wirkens  als  analog  zum  Wollen  und  seine  All- 
kausalität als  die  geistartige  Kausalität  der  Schöpfer- 
freiheit  und  Schöpfermacht  verstanden  werden. 

Mitte  zwischen  dem  Naturalismus  und  dem  transzendentalen  Idealismus. 
Wenn  der  erstere  den  bewußten  Geist  als  einen  unerklärlichen,  eigentlich 
gar  nicht  existenzberechtigten  Schein  an  der  Natur  und  ihr  gegenüber  als 
etwas  durchaus  Nichtiges  betrachtet,  wenn  dagegen  der  letztere  ihn  zum 
allmachtigen  Schöpfer  Himmels  und  der  Erden  aufbläht,  so  sieht  der  trans- 
zendentale Realismus  in  ihm  weder  das  eine  noch  das  andre,  sondern  ein 
Produkt  aus  dem  Zusammenwirken  des  unbewußten  Geistes 
und  der  Natur.  Vor  dem  unbewußten  absoluten  Geiste,  der  ihn,  teils  un- 
mittelbar durch  synthetische  Kategorialfunktionen,  teils  mittelbar  durch  die 
Mitwirkung  der  Natur,  produziert,  Rihlt  der  beschränkte  bewußte  Geist 
seine  absolute  Abhängigkeit,  Ohnmacht  und  Nichtigkeit  und  bescheidet 
sich  in  Demut.  Der  Natur  gegenüber  dagegen  fühlt  er  sich  mit  Recht  als 
das  unvergleichlich  Höhere,  als  den  Zweck,  dem  sie  nur  als  Mittel  dient, 
als  den  dem  absoluten  Geiste  näher  Stehenden,  seine  Einheit  mit  ihm  Wis- 
senden und  seinen  Zwecken  mit  Bewußtsein  und  mit  Willen  Dienenden.  In 
seinem  geistigen  Wesen  erhaben  über  Raum  und  Zeit,  hat  er  ewiges  Leben 
in  der  Einheit  mit  dem  ewigen  Geist  und  kann  lächelnd  hinabblicken 
auf  die  zeitiiche  Extension  des  Naturprozesses,  die  der  Ewigkeit  in  jedem 
Zeitpunkt  gleich  fem  und  entgegengesetzt  bleibt.  Hier  gibt  es  weder  törichtes 
Grausen  und  Schaudern  vorder  Natur  mehr,  noch  überspannte  Überhebung 
über  sie  und  Größenwahn  des  Bewußtseins,  sondern  Unterordnung 
beider  Erscheinungssphären  der  Welt  unter  die  metaphysische  Sphäre 
und  teleologische  Überordnung  der  subjektiv-idealen  Erscheinungssphäre 
über  die  objektiv-reale.«  (System  der  Philosophie  im  Grundriß,  Bd.  II,  S.  12 
bis  15.) 

Die  Färbung,  die  in  die  Worte  Hartmanns  da  und  dort  durch  seine  An- 
nahme eines  absolut  unbewußten  Geistes  hineinkommt,  kann,  ohne  den 
sonstigen  Wahrheitsgehalt  der  Stelle  zu  verletzen,  abgezogen  werden. 


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Probleme  der  Religion.  a2J 

Es  ist  wiederum  ein  ganz  besonderes  Wesenserlebnis, 
das  dem  Schöpfungsgedanken  zugrunde  liegt.  Zu- 
erst muß  —  soll  es  zu  diesem  Gedanken  kommen  —  die 
resdose  Zufälligkeit  der  Weltrealität  erfaßt  sein  im  Ver- 
hältnis zu  Welten,  djegleich  wesensmöglich  wären,  d.  h.  allen 
Wesenszusammenhängen  gehorsam  und  unterworfen  wie 
die  reale  Welt.  Gegeben  aber  ist  das  Realsein  jedes  realen 
Gegenstandes  im  erlebten  Widerstände,  den  der  inten- 
dierte Gegenstand  dem  (geistigen)  Wollen  und  Nicht- 
wollen des  erlebenden  Subjekts  leistet^.  Ohne  alle  Art  von 
volitivem  Verhältnis  zur  Welt  käme  es  zu  einem  Reali- 
tätsbewußtsein überhaupt  nicht.  Der  Ausgangspunkt 
dessen,  was  widersteht,  ist  als  Tätigkeitszentrum  ge- 
geben —  je  nach  seiner  besonderen  Art  als  Kraftzentrum 
(tote  Welt),  Vitalzentrum  (Lebewelt),  Triebzentrum  (eige- 
ner Leib),  fremdes  Willenszentrum  (Nebenmensch).  Die 
Anwendung  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde,  der 
für  alles  zufällige  Dasein  (sei  es  real  oder  ideal)  einen 
Grund  fordert  (daß  es  mehr  sei  als  nicht  sei),  fuhrt  zu  dem 
Satze,  daß  alles  reale  Dasein  in  einer  Tätigkeit  erwirkt 
sei.  Nun  kennen  wir  innerhalb  der  ganzen  Fülle  unserer 
Welterfahrung  nur  einen  Fall,  eine  Erlebnisgegeben- 
heit, in  der  ein  zufälliges  Dasein  nicht  nur  verändert 
modifiziert,  umgebildet  wird  durch  das  Wirken  eines 
anderen,  sondern  geschaffen  wird:  das  ist  die  jeweilige 
Form,  Gestalt,  Idee,  die  der  originär  »schaffende«  mensch- 
liche Willensakt  einer  gegebenen  Materie  aufprägt.  Und 
im  selben  Falle  ist  uns  auch  nur  gegeben  der  Wesens- 
tatbestand, daß  wir  ein  Ideales  (den  Inhalt  des  Wollens- 

^  Eingehende  Beweise  dieses  Satzes  gibt  meine  demnächst  erscheinende 
Erkenntnistheorie  «Die  Welt  als  Erkenntnis«. 


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^28  Probleme  der  Religion. 

Projekts)  real  »werden«  sehen.  Von  der  Frage  wie  dies  ge- 
schehe, d.  h.  von  allen  Fragender  psychophysischen Willens- 
kausalität ist  diese  Wesenseinsicht  ganz  unabhängig.  Daß 
dieses  Artefakt,  dieses  Gemälde  Werk  geistigen  WoUens  ist, . 
durch  es  gesetzt  und  gewirkt,  das  ist  evident,  wie  dunkel  die 
Wege  auch  immer  seien,  auf  denen  dieses  Wirken  meines 
Wollens  auf  die  Glieder  des  Leibes  zustande  kommt.  Denn 
ich  sehe  unmittelbar  im  Prozeß  jedes  Bildens  und  Schaf- 
fens, daß  die  Materie  dem  idealen  Projektverhalt  immer 
mehr  gleicht,  sehe  das  »Hineinwachsen«  der  Materie  in 
die  Idee  des  Projekts  und  weiß  zugleich,  daß  dies  »durch 
mich«  geschehe.  Daraus  aber  ist  auch  klar,  daß  die  Reali- 
sierung jedes  zufällig  Daseienden  und  Realen,  so- 
weit sein  Realsein  überhaupt  in  Frage  kommt,  nicht  nur 
sein  Hier-  und  Dortrealsein,  seine  So-  oder  Anders- 
beschaffenheit, sein  Jetzt-  und  Hierrealsein,  durch  ein 
Wollen  gewirkt  sein  müsse,  also  —  geschaffene^ 

Im  religiösen  Akte  werden  nicht  diese  Schlüsse  ge- 
zogen, noch  sind  die  Stufen  der  Einsicht  in  der  hier  ent- 
wickelten Weise  gegeben.  Der  religiöse  Akt  fungiert 
vielmehr  nach  und  gemäß  diesen  aufgeführten  Wesens- 
zusammenhängen, wann,  wo  und  wie  immer  er  überhaupt 
zum  Schöpfungsgedanken  fuhrt. 

Femer  erhält  der  göttliche  Geist  kraft  der  Tatsache, 
daß  er  die  Geistigkeit  eines  unendlichen  Seins  (einer  Folge 
desEnsase)  bedeutet,  auch  seinerseits  das  Attribut  des 
unendlichen  Geistes.  Und  erst  als  unendlicher  Geist  — 
noch  nicht  als  Ens  a  se  —  muß  Gott  Wesensprädikate 
erhalten,  welche  die  qualitative  Unendlichkeit  seines  Seins 
(qua  Seins)  in  verschiedenartige  Beziehung  setzen  zu  den 
formalen  Ordnungsweisen,  die  zum  Wesen  der  endlichen 


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Probleme  der  Religion.  ^29 

Dinge  als  möglicher  Korrelate  des  endlichen  Geistes  ge* 
hören.  Die  wichtigsten  sind  Zahl,  Zeit,  Raum  und  Größe, 

Gott  ist  im  Verhältnis  zu  aller  möglichen  Menge  und 
Zahlenmannigfaltigkeit  das  seinem  Wesen  nach  mengen- 
freie und  schon  darum  unzählbare  Sein,  d.  h.  das  Sein,  zu 
dessen  Wesen  selbst  es  gehört,  der  einzige  Fall  seiner 
Gattung  zu  sein.  Das  besagt:  Gott  ist  Gott  als  der  abso- 
lut Einzige.  Zur  absoluten  Einheit  und  zur  absoluten 
Einfachheit  Gottes  tritt  damit  auch  seine  absolute  Einzig- 
keit. Sie  schließt  als  solche  jede  Zahlbestimmtheit  aus  — 
natürlich  auch  die  Zahlbestinuntheit  durch  die  Zahl  eins. 
»Das«  Einzige  schlechthin  ist  nicht  eins,  sondern  unzähl- 
bar seinem  Wesen  nach. 

Im  Verhältnis  zur  Zeit  heißt  der  unendliche  Geist  der 
Ewige  (Aetemum).  Das  heißt  nicht  soviel  wie  der  alle 
Zeit  EriuUende  oder  schlechthin  Dauernde  (sempitemum) 

—  ein  Prädikat,  das  der  Materie  und  Energie  auch 
zuzuschreiben  wenigstens  Sinn  hätte.  Es  drückt  vielmehr 
aus,  daß  Gott  als  »überzeitlich«  in  ganz  beliebiger 
Weise  auch  innerzeitlich  sein  kann,  jede  Zeitstrecke  und 
jeden  Zeitpunkt  in  einer  Art  und  Ordnung  erfüllen  kann, 
die  er  sich  selbst  wählt  und  die  ihm  durch  die  Ordnung 
der  Zeit  (die  für  sie  geltenden  Wesensgesetze)  nicht  vor- 
geschrieben wird.  Eben  kraft  seiner  Ewigkeit  kann  daher 
Gott  auch  in  jeden  Zeitpunkt  der  unwiederholbaren  Ge- 
schichte einfach  und  ungeteilt  eingehen,  ohne  daß  dabei 
seine  Ewigkeit  verletzt  würde. 

Im  Verhältnis  zum  Räume  heißt  der  unendliche  Geist 
der  Ubiquität  teilhaftig, d.  h.  Gott  vermag  im  selben  Akte 

—  eben  da  er  schlechthin  raumüberlegen  ist  —  überall  zu 
sein  und  zu  wirken;  ohne  daß  sein  Sein  darum  an  der  Teil- 


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^ßO  Probleme  der  Retigion. 

barkeit  und  den  Gesetzen  des  Raumes  teilnähme  oder  sein 
Dort-  und  Hiersein  den  Sätzen  der  Geometrie  und  Kine- 
matik unterworfen  wäre \  Ubiquität  ist  daher  vom  Überall  - 
sein (d.  h.  an  jedem  Punkte  des  Raumes  sein)  ebenso  ver- 
schieden wie  die  Aetemität  Gottes  von  der  Sempiternität. 
Sie  bedeutet,  daß  Gott  als  überräumliches  Wesen  auch 
ganz  und  ungeteilt  (da  er  einfach  ist)  an  jedem  beliebigen 
Punkte  des  Raumes  sein  und  wirken  kann. 

Endlich  heißt  Gottes  Unendlichkeit  des  Seins  im  Ver- 
hältnis zu  allem,  was  der  Seinsform  und  der  korrespon- 
dierenden Denkform  der  Größe  teilhaftig  ist,  auch  Un- 
ermeßlichkeit. Dies  bedeutet  nicht,  daß  Gott  zwar 
Größe  habe,  aber  eine  unendliche  und  daß  darum  seine 
Größe  nicht  abzumessen  sei.  Es  bedeutet  vielmehr,  daß 
Gott  als  absolut  einfaches  Sein  der  Kategorie  der  teil- 
baren Größe  überhaupt  nicht  teilhaftig  sei  und  nur  dar- 
um unermeßlich,  da  alles,  was  ermeßlich  ist,  Größe  vor- 
aussetzt. Gott  kann  daher  in  jedem  Beliebigen,  was 
Größe  hat  und  eine  beliebige  Größe  hat,  ganz  und  un- 
geteilt sein  und  wirken. 

^  Ich  unterlasse  es  hier,  die  religiösen  Akte  zu  kennzeichnen,  die  der  reli- 
giösen Erfassung  dieser  Attribute  Gottes  entsprechen.  Möglich  ist  dies  sehr 
wohl.  Alle  Liebe  zu  einem  (tatsächlich)  und  einzigen  Individuum  ist  eine 
Analogie  zur  besonderen  Färbung  der  Gottesliebe,  in  der  wir  die  absolute 
Einzigkeit  Gottes  besonders  klar  religiös  erfassen.  Alle  Akte  des  mensch- 
lichen Geistes,  in  der  er  eine  Fülle  ihm  zeitlich  nacheinander  zugegangener 
Erfahrungen  und  Erkenntnisse  zur  Einheit  einer  ungeteilten  Tat-  oder 
Werkwirksamkeit  resp.  zur  Einheit  einer  Intuition  zusammenfaßt,  sind  eine 
Analogie  für  die  Ewigkeit  des  Geistes.  »Geschichte«,  —  nicht  als  geschicht- 
liches Wissen  genommen  —  sondern  als  Geschichtlichkeit  des  Lebens  ist 
ein  Drang  zur  natürlichen  Verewigung.  (Vgl  meine  theoretische  Auffassung 
des  Erinnems  in  »Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale  Wert- 
ethik«.) Alle  Überwindung  der  den  Tieren  noch  zukommenden  Hierjetzt- 
gebundenheit  durch  das  Denken  im  Laufe  der  Entwicklung  der  Zivilisation 
ist  ein  fortschreitendes  analogisches  Abbild  der  Ubiquität  Gottes. 


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Probleme  der  ReHgion.  ^ß  I 

Also  ist  Gott,  der  schon  als  Ens  a  se  unendlich,  ein- 
heitlich und  einfach  ist,  in  seiner  attributiven  Bestimmung 
als  Geist  auch  einzig,  aetern,  der  Ubiquität  teil- 
haftig und  unermeßlich.  Endlich  hat  Gott  Allgegen- 
wart: Die  »Immanentia  Dei  in  Mundo«  gehört  zum 
Wesen  Gottes.  Gott  ist  in  allem  Daseienden,  soweit  es  ist. 
Alles  Dasein  hat  teil  an  seinem  Sein  und  ist  nur  durch 
dieses  Teilhaben  eine  Welt. 

Die  Allgegenwart  erschöpft  sich  nicht  darin,  daß  Gott 
Alles  wirkt  (schafft  und  erhält),  über  Alles  Macht  hat  und 
Alles  weiß.  Sie  liegt  vielmehr  seiner  Allmacht  über  alles 
und  seiner  Allwissenheit  als  Bedingung  zugrunde.  Das 
Wissen  von  Etwas  wie  die  Macht  über  Etwas  sind  ja  nur 
spezifizierte  Arten  der  Teilnahme  eines  Seins  an  einem  An- 
deren. Gott  ist  in  Allem  seinem  Wesen  und  Dasein  selber 
nach,  und  nur  darum  vermag  er  Alles  zu  wissen  und  über 
Alles  Macht  zu  haben.  Nicht  aber  gilt,  daß  auch  Alles  in  ihm 
sei  (Panentheismus  und  akosmistischer  Pantheismus),  nicht 
gilt  eine  Immanentia  Mundi  in  Deo.  Denn  die  Welt  ist  der 
Realität  nach  von  Gott  verschieden,und  nur  weil  Gott  unend- 
licher Geist  ist,  vermag  Gott  gleichwohl  in  *Allem  zu  sein. 

Wie  die  Unendlichkeit  des  Sdns  Gottes  (folgend  aus 
seiner  Urbestimmung  eines  Ens  a  se)  sich  unter  der  analo- 
gischen Bestimmung  des  Geistes  begriffen,  sich  also  diffe- 
renziert, so  differenziert  sich  auch  Gottes  Verhältnis  zur 
realen  Welt,  wenn  wir  ihn  als  Geist  analogisch  erfassen. 

Die  AUursächlichkeit  —  wie  sie  im  formalsten  religiösen 
Akte  erlebt  gegeben  war  —  wird  im  Erfassen  der  Geistig- 
keit Gottes  »Schöpfung«,  und  im  selben  Akte  wird 
sein  Offenbarwerden  in  den  endlichen  Dingen  eine  Offen- 
barung, d.  h.  Folge  eines  Sichoffenbarens. 


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^1 2  Probleme  der  Rdigion. 

Es  sind  aber  die  geistigen  Wesen  ak  solche  —  welche 
Rangordnung  ihrer  es  auch  gebe  — ,  die  darum  ebensowohl 
die  ersten  Schöpfungen  Gottes  sind  als  die  ersten 
Empfänger  seinesSichoffenbarens  als  unendlicherGeist. 
Sie  sind  sich  selbst  als  solche  wissende  Abbilder  und 
Spiegelbilder  der  Gotdieit  gegeben. 

Darum  wird  auch  der  menschliche  Geist  im  religiösen 
Akte  des  Gottglaubens  in  einer  zwiefachen  Beziehung 
zum  göttlichen  Geiste  erlebt:  als  gottgewirktes  und 
stetig  erhaltenes  Werk  und  seinem  Sosein  nach  als 
die  erste  natürliche  Offenbarung  Gottes  als  unend- 
licher Geist.  Es  ist  also  nicht  bloß  ein  objektiv-reales 
Kausal  Verhältnis  zwischen  unendlicher  und  endlicher  Ver- 
nunft, das  nur  geurteilt  wurde,  um  das  es  sich  hier  han- 
delt. Vielmehr  erlebt  sich  der  menschliche  Geist  als  erste 
Kreatur  Gottes  auf  dem  Hintergrund  des  schon  vorher- 
gehenden Kreaturbewußtseins  aller  endlichen  Dinge  und 
zugleich  als  dauernd  in  ihm  wurzelnd  und  in  ihm  »grün- 
dend« und  im  Vollzug  seiner  Akte  von  ihm  bewegt^.  Das 
bloße  Kausalurteil  würde  also  für  das  religiöse  Verhältnis 
des  menschlichen  Geistes  zum  göttlichen  gar  nichts  be- 
deuten —  so  wichtig  es  für  die  Metaphysik  ist.  Und  ana- 
log bedeutet  die  religiöse  Auffassung  des  menschlichen 
Geistes  als  erster  natürlicher  Offenbarung  Gottes  nicht  nur, 
daß  der  menschliche  Geist  gleich  einem  getrübten  Minia- 
turbilde des  göttlichen  Geistes  diesem  Geiste  »gleiche«. 
Es  handelt  sich  im  religiösen  Akte  um  mehr  als  um  dies  Re- 
lationsurteil. Es  handelt  sich  um  ein  Relationserlebnis,  um 
das  Erlebnis  des  Abglanz-  und  lebendigen  Spiegelseins 

'  Die  »Person«  ist  also  selbst  natürliche  Offenbarung  Gottes  und  die  höchste 
natürliche  Offenbarung. 


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Probleme  der  Religion.  ^^j 

des  menschlichen  Geistes  im  Verhältnis  zum  göttlichen. 
Nicht  nur  per  lumen  Dei  cognoscismus  omnia,  sondern 
zugleich  in  lumine  Dei.  Der  Religiöse  erfaßt^  es  erlebnis- 
mäßig —  nicht  nur  durch  Urteil  —  es  sei  der  mensch- 
liche Geist  nur  ein  Abglanz,  die  erste  und  ebenbildliche 
Schöpfungsspur  des  Schöpfers  aller  endlichenDinge.  Oder: 
der  Religiöse  gelangt  in  der  religiösen  Sammlung  und  bei 
Selbstvertiefung  in  die  Wurzel  seines  geistigen  Wesens 
schließlich  in  die  fühlbare  Nähe  einer  Stelle,  wo  er  seinen 
Geist,  vom  Geiste^ Gottes  »umhegt,«  »gespeist«,  »in  ihm 
gegründet«,  »von  ihm  gehalten«,  unmittelbar  anschaut  — 
ohne  darum  auch  nur  im  entferntesten  das  Relationsglied 
»Göttlicher  Geist«  selber  mit  wahrzunehmen.  Die  Eben- 
bildlichkeit mit  Gott  ist  also  dem  menschlichen  Geiste  — 
ohne  daß  er  das  Urbild  selbst  auf  natürliche  Weise  zur 
Feststellung  dieser  Ebenbildlichkeit  gewahren  müßte  — 
selbst  eingeschrieben  und  zwar  seinem  Sein.  Und  dieses 
Sein  ist  selbst  —  wie  bei  den  Akten  des  Geistes  im 
Gegensatze  zu  psychischen  Zuständen  und  Geschehnissen 
—  schon  Wissen  um  sich,  wenn  auch  nur  potentielles 
Wissen.  Denn  auch  das  Aktzentrum  des  menschlichen 
Geistes  —  die  Geistesseele  —  ist  ja  im  Unterschiede  zum 
actus  purus  immer  auch  Aktpotenzzentrum. 

Dieses  sehr  eigenartige  Grundphänomen,  in  dem  der 
menschliche  Geist  auf  religiöse  Weise  vom  göttlichen 
Geiste  »weiß«  und  erst  in  diesem  Wissen  sich  selbst  voll 
besitzt  —  also  auch  Gott  besitzen  muß,  wenn  er  nur  sich 
ganz  besitzen  und  seiner  ganz  mächtig  sein  will  —  kann 

'  Auch  dieses  Sich  wurzelnd-,  Sichbewegt-  und  Sichgegründetwissen  ist  keines- 
wegs bloß  ein  Spezialfall  der  Kausalität  des  allgemeinen  sog.  concursus  Dei, 
der  für  j  e  g  1  i  c  h  e  s  Wirken  der  Dinge  aufeinander  (innerhalb  der  sog.  causae 


secundae)  anzunehmen  ist. 
28 


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^24  Probleme  der  Religion. 

in  der  Charakteristik  überaus  leicht  verfehlt  werden  — 
und  es  ist  kein  Wunder,  daß  die  größten  Geister  jahr- 
hundertelang mit  der  Sprache  gekämpft  haben,  es  treffend 
auszudrücken. 

Eine  ganz  rohe,  mit  sinnlichen  Analogien  spielende 
Auffassung  der  Relation  ist  die  pantheistische  Auffassung. 
Sie  läßt  das  Allicht  des  götdichen  Geistes  nicht  nur  auf 
geheimnisvolle  Weise  in  den  menschlichen  Geist  hinein- 
strahlen, sondern  macht  den  menschlichen  Geist  selber 
zu  einem  Teil,  einem  Strahl,  einer  Funktion  des 
götdichen  Geistes.  Averroes,  Spinoza,  Fichte,  Hegel, 
E.  V.  Hartmann  —  so  verschieden  sie  diesen  Gedanken 
ausgestalten,  —  sie  sind  doch  in  ihm  einig.  Sie  bemerken 
nicht,  daß  sie  eben  damit,  daß  sie  die  Relation  der  Ähn- 
lichkeit zur  Identität  zu  steigern  meinen,  selbst  die  Ähn- 
lichkeit vernichten.  Denn  soll  der  menschliche  Geist  auch 
nur  ähnlich  sein  dem  göttlichen  Geiste,  so  muß  er  dem 
göttlichen  Geist  auch  gleichen  in  Hinsicht  auf  die  Selb- 
ständigkeit  desSeins  und  dieFreiheit  und  Spontaneität 
der  Aktion.  Diese  Bestimmungen  des  Geistes  aber  ver- 
schwinden sofort  ins  Nichts,  wenn  nicht  der  Mensch  selbst 
denkt,  sondern  nur  »Gott  in  ihm  denkt«.  Oder,  wenn  — 
wie  Hegel  und  Hartmann  sagen  —  Gott  sich  Seiner 
selbst  erst  im  Menschen  bewußt  wird.  Sie  bemerken 
femer  nicht,  daß  sie  gerade  in  der  scheinbar  innigsten 
Anteilnahme,  die  sie  durch  diese  Identitätslehre  dem 
Menschengeiste  am  Geiste  Gottes  zu  geben  wähnen, 
eine  furchtbare  Kluft  zwischen  ihm  und  Gott  auf- 
reifSen.  Denn  ist  Irrtum,  Schuld  und  Sünde  nicht  eine 
Folge  freier  Abweichung  des  menschlichen  Geistes 
von  den  in  ihn  hinein  leuchtenden  ewigen  Gesetzen  des 


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Probleme  der  Keligion.  435 

göttlichen  Geistes,  so  könnte  sie  einmal  eine  Folge  davon 
sein,  daß  es  nicht  der  ganze  Geist  Gottes  ist,  der  in 
jedem  Menschen  wirkt,  sondern  nur  ein  Teil,  eine  Funk- 
tion; dies  hieße  die  Einfachheit  Gottes  aufheben.  Oder 
sie  konnte  sein  eine  Folge  davon,  daß  der  göttliche  Geist 
eine  Verknüpfung  mit  einem  endlichen  Leibe  eingeht; 
dann  sind  Irrtum,  Sünde  und  Schuld  notwendige  und 
essentielle  Attribute  des  Menschen,  für  die  es  weder 
aktive  Überwindung  noch  Erlösung  durch  Gott  geben 
kann.  Eben  dann  also  besteht  eine  Wesenskluft  zwi- 
schen dem  notwendig  irrenden,  schuldigen  und  sündigen 
Menschen  und  dem  Geiste  der  Wahrheit  und  der  Güte. 
Eine  innere  Annäherung  an  Gott  durch  Sdbstheiligung 
ist  dann  unmöglich.  Das  Böse  und  die  Sünde  werden 
dann  schon  in  den  Tatbestand  der  leiblichen  Triebregung 
selbst  verlegt.  So  wird  hier  jedes  vermeintliche  Mehr  ein 
Zuwenig.  Die  ganze  Glut  der  Liebesbewegung  zu  Gott  hin 
wird  hier  von  Anfang  an  gebrochen,  indem  an  ihre  Stelle 
das  bloße  vermeinte  Wissen  tritt,  man  sei  ja  schon  eine 
Fimktion  Gottes  oder  ein  Teil  von  Gott.  Gott  hat  sich 
in  Christo  nicht  in  erlösender  Tat  —  durch  Wesensmit- 
teilung —  ziun  Menschen  herabgelassen,  sondern  Christus 
hat  nur  die  Gottmenschheit  zuerst  in  sich  erkannt.  Das 
Wunder  der  mystischen  Gotteseinigung,  diese  immer 
neue  Auflösung  der  Spannung  von  Distanz  und  Nähe 
des  Menschen  zu  Gott  wird  —  indem  die  Distanz  aus  dem 
Verhältnis  ganz  herausgenommen  wird  —  zur  platt  natu- 
ralistischen »Verschmelzung«  im  materiellen  Sinne.  Das 
Geheimnis  aller  Liebe  der  Menschen  untereinander  be- 
steht in  der  allen  naturalistischen  Bildern  widerstreitenden 
Kraft,  die  freie,  selbständig  wirkliche  Personen  als  Geist- 

28* 


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4^6  Probleme  der  Religion« 

wesen  besitzen,  ihren  individuellen  Wesenskem  in  sich 
gegenseitig  aufzunehmen  und  je  in  sich  selbst  emotional 
zu  bejahen  —  ohne  doch  dabei  ihre  selbständige  Reali- 
tät zu  verlieren  —  im  Gegenteil  vielmehr  erst  ganz  sich 
selbst  dabei  zu  gewinnen.  Im  Pantheismus  dagegen 
wird  die  Liebe  ihrer  moralischen  Aktivität  und  ihres 
Sinnes,  die  Einigung  Zweier  zu  sein  entkleidet;  denn 
sie  wird  bloße  Erkenntnis,  es  gäbe  in  Wahrheit  gar 
keine  wahre  Vielheit  selbständiger  individueller 
Geister,  —  die  bloße  Aufhebung  der  Täuschung  der 
Zweiheit;  ja  es  gäbe  nur  einen  unendlichen  Egoisten,  der 
sich  selbst  durch  die  Geschöpfe  hindurch  genießt,  wenn 
Geschöpfe  sich  nicht  zu  genießen,  sondern  zu  lieben  und 
wenn  sie  sich  —  nicht  Gott  —  zu  lieben  meinen.  Ein  ge- 
gliedertes Liebesreich  mit  selbständigen  wirklichen  Zen- 
tren schmilzt  hier  zusammen  zum  vagen  Bilde  einer  unter- 
schiedslosen Masse*.  Nicht  minder  wird  die  Ehrfurcht  vor 
dem  göttlichen  Geiste  —  ohne  die  es  ein  religiöses  Ver- 
hältnis zu  ihm  nicht  geben  kann  —  durch  diese  partielle 
Identifizierung  aufgehoben. 

Aber  nicht  weniger  wie  im  Pantheismus  wird  das  Ver- 
hältnis verfehlt,  wenn  nur  ein  nach  dem  Prinzip  der  Kau- 
salität erschlossenes  Kausalverhältnis  zwischen  gött- 
lichem und  menschlichem  Geiste  angenommen  wird.  Dies 
ward  schon  gezeigt.  — 

Es  war  bei  der  bisherigen  Begründung  des  Satzes: 
»Gott  ist  Geist«  von  der  Beschaffenheit  und  Einriditung 
der  Wel  t  —  wenigstens  der  Welt  abgesehen  vom  mensch- 

*  Vgl.  meine  phänomenologische  Analyse  der  Liebe  und  des  Mitgefühls  in 
dem  Buche  »Zur  Phänomenologie  und  Theorie  der  Sympathiegefühle«  und 
die  Zurückweisung  des  Satzes:  »Fremdliebe  der  Teile  bt  Selbstliebe  des 
Ganzen«.  Dieser  Satz  liegt  allen  pantheistischen  Liebestheorien  zugrunde. 


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Probleme  der  Religion.  ^37 

Kchen  Geiste  —  nicht  die  Rede.  Und  es  war  ebensowenig 
bisher  die  Rede  von  den  verschiedenen  Richtungen  des 
menschlichen  Geistes,  seinen  Aktformen,  Aktqualitäten 
wie  Denken,  Erkennen,  Lieben,  Wollen  usw. 
Die  Erkenntnis  der  Welt  ohne  Kenntnis  der  Geistig- 
keit der  menschlichen  Seele  als  des  ersten,  unmittel- 
barsten und  seinem  Schöpfer  adaequatesten  Schöp- 
fungswerkes würde  niemals  genügen,  uns  Gott  als 
Geist  erkennbar  zu  machen;  wohl  aber  genügt  diese 
Geistigkeit  ohne  die  Setzung  der  außergeistigen  Welt. 
Eine  Seele  also  würde  genügen  Gott  als  Geist  erkenn- 
bar zu  machen.  Die  Welt  würde  dazu  nicht  genügen. 
Selbst  wenn  wir  den  Begriff  Geist  besäßen,  würde  eine 
ordnende  Kraft  oder  eine  Vergöttlichung  der  »Ordnung« 
genügen,  um  uns  das  Dasein  der  Welt  verständlich  zu 
machen.  Dieser  Begriff  steht  aber  weit  ab  von  dem  des 
personalen  Gottes,  der  Geist  ist  und  nicht  nur  Vernunft, 
d.  h.  eine  konkrete  Einheit  aller  Wesensrichtungen  des 
Geistes  (also  auch  Liebe,  Wertbewußtsein  usw.)  Erst  die 
in  der  gesamten  Noetik  (Erkenntnistheorie  und  Wesens- 
ontologie,  Wertungstheorie  und  Wesensaxiologie,  Willens- 
theorie und  ontischer  Wesensteleologie  usw.)  zu  gebende 
Einsicht  in  die  Wesensverhältnisse  von  den  Formen  und 
"Funktionsgesetzen  des  menschlichen  Geistes  (seiner  Es- 
senz nach)  zu  den  Formen  des  objektiven  Seins,  Sinnes, 
Wertseins,  Zweck — Mittelseins  kann  uns  in  der  natürlichen 
Erkenntnis  der  Geistigkeit  Gottes  weiterführen.  Nicht 
aber  vermag  es  ein  direktes  Studium  der  tatsäch- 
lichen Welt  und  ihrer  Einrichtung.  Für  unsere  Er- 
kenntnis (wenn  auch  nicht  an  sich)  ist  also  zwischen  der 
Geistigkeit  Gottes  und  der  Welt  kein  direkter  Zusam- 


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AxS  Probleme  der  Religion. 

menhang,  sondern  ein  Zusammenhang  nur  durch  die 
Vermittlung  der  Wesens erkenntnis  des  menschlichen 
Geistes  und  seines  Zusammenhangs  mit  der  objektiven 
Wesenskonstitution  der  Welt.  Weil  die  Welt  mit  den 
Grundformen  des  menschlichen  Geistes  in  Wesensbe- 
ziehung steht,  der  Geist  aber  ursprünglichsten  Spiegel 
seines  Schöpfers,  und  zwar  dieses  Spiegelseins  sich  selbst 
bewußter  Spiegel  ist,  muß  auch  die  Welt  (wie  immer 
ihre  Beschaffenheit  sein  mag)  das  Werk  einer  geistigen 
Ursache  sein.  Die  außergeistige  Welt  für  sich  genommen 
würde  uns^  fuhren  zur  Annahme  einer  nach  Vemunft- 
gesetzen  leitenden  und  immer  mitwirksamen  Kraft,  die 
bei  Ursprung  und  Fortgang  der  Welt  tätig  ist,  nicht  aber 
eines  Agens,  das  aus  Vemunftgesetzen  wirkt;  sie  würde 
nicht  ausschließen,  daß  neben  und  außer  dieser  über- 
mächtigen (indes  nicht  notwendig  allmächtigen  und  un- 
endlichen) Kraft  auch  noch  ein  zweites  gleich  ursprüng- 
liches Grundprinzip  (eine  blinde  Energie  oder  eine  ewig 
und  gleichursprünglich  wie  Gott  bestehende  Materie)  ihr 
zu  Grunde  liege,  d.  h.  der  Dualismus  (wie  ihn  z.  B.  die  alte 
Religion  der  Perser  und  das  Manichäertum  lehrte)  wären 
nicht  ausgeschlossen;  im  Gegenteil  sie  wären  wahrschein- 
lich^. Der  Schöpfungsgedanke,  in  dem  AUursächlichkeit  des 
Ens  a  se  und  Geistigkeit  in  die  Einheit  einer  Idee  gebunden 
ist,  setzt  voraus,  daß  die  wenigstens  relativ  schöpferische 
Kraft  des  menschlichen  Geistes  im  wertebildenden  Wollen 
(als  dem  einzigen  Orte,  an  dem  nicht  nur  ein  Umbilden, 
sondern  ein  freies  Bilden,  nicht  nur  ein  Sichfortpfianzen 

*  Vgl.  hierzu  Chr.  v.  Ehrenfels:  «Kosmogenic«,  E.  Diederichs,  Jena. 

'  Eine  gewisse  Erneuerung  des  Manichäismus  sind  die  metaphysischen 

Lehren  des  älteren  Schelling  und  des  an  sie  anknüpfenden  E.  v.  Hartmann. 


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Probleme  der  Religion.  439 

und  Wachsen,  sondern  ein  wahrhaftes  »Schaffen«  über- 
haupt vorliegt)  zuvor  erlebt  und  gegeben  war  —  um 
dann  in  formal  absoluter  und  unendlicher  Weise  auf 
Gott  übertragen  zu  werden. 

Es  bleibt  daher  Augustins  Lehre  im  Prinzip  richtig,  daß 
die  religiöse  Erkenntnis  Gottes  als  Geist  nicht  abhängig 
ist  von  einer  vorhergehenden  Setzung  der  Existenz  und 
ebensowenig  von  einer  Erkenntnis  der  Beschaffenheit  der 
außergeistigen  Welt;  daß  wir  also  Gott  als  Geist  nicht  in 
lumine  mundi,  sondern  umgekehrt  die  Welt  in  lumine  Dei 
erkennen. 

Es  gilt  aus  diesem  Grunde  methodisch  der  Satz,  daß 
wir  die  Welt  und  ihre  Schicksale  so  zu  erkennen  und  zu 
denken  haben,  daß  der  unabhängig  von  ihrer  Existenz- 
setzung und  Beschaffenheitserkenntnis  schon  evidente, 
wahre  und  gültige  Satz  von  der  Geistigkeit  ihres  gött- 
lichen Urhebers  auf  alle  Fälle  wahr  bleibt.  Auch  das  volle 
Vertrauen  in  die  Erfassungskraft  der  in  sich  evidenten 
formalen  und  materialen  Wesenszusammenhänge  durch 
unsere  Vernunft,  auf  Grund  deren  wir  alle  Welterkenntnis 
— ja  schon  die  Setzung  einer  bewußtseinstranszendenten 
Welt  selbst  —  ausüben,  setzt  voraus,  daß  wir  unsere 
endliche  Vernunft  wurzelnd  wissen  und  erleben  in  einer 
unendlichen  Vernunft,  aus  der  die  endliche  Vernunft  wie 
ihr  Gegenstand  stammt. 

Damit  erst  wird  auch  unsere  Überzeugung  von  der 
Geistigkeit  Gottes  überhaupt  so  unabhängig  von  allen 
möglichen  Erschütterungen  unseres  Weltbildes,  daß  keine 
dieser  Erschütterungen  ims  an  dieser  Überzeugung  je  irre 
machen  oder  uns  in  schlechthinige  Skepsis  bezüglich  der 
Erkennbarkeit  der  Welt  durch  den  menschlichen  Geist 


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^40  Probleme  der  ReUgion. 

reißen  kann.  Jede  Erschütterung  —  auch  die  tiefste  — 
kann  uns  dann  viebnehr  nur  ein  Motiv  werden,  uns  ein 
angemesseneres  Wehbild  zu  schaffen. 

Wenn  uns  daher  die  Wesensbeschaffenheit  der  außer- 
geistigen Welt  über  die  Geistigkeit  Gottes  etwas  lehren 
soll,  so  kann  es  nicht  diese  Geistigkeit  selbst,  sondern 
nur  die  Art  der  Geistigkeit  Gottes  sein,  über  die  sie  uns 
etwas  lehrt.  Und  auch  das  ist  nur  möglich,  wenn  die  on- 
tische  Wesensgliedenmg  des  Universums  immer  betrach- 
tet wird  im  Zusammenhang  mit  der  aktmäßigen  Wesens- 
gliederung des  menschlichen  Geistes. 

Ehe  ich  mich  zu  dieser  Bestinunung  der  Attribute  des 
göttlichen  Geistes  wende,  soll  aber  über  die  Art  des 
Wachstums  unserer  Erkenntnis  der  Geistigkeit  Gottes 
einiges  gesagt  sein. 

4.  Wachstum  und  Abnahme  der  natürlichen 
Gotteserkenntnis 

Unser  Geist  besitzt  weder  eingeborene  noch  ange- 
borene Ideen.  Auch  die  Idee  Gottes  ist  nicht  eingeboren. 
Sogar  die  Idee  des  Ens  a  se  setzt  die  Erkenntnis  irgend- 
eines kontingenten  Seienden  voraus  und  wird  nur  an  sol- 
chem Beispiel  als  evidente  Bedingung  jeglichen  kontin- 
genten Seins  erschaubar.  Daß  die  geistige  Seele  des 
Menschen  ein  Abbild  und  Spiegel  der  Geistigkeit  Gottes 
ist,  setzt  durchaus  nicht  mit,  es  sei  ihr  darum  auch  die 
Idee  eines  unendlichen  Geistes  eingeboren.  Auch  das 
Wissen  um  jene  Abbildlichkeit  iist  ihr  nicht  eingeboren. 
Sie  erwirbt  es  erst  in  der  angegebenen  Weise  durch  Re- 
flexion auf  ihr  Wesen  und  den  geschilderten  religiösen 
Akt  der  Erfassung  Gottes  als  des  Geistes,  in  dem  sie 


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Probleme  der  Religion.  ^^  I 

gründet.  Nicht  durch  eine  Idee,  sondern  durch  ihr  Sein 
und  Leben  selbst,  ist  sie  in  Gott  eingewurzelt.  Und  nur 
weil  alles  Sein  des  Geistes  qua  Geistes  immer  auch 
potentielles  Wissen  um  sich  selbst  ist  —  nicht  weil  sie 
eine  eingeborene  Idee  Gottes  besäße  — ,  ist  mit  ihrer 
Ähnlichkeit  auch  ein  unmittelbares  Sichähnlichwissen 
potentiell  gesetzt.  Nur  die  Potenz  religiöser  Akte  als 
besonderer  Aktklasse,  dadurch  sie  sich  religiöses  Wissen 
erwerben  kann,  ist  mit  ihrem  Sein  selber  gesetzt. 

Nur  weil  es  keine  eingeborene  Idee  Gottes  gibt,  gibt 
es  prinzipiell  unbegrenztes  Wachstum  der  natür- 
lichen Gotteserkenntnis  in  den  immer  neuen  Erwer- 
bungsakten der  Geschichte  des  menschlichen  Geistes. 
Durch  die  besonderen  Bedingungen  dieses  Erwerbens  (im 
besonderen  durch  die  Eigenart  der  Träger  der  erwerben- 
den Akte,  nach  Volks-,  Rassen-,  National-,  Geschichts- 
bestinuntheit  und  die  besonderen  Erfahrungskreise  dieser) 
erstehen  aber  auch  sehr  verschiedenartige  Resultate  des 
natürlichen  Gotterkennens,  also  eine  Mannigfaltigkeit 
natürlicher  Religionen. 

Sowenig  wie  eingeborene  Ideen  gibt  es  ursprüngliche 
synthetische  Funktionsformen  und  Funktionsgesetze  des 
menschlichen  Geistes  ( >  Kategorien « im  Sinne  Kants),  durch 
welche  einem  ordnungsfreien  »Stoff«  von  Gegebenem  (nach 
Kant  »Empfindungen«  und  Triebimpulsen)  die  gegen- 
ständlichen Formbestimmtheiten  des  Seienden  erst  aufge- 
prägt würden.  Unser  Denken  und  Erkennen  vermag  nichts 
zu  »schaffen«,  zu  »produzieren«,  zu  »formen«  —  es  seien 
denn  Ficta  und  Zeichen.  Sowohl  der  ordnungslose,  gestalt-, 
formfreie  Empfindungsstoff  wie  die  nirgends  vorfindbaren 
Funktionen  gesetzlicher  Synthesis  (Kategorialfunktionen) 


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AA2  Probleme  der  Religion. 

sind  pure  sich  gegenseitig  bedingende  Erfindungen  Kants. 
Die  Formeinheiten,  die  Kant  als  Beispiele  seiner  »Kate- 
gorien« aufführt  und  noch  viele  andere,  die  er  nicht  auf- 
fuhrt, sind  vielmehr  Gegenstandsbestimmtheiten,  die 
zum  »Gegebenen«  selbst  gehören:  so  Substanz  und  Kau- 
salitäti  die  Relationen,  die  Gestalten  usw.  Unset>gegebe- 
ner  Anschauungsgehalt  ist  eben  unvergleichlich  viel  rei- 
cher als  der  Teilgehalt,  der  einem  puren  (d.  h.  nur  reiz- 
bedingten) Empfinden  und  innerhalb  seiner  den  verschie- 
denen Modalitäten  des  Empfindens  entspräche.  Und  auch 
dieser  »Teilgehalt«  ist  nie  ein  realer  Teil  des  Gegebenen, 
sondern  ein  fictives  Vergleichsprodukt  im  Vergleich  je  ein- 
heitlicher intentionaler  Wahmehmungsakte,  deren  funk- 
tionelle Komponenten  variieren,  wenn  die  Reize  konstant 
gehalten  werden. 

Der  Schluß  der  aus  beiden  Sätzen  (Gegebenheit  auch 
der  Formen  und  Mitgegebenheit  möglicher  Empfindungs- 
inhalte nur  so  weit  und  in  den  Grenzen,  als  sie  der  einheit- 
lichen Wahmehmungsintention  Erfüllung  imd  Ausfüllung 
zu  geben  vermögen)  zu  ziehen  ist,  lautet:  daß  unser  Geist 
mit  den  Dingen  in  einem  Kontakt  steht,  der  an  sich  un- 
vermittelt ist  durch  die  Sinnesorganisation  unseres  Lei- 
bes, und  der  gegenüber  der  Vielheit  der  sinnlichen  Funk- 
tionen ein  ursprünglicher  und  einheitlicher  ist.  Die 
Sinne  zerlegen  nur  diesen  Kontakt  unseres  Geistes  auf 
mannigfaltige  Weise.  Sie  sind  nicht  Schöpfer,  sondern  nur 
Analysatoren  der  geistigen  einheitlichen  Totalanschauung 
derWeltgegebenheit  und  zwar  Analysatoren  nach  Maßgabe 
der  biologischen  Reizwerte  der  Dinge,  dadurch  sie  lebens- 
nützUche  und  -schädliche  Bewegungsreaktionen  desjenigen 
Organismus  einzuleiten  vermögen,  der  zu  der  geistigen 


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Probleme  der  Religion.  443 

Person  als  dem  Subjekte  der  Anschauung  gehört.  Dahin- 
gegen ist  die  Voraussetzung  der  Erkenntnistheorie  Kants 
und  seiner  Nachfolger,  es  müsse  alles,  was  am  Gegebenen 
der  Erfahrung  über  den  »zuvor  gegebenen«  Empfindungs- 
inhalt hinausreicht  (die  Czegenständlichkeit,  das  Sein,  das 
Realsein,  die  Einheitsformen  der  Substanz  und  Kausalität, 
die  intuitiven  Mannigfaltigkeitsgegebenheiten,  die  Raum, 
Zeit,  Größe,  Menge,  Zahl  zugrunde  liegen,  die  Relationen, 
Gestalten,  die  Werte  usw.)  durch  die  Tätigkeit  des 
menschlichen  Cxeistes  erst  hervorgebracht  oder  hinein- 
gebracht worden  sein,  ganz  ungegründet.  Sie  ist  geradezu 
des  nQCürtm  ipevdog  seiner  Philosophie.  Der  menschliche 
Geist  besitzt  diese  weltkonstruktive  Kraft,  die  ihm  Kant 
beilegt,  keineswegs.  Diese  Vorstellung  verwechselt  ihn 
mit  dem  göttlichen  Geiste.  Auch  das  Wollen  und  Han- 
deln, das  allein  zu  produzieren  vermag,  kann  in  seiner 
wahren  Bedeutung  gar  nicht  mehr  gesehen  werden,  wenn 
schon  dem  Erkennen  und  Denken  eine  schaffende  Kraft 
beigelegt  wird^. 

Aber  so  falsch  diese  beiden  Formen  der  alten  Lehre 
vom  »Apriori«  sind — die  Lehre  der  ein-  und  angeborenen 
Ideen  und  die  Lehre  von  den  synthetischen  Kategorial- 
funktionen  —  so  muß  doch  in  ganz  anderer  Form  die 
große  Unterscheidung  von.  Apriori  und  Aposteriori  auf- 
rechterhalten werden:  als  eine  Unterscheidung  im  Ge- 
y         halte  des  Gegebenen  selbst. 

^  Sieht  man  sich  unsere  Kantianer,  Fichteaner  usw.,  kurz  ^Ue  jene,  die  das 
Erkennen  »formen«,  »pzpduzieren«,  »gestalten«  lassen,  näher  an,  so  be- 
merkt man  bald,  daß  gerade  ihnen  aller  praktische  Weltkontakt  meist 
völlig  fehlt.  Kein  Wunder!  Was  brauchen  sie  zu  wollen,  zu  handeln,  zu 
formen,  zu  gestalten,  da  sie  ja  schon  durch  Erkennen  leisten  zu  können,  ja 
zu  müssen  glauben,  was  Sache  ausschließlich  des  Wollens  und  Handelns 
'st.  Ihr  erkenntnistheoretischer  Voluntarismus  hebt  echtes  Wollen  auf. 


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444  Probleme  der  Religion. 

Apriori  ist  am  Gegebenen  der  Anschauung  Alles,  was 
der  puren  Was-  und  Wesenssphäre  angehört,  d.  h.  der 
Inbegriff  aller  derjenigen  unter  Abstreifung  der  Daseins- 
modi gewonnenen  Soseinsbestimmtheiten  der  Gegen- 
stände, die  als  Sosein  undefinierbar  sind,  die  jeder 
Definitionsversuch  also  bereits  voraussetzt.  Diese  We- 
senheiten sind  darum  nur  »erschaubar«.  Aposteriori  ist 
dagegen  alles  andere  Gegebene  möglicher  Anschauimg. 

Und  es  gilt  nun  der  Satz,  der  das  Verhältnis  zwischen 
Wesenstatsachen  und  zufälligen  Tatsachen  regelt,  daß 
alles  Wahre,  was  vom  Wesen  eines  Gegenstandes  gilt, 
auch  für  alle  möglichen  Gegenstände  dieses  selben  Wesens 
schlechthin  gilt  —  ohne  daß  eine  Induktion  an  diesen 
Gegenständen  uns  dieser  Geltung  erst  zu  versichern  hätte^. 
Die  kategoriaJen  Seinsformen  sind  dann  nur  diejenigen 
Wesenstatsachen,  die  das  Real-Sein  der  Gegenstände  in 
Grundarten  des  Realseins  (oder  Werdens)  zerlegen.  Sie 
bilden  also  nur  einen  Teil,  aber  auch  einen  Teil  des 
Apriori  —  den  formalen  Teil  und  zwar  den  formalen 
Teil,  der  nicht  die  Gegenstände  überhaupt,  sondern  die 
Arten  des  Realseins  der  Gegenstände  angeht.  Gegenüber 
stehen  ihnen  die  absolut  formalen  Wahrheiten  der  reinen 
Gegenstandslehre,d.  h.  diejenigen  die  fiir  Alles  gelten,  sofern 
es  das  Wesen  der  Gegenständlichkeit  besitzt;  femer  die 
material  apriorischen  Wahrheiten,  die  für  die  Was- 
und  Inhaltsbestimmtheiten  der  realen  Gegenstände  gelten. 

Das  Wissen  um  einen  apriorischen  Gegebenheitsge- 
halt ist  nun  weder  eingeboren  noch  auch  seinem  Gehalt 

'  Nicht  von  Erfahrung  und  Anschauung  der  Gegenstände  überhaupt,  son- 
dern nur  von  der  Quantität  der  Erüahrung  ist  das  apriori  G^ebene  unab- 
hängig. 


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Probleme  der  Religion.  445 

nach  ein  pures  Erzeugnis  des  Geistes,  sondern  es  ist  an  sich 
genau  so  »receptio«  wie  jedes  Wissen  eines  Gegebenen. 
Das  Wissen  um  das  Apriori  ist  also  selbst  keineswegs 
auch  apriorisches  Wissen.  Wohl  aber  ist  es  ein  Wissen, 
das  obzwar  aposteriori,  aber  darum  nicht  inductiv  ge- 
wonnen, apriori  für  alle  Gegenstände  in  Geltung  steht 
(auch  für  die  mir  jetzt  oder  auf  irgendeiner  Stufe  meines 
Erfahrungswissens  unbekannten,  ja  eventuell  unerkennba- 
ren), sofern  sie  nur  Gegenstände  solchen  Wesens 
sind.  Somit  ist  eine  evidente  Einsicht  in  alles,  was  apriori- 
wesenhaft  ist  (seien  es  einzelne  Wesenheiten,  Wesenszu- 
sammenhänge oder  Wesensstrukturen)  durch  (induktive) 
Erfahrung  des  zufallig  Tatsächlichen  weder  beweisbar  noch 
zerstörbar  oder  widerlegbar. 

Daraus  geht  die  erste  wichtige  Eigenschaft  aller  Wesens- 
erkenntnis hervor;  daß  sie,  einmal  in  der  Geschichte  ge- 
wonnen, durch  alle  folgende  Erfahrung  nicht  wieder  in 
Frage  gestellt  und  modifiziert  werden  kann  —  im  Unter- 
schied zu  aller  Erkenntnis  von  zufälligen  Tatsachen  und 
damit  auch  von  gesetzlichen  Beziehungen  zwischen  zu- 
fälligen Tatsachen.  Nur  Bereicherung  und  Wachstum 
der  Wesenserkenntnisse  (d.  h.  immer  neues  Hinzutreten 
von  Wesenserkenntnissen  zu  alten)  und  immer  neue  Ver- 
knüpfung der  Wesenserkenntnisse  untereinander  sind  mög- 
lich. Femer  ist  möglich,  daß  eine  gewonnene  Wesenser- 
kenntnis in  der  Geschichte  wieder  verloren  gehe  und  so 
wieder  neu  zu  entdecken  ist. 

Damit  verbindet  sich  eine  zweite  Eigenschaft,  die  zu 
den  noch  am  wenigsten  durchschauten  Eigenschaften  der 
Wesenserkenntnisse  gehört:  Die  Wesenserkenntnis 
funktionalisiert  sich  zu  einem  Gesetz  der  bloßen 


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4^6  Probleme  der  Religion. 

»Anwendung«  des  auf  die  zufälligen  Tatsachen 
gerichteten  Verstandes,  der  die  zufällige  Tat- 
sachenwelt »nach«  Wesenszusammenhängen  »be- 
stimmt« auffaßt,  zerlegt,  anschaut,  beurteilt. 
Was  vorher  Sache  war,  wird  Denkform  über  Sachen; 
was  Liebesobjekt  war,  wird  Liebesform,  in  der  nun  eine 
unbegrenzte  Zahl  von  Objekten  geliebt  werden  können; 
was  Willensgegenstand  war,  wird  WoUensform  U5w.  Wo 
immer  wir  z.  B.  schließen  nach  einem  Schlußgesetz, 
ohne  »aus«  ihm  zu  schließen,  einer  ästhetischen  Regel 
gehorchen  (wie  der  schaffende  Künstler),  ohne  auch  nur 
im  entferntesten  diese  Regel  selbst  in  der  Weise  eines 
formulierten  Satzes  im  Geiste  zu  haben,  treten  Wesens- 
einsichten »in  Funktion«  —  ohne  daß  sie  selbst  dabei 
explicite  dem  Geiste  vor  Augen  ständen.  Nur  an  dem 
Erlebnis  der  Unrichtigkeit,  der  Abweichung  von  einem 
Gesetz,  das  wir  dabei  als  Gesetz  nicht  bewußt  im  Geiste 
haben,  kommt  es  uns  dann  zum  dämmernden  Bewußt- 
sein, daß  uns  eine  Einsicht  führte  und  leitete;  wie  es 
z.  B.  auch  stattfindet  bei  allen  Gewissensregungen,  die 
mehr  Einspruch  erheben  gegen  Falsches  als  daß  sie  aus 
sich  heraus  das  Gute  aufwiesen  —  hinter  denen  aber  doch 
eine  positive  Einsicht  in  das  Gute  und  in  ein  positives 
Ideal  unseres  individuellen  und  allgemein-menschlichen 
Lebens  steht.  Indem  Wesenseinsichten  sich  also  »funktio- 
nalisieren«  findet  eine  Art  wahren  Wachstums  des 
menschlichen  Geistes  sowohl  im  Einzelleben  als  im 
Laufe  der  Geschichte  (durch  die  Vermittlung  nicht  der  Ver- 
erbung, sondern  der  Tradition)  statt,  das  von  allen  bloß 
durch  Einwirkung  auf  den  menschlichen  Organismus  und 
seine  Sinneszonen  erworbenen  und  etwa  vererbten  Fähig- 


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Probleme  dfer  Religion.  447 

keiten,  femer  von  aller  bloß  psychologisch- verständlichen 
Genese  (nach  Assoziationsgesetzen,  Übüngsgesetzen,  psy- 
chischen Vitalgesetzen)  wesens^erschieden  ist.  Ein 
Werden  und  Wachsen  der  Vernunft  selbst,  d.  h.  ihres  Be- 
sitztums an  apriorischen  Auswahl- 'und  Funktionsgesetzen, 
wird  uns  durch  die  Funktionalisierung  der  Wesens- 
einsicht verständlich.  Und  es  wird  uns  damit  gleich- 
zeitig verständlich  der  Schein,  der  Kant  zu  der  berühm- 
ten Annahme  verführte,  es  besitze  die  menschliche  Ver- 
nunft schlechthin  ursprüngliche,  schlechthin  unveränder- 
liche und  unvermehr-  wie  unverminderbare  Funktionsge- 
setze (Kategorialfunktionen,  Grundsätze  usw.),  durch  die  sie 
aus  einem  Chaos  von  Gegebenem  die  zusammenhängende 
Erfahrungswelt  erst  synthetisch  konstruiere,  während 
ein  schlechthin  unerkennbares  Ding  an  sich  hinter  dieser 
Erscheinungskonstruktion  liegen  bleibe.  Demgegenüber 
behaupten  wir,  daß  alle  Funktionsgesetze  auf  ursprüng- 
liche Cjegenstands-Erfahrung,  aber  auf  Wesenserfiathrung 
resp.  Wesensschau  zurückgehen,  daß  aber  gleichwohl 
diese  Erfahrungsart  von  aller  »Erfahrung«  von  zufälligen 
Tatsachen,  —  die  immer  wesensgesetzlich  auch  Sinnes- 
erfahrung ist  —  grund-  und  wesensvertchieden  igt.  Auch 
den  Kantischen  Satz  von  der  logischen  Identität^  des 
vernünftigen  Geistes  bei  allen  Menschengruppen  (Rassen, 
Kulturkreisen,  Völkern  etc.)  bestreiten  wir  daher,  so- 
weit er  über  die  rein  formalen  Geistesfunktionen  resp. 

*  Noch  schärfer  weisen  wir  zurück  die  sich  über  J.  G.  Fichte  bildende,  bei 
Hegel  völlig  deutliche  Lehre  einer  realen  Identität  der  Vernunft  (Weltver- 
nunft) in  allen  Menschen,  eine  Lehre,  durch  die  der  schon  bei  Kant  ange- 
legte pantheistische  Averroismus  vollständig  wurde.  Wir  setzen  vielmehr 
diesen  Lehren  eine  pluralistische  Anschauung  auch  von  den  ursprünglich- 
sten Besitztümern  des  vernünftigen  Menschengeistes  entgegen. 


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448  Probleme  der  Religion. 

ihre  Gesetze  hinausgeht,  deren  Identität  überdies  selbst 
erst  aus  der  Identität  derselben  formalen  Gegenstands- 
wesen  begreiflich  ist,  welche  die  ursprünglichsten  und  ein- 
fachsten Wesenseinsichten  betreffen.  Denn  da  die  Tat- 
sachenkreise von  »matter  of  fact«  für  alle  Menschen  und 
Gruppen  verschiedene  sind,  so  können  —  unbeschadet 
der  Apriorität,  Evidenz  und  geltungsmäßigen  Unzerstör- 
barkeit der  gewonnenen  Wesenseinsichten  —  auch  die 
Gruppen  derWesenseinsichten  verschiedener  Sub- 
jekte (Völker,  Rassen  usw.)  verschiedenartige  sein. 
Ihr  Cjeltungswert  wird  dadurch  nicht  um  eine  Spur  ge- 
ringer, ihre  apriorische  Geltungsart  wird  nicht  im  gering- 
sten verletzt,  ihr  streng  objektiver  Charakter  nicht  ge- 
schmälert. Denn  eben  wenn  ein  Wesensreich  existiert,  das 
die  Verfessung  bildet  für  alle  möglichen  Welten  und  Wirk- 
lichkeiten von  matters  of  fact  (nicht  nur  für  unsere  Welt 
des  möglichen  Menschenmilieu),  so  ist  es  —  da  der  Zu- 
gang zu  diesem  Reiche  von  den  zufalligen  Tatsachen  her 
für  jeden  Menschen,  besonders  aber  für  die  grofSen  Grup- 
pen der  Menschheit,  ein  verschiedener  Zugang  ist  —  so- 
gar zu  erwarten,  daß  auch  die  Geistesfunktionen  und  ihre 
Gesetze,  die  durch  Funktionalisierung  der  Wesensein- 
sichten sich  gebildet  haben,  verschieden  geartet  sind  in 
allem,  was  die  rein  formalen  Grundbestimmungen  der 
Gegenstände  als  solcher  übersteigt.  Nicht  weniger  als  die 
logische  (oder  gar  reale)  Identität  der  geistigen  Vemunft- 
funktionen  in  allen  gleichzeitigen  großen  Gruppen  der 
Menschheit  bestreiten  wir  die  gleichsam  ewige  Stabili- 
tät der  Menschenvemunft  (die  nur  der  göttlichen  Ver- 
nunft wahrhaft  zukommt),  die  Kant  in  seinem  Versuche 
voraussetzt,  diese  Vernunft  (zunächst  theoretisch)  durch 


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Probleme  der  Religion.  44^ 

die  Lehren  der  transzendentalen  Ästhetik  und  der  trans- 
zendentalen Analytik  (Tafel  der  Kategorien  und  Lehre  von 
der  Deduktion  der  Grundsätze)  wahrhaft  auszuschöpfen. 
Nicht  nur  der  ganze  Bereich  der  zufalligen  Erfahrung  ist 
in  fortgesetztem  Wachstum  begriffen,  auch  der  mensch- 
lich vernünftige  Geist  selber  als  Inbegriff  aller  apriorisch 
giltigen  Vemunftfiinktionen'und  -gesetze  wächst  und  ent- 
faltet sich;  —  freilich  so,  daß  seine  je  älteren  Wachstums- 
stadien durch  das  neue  Stadium  keineswegs  je  entwertet 
werden. — Denn  diese  Entwertung  fände  nur  statt,  wenn  die- 
ses Wachstum  nicht  durch  immer  neue  Hinzuerwerbung  von 
Wesenserkenntnissen  und  Funktionalisierung  dieser  Er- 
kenntnisse auf  Grund  einer  dem  Geiste  als  solchem  zukom- 
menden ursprünglichen  Richtung  aufs  Ewige  und  Göttliche 
erfolgen  würde,  sondern  durch  bloße  wechselnde  »An- 
passung« an  das  Natur-  und  positive  Geschichtsmilieu  des 
Menschen.  (So  z.  B.  bei  H.  Spencer).  Da  der  menschliche 
Geist  —  in  Individuo  wie  in  der  Gattung  —  also  wächst 
nicht  nur  in  seinen  Kenntnissen,  sondern  auch  in  seinen 
Funktionen  und  Kräften,  Kenntnisse  zu  sammeln,  nicht 
nur  in  seinen  Werken  und  Leistungen,  z.  B.  in^Kunst  und 
moralischer  Lebenspraxis,  sondern  auch  in  seinen  künst- 
lerischen und  moralischen  Fähigkeiten,  so  ist  an  kei- 
nem Punkte  der  Geschichte  der  vernünftige  Menschengeist 
vollständig,  vielmehr  immer  nur  unvollständig  philo- 
sophisch —  auf  allen  Gebieten  der  Noetik  —  zu  be- 
stimmen. Femer  ist  das  hier  gemeinte  Wachstum  des  ver- 
nünftigen Geistes  selbst  —  durch  Funktionalisierung  ur- 
sprünglicher Wesenseinsichten  —  in  keiner  Weise  be- 
dingt durch  eine  Umbildung  der  Naturorganisation 
des  Menschen  als  leiblichen  Organismus  (einschließlich 
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AKO  Probleme  der  ReligioiL 

der  Gehirn-  und  Nervenorganisation)  etwa  so,  wie  A.  Lange 
und  Herbert  Spencer  (unter  Voraussetzung  der  Vererb- 
barkeit  erworbener  Fähigkeiten)  meinten. 

Im  Gegenteil  läßt  sich  zeigen  (was  hier  nicht  gesdiehen 
soll),  daß  eine  auslösende  Ursache  für  die  selbständige, 
autonome  Entfaltung  der  menschlichen  Geistes- Vernunft 
als  solcher  (im  Unterschiede  von  allem  unmittelbar  leib- 
lich bedingten  psychischen  Dasein)  eben  die  eminente 
biologische  Fixiertheit  der  menschlichen,  als  der  diffe- 
renziertesten Lebensorganisation  ist.  Eben  weil  der  Mensch 
die  entwicklungsgeschichtlich  »fixierteste  Tierart«  gemäß 
dem  allgemein  biologischen  Gesetze  der  steigenden  Ab- 
nahme von  Entwicklungsfähigkeit  (auch  Restitutionsfahig- 
keit)  bei  höherer  Organisation  ist,  wurde  er  subjektiv 
auch  dazu  angetrieben,  die  unbegrenzte  objektive  Ent- 
faltungsfahigkeit  seines  vernünftigen  Geistes  durch  Funk- 
tionalisierung  seiner  Wesenseinsichten  auch  faktisch  ins 
Spiel  treten  zu  lassen.  Durch  diese  von  der  biologischen 
grundverschiedene  Art  und  Richtung  seiner  Entwick- 
lung als  Geistwesen  gleicht  er  in  weit  erhabenerer  Weise 
das  aus,  was  ihm  an  natürlicher  Entwicklungsfähigkeit  und 
faktischer  Entwicklung  als  natürliches  irdisches  Lebe- 
wesen um  des^  Preises  seiner  höheren  Organisation  willen 
verloren  gegangen  ist. 

Es  braucht  kaum  gesagt  zu  werden,  wie  grundlegend 
sich  die  hier  vertretene  Grundansicht  von  der  Entfaltung 
des  Menschen  unterscheidet  nicht  nur  —  wie  wir  eben 
zeigten  —  von  der  Kantischen  Identitäts-  und  Konstanz- 
lehre der  menschlichen  Vernunft,  sondern  auch  von  solchen 
Theorien,  die  solche  Konstanz  verwerfen  und  also  eine 
Theorie  vom  Werden  und  Wachsen  der  menschlichen 


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Probleme  der  Religion.  ^5 1 

Vernunft  vertraten.  Solche  Lehren  sind  z.  B.  die  betref- 
fenden Lehren  Herbert  Spencers  und  seiner  Schule  auf 
dem  Boden  positivistisch -sensualistischer  Erkenntnis- 
theorie; femer  auf  dem  Boden  einer  bis  aufs  Äußerste 
verstiegenen  rationalistisch -konstruktiven  Geistes-  und 
Vemunftlehre  die  einschlägigen  Lehren  Hegels. 

Spencer  sah  wohl  ein,  daß  weder  die  alte  Lehre  von 
den  durch  Gott  dem  Menschen  unmittelbar  eingeborenen 
Ideen  unser  Fragebedürfnis  befriedigen  könne,  noch  der 
gemeine  individualistische  Empirismus,  der  alle  Prinzipien 
und  Gedankenformen  durch  den  Einzelnen  auf  Grund  von 
Induktionen  (sei  es  mechanisch  assoziativ  sich  bildenden, 
sei  es  bewußt  methodischen)  gewonnen  sein  läßt,  noch 
endlich  die  auf  jede  Werdelehre  der  Vernunft  verzich- 
tende Lehre  Kants  durchfuhrbar  sei.  Da  Spencer  aber 
eine  Unterscheidung  zufälliger  Sinneserfahrung  und  We- 
sensanschauung, femer  der  zufälligen  Tatsachen  und  der 
ewigen  Wesenheiten  nicht  kannte,  da  er  nur  einen  gra- 
duellen Unterschied  anerkannte,  wo  ein  qualitativer  vor- 
liegt, blieb  er  in  der  alten  falschen  Identifizierung  des 
Aprioriwissens  und  des  (potenziell)  angeborenen  Wissens 
hängen.  Dem  Individuum  sollte  angeboren  sein,  was  die 
Gattung  langsam  erworben  hat  —  und  die  Prozesse  des 
Vemunftwerdens  sollten  unter  dem  hier  ganz  ungeeigneten 
Begrifif  der  »Anpassung  des  Organismus  an  die  Umwelt« 
verständlich  werden.  Daß  er  die  Vernunft  und  ihre  ober- 
sten Prinzipien  —  auf  allen  Gebieten,  auch  den  ethisch- 
praktischen —  als  gewordene  und  giltige  schön  voraus- 
setzt, indem  er  den  Gegenstand,  an  den  diese  Anpassung 
erfolgen  soll,  bereits  nach  diesen  Prinzipien  denkt,  be- 
merkt er  ebensowenig  wie  er  beachtet,  daß  wir  eine 

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452  Probleme  der  Rdigion. 

ideal  vollkommene  Anpassung  der  Reaktionen  und  des 
praktischen  Verhaltens  des  menschlichen  Organismus 
an  seine  Umwelt  denken  können,  ohne  daß  auch  nur 
eine  Spur  von  Erkenntnis  des  Gegenstandes  der  An- 
passung stattfinden  müßte;  und  daß  umgekehrt  bloße 
Erkenntnis  (wie  auch  bloße  sittliche  Güte  der  Person  und 
des  Willens)  für  das  Maß  der  Anpassung  zu  gar  nichts 
nütze  sind. 

In  fast  entgegengesetzter  Richtung  verkannte  Hegel, 
daß  die  Erwerbung  von  Wesenseinsicht  nicht  minder  eine 
Sache  der  Anschauung  und  Erfahrung  ist  (nur  einer 
grundsätzlich  anderen  Art  als  der  Sinnes-  und  Induktions- 
erfahrung); daß  also  von  einem  einheitlichen  Entfaltungs- 
prozeß der  »Idee«  durch  die  menschlichen  Bewußtseins- 
formen hindurch  und  nur  gemäß  einem  dialektischen  Ge- 
setze, nach  dem  nur  entfaltet  und  herausgewickelt  werde, 
was  in  der  Idee  »an  sich«  schon  gelegen  sei,  im  Ernste 
keine  Rede  sein  kann. 

Bei  Beiden  gibt  es  keine  ursprünglich  verschiedenen  ver- 
nunftgestaltenden geistigen  Prozesse  der  Wesensanschau- 
ung; bei  Beiden  kein  wahres  Wachstum  (resp.  wahre  Ab- 
nahme) des  vernünftigen  Geistes  selbst  (nicht  nur  seiner 
Anwendung  und  Übung  in  Erkenntnis  der  Welt).  Und 
das  ist  mit  ein  Grund,  daß  beide  in  ihrer  geschichts- 
philosophischen  und  soziologischen  Lehre,  d»  h.  in  der  An- 
wendung dieser  Geistestheorie  durchaus  in  den  engsten 
Grenzen  dessen,  was  ich  anderenorts  »Europäismus«  ge- 
nannt habe,  eingeschlossen  bleiben*. 

*  Vgl.  den  Abschnitt  »Über  die  Einheit  Europas«  im  Buche  »Der 
Genius  des  Krieges«.  Vgl.  auch  H.  Gomperz:  •  Weltanschauungslehre« 
(E.  Diederichs), 


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Probleme  der  Religion.  453 

Im  Gegensatze  zu  diesen  Anschauungen  behaupten  wir 
ein  Vemunftwerden  durch  Funktionalisierung  von  Wesens- 
anschauung,  und  zwar  ein  so  geartetes,  das  über  den  for- 
malsten Gehalt  dieser  Wesensanschauungen  hinaus  inner- 
halb der  verschiedenen  großen  Gruppen  der  gegliederten 
Menschheit  zu  verschiedenen  Vemunftgestaltungen  ge- 
fuhrt hat;  das  femer  zu  wahrem  Wachstum  (und  wahrer 
Abnahme)  der  höheren  und  höchsten  Geisteskräfte  des 
Menschen  führen  kann  und  tatsächlich  geführt  hat.  Da  — 
um  im  Bilde  zu  reden  —  der  menschliche  Geist  nicht  nur  in 
verschiedene  Teile  der  einen  zufälligen  »wirklichen«  Welt 
hineingeschaut  und  diese  Teile  vernünftig  geformt  und 
gebildet  hat,  sondern  von  Hause  aus  auch  in  verschiedene 
Teile  der  einen  Wesenswelt,  mußten  auch  seine  rechts- 
gültigen apriorischen  Funktionsformen  (durch  Funktiona- 
lisierung des  Erschauten)  verschiedenartige  werden  —  was 
doch  keineswegs  ausschließt,  daß  jeder  dieser  Ein-  und 
Durchblicke  in  und  durch  die  Wesenssphäre  des  möglichen 
Wissens  evident,  wahr  und  rechtsgültig  ist.  Nur  das  folgt 
daraus,  daß  die  großen  menschlichen  Kulturen  xmd  Er- 
kenntniszusammenhänge —  schon  auf  dem  Niveau  des  apri- 
orischen Wissens  —  gegenseitig  unvertretbar  und  un- 
ersetzlich sind  imd  daß  es  mithin  nicht  in  historischem 
Inhalt  oder  im  Inhalt  des  Blutes  und  der  Rasseanlagen  — 
geschweige  gar  in  bloßer  Arbeitsteilung  — ,  sondern  im 
Wesen  von  Vernunft  und  Erkenntnis  selbst  gelegen  ist, 
daß  nur  ein  Miteinander  des  Erkennens,  eine  Coopera- 
tion der  Menschheit  in  allen  höchsten  Geistestätigkeiten 
(auch  bei  idealer  Rechtheit  ihrer  Anwendung)  eine  voll- 
ständige Erkenntnis  der  Wesenswelt  zu  leisten  vermag. 
Denn  $0  sehr  die  Völker,  die  Rassen  und  sonstigen  Grup- 


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4^4  Probleme  der  Religion. 

pen  (schließlich  die  Individuen)  einander  prinzipiell  zu  er- 
setzen vermögen  in  aller  Anwendung  des  gleichen  apriori- 
schen Wissens  auf  die  Erkenntnis  der  zufälligen  Wirklich- 
keit dieser  Welt  und  in  diesei»  Sphäre  höchstens  verschie- 
dene sog.  »Anlagen«  und  »Begabungen«  (d.  h.  psychophy- 
sische  Besonderheiten),  femer  verschiedene  Zugängigkeit 
zu  gewissen  Teilen  der  wirklichen  Welt  eine  Nötigung  zur 
gegenseitigen  Ergänzung  ihrer  Erkenntnisse  nötig  machen 
(dazu  noch  die  rein  technische  Fruchtbarkeit  der  Arbeits- 
teilung solche  Cooperation  und  Ergänzung  geboten  er- 
scheinen läßt),  steht  es  ftir  die  Wesenssphäre  ganz  anders : 
Hier  ist  die  Unersetzlichkeit  des  Menschen  durch  den  Men- 
schen ein  absoluter  Grundsatz  —  kein  nur  relativer  — 
imd  eben  darum  wird  die  Cooperation  und  Ergänzung  zu 
einem  absoluten  reinen  Sachgebot,  —  zu  einem  Sachgebot, 
das  im  Wesen  dieser  Grundart  des  Erkennens  selbst  ge- 
legen ist. 

Femer  folgt  aus  unserer  Geisteslehre  die  Anerkennung 
eines  möglichen  wahren  Werdens  und  Wachstums  und 
eines  wahren  Entwerdens  und  wahrer  Abnahme  des  ver- . 
nünftigen  Menschengeistes  in  der  Geschichte,  Dinge,  die 
etwas  gmndlegend  Anderes  sind  als  Entwicklung  und  Ent- 
faltung eines  positiven  Ideengehalts  (resp.  einer  Mehrheit 
solcher  Gehalte)  oder  gar  als  bloße  Anpassung,  Übung, 
Differenziemng  usw.  Denn  nicht  nur  das  Wissen  »um« 
die  Wesenswelt  vermag  in  der  Geschichte  zu-  und  abzu- 
nehmen (resp.  die  Funktionalisierung  dieses  Wissens)  son- 
dem  jegliche  Stelle  des  einmaligen  konkreten  Geschehens* 
flusses  der  Welt  vermag  von  Hause  aus  zum  Spmngbrett 
auch  für  Wesenseinsichten  zu  werden,  zu  denen  keine  ein- 
zige andere  Stelle  des  Weltprozesses  das  Sprungbrett  wer- 


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Probleme  der  Religion.  45  5 

den  kann.  Das  besagt  aber,  daß  auch  der  menschliche  reine 
vernünftige  Geist  selbst  und  unabhängig  von  allen  Induk- 
tionen und  allem  hinzutretenden  neuem  Sinnesstoff  durch 
Funkdonalisierung  also  erworbener  Wesenseinsichten  zu 
wachsen  resp.  abzunehmen  vermag  (resp.  in  diesen  seiner 
Wesens-Funktionen  zu  wachsen,  in  jenen  abzunehmen). 
Und  es  folgt  femer,  daß  die  Epochen  und  Zeitalter  der 
Geschichte  des  Menschen  (als  Teil  der  Geschichte  des  Uni- 
versums) bezüglich  der  durch  sie  möglich  zu  erwerbenden 
Wesenserkenntnis  prinzipiell  ebenso  absolut  unersetz- 
lich sind  wie  die  je  gleichzeitigen  Völker  und  Individuen 
(resp.  sille  anderen  Gruppen).  Nicht  nur  eine  steigende 
Sammlung  von  induktivem  Material  und  eine  Steigerung 
logischer  Bearbeitung  dieses  Materials  (wie  der  Positivis- 
mus es  behauptet  und  allgemeine  Regeln  dir  die  Art  dieser 
Sammlung  aufstellt)  vollzieht  sich  in  der  Geschichte  mensch- 
licher Erkenntnis ;  und  ebensowenig  bildet  diese  Geschichte 
(wie  Hegel  und  H.  Cohen  und  seine  Schule  lehren)  einen 
Prozeß  logischer  Entfaltung,  in  der  immer  neue  »Grund- 
legungen« des  Erfahrungswissens  erfolgen:  Sondern  der 
vernünftige  Geist  selbst  als  Inbegriff  der  Akte,  Funktionen 
und  Kräfte  wächst  und  nimmt  ab,  »wird«  und  »ent- 
wird« durch  Funktionalisierung  dieser  an  je  bestimmte 
Stellen  des  konkreten  Weltprozesses  geknüpften  und  nur 
hier  möglichen  Wesenseinsichten.  Der  Fortschritt  (und 
Rückschritt)  in  den  Dimensionen  der  bloß  induktiven 
Sammlung  und  der  logischen  Deduktion  (resp.  Reduktion) 
betrifft  hingegen  nur  die  Anwendung  bestimmter  Wesens- 
einsichten (durch  deren  Funktionalisierung)  auf  die  zu- 
fällige reale  Welt.  Er  findet  femer  nur  statt  da,  wo  über- 
haupt die  Erkenntnis  der  zufällig  realen  Welt  zum  Haupt- 


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456  Probleme  der  Religion. 

gegenständ  der  Erkenntnis  geworden  ist  (d.  h.  de  facto 
vor  allem  in  Europa)  und  er  findet  in  der  Form  eines  kon- 
tinuierlichen Prozesses  nur  statt  je  auf  der  Geschichts- 
strecke innerhalb  eines  in  seinem  Wesenseinsichtssystem 
(und  dem  dazu  gehörigen  »Vemunftsystem«)  constanten 
Zeitalter. 

Es  kann  daher  sehr  wohl  sein  (d.  h.  die  allgemeine 
Geisteslehre  läßt  es  zu^),  daß  ein  Zeitalter  der  Menschheit 
oder  eines  ihrer  Teile  Erkenntnisblicke  in  das  Wesensreich 
warf,  die  kein  anderes  2^talter  selbst  zu  werfen  je  berufen 
sein  kann,  und  daß  daher  die  folgenden  Zeitalter  aus  dem 
Wesen  der  menschlichen  Erkenntnis  und  ihres  Gegenstan- 
des selbst  heraus  (nicht  also  aus  Gesichtspunkten  wie  Be- 
gabung, Anlage,  Arbeitsteilung  usw.  heraus)  verpflichtet 
sind,  dasjenige  als  ewig  gültigen  Erkenntnisschatz  zu  be- 
wahr en,  was  selbst  zu  erkennen  ihnen  die  Kräfte  des  Geistes 
fehlen;  indem  sie  den  Schatz  bewahren,  hätten  sie  ihn  nur 
anzuwenden  auf  die  zufällige  Wirklichkeit.  Die  Coope- 
ration der  zeidich  sich  succedierenden  Menschheit  durch 
dasMedium  der  Traditiondessen,  was  keine  »Vernunft«  der 
jeweiligen  Folgezeit  finden  kann  (auch  bei  ideal  vollkom- 
menerer Anwendung  nicht)  gehört  daher  selbst  zur  Natur 
dieser  Art  (apriorischer)  Erkenntnis  und  ihrer  Funktiona- 
lisierung;  denn  die  mögliche  Funktionalisierung  hängt  von 
dem  in  diesem  Falle  nur  durch  Tradition  möglichen  Be- 
sitz der  Erkenntnisinhalte  selber  ab.  Denn  nicht  darum 
handelt  es  sich  ja  hier,  daß  jeder  Kommende  nur  auf  den 
Schultern  des  Vorgängers  steht,  —  ausgestattet  mit  den 
gleichen  geistigen  Kräften,  zu  erkennen  und  zu  sehen 

^  Die  Entscheidung,  ob  diese  Möglichkeit  realisiert  sei,  hat  die  positive 
Untersuchung  des  geschichtlichen  Materials  zu  geben. 


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Probleme  der  Religion.  457 

wie  der  Vorgänger  —  sondern  um  den  ganz  andersartigen 
Sachverhalt,  daß  er  diese  Kräfte  selber  (oder  doch  Teile 
ihrer)  eben  nicht  besitzt,  die  der  Vorgänger  besaß.  Also 
haben  schon  bei  j  eder  Frage  wirklich  philosophischer  Ob- 
servanz (d.  h.  bei  Wesenseinsichtsfragen)  —  nicht  nur  bei 
den  höchsten  Fragen  der  Philosophie  —  alle  Philosophen 
der  ganzen  Weltgeschichte  sozusagen  gemeinsam  (d.  h, 
im  spezifischen  Akte  des  Miteinanderforschens  und  -er- 
kennens),  die  Frage  zu  diskutieren  —  im  klarsten  und 
ofTensichtiichsten  Unterschiede  zu  aller  >  positiven  <  Wissen- 
schaft, in  der  allein  die  unmittelbaren  Vorgänger  (so  sie 
nicht  schon  Gefundenes  einfach  vergessen  oder  nicht  ge- 
würdigt haben)  Interesse  zu  erregen  vermögen.  Sie  haben 
alle  »miteinander«  (nicht  gegeneinander  oder  nur  sich  auf 
»Resultate«  stützend  wie  in  den  positiven  Wissenschaften) 
zu bauenamGebäudeder  einen  »philosophiaperennis« 
— immer  auch  eingedenk  der  historischen  Verteilungsregeln 
der  Erkenntniskräfte  selber,  die  zu  erkennen  selbst 
eine  höchst  wichtige  Teilaufgabe  einer  die  Erkenntnis- 
kräfte des  menschlichen  Geistes  wahrhaft  erschöpfenden^ 
Theorie  der  Erkenntnis  ist.  Da  er  sich  auf  diese  Theorie 
—  die  ihm  selbst  aus  Einsicht  quillt,  nicht  aus  Tradition  — 
stützt,  ist  er  keineswegs  genötigt,  Traditionsinhalte,  in 
denen  Wesensschauungen   anderer   Zeitalter   vorliegen 

'  Also  in  strengstem  Unserschiede  und  in  bewußtem  Gegensatze  zu  einer 
erkenntnistheoretischen  Methode  wie  jener  Kants,  der  das  Wesen  mensch- 
licher Vernunft  nicht  nur  zu  bestimmen,  sondern  sogar  erschöpfend  zu  be- 
stimmen (also  auch  ihre  «Grenzen«)  unternahm  nur  durch  die  Antwort  auf 
die  Frage,  wie  die  spezifisch  westeuropäische  und  hier  wieder  neuzeitliche 
Wissenschaft,  ja  noch  enger  die  mathematische  Naturwissenschaft  — -  ja 
noch  viel  enger,  die  mathematische  Naturwissenschaft  Newtons  (die  durch 
Relativitätstheorie  und  Quantentheorie  heute  schon  selber  eine  in  ihren 
Prinzipien,  nicht  nur  in  ihren  Resultaten  andere  ist)  »möglich«  sei. 


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^cg  Probleme  der  Religion. 

mögen,  ohne  Prüfung  auf  ihren  Wesensgehalt,  anzu- 
nehmen. Wohl  aber  muß  er  mit  der  Möglichkeit  stets 
rechnen,  nicht  nur  tatsächlich  nicht  zu  sehen,  sondern 
auch  nicht  sehen  zu  können,  was  andere  Zeitalter  sahen. 

Also  liegt  es  selber  im  Wesen  des  Wesensreiches  und 
der  Art  des  menschlichen  Zugangs  zu  ihm,  daß  Philosophie 
auf  alle  Fälle,  und  daß  auch  reflexive  Erkenntnis  der  im 
religiösen  Akte  gegebenen  Wesenserfassung  von  Gött- 
lichem nur  durch  die  Eintracht  der  Völker  und  Zeiten 
in  dem  philosophischen  Geschäfte  überhaupt  möglich  ist 
—  wie  immer  die  besonderen  positiven  Regeln  lauten 
mögen,  nach  denen  Vernunft  im  irdischen  Menschenkreise 
tatsächlich  geworden  und  entworden  ist,  gewachsen  ist 
und  abgenonunen  hat.  Auf  diese  Regel  selbst  kommen 
wir  später  zurück;  auf  die  realen  Kräfte  und  Triebfaktoren 
der  Menschengeschichte,  die  in  ihren  Eigenregeln  erst  mit 
jenen  positiven  Regeln  superponiert  uns  die  faktische 
Geschichte  der  Philosophie  und  der  natürlichen  Religion 
verstehen  ließen.  Hier  ist  nur  wichtig  dasjenige,  was  aus 
dem  Gesagten  schon  für  die  natürliche  Erkenntnis  Gottes 
an  Folgen  hervorgeht^. 

Es  gilt  gerade  für  diese  Erkenntnis  sozusagen  am 
schärfsten  und  gesteigertsten.  Je  vollkommener  der 
Wesensgehalt  einer  Wesenheit  ist,  je  entfernter  er  ist  von 
adäquater  Erfaßbarkeit  durch  den  menschlichen  Geist 
überhaupt  (als  menschlichen),  in  desto  höherem  Grade 
wird  die  zwiefache  Cooperation  des  Erkennens  (von  der 
wir  sprachen)  für  seine  adäquateste  Erkenntnis  nötig. 

'  VgL  den  folgenden  Abschnitt:  «Ist  eine  neue  Religion  zu  erwarten«. 
Dieses  Lehrstück  aus  einer  »reinen  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 
des  Erkennens«  soll  demnächst  in  einer  besonderen  Abhandlung  im  syste- 
matischen Zusanmienhang  behandelt  werden. 


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Probleme  der  Religion.  459 

Darum  ist  dieser  Grad  am  höchsten  bei  dem  Wesen  aller 
Wesen,  bei  Gott. 

Wenn  wir  (nur  per  analogiam,  wie  wir  sahen)  Gott  die 
vernünftige  Geistigkeit  zusprechen  dürfen  und  sollen,  so 
ist  es  nach  dem  Gesagten  gar  nicht  anders  zu  erwarten, 
als  daß  die  Fülle  seiner  Geistigkeit  jedem  Menschen, 
jeder  Gruppe,  jedem  Volke  nur  partiell  zugänglich  sein 
kann,  da  ja  die  spontane  metaphysische  Erkenntnisfahig- 
keit  jedes  dieser  Erkenntnissubjekte  je  nach  der  Art  der 
Funktionalisierung  der  von  ihm  erworbenen  oder  ihm 
tradierten  Wesenseinsicht  eine  verschiedene  ist.  Wenn 
daher  die  Gottesideen  der  positiven  Religionen  diese 
Geistigkeit  sehr  verschieden  nehmen  und  auflassen, 
femer  die  Geistesfunktionen  (Wille,  Verstand,  Liebe, 
Macht,  Weisheit  etc.)  sehr  verschiedenartig  in  ihrer  Got- 
tesidee mischen  und  anordnen,  dazu  diese  Idee  von  Gottes 
»Geist«  selten  die  Züge  vermissen  läßt,  die  der  geistigen 
Artung  dieser  Gruppen  und  Personen  zukommen,  so  ist 
wahrlich  nach  dem  Gesagten  nichts  anderes  zu  erwarten. 
Es  könnte  beruhen  —  es  braucht  aber  keineswegs  nur  zu 
beruhen  —  auf  der  je  besonderen  Beschränktheit  eines 
einzigen  vernünftigen  Mustergeistes  (mit  einheidichen 
apriorischen  Funktionsgesetzen)  durch  Naturanlagen,  Lei- 
denschaften und  Geschichte  —  jenes  einzigen  vernünf- 
tigen Mustergeistes  Kants  und  der  Rationalisten,  den  wir 
ja  eben  in  seiner  Existenz  bestreiten.  Es  können  aber 
die  verschiedenen  Geistesideen  vom  Geiste  Gottes  auch 
alle  wahr  sein  —  und  nur  im  je  verschiedenen  Sinne 
inadäquat.  Es  braucht  nicht  in  der  Beschränktheit  der 
Menschen  —  es  kann  auch  an  der  unaussprechlichen 
Fülle   und   der    unendlichen,    auch    qualitativen   VoU- 


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460  Probleme  der  Religion. 

kommenheit   des   göttlichen    Geistes   liegen,  daß   dies 
so  ist. 

Nur  dies  folgt  nun  mit  Notwendigkeit:  daß  schon  im 
Wesen  der  natürlichen  Religion  und  Gotteserkenntnis  wie 
Gottesanbetung  und  -Verehrung  es  gelegen  ist,  daß  sie  im 
Unterschiede  von  aller  Erkenntnis  der  positiven  Wissen- 
schaft eine  gemeinschaftlich-cooperative  sein  muß. 
Insofern  ist  die  Idee  der  Kirche  als  einer  irgendwie  orga- 
nisierten gemeinsamen  Gotteserkenntnis  und  -Verehrung, 
femer  —  unter  monotheistischer  Voraussetzung  —  die 
einer  weltumfassenden  Kirche  nicht  erst  ein  auf  positiver 
Erfahrung  beruhender  Lehrgehalt,  sondern  schon  ein  aus 
der  Natur  eben  der  Gottes -Erkenntnis  folgendes  Postu- 
lat, Gotteserkenntnis  ist  als  Erkenntnis  und  Erfassung 
des  göttlichen  Geistes  diejenige  Erkenntnis,  die  schon 
als  natürliche  notwendig  unvollständig  (auch  in  den  Gren- 
zen des  überhaupt  dem  Menschen  hier  Zugänglichen)  un- 
vollständig bleiben  muß,  bevor  nicht  jede  der  überhaupt 
unterscheidbaren  menschlichen  Gruppen,  — ja  bevor  nicht 
jedes  Individuum  seinen  Beitrag,  d.h.  seinen  nur  ihm 
möglichen  Beitrag  dazu  geleistet  hat  und  solange  nicht 
eben  dieser  Beitrag  auch  von  allen  anderen  Gruppen  und 
Individuen  mitergriffen  und  in  das  eigene  Verhältnis  zu 
Gott  einbezogen  und  für  es  fruchtbar  gemacht  ist.  Reli- 
giöser Singularismus  ist  also  in  sich  widersinnig,  da  er 
dem  Wesenszusammenhang  widerstreitet,  der  zwischen 
Gotteserkenntnis  und  gemeinschaftlicher  Erkenntnis  ewig 
besteht.  Und  es  ist  gerade  —  so  paradox  es  klingt  — 
der  Wesensindividualismus  der  Gotteserkenntnis,  d.  h.  die 
dauernde  Unersetzlichkeit  aller  Kollektivindividuen  imd 
Einzelindividuen  als  Erkenntnissubjekte  verbunden  mit  der 


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Probleme  der  Religion.  ^6 1 

allgemeinen  Verpflichtung  zu  dieser  Erkenntnis^  was  hier 
die  Gemeinschaftsform  des  Erkennens  in  einem  Sinne 
notwendig  macht,  wie  sie  bei  keiner  sonstigen  Erkenntnis 
notwendig  ist^.  Ebenso  notwendig  ist  aber  auch  die  Ge- 
schichtlichkeit schon  der  natürlichen  Gotteserkenntnis 
—  ein  Satz,  den  alle  Vemunfttheologie  im  radikalen  Sinne 
der  Aufklärungsphilosophie  und  -theologie,  den  aber  auch 
I.  Kant  vollständig  verkannt  hat.  Da  es  ein  Werden  gibt 
für  alle  spezifische  Vemunftorganisation  (durch  Funktiona- 
lisierung  der  Wesenseinsichten  zu  Funktionsgesetzen), 
femer  ein  Wachsen  (und  Abnehmen)  so  gilt,  daß  sich  der 
steigend  volle  und  reine  Sinn  des  nur  per  analogiam 
gütigen  Satzes  »Gott  ist  Geist«  sich  nur  im  geschicht- 
lichen Wachstum  des  vernünftigen  Geistes  an  den  je  nie 
wiederkehrenden  Konstellationen  der  Welt,  erschließen 
kann.  Falsch  und  grundfalsch  ist  dieser  Satz  von  der 
notwendigen  Geschichtlichkeit  der  Gotteserkenntnis  erst 
dann,  wenn  er  besagen  wollte,  daß  Gottes  Geist  sich  an 
den  verschiedenen  Stadien  der  Weltgeschichte  gleich 
einer  sich  auslebenden  Potenz  rein  objektiv  verschieden- 
artig auswirke,  jedes  Zeitalter  also  auch  eine  besondere 
Idee  vom  Geiste  Gottes  haben  müßte.  Das  wäre  panthe- 
istisch  und  hegelisch  gedacht.  Nicht  nur  die  Philosophie, 
auch  die  natürliche  Theologie  wäre  dann  nur  der  »Zeit- 
geist auf  Gedanken  und  Begriffe  gebracht«  —  eine  grund- 
irrige,  relativistische  Behauptung.  Gott  ist  nicht  Potenz, 

'  Durch  den  Satz  des  Primates  der  Liebe  vor  der  Erkenntnis  wird  dieser 
rein  erkenntnistheoretisch-soziologische  Grundsatz  noch  dahin  spezifiziert, 
dafi  Liebe  zu  Gott  als  Bedingung  seiner  Erkenntnis  Liebe  zu  den  auf  Gott 
einträchtig  bezogenen  »Brüdern«  notwendig  in  sich  einschliefit  —  und 
2war  an  erster  Stelle  solidarische  Heils- Liebe  zu  den  »Brüdern«.  Wer  also 
nicht  auf  diesem  Wege  zu  seiner  Erkenntnis  Gottes  als  Geist  kommt,  irrt 
notwendig.  Dies  ist  das  Fundament  für  den  Wesensbegriif  der  »Häresie« 


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4.62  Probleme  der  Religion. 

die  sich  in  der  Geschichte  erst  zeitlich  auszuwirken  oder 
sich  in  ihr  zu  explizieren  hat,  sondern  absolut  actuales  Sein. 
Nur  die  erkenntnismäßige  Ausschöpfung  seiner  Geistes- 
fülle ist  an  den  historischen  Prozeß  geknüpft  —  allerdings 
vermittelt  durch  ein  weiteres  Wachstum  der  endlichen 
Vernunft  selbst,  nicht  nur  also  durch  ein  Wachstum 
der  Erkenntnis  des  endlichen  Geistes  als  unvollstän- 
digen, endlichen,  analogischen  Nachbildes  des  götdichen 
Geistes.  Und  eben  die  Kunst  des  historischen  Verstehens 
nicht  nur  der  Werke  des  Geistes,  sondern  des  Ver- 
stehens der  von  den  je  »gegenwärtigen«  abweichenden 
Geistesstrukturen  (der  je  gewordenen  subjektiven  Kate- 
gorialsysteme  der  Vernunft)  macht  es  uns  möglich,  die 
Einseitigkeiten  der  je  gegenwärtigen  Stufe  des  endlichen 
Vemunftwerdens  zu  überwinden,  indem  wir  all  diese 
Stufen  in  uns  integrieren,  d.  h.  zu  einer  einzigen  ge- 
sammelten Vemunftkraft  das  machen,  was  der  Gang  der 
Geschichte  differenzierte.  Wir  müssen  also,  um  die  Fülle 
des  Geistes  Gottes  —  auch  nur  analogienhaft  —  erkennt- 
nis-  und  erlebnismäßig  mit  steigender  Adäquation  auszu- 
schöpfen nicht  nur  der  Vemunftstruktur  unseres  Zeit- 
alters folgen  (dürfen  keine  »Zeitphilosophie«  gestalten  wol- 
len), sondern  müssen  in  unsere  Idee  vom  göttlichen  Geiste 
jch  all  dasjenige  mit  aufnehmen,  was  andere  Zeitalter 
auf  Grund  ihrer  Geistesstruktur  vom  »Geiste«  Gottes  er- 
faßten und  aussagten.  So  wenig  Gott  —  wie  Hegels 
Pantheismus  lehrte,  der  »Weltgeist«  ist  —  so  erkennt  ihn 
(natürlich)  doch  nur  vollständig  der  ganze  vollständige 
Menschengeist  als  der  Inbegriff  allerVemunftstrukturen, 
die  sich  durch  Funktionalisierung  und  Entfunktionalisie- 
rung  je  gebildet  haben  und  bilden  werden.  Der  Aufbau 


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Probleme  der  Religion.  463 

schon  der  natürlichen  Erkenntnis  des  göttlichen  Geistes- 
gehaltes in  der  dem  Menschen  überhaupt  beschiedenen 
Fülle  —  ist  also  an  die  Cooperation  der  Menschengrup- 
pen auch  in  ihrer  zeitlichen  Abfolge  auf  Grund  der 
Tradition  wiederum  notwendig  gebunden.  Ja  —  gäbe 
es  anderweitige  Gründe  zur  Annahme,  daß  besondere  aus- 
gezeichnete Konstellationen  der  Geschichte  für  das  Wachs- 
tum der  Gotteserkenntnis  an  Gehalt  auch  besonders  dis- 
poniert gewesen  sind;  oder  daß  die  spezifischen  Funktionen 
des  menschlichen  Geistes,  die  bei  der  Erkenntnis  eben 
dieses  Gegenstandes  (i.  e.  Gottes)  ins  Spiel  treten,  im 
Ganzen  des  geschichtlichen  Ablaufs  mehr  einem  Rück- 
gange verfallen  sind,  als  einer  Fortbewegung  und  eines 
Wachstums  teilhaftig  würden,  so  wäre  die  Pflicht  der  Be- 
wahrung des  einst  adäquater  Erkannten,  für  uns  nur  mehr 
inadäquat  Erreichbaren  das  Einzige,  was  für  uns  geboten 
wäre. 

Was  ich  unter  »Funktionalisierung«  von  Wesen s- 
schau  verstehe,  sei  noch  genauer  erläutert. 

I .  Wesen  als  Wesen  zu  schauen  ist  etwas  anderes  als 
zufällige  Tatsachen  zu  erkennen  (wahrzunehmen,  zu 
beurteilen  usw.)  gemäß  der  Führung  und  Leitung  durch 
zuvor  erschaute  Wesen.  In  letzterem  Tun  kommt  uns  das 
Wesen  nicht  zu  gesondertem  Bewußtsein.  Das  Wesens- 
wissen funktioniert  hier  nur  und  zwar  als  Auslesever- 
fahren (nicht  als  synthetisches  Tun,  nicht  als  Verbinden, 
Verknüpfen),  ohne  uns  selbst  gegeben  zu  sein.  Es  macht 
für  die  Erkenntnis  des  zufälligen  Daseins  überschwellig 
all  das,  was  mit  dem  erschauten  Wesen  zusammenstimmt, 
resp.  für  die  Wesenszusammenhänge  und  die  Wesens- 
strukturen ein  möglicher  Anwendungsfall  ist.  Das  ursprüng- 


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464  Probleme  der  Religion. 

liehe  Seinsapriori  wird  hierdurch  subjektives  Apriori,  Ge- 
dachtes wird  » Form « des  Denkens,  Geliebtes  wird » Form « 
und  Art  des  Liebens. 

2 .  Die  primäre  Wesensschau  ist  selbstverständlich  keine 
reflekrive  und  keine,  auf  die  sich  ein  Urteil  aufbaut,  in 
dem  die  dem  Wesen  entsprechende  »Idee«,  resp.  der  dem 
Wesenszusammenhang  entsprechende  Ideenzusammen- 
hang erfaßt  wird  als  Wahrheit. 

3.  Alles  subjektive  Apriori  im  » transzendentalen«  Sinne 
Kants,  d.  h.  alle  Gesetze  des  Erfahrens,  die  Gesetze  auch 
der  Gegenstände  der  Erfahrung  sind,  weil  sie  Gesetze  des 
Erfahrens  sind,  ist  nichts  Ursprüngliches,  sondern  ein  Ge- 
wordenes, —  je  verschieden  für  die  Trägerschaften  des  Er- 
fahrens. Die  Leistung  dieses  subjektiven  Apriori  auf  allen 
Gebieten  des  Geistes  ist  nie  und  nirgends  ein  spontanes  Ver- 
binden, Verknüpfen  (nach  einer  ursprünglichen  Regel)  von 
ursprünglich  geschiedenen  und  selber  formlosen  Gegeben- 
heiten (nach  Kant  »Empfindungen«),  kein  positives  »Auf- 
bauen«, »Konstruieren«,  »Bilden«,  sondern  das  genaue 
Gegenteil:  Ein  gemäß  den  zuvor  erschauten  Wesen  und 
Wesenszusammenhängen  bestimmt  geregeltes  Negieren, 
Unterdrücken,  Unbeachtetlassen  alles  zugänglichen  Welt- 
inhalts, der  für  die  erschauten  Wesen  und  Wesenszusam- 
menhänge keine  Erfiillungs-  und  Bestätigungsfunktion  aus- 
übt. Dassubjektive  Apriori  erzeugt  also  nicht,  sondern  imter- 
drückt,  zerstört,  deformiert  —  für  die  mögliche  Erkennt- 
nis der  Welt  —  alle  Teile,  Seiten  der  Welt,  die  keine  An- 
wendungs-  und  Erfüllungsbeziehung  auf  die  zu  vorgegebe- 
nen Wesen  und  Wesensstrukturen  haben.  Alles  subjektive 
Apriori  ist  also  eine  bestimmte  Art  nicht  des  Formens, 
Verknüpfens,  sondern  des  Auswählens.  Die  Relation  ist 


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Probleme  der  Religion.  /^ßt 

ihrem  allgemeinsten  Wesen  nach  (abgesehen  also  von  der 
Art  der  Relation  wie  Einheit,  Ähnlichkeit,  Kausalität  usw.) 
kein  positives  Etwas,  was  unser  Geist  zu  einem  relativen  frei 
Gegebenen  hinzufügte  (ein  geistiges  »Band«,  das  durch 
Synthesis,  Verbinden  erwüchse),  sondern  sie  ist  nur  das 
Residuum,  das  durch  bestimmt  geordnetes  Nichtbeachten 
des  allseitig  positiven  und  an  sich  gestalteten  und  geformten 
Weltgehalts  ersteht.  Sie  ist  überall  das  Ergebnis  von  be- 
stimmt geordneten  Entfaltungen  des  Wahmehmens,  Den- 
kens (als  anschauliche  und  gedachte  Relation).  Die  Relation 
ist  also  wesentlich  negativer  Natur,  nidit  positiver.  Sie  ist 
das  Residuum  der  Analyse  —  das,  was  je  ausgelassen  wird 
im  Haben  des  Gegebenen,  nicht  das  Werk  einer  Syn- 
thesis. Es  ist  sonderbar,  daß  bei  vielen  Denkern  diese 
beiden  sich  ausschließenden  Gedanken  in  der  Charak- 
teristik des  Wesens  und  der  Leistung  des  subjektiven 
Apriori  oft  merkwürdig  durcheinander  gehen.  Am  stärk- 
sten z.  B.  bei  Windelband  (s.  Einleitung  in  die  Philosophie, 
S.  235u.d.F.) 

Gewiß  ist  das,  was  Kant  die  transzendentale  Beziehung, 
Erfahren  und  Gegenstand  der  Erfahrung  nennt,  bei  beiden 
einander  entgegengesetzten  Anschauungen  vom  Wesen 
des  subjektiven  Apriori,  in  gewissem  Sinne  vorhanden. 
Beide  Male  muß  sich  der  Gegenstand  nach  den  Gesetzen 
des  erkennenden  Geistes,  resp.  seinen  Funktionen  »rich- 
ten«, gleichgültig,  ob  die  spezifische  Funktion  des  Erken- 
nens  auf  einem  geordneten  Aufbauen,  Synthetisieren,  For- 
men des  Gegenstandes  aus  »gegebenem«  Empfindungs- 
stoff beruht  oder  auf  einem  geordneten  Auswählen,  d.  h. 
Unterdrücken,  Nichtbeachten,  Absehen  gegenüber  einem 
an  sich  Gestalteten,  Geformten.  Denn  ist  die  Auswahlord- 
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^66  Probleme  der  Religion. 

nung,  nach  der  die  Weltfulle,  wie  sie  an  sich  besteht  und  ist, 
dem  Menschen  (oder  einer  bestimmten  Art  der  Menschen, 
z.  B.  einer  Rasseneinheit,  einer  Kulturkreiseinheit)  zugeht, 
so  geregelt,  daß  ein  Gegenstand  vom  Wesen  B  nur  ge- 
geben wird,  wenn  ein  Gegenstand  vom  Wesen  A  schon 
gegeben  ist  (hat  also  A  Gegebenheitspriorität  vor  B  in  der 
Ordnung  der  Zeit,  —  nicht  notwendig  in  der  Succession), 
so  muß — wenn  der  Gegenstand  X  gleichzeitig  vom  Wesen 
A  und  B  ist,  notwendig  alles  Wahre  für  ihn  gelten,  was 
von  A  gilt  —  nicht  aber  umgekehrt.  Z.  B.  muß  Geome- 
trie, —  wenn  Räumlichkeit  und  Extensität  strenge  Ge- 
gebenheitspriorität hat,  vor  allen  Wesensbestimmungen 
der  Materie  und  Körperlichkeit  —  für  alle  möglichen 
Körper  streng  gelten.  Aber  derselbe  Satz  —  die  aus- 
nahmslose Anwendbarkeit  der  Geometrie  auf  die  Körper- 
welt —  gälte  auch,  wenn  Kants  Lehre,  die  den  Sachen 
selbst  Extensität  und  Räumlichkeit  abspricht  und  die 
Raumform  als  bloße  Anschauungsform  des  Gegebenen 
deutet,  wahr  wäre.  Die  transzendentale  Geltung  des  sog. 
Apriori  auch  für  die  Gegenstände  der  Erfahrung  bestünde 
also  in  beiden  Fällen,  so  daß  wir  aus  ihr  allein  heraus  kein 
Kriterium  besitzen,  welche  der  beiden  Hypothesen  richtig 
ist:  die  Lehre  von  einem  synthetischen  Hinzufügen  der 
Form  seitens  des  spontanen  Geistes  und  die  Hypothese 
der  geordneten  Selektion  gemäß  zuvor  erschauten  Wesen. 
-  Gleichwohl  bleiben  die  beiden  Theorien  vom  subjek- 
tiven Apriori  wie  durch  einen  Abgrund  geschieden  — 
sowohl  in  sich  selbst  wie  in  ihren  Folgen  für  die  meta- 
physische Welterkenntnis. 

Nach  unserer  Hypothese  ist  das,  was  am  Gegebenen 
durch  das  Wesen  des  Weltbestandes  gedeckt  ist,  auch  an 


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Probleme  der  Religion.  ^67 

sich  gestaltet,  geformt.  Aus  der  Fülle  dieser  an  sich  seien- 
den Formen  und  Gestalten,  die  mit  ihrem  je  spezifischen 
Gehalt  eindeutig  verbunden  sind,  hebt  unser  Geist  nach 
einer  bestimmten  Ordnung  der  Auswahl  nur  einige  heraus, 
indem  er  die  anderen  gleichsam  negiert  und  unterdrückt. 
Er  analysiert  die  Welt  nach  einer  bestimmten,  durch  die 
Geschichte  des  Erkennens,  und  zwar  des  Wesenserken- 
nens,  vorbestimmten  Ordnung.  Das  Bildwerk  der  Erfah- 
rung ist  in  der  Welt  selbst  voAanden,  so  wie  die  Bild- 
säule in  Marmor  vorhanden  gedacht  werden  kann,  der 
Bildhauer  aber  durch  entsprechendes  Abhämmem  des 
Marmors  sie  nur  befreit  und  ans  Licht  bringt.  Nach  Kants 
Lehre  hingegen  ist  der  Geist  eine  Kraft  synthetischer 
Verknüpfung  nach  Gesetzen  und  Vorbildern,  die  ihm  ur- 
sprünglich eigen  sind,  die  keine  Ableitung  oder  Erklärung 
vertragen,  —  die  ihm  als  Schicksal  einwohnen. 

5.  Attribute  des  göttlichen  Geistes. 

Die  Attribute  des  göttlichen  Geistes  werden,  —  wenn 
Gottes  Sein,  Gottes  Geistigkeit  und  AUursächlichkeit  schon 
aus  anderen  Gründen  hinreichend  erkannt  sind  —  durch 
zwei  Methoden  gefunden,  die  unabhängig  von  einander 
ihren  Gang  zu  nehmen  haben;  die  aber  auf  Grund  des 
Satzes  vom  Wesenszusammenhang  von  Aktart  und  Gegen- 
standsart zu  denselben  Resultaten  fuhren  müssen,  wenn 
anders  sie  richtig  angewandt  sind.  Die  erste  Methode  geht 
aus  von  dem  Wesensaufbau,  der  in  der  wirklichen  Welt 
realisiert  ist  und  dem  die  Attribute  des  göttlichen  Geistes 
entsprechen  müssen,  die  uns  aus  dem  Verhältnis  Gottes 
zur  Welt  überhaupt  kund  werden  können;  immer  voraus- 
gesetzt, Gott  sei  die  Ursache  (als  personaler  Geist  und  als 
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^68  Probleme  der  Religion. 

Schöpfer)  der  Welt.  Die  zweite  Methode  geht  von  der 
Wesensstruktur  des  menschlichen  Geistes  (nicht  also  von 
empirischen  Tatsachen  der  Psychologie)  aus,  in  dem  sie 
Gottes  Geistigkeit  per  analogiam  die  Wesenszüge  zuweist 
(in  absoluter  und  unendlichen  Form)  und  den  Wesensauf- 
bau, d.  i.  die  Forderungsordnung  der  Aktarten  des  Geistes, 
die  im  Wesensstudium  des  menschlichen  Geistes  gefunden 
werden.  Im  letzteren  Falle  hat  dies  zu  geschehen  durch 
Grenzbegriffe  hindurch,  |^e  wir  uns  von  der  Geistigkeit  in 
der  Seele  des  Menschen  dadurch  bilden  können,  daß  wir 
prüfen,  was  am  menschlichen  Geiste  bleibt,  wenn  er  in  der 
Richtung  der  Grade  abnehmender  Abhängigkeit  vom  Leibe 
und  seinen  Modifikationen  (Grade,  die  wir  noch  in  der  Erfeh- 
rung  selbst  vorfinden)  betrachtet  wird.  Wir  gewinnen  in 
dieser  Betrachtungsart  wenigstens  die  Richtungen  der 
Linien,  die  bis  zum  idealen  Grenzpunkt  einer  absoluten  Un- 
abhängigkeit vom  Leibe  ausgezogen  gedacht,  uns  die  Grenz- 
begriffe eines  leibfreien  Geistes  vermitteln,  als  welchen 
allein  wir  Gott  (auch  nur  per  analogiam)  zuweisen  dürfen. 
Ja,  wir  gewinnen  auf  diese  Weise  eine  Stufenfolge  der  Ideen 
von  möglichen  Arten  von  Geistern,  die  keinen  Widerspruch 
in  sich  tragen  und  doch  der  materialen  Gesetzmäßigkeit 
des  menschlichen  Geistes  entsprechen;  diese  Stufenfolge 
findet  im  Geiste  Gottes  nur  ihren  höchsten  Abschluß,  ihre 
Krone  und  Spitze. 

Die  Philosophie  des  Mittelalters  hat  die  erste  Methode 
(wenigstens  im  Zeitalter  der  Hochscholastik)  vorgezogen, 
die  moderne  Philosophie  (wo  sie  auf  dem  rechten  Wege 
war)  die  zweite.  De  facto  sind  beide  Methoden  nötig  und 
geboten,  da  sowohl  der  ideell-objektive  Zusammenhang 
des  Universums  als  Gottes  höchsten  Schöpfungswerkes  und 


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Probleme  der  Religion.  469 

unmittelbarsten  Spiegels,  wie  die  geistige  Menschenseele 
auf  die  Attribute  der  Geistigkeit  Gottes  gleichmäßig  hin- 
weisen. 

Beide  Methoden  führen  femer  nur  zu  analogischen  Be- 
stimmungen. Dies  folgt  schon  aus  der  notwendigen  Über- 
tragung des  Attributs  der  Einfachheit  und  Unteilbarkeit 
Gottes  auch  auf  den  götdichen  Geist.  Der  göttliche  Geist 
hat  keine  besonderen  »Vermögen«  (Verstand,  Wille,Liebes- 
fähigkeit)  nicht  nur  weil  er  Alles,  was  er  ist,  actu  ist  (und 
der  Aktus  wie  schon  Aristoteles  erkannte,  der  Potenz  über- 
all notwendig  vorhergeht)  sondern  auch,  weil  jede  »reale« 
Geschiedenheit  und  auch  nur  relativ  selbständige  Wirk- 
fähigkeit von  Vermögen  und  Funktionen,  wie  wir  sie  im 
menschlichen  Geiste  finden,  ein  Zeichen  der  Unvollkom- 
menheitist. Schon  die  Menschenseele  erachten  wir  ja  als 
relativ  vollkommener,  die  in  jedem  Aktus  wenigstens  als 
relativ  Einfaches  und  Ganzes  in  die  Erscheinung  tritt 
usw.,  —  so  daß  Verstand,  Wille,  Liebe,  alle  Art  von  Fühlen 
»von«  etwas  —  wie  aus  einem  unteilbaren  Aktstrome 
des  Geistes  gespeist  erscheinen.  Gott  aber  ist  absolut  ein- 
fach. Die  attributiven  Bestimmungen  des  göttlichen  Geistes 
überhaupt  als  Liebe,  Wille,  Vernunft  etc.  haben  gleichwohl 
einen  guten  und  berechtigten  Sinn,  insofern  sie  nur  aus- 
sagen wollen,  daß  der  göttliche  Geist  auch  Kräfte  dieser 
Wesensart  und  Richtunginsich  tatsächlich  enthalten  müsse, 
ohne  daß  wir  freilich  die  kontinuierlichen  Zwischen- 
stufen und  -glieder  kennen  und  angeben  können,  die  ini 
göttlichen  Geiste  diese  Kräfte  zu  einer  absolut  einheitlichen 
und  einfachen  Wirksamkeit  zusammenbinden.  Die  attri- 
butiven Aussagen  haben  also  den  Sinn,  daß  sie  weder  reale 
noch  sog.  abstrakte  Teile  dem  göttlichen  Geiste  zusprechen, 


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470  Probleme  der  Religion. 

sondern  nur  besagen:  Gottes  Geist  gleiche  in  dieser  und 
jener  Hinsicht  dem,  was  wir  am  menschlichen  Geiste  je 
Liebe,  Wille,  Verstand  etc.  nennen. 

Dasselbe  gilt  für  die  Fundierungsordnung  zwischen  Ver- 
stand, Wille,  Liebe  etc.,  die  wir  gleichfalls  am  menschlichen 
Geiste  als  innere  Gesetzmäßigkeit  eines  Geistes  überhaupt 
finden.  Ohne  die  Voraussetzung  dieser  Ordnung  —  die 
von  einander  verschiedenen,  wenn  auch  einheitlich  funk- 
tionierenden Vermögen  —  in  die  Idee  Gottes  selbst  hinein- 
zutragen, müssen  wir  doch  eine  Analogie  auch  zu  dieser 
Ordnung  in  Gottes  Geistigkeit  annehmen.  Führte  uns  also 
die  Untersuchung  des  menschlichen  Geistes  z.  B.  zur  Lehre 
vom  Primat  des  Verstandes  vor  dem  Willen,  aber  zugleich 
zu  einer  Grundansicht,  nach  der  die  Liebe  den  obersten 
Primat  vor  Verstand  und  Willen  gleichermaßen  besitzt, 
so  müssen  wir  auch  in  Gott  eine  Analogie  zu  dieser  Fun- 
dirungsordnung  annehmen. 

Eine  Reihe  metaphysischer  Systeme  (Plotin,  Spinoza, 
Hegel  u.  a.)  haben  darin  geirrt,  daß  sie  Gottes  Geist  aus- 
schließlich und  einseitig  nur  nach  seiner  logischen  Seite  ver- 
standen. Da  uns  die  Philosophie  an  dem  Beispiel  dieser 
wirklichen  Welt  die  Wesenheiten  und  Wesensstrukturen 
aufweist,  die  in  jeder  möglichen  Welt  sind  und  deren  zu- 
gehörige Wahrheiten  in  jeglicher  gelten,  so  erhebt  sich 
Philosophie  schon  aus  eigener  Kraft  aus  dem  Banne  dieser 
Welt.  Aber  sie  hätte  rein  aus  sich  heraus  keinen  Anlaß, 
aus  dem  Umkreis  des  der  Welt  also  immanenten  Logos  als 
dem  Inbegriffealler  Wesenheiten  undihrer  Zusammenhänge 
herauszugehen,  wenn  nicht  das  formale  Wesen  und  Dasein 
Gottes  vorher  schon  feststünde.  Von  der  Gottesidee  aus 
gesehen  aber  erhält  jener  noch  rein  sachliche  Logos  ein 


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Probleme  der  Religion.  471 

personhaftes  lebendiges  Subjekt,  ein  Subjekt,  das  nach 
diesen  Wesenheiten  anschaut  und  denkt  — so,  daß  die  im 
ieibbehafteten  Geiste  getrennt  funktionierenden  Vermögen- 
von  Anschauung  und  Denken  eine  lebendige,  sich  resdos 
durchdringende  Einheit  bilden.  Denn  schon  die  Theorie  der 
menschlichen  Erkenntnis  findet,  daß  die  leibbedingten  Sinne 
nicht  den  positiven  Gehalt  der  Anschauung  der  Welt  geben, 
sondern  ihn  nur  zum  Dienst  für  den  Organismus  zielmäßig 
seligieren;  darum  gehört  Anschauung  so  wesentlich  zum 
Logos  Gottes,  wie  das  sog.  vernünftige  Denken.  Anderer- 
seits darf  das  menschliche  Denken  mit  seiner  Gliederungs- 
form von  Begriff,  Urteil,  Schluß  und  seiner  diskursiven 
Natur,  nur  soweit  es  Denken  =  Bedeutungsmäßigeshaben 
ist,  auf  Gottes  Geist  analogisch  übertragen  werden,  nicht 
aber  insofern  es  diese  Gliederungsform  besitzt  und  sich  in 
einem  Nacheinander  entfaltet.  Denn  genau  wie  die  Sinnes- 
wahmehmung  nicht  die  Anschauung  selbst  ist,  sondern  nur 
eine  ökonomische  Verwertungsweise  der  Anschauung  im 
Dienste  des  Organismus,  genau  so  ist  Begriffebilden,  Ur- 
teilen, Schließen  nur  eine  biologisch  und  sozial  bedingte 
Verwertungsform  des  reinen  Habens  von  Bedeutung  im 
Dienste  menschlicher  Zwecke.  Aber  auch  die  Scheidung 
von  Anschauung  und  Bedeutunghaben  selbst  ist  eine  noch 
menschlich  bedingte  Form  des  Erkennens,  eine  Form,  die 
überdies  überall,  wo  das  Erkennen  zu  seinem  höchsten  Ziele 
gelangt,  der  Erkenntnis  der  Sache  selbst  (in  der  evidenten 
Deckungseinheit  von  Angeschautem  und  Bedeutetem)  wie- 
der aufgelöst  wird.  Anschauung  ist  nur  geistiges  Erkennen 
in  Hinsicht  auf  individual  und  singulär  Wertvolles;  Denken 
nur  dasselbe  geistige  Erkennen  in  Hinsicht  auf  generell  und 
kollektiv  Wertvolles.  Anschauung  ist  also  keineswegs,  wie 


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472  Probleme  der  Religion. 

der  platonische  Rationalismus  annahm^  nur  sinnlich  ge- 
trübtes, verworrenes  Denken,  sondern  so  rein  und  ur- 
sprünglich »geistig«  wie  das  Denken  im  Sinne  des  Habens 
von  Bedeutung.  Und  ebensowenig  ist — wie  der  englische 
Sensualismus,  Mach,  Avenarius  usw.  annahmen  —  Denken 
nur  eine  Ökonomisierung  der  Anschauung  oder  gar  nur  der 
sinnlichen  Anschauung,  ein  technisches  Mittel  mit  An- 
schauung zu  sparen.  Vielmehr  sind  beide,  Anschauung  und 
Denken,  zwei  verschieden  gerichtete  Verwertungsformen 
des  in  sich  ursprünglich  einheitlichen  erkennenden  Geistes, 
die  nicht  in  dieser  Geschiedenheit,  sondern  nur  in  ihrer  ur- 
sprünglichen »Einheit  als  intuitiver  Verstand«,  also  als 
» intellektuale  Anschauung« ,  auf  den  göttlichen  Geist  in  un- 
endlicher Form  der  Seinsweise  übertragen  werden  dürfen. 
Das  Erleben  des  »Einmündens«  von  Anschauung  und  Be- 
deutung im  evidenten  Erkennen  der  Sache  selbst  allein  gibt 
uns  also  das  Grundphänomen,  von  dem  aus  wir  uns  die  Idee 
eines  »götdichen  Verstandes«  als  des  Aktkorrelates  zu 
den  in  der  Welt  realisierten  Wesenheiten  zu  bilden  haben. 

Aber  der  göttliche  Geist  ist  nicht  nur  intuitiver  Ver- 
stand, wie  die  genannten  Denker  meinten.  Er  ist  auch  ur- 
sprünglich willensartig. 

Wir  erkennen  die  Willensartigkeit  des  göttlichen  Geistes 
aus  einem  Grundcharakter  der  Welt,  der  im  Zusammenhang 
miteinerReihevonWesenseinsichten  uns  diese  Willensartig- 
keit anzunehmen  zwingt.  Die  Welt  ist  nicht  nur  ein  Inbe- 
griff von  Wesenheiten  in  eigenartigem  Zusammenhang  : 
Sieistaußerdem  als  diese  Welt  da,d.h.  siehatauch  als  Ganzes 
den  Charakter  der  zufälligen  Realität.  Daß  sie  »eine«  reale 
Welt  sei  (und  nicht  eine  bloße  Wesenswelt)  das  ist  selbst 
noch  eine  Wesenseigenart  dieser  Welt  und  ist  von  der  po- 


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Probleme  der  Religion.  4. 7  3 

sitiven  Kontingenz  ihres  realen  Inhalts  noch  zu  scheiden ; 
obzwar  >eine«  reale  Welt  die  Kontingenz  ihres  Inhalts 
notwendig  nach  sich  zieht.  ^  Nun  aber  fordert  i.  jedes 
Realsein  von  > Etwas«  ein  Wirken  und  ein  Wirkendes, 
»durch«  das  es  mehr  »ist«  als  nicht  ist;  femer  (im  Spiel- 
raum der  Wesensgesetze  seines  Soseins)  ein  Wirken,  um 
deswillen  es  mehr  so  beschaffen  ist  als  anders.  Dieser  Satz 
allein  verdient  allgemeines  Kausalprinzip  zu  heißen  —  im 
scharfen  Unterschied  von  speziellen  Prinzipien,  die  be- 
reits mehr  oder  minder  vermittelte  Anwendungen  des  Kau- 
salprinzips auf  bestimmte  Daseinsformen  des  Universums 
darstellen.  Solche  sind  z.  B.  der  Satz,  daß  jede  (auch  ein- 
malige)BegebenheitoderVeränderung,FolgeeinesWirkens 
eines  Dinges  A  auf  ein  Ding  B  sei,  ein  Satz,  der  das  Kau- 
salprinzip erst  in  der  Seins  und  Werdensform  der  Zeit 
darstellt;  daß  jede  Wirkung  Wechselwirkung  sei  (A  wirkt 
nur  auf  B,  sofern  B  auch  gleichzeitig  auf  A  wirkt),  der  nur 
das  räumlich  Gleichzeitige  betrifft.  Und  noch  weit  speziellere 
Prinzipien  sind  die  Sätze,  daß  im  Falle  identisch  in  der 
Zeit  und  im  Räume  wiederkehrender  (resp.  vorkommender) 
Tatsachen,  d.  h.  unter  Voraussetzung  von  Gleichförmig- 
keit des  Daseins  und  Geschehens,  auch  Ein  und  dasselbe 
wieder  Ein  und  dasselbe  bewirke  —  Sätze,  die  außer  dem 
Kausalprinzip  nicht  weniger  als  folgende  spezielle  Sonder- 
bedingungen seiner  Anwendung  enthalten:  i.  Zeiträum- 
liches Dasein;  2.  die  Tatsache  von  Gleichförmigkeit  des 
Seins  und  Geschehens  in  Raum  und  Zeit ;  3 .  den  Satz :  Gleiche 
Ursachen  haben  gleiche  Wirkungen,  —  einen  Folgesatz 

*  Alles  Reale  ist  kontiiigent;  indes  nicht  umgekehrt.  Kontingenz  =s  zu- 
falliges Sosein  findet  sich  auch  in  der  Sphäre  des  Irrealen,  z.  B.  der  mathe- 
matischen Gebilde. 


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474  Probleme  der  Religion. 

aus  dem  Kausalprinzip  und  einem  erweiterten  Identitäts* 
prinzip;  4.  den  auf  mathematische  Mannigfaltigkeiten  re- 
stringierten Satz  von  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  aller 
Variationen  von  Gegenständen  überhaupt,  d.  h.  das  Prinzip, 
das  die  Funktionentheorie  zur  Einheit  einer  Wissenschaft 
macht.  Keiner  dieser  vier  Sätze  ist  im  allgemeinsten 
Kausalprinzip^  enthalten;  selbstverständlich  darum  auch 
nicht  das  zeiträumliche  Kontaktprinzip  der  Kausalität,  das 
—  wie  zu  zeigen  ist  —  schon  in  den  genannten  vier  Sätzen 
zusammen  logisch  ncut  enthalten  ist  und  das  ebensowohl 
alle  Femwirkungen  im  Räume,  wie  alle  ziel-  und  zweck- 
tätigen Ursachen  in  der  Zeit  ausschließt.  Dieses  letztere 
Pf-inzip  steht  —  wie  hier  nicht  zu  zeigen  —  bereits  für  die 
innerweldiche  biologische  Kausalität  und  erst  recht  (in 
andersartiger  Weise)  für  die  psychische  und  historische 
Kausalität  außer  Gültigkeit.  Ebensowenig  enthält  das 
allgemeine  Kausalprinzip  irgend  eine  Spur  von  den  Unter- 
schieden in  sich,  die  mit  den  Begriffen  causa  efficiens  und 
causa  finalis  (resp.  zielbestimmte  und  zweckbestimmte  Ver- 
ursachung) bezeichnet  werden  oder  mit  den  andersartigen 
von  causa  immanens  und  causa  transiens. 

Auf  Grund  dieses  allgemeinsten  Kausalprinzips  zunächst 
allein  fordert  die  Welt  als  reale  und  darum  zufällige  Welt 
ein  Wirken  und  ein  Erwirkendes,  das  sie  real  setzt  (sowohl 
vom  Nichtsein  ins  Dasein  rief,  resp.  ewig  >ruft«  und  sie 
darin  erhält).  Von  einer  zeidich  »ersten«  Ursache  ist  hier- 
bei noch  keine  Rede,  so  daß  die  Forderung  einer  Ursache 
der  Welt  ihrem  Dasein  nach,  nicht  weniger  gälte,  wenn 
die  Welt  > immer«  gewesen  wäre  und  immer  dauerte,  d.  h. 
sempitem  wäre.  >Ewig«  wäre  die  Welt  auch  in  diesem 
Falle  nicht,  da  ein  Seiendes,  dessen  Dasein  nicht  —  wenn 


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I 


Probleme  der  Religion.  aj^ 

es  da  ist  —  aus  seinem  Wesen  folgt,  niemals  >ewig«  sein 
kann. 

Indes  das  Kausalprinzip  allein  führt  uns  —  ohne  son- 
stigen Anhalt  —  auch  nicht  zu  einer  obersten  Ursache  (im 
unzeithaften  Sinne),  da  ja  auch  die  zweifellos  geforderte 
Ursache  »einer«  realen  Welt  eine  zweite  reale  Welt  und 
diese  eine  dritte  zur  Ursache  haben  könnte.  Der  in  diesem 
nicht  zeithaften  Sinne  immer  noch  unendliche  Regreß, 
den  das  Kausalprinzip  als  solches  gebieten  würde,  wird 
aufgehoben  erst,  wenn  wir  schon  wissen,  es  gebe  auch 
realiter  ein  Ens  a  se  et  per  se,  das  als  die  Ursache  der 
Welt  dürfe  angesprochen  werden;  und  wenn  wir  femer 
die  Einheit  und^  Einzigkeit  der  Welt,  die  >eine«  reale  ist, 
setzen.  Nur  dem  Ens  a  se  —  nicht  der  Welt  —  ist  Einzig- 
keit und  Einheit  —  wenn  es  ist  —  apriori  gewiß.  Und 
ebenso  setzt  die  Einsicht  in  den  nichtimmanenten,  sondern 
transzendenten  Charakter  der  »Ursache  der  Welt«  die  Ein- 
sicht voraus,  daß  es  ein  Ens  a  se  und  eine  Abhängigkeit 
alles  zufällig  Daseienden  von  ihm  gäbe.  Das  bloße  Kausal- 
prinzip könnte  auch  von  einem  dynamischen  Pantheismus 
(nicht  dagegen  von  einem  nur  logischen  wie  der  Pantheis- 
mus Spinozas  und  Hegels)  befriedigt  werden.  Nun  wissen 
wir  aber  bereits  nicht  nur,  daß  es  ein  Ens  a  se  und  eine 
Allabhängigkeit  von  ihm  gibt,  sondern  auch,  daß  wir  ein 
Recht  besitzen,  dieses  Ens  a  se  analogisch  »geistig«  zu 
nennen.  Hieraus  erst  haben  wir  nun  auch  das  logische 
Recht,  zu  schließen,  daß  die  Ursache  des  Realseins  der 
Welt  eine  i .  einzige  und  oberste  (folgt  aus  dem  Ens  a  se 
»als«  Ursache),  2.  eine  willensartige  sei.  Denn  das  Wollen 
ist  der  einzige  uns  gegebene  »Fall«  von  geistiger  Funk- 
tion, durch  die  wir  ein  bloßes  ideebestimmtes  »Was«  in 


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4*^6  Probleme  der  ReHgion. 

Realsein  übergehen,  es  zu  etwas  Realem  »werden« 
sehen. 

Lassen  wir  die  zwei  scharf  zu  scheidenden  Fragen  bei- 
seite: Was  ist  das  Wesen  von  Real-sein  und  unter  welchen 
Umständen,  bei  Gegebenheit  welcher  Kriterien  darf  imd 
soll  ein  intentionaler  Gegenstand  real  genannt,  d.h.  als  des 
Wesens  >  Real « -Erfüllung  geurteilt  werden,  so  bleiben  noch 
die  beiden  anderen  Fragen :  In  welchen  Akten  ist  Etwas 
vom  Wesen  des  Realseins  »gegeben«  und  wie  muß  das 
»Werden«  von  Realsein  verstanden  werden?  Auf  diese 
Fragen  geben  aber  zwei  Wesenszusammenhänge  Antwort, 
die  uns  mit  dem  Kausalprinzip  zusammen,  der  Feststellung, 
die  Welt  sei  »eine«  reale  und  mit  den  Voraussetzungen  über 
Gott  (er  sei  ens  a  se  und  Geist)  notwendig  zum  Satze  fuhren, 
daß  die  Welt  durch  Gottes  Willen  erschaffen  und  er- 
halten sei.  Erst  durch  diesen  Satz  werden  berühmte  andere 
metaphysische  Lehren  über  Gott  und  Welt  streng  wider- 
legbar: z.  B.  die  Welt  sei  ewig,  die  Welt  sei  notwendig 
aus  Gott  hervorgegangen  oder  gehe  —  sei  es  in  der  Weise, 
wie  es  Spinoza  denkt  oder  Plotinos  und  Hegel,  d.  h.  emana- 
tistisch  —  notwendig  aus  Gott  hervor;  oder  die  Realität 
der  Welt  sei  subjektiver  Schein,  da  sie  bloße  Begehrungs- 
bezogenheit  »ursprünglich«  irrealer  Inhalte  (Buddha)  auf 
den  begehrenden  Menschen  sei;  oder  es  sei  die  Welt  (als 
dauerndes  Weltwerden)  schöpferische  »Entwicklung«  und 
»Wachstum«  eines  sich  selbst  frei  »machenden«  Gottes, 
eines  »dieu,  qui  se  fait«  (Bergson). 

Diese  Wesenszusammenhänge  lauten:  Das  Realsein 
von  Etwas  wäre  einem  Geistwesen,  das  nur  Logos  oder 
auch  nur  Logos  und  Liebe  wäre,  notwendig  verschlossen; 
es  ist  erst  gegeben  im  intentionalen  Erleben  des  möglichen 


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Probleme  der  Religion.  477 

Widerstandes  eines  Gegenstandes  gegen  eine  geistige 
Funktion  von  der  Art  des  WoUens  qua  WoUens  (nicht 
also  etwa  des  »TunwoUens«  oder  gar  des  Tuns  und  natür- 
lich mit  Absehen  von  aller  Leibheit  des  Wollenden  und 
des  Verhältnisses  von  Wollen  zu  Leib  und  Leib  und  Körper- 
welt), Eine  absolute  Schlaraffen weit,  in  der  mit  dem  Wollen 
von  Etwas  immer  schon  da  wäre,  was  wir  wollen,  möchte 
objektiv  immer  real  »sein«;  ihr  Realsein  könnte  uns  nie 
gegeben  werden:  Es  gäbe  >furuns«  keinen  Wesensunter- 
schied zwischen  idealem  und  realem  Gegenstand  (wie  un- 
abhängig vom  Bewußtsein  und  außerdem  bewußtseins- 
transzendent dieser  Gegenstand  dabei  immer  noch  sein 
und  gegeben  sein  möchte).  Widerstand  aber  kann  gar  nicht 
anders  »gefaßt«  werden,  denn  als  ein  Widerstandswirken 
auf  unser  Wollen;  wir  erleben  dabei  nicht  (wie  dieser  Ge- 
danke psychologistisch  oft  verzerrt  wird)  ein  sog.  Wider- 
stands »gefühl«,  sondern  wir  mitwahmehmen  im  erlebten 
Widerstand  von  »Etwas«  (das  auf  X  restringiert  sein  kann, 
resp.  auf  »Widerstand  der  Welt«  schlechthin)  das  Wirken 
von  Etwas,  das  widersteht  —  flicht  anders,  wie  wir  in  jeder 
elementarsten  Wahrnehmung  einen  Gegenstand  des  Wahr- 
nehmens und  ein  »Herkommen«  des  Bildinhalts  der  Wahr- 
nehmung »von  ihm  her«  miterleben.  Nehmt  dieses  Wirken 
und  das  nach  ihm  interpretierte  Wirken  der  Dinge  unter- 
einander aus  einer  Bewußten  Weltgegebenheit  heraus,  so 
möget  ihr  alle  Zeitfolgen,  femer  alle  dem  Satze  vom  Grunde 
unterliegenden  Seins-  und  Werdensabhängigkeiten  des 
Weltinhalts,  femer  alle  Gesetzmäßigkeit  der  Natur  und 
Seele  in  dieser  Gegebenheit  bestehen  lassen :  der  Real- 
akzent der  Welt,  die  Weltwirklichkeit  ist  als  Gegebenheit 
verschwunden.  Der  zweite  Wesenszusammenhang  aber 


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478  Probleme  der  Religion. 

ist  der  Zusammenhang  von  ursprünglichem  Realwerden 
und  Gewolltwerden.  Alles  übrige  erfahrungsmäßig  ge- 
gebene » Werden « inNatur,  Seele,  Geschichte-^so  wesens- 
verschieden seine  Arten  sind  —  die  Bewegungsarten  der 
mathematischen  Bewegung,  die  Bewegungsarten  der  toten, 
der  Vitalbewegung,  die  Veränderungen,  Wandlungen 
und  Wechselprozesse  aller  Art,  das  Wachsen  und  Sich- 
entfalten usw.  —  zeigen  uns,  wenn  sie  phänomenologisch 
studiert  werden,  nie  und  nimmer  das  Realwerden  von  Etwas 
ursprünglich  schlechthin  Irrealem,  sondern  nur  alle 
möglichen  Arten  des  Umbildens  eines  Realen  in  ein  inhalt- 
lich davon  Verschiedenes,  bald  an  Anschaüungs-  und  Bild- 
fülle identisch  Bleibendem,  bald  wahrhaft  Wachsendem. 
Nur  im  Deckungserlebnis  eines  Gewollten  mit  der  Reali- 
sierung des  Gewollten  und  seinem  schließlichen  Realsein 
»durch«  Wollen  ist  uns  —  wenn  wir  dieses  Erlebnis  scharf 
herauslösen  aus  aller  psychophysischen  und  vital-physischen 
Kausalität  der  Willenshandlung  eines  leiblich  beschränkten 
Geistes,  —  ein  >  Fall  <  gegeben,  in  dem  wir  Etwas  ursprüng- 
lich Nichtreales  (das  im  WSllen  gegebene  »Projectum«) 
»dadraußen«  in  der  Welt  (oder  dadrinnen  in  der  Seele 
bei  »innerem  «Willensakt)  wahrhaft  real  werden  schauen. 
Die  Evidenz  des  »Daß«  dieses  Urphänomens  ist  selbst- 
verständlich ganz  unabhängig  von  Fragen  der  Art:  Wirkt 
und  »wie«  wirkt  mein  Wollen  auf  Leib  und  Körper?  Durch 
welche  psychologisch  und  anatomisch -physiologischen 
Vermittlungen?  Das  Urphänomen  selbst  muß  bei  jeder 
der  hierauf  antwortenden  Hypothesen  und  Theorien  »er- 
halten« bleiben  im  Sinne  des  od^liuv  rd  q>aiv6fieva  desDemo- 
krit.  Es  steht  an  Evidenz  unendlich  hoch  über  alle  solche 
Hypothesen  psychophysischer  Willenshandlung.  Undtrotz- 


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Probleme  der  Religion.  ^yg 

dem  empirisch  menschliches  Wollen  Nichts  im  absoluten 
Sinne  > erschaffen«  kann,  sondern  immer  sich  betätigt  an 
schon  » als «  real  Gegebenem,  so  ist  es  doch  nicht  das  Wollen 
qua  »wollen«  im  menschlichen  Wollen,  sondern  es  ist  die 
die  niöglichen  Willens inhalte — schließlich  Wille,  Pläne, 
Vorsätze  —  beschränkende  Macht  des  Widerstandes,  der 
dem  Wollen  erst  aus  dem  Tunwollen,  Tun,  schließlich  am 
Widerstand  des  eigenen  Leibes,  Körpers  und  der  natür- 
lichen und  geschichtlichen  Außenwelt  durch  Erfahrung 
steigend  erwächst,  was  die  in  allem  Wollen  ursprünglich 
enthaltene  Intention  zum  Erschaffen  auf  ein  faktisches  blof^s 
Umbilden  der  Welt  einschränkt.  Der  Mensch  will  ursprüng- 
lich auch  das  »Unmögliche«;  er  entnimmt  seine  Willens- 
inhalte nie  bloß  der  Erfahrung  des  Seienden  und  Ge- 
wesenen. Triebregungen  jeder  Art  sind  nur  Anlässe  für 
das  Jetzt  und  Hier  wollen  und  zugleich  Einschränkungen 
für  die  ursprünglichen  Wahlspielräume  seines  Wollens  — 
nicht  das  positive  Wollensprojekt  in  seinem  Sosein  inhalt- 
lich eindeutig  bestimmende  Dinge.  Nur  so  läßt  es  sich  ver- 
stehen, daß  es  eine  Richtung  der  Abstufung  gibt  in  allem 
Menschenwollen,  in  der  es  sich  zunehmend  von  dem  Pol 
des  bloßen  >  Arbeitens«  aus  dem  »Schaffen«  nähert,  ohne 
dieses  je  voll  zu  erreichen.  Nur  das  Er-schaffen  bleibt  mensch- 
lichem Wollen  nicht  als  menschlichem,  sondern  schon  als 
>  endlichem « überhaupt  wesenhaft  versagt.  Denn  >  Schaffen  < 
ist  eine  Willensrealisierung  um  so  mehr  als  im  Willens- 
und Werkinhalt  die  Materie,  an  der  diese  erscheinen,  für 
Sinn,  Wert  und  Bedeutungsgehalt  des  Ganzen  zurück- 
tritt und  je  originaler  (darum  auch  unvorhersagbarer, 
unableitbarer  aus  zuvor  Gegebenem)  es  ist;  je  größer  zu- 
gleich die  Deckungsadaequation  zwischen  Projektum  und 


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^So  Probleme  der  Rel^on. 

Werk  ist.  In  wesenstypische  Ersdieinung  tritt  das  dem 
Schaffen  sich  am  allermeisten  annähernde  Wollen  im  quasi 
» heiligen « Menschen,  derin  keinem  anderen  Mediimi  als  dem 
immer  ihm  gegebenen,  stets  ihm  zugänglichen  der  eigenen 
Seele  —  sekundär  und  durch  Beispiel  und  Nachfolge  in 
allen  anderen  Seelen  —  »sich  selber«  schafft  als  einen 
möglichst  >  vollkommen  Guten«  nach  einem  Wertwesens- 
bilde, das  ihm  im  Akte  der  Liebe  zu  sich  >in  Gott«  ge- 
worden ist.  Der  »Heilige«  ist  der  maximal  Unabhängigste 
von  fremdgegebener  Materie,  indem  sein  »Werk«  eben  »er 
selber«  ist  resp.  die  fremde  Menschenseele,  die  den  idealen 
Wertgehalt  und  Sinngehalt  seines  Werkes,  d.  h.  der  eigenen 
geistigen  Gestalt,  in  freier  Nachfolge  immer  neu  in  sich 
reproduziert.  Es  folgt  als  zweite  Annäherungsstufe  an 
das  Schaffensphänomen  das  Schaffen  des  Genius,  der  an 
fremdgegebener  Materie  ein  einmalig  Originales  ohne  Vor- 
bild schafft;  an  dritter  der  heldische  Mensch,  der  nicht  mehr 
im  Medium  seiner  selbst  und  der  Seelen,  nicht  mehr  auch 
in  von  ihm  abgelösten  »Werken«  sein  Wertpersonwesen 
einprägt,  sondern  weit  abhängiger  schon  vom  historisch 
vorgepräg^en  Stoffe  der  Gemeinschaften  und  Gruppen 
(Völker,Staatenetc.)dieseindenGrenzenihrergegebenen 
Entfaltungsmöglichkeiten  durch  unersetzliche  Taten  (die 
aber  im  Gegensatz  zum  Genius  immer  auch  denkbar  ein 
anderer  Täter  hätte  tun  können)  weiterführt.  —  Nach  den 
gegebenen  Wesenszusammenhängen  ist  nun  schon  klar, 
daß  der  Weltwiderstand  schlechthin,  in  dem  uns  das  Real- 
sein der  Welt  »gegeben«  ist  (und  »ein«  Wirken,  das 
»widersteht«  mitgegeben)  in  endgültiger  Weise  nur  durch 
ein  Weltwollen  durch  Gott  verständlich  ist  —  nicht  also 
durch  bloße  natürliche  »Kräfte«,  die  wir  zwischen  Sub- 


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Problmne  der  Religion.  48 1 

Stanzen  da  annehmen,  wo  Gesetzmäßigkeit  des  Wirkens 
vorliegt.  Das  Phänomenon  des  noch  imdifferenzierten  Welt- 
widerstandes als  solchen  ist  uns  weit  ursprünglicher  ge- 
geben als  alles  Einzelne  Besondere,  was  uns  widersteht 
oder  nicht  widersteht, — genau  wie  im  Denken  die  Welt  Zu- 
gehörigkeit jedes  Gegenstandes  im  je  besonderen  Gegen- 
stande mitgegeben  ist,  in  der  Sinneswahmehmung  aber 
Umweltsein  und  Umweltstruktur  vor  jedem  besonderen 
wahrnehmbaren  Objekt;  genau  so,  wie  uns  im  Erfessen 
eines  inneren  Vorgangs  mitgegeben  ist  das  vage  Ganze 
der  Seeleneinheit  und  -mannigfaltigkeit,  in  deren  Grenzen 
er  auftaucht,  im  einzelnen  Seelenwesen  aber  die  Gruppen- 
art und  der  Gruppencharakter  der  Gruppe,  zu  der  das 
Seelenwesen  »gehört«.  Darum  setzen  die  sonstigen  dyna- 
mischen Agenden,  die  wir  in  der  Welt  setzen  (die  >  Kräfte « , 
> Energien«,  Triebe,  Zielkräfte  usw.)  als  wirkende  sog. 
»causae  secundae«,  nicht  nur  sachlich,  sondern  auch  hin- 
sichtlich ihrer  Verständlichmachung,  das  Verstehen  des 
Widerstandes  der  Weltund  ihrer  Realität  als  einesGanzen 
und  zwar  nach  dem  uns  einzig  zugänglichen  Musterbilde 
für  das  Realwerden  eines  Irrealen  überhaupt,  d.  h.  durch 
ein  geistiges  WoUensartiges,  voraus.  Die  bloße  »Summe« 
der  causae  secundae  könnte  uns  das  Urphänomen  des 
Welt  Widerstandes  so  wenig  verständlich  machen  wie  die 
Annahme  einer  Weltkraft  oder  Weltenergie. 

Sehen  wir  uns  aber  gleichzeitig  die  Stufenleiter  der 
Phänomene  an,  in  denen  der  Mensch  als  Wollender  sich 
dem  Schaffenden  annähert  —  das  wir  als  festumschriebene 
»Idee«  und  streng  unterschieden  von  allen  Ideen  sonstigen 
Realwerdens  wie  Bewegung,  Veränderung,  Wachstum, 
Zeugung  etc.  jedenfalls  klar  besitzen;  sehen  wir  femer  auf 
31 


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482  Probteme  der  Rcl^:ion. 

die  beschränkenden  Gründe  dafiir^  daß  uns  nie  >  vollkom- 
menes Schaffen«  gegeben  bt,  so  brauchen  wir  nur  die  be- 
schränkenden Gründe  wegzudenken,  um  zunächst  die  Idee 
eine^  »vollkommenen  Schaffens«  zu  finden.  Die  Idee  voll- 
kommenen Schaffens  besteht  in  der  Idee  eines  geistigen 
Wollens,  dem  die  »Materie«,  in  die  es  sein Projektum  ein- 
prägt, schlechthin  und  ohne  jeden  eigengesetzmäßigen 
Widerstand  sozusagen  gehorsam  wäre  imd  das  Nichts  ihr 
entnimmt,  was  in  ihr  Projektum  eingeht.  Ein  also  » vollkom- 
men schaffender  Gott « wäre  gleichwohl  noch  ein  Demiurgos, 
nicht  aber  der  theistische  Gott.  Er  wäre  noch  ein  endlicher 
Weltbaumeister;  nicht  Welterhalter  und  -lenker,  sondern 
nur  Weltformer  imd  -leiter  —  nur  ein  Künsder-  und  Genius- 
gott, nicht  der  Gott  der  Heiligen.  Denn  erst  wenn  wir  zur 
Idee  des  so  erhaltenen  »vollkommenen  Schaffens«,  indem 
wir  sie  zur  Wollensart  eines  unendlidien  geistigen  Seins  a 
se  et  per  se  steigern,  die  grundverschiedene  Idee  eines  »Er- 
schaffens«  setzen,  kommen  wir  per  analogiam  dem  realen 
Grundverhältnis  von Gottund  Weltnahe.  Erschaffenwerden 
ist  Werden  eines  Realen  durch  ein  Wollen,  das  ohne  jede 
Materie,  die  ihm  gegeben  würde  (sei  es  aus  sich,  sei  es 
^ nicht  aus  sich)  »aus  Nichts«  vollkommen  schafft  —  eine 
analogische  Redeweise,  in  der  nur  die  Grenzbetrachtung 
sich  ankündigt,  die  der  Ursprung  der  theistischen  Lehre 
ist.  —  Der  Erkenntnisweg,  der  zum  Schöpfergott  fuhrt, 
ist  damit  noch  nicht  ganz  vollendet.  Denn  zum  Gedanken 
des  Schöpfergottes  gehört  nicht  nur  der  Satz,  daß  ein  unend- 
licher Geist  die  Welt  ins  Dasein  setzt  (einmal  oder  dauernd) 
sondern  auch,  daß  das,  was  ins  Dasein  setzt,  Wille  sei,  ja, 
daß  dieser  Wille  ein  freier  Personwille  sei.  Erst  damit 
sind  ausgeschlossen  die  Ideen  i.einesewignotwendigen 


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Probleme  der  Religion.  4^5 

Willens  als  Ursache  der  Welt,  2.  eines  notwendigen  Her- 
vorgehens der  Welt  aus  Gott,  3.  eines  absolut  zufälligen 
blinden  irrationalen  Willensstoßes,  der  die  Weltidee  ins 
Dasein  rief,  4.  eines  ewigen  bloßen  unbewegten » Bewegers « 
den  Welt  im  Sinne  einer  die  Weltbewegungen  zu  sich  hin 
soUizitierenden  götdichen  Realität.  (Aristoteles),  5.  einer 
rein  zeitlich  gedachten  Welt,  die  sich  schöpferisch  aus  einer 
Gottheit  entfaltet,  die  sich  selbst  macht.  (Dieu,  qui  se  fsut.) 

Ein  Gott,  der  nur  wäre  ewig,  nur  aus  sich  heraus 
notwendiger  Wille  und  nichts  anderes  wie  (Uebe, 
Logos)  oder  der  solcher  Wille  auch  nur  primär  wäre 
oder  an  erster  Stelle  (so  daß  auch  die  Wesenszusammen- 
hänge und  Ideen,  die  an  der  Welt  erschaubar  sind  auf 
seinen  ewig  notwendigen  Willensentschlüssen  beruhten) 
wäre  von  einer  universellen  Schicksalsmacht  nicht 
unterscheidbar.  Die  griechische  Heimarmene,  die  moham- 
medanische  Gotteslehre  und  die  entsetzlichen  Irrungen 
Calvins  kommen  dieser  Überspannung  der  souveränen 
Willensmacht  in  Gott  häufig  nahe. 

Gottes  Wille  ist  nicht  notwendig  »aus  sich  herauf«, 
sondern  notwendig  nur,  insofern  er  dem  Wesensge- 
setze, daß  evidente  Werteinsicht  die  Inhalte  des  WoUens 
notwendig  bestimmt  und  nur  das  Wollen  dieser  so  be- 
stimmten Inhalte  »frei«  läßt,  frei  folgt  im  Sinne  maximaler 
Wertverwirklichung.  Nur  das  Wollen  dieses  Wertmaxi- 
mums ist  absolut  »frei«,  nicht  die  Inhalte  des  WoUens,  die 
durch  Liebe,  Güte  und  Weisheit  schon  vor  dem  Wollen 
notwendig  bestimmt  sind.  Jede  Lehre  von  einem  Willens- 
primat in  Gott  ist  also  so  falsch  und  irrig  wie  jede  Lehre 
von  einem  Willensprimat  im  menschlichen  Geiste.  Und 
nicht  weniger  falsch  ist  jede  Lehre,  die  Gott  nur  die  geisti- 

31* 


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484  Prol^eme  der  Religion. 

gen  Attribute  des  Wollens  und  des  Verstandes  zuweist, 
öun  aber  Güte,  Liebe,  Weisheit  abspricht  (wie  z.  B.  die 
Lehre  Eduard  von  Hartmanns).  Sehen  wir  uns  die  ana- 
logische Fundierung  der  geistigen  Aktarten,  wie  wir  sie 
vom  Studium  des  Menschengeistes  auch  auf  Gott  zu  über- 
tragen haben,  etwas  genauer  an,  so  ist  die  lu-sprünglichste 
Wurzel  alles  »Geistes«,  sowohl  des  erkennenden  und 
wollenden  Geistes  in  Gott  wie  im  Menschen  vielmehr  die 
Liebe.*  Sie  allein  ist  das,  was^ die  Einheit  von  Willen  und 
Verstand  stiftet,  die  ohne  sie  dualistisch  auseinanderfielen. 

Das  Erste,  was  bereits  von  der  Liebe  Gottes  abgeleitet 
ist,  ist  seine  Seinsgüte,  die  wir  von  seiner  Willensgüte, 
welche  Folge  seiner  Seinsgüte  ist,  zu  trennen  haben.  Gott 
ist  summum  bonum,  das  als  Person  zugleich  Seinsgutheit 
ist.  Inhaltlich  aber  ist  diese  Seinsgüte  nach  den  ethischen 
Wertaxiomen,  nach  denen  der  Liebe  der  höchste  Aktwert 
zukommt,  nichts  als  Liebe.  Die  spezifische  Willensgüte  ist 
bereits  Folge  davon,  daß  Gottes  Wille  ewig  eins  ist  und 
übereinstimmt  mit  dem,  was  er  liebt.  Gott  liebt  nicht,  was 
er  will  und  weil  er  es  will,  sondern  er  will  ewig,  was  er 
liebt  und  Hebend  als  Wert  bejaht. 

Aber  nicht  nur  die  Liebe,  auch  der  Verstand  Gottes  ist 
seinem  Wollen  vorgeordnet  und  das  Wollen  richtend  und 
leitend.  > Am  Anfang«  war  nicht  die  —  Tat,  sondern  der 
liebegeleitete  Logos.  Der  Verstand  ist  dem  Willen  un- 
mittelbar vorgeordnet  nicht  als  Allwissenheit,  sondern 
als  Allweisheit.  Weisheit  aber  ist  Wissen  um  die  Wert- 
einheiten und  Wertqualitäten  in  der  ihnen  zukommenden 
objektiven  Ordnung.  Und  da  wir  Nichts  seinserkennend 

^  Siehe  hierzu  meinen  Aufeatz  über  »Liebe  und  Erkenntnis«  im  Buche 
*  Krieg  und  Aufbau«,  femer  den  3.  Band  dieses  Werkes. 


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Probleme  der  Religion.  485 

erfassen  können,  was  nicht  ursprünglich  als  Werteinheit 
gegeben  war,  so  geht  Gottes  Allweisheit  seiner  All- 
wissenheit vorher.  Dem  Wollen  aber  geht  beides  vorher, 
Allweisheit  und  die  von  ihr  abhängige  Allwissenheit. 
Weisheit  ist  nicht  eine  nachträgliche  Verwertung  ge- 
gebenen Wissens  von  Seiendem  für  die  höchsten  Wert- 
ziele. Sie  ist  vielmehr  eine  Fähigkeit  der  ursprünglichen 
Konzeption  und  Anordnung  des  zu  Schaffenden  so,  daß 
mögliches  Wissen  von  ihm  ein  erwerbenswertes  Wissen 
sein  könne.  So  steht  die  Weisheit  zwischen  der  Liebe  und 
dem  denkenden  Anschauen  der  durch  das  Wollen  zu  realir 
sierenden  Ideen.  Auch  die  Idee  eines  Schöpfefgottes  setzt 
als  Kern  de^  göttlichen  Geistes  die  Liebe  —  nicht  das 
Wissen  —  voraus.  Die  Gottesidee  de§  Aristoteles  hat 
auch  darum  nicht  das  der  christlichen  Gottesidee  wesent- 
liche Merkmal  der  Schöpferkraft,  weil  das  Attribut  der 
Liebe  dem  Gegenstand  dieser  Idee  fehlt.  Nur  die  Liebe 
Gottes  macht  es  femer  verständlich,  daß  Gott  sein  Wollen 
im  Sinne  einer  Schöpfung  betätigt  und  nicht  ewig  in  sich 
ruhend  verschlossen  hält.  Wie  femer  die  spezifisch  und 
positiv  christiichen  Prädikate  Gottes  als  eines  Gottes,  der 
sich  offenbarend  mitteilt  und  sich  in  der  Menschwerdung 
zum  Menschen  herabbeugt  nur  verständlichen  Anschluß 
finden  an  eine  Idee  des  göttlichen  Geistes,  in  der  Liebe, 
nicht  Verstand  und  nicht  Willensmacht  als  das  gmnd- 
legende  Attribut  gesetzt  ist,  ist  von  mir  schon  ander- 
weitig gezeigt  worden.  ^ 

Wie  Akt  und  Gegenstand  im  Sein  Gottes  zusammen 
fällt,  so  fallt  auch  die  Bestimmung  Gottes  als  summum 

*  S.  »Abhandlungen  und  Aufeätze«,  jetzt  »Vom  Umsturz  der  Werte«  im 
Aufsatz  über  das  Ressentiment. 


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486  Probleme  der  Religion. 

bonum  (unendliches  positives  heiliges  absolutes  Wertgut) 
und  Gott  als  unendlicher  Liebesaktus  in  Eins  zusammen. 
Nur  aus  diesem  Grunde  muß  die  kontemplative  mystische 
Gottesliebe  »zu«  Gott  als  dem  höchsten  Gute  wesensnot- 
wendig zum  Mit-  und  Nachvollzug  des  unendlichen  Liebes- 
aktes  Gottes  zu  sich  selbst  und  zu  seinen  Geschöpfen 
führen  —  so  daß  wir  Menschen  uns  zur  Kreatiu-  neben 
uns  analog  verhalten  wie  Gott  zu  uns  Menschen  —  wie 
andrerseits  die  Liebe  »in«  Gott,  d.  h.  die  aktive  Neuein- 
stellung des  geistigen  Personzentrums  in  den  Kern  der 
göttiichen  Allperson  und  das  Mit-lieben  aller  Dinge  mit 
der  Liebe  Gottes  von  selbst  wieder  zu  Gott  als  höchstem 
Gegenstand  der  Liebe  zurückkehren  und  sicH  so  mystisch- 
kontemplativ im.Amare  Deum  in  Deo  vollenden  muß. 
Es  führt  in  tiefe  Irrtümer,  nur  eine  dieser  verschieden- 
gerichteten Liebesbewegungen  unseres  Herzens  gelten 
zu  lassen,  wie  es  z.  B.  die  griechische  Religiosität  einseitig 
mit  der  ersteren,  die  lutherische  antimystische  einseitig 
mit  der  letzteren  getan  hat.  Die  freie  Willensmacht  Gottes 
ist  —  da  Gott  auch  sein  eigenes  Dasein  seinem  Wesen 
gemäß  ewig  und  notwendig  selbst  setzt,  —  also  in  die 
Grenze  seines  ewigen  geistigen  Wesens  eingeschlossen. 
Gott  ist  »wesensnotwendig«  frei  und  will  sich  selbst,  d.  h. 
sein  Wesen  frei  als  ein  ewig  Notwendiges. 

Nicht  weniger  irrig  als  eine  Lehre,  die  das,  was  in 
Gottes  Geist  analogisch  der  Vernunft  und  der  Liebe^  ent- 
spricht, ganz  und  gar  von  seinem  quasi  »Willen«  ver- 
schlungen werden  läßt,  ist  jene  Lehre,  die  seit  Plotinos 
in  mannigfachen  Formen  wiederkehrt,  und  die  am  wirk- 
samsten Spinoza  und  Hegel  vertreten  haben :  Daß  die 
Welt  notwendig  aus  Gottes  Wesen  hervorgehe  (sei  es 


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Probleme  der  Religion.  4.87 

in  zeitlos  logischer  Weise,  sei  es  in  der  dynamischen 
Form  eines  zeitiosen  oder  gar  in  der  Form  eines  zeit- 
lichen Werdens)..  Diese  Lehre  ist  wesensgesetzmäßig  mit 
einem  extremen  Intellektualismus  in  der  Lehre  vom 
Geiste  (auch  dem  menschlichen)  und  stets  mit  irgendeiner 
Form  des  Pantheismus  verbunden.  Und  zwar  ist  dieser 
Pantheismus  stets  ein  akosmistischer  Pantheismus  d.  h. 
eine  Lehre,  die  an  erster  Stelle  die  Kontingenz  und  das 
Realsein  der  Welt  und  die  Unableitbarkeit  ihrer  Dinge  und 
Vorgänge  aus  den  in  ihr  realisierten  Wesensbeziehungen 
und  Wesenheiten  verkennt.  Nur  wer  die  Realität  dieser 
Welt  nicht  sieht,  kann  dieser  Anschauung  huldigen.  Und 
nur  wer  den  Wesenszusammenhang  von  Realsein  und 
Gewolltsein  verkennt,  könnte,  trotzdem  er  die  Realität  der 
Welt  sieht,  ihr  Dasein  auf  einen  puren  Verstandesgeist 
zurückfuhren.  Verhielte  sich  Gott  zur  Welt  (pantheis- 
tisch)  nur  wie  das  Ganze  zu  seinen  Teilen  oder  das 
Wesen  zu  seiner  Erscheinung  oder  die  Substanz  zu  den 
Modis  ihrer  Wesensattribute,  so  bliebe  auch  den  end- 
lichen Geistern  nur  die  eine  Aufgabe,  die  Welt  richtig 
zu  denken  und  wahr  zu  erkennen  —  nicht  aber  auch  die 
Aufgabe,  sie  frei  nach  einem  Plane,  unter  der  Herrschaft 
von  Wertideen  und  Normen,  (die  nicht  aus  ihrem  Dasein 
abstrahiert  sind)  zu  einer  besseren  Welt  mitzugestalten. 
Die  sittliche  Aufgabe  des  Lebens  löste  sich  hier  voll- 
ständig in  die  kontemplative  auf.  Man  ersieht  hieraus, 
wie  notwendig  die  Nichtaufnahme  des  Willenserlebnisses 
des  Menschen  an  der  Welt  in  die  philosophische  Kon- 
zeption der  Welt  und  die  in  ihm  erfolgende  Erfahrung 
von  Weltwiderstand  und  Realität,  auch  tiefgehendste 
Irrtümer  in  der  Gottesidee  nach  sich  zieht.  Die  Welt  for- 


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^.88  Probleme  der  Religion. 

dert  eine  Willensursache  nur,  da  sie  und  sofern  sie  eine 
reale  und  kontingente  Welt  ist;  da  die  Wesenszusanunen- 
hänge  ihre  idealen  »Möglichkeiten«  zwar  in  Grenzen 
einschließen,  aber  nicht  eindeutig  das  Wirkliche  bestimm 
men.  Obz^ar  die  Freiheit  Gottes  keine  Freiheit  unab- 
hängig von  seinem  Wesen  oder  gar  gegen  sein  ewiges 
Wesen  sein  kann,  sondern  in  sein  Wesen  eingeschlossen 
ist,  ist  es  doch  eben  die  Freiheit,  die  auch  in  sein  We- 
sen eingeschlossen  ist.  Erkenntnistheoretisch  ist  daher 
mit  dieser  Lehre  notwendig  ein  falscher  hyperrealistischer 
Piatonismus  verbunden.  Das  ganze  Reich  der  »zufälligen 
Tatsachen«,  der  »causae  secundae«  und  das  Recht  der 
empirisch-induktiven  Methoden  in  dem  Felde  alles  außer- 
wesensmäßigen  Weltjgehalts  wird  dann  übersehen.  Die 
positiven  Wissenschaften  lösen  sich  in  diesem  Falle  in  die 
Philosophie,  aber  auch  die  Religon  löst  sich  in  philoso- 
phische Gnosis,  die  positive  Religion  aber  in  die  natürliche 
auf.  Ist  in  Gott  als  Geist  das  Wesen  der  Personalität  und 
Freiheit  verkannt,  so  muß  femer  auch  den  endlichen  Wesen 
Personalität  und  Freiheit  aberkannt  werden.  Sie  werden 
bloße  Modi  eines  göttlichen  Wesensattributes  »Denken« 
oder  nur  Durchgangspunkte  eines  logischen  oder  dyna- 
mischen Prozesses  —  im  besten  Falle  bloße  Funktions- 
einheiten des  göttlichen  Geistes.  Irrtum  und  Sünde  er- 
scheinen unter  dieser  Voraussetzung  notwendig  schon  aus 
Endlichkeit  und  Leiblichkeit  überhaupt  hervorzugehen  — 
nicht  aus  freien  Akten  des  persönlichen  geistigen  Willens; 
oder  sie  werden  wie  bei  Hegels  historisierendem  Pantheis- 
mus notwendige  Anreizungen  der  historischen  Entwicklung 
—  Unterfälle  der  grundfalschen  »dialektischen«  Lehre  von 
der  schöpferischen  Kraft  der  Negation  (omnis  determi- 


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Probleme  der  Religion.  ^.89 

natio  est  negatio)  —  einer  Anschauung,  die  schon  seit 
Nicolaus  von  Cues  eines  der  fragwürdigsten  Elemente  des 
deutschen  Volksgeistes  geworden  ist.  Zwischen  Welt- 
werden und  Weltprozeß  (resp.  Erhaltung  und  Leitung) 
verwischt  sich  jeder  Unterschied.  Die  Welt  wird  entweder 
ewig  wie  Gott  selbst,  da  sie  ja  notwendige  Folge  seines 
ewigen  Wesens  ist  (Spinoza),  oder  es  wird  Gott  (wie  bei 
Hegel)  selbst  in  das  Werden  hineingezogen. 

Nicht  darin  irrt  diese  Lehre,  daß  sie  die  Inunanentia 
Dei  in  Mundo,  die  Allgegenwart  Gottes  in  allem  Seienden, 
die  Mitwirkung  (concursus  divinus)  Gottes  auch  in  allem 
Wirken  der  causae  secundae,  die  notwendige  Sobestimmt- 
heit  des  göttlichen  Willens  durch  dem  Wollen  vorher- 
gehende Ideen,  die  Liebe  zur  Welt  nicht  bloß  auf 
einzelne  Inhalte  bezogen,  sondern  auf  die  Welt  als  Welt- 
sein selbst  bezogen  lehrt;  auch  nicht  darin,  daß  sie 
die  »  schlechthinige  «  Abhängigkeit  der  Seele  von  Gott 
(scheinbar)  tiefer  empfinden  macht  und  daß  sie  im  kon- 
templativen Leben  einen  ranghöheren  Stand  des  Le- 
bens sieht  als  im  praktischen  Wirken.  Die  Kritik  des  in- 
tellektualen  Pantheismus  seitens  der  norddeutschen  pro- 
testantischen Willens-,  Kraft-,  Arbeits- und  sog.  »Kultur « - 
Philosophie  mit  ihrem  streng  korrelaten  falschen  reli- 
giösen Supranaturalismus  (s.  die  falsche  Interpretation  des 
Satzes  Christi  »Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser  Welt«  im 
Sinne,  als  sei  es  damit  außer  der  Welt  oder  nur  »über« 
der  Welt)  ist  immer  weit  übers  Ziel  hinausgeschossen. 
Sie  ist  in  Irrtümer  gelangt,  die  sicher  nicht  minder  tief 
sind  als  die  hier  zurückgewiesenen.  Der  Pantheismus  er- 
hält gegenüber  dem  protestantischen  Theismus  eine  tiefe 
Wahrheit.  Er  hat  immer  der  Gefahr  des  Theismus,  in 


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^go  Probleme  der  Religioo. 

Henotheismus  zu  verfallen,  entgegengewirkt.  Darin 
liegt  vielmehr  die  Irrung,  daß  in  der  Weltsubstanz  sel- 
ber schon  Gott  selbst  gesehen,  also  eigentlich  eine  Imma- 
nentia  Mundi  in  Deo  nicht  die  Immanentia  Dei  in  Mundo 
gelehrt  wird,  daß  die  ontische  Allgegenwart  Gottes  in 
allem  Seienden,  die  auch  uns  etwas  ganz  anderes  als  bloße 
Allwissenheit  und  Allmacht  Gottes  von  diesem  Sei- 
enden, ja  sogar  Bedirigung  auch  der  Allwissenheit  und 
Allmacht  ist  —  zu  einer  irgendwie  sinnlich  anschaulichen 
Einwohnung  Gottes  im  endlich  Seienden  verkehrt  wird; 
daß  der  concursus  Dei  in  allem  endlichen  Wirken  der 
causae  secundae  zu  einer  Ausschließung  und  Leugnung 
der  Wirkkraft  der  causae  secundae  übersteigert  und  eine 
göttliche  Allkausalität  gelehrt  wird;  daß  nicht  nur  die  not- 
wendige Sobestimmtheit  des  WoUens  durch  Ideen,  son- 
dern auch  eine  notwendige  »Daß«  bestimmtheit  des  WoUens 
nur  durch  Ideen  (und  ohne  Vermitdung  durch  emotionale 
Werteinsicht  =  Weisheit)  behauptet  wird;  daß  die  not- 
wendig gebotene  und  wohlberechtigte  Liebe  zur  Welt  »in« 
Gott  und  um  ihres  göttlichen  Schöpfers  und  obersten  Zieles 
willen,  selber  schon  Liebe  »zu«  Gott  sein  soll;  das  Amare* 
Deum  in  Deo  aber  als  höchste  und  Welt  wie  Gottes- 
liebe notwendig  in  sich  einschließende  Liebesstufe  über- 
haupt nicht  gesehen  wird.  Die  protestantische  Willens- 
philosophie verwirft  femer  die  höhere  Rangstellung  des 
kontemplativen  Lebens.  Aber  die  höhere  Rangstellung 
des  kontemplativen  Lebens  über  das  praktische  Leben  an 
sich  ist  keine  Irrung.  Trotz  allem,  was  man  dawider  sagen 
mag,  ist  diese  Lehre  durchaus  nicht  nur  »chrisdicher  Intel- 
lektualismus«; sie  ist  eine  der  ewigen  Wahriieiten,  die 
die  chrisdiche  Philosophie  gefunden  hat.  Erst  die  Nicht- 


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TT 


Probleme  der  Religion.  49 1 

beachtung  schon  der  Wesens-Tatsachen  des  Willenslebens 
und  die  hier  versuchte  Auflösung  des  Wollens  in  Verstan- 
destatsachen (im  Menschen  wie  in  Gott)  führt  in  falschen 
Intellektualismus.  Denn  erst  hierdurch  wird  die  pädago- 
gische Wesensnotwendigkeit  des  ethischen  Erkennens  und 
des  moralisch-praktischen  Lebens  als  Vorstufe  schon  für 
die  außerethische  philosophische  Wesenskontemplation 
prinzipiell  verkannt,  und  es  wird  dann  natürlich  erst  recht 
verkannt,  daß  auch  diese  philosophische  Wesenskontem- 
plation ihres  Eigenwertes  ungerechnet  auch  eine  Vor- 
stufe ist  für  die  rein  religiöse  Gottinnigkeit  im  Amare 
Deum  in  Deo.  Endlich  wird  das  funktionelle  Primat  des 
Liebens  vor  dem  Erkennen  (das  mit  der  hier  behaupte- 
ten Lehre  vom  Verstandeswertprimat  ^or  dem  Willen 
aufs  genaueste  zusammengeht)  im  intellektualistischen 
Pantheismus  ganz  unterschlagen.  Der  Amor  Dei  intel- 
lectualis  Spinozas-  z.  B.  ist  nicht  ein  ursprünglich  ge- 
richteter Akt,  der  Bedingung  des  voUadaequaten  und 
evidenten  Wesenserkennens  ist,  sondern  soll  nur  das  Ende 
des  Erkenntnisprozesses  sein:  »Die  vollkommene  Vereini- 
gung mit  der  Sache  selbst«,  resp.  die  bloße  Gefühlswir- 
kung dieser  Vereinigung.  Der  Gedanke,  daß  insbesondere 
Gottesliebe  Bedingung  ist,  nicht  Folge  einer  (liebefreien) 
Gotteserkenntnis,  wird  also  in  sein  Gegenteil  verkehrt. 
Die  schon  in  ihren  phänomenologischen  Ansatzpunkten 
grundirrige  pantheistische  Liebestheorie  (von  Spinoza  bis 
Schopenhauer,  Hegel  und  Hartmann),  der  gemäß  Liebe  von 
A  zu  B  selber  nur  eine  Art  (dunkle)  Erkenntnis  sein  soll  für 
die  Einheit  des  Weltgrundes  und  die  personale  Nicht- 
existenz  der  Liebenden  als  Personen  (d.  h.  ihrer  bloß  mo- 
dalen oder  funktionellen  Existenzweise  gegenüber  Gott), 


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4Q2  Probleme  der  Religion. 

dieser  letzte  metaphysische  Ausgangspunkt  eines  jeden 
falschen  soziologischen  Kommunismus,  ist  gleich- 
falls eine  wesensnotwendige  Folge  des  irrigen  pantheis- 
tischen  Ausgangspunktes.  Alle  echte  »Liebe«  bejaht  ihren 
Gegenstand  in  der  Zielrichtimg  des  Werdens  zu  seinem 
eigentümlichen  idealischen  Wertwesen  trotz  seiner  Da- 
seinsgeschiedenheit  von  dem  Dasein  des  Liebenden  und 
trotz  seiner  Andersheit,  ja  in  und  während  der  klaren  Ge- 
gebenheit dieser  Daseins  verschiedenheit  und  dieser  Anders- 
heit. »Liebte«  ich  nur  darum  Gott,  weil  ich  ein  Modus,  eine 
Funktion  Gottes  bin  und  nur  darum  die  anderen  Wesen, 
weil  sie  es  auch  sind,  —  also  substanziell  von  mir  nicht  ver- 
schieden — ,  so  könnte  was  ich  also  tue,  »Liebe«  gar  nicht 
sein.  Das  wäre  nifhts  als  ein  kleiner  Egoismus,  der  niu-der 
Teil  wäre  des  großen  All-Egoismus,  in  dem  Gott  (gleichfeUs 
ohne  echte  Personal  Verschiedenheit  in  sich)  unfruchtbar 
sich  selbst  liebt.  Und  so  soll  es  ja  auch  nach  Spinoza  sein: 
Unsere  Liebe  zu  Gott  sei  —  so  Spinoza  —  nur  ein  Teil 
der  Liebe,  mit  der  Gott  sich  selbst  liebt.  Darum  ist  endlich 
auch  die  Abhängigkeit  der  Seele  von  Gott  hier  keine 
religiöse  Abhängigkeit.  Geht  die  Seele  notwendig  als 
Funktion  des  göttlichen  Geistes  so  aus  Gott  hervor,  daß 
sie  ihm  dabei  zugleich  ganz  immanent  bleibt;  oder  ist 
sie  nur  die  »Idee  einer  Idee  des  göttlichen  Denkens« 
(Spinoza),  so  fehlt  mit  der  sittlichen  imd  freien  Artung 
der  Abhängigkeit  auch  der  ganze  religiöse  Wert  und 
Sinn,  den  diese  Abhängigkeit  haben  kann.  Sie  ist  nicht 
die  Abhängigkeit  des  quasi  Kindes  vom  Vater,  sondern 
die  Abhängigkeit  des  Sklaven  von  seinem  Herrn.  So  kann 
Spinoza  im  theologisch-politischen  Traktat  auch  in  der 
Tat  sagen:   »Wir  sind  Diener,  ja  Sklaven  Gottes«.  — 


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^^^rj^'f^:' 


Probleme  der  Religion.  493 

Wenn  Gott  selbst  in  mir  denkt^  will  etc.,  wenn  Religion 
nur  das  Bewußtsein  Gottes  von  sich  selber  im  Menschen 
(Hegel)  ist,  oder  seine  Bewußtwerdung  (Hartmann)  so 
gibt  es  nicht  einmal  Gehorsam  gegenüber  dem  gött- 
lichen Willen,  (geschweige  freie  Liebe  zu  ihm)  da  das 
Gehorchen  selbst^  ein  positiver  autonomer  Akt  der 
menschlichen  Person  ist  (im  Unterschiede  zu  zwingender 
Suggestion,  in  der  das  Bewußtsein  des  fremden  gebie- 
tenden Willens  als  eines  fremden  fehlt).  Noch  weniger 
gibt  es  »Velle  in  Deo«  als  freies  »Wollen«.  Wohl  aber 
sind  wir  »Sklaven«  in  jenem  strengsten  Sinne  des  Aristo- 
teles: »der  Wille  des  Sklaven  ist  im  Herrn«.  — 

Gewisse  neuere  Metaphysiker  haben  über  das  Verhält- 
nis der  wirklichen  Welt  zu  den  möglichen  Welten  in  be- 
zug  auf  die  Güte  und  Schlechtigkeit  der  Welt  eigenartige 
Behauptungen  aufgestellt. 

Leibniz  behauptete,  den  Nachweis  fuhren  zu  können, 
daß  die  Welt  nicht  nur  gut  und  vollkommen  sei,  sondern 
daß  sie  —  wie  sie  ursprünglich  aus  den  Schöpferhänden 
hervorgegangen  ist  —  die  beste  und  vollkommenste 
aller  möglichen  Welten  sei.  Schopenhauer  versuchte  den 
Nachweis,  daß  sie  umgekehrt  die  schlechteste  aller  mög- 
lichen Welten  sei  und  daß  sie,  wäre  sie  noch  um  ein  wenig 
schlechter  gewesen,  nicht  möglich,  resp.  ihre  Teile  nicht 
compossibel  gewesen  seien.  E.  v.  Hartmann  behauptete, 
daß  das  Dasein  jeder  Welt  als  solches  schlecht  und 
sinnwidrig  sei,  daß  aber   unter   den   daseinsmöglichen 

^  Gegen  die  Einwände  des  Pantheismus  gegen  den  Theismus  vergleiche 
meinen  Aufisatz  :  »Die  Idee  des  Menschen«  in  Abhandlungen  und  Aufsätze, 
Teil  I.  Daß  der  kantische  Begriff  der  Autonomie  der  Vernunft  (nicht  der 
Person,  wie  man  stets  falsch  zitiert  liest)  gleichfalls  zum  Vemunftpantheismus 
(Fichtes  und  Hegels)  führe,  ist  am  selben  Orte  gezeigt 


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494  Probleme  der  Religion. 

Welten  die  wirkliche  noch  die  relativ  vernünftigste  und 
beste  sei. 

Aber  diese  Lehren  verkennen  die  Freiheit  des  gött- 
lichen Schöpferwillens.  Sie  verkennen  femer,  daß  zwar 
die  positiven  Wesenheiten  und  Wesensstrukturen,  die 
wir  als  ideale  Möglichkeiten  für  jede  wirkliche  Welt  in 
der  Philosophie  erkennen,  auch  für  alle  anderen  mög- 
licherweise wirklichen  Welten  in  Geltung  stehn;  daß  wir 
aber  nicht  alle  möglichen  Wesenheiten  selbst,  die  Gott 
denkt,  erkennen  können,  sondern  nur  diejenigen,  die  an 
unserer  wirklichen  Welt  realisiert  sind.  Diese  aber  müßten 
wir  erkennen,  um  irgend  eine  Behauptung  dieser  Art  zu 
wagen. 

Um  so  wichtiger  aber  ist  uns  die  Frage,  wie  nach  dem 
bisher  Gesagten,  also  nach  der  gegebenen  Gotteslehre 
der  Ursprung  des  Bösen  und  des  Übelsr  zu  verstehen  sei. 

Da  wir  Gottes  Dasein  und  Wesen  nicht  aus  Dasein 
und  Beschaffenheit  der  Welt  erschlossen  haben,  sondern 
erst  nach  selbständiger  Erkenntnis  des  Daseins  und  des 
formalsten  Wesens  Göltes  und  der  Erkenntnis  des  Daseins 
der  Welt  geschlossen  haben,  daß  Gott  die  prima  causa  der 
Welt  sei,  so  haben  wir  das  Recht  und  die  Pflicht  die  Frage 
zu  stellen,  wie  sich  die  wirkliche  uns  empirisch  bekannte 
Welt  zu  der  Welt  verhalte,  die  wir  als  Schöpfung  eines 
alliebenden  und  allgütigen  Gottes  zu  erwarten  haben. 
Da  wir  nur  eine  vollkommen  gute  und  sinnvolle  Welt  als 
Schöpfung  eines  mit  den  Attributen  der  Liebe  und  der 
unendlichen  Vernunft  ausgestatteten  Schöpfers  ohne  jeden 
Zweifel  zu  erwarten  haben,  in  der  uns  bekannten  Welt 
aber  Un Vollkommenheit,  Böses,  Übel  in  breitester  Reali- 
tät anzutreffen  ist,   so  ist  es  für  uns  ein  sicherer  (von 


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Probleme  der  Religion.  ^gc 

Offenbarung  ganz  unabhängiger)  Vemunftschluß,  daß  die 
Welt  durch  eine  freie  geistige  Ursache  nach  ihrer  Schöp- 
fung in  eine  grundlegend  andere  Verfassung  geraten  sei 
als  diejenige  war,  in  der  sie  sich  unmittelbar  befand,  als 
sie  aus  den  Schöpferhänden  hervorging.  Die  wirkliche 
uns  bekannte  Welt  ist  weit  schlechter  als  es  ihrem  Grunde 
entspricht.  So  wird  uns  die  freie  Tat  eines  der  menschlichen 
Macht  überlegenen  Geistes  überhaupt,  durch  die  die  Welt 
in  jene  Verfassung  geraten  ist,  zu  einer  sicheren  Wahrheit 
der  Vemimft.  Der  sogenannte  »Fall«  ist  mithin  eine  vom 
Theismus  unablösbare  Wahrheit  der  Vernunft  (und  nicht 
bloß  ein  Satz  aus  der  Offenbarung). 

Es  war  innerhalb  der  deutschen  Philosophie  ein  ent- 
schiedener Fortschritt  über  den  Vemunftpantheismus  der 
klassischen  Kantianer,  als  Schelling  und  Schopenhauer 
die  Tiefe  und  Wahrheit  der  christlichen  Lehre  vom 
»Fall«  neu  ins  Auge  faßten.  Schopenhauer  besonders 
sah  in  den  Lehren  von  Fall  und  Erbsünde  die  >  tiefsten 
Wahrheiten  des  Christentums« .  Aber  er  macht  auch  diese 
Wahrheiten  in  der  eigenen  Philosophie  zur  Irrung,  indem 
er  im  Dasein  selbst  und  im  daseinsetzenden  Wollen  schon 
die  »Urschuld«  sieht. 

Was  ist  der  tiefere  philosophische  Grund,  der  ihn  zu 
seinem  Satz  fuhrt?  Es  sind  vor  allem  zwei  Gründe. 

I.  Schopenhauer  nimmt  die  drei  Attribute  »Vernunft«, 
»Liebe«,  »Güte«  nicht  auf  in  seinen  »Weltgrund«.  »Ver- 
nunft« als  Fähigkeit  zu  Wesenseinsicht  kennt  er  nicht;  für 
ihn  erschöpft  sich  Vernunft  in  mittelbarer  Verstandestätig- 
keit des  induktivenBegriffebildens,desFolgems  undSchlie- 
fiens  —  die  allerdings  ohne  die  höhere  Leitung  durch  eine 
positive  geistige  Liebe  und  ohne  die  unmittelbare  Wesens- 


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^g6  Probleme  der  ReligioD. 

einsieht  (ohne  schauende  Vernunft)  notwendig  zu  einer 
Beute,  einem  bloßen  technischen  Mittel  für  die  Befriedigung 
dunkler  Vital  triebe  werden  müßte.  Ein  Ursprung  aber  auch 
schon  dieses  technischen  Verstandes  aus  einem  blinden 
Lebenswillen  bliebe  unverständlich  (das  blinde  Lebens- 
drängen kann  sich  keine  >  Fackel «  anzünden ;  denn  wo  wäre 
das  Licht,  um  den  Wert  der  Fackel  zu  sehen?).  Verstand 
ist  nur  als  Diener  schauender  Vernunft  verständlich;  Liebe 
führt  er  fälschlich  auf  Mitleid,  Mideid  aber  auf  Gefühls- 
ansteckung, resp.  auf  eine  dunkle  instinktive  Erkenntnis 
des  Alleins  zurück.  Güte  kennt  er  nicht,  da  er  keinen 
»guten  Willen«  kennt 

2 .  Auch  Schopenhauer  legt  mit  Recht  dem  Weltgrund  das 
Attribut  des  »WoUens«  bei.  Aber  dieses  Wollen  ist  nur 
der  Inbegriff  des  dunklen  unbegrenzten  Triebdranges  des 
»Willens  zum  Leben« ,  nicht  ein  den  Triebimpulsen  zentral 
entgegentretendes,  liebegeleitetes  Vemunftwollen.  Da  er 
nun  richtig  erkennt,  daß  Realität,  Wirklichkeit  keine 
logische,  sondern  eine  voluntative  Kategorie  ist,  er  aber 
einen  liebe-  und  ideengeleiteten  Willen  nicht  anerkennt,  ist 
die  Welt  als  Wirklichkeit  ihm  nur  Gegenstand  eines 
blinden  Begehrens.  Die  Folge  ist,  daß  ihm  das  Realsein 
der  in  der  Welt  realisierten  Ideeninhalte  als  solches 
schon  blind  und  schlecht  ist.  (Diese  Ansicht  übernahm 
er  von  Schelling,  von  den  Indem  und  E.  v.  Hartmann 
folgte  ihm  darin.)  Der  Sinn  des  Lebens  kann  daher  nach 
dieser  Lehre  nur  in  einer  systematischen  Irrealisierung 
der  Welt  bestehen  —  d.  h.  im  Versuche,  sie  zum  objektiven 
Bilde  zu  machen:  Im  »Nein«  zum  Willen  zum  Leben,  der 
derselbe  blinde  Drang  in  allen  Dingen  ist.  Dieses  »Nein« 
soll  der  gemeinsame  Ursprung  sein  für  alle  Gestalten  des 


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Probleme  der  Religion.  497 

höchsten  Menschentums(Genius,  Philosoph,  Heiliger).  Ganz 
unfaßlich  bleibt  aber,  was  es  denn  in  uns  sei,  was 
»Nein«  zum  Leben  sagt,  wenn  wir  bis  in  die  Wurzeln 
unserer  Existenz  ganz  dumpfes  Triebleben  sind.  Das  bloße 
Nein  kann  femer  nichts  positiv  Wertvolles  hervorbringen. 
Und  um  welchen  höheren  Gutes  willen  sagen  wir  »Nein« 
zum  Leben?  Auch  Friede,  Ruhe,  Stille,  seliges  Ausruhen 
in  der  ästhetischen  Anschauung  der  Gehalte  des  Alls  sind 
schon  positive  Gemütszustände,  nicht  bloß  Abwesenheit 
des  Dranges  zum  Leben.  Bei  Schopenhauer  aber  soll  das 
höhere  Gut  ausschließlich  durch  Verneinung  des  Niedri- 
geren entspringen.  Negative  Ressentiment- Askese  ist  die 
Folge.  Schopenhauers  Methaphysik  ist  falsch,  da  sie  den 
Ursprung  des  Guten,  des  Lichtes,  der  Vernunft,  der 
Liebe,  des  Opfers,  des  echten  Mitleidens  und  der  Ge- 
rechtigkeit in  der  Welt  nicht  zeigen  kann. 

Aber  auch  das  ist  bei  Schopenhauer  Irrtum,  daß  er  den 
Lebens  drang  zu  einem  » Blinden « ,  >  Bösen « , » Schlechten « 
verkehrt.  Das  Böse  hat  seinen  Sitz  im  Geiste,  im  Haß 
und  im  Wollen,  —  nicht  im  Triebleben.  Der  Lebensdrang 
ist  zwar  nicht  sittlich  gut,  aber  er  ist  auch  nicht  böse  und 
blind.  Er  ist  zielmäßig  in  jeder  seiner  Regungen  —  wenn 
auch  ohne  Einsicht  und  Begriff —  und  nicht  auf  Erhaltung 
sondern  auf  Entfaltung  (Zeugung,  Wachstum,  Bildung 
inuner  höherer  Organisation)  gerichtet.  Gewiß  ist  er  rein 
für  sich  nicht  von  Liebe,  Vernunft  geleitet;  darum  ist  er 
dämonisch,  nicht  aber  böse.  Erst  die  geistige  Bejahung 
seiner  Richtungen,  soweit  sie  im  bewußt  gewordenen 
Gegensatz  zu  einem  erkannten  und  geliebten  Guten  stehen, 
ist  böse. 

Während  Schopenhauer  die  Idee  Gottes  verwirft  (im 
32 


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aqS  Probleme  der  Religion. 

pantheistischen  und  theistischen  Sinne)  und  Religion  in 
eine  Heilstechnik  aufgehen  läßt,  die  zeigt,  wie  man  zur 
Verneinung  des  Lebenswillens  kommen  kann,  halten  E. 
V.  Hartmann  und  der  ältere  Schelling  die  Idee  Gottes  fest. 
Sie  halten  femer  eine  Weltvemunft  fest,  verlegen  aber  den 
Ursprung  des  Schlechten  und  Bösen  in  den  Ursprung  der 
Dinge  selbst  und  zwar  in  die  Tatsache,  daß  Gott  die  Welt 
nicht  nur  dachte,  sondern  sie  überdies  realisierte.  Da 
dieses  »Wollen«  Gottes  an  sich  blinde  absolut  zufällige 
Velleität  ist,  wenn  auch  (bei  Hartmann)  in  den  Grenzen 
seiner  Vernünftigkeit,  so  daß,  wenn  Gott  die  Welt 
wollte,  er  die  relativ  vernünftigste  wollen  mußte,  so  ist  das 
Wirklichsein  der  Welt  und  jeder  möglichen  Welt  auf 
alle  Fälle  schlecht.  So  fallen  hier  Schöpfung  und  Fall 
fast  in  Eins  zusammen.  Eben  daß  sie  real  wurde,  das 
ist  der  »Fall«  der  bloßen  Weltidee,  die  an  sich  gut  und 
vernünftig  ist,  —  der  »Fall«  in  die  Wirklichkeit.  Auch  hier 
ist  der  Weg  des  Heils  die  aktive  Selbsterlösung  aus 
dieser  Wirklichlichkeit  —  der  Weg  ihrer  Irrealisierung. 
Für  Schopenhauer  geschieht  diese  Umkehr  plötzlich  und 
sporadisch  im  einzelnen  großen  Individuum;  bei  Hart- 
mann durch  den  Heilsweg  der  Geschichte  des  Menschen. 
Aber  diese  »Erlösung«  ist  Selbsterlösung  und  in  zweiter 
Linie  Gotterlösung  durch  den  erkennenden,  sittlichen, 
wollenden  und  künsderisch  bildenden  Menschen.  Indem 
Gott  als  absolut  unbewußter  Geist  sich  im  Menschen 
seiner  blinden  Untat,  die  Welt  —  anstatt  sie  bloß  zu 
denken  —  realisiert  zu  haben,  immer  klarer  bewußt 
wird,  soll  dieser  blinde  ziellose  Willensakt  am  Ende 
der  Weltgeschichte  zurückgenommen  werden  und  die 
Welt  wieder  in  den  guten  und  seligen  Zustand  der  Irrea- 


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Probleme  der  Religion.  499 

lität,  des  bloßen  Gedanken-  und  Bildseins  zurück- 
kehren. Diese  Lehren  sind  geschichtlich  zunächst  sehr  wohl 
verständlich.  Sie  bilden  erstens  eine  sehr  sinnvolle  Reak- 
tion gegen  den  kindischen  optimistischen  Pantheis- 
mus der  Fichteschen  und  Hegeischen  Epoche.  Soll  über- 
haupt Pantheismus  sein,  nicht  Theismus,  so  muß  logisch 
folgerichtig  auch  das  Böse  und  das  Übel  in  den  Weltgrund 
selber  verlegt  werden.  (Das  beweist  alle  Geschichte  des 
Pantheismus).  Nur  der  Theismus  kann  das  Böse  verstand-  /^ 
lieh  machen  —  ohne  es  in  den  Weltgrund  zu  verlegen.  \ 
Denn  es  ist  widersinnig,  das  Böse  und  das  Übel  nur  auf 
unsere  mangelnde  fragmentarische  Kenntnis  der  Welt  zu 
schieben  (Spinoza)  —  als  schlösse  sich  hinter  den  Fragmen- 
ten, die  wir  kennen,  alles  in  ein  sinnvolles  harmonisches 
Ordnungsganzes  zusammen.  Und  es  ist  wiedersinnig,  ja  im 
Grunde  verbrecherisch,  mit  Hegel  in  allem  moralischen 
Bösen  nur  das  anreizende  Salz  zu  sehn  für  neue  posi- 
tive Entwicklungen, die  sog.  »schöpferische Negation«. 
Es  gibt  keine  schöpferische  Negation.  Der  Satz:  »Omnis 
determinatio  est  negatio«  ist  falsch  und  irrig.  Er  hat  seine 
Grundlage  in  dem  falschen  romantischen  Lebensgefühl: 
»Widersprüche  machen  fruchtbar«.  —  Aber  nicht  minder 
ist  die  Lehre  eine  sinnvolle  Reaktion  gegen  das,  was  ich 
den  »Theismus  ohne  Fall«  nenne  —  sei  es,  daß  der  Fall 
überhaupt  geleugnet  wird,  sei  es,  daß  er  zu  einer  bloßen 
positiven  Oflfenbarungslehre  gemacht  wird.  Wir  sahen 
früher:  der  auffällige  Widerstreit  einer  von  Gott  gut  ge- 
schaffenen Welt  und  dieser  wirklichen  Welt  führt  uns 
notwendig  zur  Annahme  des  Falles.  Auch  wenn  der  Fall 
zugestanden  ist,  sogenügtesschonfürdie  natürliche 
Theologie  nicht,  daß  er  nur  für  den  Menschen  zugestan- 

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CQO  Probleme  der  Religion. 

den  ist.  Der » Fall «  des  Menschen  ausschließlich  aus  seinem 
freien  Wollen  heraus — ohne  Versuchung  durch  ein  höheres 
und  mächtigeres  böses  Element  über  ihm  —  ist  fiir  den 
gottgeschaffenen  gottebenbildlichen  Menschen  un- 
denkbar, auch  wenn  ihm  die  echte  Person-  und  Wahl- 
freiheit  beigelegt  wird.  Das  an  sich  positive  Gut  der  Frei- 
heit ist  doch  ceteris  paribus  mehr  Freiheit  zum  Guten  als 
zum  Bösen.  Die  Aktualisierung  der  Freiheit  zur  wirklichen 
Wahl  des  Bösen  bedarf  also  eines  Anreizes  außerhalb  und 
oberhalb  des  Menschen.  Eine  richtige  Wertmetaphysik 
muß  femer  den  Satz  festhalten,  daß  auch  alles  Welt  übel 
in  einer  konzentrierten  Macht  des  Bösen  gründet  und  da 
das  »Böse«  nur  Wesensattribut  einer  Person  sein  kann, 
in  einer  bösen  Person.  Das  Böse  ist  nicht  ein  bloßes  Übel 
oder  aus  dem  Übel  notwendig  entsprungen,  wie  alle  natura- 
listischen Lehren  sagen,  die  es  nur  als  natürliche  >Un Voll- 
kommenheit«, als  »Entwickelungshemmung«,  als  »Ata- 
vismus« oder  als  Krankheit  ansehen  (Leibniz,  Spencer 
u.  a.)\  Es  ist  von  Hause  aus  Praedikat  freigeistiger  Akte, 
es  ist  also  freier  und  bewußter  Aufstand  gegen  eine  un- 
deutlich als  gut  erfaßte  Macht  und  Realität.  Übel,  Zweck- 
widrigkeit ist  und  kann  nur  seine  Folge  sein  für  jede 
Anschauung,  die  überhaupt  einen  geistigen  Grund  der 
Welt  annimmt.  Hält  man  aber  diesen  Satz  fest:  Böses 
ist  der  Ursprung  auch  des  Übels  als  des  Inbegrifls 
negativer  außermoralischer  Werte  überhaupt,  sofern  sie 
außergeistigen  Gegenständen  zukommen  (z.  B.  Krankheit, 
Tod),  so  ist  es  unmöglich,  die  nur  bekannten  Weltübel 
ausschließlich  aus  dem  Bösen  des  Menschen  entspringen 

*  Siehe  hierzu:  »Formalismus  in  der  Ethik«,  wo  diese  Lehren  eingehend 
widerlegt  werden. 


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Probleme  der  Religion.  cqi 

ZU  lassen.  Denn  das  Weltübel  ist  für  die  uns  empirisch  be- 
kannte Welt  ein  notwendiges  Constituens,  in  durchsich- 
tiger naturgesetzlicher  Kausalität  notwendig  auch  mit 
dem  Weltguten  verknüpft.  Ja  der  Grund  aller  einzelnen 
Übel  ist  gerade  diese  uns  als  mit  dem  Eindruck  des  un- 
abwendbar Tragischen  gegebene  notwendige  Verknüpft- 
heit  von  Gutem  und  Übeln,  ja  selbst  von  Gutem  und  Bösem 
in  der  menschlichen  Natur.  Daß  es  wahr  ist:  daß  jeder  die 
Tugenden  seiner  Fehler  habe  und  die  Fehler  seiner  Tugen- 
den, daß  jeder  Person  Fehler  und  Tugenden  und  jedes  Vol- 
kes Fehler  und  Tugenden  demselben  Charaktergrund  ent- 
springen und  einsichtig  daraus  herfließen:  das  macht  den 
tragischen  Charakter  des  Daseins  aus^  Das  Phäno- 
menon  desTragischen  ist  selbst  ein  Beweis,  daß  Pantheis- 
mus und  »Theismus  ohne  Fall«,  aber  auch  die  Verlegung 
des  Grundes  von  Bösem  und  Übel  in  den  Weltgrund  falsch 
sind.  Es  ist  die  tragische  Notwendigkeit  in  der  Ver- 
knüpfung von  Übel  und  Gutem,  Bösem  und  Gutem  in  der 
uns  bekannten  Welt,  die  es  ausschließt,  nur  im  menschlich 
Bösen  den  Ursprung  des  Übels  zu  suchen.  Diese  tragische 
Verknüpftheit  ist  selbst  das  größte  Übel.  Es  ist  der 
konstitutiv  fragmentarische  Charakter  alles  positiv  Werti- 
gen in  dieser  Welt,  der  in  bloße  »Unentwickeltheit«  der 
Welt  zu  verlegen,  ihn  durch  sog.  Fortschritte  für  über- 
windbar zu  halten,  die  große  Kinderei  alles  » Liberalismus « 
ist  und  seiner  geistigen  Nachgeburten.  Der  »Mensch  ist 
wirklich  —  wie  Kant  tiefsinnig  bemerkt  —  aus  zu  krum- 
mem Holze  gemacht,  als  daß  je  ein  ganz  Gerades  aus  ihm 
gezimmert  werden    könnte«.   Das  Weltübel  ist  zwar 

*  Vgl.  hierzu  meine  Abhandlung  über  das  Wesen  des  Tragischen  in  »Ab- 
handlungen und  AuÜsätze«,  2.  Aufl. 


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^02  Probleme  der  Religion. 

objektiv  die  Folge  eines  Bösen  überhaupt,  da  es  nur  eine 
solche  sein  kann  —  wenn  der  Geist  die  Welt  leitet  — 
aber  es  ist  doch  dem  menschlichen  Bösen  vorhergehend 
und  die  dauernde  große  Versuchung  zum  bösen  Sein  und 
Verhalten  des  Menschen. 

Die  Metaphysik  vermag  keine  Geschichten  zu  er- 
zählen; keine  Begebenheit  in  den  Personreichen,  die 
zwischen  Gott  und  Mensch  in  der  Mitte  stehen.  Aber  sie 
vermag  doch  aus  diesem  Tatbestand,  ihn  mit  den  Tat- 
beständen der  genannten  Wesens  Wahrheiten  zusammen - 
schauend,  noch  zu  schließen^:  Der  Ursprung  des  Bösen, 
das  der  letzte  Grund  ist  des  Übels  dieser  Welt  und 
damit  auch  die  Ursache  der  unmittelbaren  versucherischen 
Anreize  zum  menschlich  Bösen  kann  weder  im  Weltgrund 
selbst  liegen,  noch  allein  im  Menschen.  Er  muß  seinen  Ort 
haben  in  einer  metaphysischen  Zwischensphäre  zwischen 
beiden,  in  einem  freien  Aufstand  gegen  Gott  durch  eine 
Person,  die  Macht  hat  über  die  Welt.  Aber  aus  dem- 
selben Grunde  ist  auch  die  Erlösungsbedürftigkeit 
der  Welt  und  des  Menschen  an  erster  Stelle  (d.  h.  des 
Mikrokosmos,  in  dem  alle  Elemente  und  Kräfte  der  Welt 
solidarisch  sind)  eine  metaphysische  Wahrheit.  Der  Mensch 
kann  nicht  zu  seinem  Heile  kommen,  es  sei  denn  durch 
Erlösung.  Nur  die  Tatsache  der  Erlösung  ist  theo- 
logisch positiv  in  einem  freien  Willensakte  Gottes 
wurzelnd,  nicht  diese  hypothetische  Notwendigkeit.  Inso- 
fern muß  man  mit  Newman  sagen:  »Die  Welt  ist  von 
ihrem  Schöpfer  abgefallen:  sie  befindet  sich  konstitutiv 
nicht  in  Übereinstimmung  mit  ihm.  Das  ist  eine  Wahr- 
heit, so  sicher  wie  mein  eigenes  und  Gottes  Da- 

*  Siehe  Newman:  »Apologia  pro  vita  sua«. 


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Probleme  der  Religion.  C03 

sein«.  Sie  bedarf  der  Erlösung  und  sie  seufzt  nach 
Erlösung.  Gänzlich  widersinnig  dagegen  —  eine  contra- 
dictio  in  adjecto  —  ist  der  Begriff  der  »Selbsterlösung«. 
Was  wir  selbst  spontan  erreichen  können  das  ist  eben 
keine  Erlösung.  Noch  viel  widersinniger  ist  der  Gedanke 
einer  »Erlösung  Gottes  durch  den  Menschen« .  (Hart- 
"mann.)  Denn: 

1.  Es  ist  kein  religiös  sinnvolles  Erlebnis,  das  dieser 
Idee  zugrunde  liegt,  sondern  eine  rein  dialektisch  zurecht- 
gedachte  Sache. 

2.  Es  ist  aber  auch  widersinnig,  daß  das  Abgeleitete 
den  Grund  erlösen  soll,  der  Mensch,  in  dem  doch  nichts 
an  positiven  Kräften  sein  kann,  was  nicht  auch  in  seinem 
und  seines  Geistes  Ursprung  ist,  diesen  Ursprung.  Das 
ist  ebenso  widersinnig,  wie  die  Verneinung  des  Willens 
zum  Leben,  wenn  Nichts  im  Menschen  ursprünglich  ist, 
wie  blinder  Wille. 

Ein  anderer  Grund  für  jene  Lehren,  die  den  Ursprung 
des  Bösen  und  des  Übels  in  den  Weltgrund  selbst  verlegen, 
ist  die  einseitig  ästhetische  oder  nur  spekulative  Stel- 
lung zum  Dasein  und  zum  Leben,  die  gleichfalls  aus 
der  Romantik  hervorgegangen  ist.  Bei  Schopenhauer  und 
Schelling  ist  es  mehr  die  ästhetische,  bei  Hartmann  die 
einseitig  spekulative  Stellung,  die  dazu  führen  im  Wollen 
und  seinem  Korrelat:  der  Realität,  das  Böse  an  sich 
zu  sehen.  Auch  für  Jakob  Burckhardt  —  stark  beeinflußt 
von  Schopenhauer  —  gilt  Gleiches,  wenn  er  die  »Macht 
an  sich  böse«  nennt.  Für  Schopenhauer  ist  »Leiden«  und 
»Wirklichkeit«  ein  und  dieselbe  Lebensempfindung,  ein 
und  derselbe  Gedanke  und  nur  die  Wirklichkeitsflucht 
hinein  in  die  Ruhe,  die  die  »Welt«  zum  ästhetischen 


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ro4  Probleme  der  Religion. 

Bilde  abklärt^  ist  ihm  das  Gute  an  sich.  Für  Hartmann 
ist  das  Leben  im  Ideenhaften  schon  das  Gute  an  sich. 

In  dieser  einseitig  ästhetischen  Haltung  zum  Dasein  ist 
aber  gerade  auch  diese  Haltung  selbst  und  das  ihr  korre- 
lative ästhetische  Wertgebiet  —  schließlich  der  metaphy- 
sische Sinn  des  ästhetischen  Phänomens  und  der  Kunst 
verkannt.  Die  ästhetische  Haltung  ist  nicht  durch  den 
negativen  Sachverhalt  »interesselose  Anschauung  ohne 
Begriff«  oder  gar  —  wie  es  Schopenhauer  deutet  — 
durch  die  Stille,  Ruhe,  den  Frieden,  wie  sie  das  Aufhören 
des  Lebensdrängens  begleiten,  erschöpft.  Auch  sie  ist 
geleitet  durch  eine  Art  positiver  Liebe  zum  Wesenhaften 
nach  seiner  rein  anschaulichen  Seite  und  der  mit  ihr  ver- 
bundene glückhafte  Genuß  ist  nicht  nur  Friede,  sondern 
positive  Seligkeit.  Kunst  aber  ist  nicht  —  wie  Schopen- 
hauer deutet  —  ein  Mittel  zu  kontemplativer  Wirklich- 
keitsflucht, sondern  ein  geistig  eroberndes  Eindringen  in 
den  anschaulichen  Wertwesensgehalt  der  Welt  durch  den 
Prozeß  der  Darstellung  —  ja  der  Versuch  eines  Nach- 
schaffens im  »Bilde»  einer  Welt,  wie  sie  vor  dem  »Fall« 
vor  göttlichen  Augen  geleuchtet  hat  —  ein  Versuch,  im 
Bilde  ihr  die  Frische  und  Jungfräulichkeit  —  die  Voll- 
kommenheit wiederzugeben,  die  sie  durch  den  Fall  ver- 
loren hat.  Sie  ist  mehr  ein  Versprechen  auf  mögliche 
Erlösung  aus  den  Folgen  des  Falles  als  eine  bloße  Flucht 
der  Wirklichkeit  überhaupt.  — 

Ich  sagte:  Der  »Fall«  ist  eine  Wahrheit  metaphysischer 
Ordnung  oder  doch :  Er  ist  auch  eine  solche  Wahrheit.  Da- 
rum ist  er  nicht  nur  ein,  historisches  Ereignis,  eine  singulare 
positive  Folge  einer  positiven  Tat,  sondern  eine  immer 
und  überall  vorhandene  Tendenz  im  Weltsein  und  Welt- 


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Probleme  der  Religion.  ^05 

geschehen.  Eine  sich  selbst  überlassene  Welt  würde  im 
Maße,  als  sie  sich  selbst  Überlassen  ist,  an  positivem  Ge- 
samtwert stetig  abnehmen.  Die  uns  gegebene  Welt  qua 
Welt  »fallt«  immer.  Dieses  stete  »Fallen«  als  Tendenz 
macht  ein  so  tiefes  Charaktermerkmal  ihres  Daseins  aus, 
daß  es  alles  durchdringt,  was  wir  kennen,  alle  Gebiete 
des  Wirklichen,  —  von  der  toten  Natur  angefangen  bis 
hinauf  zu  den  höchsten  Exemplaren  des  Menschentums. 
Würde  man  aus  Nichts  als  der  der  Welt  immanenten 
Teleologie  auf  die  Natur  ihrer  Ursache  schließen,  so 
käme  man  zur  Annahme  wohl  eines  Gottes,  aber  eines 
Gottes,  der  stetig  die  Zügel  über  sein  Geschöpf  aus  der 
Hand  verliert  —  eines  Gottes,  der  altert  —  und  der 
einst  sterben  wird.  Nur  wenn  wir  Gottes  Dasein  und 
Wesen  nicht  aus  der  Welt  erschließen,  in  der  es  Leid 
und  Böses  gibt,  d.  h.  aus  der  gefallenen  Welt,  dürfen 
und  sollen  wir  glauben  und  hoffen,  daß  Gottes  Ziele 
dieser  universalen  Tendenz  zu  Fall  und  Wertabnahme 
zum  Trotz  sich  durchsetzen  werden.  Aber  —  nur  durch 
ein  Mittel:  durch  Erlösung.  Zu  jeder  Kraft,  die  in  der 
großen  Ordnung  der  Kräfte  abnimmt,  muß  eine  über- 
legene Kraft  gedacht  werden,  die  von  sich  aus  frei  ein- 
greifen kann,  um  den  inlmanenten  Fall  aufzuhalten  und 
deren  höchster  Ausgangspunkt  Gottes  Kraft  selber  ist, 
Nicht  Geschehenlassen,  nur  immer  neue  positive  Erlö- 
sungstaten Gottes  —  nach  einer  bestimmten  Erlösungs- 
ordnung —  können  der  Möglichkeit  nach  dem  Welt- 
drama einen  positiv  sinnvollen  und  wertvollen  Abschluß 
geben.  Darum  haben  ebensowenig  jene  recht,  die  imma- 
nente Teleologie  ganz  leugnen  wie  jene,  die  ihr  eine  Kraft 
immanenten  positiven  Wertwachstums  zuschreiben  — 


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506  Probleme  der  Religion. 

also  meinen,  die  Welt  vermöge  sich  aus  den  Kräften  ihrer 
eigenen  letzten  Elemente  heraus  zu  immer  höherwertigen 
Daseinsformen  zu  »entwickeln« .  DieErsteren  leben  so  tief 
in  der  gefallenen  Welt  und  zwar  in  der  Tendenz  ihres 
Fallens,  daß  sie  die  Idee  der  ungefallenen  gar  nicht  mehr 
fassen  können;  daß  sie  femer  die  positiven  Zielstrebig- 
keiten und  Zwecktätigkeiten  ganz  übersehen,  die  freilich 
in*  ihrem  Gesamteinfluß  immer  mehr  vermindert  werden 
durch  die  negativen  Zielstrebigkeiten.  Die  Letzteren  — 
darunter  auch  alle,  die  aristotelische  Metaphysik,  d.  h.  die 
Metaphysik  einer  der  Erlösung  gar  nicht  bedürftigen  in 
sich  schon  geschlossenen  und  vollkommenen  Welt  zur 
Grundlage  ihrer  Welterklärung  machen  —  bemerken  die 
negativ  zielstrebigen  Kräfte  nicht  und  halten  eine  meta- 
physisch gefallene  und  physisch  daher  immer  mehr  fallende 
Welt  fiir  diejenige,  die  ursprünglich  von  Gott  geschaffen 
war.  Die  konstitutive  Erlösungsbedürftigkeit  der  Welt 
verkennen  aber  beide.  Die  christliche  Religion  ist  eine 
Religion,  die  ausgeht  von  der  Erlösungsbedürftigkeit  der 
Welt  —  sie  ist  die  Religion  einer  Welt,  die  in  jeder 
ihrer  Regungen  seufzt  nach  Erlösung.  Es  ist  nicht  mög- 
lich, die  Erlösung  auf  eine  in  sich  geschlossene  vernunft- 
gemäße Welt  noch  von  außen  her  aufzusetzen.  Die  Welt 
muß  von  Grund  aus  auf  Erlösung,  d.  h.  auf  ein  Eingreifen 
einer  nicht  aus  ihr,  sondern  aus  einem  ihr  übergeordneten 
Dasein  quellenden  Kraft  angelegt  sein,  soll  der  Erlösungs- 
gedanke seine  volle  Wucht  und  seine  volle  Tiefe  ent- 
falten. 

Eine  weitverbreitete  Art  der  Anwendung  des  soge- 
nannten »teleologischen  Beweises«  übersieht  diesen  zen- 
tralen Punkt.  Sie  übersieht,  daß  Macht  und  Wert,  Dauer- 


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Probleme  der  Religion.  507 

haftigkeit  und  Bestandfähigkeit  im  Verhältnis  zur  >  höheren  5 
Daseinsform  in  der  sich  selbst  überlassenen  Welt  in  um- 
gekehrter Proportion  stehen.  Sie  übersieht,  daß  alle  »Fort- 
schritte«^ »Höherentwicklungen«,  allgemeine  Wertwachs- 
tumsformen nur  »Zwischenprozesse«  sind,  gleichsam  tra- 
gisch-ironische Szenen  im  Drama  des  Weltprozesses,  die 
jene  aus  dem  Fall  resultierende  universale  stetige  Grund- 
tendenz zur  Abnahme  der  Werte  nicht  aufzuhalten  ver- 
mögen. 

Daß  die  Welt  diesen  grundsätzlichen  Aspekt  besitzt, 
ist  schon  bei  oberflächlichem  Anblick  nicht  schwer  zu 
sehen,  ist  auch,  auf  vielen  Einzelgebieten  streng  wissen- 
schaftlich erwiesen;  und  es  fehlt  nur  eine  Zusammenschau 
dieser  Resultate  modemer  Forschung  unter  einem  meta- 
physischen Gesichtspunkt.^ 

I .  Die  Endlichkeit  der  Welt  nach  Raum,  Zeit,  Masse, 
Energie  war  Thomas  von  Aquin  eine  positiv-theologische 
Wahrheit.  Man  darf  sagen,  daß  sie  heute  eine  natürliche 
geworden  ist.  Die  Relativitätstheorie  hat  ein  Grunddogma 
aller  Freidenker  und  optimistischen  Metaphysiker  wider- 
legt. In  einem  endlichen,  wenn  auch  unbegrenzten  vier- 
dimensionalen  Raum-Zeitsystem  liegt  nach  ihr  alle  Welt- 
wirklichkeit eingebettet.  Könnte  die  Welt  auch  nur  ihren 
Grundformen  nach  »unendlicher«  sein  —  so  wäre  sie  nicht 
erlösungsbedürftig  ihrem  Wesen  nach.  Alle  positiven  Werte, 
die  in  endlicher  Zeit  und  endlichen  Räumen  nicht  zu  finden 
sind,  könnten  ihr  in  einem  unendlichen  Prozeß  gleichwohl 
zukommen;  alle  Unwerte  könnten  im  unendlichen  Welt- 

*  Dieser  Abschnitt  kann  erst  durch  die  Veröffentlichung  meiner  in  den 
letzten  Jahren  an  der  Universität  Köhi  gehaltenen  Vorlesungen  über  Meta- 
physik seine  tiefere  Begründung  finden. 


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5o8  PnMamtöa] 

züssunmesäiBng  zusge^khen  werden  —  zu  etnem  smn- 
voOen  Gemälde.  Nichts  hiervoa  ist  wahr.  Mit  Endficbem 
hat  Welt  übend]  zu  wirtschaften,  mit  Sadien,  die  sich 
erschöpfen.  Es  gibt  Wdtur^>ruiig  und  Wdtende  — 
Weltentod.  Einmaliger  Prozeß,  der  abläuft  vne  der  Sand 
in  der  Sanduhr  —  ist  »Wdt«. 

Hat  eine  wesensendlidie  Weh  eine  götdidie  Ursadie, 
so  muß  geschlossen  werden,  daß  die  Erhaltung  einer 
solchen  Welt  der  Weltursadie  nicht  weniger  kostet  als 
ihre  Schöpfung,  ihre  Schöpfung  nidit  mdir  als  ihre  &- 
haltung.  Denn  könnte  die  Welt  auch  einen  Augenblick 
nur  aus  sich  heraus  länger  existieren  al^  sie  je  existiert 
hat,  so  müßte  sie  aus  sich  heraus  —  ceteris  paribus  — 
auch  eine  unendliche  Zeit  hindurch  existieren  können. 
Da  sie  dies  nicht  kann,  kann  sie  auch  keinen  Augenblick 
nur  durch  sich  selbst  existieren.  Sie  fallt  ins  Nichts  ziuiick, 
so  sie  nicht  durch  die  positive  Tat  Gottes  gleichsam  immer 
neu  erhalten  wird.  Ihr  Sturz  ins  Nichts  muß  gleichsam 
immer  neu  durch  Gott  gehemmt  werden. 

2.  Innerhalb  der  anorganischen  Welt  herrscht  das  Ge- 
B<ttz  der  stetigen  Dissipation  der  Bewegung.  Molare, 
arbeitsfähige  und  dauerhaft  gerichtete  Bewegung  wird 
immer  mehr  moleculare  und  ungerichtete  Bewegung  ohne 
Fähigkeit  Arbeit  zu  leisten.  Die  Energiearten  gehen, 
wenn  sie  nach  ihrer  Arbeitsfähigkeit  geordnet  werden, 
bei  Erhahung  der  Quantität  der  Energie  immer  mehr  über 
in  die  wertlosere  Energie  —  in  letzter  Linie  in  die  Energie 
der  Wärme.  Der  Wärmetod  ist  das  Ziel,  das  der  Welt- 
prozeß asymptotisch  anstrebt.  Sehen  wir  an  dieser  Stelle 
von  der  metaphysischen  Deutung  dieser  drei  Gesetze  ab. 
Hier  legen  wir  nur  Wert  darauf,  zu  zeigen,  daß  sich  das 


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Probleme  der  Religion.  509 

Gesetz  einer  Wertabnahme  des  Universums  auch  auf 
anorganischem  Gebiet  bestätigt.  Diese  Gesetze  lassen 
indes  nichts  zukünftig  Eintretendes  voraussagen.  Sie  gel- 
ten ja  nur  unter  der  wahrheitswidrigen  Voraussetzung, 
daß  die  Welt  nichts  als  Anorganisches  enthielte  —  d.  h. 
mit  bewußter  Absehung  von  Leben,  Geist,  Gott.  Könnte 
das  organische  Leben  im  Sinne  Maxwells  die  furchtbare 
Bewegungsrichtung  der  toten  Welt  umkehren  oder  könnte 
seine  Anstrengung  doch  wieder  die  Arbeitsfähigkeit  der 
Energie  einbringen,  die  gemäß  diesen  Gesetzen  stetig* 
verloren  geht,  so  käme  ihnen  Wirklichkeitsbedeutung 
nicht  zu.  Würde  eine  metaphysische  Aktion  des  Welt- 
grundes das  Weltdasein  überhaupt  vor  dem  Erreichen 
•dieses  Endzustandes  zurücknehmen,  so  gälte  dasselbe. 
Nur  Tendenzen  sind  also  durch  die  Gesetze  ausgedrückt. 
Auerbach,^  Bergson'  u.  a.  haben  auf  den  erstgenannten 
Umstand  großes  Gewicht  gelegt,  um  eine  optimistische 
Metaphysik  zu  begründen.  Leben  als  »Tendenz  zum  Un- 
wahrscheinlichen« arbeite  mit  Erfolg  der  Tendenz  zum 
»wahrscheinlichsten  Zustand«  der  Energieverteilung  (nach 
Boltzmanns  mechanistischer  Deutung  des  zweiten  Wärme- 
satzes) entgegen.  Aber  ist  auch  diese  Auffassung  der 
organischen  Bewegung  richtig,  so  ist  doch  nicht  gezeigt, 
daß  das  organische  Leben  aus  sich  heraus  mehr  zu  leisten 
vermöge,  als  eine  unter  gleichzeitiger  Anpassung  an 
immer  geringere  Spannungsdifferenzen  der  Energie  er- 
folgende zeidiche  Verzögerung  jener  Entwertung  der 
Energie.  Sowohl  jene  Anpassung,  der  W.  Stern  seine 
Aufmerksamkeit  zugewandt  hat,  als  diese  Verzögerung 

*  f.  Auerbach,  »Die  Weltherrin  und  ihr  Schatten«. 


H.  Bergson,  »L'Evolution  cr^trice«. 


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CIO  Probleme  der  Religion. 

besitzen  enge  Grenzen.  Dazu  arbeiten  sich  Anpassung 
und  Verzögerung  so  entgegen,  daß,  je  größer  man  die 
Eigenaktivität  des  Lebens,  das  Tote  sich  anzupassen 
einschätzt  und  je  geringer  man  die  Anpassungsfähigkeit 
des  Lebens  auf  die  sinkenden  Spannungsdifferenzen  dann 
einschätzen  muß,  die  Verzögerung  der  Nivellierung  der 
Energie  zwar  um  so  größer  ist,  aber  die  Existenz  des 
Lebens  überhaupt  auch  um  so  mehr  bedroht  ist.  Schätzt 
man  die  Anpassungsfähigkeit  des  Lebens  so  hoch  ein  wie 
W.  Stern,  ^  der  keinerlei  absolute  Energiegrößen  der  Um- 
weltreize als  conditiones  sine  quibus  non  für  die  Existenz 
von  organischem  Leben  ansieht,  sondern  nur  Energie- 
differenzen, so  kann  man  auch  keine  umkehrende,  ja  nicht 
einmal  eine  verzögernde  Wirkung  des  Lebens  auf  die- 
Tendenz  der  toten  Welt  erwarten. 

Den  Sieg  hat  in  diesem  Kampfe  zwischen  Lebendigem 
und  Totem  also  —  mit  Absehung  von  Geist  und  Gott  — 
nicht  das  Leben,  sondern  auf  alle  Fälle  der  Tod. 

Nur  von  der  Natur  her  gesehen  bleibt  das  ganze  univer- 
sale Leben  der  organischen  Gestaltungen  ein  Zwischen - 
prozeß  des  Weltgeschehens  —  ein  rauschendes  Fest 
im  Gange  der  Welt,  —  aber  auch  ein  Versuch  mit  untaug- 
lichen Mitteln. 

Nur  wenn  das  »Leben«  als  Inbegriff  der  nicht  in  Ele- 
mente und  Gesetze  des  Anorganischen  auflösbaren  Form- 
und Bildkräfte  noch  einen  ganz  anderen  möglichen  »Weg« 
hätte,  als  den  Weg  des  Kampfes  mit  dem  Toten,  seiner 
Formung  und  realen  Veränderung,  täten  sich  Aussichten 
für  es  auf,  die  es  seinem  Naturschicksal  zu  entziehen  ver- 
möchten. 

*  Siehe  W.  Stern:  »Person  und  Sache«. 


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Probleme  der  Religion.  c  i  i 

Einen  solchen  Weg  gibt  es:  Es  ist  der  Weg  der 
Vergeistigung  des  Lebens,  d.  h.  die  Zuwendung  sei- 
ner Kraftfaktoren  an  die  an  sich  kräftelosen  »Akte«  des 
Geistes  —  gleichsam  Emporhebung,  Bergung,  Rettung 
des  Lebens  aus  dem  Strudel  der  unteren  Kräfte  und  Ele- 
mente, mit  denen  es  —  in  höchster  Form  —  als  Zivili- 
sationstechnik in  Arbeit,  Tat,  Umgestaltung  der  toten  Welt 
durch  den  Menschen  ja  doch  einen  prinzipiell  ergebnislosen 
Kampf  kämpft. 

Ist  dieser  »Weg«  aus  den  Kräften  des  menschlichen 
Geistes  selbst  heraus  möglich?  Wohl  ist  er  möglich;  aber 
er  allein  kann  ebensowenig  zu  einem  endgültigen  Erfolge 
führen  wie  der  Weg  der  Verlebendigung  des  Toten.  Un- 
möglich wäre  es  dem  sich  selbst  überlassenen  Menschen- 
geist, den  Weg  mit  Erfolg  zu  gehen.  Immer  wird  das 
Leben,  auch  im  Menschen,  den  größten  Teil  seiner  Kräfte 
zu  verwenden  haben  in  jenem  letztlich  aussichtslosen 
Kampf  mit  dem  Toten,  in  dem  es  sich  allein  in  irgend- 
einer Form  der  es  an  die  tote  Welt  fesselnden  und  ihr  ver- 
pflichtenden Organisation  als  daseiend  zu  behaupten  ver- 
mag. Immer  wird  —  auch  bei  optimaler  Verwendung  der 
menschlichen  Freiheit  zur  Vergeistigung  des  Lebens  — 
der  zu  vergeistigende  Teil  aller  Lebenskräfte  kleiner  sein 
als  der  nicht  zu  vergeistigende.  Ja  er  wird  außerdem  bei  der 
mit  steigender  Organisationshöhe  steigenden  Schwierig- 
keit des  Kampfes  des  Lebendigen  mit  dem  Toten  immer 
kleiner  werden,  d.  h.  am  Ende  würde  es  das  Leben  sein, 
das  über  den  Geist  »sieg^«  und  alle  Tätigkeit  des  Geistes 
würde  ein  Versuch  mit  untauglichen  Mitteln  sein,  das 
Leben  in  seinem  geistigen  Kosmos  vor  den  Fangarmen 
der  toten  Natur  zu  bergen.  Nur  wenn  der  Geist  des  Men- 


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^12  Probleme  der  Religion. 

sdien  aus  Gott  immer  neue  Kraftströme  erhielte,  könnte 
sich  diese  Bewegung  umkehren. 

Das  also  ist  der  Aspekt  einer  sich  selbst  überlassenen 
Welt:  das  Tote  stürzt  ins  Nichts;  das  tote  Arbeitsfähige 
ins  Arbeitslose;  das  Leben  in  das  Tote;  der  Geist  stürzt 
in  die  Strudel  des  Lebens  —  überwältigt  von  Trieb  und 
Leidenschaft. 

Eine  unaufhaltsame  Bewegung  vom  Werthöheren  zum 
Wertniedrigeren  beherrscht  als  Tendenz  diese  gefallene 
Welt  —  als  Ursprung  immer  wachsender  Übel  und  immer 
stärkerer  Versuchung  zvun  Bösen  fiir  die  geistigen  Na- 
turen. 

3.  Lehrt  uns  die  immanente  Entfaltung  des  Lebens  in 
seinen  Organisationsformen  ein  Anderes?  Nur  solange 
man  nicht  fragt,  was  denn  »höhere«  Organisation  heiße, 
mag  es  anders  scheinen.  Nur  solange  man  die  Ursprungs- 
ordnung der  Formen,  Arten,  Gattungen  des  Lebens  allein 
betrachtet,  nicht  aber  auch  ihre  Todes-  und  ihre  Absterbe- 
ordnung, kann  femer  dieser  Schein  gestützt  werden  durch 
neuen  Schein.  Schon  die  große  Tatsache,  daß  Lebendiges 
überhaupt  als  Individuum  und  Art  seinen  höheren  Wert 
gegenüber  dem  Toten  bezahlt  mit  jenem  absoluten  Auf- 
hören und  Verschwinden,  das  die  bloßenErhaltungsgesetze 
der  toten  Natur  nicht  kennen,  d.  h.  mit  dem  Tode,  —  schon 
diese  einfachste  Tatsache  zeigt,  daß  Dauerfähigkeit  und 
Werthöhe  umgekehrt  proportional  in  der  Welt  verteilt 
sind.  Man  kann  —  so  E.  v.  Bär  —  ein  Lebewesen  gerade- 
zu definieren  als  ein  »Ding,  das  stirbt«,  als  eine  Kraft,  die 
sich  wirklich  erschöpft  —  nicht  also  sich  erhält,  wie  alle 
Kräfte  der  toten  Natur,  die  sich  nur  umformen. 

Was  aber  gilt  für  das  universelle  Leben  als  Ganzes  im 


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-•^^m- 


Probleme  der  Religion.  5 1 3 

Verhältnis  zur  toten  Natur:  daß  es  eine  Episode  i3t  im 
Weltprozeß,  eine  Sache,  die  einst  nicht  war  und  einst  nicht 
sein  wird,  das  gilt  analog  vom  Verhältnis  der  je  höheren 
Organisationen  zu  niedrigeren  einfachsten  Bildungen  des 
Lebens.  Das  Dasein  der  höheren  Organisationen  ist  wieder- 
um nur  eine  Episode  innerhalb  dieser  Wdt-Episode  der  Ge- 
schichte des  universellen  Lebens.  Am  spätesten  geworden 
werden  die  höheren  Organisationen  in  der  Absterbeord- 
nung des  universellen  Lebens  auch  um  so  früher  dem  Arten- 
tod verfallen,  je  höher  sie  sind.  Der  Tod  selbst  muß  seinem 
Wesen  nach  begriffen  werden  als  der  Preis,  den  das  Leben 
für  seine  differenziertere  und  integriertere  Organisation 
zahlt;  (Minot);  oder  als  Preis  für  die  steigende  Fülle  und 
Mannigfaltigkeit  der  Engagements,  die  das  Leben  mit 
der  anorganischen  Natur  eingegangen  ist.  In  den  Werk- 
zeugen und  immer  reicheren  Mittelsystemen,  die  das  Leben 
fiir  seine  Ziele  ausbildet,  verfängt  es  sich  genau  um  so  mehr, 
je  größer  sein  Aktionsradius  bei  steigender  Organi- 
sation wird.  Das  Maß  der  Entwicklungsfähigkeit,  der  Resti- 
tutionsfähigkeit von  Organen,  der  Plastizität  nimmt  deut- 
lich mit  der  Höhe  der  Organisation  stetig  ab.  Je  größer  und 
mannigfaltiger  das  tote  Gepäck  wird,  mit  dem  das  Lebe- 
wesen sich  der  Umwelt  entgegenwirft,  desto  gefährdeter 
wird  seine  Existenz.  Die  wachsende  Größe  der  Lebens- 
dauer des  Individuums  wird  im  allgemeinen  bezahlt  mit  der 
sinkenden  Dauerfahigkeit  der  Art.  Der  Evolutionismus  des 
1 9  .Jahrhunderts,  sofern  er  eine  unbegrenzte  Aussicht  immer 
höherer  Organisationen  der  Lebensentwicklung  vor  dem 
menschlichen  Geiste  hertrug,  war  ein  großer  Irrtum.  Und 
ein  nicht  minder  großer  war  die  Lehre,  daß  die  im  Kampfe 
mit  der  übrigen  Lebewelt  oder  in  der  Anpassung  an  die 

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cjA  ProUeme  der Retigioo. 

tote  Unweit  siegreiche  Organisation  die  »höhere«  sei.  Im 
sog.  »Kampf  ums  Dasein«  —  einem  durchaus  ruinösen, 
nicht  schöpferischen  Prinzip  —  geht  die  Minorität  der 
höheren  Organisationsformen  gegenüber  der  Majorität  der 
niedrigeren  zugrunde.  Die  Masse  des  Kleinen,  nicht  das 
Edle  hat  in  diesem  »Kampfe«  den  Sieg.  Anpassungsmerk- 
male aber  sind  von  Organisationsmerkmalen  grundver- 
schieden. 

Überblickt  man  den  Sinn  der  Lebensevolution,  so  kehrt 
also  dasselbe  Bild  wieder:  Das  Ganze  ein  Versuch  mit  un- 
tauglichen Mitteln,  —  ein  Unternehmen,  das  sich  Alles  in 
Allem  genommen,  an  nur  vitalen  Werten  gemessen,  nicht 
verlohnt  hätte. 

Nur  als  Verwirklichungsbedingung  oder  besser  als  Bin- 
dungsbedingung geistiger  Kräfte  des  vernünftigen 
Bewußtseins  an  vitale  Daseinsformen,  erhält  die  Evolution 
wiederum  einen  prinzipiell  positiven  Sinn. 

Aber  hat  der  menschliche  Geist  —  seinem  Dasein  nach 
die  Episode  in  der  Episode  der  tierischen  Entwicklung, 
von  den  Lebenswerten  aus  gesehen  eine  Krankheit,  jene 
Krankheit,  die  es  nahelegte,  den  Menschen  als  das  krank- 
gewordene Tier  vom  biologischen  Gesichtspunkt  aus 
schlechthin  zu  bezeichnen  —  hat  der  menschliche  Geist 
aus  sich  heraus  auch  die  Macht,  die  große  Tendenz  nach 
abwärts,  die  das  All  durchläuft,  umzukehren? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  geben  gewisse  Gesetze 
menschlicher  Gesellschaft  und  Geschichte,  die  im  Wesen 
des  Menschen  verankert  sind. 

4.  Die  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts  hat  uns  mit  dem 
Glauben  tief  erfüllt,  daß  die  menschliche  Geschichte  einen 
stetigen  Fortschritt  und  ein  stetiges  Wachstum  aller  Arten 


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Probleme  der  Religion.  c  i  c 

der  durch  den  Menschen  hervorgebrachten  geistigen  und 
materiellen  Güter  aufweise.  Dringt  man  aber  tiefer  ein  in 
die  F;rage,  was  denn  fortschreiten  soll  und  nach  Ansetzung 
welcher  Grundwerte  gemessen  werden  soll,  ob  etwas  in  der 
Geschichte  »fortschreitet«  oder  nicht,  so  ändert  sich  das 
Bild.  Es  enthüllt  sich  uns  zunächst  ein  Gesetz,  das  ich 
anderwärts  genauer  nachgewiesen  habe  und  das  mit  dem 
Wesen  der  uns  bekannten  Menschennatur  selbst  gegeben 
ist.  Es  lautet :  Da  der  Mensch  die  Güter,  die  er  hervor- 
bringt und  den  folgenden  Geschlechtem  überliefert,  um 
so  willkürlicher  und  planvoller  hervorbringen  kann,  je 
niedriger  die  Wertmodalität  ist,  zu  der  sie  gehören,  da  er 
aber  um  so  mehr  auf  die  Gnade,  daß  sie  ihm  ohne  seine 
Tätigkeit  geschenkt  werden,  harren  und  hoffen  muß,  je 
höher  die  Wertmodalität  ist,  zu  der  die  Güter  gehören, 
so  gilt  auch  der  Satz  von  der  Abnahme  des  stetigen  Fort- 
schritts bei  steigender  Werthöhe  der  produzierten  Güter. 
Was  wahrhaft  stetig  fortschreitet,  ist  offensichtiich  der 
Apparat,  angenehme  und  nützliche  Dinge  hervorzubringen, 
ist  das,  was  wir  den  internationalen  Zivilisationskosmos  der 
menschlichen  Gesellschaft  zu  nennen  pflegen.  Von  den 
Gütern  der  geistigen  Kultur  gilt  nichts  Ähnliches.  Wohl 
wächst  ihr  Vorrat  an  —  soweit  er  nicht  wieder  der  Zer- 
störung durch  Naturkatastrophen,  Kriege,  zeitweise  Bar- 
barei verfällt  —  aber  keineswegs  gilt,  daß  diese  Güter  an 
Wert  stetig  zunehmen.  Noch  weniger  nimmt  die  Fähigkeit 
zu,  solche  Güter  hervorzubringen .  Die  schöpferischeEpoche 
und  der  in  ihr  schaftende  Genius  sind  seltene  meteorartig 
hervortretende  Geschenke.  Die  Kräfte,  die  solche  Epochen 
tragen,  sind  international  unverbreitbar  —  sie  haften  an 
bestinunten  einmaligen  Augenblicken  der  Geschichte  eines 

33* 


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e  1 6  Probleme  der  Religion. 

einmaligen  Volkstums  oder  eines  einmaligen  Standes.  Inner- 
halb der  höchsten  Menschenformen  und  Güter  —  die  der 
Sphäre  des  Heiligen,  Religiösen  angehören — aber  glaube 
ich  zum  wenigstens  eine  Tendenz  zur  natürlichen  stetigen 
Abnahme  der  Kräfte,  diese  Güter  zu  schauen  und  hervor- 
zubringen, wahrnehmen  zu  können \  Der  Ruf:  »Zurück 
zum  Ursprung ! « ,  nicht  der  Ruf  des  Fortschritts  war  darum 
zu  allen  Zeiten  die  Form,  in  der  sich  nennenswerte  religiöse 
Erhebungen  vollzogen  haben.  Jede  Form  der  religiösen 
Bewegung  hat  eine  enthusiastische,  meist  kurz  dauernde 
Phase,  um  dann  in  eine  breite,  gemeine  rationalisierende 
»Anpassung  an  die  Welt«  zu  verfellen.  Die  großen  reli- 
giösen Menschen,  an  deren  Erscheinung  alle  Religions- 
geschichte hängt,  sind  diejenigen  Menschentypen,  die  man 
am  wenigsten  durch  Erziehung,  Politik,  Organisation  — 
kurz  durch  alles,  was  man  systematisch  »tun«  kann,  um 
Menschentypen  hervorzubringen,  hervorbringen  kann  — - 
die  man  kaum  »suchen«  kann.  Ihre  Existenz  ist  am  meisten 
geschichtliche  Gnade,  am  wenigsten  geschichtliches  Werk. 
Soziologisch  geht  die  Geschichte,  die  wir  kennen,  überall 
von  der  »Gemeinschaft«  in  die  »Gesellschaft«  —  (Tönnies), 
d.h.  von  innerer  organischer  zu  äußerer  mechanischer  Ver- 
bundenheit, in  letzter  Linie  in  die  Richtung  einer  sich  in  den 
Qualitäten  immer  mehr  ausgleichenden  Menschenmasse, 
die  mit  ihren  geistigen  Kräften  in  immer  gewaltigeren  Aus- 
maßen mit  den  Aufgaben  beschäftigt  ist,  die  relativ  niedrig- 
sten Bedürfnisse  organisatorisch  zu  befriedigen,  also  immer 
weniger  sie  zu  geistigen  Zielen  verwenden  kann.  Auch  schon 
die  Geschehensmöglichkeiten  in  der  Geschichte  nehmen 
mit  den  Rassespannungen,  die  durch  den  Blutausgleich  mehr 

^  Siehe  den  Schluß  dieser  Abhandlung. 


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Probleme  der  Religion.  5  1 7 

und  mehr  verschwinden,  sukzessiv  ab.  Der  Gang  der 
Geschichte  wird  gleichförmiger  und  langsamer  und  die 
Freiheitsspieb^ume  des  persönlichen  Geistes,  sie  in  ihrem 
Gange  zu  bestimmen,  vermindern  sich  gegenüber  den  auto- 
matisch und  zwangsläufig  wirksamen  kollektiven  Mächten. 
Das  Wachstum  der  Menschheit  ist  dem  Wachstum  des 
Nahrungsmittelspielraums  nicht  angepaßt.  Malthus  behält 
doch  im  wesentlichen  recht.  Was  die  technische  Zivilisation 
durch  Endastung  der  Menschenarbeit  —  deren  fernere 
Möglichkeiten  überdies  weit  kleiner  sind  als  es  dem  all- 
gemeinem Glauben  entspricht  —  und  Abwälzung  dieser 
Arbeit  auf  die  Kräfte  der  lebendigen  und  toten  Natur  zur 
Befreiung  der  höheren  geistigen  Kräfte  leisten  mag,  wird 
durch  das  rapide  Wachstum  der  Menschheit  nach  der  Zahl  '  ^  * 
nicht  nur  ausgeglichen,  sondern  überkompensiert  Die  h^^^"" 
sich  steigernde  Zivilisation  scheint,  im  Ganzen  gesehen, 
mehr  Krankheiten  hervorzubringen,  als  sie  durch  Fort-    ^ 
schritte  der  medizinischen  Kunst  und  Prophylaxe  abzu-    ' 
stellen  vermag. 

Wohl  am  deutlichsten  ist  die  Abnahme  und  noch  mehr 
die  Verflachung  der  menschlichen  Glückszustände  im  Ver- 
lauf der  Geschichte.  J.  J.  Rousseau  und  I.  Kant  behalten 
in  diesem  Punkte  recht.  Dieselben  großen  revolutionären 
Massenschübe,  die  überall  zum  Sturz  und  zum  Untersinken 
der  Minoritäten  edleren  Blutes  fuhren,  verflachen  die  Zu- 
stände menschlichen  Glücks.  Was  Talleyrand  nach  der 
französischen  Revolution  sagte:  daß  niemand,  der  nach 
1789  gelebt  habe,  die  Süßigkeit  des  Lebens  gekostet 
habe,  darf  man  nicht  relativ  wieder  dasselbe  sagen  vom 
Jahre  19H?  Die  kommenden  »demokratischen«  Jahr- 
hunderte können  niemals  mehr  Künste  und  edle  formvolle 


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^  1 8  Probleme  der  Religion. 

Sitten  hervorbringen,  wie  sie  aristokratische  Zeitalter  und 
fürstliche  Herrschaftsformen  gekannt  haben.  Mit  jeder 
quantitativen  Vergrößerung  der  Lust  der  großen  Massen 
und  der  Abstellung  ihrer  gröbsten  Leiden  ist  eine  nie 
wieder  rückgängig  zu  machende  Verflachung  der  Glücks- 
und der  Leidgeftihle  mit  Sicherheit  verknüpft.^ 

Das  Wissen  zeigt  ein  analoges  Schicksal.  Das  theo- 
retische Wissen  des  Menschen  zeigt  noch  immer  den  konti- 
nuierlichsten Fortschritt,  den  es  gibt.  Aber  dieser  Fort- 
schrittist beschränkt  auf  dasjenige  Wissen,  das  gleichzeitig 
technisch  praktikabel  ist  und  die  durch  den  Menschen  und 
sein  Handeln  lenkbaren  Punkte  und  Teile  des  Universums 
für  das  Weltbild  aussondert  und  in  Begriffssymbole  und 
Gesetze  zusammenfaßt.  All  dieses  Wissen  ist  also  zugleich 
Wissen  um  Gegenstände,  die  auf  Lebenswerte  —  denn 
Beherrschung  der  Welt  ist  ein  Lebens  wert — und  Menschen- 
organisation daseinsrelativ  sind.  Je  weniger  die  Gegen- 
stände des  Wissens  daseinsrelativ  sind  auf  die  verschie- 
denen Schichten  der  menschlichen  Organisation,  desto 
weniger  zeigt  es  stetigen  und  internationalen  Fortschritt. 
Biologie  und  Geisteswissenschaften  schon  entfalten  sich 
weit  sprunghafter  und  von  persönlichem  und  nationalem 
Geist  abhängiger,  als  die  Wissenschaften  des  meßbaren 
Mechanismus.  Metaphysik  gar,  die  Wahrheit  geben  will 
über  das  Sein  der  Dinge  selbst  und  sich  von  der  Symbolik 
des  Denkens  zu  befreien  strebt,  läßt  von  einem  stetigen 
Fortschritt  nichts  bemerken.  Nur  die  Durchdringung  und 
Ergänzung  der  verschiedenen  metaphysischen  Versuche 
aller  Zeiten  scheint  hier  weiterzuführen.  Der  religiöse  Sinn 
endlich,  die  Fähigkeit  der  Seele,  mit  der  Gottheit  in  an- 

'  über  tiefe  und  flache  Gefühle  siehe :  »Der  Formalismus  in  der  Ethik « 


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Probleme  der  Religion.         ,  519 

schaulichen  und  gefühlsmäßigen  Kontakt  zu  treten,  zeigt 
im  Fortgang  der  Geschichte  eher  eine  Abnahme  als  eine 
Zunahme. 

Es  ist  beim  Wissen  und  der  praktischen  Zivilisation 
dasselbe  Bild:  die  Menschheit  scheint  sich  in  immer  ver- 
wickeitere Berührung  mit  der  Natur  und  mit  sich  selbst 
und  immer  tiefer  in  einen  Kosmos  der  Mittel  zu  ver- 
stricken, den  sie  immer  weniger  zu  beherrschen  und  nach 
geistigen  Zielen  zu  lenken  vermag  —  der  immer  tiefer 
sie  selbst  und  ihr  Leben  beherrscht.  Das  Werk  wird 
immer  mehr  des  Menschen  Meister. 

Diese  Tendenz  ist  aber  für  die  ganze  Menschheit  als 
Art  keine  andere  als  diejenige,  die  wir  beim  Einzelorga- 
nismus Altem  und  Absterben  nennen  würden.  Denn  die 
langsame  Überwältigung  des  lebendigen  Organismus  durch 
die  Eigengesetzmäßigkeit  der  toten  Stoffe  und  Kräfte, 
die  er  sich  als  Organisation  angebildet  hat,  gehört  zu 
den  Grundphänomenen  des  Alterns  und  Sterbens.  Mögen 
die  verschiedenen  Teile  der  Menschheit,  die  Rassen,  die 
Völker,  die  Kulturen  innerhalb  dieses  Prozesses  auch  in 
verschiedenen  Stadien  und  Phasen  sich  befinden,  so  gilt 
doch  das  Lebensgesetz  des  Alterns  und  Todes  auch  für 
die  Menschheit  als  Ganzes. 

Der  Gedanke  des  grenzenlosen  Fortschritts  auf  allen 
Wertgebieten  wird  daher  durch  ganz  andere  Gedanken 
zu  ersetzen  sein.  Zunächst:  der  Sinn  der  Geschichte  kann 
nicht  in  einem  in  der  Zukunft  gelegenen  jZiele  beruhen, 
das  die  Menschheit  zu  erreichen  hätte.  Er  beruht  in  dem 
ganzen  Gemälde  mannigfaltigen  Menschentums,  das  die 
Geschichte  in  zeidicher  Form  von  der  Idee  des  Menschen 
zeichnet  und  malt.  Und  wenn  es  eine  Ordnung  gibt  in  der 


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c  20  Probleme  der  Religion. 

Abwandlung  der  Bilder,  die  den  Menschen  und  Mensch- 
liches von  immer  neuen  Seiten  darstellen,  so  ist  diese 
Ordnung  gewiß  nicht  diejenige  stetiger  Werterhöhung. 
Das  Wertwachstum  der  niedrigeren  Wertgebiete  wird 
kompensiert  durch  die  Wertabnahme  in  den  höheren 
Wertgebieten  —  der  Tendenz  nach  —  und  nur,  wenn  wir 
der  Geschichte  als  Ablauf  den  Sinn  zumessen,  daß  diese 
spätere,  ältere,  klügere  Menschheit  dem  spröden  Stoff 
der  Welt  die  Werte  nur  einzuprägen  hat  und  zugleich  zu 
bewahren  hat,  die  eine  je  frühere,  jüngere,  geistigere 
Menschheit  geschaut  und  gefühlt  hat,  geht  das  Ganze 
seines  Sinnes  nicht  vollständig  verlustig. 

Vor  allem  aber  zeigt  das  Gesagte:  die  Welt  ist  nicht 
darauf  angelegt,  durch  ihre  eigenen  Kräfte  sich  im  Sinne 
steter  Werterhöhung  zu  entwickeln.  Wenn  sie  nicht  durch 
Erlösung  emporgehoben  wird,  wenn  nichtje  höhere  Kräfte 
auf  sie  frei  heruntersteigen,  die  sie  immer  neu  empor- 
heben, so  —  fällt  sie  ins  Nichts.  Stete  Gefahr  des  Todes 
und  mögliche  Wiedergeburt  nur  durch  Erlösung  —  stetes 
In-die-Knie-Sinken  und  »-Gehen«  nur  durch  eine  empor- 
hebende Kraft,  die  sich  erbarmend  herabsenkt,  uns  immer 
wieder  auf  die  Füße  zu  stellen:  Das  erscheint  uns  als  ein 
zutreffenderes  Bild  des  sich  geschichtlich  bewegenden 
Menschen  als  das  des  munteren  Laufjungen,  der  in  ein 
immer  schöneres  Land  aus  eigenen  Kräften  ins  Unbe- 
grenzte läuft.  — 


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Probleme  der  Religion.  5  2  I 

6.  Der  religiöse  Akt. 

A.  Gegenständliche  Bedingung  der  Abgrenzung 

religiöser  Akte. 

Es  ist  fiir  die  Heraushebung  gewisser  geistiger  Inten- 
tionen aus  dem  menschlichen  Geiste  als  »religiöser«  nicht 
genug,  wenn  man  sie  rein  immanent  charakterisiert.  Ihre 
Selbstbeziehung  auf  Gott  ist  vielmehr  das  erste  Wesens- 
merkmal ihrer  Einheit.  Insofern  setzen  sie  die  Gottes- 
idee notwendig  voraus.  Versuche  also  —  wie  sie  ge- 
macht worden  sind  z.  B.  von  G.  Simmel  —  die  »religiöse« 
Lebensbestimmtheit  anzusehen  als  eine  bloße  Art  des 
subjektiv  enthusiastischen  Erfassens  irgendwelcher  In- 
halte (sei  es  Gott,  die  Menschheit,  das  Vaterland,  das 
eigene  Selbst  usw.),  so  daß  die  Idee  Gottes  nur  eine 
der  möglichen  sogenannten  »Objektivationen«  wäre,  von 
deren  »Gestaltung«  das  religiöse  Erleben  doch  immer 
wieder  in  sich  selbst  und  seinen  Fluß  zurückkehrte  —  als 
wäre  Gott  nur  ein  Umweg  zur  Steigerung  des  religiösen 
Lebens  in  sich  selbst,  sind  vollendet  widersinnig.  Auch 
wenn  jene  Art  von » Philosophie  des  Lebens « —  im  Simmel- 
schen  Sinne ^  —  sonst  richtig  wäre;  wenn  auch  alle 
»Gegenstände«  außer  Gott  bloße  vergängliche  »Objek- 
tivationen«  des  aus  sich  selbst  strömenden  »Lebens« 
wären,  —  momentane  Gegenmächte,  —  an  denen  es  sich 
differenziert  und  steigert  um  sie  —  wenn  sie  diesen  ihren 
Dienst  erfüllt  haben  —  immer  wieder  in  die  Bewegung 
des  Lebens  selbst  aufzulösen  und  zurückzunehmen:  vor 
Gott  als  der  absoluten  Realität  müßte  diese  »Meta- 
physik des  Lebens«  versagen.  Wird  aber  Gott  —  wie 

*  Siehe  G.  Simmel:  »Lebensanschauung,  vier  metaphysische  Kapitel«,  bes. 
«Die  Transzendenz  des  Lebens«. 


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c  2  2  Probleme  der  Religion. 

bei  Simmel,  der  hier  Bergsonsche,  von  mir  anderenorts 
zurückgewiesene,  Lehren  überspannt  —  mit  diesem  selbst- 
schöpferischen  Leben  identifiziert,  so  wäre  auch  der  »Um- 
weg« über  eine  irgendwie  geformte  Gottesidee,  die  das 
religiöse  Leben  als  immanenten  Prozeß  zu  machen  hat 

—  auch  nach  Simmel  notwendig  zu  machen  hat  —  weder 
notwendig  noch  begreiflich.  Ruht  das  religiöse  Leben  als 
Seinsbestimmtheit  der  Seele  in  sich  selbst  und  hat  es 
seinen  letzten  Sinn  und  Wert  nicht  jenseits  seiner  Bewe- 
gung —  eben  in  dem,  was  es  von  Gott  in  sich  aufnimmt 

—  sondern  in  sich  selbst  und  in  seinen  Bewegungen,  so 
könnte  weder  begreiflich  sein,  wieso  es  je  diesen  >  Umweg« 
zu  nehmen  beliebte,  noch  wie  es  gar  so  weit  abirren  konnte 
von  der  Wahrheit,  daß  es  den  »Umweg«  für  das  Ziel 
hielt.  Es  ist  eben  widersinnig,  Gott  zugleich  als  Gott  und 
als  »Umweg«  zu  etwas  Anderem  auch  nur  zu  intendieren. 
Man  intendiert  nicht  Gott,  wenn  man  einen  »Umweg« 
intendiert;  man  kann  keinen  »Umweg«,  sondern  nur  ein 
absolutes  Ziel  intendieren,  wenn  es  Gott  ist,  den  man 
intendiert.  So  wenig  eine  Liebe  zu  A  echte  Liebe  zu  A 
ist,  die  A  nur  als  »Durchgangspunkt«  erfaßt,  um  in  end- 
gültiger Intention  wieder  auf  das  Ich  des  Liebenden  zurück- 
zukehren —  gleich  Spinozas  Gott  —  so  wenig  wäre  ein 
Glaube  an  Gott  Glaube  an  Gott,  der  sich  wieder  auf 
das  Sein  des  eigenen  Selbst  zurückwendete.  Hier  Auto- 
erotik, die  sich  nur  in  dem  Schein  der  Fremdliebe,  dort 
Selbstanbetung,  die  sich  nur  in  den  Schein  der  Anbetung 
Gottes  hüllt.  Aber  wir  erwähnen  diese  ein  wenig  sonder- 
bare Ansicht  Simmeis  nur,  um  an  dieser  wohl  extremsten 
Form  des  religiösen  Subjektivismus  zu  zeigen,  wie  falsch 
es  überhaupt  ist,  den  religiösen  Akt  rein  »immanent« 


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Probleme  der  Religion.  523 

fundieren  zu  wollen.  Schon  wenn  man  —  mit  Luther  — 
die  religiöse  Glaubens-  und  Heilsgewißheit  vor  die 
religiöse  Glaubens-  und  Heilswahrheit  setzt^,  beginnt 
ein  Gedankenprozeß,  der  darauf  abzielt,  das  Glauben 
schließlich  zu  seinem  eigenen  Gegenstand  zu  machen.  Es 
ist  offensichdich  ein  Zirkel,  z.  B.  die  Heilswahrheit  des 
Opfertodes  Christi  für  der  ganzen  Menschheit  Sündenlast 
auf  den  individuellen  gläubigen  Annahmeakt  des  Wortes 
Gottes  im  Evangelium  zu  stellen,  um  dann  die  persön- 
liche Heilsgewißheit,  Christus  sei  »für  mich«  gestorben 
wieder  an  den  festen  Glauben  allein,  an  die  selbst  schon 
geglaubte  Heilswahrheit  zu  binden.  Das  ist  Glauben  an 
den  Glauben  —  eine  Reflexion,  die  beliebig  fortgesetzt 
werden  kann.  Das  Glauben-glauben  ist  so  wenig  Glaube 
wie  die  Velleität  des  WoUen-woUens  eines  Inhalts  Wollen 
dieses  Inhalts  ist. 

B.  Immanente  Charakteristik  des  religiösen  Akts 
nach  seiner  Konstitution. 

Gleichwohl  ist  auch  eine  immanente  Charakteristik 
des  religiösen  Akts  notwendig.  Eine  solche  ist  mehr  als 
psychologisch  dann,  wenn  der  religiöse  Akt  nicht  darstellt 
eine  zufällige  Verbindung  von  außerreligiösen  Intentionen 
(des  Fühlens,  WoUens,  Denkens),  wenn  er  vielmehr  ein 
eigentümliches  echtes  Wesen  hat,  das  seinem  Gegen- 
stande als  essentielle  Erfassungsform  entspricht  und  wenn 
er  nicht  nur  de  facto  »allen  Menschen«  zukommt,  sondern 
zur  Konstitution  des  menschlichen,  ja  jedes  endlichen 
Bewußtseins  gehört  —  das  letztere  wenigstens  seinem 

^  Luther  tat  für  die  Religion  hier  nur  dasselbe,  was  Descartes  für  die 
Philosophie  getan. 


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C24  Probleme  der  Religion. 

Formalcharakter  und  Meinungssinn  nach;  wenn  femer  — 
wie  wir  schon  behaupteten  —  den  religiösen  Akten  in 
Aufbau  und  Abfolge  eine  aus  keiner  anderen  Sinngesetz- 
lichkeit ableitbare  Sinngesetzlichkeit  zukommt,  dazu 
strenge  formulierbare  Bedingungen  evidenter  Erfüllung 
und  Nichterfüllung. 

Daß  dem  so  sei,  ist  unsere  Thesis. 

Man  mache  sich  die  Bedeutimg  dieser  Frage  klar!  Der 
Mensch  besitzt  tausenderlei  Wünsche,  Bedürfnisse,  Sehn- 
süchte nach  etwas,  deren  psychologischer  Befund  nicht 
im  entferntesten  eine  Gewähr  gibt,  es  müsse  auch  irgend 
etwas  existieren,  was  diese  Wünsche,  Bedürfnisse,  Sehn- 
süchte befriedigen  könnte.  Darum  ist  jede  Wunsch-  und 
Bedürfnistheologie  und  -Metaphysik  so  ganz  widersinnig. 
•  Aber  etwas  von  solchen  Tatsachen  grundsätzlich  Ver- 
schiedenes wäre  der  menschliche  Besitz  einer  essentiellen 
Aktklasse,  für  die  sich  das  Folgende  zeigen  ließe: 

1.  Diese  Akte  gehören  in  ihrer  essentiellen  Art  zum 
menschlichen  Bewußtsein  so  konstitutiv  wie  Denken, 
Urteilen,  Wahrnehmen,  Erinnern. 

2.  Sie  gehören  zu  ihm  gar  nicht,  weil  dieses  Bewußt- 
sein ein  »menschliches«  ist  im  Sinne  der  induktiv  empiri- 
schen Merkmale  des  Menschen  und  seinem  seelischen 
Geschehen,  sondern  schon  weil  es  ein  endliches  Bewußt- 
sein überhaupt  ist. 

3.  Die  religiösen  Akte  können  irgendwelche  bloße 
Wünsche,  Bedürfnisse,  Sehnsüchte  darum  nicht  sein  oder 
ihnen  gleichen,  da  sie  auf  ein  ganz  anderes  Wesens- 
reich von  Gegenständen  inten tional  hinzielen,  als  es  die 
empirischen  und  »idealen«  Gegenstandsarten  sind.  Denn 
alle  sogenannten  Wünsche,  Bedürfnisse,  Sehnsüchte  zielen 


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Probleme  der  Religion.  525 

durchaus  auf  empirische  Gegenstandsarten  —  wenn 
auch  oft  auf  solche,  die  nicht  existieren  oder  gar  nicht 
existieren  können;  die  aber  gleichwohl  wie  alle  fiktiven 
Dinge  aus  solchen  Gegenständen  und  ihren  Merkmalen 
aufgebaut  sind^. 

4.  Die  religiösen  Akte  können  weder  psychologisch- 
kausal abgeleitet,  noch  teleologisch  aus  irgendeiner  Art 
Zweckmäßigkeit  für  den  Lebensprozeß  begriffen  werden; 
nur  wenn  man  die  Realität  der  Gegenstandsarten  an- 
nimmt, auf  die  sie  zielen,  ist  es  möglich,  ihre  Existenz  zu 
begreifen.  Sie  zeigen  also  den  menschlichen  Geist  an- 
gepaßt, hingerichtet  und  hingeordnet  auf  eine  über- 
natürliche Wirklichkeit,  d.  h.  auf  eine  Wirklichkeit,  die  von 
der  empirisch-natürlichen  auf  alle  Fälle  wesensverschie- 
den ist  —  gleichgültig,  wie  der  in  den  beiden  Bereichen 
je  von  den  Menschen  als  wirklich  angenommene 
besondere  Inhalt  geschichtlich  wechsle^. 

5.  Die  religiösen  Akte  gehorchen  einer  Gesetzlich- 
keit, die  fiir  sie  autonom  ist,  die  also  —  wie  immer 
die  Akte  bei  gewissen  Konstellationen  des  empirischen 
Seelenlebens  und  an  äußeren  Erfahrungssituationen  erst 
erwachen,  —  aus  empirischer  psychischer  Kausalität  nicht 
begriffen  werden  kann.  Diese  Gesetzlichkeit  ist  noeti- 

*  Redet  man  —  in  Strenge  —  auch  von  »religiösen «  Bedürfhissen,  Wün- 
schen, Sehnsüchten,  so  hat  man  natürlich  ein  gutes  Recht,  davon  zu  reden. 
Man  setzt  aber  dann  den  religiösen  Akt,  dadurch  die  Idee  des  Gutes 
gegeben  wird,  wonach  wir  ein  Bedürfnis  haben,  bereits  voraus.  »Religiös« 
ist  das  Bedürfnis  eben  dann,  wenn  es  Bedürfnis  ist  nach  dem  Gegenstand 
des  religiösen  Akts.  Das  ist  etwas  ganz  anderes,  als  umgekehrt  den  reli- 
giösen Akt  auf  ein  »Bedürfnis«  zurückfuhren,  das  noch  nicht  »religiös«  ist, 
sondern  analog  entsprungen  wäre,  wie  alle  Bedürfhisse. 

•  Die  Anschauungen  der  Menschen  über  Gott  waren  vielleicht  erheblich 
weniger  verschieden  als  die  Anschauungen  der  Menschen  über  die  Erde 


und  die  Sonne. 


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526  Probleme  der  Religion. 

scher  Art,  nicht  psychologischer  Art.  Auch  damit  sind  die 
religiösen  Akte  von  allen  menschlichen  Bedürfnissen,  die 
eine  Phantasieproduktion  von  fiktiven  Dingen  bestim- 
men, wesentlich  unterschieden. 

6.  Wie  die  religiösen  Akte  nicht  psychische  Vorkomm- 
nisse sind,  die  sich  in  uns  nach  psychischen  Naturgesetzen 
bilden  und  zerfallen  —  dabei  höchstens  noch  in  Werden  und 
Vergehen  einer  biologischen  oder  soziologischen  Zweck- 
mäßigkeit gehorchend  —  so  sind  sie  auch  nicht  bloße 
Abarten  oder  Kombinationen  anderer  noetischer  inten- 
tionaler  Aktgruppen:  Etwa  logischer,  ethischer,  ästhe- 
tischer usw.  Gewiß  kann  der  Sinngehalt,  der  in  den  reli- 
giösen Akten  »gegeben«  wird,  selbst  wieder  Materie  sein 
für  logische  Begriffsbildung,  Urteil,  Schluß,  femer  für 
ethische  und  ästhetische  Wertnehmung,  Wertschätzung 
und  Wertbeurteilung.  Aber  das  besagt  nicht,  daß  der 
volle  Sinngehalt  der  religiösen  Akte  aus  dem  möglichen 
Sinngehalt  dieser  andersartigen  noetischen  Aktgruppen 
»hervorginge«.  Er  ist  fiir  sie  vielmehr  »gegebene« 
Materie. 

Läßt  sich  —  sage  ich  —  dies  erweisen,  so  gewinnen 
wir  für  alle  empirisch  vorgefundene  religiöse  Lebens- 
bestimmtheit auch  ein  Maß  und  eine  Norm,  die  aus  dem 
Wesen  der  Religion  selbst  geschöpft  ist  und  nicht  aus 
einer  Normgesetzlichkeit  außerhalb  und  jenseits  der  Re- 
ligion. Denn  vergleichen  wir  die  Aktgesetzmäßigkeiten 
dieses  »reinen«,  aus  den  Verwebungen  mit  allen  sonsti- 
gen geistigen  Aktbetätigungen  und  dem  biopsychischen 
Lebensverlauf  des  Menschen  herausgelösten  »religiösen 
Bewußtseins«  mit  dem  empirisch  Vorgefundenen  der  reli- 
giösen Lebensbestimmtheiten,  so  können  wir  auch  Ge- 


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Probleme  der  Religion.  c  2  7 

setze  des  Richtigen  und  Falschen  aufdecken  —  Ge- 
setze, die  aber  ausschließlich  Gesetze  eben  des  religiös 
Richtigen  und  Falschen  sind.* 

Das  aber  ist  es,  was  sich  durch  die  Wesensanalyse 
des  religiösen  Aktes  —  wie  ich  glaube  —  zeigen  läßt. 

Eine  falsche  Richtung  in  der  Wesenslehre  vom  reli- 
giösen Akt  nimmt  also  derjenige,  der  zuerst  ein  soge- 
nanntes »Seelenvermögen«  sucht, unter  das  der  religiöse 
^kt  untergeordnet  werden  soll:  Denken,  Fühlen,  Stre- 
ben, Wollen  etc.  Denn  die  Religion  ist  so  ursprünglich 
religiöses  Erkennen  und  Denken,  als  sie  auch  eine  be- 
sondere Art  des  (Wert)-fühlens,  des  (geregelten)  Aus- 
drucks (in  religiöser  Sprache,  Gebet,  Kult)  und  des  reli- 
giösen WoUens  und  Wandeins  ist  (im  Dienste  Gottes  und 
der  religiösen  Moral).  Auch  wer  hier  von  sogenannten  psy- 
chischen Elementartatsachen  ausgehen  will,  kommt  in  die 
Irre.  Sind  ja  doch  in  allen  Akten  intentionaler  Natur  — 
nicht  nur  den  religiösen  —  eine  Mehrheit  verschiedener 
Elementarphänomene  mitgegeben,  —  in  jeder  normalen 
Wahrnehmung  z.  B.  Empfindungsinhalte,  Gestalten,  Wert- 
qualitäten, Bedeutungs-  und  Wirklichkeitsfaktor,  resp.  auf 
der  Aktseite  Empfinden,  Fühlen,  Interesse  und  Aufmerk- 
samkeit, Urteil  usw.  Die  Intentionseinheit  ist  eben  als 
Erlebniseinheit  völlig  indifferent  gegenüber  der  ganz  an- 

*  Die  Gesetze  des  «reinen«  religiösen  Bewußtseins  fungieren  also  zu- 
gleich als  Nonnen  des  Richtigen  und  Falschen  für  das  empirische  reli- 
giöse Bewußtsein,  ohne  daß  sie  doch  von  Hause  aus  solche  »Normen«  wären. 
Für  die  materiale  und  reale  Wahrheit  des  religiösen  intentionalen  Bewufit- 
seinsgegenstandes  ist  aber  auch  durch  die  Rechtheit  der  religiösen  Akt- 
vollzüge allein  noch  Nichts  erwiesen;  so  wenig  wie  durch  Denkrichtigkeit 
(z.B.  Schlußrichtigkeit)  die  Wahrheit  des  Gedachten  erwiesen  ist.  Die  Rich- 
tigkeit ist  in  beiden  Fällen  nur  eine  Conditio  sine  qua  non  der  Wahrheits- 
evidenz, nicht  diese  selbst  —  geschweige  die  Wahrheit. 


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528  Probleme  der  Religion. 

deren  Scheidung  des  Psychischen  in  sogenannte  »Elemen- 
tarphänomene«. Die  Sache  ist  vergleichbar  dem  Tatbe- 
stande, daß  sich  auch  in  morphologischen  Einheiten  oder 
physiologischen  Funktionseinheiten  am  lebendigen  Or- 
ganismus grundverschiedene  chemische  Bausteine  resp. 
chemische  Elementarprozesse  finden  können.  Und  so 
wenig  Jemand,  der  nur  als  Chemiker  dem  Organismus 
entgegenträte,  die  morphologischen  und  funktionellen  Ein- 
heiten des  Organischen  und  seines  Lebensprozeses  finden 
könnte,  so  wenig  würde  derjenige,  der  nur  psychische 
Elemente  suchte,  die  Intentionseinheiten  je  finden.  Der 
religiöse  Akt  plus  seinem  Sinnkorrelat,  das  zu  ihm  als 
»erftillend«  gehört,  bildet  eine  Einheit  in  sich  selbst: 
z.  B.  Beten  und  Personalität  Gottes,  Anbeten  und  Sum- 
mum  bonum. 

Religiöser  Akt  als  Wesensart  von  Akten  und  nicht- 
religiöser Akt  schneiden  also  als  Einteilung  der  Akte 
alle  Einteilungen,  die  aus  dem  Hinblick  auf  die  soge- 
nannten Seelenvermögen  oder  die  seelischen  Elementar- 
erscheinungen genommen  sind.  Nicht  weniger  schneidet 
sie  jede  Einteilung,  die  aus  der  so  wichtigen  Entgegen- 
setzung sozialer  Akte  und  auf  das  eigene  Selbst  ge- 
richteter Akte  fließt  (Eigenakte).  Religiöse  Selbstver- 
senkung, Erwägung  des  eigenen  »Heils«,  Reue  usw.  sind 
religiöse  Eigenakte.  Religiöse  Bitte,  Dank,  Preis,  Lob, 
Bewunderung, Verehrung,  Gehorsam,  Ausübung  religiöser 
Autorität,  sind  religiös-soziale  Akte. 


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'W^^^*^. 


Probleme  der  Religion. 


529 


C  Art  und  Weise  der  Selbstgesetzlichkeit  religiöser 

Akte. 

Vor  einer  genaueren  Untersuchung  der  Wesensbe- 
standstiicke  des  religiösen  Akts  mögen  drei  sichere  Merk- 
male an  die  Spitze  gestellt  werden,  die  den  religiösen  Akt 
nicht  erschöpfen,  aber  auf  alle  Fälle  diagnostischen 
Wert  haben  für  seine  Unterscheidung  von  allen  anderen 
Aktarten:  i.  die  Welttranszendenz  seiner  Intention, 
2.  die  Erfüllbarkeit  nur  durch  das  »Göttliche«,  3.  die  Er- 
füllbarkeit des  Aktes  nur  durch  die  Aufnahme  eines  sich 
selber  erschließenden,  dem  Menschen  sich  hingeben- 
den Seienden  göttlichen  Charakters  (Natürliche  Offen- 
barung des  Göttlichen).  Es  gilt  also  der  Grundsatz  alles 
religiösen  Erkennens :  »Alles  Wissen  über  Gott  ist  Wissen 
durch  Gott«. 

I .  Das  erste,  was  jedem  religiösen  Akt  eigentümlich 
ist,  ist,  daß  in  ihm  nicht  nur  die  von  der  Person  erfahre- 
nen Dinge  und  Tatsachen,  sondern  alle  Dinge  endlicher 
und  kontingenter  Art  in  ein  Ganzes  zusammengefaßt 
werden  mit  Einschluß  der  eigenen  Person  und  zur  Idee 
der  »Welt«  vereinigt  werden.  Ohne  diesen  vorbereitenden 
Akt  kann  ein  religiöser  Akt  nicht  stattfinden.  Das  zweite, 
was  zum  religiösen  Akt  selbst  gehört,  ist,  daß  in  seiner 
Intention  diese  »Welt«  übergriffen  oder  transzendiert  wird. 
Es  handelt  sich  dabei  gar  nicht  nur  um  diese  einmalige 
zufällig  daseiende  Welt,  sondern  um  alles  von  der  Art 
einer  »Welt«  überhaupt,  d.  h.  einer  Welt,  in  der  sich 
ein  Inbegriff  der  selben  Wesenheiten  so  oder  anders  reali- 
siert wie  in  dieser,  die  mir  bekannt  ist.  Transzendenz  im 
allgemeinen  ist  eine  Eigentümlichkeit,  die  jeder  Bewußt- 
seinintention zukommt,  denn  in  jeder  ist  das  Hinaus  und 

34 


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5  30  Probleme  der  Religion. 

Hinübermeinen  über  ihren  eigenen  Erlebnisbestand  ge- 
geben, und  das  gleichzeitige  Bewußtsein,  daß  das  Sein 
des  Gegenstandes  über  den  erlebten  Intentionsgehalt 
hinausreicht.  Aber, erst  wo  das  also  Transzendierte  die 
Welt  als  Ganzes  ist  (mit  Einschluß  der  eigenen  Person) 
haben  wir  das  Recht,  von  einem  religiösen  Akt  zu  reden. 
Mag  beliebig  ein  Einzelding,  eine  besondere  Erfahrung 
und  Wahrnehmung  des  kosmischen  oder  eigenen  Lebens 
den  religiösen  Akt  auslösen,  erst  wenn  diese  Erfahrung 
in  einer  ganz  besonderen  We^se  auf  das  Ganze  bezogen 
und  das  Ganze  in  ihm  synibolisiert  erscheint,  kann  der 
religiöse  Akt  eintreten. 

2.  Das  schärfste  obzwar  nur  negative  diagnostische 
Kennzeichen  eines  religiösen  Aktes  im  Unterschiede  zu 
allen  anderen  geistigen  Akten  ist  daher^die  in  ihm  mit- 
gegebene unmittelbare  Einsicht  in  seine  wesensmäßige 
Unerfüllbarkeit  durch  irgend  einen  der  »Welt«  ange- 
hörigen  oder  die  Welt  selbst  ausmachenden  endlichen 
Gegenstand.  In  diesem  Sinne  ist  das  Augustinische:  In- 
quietum  cor  nostrum,  donec  requiescat  in  te  eine  Grund- 
formel  für  alle  religiösen  Akte.  Selbst  der  Pantheismus 
widerstreitet  nicht  diesem  Wesensgesetz,  sondern  erfüllt 
es.  Denn  noch  niemals  gab  es  einen  Pantheismus,  der  eine 
endliche  Welt  zum  Gegenstand  religiöser  Anbetung  zu 
machen  gewagt  hätte.  Auch  er  sucht  die  Übereinstimmung 
mit  diesem  Wesensgesetz  dadurch,  daß  er  die  Welt  selbst 
als  unendlich  behauptet. 

Ich  sprach  von  der  einsichtigen  Unerfüllbarkeit ;d.  h.  es 
genügt  nicht,  um  einen  religiösen  Akt  zu  konstituiereh,  daß 
das  Individuum  sich  sage,  die  von  ihm  vollzogene  Intention 
(sei  sie  theoretisch,  sei  sie  eine  besonders  geartete  Liebe, 


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Probleme  der  Religion.  5  3 1 

sei  sie  Streben  nach  Glück  und  Vollkommenheit,  sei  sie 
Dank^  Hoffnung,  Ehrfurcht,  Furcht),  habe  nur  bisher  auf 
Grund  der  begrenzten  Erfahrung  dieses  Individuums  oder 
der  Völker  und  Zeiten  keine  angemessene  Erfüllung  ge- 
funden, es  sei  aber  möglich,  daß  irgendwann  eine  solche 
eintrete.  Das  vielmehr  ist  für  den  religiösen  Akt  charak- 
teristisch, daß  ihn  die  Einsicht  durchwaltet,  es  könne  über- 
haupt kein  Ding  endlicher  Art,  kein  Gut  endlicher  Art, 
keinen  Liebesgegenständ  endlicher  Art  geben,  welche  die 
Intention  erfüllen  können,  die  in  ihm  gegenwärtig  ist.  Alle 
Erfahrungen,  die  gemacht  worden  sind,  fungieren  nicht  als 
negative  Beweise  (in  Form  von  Induktionsschlüssen)  fiir 
die  Unerflillbarkeit,  sondern  nur  als  Beispiele  zur  Gewin- 
nung dieser  Wesenseinsicht;  zu  Hilfe  kommen  und  diese 
Einsicht  klarer  herausstellen  kann  die  Phantasie.  Analog 
wie  der  Erkenntnis-Theoretiker  sich  der  apriorischen 
Natur  eines  Satzes,  d.  h.  seiner  Unbeweisbarkeit  und  Un- 
überwindbarkeit  durch  mögliche  Beobachtungen  irgend- 
welcher Art  dadurch  versichert,  daß  er  sich  fragt,  ob  er 
mögliche  Beobachtungen  auch  nur  phantasieren  kann, 
die  ihn  bestimmen  würden,  seinen  Satz  preiszugeben, 
so  kann  man  versuchen,  ein  phantasiertes  endliches  Gut, 
einen  phantasierten  Weltzustand,  eine  phantasierte  Voll- 
kommenheit der  Gesellschaft  oder  der  Kultur  der  Mensch- 
heit der  Intention  des  religiösen  Aktes  gleichsam  vor- 
zuhalten. Und  efst  wenn  auch  dann  die  einsichtige  Un- 
angemessenheit dessen,  was  da  vorgehalten  wird,  zyi" 
Intention  des  Aktes  deutlich  wird^  handelt  es  sich  um 
einen  echten  religiösen  Akt.'  Im  religiösen  Akt  denken 
wir  ein  Sein,  das  von  allem  endlichen  Sein  und  allem  nur 
in  einer  bestimmten  Art  nicht  endlichen  oder  unendlichen 

34* 


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^  ß  2  Probleme  der  Religion. 

Sein  (unendlicher  Zeit,  unendlichem  Raum,  unendlicher 
Zahl  usw.)  verschieden  ist;  wir  finden  uns  gerichtet  auf 
etwas,  an  dessen  Stelle  kein  endliches  wie  immer  liebens- 
würdiges Gut  treten  kann,  da  die  religiöse  Liebe  die  We- 
sensartung solcher  Güter  transzendiert.  Wir  suchen  im 
religiösen  Akt  ein  Glück,  von  dem  wir  zugleich  vollkom- 
men deudich  wissen,  daß  kein  Fortschritt  der  Menschheit, 
keine  Vervollkommnung  der  Gesellschaft,  und  keine  Art 
Vermehrung  der  inneren  und  äußeren  Ursachen  des 
menschlichen  Glücks  es  geben  können.  Wir  erleben  im 
religiösen  Akt  eine  Furcht  oder  eine  Ehrfurcht,  die  wir 
nicht  zu  bezielien  vermögen  auf  eine  bestimmte  begrenzte 
Gefahr,  die  uns  auch  nur  dem  Wesen  nach  bekannt  wäre 
oder  auf  ein  gleichzeitig  Würdiges  und  Drohendes,  von 
dem  wir  aus  unserer  Erfahrung  Beispiele  anfuhren  könnten. 
Die  »religiöse«  Furcht  ist  — auf  Empirisches  bezogen, 
grundlos  und  ziellos.  Im  »religiösen«  Hoffen  hoffen  wir 
etwas,  was  wir  nie  erfahren  haben  und  von  dem  wir  wissen, 
daß  wir  es  nie  haben  erfahren  k  ö  n  n  e  n ;  und  wir  erhoffen,  was 
wir  hoffen  ohne  daß  ein  bestimmt  gegründetes  Vertrauen 
auf  Eintritt  von  Vorkommnissen  in  uns  vorhanden  wäre, 
das  aus  unserer  Berechnung  irdischer  Dinge  fließt  oder 
das  uns  durch  bloßes  instinktives  blindes  Lebensvertrauen 
nahegelegt  wird.  Im  »religiösen«  Dank,  der  in  uns  über- 
quillt angesichts  eines  besonders  bedeutenden  Anblicks 
der  Natur,  einer  Erfahrung,  durch  die  uns  ein  besonderes 
Gut  oder  ein  Erfolg  geworden,  danken  wir  »für  etwas« 
im  Verhältnis  zu  dem  das,  was  wir  besitzen  nur  Zeichen, 
Hinweis  und  Symbol  ist,  nicht  der  eigentliche  Gegenstand 
des  Dankes;  und  wir  danken  dafür  einem  gebenden  und 
schenkenden  Subjekt,  für  das  wir  auch  in  der  Phantasie 


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,         Probleme  der  Religion.  cjj 

keine  irdische  Macht,  keine  Person,  wie  groß,  würdig  und 
mächtig  sie  immer  sei,  einzusetzen  vermögen.  Wenn  wir 
uns  im  Reueakt  religiös  verhalten,  so  wissen  wir  zwar, 
daß  zur  Anklage  ein  »Ohr«  gehöre,  das  die  Anklage 
vernimmt,  zu  jedem  »Richten«  ein  Gesetz,  nach  dem  ge- 
richtet wird  und  ein  Richter  der  richtet,  daß  zur  Verge- 
bung ein  Wesen  gehört,  das  vergibt  und  welches  nur  ein 
solches  sein  kann,  das  eben  das  Gesetz  gab,  von  dessen 
Folgen  die  Vergebung  entbindet;  aber  obzwar  wir  alle 
diese  Intentionen  und  Intentionserfiillungen  erleben,  fin- 
den wir  in  der  gesamten  uns  bekannten  endlichen  Welt- 
erfahrung nichts,  auf  das  wir  diese  Intentionen  beziehen 
könnten.  Vor  wem  klagen  wir  uns  denn  an,  da  doch  un- 
sere Lippen  schweigen?  Nach  welchem  Gesetz  richten  wir 
denn,  da  wir  doch  nicht  wissen,  dieses  Gesetz  von  ande- 
ren Menschen  oder  durch  uns  selbst  erhalten  zu  haben? 
und  wer  richtet  denn,  wenn  wir  uns  doch  gerichtet  wissen 
und  wer  soll  denn  vergeben,  wenn  wir  Vergebung  suchen 
und  wer  gab  sie,  wenn  wir  uns  als  solche  fühlen,  denen 
Vergebung  zu  teil  wird?  Unser  Geist  blickt  umher  in  aller 
uns  bekannten  Welt  und  wir  finden  nidit  nur  in  den  Tei- 
len, die  uns  bekannt  wurden,  sondern  in  keinem  Teile  der 
diesen  auch  nur  gleichen  mag,  irgend  eine  bestimmte 
Antwort  auf  diese  Fragen.  In  jedem  dieser  Akte  also: 
Lob,  Dank,  Furcht,  Hoffnung,  Liebe,  Glück,  Streben, 
Vollkommenheitsstreben,  Anklage,  Gericht,  Vergebung, 
Bewunderung,  Verehrung,  Bitte,  Anbetung,  überschrei- 
tet unser  Geist  nicht  nur  dieses  oder  jenes,  sondern 
den  Wesensinbegriff"  endlicher  Dinge.  So  ist  der  reli- 
giöse Akt  negativ  immer  dadurch  charakterisiert,  daß  er 
ebenso  empirisch  grundlos  wie  ziellos  ist,  wie  immer 


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cij.  Probleme  der  Religion.         • 

er  empirisch  veranlaßt  sein  mag;  und  wie  immer  die  Ideen, 
die  nachträglich  über  seinen  Zielgegenstand  ausgebildet 
werden,  von  unseren  Erfahrungen  gefärbt  sein  mögen 
und  gleichsam  noch  die  Spuren  der  subjektiven  Weg- 
erinnerungen an  sich  tragen  mögen,  in  denen  sie  gefunden 
worden  sind.  Und  damit  ist  auch  schon  gesagt,  daß  alles, 
was  wir  durch  unsere  oder  der  Menschheit  vereinigte 
Kraft  an  Gütern  herstellbar  auch  nur  denken  können, 
niemals  ursprünglich  in  die  Intentionsrichtung  spezifisch 
religiöser  Art  führen  kann.  Es  ist  daher  auch  nicht  etwa 
eine  bloße  ideale  Vollendung  von  all  dem,  was  wir  in  unserer 
Erfahrung  an  tatsächlichen  und  möglichen  Gütern  vorfinden, 
auf  was  der  religiöse  Akt  geistig  hinblickt,  sondern  es  ist 
das  bestimmte  völlig  klare  Bewußtsein,  daß  die  Wesensart 
endlicher  Güter  und  endlichen  Seins  überhaupt  es  ist  und 
nicht  ihre  bestimmte  So-  oder  Anders-BeschafFenheit  oder 
ihr  bloßer  Grad  an  Vollkommenheit,   was  den   Grund 
bildet  für  die  Uner  füll  barkeit  der  religiösen  Intention 
durch  sie.  Geist  und  Herz,  unser  Gemüt  wie  unser  Wille, 
finden  sich  im  religiösen  Akt  gerichtet  auf  ein  Seiendes 
und  Wertvolles,  das  gegenüber  aller  »möglichen  Welt- 
erfahrung« als  das  »ganz  andere«,  »Wesensunvergleich- 
liche« in  keiner  Weise  darin  Enthaltbare  uns  vordem  Geiste 
schwebt.  Gewiß  gibt  dieses  Kennzeichen  dem  religiösen 
Akt  keine  andere  Erfüllung,  als  eine,  wie  es  scheint,  nur  ne- 
gative, trotzdem  muß  der  Sinn  dieser  Art  Negationen  sehr 
unterschieden  werden  von  bloß  negativen,  theoretischen 
Urteilen,  denn  diese  Negationen  dienen  ausschließlich  da- 
zu, den  religiösen  Akt  von  allen  nichtreligiösen  Akten  ab- 
zugrenzen. Sie  wollen  ja  gar  nicht  wiedergeben  das,  was 
im  religiösen  Akt  gegeben  ist;  sofern  sie  aber,  wie  in 


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Probleme  der  Religion.  535 

den  Worten  »unbeschreiblich«,  »unaussprechlich«,  »un- 
endlich«, »unermeßlich«  usw.  es  versuchen,  das  was  im 
religiösen  Akt  gegeben  ist  selbst  zu  sagen,  haben  sie  auch 
nur  der  Wortzusammensetzung  nach,  nicht  aber  dem  Sinne 
nach  negative  Bedeutung.  Religiöser  Gehalt  ist  immer 
das,  was  im  religiösen  Akte  gegeben  bleibt,  wenn 
wir  diese  so  charakterisierten  Negationen  in  der  Urteils- 
sphäre vollziehen. 

3.  Der  religiöse  Akt  fordert  —  im  Unterschiede  zu 
allen  sonstigen  Erkenntnisakten,  auch  denen  der  Meta- 
physik —  eine  Antwort,  einen  Wider-  und  Gegenakt 
seitens  eben  des  Gegenstandes,  auf  den  er  seinem 
intentionalen  Wesen  nach  abzielt.  Und  damit  ist  schon 
gesagt,  daß  von  »Religion«  nur  die  Rede  sein  kann,  wo 
ihr  Gegenstand  göttliche  personale  Gestalt  trägt 
und  wo  Offenbarung  (im  weitesten  Sinne)  dieses  Persön- 
lichen dem  religiösen  Akt  und  seiner  Intention  die  Er- 
füllung gibt.  Während  für  die  Metaphysik  die  Persön- 
lichkeit des  Götdichen  eine  nie  erreichbare  Grenze  des 
Erkennens  bildet,  ist  für  die  Religion  diese  Persönlich- 
keit das  A  und  O.  Wo  sie  nicht  vor  Augen  steht,  ge- 
dacht, geglaubt,  inwendig  vernommen  wird  —  da  ist 
von  Religion  im  strengen  Sinne  keine  Rede.  Denn  alle 
diese  Momente  sind  je  wesensuntrennbar  voneinander. 
Der  religiöse  Akt  vermag  nicht  von  sich  aus  oder  mit 
Hilfe  des  Denkens  cSsjenige  zu  konstruieren,  was  als 
Gegenstandsidee,  -anschauung,  -gedanke  dem  Menschen 
vorschwebt,  der  ihn  vollzieht.  Er  muß  die  Wahrheit,  die 
er  intendiert,  das  Heil  und  das  Glück,  das  er  »sucht«, 
irgendwie  empfangen  —  und  er  muß  es  empfangen 
durch  eben  das  Wesen,  das  er  sucht.  Er  ist  insofern  schon 


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ei6  Probleme  der  Religion. 

in  seiner  ersten  Intention  auf  ein  mögliches  Empfangen 
hingerichtet  und  angelegt  —  wie  vielseitige  innere  und 
äußere  spontane  Tätigkeit  auch  die  Erreichimg  der 
Schwelle  voraussetze,  auf  der  das  Empfangen  einsetzt. 
Wo  die  Seele  nicht  —  wie  vermittelt  immer  —  Gott 
berührt  und  ihn  dadurch  berührt,  daß  sie  sich  durch 
Gott  berührt  weiß  und  fühlt,  da  besteht  kein  religiöses 
Verhalten  —  auch  keine  »natürliche«  Religion.  Die  posi- 
tive Religion  und  die  natürliche  Religion  sind  nicht  da- 
durch unterschieden,  daß  jene  auf  Offenbarung  beruht, 
diese  auf  spontaner  Vemunfterkenntnis  des  Menschen  — 
ganz  unabhängig  vom  religiösen  Akt.  Metaphysik  ist 
überhaupt  nicht  Religion,  —  auch  keine  »natürliche  Re- 
ligion«, wie  immer  sie  zu  partiell  identischen  Annahme- 
inhalten fuhren  mag,  zu  denen  auch  die  natürliche  Reli- 
gion auf  ihre  Weise  fuhrt.  Der  Wesensunterschied  der 
natürlichen  und  der  positiven  Religion  beruht  vielmehr 
auf  der  Art  und  Weise  der  Offenbarung,  d.  h.  darauf, 
ob  die  Offenbarung  eine  generelle,  durch  die  konstanten 
Wesenstatsachen  der  Innen-  und  Außenwelt,der  Geschichte 
und  der. Natur  symbolisch  vermittelte.  Jedem  im  reli- 
giösen Akt  überall  und  zu  jeder  Zeit  zugängliche  ist, 
oder  ob  sie  erfolgt  und  gegeben  ist  durch  die  besondere 
erhabene  Gottverknüpftheit  bestimmter  Personen,  deren 
Sein,  Leistung,  Lehre,  Aussage  (und  die  Tradition  dieses 
Ausgesagten);  und  dann  vermittelt'  ist  durch  den  Glau- 
ben »an«  diese  Person.  So  wenig  also  notwendige  und 
allgemeingültige  Erkenntnis  mit  spontaner  Vemunft- 
und  Sinneserkenntnis  zusammenfällt,  vielmehr  solche  Er- 
kenntnis auch  durch  die  natürliche,  jedem  überall  imd 
immer  zugängliche  Offenbarung  gegeben  sein  kann  — 


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Probleme  der  Religion.  537 

wenn  er  nur  in  religiöser  Akthaltung  an  die  Welt  heran- 
tritt, so  wenig  darf  Offenbarung  überhaupt  der  »positiven « 
und  tradierten  Offenbarung  durch  eine  Person  gleich- 
gesetzt werden.  Offenbarung  als  solche  —  im  wei- 
testen Wortsinne  —  ist  nur  die  dem  Wesen  des: 
religiösen  Aktes  streng  korrelate  Gegebenheits- 
art eines  Realen  vom  Wesen  des  Göttlichen  über- 
haupt.  Sie  reicht  als  solche  Gegebenheitsart  soweit^ 
wie  Religion  überhaupt  reicht;  und  sie  umfaßt  insofern 
auch  den  ganz  andersartigen  Gegensatz  wahrer  und 
falscher  Religion. 

Denn  das  sollte  selbstverständlich  sein:  Genau  wie  wir 
in  der  äußeren  und  inneren  Wahrnehmung  den  mannig- 
fachsten Täuschungsquellen  und  in  den  auf  diese  Wahr- 
nehmungen aufgebauten  Schlüssen  den  nicht  weniger 
mannigfachen  Irrtumsquellen  unterliegen  können,  genau 
so  —  ja  noch  in  viel  höherem  Maße  —  können  wir  hier 
Täuschungen  und  Irrtümern  verfallen.  Die  besonderen 
religiösen  Täuschungsquellen  bedürfen  einer  besonderen 
Untersuchung.  Aber  so  wenig  ob  dieser  Möglichkeiten, 
jemand  das  Recht  hätte,  die  Wahrnehmung  der  Außen- 
und  Innenwelt  überhaupt  als  Erkenntnisquell^  zu  ver- 
werfen, so  wenig  besteht  das  Recht,  Offenbarung  als. 
wesensgesetzliche  Antwort  auf  den  religiösen  Akt  über- 
haupt in  Frage  zu  ziehen. 

4.  Kann  aus  dem  Dasein  religiöser  Akte  (resp.  der  sog. . 
»religiösen  Anlage«  des  Menschen)  das  Dasein  Gottes  ge- 
folgert werden? 

Wenn  das  Göttliche  und  alles,  was  mit  ihm  in  wesent- 
licher Beziehung  steht,  nur  in  Akten  vom  Wesen  der 
religiösen  Akte  »gegeben«  ist,  so  ist  die  Darlegung  der- 


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5^8  Probleme  der  Religion. 

Existenz  einer  übernatürlichen  Seinssphäre  an  erster  Stelle 
nicht  durch  »Beweise«  zu  erbringen,  die  von  Tatsachen 
außerreligiöser  Erfahrung  ausgehen,  sondern  durch 
Weckung  und  Erweckung  der  religiösen  Akte  im  mensch- 
lichen Geiste  selbst;  femer,  wenn  diese  Weckung  erfolgt 
ist  durch  ursprünglichen  »Aufweis«, resp.  —  wo  ursprüng- 
licher Aufweis  schon  geschehen  —  durch  »Nachweis«  des 
wesensmäßigen  Anschauungsgehaltes,  der  in  den  reli- 
giösen Akten  gegeben  ist. 

Zwei  hartnäckige  Vorurteile  philosophischer  Natur 
halten  von  dieser  Einsicht  gegenwärtig  noch  so  viele 
Menschen  zurück. 

Das  erste  Vorurteil  ist,  als  »gegeben«  und  zwar 
als  urgegeben  dürfe  nur  das  gelten,  was  auf  Erfahrung 
(womöglich  gar  nur  auf  Sinneserfahrung)  beruht.  Es  gilt 
aber  nicht  minder  der  Satz,  daß  für  alles  Urgegebene, 
das  sich  findet,  es  auch  eine  Erfahrungsart  und  -weise 
geben  muß,  durch  die  dies  Gegebene  gegeben  ist.  Alles, 
was  »ist«,  muß  sich  vor  der  Erfahrung  ausweisen.  Aber 
auch:  alles,  was  erfahren  ist,  hat  Anspruch  auf  irgendeine 
Existenzsetzung.  Und  es  ist  nicht  weniger  verhängnisvoll 
für  alle  Theorie  der  Erkenntnis,  am  Anfang  des  metho- 
dischen Verfahrens  einen  zu  engen,  abgeschlossenen 
Begriff  der  »Erfahrung«  aufzustellen,  eine  besondere  Er- 
fahrungsart (und  die  zu  ihr  führende  geistige  Einstellung) 
mit  dem  Ganzen  des  Erfahrens  gleichzusetzen  und  dann 
alles  als  »urgegeben«  nicht  anzuerkennen,  was  sich  durch 
diese  Erfahrungsart  nicht  nachweisen  läßt.  Was  am  Er- 
fahrungsgegebenen überhaupt  durch  sinnliche  Erschei- 
nungen deckbar  ist  und  welche  Sinnesfunktionen,  resp. 
Sinnesorgane  angenommen  oder  gesucht  werden  müssen. 


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Probleme  der  Religipn.  ein 

um  die  gegebenen  sinnlichen  Erscheinungen  als  gegeben 
verständlich  zu  machen^  ist  aber  ein  Fragenkomplex,  der 
erst  nach  Feststellung  und  Analyse  des  überhaupt  Ge- 
gebenen sinnvoll  ist. 

2.  Das  zweite  Vorurteil  ist  ein  Mangel  von  Einsicht  in 
die  Grenzen  des  beweisbaren  Wissens  und  Erkennens. 
Gewiß  fordert  jedes  Urteil  Rechtfertigung  und  Rechen- 
schaftsablage, mit  welchem  Rechte  es  gefällt  wird.  Aber 
nur  in  genau  zu  bestimmenden  Grenzen  ist  diese  mög- 
liche Rechtfertigung  »Beweis«.  Vom  Beweis  verschieden 
sind  andere  Arten  der  Rechtfertigung,  z.  B.  der  Aufweis 
(eigendiche  »demonstratio«),  femer  der  Nachweis,  Kon- 
struktion, Verifizierung  usw. 

Was  das  erste  Vorurteil  betrifft,  so  wissen  wir  heute 
durch  die  gemeinsamen  Forschungen  der  phänomenolo- 
gischen Philosophie,  der  Erkenntnistheorie  und  der  experi- 
mentellen Psychologie^  kaum  etwas  sicherer  als  dies:  Das 
Gegebene  ist  unendlich  reicher  als  der  Teil  des  Ge- 
gebenen, der  im  strengen  Sinne  der  sog.  Sinneserfahrung 
entspricht.  Und  femer:  Sinneserfahrung  ist  weder  die  ein- 
zige Erfahrung,  die  es  gibt,  noch  in  der  Ordnung  des  Ur- 
sprungs, d.  h.  der  Zeitordnung  des  Erfahrens  die  ursprüng- 
lichste Erfahrung.  Die  Strukturgehalte  seiner  Umwelt  sind 
jedem  Lebewesen,  die  Strukturgehalte  seiner  Welt  sind 
jedem  Geistwesen  vielmehr  vor  aller  »Empfindung«  »ge- 
geben« und  zu  möglicher  Empfindung  kann  nur  dasjenige 
werden,  was  die  Umwelt  eines  Lebewesens  und  die  zu  ihr 
gehörigen  Einheitsformen  und  Ordnungsarten  »lebendig« 

'  Eine  Zusammenschau  und  theoretische  Verarbeitung  des  von  der  experi- 
mentellen Psychologie  hier  Festgestellten  gibt  das  Buch  von  W.  Köhler 
»Die  physischen  Gestalten  in  Ruhe  und  im  stationären  Zustand«.  Braun- 
schweig 1920. 


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KAo  Probleme  der  Religion. 

machen  kann.  Kein  Grundsatz  ist  daher  heute  so  vollstän- 
dig widerlegt,  als  der  alte  philosophische  Satz:  »Nihil 
est  in  intellectu,  quod  non  fuerit  in  sensu. «  Empfindung 
und  der  ganze  sensorische  Apparat  eines  Organismus 
haben  ausschließlich  die  Bedeutung  eines  Zeichen-  und 
Signalsystems  für  die  lebensförderlichen  Reaktionen  des 
Organismus  auf  die  Umwelt.  Eine  echte  Erkenntnis- 
funktion kommt  ihnen  überhaupt  nicht  zu.  Sie  produ- 
zieren nicht  Anschauung  und  Erfahrung,  sie  analy- 
sieren sie  bloß  und  zwar  bloß  nach  einem  Gesichtspunkt: 
dem  des  praktisch  Förderlichen  und  Schädlichen  für 
das  Einzelwesen  (im  Gegensatz  zur  Gattung). 

Mit  der  Fülle  der  neuen  Einsichten,  die  diesen  allge- 
meinen Sätzen  entsprechen  und  die  hier  auch  nur  anzu- 
deuten nicht  der  Ort  ist,  halten  wir  zwei  Typen  der  theo- 
retischen Philosophie,  die  uns  als  die  stärksten  Hinder- 
nisse einer  Philosophie  der  Religion  erscheinen,  für  grund- 
sätzlich widerlegt:  den  sensualistischen  Empirismus  und 
Positivismus  und  das  System  I.  Kants.  Jener  unternahm 
den  ganz  unmöglichen,  —  nur  vor  einer  auch  nur  primi- 
tiven Phänomenologie  des  Gegebenen  denkbaren  —  Ver- 
such, alle  Inhalte  der  Erfahrung  genetisch  auf  Sinnes- 
inhalte und  Derivate  solcher  zurückzufuhren  und  forderte 
(dieser  Lehre  entsprechend)  in  seiner  Logik  für  alle  Ur- 
teile, die  nicht  sinnliche  Inhalte  konstatieren,  einen  induk- 
tiven Beweis.  Kant  hingegen,  der  das  sensualistische 
Vorurteil,  »gegeben«  sei  nur  Empfindung  (das  sog.  »Chaos 
der  Empfindungen)  von  den  englischen  und  französischen 
Sensualisten  unbesehen  und  unkritisch  übernahm,  schloß, 
daß  aller  asensuale  hypersensuale  Gehalt  der  Erfahrung 
überhaupt  nicht  ursprünglich  »gegeben«  sei,  sondern  als 


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Probleme  der  Religion.  e^  I 

eine  Leistung  einer  eigengesetzlichen  synthetischen  Ver- 
standes- und  Vemunfttätigkeit  müsse  angesehen  werden. 
Heute  wissen  wir,  daß  Gegebenheiten  wie  Beziehung, 
Ordnung,  Substanzartigkeit,  Wirken,  Bewegung,  Gestal- 
ten, Formen,  Realsein,  Materialität,  Raum,  Zeit,  Zahl  und 
Mengenfaltigkeit,  Wertqualitäten,  Icheinheit,  Welteinheit, 
Umwelteinheit  usw.  echte  und  wahre  Gegebenheiten  sind 
und  nichts  vom  Verstände  Konstruiertes,  Produziertes, 
Hervorgebrachtes  (weder  bewußt  noch  unbewußt),  daß 
sie  aber  zugleich  nicht  minder  asensuale  Gegebenheiten 
sind  und  außerdem  Gegebenheiten,  die  je  in  ihrer  beson- 
deren Artung  unabhängig  und  vor  den  »Empfindungen« 
der  Sinne  eines  Wesens  vorhanden  sind. 

Wenn  es  also  auch  religiöse  Urgegebenheiten  geben 
sollte,  wenn  das  Götdiche  und  seine  ganze  Wesens- 
sphäre (sei  es  in  primitiver  oder  entwickelter  Sonder- 
artung, sei  es  wirklich  oder  nur  scheinbar  Götdiches)  zu 
diesen  Urgegebenheiten  gehören  sollte,  so  würde  dies 
im  Rahmen  einer  phänomenologisch  fundierten 
Philosophie  durchaus  nichts  Verwunderliches  sein.  Die 
Feststellung  und  Erkenntnis,  was  in  einer  unableitbaren 
Wesenssphäre  von  Gegebenem  auch  wirklich  sei  (resp. 
welche  Sätze  über  reale  Dinge  dieser  Sphäre  wahr  sind), 
ist  ja  stets  eine  nachträgliche,  reicher  Erkenntnisentwick- 
lung unterworfene.  Sie  darf  nie  und  nimmer  dem  Nach- 
weis der  selbständigen  Existenz  und  echten  Wesensnatur 
einer  materialen  Seinssphäre  vorangestellt  werden.  So  ist 
nicht  die  Existenz  einer  Außenwelt  und  nicht,  daß  »Etwas 
Reales«  an  jeder  Stelle  der  Außenwelt  sei,  in  die  ich 
blicke,  als  Denkhypothese,  als  logisch  geforderte  An- 
nahme anzusehen,  sondern  Hypothese  ist  nur  je,  was 


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542  Probleme  der  Religion. 

dieses  Wirkliche  sei,  resp.  ob  diesem  oder  jenem  beson- 
deren phänomenalen  Gehalt  in  der  Außenweltsphäre  ein 
Wirkliches  entspreche.  Analoges  gilt  vom  Ich  als  Ein- 
heitsform der  sog.  »Innenwelt«  usw. 

Genau  im  selben  Sinne  wie  Außenwelt,  Ich,  Welt, 
Umwelt,  Mitwelt  (Mitinnenwelt  und  Mitaußenwelt)  ist  aber 
auch  die  Sphäre  der  Phänomene,  die  sich  im  religiösen 
Akte  dem  Geiste  auftun,  ist  die  Sphäre  des  Göttlichen 
und  eines  Wirklichen  überhaupt  in  ihr  ein  Urgegebenes 
und  von  nichts  Ableitbares. 

Und  so  ursprünglich  »das«  Bewußtsein  in  seiner  end- 
lichen Wesensbestimmtheit  immer  wesensnotwendig  die 
Sphären  »Außenwelt«,  »Ich«,  »Wir«  als  Korrelate  hat  — 
ohne  daß  die  eine  dieser  Sphärengegebenheiten  auf  die 
andere  zurückführbar  ist  —  genau  so  ursprünglich  blickt 
es  durch  den  religiösen  Akt  auch  in  die  Sphäre  der  gött- 
lichen, übersinnlichen  Phänomene  und  Tatsachen.  Daß  es 
dabei  in  den  Realsetzungen  noch  beliebig  sich  täuschen 
und  irren  kann,  die  es  in  einer  oder  der  anderen  dieser 
Sphären  vornimmt,  ist  selbstverständlich,  zieht  aber  die 
ursprüngliche  Existenz  der  Sphäre  nicht  in  Frage. 

Von  einem  »Beweis«  der  Existenz  der  ganzen  religiösen 
Sphäre  aus  anderen  Welttatsachen  durch  Schlüsse,  kann 
daher  keine  Rede  sein;  so  wenig  die  Rede  sein  wie  von 
einem  »Beweis«  der  Existenz  der  Außenwelt  oder  des  Ich 
oder  des  Nebenmenschen.  Man  verkennt  prinzipiell  die 
Tragkraft  und  die  Grenzen  von  sogenannten  »Beweisen«, 
wenn  man  solches  fordert. 

Stellen  wir  einige  solcher  Grenzen  von  Beweisen  fest, 
sofern  sie  die  Existenz  von  Etwas  beweisen  sollen.  Denn 
nur  wenn  erkannt  ist,  es  liege  bei  religiösen  Gegenstän- 


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Probleme  der  Religion.  543 

den  kein  Sonderfall  vor,  es  fuge  sich  auch  das  religiöse 
Erkenntnisgebiet  den  allgemeinen  Grundsätzen  über  Be- 
weisbares und  Unbeweisbares,  wird  man  bezüglich  des 
Daseins  Gottes  nicht  fordern,  was  zu  fordern  einem  be- 
züglich anderer  Daseinsgebiete  nicht  in  den  Sinn  kommt. 
Realität  oder  Dasein  selbst  zu  »beweisen«  ist  wider- 
sinnig. Beweisbar  sind  nur  Sätze  über  Reales,  nicht  das 
Reale  selbst.  Daß  »ein«  Reales  überhaupt  den  Erschei- 
nungen zugrunde  liegen,  daß  wesensverschiedene  Sphären 
von  Erscheinungen  auch  verschiedenes  Reales  zugrunde 
liege,  das  ist  ein  Wissen,  das  allen  möglichen  Daseins- 
.  beweisen  vorhergeht.  Nur  die  Verknüpfung  eines  bestimm- 
ten einzelnen  Was  mit  dem  Prädikat  »real « ,  das  selbst  nur 
Erfüllung  findet  in  dem  Gehalt  des  Realitätserlebnisses, 
das  zu  eruieren  eine  Aufgabe  der  phänomenologischen 
Bewußtseinsanalyse  ist,  kann  Gegenstand  eines  Beweises 
sein.  Femer  gilt,  das  Verhältnis  von  Beweis  und  Wahrheit 
betreffend,  der  Satz:  Nur  Wahres  ist  beweisbar.  Diesem 
Satze  entspricht  nicht  die  Umkehrung:  Nur  Beweisbares 
ist  wahr  —  noch  darf  gar  gesagt  werden,  es  bestehe  die 
Wahrheit  eines  Satzes  in  seiner  Beweisbarkeit.  Es  ist 
vielmehr  klar,  daß  derselbe  Satz  und  derselbe  wahre  Satz 
ganz  verschieden  bewiesen  werden  kann,  z.  B.  direkt  und 
indirekt,  einfach  und  verwickelt  usw.  Sein  Wahrsein  nimmt 
nicht  so  viele  Arten  an,  als  es  Arten  von  Beweisen  für  ilm 
gijbt.  Immer  aber  stützt  sich  der  Beweis  auf  andere  wahre 
Sätze,  die  nicht  beweisbar  sind,  sondern  anderweitig 
»einleuchten«.  Bei  Daseinsbeweisen  eines  bestimmten  in 
seinem  Was  schon  gegebenen  Gegenstandes  ist  femei^ 
immer  vorausgesetzt:  i .  Anderes  bestimmtes  Dasein  der- 
selben materialen  Daseinssphäre,  2.  Grundsätze  außer- 


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KA.A.  Probleme  der  Religion. 

halb  derjenigen  Sätze  der  formalen  Logik,  die  den  Beweis 
im  allgemeinen  regeln  (z.  B.  Gesetze  der  Syllogistik)  und 
die  ausschließlich  die  wesensmäßigen  Zusammenhänge 
des  Daseienden  der  je  bestinmiten  Daseinssphäre  wieder- 
geben. So  könnten  wir  z.  B.  aus  der  Kenntnis  und  der 
vollendeten  Erklärung  der  toten  Welt  niemals  die  Existenz 
eines  lebendigen  Wesens  und  sei  es  des  einfachsten  und 
primitivsten  erschließen  oder  »beweisen«.  Nur  wenn  wir 
das  Wissen  um  das  Wesen  des  Lebendigen,  femer  die  in 
der  Welt  des  Lebendigen  gültigen  Wesenszusammenhänge 
voraussetzen,  können  wir  aus  dem  Dasein  bestimmter  Lebe- 
wesen und  Erscheinungen  des  Lebens  anderer  Lebewesen 
Dasein,  respektive  die  Existenz  anderer  Lebenserschei- 
nungen beweisen.  Nie  und  nirgends  aber  gibt  es  einen 
rein  analytischen  Übergang  von  einer  Wesenssphäre  zur 
anderen,  weder  dem  Dasein  noch  dem  Wesen  eines  be- 
stimmten Gegenstandes  nach.  Wie  dürfte  man  emsdich 
erwarten,  es  ließe  sich  nicht  nur  die  Existenz  eines  be- 
stimmten religiösen  Gegenstandes  aus  der  Existenzsetzung 
anderer  religiöser  Gegenstände  nach  Wesensgesetzen 
ausschließlich  des  religiösen  Seins  und  Bewußtseins  be- 
weisen, sondern  die  Existenz  des  religiösen  Gegenstandes 
selber?  Gottes  Dasein  —  fordert  man  —  solle  sich  ohne 
jede  materialgebende  Anschauung  über  das  Göttliche  ein- 
fach aus  Daseins-  und  Wesensgebieten  ganz  anderer  Art, 
ohne  Heranziehung  religiöser  Sinngesetze,  nur  mit  den 
Mitteln  formaler  Logik  »beweisen«  lassen,  wogegen  man 
doch  bestimmt  das  Dasein  eines  Lebewesens  nicht  beweisen 
kann,  wenn  man  nicht  mindestens  an  einem  Lebewesen 
das  Wesen  der  lebendigen  Form,  Bewegung  usw.  erschaut 
hat.  Gerade  da  wo  der  Sprung  von  Wesensart  zu  Wesens- 


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Probleme  der  Religion.  54^ 

art  der  größte  ist,  sollte  gelingen,  was  nicht  gelingt,  wo 
er  der  kleinste  ist? 

Beweisbar  ist  femer  nur  ein  Satz,  der  schon  gefun- 
den ist.  Dies  gilt  überall,  wo  der  zu  »beweisende«  Ge- 
genstand nicht  erst  im  deduktiven  Verfahren  selbst 
entspringt  und  gesetzmäßig  entsteht,  wie  z.  B.  in  weiten 
Gebieten  der  Mathematik.  Hier  allerdings,  aber  auch  nur 
hier,  fällt  der  deduktive  Gang  des  sogenannten  Beweises 
mit  der  Konstruktion  des  Gegenstandes,  d.  h.  mit  seinem 
ideellen  Werden,  zusammen.  Nichts  aber  ist  klarer,  als 
daß  dieser  Fall  des  Zusammenfallens  von  Konstruktion 
und  Beweis  innerhalb  der  religiösen  Erkenntnissphäre  am 
allerwenigsten  Geltung  hat.  Weder  Gott  selbst  noch  die 
Idee  Gottes  können  »konstruiert«  werden.  Die  geistige 
Macht  der  Konstruktion  ist  um  so  größer,  je  daseins- 
relativer der  Gegenstand  auf  das  menschliche  Bewußtsein 
ist.  Sie  ist  also  null  gegenüber  dem  absolut  Seienden, 
gegenüber  dem,  das  selbst  von  nichts  und  von  dem  alles 
andere  abhängig  ist.  Gott  finden  lehren  ist  aber  etwas 
grundsätzlich  Anderes  und  Höheres  als  sein  Dasein  be- 
weisen. Nur  derjenige,  der  Gott  gefunden  hat,  kann  ein 
Bedürfnis  nach  einem  Beweis  seines  Daseins  verspüren. 
Auch  die  Logik  der  Erfindung  (logique  de  Tinvention,  ars 
inveniendi  et  investigandi)  ist  eine  andere  als  die  Logik 
des  Beweises  (logique  de  la  demonstration,  ars  demon- 
strandi).  Die  chrisdiche  Patristik  —  Augustinus  an  der 
Spitze  —  lehrte  noch  Gott  »finden«.  Ihre  Gottesbeweise 
sind  im  wesentlichen  noch  Angaben,  wie  das  religiöse  Be- 
wußtsein verfährt,  wenn  es  auf  dem  Wege  zu  Gott  ist 
und  wie  es  auf  diesem  Wege  sein  Ziel  erreicht.  Gewiß  ist 
diese  Aufgabe,  den  gesetzlichen  Gang  des  religiösen  Be- 
35 


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1546  Probleme  der  Religion. 

wußtseins,  sozusagen  die  »Sinnlogik  des  religiösen  Akts« 
aufzufinden,  nicht  die  einzige  Aufgabe  einer  natürlichen 
Theologie.  Die  logische  Verkettung  der  religiösen  Wahr- 
heiten (wir  reden  hier  wie  stets  nur  von  den  natürlichen) 
mit  den  Wahrheiten  über  die  Welt  und  ihre  Teile  ist  nicht 
weniger  notwendig.  Aber  sie  ist  erstens  immer  die  se- 
kundäre, nachträgliche  Aufgabe  und  sie  darf  zweitens 
und  vor  allem  nicht  als  ein  Ersatz  xler  ersten  angesehen 
werden.  Diese  logische  Verkettung  sowohl  der  natürlichen 
religiösen  Wahrheiten  unter  sich  als  der  religiösen  Wahr- 
heiten mit  den  Wahrheiten  über  die  Welt  ist  eben  kein 
»Beweis«  religiöser  Wahrheiten.  Sie  ist  im  höchsten  Falle 
eine  bloße  »Verifikation«  in  dem  Sinne,  wie  die  Mathe- 
matiker »Beweis«  und  »Verifikation«  scharf  unterscheiden. 

Unter  »Nachweis«  versteht  man  im  Unterschiede  von 
»Beweis«  das  nach  Regeln  wiederfinden  lehren  von  Etwas, 
das  gefunden  ist.  Unter  »Aufweis«  oder  »Aufdeckung« 
versteht  man  ein  erstmaliges  Zeigen  von  Etwas,  das  noch 
nicht  geftmden  ist.  Der  Nachweis  setzt  also  den  Aufweis 
voraus.  Es  kann  ein  Aufweis  hierbei  durchaus  so  beschaffen 
sein,  daß  er  seinerseits  in  seinem  Gange  vermittelndes  Den- 
ken, auch  mancherlei  Schließen  enthält.  Das  Ganze  aber 
des  Prozesses,  den  man  »Aufweis«  nennt,  hat  doch  nur 
dieselbe  Bedeutung,  wie  ein  Zeigestab,  mit  dem  wir  auf 
Etwas  hinzeigen,  sehen  machen,  damit  es  der  andere 
besser  sehe  oder  überhaupt  sehe. 

In  der  natürlichen  Theologie  hat  der  Aufweis  dem 
Nachweis  und  der  Nachweis  den  Verifikationen  der  reli- 
giösen Wahrheiten  vorauszugehen. 

Gottes  Wesen  und  Dasein  ist  eines  Aufweises  und 
Nachweises,  nicht  aber  im  strengen  Sinne  eines  Beweises 


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Probleme  der  Religion.  547 

aus  Wahrheiten  fähig,  die  nur  Wahrheiten  über  ^ie  Welt 
sind. 

Nach  diesen  Vorbemerkungen  nehmen  wir  die  Frage 
wieder  auf,  wie  weit  auch  vom  Dasein  religiöser  Akte  im 
Geiste  des  Menschen  das  Dasein  Gottes  gefolgert  werden 
kann.  Wenn  wir  die  religiösen  Akte  nicht  nur  nach  ihrem 
daseinsfreien  Wesen  und  ihrer  inneren  Sinngesetzlichkeit 
erforschen,  sondern  vom  Dasein  solcher  Akte  im  Menschen 
ausgehen,  so  darf  nicht  nur  nach  den  Gegenständen  dieser 
Akte  gefragt  werden  (in  denen  das  religiöse  Bewußtsein 
naiv  als  in  seinem  Milieu  lebt),  sondern  es  muß  auch  nach 
ihrer  Ursache,  dem  Dasein  nach,  die  Frage  ergehen.  Auf 
diese  Frage  aber  ist  die  einzige  sinnvolle  Antwort:  Nur 
ein  reales  Seiendes  mit  dem  Wesenscharakter  des  Gött- 
lichen kann  die  Ursache  der  religiösen  Anlage  des  Menschen 
sein,  d.  h.  der  Anlage  zum  wirklichen  Vollzug  jener  Akt- 
klasse, deren  Akte  durch  endliche  Erfahrung  unerfüllbar 
sind  und  gleichwohl  Erfüllung  fordern.  Der  Gegenstand 
der  religiösen  Akte  ist  zugleich  die  Ursache  ihres 
Daseins.  Oder:  Alles  Wissen  von  Gott  ist  notwendig  zu- 
gleich ein  Wissen  durch  Gott. 

Man  hat  öfters  diesem  Schluß  den  Fehler  des  Zirkel- 
beweises vorgeworfen.  Mit  Unrecht,  wie  uns  scheint.  Wohl 
liegt  in  zwei  Fällen  ein  Zirkel  vor.  Er  liegt  vor,  wenn  man 
z.B.  mitDescartes  nicht  von  besonderen  religiösen  Akten 
ausgeht  und  ihreWesensmerkmale  genau  aufweist,  sondern 
das  Zutrauen,  durch  Vernunft  überhaupt  Wahrheit  zu  finden, 
d.  h.  nicht  in  systematischer  Täuschung  befangen  zu  sein 
erst  aus  der  Veracitas  Dei,  als  der  Ursache  der  endlichen 
Vernunft,  herleitet  und  doch  zugleich  auf  dieselben  Akte 
der  Vernunft,  die  in  den  Wissenschaften  des  Endlichen 
35* 


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^^8  Probleme  der  Religion. 

sich  betätigen,  die  religiöse  Urwahrheit  aufbaut.  Dies 
ist  der  bekannte  Irrtum  des  Descartes  und  vieler  »Onto- 
logisten«.  Richtig  daran  ist,  daß  der  Glaube  an  das  syste- 
matische Ganze  der  Vernunft  (mit  allen  ihr  einsichtigen 
Wahrheiten),  d.  h.  der  Glaube,  daß  im  Menschen  ein 
geistiges  Prinzip  tätig  sei,  das  nur  vom  Gegenstande  her 
und  nicht  von  leiblichen  und  psychischen  Ursachen  im 
Menschen  bestimmt  sei  und  sich  bestimmen  lassen  könne, 
den  Glauben  an  Gott  als  der  Ursache  der  endlichen  Ver- 
nunft voraussetzt.  Insofern  gilt:  Nur  wenn  Gott  existiert, 
gibt  es  erreichbare  Wahrheit.^  Denn  mag  eine  Einsicht 
der  Vernunft  so  evident  wie  immer  sein,  so  ist  sie  evident 
doch  nur  vor  der  Vernunft,  die  immer  noch  als  Ganzes 
nur  zweckmäßige  Täuschung,  etwa  biologisch  zweck- 
mäßige Täuschung,  geben  könnte.  Fr.  Nietzsche  hatte 
recht,  wenn  er  die  Annahme  der  Wahrheitsidee  für  an  den 
Gottesglauben  gebunden  hielt  und  seinem  Atheismus  auch 
die  Wahrheitsidee  zum  Opfer  bringen  zu  müssen  meinte. 
Setzen  wir  den  Fall,  daß  ein  vemunftloses  Prinzip  dem  Da- 
sein der  Welt  und  ihrem  Wesen  zugrundeliege,  so  kann  auch 
Vernunft  nicht  sein,  wofür  sie  die  Menschheit  bisher  ge- 
halten. Die  Evidenz  eben  sowohl  eines  objektiv  Guten  als 
eines  objektiv  Wahren  stehen  ihrer  Möglichkeit  nach  in 
Wesenszusammenhang  mit  einem  guten  und  vernünftigen 
Weltprinzip.  Ein  scharfsinniger  Kritiker'  hat  mir  dies  be- 
stritten, zunächst  auf  die  Idee  des  Guten  hin.  Er  meinte 
gleichsam  sagen  zu  dürfen:  Wenn  ich  nur  einsehe,  was 
gut  ist,  so  werde  ich  dieses*  Gute  anerkennen  und  wollen, 

*  Dieser  Satz  gilt  auch  für  den  Spezialfall :  Seinsgültigkeit  des  Kausalprinzips. 
2  S.  D.  H.  Kerler  »Max  Scheler  und  die  impersonalistische  Lebensanschau- 
ung« 1917. 


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Probleme  der  Religion.  ^^g 

gleichwie  immer  auch  der  Weltgrund  beschaffen  sei.  Mag 
er  mich  und  meinen  Willen  zermalmen  und  für  immer  das 
Gute  (meines  und  jedes  andere)  zu  schänden  werden  lassen. 
Dann  werde  ich  sagen:  Schade  liir  den  Weltgrund!  Ich 
werde  ihn  nicht  anerkennen,  wie  immer  auch  seine  Macht 
unendlich  sei.  Ich  werde  gleichsam  in  letztem  metaphy- 
sischem Trotze  dastehen,  gestützt  auf  meine  moralische 
Evidenz  und  werde  ihm  jede  mögliche  Verachtung  zu  teil 
werden  lassen.  Und  ganz  analog  könnte  man  auch  die 
theoretische  Wahrheitsevidenz  gegen  die  Blindheit  des 
Weltgrundes  festhalten  zu  dürfen  wähnen.  Dieser  Stand- 
punkt erscheint  jenem  geistvollen  Schriftsteller  von  fast 
berückender  Erhabenheit  und  Größe.  Aber  je  tiefer  ich 
mich  in  ihn  einzuleben  suche,  desto  unhaltbarer  erscheint 
er  mir.  So  sehr  ich  zugebe,  daß  man  weder  das  Gute 
noch  das  Wahre,  weder  die  logischen  noch  die  ethischen 
Einsichten  auf  das  bloße  Macht-fiat  des  göttlichen  Willens 
zurückführen  dürfe,  so  sehr  ich  eine  selbständige  autonome 
Vemunftevidenz  als  Basis,  nicht  als  Folge  des  Gottes- 
glaubens  anerkenne,  so  ist  nicht  minder  einleuchtend 
der  Satz :  Wenn  der  Weltgrund  blind  und  böse  wäre,  so 
wäre  auch  jene  vermeintliche  Evidenz  in  bezug  auf  das 
Gute  und  Wahre  nur  eine  sehr  entfernte  und  abgeleitete 
Folge  des  blinden  und  bösen  Weltgrundes  —  und  könnte 
darum  nicht  das  sein,  als  was  sie  sich  gibt.  Die  Fest- 
haltung des  Guten  und  Wahren  als  Leitsterne  meines 
Lebens  wäre  eine  blinde  Velleität,  ein  sinnloser  Stoß 
gegen  den  Charakter  des  Daseins  selbst.  Diese  Wahr- 
heit ontischer  Natur  darf  nicht  zurückstehen  gegen  das, 
was  die  Erkenntnistheorie  und  Wertungslehre  an  Ein- 
sichtigem geben. 


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5  50  Probleme  der  Religion. 

Falsch  an  dem  Cartesianischen  Gedanken  war,  daß  Des- 
cartes  Gottes  Dasein  ohne  besondere  religiöse  Akte  durch 
dieselben  Operationen  erkennbar  dachte,  für  die  er  das 
nötige  Zutrauen  erst  aus  dem  Dasein  Gottes  und  Gottes 
Veracitas  schöpfen  wollte.  Aber  die  religiösen  Akte  gehen 
den  übrigen  endlichen Vemunftakten  vorher;  die  letzteren 
wurzeln  in  den  ersteren  als  den  der  Person  unmittelbarsten 
und  tiefsten  Akten. 

Femer  hat  man  gesagt:  Die  religiöse  Anlage  des  Men- 
schen, d.  h.  sein  Besitz  an  Akten  des  Denkens,  Fühlens, 
Wollens,  die  evident  unangepaßt  sind  an  das  Milieu  end- 
licher Dinge,  die  keine  Erfüllung  in  endlicher  möglicher  Er- 
fahrung jeder  Art  finden  —  könnte  sie  nicht  auch  dann, 
wenn  sie  zum  Wesen  der  Menschennatur  gehörte,  also  mehr 
wäre  als  ein  historisches  Phänomen,  trügerisch  sein?  Nur 
wenn  wir  aus  anderen  rationalen  Gründen  schon  wissen, 
daß  Gott  existiert  und  dann  allerdings  auch  die  Ursache 
sein  wird  für  jene  Anlage,  seien  wir  dieses  Zweifels  über- 
hoben. 

Wenn  sich  dieser  Zweifel  gegen  die  Bedürfnistheologie 
wendet  so  ist  er  vollständig  im  Recht.  Der  Mensch  mag  be- 
liebig viele  Wünsche,  Sehnsüchte,  Bedürfnisse  bie- 
sitzen,  für  die  es  keine  Erfüllung,  keine  irdische  und 
außerirdische,  gibt. 

Aber  ist  denn  von  solchen  Dingen  die  Rede,  wenn  wir 
von  religiösen  Akten  reden?  Wünsche,  Sehnsüchte,  Be- 
dürfnisse sind  entweder  religiöse  oder  außerreligiöse,  viel- 
leicht und  sicher  oft  auch  solche  außerreligiöse,  die  sich 
einen  religiösen  Mantel  umhängen.  Welche  es  auch  seien, 
sie  fordern  immer  selbst  eine  Erklärung  und  zwar  eine 
Erklärung,  die  das  Wesen  oder  die  Wesensklasse  von 


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Probleme  der  Religion.  c  c  i 

Gegenständen  voraussetzen  muß,  nach  denen  die  Wünsche, 
Sehnsüchte,  Bedürfnisse  zielen.  Auch  wenn  sie  empirisch 
noch  so  unerfüllbar  sind,  fordern  sie  diese  Erklärung.  Wir 
aber  gingen  nicht  aus  von  einer  allverbreiteten  Anlage  zu 
faktischen  Bedürfnissen,  Wünschen  usw.,  sondern  von  einer 
Wesensklasse  geistiger  Akte  und  ihrer  Korrelate,  von 
denen  es  an  sich  gleichgültig  ist,  ob  sie  sich  an  allen  oder 
nur  an  einem  einzigem  Menschen  finden.  Und  erst  in 
zweiter  Linie  fanden  wir  auch  durch  Induktion  eine  allge- 
mein verbreitete  Anlage  zu  Akten  solcher  Art.  Es  ist 
selbstverständlich,  daß  auch  die  spezifisch  religiösen  »Be- 
dürfnisse« nur  an  schon  gegebenen  religiösen  Objekten 
und  ihrer  Erkenntnis  erwachen  konnten,  nicht  also  die 
religiösen  Objekte  selber  erklären  können.  Die  religiösen. 
Objekte  müssen  also  durch  die  religiösen  Akte  und  in 
diesen  Akten  schon  gegeben  sein,  um  Bedürfnisse,  sich 
mit  ihnen  zu  beschäftigen,  um  Wünsche  und  Sehnsüchte 
eben  religiöser  Art  erwachen  zu  lassen.  Bedürfnisse  sind 
immer  Gegenstände  einer  Erklärung;  sie  selbst  können 
nichts  erklären^. 

Wird  aber  der  Begriff  des  intentionalen  anschauung- 
gebenden religiösen  Aktes  richtig  erfaßt  und  nicht  mit  so 
abgeleiteten  Dingen  wie  religiösen  Bedürfnissen  verwech- 
selt, so  wäre  die  Behauptung,  es  müsse  Gottes  Dasein 
»zuerst«  erkannt  sein —  etwa  durch  Schlüsse  vom  Dasein 
und  der  Beschaffenheit  der  Welt  aus  —  ehe  den  religiösen 
Akten  eine  mehr  als  fiktive  Bedeutung  zuzuerkennen  sei, 
ganz  ungegründet.  Wie  nun,  wenn  Gott  eben  seinem  Wesen 
nach  erst  in  diesen  Akten  und  nur  durch  sie  gegeben  wäre 

'  Vgl.  mein  Buch:  »Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale  Wert- 
ethik«, wo  dies  auch  z.  B.  für  ökonomische 'Bedürfnisse  gezeigt  ist. 


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5^2  Probleme  der  Religion. 

und  gleichzeitig  in  einem  unzerreißbaren  Grunderlebnis 
auch  als  die  wirksame  Ursache  des  Vollzugs  dieser  Akt- 
bewegung selbst?  Dann  hieße  diese  Forderung  etwa  eben- 
soviel als  verlangen,  es  müßte  zuerst  die  Existenz  von 
Farben  rational  nachgewiesen  sein,  ehe  man  sie  —  sieht, 
von  Tönen,  ehe  man  sie  —  hört. 

Es  dreht  sich  also  alles  um  die  angemessene  Wesens- 
charakteristik der  religiösen  Akte.  Gelingt  es  ims,  scharf 
und  genau  zu  zeigen,  der  menschliche  Geist  vollziehe  inten- 
tionale  Akte,  die  notwendig  ein  Korrelat  in  bestimmten 
Wesensgehalten  fordern,  die  von  allen  möglichen  Syndie- 
sen  endlicher  Welterfahrung  verschieden  sind,  so  ist  eben 
damit  auch  gezeigt,  daß  der  menschliche  Geist  nicht  nur 
hingeordnet  ist  auf  die  Welt  endlicher  Dinge;  daß  er  einen 
Überschuß  an  Kräften  und  Fähigkeiten  besitze,  die  eben- 
sowenig in  der  Welterkenntnis  und  Weltarbeit  eine  An- 
wendung finden  können,  als  sie  durch  Erfahrung  der  Welt 
und  Anpassung  an  die  Welt  erklärt  werden  können. 
Das  System  dieser  Akte  beweist  also  klar,  daß  die  Seele 
eine  Bestimmung  hat,  die  über  dieses  Leben  unendlich 
hinausweist;  daß  sie  ursprünglich  teil  hat  an  einem  über- 
sinnlichen Seins-  und  Wertreiche,  dessen  Inhalte  und 
Gegenstände  nicht  aus  der  Erfahrung  endlicher  Dinge 
herstammen  können.  Eine  alle  mögliche  irdische  Anwen- 
dung überflügelnde  Kraft,  ein  vom  Standpunkt  auch 
der  denkbar  vollkommensten  Weltanpassung  unfaßlicher 
Überschuß  ebensowohl  von  geistigen  Kräften,  als  von 
geistigen  Forderungen  fordert  also  Verständnis  und  Er- 
klärung. Daß  es  aber  dieses  Alles  gäbe  ohne  ein  dazu- 
gehörendes reales  Gegenstandsreich,  in  dem  voll  erfüllbar 
ist,  was  durch  die  Schwere  und  die  niederziehende  Wucht 


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Probleme  der  Religion.  *  ^  5  3 

der  vitalen  Antriebe  im  Leben  nur  verhüllt  geschaut, 
gewollt,  gehofft,  gefürchtet,  geliebt  und  gedacht  werden 
kann,  das  ist  oder  das  wäre  ein  völlig  irrationales  Faktum. 
Religion  ist  ja  auf  alle  Fälle  verständlich  zu  machen.  Ist 
die  religiöse  Erfahrung  intentional  und  genetisch  aus 
außer-  und  vorreligiösen  Tatsachen  verständlich  —  ist  es 
ihr  Gegenstand  als  Fiktion,  resp.  Synthese  aus  fantasti- 
schen Umformungen  der  Welterfahrung,  so  ist  die  Wahr- 
heit der  Religion  preiszugeben.  Ist  sie  dies  nicht,  so 
müssen  wir  mit  genau  demselben  Rechte  einen  Realitäts- 
bereich llir  das  System  religiöser  Akte  annehmen,  mit 
dem  wir  Außenwelt,  Innenwelt,  fremdes  Bewußtsein  als 
Sph^en  des  Daseins  setzen. 

Auch  von  der  religiösen  Aktklasse  aus  also  wird  uns 
das  Dasein  Gottes  und  eines  Reiches  Gottes  gewiß.  Wenn 
Gottes  Dasein  nichts  anderes  bewiese,  so  würde  es  die 
Unmöglichkeit  tun,  die  religiöse  Anlage  aus  irgend  etwas 
Anderem  herzuleiten  als  aus  Gott,  der  sich  selbst  durch 
sie  dem  Menschen  auf  natürliche  Weise  erkennbar  macht. 

7.  Innere  und  äußere  Seite,  individuelle  und  soziale 
Seite  des  religiösen  Akts. 

Nur  kurz  bemerken  wir,  daß  es  im  Wesen  des  religiösen 
Akts  liegt,  nicht  im  Innern  des  Menschen  verschlossen  zu 
bleiben,  sondern  in  zweifacher  Weise  durch  die  Vermitt- 
lung des  Leibes  hindurch  sich  nach  außen  zu  manifestieren : 
In  Zweckhandlungen  und  Ausdrucksbewegungen.  Darum 
gehört  notwendig  zu  jeder  Religi<S)n  eine  durch  sie  be- 
stimmte Ethosform  und  moralische  Lebenspraxis  und 
eine  irgendwie  geregelte  Selbstdarstellung  des  religiösen 
Bewußtseins  im  Kulte. 


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554    *  Probleme  der  Religion. 

Die  Versuche  Schleiermachers,  eine  Wesensbestimmung 
der  Religion  zu  geben,  gerieten  in  tiefe  Irrtümer,  da  nach 
ihnen  eine  bestimmte  Moral  nur  zufällig  mit  einer  bestimm- 
ten Religion  verbunden  sein  soll,  das  Religiöse  aber  sich 
im  Ausdruck  nach  außen  im  Kulte  erschöpfen  soll. 
Nicht  weniger  aber  irren  jene,  die  Religion  einseitig  nur 
auf  moralische  Werte  beziehen  und  in  der  kultischen 
Verehrung  des  Göttlichen  nur  ein  accidentelles  Beiwerk 
der  Religion  sehen  oder  etwas,  das  nur  ein  innerlich  schon 
fertig  Vorhandenes  nach  außen  symbolisiert  und  für 
andere  kenndich  macht. 

Da  in  jeden  religiösen  Akt  der  Akt  sittlicher  Wert- 
erkenntnis  (Gottes  als  des  Guten)  eingeht  und  alles  sitt- 
liche Erkennen  im  Maße  als  es  unmittelbar  und  adaequat 
ist  notwendig  zwar  nicht  das  Dasein,  aber  das  Sosein  des 
Willensaktes  bestimmt  \  ist  mit  jeder  bestimmt  konkreten 
Ausprägung  dieses  höchsten  Guten  ein  konkretes  sitdiches 
höchstes  Vorbild  auch  für  das  Wollen  gesetzt,  das  sogar 
allem,  was  moralische  Regel,  Gesetz  usw.  heißt  vorher- 
geht und  es  bestimmt.  Aber  nicht  nur  dies.  Das  moralisch 
gute  Wollen  und  Handeln  nach  dem  je  vorschwebenden 
Bilde  des  Göttlichen  disponiert  notwendig  und  als  con- 
ditio sine  qua  non  auch  jedes  Fortschreiten  des  Geistes  im 
Eindringen  in  die  Tiefe  und  Fülle  der  Gottheit  —  der 
Gotteserkenntnis  nach.  Die  Gotteserkenntnis  ist  diejenige 
Erkenntnis,  die  am  meisten  von  aller  möglichen  Erkenntnis 
an  moralischen  Fortschritt  gebunden  ist^.  Das  moralische 
Wollen  und  Handeln  ist  also  nicht  eine  bloße  Folge  des 

*  Vgl,  den  Beweis  dieses  sokratischen  Axioms  in  meinem  Buche:  »Der 

Formalismus  in  der  Ethik«. 

'  Vgl.  den  Aufsatz  über  das  Wesen  der  Philosophie. 


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Probleme  der  Religion.  c  c  c 

religiösen  Glaubens  —  wie  Luther  meinte  —  sondern  es 
ist  in  jedem  religiösen  Akte  und  in  jedem  moralischen  Akte 
eine  identische  Komponente  von  Werterkennen  einge- 
schlossen, so  daß  in  jedem  religiösen  Akte  auch  ein  mo- 
ralischer Akt,  in  jedem  moralischen  Akte  auch  ein  religiöser 
Akt  partiell  mitgeübt  wird.  Wie  die  echte  Gesinnung  (gute 
wie  böse)  sich  erst  in  der  Tatbereitschaft  dokumentiert, 
ohne  doch  erst  durch  die  Tat  ihren  Wert  zu  empfangen, 
so  dokumentiert  sich  auch  die  Glaubensechtheit  erst  in  der 
Bereitschaft,  das  in  jede  Religion  eingeschlossene  religiöse 
Ethos  zu  verwirklichen.  Das  gute  Wollen  und  Handeln 
gibt  nicht  nur  religiöses  Bewußtsein  wieder,  es  erwei- 
tert und  vertieft  auch  die  konkrete  Gotteserkenntnis 
mit  jedem  Schritte.  Es  ist  ein  wahrhaftes  Eindringen  in 
die  Willensseite  des  Göttlichen,  ein  gesteigertes  Teil- 
nehmen der  Person  an  seiner  inneren  Dynamik  auch 
da,  wo  es  ohne  das  reflexive  Bewußtsein  verläuft,  daß  es 
ein  solches  sei.  Und  da  die  Werterkenntnis  die  Seins- 
'  erkenntnis  fundiert,  so  ist  diese  Art  Eindringen  auch 
Voraussetzung  der  Seinserkenntnis  Gottes. 

Analoges  aber  gilt  für  Kult  und  Liturgie.  Die  religiöse 
Erkenntnis  ist  eine  Erkenntnis,  die  nicht  vor  dem  kulti- 
schen Ausdruck  fertig  vorhanden  ist,  die  vielmehr  den 
Kult  zu  einem  wesensnotwendigen  Vehikel  ihres  eigenen 
Wachstums  hat.  Darum  ist  der  religiöse  Akt  zwar  in 
seiner  Wurzel  ein  geistiger  Akt,  in  seiner  einheidichen 
Auswirkung  aber  ist  er  stets  psychophysischer,  nicht 
einseitig  psychischer  Natur.  In  diesem  Punkte  gleicht  der 
religiöse  Erkenntnisakt  weit  mehr  dem  künstlerischen 
Welterkennen  als  demjenigen  der  Wissenschaft  und  der 
Metaphysik.  Der  Künstler  erkennt  —  soweit  er  erkennt 


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5^6  Probleme  der  Religion. 

—  nicht  vor  dem  Darstellungsprozesse  sondern,  wie 
Fiedler^  zuerst  klar  sah,  im  Verlaufe  des  Prozesses  des 
Darstellens  selbst.  Darstellen  —  das  ist  der  Künsder  — 
durch  Wissenschaft  ganz  unersetzliche  —  Art  des  Ein- 
dringens in  die  Welt.  Es  ist,  als  ob  an  der  Spitze 
des  zeichnenden  Stiftes  oder  des  malenden  Pinsels  das 
geistige  Auge  befestigt  wäre,  das  von  dem  geschauten 
Gesamtvorwurf  nur  dasjenige  erstmalig  erfaßt,  was 
Stift  und  Pinsel  darzustellen  im  Begriffe  sind.  Analog 
wird  auch  das  religiöse  Erlebnis  erst  vollständig  und 
erst  geformt  in  kultischem  Ausdruck  und  der  kultischen 
Darstellung  des  religiösen  Erlebens.  Darum  gilt  fiir  alle 
historische  Erkenntnis  der  Religion  das  strenge  Wesens- 
gesetz, daß  Kult  und  religiöse  Objektideen  stets  in 
gegenseitiger  Abhängigkeit  von  einander  wechseln. 
Es  ist  z.  B.  unmöglich,  daß  der  Römer,  der  im  Gebet 
seine  Augen  bedeckt  und  sich  mehr  versenkt  als  aus- 
breitet, in  diesem  Akte  dieselbe  konkrete  Idee  von 
Gott  habe  als  der  Grieche,  da  er  aufgeschlagenen  Auges 
seine  Arme  der  Gottheit  öffnet.  Die  Religionsgeschichte 
bewährt  nur  —  wie  schon  Usener  eindringend  gezeigt 
hat  —  dieses  Gesetz  allenorts;  sie  beweist  es  nicht. 
Wer  kniend  betet,  betet  in  einer  anders  gefärbten  Idee 
von  Gott  als  wer  stehend  betet.  Da  Religion  ebenso- 
sehr Übung  ist  als  Erkenntnis  und  da  beide  —  Übung 
und  Erkenntnis  —  gar  nicht  trennbar  sind,  so  wäre  es 
ganz  sinnlos,  einem  Menschen,  der  sich  einer  bestimmten 
Religion  oder  Kirche  genähert  hat,  zu  sagen:  Ehe  Du 
nicht  alle  Sätze  anerkennst,  die  diese  Religion  lehrt  über 
göttliche  Dinge,  darfst  Du  um  Deines  Gewissens  willen 

*  S.  K.  Fiedler;  *Vom  Ursprung  der  künstJerischen  Tätigkeit«. 


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Probleme  der  Religion.  557 

auch  keinen  von  dieser  Religion  vorgeschriebenen  kul- 
tischen Akt  vollziehen.  Das  wäre  genau  dasselbe,  als  einem 
Maler  sagen,  er  solle  vor  dem  Malen,  vor  dem  Darstel- 
lungsprozesse, eine  Landschaft  so  sehen,  wie  er  sie  im 
Malen  langsam  sehen  lernt.  Pascal  hat  vielmehr  ganz  recht, 
wenn  er  sagt:  »Beuge  nur  das  Knie,  dann  wirst  Du 
fromm. «  Man  muß  also  sagen :  Versuche  die  von  dieser 
Religion  vorgeschriebenen  moralischen  und  kultischen 
Handlungen  zu  vollziehen  und  sieh  dann  zu,  ob  und  wie 
sich  deine  religiöse  Erkenntnis  dabei  erweitert. 

Endlich  ist  jeder  religiöse  Akt  immer  gleichzeitig  in- 
dividueller und  sozialer  Akt.  Unus  Christianus  —  nullus 
Christianus  gilt  im  erweiterten  Sinn  für  alle  Religion. 
Es  ist  wesensgesetzlich  ausgeschlossen,  Gott  zu  denken, 
ohne  Gott  gleichsinnig  auf  alle  Menschen  bezogen  zu 
denken  wie  auf  sich  selbst.  Der  Gottesgedanke  führt  im- 
mer notwendig  auf  den  Gemeinschaftsgedanken  —  auch 
noch  im  einsamsten  Anachoreten  der  Wüste.  Man  kann 
rein  »für  sich«  ein  Kunstwerk  schaffen,  rein  für  sich  ge- 
nießen, rein  für  sich  Etwas  erkennen  oder  etwas  rein 
sachlich  erkennen,  ohne  an  ein  »für«  Jemand  überhaupt 
zu  denken,  ohne  femer  irgendein  Bedürfnis  nach  Mitteilung 
zu  verspüren.  Nicht  im  selben  Sinn  kann  man  rein  »für 
sich«  Gott  glauben  oder  zu  ihm  beten.  Wenn  in  einem 
Menschen  alle  Motive  des  gemeinsamen  Lebens  und  der 
auch  nur  geistigen  Berücksichtigung  seiner  Nebenmen- 
schen abgestorben  wären,  der  ihn  zu  Gott  führende  reli- 
giöse Akt  allein  würde  ihn  wieder  zum  wenigsten  geistig 
mit  seinen  Brüdern  zusammenführen.  Es  ist  von  mir  den 
»Soziologischen  Gotteserweis«  betreffend  anderwärts^ 
'  Sieheden  Aufsatz  über  die  christliche  Gemeinschaftsidee  in  diesem  Bande. 


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«  ' 


5^8  Probleme  der  Religion. 

gezeigt  worden,  daß  schon  die  Idee  irgend  einer  möglichen 
Menschengemeinschaft  rein  für  sich  die  Idee  des  Reiches 
Gottes  als  Bedingung  und  gleichsam  als  Hintergrund  for- 
dert —  und  damit  die  Idee  Gottes  selbst.  Daß  jeder  nicht 
nur  für  sich  ist,  sondern  auch  Glied  eines  unabsehbaren 
Ganzen  geistiger  Naturen,  das  ist  ein  Wissen  nicht  durch 
zufällige  Erfahrung,  sondern  ein  im  Wesen  des  Geistes 
selbst  gelegenes  Wissen^. 

Aber  noch  mehr:  In  der  Gotteserkenntnis  —  als  ideal 
adaequat  gedacht  —  ist  kein  Mensch  und  keine  Gruppe 
von  Menschen  durch  einen  anderen  Menschen  oder  eine 
andere  Gruppe  ersetzlich.  Eben  weil  der  religiöse  Akt 
der  persönlichste  und  individuellste  Akt  des  Menschen  ist, 
ist  er  notwendig  ein  Akt,  der  erst  in  der  Form  des  ge- 
meinsamen »Miteinander«  vollständig  zu  seinem  Ge- 
genstande führt.  Die  Form  der  Liebes- und  Heilsgemein - 
Schaft  ist  also  für  die  religiöse  Erkenntnis  im  Gegensatze 
zu  jeder  anderen  Erkenntnis  konstitutiv.  Da  jede 
geistige  Seele  eine  einzigartige  Idee  Gottes  ist  und  nie 
bloß  Exemplar  einer  Seele,  so  hat  sie  auch  eine  einzig- 
artige Erkenntnis  jn  der  Fülle  des  Göttlichen  zu  ihrer  Be- 
stimmung. Darum  gehört  notwendig  zu  jeder  positiven 
Religion  auch  eine  positive  mit  der  Idee  ihres  höchsten 
Gegenstandes  notwendig  zusammenhängende  Gemein- 
schaftsidee —  ein  Satz,  der  für  das  historische  Studium 
der  Religionen  apriorischen  Charakter  besitzt.  — 


*  So  neuerdings  auch  J.  Volkelt  in  seinem  Buche  über  »Das  ästhetische 
Bewußtsein«. 


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Probleme  der  Religion.  559 

8.  Der  religiöse  Akt  wird  von  jedem  Menseben  notwendig 

vollzogen. 

Da  der  religiöse  Akt  eine  wesensnotwendige  Mitgift 
der  menschlichen  geistigen  Seele  ist,  kann  gar  nicht  die 
Frage  ergehen,  ob  er  von  einem  Menschen  vollzogen  wird 
oder  nicht.  Es  kann  nur  die  Frage  ergehen,  ob  er  das 
ihm  adaequate  Objekt  findet,  das  Ideenkorrelat,  zu  dem 
er  wesensmäßig  gehört,  oder  ob  er  auf  ein  Objekt  zielt 
und  es  als  heilig  und  göttlich,  als  absolutes  Wertgut  be- 
jaht, das  seinem  Wesen  widerstreitet,  da  es  der  Sphäre 
endlicher,  kontingenter  Güter  angehört. 

Es  besteht  das  Wesensgesetz :  Jeder  endliche  Geist  glaubt 
entweder  an  Gott  oder  an  einen  Götzen.  Und  aus  ihm  folgt 
die  religionspädagogische  Regel :  Nicht  eine  äußere  Hin- 
fiihrung  des  Menschen  zur  Idee  und  Realität  Gottes  (sei 
es  durch  sog.  Beweise  oder  durch  Überredung)  ist  der 
Weg,  auf  dem  der  sog.  Unglaube  zu  beseitigen  ist,  son- 
dern der  an  dem  besonderen  Leben  jedes  Menschen  und 
jeder  Klasse  solcher  Menschen  sicher  mögliche  Nachweis,, 
daß  er  an  die  Stelle  Gottes,  d.  h.  daß  er  in  die  Absolut- 
sphäre seines  Gegenstandsreiches,  die  ihm  als  Sphäre  auf 
alle  Fälle  »gegeben«  ist,  ein  endliches  Gut  gesetzt  habe,. 
—  daß  er  ein  solches  Gut  wie  wir  sagen  wollen,  »ver- 
götzt«  habe,  daß  er  sich  in  es  »vergafft«  habe,  (wie  die 
alten  Mystiker  sagten).  Indem  wir  also  einen  Menschen 
zur  Enttäuschung  über  seinen  Götzen  fuhren,  nachdem 
wir  ihm  durch  eine  Analyse  seines  Lebens  » seinen «  Götzen 
aufgewiesen  haben,  fuhren  wir  ihn  von  selbst  zur  Idee 
und  Realität  Gottes.  So  ist  der  einzige  und  erste,  die  Dis- 
positionen fiir  jedes  religiöse  Werden  der  Persönlichkeit 
erst  schaffende  Weg  der  Weg,  den  ich  »Zerschmetterung 


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^6o  Probleme  der  Religion. 

der  Götzen«  genannt  habe.  Denn  nicht  der  Glaube  an 
Gott,  nicht  das  Hingerichtetsein  des  Kernes  der  geistigen 
Menschenpersönlichkeit  auf  das  unendliche  Sein  und  Gut 
im  Glauben,  Lieben,  Hoffen  usw.  hat  eine  positive  Ursache 
in  der  seelischen  Geschichte  des  Menschen;  sondern  der 
Unglaube  an  Gott,  besser  die  dauernd  gewordene  Täu- 
schung, ein  endliches  Gut  (sei  es  Staat,  Kunst,  ein  Weib, 
das  Geld,  das  Wissen  usw.)  an  die  Stelle  Gottes  zu  setzen, 
oder  auch  es  zu  behandeln,  »als  wäre  es«  Gott,  hat  stets 
eine  besondere  Ursache  im  Leben  des  Menschen.  Wird 
diese  Ursache  aufgedeckt,  wird  dem  Menschen  der,  seiner 
Seele  die  Gottesidee  gleichsam  verbergende  Schleier 
hinweggenommen,  wird  ihm  der  Götze  zerschmettert,  den 
er  zwischen  Gott  und  sich  gleichsam  gestellt  hat, 
wird  die  irgendwie  umgestürzte  oder  verwirrte  Ordnung 
des  Seienden  vor  der  Vernunft  und  die  Ordnung  der  Werte 
vor  dem  Herzen  wiederhergestellt,  so  kehrt  der  abgelenkte 
religiöse  Akt  »von  selbst«  zu  dem  ihm  gemäßen  Gegen- 
stande der  Gottesidee  zurück. 

Erweckung  des  religiösen  Akts  zur  Lebendigkeit  und 
Hinleitung  auf  sein  ihm  angemessenes  Sein  und  Wertgut 
—  nicht  »Beweise«  —  das  ist  der  Weg,  der  aller  reli- 
giösen Unterweisung  angemessen  ist  und  der  jeder  anderen 
Art  von  Unterweisung,  die  es  mit  der  Religion  zu  tun 
hat,  vorherzugehen  hat.  Dieser  Satz  folgt  streng  aus 
unserer  Theorie  der  Religion  selbst. 

Ich  nenne  hier  einige  wichtige  Folgen  des  Gedankens, 
daß  es  zum  Wesen  des  endlichen  Bewußtsein  gehöre, 
eine  Absolutsphäre  zu  haben  —  eine  solche  zugleich  des 
Seins  und  der  Werte  —  und  diese  mit  irgend  einem  In- 
halt auszufüllen.  Dieser  Inhalt  ist  das  formale  Glaubens- 


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Probleme  der  Religion.  c6 1 

gut  des  je  betreffenden  Menschen.  Er  steht  mit  ihm  in 
der  ganz  besonderen  Beziehung,  die  der  geistige  Akt 
setzt,  den  wir  »Glauben  an  Etwas«  (faith)  im  Unterschiede 
von  dem  Glauben,  daß  etwas  sei  oder  geschehe  (belief) 
nennen.  Dieser  Akt  ist  ein  Akt  sui  generis  und  kann  weder 
der  Sphäre  der  Verstandesakte  noch  der  Willensakte  ein- 
gereiht werden.  Soll  ich  ihn  beschreiben,  so  muß  unter- 
schieden werden  in  ihm  der  inhaltgebende  Akt  und  der 
auf  diesen  Inhalt  gerichtete  Akt  des  unbedingten  Fest- 
haltens, Aufrechthaltens  des  Glaubensgutes.  Der  erste 
Akt  ist  ein  seinem  Wesen  nach  der  vollen  Erfüllung  durch 
Anschauung  fähiger  und  bedürftiger  Akt  eines  »verhüllten 
Schauens«.  Der  zweite  Akt  wird  am  besten  beschrieben, 
wenn  wir  an  das  denken,  was  wir  »Sich  mit  einer  Sache 
identifizieren«  nennen.  Die  Persönlichkeit  fühlt  und  erlebt 
sich  (den  Kern  ihrer  Existenz  und  ihres  Wertes)  an  ihr 
Glaubensgut  also  gekettet,  daß  sie  sich  für  es  »einsetzt«, 
sich  mit  ihm  —  wie  man  sagt  —  identifizirt.  »Ich  soll  und 
will  nur  da  sein  und  w^rt  sein,  sofern  du,  Glaubensgut,  bist 
und  wert  bist«,  »wir  beide  stehen  und  fallen  zusammen«. 
Das  ist  auf  Worte  gebracht  die  erlebte  Beziehung,  in 
der  die  Person  zu  ihrem  Glaubensgut  steht.  Wesentlich 
für  den  Glaubensakt  ist  die  Un-bedingtheit  der  Selbstein- 
setzung für  dasselbe,  die  mit  der  Stellung  und  Lage  des 
Glaubensgutes  in  der  Absolutsphäre  des  Seins  und  der 
Güter  in  wesensmäßigem  Zusammenhang  steht. 

In  diesen  Sinne  hat  jeder  M«asch  notwendig  ein  »Glau- 
bensgut« und  jeder  vollzieht  den  Glaubensakt.  Jeder  hat 
ein  besonderes  Etwas,  einen  mit  dem  Akzent  des  Höchst- 
wertes (für  ihn)  betonten  Inhah,  dem  er  bewußt  oder 
doch  in  seinem  naiv  wertenden  praktischen  Verhalten 
36 


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c62  Probleme  der  Religion 

jeden  anderen  Inhalt  nachsetzt.  Das  ist  z.  B.  für  die 
führende  Minorität  des  kapitalistischen  Zeitalters  das 
maximale  Erwerben  ökonomischer  Güter  resp.  deren 
Maß,  das  Geld  (Mammonismus).  Das  ist  für  den  Natio- 
nalisten seine  Nation,  für  den  Fausttypus  das  unendliche 
Wissen,  für  den  Don  Juantypus  die  immer  neue  Über- 
wältigung des  Weibes.  Prinzipiell  kann  jedes  endliche  Gut 
in  die  Absolutsphäre  des  Seins  und  der  Werte  eines  Be- 
wußtseins treten  und  wird  dann  mit  >  unendlichem  Streben « 
erstrebt  werden.  Immer  aber  findet  dann  eine  Vergötzung 
des  Gutes  statt.  Das  endliche  Gut  wird  herausgebrochen 
aus  dem  harmonischen  Aufbau  der  Güterwelt,  es  wird 
mit  einer  seiner  objektiven  Bedeutung  nicht  angemessenen 
Unbedingtheit  geliebt  und  erstrebt;  der  Mensch  erscheint 
an  seinen  Götzen  magischer  gefesselt  und  behandelt  ihn, 
»als  ob«  er  Gott  wäre. 

Es  besteht  keine  Wahl,  ein  solches  Gut  zu  haben  oder 
nicht  zu  haben.  Es  besteht  nur  die  Wahl,  in  seiner  Absolut- 
sphäre Gott,  d.  h.  das  dem  religiösen  Akt  angemessene 
Gut  zu  haben  oder  einen  Götzen. 

Dieser  Satz  gilt  auch  noch  für  die  Menschengruppen, 
die  man  die  religiös  Indifferenten  nennt,  resp.  für  den 
theoretischen  religiösen  sog.  Agnostiker. 

Der  sog.  religiöse  Agnostizismus  ist  keine  psychologische 
Tatsache,  er  ist  eine  Selbsttäuschung.  Der  Agnostiker 
vermeint,  sich  des  Glaubensaktes  enthalten  zu  können,  er 
vermeint,  nicht  zu  glauben.  Würde  er  aber  seinen  Bewußt- 
seinszustand genauer  untersuchen,  so  würde  er  bemerken, 
daß  er  sich  täuscht.  Auch  er  hat  eine  mit  einem  positiven 
Phänomen  ausgefüllte  Absolutsphäre  seines  Bewußtseins, 
nicht  aber  besitzt  er  überhaupt  keine  solche  Sphäre  oder 


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Probleme  der  Religion.  563 

eine  völlig  leere.  Aber  dieses  positive  Phänomen  ist  das 
Phänomen  des  »Nichts«  resp.  der  (Wert)-Nichtigkeit.  Der 
Agnostiker  ist  de  facto  nicht  ein  Nichtgläubiger,  sondern 
er  ist  ein  Gläubiger  an  das  Nichts  —  er  ist  metaphysischer 
Nihilist.  An  das  »Nichts«  glauben  —  das  ist  etwas  ganz 
anderes  als  Nichtglauben.  Es  ist  —  wie  schon  die  mächtige 
Gefühlswirkung  bezeugt,  die  der  Gedanke  des  »Nichts« 
auf  unsere  Seele  ausübt,  ein  höchst  positiver  Zustand  des 
Geistes.  Das  absolute  Nichts  ist  von  jedem  nur  relativen 
Nichts  als  Phänomen  scharf  zu  scheiden.  Das  absolute 
Nichts  ist  das  Nichtetwassein  und  das  Nichtdasein  in 
Einem,  in  schlechthiniger  Einigkeit^  und  Einfachheit. 
Es  ist  der  conträre  —  nicht  contradiktorische  —  Gegen- 
satz zu  Gott,  d.  h.  zu  dem,  der  ist,  was  er  ist.  (»Ich  bin, 
der  ich  bin«).  Auch  in  der  Seele  des  religiösen  Nihilisten 
treibt  etwas,  das  diese  Seele  heimlich  und  zögernd  das  Ens 
a  se  suchen  läßt:  Das  Seiende  selber  über  und  hinter 
den  wechselnden  Sinnesbildem,  ihren  Zügen  und  Ab- 
stoßungen auf  unser  Ich.  Nicht  ein  bloßer  NichtvoUzug 
des  religiösen  Akts  liegt  dieser  Mentalität  zugrunde, 
sondern  ein  positiver  aktiver  Widerstand  des  Willens 
gegen  dieses  heimliche  Vorwissen  und  Suchen  des  Ens 
a  se,  ein  Widerstand,  der  es  schon  zur  bewußt  urteils- 
mäßigen Frage  des  Geistes  nach  Gott  nicht  kommen 
läßt.  Diesem  aktiven  Widerstand  entpricht  ein  künst- 
liches Sichfestsaugen  an  die  Erscheinungsseite  der  Dinge, 
^  an  ihre  Oberflächen.  Beide  innere  Verhaltungs weisen  for- 

I  dern  und  stützen  einander.  Die  metaphysische  Angst, 

4  i  '  Das  unterscheidet  das  absolute  Nichts  von  der  buddhistischen  Idee  des 

Nirwana,  das  nur  Wirklichkeitsfreiheit  und  Wirklichkeitserlösung  ist,  ohne 
dafi  der  positive  Ideen-  und  Wertgehalt  des  Seienden  dadurch  tangiert  wird. 

>     )  36* 


il 


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c64  Probleme  der  Religion. 

der  religiöse  Schauder  vor  dem  absoluten  Nichts,  das 
hier  die  Absolutsphäre  ausfüllt,  steigert  und  stabilisiert 
die  Energie  des  künstlichen  Sichfestsaugens  an  die  bunte 
Vielheit  der  Erscheinungen.  Das  Festsaugen  seinerseits 
aber,  die  eide  Weldiebe  bringt  immer  neu  das  Phänomen 
des  absoluten  Nichts  innerhalb  der  Absolutsphäre  des 
Bewußtseins  hervor.  Das  ist  der  tragische  Zirkelgang  des 
religiös  indiflferenten  Bewußtseins.  — 

Nur  bis  zu  diesem  Punkte  will  ich  die  Wesensanalyse  des 
religiösen  Aktes  hier  fuhren.  Ihr  volles  Gewicht  erhielte  sie 
erst,  wenn  wir  nun  daran  gingen,  die  wichtigsten  religiösen 
Akte  genau  zu  analysieren,  um  vor  ihnen  das  Gesagte  zu 
bestätigen.  Dies  liegt  hier  nicht  in  unserem  Plane  ^. 

Der  Weg,  der  bisher  zur  Begründung  der  Religion  ge- 
nommen worden  ist,  hat  sich  in  einigen  Punkten  als  ab- 
weichend von  den  Wegen  dargestellt,  welche  die  Philo- 
sophie und  Theologie  gegenwärtig  zu  gehen  pflegen. 
Darum  wenden  wir  nun  unseren  Blick  auf  einige  Typen 
der  Religionsbegründung,  die  gegenwärtig  in  unserem 
Lande  und  im  europäisch-amerikanischen  Kulturkreis  noch 
starke  Anhängerschaft  besitzen,  um  zu  sehen,  wie  sich  die 
hier  vertretenen  Anschauungen  zu  diesen  Typen  verhalten. 

9.  Über    einige    neuere  Versuche    einer    natürlichen 
Religionsbegründung. 

Die  Behauptung  des  Bestandes  und  des  Rechtes  einer 
natürlichen  Gotteserkenntnis  fällt  nicht  zusammen 
mit  der  Annahme  der  rationalen  Gottesbeweise,  —  einer 
Annahme,  die  auch  heute  noch  als  Basis  aller  Theologie 

^  Ich  möchte  dieser  Aufgabe  besondere  Aufsätze  widmen,  die  als  »Religions- 
phänomenologische  Analysen«  gesondert  erscheinen  sollen. 


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Probleme  der  Religion.  565 

bei  vielen  gilt.  Auch  die  in  der  Geschichte  seit  Augustin 
vielseitig  vertretene  Lehre  von  einem  unmittelbaren 
Faktor  in  der  Gotteserkenntnis,  d.  h.  einem  nicht  auf 
Schluß  und  Beweis  beruhenden  Faktor  der  Gottes- 
erkenntnis, ist  ohne  irgendwelchen  Widerspruch  mit  der 
Annahme  einer  natürlichen  Gotteserkenntnis.  Auch  eine 
Ansicht,  die  von  diesen  beiden  Methoden  der  natürlichen 
Theologie  abweicht  und  die  ich  hier  auseinandersetze, 
darf  beanspruchen,  die  natürliche  Gotteserkenntnis 
im  Unterschiede  von  der  auf  positiver  OflFenbarung  be- 
ruhenden festzuhalten. 

Wir  müssen  unterscheiden  zwischen  natürlicher  Reli- 
gion und  natürlicher  Theologie.  Die  natürliche  Reli- 
gion ist  jene  naive  Gotteserkenntnis,  die  jeder  vernunft- 
begabte Mensch  —  ganz  unabhängig  von  Art  und  Grad 
seiner  wissenschaftlich-methodischen  Bildung  —  erwerben 
kann  und  zwar  erwerben  so,  daß  er  sich  den  Weg,  auf 
dem  er  diese  Erkenntnis  erwarb,  nicht  notwendig  zu 
klarem  Bewußtsein  in  der  Reflexion  bringt.  Auch  der 
Vertreter  einer  natürlichen,  auf  den  mittelbaren  Gottes- 
beweisen fundierten  natürlichen  Theologie  muß  zugeben, 
daß  die  Menschen,  die  von  den  methodischen  Gottes- 
beweisen nichts  wissen,  ihre  Erkenntnis  von  Gott  nicht 
bloß  kraft  Tradition  und  Offenbarung  besitzen.  Freilich: 
Seine  besondere  Theorie  dieser  natürlichen  Religion 
fordert  die  Annahme,  daß  auch  diese  natürlich -religiöse 
Gotteserkenntnis  des  Nichttheologen  doch  wieder  auf 
denselben  Schlüssen  beruhe,  die  er  als  natürlicher  Theo- 
loge wissenschaftlich  und  methodisch  vollzieht.  Er  kann 
nur  sagen,  daß  diese  Schlüsse,  z.  B.  der  zur  Annahme 
einer  obersten  und  ewigen  Weltursache  führende  Kau- 


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^66  Probleme  der  Religion. 

salschluß  von  dem  bezüglich  der  »Gottesbeweise«  Naiven 
ohne  Bewußtsein  und  ohne  regekechte  Methodik  voll- 
zogen werde.  Ich  nun  bin  der  Meinung,  daß  solche  An- 
nahme »unbewußter  Schlüsse«  auf  keinem  philoso- 
phischen Fragegebiet  irgendwie  zu  Recht  besteht.  In  den 
Formen,  die  z.B.  Schopenhauer  und  (wieder  anders)  Hekn- 
holtz  dieser  Lehre  für  das  Wahmehmungsproblem  ge- 
geben hatte,  haben  diese  Annahmen  ganz  und  gar  in  die 
Irre  gefuhrt.  Sie  haben  es  nicht  minder  da,  wo  sie  die 
Annahme  der  Existenz  einer  bewußtseinsunabhängigen 
AufJenwelt  und  die  Berechtigung  unserer  natürlichen  An- 
nahme fremder  Bewußtseinssubjekte  tragen  sollten.*  In 
den  religiös  Naiven  solche  unbewußten  Schlüsse  hinein- 
zulegen, ist  nicht  weniger  gerechtfertigt  als  bei  den  ge- 
nannten Fragen.  Und  es  ist  doppelt  ungerechtfertigt, 
wenn  dieser  Schluß  auch  regelrecht  und  methodisch  voll- 
zogen, gar  nicht  das  erreicht,  was  er  vorgeblich  erreichen 
soll:  Eine  einige,  oberste  und  schöpferische  Weltursache. 

Es  ist  aber  auch  gar  nicht  einzusehen,  wieso  die  natür- 
liche Religion  nur  sein  sollte  eine  unreflektierte  oder  gra- 
duell nur  weniger  reflektierte  und  methodische  Theologie 
—  da  sie  doch  qua  Religion  zunächst  überhaupt  keine 
Art  von  Wissenschaft  darstellt,  —  auch  keine  primi- 
tive Wissenschaft  oder  Theologie. 

Gibt  es  das  selbständige  Aktgebiet  religiöser  Erkennt- 
nis, so  haben  wir  vielmehr  anzunehmen,  es  habe  sich  auch 
die  natürliche  Theologie  als  rationales  Wissen  um  Gott 
zu  stützen  auf  die  natürliche  Religion,  d.  h.  auf  eine 
eigentümliche  wesenhafte  Anschauungs-  und   Erlebnis- 

'  Vgl.  hierzu  den  Anhang  meines  Buches  über  »Phänomenologie  und  Theorie 
der  Sympathiegefühle«. 


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Probleme  der  Religion.  567 

quelle  des  Göttlichen  —  wie  sehr  sie  als  Wissenschaft 
auch  später  befugt  sein  mag,  diese  Anschauungsgehalte 
und  stoffgebenden  Quellen  einer  Reinigung,  einer  Kritik 
und  ihre  Gegebenheiten  femer  einer  systematischen  Be- 
arbeitung durch  das  Denken  zu  unterwerfen. 

D.  h.  die  natürliche  Theologie  hat  sich  auf  die  natür- 
liche Religion  zuerst  und  zunächst  so  zu  stützen,  wie  auch 
alle  Weltwissenschaft  auf  die  Kategorien,  d.  h.  die  Seins- 
formen der  natürlichen  Weltanschauung. 

Die  natürliche  Religion  aber  ist  in  ihren  wesensgesetz- 
lichen Akten  und  Gegenständen  zuallererst  phänomeno- 
logisch zu  studieren.  Ist  dies  geschehen,  so  kann  dann 
und  soll  hinterher  die  natürliche  Theologie  die  so  ge- 
wonnenen Wesensgehalte  der  natürlichen  religiösen  An- 
schauung mit  dem  Weltwissen,  zunächst  der  philosophi- 
schen Metaphysik  als  dessen  höchstem  Abschluß  so  ratio- 
nal verknüpfen,  daß  sich  eine  bestimmt  geartete  Theorie 
von  Gottes  Dasein  und  seinem  Verhältnis  zur  Welt  ergibt. 

Auch  so  gewinnen  wir  eine  natürliche  Gotteserkenntnis 
und  bleiben  in  strengster  Übereinstimmung  mit  dem 
Pauluswort,  daß  wir  den  Werkmeister  aus  seinem  Werke 
zu  erkennen  vermögen,  einem  Wort,  das  erst  eine  sehr  späte 
Zeit  zu  der  Behauptung  einer  wissenschaftlich  rationalen 
Gotteserkenntnis  und  eine  —  wie  man  weiß  —  noch  sehr 
viel  spätere  Zeit  zur  ganz  speziellen  Behauptung  verengte, 
es  gäbe  absolut  evidente  Kausalschlüsse  auf  Gott.^ 

Denn  die  Behauptung,  daß  z.  B.  die  gesamte  Natiu* 
»Spuren«  ihres  göttlichen  Schöpfers  an  sich  trage,  »Fin- 
gerzeige auf  Gott«,  daß  sie  überall  den  >  Werk<charakter 

*  Daß  der  Patristik  diese  Lehren  fehlen,  dazu  vergleiche  Möhler:  »Die 
Einheit  der  Kirche«. 


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5 68  Probleme  der  Religion. 

eines  vernünftigen  Geistes  in  ihren  Gebilden  aufweise, 
daß  in  ihren  Vorgängen  sich  überall  eine  geistige  Macht 
»ausdrücke«  und  »kundgebe«,  daß  Dasein  und  Sosein 
jedes  Naturgebildes  und  Naturvorgangs  überhaupt  — 
im  Unterschied  von  seinem  bloßen  Jetzthiersein  und  sei- 
nem bloßen  Anderssein  —  nie  und  nimmer  durch  anderes 
kontingentes  Sein  erklärbar  sei;  daß  es  vielmehr  an  sich 
trage  den  Stempel  der  Herkunft  aus  einem  Seienden,  das 
durch  sich  und  auf  Grund  seines  Wesens  »ist«,  das  alles 
ist  eine  zweifellose  Behauptung  der  natürlichen  Religion 
selbst.  Aber  es  ist  eine  Behauptung,  die  Deckung  findet 
nur  und  ausschließlich  in  den  Anschauungsmaterien, 
welche  die  religiöse  WeltäufFassung  den  Tatsachen  der 
außerreligiösen  als  ganz  neue  positive  Phänomene  hinzu- 
fügt. Und  es  ist  eine  Behauptung,  die  völlig  mißverstanden 
wird,  wenn  man  an  die  Stelle  der  anschaulichen  Bezie- 
hungen, die  in  den  Worten  »Spur«,  »Fingerzeig«,  »Werk- 
charakter«, »Ausdruck«,  »Kundgabe«,  »Gewirktheit« 
überhaupt  gemeint  sind,  einen  vermeintlichen  Kausal- 
schlüß  schiebt  aus  vorreligiösen  Tatbeständen  einer 
profanen  Weltbetrachtung  und  Welterkenntnis. 

Nicht  in  jeder  Naturbetrachtung  gehen  diese  Phäno- 
mene und  anschaulichen  Symbolbeziehungen  der  Natur- 
dinge auf  Gott  hin  dem  Menschen  auf,  sondern  eben 
nur  in  der  religiösen,  die  freilich  *auch  (historisch)  die 
ursprünglichste  und  »natürlichste«  Naturbetrachtimg  ist. 
Jede  »wissenschafdiche«  Naturbetrachtung  ist  ihr  gegen- 
über künstlich,  da  sie  die  ursprüngliche  Naturgegebenheit 
Stück  für  Stück  der  Phänomene  beraubt,  die  für  den 
besonderen  Zweck,  ein  zu  einer  möglichen  Naturlenkung 
nützliches  Weltbild  herzustellen,  ohne  Bedeutung  sind. 


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Probleme  der  Religion.  569 

Das  aber  sind  jene  Phänomene  der  natürlich 
religiösen  Weltbetrachtung  in  altererster  Linie. 
Naturwissenschaft  kann  sich  und  soll  sich  auch  gar  nicht 
interessieren,  z.  B.  für  das  Gewirkth^itsmoment  (Kreatür- 
lichkeit)  und  für  das  Wesen,  d.  h.  das  pure  Was  eines 
Naturgebildqs  (Idee),  da  diese  beiden  Dinge  an  ihm  auf 
alle  Fälle  und  apriori  unveränderlich  und  für  alle  Lenkung 
der  Natur  bedeutungslos  sind  —  metaphysische  Kon- 
stanten, die  die  Wissenschaft  nichts  angehen.  Analog  wird  • 
sie  aus  demselben  religiösen  Grunde  ihrer  Konstitution 
künstlich  abzusehen  haben  von  den  Bestimmungen  und 
Zielen  der  Naturgebilde,  von  ihren  Werten,  schließlich 
selbst  nach  Möglichkeit 'von  ihren  Qualitäten.  Und  da 
sie  sich  beschränkt,  die  Naturgebilde  nur  soweit  aufzu- 
fassen, als  sie  durcheinander  eindeutig  bestimmt  sind,  tut 
sie  methodisch  recht,  —  soweit,  als  es  möglich  ist  —  ab- 
zusehen vom  Schöpfer,  Herrn  und  obersten  Lenker  der 
Natur. 

Aber  wie  grundverkehrt  muß  es  j^un  erscheinen,  zuerst 
jene  Verminderung  des  Anschauungsgehaltes  einer  Natur, 
jenes  künstliche  Absehen  von  den  natürlich-symbolischen 
Beziehungen  ihrer  Gebilde  auf  Gott  —  mit  der  Wissen- 
schaft zu  vollziehen  und  dann  trotzdem  noch  zu  meinen, 
man  könne  auf  Grund  von  rein  objektiv-logischen  Kausal- 
schlüssen Gottes  Dasein  erschließen.  D.  h.  die  Natur  zu- 
erst zu  einem  Leichnam  pulverisieren,  um  dann  erst  auf 
ihr  geheimstes  Leben  stoßen  zu  wollen. 

Der  Grundirrtum  der  herkömmlichen  natürlichen 
Theologie  ist  hier  überall  derselbe.  Man  vermeint,  zu  er- 
schließen, was  man  dem  Was  nach  aus  einer  ganz  ande- 
ren Erkenntnisquelle  schon  besitzt.  Man  schließt  inner- 


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^yo  Probleme  der  Reiigiön. 

halb  der  reKgiösen  Anschauungswelt  —  und  dies  mit 
Recht  — ,  vermeint  aber  ihre  Stoffe  aus  vorreligiösen 
Tatbeständen  zu  erschließen.  Es  ist  ein  analoger  Irrtum, 
dem  gemäß  viele  meinten,  man  könne  aus  einem  puren 
Gegenwartsich  eine  Realität  der  vergangenen  Erlebnis- 
ströme, man  könne  aus  purem  Bewußtseinsinhalt  eine 
reale  Außenwelt,  aus  einer  fremden  Körpergegebenheit 
ein  fremdes  Bewußtseinssubjekt  »erschließen«,  —  Irr- 
tümer, die  ich  anderwärts  widerlegte.  Was  man  wirklich 
erschließen  kann,  das  ist  —  nachdem  man  diese  Sphären 
»vergangenes  Leben«,  »Außenwelt«,  eine  Welt  fremder 
Geister  auf  unmittelbare  Weise  sqhon  besitzt  —  im 
höchsten  Falle  die  besondere  Bestimmtheit  und  Be- 
schaffenheit der  Realitäten  dieser  Sphären. 

Nehmen  wir  als  Beispiel  den  berühmten  »Kausal- 
schluß«, der  die  natürliche  Theologie  vermeintlich  allein 
tragen  soll. 

•Er  hat  einen  vollberechtigten  Sinn,  wenn  er  sich  be- 
reits stützt  auf  zwei^anz  unerschKeßbare  anschauliche 
Wesenszusammenhänge,  die  in  aller  religiösen  Welt- 
betrachtung notwendig  enthalten  sind:  i.  Auf  die  Mit- 
anschauung eines  aus  seinem  Wesen  heraus  notwendigen 
absoluten  Seins,  die  mit  jeder  Erfassung  des  Zufalls-  und 
Kontingenzmoments  irgendeines  Gebildes  der  Natur 
oder  der  Seele  mitgegeben  ist.  2.  Auf  den  Werkcharakter 
oder  den  Kreatürlichkeitscharakter  jedes  Naturgebildes 
und  das  symbolische,  in  der  Sache  selbst  gelegene  »Be- 
deuten«, d.h.  den  »Fingerzeig«,  den  es  auf  seinen  Er- 
wirker hin  vollzieht;  dem  nachgehend  ich  hingeführt 
werde  auf  das  Ens  a  se,  das  ich  schon  vor  diesem 
Fingerzeig  habe  und  weiß.  Dieser  Werkcharakter,  dieses 


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Probleme  der  Religion.  ^yi 

Kreatürlichkeitsmoment  ist  sofort  an  jedem  Naturgebilde 
hervortretend  und  mit  Notwendigkeit  hervortretend  — , 
das  ich  direkt  auf  das  Sein  einer  kontingenten  Welt 
überhaupt  als  »Fall«  geistig  projiziere  und  dann  auf 
sein  pures  Was  hin  beschaue.  Nun  steht  es  da  — 
dieser  Baum  z.  B.  —  aus  allen  seinen  kontingenten  Be- 
ziehungen idealer  und  realer  Art  gleichsam  herausgenom- 
men in  der  puren  Einsamkeit  seines  Daß  und  seines 
Was  —  als  ob  nichts  sonst  wäre,  als  es  selbst.  Und  als 
Solches  nun  gewinnt  es  die  geheime  Sprache,  die  un- 
gefragt erzählt  von  seinem  Bewirker,  von  dem,  was  macht, 
daß  es  ist  und  nicht  nicht  ist,  und  daß  es  das  ist,  was 
es  ist  und  nicht  nur  ein  Solches  oder  ein  Anderes.  Diese 
Gewirktheit,  dieser  Werkcharakter  ist  nicht  selber  er- 
schlossen, sondern  ist  ein  anschauliches  Moment  an  ihm, 
so  wie  —  in  außerreligiöser  Betrachtung  —  ich  diesen 
Tisch  nicht  erst  durch  Schluß  als  ein  »Werk«  eines  Men- 
schen erkenne,  als  Menschenwerk,  sondern  es  ihm  an- 
sehe, daß  er  Artefakt  sei.  Gewiß  kann  dieses  Moment 
sehr  wohl  in  einem  Kausalschlusse  eine  Rolle  spielen, 
aber  nicht  anders  als  so,  daß  es  in  die  materiale  Prae- 
misse  des  Schlusses  aufgenommen  wird.  Wenn  Natur- 
gebilde diesen  Werkcharakter  aufweisen,  wenn  ich  weiß, 
es  gebe  ein  Ens  a  se,  so  darf  ich  schließen,  es  sei  dies 
Naturgebilde  ein  Werk  des  Ens  a  se. 

Der  Werkcharakter,  der  Kreatürlichkeitscharakter 
selbst  kann  genauer  analysiert  werden.  Ich  finde  dann, 
daß  der  Hergang,  der  Prozeß  der  »Realisierung«  eines 
bloßen  Wasgehaltes  mir  gegeben  ist  in  seiner  Essenz 
nur  an  einer  Stelle  meiner  gesamten  Welterfahrung, 
nämlich  da,  wo  ich  anschaulich  schaue,  wie  ein  Gebilde, 


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572  Probleme  der  Religion. 

das  ich  vorher  nur  vorstellte  unter  dem  erlebten  Wirken 
meines  Wollens  ersteht  —  wenn  ich  z.  B.  ein  Bild  male, 
irgendeine  Bewegung  meiner  Arme  oder  Hände  so  voll- 
ziehe, wie  ich  sie  und  weil  ich  sie  vollziehen  will.  Ich  schaue 
an  jedem  solchen  Falle  ein  für  allemal  die  Wesens- 
beziehungen: Wirklich  ist  etwas  nur  durch  ein  Wirken, 
das  es  erwirkt;  und  unmittelbares  Wirken,  das  nicht 
selbst  erwirkt  ist,  ist  allein  »freies«  Wollens  wirken. 
Es  ist  hier  gar  keine  Rede  davon,  daß  ich  nur  analogisch 
übertrüge  eine  zufällige,  menschliche  Wirkenserfahrung 
auf  Realisierung  und  Bewirktheit  eines  Außermensch- 
lichen; also  auch  dieses  Naturgebilde,  nur  »anthropo- 
morph«  erklärte.  Umgekehrt  ist  vielmehr  diese  meine 
menschliche  Wollens-  und  Wirkenserfahrung  der  einzige 
Ort  im  Ganzen  aller  möglichen  Erfahrung  des  Kosmos, 
wo  ich  das  Wesen  von  Realsein  (=  möglicher  Willens- 
widerstand sein),  von  Realwerden  (=  Im  Wollen  und  durch 
Wollen  realisiert  werden)  und  das  Wesen  aller  ursprüng- 
lichen und  unmittelbaren  Gewirktheit  an  einem  zufälligen 
Faktum  erfasse.  Und  darum  brauche  ich  hier  nichts  zu 
»übertragen«,  nichts  aus  dem  Menschen  in  die  Dinge 
hineinzuprojizieren,  sondern  ich  schaue  die  Dinge  von 
vornherein  in  diesen  Wesensformen  von  Gewolltheit  und 
Gewirktheit  durch  ein  schöpferisches  Wollen, 
schaue  sie  als  Werk  und  Kreatur  —  sofern  ich  sie  nur 
religiös,  d.  h.  nicht  in  ihrem  Abhängigsein  voneinander 
in  der  Aufreihung  der  Raumzeitschematas,  sondern  als 
daseiend  und  wasseiend  schlechthin  betrachte. 

Wenn  also  die  religiöse  Sprache  »die  Werke  des  Ewi- 
gen Ehre  erzählen«  läßt,  wenn  sie  einen  schöpferischen 
Willen,  eine  ewige  Vernunft  und  Güte  usw.  in  den  Ge- 


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Probleme  der  Religion.  573 

bilden  der  Natur  »ausgedrückt«,  »kundgegeben«  findet, 
die  Spuren  Gottes  und  seine  Fußstapfen  in  Allem  darge- 
stellt findet,  so  gibt  sie  hur  eine  gleichsam  gegenständ- 
liche »Sprache«  der  Dinge  selber  wieder,  ein  meinendes 
bedeutendes  Übersichhinausweisen  der  Dinge  über  ihr 
zufalliges  Sein,  —  ein  »Meinen«  und  »Bedeuten«,  das 
ihnen  —  den  Dinge a  phänomenal  einwohnt  und  von 
dem  der  Mensch  demütig  fühlt  und  weiß,  daß  er  diese 
grandiose  Sprache  nur  in  ärmlichen  Fragmenten  mit  dem 
Geiste  hören,  verstehen  und  nachsprechen  kann;  die 
Sprache  also  und  der  Sinn  der  »göttlichen  Worte«  in 
den  Dingen  unendlich  reiner,  größer,  vielfältiger  sei,  als 
das  Maß  des  möglichen  Verstehens  und  etwaigen  Nach- 
sprechens von  Seiten  des  Menschen.  Was  die  Begriffe,  die 
Bedeutungsintentionen  und  Inhalte  der  Wissenschaft  aus 
diesem  Sinn  der  Dinge  auswählen  für  ihren  Zweck  — 
das  ist  nur  ein  minimaler  Teil  des  Gesamtsinnes  —  der- 
jenige Teil,  durch  den  sie  aufeinander  so  weit  hinweisen, 
als  sie  durcheinander  ersetzbarer  gleiche  mögliche  tech- 
nische Ziele  sind,  —  sie  zu  bewegen  und  zu  verändern. 
Aber  so  objektiv  diese  Sprache  ist,  so  entfernt  ihre 
»Bedeutungen«  davon  sind,  erst  vom  Menschen  in  die 
Dinge  hineinprojiziert  zu  werden  —  da  sie  ja  vielmehr 
evident  über  alles  menschliche  Verstehen  hinausgehend 
sogar  noch  gegeben  sind  —  so  sehr  setzt  doch  jedes  mög- 
liche geistige  Vernehmen  dieser  Sprache,  dieser  gran- 
diosen Erzählung  der  Werke  von  ihrem  Schöpfer 
die  religiöse  Betrachtungsform  der  Natur  schon  vor- 
aus; und  es  ist  evident  sinnlos,  durch  logische  Prozesse 
von  einer  anderen  nicht  religiösen  Einstellungs-  und  Er- 
fassungsart erst  in  die  religiöse  hinübergelangen  zu  wollen. 


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J74  Probleme  der  Religion. 

Der  Grund,  warum  so  viele  an  dieser  These  Anstoß 
nehmen  und  sich  dann  immer  zurückgeführt  sehen  auf 
die  herkömmliche  (naturalistische)  rationale  Theologie, 
ist  mir  indes  sehr  verständlich.  Sie  beachten  zwei  Dinge 
nicht. 

Sie  sehen  erstens  nicht  den  historischen  Wesens- 
unterschied des  Zeitalters,  aus  dem  die  rationale  Theo- 
logie stammt  von  dem  unsrigen  bezüglich  der  »Selbstver- 
ständlichkeit« und  »NichtSelbstverständlichkeit« religiöser 
Weltbetrachtung.  Und  sie  meinen,  es  sei  mit  der  Behaup- 
tung, es  gäbe  eine  besondere  religiöse  Betrachtungsform 
im  Unterschiede  zur  wissenschafdichen,  die  fernere  meta- 
physische Behauptung  schon  gegeben,  daß  die  erstere 
»nur«  subjektiv,  die  zweite  dagegen  objektiv  und 
sachgültig  sei. 

Was  mit  dem  ersten  Satze  gemeint  ist,  ist  klar.  Der 
Mensch,  solange  er  normal  atmet  und  die  Luft  ruhig  ist, 
weiß  nichts  von  der  Atmosphäre,  in  der  er  lebt.  Erst  im 
Sturm,  erst  wenn  er  auf  hohen  Bergen  die  Dünne  der 
Luft  bemerkt,  sieht  er,  daß  er  auch  vorher  in  dieser  At- 
mosphäre lebte.  Die  rationale  schließende  Theologie 
konnte  in  herkömmlicher  Weise  entstehen  und  Geltung 
behaupten  in  einem  Zeitalter,  dem  die  religiöse  Weltbe- 
trachtung so  selbstverständlich  war,  daß  sie  ihm  »als« 
religiöse  Betrachtung  gar  nicht  gegeben  war,  sich  ihm 
von  anderen  Betrachtungsformen  derWelt  gar  nicht 
scharf  abhob.  Denn  so  »ewig«  und  unveränderlich  die 
Wesenheiten  der  Betrachtungsformen  der  Welt  sind  als 
Formen  eines  endlichen  Geistes  überhaupt,  so  verschieden 
ist  das  tatsächliche  lebendige  Gewicht,  das  sie  relativ 
zueinander  im  Geiste  der  Zeiten  besitzen.  Und  immer  ist 


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Probleme  der  Religion.  eye 

es  je  eine,  die  das  Primat  der  »Selbsverständlichkeit«  — 
der  scheinbaren  natürlich  nur  —  trägt.  Für  das  kapita- 
Hstische  Zeitalter  des  Bürgertums,  das  zugleich  das  Zeit- 
alter eines  systematischen  Rationalismus  ist,  das  aber  zu- 
gleich die  enge  Standes-,  Werdens-  und  Willens- 
bedingtheit seiner  Welteinstellung  verkannte  und  seine 
technischen  Weltbebauungspläne  für  eine  wahre 
Metaphysik  nahm,  ist  die  religiöse  Weltbetrachtung  nicht 
»selbstverständlich«.  So  sehr  dies  religiös  zu  beklagen  ist 
—  einen  Vorzug  fiir  die  Erkenntnis  der  Religion  hat  es: 
Es  läßt  uns  die  religiöse  Betrachtungsform  und  die  essen- 
tielle Eigenart  der  religiösen  Erkenntnisakte  tiefer  ver- 
stehen und  zeigt  uns  auch  auf  diesem  Gebiete  die  innere 
Grenze  rationaler  Schlußweisen. 

Denn  eine  Frage  müßten  sich  doch  die  Vertreter  der 
herkönmiHchen  Form  von  natürlicher  Theologie  unter  allen 
Umständen  stellen  —  wie  immer  sie  über  die  logische 
Gültigkeit  ihrer  Gottesbeweise  denken :  Die  Frage,  woher 
es  kommen  mag,  daß  diese  Beweise,  die  doch  wahrlich 
nicht  verwickelt  und  schwierig  sind,  —  der  pythagoräische 
Beweis  ist  erheblich  schwieriger  und  verwickelter  — 
ohne  jegliche  Überzeugungskraft  für  den  modernen 
Menschen  sind  oder  für  jeden  Menschen,  der  nicht  durch 
Tradition,  Glaube  oder  anderweitige  religiöse  Erkenntnis- 
weisen den  Glauben  an  Gottes  Dasein  schon  vorher  be- 
sitzt. Sind  diese  so  einfachen  Beweise  (Bewegungsbeweis, 
Schluß  auf  eine  oberste  Weltursache  usw.)  so  klar,  so 
evident,  so  sicher,  wie  sie  ausgegeben  werden  —  übrigens 
auch  im  Widerspruch  mit  so  großen  Autoritäten  wie  z.  B. 
Newman,  der  sein  tiefes  Mißtrauen  gegen  diese  Art 
»natürlicher  Theologie«  nie  verschwieg  —  wieso  finden 


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c  ^  6  Probleme  der  Religion. 

sie  dann  die  allseitige  Ablehnung  bei  allen  modernen  Men- 
schen, besser  bei  allen,  die  nicht  in  dieser  theologischen 
Tradition  erzogen  sind?  Ist  es  nicht  ein  merkwürdiger 
Widerspruch,  daß  so  einfache  Beweise,  die  sich  an  eine 
allen  Menschen  gleich  zukonunende,  religiös  noch  völlig 
voraussetzungsfreie  Vernunft  wenden  sollen,  de  facto 
psychologisch  nur  wirken  kraft  der  Tradition  einer 
engen  Schule?  Rationaler  Anspruch  und  —  rein  tradi- 
tionalistische Wirkform!  Und  soll  nicht  eben  der,  auch 
nach  unserer  Ansicht  grundfalsche,  »Traditionalismus«  ge- 
rade durch  die  »natürliche«  Theologie  vermieden  werden? 
Ich  kenne  nur  eine  Antwort,  welche  die  Vertreter  der 
natürlichen  Theologie  in  dieser  Form  auf  diese  Frage 
geben  können.  Ganz  ungenügend  ist  die  Antwort,  man 
müßte  eben  das  psychogenetische  Werden  der  religiösen 
Überzeugung  sondern  von  ihrer  logischen  Rechtfertigung, 
und  wir  muteten  so  den  Beweisen  etwas  zu,  was  sie  gar 
nicht  sollen.  Denn  diese  Unterscheidung  ist  für  alle  Ur- 
teile und  Überzeugungen  zu  machen  —  auch  mathema- 
tische, naturwissenschaftliche  usw.  Und  doch  überzeugen 
die  Beweise  in  diesen  Wissenssphären  die  Menschen  auch 
im  psychologischen  Sinne.  Auch  hat  ja  diese  Scheidung 
überhaupt  eine  ganz  bestimmte  Grenze,  die  man  über  der 
Freude,  sie  gemacht  zu  haben,  nicht  ganz  übersehen  darf. 
»Gemäß«  den  evidenten  Gesetzen,  die  für  Gegenstände 
gelten  bloß  weil  es  Gegenstände  sind,  ist  und  vollzieht 
sich  alles  in  der  Welt:  das  Sein  des  Steines  und  sein  Fall 
entspricht  dem  Gesetz  der  Identität  und  den  Gesetzen  des 
zureichenden  Grundes  so  gut  wie  das  menschliche  Denken 
—  und  zwar  das  wahre  wie  das  irrige.  Aber  in  bezug  auf 
den  menschlichen  Geist  haben  die  Gesetze  doch  noch  eine 


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Probleme  der  Religion.  577 

andere  Bedeutung,  die  eben  irgendwie  »auch«  psycholo- 
gisch ist.  Sie  bestimmen  und  bewegen  sein  Denken  auch 

—  wenn  er  richtig  denkt.  Ihre  ideale  Geltung  wird  im 
Menschen  realisiert  nicht  nur  so  wie  sie  im  fallenden 
Steine  realisiert  werden  -:—  so  daß  dieser  Fall  als  ein 
Schluß  angesehen  werden  kann,  dessen  oberste  Prämisse 
das  Fallgesetz,  dessen  untere  Prämisse  seine  Entfernung 
von  der  Erde,  dessen  Conclusio  das  Fallen  des  Steines 
ist  —  sondern  auch  so,  daß  sie  durch  ihn  in  seinem  Den- 
ken geachtet  imd  erfüllt  werden.  Und  wie  kommt  es  nun, 
daß  diese  Art  der  Verwirklichung  im  Denken  den  Gottes- 
beweisen fehlt?  Wieso  versagt  doch  die  nicht  ganz  kleine 
Denkkraft  des  nicht  in  diese  Schule  traditionalistisch 
eingesponnenen  Menschen  unseres  Zeitalters  vor  diesen 
Beweisen  —  vor  so  einfachen  Beweisen? 

Sinnvoll  ist  nur  eine  Antwort  und  die  konsequenten 
Vertreter  dieser  Art  von  natürlicher  Theologie  geben  sie 
auch.  Sie  lautet:  die  Beweise  sind  einfach,  vollständig  Idar 
und  evident:  aber  der  Wille  des  modernen  Menschen, 

—  der  »sündige«  Wille,  der  Wille,  dessen  Interesse  die 
Nichtexistenz  Gottes  ist,  oder  doch  der  Nichtbestand  eines 
sicheren  Wissens  um  diese  Existenz,  sträubt  sich  gegen 
die  Annahme  des  vollen  und  klaren  Lichtes  dieser  Beweise. 
Ich  bin  weit  entfernt,  die  Kraft  dieses  Argumentes  zu  ver- 
kennen und  ich  habe  seine  Bedeutung  für  das  Verständ- 
nis z.  B.  der  sittlichen  Selbsttäuschungen  selbst  breit  ent- 
wickelt*. Hier  aber  scheint  mir  seine  Kraft  vollständig  zu 
versagen.  Denn  erstens  ist  es  ja  gar  nicht  wahr,  daß  diese 
Beweise  nur  ohne  Überzeugungskraft  seien  für  Gemüter, 
die  dem  Atheismus  oder  dem  Pantheismus  bereits  zuge- 


1  S.  »Vom  Umsturz  der  Werte«,  II.  Bd. 
37 


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578  Probleme  der  Religion. 

neigt  sind  oder  bei  denen  sich  dieses  negative  Interesse 
irgendwie  nachweisen  läßt.  Sie  sind  es  viehnehr  ebenso 
sehr,  wenn  nicht  noch  mehr  für  solche,  die  von  tiefster 
Gottesliebe  erfüllt  sind  und  die  ebensosehr  an  das  Dasein- 
Gottes  wie  an  die  Möglichkeit  eines  »sicheren  Wissens« 
von  diesem  Dasein  glauben.  Man  hüte  sich  daher  vor  die- 
sem gefährlichen  und  auch  moralisch  überaus  zweifelhaf- 
ten Argumente  —  vor  diesem  Argumente  ad  hominem, 
das  die  Weite  der  Katholizität  auf  die  Traditionen  einer 
engen  Schule  zu  verengen  geeignet  ist.  Der  Vorwurf 
eines  sündigen  Willens  zum  Atheismus,  ist  —  wo  er  sich 
nicht  auf  bekannte  und  erweisbare  Tatsachen  stützt  und 
generell  in  einer  Frage  gemacht  wird,  die  ausschließlich 
Sache  der  Vernunft  ist,  nicht  weit  entfernt  vom  Charakter 
leichtsinniger  Verleumdung.  Auch  da,  wo  dieser  Vorwiuf 
oder  die  geforderte  psychologische  Erklärung  der  Un- 
wirksamkeit logisch  einfacher  und  evidenter  Beweise  nicht 
den  Individuen  als  solchen  gemacht  wird,  sondern  diese 
fehlende  Überzeugungskraft  geschoben  wird  auf  eine  ver- 
kehrte neuzeitliche  Denktradition,  an  deren  Anfang  nur 
der  sündige  Wille  stand  und  in  die  der  moderne  Mensch 
persönlich  schuldlos  hineinwuchs  —  also  auf  eine  Art 
partieller  Erbsünde  —  kommt  ihm  keine  Berechtigung 
zu.  Denn  so  richtig  diese  Erklärung  für  das  mangelnde 
Interesse  für  die  natürliche  Theologie  überhaupt  in  der 
»wissenschaftlichen«  Philosophie  der  zweiten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  —  im  offensichtlichsten  Gegensatz  zu  der 
weit  echteren  und  im  guten  Sinne  »wissenschaftlichen« 
Philosophie  z.  B.  des  1 7.  imd  1 8.  Jahrhunderts  ist,  so  falsch 
ist  sie  doch  für  die  mangelnde  Überzeugungskraft  dieser 
Form  von  natürlicher  Theologie. 


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Probleme  der  Religion.  ^yg 

Das  schwere  Rätsel  bleibt  also.  Warum  haben  diese 
Beweise  von  allen  Methoden  der  Rechtfertigung  und  Be- 
gründung so  gar  keine  Wirksamkeit,  zu  rechtfertigen 
und  zu  begründen  —  außer  da,  wo  sie  die  Tradition 
unnötig  macht? 

Ich  antworte  auf  diese  Frage  nicht  so  wie  schon  Kant, 
der  —  ohne  Grund  —  die  Seinsgültigkeit  des  Kausal- 
prinzips in  Frage  zog  und  —  wie  ich  hier  nicht  zeigen 
will  —  die  Gottesbeweise  fälschlich  logisch  widerlegt  zu 
haben  meinte.  Diese  Beweise  behalten  vielmehr  Kant 
gegenüber  ihr  volles  Recht  und  ihren  tiefen  Sinn,  wo  es 
sich  um  Attribute  Gottes  handelt.  Das  Kausalprinzip  — 
von  Kant  mit  dem  Prinzip  der  Gesetzmäßigkeit  der  Er- 
scheinungen nach  einer  Regel  der  Zeitfolge  verwechselt 
—  ist  ein  allgültiges  einsichtiges,  seinsgültiges  Prinzip 
für  das  Werden  (auch  das  zeitfreie  Werden)  jedes  Realen, 
dessen  Dasein  nicht  aus  seinem  Wesen  (objektiv)  folgt/* 
Ich  behaupte  nur,  daß  Sein  und  Gültigkeit  dieser  Be- 
weise noch  etwas  anderes  voraussetzt  als  die  formalen 
Gesetze  der  Logik,  das  Kausalprinzip  und  die  Tatsachen 
der  Erfahrung  im  induktiven  Sinne:  die  wesensmäßige 
Umspanntheit  dieses  beweisenden  Denkens  durch  die  reli- 
giöse Betrachtungsform  der  Welt  und  die  besonderen 
Wesenstatsachen  und  Wesenstatsachenzusammenhänge, 
die  in  dieser  Betrachtimgsform  und  nur  in  ihr  »gegeben« 

^  Ganz  unmöglich  ist  die  Position  jener  Neuscholastiker,  die  das  Kausal-^ 
prinzip  als  unmittelbar  oder  mittelbar  (beweisbares)  »denknotwendiges« 
Prinzip  zu  erweisen  suchen,  die  Gültigkeit  der  denknotwendigen  Prinzipien 
für  das  extramental  Seiende  darauf  zurückfuhren,  daß  Gott  Denken  und 
Sein  füreinander  eingerichtet  habe  (Präformationssystem),  gleichwohl  aber 
das  Dasein  Gottes  aus  dem  Kausalprinzip  beweisen  wollen.  Es  sollte  nicht 
gesagt  werden  müssen,  daß  hier  ein  glatter  Beweiszirkel  vorliegt. 

37* 


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5  8o  Probleme  der  Religion. 

sind.  Ja  ich  behaupte  ganz  allgemein:  für  jede  Wesens- 
region des  Seins  gibt  es  einsichtige  materiale  Wesens- 
zusammenhänge (apriori)  gegenüber  aller  positiv-induk- 
tiven Erfehrung  und  eine  wesensgesetzlich  zu  ihrer  mög- 
lichen Anschauung  gehörige  Aktklasse,  durch  deren  Hin- 
zunahme zu  den  Gesetzen  der  »reinen«  Logik  die  Logik 
und  die  materiale  Ontologie  des  betreffenden  Seinsgebie- 
tes erst  vollendet  wird.  Also  gibt  es  auch  einsichtige  seins- 
gültige Axiome  und  Kategorien  der  religiösen  Anschau- 
ungs-  und  Erkenntnisform  —  die  aber  nur  einsichtig  für 
uns  werden  können,  wenn  wir  das  ewige  Wesen  dieser 
Anschauungsweise  in  uns  verwirklichen  —  wenn  wir  den 
»religiösen  Akt«  erwecken  und  uns  üben,  die  Welt  religiös 
aufzufassen.  Es  gibt  also  insofern  eine  Seinslogik  des  reli- 
giösen Denkens,  die  zwar  wie  alle  und  jede  Logik  die 
reine  formale  Logik  und  Gegenstandstheorie  in  sich  ent- 
hält, die  aber  über  die  Prinzipien  dieser  hinaus  auf 
ontischen  Wesenseinsichten  der  religiösen  Seins-  und 
Gegenstandssphäre  mit  beruht  —  auf  Einsichten,  die  nie 
und  nimmer  zu  gewinnen  sind  an  einer  außerreligiösen 
Seinssphäre.  Wenn  also  z.  B.  ein  Naturgebilde  erfaßt 
ist  »als«  Fall  eines  kontingenten  Daseins  überhaupt, 
»als«  daseiend  und  et-wasseiend  überhaupt,  als  ursprüng- 
lich gewirktes  Reales  (als  »Kreatur«),  als  Etwas  bedeu- 
tend, das  nicht  in  seinen  bloß  relativen  Bedeutungs- 
beziehungen sei  es  für  uns  Menschen,  sei  es  für  andere 
kontingente  Gebilde,  aufgeht,  sondern  als  bezogen  auf  seine 
eigene  und  der  Welt  »Bestimmung«,  so  treten  die  Phäno- 
mene erst  hervor,  die  gegenüber  den  niu-  formalen  logi- 
schen Gesetzen  und  ontischen  Wahrheiten  überhaupt  die 
materialen  Wesensprämissen,  die  spezifisch  religiösen 


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Probleme  der  Religion.  c  g  X 

Sinn-  und  Denkgesetze  darstellen,  unter  denen  jene  Be- 
weise erst  sinnvoll  werden  und  Überzeugungskraft  er- 
langen. Und  nicht  mangelnde  Öenkkraft,  nicht  der  »sün- 
dige Wille«,  nicht  historische  Gewohnheit  richtet  für  den 
Menschen  außerhalb  jener  engen  Theologenschule  diese 
sonderbare  Schranke  auf  zwischen  den  Gottesbeweisen  und 
seiner  Vernunft,  sondern  das  vollständige  Übersehen  des 
ganzen  Gebietes  der  Wesen sontologie  des  Heiligen  und 
des  absoluten  Seins — ein  Gebiet,  das  erst  das  vermittelnde 
Glied  bildet  zwischen  Religion  und  sonstiger  rationaler 
Erkenntnis  und  das  für  alle  religiöse  Erkenntnis  Funda- 
ment ist.  Daraus  folgt  aber  auch  ein  einfacher  pädago^ 
gischer  Satz  über  die  mögliche  Überzeugungskraft  der 
>  Gottesbeweise  < .  Bedingung  dieser  Überzeugungskraft  ist 
I.  Schaubarmachung  der  religiösen  Urphänomene,  die 
von  keiner  anderen  Phänomenklasse  ableitbar  sind,  2.  be- 
wußte Übung  des  modernen  Menschen  in  der  essentiell 
dem  Bewußtsein  zugehörigen,  und  nur  für  die  moderne 
-Welt  stark  verdunkelten  religiösen  Weltauffessung  — 
nach  genauester  Umgrenzung  der  religiösen  Aktarten, 
durch  die  sich  diese  Weltanschauung^  vollzieht  und  allein 
vollziehen  kann.  Nur  diese  Methode  verspricht  nach  mei- 
ner Erfahrung  die  Schranke  zu  beseitigen,  die  zwischen 
Gotteserkenntnis  und  modemer  Bildungswelt  gähnt.  Und 
nur  diese  Theorie  über  das  Wesen  der  Religion  erklärt 
zugleich  —  obzwar  sie  nicht  um  dieser  Erklärung  willen 
gesucht  und  gefunden  wurde  —  psychologisch  die  Un- 
wirksamkeit der  bisherigen  Form  der  Religionsbegrün- 
dung. 

Merkwürdig  über  die  Maßen  ist  es,  daß  eine  solch 
neue  Gestalt  natürlicher  Theologie,  eine  Gestalt,  die  sich 


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^82  Probleme  der  Religion. 

auf  die  natürliche  Religion  selbst  stellt  und  nicht  die 
letztere  als  bloß  » naive «  natürliche  Theologie  zu  begreifen 
meint,  so  vielen,  die  der  alten  Tradition  der  Schule  fol- 
gen, als  »unsicher«  gilt,  als  »schwankendes  Fundament« 
für  diQ  Gotteserkenntnis  und  Gottesgewißheit.  Kann  denn 
die  Religion  —  auch  subjektiv  die  wurzeltiefste  aller  An- 
lagen und  Potenzen  des  menschlichen  Geistes  —  auf  einer 
festeren  Basis  stehen  als  —  auf  sich  selbst,  auf  ihrem 
Wesen?  Alle  besondere  religiöse  Erkenntnis  auf  dem 
Wesen  eben  der  religiösen  und  keiner  anderen  Art  von 
Erkenntnis?  Wir  haben  in  einem  Aufsatz  dieses  Bandes 
schon  für  die  Philosophie  den  Nachweis  erbracht,  wie 
wesenswidersinnig  und  historisch  widersinnig  es  ist,  sie  — 
die  Königin  der  Wissenschaften  —  unter  die  »Wissen- 
schaften« zu  zählen.  Und  warum  soll  die  Religion  nicht 
stehen  —  eben  auf  der  Religion  im  Sinne  ihres  ewigen 
Wesens?  Wie  sonderbar  ist  doch  das  Mißtrauen  in  die 
Eigenmacht,  die  Eigenevidenz  des  religiösen  Bewußtseins, 
das  sich  darin  bekundet,  daß  seine  ersten  und  eviden- 
testen Aussagen  auf  etwas  anderes  »gestellt«  werden 
sollen  als  auf  den  Wesensgehalt  der  Gegenstände  eben 
dieses  Bewußtseins  selbst?  Soll  das  Fundamentalste  auf 
ein  weniger  Fundamentales  gestellt  werden?  Nicht  dieser 
Versuch,  der  schon  vom  Mißtrauen  in  die  Religion  und 
von  einer  Verkennung  ihres  Wesens  ausgeht,  ist  es,  der 
uns  nötig  ist,  sondern  der  (nur  der  wahren  Stellung  der 
Religion  im  Geiste  des  Menschen  auch  subjektiv  ent- 
sprechende) psychologische  und  historische  Nachweis, 
daß  alle  primären  Veränderungen  menschlicher  Welt- 
anschauungen, Philosophierichtungen,  Lebens,  Arbeits- 
systeme, auch  die  Veränderungen  aller  ethischen,  poli- 


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1    i 


Probleme  der  Religion.  cg^ 

tischen,  ökonomischen  Daseinssysteme  in  vorangehenden 
Änderungen  religiöser  und  religiös  eigengesetzmäßiger 
Änderungen  gegründet  sind  (sei  es  in  die  Richtung  auf 
das  Wahre  oder  auf  das  Falsche).  Eben  da  die  religiösen 
Akte  die  wurzeltiefsten,  einfachsten,  persönlichsten,  undiffe- 
renziertesten  Grundakte  des  menschlichen  Geistes  sind  — 
ihr  je  intendiertes  Gottsein  aber  Fundament  alles 
übrigen  Seins,  so  müssen  auch  Variationen  in  diesem 
Zentrum  des  Menschen  für  alle  anderen  menschlichen 
Erkenntnis-,  Kultur-  und  Arbeitsformen  zum  wenigsten 
einen  Spielraum  abstecken  auf  alles  je  in  dilser  reli- 
giösen Anschauungsart  »Mögliche«  der  genannten  außer- 
religiösen  Dinge. 

So  begreifen  wir  es  wieder  sehr  wohl,  daß  es  den 
geistigen  Führern  der  Kirche  des  13.  Jahrhunderts  schei- 
nen konnte,  der  natürlichen  Religion  gäbe  die  von  ihnen 
entwickelte  rationale  Theologie  ein  sicheres  Fundament. 

Dieses  Zeitalter  des  aufstrebenden  bürgerlichen  Ratio- 
nalismus forderte  eine  Rechtfertigung  der  natürlichen 
Religion  vor  dieser  neu  erwachten  und  zur  Arbeit  an 
der  Welt  sich  spannenden  Kaste  des  europäischen 
Stadtbürgertums.  Nicht  durch  Vernunft  allein,  nur  »auch« 
für  die  Vernunft  gültig  sollen  die  letzten  Grundlagen 
unseres  Wissens  um  Gott  zunächst  nachgewiesen  werden. 
Die  Kirche  verbeugt  sich  in  der  neuen  Theologie  des  Tho- 
mismus  vor  der  neuen  geistigen  Bewußtseinsform  eines 
neuen  Zeitalters,  des  Zeitalters  des  jungen,  aufstrebenden 
Bürgertums,  sie  verbeugt  sich  in  der  gegenüber  der  Pa- 
tristik  neuartigen  thomis tischen  Form  der  Scheidung  von 
Vernunft  und  Gnade,  natürlicher  und  Offen- 
barungsordnung. (Denn  die  Scheidung  selbst  gehört 


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5  84  Probleme  der  Religion. 

zum  Wesensbestande  der  christlichen  Kirche  und  war 
auch  der  patristischen  Zeit  gegenwärtig.)  Sie  durfte  sich 
wohl  verbeugen;  denn  der  bürgerliche  Rationalismus  und 
das  Bürgerethos,  sie  waren  noch  vollständig  eingebettet 
in  die  religiöse  Weltbetrachtungsart  überhaupt  und  noch 
tief  in  die  nährenden  Kräfte  einer  überragenden,  imiver- 
salen  christlichen  Tradition.  Aber  wie  grundsätzlich 
verschieden  ist  gegenwärtig  die  Lage!  Diese  Einbettung 

—  diese  doppelte  Einbettung  —  fehlt  der  gesamten 
modernen  Welt.  Und  dazu  steigt  der  Typus  Mensch,  der 
dieser  Öewußtseinsform  entsprach,  steigen  die  ihm  ent- 
sprechenden Ideale,  Lebensformen,  Institutionen  nicht 
wie  seiner  Zeit  empor,  sondern  sie  steigen  langsam  zu 
Grabe.  Eben  das  ist  uns  selbstverständlich  geworden 

—  fast  automatische  Gewohnheit  —  was  damals  in  der 
rationalen  Erziehungszeit  der  Völker  Europas  dem  Men- 
schen ein  Neues,  erst  zu  Übendes  war:  Gutes  Schließen, 
Beweisen,  mittelbares  Denken,  Rechnen.  Eben  das  ist 
uns  ferne  und  immer  femer  gerückt:  die  religiöse,  ja  die 
absolute  Daseins  und  Wertbetrachtung  überhaupt  und 
die  Geltung  und  Existenz  einer  einsichtigen  Seins-  und 
Wertordnung.  Nicht  weil  der  moderne  Mensch  zu  wenig 
Denk-  und  zu  wenig  Schlußkraft  hätte,  leuchten  ihm  die 
Gottesbeweise  der  herkömmlichen  Form  nicht  ein :  Sondern 
darum  leuchten  sie  nicht  ein,  weil  er  an  Beweise  subtilere 
Anforderungen  stellt,  als  sie  hier  erfüllt  sind  und  weil  ihm 
die  Anschauungsmaterien  und  -formen  fehlen,  auf  die 
sich  diese  Beweise  —  heimlich  —  stützen. 

Aber  es  besteht  —  wie  ich  oben  sagte  —  noch  ein 
zweiter  Hauptgrund  für  die  Stellungnahme  derer,  die  an 
der  herkömmlichen  Art  von  natürlicher  Theologie  fest- 


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Probleme  der  Religion.  cgr 

halten.  Sie  halten  schon  die  Annahme  einer  besonderen 
Wesensklasse  religiöser  Erkenntnisakte  und  einer  reli- 
giösen Betrachtungsform  der  Welt  für  ein  Zugeständnis 
an  den  Subjektivismus  und  folgern  daraus,  daß  eine 
natürliche  Theologie,  die  sich  auf  eine  Theorie  dieser 
Akte  und  ihrer  Wesensmaterien  aufbaue,  unsicher  und 
unbestimmt  werden  müsse,  daß  ihre  Sätze  und  Thesen 
der  strengen  Gegründetheit  in  der  Sache  verlustig 
gingen. 

Diese  Annahme  wäre  nun  prinzipiell  richtig  und  unwider- 
legbar, wenn  die  heimlich  gemachte  Voraussetzung  dabei- 
wahr  wäre,  —  die  Voraussetzung,  der  religiöse  Akt  in 
all  seinen  spezifischen  Arten  und  Formen  sei  nur  ein  Ge- 
schehen auf  der  Seite  des  Subjekts  und  es  entspreche 
ihm  nicht  ^  eine  ursprüngliche  Aktmaterie  und  ein  selb- 
ständiger, vom  Subjekt  unabhängiger  absolut  seiender 
Gegenstandskreis  — ja  sogar  der  einzige,  in  keiner  Weise 
auf  die  Existenz  des  Subjekts  daseinsrelative,  sondern 
ihm  gegenüber  daseins-  und  wertabsolute  Gegen- 
stand. Das  letztere  aber  ist  es,  was  wir  behaupten.  Die 
essentiellen  Bestände,  die  jedem  Gegenstande  eines 
religiösen  Aktes  zukommen  und  aus  denen  sich  dieser 
Gegenstand  aufbaut,  sind  in  keiner  Weise  »zuvor«  ent- 
halten im  Gebiet  aller  sonstigen  »Erfahrung«.  Sie  sind^ 
nicht  daraus  irgendwie  »herausgenommen«,  »abstrahiert« 
oder  durch  besondere  Verarbeitung  und  Synthesen  aus. 
den  Elementen  der  außerreligiösen  Erfahrung  aufgebaut. 
Es  handelt  sich  also  nicht  um  eine  Betrachtimgs-  oder 
Erkenntnisform  in  dem  Sinne,  daß  dieselbe  Materie  oder 
dieselben  Urphänomene  auch  in  eine  andere  Betrach- 
tungsform eingehen  könnten,  —  eine  Betrachtungsform,, 


V'^ 


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^86  Probleme  der  Religion. 

die  also  nicht  die  religiöse  ist  — ,  daß  sie  gleichsam 
bei  identischem  Gehalt  nur  die  Form  der  Betrachtung 
wechseln  könnten;  oder  gar,  daß  die  Materien  der  reli- 
giösen Akte  irgendwie  entnommen  wären  dem  Gehalte 
vorreligiöser  Betrachtungsformen.  Vielmehr  eröfl&iet  dem 
Menschen  schon  der  primitivste  Akt  vom  Wesen  des 
religiösen  Aktes  einen  Ausblick  in  eine  gegenständ- 
liche Seinsschicht  und  in  essentielle,  dieser  und  nur  dieser 
zukommende  Anschauungs-Materien,  die  dem  Menschen 
sonst  ganz  und  gar  verborgen  sind  und  notwendig  ver- 
borgen sind  —  so  wie  einem  Wesen,  das  nicht  der  Funk- 
tion des  Sehens  und  Hörens  teilhaftig  wäre,  verborgen 
wäre  das  Wesen  von  Farbe  und  Ton  und  damit  ebenso- 
wohl die  scheinbare  als  die  ganze  »wirkliche«  Farben- 
und  Tonwelt.  Es  besteht  also  ein  wesensgesetzlicher  Zu- 
sammenhang zwischen  religiösem  Akt  und  religiöser 
Gegenstandssphäre,  nicht  im  Sinne  einer  oder  irgend- 
einer Art  der  Abhängigkeit  (Seins  oder  Geltungsabhängig- 
keit) des  Gegenstandes  vom  religiösen  Akt,  sondern  nur 
ein  Zusammengehörigkeitszusammenhang  der  spezifischen 
Wesen  von  religiösem  Akt  und  religiösem  Gegenstand. 
Zusammenhänge  dieser  Art  bilden  ja  noch  keine  »Aus- 
nahme«, sondern  durchwalten  —  wie  die  phänomeno- 
logische Philosophie  zeigte  —  das  gesamte  Gebiet 
unseres  Erkennens,  Fühlens,  Wollens  mit  den  ihnen  ent- 
sprechenden Gegenstandskorrelaten.  Ganz  abgesehen  z.  B. 
von  allen  positiven  Sinneseinrichtungen  des  Menschen  und 
irgendwelcher  Tiere  gehört  es  zum  Wesen  der  Farbe,  in 
der  Funktion  des  Sehens  gegeben  zu  sein  —  auch  der 
vorgestellten  Farbe  —  des  Tones  im  Hören,  aber  auch 
einer  »Gefahr«  im  Fürchten,  eines  Wertes  im  Fühlen 


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ri-,  ri 


Probleme  der  Religion.  587 

von  Etwas  usw.  Und  der  Schluß  auf  eine  Existenz- 
abhängigkeit des  Gegebenen  von  dem  Akt,  durch  den  es 
gegeben,  ist  in  allen  diesen  und  analogen  Fällen  gleich 
irrig.  So  also  ist  uns  das  Absolutsein  eines  Gegenstandes 
oder  seiner  Verwurzelung  in  der  Absolutsphäre  des 
Daseins,  femer  der  Wert  des  »Heiligen«  mit  all  seinen 
reichen  Unterarten  und  Momenten,  nur  und  ausschließlich 
im  religiösen  Akte  gegeben  und  uns  nur  in  ihm  geboten. 
Aber  nicht  nur  ist  es  irrig,  mit  dem  Gedanken  einer 
religiösen  Betrachtungsform  den  Gedanken  einer  Existenz- 
abhängigkeit des  religiösen  Gegenstandes  zu  verbinden: 
Es  ist  vielmehr  gerade  dem  religiösen  Akte  —  und  sogar 
in  letzter  Linie  ausschließlich  dem  religiösen  Erkenntnis- 
akte (und  keiner  Art  anderer  Erkenntnisakte)  spezifisch 
eigentümlich,  nur  durch  ein  Sein  und  durch  einen  Wert 
befriedigt  zu  werden  (d.  h.  nach  seiner  Wesensintention 
»erfüllbar«  zu  sein),  das  von-  keinem  anderen  Seienden 
oder  Werthaften  abhängig  existiert  und  von  dem  alles 
andere,  auch  noch  die  Existenz  des  erkennenden  Subjekts 
als  des  Trägers  des  religiösen  Aktes  selbst  »abhängig« 
ist.  Es  gibt  mannigfache  Stufen  der  Daseinsrealität  der 
erkennbaren  Gegenstände  auf  die  besondere  Organisation 
des  erkennenden  Subjekts  —  nicht  weniger,  sondern  mehr 
als  Kant  annahm,  wenn  er  die  Gegenstände  in  die  drei 
Schichten  subjektiven  Seins,  objektiver  Erscheinungsreali- 
tät, Dingansich  sondert.  Die  Erkenntnistheorie  hat  sie 
genau  zu  scheiden  und  es  ist  eine  ihrer  wichtigsten  Auf- 
gaben, dies  richtig  zu  tun.  Die  Absolutheitssphäre  des 
möglichen  Daseins  aber  ist  ausschießlich  die  Sphäre 
des  religiösen  Aktes.  Die  religiöse  Aktklasse  ist  also  die 
einzige  essentielle  Aktklasse,  bei  der  ein  Aktvollzug  auch 


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egg  Probleme  der  Religion. 

noch  abhängig  ist  und  sich  abhängig  weiß  von  dem 
Gegenstande,  den  er  intentioniert.  »Alles  Wissen 
um  Gott  ist  ein  Wissen  durch  Gott«  —  das  ist  ein 
Wesensaxiom  des  religiösen  Akts. 

Schon  aus  diesen  Gründen  ist  also  diese  Gefahr  des 
»Subjektivismus«  hier  ganz  ausgeschlossen.  Sie  droht 
weit  tiefer  und  eingreifender,  wenn  es  beim  Wissen  um 
Gott  ankäme  auf  die  schließliche  Willkür,  ob  besondere 
Schlüsse  vollzogen  werden  oder  nicht. 

Wie  konnte  dieser  Tatbestand  verkannt  werden?  Er 
konnte  es  dadurch  und  —  sinnvoll  —  nur  dadurch,  daß 
die  Philosophen  und  Theologen,  die  im  Laufe  des  19.  Jahr- 
hunderts Theorien  vom  religiösen  Akte  als  spezifischer 
Erfahrungs-  und  Erkenntnisquelle  gegeben  haben,  ihre 
Gedanken  im  Gewände  einer  schon  subjektivistischen 
Philosophie  überhaupt  entwickelt  hatten  und  daß  man 
dieses  Gewand  oder  daß  man  ihren  ganz  allgemein  — 
und  nicht  nur  für  die  Religion,  sondern  auch  für  alle 
Erkenntnis — falschen  philosophischen  Standpunkt  ver- 
wechselte mit  dem  relativen  Wahrheitskem  ihrer.  Lehren 
für  die  Religion  im  besondem. 

Dieser  allgemeine  Subjektivismus,  e;-  ist  ein  Kind 
—  historisch  gesehen  —  des  Protestantismus;  keines- 
wegs aber  gilt  dies  für  die  Lehre  vom  religiösen  Akt, 
als  besonderer  Quelle  für  die  materialen  Bestände  natür- 
licher religiöser  Erkenntnis. 

Vielmehr  finden  wir  diese  Lehre  —  ohne  die  Irrungen 
des  modernen  Subjektivismus  —  breit  und  reich  ausge- 
führt schon  bei  einer  großen  Anzahl  von  Vätern  der 
Kirche,  besonders  den  griechischen  Vätern  unter  dem 
Namen  des  »religiösen  Sinnes«,  worunter  verstanden  ist. 


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Probleme  der  Religion.  ^89 

es  gäbe  ohne  positive  OflFenbarung  ein  besonderes  Äuße- 
rungs-  und  Aufi^sungsorgan  der  menschlichen  Seele, 
durch  das  sie  in  einem  lebendigen  Kontakt  stehe  und  — 
unter  geeigneten  Bedingungen  des  Lebens  auch  sich  in 
ihm  stehend  reflektiv  wissen  könne  —  mit  Gott.  Und  erst 
hinterher  verarbeite  sie  das  in  diesem  lebendigen  Kontakte 
Gegebene  mit  dem  Verstände,  um  zu  bestimmten  Ur- 
teilen über  Gottes  Dasein  und  seine  Attribute  zu  ge- 
langen. In  neuerer  Zeit  hat  besonders  der  verdienstvolle 
französische  Oratorianer  Gratry  im  ersten  Bande  seines 
lesenswerten  Werkes  »La  connaissance  de  l'äme«  diese 
Stellen  der  griechischen  Väter  zusammengestellt.  Sehr 
eingehend  findet  sich  dieselbe  Lehre  behandelt  in  dem 
großen  theologischen  Werke  des  ausgezeichneten  Tho- 
massin,  an  dessen  große  Gelehrsamkeit  sich  auch  Gratry 
hier  anlehnt.  Auch  die  gesamte  augustinische  Richtung 
der  mittelalterlichen  und  neueren  Philosophie  und  Theo- 
logie bis  zu  Newman  —  der  in  diesen  Fragen  durchaus 
auf  ihrer  Seite  steht  —  hat  stets  den  Satz  festgehalten, 
daß  die  Seele,  sofern  sie  alles  »in  lumine  Dei«  erkennen 
und  lieben  könne,  einen  direkten  und  unmittelbaren  Kon- 
takt mit  dem  Allichte  besitze,  den  sie  sich  ins  reflexive 
Bewußtsein  bringen  könne.  Erst  Thomas  von  Aquino  hat 
aus  diesem  »in  lumine«  entschlossen  ein  nur  objektiv 
kausal  gemeintes  »per  lumen«  machen  zu  dürfen  gemeint 
und  dadurch  die  gegenwärtige  Richtung  des  Gottes- 
beweises der  natürlichen  Theologie  vorbereitet. 

Wir  werden  an  anderer  Stelle  diese  in  ihrer  Ausgestal- 
tung sehr  verschiedenartigen  Lehren  in  ihrem  geschicht- 
lichen Werdegang  und  Sinn  genau  entwickeln.  Und  wir 
hoffen  auch  zeigen  zu  können,  daß  auch  bei  Thomas  von 


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cQo  Probleme  der  Religion. 

Aquino  noch  Spuren  vonZugeständnissen  an  diese  Richtung 
der  Gotteserkenritnis  in  weit  größerer  Anzahl  vorhanden 
sind,  als  es  die  moderne  thomistische  Schule  zuzugestehen 
geneigt  ist.  Hier  kam  es  uns  nur  darauf  an,  zu  zeigen,  daß 
sich  auch  eine  natürliche  Theologie  in  unserem  Sinn  mit 
Fug  und  Recht  stützen  kann  auf  einen  wahrlich  nicht  un- 
verächtlichen Strom  einer  großen  geistigen  Tradition. 

Ganz  erheblich  anders  stehen  indes  die  Dinge  bei  den 
aus  der  modernen  Philosophie  erwachsenen  Versuchen, 
eine  besondere  materialsf)endende  Anschauungsquelle  für 
die  Gotteserkenntnis  nachzuweisen.  Da  sie  —  im  wesent- 
lichen —  auf  protestantischem  Kulturboden  erfolgten  und 
von  protestantischen  Philosophen  und  Theologen  unter- 
nommen wurden,  erfolgten  sie  auch  in  den  Gedankenresten 
der  auf  protestantischem  Boden  erwachsenen  mehr  oder 
weniger  subjektivistischen  Philosophie. 

Und  hier  ist  niemand  zu  nennen,  der  diese  Lehre  (und  die 
ihr  entsprechende  apologetische  und  missionierende  Praxis) 
—  trotz  sonstiger  großer  philosophischer  Verdienste  — 
insbesondere  für  die  katholische  Welt,  aber  auch,  wie  wir 
meinen,  in  ihrem  wahren  Sinne  und  Werte  überiiaupt  so 
tiefgehend  in  Mißkredit  brachte  wie  Schleiermacher 
und  alle  von  ihm  abhängigen,  später  stark  mit  kantischen 
Voraussetzungen  sich  vermischenden  Strömungen. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  eine  allseitige  Kritik  seiner 
Religionstheorie  zu  geben  —  so  wie  er  sie  zuerst  in  den 
Reden*,  später  in  seinen  dogmatischen  Schriften  entwickelt. 
Aber  es  genüge,  die  in  diesen  Zusammenhang  gehörigen 
Hauptirrtümer  aufzuweisen,  in  die  er  seine  im  Kerne  be- 

'  F.  £.  D.  Schleiermacher :  Über  die  Religion,  Reden  an  die  Gebildeten  unter 
ihren  Verächtern,  Berlin  1799,  »DerchrisUiche  Glaube«,  2.  Bd.  Berlin  1821-22. 


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Probleme  der  Religion.  ^  g  I 

rechtigte  und  wahre  These  von  der  Selbständigkeit  der 
Religion  ebensowohl  gegenüber  der  Moral  als  der  Wissen- 
schaft und  Philosophie  so  unheilvoll  verflochten  hat. 

I.  Schleiermachers  erster  und  tiefster  Irrtum  besteht 
darin,  daß  er  seiner  Erkenntnisquelle  »Anschauung  und 
Gefühl«  fiir  das  Ewige  keinen  anderen  Gegenstand  zu 
geben  weiß  als  »das  Universum«  —  das  Universum,  das 
als  Totalität  erfaßt  im  Menschen  ein  »Gefühl  schlecht 
hiniger  Abhängigkeit«  hervorbringe.  Nun  ist  aber  das 
materiale  Seins-  und  Gegenstandsgebiet  des  religiösen 
Bewußtseins  von  vornherein  und  schon  in  den  primitivsten 
Religionen  ein  eigenes  und  selbständiges,  vom  »Uni 
versum«  und  seinem  gesamten  Inhalt  wesensverschie- 
denes:  das  Seins-  und  Wertgebiet  des  Göttlichen  und 
Heiligen,  das  immer  erst  sekundär  in  irgendeine  Form 
der  kausalen  oder  symbolischen  Verbindung  mit  der 
Welt  gebracht  wird.  Die  nicht  schlußmäßige,  an  jedem 
Einzelfalle  eines  kontingenten  Seienden  vollziehbare 
Wesenseinsicht,  es  gebe  auch  ein  ens  a  se  =  ens 
a  nihilo,  —  femer  ein  Daseiendes  — ,  dessen  Dasein 
aus  seinem  Wesen  folgt  und  es  sei  dieses  Daseiende  ver- 
schieden von  der  Welt,  ist  hier  von  vornherein  ebenso 
übersehen,  wie  die  spezifische  Wertart  des  »Heiligen«  und 
ihre  Nichtzurückfiihrbarkeit  auf  alle  Arten  anderer  We  r  t  e. 
Schon  damit  ist  die  Theorie  Schleiermachers  mit  Pantheis- 
mus (Weltvergottung)  ebenso  irrig  verflochten  wie  mit 
dem  Subjektivismus  —  insofern  die  Religion  nicht  ein 
ontisches  ursprüngliches  Gebiet  hat  (Gott),  sondern  nur 
als  subjektive  Betrachtungsform  eben  derselben  Tatbe- 
stände (des  »Universums«)  erscheint,  die  auch  Gegen- 
stände  außerreligiöser  Erkenntnis  sind. 


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^92  Probleme  der  Religion. 

2.  Der  zweite  Irrtum  ist,  daß  der  Gegenstand  der  Reli- 
gion zu  dem  sog.  »Gefühle  schlechthiniger  Abhängigkeit« 
nicht  in  eine  intentionale,  kognitive,  sondern  in  eine 
nur  kausale  Verbindung  gebracht  wird.  Sehr  richtig  ur- 
teilt Rudolph  Otto  in  seinem  für  alle  Fragen  der  natürlichen 
Theologie  höchst  bedeutsamen  und  im  beschreibenden 
Teile  tiefgreifenden  Buche :  >  Das  Heilige  < ,  Breslau  1 9 1 7 , 
S.  IG:  »Der  andereFehler  der  Bestimmung  Schleiermachers 
ist,  daß  er  überhaupt  nur  eine  Kategorie  religiöser  Selbst- 
wertung (nämlich  Abwertung)  entdeckt  und  durch  sie  den 
eigentlichen  Inhalt  des  religiösen  Gefühls  bestimmen  will. 
Unmittelbar  und  in  erster  Hinsicht  wäre  das  religiöse  Ge- 
fühl nach  ihm  ein  Selbstgefühl,  ein  Gefühl  einer  eigen- 
tümlichen Bestimmtheit  meiner  selbst,  nämlich  meiner  Ab- 
hängigkeit. Erst  durch  einen  Schluß,  indem  ich  nämlich 
hierzu  eine  Ursache  außer  mir  hinzudenke,  würde  man 
nach  Schleiermacher  auf  das  Göttiiche  selbst  stoßen.  Das 
istnunvöllig  gegen  den  psychologischenTatbestand. 
Das  Kreaturgefiihl  ist  vielmehr  selber  erst  subjektives  Be- 
gleitmoment und  Wirkung  eines  anderen  Gefühlsmoments, 
welches  selber  zweifellos  als  erstes  und  unmittel- 
bar auf  ein  Objekt  außer  mir  geht«.  Mit  diesen  Wor- 
ten hat  R.  Otto  durchaus  einen  Nerv  des  falschen  Schleier- 
macherschen  Subjektivismus  getroffen.  Als  wir  sein  tiefes, 
schönes  und  die  Probleme  der  Religionsphänomenologie 
—  seit  Jahren  wieder  einmal  —  ernstlich  förderndes  Buch 
lasen,  haben  wir  es  mit  Staunen  erlebt,  wie  ganz  unab- 
hängig vorgenommene  Untersuchungen  —  die  seinigen 
und  die  meinen — zu  streng  analogen  Resultatengelangen 
müssen,  wenn  sie  sich  nur  möglichst  naiv  und  unbekümmert 
durch  traditionelle  Schultheorien  der  Führung  diu-ch  die 


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Probleme  der  Religion.  cgj 

Sache  selbst  überlassen.  Erst  vom  Kap.  19  ab,  wo  Otto 
sich  bemüht,  das  »Heilige«  als  Kategorie  a  priori  in  dem 
Sinne  aufzuweisen,  den  Kant  dem  KategorienbegrifF  ge- 
geben hat,  belastet  er  seine  schönen  Untersuchungen  mit 
einer  Theorie,  die  wir  für  falsch  und  widerlegt  erachten 
—  nicht  nur  auf  diesem  Gebiete,  sondern  wo  immer  sie  zu 
scheinbarer  Erklärung  außer-  und  übersinnlicher  Gegeben- 
heiten in  dem  Felde  der  Wahmehmungs-  und  Anschauungs- 
gegenständeauftritt.Auchabgesehen  von  dieser  Einstellung" 
seiner  Ergebnisse  in  eine  falsche  Philosophie,  die  alles  das- 
jenige durch  synthetische  Bewußtseinstätigkeit  zu  den 
Gegebenheiten  der  »Empfindung«  hinzugetan  wähnt,  was 
sie  im  Inhalt  der  sog.  »Empfindung«  nicht  findet,  verharrt 
Otto  in  dem  Schleiermacherschen  methodischen  Irrtum, 
die  anschaulichen  Urphänomene  des  religiösen  Bewußtseins, 
die  für  alle  konstruktive  Theologie  und  für  alle  und  jede 
Art  religiöser  Spekulation  den  unableitbaren  Stoff,  aber 
auch  nur  den  Stoff,  hergeben,  auch  in  concreto  isolieren 
zu  wollen,  —  isolieren  nämlich  von  den  Beständen,  die 
sie  mit  den  ganzen  übrigen  Tätigkeiten  und  Inhalten 
des  Geistes  eingehen.  So  glaubte  ja  auch  Schleiermacher, 
die  Religfon  auf  je  isolierte  »Intuitionen«,  »Gesichte«, 
»Gefühlserlebnisse«  in  den  »Frommen«  —  ohne  Berück- 
sichtigung des  wesensmäßigen  Kollektiv-  und  Gemein- 
schaftscharakters  der  religiösen  Erfahrung  wieder  zu- 
rückschrauben zu  dürfen  und  damit  alles  System,  ja  alles 
Dogma,  jede  Art  gedanklicher  Fixierung  als  »Verun- 
•staltung«  jener  Urbestände  ansehen  zu  sollen.  Analog 
meint  auch  Otto  angesichts  der  von  ihm  zergliederten  »In- 
tuitionsinhalte«, die  den  christolog^schen  Dogmen  zu- 
grundeliegen, besonders  der  Intuition  des  »bedeckenden 
38 


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cg^  Probleme  der  Religion. 

und  sühnenden  Mitders«  in  Christo:  »Nicht  daß  solche 
Intuitionen  in  christlicher  Glaubenslehre  überhaupt  vor- 
kommen und  eine  zentrale  Stellung  haben,  ist  zu  tadeln 
—  sie  können  gar  nicht  anders  —  sondern  daß  man  ihren 
Charakter  als  freier  Intuitionen  aus  Divination  verkennt, 
daß  man  sie  dogmatisiert,  theoretisiert  und  aus  dogma- 
tischeh  Notwendigkeiten  deduziert,  daß  man  sie  verkennt 
als  das,  was  sie  sind:  freischwebende  Äußerungen  und 
Ausdrucksversuche  des  Gefühls,  und  daß  man  ihnen  einen 
Nachdruck  verleiht,  der  sie  ungebührlich  in  den  Mittel- 
punkt des  religiösen  Interesses  rückt,  den  doch  nur  eines 
einnehmen  darf:  Das  Gotteserlebnis  selbst«.  (S.  179.) 
Hier  trennt  uns  wieder  eine' Welt  von  Otto  und  kaum 
verstehen  wir,  wie  er  nach  so  klarer  Erkenntnis  der  Irr- 
tümlichkeit des  Schleiermacherschen  Subjektivismus  hier 
wieder  reden  kann  von  »freischwebenden  Äußerungen  und 
Ausdrucksversuchen  des  Gefühls«  —  als  seien  es  nicht 
feste  ontische  Charaktere  absoluter  Heiligkeit  an 
Christi  Person  selber,  die  diese  Intuitionen  nur  auffinden, 
entdecken  —  nicht  aber  gestalten  und  konstruieren.  Und 
ebensowenig  begreifen  wir,  wieso  diese  den  puren  An- 
schauungsgehalt der  Religion  allein  vermittelnden  »Intui- 
tionen« nicht  ganz  ebenso  der  rationalen  und  syste- 
matischen Bearbeitung,  also  auch  der  »Dogmatisierung« 
und  »Theoretisierung«  sollen  unterworfen  werden,  wie 
alle  Anschauungsgehalte  z.  B.  in  den  sonstigen  »Wissen- 
schaften « .  Was  würde  Otto  sagen  von  der  Forderung  etwa 
an  die  Astronomie,  sie  solle  das  systematische  Gedanken- 
bild eines  nach  strengen  Gesetzen  und  auf  feste  Konstanten 
gegründeten  Weltgebäudes,  das  sie  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte schuf,  wieder  abbrechen  zugunsten  der  isolierten 


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Probleme  der  Religion.  cgc 

Beobachtungsinhalte  am  Himmel  und  an  den  Meßinstru- 
menten, die  zur  Schöpfung  dieses  Bildes  als  Materie  not- 
wendig gewesen  sind?  Welch  ein  Nonsens!  Otto  verfällt 
hier  demselben  Fehler  wie  Schleiermacher  (unbesehen 
anderer,  die  ich  hier  nicht  aufführe) :  Er  macht  aus  seinem 
Ergebnis  eines  theoretischen  Versuches,  sich  der  in  der 
Gegebenheitsordnung  ursprünglichsten  Gehalte  der  reli- 
giösen (hier  der  positiv  christlichen)  Anschauungsgegen- 
stände durch  einen  von  den  Dogmen  ausgehenden  Re- 
duktionsprozeß zu  bemächtigen,  —  einen  Prozeß,  der  an 
den  immer  schon  gestaltet  und  theoretisiert  vorliegenden 
Dogmen  vorgenommen  wird,  —  eine  konkrete  Religion,  die 
flir  sich  existieren  soll.  Er  glaubt  femer  (darin  echt  luthe- 
risch), es  müsse  hier  das  nach  seiner  Meinung  genetisch 
Frühere  (Urchristentum)  auch  das  HöhereundBessere,  Voll- 
kommenere sein;  und  er  macht  die  anschaulichen  (nicht 
angeschauten)  materialen,  vorlogischen  Gehalte  der  Dog- 
men, die  als  solche  durchaus  objektive  Bestände,  Glau- 
bensgutmaterien flir  die  religiöse  Gemeinschaft  sind, 
zu  bloß  subjektiven  Bewußtseinsreaktionen  von  Individuen 
—  zu  Reaktionen,  von  denen  man  nun  gar  nicht  mehr  an- 
geben kann,  wogegen  sie  eigentlich  reagieren  und  warum 
sie  so  reagieren  und  nicht  anders.  Denn  das  Glaubensgut 
ist  bei  ihm  ja  —  weggezogen,  jenes  Objektive,  in  bezug 
auf  das  diese  Reaktionen  allein  erfolgen  können,  indem  es 
: —  vermeintlich  —  erst  aus  diesen  Reaktionen  als  deren 
noch  leerer  Zielpunkt  X  soll  abgeleitet  werden. 

3.  Der  dritfe  Irrtum  Schleiermachers  (im  großen  ganzen 
auch  Ottos)  ist,  daß  der  religiöse  Akt  ganz  einseitig  vor- 
wiegend als  Gefühl  bestimmt  wird  —  ja  sogar  als  zu- 
ständliches,  je  durch  das  Universum  gewirktes  Gefühl. 
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rg5  Probleme  der  Religion. 

Hierdurch  werden  die  im  religiösen  Akt  eingeschlossenen 
und  sogar  ihn  leitenden  Akte  einer  unmittelbar  anschau- 
enden Vernunft  zugunsten  der  wert^erichteten  Gemüts- 
akte —  die  der  religiöse  Akt  in  concreto  gleichfalls  ent- 
hält —  im  Widerspruch  zum  wahren  Sachverhalt  ausge- 
schlossen —  und  dies  unter  der  falschen  philosophischen 
Voraussetzung,  es  gebe  nur  mittelbar  schließende  und 
nicht  auch  eine  unmittelbar  wesensanschauende  Ver- 
nunft —  wie  sie  doch  schon  Aristoteles  richtig  gelehrt  hatte, 
wenn  auch  mit  unvollständiger  Begründung.  Die  Vemunft- 
idee  eines  unendlichen  Seins — wie  sie  imEns  a  se  schon 
mitgesetzt  ist  —  kommt  hierdurch  nicht  zu  ihrem  Rechte. 
Ja,  die  ganze  auf  diese  Lehre  aufgebaute  natürliche  Theo- 
logie erhält  hierdurch  ein  falsches  »irrationalistisches«  oder 
doch  arationales  Gepräge.  Auch  dies  ist  historisch  zu 
verstehen.  Da  sich  Schleiermacher — hierin  mit  der  Roman- 
tik einig  —  vor  allem  gegen  die  Religionstheorie  der  Auf- 
klärung wendet  und  mit  den  Rationalisten  der  Aufklärung 
eben  darin  noch  zusammengeht,  daß  er  die  ganze  Sphäre 
eines  unmittelbaren  Denkens  und  der  Intuitio  nicht  kennt 
und  alles  Denken  =  mittelbares  und  schließendes  Denken 
setzt,  mußte  er  dazu  kommen,  die  ganze,  ja  die  primäre  Ver- 
wurzelung des  religiösen  Bewußtseins  in  der  noch  von  der 
technischen  Zielsetzung  der  »Wissenschaft«  freien  Ver- 
nunft zu  verkennen. 

4.  Mit  diesem  Irrtum  ist  aber  auch  ohne  weiteres  der  an- 
dere Irrtum  verbunden,  daß  die  so  wichtigen  wertkognitiven 
Gemütsakte  in  ihrer  ursprünglichen  und  intentionalen 
(also  nicht  kausalen)  Grundbeziehung  auf  die  Wertseite  des 
Göttlichen,  —  auf  das  Heilige  —  mit  den  »Gefühlen«  (oder 
doch  einer  besonderen  Art  von  »Gefühl«)  gleichgesetzt 


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Probleme  der  Religion.  cgy 

werden,  d.  h.  mit  Bewußtseinszuständen  des  Subjekts, 
die  ihrem  Wesen  nach  weder  Aktnatur  besitzen  noch  inten- 
tionale  ursprüngliche  Gerichtetheit  auf  einen  Gegenstand, 
noch  endlich  kognitive  (erkennende)  Bedeutung.  Daß  alle 
religiösen  »Gefühle«  nur  nachträgliche  Reaktionen  sind, 
die  durch  die  lebendige  Berührung  mit  der  objektiven 
§eienden  Gegenstandssphäre  der  Religion  ausgelöst 
wurden,  wie  sie  sich  schließlich  im  Dogma  als  der  fides, 
quae  creditur  verkörpert  —  diese  wichtigste  wahre  Grund- 
ansicht des  religiösen  Objektivismus  wurde  durch  diesen 
Irrtum  nicht  nur  verkannt,  es  wurde  sogar  diese  Wahrheit 
in  das  Gegenteil  verkehrt,  in  das  Gegenteil,  das  sich  in 
dem  ganz  schweren  Irrtum  Schleiermachers,  ausspricht,  es 
seien  die  Dogmen  der  Religionen  überhaupt  nur  nachträg- 
liche »Beschreibungen  frommer  Gefühlszustände«. 
Demgegenüber  wissen  wir  nichts  sicherer,  als  daß  Re- 
flexion auf  »fromme  Gefühle«  mit  lebendiger  Religion 
nichts  zu  tun  hat^;  daß  femer  auch  die  naiven,  einfach 
erlebten  frommen  Gefühle  nur  erblühen  und  in  die  Tiefen 
des  Menschen  wachsen  können  durch  die  ursprüngliche 
Nahrung  und  immer  neue  Erweckung,  die  sie  in  regster 
Erkenntnis  und  im  Gebetsverkehr  mit  der  objektiven 
Sphäre  der  Glaubens-  und  Gnadengüter  erhalten.  Auch 
die  spezifisch  religiösen  Gemütsakte,  in  deren  gegen- 
ständlich gerichteten  Vollzug  sich  die  Wertseite  des  Gött- 
lichen erschließt  und  aüftut,  sind  von  allem,  was  Schleier- 
macher, »fromme  Gefühle«  nennt,  wesensverschieden.  Sie 
sind  höchstens  ihrer  Gegenstände  nachträgliche 
Wirkungen.  Nicht  minder  sind  diese  Gefühle  wesens- 

^  Aufmerksame  Reflexion  auf  die  religiösen  Gefühle  stumpft  die  Gefühle  ab, 
ja  tötet  sie  auf  die  Dauer. 


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cq3  Probleme  der  Religion. 

verschieden  von  allem  Wollen  und  Streben,  mit  denen 
sie  die  hierin  psychologisch  und  wertungstheoretisch  sehr 
zurückgebliebene  Psychologie  der  Neuthomisten  noch  ver- 
wechselt. Gottesliebe,  Ehrfurcht,  heilige  Scheu,  Gottes- 
furcht usw.  sind  keine  Gefühle,  die  nur  kausal  erweckt 
würden  durch  die  Idee  Gottes  (oder  gar  wie  Schleier- 
macher meint,  des  »Universums«),  sondern  sie  sind  Akte 
des  Gemütes,  in  denen  ein  Göttliches  und  Heiliges  erfaßt 
und  gegeben  wird,  —  sich  uns  aufschließt  — ,  das  ohne 
diese  Akte  des  Gemütes  uns  so  wenig  gegeben  sein  kann 
wie  die  Farbe  dem  Blinden;  das  aber  erst  sekundär  auch 
zu  »frommen  Gefühlen«  im  Subjekt  fuhren  mag.  Mit 
Recht  ist  daher  diese  Schleiermachersche  Richtung  der 
Religionsbegründung  »Gefühlstheologie«  ^genannt  und 
darum  von  allen  Vertretern  des  philosophischen  und 
theologischen  Objektivismus  grundsätzlich  abgelehnt 
worden.  Aber  wie  groß  wäre  die  Täuschung,  wollte  man 
auf  die  Irrungen  dieser  »Geflihlstheologie«  und  ihres  Sub- 
jektivismus (pietistisch -hermhuterischer  Herkunft)  jede 
Art  von  Lehre  zurückfuhren,  die  zu  einer  natürlichen 
Theologie  noch  etwas  anderes  nötig  zu  haben  glaubt,  als 
einen  »Kausalschluß«  aus  dem  Dasein  der  Welt:  Irgend 
eine  materialspendende  Anschauung  für  den  Gegen- 
stand der  Religion  —  durch  eine  anschauende  unmittel- 
bare Vernunft  und  durch  intentionale  Gemütsakte. 

5.  Der  letzte  hierher  gehörige  Grundirrtum  Schleier- 
machers ist,  daß  er  —  hier  in  ebenso  einseitiger  Reaktion 
zu  Kants  falschem  Moralismus  befangen,  wie  er  sich 
als  Geflihlstheologe  zur  rationalen  Aufklärungstheologie 
befand  —  die  aktive  Seite  des  religiösen  Bewußtseins, 
insbesondere  die  Möglichkeit  einer  mittelbaren  und  un- 


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Probleme  der  Religion.  jgg 

mittelbaren  Einigung  des  menschlichen  Willens  mit  dem 
Willen  Gottes  auf  Grund  der  religiösen  Erkenntnisakte 
und  Liebesakte  verkannte  und  daß  er  dadurch  —  ähnlich 
-wie  Luther  —  Religion  und  Moral  unheilvoll  ent- 
zweibrach. Auch  hier  ist  das  falsche  »romantische«  Über- 
legenheitsbewußtsein über  Moral  und  Recht  —  neben 
der  übertreibenden  Reaktion  gegen  Kants  in  der  Tat 
philisterhaften  Moralismus  —  in  ihm  tätig.  Es  war  ein 
unhaltbarer  Versuch  L  Kants,  das  Dasein  Gottes  —  dessen 
Wesen  er  im  Unterschiede  zu  Schleiermacher  noch  als 
in  einer  reinen  Vemunftidee  gegeben  ansah  —  auf  ein 
Postulat  der  praktischen  Vernunft  zu  gründen,  das  auf 
Grund  eines  zuvor  schon  gegebenen  und  gültigen  Sitten 
gesetzes,  im  Grunde  nur  —  wäre  es  selbst  als  »Postulat« 
berechtigt  —  zu  einem  Wesen  X  fuhren  würde,  das 
zwischen  Glückseligkeit  und  Tugend  ausgleicht,  also  zu 
einem  Vergeltungs-  und  Rechtsgaranten.  Diesem 
Wesen  käme  auf  Grund  seiner  Form  der  Auffindung 
weder  Allmacht,  noch  Allweisheit  und  Allwissenheit 
noch  Allgüte  und  Alliebe  zu.  Durch  Schleiermacher  — 
soweit  die  natürliche  Religion  in  Frage  kommt  —  wurde 
es  nur  ersetzt  durch  einen  rein  pantheistischen  All- 
machtsgott, als  dem  Korrelat  des  so  einseitig  hervor- 
gekehrten Gefühles  »schlechthiniger  Abhängigkeit«.  Alle 
anderen  positiven  göttlichen  Attribute  sollen  nach  Schleier- 
macher erst  an  der  historischen  Erfahrung  der  Person 
Christi  aufgehen.  Von  einer  allseitigen,  die  »Attribute« 
im  rechten  Gleichgewicht  und  der  rechten  Folgeordnung 
stabilierenden  Gotteslehre  ist  also  in  beiden  Fällen 
weder  bei  Kant  noch  bei  Schleiermacher  die  Rede.  Auch 
die  essentielle  Personalität  Gottes  (die  als  solche  über 


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6oO  Probleme  der  Religion. 

Ein-  und  Dreipersönlichkeit  noch  nichts  einschließt)  als 
Gegenstand  schon  der  natürlichen  Theologie  ist  in  beiden 
Religionstheorien  nicht  konstituiert.  Denn  weder  ist  es 
irgendwie  vemunftnotwendig,  daß  eine  nur  »vergeltende« 
Gerechtigkeit  auch  persönlich  sei  (da  hierzu  auch  ein 
metaphysisches  Weltgesetz,  eine  bloße  »sittliche  Welt- 
ordnung« ebenso  genügen  würde,  beij.  G.  Fichtes  an  Kant 
orientierter  Jugendliehre  ja  auch  offenkundig  genügen 
sollte),  noch  fordert  das  Gefühl  schlechthiniger  Abhängig- 
keit einen  personalen  Gott  als  notwendiges  Korrelat. 
Erst  der  Nachweis,  daß  i.  die  personale  Seinsform  die 
einem  konkreten  Geistwesen  (und  nur  Konkretes  kann 
»real«  sein)  wesentliche  ist  und  daß  2.  .Personwert  evi- 
dent (und  noch  unabhängig  von  aller  Religion)  höher  ist 
als  Sachwert,  Aktwert,  Zustandswert  usw.  führen  zu  den 
Folgerungen,  daß  ein  von  der  Welt  verschiedenes  Ens  a 
se  als  Geist  auch  Personalität,  daß  femer  ein  sum- 
mum  bonum  (als  Wesenseinsicht  aus  der  objektiven  Wert- 
lehre) gleichfalls  kein  Sachgut,  sondern  ein  Personwert, 
ja  eine  Wer  t  per  so  n  sein  müsse  ^. 

Die  Lehre  vom  religiösen  Akt  und  der  Selbständigkeit 
der  Religion  führt  also  —  wie  all  dies  zeigt  —  nur  dann 
in  Subjektivismus  und  Unsicherheit,  wenn  ihr  nicht  ent- 
spricht eine  Wesensontologie  des  Göttlichen  und 
wenn  nicht  im  Aufbau  beider  Lehrstücke  (als  Voraus- 
setzung der  natürlichen  Theologie  als  Realerkenntnis  Got- 
tes) von  der  Wesensontologie  ausgegangen  wird.  Gott 
in  seinem  natürlichen  Wesen  (ein  wesenloses,  was-unbe- 
stimmtes  Reales  »Gott«  ist  eine  Absurdität)  ist  der  erste 

^  Beide  Sätze  habe  ich  im  »Formalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale 
Wertethik«  eingehend  begründet 


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Probleme  der  Religion.  6o  I 

Gegenstand  aller  natürlichen  Gotteserkenntnis;  unser  Ver- 
hältnis zu  ihm,  also  auch  die  Aktarteri,  durch  die  ein 
Göttliches  erfaßbar,  erkennbar  wird,  —  mithin  die  ganze 
Lehre  vom  religiösen  Akt  und  der  religiösen  Bewußt- 
seinsform —  ist  das  Zweite.  Erkenntnisquelle  für  dieses 
Lehrstück  ist  die  evidente  Wesensreflexion  auf  die  Wei- 
sen und  FonAen  des  Teilnehmens  unseres  menschlichen 
Seins  am  Sein  Gottes,  von  denen  auch  die  Gottes  erkenn  t- 
nis  nur  eine  Art  ist. 

Wird  nun  auf  diesem  Wege  die  natürliche  Theologie  wirk- 
lich aufgebaut  —  hier  geben  wir  nur  den  Fingerzeig  auf  den 
Weg  hinzu  —  so  ist  die  Lehre  von  einer  materialen  Er- 
kenntnisquelle fiirdie  natürliche  Theologie,  einer  Quelle  also 
hinaus  über  bloße  Schlüsse  und  induktive  Erfahrungs- 
daten aus  der  vorreligiösen  Erfahrungswelt,  völlig  befreit 
von  den  allgemeinenVerirrungen einer subjektivistischen 
Philosophie.  Nicht  ein  speziell  religicmsphilosophischer 
irrtum  ist  es  ja,  der  bei  Schleiermacher  stattfindet,  son- 
dern der  ganz  allgemein  falsche,  von  der  Phänomenologie 
widerlegte  Grundsatz,  es  müsse  alles,  was  die  sogenann- 
ten Empfindungsdaten  (eines  dazu  falsch  bestimmten  Be- 
griffes von  »Empfindung«)  am  Gegebenen  der  Anschau- 
ung, Wahrnehmung  und  Erfahrung  überrage,  entweder 
auf  Empfindungsderivate  »zurückgeführt«  oder  auf  eine 
konstruktive  Zutat,  ein  Ergebnis  der  Sy nthesis  des  mensch- 
lichen Geistes  zurückgeführt  werden;  es  könne  also  ein 
asensueH,  respektive  übersensuell  »Gegebenes«  imd  zu- 
gleich ursprünglich  Gegebenes;  und  es  könnten  Wesens- 
bestände und  Wesensstrukturen  von  diesem  Gegebenen, 
die  sich  über  alles  zufallig  Daseiende  des  Hie  und  Nunc 
erheben  und  die  ontischen  Möglichkeitsbereiche  dieses  zu- 


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6o2  Probleme  der  Religion. 

fälligen  Daseienden  regieren,  gar  nicht  geben.  Nun  gilt 
aber  dieses  alte  Vorurteil  —  wie  wir  heute  wissen  —  nicht 
einmal  fiir  die  einfachsten  Tatsachen  der  natürlichen  so- 
genannten Sinneswahmehmung.  Es  gilt  nicht  für  das  Be- 
deutungsmoment, den  Wirklichkeitscharakter,  für  die  Ge- 
stalten und  sonstigen  Formenmomente,  die  Sachbezie- 
hungsphänomene,  die  Wertcharaktere,  die  Erscheinungs- 
weisen ^er  in  sie  einbezogenen  sinnlichen  Qualitäten,  die 
Dinglichkeit  (und  ihre  essentiellen  Aufbauteile),  die  Ma- 
terialität und  den  (eventuellen)  Wirkensbezug  auf  anderes 
Wahrgenommene  und  auf  uns  (z.B.  das  Phänomen  »Emp- 
finden«, das  nicht  selbst  empfunden  wird);  es  gilt  femer 
nicht  für  Räumlichkeit,  Zeitlichkeit,  Vielheitsmoment;  nicht 
für  die  einfachsten  Phänomene  der  Bewegung,  Verände- 
rung, des  Wechsels  usw.  Alles  die  Bedeutungen  dieser 
Worte  anschaulich  Erfüllende  ist  wesensmäßig  außer- 
sensuell und  gteichwohl  auch  »gegeben«,  nicht  aber 
durch  unseren  Geist  »produziert«  oder  »hinzugetan«.  Was 
hindert  denn  dann,  ebenso  ehrlich  und  voraussetzungslos 
(gegenüber  allen  genetischen  und  sonstigen  »erkenntnis- 
theoretischen« Theorien)  zu  fragen,  als  man  bei  den  ge- 
nannten Dingen  zu  fragen  sich  endlich  gewöhnte,  auch 
nach  den  wesenhaften  Grundgegebenheiten  des  natür- 
lichen religiösen  Bewußtseins  und  den  ontischen  Wesens- 
momenten dieses  Gegebenen?  Der  Sphäre  des^Unsinn- 
lichen  und  außersinnlich  Gegebenen  tritt  also  das  über- 
sinnlidi  Gegebene  (als  dem  Fundament  auch  des  Ȇber- 
natürlichen«) als  Studiumsobjekt  der  Wesensphänomeno- 
logie  zur  Seite. 

Aber  —  fragt  man  vielleicht  —  ergibt  sich  hier  nicht 
eine  unbegrenzte  Anzahl  von  zu  studierenden  Phänomenen, 


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Probleme  der  Religion.  603 

die  unseren  geistigen  Blick  mehr  verwirrt  als  erleuchtet? 
Nun  in  der  Tat:  es  gibt  eine  religionsphilosophische  Rich- 
tung, bei  der  eine  solche  Gefiahr  eingetreten  ist.  Ich  denke 
hier  an  das  bekannte  Werk  von  William  James,  das 
unter  dem  Namen  »Die  Mannigfaltigkeit  der  religiösen 
Erfahrung«  auch  ins  Deutsche  übersetzt  ist  und  bei  uns 
stark  gewirkt  hat,  femer  an  analoge  Versuche  wie  jene 
Starbucks  u.  a.  So  wertvoll  die  lebendigen  Beschreibungen 
religiöser  Bewußtseinszustände  besonders  in  James'  Werke 
sind,  so  hat  dieses  Unternehmen  doch  mit  dem  hier  um- 
rissenen  Versuche  einer  Verbesserung  der  natürlichen 
Theologie  nichts  zu  tun.  Denn  nicht  auf  die  chaotischen 
Zufälligkeiten  individueller  religiöser  Erfahrung,  sondern 
auf  Wesen  und  Wesensstrukturen  zuerst  ihrer  Ge- 
genstände und  dann  erst  der  ihnen  zugehörigen  reli- 
giösen Aktformen  ist  unser  Blick  gerichtet.  Nur  im  Sinne 
des  veranschaulichenden  Experimentes  (wie  es  auch  in 
Mathematik  und  Mechanik  üblich  ist),  nicht  im  Sinne  in- 
duktorischer Generalisierung  und  Abstraktion  können  wir 
zu  unseren  Zielen  auch  Beschreibungen  solcher  Art  be- 
nutzen. Dazu  besitzt  diese  »Religionsphilosophie«  keinerlei 
Prinzip  religionstheoretischer  Evidenz,  vermöge  dessen 
in  das  Chaos  der  von  ihr  aufgeführten  »Fälle«  Unter- 
schiede nach  den  Richtungen  »seinsgegründet«  und  »illu- 
sionär « , » echt — unecht « ,  » adaequat — inadaequat « , » nor- 
mal (im  idealtypischen  Wortsinne)  und  anormal«,  »voll- 
kommen —  unvollkommen«,  zu  machen  sind.  Ein  solches 
Prinzip  sucht  sie  vielmehr  durch  das  ganz  und  gar  wurm- 
stichige pragmatistisch-biologische, — wenn  nicht  geradezu 
utilitarische  Prinzip  der  günstigen  Folgen  der  Über- 
zeugungen für  das  praktische  Leben  zu  ersetzen. 


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6o4  Probleme  der  Religion. 

Dabei  rede  ich  hier  —  wo  diese  Richtung  nicht  zur  Kritik 
überhaupt  steht  —  gar  nicht  von  ihren  übrigen  Grund- 
mängeln:  die  Nichtbeachtung  der  Wesensontologie  des 
Göttlichen,  die  aller  religiösen  Erkenntnislehre  voranzuge- 
hen hat,  die  fast  völlige  Unkenntnis  über  die  gerade  der 
religiösen  Erkenntnis  wesenseigentümliche  Kollektivform, 
die  Miteinanderform  der  religiösen  Akte,  die  neugierige 
Vorliebe  für  den  pathologischen  oder  doch  grob  sensatio- 
nellen Fall. 

Aber  —  fragt  man  —  gibt  es  denn  für  eine  natürliche 
Theologie  in  unserem  Sinne  eine  solche  Evidenz,  und  fer- 
ner religiöse  Wahrheits-  und  Wertnormen,  die  ihr  ent- 
springen? Müßten  nicht  auch  wir  entweder  das  Prinzip 
eines  außerhalb  der  Religion  gültigen  Grundsatzes  an  sie 
heranbringen,  um  schon  ihre  natürlichen  Formen  an  ihm 
zu  messen  nach  wahr  und  falsch  usw.  ?  Eine  Reihe  logische 
und  ontologische  Grundsätze  überhaupt,  wie  sie  die  alte 
natürliche  rein  rationale  natürliche  Theologie  besitzt  (Kau- 
salprinzip), oder  eine  der  Religion  vorhergehende  mora- 
lische Form,  auf  deren  Realisierungskraft  hin  die  Reli- 
gion geprüft  wird  (Kant),  oder  ihre  Leistungskraft  und 
nur  »transzendentale«  Vorausgesetztheit  ihrer  Sachthe- 
sen für  die  größte  Einigung  und  Entfaltung  der  geistigen 
Gesamtkultur  und  der  Realisierung  ihrer  Grundwerte?  Ich 
bin  der  Meinung,  daß  alle  diese  Versuche,  Maßstäbe  außer- 
halb der  Religion  selbst  zu  finden,  an  denen  man  die  Wahr- 
heit der  Religion  messen  könnte,  sich  auf  prinzipiell 
falscher  Fährte  befinden.  Selbst  all  dasjenige,  was  die 
Religion  für  außerreligiöse  Werte  (Wissenschaft,  Moral, 
Staat,  Recht,  Kunst)  bedeute,  das  kann  sie  ihnen  nur 
bedeuten,  wenn  sie  nicht  um  dieser  Bedeutung  willen. 


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Probleme  der  Religion.  605 

sondern  aus  dem  heraus  anerkannt  und  geübt  wird,  was 
in  ihr  selbst  an  Evidenz  und  Sicherheit  gelegen  ist.  Daß 
keine  religiöse Thesis  einsichtigen  ontologischen,  logischen, 
moralischen  und  ästhetischen  Sätzen  widerstreiten  dürfe, 
ist  dabei  selbstverständlich.  Aber  daraus  folgt  nicht,  daß 
über  das  »Nichtfalsch«  hinaus  auch  die  positive  Wahrheit 
der  Religion  also  gerechtfertigt  werden  könnte.  Die  Maß- 
stäbe für  die  Wahrheit  und  allen  sonstigen  Erkenntnis- 
wert der  Religion  können  daher  nur  aus  ihrem  Wesen 
selbst  heraus  gefunden  werden  — sie  können  von  keiner 
außerreligiösen  Sphäre  her  an  sie  herangebracht  werden. 
Auch  das  ist  ja  nichts,  was  für  die  Religion  allein  gültig 
wäre.  Auch  die  gesamte  Ethik,  die  gesamte  Ästhetik  sind 
ohne  eine  auf  nichts  weiter  zurückführbare  ethische  und 
ästhetische  »Evidenz«,  in  der  sich  die  Selbstgegebenheit 
der  betreffenden  Werte  im  strengsten  Sinne  ankündigt, 
eitel  Stroh,  auch  wenn  man  beliebige  Induktionen  und  alle 
mögliche  rein  logische  und  ontische  Axiomatik  voraus- 
setzt. Auch  die  Religion  besitzt  also  in  der  Selbstgegeben- 
heit des  Gegenstandes,  auf  den  der  religiöse  Akt  gerichtet 
ist  —  in  letzter  Linie  Gottes  —  und  in  der  Evidenz,  in  der 
sich  diese  Selbstgegebenheit  dem  Bewußtsein  erschließt, 
ihren  letzten  und  höchsten  Erkenntnismaßstab;  und  es 
hieße  nur  das  Festeste  auf  weniger  Festes,  stellen,  wenn 
man  das  »ungenügend«  fände.  Alle  »kritischen«  Urteile, 
alle  sogenannten  Rechtsfragen,  auch  urteilen  zu  dürfen, 
was  man  in  diesem  Sinne  des  Wortes  schaue  oder  nur 
»glaube«,  sind  hier  wie  überall  nach  Meinongs  treffendem 
Ausdruck^ » Nachurteile « ,  sind  ferner  Urteile,  die  sich  ihrer- 
seits selbst  wieder  auf  Evidenz  zu  stützen  haben.  Es  ist 

*  S.  A.  Meinong:  »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit«,  A.  Barth. 


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6o6  Probleme  der  Religion. 

hier  nicht  unsere  Absicht,  das  Wesen  des  Glaubensaktes 
als  eines  Grundaktes  aller  Religion  (auch  der  natürlichen 
Religion)  in  seinen  Unterschieden  zu  außerreligiösem 
Wissen,  zum  Vermuten  imd  Meinen,  zu  allen  bloßen 
Willensakten  und  zum  »Schauen«  des  religiösen  Gegen- 
standes herauszuarbeiten.  Evident  ist  nur,  daß  alles  »Glau- 
ben «  —  sachlich  —  fundamentiert  ist  in  einem  >  Schauen « , 
—  ich  sage  sachlich,  also  nicht  so,  als  müßten  beide 
Akte  demselben  Individuum  und  Bewußtsein  angehören. 
So  ist  aller  christlicher  Glaube  in  allerletzter  Linie  funda- 
mentiert auf  das,  was  Christus  über  Gott  und  über  sich 
selbst  gegeben  war,  —  nicht  in  Form  des  Glaubens,  son- 
dern des  Schauens  —  respektive  auf  das,  was  er  seiner 
Kirche  hiervon  mitzuteilen  für  gut  fand. 

Aber  hieraus  folg^  nicht,  daß  das,  was  an  sich  evident 
ist  an  Sein  und  Sosein  in  einem  möglichen  auf  dieses 
Sein  und  Sosein  gerichteten  Schauakt  uns  auch  ver- 
möge die«5er  Evidenz  zur  Gewißheit  werden  soll.  Das  Ur- 
prinzip  al  er  religiösen  Erkenntnis,  das  Prinzip  evidenter 
Selbstgegebenheit,  steht  genetisch  am  Schlüsse,  nicht  am 
Anfang  des  religiösen  Erkenntnisprozesses  und  es 
kann  daher  sehr  wohl  ein  reiches  Gefüge  mittelbaren  Den- 
kens nötig  sein,  damit  wir  uns  dieser  Evidenz  annähern. 
Die  Anwendung  dieses  Prinzips  erfolgt  daher  zunächst 
so,  daß  die  gesamte,  ungemein  reiche  —  heute  noch  kaum 
ernst  angegriffene  —  onti^che  und  axiologische  Wesens- 
axiomatik  des  religiösen  Gegenstandes,  an  dem  Wesen 
des  Göttlichen  entwickelt  wird.  In  dieser  Wesensaxiomatik 
haben  wir  einen  ersten,  dem  religiösen  Seinsbereich  als 
solchem  zukommenden  idealen  Maßstab  für  alle  faktischen 
Gestaltungen  der  Religion  —  auch  der  faktischen  natür- 


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Probleme  der  Religion.  607 

liehen  Religion  —  einen  spezifisch  religiösen  Maßstab, 
der  also  als  positiver  religiöser  Erkenntnismaßstab  zu  den 
nur  Falschheitskriterien  nicht  Wahrheitskriterien  bilden- 
den allgemein  ontologischen,  logischen,  ethischen,  ästhe- 
tischen Einsichten,  denen  eine  religiöse  Thesis  nur  nicht 
widerstreiten  darf,  hinzukommt.  Indes  muß  man  nicht 
nur  die  eminente  Bedeutung  dieses  Maßstabes,  man  muß 
auch  seine  Grenze  genau  erkennen. 

Er  ist  —  wie  Evidenz  überhaupt  und  auf  allen  Ge- 
bieten —  ein  Maßstab  für  den  Erkenntniswert  der  je 
prälogischen  Faktoren  unserer  Erkenntnis.  »Wahrheits«- 
maßstab  ist  Evidenz  überall  nur  insofern,  als  jenes  je  in  den 
Dingen  selbst  liegende  »verum«  in  Betracht  kommt,  das  in 
dem  alten  Satze  gemeint  ist:  »Omne  ens  est  verum«, 
jenes  »Wahre«,  das  wir  meinen,  wenn  wir  etwa  reden  vom 
»wahren  Gold«  gegen  Scheingold,  dem  »wahren  Gott« 
usw.  Sofern  dagegen  jenes  »wahr«  und  »falsch«  in  Frage 
kommt,  das  nur  Sätzen  und  Urteilen  zukommt,  ist  Evi- 
denz kein  Maßstab  des  Wahren.  Diese  beiden  Dinge  muß 
man  genau  unterscheiden.  Wahr  (oder  »echt«,  wenn  der 
Wert  des  Gegenstandes  mit  einbezogen  ist)  bedeutet,  daß 
ein  Gegenstand  eben  dasjenige  auch  sei,  was  er  »bedeutet« 
(nicht,  was  wir  in  unserenBedeutungsintentionen  an  ihm  oder 
von  ihm  »meinen«).  Diesem  »Wahren«  steht  also  gegen- 
über n  ich  t  das  Falsche  (das  es  überhaupt  nur  in  der  Sphäre 
von  Urteilen  und  Sätzen  gibt)  sondern  das  Scheinhafte 
(und  sein  Träger,  das  Phantom),  das  überall  vorliegt,  wo 
ein  Gegenstand  nicht  das  ist,  was  er  bedeutet  (was  der 
ihm  selbst  immanenten  Bedeutungsforderung  entspricht). 
Dem  Scheinhaften  entspricht  auf  der  Seite  der  Akte  des 
Subjekts  nicht  der  Irrtum,  der  nur  dem  Falschen  der 


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6o8  Probleme  der  Religion. 

Urteilssphäre  entspricht,  sondern  die  Täuschung,  die  also 
gleichfalls  in  der  prälogischen  Sphäre  der  Erkenntnis 
lieg^  und  die  durch  Urteilswahrheit  (Übereinstimmung 
des  Urteils  mit  dem  durch  ihn  gemeinten  Anschauungs- 
gegebenen) und  Urteilsrichtigkeit  (Immanenz  des  Prädi- 
kates im  Subjekt)  niemals  überwunden  werden  kann*. 
Der  Weg  vom  Scheinhaften  zum  Rechten  und  Wahren 
ist  stets  die  Ent-täuschung,  eine  Form,  die  gerade  auf 
dem  Wege  der  erkennenden  Seele  zum  »wahren  Gott« 
eine  weit  größere  und  tiefergehende  Rolle  spielt  als  alle 
Urteilswahrheit  und  Richtigkeit.  Der  Weg  zum  wahren 
Gott  fuhrt  hinweg  über  die  Enttäuschung,  die  Enttäuschung 
über  tausenderlei  Arten  von  Scheingöttem  oder  Götzen. 

Es  ist  daher  überall  die  volle  und  ganze  Wahrheit 
eines  Urteils  (auch  eines  religiösen  Urteils)  nicht  nur  ge- 
knüpft an  die  Übereinstimmung  des  Urteils  mit  seinem 
anschaulich  gegebenen  Gegenstand  und  die  Urteilsrichtig- 
keit (resp.  Schlußrichtigkeit,  wenn  die  Urteile  aus  ande- 
ren deduktiv  erschlossen  sind),  sondern  auch  daran,  daß 
dasjenige,  womit  das  Urteil  übereinstimmt,  auch  ein 
Wahres  und  Echtes  sei,  nicht  ein  Scheingegenstand 
oder  ein  religiöses  Phantom.  Und  es  ist  diese  prälogische 
Sphäre  von  Einsicht  und  Täuschung,  Wahrem  und  Schein- 
haftem in  allen  religiösen  Gegenständen  selber  (nicht 
erst  den  Urteilen  über  sie  und  den  Systemen  dieser  Urteile), 
fiir  die  wir  das  Prinzip  der  religiösen  Evidenz  und  die 
besondere  Axiomatik  des  religiösen  Seins-  und  Wert- 
gebietes in  Anspruch  zu  nehmen  haben. 

Daraus  folgt  wie  grundirrig  es  wäre,  wenn  man  —  wie 
es  eine  einseitige  dogmatische  Methode  tut,  die  immer 

*  Verg^l.  meinen  Aufsatz  über  »Idole  der  inneren  Wahrnehmung«. 


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'Probleme  der  Religion.  609 

zugleich  eine  einseitig  rationalistische  ist  —  den 
möglichst  einheitlichen  und  widerspruchslosen  System- 
charakter der  religiösen  resp.  theologischen  Sätze 
und  Urteile  zu  einem  genügenden  Wahrheitskriterium 
dieser  Sätze  machen  würde.  Die  noch  so  große  innere 
Übereinstimmung  der  Sätze  untereinander,  ihre  maximale 
Ableitbarkeit  von  wenigen  Grundsätzen  geben  keine  Ge- 
währ dafür,  daß  dem  Ganzen  dieses  Systems  auch  Wahrheit 
in\  ersten  Sinne  zukomme.  Auch  in  einem  Bereich  bloßer 
Phantome  wäre  ein  solches  in  sich  geschlossenes  Sys- 
tem möglich.  Darum  hat  die  natürliche  Theologie  (nicht 
minder  auch  die  positive)  ihre  Sätze  nicht  nur  immer  neu 
zu  prüfen  an  den  sie  fundierenden  religiösen  Anschauungs- 
und Erlebensinhalten;  sie  hat  vielmehr  auch  diese  Inhalte 
selbst  immer  neu  zu  prüfen  nach  der  Echtheit  und  Schein- 
haftigkeit  ihrer  Gegenstände.  Mißachtet  eine  natürliche 
Theologie  (wovon  hier  allein  die  Rede  sein  soll)  diese 
Unterschiede  der  Erkenntnismaßstäbe  für  das  religiös 
Wahre  und  Wertvolle,  indem  sie  diese  Maßstäbe  auf  die 
nur  dir  die  religiöse  und  theologische  Urteilssphäre 
giltigen  Maßstäbe  beschränkt,  so  darf  sie  sich  nicht  wun- 
dem, wenn  sie  ohne  Echo  und  Wirkung  da  bleibt,  wo 
dieses  Echo  und  diese  Wirkung  vor  allem  erwünscht  wäre 
und  nur  dort  gehört  wird,  wo  sie  unnötig  ist. 

Erst  wenn  die  anschaulich  evidenten  Grundlagen  der 
Urteile  und  Schlüsse  der  natürlichen  Theologie  in  der 
Herausarbeitung  der  religiösen  Urphänomene  und  der 
Wesenheiten  dieser  nebst  ihrer  Wesenszusammenhänge 
vollgesichert  sind,  wird  die  rationale  Urteilswahrheit 
über  den  religiösen  Gegenstand  von  entschiedenster  Be- 
deutung. Ist  aber  diese  Grundlage  gesichert,  so  wäre  es 
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6 1  o  Probleme  der  Religion 

auch  ganz  falsch,  einem  rationalen  Zusammenhang 
dieser  Wahrheiten  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Auch 
die  überlieferten  Gottesbeweise  als  Grundlage  eines  weit 
feineren  und  differenzierteren  Ausbaus,  dessen  sie  fähig 
sind,  bekommen  sofort  ihren  guten  Sinn  und  ihr  volles 
Recht,  wenn  sie  sich  auf  die  religiöse  Wesensaxiomatik 
bereits  stützen;  und  wenn  sie  nicht  beanspruchen,  die  reli- 
giösen Urphänomene  allererst  zu  konstruieren  und  aus 
vorreligiösen  Tatsachen  und  Tatsachenfeststellungen  ver- 
meintlich (per  analogiam)  herzuleiten,  sondern  sich  be- 
gnügen, eine  rationale  systematische  Einheit  unter  ihnen 
resp.  unter  den  Urteilen  über  sie  und  diesen  Urteilen  mit 
dem  je  gegebenen  außerreligiö^en  Wissen  über  die  Welt- 
wirklichkeit herzustellen. 

Und  hier  ist  es  nicht  »die«  sog.  Wissenschaft  (die  es 
nicht  gibt;  denn  es  gibt  nur  die  Wissenschaften)^  mit 
deren  Sätzen  die  natürliche  Theologie  die  religiösen 
Gegenstände  in  rationale  Einheit  zu  bringen  hat,  sondern 
es  ist  die  Philosophie  und  an  erster  Stelle  die  Meta- 
physik, die  sich  selbst  erst  wieder  gründet  i.  auf  die  ein- 
sichtigen Wesenszusammenhänge  unter  den  Wesens- 
ideen der  zufälligen  Weltwirklichkeit,  2.  auf  die  jeweiligen 
Ergebnisse  der  positiven  Wissenschaften.  Wie  die  Philo- 
sophie die  einzige  rechtmäßige  Vermittlerin  ist  zwischen 
Theologie  und  den  Wissenschaften,  also  ein  un- 
mittelbarer Verkehr  von  Theologie  und  Wissenschaft 
ohne  diese  Vermitdung  beiden  Teilen  nicht  zusteht,  so 
ist  die  natürliche  Theologie  von  der  theologisdien 
Seite  her,  die  philosophische  Metaphysik  als  die  philo- 
sophische Erkenntnis  vom  realen  Weltgrund  (von  philo- 

*  Vgl.  den  Aufsatz  über  das  »Wesen  der  Philosophie«. 


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Probleme  der  Religion.  6 1 1 

sophischer  Seite  her)  das  Übergangsglied  von  Welt- 
wissen und  Gotteswissen.  Die  philosophische  Grund- 
erkenntnis, die  ontologische  Eidethik  aller  Weltgegeben- 
heit (der  inneren  und  äußeren  Welt)  legt  den  in  dieser 
zufälligen  Weltwirklichk^it  dynamisch  realisierten  ewigen 
Aöyog  frei  als  den  Inbegriff  aller  Wesenheiten  und  Wesens- 
zusammenhänge  und  -strukturen.  Sie  gibt  also  eine  Reihe 
von  Wahrheiten,  die  obzwar  gefunden  an  dieser  zufälligen 
Weltwirklichkeit  nicht  nur  für  diese  Weltwirklichkeit, 
sondern  für  jede  mögliche  Weltwirklichkeit  gelten :  also 
auch  für  jenen  Teil  der  Weltwirklichkeit,  der  die  Grenzen 
aller  möglichen  Erfahrung  vom  Wesen  der  nur  zufälligen 
und  induktiven  Erfahrung  überschreitet.  Diese  Wahr- 
heiten oder  die  Fähigkeit  zu  ihrer  Erkenntnis  sind  weder 
»eingeboren«,  noch  sind  sie  nur  der  Ausdruck  subjektiver 
Funktionsgesetze  unseres  Geistes,  die  für  die  Gegenstände 
der  Erfahrung  gültig  wären,  weil  sie  für  deren  Erfahren 
gültig  sind  (Kant).  Sie  sind  an  dem  zufälligen  Erfahrungs- 
gegenstand durch  Wesensschau  der  in  ihm  realisierten 
Ideen  und  Ideenzusammenhänge  gefunden;  sie  gelten  aber 
fiir  alle  zufälligen  Erfahrungsgegenstände  desselben 
Wesens.  Denn  was  für  die  Wesenheiten  der  Gegen- 
stände gilt,  das  gilt  auch  fiir  alle  Gegenstände  desselben 
Wesens  a  priori  —  gleichgültig,  ob  diese  Gegenstände 
Gegenstände  unserer  zufälligen  Erfahrung  sind 
oder  nicht.  In  diesem  Inbegriff  des  materialen  Apriori 
als  des  Inbegriffs  aller  ontischen  Wesenheiten  selbst  und 
ihres  Zusammenschlusses  in  einer  Wesenswelt  hat  die 
Metaphysik  ihre  Grundstütze  —  sozusagen  ihre  erste 
obere  Schlußprämisse.  Gegenüber  den  Prinzipien  der  for- 
malen Logik  sind  diese  Sätze  sämtlich  synthetische  Wahr- 

39* 


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6 1  2  Probleme  der  Religion. 

heiten  a  priori  (sofern  man  unter  »synthetisch«  nicht  ver- 
steht : » durch  Akte  der  Sy nthesis  geworden « ,  sondern  über 
all  das  hinausgehend,  was  aus  den  Prinzipien  der  Identität 
und  des  logischen  Widerspruches  folgt).  Denn  sie  stützen 
sich  auf  evidente  Anschauung  der  puren  Was-heit  der 
Gegenstände  selbst,  nicht  auf  zufällige  Wahrnehmung  und 
Beobachtung,  die  ihrer  Natur  nach  ebenso  unabgeschlossen 
ist  für  jeden  Gegenstand,  als  die  evidente  Anschauung 
fertig  und  geschlossen  —  ungeachtet,  daß  natürlich  auch 
sie  der  Täuschung  fähig  ist  und  verschiedene  Grade  der 
Adaequation  haben  kann.  Darum  weiß  der  Meta- 
physiker  a  priori  und  evident,  daß  auch  in  allen  Teilen  der 
Weltwirklichkeit  (einschließlich  des  realen  Weltgrundes), 
die  in  keiner  direkten  oder  indirekten  Kausalverknüpfung 
mit  den  realen  Trägem  unserer  menschlichen  psycho- 
physischen  Organisation  stehen,  dieselben  Wesenheiten 
realisiert,  dieselben  Wesenszusammenhänge  gültig,  der- 
selbe Aufbau  der  Wesenswelt  (auch  der  Wesenswerte)  ver- 
wirklicht ist,  der  in  dem  Teile  der  uns  durch  mögliche 
Wahrnehmung  und  Beobachtung  zugänglichen  Wirklich- 
keit realisiert  ist.  Ich  kann  also  das  Wesen  einer  zu- 
fälligen Wirklichkeit  sehr  wohl  noch  erkennen,  die  ich  selber 
als  Wirklichkeit  nicht  kenne,  —  ja  nicht  kennen  kann 
(auf  Grund  der  Grenzen  meiner  Organisation).  Und  eben 
hierauf  beruht  die  Möglichkeit  einer  Metaphysik. 
Denn  da  wir  einerseits  wissen,  daß  nur  ein  Teil  des  zu- 
fällig Wirklichen  mit  unserer  Organisation  in  kausaler 
Verknüpfung  steht  (direkt  nur  jener,  der  unsere  Sinne 
berührt  und  der  dir  unsere  lebensfördemden  oder  hin- 
dernden Handlungen  »wichtig«  ist),  andererseits  aber 
die  Axiome  der  allseitigen  Abhängigkeit  des  Seins  aller 


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Probleme  der  Religion.  6 1 3 

Gegenstände  und  ihrer  Variationen  voneinander  und  das 
Axiom  der  Kausalität  selber  auf  Wesenseinsichten  be- 
ruhen, die  über  das ,  uns  gegebene  zufallig  Wirkliche 
hinaus  und  für  alles  Mögliche  dieser  Daseinsart  gelten, 
—  so  haben  wir  auch  das  gute  Recht,  uns  auf  Grund 
dessen,  was  je  die  positive  Wissenschaft  in  ihrem  — 
Wesens -unendlichen  —  Fortschritt*  an  zufällig  Wirk- 
lichem feststellt  (als  Untersatz)  und  mit  jenen  Wesens- 
einsichten (als  Obersatz)  uns  ein  Gedankenbild  von  der 
wirklichen  Welt  überhaupt  und  ihrem  Daseinsgrunde 
zu  machen.  Doch  darf  nicht  verkannt  werden,  daß  solche 
Metaphysik  nicht  vermöge  ihrer  ersten,  sondern  ver- 
möge ihrer  zweiten  Prämisse  stets  hypothetischen  Cha- 
rakter behält  und  femer  nur  ein  wahrscheinliches  Wissen 
vermittelt.  Schon  aus  diesem  Grunde  allein  vermag  sie  — 
auch  in  ihrem  ideal  vollendet  gedachten  Ausbau  —  nicht 
einmal  die  natürliche  Religion  und  die  von  ihr  genommene 
natürliche  Theologie  zu  ersetzen.  Denn  es  gehört  zum 

'  Alle  Wesenheiten  und  Wesenszusammenhänge,  die  gefunden  sind  an  der 
unserer  Organisation  zugänglichen  zufalligen  Weltwirklichkeit,  sind  als  — 
irgendwie  —  realisiert  in  der  uns  nicht  zugänglichen  Weltwirklichkeit  an- 
zunehmen, wenn  nachgewiesen  ist,  daß  wir  ihre  zufällige  Wirklichkeit  nicht 
feststellen  könnten  —  wenn  sie  bestünde.  Und  nur  dann  ist  die  Nichtrea- 
lisiertheit  einer  Wesenheit  in  dem  Reiche  des  zufallig  Wirklichen  überhaupt 
rechtmäßig  zu  behaupten,  wenn  nachgewiesen  ist,  es  müsse  die  Feststellung 
dieser  Realität  uns  (auf  Grund  der  Grenzen  unserer  Organisation)  zugäng- 
lich sein  —  wenn  das. als  zufallig  wirklich  Vermeinte  auch  wirklich  wäre. 
Es  ist  also  (auf  Grund  in  letzter  Linie  des  Satzes,  daß  im  £ns  a  se  als 
dem  Grunde  der  Welt  das  Dasein  aus  seinem  Wesen  selbst  folgt)  die  Be- 
.  hauptung  der  Nichtrealität  eines  sonst  bekannten  Wesens  —  über  die  uns 
bekannten  Fälle  seiner  Realisiertheit  hinaus,  —  welche  die  Last  des  Be- 
weises trägt;  nicht  trägt  diese  Last  die  Behauptung  seiner  Realität  Nicht 
aber  liegt  in  diesen  Thesen  die  Behauptung,  es  seien  in  dem  uns  sinnlich 
unerkennbaren  Teile  der  zufalligen  Weltwirklichkeit  nur  die  Wesenheiten 
realisiert,  die  uns  an  dem  uns  bekannten  Teile  dieses  Wirklichen  erschaubar 
sind. 


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6 1 4  Probleme  der  Religion. 

Wesen  jeder  religiösen  Überzeugung,  daß  sie  ihren  Inhalt 
rechtmäßig  absolut,  nicht  relativ  gewiß  weiß.  Darum  und 
darum  allein,  muß  in  der  Religion. der  Glaube  und  sein 
»Wagnis«  da  eintreten,  wo  das  Schauen  des  religiösen 
Gegenstandes  fehlt. 

Ist  dieser  Grundsatz  der  Wesensverschiedenheit  auch 
von  Metaphysik  und  natürlicher  Theologie  (erst  recht  von 
Religion)  also  bis  in  die  letzten  Grundlagen  der  Theo- 
logie festzuhalten  und  muß  man  demgemäß  die  Lehre 
verwerfen,  es  seien  die  höchsten  Grundsätze  der  Meta- 
physik zugleich  Fundamentallehren  der  Theologie,  so 
darf  man  doch  ebensowenig  verkennen,  daß  einer  Reli- 
gion und  Theologie  ohne  Metaphysik  alle  Anknüpfungs- 
punkte und  Vermittlungen  mit  dem  Weltwissen  und 
der  weltlichen  Lebensführung  fehlen  würde,  die  sie  zu 
ihrem  eigenen  Dasein  und  Leben  dringend  bedarf. 
Die  falsche,  ungegründete  Skepsis  gegen  die  Meta- 
physik, welche  die  positivistisch-sensualistische  Erkennt- 
nislehre und  (in  anderer  Form  nur)  die  Erkenntnistheorie 
Kants  großgezüchtet  haben,  ist  einer  ganzen  Schule  der 
protestantischen  Theologie  —  ohne  tiefere  Untersuchung 
der  erkenntnistheoretischen  Fragen — als  das  willkommene 
Mittel  erschienen,  durch  vermeintliche  Stabilierung  eines 
vollkommenen  Dualismus  von  Glauben  und  Wissen 
einen  Irrationalismus  des  Glaubens  aufzurichten,  der  nach 
der  Meinung  dieser  Theologen  dem  Glauben  und  der 
Religion  erst  ihre  wahre  Freiheit  und  Selbständigkeit* 
zurückgäben.  In  diesem  Sinne  hat  besonders  die  neu- 
lutherische Theologie  der  Schule  Albrecht  Ritschis  alle 
Metaphysik  nicht  nur  als  erkenntnistheoretische  Unmög- 
lichkeit (mit  epigonenhafter  Anlehnung  sei  es  an  einen 


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Probleme  der  Religion.  6 1 5 

sensualistischen  Positivismus*,  sei  es  an  Kant)*,  sondern 
auch  als  einen  Schädling  für  die  Religion  verworfen. 
Der  Verzicht  auf  Vernunft  und  Erkenntnis  (auf  die  »Hure 
Vernunft«,  wie  Luther  zu  sagen  pflegte)  sollte  um  so  un- 
bekümmertere massive  subjektive  »Glaubens-«  und  reli- 
giöse »Werturteile«  in  Freiheit  setzen,  die  sich  dann 
möglichst  unvermittelt  durch  Welt,  Natur,  historische 
Entwicklung  der  Religion  und  der  Kulturgebiete  auf  die 
isolierte  Person  Christi  richten  sollten.  Ich  werde  hier  nicht 
von  der  ungeheuren  Unwahrhaftigkeit  reden,  zu  der  diese 
Gebietstrennung  zwischen  Glauben  und  Wissen,  die  immer 
zugleich  eine  Trennung  zwischen  Praxis  des  Seelsorgers 
und  theologischer  Wissenschaft  ist,  geführt  hat.  Hier  ist 
uns  nur  wesendich  die  Einsicht,  daß  alle  Einheit  und 
Harmonie  des  geistig-persönlichen  Daseins  des  Men- 
schen auf  diese  Weise  unheilvoll  zerbrochen  worden 
ist.  Ein  hinsichtlich  alles  Weldichen  (Weltweisen,  Welt- 
praxis) dahinkriechender  Wurm  (eingebannt  in  die  Enge 
seiner  Organisation  und  seiner  nächsten  Umwelt)  soll  un- 
vermittelt und  plötzlich  durch  das  »fiat«  eines  Glaubens- 
urteils sich  in  die  Tiefe  der  Gottheit  versetzen:  Das  ist 
das  Bild  des  Menschen,  das  diese  sonderbare  Theologie 
erzeugt.  Das  ist  unmöglich,  das  ist  widersinnig  —  schon 
für  den  guten  Geschmack  —  geschweige  für  die  Logik. 
Ein  Mensch,  der  nicht  schon  in  Weltwissen  und  Welt- 
leben mit  jenem  Ewigkeitssinn  die  Dinge  aufnimmt,  mit 
jener  platonischen  Liebe  zum  Ideenhaften  und  Wesen- 
haften, die  der  Philosophie  ewiges  Motiv  ist  und  deren 
rastlose  Bewegung  ihm  das  Auge  des  Geistes  erst  öffnen 

^  So  insbesondere  J.  Kaftan  in  seiner  »Philosophie  des  Protestantismus«. 
'  So  insbesondere  Hermann:  »JDer  Verkehr  des  Christen  mit  Gott«. 


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6 1 Ö  Probleme  der  Religion. 

kann  für  den  in  der  Welt  realisierten  Aoyog,  ein  solch  aphi- 
losophischer und  amusischer  Mensch,  besitzt  nicht  und 
kann  gar  nicht  besitzen  die  Prädisposition  der  geisti- 
gen Haltung,  in  der  ihm  erst  das  Reich  der  religiösen 
Gegenstände  aufgehen  kann. 

Ist  die  Metaphysik  auch  nicht  logisch  und  sachlich  not- 
wendig zur  Begründung  der  Religion,  so  ist  sie  doch 
religionspädagogisch  (ganz  unangesehen  ihres  selbstän- 
digen inneren  theoretischen  Rechtes)  nicht  eine  zufällige, 
sondern  eine  wesensnotwendige  Vorstufe  auch  aller 
religiösen  Erkenntnis  und  Selbstvollendung.  Denn  nicht 
historischen  Entwicklungsstufen  oder  sogenannten  »Zeit- 
altem« entspricht  —  wie  A.  Comte  meinte  —  das  reli- 
giöse, metaphysische  und  positiv -wissenschaftliche  Er- 
kenntnisziel und  -motiv,  sondern  einer  dauernden  Kon- 
stitution des  menschlichen  Geistes  und  einem  ganz  be- 
stimmtem Aufbau  dieser  Konstitution,  vermöge  dessen 
das  Untere  zur  notwendigen  Vorstufe  des  Oberen  wird  — 
d.  h.  zu  einem  Trittbrett,  das  nicht  übersprungen  werden 
kann,  ohne  daß  der  Sprung  überhaupt  verfehlt  wird. 

Eine  ganze  Kultur  wie  eine  singulär-menschliche 
Bildung  ohne  Metaphysik  ist  also  auch  eine  reli- 
giöse Unmöglichkeit.  Der  Versuch  sie  aufzurichten 
hat  nur  zur  Folge  den  entsetzlichen  Zustand  metaphy- 
sischer Prätensionen  der  Einzelwissenschaften  —  also 
schlechter  uneinheidicher,  anarchischer  Metaphysik.  Denn 
das  metaphysische  Motiv  erheischt  notwendig  Befriedi- 
gung —  genau  so  notwendig  wie  das  Glaubensmotiv. 
Und  wie  das  letztere  nur  die  alternative  Wahl  dem  Men- 
schen läßt  zwischen  »Gott«  und  »Götzen«,  so  läßt  ihm 
das  metaphysische  Motiv  nur  die  Wahl  zwischen  einer 


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Probleme  der  Religion.  6 1  7 

bewußten  Metaphysik  mit  Überschau  über  die  ganze 
Welt  (als  Ideen-  und  Wesensaufbau)  und  un-  oder  halb- 
bewußter metaphysischer  Hypostasierung  eines  tech- 
nischen Handwerksbegriffes  irgend  einer  Einzelwissen- 
schaft. »Scientifismus«  (Neukantianer),  Energetik,  Emp- 
findungsmonismus, sog.  Panpsychismus,  Geschichtsmate- 
rialismus, Philologenpaganismus,  Biologismus  usw.  usw. 
sind  solche  Pseudometaphysiken,  die  den  religiösen 
Götzendienereien  z.  B.  des  Mammonismus,  des  Staats- 
fetischismus, des  Nationalismus  usw.  genau  entsprechen. 
Das  wesensmäßig  dazu  gehörige  soziologische  Bild  einer 
Gesellschaft,  in  der  die  Metaphysik  als  soziale  Kultur- 
tmd  Bildungsfunktion  fehlt,  besteht  in  einem  schranken- 
losen, ungezügelten  anarchischen  Fachmenschentum, 
einer  Bildung  und  eines  Wissens,  das  jeder  Universalität 
der  Geistesbildung  verlustig  gegangen  (also  auch  der  zu 
ihr  gehörigen  pädagogischen  Institution,  der » Universität  < ) 
und  das  seine  Fachinteressen,  Fachbegriffe  zu  Schlüsseln 
für  das  Weltgeheimnis  machen  möchte^.  Die  Welt  —  sie 
ist  jeweilig  dann  das  X,  das  vermeintliche  »Schloß«,  für 
das  der  Fachmann  sich  einen  Schlüssel  verfertigt  hat:  Sie 
ist  je  nachdem  *im  Grunde«  »Leben«,  »Seele«,  »Ener- 
gie«, »JEmpfindung«,  »Wirtschaft«  usw.  usw.  Wer  die 
Möglichkeit  der  Metaphysik  verneint,  dem  ist  —  ehe  man 
theoretisch  diesen  Satz  widerlegt  —  zuerst  zu  zeigen,  und 
mit  absoluter  Sicherheit  des  Erfolges  zu  zeigen,  er  habe 
Metaphysik,  d.  h.  er  habe  in  seinem  Bewußtsein  Ideen, 

*■  Dafi  der  hervorragende  Fachmann  auch  anders  denken  kann,  das  bezeigt 
das  mir  eben  zukommende  Buch  »Das  Weltengeheimnis«  von  Karl  Jellmek 
(Stuttgart  192 1),  in  dem  dieser  Vertreter  der  physikalischen  Chemie  in  be- 
wundernswerter Weise  eine  echt  philosophische  Synthese  unseres  gegen- 
wärtigen Wissensstandes  unternimmt. 


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6 1 8  Probleme  der  Religion. 

Vorstellungen,  Urteile  über  die  metaphysische  Seinssphäre 
und  es  seien  diese  Urteile  nur  halbe,  schlechte,  einseitige 
Urteile.  Es  steht  hier  also  genau  so  wie  mit  der  religiösen 
Pädagogik.  Wer  Gott  leugnet,  dem  ist  —  vor  der  Recht- 
fertigung seines  Daseins  —  zunächst  einmal  aus  dem  Tat- 
bestande seines  Lebens  heraus  zu  zeigen,  er  habe  und 
besitze  ein  Gut,  eine  Sache,  die  er  »als  wie  einen  Gott«, 
—  als  wie  eine  Sache  vom  Wesen  des  Göttlichen  —  in 
jedem  Moment  seines  Lebens  tatsächlich  behandle;  er 
solle  sich  diese  Sache  zum  klareiJ  Bewußtsein  erheben 
und  durch  den  Heilsweg  der  Enttäuschung  einsehen, 
diese  Sache  sei  ein  Götze. 

Wie  die  Metaphysik  also  soziologisch  anstelle  einer 
Summe  von  Fachspezialismen  Einheit  geistiger  Bildung 
ermöglicht,  so  gibt  auch  sie  und  nur  sie  die  gemeinsame 
geistige  Plattform  und  Atmosphäre,  in  der  sich  Ange- 
hörige verschiedener  positiver  Religionen  und  Kirchen 
untereinander  und  mit  Leugnern  positiver  Religion  über 
die  höchsten  Angelegenheiten  des  Daseins  und  Wissens 
ins  Benehmen  setzen  und  versuchen  können,  den  je  an- 
deren Teil  auch  für  ihre  religiöse  Sache  zu  gewinnen.  So 
ist  schon  das  unerläßliche,  durch  ein  absolutes  Vemunft- 
und  Sittengebot  geforderte  Hinstreben  zur  ein  eil  Kirche 
Gottes^  von  einem  Bestände  verschiedener  positiver  Reli- 
gionen und  »Kirchen«  aus,  vom  Bestand  und  von  der  An- 
erkennung einer  Metaphysik  schlechthin  abhängig.  Wird 
sie  verneint,  so  muß  dies  notwendig  fuhren  zu  einer  reli- 
giös- und  sittenwidrigen,  dem  Prinzip  der  Heilssolidarität 

*  Daß  die  Idee  der  Kirche  als  Institut  für  die  Heils-Solidarität  evident 
wesenhaft  und  auf  Grund  der  Unteilbarkeit  des  Heilswertes  eine  bt,  habe 
ich  gezeigt  in  »Formalismus  in  der  Ethik  usw.«,  IL  Teil. 


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Probleme  der  Religion.  6 1 9 

und  dem  Liebesgebot  aucn  zum  Heile  des  Bruders  wider- 
streitenden Einkapselung  der  Kirchen  und  sonstigen 
Religionsgemeinschaften.  Daß  diese  auch  die  Einheit  des 
Geistes  und  der  Willensziele  des  betreffenden  Volkes  oder 
der  betreffenden  Nation  schwer  gefährdet  und  zur  Anarchie 
aller  Zielstrebigkeiten  führt  —  die  durch  keine  Coope- 
ration in  den  nur  technischen  und  utilitarischen  Schätzungen 
und  Willenszielen  wiederzugewinnen  ist,  durch  diese  viel- 
mehr nur  noch  furchtbarer  und  gefährlicher  gemacht  wird 

—  habe  ich  in  dem  Aufsatz  dieses  Bandes  über  die  » Christ- 
liche Gemeinschaftsidee«  an  dem  Beispiel  des  deutschen 
Volkes  gezeigt  \ 

Endlich  ist  die  Metaphysik  auch  das  notwendige 
Medium,  durch  das  sich  die  Nationen  in  Wissensfragen 
als  Nationen  verständigen.  Denn  Metaphysik  als  die  tiefste 
Konzentration  aller  theoretischen  reinen  Wissenswerte 
(nicht  der  technisch  angewandten  und  beschränkten)  ist 
dem  soziologischen  Geltungsziele  nach  positiv  kosmo- 
politisch —  nicht  »international«  wie  die  Wissenschaft 

—  und  ihrer  seelischen  Wurzel  nach  national-geistig  — 
nicht  bloß  generell  menschlich  wie  die  Wissenschaften.  Nur 
in  der  Wechselwirkung  metaphysischer  Ideen,  in  ihrer 
Befruchtung,  gegenseitigen  Vertiefung  entspinnt  sich  das 
hohe  Gespräch  der  nationalen  Geistesarten  selbst. 
Die  Religion  und  Kirche  ist  den  Nationen  von  vornherein 
überlegen  und  von  ihnen  unabhängig.  Die  Wissenschaften 
sind  qua  Wissenschaften  umgekehrt  unterhalb  der  Stufe 
des  nationalen  Geistes  und  darum  können  sich  ihre  Jünger 
national  prinzipiell  grenzenlos  vertreten,  so  daß  das  Natio- 

*  Vgl.  ferner  meinen  Aufsatz:  »Der  Friede  unter  den  Konfessionen«  im 
»Hochland«,  Nov.  1920  u.  Januar  1921. 


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^,->^S^^^i-^. 


i\t: 


620  Probleme  der  Religion. 

nale  und  die  spezifischen  und  reinen  Kulturwerte  des 
Wissens  in  ihnen  nicht  wesensnotwendig  in  die  Erschei- 
nung treten.  Fällt  also  die  Metaphysik,  so  ist  auch  der 
höchste  geistige  Verkehr  der  Nationen  auf  einer 
gemeinsamen  Plattform  bezüglich  der  letzten  Wissens- 
fragen unterbunden  und  die  Einheit  der  geistigen  Kultur 
der  Menschheit  auch  in  dieser  Richtung  preisgegeben. 
Auch  die  alle  Nationen  von  Hause  aus  und  ursprünglich 
überragende  religiöse  und  kirchliche  Autorität  vermag 
aber  auf  Nationen,  die  sich  also  eines  noch  gemeinsamen 
geistigen  Frage-  und  Antwortgebietes  und  ihnen  als  Na- 
tionen gemeinsamer  Wissensziele  begeben  haben,  nicht 
mehr  so  einzuwirken,  daß  sie  ihnen  gemeinsam  verständ- 
lich wird.  So  schädigt  der  Ausfall  der  Metaphysik  auch 
in  der  Richtung  auf  die  übernationale  Wirksamkeit  der 
Kirche  die  Religion  indirekt  selber. 

Gleichwohl  und  trotz  dieser  eminenten  indirekten  Be- 
deutung, welche  die  Metaphysik  für  die  Religion  besitzt 
und  aus  Gründen  immer  besitzen  wird,  die  im  essentiellen 
Aufbau  der  menschlichen  Natur  selbst  gelegen  sind, 
muß  die  Religion  nicht  nur  als  positive  Offenbar ungs- 
religion,  sondern  schon  als  natürliche  Religion  als  der 
notwendigen  Vemunftbasis  der  offenbarten,  ihre  Selb- 
ständigkeit behaupten.  Die  religiöse  Erkenntnis  bleibt 
von  der  metaphysischen  Erkenntnis  geschieden  und  ist 
—  sachlich  —  nicht  von  dieser  abhängig. 

Aber  nicht  nur  nicht  ausgeschlossen,  sondern  sogar  not- 
wendig zu  fordern  ist,  daß  die  religiöse  Wahrheit  und  Er- 
kenntnis — ^  wo  sie  gewonnen  —  die  metaphysisdie  durch- 
leuchte und  der  metaphysischen  Erkenntnis  eine  letzte  reli- 
giöse Deutung  verleihe,  zu  der  sie  selbst  nicht  fähig  ist. 


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Probleme  der  Religion.  62  I 

Wie  dies  geschehe,  sei  hier  an  einem  Hauptpunkt  ge- 
zeigt: der  religiösen  Deutung  der  Wesenssystematik 
der  Welt,  die  zur  Metaphysik  als  der  Wirklichkeitserkennt- 
nis des  jenseits  aller  möglichen  Menschenerfahrung  ge- 
legenen zufälligen  Daseins  —  wie  oben  gezeigt  —  das 
Sprungbrett  bildet. 

Wenn  wir  vermöge  der  Reduktion  alles  zufällig  uns 
gegebenen  Seienden  auf  seine  pure  Wesenheit  und  aller 
faktisch  erlebten  und  vollzogenen  Akte,  dadurch  und  in 
denen  uns  dieses  Seiende  gegeben  ist,  auf  ihre  Wesenheit 
und  ihren  Wesensauf  bau  den  das  All  durchwaltenden  Äöyog 
entschleiert  haben,  so  sind  wir  durch  keine  metaphysische 
Erkenntnis  genötigt  oder  befugt,  diese  Wesenheiten  sei  es 
noch  weiter  abzuleiten  oder  sie  einem  realen  Subjekte  in- 
härieren  zu  lassen.  Auch  die  Metaphysik  und  ihre  Vor- 
aussetzung, die  Wesensphänomenologie,  ist  und  bleibt 
eine  selbständige  Erkenntnisart,  die  ihre  Evidenz,  Wahr- 
heit und  ihren  Wert  nicht  von  der  Religion  zu  Lehen 
trägt. 

Haben  wir  aber  vermöge  der  inneren  und  selbständigen 
Evidenz  der  religiösen  Akte  eine  Erkenntnis  von  Gottes 
Wesen  gewonnen  und  sein  Dasein  oder  das  Dasein  eines 
Sogearteten  durch  den  (natürlichen)  Glaubensakt  bejaht, 
so  ändert  sich  die  Sache.  Wir  dürfen  und  sollen  von 
diesem  erreichten  Stande  unseres  Glaubens  aus  nun  auch 
den  erschauten  Wesenheiten  und  Wesenszusammenhängen 
den  Sinn  eines  ideellen  ewigen  Modelies  beilegen,  nach 
dem  Gott  —  der,  wenn  er  existiert,  nicht  nur  die  letzte 
und  eine  Ursache  der  Welt,  sondern  auch  ihr  freier 
personhafter  Schöpfer  und  Erhalter  ist,  die  Welt 
schuf  und  erhält.  Denn  so  wenig  uns  ein  Kausalschluß 


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02  2  Probleme  der  Religion. 

vom  Dasein  der  Welt  auf  Gott  als  ihren  Schöpfer  führt, 
so  sicher  dürfen  wir  —  wenn  uns  Gottes  Dasein  und 
das  Dasein  der  Welt  gegeben  ist  —  den  Schluß  ziehön, 
Gott  sei  die  Ursache  und  der  personhafte  freie  Schöpfer 
der  Welt.  Und  unter  diesem  Gesichtspunkt  erst  wer- 
den nun  auch  die  erkannten  Wesenheiten  —  wird  der  ge- 
gliederte Aöyog,  der  der  Welt  einwohnt,  —  Ideen  Gottes 
und  die  Ideenzusammenhänge  die  »veritates  aetemae« 
(oder  doch  der  uns  Menschen  zugängliche  Ausschnitt  aus 
ihnen),  nach  denen  Gott  die  wurkliche  Welt  schuf  und 
erhält. 

Auch  der  Sinn  desErkenntnisprozesses  der  Wesens- 
struktur des  Universums  ändert  sich  mit  seiner  religiösen 
Deutung.  Wir  erkennen  nun,  daß  —  wenn  immer  wir 
eine  Wesenheit  erschaut  haben  —  wir  auf  inadäquate  Weise 
etwas  von  der  Idee  selbst  mit  erschaut  haben,  die  Gott 
von  dieser  Sache  hat  und  der  gemäß  er  sie  schaffend 
oder  erhaltend  bewirkt  (unangesehen  der  causae  secundae, 
die  nur  ihr  je  relatives  So-  und  Anderssein  und 
Anderswerden  im  Verhältnis  zum  hie  et  nunc  betreffen). 
Daß  wir  —  wie  Malebranche  behauptet  hat  —  alle  Ideen 
»in  Gott«  erkennen,  das  behaupten  wir  indes  mit  dieser 
These  keineswegs.  Gott  ist  nicht  der  »Ort  der  Ideen«, 
d.  h.  das  bloße  X,  das  Subjekt  der  Ideen  wäre*.  Wir 
erkennen  die  Wesen  vielmehr  in  und  an  den  Dingen 
selbst;  aber  wir  dürfen  und  sollen  von  einem  religiösen 
Glaubensstande  aus,  den  wir  durchaus  nicht  so  wie 
Malebranche  annahm  —  wenn  er  Gott  nur  als  »den  Ort 
der  Ideen«  definieren  will  —  auf  metaphysischem  Wege 
gewannen,  unsere  Erkenntnis  der  Wesenheiten  als  Er- 

*  Siehe  Malebranche:  >La  recherche  de  la  verit^«,  Bd.  I. 


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Probleme  der  Religion.  623 

kennfnis  einer  göttlichen  Idee  von  den  Sachen  nach- 
träglich deuten. 

Aber  auch  unsere  Vemunfterkenntnis  der  Wesensstruk- 
tur des  Universums  selbst  —  nicht  nur  ihr  Gegenstand  — 
gewinnt  unter  dem  Lichte  des  religiösen  Glaubens  einen 
neuen  Sinn,  der  durchaus  noch  nicht  in  ihr  selbst  gelegen 
ist.  Die  Evidenz,  —  das  Einleuchten  des  Wesens,  in 
dem  es  sich  im  strengsten  Sinne  als  selbstgegeben  dar- 
stellt —  gewinnt  nun  erst  den  Charakter  einer  »natür- 
lichen Offenbarung  Gottes«,  durch  die  er  den  erken- 
nenden Geist  des  Menschen  über  Wesen  und  Sinn  seines 
Schöpfungswerkes  aktiv  belehrt.  Die  Wesenheiten 
und  ihre  Zusammenhänge  werdejn  nun  »Worte  einer 
natürlichen  Sprache  Gottes«  an  den  Menschen  und 
in  den  Dingen,  durch  die  er  ihm  auf  seine  »Fragen« 
durch  die  Vermittlung  des  »natürlichen  Lichtes«  »Ant- 
,wort«  erteilt.  Die  —  im  vorreligiösen  Stande  —  als 
spontane  Liebe  des  Geistes  zum  Wesenhaften  in  allen 
Dingen  gegebene  Urbedingung*  aller  philosophischen 
Erkenntnis,  enthüllt  sich  unter  dieser  religiösen  Deutung 
des  Erkenntnisprozesses  gleichfalls  als  etwas  neues  und 
anderes,  als  sie  geschienen:  Als  Gegenliebe  zu  der 
spontanen  und  zuvorkommenden  Liebe  Gottes,  durch  die 
er  dem  Menschen  das  Wesen  seines  Schöpfungswerkes 
tätig  aufschließt,  indem  er  es  in  den  Geist  des  Menschen 
einleuchten  läßt.  Es  steht  also  auch  hier  nicht  so,  wie 
Augustin  und  seine  Nachfolger  meinten,  daß  der  Bestand 
und  die  Geltung  ewiger  Wahrheit  (und  der  Prinzipien  ihrer 

^  Vgl.  die  klaren  und  feinsinnigen  Auseinandersetzungen  über  diesen  Au-  • 
gustinischen  »Beweis«  neuerdings  bei  Grabmann :  Augustins  Lehre  über  Gott 
und  die  Seele. 


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624  Probleme  der  Religion. 

Erkenntnis)  selbst  schon  einen  »Gottesbeweis«  ergäbe. 
Man  kann  die  »Wahrheit«  nicht  mit  Gott  so  identifizieren, 
wie  es  Augustin  versuchte,  ohne  den  persönlichen 
Gottesgedanken  zugunsten  eines  bloßen  Piatonismus 
preiszugeben.  Und  man  kann  ebensowenig  behaupten,  es 
sei  im  Aktvollzuge  der  Wesenserkenntnis  der  Dinge  selber 
schon  ein  begleitendes  Bewußtsein  oder  evidentes  Erleb- 
nis davon  gegeben,  daß  dieser  Akt  selber  durch  die  ewige 
Vernunft  so  kausiert  werde,  wie  es  im  Sinne  des  Augu- 
stinischen » Omnia  cognoscere  in  lumineDei «  gelegen  wäre. 
Vielmehr  handelt  es  sich  nicht  um  ein  Erlebnis,  sondern 
um  eine  nachträgliche  Deutung  des  Erkenntnisaktes  und 
nicht  um  eine  Deutung,  die  uns  zu  einer  Erkenntnis  Gottes 
erst  hinführte,  die  wir  noch  nicht  besitzen,  sondern  um  eine 
Deutung,  deren  inneres  Recht  der  religiöse  Anschauungs- 
und Glaubensakt  aus  seiner  selbständigen  Evidenz  heraus 
trägt  und  zu  verantworten  hat,  —  die  also  eine  ander- 
weitige Gegebenheit  der  Überzeugung  vom  Dasein 
und  Wesen  Gottes  bereits  voraussetzt. 

Und  endlich  nimmt  nun  erst  auch  die  Erkenntnis  aller 
möglichen  Wahrheit  selber,  die  fiir  die  philosophische  und 
wissenschaftliche  Erkenntnis  (im  letzteren  Falle  zwar  unter 
der  Schranke  möglicher  technischer  Zielsetzung)  ein  abso- 
luter Selbstwert  ist,  einen  neuen  axiologischen  Sinn  an.  Sie 
ordnet  sich  nun  unter  dem  Werte  und  dem  Ziele  eines 
ontischen  Prozesses,  eines  Werdens,  das  selbst  über 
alle  Erkenntnis  hinausragt:  dem  Werte  und  dem  Ziele  der 
Wesenseinbildung  der  menschlichen  Persönlichkeit  in 
die  götdiche  Persönlichkeit;  und  gleichzeitig  der  durch  den 
Erkenntnisakt  (im  Erkennen  der  Dinge)  mitzuerwirkenden 
Hinführung  —  Hinaufführung  der  Dinge  selbst  zu  ihrer 


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Probleme  der  Religion.  02=^ 

Bestimmung:  ihrer  ontischen  Teilnahme  an  Gott  durch 
Teilgewinnung  an  der  Idee,  die  Gott  von  ihnen  hat.  Erst 
damit  ist  die  Erkenntnis  nicht  mehr  gleichgültig  für 
die  Dinge.  Vielmehr  wird  den  Dingen  auch  etwas  ge- 
leistet durch  die  Erkenntnis,  die  der  Mensch  von 
ihnen  gewinnt.  Ohne  real  verändert  zu  werden  (wie 
solches  nur  durch  Wollen,  Bilden,  Handeln  möglich  ist)^ 
ohne  gar  erst  ganz  oder  zum  Teile  konstruiert  zu 
werden  durch  den  menschlichen  Geist  (Kant),  —  ohne 
erst  ihre  Bestimmungsart  und  ihren  Bestimmungsinhalt, 
ihre  Bedeutungsart  und  ihren  Bedeutungsinhalt  durch 
den  menschliclien  Erkenntnisakt  zu  gewinnen,  die  sie 
vielmehr  ganz  unabhängig  vom  Menschen  schon  be- 
sitzen durch  die  Ideen  Gottes  von  ihnen,  wird  doch  diese 
»Bestimmung«  und  »Bedeutung«  der  Dinge  durch  den 
Erkenntnisakt  seitens  des  Menschen  allererst  reali- 
siert. Die  Dinge  gewinnen  ontisch  den  Anteil  an  ihrer 
Bestimmung  und  Bedeutung,  die  sie  idealiter  schon  be- 
sitzen: Sie  werden  Gott  als  der  Wurzel  aller  Dinge,  als 
dem  Wesensinbegriff  aller  Wesen  und  damit  auch  des 
ihrigen  »zugeführt«,  zu  ihm  heraufgeführt,  zu  ihm 
zurückgefuhrt\ 

Alle  Erkenntnis  stellt  sich  also  unter  dem  Lichte  schon 
des  natürlichen  Glaubens  dar  als  ein  Mehr  und  als  ein 
Höheres  als  bloße  Erkenntnis.  Sie,  die  bislang  im  Gegen- 
satze stand  zu  allem  Sein  und  Werden  und  die  darum  — 
wenn  sie  nicht  pragmatistisch  als  reale  Veränderung  der 
Dinge  resp.  als  bloßes  Mittel  für  diese  oder  (kantisch) 

^  Man  kann  auch  sagen :  Die  Wirklichkeit  wird  sich  im  Menschen  und 
durch  den  Menschen  ihrer  Bedeutung,  ihres  Sinnes  und  ihres  Wertes  be- 
wußt 
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626  Probleme  der  Relig  ion. 

als  Konstruktion  mißdeutet  wurde  —  so  leicht  als  bloße 
ideale  Verdoppelung  des  Seienden  und  Werdenden 
mißdeutbar  war  (als  eine  Verdoppelung,  deren  Sinn  und 
Ziel  im  Grunde  unverständlich  ist),  wird  jetzt  selber 
nur  ein  Teilprozeß  in  einem  ontischen  Prozesse  der 
Welt,  der  durch  den  erkennenden  Menschen  gleichsam 
nur  hindurchführt  und  j^ich  des  Erkenntnisprozesses  nur 
zur  Erreichung  seines  Zieles  bedient.  Soll  dieser  Prozeß 
einen  Namen  erhalten,  so  kann  es  kein  anderer  sein  als 
der  Name  der  gegenseitigen  Erlösung  aller  Dinge 
im  Menschen  zu  Gott. 

Die  geistige  Person  des  Menschen,  die  in  der  Philosophie 
Wesenserkenntnis  und  Wahrheit  als  absoluten  Sachwert 
sich  zum  Ziele  setzt  —  ohne  ihre  Förderung  als  Person 
dabei  zu  intendieren  —  erlöst  sich  de  facto  unter  dem 
Lichte  des  religiösen  Glaubens,  indem  sie  sich  recht  an  die 
Wesenheiten  in  liebender  Anschauung  hingibt  und  in  dieser 
Hingabe  an  dem  göttlichen  Lichte  Anteil  gewinnt.  Oder 
besser  und  das  Ebengesagte  mitumfassend:  Sie  weiß  sich, 
indem  sie  ihre  Liebe  zum  Wesenhaften  als  Antworts-  und 
Gegenliebe  zur  Alliebe  Gottes  deutet,  und  dem  durch  sie 
motivierten  natürlichen  Offenbarungsakte,  erlöstwer- 
dend  aus  der  Enge  und  Partikularität  ihrer  psychophy- 
sischen  Organisation.  Aber  sie  weiß  sich  nun  zugleich  als 
aktiv  miterlösend  die  Dinge  selbst  —  die  sie  erkennt — , 
weiß  sich  als  die  Dinge  emportragend  in  die  Richtung  ihres 
ewigen  Bedeutens  und  Bestimmtseins  zu  Gott  als  ihrem 
Ziele. 

So  wenig  —  wie  sich  uns  zeigte  —  ein  bloßer  Kausal- 
schluß von  einer  noch  nicht  religiös  angeschauten  Welt- 
realität  aus  hinführen  kann  zu  Gott  als  dem  einzigen,  freien 


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Probleme  der  Religion. 


627 


Schöpfer  der  Welt,  so  wenig  fuhrt  uns  also  auch  die  Er- 
kenntnis- und  Ideenlehre  mit  rein  philosophischen  Mitteln 
zu  Gott  als  dem  personalen  AUichte,  das  im  Erkennen  mit 
uns  natürliche  Zwiesprache  hält.  Aber  beide  Male  besteht 
das  sichere  Recht,  die  gegebenen  Verhältnisse  von  Welt 
und  Weltgrund,  Erkenntnis  und  Wesen  der  Dinge  in  dieser 
Weise  religiös  zu  deuten,  wenn  die  selbständige  religiöse 
Anschauungs-  und  Glaubenswahrheit  bereits  ergriffen  ist. 
Und  nur  unter  Anwendung  dieses  Rechtes  erhält  die  Totali- 
tät unseres  geistigen  Verhältnisses  zum  Seienden  letzte 
Einheit,  letzte  Harmonie  und  letzten  Sinn. 

Über  den  Inhalt  einer  richtigen  Metaphysik  ist  durch 
das  Gesagte  nichts  präjudiziert.  Diese  Fragen  behalte  ich 
einem  besonderen  Werke  über  die  Metaphysik  vor.  Nur 
das  ist  klar:  Wie  immer  dieser  Inhalt  der  Metaphysik  aus- 
sähe, —  das  wissen  wir  von  vornherein,  daß  der  metaphy- 
sische Satz  I .  dauernd  hypothetisch  bleibt,  2.  nur  Wahr- 
scheinlichkeit besitzen  kann  (schon  vermöge  der  »zweiten 
Prämisse« ,  aus  der  er  mit  abfolgt,  vermöge  der  in  ihn  ein- 
gehenden positiven  Realerkenntnis  von  zufälligen  Tat- 
sachen). Und  wir  wissen  zugleich :  Je  mehr  sich  in  der  Stufen- 
leiter der  Daseinsrelativitätsstufen  bis  zur  Grenze  des  ab- 
soluten Daseienden  die  zugehörige  metaphysische  Erkennt- 
nis diesem  absolut  Daseienden  nähert,  desto  mehr  steigt 
die  hypothetische  und  desto  mehr  s  i  n  k t  an  Wert  die  Wahr- 
scheinlichkeit der  Erkenntnis.  Bei  dem  absolut  Daseienden 
selbst,  dem  ens  a  se  wird  sie  über  ganz  formale  onto- 
logische  und  axiologische  Wesensbestimmungen  hinaus 
(ein  ens  a  se  überhaupt,  ein  höchstes  Werthaftes  —  nicht 
also  Gutes  —  überhaupt)  vom  Wahrscheinlichkeitswerte 
null.  Das  heißt  aber:  Es  gibt  —  obzwar  Metaphysik  — 


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628  Probleme  der  Religion^ 

doch  keine  materiale  Metaphysik  des  absoluten 
Daseienden. 

An  dieser  Erkenntnis  grenze  auch  aller  wohl  berechtig- 
ten Metaphysik  setzt  der  religiöse  Akt  und  sein  in  ihm  und 
nur  in  ihm  gebbarer  Gegenstand  ganz  selbständig  ein.  Hier 
gibt  er  absolute  und  felsenfeste  Gewißheit,  wo  die  Wahr- 
scheinlichkeit auch  des  höchsterreichbaren  philosophisch- 
metaphysischen Wissens  zu  null  wird.  Und  nicht  wie  der 
metaphysische  Erkenntnisakt  nähert  er  sich  mit  Hilfe  des 
metaphysischen  Schlusses  aus  Wesensprämissen  und  zu- 
fälligem Daseinssatz  (unseres  Erfahrungsbereiches)  dem 
absolut  Daseienden  als  dem  bloßen  »Grunde  der  Welt« 
an:  Sondern  er  versetzt  sichalsreligiöser  Akt  auf  unmittel- 
bare Weise  in  eine  nur  ihm  zugängliche  Daseins-  und  Wert- 
sphäre als  dem  positiven  Gehalt  dieses  »Grundes«,  —  in 
einem  bestimmten  religiösen  Wesensgehalt  also  dieses 
Grundes,  um  unter  dem  Lichte  dieses  Glaubenswissens 
alles  andere  Seiende  zu  verstehen  und  zu  erfassen.  — 

Bleibt  also  die  religiöse  Erkenntnis  auf  alle  Fälle  selb- 
ständig und  autonom  gegen  die  Metaphysik,  so  gilt  dieser 
Satz  von  der  Autonomie  der  Religion  noch  weit  klarer  und 
viel  leichter  einsichtig  gegenüber  einer  ganzen  Reihe 
modemer,  —  auch  eine  in  ihrem  begrenzten  Sinne  wohl- 
berechtigte Metaphysik  preisgebender  —  Versuche,  die 
Begründung  der  Religion  auf  außerreligiöse  Erkennt- 
nisse, Werte  und  Gewißheiten  zu  stellen. 

Ein  erster  sogearteter  Versuch  war  derjenige  Kants, 
die  Religion  auf  das  Sittengesetz  aufzubauen. 

Die  ethischen  Werte  und  die  ethische  Evidenz,  nach 
der  sitdich  gut  alles  Sein  von  Personen  und  Verhalten, 
Wollen  und  Handeln  von  Personen  ist,  in  dem  ein  je 


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Probleme  der  Religion.  629 

»höherer«  (resp.  in  der  Vorzugsevidenz  als  höher  als  ein 
Vergleichswert  gegebener)  Wert  realisiert  ist  als  der  je- 
weilige Ausgangswert  des  Weltzustandes  ohne  diese 
Person,  ohne  dieses  Verhalten,  Wollen,  Handeln  der 
Person  gewesen  war,  eröffnen  uns  nur  dann  einen  Zu- 
gang zur  religiösen  Daseins-  und  Lebenssphäre,  wenn  in 
die  objektive  Rangordnung  der  Werte  auch  der  spe- 
zifisch religiöse  Wert  des  »Heiligen«,  des  Heiles  der 
Person  und  ihres  subjekti\^n  Korrelates,  der  Seligkeit, 
aufgenommen  ist^.  Ist  er  aufgenommen,  so  ist  er  auch  der 
evident  höchste  Wert  und  seine  Realisierung  in  einer 
Person  ist  dann  auch  ohne  weiteres  das  sittlich  »Beste«. 
Ist  er  es  aber  nicht,  so  ist  es  ganz  ausgeschlossen,  den 
Wert  des  Heiligen  aus  anderen  Werten  herzuleiten  oder 
ihn  als  »notwendige  Ergänzung«  dieser  andersartigen 
Werte,  z.  B.  der  geistigen  Werte,  der  Vitalwerte,  der  Nutz- 
werte, der  Annehmlichkeitswerte  zu  konstruieren  —  oder 
wie  man  die  Wertmodalitäten  sonst  scheiden  mag.  Daß  der 
Wert  des  Heiligen  durchaus  nicht  in  das  vollkommenste 
sittlich  Gute,  in  Allerkenntnis  usw.  usw.  aufgeht,  sondern 
ein  einfaches  Neues  an  Wertqualität  ist,  —  das  hat  neuer- 
dings R.  Otto  in  ausgezeichneter  Weise  nachgewiesen. 
Er  hat  darin  für  mich  nur  das  schärfer  verifiziert,  was  ich 
in  meinem  Buche  über  den  Formalismus  in  der  Ethik  be- 
hauptet habe.  Die  Sanktionierung  eines  nicht  religiösen 
Gutes  (z.  B.  der  sittlichen  Güter,  als  »heilig«,  einer  Pflicht 
als  »heilig«,  eines  Bösen  oder  moralisch  Normwidrigen  als 
»Sünde«),  ist  freilich  möglich  und  religiös  notwendig;  es 
setzt  aber  die  Gegebenheit  der   spezifisch   religiösen 

— — — 'I  H 

*  Vgl.  mein  Buch  »Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale  Wert- 
ethik« (2.  Aufl.  im  Druck  begriffen). 


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636  Probleme  der  Religion. 

Werte  immer  schon  voraus.  Ein  »Sittengesetz«  wird 
»heilig«  erst,  sofern  es  durch  die^Würde  seines  heiligen 
Gesetzgebers  als  einer  vollkommenen  Person,  diese  Qua- 
lität erhält  —  eine  Voraussetzung,  die  nicht  —  wie  Kant 
mdnl  —  aus  der  Gegebenheit  eines  kategorischen  Impe- 
rativs durch  »Postulate«  zu  gewinnen  ist.  Das  Postulat  eines 
Gesetzgebers  X  dieses  Gesetzes  und  eines  den  Anspruch 
auf  Vergeltung  erfüllenden  sittlichen  Weltordners  X  greift 
in  die  leere  Luft,  wenn  an  SteHe  dieses  X  nicht  schon  eine 
positive  und  inhaltsvolle  —  und  zwar  religiös  inhalts- 
volle —  Idee  von  Gott  und  femer  die  Realität  eines  dieser 
Idee  entsprechenden  Gegenstandes  vorgegeben  ist. 

Aber  in  einer  noch  zentralereren  Richtung  ist  die  Ver- 
hältnisbestimmung, die  Kant  zwischen  Religion  und  Moral 
gegeben  hat,  nicht  nur  falsch,  sondern  widersinnig.  Evi- 
dent scheint  uns  der  Satz :  Wenn  es  einen  Gott  gibt,  so 
ist  eine  absolute  Autonomie  der  praktischen  Vernunft 
widersinnig  und  ^darum  unmöglich  und  Theonomie 
selbstverständlich.  Wie  aber  kann  die  Annahme  des 
Daseins  Gottes  auf  eine  Voraussetzung  aufgebaut  werden 
—  nämlich  ein  Urteil  einer  autonomen  praktischen  Ver- 
nunft — ,  deren  Sinn,  wenn  sie  wahr  ist  —  nicht  nur 
deren  Wahrheit,  sondern  schon  deren  bloßen  Sinn  in 
Widersinn  verkehrt?  Gibt  es  Gott,  so  könnte  eine  prak- 
tische Vernunft  nur  autonom  sein,  wenn  sie  zusammen- 
fiele mit  der  göttlichen  Vernunft  selbst.  Den  Weg  dieser 
Identifizierung  beschritten  ja  auch  in  der  Tat  die  Nach- 
folger Kants,  vor  allem  Fichte  und  Hegel.  Das  aber 
führte  zu  einer  vemunftpantheistischen  äußersten  Hete- 
ronomie  der  menschlichen  geistigen  Persönlichkeit,  die 
auf  Grund  dieser  Annahme  nur  als  Funktion  resp.  als 


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Probleme  der  Religion.  63  I 

Durchgangspunkt  oder  Durchstrahlungsort  dieser  auto- 
nomen Urvernunft  angesehen  werden  mußte.  Wird  aber 
—  umgekehrt  —  die  Autonomie  nicht  der  Vernunft  qua 
Vernunft  zugesprochen,  sondern  der  Person  qua  Per- 
son, so  kann  diese  Autonomie  mit  der  Annahme  einer 
Existenz  Gottes  nicht  zusammen  bestehen.  Man  kann  also 
die  Annahme  der  Existenz  Gottes  nicht  auf  eine  Voraus- 
Setzung  aufbauen,  die  entweder  mit  dieser  Voraussetzung 
identisch  ist  (Vemunftpantheismus)  oder  die  evident  sinn- 
widrig ist,  wenn  jene  Annahme  wahr  ist.  Und  ganz  ana- 
log liegt  es  auch,  wenn  Kant  erklärt  es  müsse  die  Idee 
Gottes,  die  jemand  habe  zuvor  mit  *dem  Inhalt  des  auto- 
nomen Sittengesetzes  verglichen  werden,  damit  ent- 
schieden werden  könne,  ob  diese  Idee  die  Idee  Gottes 
und  nicht  die  Idee  von  etwas  anderem  sei.  Es  ist  aber 
evident,  daß  Gott  —  wenn  er  existiert  —  nicht  gemessen 
werden  kann  an  einem  menschlichen  Sittengesetz,  daß 
ihm  nicht  die  sozusagen  apriorische  Verpflichtung  kann 
auferlegt  werden,  entweder  mit  diesem  übereinzustimmen 
oder  nicht  anerkannt  zu  werden.  Der  Satz:  »Gott  ist  gut«, 
der  ein  synthetischer  Satz  ist,  würde  dadurch  nicht  nur 
analytisch,  sondern  sogar  eine  Tautologie.  Denn  ist  er 
nur  als  »Geber«  des  Sittengesetzes  lu-sprünglich  definiert 
und  konzipiert,  so  ist  auch  die  Übereinstimmung  seines 
Willens  mit  diesem  Gesetze  selbstverständlich\  Daß  der 
»Herr«  des  Seins  (das  religiös  geformte  Ens  a  se  et  per 
se)  aber  gut  sei,  —  das  ist  alles  andere  als  selbstver- 
ständlich* und  ihn  von  seiten  des  Menschen  her  gleichsam 

*  Vgl.  hierzu  meine  eingehenden  Analysen  des  Autonomiebegrifies  in  »For- 
malismus in  der  Ethik«,  II.  Teil. 

'  Der  Satz  ist  auch  nicht  analytisch  im  Sinne  der  Thomisten,  die  das  Gute 
in  Grade  des  Seins  durch  den  Mittelbegriff  der  VoUkonmienheit  auflösen 


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632  Probleme  der  Religion. 

schon  definitorisch  darauf  zu  verpflichten,  gut  zu  sein  und 
ihm  die  Anerkennung  als  Herr  des  Seins  zu  verweigern, 
wenn  er  es  nicht  sei,  das  nähme  auch  seiner  möglichen 
Güte  von  vornherein  die  Freiheit  und  Autonomie,  die  doch 
—  wenn  zu  irgendeiner  —  zur  götdichen  Güte  wesens- 
mäßig gehört. 

Mit  dieser  Abweichung  von  der  Kantischen  »Ethico- 
theologie«  ist  natürlich  nicht  im  entferntesten  das  andere 
Glied  der  Alternative  behauptet,  die  Kant  allein  kennt:  Es 
sei  als  gut  zu  definieren,  was  dem  Inhalt  des  göttlichen 
Willen  entspricht  (Heteronomie).  Denn  es  ist  ja  über- 
haupt falsch,  das  Gute  zu  bestimmen,  als  irgendeinen  In- 
halt eines  zuvor  gegebenen  Wollen s  —  sei  es  Gottes  oder 
einer  praktischen  Vernunft.  »Gut«  ist  primär  eine  Wert- 
qualität, sittlich  gut  aber  eine  Personqualität,  und  jegliches 
Wollen  —  also  auch  dasjenige  Wollen,  das  vermeindich 
erst  zu  bestimmen  hätte,  daß  etwas  gut  sei  und  was  es 
sei,  müßte  schon  gut  sein,  um  es  zu  bestimmen.  Gut  ist 
also  auch  in  bezug  auf  Gott  ein  Wesensprädikat  der 
göttlichen  Person  als  Person^. 

Erst  mit  dieser  Einsicht  ist  die  Voraussetzung  gegeben, 
auch  der  anderen  falschen  Alternative  zu  entgehen,  unter 
der  Kants  Bestimmung  des  Verhältnisses  von  Religion 
und  Moral  steht:  Es  müßte  entweder  sitdiches  Wollen 
ohne  jeden  Hinblick  auf  Gott  erfolgen  oder  es  sei  not- 

wollen  —  gemäß  dem  Satze:  Omne  ens  est  bonum.  Vgl.  meine  Widerlegung 
dieses  Versuches  im  Foimalismus  etc.  Dem  Satze  >Omne  ens  est  bonum« 
erkenne  ich  Evidenz  und  Wahrheit  zu,  wenn  »bonum«  hier  bedeutet  »wert- 
haft überhaupt«,  eine  Bedeqtung,  in  der  es  aber  mit  dem  ersten  Glied  des 
Gegensatzes  des  Guten  und  Schlechten  noch  nicht  identisch  ist — geschweige 
mit  dem  ersten  Glied  des  Gegensatzes  von  (sittlich)  gut  und  böse. 
'  In  diesem  Punkte  stimmen  wir  mit  Thomas  Aquinas  im  Gegensat;  zu 
den  Scotisten  überein.  Aber  auch  Kant  war  »Scotist«. 


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Probleme  der  Religion.  633 

wendig  (heteronom)  bestimmt  durch  Furcht  und  Hoffnung 
auf  Strafe  und  Lohn.  Es  ist  diese  Alternative,  die  falsch 
ist,  —  nicht  der  vielmehr  an  sich  richtige  Kantische  Satz, 
daß  ein  Wollen  und  Handeln  im  letzteren  Sinne  nicht  (voll- 
kommen) gut  sei. 

Ein  (vollkommenes)  sittliches  Wollen  ohne  Hinblick  auf 
Gott  ist  erstens  eine  innere  Sachunmöglichkeit.  Denn 
vollkommenstes  sittliches  Wollen  ist  (der  Idee  nach)  das 
Wollen  der  Person,  die  den  evident  höchsten  der  Werte 
—  die  Heiligkeit  in  Form  des  Personwertes  (mehr  oder 
weniger  adaequat)  verkörpert.  Die  heilige  Person  ist  aber 
zugleich  die  Person,  die  sich  —  sofern  und  soweit  sie 
»heilig«  ist  —  in  ihrem  konkreten  Aktzentrum  mit  dem 
höchsten  Gute,  das  als  »höchstes«  selbst  heilig  in  unend- 
licher und  absoluter  Form  und  Wert  per  son*  ist,  als  par- 
tiell »geeinigt«  nicht  realiter*,  aber  hinsichtlich  des  Wesens 
ihres  Aktzentrums  (also  auch  seiner  Aktinhalte)  evident* 
erlebt,  und  weiß. 

Ebenso  aber  gilt:  Ein  (vollkommen)  religiöses  Ver- 
halten ist  —  obzwar  es  nicht  definierbar  ist,  durch  sitt- 
liches Verhalten  oder  auf  es  aufgebaute  »Beweise«  oder 
»Postulate«  —  evident  unmöglich,  ohne  daß  es  voll- 
kommen sittliches  Verhalten  in  sich  schließt.  Denn  voll- 
kommen ist  religiöses  Sein  und  Verhalten  erst,  wenn  die 
menschliche  Person  im  erkennenden  Akte  des  Wertvor- 
zugs und  im  Willensakte  der  Realisierung  des  evident  vor- 

*  Der  Person  wert  ist  evident  höher  als  Sachwert,  Aktwert,  Funktionswert. 
Ein  »summum«  bonum  wäre  also  nicht  s  u  m  m  u  m  bonum,  wenn  es  nicht  Per- 
sonwert,  ja  Wertperson  wäre.  Siehe  hierzu  »Formaltsmus  usw.«,  i.  Teil. 

•  Reale  Einigung,  d.  h.  reales  Teilsein  oder  Funktionsein  der  menschlichen 
Person  mit  der  göttlichen  ist  die  falsche  Behauptung  verstiegener  Mystik 
und  des  Pantheismus,  z.  B.  Spinozas,  Fichtes,  Hartmanns  usw. 


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634  Probleme  der  Religion. 

züglichen  Wertes  auch  das  summum  bonum,  d.  h.  aber 
(nach  den  ondsch  und  axiologisch  gültigen  religiösen 
Wesenszusammenhängen)  den  absolut  heiligen  person- 
haften Gott  als  den  Herrn  des  Seins  (im  Vorzugsakte)  mit 
vor  dem  Blicke  des  Geistes  hat;  im  Akte  der  Reali- 
sierung das  Vorgezogene  aber  aus  dem  Wollen  Gottes 
heraus  (velle  in  Deo)  selber  will  und  verwirklicht  —  nicht 
bloß  diesem  Wollen  Gottes  auf  Grund  eines  Befehles 
oder  »Gesetzes«  Gehorsam  leistet. 

Daß  die  sachevidenten  Wertaxiome  der  Ethik 
also  auch  nicht  nur  gültig  sind  für  die  Philosophie  der 
Religion,  sondern  auch  zugleich  positive  Konstruk- 
tionsmittel eines  wahren  Begriffs  von  Gott,  darin 
allein  hat  Kant  ganz  recht.  Das  Falsche  ist,  daß  er  sach- 
evidente und  materiale  ethische  Wertaxiome  überhaupt 
nicht  kennt,  sondern  (ähnlich  wie  schon  die  Scotisten, 
•nur  an  Stelle  Gottes  den  Menschen  setzend)  das  Gute 
erst  von  einem  vorgegebenen  Willen  her  (als  dessen 
Inhalt)  definieren  möchte  und  daß  er  femer  aus  diesem, 
(aber  auch  noch  aus  anderen  Gründen)  weder  die  Eigen- 
art des  auch  der  Ethik  mit  zugrundeliegenden  Wertes 
»heilig«  noch  die  Vorzüglichkeit  des  Personwertes  vor 
allen  Funktions-  und  Sachwerten  (auch  denen  der  Vernunft 
und  jeglichen  »Gesetzes«)  zu  seheo  vermochte.  Die  reli- 
giöse und  ethische  Wertaxiomatik  koinzidiert  eben  — 
obzwar  unabhängig  gefunden  und  entdeckt  —  von 
selbst  in  der  Idee  des  zugleich  heiligen  und  vollkommen 
guten  Herrn  des  Seins. 

Es  ist  damit  ein  Grundsatz  über  das  Verhältnis  von 
Religion  und  Sitdichkeit  gefunden,  der  als  oberster  so 
ausgesprochen  werden  kann:  In  ihren  vollkommenen 


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Probleme  der  Religion.  635 

Stufen  sind  Religiosität  und  Moralität  nicht  wesens- 
unabhängig, sondern  wesensabhängig  von*  ein- 
ander; dies  heißt  in  keinem  Sinne  identisch  —  weder 
von  der  Seite  der  Religion  her,  wie  Luther,  noch  von  der 
Seite  der  Moralität  her,  wie  Kant  fälschlich  annahm.  Sie 
werden  von  einander  erst  wesens unabhängig,  wenn  ent- 
weder die  Moralität  oder  die  Religiosität  oder  beide  un- 
vollkommen sind  und  sie  werden  um  so  unabhängiger, 
je  größer  diese  UnvoUkommenheit  ist.  Die  Grundsätze 
darzulegen,  nach  denen  auf  den  verschiedenen  Stufen  der 
UnvoUkommenheit  beider  die  moralischen  und  religiösen 
Forderungen  an  den  Menschen  auszugleichen  sind,  ist 
nicht  dieses  Ortes.  — 

Andere  Arten  von  Versuchen,  die  Selbständigkeit  der 
religiösen  Evidenz  und  Wahrheit  in  Frage  zu  ziehen,  sind 
gemacht  worden  z.  B.  von  Windelband,  Jonas  Cohn,  Paul 
Natorp^;  der  trübste  und  verkehrteste  von  allen  aber  von  ^ 
William  James  und  seinen  pragmatistischen  Schülern,  — 
den  bewußten  und  der  weit  größeren  Anzahl  der  halb- 
oder  unbewußten.  Ich  gebe  hier  nur  kurz  die  leitenden 
Ideen  für  ihre  Kritik. 

Windelbands » absolutes  und  reales  Normalbewußtsein  < , 
das  er  »das  Heilige«  nennt  und  das  in  dem  Erlebnis  des 
SoUens  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der  logischen, 
ethischen  und  ästhetischen  Gesetzgebung  uns  kund  werden 
soll,  ist  eine  nach  den  eigenen  ersten  Grundsätzen  dieser 
Wertphilosophie  völlig  unberechtigte  »Hypostasierung« 
des  überdies  inhaltlich  widersinnigen  Begriffes  eines 

^  Siehe  W.  Windelband:  »Das  Heilige«.  J.  Cohn:  »Der  Sinn  der  gegen- 
wärtigen Kultur«,  P.  Natorp:  »Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  Huma- 
nität«. Auch  R.  Eucken:  »Der  Wahrheitsgehalt  der  Religion«  muß  in 
diese  Versuche  eingereiht  werden. 


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636  Probleme  der  Religion. 

»Bewußtseins  überhaupt«.  Abgesehen  von  der  z.T. 
fehlenden,  teils  falschen  Begründung  der  Existenz  eines 
solchen  Normalbewußtseins,  ist  es  der  religionstheoretische 
Grundfehler  dieses  Versuches,  daß  weder  die  Eigenart 
der  Seinsdimension  des  »Göttlichen«  noch  die  (mate- 
riale)  Eigenart  der  Wertdimension  des  Heiligen  aner- 
kannt wird,  vielmehr  der  unmögliche  Versuch  gemacht 
wird,  das  Dasein  Gottes  auf  ein  Sollsein  (das  übrigens 
mit  dem  Seinsollen  verwechselt  wird)  zurückzuführen;  die 
materiale  Wertmodalität  des  Heiligen  aber  zurückzufuhren 
auf  den  blofJen  Inbegriff  oder  das  bloße  Totum  der  geisti- 
gen Werte  »gut«,  »schön«,  »wahr«. 

I .  Nach  den  eigenen  ersten  Grundsätzen  dieser  Philo- 
sophie ist  Windelbands  Versuch  darum  unmöglich,  weil 
man  —  hat  man  in  der  Weise  dieser  Schule,  Sollen  und 
Sein  so  abgründig  und  bis  in  die  absolute  Sphäre  hinein 
voneinander  geschieden  —  auf  keine  Weise  aus  dem 
»Sollen«  allein  wieder  wirkliches  Dasein  extrahieren  kann, 
wie  es  Windelband  dem  religiösen  Bewußtsein  zumutet. 
Wäre  diese  Scheidung  richtig,  (dazu  noch  der  von  mir 
streng  widerlegte  Aufbau  einer  Wertlehre  auf  eine  Nor- 
menlehre^,  würde  das  religiöse  Bewußtsein  aber  gleich- 
wohl den  Inbegriff  dieses  freischwebenden  »SoUens«  zu 
einem  realen  Wesen  hypostasieren,  so  wäre  eben  das 
»religiöse  Bewußtsein«  nur  eineTäuschungs-,  Irrtums- 
und Fiktionsquelle  und  die  denkbar  gefährlichste  noch 
dazu.  Denn  es  würde  ja  durch  uns  Menschen  zu  Verwirk- 
lichendes als  realisiert  vorspiegeln,  uns  also  den  Sinn 
der  uns  gestellten  Aufgabe  verfälschen  und  die  Kraft  zu 
ihrer  Lösung  entziehen,  das  »Gesollte«  zu  verwirklichen, 

*  S.  »Formalismus  in  der  Ethik«,  11.  Teil:  »Sollen  und  Wert«. 


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Probleme  der  Religion.  637 

Der  schärfste  Kampf  gegen  das  religiöse  Bewußtsein 
und  die  Religion  in  jeder  möglichen  Form  wäre  die  einzig 
richtige  logische  und  praktische  Konsequenz  aus 
diesen  Voraussetzungen.  Nach  dieser  Lehre  müßte 
man  mit  Recht  mit  Nietzsche  sagen:  »Gäbe  es  Götter 
(oder  Gott),  so  hätte  ich  nichts  zu  sollen;  also  gibt  es 
keinen  Gott.«  Aber  diese  Voraussetzungen  sind  eben 
grundirrig.  Wie  schon  der  tiefsinnigste  Schüler  dieser 
neufichtischen  Schule  —  der  leider  im  Kriege  gefallene 
ausgezeichnete  junge  Forscher  Emil  Lask^  —  selbst  ein- 
gesehen hatte,  kann  man  den  Begriff  des  Wertes  keines- 
wegs auf  den  Begriff  des  SoUens  oder  der  Norm  (auch 
nicht  des-  idealen  Sollseins  im  Unterschiede  zum  Pflicht- 
sollen) zurückführen,  muß  vielmehr  alles  Sollen  auf  zuvor 
gegebene  Werte  gründen;  die  normative  Ethik  auf  reine 
Wertethik,  die  normative  Logik  auf  reine  Gegenstands- 
logik. (So  auch  E.  Husserl  schon  im  i.  Band  der  »Logi- 
schen Untersuchungen«.) 

Femer  (was  Lask  noch  nicht  einsah)  gibt  es  einen  Begriff 
des  »Seins«,  der  das  (objektive)  Wertsein  und  das  (wert- 
freie) Existieren  noch  unter  sich  als  Arten  begreift  und 
der  im  Begriffe  des  ens  a  se  steckt.  In  ihm  haben  die  bei- 
den Sphären  des  Daseins  und  des  Wertseins,  die  nach 
dieser  Philosophie^  in  das  grundirrige  Verhältnis  gesetzt 
werden,  demgemäß  der  Daseins-  oder  Existenzialsatz  auf 
die  »Geltung«  eines  Wahrheitswertes  (respektive  das  Exi- 
stenzurteil auf  die  subjektive  Anerkennung  dieser  Gel- 
tung) zurückgeführt  werden  soll,  ihre  letzte  und  höchste 

*  S.  E.  Lask:  »Die  Logik  der  Philosophie  und  die  Katcgorienlehre«  Tü- 
bingen 191 1. 

•  VgL  zum  Folgenden  H,  Rickert:  »Der  Gegenstand  der  Erkenntnis«. 
3.  Aufl.,  Tübbgen  191 5. 


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638  Probleme  der  Religion. 

Einheit.  Und  das  ist  diese  Einheit,  die  es  verständlich 
macht,  daß  es  letzte  formale  Axiome  gibt,  die  das  ontische 
Verhältnis  von  Dasein  und  Wert  zu  einander  regeln. 
Sie  seien  hier  nicht  alle  aufgeführt  und  zur  vollen  Einsicht 
gebracht^.  Es  seien  nur  einige  derselben  genannt.  Eines  ist 
der  schon  von  der  Scholastik  erkannte,  hier  aber  falsch 
interpretierte  Satz:  Omne  ens  est  bonum  (d.  h.  ein 
Werthaftes  überhaupt),  —  ein  Satz,  dessen  Wahrheit 
ganz  unabhängig  davon  ist,  wie  weit  wir  als  Menschen 
die  Werte  des  Daseienden  fiihlen  und  auffassen  können. 
Femer  die  schon  von  mir  in  der  Ethik  entwickelten  Sätze: 
die  Existenz  (=  Dasein)  jedes  Wertes  ist  selbst  ein  Wert, 
(des  positiven  Wertes  ein  positiver  Wert,  des  Unwertes 
ein  Unwert);  die  Nichtexistenz  eines  positiven  Wertes  ist 
ein  Unwert;  die  Nichtexistenz  eines  Unwertes  ist  ein  posi- 
tiver Wert.  Femer  der  Satz:  Jeder  Wert  (als  Qualität)  ist 
Eigenschaft  eines  daseienden  Subjekts  —  ob  dieses  Sub- 
jekt bekannt  ist  oder  nicht.  So  wenig  aus  diesen  Sätzen 
(wie  man  meinen  könnte)  ein  dem  ontologischen  Beweis 
ähnlicher  Beweis  vom  Dasein  Gottes  folgt,  so  folgt  doch 
aus  ihnen,  daß  —  wenn  es  einen  »höchsten«  Wert  gibt 
—  dem  evident  zu  fordemden  (gedachten)  realen  Träger 
dieses  Wertes  auch  Dasein  zukommen  müßte,  da  er 
sonst  der  »höchste«  Wert  nicht  wäre.  Und  es  folgt  femer, 
daß  —  wenn  es  ein  ens  a  se  im  Sinne  eines  aus  sei- 
nem eigenen  Wesen  selbst  folgenden  Daseins  eines  Da- 
seienden überhaupt  gibt  —  dieses  Daseiende  auch  Trä- 
ger eines  absoluten  Selbstwertes  sein  müsse.  (Der 
Wert  des  sittlich  »Guten«  darf  natürlich  in  diese  axiolo- 
gisch  und  ontologisch  streng  formale  Bestimmungen  noch 


Vgl.  hierzu  »Formalismus  in  der  Ethik«.  I.  Teil. 


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Probleme  der  Religion.  630 

nicht  aufgenommen  gedacht  werden.)  Und  diesen  objek- 
tiven Seinsaxiomen  über  Wert  und  Dasein  entsprechen 
auf  der  Seite  des  Geistes  und  der  Akte  die  Aktfundierungs- 
gesetze,  daß  ursprünglich  kein  Daseiendes  von  irgend- 
einem Bewußtsein  erkennbar  (sei  es  durch  Anschauung 
oder  Denken)  ist,  dessen  Gegenstand  nicht  in  der  Folge- 
ordnung der  gebenden  Akte  zuerst  in  interesse- 
nehmenden Akten  als  Wertgegenstand  bestimmter  Wert- 
qualität intentioniert  wurde,  (sei  es  geliebt,  sei  es  gehaßt 
wurde);  und  daß  eben  dieselbe  Ordnungsfolge  der  Akte 
auch  zwischen  interessenehmenden  Akten  und  Wojlens- 
akten  besteht.  Das  eben  ist  (wie  ich  anderwärts  gezeigt) 
das  Wunderbare  des  weder  auf  Erkennen  noch  Wollen 
zurückführbaren  Liebesaktes,  daß  er  seinen  Gegenstand 
auf  einer  Stufe  des  »Seins«  ergreift,  auf  der  sein  Sosein 
sowohl  seinem  existenzialen  Sein  als  seinem  Wert  sein 
noch  unbestimmt  ist,  —  'so  daß  ebensowohl  das  eindeu* 
tige  Ergebnis  des  adaequaten  Erkenntnisaktes  als  der 
mögliche  Erfolg  seiner  Umgestaltung  durch  Wollen  und 
Handeln  durch  diese  Aktklasse  noch  bestimmbar 
ist.  Diese  Stufe  des  Seins  ist  eben  die  nach  dem 
Gegensatze  Wertsein  —  existenziales  Sein  noch  indiffe- 
rente Schicht  des  Seins,  —  auf  der  allein  der  endliche 
Gegenstand  noch  unmittelbar  mit  dem  Ens  a  se  in  der  Form 
schlechthiniger  Abhängigkeit  verbunden  ist.  Darum  ist  zu 
allem  bloßen  »fertigen«  »Dasein«,  das  wir  in  der  reinen 
Theorie  der  Seinswissenschaften  betrachten  (mit  prin- 
zipieller ^nd  ausdrücklicher  Abstraktion  von  den  stets 
und  notwendig  dem  Daseienden  zukommenden  Werten, 
notwendig  ein  Faktor  von  Liebe  dazu  zu  denken,  der 
das  Dasein  dieses  Soseienden  oder  das  Sosein  dieses 


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640  Probleme  der  Religion. 

Daseienden  mitbestimmt  hat  und  ohne  den  es  nicht 
wäre,  was  es  ist,  respektive  nicht  dasjenige  wäre,  was 
es  ist:  auf  der  objektiven  Seite  ist  dieser  Faktor  die 
universelle  Liebesbejahung  des  Wesens  und  Daseins  des 
endlichen  Gegenstandes  durch  Gott;  durch  sie  allein  ist 
der  Gegenstand  (gleichsam  gerettet  aus  dem  unendlichen 
Meere  des  Nichtseienden  und  der  Nichtigkeit),  auf  der 
subjektiven  Seite  die  Liebes-  und  Haßregungen  des  er- 
kennenden Subjekts,  die  das  Stattfinden  und  den  Sonder- 
inhalt anschauender  Erkenntnis^  mitentscheiden.  — 
2.  Der  Begriff  des  »Bewußtseins  überhaupt«  ist 
aber  —  ganz  abgesehen  von  den  eben  aufgedeckten 
Irrungen  der  Windelbandschen  Religionsbegründung  — 
außerdem  ein  in  sich  widersinniger,  Wesenszu- 
sammenhängen widerstreitender  Begriff.  Sieht  man  suk- 
zessiv von  allem  sogenannten  empirischen  Inhalte  des 
Bewußtseins  von  Etwas  ab  (dem  physischen,  dem  psycho- 
physischen  und  rein  psychischen  Gehalt),  so  behält 
man  zurück  nur  den  Begriffeines  erkennenden,  respek- 
tive (wenn  man  den  Fehler  macht,  das  Erkennen  dem  Ur- 
teilen gleichzusetzgj  und  den  ferneren  Fehler,  Urteilen  als 
Anerkennen  oder  Aberkennen  des  sogenannten  Wahrheits- 
wertes anzusehen;  das  »Existieren«  aber  auf  Geltung 
eines  wahren  bejahenden  Satzes  über  einen  Gegenstand 
>  zurückzufuhren  «)den  Begriff  eines  wertenden  Subjekts 
überhaupt.  Daß  diesen  Begriff  zu  einer  Realität  zu  hypo- 
stasieren  absolut  widersinnig  ist,  das  sieht  heute  auch  die 
sich  von  Windelband  ableitende  Philosophenschule  ein. 

^  Und  darum  auch  mögliche  urteilsmäßige  Erfassung  der  positiven  und 
negativen  Sachverhalte  und  darauf  folgende  Bejahung  und  Verneinung 
dieser  Sachverhalte. 


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Probleme  der  Religion.  64 1 

Nun  —  schon  damit  wäre  der  religionsphilosophische 
Versuch  Windelbands  gerichtet.  Aber  wir  haben  hier 
weiterzugehen  und  zu  zeigen,  daß  dieser  Begriff  zwar 
nicht  (ohne  Zuhilfenahme  materialer,  also  überformaler 
logischer  Axiome)  »widerspruchsvoll«,  wohl  aber  wider- 
sinnig ist.  Wird  das  Wort  »Subjekt«  nicht  so  sinnvoll 
wie  bis  Ende  des  18.  Jahrhunderts  als  Wort  für  Gegen- 
stand überhaupt  gebraucht*  (wie  noch  heute  das  franzö- 
sische Sujet,  das  lateinische  »subjectum«)  sondern  (nach 
neuerem  Sprachgebrauch)  fiir  »das«  sogenannte  Ich,  so 
gilt  wesensgesetzlich  fiir  jedes  Seiende,  auf  das  dieser 
Begriff  mögliche  Anwendung  hat:  i.  Jedes  Ich  ist 
wesensnotwendig  individuelles  Ich.  2.  Jedem  Seienden, 
das  ein  Ich  ist,  steht  ein  mögliches  Du  gegenüber.  3.  Je- 
dem Seienden,  das  ein  Ich  ist,  stehen  wesensnotwendig 
gegenüber  eine  von  seinem  Sein  unabhängig  seiende  und 
auch  so  gegebene  Außenwelt.  4.  Jedes  Ich  zerfällt  in  ein 
stets  hie  et  nunc  gegebenes  Leibich  mit  einer  Umwelt 
und  ein  seelisches  Ich  mit  einem  Abfluß  von  Erlebnis- 
momenten als  Korrelat;  von  Erlebnismomenten,  die  erst 
nachdem  sie  je  als  Ganzheiten  gegeben,  sekundär  nach 
vielen  Richtungen  teilbar  sind.  Jedem  dieser  —  von  in- 
duktiver Erfahrung  unabhängigen  —  Sätze  widerstreitet 
aber  schon  der  bloße  Begriff  eines  »Bewußtseins  über- 
haupt« im  Sinne  eines  »Subjekts  überhaupt« ;  widerstreitet 
ihm  nicht  erst,  sofern  der  Begriff  noch  dazu  hypostasiert 
wurde,  sondern  schon  als  rechtsgültige  Abstraktion. 
Denn  man  mag  mit  jedem  Rechte  »abstrahieren«  von  allen 
Merkmalen  eines  je  zufällig  Daseienden;  man  darf  aber 
keineswegs  abstrahieren  auch  von  demjenigen,  was  —  des 

*  Vgl.  hierzu  R.  Eucken:  »Geschichte  der  philosophischen  Terminologie.« 
41 


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642  Probleme  der  Religion. 

je  zufällig  Daseienden  ungeachtet  —  dem  Wesen  nach  zu 
einer  Sache  gehört.  Denn  dies  hieße  die  Sache  schon  ihrem 
möglichen  Sinn-  und  Bedeutungsbestande  nach  aufheben, 
also  das  Gegenteil  von  dem  tun,  was  man  nennen  darf: 
einen  Begriff  der  Sache  bilden.  Jedem  dieser  Sätze  wider- 
streitet aber  schon  das,  was  im  Worte  eines  »Subjekts 
überhaupt«  gemeint  ist.  Das  Subjekt  oder  das  Bewußt- 
sein überhaupt  soll  »überindividuell«  sein:  Ein  hölzernes 
Eisen!  Denn  es  gibt  zwar  ein  übersinguläres  Gesamt- 
bewußtsein (z.  B.  der  Gesamtpersonen  Volk,  Staat  usw.), 
aber  es  »gibt«  (im  Sinne  schon  der  Wesensmöglichkeit, 
nicht  nur  im  Sinne  des  faktischen  Bestandes)  kein  ȟber- 
individuelles Bewußtsein« .  Es  gibt  —  im  selben  Sinne  des 
»es  gibt«  —  femer  kein  über  den  möglichen  Gegensatz 
von  Ich  und  Du  erhabenes  mögliches  »Ich«;  denn  die 
Gliedschaft  in  einer  möglichen  Gemeinschaft  ist  allem 
»Ich«  wesenhaft,  nicht  zufällig,  eigen.  Wovon  wir  ab- 
sehen können,  das  ist  also  nur  die  besondere  Bestimmtheit 
des  »Du«,  das  dem,  was  »Ich»  heißen  kann,  wesensgesetz- 
lich gegenübersteht  —  nicht  aber  ein  Du  überhaupt.  Und 
analog  können  wir  absehen  von  den  besonderen  Bestimmt- 
heiten, dem  je  besonderen  Gehalt  der  jedem  Ich  zuge- 
hörigen, all  seinem  möglichen  Bewußtseinsinhalt  gegen- 
über als  »transzendent«  gemeinten  Außenweltssphäre, 
nicht  aber  vom  Bestände  dieser  Sphäre  überhaupt  — 
wenn  wir  nicht  das  Wesen  des  Ich  aufheben  wollen.  Auch 
der  Leib  ist  durchaus  keine  Gruppe  von  bloßen  Bewußt- 
seinsinhalten  (der  äußeren  und  inneren  fest  assoziierten 
Sinnesinhalte  von  ihm,  wie  diese  Auffassung  ungeprüft 
voraussetzt),  sondern  eine  von  allen  möglichen  rein  psy- 
chischen und  außenweldich  bezogenen  Inhalten  scharf 


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Probleme  der  Religion.  643 

getrennte  Daseinssphäre  eines  spezifischen  Form-,  Män- 
nigfaltigkeits-,  Einheits-  und  Gegebenheitscharakters, 
eine  Sphäre,  die  als  solche  bliebe,  wenn  auch  von 
jedem  besonderen  Inhalt  der  Organempfindungen  »ab- 
gesehen« würde.  Es  können  Zweifel  bestehen  über  be- 
sondere Inhalte  der  Erfahrung,  zu  welcher  dieser  Seins- 
sphären sie  gehören  (ob  zur  rein  psychischen,  der  leib- 
lichen, der  Außenweltsphäre);  keinerlei  Zweifel  aber 
kann  bestehen  über  die  Wesensverschiedenheit 
dieser  Sphären  selbst.  Auch  von  ihnen  selber,  — 
nicht  nur  von  ihrem  je  besonderen  Inhalt  —  »abstra- 
hieren«, »absehen«  kann  also  nicht  dazu  fuhren,  daß 
dann  noch  ein  sogenanntes  »reines  Ich«  übrigbleibt, 
sondern  heißt  das  Wesen  des  Ich  aufheben  und 
zerstören. 

Endlich  enthält  der  Abstraktionsprozeß,  der  zu  einem 
»Bewußtsein  überhaupt«  führen  soll,  noch  einen  letzten 
schweren  Fehler.  Der  phänomenale  Einheitspunkt  in  der 
Mannigfaltigkeitsgliederung,  die  allem  rein  Psychischen  zu- 
kommt ist  nicht  ein  bestimmter  Akt  und  Inhalt,  sondern  nur 
ein  Stellen  wert.  Diesen  Stellenwert  können  alle  möglichen 
Akte  erfüllen,  die  damit  eben  jeweilig  die  »Ichstelle«  des 
Bewußtseins  gewinnen:  nicht  aber  gibt  es  einen  von  allen 
Inhalten  und  sonstigen  Akten  des  Bewußtseins  verschie- 
denen Inhalt  und  Ichakt,  dem  gegenüber  alles  übrige  Ge- 
gebene nur  Inhalt  und  (wenn  geurteilt)  Gegenstand  wäre. 
Sieht  man  daher  von  allen  (rein  psychischen)  Bewußtseins- 
inhalten und  Akten  ab  —  wie  es  dieser  Gedankenprozeß 
fordert  —  so  bleibt  zwar  noch  die  feste  Form  und  Ge- 
stalt des  stets  nach  einer  monarchischen  Verfassung  ge- 
bauten rein  seelischen  Seins  übrig,  nicht  aber  der  Mo- 

41* 


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644  Probleme  der  Religion. 

narch  oder  ein  Monarch,  ein  sogenanntes  »Ich«.  Hier 
liegt  also  schon  die  Hypostasierung  einer  »Stelle«  vor, 
der  höchsten  »Spitze«  einer  Aufbauform  der  Akte  des 
Bewußtseins  von  Etwas,  zu  einem  vermeintlich  absoluten, 
in  allen  individuellen  Bewußtseinen  identischen  Akte  oder 
Aktvollzieher.  Das  derbe  »Normalbewußtsein«  Windel- 
bands, das  naiv  und  ehrlich  real  gesetzt  und  zu  einer  Art 
Gottessurrogat  gemacht  wird,  ist  nur  die  unverschleierte 
Form  dieser  Hypostasierung,  die  auch  den  feineren  Formen 
zur  Last  fällt,  in  denen  sich  diese  Lehre  z.  B.  bei  H.  Rickert 
Ausdruck  gegeben  hat.  Das  Formgesetz  des  rein  psychi- 
schen Bewußtseins,  daß  in  seinem  Mannigfaltigsein  j  e  ein 
Akt  (der  nach  allen  Variationsrichtungen  der  Akte  wech- 
seln kann)  die  Ich  st  eile  einnehmen  muß,  da  solches  zum 
We^n  eines  rein  psychischen  Bewußtseins  »gehört« ,  wird 
hier  zum  Dasein  eines  bestimmten  absoluten  Ichaktes 
fälschlich  hypostasiert.  Und  da  dies  geschieht,  ist  es  be 
greiflich,  daß  man  meint,  durch  ein  Verfahren  sukzessiven 
Absehens  von  den  sogenannten  Inhalten  des  Bewußtseins 
ein  » erkenn tnisthfeoretisches  Subjekt«,  ein  in  allen  indivi- 
duellen Ichen  identisches » Ich  überhaupt « übrig  zu  behalten, 
dem  eine  absolute  Existenz  zukomme.  Was  man  aber 
faktisch  durch  diese  Methode  sukzessiven  Absehens  übrig 
behält,  das  ist  nicht  ein  »absolutes  Subjekt«,  nicht  ein 
» Normalbewußtsein «  —  nicht  ein  Gott  —  sondern  das  pure 
Nichts,  —  oder  ein  Wesensgesetzen  widerstreitender 
Begriff.  Was  anderes  als  »nichts«  sollte  denn  bei  diesem 
rein  negativen  Verfahren  des  »Absehens«  von  allen  Welt- 
inhalten sonst  übrig  bleiben.?  Alle  negative  Abstraktion 
setzt  voraus,  daß  ich  positiv  das  schon  erschaut  habe,  was 
ich  durch  das  sukzessive  Absehen  von  Anderem,  mit  dem 


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Probleme  der  Religion.  645 

es  irgendwie  geeint  ist,  reinigen  und  für  andere,  clie  es  noch 
nicht  gewahren,  gewahrbar  machen  will.  Niemals  ist  die 
bloß  negierende  Abstraktion  »schöpferisch«  fiir  den  posi- 
tiven Inhalt  eines  Begriffs.  Und  gar  noch  die  sonderbare 
Meinung  hegen,  es  fielen  bei  diesem  Verfahren  des  »Ab- 
sehens« von  allem  empirischen  Inhalt  des  Bewußtseins  nur 
die  subjektiven  Beschränktheiten,  die  Dunkelheiten  und  die 
Engen,  die  Täuschungen  und  Irrtümer  der  erkennenden 
Menschensubjekte  aus  dem  möglichen  Weltinhalt  =  Be- 
wußtseinsinhalt des  »erkenntnistheoretischen«  Ich  heraus 
—  es  bliebe  aber  dem  so  restierenden  erkenntnistheore- 
tischen Subjekt  überhaupt  die  Welttotalität  in  ihrem 
reinsten,  reichsten,  objektivsten  Bestände  gegenüber  lie- 
gen als  sein  Korrelat  —  so  daß  wahres  und  adaequates 
Erkennen  eines  Gegenstandes  durch  einen  Menschen  hieße 
soviel  wie  dem  Gegenstand  gegenüber  >  erkenn tnis theo- 
retisches Subjekt«  werden,  oder  »Normalbewußtsein«  wer- 
den —  das  ist  die  verkehrteste  aller  Selbsttäuschungen, 
die  sich  nur  denken  läßt.  Indem  man  von  allem  » Inhalt  «ab- 
sieht und  dieses  Absehen  bis  zur  letzten  Grenze  steigert, 
hat  man  eben  auch  »abgesehen«  von  all  demjenigen  Teil 
des  empirischen  Inhalts,  dem  Erkenntniswert  und 
Wahrheit  zukommt  —  und  das,  was  so  »übrig«  bleibt, 
ist  nicht  das  Sein  und  der  Inhalt  der  vom  individuellen 
Subjekt  noch  unangetasteten  WeltfüUe,  sondern  es  ist  die 
absolute  Leere,  das  Nichts. 

Man  zweifle  nicht,  daß  hinter  solchen  tiefen  Irrungen 
des  Denkens  auch  falsche  Lebensweisen  derjenigen 
stehen,  die  solche  Irrtümer  vertreten.  Das  eigene  liebe 
»Ich«  gleich  Fichte  aufzublähen  zu  einem  vermeintlichen 
Welt-  und  Gottesbewußtsein,  im  Augenblick  der  Anwen- 


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646  Probleme  der  Religion. 

dung  dieser  Weisheiten  die  feinen  —  aber  sachunmög- 
lichen  —  Unterscheidungen,  die  man  zwischen  seinem 
lieben  Einzelich  und  dem  über  alles  erhabenen  »Bewußt- 
sein überhaupt«  auf  dem  Papier  gemacht  hat,  vergessen 
zu  dürfen  —  da^  ist  ja  jene  Theorie  recht  eigentlich 
erfunden.  Das  furchtbare  innere  Gesetz  dieser  Denkart, 
im  Griffe  nach  dem  vermeintlich  »Heiligen«  gerade  in  das 
Maximum  von  Leere  und  Nichts  hineinzulangen,  bestätigt 
sich  auch  in  der  Lektüre  der  Werke  dieser  philosophi- 
schen Schule.  Ewiges  Herumkreiseln  um  ein  in  diesem 
schwindelerregenden  Kreiselprozeß  immer  leerer  und 
leerer  werdendes  Ich;  ermüdendste  Stereotypie  in  der 
ewigen  Wiederholung  immer  derselben  paar  Gedanken; 
gänzliche  Unfähigkeit,  sich  irgend  einem  Sein  hinzugeben, 
sich  in  eine  Sache  zu  versenken. 

Auch  jener  Lebensform,  dfe  mit  diesen  Gedanken  ein- 
hergeht, jener  leeren  aufgeblasenen  »Ich «-Souveränität, 
die  alle  lebendige  Beziehung  zu  Sache  und  Realität,  die 
auch  alle  dem  Menschen  gebotene  Demut  vor  dem  Heili- 
gen vermissen  läßt,  gebührt  schärfste  Verurteilung. 

Nicht  also  auf  einem  »Normalbewußtsein«,  »Bewußt- 
sein« oder  »Ich  überhaupt«  und  dergleichen  läßt  sich  die 
Idee  Gottes  und  die  Einsicht  in  sein  Dasein  aufbauen. 
Vielmehr  muß  das  allem  Ich  überlegene  götdiche  Sein 
und  eigentümliche  Wesen  des  Subjekts  und  Trägers  audi 
aller  allgemeingültigen  Normen  auf  ganz  anderem  Wege 
schon  gegeben  sein,  wenn  ihm  der  Charakter  eines 
logischen,  ästhetischen,  moralischen  Gesetzgebers 
soll  zugesprochen  werden. 

3.  Was  aber  von  der  allgemein  philosophischen  Basis 
dieser   Religionstheorie  gilt,   das  gilt  vice  versa  nicht 


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I 


Probleme  der  Religion.  647 

weniger  für  die  in  ihr  enthaltene  spezifisch  religiöse 
Selbsttäuschung,  vermöge  der  sie  die  besondere  Mo- 
dalität aller  zur  Sphäre  des  Heiligen  gehörigen  Werte 
verkennt.  Das  vortreffliche  Buch  von  Otto  über  »Das 
Heilige«  kann  als  geradezu  geschrieben  gelten,  um  die 
Auffassung  zu  widerlegen,  es  sei  das  Heilige  nichts 
als  eine  Art  Zusammenfassung  des  »Guten,  Wahren, 
Schönen«.  Will  es  ja  gerade  die  »irrationalen  Elemente« 
im  Heiligen  und  damit  all  das  herausstellen,  worin  das 
Heilige  von  diesen  »Werten«  geschieden  ist.  Die  Tatsache, 
daß  auch  sie  auf  einer  bestimmten  Stufe  der  Religion 
»sanktioniert«  werden,  »geheiligt«  und  daß  ihre  Anerken- 
nung und  Bejahung  auch  unter  die  religiös  verbindlichen 
Gebote  aufgenommen  wird,  darf  uns  fiir  den  spezifischen, 
ganz  unvergleichlichen  Wertcharakter  des  Heiligen  nicht 
blind  machen.  Daß  diese  »Sanktionierung«  notwendig 
ist  und  möglich  —  das  ist  vielmehr  nur  ein  neuer  Be- 
weis für  die  Sonderart  des  Wertes  »heilig«.  Aber  eine 
wahre  Theorie,  ein  noch  so  herrliches  künsderisches 
Werk,  eine  moralisch  noch  so  bewundernswerte  Hand- 
lung erwecken  rein  aus  sich  heraus  den  so  charakteristi- 
schen Eindruck  des  Heiligen  keineswegs.  Sowohl  die 
emotionalen  Akte,  durch  die  das  Heilige  als  »heilig« 
erfaßt  wird,  wie  die  Reaktionsgeflihle,  die  es  auslöst,  sind 
von  analogen  Fühlungen  und  Gefühlen,  die  zur  guten 
Handlung,  zur  Erkenntnis,  zum  Kunstwerk  oder  Natur- 
schönen gehören  durch  einen  Abgrund  geschieden.  Schon 
ein  in  diese  Sphäre  gehöriger  Gegenstand,  der  im  Kulte 
eine  Rolle  spielt  —  ein  »heiliges«  Bild,  eine  geweihte 
Schale  usw.  stehen  mit  ganz  anderen  Wertcharakteren 
vor  dem  Bewußtsein   wie   das   herrlichste   Kunstwerk. 


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648  Probleme  der  Religion. 

»Wundertätige  Bilder  sind  meist  nur  schlechte  Gemälde« 
—  so  Goethe.  Heilige  Scheu,  heilige  Furcht  und  Ehr- 
furcht, die  erlebte  unbedingte  Ablehnung  aller  Berührung 
seitens  des  Gegenstandes  selbst  (außer  zum  Zwecke 
seines  kultischen  Gebrauchs),  — ^  eine  Ablehnung,  die 
doch  wieder  begleitet  ist  von  einer  ebenso  starken  An- 
ziehungskraft, die  von  ihm  auf  das  Gemüt  ausgeht,  haben 
nichts,  was  mit  jeder  Art  von  Gefühlen  des  ästhetischen 
Wohlgefallens  und  Genusses  vergleichbar  wäre.  Und 
ebendasselbe  gilt,  wenn  wir  das  »Heilige«  aufsuchen  in 
seiner  höchsten  weldichen  Daseinsfom,  in  der  Persön- 
lichkeit des  Menschen.  Der  »Heilige«  ist  keine  irgend- 
wie denkbare  Steigerung  des  künstlerischen  Genius,  des 
Weisen,  des  Guten,  Gerechten,  —  des  Menschenfreundes 
oder  des  großen  Gesetzgebers.  Auch  ein  Mensch,  der 
alles  dies  zusammen  wäre,  würde  den  Eindruck  der  Heilig- 
keit nicht  erwecken. 

Darum  muß  auch  jede  Religionstheorie  zurückgewiesen 
werden,  die  auf  diesen  falschen  Voraussetzungen  beruhend 
in  der  Objektenwelt  der  Religion  nur  eine  »Ergänzung« 
der  geistigen  Kulturwerte  und  -guter  sehen  will  (so 
J.  Cohn),  die  der  Religion  aber  nur  als  das  noch  undifferen- 
zierte Ernheitsbewußtsein  von  der  inneren  Zusammenge- 
hörigkeit und  Wechselabhängigkeit  der  geistigen  Kräfte, 
die  Kultur  schaffen,  ansieht;  die  dann  femer  dazu  neigt, 
in  dem  Maße  als  eine  Religion  »Kultur«  vorbereitet, 
gefördert,  entfaltet  hat  einen  Maßstab  für  ihren  Wahr- 
heitswert zu  erblicken^. 

Die  Verteidigungshaltung  der  Anhänger  der  positiven 

^  Den  Weg  der  im  Folgenden  zurückgewiesenen  Religionsbegründung  geht 
auch  R.  Eucken.  Siehe  bes.  »Der  Wahrheitsgehalt  der  Religion«. 


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Probleme  der  Religion.  649 

Religionen  gegen  Angriffe  auf  die  Religion  seitens  der 
»kultur«  seligen  Kreise  hat  es  mit  sich  gebracht,  daß 
auch  das  Denken  der  Religiösen  durch  bewußte  oder 
heimliche  Anpassung  an  die  Grundwerte  der  Irreligiö- 
sen diese  vermeindiche  Verifikationsmethode  der  Reli* 
gion  auch  da  in  sich  aufnahm,  wo  man  es  in  abstracto 
nicht  Wort  haben  will.  Man  neigt,  die  Religionsphilo- 
sophie geradezu  zu  einem  Teile  der  sog.  »Kulturphilo- 
sophie« zu  machen;  auch  der  schauderhafte  Ausdruck 
»Religiöse  Kultur«  ist  in  weiten  Kreisen  üblich  geworden. 
Gegenüber  Fragen,  was  die  Religion,  was  femer  diese 
und  jene  Religion  beigetragen  habe  zur  »Erziehung  der 
Menschheit«,  was  sie  bedeute  als  Geisteskitt  und  als 
schöpferische  Kraft  der  Bildung  von  Gruppen^,  was  als 
Waffe  der  Gruppen  im  Kampfe  miteinander,  was  sie  für 
den  Staat,  fiir  die  Struktur  der  Wirtschaft;  für  die  Kunst 
und  die  Wissenschaft,  fiir  die  ßrziehungskunst  bedeutet 
und  geleistet  habe  usw.  —  Fragen,  über  die  jährlich 
viele  gelehrte  und  oft  wertvolle  Werke  erscheinen,  ver- 
schwindet unserem  Zeitalter  der  selbständige 
Wahrheitsanspruch  der  religiösen  Grundthesen 
in  einer  fast  grotesk  zu  nennenden  Weise.  Das 
Übergewicht  dieser  Fragestellungen  über  die  Frage  nach 
dem  eigenen  Wahrheitsanspruch  der  Religion  ist  wirk- 
lich das  am  meisten  charakteristische  Moment,  das  die 
Haltung  der  zweiten  Hafte  des  19.  Jahrhunderts  zur  Reli- 
gion besaß.  Und  diese  Praxis  der  Behandlung  der  Reli- 
gion ist  vielleicht  noch  gefährlicher  fiir  ihr  echtes  Wesen 
als  die  ausgesprochene  Theorie,  welche  den  Wahrheits- 

*  So  bes.  die  französischen  »Traditionalisten«,  deren  neuester  Vertreter 
Maurice  Barrys  ist. 


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650  Probleme  der  Religion. 

wert  der  Religion  messen  möchte  an  ihrer  Ergänzungs- 
kraft für  die  Kulturwerte  oder  an  ihrer  Kraft,  sie  zu  för- 
dern und  zu  erhalten. 

Man  mache  sich  aber  nur  einen  Augenblick  den  Wider- 
sinn der  Grundlage  klar,  auf  die  jede  solche  Erörterung 
gestellt  ist,  wenn  sie  mehr  will  als  bloße  Deskriptionen 
des  historisch  Vorhandenen  geben;  wenn  sie  für  —  oder 
auch  gegen  —  die  Religion  von  diesem  Maßstabe  aus 
Etwas  behaupten  will. 

I .  Gibt  es  ein  über  alles  zufällige  Dasein  der  Weltdinge 
erhabenes  ewiges  Sein  und  höchstes  Gut,  gibt  es  ein 
ganzes  »Reich«  Gottes,  dessen  Besitz  als  die  zentralste 
und  höchste  aller  Erwartungen  vor  der  Seele  des  Menschen 
stehen  darf  und  soll,  so  ist  Nichts  klarer,  als  daß  alle 
mögliche  menschliche  Kultur  —  nicht  nur  die  wirkliche  — 
zu  einer  Angelegenheit  an  der  Peripherie  des  Da- 
seins herabsinkt.  Auf  Gottes  Ewigkeit  und  Vollkom- 
menheit bezogen  erscheinen  die  Werke  menschlicher  Kul- 
tur als  ein  Abfluß  haltloser,  flüchtiger  Gebilde  —  ein- 
geschlossen in  eine  eng  begrenzte  Zeit.  Wie  der  Strahl  der 
Sonne  in  der  flüchtigen  Welle  des  Meeres  —  so  spiegeln 
sich  in  ihren  Werken  zuweilen  unvollkommen  und  immer 
verzerrt  die  ewigen  Werte,  die  in  Gott  in  ewiger 
Vollkommenheit  und  ungeteilt  verwirklicht  sind. 
Es  ist  unmöglich,  Gott  auch  nur  zu  denken,  ohne  alle 
mögliche  Menschenkultur  so  zu  sehen.  Und  nun  soll  das 
Recht  der  Annahme,  es  sei  ein  Gott,  gleichwohl  auf  dem 
Tatbestande  beruhen,  daß  sie  die  Fortbewegung  und 
das  Aufundabrauschen  der  Kulturen  fördert!  Gewiß! 
Dem  Menschen,  der  verstrickt  und  verwoben  in  den  Ernst 
und  die  Leidenschaft  zeitlichen  Lebens  und  zeitlicher  Ziele 


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Probleme  der  Religion.  65 1 

auf  die  Güter  der  Kultur  hinblickt,  dem  scheinen  diese 
Güter  im  Zentrum  alles  Daseins  und  aller  Werte  zu 
stehen.  Denn  auch  die  ihnen  an  Macht  und  gediegener 
Daseinsbasis  so  überlegene  Na tur  außer  und  im  Menschen 
(hier  tätig  als  nimmer  ruhender  Trieb  zu  Daseinserhaltung 
und  -Zeugung),  hat  sich  doch  erst  im  Verlaufe  der  Ge- 
schichte  der  Kultur,  der  Wissenschaft,  der  Tech- 
nik vor  dem  Menschen  aufgetan  als  das  Wissen  um  sie 
und  ist  als  solches  von  der  Anerkennung  durch  Akte 
des  Geistes  abhängig,  die  selbst  noch  Kulturakte  sind. 
Wäre  der  menschliche  Gedanke  seinem  psychischen  Dasein 
nach  auch  nur  ein  flüchtiges  Aufblitzen  in  einem  seinem 
Dasein  gewaltig  überlegenen  Daseinsgetriebe,  das  vor 
und  nach  diesem  Aufblitzen  stumm  und  dunkel  seinen  Weg 
läuft,  so  wäre  doch,  dem  Sinn  und  Inhalt  dieses  Gedankens 
nach,  auch  dieses  Daseinsgetriebe  selber  noch  nur  ein 
minimaler  Teil  im  Sinngehalte  dieses  aufblitzenden 
Gedankens:  Nur  das  Korrelat  des  kleinen  Teiles 
dieses  Gedankens,  den  wir  die  »Wissenschaft  von  der 
Natur  «nennen  und  der  selbst  noch  zur  Kultur  gehört.  So 
darf  sich  der  Mensch  in  der  Tat  —  so  lange  er  nicht  auf 
Gott  hinschaut — mit  Recht  den  Quellpunkt,  von  dem  alles 
Kulturschaffen  ausgeht  und  immer  neu  gespeist  wird,  für 
den  Mittelpunkt  der  Welt  selber  halten;  fiir  Etwas,  das 
erhaben  ist  auch  über  die  Elemente  und  Kräfte  der  Natur, 
die  so  oft  —  spielenden  Kindern  gleich,  die  ein  schönes 
Gefäß  unbewußt,  was  sie  tun,  zertrümmern  —  seine 
Kulturwerke  in  Feuer,  Wasser,  Rost  und  Mottenfraß 
in  nichts  zergehen  lassen. 

Aber  wie  anders  wird  es,  wenn  der  Gedanke  an 
Gott  sich  des  menschlichen  Geistes  und  Herzens 


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652  Probleme  der  Religion. 

bemächtigt!  Möchte  des  Menschen  Gedanke  auch  allem 
übrigen  Dasein  durch  die  Wissenschaft  hindurch,  durch  die 
er  dieses  Dasein  ergreift,  »Gesetze  vorschreiben«  — dem 
absoluten  Sein  und  dem  ewigen  Gute  gegenüber,  ist  auch 
der  bloße  Gedanke  daran  eine  Absurdität  und  eine  Sünde 
zugleich.  Was  ist  es  doch  für  ein  unmöglicher  und  sinn- 
widriger Gedanke:  Gottes  rechtmäßige  Anerkennung 
gerade  auf  dasjenige  zu  stellen,  das  im  Zentrum 
der  Dinge  nur  stehen  könnte,  wenn  —  Gott  nicht 
existiert;  und  dessen  metaphysischer  Ort  sofort  an  die 
»Peripherie  des  Daseins«  rückt  und  so  —  vergleichs- 
weise —  nichtig  und  flüchtig  ist,  wenn  er  existiert.  Was 
ist  das  für  ein  »Grund«,  der  selber  nur  steht  und  »grün- 
det«, wenn  man  das  durch  ihn  zu  Gründende  nicht  auf- 
stellt und  der  eben  dann  wankt  und  schwankt,  wenn  man 
es  tut?  Hier  ist  klar:  der  Sinn  des  Satzes  »Es  ist  ein 
Gott«,  er  allein  schon  schließt  den  Weg  seiner  Be- 
gründung auf  die  Möglichkeit  der  Kultur  radikal  aus. 
Das  ist  ein  ganz  eigenartiges,  sonst  nie  wiederkehrendes 
Verhältnis,  das  hier  zwischen  dem  Inhalt  der  zu  begrün- 
denden Thesis  und  dem  Weg  ihrer  möglichen  Begründung 
besteht.  Nur  wenn  der  Quellpunkt  der  »Kultur«  im  Zen- 
trum der  Dinge  stünde,  dürfte  man  Gottes  Dasein  also 
begründen.  Aber  wenn  Gott  ist,  so  steht  eben  dieser 
Quellpunkt  nicht  in  diesem  Zentrum.  Das  Begründete 
höbe  hier  das  Recht  des  Grundes  selber  auf  Dieser 
Weg  ist  ein  Weg,  der  zum  Ziele  nur  fuhrt,  wenn  er  das 
Ziel  —  das  Dasein  Gottes  —  nicht  erreicht.  Und  er  wäre 
von  vornherein  ein  falscher  Weg,  wenn  er  zum  Ziele  fuhrt. 
Das  zu  Begründende  selbst  entwertet  hier  den  Grund 
—  und  zwar  allein  gemäß  dem  Sinnverhältnis  von  Grund 


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Probleme  der  Religion.  653 

und  Begründetem.  Es  ist  nicht  richtig,  hier  mit  der 
Unterscheidung  antworten  zu  wollen:  Gott  sei  Daseins- 
grund und  Wertgrund  der  Kultur  und  des  kulturschaf- 
fenden  Aktes,  diese  beiden  aber  Erkenntnis  und  Glau- 
bensgrund des  Daseins  Gottes.  Denn  es  ist  schon  der 
Sinn  des  Satzes:  »Es  ist  ein  Gott«,  der  diesen  Weg  der 
Begründung  des  Satzes  widersinnig  macht,  indem  er 
und  er  allein  erst  den  Grund  entwertet,  —  auch  als  Er- 
kenntnisgrund — ,  auf  den  der  zugehörige  Existenzsatz 
soll  aufgebaut  werden.  Ein  Gott  um  der  Kultur  willen  nicht 
nur  daseiend,  sondern  auch  schon  als  Wesen  angenommen 
um  ihretwillen  wäre  kein  Gott;  es  könnte  nicht  Gott  sein, 
was  hier  angenommen  ist.  Hat  man  Gott  —  so  ist  die 
Begründung  seiner  Existenz  auf  die  Kultur  —  als  Wert 
und  Kulturakt  —  lächerlich!  Hat  man  ihn  nicht,  so  kann 
man  ihn  so  nicht  erreichen,  ohne  den  Sinn  und  Wert  der 
Voraussetzung  aufzuheben,  auf  die  hin  man  ihn  als  daseiend 
urteilen  will.  Der  religiöse  Lebensprozeß  und  die  Gesetze 
des  Gemütes  in  seiner  Wesensreaktion  auf  die  verschieden- 
artigen Güter  schließt  also  diesen  Weg  aus.  Ist  das  Gemüt 
wahrhaft  erfüllt  auch  nur  von  dem  echten  Ideengehalt  des 
höchsten  ewigen  Gutes,  so  findet  es  sich  in  einer  Sphäre 
und  auf  einem  Gipfelpunkte,  von  dem  aus  sich  im  selben 
Maße  als  es  sich  mit  ihm  erfüllt,  die  menschliche  Kultur 
als  »eitel«,  »nichtig«,  »fragmentarisch«  darstellt  —  und 
immer  mehr  darstellt.  Wie  soll  das  Gemüt  dann  gleichzeitig 
nicht  um  des  höchsten  Gutes  selber  willen  sein  Dasein 
bejahen,  sondern  um  dessenwillen,  das  so  »nichtig«  und 
»eitel«  aussieht?  Es  handelt  sich  beim  Durchschauen  dieses 
Irrwegs  der  Religionsbegründung  —  wie  man  sieht  — 
nicht  nur  um  logische  Akribie.  Es  handelt  sich  ebenso 


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654  Probleme  der  Religion. 

sehr  um  die  religiöse  Ehrlichkeit  und  um  den  geraden  Blick 
in  der  Sache  der  Religion.  Diese  Begründungsart  —  unse- 
rem Zeitalter  so  teuer  —  hat  in  letzter  Linie  in  einem 
moralischen  Manko,  in  Unehrlichkeit  und  in  einer  Art 
religiösen  Schielens  des  Geistes  ihre  Wurzel.  Der  Auf- 
schwung des  Geistes  und  Gemütes  schon  zur  Idee  Gottes 
wird  nicht  resolut  vollzogen  —  der  Aufschwung,  der  doch 
auch  zugleich  alles  Verständnis  der  Kultur  vorbereitet. 
Man  bleibt  hängen  an  den  irdischen  Kulturgütern  und  hält 
eine  Wertschätzung  ihrer  auch  noch  im  Blicke  des  Geistes 
auf  Gott  aufrecht,  die  nur  Sinn  hätte,  wenn  Gott  nicht 
wäre;  und  doch  sucht  man  vermöge  dieser  Wertschätzung 
Gottes  Dasein  zu  rechtfertigen.  »Beziehungen«  und  aber- 
mals »Beziehungen«  der  Religion  zu  X,  Y,  Z  ersticken 
hier  ihr  Wesen  und  lassen  verkennen  das  einfache 
»Alles  oder  Nichts«,  das  gerade,  ja  allein  und  ganz  allein 
im  Wesen  der  religiösen  Thesis  liegt.  Man  kann  das  Rela- 
tive, man  kann  nicht  das  Absolute  relativ  schätzen.  Das 
Absolute  muß  man  auch  absolut  schätzen  und  es  ist 
nicht  das  Absolute,  was  man  schätzt,  wenn  man  es  nicht 
absolut  schätzt.  Schließlich  wird  dann  dieser  Denkart  das, 
was  sie  »Gott«  nennt,  nur  der  Gesichtspunkt,  das  ge- 
suchte und  unbekannte  X  all  der  »Beziehungen«,  die  da 
heißen:  des  Staates  zu  X,  der  Wirtschaft  zu  X,  der  Kunst 
zu  X,  der  Wissenschaft  zu  X  usw.  Aber  das  ist  der  In- 
halt des  X,  in  dessen  Fülle  die  echte  Religion  lebt  und 
von  dessen  Selbsterfassung  und  in  dessen  Dienste  auch 
alle  jene  Beziehungen  erst  klar  werden  können. 

2.  Darum  geht  es  auch  nicht  an,  in  der  Religion  nur 
die  lebendige  noch  undifferenzierte  Einheit  des  Kul- 
turgeistes, oder  im  Daseinsbereich  ihrer  Gegenstände 


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Probleme  der  Religion.  655 

und  Güter  nur  eine  »ideale  Ergänzung«  für  die  Welt  der 
Kulturwerte  und  -guter  zu  sehen.  Das  Erste  ist  falsch 
«chon  darum,  da  Religion  im  Falle,  daß  sie  nur  jene  un- 
differenzierte Einheit  des  kulturschaffenden  Geistes  wäre, 
um  so  mehr  zergehen  müßte,  je  mehr  der  Differenzierungs- 
prozeß des  Geistes  und  seiner  Arbeitswelten  und  Wert- 
bereiche sich  fortbewegt.  Davon  finden  wir  aber  in  der 
Geschichte  nichts.  Was  wir  finden  ist  vielmehr  die  Tat- 
sache, daß  die  Religion  selber  und  die  religiösen  Werte  und 
Güter  sich  ebenso  differenzieren  wie  die  Kunst,  der  Staat, 
die  Wissenschaft  es  ihrerseits  tun,  und  daß  dies  geschieht 
auf  dem  spezifischen  Boden  eben  der  religiösen  Güter- 
weit  als  solcher,  die  etwas  ganz  anderes  ist  als  eine  >Zu- 
sanmienfassung«  oder  eine  undifferenzierte  Einheit  der 
übrigen  Güterwelten.  Gibt  es  eine  solche  noch  relativ  un- 
differenzierte Entwicklungsstufe  des  menschlichen  Geistes 
und  ein  ihr  zugehöriges  spezifisches  Werk,  so  ist  diese 
nicht  gegeben  im  religiösen  Akt  und  der  Religion,  son- 
dern im  mythischen  Denken  und  Fühlen  und  der  gegen- 
ständlichen Welt  des  Mythos.  Der  Mythos,  —  psycholo- 
gisch gesehen  der  Kollektivwach-  und  Halbwachtraum  der 
Völker^  —  ist  überhaupt  kein  auf  besondere  Gegenstands- 
und Wertgebiete  gerichtetes  geistiges  Aktleben,  er  ist 
nur  eine  psychische  Gegebenheits-  und  Bewußtseins- 
modalität, die  geistige  Akte  aller  essentiellen  Wesens- 
arten und  zu  allen  Arten  von  Gegenständen  und  Gütern 
gehöriger  Akte  besitzen  können  und  auf  gewissen  Ent- 
wicklungsstadien besitzen.  Er  ist  eine  psychologische,  keine 

^  Der  Mythos  ist  auch  denselben^  Regelmäßigkeiten  und  Bildungsgesetzen 
unterworfen  wie  der  Wachtraum  —  was  hier  des  näheren  nicht  gezeigt  wer- 
den kann. 


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r 


v«: 


f "^  '  656  Probleme  der  Religion. 

fc^/  ,  ethische  oder  axiologische  Kategorie.  Rechtliches,  wirt- 

schaftliches, künstlerisches,  wissenschaftliches,  politisches, 
moralisches  —  und  nur  auch  »religiöses«  Denken  un«[ 
Werten,  Schätzen  und  Vorziehen,  zeigt  sich  auf  diesen 
Stufen  der  Entwicklung  stark  in  den  Mythos  eingewickelt; 
und  auch  da,  wo  in  gesteigerter  Wachheit  des  Gruppen- 
bewußtseins die  geistigen  Lebens-  und  Gegenstandsbe- 
reiche sich  schärfer  vom  Mythos  ablösen  und  sich  ihm  ent- 
gegenstellen, bleibt  er  eine  sie  färbende,  mitbestimmende 
seelische  Macht.  Die  Religion  vollzieht  aber  diese  Ablö- 
sung aus  der  mythischen  Bewußtseinsstüfe  genau  ebenso 
energisch  wie  die  verschiedenen  Kulturgebiete  und  auf 
eine  prinzipiell  nicht  andere  Weise  als  jene.  Die  Religion 
gleichsetzen  mit  dem  un-  oder  noch  wenig  differenzierten 
Kulturgeiste,  hieße  sie  also  mit  dem  Mythos  verwechseln 
und  hieße  zudem  eine  noetische  Kategorie  gleichsetzen'  mit 
einer  psychologischen^. 

Es  ist  damit  nicht  gesagt,  daß  es  nicht  die  Religion  sei, 
die  auch  den  Kulturtätigkeiten  letzte  Einheit  und  letzten 
Sinn  gebe  und  überall  gegeben  habe;  es  ist  nur  zurück- 
gewiesen, daß  sie  nichts  anderes  sei  als  jene  »Einheit«. 
Denn  sie  gibt  jene  Einheit  eben  nur  von  ihrem  eigenen 
festen  Standort  aus  und  kraft  ihrer  eigenen  spezifischen 
Güter  und  Werte  und  kann  sie  nur  auf  diese  Weise  geben. 
Und  das  gilt  auch  ganz  besonders  im  soziologischen  Sinne. 
Der  Mythos  ist  gegliedert  nach  Völkern  und  Nationen  und 
sein  Inhalt  beruht  auf  den  eindrucksvollsten  Momenten, 
welche  aus  der  Jugendgeschichte  der  Völker  heraus  (da 

1  Diese  Verwechslung  ist  besonders  üblich  innerhalb  der  romantischen 
Religionsphilosophie  (Fr.  Schlegel,  Schelling),  sowie  innerhalb  des  Tradi- 
tionalismus. 


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Probleme  der  Religion.  657 

dem  Bewußtsein  des  Einzelnen  gleich,  auch  das  Völker- 
bewußtsein in  seiner  Jugend  am  meisten  plastisch,  bild- 
sam und  eindrucksfähig  ist),  in  deren  Tradition  eingingen 
und  hier  mannigfachster  Verarbeitung  durch  das  Völker- 
wachtraumbewußtsein  erfahren.  Die  Religion  dagegen  be- 
nutzt nur  diese  natürlich- geschichtliche  Menschengliede- 
rung nach  Völkern,  um  steigend  aus  sich  und  ihren 
Werten  heraus  spezifisch  religiöse  und  kirchliche  Gemein- 
schaften zu  stiften,  die  nicht  in  den  halbbewußten  Nebel- 
gestalten des  Mythos,  sondern  in  Dogmen  und  Glaubens- 
gutem, femer  im  Kulte  verankert  sind,  die  ihrerseits  nicht 
in  Tradition  und  Gefühlsansteckung,  Mittun  aus  unwill- 
kürlicher Nachahmung,  sondern  durch  bewußte  Lehre 
und  Erziehung  von  Generation  auf  Generation  über- 
tragen werden.  — 

3.  Ähnlich  steht  es  mit  der  Lehre  von  der  »Ergänzung« 
der  Kulturgüterwelt  auf  der  objektiven  Seite  der  Religion. 
Ich  frage:  Wohin  und  in  welcher  Richtung  sollen  wir 
denn  diese  »Ergänzung«  vorgenommen  denken,  wenn  ein 
Göttliches  und  Heiliges  nicht  schon  gegeben  ist,  das  den 
Zielpunkt  dieser  »Ergänzung«,  die  »Richtung«  dieser  »Er- 
gänzung«, die  Art  dieser  Ergänzung  anwiese?  Ist  aber 
dieses  gegeben  —  wozu  brauchen  wir  dann  den  Weg 
der  Ergänzung,  um  dieses  Göttliche  und  Heilige  erst  zu 
gewinnen?  Es  ist  mit  dieser  religiös- philosophischen  »Er- 
gänzungslehre« (wie  sie  z.  B.  Jonas  Cohn  mit  Geschick 
zu  vertreten  suchte)  eben  nicht  anders,  wie  mit  all 
jenen  philosophischen  Lehren,  die  begriffliche  Gegen- 
stände aus  Prozessen,  sei  es  des  Grenzdenkens,  des 
Idealisierens  oder  auch  desErgänzens  erstehen  lassen 
wollen.  Ich  kann  den  Begriffsgegenstand  der  »Geraden« 
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r' 


658  Probleme  der  Religion. 

nicht  gewonnen  denken  auf  die  Weise,  daß  ich  sage:  Wir 
wollen  absehen  von  der  Dicke  dieser  gezeichneten  Linie, 
von  ihrer  Farbe,  von  ihren  eventuellen  faktischen  Krüm- 
mungen, von  ihrer  tatsächlichen  Länge,  vermöge  deren  sie 
(auf  Grund  der  Sinnes-  und  Beachtensschwellen)  immer 
noch,  wie  groß  sie  auch  sein  mag,  nur  der  Teil  des  Radius 
eines  beliebig  zu  vergrößernden  Kreises,  also  nicht  streng 
»gerade«  sein  kann.  Denn  dieses  Verfahren  des  »Ab- 
sehens« führt  nicht  zur  Geraden,  sondern  zum  Nichts, 
wenn  ich  nicht  schon  irgendwie  weiß  und  erschaut  habe, 
wann  und  wo  ich  bei  diesem  Absehen  soll  Halt  machen. 
Auch  eine  sog.  »Idealisierung«  setzt  voraus  die  Schau  des 
Zieles,  zu  dem  hin  ich  idealisieren  will.  »Ergänzung«  setzt 
wiederum  voraus  zum  mindesten  das  Gestaltmodell  eben 
des  Ganzen  und  seine  Gegebenheit,  das  mir  die  Regel 
und  Art  der  Ergänzung  vorschreibt.  Es  ist  also  die  Idee 
Gottes  immer  schon  als  anderweitig  gegeben  voraus- 
gesetzt, wenn  es  zu  solcher  Idealisierung  und  Ergänzung 
kommen  soll. 

4*  Es  tritt  femer  gegen  diese  Auffassung  hinzu,  daß 
diese  Ergänzungstheorie  weder  die  Stelle  verstehen  läßt, 
welche  die  Religion  in  der  Geschichte  der  Menschheit  ein- 
nimmt, noch  die  soziologischen  Bildungen,  in  denen  sie 
sich  darstellt.  Die  Religion  ist  eine  Erscheinung,  die  an 
die  Existenz  einer  höheren  Kultur  in  keiner  Weise 
gebunden  ist.  Während  die  letztere  eine  sehr  seltene  Er- 
scheinung in  der  Geschichte  der  Völker  ist,  ist  die  Religion 
ein  allmenschliches  Phänomen.  Auch  den  Naturvölkern 
und  Halbkulturvölkem  ist  irgend  eine  Form  des  religiösen 
Bewußtseins  eigentümlich.  Aber  auch  da,  wo  die  geistige 
Kultur  Reife  und  höhere  Vollkommenheit  aufweist,  ist  die 


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Probleme  der  Religion.  659 

Religion  so  wenig  ihre  »Ergänzung«,  daß  sie  ihr  ge- 
schichtlich überall  in  ihrer  je  charakteristischen  Form 
vorherzugehen  und  der  besonderen  Ausgestaltung  der 
Kultur  überall  die  Grundform  und  die  Richtung  vorzu- 
schreiben pflegt.  Während  niemals  eine  von  Religion  zu- 
erst unabhängige  Kultur  aus  sich  heraus  zu  einer  Aus- 
gestaltung des  religiösen  Bewußtseins  geführt  hat,  ist  es 
sehr  häufig  der  Fall,  daß  im  Namen  und  vermöge  der 
Energie  eines  neuen  religiösen  Bewußtseins  gegebene 
und  oft  sehr  hochgeartete  Kulturen  zerstört  und  abge- 
brochen und  ein  Neuanfang  auch  des  kulturellen  Schaffens 
gesetzt  worden  ist.  Ja,  in  Zeiten  der  Zersetzung  einer 
höheren  Kultur,  ist  es  immer  das  religiöse  Bewußtsein, 
auf  das  sich  der  Mensch  zurückzieht,  um  an  seiner  Hand 
und  untef  seiner  Leitung  auch  eine  neue  Kulturform  zu 
finden.  Die  sog.  Bildungsreligionen  sind  ähnlich  wie 
der  Pantheismus  (von  dem  sie  meist  die  Form  haben) 
überall  sekundäre  und  schwache  geistige  Bildungen,  die 
überdies  dasjenige,  was  an  ihnen  noch  Religion  ist,  auch 
nicht  der  Kultur  entnehmen,  sondern  den  ihnen  voran- 
gehenden kraftvolleren  und  anschaulicheren  und  ur- 
sprünglicheren Bildungen  der  positiven  Volksreli- 
gionen. Von  deren  Traditionen  sich  ganz  zu  befreien 
haben  sie  (wie  z.  B.  die  tausenderlei  religiösen  Sekten  des 
Hellenismus  beweisen)  so  gut  wie  niemals  die  Kraft  ge- 
fiinden.  Während  femer  die  geistige  Kultur  ihre  sozio- 
logische Wesensform  in  der  Nation  und  Nationalität 
besitzt,  strebt  jede  Religion  (mindestens  ihrem  Anspruch 
nach)  eigentümlichen  soziologischen  Bildungen :  der  Sekte, 
der  Kirche,  den  Orden,  der  Schule  usw.  zu,  die  sich 
über  die  nationalen  Unterschiede  in  ihrer  Mission  erheben. 

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-%^: 


660  Probleme  der  Religion. 

Wo  wir  eine  höhere  Geistesbildung  finden,  da  ist  sie  immer 
eine  Sache  einer  kleinen  Bildungsminorität,  wogegen 
die  Religion  sich  als  der  Weg  zum  Heile  aller  geben  muß , 
wenn  anders  sie  überhaupt  den  Anspruch  macht,  dem 
Menschen  vom  Sinn  seines  Daseins  zu  reden. 

5.  Aber  es  ist  nicht  um  der  Selbständigkeit  des  Wesens 
und  der  Wahrheitsquelle  der  Religion  allein  wegen,  es 
ist  auch  um  der  relativen  Selbständigkeit  und  Eigen- 
art der  Kulturwerte  willen,  daß  man  diese  Religions- 
theorie zurückzuweisen  befugt  ist.  Versteht  man  unter 
dem  Worte  »Kultur«  die  empirischen,  je  vorhandenen 
Kulturwerke  und  Bildungsgüter,  femer  ihre  vorhandenen 
Formen  —  die  Stile,  die  Methoden  usw.  —  so  bedarf 
diese  »Kultur«  freilich  stets  mannigfachster  Ergänzung, 
—  wie  vollkommen  sie  auch  sei.  Aber  es  ist  nicht  abzu- 
sehen, wieso  diese  »Ergänzung«  in  der  Religion  und 
nicht  innerhalb  der  Spannweite  der  Kultur  selbst  sollte 
gelegen  sein,  zunächst  innerhalb  des  Ideales  von  sich  selbst, 
das  jede  faktische  Kultur  als  ein  dauerndes  Bestreben  nach 
den  aus  ihrer  besonderen  Strukturform  hervorgehenden 
höchsten  Zielen  in  ihrem  Schöße  trägt,  im  weiteren  Sinne 
aber  auf  alle  Fälle  innerhalb  der  allgemein  gültigen  geis- 
tigen Werte,  deren  charakteristische  Ausgestaltung  in  einer 
besonderen  Strukturform  und  eigentümlicher  Kulturgüter- 
welt jede  Kultur  darstellt.  Die  Ergänzung,  die  Kultur 
nötig  hat  und  die  sie  stets  aus  sich  heraus  allein  sucht, 
liegt  also  nich  t  auf  dem  Boden  der  Religion,  sondern  in 
diesem  doppelten  Sinne  auf  dem  Boden  ihrer  eigenen 
Idealität.  Die  Wissenschaft  z.  B.  ist  ein  —  im  Wesen 
der  Erkenntnisakte  der  Wissenschaft  selbst  gelegener  — 
unendlicher  Prozeß  der  eindeutigen  Bestimmung  und  Ord- 


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Probleme  der  Religion.  66 1 

nung  der  schon  an  einem  einzigen  Wahrnehmungsding 
unabschließbaren  wissenschaftlichen  Beobachtungen.  Es 
ist  nicht  abzusehen,  wann  und  wo  dieser  unbegrenzbare 
Prozeß  still  zu  halten  habe,  um  sich  in  der  ganz  anders- 
artigen Dimension  der  Religion  erganzen  zu  sollen.  Ana- 
loges gilt  für  das  Wachstum  von  Kunst  und  Philosophie, 
von  Technik  und  sozialen  und  rechdichen  Institutionen. 
Die  »Ergänzungen«  sind  hier  überall  vorgeschrieben  durch 
die  an  den  empirischen  vorhandenen  Werken  selbst  noch 
erkennbaren  Intentionen  und  idealen  Zielrichtungen,  die  sie 
über  ihr  faktisches  empirisches  Dasein  hinaus  noch  be- 
sitzen; hinter  denen  sie  also  in  verschiedenem  Maße  zurück- 
bleiben oder  sie  erreichen  können;  ohne  daß  man  —  um 
solches  festzustellen  —  Werte,  Ideale,  Normen  an  sie  von 
außen  heranbringen  müßte  —  Maßstäbe,  die  ihnen  nicht 
selber  entnommen  wären.  Kein  Kunstwerk,  das  nicht  außer 
dem,  was  es  der  Betrachtung  und  dem  Genüsse  wirklich 
gibt,  auch  noch  mit  aussagt  oder  mit  verrät,  was  es  geben 
möchte-und  sollte;  also  auch  mitverriete,  wo  es  zurück- 
blieb hinter  diesem  idealen  Brennpunkt  seiner  Wert- 
linien. Dem  »Geiste«  in  der  Person  wie  im  Werke  ist 
immer  und  überall  diese  Transzendenz  seiner  eigenen  Wirk- 
lichkeit zu  eigen,  so  daß  er  nicht  nur  seine  empirische 
Schöpfung  aufweist,  sondern  in  ihr  auch  noch  die  Ziele 
und  Zielformen  wiedergibt,  die  er  unter  dem  Druck  der 
tausenderlei  Hemmungen,  Beschränkungen,  Kompromisse 
seiner  Selbstdarstellung  nicht  erreichte,  sondern  verfehlte, 
—  ja  denen  er  aus  dem  Wege  ging.  Wie  wir  bei  jeder 
Persönlichkeit,  bei  jedem  Volk,  jeder  individuellen  Gruppe 
nicht  nur  ihre  geistige  Wirklichkeit  erkennen  als  den 
»Charakter«,  zu  dem  sie  die  Zufälle  ihrer  Geschichte  ge- 


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662  Probleme  der  Religion. 

schmiedet  haben,  sondern  auch  noch  erkennen  können  ihre 
(einmalig  individuelle)  Bestimmung  und  jenen  empi- 
rischen Charakter  an  dieser  Bestimmung  noch  messen 
können;  in  jeder  Rede  und  in  jedem  geschriebenen  Satze, 
ja  in  jeder  geistigen  Lebensäußerung  nicht  nur  erfassen 
können,  was  ^gesagt  und  getan  ist,  sondern  auch  was  ge- 
sagt und  getan  sein  sollte  im  Sinne  der  die  Rede  und 
Äußerung  führenden  Intention,  —  so  zeichnen  auch  alle 
Werke  der  Kultur,  in  dem  sie  sich  geben  als  das,  was  sie 
sind,  gleichzeitig  noch  ein  ideales  Zielbild  von  sich  selbst 
über  ihre  empirische  Existenz  hinaus  und  sprechen  damit 
aus  das  ideale  Bild  ihrer  Sehnsucht.  Und  da  wir  an 
jeder  Stelle  der  geschichtlichen  Kultur  und  ihrer  Perso- 
nen und  Werke  (seien  es  Institute  des  Rechts  oder  Kunst- 
werke, Wissenschaften  oder  Philosopheme)  die  in  ihnen 
selbst  gelegenen  Ideale  der  Kultur  neben  und  außer  ihrem 
empirischen  Dasein  miterfassen  können,  so  bedürfen 
wir  auch  keiner  Religion,  um  die  Normgestalten  zu  er- 
kennen, nach  denen  sie  einer  Ergänzung  bedürftig  sind. 
Daß  in  einem  toto  coelo  verschiedenen  Sinne  die  Reli- 
gion allem  möglichen,  auch  dem  denkbar  idealsten  und 
vollkommensten  kulturellen  Sein  »Ergänzung«  gebe  — 
das  ist  natürlich  mit  dem  Gesagten  nicht  ausgeschlossen. 
Aber  diese  Ergänzung  erfolgt  eben  von  der  Religion 
her,  von  ihren  eigenen  Erkenntnissen  und  Einsichten,  ihren 
eigenen  Wertungen  und  Gütern  selbst  her;  ja  schon  die 
Ergänzungsbedürftigkeit  der  Kultur  wird  in  diesem  Sinne 
des  Wortes  erst  merkbar  und  sichtbar  vom  Boden  des 
selbständigen  religiösen  Bewußtseins  aus.  Wenn  in  dem 
Zentrum  meines  Geistes  und  Herzens  eine  Liebe  und  ein 
darauf  gebautes  Sehnen  und  Verlangen  treiben,  die  auf 


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Probleme  der  Religion.  663 

jedes  ihnen  zur  Erfüllung  vorgehaltene  ideal  vollkommenste 
Werk  der  Kultur  einleuchtende  Antwort  erteilen:  Nein! 
Das  ist  es  nicht,  was  mich  erfüllen  kann.  Es  ist  ein  — 
ganz  Anderes!,  —  erst  dann  wird  auch  die  Idee  der 
Kultur  selbst  mir  ergänzungsbedürftig  erscheinen;  und 
erst  dann  ist  zugleich  und  im  selben  Akte  das  religiöse 
Bewußtsein  »geöffnet«  zur  Aufnahme  der  Güter  des  Hei- 
les. Erst  vom  sog.  Gottesgedanken  her  wird  und  erscheint 
die  Kultur  »ergänzungsbedürftig.«  Und  erst,  wenn  ich 
diesen  Gedanken  gewonnen  habe,  mag  auch  der  ver- 
wickelte und  dunkle  Weg  der  geistigen  Bildung  des  Men- 
schen und  all  seiner  Kultur  mir  nachträglich  als  eine  Reihe 
von  Stufen  erscheinen,  auf  denen  der  Mensch  hinauf- 
zuschreiten vermag  zu  seinem  Gotte.  Aber  diese  Stufen 
sind  Stufen,  die  als  solche  erkennbar  sind  erst,  wenn  man 
oben  steht  und  darum  kann  man  nur  im  pädagogischen 
Sinne,  nicht  im  Sinne  der  objektiven  Begründung  unseres 
Wissens  um  Gott  auf  diesen  Stufen  zu  Gott  hinschreiten. 
5.  Am  allerwenigsten  endlich  könnte  diese  Auffassung 
der  Religion  unser  Verständnis  aller  religiösen  Ethik 
befriedigen.  Der  Versuch,  die  sittlichen  Werte,  Normen 
und  Güter  selber  herleiten  zu  wollen  als  Bestandteile  und 
objektive  Förderungsmittel  der  Kulturevolution,  ist  an  an- 
derer Stelle  von  mir  eingehend  widerlegt  worden^.  Hohe 
und  höchste  Kulturen  zeigen  sich  in  der  Geschichte  mit 
objektiv  sehr  geringwertigen  Ethosformen  und  noch  mit 
mehr  mangelhaftester  Moralität  verknüpft;  niedrige  und 
unvollkommene  Kultur  mit  sehr  hochwertigem  Ethos  und 

'  Siehe  hierzu  meinen  Artikel  > Ethik«  in  Frischeisen- Köhlers  Jahrbuch  der 
'  Philosophie,  II.  Bd. ;  femer  »Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  diemateriale 
Wertethik.«  Vgl.  auch  das  sehr  Treffende  in  der  »Moralphilosophie«  von 


Viktor  Cathrein. 


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664  Probleme  der  ReligioiL 

höchststehender  praktischer  Moralität.  Hätte  es  noch 
eines  Beweises  bedurft,  der  Weltkrieg  hätte  ihn  —  über  die 
Maßen  großartig  —  geliefert.  Bildung,  selbst  noch  sitt- 
liche Bildung,  d.  h.  differenzierte  Fühlfähigkeit  und  Nach- 
fühlfähigkeit für  die  reichen  Qualitäten  Sittliches  bedeu- 
tender Werte  ist  von  moralischer  Güte  des  Seins  und 
Wollens  des  Menschen  gar  sehr  verschieden.  Als  Güter- 
ethik ist  ferner  jede  Kulturethik  als  solche  falsch,  des- 
gleichen als  Erfolgsethik.  Es  wäre  den  Menschen  unter- 
gegangener Kulturen  (den  Ägyptern,  Babyloniem,  Az- 
teken) lächerlich  erschienen,  wenn  man  ihnen  gesagt  hätte, 
daß  sie  etwa  für  die  europäische  Kultur  von  heute  ihre 
Leidenschaften  hätten  zügeln  sollen.  Aber  auch  wenn  man 
von  den  übrigen  Irrtümern  und  Fehlern  dieser  ethischen 
Richtung  absieht,  so  ist  der  Versuch,  auch  die  religiöse 
Ethik,  —  d.  h.  die  Ethik,  die  Jahrhunderte  der  Menschen- 
geschichte hindurch  die  allein  lebendige  Ethik  war  und  es 
heimlich  noch  ist  —  als  bloße  »Ergänzung«  einer  vor- oder 
aufSerreligiösen  Ethik  anzusehen,  auf  alle  Fälle  ein  grund- 
verkehrtes Unternehmen.  Mag  die  Religion  auch  viele 
Moralvorschriften  und  Normen,  die  geltend  sind,  nur  hinter- 
her »sanktionieren«,  so  tut  sie  doch  nirgends  nur  dieses. 
Vielmehr  geht  überall,  wo  die  Religon  wirklich  ist,  auch 
ein  eigenes  Geflecht  als  sittlich  verbindlich  geltender 
Werte,  Normen,  Lebensideale  aus  ihr  selbst  hervor, 
das  sich  —  wo  es  nicht  alleingültig  auftritt  —  als  das 
höchste  Stockwerk  der  sonst  geltenden  Werte  über  die- 
jenigen Werte  und  Normen  auflagert,  die  Religion  nur 
nachträglich  sanktioniert.  Zum  mindestien  sind  dies  die 
Pflichten  gegen  Gott  und  die  Heils  werte  des  Menschen, 
die  singulären  und  die  Werte  der  Heilssolidarität, 


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Probleme  der  Religion.  665 

d.  h.  diejenigen  sittlichen  Werte,  die  nur  der  Mensch  mit 
geöffnetem  religiösem  Bewußtsein,  d.  h.  sich  und  sein 
Schicksal  beziehend  auf  den  Weltgrund  und  auf  die  ab- 
solute Seins-  Änd  Wertsphäre,  überhaupt  zu  erblicken  ver- 
mag. Mögen  diese  Heilswerte  —  nach  der  herrschenden 
positiven  Religion  —  wie  immer  nach  ihrer  faktischen  An- 
erkennung gewechselt  haben,  sie  bildeten  doch  immer  — 
der  Intention  nach  zum  wenigsten — ein  eigenes  Stockwerk 
in  den  Wert-  und  Normgefügen,  unter  denen  der  Mensch 
lebte.  Und  darum  sind  durch  die  Heils  werte  hindurch 
und  ihren  besonderen  modalen  Charakter  natürliche  Moral 
und  natürliche  Religion  unauflösbar  verbunden.  Weder  aus 
der  Wertklasse  der  geistigen  und  Kulturwerte,  noch  aus 
der  Wertklasse  der  Lebenswerte  sind  sie  herzuleiten.  Sind 
sie  gegeben,  so  relativieren  sie  alle  anderen  Wertarten,  die 
also  nur  als  die  » höchsten  <  erscheinen,  sofern  die  Heilswerte 
nicht  gegeben  sind,  Sie  allen  anderen  Werten  —  wo  sie  ge- 
geben sind  —  unbedingt  vorzuziehen  und  für  ihre  Realisie- 
rung das  Opfer  aller  Güter  zu  bringen,  die  sich  nicht  den 
Heilswerten  einordnen,  ist  ein  der  Intention  nach  nie  ver- 
letztes und  nie  verletzbares  einsichtiges  Wertaxiom  —  wie 
oft  ihm  auch  praktisch  zuwidergehandelt  werden  mochte. 
Aber  auch  da,  wo  die  Religion  nur  sittliche  Werte  außer- 
religiöser Provenienz  nachträglich  sanktioniert, geschieht 
dies  aus  dem  autonomen  Ermessen  der  Religion  heraus  und 
es  geschieht  eben  so  oft,  daß  sie  es  nicht  tut  oder  sogar  die 
sonst  geltenden  Werte  und  Normen  als  widerreligiöse  in 
ihrer  Gültigkeit  bestreitet  und  bekämpft.  Wäre  die  Religion 
als  religiöses  Ethos  nur  eine  »Ergänzung«  des  selbst  noch 
nicht  religiösen  und  religiös  fundierten  sittlichen  Bewußt- 
seins, so  wäre  dies  alles  unverständlich  und  sinnlos. 


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666  Probleme  der  Religion. 

So  also  zeigt  sich  uns  klar:  Auch  diese  Form  der  Leug- 
nung eines  selbständigen  religiösen  urgegebenen  Gegen- 
stands- und  Güterbereiches,  ist  unhaltbar  und  ist  von 
jeder  auch  nur  sinnvollen  Philosophie  der  Religion  zu 
verlassen. 

Diese  Forderung  aber  ist  mit  besonderer  Eindringlich- 
keit für  die  Gegenwart  zu  stellen.  Soll  die  Religion 
wieder  zu  einer  wahren  Leiterin  und  Führerin  der 
Kulturmenschheit  werden  und  jene  tieferen  Kräfte  der 
Menscheneinigung  entfalten,  die  nur  sie  besitzt  und  ohne 
deren  Mitwirksamkeit  alle  Einigungserwartungen  von 
»unten«  her  (von  den  »Interessen«  aus),  —  wie  ich 
anderwärts  dargelegt  —  bedeutungslos  bleiben^,  —  be- 
deutungslos bleiben  müssen  nach  den  ewigen  Gesetzen*, 
die  bezüglich  der  Teilbarkeit  und  Mitteilbarkeit  der  Werte 
gelten,  so  ist  die  erste  Bedingung,  daß  sie  sich  ihrer  Selb- 
ständigkeit  bewußt  werde,  und  daß  sich  das  religiöse 
Bewußtsein  loslöst  aus  den  allzu  dichten  Verwebungen 
mit  den  durch  den  Weltkrieg  allzu  fraglich  gewordenen 
Werten  und  Gütern  der  außerreligiösen  sog.  »Kultur«. 
Die  Freisetzung  der  Religion  aus  ihrer  Gefangen- 
schaft und  aus  den  tausenderlei  ihrer  unwürdigen  Dienst- 
schaften, die  sie  der  Nation,  dem  Staate  und  zehntausend 
außerreligiösen  » Organisationen « in  einem  Maße  zu  leisten 
wie  ein  Dienstbote  geheißen  wurde,  daß  sie  selbst  unter 
diesen  Dienstschaften  zu  verschwinden  drohte,  ist  aber 
nur  möglich  und  in  der  Sache  gegründet,  wenn  diese  Er- 
gänzungstheorie auch  aus  derGrundlehre  von  der  natür- 

'  Siehe  mein  Buch  »Krieg  und  Aufbau«  im  Aufsatze  über  die  »Soziologische 
Neuorientierung  der  deutschen  Katholiken  nach  dem  Kriege«. 
*  Diese  Gesetze  sind  entwickelt  im  »Formalismus  in  der  Ethik  etc.«,  IL  Teil. 


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Probleme  der  Religion.  667 

liehen  Religion  verschwindet.  Denn  diese  »Theorie«  ist 
ja  gar  nichts  anderes  als  eine  logische  Formulierung  jenes 
historisch-praktischen  Zustandes  in  der  denkbar  reinsten 
Form.  Ihr  ist  ja  die  Religion  nichts  anderes  als  eine  Art 
Schnittpunkt  der  Kulturenergien  resp.  objektiv  eine 
bloße  Einheit  und  Zusammenfassung  der  höchsten  Kultur- 
werte. Eben  dies  aber  ist  die  Formel  für  jenes  Denken, 
das  schließlich  selbst  Gott  nur  als  das  leere  X  eines  un- 
befriedigten Kulturwillens  gelten  läßt  und  diese  Leere 
dann  der  willkürlichen  Ausfüllung  überläßt  durch  die 
Phantasie  jedes  Einzelnen  und  jeder  Gruppe,  z.  B.  auch 
der  Nationen.  Wie  aber  soll  Religion  z.  B.  dem  Natio- 
nalismus entgegentreten  und  von  jenem  letzten  Univer- 
;5alismus  der  Gesinnung  aus,  den  ausschließlich  der  ge- 
meinsame Blick  der  Menschen  auf  Gott  geben  kann,  die 
nationalistischen  Leidenschaften  sänftigen  und  begrenzen, 
wenn  sie  selbst  nur  eine  Ergänzung  der  doch  wesenhaft 
und  notwendig  national  geformten  Kultur  sein  soll? 

Hier  bemerken  wir  ein  merkwürdiges  Gesetz :  Die  Reli- 
gion vermag  die  kaum  erschöpflichen,  nur  durch  sie  und 
ihre  eigenen  Organisationen  zu  vollziehenden  erhabenen 
Dienste,  die  sie  de  facto  auch  aller  menschlichen  Kultur 
und  Zivilisation  mitzuleisten  bestimmt  und  berufen  ist,  nur 
dann  zu  leisten,  wenn  sie  nicht  ihre  Wahrheit  und  ihren 
Wert  gründet  auf  jene  Dienstschaft,  wenn  sie  vielmehr 
im  Gegensatze  hierzu  ausschließlich  auf  sich  selbst  und 
ihrer  eigenen  Evidenz  ruht.  Ihr  Dienen  ist  das  frei  es  te 
Dienen,  das  denkbar  ist;  und  ihre  Wahrheit  und  ihren 
Wert  abhängig  setzen  von  dieser  Dienstschaft,  das  heißt 
zugleich  ihr  diese  Freiheit  und  damit  alle  Möglichkeit 
wahrer  und  wertvoller  Dienste  an  der  Kultur  nehmen. 


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668  Probleme  der  Religion. 

Es  heißt  also  in  unserem  Sinne  die  Selbständigkeit  der 
Religion  behaupten,  nicht  im  entferntesten  sie  isolieren 
wollen  von  den  Verwebungen,  die  sie  von  sich  selbst  aus 
und  kraft  der  Einheit  und  Alldurchdringung  aller  Elemente 
des  historischen  Lebens  mit  den  Kulturgebieten  eingeht. 
Und  es  ist  ohne  Zweifel,  daß  nicht  eine  schroffe  Isolierung 
oder  gar  Kulturfeindschaft  der  Religion,  sondern  eine  mög- 
lichst tiefe  und  reiche  Harmonie  von  Religion  uncK 
Geisteskultur  der  ideal  vollkommene  Zustand  ist. 
Nur  darf  diese  Harmonie  niemals  auf  Kosten  der  Reli- 
gion angestrebt  werden,  wie  es  im  Geiste  der  Theorie 
lieg^,  die  wir  hier  bekämpfen.  Zeitalter,  die  diese  Harmonie 
aufweisen,  wie  z.  B.  für  das  Christentum  das  12.  Jahrhun- 
dert, oder  das  1 7.  Jahrhundert  in  Frankreich,  haben  diesen 
idealen  Zustand  so  sehr  verwirklicht,  daß  eine  Orientierung 
an  ihren  Theorien  der  Religion  die  letzte  Wesensunab- 
hängigkeit der  beiden  großen  Angelegenheiten  der  Mensch- 
heit leicht  verbirgt.  Es  ist  aber  dann  um  so  gefährlicher, 
solche  Theorien  zu  unmittelbar  auf  andere  Zeitalter  zu 
übertragen,  die  solche  Harmonie  vermissen  lassen.  Dann 
wird  falsche  Schönfärbung,  was  einst  sinnvoll  und  verständ- 
lich gewesen.  Es  sind  aber  wenige  Zeitalter  in  der  Ge- 
schichte zu  finden,  in  denen  dieser  Idealzustand  weniger 
verwirklicht  wäre  als  das  unsrige;  in  denen  die  religiösen 
Werte  allgemeiner  und  gleichgültiger  von  den  bestehen- 
den Kulturtendenzen  verleugnet  wurden,  wie  das  unsrige ; 
und  in  dem  das  Gefühl  und  die  Ahnung  eines  Wende- 
punktes der  Geschichte  der  Kultur,  der  Notwendigkeit 
relativen  Abbruchs  des  Überkommenen,  ja  der  Notwendig- 
keit eines  radikalen  Bruches  mit  einer  im  Kerne  religions- 
feindlichen Kultur  mächtiger  verbreitet  gewesen  wäre. 


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Probleme  der  Religion.  669 

Es  ist  kein  Wunder,  daß  die  immer  und  überall  im  Grunde 
bestehende  Wesensunabhängigkeit  von  Religion  und  Kul- 
tur hier  auch  offensichtlicher  wird  als  in  den  Zeiten  der 
Harmonie;  und  daß  nur  derjenige  Stützpunkt  des  mensch- 
lichen Geistes  und  Herzens,  der  seiner  Natur  nach  allein 
dauern  kann,  wenn  die  Stützen  der  überkommenen  Kultur 
morsch  und  alt  geworden  sind,  —  der  Stützpunkt  auf 
Gott,  —  Hoffnung,  Stärke  und  Kraft  geben  kann  auf  dem 
Boden  einer  neuen  und  andersartigen  Bildungsart 
des  Menschen  seinem  Idealzustand  wieder  näher  zu 
kommen.  Die  Theorie,  die  wir  hier  bekämpfen,  mußte  also 
gerade  in  einer  Zeit  zu  falscher  Anpassung  an  eine  greisen- 
haft gewordene  Kultur  fuhren,  in  der  diese  Anpassung 
darum  am  gefährlichsten  für  die  Reinheit  des  religiösen 
Bewußtseins  ist,  weil  diese  Kultur  aus  religionsfeind- 
lichen oder  doch  indifferenten  Potenzen  vorzüglich  er- 
wachsen ist.  —  Denn  nur  dann  und  dort  ist  die  Harmonie 
von  Religion  und  Kultur  der  vollkommenste  Stand  des 
geistigen  Daseins,  wenn  eine  zuerst  als  selbständig  er- 
griffene und  gleichzeitig  als  die  erste  und  höchste  An- 
gelegenheit des  Menschen  allgemein  auch  wirklich  ange- 
sehene Religion  die  Kultur  und  all  ihre  Gebiete  —  ohne 
sie  durch  willkürliche  Eingriffe  beherrschen  und  ohne  sie 
ihrer  inneren  Eigengesetze  und  Eigenwerte  berauben  zu 
wollen  —  unwillkürlich  so  inspiriert,  daß  der  Hauch 
und  der  Atem  ewigen  Lebens  alles  schöpferische  Tun 
und  alles  Werk  wie  von  selbst  durchflutet. 

Ebensowenig  ist  mit  unserer  These  irgendwie  geleug- 
net oder  in  Frage  gestellt,  daß  der  Mensch  —  und  auch  der 
Mensch  der  Gegenwart  —  auf  den  allerverschiedensten 
Wegen  seiner  subjektiven  Entwicklung  durch  eingreifende 


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670  Probleme  der  Religion. 

und  tiefe  Beschäftigung  mit  irgendeinem  der  Gebiete  der 
Kultur  soweit  an  die  Schwelle  der  Religion  gelangen  kann, 
daß  er  schließlich  in  einem,  allerdings  immer  noch  freien 
und  selbständigen,  Akt  des  Glaubens  die  religiösen 
Güter  ergreifen  muß. 

Es  gibt  zwei  idealtypisch  verschiedene  Wege  der  »Be- 
kehrungen«, die  beide  ihr  besonderes  inneres  Recht  be- 
sitzen: den  unmittelbaren  Weg  und  den  mittelbaren  Weg. 
Der  erste  mehr  persönliche  Weg  besteht  in  dem  vorwiegend 
plötzlichen  oder  doch  schubartig  wachsenden  Zureinsicht- 
kommen,  daß  die  Substanz  der  Person  ihren  vollen  Da- 
seinssinn und  ihre  Rettung  und  tiefste  Läuterung  nur  finden 
kann  in  der  Hingabe  an  Gott  und  in  der  freien  Unter- 
ordnung unter  die  göttliche  Macht.  Tiefgehende  persön- 
liche Erlebnisse  sind  vor  allem  die  Vehikel  dieser  Art 
der  Bekehrung.  Ohne  zu  beachten  die  unendlich  mannig- 
faltige Folgeerscheinungen  und  Bindungen,  welche  die 
Religion  wie  die  Irreligion  für  das  kulturelle  Leben  mit 
sich  bringt,  ohne  den  Fäden  nachzugehen,  die  ein  religiöses 
Gesamtleben  in  die  Kulturgebiete  hineinsendet,  springt 
hier  das  Individuum  gleichsam  in  einem  unmittelbaren 
Sprunge  von  seinem  vorreligiösen  Stande  aus  in  das  Zen- 
trum der  Religion  hinein.  Es  sind  das  diejenigen  Be- 
kehrungen, die  z.  B.  der  Pietismus,  der  Methodismus  und 
ähnliche  Färbungen  der  Frömmigkeit  vor  allem  auszulösen 
bestrebt  sind  —  der  Sprung  von  einem  tiefen,  plötzlich  zu 
heller  Erleuchtung  kommenden  Sündenstand  unter  die 
bergenden  Flügel  Christi  und  den  Reichtum  der  Gnade  ^. 

*  Dieser  Bekehrungstypus  ist  besonders  eindringlich  von  W.  James  in 
seinem  Buche:  »Mannigfaltigkeit  der  religiösen  Erfahrung«  beschrieben 
worden. 


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Probleme  der  Religion.  67  I 

Der  mittelbare  Weg  ist  ein  anderer.  Er  nimmt 
von  dem  religiösen  Inspirationsgehalt  irgend  eines  Kul- 
turgebietes —  der  Kunst,  der  Philosophie  und  Wissen- 
schaft, der  Erziehung,  des  Staats-  und  Rechtslebens,  der 
Sitte  —  seinen  Ausgang.  Der  Mensch  bemächtigt  sich 
hier  meist  in  allmählicher  und  kontinuierlicher  Form  — 
indem  er  den  Fäden  der  Inspirationswerte  des  Kultur- 
gebietes nachgeht  —  zunächst  nur  der  besonderen  »reli- 
giösen Voraussetzungen«,  dieses  Kulturgebiets,  um  erst,, 
wenn  er  diese  »Voraussetzungen«  gefunden,  sie  mehr 
für  sich  werden  zu  lassen  als  bloße  Voraussetzungen, 
nämlich  die  höchsten  Selbst-  und  Eigenwerte  und  -Wahr- 
heiten. Die  Voraussetzungen  werden  dann  die  Haupt- 
setzungen. Gleichzeitig  wird  ihm  —  ist  er  an  diesen  Punkt 
gelangt  —  das  konkrete  Ganze  der  religiösen  Heils- 
güterwelt^  in  das  er  ursprünglich  nur  von  einem  beson- 
deren Punkte  her  gleichsam  hineingesehen  hatte,  sich 
in  einem  Blicke  des  Geistes  darbieten.  Er  wird  dann  nicht 
mehr  nur  seine  einzelne  Kulturfunktion  —  als  Künstler, 
Erzieher  etc.  —  sondern  sich  selber  in  seiner  Substanz 
diesen  Heilsgütern  hinzugeben  den  Versuch  machen.  Das 
ist  ein  Weg,  der  viele  Stationen  haben  kann,  auf  denen 
allen  ein  zeidicher  oder  endgültiger  Stillstand  der  Entfal- 
tung möglich  ist;  und  es  ist  ein  Prozeß,  der  sich  nur  lang- 
sam und  allmählich  zu  vollziehen  pflegt.  Aber  wie  immer  sich 
dieser  Weg  vollziehe,  seine  Deskription  wäre  grundfalsch, 
wollte  man  sagen,  der  Mensch  könne  überhaupt  zur  Reli- 
gion gelangen,  ohne  die  Religion  —  wenn  er  ihr  Wesen 
auch  nur  an  eine  w  Zipfel  erfaßt  —  als  weit  mehr  zu  fassen 
denn  als  bloße  »Voraussetzung«  der  Möglichkeit  einer 
Kulturfunktion.  Eigentümlich  ist  diesem  Wege  vielmehr 


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672  Probleme  der  Religion. 

dies,  daß  sich  dem  Menschen  im  Fortgang  dieser  Entwick- 
lung immer  neue  und  immer  reichere  Aussichten  auf 
Dinge  und  Realitäten,  auf  Werte  und  Güter  hin  entfalten 
und  darstellen,  die  er  nicht  erwarten  und  —  auch  im 
ideals  ten  Falle  des  schließenden  Voraussehens  —  voraus- 
se  he  n  konnte;  die  —  obzwar  sie  auch  die  Enden  der  Fäden 
dessen  im  Göttlichen  sind,  dessen  Inspirationscharakter  er 
nachging,  als  solche  »Enden«  dogh  überhaupt  nicht  er- 
►  blickt  werden  können,  ohne  daß  er  zugleich  weit  mehr  er- 
blickte als  die  Gr.enzpunkte  der  »Enden«  —  nämlich  die 
ganze  Fülle  des  (natürlich)  Göttlichen.  Dieser  innere 
Gang  der  Seele  ist  vergleichbar  dem  Wege  eines  reisen- 
den Wanderers,  der  von  einem  unscheinbaren  Reiz  der 
Landschaft  verlockt  eine  bestimmte  Richtung  einschlägt, 
dem  sich  aber  schon,  ehe  er  dieses  Ziel  ganz  erreicht, 
das  ihm  ursprünglich  das  einzige  Ziel  war,  ganz  neue,  un- 
vorhergesehene Wunder  der  Natur  eröffnen  und  der  dieses 
ursprünglich  einzige  Ziel  unter  der  Anziehung  des  immer 
herrlicher  sich  ihm  eröffnenden  Bildes  schon  zu  vergessen 
schien.  Dieser  richtig  beschriebene  religionspädagogische 
Weg  ist  aber  mit  der  Theorie  von  der  sachlichen  Selb- 
ständigkeit der  Religion  in  voller  Übereinstimmung  und 
er  bestätigt  die  Lehre  von  der  Religion  als  Kultur- 
voraussetzung so  wenig,  daß  er  ihr  vielmehr  glatt  wider- 
streitet. Denn  nicht  diese  Form  eines  sich  fort  und 
fort  mit  neuem  unvorhersehbarem  religiösem  Gehalt  be- 
reichernden Entfaltungsprozesses  des  Geistes  samt  der 
steigenden  Umkehr  von  Mittel-  und  Selbstwert  des 
religiösen  Gehalts  ließe  die  Theorie  von  der  Religion 
als  Kulturvoraussetzung  erwarten,  sondern  im  höchsten 
Falle  eine  bloß  analytische  Steigerung  des  religiösen 


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Probleme  der  Religion.  673 

Gehalts  durch  immer  neue  Ansatzpunkte  im  Gebiet  der 
Kulturwerte. 

Aber  auch  auf  diesem  Gebiete  bloßer  Religionspäda- 
gogik können  und  müssen  wir  noch  scheiden  die  Typik 
der  besonderen  subjektiven  Wege,  auf  denen  typisch 
geartete  Menschen  überhaupt  und  typisch  geartete  Men- 
schen bestimmter  Kulturzeitalter  zur  Religion  gelangen, 
und  eine  von  der  wechselnden  individuellen  und  typischen 
Subjektivität  noch  unabhängige  Ordnung  des  Ganges  in 
der  sachlichen  Werte-  und  Güterleiter  selber,  der  allem 
möglichen  subjektiven  Sehnen  des  Menschen  zu  Gott  durch 
die  Seins-  und  Wertordnung  selber  zum  mindesten  als  Spiel- 
raum vorgeschrieben  ist. 

Es  gibt  gleichsam  einen  Erziehungsgang  des  Men- 
schen zu  Gott  —  verschieden  von  der  rein  sachlichen  Be- 
gründung des  Gottesgedankens  und  des  Daseins  Gottes 
—  der  in  der  objektiven  Ordnung  der  Güterwelt  und  der 
Vollkommenheit  und  Seinsftille  der  Dinge  selber  also 
vorgezeichnet  ist,  daß  man  in  diesem  Betrachte  die 
Weltwertordnung  (ganz  unabhängig  vom  menschlichen 
Subjekt)  nennen  möchte  einen  einzigen  großen  Finger- 
zeig der  Welt  auf  Gott  —  einen  Fingerzeig,  der  in 
viele  untergeordnete  Fingerzeige  zerfällt,  die  erst  in  ihrem 
gegenseitigen  zusammengeschauten  Hinweisen  auf 
das  göttlich  Eine  sich  ganz  verständlich  machen  können. 

Lassen  wir  Bilder  und  Gleichnisse  zur  Seite,  so  läßt 
sich  das  hiermit  Gemeinte  in  ein  einfaches  Gesetz  fassen, 
dem  schon  Goethe  auf  der  Spur  gewesen  ist,  wenn  er 
einmal  sagt:  »Alles,  was  in  seiner  Art  vollkommen 
ist,  überschreitet  auch  seine  Art.«  Es  mündet  in  eine 
höhere  Art  der  Werte. 

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674  Probleme  der  Religion. 

In  der  Tat:  Die  je  vollkommene  Güterbildung  in  jeder 
Grundwesensart  von  Werten  —  den  Wertmodalitäten  und 
den  ihren  Kreisen  je  untergeordneten  Wertqualitäten  — 
fuhrt  nach  einem  Gesetze  der  Wertgüterkontinuität, 
das  die  Diskretion  und  Sprunghaftigkeit  der  Werte  als 
solcher  indes  keineswegs  aufhebt,  von  selbst  in  die  höhere 
und  modal  —  resp.  qualitativ  —  verschiedene  Grund- 
wesensart hinüber. 

Und  weil  die  Heflsgüter  die  modal  höchsten  Güter  — 
weil  sie  Güter  der  modal  höchsten  Wertart  —  sind,  so 
gilt  auch  objektiv  und  sachgfültig,  daß  die  genaue  Ver- 
folgung dieser  Güterkontuinität  —  wenn  sie  die  je  voll- 
kommenen oder  doch  relativ  der  Vollkommenheit  am 
nächsten  kommenden  Güter  der  Güterarten  durchläuft  — 
schließlich  bei  Gott  als  dem  schlechthin  heiligen  und  darum 
»höchsten  Gute«  enden  muß. 

Erst  diese  beiden  Wertgesetze  geben  dem  Wege  der 
Bekehrung,  die  wir  die  mittelbare  nannten,  auch  eine 
sachliche  Rechtfertigung,  die  über  den  bloßen  zufälligen 
Erfolg  der  Erreichung  des  Zieles  —  der  Gottgewinnung 
—  hinausreicht,  da  sie  sich  stützt  auf  die  objektiven 
Fingerzeige  und  Hinweisungen  auf  das  Göttliche,  die  nicht 
bloß  in  der  Natur  des  Menschen,  sondern  in  der  Welt- 
wertordnung vorgezeichnet  sind. 

Die  Wahrheit  der  beiden  Gesetze  bestätigt  sich  auf 
allen  Wertgebieten.  Wo  die  Übung  eines  Handwerks,  das 
als  solches  noch  in  den  Grenzen  der  nützlichen  Zweck- 
mäßigkeit—  in  irgendeiner  Hinsicht  des  Nützlichen  — 
gelegen  ist,  eine  in  seiner  Art  vollkommene  Bildung  er- 
reicht,erreichtsiezugleichmehralseinbloßNützliches — 
ein  kleines  zweckfreies  Kunstwerk  einer  zum  mindesten  »an- 


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Probleme  der  Religion.  675 

hangenden  Schönheit«.  Das  Nützliche  selbst  wird  schön , 
wo  seine  Nützlichkeit  vollkommen  ist.  Steigt  der  Forscher 
einer  positiven  Einzelwissenschaft  in  jene  letzten  Gründe 
seines  Wissens  und  in  die  tiefliegendsten  und  darum  frucht 
barsten  Prinzipien  seines  Forschens  zurück,  so  gelangt  er 
wie  von  selbst  in  die  Gebiete  der  Grenzfragen  der  höheren 
Gattung  des  menschlichen  Wissens,  das  wir  das  philo- 
sophische oder  das  Wesenswissen  nennen.  Seine  höchsten 
»Voraussetzungen«  müssen  immer  auch  Wesenswahr- 
heiten sein.  Denn  Gegenstand  ist  dem  Philosophen  schon 
dasjenige  am  Wesensgehalt  der  definitorischen  Grundbe- 
griffe des  positiven  Forschers,  was  diesem  selbst  noch 
bloße,  aber  letzte  »Voraussetzung«  seines  Forschens  ist. 
Und  ebenso  gewiß  muß  der  Philosoph,  —  entwickelt  er 
nur  voll  und  restlos  auch  die  Folgen  seines  Wesens  wissen  s 
—  auch  Sinngehalte  der  wahren  »Voraussetzungen«  der 
Wissenschaften  mitgewinnen  —  ohne  darum  sie  zu  ge- 
winnen nur  »als«  Voraussetzungen  —  wie  es  die  Gewohn- 
heit der  schlechten  unphilosophischen  >  Philosophie « ist,  die 
bloße  >  ancilla  scientiae « ist.  Trotz  der  grundverschiedenen 
Wesensartung  des  Wissens,  das  der  Philosoph  und  der 
positive  Forscher  erstrebt,  müssen  Philosophie  und  Wissen- 
schaft in  dem  Maße  kontinuierlich  ineinander  übergehen, 
als  beide  vollkommen  sind.  Nur  in  den  unvollkommenen 
Niederungen  des  beiderseitigen  Betriebes  gehen  Philo- 
sophie und  Wissenschaften  auseinander.  In  schöpferischen 
Zeiten  und  in  schöpferischen  Menschen  berühren  sie  sich 
scheidewandlos.  Nur  in  unschöpferischen  gehen  beide  un- 
abhängigen Gang. 

Und  wird  ein  vollkommen  heldenhafter  Mann  nicht  not- 
wendig zugleich  ein  Genius  wie  in  Alexander,  Caesar, 

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676  Probleiiie  der  Region. 

Ns^leon,  Friedridi  dem  Großen,Priii2  Eugen — im  Gegen- 
satz zu  dem  Nurhelden,  etwa  einem  Blücher?  Je  höher  die 
Werte  sind,  um  deren  zugehörige  Intentionen  (ak  wert- 
iassende  und  reah'sierende)  es  sidi  handelt,  desto  mdir 
stützen  imd  fördern  sich  die  Intentionen g^[enseitig,ja 
steigern  sidi  gegenseitig.  Kann  ein Künsder  vollkommen 
sein  ohne  sittlich  gut  zusein?  Ich  muß  es  aufs  bestimmteste 
leugnen,  obgleidiich  über  die  »Fälle«  natürlich  nicht  ganz 
unwissend  bin,  die  mir  aus  Geschichte  imd  Leben  ent- 
gegengehalten werden  können.  Wer  Technik  aber  —  auf 
beiden  Seiten,  denn  es  gibt  auch  eine  Technik  der  Moral, 
nicht  nur  eine  solche  jeder  Kunst  —  nicht  verwediselt 
mit  Kunstwert  und  Güte  und  wer  diese  intuitiv  evidenten 
Sätze  mehr  gebraucht,  um  die  Wirklichkeiten  der  Erfehrung 
richtig  zu  analysieren  (also  die  »Tatsachen«  erst  festzu- 
stellen, um  die  es  sich  handelt),  als  um  die  Sätze  an  diesen 
Realitäten  zu  messen,  der  wird  mit  jenen  sog.  »Tatsachen« 
und  »Fällen«  leicht  fertig  werden. 

Vermag  man  anders  ein  vollkommener  »Führer«  zu 
sein  als  so,  daß  man  mehr  ist  als  bloßer  Führer  —  näm- 
lich eine  zweck-  und  zielfreie  geistige  Gestalt,  die  unwill- 
kürlich, ohne  daß  sie  Führerintentionen  ausübt,  als  Vor- 
bild Nachfolge  erweckt  —  und  die  nicht  wertvoll  ist  und 
scheint  um  ihres  Führertums  allein  willen,  sondern  darum, 
weil  ein  »solcher  Mensch  in  der  Welt«  ist? 

Vermöge  dieses  Gesetzes  verstehen  wir,  daß  es  im 
Wesen  der  Kulturwerte  selbst  gelegen  ist,  daß  der  Mensch 
schließlich  von  jeder  Gütersphäre  aus  (Wirtschaft, 
Recht,  Staat,  Kunst,  Wissenschaft  usw.)  zur  religiösen 
Haltung  und  in  ihr  zu  Gott  muß  gelangen  können.  Aber 
dieses  religionspädagogische  Gesetz  schließt  nicht  ein. 


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Probleme  der  Religion.  677 

daß  man  Religion  durch  die  Beantwortung  der  Frage 
begründen  könAe:  Wie  ist  Kultur  möglich?  Die 
Religion  und  ihre  Güter  sind  und  bleiben  ein  über- 
kulturelles Sach-  und  Wertgebiet,  das  freilich  —  wenn 
es  im  religiösen  Erkenntnisakt  ergriflFen  ist  —  auch  den 
Kulturwerten  erst  letzten  Sinn  und  letztes  Ziel  gibt  und 
die  Produktion  der  Kulturgüter  reflexiv  als  Stufen  im 
Aufstieg  zu  Gott  gewahren  läßt. 

So  können  wir  nicht  finden,  daß  diese  neueren,  meist 
in  der  philosophischen  Kultursphäre  des  Protestantismus 
entsprungenen  Versuche,  der  natürlichen  ReCgion  eine 
Begründung  zu  geben,  sich  auf  einem  Erfolg  versprechen- 
den Weg  befinden.  Wie  Einzelnes  darin  auch  wertvoll 
sein  mag:  Nur  der  früher  gewiesene  Weg  scheint  uns 
auch  dieses  Wertvolle  bergen  und  richtig  gebrauchen  zu 
lassen.  — 

Aber  diese  Untersuchung  wäre  nicht  vollständig,  würde 
sie  nur  der  Begründungsversuche  bereits  geltender  reli- 
giöser Behauptungen  gedenken.  Es  gibt  ja  heute  große 
Kreise,  die  eine  »religiöse  Erneuerung«  in  dem  Sinne  ver- 
stehen, daß  man  die  Heraufkunft  einer  neuen  Religion 
erwarten  müsse  oder  gar  eine  neue  Religion  sozusagen 
erfinden  müsse.  In  immer  größerer  Anzahl  melden  sich 
gegenwärtig  Religionsstifter  und  finden  mehr  oder  weni- 
ger Gefolgschaft^. 

Wie  verhält  es  sich  mit  den  Aussichten  auf  eine  »neue 
Religion«,  die  nicht  zu  »begründen«,  sondern  sozusagen 
zu  erfinden  wäre? 

^  Ich  erinnere  nur  an  die  Christian  Science,  an  die  theosophische  Bewegung^, 
an  die  Bestrebung^en  von  Johannes  Müller,  an  die  Kreise  der  um  £.  Diederichs 
Zeitschrift  »Die  Tat«  gruppierten  religiös  interessierten  Jugend. 


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678  Probleme  der  Religion. 

III.  Warum  keine  neue  Religion? 

Es  besteht  kein  Zweifel:  Es  ist  die  Gewohnheit,  es  ist 
nicht  Einsicht,  was  dia  Mehrzahl  der  gläubigen  Menschen 
bewegt,  in  den  überlieferten  Glaubens-  und  Kultformen  ihr 
religiöses  Leben  zu  führen.  Freilich  besagt  dies  nicht  eben 
viel.  Denn  auch  alle  möglichen  Formen  der  Religions- 
entfremdung, ja  der  Gottesleugnung  oder  der  Indifferenz 
haben  längst  aufgehört,  neue  Erfindungen  und  persönliche 
geistige  Erwerbungen  zu  sein.  Auch  sie  sind  für  große 
Kreise  der  europäischen  Bevölkerung  traditionell  ge- 
worden und  werden  durch  das  Gesetz  der  Denkträgheit 
durch  Generationen  weitergeschleppt.  Der  Heroismus,  der 
einst  notwendig  war,  um  den  Kirchen  entgegenzutreten 
und  der  rein  als  solcher  starke  Seelen  mehr  anziehen  als 
abstoßen  mußte,  lädt  keinen  Edlen  mehr  zu  solchem  Tun 
ein.  Er  findet  längst  auf  politischem  oder  ökonomischem 
Boden  ein  dankbareres  Feld.  Man  ließ  vor  Kriegsbeginn 
auf  unsren  Hochschulen  z.  B.  jede  Form  des  Atheismus 
vertreten,  nicht  aber  durfte  ein  Gelehrter  z.  B.  Marxist 
oder  Republikaner  sein.  Die  »Voraussetzungslosigkeit« 
der  Nationalökonomie  ist  wichtiger  geworden  als  die  der 
Philosophie.  Immerhin  ist  aber  die  Tatsache  des  reli- 
giösen Traditionalismus  ein  Motiv  gerade  für  religiös 
lebendigere  Gruppen,  die  »religiöse  Emeperung«  im  Sinne 
einer  »neuen  Religion«  für  wünschbar  zu  halten.  Eben 
an  diese  Gruppen  möchte  sich  das  Folgende  wenden. 
Ich  formuliere  eine  selten  gestellte  Frage  so: 
Gibt  es  —  von  Gewohnheits-  und  Traditionsglauben 
einmal  ganz  abgesehen  —  nicht  etwa  im  Wesen  der 
Religion  und  im  Wesen  des  möglichen  Ursprungs  von 


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Probleme  der  Religion.  670 

Religionen  selber  gelegene,  der  strengen  Einsicht  zugäng- 
liche Gründe  zur  Annahme,  es  sei  eine  »neue  Religion« 
entweder  überhaupt  nicht  mehr,  oder  zum  mindesten  in 
Europa  nicht  mehr  zu  erwarten? 

Gäbe  es  solche  Gründe,  die  ganz  unabhängig  von  jenem 
Motiv  der  Gewohnheit  bestehen,  wie  tief  wäre  dann  der 
Irrtum  jener,  die  nur  aus  der  Reaktion  gegen  jenen  Ge- 
wohnheitsglauben oder  aus  sehr  vagen  Ideen  über  einen 
notwendigen  »Fortschritt«  alles  dessen,  was  dem  Men- 
schen wert  ist  und  wert  sein  soll,  mit  der  Möglichkeit  oder 
Wahrscheinlichkeit  einer  »neuen  Religion«  rechnen?  In- 
dem sie  »Besseres«  oder  »VoUkommneres«  erwarten, 
hätten  sie  das  schlichte  Gute  ausgeschlagen.  Gibt  es  aber 
solche  Gründe,  dann  könnte  ja  unsere  mögliche  Grund- 
haltung zur  Religion  nur  eine  sein:  die  Haltung  der 
Bewahrung  der  religiösen  Güter,  die  wir  besitzen  und 
die  Sorge,  sie  immer  fruchtbarer  zu  machen,  d.  h.  voll 
tätig  und  voll  gebend  für  die  Seelen  der  Menschen. 

Es  gibt  aber  solche  Gründe,  wie  mir  scheint  —  und 
zwar  Gründe  ganz  prinzipieller,  ja  im  Wesen  der  Religion 
und  in  ihrem  Verhältnis  zur  Geschichte  selber  gelegener 
Natur;  und  es  ist  mir  oft  merkwürdig  erschienen,  daß 
man  —  von  einigen  Ausnahmen  abgesehen  —  bisher 
nur  wenig  getan  hat,  um  diese  Gründe  in  ihrem  systema- 
tischen Zusammenhang  klar  herauszustellen. 

Die  Gründe  sind  verschiedener  Art  und  verschiedenen  Ge- 
wichts. Es  gibt  I .  metaphysisch-theologische  Gründe,  die  im 
Wesen  der  Gottesidee  selber  gelegen  sind ;  2 .  Gründe,  die  in 
der  Entfaltungsrichtung  des  menschlichen  Geistes  liegen. 

Diese  Gründe  sind  vom  Glaubensstandpunkt  ganz  un- 
abhängig und  für  die  Vernunft  faßbar. 


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68o  Probleme  der  Religion. 

Erst  wenn  sie  geltend  gemacht  und  verstanden  sind, 
darf  man  die  weitere  Frage  stellen  nach  der  Stellung  des 
Christentums  unter  den  Religionen  und  nach  den  Grün- 
den, welche  dir  und  gegen  seine  sog.  »Absolutheit«  spre- 
chen, d.  h.  für  oder  gegen  seinen  Anspruch,  nicht  nur  die 
bisher  vollkommenste,  höchste  und  reinste  Religion  zu 
sein,  sondern  »die«  schlechthin  wahre  oder  absolute  Re- 
ligion. 

I.Widerstreit  der  Idee  eines  persönlichen  Gottes  und 
der  Erwartung  einer  neuen  Religion. 

Der  erste  Grund  lieg^  im  Wesen  des  Göttlichen  selbst, 
sofern  es  personal  gedacht  ist  —  nicht  also  erst  in  der 
Realsetzung  einer  bestimmten  Glaubensausgestaltung 
dieses  Wesens. 
' '  Dürften  wir  die  Idee  Gottes  anschauen  und  denken 
ohne  die  Idee  einer  personalen  Wesensform  in  ihren  Ge- 
halt aufzunehmen,  also  z.  B.  denken  als  die  Idee  eines  un- 
persönlichen Allgeistes,  einer  bloßen  Ordnung  der  Welt, 
eines  Allebens,  einer  personfreien  Substanz,  Sache  oder 
Idee,  so  wäre  es  an  sich  oder  so  wäre  es  vom  Wesen  eines 
sogearteten  zu  erkennenden  Gegenstandes  her  durchaus 
möglich,  daß  im  Laufe  der  menschlichen  Geschichte 
immer  neue  und  sogar  in  einem  steten  Fortschritte  der 
Erkenntnis  Gottes  begriffene  Religionen  aufträten.  Warum 
auch  nicht?  Ist  nicht  die  Astronomie  z.  B.  auf  diese  Weise 
in  der  Geschichte  der  Erkenntnis  fortgeschritten,  nicht 
nur  durch  Einzelfortschritte,  sondern  auch  durch  den 
Wechsel  der  »Systeme«  der  Himmelsauffassung  (z.  B. 
antik-biomorphe  und  modern-mechanische,  heliozentrische 
und  geozentrische  Auffessungsform)?  Bei  jeder  Erkenntnis 


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Probleme  der  Religion.  68  l 

und  Teilnehmung  an  einer  Sache  ist  Analoges  möglich, 
d.  h.  überall  da,  wo  Erkenntnis  und  Teilnehmung  eines 
Seienden  am  Wesen  des  anderen  Seienden  ausschließlich 
durch  spontane  Akte  des  Menschengeistes  stattfinden. 

Auch  für  den  göttlichen  Grund  der  Welt  gilt  dieser 
Satz,  solange  und  sofern  dieser  Weltgrund  unpersönlich 
gefaßt  wird.  Auch  auf  diesem  Felde  der  natürlichen  spon- 
tanen Erkenntnis  des  göttlichen  Weltgrundes  nach  Wesen 
und  Dasein  kann  sich  die  menschliche  Erkenntnisarbeit 
im  Fortgange  ihrer  Geschichte  häufen,  so  daß  jeder  Fol- 
gende auf  den  Schultern  seines  Lehrers  steht.   . 

Aber  wie  sehr  wenden  sich  doch  die  Dinge,  wenn  wir 
—  dem  aus  der  Ethik  entnommenen  einsichtigen  Wert- 
axiome folgend,  daß  Personwerte  höhere  Werte  sind  als 
alle  Sachwerte  —  schon  in  die  Idee  eines  »summum 
bonum«  die  Personalität  als  Wesensmerkmal  einschließen 
müssen?  Dann  wissen  wir  durch  spontanen  Erkenntnisakt 
zwar  noch  lange  nicht,  daß  der  durch  die  Vernunft  als  da- 
seiend erwiesene  Weltgrund  (mit  den  ihm  eigenen  meta- 
physischen Prädikaten)  auch  wirklich  persönlich  sei.  Ja 
wir  wissen  gerade  dann  und  eben  auf  Grund  der  Ein- 
sicht der  wesensnotwendigen  Personalität  eines  summum 
bonum  vielmehr  streng  einsichtig  sogar  das  andere:  daß, 
wenn  Gott  Personalität  irgend  einer  Form  besitzt,  es 
auch  im  Wesen  Gottes  selber  gelegen  sei,  daß  Gott, 
soweit  er  persönlich  ist,  evident  niemals  nur  durch 
unsere  spontanen  Erkenntnisakte  zu  unserer  Erkenntnis 
gebracht  werden  könne;  daß  vielmehr  das  Zustande- 
kommen dieser  auch  nur  möglichen  Erkenntnis  bei  ihm 
selber  beginnen  müsse,  bei  seiner  souveränen  und  freien 
Herabneigung  zu  uns,  bei  irgendeinem  Akte,  dadurch  er 


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,682  Probleme  der  Religion. 

sich  uns  erschließt,  er  sich  uns  mitteilt  und  als  Person 
selbst  enthüllt.  Mitteilung  solcher  Art  aber  heißt  »Ofien- 
barung«.  Wir  wissen  also,  daß  ein  personaler  Gott  — 
wenn  er  da  ist  und  so  weit  seine  Personalität  in  Frage 
kommt  —  allein  durch  Offenbarung  (resp.  Gnade,  Er- 
leuchtung) für  Menschen  erkennbar  sein  könne*. 

Es  sind  also  nicht  etwaige  Mängel  »unserer«  Ericennt- 
niskraft  oder  »Grenzen«  dieser  Kraft,  sondern  es  ist  eine 
Wesensfolge  des  Gegenstandes,  über  den  mögliche 
Erkenntnis  hier  in  Frage  steht,  daß  Gottes  personales 
Was,  ja  die  Existenz  seiner  —  zwar  nicht  als  Gott  über- 
haupt, aber  als  personaler  Gott,  uns  niemals  durch  spon- 
tane Erkenntnisakte  gegeben  werden  könne,  sondern  nur 
durch  einen  freien  Aktus  der  Selbsterschließung  der  gött- 
lichen Person.  Insofern  gibt  es  also  sogar  eine  evidente 
Einsicht  in  die  Unbeweisbarkeit  Gottes  als  da- 
seiende Person  —  wenn  man  will  einen  »Beweis  der 
Unbeweisbarkeit  Gottes  als  Person«. 

Denn  machen  wir  uns  klar,  wie  überhaupt  wir  Dasein 
und  Gehalt  eines  Gegenstandes  vom  Wesen  der  »Person« 
uns  wesensmöglich  zur  Erkenntnis  bringen  können.  Ich 
nehme  einen  Menschen  wahr  mit  allen  mir  von  ihm  zu- 
gänglichen Sinneseindrücken  und  Anschauungs-  und  Vor- 
stellungsinhalten —  und  suche  ihn  zu  erkennen,  femer  mit 
allen  Schlüssen,  die  auf  diese  Erfahrungen  aufzubauen  sind. 
Vermag  ich  darum  —  so  er  sich  mir  nicht  selber  durch 

'  Denn  wie  immer  auch  vernünftige  Einsicht  —  ohne  Offenbarungslicht  — 
das  Dasein  eines  Gottes  im  Sinne  der  Bestimmungen :  £ns  a  se,  res  infinita, 
summum  bonum,  Geistigkeit  klar  zu  erkennen  vermag  —  ja  auch  noch  fest- 
zustellen vermag,  es  müsse  Personalität  zum  Wesen  eines  höchsten  Gutes 
gehören,  —  wenn  es  ist  —  so  bleibt  doch  der  Satz:  »Der  daseiende  Gott  ist 
Person «  aller  Vemunfterkenntnis  überlegen. 


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Probleme  der  Religion.  683 

Rede,  Äußerung  aller  Art,  Schrift  usw.  frei  zu  erkennen 
gibt  —  zu  erkennen,  was  er  denkt,  urteilt,  wen  er 
liebt,  haßt?  Ich  vermag  es  nicht.  Der  Mensch  kann 
schweigen.  Nur  eine  Person  kann  »schweigen«.  Denn 
es  liegt  im  Wesen  einer  Person  —  im  Unterschied  zu  einem 
nur  beseelten  Organismus,  und  seinen  in  automatischen 
Ausdrucksäußerungen  nach  außen  tretenden  Lebensvor- 
gängen —  daß  sie  die  Erkenntnis  dessen,  was  sie  will, 
denkt,  urteilt,  durch  ein  anderes  Wesen  von  ihrem  freiem 
Akte  undErmessen  kann  abhängigmachen.  Einegeistige 
Person  allein  kann  »schweigen« .  Eine  Person  wird  erkannt 
nur,  indem  sie  sich  erkennen  läßt,  indem  sie  sich  kundgibt. 
Eine  Person  kann  lügen,  ja  sich  selbst  verbergen.  Nur  sie 
vermag  es.  Der  Stein,  der  beseelte  Organismus,  das  Tier, 
die  Pflanze  vermögen  es  nicht.  Freilich:  der  Mensch,  da  er 
nicht  nur  geistige  Person  ist,  sondern  auch  beseeltes  Lebe- 
wesen, da  er  ferner  nicht  vollkommene  Person  ist,  sondern 
nurunvollkommene  Person,  d.h.  eine  Personist,  derenAkte, 
ja  deren  stetiger  Selbstvollzug  ihres  Daseins  in  Akten,  an 
die  Organe  und  Lebensvorgänge  eines  Leibes  gebunden 
ist,  vermag  auf  Grund  der  Wesenszusammengehörigkeit 
von  Vitalität  und  Geistigkeit,  Leiblichkeit  und  Personalität 
in  seiner  Natur,  sein  bloßes  Dasein  als  Person  nicht  zu 
verbergen.  Denn  nehmen  wir  einen  Menschen  leib  wahr 
—  oder  auch  irgendwelche  seiner  Spuren  —  so  schauen 
wir  in  diesem  Leibe  sein  Personsein  in  der  Weise  des 
Mitschauens  mit.  Wir  tun  es  auf  Grund  dieses  anschau- 
ungsmäßigen Wesenszusanunenhangs  von  Menschenleib 
und  Person^.  Ist  uns  also  sein  Persondasein  auch  niemals 

^  Vgl.  hierzu  den  Anhang  meines  Buches :  »Zur  Phänomenologie  und  Theorie 
der  Sympathiegefühle«. 


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684  Probleme  der  Religion. 

direkt  anschaulich  selbst  gegeben,  so  doch  in  der  Weise 
des  Mitgemein  tseins  —  auf  Grund  eines  Wesenszusammen- 
hangs,  der  im  puren  Gehalt  von  Menschenleiblichkeit  und 
Personalität  gründet  und  der  uns  —  zum  mindesten  — 
an  der  Hand  unserer  Selbsterfahrung  als  gültig  klar  ist; 
d.  h.  unabhängig  von  der  Zahl  der  Fälle,  da  wir  ihn  er- 
fahren. Der  Mensch  vermag  darum  nur  zu  schweigen 
über  das,  was  er  als  Person  denkt,  liebt,  urteilt;  nicht 
vermag  er  sein  personales  Dasein  selbst  zu  verbergen. 

Wie  aber  steht  es  um  eine  leiblose,  unsichtbare, 
vollkommene,  unendliche  und  absolut  freie  Per- 
son? Es  ist  klar,  daß  es  ihr  Wesen  nicht  ausschließt,  daß 
sie  nicht  nur  ihren  Geistesinhalt,  sondern  auch  ihr  Da- 
sein selber  verschweigen,  verbergen  könnte. 

Wenige  haben  ihn  gedacht,  —  den  unabmeßbar  furcht- 
tiefen Grenzgedanken  eines  Gottes,  der  da  ist,  dej  Person 
ist  und  der  doch  schweigt,  ja  sich  selbst  verschweigt ;  der 
sich  selbst  verbärge,  was  er  vermag  —  als  Person;  den 
Gedanken  einer  Welt,  einer  Weltgeschichte  endlicher  Ver- 
nunftwesen, über  der  ein  Gott  leitend  thronte,  der  sich 
nicht  zu  erkennen  gäbe;  der  sich  nicht  erkennen  ließe; 
einer  Welt,  deren  Bewohner  nicht  aus  eigenen  Mängeln 
oder  aus  Schuld,  sondern  darum,  weil  es  Gott  so  wohl- 
gefällig ist,  nichts  von  Gottes  Dasein  wissen  könnten. 
Und  doch  liegt  es  im  Wesen  Gottes  als  vollkommener 
Person,  daß  zwei  Weltgeschichten  und  zwei  Welten,  in 
deren  einer  es  einen  Gott  gäbe  und  in  deren  anderer  es 
keinen  gäbe  durch  Nichts  unterschieden  sein  müßten  — 
für  die  Erkenntniskraft  der  Menschen;  es  sei  denn,  es 
offenbare  sich  Gott  in  der  einen  und  er  offenbare  sich  in 
der  anderen  nicht. 


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Probleme  der  Religion.  685 

Es  ist  klar,  daß  je  größer  der  Abstand  zweier  Geist- 
wesen an  Vollkommenheit  und  Souveränität  ist,  das  Zu- 
standekommen möglicher  Erkenntnis  des  Vollkommeneren 
durch  das  Unvollkommenere  in  immer  steigendem  Maße 
an  den  spontanen  Erstbeginn  des  Sichzuerkennengebens 
seitens  des  Vollkommeneren  geknüpft  ist. 

Wenn  dieser  Gedanke  eines  Gottes,  der  sich  selbst 
—  sein  Dasein  selbst  —  verschwiege,  so  selten  klar  und 
rein  gedacht  worden  ist,  so  ist  der  Grund  dafür  nur,  daß 
Gott  das,  was  er  vermag  und  kann  —  als  absolut  freie, 
souveräne,  unendliche  und  vollkommene  Person  —  schon 
vermöge  seiner  Idee  gleichzeitig  wesensnotwendig  nicht 
kann,  da  er  diese  seine  Freiheit,  es  zu  können,  vermöge 
seiner  Alliebe  und  Allgüte,  desgleichen  seiner  Wahr- 
haftigkeit wesensmäßig  nicht  anwenden  kann.  Nur  weil 
Liebe  als  höchster  Aktwert  ebenso  wesensnotwendig 
zur  Idee  Gottes  gehört  als  die  Personalität;  ja  weil  Liebe 
es  ist,  die  in  allen  möglichen  Geistern  Wollen  und  Er- 
kennen, in  Gott  aber  —  wie  gezeigt  —  Schöpfung  und 
Weisheit  gleichzeitig  fundieren,  enthüllt  sich  uns  die  Idee 
eines  sich  selbst  verbergenden  und  schweigenden,  ja  sich 
selbst  und  selbst  sein  Dasein  verschweigenden  Gottes  als 
das,  was  sie  ist:  als  Idee  eines  furchtbaren  Gespenstes, 
das  Dasein  nicht  haben  kann,  da  Widersinniges  auch 
nicht  da  sein  kann. 

Freie  Selbstoffenbarung,  stetes  Flüstern  in  den  Tiefen 
der  Personzentren  jedes  endlichen  Vemunftwesens,  dauern- 
des und  kontinuierliches  Hereinleuchten  des  ewigen  Lichtes 
in  die  endlichen  Geister,  Verknüpfung  aller  endlichen 
Geister  in  der  Einheit  dieser  Liebe  und  dieses  Lichtes 
zu  einem  solidarischen  Ganzen  —  das  gehört  also  zum 


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686  Probleme  der  Religion. 

Wesen  und  zur  Idee  schon  eines  möglichen  Gottes,  der 
unter  seinen  Prädikaten  auch  jene  besitzt,  die  ihm  auf  Grund 
der  einsichtigen,  absolut  gültigen  ethischen  Axiome  zu- 
kommen mußten. 

Erst  hierdurch  aber  wird  die  mögliche  Unkenntnis 
Gottes  —  wenn  Gott  als  Person  da  ist  —  zur  notwendi- 
gen Verschuldung  des  Menschen.  Denn  diese  Ver- 
schuldung besteht  darin,  daß  der  Mensch  dieses  Flüstern 
nicht  hört,  jenes  Licht  nicht  in  sich  aufnimmt,  weil  er  die 
Fesseln  nicht  zu  lockern  vermag,  die  ihn  an  die  Gegen- 
stände und  Bilder  der  Endlichkeit  knüpfen.  Unkenntnis 
eines  unpersönlichen  Gottes  könnte  dagegen  nie  Ver- 
schuldung sein  —  sondern  nur  Irrtum.  Nicht  das  Fehlen 
also  eines  sachgemäßen  spontanen  Erkenntnisaktes,  son- 
dern das  Sichnichtöffnen,  das  Sichverschließen  gegen  das 
aller  spontanen  Regung  zuvorkommende  natürliche  Offen- 
barungs-  und  Heilslicht  macht  das  Wesen  dieser  Ver- 
schuldung aus  —  motiviert,  nicht  aber  determiniert  durch 
die  ungeordnete  Verliebtheit  in  partikulare  endliche  Gegen- 
stände der  Erfahrung. 

So  liegt  es  also  im  Wesen  eines  personalen  Gottes, 
daß  seine  Daseinserkenntnis  nur  möglich  sein  kann  ver- 
möge dieses  Grundaktes  des  Sichöffnens,  des  sich  Durch- 
fluten- und  Durchleuchtenlassens  durch  das  Ganze  des  in 
Gott  zentrierten,  durch  seine  Alliebe  und  seine  durch  sie 
fundierte  Offenbarung  uns  zur  Erkenntnis  kommenden 
Weltsinnes. 

In  der  Liebe  zum  Göttlichen  und  Heiligen,  —  in  einer 
Liebe,  die  sich  erst  in  der  Bewegung  auf  ihr  Ziel  hin  als 
Gegenliebe  erkennt  zu  einer  Liebe,  die  schon  vorher  war 
und  auf  diese  Seele  zielte,  ist  das  letzte  heimlichste  Trieb- 


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Probleme  der  Religion. 


687 


rad  gesetzt,  das  alle  gedankenmäßige  Gotteserkenntnis 
als  Person  allererst  in  Bewegung  setzt. 

Aus  dem  Gesagten  heraus  erblickt  man  nun  aber  auch 
einen  unerwarteten  Zusammenhang  der  Gottesidee  selber 
mit  der  Frage  einer  »neuen«  Religion. 

Man  denke  einen  Augenblick  einen  persönlichen  Gott, 
der  sich  jener  Grenzidee  eines  sich  verschweigenden 
Gottes  annäherte.  Denkt  einen  Gott,  der  eben  dasjenige, 
was  —  wenn  es  überhaupt  einen  Gott  gibt,  —  allein 
höchstes  Endziel  aller  vernünftigen  Geschöpfe  sein  kann, 
nämlich  ihn  zu  lieben  und  zu  erkennen,  geknüpft  hätte 
an  ein  sogenanntes  Gesetz  des  Fortschrittes  möglicher 
Gotteserkenntnis  in  der  Geschichte;  der  femer  auch  diese 
seine  Erkenntnis  und  ihren  Fortschritt  wieder  geknüpft 
hätte  an  Dasein  und  Auswirkung  einer  je  gebildeten 
Minorität  in  den  Gruppen  der  endlichen  Geister,  die  da 
Völker  heißen:  Was  sollte  man  wohl  denken  von  einem 
so  »sparsamen«,  einem  so  »geizigen«  Gott,  —  sparsam 
und  geizig  mit  seiner  Liebe,  sparsam  mit  seiner  Erkennt- 
nisgebung?  Ich  verstehe,  —  ja  es  scheint  mir  sogar  not- 
wendig— ,  daß  der  Pantheismus,  — ja  jede  Art  unpersön- 
licher Gottesidee  überhaupt  —  mit  dieser  Vorstellung  eines 
»Fortschrittes  der  Gotteserkenntnis  durch  gebildete  Mino- 
ritäten« zureiche.  Denn  wo  die  Gotteserkenntnis  nur  eine 
Sache  ist  menschlicher  Spontaneität  und  menschlicher,  sich 
kumulierender  Denkarbeit,  da  müssen  in  der  Zeit  die  fort- 
geschritteneren Völker,  Zeiten,  Generationen  und  gleich- 
zeitig die  intellektuell  Begabteren,  die  »Weisen«  und  die 
Schichten  von  »Besitz  und  Bildung«,  die  »Gelehrten«  auch 
am  meisten  von  Gott  erkennen.  Der  Pantheismus  ist  inso- 
fern nach  seiner  soziologischen  und  historischen  Struktur 


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688  Probleme  der  Religion. 

hin  angesehen  eine  Auffassung,  die  eben  sowohl  religiöse 
Fortschrittslehre  als  Aristokratismus  der  Gebil- 
deten sein  muß.  Das  ist  also  nicht  bloß  ein  strenges  Er- 
gebnis der  historischen  Induktion,  die  uns  lehrt  —  fiif  alle 
Völker  —  daß  Pantheismus  stets  eine  sogenannte  »Bil- 
dungsreligion« war,  daß  er  mit  Spinoza  überall  geschieden 
hat  eine  »Religion  der  Massen«  und  eine  »Religion  der 
Denker« .  Hinter  dieser  Induktion  schlununert  vielmehr  der 
ideale  Wesenszusammenhang  zwischen  Pantheismus 
und  Bildungsaristokratismus,  der  uns  diese  Induktion  erst 
voll  verstehen  läßt.  Aber  was  müßten  wir  sagen  von  einem 
persönlichen  Gott,  der  aus  Güte  frei  sich  geben  muß  und 
der  seinen  Kindern  dennoch  nur  also  sich  gegeben  hätte, 
daß  er  dieses  Sichgeben  oder  Sichmehrgeben  geknüpft 
hätte  an  den  Zufall,  daß  ein  Mensch  oder  ein  Volk  einer 
je  späteren  »fortgeschritteneren  Phase  der  Geschichte«  an- 
gehöre; oder  geknüpft  hätte  daran,  daß  dieser  Mensch 
alle  die  komplizierten  Vorbedingungen  erfülle,  die  dazu  ge- 
hören, daß  man  nicht  nur  ein  Mensch,  sondern  auch  ein  Ge- 
lehrter und  Weiser  sei?  Schon  die  Frage  zeigt,  daß  diese 
Idee  nicht  wahr  sein  und  keinen  realen  Gegenstand  haben 
kann,  —  da  sie  widersinnig  ist.  Ein  solcher  »persönlicher 
Gott«  wäre  Alles  —  nur  kein  Gott.  Solange  man  nicht 
beweist,  es  sei  Schuld  eines  Menschen,  früher  auf  die  Welt 
zu  kommen  als  ein  anderer  Mensch,  könnte  Mangel  an 
Gotteserkenntnis  auch  nicht  sein,  was  sie  sein  muß  bei 
theistischen  Voraussetzungen  —  nämlich  schuldhaft.  Auch 
das  ist  ein  Wesenszusammenhang  zwischen  dem  Inhalt  der 
Gottesidee  und  der  Geschichte  der  möglichen  Erkenntnis 
Gottes.  Kann  denn  ein  alliebender  Gott  seine  Kinder 
benachteiligen,  nur  weil  sie  zu  früh  auf  die  Welt  kommen 


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Probleme  der  Religion.  689 

oder  weil  sie  nicht  zu  den  Kreisen  von  »Besitz  und  Bil- 
dung« gehören? 

Wir  verstehen  es  sehr  gut,  daß  in  allen  Gebieten  mög- 
licher Erkenntnis,  die  —  so  bedeutsam  sie  für  die  Geistes- 
kultur des  Menschen,  für  jede  Art  von  Herrschaft  über 
die  Natur  tlnd  die  Gesellschaft,  für  Wohlfahrt  und  Nutzen 
sein  mögen  — ,  doch  nicht  heil s notwendig  sind,  der  Grad 
und  die  Vollkommenheit  ihrer  Förderung  und  ihrer  Ge- 
winnung an  die  Regel  der  Entwicklung  und  des  Fort 
Schritts  geknüpft  sind;  und  daß  femer  diese  Förderung 
gebunden  ist  an  Minoritäten  der  Völker  (die  Forscher 
und  Gelehrten),  —  an  Menschen,  die  mit  spezifischen  Be- 
gabungen zu  dieser  Tätigkeit  auch  die  äußeren  Bedin- 
gungen der  Muße  besitzen,  die  zu  dieser  Tätigkeit  Vor- 
aussetzung sind.  Eine  Erkenntnis  aber,  die  für  den  Men- 
schen als  Menschen  allein  notwendig  ist  und  die  femer 
heilsnotwendig  ist,  —  eine  Erkenntnis,  die  dazu  das  nur 
sein  kann,  weil  sie  nicht  betrifft  Gegenstände,  die  in 
irgendeiner  Art  und  in  irgendeinem  Grade  daseinsrelati^^ 
auf  die  menschliche  Organisation  und  auf  die  Ziele  der 
Bildung  und  den  Zweck  der  Praxis  der  menschlichen 
Natur  sind,  die  vielmehr  betrifft  die  absolute  Realität  und 
das  durch  sie  mitgesetzte  letzte  und  höchste  Ziel  des  Men- 
schen, —  ja  die  Ratio  und  den  Sinn  seines  Wesens  und 
Daseins  —  eine  solche  Erkenntnis  kann  —  wenn  sie 
überhaupt  möglich  ist  —  diesen  Bedingungen  a  priori 
nicht  unterliegen.  Sie  kann  nur  allen  zugänglich  sein 
oder  gar  keinem.  Und  es  wäre  a  priori  —  nur  von  ihrem 
Gegenstande  und  ihrer  Bedeutung  aus  gesehen  —  eher 
zu  erwarten,  daß  sie  die  historisch  früheste  Erkenntnis 
gewesen  sei,  —  eine  Erkenntnis,  die  nicht  zu  entwickeln , 

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690  Probleme  der  Religion. 

sondern  die  nur  zu  bewahren  die.  Aufgabe  aller  zukünf- 
tigen Menschen  gewesen  wäre;  und  es  wäre  zu  erwarten, 
daß  sie  außerdem  da,  wo  sie  sich  vollendete  —  eben 
um  ihre  Wesensverschiedenheit  von  allen  anderen  Er- 
kenntnissen aufzuweisen  —  nicht  zuerst  an  die  Weisen, 
sondern  an  die  Toren,  nicht  an  die  Gelehrten,  sondern 
an  die  Ungelehrten  und  Kinder  des  Geistes  ergangen 
sei,  daß  sie  nicht  geboren  worden  auf  einem  Throne  oder 
auf  einem  Sessel  einer  Akademie,  sondern  —  in  einem 
Eselsstalle  oder  etwas  Ahnlichem. 

Wunderbares  christliches  Geheimnis  der  Herablassung 
Gottes  in  das  dunkle,  dumpfe  Gefängnis  des  Leibes  einer 
Zimmermannsfrau!  Wunderbare  Geburt  Gottes  in  einem 
Stalle!  Wie  sehr  stimmen  diese  christlichen  Glaubens- 
geheimnisse überein  mit  dem,  was  schon  unsere  Vernunft 
von  der  tiefsten  Erschließung  Gottes  über  sein  Wesen  er- 
warten mußte. 

Aber  auch  der  anderen  Erwartung,  diese  Erkenntnis 
müsse  —  wenn  sie  überhaupt  möglich  ist  —  die  früheste 
gewesen  sein,  entspricht  die  christliche  Lehre  vom  Ur- 
stande  Adams,  der  nur  durch  Fall  und  Schuld  die  voll- 
anschauliche Gotteserkenntnis  zum  Teil  verlor  und  sie 
nicht  bewahrte. 

Aber  ich  sehe  hier  ab  von  allem  positiven  Christentum 
und  von  positiven  Religionen  überhaupt.  Denn  der  erste 
Irrtum  derer,  die  eine  »neue  Religion«  fordern,  ist  nicht 
ein  Glaubens-,  sondern  auch  ein  Vemunftirrtum  über  das 
Wesen  von  Religion  überhaupt  und  über  den  Gehalt 
schon  der  Gottesidee  selber.  Sie  machen  sich  nicht  klar 
die  möglichen  Erkenntnisbedingungen  fiir  den  Menschen, 
die  im  Wesen  eines  zugleich  absolut  souveränen,  freien, 


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Probleme  der  Religion.  69 1 

allmächtigen  und  doch  alliebenden  Wesens  persönlicher 
Seinsform  Hegen.  Sie  halten  Gott  für  unpersönlich  —  also 
für  das  bloße  summum  bonum  oder,  wenn  persönlich, 
für  geizig  oder  »ökonomisch«. 

Denn:  würden  sie  diese  Klarheit  besitzen,  sie  müßten 
auch  sofort  einsehen,  daß  ihre  Art  der  Einstellung  auf 
eine  »neue  Religion«,  ihre  Erwartung  der  Forderung 
einer  solchen  in  schärfstem  Wesenswiderspruche  steht  zu 
derjenigen  Einstellung,  die  alle  großen  und  wirksamen 
homines  religiosi  in  der  Geschichte  gehabt  haben.  Denn 
diese  Einstellung  enthielt,  gerade  wenn  diese  Menschen 
religiöses  Erkennen  und  Leben  wahrhaft  »erneuerten«, 
nie  und  nimmer  eine  Erwartung  oder  Forderung  »einer« 
»neuen  Religion«,  sondern  ausschließlich  die  Intention 
auf  Wiederherstellung  »der«  Religion  —  der  einen,  ab- 
soluten, wahren  Religion.  Gerade  ftir  das,  was  man  ob- 
jektiven religiösen  Fortschritt  in  der  Geschichte  vielleicht 
nennen  darf,  ist  die  Intention  eines  »Zurück  zu«  seitens 
derer^  die  ihn  bewirkten,  wesensnotwendig. 

Der  >homo  rerum  novarum«  hat  auf  allen  Gebieten 
menschlichen  Wertewirkens  sein  sehr  bedeutsames  Recht. 
Nur  auf  dem  der  Religion  ist  er  —  eine  wesensmäßig 
widersinnige  Erscheinung.  Denn  hier  ist  das  »Zu- 
rück zu«  die  Wesensform  der  religiösen  Erneue- 
rung selbst. 

Der  homo  rerum  novarum  in  der  Religion  ist  nicht 
weniger  eine  widersinnige  Erscheinung  als  der  Wesens- 
typus des  »Häretikers«,  d.  h.  des  »andersmeinenden« 
Menschen,  oder  des  Menschen,  der  vergißt,  daß  die  Form 
des  solidarischen,  in  gegenseitiger  Liebe  aller  Glieder  der 
sittlichen  Welt  fundierten  Miteinandererkennens,  -liebens, 

44* 


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692  Probleme  der  Religion. 

-glaubens  der  Gotteserkenntnis  —  und  im  strengsten  Sinne 
und  höchsten  Grade  nur  der  Gotteserkenntnis  wesent- 
lich ist. 

Wir  statuieren  zwei  sehr  allgemeine  Gesetze,  die  ihren 
vollen  Beweis  erst  finden  können  in  einer  erkenntnistheo- 
retisch fundierten  Soziologie  des  Erkennens.  Das  erste  be- 
deutet: die  Erkenntnisse  sind  um  so  weniger  eines  konti- 
nuierlichen Fortschritts  fähig  als  ihre  Gegenstände  sich 
der  daseinsabsoluten  Realität  annähern  und  um  so  mehr, 
als  sie  auf  die  Organisation  des  Subjekts  daseinsrelativere 
Dinge  betreffen;  desgleichen  um  so  weniger,  als  unser 
Geist  sich  im  Erkennen  aufnehmend,  —  nicht  »vorschrei- 
bend« —  verhalten  muß,  um  zur  Erkenntnis  des  betreffen- 
den Gegenstandes  zu  gelangen;  desgleichen  um  so  mehr, 
je  niedriger  und  unvollkommener  die  Gegenstände  in  der 
Rangordnung  der  Werte  und  Vollkommenheiten  sind :  z.  B. 
die  geistigen  Kulturwerte  schreiten  weniger  und  nach 
ganz  anderen  Gesetzen  fort  als  die  zivilisatorischen  Werte. 
Der  zweite  Satz  lautet:  Je  vollkommener  und  absoluter 
die  Gegenstände  der  Erkenntnis,  desto  mehr  ist  eine  mög- 
lichst intensive  und  extensive  Form  des  Miteinander- 
erkennens  der  erkennenden  Subjekte  Bedingung  mög- 
licher adaequater  Erkenntnis  überhaupt;  und  in  desto 
breiteren  und  tieferen  historisch-gesellschaftlichen  Zusam- 
menhängen müssen  die  erkennenden  Subjekte  wurzeln. 
Desto  mehr  gilt,  daß  die  ganze  Wahrheit  über  den  Gegen- 
stand nur  durch  die  Kooperation  für  diese  Erkenntnis  un- 
ersetzlicher und  unvertretbarer  Gruppenindividualitäten, 
also  nur  durch  die  ganze  Menschheit  erfaßbar  ist.  Was 
für  die  Gotteserkenntnis  aus  diesen  Gesetzen  folgt  ist 
leicht  zu  sehen. 


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Probleme  der  Religion.  693 

Der  religiöse  homo  rerum  novarum  wie  der  Häretiker 
irrt  nicht  zuerst  darum,  weil  er  materiell  Falsches  über 
Gott  behauptet;  er  muß  vielmehr  religiös  Falsches 
wesensnotwendig  behaupten,  weil  seine  formale  Grundein- 
stellung auf  Gott  dem  Wesen  des  Göttlichen  und  darum 
erst  auch  seiner  möglichen  Erkenntnis  überhaupt,  wider- 
streitet. Selbst  wo  er  materiell  recht  zu  haben  scheint 
—  nach  dem  Maße  unserer  Vemunfterkenntnis  —  hat 
er  noch  unrecht.  Ein  falscher  Weg  muß  zu  falschen 
Zielen  führen,  auch  wenn  nach  den  ersten  Schritten  sich 
-das  Ziel  zu  nähern  schiene. 

Mit  der  Annahme  der  Personalität  Gottes  ist  aber  auch  ly/ 
die  Art  und  Weise  bereits  bestimmt,  in  der  eine  göttliche 
Mitteilung  (Offenbarung)  an  den  Menschen  allein  erfolgen 
kann:  nämlich  durch  Vermittlung  menschlicher  Per- 
sonen. Die  Grundauffassung,  daß  alle  Religion  in  ihrer 
Geschichte  nur  wächst  und  abnimmt,  steigt  und  fällt,  sich 
reinigt  und  verderbt  nach  der  Regel  von  personhaftem 
Vorbild  und  Nachfolge,  Führer  und  Gefolgschaft; 
daß  also  keine  der  großen  Wendungen  der  Religions- 
geschichte, sei  es  aus  dem  bloßen  »Geist  der  Völker« 
oder  der  Massen  fließe,  sei  es  auf  Grund  der  Explikation 
irgendwelcher  »Ideen«  nach  einer  bestimmten  Entwick- 
lungsregel zu  ermessen  sei  (Hegel,  Hartmann)  —  diese 
Grundauffassung  ist  jedem  Theismus  wesentlich.  Und 
ebenso  wesentlich  ist  dem  Pantheismus,  wo  er  geschichtlich 
und  dynamisch  wird  —  im  Gegensatze  zu  Spinozas  stati- 
schem und  »geometrischem«  Pantheismus  z.  B.  — ,  also 
etwa  bei  Hegel  und  Hartmann,  bei  Biedermann  und 
A.  Drews  die  entgegengesetzte  Anschauung:  daß  den 
Kern  aller  Religionsgeschichte  eine  Ideenentfaltung 


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694  Probleme  der  Religion. 

bilde,  in  erster  Linie  die  Entfaltung  des  Sichbewußt- 
werdens  der  göttlichen  Idee  im  Menschengeiste  selber 
—  was  ja  nach  Hegel  und  Hartmann  usw.  das 'Wesen 
der  Religion  ausmacht.  Wer  also  eine  »neue  Religion« 
fordert,  der  mache  sich  den  Wesenszusammenhang  klar, 
daß  er  schon  damit  allein  auf  pantheistischem  Boden 
steht.  Fortschrittslehre,  Sachauffassung  des  Götdichen 
(also  religiöser  Impersonalismus)  und  Bildungsaristokra- 
tismus (respektive  der  falsche  Gegensatz  »esoterischer« 
und  »exoterischer«  Religion)  gehören  ebenso  wesentlich 
zusammen  wie  Personalismus,  Bewahrungslehre  und  all- 
gemeine Volks-  respektive  Menschheitsreligion  (respek- 
tive Kirche  als  objektive  Heilsanstalt).  Das  sirid  nicht 
Sätze,  die  auf  Beobachtung  und  Induktion  an  der  Ge- 
schichte beruhen,  sondern  es  sind  ewige  Sinnszusam- 
menhänge zwischen  dem  Gehalt  der  Gottesidee  selber 
und  ihrer  historischen,  respektive  soziologischen  Form 
des  zu  diesem  Gehalt  gehörigen  menschlichen  Glaubens. 
Es  sind  Sätze,  nach  denen  wir  die  positive  Religions- 
geschichte verstehen  müssen,  ihre  Bewegkräfte  unter- 
scheiden, ihre  mannigfachen  Mischungen  trennen;  die  wir 
aber  nicht  aus  ihr  entnehmen. 

Schon  mit  der  Annahme  dieser  personalen  Vermittlung 
aller  möglichen  Offenbarung  (die  mit  einer  allgütigen  gött- 
lichen Person  selbst  ohne  weiteres  als  notwendig  gegeben 
ist)  ist  die  Vorstellung  eines  Fortschrittsgesetzes  der  reli- 
giösen Wahrheit  ausgeschlossen.  Denn  die  Person  ist  in 
ihrem  Kerne  historisch  zufällig  und  unableitbar.  Freilich: 
dies  bedeutet  bei  der  religiösen  Vorbildschaft  —  der  Heilig- 
keit im  eminenten  Verstände  —  noch  etwas  ganz  Eigenes, 
was  es  bei  außerreligiösen  Vorbildern  nie  bedeuten  kann. 


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Probleme  der  Religion.  695 

Denn:  was  ist  denn  ein  homo  religiosus,  ein  Heiliger, 
seinem  Wesen,  seiner  Idee  nach?  Er  ist  —  immer  unter 
theistischen  Voraussetzungen,  denn  unter  pantheistischen 
gibt  es  nur  Heilslehrer  — ,  eine  Person,  deren  geistige 
Gestalt  uns  in  ausgezeichnetem  Maße  ein,  wenn  auch  noch 
so  inadaequates  Abbild  der  Person  Gottes  also  darstellt, 
daß  alle  seine  Aussagen,  Ausdrucksäußerungen,  Hand- 
lungen nicht  mehr  gemessen  werden  an  einer  Norm  all- 
gemeingültiger Form,  die  wir  schon  vorher  kraft  der 
Vernunft  anerkennen,  sondern  ausschließlich  darum  als 
götdich,  heilig,  gut,  wahr,  schön  hin-  und  angenommen 
werden,  weil  »Er«  es  ist,  der  aussagt,  ausdrückt,  handelt. 
Auf  allen  anderen  Gebieten  der  Werte  —  Philosophie, 
Wissenschaft,  Kunst,  Staat,  Recht  —  wäre  ein  solches 
Verfahren  radikal  widersinnig.  Jedes  Wort  und  jede  Tat 
der  Führer  muß  hier  vielmehr  gemessen  werden  an  all- 
gemeingültigen Normen,  die  unsere  Vernunft  anerkennt. 
Dahingegen  Hegt  es  im  Wesen'  der  personalen  Gottes- 
idee, daß  ihre  »Wahrheit«  sich  auch  darstellen  muß  in 
der  geistigen  Seinsgestalt  einer  Person,  die  hier  eben 
als  Person  die  Wahrheit  »ist«,  —  nicht  primär  sie  nur 
»sagt«  und  die  nur  darum  die  Warheit  sagt,  weil  sie  die 
Wahrheit  ist.  (Dies  wenigstens  im  denkbar  vollkommen- 
sten Falle  der  Heiligkeit,  die  historisch  tatsächlich  be- 
ansprucht wurde  nur  von  Jesus.) 

Und  auch  dies  folgt  hieraus,  daß  alle  weitere  Erkennt- 
nis der  religiösen  Wahrheit  —  im  Sinne  von  Sachwahr- 
heit —  seitens  einer  historisch  sozialen  Umwelt  der 
Heilsperson  von  nun  an  gegründet  ist  in  einem  Seins- 
verhältnis  zur  Heilsperson,  das  sich  herstellt  durch 
eine  innere  Nachgestaltung  eben  ihrer  Persongestalt,  d.  h. 


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i96 


Probleme  der  Religion. 


<V 


.„.  lebendigeiV  »Nachfolge«   ihrer.   Die  Selbstgestaltung 
'-  ein  Werdensp^fÄzeß  des  geistigen  Lebens  -  nach 

dem  Vorbild  des  Heilig -^^  ^^'  ^^^  '^'^^[^  J^"^^"^^" 
dingten  Glauben  fordernde\\rt;;<^l^rismaüschen  Qu^^^^^ 

geht  also  hier  aller  positiv  reli^^^.  .  -       , 

wendig  voraus.  Die  in  lebendigem  CjR^  ^  .    . 

tinuierliche  und  lebendige  ReproduktiJPJ  ^.        , 

Gestalt  des  Heiligen  am   Material   der   i'w     .      >.    ii 
Seelen  wird  notwendig  zur  letzten  und  höchs?£^.    .         i 
auch  der  Glaubenserkenntnis,  d.  h.  der  Erkenn 
der  rationalen  Formulierung  alles  dessen,  was  im  Be^ 
sein  des  Heiligen  von  Gott  und  göttlichen  Dingen 
schaulich  gegenwärtig  war.   Alle   übrigen  Quellen 
Glaubenserkenntnis,   als    da   sind    lebendige   Tradition, 
»heilige«  Schriften,  dogmatische  Definitionen  einer  kirch- 
lichen Autorität,  die  ihre  Stiftung  auf  den  ursprünglich 
Heiligen  zurückfiihrt,  sind  also  von  dieser  letzten  Quelle 
irgendwie  abhängig  und  müssen  in  dem  »Geiste«,  der 
sich  in  der  Reproduktion  der  geistigen  Seinsgestalt 
Heiligen  immer  neu  bildet,  aufgefaßt,  interpretiert, 
braucht  werden. 

Aber  so  unverbrüchlich  wahr  es  ist,  daß  die  Kette  der 
homines  religiosi,  d.  h.  der  vom  ursprünglichen  Heiligen 
abgeleiteten,  ihm  nachfolgenden  Heiligen  gleichsam  die 
lebendige  Seele  ist  jeder  zusammenhängenden  Sinn- 
geschichte einer  Religion  und  Kirche;  daß  die  wesent- 
lichsten »Epochen«  und  Wendungen  solcher  Geschichte 
immer  und  überall  durch  das  Auftreten  eines  je  neu- 
artigen Typus  dieser  ausgezeichneten  gottinnigen  Men- 
schen charakterisiert  sind :  Es  folgt  doch  aus  dem  früher  von 
der  historisch-soziologischen  Form  einer  personalistischen 


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Probleme  der  Religion.  697 

Religion  Gesagten  gleich  noch  ein  anderes.  Es  folgt  die 
Wesensnotwendigkeit  einer  objektiven  allumfassenden 
Heilsanstalt  mit  höchster  unfehlbarer  Autorität 
zur  Bewahrung  und  Zuwendung  der  Heilsgüter  an  die 
Menschen.  Erinnern  wir  uns  nur  der  Sätze,  zu  denen  wir 
am  Schlüsse  dieser  Erörterung  gekommen  waren.  Er 
kenntnis  und  Wahrheit,  die  einen  möglichen  Gott  perso- 
naler Seinsform  betreffen,  können  wesensgesetzlich  nicht 
durch  spontane  Akte  vom  Menschen  erdacht  werden,  son- 
dern müssen  von  Gott  gegeben  werden.  Keine  leibfreie 
geistige  Person  kann  qua  Person  auch  nur  in  ihrem  Dasein, 
erst  recht  in  ihrem  besonderen  Wesen  erkannt  werden, 
es  sei  denn,  sie  »offenbare«  sich  frei  dem  Menschen. 
Kein  allgütiger  personaler  Gott  kann  aber  Offenbarung 
unterlassen.  Also  muß  auch  der  »ursprünglich  Heilige* 
(wenigstens  der  Heilige  der  höchsten  möglichen  Wesens 
art,  nach  welcher  Selbstmitteilung  Gottes  erfolgen  kann) 
nicht  zuerst  kraft  einzelner  Handlungen  und  Werke,  die 
er  tut  (z.  B.  sichtlich  vorbildliche  oder  Wunder),  nicht 
kraft  der  Lehren,  die  er  gibt  und  die  noch  an  einer  Ver- 
nunftnorm außerhalb  seiner  zu  messen  wären  und  die 
über  ihm  stünde,  nicht  kraft  etwaiger  Prophetien  usw., 
sondern  an  erster  Stelle  ausschließlich  kraft  seiner 
heiligen  Person  selbst,  absolute  Glaubens-  und 
Heils»autorität«  sein.  Handlungen  und  Wunder  und 
Prophetien  »begründen«  nicht  rationell  seine  ursprüng- 
liche Heiligkeit  ^^nd^f^ff^Qi^^^^^ikt  an  sie,  sondern 
erweisen  s.e  D.0.0  und  bewähren  sie;  sie  veranlassen 
und  motivieren  wohl  die  geistige  Blickrichtung  aber  m 
dieser  Blickrichtung  muß  uns  das  Wesen  semer  HeiUgkeu 
dann  »von  selber«  aufgehen  und  zu  reinster  anschaulicher 


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698  Probleme  der  Reiligon. 

Gegebenheit  kommen.  Femer:  der  ursprüngliche  Heilige, 
und  zwar  der  Heilige  der  wesensmäßig  höchsten  denk- 
baren Form,  (nämlich  der  Heilige,  an  den  Selbstmit- 
teilung Gottes  im  Sinne  persönlicher  und  substantieller 
Wesensdurchdringung  von  göttlicher  und  menschlischer 
Natur  im  Unterschiede  zu  bloßer  Willens-  oder  Wissens- 
mitteilung ergeht)  ist  auch  schon  seiner  Idee  nach  der 
»Einzige«.  Vemunftzweifel  kann  nur  bestehen,  ob  ein 
Reales  dieser  Idee  existiert;  femer,  wer  dieser  »Einzige« 
ist.  Nicht  kann  Vemunftzweifel  bestehen,  ob  er  der  Ein- 
zige ist,  wenn  er  ist.  Ursprünglich  Heilige  im  Sinne  einer 
Mehrheit  können  also  wesensmäßig  nicht  so  wie  abgeleitet 
Heilige  oder  gar  wie  Genien,  Helden  coexistieren  und 
gemeinsam  anerkannt  werden,  sondem  müssen  sich  gegen- 
seitig ausschließen  und  entsetzen.  Wer  nicht  für  »ihn« 
ist,  muß  »gegen  ihn«  sein  und  wer  nicht  gegen  ihn  ist 
für  ihn  als  den  «Einzigen«.  Damm  sind  die  vom  Heiligen 
gelehrten  Wahrheiten  nicht  nur  in  dem  Sinne  absolut, 
wie  es  alle  Wahrheiten  qua  Wahrheiten  sind,  auch  jene 
über  beliebig  daseinsrelative  Gegenstände  oder  über 
flüchtigste  Vorgänge;  sie  sind  vielmehr  absolut  in  einem 
zwiefach  gesteigerten  Sinne.  Sie  sind  auch  absolute  Wahr- 
heiten über  das  absolute  Sein  und  zweitens  »die«  Wahr- 
heit (über  Gott),  d.  h.  die  totale  vollendete,  unver- 
mehrbare  und  unverminderbare  Wahrheit.  Alle 
»Entwicklung«  kann  also  nur  betreffen  die  Entwicklung 
des  Eindringens  In  ilii  1  1  1I  nTTÜ^-  h.  im  Menschen- 
kreise gegebene,  Wahrheitstotalität^  nicht  "hTeme 
Entwicklung  der  Gotteserkenntnis  im  Menschenkreise 
überhaupt.  Damm  muß  auch  die  geistige  Glaubens-An- 
nahme dieser  Wahrheit  auf  einer  frei  autonomen  Selbst- 


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Probleme  der  Religion.  699 

Unterwerfung  der  Vernunft  beruhen,  freilich  so,  daß  in  allen 
Dingen,  die  nicht  Heilsfragen  berühren,  die  Vernunft  nicht 
nur  ihre  volle  Autonomie  aufrecht  hält,  sondern  sogar 
durch  diesen  Aktus  der  Selbstunterwerfung  unter  Gott 
diese  Autonomie  gegenüber  der  ganzen  »Welt«  erst  ganz 
vollzieht  und  voll  realisiert.  Drittens  —  sahen  wir  — 
liegt  es  im  Wesen  dieser  Erkenntnis  und  Wahrheit,  daß 
sie  Allen  zu  teil  werden  könne  —  unabhängig  von  Volks- 
tum, Bildungsstufe  etc.  Das  besagt  abei^,  daß  es  im  Wesen 
eines  ursprünglich  Heiligen  selbst  gelegen  sein  müßte,  eine 
solche  Veranstaltung  zu  treffen,  daß  die  hölbhsten  Glaubens- 
güter durch  diese  Veranstaltung  kraft  seiner  Autorität  und 
ihrer  rechtmäßigen  Übertragung  erhalten  und  verwaltet 
werden^  allen  zugänglich  seien  und  allen  zugewendet 
werden.  Diese  Veranstaltung,  die  »kirchliche  Autorität« 
in  Heilsdingen,  ist  darum  so  wenig  in  ihrem  Wesen  be- 
griffen, weil  man  nicht  sieht,  daß  sie  ihre  erste  Voraus- 
setzung schon  in  der  Idee  eines  alliebenden  Gottes  hat 
und  im  Satze  des  Primates  der  Liebe  vor  der  Erkenntnis, 
des  göttlichen  Erlösungswillens  vor  der  Lehrmitteilung. 
Wollte  Gott  allen  —  schlechthin  —  über  eine  Sache, 
—  die  dem  Menschen  notwendigste  —  nämlich  über  sein 
eigenes  Wesen  und  das  Endziel  des  Menschen  und  aller 
Dinge  aus  Liebe  Erkenntnis  zuwenden  —  und  er  mußte 
wesensgesetzlich  so  wollen,  sofern  er  Person  und  zugleich 
allgütig  ist  —  Allen,  unabhängig  von  ihren  Begabungs- 
formeh  und  ihrer  besonderen  Lage  in  Menschheit  und 
Gesellschaft,  nach  Rasse,  Nation,  Stand  usw.,  und  sollte 
diese  Erkenntnis  absolut  im  oben  bezeichneten  Sinne  sein: 
Mußte  dann  der  ursprünglich  Heilige,  dem  Gott  »sich« 
selbst,  d.  h.  sein  Selbst  gab,  nicht  auch  eine  Veranstaltung 


/y 


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700  Probleme  der  Religion. 

treffen,  diese  Erkenntnis  so  zu  formulieren  und  zu  be- 
wahren und  auszuspenden  für  alle  mögliche  Folgezeit, 
daß  sie  unverletzlich  durch  alle  Geistesströmungen  der 
Geschichte  und  durch  alle  Anmaßungen  der  Vernunft  parti- 
kularer Kreise,  z.  B.  der  Gebildeten,  der  Gelehrten  hin- 
durchgerettet werde?  Die  Unfehlbarkeit  einer  allum- 
fassenden »Kirche«  qua  Kirche  in  Heilsdingen  ist  also 
eine  Folge  davon,  daß  nicht  primär  eine  Allweisheit, 
nicht  primär  eine  Allmacht,  nicht  primär  eine  gerechte 
Ordnung,  sondern  eine  personharte  Alliebe  zu  allen 
Menschen  im  Zentrum  der  Dinge  und  im  Regimente  der 
Welt  gedacht  ist  und  gedacht  werden  muß.  Wo  immer  es 
sich  handelt  um  relative  Güter,  auch  um  die  höchsten,  noch 
relativen  Güter,  die  geistigen  Kulturgüter,  wäre  solche 
Autorität  und  Unfehlbarkeit  radikal  widersinnig.  Aber 
nicht  minder  widersinnig  wäre  umgekehrt  das  Fehlen  einer 
unfehlbaren  Autorität  in  Heilssachen  in  einer  Welt,  die 
von  einem  allgütigen  und  allwahrhaftigen  Gott  geschaffen 
und  gelenkt  ist.  Bei  allen  geistigen  Kulturgütern  wäre  die 
Annahme  vollendeter  Wahrheit,  Güte,  die  nur  von  einem 
wesensmäßig  Einzigen  ausstrahlen  sollen  und  darum 
schlechthin  zu  bewahren  seien,  total  widersinnig.  Nur  das 
absolute  Gut  und  die  heilsnotwendige  Wahrheit  ist  so 
beschaffen,  daß  sie  —  bei  Voraussetzung  eines  persön- 
lichen Gottes  —  entweder  allen  oder  gar  keinem  muß 
zugänglich  sein.  Daß  sie  immer  und  überall  nur  von 
jedem  entweder  als  absolut  (nicht  also  nur  als  je  bisher 
»höchste«  Wahrheit)  und  darum  auch  für  alle  mögliche 
zukünftige  Geschichte  und  für  alle  Völker,  Klassen, 
Stände  usw.  gültig  oder  überhaupt  gar  nicht  anerkannt 
zu  werden  verdient.  Diese  Wesensaltemativen  der  Aner- 


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Probleme  der  Religion.  70 1 

kennung  und  Ablehnung  haben  nichts  historisch  Zu- 
fälliges; sie  folgen  aus  dem  Wesen  (nicht  erst  der  Wirk- 
lichkeit) des  anzuerkennenden  Sachverhaltes  selbst.  Die 
Wesensarten  der  Zuwendungen,  der  Anerkennungen,  des 
Glaubens  sind  hier  eben  notwendig  an  das  Wesen  der 
Gegenstände  gebunden,  an  welche  jene  Akte  der  Zuwen- 
dung, der  Anerkennung,  des  Glaubens  ergehen.  Wer  nicht 
absolut  glaubt,  der  glaubt  auch  nicht  an  das  absolute 
Sein.  Wer  nicht  an  die  Idee  der  allumfassenden  Heilanstalt 
und  ihren  dauernden  Wahrheitsbesitz  glaubt,  der  glaubt 
auch  nicht  ernsthaft  an  die  Allgüte  Gottes.  Wer  seine 
Religion  nicht  für  die  absolut  wahre  hält,  sondern  nur  für 
die  relativ  vollkommenste  (bisheriger  Geschichte)  kann  auch 
nicht  glauben,  es  sei  das  woran  er  geglaubt,  ein  Gott  und 
ein  personaler  Gott  usw.  Einheit  und  Einzigkeit,  Allgütig- 
keit  und  absolute  Autorität  der  Kirche  (schon  als  Wesens- 
idee von  Kirche)  sind  also  wesensgesetzliche  Merkmale 
der  Idee  »Kirche«,  als  der  Kirche  eines  persönlichen  all- 
gütigen Gottes.  Es  tritt  femer  der  früher  gefundene  Satz 
hinzu,  daß  der  mögliche  Weg  zu  Gott  und  zum  ursprüng- 
lich Heiligen  (höchster  Wesensart)  nicht  sein  kann  der 
Weg  der  »einsamen  Seele«,  sondern  nur  das  Mitein- 
ander im  Gotterkennen,  Gottglauben,  Gottlieben,  An- 
beten und  Verehren  aller  Menschen  und  aller  historisch- 
zeitlichen und  aller  sozial-gleichzeitigen  Teile  der  Mensch- 
heit. Und  da  Liebe  der  Erkenntnis  vorhergeht,  so  ist 
Wechselliebe  der  Gott  Erkennenden  und  einträchtig  auf 
Gott  Bezogenen  untereinander  auch  Bedingung  und 
Fundament  alles  möglichen  Erkennens  und  Glaubens  in 
der  Form  des  Miteinander.  Was  auf  andere  Weise,  nicht 
also  zum  mindesten  in  der  Intention  solidarischer  und  gegen- 


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702  Probleme  der  Religion 

seitiger  Heilsverantwortlichkeit  und  Heilsmitverantwort- 
lichkeit an  Erkenntnis  Gottes  gefunden  wird,  kann  alles 
sein  —  nur  nicht  eine  wahre  Erkenntnis  Gottes.  Erst  aus 
diesem  Prinzip  —  dem  am  meisten  verkannten  Prinzip  bei 
jenen,  die  »neue  Religion«  fordern,  —  ergibt  sich  not- 
wendig dieldee  des  Heilsgutes,  das  die  Kirche  als  Kirche, 
d.  h.  als  Anstalt,  nicht  im  Sinne  einer  Summe  einzelner 
Gläubiger,  zu  wahren  und  zu  verwalten  und  den  Seelen 
zuzuwenden  hat.  Die  Akte  im  Geiste  des  Menschen,  auf 
die  sich  das  Sein  von  Autorität  gründet,  ja  in  denen  Auto- 
rität sich  konstituiert,  sind  Liebe  und  Vertrauen  und  zwar 
einsichtig  gegründetes  Vertrauen  auf  die  höhere  und  tiefere 
Einsicht  der  Autorität  vermöge  deren  innerer  schau- 
und  fühlbarer  Würde.  Diese  »Würde«  besitzt  sie  nicht 
durch  die  individuell-persönlichen  Qualitäten  ihrer. »Ver- 
walter«, sondern  vermöge  ihres  Ursprungs  als  Stiftung, 
und  damit  all  ihrer  »Amter«  durch  den  Heiligen  Gottes. 
Denn  nichts  anderes  ist  ja  dieses  absolute  Vertrauen  — 
das  diese  Autorität  wesensverschieden  macht  von  allen 
anderen  nur  relativen  Arten  der  Autorität,  z.  B.  der  des 
Staates  —  als  die  Fortsetzung  der  geistigen  Grund- 
haltung, welche  die  Erscheinung  des  ursprünglich  Heiligen, 
des  vollkommenen  homo  religiosus  von  aller  Umwelt  aus- 
schließlich schon  durch  sein  Sein  und  Wes^n  —  und  erst 
in  zweiter  Linie  durch  seine  Werke  —  fordert:  Die  Be- 
reitschaft, zu  glauben,  nur  weil  er  es  sagt,  da  er  selbst  in 
Persona  die  fleischgewordene  Wahrheit  ist.  Die  Über- 
tragung dieser  Grundhaltung  auf  seine  sichtbare  Stiftung, 
deren  unsichtbares  Oberhaupt  er  bleibt  und  in  der  er  auf 
mystische  Weise  gegenwärtig  ist,  macht  allein  verständ- 
lich und  rechtfertigt  es,  daß  diese  und  nur  diese  unter 


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XJ.-*»?? 


Probleme  der  Religion.  703 

allen  möglichen  Autoritäten  auch  das  höchste  und  in 
strengstem  Sinne  vollkommenste  und  edelste  Opfer  for- 
dern darf,  das  ein  Mensch  opfern  kann:  das  freie  Opfer 
seines  individuellen  Verstandes,  das  sog.  sacrifizio^^ir 
intelletto. 

Dieses  Opfer  oder  schon  die  Idee  dieses  Opfers  ist  5y 
nun  aber  —  wie  mir  scheint  —  eine  der  seit  langem  in 
der  modernen  Welt  verkanntesten  Ideen,  die  dem  älteren 
religiösen  Gedankenkreis  angehören.  Alles,  was  heute 
unter  Namen  »Autonomie  der  Vernunft«,  > Gewissens- 
freiheit« —  meist  in  vagster  Rede  und. ohne  klaren, 
bestimmten  Begriff  —  unter  uns  umgeht,  scheint  sich 
dagegen  aufzubäumen,  ja  dagegen  aufzuschreien.  Und  da 
ist  es  doch  schon  für  den  weldichen  Ethiker,  für  den 
Moralgenealogen  und  -historiker  ein  äußerst  reizvolles 
Problem,  wieso  es  auch  nur  möglich  ist,  daß  die  ganze 
ältere  christliche  Menschheit  in  diesem  > Opfer«  nicht 
etwa  nur  eine  durch  Not,  Angst,  Furcht  vor  irdischen 
Folgen  und  ewigen  Strafen  mißmutig  abgerungene  Hand- 
lung erblickte,  die  man  eventuell  tun  müsse,  um  größere 
Schäden  für  sich  selbst  und  für  das  Ganze  der  Gemein- 
schaft zu  vermeiden,  nicht  ein  »notwendiges  Übel«,  son- 
dern vielmehr  im  Gegenteil  eine  an  sich  höchst  ver- 
dienstvolle herrliche,  vor  Gottes  Augen  ganz  besonders 
hochwertige  Handlung  in  ihm  erblickte.  Das  ist  doch 
mehr  als  merkwürdig!  Wie  konnte  denn  das,  was  in  den 
Kreisen  gegenwärtiger  europäischer  Bildung  im  Grunde 
als  »schimpflicher  Sklavensinn«,  als  > kindische  Unter- 
würfigkeit«, als  »verächtUche  Preisgabe  der  eigenen  Ver- 
nunft« und  des  eigenen  selbständigen  Gewissens  gilt, 
einst  als  das  gerade  Gegenteil  wirklich  ganz  ursprünglich 


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f'f 


704  Probleme  der  Religion. 

erlebt,  empfunden  sein?  Wie  konnte  diese  Unterordnung 
des  Verstandes  als  verdienstvolles  freies  Opfer  —  in 
einer  Linie  stehen  mit  all  den  anderen  »Opfern«,  z.  B. 
von  Leben,  Ehre,  Besitz,  von  denen  doch  auch  der  moderne 
Mensch  keinen  Anstand  nimmt,  zu  bekennen,  daß  sie  für 
die  eigene  Überzeugung  und  sonstigen  höchsten  Güter 
gegebenenfalls  zu  opfern  seien?  Nur  als  ein  solch  freies 
Opfer  nach  höherer  und  darum  verdienstvollerer  Art? 
Wie  war  solch  radikale  Umwertung  eines  menschlichen 
Verhaltens  möglich? 

Nun,  ganz  so  groß  —  wie  es  scheint  —  ist  der  Abstand 
nicht  zwischen  dem  wirklichen  Erleben  und  Fühlen  des 
modernen  und  älteren  christlichen  Menschen.  Denn  es 
sind  zunächst  eine  Reihe  schwerer  Mißverständnisse, 
hinter  denen  sich  der  Sinn  dieses  Empfindens  und  dieser 
Hochschätzung  des  sacrifizio,  d.  i.  für  den  Menschen  von 
heute,  verbirgt. 

Erstens  sollte  es  doch  ein  Opfer  sein,  d.  h.  eine  freie,  ja 
fröhliche  Dahingabe  von  Etwas, das  man  gerade  als  hohen 
und  positiven  Wert  empfindet;  ja  als  ein  höchstes 
Opfer  erschien  der  Aktus,  höher  z.  B.  als  Aufopferung 
des  Lebens  und  der  Ehre  —  die  schon  die  individuelle 
Vernunft  und  Überzeugung  um  ihrer  Selbsterhaltung 
willen  gebieten  kann  —  freie  Hingabe  eben  dieser  indi- 
viduellen Vernunft  selbst.  EHeser  Gedanke  setzt  also 
gerade  voraus  eine  eminente  Hochschätzung  eben  dieser 
individuellen  Vernunft  als  des  »lumen  naturale«,  des 
natürlichen,  in  jede  Seele  einstrahlenden  Gotteslichtes, 
ein  reines  und  starkes  Besitzgefühl  an  ihr  und  ein  tiefes 
Vertrauen  auf  ihre  Kraft.  Denn  wie  anders  hätte  dieser 
Aktus  der  Hingabe  der  individuellen  Vernunft  an   die 


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Probleme  der  Religion.  705 

Autorität  denn  ein  Opfei^tind  sogar  ein  höchstes  Opfer 
sein  sollen?  Es  war  also  gerade  nicht  Geringschätzung, 
schwaches  Besitzgefühl,  Mißtrauen  in  die  Vernunft  oder  Un- 
reife ihrer  Ausbildung  resp.  Unreife  des  Bewußtseins  ihrer 
Kräfte  und  daraus  folgend  leichte  Fügsamkeit  und  Lenk- 
barkeit und  kindlicher  Herdensinn  —  wie  die  Modernen 
ungeprüft  und  als  ganz  »selbstverständlich«  annehmen,  — 
was  der  Idee  und  Wertung  des  sacrifizio  zugrunde  lag. 
Und  ebenso  wenig  sollte  der  Aktus  ausdrücken  bloß  .eine 
Überordnung  des  Ganzen  der  Kirche  über  das  Individuum. 
Denn  gerade  das  Individuum,  die  individuelle  Person  und 
Seele  adelt  sich  selbst  in  diesem  Opfer  ihres  höchsten 
vernünftigen  Teiles  am  meisten.  Die  Erhaltung  der  Ein- 
heit des  Glaubens  ist  nur  eine  Folge,  nicht  der  subjektive 
Zweck  dieses  edlen  Tuns. 

Zweitens:  Nicht  —  wie  die  Modernen  annehmen  — 
eine  nur  gelegentlich  und  ad  hoc  erfolgende,  dem  Oppor- 
tunismus entquellende  Nachgiebigkeit  des  Gehorchenden 
gegen  die  Autorität  auf  Kosten  des  eigenen  Gewissens 
und  der  eigenen  Vernunft  sollte  das  sacrifizio  sein.  Solche 
Nachgiebigkeit  könnte  ja  —  psychologisch — entweder  nur 
auf  der  Macht  der  Suggestion  seitens  der  Autorität  beruhen 
oder  auf  geheimer  Aufrechterhaltung  dieser  Überzeugung, 
verbunden  mit  lügenhaftem  Bekenntnis,  lügenhafter  Aus- 
sage, oder  schmählichem  Schweigen  über  die  höchsten 
Dinge  bei  besserem  Wissen  ^  Wohl  ist  zuzugeben,  daß 
sich  solches  -Verhalten  oft  geflüchtet  hat  unter  den  edlen 

*  Vgl.  hierzu  die  treffenden  Ausfuhrungen  von  Josef  Mausbach  in  seinem 
kleinen  Aufsatz:  Akademische  Lehrfreiheit  und  kirchliches  Lehramt  in 
Nr.  II  und  12  der  Zeitschrift  »Die  Hochschule«  gegen  einige  Mißverständ- 
nisse A.  Messers  in  dessen  Aufsatz  «Über  akademische  Lehr-  und  Lem- 
freiheit«  in  Nr.  7  der  »Hochschule«. 

45 


r:A 


-/. 


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7o6  Probleme  der  Religion. 

Namen  des  sacrifizio;  und  wohl  ist  zuzugeben,  daß  An- 
gehörige der  Kirche,  die  inmitten  der  modernen  Welt 
z.  B.  auf  Universitäten  leben  und  das  moderne  Auto- 
nomieethos schon  in  sich  tragen,  besonders  leicht  zu  dieser 
kläglichen,  ja  widerlichen  Haltung  gelangen,  wenn  sie  mit 
der  Autorität  in  Konflikt  kommen.  Das  wahre  sacrifizio 
aber  ist  etwas  völlig  anderes  und  wesensverschiedenes. 
Es  ist  eine  nur  bei  kraftvollster  Selbständigkeit  der  eigenen 
Verpunft  und  des  eigenen  Gewissens  hinsichtlich  aller 
nicht  Heilsdinge  berührenden  Weltfragen  mögliche,  und 
es  ist  systematische,  d.  h.  nicht  den  einzelnen  Vemunftakt 
ad  hoc,  sondern  die  Vernunft  als  Ganzes  treffende  freie, 
selbst  noch  auf  Grund  der  Weltautonomie  der 
Vernunft  vollzogene  Unterordnungsbereitschaft  des 
Willens  unter  die  Autorität,  unter  ihren  Anspruch  der 
Interpretation  und  Fixierung  der  höchsten  Glaubens-  und 
Sittenregeln  im  Sinne  ihres  Stifters.  Und  diese  autonome 
und  freie  Unterordnungs-  und  Gehorsamsbereitschaft  ruht 
wieder  auf  der  selbst  noch  vernunftgemäßen  Über- 
zeugung, daß  nur  ein  Miteinander  der  religiös-kirch- 
lichen Gemeinschaft  (auf  Grund  des  Primates  der  Wechsel- 
liebe all  ihrer  Kinder  in  Gott  vor  der  rationalen  Er- 
kenntnis Gottes)  und  daß  nur  durch  freie  Anerkennung 
der  kirchlichen  Stiftung  als  einer  solidarischen  Heilsanstalt 
eine  Erkenntnis  götdicher  Dinge  überhaupt  zu  gewinnen 
sei.  Das  ist  also  nicht  ein  schwaches,  nachgiebiges  oder 
leicht  suggerierbares  »Gewissen«  oder  eine  schwache, 
nachgiebige  »Vernunft«,  was  die  Voraussetzung  bildet  zu 
diesem  Aktus,  sondern  ein  anderer  Gewissens-  und  Ver- 
nunftinhalt betreffend  die  Frage  nach  den  möglichen 
Wegen  zu  göttlichen  Dingen  —  wenn  man  will  eine 


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Probleme  der  Religion.  707 

andere  religiöse  Erkenntnistheorie.  Und  endlich  drittens: 
Es  werden  nicht  untergeordnet  und  geopfert  die  objek- 
tiven idealen  Prinzipien  und  Formen  und  Ideen  der 
Vernunft  —  im  Sinne  des  sachlichen-idealen,  das  Sein 
aller  Dinge  durchformenden  ASyog,  sondern  es  wird  unter- 
geordnet das  subjektive,  individuelle,  menschliche,  irr- 
tumsfähige Vermögen,  sich  dieses  ASyos  zu  versichern. 
Das  stete  Bewußtsein  dieser  Irrtumsfähigkeit  aber  ent- 
hält durch  die  Anerkennung  von  Fall  und  Erbstinde  — 
ohne  welche  ja,  wie  wir  sahen,  der  ganze  Theismus  schon 
vor  der  Vernunft  geradezu  unsinnig  ist  —  notwendig  auch 
ein  Bewußtsein  der  Irrtums-  und  Täuschungsneigung  des 
Menschen  und  das  um  so  mehr,  je  vollkommener  und  im 
Range  der  Wertordnung  »höher«  stehend  die  Dinge  sind, 
um  die  es  sich  wesensmäßig  handelt. 

2.  Die  weltgeschichtliche  Funktionsteilung 
des  menschlichen  Geistes  und  eine  »neue  Religion«. 

Die  Erwartung  und  Forderung  einer  »neuen  Religion« 
wurde  bisher  von  mir  nur  aus  Gründen  zurückgewiesen, 
die  den  Theismus  bereits  voraussetzen,  damit  aber  Offen- 
barung notwendig  mitsetzen.  Denn  ein  Theismus  ohne 
Offenbarung  ist  ein  Nonsens  genau  so  wie  ein  Theismus 
ohne  Fall. 

Aber  —  obgleich  wir  zwar  nicht  den  Beweis  des  Da- 
seins eines  persönlichen  Gottes  fiir  möglich  —  wohl  aber 
den  Satz  für  möglich  beweisbar  halten,  es  müsse  Gott 
Person  sein,  wenn  Gott  summum  bonum  ist,  —  ein  Satz, 
der  bei  der  natürlichen  Erkennbarkeit  des  Daseins  der 
Gottheit  als  summum  bonum,  als  Geist  und  ewige  Ver- 
nunft usw.  überhaupt  Einstellung  auf  mögliche  Offen- 

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joS  Probleme  der  Religion. 

barung  mindestens  notwendig  macht  — ,  so  gibt  es  doch 
noch  ganz  andere  Reihen  von  Gründen,  die  dazu  nötigen, 
den  Gedanken  einer  > neuen  Religion«  wenn  nicht  illuso- 
risch, so  doch  äußerst  unwahrscheinlich-  zu  machen. 

Eine  erste  Reihe  liegt  in  einer  Entfaltungstendenz  des 
menschlichen  Geistes,  die  sich  uns  an  allen  historischen 
Entwicklungsreihen  des  Völkerdaseins  bestätigt  und  die 
ihr  letztes  Fundament  hat  in  dem,  was  ich  das  Altern 
der  Menschheit  als  Gattung  nenne^ 

Wir  besitzen  bisher  nur  sehr  mäßige  Anfänge  einer 
Erkenntnis-  und  Erlebnistheorie  derjenigen  Gegenstände, 
die  ihrem  Gesamtinbegriff  nach  der  Wesenssphäre  des 
»Heiligen«  angehören.  Der  größte  Teil  aller  Erkenntnis- 
theorie unserer  Zeit  ist  eigentlich  nur  Wissenschaftstheorie, 
hält  sich  aber  trotzdem  für  befugt,  durch  die  Antwort  auf 
die  Frage,  wie  »Wissenschaft  möglich«  sei,  das  Ganze 
des  menschlichen  erkennenden  Geistes  zu  bestimmen  und 
auszuschöpfen.  Indem  man  femer  gleichzeitig  das  Gebiet 
des  »Apriori«  nicht  in  dem  das  Seiende  selbst  durch- 
waltenden Logos,  als  den  Inbegriff  aller  Wesenheiten  und 
Wesenszusammenhänge  erblickte,  sondern  es  als  feste 
Struktur  einer  subjektiven  »Vernunft«  und  ihrer  Funk- 
tionen deutete,  —  einer  Vernunft,  die  keinerlei  Wesens- 
verschiedenheit bei  den  Trägem  der  großen  Kulturkreise 
zuläßt,  in  welche  die  Menschheit  zerfällt,  und  ebenso- 
wenig zuläßt  eine  wahre  historische  Entfaltung,  Verän- 
demng,  Entwicklung  des  subjektiven  Erkenntnisvermö- 
gens,  wird  schon  die  Frage  sinnlos,  ob.es  denn  nicht 

*  Daß  auch  Arten  (nicht  nur  Individuen)  geboren  werden  (Artengeburt), 
altern  und  sterben  (Artentod),  und  zwar  nicht  durch  äußere  Katastrophen, 
sondern  durch  immanente  Ursachen,  ist  viel  bestritten.  Der  Sau  kann  hier 


nicht  bewiesen  werden. 


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Probleme  der  Religion.  709 

verschiedene  und  verschiedengeartete  subjektive  geistige 
Erkenntnisorgane  ynd  -Funktionen  gebe,  die  verschiedenen 
Sphären  möglicher  Realität  zugeordnet  sind;  die  sich 
nicht  aufeinander  zurückfuhren  lassen  und  die  tcotz  Un- 
wandelbarkeit des  objektiven  Logos  auch  verschiedenartig 
und  verschiedengradig  über  die  Menschheit  verteilt  sein 
könnten:  i.  auf  die  verschiedenen  Menschenrassen  und 
Kulturkreise,  2.  auf  die  Phasen  des  Lebens  der  großen 
Kulturen,  in  letzter  Linie  der  ganzen  Menschheit  und  ihrer 
Teile.  Fällt  dieses  Vorurteil  eines  konstanten  subjektiven 
Apriori,  so  könnten  die  Erkenntniskräfte  so  verteilt  sein, 
daß  je  diese  Rassen,  Kulturkreise  und  Geschichtsphasen 
auch  für  die  Erkenntnis  der  ganzen  Wirklichkeit  je  etwas 
Spezifisches  und  ein  nur  ihnen  Zukommendes  zu  leisten 
hätten,  für  das  andere  Kreise  undThasen  der  Geschichte 
nicht  eintreten  könnten.  Die  anderen  Kreise  und  Phasen 
wären  nur  befähigt  und  verpflichtet,  das  einmal  von  einer 
Gruppe  Gefundene  zu  übernehmen  und  zu  bewahren. 
Stände  es  so,  daß  nur  die  ganze  Menschheit  im  Gesamt- 
ablauf ihrer  Geschichte  die  Fülle  der  Fähigkeiten  in  sich 
trüge,  oder  sukzessive  in  sich  ausbildete,  die  ganze  Wirk- 
lichkeit erschöpfend  zu  erkennen,  so  wäre  es  ja  auch  ge- 
radezu absurd,  wollte  sich  ein  Teil  dieses  soziohistorischen 
Ganzen  zum  endgültigen  Richter  über  das  Ganze  machen. 
Dies  gälte  wenigstens  für  das  Gebiet  der  Erkenntnis  so- 
weit, als  es  sich  nicht  handelt  um  die  logische  Gesetzgebung 
von  Richtig  und  Falsch  (das  die  bisherige  Erkenntnislehre 
so  einseitig  zum  Gegenstände  nalim)  sondern  um  die 
Stoffe  und  die  stoffgebenden  Quellen  der  Anschauung, 
der  »Erfahrung«  —  im  weitesten,  nichtsensualistischen 
Sinn  des  Wortes.  Der  subjektive  ApriorismuS  der  Auf- 


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7  I O  Probleme  der  Religion. 

klärungsphilosophie  erstarrte  gleichsam  die  Idee  des 
menschlichen  Geistes  zu  einer  immer  gleichen  »Vernunft«. 
Nehmen  wir  aber  —  wie  wir  es  tun  —  an,  daß  eben  das, 
was  heute  als  »starres«  Funktionsgesetz  des  Denkens  er- 
scheint, als  Inbegriff  von  »Formen«  des  Erkennens  einst 
im  Flusse  war  und  sich  erst  an  der  Betätigung  an  den 
Sachgebieten  aus  einer  noch  weniger  differenzierten  Er- 
kenntnisfunktion bildete,  so  gibt  es  gar  keine  Erkenntnis- 
theorie, die  nicht  zugleich  eine  Entfaltungstheorie  und 
eine  soziologische  Strukturenlehre  des  Menschen- 
geistes in  sich  zu  schließen  hätte,  oder  doch  sofort  in  sie 
wie  von  selber  überginge,  wenn  nur  das  formalste  Wesen 
des  »erkennenden  Aktes«  einmal  bestimmt  ist.  Ich  brauche 
dabei  kaum  zu  sagen,  daß  wir  weit  davon  entfernt  sind, 
den  Irrtümern  zu  verfallen,  die  dem  herkömmlichen  Em- 
pirismus und  sensualistischen  Positivismus  der  Comte,  Mill, 
Spencer  eigentümlich  sind.  Denn  deren  Irrtum  ist  ja  die 
Auslöschung  des  fiir  alle  Philosophie  grundlegendsten 
Unterschiedes  von  Apriori- Wesenhaftem  und  (induktiv) 
Aposteriori-Zufälligem  überhaupt.  Ein  geistiges  Funktions- 
gesetz kann  sich  nie  und  nimmer  bilden  durch  irgendwelche 
»Anpassung  des  Geistes«  an  zufällige  Tatsachen,  d.  h. 
an  solche,  die  der  Sphäre  induktiver  Beobachtung  und 
Verallgemeinerung  angehören.  Der  Schluß,  ein  solches 
Funktionsgesetz  müsse  darum  der  Urmitgift  des  Gei- 
stes angehört  haben,  ist  gleichwohl  falsch.  Denn  es  kann 
auch  durch  Wesensschau  ursprünglich  erworben  worden 
sein  —  also  gleichfalls  durch  eine  Art  Rezeption;  nicht 
also  braucht  es  darum,  sei  es  durch  spontane  Hervor- 
b^gung  (Kant),  sei  es  vermöge  irgend  einer  Art  Ein- 
geborenheit (idea  innata)  dem  Geiste  zuzukommen. 


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Probleme  der  Religion.  711 

Wenden  wir  diese  Grundsätze  einer  Erkenntnislehre, 
die  hier  nicht  zu  begründen  ist,  auf  unser  Gebiet  an,  so 
müssen  wir  die  Frage  stellen,  ob  die  stoif-  und  gehalt- 
gebenden Funktionen  und  Erkenntnisorgane  für  Gegen- 
stände aus  der  Sphäre  des  Heiligen  überhaupt  —  wir 
sehen  dabei  von  wahr  und  falsch  zunächst  ganz  ab  —  dem 
Menschengeiste  wirklich  zu  allen  Zeiten  und  überall  so 
gleichmäßig  und  in  gleichem  Grade  zukommen,  wie  man 
es  anzunehmen  geneigt  ist.  Ja  noch  mehr :  ob  nicht  vielleicht 
in  Folge  derselben  Prozesse,  die  den  »Verstand«  des 
Menschen,  d.  h.  das  eigentlich  zivilisatorische  Organ  zur 
Ordnung  und  Beherrschung  der  mechanisch  lenkbaren 
Seite  des  äußeren  und  inneren  Universums  ausbildeten, 
andersgeartete  Erkenntnis-  und  Erlebnisorgane  —  aber 
nicht  minder  zu  Erschließung  von  Realität  befähigte  und 
gleichsam  rechtmäßig  »berufene«  —  einer  mählichen 
Rückbildung  verfallen  seien. 

Beseitigen  wir  zuerst  einige  Vorurteile.  Der  bloße 
Wunsch  nachzuweisen,  es  befände  sich  alle  und  jede  Er- 
kenntnis in  einem  unaufhaltsamen  Fortschritt  hat  häufig 
dazu  geführt,  daß  man  von  vornherein  die  Sphäre  des  Er- 
kennbaren auf  all  das  verengte,  was  tatsächlich  einen  solchen 
kontinuierlichen  Fortschritt  der  Erkenntnis  aufwies.  So- 
wohl die  positivistischen  Religionstheorien  wie  alle  Arten 
von  sog.  Agnostizismen  (auch  der  nur  theoretische  Agnosti- 
zismus Kants)  sind  davon  ein  Zeugnis.  Die  positivistische 
Religionstheorie  (und  allgemeine  Erkenntnistheorie)  verfiel 
zwar  dem  Irrtum  der  Erstarrung  des  menschlichen  Geistes 
durch  die  Annahme  eines  >ewig«  gültigen  subjektiven 
Apriori  nicht.  Ihre  Erkenntnislehre  steht  darum  mit  So- 
ziologie und  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit  in 


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712  Probleme  der  Religion. 

engster  Beziehung.  Dies  ist  ihr  Vorzug  gegenüber 
der  Erkenntnislehre  Kants.  Indem  aber  die  positivistische 
Erkenntnislehre  —  in  Konsequenz  ihres  sensualistischen 
Ausgangspunktes  —  die  Sphäre  des  Wißbaren  auf  die 
Sphäre  des  kontinuierlich  fortschreitenden  Wissens  ver- 
engt, wird  ihr  selbst  die  religiöse  Anlage  der  Menschheit 
—  nicht  nur  als  Fähigkeit  der  Erfüllung  der  religiösen 
Sehnsucht  des  Menschen  durch  die  Erkenntnis  Gottes, 
sondern  schon  als  solche  Sehnsucht  selber,  ja  als  Be- 
dürfnis und  Streben  nach  letztem  absolutem  Wissen  vom 
Weltgrund  —  eine  nur  historische  Kategorie,  d.  h.  ein 
Atavismus  für  den  fortgeschrittenen » modernen  Menschen  < 
der  > positiven«  Epoche  (im  Unterschied  vom  Menschen  der 
religiös-theologischen  und  metaphysischen  Epoche).  Der 
Grundirrtxmi  des  Positivismus  als  Geschichtsphilosophie 
des  Wissens  besteht  hierbei  nicht  ohne  weiteres  da,  wo 
ihn  seine  Gegner  häufig  gesucht  haben:  Er  besteht  nicht  in 
seiner  Annahme,  es  sei  der  »religiöse  Sinn«,  das  religiöse 
Erkenntnisorgan  des  Menschen  (und  nicht  minder  auch  der 
davon  wohlunterschiedene  Sinn  metaphysischer  Verwunde- 
rung), im  Laufe  der  Geschichte  der  Menschheit  —  und  be- 
sonders der  westeuropäischen  —  einer  gewissen  Rück- 
bildung unterworfen  gewesen.  In  genau  zu  bestimmenden 
Grenzen  ist  diese  Annahme  richtig.  Der  wichtigste  Irrtum 
besteht  vielmehr  darin,  daß  man  erstens  auch  die  religiöse 
Sehnsucht  (in  letzter  Linie  fundiert  in  der  ideell  noch  un- 
bestimmten Gottesliebe)  und  das  religiöse  wie  metaphy- 
sische Fragebedürfnis  und  >  Problem «  in  gleicher  Weise 
einer  Rückbildung  unterworfen  wähnt,  wie  die  positive 
Fähigkeit  des  Menschen,  es  durch  lebendigen  anschauungs- 
mäßigen Kontakt  mit  dem  transzendenten  Sein  zu  befrie- 


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Google 


Probleme  der  Religion.  7^3 

digen;  und  daß  man  (das 'erst  Entscheidende!)  aus  der 
faktischen  Rückbildung  dieser  Fähigkeit  der  Erkennt- 
nis und  Fühlungnahme  mit  dem  Absoluten  den  ganz  un- 
berechtigten Schluß  zieht,  es  könne  all  dem,  was  eine 
jüngere  Menschheit  vermöge  dieser  in  ihr  noch  leben- 
digeren Fähigkeit  an  spontaner  Erkenntniserschließung 
des  Transzendenten  gefunden  zu  haben  meinte,  keinerlei 
endgültige,  von  der  Fundstelle  und  den  späteren  Ver- 
änderungen der  geistigen  Struktur  des  historischen  Men- 
schen unabhängige  Wahrheit  und  endgültiger  Erkenntnis- 
wert zukommen.  Denn  eben  dann  wäre  aus  def  vom  Posi- 
tivismus nicht  unrichtig  gesehenen  Rückbildung  des  reli- 
giösen Erkenntnisorgans  im  (europäischen)  Menschen  nicht 
ohne  weiteres  der  Schluß  zu  ziehen  auf  die  Nichtigkeit 
der  religiösen  Erkenntnis,  sondern  (wenn  andere  Gründe 
dafür  sprechen,  daß  religiöse  wie  metaphysische  Erkennt- 
nis überhaupt  möglich  und  wirklich  sei)  der  entgegen- 
gesetzte Schluß:  Es  habe  die  ältere  und  spätere  Mensch- 
heit, in  der  diese  Organe  zunehmend  einer  Rückbildung 
verfallen,  dasjenige  im  Glauben  zu  bewahren,  was  einst 
seitens  der  jüngeren  Menschheit  an  transzendenten  Rea- 
litäten geschaut  und  erfahren  wurde.  Und  femer:  Es 
habe  die  je  ältere  Menschheit  vermöge  ihrer  immer  ge- 
steigerten Einstellung  und  Anpassung  des  Geistes  auf  die 
nur  relativen  und  relativeren  Stufen  des  Daseins  (und  der 
sich  daraus  ergebenden  Ausbildung  dfer  Geistesorgane  des 
verständigen  Willens  zur  Weltlenkung  und  -Ordnung)  die 
gleichsam  mehr  pädagogische  und  technische  Auf- 
gabe auf  Grund  ihres  besonderen  Bestimmungssinnes  zu 
übernehmen,  all  das  an  Werten  und  Wahrheiten  in  die 
spröde  Wirklichkeit  dieser  relativeren  Daseinsstufen  wahr- 


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714  Probleipe  der  Religion. 

haft  einzubilden,  was  die  jüngere  vermöge  des  Vorzugs 
ihrer  Geisteslage  zum  absoluten  Sein  an  Werten  und 
Wahrheiten  erschaut  und  gewonnen  hatte.  Der  Gedanke 
einer  Gesetzmäßigkeit  welthistorischer  Funk- 
tionsteilung im  Erkennen,  Wollen  und  Werten  der 
jüngeren  und  älteren  Menschheit  auf  Grund  des  be- 
sonderen Bestimmungssinnes  der  großen  Entwicklungs- 
phasen der  Menschheit  zu  spezifischen  Erkenntnisarten 
und  -weisen ;  und  einer  Funktionsteilung  der  besondem  Art, 
daß  die  subjektive  Erkennbarkeit  alles  Daseienden  über- 
haupt sich  im  Altem  der  Menschheit  in  der  Richtung  be- 
wege von  der  absoluten  Daseinsstufe  zu  immer  relativeren 
Daseinsstufen:  Dieser  Gedanke  ist  den  Positivisten  nicht 
einmal  als  mögliche  Hypothese  in  den  Sinn  gekommen. 
Bewegt  und  bestimmt  durch  eine  ganz  partikulare  euro- 
päische, ja  westeuropäische  Richtung  des  Geistes, 
in  der  sie  alle  und  jede  geschichtliche  Wirklichkeit  auf- 
nahmen, und  außerdem  einseitigst  eingestellt  auf  den  auch 
innerhalb  dieser  Spannweite  liegenden  nur  fortschrei- 
tenden Teil  des  Wissens;  dazu  noch  ganz  übersehend, 
was  im  Gemüte  des  Menschen  auch  an  erkennenden 
(»kognitiven«)  Funktionen  gegenüber  den  anderen  er- 
kennenden Akten  beschlossen  liegt,  die  wir  den  »Ver- 
stand« zu  nennen  pflegen,  frug  man  sich  nicht,  ob  der 
positiven  Entwicklungsrichtung,  die  ein  Teil  der  Er- 
kenntniskräfte (nicht  nur  der  sich  kumulierenden  Re- 
sultate) des  Menschen  aufweist,  eine  entgegengesetzte 
Dekadenzrichtung  oder  Rückbildungsrichtung  eines  an- 
deren Teiles  der  menschlichen  Erkenntniskräfte  so  ent- 
sprechen könne,  daß  Fortschritt  und  Dekadenz  sogar 
nur  Seiten  eines  und  desselben   eigenartigen  Ver- 


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Probleme  der  Religion.  #  71c 

änderungsprozesses  des  ganzen  menschlichen  Geistes 
darstellen. 

Dieses  ohne  Prüfung  angenommene  Dogma  vom  Fort- 
schritt der  Menschheit  auch  bezüglich  der  Problematik 
der  Metaphysik  und  Religion  führte  die  positivistische 
Philosophie  zu  einer  ganzen  Reihe  irrtümlicher  Auffas- 
sungen, von  denen  ich  hier  nur  einige  nenne. 

I .  Verkannte  man  die  Eigenart  der  spezifisch  religiösen 
Erkenntnisorgane  im  Menschen,  so  mußte  man  auch  die 
ganze  Welt  der  religiösen  Kategorien  (Offenbarung,  Er- 
leuchtung, Gnade,  Divination  usw.)  in  ihrer  ganzen  Be- 
deutung prinzipiell  verkennen.  Ja,  man  mußte  schließlich 
die  Religion  für  eine  Art  unvollkommene  primitive  wissen- 
schaftliche Welt-  und  Naturerklärung  ansehen  und  in- 
folgedessen annehmen,  daß  jede  Vervollkommnung  und 
jeder  Fortschritt  der  Wissenschaft  je  einen  Teil  des 
religiösen  Bewußtseins  abtragen  müsse  ^.  Daß  die  Religion 
von  Hause  aus  immer  um  einen  Gegenstand  sich  bewege, 
der  fiir  die  positive  Wissenschaft  konstitutiv  verschlossen 
ist  und  der  seiner  je  primär  gegebenen  Wertseite  nach 
durch  die  unveränderliche  Wertkategorie  des  Heiligen, 
seinem  Dasein  nach  durch  die  Kategorien  des  absoluten 
und  unendlichen  Seins  umgrenzt  ist,  —  eines  Gegenstandes, 
dem  ganz  bestimmte  Haltungen  des  menschlichen  Ge- 
mütes und  des  erkennenden  Vermögens  auf  Seiten  des 
Subjekts  zu  seiner  möglichen  Erfahrung  entsprechen,  — 
Haltungen,  die  keinem  endlichen  Dinge  angemessen  sind, 
höchstens  durch  endliche  Dinge  als  Darstellungsmittel, 
und  Bindungsweisen  des  Göttlichen  ausgelöst  werden  kön- 

^  Vgl.  hierzu  August  Comtes:  »Soziologie«,  I.  Bd.,  6.  Kapitel,  Deutsch  von 
V.  Dorn,  Jena  1907. 


tH^ 


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7 1 6  %  Probleme  der  Religion. 

nen,  —  wurde  völlig  verkannt.  Und  damit  wurde  verkannt 
das  auch  für  alle  Auffassung  der  Religionsgeschichte  grund- 
legende Prinzip  von  der  Geschlossenheit  und  Auto- 
nomie der  religiösen  Erfahrung  und  ihres  Gegen- 
standes- 
ij  2.  Die  Tatsache,  daß  wir  an  Dingen  der  absoluten 
Daseinsstufe  noch  sehr  bestimmte  und  charakteristische 
Werterfahrungen  machen  können,  wenn  die  Vorstellungen 
und  Gedanken  über  diese  Dinge  noch  fehlen  oder  im  Ver- 
hältnisse zu  den  noch  deutlichen  und  klaren  Werteindrücken 
undeutlich  und  verschwommen  sind;  daß  aber  auf  alle 
Pälle  unser  emotionales  Verhältnis  zum  Transzendenten 
allen  Ideenbildungen  von  ihm  vorhergeht  und  diese 
Bildung  regiert  und  leitet,  —  daß  mithin  unser  »Gemüt« 
von  hause  aus  unbegrenzter  und  umfassender  ist  in  der 
Spannweite  seiner  Wertnehmungdes Daseins  als  unsere 
Wahrnehmung  und  unser  Verstand,  —  diese  Tatsache 
wurde  gleichfalls  außer  acht  gelassen. 

3.  Die  positivistische  Geschichtskonstruktion  der  Ent- 
wicklung der  Religion,  der  gemäß  Fetischismus,  Ani- 
mismus,  Magie,  Schamanismus  überall  den  Anfang  der 
religiösen  Entwicklung  gebildet  hätten,  aus  ihnen  aber 
sich  auf  verschiedenen  Wegen  (z.  B.  »Beseelung«  ganzer 
Naturbezirke  oder  Ahnenverehrung)  die  verschiedenarti- 
gen Formen  des  Polytheismus  und  endlich  durch  ein 
sich  bildendes  Übergewicht  eines  der  geglaubten  Götter 
der  Heno-  und  Monotheismus  »entwickelt«  hätten,  ist 
durch  die  historischen  Tatsachen  allein  nicht  im  entfern- 
testen nahegelegt  \  Sie  ist  fast  ausschließlich  eine  Kon- 

*  Durch  unsere  gegenwärtige  religionswissenschaftliche  Erkenntnis  der 
Primitiven  besonders  der  Pygmäenvölker,  die  wieder  auf  einen  Urmono- 


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Probleme  der  Religion.  7^5^ 

struktion,  die  in  die  Religionsgeschichte  dasselbe  »Fort- 
schrittsschema« hineininterpretieren  möchte,  das  wir  inner- 
halb der  westeuropäischen  exakten  Wissenschaft  finden. 
Es  ist  eine  Konstruktion,  die  sich  überall  des  falschen 
Prinzips  bedient,  eine  Weltanschauung  wüchse  aus  der  Ge- 
winnung einzelner  Eindrücke  vermöge  der  Assoziations- 
gesetze zusammen  (nicht  erstehe  alle  Einzelerfahrung 
durch  Analyse  von  ursprünglichen  Totaleindrücken);  des- 
gleichen des  nicht  minder  falschen  Prinzips,  es  sei  an  der 
Gegebenheit  dc5  Seienden  all  dasjenige  anthropopathische 
Zutat,  was  über  die  noch  sinnlichen  Elemente  dieses  Ge- 
gebenen hinausrage.  Beide  Prinzipien  sind  schon  falsch^ 
für  die  einfachste  natürliche  Sinneswahrnehmung.  Sie  wer- 
den zu  den  gröbsten  Fehlerquellen,  wenn  sie  auf  die  reli- 
•  giöse  Erfahrung  angewandt  werden.  Auch  der  primitivste 
»Fetisch«  stellt  das  unableitbare  Wesen  des  Göttlichen, 
wie  unbeholfen  auch  immer,  dar  als  einer  Totalsphäre  des 
absoluten,  mit  allen  Merkmalen  des  Heiligen  ausgestatte- 
ten Daseins.  Dieser  Fetisch  ist  immer  nur  eine  Art  Öff- 
nung, durch  die  hindurch  jenes  Ganze  des  absoluten 
heiligen  Daseins  in  der  religiösen  Intention  gemeint  und 
(wie  immer)  gefühlt  und  angeschaut  wird  —  nicht  ein  iso- 

theismus  zurückweist,  ist  die  positivistische  Lehre  vollständig  erschüttert. 
Vgl.  hierzu:  Andrew  Lang  »The  Making  of  Religion,  London  1898,  und 
P.  W.  Schmidt:  »Der  Ursprung  der  Gottesidee»,  Münster  19 12. 
^  Für  diesen  Satz  ist  anzuführen  das  erdrückende  Gesamtergebnis  der  phä- 
nomenologischen und  experimentalphänomenologischen  und  -psychologi- 
schen Untersuchungen  der  Wahrnehmung,  die  von  Husserl  und  seinen 
Schülern,  femer  von  Külpe,  Bühler,  Wertheimer,  Köhler,  Koffka,  Grün- 
baum, Jaensch,  von  Homboster  usw.  geleistet  worden  sind.  Eine- erste 
Übersicht  über  die  Hauptergebnisse  dieser  Forschungen  gewährt  Messers 
»Einleitung  in  die  Psychologie«  und  Koffkas  Aufsatzreibe  über  die  »Psycho- 
logie der  Wahrnehmung«  in  der  Zeitschrift  »Die  Geisteswissenschaften«, 
1914. 


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7 1 8  Probleme  der  Religion. 

liertes  Naturding,  dem  der  es  betrachtende  Mensch  nur 
irgendeine  seelische  Lebendigkeit  »eingefühlt«  oder  »ein- 
gelegt« hätte.  Dieselben  »Tatsachen«  der  ethnologischen 
und  religionsgeschichtlichen  Forschung  nehmen  —  wie 
hier  nicht  gezeigt  werden  kann  —  einen  toto  coelo  verschie- 
denen, aber  überhaupt  erst  einen  religiösen  Sinn  an,  wenn 
wir  selbst  bei  diesen  primitiven  Religionsbildungen  von 
der  Voraussetzung  ausgehen,  daß  eine  gleichsam  von 
allen  Seiten  und  durch  alle  Arten  von  Vehikeln  auf  den 
Menschen  eindringende,  an  sich  identischeliatürliche  Total- 
offenbarung der  absoluten  Realität  bei  den  verschiedenen 
Arten  menschlicher  Verbände  (Völker,  Rassen  usw.)  und 
Individuen  in  oft  grundverschiedener  Weise  aufgenommen, 
ausgewählt,  gegliedert  und  nachträglich  durch  Rationali- 
sierung und  Systematisierung  der  isolierten  religiösen  In-  • 
tuitionen  mit  dem  Gehalt  des  sonstigen,  auf  die  Welt  und 
die  Seele  bezogenen  erkennenden  Bewußtseins  zu  einem 
Ganzen  vereinigt  werde.  Die  Rangstufen  der  Offen- 
barung, insbesondere  die  erst  mit  dem  alten  Testament 
im  Judentum  einsetzende  Erkenntnis  des  Offenbarungsin- 
halts als  Offenbarungsinhaltes  eines  personalen  Gottes 
und  die  spezifische  Wahrheit  dieser  Offenbarung  im  Unter- 
schiede erstens  zu  nur  »vermeintlicher«  Offenbarung  und 
zweitens  zu  einem  nur  relativen  Heilswert  anderer  Offen- 
banmgen  in  der  Völkerwelt,  werden  durch  die  Annahme 
einer  universalen  natürlichen  Offenbarung  (als  aller 
Offenbarung  niedrigste  Stufe)  nicht  m\  mindesten  in  Frage 
gestellt.  Von  jeher  muß  die  christliche  Kirche  ja  auch  die 
Offenbarung  des  alten  Testamentes  insofern  »relativieren« , 
als  sei  erstens  den  puren  Offenbarungsgehalt  des  alten 
Testamentes  unterscheiden  muß  von  der  Stufe  des  gleich- 


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Probleme  der  Religion.  7^9 

falls  in  ihm  liegenden  Weltwissens,um  Natur  und  Geschichte  ^ 
und  als  sie  zweitens  die  vollkommene  und  unüberbietbare 
Selbstoffenbarung  Gottes  nur  und  ausschließlich  in  Christo, 
als  dem  Vollender  der  Heilsgeschichte,  gegeben  öieht. 
Die  christliche  Kirche  besitzt  außerdem  im  Begriffe  der 
Uroffenbarung  eine  Kategorie,  die,  richtig  interpretiert, 
von  selbst  auf  unsere  Auffassung  hinleitet,  — wenn  nur  das 
ungeheure  neue  Material  der  Religionsgeschichte  an- 
erkannt wird,  das  in  älteren  Zeiten  verborgen  war.  Das  ist 
nur  eine  Materialfrage  der  Anwendung  der  gegebenen 
Lehrkategorien,  nicht  eine  neue  Kategorie.  Die  Annahme 
von  wahren  Offenbarungskeimen  auch  in  anderen  Religio- 
nen die  außerhalb  des  religiösen  Geschichtszusammenhangs 
der  jüdisch-christlichen  Entwicklung  stehen,  widerstreitet 
keinem  wesentlichen  Gedanken  der  christlich-kirchlichen 
Lehre  und  bekräftigt  nur  die  wahre  »Katholizität«  der 
Kirche,  zu  deren  Prinzipien  es  gehört.  Wahres  niemals  bloß 
darum  zu  verwerfen,  weil  es  entweder  nur  inadaequat 
Wahres  ist,  oder  nur  Wahres  in  bezug  auf  faktisch  (aber 
den  betreffenden  Menschen  noch  unbewußt)  daseinsrelative 
Gegenstände  (z.  B.  Volksgottheiten)  oder  gar  nur  darum, 
weil  der  bestimmte  Gegenstand  noch  nicht  klar  bewußt  ist, 
von  dem  die  betreffende  Wahrheit  gilt  (so  etwa  wenn  die 

*  Für  diese  Unterscheidung  gilt  als  höchstes  Prinzip  die  Einheit  und  wesens- 
notwendige Harmonie  der  Offenbarung  und  Heilswahrheit  einerseits  und 
der  vernünftigen  Weltweisheit  andererseits.  Falsch  (im  Sinne  eines  falschen 
Konservativismus)  wird  dieses  Prinzip  angewandt,  wenn  das  fortschreitende 
Weltwissen  einfach  gemessen  wird  an  dem,  was  bis  zur  Stunde  als  unver- 
mischtes,  «reines«  Offenbarungswissen  nur  »galt«.  Denn  gerade  für  diese 
Reinigung  der  Heilswahrheit  im  heiligen  Buche  von  den  Beimischungen 
des  Weltwissens  überhaupt,  hat  das  fortschreitende  Weltwissen  die  von  sei* 
nem  eigenen  Wahrheitswerte  unabhängige  positive  Bedeutung  eines  Re- 
duktionsmittels aller  bloß  vermeinten  Offenbarung  auf  ihren  »reinen« 


Gehalt. 


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7  20  Probleme  der  Religion. 

Stiftung  Gottes,  welche  moralische  Weltordnung  heißt,  für 
Gott  selbst  gehalten  wird  wie  im  »Himmel«  der  Chinesen). 
Am  wenigsten  aber  nur  darum,  weil  Falsches  sehr  häufig 
mit  Wahrem  vermischt  ist,  z.  B.  vieles  auch  als  Offen- 
barungsinhalt ausgegeben  wurde,  was  keiner  ist,  oder 
manches  wahrhaft  Offenbarungsmäßige  (seinem  Heilswert 
nach)  in  falsche  oder  unvollkommene  Welterkenntnis  ein- 
gebettet erscheint.  Die  Spezifität  und  die  supranaturali- 
stische »Ausschließlichkeit«  der  jüdisch-christlichen  Offen- 
barung, die  moderne  liberale  Theologen^  häufig  geneigt 
sind,  fiir  ein  dauerndes  Wesenskriterium  aller  »positiven« 
Theologie  zu  halten  (der  katholischen  wie  protestantischen) 
ist  dem  Geiste  nach  nur  ein  Merkmal  der  positiv-prote- 
stantischen Theologie  lutherischer  und  calvinistischer  Her- 
kunft*. Soweit  diese  Auffassung  auch  der  »katholischen 
Wissenschaft«  zeitweise  eigen  sein  mochte,  ist  sie  nicht 
gegründet  in  dem  unvergänglichen  Lehrinhalt  der  Kirche, 
sondern  in  der  Enge  des  religionsgeschichtlichen  Mate- 
rials, mit  dem  man  jahrhundertelang  arbeitete. 
,  4.  Nicht  minder  groß  ist  der  Irrtum  des  Positivismus 
über  die  Entwicklungsgeschichte  des  menschlichen  Geistes 
(und  in  ihr  der  Religion),  der  aus  der  falschen  Verallge- 
meinerung bestimmter  Entwicklungstendenzen  des  vorzüg- 
lich westeuropäischen  kapitalistischen  Zeitalters 
auf  die  vergangene  und  zukünftige  Entwicklung  der  ganzen 
Menschheit  hin  erwächst.  Die  positivistische  Geschichts- 

*  z.  B.  Ernst  Trocltsch. 

■  Dies  wird  am  sichtbarsten  bei  der  Stellungnahme  dieser  Theologie  zur 
antiken  Weltweisheit  und  Religion,  die  durchgehend  eine  schroff  ableh- 
nende ist  und  die  antike  Weisheit  nirgends  mit  Origines  und  Clemens  als 
pädagogische  Vor  stufe  zu  den  Wahrheiten  des  Christentums  zu  begreifen 
vermag. 


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^^. 


m.: 


Probleme  der  Religion.  7  2  I 

lehre  ist  nur  die  weltgeschichtliche  Selbstauffassung  des 
westeuropäischen  Bürgertums,  in  dem  der  »kapitalistische 
Geist«  auch  die  Ideale  der  Erkenntnis  und  Moral  von  sich 
aus  bestimmt  hat.  Sie  ist  nicht  nur  —  wie  es  auch  die 
Geschichtslehre  Hegels  und  Hartmanns  ist  —  einseitiger 
» Europäismus  < ,  d.  h.  Messung  und  Beurteilung  der  mensch- 
lichen Universalgeschichte  von  nur  europäisch  gültigen 
und  mit  seiner  Kultur  prinzipiell  vergänglichen  Ideen-  und 
Wertungsformen;  sie  ist  aul^erdem  noch  eine  Klassen- 
philosophie des  nur  auf  ökonomische  Machtentfaltung  und 
dieser  Machtentfaltung  alle  übrigen  Werte  unterordnen- 
den modernen  industriellen  bürgerlichen  Unternehmer- 
tums, mit  dem  sie  geboren  ist  und  mit  dessen  Verdrängung 
aus  der  Leitung  der  Völker  und  Staaten  sie  verschwinden 
wird.  Was  eine  nur  episodische  und  —  welthistorisch  ge- 
sprochen —  momentane  Ablenkung  des  menschlichen 
Geistes  (nur  des  europäisch-menschlichen)  von  seiner  reli- 
giösen Bestimmung  ist,  nämlich  die  ausschließliche  Hin- 
richtung dieses  Geistes  auf  das  »savoir  pour  pr^voir« 
zwecks  technischer  Welteinrichtung  und  -lenkung,  das 
hielt  die  positivistische  Philosophie  für  eine  allmensch- 
liche Entwicklungstendenz,  die  sich  in  der  Zukunft  immer 
mehr  durchsetzen  werde.  — 

Wie  die  geistigen  Dispositionen  für  die  religiöse  Er- 
kenntnis der  transzendenten  Mächte  durch  immer  weitere 
Differenzierung  der  geistigen  Kräfte  und  durch  steigende 
Herr  Schaftsgewinnung  eines  nur  technisch  bedeutsamen 
»Verstandes«  in  der  Menschenseele  geschichtlich  abneh- 
men, so  sind  aber  auch  die  sozialen  Bedingungen  und 
Lebensformen,  die  den  Ursprung  neuer  Religionen  not- 
wendig mitbedingen,  gerade  in  und  durch  den  sonstigen 
46 


^) 


r 


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72  2  Probleme  der  Religion. 

»Fortschritt  der  Zivilisation«  immer  mehr  aufgelöst 
worden.  Der  Weg  von  der  Lebensgemeinschaft  zu  sozia^ 
len  Zweck-  und  Klassen  verbänden,  den  —  wie  F.  Tönnies  ^ 
so  tief  gezeigt  hat  —  alle  menschlichen  sozialen  Verbände 
genommen  haben,  schließt  schon  die  notwendigen  sozio- 
logischen Voraussetzungen  aus,  unter  denen  eine  neue 
Religion  entspringen  könnte.  Darum  sind  denn  auch  alle 
neueren  Versuche  religiöser  Dogmenbildung  und  Aufrich- 
tung religiöser  Autoritäten,  wie  sie  A.  Comte,  Hegel,  Hart- 
mann gemacht  haben,  so  vollständig  mißlungen.  So 
kann  auch  hier  nur  dies  die  Aufgabe  gegenwärtiger  und 
zukünftiger  Menschheit  sein,  die  echten  großen  umfassen- 
den Gemeinschaftsformen,  welche  die  Religion  in  älteren 
Zeiten,  —  da  solches  noch  möglich  war  —  geschaffen 
hat  und  die  nur  sie  schaffen  konnte,  zu  bewahren,  zu 
verlebendigen  und  zu  reformieren,  und  im  höchsten  Falle 
durch  kirchliche  Unionsbestrebungen  tiefer  und  macht- 
voller miteinander  zu  verknüpfen.  — 

Verwundem  oder  mit  pessimistischen  Stimmungen  er- 
füllen werden  aber  diese  Gedanken  über  die  Unwahr- 
scheinlichkeit  sog.  »neuer  Religionen«  in  der  zukünftigen 
Geschichte  der  Menschheit  nur  denjenigen,  der  die  in 
diesem  Buche  festgestellten  Wesensunterschiede  der  reli- 
giösen, der  philosophischen  und  positiv- wissenschaftlichen 
Erkenntnis  nicht  zu  fassen  vermag;  der  entweder  wie  der 
Positivismus  aus  den  verschiedenen  mit  dem  menschlichen 
Geiste  selbst  gesetzten  dauernden  Anlagen  zu  diesen  drei 
Erkenntnisarten  (die  wohl  zeitweise  unterdrückt  und  ver- 
borgen sein  können,  niemals  aber  einander  ablösen  oder 
ersetzen  können)  historische  Entwicklungsphasen  der 

*  Siehe  F.  Tönnies  »Gemeinschaft  und  Gesellschaft«  (2.  Aufl.). 


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Probleme  der  Religion.  723 

Menschheit  machen  will,  oder  (gnostisch)  Religion  in  Philo- 
sophie will  aufgehenlassen,  —  die  Tatsache  mißachtend, 
daß  alle  Religion  in  eigenartigen  Wesens  typen  persön- 
lichen Menschentums  (im  homo  religiosus)  ihren  Ursprung 
nimmt  und  ihr  autonomes  Maß  hat. 

Femer  werden  sie  verwundem  und  traurig  stimmen 
denjenigen,derdie  welthistorische  Funktionsteilung 
des  menschlichen  Geistes  zwischen  der  Erwerbung  der 
religiösen  Fundamente  des  Lebens  und  den  technischen 
Einbau  der  einst  erworbenen  Fundamentalideen  in  die 
irdische  Wirklichkeit  (auf  Gmnd  verstandesmäßiger  Er- 
forschung) der  Welt  nicht  anerkennen  will. 

Wer  diese  Irrtümer  vermeidet,  dem  erscheint  die  Auf- 
gabe das  Kapital  an  religiösen  Gütern,  das  lebendig  unter 
uns  existiert,  zu  bewahren,  aber  den  Seelen  um  so 
reicher  zuzuwenden,  edler  und  wertvoller,  als  der  falsche 
Gedanke,  da  erfinden  zu  wollen,  wo  es  allein  nur  heißen 
muß  und  kann: 

»Das  Wahre  war  schon  längst  gefunden, 
Hat  edle  Geisterschaft  verbunden, 
Das  alte  Wahre  faß  es  an. «  (Goethe.) 


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Inhalt 

Sdte 

Vorrede    i 

Reue  und  Wiedergeburt 5 

Vom  Wesen  der  Philosophie  und  der  mora- 
lischen Bedingung  des  philosophischen  Er- 

kennens 59 

1.  Die  Autonomie  der  Philosophie 62 

2.  Die  philosophische  Geisteshaltung  (oder  die  Idee 
des  Philosophen) •.  .  . 65 

3.  Analyse  des  moralische^  Aufschwungs 95 

a)  Der  Akt  des  Aufschwungs  als  Personakt  »des  ganzen 
Menschen« 9^ 

b)  Ausgangspunkt  und  Elemente  des  Aufschwungs    .  .   10 1 

4.  Der  Gegenstand  der  Philosophie  tmd  die  philoso- 
phische Erkenntnishaltung iii 

Die  christliche  Liebesidee  und  die  gegenwär- 
tige Welt  1 124 

II.  Die  chrisdiche  Gemeinschaftsidee 149 

in.  Das  Verhältnis  der  christlichen  Gemeinschaftsidee 
zum  gegenwärtigen  Zeitalter 160 

Vom  kulturellen  Wiederaufbau  Europas  I.  .  .  ,  204 

n 234 

Probleme  der  Religion  (zur  religiösen  Erneuerung)  279 
.  I.  Religion  und  Philosophie 317 

A.  Typik  der  bisherigen  Anschauungen 317 

B.  Der  partielle  und  der  totale  Identitätstypus .  .  320 

C.  Dualistische  Typen  von  Glauben  und  Wissen  342 

D.  Das  Konformitätssystem 348 


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Inhalt.  725 

Seite 

II.  DieWesensphänomenologie  der  Religion.  .  376 

1.  Einteilung 376 

2.  Das  Göttliche 379 

3 .  Die  Attribute  Gottes  in  der  natürlichen  Religion  396 

4.  Wachstum  und  Abnahme  der  natürlichen  Got- 
teserkenntnis   440 

5.  Attribute  des  göttlichen  Geistes 467 

6.  Der  religiöse  Akt 521 

A)  Gegenständliche  Bedingung  der  Abgrenzung  reli- 
giöser Akte 521 

B)  Immanente  Charakteristik  des  religiösen  Akts  nach 
seiner  Konstitution 523 

C)  Art  und  Weise  der  Selbstgesetzlichkeit  religiöser  Akte  529 

7.  Innere  und  äußere  Seite,  individuelle  und  soziale 
Seite  des  religiösen  Akts 553 

8.  Der  religiöse  Akt  wird  von  jedem  Menschen 
notwendig  vollzogen 559 

9.  Über  einige  neuere  Versuche  einer  natürlichen 
Religionsbegründung 564 

III.  Warum  keine  neue  Religion? 677 

1.  Widerstreit  der  Idee  eines  persönlichen.  Grottes 
und  der  Erwartung  einer  neuen  Religion  ....  679 

2.  Die   weltgeschichtliche  Funktionsteilung   des 
menschlichen  Geistes  und  eine  »neue  Religion«  707 


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Hof-Buch-  und  -Steindruckerei 
Dietsch  &  Brückner  in  Weimar 


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Von 

MAX  SCHELER 

erschienen  ferner  in  unserem  Verlag: 

DER  GENIUS  DES  KRIEGES  UND  DER 
DEUTSCHE  KRIEG 

3.  Auflage.  /  Geh.  M.  15. — ,  geb.  M.  19. — 
Inhalts- Übersicht: 

DER  GENIUS  DES  KRIEGES  /  Wurzel  und  Sinn  des  Krie- 
ges als  Welteinrichtung:  i.  Der  Krieg  und  das  organische 
Leben  /  2.  Krieg  und  Geisteskultur  |  3.  Krieg  und  Ethik  /Zur 
Metaphysik  des  Krieges:  i.  Die  Realität  der  Nation  /  2.  Der 
Krieg  und  der  Tod  /  3.  Der  Krieg  als  Gottesgericht  /  Der  ge- 
rechte und  der  ungerechte  Krieg. 

DER  DEUTSCHE  KRIEG :  i.  Seine  Gerechtigkeit  /  2.  Der  Glaube 
an  unser  höheres  Recht  in  diesem  Kriege  /  Die  geistige  Ein- 
heit Europas  und  ihre  politische  Forderung/  Los  von 
England. 

ANHANG:  Zur  Psychologie  des  englischenEthos  unddes 
cant  /  Kategorientafel  des  englischen  Denkens. 


KRIEG  UND  AUFBAU 

Geh.  M.  15.— ,  geb.  M.  19. — 
Inhalts-Übersicht: 
I.  Der  Krieg  als  Gesamterlebnis  /  2.  Über  ösdiches  und  westliches 
Christentum  /  3.  Das  Nationale  im  Denken  Frankreichs  /  4.  Über 
die  Nationalideen  der  großen  Nationen  /  5.  Bemerkungen  zum 
Geiste  und  den  ideellen  Grundlagen  der  Demokratien  der  großen 
Nationen  /  6.  Über  Gesinnungs-  und  Zweckmilitarismus.  Eine  Studie 
zur  Psychologie  des  Militarismus  /  7.  Soziologische  Neuorientierung 
und  die  Aufgabe  der  deutschen  Katholiken  nach  dem  Krieg  /  8.  Das 
allgemein  menschliche  Gebot  der  Stunde  /  9.  Nation  und  ihre  Quer- 
s'chichtungen  /  10.  Das  Versagen  der  Kräfte  »von  unten«  und  die 
Hoffnung  auf  neue  Kräfte  »von  oben«  /  11.  Potenz  und  neue  Ver- 
antwortung /  12.  Neue  Lage  und  neue  Aufgaben:  I.  Unsere  Be- 
gegnung mit  den  Zurückkehrenden.  II.  Der  neue  Rahmen  1 13.  Vom 
Sinn  des  Leides  /  14.  Liebe  und  Erkenntnis. 


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DIE 
URSACHEN  DES  DEUTSCHENHASSES 

Eine  nationalpädagogische  Erörterung 
Zweite  durchgesehene  und  vermehrte  Auflage 

Geh.  M.  6  — 

Inhalts-Obersicht: 

Vorbemerkung  /  i.  Unzureichende  Erklärungsmethoden  /IL  Afiekt- 
menge  und  Hintergründe  des  Hasses  |  III.  Größenordnung  und 
Träger  des  Hasses  /  IV.  Arten  und  Einteilung  der  unmittelbaren 
Ursachen  |  V.  Die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese  /VI.  Notwen- 
dige nicht  schuldhafte  Mißverständnisse:  i.  Was  sind  notwendige 
Mißverständnisse?  2.  Das  notwendige  Mißverständnis  unseres  soge- 
nannten Militarismus.  3.  Das  notwendige  Mißverständnis  unserer 
Freiheitsidee/  VII.  Abwendbare  Mißverständnisse  als  Haßursachen : 
I.  Der  deutsche  Auslandskaufmann.  2.  Sozialdemokratische  Kritik 
und  alldeutsche  Literatur/  VI  IL  Unser  Verhalten  zum  Hasse  der 
Welt  /  Anmerkungen. 

VOM  UMSTURZ  DER  WERTE 

ZWEI  BÄNDE 

(Der  Abhandlungen  und  Aufsätze 

^zweite,  durchgesehene  Auflage) 

Geh.  M.  30. — ,  geb.  M.  42. — 

Inhalts-Ubersicht: 

I.  Band:  i.  Zur  Rehabilitierung  der  Tugend  /  2.  Das  Ressentiment 
im  Aufbau  der  Moralen  |  3.  Zum  Phänomen  des  Tragischen  /  4.  Zur 

Idee  des  Menschen. 

I I.  B  a  n  d :  i .  Die  Idole  der  Selbsterkenntnis  /  2,  Versuche  einer  Philo- 
sophie des  Lebens  /  3.  Die  Psychologie  der  sogenannten  Renten- 
hysterie und  der  rechte  Kampf  gegen  das  Übel  /  4.  Zum  Sinn  der 
Frauenbewegung  /  5.  Der  Bourgeois  und  die  religiösen  Mächte  / 

7.  Die  Zukunft  des  Kapitalismus. 

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