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VOM EWIGEN IM
MENSCHEN
VON
MAX S C HELE R
ERSTER BAND
RELIGIÖSE ERNEUERUNG
LEIPZIG 1921
VERLAG DER NEUE GEIST /DR. PETER REINHOLD
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Copyright by Der Neue Geist -Verlag, Leipzig. I9'9
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268318
JUL20I828
l
Vorrede
Das Werk, dessen erster Band — durch die widrigen Zeitumstände
erheblich verspätet — ^ hiermit der Öffentlichkeit übergeben wird,
enthält Abhandlungen und Studien, die im wesentlichen Pro-
blemen der Ethik und Religionsphilosophie gewidmet sind; teils
sind sie entstanden als Vorarbeiten für größere systematisch-zu-
sammen hängen de Werke, die der Verfasser unter der Feder hat|
teils sollen sie dasjenige, was er in solcl^ gegeben hat (besonders
in seinem Buche »Der Formalismus in OTr Ethik und die materiale
Wertethik*, Halle 191 6}, weiterführen und auf bestimmte Sach-
gebiete anwenden. Die Aufsätze über »Reue und Wiedergeburt *»
über die »Christliche Gemeinschafts- und Liebesidee«, »Über das
Wesen der Philosophie«, >Über den kulturellen Wiederaufbau
Europas^ sind (hier nur wenig verändert) früher in den Zeitschriften
»Summa <^ und j«- Hochland« erschienen. Neu geschrieben ist der
zweite größere Teil des Buches über »Religiöse Erneuerung«,
der versucht, Richtlinien zur Begründung und zum Verständnis
der Religion zu entwerfen.
Der Gesamttitel ^' Vom Ewigen im Menschen-^ soll andeuten,
daß der Verfasser aufrichtig bemüht ist, seinen geistigen Blick zu
erheben über die Stürme und Gischte dieser Zeit — in eine reinere
Atmosphäre, und ihn zu richten auf das im Menschen, wodurch er
Mensch ist, das heißt» wodurch er am Ewigen teil hat. Die Gnade,
staunend und beglückt im Ewigen zu ruhen und das sonstige
Leben nur aufzufassen als einen verwickelten Pfad zu diesem
hohen Ziele, wird nur Wenigen zuteil. Der Verfasser will sich hier
begnügen mit dem Minderen, zu zeigen, wie aus den Quellen des
Geistes im Menschen, in denen Göttliches und Nurmenschliches
zusammen strömt, der Forderung der Stunde zu genügen sei, so
daß eine * Vita nuova« denen wieder möglich werde, die am tief-
sten an dieser Zeit gelitten und gekrankt haben. Das ist als Frage
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2 Vorrede.
das geistige Band, das die hier veröfTentlichten Abhandlungen
zusammenschließt. Damm durfte auch ein Aufsatz wie jener über
den 3fr Kulturellen Wiederaufbau Europas« wohl hier mit er-
scheinen.
Einen schlechten Begriff vom »Ewigen« hätte derjenige, der
nur den Gegensatz zum Abfluß der Zeit in ihm begreifend, nicht
auch in der individuellsten Forderung der Stunde an das Indi-
viduum die leise Stimme der Ewigkeit herauszuhören vermöchte.
Das wahre Ewige schließt nicht die Zeit von sich aus, liegt nicht
neben ihr — es umfaßt auf zeitlose Weise der Zeiten Inhalt und
Fülle mit und durchdringt sie in jedem ihrer Augenblicke.
Darum darf das Ewige kein Asyl sein, in das man flieht, weil
man Leben und Geschicl)|e nicht mehr ertragen zu können meint.
Und das wären schlechte * Aeternisten«, die nur aus Geschichts-
flucht sich der Idee des Ewigen hingäben. Erhebliche Gruppen
junger Menschen sind gegenwärtig von solchen Fluchttendenzen
bestimmt. Die Einen fliehen in die Mystik des Überhistorischen,
die Anderen in die nebenhistorische Idylle des Landes, der Blumen
und der Sterne, die wenigst Erfreulichen in die unterhistorische
Sphäre der Lust des Augenblicks als den Gegenpol des Ewigen.
Diese Tendenzen, die er zwar versteht, möchte der Verfasser
nicht fordern. Die Geschichte anerkennen, sie sehen in ihrer har-
ten Realität — aber sie zu speisen aus derii Borne des Ewigen,
ist angemessener als sie fliehen. —
Mit einem Versuche j das große Gewissensphänomen der Reue
eindringender, als es bisher geschah, zu analysieren, beginnt der
erste, der philosophischen und religiösen Gedankenbewegung
gewidmete Band des Werkes darum, weil es unter den sittiich-
religiösen Akten im Menschengeiste keinen gibt, der diesem Zeit-
alter so angemessen und für es so fruchtbar sein dürfte als der Akt
der Reue. Sie allein verheißt mögliche Wiedergeburt.
Die Abhandlung über die Religion knüpft nur lose an die
Gegenwart an. Sie übergibt der Öflfentlichkeit zum ersten Male
einige Früchte der religionsphilosophischen Gedankenarbeit, die
den Verfasser seit vielen Jahren beschäftigte — die ersten Funda-
mente des systematischen Bau 's einer »natürlichen Theologie«.
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Vorrede. 3
Der Verfasser hält diese Fundamente bei allem erwarteten Wider-
spruch für gesicherter als die überlieferten und auch für geeignet,
vom heutigen Menschen tiefer verstanden und besser gewürdigt
zu werden als die traditionellen Systeme der Religionsbegründung,
die entweder mehr auf Thomas Aquinas oder auf Kant und Schleier-
macher beruhen. Es ist — analog dem, was Kant den »Skandal
der Philosophie« genannt hat — ein »Skandal der Theologie und
Philosophie« zugleich , daß die Fragen der natürlichen Theologie,
d. h., daß eben Das, was über die positiven Glaubensgegensätze
hinweg, die Geister zu einen bestimmt ist, sie eher noch tiefer
scheidet als die konfessionellen Gegensätze selbst; daß femer, was
an Gotteserkenntnis der spontanen Vernunft in jedem Menschen
allein soll verdankt werden und bloße Tradition und Offenbarung
ebendamit begrenzen soll, am meisten in nur traditionellen
Lehrsystemen gepflegt wird. Der Verfasser ist der tiefen, hier
nicht zu begründenden Überzeugung, daß weder auf dem Boden
der Philosophie des Thomas Aquinas noch auf dem Boden der
durch Kant eingeleiteten philosophischen Periode die natürliche
Gotteserkenntnis je wieder diese einende Aufgabe zii erfüllen
vermag.
Sie wird sie nur erfüllen, wenn sieden Kern des Augustinismus
von seinen zeitgeschichdichen Hüllen befreit und mit den Ge-
dankenmitteln der phänomenologischen Philosophie neu und
tiefer begründet; d. h. der Philosophie, die die Wesensgrund-
lagen alles Daseins mit gereinigten Augen zu schauen untei^
nimmt und die Wechsel einlöst, die eine allzuverwickelte Kultur
auf sie in immer neuen Symbolen gezogen hat. Dann wird sie
jenen unmittelbaren Kontakt der Seele mit Gott inmier klarer
aufweisen, den Augustin mit den Mitteln des neuplatonischen
Denkens an der Erfahrung seines großen Herzens inmier neu
aufzuspüren und in Worte zu fassen bemüht war. Nur eine Theo-
logie der Wesenserfahrung des Göttlichen vermag für die
verlorenen Wahrheiten Augustins die Augen wieder zu öffnen.
Eine ausgeführte systematische Philosophie der Religion soll
das hier Gegebene nicht bilden. Sie muß einer Arbeit der Zukunft
vorbehalten bleiben. Besonders ist das eigendiche System der
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4 Vorrede*
Erweisarten des Daseins Gottes hier nicht so entwickelt, wie wir
es uns denken, sondern nur in gewissen Teilen gegeben.
Der zweite und dritte Band des Werkes wird in stetiger Weise
weitergedruckt und beide Bände werden — wie wir hoffen — in
Kürze erscheinen. Der zweite Band wird züm Hauptstück eine
Abhandlung geben, die bestimmt ist, die Ethik des Verfassers
zu vervollständigen. Sie soll die Bedeutung erwägen, die das
persönliche Vorbild in allen seinen Abarten für das moralische
und reUgiöseSein der Menschen und fiir die geschichtlichen Ver
änderungen der Ethosformen besitzt. Der dritte Band wird vor
altem das Verhältnis von Liebe und Erkenntnis (die histo-
rischen Typen der Lehren von diesem Verhältnis sind vom Ver-
fasser in einer älteren Abhandlung verfolgt worden) rein sachlich
und systematisch behandeln und soll ein letztes Fundament
geben für eine »Soziologie des Erkennens«, die der Verfasser
später systematisch vorzulegen beabsichtigt,
Philosophie — wie der Verfasser sie versteht — soll syste*
matisch sein — aber ein ^System« geben, das nicht auf der
Deduktion aus wenigen einfachen Grundsätzen beruht, sondern
seine Nahrung und seinen Gehalt aus der eindringenden Analyse
der verschiedenen Gebiete des Daseins und des gerstigen
Lebens immer neu erwirbt: Ein System, das, nie geschlossen,
wächst im Leben und durch des Lebens immer neue gedanken-
mäßige Verarbeitung,
Ein System ist entweder ein Geschenk von Gnaden der Fülle
und Einheit der Person, die philosophiert, oder es ist ein künst-
liches Gemachte des willkürlichen Verstandes. Auf ein »System«
der letzteren Art wird ,der Verfasser auch weiterhin verzichten.
Aber es wäre die Schuld des Lesers, nicht wahrzunehmen, was
die hier veröffentlichten Abhandlungen dazu beitragen, den ein-
heitlichen systematischen Gedankenkomplex des Verfassers, nach
einigen Punkten hin, zu enthüllen.
Köln, 17. Oktober 1920
Max Scheler
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Reue und Wiedergeburt
In den Regungen des Gewissens^ in seinen Warnungen,
Beratungen und Verurteilungen nimmt das geistige Auge
des Glaubens von jeher die Umrißlinien eines unsichtbaren,
unendlichen Richters wahr. Diese Regungen scheinen wie
eine wort freie, natürliche Sprache, die Gott mit der Seele
redet, und deren Weisungen das Heil dieser individuellen
Seele und der Welt betreffen. Es ist eine Frage, die hier
nicht entschieden sei : ob es überhaupt möglich ist, die be-
sondere Einheit und den Sinn der sogenannten » Gewissens * -
regungen von dieser Deutung als einer geheimen > Stimme«
und Zeichensprache Gottes so abzulösen, daß die Einheit
dessen, was wir ^Gewissen* nennen, überhaupt noch fort-
bestände. Ich bezweifle es und glaube vielmehr, daß ohne
die Mitgewährung eines heiligen Richters in ihnen diese
Regungen selbst in eine Mannigfaltigkeit von Vorgängen
(Gefühlen, Bildern, Urteilen) zerfielen und daß für ihre Ein-
heitsfassung überhaupt kein Grund mehr vorläge. Auch
scheint es mir keines eigentlichen deutenden Aktes zu
bedürfen, um der seelischen Materie dieser Regungen die
Funktion erst zu verleihen, dadurch sie einen solchen Rich-
ter präsentieren. Sie selbst üben von sich her diese Gott prä-
sentierende Funktion aus, und es bedarf umgekehrt eines
Augenschließens undWegsehens, um diese Funktion nicht
in ihnen selbst mitzuerleben. Wie sich Farben- und Ton-
erscheinungen, anders als Schmerz und Wollust, nicht als
bloße Empfindungszustände unsers Leibes geben (die ein-
-;
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6 Reue und Wiedergeburt.
fach das sind, was sie sind), sondern von Hause aus sich
geben als gegenständliche Phänomene, die ohne ihre Funk-
tion, uns mit ihrem eignen Gehalt zugleich Kundschaft von
den Gegenständen einer wirklichen Welt zu bringen, gar
nicht »empfunden« sein können — so wohnt auch diesen
Regungen von Hause aus die Sinnbezüglichkeit auf eine
unsichtbare Ordnung inne und auf ein geistig-persönliches
Subjekt, das dieser Ordnung vorsteht. Und so wenig uns
von der ausgedehnten Roterscheinung der roten Kugel
auf deren Existenz ein »Kausalschluß« führt, so wenig
auch von diesen Regungen ein »Kausalschluß« auf Gott.
Aber in beiden Fällen präsentiert sich etwas im Er-
geben, was dem präsentierenden Material transzendent ist,
aber gleichwohl in ihm miterfaßt wird. —
Von diesen Regungen des Gewissens ist die Reue die-
jenige, die sich wesentlich richtend verhält und auf die
Vergangenheit unsers Lebens sich bezieht.
Ihr Wesen, ihr Sinn, ihr Zusammenhang mit unserm
ganzen Leben und seinem Ziele, ist von der ddsordre du
coeur der Gegenwart so abgründig, so tief und so häufig
verkannt worden, daß es nötig ist, durch eine Kritik der,
meist überaus billigen und oberflächlichen, modernen
Theorien über ihren Ursprung, Sinn uud Wert freien und
festen Boden für ihre positive Wesensbestimmung zu ge-
winnen. —
Fast ausschließlich pflegt die moderne Philosophie in
der Reue einen nur negativen und gleichsam höchst un-
ökonomischen, ja überflüssigen Akt zu sehn — eine Dis-
harmonie der Seele, die man auf Täuschungen verschie-
denster Art, auf Gedankenlosigkeit oder auf Krankheit
zurückführt.
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Reue und Wiedergeburt. 7
Wenn der medizinische Laie an einem Körper Aus-
schläge, Eiterbildungen, Beulenbildungen oder die mit
Wundheilungen verknüpften wenig anziehenden Umfor-
mungen von Haut und Gewebe wahrnimmt, so vermag
er zumeist nichts mehr als Symptome von Erkrankungen
darin zu sehn. Erst der pathologische Anatom kann ihm
im einzelnen zeigen, daß diese Erscheinungqj gleichzeitig
höchst kunstvolle und verwickelte Wege sind, in denen sich
der Organismus von gewissen Giften befreit, um sich au!
diese Weise selbst zu heilen; ja daß durch sie häufig Schä-
digungen schon vorher gesteuert werde, die der Organis-
mus ohne ihr Auftreten erlitte. Schon das einfache Zittern
ist nicht nur ein Symptom des Frierens, sondern auch ein
Mittel, uns warm zu machen. Unsre Natur enthält eigen-
artige Stufen ihres Seins, die nicht, wie flache Monismen
wollen, auf eine einzige zurückzuführen sind: Geist, Seele,
Leib, Körper. Aber gleichwohl finden sich auf den drei
ersten Stufen Gesetzmäßigkeiten, die eine tiefe Analogie
untereinander aufweisen. Auch die Reue hat neben, ja
infolge ihrer negativen, verwerfenden Funktion eine posi-
tive, befreiende, aufbauende. Nur dem oberflächlichen
Blicke erscheint Reue als bloßes Sympton irgendwelcher
innem Disharmonie unsrer Seele oder gar als unnützer Bal-
last, der uns mehr lähmt als fördert. Man sagt: Fixiert uns
nicht die *Reue an eine Vergangenheit, die doch fertig ist
und imabänderlich, und deren Inhalt — wie die Deter-
ministen hervorheben — doch eben so sich abspielte, wie
sie sich bei voller Gegebenheit aller Ursachen unsers be-
reuten Verhaltens abspielen mußte. »Nicht bereuen, son-
dern besser machen«, ruft uns daher ein joviales Bürger-
wort jnit dem Lächeln gutmütiger, wohlwollender Ent
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8 Reue und Wiedergeburt*
rüstung nu Nicht nur ein > unnützer Ballast* soll nach
diesem Urteil die Reue sein; ihr Erleben beruhe auch
noch auf einer Art eigentümlicher Selbsttäuschung. Diese
^1 bestehe nicht nur darin, daß wir, gleichsam uns stemmend
gegen vergangenes Wirkliches, den absurden Versuch
machen^ dieses Wirkliche aus der Welt herauszuwerfen und
die Richtung des Zeitflusses umzukehreUj in der unser
Leben fortfließt; sie bestehe auch darin, daß wir das Ich,
das die Tat bereut, heimlich mit dem Ich gleichsetzen, das
die Tat vollbrachte, während doch das Ich durch die see-
lischen Vorgänge seit der Tat, ja durch die Tat selbst
und ihre Nachwirkungen, ein bei aller Selbigkeit des Ich
inhaltlich andres geworden sei. Weil wir jetzt die Tat
unterlassen zu können meinen^ bilden wir uns — sagt
man -^ die Möglichkeit ein, sie auch damals unterlassen
haben zu können, als wir sie taten. Ja noch mehr, meinen
andre, wir verwechseln im Reueakt das Erinnerungsbild
der Tat mit der Tat selbst. Der Schmerz, das Leiden,
die Trauer, welche die Reue einschließt, sie haften ja an
diesem Bilde; sie haften nicht an der Tat, die so still und
stumm, — und nur beredt für den Verstand in ihren Wir-
kungen, von denen auch dieses Bild noch eine Wirkung
ist — hinter uns liegt. Aber indem wir nun dieses gegen-
wärtige Bild der Erinnerung an die Zeitstelle und an die
Stelle der Tat überhaupt zurückverlegen , scheint uns die
Tat selbst mit jenem Charakter umkleidet, der nur eine
Gefühlsreaktion auf dieses ihr gegenwärtiges Bildwirken
list, — In solch *psychologistischer< Weise hat zum Beispiel
^ ' auch Nietzsche die Reue als eine Art innerer Täuschung
zu erklären gesucht. Der bereuende Verbrecher, meint er,
könne das > Bild seiner Tat * nicht ertragen, und er ^ ver-
4
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Reue und Wiedergeburt. 9
leumde * seine Tat selbst durch dieses ^ Bild * . Die Reue
läßt Nietzsche, wie das * schlechte Gewissen < überhaupt^
dadurch entstanden sein, daß durch Staat, Zivilisation,
Recht einst eingedämmte^ früher gegen Mitmenschen frei
ausgewirkte^ Begierden des Hasses, der Rache j der Grau-
samkeit und des Wehtuns aller Art sich nun gegen den
Lebensstoff ihres Trägers selbst zurückwenden und an
ihm sich befriedigen. »In friedlichen Zeiten fällt der kriege-
rische Mensch über sich selber her. * Etwas weniger »wild*
als diese Hypothese ist die Vorstellung, die Reue sei etwas
wie Rache an sich selber^ respektive Selbstvergeltung, eine
bloße Fortbildung einer Art von Selbstbestrafung, die in
ihrer primitivsten Form nicht notwendig nur als *böse<
Gewertetes treffen muß, die auch in Ausdrücken wie » Ich
könnte mir die Haare ausraufen, daß ich dies getan habe«,
» ich könnte mich ohrfeigen « stattfindet^ wenn der Erfolg
zeigt, daß man gegen seinen Vorteil gehandelt oder sonst
etwas »falsch« gemacht hat Wird der Rachetrieb eines
Geschädigten B gegen den Schädiger A durch Sympathie
eines Dritten C mit dem Geschädigten (später durch Über-
nahme dieser Rolle des Dritten C durch Staat und Obrig-
keit) also durch einen gleichsam entindividualisierten Ver-
gekungstrieb abgelöst, so ließe sich denken^ daß solcher
bei allem »Unrecht« einsetzende Vergeltungsimpuls sich
dieses eben gekennzeichneten Selbstbestrafungstriebes be-
mächtigtej daß also auch dann Vergeltung gefordert wird,
wenn man selber der Verüber der Untat oder des Unrechts
istj w^elche Vergeltung fordern. Man bemerkt, daß man
in dieser Theorie den Willen zu Genugttmng und Buße
als früher ansieht wie die eigentliche Reue, und in ihm
nicht so sehr eine Folge der Reue erblickt als t^lmehr
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5
/x
I o Reue und Wiedergeburt.
*ihre Ursache. Reue wäre hiernach ein verinnerlichter
Bußwille. — Endlich erwähne ich noch drei vielbeliebte
»moderne Ideen« über die Reue: die Furchtdieorie, die
»Kater «-Theorie und jene Auffassung der Reue als einer
seelischen Krankheit, die von pathologischer Selbst-
anklage, Selbstverletzung und von Erscheinungen wie
»wollüstigem Herumwühlen in den eignen Sünden«,
kurz von irgendeiner Art von geistiger Leidenssucht
nur dem Grade, nicht aber dem Wesen nach, verschieden
sei.
ii ! Die Furchttheorie ist wohl die in der Theologie, Philo-
sophie und Psychologie der Neuzeit verbreitetste Vor-
stellung. Hiemach ist die Reue » Nichts als « (solche » Nichts-
ais «-Form haben ja die meisten »modernen« Theorien)
»eine Art Wunsch, man möchte etwas nicht getan haben«,
welcher Wunsch in einer gleichsam objektios gewordenen
Furcht vor irgendeiner möglichen Bestrafung fundiert ist.
Also ohne ein vorhergehendes Strafsystem auch keine
Reue ! Nur das Fehlen einer bestimmten Vorstellung von
dem Strafübel, dem Strafenden, der Strafprozedur, der
Strafart, von dem Orte und der Zeit des Strafaktes macht
hiemach den Unterschied des in der Reue liegenden
Angstgefühls von der gewöhnlichen Furcht vor Strafe
aus. Die Reue wäre hiemach genetisch ein Nachklang
früherer Bestrafungserfahmngen, aber so, daß die Mittel-
glieder der Assoziationskette zwischen Handlungsbild und
erfahrenem Strafiibel ausgefallen sind; vielleicht ist sie,
wie der Darwinist noch gem hinzusetzt, eine dem Indi-
viduum schon angeerbte, feste Assoziationsbahn zwischen
den beiden Dingen. Reue wäre hiemach die, zu einer Art
Konstitution gewordene Feigheit, die Folgen seiner
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Reue and Wiedergeburt I i
Handlungen auf sich zu nehmen, und zugleich eine
gattungsnützliche Schwäche der Erinnerung.
Sie wäre nicht ein Hinweis auf einen götdichen Rich-
ter. Sie wäre vielmehr die verinnerlichte Polizei von
gestern.
Der andern Auffassung der Reue, der »Katertheorie«,
begegnet man in der Philosophie etwas seltner, um so
häufiger im praktischen Leben. Die Reue, meint man, sei
in primitivster Form ein Depressionszqstand, der durch
das Nachlassen der die Handlung begleitenden Spann-
kräfte und durch die eventuellen schädlichen und unlust-
vollen Nachwirkungen der Handlung einzutreten pflegt.
Reue sei von Hause aus also eine Art »moralischer
Kater«, der freilich nachträglich durch das Urteil eine
»höhere« Ausdeutung finde. Insbesonders Exzesse in der
Befriedigung sinnlicher Triebe (im Essen, Trinken, Ge-
schlechtsverkehr, Wohlleben usw.) und ihre depressiven
Nachwirkungen bildeten hiemach die Grundlage für eine
traurige Gemütslage, in der wir nachträglich diese Exzesse
verwerfen; »Omneanimal post coitum triste« und »junge
Huren, alte Betschwestern« . Die, zweifellos richtige, Beob-
achtung, daß auch außerhalb dieser Sphäre des Gesund-
heitsschädlichen andere Mißerfolge zur Reue disponieren,
bildet eine weitere scheinbare Stütze für diese Auffassung.
Für alle diese angeführten Ansichten ist natüriich die
Reue ein ebenso sinnloses wie zweckloses Verhalten. Be-
sonders das Prädikat »zwecklos« ist das beliebteste, mit
dem sie von der Menge heutiger Menschen abgetan wird.
Feiner Gebildete setzen noch hinzu, daß Reue nicht nur
zwecklos sei, sondern »schädlich«, da sie nur tat- und
lebenshemmend wirken könne und ähnlich wie die pure
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I 2
Reue und Wiedergeburt,
Vergeltungsstrafe eine Unlust einschließe, die sich keines-
wegs durch ihre Leistungskraft, die Lustsumme des ganzen
Lebens zu vergrößern j legitimieren könne. Denn wenn
Reue auch zuweilen zu guten Vorsätzen und zur Besse-
rung anrege, so sei sie doch hierzu nicht notu^endig und
könne im Laufe dieses Prozesses sehr wohl übersprungen
werden. Und was solle gar eine Reue am Ende des Lebens,
kurz vor dem Tode, wo sie doch mit besondrer Kraft ein-
zusetzen pflege, ^wenn ihr doch nichts als zuweilen diese
bessernde Bedeutung zukomme? Viel eher als bessernd
aber wirke sie auch schon während des Lebens lebens-
hemmend, indem sie uns an eine unabänderliche Ver-
gangenheit festkette.
Alle diese Erklärungen und Anklagen der Reue, von
Spinoza über Kant bis auf Nietzsche beruhn auf schweren
Irrtümern. Die Reue ist weder ein seelischer Ballast noch
eine Selbsttäuschung^ sie ist weder ein bloßes Symptom
seelischer Disharmonie noch ein absurder Stoß, den unsre
Seele gegen das Vergangene und Unabänderliche ausfuhrt.
Im Gegenteil ist die Reue, schon rein moralisch gesehn^
eine Form der Selbstheilung der Seele, ja der einzige
Weg zur Wiedergewinnung ihrer verlorenen Kräfte. Und
religiös ist sie noch weit mehr: der natürliche Akt, den
Gott der Seele verlieh, um zu Ihm zurückzukehren, wenn
sich die Seele von Ihm entfernte.
Eine der Hauptursachen des Verkennens des Wesens
der Reue (und eine, die allen den genannten * Erklärungen«
zugrundeliegt) ist eine falsche Vorstellung über den Innern
Strukturzusammenhang unsers geistigen Lebens. Man
kann die Reue gar nicht voll verstehn, ohne sie in eine
tiefere Gesamtanschauung der Eigentümlichkeit unsers
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Eeti€ und Wiederig^eburt. j \
Lebensabflusses im Verhältnis zu unsrer feststehenden
Person hineinzustellen. Das tritt sogleich herv^or, wenn
man den Sinn des Arguments untersucht, daß Reue der
sinnlose Versuch sei, ein Vergangenes ungeschehen zu
machen. Wäre unser persönliches Dasein eine Art Strom,
der in derselben objektiven Zeit, in der sich die Natur-
ereignisse abspielen, gleich diesem Strome, wenn auch
mit anderm Inhalt, dahinrauscht, so möchte dieser Rede
Berechtigung zukommen. Kein Teil dieses Stromes der
»nachher« ist, könnte dann auf einen Teil, der »vorher«
istj sich zurückbeugen oder an ihm irgendeine Änderung
bewirken. Aber im Gegensatz zu diesem Abfluß der Ver-
änderungen und Bewegungen dei* toten Natur — deren
*2eit« ein einförmiges Kontinuum einer Dimension von
einer bestimmten Richtung ist ohne die Dreiteilung von
Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft — sind uns im Er-
lebnis eines jeden unsrer unteilbaren, zeitlichen Lebens-
niomente Struktur und Idee des Ganzen unsers Lebens
und unsrer Person mitgegenwärtig. Jeder einzelne dieser
Lebensmomente j der einem unteilbaren Punkt der objek-
tiven Zeit entspricht^ hat in sich seine drei Erstreckungen
der erlebten Gegenwart^ der erlebten Vergangenheit und
Zukunft, deren Gegebenheit sich in Wahrnehmung, un-
mittelbarer Erinnerung und unmittelbarer Erwartung kon-
stituiert. Vermöge dieser wunderbaren Tatsache ist zwar
nicht die Wirklich keitj wohl aber der Sinn und der Wert
des Ganzen unsers Lebens in einem jeden Zeitpunkt un*
sers Lebens noch in unsrer freien Machtsphäre. Nicht
nur über unsre Zukunft verfügen mr; es gibt auch keinen
Teil unsers vergangenen Lebens, der — ohne daß freilich
die in ihm beschlossene Komponente von bloßer Natur-
Digitized by
Google
1 4 Reue und Wiedergeburt.
Wirklichkeit ebenso frei zu verändern stünde wie jene der
Zukunft — nicht in seinem Sinn- und Wertgehalt noch
wahrhaft abänderlich wäre, indem er als Teilsinn zu einer
(immer möglichen) neuartigen Einreihung in den Gesamt-
sinn unsers Lebens gebracht wird. Denken wir uns unsre
Erlebnisse bis zu einem bestinuxjten Zeitpunkt als die Teile
einer Linie V — Z, welche ein Stück der objektiven Zeit
darstelle. Dann steht es nicht so, wie in der toten Natur,
R
V-
a b c d e f g
daß b durch a, c durch b, d durch c usw. jeweilig ein-
deutig determiniert wären. Es ist g, das letzte Erlebnis,
vielmehr prinzipiell durch die ganze Reihe R determiniert,
und es vermag im besonderen jedes der Erlebnisse a b
c d e auf g und auf jedes der noch folgenden Erlebnisse
wieder * wirksam« zu werden. Das zurückliegende Erleb-
nis vermag solches, ohne daß es selbst, oder ein soge-
nanntes »Bild« von ihm zuerst als Teilgebilde in den
vor f unmittelbar vorhergehenden Zustand g eingehen
müßte. Da nun aber die Vollwirksamkeit eines Erleb-
nisses im Lebenszusammenhang zu seinem vollen Sinn
und seinem endgültigen Wert mitgehört, so ist auch
jedes Erlebnis unsrer Vergangenheit noch wertunfertig
und sinnunbestimmt, so lange es nicht alle seine ihm
möglichen Wirksamkeiten geleistet hat. Erst im Ganzen
des Lebenszusammenhanges gesehn, erst wenn wir ge-
storben sind (bei Annahme eines Fortlebens aber nie-
mals) wird so ^in Erlebnis zu jener sinnfertigen, »unver-
änderlichen« Tatsache, wie es die in der Zeit zurück-
liegenden Naturereignisse von Hause aus sind. Vor un-
serm Lebensende ist alle Vergangenheit, wenigstens ihrem
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Reue und Wiedergeburt. I c
Sinngehalte nach, immer nur das Problem: was wir mit
ihr anfangen sollen. Denn schon, indem ein Teil jdes
objektiven Zeitinhalts zu unsrer Vergangenheit wird, d. h.
indem er in diese Erstreckungskategorie des Erlebens
eingeht, wird er jener Fatalität und Fertigkeit beraubt,
welche abgeflossene Naturvorgänge besitzen. Als Ver-
gangenheit wird dieser Zeitinhalt »unser«, wird er unter-
geordnet der Macht der Person. Maß und Art der Wirk-
samkeit jedes Teiles unsrer »Vergangenheit« auf den
Sinn unsers Lebens stehn also zu jedem Zeitpunkt unseres
Lebens noch in unsrer Macht. Dieser Satz gilt für jede
»Tatsache« vom Wesen des »historischen Tatbestandes«,
sei es des Einzellebens, sei es des Lebens der Gattung oder
der Weltgeschichte. Der » historische Tatbestand « ist
unfertig und gleichsam erlösbar. Gewiß ist alles, was
am Tode Caesars den Ereignissen der Natur angehört,
so sehr fertig und invariabel wie die Sonnenfinsternis, die
Thaies vorhersagte. Aber das, was davon »historischer
Tatbestand« ist, also das, was Sinn und Wirkungseinheit
im Sinngeflechte der menschlichen Geschichte an ihm ist,
das ist ein unfertiges und erst am Ende der Welt-
geschichte fertiges Sein.
Unsre Natur hat nun aber wunderbare Kräfte in sich,
um sich der fernem Wirksamkeit eines oder des andern
Gliedes der Erlebnisreihe unsrer Vergangenheit zu ent-
binden. Schon diese Funktion unsers Geistes, die man
gemeinhin fälschlich für einen Faktor hält, der Vergangen-
heit erst zur Wirksamkeit in unserm Leben bringe, die
klare, gegenständliche Erinnerung des betreffenden Er-
eignisses ist eine dieser Kräfte. Denn eben das, was auf
Gund des oben auseinandergesetzten Prinzips psychischer
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1 6 Reue und Wiedergeburt.
Wirksamkeit geheimnisvoll in uns fortlebt und fortwirkt,
eben das wird durch die Distanziierung, durch die Ver-
gegenständlichung, durch die feste Lokalisierung und
Datierung, die der kühle Erkenntnisstrahl vornimmt, in
dem Lebensnerv getroffen, der die Kraftquelle des Er-
innerungsaktes ist für seine Wirksamkeit. Vermöchte der
fallende Stein an einer bestimmten Phase seines Falls
sich der vorhergehenden Phase zu erinnern — die ihn
jetzt nur determiniert, die folgende Phase nach einem be-
stehenden Gesetze zu durchfallen — das Fallgesetz wäre
sofort aufgehoben. Denn Erinnerung ist schon der An-
fang der Freiheit von der dunkeln Gewalt des erinner-
ten Seins und Geschehens. Erinnertwerden — das ist
eben die Art, wie Erlebnisse von unserm Lebenskem
Abschied zu nehmen pflegen; es ist die Art, wie sie sidi
aus dem Zentrum des Ich, dessen Gesamthaltung zur
Welt sie vorher mitbedingten, entfernen, und in der sie
ihre bloße Stoßwirksamkeit einbüßen; es ist die Art,
wie sie für uns ersterben. So wenig ist Erinnerung also
ein Glied im sogenannten »Flusse einer psychischen
Kausalität«, daß sie vielmehr diesen Fluß unterbricht
und Teile seiner zum Stehn bringt. So wenig vermittelt
sie die Wirksamkeit unseres früheren Lebens auf unsre
Gegenwart, daß sie vielmehr aus der Fatalität dieser Wirk-
samkeit uns erlöst. Die gewußte Geschichte macht uns
frei von der Macht der gelebten Geschichte. Auch die
Geschichtswissenschaft ist gegenüber der durch die Kräfte
der sogenannten Tradition zusammengehaltenen Folge-
einheit menschlich-geistiger Gruppenvorgänge an erster
Stelle die Befreierin von der historischen Determination.
In diesen allgemeinen Gedankenzusammenhang ist auch
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Reue und Wiedergeburt. I 7
das Phänomen der Reue einzuordnen. Bereuen heißt zu- | *^
nächst im Hinbeugen auf ein Stück Vergangenheit unseres
Lebens einen neuen Glied-Sinn und einen neuen Glied-
Wert diesem Stück aufprägen. Man sagt uns, Reue sei
ein sinnloser Stoß, den wir gegen ein »Unabänderliches« *
führen. Aber nichts in unserm Leben ist in dem Sinne
»unabänderlich«, wie es dieses Argument meint. Alles ist
erlösbar, soweit es Sinn- und Wert- und Wirkungseinheit
ist. Eben dieser »sinnlose« Stoß ändert das »Unabänder-
liche« und stellt den bereuten Unwertverhalt »daß ich
dies tat«, »daß ich so war« auf neue Weise und mit neuer
Wirkungsrichtung in die Totalität meines Lebens hinein.
Man sagt uns, Reue sei absurd, da wir keine Freiheit be-
säßen und alles so kommen mußte, wie es kam. Gewiß
hätte der keine Freiheit, der nicht bereuen könnte. Aber
bereuet doch — so werdet ihr sehn, wie ihr im Vollzug
eben dieses Aktes das werdet, was ihr zur »Bedingung«
des Sinnes dieses Aktes zuerst törichterweise errechnen
wollt: nämlich »frei« ! Ihr werdet »frei« von der fortstoßen-
den und dahinreißenden Stromkraft der Schuld und des
Bösen in dem vergangnen Leben, »frei« von dem vor der
Reue bestehenden eisernen Zusammenhang der Wirksam-
keit, der immer neue Schuld aus der alten Schuld hervor-
treibt und so den Schulddruck lawinenartig wachsen läßt.
Nicht die bereute Schuld, sondern nur die unbereute hat
auf die Zukunft des Lebens jene determinierende und
bindende Gewalt! Die Reue tötet den Lebensnerv der
Schuld, dadurch sie fortwirkt. Sie stößt Motiv und Tat,
die Tat mit ihrer Wurzel, aus dem Lebenfezentrum der
Person heraus, und sie macht damit den freien, spontanen
Beginn, den jungfräulichen Anfang einer neuen< Lebens-
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1 8 Rene und Wiedergebort,
reihe möglich, die nun aus dem Zentrum der eben ver-'
möge des Reueaktus nicht länger mehr gebundenen Per-,
sönlichkeit hervorzubrechen vermag. Also wirket Reue
sittiiche Verjüngung. Junge, noch schiildfreie Kräfte schla-
fen in jeder Seele. Aber sie sind gehemmt, ja wie erstickt
durch das Gestrüppe des Schulddruckes, der sich während
des Lebens in ihr angesammelt und verdichtet hat. Reißet
aber das Gestrüpp aus, und jene Kräfte werden von selbst
emporsteigen. Je mehr ihr im Lebensstrom »fortschritt-
lich« dahinfliegt — Prometheus nur und niemals Epime-
theus — desto abhängiger und gebundener seid ihr von
diesem Schulddruck einer Vergangenheit. Ihr flieht nur
eure Schuld, indem ihr die Krone des Lebens zu erstür-
men meint. Euer Sturm ist eine geheime Flucht. Je mehr
ihr die Augen schließt vor dem, was ihr zu bereuen hät-
tet, desto unlösbarer sind die Ketten, die eure Füße im
Fortgehn belasten. Aber auch der gemeine Indeterminist
irrt, wo er von der Reue redet. Jene neue Freiheit, die
gerade erst im Akte der Reue verwirklicht wird, will
er ihr fälschlich als Bedingung setzen. Die jovialen Herren
gar sagen: Nicht bereuen, sondern gute Vorsätze fassen
und Zukünftiges besser machen! Aber dieses sagen die
jovialen Herren nicht, woher die Kraft zum Setzen der guten
Vorsätze und noch mehr die Kraft zu ihrer Ausführung kom-
men soll, wenn nicht die Befreiung und die neue Sich-
selbstbemächtigung der Person durch die Reue gegenüber
der Determinationskraft ihrer Vergangerfheit vorher erfolgt
ist. Gute Vorsätze ohne ein mit dem Akt des Vorsatzes
unmittelbar verbundenes Kraftbewußtsein und Könnens-
bewußtsein ihrer Ausführung sind eben jene Vorsätze, mit
denen > der Weg zur Hölle« am einladendsten gepflastert
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Reue und Wiedergeburt. I o
ist. Dieses tiefsinnige Sprichwort bewahrheitet sich durch
das Gesetz, daß jeder gute Vorsatz, dem die Kraft zu
seiner Ausführung nicht innewohnt, nicht etwa bloß den
alten Seelenzustand der innem Qual forterhält, also über-
flüssig ist, sondern der Person in diesem Zustand einen
neuen positiven Unwert hinzufügt und den Zustand selbst
vertieft und befestigt. Der Weg zu äußerster Selbstver-
achtung geht fast immer durch unausgeführte gute Vor-
sätze, denen keine rechte Reue vorherging. Nach dem
nichtausgeflihrten guten Vorsatz ist die Seele nicht auf
ihrem alten Niveau. Sondern sie findet sich weit tiefer
hinabgestürzt als vorher. Das also ist hier der paradoxe
Tatbestand: Wäre es selbst wahr, daß der einzige Wert
der Reue in ihrer möglichen verbessernden Wirkung auf
zukünftiges Wollen und Handeln liegt, so müßte der im-
manente Sinn des Aktes der Reue dennoch einzig imd
allein nur das vergangene Schlechte und dies ohne jede
hinschielende Intention auf die Zukunft und das Besser-
machen treffen müssen. Aber auch diese Voraussetzung
ist irrig.
Ähnlich steht es mit dem Einwand, es treffe der Akt
der Reue ja gar nicht Tat und Verhalten während der Tat,
sondern nur das »Bild« der Erinnerung, das selbst nicht un-
beeinflußt durch die Tat und ihre ferneren Wirkungen ent-
standen sei. Solcher Rede liegt zunächst eine völlig falsche
Auflassung der Erinnerung zugrunde. Erinnerung besteht
nicht darin, daß in unserm Gegenwartsbewußtsein sich
ein »Bild« vorfindet, welches erst sekundär durch Urteile
auf ein Vergangenes bezogen würde. Im ursprünglichen Er-
innern liegt vielmehr ein Haben des in der phänomenalen
Vergangenheit erscheinenden Tatbestandes selbst, ein
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20 Reue und Wiedei^geburt
Leben und Verweilen in ihm , nicht ein Haben eines gegen-
wärtigen »Bildes«, das erst durch ein Urteil in die Ver-
gangenheit zurückgeworfen oder dort »angenommen«
werden müßte. Soweit sich aber sogenannte Gedächtnis-
bilder während des Erinnems finden, sind ihre bildhaften
Elemente durch die Erinnerungsintention, durch ihr
Ziel und ihre Richtung bereits mitbedingt. Die Bilder fol-
gen dieser Intention und wechseln mit ihrem Wechsel,
nicht aber folgt die Intention zufällig oder mechanisch
nach Assoziationsregeln folgenden Bildern. Das konkrete
Zentrum unsrer sich in den Zeitablauf hinein erstreckenden
geistigen Akte, das wir die Persönlichkeit nennen, ver-
mag von Hause aus — de jure — jeden Teil unseres ab-
gelaufenen Lebens anzuschaun, seinen Sinn und Wert-
gehalt zu erfassen. Nur die Faktoren, welche die Auswahl
aus diesem, dem Erinnerungsakte prinzipiell zugänglichen
Lebensbereich leiten und bestimmen, sind von gegenwär-
tigen Leibzuständen, femer den von ihnen abhängigen re-
produzierenden Ursachen und den assoziatiativen Gesetzen
dieser Reproduktion, abhängig. Und darum ist auch die
Reue als Akt ein wahres Eindringen in die Vergangen-
heitssphäre unsers Lebens und ein wahrer operativer Ein-
griff in sie. Sie löscht den moralischen Unwert, den Wert-
charakter »Böse« des betreffenden Verhaltens wahrhaft
aus, sie hebt den von diesen Bösen ihm nach allen Richtungen
ausstrahlenden Schulddruck wahrhaft auf und sie nimmt
ihm damit jene Kraft der Fortzeugung,durch die Böses immer
neues Böses gebären muß. Das Licht der Reuebereit-
schaft leuchtet — nach dem Gesetze, nach dem die Wert-
bestimmtheiten unsers Lebens vor allen übrigen bedeu-
tungsmäßigen Wasbestimmtheiten der Erinnerung ge-
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Keue und Wiedeigebort 2 1
geben zu sein pflegen, in unsre Vergangenheit erst sogar
so hinein, daß wir uns durch ihr Licht erst vieler Dinge
bildhaft zu erinnern vermögen, deren wir uns ohne sie
nicht erinnerten. Reue bricht jene Schwelle des Stolzes,
die aus unsrer Vergangenheit nur das aufsteigen läßt,
was diesem Stolz Befriedigung gewährt und ihn recht-
fertigt. Sie hebt die natürliche Verdrängungskraft des
»natürlichen« Stolzes auf. Sie wird so ein Vehikel der
Wahrhaftigkeit gegen uns selbst.
An diesem Punkte wird auch genau sichtbar der be-
sondere Zusammenhang, den Reuebereitschaft zu dem
System der Tugenden in der Seele besitzt. Wie ohne
sie Wahrhaftigkeit- gegen sich selbst nicht möglich ist,
so auch ist sie selbst nicht möglich ohne die Demut,
die dem die Seele auf ihren Ichpunkt und ihren Jetztpunkt
einschnürenden natürlichen Stolze entgegenarbeitet. Nur
wenn die Demut — als Erlebnisfolge eines stetigen Wan-
deins vor der klaren Idee jenes absolut Guten, dem wir
uns nicht genügen sehn — die Verdrä^jigungs-, Verhär-
tüngs- und Verstockungstendenzen des Stolzes auflöst
imd den im Stolze gleichsam von der Dynamik des Lebens-
flusses isolierten Ichpunkt zu diesem Flusse und der Welt
wieder in eine flüssige Beziehung setzt, nur dann ist
Reuebereitschaft möglich. Der Mensch ist verhärtet und
verstockt weit mehr aus Stolz und Hochmut denn aus der
aus seiner Konkupiszenz geborenen Furcht vor Strafe,
und er ist es um so mehr, je tiefer die Schuld in ihm sitzt
und je mehr sie gleichsam ein Teil seines Selbst gewor-
den ist. Nicht das Bekenntnis^ sondern zuerst die Selbst-
preisgabe vor sich selbst ist dem Verstockten so schwer.
Wer seine Tat voll bereut, der bekennt auch seine Tat
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2 2 Reue und Wiedergeburt.
und überwindet selbst noch die Scham, welche im letzten
Augenblick die Lippe schließen wilP.
Die Reue muß daher überall in ihrem Wesen, ihrem
Sinn und in ihrer Leistung verkannt werden, wo man sie —
gemäß jener Auffassung der Erinnerung, die den Erinne-
rungspunkt auf Reproduktion von sogenannten Gedächt-
nisbildem zurückführt, mit Zuständen Verwechselt, die sie
wohl disponieren und leichter auslösen können, die keines-
wegs aber d)^ Reue selbst ausmachen. Es ist ganz richtig,
daß die Erfolglosigkeit oder die Übeln Folgen einer » bösen «
Handlung die menschliche Schwäche leichter zur Reue
disponieren als der positive Erfolg; daß also z. B. Gesund-
heitsschädigung, Krankheit usw. als Folgen von schuld-
haften Exzessen, daß auch wohl Strafe, Tadel durch die
Außenwelt, den Reueakt häufig da erst auslösen, wo er
ohne sie vielleicht nicht ausgelöst worden wäre. Gleich-
wohl bleibt das der Reue als solcher anhaftende Leiden
von dieser ganzen Gruppe der Unlustgefiihle, welche die
reuevolle Selbsteinkehr erst auslösen, durch eine große
Kluft geschieden. Eine ganze Reihe der falschen psycho-
logischen Reueauffassungen begeht — unbesehn ihrer
andern Irrtümer — eben diesen Grundfehler, den Reueakt
selbst mit den zu ihm disponierenden Zuständen zu
verwechseln.
Aber die Eigenart der Rolle, die die Erinnerung im
Akte der Reue spielt, ist mit dem Gesagten noch nicht
erschöpft. Es gibt ?wei grundverschiedene Typen des
Erinnems, die man als statischen und dynamischen
^ Mit Recht nimmt daher die Kirchenlehre an, daß die schuldlöschende
«vollkommene« Reue die Beicht-, also Bekenntnisbereitschaft, von selber so
aus sich heraustreibe, daß, wo sie fehlte, auch die Reue nicht als »voll-
kommen« zu erachten wäre.
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Reue und Wiedergeburt 2 3
Typus bezeichnen kann, oder auch als Funktions- und
als Erscheinungserinnerung. Im Erinnern des ersten
Typus verweilen wir beim Erinnerungserleben nicht
bei irgendwelchen isolierten Inhalten, Vorkommnissen
unsrer Vergangenheit, sondern bei unserm damaligen
zentralen Verhalten zur Welt, bei unsrer damaligen
Denk-, Willens-, Liebe- und Haßrichtung; wir leben
unser gesamte^ A/^erhalten oder das Sein und Verhalten
unsrer damaligen Ich- und Personbestimmtheit nach. Wir
»versetzen« uns in unser Ich der damaligen Zeit. Ganz
scharf und klar tritt dieser Unterschied in gewissen patholo-
gischen Erscheinungen zutage. Ich sah vor einigen Jahren
in einem deutschen Irrenhaus einen 70jährigen Greis, der
auf der Entwicklungsstufe seines 18. Jahres seine gesamte
Umwelt erlebte. Das besagt nicht, dieser Mann wäre in
den besondem Inhalten versunken gewesen, die er als
18 jähriger erlebte, er hätte etwa Wohnung, Menschen,
Straßen, Städte usw. vor sich gesehn, die damals seinen
Umweltsgehalt ausmachten. Er sah, hörte, erlebte vielmehr
durchaus alles das, was gegenwärtig um ihn im Zimmer
vorging, aber er erlebte es »als« der Achtzehnjährige, der
er damals war, mit allen seinen individuellen und gene-
rellen Willensgesinnungen, Strebenseinstellungen, Hoffens-
und Furchtrichtungen in dieser Lebensphase. Die be-
sondre Art von erinnerndem Nacherleben, wie sie hier
extrem und als zuständliches System vor uns steht, macht
uns möglich, nicht nur zu wissen, was wir faktisch taten
und wie wir gegen unsre besondre Umwelt faktisch rea-
gierten, sondern auch was wir je hätten tun, je wollen
können, wie wir gegen diesen oder jenen Umstand rea-
giert hätten, wenn er uns entgegengetreten wäre. In
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24 Reae and Wiedergeburt
diesem Erinnern führt der Weg nicht von den Inhalten
unsers Lebens zum Ich, das sie erlebte, sondern von dem
erlebenden Ich^ in das wir uns versetzen, zu den beson-
dem Inhalten des Lebens.
Die in den hohem und wichtigem Typus des Reueakts
eingehende Erinnerung gehört aber der Art der Funktions-
erinnerung an. Nicht die im Erinnern erscheinende Tat der
Vergangenheit, respektive der UnwertvÄrhalt, daß wir die
Handlung vollzogen, ist hier der eigentliche Reuegegen-
stand, sondern jenes Glied-Ich in unsrer Totalperson selbst,
aus dessen Wurzeln die Tat, der Willensakt damals hervor-
floß, wird nacherlebt, wird eben in der Art des Bereuens ver-
worfen und aus der Totalität der Person gleichsam heraus
gestoßen. Nur von einem je verschieden starken Vorwiegen
des objektiven Unwertverhalts des Tat- und jenes Vergange-
nen Glied-Ichs in der reuevollen Erinnerung darf daher
auch dort die Rede sein, wo man mit einigen philoso-.
phischen Schriftstellern Seinsreue und Tatreue unterschei-
det; oder auch »Bereuen« und »reuevolle« Selbsteinkehr.
Besonders Sdiopenhauer hat wiederholt hervorgehoben,
daß die tiefste Reueeinstellung nicht durch die Formel
ausgedrückt sei: »Ach, was habe ich getan«, sondern
durch die radikalere Formel: »Ach, was bin ich für ein
Mensch«, öder sogar »was muß ich doch für ein Mensch
sein, daß ich solches tun konnte«. Er meint überdies da-
mit zu zeigen, daß grade der empirische Determinismus
erst der Reue ihr volles Gewicht verschaffe, anderseits
aber der weit tiefere und aufwühlendere Charakter jener
zweiten Reue ein Beyreis dafür ^ei, wie gleichwohl dabei
unser » in telligibler Charakter« (Schopenhauer setzt diesen
fälschlicherweise gar noch dem »angebomen Charakter«
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Reue und Wiedergeburt. 2 5
gleich) als Folge einer freien Tat betrachtet werde. Diese
Auffassung aber reißt den ganzen Sinn der Reue entzwei.
Ein Reueakt über unser personhaftes Sein überhaupt, ich
meine über seine Wesensartung, ist eine innere Unmög-
lichkeit. Wir können allenfalls darüber traurig sein, daß
wir sind, was wir sind, oder uns über dieses Sein entsetzen;
aber — selbst abgesehn davon, daß auch diese Trauer über
unser Wesen noch die Färbung dieses gleichen Wesens
tragen wird — : wir können unser Wesen nicht bereuen.
Was wir allein noch bereuen können, ohne dabei einzig
und unmittelbar auf unsere Tatenreihe hinzublicken, ist:
daß wir damals ein solches Ich waren, das jene Tat tun
konnte! Nicht die Tat, auch nicht unser Wesejis-Ich
liegen in diesem Reueakt gleichzeitig »hinter« und »unter«
uns, sondefn jene gesamte konkrete Konstitution des Ich,
aus der wir in unsrer Erinnerung die Tat — und hier
und unter Voraussetzung dieser Konstitution allerflings
»notwendig« — hervorfließen sahn. Diese eigenartige
Blickrichtung jenes tiefem, keine bloße Gesinnungs»ände-
rung« oder gar bloße gute Vorsätze, vielmehr einen wirk-
lichen Gesinnungswandel bedingenden Reueakts läßt
sich nur verstehn daraus, daß die Art und Weise unsers
Uns -selbst -Erlebens bestimmte Stufen der Sammlung
und Konzentration besitzt, deren möglicher Wechsel nicht
wieder im gleichen Sinne eindeutige Wirkung einer psy-
chischen Kausalität ist, durch welche die psychischen
Vorgänge auf jeder einzelnen dieser Stufen zweifellos
kausal bestimmt werden. Die Änderung jener Sammlimgs-
stufen der Persönlichkeit selbst, auf denen sie je lebt, ist
also gegenüber der Kaüsalgesetzmäßigkeit, welcher die
Erlebnisinhalte auf jedem dieser Sammlungsniveaus fol-
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26 Reue und Wiedergeburt
gen, eine freie Tat unsrer Gesamtperson. Und dieser
Gesamtperson gehören ja in letzter Linie alle jene wech-
selnden Ichkonstitutionen al^ erlebte Glieder an, aus
denen wir die Tat notwendig (bei weiterer Gegebenheit
dieser und jener Umstände) hervorfließen sehn. Der
tiefere Reueakt gewinnt nun eben daraus seine volle
Verständlichkeit, daß eine solche frei erwirkte Ände-
rung des Sammlungsniveaus unsrer ganzen innem
Existenz seine Begleiterscheinung ist. Wie notwendig
auch uns also die Tat auf dem Niveau unsrer damaligen
Existenz erscheint, ywie streng historisch sie bis in alle
ihre Einzelheiten hinein — wenn wir dieses Niveau ein-
mal setzen wollen — »verständlich« ist: es war doch
nicht gleich notwendig, daß wir lins auf diesem Niveau
befanden. Wir hätten auch dieses Niveau ändern können.
Wir »konnten« insofern auch anders sein, nicht nur konn-
ten Vir anders wollen und handeln. Darum ist auch
dieses »Andersgekonnthaben« keine ^ bloße falsche, auf
Täuschung beruhende, Rückwärtsverlegung der ganz
anderen Tatsache, daß wir etwa jetzt anders können
oder zu können meinen* Vielmehr zeigt uns der Reue-
akt dieses »Können«, diese zentralste Willensmacht,
noch als einen Erlebnisbestandteil im ganzen und frü-
hern Erlebnisbestande selbst. Die Art aber, wie sich der
gegenwärtige Akt der Erkenntnis des Bösen in unsrer
damaligen Ichkonstitution, wie sich femer das jetzige Sehn
des Besserseins und des Bessern, das wir doch auch da-
mals hätten sein, respektive tun können, mit dem gegen-
wärtigen Könnenserlebnis des Besserhandelns durchdringt,
ist eine ganz eigenartige. Man könnte zunächst meinen, daß
nicht erst der Reueakt die Niveauänderung, die Erhöhung
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Reue und Wiedergeburt. 2 7
unseres Selbst bewirke, daß dieser Akt vielmehr nur
Zeichen und Folge davon sei, daß wir jetzt über unserem
damaligen Ich und seiner Tat stehn. Danach könnten wir"
nur bereuen, weil wir jetzt freier und besser geworden
sind. Ja, erst am jetzt erlebten »Können« des Bessern
gemessen, fiele dann auf unsem frühem Zustand und seine
Tat der Schatten schuldhafter Unfreiheit, in dem wir sie
jetzt tief unter uns liegen sehn. Aber auf solch einfaches,
rationales Entweder-Oder läßt sich die Sache nicht brin-
gen. Dies vielmehr ist das Eigentümliche des Reueakts,
daß im selben Akte, der schmerzvoll verwirft, auch die
Schlechtigkeit unseres Ich und unserer Tat uns erst voll
zur Einsicht kommt; und daß im selben Akte, der nur
von dem »freiem« Standort des neuen Lebensniveaus aus
rational verständlich scheint, dieser freiere Standort selbst
erklommen wird. So ist der Reueaktus in gewissem Sinne
firüher als sein Ausgangspunkt und als sein Zielpunkt,
früher als sein Terminus a quo, und sein Terminus ad
quem. Erst im Reueakt geht uns darum die volle evidente
Erkenntnis jenes Gekonnthabens eines Bessern auf. Aber
diese Erkenntnis schafft nichts ; sie ist Erkenntnis, Durch-
dringung der damaligen Benebelung durch die Triebe. Sic
schafft nicht, sie zeigt nur an. Dieses Geheimnisvollste des
lebendigen tiefem Reueakts — daß in ihm, nämlich im
Laufe seiner kontinuierlichen Dynamik, eine ganze höhere,
idealische Existenz als eine für uns mögliche erblickt wird:
eine in der Sammlung fundierte mögliche Steigerung der
Niveauhöhe des geistigen Daseins; daß wir nun den gan-
zen alten Ich-Zustand tief unter uns erblicken: dieses hat
auch innerhalb der theologischen Konstruktionen zu man-
cher Schwierigkeit Anlaß gegeben. Insbesondre liegt diese
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2 8 Reue und Wiedergeburt.
Frage auch da analogisch mit zugrunde, wo, das Verhält-
nis der göttlichen Nachlassung der Schuld zu der durch die
heiligmachende Gnade erwirkten neuen Qualität des Men-.
sehen zur Verhandlung steht. Nur die bei »vollkommener«
Reue eintretende freie Gnade kann, wie es scheint, die
religiöse Schuld wahrhaft tilgen und aufheben; nicht also
bloß bewirken, daß, wie bei Luther, Gott vor der Schuld
die Augen schließe und sie nicht »anrechne «^ während
der Mensch weiter in Sünde und Schuld verharre. Aber
anderseits scheint die Aufhebung der Schuld selbst wie-^
der eine Bedingung für den Einlaß der Gnade zu sein.
Denn die Gnade sowie der durch sie bedingte höhere
Lebensstand können nur insofern im Menschen Platz grei-
fen, als die Schuld aus ihm schon entfernt ist. Viele
Theologen, zum Beispiel Scheeben, gebrauchen hier das
glückliche Bild, daß die Schuld eben vor der in die Seele
eintretenden Gnade ähnlich zurückweiche »wie die Fin-
sternis vor dem Lichte« (Mysterien des Christentums,
S. 531). Derart scheint nun die Reue nicht mehr jene
Niveauerhöhung des sittlichen Seins schon vorauszusetzen,
die sie doch erst herbeiführen soll. Es ist also ein- und
derselbe dynamische Aktus, durch den sowohl das Auf-
klimmen des Ich auf die ihm mögliche Höhe seines idealen
Wesens erfolgt, wie das steigende Untersichsehn, die
Verwerfung und Ausstoßung des alten Ich^^
Wie wir im selben Aktus des Steigens auf einen Berg
die Spitze sich uns nähern und das Tal unter unseren
Füßen versinken sehen und beide Bilder durch diesen
Aktus bedingt erleben, so klimmt die Person in der Reue
zugleich empor und sieht die ältere Ich-Konstitution unter
sich.
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Reue und Wiedergeburt. 29
Je mehr die Reue sich von der bloßen Tatreue auf die
Seinsreue hinbewegt, um so mehr ergreift sie die er-
schaute Schuld an der Wurzel, um sie aus der Person
auszustoßen und dieser damit ihre Freiheit zum Guten
zurückzugeben. Um so mehr führt die Reue vom Schmerz
über eine einzelne Tat, zu jener vollständigen »Zerknir-
schung des Herzens«, aus der die ihr selbst einwohnende
regenerative Kraft ein »neues Herz« und einen »neuen
Menschen« auferbaut. In dem Maße ninmit die Reue auch
den Charakter der eigentlichen Bekehrungsreue an
und fuhrt schließlich von der Fassung neuer guter Vor-
sätze durch die tiefere Gesinnungsänderung zum echten
Gesinnungswandel, ja zur * Widergeburt« hin, in der die
letzte Wurzel unsrer sittlichen Akte: das geistige Per-
sonzentrum, sich selbst (unbeschadet seiner formalen und
individuellen Identität) in^ seinen letzten materiellen In-
tentionen zu verbrennen und neu aufzubauen scheint. —
Noch ist einiges über zwei der vorhin genannten skep-
tischen Thesen zu sagen: über die Furcht- und die Rache-
theorie.
Schon im werdenden Protestantismus spielt die Furcht- ^
theorie eine große Rolle. Luther und Calvin setzen das
Wesen der Kontrition selber in die » Terrores conscientiae « ,
in jene Angst vor der Hölle, die sich nach Einsicht in die
fehlende Kraft des Menschen, das Gesetz zu erfüllen, ein-
stelle. Dieser Schreck ist Luther für den seine Sündenlast
und sein notwendiges Ungenügen vor dem Gesetze Gottes
fühlenden Menschen das einzige treibende Motiv, sich durch
den Glauben an Jesu sühnendes Blut und der durch dieses
Blut bewirkten Genugtuung und Barmherzigkeit Gottes
der Rechtfertigung zu versichern. Indem Jesus mit der Fülle
eK
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30 Rcöe und Wiedergeburt.
seiner Verdienste das sündige und bis zum Tode sündig
bleibende pienschliche Herz vor den Augen Gottes gleich-
sam »zudeckt«, wird dem Sünder >die Sünde nicht ange-
rechnet«, das heißt wohl die Strafe für sie erlassen. Der
»gute Vorsatz«, sowie eine gewisse Verminderung der
Sünde werden, erst von dem schon eingetretenen Erlebnis
dieser völlig unverdienten Barmherzigkeit Gottes und dem
damit gegebenen neuen Gnadenstand erwartet. Der Vor-
satz ist also von der Reue hier völlig abgelöst. Weder eine
wahre Auslöschung der Schuldqualität — wie wir sie als
Tatbestand vorfanden — noch eine darauf folgende Hei-
ligung, die in die Seele an Stelle der Schuld eine neue
heiligende Qualität trüge, ist hiemach der Sinn der gött-
lichen »Vergebung« der Sünde. Vielmehr ist dieser ganze
Sinn allein die Nachlassung der Strafe und die — unfaß-
liche, und schon der Allwissenheit Gottes völlig wider-
strebende — Annahme des Sünders, Gott » sehe « nun nicht
mehr auf seme Sünde.
Aber auch die neue Philosophie beginnt sogleich mit
der Furchttheorie:
»Reue (gemäß Spinoza Eth. IV. 45. Satz) ist keine
Tugend und entspringt nicht aus der Vernunft; sondern
Der, welcher eine Tat bereut, ist doppelt gedrückt und
unvermögend.« »Denn wer eine Tat bereut, leidet dop-
pelt, indem er sich zuerst durch eine verwerfliche Begierde
und darnach noch durch die Unlust darüber besiegen läßt. «
Auch Spinoza leitet die Reue (diese »Unlust, begleitet
von der Idee der Tat, die wir aus freier Entschließung
des Geistes getan zu haben glauben«, wie seine ganz un-
mögliche Definition lautet) aus der Furcht ab. Nach der
Erläuterung zu dieser Definition ist die Reue eine Folge
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Reue und Wiedergeburt % I
des Tadels und der Bestrafungen durch die Umwelt, re-
spektive eine Furcht, die sich, von der Wirkung ausgehend,
mit der Idee der uns als »Unrecht« geltenden Tat ver-
bindet. > Je nach seiner Erziehung bereut also der Mensch
eine Tat oder rühmt er sich derselben.« Die Reue ist
daher für Spinoza nur eine relative Tugend, nämlich eine
Tugend nur für den Pöbel. »Der Pöbel ist furchtbar, so-
fern er nicht furchtet. « Doch sei Reue keine Tugend für
den »freien Menschen« ; dieser werde durch die Vernunft
selbst geleitet.
Was dieser Furchttheorie radikal widerspricht, das ist
vor allem die Tatsache, daß es umgekehrt gerade die
Furcht zu sein pflegt, die uns gar nicht in jene Gemüts-
lage der Sammlung gelangen läßt, worin die eigentliche
Reue erst möglich wird. Die Furcht lenkt unsre Aufmerk-
samkeit und unser Interesse nach Außen — auf die na-
hende Gefahr. Solange der Verbrecher sich verfolgt weiß,
solange wird er, als aktiver Typus, trotzig für seine Tat
einstehn, und alle Energie wird der Aufgabe zufallen, »sich
nicht erwischen zu lassen«. Als passiver Typ wiederum
wird er sich durch die Furcht niederschlagen lassen und sich
in sein Schicksal unwillig ergeben. Wenn ihn in beiden
Fällen nichts anderes hindern würde an dem Vollzug des
Aktus der Reue — die Furcht gerade würde es tun. Erst
dann vielmehr, wenn er sich außer jeder Gefahr weiß, kann
er jene »Sammlung« finden, welche die echte Heue vor-
aussetzt. Erst dann findet er jenes restlose Alleinsein
mit sich und mit seiner Tat, ohne das es keine Reue gibt.
Davon abgesehn vermögen wir unserem Bewußtsein aufs
deutlichste die nach rückwärts gerichtete Reue über eine
Tat von der gleichzeitig vorhandenen, auf die Zukunft
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2 2 Reue und Wiedergeburt
gerichteten Furcht zu unterscheiden und dabei festzu-
stellen, wie sich beide in gleichsam ganz verschiedenen
Schichten unsrer Existenz abspielen: wie die Furcht aus
dem Zentrum unsers Lebensgefühls hervorbricht und mit
Absehung von dessen Träger, dem Leibe und seinen
Erregungen, ganz aufgehoben wäre; die Reue hingegen
aus unserm geistigen Persönlichkeitszentrum fühlbar her-
vorquillt und auch mit Absehung von unserm Leibbesitz
nicht nur möglich, sondern sogar nach Aufhebung der
unser Böses uns verbergenden leiblichen Triebschranken
erst ganz vollkommen würde. Schon diese Selbsstän-
digkeit des Daseins im Gleichzeitigen von Furcht und
Reue in bezug auf denselben Wertverhalt der Tat beweist,
daß Reue keine seelische »Entwicklungsform« der Furcht
sein kann — da dann doch die Furcht schon in dem neuen
Gebilde der Reue verbraucht sein müßte, also nicht noch
neben dieser in uns existieren und uns erfüllen könnte.
Diese Sätze gelten natürlich auch dort, wo es sich um
die Furcht vor den göttlichen Strafen handelt. Bloße
Furcht vor dem Strafubel, »knechtische Furcht«, ist über-
haupt keine Reue. Sie ist auch keine attritio, welche die
Theologie von der contritio, des heißt der in Liebe zu
Gott als dem in sich selbst liebenswertem höchsten Gute
gegründeten »vollkommenen« Reue mit Recht unter-
scheidet. Ja, die attritio ist weder Furcht vor dem bloßen
Strafiibel> noch gründet sie auch nur in solcher Furcht.
Sie mag durch Furcht vor der Strafe als einer Äußerung
der göttlichen Gerechtigkeit ausgelöst werden; niemals
aber von Furcht vor dem Strafubel als bloßem Übel. Der
Reueaktus selbst ist aber auch dann gegenüber diesem
Auslösungsvorgang etwas ganz Neues, das nicht etwa
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Reue und Wiedergeburt. 33/
diese Furcht vor der Strafe selbst ist. Aber auch ausge-
löst kann sie hierbei nur werden, wenn die sogenannte
Furcht vorder (ewigen oder zeitlichen) Strafe nicht primär
auf das bloße Straf übel, sondern auf die Strafe
als einen Akt und Ausdruck der ewigen Gerechtigkeit
gerichtet ist — also immer gleichzeitig in der Ehrfurcht
und Achtung vor der diese Gerechtigkeit handhabenden
und strafsetzenden Gottheit mitfundiert ist. Ist liierbei die
attritio eine untere Stufe zur contritio, so gilt doch auch
hier, daß überall, wo die contritio einer Person möglich
,wäre, die bloße attritio auch eine Art Hemmung für den
Eintritt der contritio darstellt — dem Gesetze gemäß, daß
Furcht überhaupt die Reue mehr hemmt als entwickelt.
Nicht minder unbegreiflich ist vom Standort der Furcht-
lehre, wieso die Furcht sich nur dort in Reue verwandeln
soll, wo der persönliche Unwert oder die betreffende Hand-
lung ein sittlich und religiös Bedeutsames darstellen.
Wieso sind ein häßliches Gesicht oder irgendeine Minder-
begabtheit oder ein Organdefekt ziun Beispiel, mit denen
man tausendmal anstieß und immer wieder neu anzustoßen
furchten muß : wieso sind alle diese Unwerte niemals Gegen-
stand der Reue, sondern höchstens Gegenstände der Selbst-
qual, der Trauer, des Ekels vor sich selbst, der Rache
gegen sich? -Wieso bereuen wir niemals ein schlechtgelun-
genes Kunstwerk, eine schlechtgeratene Arbeit im gleichen
Sinne wie etwa einen Diebstahl oder eineWechselfälschung?
Außer, sofern wir die schlechte Qualität dieser Dinge wie-
der auf die sittliche Mangelhaftigkeit in der Ausübung
der zu den Werken nötigen Fertigkeiten (nicht aber auf
unsre Begabung) zurückfuhren müssen. Ist etwa die blo(5e
Unlust von Hause aus geringer, die uns aus solchen De-
3
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34 Reue und Wiedergeburt,
fekten, dazu aus Unklugkeit oder aus fehlenden Anlagen
quellen kann? und ^bt sie in minderem Maße Anlaß zu
Furcht und zu Unlust an »der Idee unser selbst, als der
Ursache unsrer Unlust«? Gewiß nicht. Trotzdem fehlt in
solchen Fällen Alles, was man Reue nennen könnte. Wenn
es also notwendig zur Reue gehört, daß der »bereute«
Unwert ein Unwert von der besondem Qualität des > Bösen «
ist — und daß dieser Unwert in dem die Reue mitfundieren-
den Fühlen dieses »Bösen« gegeben ist: warum sollte dann
dieser Unwert allein, das heißt die innere Natur des Bö-
sen selbst, nicht genügen, um seine emotionale Negation
im Akte der Reue zu bestimmen? Was sollte irgendwelche
Furcht vor den Folgen der Handlung, als der bloßen
Trägerin dieser Qualität des »Bösen«, hinzutun? Oder wie
sollten erst Nachwirkungen dieser Furcht hiuzutreteii müs-
sen, um die Reue zu ermöglichen? Die Furcht löst zu-
weilen Reue aus ; hoch öfter aber verunreinigt sie die R^ue;
das ist das Ergebnis. Furcht ist in jeder möglichen Form
— auch als objektlose, das heißt durc^i einen besonderen
Objektinhalt nichterfüllte — ein Vorfühlen, einFemfühlen
gefährdender oder lebensschädlicher Umstände »vor« der
faktischen Schädigung. Reue wendet sich notwendig
zurück. —
Etwas tiefer schon greift die Rachetheorie. Es gibt
zweifellos einen gegen uns selbst gerichteten Racheimpuls.
Wenn das Kin4 sich selbst schlägt, weil es etwas »Un-
rechtes« getan hat, wenn wir uns »die Haare ausraufen«
möchten, weil wir so und so handelten, wenn tausend For-
men von Selbstpeinigung, welche die Geschichte kennt,
nicht notwendig Bußen gegenüber der Gottheit darstellen
oder der Entleiblichungsaskese dienen, sondern an sich
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Reue und Wiedergeburt. j c
alle Zeichen einer natürlichen Rache oder Sühnehandlung
gegen das Ich tragen : dann erscheint es wohl richtig, einen
ursprünglichen Racheimpuls des Menschen auch gegen
sich selbst anzimehmen. Denn es geht kaum an, einen
solchen Impuls auf eine bloße seelische Ansteckung durch
den vorgefühlten Tadel der Umwelt zurückzuführen; oder
gar auf eine unwillkürliche Sympathie mit dem Rache-
impuls eines Andern, das heißt einen ohne oder gegen
unseren Willen eintretenden Mitvollzug dieses Rache-
impulses gegen uns, wie dies Acjam Smith in seiner fal-
schen Sympathielehre ^ tat. Der Racheimpuls ist also in
der Tat ursprünglicher als die besondere Wahl zwischen
Ich und Nichtich als seinen Gegenstand. Er vermag sich
gleich ursprünglich gegen uns selbst wie gegen andere
Personen zu wenden. Es gibt heute Schriftsteller, deren
ganzes Schaffen von innerem wilden Rachedurst gegen
sie selbst und Alles, was mit ihnen verbunden' ist, wie
gespeist scheint. Sie schlagen in ihren Satiren nur zum
Schein auf ihre Gestalten los. Sie meinen nur sich selbst.
Es ist also gar nicht nötig, mit Nietzsche solche Selbst-
rache erst als eine Folge und äußere Rückwendung der
gestauten Abfuhr des Racheimpulses gegen Andere und
anderer ähnlicher Impulse anzusehen. Der ungemessene
Racheimpuls sowie seine Vernünftige Kultur, der nach
Proportion abgemessene Vergeltungsimpuls, sind Beide
eine unmittelbare Reaktion auf gewisse Arten von ge-
schauten Unwertverhalten, die von sich aus »Sühne for-
dern « ^. Besonders der Impuls der Vergeltung erfolgt, noch
^ Siehe mein Buch über Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle.
* Vergl. meine Analyse der Sühneforderung im Buche „Formalismus in der
Ethik und die materiale Wertethik".
3*
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3 6 Reue und Wiedergebnrt.
ehe der Täter und Setzer des bemerkten Unwertverhaltens
bekannt oder vorgestellt ist; er sucht also erst danach
seinen Gegenstand; und er setzt darum auch nicht aus,
wenn sich herausstellt, man sei selbst dieser Täter. Aber
keinerlei »Vergeistigung« dieser beiden Impulse vermag
ims den Tatbestand des Reueaktes zu erklären! Wohl
scheint diese Theorie manche Züge des Aktes verständ-
lich zu machen, welche zum Beispiel der Furchthypothe "^e
ganz unzugänglich sind: so die wesensnotwendige Ver-
gangenheitsbeziehung des Reueaktes, die besondere Art
der wühlenden Schärfe des Reueschmerzes, die aus der
Reue quellende Bußgesinnung zur »Sühnung« des Un-
rechts — und anderes mehr. Aber den Kern des ganzen
Aktes läßt auch diese Hypothese ganz dunkel. Was der
Rache und der Vergeltung gegen sich selbst besonders
dazu fehlt, um der Reue auch nur im Tiefem ähnlich zu
sein, das sind: i. die Geistigkeit^ und Innerlichkeit des
Reueaktes samt dem Medium von Stille, Ruhe, Ernst,
Sammlung, in die er eingebettet ist; 2. das im Reueakt
sich Vollziehende Ansteigen auf ein höheres Lebensniveau
— und die Mitgegebenheit eines idealischen Wertbildes,
ja Heilsbildes unserer Person, das uns vorher verborgen
war und auf das wir jetzt in Liebe, in »Liebe zu unserm
Heile« bezogen sind; 3. die I^räftigung und Befreiung un-
sers sitdichen Selbst zu Vorsatzfassung und zur Gesinnungs-
änderung durch die Reue; 4. die Beschränkung auf das
Böse und auf die sittliche Schuld (die der Reue allein eignet),
wogegen Rache eine jede Art von empfundenem Selbst- .
unwert und jede Verursachung von Unwertverhalten treffen
kann. Die Rache-Einstellung gegen das Ich ist ein Zu-
^ Veigl. das über die mögliche Abstraktion vom Leibe S. 32 Gesagte.
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Reue und Wiedergeburt 1 7
Stand voll Erregung, dem jede Fundierung durch den
Hinblick auf ein positives Leitbild des Selbstseins und
Selbstwerdens fehlt. Dabei bleibt die Einstellung noch
ganz unfruchtbar.
Eines freilich soll dabei nicht bestritten werden. Daß
wir eine starke Neigung haben, — wenn nur irgend mög-
lich — alle irgendwie, auch patholo^j|sch bedingten Zu-
stände der Selbstqual oder der Unlust an uns selbst, als
der Ursache gewisser Handlungen und Zustände, mit echter
Reue zu verwechseln oder sie als Reue uns gut zu schrei-
ben. Aber solche Sdbsttäuschungen, die so häufig auch
zu Fremdtäuschungen fuhren, setzen sowohl das Phänomen
der echten Reue als auch die positive Wertschätzung
dieses Phänomens voraus. Die Menschen neigen freilich
dazu in ihre Grausamkeit gegen sich selbst, in ihre krank-
hafte Schmerzliebe, die »wollüstig im Leiden an der Sünde
wühlt« , in ihren Rachedurst gegen sich selbst, in ihre mora-
lischen Schwächezustände, in ihre geheime Furcht oder in
ihr zwangsmäßiges Grübeln über ihre Vergangenheit, in
jenen »schlechten Blick«, den sie zuweilen wie gegen Alles
so auch gegenüber sich selbst haben, das Gott wohlgefäl-
lige Bild eines reuevollen Herzens hinein zu phantasieren
und diese ihre geheimen Laster oder ihre seelischen Er-
krankungen unter dem Scheinbilde einer Tugend zu ver-
stecken. Aber dieses Schicksal der Reue (das sie mit jeder
Tugend, ja mit jedem Vorzug teilt), das Schicksal, daß
sie sich selber und andern vorgespielt werden kann,
sollte niemandem, der sich Psychologe dünkt, Anlaß dazu
werden, die Reue selbst hinter diesen ihren Scheinbildem
aus dem Blicke zu verlieren.
Der Reueakt ist nicht — womit man zimieist beginnt
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1 8 Reue und Wiedergeburt.
— ein zuständliches > Unlustgefühl « , welches sich zu irgend-
welchen »Ideen« von Handlungen geselle, als deren Täter
der Mensch sich kennt. Überlassen wir diese Platitüde der
herkömmlichen Assoziationspsychologie. Reue ist vielmehr
eine zielmäßige Bewegung des Gemüts angesichts der
Schuld, und auf jene Schuld hin, die sich im Menschen
angesammelt' hat. Das Ziel dieser »Bewegung« ist eine
emotionale Negation und eine Entmächtigung der Fort-
wirksamkeit der Schuld, eine geheime Anstrengung, diese
aus dem Personkem herauszustoßen, um die Person »heil«
zu machen. Erst die Rückwirkung des im Akte der Reue
zuerst ansteigenden Schulddrucks auf diese Bewegung
macht den Reueschmerz aus. Der Schmerz steigt mit der
Unnachgiebigkeit der Schuld — die selbst wieder um so
größer ist, je tiefer sie im Kern der Person sitzt. Nicht
dieser Schmerz also, vielmehr die Bewegung gegen die
Schuld und die Tendenz, ihre Fortwirksamkeit zu brechen,
sind das Erste. Der Schmerz ist erst Folge und das Zweite.
Die besondere Natur des Reueschmerzes ist scharf, bren-
nend, aufwühlend; ihm fehlt jede Dumpfheit. Neben dieser
Qualität als Schmerz aber besteht im Ganzen des Vorgangs
gleichzeitig noch eine Befriedigung, die bis zur Seligkeit
ansteigen kann. Befriedigung und Lust, Mißbefriedigung
und Unlust haben ja nichts miteinander zu tun; ja die fühl-
bar tiefer gelagerte Befriedigung steigt sogar mit der
Stärke des Reueschmerzes. Ist es also etwa die innere
Auffassung jenes Schmerzes als Sühnung der Schuld, oder
ist es die Abnahme des Schulddrucks im Verlauf der Reue,
was die Befriedigung gewährt? Das erstere könnte man
annehmen, wenn man die Reue als eine Art geistiger Ver-
geltung, nämlich als Selbstvergeltung, auffaßte. Aber diese
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Reue und Wiedergeburt. ^g
Annahme ist, wie gezeigt, irrig. Der Gehorsam gegen die
Sühneforderung ist Sache der Buße und nicht der Reue.
Dieser Gehorsam kann auch ohne fundierende Reue er-
folgen. Denn wohl wächst notwendig die Bußgesinnung
aus der Reue so notwendig heraus wie die Bekenntnisbereit-
schaft, nicht aber umgekehrt die Reue aus der Bußgesin-
nung. Und noch weniger ist diese Gesinnung die Reue
selbst. Am wenigsten aber ist Reue ein Schmerz, der an
sich als Schmerz befriedigt; es sei denn, daß anstatt echter
Reue eben eine Reueillusion vorliegt, die in Schmerzliebe
gegründet ist. Die Pietisten zum Beispiel haben diese
beiden Dinge häufig verwechselt : daher die stark sinnliche,
fast masochistische Färbung ihrer religiösen Reue-Litera-
tur. Die zunehmende Befriedigung ist faktisch also Folge
der längsamen Abnahme des Schulddrucks. Sie vollzieht
. sich mit der objektivierenden Heraussetzung der Schuld
aus dem Personkem wie von selbst.
Ist die Reue eine Entmächtigung der Schuld, so muß
die Schuld auch irgendwie gegeben sein, wenn die Reue
als Gegenakt einsetzt.
Was ist nun aber diese »Schuld« ? Sie ist jene Qualität *
» böse « , die der Person selbst, dem Aktzentrum, durch ihre
bösen Akte dauernd zugewachsen ist. Eine Qualität also,
m'cht aber ein »Gefühl« ist die Schuld. Das sogenannte
»Schuldgefühl« ist von anderen Gefühlen selber nur durch
seine innere Sinnbeziehung auf diese Qualität unterschie-
den. Ob man sich also auch schuldig fühle oder nicht — die
Schuld haftet. Die Feinheit oder Stumpfheit des Schuld-
gefühls, resp. die Schwellenwerte des Fühlens der Schuld
,sind vom Dasein der Schuld und ihrem Ausmaß sehr ver-
schieden. Gehört doch gerade dieses zu den dunkelsten
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40 Reue und Wiedergeburt-
Wirkungen der Schuld, daß sie sich im Wachsen gleichsam
selbst verbirgt und das Gefühl dir ihr Dasein abstumpft.
Und gehört es doch umgekehrt zum Wachstum der Demut
und Heiligkeit im Menschen, daß — wie das Leben aller
Heiligen bezeugt — das Fühlen der Schuld gerade mit ihrer
objektiven Abnahme sich funktionell verfeinert und daß
daher immer geringere Verfehlungen schon schwer emp-
funden werden. Der Reueakt richtet sich denn auch durch-
aus nicht gegen das Schuldgefühl, — das er ja vielmehr
gerade breit entfaltet und ausdehnt — er richtet sich viel-
mehr gegen jene objektive Qualität der Schuld selbst.
Aber er richtet sich auf die Schuld »durch« das Fühlen der
Schuld hindurch, so wie der Akt geistigen Beachtens oder
eine Bedeutungsintention durch das Sehen eines Gegen-.
Standes, oder durch das Hören sich auf diesen Gegenstand
richtet. Irgendein Fühlen von Schuld — meist zuerst un-
lokalisiert bezüglich der Fragen »was?« und »gegen wen?«
oder > von wem verschuldet? « — muß also auf alle Fälle den
Reueakt einleiten. Seine Ausbreitung, seine Lokalisie-
rung, Richtung, seine Tiefe jedoch — häufig selbst erst
sein bestimmtes Objekt z. B. diese und jene Tat - — pflegt
das Gefühl der Schuld erst während der Reue und nur durch
sie finden. Ist die Schuld freilich so sehr angewachsen, daß
sie selbst das Gefühl ihres Daseins ganz oder beinah er-
stickt, so ist jene partiale oder totale »Verhärtung« vor-
handen, welche die Reue nur schwer oder nicht mehr
durchbrechen kann. Da die Schuld eine Qualität der Person,
des Aktzentrums des Menschen, ist, die aus ihren Akten
und Taten als ein die Person »Erfüllendes« der Person
zuwuchs: so ist sie auch, so lange sie besteht, in jedem
Akte, den die Person vollzieht, heimlich mitgegenwärtig.
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Reue und Wiedergeburt a i
Nicht die kausalen Folgen der bösen Taten als reale
Wirklichkeiten der Natur bringen notwendig ein ferneres
Böse hervor; sie können rein kausal ebensowohl Gutes
bewirken oder Gleichgültiges. Es gibt keine moralische
Kausalität in diesem Sinne. Aber die Schuld, das finstere
Werk dieser Taten in der Seele selbst, geht in alles mit
hinein, was der Mensch will und tut; und sie bestimmt ihn,
ohne sein Wissen in ihrer Richtung weiterzuschreiten. In-
sofern ist auch jede Tatreue nicht unmittelbar Reue über
eine Tat, sondern Reue über das Verschuldetsein der
Person durch die Tat. Von der Seins-Reue bleibt die Tat-
reue gleichwohl durch den primären Hinblick auf den Un-
weltverhalt der Tat geschieden.
Aber was vermag nun dieser Stoß der Reue wider die f
Schuld? Zwei Dinge, die nur er allein vermag und nichts '
sonst. Er kann nicht die äußere Naturwirklichkeit der Tat
und ihre Kausalfolgen, auch nicht den ihr als Tat zukom-
menden bösen Charakter aus der Welt schaffen. Diese
alle bleiben in der Welt. — Aber er verms^ die Schuld
als das rückgewirkte Werk dieser Tat in der Seele des
Menschen — und damit die Wurzel einer Unendlichkeit
von neuer böser Tat und neuer Schuld — völlig zu töten
und auszulöschen. Die Reue vernichtet wahrhaft jene
psychische Qualität, welche »Schuld« heißt. Sie vermag
•dies wenigstens in ihrer vollkommenen Gestalt. Sie sprengt
also die Kette der durch das Schuldwachstum der Men-
schen und Zeiten vermittelten Fortzeugungskraft des
Bösen. Sie macht eben damit neue, schuldfreie Anfänge
des Lebens möglich. Die Reue ist die mächtige Selbst-
regenerationskraft der sittlichen Welt, die ihrem steten
Absterben entgegenarbeitet.
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42 Reue und Wiedergeburt.
Das ist die große Paradoxie der Reue, daß sie im Blicke
tränenvoll zurücksieh t", aber doch freudig und mächtig nach
der Zukunft hin, nach der Erneuerung, nach der Befreiung
vom sittlichen Tode hinwirkt. Ihr geistiger Blick und ihr
lebendiges Wirken sind sich genau entgegengesetzt. Der
Fortschrittler, der Meliorist, der Perfektionist, sie alle
sagen : Nicht bereuen, sondern besser machen. Ja das Gute
— es erscheint ihnen selbst nur das bessere von Morgen
zu sein. Aber dieses ist nicht minder paradox: Je mehr
diese Leute nach vorne sehn und immer neue Projekte
des »Bessern« in ihrem tatenlustigen Busen wälzen, desto
furchtbarer zerrt die Schuld der Vergangenheit an ihrem
innem Tun, zerrt sie schon in der Inhaltswahl ihrer Vor-
sätze und Projekte — nicht erst in ihrer Ausführung;
desto tiefer sinkt der ewige Flüchtling seiner Gegenwart
und Vergangenheit eben dieser Vergangenheit in die toten
Arme. Denn genau um so mächtiger wirkt die Schuld der
Geschichte, je weniger man sie gegenständlich sieht und
bereut. Nicht: »Die Reue unterlassen und das Getane
künftig besser machen wollen«, sondern: »Bereuen, und
eben darum besser machen«, lautet die rechte Wei-
sung. Nicht die Utopie, sondern die Reue ist die revo-
lutionärste Kraft der sittlichen Welt.
Sehen wir also auf den Akt der Fassung des guten
Vorsatzes, auf Gesinnungsänderung und Gesinnungswan-
del, auf das »neue Herz«: so ist dies alles kein von der
Reue abgelöstes nur zeitlich folgendes willkürliches Tun
oder eine ebensolche Hervorbringung, welche die Reue
wie ein Überflüssiges überspringen könnte. All dies quillt
aus der Reue wie von selbst hervor. Denn all dies ist nur
die Frucht der natürlichen Tätigkeit der sich selbst
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Reue und Wiedergeburt. 43
überlassenen, von Schuld freigewordenen, wieder in sich
selbst und ihr ursprüngliches Hoheitsrecht eingesetzten
Seele. Je weniger der »gute Vorsatz« schon im Reuevor-
gang intendiert wird, desto machtvoller wird er sich am
Ende, eigenmächtig und fast ohne Nachhilfe des bewuß-
ten Willens, aus der Reue wie von selbst erheben. Und
je weniger der Bereuende geistig in seinem Reueakt auf
die Güte des jetzt bereuenden Ich hinschielt — und damit
auch die Reue zu einem neuen Anlaß seiner Eitelkeit und
eines geheimen Ruhms vor sich selbst oder gar vor Gott
macht — ; je schmerzensreicher er wie verloren ist in
die Tiefe seiner Schuld: auf desto königlichere Weise
reckt sich, ungesehn von ihm selbst, seine gottgeschaffene
Seele empor aus jenem Staube des Irdischen, der sie
bisher durchdrang und der ihr den freien Atem nahm.
Je tiefer hinein in die Seins- Wurzeln eines persönlichen
Aktzentrums die Reue hierbei greift: desto mehr er-
scheint sie uns als ein Vorgang, der auf höherem, gei-
stigem Gebiete dasselbe ist, wie auf biologischem Ge-
biete der von Goette beschriebene elementarste Fall von
Wiedergeburt und Tod des Tieres, in dem beide wie in
einem Prozeß zusammenfallen und das sich selbst zer-
legende Tier sich wieder neu aufbaut.
Denn es gibt keine Reue, die nicht den Bauplan eines
»neuen Herzens« schon von ihrem Anbeginn in sich trüge,
Reue, tötet nur, um zu schaffen. Sie vernichtet nur, um
aufzubauen. Ja, sie baut schon dort heimlich, wo sie noch
zu vernichten scheint. So ist Reue die gewaltige Tatkraft
in jenem wunderbaren Prozesse, den das Evangelium
»Wiedergeburt« eines neuen Menschen aus dem »alten
Adam«, Empfang eines »neuen Herzens« nennt.
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i^4 # Reue und Wiedergeburt.
Es ist eine sehr äußerliche Vorstellung, daß die Reue
nur angesichts ganz besonderer, zutage liegender Misse-
taten und Verschuldungen einzusetzen habe, die dann
ebensosehr wie die auf sie bezogenen Reueakte eine
bloße Summe bildeten, indem die Verschuldungen durch
eine Summe von Reueakten beglichen werden sollten.
Das dunkle Erdreich der Schuld, von der wir reden,
hat solche Taten und Verschuldungen nur zu seinen
sichtbarsten Baumgipfeln. Die Schuld selbst bildet das
verborgne Kraftreservoir in der Seele, aus dem jene ein-
zelnen Verschuldungen sich nähren. In dieses unterirdische
Reich der Seele, in das verborgene Reich ihrer Schuld
muß sich die Reue hinabsenken, ja hinabgleitend das Be-
wußtsein fiir ihr dunkles und verborgenes Dasein allererst
wecken. Wer daher spräche: »Ich bin mir keiner Schuld
bewußt; also habe ich nichts zu bereuen« — der wäre
entweder ein Gott oder ein Tier. Ist der Sprechende
aber ein Mensch, so weiß er vom Wesen der Schuld noch
nichts. —
Und auch darüber werde sich der Mensch klar: Die
Reue ist nicht nur ein Vorgang in der individuellen Seele,
sie ist gleich ursprünglich wie die Schuld auch ein soziale
historische Gesamterscheinimg. Das große Prinzip der
Solidarität^ aller Kinder Adams in Verantwortlichkeit,
Schuld und Verdienst besagt, daß Bestand der Mitverant-
wortlichkeit und Tatsache und Bewußtsein jedes Einzelnen
von seiner Mitverantwortlichkeit fiir alles Geschehen
des moralischen Kosmos nicht erst geknüpft sind an jene
je sichtbaren, nachweisbaren Wirkungen, welche die
^ Vgl. meine strenge Ableitung des Solidaritätsprinzips in „Fonnalismus in
der Ethik etc." II.Teü.
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Reue und Wiedergeburt 45
Einzelnen direkt oder durch die Mittelglieder der ihnen er-
kennbaren sozialen und historischen Kausalgewebe auf-
einander ausüben. Diese Wirkungen und das Bewußtsein
von ihnen lokalisieren vielmehr nur den Blick auf jene
Punkte des moralischen Kosmos, für die wir unsere Mitver-
antwortung auch bestimmt kennen können. Nicht aber
schaffen sie erst die Mitverantwortung und das uns — so-
fern wir sittlich geweckt sind — stets begleitende Gefiihl
von ihr. Die pure Form der Mitverantwortlichkeit aber:
das stete Bewußtsein, daß auch die gesamte moralische
Welt von Vergangenheit und Zukunft, aller Sterne und
Himmel, ganz radikal anders sein könnte, wenn »ich« nur
»anders« wäre; das tiefe Gefühl dafür, daß die geheimen
Gesetze des Echos von Liebe und Haß und die Gesetze
ihrer Fortpflanzung durch die Unendlichkeit alle Regungen
aller endlichen Herzen zu einem jeweilig anders gearteten
Zusanunenklang, oder zu einer jedesmal andersgearteten
Disharmonie gestalten, die von dem Ohre Gottes nur als
ungeteiltes Ganzes vernommen und gerichtet werden —
diese ursprüngliche Mitverantwortlichkeit ist für den
Bestand eines moralischen Subjekts genau so wesendich,
wie es die Selbstverantwordichkeit ist. Die Mitverant-
wordichkeit wird nicht erst durch besondere Akte der
Verpflichtung oder durch ein Versprechen gegen An-
dere »übemonunen«, sondern sie ist schon die innere
Voraussetzung auch für die Möglichkeit dieser Ver-
pflichtungen. Darum ist auch die Reue gleich ursprüng-
lich auf imsre Mitschuld an jeglicher Schuld bezogen
wie auf unsre Selbstverschuldung; ebenso ursprüng-
lich auf die tragische Schuld, der wir unverschuldet »ver-
&IIen«, wie auf die verschuldete Schuld, die wir frei wäh-
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46 Reue und Wiedergeburt.
lend auf uns nahmen; ebenso ursprünglich auf die Ge-
samtschuld und Erbschuld der Gemeinschaften, der Fa-
milien, Völker und der ganzen Menschheit wie auf die
Einzelschuld. Es heißt die chrisdiche Lehre, die das Soli-
daritätsprinzip zu einer ihrer Wurzeln hat, sehr flach aus-
deuten, wenn man sagt, man solle angesichts fremder
Schuld nur nicht »richten«, vielmehr seiner eigenen indivi-
duellen Schuld erinnernd gedenken. Man soll vielmehr —
dieses ist der wahre Sinn der Lehre — nicht nur seiner
eigenen Schuld gedenken, sondern sich auch wirklich mit-
schuldig fühlen an dieser »fremden« Schuld und an der
Gesamtschuld der Zeit; und man soll darum auch solche
Schuld als seine »eigene« mitbetrachten und mitbereuen.
Das ist der wahre Sinn des mea culpa, mea culpa, mea
maxima culpa!
Dergestalt sehen wir auch in der Geschichte, wie der
Reueakt zu einem machtvollen Strome werden kann; wie
er ganze Völker, ja Kulturkreise generationenlang durch-
rauscht; wie er die verstockten und verhärteten Herzen
öffnet und lebensweich macht; wie er die angesammelte
Schuld der Zeiten aus dem Gesamtleben der Gemein-
schaften herauszustoßen sich anschickt; wie er die dem
Völkerstolze verborgene Vergangenheit der Völker Ge-
i^chichte belichtet, wie er die vorher immer mehr sich ein-
engende Zukunft wieder zu einem weiten hellen Plane von
Möglichkeiten erweitert — und so die Regeneration auch
eines moralischen Gesamtdaseins vorbereitet. Diese Vor-
gänge einer Gesamtteue — fiir eine angesammelte Ge-
samtschuld — kehren in eigentümlicher Rhythmik durch
die Geschichte fast aller großen Gemeinschaften hindurch
wieder. Sie erscheinen in den mannigfachsten Formen
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Reue und Wiedergeburt a*j
und Ausdrucksweisen — je nach dem sozialen System
und je nach der positiven Religion und Sittiichkeit der
Völker. Das junge Christentum hat nicht zum mindesten
durch die unversieglichen Tränen seiner Reue die in Ge-
nuß, — Macht- und Ruhmsucht verhärtete Welt des aus-
gehenden Altertums erneut und ein neues Gefühl der Ju-
gend dieser Welt eingegossen. Welch großer Teil aller
Gedanken und Gefühle der patristischen Literatur ist von
dieser Reue wie durchdrungen! Eine andere gewaltige
Reuewelle durchläuft die Völker Europas nach der immer
wilder und lebensfeindlicher um sich greifenden Rohheit
des elften Jahrhunderts. Diese Reue vernichtete die da-
malige verzweifelte, die letzte Utopie : es werde demnächst
das Ende der Welt eintreten und Christus wiederkommen
— und sie bereitete damit jene geistige und religiöse
Wiedergeburt vor, deren größter Führer der heilige Bern-
hard von Clairveaux werden sollte. Dona Lacrimarum,
so nannte man damals das neue Gnadengeschenk eines
Reue- und Bußwillens, in welchem Europa sich zu seiner
großen Unternehmung der Kreuzzüge zusammenschloß,
und in welchem die Erneuerung des alten, unter einem
rohen, verderbten und verweldichten Geiste der Geistlich-
keit und unter der schrankenlosen Willkür der weltlichen
Mächte erstarrten kirchlichen Lebens sich vollzog. »Es
erwachte aus der Wut der Leidenschaften und der rohen '
Ausbrüche der Gewalt ein mächtiges Gefühl der Buße«
(Neander: »Der heilige Bernhard und sein Zeitalter«).
Aufbau, Erstarrung und Überdifferenzierung der Kultur,
dann wieder reuemäßige Auflösung und gleichsam Zurück-
nahme ihrer Bauglieder in einen neuen schöpferischen,
alles wiedergebärenden Geist und Lebenswillen: dieses
Digitized by VjOOQ IC
^8 • Reue und Wiedergeburt.
ist nicht nur das Gesetz, nach dem die kleine individuelle
' Seele atmet, es ist auch das Gesetz des Atems für die
große Seele der geschichtlichen Menschheit. Auch auf dem
Boden der Geschichte vermißt das tiefere Auge in allen
Sphären das Bild einer kontinuierlichen, » fortschreitenden
Entwicklung«, — das törichte Bild, welches unser 19. Jahr-
hundert so lange geäfft und unsem Augen das schönere,
allen Fortschritt umschließende erhabenere Gesetz des
»Stirb und Werde« verborgen hat.
Getragen von solchepi Gefühlsausbruch — dessen Macht
und Größe angemessen sein wird der Größe unsrer euro-
päischen Gesamtschuld, die in diesem Kriege mehr offen-
sichdich und ausgedrückt als erst verschuldet wurde —
getragen von der Reue wird auch jene Umkehr erfol-
gen, welche allein die innere Voraussetzung ist für die
Bildung eines neuen außenpolitischen Systems der euro-
päischen Vereinbarung. Keine neue juristische Weisheit
und kein noch so guter Wille der Staatsmänner, auch
keine »Revolution« und keine »neuen Männer« können
diese Sinnesänderung der Völker selbst ersetzen.
Auch bei diesem großen Gegenstande ist die Umkehr die
der Seele unvermeidliche Form der neuen Vorkehr. Auch
hier ist das neue Gefiihl der tiefen Entfremdung von
einem menschlich-geschichdichen System, wie es vor die-
sem Kriege bestand; ist die reuegespomte langsame
Aufdeckung der tiefen Wurzeln des Ereignisses in den
seelischen Untergründen des überall und bei allen Völ-
kern und Staaten führenden Menschentypus die not-
wendige Bewußtseinsform, aus der allein sich neue posi-
tive Gesinnungen und schließlich neue Baupläne des poli-
tischen Daseins gebären können.
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R«uc und Wiedergeburt ^g
Alle jene zahlreichen Ideensysteme, die sich der moderne
Mensch ausgeklügelt und angezüchtet hat, um der in ihm
wachsenden Schuld zu entkommen: sie alle müssen in
diesem Prozesse zerbrochen werden. Denn dieses ist das
Grundverhalten des jüngsten Menschentypus, der aus der
Erlebnisstruktur des Christentums endgültig herausge-
treten schien: Er ließ die Schuld der Zeiten so lange an-
wachsen, bis er sie nicht mehr zu sühnen, ja zu fühlen und
zu denken wagte, und bis ihm, eben hierdurch die von
ihm selbst schuldhaft verdunkelte Schuld als bloße objek-
tive Macht von »Verhältnissen«, ökonomischen Verhält-
nissen zum Beispiel, wie in sie vermummt entgegentritt,
— von ^»Verhältnissen«, denen man sich widerspruchslos
zu beugen habe. Reißt euren »Verhältnissen« die sie ver-
mummende Maske herunter: So gewahrt ihr hinter ihnen
die Schuld. Die eigene unbereute Schuld oder die seiner
Väter tritt dem Modernen von außen gegenüber einem
Gespenste gleich, in dem sich seine Seele nicht wieder-
^ erkennt. Wie ein neues Ding, wie eine äußre Macht, wie
ein »Schicksal«, von außen her stellt sich die Schuld
vor seinen beirrten Verstand hin. Ganze wissenschaft-
liche komplizierte Theorien fordert das Gespenst zu
seiner »Erklärung«. Alle historisch -deterministischen
Theorien (so zum Beispiel die ökonomische Geschichts-
äufiassung) sind ja heimlich von diesem Gebunden-
heitsgefiihl gespeist, das Hur die natürliche Folge eines
seelischen Seins und Verhaltens ist, das den einzigen
Weg zu der immer wieder nötigen Befreiung prinzipiell
und systematisch ausschlägt: die immer neue Luftzufuhr
für den Atem des unter der Last seiner Geschichte er-
stickenden Selbst, — den Weg der Reue. Selbsttäuschung
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CO Reue und Wiedergeburt*
über die kaum mehr gefühlte, aber darum um so mehr
wirksame Schuld, Selbsttäuschung durch grenzenlose
Arbeit, welche den puren Prozeß des Arbeitens zu einem
absoluten Wert erhöht; oder Selbsttäuschung durch Stütz
in die pure Genußwelt sinnlicher Empfindung; ewig pro-
visorisches Leben, das jeden Lebenssinn automatisch bis
zum Tode^ in die Zukunft, auf das » nächste Mal « verschiebt
und sich dann als » Fortschritts «wille und -lehre logisch
und moralisch rechtfertigt: das sind einige solcher
»Systeme «.7—
Wir sagten zu Beginn, daß sich uns in den Regungen
des Gewissens eine unsichtbare Ordnung unsrer Seele
und unsers Verhältnisses zu ihrem obersten Haupte und
Schöpfer ganz von selbst — ohne Deutung unserseits —
präsentiere. Auch die Reue nimmt erst dann ihren vollen
Sinn an und gewinnt erst dann ihre volle Sprache, wenn
sie — hinaus über ihre noch der Ordnung der Natur an-
gehörige Bedeutung der Schuldentlastung — eingefügt
erlebt ist in einen metaphysisch-religiösen Welt- ^
Zusammenhang. Sie nimmt ihren vollen Sinn erst an, wenn
sie nicht länger nur das Bös'e trifft, sondern jenes Böse
in den Augen Gottes, das Sünde heißt. In diesem Hinblick
auf Gott lernt die Seele die Befriedigung in der Reue und
ihr eigenes Neuwerden durch die Reue verstehn als den
geheimnisreichen Vorgang »Vergebung der Sünde« und
als Eingießung einer neuen Kraft aus dem Zentrum der
Dinge. Diese Kraft heißt Gnade. Es mag von sehr vielen
Bedingungen abhängen, wie sich die Vorstellungen und die
nähern dogmatischen Begriffe über diesen großen Vorgang
ausgestalten, und wie sich Reue, Bekenntnis, Buße, Recht-
fertigung, Versöhnung und Heiligung im System einer
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Reue und Wiedergeburt. 5 I
Kirche als objektiver Heilanstalt darstellen. Die einfache
Wurzel all dieser Vorstellungen und Institute ist aber
inuner dieselbe. Sie gründen darin, daß die Reue, obgleich
sie als unser persönlicher Akt sich auf unser eigenes schuld-
beladenes Herz richtet, unser Herz von selbst transzen-
diert und über seine Enge hinausspäht, um es aus seiner
Ohnmacht in ein geahntes Zentrum der Dinge, in aller
Dinge ewige Kraftquelle, zurücktauchen zu machen. Das ge-
hört; zum immanenten »Sinn« der vollerlebten Reue selbst.
Wenn es nichts anderes in der Welt gäbe, woraus wir die
Idee Gottes schöpfen: die Reue allein könnte uns auf Got-"
tes Dasein aufmerksam machen. Die Reue beginnt mit einer
Anklage! Aber vor wem klagen wir uns an.^ Gehört nicht
zum Wesen einer »Anklage« auch wesensnotwendig eine
Person, die sie vernimmt und vor der die Anklage stattfin-
det.? — Die Reue ist femer ein inneres Bekenntnis unsrer
Schuld. Aber wem bekennen wir denn, wo doch die Lippe
nach außen schweigt und wir allein mit unserer Seele sind?
Und wem schuldet sich diese Schuld, die uns drückt? Die
Reue endet mit dem klaren Bewußtsein der Schuldauf-
hebung, der Schuldvemichtung. Aber wer hat die Schuld
von ims genommen, wer oder was vermag solches? Die
Reue spricht ihr Urtieil nach einem als »heilig« empfun-
denen Gesetz, das wir selbst uns nicht gegeben haben
wissen, das unserm Herzen trotzdem einwohnt. Und sie
entbindet uns dennoch fast in dem selben Atom von den
Folgen dieses Gesetzes für uns und unser Tun! Wo aber
ist der Gesetzgeber dieser Gesetzes, und wer anders als
sein Gesetzgeber könnte die Folge des Gesetzes für uns
hemmen? Die Reue gibt uns eine neue Kraft zum Vor-
satz und — in gewissen Fällen — ein neues Herz aus der
4^
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5 2 Reue und Wiedergeburt.
Asche des alten. Wo aber ist die Kraftquelle und wo ist
die Idee fiir die Konstruktion dieses neuen Herzens und
wo die seinen Bau erwirkende Macht?
Aus jeder Teilregung dieses großen moralischen Vor-
gangs zielt also eine intentionale Bewegung in eine un-
sichtbare Sphäre hinein, eine Bewegung, die, nur sich
selbst überlassen und nicht abgelenkt durch irgendwelche
vorschnelle Deutung, uns auch wie von selbst die geheim-
nisvollen Umrisse eines unendlichen Richters, einer unend-
lichen Barmherzigkeit und einer unendlichen Macht und
Lebensquelle vor den Geist zeichnet. —
Das hier Gesagte ist noch kein spezifisch christlicher
Gedanke, geschweige denn ein auf positiver Offenbarung
beruhender Lehrgehalt. Es ist nur in jenem Sinne christ-
lich, in dem die Seele selbst, wie TertuUian sagt, von
Natur aus eine Christin ist. Und doch haben selbst diese
natürlichen Funktionen der Reue erst in der christlichen
Kirche ihr volles Licht, ihre volle Bedeutung erhalten.
Denn durch ihr System macht uns allein die chrisdiche
Lehre verständlich, warum die Reue die zentrale Funktion
der Wiedergeburt im Leben des Menschen besitzt.
Es ist furchtbar, daß wir das Leben nur gewinnen kön-
nen auf dem dunkeln Schmerzensweg der Reue. Aber es
ist herrlich, daß es überhaupt einen Weg zum Leben für
uns gibt. Und verlieren wir es nicht notwendig durch die
sich ansammelnde Schuld ?
Wie muß eine Welt beschaffen sein, in der so etwas
schon notwendig und doch noch eben möglich ist. In wel-
chem sonderbaren Verhältnis zu ihrem Schöpfer muß sich
diese Welt befinden? Und wieso ist es immer und für
jeden notwendig? Ich antworte mit einem Gedanken des
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Reue und Wiedergeburt ^ j
Kardinals Newman aus seiner »Apologia pro vita sua<:
»Entweder gibt es keinen Schöpfer oder das Menschen-
geschlecht hat sich im jetzigen Zustande von seiner Gegen-
wart ausgeschlossen. Wenn es einen Gott gibt — und weil
es sicher ist, daß es einen gibt — , muß das Menschen^-
gescWecht in eine furchtbare Erbschuld verstrickt sein;
es ist nicht me^ ihi Einklang mit den Absichten des
Schöpfers. Das ist eine Tatsache so sicher wie mein eigenes
E)asein. So wird mir die Lehre dessen, was die Theologen
Erbsünde nennen, ebenso ^ewiß wie die Existenz der Welt
und die Existenz Gottes. «
Der so einfache wie große Gedanke Newmans lautet in
unserer Formulierung: Ich besitze eine vollkommen klare
und in sich selbst evidente, geistige Anschauung vom
Wesen* eines möglichen Gottes als dem eines unend-
lichen Seins und eines Summum Bonum. Ich kann gewiß-
machen, daß ich diese Idee nicht aus irgendeiner Tat-
sache und Gestalt der innem oder äußern realen Welt
entnommen habe, auch nicht aus ihr irgendwie erschlossen
oder sonst von ihr erborgt. Vielmehf gewahre ich die Welt
ebenso wie mein Selbst nur unter dem Lichte dieser Idee:
in lumine Dei, 3vie Augustin sagt. Es ist sogar ein Wesens-
bestandteil dieser vollentfalteten Idee einer geistigen Per-
son, daß nur eine ihr entsprechende Wirklichkeit — wenn
es eine solche gibt — dem Menschen allein sich bezeugen
kann: dadurch bezeugen kann, daß sie sich offenbart.
Also: Wenn es eine dieser Idee entsprechende Realität
gibt, kann ich nie in der Lage sein, diese Realität durch
' Es ist hier nicht die Rede vom ofienbarungsmäfligen Wesen Gottes an
sich (unabhängig von Gottes Weltbezogenheit), sondern nur vom Wesens-
inhalte der natürlichen Gottesidee.
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54 Reue und Wiedergeburt.
Spontane Akte meines Bewußtseins festzustellen. Ich weiß
evident: niemals könnte ich die Nichtexistenz einer Reali-
tat, die dem Wesen der mir so klaren Idee eines persön-
lichen Gottes genau entspricht, von dem bloßen Schwei-
gen dieser Realität unterscheiden : von ihrer Zurückhaltung.
Aber ich glaube, es habe die Realität dieses Wesens im
alten Bunde und in vollendetster P^rm in Christo sich
selbst bezeugt — nachdem Spuren von ihr in der, die
Geschichte begeistenden, universellen Offenbarung an ver-
schiednen Punkten mit verschiedner Deutlichkeit sichtbar
geworden sind. —
Solches sind einige der Grundlagen meines Wissens um
Gott. Weiß ich darnach von Gottes Realität, ohne diese
Realität aus dem Dasein der Welt erschlossen oder er-
borgt zu haben, so habe ich in zweiter Linie auch guten
Grund zur Annahme, es sei diese Welt nicht absolut
selbständig in sich, und sie sei nicht ebenso ursprünglich
wie Gott, sondern aus seinen Schöpferhänden hervor-
gegangen^. Nun aber, und nachdem ich dies festgestellt,
fällt mein Blick auf diese Welt, so wie sie ist, auf den
Menschen, so wie er sich in seinem gesamten Treiben in
der mir zugänglichen Geschichte wirklich darstellt. Können
Welt und Mensch nun ebenso wie sie sind, aus den
Schöpferhänden Gottes hervorgegangen sein? Alles in mir
spricht: Nein! Damit aber ist die Idee irgendeiner Form
des Abfalls,- der Verschuldung und der Erbsünde, von
selbst gegeben als die einzige Erklärung des Unter-
schiedes einer von dem absolut vollkommenen Gott ge-
schaffenen Welt und derjenigen Welt, wie sie mir als
wirklich beka.nnt ist.
^ Die zeitliche Schöpfung bleibt, hier dahingestellt
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Reue und Wiedergeburt. c c
Erst in diesem Zusammenhang gewinnt, wie so vieles
andre^ a.uch die Reue ihren vollen Sinn — wenigstens
wird sie so zu jenem dauernd Notwendigen, als das
¥rir sie früher ansahn.
Am Beginn dieser Weltgeschichte steht eine Schuld!
Wie sollte es darum eine andre Form der ewigen Re-
generation geben als die Form der Reue?
Über die chrisdiche Kontritionslehre und über die Ge-
staltungen, die diese Lehre in den christlichen Kirchen und
Sekten angenommen hat, habe ich hier kein Urteil ge-
fiült. Denn die Absicht war, zu zeigen, wie weit allein phi-
osophische Besinnung hier führen kann. Vergleiche ich
nun aber mit diesen Lehren das Gewonnene: so finde ich
die tiefste Erkenntnis von Bedeutung und Sinn des Reue-
aktes im Christentum und innerhalb seiner wieder in der
katholischen Kirche. Zu dem. Eigentümlichsten der christ-
iTchen Reueauffassung scheinen mir — : bei Absehung von
allen Einzelheiten der Rechtfertigungslehren — zwei Dinge
zu gehören: Erstens die, zunächst sehr paradoxe Vor-
stellung, daß der Rhythmus von Verschuldung und Reue
nicht nur notwendig zum Leben des gefallenen Men-
schen gehöre, sondern daß die vollkommene Reue noch
über den Stand der Schuldlosigkeit hinaufführe in einen
höheren Daseinsstand, der ohne die vorhergehende Sünde
und folgende Reue unerreichbar gewesen wäre. Dieser
Gedanke drückt sich makrokosmisch gleichsam aus in der
Lehre, daß die Erlösungstat Christi nicht nur die Sünde
Adams getilgt, sondern den Menschen darüber hinaus in
eine, fortan tiefere und heiligere Gemeinschaft mit Gott,-
als sie Adam besaß, versetzt habe — obzwar der im
Glauben und der Nachfolge Erlöste die volle Integrität
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5 6 Reue und Wiedergeburt.
Adams nicht wieder erhält und die ungeordnete Begierde,
die »Konkupiszenz«, bestehn bleibt. Und wieder gibt sich
derselbe Rhythmus von Fall und Aufstieg über den Ur-
ständ hinaus gleichsam mikrokosmisch kimd in dem evan-
gelischen Satze: daß im Himmel mehr Freude ist über
einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte.
Besonders der erste dieser beiden Gedanken gibt dem
Falle der Menschheit in Adam und ihrer Erhebung in die
Gottesgemeinschaft durch die Menschwerdung Christi erst
volles Licht und letzte Erhabenheit. Früh schon fühlten die
großen chri^tlichenTheologen, daß eine Auffassung, die das
Wesen und den Grund der Inkarnation ausschließlich in die
mideidige Barmherzigkeit Gottes mit dem gefallenen Men-
schen und eine bloße Heilung und Wiederherstellung des
Menschen verlegte, die Gott durqjh den Fall und die Erb-
sünde gleichsam abgenötigt gewesen wäre, der Erhaben-
heit der Inkarnation nicht gerecht werde. Gott hätte den
gefallenen Menschen auch auf andere Weise zu heilen
vermocht und ihm seine Sünde vergeben können als da-
durch, daß er — der Unendliche — selbst Mensch und
Fleisch ward. Und andererseits hätte die Inkarnation —
nach allgemeiner Lehre der Theologie — auch ohne Sün-
denfall und Erbsünde erfolgen können. Die Inkarnation
bleibt also eine freie Tat Gottes. Zwischen einer bloßen
Rückerhebung des gefallenen Menschen auf seine natürliche
Höhe (vor dem Fall) und der unendlichen Erhabenheit der
Menschwerdung des absoluten Herrn der Dinge gibt es
keine sinnvolle Proportion. Nur darum darf auch die Kirche
angesichts des Falles ihr »felix culpa« singen, weil die
Erhebung des Menschen und der Welt durch den süb-
stanziellen Eingang Gottes in ein Glied der Menschheit den
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Reue und Wiedergeburt. i^y
Menschen auf eine unvergleichlich erhabenere Höhe hinauf-
hebt als diejenige ist, auf der er sich im Urstande befand.
»Da die Fülle des menschlichen Geschlechts — sagt
der hl. Leo im Einklang mit vielen Anderen — in den
ersten Menschen gefallen war, so wollte der barmherzige
Gott der nach seinem Bilde geschaffenen Kreatur durch
seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus so zu Hilfe kom-
men, daß nicht außerhalb der Natur die Wiederherstellung
derselben läge und daß über der Würde des eigenen Ur-
sprungs der zweite Zustand hinausginge. Glücklich (die
Natur), wenn sie von dem nicht abfiel, was Gott ge-
macht hatte; glücklicher, wenn sie in dem bleibt, was
er wiederhergestellt. Es war etwas Großes, von Christus
die Gestalt empfangen zu haben; aber etwas Größeres ist
es, in Christus seine Substanz zu haben.« (Leo d. Gr.,
Serm. 2 de ressurectione.) Darum muß in der Tiefe des
ewigen Ratschlusses Gottes seine Menschwerdung auf
den ewig vorhergesehenen Fall des Menschen zwar hin-
geordnet gedacht werden, zugleich aber auch angenom-
men werden, daß Gott die Zulassung der frei vom
Menschen im Falle übernommenen Sündenschuld auch
in Hinsicht auf die gleichfalls im ewigen Ratschlüsse Gottes
beschlossene Menschwerdung, beschlossen hat. Auch die
Idee, daß Gott durch die Inkarnation nicht nur ein Be-
dürihis des Menschen erfülle und einer selbstverschul-
deten Not des Menschen zu Hilfe komme, daß er vielmehr
in dieser Tat aus unendlicher, die immanente Zeugung des
Sohnes fortsetzender Liebe an erster Stelle sich selbst
verherrliche und auch den Menschen — mit diesem ihrem
edelsten Gliede der Welt aber auch die Welt — in diese
seine Verherrlichung aufnehme, gewinnt erst durch diesen
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58 Reue und Wiedergeburt
Gedankenzusammenhang seinen voyen Sinn. — Doch
gehen diese Gedanken bereits über unser Thema hinaus« —
i Das zweite, hiervon unabtrennbare Moment ist das neue
Verhältnis, in das jetzt Reue und Liebe gesetzt sind. Die
»vollkommene« Reue erscheint in doppeltem Sinne ge-
tragen von der Liebe Gottes. Einmal dadurch, daß diese
Liebe, stets an die menschliche Seele anpochend, gleich-
sam das Wertbild eines idealen Seins vor dem Menschen
herträgt und den Menschen erst im Verhältnis zu die-
sem Bilde die Niedrigkeit und Verstricktheit seines wirk-
lichen Zustandes voll gewahren läßt. Sodann dadurch,
daß der Mensch, nach dem spontanen Vollzug der Reue
und im Rückblick von der mählich gespürten Vergebung
und Heiligung her, die Kraft zum Vollzug des Reueaktes
als ein Liebes- und Gnadengeschenk Gottes erlebt — und
dies im gleichen Maße, wie die in dem Reuevorgang
schon zu Beginn angelegte menschliche Liebesregung zu
Gott allmählich die volle Liebesfähigkeit gegenüber Gott
wiederherstellt und durch die Aufhebung der von der
Schuld gesetzten Schranke und Gottesfeme die Versöh-
nung und Wiedervereinigung mit dem Zentrum der Dinge
bewirkt. '
Zuerst erschien uns diese Liebesregung als unsre Liebe.
Dann sahn wir, daß sie auch schon Gegenliebe war. —
Digitized by VjOOQ IC
Vom Wesen der Philosophie
und der moralischen Bedingung des
philosophischen Erkennens
Die Frage nach dem Wesen der Philosophie ist nicht
aiis menschlicher Unzulänglichkeit, sondern aus der Natur
der Sache selbst heraus mit Schwierigkeiten behaftet,
die unvergleichbar sind mit den gleich£dls nicht geringen
Schwierigkeiten, die sich bei den Versuchen einer genauen
Umgrenzung der Gegenstände der verschiedenen positiven
Wissenschaften einzustellen pflegen. Denn wie schwer es
immer sein mag, z. B. die Physik von der Chemie scharf
zu scheiden (besonders seit eine physikalische Chemie
existiert) oder gar zu sagen, was Psychologie sei, so ist
es doch hier wenigstens sachlich möglich und gefordert,
bei allen Zweifeln auf philosophisch geklärte Grundbegriffe
zurückzugreifen, auf Begriffe wie Materie, Körper, Energie
resp. t Bewußtsein«, »Leben«, > Seele«, d. h. auf Begriffe,
welche in ihrem letzten Gehalte aufzuklären selbst noch
ein zweifelloses Geschäft der Philosophie ist. Die Philoso-
phie dagegen, die sich durch die Frage nach ihrem Wesen
gleichsam selbst erst zu konstituieren hat, vermag nichts
Ähnliches, sofern sie nicht bereits auf den besonderen
Lehrgehalt einer bestimmten Abart des von ihr gesuchten
Wesens der Philosophie, also auf eine bestimmte philoso-
phische Lehre oder ein sog. philosophisches »System«
zurückzugreifen sich anschickt — hierdurch aber in eine
Art Zirkel gerät. Denn schon ob jener Lehrinhalt auch
Digitized by VjOOQ IC
6o Vom Wesen der Philosophie osw.
ein philosophischer ist — nicht nur ob er auch wahr sei
und der Kritik standhalte — das setzt zur Entscheidung
ja eben zu wissen voraus, was Philosophie sei und was
ihr Gegenstand. Auch der Rückgang auf die Geschichte
der Philosophie, der ohne bewußten oder halbbewußten
Rekurs auf eine schon gegebene Wesensidee der Philoso-
phie zunächst ja nur das Eine zeigen könnte, was alles
von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten » Philo-
sophie« genannt worden ist und was diesen verschiede-
nen Geistesprodukten an gemeinsamen Merkmalen zu-
kommen möchte, überhebt die Philosophie nicht der Auf-
gabe, die ich ihre Selbstkonstitution genannt habe. Nur
eine gewisse Bewährung undExemplifizierung der durch
diese Selbstkonstitution schon gefundenen Selbsterkennt-
nis ihres eigentümlichen Wesens — eine Bewährung und
Exemplifizierung, die sich darin verraten müßte, daß die
grundverschiedenen, je Philosophie genannten Unterneh-
mungen unter dem Lichte der gewonnenen Selbsterkennt-
nis einen einheitlichen Sinn und einen sinnvollen sach^
liehen und historischen Entfaltungszusammenhang erst
annehmen, kann von solcher historischen und systemati-
schen Erkenntnis der Philosophie der Vergangenheit mit
Grund erwartet werden.
Die Aufgabe, die ich Selbsterkenntnis des Wesens der
Philosophie durch die Philosophie nannte, leuchtet in ihrer
Eigenart auch dadurch ein, daß die Philosophie, ihrer
Wesensintention nach, auf alle Fälle die voraussetzungs-
lose Erkenntnis — oder sagen wir, um keine philoso-
phische; Entscheidung nach wahr und falsch vorauszuneh-
men — die sachlich möglichst voraussetzungslose Er-
kenntnis herstellen soll. Dies alles besagt, daß sie weder
Digitized b'y V^jOOQIC
Vom Wesen der Philosophie usw. 6 1
Geschichtserkenntnis (also auch nicht die Erkenntnis der
Geschichte der Philosophie), noch irgendwelche Erkenntnis
der sog. »Wissenschaften« oder gar einer einzelnen von
ihnen^ noch die Erkenntnisweise (und Einzelinhalte) der
natürlichen Weltanschauung, noch Offenbarungserkennt-
nis als wihre voraussetzen darf — wie" sehr auch' alle
diese Erkenntnisarten und Erkenntnisstoffe von einer Seite
her, — einer Seite, die sie in ihrer Selbstkonstitution erst
selbst eruiert, — in das Gebiet ihrer, zu erfassenden Gegen-
stände fallen (z. B. Wesen der Geschichtserkenntnis, Wesen
der historischen Philosophiewissenschaft, Wesen der Offen-
barungserkenntnis, Wesen der natürlichen Weltanschau-
ung). Vorgegebene Philosophien, die schon in der Inten-
tion ihrer Träger, der betr. »Philosophen« , solche Voraus-
setzungen machen, verfehlen sich also schon gegen das
erste Wesensmerkmal der Philosophie, daß sie voraus-
setzungsloseste Erkenntnis sei — dies wenigstens dann,
wenn es nicht ein in der Intention voraussetzungslosester
Erkenntnis selbst schon gewonnenes besonderes Resultat
eben dieser Erkenntnis ist, daß Philosophie in ihrer Arbeit
solche Voraussetzungen bestimmter Art zu machen habe.
Diese wesenswidrigen Philosophieversuche mögen schon
hier besondere Namen finden. Sie sind je nachdem sie
Geschichtserkenntnis von irgendeinem Punkte als wahr
voraussetzen »Traditionalismus«, wenn Wissenschafts-
erkenntnis heißen sie » Scientifismus « , wenn Offenbarungs-
erkenntnis : » Fideismus « , wenn Ergebnisse der natürlichen
Weltanschauung : » Dogmatismus des gesunden Menschen-
verstandes«. Eine Philosophie dagegen, die sich wahrhaft
voraussetzungslos selbst konstituiert und diese Fehler ver-
meidet, werdö ich in Folgendem die autonome, d. h. die ihr
Digitized by VjOOQ IC
62 Vom Wesen der Philosophie usw.
Wesen und ihre Gesetzlichkeit ausschließlich durch sich
selbst und in sich selbst und ihrem Bestände suchende
und findende Philosophie nennen.
I. Die Autonomie der Philosophie.
Ein Vorurteil erkenntnistheoretischer Art ist in der
neueren Zeit so allgemein geworden, daß es als Vorurteil
kaum mehr empfimden wird. Es besteht in der Meinung,
es sei leichter, ein Sachgebiet oder eine »Aufgabe« zu
umgrenzen, als den Persontypus anzugeben oder doch
diesen Typus im einzelnen zu erkennen, der für dieses
Sachgebiet und diese Aufgabe die echte Kompfetenz be-
sitze — und zwar schon fiir deren Bestimmung und Um-
grenzung, nicht nur für ihre Bearbeitimg und Lösung.
Wenn man etwa sagen wollte, Kunst sei, was der wahre
Künsder hervorbringe, Religion was der wahre Heilige
erlebe, darstelle, predige, Philosophie aber sei die Bezogen-
heit zu den Dingen, die der wahre Philosoph besitze und
in der er die Dinge betrachte, so muß man fürchten, von
vielen verlacht zu werden, Und doch bin ich überzeugt,
daß zum mindesten heuristisch — von der sachlichenFplge-
ordnung der Fragen also abgesehen — dieser Weg der
Sachgebietsbestimmung über den Persontypus hinweg —
sowohl sicherer als eindeutiger in seinen Resultaten ist
als jedes andere Verfahren. Wie weit leichter vermögen
wir uns ?inig darüber zu werden, ob dieser und jener
Mensch ein wahrer Künstler ist, dieser oder jener ein
wahrer Heiliger, als darüber, was Kunst sei und was
Religion? Wenn wir aber so viel leichter und sicherer
hierüber einig werden können, so muß uns bei diesen ein-
zelnen Entscheidungen, ob dieser oder jener, z. B. Piaton,
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Vom Wesen der Philosophie osw. 63
Aristoteles, Descartes ein »wahrer Phflosoph« sd, doch
irgend etwas leiten, das sicher kein empirischer Begriff ist
— denn dessen mögliche Geltungsweite und dessen
Sphäre möglicher Abziehung gemeinsamer Merkmale ist
ja hier erst gesucht. Und dieses Leitende ist sicher kein
irgendwie beschaffener Begriff des Sachgebietes, über das
ja die Uneinigkeit und das Schwanken so viel größer ist
iind das gleichfalls erst aus dem Typus seines echten Ver-
walters soll gefunden werden. Dieses Etwas aber kann
nichts anderes sein als die uns für unser urteilsmäßiges
und begriffliches Bewußtsein dabei noch verborgene Idee
einer gewissen gesamtmenschlichen, an erster Stelle
geistigen Grundhaltung zu den Dingen, welche Hal-
tung uns in der Seinsform der Personalität so vor dem
Auge des Geistes schwebt, daß wir wohl Erfüllung imd
Abweichung seitens eines Gegenstandes noch konstatie-
ren können, ohne sie doch selbst in ihrem positiven In-
halte zu sehen. Freilich: Wir bemerken auch sofort, daß
dieses Verfahren des Denkens, die Natur eines Sach-
gebietes oder einer sog. Aufgabe an erster Stelle nicht
aus ihnen selbst heraus, sondern durch Vorentscheidung
der Beschaffenheit solcher persönlichen Grundhaltung
zu finden, — nicht aus den Werken, sondern an den
Werken z. B. der Philosophen — ganz bestimmte Gren-
zen seiner Anwendung besitzt. Ganz unmöglich können
wir z. B. so auch finden wollen, was das Gebiet der Physik
oder der Zoologie sei usw. Nur fiir jene schlechthin auto-
notnen, weder durch empirisch abgrenzbare Gegenstands-
reihen noch durch einen bestimmten menschlichen Bedarf,
der vor Einnahme dieser Haltung und der aus ihr ent-
springenden Tätigkeit schon bestünde und Deckung und
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64 ^^'i^ Wesen der Philosophie nsw.
Leistung forderte, zu definierenden Seins- und Wertregio-
nen, ist dieses Verfahren möglich, sinnvoll und heuristisch
notwendig. Sie bilden ein ausschließlich je in sich selbst
bestehendes Reich.
Und darum wird die erwiesene Möglichkeit, das Sach-
gebiet d?r Philosophie von der Aufdeckung jener »Idee«
her zu finden, die uns gewisse Menschen Philosophen
nennen läßt, auch wieder eine rückwärtige Befestigung
ihrer Autonomie sein müssen. Hüten wir uns aber schon
hier vor einem Mißverständnis, das heutigen üblen Denk-
gewohnheiten naheliegt. Es bestünde in der vorweg-
genommenen Meinung, daß — wenn das angegebene
Verfahren möglich und notwendig ist, die Philosophie
ein eigenes Sachgebiet, eine besondere Gegenstands-
welt überhaupt nicht zu eigen haben könne, daß sie also
entweder nur eine besondere Erkenntnisart aller mög-
lichen und d. h. auch eben derselben Gegenstände sein
müsse, mit denen es z. B. auch die Wissenschaften zu
tun hätten, nur eben von einem anders gewählten sub-
jektiven Gesichtspunkt aus; so wie etwa heute manche
Forscher (irrtümlich, wie mir scheint) vermeinen, es sei
die Einheit der Psychologie nicht in einer eigenen Tat-
sachenwelt, sondern nur in der Einheit eines »Gesichts-
punktes der Betrachtung« aller möglichen Tatsachen be-
schlossen (z. B. W. Wundt). Gewiß! Es könnte so sein,
— es könnte solche Möglichkeit stattfinden — aber es
muß keineswegs so sein. Jedenfalls präjudiziert der ge-
wählte Ausgangspimkt der Untersuchung des Wesens der
Philosophie darüber noch gar nichts. Denn es könnte
ebensowohl sein, daß die idealtypische Einheit der Geistes-
haltung, die uns leitet, wenn wir je entscheiden, was ein
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Vom Wesen der Philosophie usw. 65
Philosoph sei, zwar den wesenhaft notwendigen sub-
jektiven Zugang, aber auch nur den Zugang und Weg
ausmachte zu einer besonderen Gegenstands- und Tat-
sachenwelt — d. h. zu einer solchen Welt von Tatsachen,
die es sich nun einmal gestattet, nur in dieser und keiner
anderen Geisteshaltung dem erkennenden Menschen zu
erscheinen und die, obz war wir uns heuristisch ihres Wesens
und ihrer Einheit erst durch die Umgrenzung jener Gei-
steshaltung zu bemächtigen suchen, gleichwohl von dieser
Haltung so unabhängig existiert wie vom Femrohr der
erscheinende Stern, den wir mit unbewaffneten Augen
nicht wahrnehmen.
Nur dies allerdings steht dabei a priori fest, daß es nicht
empirisch abgrenzbare und per species et genus proximum .
definierbare Gegenstandsgruppen und -arten sein kön-
nen, welche den eigenartigen »Gegenstand« der Philosophie
bilden, sondern nur eine ganze Welt von Gegenständen,
deren mögliche Einschau an jene Haltung und die ihr im-
manenten Erkenntnisaktarten wesensmäßig geknüpft ist.
Was ist die Natur dieser »Welt« ? Welches sind die ihr
entsprechenden Erkenntnisaktarten? Um diese Fragen zu
beantworten, ist jene philosophische Geistes-Haltung, die
uns dunkel vorschwebt, wenn wir sagen wollen, ob ein x
wohl ein Philosoph sei, zu erhellen.
2. Die philosophische Geisteshaltung (oder die
Idee des Philosophen).
Die größten Alten besaßen den vorhin getadelten Pedan-
tismus noch nicht, die Philosophie, sei es al3 Deckung
eines zuvor gegebenen Bedarfs irgendeiner sozialen Orga-
iHsation, öder als allen leicht aufweisbares, im Gehalt
s
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66 Vom Wesen der Philosophie usw.
der natürlichen Weltanschauung mithin schon als gegeben
vorausgesetztes Sachgebiet zu definieren. So sehr sie —
im Gegensatz zu den Modernen — in einem bestimmten
Reiche des Seins den Gegenstand der Philosophie ent-
deckten, nicht wie die wesentlich »erkenntnis-theoretisch«
gev^ndte Philosophie der Neuzeit in der Erkenntnis des
Seins, so wußten sie doch, daß die mögliche Berührung
des Geistes mit diesem Seinsireiche an einen bestinmiten
Aktus der ganzen Persönlichkeit geknüpft sei, an einen
Aktus, der innerhalb der Einstellung der natürlichen Welt^
anschauung dem Menschen fehlt. Dieser Aktus — der
hier genauer zu erforschen ist — war den Alten zunächst
ein Aktus moralischer, aber darum noch nicht einseitig
willensmäßiger Natur. Er erschien ihnen als ein Aktus, in
dem nicht etwa ein zuvor ins Auge gefaßter positiver Ziel-
inhalt erreicht oder gar ein sog. »Zweck« praktisch ver-
wirklicht werden wollte, sondern durch den eine im Stande
aller natürlichen Weltanschauung wesenhaft liegende
Hemmung des Geistes, mit dem Reiche des eigentlichen
Seins, als Seins der Philosophie in möglichen Kontakt
zu kommen, vorerst beseitigt werden sollte; ein Aktus,
durch den eine diesem Stande konstitutiv eignende Schranke
gesprengt, ein jenes Sein verhüllender Schleier vom Auge
des Geistes gehoben werden sollte.
Piaton wird nicht müde überall da, wo er den Lehrling
zum Wesen der Philosophie hinführen will, diesen Aktus
immer aufs neue und in immer neuen Wendungen in sei-
nem Wesen zu erleuchten. Er nennt ihn so plastisch als
tiefsinnig die »Bewegung der Flügel der Seele«, anderen
Ortes einen Akt des Aufschwungs des Ganzen und des
Kernes der Persönlichkeit zum Wesenhaften, nicht als ob
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Vom Wesen der Philosophie usw. 67
dieses »Wesenhafte« ein besonderer Gegenstand neben
den empirischen Gegenständen wäre, sondern zum Wesen-
haften in allen möglichen besonderen Dingen überjiaupt.
Und er charakterisiert die Dynamis im Kerne der Per-
son, die Spannfeder, das Etwas in ihr, das den Auf-
schwung zur Welt des Wesenhaften vollzieht, als die
höchste und reinste Form dessen, was er »Eros« nennt,
d. h. als das, was er später — hier freilich schon das
Resultat seiner Philosophie voraussetzend — als die allem
unvollkommenen Sein einwohnende Tendenz oder Bewe^
gung zum vollkommenen Sein oder des /^^ 8v zum Svicog Sv,
genauer bestimmt. Schon der Name der »Philosophie« als
der Liebe zum Wesenhaften — sofern das von dieser Be-
wegung des Eros zum vollen Sein emporgetragene x nicht
irgendein beliebiges Seiendes, sondernder spezielle Fall
einer Menschenseele ist, trägt noch heute das feste und un-
verwischbare Gepräge dieser platonischen Grundbestim-
mimg. Ist schon diese nähere Bestimmung der höchsten Form
der Liebe als Tendenz des Nichtseins zum Sein mit dem
speziellen Inhalt der platonischen Lehre zu sehr behaftet
als daß wir sie hier zugrunde legen dürften, so sind dies
noch mehr diejenigen platonischen Charakteristiken dieses
den Philosophen konstituieren<Jen Aktus, die ihn als bloßen
Kampf, Streit, Gegensatz gegen den Leib und alles
Leben in Leib und Sinnen charakterisieren. Sie fuhren
schließlich dazu, das Ziel des Aktus, nämlich des Standes der
Seele, vor dem sich erst d^r Gegenstand der Philosophie
dem Geistesauge auftut, nicht in einem ewigen Leben
des Geistes im »Wesenhaften« aller Dinge, sondern in
ewigem Absterben zu sehen. Denn diese weiteren Be-
Stimmungen setzen bereits die rationalistische platonische
5*
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68 Vom Wesen der Philosophie usw.
Theorie und die (nach unserer Meinung falsche) Auf-
fassung Piatons, es sei i. alle anschauliche, d. h. nicht
begriffsmäßige Erkenntnis auch notwendig sinnlich und in
der spezifischen subjektiven Sinnes-Organisation des Men-
schen (Subjektivität sdler Qualitäten) bedingt, 2. es sei
nicht Tnur ein solcher Hang unserer leiblichen Natur, son-
dern diese Natur selbst in ihrer Grundartung, das in der
»Teilnahme am Wesenhaften« zu überwindende. D. h. Pia-
ton setzt, wenn er das Leben des Philosophen ein »ewiges
Sterben« nennt, den aus dem Rationalismus seiner Er-
kenntnislehre folgenden Asketismus schon voraus. Ja diese
Askesis wird ihm die für den Philosophen Erkenntnis-
disponjerende Haltung und Lebensform; ohne sie ist
philosophisches Erkennen unmöglich. Halten wir uns darum
hier, wo wir es mit dem Wesen der Philosophie — nicht
mit dem Eigengehalt der platonischen Lehre — zu tun
haben, nur an die beiden Grundbestimmungen Piatons, in
denen er für alle Zeiten das Tor zur Philosophie dem
Menschen aufgeschlossen hat: es bedürfe eines Ge-
samtaktes des Kernes der Person, der in der natürlichen
Weltanschauung und allem in ihr noch fundiertem Wissens-
verlangen I. nicht enthalten sei, um auch nur den Gegen-
stand der Philosophie vor das Geistesauge zu bringen und
2. es sei dieser Aktus in einem Akt vom Wesen einer be-
stimmt charakterisierten Liebe fundiert.
Dann dürfen wir — noch ehe wir diesen Aktus selb-
ständig charakterisieren — das Wesen der Geisteshal-
tung, die jedenfalls allem Philosophieren formell zugrunde
liegt, einstweilen definieren als : liebesbestimmter Ak-
tus der Teilnahme des Kernes einer endlichen
Menschenperson am Wesenhaften aller möglichen
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Vom Wesen der Philosophie usw. 69
Dinge. Und ein Mensch vom Wesenstypus des »Philo-
sophen« ist ein Mensch, der diese Haltung zur Welt ein-
nimmt und soweit er sie einnimmt.
Ist aber damit die allgemeine philosophische Geistes- 7
haltung auch schon zureichend bestimmt? Ich sage nein.
Denn es fehlt noch ein Moment, das der Philosophie und
dem Philosophen abzustreiten, ganz unmöglich ist. Es
besteht darin, daß Philosophie Erkenntnis ist und der
Philosoph ein Erkennender. Die Frage, ob diese Grund-
tatsache den Philosophen ziere oder nicht; ob sie gar ihn
und seiner Tätigkeit den höchsten Wesens-Rang mensch-
lichen möglichen Daseins verleihe oder nur einen irgend-
wie imtergeordneteren Rang irgendwelcher Stufe ihm
erteile, ist eine Frage zweiter Linie. Auf alle Fälle ist
Philosophie Erkenntnis. Gäbe es also eine Teilnahme
des Seinskemes einer endlichen Menschenperson am
Wesenhaften, die etwas anderes als »Erkenntnis« wäre,
oder eine Teilnahme, die über die Erkenntnis des Seien-
den noch hinausreichte, so folgte nicht, es sei der Philo-
soph kein Erkennender, sondern es sei Philosophie eben
übeiiiaupt nicht die unmittelbarste Teilnahme, die
dem Menschen am Wesenhaften vergönnt ist. In diesem
methodischen Sinne ist also jede mögliche Philosophie *
»intellektualistisch« — was immer auch ihr inhaltliches
Resultat sei. Ganz gewiß liegt es ausschließlich an dem
Gehalte der Sachwesenheiten und an ihrer Ordnung,
schließlich an dem Gehalte eines Wesens, das wir hier das
Urwesen aller Wesen uns zu nennen gestatten, ob es
gerade die Philosophie und d. h. ob es spontane, vom
menschlichen Subjekt ausgehende Erkenntnis sei, der
wesensmöglich diese innigste und letzte »Teilnahme« zu-
/
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70 Vom Wesen der Philosophie usw.
kommen kann. Denn nach dem Gehalte des Unvesens
richtet sich naturgemäß auch die Grundform des Teil-
nehmens an ihm. Der Orphiker, dem das im Seelenstande
der Ekstasis »Gegebene« ein chaotisches ungegliedertes
schöpferisches Alldrängen war, mußte natürlich leugnen,
daß der Philosophie als einer apollinischen Kunst diese
Teilnahme zukomme. Für ihn war nicht Erkenntnis, son-
dern der dionysische Rausch der Methodos zur letzten
Teilnahme am Urwesen. Ist der Urgehalt ein All-drängen,
so kann eben nur ein Mit- drängen, ist er ein ewiges
Sollen — wie Fichte lehrt — so kann nur Mit-sollen, ist
er eine All-liebe im johanneisch-christlichen Sinne, so kann
nur ein ursprüngliches Mit-lieben^mit dieser All -liebe, ist
er ein All-leben (im Sinne etwa von Bergsons >6lan vital«),
so könnte nur ein nur mit -fühlendes Mit -leben oder ein
Herausleben des Menschen aus diesem Allleben zu den
Dingen, als den Übergangsgestalten dieses »Lebens« hin
der rechteMethodos zur un mi ttelb arstenTeilnahme sein.
Ist das Urwesen im altindischen Sinne ein all-träumendes
Brahman, so wird unser Mit-träumen die tiefste und letzte
Teilnahme sein, ist es — in Buddhas Sinn — ein Unwesen
oder das Nichts, so nur die eigene Seinsauf hebung in einem
absoluten Tode — das > Eingehen in Nirwana « . Aber auch,
wenn einer dieser Fälle oder ein analoger Fall gälte —
so würde nie und nimmer folgen, es sei Philosophie etwas
anderes als Erkenntnis, d. h. als diejenige besondere
Artung von Teilnahme am Wesenhaften, die Erkennt-
nis heißt. Der Philosoph qua Philosoph könnte — wenn
er zu einem dieser Resultate käme — nur ganz am Ende
seine;ß Weges, an dem er das Wesenhafte sozusagen noch
wie am anderen Ufer liegen sähe, aufhören Philosoph zu
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Vom Wesen der Philosophie usw. 7 i
sein; nicht aber könnte er der Philosophie eine andere
Aufgabe als Erkenntnis setzen. Undimnier erst nach dem
Stattfinden einer so nichterkenntnismäßigen Teilnahme
am Wesenhaften, könnte der Philosoph im reflektiven
Rückblick auf den Weg, auf dem er zu dieser Teilnahme
gelangte, diesen Weg durch Angabe einer inneren Tech-
nik zur »Teilnahme« schildern. Wer also diesem forma-
len »Intellektualismus« der Philosophie entrinnen will, der
weiß selbst nicht, was er will. Man könnte ihm nur sagen,
er habe eben seinen Beruf verfehlt; er habe aber kein
Recht, aus der Philosophie und dem Philosophen etwas
Anderes zu machen als sie sind. Aber genau so unsinnig,
wie den formalen Intellektualismus der Philosophie zu
leugnen, wäre das umgekehrte Verfahren, aus ihm irgend
etwas gewinnen oder schließen zu wollen über den mate-
rialen Gehalt des Wesenhaften, an dem der Philosoph
ursprünglich eine Teilnahme sucht. Denn so sicher der
Philosoph an die Teilnahme am Wesenhaften durch Er-
kenntnis (oder soweit es durch Erkenntnis möglich ist),
gebunden ist; so sicher ist das Urwesen nicht a priori ver-
pflichtet, dem Erkennenden qua Erkennenden letzte Teil-
nahme zu gewähren. Denn die Art der Teilnahme richtet
sich ausschließlich nach dem Wesensgehalt des Urwesens
'— nicht aber nach der Wesenhafrigkeit des Gehalts.
Der heute vielbeliebte Schluß vom methodischen Intellek-
tualismus der Philosophie auf den Satz, es sei auch ihr
Gegenstand das Erkennbare oder die mögliche »Erkennt-
nis« der Welt, ist also^ein ganz unsinniger. Es wäre auch
ganz falsch, ^u meinen, daß irgendein logischer, theoreti-
scher Grund für die These vorliege, Philosophie habe es
von Hause aus nicht mit dem Wesenhaften der Dinge, son-
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^ 2 Vom Wesen der Philosophie usw.
dem mit der Erkenntnis der Dinge qua Erkenntnis zu tun
und es sei alles mögliche Andere an den Dingen ein bloßer
»Rest«, der den Philosophen »nichts angehe«. Nicht ein
logischer, sondern ein moralischer Grund, das moralische
Laster des Hochmutes der philosophierenden gelehrten
Person ist es, was den Schein hervorruft, es sei schon
a priori ausgeschlossen, daß der methodisch streng intel-
lektualistische Gang der Philosophie (nach moralischer
Besiegung der natürlichen Erkenntnis-Hemmung) zu einem
solchen Material des Wesenhaften hinfuhren könne, das aus
seiner Natur heraus als den letzten Aktus des Philosophen
eineselbstnochautonomphilosophischeund »freie« Selbst-
begrenzung der Philosophie als Philosophie über-
haupt erfordere; daß also der Gehalt des Urwesens schließ-
lich eine andere, ihm angemessenere Form der Teilnahme
notwendig machen könne als die philosophische Erkennt-
nishaltung. Es kann also sehr wohl sein, daß sich der
Philosoph gerade in strengster Konsequenz seines Philo-
sophierens einer anderen und höheren Teilnahmeform am
Wesenhaften frei und autonom unterordnen muß; ja daß
der Philosoph sich selbst als Philosophen, wie die philo-
sophierende Vernunft überhaupt der vom Gehalt des Ur-
wesens selbst geforderten nichtphilosophischen Art der
Teilnahme zum freien Opfer darbringe. Weit entfernt, daß
der Philosoph dadurch sein methodisches autonomes Er-
kenntnisprinzip plötzlich aufgäbe und verließe oder vor
etwas Außerphilosophischem gleichsam kapitulierte, wäre
es — bei solchem Ergebnis seiner Philosophie — sogar
nur die letzte Konsequenz dieses Erkenntnisprinzips selbst,
sich samt seinem methodischen Prinzip dem Sachgehalte
des von ihm erkannten Wesenhaften unterzuordnen oder
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Vom Wesen der Philosophie usw. 73
es gegenüber der, für diesen Gehalt allein angemessenen
Form der Teilnahme frei zu opfern. Ja der Vorwurf der
philosophischen Heteronomie und des Vorurteils resp. der
mangelnden »Voraussetzungslosigkeit« fiele umgekehrt
Jenen zur Last, die diesen Akt des Opfers ganz unan-
gesehen des positiven Gehaltes des Wesenhaften und
des Urwesens aller Dinge auf alle Fälle nicht zu voll-
ziehen, sich durch ein bloßes >fiat< ihres WoUens von
vornherein entschlossen hätten. Denn ganz willkürlich
setzten Jene ja schon voraus, daß das Urwesen einen sol-
chen Gehalt habe, daß es durch «ein mögliches Gegen-
stand-Sein (im Unterschiede z. B. zu seinem möglichen
Akt-sein), auch zur vollen Teilnehmung gebracht werden
könne. Das Sein der Gegenstände (und der Nichtgegen-
stände) und das Gegenstand sein des Seins, dessen
letztere ^öglichkeitsgrenzen auch a priori Möglichkeits-
grenzen der Erkenntnis sind, haben wir aber aufs aller-
schärf ste zu unterscheiden. Das Sein kann ja viel
weiter reichen als das gegenstandsfähige Sein. Nur
wenn das Sein des Wesenhaften — und vor allem des
Urwesens — seinem Gehalt nach gegenstandsfähig
ist, so wird auch Erkenntnis die ihm adäquate Form
möglicher Teilnahme von ihm sein; und Philosophie
wird sich in diesem Falle nicht im obigen Sinne selbst
zu begrenzen haben. Daß das aber a priori sein müßte,
wäre ein pures Vorurteil, eine gerade alogische > Voraus-
Setzung«, und jeder Philosophie, die diese Voraussetzung
macht, müssen wir das Prädikat echter Autonomie und
Voraussetzungslosigkeit radikal absprechen.
Schon hier sei ein Beispiel gegeben, das uns noch mehr
wie ein Beispiel bedeuten kann. Die großen Väter der
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//
74 Vom Wesen der Philosophie usw.
europäischen Philosophie Piaton und Aristoteles waren mit
Recht von der Idee des Zieles der Philosophie als einer
Teilnahme des Menschen am Wesenhaften ausgegangen.
Da das Ergebnis ihrer Philosophie das Urwesen als ein
mögliches Gegenstand-sein und damit als ein mögliches
Korrelat der Erkenntnis bestimmte, so mußten sie auch in
der Erkenntnis (oder einer bestimmten Art von Erkennt-
nis) die abschließende Teilnahme am Wesenhaften als für
den Menschen erreichbar ansehen. Und zwar durch spon-
tane Akte des Geistes. Sie konnten demgemäß konsequent
nicht anders als im > Philosophos < , im > Weisen < die höchste
und vollkommenste Form des Menschseins überhaupt
erblicken. Eben darum hatten sie auch keinen Grund,
einen die Philosophie selbst wesensmäßig begrenzenden
Aktus am Schlüsse ihres Philosophierens zu vollziehen.
Selbst ihre Gottesidee mußte sich in der Idee eines unend-
lichen Weisen oder eines »unendlichen Wissens des Wis-
sens« (Aristoteles) für sie darstellen.
Völlig anders — und zwar gerade aus dem philosophi-
schen Prinzip der großen Alten selbst heraus und kraft
eben seiner Konsequenz — mußte es werden, wenn —
sei es mit Recht oder Unrecht — zu Beginn der christ-
lichen Epoche der Gehalt des Urwesens ak ein unend-
licher Aktus schöpferischer und barmherziger Liebe an-
gesehen und erlebt wurde. Denn unter derselben Voraus-
setzung, es sei Philosophie ihrem Ziele nach i . eine Teil-
nahme am Sein des Urwesens, 2. sie sei wesenhaft Er-
kenntnis, konnte bei diesem materialen Ergebnis, Philoso-
phie und zwar Philosophie in ihrer Eigenschaft als Erkennt-
nis, aus der Natur der Sache heraus ihr autonom gesetz-
tes Ziel nicht mehr erreichen. Denn Teilnahme des Men-
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Vom Wesen der Philosophie usw. 7 5
sehen an einem Sein, das nicht Gegenstandsein, sondern
Aktussein ist, kann auch nur Mitvollzug dieses Aktus
sein und schon darum nicht Erkenntnis von Gegenstän-
aen; und es muß zweitens diese Teilnahme sich in einem
Hineinstellen des persönlichen Aktzentrums des Menschen,
soweit dieses Zentrum primär Liebeszentrum ist — nicht
also Erkenntniszentrum — in jenes wesenhafte Ursein als
eines unendlichen Liebesaktus, also als ein Mit -lieben
mit ihm schon vollendet haben, wenn Philosophie ihre
Wesensart der Teilnehmung, eben die durch Erkenntnis
auch erreichen, ja dem Urwesen gegenüber sogar aller-
erst beginnen will. Es mußte also die strenge logische
Folge sein, daß — unter dieser Voraussetzung über den
Gehalt (Liebe) und über die Seinsweise des Urwesens
(Aktus) — die Philosophie kraft ihres eigenen Prinzips
sich selber frei und autonom selbst begrenzte und ge-
gebenenfalls sich selbst und ihre Erkenntnisquelle, die Ver-
nunft einer anderen Wesens form der Teilnehmung am
Urwesen auch frei und autonom zum Opfer darbrachte;
d. h. die Philosophie mußte sich frei und autonom selbst
als »Ancilla des Glaubens«*, nicht des Glaubens als sub-
jektiven Aktes, aber des Glaubens als^objektiven Gehalts
bekennen, da der Glaube an die Worte Christi als der
Glaube an die Worte der Person, in der man die letzte
adaequateste Einigung und Teilnahme mit dem Urwesen
dieses neuen Gehalts annahm, als ein unmittelbarerer und
dem Gehalte wie der Seinsform dieses Urwesens ange-
messenerer angesehen werden mußte als die Teilnehmung
durch Erkenntnis. Die Philosophie konnte sich — wenn
* Nicht notwendig als »ancilla theologiae«. Denn der Theologe verhält sich
zum Heiligen so wie der Philosophiewissenschaft Betreibende (Philosophie-
gelehrte) zum Philosophen.
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^6 Vom Wesen der Philosophie usw.
der Philosoph Überhaupt die Wahrheit dieser christlichen
Urwesensbestimmung anerkannte — nur als vorläufigen
Weg für eine ganz andere Art der Teilnehmung ansehen
— methodisch nicht anders, wie sie dies ja auch müßte,
wenn Fichtes Lehre vom unendlichen Sollen öder Berg-
sons Lehre vom 6lan vital wahr wären. Und demgemäß
mußte der Rang desPhilosophos oder des Weisen vor
dem Range des Heiligen an die zweite Stelle rücken
— und der Philosoph bewußt sich dem Heiligen unter-
ordnen — nicht anders, wie der Philosoph sich unter der
Kantischen^ Voraussetzung eines sog. Primates der prakti-
schen Vernunft dem moralischen Exempel des praktisch
Weisen, unter Fichtes Voraussetzung sogar dem sittlich-
praktischen Reformator, unter Bergsons Voraussetzung
dem sich ein- und mit-fuhlenden Zuschauer des universellen
Lebensschrittes unterordnen, sein freier Diener (ancilla)
sein, ja sogar je seine oberste Quelle aller materialen Daten
fiir sein philosophisches Denken in diesen Typen achten
mußte, — Daten, die seiner »Erkenntnis« so »gegeben«
sind, wie das Gegebene der Wahrnehmung zufälligen Seins
dem Denken in der natürlichen Weltanschauung > gegeben <
ist. Selbstverständlich behielt (in unserem Beispiel) die
Philosophie jene alte Würde, die sie bei Piaton und
Aristoteles besitzt — die Würde, nicht »eine Wissen-
schaft«, sondern die autonome JCönigin der Wissenschaf-
ten zu sein, auch in diesem neueiTStähJe der christlichen
Epochen durchaus bei. Aber es wuchs ihr zu dieser alten
Würde der regina scientiarum noch die — unter Vor-
aussetzung der Wahrheit der neuen Wesensbestimmung
' Kant unterscheidet daher logisch notwendig zwei Deiinitionon der Philoso-
phie, ihren »Weltbegriff« und ihren »Schulbegriff«.
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Vom Wesen der Philosophie osw. j y
des Urwesens — neue und selbstverständlich weit er-
habenere und jenes Königtum noch überragende Würde
hinzu^ auch noch »Ancilla*, d. h. die gemäß dem Bibel-
worte »Selig die (freiwillig) Armen am Geiste« (fMxdQun
cl mcDxol T0 Ttvtvfjuxti) freiwillige Dienerin und (sachlich)
Vorstufe des Glaubens (praeambula fidei)'zu sein. Dieser
Schritt freiwilliger und sach-notwendiger philoso-
phischer Selbstbegr^nzung der Philosophie war hierbei
nur die letzte und äußerste Verwirklichung ihrer wahren
Autonomie, war also das genaue Gegenteil der Einfüh-
rung eines heteronomen Prinzips, das die Philosophie von
au ßen her begrenzt; war auch das Gegenteil jener anderen
Begrenzung, welche die Philosophie nach den möglichen
Gegenständen der Erkenntnis hin begrenzt hätte (etwa im
Kantschen Sinne gegen ihre Dingansichseite hin im Gegen-
satz zur Erscheinungsseite oder gar in einem agnostischen
Sinne). Im Gegenteil galt innerhalb der gesamten Epoche
der europäisch-christlichen Philosophie die Philosophie
nach der Gegenstandsseite hin überhaupt für unbegrenzt,
indem sie ja den Anspruch erhob, Metaphysik zu sein und
alles Seiende aus seinen letzten Gründen und Wurzeln zu
erkennen.
Man weiß nun freilich, daß die innere Selbstentfaltung
der sog. »neueren Philosophie« bis zur Gegenwart (freilich
in sehr verschieden großen Schüben) schließlich zu einem
Zustande gefuhrt hat, der ungefähr das genaue Gegenteil
von dem darstellt, was in dem Doppelanspruch der älte-
ren Idee von Philosophie, — der Idee, gleichzeitig freie
Dienerin des Glaubens (als ihrer höchsten Würde) und
Königin der Wissenschaften zu sein (als ihrer zweithöch-
sten Würde) — ausgedrückt war. Von einer »freien Magd«
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7 8 Vom Wesen der iPhilosophie usw.
des Glaubens wurde sie aufweiten Strecken Usurpatorin
( / des Glaubens, gleichzeitig aber zur ancilla scientiarum;
lezteres in verschiedenem Sinne, indem manjhr die Auf-
gabe stellte, entweder die Resultate der Einzelwissen-
schaften zu einer widerspruchsilosen sog. Weltahschauung
zu »vereinigen« (Positivismus) oder als eine Art Polizei
der Wissenschaften deren Voraussetzungen und Methoden
genauer zu fixieren, als es diese selbst tun (kritische oder
sog. »wissenschaftliche« Philosophie).
Es läßt sich leicht — aus Gründen der Sache heraus
— zeigen, daß das neue Grundverhältnis der Philosophie
zum Glauben und den Wissenschaften die tiefste, eingrei-
fendste und folgenreichste Verkehrung der wahren Ver-
hältnisse darstellt, welche die europäische Geistesbil-
dung jemals erreicht hat und daß auch diese Verkehrung
nur ein Sonderbeispiel ist für die weit umfassendere Er-
scheinung jenes inneren Umsturzes aller Wertord-
n,ung, jener D^sordre des Geistes und Herzens, welche
die Seele des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters aus-
macht. Es ist recht eigentlich der Sklavenaufstand in
der Welt des Intellektuellen, den wir hier vor uns
haben und der mit dem gleichen Aufstand des Niederen
gegen das Höhere im Ethos (Erhebung des singularisti-
schen Individualismus gegen das Solidaritätsprinzip, der
Nützlichkeitswerte über die Lebenswerte und Geisteswerte,
dieser letzteren Werte aber gegen die Heilswerte), in den
Institutionen (Erhebung zuerst des Staates gegen die
Kirche, der Nation gegen den Staat, der ökonomischen
Institute gegen Nation und Staat), in den Ständen (Klasse
gegen Stand), in der Geschichtsauffassung (Technizismus
und ökonomische Geschichtslehre), in der Kunst (Bewe-
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Vom WÄsen der Philosophie usw. jg
gung des Zweckgedankens gegen denFormgedankert, des
Kunstgewerbes gegen die hohe Kunst^ des Regisseur-
theaters gegen das Dichtertheater) usw. usw. eine eng-
zusammengehörige Symptomatik eben jenes Gesamt-
Umsturzes der Werte bildet.
Auch die Gleichzeitigkeit des Vorgangs, der die
Philosophie zu einer dem Glauben feindlichen, ja ihn usur-
pierenden »Weltweisheit« (Renaissance), und mehr und
mehr zu einer würdelosen Sklavin und Hure, bald dieser
bald jener Einzelwissenschaft (bald der Geometrie, der
Mechanik, der Psychologie etc.) gemacht hat, darf uns
pichtbefremden. Beides gehört wesensmäßig zusammen.
Diese Vorgänge folgen nur aufs genaueste dem Prinzip:
Daß die Vernunft selbst so geartet ist, daß sie — als
welcher Autonomie und Macht nach unten, sowohl gegen-
über allem Triebleben als in allen »Anwendungen« ihrer
Gesetze innerhalb der sinnlichen Vielheit der Erscheinungs-
reihen, mit ewigem Rechte gebührt, aber gleichzeitig ge-
bührt freie und demütige selbst noch autonom vollzogene
Unterwerfung unter die götdiche Offenbarungsordnung ^
— heteronom nach unten im selben Maße bestimmt
werden muß, als sie die im Wesen der Dinge selbst lie-
gende Bedingung ihres Rechtes zur vollen Autonomie
nadi unten verleugnet: — nämlich ihre lebendige in der
Tugend der Demut und der freien Opferfähigkeit fun-
dierte Verknüpfung mit Gott als den[i Urlichte selbst. Nur \
als »freie Magd« des Glaubens vermag die Philosophie i
die Würde einer Königin der Wissenschaften zu bewahren
und sie muß notwendig Dienerin, ja Sklavin und Hure
der »Wissenschaften« werden, wenn sie sich erkühnt, sich ;
als Herrin des Glaubens zu geberden.
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8o Vom Wesen der Philosophie usw.
Wenn ich die Worte »Philosophie« und »die Wissen-
schaften« in einem Verschiedenes bedeutendem Sinne ge-
brauche und es damit strengstens ausschließe, daß die
Philosophie als Königin der Wissenschaften selbst unter
^sie gehöre, oder »eine Wissenschaft« sei oder sog. »wis-
senschaftliche Philosophie« sein müßte, so möchte ich
schon hier diesen Sprachgebrauch rechtfertigen. Insbeson-
dere sei gegenüber Edmund Husserl, dessen sachliche
Idee von der Philosophie der hier entwickelten noch am
. nächsten steht, der aber ausdrücklich die Philosophie als
»Wissenschaft« bezeichnet, der hier betätigte abweichende
Sprachgebrauch gerechtfertigt.
Denn nicht um eine sachliche, sondern um eine, was
^ wenigstens den Kern der, Sache betrifft, nur terminolo-
gische Differenz handelt es sich hier. Husserl unterschei-
det — prinzipiell genau wie ich später — sachlich evidente
Wesenserkenntnis von Realerkenntnis. Realerkenntnis
verbleibt wesensmäßig in der Sphäre der Wahrschein-
lichkeit. Die Philosophie ist in ihrer Grunddisziplin aber
evidente Wesenserkenntnis. Husserl unterscheidet die
Philosophie femer von den deduktiven Wissenschaften
der von ihm so genannten »idealen Gegenstände« (Logik,
Mannigfaltigkeitslehre und reine Mathematik). Er scheint
dabei freilich sowohl der Aktphänomenologie überhaupt
als der Phänomenologie des Psychischen einen Vorzug
vor der Sachphänomenologie und den Phänomenologien
anderer materialer Seinsgebiete, zum Beispiel der Phäno-
menologie der Naturobjekte, einzuräumen, welcher Vor-
zug ungerechtfertigt ist. Da aber Husserl für die Philoso-
phie nicht nur (mit meiner vollen Beistimmung) »Strenge«
fordert, sondern ihr außerdem den Titel einer »Wissen-
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Vom Wesen der Philosophie usw. 8 1
Schaft« gibt, ist er zunächst genötigt, den Namen Wissen-
schaft grundsätzlich bedeutungsverschieden anzuwen-
den : einmal für Philosophie als evidente Wesenserkenntnis,
dann für die positiven Formalwissenschaften der idealen
Gegenstände und für alle induktive Erfahrungswissen-
schaft. Da wir aber den alten ehrwürdigen Namen der
Philosophie für das Erste schon besitzen, so ist nicht
einzusehen, waruntiwir völlig unnötig einen Namen zwei-
fach verwenden sollen. Angst, daß Philosophie, wenn sie
nicht der »Wissenschaft« subsumiert werde, etwa gar
einem anderen analogen Oberbegriff subsumiert werden
müsse, sei es dem der Kunst usw., wäre ja völlig un-
sinnig, da doch nicht alle Dinge »subsumiert werden«
müssen, gewisse Dinge vielmehr als autonome Sach- und
Tätigkeitsgebiete solche Subsumption auch abzulehnen
das. Recht haben. Unter ihnen befindet sich die Philoso-
phie in erster Linie, die wirklich nichts anderes ist als eben
Philosophie, die ihre eigene Idee auch von »Strenge«,
nämlich von philosophischer Strenge besitzt, sich also
nicht etwa nach 3er besonderen Strenge der Wissenschaft
(bei messenden und zählendenr Verfahren »Exaktheit «ge-«
nannt) als einem ihr vorschwebenden Ideale zu richten
hat. Aber die Sache haf auch einen historischen Hinter-
grund. Ich glaube, Husserl gebraucht jenen griechischen
Begriff von Wissenschaft für die Philosophie, der etwa an
Sinnumkreis mit der platonischen imonj/i^i] zusammenfällt
und der Piaton die Sphäre der do^a (d. h. auch aller Art
von Wahrscheinlichkeitserkenntnis) gegenüberstellt. In
diesem Falle freilich wäre die Philosophie nicht nur »eine«
strenge Wissenschaft, sondern sogar die einzige eigent-
liche Wissenschaft und alles andere wäre im Grunde
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8 2 Vom W^sen der Philosophie usw.
überhaupt gar nicht Wissenschaft im strengsten Sinne.
Nun aber muß man sehn, daß der praktische Sprachge-
brauch sich im Laufe der Jahrhunderte nicht nur verändert,
sondern daß er sich, und zwar aus den tiefsten kultur-
geschichtlichen Gründen heraus, sogar umgekehrt
hat. Eben das, was mit Ausnahme der Formalwissen-
Schäften, Piaton die Sphäre der AJf« nannte, ist der Inbe-
griff dessen geworden, was man seit einigen Jahrhunder-
ten fast bei allen Nationen »Wissenschaft« und die »Wissen-
schaften« nennt. Ich wenigstens habe noch keinen Men-
schen in Verkehr und Büchern getroffen, der bei dem
Wort »Wissenschaft« nicht zunächst an die sog. positive
Wissenschaft dächte, sondern dächte etwa an die immi^ßMi
Piatons oder an die Philosophie als »strenge Wissenschaft«
im Husserlschen Sinn, die doch auch alle deduktive Mathe-
matik nicht in sich enthalten soll. Ist es mm zweckmäßig
und historisch berechtigt, diesen Sprachgebrauch wieder
umkehren zu wollen und den griechischen Gebrauch wieder
einzuführen? Ich kann es nicht finden. Will man nicht eine
fürchterliche Äquivokation ewig sanktionieren, so müßte
•man ja sogar allen induktiven Erfahnmgswissenschaften
. das Recht, sich Wissenschaft zu nennen, absprechen, was
doch auch Husserl sicher nicht möchte. — Aber nicht nur ,
bei den Worten Philosophie und Wissenschaft gehn Hus-
serls und mein Sprachgebrauch auseinander, noch schärfer
tun sie es bei den Worten Weltanschauung und Welt-
anschauungsphilosophie. Der plastische Ausdruck »Welt-
anschauung« wurde yon einem geistesgeschichtiichen For-
scher ersten Ranges, von Wilhelm von Humboldt, unserer
Sprache gegeben und bedeutete vor allem die (durch Re-
flexion nicht auch notwendig bewußten und erkannten) jc-
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Vom Wesen der Philosophie usw. 83
weiligen faktischen Formen des »Weltanschauens« und
der Gliederung der Anschauungs- und Wertgegebenheiten
seitens sozialer Ganzheiten (Völker, Nationen, Kultur-
kreise). In den Syntaxen der Sprachen, ^aber auch in Reli-
gion, Ethos usw. lassen sich diese > Weltanschauungen«
finden und erforschen. So gehört auch, was ich »natürlicl^e
Metaphysik« von Völkern nenne, in die Sphäre dessen,
was Weltanschauung als Wort umfassen soll. Der Aus-
druck Weltanschauungsphilosophie bedeutet nun für mich
so viel wie Philosophie der für die Gattung »homo« kon-
stant »natürlichen« und der je besonderen wechselnden
»Weltanschauungen« — eine sehr wichtige Disziplin, wie
sie besonders Dilthey zur philosophischen Grundlegung
der Geisteswissenschaften neuerdings mit Glück zu for-
dern suchte. Husserl dagegen nennt Weltanschauungs-
philosophie genau das, was ich mit weit mehr histori-
schem Recht die »wissenschaftliche Philosophie«
nenne, d. h. den aus dem Geiste, des Positivismus her-
ausgewachsenen Versuch, aus jeweiligen »Ergebnissen
der Wissenschaft« eine »abschließende« Metaphysik oder
sog. »Weltanschauung« zu machen oder dodi die Philo-
sophie in Wissenschaftslehre, d. h. in Lehre von Prinzipien
und Methoden der Wissenschaft aufgehen lassen zu wol-
len. In ausgezeichneten Worten tadelt nun Husserl Ver-
suche solcher Art, aus Grundbegriffen einer Einzelwissen-
schaft (»Energie« , »Empfindung« , »Wille«) oder aller zu-
sammen eine Metaphysik zu fabrizieren und gibt Ver-
suche, wie sie Ostwald, Verworn, Haeckel, Mach gemacht
haben, als Beispiele an, an denen zu zeigen ist, wie durch
sie dem wesensunendlichen Fortschritt aller wissenschaft-
lichen Dingwahmehmung, -beobachtung, -Untersuchung an
6»
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84 Vom Wesen der Philosophie usw.
irgendeiner Stelle willkürlich Halt geboten wird. Dies
ist ganz meine eigne Meinung. Die »wissenschaftliche Phi-
losophie« ist in der Tat ein Unding, da positive Wissen-
schaft ebenso ihre Voraussetzungen selbst zu setzen,
alle ihre möglichen Folgen selbst zu ziehen, und auch
ihre Widersprüche selbst auszugleichen hat,\Philosophie
aber sich dabei mit Recht vom -Leibe hält, wenn sie ihr
dreinzureden sucht. Erst das Ganze der Wissenschaften
samt ihren Voraussetzungen, z. B. die Mathematik samt
den sie tragenden und vom Mathematiker selbst gefunde-
nen Axiomen wird für die Phänomenologie in dem Sinne
wieder zum Problem, daß dieses Ganze phänomenologisch
reduziert, gleichsam in Anfuhrungszeichen gesetzt und auf
seine anschaulichen Wesensgrundlagen hin untersucht
wird. Nicht richtig aber erscheint es mir, daß Husserl die
Phantasieausgeburten von Spezialforschem, die Philoso-
phen spielen möchten — und alle Wissenschaften sind
Spezial Wissenschaften -;— also eben die sog. »wissenschaft-
liche Philosophie « mit dem guten Namen Weltanschauungs-
philosophie bedenkt. Weltanschauungen werden und wach-
sen, nicht aber sind sie von Gelehrten erdacht. Und auch
Philosophie kann, wie Husserl richtig hervorhebt, nie Welt-
anschauung, höchstens Weltanschauungs lehre sein. Sollte
man aber meinen, die Weltanschauungslehre sei zwar eine
wichtige Aufgabe, aber nicht der Philosophie, sondern
nur der historischen und systematischen Geisteswissen-
schaften, so ist dies zwar richtig für die Lehre von den
einzelnen positiven Weltanschauungen, z. B. der indischen,
der chrisdichen usw. Aber es gibt auch noch eine Philoso-
phie einmal der »natürlichen Weltanschauung«, sodann
der .» möglichen < materialen Weltanschauungen überhaupt,
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Vom Wesen der Philosophie usw. 85
welche die historische Grundlage der diesbezüglichen
geisteswissenschafdichen Probleme einer positiven Welt-
anschauungsleht;e ist. Und diese Weltanschauungslehre
wäre auch in der Lage, mit Hilfe einer reinen ideal voll-
endet gedachten philosophischen Phänomenologie den
Erkenntniswert der Weltanschauungen abzumessen. Sie
vermöchte auch zu zeigen, daß die Strukturen der fakti-
schen Weltanschauungen im Unterschiede von den jour-
nalistischen Tagesprodukten der » wissenschafdichen Philo-
sophie« die Struktur der faktischen Wissenschaftsstufen
und -arten der Völker und Zeiten — ja schon Dasein und
Nichtdasein einer »Wissenschaft« in westeuropäischem
Sinne überhaupt — noch fundieren und bedingen, und
daß jeder Variation einer Wissenschaftsstruktur eine solche
der Weltanschauung gesetzlich vorhergegangen ist. Und
erst hier besteht vielleicht auch eine tiefe sachliche Diffe-
renz zwischen Husserls und meiner Meinung — insofern
nämlich Husserl geneigt ist, den positiven Wissenschaften^
auch eine weit größere faktische Unabhängigkeit von den
mit ganz andern Dauerdimensionen als sie die Fortschritte
der positiven Wissenschaften aufweisen, überaus langsam
und schwer wechselnden Weltanschauungen zuzugestehn
als ich es tue. Denn die Wissenschaftsstrukturen, ihre fakti-
schen Systeme von Grundbegriffen und -prinzipien, schei-
nen mir in der Geschichte sprunghaft mit den Welt-
anschauungen zu wechseln und nur innerhalb jeder ge-
gjfebenen Struktur einer Weltanschauung, z. B. der euro-
päischen, scheint mir die Möglichkeit eines prinzipiell un-
begrenzten Fortschritts der Wissenschaft zu liegen. —
Angesichts meiner Behauptung, daß es eine moralische
Haltung sei, die für die besondere Art der Erkenntnis,
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86 Vom Wesen der Philosophie usw.
die philosophisch heißt, wesensnotwendige Vorbedingung
sei, mag mancher an Lehren denken, die besonders seit
Kant und Fichte bis zur Gegenwart einen starken Anhang
gefunden haben. Ich meine die Lehren, die man »Primat
der praktischen Vernunft vor der theoretischen« (zuerst
Kant) genannt hat. In der Tat hat z. B. W. Windelband
in seinem bekannten Buche über Piaton die sokratische
Reform und ihre platonische Fortwirkung mit dieser Lehre
Kants in einen Zusammenhang gebracht, der nicht nur •
nicht besteht, dessen Annahme sogar eine radikale Ver-
kennung dessen einschließt, was Sokrates und Pläton
faktisch gemeint haben und was (dem Grundgedanken
nach) auch wir als wahr ansehen. Eine Lehre vom sog.
Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen
kennen die großen antiken Väter der europäischen Philo-
sophie nicht nur nicht; es ist vielmehr sonnenklar, daß
sie dem theoretischen Leben (^ecogscb) einen unbedingten
Wertvorzug vor dem praktischen Leben (ngdtreiv) gewäh-
ren. Gerade diesen Wertvorzug aber leugnet jede der
Formen, welche die Lehre vom Primat der praktischen ^
Vernunft seit Kant angenommen hat. Das wahre Ver-
hältnis beider Anschauungen besteht darin, daß die antike
Lehre eine bestimmte moralische Geisteshaltung (jenen
Aufschwung des ganzen Menschen zum Wesenhaften) zur
bloßen Vorbedingung philosophischer Erkenntnis macht,
d. h. zur Bedingung, in das Sachenreich einzudringen
oder doch bis zu seiner Schwelle vorzudringen, mit dem
es die Philosophie zu tun hat; und daß gerade die Über-
windung aller nur praktischen Einstellungen auf das
Dasein es sei, was — neben anderem — Aufgabe und
Ziel dieser moralischen Geisteshaltung ist. Umgekehrt
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Vom Wesen der Philosophie usw. 87
meint Kant^ daß die theoretische Philosophie überhaupr
keine spezifische moralischeVorbedingung im Philosophen
besitze, daß aber auch im fingierten Falle einer äußersten
Vollendung der Philosophie es er§t das Erlebnis des Sol-
lens und der Pflicht sei, das uns Teilnahme an jener
> metaphysischen« Ordnung gewähre, in die nach seiner
Meinung theoretische Vernunft nur vergeblich und unter
Trugschlüssen einzudringen suche; Fichte aber (und die
gegenwärtigehierin von ihm abhängige Schule H. Rickerts)
machte die theoretische Vernunft geradezu zu einer For-
mation der praktischen, indem er das Sein der Dinge
der bloßen Forderung (dem idealen Gesolltsein) ihrer An-
erkennung durch den Akt des Urteils gleichsetzt; die
pflichtmäßige. Anerkennimg des sog. Wahrheitswertes
das Sein der Dinge also geradezu fundieren, wenn nicht
gar es in die »Forderung« dieser Anerkennung aufgehen
läßt. Was also bei Piaton eine nur subjektive, obzwar
als solche notwendige Voraussetzung für das Ziel der Phi-
losophie, für die theoretische Seinserkenntnis ist, das ist
für diese Denker ein Primat des Moralischen in den ob-
jektiven Ordnungen selbst — wogegen nun wieder fast
genau umgekehrt die Alten auch im Guten nur einen
höchsten Seinsgrad (Svxcog Sv) zu finden meinten. Und darum
ist es gerade diese Lehre vom Primate der praktischen
Vernunft, welche den Gedanken, daß fiir die pure Er-
kenntms bestimmter seiender Gegenstände gerade eine
gewisse moralische dauernde Lebensform die Vor-
aussetzung sei und daß gerade die metaphysischen Täu-
schungen an die > natürliche« und an die vorwiegend
.»praktische« Haltung zur Welt geknüpft seien, am aller-
stärksten verschüttet und zur Seite gedrängt ha^t.
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8 8 Vom Wesen der Philosophie usw.
Die Thesis, die hier vertreten ist, fällt mit keiner dieser
beiden Ideenkreise genau zusammen, wenn sie sich auch
der antiken Meinung weit erheblicher nähert wie jener
modernen. Zunächst ist es klar, daß es in allen besoÄde-
ren Fragen der Werteinsicht und des Werterkennens
(die ich im Unterschiede von den Alten sowenig als bloße
Funktion des Seins-erkennens ansehen kann wie den posi-
tiven Wert selbst als einen je höheren Seinsgrad) es das
der Werteinsicht vorangehende Wollen und Handeln ist,
welches die Hauptmotive aller Werttäuschungen resp.
Wertblinciheiten ausmacht. Gerade darum muß den Men-
schen, wenn er überhaupt zu Wert-einsicht (und in ihr
fundiertes mögliches Wollen und Handeln) gelangen soll,
zuerst Autorität und Erziehung so zu handeln und so
zu wollen bestimmen, daß diese Täuschungsmotive seiner
Werteinsicht aufgehoben werdenv Der Mensch muß zu-
erst auf mehr oder weniger blinde Weise objektiv richtig
und gut wollen und handeln lernen, bevor er das Gute
als gut auch einzusehen vermag und einsichtig das
Gute zu wollen imd zu verwirklichen imstande ist. Denn
obzwar der Satz des Sokrates, daß derjenige, der das
Gute klar erkenne es auch wolle und tue (in den Modi-
fikationen, die ich ihm anderwärts^ gegeben habe), inso-
fern richtig bleibt, als ein vollkommen gutes Verhalten
nicht nur die objektive Güte des Gewollten, sondern auch
die evidente Einsicht in seinen objektiv gegründeten Wert-
vorrang als das je »Beste« in sich einschließt, so gilt doch
nicht minder, daß die Erwerbung der subjektiven Be-
fähigung zu dieser Einsicht ihrerseits an die Wegräu-
^
^ Siehe hierzu mein Buch : Der Formalismus in der Ethik und die materiale
Wertethik, Teil I.
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Vom Wesen der Philosophie usw. 89
mung ihrer Täuschungsmotive — und das^ind vor
allem Lebensformen, die in gewohnheitsmäßig geworde-
nem objektiv schlechtem Wollen und Handeln bestehen,
— geknüpft ist. Es sind immer irgendwie vorhergehende
verkehrte praktische Lebensweisen, die unser Wert-
und Wertrangbewußtsein auf dasjenige Niveau herunter-
ziehen, auf dei^ diese Lebensweisen selbst liegen und die
uns eben damit primär in Wertblindheit oder Werttäu-
schung führen. Ist dies zugestanden, so liegt freilich hierin
allein noch kein Grund, auch für die theoretische Seins-
erkenntnis — im Unterschiede zu aller Werterfassung in
Form von emotionalen Akten (Fühlen von Etwas, Vor-
ziehen, Lieben) — eine analoge »praktisch moralische
Bedingung« anzunehmen, wenn nicht zu dem Gesagten
nodi etwas Anderes hinzukäme. Dieses »Andere« betrifft
das Wesensverhältnis, das zwischen Werterkennen und
Seinserkennen überhaupt besteht. Und da scheint es mir
ein strenges Gesetz des Wesenaufbaus ebensowohl der
höheren »geistigen« Akte als der für sie stofTgebenden,
niedrigeren »Funktionen« unseres Geistes zu sein, daß
in der Ordnung möglicher Gegebenheit der objektiven
Sphäre überhaupt, die dieser Ordnung angehörigen
Wertqualitäten und Werteinheiten allem vorhergegeben
sind, was der wertfreien Schicht des Seins angehört: so
daß überhaupt Nichts ganz und gar wertfrei Seiendes zum
Gegenstand einer Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung,
in zweiter Linie des Denkens Imd Urteils »ursprünglich
werden« kann, dessen Wertqualität oder dessen Wertrela-
tion zu einem Anderen (Gleichheit, Verschiedenheit usw.)
uns nicht schon zuvor irgendwie gegeben gewesen wäre
(wobei das »zuvor« nicht notwendig Zeitfolge und Dauer,
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90 Vom Wesen der Philosophie usw.
sondern^nur die Ordnung der Folge der Gegebenheit
resp. der Dauer in sich schließt). Alles wertfreie oder wert-
indifferente Sein ist solches Sein also immer erst auf Grund
einer mehr oder weniger künsdichen Abstraktion, durch
die wir von seinem nicht nur immer mitgegebenen, son-
dern auch stets vorgegebenen Werte absehen — eine
Abstraktionsweise, die freilich b^im »Geehrten« so ge-
wohnheitsmäßig und zur »zweiten Natur« werden kann,
daß er umgekehrt geneigt ist, das wertfreie Sein der Dinge
(der Natur und der Seele) für ursprünglicher nicht nur
seiend, sondern auch gegeben zu halten, als die Wert-
qualitäten der Sachen; und daß er sich auf Grund dieser
seiner falschen Voraussetzung nach irgendwelchen »Maß-
stäben,« »Normen« etc. umsieht, durch die sein wertfreies
Sein wieder Wertunterschiede zurückerhielte. Nur darum
ist es dem natürlichen Menschen so schwer, »psycholo-
gisch«, d. 1}. wertfrei zu denken. Schon die Kreise von
äußeren Sinnesmodalitäten und Sinnesqualitäten, über die
eine Species verfugt, ist — wie die » vergleichende « Sinnes-
lehre genau zu erhärten vermag — immer davon abhängig,
welcher Ausschnitt aus den überhaupt möglichen Quali-
täten es ist, der Zeichenfunktion für lebenswichtige
Dinge und Vorgangseinheiten (lebenswichtig für die be-
treffende Organisation) erhalten kann. Die Qualitäten sind
ursprünglich nur als Zeichen für »Freund und Feind« ge-
geben*. Das Kind weiß früher, daß der Zucker angenehm
ist als daß er süß ist (weshalb ein Kind zeitweise alles
ähnlich Angenehme Zucker nennt) und daß die Arznei
* Die Bedeutung dieses Prinzips für gewisse Tatsachengruppen der Sinnes-
physiologie und -Psychologie, femer für die Entwicklungsgeschichte der
sinnlichen Wahrnehmung in der £nt£EÜtung der Lebewelt, wird im III. Bd«
dieses Werkes angewiesen.
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Vom Wesen der Philosophie usw. g I
unangenehm (»bitter« im Wertsinn des Wortes) als daß
sie bitter (im Quälitätssinn der Sinnesqualität) ist. Daß
eben dasselbe für jede Milieugegebenheit, für Erinnern
Erwarten und für alle konkreten Einheiten der Wahr-
nehmung gilt, habe ich anderenorts so eingehend ge-
zeigt, daß ich mich nicht wiederholen möchte.^ Auch fiir
ganze Weltanschauungen von Kulturkreisen und -Völkern
gilt, daß die Strukturen ihres Wert bewußtseins, ihrer ge-
samten Weltanschauung das letzte Gestaltungsgesetz
vorschreiben (soweit sie auf das Seiende Bezug hat). Und
für allen historischen Fortschritt der Erkenntnis gilt, daß
die Gegenstände, die dieser Fortschritt des Erkennens er-
greift, zuerst geliebt oder gehaßt werden mußten, ehe
sie intellektuell erkannt, analysiert und beurteilt werdfen.
Überall geht der »Liebhaber« dem »Kenner« voraus,
und es gibt kein Seinsgebiet (seien es Zahlen, Sterne,
Pflanzen^ geschichdicne Wirklichkeitszusammenhänge,
göttliche Dinge), dessen Erforschung nicht eine empha-
tische Phase durchlaufen hätte, bevor es in die Phase
wertfreier Analyse trat — eine Phase, die meist mit einer
Art Metaphysizierung des Gebiets (seiner fälschlichen Er-
hebung in »absolute« Bedeutung) zusammenfiel. Selbst die
Zahlen waren den Pythagoreem erst »Götter«, bevor sie
ihre Beziehungen untersuchten. Die analytische Geometrie
hatte bei ihrem Erfinder Descartes eine geradezu meta-
physische mit dem absolut Gültigen der Physik zusammen-
fiallende Bedeutung; der Raum erstarrte ihm zur Materie;
der Differentialkalkül ergab sich Leibniz als Spezialfall
seiner metaphysisch gemeinten »lex continui« ; er galt ihm
(ursprünglich wenigstens) nicht als ein Kunstgriff unseres
^ S. hierzu uad zu dem Folgenden »Formalismus etc.« IL
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9 2 Vom Wesen det Philosq)hie usw.
Verstandes, sondern als ein Ausdruck des Werdens der,
Dinge selbst. Die junge Wirtschaftsgeschichte des 1 9. Jahr-
hunderts erwuchs in den Eierschalen der metaphysischen
ökonomistischen Geschichtsauffassung wiederum vermöge
des neuen, aufs höchste gesteigerten Interesses, das eine
ökonomisch schwer leidende Klasse an den Wirtschafts-
vorgängen nahm. Die in einem mächtigen pantheistisch
gefärbten Naturtausch schwärmende phantastische Natur-
spekulation der Renaissance ging als neue Interessewen-
dung des europäischen Menschen der strengen Natur-
forschung vorher. Für G. Bruno war der sichtbare Him-
mel zuerst ein Gegenstand eines neuen Enthusiasmus, ehe
er durch die exakte Astronomie wirklich erforscht wurde.
Nicht in der negativen Wendung, es gäbe ja jenen »Him-
mel« des Mittelalters gar nicht, d. h. das Reich der endlich
gedachten Kugelschälen der vorkopemikanischen Astro-
nomie mit seinen besonderen Stoffen und nur ihm eigenen
Bewegungsformen, mit seinen Sphärengeistem usw., son-
dern mit der positiven, es habe Kopemikus einen neuen
Stern am Himmel entdeckt — die Erde — und wir seien
ja »schon im Himmel« und es gäbe umgekehrt jenes nur
»Irdische« des mittelalterlichen Menschen nicht, begrüßt
Bruno den Kopemikanismus. Analog gingen die Alchimie
der strengen Chemie, die botanischen und zoologischen
Gärten als Gegenstände eines neuen Naturgenusses und
einer neuen Naturwertung den Anfängen der strengeren
wissenschaftlichen Botanik und Zoologie vorher. Die ro-
mantische » Liebe « zum Mittelalter ging analog seiner histo-
rischen strengen Erforschung, die kongeniale Liebhaber-
freude an den verschiedenen Teilen der griechischen Kultur
(z. B. Winckelmanns an der Plastik, die Auffassung der
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Vom W^en der Philosophie usw. gx
griechischen Dichtungen als ewiger Musterbilder in der
> klassischen« Periode der neueren Philologie) ihrer nur
historisch -wissenschaftlich gemeinten Philologie und Ar-
chäologie vorher. Für die Erforschung des Götdichen ist
es fest eine communis opinio aller großen Theologen, daß
ein emotionaler Kontakt mit Gott in der Gottesliebe, ein
Fühlen seiner Gegenwart als summum bonum — eine Er-
regung des »Göttlichen Sinnes«, wie die großen Oratoria-
ner Malebranche und Thomassinus anschließend an die^
Neuplatoniker und die griechischen Väter sagen, allen Be- '
weisen seines Daseins als letzte Stoffquelle vorherginge
und vorhergehen müsse.
Wenn sich so — ich deutete es hier nur an^ — nach
den verschiedensten Methoden, nach denen wir Wert-
erkennen und Seinserkennen untersuchen können, .dieser
Primat der Wertgegebenheit vor der Seinsgegebenheit
erweisen läßt, so folgt hieraus indes eine an sich beste-
hende Priorität der Werte gegenüber dem Sein mit nich-
t en. Auch hier kan n ja dasjenige, was » an sich das Spätere <
ist, > das für uns Frühere sein«, wie es Aristoteles als all-
gemeine Regel jüber das Verhältnis von Erkennen und
Sein behauptete. Ja — da es ein einsichtiger Satz ist, daß
zu allen Qualitäten — wie immer sie auch gesondert von
ihren Trägem gegeben sein können imd wie immer sie
einer in ihrem Gehalt gegründeten, ihnen wesenhaft eige-
nen Ordnung unterliegen — ein subsistierendes Sein > ge-
hört«, dem sie inhärieren, so kann das aristotelische Wort
hier nicht nur zutreften, — sondern es muß es auch..-
Aber gleichwohl folgt aus .der Priorität der Wert-
gegebenheit vor der Seinsgegebenheit in Verbindung mit
Vgl. den dritten Band dieses Werkes.
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94 ^^^ Wesen der Philosophie usw.
dem früheren Satze, nach dem evidente Wertgegebenheit
— und um so mehr, je weniger relativ die Werte sind —
selbst wieder eine »moralische Bedingung« voraussetze,
daß eben hierdurch auch der mögliche Zugang zum ab-
soluten Sein selbst wieder indirekt an diese > moralische
Bedingung« geknüpft ist.
Das eigenartige Verhältnis, das wir also zwischen Wert
und Sein einerseits, zwischen Theorie und Moral hiermit
statuieren, besteht darin, daß die einsichtige Wertgegeben-
heit eine objektive Priorität vor allem guten Verhalten,
Wollen und Handeln besitzt (denn nur das einsichtig als
gut Gewollte ist, wenn es zugleich objektiv gut ist, auch
vollkommen gut). Die einsichtige Wertgegebenheit ist
aber zugleich von subjektiver Aposteriorität gegenüber
dem objektiv guten Wollen und Verhalten. Die einsichtige
Wertgegebenheit ist femer von subjektiver Apriorität
gegenüber aller Seinsgegebenheit. Der Wert selbst aber
ist gegenüber dem subsistenten Sein von nur attributiyer
Bedeutung. Und wir dürfen darum auch sofort hinzusetzen,
daß die spezifischen »emotionalen« Aktarten unseres Gei-
stes, durch die uns Werte zuerst zur Gegebenheit kom-
men und die auch die StofTquellen für alle sekundären
Wert-Beurteilungen, sowie für alle Normen und Soll-
sdnssätze ausmachen, das gemeinsame Bindeglied
ausmachen sowohl für all unser praktisches Verhalten
wie für all unser theoretisches Erkennen und Denken. Da
aber Liebe und Haß die ursprünglichsten und alle übrigen
Aktarten (Interessenehmen, Fühlen von Etwas, Vorzie-
hen usw.) umspannenden und fundierenden Aktweisen
innerhalb der Gruppe dieser emotionalen Akte sind, so
' bilden sie auch diegemefnsamen Wurzeln unseres prak-
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Google
Vom Wesen der Philosophie usw. g^
tischen und unseres theoretischen Verhaltens, sind sie
die Grundakte — in denen allein unser theoretisches und
praktisches Leben seine letzte Einheit findet und be-
wahrt.
Wie man gemerkt, ist diese Lehre gleich scharf von
allen Lel^•en eines Primates des Verstandes wie eines Pri-
mates des Willens in unserem Geiste verschieden, da
sie ja eben einen Primat von Liebe und Haß sowohl gegen-
über allen Arten des »Vorstellens« und >Urteilens« als
auch gegenüber allem »Wollen« behauptet. Denn es geht,
wie anderenorts gezeigt worden ist, nicht an, die Akte des
Interessenehmens, der Aufmerksamkeit und die Akte von
Liebe und Haß dem Streben und Wollen irgendwie zu
subsumieren und es ist ebensowenig möglich, sie auf bloße
Veränderungen des Vorstellungsinhalts zurückzufuhren/
3. Analyse des moralischen Aufschwungs.
Im Ganzen des Aktus jenes Aufschwungs, durch den
der Kern der Person Teilnahme am Wesenhaften durch
Erkenntnis zu gewinnen sucht, sind verschiedene Faktoren
zu unterscheiden. Sind sie aber aufgezeigt, so ist erstens
die besondere feste Erkenntnisstellung, die durch diesen
Aufschwung der ganzen Person als Ziel gewonnen wird,
zweitens das Erkenntnisprinzip, durch das und nach dem
in dieser Haltung erkannt wird, und endlich drittens —
'das wichtigste. — die Natur der Gegeiütandswelt und ihres
^ über die genaueren Wesensverhältnisse von Liebe und Haß zu den erken-
nenden und willensartigen Akten siehe im III. Bdl dieser Schrift die Ab-
handlung: »Erkenntnis und Liebe« ; femer vergleiche die historische Typo-
logie dieses Prqjblems im Buche: Krieg und Aufbau, »Ober Liebe und Er-
kenntnis«. Siehe femer mein Buch »Zur Theorie und Phänomenologie der
SympathiegelUhle und von Liebe und Haß« (Halle 191 2).
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g6 Vom Wesen der Philosophie usw.
Zusammenhangs, die in dieser Erkenntnisstellung an die
Stelle des in der »natürlichen Weltanschauung« Gegebenen
tritt, g^enau zu erforschen.
Erst wenn dies geschehen ist, können die philosophi-
schen Disziplinen entwickelt und kann das Verhältnis der
Philosophie zu allen Arten nichtphilosophischer Erkennt-
nisart, I, zur natürlichen Weltanschauung, 2. zur Wissen-
schaft, 3. zu Kunst, Religion, Mythos entwickelt werden.
a. Der Akt des Aufschwungs als Personakt »des ganzen
Menschen«.
Nicht das Kennzeichen einer besonderen Philosophie,
sondern das Wesen der Philosophie selbst ist es, daß in
ihr der ganze Mensch mit der konzentrierten Gesamtheit
seiner höchsten geistigen Kräfte sich in Volltätigkeit be-
findet. Dies entspricht auf subjektiver Seite nur der Grund-
tatsache, daß die Philosophie eine ist — im Unterschiede
zu den Wissenschaften, die — wesensmäßig — viele sind.
Auch dieser Unterschied von Einheit und Vielheit ist schon
ein prinzipielles Unterscheidungsmerkmal der Philosophie
vom Wesen der Wissenschaft^. Vermöge der besonderen
Natur ihrer Gegenstände (Zahlen, geometrische Gestalten,
Tiere, Pflanzen, tote und lebendige Dinge) fordern die
Wissenschaften Anwendung und Übung je ganz besonderer
Teilfunktionen des menschlichen Geistes, z. B. je mehr
Denken oder Beobachtungskunst, je mehr schließendes
oder intuitiv-erfindendes Denken; dazu fordern die Haupt-
arten von ihnen je besondere einseitige, den spezifischen
Daseinsformen ihrer Gegenstände entsprechende For-
men der materialgebenden Anschauung, als ^ sind z. B.
^ »Die« Wissenschaft existiert nibht; es gibt nur Wissenschaften.
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Ypm Wesen der Philosophie usw. g*j
die Form der äußeren Anschauung für die Naturwissen-
schaft, die der inneren für die Psychologie. Oder die Wis-
senschaften, die es mit in gewissen Wertarten gebundenen
Güterwelten zu tun haben (Kunst, Recht, Staat usw.), for-
dern eine besondere einseitige Anwendung und Übung
der emotionalen Funktionen, z. B. des Qualitätsgefühles
in der Kunst, des Rechts- und Billigkeitsgefühls in der
Rechtswissenschaft, dadurch die Werte dieser Art dem
Bewußtsein sich kundgeben. In der Philosophie hingegen
philosophiert von Hause aus das konkrete panze des
menschlichen Geistes und dies in einem Sinne, den ich die
je einzelne in Tätigkeit befindliche Funktionsgruppe > über-
spannend « nennen möchte. Aucäi im speziellsten philosophi-
schen Teilproblem philosophiert der ganze Mensch. Nur
indem er die wesenhaft geschiedenen Anschauungs-formen
und Bewußtseinsstellungen, die in den »Wissenschaften«
oder die in Religion und Kunst und deren Verwaltern je
gesondert und differenziert eingenommen werden und die
an die spezifische Gegebenheitsmöglichkeit der betreffenden
Seins- und Wertregionen geknüpft ist, im Zentrum seiner
Person zunächst reintegriert, vermag der Philosoph das-
jenige auch nur der Möglichkeit nach zu leisten, was alle
diejenigen, die einseitig in diesen Formen leben und wir-
ken, nicht leisten können: die Wesens Verschiedenheit dieser
Formen der AnschauungunddeszugehörigenDaseins- und
Gegebenseins aufzuweisen und sie scharf zu umgrenzen ; ver-
mag er femer — was das Wichtigste ist : die Anschauungs-,
Denk-, Fühl formen, in denen die Forscher, die Künstler,
die Fronunen leben — ' und dies ohne sie gegenständlich
zu haben — noch als besondere Wesensgehalte vor einen
noch undifferenzierten schlechthin einfachen Blick des
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gS Vom Wesen der Philosophie usw.
Geistes zu bringen; er vermag sie vor einer reinen und
formlosen Anschauung, resp. vor reinem und formfreien
»Denken« zu vergegenständlichen. Diealtfe platonische
Forderung, daß der ganze Mensch in der Philosophie —
nicht nur sein isolierter Verstand oder sein isoliertes Gemüt
usw. Teilnahme am Wesenhaften suchen müßte, ist also
nicht — wie Viele sehr kindisch annehmen — ein bloß
psychologisches Merkmal des Charakters Piatons: es ist
eine in der wesenhaftenEinheit und der sachlichen Pro-
blematik der Philosophie gelegene Forderung der Erkennt-
nismöglichkeit seitens ihres Gegenstandes selber. Es ist
eine nicht psychologisch und nicht nur philosophie-erkennt-
nis-theoretisch, sondern on tisch gegründete Förderung.
Denn die wesensverschiedenen Regionen des Seins selbst
werden erst durch vorhergehende Reintegration der ihnen
wesenhaft je zugehörigen Anschauungsformen, Aktarten
usw. im Zentrum einer Person auf einen einheitlichen
Ausgangspunkt als wesensverschiedene in ihrer beson-
deren Artung überhaupt faßbar. Nur dann wird dieser Satz
vom ganzen philosophierenden Menschen gründlich miß-
verstanden, wenn an Stelle des konkreten Aktzentrums
des Geistes der »Mensch« als psychophysischer Gegen-
stand gesetzt wird, als dürfe auch dieser »Mensch« seine
Eigenheiten in die Philosophie mit hereingeben und die
Philosophie so zu einem »Roman« ihres Urhebers machen.
Und wieder wurde der Gedanke mißverstanden, wenn er
im Sinn des von dem platonischen Satze ganz verschiede-
nen Fichteschen Satzes, »die Philosophie, die man habe,
richte sich danach, was für ein Mensch man sei « , den morali-
schen Charakter auch für den Inhalt, für das Ergebnis
der Philosophie verantwortlich machte, anstatt nur für den
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Vom Wesen der Philosophie usw. 99
Aufschwung resp. das Maß, die Reinheit und die Kraft
des Aufschwungs, der uns erst mit dem an sich bestehen-
den Seinsreich, mit dem es Philosophie zu tun hat, in
mögKche Erkenntnisbeziehung setzt.
Und endlich wäre es auch ein Mißverständnis unseres
Satzes, wenn man verkennte, daß jeder abschließende
Akt des als Ganzes plfilosophierenden geistigen Menschen %
ein Erkenntnisakt sein muß — in der Ethik z. B. eben-
sowohl als in der Seinslehre — , daß dabei aber trotzdem
das eigenartig Gegebene, das dieser Erkenntnis unter-
liegt, sehr wohl nicht »erkennenden« Funktionen des kon-
kreten Geistes verdankt werden kann, ja bei gewissen
Dingen muß. ^s scheint mir, daß z. B. Wilhelm Dilthey
in seinen Schriften die gebenden und die erkenntnismäßig
abschließenden Funktionen und Akte des Geistes im Philo-
sophieren nicht immer genau unterschieden habe und so
gewissen ganz mißverständlichen rationalistischen Kriti-
ken seiner Lehre Tür und Tor geöffnet habe. Es gibt
heute zweifellos eine Art Bestrebung Sjpf sog. * Erlebnis-
philosophie«, die dem Grundirrtum huldigt, es könne
Philosophie je etwas anderes sein als Erkenntnis und zwar
streng objektive, allein durch den Gegengtandund nichts
anderes bestimmte Erkenntnis; — sie könne etwa auch
»Erleben« sein oder Urteile fällen über das je zufällige Er-
leben, z. B. über Evidenzgeftihle, die sich hier und dort
einstellen. Daß auch mein Aufsatz über: »Versuche einer
-Philosophie des Lebens« (siehe Abhandlungen und Auf-
sätze II) also psychologisch mißverstanden werden konnte,
ist nur ein Zeichen äußersten Tiefstandes der betreffen-
den Kritiker oder eingebildeter Gefolgschaft. Es gibt aber
auch — merkwürdigerweise — Philosophen, die auch die
7*
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I OO Vom Wesen der Philosophie usw.
emotionalen Wesensformen des Werterfassens und die
für verschiedene Philosophen verschieden-reiche Fülle der
von jenem Aufschwung des ganzen Menschen in ihrer Ge-
gebenheit, nicht in ihrem Sein und Bestand abhängigen
Materien möglicher Erkenntnis für ein bloß »zufälliges
psychisches Erlebnisfaktum« halten; also der grenzenlos
naiven Meinung sind, es genüge, um* ein Philosoph zu sein,
über beliebige Dinge richtig urteilen und schließen zu
können.
Indem das konkrete Aktzentrum des ganzen Menschen
sich zur Teilhabe am Wesenhaften aufzuschwingen sucht,
ist also sein Ziel eine unmittelbare Einigung zwischen
seinem Sein und dem Sein des Wesenhaften, d. h. es ist hier
des Menschen Ziel, das zentrale Aktkorrelat alles mög-
lichen Wesenhaften und zwar in der diesem Reiche imma-
nenten Ordnung zu »werden«. Das besagt ebensowohl,
daß das Aktzentrum sich selbst, d. h. sein eigenes Sein
durch diese Teilhabe zu verwesentlichen und zu verewigen
habe, als es besagt, daß die Wesenheiten in die Seinsform
und Spannweite der Personalität überzufuhren seien.
Insofern aber — wie ^ich zeigen wird — die Idee eines
(unendlichen) konkreten, personalen Aktzentrums als
Korrelat aller möglichen Wesenheiten mit der Idee Gottes
(oder doch mit einer Grundbestimmung dieser Idee) iden-
tisch ist, ist jener Versuch des Aufschwungs des ganzen
geistigen Menschen immer zugleich ein Versuch des Men-
schen, sich selber als natürliches fertiges Sein zu trans-
zendieren, sich selbst zu vergöttlichen oder Gott ähnlich
zu werden (Piaton). Zu »versuchen«, das Aktzentrum des
eigenen Geistes aus seinem psychophysischen und biolo-
gisch-menschlichen Zusammenhang durch einen immer
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Vom Wesen der Philosophie usw. i o i
neuen Aktus dieses Zentrums faktisch^ — nicht nur durch
ein abstraktivtheoretisches »Absehen« oder bloßes »Nicht-
achten« dieses Zusammenhangs — herauszulösen und es
in das, der Gottesidee entsprechende universale Aktzen-
trum »einzustellen«, um aus diesem Aktzentrum heraus-
und gleichsam »in« seiner Kraft einen Blick auf das Sein
aller Dinge zu tun — das ist als immer erneuter Versuch
ein Wesensmerkmal des untersuchten »Aufschwungs«. Ob
es ontisch möglich sei, daß dieser Versuch gelinge und wie
weit er gelinge, das ist eine völlig andere Frage, welche
den Inhalt der Philosophie, nicht den Ursprung der philo-
sophischen Haltung des Geistes und die ihr wesensmäßig
zugehörige einheitliche Intention betrifft.
b. Ausgangspunkt und Elemente des Aufschwungs.
Man muß beim Studium <les Aufschwungs, der in die
philosophische Geisteshaltung (und von ihr aus erst zum
Gegenstande und zum Sein der Philosophie) führt zwei
Dinge unterscheiden: ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel.
Nun aber bildet für alle Arten einer höheren, der Wert-
gruppe, die ich in meiner Ethik »geistige Werte« nannte,
zugewandten Geistestätigkeit (sei diese wissenschaftliche,
* Die später zu eruierenden Verfahrungsweisen der » Reduktion « der Daseins-
modi der Gegenstände, um durch sie ihr pures «Was«, ihr »Wesen«, ihre
»Essenz« für sich zur Anschauung zu bringen, ein Verfahren^das £. Husserl
neuerdings phänomenologische »Reduktion« genannt hat und die er nur
als »Absehen« resp. »Dahingestelltseinlassen«, »Eingeklammertwerden« der
Daseinsmodi (nicht derDaseii^ selbst, wie er annimmt) beschreibt, haben
diesen versuchenden Aktus, das Sein ides Aktzentrums aus dem psycho-
physischen Seinszusammenhang wenigstens der Funktion nach heraus-
zulösen, also einen Seins-Prozeß, ein Anders werden des Menschen zur Vor.
aussetzung. Es muß also die geistige Erkenntnis-Technik dieser Umstellung
der Person selbst diesen nur logischen Verfahnmgsweisen des Absehens vor-
hergehen.
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I02 Vom Wesen dtt Philosophie usw.
philosophische, ästhetische, künstlerische, religiöse, mora-
lische) den gemeinsamen Ausgangspunkt die natürliche
Weltanschauung^ des Menschen und das in ihr gegebene
Seiende und Wertvolle. Die identisch gemeinsame
Voraussetzung aber für die grundverschiedenen Arten und
Stellungnahmen, die von diesem Ausgangspunkt weg und
in die Richtung irgendeines Wertbereiches vom Wesen der
übervitalen Werte fuhren, ist dasobjektive Verhalten.
Es ist das dem Wesen sogearteter Werte als solchem zu-
gewandte Verhalten des Geistes überhaupt. Soll also die
Überwindung des »moralischen Hindernisses« studiert
werden, — jene Überwindung, die eben in dem Auf-
schwung gelegen ist und durch ihn erfolgt, so müssen
wir zuerst die generelle Natur der natürlichen Weltan-
schauung kennen lernen und dasjenige Sein und Verhal-
ten des Menschen, das ihr selbst wie ihren Gegebenheiten
entspricht. Und nicht minder haben wir jenes identische
Moment in dem Akte zu suchen, das i. objektives Ver-
halten überhaupt, 2. philpsophisches auf der Seite der
Person fundiert. Und es wird sich hierbei als besonders
bedeutsam erweisen, daß wir die drei wesensmäßig ver-
schiedenen gegenständlich erkennenden Verhaltungswei-
sen, I . Natürliche Weltanschauung, 2 . Philosophische Welt-
anschauung, 3. Wissenschaftliche Weltauffassung, in ihrem
richtigen Verhältnis zueinander gewahren.
Ein erstes Merkmal aller natürlichen Weltanschauung ist,
daß das in ihr stehende Subjekt seki jeweiliges Um-weltsein
resp. alles mögliche Umweltsein überhaupt für dasWelt-
seih hält — und dies in allen Richtungen, räumlich, zeit-
^ Resp. das natürliche * Betragen« (Wollen, Handeln usw.), desgl. die »natür-
liche Werthaltung«.
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Vom Wesen der Philosophie usw. 1 03
lieh, sodann in der Innenwdts- und Außenweltsrichtung,
in der Richtung auf das Göttliche wie in jener auf ideale
Gegenstände. Denn in allen diesen Richtungen gibt es
eine »Umwelt«, die so sehr sie für verschiedene Einzel-
oder Kollektivsubjekte (Völker, Rassen, die natürliche
Menschengattung), desgl. für verschiedene Organisations-
stufen des Lebens verschiedenen Sondergehalt besitzt,
einer essentiellen Struktur teilhaftig ist, die sie zur »Um-
welt« macht. Diese Struktur der natürlichen Umwelt ist das
System der natürlichen Daseins-Formen (Dinge, Begeben-
heiten, natürliche Raum- und Zeitanschauung) mit dem ihm
entsprechenden System der natürlichen Wahmehmungs-
und Gedanken- und Sprach formen (gesunder Menschen-
verstand und volkstümliche Sprache). Es hat in dem Lehr-
stück der »Phänomenologie der natürlichen Weltanschau-
ung« genau studiert zu werden und muß von der Katego-
rienlehre der Wissenschaft ebenso scharf geschieden
werden wie von der Lehre von den Seins- und Erkenntnis-
formen, mit denen Philosophie als Philosophie es
dann zu tun hat, wenn sie ihr besonderers Objekt schon
erreicht hat und ihm gegenüber sich in Erkenntnisstellung
befindet.
Wie immer aber diese Struktur des Umweltseins für
den Menschen aussehe, auf alle Fälle ist es dem ihr ent-
sprechenden Sein eigen, daß es mit seiner Struktur relativ
ist auf die biologische Sonderorganisation des Menschen als
einer besonderen Aktspezies des universellen Lebens.
Und diese Daseinsrelativität oder diese Daseinsgebunden-
heit an die »Organisation« besteht in gleichem Maße für
die Struktur und den Gehalt der Wasinhalte dieser Um-
welt (der in sie eingehenden Wesenheiten) wie für ihr reales
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1 04 Vom Wesen .dct Philosophie usw.
Dasein und die Formen ihres Daseins. Es ist die Welt
der doxa — gemäß der platonischen Scheidung von i6(a
und bwn^^ri — in der wir uns hier befinden. Und es ist
dabei noch gleichgültig, ob wir bei der Umwelt an die
Sonderumwelt eines Individuums, einer Rasse, eines Stam-
mes oder Volkes denken oder an die generelle Umwelt
des natürlichen Menschen als Vertreters dieser vitalen
Gattung überhaupt. Das Seiende aber in eben derselben
Seinsrelativität auf das Leben überhaupt so zu erkennen
und zu denken, daß es in größtmöglicher Vollständig-
keit und unter streng prinzipieller Ausscheidung aller
Seinsrelativität (Wesens- und Daseinsrelativität) auf Indi-
viduen, Rasse, Volk usw. nur mehr auf die mensch-
liche Organisation überhaupt oder auf das Identische in
jedem Menschen seinsrelativ ist, das ist diejenige Reduk-
tion, welche das wissenschaftliche »allgemeingül-
tige« Erkennen vom Sein und Gehalt der Umwelt vor-
nimmt. Aber die Grundtatsache, daß aus der Fülle deS
Welt-Seins überhaupt nur dasjenige in die Umweltsphäre
eingeht, was für die Trieb- und die der Triebstruktur ent-
sprechende Sinnesstruktur des Menschen von erfüllender
resp. widerstreitender, auf alle Fälle antwortender Be-
deutung ist, besteht für die vollständige und aller indivi-
duell-partikularen Seinsbezüge entkleidete, also nur mehr
auf einen lebendigen Menschen überhaupt be-
zogene Umwelt genau in derselben Weise wie für die
partikulareren Umwelten des Individuums, der Rasse usw.
Die Richtung des philosophischen Erkennens ist nun aber
im Unterschiede zum > wissenschaftlichen « , das in den Struk-
turformen — wenn auch nicht notwendig den Struktur-
Inhalten — der »natürlichen Weltanschauung« verbleibt^
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Vom Wesen der Philosophie usw. 105
nicht in SO gearteter Erweiterung der erkennenden Teil-
nahme am Sein der Umwelt oder an der Gewinnung einer
(menschlich)>allgemeingültigen«Umweltgelegen.Das
philosophische Erkennen zielt vielmehr in eine völlig an-
dere Seinssphäre, die außer uns jenseits der bloßen
Umweltsphäre des Seins überhaupt gelegen ist. Darum
bedarf es ja eben des besonderen Aufschwunges, um an
das Sein der Welt selber heranzugelangen. D. h. es be-
darf eines besonderen Gefliges zunächst moralischer Akte,
um fiir den erkennenden Geist die Bande nach Möglich-
keit zu beseitigen, die seinen möglichen Gegenstand inner-
halb der natürlichen Umweltanschauung überhaupt (der ge-
meinen wie der >wissenschafdich6n<) seinsrelativ auf das
Leben, seinsrelativ auf die Vitalität überhaupt und darum
auch notwendig auf irgendein besonderes leiblich-sinn-
liches Triebsystem machen. Esbedarf dieser Akte, um den
Geist das nur vitalrelative Sein, das Sein für das
Leben (und in ihm fiir den Menschen als Lebewesen)
prinzipiell verlassen zu machen, um ihn mit dem Sein,
wie es an sich selbst und in sich selbst ist, in Teilnehmung
treten zu machen^.
Im Gefiige dieser moralischen, die philosophische
Erkenntnis wesensmäßig disponierenden Grund-
akte unterscheiden wir eine positive Grundaktart und zwei
negativ gerichtete Grundaktarteny die nur in ihrem ein-
' Da diese Akte prinzipiell in allen möglichen Graden von Menschen voll-
zogen werden können, so ist auch die Gewinnung des Gegenstandes der
Philosophie oder des absoluten Seins (Wesens und Daseins) aller G^en-
stände in allen Graden der Adaquation und der Fülle möglich.
Schon darum ist es ausgeschlossen, zu sagen, es könne Jeder von den ab-
soluten Sachen und Werten auf alle Fälle entweder Alles, oder doch gleich-
viel oder gleichwenig oder gar nichts erkennen. Was Jeder auch nur erken-
nen kann, richtet sich vielmehr nach dem Grade des Aufschwungs.
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Io6 Vom Wesen der Philosophie usw.
heidichen Zusammenwirken den Menschen an die Schwelle
möglicher Gegebenheit des Gegenstandes der Philosophie
gelangen lassen:
1. die Liebe der ganzen geistigen Person zum
absoluten Wert und Sein,
2. die Verdemütigung des natürlichen Ich und
Selbst,
3. die Selbstbeherrschung und dadurch erst
mögliche Vergegenständlichung der, die na-
türliche sinnliche Wahrnehmung stets not-
wendig mitbedingenden Triebimpulse des als
»leiblich« gegebenen und als leiblich fundiert
erlebten Lebens.
In ihrem geordneten Zusammenwirken fuhren diese
moralischen Akte — nur sie allein — die geistige Person
als Subjekt möglicher Teilnehmung am Sein durch Er-
kennen, aus der Umweltsphäre des Seins oder aus der
Richtung der Seinsrelativität überhaupt heraus und in
die Weltsphäre des Seins, also in die Richtung des ab-
soluten Seins hinein. Sie lösen den natürlichen Ego-
centrismus, Vitalismus und Anthropomorphismus
des Menschen, der fiir alle natürliche Weltanschauung
charakteristisch ist, und die ihnen genau entsprechende
Sach-Charakteristik der Umweltgegebenheit als solcher
auf — und das nach verschiedenen Richtungen.
Die Liebe zum absoluten Wert und Sein bricht die im
Menschen befindliche Quelle der Seinsrelativität alles
Umwelt-seins.
Die Verdemütigung bricht den i^atürlichen Stolz
und ist die moralische Voraussetzung des für die Erkenntnis
der Philosophie notwendigen gleichzeitigen Abstreifens,
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Vom Wesen der Philosophie usw. 107
I. der zufälligen Daseinsmodi von den puren Gas-
gehalten (Bedingung der Intuition der puren »Wesen«)
und 2. der faktischen Verwobenheit des erkennenden
Aktes in den Vital-Haushalt eines psychophysischen Or-
ganismus. Der Bestand der zufälligen Daseinsmodi an den
Wasgehalten und diese Verwobenheit des erkennenden
Aktes in den Haushalt einer psychophysischen Lebens-
einheit aber entsprechen ^ich gegenseitig wesens-
mäßig. Sie stehen und fallen zusammen.*
DieSelbstbeherrschungals Mittel der Zurückhaltung
und als Mittel der Vergegenständlichung der Triebimpulse
bricht die natürliche Concupiscentia und ist die Moralische
Bedingung einer sich von Null bis zur Vollkommenheit
steigernden Adäquation in der Gegebenheitsfülle des
Weltinhalts.
Also entsprechen den drei voneinander unabhängig
variablen Maßstäben aller Erkenntnis:
1 . Art und Grad der Seinsrelativität ihres Gegen-
standes,
2. Evidente Wesenserkenntnis oder induktive
Daseinserkenntnis.
3. Adäquation der Erkenntnis,
genau die genannten moralischen Akte als Vorbedin-
gungen des Erkenntnisvollzugs :
die Liebe, der Kern und die Seele gleichsam des ganzen
Aktgefiiges fuhrt uns in die Richtung des absoluten Seins.
Sie führt also hinaus über die nur auf unser Sein relativ
da seienden Gegenstände.
Die Demut führt uns vom zufälligen Dasein irgend
eines Et-was (und allen in diese Sphäre gehörigen kate-
gorialen Seinsformen und Seinsverknüpfungen) in die
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I o8 Vom Wesen der Philosophie usw.
Richtung zum Wesen, zum puren JVasgehsih der
Welt. ^
Die Selbstbeherrschung fuhrt von inadäquater, im äußer-
sten Falle vom nur symbolischen eindeutigen Meinen der
Gegenstände von der Fülle O in die Richtimg der vollen
Adäquation der anschauenden Erkenntnis.
Zwischen diesen moralischen Haltungen und dem mög-
lichen Fortschritt der Erkenntnis in einer dieser Grund-
richtungen — (zum absoluten Sein, zur evidenten Einsicht,
zur Adäquation), besteht nicht ein zufälliger oder ein
empirisch-psychologischer Zusammenhang, sondern ein
Wesen s^sammenhang — ein Zusammenhang, in dem die
moralische und die theoretische Welt aneinander — wie
mit Klammem — ewig gebunden sind. Denn genau von
denjenigen Faktoren in uns selber, denen innerhalb der
natürlichen Weltanschauung und ihrer Umweltsgebunden-
heit (desgl. noch in der »Wissenschaft«) das je primäre
Haben des je zufälligen Daseins der Dinge (im Gegen-
satz zu ihrem Wesen) entspricht, befreit uns die Demuts-
haltung. Sie hebt die systematische moralische Hemmung
damit auf, welche die betr. Faktoren, das Auge unseres
Geistes verdunkelnd, der puren Wesenserkenntnis hem-
mend entgegensetzen.
Nur eine' aus diesen drei moralischen Grundhaltungen
wird sich hierbei nicht nur als moralische Bedingung der
, philosophischen Erkenntnis, sondern (im Unterschied von
Ä der natürlichen Weltanschauung) auch der wissenschaft-
lichen Erkenntnis erweisen: diese Haltung ist die der
Steigerung der Adäquation der Erkenntnis entsprechende
Grundhaltung der Selbstbeherrschung der Triebimpulse
durch den vernünftigen Willen. Und dem entspricht es
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Vom Wesen der Philosophie usw. 1 09
genau, daß die Wissenschaft im Unterschiede zur Philoso-
phie sich (sei es induktiv, sei es in deduktiver Methode)
in der Sphäre des zufälligen Seins bewegt (Wesenserkennt-
nis zwar voraussetzt, aber nicht selbst leistet) und dies
auch da noch, wo sie z. B. Naturgesetze sucht und findet;
und daß sie zweitens nicht das absolute Sein, sondern
nur den Inbegriff all der seienden Gegenstände erkennend
bearbeitet, die auf mögliche Beherrschbarkeit und Ver-
änderlichkeit vermöge eines durch mögliche Lebens-
ziele und Lebens werte gelenkten, aber auch gebundenen
Vemunftwillens noch seinsrelativ sind. Denn wie sehr
Wissenschaft auch alle individuelle, volkliche, rassen-
mäßige Seinsrelativität der Gegenstände, ja sogar die
Seinsrelativität auf die positive menschliche Naturorgani-
sation und damit die Phase natürlicher Weltanschauung
bereits überwindet und aus ihrem Gegenstande ausschaltet,
so bleibt sie wie ihre gesamte Gegenstandswelt durch die
konstitutive Grundbeziehung alles möglichen Seins auf
mögliche Beherrschbarkeit durch einen vernünf-
tigen, auf mögliche Ziele universellen Lebens
überhaupt hingeordneten endlichen Willen über-
haupt an die zwei Grundtatsachen im Menschen, i . sein
Wollen, 2. seine universellen Vitaleigenschaften, doch
notwendig gebunden. Genau diese Grundtatsachen als
auslesende Beziehungszentren alles Seins sind es aber, die
dem primären Haben zufälligen Seins wie seinsrela-
tiven Seins in aller nichtphilosophischen Geisteshaltung
so genau entsprechen, daß ohne sie auch der Primat dieser
Gegebenheiten in Wegfall käme. Und diese Grundtat-
sachen sind es auch, die die Liebe zum absoluten Sein
und Demut gegenüber dem puren Was der Welt und der
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1 1 0 Vom Wesen der Philosophie usw.
Weltinhalte (gleichgültig, wie sich dieses Was und sein
Zusammenhang nach Raum, Zeit, Zahl, Kausalität usw. in
der Daseinssphäre des Zufälligen überhaupt über die
Welt verteile) nach Möglichkeit aufzuheben und auszu-
schalten tendieren.
Und darum ist es auch wieder nicht zufällig, sondern
es ist eine selbst wesensnotwendige Tatsache, daß auch
die moralische Grundgesinnung des wissenschaftlichen
Forschers gegenüber der Welt und seiner Aufgabe an
ihr eine von der philosophischen Grundgesinnung gänz-
lich verschiedene ist ^und sein soll. Der positive
Forscher ist in seinem Erkenntniswillen primär beseelt
von einem Herrschafts- und einem erst aus ihm hervor-
gehenden Ordnungswillen gegenüber aller Natur: »Ge-
setze«, nach denen sich Natur beherrschen läßt, sind auch
darum sein höchstes Ziel. Nicht was die Welt sei, sondern
wie sie als gemacht gedacht werden kann, um sie inner-
halb dieser obersten Grenze als praktisch veränderlich
überhaupt zu denken, interessiert ihn. Darum ist Selbst-
beherrschung um möglicher Weltbeherrschung willen sein
Grundethos, nicht Demut und Liebe. Wohl muß auch
den Forscher — so wie Wissenschaft die Philosophie,
Erkenntnis des Zufälligen Wesenserkenntnis ja überhaupt
voraussetzt — noch Liebe zur Erkenntnis der Dinge
überhaupt bewegen. Nicht aber auch — wie den Philo-
'sophen — Liebe zu dem Sein der Gegenstände selbst.
Und auch seine Liebe zur Erkenntnis ist nur Liebe zur Er-
kenntnis einer gewissen Art: derjenigen Erkenntnis, die
außer dem, daß sie all dem genügt, was überhaupt Er-
kenntnis adäquat und logisch richtig macht (zwei Maß-
stabarten, die für alle Erkenntnis gelten) auch noch, aber
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Vom Wesen der Philosophie usw. u'i
auch liur eine Beherrschbarkeit der Welt überhaupt,
nioit also zu einem bestimmten Zwecke oder Nutzen,
möglich macht. Wohl muß auch den Philosophen noch
Selbstbeherrschung leiten; aber sie leitet ihn nur als heu-
ristisch-pädagogische Maßregel, um — bei maximaler
Adäquation der Erkenntnis der Gegenstände mit ihrer
disponierenden Hülfe angekommen — durch volle Ver-
demütigung seines willendichen Seins, das »zufällige Da-
sein« dem Sein des Gegenstandes abzustreifen und mög-
lichst ausschließlich auf sein IVas, sein ewiges Wesen
hinzublicken. An der Schwelle seiner Erkenntnis ange-
kommen, muß der Philosoph den Willen (das wesens-
mäßige Aktkorrelat alles zufälligen Daseins überhaupt)
wieder ausschalten und sich dem puren Was seines Gegen-
standes voll »hingeben«.
4. Der Gegenstand der Philosophie und die philo-
sophische Erkenntnishaltung.
Mit Recht ist die Frage, welche Einsicht die erste sei
an Evidenz, an die Spitze aller »klassischen« Philosophie
gestellt worden, und mit Recht werden die großen Phasen
der Philosophie an erster Stelle daran unterschiede^, welche
Einsicht die Stelle solchen einsichtigsten » Ausgangspufik-
tes« aller Philosophie einnahm. Der erheblichste Einschnitt
in der Geschichte des europäischen Denkens wird femer mit
Recht darin gesehen, daß seit Descartes das Problem der
Erkenntnis der Dinge vor dem Problem des Seins der
Dinge in sich selbst den Vorrang gewinnt. Die antike wie
die mittelalterliche Philosophie ist vorwiegend Seinsphiloso-
phie; di^ moderne, mit wenigen Ausnahmen, vorwiegend
Erkenntnistheorie. Ob sich aber die Philosophie in dieser
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l'l 2 Vom Wesen der Philosophie usw.
oder jener dieser grundsätzlich voneinander abweichenden
Richtungen gestalte, das hängt wesentlich davon ab, was
als jene voraussetzungsloseste und ursprünglichste und un-
umstößlichste Einsicht ausgegeben ist und in welcher
Ordnung von Ursprung, Voraussetzung und Folge sich
die ferneren Einsichten folgen. Darum muß auch jede Er-
örterung des Wesens der Philosophie mit diesem Problem
der »Ordnung der fundamentalsten Evidenzen«
beginnen.
Die erste und unmittelbarste Evidenz, zugleich die-
jenige, die schon zur Konstituierung des Sinnes des Wor-
tes »Zweifel an Etwas« (an dem Sein von Etwas, an der
Wahrheit eines Satzes usw.) vorausgesetzt ist, ist aber
die evidente Einsicht, die in Urteilsform besagt, daß über-
haupt Etwas sei oder noch schärfer gesagt, daß »nicht
Nichts sei« (wobei das Wort Nichts weder ausschließlich
das Nicht-Etwas noch das Nicht-Dasein von Etwas, son-
dern jenes absolute Nichts bedeutet, dessen Seinsnega-
tion im negierten Sein das So- Sein oder Wesen und das
Da-Sein noch nicht scheidet). Der Tatbestand, daß nicht
Nichts sei, ist gleichzeitig der Gegenstand erster und un-
mittelbarster Einsicht, wie der Gegenstand der intensivsten
und letzten philosophischen Verwunderung — wobei
diese letztere emotionale Bewegung angesichts des Tat-
bestandes freilich erst dann voll einzutreten vermag, wenn
ihr unter den die philosophische Haltung prädisponierenden
Gemütsakten die den Selbstverständlichkeitscharakter
(und eben damit den Einsichtscharakter) des Tatbe-
standes des Seins auslöschende Demutshaltung voran-
gegangen ist. Also: gleichgültig, auf welche Sache ich
mich hinwende und auf welche, nach untergeordneteren
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Vom Wesen der Philosophie usw. 1x3
Seinskategorien schon genauer bestimmte Sache (als
da z. B, sind Sosein -Dasein, Bewußt -sein — Natursein,
reales Sein oder objektives nichtreales Sein, Gegenstand-
sein — Aktsein, desgleichen Gegenstand- und Widerstand-
sein, Wertsein oder wertindifferentes »existentiales« Sein,
auf substanzielles-attributives, akzidentielles oder Bezie-
hungsein, auf Möglichsein, Notwendigsein oder Wirk-
lichsein, auf zeitfreies, schlechthin dauerndes oder Gegen-
wärtig-, Vergangen-, Zukünftigsein, auf das Wahrsein (z. B.
eines Satzes), Giltigsein oder vorlogisches Sein, auf aus-
schließlich mentales »fiktives« Sein (z. B. der nur vor-
gestellte »goldene Berg« oder das nur vorgestellte Gefühl
oder außer mentales resp. beiderseitiges Sein) ich hin-
blicke: anjedem einzelnen, beliebig herausgegriffenen Bei-
spiel innerhalb einer oder mehrerer sich je kreuzender sog^
Arten des Seins wie an jeder dieser herausgegriffenen
Arten selbst wieder, wird mir diese Einsicht mit unum-
stößlicher Evidenz klar — so klar, daß sie an Klarheit
Alles überstrahlt, was mit ihr nur in denkbaren Vergleich
gebracht werden kann. Freilich : wer gleichsam nicht in den
Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird
auch die eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, daß
überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, vollständig
übersehen,' Er wird bei irgendeiner der vielleicht nicht
minder evidenten, aber der Evidenz dieser Einsicht doch
nachgeordneten Einsichten beginnen, wie z. B. der im
Cogito ergo sum vermeintlich liegenden Einsicht oder in
solchen Einsichten, wie daß es Wahrheit gäbe, daß es
einen absoluten Wert gäbe, daß geurteilt wird, daß es
Empfindungen gäbe oder daß es eine »Vorstellung« der
Welt gäbe usw.
8
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m^, Vom Wesen der Philosophie usw.
Die Einsicht, von der wir reden, wäre nicht einmal
evident — geschweige die ursprünglichste und bei jedem
versuchten Zweifel an Etwas schon vorausgegebene Ein-
sicht — wenn sie zu »begründen« wäre. Sehr woM aber
bedarf die Behauptung einer Begründung, daß sie und
kdne andere die erste und unumstößlichste Einsicht ist.
Denn eben dies wird ja sogar von der Mehrzahl der Philo-
sophen, z. B. von allen Phflosophen bestritten, welche die
Einsicht in den Bestand von Erkenntnis, oder wie An-
dere, die Einsicht in den Bestand von Wahrsein, Giltig-
sein oder sogar Wertsein, dieser Einsicht wollen an
Evidenz vorhergehen lassen. Darum sind besondere,
allgemein erkannte Methoden zu finden, um den Primat
dieser Einsicht vor allen anderen zu erhärten und es wäre
mit Hilfe dieser Methoden jeder Versuch, an die Stelle
dieser Einsicht eine andere zu setzen, in extenso zu wider-
legen^.
Ehe diese Methoden entwickelt und an einigen Beispie-
len angewendet werden, ist aber eine zweite Einsicht auf-
zuführen, die auf Grund der ersten und auf Grund einer
Einteilung des Seins besteht, die aller Sonderung der
Seinsarten, Seinsformen usw. überlegen ist, also von allen
sonstigen Einteilungen des Seins auch nur geschnitten
werden kann. Die Scheidung, die ich meine, betrifft den
Unterschied, der zwischen einem und einem anderen nicht
NichtSeiendem in der Rücksicht obwaltet, ob es nur in
einseitiger resp. gegenseitiger Abhängigkeit von einem
anderen Seienden oder mit Ausschluß jeder möglidien
* Eingehend soll dies geschehen in meinem demnächst erscheinenden Buche :
>Die Welt und ihre Erkenntnis«, Versuch einer Lösung des 'Erkenntnis-
problems.
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Vom Wesen der Philosophie usw. 1 1 c,
Abhängigkeit* von einem anderen Seienden und das heißt
auf »absolute« Weise i st. Ein Seiendes also, das — wenn
es ist — ausschließlich ist, sein Sein in sich und nur in
sich hat, also von Nichts zu Lehen trägt, wollen wir —
wie immer es sonst nach den übrigen Seinsunterschieden
bestimmt sein mag, das absolut Seiende nennen. Das
absolut Seiende kann im Verhältnis zu anderen Seins-
unterschieden je verschieden aufgefaßt und begriften wer-
den, ohne daß diese Unterschiede in ihm selbst vorhanden
sind. Es kann z. B. gegenqber der gesamten Sphäre des
möglichen^ (stets relativen) Gegenstandseins (für einen
möglichen Akt des Meinens) als das auch »Fürsichseiende«
( » ens pro se « ) bezeichnet werden. Es kann gegenüber allem
Sein, das einer möglichen urteilsmäßigen Anerkennung
resp. eines satzmäßigen Wahrseins »über« sein Sein zu
seinem Sein bedarf als »ensase«, gegenüber allem Seien-
den, das nur »durdi« (sei es nur logisch oder auch kausal)
ein anderes Sein ist, als »ens per se« bezeichnet werden.
Es kann gegenüber allem absoluten Sein, das nur abso-
lutes Sein einer nur gemeinten, d. h. mentalen oder fiktiven
Existenz ist, das nicht nur meinungsrelative absolute Sein,
sondern das zu allem Meinem absolut-absolute Sein ge-
nannt werden. Das Alles und Ahnliches sind nur relativ
sinnvolle Bestimmungen des absoluten Seins, die berech-
tigt sind, nicht aber in sein Sein selbst hineingetragen
werden dürfen.
Dann ist die Einsicht, daß ein absolut Seiendes ist, oder
ein Seiendes, durch das alles andere nicht absolute Sein
sein ihm zukommendes Sein besitzt, die zweitevidente
Einsicht. Denn wenn es (wie wir an jedem Beispiel eines
irgendwie Seienden klar erkennen) überhaupt Etwas gibt
8*
Digitized by VjOOQ IC
1 1 6 Vom Wesen der Philosophie usw.
und nicht lieber überhaupt Nichts, so kann zwar dasjenige
an unseren beliebig zu musternden »Beispielen«, was
relatives Nichtsein (sowohl Nicht-Etwas-sein wie Nicht-
Dasein) an ihnen ist, auf die möglichen Abhängigkeiten
und Relationen geschoben werden, welche deren Sein von
anderem Sein besitzt (darunter auch von dem erkennen-
den Subjekt), niemals aber ihr Sein selbst. Dieses Sein sel-
ber fordert nicht vermöge eines Schlusses, sondern ver-
möge einer unmittelbar anschauenden Einsicht eine Quelle
in einem schlechthin und ohne jede nähere einschränkende
Bestimmung Seienden. Dem Leugner dieses Satzes kann
man nur zeigen, daß selbst der Versuch seiner Leugfnung
und alle seine Argumente das absolut Seiende selbst in
seiner eigenen Intention als ihm faktisch gegeben und von
ihm faktisch anerkannt voraussetzen. Er faßt es fak-
tisch in jeder seiner Intentionen »mit« ins geistige Auge,
wie sofort sonnenklar wird beim intellektuellen Versuch
seiner Wegnahme; er sieht durch das Gewebe jedes rela-
tiven Seins, also auch jedes relativen Nichtseins auf es
hindurch und i;n seine Richtung. Um aber in seine
Richtung zu sehen, muß er auch das Ziel soweit sehen,
als es eben nichts weiter ist als das absolut Seiende —
ohne nähere Bestimmung.
Freilich: das Leuchten des Lichts dieser Wahrheit ist
nicht an erster Stelle von logischer Akribie abhängig. Wie
die Einsicht in den ersten Satz davon abhängig ist, daß
man sich die zweifellose objektive Möglichkeit, daß über-
haupt Nichts sei nicht nur dann und wann urteilsmäßig
zum Bewußtsein gebracht hat, sondern gleichsam in ihr
so lebt, daß das Sein jedes Seienden als wunderbare Auf-
hebung dieser Möglichkeit gegeben ist, — als die ewiger-
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Vom Wesen der Philosophie usw. 117
staunliche Zudeckung des Abgrundes des absoluten
Nichts, so ist das Leuchten des Lichts dieser zweiten
Einsicht davon abhängig, daß man an allem relativen und
abhängigen Sein (und hier an erster Stelle an sich selbst)
nicht nur das Sein, sondern auch das relative Nichtsein
mitgewahrt, also nicht — ohne es recht zu merken und
zu wissen — heimlich irgendein relatives Sein mit dem
absoluten Sein identifiziert. Nicht das ist daher eine Frage,
ob die Menschen das Sein des absoluten Seins in jedem
Momente ihres bewußten Lebens mitgewahren, mit-meinen,
sondern nur das ist eine Frage, ob es sich auch für sie vom
relativen Sein genügend streng und klar abhebe oder für
ihr Bewußtsein heimlich mit diesem oder jenem Teile dieses
relativen Seins dadurch verschmelze, daß sie dessen rela-
tives Nichtsein nicht mitgewahrend es dem absoluten Sein
bewußt oder unbewußt gleichsetzen und unterschieben. Wer
immer ein relativ Seiendes verabsolutiert, der muß not-
wendig, da er nunmehr das absolute Sein nicht melir ge-
schieden von diesem gewahrt, dasjenige werden, was man
einen Relativisten nennt. Immer — immer ist der Relati-
vist ja nur der Absolutist des Relativen. Schon hier also
gilt das früher Gesagte, daß eine gewisse moralische Hal-
tung der ganzön Person eine Voraussetzung für die Klar-
heit des Lichtes einer philosophischen Einsicht ist. Denn
nur wer auch, ja wer zuvor in dem Wertaspekt der Welt
und seiner selbst neben dem relativen »Stolz« des Seins
und des positiven Wertes jedes Dinges auch das Maß und
die Art der ihm gebührenden »Demut« seines relativen
Nichtseins und seines Unwertes mit wahrnimmt und
wessen Liebe zugleich auf das absolut und positiv Wert-
volle (das Summum bonum) als auf ein in seinem Bewußt-
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I 1 8 Vom Wesen der Philosophie usw.
sein von den übrigen relativen Gütern gesondertes Gut
klar gerichtet ist, wird auch die oben genannten Bedingun-
gen erfüllen können, ohne deren Erfüllung ihm das Licht
beider Einsichten nicht leuchtet. Denn sowohl die »Selbst-
verständlichkeit« des Seins, die eben gerade das ist, was
die klare Einsicht in die unermeßliche Positivität des Tat-
bestandes, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber
Nichts, versperrt, wie auch die bei je verschiedenen Sub-
jekten in verschiedener Weise und an verschiedenen Zonen
des relativen Seins stattfindende Verleugnung des rela-
tiven Nichtseins der Dinge, ihrer relativen »Nichtigkeit« :
beide sind eine abhängige Funktion jenes » natürlichen Stol-
zes « , jener natürlich-instinktiven (freilich biologisch zweck-
mäßigen) Selbstüberschätzung und daraus folgendenSelbst-
sicherheit des Daseins, die z. B. auch den Tod und die un-
ermeßliche Zeit, da wir nicht waren und nicht sein werden
vor dem Bewußtsein so merkwürdig verleugnen läßt. Und
nur, wenn wr uns zu wundem gelernt haben, daß wir
selber nicht nicht sind, werden wir auch die ganze Klar-
heitsfülle des Lichts der beiden genannten Einsiditen und
ihren Evidenz -Vorzug vor allen anderen Einsichten voll
empfismgen können.
Die dritte Einsicht, die in der »Ordnung der Evidenz«
folgt, das heißt so » folgt « , daß wir unter den Gliedern dieser
Ordnung das je vorhergehende je schon wesensmäßig ein-
sahen, — wenn das folgende Glied einsehen zu wollen
auch nur einen möglichen Sinn besitzen soll ; oder — anders
gesagt — so folgt, daß wir das je folgende noch sinn-
möglich »bezweifeln« können, wenn wir es bei den vorher-
gehenden sdion nicht mehr vermögen, entspricht in Urteils-
form dem Satze, daß alles mögliche Seiende ein Wesensein
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Vom Wesen der Philosophie usw. ng
oderWassein (Essentia) und ein Dasein (Existencia)
notwendig besitzt und dies ganz gleichgültig, was sonst
es sein mag und welcher Sphäre des Seins es nach ande-
ren möglichen Scheidungen der Seinsarten und -formen
es auch angehören mag. Auch hier genügt jedes. beliebige
Beispiel eines Seienden (sei es Akt-Sein oder Gegenstand-
Sein, sei es »ein« Seiendes oder selbst schon eine beson-
dere Form des Seins, wie z. B. reales Sein und objektives;
nichtreales Sein oder subsistentes und inhaerentes Sein),
um die für jedes mögliche Sein überhaupt gültige Scheid-^
barkeit von Wesen und Dasein aufzuzeigen, zugleich
aber die Einsicht zu gewinnen, daß jegliches Seiende not'
wendig ein Wesen und ein Dasein besitzen müßte. Auch
das Realsein z. B. hat wieder sein besonderes Wesen. Es
muß also auch zu jedem Wesen von Etwas auch irgendein
Dasein gehören und zu jedem Dasein ein bestimmtes Wesen
. — obzwar die Wesenserkenntnis eine vollständig ver-
schiedene ist von der Daseinserkenntnis, verschieden eben-
sowohl an Evidenz wie an Geltungsweite, wie auch an Er-
reichbarkeitfiir uns.Denn unsere Da$einserkenntnis undDa-
seinszusammenhangserkenntnisistweiteingeschränkter
als unsere Wesens- undWesenszusanimenhangserkenntnis
der Welt. Dürfen wir doch hier schon den grundlegenden
Satz aussprechen, daß, was inuner im Wesen irgendwelcher
Gegenstände enthalten ist oder von ihnen qua Wesen gilt,
a priori und notwendig auch in allen möglichen daseienden
Gegenständen desselben Wesens enthalten ist oder von
ihnen gilt — ob diese daseienden Gegenstände oder ein
Teil von ihnen für uns erkennbar seien oder nicht; wo-
gegen keineswegs Alles, was von den als daseiend ei^-
kannten Gegenständen gilt oder in ihnen enthsdten ist,
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I 20 ^^^ Wesen der Philosophie usw.
auch vom Wesen dieser Gegenstände gilt oder in ihnen
enthalten ist^.
Haben wir uns den puren Wasgehalt eines Gegenstan-
des (oder eines Aktes) zur vollen Einsicht gebracht oder
eine bestimmte Ordnung oder einen Zusammenhang sol-
cher Gehalte, so hat diese Einsicht Eigensdiaften, die sie
von aller Erkenntnis des Reiches des ihr gegenüber »zu-
fälligen« Daseins grundsätzlich unterscheidet: Sie ist ab-
geschlossen, also unvermehrbar und unverminderbar,
d. h. streng evident, wogegen aller Erkenntnis zufalligen
Daseins (wie immer es gefunden werde, durch direkte
Wahrnehmung oder durch Schlüsse) nie mehr als Ver-
mutungsevidenz oder vorbehaltliche Evidenz gegenüber
neuer Erfahrung resp. einem erweiterten Schlußzusammen-
hang zukommt (objektiv also in Urteilsform nicht Wahr-
heit, sondern Wahrscheinlichkeit). Sie ist Einsicht und
»gilt« (in Urteilsform) »apriori« für alles möglidie Da-
seiende desselben Wesens, auch das uns jetzt unbekannte
oder überhaupt unerkennbare. Alle wahre Apriorität ist
insofern Wesensapriorität.Sieistdrittens als bloße Wesens-
einsicht ebensowohl (ja oft leichter) vollziehbar an dem
bloßen Gemeintsein der Ficta des betreffenden Wesens
' Da das formale und materiale Wesensapriori nicht nur gilt «für« das Da-
seiende, an dem es zufallig gefunden ist und das in den Grenzen unserer
Daseinserfahrung gelegen ist, sondern auch auf dasjenige Daseiende des-
selben Wesens, das jenseits und außerhalb der Sphäre unserer mög-
lichen Daseinserfahrung gelegen ist, haben wir in ihm auf alle Fälle ein .
Wissen, das — ohne die Wesenheiten der erfahrungstranszendenten Sphäre
erschöpfen zu müssen — für diese Sphäre und ihr Daseiendes auf alle Fälle
mitgültig ist.
Wie sich daraus eme positive Lösimg der Frage nach der Möglichkeit einer
Metaphysik gewinnen und das Verdikt Kants über die Metaphysik wider-
legen läßt, kann hier nicht gezeigt werden und bleibt einer systematischen
Behandlung des Erkenntnisproblems vorbehalten.
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Vom Wesen der Philosophie usw. 121
als an wirklidi daseienden Gegenständen dieses Wesens.
Wenn idi z. B. etwas faktisch Unlebendiges durch Täu-
schung für lebendig halte, die Lebendigkeit des im Täu-
schungsakt gemeinten Gegenstandseins also ein Fictimi
ist, so muß doch das Wesen des Lebendigen im Fictum
ebensowohl enthalten sein wie im wahrnehmenden Auf-
fassen eines faktisch Lebendigen. Nur bezüglich des ab-
soluten Seins, dessen einsichtiger, nach Wesen und Dasein
noch ungeschiedener Bestand dieser Scheidung von Wesen
und Dasein und den beide betreffenden wahren Sätzen
vorhergeht, nicht also folgt, ist die Bemerkung hinzu-
zufügen, daß es, da es seinem Begriffe nach in seinem
Sein überhaupt von keinem anderen möglichen Sein ab-
hängt, auch dem Dasein nach nicht zufällig sein kann, sein
Dasein vielmehr so beschlossen sein muß, daß es aus
seinem Wesen (welch immer dies sei) selbst und ausschließ-
lich notwendig folge. Während also die Scheidung von
Wesen und Dasein innerhalb alles relativ Seienden eine
ontische ist, im Sein der Sachen selbst und nicht in unse-
rem Verstände gelegene, ist sie gegenüber dem absoluten
Seienden — was immer es sei — nur erkenntnisrelativ
auf ein erkennendes Subjekt. Da-Sein und Wesen fallen
im absoluten Sein in Eins zusammen, freilich so, daß unter
der Voraussetzung der erkenntnisrelativen Trennung
sein Dasein aus seinem Wesen folgt, nicht aber umgekehrt
sein Wesen aus seinem Dasein.
Schon damit haben wir zur Bestimmung des Gegen-
standes der Philosophie zwar noch nicht alle, aber einige
wesentliche Materialien gewonnen. Wir dürfen sagen:
Philosophie ist ihrem Wesen nach streng evidente,
durch Induktion unvermehrbare und unvernicht-
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12 2 Vom Wesen der Philosophie usw. \
bare, für alles zufällig Daseiende >a priori« gül-
tige Einsicht in alle uns* an Beispielen zugäng-
lichen Wesenheiten und Wesenszusammenhänge
des Seienden, und zwar in der Ordnung und dem
Stufenreich, in denen sie sich im Verhältnis zum
absolut Seienden und seinem Wesen befinden.
Die Richtung des Erkennens auf die Absolut Sphäre
oder das Verhältnis zur Absolutsphäre alles möglichen ob-
jektiven Seins und die Richtung auf die Wesenssphäre
alles objektiven möglichen Seins im Unterschiede zu seiner
zufälligen Daseinssphäre — das und das allein macht die
Natur des philosophischen Erkennens an erster Stelle
aus; und dies, im strengsten Unterschied von den Wis-
senschaften, die es ebenso notwendig mit auf mannig-
fachste Weise seins-relativem (und zwar daseins- wie
wesensrelativem) Sein zu tun haben und die alle ihre Er-
kenntnisse entweder (freilich auf Grund von in Wesens-
zusammenhängen gründenden sog. Axiomen) an dem in-
tramentalen Sein bloßer Ficta vollziehen (so die gesamte
Mathematik) oder an zufälligem Dasein und seinem Da-
seinszusammenhang. —
Indes schon in dieser unvollständigen Gegenstandsbe-
stimmung der Philosophie wie in allem früher über sie
Gesagten, kommt ein Begriff vor, der bisher ungeprüft
zugelassen war, der aber angesichts des weit überwiegen-
den Zuges der modernen Philosophie seit Descartes alles
Gesagte in Frage zu ziehen scheint. Dieser Begriff ist
jener der Erkenntnis und aller mit ihm zusammengehöriger
Begriffe. Wir haben zu sagen, welche Art Sein das Sein
der Erkenntnis ist, und wir sind um so mehr dazu ver-
pflichtet, als wir in der Ordnuftg des Evidenten oder der
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Vom Wesen der Philosophie usw. 123
Stufen möglicher Bezweifelbarkeit von Einsichten nicht
wie Descartes, Locke, Kant und andere von der »Er-
kenntnis« oder dem »Denken« oder dem »Bewußtsein«
oder irgend einer Art voa »Ich« oder d^m Urteil usw.
ausgegangen sind, um erst mit deren Hilfe die ontischen
Grundbegriffe zu gewinnen. Ja wir wierden die bisher ge-
wonnene Evidenzordnung unserer drei Sätze selbst nur
endgültig aufrechterhalten können, wenn wir die von
diesen Forschern angenommene Evidenzordnung nicht
nur auf dem Böden der unsrigen widerlegen, sondern auch
positiv zeigen, was denn nun Erkenntnis überhaupt \t\
einem Reiche bloß seiender Etwasse selber öei und bedeute.
Mit der Erörterung dieser Frage, die über die Bestim-,
mung des Wesens der Philosophie und der moralischen
Bedingung des philosophischen Erkennens beireits erheb-
lich hinausreicht, seien die Veröffendichungen über »die;
Welt und ihre Erkenntnis« begonnen, die wir demnächst
der ÖfTendichkeit vorzulegen gedenken. .
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Die christliche Liebesidee und die gegen-
wärtige Welt
(Ein Vortrag)
1917
Jedem gesunden menschlichen Geiste wohnt die Fähig-
keit ein, dieselben Weltereignisse unter grundverschiedenen
Höhenlagen seiner geistigen Blickrichtung zu betrachten.
Auch das wilde Schauspiel des uns umtobenden Krieges
steht unter dieser Regel. Welche dieser Höhenlagen wir
einzunehmen hatten, als der Krieg begann, welche wir
noch heute Tag flir Tag einzunehmen haben, sofern wir
direkt oder indirekt, im Felde oder zu Hause an seiner
harten Führung tätig mitwirken — dies zu entscheiden
ließ und läßt uns die Stimme unseres Herzens keine Wahl.
Unser Herz sprach deutlich zuerst das Wort: Deutsch-
land! Heißen, immer neu aufquellenden Dankes voll da-
für, was unserem Leib und unserer Seele dieses geliebte
Land täglich gab und gibt, fühlen wir uns bis in unsere
tiefsten Existenzwurzeln als die Gebilde seines Bodens
und seiner Geschichte. Demütigen Sinnes erkennen wir
das Gute wie die notwendige Beschränkung darin, daß
Gott unsere unmittelbar von ihm selbst geschaffenen See-
len in die Geschichte dieses Landes und in Deutschlands
Schicksal untrennbar hineingewoben hat. So durfte uns
weder Zeit noch Ruhe bleiben, eine andere geistige Blick-
richtung auf die Weltereigm'sse einzunehmen, als diejenige
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 125
ist, die der Ausdruck ,Deutschland* bezeichnet. Worauf
immer auch die mamiigfaltigste Not das Auge Jedes von
uns Tag für Tag hinlenken mußte, auf das Ergehen
imserer Lieben, unserer Familie, unserer Freunde, Ver-
wandten, Dorf-, Stadt-, Stammesgenossen, auf eigene und
fremde wirtschafdiche Not der Gegenwart und Zukunft:
Umspannt blieben alle diese einzelnen wechselnden Blick-
strahlen einer niedrigeren Höhenlage von einem hellen,
festen Grundstrahl unseres Geistes: Deutschland ist seine
Richtung! Und so soll und muß es bleiben so lange, bis
ein ehrenvoller Friede unser wurde. Noch haben wir kein
Recht als praktisch-tätige Wesen unserem Blicke eine
Höhenlage zu geben, die — von der Linderung individuellen
Kriegsleids abgesehen — über .die ragenden Zinnen der
noch immer, Gott sei Dank, unverletzten Burg , Deutsch-
land* hinausspähte. Noch haben wir kein Recht, in irgend-
einem Sinne für die Welt praktisch zu sorgen.
Aber so wahr dies ist: Wir dürfen in jenen stillen Stun-
den, da uns die praktische Sorge für Deutschland Muße
läßt, auch an die Welt denken: An die Welt, in deren
Ganzheit und Einheit derselbe Schöpfer, der die Welt und
unsere Seelen unmittelbar schuf, uns hineingesetzt hat,
ihn zu lieben, ihn zu preisen und ihm gehorsam zu sein.
Wir dürfen dies nicht nur, wir sollen es sogar. Und wir
sollen es nicht nur um des einen heiligsten Blutes selber
willen, das flir dieser einen Welt solidarische Sünde und
Schuld, das um der gemeinsamen all ineinander so wun-
derbar verwobenen Drangsale aller Kinder Adams, ja
aller Kreatur dahinströmte: Wir sollen es auch darum
noch, auf daß wir unsere Seden und Gedanken erleuch-
ten und frei genug machen, um auch unseren praktischen
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126 Bw christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
Dienst an Deutschland auf rechte Weise zu tun, und das
heißt in letzter Linie auf eine Weise, wie sie Gott wohl-
igelallig ist.
Zu einer solchen stillen Stunde"^ der Betrachtung lade
ich Sie heute ein, zu einer Stunde der Betrachtung, in
der wir wagen dürfen, in der wir wagen sollen, unseren
Geistesblick über Deutschland noch hinaus zu werfen auf
die Welt
Bevor ich in die Sache eintrete, erlauben Sie mir noch
ein Wort, das unser Verstehen vielleicht erleichtert. Ver-
isuchen wir uns einmal der gewohnten Denk- und Fühl-
weise und aller Vorurteile für eine kurze Zeit zu ent-
ischlagen, wie sie bezüglich des Weltkrieges Parteimeinung,
täglicher Verkehr und Presse, ja in uns hineingesponnen
haben. Versuchen wir mit reinen naiven Menschenaugen
— als gehörten diese Augen einem menschlichen Wesen
an, das aus einem längst verflossenen Jahrhundert Euro-
pas in unser Zeitalter gleidisam nur zu Gaste kommt und
sich verwundert umsieht, — das Schauspiel um uns her zu
betrachten. Werfen wir auf diese Dinge einen Blick, der
genau, gütig und wägend ist, aber der doch religiös und
metaphysisch, ich möchte sagen entfremdet genug ist,
um alles, was wir um uns herum sahen, nicht nur als einzeln
längst gewohnte Wirklichkeit des Tages zu sehen — und
vielleicht hat sich unser Auge sogar an dies Töten und
Hassen schon allzusehr gewöhnt — , sondern immer auch
alles zugleich als Symbol eines eigentümlich moralischen
Gesamtstatus der heutigen europäischen Menschheit.
Im Mittelpunkt der sitdichen Lebensrichtung, die wir
die chrisdiche nennen, steht das gewaltige Gebot: »Du
sollst Gott lieben aus ganzem Herzen und mit ganzeip
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 127
Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst. « Wer ganz
unvermittelt durch die Geschichte und durdi eine Inter-
pretation dieses Gebotes von diesem Satze aus auf die
Nöte der Gegenwart Europas, ja der Welt blickt: Wel-
ches Gefühl und welcher Gedanke muß ihn erfüllen? Nun,
das Gefühl heißt um so mehr »Verzweiflung« als er
das Gebot ernst nimmt. Und der Gedanke heißt: »Ban-
kerott des Christentums« oder — wie man auch
sagte — »Außerkraftsetzung der Bergpredigt«. Wun-
dem wir uns keinen Augenblick, daß dieses Urteil nicht
nur als selbstverständlich gefallt wird von Japanern,
Chinesen, Indem (erst jüngst z. B. vom indischen Dichter
Tagore in seinem sehr lesenswerten Vortragt in Tokio),
sondern auch von vielen hochstehenden Europäem aller
Nationen. Wie anders sollte denn das Urteil eines unver-
bildeten Menschertsinnes lauten.^ Schreiben Sie dagegen
ganze Folianten, in denen all das geltend gemacht wird,
was ohne Zweifel gegen das Urteil einzuwenden ist. Jeder
naive Mensch wird Ihnen antworten: Schwarz ist nicht
weiß; alles, was du mir da erzählst über den wahren Sinn
des Gebotes oder darüber, welche europäischen Men-
schenschichten die sogenannte »Schuld« an dem Ereigfnis
tragen, wie es sich vorbereitet, wie es geworden ist, ist
mir total gleichgültig. Was künunert mich das alles!
Das verwirrt nur mein Urteil — gemäß der Regel, daß
klare Wertaussagen sehr häufig verwirrt werden durch
zu genaue detaillierte Kenntnis des kausalen Verlaufs der
zu wertenden Dinge. Faktum ist, daß die europäische
Kultur christlich verwurzelt ist. Faktum ist, daß Europa
sich selbst »christlich« nennt und daß es sdne Kinder fast
^ In dem Buche *NationalbniU8«i Leipzig 1919.
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128 I^i^ christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt ^
200oJahre nach christlichen Grundsätzen zu erziehen vor-
gibt. Und Faktum ist, daß eines der Ergebnisse, eine der
Früchte dieser fast 2000 jährigen christlichen Erziehupg,
eine mit allen Mitteln des Verstandes, der Technik, der
Industrie, des Wortes getriebene Bärberei ist, wie sie die
Welt nie gesehen hat. Das und nur das ist das mich inter-
essierende Faktum. Das nenne ich: »Außerkraftsetzung
der Bergpredigt« . — So lautet die Aussage des unbeteilig-
ten Zuschauers. Verhalten wir uns denn anders wie dieser
Zuschauer, wenn wir das Haus und die Wohnung einer
Familie betreten, wo Schmutz, Unordnung, wo die niedrigen
Reden der Kinder, wo alles, was wir wahrnehmen, den
Gesämtzustand einer moralischen Fäulnis verrät.^ Solch
Gesamtzustand ist zunächst ein Unteilbares — gleichgül-
tig, wie er geworden ist, gleichgültig, wer daran Schuld
hat, ob der Vater, die Mutter, der Urgroßvater oder sonst-
wer. Jede tiefere Menschenerfahrung lehrt, daß solche
Gruppen- und Gesamtschuld niemals in die Schuld Ein-
zelner vollständig aufzuteilen ist. Jede aufmerksame Er-
fahrung lehrt, daß gerade jedes tiefere Eindringen in die
moralischen Beziehungen der Glieder einer solchen Familie
die unfaßbare Gegenseitigkeit det Verschuldung um so-
mehr an den Tag bringt, je tiefer das Eindringen ist. Die
christliche Gedankenwelt enthält die wichtigen Begriffe
einer Gesamt- und Erbschuld, und eine tiefere Philosophie
vermag sie zu bestätigen^. Wir sollten sie nich t nur kennen
als die dogfmätischen Begriffe der Erbsünde und Erbschuld,
und nicht nur bezogen auf die ganze menschliche Gattimg,
sondern auch bezogen auf Zeitalter, Kulturkreise, Völker.
' Siehe hiezu mein »Fonnalismus in der Ethik und die materiale Wertethik«
II. Teil.
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 129
So Wird der Christ auch die europäische Anarchie die-
ses Krieges, oder .besser dieser Kriegsrevolution, als auf
einer Gesamt- und Erbschuld der letzten Jahrhunderte
europäischer Geschichte beruhend anzusehen haben.
Aber ebenso gewiß als der Vorwurf eines »Bankerottes
des Christentums« verständlich ist, ist auch dies: Wer
immer die Gestalt Christi ergriffen hat im Glauben und
als das erhabenste Modell und Vorbild jedes Menschen-
herzens — er kann die Rede vom endgültigen Ban-
kerott des Christentums in Europa gleichwohl nicht
anerkennen. Was also soll ein Mensch in solcher Lage tun?
Vor allem soll er sich nicht begnügen mit zu lä- '
scher und billiger Auskunft — ^i es des Unglaubens
oder des unechten Scheinglaubens. Der radikalste Un-
glaube meint es, wenn er vom Bankerott des Christen-
tums spricht, so: Es sind nicht die Menschen, nicht die
Träger des christiichen Gedankens — es ist die christ-
liche Moral, das christliche Lebensideal selber, die Ban-
kerott gemacht haben. Dieses Ideal widerstreite eben der
Natur des Menschen; es fordere, was der Mensch nicht
leisten könne; es sei durch ein anderes, ehrlicheres, prak-
tikableres Idöal zu ersetzen. Bestand denn nicht immer
und überall diese tiefgehende Spannung zwischen den
Forderungen der Bergpredigt und der historischen Wirk-
lichkeit von Politik, Geschäft, sozialen Zuständen? Ist es
nicht höchstens nur ein quantitativer Unterschied, der das
Jetzt von allem Gestern der europäischen Geschichte schei-
det? Also ändern wir nicht den Menschen; denn dies ist
unmöglich. Andern wir vielmehr unsere sittlichen Maß-
stäbe selbst, geben wir dieses falsche, »verstiegene« Ideal
preis — geben wir es auf für ein neues Ideal, sei es der
9
\
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1 30 ^^ cbristlidie Liebesidee und die gegenwärtige Welt
größten Macht oder der größten Wohlfahrt oder der kul-
turellen Höchstieistung der Menschheit — und wie alle
diese modernen »Ideale« sonst noch heißen mögen. Ver-
dammenswert ist diese Rede auf alle Fälle, wie sie sich
auch mit Gründen decke. Denn wie immer die klare und
evidente Idee des Guten auch inhaltlich gefaßt werden
mag — ob christlich oder nichtchristlich — niemals darf sie
selber nur darum preisgegeben werden, weil Menschen
sie nicht verwirklichen. Niemals darf das Ideal der Wirk-
lichkeit angepaßt und zu ihrem Stande heruntergezogen
werden. Das Gute soll sein — auch wenn es niemals und
nirgends geschähe, sagt Kant mit Recht. Das liegt sc^on
in seiner formalen Natur — nicht erst im Gehalt, den das
chrisdiche Liebesgebot ihni erteilt. Ist das christliche
Ideal eine Irrlehre, so kann sie es also nicht darum
sein, weil der Mensch bisher dem Ideale so wenig ge-
nügte, oder weil der Mensch sogar dieses Ideal mit
Füßen trat. Gewiß bestand stets und immer diese Span-
nung zwischen den irdischen Gesetzen des politischen
und sozialen Lebens mit dem großen Gebote. Aber erst-
lich ist Spannung ein Anderes wie Verkehrung ins Gegen-
teil. Beides ist wesensverschieden — nicht quantitativ.
Daß Spannung allein bestehe — das sagt die christ-
liche Lehre selbst und sie erklärt diese Spannung auch
durch Fall, Sünde und Erlösungsnotwendigkeit. Freilich:
auch diese Erklärung muß richtig verstanden werden.
Sie soll unsere Lebenseinheit nicht in zwei Stücke, zwei
Hälften zerreißen, so daß wir gleichzeitig als Leibwesen
nur folgen dürften den Trieben der Macht, des Ehrgeizes,
daß wir der Herrschaft rein irdischer Kampfregeln der
Gruppen uns und unseren Staat überlassen dürften, als
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt^ x ^ i
Sieelen aber nur im Glauben oder in der sogenannten
»Gesinnung« aufgetan sein sollten Gott und den himm-
lischen Gütern. Auf ein Recht solcher Zerreißung gibt jene
Erklärung keine Anwartschaft. Sie ist ein Irrweg, ein Irr-
weg, der die besondere Gefahr ist der germs^nischen Seele.
Sie ist der Irrweg einer falschen Scheidung von Gott und
Welt, Seele und Leib, Gesinnung und Tat, Glauben und
Werk, äußerer politisch-sozialer und »innerer«
Freiheit, der Scheidung auch von Politik und
Moral. Der lutherische Protestantismus — im Gegensatze
zu Lehre und Übung der von Calvin und Zwingli gegrün-
deten Kircheninstitute — hat leider diesen germanischen
Erbfehler tief eindringen lassen in sqnen dogmatischen
Lehrgehalt und nicht minder in seine ethischen Auffas-
sungen. Er hat stark mitgewirkt im deutschen Volke, das
Ideal einer falschen Nurinnerlichkeit auch da noch auf-
zurichten, wo das Luthertum expressis verbis nicht aner-
kannt wird, auch einer falschen Nurgesinnungsethik, die
um eine innere Welt des Gemütes rein zu erhalten, alles
äußere, öffentliche, auch alles politisch-soziale Dasein dem
christlichen Sittengesetz entwendet, um es dem bloßen
Stoß und Gegenstoß irdischer Kraft, zusammen mit einer
machiavellistischen Machtpolitik, zu überlassen. Ein Buch
wie das Buch von Baumgarten über »Politik und Ethik«
zeigt diese Auffassung bis zur Karikatur. Vermeiden wir
aber diesen falschen Verzicht auf wahrhaftigen Einbau
des christlichen Geistes in das öffentliche und sichtbare
Dasein, in die Wirklichkeit also auch der menschlichen
Kollektivbeziehungen, so haben wir den Unjgläubigen,
welche da^Wort vom »Bankerott des Christentums« so
verstehen, daß sie die christliche Moral selbst in den
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1^2 Vit christliche Liebesidee uiid die gegenwärtige Welt.
Zustand der Anklage erheben, zu antworten: daß zu die-
sem Einbau noch eine ungemessene Geschichte der Zu-
kunft vor uns steht, und daß das Christentum zwar alt ist
— ^ verglichen mit sonstigen irdischen Instituten — aber
npch jung und neu für jeden, der den wesensnotwendigen
Dauersinn religiöser Werte im Verhältnis zu Kulturwerten
überhaupt klar aufzufassen verstanden hat.
Gerade wenn wir aber festhalten an den christlichen
Grundsätzen und vor allem am Liebesgebot, wenn wir weder
es abschwächen zu seichter Wohlfahrtsmoral, nocK es
herausweisen aus aller öffentlichen Wirklichkeit, so trifft
Europa die Rede vorn^ Bankerott des Christentums in
anderem Verstände nur um so schärfer. Ist dieses Gebot
ewig und gilt es absolut — und gilt es in welch verschie-
dener Anwendung immer auch für das öfifendiche Dasein
— um wieviel furchtbarer scheint dann die Abirrung der
europäischen Geschichte! Und wer verschuldet dann den
Bankerott ? Die Verwalter des christlichen Gesetzes — sagen
die Einen, also die Kirchen, die ihre Pflichten vergaßen oder
doch die Vertreter dieser Kirchen, ihre Priester, ihre Pre-
diger, ihre Lehrer. Nein, umgekehrt! Der Abfall von eben
diesen Kirchen oder von einer Kirche seitens der > modernen
Welt« — sagen die Anderen. Wie immer Wahres und Fal-
sches gemischt sein möge in diesem und jenem Urteil : wahr
bleibt auf alle Fälle das klare Entweder-Oder; Entweder
i s t das Christentum noch die faktisch führende Geistesmacht
in Europa oder es ist es nicht. Ist es noch die fuhrende
Geistesmacht, ist es noch das Kemhafte und Substanzielle
des europäischen Gesamtgeistes, so hat das Christentum
mindestens in seinen Vertretern und großen Vf rtretungs-
körpem Bankerott gemacht. Nur dann und in dem Maße,
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 133
als ZU zeigen wäre, esTiabe das Christentum diese fuhrende
Rolle V e r 1 o r e n , es habe sie ab treten müssen an andere, ihm
feindliche Geistesmächte, nur in dem Maße also, als das
Christentum zurückgedrängt, verborgen, ohnmächtig ist,
kann überhaupt dieser Vorwurf mit Recht und Grund abge-
lehnt und in den anderen Vorwurf gewandelt werden, es
habe nicht das Christentum, sondern es habe der ihm feind-
liche moderne Geist diesen Bankerott erlitten. Ich stelle
diese Alternative mit Schärfe vor Sie hin! Denn es scheint
mir eine laue und fade, ja eine verworrene und unehrliche
Denkungsart verbreitet zu sein, die da gemächlich Beides
beweisen will : das Christentum und seine sitdichen Grund-
ideen seien noch die faktische führende Geistesmacht
Europas, sie seien noch die Substanz des europäischen
Geistes und es habe das Christentum gleichwohl nicht
bankerott gemacht, sondern blühe und gedeihe dabei
ganz herrlich weiter. Das heißt nun doch den gewaltigen
Vorwiuf z. B. der gesamten gebildeten asiatischen Welt
etwas gar zu wenig ernst nehmen und auf gar zu billige
Weise sich über ihn hinwegsetzen. Und auch solche Be-
wohner der europäischen Staaten, die in dieser furcht-
baren Frage, die gar nicht betrifft die Zustände dieses
und jenes europäischen Landes (Frankreichs oder Deutsch-
lands etc.), sondern betrifft die Grundrichtung der ge-
samteuropäischen Geschichte der neuesten Zeit, die zu die-
sem Kriege führte, die — sage ich in dieser Frage — unter
dem Spotte und Gelächter ganz Asiens, nur die ihrem
eigenen Volke je feindlichen Völker einseitig und aus-
schließlichverantwortlich machen wollen, bleiben tief unter
dem Ernste und der Größe des Problems. So falsch es ist,
unser Volk oder unsre Regierung im speziellen verantwort-
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^34 ^^^ christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
lieh zu machen für gemeineuropäische Verirrungen des
Lebens, so falsch ist es auch, die weil gemeineuropäische
eben auch Deutschland mit in sich einschließende — nicht
aber ausschließende Natur dieser Verirrungen zu ver-
kennen. Aller Streit der Kriegsparteieh um Recht und Un-
recht hat bei dieser Frage zu schweigen, wenn nicht zur
Tatsache des nun kund gewordenen praktischen Abfalls
Europas vom Christentum noch dazutreten soll das grotesk-
klägliche Rede-Schauspiel, daß dieselben Völker, die da
emsdich behaupten, Glieder einer Größe »christliches
Europa« und selbst chrisdich zu sein, sich gegenseitig je
ihr Christentum abstreiten.-
Hüten wir uns also vor diesen falschen Wegen, der Rede
vom Bankerott des Christentums zu begegnen. Schlagen
wir einen anderen Weg ein. Wir müssen — so meine ich
• — zu allererst uns selbst wie unseren Anklägern ehrlich
zugestehen: das chrisdiche Ethos ist in Europa nicht
mehr die führende Geistesmacht. — Wie viel echte christ-
liche Religiosität von großen Gruppen und Einzelnen auch
verbreitet sein mögen, wie weit immer die Ethik d. h. die
bloße Lehre vom lebendigen christlichen Ethos auch in
den außerreligiösen und außerkirchlichen Kreisen intel-
lektuell und in Formeln anerkannt werden: die lebendige
Potenz, die das öffentliche und kulturelle Leben Europas
leitet und fiihrt, ist diese sitdiche Macht nicht mehr. Und
das besagt nicht etwa nur, daß praktisch seine Regeln
übertreten wurden und dies viel oder wenig. Diese
Übertretung geschah zu allen Zeiten, wenn' auch in ver-
schiedenem Maße; das ist eine Sache nicht des Ethos,
sondern eine Sache der praktischen Moralität. Vielmehr
sind es die christKchen Maßstäbe, die Ideale, die Normen
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Die christliche' Liebesidee und die gegenwärtige. Welt. i ic
selber, wie sie sich im Leben der Seele vermöge der
sog. Gewissensregungen geltend machen, sind es fer-
ner die nicht nur im Urteil anerkannten, sondern in
Tätigkeit stehenden Regeln des Vorziehens und Nach-
setzens von Werten, die den Kern der europäischen Seele
nicht mehr innerlich beherrschen; die den in Werken, For-
men, Institutionen^ Sitten niedergeschlagenen > o b j e k -
tiven Geist« nicht mehr beseelen und leiten. Das ist für
den Anhänger der chrisdichen Denkweise ein furchtbares
Zugeständnis. Aber es ist ein notwendiges Zugeständnis.
Der zweite Schritt einer also erschreckten Seele wäre,
zu ermessen^ wie sich dieser moralische Gesamtzustand
Europas bildete — eine ungeheuere Aufgabe, die ich hier
nicht im entferntesten auch nur emsdich angreifen kann.
Denn sie betrifft die Geneologie, die Ursprungslehre der
ganzen sittlichen Bewußtseinsweise, die an Stelle des christ-
lichen Ethos in Europa die Führung und Leitung über-
nahm und dieMch formell nach Zeit und ihrer sozialen
Trägerschaft bestinunt nennen möchte: das Ethos des
modernen speziell bürgerlichen und kapitalisti^
sehen Geistes. Und der dritte Schritt wäre, vermöge
einer genauen Analyse der noch herrschenden Tendenzen
unseres Zeitalters auf allen W^rtgebieten (Kultur, Wirt-
schaft, Staat, Recht usw.) imd bei verschiedenen europä-
ischen Völkern herauszufinden, welche dieser Tendenzen
dem Ziele günstig siijd, das christliche Ethos wieder zu
einer führenden Leitpotenz in den öfferidichen Angelegen-
heiten Europas zu erheben, welche nicht, was die Erfah-
rung dieses Krieges — hier als Gesamterfahrung Europas,
ja der Welt genommen — zu diesem Sinneswandel bei-
tragen könnte und welches Leitbild aus der Zusammen-
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136 Die christliche Liebesidee un4 die gegenwärtige Welt
schau der ewigen Ideale des Christentums mit diesen fak-
tischen Verhältnissen sich für uns ergeben möchte. Dieser
Weg — nicht einseitige Beschuldigung oder Entschuldi-
gung der christlichen Kirchen oder dieser und jener Kirche
oder ihrer Vertreter, scheint mir der einzige Weg zu sein,
dem herben Urteil vom Bankerott des Christentums tapfer
zu begegnen und die tiefe Qual des christlichen Gewissens
angesichts des inneren Zustandes der fuhrenden europä-
ischen Volksschichten, die dieser Krieg enthüllte —
nicht schuf! — vielleicht einigermaßen zu lindem.
Wählen wir nun heute nur einen einzigen der Kem-
bestandteile des chrisdichen Ethos aus, nämlich das christ-
liche Liebesgebot* und die aus ihm abfolgenden Ideen
und "Normen menschlicher Gemeinschaft, also die christ-
liche Gemeinschaftsidee, um an ihnen aufzuweisen,
wie sie die geistige Führung in Europas öflfendichem
Leben verloren haben.
Es sind sehr verschiedenartige, aber im ganzen ge-
schichdichen Verlauf doch zusammen wirksame und sich
zum Teil unterstützende Geistesmäqjite, die zu einer Ver-
drängung des( christlichen Ethos aus seiner europäischen
Führerstellung geführt haben. Bezeichnen wir die wichtig-
sten dieser Mächte zuerst mit kurzen Schlagworten, so
sind zu nennen: i. Der das christliche Liebesgebot ent-
setzende Humanitarismus. 2. Der einseitige Individualis-
mus oder Sozialismus in ihrem gemeinsamen Gegensatz
zum christlichen Gedanken moralischer Solidarität selb-
ständiger Personen. 3. Der unbegrenzte Macht-^und Herr-
schaftswille des den Feudalismus zertrümmernden >abso-
^ Vgl. hierzu in meinen Abhandlungen und Aufsätzen Bd. I : „Das Ressen*
timent im Aufbau der Moralen".
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. j 3 jr
luten« und »souveränen« Staates. 4. Der moderne poli-
tische Nationalismus und der ihn begleitende ausschließ-
liche kulturelle Nationalismus; der letztere im Gegensatz
zur christlichen^uffassung, es seien die Nationalkulturen
bestimmt, sich zu einer umfassenden Weltkultur unver-
tretbar zu ergänzen, y. Die Verdrängung aller solida-
rischen Lebensgemeinschaften und Standesgliederungen
durch bloße, in willkürlichen Rechtsverträgen wurzelnde
und zur Erreichung bloß partikularer Zwecke hin ge-
schlossene Gesellschaften, und der diesem Zustande ent-
sprechenden vorwiegenden Klassep- und Besitzgliede-
rung der Menschengruppen. 6. Die Verdrängung des
chrisdichen Wirtschaftsethos solidarischer 'organisierter
Bedarfsdeckimg aller wirtschaftenden Gruppensubjekte
im Rahmen höchster Grundsätze chrisdicher Lebenslehre,
durch das bürgerlich kapitalistische Wirtschaftsethos einer
durch nichts begrenzten Produktion und eines ebenso un-
begrenzten Gelderwerbes — sei es des Individuums eines
Staates oder eines Imperiums — , Kräfte, die durch nichts
kontrolliert werden, sondern nur in den Grenzen staat-
licher Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte in freier Konkur-
renz völlig ungebunden sich auswirken. 7 . Die Verdrängung
der Ideen und Maßstäbe christlicher Kulturgemeinschaft,
denen gemäß sich Kunst, Philosophie, Wissenschaft dem
Baugeflige der letzten, höchsten und umfassendsten Men-
schengemeinschaft, nämlich dem sichtbaren und unsicht-
baren »Corpus Christi«, der Kirche, und deren Geist ein-
zugliedern haben durch die sog. »autonome« Kulturidee^
Anstatt daß alle Kulturverwirklichung der sich folgenden
Generationen wie der gleichzeitigen Völker und Nationen
in einträchtiger, auf gegenseitigem Verständniswillen ge-
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138 ^^ christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
gründeter Kooperation erfolge, soll die geistige Kultur-
arbeit nun völlig unabhängig von allen religiösen Inspira-
tionen ablaufen soll^ Gegeneinanderarbeiten und Über-
treffenwollen der Generationsfolgen und Ng^tionen wird nun
ihr Triebrad an Stelle einträchtiger Kooperation an einem
Baue. Hinsichdich der Generationsfolgen ist die Konse-
quenz dieser Kulturidee eine Gruppe von Erscheinungen,
die bald mehr Relativismus, Historismus, Skeptizismus zu
nennen sind. Hinsichtlich der Nationen flihrt sie zu stei-
gender Entfremdung der nationalen Kulturen Mnd zu zu-
nehmender Auflösung der geistigen Einheit Europas.
Diese Punkte sollen im folgenden Gegenstände unserer
Betrachtung sein.
I. Liebesgebot und Humanitarismus.
. Der Humanitarismus erhebt sich gegen den ersten Satz
des chrisdichen Liebesgebotes »Liebe Gott über Alles«
(und wie wir gleich hinzufugen, liebe darum auch den
Nächsten in Golt und stets in bezug auf das höchste Gut).
Er erhebt sich dagegen in verschiedenem Maße und in
verschiedener Weise innerhalb der europäischen Renais-
sancen, dem sogenannten Humanismus und ganz beson-
ders mächtig im Zeitalter der europäischen Aufklärung.
Alle diese großen Bewegungen arbeiten am Aufbau eines
Ethos, das Mensch und Menschheit von Gott isoliert, ja
häufig den Menschen gegen Gott ausspielt. Auch da wo
die christlichen Werte festgehalten werden, ändert sich
doch die Emotion und der innere geistige Akt dessen, was
Menschenliebe oder Nächstenliebe genannt wird. Nicht
mehr sein unsichtbares geistiges Teil, seine Seele und ihr
Heil — solidarisch eingeschlossen in das Gesamtheil der
Kinder Gottes — trifft jene neue sogenannte Menschen-
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Dfe christliche Liebesidee und dii^ gegenwärtige Welt. i lo
Hebe und Nurmenschenliebe querst, und leibliche Güter
und Wohlfahrt des Menschen nur soweit, als sie seine Voll-
kommenheit und Seligkeit mitbedingen. Sie trifft vielmehr
diese Wohlfahrt zuerst und die Güter des Geistes und der
Seele nur soweit, als sie die Beförderung dieser Wohl-
fahrt mitbedingen, Sie trifft femer die »Menschheit« nur
in ihrer Gleichzeitigkeit, also die je Lebenden, nicht die
Menschengruppen in ihrem zusammenhängenden histo-
rischen Dasein und nicht auf dem Hintergrund einer über-
irdischen Ordnung, die auch die Seelen der Verstorbenen
umfaßte. Sie trifft des Menschen äußere Erscheintmg,
sein sinnliches Wohlsein. Und sie trifft dieses Wohl-
sein in steigender Abgelöstheit von der objektiv gültigen
Stufenordnung der geistigen und materiellen Güter, die
stufenweise zum höchsten Gute hinaufführen. Aber noch
mehr: Auch soweit die Liebe noch als tiefste Quelle alles
guten Wollens und Handelns festgehalten wird und nicht
^ — wie es gleichfalls geschah, z. B. bei Kant — ersetzt
wird oder werden soll durch ein rein rational -formales
Gerechtigkeitsprinzip, ist nicht sie selbst als Liebe und
ihre Selbstdarstellung im Opfer der in sich höchstwertige,
den Menschen unendlich adelnde und Christus gleich-
machende Geistesakt, sondern die Liebe erscheint nur ab-
geleitet wertvoll, nämlich weil sie ein Mittel ist, die Wohl-
fahrt und das sinnliche Glück des Menschen oder mensch-
licher Gruppen zu vergrößen>. Gewiß: Auch nachchrist-
licher Ansicht sollen wir überall die Wohlfahrt unserer Um-
welt zu fördern suchen, ökonomisch, sozial, hygienisch usw.
Das gebietet schon die eigenartige Existenz- und Wirk-
einheit von Leib und Seele, und nicht weniger gebietet es
die moraltechnische Einsicht, daß die praktische Mög-
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1 40 ^^ christliche LieViiidee und die gegenwärtige Welt.
lichkeit, Menschen zu vervollkommnen, um sq größer ist,
um'je niedrigere Werte es sich handelt. Aber wir sollen die
Wohlfahrt fördern in letzter Linie um der Würde willen der
geistigen Persönlichkeit des Menschen, in welche Würde
die freieste und reinste Liebesbereitschaft gerade als ihre
Krone und Kern eingeschlossen ist. Denn im Demutsweg
und freiem Dienstschaftsweg der Liebe soll sich eben diese
Würde vollenden. Wir sollen die Wohlfahrt des Menschen
fördern, auf daß er reif werde zur Liebe als der Wurzel
aller Tugenden ^ Die humanitaristische Menschenliebe ver-
langt aber nicht Wohlfahrt um der Liebe und der freien
Liebesfähigkeit des Menschen willen — sa wie es ent-
spricht dem Gleichnis vom Scherflein der armen Witwe
— sondern umgekehrt fordert sie Liebe um der Wohl-
fahrt willen. Dadurch ist der echte Begriff der Opfer-
liebe von Grund aus zerstört, und es ist das christliche
Liebesethos ersetzt durch ein irdisches Wohlfahrtsethos.
Wundem wir uns nicht, daß sich darum die neuartige
Menschen- oder MenschheitsHebe nun so gerne in Gegen-
satz zur Gottesliebe bringt, ja daß sie sich häufig nur als
eine Art verdrängter Gotteshaß, als bewußter Aufstand
gegen Gott und seine Ordnung und schließlich gegen
alles darstellt, was auch an Menschenwert, Menschenwerk,
Menscheninstitution jene nur gemeinsamen und bloß gat-
tungsmäßigen, d. h. immer wertniedrigsten Naturmerk-
male des Menschen überragt.
Ein stark revolutionärer, ein aufständischer Affekt und
vor allem ein alle objektiven Wertunter^chiede des Mensch-
lichen nivellierender Affekt ist diese moderne sog. Liebe
zur Menschheit — ein Wort, das die christliche Sprache
' Im Sinne des Augustinischen : Ama et fac, quod vis. -
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtig Welt i ^ i
nicht kennt. Sie ist nicht ein geistiger Akt der Seele,
sondern ein siedendes wallendes sinnliches Pathos. Als
solches lebt sie vor allem in Rousseau und also wüten in
ihrem Namen die Robespierres und Marats der franzö-
sischen Revolution. Daraus resultiert auch ihre unorga-
nische Art zu vereinheidichen, zu unitarisieren und zu
zentralisieren, d. h. auszulöschen die gottgegebenen, be-
sonderen, eigenartigen Bestimmungen der Individuen,-
Stände, Völker, Nationen zugunsten eines AUerweltsbreies
von Menschheit, eines Menschheitsstaates, einer Welt-
republik usw. Daher kommt auch ihre gefährliche Rich-
tung, ohne weiteres den je niu* größeren umfassen-
deren Kreis als Liebesobjekt auszuspielen gegen den
engeren (z. B. Menschheit gegen das Vaterland, Nation
und Nationalstaat gegen Stamm und Stammesstaat usw.).
Nicht der höhere qualitative Wert und die reinere
Wertfülle der Gott als dem höchsten Gute näherliegende
Wert, ist für sie das wahre Vorzugsobjekt einer wohl-
geordneten Liebe, sondern nur die je größere Zahl der
Menschen — so wie es ein Engländer Bentham ja auch
naiv genug war, zu formulieren: »Das größte Glück der
größten Zahl. « Und hier sehen wir nun in voller Deut-
lichkeit auch die für die menschlichen Dinge und ihre rechte
Ordnung bestehende so folgenreiche Bedeutung der hu-
manitaristischen Streichung des ersten Teiles des Lie-
besgebotes. Ist der gemeinsame Bezug aller Menschen
auf Gott und ist die tiefste, letzte und wirksamste Ver-
knüpfung der geistigen Seelen untereinander, die Verknüp-
fung durch Gott und in Gott einmal geleugnet, so kann
auch keinerlei Stufenordnung der Güter mehr ange-
nommen werden, auf die sich unsere Liebe in je verschie-
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1 4.2 Die christlich« Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
denem Ausmaße und nach bestimmten Gesetzen des Vor-
ziehens richten soll — damit aber auch keine bestimmte
feste Ordnung und Wechselwirkung der Gemeinschafts-
-suten, denen die Bewahrung und Verwirklichung dieser
Güter nach ewigen Gesetzen obliegt (Kirche, Staat, Fa-
milie, Gemeinde, Stände, Berufe usw.). Darum ist diese
neue humanitaristische Nurmenschenliebe ebenso nivellie-
rend und auflösend als Prinzip wie das christliche Liebes-
gebot aufbauend und organisierend ist. Die großen
Geistesbewegungen in Europa, die zu dieser Verdrängfung
des christlichen Liebesgebotes durch den Humanitaris-
mus geführt haben, können hier nicht geschildert werden.
Nur zwei Phasen ihrer Geschichte lassen Sie mich kurz
bezeichnen.
Die eine ist die Reformation, die andere der Übergang
der Aufklärungsperiode zur realistischen Bildung des
1 9. Jahrhunderts. Der Geist der Reformatoren (und Luthers
insbesondere) war nichts weniger als humanitaristisch ge-
richtet. Im Gegenteil: der Mensch und der menschliche Wille,
seine Leistungen und Werke, erscheinen in ihren Lehren so
unselbständig und ohnmächtig wie nur möglich; des Men-
schen Willens-Freiheit wird bestritten zugunsten einer fast
zwingend gefaßten Gnade — einer Gnade, die den durch
den Fall als ganz und gar korrumpiert geltenden Men-
schen aus seinem passiven Sündenstande nicht eigentlich
und wahrhaftig herausreißen und ihn heiligen soll, sondern
ihm nur geben soll das friedliche Bewußtsein der Nach-
lassung der Sündenstrafen durch den Glauben an Jesu
sühnendes Blut. Überall sieht man den Geist der Re-
formation in schärfstem Gegensätze wirksam zum Hu-
manismus, zu Renaissance und zu deren an römischen
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Die christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt 143
und griechischen Dichtem uAd Denkern genährten Idealen
der Menschenbildung. Und dennoch hat die reformatorische
Bewegung mit am stärksten in Europa die Idee verbreitet,
daß alle menschlichen sqzialen Verbindungen und
Gruppeneinheiten ihren letzten Kitt und Zusammen*
halt ausschließlich finden sollen durch rein irdische und
menschlidi natürliche, von der Beziehung auf Gott gleich-
sam abgelöste Seelenmächte und Kräfte. Denn wie tiefe
und schöne Worte sich z. B. bei Luther über das mensch-
liche' Gemeinschaftsleben finden (Ehe, Familie, Kirche,
Staat): die wesentliche und zwar die zum Heile wesent-
liche Beziehung des Menschen zu Gott wurde doch ganz
einseitig verlegt in die Tiefe der individuellen Einzelseele
und ihren Glauben. Die gesamte Gruppe der Seelenakte,
die wir soziale Akte nennen können (Liebe, Versprechen,
Verzeihen, Herrschen, Dienen usw.) sollte eine ursprüng-
liche Heilsbedeutung nicht mehr besitzen. »Die Einzel-
seele imd ihr Gott« : Darin, in diesem Wechselspiel allein
sollte allef Heilssinn beschlossen sein. Erst von der durch
den Glauben erreichten Vergebimg imd Rechtfertigung
wurde es als Folge erwartet, es werde lebendiger Glaube
auch Liebe, Gemeinschaft bewirken imd es werde dann
jeder des andern Christus sein. Damit aber waren alle
sozialen Verbindungen zwar nicht nachträglicher religiöser
Sanktion, wohl aber der primären Lenkung und Leitung
durch das Heilsgebot der Liebe entrückt Und was
hieße dieses anderes als den Kräften, Leidenschaften, Trie-
ben des rein natürlichen Menschen hingegeben? Gewiß:
Zunächst war es ausschließlich die Zerstörung des einheit-
lichen Begriffs einer unsichtbar-sichtbaren Kirche als einer
gottgeordneten Anstalt zum solidarischen Heile aller, der
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I ^^ Die christlicbe Liebesidee und die g^enwärtige Welt
dadurch der Zerstörung anheimfiel. Aber: Wa)- einmal das
große Prinzip der Gegenseitigkeit an dieser höchsten
Stelle des Menschenlebens zerbrochen, nämlich als soli-
darisches Heilsprinzip, war Li^be in der Einheit und Ge-
meinschaft einer Kirche Gottes nicht mehr ein gleich-
notwendiger und gleichursprünglicher Weg zu Gott und
zum Heile vielmehr nur als Folge des schon von Jfedem Ein-
zelnen gewonnenen Heiles verstanden, so mußte von dieser
Höchststelle aus, von diesem letzten Lebens- und Kräfte-
mittelpunkt der Menschenseele aus, sich die Zersetzung
des Solidaritätsprinzips und -Gefühls gleichsam inmier
weiter und weiter auf alle Gemeinschaftsarten verbreiten.
Staat, Wirtschaft, Kultur, Schaffen (sei es Erkennen, sei
es Bilden) — lauter Gemeinschaftstätigkeiten ^ — sollten
nun ganz unabhängig" »autonom«, d. h. nach gottfremden
Gesetzen ihren Gang gehen und sich entfalten. Der reli-
giöse exklusive Individualismus — ich sage der exklusive
— zog den politischen, den kulturellen, schließlich selbst
den wirtschafdichen Individualismus langsam Stück für
Stück nach sich.
Eine ganz besonders eigenartige Wirkung aber hatte
diese Umformung des Ethos, eine Wirkung, die bis auf
den heutigen Tag reicht. Was tun die Menschen, die ge-
meinsames historisches Schicksal, Territorium, Abstam-
mung oder sonst eine elementare Kraft zur Einheit des
Lebens verbindet, wenn sie sich nicht mehr einigen können
im Höchsten und Letzten, darüber Menschen sich zu eini-
gen vermögen — in ihrem Glauben, in ihrer Beziehung
auf Grund und Sinn dieser Welt? Denken Sie z. B.
an eine gemischte Ehe von gläubigen Menschen, die aus
tiefer Liebe für einander in die Ehe traten, und die den
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 145
ehrlichen und guten Willen haben^ zusammen zu sein, zu-
sammen zu bleiben und des Lebens Kampf miteinander
zu fuhren. Auf einmal gerieten sie heftig aneinander —
imd sahen mit schmerzhaft aufgewühlter Seele, es sei
Einigung hier nicht möglich. Noch ein zweites, ein drittes,
ein viertes Mal. Jedesmal bleibt zuriick eine tiefschmerz-
hafte Erinnerung an diesen Widerstreit ihres Glaubens
lihd ihres Liebeswillens. Jedesmal wächst in ihnen eine
Kraft, die dazu drängt, diesen verletzlichsten, zartesten
Punkt ihrer Verbindung nicht mehr zu berühren, ihn gleich-
sam aus den Augen zu setzen. Was wird die Folge sein?
Ich antworte: die Folge wird sein, daß diese Menschen
schließlich den zuerst schmerzhaften, aber äußere Ruhe
schaffenden Akt des prinzipiellen Verzichtes auf Eini-
gung in dem, was ihnen das Höchste sein muß, voll-
ziehen. »Quieta non movere« werden sie sagen. Und was
wird davon die Folge sein? Es wird die Folge sein, daß
die Gebiete, die Wertsphären ihrer möglichen Eini-
gung von Stufe zu Stufe immer tieffer und tiefer herab-
verlegen, d. h. sich immer weniger auf Ziele, Zwecke, Nor-
men überhaupt zu einigen in Bereitschaft sein werden und
immer mehr dkfiir nur in bezug auf das Technische, Ma-
schinelle in allen Dingen, d. h. auf die Mittel, z. B. die
Geschäfte und dergleichen. Der Prozeß, den die Ver-
zichdeistung auf Einigung in der Stellungnahme zum
höchsten Gute auslöst, läßt sich seiner Natur nach nicht
aufhalten. Er schreitet weiter und weiter, zuerst auf die
nächsthöchsten Güter, dann auf die etwas weiter entfern-
ten und so fort. Und was wird weiterhin der Endzustand
sein dieses Prozesses? Ein geistiger Gemeinschaftsorganis-
mus — sind es tüchtige, kraftvolle, gutbegabte Menschen
10
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146 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
— von höchst merkwürdiger Beschaffenheit: Gälnzend
organisiert in allem Technischen, ausgezeichnet diszipli-
niert in allen Fragen des »Wie mache ich Etwas, wenn
ich etwas machen will«, von stärkster Einigkeit in diesen
Dingen. Aber — die zentralste^, die zielsetzenden,
formbildenden, normsetzenden Kräfte des menschlichen
Geistes, die Kräfte, welche die Wasfragen, die Fragen:
Was soll ich tun, was ist meine Mission in der Welt, zu
lösen haben, — die werden, da sie — nicht gebraucht —
wie jedes nichtfunktionierende Organ, langsam zurück-
weichen, ja schließlich einem Rückbildungsprozesse ver-
fallen.
Dieses Gleichnis gilt für ganz Europa, seit es seine
einträchtige- Gemeinbeziehung auf Gott in einer Kirche
verloren hat. Europa wird gleich dem von seinem durch-
gehenden Pferde herabgeworfenen und hängenbleibenden
Reiter in rasendem Laufe vorwärts geschleppt von der
Eigenlogik seiner Geschäfte, seiner Waren, seiner Ma-
schinen, seiner Methoden und Techniken, auch jetzt sei-
nes Industriekrieges, also auch seiner Mordmaschinen.
Diese Eigenlogik einer vorwiegend technischen Sachzivili-
sation ist alier höheren einheitlichen Leitung durch eine
gemeinsam anerkannte spirituell-moralische Autori-
tät entbunden.
Nichts Minderes bedeutet die Außerachtlassung des
ersten Satzes des Liebesgebotes: Liebe Gott über alles.
Es bedeutet das Versiechen der zentralen, leitenden,
zielsetzenden Geisteskräfte im europäischen Menschen
überhaupt. Das bedeutet der Humanitarismus; die Ver-
treibung aber des chrisdichen Liebesgebots aus dem
öffentlich-sichtbaren Dasein, die Hemmung der religiös-
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 147
kirchlichen Auswirkung der sittlichen Energien des Christen-
tums im öffendichen Dasein und in der Sphäre des objek-
tiven Geistes, bedeutet die Einsperrung dieser Energien
nur in den individuellen Innenbereich des Menschen.
Die Aufklärungsperiode brauchte also nur den stark
überstiegenen einseitigen Supematuralismus der früh-
protestantischen Bewegungen und seinen gefährlichen
Verzicht auf wahren Einbau des Gottesreiches in diese
spröde Welt Stück für Stück wegzustreichen: Dann blieb
der reine Humanitarismus, blieb das Bild einer im Grund-
ziel des Menschentums fuhrer- und vorbildlosen Mensch-
heit zurück. Überlassen den zufälligen Schiebungen ihrer
Naturtriebe, hatte diese Menschheit mit ihrer gemein-
samen Beziehung auf Gott auch die höchste Garantie ihrer
eigenen Einheit verloren. Denn ein Theomorphismus ist
die Idee des Menschen, wie schon Augustin erkannte^.
Daß eine analoge europäische Anarchie, wie sie heute
diese Kriegsrevolution darstellt, nicht sofort eintrat, der
gottfremde Humanitarismus nicht seine zersetzenden
Kräfte voll entfaltete, das lag daran, daß während der
europäischen Aufklärung (auch jenseits von Urteil und
Bewußtsein) die gemeinsamen Traditionen, die eine viele
Jahrhunderte währende chrisdiche Bildung, vereint mit den
Werten der Antike, geschaffen hatten, noch lange nach-
wirkten und ihre bewußte Preisgabe so überdauerten,
wie das Abendrot die untergegangene Sonne. Wie Mu-
siker, deren Kapellmeister plötzlich nicht mehr dirigiert,
noch eine Zeidang weiterspielen, so schienen die euro-
päischen Nationen noch eine gewisse Symphonie zu bilden.
^ Siehe meine II. Auflage der Abhandlungen und Aufsätze ,,Vom Umsturz
der Werte'' Bd. II : Idee des Menschen.
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148 ^ic christliche Liebesidee tmd die gegenwärtige Welt.
Aber die endgültige Verwirrung mußte eintreten. In dem,
was die großen Denker der Aufklärung, ein Voltaire, ein
Kant, ein Wolff z. B. die autonome »Vernunft« nannten,
jenem Inbegriff vermeindich zeidoser und geschichtsloser
Prinzipien der Ethik, Logik, Ökonomie, des Rechts usw.
•leuchtete noch das ewige Licht in gewissen Funken und
es leuchtete auch da noch chrisdich, wo es die Menschen
längst nicht mehr Wort haben wollten.
Die zunehmend einseitig realistische und historische Bil-
dung des 19. Jahrhunderts hat auch diese Lichtspuren all-
mählichbeseitigt. Sie hat in streng konsequentem Fortgang
des humanitaristischenGedankens insbesondere jene Einheit
der vernünftigen Menschennatur als Idee mehr und mehr '
aufgelöst, in welche das Zeitalter der Aufklärung alle Be-
griffe von Wahr und Falsch, Gut und Böse, Recht und Un-
recht eingesenkt hatte. Inmier dünner und dünner, immer
abstrakter und formaler wurde schließlich all dasjenige,
was noch als gemeinsame Norm für den Menschen als
Menschen gelten sollte. Schließlich wurde es für die Menge
unsichtbar und ungreifbar. Was blieb übrig? Die Idee
kämpfender Gruppen, die ihren Interessen oder ihren
Menschinstinkten folgen, seien es Rassen, Nationen, Staa-
ten, Klassen usw. — ein Bild wogenden Streites jeder
Art, in dem nur noch Eines entscheidet: der brutale Er-
folg. Auch alles, was Idee, Norm, sei es der Moral, sei es
des Rechts, heißen kann — was einst die menschlichen
Beziehungen regieren sollte — ist nur mehr Keule, Mes-
ser, Waffe im Knechtsdienste dieser Interessen imd In-
stinkte, — ist Epiphänomen, ist Maske, hinter denen sich,
die Gruppenegoismen pharisäisch verbergen. Nicht irgend-
welche sog. »idealistischen« Philosopheme — dünne Bläs-
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 1 49
chen, die auf der Oberflädie gewisser Kreise von sog.
BOdung ohnmächtig schwimmen — sondern die Gedan-
kenwelten von Darwin und Marx haben diesem inneren
Zustande Europas den deutlichsten und wahrhaftigsten
Ausdruck gegeben. —
Ehe ich zeige, wie die anderen der genannten Geistes-
mächte das chrisdiche Liebesethos verdrängten, ist es
nötig, die letzten Wesensbestimmungen der allgemeinsten
christlichen Gemeinschaftsidee — wie sie aus dem
Liebesgebot fließen — kurz zu entwickeln.
IL Die christliche Gemeinschaftsidee.
Es ist nicht möglich, über faktische Gemeinschaftsdinge
irgendeiner Art sich ein Urteil zu bilden, ohne an die Grund-
fragen heranzugehen: Was ist das Wesen von Gemein-
schaft überhaupt? Was ist das höchste Ziel aller Gemein-
schaft, und was sind die Ziele ihrer Wesensarten?
Der allererste Grundsatz, von dem wir auszugehen haben,
ist folgender: Der Mensch, ja die geistige endliche Person
überhaupt — und der Mensch nur, weil er eine solche
Person ist — , lebt nicht zufällig und nicht nur faktisch
(etwa bloß auf Grund seiner positiven Natur und Geschichts-
erkenntnisse) mit anderen geistigen Personen ein gemein^
sames Leben. Es gehört vielmehr zum ewigen ideellen
Wesen einer vernünftigen Person, daß ihr ganzes geistiges
Sein und Tun ebenso ursprünglich eine selbstbewußte,
eine selbstverantwortliche individuelle Wirklichkeit ist, als
auch bewußte mitverantwortiiche Gliedwirklichkeit in einer
Gemeinschaft. Sein des Menschen ist ebenso ursprüng-
lich Fürsichsein also auch Miteinandersein, Miteinander-
erleben und Miteinanderwirken. Beachten Sie, daß nicht
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ICO I^ic christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt.
eine feine und kleine Differenz, sondern eine unermeßliche
Kluft den Sinn unseres oben ausgesprochenen Satzes von
dem Sinne des Satzes trennt, den ich jetzt ausspreche:
,Die faktischen Menschen, die wir irgendwie durch persön-
liche Erfahrung oder durch Dokumente der Geschichte
kennen lernten oder die so erkannt sind, lebten zusammen
in einer Gemeinschaft/ Der erste Satz besagt eine ewige
in sich völlig geschlossene Wesenswahrheit und -Notwen-
digkeit. Der zweite Satz drückt eine zufällige Erfahrung
aus, die wie jede so geartete Erfahrung groß und klein
sein kann, die in der Geschichte zu- und abnimmt und die
sich nie abschließen läßt. Alles, was auf sojch zufälliger
Erfahrung beruht, kann auch durch neue zufällige Erfah-
rung überwunden werden. Auch die logischen Subjekte
der beiden Sätze haben ganz verschiedenen Inhalt und
Umfang. Der erste Satz gilt für alle möglichen endlichen
Geisteswesen, z. B. auch für solche, die unshienieden un-
bekannt sind (z. B. die Schar der Engel) oder die uns jetzt
verborgen sind wie die Seelen der Verstorbenen. Sofern
sie sind — und wir glauben, daß sie sind — , leben sie in
Gemeinschaft. Aber noch weit mehr: Der erste Satz ist
wahr und der zweite ist, streng genommen, grundfalsch.
Es ist ja gar nicht wahr, daß alle wirklichen historischen
Menschen in Gemeinschaft mit Menschen lebten. Es gibt
auch Robinsone; es gibt Einsiedler, Eremiten, Eingänger,
Einspänner aller Art. Aber gerade der Robinson z. B. kann
uns klarmachen, was unser Satz besagt. Unser Satz be-
sagt, daß das Bewußtseinserlebnis zu einer Gemeinschaft
überhaupt zu , gehören*, ein ,Glied* ihrer zu sein auch bei
Robinson — ursprünglich, und zwar genau ebenso ur-
sprünglich vorhanden war wie das individuelle Ich- und
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Die christliche Liebesidee und die gegenwartige Welt 151
Selbstbewußtsein Robinsons. Er besagt, daß dieses Glied-
schaftsbewußtsein also zum Wesen auch solcher isoliert le-
bender Personen gehört, und daß die geistige Intention
auf Gemeinschaft ganz unabhängig davon besteht, ob sie
auch durch die zufällige Sinneserfahrung fremder Men-
schen, durch ihren Anblick usw., und wie vieler solcher
Menschen und was für welcher, Erfüllung finde oder nicht.
Auch ein fingiertes geistigleibliches Wesen, das nie imd
nirgends seinesgleichen sinnlich wahrgenommen, würde
eben durch das positive Bewußtsein des UnerfuHtbleibens
einer ganzen großen Gruppe von geistigen, zu seiner
Wesensnatur gehörigen Intentionen, als da sind Lieben
und alle seine Gruhdarten (Gottesliebe, Nächstenliebe
usw.). Mitfühlen, Versprechen, Bitten, Danken, Gehor-
chen, Dienen, Herrschen usw., seiner Gliedschaft in einer
Gemeinschaft und seiner Zugehörigkeit zu ihr gewiß wer-
den. Ein solches fingiertes Wesen würde also nicht sagen :
,Ich bin allein. Allein im unendlichen Räume und unend-
licher Zeit; ich bin allein auf der Welt oder allein im Sein
überhaupt; ich gehöre zu keiner Gemeinschaft*, sondern
es würde sich nur sagen: ,Ich kenne die faktische Ge-
meinschaft nicht, zu der ich mich gehörig weiß — ich muß
sie suchen; aber ich weiß, daß ich zu einer gehöre.*
Dies — nicht die dazu noch halbwahre Plattheit, daß die
Menschen in Völkern, Staaten usw. zu leben pflegen, be-
deutet der große Satz des Stagiriten: ^Ay^goTtog fcöov
noiaix6v\ Der Mensch, d. h. der Träger der vernünftigen
Seelenkraft, ist ein Gemeinschaftswesen. So wahr ich
bin, so wahr sind wir, oder gehöre ich zu einem ,wir*.
Wir dürfen aber auch sagen : Der Mensch ist als gei-
stiges Vemunftwesen so, wie er sich von Hause aus als
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I c 2 Die christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt
Glied einer universalen Gemeinschaft, und zwar als Glied
einer Gemeinschaft mit einem imermeßlichen Reiche eben-
solcher vernünftiger Wesen weiß, auch objektiv auf
solche Gemeinschaft und solches Reich ursprünglich hin-
geordnet. Er ist es geistig also nicht minder ursprünglich,
als er es als leibliches Lebewesen schon vermöge seiner
natürlichen Herkunft aus dem Leibe der Mutter, somit
auch vermöge der Abhängigkeit von ihrer Sorge und den
dieser Abhängigkeit entsprechenden Instinkten der sich
ergänzenden natürlichen Mutter- und Kindesliebe, sowie
vermöge der Organe ist, die ihn aufs andere Geschlecht
hinordnen (und dem dieser Einrichtung entsprechenden
Geschlechtsinstinkt). Nicht aber etwa ist die geistige ver-
nünftige Gemeinschaft nur eine nachträgliche Entwick-
lungsfolge dieser nur rein natürlichen Vitalgemeinschaft.
Der Mensch wird nicht etwa notwendig um so einsamer,
je mehr er geistig lebt. Auch solche Denker irrten schwer,
die annahmen, alle Menschengemeinschaft ,entwickle^
sich erst aus jener natürlichen Lebensgemeinschaft, die
sich in Form sog. Tiergesellschaften schon in der unter-
menschlichen Natur findet, oder sie ließe sich aus ihr her-
leiten; die demgemäß auch alle Arten von geistiger Liebe,
Opfer, Pflichtbewußtsein, Gewissen, Reue als bloße Ver-
feinerungen und Entwicklungsformen der schon die tie-
rische Herde zusammenhaltenden Seelenkräfte verstehen
wollten (Darwin, Spencer).
Des Menschen Geistes- und Persongemeinschaft ist viel
mehr eigenen und höheren Rechts und eigenen und zwar
höheren Ursprungs als diese ,Lebensgemeinschaft'. Sie ist
götdich geistigen Ursprungs wie götdich sanktionierten
Rechtes.
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 153
Das wird sofort von größter Bedeutung, wenn wir zu
imserem ersten Satze dnen zweiten hinzufügen. Ver-
möge jenes mit dem individuellen Selbstbewußtsein gleich-
ursprünglichen und mit ihm wesensnotwendig zusammen-
hängenden Glied- und Organbewußtseins in einer unabseh-
baren universalen Gemeinschaft geistiger Naturen, liegt
im Kerne imserer Seelen eine notwendige Forderung und
ein schrankenloses geistiges Drängen, in Gedanken und
in geistigem Liebesverlangen nicht nur über unser ein-
sames nacktes Ich, sondern auch über jede der bloß je
historisch faktischen und sinnlich sichtbaren Gemeinschaf-
ten, denen wir angehören, hinauszugehen und hinauszu-
verlangen; d. h. aber auch ein vemunftbestimmtes Drän-
gen, auch jede dieser faktischen Gemeinschaften von
geistigen Personen selbst wieder als ,Organ* einer noch
weiteren, imifassenderen und höheren geistigen Gemein-
schaft zu betrachten. Es ist Nichts imserer Vernunft,
Nichts imserem Herzen klarer und gewisser, als daß uns
keine einzige dieser faktischen irdischen Gemeinschaften
(Familie, Gemeinde, Staat, Nation, Freundschaft usw.)
auch in keinem Grade ihrer möglichen historischen Ver-
vollkommnung je ganz genügen und unsere Vernunft und
unser Herz vollkommen befriedigen würde^Und da nun
alle Gemeinschaften dieser Art nicht nur geistige Ge-
meinschaften sind, sondern auch Persongemeinschaften,
so findet dieses im Prinzip unendliche Drängen und diese
Vemunftforderung nach immer reicherer, umfassenderer
und höherer Gemeinschaft nur in einer Idee ihren mög-
lichen Abschluß und ihr vollkommenes Genügen: In der
Idee einer Liebes- und Geistesgemeinschaft mit einer
unendlichen geistigen Person, die zugleich der Ursprung,
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I ^^ Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
der Stifter und der Oberherr aller möglichen geistigen
Gemeinschaften, wie auch aller Irdischen und faktischen
ist. Wie überhaupt gewisse Liebesarten im Wesen unse-
rer geistigen Existenz selbst angelegt sind — Arten, die
sich nicht erst durch zufällige Erfahrung der zu ihnen
gehörigen Gegenstände differenzieren, sondern von Hause
aus schon differenziert sind als Erfüllung fordernde Be-
wegungen und Akte des Gemütes — als da sind z. B.
Kindesliebe, Elternliebe, Heimadiebe, Vaterlandsliebe,
so gibt es auch eine höchste Liebesart, die Gottes-
liebe, die wir schon erleben und besitzen, ehe wir eine
genaue Verstandsidee vom höchsten Wesen besitzen.
Darum kann Pascal von Gott sagen : ,Ich würde Dich nicht
suchen, wenn ich Dich nicht schon gefunden hätte/ Unser
Herz und unsere Vernunft sind sich gleich klar und ge-
wiß, daß nur diese höchste abschließende Vernunft- und
Liebesgemeinschaft mit Gott ihre Intentionen voll zu er-
füllen und sie voll zu befriedigen vermag; und daß wir
die Gemeinschaften, in die wir uns einbezogen wissen,
erst dann im rechten und wahren Lichte zu schauen und
zu denken vermögen, wenn wir sie gewahren gleichsam
auf dem göttlichen Hintergrunde dieser höchsten und
abschließenden Gemeinschaft aller geistigen Naturen; und
wenn wir sie gewahren aus der Lichtfülle heraus, die diese
Gemeinschaft allein verleiht: Aus dem Lichte der Gemein-
schaft mit dem persönlichen Gott. Hier erst ruht, wird
still und friedereich das unendliche Drängen und der not-
wendige unendliche Gedankenfortschritt über alle end-
lichen sichtbaren Gemeinschaften hinaus: ,Inquietum cor
nostrum, donec requiescat in te^/ In Ihm und durch Ihn
^ Augustinus: Confessiones.
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Die chnstliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. i c c
sind wir wahrhaftig geistig auch erst unter uns verbunden.
Dies eben meint das ,vomehmste^ und ,größte* Gebot
(Markus 12, 30 — 31), Selbstheiligung und Nächstenliebe
in die gemeinsame Wurzel der Gottesliebe einsenkend.
Es gibt sehr verschiedene und vielartige natürliche Ek--
weisarten von Gottes Existenz. Jeder Faden, den wir aus
dieser Schöpfung herausnehmen — sei es aus Seele, Natur,
Geschichte, Gewissen, Vernunft, .führt auf Gott zurück,^
wenn wir ihn nach -dem Gesetze des uns bekannten end-
lichen Stückes bis ins Unendliche ausgezogen denken.
Alle Fäden treffen sich zugleich in Ihm. Hier möchte ich
darauf aufmerksam machen, daß es auch einen, heute viel-
leicht etwas zu sehr vernachlässigten selbständigen und
ursprünglichen Erweis des höchsten Wesens gibt, der aus-
schließlich aus der Idee einer möglichen Gemeinschaft
persönlicher geistiger Wesen geschöpft ist. Dieser »sozio-
logische« Gotteserweis trifft mit dem Ziel aller übrigen
wohl zusammen, stützt sich aber nicht logisch auf sie.
Sagt uns also schon das natürliche Licht des Geistes,
daß alle Gemeinschaft (also auch alle irdische Gemein-
schaft) in Gott direkt oder indirekt gegründet ist, und daß
jede rechtmäßige Gemeinschaft in Gott ihren direkten oder
indirekten, d. h. durch geschöpfliche Ursachen vermittel-
ten Ursprung, -ihren höchsten Gesetzgeber, Richter und
obersten Haushalter und Verwalter besitzt, so sagt uns das-
selbe Licht auch gleich noch das Folgende: Daß nicht aus-
schließlich jede individuelle Person nur für sich allein imd
nur vor ihrem eigenen Gewissen und mit ihrem eigenen
Gewissen ihrem Schöpfer und Herrn für ihr eigenes Sein
und Tun verantwortiich ist, sondern daß sowohl das In-
dividuum wie jede engere Gemeinschaft ebenso ursprüng-
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I c6 Die christliche Liebesidee ond die gegenwärtige Welt.
lieh wie sie selbstverantwortlich ist in ihrer notwendigen
Eigenschaft als ,Gliecl* von Gemeinschaften, vor Gott alles
mitzuverantworten haben, was das Ergehen und Verhalten
der je umfassenden Gemeinschaft in geistiger und mora-
lischer Hinsicht betrifft. Das ist der dritte Grundsatz der
Gemeinschaftslehre. Denn wenn Gemeinschaft nicht ein je
historisch zufälliges irdisches, etwa auf bloßen klugen,
willkürlichen, von Menschen gemachten Verträgen be-
ruhendes Zusammenwirken einer Gruppe verständiger
Leiber ist, sondern wenn Gemeinschaft notwendig hervor-
geht aus dem Entwürfe und dem göttlichen Wesens-
bildwerke eines vernünftigenGeistes und Herzens
selbst, wenn sie in der ganzen Spannweite ihrer hödisten
Idee das Übersinnliche, ja sogar dessen höchsten Herrn und
das Zentrum aller Dinge von Hause aus mitumfaßt, imd
wenn durch dieses götdiche Zentrum erst die Möglichkeit
imd wahre Verbindlichkeit gegenseitiger Versprechungen
und Verträge gewährleistet ist, — so müssen wir auch von
Hause aus gegenseitig für einander und nicht nur jeder
für sich (obgleich dies auch!) verantwortlich sein. Es ist
also Jeglicher auch flir die Gesamtschuld und das Gesamt-
verdienst mitverantwortlich, die seiner Gemeinschaft als
einer Einheit und Ganzheit und nicht als einer ,Summe'
derjenigen Individuen zukommen, die ihre , Glieder^ heißen.
Sie ersehen daraus, wie grundverkehrt jene Lehre ist
(Epikur hat sie zuerst im Altertum aufgestellt, später
wurde sie die Grundlage aller sog. liberalen Gemeinschafts-
lehren bis zu Kant), die Wesen und Dasein menschlicher
Gemeinschaft auf menschliche Verträge aufbauen will, sei
es, daß man der Gemeinschaft schon einen Ursprung aus
Verträgen erteilt, sei es, daß man bloß behauptet, es
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. icy
müsse die Struktur jeder Gemeinschaft, um ihre Recht-
mäßigkeit zu entscheiden, so angesehen werden, ,als ob*
sie auf Verträgen beruhe. Denn jeder Vertrag setzt immer
schon als gemeinsames Maß über den vertragschließenden
Menschen ein Drittes voraus, nach dem der Vertrag ver-
bindlich ist oder nicht; und schon die rechtmäßige An-
nahme eines Versprechens seitens des Versprechensemp-
fängers setzt die Mitverantwortlichkeit dieses Empfängers
für die Rechtmäßigkeit des von ihm anzunehmenden Ver-
sprechens voraus.
Dieses dritte große moralische und religiöse Prinzip
heißt das der moralisch-religiösen Gegenseitigkeit oder
der sittlichen Solidarität. Es besagt nicht das für jede
Weltanschauung Selbstverständliche, daß wir da oder nur
da mitzuverafctworten haben, wo wir bewußt eine be-
stinunte Verpflichtung auf uns genommen oder genau
wissen und positive Kunde haben, daß wir bei einer Sache
bewußter Mittäter und Mitwirker waren. Es besagt auch
nicht nur, daß wir gut daran tun uns angesichts fremder
Schuld, anstatt diese zu verurteilen, mehr der eigenen
Schuld zu erinnern. Es besagt vielmehr, daß wir uns wahr-
haftig bei aller Schuld mitschuldig fühlen sollen. Es besagt
also, daß wir ganz ursprünglich und von Hause aus —
auch da, wo uns Maß und Größe unserer faktischen Mit-
wirkung nicht sichtlich vor Augen stehen, vor dem leben-
digen Gott alles Steigen und Sinken des moralischen und
religiösen Zustandes der Gesamtheit der sittlichen Welt
als einer in sich solidarischen Einheit mitzuverantworten
haben^. Das jeweilige genaue oder weniger genaue Wissen
' Nur das Maß dieser Mitverantwortlichkeit bestimmt sich nach der je
führenden oder dienenden Stellung, die wir im Ganzen der betreffenden
Gemeinschaft einnehmen.
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158 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
um die Mitwirkung, um ihre Art, Größe usw. zeigt unserer
ursprünglich sich mitverantwortlich wissenden Seele wohl
die Richtung, wo und woran wir mitverantwortlich zu sein
auch sicher urteilen dürfen. Aber dieses Wissen schafft
durchaus nicht erst diese Mitverantwortlichkeit als
Qualität unserer Person. Dieses Wissen könnte uns
auch bei der unendlich komplizierten Verwobenheit aller
gegenseitigen moralischen und religiösen Einwirkungen der
Menschen und der Seelen aufeinander, niemals die ganze
Fülle dessen, was auf indirektem Wege unser Verhalten
mitverschuldet oder mitverdient hat, vor das geistige
Auge bringen. Es gibt keine noch so kleine moralische
Regung, die nicht wie der Steih, der ins Wasser fällt,
unendliche Kreise um sich zöge — und auch diese Kreise
werden nur fiir das rohe, unbewaffnete Aiige schließlich
unsichtbar. Schon der Physiker kann sie viel weiter ver-
folgen — und wie weit erst vermag es der allwissende
Gott! Die Liebe des A zu B erweckt nicht nur — wenn
kein hemmender Grund vorliegt — Gegenliebe bei B zu A,
sondern läßt auch im Herzen des gegenliebenden B not-
wendig die Tendenz an erwärmender, lebenweckender Lie-
beskraft überhaupt, also auch seine Liebe zu C und D
natürlich wachsen; und so geht der Strom im moralischen
Universum weiter von C zu D zu E und F — ins Unend-
liche. Und dasselbe gilt für Haß, Ungerechtigkeit, Un-
keuschheit und jede Art von Sünde. Jeder von uns war bei
einer unermeßlichen Fülle von guten wie schlimmen Din-
gen mittätig, von denen er keine Ahnung hat, ja haben
kann imd für die er gleichwohl vor Gott die Mitverant-
wortung trägt. ,Mir aber ist's ein Geringes, daß ich von
euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage,
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Die christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt i cg
auch richte ich mich selbst nicht. Denn ich bin mir nichts
bewußt; aber darinnen bin ich nicht gerechtfertigt; der
Herr ist's aber, der mich richtet*, spricht der hl. Paulus
(i. Kor. 4, 3—4).
Aber auch die zentralsten Grundgedanken des christ-
lichen Glaubens setzen dieses schon der natürlichen Ver-
nimft angehörige Prinzip voraus, so der Gedanke einer all-
verbindlichen, katholischen, einheitlichen, christlichen Kir-
chenanstalt, der Gedanke, daß alle Menschen zusammen
»in« Adam sündigten und fielen und alle zusammen in
Christo auferstanden; daß es Avahre Erbschuld, nicht nur
schlechte, untüchtige Erbanlagen gibt, die Corpus Christi-
lehre, ein Grundpfeiler der hl. Messe wie der Lehre von
der Kirche, das stellvertretende Opferleiden, die Fürbitte,
der Ablaß und noch — sehr viel anderes.
Ich halte es fiir einen Grundmangel des außerchristlichen
modernen Ethos und der ihm entsprechenden philosophi- .
sehen Ethik, daß ihnen im Laufe der Entfaltung des mo-
dernen Individualismus, des eng zu ihm gehörigen ab-
soluten Staates, des Nationalismus und der freien Kon-
kurrenzwirtschaft das erhabene Prinzip der Solidarität
schon in seinen Vemunftwurzeln, im Fühlen, Wollen und
der Theorie langsam abhanden gekommen ist; daß man
z. B. mit Marx und Hegel entweder nur kennt einen
Götzen und Leviathan von Staat, Nation oder sog. Ge-
sellschaft, die die gottgeschaffene Persönlichkeit, die Fa-
milie und ihre gottgegebenen Rechte z. B. das der Kinder-
erziehung, desgleichen die Idee des Standes in das Meer
ihrer irdischen Zweckgeflige hineintrinken, ja daß man
dann sogar nur folgerichtig die substanzielle Existenz der
persönlichen Seele leugnet; oder aber das andere Extrem
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1 6o I^ic christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt.
nur kennt, jene berühmte ,einsame Seele und ihren Gott*,
die vermeint ihr und der Welt Heil gewinnen zu können,
sei es nur durch den Glauben (sola fides) oder durch einsame
mystische Schau, oder Heil zu erreichen auf einem anderen
die Liebe zum Heile des Bruders nicht notwendigmit ein-
schließenden Weg; also ohne den ursprünglich gottgewie-
senen Weg zu diesem Heile zu gehen über das Mitein-
anderdenken, Miteinanderglauben, Miteinanderhoffen, Mit-
einanderlieben, Miteinandersichdienen und Miteinanderver-
antworten im Geistesbaue einer echten Gemeinschaft. Erst
die Preisgabe dieses großen Prinzips ursprünglicher Gegeh-
seitigkeit hat auch die richtige Idee von der Kirche zu Be-
ginn der protestantischen Bewegungen entwurzelt. Ich sehe
daher eine unserer wesentlichsten Missionen für die Zu-
kunft darin, daß wir dieses erhabene Prinzip nach Kräften
sowohl immer schärfer begründen und geistig verbreiten,
als daß wir seine, je besonderen Folgen für alle Arten
menschlicher Gemeinschaftsverhältnisse (besonders im Hin-
blick auf die heutigen) studieren, und es praktisch in eine
ihm fast völlig entfremdete Welt wieder einbauen. —
III. Das Verhältnis der christlichen Gemeinschafts-
idee zum gegenwärtigen Zeitalter.
Was uns nun aber auch zu einer gewissen Hoffnung be-
rechtigt, daß dies geschehen könne, ist vor allem eine Tat-
sache, in deren Anerkennung heute die Vertreter des Chri-
stentums mit den hervorragendsten Vertretern anderer
Weltanschauungen sich einig wissen. Wir fühlen nämlich
alle, daß wir am Beginne eines historischen Weltalters ste-
hen, das gegenüber dem vorwiegend kritischen und indivi-
dualistischen, alle irdischen Kräfte des Menschen und der
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Die christliche Liebesidee und die gegjenwärtige Welt. 1 6 1
Natur bis zur äußersten Leistung entbindenden Zeitalter
der sog. Neuzeit als ein positives, gläubiges Zeitalter
bezeichnet werden darf; gleichzeitig aber als ein auf Ge-
meinschaft gerichtetes, die zuvor nur entbundenen Kräfte
geistig meisterndes, darum auch ,organisatorisches* Zeit-
alter. Ein Zeitalter scheint sich uns zu nahen, in dem vom
Geiste des Menschen diejenigen Kräfte wieder kühn und
gläubig in die Hand genommen werden, die sich von den
zentralen Mächten des menschlichen Willens und Geistes
freigemacht hatten, und die das menschliche Leben gleich-
sam schicksalsmäßig und automatisch bestimmten, wie z. B.
die Kräfte der sachlichen Wirtschaftsprozesse, des bloßen
isolierten rationellen Erwerbsgeistes, der Maschinentech-
nik, des sich ansammelnden, von keinem Kopf mehr be-
herrschbaren Einzelwissens, damit mit ihnen der mensch-
liche Geist ein neues, dauerndes Wohnhaus der niensch-
lichen Gesellschaft aufrichte. Dieser allgemeine Glaube
wurde und wird geteilt von so entgegengesetzten Gei-
stern, wie Auguste Comte, Josef de Maistre, St. Simon,
Fourier in Frankreich, in Deutschland von dem unvergeß-
lichen Adam Müller, Rodbertus, der gesamten Schule der
historischen und sogenannten kathedersozialistischen Na-
tionalökonomie (A. Wagner), vor allem aber von dem
christlichen und dem außerchrisdichen Sozialismus aller
Arten und Grade. Der Gedanke ist in dieser Allgemein-
heit das Programm aller Vernünftigen der heutigen Welt.
Die europäische Anarchie dieses Krieges, die allmählich
reifende Einsicht in seine letzten treibenden Kräfte wird
aber in Zukunft diesen Glauben in noch weit höherem
Maße entwickeln, und wird ihn nach Abschluß des Krieges
ganz Europa als eine noch gesteigerte, gewältig aufmun-
II
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1 6 2 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
temde und neuschafiende Lebensmacht einsenken. Aber
nicht nur in dieser negativen Richtung der Zersetzung
falscher Lehren wird der Krieg auf eine Wiedergewin-
nung des christlichen Gegenseitigkeitsgedankens hinwir-
ken: Auch in der positiven Richtung, daß das innerhalb
der Völker im engsten Zusammenhang mit den notwendig
gewordenen sogenannten Kriegsorganisationen entstan-
dene Gefühl und Bewußtsein der Stellvertretung in
Arbeit, Verantwortung, Leiden, Tod, Opfer jeder Art
sich von diesem seinem Quellpunkte aus — dem Krieg
— hinausschwingen wird über die Landesgrenzen, nicht
nur zur Wiedergewinnung eines Systemes der europä-
ischen Vereinbarung zunächst in kolonialpolitischen Fra-
gen, d. h. zu einer wenigstens in diesem Punkte ^stattfin-
denden Solidarität der europäischen Staaten, son-
dern — was weit wichtiger ist —r sich auch hinausschwin-
gen wird von dem einseitig kriegsbezogenen Punkte der
Seele, in dem es entsprang, zu einer sitdichen Grundhal-
tung des ganzen volltätigen Menschen. Es steht dabei
glücklicherweise nicht so, daß das Solidaritätsprinzip als
wechselseitiges Mitverantwortlichkeitsgefühl für das rechte
Zusammenwirken bei irgendeinem Werke ausschließlich
nur mehr in der christlichen Tradition vorfindbar wäre.
Die zuerst aus rein technischen Gründen, vor allem in der
modernen ökonomischen Bewegung notwendig gewor-
dene Kooperation der Menschen in der Fabrik, an der
Maschine, in der so unendlich arbeitsteüigen Wissenschaft,
ja in jeder Art von arbeitsteiligem Großbetriebe — so»
wohl bei Unternehmern als bei Arbeitern — hatte schon
lange vor dem Kriege zuerst nur das Bewußtsein der je
gemeinsamen Interessen der Zusammenarbeitenden,
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Die duistliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 163
aber allmählich doch auch das hinter allen bloßen In-
teressen* gelegene sittliche Verantwordichkeitsgefiihl
ergriffen und bis zu einem gewissen Grade ausgebildet.
So gebaren technisch einheidiche Arbeitsgruppen zu-
erst Interessenverbände. Diese aber entfalteten doch all-
mählich auch leise Anfänge eines Standesbewußt-
seins. Ein Streikbrecher z. B. — ein Streik ohne Ver- .
tragsbruch kann ja wohl berechtigt sein — oder der Außen-
seiter eines zunächst nur aus gemeinsamen Erwerbszwek-
ken zustandegekommenen Syndikates gilt den an den be-
treffenden Wirtschaftsverbänden Beteiligten nicht nur als
ein Tor, der sein und seiner Klasse Interesse nicht be-
greift. Er gilt besonders in den Arbeiterverbänden der
Berufs- und anderen Gewerkschaften auch als ein mo-
ralisch fragwürdiger Verräter, als ein Mensch also, der
auch im Falle daß er sein Interesse durch den Streik-
bruch richtig und verständig wahrnimmt, dies doch um
seiner Brüder willen moralisch nicht dürfte und sollte.
In solchen Fällen also sehen wir ein leises Neuaufquellen
des Solidaritätsprinzips — unabhängig von der christ-
lichen Tradition und aus den inneren Kräften der moder-
nen Entwicklung selbst neu hervorbrechend. Wir gewah-
ren die Umbildung eines Interesses zu einem Ethos, bloßer
gemeinsamer ökonomischer Interessen- oder Klassenver-
bände zu einem Standesbewußtsein, Standesgewissen
und Standesverband. Aber darum handelt es sich nun,
daß diese beiden Quellströme der Wiederkehr des So-
lidaritätsprinzips in die europäischen Herzen imd Ge-
wissen, der Strom von oben und der Strom von unten,
der traditionelle christlichkatholische Solidaritätsgedanke
— denn gerade diesen Teil des christlichen Ethos hatte
II»
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1 64 ^^^ christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
der Protestantismus am allermeisten fallen gelassen —
und der moderne sich mühsam an den Interessengemein-
samkeiten emporarbeitende Strom so zueinander hingelei-
tet werden, daß sie sich fruchtbar treffen ; daß der von unten
kommende Strom, der die Lebendigkeit der Gegen-
wart für sich hat, aber dafür in den bloßen Erwerbs- und
Wohlfahrtsinteressen noch eingebettet und wie von ihnen
umklammert ist, sich durch den von oben, von Gott und
aus der Geschichte der Kirche quellenden Strom zu einer
einzigen moralischen Macht hinaufkläre, d.h. zu einer
Macht der freien Liebe und der freien Verpflichtung, die
auch unabhängig von bloßer Interessengemeinschaft das
Ganze der beteiligten Menschen umfaßt. Auch der christ-
lichkirchliche Gegenseitigkeitsgedanke kann ohne irgend-
welche Veränderung seines klaren, fqsten Gehaltes durch
die Berührung dieses Alten und Neuen nur gewinnen.
Er kann es in dem Sinne, daß die Gefahr, in der er schwebte
und schwebt, nur ein Gedanke fiir den Sonntag zu sein
und zu sehr nur in den Glaubensformeln,. nicht aber in
dem immer tätigen lebendigen Glauben des Herzens zu
feben, vermindert wird; daß er sich mit Tat und Arbeit
des Tages verbinde und so die Kirche, die auf diesem
Gedanken mitaufgebaut ist, und das Leben des Volkes
in den Völkern in eine innigere Berührung setze.
Aber nicht nur dies: Von gleicher Wichtigkeit ist auch,
daß die gewaltige Organisationsperiode, vor der wir stehen
und für Weren Entbindung man nicht mit Unrecht den
mitteleuropäischen Mächten eine besondere und über-
ragende in ihrer Geschichte wurzelnde Rolle zuschreibt,
in eine Richtung geleitet werde, die nicht nur Platz findet
innerhalb des Gefiiges der christlichen Gesellschaftsan-
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 165
schaining und Sittenlehre, sondern von ihr auch wahrhaft
mit geleitet und bestimmt ist.
Die moderne Staats- und Gesellschaftsentwicklung des
einseitig kritischen und kraftentbindenden Zeitalters hat
sowohl auf dem Boden der Staatsverfassung und Staats-
aufiassung als auf dem Boden des Wirtschaftsgeistes und
der Wirtschaftssysteme, als auf dem Boden der Verhält-
nisse der Staaten zueinander zu je zwei entgegengesetzt
gerichteten, dauernd miteinander im Kampfe liegenden
Prinzipien und Idealen geführt, die beide in gleichem
Maße dem Geiste der christlichen Gemeinschaft inner-
lichst zuwider sind.
Auf dem Boden der Staatsaufiassung lauten diese Prin-
zipien: Absoluter, streng zentralistischer, ,souveräner*,
d. h. von keiner Macht auf Erden als seinem eigenen sou-
veränen Willen abhängiger, ausschließlich rechtsetzender
Fürstenstaat, der sukzessive (zuerst in Frankreich) mit
der trügerischen Unterstellung, daß alle Korporations-
rechte ursprünglich aus ihm allein stammten, alle in ihm
beschlossenen älteren Sondergemeinschaften (des Adels,
der, Geistlichkeit, der Klöster, der städtischen und son-
stigen Korporationen bis zur Familie) ihrer überlieferten
eigenen Rechte und ihrer Eigentümer beraubte; solange
beraubte, bis eine fast vollständige rechdiche Gleichheit
aller einzelnen Staatsuntertanen vordem Staat eingetreten
ist: oder als Gegenideal hiezu die nicht minder souveräne
Herrschaft des sogenannten Volks willens (volont^e g6-
n^rale), und d. h., da der sogenannte Volkswille nie völlig
in sich einig ist, Mehrheitsherrschaft der Staatsbürger
(Majoritätsprinzip, Rousseau).
Auf dem Boden der Wirtschaftssysteme lauten sie:
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1 66 I^ie christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
Schlechthin freie Konkurrenz, aller ökonomisch nur ihrer
Selbstsucht gehorchenden Individuen und Gruppensub-
jekte — oder als Gegenideal zwangsmäßiger Staats-
sozialismus, der immer mehr die früher freie ungebimdene
Unternehmung, den zu ihr nötigen Boden und die dazu
gehörigen Produktionsmittel in Staatseigentum und Staats-
verwaltung überfuhrt, um dann den Gesamtertrag der
Staatswirtschaft nach irgendeinem künstlichen Maßstab
zu verteilen. Auf dem Boden der Verhältnisse der Staaten
zueinander lauten die analogen Gegensätze: absolut sou-
veräner, möglichst nationaleinheitlicher Macht- und Kul-
turstaat, der keine moralischen Grenzen seines Umsich-
greifens besitzt als den Machtwillen eines anderen eben-
solchen Staates, oder internationale, auf Klassenherr-
schaft aufgebaute, soziale, möglichst einheitliche Welt-
republik. Auf dem Boden der Kultur endlich lauten sie :
Reflektierte Nationalkultur oder Weltkultur.
Warum, aus welchem tiefsten Grunde widerstreijg^diese
drei Idealpaare, also sowohl Ideale als ihre Gegen-
ideale, dem innersten Kerne der christlichen Gemeinschafts-
auffassung.? Und welche radikal verschiedene Grund-
auffassung setzt diese ihnen entgegen.? Sie widerstreiten
ihnen, weil sie allesamt in gleichem Maße, wenn auch in
entgegengesetzter Richtung sowohl das oben bestimmte,
richtig verstandene Solidaritätsprinzip verleugnen als
das eng mit ihm zusammengehörige Prinzip, daß jedes
Individuum wie jede sociale Untereinheit (Familie, Ge-
meinde, Staat usw.) ebensowohl in einem gewissen Um-
kreise ein selbständiges Herrschafts- und Rechtssub-
jekt eigenen ursprünglichen Rechts sein soll, als es auch
freier Diener und Träger sein soll von festumschriebenen,
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 167
den Rechten entsprechenden Pflichten, nämlich als ölied
einer je umfassenden sozialen Einheit: Jeder Herr, Jeder
Diener und alle zusammen freie solidarische Diener des
obersten Herrn aller Gemeinschaft, d. i. Gottes.
Inwiefern widerstreiten sie dem Solidaritätsprinzip? Be-
antworten wir diese Frage zuerst fiir die Staatsidee! Das
und das allein — verehrte Anwesende — ist das absolut
Neue der Gemeinschaftsidee, die das Christentum schon
in seiner ältesten Periode besitzt und die es als Sauerteig
m die Welt brachte, daß es Beideß in sich vereinigt und zu
einer untrennbaren Weltanschauung verschmilzt : Die selb-
ständige, substanzielle Wirklichkeit und die selbständige,
moralisch-religiöse Eigenverantwortlichkeit jeder Indivi-
dualseele, ihre unmittelbare göttliche Herkimft (Kreatia-
nismus) imd ihr übernatürlich geheimnisvolles Ziel der
Gottschau in der Ewigkeit; und gleichwohl die solida-
rische Gliedschaft und wahre Mitverantwortlichkeit aller
dieser Seelen vor Gott in einem wahrhaft sie umfassen-
den, dem Ursprung und der Ganzheit nach unsichtbaren
und gleichwohl in die Sichtbarkeit kraftvoll hineinragen-
den und hineinwirkenden Körper. Diesen umfassenden
Gesamtleib, dessen ,Gliexier* alle Kinder Adams sind,
lehrt uns die göttliche Offenbarung kennen als Corpus
Christi, als die alle Menschen (Lebendige wie Tote) und
alle Engel umfassende Kirche mit ihrem unsichtbaren
mystischen Haupte Christus und ihrem sichtbaren Haupte,
dem Nachfolger Petri. Im rechten Genüsse des heiligen
Abendmahles werden wir gewiß und sollen immer neu
voll Seligkeit inne werden dieser heiligen, höchsten
Gliedschaft in Liebe, Leiden und Dienstschaft im Leibe
Christi. Ein wenn auch noch so schwaches Nachbild
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1 68 I^ie christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
dieser höchsten Korporation, der wir angehören, muß
aber auch jede außerkirchliche, weldiche Korporation und
Verbandsform sein. In jeder muß daher auch eine Nach-
bildung der starken und doch so fruchtbaren Spannung
liegen, die zwischen der gottgeschaffenen und zu Gott hin-
bestimmten, selbständigen, freien Individual- und Personal-
seele und der* ursprünglichen, organischen Verbundienheit
aller dieser Personen in einer sie umfassenden Korpora-
tion immer und notwendig bestehen muß.
Die schon bei den ältesten Kirchenvätern (ich nenne hier
als Beispiel nur Ignatius von Antiochien, Cyprian, Cyril-
lus, Augustin) vorfindliche christliche Korporationsidee ist
das höchste Ideal- und Musterbild aller und jeder
menschlichen Korporation. Ich sprach von einer ge-
waltigen Spannung und setzte gleich hinzu, daß diese
Spannung nicht zugunsten eines der Elemente der christ-
lichen Gemeinschaftsidee beseitigt werden darf: Sei es des
persönlichen Individuums, sei es der Gemeinschaft. Die
antike Gemeinschaftsidee z. B. kannte sehr gut das Prin-
zip der organischen Lebensgemeinschaft im Staate und
der wechselseitigen Verantwortung der Menschen darin
für Wohlfahrt und Kultur des Ganzen. Aber sie kannte
nicht die selbständige, in ihrem Kerne jeder möglichen
staatiichen Gemeinschaft überlegene, staatsfreie, gottge-
schaffene, geistige unsterbliche Seele mit ihrer religiös-
moralischen Innenwelt und dem heimlichen Reiche ihres
Gemütes. Und sie kannte nicht das über die Ziele der Wohl-
fahrt und der Kultur des Einzelnen wie des Ganzen hin-
ausliegende Ziel imd den Wert des geistigen, über-
natürlichen Heiles des Ganzen imd der individuellen
Personen. Der Mensch ging hier bis zu seinem Kerne im
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Die christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt. 1 69
Staate und damit zugleich im Irdischen auf. Weder Re-
ligion noch höhere Geisteskultur vermochten sich darum
von den Fangarmen des Staates frei zu setzen und in ihm
selbständig zu machen. In der Entwicklung Preußens —
das von Hause aus viel mehr Staat als Volk ist, und dessen
Fürsten imd Königen antike Staats- und Sittenmuster so
einseitig vorschwebten — ist diese antike Gemeinschafts-
idee praktisch wie theoretisch wieder stark hervorgetreten.
Sie wird gerade heute — in besonders kindischer Form —
wieder von einigen Gelehrten vertreten. Machen wir uns
klar, daß sie am echten, nämlich am christlichen Indi^
vidualismus der intimen Person, ihrer Freiheit und ihrem
Gewissen ihre stahlharte Grenze auch fiirderhin zu finden
hat. Sie hat ihre Grenze zu finden an dem dem christlichen
Gemeinschaftsideal miteinbeschlossenen christlichen
Individualismus! Denn es gibt einen Sinn des so unsag-
bar vieldeutigen Wortes ,Individualismus*, in dem der ,In-
dividualismus^ nicht nur eine christliche Glaubenswahrheit
ist, sondern auch nichts Geringeres als — ich möchte sagen
— die magna charta Europas gegenüber Asien und
schon gegenüber Rußland — nämlich derjenige geistige,
nicht also primär ökonomische Individualismus, der es ent-
schieden leugnet, daß die geistige individuelle Einzelper-
son nur ein sog. ,Modus* irgendeiner Form des Allge-
meinen, des Staates, der Gesellschaft, einer sog. Weltver-
nunft oder eines aus sich herausströmenden sachhaften
Geschichtsprozesses sei, heiße er ein panlogischer wie bei
dem preußischen Staatsphilosophen Hegel, heiße er eine
sich entfaltende moralische ,Ordnung* wie bei Fichte oder
ein ökonomischer Geschichtsprozeß wie bei Karl Marx.
Der chrisdiche Individualismus leugnet eben damit, daß die
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lyo Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
kleinen Gemeinschaften, z. B. Familie, Gemeinde im Staate,
Stammesfiirstentümer im Reiche oder die Städte und Stände
im Staate, nur eine äußere, dem sie umfassenden Ganzen
zugewandte Werksphäre imd Rechtssphäre hätten, nicht
aber auch eine gleichurspriinglich je nach innen gewandte
Wirk- und Rechtssphäre eigenen ursprünglichen, nicht vom
umfiaissenden Gemeinwesen abgeleiteten Rechts. Selbst die
imtere Grenze all dieser Einheiten, das einzelne Individuum
hat noch seine ursprüngliche Eigensphäre des Wirkens
und des natürlichen Rechtes, eine Sphäre, die vom Staate
und dem von ihm gesetzten Rechte unabhängig ist. Sein ihm
eingeborenes, mit dem Wesen einer Person selbst gesetztes
sog. Naturrecht (z. B. Recht auf Existenz, Notwehr usw.).
Gewiß überdauern alle echten Liebes- und Lebensgemein-
schaften z. B. Familie, Gemeinde, Staat, Volk, Nation, euro- '
päischer Kulturkreis — im Gegensatze zu bloßen willkürlich
gebildeten ,Gesellschaften*, so wie der Baum die fallenden
Blätter überdauert, das irdische Leben des Individuums.
Staat und Nation haben darum auch das innere Recht
z. B. im Kriege das organische Leben des Individuums für
ihr Sein und ihre Wohlfahrt als freies Opfer zu fordern;
aber zu fordern das äußere organische Leben — verehrte
Anwesende — nicht das Sein und Wesen der Persönlich-
keit, das unsterblich ist, und das darum auch schon wäh-
rend des irdischen Lebens nicht in Nation und Staat
vollständig aufzugehen und ihnen sich hinzugeben hat.
Es ist das Leben all dieser Gemeinschaften, es ist nicht
das Sein der individuellen Person, was trotz seiner Kraft,
das organische Leben des Individuums unbestimmt lang
zu überdauern, seinem Wesen nach endlich ist, wie alle
Geschichte der Staaten und Nationen, die zugrunde gingen.
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. lyi
zeigt. Und es ist die geistige persönliche Individualität, die
wesenhaft, troll des so viel kürzeren endlichen Erden-
lebens, unendlich an Dauer und Wirken ist. Und nur weil
sie dies ist, vermag und soü sie, gleichsam ritterlichen
Sinnes, das hohe Gut ihres kurzen Lebens für das höhere
Gut des Lebens der so viel länger lebenden, aber doch im
Vergleich zu ihm so armen, weil nur endlichen irdischen
Gemeinschaften hingeben. Und gerade in diesem Kriege
gilt es doppelt, den rechten geistigen Individualismus fest-
zuhalten. Warum?
Wir sehen eines der sichersten Keni^eichen unseres
Rechtes in diesem Kriege darin, daß wir nicht nur uns
selbst, sondern indirekt und auf die Dauer selbst unsere
wesdichen und südlichen Feinde und ihre Staaten, und so-
mit also Gesamteuropa bewahren helfen vor der Über-
flutung durch die russischen Horden, damit auch bewahren
helfen vor deren Weltanschauung und orthodoxem Christen-
tum, die jene magna charta des christlichen Europas, den
unendlichen Wert der individuellen Einzelseele,
noch nicht kennen. Denn hier ertrinkt wirklich noch die
Persönlichkeit im Volkstum, Stamm, Masse, Herde. Wie
absurd also wäre es, bei uns selbst das zu verleugnen,
worum wir doch gerade gen Osten kämpfen, den Wert der
individuellen Seele!
Ich sagte: Alle die jenseits des chrisdich-kirchlichen Bo-
dens gewachsenen Gemeinschaftsauffassungen verleugnen
diese notwendige Spaiffiung. Der absoluteFürstenstaat
zusammen mit der bürgerlichen ihm zuerst dienenden, spä-
ter ihn beherrschenden Bewegung des Nationalismus be-
raubte die Korporationen aller Art, die Stände, Adel und
Geistlichkeit ihrer ursprünglicheren Rechte und Eigen-
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iy2 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
tümer. Sein extremer, grenzenloser Macht- und Souverä-
nitätsbegriff wagte sich über das chrisdiche Gesetz und
seine oberste Verwaltung zu erheben. Kein Wunder, daß
sich der absolute Staat — am klarsten in Frankreich 1 789,
in irgendeinem Maß aber überall, gegenwärtig in Rußland,
dessen Revolution sich in diesem Kriege nur fortsetzt und
der französischen die Hände reicht — eines Tages der
auch sein ,absolutes* Existenzrecht bestreitenden Massen-
tevolution gegenüber sah, die an die Stelle des absoluten
Fürsten das absolute souveräne Volk, d. h. den bloßen
Mehrheitswillen zu setzen sich anschickte, — unter der
falschen Unterstellung, der Wille der Mehrheit sei gleich
der Volonte g^n^rale, d. h. gleich dem echten Gemein-
willen. Beide Staatsauffassungen aber machen aus Staat
und Nation einen, den christlichen Individualismus ebenso
wie das Solidaritätsprinzip verleugnenden Götzen, der sich
bewußt oder unbewußt an Stelle des höchsten Oberherm
aller Gemeinschaft, an Stelle Gottes setzt. ^Beide machen
den Staat zu etwas, das entweder nur Herr oder nur
aller Individuen resp. ihrer Mehrheitslaune Sklave sein
soll, wogegen die christliche Gesellschaftslehre besagt, daß
niemand außer Gott, also keine Institution auf Erden,
,oberster Herr* sei, und niemand Sklave, sondern jeder
und jede Institution zugleich Herr und freier Diener eines
höheren HermT Beide Auffassungen aber mußten in der
weiteren Folge jenen schrankenlosen Nationalismus ent-
wickeln, der wie ein fressendes Feuer fortspringend, immer
kleinere Nationalitäten fassend (neuerdings Ungarn, Böh-
men — bis zu den Esthen und Letten) und schließlich im
Imperialismus sich selbst übergipfelnd, in diesem Kriege
an dem Staatsgedanken des mitteleuropäischen Blockes
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Die christliche Liebesidee und die gegenwartige Welt 1^3
SO furchtbar zusammenbracht. Wer verfugte aber über die
lebendigen Ideen — ob auch über die Kräfte, das müssen
'wir Gott überlassen — , um auch nur zu versuchen, aus die-
sem katastrophalen Zusammenbruch des seit lange schon
in innerer moralischer und geistiger Anarchie erzitternden
Europa das wahre christliche Europa wieder aufzu-
bauen, wenn nicht die Vertreter des christlichen Gemein-
schaftsgedankens? Was anders hielte das zerberstende
Europa noch in der Tiefe zusammen als dieser Gedanke?
Darum muß (fieser Gedanke uns auch auf dem Boden
der äußeren Politik suchen lassen ein System der Verein-
barung zum mindesten in allen solchen Dingen, die ein
europäisches Gesamtheil und -wohl betreffen. Es ist eben
ein falscher Satz, daß jeder Staat nur am Machtwillen
des anderen Staates seine Grenze finde. Wir Deutsche
und die Schweiz haben durch unsere bundesstaatliche
Gliederung, die dem Einzelstaat das Merkmal sog. Sou-
veränität längst genommen hat, wenigstens hinsichtlich
der Verfassimg den Anfang damit gemacht, an einem gro-
fSen Beispiel zu zeigen, wie wahre Freiheit kleinerer histo-
rischer St;ammes- und Staatseinheiten mit den zentralisti-
schen technischen Notwendigkeiten des modernen Groß-
betriebes, auch des Reichsgfroßbetriebes, in allen Dingen
zusammen bestehen kann. Möge diese Art Vieleinheits-
gliederung im kommenden Zeitalter vorbildlich werden
für das chrisdiche Europa überhaupt! Denn in dieser
Verfassungsform desBundesstaates ist inheutiger
Zeit immer noch relativ 'am stärksten die christ-
liche Gemeinschaftsidee gegenwärtig. Gelänge es,
den Bundesstaatsgedanken, wenn auch zweckmäßig modi-
fiziert, langsam und vorsichtig auf das Ganze des unser
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174 ^'* christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
Reich und Österreich-Ungarn enthaltende Mitteleuropa
so auszudehnen, daß in diesem umfassenderen übernatio-
nalen Bunde war dieses neue Ganze stärker zentralisiert
würde, soweit die äußeren gemeinsamen Lebensbedin-
gungen (zuerst der militärischen Verteidigung und dann
erst des Wirtschaftslebens) in Frage kommen, daß aber
zugleich die einzelnen Stämme und Bundesstaaten unseres
gegenwärtigen Reichskörpers unter, einer erheblichen Ver-
minderung der zu einseitigen Vorherrschaft Preußens an
Selbständigkeit in allem, was Religion, Sitte, Kultur,
Lebensführung betrifft, erheblich gewännen: so wäre
darin schon ein bedeutender Fortschritt des christlichen
Gemeinschaftsgedankens auf politischem Boden zu sehen.
Dieses größere materiell und als Ganzes nach außen hin
stärker wie früher zentralisierte, aber geistig imd nach
innen hin zugleich dezentralisiertere neue Bundeswesen,
dürfte auch mit Recht als eine Art Wiederanknüpfung an
die historischen Kräfte und Ideen aufgefaßt werden, die
das mittelalterliche deutsche Kaisertum getragen haben;
desgleichen als eine Wiederanknüpfung an den großen
geistigen, historischen wie geographischen vorsehungs-
mäßigen Beruf Deutschlands als des Herzens Europas, in
der Bildung übernationaler staatlicher Bundesorgani-
sationen die Idee und Realität des christlichen Europa, ja
schließlich der Menschheit mit der eigensüchtigen Realität
der europäischen peripheren Einzelstaaten imd Nationen
zu vermitteln. Das nach meiner Ansicht kulturell zu stark
und einseitig im preußischen Geiste zentralisierte, und noch
allzusehr die alte Gesinnung des absoluten Fürstenstaates
mit seiner obligaten hyperdemokratischen Gegenbewegung
in sich hegende Deutsche Reich seit 1870, vermochte auf
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. jy^
die es iimgebende Völkerwelt, auch soweit sie national-
deutscher Herkunft war, kaum eine Anziehungskraft aus-
zuüben. Überall — selbst in der Schweiz und Holland —
wurde es mehr gefürchtet als geliebt. Auch dies könnte
sich angesichts des neuerstehenden Bundesgebildes ändern.
Sähe diese politische Umwelt deutscher Abstammung, daß
im Reiche nach dem Kriege die Reste dieses altpreu-
ßischen absoluten Staatsgeistes gebrochen sind, daß in
ihm den deutschen Stämmen und Ständen Freiheit, Eigen-
art, Bodenständigkeit in höherem Maße eingeräumt ist
als bisher, und daß ihre Mitbeteiligung an der politischen
Leitung und Verwaltung des Ganzen sich vergfrößert hat,
so würden sie diese Sprödigkeit und Furcht allmählich
von selbst verlieren. Auch Preußen selbst hat es vielleicht
am stärksten geschadet, daß das Reich ein verlängertes
Preußen sein mußte. Es hat dabei seine feine, helle, spröde
Geistigkeit, es hat — wie Möller van den Brück kürzlich
sehr gut auseinandergesetzt hat (»Der Preußische Stil«,
München, Piper) — auch seinen Stil in Kunst (Baukunst),
Geselligkeit und Leben verloren.
Eine nicht weniger verpflichtende Kraft geht aber von
der christlichen Gemeinschaftsidee jiuch aus für die
Wiederherstellung normaler seelischer, und die Fragen
der Geisteskultur betreffender Verhältnisse zwischen den
Nationen. Wenn unser Gemeinschaftsideal den politi-
schen Nationalismus, gegen dessen Aspirationen die auf
^em Staatsgedanken fußenden Mittelmächte ja vor allem
ihren Kampf führen, verdammt, so geschieht es nicht nur
um der religiösen und kirchlichen Einheit der Menschheit
willen, sondern gerade auch um des inneren Eigenrechtes
der Völker, Nationen, Nationalitäten in allen Fragen der
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I y 6 Die christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt
Sprache, der Geisteskultur, der angestammten Sitte und
der besonderen Färbung ihrer Religion und Frömmigkeit.
Ich habe in meinem Buche »Krieg und Aufbau« *, gezeigt,
daß der moderne politische Nationalismus merkwürdiger-
weise durchaus nicht echt nationaler Herkunft ist, son-
dern daß gerade er der Herkunft wie den Zielen nach
eine ebenso gleichförmige internationale Klassen*
er scheinung (des bürgerlichen nationalengagierten Groß-
kapitals) darstellt wie sein Gegenteil, der Klasseninter-
nationalismus der Arbeiterklasse ; daß dagegen der geistige
Kosmopolitismus, d. h. die Anschauung, daß die natio-
nalen Volksgeister berufen seien, sich in allen rein kultu-
rellen Dingen, z. B. Philosophie, Wissenschaft, Kunst, ja
selbst in der allseitigsten Darstellung des Reiches Christi
solidarisch zu ergänzen, und zwar unvertretbar zu er-
gänzen, nicht ausschließlich zwar, aber doch in besonderem
Maße ein national deutsches Geistesprodukt genannt .
werden kann. Der politische Nationalismus will die Geistes-
kultur, die in den Ideen des einen ^yahren, Schönen, aber
gleichzeitig in je grundverschiedenen, unersetzbaren Be-
stimmungen und Anlagen der Völker, dieses Wahre zu
erkennen und dieses Schöne zu genießen und hervor-
zubringen, notwendig verwurzelt ist, seinen puren Macht-
und Wirtschaftszielen dienstbar machen. Er gerade würde
es sein, der — käme irgend einer dieser Nationalismen zum
Siege — cde Fülle der eigenartigen nationalen Anlagen,
Werke und Lebensideale auslöschen, und die Welt zu einem
grauen und öden Einerlei machen würde. Darum gebietet
uns in dieser Richtung die christliche Gemeinschaftsidee
^ »Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katho-
liken nach dem Krieg«.
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Die chrjftliche Liebesidee and die gegenwärtige Welt. i'j'j
alles zu tun, um die kulturelle Befreundung der europä-
ischen Nationen wiederherzustellen, dem hier ganz verderb-
lichen Hasse entgegenzuarbeiten und^dafiir zu sorgen, daß
auch innerhalb der Grenzen unseres Reiches und Öster-
reichs die kulturellen Nationaleigentümlichkeiten stärker .
geachtet werden als bisher, und daß dieser Geist in der
Verw^tung z. B. Polens und des Elsaß sich kraftvoller
betätigt. Ein verschiedene Nationen umfassender Staats-
gedanke, wie wir ihn fordern, und der sogenannte »Kultur-
staat« schließen sich logisch aus. Nur als geschlossener
Nationalstaat wäre ein sogenannter Kulturstaat denkbar.
Denn eben im Kulturellen (Sprache, Sitte, Literatur,
Kunst), nicht im Politischen und nicht im ökonomischen
liegt das ewige Recht des Daseins der Nationen. Den
sogenannten »Kulturstaat«, d. h. einen Staat, der die
geistige Kultur direkt leiten möchte (z. B. durch Einheits-
schule usw.), der nicht nur die äußeren Bedingungen
der Kultur hinsichdich Wohlfahrt, Reichtumsverteilung,
freie Konkurrenz der zum Kulturschaffen Tüchtigen för-
dern möchte, verdammt die christliche Gemeinschaft^dee
genau so scharf wie den einheitlichen Weltstaatsgedankeli.
Denn nur dann kann der ^taat mehrere Nationen um-
fassen und sich über die nationalen Leidenschaften wahr-
haft erheben und ihr vernünftiger Herr sein, wenn er den
Nationen gleichzeitig kulturelle Freiheit gibt und wenn
er nicht versucht, eine einförmige sogenannte Staats-
kultur über die sein Territorium bewohnenden Völker
auszugießen. Und nur dann können wir Menschen an-
gesichts unserer höchsten Güter, der heiligen und reli-
giösen Güter eine wahre Einheit, eine »katholische« Kirche
bilden, wenn ebensowohl in staatiicher als in kultureller
12
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1^8 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
Hinsicht eine bunte, und zwar voneinander je unab-
hängige Vielheit von Gruppen auf Erden vorhanden
ist — angemessen den organischen und geistigen Bil-
dungen der Völker und ihrer Geschichte. Darum verab-
scheut der christliche und wahre Kosmopolitismus ebenso-
sehr den politischen Nationalismus als die altjüdische, durch
Christus überwundene »auserwählte Volks «idee (di? Eng-
land durch Übertragung der calvinistischen Auserwäh-
lungsidee auf Staat und »Empire« übernommen hat);
ebensosehr die öde, langweilige Idee einer gleichförmigen,
einzigen sogenannten Weltkultur als die Freimaurerfarce
einer politischen Weltrepublik. Und gleichfalls weist. sie
zurück das jetzt so elend zusammenbrechende Idol einer
internationalen Klassen- und Arbeiterrepublik. Auch die
Kirche, die allein auf menschenumfassende Einheit An-
spruch erhebt (mit dem innersten Rechte der höchsten und
unteilbaren Werte, die sie und nur sie verwaltet), auch die
Kirche soll nicht und will nicht die geistige Kultur direkt
leiten — und sie darf es auch nicht, wenn sie sich nicht
selbst partikularisjpren will. Nur darauf muß sie und soll
sie einen Ansprudi erheben, einmal die Fülle originaler
Kultur vor allem politischen Nationalismus und Imperia-
lismus, auch den sogenannten geistigen Imperialismus zu
schützen, und sodann es klar auszusprechen, wo sie durch
eine Kulturrichtung die religiösen Gesamtheitsgüter des
Corpus Christi verletzt oder in Frage gestellt sieht.
Gerade dieser Anspruch der Kirche und ihrer Spitze^
der höchsten kirchlichen Autorität, der Anspruch einer
Oberaufsicht auch über das geistige Kulturleben — soweit
es Heilsdinge berührt — hatte vor dem Kriege das
moderne Europa in allen Nationen vielleicht am stärkstea
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 17g
von der Kirche zurückgestoßen. Wie man nichts mehr
wissen wollte von dem christlichen Sittengesetz als oberstem
Prinzip der äußeren Staatspolitik, so wollte man auch nichts
mehr wissen von einer christlich-kirchlichen Inspiration des
höheren Kulturschaffens, der Kunst, der Philosophie, der
Wissenschaft; und eben weil diese lebendige, zusammen-
haltende Inspiration der Kulturgebiete und Kultur-
nationen sich im Laufe der Neuzeit immer stärker auf-
gelöst hatte, auch sprachlich, methodisch und hinsichtlich
des Stiles zunehmend von einem sich immer schärfer und
enger zuspitzenden, die Ergänzungsnotwendigkeit aller
Nationen leugnenden Kultumationalismus abgelöst war,
mußten in der Tat die Eingriffe der kirchlichen Autorität
— wo sie stattfanden — auf die Träger jenes außer-
christlichen Kulturgedankens wie fremde, mechanische,
äußere Eingriffe wirken. Von den führenden Gruppen der
meisten Staaten wurde der kirchlichen Autorität prinzipiell
das Recht versagt, in die sogenannte Autonomie der Ver-
nunft und Kultur unmittelbar in Heilsfragen einzugreifen.
Nun steht es aber so: Da alle menschlichen Tätigkeiten,
auch die höchsten geistigen, immer, zugleich Gemein-
schaftstätigkeiten sind, so ist die besondere Natur und
der Gehalt der jeweils das Leben beherrschenden
Gemeinschaftsidee auch für den Fortgang, den Geist und
den Ertrag dieser Tätigkeiten von größter Bedeutung.
Die menschlichen Zustände bilden stets und überall eine
strenge innere Stil- und Struktureinheit. Wo z. B. staat-
lich irgend eine Form des absoluten Staates herrscht, wo
wirtschaftlich freie Konkurrenz und ?iusschließlich Erwerbs-
wirtschaft im Gegensatz zu Bedarfsdeckungswirtschaft, wo
schrankenloser Individualismus oder Sozi^smus das christ-
12*
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1 8o I)i6 christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
liehe Gemeinschaftsideal zersetzt haben, da ist auch geistig
nicht nur das Miteinanderglauben in einer Kirche, son-
dern auch das Miteinandererkennen sowohl in der zeit-
lichen Folge der Epochen als im räumlichen Neben-
einander der bei der Erkenntnis Mitwirkenden im Kerne
aufgehoben. Wie im Mittelalter ganze Generationen an
einer einzigen Kirche bauten — ohne die Stilidentität des
Bauwerkes aufzuheben, so vermeinten auch z. B. die Philo-
sophen verschiedener Nationen jener Zeit generationen-
lang, trotz der verschiedenen Färbungen ihres Weltdurch-
blicks, an einer Philosophia perennis zu bauen. An
die Stelle dieses organischen und naiven Miteinander-
denkens, -schauens, -flihlens der Zeiten und Völker traten
im Laufe der neuzeitlichen Geistesentwicklung die zwei
eng zusammengehörigen Prinzipien, das Prinzip des tausend
UnterformendurchlaufendensubjektivistischenKritizis-
mus und das Prinzip des Gegeneinanderarbeitens der
Nationen, und innerhalb der Nationen der sogenannten
Schulen, innerhalb der Schulen wiederum der Individuen
und dazu das Gegeneinanderarbeiten der Epochen und
Generationen, von denen jede die vorhergegangene über-
gipfeln, übertreffen wollte, um von der folgenden sofort
wieder — kaum geboren — ins Nichts gestürzt zu werden.
Das Tempo dieser Abwechslung von Geburt und Tod
beschleunigte sich immer mehr. An die Stelle einer naiven,
geistigen, liebegeleiteten Hingabe an die objektive Welt
im Anschauen und Denken, im steten Bewußtsein, der
menschliche Geist, als aus Gott, dem Borne der Wahrheit
stammend, sei auch fähig, das Sein der Dinge selbst ein-
sichtsvoll zu ergreifen, trat die prinzipielle Mißtrauens-
stellung in die eigenen Geisteskräfte und das, was ich die
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt' 1 8 1
tiefe » Weltfeindschaft « des modernen Denkens nenne, d. h.;
die Verleugnung aller der Welt selbst angehörigen Quali-
tätenj Formen, Werte, Gestalten und eine Auffassung der
Welt als eines heillosen, materiellen Breies — aus dem der
Mensch durch seine Verstandestat und Arbeit erst etwas
Sinnvolles zu machen habe. Die Kantische Philosophie
ordnet sich z. B. dieser Formel als ein Spezialfall unter.
Streng analog hierzu trat sozial — als regieriende Seele
des Kulturschaffens — an Stelle des liebevollen Zusam-
men- und Miteinandersichorientierfens in allen Dingen der
geistige, eitle Konkurrenztrieb, je etwas gans Besonderes
zu machen und die Wahrheit nicht zu gewinnen durch eine
unmittelbare Beschäftigimg mit der Stehe selbst, sondern
durch primäre Kritik, durch Aufdeckung der Irrtümer^
der Täuschungen anderer. Daß wir — wie Goethe sagt
und Augustinus schon erkannte — die Dinge recht nur
erkennen können, soweit wir sie irgendwie lieben, daß
wir miteinander erkennen können nur soweit, als wir
auch vorhergehend einander lieben und miteinander die-
selbe Sache lieben — so wie ja auch Gott selbst nur
aus Seinem liebegeleiteten Erlösungswillen heraus uns in
Seinem Sich für unsere Sünde opfernden Sohne die offen-
barungsmäßige Erkenntnis Seines inneren Wesens er-
schloß, und nur die Liebe in uns diese Mitteilung voll
aufiiehmen kann — , das wurde prinzipiell verneint.
Ein von der Gemeinschaft, ja von der gesamten übrigen
Seele sozusagen abgelöstes, aus ihr herausgerissenes in-
dividuelles ,Denken* pder bei anderen ebenso isolierte
Sinnesempfindungen wurden (das erstere z. B. durch Des-
cartes) für die einzig berechtigte Quelle der Erkenntnis
erklärt. Es wäre gewiß sehr unsinnig und ungerecht, nicht
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1 8 2 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
ZU sehen, daß beide Prinzipien, der subjektive und ideali-
stische Kritizismus, wie das sich überflügelnde Gegenein-
andejrarbeiten gewaltige Erfolge auf dem Boden der Phi-
losophie, der Wissenschaften, der Natur-, der Seelen- und
der Gesellschaftslenkung bewirkten und aus sich heraus
in ihrer Art Großes vollbracht haben. Aber — und dieses
Aber ist die gewaltige Lehre des Weltkrieges, der gewal-
tige Umkehrruf Gottes an uns und ganz Europa — auch
diese Erfolge der europäischen Kulturarbeit waren nur
möglich, weil die christliche Epoche des europäischen Mit-
telalters und ihr geistiger Universalismus ein so großes,
inneres Kapital an gemeinschaftsbildenden Geistes-
mächten in allen Nationen und Gruppen Europas aufge-
stapelt hatten, daß dieses Kapital überall heimlich und
selbst wider Wissen der Beteiligten ihre auseinanderstre-
benden Geister in der Tiefe doch zusammengehalten; daß
femer durch die nachdauemde Kraft der älteren Denkweise
das christliche Vertrauen auf die Fähigkeit des mensch-
lichen Geistes, die Welt selbst ergreifen zu können —
und nicht nur ihr Bild in uns — , auch durch den Kritizis-
mus nicht völlig gebrochen ward. Die wichtigste Neuheit
für Europa, ja eine Neuheit, die durch ihre Wichtigkeit
verdiente, auf allen Straßen laut verkündigt zu werden,
ist der zweifellose* Tatbestand, daß außer der noch in Eu-
ropa befindlichen gläubigen Christenheit — und auch sie
ist schon weithin, wie die Kampfschriften der französischen
Katholiken zeigen, in das Übel mithineingezogen — , die-
ses Kapital, diese unbewußte Erbschaft, heute so gut wie
aufgebraucht ist.
Wie der Forscher im wissenschaftiichen Experiment
diie Ursachen von anderen Ursachen isoliert, damit er
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 183
sehen kann, was sie und nur sie wirken, so hat der Welt-
krieg die Kraft der beiden genannten modernen Prinzipien
gleichsam auf sich selbst gestellt, sodaß wir sehen, wohin
sie allein führen: Zu einem Weltkrieg auch der Geister,
zum Turmbau zu Babel in Weltformat. Aber gerade da-
durch hat der Weltkrieg jenes tiefste bisher verborgene
Geheimnis Europas, das Geheimnis, c^ß Europa heimlich
auch in seinen Gruppen säkularster Gesinnung vom Chri-
stentum, vom Geisteserbe der Kirche gelebt hat, aller nur
irgendwie zum Sehen gutwilligen Welt entschleiert. Er hat
diese Wahrheit mit blutigen Lettern, die jeder sieht, an
den Himmel geschrieben. Nicht die hoheitsvolle, christliche
Neutralität, nicht die einzelnen Handlungen des Hl. Vaters
zur Linderung des Kriegselendes, nicht seine und der
Kirche ergreifenden Friedensgebete allein haben zu der
merkwürdigen Erscheinung geführt, daß heute bis tief hin-
ein in die modernste Moderne die katholische Kirche und
ihr Oberhaupt neues Ansehen und eine neue moralische
Würde gewinnen. Hinter diesen reinen, /erhebenden Ein-
drücken steht ein Anderes und Tieferes: Die langsam
sich auch in der unbewußten Tiefe der modernen Seele
entfaltende, wie ein lichter Engel heraufsteigende neue
Einsicht, daß nur ein bewußtes Zurück zu den heiligen
Geistes- und Lebensquellen, aus denen die Geschichte
Europas bis zur Stunde auch da heimlich genährt war,
wo es die Menschen bewußt nicht Wort haben wollten,
ja daß — konsequent denkend — nur ein Zurück zur
heiligen Kirche und der allein von ihr rechterkannten und
verwalteten, christlichen Gemeinschaftsidee Europa als
den bisher führenden und leitenden Kulturkreis der Welt
noch zu erretten vermag. Es war nicht nur ein Irrtum oder
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Google
1 84 ^'^ christliche Licbcsidcc und die gegenwartige Welt
eine Reihe von Irrtümern, die uns das Maß der Europa
zusammenhaltenden Einheitskräfte (als da waren Kom-
munikationstechnik, Arbeiterintemationale, internationales
Finanzkapital, internationale Wissenschaft, Kunst, europä-
isches Gewissen, Solidarität der weißen Rasse, internatio-
nales Privat- und Völkerrecht usw.) so ungeheuer über-
schätzen ließen: Es war die grund verkehrte Denkme-
thode und Fühlgewohnheit, zu meinen, es könne
die unbedingt nötige Einheit des moralischen Welt-
baues durch irdische Kräfte ,von unten* her dauernd
getragen werden, als bedürfte die Einheit dieses Baues
nicht dauernd und wesentlich, nicht nur zu ihrem Fort-
schritt, sondern nicht minder zu ihrem Fortbestand an
erster Stelle mächtiger, religiöser, geistiger und mo-
ralischer Zentralkräfte von ,oben' her, d. h. Kräfte, die
sich nicht auf Interessengemeinschaften, nicht auf bloße
Rechtsverträge, nicht nur auf eine (so gewaltig über-
schätzte) sogenannte Gleichförmigkeit der menschlichen
Natur und ihrer isolierten Verstandesveranlagung stützen,
sondern Kräfte, die allein bestehen in Offenbarung, Gnade,
Erleuchtung der Vernunft und der Herzen, und in einer
diesen unsichtbaren Kräften entsprechenden, sichtbaren
Organisation — einer Organisation, die ihrerseits erst
auch jene unteren gemeinschaftsbildenden Mächte zu der
ihnen möglichen Wirksamkeit gelangen läßt.
Ist es — wie ich sagte — heute die Einsicht aller Be-
sten, daß wir im Ökonomischen und Politischen vor
einem die Kräfte organisierenden Zeitalter stehen, so muß
auch — bei der inneren Zusammengehörigkeit aller Teile
des sozialen Lebens — das geistige Leben, also auch
Philosophie, Kunst, Wissenschaft ap jenem tiefgehenden
Digitized by VjOOQ IC
Die christliche Liebesidee und die gegenwartige Welt. 185
Wandel teilnehmen. Auch sie müssen sich allmählich im
Sinne der Idee chrisdicher Gemeinschaft umbilden. Es
müßte unser gesamtes europäisches, kulturelles Schaffen
den Geist liebegeleiteter, wahrer Kooperation der In-
dividuen, Schulen, Nationen, Generationen wiedergewin-
nen. Es müßte das geistige Leben demgemäß auch das
Prinzip der liebevollen Hingabe an die objektive Welt
und den Gedanken ihrer unmittelbaren Seins-Erfessung
in Wahrnehmung und Erkenntnis an Stelle des bisherigen
sogenannten »Idealismus« und »Kritizismus« — die alle-
samt auf jener falschen Weltfeindschaft beruhen — wie-
der in sich aufnehmen. Und alle Philosophie, Kunst und
Wissenschaft müßte wieder lernen, die Wesenskonstan-
ten der Welt und ihre Zusammenhänge, die an ihren zu-
fälligen-Einzeldingen erschaubaren göttlichen Wesens-
ideen, nach denen Gott die Welt geordnet, gegenüber
allem bloß Veränderlichen der Welt und technisch durch
uns Beherrschbaren an ihr wieder zu sehen, zu achten und
zu lieben. So sind die inneren Folgen der christlichen Ge-
meinschaftsidee auch für das ganze Kulturdasein, in Theo-
rie und Werk neu zu entwickeln, und es ist das hohe Gut
auch der christlichen Kulturgemeinschaftsidee an
die leeren Stellen zu setzen, die in den Gemütern durch
den Zusammenbruch der vor dem Krieg so stark über-
schätzten Kräfte geistiger Menscheneinigung durch die
außerchristliche Kulturidee entstanden sind. Das muß eine
unserer allerwesentlichsten. Aufgaben zum Wiederaufbau
des Gemeinschaftslebens sein. Sehen Sie sich z. B. jenen
unseligen Sünder Friedrich Adler an, der jüngst auf den
Grafen Stürgkh schoß, der selbst so liebenswert ist als
seme Tat furchtbar und hassenswert. Seine entsetzliche
Digitized by VjOOQ IC
1 86 I>ie christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
und psychologisch doch sehr wohlbegfreifliche Tat war die
Folge seiner Verzweiflung an der Internationale, die dieser
Arme allein als übernationale, überstaatliche, menschlichen
Zusammenhang bewirkende Macht kannte; deren Sekre-
tär für den 1914 in Wien in Aussicht genonmienen Kon-
greß er war; mit deren Existenz er sich und seine ganze
moralische Würde identifizierte, an die er wie an einen
Götzen glaubte — so glaubte, wie der Mensch nur an
Gott und an keine irdische Institution glauben darf; mit
deren Zusammenbruch folgerichtig auch seine moralische
Existenz zusammenbrach. Sehen Sie diese fast wildtragische
Figur, die aus falscher, maßloser, der menschlichen Sünd-
haftigkeit vergessender Verdammung des Krieges über-
haupt, als ,Massenmordes* zu einem wahren und wirk-
lichen Mörder wurde — nicht aus einem egoistischen
Grunde, neiil mit der an sich reinen und hohen subjek-
tiven Intention, sich selbst einer Idee zu opfern. Betrach-
ten Sie diese Figur als ein Symbol für die gleiche oder
analoge Enttäuschung^ Tausender und Abertausender, die
nur weniger fanatisch, aber auch weniger sich selber treu
und von denen die meisten vielleicht sogar nur viel
weniger subjektiv moralisch waren. Dann werden Sie
wissen, was Sie zu tun haben.
Ebenso wichtig als die Weisungen, die uns die christ-
liche Gemeinschaftsidee für die Fortentwicklung der poli-
tischen Organisation und der geistig-kulturellen Gemein-
schaft gibt, sind die Fingerzeige, die für unsere Stellung-
nahme bezüglich des andern der genannten Gegensätze aus
ihr hervorgehen. Ich nannte sie — die Sache vereinfachend
— freies, wirtschaftliches Konkurrenzsystem und
Staatssozialismus. Es steht hierbei durchaus nicht so, daß
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 187
aus der christlichen Gemeinschaftsidee und den Grund-
Sätzen der christlichen Ethik, und der diesen Grundsätzen
geniäßen,objektivgültigenAbstufungderWelt-undGeistes-
güter, ein ganz bestimmtes Wirtschaftssystem hervorginge ;
oder gar aus diesen Grundsätzen logisch herzuleiten sei.
Das ist schon darum ausgeschlossen, da die christliche Ge-
meinschaftsidee und diese Abstufung der Güter einEwiges ,
Dauerndes ist, die ökonomischen Systeme, unter denen
die Völker leben, aber dem reichsten historischen Wechsel
unterliegen. Sie unterliegen sogar einem noch reicheren
Wechsel wie die politischen Verfassungsformen. Die Exi-
stenz eines jeden solchen Systems und seine Beschaffenheit
ist ja von einer schier unermeßlichen Anzahl von Ursachen
abhängig, von Ursachen, die mit der religiösen Weltan-
schauung der Träger des Sylstems wenig, oder nur sehr in-
direkt oder gar nichts zu tun haben; z. B. von der tätigen
oder kontemplativen Anlage der Völker, ihrem Tempera-
ment, ihrer nationalen Erfindirngskraft, von Boden, Klima,
Naturschätzen, vom Stand der Technik und herrschenden
inneren und äußeren Rechtsverhältnissen und tausend ande-
rem mehr. Aber wie sich überall in Natur und Geschichte
der Geist den Körper baut, so ist auch jedes ökonomische
System in erster Linie abhängig von einem Faktor, den
wir den je grundherrschenden ,Wirtschaftsgeist*, oder
das je grundherrschende , Wirtschaftsethos' der je vor-
bildlichen und führenden Schicht in einem Lande nennen
können. Dieser Faktor macht die zusammenfassende innere
Seele auch der äußeren Organisation aus, und er drückt
sein Siegel auf jede noch so geringe ökonomische Hand-
lung und Daseinsform. Durch die Vermittlung dieses Wirt-
schaftsethos der je führenden vorbildlichen Schicht hindurch
Digitized by VjOOQ IC
1 88 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
Übt aber die religiöse Weltanschauung, und an erster Stelle
die Gemeinschaftsidee, die sie enthält, auch auf die Ge-
staltung des Wirtschaftslebens eine unermeßliche Wirkung
aus. Gerade neuere Forschungen des ausgezeichneten Na-
tionalökonomen Max Weber, desgleichen Forschungen von
E. Troeltsch, W. Sombart u. a., die in dieser Richtung z. B.
die Beteiligung des Calvinismus und anderer protestanti-
scher Sekten an der Entstehung des modernen Kapitalis-
mus, neuerdings den Zusammenhang der großen Welt-
religionen auch Chinas und Indiens, mit den Wirtschafts-
systemen dieser Länder genau untersuchten (siehe hiezu
Max Webers Arbeiten in den letzten Heften des Archivs
für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik), haben diese Tat-
sache über jeden Zweifel erhoben.
Daß jenes ,liberale* Wirtschaftssystem des »laisser
faire«, dessen Geist ein durch keine Idee von Bedarfs-
deckung begrenztes Arbeits- und Erwerbsstreben der
einzelnen ökonomischen Individuen gewesen ist, welches
ein besonderes Verteilungsproblem (d. h. ein Problem
»gerechter« Verteilung) der materiellen Güter nicht
kannte, sondern nur das Problem der maximalen Pro-
duktion der Güter und das auf deistischem Religions-
hintergrund in einem durchaus falschen Glauben an die
natürliche Harmonie der bloßen Triebe auch die beste
Güterverteilung von einer absolut freien Konkurrenz
der Wirtschaftssubjekte und vom grenzenlosen Freihan-
del erwartete, den Atem der Geschichte seit langem
schon nicht mehr für sich hatte, das brauche ich Ihnen
nicht zu sagen, Längst leben wir ja schon im Zeitalter
weitgehenden Staatsbetriebes, einer kraftvollen Sozial-
politik und der aus ihr entstammenden deutschen, in Eng-
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 189
land durch Lloyd George nachgeahmten Arbeitergesetz-
gebung, im Zeitalter der großen Arbeiter- und Unternehmer-
organisationen, und — wirtschafts- sowie außenpolitisch —
in einem Zeitalter des sogenannten Neomerkantilismus, in
dem der Staat der Arbeit, der Ware und den Gütern die
Wege bahnt, schließlich, wie wir heute sehen, mit der Ge-
walt der Waffen. Der Krieg hat uns dazu das wunderbare
Schauspiel gebracht, daß die Arbeiterorganisationen in
unserem Lande, voran die Gewerkschaften, auch die sozial-
demokratischen, welch letztere von Hause aus mehr aus
einem staatsfeindlichen als staatsfreundlichen Geiste heraus
entsprungen waren, sich mit dem Staate, ja sogar vielfach
mit den ihnen früher so oft verhaßten Untemehmerorgani-
sationen zusammenschlössen zu einer einzigen, geschlos-
senen, großen, nationalen Arbeitsgemeinschaft. Wir sahen
den demokratischen Sozialismus in unserem Landö^ auf-
hören, sich wie einen Staat im Staat zu fühlen, sahen ihn
seine Hoffnungen auf eine internationale Klassenrevolution
zum größten Teile begraben; sahen ihn.sich praktisch und
* tätig einordnen in den lebendigen Staatsorganismus, sahen
ihn seine Kritiksucht zurückstellen, seine Zukunftstaats-
utopien vor praktischer Gegenwartsarbeit fallen lassen.
Wir sahen auch einen größeren Teil unserer leitenden In-
dustrie-, Handels- und Finanzkreise aus ihren Geschäften
gleichsam heraustreten, nicht nur unerhörte Geldopfer für
die Kriegskosten bringen, sondern sich betragen wie frei-
willige Beamte des Staates, die in all ihren Maßnahmen
nicht mehr nur an ihre und ihres Betriebes geschäfdichen
Vorteile, sondern an die Wohlfahrt des Ganzen denken.
Der Geist des Opfers, d. h. der Geist jener zentralsten
Idee des christlichen Glaubens, die wir in ihrer erhaben-
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I gO Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
sten Form immer neu anschauen und mitvollziehen in den
mystischen Tiefen der heiligen Messe, schien die ge-
samte Lebensluft zu erfüllen und sich auch in die irdi-
schen Sphären des ökonomischen Daseins herabzusenken.
. Gewiß, das sind große, tiefgehende Wandlungen, seelen-
aufwühlende Erlebnisse! Aber in welche Richtung soll
unsere Weltanschauung sie leiten? Und wie soll sie diese
neugeborenen Kräfte über ihre momentane Existenz hin-
ausführen?
Nun viele, sehr viele unserer besten Deutschen sehen
in diesen gesamten Vorgängen schon so etwas wie die be-
ginnende Verwirklichung des Sozialismus^ zwar gerade
nicht in der Form, wie sie Karl Marx, nein, mehr in jener
Form, wie sie etwa Ferdinand Lassalle geträumt hat, d. h.
in der Form eines: politisch zwar monarchistischen, aber
wesentlich staatssozialistischen, nationalen Gemeinwesens.
Man denkt sich das so: Man will die Kriegsorganisationen
mit ihren weitgehenden Eingriffen in die Freiheit des Wirt-
schaftslebens nicht nur zu einem großen Teile über die
Kriegszeit hinaus erhalten — wieweit dies richtig ist, ist
nur eine Zweckmäßigkeitsfrage; m'an will sie vielmehr
zum Ausgangspunkte eines grundlegenden Umbaues
unserer gesamten Wirtschaftsverfassung machen; ja man
will den Krieg und das, was er und seine Not uns an staats-
sozialistischen Maßnahmen und Gesetzgebungsakten ab-
gerungen hat, gleichsam zu einer Auslösung machen eines
dauernden und wesendichen Umschwunges unserer Wirt-
schaftsverfassung — in einer Richtung, die, wie man uns
^ Vgl. hierzu meine Bemerkungen »1789 und 19 14' zu Joh. Plenge's Buch
»1789 und 1914« im Archiv f. Sozialw. und Sozialpolitik, Bd. 42, Heft 2 und
meinen Auüsatz über W. Rathenaus Buch »Kommende Dinge« im Hoch-
land 1917.
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 191
sagt, unserer alten deutschen Anlage und Geschichte, die
uns jahrhundertelang das Bild einer in Ständen, Zünften,
Genossenschaften aller Art organisierten Wirtschaft dar-
bot, wieder mehr entspräche. Forderungen, wie die nach
einem Frauendienstjahr — gleichfalls stark staats-
sozialistisch gefärbten Ideen entsprungen, weiter nach einer
nationalen Einheitsschule mit Beseitigung der Standes-
schulen und der KlassendifFerenzen der Schulanstalten, ge-
sellen sich gerne zu diesen Gedapken. Ist es der christ-
lichen Gemeinschaftsidee entsprechend, solche Denkart
zu bejahen? Ich beantworte diese Frage mit einem be-
stimmten Nein!
Es wäre ein grundlegender Irrtum, zuerst mit vielen So-
zialphilosophen und Nationalökonomen, z. B. mit Dietzel,
ein sogenanntes Sozialprinzip und ein sogenanntes Indi-
vidualprinzip zu unterscheiden, und dann etwa die christ-
liche Gemeinschaftsidee einfach auf die Seite der unter
das sogenannte Sozialprinzip fallenden Gemeinschafts-
ideen zu stellen. Denn die chrisdiche Gemeinschaftsidee
ist ein Drittes, also weder eines von beiden, noch eine
trübe Zusammensetzung aus beiden. Gewiß liegt es in der
innersten Triebkraft der christlichen Gemeinschaftsidee,
auch ökonomisch das Gemeinwesen zu organisieren,
zu organisieren in ein System von Ständen, weiter in Be-
rufs-Arbeitsgemeinschaften aller Art usw. Aber erstens hat
dies im Geiste der christlichen Gemeinschaftsidee in solcher
Weise zu geschehen, daß die geistig leibliche, unteilbare
Individualeinheit, deren Kern die gottgeschaffene Knzel-
seele ist, auch bis in ihr ökonomisches Dasein hinein einen
selbständigen, freien, nur ihr zu eigenen Spielraum
ihrer Rechte und ihrer Tätigkeiten sich bewahrt; und
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192 I^ic christliche Liebesidee und die gegenwärtige \yelt.
zweitens so, daß sie nicht von einer zentralen Staatsall-
macht gesetzlich erst gezwungen, sondern im wesentlichen
— aus freien Stücken heraus, mächtig angefeuert durch
eine moralisch-religiöse, nicht aber durch eine staadiche
Macht, nämlich von ihrem natürlichen und sittlichen Glied-
schafts - und Mitgliedschaftsbewußtsein in einer gan-
zen Anzahl verschiedenartiger, aber an Rang gleich dem
Range der Güter und Tätigkeiten, mit denen jede es zu
tun hat, verschiedenen und verschieden beschaffenen
Gemeinschaften sich selbst mit ihresgleichen zu einem
sittlichen Ganzen kooperativ zusammenschließt. Ich schrieb
schon folgenden Satz^: ,In einer unter Inspiration des reli-
giösen Gedankens organisierten Menschengemeinschaft
hat die kleinste Arbeit eines jeden einen weit über ihren
unmittelbaren Zweck und die individuelle Absicht des ein-
zelnen hinausgreifenden fühlbaren Sinn. Er weiß sich in
ihr einen geheimen Befehl vollstrecken, der durch die ver-
schiedenartigen Gesamtheiten, denen er angehört — Stand,
Berufsgemeinschaft, Volkstum, Nation usw. — , mit ver-
schiedener Stärke hindurch ertönt, der aber seinen letzten
Ausgangspunkt im Gesamtsinne hat, den Gott, der Herr
dieser Weltordnung, gegeben hat. Dieser Sinn und diese
höhere Weihe der Arbeit ist dem modernen Menschen
verloren gegangen und damit ein Weltsinn seiner Arbeit
überhaupt.^
Das heißt aber: Nicht darauf darf es abzielen, daß
jeder von uns eine Art wirklicher Staatsbeamter oder
Staatsarbeiter in einem großen Bienenhause werde, son-
dern darauf kommt es an, daß auch der Nichtbeamte
^ Siehe «Soziologische Neuorientierung« in meinem Buche »Krieg und
Aufbau'.
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt k 93
und Nichtstaatsarbeiter mit dem religiös fundierten Be-
wußtsein und Gefühl einer Art von Amtscharakter
und pflichtmäßigem Dienstcharakter seine Arbeit, auch
die schwere, gerne und mit Freuden tue; seine Wirt-
Schaft führe an eben der hohen oder niedrigen Stelle,
wohin Gott es wohlgefiel, ihn durch seine natürliche Be-
gabung, seine Standeszugehörigkeit und durch den Gang
der gottgeleiteten Geschichte hinzustellen. Eben in dem
Maße, als dies der Fall ist, wird der in unserem Volke
vor dem Kriege viel zu starke Gegensatz von staatlicher
Bureaukratie und Privatmensch, von Staat und Volk er-
mäßigt und erweicht, und gerade dadurch wird die bittere,
den Nichtbestand eines christlichen Gemeinschafts-
geistes und damit eine sittliche Erkrankung des Volkskör-
pers schon voraussetzende Medizin eines alles aufzeh-
renden Staatssozialismus unnötig gemacht. Dieses Amts-
geftihl, das im selben Maße, als es da ist, gerade den Be-
amten erspart und unnötig macht, muß von allem regle-
mentierenden^ Staat s Sozialismus scharf unterschieden
werden. Dieses Gefühl — nicht der Staatssozialismus —
ist nun allerdings auch eine ebenso stark deutsche als
katholische Tradition, und es gibt nur ganz wenige
Grundelemente unseres sittlichen Bewußtseins, in dem sich
katholisch und deutsch so glücklich und so tief decken
wie hier. Darum müssen wir aber auch zwischen einer
wesentlich freien Wirtschaft, die nach Beendigung des
Krieges die nur vorübergehend notwendigen staatssozia-
listischen Maßnahmen wieder abwirft, und dem falschen
altliberalen ungeordneten Konkurrenzsystem scharf schei-
den. Der Geist und grenzenlose Trieb des Konkurrierens,
des blofien Mehrhaben- und Mehrseinwollens aller gegen-
i3
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194 ^^ christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
über allen, dieser Geist, nicht die Freiheit der Wirt-
schaft als objektive Rechtsinstitution ist das Falsche, Und
dieser Geist grenzenloser Pleonexie, dieser spezifisch
unvomehme, alles echte Selbstwertgefiihl verleugnende,
dieser im schärfsten Wortsinne ,gemeine' Geist, kann
prinzipiell einen Staat und seine Wirtschaftsbeamten
ganz genau so gut erfüllen, wie er bei wesentlich freier
Wirtschaft die einzelnen nicht notwendig zu erfüllen
braucht. Das ist die verderbliche Schiefe des Gegensatzes,
den heute so viele machen, wenn sie meinen, daß Staats-
sozialismus und freie Wirtschaft als objektive Rechts- und
Organisations formen schon etwas über den Wirtschafts-
geist einer historischen Wirtschaft aussagen. Ist z. B. der
Geist der Pleonexie und Konkurrenz in der vorbildlichen
Minorität eines Gemeinwesens der Spiritus rector, so über-
trägt er sich, wenn dieses Gemeinwesen individuelle wirt-
schaftliche Formen verläßt und vorwiegend staatssozia-
listische Formen annimmt, nur einfach auf das neue Sub-
jekt ,Staat', das jetzt im Verhältnis zu anderen Staaten
und desgleichen im Verhältnis zu der nichtleitenden Be-
völkerung des Staates diesen verderblichen Geist nur in
neuer Form befriedigt. Keineswegs verschwindet also
notwendig dieser Geist durch ein staatssozialistisches
neues System. Auch für die gerechtere Verteilung der
Güter ist Staatssozialismus nur dann eine Hilfe, wenn, —
ja wenn es eben der Geist der Gerechtigkeit ist, der
die Leiter und Beamten dieses staatssozialistischen Staates
beseelt. Sonst kann Staatssozialismus genau so zu ein-
seitigster Bereicherung der leitenden Wirtschaftsbeamten-
schaft führen wie das freiere System. Ist es gar der, die
finanzkräftige und im Kriege zum Teil erst reich gewor-
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 195
dene Volksschicht an die Spitze des Staates führende
Krieg, der das staatssozialistische System zuerst als Not-
wendigkeit aiislöst, so besteht um so iveniger Grund
zur Annahme, daß sich dauernd, nicht nur als momen-
tanes Zugeständnis dieser herrschenden Schicht an die
am Kriege leidende Masse — schon, um sie während
des Krieges in guter Laune zu erhalten — , die Güter-
verteilung gerechter gestalten werde als in der freien
Wirtschaft. Und dazu kommt noch eins: Wir Christen
glauben zwar, daß die staatliche Obrigkeit überhaupt
• von Gott stammt — niemals eine besondere Verfassung
oder gar Regierung — , auch daß der Staat das eventuelle
Recht hat, in das Wirtschaftsleben ordnend einzugreifen
und sich die Menschen als ökonomische Subjekte bis zu
einer bestimmten Grenze zu unterwerfen: Aber wir glau-
ben auch fest, daß der Mensch schon als Subjekt geisti-
ger Bildung,. Sprachbetätigung und Kultur, erst recht
aber der Mensch als religiöses Subjekt und als Glied
am Leibe Christi dem Staate, dem von ihm gesetzten
Rechte und allem möglichen ,Zugriflr durch ihn unbedingt
überlegen ist. Wären wir aber bei der Herrschaft eines
stark erweiterten Staatssozialismus einmal wirtschaftlich
imd in unserer ganzen Lebenshaltung vom Staate gänzlich
abhängig, so könnte uns derJStaat auch in diesen geistigen
Dingen, ja selbst bis in die Sphäre des religiösen Gewis-
sens hinein, in diejenige Richtung zu zwingen versuchen,
die dem Geiste seiner jeweiligen Regierung angemessen
ist. In unserem Falle müssen wir uns aber darauf gefaßt
machen, daß schon aus den technischen Gründen,
welche die eminent schwierigen ökonomischen, finanz- und
steuertechnischen Aufgaben nach dem Kriege mit sich
13* )
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1 96 Di^ christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt
bringen, auch derjenige Typus ,deutscher Mensch' an die
Spitze der höchsten Reichsämter — wenn auch vielleicht
nicht der höchsten — gelangen wird, der vermöge seiner
Fachkenntnisse, seiner Gewandtheit und Erfahrung in
diesen Dingen die klügsten Lösungen verspricht. So hoch-
achtbar uns seine Vertreter sein werden, so werden sie
doch nicht nur ihre Fachkenntnisse, sondern ihre gesamte
Lebens- und Weltanschauung auf ihre Plätze mit-
bringen; und daß es unwahrscheinlich ist, daß diese der
chrisdichen Weltanschauung besonders ähnlich oder ihr
freundlich gesinnt sein wird, das brauche ich Ihnen hoffent-
lich nicht zu sage».
Also nicht auf Einführung eines systematischen Staats-
sozialismus, sondern auf die Ausbreitung des der christ-
lichen Gemdnschaftsidee gemäßen Wirtschaftsgeistes
kommt es an. Da aber können wir vor allem an zwei
Punkten anknüpfen: an die mit Sicherheit eminent folgen-
reiche gänzliche Zertrümmerung der Zukunftsstaatsidole
unserer Arbeitermassen durch den Krieg und an die
bestehende Tendenz der besten Elemente dieser Massen,
aus einer fluktuierenden, staatsfeindlichen und oft auch
kirchenfeindlichen Klasse sich zu einem mit sicheren
Rechten ausgerüsteten festen Stand zu gestalten, und
sich dem nationalen Leben als solcher zu inkorporieren.
Man kann aus der Kenntnis der menschlichen Natur,
aus geschichtlicher Bildung usw. über das Idol, in dem
ein so großer Teil unseres Volkes vor dem Kriege ge-
lebt hat, über den sogenannten »Zukunftsstaat«, lachen.
Sicher widerspricht dieses Idol allen Grundgesetzen der
menschlichen Natur. Aber man sollte dabei erwägen, daß
es immer lieblos ist, nichts als zu spotten und zu lachen
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Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Weh. 19^
über das — und wäre es auch irrtümlich — , wovon die Seele
eines Menschen heimlich lebt, auf was sie baut und auf
was sie hofft, um dessentwillen sie ein schweres Leben
erträgt. Und hier handelt es sich nicht um eine, sondern
um gar sehr viele Seelen. Ich weiß nicht, ob Ihnen be-
kannt ist, daß gerade auch diese moderne Zukunftsstaats-
idee psychologisch eine religiöse Wurzel hat. Sie wissen,
daß sie aus der Gedankenwelt von Karl Marx stammt;
Sie wissen, daß Marx Jude war, und Sie wissen, daß das
gläubige Judentum noch heute denMessianismus zu einer
seiner tiefsten Glaubenswiu'zeln hat. All sein großes Leiden
trugjuda kraft dieser vor ihm herschreitenden messianischen
Hofihung. Auch die ungläubig gewordenen Juden behielten
diese Form des Denkens und Zukunftshoffens bei, wenn
sie auch an die Stelle des kommenden Messias der gläubigen
Juden ganz andere Inhalte, z. B. ganz moderne, setzten,
— Inhalte, die sich ihnen aus ,wissenschaftli<4ien* Über-
legungen zu ergeben schienen. Wir wissen, daß die see-
lische Wurzel der Zukunftsstaatsidee diese jüdische reli-
giös6 Denkform des Messianismus in Marx war^ Bei
einem gewaltigen Teil unseres Volkes fungierte diese
ihrer Herkunft nach selbst religiöse Zukunftsstaatsidee
ganz ohne Zweifel als Surrogat einer positiven Religion.
Der sogenannte ,Zukunftsstaat' stand im Bewußtsein der
Menschen eben da, wo Gott zu stehen hat, und seine selige
Anschauung im Leben der Ewigkeit. Kein Wunder auch!
Iph halte es für einen genau beweisbaren Satz der Reli-
gionsphilosophie und -Psychologie, daß das endliche Be-
wußtsein nicht die Wahl hat, an etwas zu glauben oder
' Siehe hierzu auch die treffenden Ausführungen von J. Plenge in seinem
Buche ,Marx und Hegel'.
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igS Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
an etwas nicht zu glauben. Jeder Mensch, der sich und
andere genau prüft, wird finden, daß er sich mit einem
bestimmten Gute oder einer Güterart so identifiziert, daß
sein persönliches Verhältnis zu diesem Gute in die Worte
faßbar ist: ,Ohne dich, an das ich glaube, kann ich nicht
sein, will ich nicht sein, soll ich nicht sein/ — ,Wir beide,
ich und du Gut, wir stehen und fallen zusammen/ Dieses
Gut wechselt freilich für die Individuen und Völker, Klas-
sen usw. in seinem Inhalt unendlich. Den Mammons-
dienem ist es das Geld, den absoluten Staatsgötzen-
dienern der Staat, demjenigen, der die Nation zum ,höch-
sten Gute' macht, ist es die Nation. Dem Kinde ist es
vielleicht seine Puppe. Also der Mensch glaubt ent-
weder an Gott, oder er glaubt an einen Götzen.
Kein Drittes! Daraus aber folgt: Wird ein Mensch an
seinem Götzen irre, wird er über die Stelle, die er ihm
einräumte im System seiner Güter, wird er in dem, was
er in ungeordneter Weise liebte, hoffte, glaubte, ent-
täuscht, so sollten alle, alle um ihn herum voll Liebe,
voll Ehrfurcht, voll Ergriffenheit auf diesen Menschen hin-
schauen. In ihm kann sich jetzt Großes begeben : er kann
reif werden für den Glauben an den wahren Gott. Unsere
Vernunft und unser Herz haben einen natürlichen Hang und
Sinn nach Ihm. Sind nur die Götzen zerschmettert und ent-
stehen Leeren da, wo jeder Mensch immer voll ist und
voll sein muß, so neigt die Seele von selbst zu Gott
zurückzukehren, und sie wird zurückkehren, wenn sie nicht
durch neue Götzen vorzeitig abgelenkt wird. Also ist jetzt,
nachdem dieses Idol großer Massen zerschmettert ist, für
uns Unendliches zu tun. Sehen wir darauf, daß an den
Abgrund unzähliger leerer Stellen der öl a übe trete;
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Die clirisüiche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. 199
und wir werden viel dazu beitragen, daß unser Volk über-
haupt wieder zum rechten Glauben zurückkehre.
Zweitens — und das ist mit dem ersten inniger ver-
bunden, als man denkt — wirken wir dahin, daß aus der
Arbeiterklasse ein Stand werde. Stand ist etwas Stehen-
des, etwas, worin der Mensch sich genügt, was der Mensch
nicht gleich frei wählt wie einen ,Beruf , sondern worin er
sich , gestellt' findet; Stand ist aber auch wahre Behei-
matung im Staate, Beheimatung im Bewußtsein fester,
abgegrenzter, sicherer, von keinem antastbarer Rechts-
befugnisse. Von der christlichen Gemeinschaftsidee ist der
Standesgedanke und eine bestimmte Rangordnung der
Stände — den Gütern und Aufgaben angemessen, mit
denen es die Stände zu tun haben — überhaupt unab-
trennbar. Dagegen die Zahl, die Art der Stände und ihr
Verhältnis zum Staate, die können historisch wechseln.
Sie wissen, daß zu den sog, drei Ständen: Geistlichkeit,
Adel, Bürgertum, seit der französischen Revolution ein so-
genannter vierter Stand hinzutrat. Heute wäre es ganz feJsch,
von auch niu- vier Ständen zu reden. Zum mindesten müßte
man auch von beginnenden, werdenden Ständen reden bei
den sogenannten Privatangestellten und den freien geisti-
gen Berufen, die längst stärker mit dem vierten Stand sym-
pathisieren als mit dem bürgerlichen Unternehmertum.
Doch darauf will ich hier nicht eingehen und lieber sagen,
was den Standesgeist gegenüber dem Klassengeist charak-
terisiert. Standesgeist ist charakterisiert durch die Liebe
zum Werke, zu seiner Qualität als erstes Motiv der
Tätigkeit und Arbeit, zum Bruttoertrag des Werkes als
zweites, zum Nettogeldertage, d. h. zum Profit, erst als
drittes Motiv. Der bloße Klassengeist dagegen beginnt
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200 Die christliche Liebesidee und die g^en wältige Welt
mit dem rein quantitativen ausmUnzbaren Geldwert, und
alles andere ist nur unwillig übernommenes Mittd zu
diesem Zweck. Klassengeist ist mammonistischer Geist.
Im Stande findet das Arbeitsstreben und Erwerbsstreben
eine Grenze durch den ,standesmäßigen Lebensbedarf
der Familie. In der Klasse ist dieses Streben unbegrenzt
und findet erst durch die Konkurrenz ^ler mit allen die
Schranke der blol^n Gewalt. Im Stande vergleicht man
sich zwar mit Gliedern desselben Standes und sucht ihnen
vorzustreben. Aber man vergleicht sich und seinen Zu-
stand nicht fortwährend mit Gliedern anderer Stände,
ein Vergleichen, das wie von selbst zu ungeheuerem Haß
und Neid führt. Dagegen muß sich dort, wo es nur Klas-
sen gäbe und keinerlei Stände, jeder mit jedem fort-
während vergleichen, da hier nicht der Inhalt der Arbeit,
sondern immer erst das ,Mehr wie ein anderer* (Mehr-
sein, Mehrhaben) als positives Tätigkeitsmotiv empfunden
wird. Darum sind die Erscheinungen des Klassenhasses
und Klassenneides von einer vornehmlich klassenmäßig
aufgebauten Gesellschaft wesenhaft unabtrennbar. Und
sie sind es um so mehr, als die Klassenunterschiede, die
immer an erster Stelle Besitzunterschiede sind, bei der-
selben formalen staatsbürgerlichen Rechtsstellung der
Menschen immer mehr wachsen, was ja, Gott sei Dank,
im modernen Deutschland längst nicht mehr der Fall ist.
Eine solche Gesellschaft ist schon vermöge ihrer Struk-
turform — ganz abgesehen von den besonderen indivi-
duellen Charakteren — gleichsam mit Haß und Neid
geladen. Ein Stand hat weiter eine ,Ehre' und ein , Ge-
wissen', die Klasse nur ein Gesamt inte r esse. Die Klasse
hat nur die Rechte, die sie sich erkämpft, während sich
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\
Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt 20 1
die Rechte des Standes durch innere gegenseitige
Vereinbarung mit anderen Ständen und dem Staate
frei bilden. Nun, unsere derzeitige soziale Ordnung ist
noch eine merkwürdige Mischung von Ständen und Klas-
sen, aber inuner noch eine Ordnung mit bei weitem vor-
wiegender Klassenstruktur, andererseits freilich mit zwei-
fellosen Tendenzen behaftet, sich in neue Standesein-
heiten zu ordnen. Die christliche Gemeinschaftsidee
gebietet uns, diesen Prozeß überall zu fördern. Dieser
Prozeß kann nicht etwa durch ein bloßes Machen von
oben her seitens des Staates ersetzt werden. Er muß sein
ein Prozeß vor allem der freiwilligen Selbstorgani-
sation, der erst bei einer gewissen so gewonnenen Reife
der Standesgebilde auch zu einer bestimmten formalen
Rechtsstellung dieser Gebilde im Staate führen kann. —
Ich habe mit Absicht hier nicht zu unmittelbar praktisch
gesprochen. Ich habe dies unterlassen, weil mir heute
nichts wichtiger erscheint, als die ewigen Werte der
christlichen Gemeinschaftsidee mit den großen Richt-
linien der weltgeschichtlichen Entfaltung in Beziehung zu
setzen und sie so gleichsam lebendig und selbsttätig zu
machen.
Der Zeitpunkt eines neuen, bisher freilich mir ahnbaren
morgendlichen Geistes und Frühlings scheint nicht nur mir
gekommen zu sein für die Wiedergewinnung eines großen
Teiles der europäischen Welt für die chrisdiche Gen^ein-
sdiaftsidee. Tausend Zeichen künden diese Morgenröte an.
Vielleicht habe ich andernorts einmal Gelegenheit, von
diesen Zeichen zu sprechen und zu versuchen, sie zu deu-
ten. Aber eben diese Aufgabe, diese durch den göttlichen
Umkehrruf dieses Krieges an Europa sich ergebende neue
Digitized by VjOOQ IC
202 Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt.
Situation legt allen Christen auch doppeltheilige Ver-
pflichtungen auf.
Bisher hatten die chrisdichen Elemente Europas den
größten Teil ihrer Energie darauf zu verwenden, sich gegen
die brausenden Wogen der modernen Zivilisationen auf
allen »Gebieten nur zu erhalten, und die heilige Flamme
ihres Glaubens vor ihren wilden Stürmen zu behüten. Das
hatte eine Haltung und Stimmung zur Folge des vorsich-
tigen, ja ängstlichen Sichabschließens — einen gewissen
Ghettogeist, einen Geist, der der weiten, offenen, freien
Katholizität, der dem Seufzer des unendlichen Erbarmens,
d6r im geistigen Innern der chrisdichen Kirche stetig er-
tönt, nicht ganz entspricht. Es war eine durch die Not ge-
borene Lage. Nun aber sind die Grundfesteh, auf denen
diese säkulare, der chrisdichen Kirche fremdgewordene
moderne Zivilisation aufgebaut ist, in ein mehr als be-
denkliches Wanken gekommen — erschütternder, als es
je ihre Geschichte aufweist!
Die skeptische Erschütterung dieser Zivilisation an sich
selbst und ihren Glaubensideen beginnt zwar erst leise
sich zu regei>. Aber der Ruf nach Rettung wird immer
lauter und bittender werden. Ein neuer Büß- und Reue-
wille und schwere Enttäuschung an all dem, was sie einst
angebetet und dem sie anfänglich so sieghaften Mutes
folgte, keimt jetzt schon in ihrem Herzen. Dieser Keim
wird nach dem Kriege, wenn die Völker erst langsam ge-
wahren werden, was sie getan haben, ein machtvoller,
breiter, Europa durchflutender Strom werden, ein Strom
von Tränen. Reue aber allein ist der Weg zur Erneuerung,
der Weg zur Wiedergeburt nicht nur für den einzelnen,
sondern auch für die Gesamtheit.
Digitized by VjOOQ IC
Die christliche Liebesidee und die g^enwärtige Welt 203
In diesem Augenblick aber wird unendlich viel darauf
ankommen, daß auch die christliche Kirche jenen Hilferuf
erhorche und ihm folge, und daß all ihre Angehörigen an
der Hand einer neuen Verlebendigung ihres Glaubens und
ihrer Sitten, zuerst in ihrem eigenen Herzen, diese Herzen
groß, offen und weit aufmachen, um aus ihnen den leben-
digen, in der chrisdichen Kirche heimlich strömenden Glau-
bens- und Liebesstrom in eine Welt zu ergießen, die dieses
Glaubens und dieser Liebe bedarf — die nach ihnen zu
verlangen beginnt — ja sie verlangt wie nie zuvor.
Digitized by VjOOQ IC
Vom kulturellen Wiederaufbau Europas *
I.
In einer jüngst erschienenen Arbeit* hatte ich die Wogen
des Hasses, die gegen das deutsche Volk andrängen, auf ihre
vielseitigen Quellen zurückverfolgt. Ich hatte am Schlüsse
dieser Arbeit die sittliche Haltung geschildert, die mir
gegen diesen Haß fast einer ganzen Welt angemessen
schien. Es soll in Anknüpfung an das dort Gefundene
hier die Frage sein: Wie ist die bis in ihre letzten Grund-
lagen erschütterte geistig-sittliche Kultur Europas — die
im Winde flattert gleich einer zerschlissenen Fahne über
Leichenfeldem — wieder aufzubauen? Welcher Geist,
welche Gesinnung muß die Menschen dazu erfüllen?
Welche Bildungswerte und Bildungskeime sind — aus-
gerichtet auf dieses hohe Ziel — zu fordern, welche zu
verurteilen imd zu bekämpfen? Welche Art von Erziehung,
Lehre, Bildung muß die künftige Generation erhalten, da-
mit solcher Wiederaufbau möglich sei? Was für ein in-
* Die nachfolgenden Gedanken sind zuerst vom Verfasser in Form eines
Vortrages im Herbst 191 7 an der Urania in Wien ausgesprochen worden.
Obgleich die Einleitung des Aufsatzes, die für die damalige politische Situa-
tion eine Richtung der Lösung zeigen sollte, heute ihren aktuellen Sinn ver-
loren hat, ist sie von mir gleichwohl nicht gestrichen worden. Denn es darf
der Folgezeit auch nicht der kleinste Beweis dafür entzogen werden, dafi
>man« auch schon zu diesem Zeitpunkt sehen konnte, wohin eine ver-
derbliche Politik der deutschen Regierung und die Mentalität des deutschen
Volkes das Reich steuern mußte.
' »Über« die Ursachen des Deutschenhasses«, Leipzig 1917.
Digitized by VjOOQ IC
Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 205
haltliches Bildungsideal und was für ein Leitbild persön-
lichen Menschentums an den Spitzen der Volkstümer,
Staaten, Kulturorganisationen aller Art, — sei es als
Staatsmann, Lehrer, Erzieher, Offizier, Priester, Bürger
— müssen unserer Seele vorschweben, soll die zunächst
fast aussichtslose Riesenaufgabe irgendwie gelingen?
Ich beschränke mich hier auf den kulturell-geistigen
Wiederaufbau, im Gegensatz zum politischen, recht-
lichen, wirtschaftlichen. — Aber wir müssen uns bewußt
sein, daß auch dieser kulturelle Wiederaufbau nur ein Gl i e d
sein kann des ganzen und allseitigen Wiederaufbaues, und
daß er an erster Stelle vom politisch-rechtlichen — im ge-
ringeren Maße auch vom wirtschaftlichen — mitbedingt ist.
Ein wahrhaft positiver Geist darf — auch wenn er den
in die Weltacht erklärten Mittelmächten angehört — die
große Tatsache nicht übersehen, daß die Teile der uns
jetzt feindlichen Welt im Verlaufe des jetzt dreijährigen
Krieges in einem Maße geeinigt wurden, wie es durch ein
ganzes Jahrhundert des Friedens kaum möglich gewesen
wäre; und dies nicht zum wenigsten auch in kultureller
Richtung. Daß die Kraft dieser Einigung zuerst nur ge-
meinsamer Haß, gemeinsamer Kampf aller Art gegen die
Deutschen war, ist furchtbar zwar für ims, hebt aber die
große Tatsache selbst nicht auf. Die Einigung selbst, die
mannigfachen Formen, die sie annahm, können und wer-
den diese für uns furchtbare, aber vergängliche Ursache
überdauern. Indem die Teile der Erdkugel nicht wirr unter-
einander kämpfen, sondern ihre Speere gemeinsam richten
auf unser Herz allein — auf das Herz von Ländern, die
auf dem Globus mikroskopisch genug aussehen — , ist das
Problem der werdenden Einheit der Weltkultur und ins-
Digitized by VjOOQ IC
206 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
besondere des europäischen Geisteszusammenhangs so-
zusagen gewaltig vereinfacht worden. Nur noch der
große Schritt — das »nur« gestattet der Maßstab^ nach
dem ich jetzt hier die Dinge betrachte — zu uns Deutschen
hinüber ist nötig, nur noch eine einzige große Versöhnung
und die Welt würde einiger sein, als sie je zuvor gewesen.
Ob dieser Schritt vollzogen wird oder nicht, ob dieser
große Schritt erfolgt oder nicht, hängt von unseren Fein-
jien wie auch von uns ab. Aber nur uns selbst können wir
zunächst beraten und Vorschriften erteilen, und darum sei
hier auch nur von uns die Rede. —
Einheitsbildungen und Wege der Geistesströmungen,
die wir Kultur nennen, folgen gewiß nicht eindeutig der
Bahn der Staatenbildungen und der Politik. Sie gehen oft
getrennte, oft sogar entgegengesetzte Wege — so wie
z. B. Rom geistig gräzisiert wurde, indem es Griechenland
eroberte. Aber so wahr dies ist: Es gibt — in der gegen-
wärtigen Lage — das Problem des politisch-rechdichen
Rahmens, von dem auch ein kultureller Aufbau Europas
unmittelbar abhängig ist. Dieser bloße Rahmen genügt
keineswegs^ zum kulturellen Wiederaufbau, aber er ist
doch eine Bedingung daflir und eine unumgängliche.
Die Artung des politisch-rechdichen Friedensschlusses
dieses Krieges wird auch das Schicksal des kulturellen
Wiederaufbaues Europas mitentscheiden; d.h. entschei-
den, ob Europa fiirderhin nur mehr sein wird ein gep-
graphischer Name in sich zerrissener, eifersüchtiger Völ-
kerschaften oder eine mächtige geistige Einheitspotenz,
welche, wie sie bisher die Welt leitete, der Welt auch
fernerhin noch etwas Bedeutendes zu geben hat. Über
Art, Inhalt des Gesamtfriedensschlusses wissen wir noch
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. S07
nichts Sicheres. Vieles liegt noch in uferlosem Nebel. Daß
wir mit Rußland zu einem Waffenstillstand kamen, und
daß wir zuerst mit Rußland in Friedensverhandlungen ein-
traten, entspricht ganz dem Wunsche und der Hoffnung,
die ich schon bei Beginn des Krieges geäußert habe, und
entspricht noch mehr dem Zusammenhang von Postulaten
für einen kulturellen Wiederaufbau Europas, die ich heute
Ihnen übermitteln will. Vor allem aber möchte ich meiner
Überzeugung Ausdruck geben, daß der Geist der Note
des österreichischen Kaisers an den Papst und die bedeut-
same interpretierende Rede des Grafen Czemin in Buda-
pest im allgemeinen mir eben diejenige politische und
rechtliche Grundgesinnung ziemlich genau auszudrücken
scheinen, die solche Einigung und solchen Wiederaufbau
nicht direkt ausschließen, sondern — bei Vorhandensein
sonstiger Voraussetzungen -^ ihn ermöglichen. Nur ein
paar Bemerkungen seien mir noch erlaubt zu diesem
Vordergrundproblem im ganzen der hier uns beschäf-
tigenden Frage. Es betrifft diejenige politisch-rechtliche
Form und Gliederung Europas, die nach meiner Meinung
das Minimum an Bedingungen zu einem kulturellen Wieder-
aufbau Europas darstellen.
Ich gestehe aufrichtig, daß ich ebensowohl weniger
als mehr »Pazifist« bin, als es dem jüngsten sogenannten
Regierungspazifismus der Mittelmächte — in seinen ja
auch hinsichtlich Deutschland und Österreich recht sehr
verschiedenen Färbungen — entspricht, kh bin es weni-
ger, da mir das Wort »Weltabrüstung« — auch als noch
so fernes, aber historisch absehbares Ziel — zu viel ge-
sagt und mit ihm zu viel verlangt erscheint, und es mir
richtiger erschiene, dafür gegenseitige »systematische
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208 Vom kulturellen Wiederaofbao Europas.
Abrüstung innerhalb aller der europäischen Geisteszone
angehörigen Völker und Staaten« — und Abrüstung nur
nach dem Maße und der Nähe dieser Angehörigkeit — zu
setzen. Und ich bin oder glaube mich mehr »Pazifist«, da
ich den wahren und allein chrisdichen Pazifismus ernster,
friedfertiger Gesinnung noch deutlicher und schärfer
möchte unterschieden und abgehoben sehen von dem Pa-
zifismus bloßen Notstandes und der begreiflichen Furcht
vor völlig unerträglichen Rüstungskosten nach dem Kriege.
Nur jenen ersten Pazifismus friedfertiger Gesinnung kann
ich aber als denjenigen ansehen, der innerhalb der Spann-
weite europäischen Wesens und Geistes als notwendige
Atmosphäre jedes kulturellen Wiederaufbaues allein in
Frage kommen kann. Entschlagen wir uns der Phrase des
utopistischen Pazifismus vom > letzten Krieg « , einer Phrase,
die ohne Ehrfurcht ist vor der Weltgeschichte und vor
der Fülle ihrer Möglichkeiten. Wissen wir denn Bescheid,
was an kriegerischen Gegensätzen noch liegen mag im ost-
asiatischen, von Japan gefiihrten Expansionsdrang gegen-
über der europäischen Kulturzone und gegen Amerika?
Das wissen wir nicht. Für Japan z. B. existiert jener
gewaltige Notstand gar nicht, der vom Grafen Czemin^
für die Weltabrüstung so lebhaft geltend gemacht wurde.
Auch die inneren Kräfte, welche die Einheit der euro-
päischen Völkerfamilie ausmachen und eben darum zuerst
innerhalb ihrer einen wahren Geist friedfertiger Gesin-
nung fordern, in dessen Umhegung allein alle kulturelle
Kooperation gedeihen kann, existieren nicht für dieses uns
. an Ethos, Geist, Sitte so grundfeme ostasiatische Volk.
Je mehr wir uns aber bescheiden der Phrase vom »letzten
Krieg« entschlagen, desto unbescheidener, desto drängen-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 209
der sollen wir innerhalb der europäischen Kulturzone etwas
ganz anderes fordern als bloße Notabrüstung, nämlich den
positiven, chrisdichen Geist wahrer und ernster Versöhn-
lichkeit und den Aufbau der ihm entsprechenden Rechts-
institute. Nie und nirgends stiften bloße Rechtsverträge
allein wahre Gemeinschaft; sie drücken sie höchstens aus.
Friedfertiger Geist, Treue, Verständnis, geistig- kulturelle
Nähe, Rechtssinn muß die Verträge baden und umwärmen
- — sollen sie mehr sein als rebus sie stantibus erfolgende
Formulierungen gegenseitiger Machtverhältnisse und ge-
schäftlicher Vorteile und Nachteile. Und noch in einem
dritten Punkte möchte ich einer gewissen Abweichung
von der Rede des Herrn Grafen Czemin Ausdruck geben.
Die Forderung nach einer Abrüstung innerhalb der euro-
päischen Staatenwelt darf nicht in hypothetischer Form
und nur bezogen auf die jeweilige wechselnde Kriegslage
gestellt werden, sondern muß es in absoluter Form.
Diese Kriegslage hat sich schon jetzt ^ wieder gegenüber
Rußland und Italien so weitgehend, geändert, daß eine
Auffassung, die jene Rede nur unter der Bedingung der
»damaligen Kriegslage« gelten ließe, mit der Vernichtung
ihres ganzen Sinnes identisch wäre. Schon der Sinn der
Forderung einer dauernden europäischen Friedensord-
nung — in der ich von Anfang des Krieges an den wahren
Sinn des Krieges erblickte^ — verträgt solch hypothe-
tische Abschwächung nicht. Keine Zeit der Geschichte ist
mir erinnerlich, die leichter geneigt war, die Not zur
Tugend emporzulügen, wie die Zeit dieses Krieges. Und
* Diese Worte wurden gesprochen unmittelbar nach der siegreichen Offen-
sive der Mittelmächte gegen Italien.
' Siehe »Genius des Krieges«, Kap. »Die geistige Einheit Europas«.
14
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2 1 0 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
also gibt es heute z. B. einen starken Notsozialismus und
Notstaatssozialismus, von dem Viele Wunder nach dem
Kriege, ja ein ganz neues Zeitalter der Menschheit er-
hofften. Und ganz analog gibt es auch den bloßen Not-
pazifismus, der nicht minder verschieden ist vom Geiste
wahrer Friedfertigkeit als jener Sozialismus der Armut und
Steu^echnik vom Geiste wahrer Solidarität. >Not« kann
aber immer nur auslösen, nicht schaffen; Ideen auswählen,
die immer noch überdies in sich selbst wahr und recht
sein müssen. Es ist eben der Gei^t, der sicji auch hier den
Körper und die Rechtsorganisation baut. Wie ein galizi-
scher Jude, der lo Kronen den Tag verdient, einen ebenso
starken kapitalistischen Geist besitzen kann als ein Berliner
Bankier, der looo Mark verdient, so können Staaten mit
proportional noch so kleinen Heeren genau so unfried-
fertig sein wie Staaten mit beliebig grofSen Heeren, be-
sonders wenn nur die wirtschafdiche und finanzielle Not-
lage der Völker die Heere verkleinerte. Es scheint mir
drei Zeichen zu geben, die bezüglich der Frage des Frie-
densschlusses den europäischen und christlichen Pazifismus
der Friedfertigkeit von dem Pazifismus des Notstandes und
der Nützlichkeitslehre unterschieden: i. Die Anerken-
nung, daß die rechtliche Neuordnung Europas die erste
Friedensfrage ist oder sein soll für jede Kriegspartei, und
daß erst in dem schon gewonnenen und festgestellten
Rahmen dieser Ordnung die staatlichen partikularen In-
teressenfragen der Kriegsparteien gegenseitig ms Spiel
treten sollen und dürfen. 2. der Verzicht auf sogenannte
,Sicherungen* und ,reale Garantien* — ein Punkt, in dem
leider zwischen dem Inhalt der österreichischen und deut-
schen Regierung eine nicht zu verschleiernde Kluft sich
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 1 1
auftat. 3. Die Auffassung, daß die völkerrechtliche Neu-
ordnung Europas selber es sein müsse, die den positiven
Friedensschluß und seine Art aus sich selbst hervorgehen
lassen müsse, nicht aber ein Friedensschluß, der nur nach
dem Prinzip des Machtausgleichs und des sogenannten
Machtgleichgewichts zustande käme, hervorgehen lasse
aus sich erst hinterher, als Ornament gleichsam — eine
rechdiche europäische Neuordnung. Nur Weltverhältnisse,
die aus der Kraft und Hoheit der Rechtsidee selber ge-
boren sind, nicht Verhältnisse, die nur durch das Schwert
gegebene Machtbezi^hungen rechtlich formulieren, ver-
sprechen Dauer und versprechen jene Geistesluft, in der
ein kultureller Wiederaufbau allein möglich ist.
Würde diesen Grundsätzen Gehorsam geleistet, so wäre
die fernere politische Minimalbedingung eines kulturellen
Wiederaufbaues, daß drei weiteren Forderungen Genüge
geschähe, die ich hier nur kurz bezeichnen kann. i. Es
muß ein Zustand vermieden werden, der zu dauernden
und die ganzen Völker (nicht nur je einzelne Interessen-
kreise innerhalb der Völker) erfüllenden Rache- und Re-
vancheleidenschaften Anlaß gäbe; dies besonders gegen-
über Frankreich und Rußland, wo die Versuchung zu
gewaltsamen Annexionen am größten ist. 2. Es muß eine
Politikmethodik endgültig beseitigt werden, deren Wesen
darin bestand, daß solche Interessengegensätze der euro-
päischen Staaten und Völker, die außerhalb Europas ge-
legene Siedlungszonen, Absatzmärkte, Kolonialfragen be-
treffen, nicht nur Rückwirksamkeit auf die innereuropäische
gegenseitige Staaten- und Bündnispolitik äußern (dies läßt
sich schwer vermeiden), wohl aber grundlegend bildend
und gestaltend auf sie wirken. Oder positiv gewendet: In
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212 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
Fragen außereuropäischer Interessen müssen die außer-
europäischen Staaten solidarisch, d. h. nach dem Prinzip
mitverantwortlicher Gegenseitigkeit und einheitlich han-
deln lernen. Soweit als möglich mit England — auf alle
Fälle aber die kontinentalen Staaten untereinander. 3. Es
muß endlich — ganz allgemein gesagt — eine Zerlegung
der Aufgaben und Zwecke, die bisher den ungeheuren
in diesem Kriege' gegeneinander stehenden staatlichen
Machtriesen zufielen, auf eine Mehrheit von Körper-
schaften nichtstaatlicher (teils unterstaatlicher', teils über-
staatlicher und zwischenstaatlicher) Art erfolgen; und es
muß überall (in England, Rußland, Frankreich, Italien,
Mittelmächte) gleichzeitig eine gewisse Lösung jener
anormal zentralisierten Macht-, Kultur- und Wirtschafts-
riesenzentren, eine gewisse Auflockerung und Dezen-
tralisation in ihre mannigfach gegliederte Untereinheiten
(Nationen, Völker, Stämme, Gliedstaaten, Kolonien) ein-
treten, die so geartet sein muß, daß sie den zentralen
Spitzen im wesentlichen nur technisch-geschäftliche,
also höchst nüchterne organisatorische Aufgaben über-
läßt, ihre Machtromantik beseitigt und ihnen den kultur-
gestaltenden Anspruch dauernd abnimmt. Es sei mir er-
laubt, das Gemeinte als Tendenz zu gesteigertem »Fö-
deralismus« und national-kultureller Selbstverwaltung
zu bezeichnen.
XDhne die Erfüllung dieser Minimalforderungen kann
ich mir, einen kulturellen Wiederaufbau Europas nicht
ernsthaft vorstellen. Was die erste Bedingung betrifft,
so stehen hier zurzeit im Mittelpunkte die große, ja ent-
scheidende Frage von Elsaß -Lothringen und (in etwas
geringerem Maße) die Frage, ob wir der starken, durch
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 1 3
die englische Politik genährten Vefsuchung folgen dürfen,
uns im Osten, also besonders gegenüber Rußland, durdi
Annexionen fiir das zu entschädigen, was wir im Westen
nicht erreichen können oder wollen. Es ist hier nicht meine
Aufgabe, und es ist auch nicht an der Zeit, positive Vor-
schläge bezüglich des Elsaß zu* machen. Ich sage nur das
eine, daß in der Behandlung dieser Frage jede Art von
politischem Mystizismus unbedingt vermieden werden
muß. Ich verstehe unter politischem Mystizismus eine
Auffassung, sei es von deutscher, sei es von französischer
Seite, die dieses Ländchen nicht, wie es allein geboten ist,
zur Herstellung einer europäischen dauernden Friedens-
ordnung nach den realen Werten (ökonomischen, militä-
rischen usw.), die sein Besitz darstellt, in Rechnung bringen
will, und zwar als ein Glied im Zusammenhang aller an-
deren Territorial- und Interessenfragen; eine Auffassung,
die vielmehr dieses Ländchen mystifiziert, zu einem Fetisch
macht, zu einem Gegenstand der Vergaffung, zu einer Art
Fahne, um deren Besitz man nicht um ihres realen Wertes
als Stück Tuch, sondern als »Symbol und Schild« — um
mich des solchen Mystizismus kennzeichnenden Wortes
des Herrn von Kühlmann zu bedienen — bis zum letzten
Atemzug aller Europäer zu kämpfen habe; zu einer Sache
zugleich, die man vollständig herausreißt aus allen son-
stigen Objekten möglicher Verhandlung und Verständigung
und so isoliert, kurz zu einer nicht relativen, sondern abso-
luten Sache. An diesem politischen Mystizismus bezüglich
des Elsaß litt schon vor dem Kriege Gesamteuropa; und es
ist endlich Zeit, ihn als Methode ad acta zu legen. So wenig
von einem Angebot einer ganzen oder auch nur teilweisen
Abtretung von Elsaß-Lothringen an Frankreich emstliaft
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214 ^^^^ kulturellen Wiederaufbau Europas.
die Rede sein kann; Hat doch auch dieses Objekt einen
Gegenstand der Verhandlung, und zwar einer direkten
Verhandlung mit Frankreich, — nicht einer primären Ver-
handlung mit England — zu bilden; schon deshalb, weil
jede Verhandlung mit England, ganz so wie es England
wünscht, Frankreich hoch viel rettungsloser an England
ketten würde, als es schon gekettet ist. Verhandlung und
etwaige Verständigung bedeuten ja weder schon Abtre-
tung, noch setzen sie irgendwie voraus, daß unser deut-
sches Bewußtsein, Elsaß-Lothringen im Kriege von 1870
rechtmäßig zurückerworben zu haben, irgendwie unklar
oder gemindert sei. Verhandlung könnte auch zu teil-
weisem Austausch führen und zu vielen anderen Modis
der Festse^tzung. Starrt ein ob seines krankhaften Ehr-
geizes berüchtigtes Volk 40 Jahre auf ein Stückchen Land,
das es sich entrissen wähnt, so ist flir die Gegenpartei eine
günstigere seelische Situation, "als mit diesem Volke einen
besonders guten Tausch zu machen, d. h. einen Tausch, bei
dem diesem Volke die Wunde seines verletzten Ehrgeizes,
der Gegenpartei aber erhebliche reale Werte zufallen,
eigentlich nicht denkbar. Sowohl dieser gefährliche Mysti-
zismus bezüglich des Elsaß, als die oft damit verbundenen
gewaltsamen Annexionsgelüste im Osten erscheinen mir
als Bestandteile einer Politik, die inmier noch nicht be-
greift, daß England — nicht aus bösem Willen, sondern
aus seiner gesamten geschichdich- geographischen Welt-
position heraus — der Feind aller kontinentalen Soli-
darität im Politischen wie Kulturellen sein muß oder
doch so lange sein muß, als es nicht durch eine äußere
Kraft gezwungen ist, sich als Glied Europas, nicht
aber — wie bisher — als seinen Herrn und Richter zu
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 1 5
fühlen. Soll ein Verständigungsfriede — der einzig mög-
liche für jeden, der auf eine kulturelle Einheit Europas
nicht ganz verzichten und nicht den dauernden Hunger-
frieden neuer Rüstungen und dauernder Rohstoffebsper-
rung der Mittelmächte will — kommen, so müssen wir
daher auch bezüglich des Elsaß zu irgendeiner Art Ver-
ständigung mit Frankreich kommen, wie schwer dies auch
jetzt noch scheint. Und diese Verständigung muß — schon
um der zweiten Forderung willen, der europäischen Soli-
darität in außereuropäischen Angelegenheiten, — an erster
Stelle zwischen den Kontinentalen selber und erst in
zweiter Linie und nur womöglich mit England erfolgen. Auch
zwanghafte Annexionen im Osten würden einen Revanche-
gedanken schaffen, der jeden kulturellen Aufbau vereitelte,
würden Rußland dauernd an England ketten. — Die dritte
Forderung endlich als politische Vorbedingung eines kul-
turellen Wiederaufbaues, die Auflockerung der staatlichen
Machtriesen — ist in Rußland bereits zum größten Teil
erfüllt; sie drängt in der Neugeburt Österreichs immer
stärker nach Erfüllung: sie wird auch für das englische
Weltreich nach dem Kriege mit grofSer Wahrscheinlich-
keit im Sinne einer gesteigerten politischen Selbstver-
waltung der Kolonien und Irlands erfolgen. Würde damit
der Auf^ndruck auf Mitteleuropa und speziell auch auf
das Deutsche Reich auf alle Fälle geringer, so könnte und
sollte auch der Gegendruck geringer werden, — der
furchtbare Gegendruck, der zur staatlich -nülitärischen
ÜberZentralisation des Deutschen Reiches unter der Vor-
herrschaft Preußens geführt hat und bei der älteren Lage
notwendig war. Preußen kann zwar vermöge seines wirt-
schaftlichen und finanziellen Gesamtgewichts innerhalb
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2 1 6 Vom kulturdien Wiederaufbau Europas.
Deutschlands niemals ein einfathes Glied des Deutschen
Reiches werden, sofern dieses Reich ira gleichen Verhält-
nis zu einem zentralistischen Österreich im älteren Sinne
stehend gedacht wird, in dem es si^h vor dem Kriege be-
fand. Wohl aber könnte Preußen in einem mitteleuropä-
ischen Ganzen, das als Ganzes wirtschaftlich stärker ge-
eint ist als bisher, das aber in seiner inneren Konstitution
sich politisch und erst recht kulturell aufgelockert hat,
wahrhaftes Glied werden — und es könnte dies werden,
ohne seinen spezifischen, so wertvollen Preußengeist in
dem Maße aufgeben zu müssen, wie dies unbedingt not-
wendig wäre, wenn es auch weiterhin der bloße Herr
Deutschlands bleiben wollte. Denn dann müßte es seinem
Geiste und seinen Institutionen nach ein verkleinertes Reich
werden, d. h. das Umgekehrte von dem, was Treitschke
meinte und wollte, wenn er das Reich ein verlängertes
Preußen nannte. Beides aber ist gleich vom Übel. Eine
die Reichszustände mehr oder weniger nachahmende so-
genannte »Demokratisierung« Preußens wäre ebenso be-
dauernswert wie die der Treitschkeschen Formel ent-
sprechenden Zustände! —
Der^ zum mindesten kontinental-europäische Solidan-
tätsgedanke als Grundartikel der Politik jedes europä-
ißchen Staates'und die entschiedene Verwerfung der bis-
her alle innereuropäische Politik leitenden Formel salus
publica suprema lex für das Verhalten der europäischen
Staaten untereinander, hat heute aber noch eine ganz
neue Rechtfertigung gefunden dadurch, daß mit dem Be-
ginn der deutschen Offensive vom Juli 191 8 die Stellung
^ Das folgende Stück bis zum Ende der Einleitung ist im August 19 18
geschrieben.
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Vom kultarellen Wiederaufbau Europas. 2 I 7
Amerikas innerhalb der Entente eine grundsätzlich an-
dere geworden ist. Die Veränderung ist am einfachsten
durch den Satz bezeichnet, daß der Hauptsitz und die lei-
tende Hauptenergie des gegen die Mittelmächte geeinigten
Kriegswillens deutlich und überall spürbar von Frank-
reich imd selbst von England nach Amerika gewandert
ist; und dies in einem Maße und einer Schnelligkeit,
daß gegenwärtig nicht nur Frankreich,^sondem selbst
England unter dem Druck des amerikanischen Kriegs-
willens diesen Krieg weiterzuführen auch dann sich ge-
nötigt ' fänden, wenn ihnen ihre besonderen Interessen
geböten, den Krieg zu beendigen und Friedensverhand-
lungen anzubahnen. Die Empfindung dieses Druckes in
Frankreich und England ist bereits sehr rege, und die
Furcht Englands, durch die eventuelle »Rettung« seiner
Sache durch die Vereinigten Staaten in dauernde Ab-
hängigkeit von Amerika zu geraten, kämpft bereits
mächtig mit dem Wunsche, die Mittdmächte durch das
Eingreifen der frischen, noch unverbrauchten Riesen-
kräfte besiegt zu sehen. Die Bedeutung des amerikani-
schen Eingreifens in die Sache des europäischen Krieges
ist bis vor kurzem ebensowohl durch die führenden Per-
sönlichkeiten der Mittelmächte als durch die führenden
Personen der Ententestaaten in einer fast »ruchlos« zu
nennenden Weise unterschätzt worden. Innerhalb der Mit-
telmächte hat mar) — als man das kindische Argument
preisgab, die Rüstungen Amerikas als vorzüglich gegen
Japan gerichtet anzusehen — die amerikanische Seelen-
lage tiefgdiend verkannt. Man suchte noch nach Interessen
einzelner amerikanischer Industrie- und Finanzkreise als
Motor des amerikanischen Kriegswillens, nachdem längst
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2 1 8 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
eine im wesentlichen ideell und politisch orientierte
»Kreuzzug «Stimmung die amerikanischen Massen ergrif-
fen hatte, die es fast zum Kennzeichen jedes »anständigen
Menschen« macht, 'den Krieg gegen Deutschland als dem
vermeintlichen »Feind der Menschheit« zu fördern. In den
Tatsachen unfundierte Erwartungen, daß Amerika /nicht
emsdich gewillt sei, seine volle Kraft für den Krieg ein-
zusetzen, daß der Unterseebootkrieg die amerikanische
Truppenbeförderung ganz oder zum größten Teile unter-
binden werde, daß die amerikanischen Heere in Europa
nicht genügend ernährt werden könnten, — '- ja selbst so
leichtfertige Redewendungen wie, es sei die amerikanische
Kriegserklärung »von Vorteil« für die Mittelmächte, da
sie diese beim Friedensschluß der Rücksichtnahme auf
Amerika und die Vorschläge Wilsons über den Völker-
bund enthebe — , verkleinerten die amerikanische Gefahr
in einer Weise, d^ fast an gewollte Selbstillusioijie-
rung streift. Eine auf die amerikanische Seele gerichtete
moralische Offensive, die sich sehr wirksam erwiesen hätte,
wurde von Beginn der amerikanischen Munitionslieferungen
an zum wenigstens nicht richtig unternommen. Denn nicht
in diesen Lieferungen an sich — zu ihnen hatte Amerika
ein völkerrechtliches Recht — lag das Widermoralische
des amerikanischen Vorgehens, sondern darin, daß es
grofJe Teile seiner Industrie auf Munitionsproduktion weit
über das Prinzip größten Erwerbs und größter Ökonomie
hinaus umgestellt hatte — ein Verhalten, das auch in
weiten Kreisen Amerikas selbst wie Verletzung der Neutra-
lität und als »unmoralisch« herben Tadel gefunden hatte.
Ebensowenig aber als die Mittelmächte hatten die Entente-
staaten das weltgeschichdiche Novum des Erscheinens
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 1 9
amerikanischer Heere auf europäischem Boden zur Lösung
innereuropäischer Konflikte mit rechtem Augenmaße an-
gesehen und die welthistorischen Folgen dieses Vorgehens
schon als Exempel und Präzedenzfall begriffen. Sie sehen
flicht, daß das Prinzip »Amerika für- Amerika«, das die
gewaltsame Einmischung in Händel des amerikanischen
Kontinents seitens europäischer Staaten verwirft und das
einerprinzipiellen Defensivstellung Amerikas gegenEuropa
als der als leitend geltenden Potenz der Welt entsprach,
die viel tiefer und im Gang aller bisherigen Geschichte
gegründete Gegenforderung, »Europa für Europa« nun
als Antwort erheischt hätte. Sie sahen nicht das Maß von
Abhängigkeit, in das sie von Amerika nach allen Rich-
tungen geraten mußten, wenn wirklich Amerika es wäre,
das in diesem Kriege die Entscheidung herbeiführte —
undilann wohl auch mit guten Gründen das Recht eines
obersten Richters in allen europäischen Fragen qicht nur
beim Friedensschluß, sondern auch für die Folgezeit be-
anspruchen könnte.
Es scheint mir an der Zeit — ja es scheint mir die ein-
zige Rettung Europas, daßxliese tiefen Irrtümer und
Illusionen auf den beiden Seiten der Kriegsparteien ein-
gesehen, offen zugestanden und abgelegt würden — und
daß auf diesem gemeinsamen Fundamente der Einsicht in
diesen Irrtum eine neue Orientierung bezüglich der sog.
Kriegsziele stattfände — und zwar auf beiden Seiten, auf
der Seite der Mittelmächte und der Entente. Bisher gab
es in diesem Kriege kein Faktimi, das in einer entfernt
ähnlichen Weise eine Umstellung der Kriegszielpolitik auf
beiden Seiten erfordert hätte, wie es die Art und Weise
des Eingreifens Amerikas ohne Zweifel tut. Selbst der
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2 20 Vom kultur^len Wiederaufbau Europas.
Zusammenbruch des Zarismus und die russische Revo-
lution konnte keine gemeinsame Umstellung der Kriegs-
ziele bewirken, schon aus dem Grunde, da sie einseitig
-Ar Sache der Mittelmächte zuhilfe kam.
Jetzt erst ist ein Faktum gegeben, das den Gedanken
einer Solidarität im Handeln der europäischen Staaten
gegenüber außereuropäischen Fragen von der Stufe und
dem Werte eines idealpolitischen Prinzips in die Stufe
und den Wert einer realpolitischen Notwendigkeit er-
hebt.
Die neue Lage, die durch den Übergang des gegen
die Mittelmächte führenden Kriegswillens auf die Ver-
einigten Staaten entstanden ist, muß und kann — ohne
daß die Mittelmächte und die europäische Entente irgend-
welche Beschämung vermeintlicher > Inkonsequenz « wegen
zu furchten hätten — eine neue Revision der Kriegsziele
auf beiden Seiten einleiten.
Es duldet keinen Zweifel, daß es in Frankreich wie
noch mehr in England erhebliche Volkskreise gibt, denen
der Gedanke, daß sie durch Amerika »gerettet« werden
könnten, ein furchtbarer Gedanke ist. Die Ausdehnung
und die Stärkung des Einflusses dieser Kreise auf ihre
Regierungen kann aber durch ein richtiges Vorgehen der
Mittelmächte unschwer erzielt werden.
Es würde dazu genügen, daß gleichzeitig mit einer
energischen moralischen Offensive in dieser Richtung die
hauptsächlichsten Hindemisse beseitigt würden, die bisher
der Entstehung eines ernsthaften Verhandlungswillen auf
Seiten Englands und Frankreichs entgegenstehen.
Das erste dieser Hindemisse ist das bisher unüber.
windliche Mißtrauen in unsere Reichsleitung; das zweite
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 21
betrifft das Schicksal Belgiens, das dritte dasjenige von
Elsaß-Lothringen.
Was das erste betrifft, so muß ein Zustand aufhören,
in dem unsere Reichsleitung so offenkundig den Eindruck
einer nur intermediären Übergangserscheinung macht, wie
dies zuletzt der Fall gewesen. Dieser Eindruck — gestei-
gert durch die wesentlich innerpolitisch und auf den inne-
ren Frieden hin orientierte Person des gegenwärtigen
Kanzlers Grafen Hertling und durch das wenigstens nach
außen hin scheinbare Fehlen eines außerpolitischen Planes
bei der Spitze der Reichsleitung — nimmt den Erklärungen
der Reichsleitung das Gewicht, das sie beanspruchen müß-
ten, wenn es zu ernstem Verhandlungswillen kommen soll.
Man glaubt auf seiten der Entente, daß alle Erklärungen
mit einem Kabinett wieder verschwinden, das man für
ein solches des Überganges hält.
Auch darf man — über die Person der gegenwärtigen
Spitze der Reichsleitung hinaus — in starkem Zweifel
sein, ob ein »parlamentarischer« Kanzler, d. h. ein Kanzler,
der schon auf Grund der Art, wie er an die Spitze ge-
langte, dreiviertel seiner Energie der Befriedigung der
Parteien als seiner Mitauftraggeber zu widmen hat, die
rechte Person für die Aufgabe sein kann. Auch wer einer
Steigerung des Einflusses des Parlamentes auf die Führung
der Reichsgeschäfte — und einer dadurch erst möglichen
politischen Erziehung der Parteien zur gesteigerten politi-
schen Verantwortlichkeit — für die Zeit nach dem Kriege
für durchaus wünschenswert hält, kann ohne Widerspruch
mit sich selbst der Meinung sein, daß gegenwärtig — und
bei der derzeitigen seelischen Verfassung der Parteien —
ein parlamentarischer Kanzler nur schwer den Aufgaben
Digitized by VjOOQ IC
2 2 2 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
gewachsen sein kann, die ihm obliegen. Ein in — womög-
lich — hoher Würde stehender Mann, der vermöge seines
Verhaltens im Kriege bei den Ententestaaten erhebliches
Vertrauen besäße und der direkt vom Monarchen aus in
einer Form mit dem Reichskanzleramt betraut würde, das
ihn aller Welt als den Kanzler sichtig machte, der zur
endgültigen Führung der Friedensverhandlungen be-
stimmt ist, scheint uns — selbst wenn er dabei mit dik-
tatorischen Vollmachten ausgestattet würde — weit ge-
eigneter zu sein als ein parlamentarischer Kanzler. Hat
sich schon innerpolitisch — wie der Februarerlaß betr. das
Wahlrecht in Preußen zeigte — die Krone belehrbarer
durch die Zeichen der Zeit erwiesen als die Parteien, die
wenig nur gelernt und fast nichts vergessen haben (siehe
Wahlen während des Krieges!), warum sollte die Krone
nicht außenpolitisch ein gleichlautendes Zeugnis von sich
selbst ablegen?
Eine kurze, klare, eindeutige Erklärung über Belgien
— nicht mit schon wortetymologisch unglücklichen > Faust-
pfandtheorien« beschwert, die weder rechtlich noch mora-
lisch einwandsfrei sind — , eine Erklärung also, die ein
bewußtes Abrücken von unserer bisherigen Behandlung
dieser Frage auf Grund eines neu bekundeten Willens zur
Voranstellung des europäischen Gesichtspunktes gegen
Amerika offen in sich schlösse — wäre der erste Schritt,
der zu ernster Verhandlungsbereitschaft auf der Gegen-
seite fuhren könnte.
•Und der zweite Schritt wäre die Bekundung der Ver-
handlungsbereitschaft über das Elsaß in den Grenzen, daß
irgendwelche Abtretung des Landes oder eines seiner Teile
bei dieser Verhandlung nicht in Frage kommen könne. —
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 223
Soviel von dem politisch-rechtlichen Rahmfen, der die
äußere Minimalbedingung ist auch für einen kulturellen
Wiederaufbau Europas. Denn mehr wie eine äußere bloße
Bedingung ist all' das natürlich nicht. Auch wenn wir eine
Ausschaltung fortwährender Zoll- und Wirtschaftskriege
— soweit sich solche durch den Willen der Staaten aus-
schalten lassen, und das ist nur ein kleines Maß, — noch
hinzunähmen: All" das ist nur HüUe, nicht Kern!
Die wahren positiven Kräfte des Wiederaufbaues der
geistigen Kultur Europas liegen nicht in diesen Dingen.
Sie liegen in den frei wollenden Menschen, in der Gesell-
schaft, im Sinneswandel des europäischen Menschen und
in der Art und Richtung der kulturbildenden Geistes-
mächte, die gestärkt werden sollen. Und damit betreten
wir erst den Boden unseres eigendichen Themas. — *
Alle großen Dinge einer machtvollen Kooperation —
wie solcher Wiederaufbau — haben eine moralische Be-
dingung zuerst. Und diese erste Bedingung ist hier die
rechte innere Anschauung, die sich der Mensch als Mensch
von diesem furchtbarsten aller historischen Ereignisse
bildet. Wie er es und ob er es herauswachsen sieht aus
dem ganzen Gang der europäischen Geschichte und Zivi-
lisation, und wie er gegen dieses Gesamtbild seelisch
reagiert.
Und da sage ich: Ein kultureller Wiederaufbau ist nur
möglich, wenn ein immer größerer Teil innerhalb der euro-
päischen Völker lernt, dieses ganze Ereignis als Folge einer
auf Gegenseitigkeit beruhenden Gemeinschuld
der Völker Europas anzusehen — als ein schuldhaf
' Von hier an ist das Folgende unabhängig von der herrschenden politischen
Lage.
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2 24 ^^°^ kulturellai Wiederaufbau Europas.
tes Übel also, das auch nur durch Gemeinbuße, Gemein-
reue, gemeinsames. Opfer aufgehoben und innerlich über-
wunden, nur vermöge sich gegenseitig ergänzender und
im Geiste solidarischer Verantwortlichkeit erfolgender Auf-
bautätigkeit, Hilfe, kooperativen Wirkens aufgehoben und
durch neue positive Kulturgemeinschaftsgüter ersetzt wer-
den kann. Diese drei Dinge : Gemeinschuld, Xiemeinreue ^
und gemeinsamer Wiederaufbauwille auf Grund des ge-
meinsam anerkannten Prinzips, daß jeder Staat, jedes
Volk, jede Nation eine ihm zuerteilte besondere ,Stelle*
im Gottesgarten hat und einen unersetzlichen und unver-
tretbaren Beitrag zur einen Weltkultur zu liefern berufen
ist; und daß Europa in dieser wunderbaren Kooperation
dpr geschichdichen Menschheit einen besonderen, relativ
einheitlichen Kulturkreis mit besonderer Begabung und
Aufgabe darstdlt; diese drei Dinge gehören enge zusam-
men und sind nicht voneinander zu lösen.
Zuerst also die Anerkennung, es gäbe in letzter Linie
nur eine Antwort auf die Frage: Wer oder welches Volk
ist schuld am Kriege? Die Antwort: Du selbst, der fragt
— sei es durch Tun, sei es durch Unterlassen. Ich sage
damit nicht : Es müsse die politisch- geschichtliche Schuld-
frage für das bestimmte Stattfinden dieses Krieges, seinen
Beginn im August 1 9 1 4 ein für allemal vom Politiker oder
Historiker unterlassen werden. Das wird nicht sein, kann
nicht sein. Die Historiker werden bis zum Ende der Men-
schengeschichte vielleicht darüber streiten. Nicht daß der
Krieg stattfand, noch weniger, wie er und wann er begann,
ist Gegenstand der Gemeinschuld; wohl aber, daß er statt-
finden konnte, daß solch ein Ereignis möglich war im
europäischen Menschenkreise dieser Erdkugel, und daß
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 225
er so, so beschaffen aussah, wie er aussah. Seine Mög-
lichkeit und sein Sosein, nicht sein wirklicher Beginn also
ist Gegenstand der Gemeinschuld. Es ist ja auch im Ein-
zelleben nicht »daß ich das tat«, sondern daß ich so han-
deln, so tun konnte — ein solcher Mensch war, daß ich
es konnte — '- der eigentliche Gegenstand jedes tieferen
Schuldgefühls*. Erst dieser seelische Gesamtakt der Ein-
sicht in die Gegenseitigkeit der Verantwortung, der
Mitverantwortung und Mitschuld eines jeden Volkes am
Kriege, eines jeden Untergliedes im Volke bis zu Familie
und Individuum herab kann die Gemütslage erzeugen, die
seelische Atmosphäre, aus der ein Wiederaufbau der
europäischen Kultur möglich ist. Das zweite aber ist ge-
meinsame Reue und gemeinsamer Büß- und Opferwille.
Es gibt keine so hellseherische, in die Tiefen der Vergan-
genheit menschlichen Seins schärfer eindringende Seelen-
kraft, keine größere Heilkraft als die Reue; als diese be-
freiende und hellsichtige Entdeckerin unserer inneren
Wesenheit an unserer Geschichte. Ja, sie erst ermöglicht
historische Erkenntnis, die nicht nur Vergangenheit schil-
dert, sondern die das Wichtigste tut, was historische Er-
kenntnis tun kann — die von Vergangenheit entlastet und
zu neuer Zukunft und Tatkraft unsere Seele frei undTcräf-
tig macht. Ich wünschte, daß die Geschichte jener bürger-
lichen Zivilisation Europas, die im Ereignis des Krieges
kulminierte, auf lange Zeit so erzählt würde, daß sie als
einziger großer schmerzvoller Reueakt — gegliedert in
Bilder und Urteile — sich darstelle. Denn Freiheit und
Glaube, es sei wahrhaft möglich, die Welt anders einzu-^
richten, als die Welt vor dem Kriege war, d. h. als die
* Vgl. den Aufsatz: Vom Wege der Reue.
15
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2 26 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
Welt, die zu ihm führte: das ist erstes inneres Erforder-
nis aller Einstellung zum Aufbau.
Ganz prinzipiell muß man brechen mit dem alten deut-
schen Laster des Traditionalismus, des falschen historischen
Determinationsgefühls in irgend einer der tausend Formen,
die es anzunehmen pflegt, und mit den zehntausend Profes-
sorentheorien, die es speisten. Und eben dieses neue Frei-
heitsgefühl kann uns nur die Gesamtreue über unsere
Gesamtschuld geben. Die sog. Neuheit ist ja eine Kette
von ganzen und halben Revolutionen. Ihre Werke waren
wesentlich künsdiche Werke der verständigen Willkür.
Wie darf sie von »organisch Gewordenem« reden, das man
zu bewahren hätte?
Es ist damit schon gesagt, daß es sich nicht nur um
einen Wiederaufbau Europas handeln kann im Sinne der
bloßen Wiederherstellung von Verhältnissen, wie sie
in kultureller Hinsicht in den Jahrzehnten vor dem Kriege
bestanden haben. Sage ich im Titel dieses Aufsatzes
»Wiederaufbau«, so meine ich nicht dies, sondern nur die
Wiedergewinnung der wahren Kräfte, die Europas
wesendiche Einheit als Kulturkreis ausmachen — und
einen wesentlichen Neubau vermittels dieser Kräfte.
Denn nicht in jener falschen, von vielen Nurpazifisten
meist geübten Weise dürfen wir denken, als wäre eine
wahre und echte europäische Geistesgemeinschaft durch
einen Krieg, den einzelne böse regierende Männer wider
den Willen der Völker hervorriefen, zerteilt und ausein-
andergesprengt worden; und es gälte nun diese Geistes-
gemeinschaft ebenso »wieder «herzustellen, wie sie ge-
wesen ist. Das ist genau so falsch wie der Satz: der Krieg
habe den Haß geschaffen, während er ihn doch nur ent-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 27
hüllte ^. Es ist genau so verlogen wie der Satz von der > Fried-
fertigkeit der Demokratien « . Das Alles ist widerlichster
Völkerpharisäismus und das genaue Gegenteil der Ge-
sinnung, deren wir zum Aufbau bedürfen. Es ist Lüge, daß
die Völker friedfertig waren und nur die Regierungen sie
in den Krieg hetzten*. Vielmehr davon haben wir auszu-
gehen, daß echte Geistesgemeinschaft, so wie zwischen
einzelnen, so auch zwischen jeneil Minoritäten der Völker,
welche die Geisteskultur vor allem repräsentieren, über-
haupt nicht zerreißbar ist, daß solche echte Gemeinschaft
sich vielmehr erst in der Prüfung des Krieges als Geiste s-
band hätte enthüllen und bewähren müssen (wenn sie ihn
nicht geradezu hätte verhüten können) und daß es darum
auch kein wahres Geistesband gewesen war, was vor^
dem Kriege die Völker verknüpfte. Das definiert das Wort
» Freundschaft < , daß sie sich zu bewähren habe im Kampfe
entgegengesetzter Interessen der Freunde. Kein Geistes-
band und Freundschaftsband, sondern ganz andere Dinge
waren es, die in der Welt vor dem Kriege Geltung hatten,
Dinge wie internationale Höflichkeit, internationale Ge-
nüsse und Luxus, internationale gemeinsame Fachinter-
essen in Technik und Wissenschaft, Kundenhöflichkeit,
grenzenlose Eitelkeit, sich gegenseitig zu beweihräuchern
und sich hinwegzutäuschen über die steigenden Abgründe,
die sich zwischen den Seelen der europäischen Völker
schon längst aufgetan hatten. Daß der Krieg diese innere
Verlogenheit und Unwahrheit einer längst nicht mehr be-
stehenden, durch das Gift des Nationalismus und Sub-
* Siehe mein Buch: »Über die Ursachen des Deutschenhasses«, 2. AufL
Einleitung.
■ Vgl. mein Buch: »Krieg und Aufbau«.
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^28 Vom kultarellen Wiederaufbau Europa.
jektivismus, durch Relativismus und Kapitalismus längst
zerfressenen europäischen Kulturgemeinschaft aufgedeckt
und an den hellen Tag gebracht hat; daß die verborgenen
seelischen Wunden der europäischen Seele zu weithin
sichtbaren eklen, übelriechenden, aber heilenden Eiter-
strömen aufbrachen, des sei sogar dem Kriege Dank!
Nicht die Ursache der Erkrankung, sondern der diagno-
stizierende Arzt und der Analysator der europäischen Seele
ist hier der Krieg. Nach allem, was ich schon vor dem
Krieg über den moralischen Status Europas geschrieben
hatte, darf ich die Worte, die der deutsche Dichter
Stefan George in seinem Gedichte »Der Krieg« ge-
braucht, auch mir zu eigen machen: »Das, was euch äng-
jstigt, war mir längst vertraut. « Und um dieser Ursachen
willen muß es sich um etwas ganz anderes handeln als
bloß darum, durch äußere Wiederanknüpfung der Bezie-
hungen der Gelehrten, Künsder usw., durch internationale
Zeitschriften, Kongresse, Institute, kurz, durch äußerlich
nur organisatorische Maßnahmen das vorkriegerische
Europa einfach nur wiederherzustellen. Es muß sich darum
handeln, die Bewegungsrichtung der neueren Geschichte
Europas auf den sicheren Abgrund hin, auf seine geistig-
moralische Selbstauflösung wenigstens jetzt, d. h. in aller-
letzter Stunde, klar zu erkennen, das Ultimatum Gottes
an Europa, das dieser Krieg für die Erhaltung der bist
herigen Weltmission unseres Erdteils und seiner geistigen
Gesamtexistenz darstellt, wirklich und wahrhaft mit dem
Ohre der Seele zu hören; und worauf es besonders an-
kommt: es muß sich darum handeln, schon in den ersten
Anfängen der historischen Bewegung, deren früher so viel
weniger sichtbares Ziel und einzig mögliches Ende dieser
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Vom kulturellen AViederaufbau Europas. 229
Weltkrieg nun auch dem blödesten Auge aufweist, die
wirklichen Kräfte der Zersetzung zu gewahren. Nicht also
bloße Wiederherstellung, sondern Umkehr, ein radikaler
Sinnes wandel ist notwendig und der ernste Wille hierzu,
soll dieser Aufbau möglich sein. Es gibt gewiß europäische
Werte, die allein schon der menschliche Egoismus, allein
schon die sog. Interessen aller Art, vereint mit den geogra-
phischen Verhältnissen und verschieden verteilten Reich-
tümern der Länder, ihren spezifischen Bodenschätzen und
sonstigen Werten und Kräften ohne solchen Sinneswan-
del, ohne die Aufbietung eines neuen Herzens und eines
neuen Willens wiederherstellen werden, — auf gleich-
sam automatische Weise. Dazu gehört in weitem, doch
auch nicht zu überschätzendem Maße der freie Warenaus-
tausch (z. B. unser Warenaustausch mit dem Getreide-
exportland Rußland; denn man^rd auch in Zukunft das-
jenige kaufen, was am besten, billigsten ist und was am
nächsten liegt); dazu gehört der Austausch und die gegen-
seitige Befruchtung auch all derjenigen geistigen Funk-
tionen, Leistungen, Werte und Werke, in deren Leistung
sich die Nationen, Völker, Kulturkreise oder Angehörige
von ihnen beliebig vertreten können, da das Eigen-
tümliche des Geistes dieser Gruppeneinheiten in ihnen
sich nicht wesendich darstellt. Dieser Gruppe von Werten
gehören in weitem Maße die bloßen Resultate — nicht
die schon national differenziierten Methoden — der Ma-
thematik und der exakten Wissenschaften, die technischen
Fortschritte, die Maß- und Gewichtssysteme, die Termi-
nologien, die bekannten internationalen Institute für För-
derung der Landwirtschaft, Erdmessung, Meteorologie und
tausend anderes. Hierher gehört — schon etwas weniger
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230 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
— r- auch die Höherbildung und Wiederherstellung des inter-
nationalen Privatrechts. Auch die menschliche Genußsucht
und die Hotelierinteressen der Völker werden dafür sor-
gen, daß in nicht zu femer Zeit die reichen Leute der
europäischen Völker an der Riviera, in Kairo und in Monte
Carlo sich wieder äußerlich zart und sanft begegnen, w^
sie ja z. B. in der Schweiz schon jetzt tun. Die Sinne und
ihr Genuß sind so international wie die Interessen des Ge-
schäfts, und dies um so mehr, je niedriger und materieller
der Genuß. Aber all das hat doch im Grunde mit euro^
päischer Kulturgemeinschaft nichts, gar nichts zu tun!
Denn alle diese Dinge haben ihre Grenzen ja nicht an der
Spannweite des europäischen Geistes, sie reichen vielmehr
überall hin, wo es egoistische, wo es genußfähige und
verständige Menschen gibt, auch nach Japan, China z. B.
Vielmehr erst dabeginnt fiir mich die Idee europäischer
Kulturgemeinschaft, wo die allgemeinsten Interessen der
bloßen internationalen Gesellschaft prinzipiell aufhören,
vereinigend zu wirken; erst da beginnt die Forderung
einer sittlichen Bemühung des Willens und eines Sinnes-
wandels, wo Völker in ihren Leistungen unvertretbar,
einmalig, individuell sind in ihren Begabungen, in ihren
Geistes- und Liebesrichtungen, wo sie gleichsam von einem
besonderen, nur ihnen eigenen metaphysischen Punkte
her in den einen Kosmos der Wahrheit, der Schönheit,
des Guten und auf den einen Gott hinblicken. Die ver-
dammens werte Idee der Weltherrschaft einer Nation oder
eines Staates ist ja logisch durch Anerkennung und Be-
stand — und durch einen noch so großen Bestand —
jener vertretbaren oder internationalen Leistungen und
Werke durchaus noch nicht ausgeschlossen. Eben weil
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• Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 3 I
sich Völker in der Herstellung der oben genannten Werte
beliebig vertreten können, kann prinzipiell auch ein ein-
ziges Vcdk, das seine Herrschaft unbegrenzt ausdehnte,
alle Völker, ja die ganze Menschheit vertreten. Was diese
Idee der »Weltherrschaft« verdammenswert macht, das
ist also durchaus nicht das internationale Prinzip der Ge-
sellschaft und die zu ihr gehörigen Nützlichkeitswerte und
formalen Rechtswerte; das ist vielmehr gerade die Un-
ersetzlichkeit, die Unvertret)>arkeit der nationalen
und volklichen Individualität im Aufbau ein^ zusam-
menhängenden menschlichen Gesamtkultur. Daraus erst
ergibt sich, daß jedes Volk, insofern es mitbaut an der
Weltkultur des Menschengeistes, eben darum auch mit-
verantwordich ist ftir die Verwirklichung auch desjenigen
Anteils, den sein Nachbarvolk, ja den jedes andere Volk
für das Ganze dieser Weltaufgabe zu leisten von Gott
bestimmt und berufen ist. Kosmopolitismus und kultu-
reller Nationalgedanke in Hinsicht auf die höhere Geistes-
kultur sind also nicht Gegensätze, ja nicht einmal zwei
verschiedene Wahrheiten, sondern sind nur Seiten einer
einzigen Wahrheit. Und diese eine Wahrheit steht im
Doppelgegensatz zum Internationalismus und. zum kul-
turellen »Nationalismus«. Erst also wo es sich um diese
unvertretbaren Güter hapdelt, um Religion, Kirche,
Kunst, Geschichte und Geisteswissenschaft, Philosophie,
die Höhere Sitte und Lebensform, versagen die ego-
istischen, automatisch wirksamen Mächte. Erst hier wird
über das Automatische der Interessenverzahnung hinaus
der bewußte heilige Wille ebenso zur. Bewahrung des
besten Eigenen als der Achtung des besten Fremden,
ebenso zur gegenseitigen Ergänzung als zur gegen-
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232 Vom ktütarellen Wiederaufbau Europas.
seitfgen positiven Befruchtung ein notwendiges Er-
fordernis zum Aufbau der europäischen Kultureinheit.
Bloße sogenannte gemeinsame internationale Interessen
der Völker auf der einen Seite und auf der anderen Seite
gegenseitige Mitverantwortlichkeit jedes Volkes für das
eigentümlich Gute jedes anderen Volkes und seine freie
Auswirkung in der Welt um Gottes und der Welt Besten
willen, bedeuten also nicht das Gleiche, sondern das der
Gesinnung nach denkbar Verschiedenste. Erst bei den
stets und notwendig national gefärbten Kulturwerten ist
Ergänzungswille, geistige Befruchtungsbereitschaft durch
Gaben und Werte, die man selbst nicht besitzt, ist ein
liebegeöffhetes Herz — gerade für die besonderen natio-
nalen Fremdwerte als Fremdwerte — nötig, lauter Dinge,
die für das, was Europa schon vor dem Kriege besaß an
bloß internationalen Zivilisationswerten, prinzipiell nicht
wesenhaft nötig sind. Richtig aber ist dieser Wille nur im
Falle, daß ausschließlich durch die eigentümliche Geistes-
kraft der Nation selbst die Kulturbildung erfolgte, nicht
geleitet durch die Ergebnisse der Reflexion auf sie.
Von der Empfindung der Gemeinschuld also durch Ge-
meinreue und -büße zu solidarisch gemeinsamer Achtung
jeder europäischen Nation und jedes europäischen Volks-
tums und zu solidarischem Aufbauwillen gemäß dem eben
genannten Prinzip: das zusammen nenne ich das »mora-
lische Erfordernis« zu diesem großen Ziele. —
Erst wo dieser Sinnes wandel. vollzogen ist, kann und
soll die ganz neu zu fordernde intellektuelle Bemühung
einsetzen, in ganz anderem Maße als. bisher durch ein Zu-
sammenwirken aller Geisteswissenschaften mit der Anthro-
pologie ernsthaft festzustellen, wo die wahren Einheits-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 233
kräfte Europas und seiner Kultur liegen; worin sie be-
stehen, wie sie hinter den Nationalismen wie den bloßen
negativen Internationalismen, die sie beide lange ver-
deckten, ans Tageslicht gebracht' werden können; wie sie
durch Bildung, Erziehung, Lehre und durch neue echtere
FVeundschaften der Kulturbildenden Minoritäten zu stärken
seien — so zu stärken, daß sie zu einer wahren geistigen
fuhrenden Macht in der Welt wieder einmal werden könnten.
Leider kann ich auf diese gewaltige Frage von der geistigen
Einheit Europas und auf das Maß von Umdenken, das ihre
Beantwortung erfordert, hier am wenigsten eingehen. Ich
muß hier verweisen auf das, was ich in meinem Buche
»Der Genius des Krieges« in dem Kapitel »Die geistige
Einheit Europas«, desgleichen in meinem Buche »Krieg
und Aufbau«^ darüber angeführt habe. Man schaut die
wahre Einheit des europäischen Geistes erst dann, wenn
man die geistige Eigenart der anderen großen Kultur-
kreise ahnend erfaßt hat — denn mehr ist uns unmöglich
— und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen (Sprache,
Sitte, Künste, Mythen, Staatsgeist, Religionen, Erkennt-
nisarten und -ziele) auf einheitliche Geistesstrukturen
zurückzufuhren weiß. Soviel hier die Summe der Fach-
gelehrten schon längst wußten und wissen: zu einer all-
gemeinen europäischen Einsicht, ja zu einer eingreifenden
Äisafnmenschauenden Reduktion der Kulturerscheinungen
auf je eigenartige Geistespotenzen mit je bestimmten
StrukturbeschaiFenheiten ist aber jenes vielfache Fach-
wissen noch lange nicht geworden. W. von Humboldt,
Dilthey, Techet und Wölfflin haben besonders zu diesen
* Siehe hier besonders »Westliches und östliches Christentum«, femer »Zur
soziologischen Neuorientierung der deutschen Katholiken «, letzter Abschnitt.
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234 ^^"^ kulturellen Wiederaufbau Europas.
Erkenntnissen beigetragen^. Ja, ich wage zu sagen, daß
der Durchschnittsgebildete Europas heute noch wie zu
Kants, Goethes und Herders Zeiten einen so vagen, un-
klaren Begriff des europäischen Wesens und Geistes hat,
daß er noch heute für allgemein menschlich zuhalten
neigt, was nur ein vager, unklarer, sich selbst noch nicht
bewußter Europäismus ist. Daß sich in einer systema-
tischen Lehre von den durch Geistestypen begrenzten Kul-
turkreisen und von der inneren Gliederung des Genius
der Menschheit dieses Wissen zusammenschließe, sich vei:-
breite, und daß hierdurch erst der europäische Mensch
seiner selbst, seiner Grenzen wie seiner positiven Kräfte,
seiner Einheitsmerkmale und seiner besonderen Aufgaben
wahrhaft bewußt werde, das ist eines der ersten intel-
lektuellen Erfordernisse eines Wiederaufbaues der euro-
päischen Kultur oder besser ihres Neubaues.
Lassen wir uns hier mit dem weit Minderen genügen,
nur angesichts der innereuropäischen Geschichte ganz
kurz die vorzüglichsten geistigen Einheitsmächte zu be-
stimmen, deren Stärkung es gilt, ja deren Wiedereinsetzung
in ihr zum Teil verlorenes Recht.
IL
Drei große Grundfermente hat bis heute das europäische
geistige Dasein: Die antiken Bildungswerte, das Christen-
tum in seiner vorwiegend augustinischen und mehr auf
Tat, Liebe und auf Einbau eines Gottesreiches in die
Welt als auf Spekulation, Kontemplation, Weltflucht und
aszetischer Gnosis (wie im Morgenlande) beruhenden einen
*■ Siehe neuerdings auch die Schriften des Wiener Kulturgeographen Hanslik,
femer Spengler: »Der Untergang des Abendlandes« [Wien, Brauxnüller].
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 235
großen Spidfonn, und die vorzüglich seit der Renaissance
erstehende und im Werden der modernen Nationalkörper
vermöge der beiden ersten großen Mitgiften und durch
sie allein mögliche weiterschreitende Verwebung und
gegenseitige Befruchtung der Künste, Literaturen, Wis-
senschaften, Techniken der Nationen und Völker, wie sie
jede Geschichte dieser Zweige in der modernen Welt bis
heute zeigt.
Den zwei ersten geistigen Formungsmächten ist bis
heute nichts nur irgendwie Gleichwertiges an die Seite zu
stellen. Und es gibt für jeden, der den Wiederaufbau der
europäischen Kulturzone erstrebt, keine einfachere Fol-
gerung aus diesem Tatbestande als diese, es müsse sich
jede europäische Nation angelegen sein lassen, Antike
und Christentum auch als die Einheitsgrundlagen aller
elementaren und höheren Bildung und Gesittung unbedingt
zu bewahren — ja mehr als das, sie neu zu verlebendi-
gen. Diese einfache Formel duldet ebensowenig irgend-
welche Abschwächung und Einschränkung als die zweite,
daß das eindringliche Bewußtsein und Gefühl für die Ver-
flechtung und für die gegenseitige Bedingtheit aller euro-
päischen Nationalkulturen erst recht neu hervorzurufen,
überall zu fördern, durch Verbreitung der Sprachkennt-
nisse und durch Übersetzungen, durch stärkere Pflege der
Kulturgeschichte gegenüber bloßer Staaten- und beson-
ders Kriegsgeschichte aber möglichst allgemein zu machen
sei. Aber andererseits besagt diese Formel positiv noch
sehr wenig. Nur negativ bedeutet sie viel. Negativ be-
deutet sie vor allem, daß jeder Versuch, unsere Bildung
und Erziehung, sei es auf eine wesendich positivistische,
naturwissenschaftlich-mathematisch orientierte Grundlage
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236 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
ZU Stellen, sei es auf eine vorwiegend nationalistische, der
Muttersprache, der vaterländischen Geschichte, dem natio-
nalen Mythos einseitig zugewandte Grundlage, auf alle
Fälle a limine abzuweisen ist. Die erste dieser Richtungen,
die positivistische Bildung, fiihrt zwar über die Nation weit
hinaus, aber auch weit hinaus über Europa — ja über den
Menschen als Geisteswesen, der nach Gott des Menschen
erster Gegenstand der Erkenntnis zu sein hat; die zweite
bleibt hinter Europa zurück. Beides können wir als Bil-
dungsgrundlage für den europäischen Wiederaufbau nicht
brauchen. Die Bildungsideale und Bildungsziele, die eine
positivistisch-naturalistische Philosophie wie jene Comtes,
Ostwalds, Machs entwickeln muß, stützen immer nur jene
internationalen vertretbaren Bildungswerte, d. h. sie
stützen das, was einer moralischen Stütze nicht bedarf,
da es sich von selber macht. Europa als Geistes- und
Liebesgemeinschaft bringen diese Bildungsideale nur durch
die wichtige Geschichte der Mathematik, der Natur-
wissenschaften und Technik und durch Erkenntnislehre
und Methodologie, nicht durch ihre naturwissenschaftlichen
Resultate zum Bewußtsein. Diese Geschichte und Me-
thodologie aber fuhren von selbst auf die Antike als den
Mutterboden europäischer Wissenschaft zurück.
Ein weit gefährlicherer Feind als der Positivismus aber
ist für das humanistische Bildungsideal als gemeinsam euro-
päischer Bestandteil der nationalen Bildungsideale gegen-
wärtig der reflektierte Kulturnationalismus. Er tritt,
weniger in England und Rußland, sehr stark aber in den
romanischen Ländern und in Deutschland hervor. Dort
der Begehr nach einer spezifisch > lateinischen Renaissance < ,
d. h. einer wesentlich rhetorischen Formkultur, der sich
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 237
auch schon einige besonders französisch -italienische Ge-
sellschaften gewidmet haben ^. Hier ein Durcheinander von
Forderungen! In grotesker Form fordert das Alldeutsch-
tum eine resolute Ausscheidung sowohl des »jüdisch-christ-
lichen Geistes < , wie man hier zu sagen sich erkühnt, als des
antikischen »Renajssancegiftes aus der deutschen Seele«.
Unter Anknüpfung an den germanischen Mythos und meist
mit der Forderung einseitiger Pflege der vaterländischen
Geschichte im Sinne einer Helden- und Kriegsgeschichte
verlangt man einen möglichst luftdichten Abschluß des
germanischen Geistes in sich selbst. Weit besonnener
wünscht E.Troeltsch (»Humanismus und Nationalismus in
unserem Bildungswesen«, Berlin 191 7) nur eine Modifi-
kation des humanistischen Bildungsideals durch das neu-
aufsteigende Bild des »gotischen Menschen« des Mittel-
alters, d. h. des Menschen ewig ringenden, alle Formen
immer wieder in eine unendliche Bewegung des Willens und
Lebens auflösenden individuell schöpferischen Geistes, —
des Menschen, dessen Wesen ungebundene Phantasie und
irrationale Grenzenlosigkeit ist; sieht femer E. Spranger
im humanistischen Ideal unserer Väter (Goethe und W. von
Humboldt) nur das Bildungskorrelat der indi vidual-liberalen
Staatsidee des vomationalen Staates und .will die neue
Bildung und Erziehung um die Staatsidee und um den
Einordnungswillen in den Staat gruppieren.
Ich vermag keiner dieser Betrachtungen zu folgen
— so viel Berechtigtes im einzelnen, bei Trodtsch und
* Wie unberechtigt — historisch gesehen — diese vermeintliche Einheit des
lateinischen Geistes in betreff des Werdens der italienischen Renaissance
ist, ais welche sie sich durchaus als nationalitalische Bewegung mit schärfster
Front gerade gegen die französische Kultur entfaltet hat, hat K. Burdach
klar gezeigt in seiner Schrift: »Deutsche Renaissance«.
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238 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
Spranger, unterlaufen möge. E. Spranger hat sich in seiner
lesenswerten, feinsinnigen Schrift seine Idee von humsuii-
stischer Bildung vor allem an Wilhelm von Humboldt orien-
tiert, dessen Leben und Wesen er so anziehend geschildert
hat. Dies geschah insofern mit zweifellosem Rechte, als
das Humboldtsche Bildungsideal die machtvollste Einwir-
kung auf die Praxis der deutsdien höheren Erziehung und
des höheren Unterrichts ausgeübt hat. Dieses Bildungs-
ideal mit der ihm eatsprechenden Auffassung der Antike
hat drei Züge, die auch nach unserer Ansicht nicht ein-
fach erhalten bleiben dürfen, sondern einer Korrektur be-
dürfen. Es isoliert die Antike — die schon einseitig genug
nach ihren literarischen Höhepunkten der sog. klassischen
Epochen gesehen ist — stark von ihrer asiatischen
Vorgeschichte und nicht weniger von ihrem Übergang in
Hellenismus und Christentum. Obzwar ganz auf christ-
lichem Böden erwachsen und heimlich durch das Christen-
tum viel erheblicher gestaltet, als es sein Urheber zuzu-
geben willens wäre — darin gleich den Bildern der Antike,
welche die Heroen unserer Dichtkunst besaßen — deutet
dies Bildungsideal Humboldts eine Idee von reiner > Mensch-
lichkeit« in die Antike hinein, die tatsächlich christlichen
Ursprungs ist, der durchaus national oder imperial ge-
bundenen Antike selber ganz ferne liegt; die aber gleich-
wohl, eben weil sie sich als antikisch ausgibt, den »Men-
schen« der pantheistischen Zeitstimmung z. Z. Humboldts
gemäß von Gott und allen Kräften der Gnade im Grunde
vollständig loslöst. Es bleibt zweitens in den künstlerisch
gefärbten Individualismus desStrebens versenkt, sich
selbst zu einem »vollkommenen Menschenbilde« — gleich
einem Kunstwerke — zu formen und auf dieses oberste
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 239
»Ziel« auch alle Verhältnisse der Menschen zu den Ge-
meinschaften rückzubeziehen. Das Solidaritätsprinzip als
oberstes Prinzip aller sozialen Ethik — wie ich es anderen-
orts entwickelte^ — ist den inneren Voraussetzungen
dieses Bildungsideales so weltenferne wie es der Ethik
Kants und Hegels ist. Aber nur als eine Folge dieses
Mangels viel höherer und allgemeinerer Ordnung — nicht
als seinen primären Fehler wie Spranger — vermag
ich mit Spranger es anzusehen^ daß das Humboldtsche
»humanistische« Bildungsideal auch einen echten Hingabe-
sinn für den Staat und seine Aufgaben ebensowenig zu
erwecken vermag wie einen rechten Begriff seiner Bedeu-
tung in der Welt und Geschichte — auch noch für die
geistige Kultur selbst. Drittens stellt dies Erziehungs-
ideal in so einseitiger Weise die innere Bildung der Per-
sönlichkeit gegenüber spezifizierter Leistung und Hand-
lung in einem höchstentwickelten Gemeinschaftsganzen in
den Vordergrund, daß es unmöglich auf unsere Epoche
übertragen oder darin festgehalten werden kann.
Der erste dieser Mängel scheint mir auch bei Sprangers
Vorschlägen und Zielsetzungen bestehen zu bleiben. Wir
müssen lernen, als bewußte Christen und im klaren Be-
wußtsein davon, daß wir in den christlichen Werten etwas
viel Höheres und Reicheres besitzen, als uns die Antike
je geben könnte, gleichwohl die Antike verständnisvoll zu
lieben und an ihr zu lernen, was aus ihr oder an ihr zu lernen
ist. Nicht nur unser neugewecktes religiöses Bewußtsein —
das trotz seiner Vielfarbigkeit auf alle Fälle nicht panthe-
istisch ist — , auch unser geschärftes historisches Bewußt-
sein von den Grenzen und der nationalen Partikularität
* Siehe: Der Formalismus in der Ethik mid die matehale Wertethik, II. Teil.
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240 Vom kulturellen Wiederaufbaa Europas.
der antiken Werte — fordert diese Haltung resolut. Die
heimliche Ein- und Hinüberflößung chrisdicher Werte in
die Antike — Goethes Iphigenie ist darin nur das sicht-
barste Exempel der Denkart unserer ganzen humanisti-
schen Zeit — muß aufhören, wenn das Christentum wieder
seine volle Würde und seinen ihm gehörigen Reichtum, die
Antike aber ihren historischen Wirklichkeitscharakter
erhalten hat.
AVas den zweiten der genannten Mängel dieses Bildungs-
ideales betrifft, so finden sich bei Spranger ohne Zweifel
eine Reihe durchaus berechtigter Vorschläge. Nur dürfte
es weniger eine direkte sog. » staatsbürgerliche Erziehung«
sein, die den Staatssinn zu entwickeln hat, als der fort-
währende, den gesamten Kulturunterricht durchwaltende
Auf weis, wie die Literaturen, Künste, Philosophien, Wissen-
schaftswerte in den Staat der Zeit eingeordnet waren
(alte griechische Kunst und Literatur z. B. in das Gefüge
der Polis), warum gewisse Gruppen vor diesen Werten wie
etwa die spätstoische Philosophie es nicht waren, welche
Charakterzüge an ihnen durch die Natur der sozialen
Gruppen und Stände bedingt waren, die sie trugen; was
alles vermöge der vorhandenen geistigen Potenzen an kul-
turellen Werten auch hätte entstehen können, aber unt
politischer Ereignisse und Zustände willen nicht entstand.
Diese indirekte Pflege des Staats- und Gemeinsinns, die
an allem Gegebenem der Geschichte die staatliche und
soziale Mitbedingtheit auch der höchsten Früchte des
Geistes heraushebt (z. B. die Bedingtheit des Intellektua-
lismus aller griechischen Philosophie durch die Einrichtung
der Sklaverei und Sklavenwirtschaft) prägt auf innigere
und stillere Weise das gesamte Denken in die Richtung
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 24 1
vertieften Staatssinnes um, als ein direkter auf den Gegen-
wartsstaat gerichteter > staatsbürgerlicher Unterricht < . Vor
allem aber muß — wie ich schon andeutete — der Staats-
sinn nur als besondere Ausgestaltung eines gesteigerten
Gemeinsinns überhaupt erstrebt werden. Nur wenn
dem Zögling ein Netz der soziologischen Grundbegriffe
unabhängig von der besonderen historischen Abart der
menschlichen Gruppen zuvor überliefert wird, — ein Netz,
das alle Wesens formen menschlicher Gemeinschaft um-
faßt und den Staat nur als eine dieser Formen zur Darstel-
lung bringt, also auch z. B. Familie, Gens, Stamm, Volk,
Nation, Nationalität, Kirche, Sekte, Schule, Gesellschaft,
Partei, Klasse, Stand usw. — vermag der Zögling das je
in der (beschichte vorhandene besondere Miteinander und
Zusammenwirken der bestehenden Gemeinschaften klar
zu sehen und zu begreifen. Nicht nur Einordnungswillen in
den Staat, sondern ein differenziierter Einordnungswille in
eine Mehrheit gleichzeitig bestehender Gemeinschaften
je, eigenen Rechtes und eigener Aufgaben und Ziele —
und damit auch die stets vorhandene Notwendigkeit des
Verzichtes und Opfers jeder dieser Gemeinschaften zu-
gunsten des Bestandes und der rechten Entfaltung der üb-
rigen — muß ein Ziel der neuen Erziehung sein. Mit Recht
weist Spranger darauf hin, daß die neue Tendenz in der
Jugend zu Verbands- und Gemeinschaftsbildungen — die
aufs schärfste abweicht von Zuständen, wie sie noch vor
20 Jahren bestanden — wie von selbst dieser Umbildung
des älteren individualistischen Bildungsideals entgegen-
kommt. Wenn er aber beklagt, daß diese Jugendgesell-
schaften gegen den Staat eine große Sprödigkeit bisher
gezeigt haben, ja daß sie — wie wir hinzufügen — sogar
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242 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
mit einer gewissen ausschließlichen Eifersucht darüber
zu wachen pflegen, daß sie nicht als > Vorschulen« für
künftiges »Staatsbürgertum« angesehen oder gebraucht
werden, so vermag ich darin ein so großes Übel nicht zu
sehen. Das ist nur ein Zeichen, daß der Gegenwartsstaat
auf die Instinkte der Jugend eine emotiqnale Anziehungs-
kraft nicht zu äußern vermag und daß die neuen Staats-
ideale auf dem eigenen Boden der jugendlichen Gemein-
schaftserfahrungen selbst zu wachsen unterwegs sind.
Was den dritten Mangel des älteren humanistischen
Bildungsideals betrifft, so scheigt mir nicht so sehr die
ältere Idee von Personbildung überhaupt — gegenüber
einem Aufgaben- und Leistungsideal — die Ablehnung zu
verdienen, die es bei Spranger findet, als zwei andere be-
sondere Züge dieses Personbildungsideals: i. Die in ihm
gelegene Reflexion auf Selbstgestaltung, wie sie am deut-
lichsten in dem »Kunstwerk« charakter des eigenen Lebens
bei W. von Humboldt sich verrät. 2. Jenes falsche spezi-
fisch deutsche Nurinnerlichkeitsideal, das die intime Per-
son gegenüber der sozialen Person so einseitig in den Vor-
dergrund rückt, daß eine Art von resignativem Servilismus
und Quietismus in bezug auf alle Art von Mitgestaltung
des öffentlichen Lebens und dazu eine gewisse Verachtung
aller sozialen und politischen Lebenssphäre sich mit Not-
wendigkeit daraus ergibt^. Die höchste Selbstgestaltung
der Persönlichkeit kann sehr wohl als höchster Wert und
als objektives Ziel auch der Erziehung angesehen werden,
ohne daß die subjektive Intention auf Selbstbildung
zugelassen wird oder gar noch eine besondere Pflege durch
* über die falsche »Innerlichkeit« vgl. auch meinen AuCsatz »Zwei deutsche
Krankheiten« im »Leuchter«, 191 9 (Reichl, Darmstadt).
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 243
den Erzieher findet. Es ist nicht nötig, — um den letzteren
Fehler zu vermeiden — das Persönlichkeitsideal der Er-
ziehung und Lehre durch ein vorwiegendes Leistungs-
ideal zu ersetzen. Weit entfernt, daß wir zu viel hätten an
Lebensleitung der Jugend durch personhaft geformte Vor-
bilder, hatten wir davon viel zu wenig. Die Personleistung
der Beamten im Staatsleben verdrängte überall bei uns
das Werden des Staatsmanns, spezifizierte Fachleistung
die geistige Übersicht der wissenschaftlichen Persönlich-
keit, in der sich die Wissenszweige gegenseitig befruch-
ten; einseitigstes Aufgehen im Geschäft im wirtschaftlich
tätigen Bürgertum ebensosehr den politischen Gemein-
sinn als den Geschmack an höherem geistigen Leben.
Nicht eine noch gesteigerte Spezifizierung der Erziehungs-
und Unterrichtsziele, sondern eher das Gegenteil verspricht
dagegen Abhilfe. Dahingegen muß etwas ganz anderes
— das mir bei Spranger zu sehr mit dem Leistungsideal
zu verschwimmen scheint — der Sinn für öffentliche
Auswirkung des für recht Erkannten und das stete Ge-
fühl der Mitverantwortlichkeit für die Beschaffenheit aller
öffentlichen Zustände über den Rahmen des älteren huma-
nistischen Bildungsideals weit hinaus gesteigert werden.
Auch die Forderung von Ernst Troeltsch, daß das
deutsche Mittelalter einen größeren Raum in unserer hö-
heren Erziehung gewinne, ist von tiefer Berechtigung.
Insbesondere ist es die Anknüpfung unserer menschlichen
Ideale an jenes Germanisch- und Französisch-Gotische, das
selbst noch ein hohes Maß europäischer Universalität
in sich trug, ja sogar mit asiatischen und besonders indi-
scljen Formen noch in einer tiefen, heimlichen Beziehung
lebte, das außerdem das Christliche nicht ausschloß, son-
i6»
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244 Vom kulturellen Wiederauf bau Europas.
dem in sich einschloß. Nicht nur das in seinen Grenzen
berechtigte nationale Moment als mitgestaltende Kraft
unserer Bildungsideale fordert diesen größeren Raum:
Nicht minder fordert die mittelalterliche Welt als erhaben-
stes Vorbild einer organisatorischen Epoche größten
Stils unter Leitung des religiös -kirchlichen Bewußtseins
eine stärkere Berücksichtigung. Nur das ist gegenüber
den schauderhaften Einseitigkeiten, wie sie von Benz vor-
gebracht und von K. Burdach so ausgezeichnet zurück-
gewiesen wurden, dabei zu fordern, daß die ganze ver-
wickelte Erziehung des germanischen Geistes zur Selb-
ständigkeit durch die Kirche und durch die antiken
Vorbilder dabei auch zu dem gebührendem Rechte ge-
lange.
All diese Modifikationen schließen also nicht im min-
desten aus, daß die Pflege der antiken Bildungswerte im
humanistischen Gynmasium der Ausgangspunkt höhe-
rer Geistesbildung in allen europäischen Völkern bleibe,
soll ein kultureller Wiederaufbau Europas nicht auf Sand
bauen. Und es kann nur das in Frage stehen, i. welche
Seiten und Teile der antiken Bildungswerte bei den ver-
schiedenen Völkern mehr oder weniger botont werden;
2. wie femer diese Bildungswerte im Zusammenhang der
ganzen Weltgeschichte, insbesondere ihrer asiatischen
Vorgeschichte und den in ihren Grenzen und im Rahmen
des Europäischen wohlberechtigten engeren nationalen
Bildungsidealen, eingeordnet und in dieser Einordnung
überliefert werden. Es ist von den gegebenen Geschichten
der Völker aus begreiflich, daß die romanischen Völker in
höherem Maße an die lateinische Antike, die deutschen
erheblich stärker an die klassisch-griechische, die sla-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 245
wischeWelt, insbesondere die russische, aber stärker an die
späthellenische Welt ihre Bildung anknüpft. Aber ge-
rade weil dies auf Grund der bloßen Geschichte selbstver-
ständlich ist, muß der sittliche Bildungs w i 1 1 e auf Ergänzung
gerichtet sein. Eben darum darf keine reflektiert-gesuchte
»Renaissance latine« existieren, eben darum >nüssen Ger-
. manen und Slawen die spezifischen Werte lateinischen
Form- und Ordnungssinnes, lateinisdier, praktischer Lo-
gik und Organisationskraft mit heißer Seele suchen. Aber
noch wichtiger ist das Zweite! Der Fortgang der Wissen-
schaften vom Altertum hat es mit sich gebracht, daß. wir
in antik-klassischer Kunst, Philosophie, Ethos nicht mehr
ewige Musterbildung menschlich erhöhten Daseins
überhaupt zu sehen vermögen. Jene geheime Philologen-
fachmetaphysik »ewiger Musterbilder«, die Antikes nur
im Gegensatz zum Christlichen zu sehen vermochte und
eine Art Paganismus fördert, ist durch die historische Rich-
tung der Wissenschaft von der Antike selbst zerbrochen
worden. Überall wurde Kontinuität und nur relativer
Bruch der griechischen Kultur zu den asiatischen Formen
deutlich, in Archäologie, Religion, Philosophie, Mythen-
geschichte; nicht minder wurden sichtbar die vergäng-
lichen nationalen, sozialen und politischen Voraussetzungen
dieser Kulturwelt. Völlig neue Elemente, besonders der
griechischen Antike, die unsere humanistischen Väter über-
sahen, wurden aufgedeckt; ich nenne Mutterrecht und
Mutterkultur, die Orphik mit ihrem pessimistischen Tra-
gizismus, die Anfänge griechischen Privatrechts, die so-
zialen Kämpfe in den griechischen Städten, die griechische
Naturwissenschaft, Mathematik und Technik. Das konti-
nuierliche Ausmünden der Antike durch den Hellenismus
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246 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
hindurch, durch Gnosis und die spätantiken Religions-
bildungen in die frühchristliche Kirche wurde neu und
kräftig zur Anschauung gebracht. Daß »antik -klassisch«
nicht menschlich allgemeingültig sein kann, im höchsten
Falle nur darstellt einen ersten Höhepunkt der Werke
europäischen Geistes, ist die sicherste Erkenntnis un-
serer Epoche. Was folgt daraus? Nun, vor allem folgt
nicht, daß durch difee historische Relativierung der an-
tiken Werte diese nun überhaupt nicht mehr Grundlage
unserer europäischen Bildung sein dürften. Daß wir sie
etwa nur als gleichgültige Elemente eines grenzenlosen
historischen Flusses anzusehen hätten, unsere eigene Bil-
dung aber ganz anderen Zielen zuzuwenden hätten, etwa
einseitig nationalen oder politischen. Sind diese Werte
auch nicht mehr allgemeinmenschlich -normativ, so sind
sie es doch europäisch. Und dürfen sie auch nicht mehr
absolute Vorbilder genannt werden, so sind sie doch ge-
meinsame, notwendige Orientierungstürme, Leuchttürme
für alle europäischen Völker, nach denen sie hinschauen
sollen nicht wie auf Ziele und vor sich, zu denen sie aber
immer wieder zurückschauen müssen, um zu erkennen,
ob sie noch im Kurse des europäischen Geistes und We-
sens überhaupt fahren. Unter diesem Bilde eines »Leucht-
turms im Rücken«, möchte ich dasjenige gemeinsam
europäische Verhältnis der Völker zur Antike verstanden
wissen, das zu einem kulturellen Aufbau notwendig ist.
Aber die gemeinsame Aufgabe des europäischen Kul-
turaufbaues verlangt in der besonderen Weltsituation, in
der wir uns befinden, noch ein anderes gemeinsames Ziel
— ein Ziel, dem unsere neuen Erkenntnisse entgegen-
kommen: Ich meine eine gewisse Umkehr unseres ge-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 247
samten europäischen Bildungswesens, von der vorzüglichen
Richtung, die es bisher hatte, der ostwestlichen zur
westöstlichen. Dar^iuf drängt meines Erachtens alles
hin. Einmal: Es bedarf überhaupt das hyperaktivistische,
hyperbetriebsame Europa — ich möchte sagen — einer
gewissen Liegekur in den Tiefen, in dem Ewigkeitssinn,
in der Ruhe und Würde des asiatischen Geistes. Hat dazu
Asien seit dem Japanisch-Russischen Krieg mit Sicherheit
aufgehört, nur passives Objekt zu sein kapitalistischer
Ausbeutung einerseits, christlicher, aber zu oft nur Han-
delspionierschaft treibender Missionen andererseits —
regt es überall nun aktiv seine Flügel und wischt sich
den Schlaf von Jahrhunderten aus den Augen, wie wir es
überall sehen, im asiatischen Rußland, Japan, China, In-
dien, in der mohammedanischen Welt — so hat Europa
doppelten Grund zu einer neuen Auseinandersetzung
all seines Kultur- und Bildungsbesitzes mit Asien und dem
Osten überhaupt. Der Weltkrieg führt im kleinen wie im
großen zu neuen Ausgleichen, zu Ausgleichen der allzu
großen Kultumiveaudifferenzen — und dies vor allem
qualitativ. Wie Deutschland demokratischer in ihm wird,
die englisch redenden Länder zentralistischer und staats-
sozialistischer, so muß auch in weit gewaltigerer Größen-
ordnung ein gewisser Ausgleich des spezifisch Euro-
päischen und Asiatischen seine Folge sein. Darum
müssen wir auch die Antike der Jugend von vornherein
mit ihren asiatischen Wurzeln darbieten, und die histori-
schen Quellpunkte innerhalb der späteren Geschichte an-
tiker Bildungswerke, wo sich Morgenländisches und Abend-
ländisches vermischte, wie im Hellenismus, in Alexandria
usw., um dann in die getrennten Arme der abendländi-
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248 Vom kulturellen Wiederauf bau Europas. ^
sehen und morgenländischen Geschichte scharf ausein-
anderzugehen, weit stärker erleuchten als bisher. Diese
Umstellung unserer zentralen Bildungsinteressen nach
dem Osten ist femer höchst wünschbar darum, weil Geben
wie Nehmen in dieser Richtung weit fruchtbarer sein
werden, als wenn wir unser zu ausschließliches Interesse
an der westlichen Bildung beibehalten. Die französische
Bildung zumal (in geringerem Maße auch die englische)
hat eine Eigenständigkeit und eine Reife der Form erreicht,
die — nach menschlichem Ermessen — nur schwer noch
überboten werden dürfte. In Frankreich hat (im Gegensatz
zu Deutschland und England) das Bürgertum bisher eine
eigentümliche geistige Kultur im Grunde nicht geschaffen.
Es hat sich dafür — wieder im Gegensatz zu Deutschlands
unpolitischem Bürgertum — in politischer und sozialer
Energie erschöpft und lebt in allen Dingen des Geistes bis
heute von Gnaden des Ancien regime. Es ist unwahrschein-
lich, daß es in seinen alten Tagen noch vollbringe, was es
bisher noch nicht vollbracht. Was im jungen Frankreich
wirklich neu war gegenüber den Traditionen des 1 7. und
I S.Jahrhunderts wie z. B. die Bergsonsche Philosophie, wies
vielfach deutschen, noch mehr russischen Einfluß auf. Was
wir von Frankreich in uns aufnehmen können — was die
Zukunft bringt, das wissen wir freilich dabei nicht — das
haben wir im wesentlichen genommeti. In England gilt
dieses Verhältnis von Kultur und sozialer Gruppenträger-
Schaft weniger als in Frankreich, besteht aber gleichfalls
noch im wesentlichen zu Recht. Auch Englands Kultur ist
durchaus aristokratisch dem Kerne nach, mag diese Aristo-
kratie sich auch stärker unter bürgerlichen Namen ver-
bergen wie in Frankreich. Bei uns ist die Aristokratie —
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' Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 249
soweit wir eine solche besitzen — kulturell fast völlig un-
fruchtbar geblieben. Ihr Werk war Staat, Krieg, Politik.
Es ist so unwahrscheinlich, daß sie in ihren alten Tagen
geistig noch besonders fruchtbar würde wie das Gleiche
unwahrscheinlich ist für das französische Bürgertum. Im
Gegensatze hierzu ist unsere sozial durchaus von unten
heraufgestiegene Kultur schon nach ihrer soziologischen
Bedingung viel tiefer ähnlich den in der slawischen und
besonders der russischen Welt gegebenen Verhältnissen.
Inhaltliche gegenseitige Ergänzung in bezug auf ger-
manischen Individualismus und slawischen Gemeinsinn,
Verstandesmäßiges und Mystisches, einseitig Organisa-
torisches und Sinn für das Recht eigentümlich dahinströ-
menden Lebens, Christentum der Tat und die aus den Um-
hegungen der Schicksale lösende und rettende kontem-
plative Anbetung^, verspricht bei der noch beiderseitigen
Unvollendetheit der kulturellen Formen reichere Früchte
als sie versprochen sind bei fortbestehender einseitiger
Aufmerksamkeit auf den Westen. Auch die sozialen Demo-
kratien Rußlands imd Deutschlands, die sich soviel tiefer
vom Bürgertum geschieden wissen als im Westen, ver-
stehen sich viel besser, als dies in absehbarer Zeit
zwischen deutscher und westlicher Demokratie der Fall
sein dürfte. Darum ist vor allem zu fördern: Kenntnis
Rußlands und der außerrussischen slawisclj^en Welt als
Übergang dazu. In all dem fällt dem österreichischen
Bildungsleben eine besondere Rolle zu. Neue Lehrstühle
für russische Geschichte und Kultur, russisches Sprach-
studium müssen aber auch für unsere reichsdeutschen
Unterrichtsministerien eine Sorge sein. Nationale Bildungs-
^ Vgl. in Krieg und Aufbau: östliches und westliches Christentum.
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250 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
ideale müssen sich im Rahmen dieser gemeinsamen euro-
päischen Kultur- und Bildungsgrundlage bewegen — sie
dürfen ihn nicht sprengen. In diesem Rahmen sollen sie
ihr besonderes Recht in vollem Maß genießen.
Aufs schärfste zu bekämpfen ist jede »alldeutsch« ge-
richtete Abschlußtendenz. Sie ist widersinnig und auch
undeutsch, da sie dem Wesen gerade des germanischen
Geistes aufs tiefste widerspricht. Die Definition ist ganz
richtig, die K. Burdach in seiner Schrift »Deutsche Renais-
sance«, vom deutschen Geiste mit einem Leibnizschen
Bilde gegeben hat: Er ist ein »schaffender Spiegel« ; er ist
nicht so sehr eine Gruppe von Eigenformen, sondern der
Geist der Synthese aller Formen durch eine grenzen-
lose Liebe schöpferischer Verknüpfung. Wer nur an »Ori-
ginalität« mäße, dem hätte, von der deutschen Musik und
Geisteswissenschaft abgesehen, die deutsche Kultur wenig
zu sagen. Eben darum bedarf der Deutsche in höherem
Maße der Anregung durch Fremdes als andere Völker; und
seine ganze höhere Bildungsgeschichte ist Verarbeitung
solcher Anregungen teils aus der Antike und Renaissance
(Humanismus, klassisohe Dichtung), teils aus dem christ-
lichen Altertum (lutherische Reformation), teils aus Frank-
reich (deutsche Aufklärung), teils aus England (Shake-
speare, Staatslehre, Philosophie). » William, Stern der höch-
sten Höhe, Dir verdank' ich, was ich bin,« so Goethe;
» Rousseau hat mich zurechtgemacht, « » Hume hat mich aus
dem dogmatischen Schlummer geweckt, « so Kant. Bei allen
großen Deutschen findet man Reden dieser Art. Was wäre
Luther ohne Augustin und Paulus? Die deutsche Sprache
hat einen organischen Bedarf nach Ergänzung durch
Fremdwörter, d. h. einen Bedarf, der nicht in den zufäl-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 5 I
ligen historischen Schicksalen des deutschen Volkes/son-
denv in ihr selbst und ihren Fortbildungsgesetzen wurzelt.
Und angesichts dieser grundlegenden Tatsachen wagt man
es, Deutschland einen kulturellen Abschluß zu predigen!
Diese Tendenzen sind nichts als Ideologie eines wirt-
schaftlichen Machtnationalismus, der mit dem deut-
schen Geiste nichts, gar nichts zu tun hat, sondern ein
frevles Spiel mit ihm treibt.
Doch nicht diese allgemeine »alldeutsche« Tendenz ver-
dient unseren resoluten Kampf. Auch geistige Richtungen,
die sich bisher stärkster Teilnahme unserer Besten erfreu-
ten, sind nach meiner Meinung starke Hemmungen eines
Wiederaufbaues europäischer Kultu^r. Es seien nur zwei
davon genannt.
Zuerst sei erwähnt jene Auffassung der neueren poli-
tischen Geschichte, die im Gefolge der Gründung des
Deutschen Reiches bei uns auftrat und bald die Lehrstühle
der deutschen Universitäten erfüllte, und die da besonders
bezeichnet ist durch die Namen Treitschke und SybelJSchon
Friedrich Naumann hat einige treffende Worte gefunden,
wenn er sagt, daß unserer Welt eine Auffassung der Ge-
schichte, die von der Wartburg durch Potsdam und Königs-
berg möglichst einlinig zum kleindeutschen Gedanken und
zu Bismarck führe, als Bildungsgrundlage nicht mehr ent-
spreche. Wir haben diese teleologisch politischen Kon-
struktionen ein für allemal aufzugeben und die Fülle
deutschen Wesens wieder in sein Recht einzusetzen. Wir
haben nicht nur die innere Tendenz, sondern auch das
enge politische Pathos dieser Geschichtschreibung zu ver-
meiden und sollten zu dem reineren und objektiveren
Geiste Leopold von Rankes zurückkehren, der noch ganz
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252 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
erfuHt war von der historischen Freude über die schöne
Mannigfaltigkeit des Menschlichen in der geschichdichen
Welt und von einer wunderbaren Ehrfurcht vor der Zu-
kunft der Menschheit. Die deutsch-mittelalterliche Welt
und ihre bodenständige Kultur, die Zeiten des großen
deutschen Kaisertums, kurz die universalen organisa-
torischen Phasen der deutschen Geschichte müssen ein
ganz anderes Gewicht (ur die Durchschnittsbildung ge-
winnen, als sie jetzt besitzen. Denn in der Linie dieser
Zeiten, nicht im Kleindeutschland Bismarcks liegen un-
sere Aufgaben. Gerade von den oben genannten Sta-
tionen der deutschen Geschichte können wir zurzeit am
allerwenigsten lernen.
Nehmen wir tlie Reformationszeit zum Beispiel. Kann
es ein Zeitalter geben, dessen ganzes Wesen fremder wäre
den Ansprüchen, die an uns gestellt sind? Der Individua-
lismus, der da zuerst in religiöser Form auftritt und die
heiligen Dämme der chrisdichen Korporationsidee und
ihre Realität in der Kirche zerbrach: heute steigt €r nur
zu offensichtlich zu Grabe; selbst große protestantische
Theologen (Hamack, Troeltsch, Rade) bekennen, daß es
sich heute vor allem darum handle, die Idee christlicher
Gemeinschaft und Solidarität in ihrer universalen Natur
wieder aufzunehmen und ihr Recht auf wahrhafte Formung
und Organisation auch der öffentlichen Welt wieder ein-
zusetzen. Nicht in ein Zeitalter neuer Kirchentrennungen,
sondern in ein solches neuer kirchlicher Synthesen
treten wir. Die in Rußland, England, Frankreich, Italien
teils längst bestehende, teils (besonders in Rußland und
England) neu erfolgte Trennung von Kirghe und Staat
gibt für die großen Probleme der Annäherungen der'da-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 253
durch Staats- und nationalfreier werdenden Kirchen, zu-
nächst für die anglikanische und römische, die orthodoxe
und die griechischen Kirchen, die römische und die or-
thodoxe (wie sie Leos XIII. Testament umschrieb) ganz
neue bedeutende Perspektiven. Das Bürgertum, dessen
soziologische Schöpfung der Nationalstaat war 'und das
sich damals gegen Feudalismus und Kirche durchzusetzen
begann — heute hat es sich aufgelöst in immer neue
Gruppen und Stände oder doch Keimen zu solchen.
Der absolute Fürstenstaat, der die Reformation noch
weit stärker, als wir es noch vor kurzem gewußt haben,
propagierte, er hat die ganze demokratische Welle der
Zeit gegen sich. Europa, das damals, um neue Kräfte zu
entwickeln, auseinanderstrebte (religiös, national, staat-
lich, ökonomisch): heute geht es daran, seine Differenzen
auszugleichen, sich zu sammeln und nicht so sehr ^
partikulare Kräfte zu entfalten, als die übermäßig entfal-
teten mit vereinigten geistigen und sittlichen Kräften zu
meistern.
Aber aych von den geistigen Führern dieser Zeit können
wir am allerwenigsten lernen. Dies sage ich ebensosehr
angesichts Luthers als des Ignatius von Loyola, der Re-
formation wie der Gegenreformation. Die Verbindung
einer überspitzten mystischen Nurinnerlichkeit mit fast
machiavellistischen Machtlehren betreffend Staat, Gesetz,
die schließlich die Kirche dem Staate auslieferte, die von
Luther ausgegangen und noch in Bismarcks Gestalt nach-
lebt, dieser gefährliche deutsche Dualismus zwischen Ge-
sinnung und Tat, Glaube und Werk, nur »innerer« Frei-
heit mit politischem Knechts- und Gewaltsinn ist eben das,
das wir energisch abzuschütteln haben; — und nicht min-
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2 54 ^^"^ kulturellen Wiederaufbau Europas.
der energisch den finsteren Fanatismus und die Verengung
der katholischen Kirche durch die Gegenreformation.
Eine zweite geistige Richtung, die dem kulturellen Auf-
bau Europas zum mindesten stark hinderlich ist, ist die
Herrschaft aller Art nationaler Philosophien. Ich
meine hier sowohl in ihrem inneren Wesen faktisch zu
volksmäßig eingeschränkte Gedankenbildijngen als be-
wußt reflektierte Nationalphilosophien. Eine Philoso-
phie erster Art ist z. B. die von preußischem Geiste (im
engsten Sinne) viel zu einseitig durchflossene Gedanken-
bildung Kants, trotz der noch kosmopolitischen subjek-
tiven Haltung ihres Urhebers. Ich kann dies im einzelnen
hier nicht dartun, muß vielmehr solche, die sich dafür inter-
essieren, an meine philosophischen Schriften verweisen^.
Wenn Schiller in seiner Schrift über Anmut und Würde
^ sagt, Kant habe in seiner Ethik nur »für die Knechte des
^ Hauses«, nicht für seine »Kinder« gesorgt, so hat er schon
das Wesentliche getroffen, was ich meine. Und »Kinder
des Hauses« zu werden^ das ist heute der tiefste Drang
im deutschen Volke. Obzwar Kant sich selbst Jm Unter-
schiede zu seinen spekulativen Nachfolgern (Fichte, Hegel
usw.) noch ganz als »Glied der europäischen wissenschaft-
lichen Republik« fühlte, so begann doch mit ihm bereits
jene Phase des deutschen Denkens, die alsbald den nur-
preußischen Geistesstempel auf jede offiziell zugelassene
Regung des deutschen Denkens legte und die gleichzeitig
die deutsche philosophische Entwicklung aus der christ-
lich-europäischen Geistesentwicklung heraus-
führte, verengte und partikularisierte. Man braucht
* Vgl. meine Kritik der Ethik I. Kants in meinem Buche: Der Forma-
lismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 191 2.
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 255
nur Leibniz neben Kant und die Kantische Richtung zu
halten, um dies einzusehen. Leibniz steht noch voll in der
breiten, großen Tradition der europäisch-christlichen Phi-
losophie und ihrer antiken Grundlagen in Piaton, Aristo-
teles, Augustin, dieser ,quaedam philosophia perennis*,
wie er sie nennt. Hier finden wir noch nicht den maß-
losen Konstruktions- und Nurorganisationsgeist, in dem
Kant die Natur zu einer Art erweitertem Preußenstaat,
d. h. einem künstlichen Bauwerk menschlichen Verstan-
des herabsetzen zu dürfen glaubt; noch nicht die Über-
aktivität und leere formalistische Reglementierungssucht
in Kants geistiger Grundstellung zur Welt; noch nicht die
den nachfolgenden Pantheismus vorbereitende Auflösung
aller geistigen Individualität in ein Ding, in dem nichts
fließt als verdünnte Denktätigkeit; noch nicht den ganz ein-
seitigen, weil im Grunde einsichtsleeren Pflichtgedanken
in der Ethik; noch nicht die Ausschaltung der Liebe und
jaller Regungen der Sympathie aus den moralischen Kräf-
ten; noch nicht die Verballhomung der Religion und des
Gottesgedankens zu einem »Als ob« im bloßen Dienste *
des pflichteifrigen Bürgers; noch nicht die schreckliche
altprotestantische Lehre von einem radikal Bösen in der
^nenschlichen Natur, die Goethe so tief abstieß; noch nicht
die gesuchte Glücksverachtung, die gemeinste Sinneslust
nicht zu trennen weiß von der griechischen Eudämonie
und der christlichen Glückseligkeit und beide mit gleichem
Fanatismus nicht nur als Zwecke, sondern leider auch
als Ziele der Seele verwirft. Kant ist ein gewaltiger
Denker, und wir dürfen nicht aufliören, uns mit ihm
immer neu auseinanderzusetzen. Aber als Grundlage einer
allgemeinen Geistesbildung auf Gymnasium und Univer-
Digitized by VjOOQ IC
256 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
sität eignet sich seine dunkle, vieldeutige Philosophie und
eignen sich die spekulativen Subjektivismen und geist-
reichen Eigenwilligkeiten seiner Nachfolger nicht. Wir
bedürfen einer Philosophie, die nicht wie die Kantische .
einer geschlossenen Faust, sondern einer offenen Hand
gleicht; die wieder anknüpft an das große Erbe der euro-
päisch-christlichen Gedankenwelt und deren Seele zugleich
der strengste Objektivismus und die Anerkennung
letzter Wesenstatbestände und -zusammenhänge in der
Welt und im menschlichen Geiste sein muß. Nur im Geiste
Leibnizens, nicht im Geiste Kants ist es möglich, daß die
europäische Philosophie wieder eine fruchtbare Symphonie
wird — ohne eng konfessionelle Voraussetzungen, wie sie
für Kant trotz aller sog. Vemunftautonomie der Altpro-
testantismus ist. Und noch weit weniger können wir eine
reflektierte Nationalphilosophie wie jene Fichtes als
solche Grundlage brauchen und ähnliche »Ich «Philoso-
phien. Nicht die widersinnige Aufblähung des Deutschen
zum »ursprünglich freien und vernünftigen« Wesen über-
haupt, sondern die Erkenntnis unserer nationalen Indivi-
dualität und ihrer Güter, aber auch ihrer Grenzen ist
unsere Aufgabe; nicht die entsetzliche Auffassung der
ganzen Welt als gleichgültiges bloßes »Material unend-*
lieber Pflicht«, sondern die Bewegung liebreicher Hin-
gabe an ihr objektives Ganzes und an ihre eigenwertige
und eigenseiende Fülle.
Aber ich hatte noch einen anderen und höheren euro-
päischen Grundwert angegeben, der uns geschichtlich
zusammenhält: das Christentum, zunächst in seiner
abendländischen Form.
Es sei bei diesem großen Gegenstande nur auf ein
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 257
paar Momente hingewiesen, die nur aufmerksam machen
sollen auf diese für den kulturellen Wiederaufbau wichti-
gen Punkte.
a) Zuerst ist von großer Bedeutung, daß die christliche
Religion in einer ihrer größten kirchlichen Formen, in
der Form der russischen Orthodoxie und Kirche, nicht
— - wie es viele bei uns erwarteten — mit dem Zusammen-
bruch eines der furchtbarsten Gewaltstaaten der Ge-
schichte, mit der russischen Autokratie, mitzusammen-
gebrochen ist, sondern sich in diesem Zusammenbruch
erhalten hat, aber auch durch ihh sich tiefgehend umformtV
Sie formt sich um, indem sie sich vom Staate trennt, zu
ihrer vorpetrinischen Gestalt und zu selbständiger geist-
licher Spitze, in gewissem Sinne zurückkehrt und sich —
wie wir jüngst hören konnten — wahrscheinlich mit den
griechischen Kirchen des Orients und der Balkanländer
enger verknüpfen wird. Schon daß die gewaltige Idee
einer Wiedervereinigung der abendländischen und mor-
genländischen Kirchen hierdurch ganz neue Aussichten
erhält, ist von kaum abzuschätzender Bedeutung. In be-
treff der rom-freundlichen Partei der Stundisten sagte
Hamack mehrere Jahre vor dem Krieg (»Das Testament
Leos Xni.«): »Eine politische Bedeutung kann sie zurzeit
nur auf indirektem Wege gewinnen, aber wenn einmal
das starre Staatschristentum Rußlands nicht mehr zu
halten ist — und wer darf sagen, daß es ewige Dauer in
sich trägt? — , so hat diese Partei eine Zukunft, und man
versteht es, daß Rom schon jetzt mit ihr rechnet. « Schon
* Vgl. zu dem Gesagten Dimitri Mereschkowski : »Vom Krieg zur Revolu-
tion«, München, Piper 1918, bes. den Bericht über die Rede A. W. Karta-
schow's »Die Erfüllung der Kirche«.
17
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258 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
jetzt sind Bestrebungen im Gange, die nach dieser Richtung
zielen und Verständigungs- Bemühungen zwischen Rom
und der Orthodoxie vorbereitend in Gang setzen. Sie sind
noch nichl reif genug, um über sie zu sprechen. Aber noch
mehr: Es ist dadurch auch für Westeuropa das Beispiel
geschaffen eines ganz neuen Zusammengehens der christ-
lichen Gedankenwelt und ihrer tiefsten Antriebe mit der
sozialen Demokratie und dem berechtigten Teil ihrer
Forderung gegen den kapitalistischen Staatsgeist. Ob-
gleich die christliche Religion die äußere Revolution der
Gewalt und des Blutes tief verabscheut, ist sie doch von
Hause aus nicht eine, sondern sie ist die revolutionärste
Geistmacht der Geschichte. Sie macht, wo sie in der Rich-
tung ihres Wesens wirken kann, alles neu. Wiedergeburt
ist ihr Grundbegriff in allen Dingen. Im Abendlande, und
zwar in besonderem Maße in Deutschland und in Öster-
reich — vermöge der hier besonders starken Verflechtung,
ja Verfilzung von Kirche und den den Staat beherrschen-
den Schichten — war die christliche Religion in allen
ihren Ausgestaltungen in einem Maße, das die edlen
Flügel ihres wahren Geistes lähmte, viel zu einseitig mit
den Interessen der herrschenden bürgerlichen Klassen
verschmolzen. Seit Jahrhunderten wird die christb'che Re-
ligion oder werden doch sehr wesentliche und wichtige
Gruppen, die ihr angehören, nun aber in Rußland in eine
revolutionäre Bewegung^ nicht nur hineingerissen, son-
dern waren in ihrer Erzeugung auch stark beteiligt (christ-
liche Sozialrevolutionäre); welche Gefahren sie auch (lir
die christliche Religion in ihrer kirchlichen Ausprägung
in sich berge, auf alle Fälle wurde dieses einseitige Band
* Haben doch Mönche selbst diese Bewegung stark mitgefuhrt.
Digitized by VjOOQ IC
Vom kulttirellen Wiederaufbau Europas. 250
des Christentums mit den herrschenden Mächten und ins-
besondere dem bürgerlichen Kapitalismus und seinem
Geist zersprengt. Das ist eine große, erhabene Tatsache,
und sie erscheint eine solche Tatsache besonders dann,
wenn man sie mit der durch diese Trennung neu geför-
derten Einigungsbereitschaft mit den abendländischen
Kirchen zusammennimmt. Auch als Beispiel dir West-
europa wird diese Tatsache keinesfalls ohne stärksten
Einfluß bleiben. Schon vor dem Kriege war die große
russische Literatur (Dostojewskj, Tolstoj, Solowjew usw.)
fast die einzige, europäisch gültige schönwissenschaft-
liche Literatur wahrhaft christlichen Geistes.
b) Eine zweite große Tatsache habe ich schon ange-
deutet. Wie die Demokratisierung mit Fr. Meinecke (wenn
auch in national sehr mannigfacher Form und Art) eine
» universale geschichtliche Tendenz « genannt werden kann,
der man nur klug und verständig fiir die Zeichen der Zeit
begegnen kann oder töricht und unverständig, die man
aber auf keinen Fall aufheben kann, so ist auch die Ten-
denz auf Trennung von Kirche und Staat und dem
Staatsgeist, der zu der europäischen Anarchie des Welt-
krieges (lihrt^, eine »universale Tendenz« zu nennen.
Diese Trennung ist in dem Maße für die Kirchen schäd-
lich, als sie aus Mangel an lebendigen, religiös bauenden
Eigenkräften sich auf den Staat stützen mußten; als der
Polizeidiener schließlich die Menschen in die Kifche treibt;
für den Protestantismus z. B. ist sie weit gefährlicher als für
die in sich festgefugte katholische Kirche, für den deutschen
Protestantismus gefährlicher als für das kirchlich selbstän-
digere angloamerikanische System. Aber sie ist — so-
viel politische Sorgen sie noch bereiten mag — zugleich
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26o Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
ein eminent erweckender, neuen religiösen Idealismus ent-
faltender Antrieb für diejenigen Kirchen, welche die Ope-
ration aushalten, ihren Geist und ihre eigenen Organi-
sationen zu erneuern. Wie viel Idealismus, Opferkraft,
neue christliche Belebung auch der profanen Kultur hatte
schon vor dem Kriege, ganz so^ wie es Papst Pius voraus-
sah, die Trennung der Kirche von einer bourgeois-kapi-
talistischen Regierung in Frankreich zur Folge gehabt I
Gar manche der Erscheinungen, die ich in meinem Buche
»Krieg und Aufbau« »falsche Anpassung« der deutschen
Katholiken nannte, können in der neuen Situation, in die
wir gelangen werden, vermieden werden. In England findet
sich, oft stark vereinigt mit den romanisierenden Gruppen
der Hochkirche, auch zum Teil mit denen, die auf tiefere
Verständigung mit der russischen Kirche drängen, dieselbe
Tendenz zur Trennung.
In Preußen muß mit Sicherheit erwartet werden, daß
die konfessionelle Schule in Gefahr gerät, wenn eine auf
das Reichstagswahlrecht gegründete Majorität des Preußi-
schen Abgeordnetenhauses ohne Verfassungsänderungen
ans Ruder gelangt. Schon jetzt kenne ich viele maßgebende
katholische und protestantische Stimmen, die eine ener-
gische Geistes- und Opfervorbereitung auf diesen
großen Umschwung fordern. Wie schwer diese Änderung
der parlamentarischen Machtverhältnisse auch die christ-
lichen Kreise Preußens zunächst treffen möge: sie und
ihre Folgen werden die religiösen Kräfte reinigen; sie
werden den völkerumspannenden und vereinigenden Geist
der Kirche steigern, sie werden dazu führen, daß man den
Gedanken tiefer erfasse: Man könne nicht zugleich dem
Mammon in einer entchristlichten Gesellschaft und Gott
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 26 1
seine Dienste weihen. Die Vereinigungs- und zum wenig-
sten Verständnisbereitschaft aber der christlichen Kirchen
und Gruppen, ihre gegenseitige Verständigung in Wissen-
schaft^ Theologie, Kult kann durch alle diese Vorgänge
nur gestärkt werden — und damit auch die chrisdichen
wichtigste der Einheits- und Wiederaufbaukräftfe der euro-
päischen Kultureinheit.
Wohl entspricht es nur den grundsätzlich verschiedenen
Dauerdimensionen, denen Veränderungen sozialer resp.
politischer Verhältnisse einerseits, religiös-kirchlicher an-
derseits wesensgesetzlich unterliegen^, wenn zunächst be-
sondere Sicherungen von Vertretern beider chrisdichen
Kirchen gefordert worden sind für den Fortbestand der
Grundverhältnisse, die in Preußen Kirche und Staat bisher
zueinander einnahmen. Auch wir finden solche Forderung
wohl berechtigt. Wenn wir aber nicht aktuell politisch ur-
teilen, sondern auf den Gang sehen, den mit einiger Wahr-
scheinlichkeit die Dinge gehen werden, wird man diesen
Sfcherungen weniger Vertrauen schenken dürfen, als dies zu-
meist geschieht. Gelänge es den christlichen Kirchen nicht,
die Masse des arbeitenden Volkes auf noch andere Art
sich zu erhalten oder besser sie neu zu gewinnen als
durch die Aufnahme der betreffenden Gesetze in die Ver-
fassung, nämlich durch freie religiöse und geistige, den
Aufgaben der Zeit in wahrhaft chrisdichem Tatgeiste
rechnungtragende Mission, so würden jene »Sicherungen«
schließlich Versuchen gleichen, einen reifXenden Strom
mit dem Spazierstock aufzuhalten*.
' Siehe »Der Formalismus in der Ethik usw.«, II. Teil.
'Ich brauche nicht zu bemerken, wie nur allzusehr sich dieses vor 2 Vt Jahren
geilte Urteil bestätigt hat.
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262 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
c) Als Drittes weise hier hin auf eine Frage, die ich so
stellen möchte: Stockholm oder Rom oder Stockholm
und Rom? Beide Namen bedeuten heute zwei Geistes-
mächte gegen die Kriegsfortsetzung bis zum europäischen
Selbstmord und zwei Geistesmächte, die eine dauernde
europäische Ordnung fordern. Beide Namen erinnern uns
an mächtige Bestrebungen großer Menschengruppen,
denen sich die Mittelmächte bedeutend entgegenkommen-
der erwiesen als die Entente — und insbesondere ihr west-
licher Teil. Die Entente hat auf die Papstnote nicht ge-
antwortet und dieselben Ententestaaten haben mit der
charakteristischen Ausnahme Rußlands ihren Angehöri-
gen den Besuch der Stockholmer Konferenzen verboten.
Auch in diesen Zeichen bewahrheitet sich eben, was ich
in meinem Buche Ȇber die Ursachen des Deutschen-
hasses« sagte: Der wahre Ausgangspunkt des unversöhn-
lichen Hasses gegen Europas Herzländer sitzt nicht im
vierten Stand, soweit er selbständig geworden, nicht auch
in den christlich-kulturkonservativen Mächten Europas, er
sitzt in den großen Kapitalmächten und Bourgeoisgruppen
der Westländer mit dem ihnen entsprechenden individuali-
stischen atomistischen Erdengeiste. Wollen wir, was wir
nicht wollen, die Welt in zwei Heerlager den letzten geistig-
moralischen Triebfedern und Fahnen nach teilen, so wie
es die Entente getan hat mit ihrer zweideutigen Formel:
»Bürgerliche-politische Demokratie kontra Autokratie und
Feudalismus«, so könnten wir schon auf Grund dieser Tat-
sachen die Gegenformel aufstellen: die vereinigten oder
sich vereinigenden Mächte christlicher Autorität und christ-
licher Lebensgesetze und des echten Sozialismus des vier-
ten Standes, der sozialen Demokratie gegen oligarchische
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 263
Plutokratie und ihren Liberalismus und Rationalismus in
allen Dingen des geistigen Lebens. Und hier dürften und
müßten wir Rußland, insbesondere das uns durch die
politischen Wirren noch ganz verborgene seelisch weit-
räumige und großherzige Rußland auf unsere Seite stellen.
Gleichwohl, die Strebungen, die diese beiden Namen
Rom und Stockholm bezeichnen, sind sehr verschieden
an Ursachen, Geist, Ziel. Wird diese oder jene ein größe-
res Gewicht in die Wagschale des Friedens auf die Dauer
werfen oder beide zusammen? Ich wage zu sagen, daß von
diesen Fragen sowohl das Ob als das Wie des europä-
ischen Kulturaufbaues in hohem Maße abhängen wird.
Aber nicht nur dies. Ob es jetzt gelinge oder nicht, daß
die beiden in diesen Namen angedeuteten Geistes- und
Willensmächte auch irgend praktisch zu gemeinsamem
Ziele zusammenwirken : Werden sie nicht von dieser gro-
ßen Erinnerung mindestens objektiven Zusammenwirkens
zu gleichem Ziele aus überhaupt, auch nach dem Kriege,
eine neue Verständigung suchen müssen: die wahrhaft so-
ziale, nicht dife bürgerlich-liberale Demokratie des vierten
Standes und die der Vereinigung zustrebenden chrisdich-
kirchlichen Mächte? Ich meine die durch die Trennungs-
tendenz von Kirche und Staat freier und offener, reiner,
christlicher gewordenen kirchlichen Mächte? Könnte nicht
ein Teil des Sinnes dieser unerhörten Kriegsrevolution
Europas eben darin liegen, daß in ihr der spezifisch bür-
, gerlich-kapitalistische Geist mit allen seinen Hervorbrin-
gungen, daß dieser gemeinsame Feind des aufstrebenden
vierten Standes und einer ihres christlichen Wesens
klar bewußten Kirche, langsam aber doch sichtbar zu
Grabe getragen werde? Mit all seinen Hervorbringungen,
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264 ^^°^ kulturellen Wiederaufbau Europas.
dem falschen^ bloß leibhaft-sinnlichen Individualismus, mit
politischem Nationalismus, mit kapitalistischem Zentral-
staat und Imperialismus? Nun, auf alle Fälle ist die Frage:
Wie wird sich die christliche Kirche zur sozialen Demo-
kratie stellen und wie diese zu ihr, für den kulturellen
Wiederaufbau Europas von größter Bedeutung^ Denn
ich wage zu sagen: Keine dieser Mächte wird es allein
vermögen, das große Werk zu tun. Das können nur beide
zusammen. Versagt eine, so wird es überhaupt nicht statt-
finden.
Ich bejahe diese Fragen, trotzdem ich genau weiß, was
alles dem an Hemmungen entgegensteht. Aber vielleicht
gibt es doch Gründe, diese mächtigen Hemmungen als sich
langsam verringernd anzusehen. Betrachten wir einige!
Gewiß gewaltige Gegensätze hier und dort! Dort zu-
erst die von der christlichen Kirche unabtrennbare Autori-
tätsidee in Glaubens- und Sittensachen und die einheit-
liche Regierung der Christenheit. Hier die starke, vom
bürgerlichen Liberalismus übernommene Tendenz gfegen
die Idee der Autorität überhaupt! Hier eine stark mate-
rialistisch gefärbte, auf alle Fälle aufs Irdische gerichtete,
alles nur vom Kampf der Klassen, nichts von einer Soli-
darität der Stände erwartende Weltanschauung mit ihren
mannigfachen Ideologien, von denen der Marxismus nur
die bedeutsamste ist, — stark getragen auch durch die
Beschäftigungsart des Arbeiters in einer naturwissenschaft-
lich-technisch durchtränkten Zivilisation. Dort der Sinn für
' Eine in die letzten Fundamente der geistigen und geschieh tsphilosophischen
Grundlagen von Kapitalismus und Sozialismus eindringende, systematische
Antwort auf diese Frage gibt mein im Erscheinen begriffenes Buch: Ȇber
Wesen und Werdensgesetze des Kapitalismus. Ein Weg zum christlichen
Sozialismus.« Leipzig, Neuer Geist -Verlag.
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 265
das Übernatürliche mit Wurider und Gnade, für ein dulden*
des Sichfügen in eine sinnvoll und zielhaft geordnete Welt
mit festen Wesenskonstanteü ihres vorsehungsmäßig gelei-
teten Ganges, — Ideen, die irdische Tatkraft jeder Art zu
lähmen scheinen, die auf den ersten Blick den Glauben an
Menschen kraft zum sinnvollen Ordnen der Welt verrin-
gern. Hier immer noch stark wirksame chiliastische Utopien
auf eine Art Paradies auf Erden, auf alle Fälle auf eine
Eigentums- und Wirtschaftsordnung, die das Privateigen-
tum an Grund und Boden und die Produktionsmittel so stark
als möglich einschränken oder ganz beseitigen möchte; die
natur- und gsschichtsgegebene Gliederung der Völker und
Stände aber zugunsten einer nur quergeschichteten »inter-
nationalen« Klassengliederung verdrängen will. Dort das
Bewußtsein, daß das Menschenziel ein jeder Seele eigenes
individuelles und übernatürliches Geheimnisvolles ist, daß
diese Welt voll ist der Sünde und dauernd nicht sein kann
ohne Gnade, Erlösung und eine objektive Anstalt ihrer Mit- '
teiluh|^ an den Menschen; nicht sein kann ohne Hoffnung
ujid Glaube an ein jenseitiges Ziel. Dort auch die schon
um der Freiheit der individuellen Geistespersonen in ihrem
Gewissen willen unnachläßliche Festhaltung am Privat-
eigentum überhaupt und die im Vorsehungsglauben ge-
gründete Anerkennung einer natürlichen Volks- und stan-
desmäßigen Menschheitsgliederung. Hier zwar große
Gegensätze der sozialdemokratischen Gruppen der ver-
schiedenen Völker, aber im Gegensatz zu den Spaltungen
der christlichen Kirchen und ihrer Tiefe doch vielleicht
nur vergängliches, im Kriegszustand gegründetes Aus-
einander- und Gegeneinandergehen der nationalen Sozia-
lismen. Femer: das bisherige Verflochtensein wichtiger
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266 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
christlicher kirchlicher Gruppen mit den Feudalresten und
dem^groß^, finanzmächtigen Bürgertum auf der einen
Seite, das entschiedene Klasseneinheitsbewußtsein auf der
anderen.
Alle diese tiefen Gegensätze erkenne ich voll an; alle
werden noch lange weiterbestehen. Aber alle, so behaupte
ich, sind in einer zunehmenden, durch den Krieg stark
geförderten Abschleifung begriffen. Und vor allem:
Alle werden im Prozesse dieser Abschleifung zunehmend
kleiner werden, vor allem allmählich kleiner als die ge-
meinsamen Gegensätze der noch christlich denkenden
und fühlenden Welt und der sozialen Demokratie (beson-
ders Rußlands und der Mittelmächte), gegen den Geist,
das Ethos, die Institute des bürgerlichen Kapitalismus
und seiner geistigen Ideenkorrelate.
Die christliche Autoritätsideelsteht dem demokratischen
Sozialismus nur da entgegen, wo eine Art Solidarität dieser
religiösen Autorität mit bestimmter, je gegebener Beschaf-
fenheit der Staatsautoritäten angenommen wiM. So
etwas lehrt aber nicht nur nicht die christliche Kirche,
sie hat sich seit der Französischen Revolution und dem
folgenden Zusammenbruch des Legitimismus und der hei-
ligen Allianz auch zunehmend von solcher Maxime prak-
tisch losgelöst. Alles mögen wir zu erwarten haben, nur
keine neue heilige Allianz — wenn nicht die ganz neue
heilige Allianz einer christlichen und sozialen Demokratie
der europäischen Völker. Die christliche Kirche lehrt allein,
es sei Bestand und Geltung einer Obrigkeit und Gehor-
samspflicht gegen ihre Anordnungen — im Rahmen des
Naturrechts — im Weltplane Gottes eingeschlossen. Die
inhaltliche Bestimmung der »Obrigkeit« überläßt sie den
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 267
causae secundae der Geschichte, zu denen Kriege und
auch vorsehungsmäßig berechtigte Revolutionen gehören
können. Noch zu starke, da und dort noch vorhandene
Solidaritätsgefühle der Kirche mit überlebten Staatsein-
richtungen und bürgerlichen Herrschaftsverhältnissen wer-
den durch den Weltkrieg, wie gesagt, überall stark ver-
mindert werden.
Nun- die Weltanschauungsgegensätze: Die Forderung
des Glaubens an ein übernatürliches Schicksal und Ziel der
individuellen Seele, das fordert als Allererstes auch eine
Sozialordnung, da jeder Mensch Muße und innere Frei-
heit hat, überhaupt seiner Seele zu gedenken, ja sie
zu erleben — nicht nur in Worten zu wissen, er habe
eine geistige Seele mit eigenen Schicksalen und Zielen. Wie
wenige Menschen erleben und fühlen, 'daß sie eine Seele
haben (Newman). Ist es ein Wunder, wenn dies der Mensch
des vierten Standes in dieser plötzlich im 19. Jahrhundert
hereinbrechenden industriellen technischen Welt so wenig
gemerkt, daß er darum — nicht durch die sogenannten
> Fortschritte der Wissenschaft « (die ihrer Idee nach so ideal
ist wie die Wahrheit selbst), materialistisch-ökonomisch zu
denken sich gewöhnte? Und waren die, echte Wissenschaft
überfliegenden Gedankensysteme, die dieser Mensch halb
unbewußt in den Dienst dieses gewohnheitsmäßigen An-
triebes stellte, nicht im Grunde Werke des bürgerlich-
liberalen Geistes, der als »Geist« wenigstens heute sich
selbst das Grab gräbt? Die soziale Demokratie mit ihren
großen, berechtigten Forderungen kraftvollster Sozial-
politik mit Finanzmitteln, die durch unumgängliche Ab-
rüstung frei werden, mit Achtstundentag und Beseitigung
einer falschen, nationalistisch -imperialistischen, Arbeits-
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268 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
raubbau entfesselnden Weltkonkurrenz, gewähren der
Seele des Arbeiters zunächst einmal die Besinnung auf
ihre spirituelle Existenz selbst. Weiß sie, sie sei, dann
wird sie auch an ihre Schicksale denken oder kann es
doch erst. Freiheit der Menschen zur Religion und zur
Kirche ist Bedingung, nicht Folge der Freiheit der Religion
und der Kirche in der Welt.
Der Geist der abendländischen Kirche, der auch den
Geist der morgenländischen in Geben und Nehmen tiefer
durchsetzen wird, ist (vom quietistischen Luthertum abge-
sehen) in allen seinen Unterformen dazu von Hause gar
nicht einseitig gerichtet auf ein nu r transzendentes Gottes-
reich. Eine Doppelbewegung nach oben und nach unten
ist ihm eigen, d. h. auch die Bewegung zum Einbau des
Gottesreiches in die sichtbare und öffentlich-rechtliche
Welt*. Als kraftvolle sichtbare Organisation soll die christ-
liche Kirche in Geschichte und Gemeinschaft hineinwirken,
nicht nur am Sonntag, auch am Werktag und für den
Werktag. Und eben dieser positive Organisationsgeist in
einem Zeitalter, das bisher anarchisch laufende Kräfte zu
meistern begierig ist, ist der chrisdichen Kirche mit der
positiv-sozialen Demokratie gemeinsam eigen, gemein-
sam gegenüber dem anarchischen Wesen des bürgerlichen
Liberalismus. Und soll, wenn die soziale Demokratie den
Staat stärker mit in ihre Hand bekommt, wenn sie aufhört,
nur negative Kritik zu üben und wenn sie den Geist der
politischen Verantwortung in sich aufnimmt, sich nicht auch
ihr Weltbild wie von selber langsam umgestalten-
von einem Weltbild blind wirksamer ökonomischer Ver-
* Vgl meinen Aufsatz: »Westliches und östliches Christentum« in «Krieg
und Aufbau«.
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 269
hältnisse und Kräfte, die den Menschen nur schieben, zu
einem Weltbild der abgestimmten Ordnung der Werte
und Dinge, in deren oberstem Regiment eine freie und
vernünftige persönliche Geisteskraft sitzt, nur unermeßlich
freier und vernünftiger, als sie der verantwortliche, frei
schaffende und ordnende Menschengeist, selbst erst defi-
nierbar durch seine Ebenbildlichkeit zu Gott, — in der
eigenen Tiefe abbildlich gewahrt? Kein Menschenwesen,
man verlasse sich auf dies stahlharte Gesetz des Lebens,
kann mitregieren, mitordnen, mitverantwortlich und ver-
nünftig lenken, das gleichzeitig glaubt, es sitze das blinde
Atom oder eine blinde Energie im Mittelpunkt und im
Grunde der Dinge. Das ist eine geistige Wesensun-
möglichkeit. So etwas kann immer nur die Denkweise
von unten her sein, ist die Welt vom entrüsteten Dienst-
boten aus gesehen, ein Weltbild, mit dem man wohl un-
verantwortliche uferlose Kritik üben, mit dem man aber
nicht lenken oder midenken kann. Aber mit dem glei-
chen Vorgang, der die soziale Demokratie — geistig
unbürgerlicher Observanz — zur Mitregierung fuhren
wird, wird auch die weitaus bedeutsamste Hemmung
beseitigt werden, welche die religiösen Sehnsüchte des
vierten Standes von ihrem natürlichen Wege und Laufe
zu Gott und zu Christus abhielten. Diese Hemmung war,
wie die Hemmung alles und jedes religiösen Glaubens an
den wahren Gott, ein positives Surrogat des höchsten
Gutes, ein oder der andere Götze, ein Objekt der Ver-
gafiung — wie die alten Mystiker sagten — , eine illusio-
näre Wand, die das Göttliche verbarg. Man könnte ein
ganzes Buch schreiben über all die Gottessurrogate,
die in diesem Kriege zusammenbrachen, die Seelen frei zu
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270 Vom kulturellen Wiederauf bao Europas.
machen für Gott, betitelt: »Vom Untergang der Götzen
Europas«. Für die soziale Demokratie Europas war dieses
Gottessurrogat der Zukunftsstaat, der Glaube an taten-
losen automatischen Fortschritt und sogenannte Entwick-
lung, die von selber das Paradies hervorbrächten, war vor
allem der Glaube an ein mögliches irdisches Paradies
selber. Diese Zukunftsstaatsidee hatte sich Marx unter
nachweisbarer Einwirkung des • jüdischen messianis ti-
schen Gedankens in Verfolgung seiner geschichtsphilo-
sophischen Studien gebildet. Furchtbar höhnend tanzt die
Furie des Krieges auf diesen Götzen und — schon sind
sie halb verbrannt. Ein unermeßlicher leerer Raum ist
entstanden in der großen Seele des vierten Standes, der
trotz alles sogenannten Revisionismus vor dem Kriege
in seiner armen guten Seele von diesen Götzen heimlich
ja doch gelebt hat — von diesen Götzen, die nur die
klassenmäßig geformte Umkehrung waren der Götzen
jenes liberalen Bürger- und Bourgeoistums — des impe-
rialistisch gewordenen Mammons und einer ordnungslosen
Freiheit — jenes selben liberalen Bürgertums, dem der
vierte Stand geschichtlich entstiegen ist, und dessen gei-
stige, theoretische Antriebe zu überwinden er, in eine end-
lose Facharbeit verwickelt, noch nicht genug Muße,
Freiheit, geistige Selbständigkeit und Zeit besaß. Dieser
leere Raum fordert, ja heischt Erfüllung mit wahren reli-
giösen Gütern. Es ist Sache der christlichen Kirche, und
es ist ihre heilige schwere Verantwortung vor Gott, ihre
barmherzigen Arme rechtzeitig und liebevoll zu öffnen,
um den europäischen Menschentypus künftiger Staatsmit-
lenkung, um den, wie wir hoffen, nur fälschlich verloren
geglaubten Sohn des vierten Standes — zu oft von ihr
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 2 7 I
preisgegeben für korrektere aber im Seelengrunde weit
mindere Söhne — würdig zu empfangen. Schon jetzt ist
der Marxismus nach seiner nur negativen Seite hin so gut
wie preisgegeben, und kein christlicher Denker sollte es
sich entgehen lassen, mitzuarbeiten am Aufbau der neuen
Ideologie des vierten Standes. Bisher sah der vierte
Stand alle Gebiete nur von vemunftlosen Kräften gelenkt.
Das wird aufhören im Maße, als er die Gesellschaft mit-
leitet. Geschichtspantheismen anderseits, denen die Welt-
geschichte} d. h. der Erfolg selber schon das Weltgericht
ist (nach denen ein Gottesgericht am Ende der Dinge also
überflüssig wäre), gleich der Geschichtsphilosophie vieler
deutscher Philosophieprofessoren neuer und alter Zeit —
liegen ja auch nicht im Geiste einer christlichen Denk-
weise. Im Gegenteil: auch sie vermag nicht nur, sie
muß als christliche Denkweise blinden Triebfaktoren von
Hunger und niederer Liebe diese Menschengeschichte
weitgehend dem Sündenstande auf die Rechnung setzen;
und sie hat keinen Grund, nur den »Geist« in dieser ge-
fallenen Welt als kräftig in der Geschichte anzusehen. Sie
hat keinen Grund zu pantheistischer Schönfärbung.
d) Auch die Differenz des extremen Staatssozialismus
und der Gesellschafts- und Rechtslehre der christlichen
Denkweise ist in der Verminderung begriffen. Gewiß lehrt
diese Denkweise das Privateigentum prinzipiell schon als
Hort der Freiheit der geistig -leiblich einheitlichen
Menschennatur unbedingt achten. Aber sie gibt keine
feste Grenze an für seine positive Ordnung, für sein Ge-
brauchsrecht, für seine Pflichten, für seine Belastung, für
seine Gesamtbedeutung im Staate und der Gesellschaft..
Vor allem weiß die christliche Kirche, daß nicht der
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2 7 2 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
Gegensatz von sogenannter freier Konkurrenzwirtschaft
ak System und staatsgebundener Wirtschaft oder regle-
mentierter, gesetzerzwungener Gemeinwirtschaft aller Art,
d. h. ein bloßer Systemgegensatz der wesentlichste ist
Rir die rechte Gestaltung des Gemeinlebens, sondern der
ganz andere Gegensatz des Geistes der Solidarität,
der Kooperation und der liebegeleiteten Gerechtigkeit
und des Geistes der Nurkonkurrenz, des Gegenein-
anderarbeitens und des bloßen Klassenkampfes, sei es
von oben oder unten, sei es zwischen Individuen, sei es
zwischen Völkern und Reichen. Und sie weiß, daß es in
letzter Linie total gleichgültig ist, ob die Subjekte und
Träger dieser beiden Arten des Wirtschaftsethos Indivi-
duum heißen oder Staat. Ein Staatssozialismus kann genau
so kapitalistisch dem Geiste nach sein, wie eine wesent-
lich freie Wirtschaft vom Geiste der Solidarität durch-
flutet sein kann. Diese Systeme sind weitgehendst nur
Zweckmäßigkeitsfragen, und wenn die gegenwärtige Not
allein schon einen weitergehenden Sozialismus für die
Zukunft den europäischen Staaten gebieten sollte, so ist
nur zweierlei notwendig: i. dem stärker mit Funktionen
und Aufgaben belasteten und in seiner Wirtschafts-
beamtenschaft erheblich gestärkten Staate auch genug
politisch demokratisches Öl zuzugießen, auf daß die per-
sönlich geistige, auch vor allem die religiöse Freiheit in
solchem Staate genügend gewahrt sei; 2. die kulturellen
und religiösen Dinge diesem Staate (Sprache, Schule,
Sitte, Kultus, Wissenschaft und Kunst usw.) in weit höhe-
rem Maße überhaupt abzunehmen und alles zu weit-
gehende staatliche »Organisatiohsstreben« in dieser Rich-
tung stärker zu beschränken, als es bisher beschränkt
Digitized by
Google
Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 273
war; dafür aber diese Dinge der Selbstverwaltung der
Völker, Stämme, Gliedstaaten, Städte, Gemeinden, freien
Vereinen und Stiftungen in höherem Maße anheimzugeben,
auf daß dieser wirtschaftlich so stark gewordene Staat
nicht versucht sei, die gebotenen Grenzen seiner neuen
Machtfiille zu überschreiten. In diesem Sinne, nicht im
politischen, fordern auch wir eine neue Selbstbestimmung
der Nationen, Stämme, Völker.
5. Die Verflochtenheit aber der Kirche mit den feudalen
Mächten nimmt auch in dem Maße an bloßer Gegensätz-
lichkeit ab, als die feudalen Mächte in die Opposition
zu treten durch den Gang der Dinge gezwungen werden.
Das ist gegenwärtig in Preußen schon weitgehend der Fall.
Denn in dem Maße wird sich auch ihre Weltanschauung
und ihr Ethos reinigen von der starken Versumpfung,
der die kirchentreue Bevölkerung sowohl wie die feudalen
Machtreste durch eine allzuenge Verbindung mit der groß-
bürgerlichen Kapitalistenschicht und ihrem Geiste so stark
verfielen. Die Geschichte der konservativen Partei in Preu-
ßen stellt eine solche Versumpfung und Preisgabe aller
wahrhaft christlich-konservativen Prinzipien in offensicht-
licher Weise dar. Schon Jetzt gibt es in Preußen, wenn
auch kleine konservative Kreise, die sich der Pflichten
einer christlich-konservativen Partei im Unterschied zu
einem scheinkonservativen Klassenblock zwischen Groß-
grundbesitz und Schwerindustrie zu erinnern beginnen,
wie z. B. des Herrn von Kardorffs Auftreten, femer die
bekannten Briefe des Herrn Thimme an Herrn von Hey de-
brand zeigen. Ja, ich sehe jetzt schon selbst eine Reihe
junger Abkömmlinge der preußischen und österreichi-
schen feudalen Schicht, die diesen Krieg erlitten imd er-
18
Digitized by VjOOQIC
2 74 ^0°^ kulturellen Wiederaufbau Europas.
lebt haben^ die einen ähnlichen Weg zu beschreiten be-
ginnen wie der starkwillige Teil des russischen Adels,
der sogar die russische Revolution jahrzehntelang geführt
hat. Gerade die reichsdeutsche, politisch allzu dienstwillige,
seelisch gebundene soziale Demokratie bedarf mehr wie
irgend eine andere der Mitwirkung und Führung au§
diesen starknervigen, mit dem ererbten Führer- und
Herreninstinkt so sehr, ja leider zu übermäßig geseg-
neten, bisher nur zu stark in den Dienst des Großkapitals
gestellten Volkskreisen. Was aber das christliche selb-
ständige Bürgertum, sagen wir besser seine historischen
Reste, betrifft, so wird das trotz aller gebotenen Mittel-
standpolitik auf alle Fälle sehr sarke Zurückgehen des
Mittelstandes dem Zusammengehen von christlicher Kirche
und sozialer Demokratie sicher nicht entgegen sein.
Nehmen wir all dies zusammen, so sehen wir, daß sich
»Stockholm« und »Rom« erheblich näherkommen werden.
Ältestes und Neuestes sich aber eben damit kräftigen
kann im kulturellen Wiederaufbau Europas.
Nun aber noch einige Worte zum Jugendtypus, der das
künftige Europa tragen, der es zum Wiederaufbau der
europäischen Kultureinheit lebendig machen soll.
I. Das Kulturideal der Jugend wird vor allem den
Menschen und im Menschen die geistige und individuelle
Person in ihrer mitverantwortlichen Eingliederung in die
Gemeinschaft wieder in den Mittelpunkt aller Welt rücken :
an Stelle bloßer Sachen, bloßer Fächer, bloßer Waren-
dinge, bloßer Geschäfte oder bloßer verabsolutierter Un-
geheuer, wie ein vermeintlich nur in sich selbst sein Heil
tragen sollender Staat. Gewiß ist der Staat an Wert und
Zweck erhaben über das bloße Wohlsein des leiblichen
Digitized by VjOOQ IC
Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 275
Individuums; aber er ist nicht Selbstzweck auch gegen-
über dem geistigen Individuum. Und auch im Regi-
mente der Welt wird wieder sitzen vor solcher Weltan-
schauung nicht eine blutlose und frei schweben sollende
Ordnungs- und Gesetzesidee, nicht eine blinde Energie,
eine tote Materie oder ein personloser Allgeist, sondern die
unendliche Person Gottes, der allein absoluter, bedin-
gungsloser Gehorsam gebührt, wenn er durch Gewissen
und die Kirche zu uns redet. Jeder andere Gehorsam ist
relativ und bedingt. Ein konkretes Persönlichkeits-
ideal des spezifisch deutschen Menschen im Rahmen,
nicht im Gegensatze zum weiteren Typus des europäischen
Menschen, nicht also ein schäbiges Bloß-Leistungs-
ideal wird diese Jugend führen. Das Ideal einer Person, die
Würde hat bis in den einfachsten Arbeiter, Verantwort-
lichkeit, Freiheit, und in deren Knechtsdienst alle bfoßen
sog. »Organisationen« zu treten haben. Mit Personen,
mit geistig vorbildlichen Lehrern, nicht mit einäugigen
Zyklopenköpfen von Fachbediensteten und Fächerver-
waltem wollen wir unsere Universitäten besetzt haben;
mit Staatsmännern, herangereift in der freien Luft des
öffentlichen Lebens, nicht mit tüchtigen Ressortbeamten
unserer Ministerien. Wir fürchten nicht den »Dilettantis-
mus«, den man in Deutschland so leicht sofort besorgt,
sobald man den Menschen wichtiger findet als ein Fach,
Ressort oder Geschäft. Wir wollen sogar leidenschaftliche
Liebhaber ihrer Sache in allererster Linie haben und erst
in ihrem Dienste > Kenner « und bloße » Pflicht « menschen < *.
Selbständige Einsicht, nicht ein blinder »Pflicht« impuls
* Vgl. die tiefen und schönen Worte des Physikers Einstein in seiner Rede :
»Motive der Forschung«.
i8»
Digitized by VjOOQ IC
2 ^6 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
möge regieren den Einzelnen wie den Staat. Diese Person
wird sich und soll sich — sie hat es gelernt in der Schule
des Krieges — frei einordnen in Gemeinschaft und Staat,
aber nur im selben Maße, als es sich um die zwar höchst
wichtigen, aber ihrer Natur nach niedrigeren Werte der
mehr materiellen Güter handelt; im Maße, als es sich um
geistige handelt, wird sie und ihre engere Gemeinschaft
den Kopf hoch tragen gegen alles Irdische und nur vor
Gott demütig ihn beugen.
Und dieses Personideal wird ein gegliedertes sein müs-
sen und ein in sich abgestuftes. In seinem Mittelpunkt
steht der Mensch als religiöse Person — eingegliedert in
das allumfassende Gottesreich aller Seelen, der toten und
lebendigen Menschen, in jedem Atemzug demütig dem
Schöpfer dankend, daß er ist und nicht lieber nicht sei;
steht der Mensch voll Mitverantwordichkeit für das Stei-
gen und Sinken dieses erhabenen Reiches, das immer nur
als ein unteilbares Ganzes steigt und sinkt. Ihr ordnet
sich zunächst unter der geistig schaffende Teil im Men-
schen, eingegliedert in seinem konkreten nationalen Volks-
bestand mit Anrecht auf Freiheit in Sprache und kulturel-
len Idealen, die der Staat zu achten hat. Das einseitige
Idol des Nationalstaates wird zergehen, das Ideal freier,
spontan tätiger nationaler Kultur im Staate neue Frische
und Kraft gewinnen. Und dann erst folgt der Staatsbür-
ger im Menschen, frei mitbestimmend Schicksal und Füh-
rung seines Staates, aufgewacht aus der Dumpfheit bloßer
Geschäfte, bloßen Untertanensinns und einseitiger Fach-
arbeit. Dem Staatsbürger in jedem Menschen ist endlich das
ökonomische Subjekt in jedem Menschen unterworfen.
Wie der Staatsbürger seinen Rang unter dem geistig-
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Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. 277
kulturellen Subjekt in jedem Menschen einnimmt, wie er
erst recht aber unter dem individuellen religiösen Wesen
im Menschen und seinem unbegreiflich geheimnisvollen
Schicksal steht, so steht der Staatsbürger zugleich über
dem ökonomischen Subjekt in jedem Menschen. Darin
werden wir gute Deutsche bleiben, die den ökonomischen
Individualismus stets als Fremdes in ihrem Blute empfan-
den. Also ist der Staat Herr zugleich und Knecht: Herr
des ökonomischen Individuums, Herr aller zum gerechten
Ausgleich des Besitzes führenden Institute und Organi-
sationen; Knecht aber des Geistes und Knecht erst recht
der Seele und ihres individuellen Zieles in der Ewigkeit.
2. Diese Person aber wird wieder zur Grundkraft haben
die Grundkraft aller schöpferischen Epochen des Menschen-
geschlechts — nicht Weltfeindschaft und »Kritizismus«,
sondern Weltfreundschaft, Hingabesinn, Liebe. Die ge-
samte Denkweise (auch die Philosophie des bürgerlichen
Zeitalters von Descartes bis Kant), alle ihre Formen des
sogenannten »Idealismus« und Subjektivismus war das ge-
naue Gegenteil eines solchen geistigen Typus, wie er uns
voranzuleuchten hat. Diese Philosophie sah blinzelnd und
skeptisch auf Gott und Welt, die sie nur als ein durch
den Menschen zu Formendes, zu Bearbeitendes, zu Len-
kendes begriff. Und da man die Welt lenken und bewegen
nur soweit kann, als sie ein sogenannter Mechanismus ist,
darum wurde diese an sich »glückliche* Arbeitshypothese
(lir den Techniker im Menschen«, die Welt zuweilen so
anzusehen, als ob sie ein Mechanismus wäre und Nichts
weiter, flugs zu einer Metaphysik, d. h. zu einem (vor-
gegeben) »wahren« Bild der Welt gemacht. Dieser heil-
lose Irrtum ist überall im Rückgang begriffen. Schon be-
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I
2^3 Vom kulturellen Wiederaufbau Europas.
seelt unsere jüngste Literatur diese neue Kraft der großen
Hingabe, der furcht- und angsdosen Hingabe an das Sei-
ende, Reale selbst, das herzhafte Sich-die-Hände-Drücken
mit den Dingen. Und schon beginnt die neue europäische
Philosophie, was auszufuhren nicht dieses Ortes ist, auf
verborgenere Weise diese Wendung zu nehmen: von der
Weltfremdheit eines überlebten, formelhaft gewordenen
subjektiven Rationalismus zum lebendigen Anschauungs-
lüid Erlebnis-Kontakt mit den Dingen selbst.
Wahre Kultur des Menschen wird wieder heißen: Alle
Dinge zu ihrem je besonderen Sinne und Ziele fuhren helfen
durch Erkenntnis, Liebe und Schaffen: Zu dem Sinne und
Ziele, der ihnen vorgezeichnet ist in den Ideen, die Gott
von ihnen hat — , und dies alles im solidarischen Miteinander
des menschlichen Erkennens, des Liebens, Schaffens, des
Miteinanders der Individuen, Gemeinschaften, Epochen.
Nur indem die Person alle Dinge miterlöst zu Gott und zu
ihrem Ziele, vermag sie selbst mit Hilfe der Gnade sich zu
ihrem Ziele zu fuhren, d. h. werden, wie Gott sie will.
Zeichnet in diesem so noch abstrakten Rahmen auch
der deutsch-nationale Geist seine besonderen Ziele ein —
Ziele, die nur in Anschauung und Gefühl zu fassen sind,
das besondere Ideal des deutschen Menschen — , den
Zeiten entnommen, da der Deutsche auf seinen histori-
schen Höhepunkten stand, und sucht er dieses Ideal in
Tat und Arbeit zu verwirklichen, dann vermag er viel-
leicht noch mehr, als nur einen Beitrag zu leisten zum
kulturellen Wiederaufbau Europas: seinem eigentlich ger-
manischen Wesen und seiner geographischen Herzstellung
in Europa gemäß mit den Besten der anderen Völker in
Gemeinschaft auch ihn zu führen und zu leiten. —
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Probleme der Religion
(Zur religiösen Erneuerung)
Wann und wodurch immer der Mensch bis in seine
letzte Tiefe aufgewühlt und ergriffen wird, — sei es durch
Wonne oder Leid — kann solche Stunde nicht enteilen,
ohne daß der Mensch sein inneres Geistesauge zum Ewi-
gen und zum Absoluten aufschlägt, und nach ihm laut
oder leise, heimlich oder in Form eines, wenn auch un-
artikulierten Schreies verlangend wird. Denn im ungeteil-
ten Ganzen der Person und im Kerne der menschlichen
Person — nicht wie jedes sonstige Kulturgebiet in einer
der Teilfunktionen, Teilbegabungen, Teilbedürfnisse der
Person und nicht auf den Oberflächenschichten des
seelischen Strömens — ruht zu tiefst in uns jene wunder-
bare Spannfeder, die stetig, unter gewohnten regelhaf-
ten Umständen meist nur unbemerkt und ungeachtet,
zum Götdichen über uns selbst und über alles Endliche
hinaus uns emporzuleiten, immerdar tätig ist. Trifft ein sol-
ches den Kern der Menschenseele aufweckendes und diese
Spannfeder zu steigender Tätigkeit entbindendes Ereignis
nicht nur die Einzelseele in der stummen Verborgenheit
ihrer Leiden und Kämpfe, sondern die Geipeinschaft; trifft
es gar diese ganze in Völker gegliederte Weltgemeinschaft,
die über sich nichts mehr hat als ihren Gott; trifft es sie so,
wie noch niemals ein Ereignis bisheriger Geschichte die
ganze Menschheit traf; ist das Ereignis dazu so unaus-
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28o Probknie der Religioii.
denkbar leides-, todes-, tränentrunken wie dieser Krieg
gewesen, so darf man erwarten, daß der Ruf nach reli-
giöser Erneuerung mit einer Macht und einer Stärke durch
die Welt hallen werde, wie es seit Jahrhunderten nicht
mehr der Fall gewesen.
Einen einzigartigen geschichtlichen Charakter erhält
heute dieser Ruf dadurch, daß das bis ins Herz Ge-
troffene nicht mehr und nicht weniger ist, als die ganze
Menschheit: nicht mehr und nicht weniger, als dieses
wunderliche planetarische Geschlecht in seiner Ungeteilt-
heit, das ist wie ein einziger Mensch, wie ein Mensch, der
hineingeworfen in die Grenzenlosigkeit von Raum und Zeit
und in eine stumme verständnislose Natur und solidarisch
in seinen Gliedern seinen Kampf ums Dasein, aber auch
seinen Kampf um seinen Lebenssinn und um seine Würde
kämpft. Was es sonst außer diesem Geschlechte an Wirk-
lichkeit gibt — Tier- und Pflanzenwelt, Sonne und Sterne
— alles weiß der Mensch unter sich, unter sich an Würde
und Wert, ja selbst unter sich an Kraft. Aber dieses Wesen,
das also alles unter sich weiß und zu beherrschen lernte, —
was wußte es ohne Gott über sich als die mideidlosen Sterne ?
Wo wäre, was würdiger und kraftvoller wäre, als es selbst?
Leiden unendlich an Zahl in seinen Kämpfen mit der Natur
und unter seinen Teilen, Kämpfe unendlich an Zahl hat dies
Wesen schon erfahren im Laufe seiner dunklen, nur in
der Mitte und nur streckenweise beleuchteten Geschichte.
Aber wie imm^r diese Erlebnisse aussahen, wo immer
sie stattfanden, — immer hatte bis zum Beginn des Welt-
kriegs das Subjekt, das kämpfte und litt, hatten das Volk
und die Völker zum mindesten Eines über sich; — über
sich an Würde und Kraft — ; es hatte etwas über sich,
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Probleme der Religion.
281
dem es eine Art moralisches Richteramt über sich selbst
erteilte, etwas, auf das es zugleich noch tief hoffen und
vertrauen konnte, und in* dessen Schoß es wenigstens
wähnen konnte, irgendwie geborgen zu sein. Dieses Eine
war die Menschheit. Es gab- einen Appell vom Teile an
das Ganze, es gab eine Hoffnung des Teiles durch das
Ganze. Jedes Leiden und jede Verzweiflung konnte sagen:
Das Ganze leidet nicht, das Ganze verzweifelt nicht. Dieser
Appell ist heute dahin: zum erstenmal, so weit unser Ge-
danke reicht. Niemand darf mehr sagen: Im Ganzen der
Menschheit ist noch die Zukunft, die Fülle, die ungemin-
derte Kraft. Denn dieser Krieg, mit Recht Weltkrieg ge-
nannt, war das erste Erlebnis, das die Menschheit als ihr
Gesamterlebnis erlebt. Es ist eine Sache, die nicht nur in
einem Teile der Menschheit stattfindet, und die nur als
fremde Kunde oder als Bericht zu anderen Teilen der
Menschheit dränge ; nichts, bei dem die einen kämpfen und
leiden, die anderen zuschauen und sich nur mitleidend oder
mitfreuend verhalten. Solcher Art aber war bisher jedes
historische Ereignis, das uns bekannt geworden ist. Die
Sache des Weltkrieges und des Weltfriedens ist eine der
Menschheit gemeinsame Sache, die jedem Gliede des Ge-
schlechts— in wie verschiedenen Graden immer — direkt
an Leib, Leben, Seele greift.
Es gab in Europa bis zur Stunde eine weitverbreitete
Denkrichtung — sie hieß Positivismus in der Philosophie,
und war auch in Dichtung und Kunst lebhaft tätig.
Diese Denkrichtung hat all die Verehrung und Liebe, die
der ältere Mensch seinem Gotte, seinem unsichtbaren
Herrn und Schöpfer entgegenbrachte, auf das »große
Wesen« — wie es A. Comte nannte — auf die Mensch-
y-'
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282 Probleme der Religion.
heit geworfen. »Gott war mein erster, die Vernunft mein
zweiter, der Mensch mein letzter Gedanke« — so sprach
auch im Deutschland der sechziger Jahre des neunzehnten
Jahrhunderts Ludwig Feuerbach. Zu einem Heiligen
und Femen, dem man nur in scheuer Ehrfurcht zu nahen
liabe, wurde emporgeschraubt, was also Comte, Feuer-
liach, Zola der Menschheit großes Wesen nannten. Bei
Friedrich Schiller findet sich — zumal in der Frühzeit
seines Schaffens — ein analoges, fast religiöses Mensch-
heitspathos. An die Menschheit erging der Schrei der
Beleidigten und all derer, die sich widerrechtlich ver-
letzt und gedemütigt fühlten — seien es gewesen Indi-
viduen oder ganze Völker. Wo ist, wo war diese Mensch-
heit, die noch eben über uns Allen als >Grand-Etre« zu
thronen schien? Der Krieg war nicht mehr — wie es alle
Kriege bisheriger Geschichte waren — in ihr, nicht mehr
ia einem ihrer Teile. Sie selbst — die Menschheit — war
im Kriege. Wo war, was sonst, nicht litt, sondern erhaben
ruhte, während Völker litten ? Sie selbst — die Mensch-
lieit — war es, die Gewalt gelitten durch sich selbst.
Wo war der Sitz des Bösen, des Gefährdenden, wo das
dämonische, aufrührerische Teilelement, das ein Volk an-
griff" und leiden machte, auf daß die Menschheit gegen
dieses Element sich wappnen könnte, um es zu strafen?
So sehr es die Politiker mit der Brille suchen; Es war nir-
gends. Denn es ist im Ganzen der Menschheit selbst und es
ist die Menschheit selbst, die durch sich immer neue Gewalt
erleidet. Wo ist das Ganze, das, wenn ein Teil auf falsche
Bahn kam, diesen Teil noch leiten, lehren, erziehen könnte?
Nirgends ! Denn die Menschheit vermochte alles, was unter
ihr war, zu beherrschen — Sonnenlichtund jede ArtEnergie,
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Probleme der Religion. 283
Pflanze und Tier — nur eines nicht: sich selbst. Wo ist
das Grand-Etre, zu dem die Völker in Ehrfurcht aufblick-
ten? Es wand sich in Schmerzen und in Blut — und es ist
wahrlich kein »großes Wesen« mehr. Es ist nur ein kleines
Wesen, ein ganz kleines Wesen, das leidet. Zum ersten-
mal fühlt sich die Menschheit im All allein. Sie sieht, daß
ihr Abgott, der sie selber gewesen, ein Götze war — der
schlimmste Götze, der je gewesen, — schlimmer noch als
die aus Holz, Marmor und Gold.
Denn das eben ist das Neue im gegenwärtigen Rufe
nach religiöser Erneuerung, daß die Menschheit selbst
ihn ausstößt, und daß dadurch jenes sogenannte Grand-
Etre, das dem Blicke so lange Gott verbarg — gleichwie
eine Wolke die Sonne verbirgt — hinweggeweht ist. Die
Menschheit ist auf eine unerhörte Weise kundig geworden
ihrer Schwäche, ihrer Niedrigkeit, ihrer Krummholzigkeit
(wie Kant sagt). Es ist darum schwer faßlich : Eben jetzt, da
das Grand-Etre so klein geworden ist und — der Raupe"
gleich, die, ihren Kopf über das Blatt hinausspähend, sich
bewegt — sich ohnmächtig umblickt nach einer Macht,
die ihm aus den Fangarmen des furchtbaren Mechanismus
heraushelfen möchte, in die es sich verfing, vermag Alfred
Loisy ^ ein Buch zu schreiben, das — mit reicher religions-
geschichtlicher Gelehrsamkeit unterbaut — Comtes Mensch-
heitsreligion aufzuwärmen sucht. Moralische »Verpflich-
tung« — das sei gleichfalls nur das Gefühl von dem, was
wir der Arbeit der vergangenen Menschheit schulden.
Wir — der vergangenen Menschheit? Nun, was immer
wir ihr schulden mögen, sie — die Menschheit der Ver-
gangenheit — schuldet un s die ganze menschliche Leidens-
' A. Loisy: La religion, Paris, Emile Nourry, 1917.
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2 84 Probleme der Religion.
summe der Jugend im Weltkrieg: sie schuldet sie uns, da
sie den Weltkrieg verschuldet hat. Ohne die sonder-
bare Erscheinung dieses etwas verspäteten Buches genauer
zu untersuchen, darf man woM sagen : Als erstes üaJsches
Surrogat für echte Religion ist dieser positivistische
Menschheitsglaube zusammengebrochen.
Gerade in der Stunde mußte er zusammenbrechen, als
die in Völkern und Staaten gegliederte Menschheit we-
nigstens den ernsten Willen zeigt, sich zu verkörpern
in einem Bunde, der mehr darstellt als eine bloße Summe
von Verträgen zwischen den Staaten: ein selbständiges
über Völkern und Staaten thronendes, reales, mit Macht
ausgerüstetes Gemeinsubjekt, das analog wie der Staat
über seine Bürger nach allgemein anzuerkennenden
Rechtsnormen und ihnen entsprechenden Rechtsgesetzen
alle Streitigkeiten zwischen Staaten und Völkern zu
schlichten und die in diesen Rechtsgesetzen verkör-
perte Idee der Gerechtigkeit auch zwischen den Teilen
der Menschheit unter Umständen zu erzwingen sucht.
Denn eben diese erstmalige rechtlich -sittliche Verkör-
perung, die der bloße Naturbegriff der Menschheit in
einem sog. Völkerbunde finden soll, schließt die Ver-
gottung des Gegenstandes dieses Begriffes um so schärfer
und nachdrücklicher aus. Nur so lange die »Menschheit«
als moralisch -rechtliche Einheit eine bloße ferne Utopie
gewesen, ein leuchtendes Traum- und Nebelbild, — im
höchsten Falle eine glänzende Vision des Dichters und
Propheten mochte sie als dieser schimmernde Traum-
inhalt gewissen intellektuellen Gruppen als ein »Ersatz«
der Gottesidee erscheinen. Die im Welt- und Menschheits-
kriege sich realisierende Menschheit, — die Menschheit,
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Probleme der Religion. 2S5
die den ersten Versuch macht in ihrer Geschichte, sich selbst
zu beherrschen und nach einer übervolklichen und Staat
liehen Rechtsordnung ihre Geschicke in Freiheit zu lenken,
wird dieserTäuschungnichtmehrunterliegen können. Schon
der Beginn der Verwirklichung der uralten Vision — unter
'tausenden von Hemmungen, Un Vollkommenheiten^ Stö-
rungen wie jede Verwirklichung — verscheu ctit auch den
schei nbare n religiösen Befriedigungswert des visionären
Gehalts. Sie verscheucht das »Grand Etre* genau im
selben Sinne und nach demselben Gesetze der Seele, nach
dem die Realisierung des Sozialismus die religiösen Be-
friedigungsscheinwerte der messianistisch gefärbten Idee
vom Zukunftsstaat bereits zu beseitigen begonnen hat —
nachdemjedeVerwirklichungschon des einfachsten Jugend-
traumes, sei sie so vollkommen wie immer — die wunder-
bare Leuchtkraft des Trauminhaltes beseitigt. Denn nur
durch die verschönernde und alle Inhalte in ein unsagbares
Medium von Licht und Glanz tauchende Seelenniacht der
Sehnsucht kann es geschehen, daß ihrem Wesen nach
endliche Inhalte unseres Denkens und Anschauen s eine
auch nur scheinbare Kraft annehmen, auch die religiöse
Sehnsucht unseres Gemütes und die Forderungen unserer
Vernunft nach endgültigem Abschluß unseres Weltbildes
zu erfüllen. Auch der volladäquaten Verwirklichung des
in der Sehnsucht vor der Seele stehenden Ideengehaltes
haftet die Enttäuschung an. Denn Eines fehlt ihm als
verwirklichtem Inhalte auf alle Fälle: der schimmernde
Glanz, den die Sehnsucht selber auf ihn ausgebreitet
hatte.
Die realisierte, in einem realen und realwirksamen Ge-
meinsubjekt gegenwärtige Menschheit wird endgültig
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286 Probleme der Religion.
aufhören, sich mit Gott zu verwechseln. Gerade diese
Menschheit, die in der Sphäre irdischen Rechtes nichts
Irdisches mehr über sich hat, die das blinde Ohngefähr
des Schicksals und des Zufalls aus den Beziehungen ihrer
Teile nach Möglichkeit auszuschalten sich anschickt, wird
gedoppelt eines Blickes bedürfen in eine ewige Ordnung
des Guten und des Rechten, nach der sie den ersten
großen Schritt tut zur wahrhaften Beherrschung ihrer
selbst. —
Bei den Deutschen war der Positivismus und sein reli-
giöses Menschheitspathos nie eine erhebliche Macht. Um so
regsamer wirkten in den Kreisen der Gebildeten jene
mannigfaltigen Formen des Pantheismus, die uns über-
liefert sind aus der klassischen Zeit unserer Philosophie
und Dichtkunst. In abgeschwächter, verdünnter Form •
schwangen sie noch nach, — im Grunde gegen die eigent-
liche wahre Lebens- und Weltempfindung der Zeit. Es ist
aber wohl nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß
diese idealistisch-pantheistische Denkweise und Lebens-
form durch die am Weltkriege gefundenen Wesen s-
erfahrungen über den Menschen von allen Denkweisen am
härtesten getroffen, ja bis in ihre letzten Wurzeln er-
schüttert worden ist.
Schon Pierre Bayle stellt in seinem Dictionnaire im Ar-
tikel über Spinoza die ironische Frage, ob Gott wohl mit
sich selbst im Kriege sei, wenn Krieg ist. Aber wie viel tiefer
reicht dieErschütterung des Pantheismus, als es angedeutet
in dieser Frage. Diese Erschütterung hatte sich schon
vorbereitet in der Entwicklung, die das pantheistische
Denken und Fühlen im Laufe des 19. Jahrhunderts und
in den zwei Jahrzehnten des 20. genommen.
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Probleme der Religion. 287
Das Gedanken- und Gefiihlssystem des Pantheismus
beruht irgendwie auf der Gleichung Gott = Welt. Sein
erster Irrtum ist schon.die ungeprüfte Voraussetzung, daß
die Vielheit der Dinge, Kräfte, Beziehungen, die uns
Menschen unmngen, eine Welt (nicht beliebig viele Welten,
wie sie seit Demokrit jeder logisch konsequente Ma-
terialismus lehrte) und daß sie femer eine Welt (nicht ein
C h ao s), also ein sinnvoll geordnetes Ganzes zusammen aus-
machen. Denn diese Annahme ist selber schon gestützt auf
die Einheit und Weltüberlegenheit eines einzigen Schöpfer-
Gottes. Nicht nur historisch läßt sich erweisen die Wahr-
heit des Wortes von Christoph v. Sigwart^, es sei eine
Frucht des philosophischen Monotheismus gewesen, daß
man nicht mehr kausal berührungslose Bezirke des Sei-
enden anzuschauen meinte (wie solche Darstellung jedem
echten Polytheismus entspricht), sondern ein einziges,
allseitig zusammenhängendes, geordnetes Weltganzes:
auch sachlich und logisch gilt, daß die Annahme einer
Einheit und Einzigkeit der Welt aus der Annahme eines
einzigen Schöpfergottes allererst folgt. (Auch darum läßt
sich nicht ganz so leicht Gottes Dasein als bloße oberste
Ursache der »Weit« beweisen, wie man gemeinhin an-
nimmt.) Die Welt ist Welt (und nicht Chaos) und die Welt
ist eine Welt nur, wenn und weil sie Gottes Welt ist —
wenn und weil derselbe unendliche Geist und Wille in
allem Seienden tätig und kräftig ist. Genau wie die Ein-
heit der Menschennatur in letzter Linie nicht ruht in auf-
weisbaren Naturmerkmalen des Menschen, sondern in seiner
Gottesebenbildlichkeit und die Menschheit als Ganzes
nur eine Menschheit ist, wenn alle Personen und Glied-
' S. Vermischte Schriften: Über den Zweck.
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288 Probleme der Religion.
teile vermögd ihrer Verknüpfung mit Gott auch unter-
einander rechtlich und moralisch verbunden sind, so ist
auch die Welt nur um Gottes Einheit willen eine Welt.
Der Pantheismus, der den Weltcharakter des Seienden und
die Einzigkeit der Welt schon setzt unabhängig von Gott,
begeht nur denselben Irrtum auf gröbere Weise, deii auch
diejenigen begehen, die von einer schon vorausgesetzten
Einheit und Einzigkeit eines Weltbestandes auf das Da-
sein Gottes schließen. Darum verstehen wir gut, daß der
Pantheismus überall, wo er in der Geschichte auftritt, nie ein
Anfang, stets ein Ende ist, nie das Morgenrot einer neuen
Glaubenssonne, stets nur das Abendrot einer untergehen-
den. Er beruht stets darauf, daß man Folgen einer religiös
positiven Denkweise für Weltbetrachtung und Weltgefühl
noch festhält, deren Gründe und Wurzeln man vergaß.
Es ist daher meist die Öenkweise reifer, synthetischer,
abschließender Kulturzeitalter, und er kann als solche
Denkweise von wunderbarem Edelsinn und heiterster
harmonischer Größe sein. Der pantheistische Gott ist
immer ein oft schöner und warmer Nachglanz theistischen
Glaubens — ein Satz, den wenige so tief erkannt haben,
wie Schopenhauer, der den ganzen Pantheismus seiner
Epoche (Fichtes, Schellings, Hegels) als einen Rest
theistischer Glaubensweise begriff — freilich ihn eben
darum so herb verspottete. In Zeitaltem katastrophaler
Geschichtswendungen und Neugeburten versagt der
Pantheismus nicht nur vor der Vernunft — vor der er
immer versagt — sondern auch als Befriedigungsform
religiöser Bedürfnisse. Er versagt in sogearteten Zeit-
altem auch vermöge seines Ausgleichs- und Harmonisie-
rungsstrebens, das dem Moralischen Entweder-Oder, das
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Probleme der Religion. 289
solche Zeitalter zur Erlebnisform haben, keinen Raum
gewährt.
Der Pantheismus kann seine Gleichung von Gott und
Welt von einer zuvor gegebenen Weltidee oder von
einer zuvor gegebenen Gottesidee aus gewinnen. Hegel
schon hatte das neue tiefere Verständnis der spinozisti-
schen Philosophie, das im Streite Jacobis mit Lessing
über Spinoza zuerst herauszubilden sich anschickte, das
klar und reif geworden war schon in Novalis Wort von
dem »gotttrunkenen Spinoza«, in die Formel gefaßt,
daß Spinozas Lehre so wenig »Atheismus« sei (wie mit
Friedrich dem Großen das 18. Jahrhundert gemeint hatte),
daß diese Lehre vielmehr eine Art Akosmismus dar-
stelle. Trunken von Gott übersah der jüdische Apostat
das Eigenrecht, die Eigenmacht, das substantielle Da-
sein der Welt. .Seine Identifizierung ist die Identifizie-
rung der Welt mit Gott, nicht Gottes mit der Welt. Und
dieselbe Richtung des pantheistischen Denkens und Füh-
lens glühte auf zu den waghalsigen Träumen G. Brunos
und hielt sich im Grunde auch im mehr dynamisch und
historisch gearteten Vemunftpantheismus der deutschen
spekulativen Schule. Hegel und die dem »Meister« ge-
nauer folgende Hegeische »Rechte« z. B. dachte nicht
daran, die Gottheit Christi zu leugnen — im Sinne der
Renan, Strauß, Feuerbach und der späteren »liberalen
Theologie « . Sie hielten vielmehr Ansdiauung und Gefiihls-
gehalt der Inkamationslehre und des Satzes von der Con-
substanzialität fest, setzten aber (praktisch) Christus zu
einem bloßen Lehrer herab, der eine der Menschenseele
überhaupt zukommende Beziehung zu Gott zuerst in
sich erkannte. An Stelle der personalen Erlösertat Christi
19
J
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290 Probleme der Religion.
also tritt eine bloße Erkenntnis; an Stelle derZweihaturen-
lehre und der göttlichen Erhabenheit Christi über alle
Menschen tritt die Negation der selbständigen Menschen-
natur und die (vermeintliche) Erhebung aller Menschen
zu eben derselben Gottessohnschaft, die Christus nur
zuerst erkannt hätte. So wurde ihnen die christliche Reli-
gion nur das »vollendete Selbstbewußtsein Gottes im
Menschen « .
Wie grundfalschderPantheismusin jeder seiner Formen
ist: man muß doch innerhalb der Pantheismen eine edle
und eine gemeine Form unterscheiden. Und diese For-
men fallen zusammen mit der wesentlich akosmistisch und
der wesentlich atheistisch gerichteten Form. Diese Unter-
scheidung ist an erster Stelle eine Unterscheidung der
d) Hämischen Bewegungsrichtung, durch die der Geist zu
der Gleichung Welt=Gott gelangt. Macht man diese Unter-
scheidung, so ergibt sich für die Entfaltungsrichtung des
Pantheismus bis zu Beginn des Weltkrieges : Der Pan-
theismustendierte mehr und mehr von seiner edlen
Form zu seiner gemeinen Form, vom Akosmismus
zum Atheismus. Ganz offenkundig ist dies fiir den sog.
Monismus (Häckels, Ostwalds usw.) und seiner Anhänger-
schaft. Es ist darüber kein Wort zu verlieren. Aber der
Satz gilt doch auch (wenn auch weniger leicht sichtbar
und weniger roh) für die höher gearteten philosophischen
Gedanken- und Glaubenssysteme, die sich nach dem Zeit-
alter des Materialismus ausbildeten, gilt also auch fiir
Ideen Systeme, wie jene Fechners, Paulsens, W. Wundts
— bis zur letzten Fadenscheinigkeit, die der idealistisch ge-
wandte pantheistische Gottesgedanke in den mannigfachen
Lehren unserer akademischen Philosophie vom Bestände
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Probleme der Religion. 291
oder (bei anderfen) von der bloßen »Geltung« und Welt-
voraussetzung eines sog. »Bewußtseins überhaupt« an-
genommen hatte. Auch diese Lehren, die — historisch —
zurückgehen auf Kants Vemunfttheorie, insbesondere auf
seine Lehre von der transzendentalen synthetischen Apper-
zeption (auch der Pantheismus J. G. Fichtes in seiner
Frühperiode und das Gedankensystem Hegels waren von
ihr ausgegangen) besitzen das sichere Kennzeichen des
Pantheismus: die geistige Individualität des Menschen
wird entweder wie bei Averroes nur in die Beschränkung
verlegt, die der Leib dem identischen erkennenden Subjekt
in allen Menschen setzt, oder sie wird verlegt in den
bloßen zufälligen phänomenalen Inhalt des empirischen
Bewußtseins.
Diese Entwicklungsrichtung des Pantheismus darf nicht
Wunder nehmen. Der Pantheismus konnte — über ein-
zelne Einspänner hinaus — die religiöse Formulierung der
Substanz der deutschen Bildung gleichsam ausdrücken,
so lange das geistige Leben der Nation einseitig und
traumverloren zugewandt war einer idealen geistigen Welt
als der wahren Heimat des mit dem »Menschen« verwech-
selten Deutschen, — so lange die Nation sich an erster
Stelle als Kultumation wußte und fühlte; so lange es
femer noch eine »Kunst und Wissenschaft« gab, von der
man noch mit einigem Sinn meinen konnte, es besitze
schon Religion, wer sie besitze, und nur die von der kul-
turellen Aristokratie Ausgeschlossenen hätten sich nach
Goethes bekanntem Spruch dem Diktum zu fügen: »Wer
diese beiden nicht besitzt, der habe Religion ! « Denn wie
diese Kunst eine in sich wenig differenzierte Ideenkunst
war, so war diese »Wissenschaft« synthetische Bildung s-
19*
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2Q2 Probleme der Religion.
Wissenschaft von stark theologischer Färbung (frühere
protestantische Theologen waren auch die meisten der
deutschen spekulativen Philosophen). Von der Kunst und
der bis aufs äußerste differenzierten Arbeits- und For-
schungswissenschaft unserer Zeit ähnliches zu sagen,
wäre nicht nur falsch — was ja auch der Goethesche
Satz ist — es wäre absurd und lächerlich. Verebben also
diese pantheistischen deutschen Traditionen in unsere
Welt, so müssen sie wie von selbst zu einer bunt be-
schwingten Lüge werden — zu einer Form, aller Realität
illusionistisch aus dem Wege zu gehen.
Schon aus dieser inneren Zusammengehörigkeit heraus
des deutschen idesJistischen und akosmistischen Pantheis-
mus mit einer in jedem Betrachte überwundenen Kultur-
stufe des deutschen Volkes läßt sich ermessen, daß die
mannigfachen Restaurationsversuche dieser Gedanken-
systeme innneiiialb unserer akademischen Philosophie
weder eine ächte Förderung und feste Begründung der
Philosophie noch der Religion in Aussicht stellen. Ob
diese Versuche gemacht werden in bezug auf Fichte, ob
auf Hegel oder Schelling, ist dabei ganz gleichgültig. Ein
neuer lebendiger Anschauungs- und Denkkontakt mit den
Tatsachen und Gegenständen der Philosophie — den
Wesenskonstanten des Universums, ihrer Ordnung und
ihrem Zusammenhang — wird durch solchen Traditiona-
lismus prinzipiell gehindert, ebenso sehr eine Verwertung
des an der Geschichte der Menschheit seit dieser Epoche
enthüllten Wesensgehaltes der Welterfahrung für die
Religion. Dazu muß diese Art künsdich restaurativer
Philosophie das philosophische Forschen absperren von
aller Zusammenarbeit der Philosophen verschiedener Völ-
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Probleme der Religion. 203
ker. Denn die national deutsche Bindung liegt tief in der
Natur dieser Philosophie als historischem Gebilde. Aber
nationale Bindung überhaupt liegt außerdem im Wesen
des Pantheismus als einer Bildungsreligion als solcher
— ganz gleichgültig, ob er national sein will oder nicht.
Und nicht minder liegt die soziologische Form der »Philo-
sophenschule« als Ort ihres möglichen Auftretens im
Wesen dieser Pantheismen als geschlossener System-
philosophien. Das philosophische System als Ideal
einer Philosophie in dem Sinne, wie es die Denker der
deutschen Spekulation anstrebten, haben wir aber sofort
preisgegeben, wenn wir in der Theorie der Erkenntnis
zur Verneinung des Satzes kommen, es mache die Ver-
nunft (als Inbegriff alles Akt-Apriori) selber ein geschlos-
senes System aus; wenn wir vielmehr behaupten, es gäbe
eine Funktionalisierung der Wesensanschauungsgehalte
und damit ein wahres Wachstum des menschlichen
Geistes an und in seiner Geschichte — ein Wachstum,
das von aller Häufung zufälliger Erfahrungstatsachen auf
einer je gegebenen Stufe der gegenständlich sinnvollen
apriorischen Aktgefüge dieses Geistes grundlegend ver-
schieden ist. Dies aber ist unsere Behauptung — die
anderwärts die genauere Begründung empfangen soll. Das
»System« als Form ist selber eine Folge des transzen-
dentalen Subjektivismus all dieser inhaltlich verschiedenen
Systeme. Insofern ist schon die Systemform — die alle
Kooperation auf dem Boden der Philosophie im Grunde
ausschließt — die Kooperation der Generationen in der
Zeit, wie die Kooperation der Denkergruppen, — die
Folge einer inhaldichen Behauptung dieser Philosophien,
die ihnen gemeinsam zugrunde liegt. Wächst der mensch-
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294 Probleme der Religion.
liehe Geist als solcher — nicht also nur die Ansammlung
seiner Erfindungen und Leistungien — zwar nicht durch,
aber an der Geschichte seiner realen verschiedenen
Träger, nämlich an der Erschließung neuer und neuer
Wesensanschauungen, und ist diese Art Wachstum un-
abhängig von der etwaigen biologischen Constanz oder
Änderung der menschlichen Naturgattung, so ist eine
ideal wahre Philosophie als System überhaupt nicht zu
erwarten. Ja man darf dann sagen, daß eine Systemphilo-
sophie falsch schon ist als Systemphilosophie resp. auf
Grund dieser Form — ganz gleichgültig, wie ihr Inhalt
sei — oder ein »Wille zur Lüge«, wie Nietzsche einmal
sehr glücklich gesagt hat.
Aber noch eine andere, sehr charakteristische Entwick-
lungsrichtung weist das pantheistische Denken auf. Um
trotz der unermeßlichen Flut der neuen Realität der ab-
laufenden Geschichte selbst und nicht weniger der Reali-
täten, die Natur- und Geschichtswissenschaft entdeckten
und erforschten, die Beziehung Welt = Gott gegen den
Theismus und Atheismus zu erhalten, mußte in die Idee
des pantheistischen Weltgrundes eine immer zunehmende
Reihe irrationaler, ungöttlicher, ja schließlich wider-
göttlicher Faktoren aufgenommen werden. Schon bei
Hegel — dem Romantiker der Logik — mußte Bewegung
und Widerspruch, Werden und Entwicklung (wenn er es
auch nicht Wort haben will) in die Idee Gottes mit hinein-
genommen werden, wenn sich die Weltgeschichte als Pro-
zeß der Explication der Gottesidee darstellen lassen sollte,
als den dieser Geschichtspantheist sie auffaßt^. Nachdem
* Andererseits mußte Irrtum und Böses seine wahre Natur verleugnen und
sich gefallen lassen, sich als immer neuer notwendiger Anreiz zur Reali-
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Probleme der Religion. 295
Versagen der Revolution von 1 848 und den Enttäuschun-
gen der folgenden restaurativen Periode, die Schopen-
hauers zuerst ganz unbeachtetes Werk in die Massen der
Gebildeten einführen half, wurde der Pantheismus —
unter Erhaltung des monistischen Grundirrtums — so-
gar vorübergehend Pandämonismus. Denn nicht ein Gott
— auch kein pantheistischer — sondern ein finsterer
Dämon ist der »Wille« Schopenhauers. Aber er blieb doch
noch Pandämonismus unter christlichen oder doch der
christlichen Ethik ähnlichen Wertungs Voraussetzungen,
d. h. : der von Schopenhauer behauptete Weltgrund —
jener blinde, ewig ruhelose »Drang« zu Sein und Leben,
den er »Wille« nennt — galt dem einsamen Denker, der
mit einem Beine noch im alten humanistischen, mit dem
anderen schon im neuen realistischen Deutschland stand,
noch als ein Schlechtes, Wildes, Furchtbares, also durch
Verneinung des Willens zum Leben in Askese und Vision
zu Überwindöhdes. Erst Nietzsche und — nur in etwas
abgeschwächter und gallischer Form — Henri Bergson
wagten es, eben dasselbe, was schon Schopenhauer als
seinen Weltgrund erlebt und geschaut hatte, — jene
drängende,gierige,dämonische,immerneueundimmerbun-
tere. Gestalten des Daseins aufwirbelnde Macht als Welt-
grund nicht pessimistisch zu beklagen, resigniert zu dulden
oder asketisch zu fliehen gleich Schopenhauer — sondern
zu bejahen, zu bejubeln und vom Menschen zu fordern, er
solle sich restlos hineinstürzen in diese Macht — im Kopf-
sprung wie in einen reißenden Strom. Dazu mußte das
Wertsystem natürlich grundlegend geändert werden,
siening des Guten und Wahren umkonstruieren zu lassen, wenn schon die
bloße Weltgeschichte selber auch das Weltgericht in sich enthalten sollte.
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2^6 Probleme der Religion.
also alle christliche Moral ebensowohl wie alle humamta-
ristische grundsätzlich verneint werden. Diese neue Wert-
setzung — nicht die metaphysische Konzeption als solche
unterscheidet Nietzsche von Schopenhauer. Den »diony-
sischen Pessimismus« — ästhetisch und historisch^ aber
milde und apraktisch auch in Jakob Burckhardt und in
Nietzsches Freund Erwin Rhode als Geschichtsaufiassung
gegenwärtig — hat Nietzsche einmal als sein »ipsissi-
mum< bezeichnet. Eben das, was Schopenhauer chrisdich
beweintCj wird nun dionysisch bejubelt. Bergsons »Elan
vital« und dessen »schöpferische Entwicklung« — im
1 Grunde nur ein logischer Widerspruch, da Entwicklung
und Schöpfung wesensverschieden sind — ist als der
genaueste philosophische Ausdruck des >6sprit nouveau«
in Frankreichs Jugend vor dem Kriege*, diesem diony-
sischen Pessimismus, mindestens sehr ähnlich — nicht
nur als irrationalistischer Pantheismus, sondern auch im
neuen positiven Wertakzent, den beide Ideen besitzen.
Endlich hatte auch E. von Hartmann, der den pantheisti-
schen Gedanken vom logischen Standpunkte aus und ge-
messen an der Fülle und Breite, in der bei ihm die ganze
Geschichte der Weltanschauung und Philosophie verar-
beitet wird^ am tiefsten und umfassendsten — aber ohne
metaphysische Originalität — formulierte, schon vor dem
Auftreten Nietzsches und Bergsons, einen absolut blinden
dynamischen Faktor in seine von den Merkmalen des
Bewußtseins der Liebe, der Güte entkleidete Idee Gottes
aufnehmen müssen, um die pantheistisch-monistische Glei-
t^hung gegen Theismus und Atheismus zu halten. Aber
' VgL E. R. Curtius: »Die literarischen Wegebereiter des neuen Frank-
reich ■, 1919, Kiepenheuer.
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Probleme der Religion. 297
das Werk des allzugelehrten synkretistischen Denkers
wurde nie eigentlich lebendig und wirksam und darf hier
— wo seine rein philosophischen, sehr erheblichen Ver-
dienste auf anderen Gebieten nicht zu würdigen sind —
übergangen werden.
Sieht man philosophische Denkrichtungen nicht nur an
auf ihren Wahriieitswert, sondern auch als Indices histo-
risdier Lebensentwicklung, so kann man aus dieser Ent-
faltungsrichtung pantheistischen Denkens mancherlei er-
fahren. Zuerst sieht man, wie sehr der pantheistische Gott
mit sich reden läßt — mehr als einem Gotte ziemt. Er
schmiegt sich den wechselnden Strömungen des histori-
schen Lebens an — wie die »Gebildeten«, die Träger
dieser »Bildungsreligion« sind — ; er macht bald ein starr
geometrisches, bald ein werdetrunken fröhliches, bald
ein traurig-leidendes und leidenschaftsgepeitschtes, bald
ein im Leiden und in der Hingabe an die Leidenschaft
noch dionysisch jauchzendes Gesicht. Jede Würde und
Erhabenheit über Zeit und Mode, die selbst polytheisti-
schen Göttern zukam, fehlt diesem sich ewig wandeln-
den Proteus. Wir sehen femer, wie in diesem Prozesse
das pantheistische Denken, die pantheistische Seelen-
haltung sich gleichsam selbst zu verzehren anschickt.
Der Pantheismus des 19. Jahrhunderts ist nicht nur ein
Proteus, er ist auch seine eigene Selbstauflösung. Pan-
theismus, Pandämonismus, Pansatanismus — und Selbst-
verbrennung in des Weltkriegs Flammen: dies ist sein
Lauf.
Mit Recht hat der Literarhistoriker Walzel vor einiger
Zeit angesichts unserer jüngsten Literatur festgestellt,
daß in dieser Literatur — diesem bald edlen, bald un-
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2 9B Probleme der Relig ion.
edlen Schrei einer zertretenen, entsetzten Jugend —
das pantheistische Weltge fühl jede Art von Bedeutung
A^erioren habe. Insofern haben die Deutschen gegen-
wärtig — trotz aller literarischer Restaurationsversuche,
wie sie jeder Krieg als gewollte Steigerung der Bildungs-
kontinuität des Volkes mit sich bringt — die größte
Entfernung von unseren Klassikern — Philosophen und
Dichtem — erreicht, die je erreicht war. Der Pantheis-
mus in jeder Form ist — abgesehen von seinen Irr-
tümern — auch als Form des religiösen Bewußtseins so
zukunftslos wie der positivistische Menschheitsglaube.
Ja, er ist die ausgeleerteste Form unter allen religiösen
Bewußtseinsformen Europas. Er ist ebensosehr seinen
Dogmen und Gedankeninhalten nach als seiner soziologi-
schen Wesensform nach die Religion einer bewußten,
sich gegen das »Volk« stellenden nationalen Bildungs-
aristokratie. Auch die gefühlsdemokratische Welle der
Zeit trüge ihn zu Grabe, — hätte er sich nicht selbst
schon zu Grabe getragen.
Wenn diese beiden Gedankenwellen, die positivistische
und die pantheistische, dem Rufenach religiöser Erneuerung
kein e Antwort zu geben vermögen, was bedeutet er dann ?
Er kann viel bedeuten, aber er kann auch vorübergehen
wie der Hilferuf eines Menschen, der in der äußersten
Lebensgefahr des Ertrinkens ausgestoßen, ohne Antwort
bleibt- Denn wie gewaltig ein Drang, ein Bedürfnis, ein
tiefempfundener Mangel, eine Leere im Herzen, die aus-
gefüllt sein möchte, immer seien: der Drang selbst, das
Bedürfnis selbst haben nicht die Kraft, die Mittel zu ihrer
Befriedigung herbeizuführen. Man hat das Bedürfnis,
den Mangel, die Not zum Schöpfer der Kultur und der
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Probleme der Religion. 299
technischen Zivilisa rion machen wollen. Der große Phy-
siologe Pflüger wollte sogar für das Leben des leiblichen
Orgajiismus den Satz beweisen, daß jedes Bedürfnis
schließlich die Ursache werde für seine eigene Befriedi-
gung, Lamarck hat auf einen analogen Satz seine ganze
Entwicklungstheorie gebaut. Man sagt auch: *Not lehrt
beten <j und besonders bei uns Deutschen liebt man es
traditionell nur allzusehr an die schöpferische Kraft der
»heiligen« Not zu glauben und zu appellieren. Aber auf
keinem Gebiete menschlicher Werte ist dieser Satz in dem
Sinne wahr, wie man ihn meint. Er ist es am aller-
wenigsten auf dem Boden der Religion.
Was die höhere Kultur betrifft, so gehen die frden
Schöpfungen des Geistes, gehen Philosophie und Kunst
nie und nirgends aus der Not, aus dem Mangel, sondern
aus der freien Muße hervor. Dies wußten schon die Alten.
Auch die Bildung der technischen Werkzeuge, für die Not
und Mangel erheblich mehr bedeutet, ruft die Not nur in
dem Sinne hervor, daß die Richtungswahl der erfinde-
rischen Tätigkeit des Geistes — die aber selbst immer
schon da sein muß — durch sie gelenkt wird. Aber auch
in diesem Falle sind die sog. »Bedürfnisse« selber, die
durch das Werkzeug oder die Maschine befriedigt werden,
ges chich tlich entstanden — und zwar entstanden durch
Anpassung des Trieblebens an Güterarten, die als Arten
vor ihnen schon da waren; die also schon gebildet waren,
ehe das betreffende Bedürfnis vorhanden war; an Güter,
die schließlich selber nicht aus Bedürfnissen, sondern
aus freier positiver Schöpferkraft des Geistes hervor-
gingen. Fast alles, was heute Massenbedürfnis ist, war einst
Luxus Weniger,
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jOO Probleme der Religkm.
Je höher wir von den Nutzwerten aufsteigen, im Reiche
der Werte, desto irriger wird dazu dieser Satz. Er ist
darum eben da am meisten irrig, wo es sich um die höch-
sten, die religiösen, die wahrhaft heiligen Güter
handelt. Gewiß: Not lehrt beten. Aber den Grundakt des
Gemütes, dadurch wir unser inneres Auge erst aufschlagen
zum Ewigen, um dann erst zu ihm beten zu können, den
Akt der Anbetung, femer die Akte der Verehrung und
Hingabe — lehrt die Not nicht. Und doch gibt es gar
kein Gebet ohne vorhergehende Anbetung, weder Bitt-,
noch Dankgebet, oder sonst eine Betweise. Am aller-
wenigsten aber sagt uns die pure Not, sagen uns Leere,
Mangel irgend etwas über das, was wir anbeten, zu was
und was wir beten sollen und auf welche Weise. Es gibt
in Afrika Negerstämme, die um fischreiche Seen woh-
nen und trotzdem jährlich in schwerster Hungersnot
zahlreich dahinsterben, da diese schwere Not nicht ver-
mochte, die Erfindung eines Angelhakens anzuregen.
Wie viel eher noch ist es denkbar, daß dies gewaltige
Bedürfnis nach religiöser Erneuerung ohne positive
Folge bliebe. Nur dann wird dieser Notruf der Welt
viel bedeuten können, wenn er die positiven religiö-
sen Quellströme im Menschen in Bewegung und Tätig-
keit versetzt, wenn er unsere Vernunft in der Richtung
auf die Idee Gottes zu neuer Regsamkeit bringt und un-
seren geistigen Blick öffnet für die positiven Offenbarungs-
und Gnadengüter, die schon in der Welt da sind und für
die so grofSe Mengen Menschen wie erblindet waren.
Das kann, das soll die Not, die Herzensleere, der Mangel,
und insofern sind sie gewaltige Flammenzeichen, die un-
sere Seele suchen heißen. Mehr aber vermögen sie nicht.
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Probleme der Religion. ßo I
Denn so ist diese Welt und die menschliche Natur all-
überall eingerichtet, daß die je unteren naturartigen und
triebmäßigen Kräfte wohl höher geartete Tätigkeiten aus-
lösen können, aber nicht sie schaffen; suchen heißen, aber
nicht notwendig finden lassen. Das Schaffende, das
Einende ist inuner eine höhere geistige Kraft, die nach
ihrem eigenen inneren Gesetze wirkt und die nichts an
Ziel, Gesetz, Gehalt, Idee von dem erborgt, was sie nur
in Bewegung setzte.
So ist der »Verstand«, der in den exakten Wissen-
schaften operiert imd der die Erscheinungen der inneren
und äußeren Welt zu abhängigen Funktionen eines Be-
wegungsmechanismus umdenkt, odermöglichstweitgehend
umzudenken sucht, durchaus noch von dem Grundwert eines
Lebewesens überhaupt, möglichst grofJe Beherrschbarkeit
und Lenkbarkeit der Dinge durch das Wollen und Handeln
dieses Lebewesens zu erzielen bestimmt, aber auch eben
dadurch beschränkt und begrenzt. Der »Verstand« steht
noch im Dienste der grofJen Lebensnot. Nicht die Welt,
nur die Umwelt des Menschen ist sein Gegenstand. Denn
nur so fem und so weit die Welt einem vollendeten Mecha-
nismus gleichartig ist, läßt sich durch mögliche Bewegungs-
akte eines Lebewesens, femer durch Werkzeuge, Maschinen
— kurz durch Technik Umwelt lenken und beherrschen.
Ist aber etwa dämm die Welt nichts weiter wie ein sehr ver-
zwicktes Spiel Billard ? Mit nichten. Schon die Ve r n u n f t , die
unser philosophisches Weltbild formt und die sich befreit
von dieser Dienststellung an die große Lebensnot, die nicht
mehr ein Weltbild ziu- Beherrschung der Dinge, sondern
zu ihrer adäquaten Erkenntnis geben möchte, die nicht
mehr die Welt von unten her, sondem auch von oben her
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102 Probleme der Religion.
anblickt, vermag uns zu zeigen, daß alle möglichen Me-
chanismen und damit auch der ganze Weltmechanismus
im Dienste stehen von form-, ziel-, weltrealisieren-
den Tätigkeiten, durch die sich ein Ideenzusammenhang
auswirkt. Noch höhere Kräfte als Vernunft aber — Offen-
barung und Gnade — erst bringen uns Licht über das
innere Wesen Gottes und Kraft aus ihm: ein Licht und
eine Kraft, die keine Vernunft erspäht und die wir nicht
verdienen. Ihre Wesensnotwendigkeit, ihre Kriterien ver-
mag uns Vernunft noch aufzuweisen, wenn ein All-
gütiges und Allmächtiges und Allweises im Grunde der
Dinge schon erwiesen ist. Der Gehalt der Offenbarung aber
liegt über der Spannweite der Vernunft. Wir haben ihn anzu-
nehmen im freien Akte des Glaubens. So löst die große
Lebensnot die Verstandestätigkeit aus und gibt ihr Ziel
und Richtung ihrer Fragen. So löst das Werk des Ver-
standes die Tätigkeit der Vernunft aus und legt ihr zu-
gleich die Frage vor, zu welchen Zielen dieser Mecha-
nismus da ist; welche ewigen Ideen und Werte und welches
System solcher sich in ihm verwirklichen. Und so löst die
Vernunft selbst an ihrer Wesensgrenze — nicht etwa nur
an der Grenze ihrer bisherigen Werke — angelangt, den
Blick aus auf mögliche Offenbarung und heißt unser Herz
darnach suchen. Überall hat sich in diesem Stufenreiche,
das dem Wesen des Menschen selbst entspricht, das
Niedrigere dem Höheren frei , weil aus der strengen posi-
tiven Einsicht seiner eigenen Grenzen heraus, unterzu-
ordnen, und nur indem es dem je Höheren also frei dient,
vermag es selbst seine volle und ganze Freiheit innerhalb
seiner Sphäre zu bewahren. Wo es dagegen diese Sphäre
überschreiten will, wo es das Höhere beherrschen will>
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Probleme der Religion. 303
anstatt ihm frei zu dienen, wird es zum erzwungenen
Knechte des Niedrigeren.
Es ist mit dem Gesagten schon angedeutet, was der
Ruf nach religiöser Erneuerung auf keinen Fall bedeuten
darf: nämlich einen Ruf nach Erneuerung oder gar Neue-
rung der Religion aus der bloßen Not heraus. Religion
suchen, nicht im Sinne bloß der Frömmigkeit oder des
inneren Anhangens an eine gegebene positive Religion,
sondern im Sinne neuer Glaubensgedanken über den
objektiven Gegenstandsbereich selbst, ist eine Haltung,
die des gegenwärtigen Menschen Weltsituation ganz
verkennt. Der falsche Gedanke von der erfinderischen,
schaffenden, oder doch entdeckerischen Kraft der Not
hat leider eine große Menge von Menschen gegenwär-
tig zur Meinung geführt, es müsse der Weltkrieg eine
Art neue Religion aus sich gebären oder doch eine
neue Entwicklungsphase der Religion, ein sozusagen wun-
derbares und nagelneues Wort als Antwort auf die an-
fangs geschilderte Frage der leidenden Menschheit. Diese
Vorstellung wird dazu gerne genährt durch gewisse Re-
flexionen über das Christentum.
Das Christentum überhaupt, sagen die einen, habe
Bankerott gemacht; die christlichen Kirchen wenigstens,
sagen die andern; diese und jene Kirche sagen die dritten
— Thesen, die auch schon früher und lange vor dem
Kriege aufgestellt wurden. Nur die eine ältere Stimme
fehlt heute fast ganz: Religion selbst habe Bankerott ge-
macht, sie sei ein Atavismus der historischen Entwicklung.
Das Fehlen dieser Stimme zeigt, daß wir auf alle Fälle ein
religiös äußerst lebendiges Zeitalter zu erwarten haben,
ein Zeitalter ganz neuartiger schwerer Geisteskämpfe um
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^04 Probleme der Religion.
die Religion. Aber eben darum wird es auch ein Zeitalter
sein, in dem jede gegebene positive Religion und Kirche
aufhören muß, nur ein Eiskasten zu sein für alte Wahr-
heiten — wie sich jüngst ein schweizerischer Theologe
ausdrückte. Keine religiös kirchliche Position — will sie
sich nicht ganz aufgeben — wird sich damit begnügen
dürfen, sich nur behaupten zu wollen; jede wird sich viel-
mehr bemühen müssen, ihren überragenden Wert auch
positiv der Welt aufzuweisen und zu bewahren. Das aller-
dings ist sicher eine neue Lage, die sich niemand ver-
bergen darf: Wer heute seine religiöse Position nur er-
halten will, höchstens verteidigen; wer nicht das positive
Heilmittel für die leidende Menschheit in ihr zu sehen wagt
und in freudiger Liebe dies Heilmittel ihr auch schenken
und darreichen will, der wird auch dieses bescheidenere Ziel
der Selbsterhaltung nicht mehr erreichen. Seine Sache
wird vom Erdboden — nach aller menschlichen Berech-
nung ^- verschwinden. Denn so stehen die Dinge: Nie war
die Indifferenz auch großei* und größter Massen, nie war
selbst der Unglaube und Irrglaube, nie der Aberglaube
und Afterglaube eine wirkliche — eine letzte Gefahr für die
Existenz einer positiven Religion und Kirche. Eher das
Gegenteil: Nichts hat gerade das Morsche, das wirklich
Veraltete, das nur Gewohnte und der Trägheit Folgende
in der kirchlich religiösen Sphäre so mächtig gestützt und
erhalten, wie z. B. Indifferenz und Unglaube, besonders
der Gebildeten. Es gibt flir eine positive Religion nur
eine wahre mögliche Existenzgefahr: das ist der größere
Enthusiasmus und die tiefere Glaubenskraft der Träger
einer anderen Religion. Eben diese skeptische Indiffe-
renz und dieser Unglaube haben es auch ermöglicht, daß
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Probleme der Religion. 305
die Kirchen vor dem Kriege es verhältnismäßig so bequem
hatten und so zufrieden sein durften^ sich zu »erhalten« . In
einer Zeitlage dagegen, wo die unfruchtbare Negation des
Unglaubens und die müde Scheintoleranz des Indifferen-
tismus aufgehört haben werden, wo die Religion von allen
Seiten wieder anerkannt und ergriffen wird als das, was
sie ist — als die Hauptangelegenheit des Menschen —
da hört diese Bequemlichkeit auf. Und mit ihr hört auf
die bloße Haltung des mühseligen Grenzschutzes der
eigenen Werte und Ideen, des möglichst luftdichten
und starren Sich-Einkapselns in die Gehäuse abgeschlos-
sener Organisationen und Isolierräume. Nur eine Alter-
native gilt dann noch : Entweder Sichauftun und mit hel-
fenden ausgebreiteten Armen Etwas geben der Mensch-
heit, schenken, spenden und heilen die offene Wunde ihres
Herzens, oder gewärtig sein, daß die nach Religion fie-
bernd verlangende Welt annimmt, man habe nichts zu
geben, man wisse sich selbst nicht mehr ganz im Wahren,
im Rechten, im Guten — kurz gefaßt, im wahrhaftigen
Besitze der göttlichen Wahrheiten. Im letzteren Falle muß
man aber auch gewärtig sein, daß diese auflösende
Überzeugung auch in die eigenen Reihen eindringt und
daß die bloße Erhaltungspolitik — diese Geste stolzen
Geizes — auch das vernichten läßt, was man erhalten
wollte. Eine positive Religion, die heute in diesem Sinne
nicht geistig missioniert, nicht auf jede Weise neues und
lebendiges Zeugnis ablegt für ihre Sache, ist in den Geistes-
Jcämpfen, die wir zu erwarten haben, mit Sicherheit dem
Untergang geweiht. Jede muß — nicht im Sinne der äuße-
ren Kraft und Macht, aber im Sinne der Beweise »des
Geistes und der Kraft« siegen oder unterliegen. Ein
20
■m
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^06 Probleme der Religion.
Drittes ist nicht mehr möglich. Wer bei diesem Welt-
ereignis nichts zu geben hat, der wird auch das verlieren,
was er bisher besaß. —
Noch zwei andere Dinge mögen zur Charakteristik der
neuen Lage dienen.
Ich sagte, man spreche in denselben Kreisen, wo man
die religiöse Erneuerung im Sinne der Forderung nach
neuer Religion versteht, auch gerne vom »Bankerott
des Christentums«. Ist die Scheidung des subjektiven
Glaubensaktes von den objektiven Glaubensgütem des
Christentums in Verwirrung gebracht, und vermag man^
in die Verworrenheit der tiefsten Ursachen des Welten-
brandes nicht hineinzudringen, dann ist dieses Urteil so un-
verständlich nicht. In einem Teilpunkt ihres vieldeutigen
unklaren Satzes haben sie sogar recht. Stünde es mit dem
Christentum im Sinne des subjektiven Glaubens und mit
der menschlichen Verwaltung der kirchlichen Bildungen, in
denen es lebt, so gut und vortrefflich, wie uns von manchen
Gläubigen so häufig versichert worden ist, dürfte man ehr-
lich sagen, daß die moderne europäische Zivilisation der
letzten Jahrhunderte wenigstens in ihren allseitigen Lebens-
wurzeln noch eine christliche gewesen sei — wer ver-
möchte es dann ernstlich zu wagen, den fiir die christliche
Religion vernichtenden Satz vom Bankerott des Christen-
tums auch als objektiven Sinninhaltes zu erschüttern? Das
ist doch sonnenklar: Herrschte wirklich die Lehre des
Christentums in der Zeit, in den Völkern, inmitten ihrer Ein-
richtungen und Sitten, die diesen Krieg gebaren, oder war
es doch in ihnen noch die führende geistige Lebens-
macht, dann ist — so weit Vernunft zu sehen vermag —
auch das Christentum als positive Religion verur-
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Probleme der Religion. lO?
teilt. Wahr und göttlich kann das echte Christentum nur
sein und so weit sein, als es in dieser Zeit nicht herrschte,
sondern verborgen war und zurückgedrängt. Seine ,!|
Wahrheit und Göttlichkeit irgendwie anerkennen, das ^^'^■
schließt also auch den negativen Mitbeweis ein, daß die
verborgenen Ursachen des Weltenbrandes ihren Sitz eben
da haben, wo das Christentum als subjektiver Glaube
zurückgedrängt oder ausgeschaltet war — kurz nicht im
ChristUchen, sondern im außerchristlichen, im wider-
christlichen Europa. Und das schließt auch das Einge-
ständnis der Kirchen ein, daß sie innerlich weit schwächer
waren, als sie früher dachten — sei es aus eigener oder
fremder Schuld oder beidem zusammen. Ganz unmöglich
kann man also beides beweisen wollen: es sei das Europa
vor dem Kriege ein wahrhaft christlicher Kulturkreis
gewesen und das Christentum habe nicht Bankerott ge-
macht; die Kirchen oder die wahre Kirche in ihrer Schar
seien innerlich in auch nur durchschnittlich normalem Zu-
stande und nach außen hin in der ihrer Würde gebühren-
den Machtfiille gewesen und das Christentum habe nicht
Bankerott gemacht. Vielmehr gilt: Waren die Kirchen in
so gutem Zustande, so hat das Christentum Bankerott
gemacht und mit ihm auch die Kirche, die sich von der
Würde und Autorität Christi mit letztem Rechte her-
leitet.
So enthält der Ruf vom Bankerott des Christentums
wohl eine relativ berechtigte Gegenerklärung gegen so
viele falsche Zionswächter, die den Zustand der Kirche und
die den Bestand christlichen Bewußtseins in Europa —
meist freilich nur mit national pharisäischer Gebärde in den-
jenigen Ländern und Völkern, denen sie selbst angehören.
Digitized by VjOOQ IC
ßo8 Probleme der Religion.
— nicht optimistisch genug schildern können. Um der
Macht willen, an der sie teilzunehmen sich gewöhnt haben,
haben sie ein ganzes System der Betäubung ihres christ-
lichen Gewissens ersonnen und nicht um der ewigen Aus-
sprüche Christi willen, sondern um ihre Macht zu bewahren
und nach wie vor bequem zu leben, erklären sie Europa —
oder doch ihr Land — als einen immer noch christlichen
Kulturkreis — im »Kerne«. Hätten also diese Zionswäch-
ter in ihren Aussagen recht — so hat das Christentum
Bankerott gemacht. Sind die nationalistischen Leiden-
schaften, ist der kapitalistische Geist der europäischen
Bourgeoisien und Arbeitermassen, ist das System gegen-
seitigen radikalen Mißtrauens und darauf gegründeten
Rüstungsfiebers, das die wirkliche Politik der europäischen
Staaten bis zu Beginn des Krieges und selbst die Theorien
von Staat und Gesellschaft beherrschte und noch be-
herrscht, — ist die gotdose Frechheit der Rede des Im-
perialismus von der »Verteilung der Erdkugel«, unbe-
kümmert um die Solidarität Europas und unbekümmert
um die Rechte der außereuropäischen und außerameri-
kanischen Völkerwelt auf Existenz — sind alle diese zum
Weltkrieg führenden Wesenskräfte des modernen Europa
mit dem chrisdichen Geiste kompatibel oder sind sie nur
»Auswüchse« kräftiger und berechtigter Bestrebungen,
nicht aber bis auf den Kern der europäischen Existenz hinab-
reichende Verkehrungen und verdammenswerte
Verhöhnungen des Christentums, so hat das Christen-
tum Bankerott gemacht. Entweder man gesteht zu einen
weit und tiefgehenden Abfall Europas vom Christen-
tum, anerkennt die Schwäche seiner Vertreter resp. ihre
religiös verdammliche Anpassung an widerchristlichen
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^09
Geist, oder man gesteht zu den Bankerott des Christen-
tums! Eines dieser beiden Dinge muß man wählen. Auch
von derSchuldfrage der Kriegsparteien ist dieses Urteil
ganz und gar unabhängig. Dieses Urteil steht nicht für,
nicht gegen Deutschland, nicht fiir, nicht gegen Frankreich
oder England usw. Was kümmert's mich, wer, welche
Person in einer Familie, der ich von ferne schon ansehe,
daß sie als Ganzes innerlich verfault und versumpft ist,
daß ihr Gesamtzustand verderbt ist, daß an Wänden
und Stühlen, an Bildern und Schränken mir greifbarer
Haß und wüste Verwirrung entgegen grinst, die sog.
Schuld hat ! Keiner und alle wird jeder in dem Maße sagen,
als er tief in die Seelen und Verhältnisse dieser Familie
hineinblickt. An der Oberfläche ist die Schuld immer ein-
seitig — in der Tiefe immer gegenseitig, so wie die \\^elt
theoretisch an der Oberfläche immer nur eindimensionale
Ursache — Wirkung, in der Tiefe mehrdimensionale
Wechselwirkung ist.
Es gibt einen Grad der Verderbnis menschlicher Ge-
samtzustände, wo individuale Schuldabwäg^ng Kinderei
wird. Strindberg, so groß an Geist, wie wüst und häßlich
an Seele, — aber eben deswegen der reinste dichterische
Exponent seiner Zeit, eines der vollkommensten Resumes
der Grundinstinkte des modernen Europas und eben
darum vermöge der Tragik des zur Aussprache der Zeit
berufenen Dichters einer fluchwürdigen Zeit notwendig
so häßlich und wüst — hat ein Stück geschrieben, betitelt
»Der Scheiterhaufen«. Eine Familie der Art, wie ich sie
vorher schilderte, geht hier samt ihrem Hause in Flammen
auf Dasjenige ihrer Kinder, das noch am, meisten leidet
an einer Verderbnis, in die es sich selbst und sein Leben
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3 1 0 Probleme der Religion.
hineingezogen und von ihr wie erwürgt weiß, steckt selber
das Haus in Brand, um die ganze unteilbare und einzige
Verderbnis dieses Hauses aus der Welt Gottes auszu-
schließen, — und damit auch noch sein eigenes Leiden
und seinen eigenen Ekel zu vernichten. Gleich einem
plastischen Symbol schauten die Zuschauer dieses in der
Kriegszeit viel aufgeführten Stückes in dem äschyleischen
Schicksal dieses Hauses Europas Schicksal als abgebildet
an. Genau dieses ist das Urteil des Japaners, der vom
Harakiri Europas spricht.
Gewiß, es ist falsch und töricht die Lagen des Blickes
auf die Ereignisse zu verwechseln und zusammenzumischen.
Der Politiker muß anders denken als der religiöse und
der nach Sinnesänderung verlangende Mensch. Der Poli-
tiker mag streiten um die »Schuld« am Weltkrieg im
Sinne der Parteischuld. Er muß es sogar. Ich verwehre
es ihm nicht. Man darf die Frage nach einer religiösen und
moralischen Lage Europas als Ganzes mit Dingen ganz
anderer Größen — und Wertordnung, mit Fragen der
politischen Neuordnung seiner Teile nicht in peinlichster
Weise durcheinander wirren. Man darf nicht reden wie
ein Religiöser, wo der Politiker reden soll. Manche unter
uns, die allzu einseitig nur die deutsche Schuld da sehen,
wo eine gesamt-europäische vorhanden ist, haben dies
verwechselt. Aber ist solches Verhalten peinlich und ge-
schmacklos, ist es Zeugnis gebend für eine mangelnde
innere Struktur der Persönlichkeit, für den Mangel zu-
gleich der Reinheit und Klarheit auch ihrer moralisch-
religiösen Gedanken und Gefühle, so ist die organische
Unfähigkeit, sich über die ganze Sphäre des Nur-Politi-
kers zu erheben und die europäische Lage, ja die Lage
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Probleme der Religion. 1 1 1
der Menschheit aus dem Sonnenblick des Christus-Logos
zu sehen^ kläglich und philisterhaft.
Es gibt gar nichts, was so gewiß ist als dies : daß nur
die allmähliche Gesamterhebung des europäischen Urteils
und Geistes auf dieses Niveau, zu diesem Sonnenblick,
daß nur die klare Sicht auf die gegenseitig untrennbar
ineinander geflochtene Gemeinschuld Europas, ja der
ganzen Welt an diesem Kriege den Beginn jeglicher
religiösen Erneuerung zu bilden vermag. Allen Menschen
ist zuzurufen : Erhebet euch ! Steigt hinauf den heiligen Berg
eures Gewissens (mit Hilfe Christi), von dessen sonnen-
beglänztem Gipfel ihr in das Gewirr .der Gemeinschuld
Europas hinabblickt wie in ein Tal der Furchtbarkeit, der
Sünde, der Tränen! Schauet es so, wie Moses die Juden
tanzen sah um das goldene Kalb, — still und von Gott
noch trunken zu Tale schreitend — schauet von eurem
noch in das Gebet, in seinen Glanz und seine Demut
eingetauchten Gewissensgipfel Europa tanzen um seine
lächerlichen, stupiden Götzen! Nur wer nicht in seiner
Seelentiefe mittanzt, aber es noch weiß, daß sein Leib im
gleichen Rhythmus schwingt, kann den Tanz erblicken.
Wer ihn tanzt bis in seinen Seelengrund, der erblickt ihn
nicht. Wer pharisäisch nur die je »anderen« tanzen sieht,
der erblickt ihn nicht. Wer nicht seinen Schatten, seine
eigene groteske Hülle und verzerrte Figur, wer sich nicht
selbst in diesem Totentanze mittanzen sieht, — bewußt
seiner eigenen Mitsch^d — der sieht ihn nicht.
Erst Einsicht in die Gesamtschuld dieses Krieges in
diesem Sinn kann uns wie an einem einzigartigen Beispiel
der Geschichte wiedergewinnen lassen das durch die euro-
päische Neuzeit in Stücke gerissene religiös-moralische
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r
^12 Probleme der Religion.
Prinzip der Solidarität überhaupt, der Gegenseitigkeit
aller moralischen Aktionen und Werte im Reiche der end-
lichen Geister und all ihrer Gruppen; kann uns wieder
schauen lehren und fühlen, daß diese ganze Welt in jeder
Stunde nur als ein unteilbares Ganzes, als eine moralisch
kompakte Masse je steigt zu Gott hinan und fallt von
Gott hinab, daß in ihr alle für alle und alle fiir das Ganze
mitverantwortlich sind vor dem höchsten Richter. Und
erst dieselbe Einsicht in die Gesamtschuld kann das große
Pathos der möglichen gegenseitigen Verzeihung, der mög-
lichen Gesamtreue, Gesamtbuße, fiir diese Schuld, (des
heu te noch wie verschämt erzitternden Versöhnungswillens)
in uns wachrufen.
Die geschilderte neue Seelenmacht ist — soweit ich
sehe — in ihrer bisherigen Artung und ihrem bisherigen
Ausdruck nur die psychische Vorbereitung der Gesamt-
reue und gleichsam das psychische Medium und Bett
für ihren heilsamen Strom. Sie ist diese Reue selber noch
nicht. — -
In der Lage, wie sie hier geschildert wurde, hat eine
neue und besondere Aufgabe auch die Philosophie, —
soweit sie sich mit der Religion beschäftigt. Diese Auf-
gabe ist nicht die höchste unter den Aufgaben, die es für
die Erneuerung des religiösen Bewußtseins gibt. Denn
diese höchste Aufgabe wird immer zufallen dem homo
religiosus selbst, dem gottinnigen und gottmächtigen
Menschen, der durch seine geistige Gestalt die Seelen
selbst umformt und in die flüssig und bildsam gewordenen
Geister und Herzen das göttliche Wort auf neue Weise
einzugestalten vermag. Aber da das Sein und Auftreten
solcher Menschen selbst die wunderbarste der Gnaden ist.
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Probleme der Religion. i ! t
die der Menschheit zuteil werden kann, ist nicht nur das
Hervorbringenwollen solcher Menschen, sondern schon
das Suchen ihrer und das Erwarten derselben etwas in
sich Widersinniges. Nur die Bereitschaft, sie zu hören —
wenn sie erscheinen sollten — und die Kunst, sie zu sehen^
wenn sie sich und wo sie sich darbieten, sind Dinge, die
der Ausbildung und Pflege können unterworfen werden.
Diese religiöse Aufnahmefähigkeit ist aber in hohem
Maße abhängig auch von den Gedanken, die man sich
vom Wesen der Religion, den Formen der Begründung
der höchsten letzten Wahrheiten, der Stellung und Lage
der Religion innerhalb der Gesamtstruktur der mensch-
lichen Vernunft, die man sich femer von den Gesetzen
des Ursprungs aller echten Religion und dem Gefijge
und der Ordnung der Quellen religiöser Erkenntnis und
religiösen Lebens macht.
Dieser Kreis von Fragen sei im folgendem unser Gegen-
stand. Streng systematisch die hier berührten Fragen zu
behandeln, muß einem Werke vorbehalten bleiben, das seit
Jahren wachsend in meinem Pulte liegt, das zu vollenden
mich die Ungunst der Zeiten aber bisher gehindert hat.
Hier muß es genügen, in einer Form, die den Anspruch
auf jene Art von Präzision, die mir als Ideal vorschwebt,
nicht erheben darf und die ein vollständigeres historisches
und psychologisches Material zur Seite liegen läßt, die
leitenden Gedanken vor einem nicht nur fachphilosophisch
gebildet gedachten Leserkreis zu entwickeln, die in dem
genannten Werke der Religion eine allseitigere und
strengere Begründung und Rechfertig^ng geben sollen.
Dies gilt vor allem von den Erweisarten — und Be^veis-
arten der religiösen Hauptwahrheiten, die hier nicht syste-
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2 1 4 Probleme der Religion.
matisch durchgeführt sind; desgleidien von der Kritik
der bisherigen Gk)ttesbeweise.
p\ Auch hier freilidi gebietet es die Vorsicht, nicht zu
vieles von dieser die Jugend der Völker schon durch-
rauschenden Gesamtbewegung des Gemütes zu er-
l'l warten. Ohne Zweifel! Sie ist der erste der notwendigen
Ausgangspunkte möglicher religiöser Erneuerung. Aber
sie ist nicht diese Erneuerung selbst. Sie ist der einzig
gemeinsame Ausgangspunkt aller derer, die über-
haupt die Notwendigkeit einer religiösen Erneuerung
empfinden — wie grundverschieden der Inhalt der Re-
ligion immer sei, den sie damit meinen. Aber erst wenn
sich aus diesen Seelen- und herzerweichenden Geflihlsströ-
mungen, die heute schon unsere gesamte junge Dichtung
erfüllen — erfüllen sogar bis zur Gefiihlsanarchie — die
Sehnsucht nach Gewinnung positiver Überzeugungen
und ein neuer religiöser und sittlicher Formwille erhebt,
ist auf eine wahre religiöse Erneuerung zu hoffen. In weiten
Kreisen der kämpfenden Nationen ist ja schon jetzt dieses
neue Pathos mächtig, fast übermächtig geworden. Ein
unerhörter Drang hat die Herzen, besonders der Jugend
ergriffen, sich aufzutun, sich über alle Landesgrenzen hin-
weg aneinanderzuschließen, sich gleichsam hinwegzuwär-
men die Eiseskälte der Zeit, — gleich wie in Tolstois
> Herr und Knecht « die Leiber des Herren und des Knechtes
sich, im Erfrieren begriffen, auf dem Schneefelde gegen-^
seitig zu erwärmen suchen — ; ein nicht weniger heftiger
Drang, sich gegenseitig alles zu vergeben, sich gegen-
seitig alles zu verzeihen, miteinander alles zu bereuen,
sich in die Arme zu fliegen und zu rufen: Bruder, Bruder!
Die in diesen Worten angedeutete Gemütsbewegung ist
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Probleme der Religion. xjc
ohne Zweifel das stärkste Stimulans auch all der neuen
dichterischen und künsderischen Versuche, welche die Zeit
des Weltkrieges gebar. Ein mystischer Gefühlsdemokra-
tismus — ganz verschieden von politischer und sozialer
Demokratie, aber doch auch das unterirdische Nährbecken
der universalen Tendenzen dieser Bestrebungen — geht
wie eine unaufhaltsame Flut durch die jungen Generationen
aller Völker. Er macht die Kunst wieder gerichtet auf die
großen typischen Gestalten, Leiden, Schicksale des
Menschentums, auf die Wesenheiten der Situationen
dieses rätselhaften Menschendaseins. »Der« Mensch ist
ihr Gegenstand! »Die« Menschen, das Individuum, sind
uninteressant geworden. Etwas Äschyleisches in der Auf-
fassungs- und Gestaltungsstruktur des Lebens, aber mit
dem Inhalt der gegenwärtigen Wirklichkeiten erfüllt, geht
durch diese wilde Ausdruckskunst hindurch. Ein bald
mehr christlich, bald mehr dämonisch gefärbtes mystisch-
zerflossenes Allgefühl, das mehr auf die bloße Fülle und
Macht unendlich nuancierter Emotionen als auf Reinheit,
Gestalt, Tiefe des Gefühls und der Idee gerichtet ist;
eine Denk- und Fühlweise, die alle festen, von der ge-
schichdichen Kultur geprägten Strukturen, Ordnungen,
Formen des Menschendaseins scheint ertrinken lassen zu
wollen oder doch sich baden und reinigen zu lassen in
dem Glutstrom der durch den Kriegszustand so furchtbar
gestauten, aber nun mit vertausendfachter Macht hervor-
brechenden Ursehnsüchte des Menschenherzens — als
da sind Liebe aller Art, Zärtlichkeit, Mitfreuen, Mitleiden
— ist das weitaus bedeutendste neue Weltanschauungs-
ferment, das der Krieg bisher aus sich geboren.
Das Dasein dieser Seelenströmung ist auf alle Fälle von
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1 1 6 Probleme der Religion.
kaum überschätzbarer Bedeutung auch für die neue reli-
giöse Lage. Das Eis der Seelen ist flüssig geworden, und
wie merkwürdig geformte Eisbrocken in einem halbauf-
getauten See treiben die Weltanschauungstrünuner über-
lieferter Ideengruppen meist halb-, oft unverstanden in dem
Gischt herum. Man darf nicht leugnen, daß eine soge-
artete Verflüssigung, Erweichung, ein solcher Reduktions-
prozeß der zu stark gewordenen Organisation der euro-
päischen Seele nötig ist, sofern eine religiöse Erneuerung
möglich sein soll. Aber man darf noch weniger übersehen,
daß diese orgiastische Gefiihlstrunkenheit bisher nur ein
ganz wirres Durcheinander ist, in dem das Höchste
neben dem Niedrigsten liegt, die Dunkelheit des Rausches
neben dem Licht der Einsicht, Dämonisches neben Gött-
lichem, der nihilistische Drang, sich in des eigenen Herzens
Abgrund zu stürzen, neben aufbauender gottgerichteter
Gesinnung. Man darf am wenigsten übersehen, daß diese
ganze Bewegung nicht mehr ist als Rohmaterial für die
wahren Baumeister religiöser und sittlicher Erneuerung.
Denn wie viel ist in all dem Gewoge nur Ermüdung und
Spannungslösung, wie viel wieder rasch abflauender Durch-
bruch von Geftihlsmächten, die durch zu lange Stauungen
zurückgedrängt waren; wie vielbloß tatenlose und formen-
feindliche Negation, die sich hinter schönen Namen nur
verbirgt! Was daran ist die endgültige Auflösung des
Siechtums und des Todes, was die wunderbare Lösung
der Seele, die aller Wiedergeburt, aller Sinneswandlung,
aller Bekehrung voranschreitet.? Das ist eine für den, der
sie voll erfaßt, sehr dunkle Rätselfrage und — niemand
kann sie bis jetzt beantworten.
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Probleme der Religion. 117
I. Religion und Philosophie.
A. Typik der bisherigen Anschauungen.
Über die Frage, ob und inwiefern die Gegenstände des
religiösen Glaubens — Dasein und Wesen Gottes, Un*
Sterblichkeit der Seele usw. — und inwiefern das Glauben
und die Existenzsetzung dieser Gegenstände auch Gegen-
stände des philosophischen Erkennens seien, waren und
sind die Ansichten der Philosophen und der Theologen
geteilt. Es ist zu konstatieren, daß im Gegensatze zu
den Lehren, die seit dem 13. Jahrhundert bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts ziemlich gleichförmig die Geister in
Europa beherrschten, das 19. Jahrhundert eine kaum ab-
sehbare Fülle von »Standpunkten« bezüglich dieser Frage
hervorgetrieben hat, die über eine Annahme in engeren
Schulkreisen nicht hinausgekommen sind; die sich wirr
untereinander bis zum heutigen Tage bekämpfen — bis-
her ohne Aussicht auf Durchsetzung irgendeines von ihnen. •
Die Erscheinung liegt nicht nur begründet in der Proble-
ftiatik, in welche die Entfaltung der modernen Kultur die
Religion hineinzog; sie ist nicht weniger gegründet in der
steigenden Unsicherheit über Wesen und Aufgabe der
Philosophie. Wo nicht nur eines der Dinge, deren Wesens-
verhältnis es zu erkennen gilt, unbestimmt und unsicher
geworden ist, sondern beide Dinge zumal, da ist diese
Erkenntnis zehnfach schwierig geworden. Die optimistische
Annahme, dieser Geisteszustand bezeuge wenigstens ein
tiefes und starkes, ein mannigfaches und reiches Leben
und Ringen der Geister um diese Dinge, mag für sehr
eng begrenzte Zeitalter in sehr engen Spielräumen natio-
naler geistiger Bewegungen nicht ganz unrichtig gewesen
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^ 1 8 Probleme der Reli^^on.
sein. Sie mag wenigstens einen Schein von Gültigkeit
beanspruchen für Deutschlands Kultur seit Lessings Tod
und dem Erscheinen der Kantischen Vemunftkritik bis
zum Ausgang der sog. »klassischen Spekulation«. Für die
Gegenwart wäre sie total unsinnig. Denn diese »Stand-
punkte* stehen längst, jeder vom anderen isoliert neben-
einander, eingeschlossen und verfestigt — ja verfilzt und
erstarrt — in die »Organisationen« enger Schulkreise,
die von der Welt der europäischen Bildung überhaupt
nicht gehört werden; die sich sogar untereinander kaum
ernstlich anhören, fast niemals aber zu lebendiger, frucht-
barer Auseinandersetzung untereinander gelangen. Nicht
»Leben und Ringen der Geister«, sondern ödester Schul-
traditionalismus mit der Maxime »Quieta non movere«
ist das schließliche Ergebnis der Vielheit der »Stand-
punkte* geworden. Da die »Standpunkte« meist beruhen
auf traditionalistischen Versuchen, ältere philosophische
Gedankensysteme neu aufzuwärmen — im höchsten Falle
mit geringen Abweichungen und sog. »Zugeständnissen«
an die »Gegner« — so ist schon ein ernster Wille zur
Verständigung unter den Standpunkts »Vertretern« kaum
zu erwarten. Denn solche Verständigung wäre möglich
nur, wenn man ohne vorhergehendes Hinsehen auf bloße
Traditionen die Tatsachen selbst, um die es sich handelt,
wieder neu und rein in Augenschein zu nehmen suchte,
— um erst hinterher die so gewonnenen Resultate mit
lebendigen oder toten Traditionen in Verbindung zu
bringen. Nur ein untergeordneter, in seiner Artung selbst
sehr problematischer Zweig der Erkenntnisarten und
Wissenschaften, die es mit Religion zu tun haben, hat
dies getan: die sog. Religionspsychologie, auf die nach-
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Probleme der Religion. xig
her die Rede kommt; die aber auf alle Fälle allen Be-
gründungs- und Rechtfertigungsarten der Religion ganz
ohnmächtig gegenübersteht. In der Philosophie der
Religion herrschen dagegen nach wie vor die traditio-
nalistisch in engsten Schulkreisen gepflegten »Systeme«
z. B. des Thomismus und Neuthomismus, der kantischen
und positivistischen, der hegelschen und neuhegelschen
philosophischen und theologischen Schulen. Auch die
junge pragmatische Religionsphilosophie ist nur eine be-
wußtere Formulierung uralter englischer Schultraditionen.
Während diese traditionalistisch in engen Schulkreisen
gepflegten »Standpunkte« — schon da sie von großen
Geistern abstammen — wenigstens Eines fiir sich an-
führen können: daß ihre »Vertreter« die Fragen mit
einiger methodischer Strenge und in ihrer zeitlosen Be-
deutung behandeln, steht — völlig getrennt von ihnen,
aber auf die Kreise der Bildung im Grunde allein wirk-
sam — eine bewußt aktuelle Popularphilosophie, die
schon wegen ihrer Methodenlosigkeit und des ihr man-
gelnden Ernstes für die Ewigkeitsbedeutung der Fragen,
wegen nicht nur noch historisch, sondern auch sachlich
keine Art von Verbindung und Kontinuität mit den welt-
historischen Höhepunkten der Problemstellung in diesen
Fragen mehr besitzt. Ob diese Art Popularphilosophie
und modemer Erbauungsliteratur gepflegt wird von Natur-
forschern, gleich Häckel und Ostwald, die uneingedenk der
Grenzen ihrer »Fächer« ihre fiir ihr »Fach« wertvollen
Handwerkskategorien zu Weltbegriffen erweitern, ob von
Pädagogen wie Fr. W. Förster, von »jfecrivains« wie
Nietzsche, von Predigern und Lebensreformatoren wie
Johannes Müller u. a. : Auf endgültige Lösung der Pro-
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3 20 Probleme der Religion.
bleme in allgemeingültig lehrhafter Form kann diese
»Philosophie« der Grenzüberschreitungen oder doch der
»guten Einfälle« und Aphorismen aus kritiklos aufge-
nommenen Beobachtungen des unmittelbaren Lebens
heraus einen ernsthaften Anspruch nicht erheben. Sie ver-
mag dies nicht, wie wertvoll sie im übrigen inrnier sei und
wie sehr sie ilir sich anfuhren kann, sie sei das einzige
wirkliche Lebensbrot eines geistig so tief gesunkenen
Zeitalters wie es das unsrige ist. —
Der Versuch, aus dem Wesen der Philosophie und der
Religion eine angemessene Verhältnisbestimmung beider
zu gewinnen, sei eingeleitet mit einer kurzen Auffuhrung
der typischen Lösungen, die diese Frage bisher fand. An
diese Typologie anschließend möchte ich die Idee einer
philosophischen Wesenslehre (Eidologie) des religiösen
Aktes und Gegenstandes entwickeln. Sie darf bean-
spruchen, die philosophische Grunddisziplin zu sein, auf
der sich nicht nur alle anderweitige philosophische Be-
schäftigung mit der Religion (Erkenntnis- und Wertungs-
theorie des religiösen Aktes, Metaphysik der Religion,
Geschichtsphilosophie der Religion), sondern auch alle
Religionswissenschaft (also Religionspsychologie, Reli-
gionsgeschichte, schließlich die mannigfachen Disziplinen
der Theologie) als ihrem gemeinsamen Fundamente auf-
zubauen haben.
B. Der partielle und der totale Identitätstypus.
Die Lehren über das Verhältnis von Religion und Philo-
sophie teilen sich in solche, die eine totale oder partielle
Wesensidentität von Religion und dem Teile der Philoso-
phie behaupten, der seit Aristoteles die » erste Philosophie « ,
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Probleme der Religion. j 2 I
später Metaphysik, genannt wurde, und in solche, die eine
Wesensverschiedenheit von Religion und Philosophie
behaupten. Erst wo das letztere der Fall ist hat es Sinn,
von einer sog. »Religionsphilosophie« zu sprechen. Denn
nur in diesem Falle ist nicht der Gegenstand der Religion
— Gott — sondern die Religion selbst der Gegenstand
der Philosophie. Der Ausdruck »Religionsphilosophie«
ist denn auch neueren Datums. Der gesamten Literatur
der Philosophie bis auf Kant und Schleiermacher ist er
unbekannt, und auch die Theologie kannte keine Disziplin
dieses Namens. Der Name birgt denn auch selbst schon
eine besondere Theorie über das Verhältnis von Religion
und Philosophie in sich: den Gedanken nämlich, daß sich
die Philosophie nicht direkt mit Gott, sondern — wenn
überhaupt mit Gott — mit Gott nur dujjch die Religion
hindurch zu beschäftigen habe. Solange man einen be-
sonderen Zweig der Metaphysik annahm, der unmittelbar
Wesen und Dasein Gottes zum Gegenstande der Erkennt-
nis hat, sprach man nirgends von »Religionsphilosophie«.
Man nannte diesen Teil Natürliche Theologie, Rationale
Theologie. Diese natürliche Theologie galt als gemein-
samer Teil der ganzen Theologie und der philosophischen
Metaphysik. Die positive oder OfFenbarungstheologie mit
ihren wesensmäßig neuen Erkenntnisquellen (Selbstmit-
teilung Gottes an Personen imd Tradition, femer dogma-
tische Setzung) baute sich so direkt und unvermittelt
durch eine sog. Religionsphilosophie auf die natürliche
Theologie auf.
I. Dieses partielle Identitätssystem von Religion und
Philosophie (Metaphysik) ist jener Typus der Verhältnis-
bestimmung beider, der in Europa am längsten gegolten
31
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3^3
Probleme der Religion.
hat und die stärkste Verbreitung, besonders in den kirch-
lichen Schulen, gefunden hat. Seit Thomas Aquinas be-
herrschte dieses System auch mindestens den Hauptzug
der kirchlichen Schultraditionen in Philosophie und Theo-
logie bis zum heutigen Tage. Er wird von den Trägem
dieser Tradition energisch verteidigt sowohl gegen alle
Lehren, die der Religion (auch der natürlichen Religion)
eine von den Erkenntnisquellen der Philosophie verschie-
dene Erkenntnisquelle einräumen wollen (Fideismus), als
gegen die totalen Identitätssysteme (Gnosis und Tradi-
tionalismus), die in irgendeiner Form — sei es zugunsten
des einen oder des andern Teils — die Scheidung einer
natürlichen und einer positiv geofFenbarten Religion auf-
heben — eine Scheidung, die fiir die katholische Kirche
auf Grund des bekannten Pauluswortes dogmatischen
G eltungswert besitzt. Der Mensch kann ein sicheres Wissen
um das Dasein Gottes mit Hilfe der philosophierenden
Vernunft gewinnen, dringt aber in Gottes inneres Wesen
(resp. in sein Wesen ohne seine äußere Beziehung auf die
Welt) nur ein mit Hilfe der gläubigen Aufnahme des in
der positiven Theologie dargelegten Inhaltes der Oflfen-
barung in Christo. Das »sichere Wissen« gilt dabei seit
der Wiedererweckung des Thomismus durch Leo XIII.
als ein mittelbares Wissen resp. als ein solches, das aus-
schließlich durch Schlüsse gewonnen wird, die sich auf
Dasein und GrundbeschafFenheit der Welt aufbauen. Die
auf die aug^stinische Tradition zurückgehende, in den
Oratiorianerkreisen von Port Royal heimische Lehre von
einem natürlichen unmittelbaren Wissen um Gott oder
doch um das Göttliche wird — meist ohne tiefere Diffe-
renzierung der sehr verschiedenen Formen, die diese
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Probleme der Religion. j 2 3
Lehre annehmen kann und in der Geschichte annahm —
ebenso wie der ihr nahestehende sog. ontologische Gottes-
beweis meist kurzerhand als »Ontologismus« abgelehnt.
Die totalen Identitätssysteme können wir in die gnosti-
schen und die traditionalistischen einteilen, je nachdem die
gesamte Theologie hier in Philosophie oder die Philo-
sophie (wenigstens als Metaphysik) ganz in die (positive)
Theologie aufgehen soll.
2. Das Wesen der gnostischen Identitätssysteme be-
steht darin, daß die Religion (positive wie natürliche) nur
als eine niedrigere Erkenntnisstufe der metaphysi-
schen Erkenntnis angesehen wird. Religion wäre nach
dieser Auffassung also im Grunde selbst eine Metaphysik,
nur eine Metaphysik zweiter Klasse, eine Metaphysik >in
Bildern und Symbolen < , eine Metaphysik durch das > Volk «
und für das > Volk« . Die Religion ist also nach gnostischer
Vorstellung ein Versuch, ohne methodisches Denken und
ohne Zusammenhang mit der Wissenschaft, aber mit dem
Wesen nach identischen Operationsarten des menschlichen
Geistes und ohne andere und wesensverschiedene Stoff-
quellen der Anschauung und Erfahrung, als sie auch die
Philosophie zur Verfügung hat, dieselben Gegenstände zu
erkennen, dieselben Fragen zu behandeln, dieselben Grund-
bedürfnisse des menschlichen Gemütes zu befriedigen, die
auch die Metaphysik erforscht, löst und befriedigt — nur
so, daß die Religion unvollständig, bildlich-symbolisch und
weit mehr den Bedürfnissen des menschlichen Herzens in
seiner je historisch bestehenden Formung nachgebend ver-
fahrt, wogegen die Metaphysik vollständig, systematisch
und in rational-begrifflicher Form im engen Zusammen-
hang mit der Wissenschaft vorgeht. Dieser Unterschied
21'
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Goot
324 Probleme der Religion.
erklärt sich für die gnostische Auffassung in letzter Linie
soziologisch, insofern die Metaphysik die Religion der
Denker ist, die Religion aber die Metaphysik der
Massen. Der charakteristische Gegensatz von Exoteris-
mus und Esoterismus ist daher für diesen Standpunkt
wesendich. Die allegorisch-symbolische Auslegung der
für die Religion als »heilig« geltenden Schriften ist dann
meist das Mittel, diesen Gegensatz so zu überwinden, daß
die in der gnosdschen Metaphysik gewonnenen Spekula-
tionsresultate hinter den heiligen Worten als der »eigent-
liche Sinn« gesucht werden. Eine spezifisch religiöse
Gegenstands- und Wertgruppe, die nur in einer beson-
deren Wesensklasse von Akten zugänglich wäre (den
religiösen Akten wie Glauben, Anbeten, Verehren, Sichab-
hängig- oder Errettetwissen usw.), gibt es hiemach nicht.
Ebensowenig gibt es ein besonderes Gut und Ziel des
Menschen (Heil), das nur durch Religion und nicht durch
Metaphysik zu erreichen wäre. Femer gibt es nach gnosti-
scher Auffassung keine besondere positive Selbstmit-
teilung Gottes über sich selbst an besondere Personen als
Stoffquelle für die Religion, d. h. keine Offenbamng;
wenigstens keine solche, die von den natürlichen philoso-
phischen Erkenntnisquellen der Vemunft und der Welt-,
Selbst- und Fremderfahmng in den höchsten Steigerungen
ihrer Tätigkeit (z. B. als philosophische, künsderische sog.
Inspiration) verschieden wäre.
Wir finden diese Auffassung geschichtlich in größter
Verbreitung im Buddhismus, im Neuplatonismus, bei den
gnosdschen Sekten; wir finden sie wieder in einem Teile
der excessiven mittelalterlichen deutschen Mystik, bei
B. Spinoza, und wir finden sie vor allem als ausdrückliche
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Probleme der Religion. ß 2 5
oder mehr stillschweigende Voraussetzung bei den deut-
schen Philosophen der sog. »klassisdien« Spekulation, bei
J. G. Fichte, Hegel, Schelling — auch ganz ausdrücklich
bei A. Schopenhauer und E. von Hartmann. Hegel drückt
diese Auflassung aus, wenn er die Philosophie als »abso-
lutes Wissen in der Form des Begriffs«, Religion als
»absolutes Wissen in der Form der Vorstellung« definiert.
Schopenhauer wird nicht müde, zu versichern, die Religion
sei »Metaphysik fiirs Volk« und alle Kirchen, Dogmen,
Kulte seien Denkmäler des »metaphysischen Bedürf-
nisses« des Menschen. Eduard von Hartmann und sein
Schüler Drews aber haben geradezu eine neue, den Er-
gebnissen ihrer Metaphysik entsprechende Dogmatik ent-
wickelt, welche die positive chrisdiche Dogmatik zu er-
setzen berufen sei. Wenn der letztere die Behauptung
schon E. von Hartmanns, nicht Christus Jesus, sondern
Paulus sei der Stifter der christlichen Kirche gewesen
durch eine Leugnung der Existenz Jesu und femer durch
den Versuch des Nachweises, es-sei der Ideengehalt der
chrisdichen Dogmatik nur ein verwickeltes Massenerzeug-
nis aus mannigfaltigen Elementen der Religionsgeschichte
zu unterbauen sucht, so hat ihn die gnostische Voraus-
setzung, Religion sei jene untergeordnete Form der Be-
friedigung metaphysischer Bedürfnisse, methodisch dabei
schon geleitet. Ganz bestimmte, ihm wesensmäßig zu-
gehörige Auffessungen der Religion und alles zur Reli-
gion Gehörige sind mit dem gnostischen Standpunkt
verknüpft, a) Die Religion hat nicht ihr Urmaß und ihre
vollkommenste Urgestalt im Sein und Wesen einer hei-
ligen Person, deren Aussagen als wahr von Gott gelten,
weil sie es ist, die sie aussagt, sondern in einem von
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126 Probleme der Religion.
allen Personen abgelösten Ideensystem, das nach außer-
personalen puren Sachnormen zu beurteilen ist. Der
»Heilige« bewirkt daher weder ein neues Verhältnis des
Menschen zu Gott, noch ist er der Mittler einer göttlichen
Tat und Wirksamkeit, durch die ein solches Verhältnis
entstände. Er ist nur eine Abart des Lehrers resp.
eines Menschen, der als Metaphysiker tiefer erkannt
hat und das Erkannte aussagt, b) Dem angemessen ist
die soziologische Form, in der nur Gott gewußt wird,
nicht die Kirche, sondern eine Art Schule, die religiöse
Form der Unterweisung nicht Vorstellung heiliger Glau-
bensgüter zu pflichtgemäßer Annahme im Glauben, son-
dern Unterricht in einer metaphysischen Theorie, c) Der
Glaubensakt ist ein unvollständiger Akt des Wissens um
etwas, das durch ein von der Metaphysik aufzulösendes
Bild oder Symbol hindurch dasjenige erfaßt, was der
Metaphysiker in adäquater Form in Begriffen niederlegt,
d) An Stelle der Offenbarung endlich als eines mitgeteilten
Wissens tritt ein vom Menschen her spontan erworbenes
Wissen, e) Da femer eine Person nach Dasein und
Wesen — wir werden es noch genauer zeigen — über-
haupt nicht spontan und ohne ihre freie Einwilligung er-
kennbar ist, muß der gnostische Standpunkt schon seiner
Methode allein nach, die personale Seinsform des Gött-
lichen leugnen. Das Göttliche ist ihm eine Substanz, eine
Sache, eine Ordnung, ein logisches Subjekt — keinesfalls
eine konkrete Person. Wie reich dies an Folgen ist, wird
sich uns noch zeigen.
Nur kurz sei dazu bemerkt: Keine der möglichen An-
schauungen über das Verhältnis von Religion und Philo-
sophie ist so irrig und unzureichend wie diese. Keine wider-
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 327
Streitet femer so direkt und unrettbar allem, was wir heute
über Wesen und Geschichte der Religion, femer über die
Psychologie des religiösen Lebens wissen. Nichts ist viel-
leicht heute, — wo sonst die religiösen Stellungnahmen
so tief auseinandergehen, wie nur je — einheidicher und
sicherer angenonunen von allen, die sich mit Religion ver-
ständnisvoll beschäftigen, als dies : daß Religion einen von
Philosophie und Metaphysik grund- und wesensver-
schiedenen Ursprung im Menschengeiste hat, daß die
Stifter der Religion — die großen homines religiosi —
völlig andere menschliche Geistestypen gewesen, denn
Metaphysiker und Philosophen; daß femer ihre großen
historischen Umbildungen niemals und nirgends erfolgt
sind kraft einer neuen Metaphysik, sondern auf grund-
verschiedene Weise. Auch wenn es also eine Metaphysik
gibt — eine vernunftgemäße Erkenntnis der letzten Seins-
und Wesensgründe der Welt — so muß sowohl der An-
trieb, der zu ihr fuhrt, femer ihre Methode des Vor-
gehens, ihr Ziel und ihr Gegenstand grund- und wesens-
verschieden sein von dem Antrieb, der Methode, dem Ziel
und Gegenstand der Religion. Ich persönlich halte als
Philosoph durchaus eine Metaphysik für möglich. Aber
jede Lehre, die in der auch vollendet und allgemeingültig
gedachten Metaphysik irgendeinen Ersatz oder gar das
höhere Entwicklungsziel der Religion sieht, bleibt darum
nicht minder grundirrig.
Der Gott der Religion und der Weltgrund der Meta-
physik mögen real identisch sein; als intentionale
Gegenstände sind sie wesensverschieden. Der Gott des
religiösen Bewußtseins »ist« und lebt ausschließlich im
religiösen Akt, nicht im metaphysischen Denken über
Digitized by VjOOQ IC
2 2 8 Probleme der Religion.
außerreligiöse Bestände und Wirklichkeiten. E>as Ziel der
Religion ist nicht rationale Erkenntnis des Weltgrundes,
sondern das Heil des Menschen durch Lebensgemein-
schaft mit Gott — Vergottung. Das religiöse Subjekt ist
nicht der »einsame Denker«, sondern gleich ursprünglich
wie das heilsbedürftige und heilssuchende Individuum ent-
hält das Subjekt das Miteinander der Gruppe, in letzter
Linie der Menschheit. Der religiöse Gott ist der
Gott der heiligen Personen und Volksgott,
nicht Wissensgott der »Gebildeten«. Die Quelle
aller religiösen Wahrheit ist nicht wissenschafdiche Erör-
terung, sondern der Glaube an Aussagen des homo
religiosus, des »Heiligen«, resp. eines Menschentypus,
der folgende Kennzeichen hat: i. Er be$itzt als ganze
ungeteilte Person eine keinem anderen Typus des
menschlich Bedeutungsvollen — z. B. keinem Genius,
keinem Helden — eignende charismatische Qualität,
vermöge der er Glauben findet nur weil Er es ist, —
der Träger dieser Qualität — der redet, handelt, sich
äußert. 2. Er erlebt eine besondere, nur ihm eigene
lebendige und reale Beziehung zum Götdichen, als dem
ewigen Heilsgrund, auf die er seine Aussagen und
Weisungen, seine Autorität, seine Taten stützt. Seine
Aussagen werden ihm vermöge seiner charismatischen
Qualität als subjektiv und objektiv wahr von seiner Ge-
folgschaft geglaubt. Niemals wird wie beim Genius, beim
Helden usw. seine Aussage, ihre Wahrheit und ihr Recht
ermessen an einer außer ihm befindlichen Sachnorm
(moralische, logische, ethische Normen) und nur anerkannt
um dessentwillen, weil sein Wort, seine Tat, sein Werk
mit diesen Normen übereinstimmt. Umgekehrt ist er als
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 329
Person die Norm seiner Aussagen, ausschließlich ge-
stützt auf sein Gottesverhältnis.
Aber nicht minder irrig ist die zweite Verhältnisbe-
stimmung, zu der einige Kirchenväter neigen, die wir
femer neuerdings viel ausgesprochener bei den sog. Tra*
ditionalisten finden. (De Maistre, Lamennais.) Sie will die
Philosophie — als Metaphysik wenigstens — in Reli-
gion als Offenbarungslehre verschwinden lassen. Der
Traditionalist benutzt Begriffe und Gedanken faktisch
metaphysischer Herkunft, um einen Glaubensgehalt wirk-
lich religiösen Ursprungs zu rationalisieren, zu systema-
tisieren, zu formulieren. So benutzten die großen Väter
und Lehrer der christlichen Kirche die beiden größten
philosophischen Systeme der Griechen, den Piatonismus
und an zweiter Stelle den Aristotelismus, um die christ-
liche Glaubenswahrheit rational zu durchdringen und zu
erleuchten. — Für eine selbständige Philosophie
blieb hier kein Raum. Aber auch gewisse Richtungen der
protestantischen Theologie kommen diesem Lösungs-
typus nahe. Schon Luther versuchte die Philosophie ab-
zuschütteln und die positive Theologie ihr gegenüber
ganz selbständig und' unabhängig zu stellen. In neuester
Zeit hat die sehr erfolgreiche Theologie Albrecht Ritchls
nur eine wesentlich negative, das menschliche Erkennen
begrenzende Erkenntnistheorie als philosophische Grund-
lage der Theologie gelten lassen; sie hat Metaphysik
und hat Theologie in Anlehnung bald mehr an Kant,
bald mehr an einen agnostischen Positivismus ganz und
gar geleugnet und so die Metaphysik in die Religion
aufgehen lassen.
Auch diese Verhältnisbestimmung ist sicher eine grund-
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I
'J-r
XXO Probleme der Religion.
irrige. Wie die erste der Ursprünglichkeit der Religion,
so wird diese zweite Form der Identitätslehren der Philo-
sophie, besonders der philosophischen Metaphysik,
ihrem selbständigen Ursprung im Menschengeiste,
ihrem besonderen Gegenstande und Ziel nicht
gerecht.
Mit einem gewissen Schein von Recht freilich kann sich
der Vertreter dieser traditionalistischen Ansicht auf die
historische Tatsache berufen, daß die metaphysischen
Systeme die wir vorfinden, allesamt gewisse Struktur-
ähnlichkeiten aufweisen mit den positiv-religiösen Welt-
anschauungen, aus deren geistbindender Gewalt die
Schöpfer dieser Systeme geschichtlich hervorgewachsen
sind. So wird man z. B. in der griechischen Philosophie
— die doch weit schärfer von der griechischen Religion
abgesondert auftritt als z. B. die indische Philosophie vom
Brahmanismus — trotz der grundverschiedenen Resultate
und Methode ihrer Einzelsysteme gewisse tiefgreifende
Züge der griechischen Religion wiederfinden. Die Vielheit
des relativen Nebeneinander und der freischwebende Cha-
rakter der »Ideen« Piatons — erst Augustin faßte die
Ideen bewußt als »Gedanken Gottes« auf — hat mit
dem griechischen Polytheismus eine gewisse Gestalt-
und Strukturähnlichkeit. Malebranche meinte von den
Entelechieen, den selbständigen Formkräften des Aristo-
teles, vielleicht historisch nicht ganz unrecht, daß sie nur
die rationalisierten »heidnischen« griechischen Natur-
götter seien. A. Comtes Auffassung des »metaphysischen
Zeitalters« ist ihm darin gefolgt. Wie tief in der Seelen-
lehre fast aller griechischen Philosophen aus Asien stam-
mende religiöse Seelenvorstellungen nachwirken, ja diese
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Probleme der ReligioD. 3 3 1
Lehre geradezu formen, hat E. Rhode in seiner »Psyche«
eingehend gezeigt. Die organologische Weltansicht Pia-
tons und Aristoteles', die auch alle Vorgänge in der toten
Natur, aber auch die Seele und das Weltganze mit Kate-
gorien begreifen will, die ohne Zweifel zuerst am organi-
sierten Lebewesen gefunden sind, hat mit der gleich-
falls organologisch begrenzten Religion der Griechen
solche Ähnlichkeit. Das Fehlen eines Schöpfungsgedan-
kens in Philosophie und Religion der Griechen ist darum
nicht zufällig.
Raumhafte statische (also unzeithafte) Auffassung alles
Daseins und eine Auffassung des ganzen Geisteslebens
nach Analogie mit dem Gesichtssinn {Ideiv t&r tdeayy) und
der ihm gemäßen vorwiegenden intellektual-kontempla-
tiven Welteinstellung, finden sich hier und dort. Wie vieles
Ahnliche ließe sich hier noch aufzählen — weit hinaus über
die positiv nachweisbaren Einwirkungen, die z. B. auf den
Piatonismus und die pythagoreische Schule die griechi-
schen und asiatischen Religionen ausgeübt haben.
Wenn man femer in der späteren christlichen Philoso-
phie bis zur Spätscholastik immer mehr geneigt ist, anzu-
nehmen, man vermöge rein vernunftgemäß und ohne Re-
kurs auf die Offenbarung mit denselben Denkmitteln der
aristotelischen Philosophie Sätze streng zu beweisen, von
deren Annahme Aristoteles weit entfernt war, z. B. die
Weltschöpfung, die Personalität Gottes, die individuelle
Unsterblichkeit usw. — Sätze, die sogar in nachweisbarem
Wesenswiderspruch zu diesen Denkmitteln stehn — , so
kann man verstehen, wenn viele Forscher dafürhalten, daß
hier Subreptionen stattfinden aus der Religion in die Philo-
sophie, daß also das vorgegebene rein rationale Denken,
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^ ^ 2 Probleme der Religion.
das solches zu beweisen vermeint, von der religiösen Tra-
dition heimlich imd unbewußt schon genährt ist. Und ganz
analog kann man in Kants Lehre — trotz ihrer vielfachen
Wesensgegensätzlichkeit zum Luthertum wie zum Calvi-
nismus — sehr vielfache Strukturähnlichkeiten zu diesen
Formen des Altprotestantismus finden.
Wer aus Tatsachen dieser Art — denn nur als Beispiele
für eine fast unermeßliche Anzahl solcher soll das Gesagte
figurieren ^ — den Schluß zöge, daß die Selbständigkeit der
Philosophie — soweit sie mehr ist als Logik und Wissen-
schaftslehre — nur eine vermeindiche Selbständigkeit sei ;
daß die Metaphysik es sei, die heimlich von der Religion
gelebt habe oder doch von Subreptionen religiöser Glau-
bensbestände in rationale Formen, resp. in Formen, denen
ein rationaler Gedanken-Ursprung nur falschlich ange-
dichtet worden sei, hätte — rein historisch gesehn — ein
nicht eben kleines Beweismaterial zur Hand. Der glaubens-
feindliche Positivismus wie der glaubensfreundliche Tradi-
tionalismus — die ja dieselbe sensualistische Erkenntnis-
theorie zur Basis haben — haben dieses Material auch
genügend herangezogen. Für Auguste Comte ist z. B. die
ganze »metaphysische Periode« des menschlichen Denkens
und der menschlichen Einrichtungen im Grunde nur eine
verwässerte und scheinrationale religiöse Periode,
eine Periode, die in seiner Gesamtwürdigung ebensowohl
gegen die religiös-personalistische wie gegen die im Wer-
den befindliche positive Periode an Bedeutung und Wert
weit zurücktritt.
Die traditionalistische Auffassung des Verhältnisses von
Philosophie und Religion ist bei ihren ersten Vertretern
(Joseph de Maistre, De Bonald, Lamennais) als bewußte
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Probleme der Religion. 313
einseitige Reaktion gegen die Auf klärungsphilosophie des
18. Jahrhunderts, gegen seine revolutionäre, alle positive
Religion verleugnende »natürliche« Theologie und sein re-
volutionäres Naturrecht entsprungen. So trägt sie alle Züge
einer einseitigen Reaktionsphilosophie. Sie ist zugleich
der Romantizismus auf wesdichem und katholischem Boden .
Sie neigt dazu, das Denken und die Vernunft auf die Sprache,
die logischen Kategorien auf die grammatischen Katego-
rien zurückzuführen. Die Sprache selbst aber leitet sie auf
die göttliche Uroffenbarung zurück. Wie der Sensualismus
die sinnliche Empfindung und Wahrnehmung als letzte
Quelle aller Erkenntnis ausgibt, die Erinnerungs- und Tra-
ditionsinhalte aberaufdieEmpfindung zurückzuleiten sucht,
— als abgeblaßte Residuen der Empfindungen — •, so ver-
suchten die Traditionalisten in der Erinnerung und zwar
in der gemeinsamen Erinnerung der Menschheit die
ursprünglichste, letzte Quelle der Erkenntnis nachzuweisen.
Die Wahrnehmung erfährt durch die gegebene Tradition
eine so tiefgehende Umbildung, daß sie niemals von ihr
völlig »rein« ist und nur als zufällige Ausfüllung der tra-
ditionellen Kategorien des Denkens, nicht als neue Stoff-
quelle der Erkenntnis gelten kann. Diese Erinnerung und
Tradition selbst aber leitet sich nicht aus früherem direkten
Erlebniskontakt des menschlichen Geistes mit der Welt
selber her — wie der Sensualismus annahm — sondern
geht auf das Wort Gottes in der Uroffenbarung zurück.
Von großer Bedeutung war, daß der Traditionalismus
die der Religion und Philosophie wesentliche Gemein -
Schaftsseite gegen den religiösen Individualismus der
protestantischen Religionsformen neu und stark hervor-
hob. Lamennais steigerte diesen Gedanken in das grund-
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^1^. Probleme der Religion.
irrige Extrem, daß er den sog. Gottesbeweis aus dem Con-
sensus gentium zum ersten und fundamentalsten Gottes-
beweis zu machen suchte — in dem Consensus selber aber
ein höchstes Wahrheitskriterium zu finden meinte. Daß er
aber eben hierdurch die wahrhaft universale religiöse Ge-
^einschaftsidee preisgab, indem er sie auf Gruppen ein-
schränkte, die gemeinsamer Tradition teilhaftig sind, und
daß er ferner in Konflikt geriet mit der kreatianistischen
Lehre von der menschlichen Seele und der Lehre vom
absoluten Wert jeder persönlichen Menschenseele, be-
achtete er nicht.
In neuester Zeit ist der Traditionalismus unter allerlei
Modifikationen wieder erneuert worden von Männern wie
Bruneti6re und Maurice Barrys in Frankreich, von James
Balfour in England. Philosophisch und zumal erkenntnis-
theoretisch steht ihm nahe auch Henri Bergson, insofern
er die Vernunft auf ein ursprüngliches Gedächtnis
zurückfuhrt, dessen Inhalte nicht auf Sinneswahmehmung
zurückgehen sollen.'*'
Der Traditionalismus ist ein Gedankensystem, das die
Selbständigkeit einer Religion zu einer Art Allein-
herrschaft der Religion steigert, die weder dem Wesen
der Philosophie noch dem Wesen der Religion entspricht.
Das erste was er verkennt, ist die selbständige Ver-
wurzelung der Metaphysik im menschlichen Geiste: der
Metaphysik als Bedürfnis, als Problem, als Gegenstand
und als Methode der Erkenntnis.
Das sog. metaphysische Bedürfnis ist von den seelischen
Motoren, die zur Religion führen, verschieden. Die Quelle,
die alle Beschäftigung mit der Metaphysik speist, ist die
Verwunderung, daß überhaupt Etwas ist und
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Probleme der Religion. xx^
nicht lieber Nichts. Es ist eine ganz bestimmte
Emotion, die diese eigenartige Grenzfiage aller speku-
lativen Fragen im Menschen auslöst, — die wir die meta-
physische nennen — ja in gewissem Sinne dieser Frage
Wurzelist. Diese Verwunderung verdichtet sich zur Frage
nach der Wesensbestimmung dessen, was ist — unab-
hängig von aller menschlichen Organisation und mensch-
lichen Deutung — und was es sei, das innerhalb dieses an
sich bestehenden Seienden alles andere Seiende trägt, be-
stimmt, bewirkt. Die Frage nach dem Wesen der an sich
bestehenden Welt und des sie bedingenden Urgrundes:
das ist die metaphysische Frage katexochen. Im Gegen-
satze hierzu ist Religion gegründet in Gottesliebe und in
Verlangen nach einem endgültigen Heile des Menschen
selbst und aller Dinge. Religion ist also zuvörderst ein
Heils weg. DasSummum bonum, nicht das absolut Wirk-
liche und sein Wesen ist der erste Intentionsgegenstand
des religiösen Aktes.
Diese Wesensverschiedenheit der dauernden und essen-
tiellen subjektiven Quelle der Metaphysik und der Reli-
gion schließt nicht aus einen im Wesen der beiderseitigen
Intentionsgegenstände selber* gelegenen Zusammen-
hang, — einen Zusammenhang der beiderseitigen Inten-
tionen im menschlichen Geiste und der beiden Intentions-
gegenstände in ein und derselben — möglichen — Rea-
lität. Denn das ist apriori klar, daß die Wesenseigenart
des absolut Wirklichen, d. h. des Wirklichen, das allem
Wirklichen zugrunde liegt Heil oder Unheil aller Dinge
— mit Einschluß des Menschen — entscheiden muß,
daß es für dieses Heil oder Unheil sozusagen eine letzte
Instanz ist. Und auch das ist apriori klar, daß das absolut
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336 Probleme der Religioo.
Heilige und Göttliche, das seinem Wesen nach das Ver-
langen der Dinge befriedigen kann, realiter dies nur ver-
mag, wenn es außerdem auch noch ist das absolut Wirk-
liche, von dem alles andere abhängt. Aber dieser innere
Sachzusammenhang des Intentionsgegenstandes der
Metaphysik und der Religion schließt die grundverschie-
dene Wesensintention und die auf dieser Verschieden-
heit beruhende Verschiedenheit der Entwicklungsgesetze
und Entwicklungsverläufe von Religion und Metaphysik
nicht aus. Die Heilsfrage bleibt sekundär fiir den Metaphy-
siker; die Erkenntnis des absolut Wirklichen sekundär
für den Religiösen. Das Heil und die Liebe zum Heil aller
Dinge bleiben selbständige Urkategorien der Religion;
das Seiende, wie es an sich ist, bleibt die selbständige Ur-
kategorie der Metaphysik. Niemals läßt sich die Idee des
Heilstiftenden als des absolut Heiligen-Götdichen, die als
letztes Ziel vor allem religiösen Suchen steht — ja ihm
die Einheit des religiösen Suchens erst erteilt — ana-
lytisch herleiten aus der Idee des absolut Realen. Niemals
auch umgekehrt die letztere Idee aus der ersteren. Nur
das steht fest, daß Metaphysik und Religion zu einem
identisch Realen fiihrert müssen — sollen sie ihr Ziel er-
reichen — , zu einem Realen, das beiden *wesens verschie-
denen Intentionsgegenständen letzte reale Bedeutung gibt.
Insofern gibt es allerdings ein identisches Teilelement
auch in den intentionalen Gegenständen von Religion und
Metaphysik, auf dem ihr notwendiger Zusammenhang auch
im menschlichen Geiste in letzter Linie beruht. Dieses
Teilelement ist der Gegenstand des Begriffes : Ens a se —
wenn in ihm >Ens< so gefaßt ist, daß es sowohl gegen den
Begriff des absolut Realen als gegen den des absolut hei-
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Probleme der Reli^^on. XX7
ligen Gutes noch indifferent ist. Aber es wäre irrig zu
sagen, die Religion übernehme den Gedanken des Ens a
se aus der Metaphysik, wie es auch falsch wäre, ein ent-
" gegengesetztes Übernehmen zu setzen. Das >Ens a se« ist
also immer auch das letzte logische Subjekt aller meta-
physischen und religiösen Prädizierungen. Die Art aber,
wie es intentional gefaßt wird, und der Wesensaspekt, in
denen es sich dem metaphysischen und religiösen Wissen
darstellt, die Art auch, wie es in Beziehung und Zusam-
menhang gebracht wird mit allem Ens ab alio, bleibt in
Metaphysik und Religion verschieden. Der Weg der Re-
ligion geht immer aus von dem Gehalt eines absoluten
Heiligen und Heilskräftigen, von dem sekundär gezeigt
wird, es sei dieses Ens a se auch der absolute Wirklich-
keitsgrund der Dinge. Der Weg der Metaphysik* geht
immer aus von einer Wesensbestimmung des absolut
Wirklichen, von dem sekundär gezeigt wird, die personale
Einigkeit mit ihm führe auch den Menschen (oder die
Konformität der Ding^ mit ihm führe auch die Dinge) zu
ihrem Heile.
Die Frage also, wie weit der metaphysische Weg zum
Weltgrund auch dasjenige mit begründe, was in der Gottes-
idee des religiösen Erlebnisses enthalten sei, setzt offen-
bar die Erkenntnis des Wesensgehalts des religiösen Er-
lebnisses voraus. Stets bedarf dieser Gehalt einer beson-
^ deren Untersuchung. Der Glaube an den Gott (der Religion)
lebt — auch als natürlicher Religionsglaube — nicht
von Gnaden der Metaphysik, — sowenig wie die Erkennt-
nis des Weltgrundes von Gnaden des religiösen Glaubens.
Beide Entia inten tionalia können daher — de facto —
auch weitgehend auseinandergehen, trotz ihrer apriori
22
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%xS Probleme der ReligioiL
gewissen notwendigen realen Identität. Denn diese reale
Identität oder die Einsicht in sie ist nicht beruhend auf
einer vorgefundenen Inhaltsidentität der beiden Entia —
sondern es ist ein apriorischer Satz, daß sie bestehe. Die
Grundlage dieses Satzes ist die Einheit des Menschen-
geistes und die notwendige Widerspruchslosigkeit aller
seiner Setzungen. Eben darum können (subjektive) Ver-
nunft und religiöse Akte (als Auf&ssungsformen aller
Offenbarung, der natürlichen und der übernatürlichen)
sehr wohl auf verschiedene Inhaltsmomente des Ens a
se fuhren — ohne daß hierdurch die Realidentität des
Weltgrundes der Metaphysik und des Gottes der Reli-
gion in Zweifel gesetzt wäre.
Eine ganze Fülle von Gefahren für die rechte Religions-
begründung werden erst durch diese unsere Auffassung
vermieden.
1 . Die Gefahr des exzessiven Rationalismus, der auch
Offenbarungsinhalte (z. B. Gottes Liebe und Erbarmen,
Langmut und Güte im moralischen Sinne, nicht im Sinne
bloßer Seins -Vollkommenheit) schon aus dem Ens a se
— ohne neue Stoffquellen des religiösen Anschauens
und Wertnehmens — ableiten möchte: und der Offen-
barung schließlich überflüssig machte, so er konsequent
aufträte.
2. Die andere Gefahr, — falls dieser Fehler vermieden
wird und der rationalen Abteilung zufällige Schranken z. B,
da auferlegt werden, wo es die Autorität der Kirche ge-
bietet— : daß der logischen Entwicklung willkürlich und
ohne objektiven Grund in der Sache zugleich Halt geboten
werde. Dies ist das Verfahren vieler Neuscholastiker, die
als gläubige Glieder der Kirche ihrer rational konstruk-
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Probleme der Religion. ^39
tiven Methode zwar Schranken setzen, wo der offensicht-
liche Oflfenbarungsinhalt beginnt, aber vermöge ihrer
Methode selbst gar nicht begründen können, warum sie
es grade jetzt tun und nicht erst vorher oder später.
3. Die Gefahr des Übersdiens der notwendigen In-
haltsdifferenzen des religiösen und metaphysischen Gottes
und seiner Attribute. Z. B. : der Intentions-Gott der Reli-
gion kennt Zorn, Rache, Liebe und zwar in abwechselnden
Zuständen. Der metaphysische Gott ist ein absolut unver-
änderliches Ens und — ohne diese möglichen Prädikate.
Der religiöse »Gott« wendet seinen Blick mir oder ganzen
Völkern zu (im Gebete intensiver als sonst); er ist bald
freundlich zu mir, bald mir zürnend über meine Sünde.
Der metaphysische Gott kann all dies nicht sein. Der Gott
der Religion schlägt die Sünder mit neuer Sünde, ver-
teilt seine Gnaden und Ungnaden nach freiem, unerforsch-
.lichem Ermessen — der metaphysiche Gott ist ein starres
Ens, in dem alles ewig (überzeitlich) und notwendig ist.
Der religiöse Gott ist »lebendiger Gott« — womit alles
Wesendiche gesagt ist.
Die apriorische Einsicht in die Realidentität des
Gottes der Metaphysik und der Religion fordert einen
wahren und wirklichen Ausgleich dieser scheinbaren
Widersprüche. Und d. h. etwas völlig anderes, als die
Widersprüche »übersehen«. Ausgleich ist femer etwas
völlig anderes als ein Versehen fortwährender Subreption,
vermöge der man entweder Inhalte und Merkmale des
(intentionalen) Gebets- und Glaubensgottes in die meta-
physische Idee von außen hereinträgt, aber sich einbildet,
sie (analytisch) gefunden zu haben; oder umgekehrt in
den Gott der religiösen Intention metaphysische Attribute
22*
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%AO Probleme der Religion.
einmischt, die er nicht besitzt. Diese Widersprüche kön-
nen gelöst werden. Sie werden es prinzipiell dadurch, daß
man das scheinbare Wechselnde, Veränderliche, was zum
(intentionalen) Gebetsgott wesentlich gehört, femer
seine scheinbare »anthropopathischen« Bestimmungen
(Zorn usw.) je auf den Wechsel und die Veränderung bloß
verschiedener Gesichtspunkte des endlichen Wesens auf
Gott nachträglich zurückführt, oder was das scheinbar
Anthropopathische betrifft, auf Analogien, die zwar ein
Wesentliches in Gott treffen, was der rationale Gottes-
gedanke nicht geben kann, die aber nur als Analogien,
nicht als adäquate Bestimmungen Gottes angesehen wer-
den dürfen.
4. Femer wird durch die Anerkennung dieser »schein-
baren Widersprüche« vermieden, daß der »notwendige«
Schein sowohl der »Leere und Starrheit des metaphysi-
schen Gottes«, als der »notwendige Schein« der Anthro-
popathie des religiösen Gottes voll begriffen wird. Denn
auch der metaphysische Gott — nicht nur der religiöse
— wird als Intentionsgegenstand ein notwendig unvoll-
ständiger. Gott ist ja nicht sempitem (immerseiend), son-
dern aetem (überzeitlich). Gerade die Aeteraitas Gottes
erlaubt nicht nur, sondem fordert sogar, daß einem end-
lichen Wesen, dessen Lebensinhalt in der Zeit abrollt,
das ewige überzeitliche Sein in seiner Lebensgemeinschaft
mit ihm nicht als sempitem, d. h. alle Zeit erfüllend, son-
dern als veränderlich erscheine; obzwar Gott nicht ver-
änderlich ist, und obzwar die Aetemitas auch das Sein
und Wesensidentischsein des Ewigen in jedem Teile der
Zeit in sich enthält. Aber diese Sempitemitas erschöpft
die Ewigkeit nicht. Das Ewige enthält in sich auch die
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 141
Inhalte aller möglichen Veränderung — nur ohne die
Form der Veränderung. Wenn die Metaphysik die zeit-
hafte Seins -Form des Ewigen, d. h. die Sempitemitas
vertritt, so vertritt die Religion die Fülle des Ewigen
als eines über Veränderung und stetiger Dauer Erhabe-
nen. Erst Metaphysik und Religion zusammen ergeben
ein inadaequates Bild, einen inadaequaten Eindruck vom
Ewigen.
5. Wir müssen also einsehen, daß der adäquateste
Gottesbesitz, die maximalste Teilnahme unseres Seins an
seinem Sein, erst durch die widerstreidose und wider-
spruchslose Zusammenschau des religiösen Gottes und
des metaphysischen »Weltgrundes« erzielt werden kann.
Sie kann also weder erzielt werden dadurch, daß der
metaphysische »Gott«, noch dadurch, daß der religiöse
Gott zum Maße des je anderen Intentionsgegenstandes,
sei es ganz oder zum Teile, gemacht wird. Daserstere zu tun,
ist der Grundirrtum jeder Denkrichtung, die behauptet,
die natürliche Theologie (nicht die natürliche Religion) sei
Sach-VoraussetzungfürdieErfahrungstheologiederOffen-
barung. Denn auch die natürliche Religion ist Religion
(nicht bloß unvollkommenes, unmethodisches Schließen).
Sie lebt in religiösen Akten* Die natürliche Offenbarung
Gottes in seinem Werk, wie es der Apostel im Auge hat,
beruht auf einem symbolischen Ausdrucksverhält-
nis Gottes in der Natur und Seele, im »Spiegeln« seiner
in der Natur, in einem Hinweisen, Hindeuten der Dinge
selbst und ihres (objektiven) Sinnes auf Gott als dem
Grundsinn der Welt, — lauter Dinge, die nur der reli-
giöse Akt in der (frommen) Naturbetrachtung und Seelen-
betrachtung erfaßt und erfassen kann — nicht aber die
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^42 Probleme der Religion.
nach dem Kausalprinzip schließende Vernunft in Natur-
wissenschaft und Psychologie.
Das Zweite zu tun, ist der Grundirrtum des (vorzüglich
bei den Protestanten) zu findenden Fideismus und Tradi-
tionalismus, einer Richtung, die Metaphysik und natürliche
Theologie überhaupt leugnet und die notwendig die Gottes-
idee partikularisieren muß und schließlich auch den Univer-
saltsmus der Religion untergräbt. Hier gilt vielmehr:
Der wahre Gott ist nicht so leer und starr wie der Gott
der Metaphysik.
Der wahre Gott ist nicht so eng und lebendig wie der
Gott des bloßen Glaubens.
6. Die Einfachheit und Unteilbarkeit Gottes fordert,
daß wir es streng vermeiden, die verschiedenen Wege
zum Ens a se, die als »verschiedene« einem endlich teil-
baren Geistwesen konstitutiv sind, in das Wesen Gottes
selbst hineinzulegen. Wird aber der Gott der Metaphysik
und der Religion oder wird je eines dieser Entia intentionalia
der Vernunft und des Glaubens uns irgendwie zum Maße
des anderen, so wird dieser Fehler des Hineintragens
geradezu notwendig.
C. Dualistische Typen von Glauben und Wissen.
Die bisher betrachteten drei Verhältnisbestimmungen
von Religion und Metaphysik setzen die Existenz und die
Möglichkeit einer Metaphysik voraus. Ganz neue Versuche,
dies Verhältnis zu bestimmen, mußten einsetzen, wenn —
wie es durch weit verbreitete Denkrichtungen geschah —
die Möglichkeit und das Recht einer Metaphysik bestrit-
ten wurde. Für alle jene, die Religion ganz oder partiell
mit der Metaphysik identifiziert hatten, mußte dann die
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Probleme der Religion. x^X
Religion ohne weiteres in ihrer Grundlage mit zerstört
werden. Da indes die Religion im Sein und . Leben
der Völker viel tiefer wurzelte wie die Metaphysik,
so war es eben diese Preisgabe einer Metaphysik in den
mannigfachen Formen des metaphysischen Agnostizismus,
die den Antrieb bildete, die Religion ganz und gar von der
Metaphysik zu scheiden und zu versuchen, ihr eine neue
und andersartige Basis zu verleihen. Diese Basis mußte
auf alle Fälle atheoretisch sein in dem Sinne, daß man in
der Seinserkenntnis überhaupt kein Fundament der Re-
ligion mehr suchte, sonclem in irgendeiner Gesetzlichkeit
atheoretischer Akte, sei es (wie bei Kant) solcher aus der
Ordnung der Moral imd des praktischen Lebens, sei es
besonderer und spezifischer religiöser Akte. (Zuerst
Schleiermacher.) Die beiden Systeme einer exklusiven
Moraltheologie und des sog. Fideismus gingen hieraus
hervor.
Die metaphysisch agnostischen Richtungen der Philo-
sophie kommen indes aus ganz verschiedenen Gründen zu
einer Verwerfung der theoretischen Metaphysik. Hier sei
nur auf eine Verschiedenheit hingedeutet, die häufig über-
sehen worden ist und die doch für das Verhältnis der
agnostischen Philosophien zur Religion von großer Bedeu-
tung ist. Der positivistisch-sensualistische Agnostizismus
kehrt seine Spitze nicht nur gegen alle möglichen Antwor-
ten und Lösungen metaphysischer Fragen und Probleme,
sondern gegen Sinn und Rechtsgültigkeit dieser Fragen
selbst. Das ist sein prinzipieller Unterschied von den Kanti-
schen agnostischen Schulen, die Sinn und Rechtsgültig-
keit metaphysischer Fragen und Probleme bestehen
lassen und die nur leugnen, daß mit den Operationen
Digitized by VjOOQ IC
344 Probleme der Religion.
des menschlichen Verstandes eine Lösung dieser
Fragen auf dieoretischem Wege je möglich sei. So sind
für Kant die »Vemunftideen« von Seele, Welt und Gott
als Ideen der Totalität der Bedingungen je alles Seelischen,
Physischen und Seienden überhaupt so wenig auf Sensa-
tionen zurückflihrbar wie die kategorialen Formen des
Verstandes und die Formen der reinen Anschauung. Sie
sind »Ideen«, die die Vernunft notwendig und spontan
als ihre ewigen Probleme hervorbringt, deren Gegenstand
aber ebenso notwendig unerkennbar ist, so daß ihnen für die
Theorie keine konstitutive, sondern nur die regulative Be-
deutung zukommt, den Verstandesgebrauch in der Auf-
suchung von Gesetzesbeziehungen nach Möglichkeit zu ver-
einheitlichen. Für den praktischen Vemunftgebrauch aber
grenzen dieselben »Ideen« gleichsam einen bestimmt um-
schriebenen, nur theoretisch erkenntnisleeren Bereich mög-
licher Gegenstände ab, der durch die vernunftnotwendigen
»Postulate« der natürlichen Moraltheologie hinterher aus-
gefüllt wird.
Im Gegensatz hierzu verfährt der Positivismus nach
der seiner sensualistischen Erkenntnislehre genau ent-
sprechenden Maxime E. Machs, daß Fragen entweder ge-
löst werden können oder daß ihre Sinnlosigkeit müßte
aufgewiesen werden können. Stellen wir eine Frage, für
deren Entscheidung keine mögliche Kombination von sinn-
lichem Beobachtungsmaterial kann angegeben werden, so
ist die Frage selbst eine sinnlose resp. die in ihr enthalte-
nen Begriffe rechtswidrig gebildet oder doch ihre Verknüp-
fung im Frageverhalt eine sinnwidrige. So behauptet der
sensualistische Positivismus weit mehr wie die theoretische
Unbeantwortbarkeit metaphysischer Fragen; er behauptet
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 345
ihre Sinnwidrigkeit. Dies ist für die geschichdiche
Auffassung der Metaphysik und Religion von erheblicher
Tragweite. Der Positivismus kommt hierdurch zur Grund-
ansicht, daß die religiöse wie die metaphysische Daseins-
problematik für den Menschen überhaupt keine in seinem
geistigen Wesen gelegene sei (also auch keine historisch
dauernde), sondern daß sie nur eine > historische Kate-
gorie« sei fiir einen bestimtnten Stand von Geschichte
und Gesellschaft des Menschen, also auch in Zukunft ein-
mal vollkommen preisgegeben werden müsse und werde.
Der Mensch wird in steigender Anpassung an das Uni-
versum die metaphysischen und religiösen Fragen über-
haupt nicht mehr stellen, da er ihre Sinnwidrigkeit wird
begriffen haben. Dahingegen bleiben für den Agnostizis-
mus Kants und seiner Schulen die metaphysischen und
religiösen Fragen dauernd sinnvolle und rechtsgültige,
nur ebenso dauernd theoretisch unlösbare.
Es ist nun auch klar, warum nur der theoretische Agnosti-
zismus des zweiten Typus ein Wesensverhältnis von Phi-
losophie und Religion annehmen kann. Der positivistische
Agnostizismus kann gegenüber der Religion und Meta-
physik nur eine theoretische Aufgabe anerkennen: die
Aufgabe ihrer Deskription als seelischer Erscheinungen
des Menschenlebens und die psychologische, historischeund
soziologische Erklärung dieser Erscheinungen. Im höchsten
Falle kann er für gewisse Zeitalter ihre biologische und
soziologische Nützlichkeit dartun.
Sehr mannigfach und in ihren einzelnen Ausgestaltun-
gen hier nicht zu verfolgen sind die Formen der Religions-
begründung, die aus dem anderen Typus des metaphysi-
schen Agnostizismus dann hervorgingen. Ihm bleibt ja fiir
Digitized by VjOOQ IC
i
%^ß Probleme der Religion.
eine religiöse Erkenntnistheorie und Wertungs-
lehre auf alle Fälle freier Raum. Sie hätte die dauernden
Wurzeln der Religion im menschlichen Geiste auf alle
Fälle bloßzulegen und das Fundierungsverhältnis der
Aktgefuge, in denen sich die religiösen Gegenstände dar-
stellen und realisieren, zu bestimmen. Was über diese
Transzendentalphilosophie und -psychologie der Religion*
aber hinausgeht, das fiele dann sofort der Geschichtsphilo-
sophie als der Darstellung der Stufen und des Weges an-
heim, in denen sich diese transzendentale Uranlage des
vernünftigen Geistes in der Geschichte realisierte.
Diese letztere Verhältnisbestimmung von Philosophie
und Religion stellt ein Schema dar, in das eine erhebliche
Anzahl von Religionsbegründungsversuchen hineingehö-
ren, die wir zum Teil modernen Philosophen, teils pro-
testantischen Theologen verdanken. Es seien hier genannt
die Versuche von Ritschi und seinen Schülern Kaftan und
Herrmann, die am resolutesten die Metaphysik ausschalten
(der erstere unter den letztgenannten auf mehr positi-
vistischer, der letztere auf neukantischer Basis); ferner
Ernst Troeltsch, der trotz allerhand Einräumungen, die er
einer an Hegel und Eucken orientierten Metaphysik macht,
doch gleichfalls in einer transzendentalphilosophischen Er-
neuerung der Vemunftwurzeln der Religion aus der Idee
ihrer Möglichkeit heraus die Fundamentallehre der Reli-
gionsbegründung erblickt; femer Wobbermin, der in einer
»Transzendentalpsychologie« der Religion die Aktformen
aus dem empirisch religiösen Lebensmaterial herausheben
' Weder der positivistische noch der kantische metaphysische Agnostizis-
mus ist haltbar. Vielmehr gibt es eine klar umschriebene (ewige) Aufgabe
der Metaphysik und einen sicheren erkenntnistheoretischen Aufweis ihrer
Möglichkeit mit rein theoretischen Mitteln des Geistes.
Digitized by VjOOQIC
Probleme der Religion. 14.7
möchte, in denen sich der religiöse Gegenstand darsteUt;
endlich auch Rudolf Otto, der trotz andersartiger phäno-
menologischer Ansätze zur Wesensbestimmung des Hei-
ligen am Schlüsse seines tiefen und schönen Buches »Das
Heilige«, Breslau 191 7, doch wieder zurückfällt in eine
an Kant und Fries orientierte Auffassung dieses Heiligen
als einer subjektiven Vemunftkategorie, die dem gege-
benen Sinnesmaterial »aufgeprägt« (also nicht als Gegen-
standsbestimmtheit vorgefunden) werde. —
Auch diese dualistischen Verhältnisbestimmungen von
Philosophie und Religion halten wir für widerstreitend
dem Wesen von Religion und Philosophie.
Eine ganze Reihe fundamentaler Sätze, die auch die
Religion aus der Sinnlogik der religiösen Akte selbst
heraus als wahr setzt, können mit Hilfe der Metaphysik
außerdem philosophisch erwiesen werden. Ich rechne
dazu (nur beispielsweise) die Existenz eines Seienden, das
nur aus seinem Wesen selbst heraus Dasein hat; die
Existenz dieses Ens a se als prima causa alles kontingent
Daseienden (als Ausschnittes des aus dem Inbegriff des in
der Eidologie entwickelten Wesensmöglichen); die Geistig-
keit und Vemünftigkeit dieses Ens a se und seine Natur
als Summum bonum und Endziel aller Regsamkeiten der
Welt; seine Unendlichkeit. Keinesfalls aber rechne ich dazu
seine faktische Personalität. Zum philosophisch Er-
kennbaren gehört femer die spezifische Geistigkeit und
Vemünftigkeit der Menschenseele, ihre Wesenszugehörig-
keit zu einem Leibe und gleichwohl ihre reale Trennbar-
keit von seinem Dasein; die Wesens i de en von höheren
und reineren Geistem als sie die geistigen Menschen-
seelen darstellen; die personale Fortdauer der Menschen-
Digitized by VjOOQ IC
348 Probleme der Religion.
Seele hinaus über den Tod (nicht aber ihre Unsterblich-
keit überhaupt); femer die Existenz einer Freiheit des
Geistes und speziell des Wollens, die über alle Arten von
Gesetzlichkeiten des untergeistigen Seins und Geschehens
im Menschen selbst und aller übrigen Natur spezifisch
hinausreicht.
Was ich aber gleichwohl aufs bestimmteste leugne (im
wohlbewußten Gegensatze zu dem partiellen Identitäts-
system von Religion und Metaphysik), ist die Behauptung,
es gründe die Religion ihre eigenen Fundamentalartikel
(also auch die natürlichen) irgendwie auf diese metaphy-
sischen Sätze in dem Sinne, daß diese Artikel evidenzlos,
oder ungegründet und falsch würden, wenn nicht auf die
Metaphysik Berufung ergriffen würde.
Soweit einige der hier »dualistisch« genannten Theorien
nichts anderes behaupten, als die Selbständigkeit der
Religion (auch gegenüber der Metaphysik), zollen wir
ihnen vielmehr Beifall. Nur die Art und Weise, in der sie
diese Selbständigkeit begründen, weisen wir zurück. Da-
von ist später noch die Rede.
Die These von der Selbständigkeit und Insichgegrün-
detheit der Religion (auch der natürlichen Religion)
schließt eine Verhältnisbestimmung ihres Wesens zur
Metaphysik nicht aus, die ich das Konformitätssystem
von Religion und Metaphysik nenne und die ich so-
wohl den totalen und partiellen als den dualistischen
Systemen entgegensetze, die oben genannt wurden.
D. Das Konformitätssystem.
Das erste, was das Konformitätssystem leistet, ist
darin beschlossen, daß es — ohne wie die dualistischen
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Probleme der Religion. 349
Systeme Glauben und Wissen auseinanderzureißen, ohne
den großen Satz zu verletzen: Gratia perficit naturam, non
negat — ebensowohl die Einheit der Religion als die
Einheit der Metaphysik wahrhaft festzuhalten erlaubt.
I . Religion ist nun einmal in jeder Gestalt Religion und
nicht Metaphysik. Schon die wichtige und unerläßliche
Unterscheidung zwischen natürlicher und offenbarter Re-
ligion ist eine Unterscheidung innerhalb der Religion
selbst. Sie ist ferner keine Scheidung die im Gegenstands-
bereiche und im Wahrheitsbestande der Religion selber
irgendwie angetroffen würde. Es gibt keinen natürlichen
Gott und einen Offenbarungsgott, sondern nur einen Gott.
Auch in einem lebendigen religiösen Akt gibt es keine
Teilfunktionen, die dieser Unterscheidung entsprechen. Nur
ein Unterschied in den Erkenntnisquellen, durch die be-
stimmte Attribute Gottes (und anderer religiöser Gegen-
stände) nachträglich begründet und vor dem rationalen
(theologischen) Bewußtsein gesichert werden, darf mit der
Unterscheidung gemeint sein. Wird dies Verhältnis nicht
streng geachtet, so ist die Einheit der religiösen
Wahrheit und noch mehr des religiösen Lebens
sofort schwer gefährdet. Es besteht dann sofort die Ge-
fahr, daß die natürliche Religion sich also verselbständigt,
wie es in der Natur- und Vernunftreligion des 18. Jahr-
hunderts seit Herbert von Cherbury geschah. Die »natür-
liche Religion« erscheint dann nicht als bloße Begrün-
dungsstufe der einen wahren an sich ungeteilten Religion,
sondern wirft sich zur Norm und zum Maßstab der jposi-
tiven Religion auf. Und diese Gefahr wächst bedeutend,
wenn — wie es im partiellen Identitätssystem geschieht —
die »natürliche Religion« gar noch mit einer ganz anderen
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j^O Probleme der Religion.
Wesensgattung von Wissen gleichgesetzt wd, — näm-
lich dem metaphysischen Wissen. Sogar der Begriff
»Glaube an das Dasein Gottes« wird dann evident sinn-
los, da wir vom Dasein Gottes hiemach überhaupt keinen
Glauben, sondern nur ein Wissen haben können. Sieht
man die Sache außerdem geschichtlich an, so könnte man
unschwer zeigen, wie der ungeheure Irrweg des i8. Jahr-
hunderts zu Vernunftreligion und Deismus seinen Ursprung
und seinen Nährboden hatte gerade in dem System, das
wir das partielle Identitätssystem genannt hatten. Religion
fließt in jeder ihrer Formen des Inhaltsreichtums eben
immerdar aus einer Quelle: objektiv aus der (selbst stufen-
förmigen und stufenreichen) »Offenbarung« Gottes, sub-
jektiv aus dem Glauben. Hierbei verstehe ich unter »Offen-
barung« nicht das, was die positiven Theologen »die
Offenbarung« nennen, auch nicht wahre Offenbarung (ge-
schweige »positive« Offenbarung), sondern allein die spe-
zifische Gegebenheitsart jeder Art Anschauungs- und
Erlebensdaten eines Gegenstandes vom Wesen des Gött-
lichen und Heiligen, nämlich die spezifische Gegebenheits-
art des Mitgeteiltseins oder Mitgeteiltwerdens — sei es
auf unmittelbare, sei es auf mittelbare Weise. Das Wesen
dieser Erkenntnisart steht im Gegensatze zu allen spon-
tanen Erkenntnisakten; und es ist nicht eine bloß ob-
jektive Unterscheidung der kausalen Art, durch die Wissen
im Menschen zustande kommt, sondern es ist eine im erleb-
baren Erkenntnisprozesse selbst gelegene grundverschie-
dene Art der möglichen Evidenzbildung, um die es sich
hier handelt. Alles religiöse Wissen um Gott ist ein
Wissen auch durch Gott im Sinne der Art der
Empfängnis des Wissens selber. Dieser alte große
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Probleme der Religion. ^ c i
Grundsatz allein gibt der Religion jene letzte Einheit,
deren sie bedarf. Auch der notwendige Unterschied natür-
licher und positiver Offenbarungsreligion kann diesen
Grundsatz nicht aufheben. Er muß sich auf den Unter-
schied »natürlicher Offenbarung« und »positiver Offen-
barung«, resp. auf eine erweiterte Lehre von der Glie-
derung und den Stufen der Offenbarung (in jenem fonnal-
sten, religionsphilosophischen Sinne) zurückfuhren lassen
und läßt sich auch darauf zurückführen.
Daß die Metaphysik dessenungeachtet ganz frei und
aus sich selbst heraus zu Einsichten konunt, welche die
eigengesetzliche Entfaltung der Religion auf ihren höch-
sten Stufen mitenthält, das ist nur ein sicheres Zeichen
jener tieferen Einheit der menschlichen Natur, des
menschlichen Geistes und des Seins, die sich jenseits
aller Absichtlichkeiten und bloß willkürlich »gewollten«
(d. h. im Grunde immer nur zu engen und tatsächliche
Risse verbergenden) »Einheit« von selber durchsetzt und
darlegt; eben dann darlegt, wenn allem, was wahrhaft in
uns »vom Geiste« ist, freier und eigengesetzlicher Spiel-
raum seiner Entwicklung gewährt wird.
2. Aber auch die Selbständigkeit und die ganze mög-
liche Inhaltsfülle der Metaphysik ist nur auf dem Boden
des Konformitätssystems gewahrt. Soll die Metaphysik
oder doch ihr zentralster Teil, die Lehre vom Weltgrund
gleichzeitig die natürlicheTheologie als notwendige Grund-
lage der positiven Theologie sein, so ist — auch beim
besten Willen, de fide geltende Glaubenssätze und freie
Vemunftforschung zu trennen — im Grunde gar nichts
anderes möglich, als daß eine Reihe Resultate einer be-
stimmten historischen Metaphysik, ja schließlich eine ganz
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1 c 2 Probleme der Religion.
bestimmte Methode ihrer Auffindung und eine ganz be-
stimmte Schule, in der diese Methode gültig wurde, selber
den Charakter einer vermeintlichen Glaubenswahrheit
annimmt. Nicht nur bestimmte Resultate, sondern über-
dies eine ganz bestimmte Vernunft metho de ihrer Auf-
findung unter eine Sanktion stellen zu wollen, die ihren
Rechtsgrund auf die positive Offenbarung zurückfuhrt,
ist aber sachlich widersinnig. Offenbarung mag noch mit
Fug und Grund die Grenzen ihrer Gültigkeit im Verhält-
nis zur spontanen Vernunfttätigkeit des Menschen selbst
und ex se bestimmen, so wie es durch die Paulusworte
über die natürliche Erkenntnis des göttlichen Werk-
meisters aus seinem Werk ja auch prinzipiell geschieht.
Über die positive Methode aber, nach der diese Er-
kenntnis zu finden sei, kann der Verwaltung der positiven
Glaubensgüter ein befugtes Urteil mit dogmatischer
Geltung nicht zustehen. Wird ein solches Urteil aber
gleichwohl beansprucht, so heißt dies genau soviel als
eine bestimmte Schule der Metaphysik — indirekt
auch einer ganzen Philosophie — zu dogmatisieren und
eine Glaubenslehre aus ihr zu machen. Dies ist aber für
den Glauben selbst, der dadurch auf ein vermeintliches
Fundament gestellt wird, das seinem Wesen nach weni-
ger dauerhaft ist als der Glaube von größtem Unheil —
und nicht weniger ist es von Unheil für die Metaphysik.
Denn jenes Stück Metaphysik (das Glaubensfundament
sein soll) wird hierdurch aus dem Ganzen der Philo-
spphie gleichsam herausgebrochen und es wird so er-
starrt, daß es durch das lebendige Denken weder nach-
geprüft noch fortentwickelt werden kann. Es ist dann
auch eine sehr begreifliche Reaktion aller derer, die dem
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Probleme der Religion. ^5%
positiven Glauben, dessen »Fundament« dieses Stück
Metaphysik sein soll, nicht huldigen, daß sie annehmen,
diese vorgeblich freie spontane Vernunft meta-
physik sei schon absichtlich so eingerichtet, daß sie
dem positiven Glauben als »Fundament« dienen könne.
Die Folge ist, daß sie eben darum diese Metaphysik mit
einem so tiefgehenden prinzipiellen Mißtrauen betrachten,
daß sie auch ihre Wahrheit oder ihre ewigen Wahrheits-
elemente übersehen, ja schon die Fragen gar nicht mehr
untersuchen wollen, die jene Metaphysik beantwortet. Ein
so gearteter paradoxer Geisteszustand hat sich denn auch
seit langem schon verwirklicht. Denn gibt es etwas Para-
doxeres, als daß gerade derjenige Teil der Theologie und
der Religionsbegründung, der unabhängig von dem posi-
tiven Glaubensinhalt und damit von aller Konfession die
höchsten und fundamentalsten Wahrheiten der Religion
begründen und damit eine gemeinsame Plattform ab-
geben soll für jede Art weiterer religiöser und kirchlicher
Auseinandersetzung gerade das Umgekehrte von dem-
jenigen leistet und bewirkt, was er bewirken und leisten
soll: daß gerade er es ist, der die Geister am schärf-
sten scheidet? Wenn aber das, was vernünftig einsichtig
sein soll, de facto ein gebotener Traditionsglaube wird
und wenn das am schärfsten trennt, was bestimmt war,
das Minimum der Einung zwischen den Trägem ver-
schiedener positiver Religionen herzustellen, so ist auch
der Sinn der ganzen natürlichen Theologie in sein ge-
rades Gegenteil verkehrt. Das Konformitätssystem
schließt diesen Zustand aus; und es schließt ihn so aus,
daß die Resultate der Metaphysik — b^i neuer Prüfung
— durchaus nicht notwendig geändert werden müssen,
23
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k
XSA Probleme der Religkm.
SO wenig wie irgendein Satz der positiven Theologie,
da ja nur das vorgegebene »Fundament «Verhältnis zu-
gunsten einer Konformität beseitigt wird.
5. Nicht weniger einsdmeidend ist das Konformitäts-
system für die Gestaltung und die Bedeutung der
Metaphysik. Metaphysik hat den vollen Wert, den sie
als Erkenntnis gewinnen kann, nur dann, wenn sie dem
Gegenstand nach tief und breit gegründet ist in der
ganzen Mannigfaltigkeit des Daseins und der Welt und
wenn sie — ihrem Ursprung nach — aus der Wurzel des
geistigen Gesamdebens ihres Urhebers und als historische
Gesamterscheinung aus ihrer Weltepoche herauswächst.
Der »Weltgrund« ist nur ihr letzter und höchster Gegen-
stand — wahrlich nicht ihr erster und einziger. Er ist
und soll für sie sein die gedankliche Fassung des Schnitt-
punktes aller der unzähligen Fäden, die auf Grund er-
schauter Wesen und Wesenszusammenhänge, (die sich
am erfahrungsmäßig gegebenen kontingenten objektiv
realen Sein der positiven Wissenschaft darstellen und
finden lassen), über die Grenzen dieses erfahrungsmäßig
Gegebenen der objektiven Realität hinausfuhren in die
Richtung auf das Absolut Reale. Der damit bezeich-
nete Sinn und das Wesen einer Metaphysik als Erkenntnis-
artung ist von ihrer Wahrheit und Falschheit noch ganz
unabhängig. In diesem Sinne sind die metaphysischen
Systeme z. B. des Aristoteles, des Leibniz, Hegels, Schel-
lings^ Fechners, Schopenhauers, Hartmanns, Bergsons
* echte « metaphysische Systeme — ihrer etwaigen Falsch-
heit ganz ungeachtet. Ihre besonderen Ideen vom Welt-
grunde sind nur die abschließenden, synthetischen For-
mulierungen der Endpunkte x y ... z, die für diese Denker
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Probleme der Religion. 3 ^ ^
die Fäden aller Arten von Dinge und Begebenheiten der
Welt finden, wenn sie über die Sphäre des objektiv
realen, aber im Verhältnis zum Übersinnlichen, Absoluten
des Wirklichen noch daseinsrelativen Daseins hinaus
bis in ihre gemeinsame Verwurzelung im absolut Daseien-
den verfolgt werden. Keine dieser Metaphysiken be-
schränkt sich darauf, abgesondert vom positiven Wissens-
bestande der Zeit und ihres Urhebers, bloß über den
Welt gr und — ganz abgesondert von der Welt und
ihrem Inhaltsreichtum — formale und abstrakte Fest-
setzungen zu treffen. Jede dieser Metaphysiken ist wirk-
lich schwanger von »Welt« und geistigem Erfahrungs-
gehalt und sucht zu zeigen, wie diese Welt im »Welt-
grund« eingewurzelt ist. Indem sich aber gleichwohl ihre
letzten und höchsten Wahrheiten zum Teil decken mit den
Fundamentalsätzen des (entwickelten) religiösen Bewußt-
seins, verankert sie diese Wahrheiten — ohne doch ihren
religiösen »Grund« zu bilden — in einer Weise in dem
Vollgehalt der Welt- und Selbsterfahrung, wie
es die Religion allein nicht vermag. Denn Religion geht
sofort von derjenigen Grundbestimmung des absolut
Wirklichen — des Ens a se — aus, zu dem Metaphysik
allein nicht vorzudringen vermag: Von der Personalität
Gottes, die ihre Existenz aufweist — indem sie sich
offenbart. Um so mehr aber vermag die Metaphysik
vom Ens a se all dasjenige als Bestimmtheiten seiner
zu demonstrieren, was auch die Sachbedingung dafür ist,
daß ein Wirkliches personal gestaltet sein kann: So vor
allem Vemünftigkeit und Geistigkeit des Weltgrundes.
Die Personalität Gottes aber entzieht sich jeder Art
spontaner Vemunfterkenntnis seitens endlicher Wesen
23*
'm
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'f
356 Probleme der Religion.
— nicht der sog. Grenzen der Erkenntniskraft wegen —
sondern weil es im gegenständlichen Wesen einer rein
geistigen Person selbst gelegen ist, daß ihr Dasein —
wenn sie da ist — nur durch Selbstmitteilung (Offen-
barung) erkannt werden kann.
Eben diese selbständige und freie Verankerung der
religiösen Fundamentalsätze kann aber die Metaphysik
nicht leisten, wenn sie schon als Fundament und Be-
gründungsmittel des religiösen Glaubens konzipiert ist und
gar dies ihr Fundamentsein selber zu einer Glaubens-
wahrheit abgestempelt werden soll.
Jedes Herauswachsen aus der Fülle der Wesenserkennt-
nisse der Sachgebiete des Daseienden (und den je dazu
gehörigen positivwissenschaftlicheh Realerkenntnissen) ist
Metaphysik dann versagt; und nicht minder versagt, daß
sie aus dem Ganzen des geistigen Lebens entspringe. Sie
wird dann eine Summe versteinerter formaler Sätze, —
Sätze, die freilich schon viel zu inhaltsreich sind, um sich
aus dem Begriffe des Ens a se rein analytisch und ohne
neue Anschauungsdata so herleiten zu lassen, wie man
meint; eine des Geistes entleerte Schultradition, die nicht
ohne tiefere Gründe von Allen, die dieser Tradition nicht
angehören, einer besonderen Aufmerksamkeit nicht ge-
würdigt wird. Dahingegen reichen sich nach dem Kon-
formitätssystem Religion und Metaphysik frei die Hände,
ohne daß die eine Hand heimlich die andere schon zu
sich herzwingt, gleichwohl aber den Anspruch erhebt, sie
frei empfangen zu haben.
Wie diese Metaphysik möglich sei, ist hier in extenso
2u zeigen nicht unsere Aufgabe — geschweige ihren In-
halt voll zu entwickeln.
• Digitized by VjOOQIC
Probleme der Religion. 357
4. Aber es gibt noch einen entscheidenden Grund da-
für, die Metaphysik als Fundament der natürlichen Theo-
logie und Religion abzulehnen. Nur zwei Sätze der Meta-
physik — die formalsten, die Seins-Metaphysik
kennt — haben absolute Erkenntnisevidenz: der Satz, es
gäbe ein vom Ganzen aller kontingenten Dinge, Ereig-
nisse, Realitäten — also vom Ganzen der »Welt« —
verschiedenes Ens a se resp. ein Daseiendes, dessen Da-
sein aus seinem Wesen folgt; und der Satz, es sei dieses
Ens a se die erste Ursache (prima causa) und der Urgrund
dafür, daß aus den wesensmöglichen Welten, diese eine
kontingente Welt wirklich ist. (Der Schöpfungsgedanke
liegt darin noch nicht, da »Schöpfung« die Personalität
Gottes voraussetzt, die nur der Religion zugänglich ist.)
Alle übrigen Bestimmungen des Weltgrundes haben zwei
Eigenschaften, die im radikalen Widerspruch stehen zur
Natur der religiösen, der Glaubensevidenz: die Urteile,
die sie aussprechen sind dauernde und niemals streng
verifizierbare Hypothesen und sind — da sie sich
außer ihren Stützpunkten in evidenten, aber daseinsfreien
Wesen- und Wesenszusammenhangserkenntnissen stets
und notwendig auch auf induktorische Realurteile der
positiven Realwissenschaften stützen müssen — nach der
logischen Regel »Der Schlußsatz folgt der schwächeren
Prämisse« immer nur von Vermutungsevidenz, also wahr-
scheinlich. Denn alle Urteile positiver Realwissenschaft
sind ihrer Natur nach wahrscheinlich und nie evident
wahr. Jedes dieser Urteile kann durch den Fortschritt der
Beobachtung seiner Gültigkeit wieder beraubt werden.
Denn — wie Husserl treffend gezeigt hat — ist jedes
reale Ding und Ereignis, wie klein und arm es immer sei
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%s% Probleme der Religion.
im Verhältnis zu anderen Ereignissen — wesens uner-
schöpflich an rein induktorischem Gehalt und wesens-
mäßig nur in einem unendlichen Prozeß des Bestim-
mens bestimmbar. Nur die evidenten Wesenserkenntnisse
sind dem induktorischen Wissen gegenüber geschlossen
und schneiden — bildlich gesagt — den unendlichen
Prozeß, in dem das induktorische Forschen und Bestim-
men dahineilt, an jedem Punkte. Aber diese daseins-
freien Erkenntnisse allein geben auch niemals ein meta-
physisches Wissen, das ja seiner Natur nach ein Real-
wjssen ist.
Nun ist es aber ausgeschlossen, daß ein religiöses Ur-
teil (resp. ein Glaubensurteil) die Eigenschaften besitze,
die jedem metaphysischen Urteil zukommen, das über
die beiden genannten — vom Ens a se und der prima
causa hinaus — dem Weltgrund attributive Bestimmungen
beilegt. Glaube im religiösen Sinn ist entweder evidenter
oder blinder Glaube (dann je Irrglaube, Aberglaube oder
Afterglaube).
Es gibt keinen Wahrscheinlichkeits- Glauben; es gibt
keinen hypothetischen Glauben. Die sich auf die Glaubens-
evidenz aufbauende »felsenfeste Gewißheit« ist von allem
Vermutungswissen grundverschieden. Nur die Freiheit
des Glaubensaktes im Unterschiede vom rein sachgebun-
denen Verstandesakte macht die Evidenz des Glaubens
und die »felsenfeste Gewißheit« möglich. Glaube ist freie
Einsetzung der Person und ihres Kernes für den
Glaubensinhalt und das Glaubensgut — das Glaubens-
urteil ist nur das Urteil über den im Glaubensakte ge-
gebenen Gehalt. Für Hypothesen und Wahrscheinlich-
keiten — resp. bloße Annahmen und Vermutungen auf
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^^g
der Aktseite — ist im Glauben und im Glaubensgegen-
stand nirgends eine Stelle.
Die klare Folge davon ist, daß kein metaphysischer Satz,
der dem Weltgrunde eine attributive Bestimmung erteilt
ein genügender Grund sein kann fiir die Annahme einer
religiösen, resp. einer Glaubenswahrheit. Denn wie kann ein
nur hypothetisch Wahres ein absolut Wahres, wie eine
Vermutung ein evidentes Wissen (wie es das Glaubens-
wissen subjektiv ist), wie eine Wahrscheinlichkeit eine
Wahrheit »begründen«. Nur von einer »Bestätigung« (auf
anderem Wege), nicht von einer »Begründung« kann hier
die Rede sein.
Aus dieser Wesensverschiedenheit von Glaubenswissen
und natürlichem Wissen bezüglich der Evidenz folgt nun
aber ein sehr bedeutsamer Satz über das Grundverhältnis
der Glaubensgüter und der natürlichen Wissensgüter (auch
der metaphysischen im materialen Sinne) zur Geschichte.
Die Glaubensinhalte und -guter (und die »Dogmen«, die
sie formulieren) sind ihrem Wesen und Sinn nach ewige
Güter und Wahrheiten, — die metaphysischen Wissens-
güter sind notwendig Glieder des Prozesses der Ge-
schichte — der Geschichte metaphysischen Forschens.
Was heißt es also: Den Glauben gründen lassen in meta-
physischen Materialsätzen ? Es heißt entweder : die » ewigen «
Glaubensgüter und -Wahrheiten in den Fluß hineinziehen,
der zum metaphysischen Wissen als spontaner Wahrschein-
lichkeitserkenntnis notwendig gehört; oder es heißt: Dogma-
tisierung gewisser (dieser oder jener) metaphysischer Ver-
nunftsätze resp. Verkennung des Wahrscheinlichkeitscha-
rakters des metaphysischen Wissens und falsche Erhebung
dieser Sätze auf die Stufe absoluter Evidenz. Hier ist Er-
DigitizedbyLjOOQlC '
^60 Probleme der Religion.
•starrung und Tod dir die freie Vemunftforschung. Der
erste Weg ist der Weg der Gnosis, der zweite war häufig
der Weg einer falschen Überspannung des kirchlichen
Autoritätsbegriffs. Beides ist gleichsehr von Übel und Re-
ligion und Philosophie gleich schädigend.
Die mit dem Gesagten festgelegte Selbständigkeit
der Metaphysik gegenüber der Religion darf indes nicht
mit der Frage verwechselt werden, ob und inwieweit alle
mögliche Metaphysik (also auch alle historische gegebene
Metaphysik) unabhängig von Religion in ihrem (möglichen)
WerdenundUrsprung im Geistedes Menschen sei. Denn
bei dieser Selbständigkeit handelt es sich um die Inten-
tion des Philosophen, resp. um die intentionale religiöse
Voraussetzungsfreiheit seinesForschensundseinesFor-
schungswillens. Im letzteren Falle handelt es sich dagegen
um den Ursprung des metaphysischen Erkennens mit
Einschluß dieser zu ihm gehörigen Intention. Und auf
diese letztere Frage muß die Antwort verschieden aus-
fallen, je nachdem die Frage zu entscheiden ist: Ist die
religiöse Erkenntnis oder die metaphysische, die beide
dem Geiste des Menschen konstitutiv zugehören, in ihrer
Aktualisierung die ursprünglichere? Er scheint mir keinen
Zweifel zu geben, daß die religiöse die ursprünglichere
ist — und gar nicht nur in empirisch-psychogenetischem
Sinne, sondern im Sinne der wesenhaften Ursprungs-
ordnung beider Erkenntnisarten aus dem Geiste des
Menschen.
Der Mensch »hat« immer schon eine geglaubte An-
nahme über seinen und der Welt Heils weg, ehe er die
metaphysische Geisteshaltung einnimmt — und hat sie
»notwendig« — gleichgültig, ob er will oder nicht will„
Digitized by VjOOQ IC
-/-"^^m
Probleme der Religion. 36 1
gleichgültig, ob er sich diese Annahme zu reflexivem
Wissen bringe oder nicht. Denn der reh'giöse Akt ist in
der Ursprungsordnung, die keine geschichtliche matter
of fact-Erfahrung zu beweisen oder zu widerlegen vermag,
ursprünglicher als der Akt des philosophischen Erken-
nens. Die historisch bis ins Einzelnste erweisbare Tat-
sache, daß alle Metaphysiken, die je es gegeben, im
Spielraum der religiösen Grundkategorien bleiben,
und nicht ihn zu sprengen vermögen, welche die Reli-
gion der Metaphysiker abgesteckt hat, ist nur eine Be-
währung (nicht ein Beweis) dieser Ursprungsordnung
der Betätigung des religiösen und metaphysischen Er-
kennens und Verhaltens.
- Die zahlreichen metaphysischen Systeme der Inder, der
Griechen, der christlichen Epochen — sie stellen Familien
metaphysischer Systeme dar, die trotz der großen Ver-
schiedenheit ihrer Teile untereinander doch je einen cha-
rakteristischen Gesamtcharakter bewahren. Und es ist .
schließlich die Wesensverschiedenheit der Religionen, zu
deren Herrschbereich sie gehören, die ihnen diese gemein-
samen Charaktere erteilt.
So sehr wir die »dualistischen Systeme« im Prinzip
ablehnen mußten, so ist doch die Geistesarbeit, die zu
ihrem Aufbau geleistet wiu-de, nicht ganz verloren gewesen.
Unrecht hatten sie, indem sie die Möglichkeit einer Meta-
physik und die organische Einheit von Metaphysik und
Religion bestritten; unrecht hatten sie, indem sie einen
falschen Maßstab auch an die geschichdichen Leistungen
der Metaphysik anlegten (Kant z. B. den Maßstab der
mathematischen Evidenz, die Vertreter der »induktiven«
Metaphysik die Fortschritts art und die Gewißheitsstufe
^\
a
Digitized by VjOOQIC
I
j 6 2 Probleme der Religion.
der positiven Realwissenschaft), dann aber auch aus histo-
rischen Gründen die »haltlose« Metaphysik verwerfen
mußten. Denn nicht um eines vermeintlich berechtigten
Anspruches auf adäquate Sachwahrheit willen hat die
Mathematik die ihr eigene Evidenz ihrer Resultate, son-
dern vermöge ihres weit tiefer gehenden Verzichtes auf
reale Setzungen und um ihres Genügens willen an bloß
logischer »Richtigkeit« und größter Ökonomie; und nicht
um ihrer adäquaten Sachwahrheit willen ist die positive
Realwissenschaft so viel rascher und kontinuierlicher fort-
schreitend wie die Metaphysik, sondern um ihres relativen
Verzichtes willen auf solche Sachwahrheit, — positiv ge-
sagt — weil sie sich auf soviel Sachwahrheit beschränkt
als das vital bedingte Ziel einer möglichen praktischen
Beherrschung und Lenkung der Welt es notwendig macht;
femer auch weil sie alle Erkenntnisarbeit in »Fächer«
oder in die wesensmäßige Vielheit der Wissenschaften
nach nur subjektiven Gesichtspunkten zerlegt, — eine
Zerlegung, die — da sie durch die Gegenstände selbst
nicht gefordert, sondern nur durch das soziale und öko-
nomische Prinzip der Arbeitsteilung — die »wissenschaft-
liche« Wahrheit an konkreter Sachwahrheit ebensoviel
verlieren läßt, als sie an Fortschrittsfähigkeit dadurch
gewinnt. Denn es gibt keine mechanische, physikalische,
chemische, biologische, psychische, geistige, historische
»Welt«, sondern nur die eine konkrete Weltwirklichkeit,
die als solche und als Ganzes ein einmaliger Abfluß des
Geschehens ist — ohne Wiederkehr des »Gleichen«. Nur
in den vermöge der Abstraktion aus dieser Weltwirklich-
keit herausgelösten Gegenständen der (schon definierten)
Fachwissenschaften gibt es eine mögliche Bestätigung
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^gj
der Regelmäßigkeitsvoraussetzung. Es ist aber diese
ganze konkrete Weltwirklichkeit, der sich die Meta-
physik durch integrative Zusammenschau und Zusammen-
denken der Resultate der positiven Wissenschaften — nach
selbstgesetzlichen Wesenszusammenhängen — ^ nach Mög-
lichkeit anzunähern sucht.
So falsch aber die den metaphysikscheuen dualistischen
Systemen zugrundeliegende Erkenntnistheorie auch sei
und so falsch diese Art von Messung der Metaphysik —
diese Systeme besitzen doch ein Verdienst, das ihnen nicht
sollte abgestritten werden: Sie erkannten die Selb-
ständigkeit unddie Selbstgesetzlichkeit der religiö-
sen Bildungen und die Unabhängigkeit religiöser Glaubens-
evidenz von theoretischer Wissensevidenz überhaupt. Dies
— aber auch dies allein haben sie vor den Identitäts-
systemen voraus. Aber auch dieses haben sie nur voraus
in bezug auf die eine Seite der Religion, in bezug auf die
subjektive Seite, — in bezug auf die Anerkennung der
Unreduzierbarkeit und Wesensselbständigkeit des religiö-
sen Aktes. D. h. alle diese Systeme — selbst noch der
tiefe und reformatorische Versuch Ottos, der hier wenig-
stens auf besserem Wege sich befindet — tragen in irgend-
welcher Form die allgemeine Irrtumskonstante der »mo*
dernen« Philosophie überhaupt in ihrem Wesen: den er-
kenntnistheoretischen Subjektivismus oder den Grundsatz^
es könne ein ontischer Gegenstandsbereich ausschließlich
durch die Natur der Akte und der geistigen Operationen
bestimmt — wenn nicht gar geschaffen oder »erzeugt* —
werden, durch die allein er für den Menschen zugänglich
ist. Nicht ihre Behauptung von der Selbständigkeit und
Selbstgesetzlichkeit der Religion — wie man oft fälsch-
Digitized by
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364 Probleme der Religion.
lieh meint — sondern diese subjekdvistische Auffassung
ihrer Selbständigkeit gibt uns das Recht und verpflichtet
uns zugleich, ihnen den verwerfenden Titel des * Fideis-
mus« beizulegen, resp. der Lehre von einem Glauben
ohne objektives Glaubens- und Heilsgut als eines solidari-
schen Besitzes der Menschheit. Nicht die Lehre, es müsse
der natürliche Teil dieses Glaubensgutes auf Metaphysik
und rationalen Schlüssen gegründet sein, ist — wie so
vielfach vermeint wird — die wahre Gegenlehre zu diesem
Grundfehler, sondern eine auf dem Boden der Selbstän-
digkeit der Religion gegründete Wesensuntersuchung der
Eigenart der Glaubensgegenstände und Glaubens-
werte überhaupt — eine Untersuchung, die sich dann
erst — da überall das Sein dem Erkennen, der Wert dem
Werterfassen vorangeht und die Eigenart der »Akte« be-
stimmt — sekundär mit dem Wesen auch der religiösen
Akte beschäftigt. Eine solch religiöse Gegenstandstheorie
und Wesensphänomenologie besitzen wir aber nur in
einigen wenigen, meist unsystematischen Anfängen; und
ebensowenig besitzen wir eine allgemein-religionsphiloso-
phische Theorie der Offenbarungsgrundarten, die von allen
theologischen Fragen wahrer und falscher, ächter und un-
ächter Offenbarung ganz und gar Abstand zu nehmen
hätte, da sie sich nur mit den wesensverschiedenen Ge-
gebenheitsarten und Empfängnisweisen beschäftigt, in der
Gegenstände von der Artung der religiösen sich dem er-
lebenden Bewußtsein darstellen.
Femer ist die Akdehre der Philosophie der Religion
— die der Wesensontologie des Göttiichen zu folgen,
nicht vorherzugehen hat — aufs schärfste zu trennen von
der sog; Religionspsychologie. Denn die Akdehre ist nicht
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 365
»Religionspsychologie«, sondern religiöse Noetik. Da die
auf dem subjektivistischen und individualistischen Boden
des modernen Protestantismus erwachsenen, bisherigen
Lehren von der »Selbständigkeit der Religion« eine solche
Wesensontologie der religiösen Gegenstände nicht
kannten, sind sie auch immer mehr oder weniger in bloße
Religionspsychologie zurückgefallen. Auf alle Fälle ver-
meinten sie, das Wesen des religiösen Aktes (und seiner
Arten) mit begrifflichen Mitteln und Methoden beschreiben
zu können, die — da sie nicht gegenständlich orientiert
waren — sei es bewußt, sei es — was noch schlimmer —
unbewußt der Sphäre der Psychologie entlehnt waren.
Der beste Beweis sind die grundfalschen Fragestellungen ,
— denn schon als solche, nicht erst als Antworten ^ sind
diese Theorien auf falschem Wege — z. B., ob der reli-
giöse Akt primär ein »Gefühl« sei (z. B. Schleiermachers
Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit) oder — wie nach
A. Ritschk ein der Willenssphäre angehöriges Verhalten
oder — wie, die alte Schule und der religiöse Rationalis-
mus behauptet, ein Denken; femer, ob die »religiöse Er-
fahrung« durch das »Unterbewußte» unseres seelischen
Lebens vermittelt werde oder nicht. Alle diese Unterschiede
gehen aber am Wesen des religiösen Aktes schon darum
ganz und gar vorbei, weil seine begriffliche Einheit die
Einheit einer gegenständlich gerichteten Operations-
einheit des Geistes ist, — also überhaupt nichts, was
mit psychologischen Begriffen irgendwie getroffen wer-
den könnte. Was etwa psychologisch — also nach mög-
licher innerer Wahrnehmung und Beobachtung hin be-
trachtet — in einem Betenden vorgeht und wie es vorgeht^
das ist für das Wesen des Gebetsaktes so gleichgültig wie
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i
^66 Probleme der Religion.
das Magendrücken oder die Phantasiebilder eines Mathe-
matikers, der über ein Zahlproblem nachdenkt, für die
Noetik des Zahldenkens sind. Der Gebetsakt ist nur vom
Gebets sinn her zu bestimmen, und wie die psychischen
Materialien psychologisch zusammengesetzt sind, die in
diesem Akte verwendet oder verbraucht werden — wie sie
sich etwa zusammensetzen aus Empfindungen, Gefühlen,
Vorstellungen, Bedeutungsakten, Worten, Ausdrucks-
äußerungen, Handlungen — das geht die religiöse Noetik
überhaupt nichts an.
Ist also die bisherige Lehre von der Selbständigkeit der
Religion historisch eng verknüpft gewesen mit der sog.
Gefiihlsreligion und Geflihlstheologie oder mit dem mora-
listischen Voluntarismus, so war dies natürlich ein Irrweg,
— aber ein historisch zufälliger, kein im Wesen dieser Lehre
gelegener Irrweg. Auch das Denken, das im religiösen
Akte einbegriffen ist — ja nach unserer Ansicht sogar die
Führung in ihm hat — ist von der geistigen Operations-
einheit des religiösen Aktes schon umspannt; es hat einen
Gegenstand, den eben nur das religiöse Denken hat und
kein anderes Denken. Ja noch weit mehr : Es ist schon
falsch, den religiösen Akt überhaupt in höherem Maße der
sog. Innenwelt zuzuordnen als der Außenwelt. Denn
nicht nach seinem Aktsinne hin angesehen, sondern nach
der Art und Weise seiner Realisierung durch den Men-
schen, ist der religiöse Akt überhaupt kein rein psychisch,
sondern ein psychophysisch sich Darstellendes. Er stellt
sich z. B. ebenso ursprünglich als äußerer Kultakt wie
als Innenvorgang in der Seele des Menschen dar — und
dies ganz kontinuierlich und ohne mögliche Zerfällung in
ein Äußeres und Inneres, Leibliches und Psychisches. Zu
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Probleme der Religion. 367
jedem Gebet z. B. gehört eine Ausdrucksaktion — je nach-
dem eine individuelle und okkasionelle oder eine generelle
mit fester Form der äußeren Betweise. Auch in diesem
Sinne hat der Begriff des religiösen Aktes mit einem
psychologischen Begriff überhaupt nichts zu tun.
Die jetzt so beliebte und weitüberschätzte Religions-
psychologie ist aber auch methodologisch in die Schranken
zurückzuweisen, in die sie gehört^.
Die moderne Religionspsychologie ist geschichdich ent-
standen im wesentlichen aus dem Geiste der positivisti-
schen philosophischen Denkrichtungen. David Hume war
an erster Stelle ihr Begründer in der modernen Geschichte.
Dies ist natürlich kein Zufall. Denn eben weil man hier
den Wahrheitsanspruch der Religion mehr oder weniger
zurückwies, wurde die Religion den Positivisten nichts als
eine Gruppe psychischer Erscheinungen, die man zu be-
schreiben, kausal zu erklären und im höchsten Falle als
eine bestimmte Stufe im Prozesse der Anpassung des
Menschen an seine Umwelt auch teleologisch (im biolo-
gischen Sinne) zu begreifen habe. Es ist aber auch ab-
gesehen von diesem historischen Ursprung der modernen
Religionspsychologie eine irrige Darstellung der Sach-
lage, wenn man, um Sinn und Aufgabe einer Religions-
psychologie zu ergründen, in folgender beliebter Weise
argumentiert: »Wie immer man über den Wahrheitswert
der Religion denke — ihn bejahe oder ablehne — , welche
Religion es auch immer sei, der man im ersten Falle
anhänge; auf alle Fälle ist die Religion eine Gruppe see-
lischer Erscheinungen und Erlebnisse und als solche ein
^ Auf die pragmatistische Religionstheorie und -psychologie wird an späterer
Stelle dieses Aufsatzes eingegangen.
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^68 Probleme der Religion.
zweifelloser Gegenstand der Psychologie. Dieser Zweig
der Psychologie heißt Religionspsychologie und diese
Religionspsychologie ist eine Wissenschaft, die ebenso-
wohl vom Atheisten wie vom Gläubigen, ebensowohl von
Christen als Mohammedanern usw. betrieben werden
kann. Sie ist also völlig voraussetzungslos und inter-
konfessionell.« Diese Argumentation ist eine pure
Scheinargumentation und es kommt ihr keinerlei
Bedeutung zu.
Wer sich ihrer bedient, hat sich die Frage nie klar ge-
macht, unter welchen Bedingungen überhaupt irgend
etwas zum Gegenstande der erklärenden Psychologie
wird und mit welchen gegenständlichen Voraussetzungen
jeder Zweig der erklärenden Psychologie operieren muß.
Es gehören zum Wesen der Psychologie — oder besser
der Wahmehmungsart und Gegebenheitsform, in denen
der Tatbestand »Psychisches« einem erkennenden Bewußt-
sein überhaupt gegeben sein kann, zwei Dinge: Psychi-
sches ist primär immer Gegenstand einer Fremdwahr-
nehmungj nie einer Eigen Wahrnehmung; und Psychisches
ist primär immer dasjenige, was man für Irrtum, Täu-
schung oder doch für etwas irgendwie Normwidriges
hält.
Auch die innere Eigenwahmehmung und femer alle sog.
Selbstbeobachtung hat sich zwar nicht notwendig genetisch
ausbilden müssen unter dem Einfluß schon geübter Fremd-
wahmehmung; aber sie ist doch ihrem Wesen nach (als
Aktart und Einstellungsart) Fremdwahmehmung, der nur
zufallig nicht das dieser Wahmehmungsart adäquate Ob-
jekt, nämlich der »Fremde« und »Andere« in irgendeinem
Exemplar, sondern die eigenen Ichmodifikationen als
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Probleme der Rcl igion . j 6 Q
Gegenstand untergelegt werden. Wir können auch sagen :
»Psychologisch« sich zu sich selbst verhalten, das ist: Sich
so zu sich verhalten, als sei man ein Fremder und
Anderer.
Femer: Auch zum »Anderen« ist psychologisches Ver-
halten erst möglich, wo man die natürlichen Gnindverhalt*
nisse zwischen geistigen Subjekten, — das Verhältnis des
intentionalen Miteinandererlebens derselben Gegen-
stände, Werte usw. und das Verhältnis des Verstehens
— aus irgend einem Grunde aufgegeben hat. Erst wo die
Personalität des Anderen verschwunden ist oder scheint
(am deutlichsten im Wahnsinn) oder wo wir in künstlicher
Abstraktion von ihrem Sein absehen , femer absehen von
dem Intentionssinngehalt seiner Intentionen (und damit
von diesen selbst) ist der Andere als Gegenstand möglicher
Psychologie gegeben. Und ganz analog muß ich auch von
meiner eigenen freien Person und ihren geistigen Inten
tionen absehen, sie fiktiv aufheben, wennn ich die Hal-
tung der sog. Selbstwahmehmung zu mir einnehmen will.
Und endlich: Urteilt jemand 2X2=4, so ist die For-
demng einer psychologischen Erklärung dafür, daß er
2X2 =4 urteilt, eine absurdeForderung. Nur etwa, warum
er jetzt so, in diesem Zusammenhang und nicht in jenem
urteilt, kann sinnvoll gefragt werden. Urteilt aber jemand
2X2 = 5, so ist auch der Inhalt seines Urteils^ nicht nur
das Jetzturteilen dieses Inhalts, möglicher Gegenstand
einer psychologischen Erklämng.
• Die Psychologie ist also primär immer Psychologie des
person- und geistentleerten Anderen und Psycho-
logie dessen, was man der meinenden Intention nach für
sinnfrei oder für falsch hält.
24
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JTO ProWcmc der Religion.
Dieser noe tische Ursprung der erklärenden Psychologie
{im modernen Sinn des Wortes) ist aber auch für die sog.
Religionspsychologie von einiger Bedeutung. Religion ist
eben nicht — wie jene Argumentation meint — »auf alle
Fälle* eine psychische Erscheinung. Sie ist solche nur,
wenn und soweit sie auf Täuschung und Irrtum beruht
oder doch bereits als solche Täuschung angesehen wird.
Wer also die Religion als Gegenstand der Psychologie
erforscht 3 der hat sie von der Intention ihres Sinnes bereits
entleert — und sei es auch nur fiktiv und gleichsam ver-
suchsweise 211 Forschungszwecken. Wer aber der Religion
jegliche mögliche Wahrheit abspricht, der sollte nicht
sagen j er könne dann immer noch Religionspsychologie
treiben. Er sollte sagen: »Es gibt nichts von dem, was
man Religion genannt hat; es gibt nur eine Gruppe
psychischer Erscheinungen, die man fälschlicherweise für
den besonderen Inbegriff gegenständlich bezogener Akte
»Religion« gehalten, und diese Krankheitserscheinungen
der menschlichen Seele will ich erforschen.« Dies ist
eine sinnvolle Ausdrucksweise, wogegen die andere sinn-
los ist.
Wenn daher die moderne erklärende Religionspsycho-
logie die pathologischen, anormalen Erscheinungen des
religiösen Lebens offensichtlich bevorzugt, so ist dies
keine zufällige Neigung, sondern beruht auf ihrem Ur-
sprung und Wesen selbst.
Nicht minder ist es methodisch irrig, eine religiös und
konfessionell voraussetzungslose mehr als deskrip-
tive Religionspsychologie für möglich zu halten.
Denn erklärende Psychologie setzt in jedem ihrer Teile
die Realität des Objektgebietes bereits voraus, dessen
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Probleme der Religion. 3 7 1
erlebte Einwirkung und Rückwirkung auf die Seele sie
untersucht. So setzt jede erklärende Sinnespsychologie
den Begriff des Reizes, also ein reales Kausalverhältnis
zwischen den Körpern und Energiearten und dem Orga-
nismus notwendig voraus, jede deskriptive Sinnespsycho-
logie aber zum wenigsten feste Gegenstandsbestimmungen
von Farben, Tönen etc. Wenden wir diesen Satz auf unser
Gebiet an, so ergibt sich: Bestimmte religiöse reale Ob-
jekte müssen schon vorausgesetzt sein, wenn man den
Versuch macht, ihre Wirkung auf die Seele des Menschen
zu erforschen.
Wie aber kann allein diese Voraussetzung stattfinden?
Die Beantwortung dieser Frage ist es, die für die Un-
möglichkeit einer interkonfessionellenReligionspsy chologie
entscheidend ist. Und diese Antwort lautet: Da ein reli-
giöses Objekt seinem Wesen nach nur durch und in einem
Akte des Glaubens seine mögliche Realität aufzuweisen
vermag, ist für alle diejenigen, die den je betreffenden
Glauben an eine religiöse Wirklichkeit nicht besitzen, die
Voraussetzung gar nicht erfüllt, unter der eine erleb-
bare Einwirkung des religiösen Gegenstandes auf die
Seele beobachtet und erkannt werden kann.
Es ist z. B. klar: Niemand kann die seelischen Erleb-
nisse, die eine fronmie Beiwohnung eines Katholiken bei
der hl. Messe auslöst, irgendwie auch nur beschreiben
wollen, der den Glauben an die reale Gegenwart Christi
im Abendmahl nicht besitzt. Er kann es so wenig, wie
derjenige, der total erblindet ist, das Empfinden und die
Stimmungswirkung wahmehmungslebhafter Farben be-
schreibenkönnte. Eine psychologische Untersuchung dieses
Gegenstandes kann also nur bei solchen stattfinden, die
24*
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^y 2 Probleme der Religion.
dieses Dogma glauben, nicht aber auch unter solchen, deren
einer Teil es glaubt und deren anderer es nicht glaubt.
Das ist eben das ganz eigentümliche Verhältnis, das bei
der Religionspsychologie vorliegt, daß nur im Glauben
die Realität des Gegenstandes gegeben sein kann, um
dessen seelische Rückwirkung es sich handelt. Auch die
sog. Einfühlung in den Glaubensakt des Anderen — von
der man vielfach gesprochen hat — ersetzt keineswegs
den Vollzug des Glaubensaktes. Denn erst die im wirk-
lichen und echten Glauben erlebbare Realität des reli-
giösen Gegenstandes und Inhalts, die dem Gegenstand
des nur eingefiihlten Glaubens fehlt, — und notwendig
fehlt — ist es, die den zu beobachtenden psychischen Tat-
bestand als diesen und keinen anderen hervorzubringen
vermag.
So behält zwar die nur beschreibende Religionspsycho-
logie im Unterschiede zur erklärenden — die nur auf dem
Boden des Unglaubens überhaupt möglich ist — ihr wohl-
abgegrenztes Recht. Aber auch diese Religionspsychologie
ist nur sinnvoll und möglich innerhalb einer Glaubens-
gemeinschaft, nicht also auch zwischen verschiedenen
Glaubensgemeinschaften oder Mitgliedern solcher — we-
nigstens nicht in bezug auf die seelische Einwirkung sol-
cher Gegenstände, die durch die Verschiedenheit der
Glaubensstandpunkte betroffen werden. Der Religions-
psychologien sind also soviele, als es Glaubensgemein-
schaften gibt. Denn erst unter Einwirkung je verschiede-
ner Metaphysiken und Dogmatiken ersteht ja der hier
> psychologisch« zu erforschende seelische Tatbestand, —
die seelischen Erlebnisse, die sich in der Auffassung der
religiösen Gegenstände einstellen.
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Probleme der Religion. 373
Gewiß gibt es neben der (atheistischen) erklärenden sog.
Religionspsychologie und der die Einheit der Glaubensge-
meinschaft voraussetzenden deskriptiven Religionspsycho-
logie noch eine ganz andere Untersuchungsrichtung, die
wir am besten bezeichnen als: Konkrete Phänomenologie
der religiösen Gegenstände und Akte. Sie ist von aller
auf das »Wesen« ausgehenden eidologischen oder Wesens-
phänomenologie des religiösen Gegenstandes und Aktes
natürlich grundverschieden. Denn sie geht oder zielt ab
auf das möglichst vollständige Verstehen des Sinnge-
haltes einer oder mehrerer positiver Religionsbildungen
und femer den verstehenden Nachvollzug der Akte, in
denen diese Sinngehalte gegeben waren oder sind. So
kann ich die griechische Götterwelt, — wie sie einer be-
stimmten Phase der griechischen Religion entsprach —
selbst, — nicht also bloß die Vorstellungen der Griechen
von ihr — in ihrem Gehalte beschreiben, ihre systema-
tische Rangordnung erforschen, ihr Verhältnis zu Welt
und zum Leben der Menschen aufweisen. Und dasselbe
kann ich tun mit den Kultakten, ihren Formen und Arten,
in denen sich der Grieche dieser Zeit ihnen zuwandte, sie
verehrte, zu ihnen betete usw. Von Psychologie ist hier
überhaupt keine Rede, da ich nur das konkrete Intentions-
und Aktmaterial in seinem intentionalen Verhältnis zum
positiven Sinngehalt seiner Gegenstände aus dem Ganzen
der »geistigen Welt« der Griechen dieses Zeitalters heraus-
hebe — von der Realität dieser Gegenstände absehend.
Die seelische Rückwirkung der Götter im deskriptiven
psychologischen Sinne (als erlebte Einwirkung) auf das
griechische Seelenleben bleibt ja hierbei außer Frage; und
selbstverständlich bleibt außer Frage die Einwirkung dieser
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374 Probleme der Religion.
Götter im Sinne einer objektiv realen Einwirkung, da ja
diese »Götter« (nach unseren religiösen Anschauungen)
gar nicht real existieren.
Diese konkrete Phänomenologie der Religionen ist eine
grundlegende Disziplin für die positive systematische Re-
ligionswissenschaft und eine Voraussetzung zugleich für
alle auf das Werden der Religionen gerichtete Religions-
geschichte, die man von der systematischen Religions-
wissenschaft, die Bau und Gliederung der religiösen Ob-
jektenwelt der Menschheit selber beschreibend und ver-
gleichend erforscht, ebenso streng scheiden möge, wie
der Jurist seit langem gewohnt ist, eine Untersuchung z. B.
über die Dogmatik und Systematik des römischen Rechts
(zu einem bestimmten Zeitpunkte der römischen Geschichte)
zu scheiden von Rechtsgeschichte, als welche diese
Rechtsbildung in ihrem Werden aus den gesamten kul-
turellen Kräften der vorhergehenden Zeit zu verfolgen
hat. —
Aber von all den genannten Religionsdisziplinen ist nun
grundlegend verschieden die philosophische Wesens-
erkenntnis der Religion.
Sie ist weder Metaphysik, noch natürliche Theologie,
noch Erkenntnistheorie, noch erklärende und deskriptive
Psychologie, noch konkrete Phänomenologie der Religion,
sondern sie ist das letzte philosophische Fundament für
alle und jede andere philosophische und wissenschafdiche
Beschäftigung mit der Religion. Erst ihre Vollendung läßt
die von uns behauptete Selbständigkeit der Religion
klar erkennen : Sowohl dem religiösen Seins- und Gegen-
standsgebiete nach als dem religiösen Aktgebiete nach.
Indem sie diese Selbständigkeit aufweist, leistet sie aber
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Probleme der Religion. 37c
sofort auch ein Zweites : Sie entwickelt gleichzeitig an den
religiösen Objekten, die wir in der positiven Religions-
wissenschaft als geglaubte vorfinden, durch Wesensschau
die Wesenheiten, die Wesenszusammenhänge und die
Wesensstrukturen, die in aller vorgegebenen religiösen
Wirklichkeit einer positiven Religion erfiilltsind, und sie ent-
wickelt das, was wir Sinnlogik der religiösen Akte nennen
wollen, d. h. die der religiösen Vernunft immanenten Akt-
gesetze. Diese sindnichtansich > Normen « , sondern wesens-
mäßige Auf baugesetze und Folgerungsgesetze der reli-
giösen Akte selbst untereinander und auseinander. Aber sie
werden Normen für das empirische Subjekt »Mensch«.
Da alle religiöse Erkenntnis aber in irgendeiner Art von
Offenbarung — im früher bezeichneten Wortsinn — ihre
letzte Quelle hat, so hat auch die gesamte religiöse Sinn-
logik nur die eine Bedeutung: Sie zeigt die gesetzmäßige
Weise auf, nach der sich die religiöse Vernunft im Men-
schen in die Bereitschaft setzt, Offenbarungslicht und zwar
Offenbarungslicht aus den verschiedenen stufenmäßig
aufgebauten Grundarten der Offenbarung zu empfangen.
Auch die Befolgung dieser »Normen« fuhrt also nur an
die Schwelle der Aufnahme von Offenbarung, deren
Inhalt dann im Glaubensakte zu ergreifen und im evidenten
Glauben evident zu ergreifen ist; sie fuhrt nicht zu einem
spontanen Erkennen Gottes oder gar (wie es bei Vielen
scheint) zu einem Erdenken und Konstruieren der relir
giösen Objekte.
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376
Probleme der Religion.
1
1
II. Die Wesensphänomenologie der Religion.
I. Einteilung.
Die Wesensphänomenologie der Religion hat drd Ziele :
I. Die Wesensontik des »Göttlichen«; 2. die Lehre von
den 'Offenbarungsformen, in denen das Göttliche sich dem
Menschen aufweist und zeigt; 3. die Lehre vom religiösen
Akt, durch den der Mensch sich für die Aufnahme des
Offenbarungsinhalts vorbereitet und durch den er ihn im
Glauben ergreift. Soweit sich das Göttliche selbst darstellt
und aufweist in Sachen, Ereignissen, Ordnungen, die der
für Jeden prinzipiell zugänglichen Naturwirklichkeit, der
seelischen und geschichtlich gesellschaftlichen Wirklichkeit
aagehören, reden wir von natürlicher Offenbarung,
deren subjektives Korrelat die natürliche Religion ist. So-
weit es hingegen sich darstellt oder kundgibt durch das
Medium des Wortes und durch Personen (die homines reli-
giosi im eminentesten Sinne), sei von positiver Offenbarung
gesprochen. Soweit das »Götdiche« ein Sein von der Form
der Personalität ist, vermag es sich nur in der letzten —
der positiven Form der Offenbarung zu offenbaren und
nur soweit die Seinsform der Person noch nicht in ihm ge-
dacht ist — es z. B. nur bestimmt ist als Ens a se, un-
endliches Sein, ewige Vernunft, Geist usw. — kann es
sich auch in der Form natürlicher Offenbarung dem Men-
schen darstellen. Es gibt ferner eine Wesenslehre von den
Stufen der natürlichen und eine Wesenslehre von den
Stufen der positiven Offenbarung. Denn wenn sich das
Göttliche auch auf allen Stufen des Seins irgendwie offen-
bart, so offenbart es doch auf den verschiedenen Stufen
verschiedene Wesensbestimmungen seiner selbst und
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 377
offenbart sich auf mehr oder weniger adäquate Weise.
Es offenbart sich anders und als Anderes in einem Fall
vom Wesen des kontingenten Daseins überhauptjin der
toten Natur, in der lebendigen Natur^ in der Seele des
Menschen und in Gesellschaft und Geschichte. Und in ver-
schiedenartigen religiösen Akten werden diese seine ver-
schiedenen Erscheinungsformen ergriffen. Durch das Wort
aber vermag sich das Göttliche nur zu offenbaren j sofern
es und soweit es selbst Person ist und sofern und soweit
es sich uns in Personen offenbart. Auch diese positiven
Offenbarungsformen aber besitzen Wesensstufen ^ inso-
fern das Göttliche nur Etwas von sich offenbart ~ einen
geistigen Inhalt, Wissensinhalt, Denkinhalt, Willensinhalt
oder aber sein personales Wesen und Sein selbst: Funk-
tionsoffenbarung und Selbstoffenbarung. Den verschiede-
nen Formen des Sichmitteilens des Göttlichen an und durch
Personen entsprechen femer die verschiedenen Wesens-
typen der homines religiosi, die zu erkennen wieder
ein großes wichtiges Forschungsgebiet der Wesensphäno-
menologie der Religion ist: Sie beginnen bei den niedrig-
sten Formen und reichen bis zur denkbar höchsten hinauf.
Der Zauberer, der Magier, der Seher, der heilige Lehrer,
der Prophet, der heilige Gesetzgeber und Richter, König
und Held, der Priester, der Heiland, der Krlösefj der Mitt-
ler, der Messias und schließlich die Idee der denkbar hoch-
sten Form, die Wesensidee der Person, der Gott sein
eigenes personales Wesen und Sein selber mitteilt, sind
Beispiele, deren Wesen und Stufenordnung eingehend zu
studieren sind. Der Wesensunterschied von homo religio-
sus (»Heiliger« ) als Wertpersontypus von den Wertperson-
typen des Genius, des Helden usw. ist dabei in einer
Digitized by VjOOQ IC
3/8 Probleme der Religion.
eingehenden Wesensuntersuchung dieser Typen als Grund-
lage dieses Lehrstücks zuerst zu gewinnen^. Der Wesens-
unterschied des sog. Religionsgründers (des ursprünglich
Heiligen) und der nur abgeleiteten homines religiosi (z. B.
des Apostels, des nachfolgend Heiligen, des Kirchenvaters,
des Kirchenlehrers, des »Reformators«, des »Zeugen«) ist
femer klar herauszustellen. Auch die Wesenslehre von den
soziologischen Strukturformen der Gemeinschaften,
an welche Offenbarung als Gesamtoffenbarung (in Unter-
schied zu individueller Erleuchtung und zur Gnade) ver-
mittels eines »Repräsentanten« ergeht, sind bei der
wesensmäßig sozialen Natur aller Religion in die Wesens-
phänomenologie der Religion aufzunehmen. Diesem Lehr-
stück entsprechen genau sowohl die wesensontischen Be-
stimmungen des Göttlichen als Herr, Schirmherr, Ober-
haupt, Gesetzgeber, Richter, König der Gemeinschaften
(des Volkes, der Familie, der Berufe und sonstiger sozialer
Funktionen, der Kirche usw.) als die religiösen Gesamt-
akte des Kultes, der Liturgie, des gemeinschaftlichen Ge-
bets, der Aiibetungs- und Verehrungsformen.
Endlich hat die Wesensphänomenologie der Religion
auch noch die geschichtlich sukzessive Ordnung der natür-
lichen und positiven Offenbarungsformen des Göttlichen
einer Wesensuntersuchung zu unterziehen — ein Lehr-
stück, das die Grundlage zu aller Geschichtsphilosphie der
Religion bildet, wie das erste die Grundlage zu aller Lehre
von den religiösen Gemeinschaften (Kirche, Sekte, Schule,
Orden usw.).
Es ist nicht unsere Absicht, an dieser Stelle die ganze
Phänomenologie der Religion auszubauen. Wir werden
*■ Siehe hierzu den Band II dieses Werkes.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^yg
uns im wesentlichen darauf beschränken, den religiösen
Akt ausgiebiger zu behandeln. Denn an ihm und seinen
Sinngesetzen wird am deutlichsten klar, wie es zu einer
in sich selbst ruhenden religiösen Glaubensevidenz kommt
und die Religion sich nach ihren autonomen Gesetzen ent-
faltet, fortbildet und höher bildet.
Aber schon um die Folgeordnung der Probleme einzu-
halten, — wie wir sie früher bestimmten — haben wir zu-
erst einiges über die ontischen Wesensbestimmungen
des Göttlichen zu sagen.
2. Das Göttliche.
Wie auf allen Gebieten der Erkenntnis das Sein und der
Gegenstand dem Menschen früher gegeben sind als die
Erkenntnis des Seins und erst recht die Art und Weise,
wie ihm diese Erkenntnis zugeht, so sind auch die Gegen-
stände vom Wesen des »Götdichen« — ^"Gott oder die
Götter — zunächst zu dem Urgegebenen des mensch-
lichen Bewußtseins selbst gehörig. Vermöge der natür-
lichen religiösen Akte schaut, denkt und fühlt der Mensch
prinzipiell an allem und durch alles, was ihm sonst als
daseiend und soseiend gegeben ist, sich ihm ein Seiendes
erschließen (sich ihm »offenbaren«), das mindestens zwei
Wesensbestimmungen besitzt: es ist absolut seiend
und es ist heilig. Wie mannigfaltig auch sonst dieses
heilige absolut Seiende bestimmt sei in primitiven und
entwickelten Religionen — diese Bestimmungen trägt
es auf alle Fälle. Immer ist es ihm gegeben als »abso-
lut Seiendes« d. h. als ein Seiendes, das allem anderen
Seienden (einschließlich dem es denkenden Ich selbst) an
Fähigkeit, zu »sein« schlechthin überlegen ist und von
Digitized by VjOOQ IC
^So Probleme der Religkm.
dem darum der Mensch in seinem gesamten Dasein
wie alles andere schlechthin abhängig ist. Nicht aus einer
zuerst bewußten oder gefühlten schlechthinigen Abhängig-
keit (diese könnte ja immernoch beruhen auf der Schwäche
des betreffenden Menschen, auf einem zu geringen Einsatz
an Willensenergie, auf persönliche oder auf historisch zu
geringe Ausbildung seiner Fähigkeiten usw.) \rird das »ab-
solut Seiende« konstruiert, erschlossen oder erdacht. Es ist
vielmehr die positive Bestinmiung der Allüberlegenheit
eines Seins selbst (derivativ auch seiner dynamischen Be-
stimmungen, der Macht, der Kräftigkeit usw.), die ihm
an einem bestimmten Seienden anschaulich wird. Und nicht
nur er selbst ist sich gegeben als schlechthin abhängig von
diesem absolut Seienden, nur in sich selbst gegründeten und
»ruhendem« Seienden, sondern auch alles übrige Seiende
— ohne vorherige induktive Durchgehung seines Seins und
seiner Qualitäten — er selber aber nur als Teil dieses zu-
fällig Seienden. Eben dieses schlechthinige Sichselbstein-
schließen in die Sphäre des relativ Seienden — dieses Sich-
einschließen auch bis zum letzten, nur erdenkbaren Ich-
punkt — ist für die religiöse Erfassung dieser ersten
Grundbestimmung des Götdichen am meisten charakte-
ristisch. Auch irgend eine Scheidung am Menschen von
Seele — Körper, Geist — Leib, Ich — Du usw. ist hierbei
nicht vollzogen. Die schlechthinige Abhängigkeit betrifft
ihn als ungeteiltes Ganzes — als einfaches Stück dieser
»Welt« — insofern er alles relativ Seiende in seiner Tota-
lität als »Welt« erfaßt. Weder von einem »Schluß« noch
von einer theoretischen, philosophischen Einsicht, — wie
sie dem spg. Kontingenzbeweis zugrunde liegt — ist bei
der religiösen Erfassung dieses ersten Wesensinhalts des
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^8 1
Göttlichen die Rede. Schon darum nicht, weil eben nur das-
jenige relativ Seiende, das die je primäre Anzeigefunk-
tion auf das absolute Sein eines Seienden besitzt, der Aus-
gangspunkt solchen Schlusses sein könnte, dieses Seiende
selber aber erst im reflexiven Rückblick auf die Tatsache,
es habe das absolut Seiende = das Göttliche »angezeigt«,
seine besondere religiöse Bedeutung gewinnt. »Offen-
baren« heißt aber auch hier — wie überall — das Gegen-
teil von allem erdacht, erschlossen, abstrahiert werden. Es
bedeutet, daß, indem das absolute Sein eines »götdich«
qualifizierten Gegenstandes von sich aus und aus sich
heraus »durchscheinend«, »durchblickend« an einem
empirischen Gegenstande relativen Seins wird, es auch
erst durch dieses Durchscheinen und Durchblicken den
betreffenden Gegenstand heraushebt unter allen anderen
Gegenständen des relativen Daseins. Wie das Fenster
eines Hauses sich aus der übrigen Fensterreihe erst da-
durch heraushebt, daß ein Mensch aus ihm heraussieht,
so wird der endliche Gegenstand erst dadurch ein »be-
sonderer« und »heiliger«, daß er das absolut Seiende
symbolisiert. Mag sich die metaphysische Idee des Ens
a se also auch noch logisch decken mit der ersten reli-
giösen Bestimmung das Göttlichen, so ist doch der
Weg der Erkenntnis Beider grundverschieden. Der korre-
kte religiöse Akt nimmt ein Offenbarwerdendes, Sich-
selbstdarstellendes (in einem Anderen) auf; der metaphy-
sische Erkenntnisakt tritt ihm spontan vermöge logischer
Operationen entgegen. Die Relation, die im »Offenbar-
werden« steckt, ist eine Relation, die in die Klasse der
symbolischen und anschaulichen Relationen gehört: des
(objektiven) Zeichens eins für etwas, des Hindeutens eines
Digitized by VjOOQ IC
lg2 Probleme der Religion.
Gegenstandes auf einen anderen Gegenstand, eventuell
und bei höheren Offenbarungsformen des Sichkundgebens,
Sichmitteilens, Sichausdrückens. Von Relationsbegriffen
ist hierbei so wenig die Rede wie von schließenden oder
deutenden, resp. bedeutungserfassenden Operationen des
Denkens. Der Ausgangspunkt der symbolischen Relation
des Sichdarstellens ist hier auch durchaus nicht ein Inhalt
des menschlichen Geistes — so wie sich im gesprochenen
Wort die Bedeutung des Wortes darstellt — sondern es
ist der Gegenstand des relativ Seienden selber, an und
in dem sich der Träger des absoluten Seins darstellt, in
dem er »sich erschließt« . Es ist also eine Seinsrelation, um
die es sich handelt und doch keine objektive logische —
wie Gleichheit, Ähnlichkeit — oder gar kausale, sondern
eine symbolische und Fall für Fall anschauliche Relation.
Der Geist erblickt sie nur im religiösen Akt. Darum auch
der unermeßliche Unterschied, daß der zum Begriff des
Ens a se fuhrende metaphysische Denkprozeß an jedem
zufällig und relativ Daseienden ganz unterschiedslos ein-
setzen kann, wogegen in der religiösen Erfassung dieser
Gnindbestimmung des Göttlichen stets ganz bestimmte
einmalige oder doch der Art nach fest umschriebene
konkrete Dinge, Geschehnisse, — eventuell auch
psychische Erlebnisse — es sind, in und an denen sich
das Göttliche erschließt. Alle weitere inhaltliche Bestim-
mung der »Götter« oder »Gottes« über die Wesens-Kate-
gorie des Göttlichen überhaupt hinaus ist dann stets von
dem Wesensgehalte dieser Dinge und Geschehnisse auf
mannigfache Weise mit bestimmt.
Auch die »Abhängigkeit« der Welt von dem sich also
offenbarenden absoluten Sein ist nur im religiösen Akt
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 383
gegeben; sie ist keine logisch objektive oder objektiv
kausale Abhängigkeit, wie sie den Relationen von Grund
— Folge, Ursache — Wirkung entspricht. Sie beruht
vielmehr auf der anschaulichen Tätigkeit des »Wirkens«,
die als unreduzierbarer phänomenaler Tatbestand in alle
konkreten Kausalbeziehungen, die wir wahrnehmen, ein-
geht; die aber in diesem Falle dadurch ausgezeichnet ist,
daß Gott = Ens a se als das schlechthin Wirksame,
Kraft- und Machtvolle, alles übrige als das schlechthin Lei-
dende und Gewirkte erscheint, und femer erscheint als ein
Gewirktes, in dem sich das Wirksame wiederum dyna-
misch und syntbolisch darstellt. In der bloß objektiven
Kausalverknüpfung zweier Ereignisse oder Dinge (vermit-
tels ihrer Tätigkeiten) stellt sich die Ursache keineswegs
in der Wirkung dar; man kann der Wirkung allein nicht
ansehen, welches ihre Ursache ist; es muß induktive Erfah-
rung der Verknüpfung von U und W vorhergehen, wenn
man von W auf U schließen will und U mehr sein soll als
»irgendeine« Ursache. Anders im religiösen Akt, der das
endliche und zufällige Seiehde als »Kreatur« des über-
mächtig oder (im Monotheismus) des »allmächtig« Gött-
lichen erfaßt. Hier erscheint die Kreatürlichkeit der Krea-
tur von vornherein als ein phänomenales Merkmal auf-
geprägt; sie weist daher in einer Symbolbeziehung auf den
Schöpfer hin und sie »spiegelt« ihn in einer je einseitigen,
inadäquaten Weise. Wohl gehen also die Relationen von
Grund — Folge, Ursache — Wirkung auch ein in den reli-
giösen Erlebnisinhalt. Aber sie sind erlebte Relationen,
nicht gedachte und sie sind Relationen, die immer zu-
gleich symbolische Relationen sind. Darum kann von
metaphysischen Schlüssen hier nicht die Rede sein. In
Digitized by VjOOQ IC
384 Probleme der Religion.
verschiedenartiger Weise — die je entspricht teils der
Höhe und Reinheit der Religion, teils den verschiedenen
Attributen Gottes — »drückt sich Gott aus« in den Er-
eignissen der Natur — ja ist die ganze Natur sein Aus-
drucksfeld — so wie sich auf einem menschlichen An-
gesichte Freude oder Trauer ausdrückt im Lächeln oder
in Tränen oder gibt sich darin kund> erweist sich darin
als mächtig und wirksam. Überall steckt hier in und neben
der anschaulichen Kausalverknüpfung noch eine symbo-
lische Relation, die nicht zwischen der bloßen Kausalität
obwaltet. Daß eine bestimmte Säure ein Lakmuspapier
blau oder rot färben wird, das können wir der Säure allein
nicht entnehmen — wie genau wir auch ihre Bestandteile
kennen. Noch weniger umgekehrt aus dem Blausein die
Ursache. Erst die Regelmäßigkeitsvoraussetzung erlaubt
uns nach vielen Induktionen hier einen Schluß. Der Inhalt
der Wirkung ist nicht analytisch im Inhalte der Ursache
enthalten. Gibt es — wie hier, wo es sich nicht um viele
Götter und viele Welten handelt, sondern um das kon-
krete Kausal Verhältnis einer Welt zu e i n e m Gott — über-
haupt keine »Regelmäßigkeit«, so könnten wir aus der
bloßen Kausalität von Gott und Welt gar nichts aus-
sagen über das Was der Weltursache. Ganz anders ist
aber z. B. das Verhältnis des Kunstwerks zum Geiste des
Künsders und der individuellen Natur dieses Geistes. Ge-
wiß ist der Künsder auch Ursache seines Werks. Aber
darüber hinaus enthält auch das Werk phänomenal
Etwas vom geistigen individuellen Wesen des Künsders;
es spiegelt ihn, sein Geist lebt in ihm, ist uns im Werke
gegenwärtig. Auch der Inhalt der Wirkung deutet hier
von sich aus hin auf das Wesen des Werkmeisters — und
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Probleme der Religion. , ige
ohne vorherige Kenntnis dieses Werkmeisters. Das Werk
ist darum »ein Rembrandt«, »ein Grünewald« usw. Schon
in einem Handwerkserzeugnis ist dies nicht mehr der Fall
Denn hier hat ein Werkmeister nur eine überlieferte Form
mit Stoff ausgekleidet (z. B. eine Tischform mit Holz).
Inmierhin schließen wir auf .die Ursache des Tisches wie
auf die Ursache eines Naturereignisses. Denn den Tat-
bestand, daß der Tisch ein »Menschenwerk« ist, resp.
daß Vernunft und Werktätigkeit bei seiner Herstellung
beteiligt waren, sehen wir dem Tische selber an, ehe wir
seine Werkmeister kennen. Ein Gegenwärtigsein Gottes
in der Kreatur, analog wie der Künstler im Kunst-
werk gegenwärtig ist, wird im religiösen Akt sichtig
und fühlbar.
Diesen zwei Grundbestimmungen des Götdichen, dem
Ens a se und der übermächtigen oder allmächtigen Wirk-
samkeit, entsprechen genau zwei erlebte Rückwirkun-
gen auf das im religiösen Akt als sich offenbarend
ergriffenen Göttlichen auf das menschliche Erleben:
das Erlebnis der partiellen Nichtigkeit und Unfähigkeit
alles relativen Seins und das Erlebnis der Kreatürlich-
keit alles relativen Seins und des eigenen Seins als
eines Teiles oder Gliedes davon. Beide Erlebnisse können
erst auftreten, wenn die beiden Grundbestimmungen des
Göttlichen im religiösen Akte schon ergriffen sind — oder
doch im Maße als sie es sind und als sie dem Geiste gegen-
wärtig sind.
Sie sind daher keineswegs natürliche seelische Erleb-
nisse, aus denen man Gott erst erschließen müßte oder
erschließen könnte. Denn erst angesichts Gottes als des
Ens a se erfolgt jene überaus charakteristische »Umkehr«
25
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ß86 . Probleme der Religion.
des Daseinsphänomens im unmittelbaren Erleben^ die
das vor dem Vollzug des religiösen Akts als nur positiv
daseiend Gegebene als relativ Nichtseiendes, ja als relativ
Nichtiges erscheinen läßt. Diese Umkehr der Betrach-
tung kann jeder sich in ihrem Wesen an sich selbst veran-
schaulichen, der aus einem Zustand außerhalb der religiö-
sen Aktsphäre in einen Zustand innerhalb dieser Sphäre
im Erleben übergeht. Nicht vor dem nur gedachten
Begriff des Ens a se, sondern erst vor dem im religiösen
Akte sich an irgendeinem Gegenstande natürlich offen-
barenden Ens a se erhält alles übrige Daseiende den
mehr oder weniger intensiven Nichtigkeitscharakten
»Ich nichts — Du alles« ist der primitivste Ausdruck des
religiösen Bewußtseins in jedem ersten Stadium seines
Werdens. Erst im Rückblick auf das positiv Seiende, das
jedes Ding noch ist und das auch wir selbst als Menschen
noch sind — abgesehen von diesem partiellen Nichtsein
und jener Nichtigkeit, die uns angesichts Gottes zuerst
aufging — kann das zweite Erlebnis der Geschaffenheit
und Geschöpflichkeit eintreten. In ihm durchdringt
sich beides: die in der Hingabe an Gott erlebte Nichtig-
keit und die im Akte der Selbstbehauptung des »noch«
positiv an uns Seienden ergriffene positive Selbstheit.
»Ich bin nicht Nichts schlechthin, sondern ein Geschöpf
Gottes«, ist der Sinngehalt des zweiten Erlebnisses.
Auch hier handelt es sich um ein Gewirktheits-
erlebnis, nicht um einen Schluß von der Wirkung auf die
Ursache. Es geht als solches voraus dem eigentlichen
Geschöpflichkeitserlebnis, das bereits die Analogie mit
der Wirksamkeit des persönlichen WoUens des Menschen
und d. h. die geistige und personalistische Fassung des
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Probleme der Religion. 3 g y
Göttlichen voraussetzt. Denn Schaffen ist was anderes als
bloßes Ursachesein und enthält schon die geistige Perso
nalität der in Frage kommenden Ursache. So wird erst auf
theistischem religiösem Boden das Gewirktheitserlebnis
zum Geschöpflichkeitserlebnis. Die Metaphysik kann aller-
dings auch ihrerseits zeigen, daß es i. im Wesen des
zufälligen Daseins des Gegenstandes irgendeiner vor-
bestimmten Wesenssphäre liegt, einer wirkenden Ursache
zu ihrem Dasein zu bedürfen und daß 2. das Realitäts-
phänomen nur im erlebten Widerstände eines Inhalts zu
einem möglichen Wollen ursprünglich gegeben ist; daß
endlich 3. nur im Falle der Art, wie uns in der Realisierung
eines Willensprojekts durch das Wollen und im Wollen
— ganz unangesehen der Mittelprozesse eines psycho-
physischen Organismus und Mechanismus — ein ursprüng-
liches Wirklichwerden von Etwas nur Gedachtem ge-
geben ist: die Artung irgend eines möglichen Wirklich-
werdens eines bloßen Soseinsgehalts überhaupt. Alle
Arten der Kausalität zwischen den zufällig daseienden
Dingen untereinander betreffen im Gegensatz zu dieser
Urkausalität nicht Wirklich sein und Wirklichwerden
eines zufälligen Daseienden überhaupt, sondern nur
der zufälligen Dinge Anordnung in Zeit und Raum; sie
sind daher von der Idee jener ersten Kausalität des Daseins
irgendeines Seienden vermöge eines Ens a se abgeleitet.
Aber so sehr der religiöse Akt, in dem uns die Kreatur-
lichkeit der Welt und unser selbst gegeben wird, diesen
metaphysischen Einsichten gemäß ist und im Ergebnis mit
ihnen übereinstimmt, so liegen die logischen Operationen,
durch die diese metaphysischen Einsichten Zustandekom-
men, doch durchaus nicht in dem natürlichen religiösen
25*
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%a Probleme der ReligioQ.
Akt, durcli den uns das Gewirktheits- und Geschöpflich-
keitserlebnis gegeben wird. Man kann dies Erlebnis haben,
ohne also zu denken und zu schließen; und man kann also
denken und schließen, ohne es zu haben. Auch ein Schluß
des Inhalts ; es müsse die Ursache menschlicher Vernunft
und die Ursache des Daseins der ihren Gedankenformen
entsprechenden Seinsformen, gleichfalls vernünftig, — ja
vermöge der formalen Verabsolutierung und Verunend-
lichung aller göttlichen Attribute durch das Ens a se
»absolut und unendlich vernünftig« sein, ist etwas Grund-
verschiedenes von dem erlebten Hereinleuchten der unend-
lichen Vernunft in die endliche Vernunft und ihrem Her-
ausleuchten aus den Dingen. Dieses erlebte Hereinleuch-
ten des göttlichen Attributes in das Licht der endlichen
Vernunft drückt der Gedanke des hl. Augustin aus, daß
wir alle Dinge »in lumine Dei« erfassen, sofern wir sie
wahr d.h. so erfassen, wie sie in sich selbst sind — ohne
doch dabei Gott selbst anzuschauen.
Mit dem Ens a se und der alldurchdringenden Wirk-
kraft ist in der Idee des Götdichen notwendig und wesen-
haft für das religiöse Bewußtsein ohne weiteres verknüpft
die Wertmodalität des Heiligen mit allen ihr zugehö-
rigen reichen Wertqualitäten.
Die Metaphysik mag versuchen, diese Verknüpfung als
eine logisch notwendige auf mannigfachen Wegen der Ab-
leitung und des Beweises darzulegen. So z. B. ist versucht
worden, von der Idee des Ens a se (als idealer Grenze)
aus alle Seinsarten der Dinge in eine Reihe zu bringen,
die so geartet ist, daß die Dinge in ihr geordnet werden
nach dem Maße und Grade, in dem sie mehr oder weniger
durch sich selbst oder nicht durch sich selbst, sondern
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Probleme der Religion. ^89
ab alio sind. In diesem Sinne ist der Begriff des Seins-
grades ein durchaus sinnvoller und berechtigter Be-
griff. Der Mensch z. B. als selbständiges Vemunftwesen
ist ohne Zweifel in höherem Grade durch sich selbst sei-
end als das vemunftlose Lebewesen; dieses als ein phä-
nomenal »Sichselbst« bewegendes in höherem Grade als
der tote Körper, der sich als tot eben dadurch erweist,
daß seine Bewegungen eindeutig von anderen Körpern
außer ihm determiniert sind. Indem man diese Grade der
Seins- Vollkommenheit als Maß auch der Wert Vollkom-
menheit des Seienden ansehen zu dürfen meinte, ging
man scheinbar streng analytisch von den Seinsbestim-
mungen zu den Wertbestinmiungen des Götdichen über.
Das Ens a se ist dann ohne weiteres auch darum das Ens
perfectissimum, weil sein Sein das vollkommenste ist:
als solches mum das summum bonum, als solches aber
das absolut Heilige. Man kann noch weiter gehen. Da es
Geistigkeit und Freiheit (== Ursacheseinkönnen im Unter-
schiede von Wirkungsein) sind, die den höchsten Grad
der Seinsvollkommenheit darstellen, den unter allem Sein
ab alio überhaupt die Menschenseele besitzt, so scheint
es auch schon im Begriffe eines ens a se = ens perfec-
tissimum gelegen, daß es — wenn es wirklich ist — auch
absolut geistig, frei und vernünftig sei.
Wie. immer es nun bestellt sei mit dem logischen An-
spruch solcher Ableitungen — gewiß ist, daß das reli-
giöse Bewußtsein nicht auf diesem Wege zur Idee des
heiligen Gottes kommt. Daß das schlechthin Wertvolle und
nur durch sich und in sich Wertvolle auch Dasein besitzen
müsse — nicht daß das absolut Seiende notwendig auch
wertvoll in sich sei — ist ein ontisches synthetisches Axiom
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3^0 Probleme ^cr Religion.
für das religiöse Bewußtsein; hierbei ist es gleichg^tig,
was je dem Volk oder der sonstigen Trägerschaft des reli-
giösen Bewußtseins als schlechthin wertvoll gelte. Darum
geht die Gottesliebe — nicht verstanden hier als Liebe
zu einem schon als daseiend vorausgesetzten Gott, son-
dern als qualitativer Charakter des Liebesaktes und
seiner Wesensrichtung auf »Etwas« von der Wertmoda-
li tat des Heiligen — ebenso die Gottesfurcht — analog
im Werden jedes bestimmten religiösen Bewußtseins
selbst dem Glaubensakt voran, in dem das Dasein dieses
bestimmten »Götdichen« gesetzt wird. Und wiederum ist
es ein ontisches synthetisches Axiom für das religiöse
Bewußtsein, daß das »schlechthin« und nur dxu-ch sich
Wertvolle von der Wertart des Heiligen sei; welche
Wertart in keine andersartige Gruppe von Werten —
seien es logische Erkenntniswerte, axiologische, mora-
lische, ästhetische usw. — aufzulösen ist.
Die Wertart des Heiligen selbst mag in ihren beson-
deren Qualitäten und deren Zusammensetzung
innerhalb der Mannigfaltigkeit der positiven Religionen
sidi als weitgehend veränderlich darstellen. Als Wertart
ist sie eine absolut feste Größe, die sich in keinem Sinne
aus irgend etwas anderem »entwickelt« hat. Nur das kann
die Geschichte der menschlichen Wertschätzungen aller-
orts zeigen, daß viele Arten und Qualitäten von Werten,
die in je älteren Entwicklungsstadien in die »geltende«
Wertart des Heiligen aufgenommen waren — religiöse
»Sanktion« besaßen — aus ihr allmählig herausgefallen
sind, also zu außerreligiösen, profanen Werten wurden.
Ebenso axiomatisch gilt der Satz, daß das Heilige (d. h.
das je als heilig geltende) allen anderen Werten vorzu-
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r
Probleme der Religion. 39 1
ziehen sei und daher das freie Opfer jedes Gutes einer
anderen Wertart von sich aus zu fordern das Recht habe*.
Dieser Grundsatz ist der ewige Verknüpfungs-
grundsatz von Religion und Moral. Das »Opfer für
das Heilige« — das ist die Moral der Religion selbst, aber
auch die Religion der Moral selbst.
Die Qualitäten des Heiligen hat jüngst ein um die
Religionsphilosophie höchst verdienstvoller Schriftsteller
mit bemerkenswerter Freiheit und Tiefe auseinander-
gesetzt.
Rudolf Otto unterscheidet in seinem Buche »Das
Heilige« eine Mehrheit von Momenten in demjenigen,
was über die von ihm als »rational« zusammengefaßten
Attribute des Göttlichen hinaus noch als »irrationaler«
Überschuß im Heiligen gelegen ist. Otto gibt diesen Mo-
menten besondere lateinische Namen, um sie schon in
der Benennung vor den analogen, aber außer religiösen
, Werten auszuzeichnen. So fuhrt er auf das »Mysterium
tremendum«, das Moment der »majestas«, das Moment
des »Energischen«, das Moment das »Mysteriösen«, des
»Faszinosum« (d. i. das Anziehende, Bestrickende, das
dem abdrängenden Moment des tremendum entgegen-
wirkt), das Bedeckung und Sühne gewährende Moment.
So wenig ich Ottos religiöser Erkenntnistheorie folgen
kann, die er in den späteren Abschnitten seines Buches
entwickelt, so sehr begrüße ich in dem rein deskrip-
tiven Abschnitt seines Buches den erstmaligen ernst-
lichen Versuch, auf dem Wege der phänomenologischen
Wesenserörterung die wichtigsten Qualitäten der Wert-
' Vgl. meine Einteilung der Weitarten in dem Buche: »Der Formalismus
in der Ethik und die materiale Wertethik«.
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3^2 Probleme der Religion.
modalität des Heiligen — die aller und jeder Religion
Gegenstandsbestimmtheit ist — aufzuweisen. Sehr richtig
und ganz im Sinne der phänomenologischen Methode sagt
Otto über den Weg seines Vorgehens: »Da sie (i. e. die
Kategorie des Heiligen) vollkommen sui generis ist, so ist
sie wie jedes primäre und elementare Datum nicht defini-
bel im strengen Sinne, sondern nur erörterbar. Man kann
dem Hörer zu ihrem Verständnis nur so verhelfen, daß
man versucht, ihn durch Erörterung zu dem Punkte seines
eigenen Gemütes zu leiten, wo sie ihm dann selber sich
regen, entspringen und bewußt werden muß. Man kann
dieses Verfahren unterstützen, indem man ihr Ähnliches
oder auch ihr charakterisch Entgegengesetztes, das in an-
deren, bereits bekannten und vertrauten Gemütssphären
vorkommt, angibt und hinzufügt : » Unser X i s t dieses nicht,
ist aber diesem verwandt, jenem entgegengesetzt. Wird
es dir nun nicht selber einfallen?« Das heißt: »Unser X
ist nicht im strengen Sinne lehrbar, sondern nur anregbar,
erweckbar — wie alles, was ,aus dem Geiste^ kommt.«
(S. 7.) Diese (mehr negative) Methode des sukzessiven
Abschälens des einem aufzuweisenden (zu »demonstrie-
renden«) Phänomen in fühlbar abgestufter Weise Ver-
wandten, Entgegengesetzten und die so erfolgende Heraus-
schälung des Phänomens ; endlich das vor den geistigen
Blick Hinsetzen des herausgeschälten Phänomens, ist der
Weg, der zur phänomenologischen Wesensschau führt.
Die Undefinierbarkeit des gesuchten X (per genus und
differentia specifica) ist geradezu ein sicheres Kennzeichen
dafür, daß es sich bei dem X um eine echte, elementare
Was-heit handelt, die letzte Begriffe fundiert, aber darum
selbst nicht »begriffen« werden kann. Denn »Begreifen«
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Probleme der Religion. 301
heißt eben ein durch einen Begriff Gemeintes auf andere
Begriffe zurückfuhren. Es ist kein Wunder, daß der ratio-
nalistische Philosoph diese Methode meist unfruchtbar
schilt. Indem er sich ihres Charakters als eines geistigen
Erweckungs- und Zeigeverfahrens (in das mittelbares Den-
ken in Urteilen und Schlüssen nur als Mittel eingeht, den
Geist bis an die Schwelle des zu Erschauenden hinzuleiten)
nicht bewußt ist, hält er sich nur an diese Urteile und
Schlüsse und übersieht den Sinn und Nerv des ganzen
Verfahrens. Er findet dann mit Wilhelm Wundt, die Phäno-
menologie sei eine ganz unfruchtbare Sache, da sie aus
negativen Urteilen bestehe und schließlich immer mit einer
Tautologie (z. B. das Heilige ist eben — das Heilige)
endige. Das unsagbar Verkehrte an dieser köstlichen Be-
merkung besteht darin, daß die negativen Urteile, die bei
diesem Vorgehen nur geistige Aufforderungen bedeuten,
den Blick des Geistes in eine veränderte Richtung zu
lenken (um dem Gemeinten näher zu kommen) von Wundt
als theoretisch rationale Bestimmungen einer Sache auf-
gefaßt und gelesen wurden; und daß die vermeintliche
»Tautologie« nicht gewonnen wird als Aufforderung, jetzt
auf das überbegriffliche Gegebene und Nurerschau-
bare hinzublicken, um es nach seiner vollzogenen »Heraus-
schälung« in seiner Selbstgegebenheit selber ins Auge
zu fassen, sondern als eine theoretisch-rationale Bestim-
mung. Daß sie als solche absurd wäre, — daran zweifelt
natürlich kein Mensch.^
Vielen, die diese Methode anwenden (sei es auf unserem
oder einem anderen Gebiet) ist es viel zu wenig bewußt,
daß sie (als pure Methode) im Grunde keine andere ist
' Vgl. W. Wundt's Kritik der »Logischen Untersuchungen« £. Husserls.
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394 Probleme der Religion.
als diejenige der sog. »negativen Theologie«. Denn die
negative Theologiemethode ist selbst nur der tiefen Er-
kenntnis entsprungen, daß das Göttliche und Heilige als
solches eine urgegebene Qualität ist, die nur durch Ab-
schälung von Anderem und durch Analogie langsam auf-
gewiesen werden kann; die alle Begriffe vom Göttlichen
— positive wie negative — zu erfüllen berufen ist, selbst
aber unbegreiflich ist. Ja die Phänomenologie überhaupt
ist — im Laufe der Geschichte des Plotinismus — als
Einstellung und Methode gerade auf theologischem Boden
zuerst angewandt worden. Auch die »negative Theo-
logie« ist sehr häufig jenem Mißverständnis ausgesetzt
gewesen, als habe sie mit ihren Negationen das Göttliche
theoretisch bestimmen, nicht aber umgekehrt verhüten
wollen, daß es — vor seiner Wesenserfassung — vor-
eilig überhaupt rational bestimmt werde. Man braucht
sich nur eine stets wiederkehrende Tatsache aller reli-
giösen Sprache klar zu machen, um den Sinn der nega-
tiven Theologie zu verstehen. Diese Tatsache. ist das un-
geheure Mißverhältnis, das im sprachlich-rationalen Aus-
druck und in der Kundgabe des religiösen Gotteserleb-
nisses besteht zwischen eigentlich und positiv der An-
schauung Gegebenem und den oft, ja meist nur negativen
Bestimmungen des Gegebenen. Otto gibt selbst einmal
ein sehr treffendes, ja schlagendes Beispiel. (S. 36.) »Was
kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, was in keines Men-
schen Herz gekommen ist« — wer fühlte nicht den Hoch-
klang der Worte und das Rauschende, Dionysische in
ihnen.? Lehrreich ist an ihnen, daß in solchen Worten, in
denen das Gefühl sein Höchstes sagen möchte, auch alle
»Bilder« wieder zurücktreten, daß das Gemüt hier »von
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Probleme der Religion. jg^
Bildern kommt« und zu rem Negativem greift. Und noch
lehrreicher, daß wir beim Lesen und Hören
solcher Worte ihr nur Negatives — gar nicht
merken. Daß wir uns an ganzen Ketten solcher Nega-
tionen entzücken, ja berauschen können, und daß ganze
Hymnen tiefster Eindrücklichkeit gedichtet worden sind,
in denen eigentlich nichts steht. Lehrreich ist das für den
Umstand, wie unabhängig von begrifflicher Ausdrücklich -
keit der positive Gehalt ist, wie stark er erfaß tj wie
gründlich er verstanden, wie tief er gewürdigt werden
kann, rein mit, in und aus dem Gefühl selbst. Wird nun
die negative Theologie rationalistisch mißverstanden, so
behält der Leser oder Hörer nur die rein negativen Sätze
selber in der Hand, anstatt das positiv Gegebene^ das
diese Sätze uns aus dem Chaos des Endlichen, Ungött-
lichen oder nur analogisch-ähnlichen aussondern und vor
den Blick des Geistes stellen wollen. Und ebenso gilt-
Wird die negative Theologie, die ihrem Wesen nach mehr
mystische Techne und Kunst ist als Theorie, von ihrem
Vertreter selbst als rationale Theorie genommen, so
führt sie mit Notwendigkeit in religiösen Nihilismus, ^
ja sogar in den Atheismus. Denn ein Gegenstand mit
nur negativen Bestimmungen ist — außer der formalen
Gegenstandsbestimmtheit eben — »nichts«. So tritt
durch solches Mißverständnis an die Stelle der positiv-
sten höchsten Seins- und Wertfülle deren gerades Gegen-
teil — das Nichts.
Wird aber die negative Theologie — oder besser ihre
Methode — richtig und der Sache angemessen verstan-
den, so gilt der Satz, daß sie das Fundament ist für
alle positive Theologie — nicht aber umgekelirt diese
Digitized by VjOOQ IC
igg Probleme der Religion.
das Fundament jener; so gewiß, als die eidetische Phäno-
menologie jeder Gegenstandsgruppe das letzte Funda-
ment ist für die positive Wissenschaft, die sich mit dieser
Gruppe von <jegenständen beschäftigt. Alle positiven
begrifflichen Bestimmungen Gottes sind also ihrem Wesen
nach — als begriffliche nämlich — nur Quasibestimmun-
gen oder analogische Bestimmungen. Die Abmessung, wie
weit diese analogischen Bestimmungen das Gemeinte
treffen oder nicht, kann nicht nur vorgenommen werden
durch Prüfung des rationalen durchsichtigen Zusammen-
hangs dieser Bestimmungen untereinander — obzwar
auch dieser Zusammenhang eine Forderung ist, deren Er-
füllung in der Glaubenserkenntnis weiterführen kann. Die
letzte Entscheidung aber über den Erkenntniswert
jeder solchen Analogie (und damit jeder positiven begriff-
lichen Bestimmung) und über das je besondere Maß dieses
Erkenntnis wertes, trifft autonom nach seinen eigenen Ge-
setzen das religiöse Bewußtsein angesichts der ihm selbst-
gegebenen und durch die Methode der negativen Theo-
logie als selbstgegeben aufweisbaren Qualitäten des Gött-
lichen (und ihrer je besonderen Ausgestaltung).
3. Die Attribute Gottes in der natürlichen Religion.
Die drei Bestimmtheiten: Ens a se, Unendlichkeit, All-
wirksamkeit und Heiligkeit sind die formalsten Bestimmt-
heiten eines Seins und Gegenstandes vom Wesen des
»Göttlichen«. Als solche sind sie eingewickelt in den in-
tentionalen Gegenständen jeglicher Religion — der nie-
dersten wie der höchsten und absoluten. Sie sind die
einzigen, die das Gegenstandsgebiet einer religiösen
Bewußtseinsweise unbedingt konstituieren und umgren-
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 307
zen — im Unterschiede zu allen anderen Gegenständen
möglichen Bewußtseins.
Prinzipiell können diese Attribute den zugehörigen reli-
giösen Akten an jeglichem Seienden — wie immer es
sonst beschaffen sei, ob es der Natur, der Geschichte, der
Seele des Menschen angehöre — offenbar werden. Sie
sind auf kein materiales Seinsgebiet beschränkt. Aber sie
»stanmien« auch aus keinem in dem Sinne, daß sie aus
Gegenständen vor religiöser Erfahrung auf irgendeine
Weise abstrahiert wären oder durch Idealisierung oder
Analogisierung aus ihnen gewonnen wären. Der außer-
religiöse empirische Gegenstand ist immer nur zweierlei
für sie: Für das Subjekt das Sprungbrett, auf dem sich
der religiöse Akt zu ihnen hinaufschwingt, für das jeweilig
Reale des Göttlichen der Gegenstand, an dem und durch
den es offenbar wird.
Die religiösen Akte und ihr objektiver Gegen-
stands-, Seins-Wertbereich stellen also ein ebenso
ursprüngliches in sich geschlossenes Ganzes dar wie etwa
die Akte vom Wesen der äußeren Wahrnehmung
und die Außenwelt. Erforschen wir sie nach ihrem
Wesensgehalt, so hat diese Forschung noch gar nichts
zu tun mit der Frage, welche der Akte vom Wesen
der religiösen Akte »richtig« oder »falsch« sind und
welche der Gegenstände vom Wesen der religiösen »wirk-
lich« sind oder nur > eingebildet«. So wenig jede astro-
nomische Vorstellung z. B. die des Thaies von der Sonne
eine »richtige« ist, aber als »astronomische« eben doch
wesensverschieden ist von einer etwa psychologischen, so
wenig muß ein religiöser Gegenstand z. B. Apollo, Arte-
mis, der primitivste Fetisch — auch schon der wahren
Digitized by VjOOQ IC
^^8 Probleme der Religion.
Religion und ihrem Gotte entsprechen: er bleibt darum
doch zu einer Sphäre von Wirklichkeit und Wert
»gehörig«, die als solche Sphäre ebenso gewiß und so
unableitbar von Uranfang an besteht wie jene des Stern-
himmels — wie lang^sam auch und vielseitig die Bilder
und Begriffe von beiden Sphären sich im Laufe der
menschlichen Geschichte entwickeln.
Daß der Mensch also, auf welcher Stufe seiner reli-
giösen Entwicklung er sich auch befinde, immer
und von vornherein in einen von der gesamten übrigen
Erfahrungswelt grundverschiedenen Seins- und Wert-
bereich hineinblickt, der weder aus dieser Erfahrungswelt
erschlossen ist noch durch Idealisierung an ihr gewonnen,
der femer nur und ausschließlich zugänglich ist durch
den religiösen Akt: das ist die erste sichere Wahrheit
aller Religionsphänomenologie.
Es ist der Satz von der UrsprüngHchkeit und Un-
ableitbarkeit religiöser Erfahrung.
Sowohl alle genetischen Probleme, die natürliche Reli-
gion betreffen, als alle Fragen nach der wahren und fal-
schen Religion, also auch alle Rechtfertigungsprobleme
setzen diesen Satz voraus; sie dürfen nicht verquickt werden
mit dieser Frage.
Wie mannigfaltig und reich Religion sich immer ent-
falten und entwickeln möge, so erfolgt doch diese ge-
samte Entwicklung — soweit sie nicht in der kon-
kreten Wirklichkeit gestört und abgelenkt wird
durch die Wirksamkeit außerreligiöser Kulturpotenzen
— einzig allein innerhalb dieser Sphäre des religiösen
Seinsbereichs und des religiösen Akts, in dem der Bereich
zugängig wird.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 299
Eine Entwicklung des Menschen zur Religion überhaupt
erforschen zu wollen, ist also ein widersinniges Problem.
Ebenso widersinnig ist jede Frage nach der Entstehung
des religiösen Gegenstandes überhaupt aus der Seele des
Menschen und die Frage nach der Entstehung der religiö-
sen Objektvorstellung als solcher. Sinnvoll gefragt kann
nur werden nach der Entstehung der Bestimmtheit
der Materie einer religiösen Objektvorstellung aus
einer anderen. Die Religion — soweit sie sich entwickelt
— entwickelt sich autogenetisch, nicht heterogenetisch;
oder besser die Religionen transformieren sich — von
besonderen Gottestaten abgesehen — auseinander.
Die beliebte Frage nach dem geschichtlichen Ursprung
der Religion ist also so widersinnig wie die Frage nach
dem geschichtlichen Ursprung der Sprache und der Ver-
nunft. Wie der Besitz von Wort und Vernunft den Men-
schen erst zum Menschen macht ^ (und wesens verschieden
vom Tiere), damit aber auch den ganzen Bereich m ö g 1 i c h e r
historischer Erfahrung und Erkenntnis erst umschreibt, so
ist auch der Bezug des Menschen auf das Götdiche durch
den religiösen Akt und durch das Offenbarwerden des
Göttlichen für das Wesen des Menschen konstitutiv.
Sehr treffend und plastisch sagt in dieser Hinsicht auch
Otto in bezug auf alle (z. B. Paul Natorps) Versuche, eine
»Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft«
oder der »Humanität« zu finden: »Und übrigens gleicht
dies Verfahren, eine Humanität zu konstruieren vor und
abgesehen von dem mächtigsten Vermögen des homo,
dem Verfahren, sich einen Normbegriff des Körpers zu
* Vgl. meinen Aufsatz: »Zur Idee des Menschen« in meinen Abhandlungen
und Aufisatzen (»Vom Umsturz der Werte«), Bd. I.
Digitized by VjOOQ IC
400 Probleme der Religion.
bilden, nachdem man ihm den Kopf abgeschnitten hat. <
(S. 40 des oben angeführten Buches.)
Nicht weniger widersinnig ist jede Frage, wie der
Mensch von vorreligiöser Welterkenntnis auf das Gött-
liche überhaupt gekommen sei. Denn alle Vorstel-
lungen und Ideen vom profan und endlich Wirklichen (das
nur innerhalb der theis tischen Kulturzone als jenes eine,
geordnete Ganze erscheint, das wir die »Welt« nennen)
haben sich überall und immer unter der Determination
bereits vorhandener religiöser Ideen gebildet; sie haben
es auch da noch, wo man in der Erforschung dieses Wirk-
lichen ausdrücklich und mit Absicht vom Bestände eines
Göttlichen absieht oder wo man seine Realität leugnet.
Und dem entspricht es auch, daß sich alle mit dem Gan-
zen der Welt beschäftigende Vemunfterkenntnis, die Welt-
weisheit, stets und überall in den Spielräumen von
Möglichkeiten bewegt und bewegt hat, welche die je
herrschenden besonderen formalen Kategorien der natür-
lichen Religion (nicht der positiv durch Personen offen-
barten) ihr vorgeschrieben haben. > Vorgeschrieben < , nicht
im Sinne bewußter Vorschrift, sondern im Sinne eines Fun-
dierungsgesetzes des menschlichen Geistes in der Aus-
übung seiner Erkenntnisfähigkeiten nach der Ordnung
seiner Erkenntnisarten. Der Mensch kann — was immer
er willkürlich zu tun versucht — die Welt immer nur so
erkennen und denken, daß sie mögliches abhängiges Sein
und mögliche Wirkung desjenigen Wirklichen ist, das er
primär für »göttlich« hält — fiir göttlich freilich nur in
der Variationsbreite der genannten drei formalen Kon-
stituentien des Göttlichen. So garantiert z. B. nur die
Einheit Gottes die mögliche Einheit der Welt.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^O I
Anders — und prinzipiell anders — steht es, wenn wir
über diese drei formalen Bestimmungen des Göttlichen
und die durch sein Wesen (essentia) gefaßten möglichen
Gegenstände hinausgehen zu neuen Attributen des als
»göttlich« gegebenen oder in Frage kommenden Realen.
Denn fiir alle ferneren Attribute wird mm mitbestim-
mend die Wesensgliederung der endlichen Welttatsachen
und Weltwerte, die sich an der ganzen Welterfahrung
dem Menschen erschließen und nach denen der Mensch
alles zufällig Seiende auffaßt.
Erst bei diesen überformalen Attributen (z. B. Geist,
Vernunft, Wille, Liebe, Barmherzigkeit, Allwissenheit,
Allgüte, Schöpfer usw.) setzt auch für den religiösen Akt
selbst (nicht nur für die Metaphysik) die Methode ein, den
realen Träger des Wesens »göttlich« so beschaffen zu
denken, daß diese Welt seine mögliche natürliche We s e n s -
Offenbarung und sein Werk, sein Geschöpf sei, d, h.
nachdem wir bereits das Glaubenswissen besitzen, es sei
Gott, es sei die Welt und sie sei ihrem Soseinsgehalt nach
eine Offenbarung Gottes und sie sei ihrer Realität nach
sein Geschöpf, geht nun der Weg der weiteren attribu-
tiven Bestimmung Gottes von dem Wesensgehalt der
Welt auf diese Attribute. Obzwar auch hier kein Schließen
vorliegt, läßt sich doch das Verfahren des religiösen Aktes
in die Form eines Schlusses bringen. Aber dieser Schluß
ist kein Kausalschluß, sondern ein Analogieschluß; und
zwar ein Analogieschluß, dessen Glieder ausschließlich
erschaubare Wesenheiten und Wesenszusammenhänge
enthalten müssen, die fiir jede mögliche Welt a priori
gelten. Empirische Begriffe und zufällige Tatsachen-
sätze können also niemals in diese Quasischlüsse
26
Digitized by VjOOQ IC
^02 Probleme der Religion.
eingehen. Nicht das »Daß« der Kausalität Gottes im Ver-
hältnis zur Welt und nicht das »Daß« seines Offenbar-
werdens, sondern nur das wird auf diese Weise gefunden,
was Gott sein müsse, damit derjenige Gehalt seiner natür-
lichen Offenbarung und seines Allwirkens möglich sei, der
sich an der Welt enthüllt. Nicht weil Gott die Ursache der
Welt ist und der Satz gälte, es könne die Wirkung nicht
vollkommener sein als die Ursache, resp. es müsse die
Ursache auch die Vollkommenheiten der Wirkung in sich
enthalten, ist eö notwendig, die Wesenheiten der Welt auf
Gott (in absoluter und unendlicher Form) zu übertragen.
Denn dieser vermeintliche Kausalsatz ist an sich durchaus
nicht sicher. Fortwährend sehen wir ja, wie nach festen
Regeln Vollkommeneres aus Unvollkommenerem sich bil-
det. Alle modernen > Evolutions «theorien halten sogar
diese Art von Kausalität für diejenige, die grundsätzlich
die Wirklichkeit beherrschte. Darum vielmehr, weil Gott
in der Welt und ihrem Wesensaufbau offenbar wird, weil
er sich symbolisch in ihr spiegelt, weil ihre Wesensein-
heiten »Spuren« und Bedeutungen, d. i. Hindeutungen
auf sein Wesen enthalten, ist diese Übertragung notwen-
dig. Und nur weil Gott auch Ursache ist des Realseins
einiger dieser Wesenheiten, gilt für diese Ursache aller-
dings auch obiger Kausalsatz. Nicht aber gilt er für Gott
als bloßen »Anwendungsfall« eines allgemeingültigen
Kausalprinzips. Es ist also die symbolische Beziehung,
nicht die kausale Beziehung zwischen Gott und Welt, die
zu dieser Übertragung führt.
Erst diese Übertragung wird zur Grundlage einer
Gott positive Attribute beilegenden natürlichen
Theologie im Unterschiede zur (richtig verstandenen)
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Probleme der Religion. 403
Methode der negativen Theologie; die stets das Funda-
ment und die Grundlage der ersteren ist. Der Preis gleich-
sam, mit dem diese positiven Bestimmungen des heiligen
unendlichen, allwirksamen Ens a se bezahlt werden, ist
aber ihre bloß inadäquate, unausdrückliche und nur
analogische Geltung.
Sie sind einmal inadäquat; d. h. es ist uns schon
in der natürlichen Religion und Theologie klar, daß das
Wesen Gottes über seine formalen Wesensbestimmungen
hinaus unendlich reicher sein muß, als es fiir uns Men-
schen durch diese Methode erkennbar sein kann. Denn
wenngleich die an dieser faktischen Welt gefundenen
und findbaren Wesenheiten und Wesenszusammenhänge
über das bloße Faktum dieser Welt grenzenlos hinaus-
gelten — für jede mögliche Welt, so fehlt doch unend-
lich viel, daß sie auch darstellten den Inbegriff aller mög-
lichen Wesenheiten überhaupt. Denn nur diejenigen
Wesenheiten, die auch von dieser Welt in irgendeiner
Form — und sei es nur in der Form möglicher ficta —
realisiert sind, können wir finden. Gott aber ist als Ens
a se der Inbegriff nicht nur der an dieser Welt irgendwie
realisierten, sondern der Inbegriff aller möglichen
Wesenheiten. Darum kann uns ein natürliches Wissen
von seinen Attributen nur gegeben sein, soweit er sich an
dieser Welt offenbart. Erst eine positive Selbstoffen-
barung in heiligen Personen könnte und kann uns darüber
hinausführen und uns belehren über sein Wesen, wie
es ist — unabhängig von seinem natürlichen Offenbar-
werden an dieser Welt. In dem religiösen Akt der Ehr-
furcht vor Gott ist uns diese Inadäquatheit unserer Er-
kenntnis Gottes — dieses sein notwendiges unendliches
26»
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404 Probleme der Rdigion.
Hinausfließen über das Blickfeld auch des alle Wesen-
heiten der Welt adäquat Erkennenden noch unmittelbar
gegenwärtig. Wir erkennen noch, daß wir ihn nicht er-
kennen, soweit er sich nicht im Wesenscharakter dieser
Welt spiegelt.
Die positiven Bestimmungen sind femer nur unaus-
drückliche »Attribute« Gottes. D. h. wir wissen, daß
wir mit Ausdrücken wie Geist, Vernunft, Wille usw. Gottes
keinerlei Teile — weder reale Teile, noch abstrakte
Teile — an ihm treffen, sondern nur wesens- und grad-
weis abgestufte Ähnlichkeiten herausheben, die ein
vollkommen Einfaches und Unteilbares mit dem Wesen
und dem je verschiedenartigen Wesen des teilbaren und
endlichen Seins besitzt. ^ Oder wir können auch sagen : Da
Gott seinem Sein nach der kategorialen Scheidung des
Seienden in substanzielles und attributives Sein im Grunde
transzendent ist (diese Scheidung also nur dem end-
lichen Sein als solchem angehört), so stellt jedes Attribut-
sein sein ganzes Sein vollständig und jeder attributive
Wesensinhalt die ganze Fülle seiner einfachen und un-
teilbaren Wesenheit dar.
Analogisch aber sind die positiven Bestimmtheiten
Gottes darum, weil sie — dem Wesen der göttlichen
Seinsform als absoluten und unendlichen Seins folgend —
auch ihrerseits absolut und unendlich sind. Trotz der
Wesensähnlichkeit, die Gott »als Geist« mit dem Wesen
des endlichen Geistes besitzt, »als« vernünftiger Wille
mit dem endlichen vernünftigen Willen etc., besteht daher
*■ Hier beruht also die Ähnlichkeit nicht auf einer teilweisen identitas
parium, sondern die Quasiidentitat, die wir in Sätzen wie: Gott ist Geist,
Vernunft, Wille usw. meinen, beruht nur auf Ähnlichkeit Gottes mit dem
Wese&sgehalt, der Begriffen wie Geist, Vernunft usw. zugrundeliegt.
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Prol^eme der Rdigton; 405
nicht nur in der Existenz und der Existenzart eine Ver-
schiedenheit Gottes als unendlicher Vernunft etö. von der
endlichen Vernunft, sondern es besteht auch eine Wesens-
verschiedenheit, die ja Wesensähnlichkeit (in allen
Graden) nicht ausschließt; denn ähnlich kann nur sein,
was im Soseih verschieden ist.
Wie die Inadäquatheit der natürlichen Gotteserkennt-
nis, so kommen auch diese Unausdrücklichkeit und die ana-
logische Natur der göttlichen Attribute in den religiösen
Akten zur Geltung. Die erstere darin, daß Gott dem auf
ihn im Gebete und in der Versenkung bezogenen From-
men im Maße seiner Annäherung an ihn immer mehr und
mehr als äggtiröv gilt, d. h. als etwas, das Scheu erweckt,
die Kategorien unseres Denkens und unserer Sprache auf
es anzuwenden. Denn wenn es gleich auch echte Kate-
gorien des »Übersinnlichen« gibt (nämlich die rein for-
malen, wie sie vorher gegeben wurden), so sind doch die
sämtlichen Kategorien unseres Weltdenkens und des
zugehörigen Weltseins (die Kategorien der Außenwelt
wie der Innenwelt) evident unzureichend, das Sein und
Wesen Gottes zu treffen. Haben wir etwa die Kategorien
von Substanz, Potenz und Tätigkeit, so müssen wir
sagen, es falle Gottes Potenz mit seiner Substanz, seine
Potenz aber mit seiner Tätigkeit zusammen in Eins, Und
ähnlich verhält es sich in bezug auf andere Kategorien
des endlichen Seins ^. Die Analogienatur unseres Wissens
der positiven Attribute Gottes aber kommt zum Ausdruck
indergroßenFreiheitderBildlichkeit der religiösen
* Selbstverständlich auch mit der Kategorie von Ursache — Wirkung,
Zweck — Mittel. Die causa prima ist nicht nur eine andere Ursache wie
alle sonst bekannten Ursachen; auch ihr Ursachesein ist ein anderes wie
jedes sonstige Ursachesein.
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j.o6 Probleme der Religion.
Sprache, ohne daß doch im ernsten religiösen Erlebnis
diese Bilder je anders denn als Bilder genommen werden.
Insofern ist die Methodik der religiösen Sprache selbst
meist weit sinniger und taktvoller, aber auch adäquater
als jene der Metaphysik und Theologie. Denn diese Me-
thodik besteht darin, daß vermöge des vorhergehenden,
echt religiösen Bewußtseins, Gott sei in seinen posi-
tiven Bestimmungen allen eigentlichen »Begriffen« trans-
zendent, das fromme Gemüt eine gfrofJe Anzahl oft über-
aus konkreter Bilder bezüglich Gottes gebraucht, um
erst durch das, was man ihre gegenseitige Interferenz
nennen könnte, eben das auszudrücken, was der religiöse
Akt selbst in überbegrifflicherWeise an Gehalt gegen-
wärtig hat. Das Recht dieses Verfahrens der religiösen
Sprache ^ aber ist eben in dieser prinzipiellen Einsicht in
die gleichmäßig nur analogische Natur aller positiven
Bestimmungen Gottes begründet. Es ist nicht minder klar,
daß der übersinnliche Anschauungsgehalt von Grott, der
in den religiösen Akten selbst — und nur in ihrem leben-
digen Vollzug gegeben ist, nicht nur »einfach« ist im Ver-
hältnis zu der Vielzahl der Bilder, sondern auch im Ver-
hältnis zum Maß ihrer Bildlichkeit und des Grades der
Ähnlichkeit, die zwischen dem symbolischen Bilde und
dem damit »eigentlich« Gemeinten besteht*. Denn jene
»Interferenz der Bilder«, durch die sie zusammenwirkend
^ Die innere Methodik der religiösen Sprache g^f^z aufzuklären, bedürfte
einer besonderen, sehr eingehenden Untersuchung an Beispielen, die hier
nicht vollzogen werden kann. Man denke z. B. nur an die Fülle der Be-
stimmungen der Gottesmutter in der Lauretanischen Litanei.
■ Wie könnte sonst die größere oder geringere Ähnlichkeit der Bilder und
Treffsicherheit der Gleichnisse und Analogien dem Bewußtsein merkbar
sein, wenn nicht im einfachen Gegebenen des religiösen Aktes selber ein
Maß für diese Ähnlichkeit und Treflfsicherheit gelegen wäre?
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Probleme der Religion. 407
das die Bildhaftigkeit je begründende Moment in ihnen zu
einem unteilbaren Eindruck zusammenströmen lassen,
aber gleichzeitig all das aneinander abschleifen und für
das Meinen auslöschen, was »nur« Bild und »Gleichnis«
an ihnen ist, ist nur möglich dadurch, daß Maß und Art
der Erfüllung der einzelnen Bilder im Gegenstande des
religiösen Aktes vom Geiste noch bemerkt und gleich-
sam abgemessen wird. Es ist der tiefe Irrtum alles
Gnostizismus, d. h. jedes Versuches, die natürliche Religion
— wenn nicht die Religion überhaupt — in Begriffsmeta-
physik aufgehen zu lassen oder diese doch als »höhere
Form« der Gotteserkenntnis anzusehen, daß er die wesens-
notwendig nur analoge Natur aller positiven Bestim-
mungen Gottes verkennt. Er macht die kategorial ge-
faßten positiven Prädikate Gottes zu (mindestens) ab-
strakten oder »metaphysischen« Teilen Gottes, anstatt zu
sehen, daß sie nur relative Erfüllungen für Analogien des
götdichen Wesens mit einem Ahnlichen durch das einfache
unteilbare Wesen Gottes sind. Von diesem Irrtum aus,
gegründet in dem religiösen Mangel derEhrfurchtslosig-
keit vor Gott, als liefSe sich Gott adäquat, ausdrücklich und
bildlos direkt »begreifen«, erscheint dem Gnostizismus
dann die religiöse Sprache mit ihren oft stark konkreten
Bildern »anthropomorph« oder nur »Metaphysik fürs Volk« .
So urteilten z. B. Spinoza, Hegel, Fichte, Hartmann und an-
■dere. Aber de facto liegt die Sache genau umgekehrt.
Der Anthropomorphismus liegt hier beim Herrn Meta-
physikus, der die prinzipielle Transzendenz Gottes
gegenüber den endlichen Verstandeskategorien und die
Wesensverschiedenheit aller göttlichen positiven Attri-
bute von den gleichnamigen menschlichen verkennt (wie
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^o8 Probleme der Religion.
die deutschen Pantheisten z. B. göttliche Vernunft und
menschliche Vernunft identifizieren), also nur einen quan-
titativen Unterschied (unendlich und endlich) zwischen
ihnen anerkennt, sonst aber Wesensidentität setzt
Der religiöse Mensch (auch der ungebildetste) weiß da-
gegen sehr gut, daß all seine tausend Bilder und Namen,
die er Gott gibt, eben auch »nur« Bilder sind imd daß
es bei ihnen nur ankommt auf Klärung und eventuell Er-
weckung (in Anderen). des ganz einfachen Gehaltes,
der ihm in seinem religiösen Akte selbst inadäquat gegen-
wärtig ist. Niemand, der Grott im Vaterunser Vater nennt,
hält das »Vater« fiir mehr als die Analogie, Gott ver-
halte sich zum Menschen wie der Vater zum Kinde —
und auch dies nur, soweit das Wesen der Väterlichkeit
und Kindlichkeit in Frage kommt — nicht das empirisch
' Gemeinsame an allen faktischen Vätern und Kindern. Und
darum ist nicht die Religion »Metaphysik fürs Volk«,
sondern diese Art von (gnostischer) Metaphysik ist nur
eine schlechte und hochmütige Standesquasireligion
der Gelehrten. Denn das, was an den gnostischen Be-
griffen dieser päntheistischen Metaphysiker von Gott noch
wahrhaft religiösen Wert hat, das ist selbst nur durch
eine gelehrte Filtrierung der tradierten religiösen Sprache
entstanden und unterscheidet sich von dieser nicht durch
das Merkmal des direkten Begreifens gegenüber indirek-
tem, bildhaftem Meinen, sondern nur durch die Mattheit *
und Blutlosigkeit der Bilder. —
Die positiven natürlichen Attribute Gottes sind — so
sagte ich — dem Wesensgehalt der Welt entnommen.
Ehe ich frage, welches diese Attribute sind (im Unter-
schiede von denen, die wir die formalen nannten, und im
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Problem^ der Religion. 409
Unterschiede von denen, die positiver SelbstofFenbarung
Gottes in heiligen Personen allein verdankt werden kön-
nen), sei gefragt, wie sie in der Sphäre der natürlichen
Religion der Welt entnommen sind,
Obzwar hier die Gottesidee des Menschen sich von sei-
nem Weltwesensbilde als abhängig erweist (und dies im
Gegenteile zu den Formalbestimmungen ^, von denen —
wie wir sehen — umgekehrt das Weltbild bereits seiner-
seits abhängig ist), ist es doch keineswegs die reflektierte
philosophische Form des Weltbildes, von der die posi-
tiven Bestimmungen der Gottesidee in der natürlichen
Religion abhängen. Nur die natürliche Theologie, nicht
die natürliche Religion (als Teilgehalt jeder konkreten
Religion) hängt von der Philosophie und ihrer Art der
methodischen Wesenserkenntnis ab. Die natürliche Reli-
gion in allen Religionen hängt vielmehr ab von der na-
türlich-geschichtlichen Weltanschauungsform*
der Weltanschauung des Menschen, resp. der Gemein-
schaften und Epochen von Menschen, um die es je sich
handelt.
Es ist die gesamte Struktur und Gliederung des inten-
tionalen Weltseins, die fundiert durch die herrschendeRang-
^ Für die Formalbestixnmungen gilt also der Satz, daß wir Dasein und
Wesen der Welt immer schon »im Lichte« eines Göttlichen erkennen —
dessen subjektive Auffassung freilich selbst wieder historisch und soziologisch
variabel ist. Für die Materialbestimmungen der natürlichen Attribute Gottes
hingegen gilt, daß wir sie erst erkennen im Lichte unserer Wesenseinsicht
in das Weltwesen ; daß wir hier nicht die Welt im Lichte Gottes, sondern
Gott in dem Spiegel der Welt erkennen. Unbeschadet der qualitativen
Variabilität in der Auffassung auch des formal Göttlichen ist doch die
Variabilität der Au£&sstmg der positiven Attribute Gottes nicht nur quan-
titativ größer, sondern von einer ganz anderen höheren Größendimension.
* Vgl. die Definition des Begriffes von Weltanschauung und »Weltanschau-
ungsform« in dem Aufsatz: Vom Wesen der Philosophie.
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-
^ I O ProUeiiie der Retigioo.
Ordnung der Werte (»das Ethos«), vor dem Geiste einer
Gruppe steht, die ihre positive lebendige Gottesidee be-
stimmt. DieseWeltansdiauungsform aber ist je verschieden
nach Rasse, Kulturkreis, Nation, Beruf* — wenn auch in
den Grenzen der natürlichen Weltanschauungsformen des
Menschen überhaupt. Sie kann weit abweichen von den
Lehr formein eines tradierten Glaubenssystems, ja selbst
— ohne daß es den Gliedern der Gruppe bewußt zu wer-
den braucht — in schroffstem Gegensatze dazu stehen.
Die Menschen können z. B. in der Urteilssphäre ihres
Bewußtseins fest überzeugt sein, sie huldigten dem christ-
lichen Gottesbegriff mit all seinen traditionellen Attributen
der Geistigkeit, Liebe, Güte, Barmherzigkeit, Gerechtig-
keit. Dabei können sie aber gemäß ihrer tatsächlichen
Weltanschauungsform von einer ganz andersartigen Gottes -
idee tatsächlich beherrscht sein. Denn eine natürliche
religiöse Bewußtseinsstruktur kann nur dann z. B. die
Geistigkeit Gottes in sich enthalten, wenn es der herr-
schenden Weltanschauungsform entspricht, d. h. wenn die
Menschen den Geist als das Herrschende, Leitende, Len-
kende auch in ihrer Mitte erleben — nicht aber ganz an-
dfepg Dinge so erleben: z. B. die ökonomische Expansion,
die Macht usw. Es besagt also auch nicht das mindeste
für den wahren natürlichen Glaubensgehalt einer Gruppe,
wenn ihre intellektuellen Vertreter (ihre Philosophen, Theo-
logen) den christlichen Gk)ttesbegriff auf den Schulen
] ehren und wenn sie etwa die Machtlehre Nietzsches theo-
retisch verwerfen. Die natürliche Weltanschauung und
^ Vgl. dazu die Weltanschauungscharakteristiken, die ich in meinem Buche
*Der Genius des Krieges« von verschiedenen Gruppen gegeben habe, bes.
im Kapitel >Die Einheit Europas«.
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»^
f
Probleme der Religion: 411
Religion dieser Gruppe, ja diese ihre intellektuelien Ver-
treter selbst können dabei von einem ganz- andersartigen
GottesbegrifF, z. B. vom Ideen- und Wertgehalt, der Nietz-
sches »Willen zur Macht« entspricht, de facto bewegt
sein. Das Deutschland vor 19 14 z. B. war in seiner herr-
schenden Weltanschauungs- und Weltwertungsform aus-
gesprochen materialistisch und seine »Religion« war der
Wille zur Macht durch ökonomische und militärische Ex-
pansion. Die metaphysischen Formeln Nietzsches waren
seiner faktischen Weltanschauung ungefähr adäquat. In-
sofern konnte es gar nicht — als Ganzes gesehen — von
einer natürlichen Religion bewegt sein, die dem Satze ent-
spräche: »Gott ist Geist«. Das s^loß indes durchaus
nicht aus, daß der Lehrsatz »Gott ist Geist« in allen
Schulen gelehrt wurde, daß die Majorität der Philosophen
und Theologen an den Hochschulen diesen Satz lehrten
und zu beweisen suchten; daß es bewußten Anhang an
die Metaphysik Nietzsches nur in ganz kleinen Gruppen
gab. Die natürliche Theologie kann eben von der natür-
lichen herrschenden Religion in jedem beliebigen Maße
abweichen. Darum ist aber auch der Hinweis auf solche
Verbreitung der »rechten Lehre« ohne jede Bedeutung,
wenn er beweisen soll, die deutsche Weltanschauung sei
mehr christlich gewesen als den Formeln Nietzsches ent-
sprechend. Es ist vielmehr sogar die Regel, daß die herr-
schenden Weltanschauungsformen — wenn überhaupt
ausgesprochen — nur von einer ganz kleinen Minorität
ausgesprochen werden, während die überwiegende Majo-
rität zwar dieselbe Weltanschauung teilt, aber in ihrer
Urteilssphäre Überzeugungen anhängt, die überliefert
sind und zu dieser sie beherrschenden Weltanschauung
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4 1 2 Probleme der Religion.
nicht passen. Der Inhalt des lebendigen Glaufoensaktes
kann vom Glaubensurteil weit abweichen. In ihrer Beson-
derheit allgemein erkannt werden die Weltanschauungs-
formen der Gruppen meist erst, wenn sie sich ändern. So-
lange sie herrschen, haben sie den Glaubenscharakter der
Selbstverständlichkeit und werden — gleich dem Druck
der Luft — nicht empfunden und bemerkt.
Die natürlich-geschichdiche Weltanschauungsform und
Ethosform einer Gruppe zu erkennen und zu beschreiben
— femer ihre natürliche Religion — ist daher von größter
Schwierigkeit. Denn es gilt hinter die Urteile und For-
meln zu sehen, die ausgesprochen werden — ja hinter die
ganze Sphäre der Reflexion auf das verborgene schwe-
bende Anschauliche, das jenseits von Urteil und Sprache
die Gruppe geistig bewegt und beherrscht. Die Iden-
tität der religiösen Sprache und Glaubens-Formeln in
verschiedenen Epochen, bei verschiedenen Nationen oder
Berufen, z. B. bei Ackerbauern und Industriearbeitern, läßt
dem natürlichen Glauben in bezug auf den, dem Akte
dieses Glaubens vorschwebenden Gehalt der Idee
Gottes noch den weitesten Spielraum. Und nur dieses
Vorschwebende und die Bewegungen des Denkens und
Wollens Leitende und Beherrschende — und gar nicht
theoretische, gelehrte Meinungen oder traditionelle nach-
geredete Formeln gehört zum Bestände der natürlichen
Religion selbst und ihrer jeweiligen Artung.
Dahingegen ist der Rekurs auf den wesenhaften Welt-
aufbau durch die philosophische Wesenserkenntnis
hindurch der Weg, den die natürliche Theologie als
positive Bestimmungsmethode zu gehen hat, um die posi-
tiven Attribute Gottes zu finden.
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Probleme der Religion. ^13
Wenn das religiöse Wissen — unabhängig von allen
Schlüssen aus dem Bestände und Wesen der Welt — •
feststeht, es gäbe ein absolut heiliges unendliches Ens a
se, und wenn der religiöse Akt alles endliche Ens ab alio
von Gott (in diesem formalen Sinne) als schlechthin ab-
hängig und soweit es reales Sein ist, durch es gesetzt,
getragen und erhalten erfaßt und erlebt, so kann alles
der Weltbetrachtung entstammende fernere religiöse Wis-
sen um Gott, nur mehr die Beschaffenheiten betreffen,
die dem Ens a se zukommen. Das grundlegendste und
erste positive (analogische) Attribut Gottes ist aber das
Attribut der Geistigkeit.
Daß also dasjenige, was sich in dieser Welt von Gott
als ihrem Grunde offenbare und kundtue, Geist sei —
nicht nur eine blinde Allkraft, nicht nur eine triebhafte
Macht, nicht nur eine Allseele, nicht nur ein All-Leben,
erst recht nicht ein materielles oder ein körperlidies Sein
— dieses, einem Soseinsschluß, nicht einem Daseinsschluß
aus der Welt äquivalente religiöse Wissen, gilt es in sei-
nem religiösen Ursprung und Sinn zu kennzeichnen.
Mit dem Worte Geist ist etwas bezeichnet, was der
Mensch erfahrungsmäßig nur findet oder doch finden kann
in und an der Welt und zwar an dem Teile der Welt, der
er selbst ist. Wie kommt aber der Mensch dazu, Gott
als den Grund der ganzen Welt (der doch nicht nur Geist
ist, sondern außer Geist ganz andere Tatsachengruppen
und ganz andere Ursachenarten enthält) mit einem po-
sitiven Attribute auszustatten, das nur an einem so klei-
nen Teile der Welt gefunden wird, wie es das menschliche
Geschlecht ist — ein Geschlecht auf diesem kleinen, kos-
misch abgelegenen Planeten? Da die Geistigkeit Gottes
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jLlA Probleme der Religion.
durchaus nicht aus dem Begriffe das Ens a se odpr der
Heiligkeit analytisch zu entwickeln ist, so besteht ein
sinnvoller Grund der Annahme (sowohl in objektiver Be-
ziehung als in Hinsicht auf sinnvolle Motivierung nur in
dem einen Falle, daß der Mensch — ganz unabhängig
nodi von der Voraussetzung des Daseins Gottes —
nicht nur sich selbst, sondern auch, die ganze Wel^ als
durchgeistet anschaut und erlebt. Nur wenn der am
Menschen gefundene Inbegriff sinnvoller Akte und Akt-
korrelate, der »Geist« heißt, mehr und noch ein Ande-
res ist als ein bloßes »Stück« oder ein »Teil« der Welt,
ist es möglich, Gott analogisch Geistigkeit zuzusprechen.
Die Sinngesetze, nach denen der religiöse Akt Gott
als Geist erfaßt — die er »befolgt«, ohne um sie in der
Reflexion wissen zu müssen, sind nun im Grunde über-
aus einfacher Art.
Erste Bedingung dafür ist, daß der Mensch, der diesen
religiösen Akt vollzieht, seinen Kern — seine Ichstelle —
selbst im Aktzentrum seiner geistigen Akte erlebe, nicht
also primär in seinem Leibe, nicht in seinen wahrnehmbaren
seelischen Zuständen. Geistige Akte sind nicht innerlich
wahrnehmbar, beobachtbar: sie sind nur als vollziehbare
und existieren nur in ihrem Vollzug*. Die Art aber, wie der
Mensch sich selbst und das, als w a s er sich selbst gegeben ist,
kann in weitem Spielraum von Möglichkeiten wechseln. Ich
habe anderwärts die zwei Grundphänomene beschrieben, in
deren einem derMensch sein geistiges Aktzentrum als seinen
Kern, als den Herrn seiner Triebregungen und Lenker
und Leiter seiner sinnlichen Funktionen, femer als das
' Oder in erlebter Aktregung, die das spezifizierte Bewußtsein des «Kön-
nens« (dieser Aktart) anzeigt, d. h. die Aktpotenz.
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Probleme der Religion. ^. I ^
Konstante erlebt, an dem die Triebregungen und Emp-
findungen gleichsam vorüberfließen; und das andere polar
entgegengesetzte Phänomen, bei deni er seine Kern- imd
Ichstelle im Leibe hat, alles aber, was an geistigen Akten
in ihm ist, nur als flüchtige Hülsen und Begleiterschei-
nungen zu diesem konstanten Leib ihm gegeben ist^. Von
diesen zwei polaren Wesensarten der Selbstgegeben-
heit schließt die letztere in dem Maße, als sie realisiert
ist, den Vollzug des religiösen Aktes des Glaubenswissens,
>daß Gott Geist« sei, aus. Die erstere Art ist also auf
alle Fälle eine Fundamentalbedingung fiir seinen Voll-
zug. Nur sofern der Mensch und im Maße, als er selbst
im Geiste und nicht im Bauche (wie der Apostel sagt)
lebt, vermag er im religiösen Akt Gott als Geist zu
erkennen. Hier ist wieder ein Grundunterschied zwischen
metaphysischem und religiösem Wissen. Denn die Wahr-
heit, es sei der Weltgrund geistiger Art, kann auch die
Metaphysik ohne diese persönlich-moralische Bedingung
des »Lebens im Geiste«, des Seinesubstanzhabens
im Geiste erkennen. Aber diese Erkenntnis nur in der
Urteilssphäre des Bewußtseins bedeutet religiös gar
nichts. Ein Mensch, der dies Urteil vollzieht, kann gleich-
wohl nicht in seinem geistigen Aktzentrum, sondern in sei-
nem Bauche sein Zentrum, sein Ich erleben und gewahren.
Er hat dann keinerlei religiöse Erkenntnis Gottes als
Geist. Auch das Umgekehrte ist nicht ausgeschlossen:
daß jemand metaphysisch-theoretisch (durch Tradition
und Milieuwirkung) Naturalist oder Materialist ist und
doch diese Vorbedingung erfüllt, Gott als Geist religiös
zu erkennen. Gewiß ist dann seine Metaphysik und sein
^ S. Formalismus: Über Leib und Person.
d
^
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4 1 6 Probleme der Religion.
religiöses Bewußtsein widerspruchsvoll und imkompatibel.
Aber religiös steht er der Wahrheit näher als der spiritua-
listische Metaphysiker, der in seinem Bauche lebt.
Ist der Mensch in dieser Wesensverfassung, so kann
er aber auch nicht umhin, auf ganz unmittelbare Weise
ein Verhältnis der Welt zu den Akten des Geistes
inne zu werden, das in der Sprache des philosophischen
Bewußtseins also zu beschreiben ist: das Sein und So-
sein der Welt (jedes beliebigen Gegenstandes der Außen-
welt und Innenwelt) ist evident unabhängig von dem hie
et nunc Dasein irgendeines dieses Sein als Gegenstand
er&ssenden Aktes und irgendeines Individuums. Ob das
Seiende in irgendeine der Seinsrelationen zu einem mensch-
lichen Geiste eingeht oder nicht, die da heißen: Erkennen
— intentionales Sein, Lieben — Wertsein, Wollen —
Willenswiderstandsein, das setzt weder sein S^n noch
hebt es sein Sein auf. Diese Wahrheit ist uns evident in
jedem Erkenntnisakte, ja in jedem geistigen Akte über-
haupt gegeben. Sie ist vom Sinn der Worte »Sein« und
»Gegenstand« unabtrennbar^. Ein Vergleich einer Mehr-
heit von Akten oder des in ihnen Identifizierbaren ist nicht
nötig, und ebensowenig ist nötig ein Hinblick auf Bezieh-
ungen und auf die Ordnung der seienden Gegenstände. All
dies mag wichtig sein flir die Art- und Formbestinunung des
Seins und (lir seine Zuordnung zu vorher schon bestimm-
tem Wassein oder Sosein. Davon ist hier nicht die Rede.
Aber nicht weniger evident ist trotz dieser Wesens-
unabhängigkeit und Wesenstranszendenz alles Seienden
' Dabei ist die »Unabhängigkeit« des Gegenstandes im Bestände vom
Geiste, — also auch von allem hie et nunc erlebten Bewußtsein von Etwas
eine Folge des Seins des Gegenstandes, nicht etwa Wesensdefinition
i
des Seins.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^ 1 7
vom hic et nunc vollzogenen Akte und vom Akte, sofern
er von diesem oder jenem Individuum vollzogen ist, daß
gleichwohl alles mögliche außergeistige Seiende von einem
möglichen Geistseienden in wechselseitiger Ab-
hängigkeit stehe. Aller Erkenntnis (ja allen intentionalen
Akten) muß ein Sein, allem Sein eine mögliche Erkennt-
nis entsprechen; analog allem Lieben und Vorziehen ein
Wertbestand, jedem Wertbestand ein Lieben und Vor-
ziehen. Das ist die Wesensrelation vom Akt als nur voll-
ziehbarem Sein und vom Gegenstande als daseiendem
Sein (beide ihrem Wesen nach genommen), die ich auch
anderwärts als eine der fundamentalsten Einsichten der
Philosophie entwickelte*.
Was aber gilt vom Wesen des geistigen Aktes imd des
daseienden Gegenstandes als solchem, das muß auch gel-
ten für alles besondere zufällig Seiende, das diesem
Wesen und jenem entspricht.
Die Idee eines überhaupt unerkennbaren Seins ist also
auf Grund dieses Wesenszusammenhangs und auf Grund
des Satzes vom Widerspruch widerspruchsvoll. Sie ist es
aber nicht analytisch*, d. h. nur nach dem Widerspruchs-
satze. Und ebenso widerspruchsvoll ist aus diesem Grunde
die Idee einer irgendwie vorgefundenen Erkenn tnis-
intention, der keinerlei Daseiendes entspräche.
Diese fundamentale Einsicht ist — obzwar sie am Geiste
des Menschen gefunden ist, ja an jedem Akte des mensch-
lichen Geistes gefunden werden kann — doch vom zufäl-
ligen Dasein dieses Geistes und des Menschen ganz un-
^ S. Fonnalismus in der Ethik.
■ Dies glaubt falschlich der subjektive Bewußtseinsidealismus, der Esse =
Percipi setzt, woraufhin natürlich die Idee eines nichtpercipirbaren Seins
auch analjrtisch widerspruchsvoll wäre.
27
Digitized by VjOOQ IC
^ 1 8 Probleme der Religion.
abhängig. Sie zielt auch keineswegs auf die besonderen
Attribute, die der Geist als menschlicher Geist besitzt,
sondern auf das ewige Wesen eines Geistes über-
haupt. Sie zielt allein auf ein konstitutives Wesensverhält-
nis von Geist und Welt als solcher, fiir das es ganz zu-
fällig ist, daß es am Menschen und seiner zufalligen Er-
fahrungswelt gefunden ist. Sie ist also ebenso unabhängig
gültig vom Dasein dieser zufälligen Welt, gilt vielmehr
für jede mögliche Welt überhaupt.
Es sind nun aber erst die beiden fundamentalen Ein-
sichten zusammengenommen und in Eins geschaut, welche
die an sich einfache religiöse Grundintuition des Menschen
»Gottes als Geist«, d.h. des heiligen Ens a se als Geist er-
geben: die radikale Daseinsunabhängigkeit der Welt vom
faktischen Geiste des Menschen resp. ihre evident gegebene
Transzendenz (in jedem ihrer Gegenstände) gegenüber
Allem, was dem Menschengeiste von ihr bewußtseins-
immanent werden kann, und ihr gleichwohl bestehendes
fevidentes wesensgemäßes Abhängigsein von einem
Geiste überhaupt, d. h. von Etwas, das das Wesen der
Geistigkeit mit dem Menschen gemein hat. Denn eben
daraus folgt, daß dasselbe Seiende, das dem menschlichen
Geiste als unabhängig seiend von ihm und als in jedem'
Gegenstande ihm transzendent, d. h. sein Bewußtsein
überragend gegeben ist, gleichwohl schon um seines Seins
allein willen^ eine geistige Macht zum Korrelate haben
muß — eine geistige Macht, die im analogen Verhältnis zur
Welt (so wie sie in sich selbst ist) steht, wie der Mensch als
geistiges Subjekt zu seiner Umwelt. In einem analogen,
V Nicht also erst um seiner Beschaffenheit willen wie Gesetzlichkeit, Ord-
nung, teleologischer Aufbau.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion; 419
— nicht in einem gleichen. Denn gerade die erste der beiden
Einsichten, die Einsicht in die Unabhängigkeit alles Seien-
den vom Geiste des Menschen und in die Transzendenz alles
Seienden als Gegenstandes über jedes menschliche Bewußt-
sein davon hinaus, weist ja schon hin auf die Verschieden-
artigkeit der beiden Verhältnisse und schließt damit jeden
Anthropomorphismus aus. Das Sein, das unabhängig »ist«
vom Sein des menschlichen Geistes, fordert eben auf Grund
der Wesensabhängigkeit des Seins von einem Geiste
überhaupt gleichzeitig die schlechthinige Seinsabhängig-
keit von einem Geiste X, der wesensunmöglich der mensch-
liche ist; das Sein des Gegenstandes, der evident mensch-
liches Bewußtsein transzendiert, fordert einem Geiste voll
immanent zu sein, der wesensunmöglich der mensch-
liche ist.
Wir sind also in der eigentümlichen Lage, an der Re-
lation des menschlichen Geistes zur Welt eine Wesens-
abhängigkeit von Welt und Geist überhaupt zu erschauen,
in bezug auf die es doch zugleich sonnenklar ist, daß der •
daseiende Geist, der der daseienden Welt diesem Wesens-
gesetz gemäß korrespondiert, keinesfalls der menschliche '
ist, ja ein Geist vom Wesen des menschlichen Geistes gar
nicht sein kann. Denn daß diese Welt existiert unab-
hängig vom Dasein und Sosein des menschlichen Gei-
stes — das ist ebenso evident wie diese erschaute Wech-
selabhängigkeit von Geist und Welt überhaupt. Das Da-
seinsunabhängige (die daseiende Welt vom daseienden
menschlichen Geist) ist zugleich qua Welt und Geist
überhaupt wesensabhängig.
Auch in die Form eines Schlusses kann das Gesagte
gebracht werden. Seine Teile sind:
27*
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'-^5r?^^-
420 Probleme der Religion.
1. Diese Welt ist in ihrem Sein unabhängig vom Da-
sein meines geistigen Akts und vom Dasein jedes Aktes
desselben Wesens; jeder ihrer Gegenstände ist nur teil-
weise und inadäquat solchem geistigen Akte (möglich)
immanent.
2. Es gehört gleichwohl zum Sein jeder möglichen Welt
das Sein eines möglichen Geistes und zu jedem Gegen-
stande volle mögliche Immanenz dieses Gegenstandes
in diesem Geiste.
3. Also gehört auch zur Welt ein Geist, der — wenn
ich die Welt setze — notwendig mitzusetzen ist und der
(auf Grund der ersten Prämisse) nicht der menschliche
Geist sein kann — weder seinem Dasein nach, noch seinem
Wesen nach.
Aber wiederum ist es nicht dieser Schluß, den der Mensch
im religiösen Akte, dadurch er Gottes als Geist gewiß
wird, zöge. Man kann nur sagen, daß der religiöse Akt
selbst gemäß den entwickelten Sätzen sich sinngemäß be-
tätige, daß er — indem er am menschlichen Geiste ein
Urbild des Geistes überhaupt und am Verhältnis des
menschlichen Geistes zur Welt eine wesensmäßige Rela-
tion von Geist und Welt überhaupt erfasse — die Idee
dieses Urbildes sofort auf das heilige Ens a se übertrage,
das ihm vorher schon als daseiend gewiß ist*.
* Es gibt theoretische Philosophien, die freilich — wären sie wahr — dieses
Sinngesetz des religiösen Aktes zerstörten. So der erkenntnistheoretische
»Idealismus«, der alles Sein zum Inhalt eines möglichen Bewußtseins herab-
setzen zu dürfen glaubt, der sowohl den Sinn des Begriffes Sein als das
Wesen der Transzendenz des Gegenstandes und des Transzendenzbewufit-
seins verkennt. (Berkeley, Fichte.) Denn nur dem klar erlebten und ge-
sehenen Wider streit und der Spannung zwischen der realen Transzendenz
der Welt gegenüber dem menschlichen Bewußtsein und dem am mensch-
lichen Geiste gleichwohl gefundenen Wesensverhältnis der Welt zu einem
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r.-i'
Probleme der Religion« ^2 1
Das Wesen dieses religiösen Aktvorgangs selbst genau
aufzuweisen, sehen zu machen^ ist mit so großen Schwierig-
keiten verknüpft, daß ich an dieser Stelle mehr wie je das
vollständig Unzureichende der menschlichen Sprache emp-
finde. Es ist wie ein unerhörtes geheimnisvolles Drama in den
tiefsten Tiefen der Seele, dadurch sich die religiöse Er-
kenntnis auswirkt, daß das heilige Ens a se geistiger
Natur,» Geist < sein müsse. Der Mensch muß klar und leben-
dig — bis in jede Wahrnehmung, in jedes Fühlen der Welt
hinein, in jede Aktion an der Welt oder an irgendeinem ihrer
Gegenstände — sein, seines Ichs und seines Bewußtseins
vollendete Gleichgültigkeit gegenüber dem Dasein der
Welt und seine ganze Geistesohnmacht gegenüber ihrer
Fülle — ja gegenüber jedem Element ihrer Fülle — ge-
wahren. Gefühlsmäßig hilft ihm als guter Genius ziun Ersten
die Tugend der Demut des Geistes, durcbdie er schon
vorbereitet ist durch sein formales Wissen um Gott als
heiliges Ens a se und seine Nichtigkeit. Er muß ganz- deut-
lich es inne sein, nicht nur es wissen, wie erhaben gleich-
gültig es für die Sonne ist, ob sie von ihm und seines-
gleichen — von irgendeinem *Ich« — wahrgenommen,
gedacht, gewertet wird oder nicht. Zum zweiten hilft ihm
als guter Genius die Tugend der Ehrfurcht, die ich
Geiste überhaupt, liegt das sinngemäße Motiv für die Blickrichtung auf
den göttlichen Geist. Nicht minder aber mufi der absolute Ontologismus
das Sinngesetz des religiösen Akts auflösen. Er ist z. B. auch eine Voraus»
Setzung des Materialismus und Naturalismus jeder Art. Denn bei ihm wird
— im Gegensatze zum erkenntnistheoretischen Idealismus — das Wesens-
verhältnis von Akt und Gegenstand, Geist und Welt verkannt, das trotz der
evidenten Unabhängigkeit der Weltrealität vom Dasein und der kontingen-
ten Natur des menschlichen Geistes, auch trotz der Transzendenz des Gegen-
standes für den menschlichen Geist, einen Geist überhaupt fordert, von
dessen Wesen und Dasein die Welt abhängig ist und deoi der Gegenstand
voll immanent sein kann.
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^2 2 Probleme der Religion.
schon anderwärts als gefühlsmäßiges Mitwissen der
wesenhaften Unzureichendheit unseres Wissens von
jedem Gegenstande, aber doch als wirkliches, ja sogar
evidentes Wissen von unserem partiellen Nichtwissen-
können bezeichnete \ Sie gibt nur deutlich und in der
Form des »Fühlens von« die unmittelbare objektive Evi-
denz, die jedem intentionalen Akt, z. B. der Wahrneh-
mung, jeden Akt des Vorstellens und Denkens begleitet:
daß nicht nur jeder Intentionsgehalt dem Ganzen des Gegen-
standes unangemessen ist, daß sogar eine unendliche
Summe solcher Gehalte ihm noch unangemessen wäre,
da mit jedem Fortschritt des Erkennens der Gegenstand
proportional zum Fortschreiten wachsend viele »unbe-
kannte«, aber doch als erkennbar gegebene und in ihrem
Ägtarie?inen'^7?Seft«^d»on je vorintendierte Seiten und
Merkmale darbietet.
Aber mit diesem BewußtseS'^gifc^*^'^^"**^*^" Gleich-
gültigkeit« seines und seinesgleicheTtSlg^"^* ^'" ^^■
stand und Artung der Dinge muß doch im^S^^T^*
sein d.e unmittelbare Schau des WesensbezugesSlÜ'
mc^hchenGegenstandseinsundDaseinsüberhau^pTa^^
Sache vom Wesen des Geistes überhaupt. M^ 2
Wesen des mtentionalen Akts und dem Wesen des da
-enden Gegenstandes (resp. Widerstandes, Wen^t
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\^^^' Abhandlungen und Aufeätzc BA I
"d R.»h.it Alte FomZä^-^-rT"^—' »""'•«klWt
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Probleme der Religion. 423
Würde und Erhabenheit des Geistes qua Geist, ver-
möge der er — ist gleich der menschliche wirkliche Geist
nur ein Stück und Teil der Welt — doch seinem Wesen
nach nicht nur ein Stück der Welt sein kann, sondern zu-
gleich sein muß das Etwas, in dem alles Sein der Dinge
ein Miteinandersein und Füreinandersein wird, dasEtwas,
durch das ideale Teilnahme eines Seienden an dem Sein
jedes andern Dinges möglich wird, das Etwas in dem aller
Dinge Vielheit zur Einheit sich je zusammenfassen kann
ohne Veränderung des Soseins der Dinge — , diese ewige
Würde und Erhabenheit des Geistes lebendig zu emp-
finden und sie lebendig zu empfinden in und mit der un-
sagbaren Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit, Labilität des
menschlichen daseienden Geistes als des uns allein be-
kannten unmittelbar gegebenen Beispiels einer Sache
vom Wesen des Geistes überhaupt: das ist der zweite
Akt jenes geheimnisvollen Dramas, in dem sich die reli-
giöse Erkenntnis Gottes als Geist vollzieht. Der dritte
und letzte ist der Akt der Beilegung des Wesensattributes
»Geist« an das uns vorher schon gewisse heilige Ens a se
und das Erlebnis des Hereinleuchtens (Oflfenbarwerdens)
der unendlichen Vernunft in alle rechte Aktbetätigung der
endlichen Vernunft resp. der Ideen und Werte samt ihrer
Ordnung, die als Korrelate vor dem Akt der unendlichen
Vernunft stehen, in die Gegenstände der Welt und ihr
Bedeuten^. Die Formalattribute der Absolutheit und
' Um dieses innere Drama kreiste zeit seines Lebens vielleicht keines Men-
schen Denken so stark und tief wie jenes Blaise Pascals. Descartes hatte ihm
in einer unzureichenden Form die Würde und Erhabenheit des Geistes zum
Bewußtsein gebracht : Cogito, ergo sum. Pascal erfoßte zugleich die Gebrech-
lichkeit des menschlichen Gebtes. Tief und schön gibt £. von Hartmann in
folgenden Worten das rechte Verhalten des menschlichen Geistes zu Natur
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424 Probleme der Religion«
Unendlichkeit, femer zwei Beziehungen, die schon im
Verhältnis des absolut heiligen Ens a se zu den zufälligen
Dingen gelegen sind — wie wir zeigten — gehen aber
und Gott wieder — indem er zagleich die falschen Auffassungen des Natu-
ralismus und des Bewußtseinsidealismus geißelt:
»Vom Standpunkt des Naturalismus» wo die Natur ein letztes, nicht mehr
induktiv Übdschreitbares ist, müssen die Naturkräfte und Naturgesetze als
etwas Ungewordenes, abo Ewiges und Unveränderliches erscheinen. Da
kann der Respekt des bewußten Geistes vor ihnen gar nicht groß genug
sein; das auftauchende und bald wieder verschwindende Individualbewufit-
sein hat sich in Demut vor der Allmacht der ewigen Natur zu beugen, deren
flüchtiges Produkt es selbst nur ist. Der Geist steht ohnmächtigim Gefühl
seiner Kleinheit und Nichtigkeit vor der unermeßlichen Größe der Natur in
zeitlicher, räumlicher und dynamischer Hinsicht Denn die Erde ist ja nur
ein Stäubchen im Weltgebäude, und doch kann schon das kleinste Teüchen
der Erde in der Größe eines Steines den Menschen zerschmettern und
sein Bewußtsein aufheben. Die dem Naturalismus gemäße Stimmung ist
Schauder vor der Größe der Natur und Grauen vor ihrer Macht und
der Unerbittlichkeit ihres gesetzmäßigen, alles zermalmenden Räderwerks.
(Preuß. Jahrb. Bd. loi, Hft. 2, S. 228—236.)
Vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus hingegen ist die
Natur ein bloßer Schein, den der bewußte Geist sich selbst vorgaukelt
Ihre Größe, Macht und scheinbare Unendlichkeit ist ihr nur vom Geiste ge-
liehen, und wie der Träumende aufhört, sich vor den Schreckbildem seines
Traumes zu ängstigen, wenn ihm aufdämmert, daß er nur träumt, so schwin-
det dem transzendentalen Idealisten jeder Respekt vor der Natur, sobald
er sich darauf besinnt, daß sie ja nur sein Geschöpf ist, eine Illusion,
die er sich selbst vorzuspiegeln genötigt ist Die Achtung vor der Größe
der Natur, vor der Macht ihrer Kräfte und der Unverbrüchlichkeit ihrer
Gesetze schlägt nun in Achtung vor der Größe und Macht des eigenen
Geistes und der Unverbrüchlichkeit seiner psychologischen Gesetze um.
Der Geist könnte nach souveräner Willkür mit seiner Natur spielen, wenn
nicht die psychologischen Gesetze seiner Produktivität dieser Willkür
Schranken zögen. Immer aber bleibt er der Eigner und seine Natur das
Eigentum seines Bewußtsems. Die dem transzendentalen Idealismus ge-
mäße Stimmung ist die Geringschätzung der Natur und der Hoch-
mut des bewußten Geistes (Fichte, Stimer, Nietzsche).
Der transzendentale Realismus scheidet aus, was an den beiden
Standpunkten unrichtig ist, und verknüpft synthetisch dasjenige, was an
ihnen richtig ist Er kann den Respekt des Naturalismus vorder Natur nicht
teilen; denn sie gilt ihm nur als ein Produkt des Geistes, der ihre eminente
Ursache ist. Der Geist hat sie vor endlicher Zeit gesetzt und wird sie nach
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Probleme der Religion. 425
mit diesef Beilegung auch unmittelbar über auf Gott als
Geist.
Das Erste besagt, daß der göttliche Geist als Attribut
endlicher Zeit zurücknehmen ; sie ist nicht ewig, sondern war einmal nicht
und wird dereinst wieder nicht sein. Ewig ist nqr der Geist, der sie setzen
und aufheben kann. Unabänderlich sind ihre Gesetze nur für die endliche
Dauer des Weltprozesses, mit dem sie beginnen und-«ufhören. Vor dem
Geiste, der die Natur gesetzt hat und stetig weiter setzt, vor seiner
Macht und Größe beugt sich der bewußte Geist in Ehrfurcht, vor seinem
Werke nicht. Denn der Mensch weiß, daß er selber Geist von jenem Geiste
ist, daß er ihm weit näher steht als die Natur, daß jener Schöpfergeist in
ihm zu sich selber gekommen ist, und daß die Natur in ihm ihren nächsten
Zweck erfüllt hat, zu dem sie geschaffen ist Die räumliche Größe der Natur
kann dem nicht mehr imponieren, derda weiß, daß es auf sie gar nicht
ankommt, sondern auf die Innerlichkeit des Geistes, die mit räumlicher
Ausdehnung nichts gemein hat. Die unermeßliche Dauer des Naturprozes-
ses schrumpft zu einem Nichts zusammen gegen die Ewigkeit des Geistes,
an der der Menschengeist mit seinem Wesen, wenn auch nicht mit seinem
Bewußtsein, teilninmit Die rohe Gewalt der Naturkräfte kann den Leib
des Menschen, weil er ein Teil der Natur ist, zermalmen ; aber an seinem
Geiste zerschellt sie ohnmächtig, wenn sie auch mit dem Leibe die Bedin-
gung seines individuellen Bewußtseins zerstört. Der Geist ist unendlich viel
mächtiger als die gesamte Natur; sind doch alle ihre mechanischen
Kräfte nur Splitter von der Macht des naturschöpferischen Geistes.
Aber wenn die Natur aufhört, dem transzendentalen Realisten zu impo-
nieren, so blickt er doch darum nicht mit Geringschätzung auf sie.
Denn er weiß, daß die Natur sowohl in Gestalt seines eigenen Leibes, als
auch in Gestalt der sein Leben fristenden Außenwelt unentbehrliche Be-
dingung und wesentlich mitwirkender Faktor für die Entstehung und den
Fortbestand seines Individualbewußtseins ist Auch der transzendentale Idea-
list sieht die Natur als Bedingung seines Geisteslebens an, aber nur als un-
reale, bloß vorgespiegelte illusorische Bedingung, so wie der Träumende
die Haltbarkeit der von ihm geträumten Brücke mit Recht als Bedingung
dafür ansieht, daß er nicht einzubrechen und ins Wasser zu fidlen träumen
muß; wenn ihm das Bewußtsein aufsteigt, daß er nur träumt, so fürchtet er
auch den Einbruch nicht mehr, mag die geträumte Brücke noch so unsicher
sein. Nur für den naiven und transzendentalen Realisten ist die Natur
reale Bedingung des bewußten Geistes, nur von ihnen kann sie wahrheits-
gemäß als solche geschätzt und verständigerweise als solche gepflegt
werden.
Wie in bezug auf die Schätzung der Natur, so hält der transzendentale
Realismus auch in bezug auf die SchäUung des bewußten Geistes die
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4 26 Probleme der Religion.
des heiligen Ens a se auch seinerseits als absoluter, d. h.
ausschließlich in sich selbst gründender Geist, ver-
standen werden muß. Dies aber bedeutet für die Geistig-
keit Gottes sovielwie die absolute Freiheit oder Selbst-
bestimmung des göttlichen Geistes, — ein Prädikat,
das erst jetzt, da Gott als Geist erkannt ist, zum BegriflF
des Ens a se hinzutritt. Das Ens a se wird erst hierdurch
Ens per se. Und erst damit kann die Art seines Wirkens
und Er-wirkens als analog zum Wollen und seine All-
kausalität als die geistartige Kausalität der Schöpfer-
freiheit und Schöpfermacht verstanden werden.
Mitte zwischen dem Naturalismus und dem transzendentalen Idealismus.
Wenn der erstere den bewußten Geist als einen unerklärlichen, eigentlich
gar nicht existenzberechtigten Schein an der Natur und ihr gegenüber als
etwas durchaus Nichtiges betrachtet, wenn dagegen der letztere ihn zum
allmachtigen Schöpfer Himmels und der Erden aufbläht, so sieht der trans-
zendentale Realismus in ihm weder das eine noch das andre, sondern ein
Produkt aus dem Zusammenwirken des unbewußten Geistes
und der Natur. Vor dem unbewußten absoluten Geiste, der ihn, teils un-
mittelbar durch synthetische Kategorialfunktionen, teils mittelbar durch die
Mitwirkung der Natur, produziert, Rihlt der beschränkte bewußte Geist
seine absolute Abhängigkeit, Ohnmacht und Nichtigkeit und bescheidet
sich in Demut. Der Natur gegenüber dagegen fühlt er sich mit Recht als
das unvergleichlich Höhere, als den Zweck, dem sie nur als Mittel dient,
als den dem absoluten Geiste näher Stehenden, seine Einheit mit ihm Wis-
senden und seinen Zwecken mit Bewußtsein und mit Willen Dienenden. In
seinem geistigen Wesen erhaben über Raum und Zeit, hat er ewiges Leben
in der Einheit mit dem ewigen Geist und kann lächelnd hinabblicken
auf die zeitiiche Extension des Naturprozesses, die der Ewigkeit in jedem
Zeitpunkt gleich fem und entgegengesetzt bleibt. Hier gibt es weder törichtes
Grausen und Schaudern vorder Natur mehr, noch überspannte Überhebung
über sie und Größenwahn des Bewußtseins, sondern Unterordnung
beider Erscheinungssphären der Welt unter die metaphysische Sphäre
und teleologische Überordnung der subjektiv-idealen Erscheinungssphäre
über die objektiv-reale.« (System der Philosophie im Grundriß, Bd. II, S. 12
bis 15.)
Die Färbung, die in die Worte Hartmanns da und dort durch seine An-
nahme eines absolut unbewußten Geistes hineinkommt, kann, ohne den
sonstigen Wahrheitsgehalt der Stelle zu verletzen, abgezogen werden.
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Probleme der Religion. a2J
Es ist wiederum ein ganz besonderes Wesenserlebnis,
das dem Schöpfungsgedanken zugrunde liegt. Zu-
erst muß — soll es zu diesem Gedanken kommen — die
resdose Zufälligkeit der Weltrealität erfaßt sein im Ver-
hältnis zu Welten, djegleich wesensmöglich wären, d. h. allen
Wesenszusammenhängen gehorsam und unterworfen wie
die reale Welt. Gegeben aber ist das Realsein jedes realen
Gegenstandes im erlebten Widerstände, den der inten-
dierte Gegenstand dem (geistigen) Wollen und Nicht-
wollen des erlebenden Subjekts leistet^. Ohne alle Art von
volitivem Verhältnis zur Welt käme es zu einem Reali-
tätsbewußtsein überhaupt nicht. Der Ausgangspunkt
dessen, was widersteht, ist als Tätigkeitszentrum ge-
geben — je nach seiner besonderen Art als Kraftzentrum
(tote Welt), Vitalzentrum (Lebewelt), Triebzentrum (eige-
ner Leib), fremdes Willenszentrum (Nebenmensch). Die
Anwendung des Satzes vom zureichenden Grunde, der
für alles zufällige Dasein (sei es real oder ideal) einen
Grund fordert (daß es mehr sei als nicht sei), fuhrt zu dem
Satze, daß alles reale Dasein in einer Tätigkeit erwirkt
sei. Nun kennen wir innerhalb der ganzen Fülle unserer
Welterfahrung nur einen Fall, eine Erlebnisgegeben-
heit, in der ein zufälliges Dasein nicht nur verändert
modifiziert, umgebildet wird durch das Wirken eines
anderen, sondern geschaffen wird: das ist die jeweilige
Form, Gestalt, Idee, die der originär »schaffende« mensch-
liche Willensakt einer gegebenen Materie aufprägt. Und
im selben Falle ist uns auch nur gegeben der Wesens-
tatbestand, daß wir ein Ideales (den Inhalt des Wollens-
^ Eingehende Beweise dieses Satzes gibt meine demnächst erscheinende
Erkenntnistheorie «Die Welt als Erkenntnis«.
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^28 Probleme der Religion.
Projekts) real »werden« sehen. Von der Frage wie dies ge-
schehe, d. h. von allen Fragender psychophysischen Willens-
kausalität ist diese Wesenseinsicht ganz unabhängig. Daß
dieses Artefakt, dieses Gemälde Werk geistigen WoUens ist, .
durch es gesetzt und gewirkt, das ist evident, wie dunkel die
Wege auch immer seien, auf denen dieses Wirken meines
Wollens auf die Glieder des Leibes zustande kommt. Denn
ich sehe unmittelbar im Prozeß jedes Bildens und Schaf-
fens, daß die Materie dem idealen Projektverhalt immer
mehr gleicht, sehe das »Hineinwachsen« der Materie in
die Idee des Projekts und weiß zugleich, daß dies »durch
mich« geschehe. Daraus aber ist auch klar, daß die Reali-
sierung jedes zufällig Daseienden und Realen, so-
weit sein Realsein überhaupt in Frage kommt, nicht nur
sein Hier- und Dortrealsein, seine So- oder Anders-
beschaffenheit, sein Jetzt- und Hierrealsein, durch ein
Wollen gewirkt sein müsse, also — geschaffene^
Im religiösen Akte werden nicht diese Schlüsse ge-
zogen, noch sind die Stufen der Einsicht in der hier ent-
wickelten Weise gegeben. Der religiöse Akt fungiert
vielmehr nach und gemäß diesen aufgeführten Wesens-
zusammenhängen, wann, wo und wie immer er überhaupt
zum Schöpfungsgedanken fuhrt.
Femer erhält der göttliche Geist kraft der Tatsache,
daß er die Geistigkeit eines unendlichen Seins (einer Folge
desEnsase) bedeutet, auch seinerseits das Attribut des
unendlichen Geistes. Und erst als unendlicher Geist —
noch nicht als Ens a se — muß Gott Wesensprädikate
erhalten, welche die qualitative Unendlichkeit seines Seins
(qua Seins) in verschiedenartige Beziehung setzen zu den
formalen Ordnungsweisen, die zum Wesen der endlichen
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Probleme der Religion. ^29
Dinge als möglicher Korrelate des endlichen Geistes ge*
hören. Die wichtigsten sind Zahl, Zeit, Raum und Größe,
Gott ist im Verhältnis zu aller möglichen Menge und
Zahlenmannigfaltigkeit das seinem Wesen nach mengen-
freie und schon darum unzählbare Sein, d. h. das Sein, zu
dessen Wesen selbst es gehört, der einzige Fall seiner
Gattung zu sein. Das besagt: Gott ist Gott als der abso-
lut Einzige. Zur absoluten Einheit und zur absoluten
Einfachheit Gottes tritt damit auch seine absolute Einzig-
keit. Sie schließt als solche jede Zahlbestimmtheit aus —
natürlich auch die Zahlbestinuntheit durch die Zahl eins.
»Das« Einzige schlechthin ist nicht eins, sondern unzähl-
bar seinem Wesen nach.
Im Verhältnis zur Zeit heißt der unendliche Geist der
Ewige (Aetemum). Das heißt nicht soviel wie der alle
Zeit EriuUende oder schlechthin Dauernde (sempitemum)
— ein Prädikat, das der Materie und Energie auch
zuzuschreiben wenigstens Sinn hätte. Es drückt vielmehr
aus, daß Gott als »überzeitlich« in ganz beliebiger
Weise auch innerzeitlich sein kann, jede Zeitstrecke und
jeden Zeitpunkt in einer Art und Ordnung erfüllen kann,
die er sich selbst wählt und die ihm durch die Ordnung
der Zeit (die für sie geltenden Wesensgesetze) nicht vor-
geschrieben wird. Eben kraft seiner Ewigkeit kann daher
Gott auch in jeden Zeitpunkt der unwiederholbaren Ge-
schichte einfach und ungeteilt eingehen, ohne daß dabei
seine Ewigkeit verletzt würde.
Im Verhältnis zum Räume heißt der unendliche Geist
der Ubiquität teilhaftig, d. h. Gott vermag im selben Akte
— eben da er schlechthin raumüberlegen ist — überall zu
sein und zu wirken; ohne daß sein Sein darum an der Teil-
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^ßO Probleme der Retigion.
barkeit und den Gesetzen des Raumes teilnähme oder sein
Dort- und Hiersein den Sätzen der Geometrie und Kine-
matik unterworfen wäre \ Ubiquität ist daher vom Überall -
sein (d. h. an jedem Punkte des Raumes sein) ebenso ver-
schieden wie die Aetemität Gottes von der Sempiternität.
Sie bedeutet, daß Gott als überräumliches Wesen auch
ganz und ungeteilt (da er einfach ist) an jedem beliebigen
Punkte des Raumes sein und wirken kann.
Endlich heißt Gottes Unendlichkeit des Seins im Ver-
hältnis zu allem, was der Seinsform und der korrespon-
dierenden Denkform der Größe teilhaftig ist, auch Un-
ermeßlichkeit. Dies bedeutet nicht, daß Gott zwar
Größe habe, aber eine unendliche und daß darum seine
Größe nicht abzumessen sei. Es bedeutet vielmehr, daß
Gott als absolut einfaches Sein der Kategorie der teil-
baren Größe überhaupt nicht teilhaftig sei und nur dar-
um unermeßlich, da alles, was ermeßlich ist, Größe vor-
aussetzt. Gott kann daher in jedem Beliebigen, was
Größe hat und eine beliebige Größe hat, ganz und un-
geteilt sein und wirken.
^ Ich unterlasse es hier, die religiösen Akte zu kennzeichnen, die der reli-
giösen Erfassung dieser Attribute Gottes entsprechen. Möglich ist dies sehr
wohl. Alle Liebe zu einem (tatsächlich) und einzigen Individuum ist eine
Analogie zur besonderen Färbung der Gottesliebe, in der wir die absolute
Einzigkeit Gottes besonders klar religiös erfassen. Alle Akte des mensch-
lichen Geistes, in der er eine Fülle ihm zeitlich nacheinander zugegangener
Erfahrungen und Erkenntnisse zur Einheit einer ungeteilten Tat- oder
Werkwirksamkeit resp. zur Einheit einer Intuition zusammenfaßt, sind eine
Analogie für die Ewigkeit des Geistes. »Geschichte«, — nicht als geschicht-
liches Wissen genommen — sondern als Geschichtlichkeit des Lebens ist
ein Drang zur natürlichen Verewigung. (Vgl meine theoretische Auffassung
des Erinnems in »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert-
ethik«.) Alle Überwindung der den Tieren noch zukommenden Hierjetzt-
gebundenheit durch das Denken im Laufe der Entwicklung der Zivilisation
ist ein fortschreitendes analogisches Abbild der Ubiquität Gottes.
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Probleme der ReHgion. ^ß I
Also ist Gott, der schon als Ens a se unendlich, ein-
heitlich und einfach ist, in seiner attributiven Bestimmung
als Geist auch einzig, aetern, der Ubiquität teil-
haftig und unermeßlich. Endlich hat Gott Allgegen-
wart: Die »Immanentia Dei in Mundo« gehört zum
Wesen Gottes. Gott ist in allem Daseienden, soweit es ist.
Alles Dasein hat teil an seinem Sein und ist nur durch
dieses Teilhaben eine Welt.
Die Allgegenwart erschöpft sich nicht darin, daß Gott
Alles wirkt (schafft und erhält), über Alles Macht hat und
Alles weiß. Sie liegt vielmehr seiner Allmacht über alles
und seiner Allwissenheit als Bedingung zugrunde. Das
Wissen von Etwas wie die Macht über Etwas sind ja nur
spezifizierte Arten der Teilnahme eines Seins an einem An-
deren. Gott ist in Allem seinem Wesen und Dasein selber
nach, und nur darum vermag er Alles zu wissen und über
Alles Macht zu haben. Nicht aber gilt, daß auch Alles in ihm
sei (Panentheismus und akosmistischer Pantheismus), nicht
gilt eine Immanentia Mundi in Deo. Denn die Welt ist der
Realität nach von Gott verschieden,und nur weil Gott unend-
licher Geist ist, vermag Gott gleichwohl in *Allem zu sein.
Wie die Unendlichkeit des Sdns Gottes (folgend aus
seiner Urbestimmung eines Ens a se) sich unter der analo-
gischen Bestimmung des Geistes begriffen, sich also diffe-
renziert, so differenziert sich auch Gottes Verhältnis zur
realen Welt, wenn wir ihn als Geist analogisch erfassen.
Die AUursächlichkeit — wie sie im formalsten religiösen
Akte erlebt gegeben war — wird im Erfassen der Geistig-
keit Gottes »Schöpfung«, und im selben Akte wird
sein Offenbarwerden in den endlichen Dingen eine Offen-
barung, d. h. Folge eines Sichoffenbarens.
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^1 2 Probleme der Rdigion.
Es sind aber die geistigen Wesen ak solche — welche
Rangordnung ihrer es auch gebe — , die darum ebensowohl
die ersten Schöpfungen Gottes sind als die ersten
Empfänger seinesSichoffenbarens als unendlicherGeist.
Sie sind sich selbst als solche wissende Abbilder und
Spiegelbilder der Gotdieit gegeben.
Darum wird auch der menschliche Geist im religiösen
Akte des Gottglaubens in einer zwiefachen Beziehung
zum göttlichen Geiste erlebt: als gottgewirktes und
stetig erhaltenes Werk und seinem Sosein nach als
die erste natürliche Offenbarung Gottes als unend-
licher Geist. Es ist also nicht bloß ein objektiv-reales
Kausal Verhältnis zwischen unendlicher und endlicher Ver-
nunft, das nur geurteilt wurde, um das es sich hier han-
delt. Vielmehr erlebt sich der menschliche Geist als erste
Kreatur Gottes auf dem Hintergrund des schon vorher-
gehenden Kreaturbewußtseins aller endlichen Dinge und
zugleich als dauernd in ihm wurzelnd und in ihm »grün-
dend« und im Vollzug seiner Akte von ihm bewegt^. Das
bloße Kausalurteil würde also für das religiöse Verhältnis
des menschlichen Geistes zum göttlichen gar nichts be-
deuten — so wichtig es für die Metaphysik ist. Und ana-
log bedeutet die religiöse Auffassung des menschlichen
Geistes als erster natürlicher Offenbarung Gottes nicht nur,
daß der menschliche Geist gleich einem getrübten Minia-
turbilde des göttlichen Geistes diesem Geiste »gleiche«.
Es handelt sich im religiösen Akte um mehr als um dies Re-
lationsurteil. Es handelt sich um ein Relationserlebnis, um
das Erlebnis des Abglanz- und lebendigen Spiegelseins
' Die »Person« ist also selbst natürliche Offenbarung Gottes und die höchste
natürliche Offenbarung.
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Probleme der Religion. ^^j
des menschlichen Geistes im Verhältnis zum göttlichen.
Nicht nur per lumen Dei cognoscismus omnia, sondern
zugleich in lumine Dei. Der Religiöse erfaßt^ es erlebnis-
mäßig — nicht nur durch Urteil — es sei der mensch-
liche Geist nur ein Abglanz, die erste und ebenbildliche
Schöpfungsspur des Schöpfers aller endlichenDinge. Oder:
der Religiöse gelangt in der religiösen Sammlung und bei
Selbstvertiefung in die Wurzel seines geistigen Wesens
schließlich in die fühlbare Nähe einer Stelle, wo er seinen
Geist, vom Geiste^ Gottes »umhegt,« »gespeist«, »in ihm
gegründet«, »von ihm gehalten«, unmittelbar anschaut —
ohne darum auch nur im entferntesten das Relationsglied
»Göttlicher Geist« selber mit wahrzunehmen. Die Eben-
bildlichkeit mit Gott ist also dem menschlichen Geiste —
ohne daß er das Urbild selbst auf natürliche Weise zur
Feststellung dieser Ebenbildlichkeit gewahren müßte —
selbst eingeschrieben und zwar seinem Sein. Und dieses
Sein ist selbst — wie bei den Akten des Geistes im
Gegensatze zu psychischen Zuständen und Geschehnissen
— schon Wissen um sich, wenn auch nur potentielles
Wissen. Denn auch das Aktzentrum des menschlichen
Geistes — die Geistesseele — ist ja im Unterschiede zum
actus purus immer auch Aktpotenzzentrum.
Dieses sehr eigenartige Grundphänomen, in dem der
menschliche Geist auf religiöse Weise vom göttlichen
Geiste »weiß« und erst in diesem Wissen sich selbst voll
besitzt — also auch Gott besitzen muß, wenn er nur sich
ganz besitzen und seiner ganz mächtig sein will — kann
' Auch dieses Sich wurzelnd-, Sichbewegt- und Sichgegründetwissen ist keines-
wegs bloß ein Spezialfall der Kausalität des allgemeinen sog. concursus Dei,
der für j e g 1 i c h e s Wirken der Dinge aufeinander (innerhalb der sog. causae
secundae) anzunehmen ist.
28
Digitized by VjOOQ IC
^24 Probleme der Religion.
in der Charakteristik überaus leicht verfehlt werden —
und es ist kein Wunder, daß die größten Geister jahr-
hundertelang mit der Sprache gekämpft haben, es treffend
auszudrücken.
Eine ganz rohe, mit sinnlichen Analogien spielende
Auffassung der Relation ist die pantheistische Auffassung.
Sie läßt das Allicht des götdichen Geistes nicht nur auf
geheimnisvolle Weise in den menschlichen Geist hinein-
strahlen, sondern macht den menschlichen Geist selber
zu einem Teil, einem Strahl, einer Funktion des
götdichen Geistes. Averroes, Spinoza, Fichte, Hegel,
E. V. Hartmann — so verschieden sie diesen Gedanken
ausgestalten, — sie sind doch in ihm einig. Sie bemerken
nicht, daß sie eben damit, daß sie die Relation der Ähn-
lichkeit zur Identität zu steigern meinen, selbst die Ähn-
lichkeit vernichten. Denn soll der menschliche Geist auch
nur ähnlich sein dem göttlichen Geiste, so muß er dem
göttlichen Geist auch gleichen in Hinsicht auf die Selb-
ständigkeit desSeins und dieFreiheit und Spontaneität
der Aktion. Diese Bestimmungen des Geistes aber ver-
schwinden sofort ins Nichts, wenn nicht der Mensch selbst
denkt, sondern nur »Gott in ihm denkt«. Oder, wenn —
wie Hegel und Hartmann sagen — Gott sich Seiner
selbst erst im Menschen bewußt wird. Sie bemerken
femer nicht, daß sie gerade in der scheinbar innigsten
Anteilnahme, die sie durch diese Identitätslehre dem
Menschengeiste am Geiste Gottes zu geben wähnen,
eine furchtbare Kluft zwischen ihm und Gott auf-
reifSen. Denn ist Irrtum, Schuld und Sünde nicht eine
Folge freier Abweichung des menschlichen Geistes
von den in ihn hinein leuchtenden ewigen Gesetzen des
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Probleme der Keligion. 435
göttlichen Geistes, so könnte sie einmal eine Folge davon
sein, daß es nicht der ganze Geist Gottes ist, der in
jedem Menschen wirkt, sondern nur ein Teil, eine Funk-
tion; dies hieße die Einfachheit Gottes aufheben. Oder
sie konnte sein eine Folge davon, daß der göttliche Geist
eine Verknüpfung mit einem endlichen Leibe eingeht;
dann sind Irrtum, Sünde und Schuld notwendige und
essentielle Attribute des Menschen, für die es weder
aktive Überwindung noch Erlösung durch Gott geben
kann. Eben dann also besteht eine Wesenskluft zwi-
schen dem notwendig irrenden, schuldigen und sündigen
Menschen und dem Geiste der Wahrheit und der Güte.
Eine innere Annäherung an Gott durch Sdbstheiligung
ist dann unmöglich. Das Böse und die Sünde werden
dann schon in den Tatbestand der leiblichen Triebregung
selbst verlegt. So wird hier jedes vermeintliche Mehr ein
Zuwenig. Die ganze Glut der Liebesbewegung zu Gott hin
wird hier von Anfang an gebrochen, indem an ihre Stelle
das bloße vermeinte Wissen tritt, man sei ja schon eine
Fimktion Gottes oder ein Teil von Gott. Gott hat sich
in Christo nicht in erlösender Tat — durch Wesensmit-
teilung — ziun Menschen herabgelassen, sondern Christus
hat nur die Gottmenschheit zuerst in sich erkannt. Das
Wunder der mystischen Gotteseinigung, diese immer
neue Auflösung der Spannung von Distanz und Nähe
des Menschen zu Gott wird — indem die Distanz aus dem
Verhältnis ganz herausgenommen wird — zur platt natu-
ralistischen »Verschmelzung« im materiellen Sinne. Das
Geheimnis aller Liebe der Menschen untereinander be-
steht in der allen naturalistischen Bildern widerstreitenden
Kraft, die freie, selbständig wirkliche Personen als Geist-
28*
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4^6 Probleme der Religion«
wesen besitzen, ihren individuellen Wesenskem in sich
gegenseitig aufzunehmen und je in sich selbst emotional
zu bejahen — ohne doch dabei ihre selbständige Reali-
tät zu verlieren — im Gegenteil vielmehr erst ganz sich
selbst dabei zu gewinnen. Im Pantheismus dagegen
wird die Liebe ihrer moralischen Aktivität und ihres
Sinnes, die Einigung Zweier zu sein entkleidet; denn
sie wird bloße Erkenntnis, es gäbe in Wahrheit gar
keine wahre Vielheit selbständiger individueller
Geister, — die bloße Aufhebung der Täuschung der
Zweiheit; ja es gäbe nur einen unendlichen Egoisten, der
sich selbst durch die Geschöpfe hindurch genießt, wenn
Geschöpfe sich nicht zu genießen, sondern zu lieben und
wenn sie sich — nicht Gott — zu lieben meinen. Ein ge-
gliedertes Liebesreich mit selbständigen wirklichen Zen-
tren schmilzt hier zusammen zum vagen Bilde einer unter-
schiedslosen Masse*. Nicht minder wird die Ehrfurcht vor
dem göttlichen Geiste — ohne die es ein religiöses Ver-
hältnis zu ihm nicht geben kann — durch diese partielle
Identifizierung aufgehoben.
Aber nicht weniger wie im Pantheismus wird das Ver-
hältnis verfehlt, wenn nur ein nach dem Prinzip der Kau-
salität erschlossenes Kausalverhältnis zwischen gött-
lichem und menschlichem Geiste angenommen wird. Dies
ward schon gezeigt. —
Es war bei der bisherigen Begründung des Satzes:
»Gott ist Geist« von der Beschaffenheit und Einriditung
der Wel t — wenigstens der Welt abgesehen vom mensch-
* Vgl. meine phänomenologische Analyse der Liebe und des Mitgefühls in
dem Buche »Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle« und
die Zurückweisung des Satzes: »Fremdliebe der Teile bt Selbstliebe des
Ganzen«. Dieser Satz liegt allen pantheistischen Liebestheorien zugrunde.
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Probleme der Religion. ^37
Kchen Geiste — nicht die Rede. Und es war ebensowenig
bisher die Rede von den verschiedenen Richtungen des
menschlichen Geistes, seinen Aktformen, Aktqualitäten
wie Denken, Erkennen, Lieben, Wollen usw.
Die Erkenntnis der Welt ohne Kenntnis der Geistig-
keit der menschlichen Seele als des ersten, unmittel-
barsten und seinem Schöpfer adaequatesten Schöp-
fungswerkes würde niemals genügen, uns Gott als
Geist erkennbar zu machen; wohl aber genügt diese
Geistigkeit ohne die Setzung der außergeistigen Welt.
Eine Seele also würde genügen Gott als Geist erkenn-
bar zu machen. Die Welt würde dazu nicht genügen.
Selbst wenn wir den Begriff Geist besäßen, würde eine
ordnende Kraft oder eine Vergöttlichung der »Ordnung«
genügen, um uns das Dasein der Welt verständlich zu
machen. Dieser Begriff steht aber weit ab von dem des
personalen Gottes, der Geist ist und nicht nur Vernunft,
d. h. eine konkrete Einheit aller Wesensrichtungen des
Geistes (also auch Liebe, Wertbewußtsein usw.) Erst die
in der gesamten Noetik (Erkenntnistheorie und Wesens-
ontologie, Wertungstheorie und Wesensaxiologie, Willens-
theorie und ontischer Wesensteleologie usw.) zu gebende
Einsicht in die Wesensverhältnisse von den Formen und
"Funktionsgesetzen des menschlichen Geistes (seiner Es-
senz nach) zu den Formen des objektiven Seins, Sinnes,
Wertseins, Zweck — Mittelseins kann uns in der natürlichen
Erkenntnis der Geistigkeit Gottes weiterführen. Nicht
aber vermag es ein direktes Studium der tatsäch-
lichen Welt und ihrer Einrichtung. Für unsere Er-
kenntnis (wenn auch nicht an sich) ist also zwischen der
Geistigkeit Gottes und der Welt kein direkter Zusam-
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AxS Probleme der Religion.
menhang, sondern ein Zusammenhang nur durch die
Vermittlung der Wesens erkenntnis des menschlichen
Geistes und seines Zusammenhangs mit der objektiven
Wesenskonstitution der Welt. Weil die Welt mit den
Grundformen des menschlichen Geistes in Wesensbe-
ziehung steht, der Geist aber ursprünglichsten Spiegel
seines Schöpfers, und zwar dieses Spiegelseins sich selbst
bewußter Spiegel ist, muß auch die Welt (wie immer
ihre Beschaffenheit sein mag) das Werk einer geistigen
Ursache sein. Die außergeistige Welt für sich genommen
würde uns^ fuhren zur Annahme einer nach Vemunft-
gesetzen leitenden und immer mitwirksamen Kraft, die
bei Ursprung und Fortgang der Welt tätig ist, nicht aber
eines Agens, das aus Vemunftgesetzen wirkt; sie würde
nicht ausschließen, daß neben und außer dieser über-
mächtigen (indes nicht notwendig allmächtigen und un-
endlichen) Kraft auch noch ein zweites gleich ursprüng-
liches Grundprinzip (eine blinde Energie oder eine ewig
und gleichursprünglich wie Gott bestehende Materie) ihr
zu Grunde liege, d. h. der Dualismus (wie ihn z. B. die alte
Religion der Perser und das Manichäertum lehrte) wären
nicht ausgeschlossen; im Gegenteil sie wären wahrschein-
lich^. Der Schöpfungsgedanke, in dem AUursächlichkeit des
Ens a se und Geistigkeit in die Einheit einer Idee gebunden
ist, setzt voraus, daß die wenigstens relativ schöpferische
Kraft des menschlichen Geistes im wertebildenden Wollen
(als dem einzigen Orte, an dem nicht nur ein Umbilden,
sondern ein freies Bilden, nicht nur ein Sichfortpfianzen
* Vgl. hierzu Chr. v. Ehrenfels: «Kosmogenic«, E. Diederichs, Jena.
' Eine gewisse Erneuerung des Manichäismus sind die metaphysischen
Lehren des älteren Schelling und des an sie anknüpfenden E. v. Hartmann.
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Probleme der Religion. 439
und Wachsen, sondern ein wahrhaftes »Schaffen« über-
haupt vorliegt) zuvor erlebt und gegeben war — um
dann in formal absoluter und unendlicher Weise auf
Gott übertragen zu werden.
Es bleibt daher Augustins Lehre im Prinzip richtig, daß
die religiöse Erkenntnis Gottes als Geist nicht abhängig
ist von einer vorhergehenden Setzung der Existenz und
ebensowenig von einer Erkenntnis der Beschaffenheit der
außergeistigen Welt; daß wir also Gott als Geist nicht in
lumine mundi, sondern umgekehrt die Welt in lumine Dei
erkennen.
Es gilt aus diesem Grunde methodisch der Satz, daß
wir die Welt und ihre Schicksale so zu erkennen und zu
denken haben, daß der unabhängig von ihrer Existenz-
setzung und Beschaffenheitserkenntnis schon evidente,
wahre und gültige Satz von der Geistigkeit ihres gött-
lichen Urhebers auf alle Fälle wahr bleibt. Auch das volle
Vertrauen in die Erfassungskraft der in sich evidenten
formalen und materialen Wesenszusammenhänge durch
unsere Vernunft, auf Grund deren wir alle Welterkenntnis
— ja schon die Setzung einer bewußtseinstranszendenten
Welt selbst — ausüben, setzt voraus, daß wir unsere
endliche Vernunft wurzelnd wissen und erleben in einer
unendlichen Vernunft, aus der die endliche Vernunft wie
ihr Gegenstand stammt.
Damit erst wird auch unsere Überzeugung von der
Geistigkeit Gottes überhaupt so unabhängig von allen
möglichen Erschütterungen unseres Weltbildes, daß keine
dieser Erschütterungen ims an dieser Überzeugung je irre
machen oder uns in schlechthinige Skepsis bezüglich der
Erkennbarkeit der Welt durch den menschlichen Geist
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^40 Probleme der ReUgion.
reißen kann. Jede Erschütterung — auch die tiefste —
kann uns dann viebnehr nur ein Motiv werden, uns ein
angemesseneres Wehbild zu schaffen.
Wenn uns daher die Wesensbeschaffenheit der außer-
geistigen Welt über die Geistigkeit Gottes etwas lehren
soll, so kann es nicht diese Geistigkeit selbst, sondern
nur die Art der Geistigkeit Gottes sein, über die sie uns
etwas lehrt. Und auch das ist nur möglich, wenn die on-
tische Wesensgliedenmg des Universums immer betrach-
tet wird im Zusammenhang mit der aktmäßigen Wesens-
gliederung des menschlichen Geistes.
Ehe ich mich zu dieser Bestinunung der Attribute des
göttlichen Geistes wende, soll aber über die Art des
Wachstums unserer Erkenntnis der Geistigkeit Gottes
einiges gesagt sein.
4. Wachstum und Abnahme der natürlichen
Gotteserkenntnis
Unser Geist besitzt weder eingeborene noch ange-
borene Ideen. Auch die Idee Gottes ist nicht eingeboren.
Sogar die Idee des Ens a se setzt die Erkenntnis irgend-
eines kontingenten Seienden voraus und wird nur an sol-
chem Beispiel als evidente Bedingung jeglichen kontin-
genten Seins erschaubar. Daß die geistige Seele des
Menschen ein Abbild und Spiegel der Geistigkeit Gottes
ist, setzt durchaus nicht mit, es sei ihr darum auch die
Idee eines unendlichen Geistes eingeboren. Auch das
Wissen um jene Abbildlichkeit iist ihr nicht eingeboren.
Sie erwirbt es erst in der angegebenen Weise durch Re-
flexion auf ihr Wesen und den geschilderten religiösen
Akt der Erfassung Gottes als des Geistes, in dem sie
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Probleme der Religion. ^^ I
gründet. Nicht durch eine Idee, sondern durch ihr Sein
und Leben selbst, ist sie in Gott eingewurzelt. Und nur
weil alles Sein des Geistes qua Geistes immer auch
potentielles Wissen um sich selbst ist — nicht weil sie
eine eingeborene Idee Gottes besäße — , ist mit ihrer
Ähnlichkeit auch ein unmittelbares Sichähnlichwissen
potentiell gesetzt. Nur die Potenz religiöser Akte als
besonderer Aktklasse, dadurch sie sich religiöses Wissen
erwerben kann, ist mit ihrem Sein selber gesetzt.
Nur weil es keine eingeborene Idee Gottes gibt, gibt
es prinzipiell unbegrenztes Wachstum der natür-
lichen Gotteserkenntnis in den immer neuen Erwer-
bungsakten der Geschichte des menschlichen Geistes.
Durch die besonderen Bedingungen dieses Erwerbens (im
besonderen durch die Eigenart der Träger der erwerben-
den Akte, nach Volks-, Rassen-, National-, Geschichts-
bestinuntheit und die besonderen Erfahrungskreise dieser)
erstehen aber auch sehr verschiedenartige Resultate des
natürlichen Gotterkennens, also eine Mannigfaltigkeit
natürlicher Religionen.
Sowenig wie eingeborene Ideen gibt es ursprüngliche
synthetische Funktionsformen und Funktionsgesetze des
menschlichen Geistes ( > Kategorien « im Sinne Kants), durch
welche einem ordnungsfreien »Stoff« von Gegebenem (nach
Kant »Empfindungen« und Triebimpulsen) die gegen-
ständlichen Formbestimmtheiten des Seienden erst aufge-
prägt würden. Unser Denken und Erkennen vermag nichts
zu »schaffen«, zu »produzieren«, zu »formen« — es seien
denn Ficta und Zeichen. Sowohl der ordnungslose, gestalt-,
formfreie Empfindungsstoff wie die nirgends vorfindbaren
Funktionen gesetzlicher Synthesis (Kategorialfunktionen)
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AA2 Probleme der Religion.
sind pure sich gegenseitig bedingende Erfindungen Kants.
Die Formeinheiten, die Kant als Beispiele seiner »Kate-
gorien« aufführt und noch viele andere, die er nicht auf-
fuhrt, sind vielmehr Gegenstandsbestimmtheiten, die
zum »Gegebenen« selbst gehören: so Substanz und Kau-
salitäti die Relationen, die Gestalten usw. Unset>gegebe-
ner Anschauungsgehalt ist eben unvergleichlich viel rei-
cher als der Teilgehalt, der einem puren (d. h. nur reiz-
bedingten) Empfinden und innerhalb seiner den verschie-
denen Modalitäten des Empfindens entspräche. Und auch
dieser »Teilgehalt« ist nie ein realer Teil des Gegebenen,
sondern ein fictives Vergleichsprodukt im Vergleich je ein-
heitlicher intentionaler Wahmehmungsakte, deren funk-
tionelle Komponenten variieren, wenn die Reize konstant
gehalten werden.
Der Schluß der aus beiden Sätzen (Gegebenheit auch
der Formen und Mitgegebenheit möglicher Empfindungs-
inhalte nur so weit und in den Grenzen, als sie der einheit-
lichen Wahmehmungsintention Erfüllung imd Ausfüllung
zu geben vermögen) zu ziehen ist, lautet: daß unser Geist
mit den Dingen in einem Kontakt steht, der an sich un-
vermittelt ist durch die Sinnesorganisation unseres Lei-
bes, und der gegenüber der Vielheit der sinnlichen Funk-
tionen ein ursprünglicher und einheitlicher ist. Die
Sinne zerlegen nur diesen Kontakt unseres Geistes auf
mannigfaltige Weise. Sie sind nicht Schöpfer, sondern nur
Analysatoren der geistigen einheitlichen Totalanschauung
derWeltgegebenheit und zwar Analysatoren nach Maßgabe
der biologischen Reizwerte der Dinge, dadurch sie lebens-
nützUche und -schädliche Bewegungsreaktionen desjenigen
Organismus einzuleiten vermögen, der zu der geistigen
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Probleme der Religion. 443
Person als dem Subjekte der Anschauung gehört. Dahin-
gegen ist die Voraussetzung der Erkenntnistheorie Kants
und seiner Nachfolger, es müsse alles, was am Gegebenen
der Erfahrung über den »zuvor gegebenen« Empfindungs-
inhalt hinausreicht (die Czegenständlichkeit, das Sein, das
Realsein, die Einheitsformen der Substanz und Kausalität,
die intuitiven Mannigfaltigkeitsgegebenheiten, die Raum,
Zeit, Größe, Menge, Zahl zugrunde liegen, die Relationen,
Gestalten, die Werte usw.) durch die Tätigkeit des
menschlichen Cxeistes erst hervorgebracht oder hinein-
gebracht worden sein, ganz ungegründet. Sie ist geradezu
des nQCürtm ipevdog seiner Philosophie. Der menschliche
Geist besitzt diese weltkonstruktive Kraft, die ihm Kant
beilegt, keineswegs. Diese Vorstellung verwechselt ihn
mit dem göttlichen Geiste. Auch das Wollen und Han-
deln, das allein zu produzieren vermag, kann in seiner
wahren Bedeutung gar nicht mehr gesehen werden, wenn
schon dem Erkennen und Denken eine schaffende Kraft
beigelegt wird^.
Aber so falsch diese beiden Formen der alten Lehre
vom »Apriori« sind — die Lehre der ein- und angeborenen
Ideen und die Lehre von den synthetischen Kategorial-
funktionen — so muß doch in ganz anderer Form die
große Unterscheidung von. Apriori und Aposteriori auf-
rechterhalten werden: als eine Unterscheidung im Ge-
y halte des Gegebenen selbst.
^ Sieht man sich unsere Kantianer, Fichteaner usw., kurz ^Ue jene, die das
Erkennen »formen«, »pzpduzieren«, »gestalten« lassen, näher an, so be-
merkt man bald, daß gerade ihnen aller praktische Weltkontakt meist
völlig fehlt. Kein Wunder! Was brauchen sie zu wollen, zu handeln, zu
formen, zu gestalten, da sie ja schon durch Erkennen leisten zu können, ja
zu müssen glauben, was Sache ausschließlich des Wollens und Handelns
'st. Ihr erkenntnistheoretischer Voluntarismus hebt echtes Wollen auf.
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444 Probleme der Religion.
Apriori ist am Gegebenen der Anschauung Alles, was
der puren Was- und Wesenssphäre angehört, d. h. der
Inbegriff aller derjenigen unter Abstreifung der Daseins-
modi gewonnenen Soseinsbestimmtheiten der Gegen-
stände, die als Sosein undefinierbar sind, die jeder
Definitionsversuch also bereits voraussetzt. Diese We-
senheiten sind darum nur »erschaubar«. Aposteriori ist
dagegen alles andere Gegebene möglicher Anschauimg.
Und es gilt nun der Satz, der das Verhältnis zwischen
Wesenstatsachen und zufälligen Tatsachen regelt, daß
alles Wahre, was vom Wesen eines Gegenstandes gilt,
auch für alle möglichen Gegenstände dieses selben Wesens
schlechthin gilt — ohne daß eine Induktion an diesen
Gegenständen uns dieser Geltung erst zu versichern hätte^.
Die kategoriaJen Seinsformen sind dann nur diejenigen
Wesenstatsachen, die das Real-Sein der Gegenstände in
Grundarten des Realseins (oder Werdens) zerlegen. Sie
bilden also nur einen Teil, aber auch einen Teil des
Apriori — den formalen Teil und zwar den formalen
Teil, der nicht die Gegenstände überhaupt, sondern die
Arten des Realseins der Gegenstände angeht. Gegenüber
stehen ihnen die absolut formalen Wahrheiten der reinen
Gegenstandslehre,d. h. diejenigen die fiir Alles gelten, sofern
es das Wesen der Gegenständlichkeit besitzt; femer die
material apriorischen Wahrheiten, die für die Was-
und Inhaltsbestimmtheiten der realen Gegenstände gelten.
Das Wissen um einen apriorischen Gegebenheitsge-
halt ist nun weder eingeboren noch auch seinem Gehalt
' Nicht von Erfahrung und Anschauung der Gegenstände überhaupt, son-
dern nur von der Quantität der Erüahrung ist das apriori G^ebene unab-
hängig.
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Probleme der Religion. 445
nach ein pures Erzeugnis des Geistes, sondern es ist an sich
genau so »receptio« wie jedes Wissen eines Gegebenen.
Das Wissen um das Apriori ist also selbst keineswegs
auch apriorisches Wissen. Wohl aber ist es ein Wissen,
das obzwar aposteriori, aber darum nicht inductiv ge-
wonnen, apriori für alle Gegenstände in Geltung steht
(auch für die mir jetzt oder auf irgendeiner Stufe meines
Erfahrungswissens unbekannten, ja eventuell unerkennba-
ren), sofern sie nur Gegenstände solchen Wesens
sind. Somit ist eine evidente Einsicht in alles, was apriori-
wesenhaft ist (seien es einzelne Wesenheiten, Wesenszu-
sammenhänge oder Wesensstrukturen) durch (induktive)
Erfahrung des zufallig Tatsächlichen weder beweisbar noch
zerstörbar oder widerlegbar.
Daraus geht die erste wichtige Eigenschaft aller Wesens-
erkenntnis hervor; daß sie, einmal in der Geschichte ge-
wonnen, durch alle folgende Erfahrung nicht wieder in
Frage gestellt und modifiziert werden kann — im Unter-
schied zu aller Erkenntnis von zufälligen Tatsachen und
damit auch von gesetzlichen Beziehungen zwischen zu-
fälligen Tatsachen. Nur Bereicherung und Wachstum
der Wesenserkenntnisse (d. h. immer neues Hinzutreten
von Wesenserkenntnissen zu alten) und immer neue Ver-
knüpfung der Wesenserkenntnisse untereinander sind mög-
lich. Femer ist möglich, daß eine gewonnene Wesenser-
kenntnis in der Geschichte wieder verloren gehe und so
wieder neu zu entdecken ist.
Damit verbindet sich eine zweite Eigenschaft, die zu
den noch am wenigsten durchschauten Eigenschaften der
Wesenserkenntnisse gehört: Die Wesenserkenntnis
funktionalisiert sich zu einem Gesetz der bloßen
Digitized by VjOOQ IC
4^6 Probleme der Religion.
»Anwendung« des auf die zufälligen Tatsachen
gerichteten Verstandes, der die zufällige Tat-
sachenwelt »nach« Wesenszusammenhängen »be-
stimmt« auffaßt, zerlegt, anschaut, beurteilt.
Was vorher Sache war, wird Denkform über Sachen;
was Liebesobjekt war, wird Liebesform, in der nun eine
unbegrenzte Zahl von Objekten geliebt werden können;
was Willensgegenstand war, wird WoUensform U5w. Wo
immer wir z. B. schließen nach einem Schlußgesetz,
ohne »aus« ihm zu schließen, einer ästhetischen Regel
gehorchen (wie der schaffende Künstler), ohne auch nur
im entferntesten diese Regel selbst in der Weise eines
formulierten Satzes im Geiste zu haben, treten Wesens-
einsichten »in Funktion« — ohne daß sie selbst dabei
explicite dem Geiste vor Augen ständen. Nur an dem
Erlebnis der Unrichtigkeit, der Abweichung von einem
Gesetz, das wir dabei als Gesetz nicht bewußt im Geiste
haben, kommt es uns dann zum dämmernden Bewußt-
sein, daß uns eine Einsicht führte und leitete; wie es
z. B. auch stattfindet bei allen Gewissensregungen, die
mehr Einspruch erheben gegen Falsches als daß sie aus
sich heraus das Gute aufwiesen — hinter denen aber doch
eine positive Einsicht in das Gute und in ein positives
Ideal unseres individuellen und allgemein-menschlichen
Lebens steht. Indem Wesenseinsichten sich also »funktio-
nalisieren« findet eine Art wahren Wachstums des
menschlichen Geistes sowohl im Einzelleben als im
Laufe der Geschichte (durch die Vermittlung nicht der Ver-
erbung, sondern der Tradition) statt, das von allen bloß
durch Einwirkung auf den menschlichen Organismus und
seine Sinneszonen erworbenen und etwa vererbten Fähig-
Digitized by
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Probleme dfer Religion. 447
keiten, femer von aller bloß psychologisch- verständlichen
Genese (nach Assoziationsgesetzen, Übüngsgesetzen, psy-
chischen Vitalgesetzen) wesens^erschieden ist. Ein
Werden und Wachsen der Vernunft selbst, d. h. ihres Be-
sitztums an apriorischen Auswahl- 'und Funktionsgesetzen,
wird uns durch die Funktionalisierung der Wesens-
einsicht verständlich. Und es wird uns damit gleich-
zeitig verständlich der Schein, der Kant zu der berühm-
ten Annahme verführte, es besitze die menschliche Ver-
nunft schlechthin ursprüngliche, schlechthin unveränder-
liche und unvermehr- wie unverminderbare Funktionsge-
setze (Kategorialfunktionen, Grundsätze usw.), durch die sie
aus einem Chaos von Gegebenem die zusammenhängende
Erfahrungswelt erst synthetisch konstruiere, während
ein schlechthin unerkennbares Ding an sich hinter dieser
Erscheinungskonstruktion liegen bleibe. Demgegenüber
behaupten wir, daß alle Funktionsgesetze auf ursprüng-
liche Cjegenstands-Erfahrung, aber auf Wesenserfiathrung
resp. Wesensschau zurückgehen, daß aber gleichwohl
diese Erfahrungsart von aller »Erfahrung« von zufälligen
Tatsachen, — die immer wesensgesetzlich auch Sinnes-
erfahrung ist — grund- und wesensvertchieden igt. Auch
den Kantischen Satz von der logischen Identität^ des
vernünftigen Geistes bei allen Menschengruppen (Rassen,
Kulturkreisen, Völkern etc.) bestreiten wir daher, so-
weit er über die rein formalen Geistesfunktionen resp.
* Noch schärfer weisen wir zurück die sich über J. G. Fichte bildende, bei
Hegel völlig deutliche Lehre einer realen Identität der Vernunft (Weltver-
nunft) in allen Menschen, eine Lehre, durch die der schon bei Kant ange-
legte pantheistische Averroismus vollständig wurde. Wir setzen vielmehr
diesen Lehren eine pluralistische Anschauung auch von den ursprünglich-
sten Besitztümern des vernünftigen Menschengeistes entgegen.
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448 Probleme der Religion.
ihre Gesetze hinausgeht, deren Identität überdies selbst
erst aus der Identität derselben formalen Gegenstands-
wesen begreiflich ist, welche die ursprünglichsten und ein-
fachsten Wesenseinsichten betreffen. Denn da die Tat-
sachenkreise von »matter of fact« für alle Menschen und
Gruppen verschiedene sind, so können — unbeschadet
der Apriorität, Evidenz und geltungsmäßigen Unzerstör-
barkeit der gewonnenen Wesenseinsichten — auch die
Gruppen derWesenseinsichten verschiedener Sub-
jekte (Völker, Rassen usw.) verschiedenartige sein.
Ihr Cjeltungswert wird dadurch nicht um eine Spur ge-
ringer, ihre apriorische Geltungsart wird nicht im gering-
sten verletzt, ihr streng objektiver Charakter nicht ge-
schmälert. Denn eben wenn ein Wesensreich existiert, das
die Verfessung bildet für alle möglichen Welten und Wirk-
lichkeiten von matters of fact (nicht nur für unsere Welt
des möglichen Menschenmilieu), so ist es — da der Zu-
gang zu diesem Reiche von den zufalligen Tatsachen her
für jeden Menschen, besonders aber für die grofSen Grup-
pen der Menschheit, ein verschiedener Zugang ist — so-
gar zu erwarten, daß auch die Geistesfunktionen und ihre
Gesetze, die durch Funktionalisierung der Wesensein-
sichten sich gebildet haben, verschieden geartet sind in
allem, was die rein formalen Grundbestimmungen der
Gegenstände als solcher übersteigt. Nicht weniger als die
logische (oder gar reale) Identität der geistigen Vemunft-
funktionen in allen gleichzeitigen großen Gruppen der
Menschheit bestreiten wir die gleichsam ewige Stabili-
tät der Menschenvemunft (die nur der göttlichen Ver-
nunft wahrhaft zukommt), die Kant in seinem Versuche
voraussetzt, diese Vernunft (zunächst theoretisch) durch
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Probleme der Religion. 44^
die Lehren der transzendentalen Ästhetik und der trans-
zendentalen Analytik (Tafel der Kategorien und Lehre von
der Deduktion der Grundsätze) wahrhaft auszuschöpfen.
Nicht nur der ganze Bereich der zufalligen Erfahrung ist
in fortgesetztem Wachstum begriffen, auch der mensch-
lich vernünftige Geist selber als Inbegriff aller apriorisch
giltigen Vemunftfiinktionen'und -gesetze wächst und ent-
faltet sich; — freilich so, daß seine je älteren Wachstums-
stadien durch das neue Stadium keineswegs je entwertet
werden. — Denn diese Entwertung fände nur statt, wenn die-
ses Wachstum nicht durch immer neue Hinzuerwerbung von
Wesenserkenntnissen und Funktionalisierung dieser Er-
kenntnisse auf Grund einer dem Geiste als solchem zukom-
menden ursprünglichen Richtung aufs Ewige und Göttliche
erfolgen würde, sondern durch bloße wechselnde »An-
passung« an das Natur- und positive Geschichtsmilieu des
Menschen. (So z. B. bei H. Spencer). Da der menschliche
Geist — in Individuo wie in der Gattung — also wächst
nicht nur in seinen Kenntnissen, sondern auch in seinen
Funktionen und Kräften, Kenntnisse zu sammeln, nicht
nur in seinen Werken und Leistungen, z. B. in^Kunst und
moralischer Lebenspraxis, sondern auch in seinen künst-
lerischen und moralischen Fähigkeiten, so ist an kei-
nem Punkte der Geschichte der vernünftige Menschengeist
vollständig, vielmehr immer nur unvollständig philo-
sophisch — auf allen Gebieten der Noetik — zu be-
stimmen. Femer ist das hier gemeinte Wachstum des ver-
nünftigen Geistes selbst — durch Funktionalisierung ur-
sprünglicher Wesenseinsichten — in keiner Weise be-
dingt durch eine Umbildung der Naturorganisation
des Menschen als leiblichen Organismus (einschließlich
29
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AKO Probleme der ReligioiL
der Gehirn- und Nervenorganisation) etwa so, wie A. Lange
und Herbert Spencer (unter Voraussetzung der Vererb-
barkeit erworbener Fähigkeiten) meinten.
Im Gegenteil läßt sich zeigen (was hier nicht gesdiehen
soll), daß eine auslösende Ursache für die selbständige,
autonome Entfaltung der menschlichen Geistes- Vernunft
als solcher (im Unterschiede von allem unmittelbar leib-
lich bedingten psychischen Dasein) eben die eminente
biologische Fixiertheit der menschlichen, als der diffe-
renziertesten Lebensorganisation ist. Eben weil der Mensch
die entwicklungsgeschichtlich »fixierteste Tierart« gemäß
dem allgemein biologischen Gesetze der steigenden Ab-
nahme von Entwicklungsfähigkeit (auch Restitutionsfahig-
keit) bei höherer Organisation ist, wurde er subjektiv
auch dazu angetrieben, die unbegrenzte objektive Ent-
faltungsfahigkeit seines vernünftigen Geistes durch Funk-
tionalisierung seiner Wesenseinsichten auch faktisch ins
Spiel treten zu lassen. Durch diese von der biologischen
grundverschiedene Art und Richtung seiner Entwick-
lung als Geistwesen gleicht er in weit erhabenerer Weise
das aus, was ihm an natürlicher Entwicklungsfähigkeit und
faktischer Entwicklung als natürliches irdisches Lebe-
wesen um des^ Preises seiner höheren Organisation willen
verloren gegangen ist.
Es braucht kaum gesagt zu werden, wie grundlegend
sich die hier vertretene Grundansicht von der Entfaltung
des Menschen unterscheidet nicht nur — wie wir eben
zeigten — von der Kantischen Identitäts- und Konstanz-
lehre der menschlichen Vernunft, sondern auch von solchen
Theorien, die solche Konstanz verwerfen und also eine
Theorie vom Werden und Wachsen der menschlichen
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Probleme der Religion. ^5 1
Vernunft vertraten. Solche Lehren sind z. B. die betref-
fenden Lehren Herbert Spencers und seiner Schule auf
dem Boden positivistisch -sensualistischer Erkenntnis-
theorie; femer auf dem Boden einer bis aufs Äußerste
verstiegenen rationalistisch -konstruktiven Geistes- und
Vemunftlehre die einschlägigen Lehren Hegels.
Spencer sah wohl ein, daß weder die alte Lehre von
den durch Gott dem Menschen unmittelbar eingeborenen
Ideen unser Fragebedürfnis befriedigen könne, noch der
gemeine individualistische Empirismus, der alle Prinzipien
und Gedankenformen durch den Einzelnen auf Grund von
Induktionen (sei es mechanisch assoziativ sich bildenden,
sei es bewußt methodischen) gewonnen sein läßt, noch
endlich die auf jede Werdelehre der Vernunft verzich-
tende Lehre Kants durchfuhrbar sei. Da Spencer aber
eine Unterscheidung zufälliger Sinneserfahrung und We-
sensanschauung, femer der zufälligen Tatsachen und der
ewigen Wesenheiten nicht kannte, da er nur einen gra-
duellen Unterschied anerkannte, wo ein qualitativer vor-
liegt, blieb er in der alten falschen Identifizierung des
Aprioriwissens und des (potenziell) angeborenen Wissens
hängen. Dem Individuum sollte angeboren sein, was die
Gattung langsam erworben hat — und die Prozesse des
Vemunftwerdens sollten unter dem hier ganz ungeeigneten
Begrifif der »Anpassung des Organismus an die Umwelt«
verständlich werden. Daß er die Vernunft und ihre ober-
sten Prinzipien — auf allen Gebieten, auch den ethisch-
praktischen — als gewordene und giltige schön voraus-
setzt, indem er den Gegenstand, an den diese Anpassung
erfolgen soll, bereits nach diesen Prinzipien denkt, be-
merkt er ebensowenig wie er beachtet, daß wir eine
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452 Probleme der Rdigion.
ideal vollkommene Anpassung der Reaktionen und des
praktischen Verhaltens des menschlichen Organismus
an seine Umwelt denken können, ohne daß auch nur
eine Spur von Erkenntnis des Gegenstandes der An-
passung stattfinden müßte; und daß umgekehrt bloße
Erkenntnis (wie auch bloße sittliche Güte der Person und
des Willens) für das Maß der Anpassung zu gar nichts
nütze sind.
In fast entgegengesetzter Richtung verkannte Hegel,
daß die Erwerbung von Wesenseinsicht nicht minder eine
Sache der Anschauung und Erfahrung ist (nur einer
grundsätzlich anderen Art als der Sinnes- und Induktions-
erfahrung); daß also von einem einheitlichen Entfaltungs-
prozeß der »Idee« durch die menschlichen Bewußtseins-
formen hindurch und nur gemäß einem dialektischen Ge-
setze, nach dem nur entfaltet und herausgewickelt werde,
was in der Idee »an sich« schon gelegen sei, im Ernste
keine Rede sein kann.
Bei Beiden gibt es keine ursprünglich verschiedenen ver-
nunftgestaltenden geistigen Prozesse der Wesensanschau-
ung; bei Beiden kein wahres Wachstum (resp. wahre Ab-
nahme) des vernünftigen Geistes selbst (nicht nur seiner
Anwendung und Übung in Erkenntnis der Welt). Und
das ist mit ein Grund, daß beide in ihrer geschichts-
philosophischen und soziologischen Lehre, d» h. in der An-
wendung dieser Geistestheorie durchaus in den engsten
Grenzen dessen, was ich anderenorts »Europäismus« ge-
nannt habe, eingeschlossen bleiben*.
* Vgl. den Abschnitt »Über die Einheit Europas« im Buche »Der
Genius des Krieges«. Vgl. auch H. Gomperz: • Weltanschauungslehre«
(E. Diederichs),
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Probleme der Religion. 453
Im Gegensatze zu diesen Anschauungen behaupten wir
ein Vemunftwerden durch Funktionalisierung von Wesens-
anschauung, und zwar ein so geartetes, das über den for-
malsten Gehalt dieser Wesensanschauungen hinaus inner-
halb der verschiedenen großen Gruppen der gegliederten
Menschheit zu verschiedenen Vemunftgestaltungen ge-
fuhrt hat; das femer zu wahrem Wachstum (und wahrer
Abnahme) der höheren und höchsten Geisteskräfte des
Menschen führen kann und tatsächlich geführt hat. Da —
um im Bilde zu reden — der menschliche Geist nicht nur in
verschiedene Teile der einen zufälligen »wirklichen« Welt
hineingeschaut und diese Teile vernünftig geformt und
gebildet hat, sondern von Hause aus auch in verschiedene
Teile der einen Wesenswelt, mußten auch seine rechts-
gültigen apriorischen Funktionsformen (durch Funktiona-
lisierung des Erschauten) verschiedenartige werden — was
doch keineswegs ausschließt, daß jeder dieser Ein- und
Durchblicke in und durch die Wesenssphäre des möglichen
Wissens evident, wahr und rechtsgültig ist. Nur das folgt
daraus, daß die großen menschlichen Kulturen xmd Er-
kenntniszusammenhänge — schon auf dem Niveau des apri-
orischen Wissens — gegenseitig unvertretbar und un-
ersetzlich sind imd daß es mithin nicht in historischem
Inhalt oder im Inhalt des Blutes und der Rasseanlagen —
geschweige gar in bloßer Arbeitsteilung — , sondern im
Wesen von Vernunft und Erkenntnis selbst gelegen ist,
daß nur ein Miteinander des Erkennens, eine Coopera-
tion der Menschheit in allen höchsten Geistestätigkeiten
(auch bei idealer Rechtheit ihrer Anwendung) eine voll-
ständige Erkenntnis der Wesenswelt zu leisten vermag.
Denn $0 sehr die Völker, die Rassen und sonstigen Grup-
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4^4 Probleme der Religion.
pen (schließlich die Individuen) einander prinzipiell zu er-
setzen vermögen in aller Anwendung des gleichen apriori-
schen Wissens auf die Erkenntnis der zufälligen Wirklich-
keit dieser Welt und in diesei» Sphäre höchstens verschie-
dene sog. »Anlagen« und »Begabungen« (d. h. psychophy-
sische Besonderheiten), femer verschiedene Zugängigkeit
zu gewissen Teilen der wirklichen Welt eine Nötigung zur
gegenseitigen Ergänzung ihrer Erkenntnisse nötig machen
(dazu noch die rein technische Fruchtbarkeit der Arbeits-
teilung solche Cooperation und Ergänzung geboten er-
scheinen läßt), steht es ftir die Wesenssphäre ganz anders :
Hier ist die Unersetzlichkeit des Menschen durch den Men-
schen ein absoluter Grundsatz — kein nur relativer —
imd eben darum wird die Cooperation und Ergänzung zu
einem absoluten reinen Sachgebot, — zu einem Sachgebot,
das im Wesen dieser Grundart des Erkennens selbst ge-
legen ist.
Femer folgt aus unserer Geisteslehre die Anerkennung
eines möglichen wahren Werdens und Wachstums und
eines wahren Entwerdens und wahrer Abnahme des ver- .
nünftigen Menschengeistes in der Geschichte, Dinge, die
etwas gmndlegend Anderes sind als Entwicklung und Ent-
faltung eines positiven Ideengehalts (resp. einer Mehrheit
solcher Gehalte) oder gar als bloße Anpassung, Übung,
Differenziemng usw. Denn nicht nur das Wissen »um«
die Wesenswelt vermag in der Geschichte zu- und abzu-
nehmen (resp. die Funktionalisierung dieses Wissens) son-
dem jegliche Stelle des einmaligen konkreten Geschehens*
flusses der Welt vermag von Hause aus zum Spmngbrett
auch für Wesenseinsichten zu werden, zu denen keine ein-
zige andere Stelle des Weltprozesses das Sprungbrett wer-
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Probleme der Religion. 45 5
den kann. Das besagt aber, daß auch der menschliche reine
vernünftige Geist selbst und unabhängig von allen Induk-
tionen und allem hinzutretenden neuem Sinnesstoff durch
Funkdonalisierung also erworbener Wesenseinsichten zu
wachsen resp. abzunehmen vermag (resp. in diesen seiner
Wesens-Funktionen zu wachsen, in jenen abzunehmen).
Und es folgt femer, daß die Epochen und Zeitalter der
Geschichte des Menschen (als Teil der Geschichte des Uni-
versums) bezüglich der durch sie möglich zu erwerbenden
Wesenserkenntnis prinzipiell ebenso absolut unersetz-
lich sind wie die je gleichzeitigen Völker und Individuen
(resp. sille anderen Gruppen). Nicht nur eine steigende
Sammlung von induktivem Material und eine Steigerung
logischer Bearbeitung dieses Materials (wie der Positivis-
mus es behauptet und allgemeine Regeln dir die Art dieser
Sammlung aufstellt) vollzieht sich in der Geschichte mensch-
licher Erkenntnis ; und ebensowenig bildet diese Geschichte
(wie Hegel und H. Cohen und seine Schule lehren) einen
Prozeß logischer Entfaltung, in der immer neue »Grund-
legungen« des Erfahrungswissens erfolgen: Sondern der
vernünftige Geist selbst als Inbegriff der Akte, Funktionen
und Kräfte wächst und nimmt ab, »wird« und »ent-
wird« durch Funktionalisierung dieser an je bestimmte
Stellen des konkreten Weltprozesses geknüpften und nur
hier möglichen Wesenseinsichten. Der Fortschritt (und
Rückschritt) in den Dimensionen der bloß induktiven
Sammlung und der logischen Deduktion (resp. Reduktion)
betrifft hingegen nur die Anwendung bestimmter Wesens-
einsichten (durch deren Funktionalisierung) auf die zu-
fällige reale Welt. Er findet femer nur statt da, wo über-
haupt die Erkenntnis der zufällig realen Welt zum Haupt-
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456 Probleme der Religion.
gegenständ der Erkenntnis geworden ist (d. h. de facto
vor allem in Europa) und er findet in der Form eines kon-
tinuierlichen Prozesses nur statt je auf der Geschichts-
strecke innerhalb eines in seinem Wesenseinsichtssystem
(und dem dazu gehörigen »Vemunftsystem«) constanten
Zeitalter.
Es kann daher sehr wohl sein (d. h. die allgemeine
Geisteslehre läßt es zu^), daß ein Zeitalter der Menschheit
oder eines ihrer Teile Erkenntnisblicke in das Wesensreich
warf, die kein anderes 2^talter selbst zu werfen je berufen
sein kann, und daß daher die folgenden Zeitalter aus dem
Wesen der menschlichen Erkenntnis und ihres Gegenstan-
des selbst heraus (nicht also aus Gesichtspunkten wie Be-
gabung, Anlage, Arbeitsteilung usw. heraus) verpflichtet
sind, dasjenige als ewig gültigen Erkenntnisschatz zu be-
wahr en, was selbst zu erkennen ihnen die Kräfte des Geistes
fehlen; indem sie den Schatz bewahren, hätten sie ihn nur
anzuwenden auf die zufällige Wirklichkeit. Die Coope-
ration der zeidich sich succedierenden Menschheit durch
dasMedium der Traditiondessen, was keine »Vernunft« der
jeweiligen Folgezeit finden kann (auch bei ideal vollkom-
menerer Anwendung nicht) gehört daher selbst zur Natur
dieser Art (apriorischer) Erkenntnis und ihrer Funktiona-
lisierung; denn die mögliche Funktionalisierung hängt von
dem in diesem Falle nur durch Tradition möglichen Be-
sitz der Erkenntnisinhalte selber ab. Denn nicht darum
handelt es sich ja hier, daß jeder Kommende nur auf den
Schultern des Vorgängers steht, — ausgestattet mit den
gleichen geistigen Kräften, zu erkennen und zu sehen
^ Die Entscheidung, ob diese Möglichkeit realisiert sei, hat die positive
Untersuchung des geschichtlichen Materials zu geben.
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Probleme der Religion. 457
wie der Vorgänger — sondern um den ganz andersartigen
Sachverhalt, daß er diese Kräfte selber (oder doch Teile
ihrer) eben nicht besitzt, die der Vorgänger besaß. Also
haben schon bei j eder Frage wirklich philosophischer Ob-
servanz (d. h. bei Wesenseinsichtsfragen) — nicht nur bei
den höchsten Fragen der Philosophie — alle Philosophen
der ganzen Weltgeschichte sozusagen gemeinsam (d. h,
im spezifischen Akte des Miteinanderforschens und -er-
kennens), die Frage zu diskutieren — im klarsten und
ofTensichtiichsten Unterschiede zu aller > positiven < Wissen-
schaft, in der allein die unmittelbaren Vorgänger (so sie
nicht schon Gefundenes einfach vergessen oder nicht ge-
würdigt haben) Interesse zu erregen vermögen. Sie haben
alle »miteinander« (nicht gegeneinander oder nur sich auf
»Resultate« stützend wie in den positiven Wissenschaften)
zu bauenamGebäudeder einen »philosophiaperennis«
— immer auch eingedenk der historischen Verteilungsregeln
der Erkenntniskräfte selber, die zu erkennen selbst
eine höchst wichtige Teilaufgabe einer die Erkenntnis-
kräfte des menschlichen Geistes wahrhaft erschöpfenden^
Theorie der Erkenntnis ist. Da er sich auf diese Theorie
— die ihm selbst aus Einsicht quillt, nicht aus Tradition —
stützt, ist er keineswegs genötigt, Traditionsinhalte, in
denen Wesensschauungen anderer Zeitalter vorliegen
' Also in strengstem Unserschiede und in bewußtem Gegensatze zu einer
erkenntnistheoretischen Methode wie jener Kants, der das Wesen mensch-
licher Vernunft nicht nur zu bestimmen, sondern sogar erschöpfend zu be-
stimmen (also auch ihre «Grenzen«) unternahm nur durch die Antwort auf
die Frage, wie die spezifisch westeuropäische und hier wieder neuzeitliche
Wissenschaft, ja noch enger die mathematische Naturwissenschaft — - ja
noch viel enger, die mathematische Naturwissenschaft Newtons (die durch
Relativitätstheorie und Quantentheorie heute schon selber eine in ihren
Prinzipien, nicht nur in ihren Resultaten andere ist) »möglich« sei.
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^cg Probleme der Religion.
mögen, ohne Prüfung auf ihren Wesensgehalt, anzu-
nehmen. Wohl aber muß er mit der Möglichkeit stets
rechnen, nicht nur tatsächlich nicht zu sehen, sondern
auch nicht sehen zu können, was andere Zeitalter sahen.
Also liegt es selber im Wesen des Wesensreiches und
der Art des menschlichen Zugangs zu ihm, daß Philosophie
auf alle Fälle, und daß auch reflexive Erkenntnis der im
religiösen Akte gegebenen Wesenserfassung von Gött-
lichem nur durch die Eintracht der Völker und Zeiten
in dem philosophischen Geschäfte überhaupt möglich ist
— wie immer die besonderen positiven Regeln lauten
mögen, nach denen Vernunft im irdischen Menschenkreise
tatsächlich geworden und entworden ist, gewachsen ist
und abgenonunen hat. Auf diese Regel selbst kommen
wir später zurück; auf die realen Kräfte und Triebfaktoren
der Menschengeschichte, die in ihren Eigenregeln erst mit
jenen positiven Regeln superponiert uns die faktische
Geschichte der Philosophie und der natürlichen Religion
verstehen ließen. Hier ist nur wichtig dasjenige, was aus
dem Gesagten schon für die natürliche Erkenntnis Gottes
an Folgen hervorgeht^.
Es gilt gerade für diese Erkenntnis sozusagen am
schärfsten und gesteigertsten. Je vollkommener der
Wesensgehalt einer Wesenheit ist, je entfernter er ist von
adäquater Erfaßbarkeit durch den menschlichen Geist
überhaupt (als menschlichen), in desto höherem Grade
wird die zwiefache Cooperation des Erkennens (von der
wir sprachen) für seine adäquateste Erkenntnis nötig.
' VgL den folgenden Abschnitt: «Ist eine neue Religion zu erwarten«.
Dieses Lehrstück aus einer »reinen Soziologie und Geschichtsphilosophie
des Erkennens« soll demnächst in einer besonderen Abhandlung im syste-
matischen Zusanmienhang behandelt werden.
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Probleme der Religion. 459
Darum ist dieser Grad am höchsten bei dem Wesen aller
Wesen, bei Gott.
Wenn wir (nur per analogiam, wie wir sahen) Gott die
vernünftige Geistigkeit zusprechen dürfen und sollen, so
ist es nach dem Gesagten gar nicht anders zu erwarten,
als daß die Fülle seiner Geistigkeit jedem Menschen,
jeder Gruppe, jedem Volke nur partiell zugänglich sein
kann, da ja die spontane metaphysische Erkenntnisfahig-
keit jedes dieser Erkenntnissubjekte je nach der Art der
Funktionalisierung der von ihm erworbenen oder ihm
tradierten Wesenseinsicht eine verschiedene ist. Wenn
daher die Gottesideen der positiven Religionen diese
Geistigkeit sehr verschieden nehmen und auflassen,
femer die Geistesfunktionen (Wille, Verstand, Liebe,
Macht, Weisheit etc.) sehr verschiedenartig in ihrer Got-
tesidee mischen und anordnen, dazu diese Idee von Gottes
»Geist« selten die Züge vermissen läßt, die der geistigen
Artung dieser Gruppen und Personen zukommen, so ist
wahrlich nach dem Gesagten nichts anderes zu erwarten.
Es könnte beruhen — es braucht aber keineswegs nur zu
beruhen — auf der je besonderen Beschränktheit eines
einzigen vernünftigen Mustergeistes (mit einheidichen
apriorischen Funktionsgesetzen) durch Naturanlagen, Lei-
denschaften und Geschichte — jenes einzigen vernünf-
tigen Mustergeistes Kants und der Rationalisten, den wir
ja eben in seiner Existenz bestreiten. Es können aber
die verschiedenen Geistesideen vom Geiste Gottes auch
alle wahr sein — und nur im je verschiedenen Sinne
inadäquat. Es braucht nicht in der Beschränktheit der
Menschen — es kann auch an der unaussprechlichen
Fülle und der unendlichen, auch qualitativen VoU-
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460 Probleme der Religion.
kommenheit des göttlichen Geistes liegen, daß dies
so ist.
Nur dies folgt nun mit Notwendigkeit: daß schon im
Wesen der natürlichen Religion und Gotteserkenntnis wie
Gottesanbetung und -Verehrung es gelegen ist, daß sie im
Unterschiede von aller Erkenntnis der positiven Wissen-
schaft eine gemeinschaftlich-cooperative sein muß.
Insofern ist die Idee der Kirche als einer irgendwie orga-
nisierten gemeinsamen Gotteserkenntnis und -Verehrung,
femer — unter monotheistischer Voraussetzung — die
einer weltumfassenden Kirche nicht erst ein auf positiver
Erfahrung beruhender Lehrgehalt, sondern schon ein aus
der Natur eben der Gottes -Erkenntnis folgendes Postu-
lat, Gotteserkenntnis ist als Erkenntnis und Erfassung
des göttlichen Geistes diejenige Erkenntnis, die schon
als natürliche notwendig unvollständig (auch in den Gren-
zen des überhaupt dem Menschen hier Zugänglichen) un-
vollständig bleiben muß, bevor nicht jede der überhaupt
unterscheidbaren menschlichen Gruppen, — ja bevor nicht
jedes Individuum seinen Beitrag, d.h. seinen nur ihm
möglichen Beitrag dazu geleistet hat und solange nicht
eben dieser Beitrag auch von allen anderen Gruppen und
Individuen mitergriffen und in das eigene Verhältnis zu
Gott einbezogen und für es fruchtbar gemacht ist. Reli-
giöser Singularismus ist also in sich widersinnig, da er
dem Wesenszusammenhang widerstreitet, der zwischen
Gotteserkenntnis und gemeinschaftlicher Erkenntnis ewig
besteht. Und es ist gerade — so paradox es klingt —
der Wesensindividualismus der Gotteserkenntnis, d. h. die
dauernde Unersetzlichkeit aller Kollektivindividuen imd
Einzelindividuen als Erkenntnissubjekte verbunden mit der
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Probleme der Religion. ^6 1
allgemeinen Verpflichtung zu dieser Erkenntnis^ was hier
die Gemeinschaftsform des Erkennens in einem Sinne
notwendig macht, wie sie bei keiner sonstigen Erkenntnis
notwendig ist^. Ebenso notwendig ist aber auch die Ge-
schichtlichkeit schon der natürlichen Gotteserkenntnis
— ein Satz, den alle Vemunfttheologie im radikalen Sinne
der Aufklärungsphilosophie und -theologie, den aber auch
I. Kant vollständig verkannt hat. Da es ein Werden gibt
für alle spezifische Vemunftorganisation (durch Funktiona-
lisierung der Wesenseinsichten zu Funktionsgesetzen),
femer ein Wachsen (und Abnehmen) so gilt, daß sich der
steigend volle und reine Sinn des nur per analogiam
gütigen Satzes »Gott ist Geist« sich nur im geschicht-
lichen Wachstum des vernünftigen Geistes an den je nie
wiederkehrenden Konstellationen der Welt, erschließen
kann. Falsch und grundfalsch ist dieser Satz von der
notwendigen Geschichtlichkeit der Gotteserkenntnis erst
dann, wenn er besagen wollte, daß Gottes Geist sich an
den verschiedenen Stadien der Weltgeschichte gleich
einer sich auslebenden Potenz rein objektiv verschieden-
artig auswirke, jedes Zeitalter also auch eine besondere
Idee vom Geiste Gottes haben müßte. Das wäre panthe-
istisch und hegelisch gedacht. Nicht nur die Philosophie,
auch die natürliche Theologie wäre dann nur der »Zeit-
geist auf Gedanken und Begriffe gebracht« — eine grund-
irrige, relativistische Behauptung. Gott ist nicht Potenz,
' Durch den Satz des Primates der Liebe vor der Erkenntnis wird dieser
rein erkenntnistheoretisch-soziologische Grundsatz noch dahin spezifiziert,
dafi Liebe zu Gott als Bedingung seiner Erkenntnis Liebe zu den auf Gott
einträchtig bezogenen »Brüdern« notwendig in sich einschliefit — und
2war an erster Stelle solidarische Heils- Liebe zu den »Brüdern«. Wer also
nicht auf diesem Wege zu seiner Erkenntnis Gottes als Geist kommt, irrt
notwendig. Dies ist das Fundament für den Wesensbegriif der »Häresie«
Digitized by VjOOQ IC
4.62 Probleme der Religion.
die sich in der Geschichte erst zeitlich auszuwirken oder
sich in ihr zu explizieren hat, sondern absolut actuales Sein.
Nur die erkenntnismäßige Ausschöpfung seiner Geistes-
fülle ist an den historischen Prozeß geknüpft — allerdings
vermittelt durch ein weiteres Wachstum der endlichen
Vernunft selbst, nicht nur also durch ein Wachstum
der Erkenntnis des endlichen Geistes als unvollstän-
digen, endlichen, analogischen Nachbildes des götdichen
Geistes. Und eben die Kunst des historischen Verstehens
nicht nur der Werke des Geistes, sondern des Ver-
stehens der von den je »gegenwärtigen« abweichenden
Geistesstrukturen (der je gewordenen subjektiven Kate-
gorialsysteme der Vernunft) macht es uns möglich, die
Einseitigkeiten der je gegenwärtigen Stufe des endlichen
Vemunftwerdens zu überwinden, indem wir all diese
Stufen in uns integrieren, d. h. zu einer einzigen ge-
sammelten Vemunftkraft das machen, was der Gang der
Geschichte differenzierte. Wir müssen also, um die Fülle
des Geistes Gottes — auch nur analogienhaft — erkennt-
nis- und erlebnismäßig mit steigender Adäquation auszu-
schöpfen nicht nur der Vemunftstruktur unseres Zeit-
alters folgen (dürfen keine »Zeitphilosophie« gestalten wol-
len), sondern müssen in unsere Idee vom göttlichen Geiste
jch all dasjenige mit aufnehmen, was andere Zeitalter
auf Grund ihrer Geistesstruktur vom »Geiste« Gottes er-
faßten und aussagten. So wenig Gott — wie Hegels
Pantheismus lehrte, der »Weltgeist« ist — so erkennt ihn
(natürlich) doch nur vollständig der ganze vollständige
Menschengeist als der Inbegriff allerVemunftstrukturen,
die sich durch Funktionalisierung und Entfunktionalisie-
rung je gebildet haben und bilden werden. Der Aufbau
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-'^-"T^^WP'^-^-pA^-,
Probleme der Religion. 463
schon der natürlichen Erkenntnis des göttlichen Geistes-
gehaltes in der dem Menschen überhaupt beschiedenen
Fülle — ist also an die Cooperation der Menschengrup-
pen auch in ihrer zeitlichen Abfolge auf Grund der
Tradition wiederum notwendig gebunden. Ja — gäbe
es anderweitige Gründe zur Annahme, daß besondere aus-
gezeichnete Konstellationen der Geschichte für das Wachs-
tum der Gotteserkenntnis an Gehalt auch besonders dis-
poniert gewesen sind; oder daß die spezifischen Funktionen
des menschlichen Geistes, die bei der Erkenntnis eben
dieses Gegenstandes (i. e. Gottes) ins Spiel treten, im
Ganzen des geschichtlichen Ablaufs mehr einem Rück-
gange verfallen sind, als einer Fortbewegung und eines
Wachstums teilhaftig würden, so wäre die Pflicht der Be-
wahrung des einst adäquater Erkannten, für uns nur mehr
inadäquat Erreichbaren das Einzige, was für uns geboten
wäre.
Was ich unter »Funktionalisierung« von Wesen s-
schau verstehe, sei noch genauer erläutert.
I . Wesen als Wesen zu schauen ist etwas anderes als
zufällige Tatsachen zu erkennen (wahrzunehmen, zu
beurteilen usw.) gemäß der Führung und Leitung durch
zuvor erschaute Wesen. In letzterem Tun kommt uns das
Wesen nicht zu gesondertem Bewußtsein. Das Wesens-
wissen funktioniert hier nur und zwar als Auslesever-
fahren (nicht als synthetisches Tun, nicht als Verbinden,
Verknüpfen), ohne uns selbst gegeben zu sein. Es macht
für die Erkenntnis des zufälligen Daseins überschwellig
all das, was mit dem erschauten Wesen zusammenstimmt,
resp. für die Wesenszusammenhänge und die Wesens-
strukturen ein möglicher Anwendungsfall ist. Das ursprüng-
Digitized byLjOOQlC
r
464 Probleme der Religion.
liehe Seinsapriori wird hierdurch subjektives Apriori, Ge-
dachtes wird » Form « des Denkens, Geliebtes wird » Form «
und Art des Liebens.
2 . Die primäre Wesensschau ist selbstverständlich keine
reflekrive und keine, auf die sich ein Urteil aufbaut, in
dem die dem Wesen entsprechende »Idee«, resp. der dem
Wesenszusammenhang entsprechende Ideenzusammen-
hang erfaßt wird als Wahrheit.
3. Alles subjektive Apriori im » transzendentalen« Sinne
Kants, d. h. alle Gesetze des Erfahrens, die Gesetze auch
der Gegenstände der Erfahrung sind, weil sie Gesetze des
Erfahrens sind, ist nichts Ursprüngliches, sondern ein Ge-
wordenes, — je verschieden für die Trägerschaften des Er-
fahrens. Die Leistung dieses subjektiven Apriori auf allen
Gebieten des Geistes ist nie und nirgends ein spontanes Ver-
binden, Verknüpfen (nach einer ursprünglichen Regel) von
ursprünglich geschiedenen und selber formlosen Gegeben-
heiten (nach Kant »Empfindungen«), kein positives »Auf-
bauen«, »Konstruieren«, »Bilden«, sondern das genaue
Gegenteil: Ein gemäß den zuvor erschauten Wesen und
Wesenszusammenhängen bestimmt geregeltes Negieren,
Unterdrücken, Unbeachtetlassen alles zugänglichen Welt-
inhalts, der für die erschauten Wesen und Wesenszusam-
menhänge keine Erfiillungs- und Bestätigungsfunktion aus-
übt. Dassubjektive Apriori erzeugt also nicht, sondern imter-
drückt, zerstört, deformiert — für die mögliche Erkennt-
nis der Welt — alle Teile, Seiten der Welt, die keine An-
wendungs- und Erfüllungsbeziehung auf die zu vorgegebe-
nen Wesen und Wesensstrukturen haben. Alles subjektive
Apriori ist also eine bestimmte Art nicht des Formens,
Verknüpfens, sondern des Auswählens. Die Relation ist
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. /^ßt
ihrem allgemeinsten Wesen nach (abgesehen also von der
Art der Relation wie Einheit, Ähnlichkeit, Kausalität usw.)
kein positives Etwas, was unser Geist zu einem relativen frei
Gegebenen hinzufügte (ein geistiges »Band«, das durch
Synthesis, Verbinden erwüchse), sondern sie ist nur das
Residuum, das durch bestimmt geordnetes Nichtbeachten
des allseitig positiven und an sich gestalteten und geformten
Weltgehalts ersteht. Sie ist überall das Ergebnis von be-
stimmt geordneten Entfaltungen des Wahmehmens, Den-
kens (als anschauliche und gedachte Relation). Die Relation
ist also wesentlich negativer Natur, nidit positiver. Sie ist
das Residuum der Analyse — das, was je ausgelassen wird
im Haben des Gegebenen, nicht das Werk einer Syn-
thesis. Es ist sonderbar, daß bei vielen Denkern diese
beiden sich ausschließenden Gedanken in der Charak-
teristik des Wesens und der Leistung des subjektiven
Apriori oft merkwürdig durcheinander gehen. Am stärk-
sten z. B. bei Windelband (s. Einleitung in die Philosophie,
S. 235u.d.F.)
Gewiß ist das, was Kant die transzendentale Beziehung,
Erfahren und Gegenstand der Erfahrung nennt, bei beiden
einander entgegengesetzten Anschauungen vom Wesen
des subjektiven Apriori, in gewissem Sinne vorhanden.
Beide Male muß sich der Gegenstand nach den Gesetzen
des erkennenden Geistes, resp. seinen Funktionen »rich-
ten«, gleichgültig, ob die spezifische Funktion des Erken-
nens auf einem geordneten Aufbauen, Synthetisieren, For-
men des Gegenstandes aus »gegebenem« Empfindungs-
stoff beruht oder auf einem geordneten Auswählen, d. h.
Unterdrücken, Nichtbeachten, Absehen gegenüber einem
an sich Gestalteten, Geformten. Denn ist die Auswahlord-
30
Digitized by VjOOQ IC
I
^66 Probleme der Religion.
nung, nach der die Weltfulle, wie sie an sich besteht und ist,
dem Menschen (oder einer bestimmten Art der Menschen,
z. B. einer Rasseneinheit, einer Kulturkreiseinheit) zugeht,
so geregelt, daß ein Gegenstand vom Wesen B nur ge-
geben wird, wenn ein Gegenstand vom Wesen A schon
gegeben ist (hat also A Gegebenheitspriorität vor B in der
Ordnung der Zeit, — nicht notwendig in der Succession),
so muß — wenn der Gegenstand X gleichzeitig vom Wesen
A und B ist, notwendig alles Wahre für ihn gelten, was
von A gilt — nicht aber umgekehrt. Z. B. muß Geome-
trie, — wenn Räumlichkeit und Extensität strenge Ge-
gebenheitspriorität hat, vor allen Wesensbestimmungen
der Materie und Körperlichkeit — für alle möglichen
Körper streng gelten. Aber derselbe Satz — die aus-
nahmslose Anwendbarkeit der Geometrie auf die Körper-
welt — gälte auch, wenn Kants Lehre, die den Sachen
selbst Extensität und Räumlichkeit abspricht und die
Raumform als bloße Anschauungsform des Gegebenen
deutet, wahr wäre. Die transzendentale Geltung des sog.
Apriori auch für die Gegenstände der Erfahrung bestünde
also in beiden Fällen, so daß wir aus ihr allein heraus kein
Kriterium besitzen, welche der beiden Hypothesen richtig
ist: die Lehre von einem synthetischen Hinzufügen der
Form seitens des spontanen Geistes und die Hypothese
der geordneten Selektion gemäß zuvor erschauten Wesen.
- Gleichwohl bleiben die beiden Theorien vom subjek-
tiven Apriori wie durch einen Abgrund geschieden —
sowohl in sich selbst wie in ihren Folgen für die meta-
physische Welterkenntnis.
Nach unserer Hypothese ist das, was am Gegebenen
durch das Wesen des Weltbestandes gedeckt ist, auch an
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^67
sich gestaltet, geformt. Aus der Fülle dieser an sich seien-
den Formen und Gestalten, die mit ihrem je spezifischen
Gehalt eindeutig verbunden sind, hebt unser Geist nach
einer bestimmten Ordnung der Auswahl nur einige heraus,
indem er die anderen gleichsam negiert und unterdrückt.
Er analysiert die Welt nach einer bestimmten, durch die
Geschichte des Erkennens, und zwar des Wesenserken-
nens, vorbestimmten Ordnung. Das Bildwerk der Erfah-
rung ist in der Welt selbst voAanden, so wie die Bild-
säule in Marmor vorhanden gedacht werden kann, der
Bildhauer aber durch entsprechendes Abhämmem des
Marmors sie nur befreit und ans Licht bringt. Nach Kants
Lehre hingegen ist der Geist eine Kraft synthetischer
Verknüpfung nach Gesetzen und Vorbildern, die ihm ur-
sprünglich eigen sind, die keine Ableitung oder Erklärung
vertragen, — die ihm als Schicksal einwohnen.
5. Attribute des göttlichen Geistes.
Die Attribute des göttlichen Geistes werden, — wenn
Gottes Sein, Gottes Geistigkeit und AUursächlichkeit schon
aus anderen Gründen hinreichend erkannt sind — durch
zwei Methoden gefunden, die unabhängig von einander
ihren Gang zu nehmen haben; die aber auf Grund des
Satzes vom Wesenszusammenhang von Aktart und Gegen-
standsart zu denselben Resultaten fuhren müssen, wenn
anders sie richtig angewandt sind. Die erste Methode geht
aus von dem Wesensaufbau, der in der wirklichen Welt
realisiert ist und dem die Attribute des göttlichen Geistes
entsprechen müssen, die uns aus dem Verhältnis Gottes
zur Welt überhaupt kund werden können; immer voraus-
gesetzt, Gott sei die Ursache (als personaler Geist und als
30*
DigitizedbyGoOgl^
^68 Probleme der Religion.
Schöpfer) der Welt. Die zweite Methode geht von der
Wesensstruktur des menschlichen Geistes (nicht also von
empirischen Tatsachen der Psychologie) aus, in dem sie
Gottes Geistigkeit per analogiam die Wesenszüge zuweist
(in absoluter und unendlichen Form) und den Wesensauf-
bau, d. i. die Forderungsordnung der Aktarten des Geistes,
die im Wesensstudium des menschlichen Geistes gefunden
werden. Im letzteren Falle hat dies zu geschehen durch
Grenzbegriffe hindurch, |^e wir uns von der Geistigkeit in
der Seele des Menschen dadurch bilden können, daß wir
prüfen, was am menschlichen Geiste bleibt, wenn er in der
Richtung der Grade abnehmender Abhängigkeit vom Leibe
und seinen Modifikationen (Grade, die wir noch in der Erfeh-
rung selbst vorfinden) betrachtet wird. Wir gewinnen in
dieser Betrachtungsart wenigstens die Richtungen der
Linien, die bis zum idealen Grenzpunkt einer absoluten Un-
abhängigkeit vom Leibe ausgezogen gedacht, uns die Grenz-
begriffe eines leibfreien Geistes vermitteln, als welchen
allein wir Gott (auch nur per analogiam) zuweisen dürfen.
Ja, wir gewinnen auf diese Weise eine Stufenfolge der Ideen
von möglichen Arten von Geistern, die keinen Widerspruch
in sich tragen und doch der materialen Gesetzmäßigkeit
des menschlichen Geistes entsprechen; diese Stufenfolge
findet im Geiste Gottes nur ihren höchsten Abschluß, ihre
Krone und Spitze.
Die Philosophie des Mittelalters hat die erste Methode
(wenigstens im Zeitalter der Hochscholastik) vorgezogen,
die moderne Philosophie (wo sie auf dem rechten Wege
war) die zweite. De facto sind beide Methoden nötig und
geboten, da sowohl der ideell-objektive Zusammenhang
des Universums als Gottes höchsten Schöpfungswerkes und
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 469
unmittelbarsten Spiegels, wie die geistige Menschenseele
auf die Attribute der Geistigkeit Gottes gleichmäßig hin-
weisen.
Beide Methoden führen femer nur zu analogischen Be-
stimmungen. Dies folgt schon aus der notwendigen Über-
tragung des Attributs der Einfachheit und Unteilbarkeit
Gottes auch auf den götdichen Geist. Der göttliche Geist
hat keine besonderen »Vermögen« (Verstand, Wille,Liebes-
fähigkeit) nicht nur weil er Alles, was er ist, actu ist (und
der Aktus wie schon Aristoteles erkannte, der Potenz über-
all notwendig vorhergeht) sondern auch, weil jede »reale«
Geschiedenheit und auch nur relativ selbständige Wirk-
fähigkeit von Vermögen und Funktionen, wie wir sie im
menschlichen Geiste finden, ein Zeichen der Unvollkom-
menheitist. Schon die Menschenseele erachten wir ja als
relativ vollkommener, die in jedem Aktus wenigstens als
relativ Einfaches und Ganzes in die Erscheinung tritt
usw., — so daß Verstand, Wille, Liebe, alle Art von Fühlen
»von« etwas — wie aus einem unteilbaren Aktstrome
des Geistes gespeist erscheinen. Gott aber ist absolut ein-
fach. Die attributiven Bestimmungen des göttlichen Geistes
überhaupt als Liebe, Wille, Vernunft etc. haben gleichwohl
einen guten und berechtigten Sinn, insofern sie nur aus-
sagen wollen, daß der göttliche Geist auch Kräfte dieser
Wesensart und Richtunginsich tatsächlich enthalten müsse,
ohne daß wir freilich die kontinuierlichen Zwischen-
stufen und -glieder kennen und angeben können, die ini
göttlichen Geiste diese Kräfte zu einer absolut einheitlichen
und einfachen Wirksamkeit zusammenbinden. Die attri-
butiven Aussagen haben also den Sinn, daß sie weder reale
noch sog. abstrakte Teile dem göttlichen Geiste zusprechen,
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470 Probleme der Religion.
sondern nur besagen: Gottes Geist gleiche in dieser und
jener Hinsicht dem, was wir am menschlichen Geiste je
Liebe, Wille, Verstand etc. nennen.
Dasselbe gilt für die Fundierungsordnung zwischen Ver-
stand, Wille, Liebe etc., die wir gleichfalls am menschlichen
Geiste als innere Gesetzmäßigkeit eines Geistes überhaupt
finden. Ohne die Voraussetzung dieser Ordnung — die
von einander verschiedenen, wenn auch einheitlich funk-
tionierenden Vermögen — in die Idee Gottes selbst hinein-
zutragen, müssen wir doch eine Analogie auch zu dieser
Ordnung in Gottes Geistigkeit annehmen. Führte uns also
die Untersuchung des menschlichen Geistes z. B. zur Lehre
vom Primat des Verstandes vor dem Willen, aber zugleich
zu einer Grundansicht, nach der die Liebe den obersten
Primat vor Verstand und Willen gleichermaßen besitzt,
so müssen wir auch in Gott eine Analogie zu dieser Fun-
dirungsordnung annehmen.
Eine Reihe metaphysischer Systeme (Plotin, Spinoza,
Hegel u. a.) haben darin geirrt, daß sie Gottes Geist aus-
schließlich und einseitig nur nach seiner logischen Seite ver-
standen. Da uns die Philosophie an dem Beispiel dieser
wirklichen Welt die Wesenheiten und Wesensstrukturen
aufweist, die in jeder möglichen Welt sind und deren zu-
gehörige Wahrheiten in jeglicher gelten, so erhebt sich
Philosophie schon aus eigener Kraft aus dem Banne dieser
Welt. Aber sie hätte rein aus sich heraus keinen Anlaß,
aus dem Umkreis des der Welt also immanenten Logos als
dem Inbegriffealler Wesenheiten undihrer Zusammenhänge
herauszugehen, wenn nicht das formale Wesen und Dasein
Gottes vorher schon feststünde. Von der Gottesidee aus
gesehen aber erhält jener noch rein sachliche Logos ein
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Probleme der Religion. 471
personhaftes lebendiges Subjekt, ein Subjekt, das nach
diesen Wesenheiten anschaut und denkt — so, daß die im
ieibbehafteten Geiste getrennt funktionierenden Vermögen-
von Anschauung und Denken eine lebendige, sich resdos
durchdringende Einheit bilden. Denn schon die Theorie der
menschlichen Erkenntnis findet, daß die leibbedingten Sinne
nicht den positiven Gehalt der Anschauung der Welt geben,
sondern ihn nur zum Dienst für den Organismus zielmäßig
seligieren; darum gehört Anschauung so wesentlich zum
Logos Gottes, wie das sog. vernünftige Denken. Anderer-
seits darf das menschliche Denken mit seiner Gliederungs-
form von Begriff, Urteil, Schluß und seiner diskursiven
Natur, nur soweit es Denken = Bedeutungsmäßigeshaben
ist, auf Gottes Geist analogisch übertragen werden, nicht
aber insofern es diese Gliederungsform besitzt und sich in
einem Nacheinander entfaltet. Denn genau wie die Sinnes-
wahmehmung nicht die Anschauung selbst ist, sondern nur
eine ökonomische Verwertungsweise der Anschauung im
Dienste des Organismus, genau so ist Begriffebilden, Ur-
teilen, Schließen nur eine biologisch und sozial bedingte
Verwertungsform des reinen Habens von Bedeutung im
Dienste menschlicher Zwecke. Aber auch die Scheidung
von Anschauung und Bedeutunghaben selbst ist eine noch
menschlich bedingte Form des Erkennens, eine Form, die
überdies überall, wo das Erkennen zu seinem höchsten Ziele
gelangt, der Erkenntnis der Sache selbst (in der evidenten
Deckungseinheit von Angeschautem und Bedeutetem) wie-
der aufgelöst wird. Anschauung ist nur geistiges Erkennen
in Hinsicht auf individual und singulär Wertvolles; Denken
nur dasselbe geistige Erkennen in Hinsicht auf generell und
kollektiv Wertvolles. Anschauung ist also keineswegs, wie
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472 Probleme der Religion.
der platonische Rationalismus annahm^ nur sinnlich ge-
trübtes, verworrenes Denken, sondern so rein und ur-
sprünglich »geistig« wie das Denken im Sinne des Habens
von Bedeutung. Und ebensowenig ist — wie der englische
Sensualismus, Mach, Avenarius usw. annahmen — Denken
nur eine Ökonomisierung der Anschauung oder gar nur der
sinnlichen Anschauung, ein technisches Mittel mit An-
schauung zu sparen. Vielmehr sind beide, Anschauung und
Denken, zwei verschieden gerichtete Verwertungsformen
des in sich ursprünglich einheitlichen erkennenden Geistes,
die nicht in dieser Geschiedenheit, sondern nur in ihrer ur-
sprünglichen »Einheit als intuitiver Verstand«, also als
» intellektuale Anschauung« , auf den göttlichen Geist in un-
endlicher Form der Seinsweise übertragen werden dürfen.
Das Erleben des »Einmündens« von Anschauung und Be-
deutung im evidenten Erkennen der Sache selbst allein gibt
uns also das Grundphänomen, von dem aus wir uns die Idee
eines »götdichen Verstandes« als des Aktkorrelates zu
den in der Welt realisierten Wesenheiten zu bilden haben.
Aber der göttliche Geist ist nicht nur intuitiver Ver-
stand, wie die genannten Denker meinten. Er ist auch ur-
sprünglich willensartig.
Wir erkennen die Willensartigkeit des göttlichen Geistes
aus einem Grundcharakter der Welt, der im Zusammenhang
miteinerReihevonWesenseinsichten uns diese Willensartig-
keit anzunehmen zwingt. Die Welt ist nicht nur ein Inbe-
griff von Wesenheiten in eigenartigem Zusammenhang :
Sieistaußerdem als diese Welt da,d.h. siehatauch als Ganzes
den Charakter der zufälligen Realität. Daß sie »eine« reale
Welt sei (und nicht eine bloße Wesenswelt) das ist selbst
noch eine Wesenseigenart dieser Welt und ist von der po-
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Probleme der Religion. 4. 7 3
sitiven Kontingenz ihres realen Inhalts noch zu scheiden ;
obzwar >eine« reale Welt die Kontingenz ihres Inhalts
notwendig nach sich zieht. ^ Nun aber fordert i. jedes
Realsein von > Etwas« ein Wirken und ein Wirkendes,
»durch« das es mehr »ist« als nicht ist; femer (im Spiel-
raum der Wesensgesetze seines Soseins) ein Wirken, um
deswillen es mehr so beschaffen ist als anders. Dieser Satz
allein verdient allgemeines Kausalprinzip zu heißen — im
scharfen Unterschied von speziellen Prinzipien, die be-
reits mehr oder minder vermittelte Anwendungen des Kau-
salprinzips auf bestimmte Daseinsformen des Universums
darstellen. Solche sind z. B. der Satz, daß jede (auch ein-
malige)BegebenheitoderVeränderung,FolgeeinesWirkens
eines Dinges A auf ein Ding B sei, ein Satz, der das Kau-
salprinzip erst in der Seins und Werdensform der Zeit
darstellt; daß jede Wirkung Wechselwirkung sei (A wirkt
nur auf B, sofern B auch gleichzeitig auf A wirkt), der nur
das räumlich Gleichzeitige betrifft. Und noch weit speziellere
Prinzipien sind die Sätze, daß im Falle identisch in der
Zeit und im Räume wiederkehrender (resp. vorkommender)
Tatsachen, d. h. unter Voraussetzung von Gleichförmig-
keit des Daseins und Geschehens, auch Ein und dasselbe
wieder Ein und dasselbe bewirke — Sätze, die außer dem
Kausalprinzip nicht weniger als folgende spezielle Sonder-
bedingungen seiner Anwendung enthalten: i. Zeiträum-
liches Dasein; 2. die Tatsache von Gleichförmigkeit des
Seins und Geschehens in Raum und Zeit ; 3 . den Satz : Gleiche
Ursachen haben gleiche Wirkungen, — einen Folgesatz
* Alles Reale ist kontiiigent; indes nicht umgekehrt. Kontingenz =s zu-
falliges Sosein findet sich auch in der Sphäre des Irrealen, z. B. der mathe-
matischen Gebilde.
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474 Probleme der Religion.
aus dem Kausalprinzip und einem erweiterten Identitäts*
prinzip; 4. den auf mathematische Mannigfaltigkeiten re-
stringierten Satz von der gegenseitigen Abhängigkeit aller
Variationen von Gegenständen überhaupt, d. h. das Prinzip,
das die Funktionentheorie zur Einheit einer Wissenschaft
macht. Keiner dieser vier Sätze ist im allgemeinsten
Kausalprinzip^ enthalten; selbstverständlich darum auch
nicht das zeiträumliche Kontaktprinzip der Kausalität, das
— wie zu zeigen ist — schon in den genannten vier Sätzen
zusammen logisch ncut enthalten ist und das ebensowohl
alle Femwirkungen im Räume, wie alle ziel- und zweck-
tätigen Ursachen in der Zeit ausschließt. Dieses letztere
Pf-inzip steht — wie hier nicht zu zeigen — bereits für die
innerweldiche biologische Kausalität und erst recht (in
andersartiger Weise) für die psychische und historische
Kausalität außer Gültigkeit. Ebensowenig enthält das
allgemeine Kausalprinzip irgend eine Spur von den Unter-
schieden in sich, die mit den Begriffen causa efficiens und
causa finalis (resp. zielbestimmte und zweckbestimmte Ver-
ursachung) bezeichnet werden oder mit den andersartigen
von causa immanens und causa transiens.
Auf Grund dieses allgemeinsten Kausalprinzips zunächst
allein fordert die Welt als reale und darum zufällige Welt
ein Wirken und ein Erwirkendes, das sie real setzt (sowohl
vom Nichtsein ins Dasein rief, resp. ewig >ruft« und sie
darin erhält). Von einer zeidich »ersten« Ursache ist hier-
bei noch keine Rede, so daß die Forderung einer Ursache
der Welt ihrem Dasein nach, nicht weniger gälte, wenn
die Welt > immer« gewesen wäre und immer dauerte, d. h.
sempitem wäre. >Ewig« wäre die Welt auch in diesem
Falle nicht, da ein Seiendes, dessen Dasein nicht — wenn
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I
Probleme der Religion. aj^
es da ist — aus seinem Wesen folgt, niemals >ewig« sein
kann.
Indes das Kausalprinzip allein führt uns — ohne son-
stigen Anhalt — auch nicht zu einer obersten Ursache (im
unzeithaften Sinne), da ja auch die zweifellos geforderte
Ursache »einer« realen Welt eine zweite reale Welt und
diese eine dritte zur Ursache haben könnte. Der in diesem
nicht zeithaften Sinne immer noch unendliche Regreß,
den das Kausalprinzip als solches gebieten würde, wird
aufgehoben erst, wenn wir schon wissen, es gebe auch
realiter ein Ens a se et per se, das als die Ursache der
Welt dürfe angesprochen werden; und wenn wir femer
die Einheit und^ Einzigkeit der Welt, die >eine« reale ist,
setzen. Nur dem Ens a se — nicht der Welt — ist Einzig-
keit und Einheit — wenn es ist — apriori gewiß. Und
ebenso setzt die Einsicht in den nichtimmanenten, sondern
transzendenten Charakter der »Ursache der Welt« die Ein-
sicht voraus, daß es ein Ens a se und eine Abhängigkeit
alles zufällig Daseienden von ihm gäbe. Das bloße Kausal-
prinzip könnte auch von einem dynamischen Pantheismus
(nicht dagegen von einem nur logischen wie der Pantheis-
mus Spinozas und Hegels) befriedigt werden. Nun wissen
wir aber bereits nicht nur, daß es ein Ens a se und eine
Allabhängigkeit von ihm gibt, sondern auch, daß wir ein
Recht besitzen, dieses Ens a se analogisch »geistig« zu
nennen. Hieraus erst haben wir nun auch das logische
Recht, zu schließen, daß die Ursache des Realseins der
Welt eine i . einzige und oberste (folgt aus dem Ens a se
»als« Ursache), 2. eine willensartige sei. Denn das Wollen
ist der einzige uns gegebene »Fall« von geistiger Funk-
tion, durch die wir ein bloßes ideebestimmtes »Was« in
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4*^6 Probleme der ReHgion.
Realsein übergehen, es zu etwas Realem »werden«
sehen.
Lassen wir die zwei scharf zu scheidenden Fragen bei-
seite: Was ist das Wesen von Real-sein und unter welchen
Umständen, bei Gegebenheit welcher Kriterien darf imd
soll ein intentionaler Gegenstand real genannt, d.h. als des
Wesens > Real « -Erfüllung geurteilt werden, so bleiben noch
die beiden anderen Fragen : In welchen Akten ist Etwas
vom Wesen des Realseins »gegeben« und wie muß das
»Werden« von Realsein verstanden werden? Auf diese
Fragen geben aber zwei Wesenszusammenhänge Antwort,
die uns mit dem Kausalprinzip zusammen, der Feststellung,
die Welt sei »eine« reale und mit den Voraussetzungen über
Gott (er sei ens a se und Geist) notwendig zum Satze fuhren,
daß die Welt durch Gottes Willen erschaffen und er-
halten sei. Erst durch diesen Satz werden berühmte andere
metaphysische Lehren über Gott und Welt streng wider-
legbar: z. B. die Welt sei ewig, die Welt sei notwendig
aus Gott hervorgegangen oder gehe — sei es in der Weise,
wie es Spinoza denkt oder Plotinos und Hegel, d. h. emana-
tistisch — notwendig aus Gott hervor; oder die Realität
der Welt sei subjektiver Schein, da sie bloße Begehrungs-
bezogenheit »ursprünglich« irrealer Inhalte (Buddha) auf
den begehrenden Menschen sei; oder es sei die Welt (als
dauerndes Weltwerden) schöpferische »Entwicklung« und
»Wachstum« eines sich selbst frei »machenden« Gottes,
eines »dieu, qui se fait« (Bergson).
Diese Wesenszusammenhänge lauten: Das Realsein
von Etwas wäre einem Geistwesen, das nur Logos oder
auch nur Logos und Liebe wäre, notwendig verschlossen;
es ist erst gegeben im intentionalen Erleben des möglichen
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Probleme der Religion. 477
Widerstandes eines Gegenstandes gegen eine geistige
Funktion von der Art des WoUens qua WoUens (nicht
also etwa des »TunwoUens« oder gar des Tuns und natür-
lich mit Absehen von aller Leibheit des Wollenden und
des Verhältnisses von Wollen zu Leib und Leib und Körper-
welt), Eine absolute Schlaraffen weit, in der mit dem Wollen
von Etwas immer schon da wäre, was wir wollen, möchte
objektiv immer real »sein«; ihr Realsein könnte uns nie
gegeben werden: Es gäbe >furuns« keinen Wesensunter-
schied zwischen idealem und realem Gegenstand (wie un-
abhängig vom Bewußtsein und außerdem bewußtseins-
transzendent dieser Gegenstand dabei immer noch sein
und gegeben sein möchte). Widerstand aber kann gar nicht
anders »gefaßt« werden, denn als ein Widerstandswirken
auf unser Wollen; wir erleben dabei nicht (wie dieser Ge-
danke psychologistisch oft verzerrt wird) ein sog. Wider-
stands »gefühl«, sondern wir mitwahmehmen im erlebten
Widerstand von »Etwas« (das auf X restringiert sein kann,
resp. auf »Widerstand der Welt« schlechthin) das Wirken
von Etwas, das widersteht — flicht anders, wie wir in jeder
elementarsten Wahrnehmung einen Gegenstand des Wahr-
nehmens und ein »Herkommen« des Bildinhalts der Wahr-
nehmung »von ihm her« miterleben. Nehmt dieses Wirken
und das nach ihm interpretierte Wirken der Dinge unter-
einander aus einer Bewußten Weltgegebenheit heraus, so
möget ihr alle Zeitfolgen, femer alle dem Satze vom Grunde
unterliegenden Seins- und Werdensabhängigkeiten des
Weltinhalts, femer alle Gesetzmäßigkeit der Natur und
Seele in dieser Gegebenheit bestehen lassen : der Real-
akzent der Welt, die Weltwirklichkeit ist als Gegebenheit
verschwunden. Der zweite Wesenszusammenhang aber
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478 Probleme der Religion.
ist der Zusammenhang von ursprünglichem Realwerden
und Gewolltwerden. Alles übrige erfahrungsmäßig ge-
gebene » Werden « inNatur, Seele, Geschichte-^so wesens-
verschieden seine Arten sind — die Bewegungsarten der
mathematischen Bewegung, die Bewegungsarten der toten,
der Vitalbewegung, die Veränderungen, Wandlungen
und Wechselprozesse aller Art, das Wachsen und Sich-
entfalten usw. — zeigen uns, wenn sie phänomenologisch
studiert werden, nie und nimmer das Realwerden von Etwas
ursprünglich schlechthin Irrealem, sondern nur alle
möglichen Arten des Umbildens eines Realen in ein inhalt-
lich davon Verschiedenes, bald an Anschaüungs- und Bild-
fülle identisch Bleibendem, bald wahrhaft Wachsendem.
Nur im Deckungserlebnis eines Gewollten mit der Reali-
sierung des Gewollten und seinem schließlichen Realsein
»durch« Wollen ist uns — wenn wir dieses Erlebnis scharf
herauslösen aus aller psychophysischen und vital-physischen
Kausalität der Willenshandlung eines leiblich beschränkten
Geistes, — ein > Fall < gegeben, in dem wir Etwas ursprüng-
lich Nichtreales (das im WSllen gegebene »Projectum«)
»dadraußen« in der Welt (oder dadrinnen in der Seele
bei »innerem «Willensakt) wahrhaft real werden schauen.
Die Evidenz des »Daß« dieses Urphänomens ist selbst-
verständlich ganz unabhängig von Fragen der Art: Wirkt
und »wie« wirkt mein Wollen auf Leib und Körper? Durch
welche psychologisch und anatomisch -physiologischen
Vermittlungen? Das Urphänomen selbst muß bei jeder
der hierauf antwortenden Hypothesen und Theorien »er-
halten« bleiben im Sinne des od^liuv rd q>aiv6fieva desDemo-
krit. Es steht an Evidenz unendlich hoch über alle solche
Hypothesen psychophysischer Willenshandlung. Undtrotz-
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Probleme der Religion. ^yg
dem empirisch menschliches Wollen Nichts im absoluten
Sinne > erschaffen« kann, sondern immer sich betätigt an
schon » als « real Gegebenem, so ist es doch nicht das Wollen
qua »wollen« im menschlichen Wollen, sondern es ist die
die niöglichen Willens inhalte — schließlich Wille, Pläne,
Vorsätze — beschränkende Macht des Widerstandes, der
dem Wollen erst aus dem Tunwollen, Tun, schließlich am
Widerstand des eigenen Leibes, Körpers und der natür-
lichen und geschichtlichen Außenwelt durch Erfahrung
steigend erwächst, was die in allem Wollen ursprünglich
enthaltene Intention zum Erschaffen auf ein faktisches blof^s
Umbilden der Welt einschränkt. Der Mensch will ursprüng-
lich auch das »Unmögliche«; er entnimmt seine Willens-
inhalte nie bloß der Erfahrung des Seienden und Ge-
wesenen. Triebregungen jeder Art sind nur Anlässe für
das Jetzt und Hier wollen und zugleich Einschränkungen
für die ursprünglichen Wahlspielräume seines Wollens —
nicht das positive Wollensprojekt in seinem Sosein inhalt-
lich eindeutig bestimmende Dinge. Nur so läßt es sich ver-
stehen, daß es eine Richtung der Abstufung gibt in allem
Menschenwollen, in der es sich zunehmend von dem Pol
des bloßen > Arbeitens« aus dem »Schaffen« nähert, ohne
dieses je voll zu erreichen. Nur das Er-schaffen bleibt mensch-
lichem Wollen nicht als menschlichem, sondern schon als
> endlichem « überhaupt wesenhaft versagt. Denn > Schaffen <
ist eine Willensrealisierung um so mehr als im Willens-
und Werkinhalt die Materie, an der diese erscheinen, für
Sinn, Wert und Bedeutungsgehalt des Ganzen zurück-
tritt und je originaler (darum auch unvorhersagbarer,
unableitbarer aus zuvor Gegebenem) es ist; je größer zu-
gleich die Deckungsadaequation zwischen Projektum und
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^So Probleme der Rel^on.
Werk ist. In wesenstypische Ersdieinung tritt das dem
Schaffen sich am allermeisten annähernde Wollen im quasi
» heiligen « Menschen, derin keinem anderen Mediimi als dem
immer ihm gegebenen, stets ihm zugänglichen der eigenen
Seele — sekundär und durch Beispiel und Nachfolge in
allen anderen Seelen — »sich selber« schafft als einen
möglichst > vollkommen Guten« nach einem Wertwesens-
bilde, das ihm im Akte der Liebe zu sich >in Gott« ge-
worden ist. Der »Heilige« ist der maximal Unabhängigste
von fremdgegebener Materie, indem sein »Werk« eben »er
selber« ist resp. die fremde Menschenseele, die den idealen
Wertgehalt und Sinngehalt seines Werkes, d. h. der eigenen
geistigen Gestalt, in freier Nachfolge immer neu in sich
reproduziert. Es folgt als zweite Annäherungsstufe an
das Schaffensphänomen das Schaffen des Genius, der an
fremdgegebener Materie ein einmalig Originales ohne Vor-
bild schafft; an dritter der heldische Mensch, der nicht mehr
im Medium seiner selbst und der Seelen, nicht mehr auch
in von ihm abgelösten »Werken« sein Wertpersonwesen
einprägt, sondern weit abhängiger schon vom historisch
vorgepräg^en Stoffe der Gemeinschaften und Gruppen
(Völker,Staatenetc.)dieseindenGrenzenihrergegebenen
Entfaltungsmöglichkeiten durch unersetzliche Taten (die
aber im Gegensatz zum Genius immer auch denkbar ein
anderer Täter hätte tun können) weiterführt. — Nach den
gegebenen Wesenszusammenhängen ist nun schon klar,
daß der Weltwiderstand schlechthin, in dem uns das Real-
sein der Welt »gegeben« ist (und »ein« Wirken, das
»widersteht« mitgegeben) in endgültiger Weise nur durch
ein Weltwollen durch Gott verständlich ist — nicht also
durch bloße natürliche »Kräfte«, die wir zwischen Sub-
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Problmne der Religion. 48 1
Stanzen da annehmen, wo Gesetzmäßigkeit des Wirkens
vorliegt. Das Phänomenon des noch imdifferenzierten Welt-
widerstandes als solchen ist uns weit ursprünglicher ge-
geben als alles Einzelne Besondere, was uns widersteht
oder nicht widersteht, — genau wie im Denken die Welt Zu-
gehörigkeit jedes Gegenstandes im je besonderen Gegen-
stande mitgegeben ist, in der Sinneswahmehmung aber
Umweltsein und Umweltstruktur vor jedem besonderen
wahrnehmbaren Objekt; genau so, wie uns im Erfessen
eines inneren Vorgangs mitgegeben ist das vage Ganze
der Seeleneinheit und -mannigfaltigkeit, in deren Grenzen
er auftaucht, im einzelnen Seelenwesen aber die Gruppen-
art und der Gruppencharakter der Gruppe, zu der das
Seelenwesen »gehört«. Darum setzen die sonstigen dyna-
mischen Agenden, die wir in der Welt setzen (die > Kräfte « ,
> Energien«, Triebe, Zielkräfte usw.) als wirkende sog.
»causae secundae«, nicht nur sachlich, sondern auch hin-
sichtlich ihrer Verständlichmachung, das Verstehen des
Widerstandes der Weltund ihrer Realität als einesGanzen
und zwar nach dem uns einzig zugänglichen Musterbilde
für das Realwerden eines Irrealen überhaupt, d. h. durch
ein geistiges WoUensartiges, voraus. Die bloße »Summe«
der causae secundae könnte uns das Urphänomen des
Welt Widerstandes so wenig verständlich machen wie die
Annahme einer Weltkraft oder Weltenergie.
Sehen wir uns aber gleichzeitig die Stufenleiter der
Phänomene an, in denen der Mensch als Wollender sich
dem Schaffenden annähert — das wir als festumschriebene
»Idee« und streng unterschieden von allen Ideen sonstigen
Realwerdens wie Bewegung, Veränderung, Wachstum,
Zeugung etc. jedenfalls klar besitzen; sehen wir femer auf
31
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482 Probteme der Rcl^:ion.
die beschränkenden Gründe dafiir^ daß uns nie > vollkom-
menes Schaffen« gegeben bt, so brauchen wir nur die be-
schränkenden Gründe wegzudenken, um zunächst die Idee
eine^ »vollkommenen Schaffens« zu finden. Die Idee voll-
kommenen Schaffens besteht in der Idee eines geistigen
Wollens, dem die »Materie«, in die es sein Projektum ein-
prägt, schlechthin und ohne jeden eigengesetzmäßigen
Widerstand sozusagen gehorsam wäre imd das Nichts ihr
entnimmt, was in ihr Projektum eingeht. Ein also » vollkom-
men schaffender Gott « wäre gleichwohl noch ein Demiurgos,
nicht aber der theistische Gott. Er wäre noch ein endlicher
Weltbaumeister; nicht Welterhalter und -lenker, sondern
nur Weltformer imd -leiter — nur ein Künsder- und Genius-
gott, nicht der Gott der Heiligen. Denn erst wenn wir zur
Idee des so erhaltenen »vollkommenen Schaffens«, indem
wir sie zur Wollensart eines unendlidien geistigen Seins a
se et per se steigern, die grundverschiedene Idee eines »Er-
schaffens« setzen, kommen wir per analogiam dem realen
Grundverhältnis von Gottund Weltnahe. Erschaffenwerden
ist Werden eines Realen durch ein Wollen, das ohne jede
Materie, die ihm gegeben würde (sei es aus sich, sei es
^ nicht aus sich) »aus Nichts« vollkommen schafft — eine
analogische Redeweise, in der nur die Grenzbetrachtung
sich ankündigt, die der Ursprung der theistischen Lehre
ist. — Der Erkenntnisweg, der zum Schöpfergott fuhrt,
ist damit noch nicht ganz vollendet. Denn zum Gedanken
des Schöpfergottes gehört nicht nur der Satz, daß ein unend-
licher Geist die Welt ins Dasein setzt (einmal oder dauernd)
sondern auch, daß das, was ins Dasein setzt, Wille sei, ja,
daß dieser Wille ein freier Personwille sei. Erst damit
sind ausgeschlossen die Ideen i.einesewignotwendigen
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Probleme der Religion. 4^5
Willens als Ursache der Welt, 2. eines notwendigen Her-
vorgehens der Welt aus Gott, 3. eines absolut zufälligen
blinden irrationalen Willensstoßes, der die Weltidee ins
Dasein rief, 4. eines ewigen bloßen unbewegten » Bewegers «
den Welt im Sinne einer die Weltbewegungen zu sich hin
soUizitierenden götdichen Realität. (Aristoteles), 5. einer
rein zeitlich gedachten Welt, die sich schöpferisch aus einer
Gottheit entfaltet, die sich selbst macht. (Dieu, qui se fsut.)
Ein Gott, der nur wäre ewig, nur aus sich heraus
notwendiger Wille und nichts anderes wie (Uebe,
Logos) oder der solcher Wille auch nur primär wäre
oder an erster Stelle (so daß auch die Wesenszusammen-
hänge und Ideen, die an der Welt erschaubar sind auf
seinen ewig notwendigen Willensentschlüssen beruhten)
wäre von einer universellen Schicksalsmacht nicht
unterscheidbar. Die griechische Heimarmene, die moham-
medanische Gotteslehre und die entsetzlichen Irrungen
Calvins kommen dieser Überspannung der souveränen
Willensmacht in Gott häufig nahe.
Gottes Wille ist nicht notwendig »aus sich herauf«,
sondern notwendig nur, insofern er dem Wesensge-
setze, daß evidente Werteinsicht die Inhalte des WoUens
notwendig bestimmt und nur das Wollen dieser so be-
stimmten Inhalte »frei« läßt, frei folgt im Sinne maximaler
Wertverwirklichung. Nur das Wollen dieses Wertmaxi-
mums ist absolut »frei«, nicht die Inhalte des WoUens, die
durch Liebe, Güte und Weisheit schon vor dem Wollen
notwendig bestimmt sind. Jede Lehre von einem Willens-
primat in Gott ist also so falsch und irrig wie jede Lehre
von einem Willensprimat im menschlichen Geiste. Und
nicht weniger falsch ist jede Lehre, die Gott nur die geisti-
31*
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484 Prol^eme der Religion.
gen Attribute des Wollens und des Verstandes zuweist,
öun aber Güte, Liebe, Weisheit abspricht (wie z. B. die
Lehre Eduard von Hartmanns). Sehen wir uns die ana-
logische Fundierung der geistigen Aktarten, wie wir sie
vom Studium des Menschengeistes auch auf Gott zu über-
tragen haben, etwas genauer an, so ist die lu-sprünglichste
Wurzel alles »Geistes«, sowohl des erkennenden und
wollenden Geistes in Gott wie im Menschen vielmehr die
Liebe.* Sie allein ist das, was^ die Einheit von Willen und
Verstand stiftet, die ohne sie dualistisch auseinanderfielen.
Das Erste, was bereits von der Liebe Gottes abgeleitet
ist, ist seine Seinsgüte, die wir von seiner Willensgüte,
welche Folge seiner Seinsgüte ist, zu trennen haben. Gott
ist summum bonum, das als Person zugleich Seinsgutheit
ist. Inhaltlich aber ist diese Seinsgüte nach den ethischen
Wertaxiomen, nach denen der Liebe der höchste Aktwert
zukommt, nichts als Liebe. Die spezifische Willensgüte ist
bereits Folge davon, daß Gottes Wille ewig eins ist und
übereinstimmt mit dem, was er liebt. Gott liebt nicht, was
er will und weil er es will, sondern er will ewig, was er
liebt und Hebend als Wert bejaht.
Aber nicht nur die Liebe, auch der Verstand Gottes ist
seinem Wollen vorgeordnet und das Wollen richtend und
leitend. > Am Anfang« war nicht die — Tat, sondern der
liebegeleitete Logos. Der Verstand ist dem Willen un-
mittelbar vorgeordnet nicht als Allwissenheit, sondern
als Allweisheit. Weisheit aber ist Wissen um die Wert-
einheiten und Wertqualitäten in der ihnen zukommenden
objektiven Ordnung. Und da wir Nichts seinserkennend
^ Siehe hierzu meinen Aufeatz über »Liebe und Erkenntnis« im Buche
* Krieg und Aufbau«, femer den 3. Band dieses Werkes.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 485
erfassen können, was nicht ursprünglich als Werteinheit
gegeben war, so geht Gottes Allweisheit seiner All-
wissenheit vorher. Dem Wollen aber geht beides vorher,
Allweisheit und die von ihr abhängige Allwissenheit.
Weisheit ist nicht eine nachträgliche Verwertung ge-
gebenen Wissens von Seiendem für die höchsten Wert-
ziele. Sie ist vielmehr eine Fähigkeit der ursprünglichen
Konzeption und Anordnung des zu Schaffenden so, daß
mögliches Wissen von ihm ein erwerbenswertes Wissen
sein könne. So steht die Weisheit zwischen der Liebe und
dem denkenden Anschauen der durch das Wollen zu realir
sierenden Ideen. Auch die Idee eines Schöpfefgottes setzt
als Kern de^ göttlichen Geistes die Liebe — nicht das
Wissen — voraus. Die Gottesidee de§ Aristoteles hat
auch darum nicht das der christlichen Gottesidee wesent-
liche Merkmal der Schöpferkraft, weil das Attribut der
Liebe dem Gegenstand dieser Idee fehlt. Nur die Liebe
Gottes macht es femer verständlich, daß Gott sein Wollen
im Sinne einer Schöpfung betätigt und nicht ewig in sich
ruhend verschlossen hält. Wie femer die spezifisch und
positiv christiichen Prädikate Gottes als eines Gottes, der
sich offenbarend mitteilt und sich in der Menschwerdung
zum Menschen herabbeugt nur verständlichen Anschluß
finden an eine Idee des göttlichen Geistes, in der Liebe,
nicht Verstand und nicht Willensmacht als das gmnd-
legende Attribut gesetzt ist, ist von mir schon ander-
weitig gezeigt worden. ^
Wie Akt und Gegenstand im Sein Gottes zusammen
fällt, so fallt auch die Bestimmung Gottes als summum
* S. »Abhandlungen und Aufeätze«, jetzt »Vom Umsturz der Werte« im
Aufsatz über das Ressentiment.
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486 Probleme der Religion.
bonum (unendliches positives heiliges absolutes Wertgut)
und Gott als unendlicher Liebesaktus in Eins zusammen.
Nur aus diesem Grunde muß die kontemplative mystische
Gottesliebe »zu« Gott als dem höchsten Gute wesensnot-
wendig zum Mit- und Nachvollzug des unendlichen Liebes-
aktes Gottes zu sich selbst und zu seinen Geschöpfen
führen — so daß wir Menschen uns zur Kreatiu- neben
uns analog verhalten wie Gott zu uns Menschen — wie
andrerseits die Liebe »in« Gott, d. h. die aktive Neuein-
stellung des geistigen Personzentrums in den Kern der
göttiichen Allperson und das Mit-lieben aller Dinge mit
der Liebe Gottes von selbst wieder zu Gott als höchstem
Gegenstand der Liebe zurückkehren und sicH so mystisch-
kontemplativ im.Amare Deum in Deo vollenden muß.
Es führt in tiefe Irrtümer, nur eine dieser verschieden-
gerichteten Liebesbewegungen unseres Herzens gelten
zu lassen, wie es z. B. die griechische Religiosität einseitig
mit der ersteren, die lutherische antimystische einseitig
mit der letzteren getan hat. Die freie Willensmacht Gottes
ist — da Gott auch sein eigenes Dasein seinem Wesen
gemäß ewig und notwendig selbst setzt, — also in die
Grenze seines ewigen geistigen Wesens eingeschlossen.
Gott ist »wesensnotwendig« frei und will sich selbst, d. h.
sein Wesen frei als ein ewig Notwendiges.
Nicht weniger irrig als eine Lehre, die das, was in
Gottes Geist analogisch der Vernunft und der Liebe^ ent-
spricht, ganz und gar von seinem quasi »Willen« ver-
schlungen werden läßt, ist jene Lehre, die seit Plotinos
in mannigfachen Formen wiederkehrt, und die am wirk-
samsten Spinoza und Hegel vertreten haben : Daß die
Welt notwendig aus Gottes Wesen hervorgehe (sei es
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Probleme der Religion. 4.87
in zeitlos logischer Weise, sei es in der dynamischen
Form eines zeitiosen oder gar in der Form eines zeit-
lichen Werdens).. Diese Lehre ist wesensgesetzmäßig mit
einem extremen Intellektualismus in der Lehre vom
Geiste (auch dem menschlichen) und stets mit irgendeiner
Form des Pantheismus verbunden. Und zwar ist dieser
Pantheismus stets ein akosmistischer Pantheismus d. h.
eine Lehre, die an erster Stelle die Kontingenz und das
Realsein der Welt und die Unableitbarkeit ihrer Dinge und
Vorgänge aus den in ihr realisierten Wesensbeziehungen
und Wesenheiten verkennt. Nur wer die Realität dieser
Welt nicht sieht, kann dieser Anschauung huldigen. Und
nur wer den Wesenszusammenhang von Realsein und
Gewolltsein verkennt, könnte, trotzdem er die Realität der
Welt sieht, ihr Dasein auf einen puren Verstandesgeist
zurückfuhren. Verhielte sich Gott zur Welt (pantheis-
tisch) nur wie das Ganze zu seinen Teilen oder das
Wesen zu seiner Erscheinung oder die Substanz zu den
Modis ihrer Wesensattribute, so bliebe auch den end-
lichen Geistern nur die eine Aufgabe, die Welt richtig
zu denken und wahr zu erkennen — nicht aber auch die
Aufgabe, sie frei nach einem Plane, unter der Herrschaft
von Wertideen und Normen, (die nicht aus ihrem Dasein
abstrahiert sind) zu einer besseren Welt mitzugestalten.
Die sittliche Aufgabe des Lebens löste sich hier voll-
ständig in die kontemplative auf. Man ersieht hieraus,
wie notwendig die Nichtaufnahme des Willenserlebnisses
des Menschen an der Welt in die philosophische Kon-
zeption der Welt und die in ihm erfolgende Erfahrung
von Weltwiderstand und Realität, auch tiefgehendste
Irrtümer in der Gottesidee nach sich zieht. Die Welt for-
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^.88 Probleme der Religion.
dert eine Willensursache nur, da sie und sofern sie eine
reale und kontingente Welt ist; da die Wesenszusanunen-
hänge ihre idealen »Möglichkeiten« zwar in Grenzen
einschließen, aber nicht eindeutig das Wirkliche bestimm
men. Obz^ar die Freiheit Gottes keine Freiheit unab-
hängig von seinem Wesen oder gar gegen sein ewiges
Wesen sein kann, sondern in sein Wesen eingeschlossen
ist, ist es doch eben die Freiheit, die auch in sein We-
sen eingeschlossen ist. Erkenntnistheoretisch ist daher
mit dieser Lehre notwendig ein falscher hyperrealistischer
Piatonismus verbunden. Das ganze Reich der »zufälligen
Tatsachen«, der »causae secundae« und das Recht der
empirisch-induktiven Methoden in dem Felde alles außer-
wesensmäßigen Weltjgehalts wird dann übersehen. Die
positiven Wissenschaften lösen sich in diesem Falle in die
Philosophie, aber auch die Religon löst sich in philoso-
phische Gnosis, die positive Religion aber in die natürliche
auf. Ist in Gott als Geist das Wesen der Personalität und
Freiheit verkannt, so muß femer auch den endlichen Wesen
Personalität und Freiheit aberkannt werden. Sie werden
bloße Modi eines göttlichen Wesensattributes »Denken«
oder nur Durchgangspunkte eines logischen oder dyna-
mischen Prozesses — im besten Falle bloße Funktions-
einheiten des göttlichen Geistes. Irrtum und Sünde er-
scheinen unter dieser Voraussetzung notwendig schon aus
Endlichkeit und Leiblichkeit überhaupt hervorzugehen —
nicht aus freien Akten des persönlichen geistigen Willens;
oder sie werden wie bei Hegels historisierendem Pantheis-
mus notwendige Anreizungen der historischen Entwicklung
— Unterfälle der grundfalschen »dialektischen« Lehre von
der schöpferischen Kraft der Negation (omnis determi-
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Probleme der Religion. ^.89
natio est negatio) — einer Anschauung, die schon seit
Nicolaus von Cues eines der fragwürdigsten Elemente des
deutschen Volksgeistes geworden ist. Zwischen Welt-
werden und Weltprozeß (resp. Erhaltung und Leitung)
verwischt sich jeder Unterschied. Die Welt wird entweder
ewig wie Gott selbst, da sie ja notwendige Folge seines
ewigen Wesens ist (Spinoza), oder es wird Gott (wie bei
Hegel) selbst in das Werden hineingezogen.
Nicht darin irrt diese Lehre, daß sie die Inunanentia
Dei in Mundo, die Allgegenwart Gottes in allem Seienden,
die Mitwirkung (concursus divinus) Gottes auch in allem
Wirken der causae secundae, die notwendige Sobestimmt-
heit des göttlichen Willens durch dem Wollen vorher-
gehende Ideen, die Liebe zur Welt nicht bloß auf
einzelne Inhalte bezogen, sondern auf die Welt als Welt-
sein selbst bezogen lehrt; auch nicht darin, daß sie
die » schlechthinige « Abhängigkeit der Seele von Gott
(scheinbar) tiefer empfinden macht und daß sie im kon-
templativen Leben einen ranghöheren Stand des Le-
bens sieht als im praktischen Wirken. Die Kritik des in-
tellektualen Pantheismus seitens der norddeutschen pro-
testantischen Willens-, Kraft-, Arbeits- und sog. »Kultur « -
Philosophie mit ihrem streng korrelaten falschen reli-
giösen Supranaturalismus (s. die falsche Interpretation des
Satzes Christi »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« im
Sinne, als sei es damit außer der Welt oder nur »über«
der Welt) ist immer weit übers Ziel hinausgeschossen.
Sie ist in Irrtümer gelangt, die sicher nicht minder tief
sind als die hier zurückgewiesenen. Der Pantheismus er-
hält gegenüber dem protestantischen Theismus eine tiefe
Wahrheit. Er hat immer der Gefahr des Theismus, in
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^go Probleme der Religioo.
Henotheismus zu verfallen, entgegengewirkt. Darin
liegt vielmehr die Irrung, daß in der Weltsubstanz sel-
ber schon Gott selbst gesehen, also eigentlich eine Imma-
nentia Mundi in Deo nicht die Immanentia Dei in Mundo
gelehrt wird, daß die ontische Allgegenwart Gottes in
allem Seienden, die auch uns etwas ganz anderes als bloße
Allwissenheit und Allmacht Gottes von diesem Sei-
enden, ja sogar Bedirigung auch der Allwissenheit und
Allmacht ist — zu einer irgendwie sinnlich anschaulichen
Einwohnung Gottes im endlich Seienden verkehrt wird;
daß der concursus Dei in allem endlichen Wirken der
causae secundae zu einer Ausschließung und Leugnung
der Wirkkraft der causae secundae übersteigert und eine
göttliche Allkausalität gelehrt wird; daß nicht nur die not-
wendige Sobestimmtheit des WoUens durch Ideen, son-
dern auch eine notwendige »Daß« bestimmtheit des WoUens
nur durch Ideen (und ohne Vermitdung durch emotionale
Werteinsicht = Weisheit) behauptet wird; daß die not-
wendig gebotene und wohlberechtigte Liebe zur Welt »in«
Gott und um ihres göttlichen Schöpfers und obersten Zieles
willen, selber schon Liebe »zu« Gott sein soll; das Amare*
Deum in Deo aber als höchste und Welt wie Gottes-
liebe notwendig in sich einschließende Liebesstufe über-
haupt nicht gesehen wird. Die protestantische Willens-
philosophie verwirft femer die höhere Rangstellung des
kontemplativen Lebens. Aber die höhere Rangstellung
des kontemplativen Lebens über das praktische Leben an
sich ist keine Irrung. Trotz allem, was man dawider sagen
mag, ist diese Lehre durchaus nicht nur »chrisdicher Intel-
lektualismus«; sie ist eine der ewigen Wahriieiten, die
die chrisdiche Philosophie gefunden hat. Erst die Nicht-
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TT
Probleme der Religion. 49 1
beachtung schon der Wesens-Tatsachen des Willenslebens
und die hier versuchte Auflösung des Wollens in Verstan-
destatsachen (im Menschen wie in Gott) führt in falschen
Intellektualismus. Denn erst hierdurch wird die pädago-
gische Wesensnotwendigkeit des ethischen Erkennens und
des moralisch-praktischen Lebens als Vorstufe schon für
die außerethische philosophische Wesenskontemplation
prinzipiell verkannt, und es wird dann natürlich erst recht
verkannt, daß auch diese philosophische Wesenskontem-
plation ihres Eigenwertes ungerechnet auch eine Vor-
stufe ist für die rein religiöse Gottinnigkeit im Amare
Deum in Deo. Endlich wird das funktionelle Primat des
Liebens vor dem Erkennen (das mit der hier behaupte-
ten Lehre vom Verstandeswertprimat ^or dem Willen
aufs genaueste zusammengeht) im intellektualistischen
Pantheismus ganz unterschlagen. Der Amor Dei intel-
lectualis Spinozas- z. B. ist nicht ein ursprünglich ge-
richteter Akt, der Bedingung des voUadaequaten und
evidenten Wesenserkennens ist, sondern soll nur das Ende
des Erkenntnisprozesses sein: »Die vollkommene Vereini-
gung mit der Sache selbst«, resp. die bloße Gefühlswir-
kung dieser Vereinigung. Der Gedanke, daß insbesondere
Gottesliebe Bedingung ist, nicht Folge einer (liebefreien)
Gotteserkenntnis, wird also in sein Gegenteil verkehrt.
Die schon in ihren phänomenologischen Ansatzpunkten
grundirrige pantheistische Liebestheorie (von Spinoza bis
Schopenhauer, Hegel und Hartmann), der gemäß Liebe von
A zu B selber nur eine Art (dunkle) Erkenntnis sein soll für
die Einheit des Weltgrundes und die personale Nicht-
existenz der Liebenden als Personen (d. h. ihrer bloß mo-
dalen oder funktionellen Existenzweise gegenüber Gott),
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4Q2 Probleme der Religion.
dieser letzte metaphysische Ausgangspunkt eines jeden
falschen soziologischen Kommunismus, ist gleich-
falls eine wesensnotwendige Folge des irrigen pantheis-
tischen Ausgangspunktes. Alle echte »Liebe« bejaht ihren
Gegenstand in der Zielrichtimg des Werdens zu seinem
eigentümlichen idealischen Wertwesen trotz seiner Da-
seinsgeschiedenheit von dem Dasein des Liebenden und
trotz seiner Andersheit, ja in und während der klaren Ge-
gebenheit dieser Daseins verschiedenheit und dieser Anders-
heit. »Liebte« ich nur darum Gott, weil ich ein Modus, eine
Funktion Gottes bin und nur darum die anderen Wesen,
weil sie es auch sind, — also substanziell von mir nicht ver-
schieden — , so könnte was ich also tue, »Liebe« gar nicht
sein. Das wäre nifhts als ein kleiner Egoismus, der niu-der
Teil wäre des großen All-Egoismus, in dem Gott (gleichfeUs
ohne echte Personal Verschiedenheit in sich) unfruchtbar
sich selbst liebt. Und so soll es ja auch nach Spinoza sein:
Unsere Liebe zu Gott sei — so Spinoza — nur ein Teil
der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt. Darum ist endlich
auch die Abhängigkeit der Seele von Gott hier keine
religiöse Abhängigkeit. Geht die Seele notwendig als
Funktion des göttlichen Geistes so aus Gott hervor, daß
sie ihm dabei zugleich ganz immanent bleibt; oder ist
sie nur die »Idee einer Idee des göttlichen Denkens«
(Spinoza), so fehlt mit der sittlichen imd freien Artung
der Abhängigkeit auch der ganze religiöse Wert und
Sinn, den diese Abhängigkeit haben kann. Sie ist nicht
die Abhängigkeit des quasi Kindes vom Vater, sondern
die Abhängigkeit des Sklaven von seinem Herrn. So kann
Spinoza im theologisch-politischen Traktat auch in der
Tat sagen: »Wir sind Diener, ja Sklaven Gottes«. —
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^^^rj^'f^:'
Probleme der Religion. 493
Wenn Gott selbst in mir denkt^ will etc., wenn Religion
nur das Bewußtsein Gottes von sich selber im Menschen
(Hegel) ist, oder seine Bewußtwerdung (Hartmann) so
gibt es nicht einmal Gehorsam gegenüber dem gött-
lichen Willen, (geschweige freie Liebe zu ihm) da das
Gehorchen selbst^ ein positiver autonomer Akt der
menschlichen Person ist (im Unterschiede zu zwingender
Suggestion, in der das Bewußtsein des fremden gebie-
tenden Willens als eines fremden fehlt). Noch weniger
gibt es »Velle in Deo« als freies »Wollen«. Wohl aber
sind wir »Sklaven« in jenem strengsten Sinne des Aristo-
teles: »der Wille des Sklaven ist im Herrn«. —
Gewisse neuere Metaphysiker haben über das Verhält-
nis der wirklichen Welt zu den möglichen Welten in be-
zug auf die Güte und Schlechtigkeit der Welt eigenartige
Behauptungen aufgestellt.
Leibniz behauptete, den Nachweis fuhren zu können,
daß die Welt nicht nur gut und vollkommen sei, sondern
daß sie — wie sie ursprünglich aus den Schöpferhänden
hervorgegangen ist — die beste und vollkommenste
aller möglichen Welten sei. Schopenhauer versuchte den
Nachweis, daß sie umgekehrt die schlechteste aller mög-
lichen Welten sei und daß sie, wäre sie noch um ein wenig
schlechter gewesen, nicht möglich, resp. ihre Teile nicht
compossibel gewesen seien. E. v. Hartmann behauptete,
daß das Dasein jeder Welt als solches schlecht und
sinnwidrig sei, daß aber unter den daseinsmöglichen
^ Gegen die Einwände des Pantheismus gegen den Theismus vergleiche
meinen Aufisatz : »Die Idee des Menschen« in Abhandlungen und Aufsätze,
Teil I. Daß der kantische Begriff der Autonomie der Vernunft (nicht der
Person, wie man stets falsch zitiert liest) gleichfalls zum Vemunftpantheismus
(Fichtes und Hegels) führe, ist am selben Orte gezeigt
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494 Probleme der Religion.
Welten die wirkliche noch die relativ vernünftigste und
beste sei.
Aber diese Lehren verkennen die Freiheit des gött-
lichen Schöpferwillens. Sie verkennen femer, daß zwar
die positiven Wesenheiten und Wesensstrukturen, die
wir als ideale Möglichkeiten für jede wirkliche Welt in
der Philosophie erkennen, auch für alle anderen mög-
licherweise wirklichen Welten in Geltung stehn; daß wir
aber nicht alle möglichen Wesenheiten selbst, die Gott
denkt, erkennen können, sondern nur diejenigen, die an
unserer wirklichen Welt realisiert sind. Diese aber müßten
wir erkennen, um irgend eine Behauptung dieser Art zu
wagen.
Um so wichtiger aber ist uns die Frage, wie nach dem
bisher Gesagten, also nach der gegebenen Gotteslehre
der Ursprung des Bösen und des Übelsr zu verstehen sei.
Da wir Gottes Dasein und Wesen nicht aus Dasein
und Beschaffenheit der Welt erschlossen haben, sondern
erst nach selbständiger Erkenntnis des Daseins und des
formalsten Wesens Göltes und der Erkenntnis des Daseins
der Welt geschlossen haben, daß Gott die prima causa der
Welt sei, so haben wir das Recht und die Pflicht die Frage
zu stellen, wie sich die wirkliche uns empirisch bekannte
Welt zu der Welt verhalte, die wir als Schöpfung eines
alliebenden und allgütigen Gottes zu erwarten haben.
Da wir nur eine vollkommen gute und sinnvolle Welt als
Schöpfung eines mit den Attributen der Liebe und der
unendlichen Vernunft ausgestatteten Schöpfers ohne jeden
Zweifel zu erwarten haben, in der uns bekannten Welt
aber Un Vollkommenheit, Böses, Übel in breitester Reali-
tät anzutreffen ist, so ist es für uns ein sicherer (von
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Probleme der Religion. ^gc
Offenbarung ganz unabhängiger) Vemunftschluß, daß die
Welt durch eine freie geistige Ursache nach ihrer Schöp-
fung in eine grundlegend andere Verfassung geraten sei
als diejenige war, in der sie sich unmittelbar befand, als
sie aus den Schöpferhänden hervorging. Die wirkliche
uns bekannte Welt ist weit schlechter als es ihrem Grunde
entspricht. So wird uns die freie Tat eines der menschlichen
Macht überlegenen Geistes überhaupt, durch die die Welt
in jene Verfassung geraten ist, zu einer sicheren Wahrheit
der Vemimft. Der sogenannte »Fall« ist mithin eine vom
Theismus unablösbare Wahrheit der Vernunft (und nicht
bloß ein Satz aus der Offenbarung).
Es war innerhalb der deutschen Philosophie ein ent-
schiedener Fortschritt über den Vemunftpantheismus der
klassischen Kantianer, als Schelling und Schopenhauer
die Tiefe und Wahrheit der christlichen Lehre vom
»Fall« neu ins Auge faßten. Schopenhauer besonders
sah in den Lehren von Fall und Erbsünde die > tiefsten
Wahrheiten des Christentums« . Aber er macht auch diese
Wahrheiten in der eigenen Philosophie zur Irrung, indem
er im Dasein selbst und im daseinsetzenden Wollen schon
die »Urschuld« sieht.
Was ist der tiefere philosophische Grund, der ihn zu
seinem Satz fuhrt? Es sind vor allem zwei Gründe.
I. Schopenhauer nimmt die drei Attribute »Vernunft«,
»Liebe«, »Güte« nicht auf in seinen »Weltgrund«. »Ver-
nunft« als Fähigkeit zu Wesenseinsicht kennt er nicht; für
ihn erschöpft sich Vernunft in mittelbarer Verstandestätig-
keit des induktivenBegriffebildens,desFolgems undSchlie-
fiens — die allerdings ohne die höhere Leitung durch eine
positive geistige Liebe und ohne die unmittelbare Wesens-
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^g6 Probleme der ReligioD.
einsieht (ohne schauende Vernunft) notwendig zu einer
Beute, einem bloßen technischen Mittel für die Befriedigung
dunkler Vital triebe werden müßte. Ein Ursprung aber auch
schon dieses technischen Verstandes aus einem blinden
Lebenswillen bliebe unverständlich (das blinde Lebens-
drängen kann sich keine > Fackel « anzünden ; denn wo wäre
das Licht, um den Wert der Fackel zu sehen?). Verstand
ist nur als Diener schauender Vernunft verständlich; Liebe
führt er fälschlich auf Mitleid, Mideid aber auf Gefühls-
ansteckung, resp. auf eine dunkle instinktive Erkenntnis
des Alleins zurück. Güte kennt er nicht, da er keinen
»guten Willen« kennt
2 . Auch Schopenhauer legt mit Recht dem Weltgrund das
Attribut des »WoUens« bei. Aber dieses Wollen ist nur
der Inbegriff des dunklen unbegrenzten Triebdranges des
»Willens zum Leben« , nicht ein den Triebimpulsen zentral
entgegentretendes, liebegeleitetes Vemunftwollen. Da er
nun richtig erkennt, daß Realität, Wirklichkeit keine
logische, sondern eine voluntative Kategorie ist, er aber
einen liebe- und ideengeleiteten Willen nicht anerkennt, ist
die Welt als Wirklichkeit ihm nur Gegenstand eines
blinden Begehrens. Die Folge ist, daß ihm das Realsein
der in der Welt realisierten Ideeninhalte als solches
schon blind und schlecht ist. (Diese Ansicht übernahm
er von Schelling, von den Indem und E. v. Hartmann
folgte ihm darin.) Der Sinn des Lebens kann daher nach
dieser Lehre nur in einer systematischen Irrealisierung
der Welt bestehen — d. h. im Versuche, sie zum objektiven
Bilde zu machen: Im »Nein« zum Willen zum Leben, der
derselbe blinde Drang in allen Dingen ist. Dieses »Nein«
soll der gemeinsame Ursprung sein für alle Gestalten des
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Probleme der Religion. 497
höchsten Menschentums(Genius, Philosoph, Heiliger). Ganz
unfaßlich bleibt aber, was es denn in uns sei, was
»Nein« zum Leben sagt, wenn wir bis in die Wurzeln
unserer Existenz ganz dumpfes Triebleben sind. Das bloße
Nein kann femer nichts positiv Wertvolles hervorbringen.
Und um welchen höheren Gutes willen sagen wir »Nein«
zum Leben? Auch Friede, Ruhe, Stille, seliges Ausruhen
in der ästhetischen Anschauung der Gehalte des Alls sind
schon positive Gemütszustände, nicht bloß Abwesenheit
des Dranges zum Leben. Bei Schopenhauer aber soll das
höhere Gut ausschließlich durch Verneinung des Niedri-
geren entspringen. Negative Ressentiment- Askese ist die
Folge. Schopenhauers Methaphysik ist falsch, da sie den
Ursprung des Guten, des Lichtes, der Vernunft, der
Liebe, des Opfers, des echten Mitleidens und der Ge-
rechtigkeit in der Welt nicht zeigen kann.
Aber auch das ist bei Schopenhauer Irrtum, daß er den
Lebens drang zu einem » Blinden « , > Bösen « , » Schlechten «
verkehrt. Das Böse hat seinen Sitz im Geiste, im Haß
und im Wollen, — nicht im Triebleben. Der Lebensdrang
ist zwar nicht sittlich gut, aber er ist auch nicht böse und
blind. Er ist zielmäßig in jeder seiner Regungen — wenn
auch ohne Einsicht und Begriff — und nicht auf Erhaltung
sondern auf Entfaltung (Zeugung, Wachstum, Bildung
inuner höherer Organisation) gerichtet. Gewiß ist er rein
für sich nicht von Liebe, Vernunft geleitet; darum ist er
dämonisch, nicht aber böse. Erst die geistige Bejahung
seiner Richtungen, soweit sie im bewußt gewordenen
Gegensatz zu einem erkannten und geliebten Guten stehen,
ist böse.
Während Schopenhauer die Idee Gottes verwirft (im
32
/
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aqS Probleme der Religion.
pantheistischen und theistischen Sinne) und Religion in
eine Heilstechnik aufgehen läßt, die zeigt, wie man zur
Verneinung des Lebenswillens kommen kann, halten E.
V. Hartmann und der ältere Schelling die Idee Gottes fest.
Sie halten femer eine Weltvemunft fest, verlegen aber den
Ursprung des Schlechten und Bösen in den Ursprung der
Dinge selbst und zwar in die Tatsache, daß Gott die Welt
nicht nur dachte, sondern sie überdies realisierte. Da
dieses »Wollen« Gottes an sich blinde absolut zufällige
Velleität ist, wenn auch (bei Hartmann) in den Grenzen
seiner Vernünftigkeit, so daß, wenn Gott die Welt
wollte, er die relativ vernünftigste wollen mußte, so ist das
Wirklichsein der Welt und jeder möglichen Welt auf
alle Fälle schlecht. So fallen hier Schöpfung und Fall
fast in Eins zusammen. Eben daß sie real wurde, das
ist der »Fall« der bloßen Weltidee, die an sich gut und
vernünftig ist, — der »Fall« in die Wirklichkeit. Auch hier
ist der Weg des Heils die aktive Selbsterlösung aus
dieser Wirklichlichkeit — der Weg ihrer Irrealisierung.
Für Schopenhauer geschieht diese Umkehr plötzlich und
sporadisch im einzelnen großen Individuum; bei Hart-
mann durch den Heilsweg der Geschichte des Menschen.
Aber diese »Erlösung« ist Selbsterlösung und in zweiter
Linie Gotterlösung durch den erkennenden, sittlichen,
wollenden und künsderisch bildenden Menschen. Indem
Gott als absolut unbewußter Geist sich im Menschen
seiner blinden Untat, die Welt — anstatt sie bloß zu
denken — realisiert zu haben, immer klarer bewußt
wird, soll dieser blinde ziellose Willensakt am Ende
der Weltgeschichte zurückgenommen werden und die
Welt wieder in den guten und seligen Zustand der Irrea-
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Probleme der Religion. 499
lität, des bloßen Gedanken- und Bildseins zurück-
kehren. Diese Lehren sind geschichtlich zunächst sehr wohl
verständlich. Sie bilden erstens eine sehr sinnvolle Reak-
tion gegen den kindischen optimistischen Pantheis-
mus der Fichteschen und Hegeischen Epoche. Soll über-
haupt Pantheismus sein, nicht Theismus, so muß logisch
folgerichtig auch das Böse und das Übel in den Weltgrund
selber verlegt werden. (Das beweist alle Geschichte des
Pantheismus). Nur der Theismus kann das Böse verstand- /^
lieh machen — ohne es in den Weltgrund zu verlegen. \
Denn es ist widersinnig, das Böse und das Übel nur auf
unsere mangelnde fragmentarische Kenntnis der Welt zu
schieben (Spinoza) — als schlösse sich hinter den Fragmen-
ten, die wir kennen, alles in ein sinnvolles harmonisches
Ordnungsganzes zusammen. Und es ist wiedersinnig, ja im
Grunde verbrecherisch, mit Hegel in allem moralischen
Bösen nur das anreizende Salz zu sehn für neue posi-
tive Entwicklungen, die sog. »schöpferische Negation«.
Es gibt keine schöpferische Negation. Der Satz: »Omnis
determinatio est negatio« ist falsch und irrig. Er hat seine
Grundlage in dem falschen romantischen Lebensgefühl:
»Widersprüche machen fruchtbar«. — Aber nicht minder
ist die Lehre eine sinnvolle Reaktion gegen das, was ich
den »Theismus ohne Fall« nenne — sei es, daß der Fall
überhaupt geleugnet wird, sei es, daß er zu einer bloßen
positiven Oflfenbarungslehre gemacht wird. Wir sahen
früher: der auffällige Widerstreit einer von Gott gut ge-
schaffenen Welt und dieser wirklichen Welt führt uns
notwendig zur Annahme des Falles. Auch wenn der Fall
zugestanden ist, sogenügtesschonfürdie natürliche
Theologie nicht, daß er nur für den Menschen zugestan-
Digitized by LjOOQIC
CQO Probleme der Religion.
den ist. Der » Fall « des Menschen ausschließlich aus seinem
freien Wollen heraus — ohne Versuchung durch ein höheres
und mächtigeres böses Element über ihm — ist fiir den
gottgeschaffenen gottebenbildlichen Menschen un-
denkbar, auch wenn ihm die echte Person- und Wahl-
freiheit beigelegt wird. Das an sich positive Gut der Frei-
heit ist doch ceteris paribus mehr Freiheit zum Guten als
zum Bösen. Die Aktualisierung der Freiheit zur wirklichen
Wahl des Bösen bedarf also eines Anreizes außerhalb und
oberhalb des Menschen. Eine richtige Wertmetaphysik
muß femer den Satz festhalten, daß auch alles Welt übel
in einer konzentrierten Macht des Bösen gründet und da
das »Böse« nur Wesensattribut einer Person sein kann,
in einer bösen Person. Das Böse ist nicht ein bloßes Übel
oder aus dem Übel notwendig entsprungen, wie alle natura-
listischen Lehren sagen, die es nur als natürliche >Un Voll-
kommenheit«, als »Entwickelungshemmung«, als »Ata-
vismus« oder als Krankheit ansehen (Leibniz, Spencer
u. a.)\ Es ist von Hause aus Praedikat freigeistiger Akte,
es ist also freier und bewußter Aufstand gegen eine un-
deutlich als gut erfaßte Macht und Realität. Übel, Zweck-
widrigkeit ist und kann nur seine Folge sein für jede
Anschauung, die überhaupt einen geistigen Grund der
Welt annimmt. Hält man aber diesen Satz fest: Böses
ist der Ursprung auch des Übels als des Inbegrifls
negativer außermoralischer Werte überhaupt, sofern sie
außergeistigen Gegenständen zukommen (z. B. Krankheit,
Tod), so ist es unmöglich, die nur bekannten Weltübel
ausschließlich aus dem Bösen des Menschen entspringen
* Siehe hierzu: »Formalismus in der Ethik«, wo diese Lehren eingehend
widerlegt werden.
\
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. cqi
ZU lassen. Denn das Weltübel ist für die uns empirisch be-
kannte Welt ein notwendiges Constituens, in durchsich-
tiger naturgesetzlicher Kausalität notwendig auch mit
dem Weltguten verknüpft. Ja der Grund aller einzelnen
Übel ist gerade diese uns als mit dem Eindruck des un-
abwendbar Tragischen gegebene notwendige Verknüpft-
heit von Gutem und Übeln, ja selbst von Gutem und Bösem
in der menschlichen Natur. Daß es wahr ist: daß jeder die
Tugenden seiner Fehler habe und die Fehler seiner Tugen-
den, daß jeder Person Fehler und Tugenden und jedes Vol-
kes Fehler und Tugenden demselben Charaktergrund ent-
springen und einsichtig daraus herfließen: das macht den
tragischen Charakter des Daseins aus^ Das Phäno-
menon desTragischen ist selbst ein Beweis, daß Pantheis-
mus und »Theismus ohne Fall«, aber auch die Verlegung
des Grundes von Bösem und Übel in den Weltgrund falsch
sind. Es ist die tragische Notwendigkeit in der Ver-
knüpfung von Übel und Gutem, Bösem und Gutem in der
uns bekannten Welt, die es ausschließt, nur im menschlich
Bösen den Ursprung des Übels zu suchen. Diese tragische
Verknüpftheit ist selbst das größte Übel. Es ist der
konstitutiv fragmentarische Charakter alles positiv Werti-
gen in dieser Welt, der in bloße »Unentwickeltheit« der
Welt zu verlegen, ihn durch sog. Fortschritte für über-
windbar zu halten, die große Kinderei alles » Liberalismus «
ist und seiner geistigen Nachgeburten. Der »Mensch ist
wirklich — wie Kant tiefsinnig bemerkt — aus zu krum-
mem Holze gemacht, als daß je ein ganz Gerades aus ihm
gezimmert werden könnte«. Das Weltübel ist zwar
* Vgl. hierzu meine Abhandlung über das Wesen des Tragischen in »Ab-
handlungen und AuÜsätze«, 2. Aufl.
Digitized by VjOOQ IC
^02 Probleme der Religion.
objektiv die Folge eines Bösen überhaupt, da es nur eine
solche sein kann — wenn der Geist die Welt leitet —
aber es ist doch dem menschlichen Bösen vorhergehend
und die dauernde große Versuchung zum bösen Sein und
Verhalten des Menschen.
Die Metaphysik vermag keine Geschichten zu er-
zählen; keine Begebenheit in den Personreichen, die
zwischen Gott und Mensch in der Mitte stehen. Aber sie
vermag doch aus diesem Tatbestand, ihn mit den Tat-
beständen der genannten Wesens Wahrheiten zusammen -
schauend, noch zu schließen^: Der Ursprung des Bösen,
das der letzte Grund ist des Übels dieser Welt und
damit auch die Ursache der unmittelbaren versucherischen
Anreize zum menschlich Bösen kann weder im Weltgrund
selbst liegen, noch allein im Menschen. Er muß seinen Ort
haben in einer metaphysischen Zwischensphäre zwischen
beiden, in einem freien Aufstand gegen Gott durch eine
Person, die Macht hat über die Welt. Aber aus dem-
selben Grunde ist auch die Erlösungsbedürftigkeit
der Welt und des Menschen an erster Stelle (d. h. des
Mikrokosmos, in dem alle Elemente und Kräfte der Welt
solidarisch sind) eine metaphysische Wahrheit. Der Mensch
kann nicht zu seinem Heile kommen, es sei denn durch
Erlösung. Nur die Tatsache der Erlösung ist theo-
logisch positiv in einem freien Willensakte Gottes
wurzelnd, nicht diese hypothetische Notwendigkeit. Inso-
fern muß man mit Newman sagen: »Die Welt ist von
ihrem Schöpfer abgefallen: sie befindet sich konstitutiv
nicht in Übereinstimmung mit ihm. Das ist eine Wahr-
heit, so sicher wie mein eigenes und Gottes Da-
* Siehe Newman: »Apologia pro vita sua«.
Digitized by VjOOQ IC
i
Probleme der Religion. C03
sein«. Sie bedarf der Erlösung und sie seufzt nach
Erlösung. Gänzlich widersinnig dagegen — eine contra-
dictio in adjecto — ist der Begriff der »Selbsterlösung«.
Was wir selbst spontan erreichen können das ist eben
keine Erlösung. Noch viel widersinniger ist der Gedanke
einer »Erlösung Gottes durch den Menschen« . (Hart-
"mann.) Denn:
1. Es ist kein religiös sinnvolles Erlebnis, das dieser
Idee zugrunde liegt, sondern eine rein dialektisch zurecht-
gedachte Sache.
2. Es ist aber auch widersinnig, daß das Abgeleitete
den Grund erlösen soll, der Mensch, in dem doch nichts
an positiven Kräften sein kann, was nicht auch in seinem
und seines Geistes Ursprung ist, diesen Ursprung. Das
ist ebenso widersinnig, wie die Verneinung des Willens
zum Leben, wenn Nichts im Menschen ursprünglich ist,
wie blinder Wille.
Ein anderer Grund für jene Lehren, die den Ursprung
des Bösen und des Übels in den Weltgrund selbst verlegen,
ist die einseitig ästhetische oder nur spekulative Stel-
lung zum Dasein und zum Leben, die gleichfalls aus
der Romantik hervorgegangen ist. Bei Schopenhauer und
Schelling ist es mehr die ästhetische, bei Hartmann die
einseitig spekulative Stellung, die dazu führen im Wollen
und seinem Korrelat: der Realität, das Böse an sich
zu sehen. Auch für Jakob Burckhardt — stark beeinflußt
von Schopenhauer — gilt Gleiches, wenn er die »Macht
an sich böse« nennt. Für Schopenhauer ist »Leiden« und
»Wirklichkeit« ein und dieselbe Lebensempfindung, ein
und derselbe Gedanke und nur die Wirklichkeitsflucht
hinein in die Ruhe, die die »Welt« zum ästhetischen
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ro4 Probleme der Religion.
Bilde abklärt^ ist ihm das Gute an sich. Für Hartmann
ist das Leben im Ideenhaften schon das Gute an sich.
In dieser einseitig ästhetischen Haltung zum Dasein ist
aber gerade auch diese Haltung selbst und das ihr korre-
lative ästhetische Wertgebiet — schließlich der metaphy-
sische Sinn des ästhetischen Phänomens und der Kunst
verkannt. Die ästhetische Haltung ist nicht durch den
negativen Sachverhalt »interesselose Anschauung ohne
Begriff« oder gar — wie es Schopenhauer deutet —
durch die Stille, Ruhe, den Frieden, wie sie das Aufhören
des Lebensdrängens begleiten, erschöpft. Auch sie ist
geleitet durch eine Art positiver Liebe zum Wesenhaften
nach seiner rein anschaulichen Seite und der mit ihr ver-
bundene glückhafte Genuß ist nicht nur Friede, sondern
positive Seligkeit. Kunst aber ist nicht — wie Schopen-
hauer deutet — ein Mittel zu kontemplativer Wirklich-
keitsflucht, sondern ein geistig eroberndes Eindringen in
den anschaulichen Wertwesensgehalt der Welt durch den
Prozeß der Darstellung — ja der Versuch eines Nach-
schaffens im »Bilde» einer Welt, wie sie vor dem »Fall«
vor göttlichen Augen geleuchtet hat — ein Versuch, im
Bilde ihr die Frische und Jungfräulichkeit — die Voll-
kommenheit wiederzugeben, die sie durch den Fall ver-
loren hat. Sie ist mehr ein Versprechen auf mögliche
Erlösung aus den Folgen des Falles als eine bloße Flucht
der Wirklichkeit überhaupt. —
Ich sagte: Der »Fall« ist eine Wahrheit metaphysischer
Ordnung oder doch : Er ist auch eine solche Wahrheit. Da-
rum ist er nicht nur ein, historisches Ereignis, eine singulare
positive Folge einer positiven Tat, sondern eine immer
und überall vorhandene Tendenz im Weltsein und Welt-
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Probleme der Religion. ^05
geschehen. Eine sich selbst überlassene Welt würde im
Maße, als sie sich selbst Überlassen ist, an positivem Ge-
samtwert stetig abnehmen. Die uns gegebene Welt qua
Welt »fallt« immer. Dieses stete »Fallen« als Tendenz
macht ein so tiefes Charaktermerkmal ihres Daseins aus,
daß es alles durchdringt, was wir kennen, alle Gebiete
des Wirklichen, — von der toten Natur angefangen bis
hinauf zu den höchsten Exemplaren des Menschentums.
Würde man aus Nichts als der der Welt immanenten
Teleologie auf die Natur ihrer Ursache schließen, so
käme man zur Annahme wohl eines Gottes, aber eines
Gottes, der stetig die Zügel über sein Geschöpf aus der
Hand verliert — eines Gottes, der altert — und der
einst sterben wird. Nur wenn wir Gottes Dasein und
Wesen nicht aus der Welt erschließen, in der es Leid
und Böses gibt, d. h. aus der gefallenen Welt, dürfen
und sollen wir glauben und hoffen, daß Gottes Ziele
dieser universalen Tendenz zu Fall und Wertabnahme
zum Trotz sich durchsetzen werden. Aber — nur durch
ein Mittel: durch Erlösung. Zu jeder Kraft, die in der
großen Ordnung der Kräfte abnimmt, muß eine über-
legene Kraft gedacht werden, die von sich aus frei ein-
greifen kann, um den inlmanenten Fall aufzuhalten und
deren höchster Ausgangspunkt Gottes Kraft selber ist,
Nicht Geschehenlassen, nur immer neue positive Erlö-
sungstaten Gottes — nach einer bestimmten Erlösungs-
ordnung — können der Möglichkeit nach dem Welt-
drama einen positiv sinnvollen und wertvollen Abschluß
geben. Darum haben ebensowenig jene recht, die imma-
nente Teleologie ganz leugnen wie jene, die ihr eine Kraft
immanenten positiven Wertwachstums zuschreiben —
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506 Probleme der Religion.
also meinen, die Welt vermöge sich aus den Kräften ihrer
eigenen letzten Elemente heraus zu immer höherwertigen
Daseinsformen zu »entwickeln« . DieErsteren leben so tief
in der gefallenen Welt und zwar in der Tendenz ihres
Fallens, daß sie die Idee der ungefallenen gar nicht mehr
fassen können; daß sie femer die positiven Zielstrebig-
keiten und Zwecktätigkeiten ganz übersehen, die freilich
in* ihrem Gesamteinfluß immer mehr vermindert werden
durch die negativen Zielstrebigkeiten. Die Letzteren —
darunter auch alle, die aristotelische Metaphysik, d. h. die
Metaphysik einer der Erlösung gar nicht bedürftigen in
sich schon geschlossenen und vollkommenen Welt zur
Grundlage ihrer Welterklärung machen — bemerken die
negativ zielstrebigen Kräfte nicht und halten eine meta-
physisch gefallene und physisch daher immer mehr fallende
Welt fiir diejenige, die ursprünglich von Gott geschaffen
war. Die konstitutive Erlösungsbedürftigkeit der Welt
verkennen aber beide. Die christliche Religion ist eine
Religion, die ausgeht von der Erlösungsbedürftigkeit der
Welt — sie ist die Religion einer Welt, die in jeder
ihrer Regungen seufzt nach Erlösung. Es ist nicht mög-
lich, die Erlösung auf eine in sich geschlossene vernunft-
gemäße Welt noch von außen her aufzusetzen. Die Welt
muß von Grund aus auf Erlösung, d. h. auf ein Eingreifen
einer nicht aus ihr, sondern aus einem ihr übergeordneten
Dasein quellenden Kraft angelegt sein, soll der Erlösungs-
gedanke seine volle Wucht und seine volle Tiefe ent-
falten.
Eine weitverbreitete Art der Anwendung des soge-
nannten »teleologischen Beweises« übersieht diesen zen-
tralen Punkt. Sie übersieht, daß Macht und Wert, Dauer-
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Probleme der Religion. 507
haftigkeit und Bestandfähigkeit im Verhältnis zur > höheren 5
Daseinsform in der sich selbst überlassenen Welt in um-
gekehrter Proportion stehen. Sie übersieht, daß alle »Fort-
schritte«^ »Höherentwicklungen«, allgemeine Wertwachs-
tumsformen nur »Zwischenprozesse« sind, gleichsam tra-
gisch-ironische Szenen im Drama des Weltprozesses, die
jene aus dem Fall resultierende universale stetige Grund-
tendenz zur Abnahme der Werte nicht aufzuhalten ver-
mögen.
Daß die Welt diesen grundsätzlichen Aspekt besitzt,
ist schon bei oberflächlichem Anblick nicht schwer zu
sehen, ist auch, auf vielen Einzelgebieten streng wissen-
schaftlich erwiesen; und es fehlt nur eine Zusammenschau
dieser Resultate modemer Forschung unter einem meta-
physischen Gesichtspunkt.^
I . Die Endlichkeit der Welt nach Raum, Zeit, Masse,
Energie war Thomas von Aquin eine positiv-theologische
Wahrheit. Man darf sagen, daß sie heute eine natürliche
geworden ist. Die Relativitätstheorie hat ein Grunddogma
aller Freidenker und optimistischen Metaphysiker wider-
legt. In einem endlichen, wenn auch unbegrenzten vier-
dimensionalen Raum-Zeitsystem liegt nach ihr alle Welt-
wirklichkeit eingebettet. Könnte die Welt auch nur ihren
Grundformen nach »unendlicher« sein — so wäre sie nicht
erlösungsbedürftig ihrem Wesen nach. Alle positiven Werte,
die in endlicher Zeit und endlichen Räumen nicht zu finden
sind, könnten ihr in einem unendlichen Prozeß gleichwohl
zukommen; alle Unwerte könnten im unendlichen Welt-
* Dieser Abschnitt kann erst durch die Veröffentlichung meiner in den
letzten Jahren an der Universität Köhi gehaltenen Vorlesungen über Meta-
physik seine tiefere Begründung finden.
i
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5o8 PnMamtöa]
züssunmesäiBng zusge^khen werden — zu etnem smn-
voOen Gemälde. Nichts hiervoa ist wahr. Mit Endficbem
hat Welt übend] zu wirtschaften, mit Sadien, die sich
erschöpfen. Es gibt Wdtur^>ruiig und Wdtende —
Weltentod. Einmaliger Prozeß, der abläuft vne der Sand
in der Sanduhr — ist »Wdt«.
Hat eine wesensendlidie Weh eine götdidie Ursadie,
so muß geschlossen werden, daß die Erhaltung einer
solchen Welt der Weltursadie nicht weniger kostet als
ihre Schöpfung, ihre Schöpfung nidit mdir als ihre &-
haltung. Denn könnte die Welt auch einen Augenblick
nur aus sich heraus länger existieren al^ sie je existiert
hat, so müßte sie aus sich heraus — ceteris paribus —
auch eine unendliche Zeit hindurch existieren können.
Da sie dies nicht kann, kann sie auch keinen Augenblick
nur durch sich selbst existieren. Sie fallt ins Nichts ziuiick,
so sie nicht durch die positive Tat Gottes gleichsam immer
neu erhalten wird. Ihr Sturz ins Nichts muß gleichsam
immer neu durch Gott gehemmt werden.
2. Innerhalb der anorganischen Welt herrscht das Ge-
B<ttz der stetigen Dissipation der Bewegung. Molare,
arbeitsfähige und dauerhaft gerichtete Bewegung wird
immer mehr moleculare und ungerichtete Bewegung ohne
Fähigkeit Arbeit zu leisten. Die Energiearten gehen,
wenn sie nach ihrer Arbeitsfähigkeit geordnet werden,
bei Erhahung der Quantität der Energie immer mehr über
in die wertlosere Energie — in letzter Linie in die Energie
der Wärme. Der Wärmetod ist das Ziel, das der Welt-
prozeß asymptotisch anstrebt. Sehen wir an dieser Stelle
von der metaphysischen Deutung dieser drei Gesetze ab.
Hier legen wir nur Wert darauf, zu zeigen, daß sich das
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Probleme der Religion. 509
Gesetz einer Wertabnahme des Universums auch auf
anorganischem Gebiet bestätigt. Diese Gesetze lassen
indes nichts zukünftig Eintretendes voraussagen. Sie gel-
ten ja nur unter der wahrheitswidrigen Voraussetzung,
daß die Welt nichts als Anorganisches enthielte — d. h.
mit bewußter Absehung von Leben, Geist, Gott. Könnte
das organische Leben im Sinne Maxwells die furchtbare
Bewegungsrichtung der toten Welt umkehren oder könnte
seine Anstrengung doch wieder die Arbeitsfähigkeit der
Energie einbringen, die gemäß diesen Gesetzen stetig*
verloren geht, so käme ihnen Wirklichkeitsbedeutung
nicht zu. Würde eine metaphysische Aktion des Welt-
grundes das Weltdasein überhaupt vor dem Erreichen
•dieses Endzustandes zurücknehmen, so gälte dasselbe.
Nur Tendenzen sind also durch die Gesetze ausgedrückt.
Auerbach,^ Bergson' u. a. haben auf den erstgenannten
Umstand großes Gewicht gelegt, um eine optimistische
Metaphysik zu begründen. Leben als »Tendenz zum Un-
wahrscheinlichen« arbeite mit Erfolg der Tendenz zum
»wahrscheinlichsten Zustand« der Energieverteilung (nach
Boltzmanns mechanistischer Deutung des zweiten Wärme-
satzes) entgegen. Aber ist auch diese Auffassung der
organischen Bewegung richtig, so ist doch nicht gezeigt,
daß das organische Leben aus sich heraus mehr zu leisten
vermöge, als eine unter gleichzeitiger Anpassung an
immer geringere Spannungsdifferenzen der Energie er-
folgende zeidiche Verzögerung jener Entwertung der
Energie. Sowohl jene Anpassung, der W. Stern seine
Aufmerksamkeit zugewandt hat, als diese Verzögerung
* f. Auerbach, »Die Weltherrin und ihr Schatten«.
H. Bergson, »L'Evolution cr^trice«.
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CIO Probleme der Religion.
besitzen enge Grenzen. Dazu arbeiten sich Anpassung
und Verzögerung so entgegen, daß, je größer man die
Eigenaktivität des Lebens, das Tote sich anzupassen
einschätzt und je geringer man die Anpassungsfähigkeit
des Lebens auf die sinkenden Spannungsdifferenzen dann
einschätzen muß, die Verzögerung der Nivellierung der
Energie zwar um so größer ist, aber die Existenz des
Lebens überhaupt auch um so mehr bedroht ist. Schätzt
man die Anpassungsfähigkeit des Lebens so hoch ein wie
W. Stern, ^ der keinerlei absolute Energiegrößen der Um-
weltreize als conditiones sine quibus non für die Existenz
von organischem Leben ansieht, sondern nur Energie-
differenzen, so kann man auch keine umkehrende, ja nicht
einmal eine verzögernde Wirkung des Lebens auf die-
Tendenz der toten Welt erwarten.
Den Sieg hat in diesem Kampfe zwischen Lebendigem
und Totem also — mit Absehung von Geist und Gott —
nicht das Leben, sondern auf alle Fälle der Tod.
Nur von der Natur her gesehen bleibt das ganze univer-
sale Leben der organischen Gestaltungen ein Zwischen -
prozeß des Weltgeschehens — ein rauschendes Fest
im Gange der Welt, — aber auch ein Versuch mit untaug-
lichen Mitteln.
Nur wenn das »Leben« als Inbegriff der nicht in Ele-
mente und Gesetze des Anorganischen auflösbaren Form-
und Bildkräfte noch einen ganz anderen möglichen »Weg«
hätte, als den Weg des Kampfes mit dem Toten, seiner
Formung und realen Veränderung, täten sich Aussichten
für es auf, die es seinem Naturschicksal zu entziehen ver-
möchten.
* Siehe W. Stern: »Person und Sache«.
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Probleme der Religion. c i i
Einen solchen Weg gibt es: Es ist der Weg der
Vergeistigung des Lebens, d. h. die Zuwendung sei-
ner Kraftfaktoren an die an sich kräftelosen »Akte« des
Geistes — gleichsam Emporhebung, Bergung, Rettung
des Lebens aus dem Strudel der unteren Kräfte und Ele-
mente, mit denen es — in höchster Form — als Zivili-
sationstechnik in Arbeit, Tat, Umgestaltung der toten Welt
durch den Menschen ja doch einen prinzipiell ergebnislosen
Kampf kämpft.
Ist dieser »Weg« aus den Kräften des menschlichen
Geistes selbst heraus möglich? Wohl ist er möglich; aber
er allein kann ebensowenig zu einem endgültigen Erfolge
führen wie der Weg der Verlebendigung des Toten. Un-
möglich wäre es dem sich selbst überlassenen Menschen-
geist, den Weg mit Erfolg zu gehen. Immer wird das
Leben, auch im Menschen, den größten Teil seiner Kräfte
zu verwenden haben in jenem letztlich aussichtslosen
Kampf mit dem Toten, in dem es sich allein in irgend-
einer Form der es an die tote Welt fesselnden und ihr ver-
pflichtenden Organisation als daseiend zu behaupten ver-
mag. Immer wird — auch bei optimaler Verwendung der
menschlichen Freiheit zur Vergeistigung des Lebens —
der zu vergeistigende Teil aller Lebenskräfte kleiner sein
als der nicht zu vergeistigende. Ja er wird außerdem bei der
mit steigender Organisationshöhe steigenden Schwierig-
keit des Kampfes des Lebendigen mit dem Toten immer
kleiner werden, d. h. am Ende würde es das Leben sein,
das über den Geist »sieg^« und alle Tätigkeit des Geistes
würde ein Versuch mit untauglichen Mitteln sein, das
Leben in seinem geistigen Kosmos vor den Fangarmen
der toten Natur zu bergen. Nur wenn der Geist des Men-
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^12 Probleme der Religion.
sdien aus Gott immer neue Kraftströme erhielte, könnte
sich diese Bewegung umkehren.
Das also ist der Aspekt einer sich selbst überlassenen
Welt: das Tote stürzt ins Nichts; das tote Arbeitsfähige
ins Arbeitslose; das Leben in das Tote; der Geist stürzt
in die Strudel des Lebens — überwältigt von Trieb und
Leidenschaft.
Eine unaufhaltsame Bewegung vom Werthöheren zum
Wertniedrigeren beherrscht als Tendenz diese gefallene
Welt — als Ursprung immer wachsender Übel und immer
stärkerer Versuchung zvun Bösen fiir die geistigen Na-
turen.
3. Lehrt uns die immanente Entfaltung des Lebens in
seinen Organisationsformen ein Anderes? Nur solange
man nicht fragt, was denn »höhere« Organisation heiße,
mag es anders scheinen. Nur solange man die Ursprungs-
ordnung der Formen, Arten, Gattungen des Lebens allein
betrachtet, nicht aber auch ihre Todes- und ihre Absterbe-
ordnung, kann femer dieser Schein gestützt werden durch
neuen Schein. Schon die große Tatsache, daß Lebendiges
überhaupt als Individuum und Art seinen höheren Wert
gegenüber dem Toten bezahlt mit jenem absoluten Auf-
hören und Verschwinden, das die bloßenErhaltungsgesetze
der toten Natur nicht kennen, d. h. mit dem Tode, — schon
diese einfachste Tatsache zeigt, daß Dauerfähigkeit und
Werthöhe umgekehrt proportional in der Welt verteilt
sind. Man kann — so E. v. Bär — ein Lebewesen gerade-
zu definieren als ein »Ding, das stirbt«, als eine Kraft, die
sich wirklich erschöpft — nicht also sich erhält, wie alle
Kräfte der toten Natur, die sich nur umformen.
Was aber gilt für das universelle Leben als Ganzes im
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-•^^m-
Probleme der Religion. 5 1 3
Verhältnis zur toten Natur: daß es eine Episode i3t im
Weltprozeß, eine Sache, die einst nicht war und einst nicht
sein wird, das gilt analog vom Verhältnis der je höheren
Organisationen zu niedrigeren einfachsten Bildungen des
Lebens. Das Dasein der höheren Organisationen ist wieder-
um nur eine Episode innerhalb dieser Wdt-Episode der Ge-
schichte des universellen Lebens. Am spätesten geworden
werden die höheren Organisationen in der Absterbeord-
nung des universellen Lebens auch um so früher dem Arten-
tod verfallen, je höher sie sind. Der Tod selbst muß seinem
Wesen nach begriffen werden als der Preis, den das Leben
für seine differenziertere und integriertere Organisation
zahlt; (Minot); oder als Preis für die steigende Fülle und
Mannigfaltigkeit der Engagements, die das Leben mit
der anorganischen Natur eingegangen ist. In den Werk-
zeugen und immer reicheren Mittelsystemen, die das Leben
fiir seine Ziele ausbildet, verfängt es sich genau um so mehr,
je größer sein Aktionsradius bei steigender Organi-
sation wird. Das Maß der Entwicklungsfähigkeit, der Resti-
tutionsfähigkeit von Organen, der Plastizität nimmt deut-
lich mit der Höhe der Organisation stetig ab. Je größer und
mannigfaltiger das tote Gepäck wird, mit dem das Lebe-
wesen sich der Umwelt entgegenwirft, desto gefährdeter
wird seine Existenz. Die wachsende Größe der Lebens-
dauer des Individuums wird im allgemeinen bezahlt mit der
sinkenden Dauerfahigkeit der Art. Der Evolutionismus des
1 9 .Jahrhunderts, sofern er eine unbegrenzte Aussicht immer
höherer Organisationen der Lebensentwicklung vor dem
menschlichen Geiste hertrug, war ein großer Irrtum. Und
ein nicht minder großer war die Lehre, daß die im Kampfe
mit der übrigen Lebewelt oder in der Anpassung an die
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1
cjA ProUeme der Retigioo.
tote Unweit siegreiche Organisation die »höhere« sei. Im
sog. »Kampf ums Dasein« — einem durchaus ruinösen,
nicht schöpferischen Prinzip — geht die Minorität der
höheren Organisationsformen gegenüber der Majorität der
niedrigeren zugrunde. Die Masse des Kleinen, nicht das
Edle hat in diesem »Kampfe« den Sieg. Anpassungsmerk-
male aber sind von Organisationsmerkmalen grundver-
schieden.
Überblickt man den Sinn der Lebensevolution, so kehrt
also dasselbe Bild wieder: Das Ganze ein Versuch mit un-
tauglichen Mitteln, — ein Unternehmen, das sich Alles in
Allem genommen, an nur vitalen Werten gemessen, nicht
verlohnt hätte.
Nur als Verwirklichungsbedingung oder besser als Bin-
dungsbedingung geistiger Kräfte des vernünftigen
Bewußtseins an vitale Daseinsformen, erhält die Evolution
wiederum einen prinzipiell positiven Sinn.
Aber hat der menschliche Geist — seinem Dasein nach
die Episode in der Episode der tierischen Entwicklung,
von den Lebenswerten aus gesehen eine Krankheit, jene
Krankheit, die es nahelegte, den Menschen als das krank-
gewordene Tier vom biologischen Gesichtspunkt aus
schlechthin zu bezeichnen — hat der menschliche Geist
aus sich heraus auch die Macht, die große Tendenz nach
abwärts, die das All durchläuft, umzukehren?
Die Antwort auf diese Frage geben gewisse Gesetze
menschlicher Gesellschaft und Geschichte, die im Wesen
des Menschen verankert sind.
4. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts hat uns mit dem
Glauben tief erfüllt, daß die menschliche Geschichte einen
stetigen Fortschritt und ein stetiges Wachstum aller Arten
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Probleme der Religion. c i c
der durch den Menschen hervorgebrachten geistigen und
materiellen Güter aufweise. Dringt man aber tiefer ein in
die F;rage, was denn fortschreiten soll und nach Ansetzung
welcher Grundwerte gemessen werden soll, ob etwas in der
Geschichte »fortschreitet« oder nicht, so ändert sich das
Bild. Es enthüllt sich uns zunächst ein Gesetz, das ich
anderwärts genauer nachgewiesen habe und das mit dem
Wesen der uns bekannten Menschennatur selbst gegeben
ist. Es lautet : Da der Mensch die Güter, die er hervor-
bringt und den folgenden Geschlechtem überliefert, um
so willkürlicher und planvoller hervorbringen kann, je
niedriger die Wertmodalität ist, zu der sie gehören, da er
aber um so mehr auf die Gnade, daß sie ihm ohne seine
Tätigkeit geschenkt werden, harren und hoffen muß, je
höher die Wertmodalität ist, zu der die Güter gehören,
so gilt auch der Satz von der Abnahme des stetigen Fort-
schritts bei steigender Werthöhe der produzierten Güter.
Was wahrhaft stetig fortschreitet, ist offensichtiich der
Apparat, angenehme und nützliche Dinge hervorzubringen,
ist das, was wir den internationalen Zivilisationskosmos der
menschlichen Gesellschaft zu nennen pflegen. Von den
Gütern der geistigen Kultur gilt nichts Ähnliches. Wohl
wächst ihr Vorrat an — soweit er nicht wieder der Zer-
störung durch Naturkatastrophen, Kriege, zeitweise Bar-
barei verfällt — aber keineswegs gilt, daß diese Güter an
Wert stetig zunehmen. Noch weniger nimmt die Fähigkeit
zu, solche Güter hervorzubringen . Die schöpferischeEpoche
und der in ihr schaftende Genius sind seltene meteorartig
hervortretende Geschenke. Die Kräfte, die solche Epochen
tragen, sind international unverbreitbar — sie haften an
bestinunten einmaligen Augenblicken der Geschichte eines
33*
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e 1 6 Probleme der Religion.
einmaligen Volkstums oder eines einmaligen Standes. Inner-
halb der höchsten Menschenformen und Güter — die der
Sphäre des Heiligen, Religiösen angehören — aber glaube
ich zum wenigstens eine Tendenz zur natürlichen stetigen
Abnahme der Kräfte, diese Güter zu schauen und hervor-
zubringen, wahrnehmen zu können \ Der Ruf: »Zurück
zum Ursprung ! « , nicht der Ruf des Fortschritts war darum
zu allen Zeiten die Form, in der sich nennenswerte religiöse
Erhebungen vollzogen haben. Jede Form der religiösen
Bewegung hat eine enthusiastische, meist kurz dauernde
Phase, um dann in eine breite, gemeine rationalisierende
»Anpassung an die Welt« zu verfellen. Die großen reli-
giösen Menschen, an deren Erscheinung alle Religions-
geschichte hängt, sind diejenigen Menschentypen, die man
am wenigsten durch Erziehung, Politik, Organisation —
kurz durch alles, was man systematisch »tun« kann, um
Menschentypen hervorzubringen, hervorbringen kann — -
die man kaum »suchen« kann. Ihre Existenz ist am meisten
geschichtliche Gnade, am wenigsten geschichtliches Werk.
Soziologisch geht die Geschichte, die wir kennen, überall
von der »Gemeinschaft« in die »Gesellschaft« — (Tönnies),
d.h. von innerer organischer zu äußerer mechanischer Ver-
bundenheit, in letzter Linie in die Richtung einer sich in den
Qualitäten immer mehr ausgleichenden Menschenmasse,
die mit ihren geistigen Kräften in immer gewaltigeren Aus-
maßen mit den Aufgaben beschäftigt ist, die relativ niedrig-
sten Bedürfnisse organisatorisch zu befriedigen, also immer
weniger sie zu geistigen Zielen verwenden kann. Auch schon
die Geschehensmöglichkeiten in der Geschichte nehmen
mit den Rassespannungen, die durch den Blutausgleich mehr
^ Siehe den Schluß dieser Abhandlung.
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Probleme der Religion. 5 1 7
und mehr verschwinden, sukzessiv ab. Der Gang der
Geschichte wird gleichförmiger und langsamer und die
Freiheitsspieb^ume des persönlichen Geistes, sie in ihrem
Gange zu bestimmen, vermindern sich gegenüber den auto-
matisch und zwangsläufig wirksamen kollektiven Mächten.
Das Wachstum der Menschheit ist dem Wachstum des
Nahrungsmittelspielraums nicht angepaßt. Malthus behält
doch im wesentlichen recht. Was die technische Zivilisation
durch Endastung der Menschenarbeit — deren fernere
Möglichkeiten überdies weit kleiner sind als es dem all-
gemeinem Glauben entspricht — und Abwälzung dieser
Arbeit auf die Kräfte der lebendigen und toten Natur zur
Befreiung der höheren geistigen Kräfte leisten mag, wird
durch das rapide Wachstum der Menschheit nach der Zahl ' ^ *
nicht nur ausgeglichen, sondern überkompensiert Die h^^^""
sich steigernde Zivilisation scheint, im Ganzen gesehen,
mehr Krankheiten hervorzubringen, als sie durch Fort- ^
schritte der medizinischen Kunst und Prophylaxe abzu- '
stellen vermag.
Wohl am deutlichsten ist die Abnahme und noch mehr
die Verflachung der menschlichen Glückszustände im Ver-
lauf der Geschichte. J. J. Rousseau und I. Kant behalten
in diesem Punkte recht. Dieselben großen revolutionären
Massenschübe, die überall zum Sturz und zum Untersinken
der Minoritäten edleren Blutes fuhren, verflachen die Zu-
stände menschlichen Glücks. Was Talleyrand nach der
französischen Revolution sagte: daß niemand, der nach
1789 gelebt habe, die Süßigkeit des Lebens gekostet
habe, darf man nicht relativ wieder dasselbe sagen vom
Jahre 19H? Die kommenden »demokratischen« Jahr-
hunderte können niemals mehr Künste und edle formvolle
Digitized by VjOOQ IC
^ 1 8 Probleme der Religion.
Sitten hervorbringen, wie sie aristokratische Zeitalter und
fürstliche Herrschaftsformen gekannt haben. Mit jeder
quantitativen Vergrößerung der Lust der großen Massen
und der Abstellung ihrer gröbsten Leiden ist eine nie
wieder rückgängig zu machende Verflachung der Glücks-
und der Leidgeftihle mit Sicherheit verknüpft.^
Das Wissen zeigt ein analoges Schicksal. Das theo-
retische Wissen des Menschen zeigt noch immer den konti-
nuierlichsten Fortschritt, den es gibt. Aber dieser Fort-
schrittist beschränkt auf dasjenige Wissen, das gleichzeitig
technisch praktikabel ist und die durch den Menschen und
sein Handeln lenkbaren Punkte und Teile des Universums
für das Weltbild aussondert und in Begriffssymbole und
Gesetze zusammenfaßt. All dieses Wissen ist also zugleich
Wissen um Gegenstände, die auf Lebenswerte — denn
Beherrschung der Welt ist ein Lebens wert — und Menschen-
organisation daseinsrelativ sind. Je weniger die Gegen-
stände des Wissens daseinsrelativ sind auf die verschie-
denen Schichten der menschlichen Organisation, desto
weniger zeigt es stetigen und internationalen Fortschritt.
Biologie und Geisteswissenschaften schon entfalten sich
weit sprunghafter und von persönlichem und nationalem
Geist abhängiger, als die Wissenschaften des meßbaren
Mechanismus. Metaphysik gar, die Wahrheit geben will
über das Sein der Dinge selbst und sich von der Symbolik
des Denkens zu befreien strebt, läßt von einem stetigen
Fortschritt nichts bemerken. Nur die Durchdringung und
Ergänzung der verschiedenen metaphysischen Versuche
aller Zeiten scheint hier weiterzuführen. Der religiöse Sinn
endlich, die Fähigkeit der Seele, mit der Gottheit in an-
' über tiefe und flache Gefühle siehe : »Der Formalismus in der Ethik «
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. , 519
schaulichen und gefühlsmäßigen Kontakt zu treten, zeigt
im Fortgang der Geschichte eher eine Abnahme als eine
Zunahme.
Es ist beim Wissen und der praktischen Zivilisation
dasselbe Bild: die Menschheit scheint sich in immer ver-
wickeitere Berührung mit der Natur und mit sich selbst
und immer tiefer in einen Kosmos der Mittel zu ver-
stricken, den sie immer weniger zu beherrschen und nach
geistigen Zielen zu lenken vermag — der immer tiefer
sie selbst und ihr Leben beherrscht. Das Werk wird
immer mehr des Menschen Meister.
Diese Tendenz ist aber für die ganze Menschheit als
Art keine andere als diejenige, die wir beim Einzelorga-
nismus Altem und Absterben nennen würden. Denn die
langsame Überwältigung des lebendigen Organismus durch
die Eigengesetzmäßigkeit der toten Stoffe und Kräfte,
die er sich als Organisation angebildet hat, gehört zu
den Grundphänomenen des Alterns und Sterbens. Mögen
die verschiedenen Teile der Menschheit, die Rassen, die
Völker, die Kulturen innerhalb dieses Prozesses auch in
verschiedenen Stadien und Phasen sich befinden, so gilt
doch das Lebensgesetz des Alterns und Todes auch für
die Menschheit als Ganzes.
Der Gedanke des grenzenlosen Fortschritts auf allen
Wertgebieten wird daher durch ganz andere Gedanken
zu ersetzen sein. Zunächst: der Sinn der Geschichte kann
nicht in einem in der Zukunft gelegenen jZiele beruhen,
das die Menschheit zu erreichen hätte. Er beruht in dem
ganzen Gemälde mannigfaltigen Menschentums, das die
Geschichte in zeidicher Form von der Idee des Menschen
zeichnet und malt. Und wenn es eine Ordnung gibt in der
Digitized by VjOOQ IC
c 20 Probleme der Religion.
Abwandlung der Bilder, die den Menschen und Mensch-
liches von immer neuen Seiten darstellen, so ist diese
Ordnung gewiß nicht diejenige stetiger Werterhöhung.
Das Wertwachstum der niedrigeren Wertgebiete wird
kompensiert durch die Wertabnahme in den höheren
Wertgebieten — der Tendenz nach — und nur, wenn wir
der Geschichte als Ablauf den Sinn zumessen, daß diese
spätere, ältere, klügere Menschheit dem spröden Stoff
der Welt die Werte nur einzuprägen hat und zugleich zu
bewahren hat, die eine je frühere, jüngere, geistigere
Menschheit geschaut und gefühlt hat, geht das Ganze
seines Sinnes nicht vollständig verlustig.
Vor allem aber zeigt das Gesagte: die Welt ist nicht
darauf angelegt, durch ihre eigenen Kräfte sich im Sinne
steter Werterhöhung zu entwickeln. Wenn sie nicht durch
Erlösung emporgehoben wird, wenn nichtje höhere Kräfte
auf sie frei heruntersteigen, die sie immer neu empor-
heben, so — fällt sie ins Nichts. Stete Gefahr des Todes
und mögliche Wiedergeburt nur durch Erlösung — stetes
In-die-Knie-Sinken und »-Gehen« nur durch eine empor-
hebende Kraft, die sich erbarmend herabsenkt, uns immer
wieder auf die Füße zu stellen: Das erscheint uns als ein
zutreffenderes Bild des sich geschichtlich bewegenden
Menschen als das des munteren Laufjungen, der in ein
immer schöneres Land aus eigenen Kräften ins Unbe-
grenzte läuft. —
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 5 2 I
6. Der religiöse Akt.
A. Gegenständliche Bedingung der Abgrenzung
religiöser Akte.
Es ist fiir die Heraushebung gewisser geistiger Inten-
tionen aus dem menschlichen Geiste als »religiöser« nicht
genug, wenn man sie rein immanent charakterisiert. Ihre
Selbstbeziehung auf Gott ist vielmehr das erste Wesens-
merkmal ihrer Einheit. Insofern setzen sie die Gottes-
idee notwendig voraus. Versuche also — wie sie ge-
macht worden sind z. B. von G. Simmel — die »religiöse«
Lebensbestimmtheit anzusehen als eine bloße Art des
subjektiv enthusiastischen Erfassens irgendwelcher In-
halte (sei es Gott, die Menschheit, das Vaterland, das
eigene Selbst usw.), so daß die Idee Gottes nur eine
der möglichen sogenannten »Objektivationen« wäre, von
deren »Gestaltung« das religiöse Erleben doch immer
wieder in sich selbst und seinen Fluß zurückkehrte — als
wäre Gott nur ein Umweg zur Steigerung des religiösen
Lebens in sich selbst, sind vollendet widersinnig. Auch
wenn jene Art von » Philosophie des Lebens « — im Simmel-
schen Sinne ^ — sonst richtig wäre; wenn auch alle
»Gegenstände« außer Gott bloße vergängliche »Objek-
tivationen« des aus sich selbst strömenden »Lebens«
wären, — momentane Gegenmächte, — an denen es sich
differenziert und steigert um sie — wenn sie diesen ihren
Dienst erfüllt haben — immer wieder in die Bewegung
des Lebens selbst aufzulösen und zurückzunehmen: vor
Gott als der absoluten Realität müßte diese »Meta-
physik des Lebens« versagen. Wird aber Gott — wie
* Siehe G. Simmel: »Lebensanschauung, vier metaphysische Kapitel«, bes.
«Die Transzendenz des Lebens«.
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c 2 2 Probleme der Religion.
bei Simmel, der hier Bergsonsche, von mir anderenorts
zurückgewiesene, Lehren überspannt — mit diesem selbst-
schöpferischen Leben identifiziert, so wäre auch der »Um-
weg« über eine irgendwie geformte Gottesidee, die das
religiöse Leben als immanenten Prozeß zu machen hat
— auch nach Simmel notwendig zu machen hat — weder
notwendig noch begreiflich. Ruht das religiöse Leben als
Seinsbestimmtheit der Seele in sich selbst und hat es
seinen letzten Sinn und Wert nicht jenseits seiner Bewe-
gung — eben in dem, was es von Gott in sich aufnimmt
— sondern in sich selbst und in seinen Bewegungen, so
könnte weder begreiflich sein, wieso es je diesen > Umweg«
zu nehmen beliebte, noch wie es gar so weit abirren konnte
von der Wahrheit, daß es den »Umweg« für das Ziel
hielt. Es ist eben widersinnig, Gott zugleich als Gott und
als »Umweg« zu etwas Anderem auch nur zu intendieren.
Man intendiert nicht Gott, wenn man einen »Umweg«
intendiert; man kann keinen »Umweg«, sondern nur ein
absolutes Ziel intendieren, wenn es Gott ist, den man
intendiert. So wenig eine Liebe zu A echte Liebe zu A
ist, die A nur als »Durchgangspunkt« erfaßt, um in end-
gültiger Intention wieder auf das Ich des Liebenden zurück-
zukehren — gleich Spinozas Gott — so wenig wäre ein
Glaube an Gott Glaube an Gott, der sich wieder auf
das Sein des eigenen Selbst zurückwendete. Hier Auto-
erotik, die sich nur in dem Schein der Fremdliebe, dort
Selbstanbetung, die sich nur in den Schein der Anbetung
Gottes hüllt. Aber wir erwähnen diese ein wenig sonder-
bare Ansicht Simmeis nur, um an dieser wohl extremsten
Form des religiösen Subjektivismus zu zeigen, wie falsch
es überhaupt ist, den religiösen Akt rein »immanent«
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Probleme der Religion. 523
fundieren zu wollen. Schon wenn man — mit Luther —
die religiöse Glaubens- und Heilsgewißheit vor die
religiöse Glaubens- und Heilswahrheit setzt^, beginnt
ein Gedankenprozeß, der darauf abzielt, das Glauben
schließlich zu seinem eigenen Gegenstand zu machen. Es
ist offensichdich ein Zirkel, z. B. die Heilswahrheit des
Opfertodes Christi für der ganzen Menschheit Sündenlast
auf den individuellen gläubigen Annahmeakt des Wortes
Gottes im Evangelium zu stellen, um dann die persön-
liche Heilsgewißheit, Christus sei »für mich« gestorben
wieder an den festen Glauben allein, an die selbst schon
geglaubte Heilswahrheit zu binden. Das ist Glauben an
den Glauben — eine Reflexion, die beliebig fortgesetzt
werden kann. Das Glauben-glauben ist so wenig Glaube
wie die Velleität des WoUen-woUens eines Inhalts Wollen
dieses Inhalts ist.
B. Immanente Charakteristik des religiösen Akts
nach seiner Konstitution.
Gleichwohl ist auch eine immanente Charakteristik
des religiösen Akts notwendig. Eine solche ist mehr als
psychologisch dann, wenn der religiöse Akt nicht darstellt
eine zufällige Verbindung von außerreligiösen Intentionen
(des Fühlens, WoUens, Denkens), wenn er vielmehr ein
eigentümliches echtes Wesen hat, das seinem Gegen-
stande als essentielle Erfassungsform entspricht und wenn
er nicht nur de facto »allen Menschen« zukommt, sondern
zur Konstitution des menschlichen, ja jedes endlichen
Bewußtseins gehört — das letztere wenigstens seinem
^ Luther tat für die Religion hier nur dasselbe, was Descartes für die
Philosophie getan.
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C24 Probleme der Religion.
Formalcharakter und Meinungssinn nach; wenn femer —
wie wir schon behaupteten — den religiösen Akten in
Aufbau und Abfolge eine aus keiner anderen Sinngesetz-
lichkeit ableitbare Sinngesetzlichkeit zukommt, dazu
strenge formulierbare Bedingungen evidenter Erfüllung
und Nichterfüllung.
Daß dem so sei, ist unsere Thesis.
Man mache sich die Bedeutimg dieser Frage klar! Der
Mensch besitzt tausenderlei Wünsche, Bedürfnisse, Sehn-
süchte nach etwas, deren psychologischer Befund nicht
im entferntesten eine Gewähr gibt, es müsse auch irgend
etwas existieren, was diese Wünsche, Bedürfnisse, Sehn-
süchte befriedigen könnte. Darum ist jede Wunsch- und
Bedürfnistheologie und -Metaphysik so ganz widersinnig.
• Aber etwas von solchen Tatsachen grundsätzlich Ver-
schiedenes wäre der menschliche Besitz einer essentiellen
Aktklasse, für die sich das Folgende zeigen ließe:
1. Diese Akte gehören in ihrer essentiellen Art zum
menschlichen Bewußtsein so konstitutiv wie Denken,
Urteilen, Wahrnehmen, Erinnern.
2. Sie gehören zu ihm gar nicht, weil dieses Bewußt-
sein ein »menschliches« ist im Sinne der induktiv empiri-
schen Merkmale des Menschen und seinem seelischen
Geschehen, sondern schon weil es ein endliches Bewußt-
sein überhaupt ist.
3. Die religiösen Akte können irgendwelche bloße
Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte darum nicht sein oder
ihnen gleichen, da sie auf ein ganz anderes Wesens-
reich von Gegenständen inten tional hinzielen, als es die
empirischen und »idealen« Gegenstandsarten sind. Denn
alle sogenannten Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte zielen
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Probleme der Religion. 525
durchaus auf empirische Gegenstandsarten — wenn
auch oft auf solche, die nicht existieren oder gar nicht
existieren können; die aber gleichwohl wie alle fiktiven
Dinge aus solchen Gegenständen und ihren Merkmalen
aufgebaut sind^.
4. Die religiösen Akte können weder psychologisch-
kausal abgeleitet, noch teleologisch aus irgendeiner Art
Zweckmäßigkeit für den Lebensprozeß begriffen werden;
nur wenn man die Realität der Gegenstandsarten an-
nimmt, auf die sie zielen, ist es möglich, ihre Existenz zu
begreifen. Sie zeigen also den menschlichen Geist an-
gepaßt, hingerichtet und hingeordnet auf eine über-
natürliche Wirklichkeit, d. h. auf eine Wirklichkeit, die von
der empirisch-natürlichen auf alle Fälle wesensverschie-
den ist — gleichgültig, wie der in den beiden Bereichen
je von den Menschen als wirklich angenommene
besondere Inhalt geschichtlich wechsle^.
5. Die religiösen Akte gehorchen einer Gesetzlich-
keit, die fiir sie autonom ist, die also — wie immer
die Akte bei gewissen Konstellationen des empirischen
Seelenlebens und an äußeren Erfahrungssituationen erst
erwachen, — aus empirischer psychischer Kausalität nicht
begriffen werden kann. Diese Gesetzlichkeit ist noeti-
* Redet man — in Strenge — auch von »religiösen « Bedürfhissen, Wün-
schen, Sehnsüchten, so hat man natürlich ein gutes Recht, davon zu reden.
Man setzt aber dann den religiösen Akt, dadurch die Idee des Gutes
gegeben wird, wonach wir ein Bedürfnis haben, bereits voraus. »Religiös«
ist das Bedürfnis eben dann, wenn es Bedürfnis ist nach dem Gegenstand
des religiösen Akts. Das ist etwas ganz anderes, als umgekehrt den reli-
giösen Akt auf ein »Bedürfnis« zurückfuhren, das noch nicht »religiös« ist,
sondern analog entsprungen wäre, wie alle Bedürfhisse.
• Die Anschauungen der Menschen über Gott waren vielleicht erheblich
weniger verschieden als die Anschauungen der Menschen über die Erde
und die Sonne.
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526 Probleme der Religion.
scher Art, nicht psychologischer Art. Auch damit sind die
religiösen Akte von allen menschlichen Bedürfnissen, die
eine Phantasieproduktion von fiktiven Dingen bestim-
men, wesentlich unterschieden.
6. Wie die religiösen Akte nicht psychische Vorkomm-
nisse sind, die sich in uns nach psychischen Naturgesetzen
bilden und zerfallen — dabei höchstens noch in Werden und
Vergehen einer biologischen oder soziologischen Zweck-
mäßigkeit gehorchend — so sind sie auch nicht bloße
Abarten oder Kombinationen anderer noetischer inten-
tionaler Aktgruppen: Etwa logischer, ethischer, ästhe-
tischer usw. Gewiß kann der Sinngehalt, der in den reli-
giösen Akten »gegeben« wird, selbst wieder Materie sein
für logische Begriffsbildung, Urteil, Schluß, femer für
ethische und ästhetische Wertnehmung, Wertschätzung
und Wertbeurteilung. Aber das besagt nicht, daß der
volle Sinngehalt der religiösen Akte aus dem möglichen
Sinngehalt dieser andersartigen noetischen Aktgruppen
»hervorginge«. Er ist fiir sie vielmehr »gegebene«
Materie.
Läßt sich — sage ich — dies erweisen, so gewinnen
wir für alle empirisch vorgefundene religiöse Lebens-
bestimmtheit auch ein Maß und eine Norm, die aus dem
Wesen der Religion selbst geschöpft ist und nicht aus
einer Normgesetzlichkeit außerhalb und jenseits der Re-
ligion. Denn vergleichen wir die Aktgesetzmäßigkeiten
dieses »reinen«, aus den Verwebungen mit allen sonsti-
gen geistigen Aktbetätigungen und dem biopsychischen
Lebensverlauf des Menschen herausgelösten »religiösen
Bewußtseins« mit dem empirisch Vorgefundenen der reli-
giösen Lebensbestimmtheiten, so können wir auch Ge-
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Probleme der Religion. c 2 7
setze des Richtigen und Falschen aufdecken — Ge-
setze, die aber ausschließlich Gesetze eben des religiös
Richtigen und Falschen sind.*
Das aber ist es, was sich durch die Wesensanalyse
des religiösen Aktes — wie ich glaube — zeigen läßt.
Eine falsche Richtung in der Wesenslehre vom reli-
giösen Akt nimmt also derjenige, der zuerst ein soge-
nanntes »Seelenvermögen« sucht, unter das der religiöse
^kt untergeordnet werden soll: Denken, Fühlen, Stre-
ben, Wollen etc. Denn die Religion ist so ursprünglich
religiöses Erkennen und Denken, als sie auch eine be-
sondere Art des (Wert)-fühlens, des (geregelten) Aus-
drucks (in religiöser Sprache, Gebet, Kult) und des reli-
giösen WoUens und Wandeins ist (im Dienste Gottes und
der religiösen Moral). Auch wer hier von sogenannten psy-
chischen Elementartatsachen ausgehen will, kommt in die
Irre. Sind ja doch in allen Akten intentionaler Natur —
nicht nur den religiösen — eine Mehrheit verschiedener
Elementarphänomene mitgegeben, — in jeder normalen
Wahrnehmung z. B. Empfindungsinhalte, Gestalten, Wert-
qualitäten, Bedeutungs- und Wirklichkeitsfaktor, resp. auf
der Aktseite Empfinden, Fühlen, Interesse und Aufmerk-
samkeit, Urteil usw. Die Intentionseinheit ist eben als
Erlebniseinheit völlig indifferent gegenüber der ganz an-
* Die Gesetze des «reinen« religiösen Bewußtseins fungieren also zu-
gleich als Nonnen des Richtigen und Falschen für das empirische reli-
giöse Bewußtsein, ohne daß sie doch von Hause aus solche »Normen« wären.
Für die materiale und reale Wahrheit des religiösen intentionalen Bewufit-
seinsgegenstandes ist aber auch durch die Rechtheit der religiösen Akt-
vollzüge allein noch Nichts erwiesen; so wenig wie durch Denkrichtigkeit
(z.B. Schlußrichtigkeit) die Wahrheit des Gedachten erwiesen ist. Die Rich-
tigkeit ist in beiden Fällen nur eine Conditio sine qua non der Wahrheits-
evidenz, nicht diese selbst — geschweige die Wahrheit.
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528 Probleme der Religion.
deren Scheidung des Psychischen in sogenannte »Elemen-
tarphänomene«. Die Sache ist vergleichbar dem Tatbe-
stande, daß sich auch in morphologischen Einheiten oder
physiologischen Funktionseinheiten am lebendigen Or-
ganismus grundverschiedene chemische Bausteine resp.
chemische Elementarprozesse finden können. Und so
wenig Jemand, der nur als Chemiker dem Organismus
entgegenträte, die morphologischen und funktionellen Ein-
heiten des Organischen und seines Lebensprozeses finden
könnte, so wenig würde derjenige, der nur psychische
Elemente suchte, die Intentionseinheiten je finden. Der
religiöse Akt plus seinem Sinnkorrelat, das zu ihm als
»erftillend« gehört, bildet eine Einheit in sich selbst:
z. B. Beten und Personalität Gottes, Anbeten und Sum-
mum bonum.
Religiöser Akt als Wesensart von Akten und nicht-
religiöser Akt schneiden also als Einteilung der Akte
alle Einteilungen, die aus dem Hinblick auf die soge-
nannten Seelenvermögen oder die seelischen Elementar-
erscheinungen genommen sind. Nicht weniger schneidet
sie jede Einteilung, die aus der so wichtigen Entgegen-
setzung sozialer Akte und auf das eigene Selbst ge-
richteter Akte fließt (Eigenakte). Religiöse Selbstver-
senkung, Erwägung des eigenen »Heils«, Reue usw. sind
religiöse Eigenakte. Religiöse Bitte, Dank, Preis, Lob,
Bewunderung, Verehrung, Gehorsam, Ausübung religiöser
Autorität, sind religiös-soziale Akte.
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'W^^^*^.
Probleme der Religion.
529
C Art und Weise der Selbstgesetzlichkeit religiöser
Akte.
Vor einer genaueren Untersuchung der Wesensbe-
standstiicke des religiösen Akts mögen drei sichere Merk-
male an die Spitze gestellt werden, die den religiösen Akt
nicht erschöpfen, aber auf alle Fälle diagnostischen
Wert haben für seine Unterscheidung von allen anderen
Aktarten: i. die Welttranszendenz seiner Intention,
2. die Erfüllbarkeit nur durch das »Göttliche«, 3. die Er-
füllbarkeit des Aktes nur durch die Aufnahme eines sich
selber erschließenden, dem Menschen sich hingeben-
den Seienden göttlichen Charakters (Natürliche Offen-
barung des Göttlichen). Es gilt also der Grundsatz alles
religiösen Erkennens : »Alles Wissen über Gott ist Wissen
durch Gott«.
I . Das erste, was jedem religiösen Akt eigentümlich
ist, ist, daß in ihm nicht nur die von der Person erfahre-
nen Dinge und Tatsachen, sondern alle Dinge endlicher
und kontingenter Art in ein Ganzes zusammengefaßt
werden mit Einschluß der eigenen Person und zur Idee
der »Welt« vereinigt werden. Ohne diesen vorbereitenden
Akt kann ein religiöser Akt nicht stattfinden. Das zweite,
was zum religiösen Akt selbst gehört, ist, daß in seiner
Intention diese »Welt« übergriffen oder transzendiert wird.
Es handelt sich dabei gar nicht nur um diese einmalige
zufällig daseiende Welt, sondern um alles von der Art
einer »Welt« überhaupt, d. h. einer Welt, in der sich
ein Inbegriff der selben Wesenheiten so oder anders reali-
siert wie in dieser, die mir bekannt ist. Transzendenz im
allgemeinen ist eine Eigentümlichkeit, die jeder Bewußt-
seinintention zukommt, denn in jeder ist das Hinaus und
34
^m
r
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5 30 Probleme der Religion.
Hinübermeinen über ihren eigenen Erlebnisbestand ge-
geben, und das gleichzeitige Bewußtsein, daß das Sein
des Gegenstandes über den erlebten Intentionsgehalt
hinausreicht. Aber, erst wo das also Transzendierte die
Welt als Ganzes ist (mit Einschluß der eigenen Person)
haben wir das Recht, von einem religiösen Akt zu reden.
Mag beliebig ein Einzelding, eine besondere Erfahrung
und Wahrnehmung des kosmischen oder eigenen Lebens
den religiösen Akt auslösen, erst wenn diese Erfahrung
in einer ganz besonderen We^se auf das Ganze bezogen
und das Ganze in ihm synibolisiert erscheint, kann der
religiöse Akt eintreten.
2. Das schärfste obzwar nur negative diagnostische
Kennzeichen eines religiösen Aktes im Unterschiede zu
allen anderen geistigen Akten ist daher^die in ihm mit-
gegebene unmittelbare Einsicht in seine wesensmäßige
Unerfüllbarkeit durch irgend einen der »Welt« ange-
hörigen oder die Welt selbst ausmachenden endlichen
Gegenstand. In diesem Sinne ist das Augustinische: In-
quietum cor nostrum, donec requiescat in te eine Grund-
formel für alle religiösen Akte. Selbst der Pantheismus
widerstreitet nicht diesem Wesensgesetz, sondern erfüllt
es. Denn noch niemals gab es einen Pantheismus, der eine
endliche Welt zum Gegenstand religiöser Anbetung zu
machen gewagt hätte. Auch er sucht die Übereinstimmung
mit diesem Wesensgesetz dadurch, daß er die Welt selbst
als unendlich behauptet.
Ich sprach von der einsichtigen Unerfüllbarkeit ;d. h. es
genügt nicht, um einen religiösen Akt zu konstituiereh, daß
das Individuum sich sage, die von ihm vollzogene Intention
(sei sie theoretisch, sei sie eine besonders geartete Liebe,
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Probleme der Religion. 5 3 1
sei sie Streben nach Glück und Vollkommenheit, sei sie
Dank^ Hoffnung, Ehrfurcht, Furcht), habe nur bisher auf
Grund der begrenzten Erfahrung dieses Individuums oder
der Völker und Zeiten keine angemessene Erfüllung ge-
funden, es sei aber möglich, daß irgendwann eine solche
eintrete. Das vielmehr ist für den religiösen Akt charak-
teristisch, daß ihn die Einsicht durchwaltet, es könne über-
haupt kein Ding endlicher Art, kein Gut endlicher Art,
keinen Liebesgegenständ endlicher Art geben, welche die
Intention erfüllen können, die in ihm gegenwärtig ist. Alle
Erfahrungen, die gemacht worden sind, fungieren nicht als
negative Beweise (in Form von Induktionsschlüssen) fiir
die Unerflillbarkeit, sondern nur als Beispiele zur Gewin-
nung dieser Wesenseinsicht; zu Hilfe kommen und diese
Einsicht klarer herausstellen kann die Phantasie. Analog
wie der Erkenntnis-Theoretiker sich der apriorischen
Natur eines Satzes, d. h. seiner Unbeweisbarkeit und Un-
überwindbarkeit durch mögliche Beobachtungen irgend-
welcher Art dadurch versichert, daß er sich fragt, ob er
mögliche Beobachtungen auch nur phantasieren kann,
die ihn bestimmen würden, seinen Satz preiszugeben,
so kann man versuchen, ein phantasiertes endliches Gut,
einen phantasierten Weltzustand, eine phantasierte Voll-
kommenheit der Gesellschaft oder der Kultur der Mensch-
heit der Intention des religiösen Aktes gleichsam vor-
zuhalten. Und efst wenn auch dann die einsichtige Un-
angemessenheit dessen, was da vorgehalten wird, zyi"
Intention des Aktes deutlich wird^ handelt es sich um
einen echten religiösen Akt.' Im religiösen Akt denken
wir ein Sein, das von allem endlichen Sein und allem nur
in einer bestimmten Art nicht endlichen oder unendlichen
34*
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^ ß 2 Probleme der Religion.
Sein (unendlicher Zeit, unendlichem Raum, unendlicher
Zahl usw.) verschieden ist; wir finden uns gerichtet auf
etwas, an dessen Stelle kein endliches wie immer liebens-
würdiges Gut treten kann, da die religiöse Liebe die We-
sensartung solcher Güter transzendiert. Wir suchen im
religiösen Akt ein Glück, von dem wir zugleich vollkom-
men deudich wissen, daß kein Fortschritt der Menschheit,
keine Vervollkommnung der Gesellschaft, und keine Art
Vermehrung der inneren und äußeren Ursachen des
menschlichen Glücks es geben können. Wir erleben im
religiösen Akt eine Furcht oder eine Ehrfurcht, die wir
nicht zu bezielien vermögen auf eine bestimmte begrenzte
Gefahr, die uns auch nur dem Wesen nach bekannt wäre
oder auf ein gleichzeitig Würdiges und Drohendes, von
dem wir aus unserer Erfahrung Beispiele anfuhren könnten.
Die »religiöse« Furcht ist — auf Empirisches bezogen,
grundlos und ziellos. Im »religiösen« Hoffen hoffen wir
etwas, was wir nie erfahren haben und von dem wir wissen,
daß wir es nie haben erfahren k ö n n e n ; und wir erhoffen, was
wir hoffen ohne daß ein bestimmt gegründetes Vertrauen
auf Eintritt von Vorkommnissen in uns vorhanden wäre,
das aus unserer Berechnung irdischer Dinge fließt oder
das uns durch bloßes instinktives blindes Lebensvertrauen
nahegelegt wird. Im »religiösen« Dank, der in uns über-
quillt angesichts eines besonders bedeutenden Anblicks
der Natur, einer Erfahrung, durch die uns ein besonderes
Gut oder ein Erfolg geworden, danken wir »für etwas«
im Verhältnis zu dem das, was wir besitzen nur Zeichen,
Hinweis und Symbol ist, nicht der eigentliche Gegenstand
des Dankes; und wir danken dafür einem gebenden und
schenkenden Subjekt, für das wir auch in der Phantasie
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, Probleme der Religion. cjj
keine irdische Macht, keine Person, wie groß, würdig und
mächtig sie immer sei, einzusetzen vermögen. Wenn wir
uns im Reueakt religiös verhalten, so wissen wir zwar,
daß zur Anklage ein »Ohr« gehöre, das die Anklage
vernimmt, zu jedem »Richten« ein Gesetz, nach dem ge-
richtet wird und ein Richter der richtet, daß zur Verge-
bung ein Wesen gehört, das vergibt und welches nur ein
solches sein kann, das eben das Gesetz gab, von dessen
Folgen die Vergebung entbindet; aber obzwar wir alle
diese Intentionen und Intentionserfiillungen erleben, fin-
den wir in der gesamten uns bekannten endlichen Welt-
erfahrung nichts, auf das wir diese Intentionen beziehen
könnten. Vor wem klagen wir uns denn an, da doch un-
sere Lippen schweigen? Nach welchem Gesetz richten wir
denn, da wir doch nicht wissen, dieses Gesetz von ande-
ren Menschen oder durch uns selbst erhalten zu haben?
und wer richtet denn, wenn wir uns doch gerichtet wissen
und wer soll denn vergeben, wenn wir Vergebung suchen
und wer gab sie, wenn wir uns als solche fühlen, denen
Vergebung zu teil wird? Unser Geist blickt umher in aller
uns bekannten Welt und wir finden nidit nur in den Tei-
len, die uns bekannt wurden, sondern in keinem Teile der
diesen auch nur gleichen mag, irgend eine bestimmte
Antwort auf diese Fragen. In jedem dieser Akte also:
Lob, Dank, Furcht, Hoffnung, Liebe, Glück, Streben,
Vollkommenheitsstreben, Anklage, Gericht, Vergebung,
Bewunderung, Verehrung, Bitte, Anbetung, überschrei-
tet unser Geist nicht nur dieses oder jenes, sondern
den Wesensinbegriff" endlicher Dinge. So ist der reli-
giöse Akt negativ immer dadurch charakterisiert, daß er
ebenso empirisch grundlos wie ziellos ist, wie immer
Digitized by VjOOQ IC
cij. Probleme der Religion. •
er empirisch veranlaßt sein mag; und wie immer die Ideen,
die nachträglich über seinen Zielgegenstand ausgebildet
werden, von unseren Erfahrungen gefärbt sein mögen
und gleichsam noch die Spuren der subjektiven Weg-
erinnerungen an sich tragen mögen, in denen sie gefunden
worden sind. Und damit ist auch schon gesagt, daß alles,
was wir durch unsere oder der Menschheit vereinigte
Kraft an Gütern herstellbar auch nur denken können,
niemals ursprünglich in die Intentionsrichtung spezifisch
religiöser Art führen kann. Es ist daher auch nicht etwa
eine bloße ideale Vollendung von all dem, was wir in unserer
Erfahrung an tatsächlichen und möglichen Gütern vorfinden,
auf was der religiöse Akt geistig hinblickt, sondern es ist
das bestimmte völlig klare Bewußtsein, daß die Wesensart
endlicher Güter und endlichen Seins überhaupt es ist und
nicht ihre bestimmte So- oder Anders-BeschafFenheit oder
ihr bloßer Grad an Vollkommenheit, was den Grund
bildet für die Uner füll barkeit der religiösen Intention
durch sie. Geist und Herz, unser Gemüt wie unser Wille,
finden sich im religiösen Akt gerichtet auf ein Seiendes
und Wertvolles, das gegenüber aller »möglichen Welt-
erfahrung« als das »ganz andere«, »Wesensunvergleich-
liche« in keiner Weise darin Enthaltbare uns vordem Geiste
schwebt. Gewiß gibt dieses Kennzeichen dem religiösen
Akt keine andere Erfüllung, als eine, wie es scheint, nur ne-
gative, trotzdem muß der Sinn dieser Art Negationen sehr
unterschieden werden von bloß negativen, theoretischen
Urteilen, denn diese Negationen dienen ausschließlich da-
zu, den religiösen Akt von allen nichtreligiösen Akten ab-
zugrenzen. Sie wollen ja gar nicht wiedergeben das, was
im religiösen Akt gegeben ist; sofern sie aber, wie in
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 535
den Worten »unbeschreiblich«, »unaussprechlich«, »un-
endlich«, »unermeßlich« usw. es versuchen, das was im
religiösen Akt gegeben ist selbst zu sagen, haben sie auch
nur der Wortzusammensetzung nach, nicht aber dem Sinne
nach negative Bedeutung. Religiöser Gehalt ist immer
das, was im religiösen Akte gegeben bleibt, wenn
wir diese so charakterisierten Negationen in der Urteils-
sphäre vollziehen.
3. Der religiöse Akt fordert — im Unterschiede zu
allen sonstigen Erkenntnisakten, auch denen der Meta-
physik — eine Antwort, einen Wider- und Gegenakt
seitens eben des Gegenstandes, auf den er seinem
intentionalen Wesen nach abzielt. Und damit ist schon
gesagt, daß von »Religion« nur die Rede sein kann, wo
ihr Gegenstand göttliche personale Gestalt trägt
und wo Offenbarung (im weitesten Sinne) dieses Persön-
lichen dem religiösen Akt und seiner Intention die Er-
füllung gibt. Während für die Metaphysik die Persön-
lichkeit des Götdichen eine nie erreichbare Grenze des
Erkennens bildet, ist für die Religion diese Persönlich-
keit das A und O. Wo sie nicht vor Augen steht, ge-
dacht, geglaubt, inwendig vernommen wird — da ist
von Religion im strengen Sinne keine Rede. Denn alle
diese Momente sind je wesensuntrennbar voneinander.
Der religiöse Akt vermag nicht von sich aus oder mit
Hilfe des Denkens cSsjenige zu konstruieren, was als
Gegenstandsidee, -anschauung, -gedanke dem Menschen
vorschwebt, der ihn vollzieht. Er muß die Wahrheit, die
er intendiert, das Heil und das Glück, das er »sucht«,
irgendwie empfangen — und er muß es empfangen
durch eben das Wesen, das er sucht. Er ist insofern schon
Digitized by VjOOQ IC
ei6 Probleme der Religion.
in seiner ersten Intention auf ein mögliches Empfangen
hingerichtet und angelegt — wie vielseitige innere und
äußere spontane Tätigkeit auch die Erreichimg der
Schwelle voraussetze, auf der das Empfangen einsetzt.
Wo die Seele nicht — wie vermittelt immer — Gott
berührt und ihn dadurch berührt, daß sie sich durch
Gott berührt weiß und fühlt, da besteht kein religiöses
Verhalten — auch keine »natürliche« Religion. Die posi-
tive Religion und die natürliche Religion sind nicht da-
durch unterschieden, daß jene auf Offenbarung beruht,
diese auf spontaner Vemunfterkenntnis des Menschen —
ganz unabhängig vom religiösen Akt. Metaphysik ist
überhaupt nicht Religion, — auch keine »natürliche Re-
ligion«, wie immer sie zu partiell identischen Annahme-
inhalten fuhren mag, zu denen auch die natürliche Reli-
gion auf ihre Weise fuhrt. Der Wesensunterschied der
natürlichen und der positiven Religion beruht vielmehr
auf der Art und Weise der Offenbarung, d. h. darauf,
ob die Offenbarung eine generelle, durch die konstanten
Wesenstatsachen der Innen- und Außenwelt,der Geschichte
und der. Natur symbolisch vermittelte. Jedem im reli-
giösen Akt überall und zu jeder Zeit zugängliche ist,
oder ob sie erfolgt und gegeben ist durch die besondere
erhabene Gottverknüpftheit bestimmter Personen, deren
Sein, Leistung, Lehre, Aussage (und die Tradition dieses
Ausgesagten); und dann vermittelt' ist durch den Glau-
ben »an« diese Person. So wenig also notwendige und
allgemeingültige Erkenntnis mit spontaner Vemunft-
und Sinneserkenntnis zusammenfällt, vielmehr solche Er-
kenntnis auch durch die natürliche, jedem überall imd
immer zugängliche Offenbarung gegeben sein kann —
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 537
wenn er nur in religiöser Akthaltung an die Welt heran-
tritt, so wenig darf Offenbarung überhaupt der »positiven «
und tradierten Offenbarung durch eine Person gleich-
gesetzt werden. Offenbarung als solche — im wei-
testen Wortsinne — ist nur die dem Wesen des:
religiösen Aktes streng korrelate Gegebenheits-
art eines Realen vom Wesen des Göttlichen über-
haupt. Sie reicht als solche Gegebenheitsart soweit^
wie Religion überhaupt reicht; und sie umfaßt insofern
auch den ganz andersartigen Gegensatz wahrer und
falscher Religion.
Denn das sollte selbstverständlich sein: Genau wie wir
in der äußeren und inneren Wahrnehmung den mannig-
fachsten Täuschungsquellen und in den auf diese Wahr-
nehmungen aufgebauten Schlüssen den nicht weniger
mannigfachen Irrtumsquellen unterliegen können, genau
so — ja noch in viel höherem Maße — können wir hier
Täuschungen und Irrtümern verfallen. Die besonderen
religiösen Täuschungsquellen bedürfen einer besonderen
Untersuchung. Aber so wenig ob dieser Möglichkeiten,
jemand das Recht hätte, die Wahrnehmung der Außen-
und Innenwelt überhaupt als Erkenntnisquell^ zu ver-
werfen, so wenig besteht das Recht, Offenbarung als.
wesensgesetzliche Antwort auf den religiösen Akt über-
haupt in Frage zu ziehen.
4. Kann aus dem Dasein religiöser Akte (resp. der sog. .
»religiösen Anlage« des Menschen) das Dasein Gottes ge-
folgert werden?
Wenn das Göttliche und alles, was mit ihm in wesent-
licher Beziehung steht, nur in Akten vom Wesen der
religiösen Akte »gegeben« ist, so ist die Darlegung der-
Digitized by VjOOQIC
5^8 Probleme der Religion.
Existenz einer übernatürlichen Seinssphäre an erster Stelle
nicht durch »Beweise« zu erbringen, die von Tatsachen
außerreligiöser Erfahrung ausgehen, sondern durch
Weckung und Erweckung der religiösen Akte im mensch-
lichen Geiste selbst; femer, wenn diese Weckung erfolgt
ist durch ursprünglichen »Aufweis«, resp. — wo ursprüng-
licher Aufweis schon geschehen — durch »Nachweis« des
wesensmäßigen Anschauungsgehaltes, der in den reli-
giösen Akten gegeben ist.
Zwei hartnäckige Vorurteile philosophischer Natur
halten von dieser Einsicht gegenwärtig noch so viele
Menschen zurück.
Das erste Vorurteil ist, als »gegeben« und zwar
als urgegeben dürfe nur das gelten, was auf Erfahrung
(womöglich gar nur auf Sinneserfahrung) beruht. Es gilt
aber nicht minder der Satz, daß für alles Urgegebene,
das sich findet, es auch eine Erfahrungsart und -weise
geben muß, durch die dies Gegebene gegeben ist. Alles,
was »ist«, muß sich vor der Erfahrung ausweisen. Aber
auch: alles, was erfahren ist, hat Anspruch auf irgendeine
Existenzsetzung. Und es ist nicht weniger verhängnisvoll
für alle Theorie der Erkenntnis, am Anfang des metho-
dischen Verfahrens einen zu engen, abgeschlossenen
Begriff der »Erfahrung« aufzustellen, eine besondere Er-
fahrungsart (und die zu ihr führende geistige Einstellung)
mit dem Ganzen des Erfahrens gleichzusetzen und dann
alles als »urgegeben« nicht anzuerkennen, was sich durch
diese Erfahrungsart nicht nachweisen läßt. Was am Er-
fahrungsgegebenen überhaupt durch sinnliche Erschei-
nungen deckbar ist und welche Sinnesfunktionen, resp.
Sinnesorgane angenommen oder gesucht werden müssen.
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Probleme der Religipn. ein
um die gegebenen sinnlichen Erscheinungen als gegeben
verständlich zu machen^ ist aber ein Fragenkomplex, der
erst nach Feststellung und Analyse des überhaupt Ge-
gebenen sinnvoll ist.
2. Das zweite Vorurteil ist ein Mangel von Einsicht in
die Grenzen des beweisbaren Wissens und Erkennens.
Gewiß fordert jedes Urteil Rechtfertigung und Rechen-
schaftsablage, mit welchem Rechte es gefällt wird. Aber
nur in genau zu bestimmenden Grenzen ist diese mög-
liche Rechtfertigung »Beweis«. Vom Beweis verschieden
sind andere Arten der Rechtfertigung, z. B. der Aufweis
(eigendiche »demonstratio«), femer der Nachweis, Kon-
struktion, Verifizierung usw.
Was das erste Vorurteil betrifft, so wissen wir heute
durch die gemeinsamen Forschungen der phänomenolo-
gischen Philosophie, der Erkenntnistheorie und der experi-
mentellen Psychologie^ kaum etwas sicherer als dies: Das
Gegebene ist unendlich reicher als der Teil des Ge-
gebenen, der im strengen Sinne der sog. Sinneserfahrung
entspricht. Und femer: Sinneserfahrung ist weder die ein-
zige Erfahrung, die es gibt, noch in der Ordnung des Ur-
sprungs, d. h. der Zeitordnung des Erfahrens die ursprüng-
lichste Erfahrung. Die Strukturgehalte seiner Umwelt sind
jedem Lebewesen, die Strukturgehalte seiner Welt sind
jedem Geistwesen vielmehr vor aller »Empfindung« »ge-
geben« und zu möglicher Empfindung kann nur dasjenige
werden, was die Umwelt eines Lebewesens und die zu ihr
gehörigen Einheitsformen und Ordnungsarten »lebendig«
' Eine Zusammenschau und theoretische Verarbeitung des von der experi-
mentellen Psychologie hier Festgestellten gibt das Buch von W. Köhler
»Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand«. Braun-
schweig 1920.
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KAo Probleme der Religion.
machen kann. Kein Grundsatz ist daher heute so vollstän-
dig widerlegt, als der alte philosophische Satz: »Nihil
est in intellectu, quod non fuerit in sensu. « Empfindung
und der ganze sensorische Apparat eines Organismus
haben ausschließlich die Bedeutung eines Zeichen- und
Signalsystems für die lebensförderlichen Reaktionen des
Organismus auf die Umwelt. Eine echte Erkenntnis-
funktion kommt ihnen überhaupt nicht zu. Sie produ-
zieren nicht Anschauung und Erfahrung, sie analy-
sieren sie bloß und zwar bloß nach einem Gesichtspunkt:
dem des praktisch Förderlichen und Schädlichen für
das Einzelwesen (im Gegensatz zur Gattung).
Mit der Fülle der neuen Einsichten, die diesen allge-
meinen Sätzen entsprechen und die hier auch nur anzu-
deuten nicht der Ort ist, halten wir zwei Typen der theo-
retischen Philosophie, die uns als die stärksten Hinder-
nisse einer Philosophie der Religion erscheinen, für grund-
sätzlich widerlegt: den sensualistischen Empirismus und
Positivismus und das System I. Kants. Jener unternahm
den ganz unmöglichen, — nur vor einer auch nur primi-
tiven Phänomenologie des Gegebenen denkbaren — Ver-
such, alle Inhalte der Erfahrung genetisch auf Sinnes-
inhalte und Derivate solcher zurückzufuhren und forderte
(dieser Lehre entsprechend) in seiner Logik für alle Ur-
teile, die nicht sinnliche Inhalte konstatieren, einen induk-
tiven Beweis. Kant hingegen, der das sensualistische
Vorurteil, »gegeben« sei nur Empfindung (das sog. »Chaos
der Empfindungen) von den englischen und französischen
Sensualisten unbesehen und unkritisch übernahm, schloß,
daß aller asensuale hypersensuale Gehalt der Erfahrung
überhaupt nicht ursprünglich »gegeben« sei, sondern als
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Probleme der Religion. e^ I
eine Leistung einer eigengesetzlichen synthetischen Ver-
standes- und Vemunfttätigkeit müsse angesehen werden.
Heute wissen wir, daß Gegebenheiten wie Beziehung,
Ordnung, Substanzartigkeit, Wirken, Bewegung, Gestal-
ten, Formen, Realsein, Materialität, Raum, Zeit, Zahl und
Mengenfaltigkeit, Wertqualitäten, Icheinheit, Welteinheit,
Umwelteinheit usw. echte und wahre Gegebenheiten sind
und nichts vom Verstände Konstruiertes, Produziertes,
Hervorgebrachtes (weder bewußt noch unbewußt), daß
sie aber zugleich nicht minder asensuale Gegebenheiten
sind und außerdem Gegebenheiten, die je in ihrer beson-
deren Artung unabhängig und vor den »Empfindungen«
der Sinne eines Wesens vorhanden sind.
Wenn es also auch religiöse Urgegebenheiten geben
sollte, wenn das Götdiche und seine ganze Wesens-
sphäre (sei es in primitiver oder entwickelter Sonder-
artung, sei es wirklich oder nur scheinbar Götdiches) zu
diesen Urgegebenheiten gehören sollte, so würde dies
im Rahmen einer phänomenologisch fundierten
Philosophie durchaus nichts Verwunderliches sein. Die
Feststellung und Erkenntnis, was in einer unableitbaren
Wesenssphäre von Gegebenem auch wirklich sei (resp.
welche Sätze über reale Dinge dieser Sphäre wahr sind),
ist ja stets eine nachträgliche, reicher Erkenntnisentwick-
lung unterworfene. Sie darf nie und nimmer dem Nach-
weis der selbständigen Existenz und echten Wesensnatur
einer materialen Seinssphäre vorangestellt werden. So ist
nicht die Existenz einer Außenwelt und nicht, daß »Etwas
Reales« an jeder Stelle der Außenwelt sei, in die ich
blicke, als Denkhypothese, als logisch geforderte An-
nahme anzusehen, sondern Hypothese ist nur je, was
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542 Probleme der Religion.
dieses Wirkliche sei, resp. ob diesem oder jenem beson-
deren phänomenalen Gehalt in der Außenweltsphäre ein
Wirkliches entspreche. Analoges gilt vom Ich als Ein-
heitsform der sog. »Innenwelt« usw.
Genau im selben Sinne wie Außenwelt, Ich, Welt,
Umwelt, Mitwelt (Mitinnenwelt und Mitaußenwelt) ist aber
auch die Sphäre der Phänomene, die sich im religiösen
Akte dem Geiste auftun, ist die Sphäre des Göttlichen
und eines Wirklichen überhaupt in ihr ein Urgegebenes
und von nichts Ableitbares.
Und so ursprünglich »das« Bewußtsein in seiner end-
lichen Wesensbestimmtheit immer wesensnotwendig die
Sphären »Außenwelt«, »Ich«, »Wir« als Korrelate hat —
ohne daß die eine dieser Sphärengegebenheiten auf die
andere zurückführbar ist — genau so ursprünglich blickt
es durch den religiösen Akt auch in die Sphäre der gött-
lichen, übersinnlichen Phänomene und Tatsachen. Daß es
dabei in den Realsetzungen noch beliebig sich täuschen
und irren kann, die es in einer oder der anderen dieser
Sphären vornimmt, ist selbstverständlich, zieht aber die
ursprüngliche Existenz der Sphäre nicht in Frage.
Von einem »Beweis« der Existenz der ganzen religiösen
Sphäre aus anderen Welttatsachen durch Schlüsse, kann
daher keine Rede sein; so wenig die Rede sein wie von
einem »Beweis« der Existenz der Außenwelt oder des Ich
oder des Nebenmenschen. Man verkennt prinzipiell die
Tragkraft und die Grenzen von sogenannten »Beweisen«,
wenn man solches fordert.
Stellen wir einige solcher Grenzen von Beweisen fest,
sofern sie die Existenz von Etwas beweisen sollen. Denn
nur wenn erkannt ist, es liege bei religiösen Gegenstän-
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Probleme der Religion. 543
den kein Sonderfall vor, es fuge sich auch das religiöse
Erkenntnisgebiet den allgemeinen Grundsätzen über Be-
weisbares und Unbeweisbares, wird man bezüglich des
Daseins Gottes nicht fordern, was zu fordern einem be-
züglich anderer Daseinsgebiete nicht in den Sinn kommt.
Realität oder Dasein selbst zu »beweisen« ist wider-
sinnig. Beweisbar sind nur Sätze über Reales, nicht das
Reale selbst. Daß »ein« Reales überhaupt den Erschei-
nungen zugrunde liegen, daß wesensverschiedene Sphären
von Erscheinungen auch verschiedenes Reales zugrunde
liege, das ist ein Wissen, das allen möglichen Daseins-
. beweisen vorhergeht. Nur die Verknüpfung eines bestimm-
ten einzelnen Was mit dem Prädikat »real « , das selbst nur
Erfüllung findet in dem Gehalt des Realitätserlebnisses,
das zu eruieren eine Aufgabe der phänomenologischen
Bewußtseinsanalyse ist, kann Gegenstand eines Beweises
sein. Femer gilt, das Verhältnis von Beweis und Wahrheit
betreffend, der Satz: Nur Wahres ist beweisbar. Diesem
Satze entspricht nicht die Umkehrung: Nur Beweisbares
ist wahr — noch darf gar gesagt werden, es bestehe die
Wahrheit eines Satzes in seiner Beweisbarkeit. Es ist
vielmehr klar, daß derselbe Satz und derselbe wahre Satz
ganz verschieden bewiesen werden kann, z. B. direkt und
indirekt, einfach und verwickelt usw. Sein Wahrsein nimmt
nicht so viele Arten an, als es Arten von Beweisen für ilm
gijbt. Immer aber stützt sich der Beweis auf andere wahre
Sätze, die nicht beweisbar sind, sondern anderweitig
»einleuchten«. Bei Daseinsbeweisen eines bestimmten in
seinem Was schon gegebenen Gegenstandes ist femei^
immer vorausgesetzt: i . Anderes bestimmtes Dasein der-
selben materialen Daseinssphäre, 2. Grundsätze außer-
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KA.A. Probleme der Religion.
halb derjenigen Sätze der formalen Logik, die den Beweis
im allgemeinen regeln (z. B. Gesetze der Syllogistik) und
die ausschließlich die wesensmäßigen Zusammenhänge
des Daseienden der je bestinmiten Daseinssphäre wieder-
geben. So könnten wir z. B. aus der Kenntnis und der
vollendeten Erklärung der toten Welt niemals die Existenz
eines lebendigen Wesens und sei es des einfachsten und
primitivsten erschließen oder »beweisen«. Nur wenn wir
das Wissen um das Wesen des Lebendigen, femer die in
der Welt des Lebendigen gültigen Wesenszusammenhänge
voraussetzen, können wir aus dem Dasein bestimmter Lebe-
wesen und Erscheinungen des Lebens anderer Lebewesen
Dasein, respektive die Existenz anderer Lebenserschei-
nungen beweisen. Nie und nirgends aber gibt es einen
rein analytischen Übergang von einer Wesenssphäre zur
anderen, weder dem Dasein noch dem Wesen eines be-
stimmten Gegenstandes nach. Wie dürfte man emsdich
erwarten, es ließe sich nicht nur die Existenz eines be-
stimmten religiösen Gegenstandes aus der Existenzsetzung
anderer religiöser Gegenstände nach Wesensgesetzen
ausschließlich des religiösen Seins und Bewußtseins be-
weisen, sondern die Existenz des religiösen Gegenstandes
selber? Gottes Dasein — fordert man — solle sich ohne
jede materialgebende Anschauung über das Göttliche ein-
fach aus Daseins- und Wesensgebieten ganz anderer Art,
ohne Heranziehung religiöser Sinngesetze, nur mit den
Mitteln formaler Logik »beweisen« lassen, wogegen man
doch bestimmt das Dasein eines Lebewesens nicht beweisen
kann, wenn man nicht mindestens an einem Lebewesen
das Wesen der lebendigen Form, Bewegung usw. erschaut
hat. Gerade da wo der Sprung von Wesensart zu Wesens-
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Probleme der Religion. 54^
art der größte ist, sollte gelingen, was nicht gelingt, wo
er der kleinste ist?
Beweisbar ist femer nur ein Satz, der schon gefun-
den ist. Dies gilt überall, wo der zu »beweisende« Ge-
genstand nicht erst im deduktiven Verfahren selbst
entspringt und gesetzmäßig entsteht, wie z. B. in weiten
Gebieten der Mathematik. Hier allerdings, aber auch nur
hier, fällt der deduktive Gang des sogenannten Beweises
mit der Konstruktion des Gegenstandes, d. h. mit seinem
ideellen Werden, zusammen. Nichts aber ist klarer, als
daß dieser Fall des Zusammenfallens von Konstruktion
und Beweis innerhalb der religiösen Erkenntnissphäre am
allerwenigsten Geltung hat. Weder Gott selbst noch die
Idee Gottes können »konstruiert« werden. Die geistige
Macht der Konstruktion ist um so größer, je daseins-
relativer der Gegenstand auf das menschliche Bewußtsein
ist. Sie ist also null gegenüber dem absolut Seienden,
gegenüber dem, das selbst von nichts und von dem alles
andere abhängig ist. Gott finden lehren ist aber etwas
grundsätzlich Anderes und Höheres als sein Dasein be-
weisen. Nur derjenige, der Gott gefunden hat, kann ein
Bedürfnis nach einem Beweis seines Daseins verspüren.
Auch die Logik der Erfindung (logique de Tinvention, ars
inveniendi et investigandi) ist eine andere als die Logik
des Beweises (logique de la demonstration, ars demon-
strandi). Die chrisdiche Patristik — Augustinus an der
Spitze — lehrte noch Gott »finden«. Ihre Gottesbeweise
sind im wesentlichen noch Angaben, wie das religiöse Be-
wußtsein verfährt, wenn es auf dem Wege zu Gott ist
und wie es auf diesem Wege sein Ziel erreicht. Gewiß ist
diese Aufgabe, den gesetzlichen Gang des religiösen Be-
35
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1546 Probleme der Religion.
wußtseins, sozusagen die »Sinnlogik des religiösen Akts«
aufzufinden, nicht die einzige Aufgabe einer natürlichen
Theologie. Die logische Verkettung der religiösen Wahr-
heiten (wir reden hier wie stets nur von den natürlichen)
mit den Wahrheiten über die Welt und ihre Teile ist nicht
weniger notwendig. Aber sie ist erstens immer die se-
kundäre, nachträgliche Aufgabe und sie darf zweitens
und vor allem nicht als ein Ersatz xler ersten angesehen
werden. Diese logische Verkettung sowohl der natürlichen
religiösen Wahrheiten unter sich als der religiösen Wahr-
heiten mit den Wahrheiten über die Welt ist eben kein
»Beweis« religiöser Wahrheiten. Sie ist im höchsten Falle
eine bloße »Verifikation« in dem Sinne, wie die Mathe-
matiker »Beweis« und »Verifikation« scharf unterscheiden.
Unter »Nachweis« versteht man im Unterschiede von
»Beweis« das nach Regeln wiederfinden lehren von Etwas,
das gefunden ist. Unter »Aufweis« oder »Aufdeckung«
versteht man ein erstmaliges Zeigen von Etwas, das noch
nicht geftmden ist. Der Nachweis setzt also den Aufweis
voraus. Es kann ein Aufweis hierbei durchaus so beschaffen
sein, daß er seinerseits in seinem Gange vermittelndes Den-
ken, auch mancherlei Schließen enthält. Das Ganze aber
des Prozesses, den man »Aufweis« nennt, hat doch nur
dieselbe Bedeutung, wie ein Zeigestab, mit dem wir auf
Etwas hinzeigen, sehen machen, damit es der andere
besser sehe oder überhaupt sehe.
In der natürlichen Theologie hat der Aufweis dem
Nachweis und der Nachweis den Verifikationen der reli-
giösen Wahrheiten vorauszugehen.
Gottes Wesen und Dasein ist eines Aufweises und
Nachweises, nicht aber im strengen Sinne eines Beweises
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Probleme der Religion. 547
aus Wahrheiten fähig, die nur Wahrheiten über ^ie Welt
sind.
Nach diesen Vorbemerkungen nehmen wir die Frage
wieder auf, wie weit auch vom Dasein religiöser Akte im
Geiste des Menschen das Dasein Gottes gefolgert werden
kann. Wenn wir die religiösen Akte nicht nur nach ihrem
daseinsfreien Wesen und ihrer inneren Sinngesetzlichkeit
erforschen, sondern vom Dasein solcher Akte im Menschen
ausgehen, so darf nicht nur nach den Gegenständen dieser
Akte gefragt werden (in denen das religiöse Bewußtsein
naiv als in seinem Milieu lebt), sondern es muß auch nach
ihrer Ursache, dem Dasein nach, die Frage ergehen. Auf
diese Frage aber ist die einzige sinnvolle Antwort: Nur
ein reales Seiendes mit dem Wesenscharakter des Gött-
lichen kann die Ursache der religiösen Anlage des Menschen
sein, d. h. der Anlage zum wirklichen Vollzug jener Akt-
klasse, deren Akte durch endliche Erfahrung unerfüllbar
sind und gleichwohl Erfüllung fordern. Der Gegenstand
der religiösen Akte ist zugleich die Ursache ihres
Daseins. Oder: Alles Wissen von Gott ist notwendig zu-
gleich ein Wissen durch Gott.
Man hat öfters diesem Schluß den Fehler des Zirkel-
beweises vorgeworfen. Mit Unrecht, wie uns scheint. Wohl
liegt in zwei Fällen ein Zirkel vor. Er liegt vor, wenn man
z.B. mitDescartes nicht von besonderen religiösen Akten
ausgeht und ihreWesensmerkmale genau aufweist, sondern
das Zutrauen, durch Vernunft überhaupt Wahrheit zu finden,
d. h. nicht in systematischer Täuschung befangen zu sein
erst aus der Veracitas Dei, als der Ursache der endlichen
Vernunft, herleitet und doch zugleich auf dieselben Akte
der Vernunft, die in den Wissenschaften des Endlichen
35*
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^^8 Probleme der Religion.
sich betätigen, die religiöse Urwahrheit aufbaut. Dies
ist der bekannte Irrtum des Descartes und vieler »Onto-
logisten«. Richtig daran ist, daß der Glaube an das syste-
matische Ganze der Vernunft (mit allen ihr einsichtigen
Wahrheiten), d. h. der Glaube, daß im Menschen ein
geistiges Prinzip tätig sei, das nur vom Gegenstande her
und nicht von leiblichen und psychischen Ursachen im
Menschen bestimmt sei und sich bestimmen lassen könne,
den Glauben an Gott als der Ursache der endlichen Ver-
nunft voraussetzt. Insofern gilt: Nur wenn Gott existiert,
gibt es erreichbare Wahrheit.^ Denn mag eine Einsicht
der Vernunft so evident wie immer sein, so ist sie evident
doch nur vor der Vernunft, die immer noch als Ganzes
nur zweckmäßige Täuschung, etwa biologisch zweck-
mäßige Täuschung, geben könnte. Fr. Nietzsche hatte
recht, wenn er die Annahme der Wahrheitsidee für an den
Gottesglauben gebunden hielt und seinem Atheismus auch
die Wahrheitsidee zum Opfer bringen zu müssen meinte.
Setzen wir den Fall, daß ein vemunftloses Prinzip dem Da-
sein der Welt und ihrem Wesen zugrundeliege, so kann auch
Vernunft nicht sein, wofür sie die Menschheit bisher ge-
halten. Die Evidenz eben sowohl eines objektiv Guten als
eines objektiv Wahren stehen ihrer Möglichkeit nach in
Wesenszusammenhang mit einem guten und vernünftigen
Weltprinzip. Ein scharfsinniger Kritiker' hat mir dies be-
stritten, zunächst auf die Idee des Guten hin. Er meinte
gleichsam sagen zu dürfen: Wenn ich nur einsehe, was
gut ist, so werde ich dieses* Gute anerkennen und wollen,
* Dieser Satz gilt auch für den Spezialfall : Seinsgültigkeit des Kausalprinzips.
2 S. D. H. Kerler »Max Scheler und die impersonalistische Lebensanschau-
ung« 1917.
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Probleme der Religion. ^^g
gleichwie immer auch der Weltgrund beschaffen sei. Mag
er mich und meinen Willen zermalmen und für immer das
Gute (meines und jedes andere) zu schänden werden lassen.
Dann werde ich sagen: Schade liir den Weltgrund! Ich
werde ihn nicht anerkennen, wie immer auch seine Macht
unendlich sei. Ich werde gleichsam in letztem metaphy-
sischem Trotze dastehen, gestützt auf meine moralische
Evidenz und werde ihm jede mögliche Verachtung zu teil
werden lassen. Und ganz analog könnte man auch die
theoretische Wahrheitsevidenz gegen die Blindheit des
Weltgrundes festhalten zu dürfen wähnen. Dieser Stand-
punkt erscheint jenem geistvollen Schriftsteller von fast
berückender Erhabenheit und Größe. Aber je tiefer ich
mich in ihn einzuleben suche, desto unhaltbarer erscheint
er mir. So sehr ich zugebe, daß man weder das Gute
noch das Wahre, weder die logischen noch die ethischen
Einsichten auf das bloße Macht-fiat des göttlichen Willens
zurückführen dürfe, so sehr ich eine selbständige autonome
Vemunftevidenz als Basis, nicht als Folge des Gottes-
glaubens anerkenne, so ist nicht minder einleuchtend
der Satz : Wenn der Weltgrund blind und böse wäre, so
wäre auch jene vermeintliche Evidenz in bezug auf das
Gute und Wahre nur eine sehr entfernte und abgeleitete
Folge des blinden und bösen Weltgrundes — und könnte
darum nicht das sein, als was sie sich gibt. Die Fest-
haltung des Guten und Wahren als Leitsterne meines
Lebens wäre eine blinde Velleität, ein sinnloser Stoß
gegen den Charakter des Daseins selbst. Diese Wahr-
heit ontischer Natur darf nicht zurückstehen gegen das,
was die Erkenntnistheorie und Wertungslehre an Ein-
sichtigem geben.
Digitized by VjOOQ IC
5 50 Probleme der Religion.
Falsch an dem Cartesianischen Gedanken war, daß Des-
cartes Gottes Dasein ohne besondere religiöse Akte durch
dieselben Operationen erkennbar dachte, für die er das
nötige Zutrauen erst aus dem Dasein Gottes und Gottes
Veracitas schöpfen wollte. Aber die religiösen Akte gehen
den übrigen endlichen Vemunftakten vorher; die letzteren
wurzeln in den ersteren als den der Person unmittelbarsten
und tiefsten Akten.
Femer hat man gesagt: Die religiöse Anlage des Men-
schen, d. h. sein Besitz an Akten des Denkens, Fühlens,
Wollens, die evident unangepaßt sind an das Milieu end-
licher Dinge, die keine Erfüllung in endlicher möglicher Er-
fahrung jeder Art finden — könnte sie nicht auch dann,
wenn sie zum Wesen der Menschennatur gehörte, also mehr
wäre als ein historisches Phänomen, trügerisch sein? Nur
wenn wir aus anderen rationalen Gründen schon wissen,
daß Gott existiert und dann allerdings auch die Ursache
sein wird für jene Anlage, seien wir dieses Zweifels über-
hoben.
Wenn sich dieser Zweifel gegen die Bedürfnistheologie
wendet so ist er vollständig im Recht. Der Mensch mag be-
liebig viele Wünsche, Sehnsüchte, Bedürfnisse bie-
sitzen, für die es keine Erfüllung, keine irdische und
außerirdische, gibt.
Aber ist denn von solchen Dingen die Rede, wenn wir
von religiösen Akten reden? Wünsche, Sehnsüchte, Be-
dürfnisse sind entweder religiöse oder außerreligiöse, viel-
leicht und sicher oft auch solche außerreligiöse, die sich
einen religiösen Mantel umhängen. Welche es auch seien,
sie fordern immer selbst eine Erklärung und zwar eine
Erklärung, die das Wesen oder die Wesensklasse von
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. c c i
Gegenständen voraussetzen muß, nach denen die Wünsche,
Sehnsüchte, Bedürfnisse zielen. Auch wenn sie empirisch
noch so unerfüllbar sind, fordern sie diese Erklärung. Wir
aber gingen nicht aus von einer allverbreiteten Anlage zu
faktischen Bedürfnissen, Wünschen usw., sondern von einer
Wesensklasse geistiger Akte und ihrer Korrelate, von
denen es an sich gleichgültig ist, ob sie sich an allen oder
nur an einem einzigem Menschen finden. Und erst in
zweiter Linie fanden wir auch durch Induktion eine allge-
mein verbreitete Anlage zu Akten solcher Art. Es ist
selbstverständlich, daß auch die spezifisch religiösen »Be-
dürfnisse« nur an schon gegebenen religiösen Objekten
und ihrer Erkenntnis erwachen konnten, nicht also die
religiösen Objekte selber erklären können. Die religiösen.
Objekte müssen also durch die religiösen Akte und in
diesen Akten schon gegeben sein, um Bedürfnisse, sich
mit ihnen zu beschäftigen, um Wünsche und Sehnsüchte
eben religiöser Art erwachen zu lassen. Bedürfnisse sind
immer Gegenstände einer Erklärung; sie selbst können
nichts erklären^.
Wird aber der Begriff des intentionalen anschauung-
gebenden religiösen Aktes richtig erfaßt und nicht mit so
abgeleiteten Dingen wie religiösen Bedürfnissen verwech-
selt, so wäre die Behauptung, es müsse Gottes Dasein
»zuerst« erkannt sein — etwa durch Schlüsse vom Dasein
und der Beschaffenheit der Welt aus — ehe den religiösen
Akten eine mehr als fiktive Bedeutung zuzuerkennen sei,
ganz ungegründet. Wie nun, wenn Gott eben seinem Wesen
nach erst in diesen Akten und nur durch sie gegeben wäre
' Vgl. mein Buch: »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert-
ethik«, wo dies auch z. B. für ökonomische 'Bedürfnisse gezeigt ist.
Digitized by VjOOQ IC
5^2 Probleme der Religion.
und gleichzeitig in einem unzerreißbaren Grunderlebnis
auch als die wirksame Ursache des Vollzugs dieser Akt-
bewegung selbst? Dann hieße diese Forderung etwa eben-
soviel als verlangen, es müßte zuerst die Existenz von
Farben rational nachgewiesen sein, ehe man sie — sieht,
von Tönen, ehe man sie — hört.
Es dreht sich also alles um die angemessene Wesens-
charakteristik der religiösen Akte. Gelingt es ims, scharf
und genau zu zeigen, der menschliche Geist vollziehe inten-
tionale Akte, die notwendig ein Korrelat in bestimmten
Wesensgehalten fordern, die von allen möglichen Syndie-
sen endlicher Welterfahrung verschieden sind, so ist eben
damit auch gezeigt, daß der menschliche Geist nicht nur
hingeordnet ist auf die Welt endlicher Dinge; daß er einen
Überschuß an Kräften und Fähigkeiten besitze, die eben-
sowenig in der Welterkenntnis und Weltarbeit eine An-
wendung finden können, als sie durch Erfahrung der Welt
und Anpassung an die Welt erklärt werden können.
Das System dieser Akte beweist also klar, daß die Seele
eine Bestimmung hat, die über dieses Leben unendlich
hinausweist; daß sie ursprünglich teil hat an einem über-
sinnlichen Seins- und Wertreiche, dessen Inhalte und
Gegenstände nicht aus der Erfahrung endlicher Dinge
herstammen können. Eine alle mögliche irdische Anwen-
dung überflügelnde Kraft, ein vom Standpunkt auch
der denkbar vollkommensten Weltanpassung unfaßlicher
Überschuß ebensowohl von geistigen Kräften, als von
geistigen Forderungen fordert also Verständnis und Er-
klärung. Daß es aber dieses Alles gäbe ohne ein dazu-
gehörendes reales Gegenstandsreich, in dem voll erfüllbar
ist, was durch die Schwere und die niederziehende Wucht
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. * ^ 5 3
der vitalen Antriebe im Leben nur verhüllt geschaut,
gewollt, gehofft, gefürchtet, geliebt und gedacht werden
kann, das ist oder das wäre ein völlig irrationales Faktum.
Religion ist ja auf alle Fälle verständlich zu machen. Ist
die religiöse Erfahrung intentional und genetisch aus
außer- und vorreligiösen Tatsachen verständlich — ist es
ihr Gegenstand als Fiktion, resp. Synthese aus fantasti-
schen Umformungen der Welterfahrung, so ist die Wahr-
heit der Religion preiszugeben. Ist sie dies nicht, so
müssen wir mit genau demselben Rechte einen Realitäts-
bereich llir das System religiöser Akte annehmen, mit
dem wir Außenwelt, Innenwelt, fremdes Bewußtsein als
Sph^en des Daseins setzen.
Auch von der religiösen Aktklasse aus also wird uns
das Dasein Gottes und eines Reiches Gottes gewiß. Wenn
Gottes Dasein nichts anderes bewiese, so würde es die
Unmöglichkeit tun, die religiöse Anlage aus irgend etwas
Anderem herzuleiten als aus Gott, der sich selbst durch
sie dem Menschen auf natürliche Weise erkennbar macht.
7. Innere und äußere Seite, individuelle und soziale
Seite des religiösen Akts.
Nur kurz bemerken wir, daß es im Wesen des religiösen
Akts liegt, nicht im Innern des Menschen verschlossen zu
bleiben, sondern in zweifacher Weise durch die Vermitt-
lung des Leibes hindurch sich nach außen zu manifestieren :
In Zweckhandlungen und Ausdrucksbewegungen. Darum
gehört notwendig zu jeder Religi<S)n eine durch sie be-
stimmte Ethosform und moralische Lebenspraxis und
eine irgendwie geregelte Selbstdarstellung des religiösen
Bewußtseins im Kulte.
Digitized by VjOOQ IC
554 * Probleme der Religion.
Die Versuche Schleiermachers, eine Wesensbestimmung
der Religion zu geben, gerieten in tiefe Irrtümer, da nach
ihnen eine bestimmte Moral nur zufällig mit einer bestimm-
ten Religion verbunden sein soll, das Religiöse aber sich
im Ausdruck nach außen im Kulte erschöpfen soll.
Nicht weniger aber irren jene, die Religion einseitig nur
auf moralische Werte beziehen und in der kultischen
Verehrung des Göttlichen nur ein accidentelles Beiwerk
der Religion sehen oder etwas, das nur ein innerlich schon
fertig Vorhandenes nach außen symbolisiert und für
andere kenndich macht.
Da in jeden religiösen Akt der Akt sittlicher Wert-
erkenntnis (Gottes als des Guten) eingeht und alles sitt-
liche Erkennen im Maße als es unmittelbar und adaequat
ist notwendig zwar nicht das Dasein, aber das Sosein des
Willensaktes bestimmt \ ist mit jeder bestimmt konkreten
Ausprägung dieses höchsten Guten ein konkretes sitdiches
höchstes Vorbild auch für das Wollen gesetzt, das sogar
allem, was moralische Regel, Gesetz usw. heißt vorher-
geht und es bestimmt. Aber nicht nur dies. Das moralisch
gute Wollen und Handeln nach dem je vorschwebenden
Bilde des Göttlichen disponiert notwendig und als con-
ditio sine qua non auch jedes Fortschreiten des Geistes im
Eindringen in die Tiefe und Fülle der Gottheit — der
Gotteserkenntnis nach. Die Gotteserkenntnis ist diejenige
Erkenntnis, die am meisten von aller möglichen Erkenntnis
an moralischen Fortschritt gebunden ist^. Das moralische
Wollen und Handeln ist also nicht eine bloße Folge des
* Vgl, den Beweis dieses sokratischen Axioms in meinem Buche: »Der
Formalismus in der Ethik«.
' Vgl. den Aufsatz über das Wesen der Philosophie.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. c c c
religiösen Glaubens — wie Luther meinte — sondern es
ist in jedem religiösen Akte und in jedem moralischen Akte
eine identische Komponente von Werterkennen einge-
schlossen, so daß in jedem religiösen Akte auch ein mo-
ralischer Akt, in jedem moralischen Akte auch ein religiöser
Akt partiell mitgeübt wird. Wie die echte Gesinnung (gute
wie böse) sich erst in der Tatbereitschaft dokumentiert,
ohne doch erst durch die Tat ihren Wert zu empfangen,
so dokumentiert sich auch die Glaubensechtheit erst in der
Bereitschaft, das in jede Religion eingeschlossene religiöse
Ethos zu verwirklichen. Das gute Wollen und Handeln
gibt nicht nur religiöses Bewußtsein wieder, es erwei-
tert und vertieft auch die konkrete Gotteserkenntnis
mit jedem Schritte. Es ist ein wahrhaftes Eindringen in
die Willensseite des Göttlichen, ein gesteigertes Teil-
nehmen der Person an seiner inneren Dynamik auch
da, wo es ohne das reflexive Bewußtsein verläuft, daß es
ein solches sei. Und da die Werterkenntnis die Seins-
' erkenntnis fundiert, so ist diese Art Eindringen auch
Voraussetzung der Seinserkenntnis Gottes.
Analoges aber gilt für Kult und Liturgie. Die religiöse
Erkenntnis ist eine Erkenntnis, die nicht vor dem kulti-
schen Ausdruck fertig vorhanden ist, die vielmehr den
Kult zu einem wesensnotwendigen Vehikel ihres eigenen
Wachstums hat. Darum ist der religiöse Akt zwar in
seiner Wurzel ein geistiger Akt, in seiner einheidichen
Auswirkung aber ist er stets psychophysischer, nicht
einseitig psychischer Natur. In diesem Punkte gleicht der
religiöse Erkenntnisakt weit mehr dem künstlerischen
Welterkennen als demjenigen der Wissenschaft und der
Metaphysik. Der Künstler erkennt — soweit er erkennt
Digitized by VjOOQ IC
5^6 Probleme der Religion.
— nicht vor dem Darstellungsprozesse sondern, wie
Fiedler^ zuerst klar sah, im Verlaufe des Prozesses des
Darstellens selbst. Darstellen — das ist der Künsder —
durch Wissenschaft ganz unersetzliche — Art des Ein-
dringens in die Welt. Es ist, als ob an der Spitze
des zeichnenden Stiftes oder des malenden Pinsels das
geistige Auge befestigt wäre, das von dem geschauten
Gesamtvorwurf nur dasjenige erstmalig erfaßt, was
Stift und Pinsel darzustellen im Begriffe sind. Analog
wird auch das religiöse Erlebnis erst vollständig und
erst geformt in kultischem Ausdruck und der kultischen
Darstellung des religiösen Erlebens. Darum gilt fiir alle
historische Erkenntnis der Religion das strenge Wesens-
gesetz, daß Kult und religiöse Objektideen stets in
gegenseitiger Abhängigkeit von einander wechseln.
Es ist z. B. unmöglich, daß der Römer, der im Gebet
seine Augen bedeckt und sich mehr versenkt als aus-
breitet, in diesem Akte dieselbe konkrete Idee von
Gott habe als der Grieche, da er aufgeschlagenen Auges
seine Arme der Gottheit öffnet. Die Religionsgeschichte
bewährt nur — wie schon Usener eindringend gezeigt
hat — dieses Gesetz allenorts; sie beweist es nicht.
Wer kniend betet, betet in einer anders gefärbten Idee
von Gott als wer stehend betet. Da Religion ebenso-
sehr Übung ist als Erkenntnis und da beide — Übung
und Erkenntnis — gar nicht trennbar sind, so wäre es
ganz sinnlos, einem Menschen, der sich einer bestimmten
Religion oder Kirche genähert hat, zu sagen: Ehe Du
nicht alle Sätze anerkennst, die diese Religion lehrt über
göttliche Dinge, darfst Du um Deines Gewissens willen
* S. K. Fiedler; *Vom Ursprung der künstJerischen Tätigkeit«.
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Probleme der Religion. 557
auch keinen von dieser Religion vorgeschriebenen kul-
tischen Akt vollziehen. Das wäre genau dasselbe, als einem
Maler sagen, er solle vor dem Malen, vor dem Darstel-
lungsprozesse, eine Landschaft so sehen, wie er sie im
Malen langsam sehen lernt. Pascal hat vielmehr ganz recht,
wenn er sagt: »Beuge nur das Knie, dann wirst Du
fromm. « Man muß also sagen : Versuche die von dieser
Religion vorgeschriebenen moralischen und kultischen
Handlungen zu vollziehen und sieh dann zu, ob und wie
sich deine religiöse Erkenntnis dabei erweitert.
Endlich ist jeder religiöse Akt immer gleichzeitig in-
dividueller und sozialer Akt. Unus Christianus — nullus
Christianus gilt im erweiterten Sinn für alle Religion.
Es ist wesensgesetzlich ausgeschlossen, Gott zu denken,
ohne Gott gleichsinnig auf alle Menschen bezogen zu
denken wie auf sich selbst. Der Gottesgedanke führt im-
mer notwendig auf den Gemeinschaftsgedanken — auch
noch im einsamsten Anachoreten der Wüste. Man kann
rein »für sich« ein Kunstwerk schaffen, rein für sich ge-
nießen, rein für sich Etwas erkennen oder etwas rein
sachlich erkennen, ohne an ein »für« Jemand überhaupt
zu denken, ohne femer irgendein Bedürfnis nach Mitteilung
zu verspüren. Nicht im selben Sinn kann man rein »für
sich« Gott glauben oder zu ihm beten. Wenn in einem
Menschen alle Motive des gemeinsamen Lebens und der
auch nur geistigen Berücksichtigung seiner Nebenmen-
schen abgestorben wären, der ihn zu Gott führende reli-
giöse Akt allein würde ihn wieder zum wenigsten geistig
mit seinen Brüdern zusammenführen. Es ist von mir den
»Soziologischen Gotteserweis« betreffend anderwärts^
' Sieheden Aufsatz über die christliche Gemeinschaftsidee in diesem Bande.
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« '
5^8 Probleme der Religion.
gezeigt worden, daß schon die Idee irgend einer möglichen
Menschengemeinschaft rein für sich die Idee des Reiches
Gottes als Bedingung und gleichsam als Hintergrund for-
dert — und damit die Idee Gottes selbst. Daß jeder nicht
nur für sich ist, sondern auch Glied eines unabsehbaren
Ganzen geistiger Naturen, das ist ein Wissen nicht durch
zufällige Erfahrung, sondern ein im Wesen des Geistes
selbst gelegenes Wissen^.
Aber noch mehr: In der Gotteserkenntnis — als ideal
adaequat gedacht — ist kein Mensch und keine Gruppe
von Menschen durch einen anderen Menschen oder eine
andere Gruppe ersetzlich. Eben weil der religiöse Akt
der persönlichste und individuellste Akt des Menschen ist,
ist er notwendig ein Akt, der erst in der Form des ge-
meinsamen »Miteinander« vollständig zu seinem Ge-
genstande führt. Die Form der Liebes- und Heilsgemein -
Schaft ist also für die religiöse Erkenntnis im Gegensatze
zu jeder anderen Erkenntnis konstitutiv. Da jede
geistige Seele eine einzigartige Idee Gottes ist und nie
bloß Exemplar einer Seele, so hat sie auch eine einzig-
artige Erkenntnis jn der Fülle des Göttlichen zu ihrer Be-
stimmung. Darum gehört notwendig zu jeder positiven
Religion auch eine positive mit der Idee ihres höchsten
Gegenstandes notwendig zusammenhängende Gemein-
schaftsidee — ein Satz, der für das historische Studium
der Religionen apriorischen Charakter besitzt. —
* So neuerdings auch J. Volkelt in seinem Buche über »Das ästhetische
Bewußtsein«.
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Probleme der Religion. 559
8. Der religiöse Akt wird von jedem Menseben notwendig
vollzogen.
Da der religiöse Akt eine wesensnotwendige Mitgift
der menschlichen geistigen Seele ist, kann gar nicht die
Frage ergehen, ob er von einem Menschen vollzogen wird
oder nicht. Es kann nur die Frage ergehen, ob er das
ihm adaequate Objekt findet, das Ideenkorrelat, zu dem
er wesensmäßig gehört, oder ob er auf ein Objekt zielt
und es als heilig und göttlich, als absolutes Wertgut be-
jaht, das seinem Wesen widerstreitet, da es der Sphäre
endlicher, kontingenter Güter angehört.
Es besteht das Wesensgesetz : Jeder endliche Geist glaubt
entweder an Gott oder an einen Götzen. Und aus ihm folgt
die religionspädagogische Regel : Nicht eine äußere Hin-
fiihrung des Menschen zur Idee und Realität Gottes (sei
es durch sog. Beweise oder durch Überredung) ist der
Weg, auf dem der sog. Unglaube zu beseitigen ist, son-
dern der an dem besonderen Leben jedes Menschen und
jeder Klasse solcher Menschen sicher mögliche Nachweis,,
daß er an die Stelle Gottes, d. h. daß er in die Absolut-
sphäre seines Gegenstandsreiches, die ihm als Sphäre auf
alle Fälle »gegeben« ist, ein endliches Gut gesetzt habe,.
— daß er ein solches Gut wie wir sagen wollen, »ver-
götzt« habe, daß er sich in es »vergafft« habe, (wie die
alten Mystiker sagten). Indem wir also einen Menschen
zur Enttäuschung über seinen Götzen fuhren, nachdem
wir ihm durch eine Analyse seines Lebens » seinen « Götzen
aufgewiesen haben, fuhren wir ihn von selbst zur Idee
und Realität Gottes. So ist der einzige und erste, die Dis-
positionen fiir jedes religiöse Werden der Persönlichkeit
erst schaffende Weg der Weg, den ich »Zerschmetterung
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^6o Probleme der Religion.
der Götzen« genannt habe. Denn nicht der Glaube an
Gott, nicht das Hingerichtetsein des Kernes der geistigen
Menschenpersönlichkeit auf das unendliche Sein und Gut
im Glauben, Lieben, Hoffen usw. hat eine positive Ursache
in der seelischen Geschichte des Menschen; sondern der
Unglaube an Gott, besser die dauernd gewordene Täu-
schung, ein endliches Gut (sei es Staat, Kunst, ein Weib,
das Geld, das Wissen usw.) an die Stelle Gottes zu setzen,
oder auch es zu behandeln, »als wäre es« Gott, hat stets
eine besondere Ursache im Leben des Menschen. Wird
diese Ursache aufgedeckt, wird dem Menschen der, seiner
Seele die Gottesidee gleichsam verbergende Schleier
hinweggenommen, wird ihm der Götze zerschmettert, den
er zwischen Gott und sich gleichsam gestellt hat,
wird die irgendwie umgestürzte oder verwirrte Ordnung
des Seienden vor der Vernunft und die Ordnung der Werte
vor dem Herzen wiederhergestellt, so kehrt der abgelenkte
religiöse Akt »von selbst« zu dem ihm gemäßen Gegen-
stande der Gottesidee zurück.
Erweckung des religiösen Akts zur Lebendigkeit und
Hinleitung auf sein ihm angemessenes Sein und Wertgut
— nicht »Beweise« — das ist der Weg, der aller reli-
giösen Unterweisung angemessen ist und der jeder anderen
Art von Unterweisung, die es mit der Religion zu tun
hat, vorherzugehen hat. Dieser Satz folgt streng aus
unserer Theorie der Religion selbst.
Ich nenne hier einige wichtige Folgen des Gedankens,
daß es zum Wesen des endlichen Bewußtsein gehöre,
eine Absolutsphäre zu haben — eine solche zugleich des
Seins und der Werte — und diese mit irgend einem In-
halt auszufüllen. Dieser Inhalt ist das formale Glaubens-
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Probleme der Religion. c6 1
gut des je betreffenden Menschen. Er steht mit ihm in
der ganz besonderen Beziehung, die der geistige Akt
setzt, den wir »Glauben an Etwas« (faith) im Unterschiede
von dem Glauben, daß etwas sei oder geschehe (belief)
nennen. Dieser Akt ist ein Akt sui generis und kann weder
der Sphäre der Verstandesakte noch der Willensakte ein-
gereiht werden. Soll ich ihn beschreiben, so muß unter-
schieden werden in ihm der inhaltgebende Akt und der
auf diesen Inhalt gerichtete Akt des unbedingten Fest-
haltens, Aufrechthaltens des Glaubensgutes. Der erste
Akt ist ein seinem Wesen nach der vollen Erfüllung durch
Anschauung fähiger und bedürftiger Akt eines »verhüllten
Schauens«. Der zweite Akt wird am besten beschrieben,
wenn wir an das denken, was wir »Sich mit einer Sache
identifizieren« nennen. Die Persönlichkeit fühlt und erlebt
sich (den Kern ihrer Existenz und ihres Wertes) an ihr
Glaubensgut also gekettet, daß sie sich für es »einsetzt«,
sich mit ihm — wie man sagt — identifizirt. »Ich soll und
will nur da sein und w^rt sein, sofern du, Glaubensgut, bist
und wert bist«, »wir beide stehen und fallen zusammen«.
Das ist auf Worte gebracht die erlebte Beziehung, in
der die Person zu ihrem Glaubensgut steht. Wesentlich
für den Glaubensakt ist die Un-bedingtheit der Selbstein-
setzung für dasselbe, die mit der Stellung und Lage des
Glaubensgutes in der Absolutsphäre des Seins und der
Güter in wesensmäßigem Zusammenhang steht.
In diesen Sinne hat jeder M«asch notwendig ein »Glau-
bensgut« und jeder vollzieht den Glaubensakt. Jeder hat
ein besonderes Etwas, einen mit dem Akzent des Höchst-
wertes (für ihn) betonten Inhah, dem er bewußt oder
doch in seinem naiv wertenden praktischen Verhalten
36
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c62 Probleme der Religion
jeden anderen Inhalt nachsetzt. Das ist z. B. für die
führende Minorität des kapitalistischen Zeitalters das
maximale Erwerben ökonomischer Güter resp. deren
Maß, das Geld (Mammonismus). Das ist für den Natio-
nalisten seine Nation, für den Fausttypus das unendliche
Wissen, für den Don Juantypus die immer neue Über-
wältigung des Weibes. Prinzipiell kann jedes endliche Gut
in die Absolutsphäre des Seins und der Werte eines Be-
wußtseins treten und wird dann mit > unendlichem Streben «
erstrebt werden. Immer aber findet dann eine Vergötzung
des Gutes statt. Das endliche Gut wird herausgebrochen
aus dem harmonischen Aufbau der Güterwelt, es wird
mit einer seiner objektiven Bedeutung nicht angemessenen
Unbedingtheit geliebt und erstrebt; der Mensch erscheint
an seinen Götzen magischer gefesselt und behandelt ihn,
»als ob« er Gott wäre.
Es besteht keine Wahl, ein solches Gut zu haben oder
nicht zu haben. Es besteht nur die Wahl, in seiner Absolut-
sphäre Gott, d. h. das dem religiösen Akt angemessene
Gut zu haben oder einen Götzen.
Dieser Satz gilt auch noch für die Menschengruppen,
die man die religiös Indifferenten nennt, resp. für den
theoretischen religiösen sog. Agnostiker.
Der sog. religiöse Agnostizismus ist keine psychologische
Tatsache, er ist eine Selbsttäuschung. Der Agnostiker
vermeint, sich des Glaubensaktes enthalten zu können, er
vermeint, nicht zu glauben. Würde er aber seinen Bewußt-
seinszustand genauer untersuchen, so würde er bemerken,
daß er sich täuscht. Auch er hat eine mit einem positiven
Phänomen ausgefüllte Absolutsphäre seines Bewußtseins,
nicht aber besitzt er überhaupt keine solche Sphäre oder
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Probleme der Religion. 563
eine völlig leere. Aber dieses positive Phänomen ist das
Phänomen des »Nichts« resp. der (Wert)-Nichtigkeit. Der
Agnostiker ist de facto nicht ein Nichtgläubiger, sondern
er ist ein Gläubiger an das Nichts — er ist metaphysischer
Nihilist. An das »Nichts« glauben — das ist etwas ganz
anderes als Nichtglauben. Es ist — wie schon die mächtige
Gefühlswirkung bezeugt, die der Gedanke des »Nichts«
auf unsere Seele ausübt, ein höchst positiver Zustand des
Geistes. Das absolute Nichts ist von jedem nur relativen
Nichts als Phänomen scharf zu scheiden. Das absolute
Nichts ist das Nichtetwassein und das Nichtdasein in
Einem, in schlechthiniger Einigkeit^ und Einfachheit.
Es ist der conträre — nicht contradiktorische — Gegen-
satz zu Gott, d. h. zu dem, der ist, was er ist. (»Ich bin,
der ich bin«). Auch in der Seele des religiösen Nihilisten
treibt etwas, das diese Seele heimlich und zögernd das Ens
a se suchen läßt: Das Seiende selber über und hinter
den wechselnden Sinnesbildem, ihren Zügen und Ab-
stoßungen auf unser Ich. Nicht ein bloßer NichtvoUzug
des religiösen Akts liegt dieser Mentalität zugrunde,
sondern ein positiver aktiver Widerstand des Willens
gegen dieses heimliche Vorwissen und Suchen des Ens
a se, ein Widerstand, der es schon zur bewußt urteils-
mäßigen Frage des Geistes nach Gott nicht kommen
läßt. Diesem aktiven Widerstand entpricht ein künst-
liches Sichfestsaugen an die Erscheinungsseite der Dinge,
^ an ihre Oberflächen. Beide innere Verhaltungs weisen for-
I dern und stützen einander. Die metaphysische Angst,
4 i ' Das unterscheidet das absolute Nichts von der buddhistischen Idee des
Nirwana, das nur Wirklichkeitsfreiheit und Wirklichkeitserlösung ist, ohne
dafi der positive Ideen- und Wertgehalt des Seienden dadurch tangiert wird.
> ) 36*
il
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c64 Probleme der Religion.
der religiöse Schauder vor dem absoluten Nichts, das
hier die Absolutsphäre ausfüllt, steigert und stabilisiert
die Energie des künstlichen Sichfestsaugens an die bunte
Vielheit der Erscheinungen. Das Festsaugen seinerseits
aber, die eide Weldiebe bringt immer neu das Phänomen
des absoluten Nichts innerhalb der Absolutsphäre des
Bewußtseins hervor. Das ist der tragische Zirkelgang des
religiös indiflferenten Bewußtseins. —
Nur bis zu diesem Punkte will ich die Wesensanalyse des
religiösen Aktes hier fuhren. Ihr volles Gewicht erhielte sie
erst, wenn wir nun daran gingen, die wichtigsten religiösen
Akte genau zu analysieren, um vor ihnen das Gesagte zu
bestätigen. Dies liegt hier nicht in unserem Plane ^.
Der Weg, der bisher zur Begründung der Religion ge-
nommen worden ist, hat sich in einigen Punkten als ab-
weichend von den Wegen dargestellt, welche die Philo-
sophie und Theologie gegenwärtig zu gehen pflegen.
Darum wenden wir nun unseren Blick auf einige Typen
der Religionsbegründung, die gegenwärtig in unserem
Lande und im europäisch-amerikanischen Kulturkreis noch
starke Anhängerschaft besitzen, um zu sehen, wie sich die
hier vertretenen Anschauungen zu diesen Typen verhalten.
9. Über einige neuere Versuche einer natürlichen
Religionsbegründung.
Die Behauptung des Bestandes und des Rechtes einer
natürlichen Gotteserkenntnis fällt nicht zusammen
mit der Annahme der rationalen Gottesbeweise, — einer
Annahme, die auch heute noch als Basis aller Theologie
^ Ich möchte dieser Aufgabe besondere Aufsätze widmen, die als »Religions-
phänomenologische Analysen« gesondert erscheinen sollen.
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Probleme der Religion. 565
bei vielen gilt. Auch die in der Geschichte seit Augustin
vielseitig vertretene Lehre von einem unmittelbaren
Faktor in der Gotteserkenntnis, d. h. einem nicht auf
Schluß und Beweis beruhenden Faktor der Gottes-
erkenntnis, ist ohne irgendwelchen Widerspruch mit der
Annahme einer natürlichen Gotteserkenntnis. Auch eine
Ansicht, die von diesen beiden Methoden der natürlichen
Theologie abweicht und die ich hier auseinandersetze,
darf beanspruchen, die natürliche Gotteserkenntnis
im Unterschiede von der auf positiver OflFenbarung be-
ruhenden festzuhalten.
Wir müssen unterscheiden zwischen natürlicher Reli-
gion und natürlicher Theologie. Die natürliche Reli-
gion ist jene naive Gotteserkenntnis, die jeder vernunft-
begabte Mensch — ganz unabhängig von Art und Grad
seiner wissenschaftlich-methodischen Bildung — erwerben
kann und zwar erwerben so, daß er sich den Weg, auf
dem er diese Erkenntnis erwarb, nicht notwendig zu
klarem Bewußtsein in der Reflexion bringt. Auch der
Vertreter einer natürlichen, auf den mittelbaren Gottes-
beweisen fundierten natürlichen Theologie muß zugeben,
daß die Menschen, die von den methodischen Gottes-
beweisen nichts wissen, ihre Erkenntnis von Gott nicht
bloß kraft Tradition und Offenbarung besitzen. Freilich:
Seine besondere Theorie dieser natürlichen Religion
fordert die Annahme, daß auch diese natürlich -religiöse
Gotteserkenntnis des Nichttheologen doch wieder auf
denselben Schlüssen beruhe, die er als natürlicher Theo-
loge wissenschaftlich und methodisch vollzieht. Er kann
nur sagen, daß diese Schlüsse, z. B. der zur Annahme
einer obersten und ewigen Weltursache führende Kau-
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^66 Probleme der Religion.
salschluß von dem bezüglich der »Gottesbeweise« Naiven
ohne Bewußtsein und ohne regekechte Methodik voll-
zogen werde. Ich nun bin der Meinung, daß solche An-
nahme »unbewußter Schlüsse« auf keinem philoso-
phischen Fragegebiet irgendwie zu Recht besteht. In den
Formen, die z.B. Schopenhauer und (wieder anders) Hekn-
holtz dieser Lehre für das Wahmehmungsproblem ge-
geben hatte, haben diese Annahmen ganz und gar in die
Irre gefuhrt. Sie haben es nicht minder da, wo sie die
Annahme der Existenz einer bewußtseinsunabhängigen
AufJenwelt und die Berechtigung unserer natürlichen An-
nahme fremder Bewußtseinssubjekte tragen sollten.* In
den religiös Naiven solche unbewußten Schlüsse hinein-
zulegen, ist nicht weniger gerechtfertigt als bei den ge-
nannten Fragen. Und es ist doppelt ungerechtfertigt,
wenn dieser Schluß auch regelrecht und methodisch voll-
zogen, gar nicht das erreicht, was er vorgeblich erreichen
soll: Eine einige, oberste und schöpferische Weltursache.
Es ist aber auch gar nicht einzusehen, wieso die natür-
liche Religion nur sein sollte eine unreflektierte oder gra-
duell nur weniger reflektierte und methodische Theologie
— da sie doch qua Religion zunächst überhaupt keine
Art von Wissenschaft darstellt, — auch keine primi-
tive Wissenschaft oder Theologie.
Gibt es das selbständige Aktgebiet religiöser Erkennt-
nis, so haben wir vielmehr anzunehmen, es habe sich auch
die natürliche Theologie als rationales Wissen um Gott
zu stützen auf die natürliche Religion, d. h. auf eine
eigentümliche wesenhafte Anschauungs- und Erlebnis-
' Vgl. hierzu den Anhang meines Buches über »Phänomenologie und Theorie
der Sympathiegefühle«.
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Probleme der Religion. 567
quelle des Göttlichen — wie sehr sie als Wissenschaft
auch später befugt sein mag, diese Anschauungsgehalte
und stoffgebenden Quellen einer Reinigung, einer Kritik
und ihre Gegebenheiten femer einer systematischen Be-
arbeitung durch das Denken zu unterwerfen.
D. h. die natürliche Theologie hat sich auf die natür-
liche Religion zuerst und zunächst so zu stützen, wie auch
alle Weltwissenschaft auf die Kategorien, d. h. die Seins-
formen der natürlichen Weltanschauung.
Die natürliche Religion aber ist in ihren wesensgesetz-
lichen Akten und Gegenständen zuallererst phänomeno-
logisch zu studieren. Ist dies geschehen, so kann dann
und soll hinterher die natürliche Theologie die so ge-
wonnenen Wesensgehalte der natürlichen religiösen An-
schauung mit dem Weltwissen, zunächst der philosophi-
schen Metaphysik als dessen höchstem Abschluß so ratio-
nal verknüpfen, daß sich eine bestimmt geartete Theorie
von Gottes Dasein und seinem Verhältnis zur Welt ergibt.
Auch so gewinnen wir eine natürliche Gotteserkenntnis
und bleiben in strengster Übereinstimmung mit dem
Pauluswort, daß wir den Werkmeister aus seinem Werke
zu erkennen vermögen, einem Wort, das erst eine sehr späte
Zeit zu der Behauptung einer wissenschaftlich rationalen
Gotteserkenntnis und eine — wie man weiß — noch sehr
viel spätere Zeit zur ganz speziellen Behauptung verengte,
es gäbe absolut evidente Kausalschlüsse auf Gott.^
Denn die Behauptung, daß z. B. die gesamte Natiu*
»Spuren« ihres göttlichen Schöpfers an sich trage, »Fin-
gerzeige auf Gott«, daß sie überall den > Werk<charakter
* Daß der Patristik diese Lehren fehlen, dazu vergleiche Möhler: »Die
Einheit der Kirche«.
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5 68 Probleme der Religion.
eines vernünftigen Geistes in ihren Gebilden aufweise,
daß in ihren Vorgängen sich überall eine geistige Macht
»ausdrücke« und »kundgebe«, daß Dasein und Sosein
jedes Naturgebildes und Naturvorgangs überhaupt —
im Unterschied von seinem bloßen Jetzthiersein und sei-
nem bloßen Anderssein — nie und nimmer durch anderes
kontingentes Sein erklärbar sei; daß es vielmehr an sich
trage den Stempel der Herkunft aus einem Seienden, das
durch sich und auf Grund seines Wesens »ist«, das alles
ist eine zweifellose Behauptung der natürlichen Religion
selbst. Aber es ist eine Behauptung, die Deckung findet
nur und ausschließlich in den Anschauungsmaterien,
welche die religiöse WeltäufFassung den Tatsachen der
außerreligiösen als ganz neue positive Phänomene hinzu-
fügt. Und es ist eine Behauptung, die völlig mißverstanden
wird, wenn man an die Stelle der anschaulichen Bezie-
hungen, die in den Worten »Spur«, »Fingerzeig«, »Werk-
charakter«, »Ausdruck«, »Kundgabe«, »Gewirktheit«
überhaupt gemeint sind, einen vermeintlichen Kausal-
schlüß schiebt aus vorreligiösen Tatbeständen einer
profanen Weltbetrachtung und Welterkenntnis.
Nicht in jeder Naturbetrachtung gehen diese Phäno-
mene und anschaulichen Symbolbeziehungen der Natur-
dinge auf Gott hin dem Menschen auf, sondern eben
nur in der religiösen, die freilich *auch (historisch) die
ursprünglichste und »natürlichste« Naturbetrachtimg ist.
Jede »wissenschafdiche« Naturbetrachtung ist ihr gegen-
über künstlich, da sie die ursprüngliche Naturgegebenheit
Stück für Stück der Phänomene beraubt, die für den
besonderen Zweck, ein zu einer möglichen Naturlenkung
nützliches Weltbild herzustellen, ohne Bedeutung sind.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 569
Das aber sind jene Phänomene der natürlich
religiösen Weltbetrachtung in altererster Linie.
Naturwissenschaft kann sich und soll sich auch gar nicht
interessieren, z. B. für das Gewirkth^itsmoment (Kreatür-
lichkeit) und für das Wesen, d. h. das pure Was eines
Naturgebildqs (Idee), da diese beiden Dinge an ihm auf
alle Fälle und apriori unveränderlich und für alle Lenkung
der Natur bedeutungslos sind — metaphysische Kon-
stanten, die die Wissenschaft nichts angehen. Analog wird •
sie aus demselben religiösen Grunde ihrer Konstitution
künstlich abzusehen haben von den Bestimmungen und
Zielen der Naturgebilde, von ihren Werten, schließlich
selbst nach Möglichkeit 'von ihren Qualitäten. Und da
sie sich beschränkt, die Naturgebilde nur soweit aufzu-
fassen, als sie durcheinander eindeutig bestimmt sind, tut
sie methodisch recht, — soweit, als es möglich ist — ab-
zusehen vom Schöpfer, Herrn und obersten Lenker der
Natur.
Aber wie grundverkehrt muß es j^un erscheinen, zuerst
jene Verminderung des Anschauungsgehaltes einer Natur,
jenes künstliche Absehen von den natürlich-symbolischen
Beziehungen ihrer Gebilde auf Gott — mit der Wissen-
schaft zu vollziehen und dann trotzdem noch zu meinen,
man könne auf Grund von rein objektiv-logischen Kausal-
schlüssen Gottes Dasein erschließen. D. h. die Natur zu-
erst zu einem Leichnam pulverisieren, um dann erst auf
ihr geheimstes Leben stoßen zu wollen.
Der Grundirrtum der herkömmlichen natürlichen
Theologie ist hier überall derselbe. Man vermeint, zu er-
schließen, was man dem Was nach aus einer ganz ande-
ren Erkenntnisquelle schon besitzt. Man schließt inner-
Digitized by VjOOQ IC
^yo Probleme der Reiigiön.
halb der reKgiösen Anschauungswelt — und dies mit
Recht — , vermeint aber ihre Stoffe aus vorreligiösen
Tatbeständen zu erschließen. Es ist ein analoger Irrtum,
dem gemäß viele meinten, man könne aus einem puren
Gegenwartsich eine Realität der vergangenen Erlebnis-
ströme, man könne aus purem Bewußtseinsinhalt eine
reale Außenwelt, aus einer fremden Körpergegebenheit
ein fremdes Bewußtseinssubjekt »erschließen«, — Irr-
tümer, die ich anderwärts widerlegte. Was man wirklich
erschließen kann, das ist — nachdem man diese Sphären
»vergangenes Leben«, »Außenwelt«, eine Welt fremder
Geister auf unmittelbare Weise sqhon besitzt — im
höchsten Falle die besondere Bestimmtheit und Be-
schaffenheit der Realitäten dieser Sphären.
Nehmen wir als Beispiel den berühmten »Kausal-
schluß«, der die natürliche Theologie vermeintlich allein
tragen soll.
•Er hat einen vollberechtigten Sinn, wenn er sich be-
reits stützt auf zwei^anz unerschKeßbare anschauliche
Wesenszusammenhänge, die in aller religiösen Welt-
betrachtung notwendig enthalten sind: i. Auf die Mit-
anschauung eines aus seinem Wesen heraus notwendigen
absoluten Seins, die mit jeder Erfassung des Zufalls- und
Kontingenzmoments irgendeines Gebildes der Natur
oder der Seele mitgegeben ist. 2. Auf den Werkcharakter
oder den Kreatürlichkeitscharakter jedes Naturgebildes
und das symbolische, in der Sache selbst gelegene »Be-
deuten«, d.h. den »Fingerzeig«, den es auf seinen Er-
wirker hin vollzieht; dem nachgehend ich hingeführt
werde auf das Ens a se, das ich schon vor diesem
Fingerzeig habe und weiß. Dieser Werkcharakter, dieses
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^yi
Kreatürlichkeitsmoment ist sofort an jedem Naturgebilde
hervortretend und mit Notwendigkeit hervortretend — ,
das ich direkt auf das Sein einer kontingenten Welt
überhaupt als »Fall« geistig projiziere und dann auf
sein pures Was hin beschaue. Nun steht es da —
dieser Baum z. B. — aus allen seinen kontingenten Be-
ziehungen idealer und realer Art gleichsam herausgenom-
men in der puren Einsamkeit seines Daß und seines
Was — als ob nichts sonst wäre, als es selbst. Und als
Solches nun gewinnt es die geheime Sprache, die un-
gefragt erzählt von seinem Bewirker, von dem, was macht,
daß es ist und nicht nicht ist, und daß es das ist, was
es ist und nicht nur ein Solches oder ein Anderes. Diese
Gewirktheit, dieser Werkcharakter ist nicht selber er-
schlossen, sondern ist ein anschauliches Moment an ihm,
so wie — in außerreligiöser Betrachtung — ich diesen
Tisch nicht erst durch Schluß als ein »Werk« eines Men-
schen erkenne, als Menschenwerk, sondern es ihm an-
sehe, daß er Artefakt sei. Gewiß kann dieses Moment
sehr wohl in einem Kausalschlusse eine Rolle spielen,
aber nicht anders als so, daß es in die materiale Prae-
misse des Schlusses aufgenommen wird. Wenn Natur-
gebilde diesen Werkcharakter aufweisen, wenn ich weiß,
es gebe ein Ens a se, so darf ich schließen, es sei dies
Naturgebilde ein Werk des Ens a se.
Der Werkcharakter, der Kreatürlichkeitscharakter
selbst kann genauer analysiert werden. Ich finde dann,
daß der Hergang, der Prozeß der »Realisierung« eines
bloßen Wasgehaltes mir gegeben ist in seiner Essenz
nur an einer Stelle meiner gesamten Welterfahrung,
nämlich da, wo ich anschaulich schaue, wie ein Gebilde,
DigitizedbyCjOOgl^
572 Probleme der Religion.
das ich vorher nur vorstellte unter dem erlebten Wirken
meines Wollens ersteht — wenn ich z. B. ein Bild male,
irgendeine Bewegung meiner Arme oder Hände so voll-
ziehe, wie ich sie und weil ich sie vollziehen will. Ich schaue
an jedem solchen Falle ein für allemal die Wesens-
beziehungen: Wirklich ist etwas nur durch ein Wirken,
das es erwirkt; und unmittelbares Wirken, das nicht
selbst erwirkt ist, ist allein »freies« Wollens wirken.
Es ist hier gar keine Rede davon, daß ich nur analogisch
übertrüge eine zufällige, menschliche Wirkenserfahrung
auf Realisierung und Bewirktheit eines Außermensch-
lichen; also auch dieses Naturgebilde, nur »anthropo-
morph« erklärte. Umgekehrt ist vielmehr diese meine
menschliche Wollens- und Wirkenserfahrung der einzige
Ort im Ganzen aller möglichen Erfahrung des Kosmos,
wo ich das Wesen von Realsein (= möglicher Willens-
widerstand sein), von Realwerden (= Im Wollen und durch
Wollen realisiert werden) und das Wesen aller ursprüng-
lichen und unmittelbaren Gewirktheit an einem zufälligen
Faktum erfasse. Und darum brauche ich hier nichts zu
»übertragen«, nichts aus dem Menschen in die Dinge
hineinzuprojizieren, sondern ich schaue die Dinge von
vornherein in diesen Wesensformen von Gewolltheit und
Gewirktheit durch ein schöpferisches Wollen,
schaue sie als Werk und Kreatur — sofern ich sie nur
religiös, d. h. nicht in ihrem Abhängigsein voneinander
in der Aufreihung der Raumzeitschematas, sondern als
daseiend und wasseiend schlechthin betrachte.
Wenn also die religiöse Sprache »die Werke des Ewi-
gen Ehre erzählen« läßt, wenn sie einen schöpferischen
Willen, eine ewige Vernunft und Güte usw. in den Ge-
Digitized by
Google
Probleme der Religion. 573
bilden der Natur »ausgedrückt«, »kundgegeben« findet,
die Spuren Gottes und seine Fußstapfen in Allem darge-
stellt findet, so gibt sie hur eine gleichsam gegenständ-
liche »Sprache« der Dinge selber wieder, ein meinendes
bedeutendes Übersichhinausweisen der Dinge über ihr
zufalliges Sein, — ein »Meinen« und »Bedeuten«, das
ihnen — den Dinge a phänomenal einwohnt und von
dem der Mensch demütig fühlt und weiß, daß er diese
grandiose Sprache nur in ärmlichen Fragmenten mit dem
Geiste hören, verstehen und nachsprechen kann; die
Sprache also und der Sinn der »göttlichen Worte« in
den Dingen unendlich reiner, größer, vielfältiger sei, als
das Maß des möglichen Verstehens und etwaigen Nach-
sprechens von Seiten des Menschen. Was die Begriffe, die
Bedeutungsintentionen und Inhalte der Wissenschaft aus
diesem Sinn der Dinge auswählen für ihren Zweck —
das ist nur ein minimaler Teil des Gesamtsinnes — der-
jenige Teil, durch den sie aufeinander so weit hinweisen,
als sie durcheinander ersetzbarer gleiche mögliche tech-
nische Ziele sind, — sie zu bewegen und zu verändern.
Aber so objektiv diese Sprache ist, so entfernt ihre
»Bedeutungen« davon sind, erst vom Menschen in die
Dinge hineinprojiziert zu werden — da sie ja vielmehr
evident über alles menschliche Verstehen hinausgehend
sogar noch gegeben sind — so sehr setzt doch jedes mög-
liche geistige Vernehmen dieser Sprache, dieser gran-
diosen Erzählung der Werke von ihrem Schöpfer
die religiöse Betrachtungsform der Natur schon vor-
aus; und es ist evident sinnlos, durch logische Prozesse
von einer anderen nicht religiösen Einstellungs- und Er-
fassungsart erst in die religiöse hinübergelangen zu wollen.
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J74 Probleme der Religion.
Der Grund, warum so viele an dieser These Anstoß
nehmen und sich dann immer zurückgeführt sehen auf
die herkömmliche (naturalistische) rationale Theologie,
ist mir indes sehr verständlich. Sie beachten zwei Dinge
nicht.
Sie sehen erstens nicht den historischen Wesens-
unterschied des Zeitalters, aus dem die rationale Theo-
logie stammt von dem unsrigen bezüglich der »Selbstver-
ständlichkeit« und »NichtSelbstverständlichkeit« religiöser
Weltbetrachtung. Und sie meinen, es sei mit der Behaup-
tung, es gäbe eine besondere religiöse Betrachtungsform
im Unterschiede zur wissenschafdichen, die fernere meta-
physische Behauptung schon gegeben, daß die erstere
»nur« subjektiv, die zweite dagegen objektiv und
sachgültig sei.
Was mit dem ersten Satze gemeint ist, ist klar. Der
Mensch, solange er normal atmet und die Luft ruhig ist,
weiß nichts von der Atmosphäre, in der er lebt. Erst im
Sturm, erst wenn er auf hohen Bergen die Dünne der
Luft bemerkt, sieht er, daß er auch vorher in dieser At-
mosphäre lebte. Die rationale schließende Theologie
konnte in herkömmlicher Weise entstehen und Geltung
behaupten in einem Zeitalter, dem die religiöse Weltbe-
trachtung so selbstverständlich war, daß sie ihm »als«
religiöse Betrachtung gar nicht gegeben war, sich ihm
von anderen Betrachtungsformen derWelt gar nicht
scharf abhob. Denn so »ewig« und unveränderlich die
Wesenheiten der Betrachtungsformen der Welt sind als
Formen eines endlichen Geistes überhaupt, so verschieden
ist das tatsächliche lebendige Gewicht, das sie relativ
zueinander im Geiste der Zeiten besitzen. Und immer ist
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Probleme der Religion. eye
es je eine, die das Primat der »Selbsverständlichkeit« —
der scheinbaren natürlich nur — trägt. Für das kapita-
Hstische Zeitalter des Bürgertums, das zugleich das Zeit-
alter eines systematischen Rationalismus ist, das aber zu-
gleich die enge Standes-, Werdens- und Willens-
bedingtheit seiner Welteinstellung verkannte und seine
technischen Weltbebauungspläne für eine wahre
Metaphysik nahm, ist die religiöse Weltbetrachtung nicht
»selbstverständlich«. So sehr dies religiös zu beklagen ist
— einen Vorzug fiir die Erkenntnis der Religion hat es:
Es läßt uns die religiöse Betrachtungsform und die essen-
tielle Eigenart der religiösen Erkenntnisakte tiefer ver-
stehen und zeigt uns auch auf diesem Gebiete die innere
Grenze rationaler Schlußweisen.
Denn eine Frage müßten sich doch die Vertreter der
herkönmiHchen Form von natürlicher Theologie unter allen
Umständen stellen — wie immer sie über die logische
Gültigkeit ihrer Gottesbeweise denken : Die Frage, woher
es kommen mag, daß diese Beweise, die doch wahrlich
nicht verwickelt und schwierig sind, — der pythagoräische
Beweis ist erheblich schwieriger und verwickelter —
ohne jegliche Überzeugungskraft für den modernen
Menschen sind oder für jeden Menschen, der nicht durch
Tradition, Glaube oder anderweitige religiöse Erkenntnis-
weisen den Glauben an Gottes Dasein schon vorher be-
sitzt. Sind diese so einfachen Beweise (Bewegungsbeweis,
Schluß auf eine oberste Weltursache usw.) so klar, so
evident, so sicher, wie sie ausgegeben werden — übrigens
auch im Widerspruch mit so großen Autoritäten wie z. B.
Newman, der sein tiefes Mißtrauen gegen diese Art
»natürlicher Theologie« nie verschwieg — wieso finden
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c ^ 6 Probleme der Religion.
sie dann die allseitige Ablehnung bei allen modernen Men-
schen, besser bei allen, die nicht in dieser theologischen
Tradition erzogen sind? Ist es nicht ein merkwürdiger
Widerspruch, daß so einfache Beweise, die sich an eine
allen Menschen gleich zukonunende, religiös noch völlig
voraussetzungsfreie Vernunft wenden sollen, de facto
psychologisch nur wirken kraft der Tradition einer
engen Schule? Rationaler Anspruch und — rein tradi-
tionalistische Wirkform! Und soll nicht eben der, auch
nach unserer Ansicht grundfalsche, »Traditionalismus« ge-
rade durch die »natürliche« Theologie vermieden werden?
Ich kenne nur eine Antwort, welche die Vertreter der
natürlichen Theologie in dieser Form auf diese Frage
geben können. Ganz ungenügend ist die Antwort, man
müßte eben das psychogenetische Werden der religiösen
Überzeugung sondern von ihrer logischen Rechtfertigung,
und wir muteten so den Beweisen etwas zu, was sie gar
nicht sollen. Denn diese Unterscheidung ist für alle Ur-
teile und Überzeugungen zu machen — auch mathema-
tische, naturwissenschaftliche usw. Und doch überzeugen
die Beweise in diesen Wissenssphären die Menschen auch
im psychologischen Sinne. Auch hat ja diese Scheidung
überhaupt eine ganz bestimmte Grenze, die man über der
Freude, sie gemacht zu haben, nicht ganz übersehen darf.
»Gemäß« den evidenten Gesetzen, die für Gegenstände
gelten bloß weil es Gegenstände sind, ist und vollzieht
sich alles in der Welt: das Sein des Steines und sein Fall
entspricht dem Gesetz der Identität und den Gesetzen des
zureichenden Grundes so gut wie das menschliche Denken
— und zwar das wahre wie das irrige. Aber in bezug auf
den menschlichen Geist haben die Gesetze doch noch eine
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Probleme der Religion. 577
andere Bedeutung, die eben irgendwie »auch« psycholo-
gisch ist. Sie bestimmen und bewegen sein Denken auch
— wenn er richtig denkt. Ihre ideale Geltung wird im
Menschen realisiert nicht nur so wie sie im fallenden
Steine realisiert werden -:— so daß dieser Fall als ein
Schluß angesehen werden kann, dessen oberste Prämisse
das Fallgesetz, dessen untere Prämisse seine Entfernung
von der Erde, dessen Conclusio das Fallen des Steines
ist — sondern auch so, daß sie durch ihn in seinem Den-
ken geachtet imd erfüllt werden. Und wie kommt es nun,
daß diese Art der Verwirklichung im Denken den Gottes-
beweisen fehlt? Wieso versagt doch die nicht ganz kleine
Denkkraft des nicht in diese Schule traditionalistisch
eingesponnenen Menschen unseres Zeitalters vor diesen
Beweisen — vor so einfachen Beweisen?
Sinnvoll ist nur eine Antwort und die konsequenten
Vertreter dieser Art von natürlicher Theologie geben sie
auch. Sie lautet: die Beweise sind einfach, vollständig Idar
und evident: aber der Wille des modernen Menschen,
— der »sündige« Wille, der Wille, dessen Interesse die
Nichtexistenz Gottes ist, oder doch der Nichtbestand eines
sicheren Wissens um diese Existenz, sträubt sich gegen
die Annahme des vollen und klaren Lichtes dieser Beweise.
Ich bin weit entfernt, die Kraft dieses Argumentes zu ver-
kennen und ich habe seine Bedeutung für das Verständ-
nis z. B. der sittlichen Selbsttäuschungen selbst breit ent-
wickelt*. Hier aber scheint mir seine Kraft vollständig zu
versagen. Denn erstens ist es ja gar nicht wahr, daß diese
Beweise nur ohne Überzeugungskraft seien für Gemüter,
die dem Atheismus oder dem Pantheismus bereits zuge-
1 S. »Vom Umsturz der Werte«, II. Bd.
37
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578 Probleme der Religion.
neigt sind oder bei denen sich dieses negative Interesse
irgendwie nachweisen läßt. Sie sind es viehnehr ebenso
sehr, wenn nicht noch mehr für solche, die von tiefster
Gottesliebe erfüllt sind und die ebensosehr an das Dasein-
Gottes wie an die Möglichkeit eines »sicheren Wissens«
von diesem Dasein glauben. Man hüte sich daher vor die-
sem gefährlichen und auch moralisch überaus zweifelhaf-
ten Argumente — vor diesem Argumente ad hominem,
das die Weite der Katholizität auf die Traditionen einer
engen Schule zu verengen geeignet ist. Der Vorwurf
eines sündigen Willens zum Atheismus, ist — wo er sich
nicht auf bekannte und erweisbare Tatsachen stützt und
generell in einer Frage gemacht wird, die ausschließlich
Sache der Vernunft ist, nicht weit entfernt vom Charakter
leichtsinniger Verleumdung. Auch da, wo dieser Vorwiuf
oder die geforderte psychologische Erklärung der Un-
wirksamkeit logisch einfacher und evidenter Beweise nicht
den Individuen als solchen gemacht wird, sondern diese
fehlende Überzeugungskraft geschoben wird auf eine ver-
kehrte neuzeitliche Denktradition, an deren Anfang nur
der sündige Wille stand und in die der moderne Mensch
persönlich schuldlos hineinwuchs — also auf eine Art
partieller Erbsünde — kommt ihm keine Berechtigung
zu. Denn so richtig diese Erklärung für das mangelnde
Interesse für die natürliche Theologie überhaupt in der
»wissenschaftlichen« Philosophie der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts — im offensichtlichsten Gegensatz zu der
weit echteren und im guten Sinne »wissenschaftlichen«
Philosophie z. B. des 1 7. imd 1 8. Jahrhunderts ist, so falsch
ist sie doch für die mangelnde Überzeugungskraft dieser
Form von natürlicher Theologie.
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Probleme der Religion. ^yg
Das schwere Rätsel bleibt also. Warum haben diese
Beweise von allen Methoden der Rechtfertigung und Be-
gründung so gar keine Wirksamkeit, zu rechtfertigen
und zu begründen — außer da, wo sie die Tradition
unnötig macht?
Ich antworte auf diese Frage nicht so wie schon Kant,
der — ohne Grund — die Seinsgültigkeit des Kausal-
prinzips in Frage zog und — wie ich hier nicht zeigen
will — die Gottesbeweise fälschlich logisch widerlegt zu
haben meinte. Diese Beweise behalten vielmehr Kant
gegenüber ihr volles Recht und ihren tiefen Sinn, wo es
sich um Attribute Gottes handelt. Das Kausalprinzip —
von Kant mit dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Er-
scheinungen nach einer Regel der Zeitfolge verwechselt
— ist ein allgültiges einsichtiges, seinsgültiges Prinzip
für das Werden (auch das zeitfreie Werden) jedes Realen,
dessen Dasein nicht aus seinem Wesen (objektiv) folgt/*
Ich behaupte nur, daß Sein und Gültigkeit dieser Be-
weise noch etwas anderes voraussetzt als die formalen
Gesetze der Logik, das Kausalprinzip und die Tatsachen
der Erfahrung im induktiven Sinne: die wesensmäßige
Umspanntheit dieses beweisenden Denkens durch die reli-
giöse Betrachtungsform der Welt und die besonderen
Wesenstatsachen und Wesenstatsachenzusammenhänge,
die in dieser Betrachtimgsform und nur in ihr »gegeben«
^ Ganz unmöglich ist die Position jener Neuscholastiker, die das Kausal-^
prinzip als unmittelbar oder mittelbar (beweisbares) »denknotwendiges«
Prinzip zu erweisen suchen, die Gültigkeit der denknotwendigen Prinzipien
für das extramental Seiende darauf zurückfuhren, daß Gott Denken und
Sein füreinander eingerichtet habe (Präformationssystem), gleichwohl aber
das Dasein Gottes aus dem Kausalprinzip beweisen wollen. Es sollte nicht
gesagt werden müssen, daß hier ein glatter Beweiszirkel vorliegt.
37*
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5 8o Probleme der Religion.
sind. Ja ich behaupte ganz allgemein: für jede Wesens-
region des Seins gibt es einsichtige materiale Wesens-
zusammenhänge (apriori) gegenüber aller positiv-induk-
tiven Erfehrung und eine wesensgesetzlich zu ihrer mög-
lichen Anschauung gehörige Aktklasse, durch deren Hin-
zunahme zu den Gesetzen der »reinen« Logik die Logik
und die materiale Ontologie des betreffenden Seinsgebie-
tes erst vollendet wird. Also gibt es auch einsichtige seins-
gültige Axiome und Kategorien der religiösen Anschau-
ungs- und Erkenntnisform — die aber nur einsichtig für
uns werden können, wenn wir das ewige Wesen dieser
Anschauungsweise in uns verwirklichen — wenn wir den
»religiösen Akt« erwecken und uns üben, die Welt religiös
aufzufassen. Es gibt also insofern eine Seinslogik des reli-
giösen Denkens, die zwar wie alle und jede Logik die
reine formale Logik und Gegenstandstheorie in sich ent-
hält, die aber über die Prinzipien dieser hinaus auf
ontischen Wesenseinsichten der religiösen Seins- und
Gegenstandssphäre mit beruht — auf Einsichten, die nie
und nimmer zu gewinnen sind an einer außerreligiösen
Seinssphäre. Wenn also z. B. ein Naturgebilde erfaßt
ist »als« Fall eines kontingenten Daseins überhaupt,
»als« daseiend und et-wasseiend überhaupt, als ursprüng-
lich gewirktes Reales (als »Kreatur«), als Etwas bedeu-
tend, das nicht in seinen bloß relativen Bedeutungs-
beziehungen sei es für uns Menschen, sei es für andere
kontingente Gebilde, aufgeht, sondern als bezogen auf seine
eigene und der Welt »Bestimmung«, so treten die Phäno-
mene erst hervor, die gegenüber den niu- formalen logi-
schen Gesetzen und ontischen Wahrheiten überhaupt die
materialen Wesensprämissen, die spezifisch religiösen
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Probleme der Religion. c g X
Sinn- und Denkgesetze darstellen, unter denen jene Be-
weise erst sinnvoll werden und Überzeugungskraft er-
langen. Und nicht mangelnde Öenkkraft, nicht der »sün-
dige Wille«, nicht historische Gewohnheit richtet für den
Menschen außerhalb jener engen Theologenschule diese
sonderbare Schranke auf zwischen den Gottesbeweisen und
seiner Vernunft, sondern das vollständige Übersehen des
ganzen Gebietes der Wesen sontologie des Heiligen und
des absoluten Seins — ein Gebiet, das erst das vermittelnde
Glied bildet zwischen Religion und sonstiger rationaler
Erkenntnis und das für alle religiöse Erkenntnis Funda-
ment ist. Daraus folgt aber auch ein einfacher pädago^
gischer Satz über die mögliche Überzeugungskraft der
> Gottesbeweise < . Bedingung dieser Überzeugungskraft ist
I. Schaubarmachung der religiösen Urphänomene, die
von keiner anderen Phänomenklasse ableitbar sind, 2. be-
wußte Übung des modernen Menschen in der essentiell
dem Bewußtsein zugehörigen, und nur für die moderne
-Welt stark verdunkelten religiösen Weltauffessung —
nach genauester Umgrenzung der religiösen Aktarten,
durch die sich diese Weltanschauung^ vollzieht und allein
vollziehen kann. Nur diese Methode verspricht nach mei-
ner Erfahrung die Schranke zu beseitigen, die zwischen
Gotteserkenntnis und modemer Bildungswelt gähnt. Und
nur diese Theorie über das Wesen der Religion erklärt
zugleich — obzwar sie nicht um dieser Erklärung willen
gesucht und gefunden wurde — psychologisch die Un-
wirksamkeit der bisherigen Form der Religionsbegrün-
dung.
Merkwürdig über die Maßen ist es, daß eine solch
neue Gestalt natürlicher Theologie, eine Gestalt, die sich
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^82 Probleme der Religion.
auf die natürliche Religion selbst stellt und nicht die
letztere als bloß » naive « natürliche Theologie zu begreifen
meint, so vielen, die der alten Tradition der Schule fol-
gen, als »unsicher« gilt, als »schwankendes Fundament«
für diQ Gotteserkenntnis und Gottesgewißheit. Kann denn
die Religion — auch subjektiv die wurzeltiefste aller An-
lagen und Potenzen des menschlichen Geistes — auf einer
festeren Basis stehen als — auf sich selbst, auf ihrem
Wesen? Alle besondere religiöse Erkenntnis auf dem
Wesen eben der religiösen und keiner anderen Art von
Erkenntnis? Wir haben in einem Aufsatz dieses Bandes
schon für die Philosophie den Nachweis erbracht, wie
wesenswidersinnig und historisch widersinnig es ist, sie —
die Königin der Wissenschaften — unter die »Wissen-
schaften« zu zählen. Und warum soll die Religion nicht
stehen — eben auf der Religion im Sinne ihres ewigen
Wesens? Wie sonderbar ist doch das Mißtrauen in die
Eigenmacht, die Eigenevidenz des religiösen Bewußtseins,
das sich darin bekundet, daß seine ersten und eviden-
testen Aussagen auf etwas anderes »gestellt« werden
sollen als auf den Wesensgehalt der Gegenstände eben
dieses Bewußtseins selbst? Soll das Fundamentalste auf
ein weniger Fundamentales gestellt werden? Nicht dieser
Versuch, der schon vom Mißtrauen in die Religion und
von einer Verkennung ihres Wesens ausgeht, ist es, der
uns nötig ist, sondern der (nur der wahren Stellung der
Religion im Geiste des Menschen auch subjektiv ent-
sprechende) psychologische und historische Nachweis,
daß alle primären Veränderungen menschlicher Welt-
anschauungen, Philosophierichtungen, Lebens, Arbeits-
systeme, auch die Veränderungen aller ethischen, poli-
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1 i
Probleme der Religion. cg^
tischen, ökonomischen Daseinssysteme in vorangehenden
Änderungen religiöser und religiös eigengesetzmäßiger
Änderungen gegründet sind (sei es in die Richtung auf
das Wahre oder auf das Falsche). Eben da die religiösen
Akte die wurzeltiefsten, einfachsten, persönlichsten, undiffe-
renziertesten Grundakte des menschlichen Geistes sind —
ihr je intendiertes Gottsein aber Fundament alles
übrigen Seins, so müssen auch Variationen in diesem
Zentrum des Menschen für alle anderen menschlichen
Erkenntnis-, Kultur- und Arbeitsformen zum wenigsten
einen Spielraum abstecken auf alles je in dilser reli-
giösen Anschauungsart »Mögliche« der genannten außer-
religiösen Dinge.
So begreifen wir es wieder sehr wohl, daß es den
geistigen Führern der Kirche des 13. Jahrhunderts schei-
nen konnte, der natürlichen Religion gäbe die von ihnen
entwickelte rationale Theologie ein sicheres Fundament.
Dieses Zeitalter des aufstrebenden bürgerlichen Ratio-
nalismus forderte eine Rechtfertigung der natürlichen
Religion vor dieser neu erwachten und zur Arbeit an
der Welt sich spannenden Kaste des europäischen
Stadtbürgertums. Nicht durch Vernunft allein, nur »auch«
für die Vernunft gültig sollen die letzten Grundlagen
unseres Wissens um Gott zunächst nachgewiesen werden.
Die Kirche verbeugt sich in der neuen Theologie des Tho-
mismus vor der neuen geistigen Bewußtseinsform eines
neuen Zeitalters, des Zeitalters des jungen, aufstrebenden
Bürgertums, sie verbeugt sich in der gegenüber der Pa-
tristik neuartigen thomis tischen Form der Scheidung von
Vernunft und Gnade, natürlicher und Offen-
barungsordnung. (Denn die Scheidung selbst gehört
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5 84 Probleme der Religion.
zum Wesensbestande der christlichen Kirche und war
auch der patristischen Zeit gegenwärtig.) Sie durfte sich
wohl verbeugen; denn der bürgerliche Rationalismus und
das Bürgerethos, sie waren noch vollständig eingebettet
in die religiöse Weltbetrachtungsart überhaupt und noch
tief in die nährenden Kräfte einer überragenden, imiver-
salen christlichen Tradition. Aber wie grundsätzlich
verschieden ist gegenwärtig die Lage! Diese Einbettung
— diese doppelte Einbettung — fehlt der gesamten
modernen Welt. Und dazu steigt der Typus Mensch, der
dieser Öewußtseinsform entsprach, steigen die ihm ent-
sprechenden Ideale, Lebensformen, Institutionen nicht
wie seiner Zeit empor, sondern sie steigen langsam zu
Grabe. Eben das ist uns selbstverständlich geworden
— fast automatische Gewohnheit — was damals in der
rationalen Erziehungszeit der Völker Europas dem Men-
schen ein Neues, erst zu Übendes war: Gutes Schließen,
Beweisen, mittelbares Denken, Rechnen. Eben das ist
uns ferne und immer femer gerückt: die religiöse, ja die
absolute Daseins und Wertbetrachtung überhaupt und
die Geltung und Existenz einer einsichtigen Seins- und
Wertordnung. Nicht weil der moderne Mensch zu wenig
Denk- und zu wenig Schlußkraft hätte, leuchten ihm die
Gottesbeweise der herkömmlichen Form nicht ein : Sondern
darum leuchten sie nicht ein, weil er an Beweise subtilere
Anforderungen stellt, als sie hier erfüllt sind und weil ihm
die Anschauungsmaterien und -formen fehlen, auf die
sich diese Beweise — heimlich — stützen.
Aber es besteht — wie ich oben sagte — noch ein
zweiter Hauptgrund für die Stellungnahme derer, die an
der herkömmlichen Art von natürlicher Theologie fest-
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. cgr
halten. Sie halten schon die Annahme einer besonderen
Wesensklasse religiöser Erkenntnisakte und einer reli-
giösen Betrachtungsform der Welt für ein Zugeständnis
an den Subjektivismus und folgern daraus, daß eine
natürliche Theologie, die sich auf eine Theorie dieser
Akte und ihrer Wesensmaterien aufbaue, unsicher und
unbestimmt werden müsse, daß ihre Sätze und Thesen
der strengen Gegründetheit in der Sache verlustig
gingen.
Diese Annahme wäre nun prinzipiell richtig und unwider-
legbar, wenn die heimlich gemachte Voraussetzung dabei-
wahr wäre, — die Voraussetzung, der religiöse Akt in
all seinen spezifischen Arten und Formen sei nur ein Ge-
schehen auf der Seite des Subjekts und es entspreche
ihm nicht ^ eine ursprüngliche Aktmaterie und ein selb-
ständiger, vom Subjekt unabhängiger absolut seiender
Gegenstandskreis — ja sogar der einzige, in keiner Weise
auf die Existenz des Subjekts daseinsrelative, sondern
ihm gegenüber daseins- und wertabsolute Gegen-
stand. Das letztere aber ist es, was wir behaupten. Die
essentiellen Bestände, die jedem Gegenstande eines
religiösen Aktes zukommen und aus denen sich dieser
Gegenstand aufbaut, sind in keiner Weise »zuvor« ent-
halten im Gebiet aller sonstigen »Erfahrung«. Sie sind^
nicht daraus irgendwie »herausgenommen«, »abstrahiert«
oder durch besondere Verarbeitung und Synthesen aus.
den Elementen der außerreligiösen Erfahrung aufgebaut.
Es handelt sich also nicht um eine Betrachtimgs- oder
Erkenntnisform in dem Sinne, daß dieselbe Materie oder
dieselben Urphänomene auch in eine andere Betrach-
tungsform eingehen könnten, — eine Betrachtungsform,,
V'^
Digitized by
Google
^86 Probleme der Religion.
die also nicht die religiöse ist — , daß sie gleichsam
bei identischem Gehalt nur die Form der Betrachtung
wechseln könnten; oder gar, daß die Materien der reli-
giösen Akte irgendwie entnommen wären dem Gehalte
vorreligiöser Betrachtungsformen. Vielmehr eröfl&iet dem
Menschen schon der primitivste Akt vom Wesen des
religiösen Aktes einen Ausblick in eine gegenständ-
liche Seinsschicht und in essentielle, dieser und nur dieser
zukommende Anschauungs-Materien, die dem Menschen
sonst ganz und gar verborgen sind und notwendig ver-
borgen sind — so wie einem Wesen, das nicht der Funk-
tion des Sehens und Hörens teilhaftig wäre, verborgen
wäre das Wesen von Farbe und Ton und damit ebenso-
wohl die scheinbare als die ganze »wirkliche« Farben-
und Tonwelt. Es besteht also ein wesensgesetzlicher Zu-
sammenhang zwischen religiösem Akt und religiöser
Gegenstandssphäre, nicht im Sinne einer oder irgend-
einer Art der Abhängigkeit (Seins oder Geltungsabhängig-
keit) des Gegenstandes vom religiösen Akt, sondern nur
ein Zusammengehörigkeitszusammenhang der spezifischen
Wesen von religiösem Akt und religiösem Gegenstand.
Zusammenhänge dieser Art bilden ja noch keine »Aus-
nahme«, sondern durchwalten — wie die phänomeno-
logische Philosophie zeigte — das gesamte Gebiet
unseres Erkennens, Fühlens, Wollens mit den ihnen ent-
sprechenden Gegenstandskorrelaten. Ganz abgesehen z. B.
von allen positiven Sinneseinrichtungen des Menschen und
irgendwelcher Tiere gehört es zum Wesen der Farbe, in
der Funktion des Sehens gegeben zu sein — auch der
vorgestellten Farbe — des Tones im Hören, aber auch
einer »Gefahr« im Fürchten, eines Wertes im Fühlen
Digitized by VjOOQ IC
ri-, ri
Probleme der Religion. 587
von Etwas usw. Und der Schluß auf eine Existenz-
abhängigkeit des Gegebenen von dem Akt, durch den es
gegeben, ist in allen diesen und analogen Fällen gleich
irrig. So also ist uns das Absolutsein eines Gegenstandes
oder seiner Verwurzelung in der Absolutsphäre des
Daseins, femer der Wert des »Heiligen« mit all seinen
reichen Unterarten und Momenten, nur und ausschließlich
im religiösen Akte gegeben und uns nur in ihm geboten.
Aber nicht nur ist es irrig, mit dem Gedanken einer
religiösen Betrachtungsform den Gedanken einer Existenz-
abhängigkeit des religiösen Gegenstandes zu verbinden:
Es ist vielmehr gerade dem religiösen Akte — und sogar
in letzter Linie ausschließlich dem religiösen Erkenntnis-
akte (und keiner Art anderer Erkenntnisakte) spezifisch
eigentümlich, nur durch ein Sein und durch einen Wert
befriedigt zu werden (d. h. nach seiner Wesensintention
»erfüllbar« zu sein), das von- keinem anderen Seienden
oder Werthaften abhängig existiert und von dem alles
andere, auch noch die Existenz des erkennenden Subjekts
als des Trägers des religiösen Aktes selbst »abhängig«
ist. Es gibt mannigfache Stufen der Daseinsrealität der
erkennbaren Gegenstände auf die besondere Organisation
des erkennenden Subjekts — nicht weniger, sondern mehr
als Kant annahm, wenn er die Gegenstände in die drei
Schichten subjektiven Seins, objektiver Erscheinungsreali-
tät, Dingansich sondert. Die Erkenntnistheorie hat sie
genau zu scheiden und es ist eine ihrer wichtigsten Auf-
gaben, dies richtig zu tun. Die Absolutheitssphäre des
möglichen Daseins aber ist ausschießlich die Sphäre
des religiösen Aktes. Die religiöse Aktklasse ist also die
einzige essentielle Aktklasse, bei der ein Aktvollzug auch
Digitized by VjOOQ IC
egg Probleme der Religion.
noch abhängig ist und sich abhängig weiß von dem
Gegenstande, den er intentioniert. »Alles Wissen
um Gott ist ein Wissen durch Gott« — das ist ein
Wesensaxiom des religiösen Akts.
Schon aus diesen Gründen ist also diese Gefahr des
»Subjektivismus« hier ganz ausgeschlossen. Sie droht
weit tiefer und eingreifender, wenn es beim Wissen um
Gott ankäme auf die schließliche Willkür, ob besondere
Schlüsse vollzogen werden oder nicht.
Wie konnte dieser Tatbestand verkannt werden? Er
konnte es dadurch und — sinnvoll — nur dadurch, daß
die Philosophen und Theologen, die im Laufe des 19. Jahr-
hunderts Theorien vom religiösen Akte als spezifischer
Erfahrungs- und Erkenntnisquelle gegeben haben, ihre
Gedanken im Gewände einer schon subjektivistischen
Philosophie überhaupt entwickelt hatten und daß man
dieses Gewand oder daß man ihren ganz allgemein —
und nicht nur für die Religion, sondern auch für alle
Erkenntnis — falschen philosophischen Standpunkt ver-
wechselte mit dem relativen Wahrheitskem ihrer. Lehren
für die Religion im besondem.
Dieser allgemeine Subjektivismus, e;- ist ein Kind
— historisch gesehen — des Protestantismus; keines-
wegs aber gilt dies für die Lehre vom religiösen Akt,
als besonderer Quelle für die materialen Bestände natür-
licher religiöser Erkenntnis.
Vielmehr finden wir diese Lehre — ohne die Irrungen
des modernen Subjektivismus — breit und reich ausge-
führt schon bei einer großen Anzahl von Vätern der
Kirche, besonders den griechischen Vätern unter dem
Namen des »religiösen Sinnes«, worunter verstanden ist.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. ^89
es gäbe ohne positive OflFenbarung ein besonderes Äuße-
rungs- und Aufi^sungsorgan der menschlichen Seele,
durch das sie in einem lebendigen Kontakt stehe und —
unter geeigneten Bedingungen des Lebens auch sich in
ihm stehend reflektiv wissen könne — mit Gott. Und erst
hinterher verarbeite sie das in diesem lebendigen Kontakte
Gegebene mit dem Verstände, um zu bestimmten Ur-
teilen über Gottes Dasein und seine Attribute zu ge-
langen. In neuerer Zeit hat besonders der verdienstvolle
französische Oratorianer Gratry im ersten Bande seines
lesenswerten Werkes »La connaissance de l'äme« diese
Stellen der griechischen Väter zusammengestellt. Sehr
eingehend findet sich dieselbe Lehre behandelt in dem
großen theologischen Werke des ausgezeichneten Tho-
massin, an dessen große Gelehrsamkeit sich auch Gratry
hier anlehnt. Auch die gesamte augustinische Richtung
der mittelalterlichen und neueren Philosophie und Theo-
logie bis zu Newman — der in diesen Fragen durchaus
auf ihrer Seite steht — hat stets den Satz festgehalten,
daß die Seele, sofern sie alles »in lumine Dei« erkennen
und lieben könne, einen direkten und unmittelbaren Kon-
takt mit dem Allichte besitze, den sie sich ins reflexive
Bewußtsein bringen könne. Erst Thomas von Aquino hat
aus diesem »in lumine« entschlossen ein nur objektiv
kausal gemeintes »per lumen« machen zu dürfen gemeint
und dadurch die gegenwärtige Richtung des Gottes-
beweises der natürlichen Theologie vorbereitet.
Wir werden an anderer Stelle diese in ihrer Ausgestal-
tung sehr verschiedenartigen Lehren in ihrem geschicht-
lichen Werdegang und Sinn genau entwickeln. Und wir
hoffen auch zeigen zu können, daß auch bei Thomas von
Digitized by
Google
r
cQo Probleme der Religion.
Aquino noch Spuren vonZugeständnissen an diese Richtung
der Gotteserkenritnis in weit größerer Anzahl vorhanden
sind, als es die moderne thomistische Schule zuzugestehen
geneigt ist. Hier kam es uns nur darauf an, zu zeigen, daß
sich auch eine natürliche Theologie in unserem Sinn mit
Fug und Recht stützen kann auf einen wahrlich nicht un-
verächtlichen Strom einer großen geistigen Tradition.
Ganz erheblich anders stehen indes die Dinge bei den
aus der modernen Philosophie erwachsenen Versuchen,
eine besondere materialsf)endende Anschauungsquelle für
die Gotteserkenntnis nachzuweisen. Da sie — im wesent-
lichen — auf protestantischem Kulturboden erfolgten und
von protestantischen Philosophen und Theologen unter-
nommen wurden, erfolgten sie auch in den Gedankenresten
der auf protestantischem Boden erwachsenen mehr oder
weniger subjektivistischen Philosophie.
Und hier ist niemand zu nennen, der diese Lehre (und die
ihr entsprechende apologetische und missionierende Praxis)
— trotz sonstiger großer philosophischer Verdienste —
insbesondere für die katholische Welt, aber auch, wie wir
meinen, in ihrem wahren Sinne und Werte überiiaupt so
tiefgehend in Mißkredit brachte wie Schleiermacher
und alle von ihm abhängigen, später stark mit kantischen
Voraussetzungen sich vermischenden Strömungen.
Es ist hier nicht der Ort, eine allseitige Kritik seiner
Religionstheorie zu geben — so wie er sie zuerst in den
Reden*, später in seinen dogmatischen Schriften entwickelt.
Aber es genüge, die in diesen Zusammenhang gehörigen
Hauptirrtümer aufzuweisen, in die er seine im Kerne be-
' F. £. D. Schleiermacher : Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter
ihren Verächtern, Berlin 1799, »DerchrisUiche Glaube«, 2. Bd. Berlin 1821-22.
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Probleme der Religion. ^ g I
rechtigte und wahre These von der Selbständigkeit der
Religion ebensowohl gegenüber der Moral als der Wissen-
schaft und Philosophie so unheilvoll verflochten hat.
I. Schleiermachers erster und tiefster Irrtum besteht
darin, daß er seiner Erkenntnisquelle »Anschauung und
Gefühl« fiir das Ewige keinen anderen Gegenstand zu
geben weiß als »das Universum« — das Universum, das
als Totalität erfaßt im Menschen ein »Gefühl schlecht
hiniger Abhängigkeit« hervorbringe. Nun ist aber das
materiale Seins- und Gegenstandsgebiet des religiösen
Bewußtseins von vornherein und schon in den primitivsten
Religionen ein eigenes und selbständiges, vom »Uni
versum« und seinem gesamten Inhalt wesensverschie-
denes: das Seins- und Wertgebiet des Göttlichen und
Heiligen, das immer erst sekundär in irgendeine Form
der kausalen oder symbolischen Verbindung mit der
Welt gebracht wird. Die nicht schlußmäßige, an jedem
Einzelfalle eines kontingenten Seienden vollziehbare
Wesenseinsicht, es gebe auch ein ens a se = ens
a nihilo, — femer ein Daseiendes — , dessen Dasein
aus seinem Wesen folgt und es sei dieses Daseiende ver-
schieden von der Welt, ist hier von vornherein ebenso
übersehen, wie die spezifische Wertart des »Heiligen« und
ihre Nichtzurückfiihrbarkeit auf alle Arten anderer We r t e.
Schon damit ist die Theorie Schleiermachers mit Pantheis-
mus (Weltvergottung) ebenso irrig verflochten wie mit
dem Subjektivismus — insofern die Religion nicht ein
ontisches ursprüngliches Gebiet hat (Gott), sondern nur
als subjektive Betrachtungsform eben derselben Tatbe-
stände (des »Universums«) erscheint, die auch Gegen-
stände außerreligiöser Erkenntnis sind.
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^92 Probleme der Religion.
2. Der zweite Irrtum ist, daß der Gegenstand der Reli-
gion zu dem sog. »Gefühle schlechthiniger Abhängigkeit«
nicht in eine intentionale, kognitive, sondern in eine
nur kausale Verbindung gebracht wird. Sehr richtig ur-
teilt Rudolph Otto in seinem für alle Fragen der natürlichen
Theologie höchst bedeutsamen und im beschreibenden
Teile tiefgreifenden Buche : > Das Heilige < , Breslau 1 9 1 7 ,
S. IG: »Der andereFehler der Bestimmung Schleiermachers
ist, daß er überhaupt nur eine Kategorie religiöser Selbst-
wertung (nämlich Abwertung) entdeckt und durch sie den
eigentlichen Inhalt des religiösen Gefühls bestimmen will.
Unmittelbar und in erster Hinsicht wäre das religiöse Ge-
fühl nach ihm ein Selbstgefühl, ein Gefühl einer eigen-
tümlichen Bestimmtheit meiner selbst, nämlich meiner Ab-
hängigkeit. Erst durch einen Schluß, indem ich nämlich
hierzu eine Ursache außer mir hinzudenke, würde man
nach Schleiermacher auf das Göttiiche selbst stoßen. Das
istnunvöllig gegen den psychologischenTatbestand.
Das Kreaturgefiihl ist vielmehr selber erst subjektives Be-
gleitmoment und Wirkung eines anderen Gefühlsmoments,
welches selber zweifellos als erstes und unmittel-
bar auf ein Objekt außer mir geht«. Mit diesen Wor-
ten hat R. Otto durchaus einen Nerv des falschen Schleier-
macherschen Subjektivismus getroffen. Als wir sein tiefes,
schönes und die Probleme der Religionsphänomenologie
— seit Jahren wieder einmal — ernstlich förderndes Buch
lasen, haben wir es mit Staunen erlebt, wie ganz unab-
hängig vorgenommene Untersuchungen — die seinigen
und die meinen — zu streng analogen Resultatengelangen
müssen, wenn sie sich nur möglichst naiv und unbekümmert
durch traditionelle Schultheorien der Führung diu-ch die
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Probleme der Religion. cgj
Sache selbst überlassen. Erst vom Kap. 19 ab, wo Otto
sich bemüht, das »Heilige« als Kategorie a priori in dem
Sinne aufzuweisen, den Kant dem KategorienbegrifF ge-
geben hat, belastet er seine schönen Untersuchungen mit
einer Theorie, die wir für falsch und widerlegt erachten
— nicht nur auf diesem Gebiete, sondern wo immer sie zu
scheinbarer Erklärung außer- und übersinnlicher Gegeben-
heiten in dem Felde der Wahmehmungs- und Anschauungs-
gegenständeauftritt.Auchabgesehen von dieser Einstellung"
seiner Ergebnisse in eine falsche Philosophie, die alles das-
jenige durch synthetische Bewußtseinstätigkeit zu den
Gegebenheiten der »Empfindung« hinzugetan wähnt, was
sie im Inhalt der sog. »Empfindung« nicht findet, verharrt
Otto in dem Schleiermacherschen methodischen Irrtum,
die anschaulichen Urphänomene des religiösen Bewußtseins,
die für alle konstruktive Theologie und für alle und jede
Art religiöser Spekulation den unableitbaren Stoff, aber
auch nur den Stoff, hergeben, auch in concreto isolieren
zu wollen, — isolieren nämlich von den Beständen, die
sie mit den ganzen übrigen Tätigkeiten und Inhalten
des Geistes eingehen. So glaubte ja auch Schleiermacher,
die Religfon auf je isolierte »Intuitionen«, »Gesichte«,
»Gefühlserlebnisse« in den »Frommen« — ohne Berück-
sichtigung des wesensmäßigen Kollektiv- und Gemein-
schaftscharakters der religiösen Erfahrung wieder zu-
rückschrauben zu dürfen und damit alles System, ja alles
Dogma, jede Art gedanklicher Fixierung als »Verun-
•staltung« jener Urbestände ansehen zu sollen. Analog
meint auch Otto angesichts der von ihm zergliederten »In-
tuitionsinhalte«, die den christolog^schen Dogmen zu-
grundeliegen, besonders der Intuition des »bedeckenden
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cg^ Probleme der Religion.
und sühnenden Mitders« in Christo: »Nicht daß solche
Intuitionen in christlicher Glaubenslehre überhaupt vor-
kommen und eine zentrale Stellung haben, ist zu tadeln
— sie können gar nicht anders — sondern daß man ihren
Charakter als freier Intuitionen aus Divination verkennt,
daß man sie dogmatisiert, theoretisiert und aus dogma-
tischeh Notwendigkeiten deduziert, daß man sie verkennt
als das, was sie sind: freischwebende Äußerungen und
Ausdrucksversuche des Gefühls, und daß man ihnen einen
Nachdruck verleiht, der sie ungebührlich in den Mittel-
punkt des religiösen Interesses rückt, den doch nur eines
einnehmen darf: Das Gotteserlebnis selbst«. (S. 179.)
Hier trennt uns wieder eine' Welt von Otto und kaum
verstehen wir, wie er nach so klarer Erkenntnis der Irr-
tümlichkeit des Schleiermacherschen Subjektivismus hier
wieder reden kann von »freischwebenden Äußerungen und
Ausdrucksversuchen des Gefühls« — als seien es nicht
feste ontische Charaktere absoluter Heiligkeit an
Christi Person selber, die diese Intuitionen nur auffinden,
entdecken — nicht aber gestalten und konstruieren. Und
ebensowenig begreifen wir, wieso diese den puren An-
schauungsgehalt der Religion allein vermittelnden »Intui-
tionen« nicht ganz ebenso der rationalen und syste-
matischen Bearbeitung, also auch der »Dogmatisierung«
und »Theoretisierung« sollen unterworfen werden, wie
alle Anschauungsgehalte z. B. in den sonstigen »Wissen-
schaften « . Was würde Otto sagen von der Forderung etwa
an die Astronomie, sie solle das systematische Gedanken-
bild eines nach strengen Gesetzen und auf feste Konstanten
gegründeten Weltgebäudes, das sie im Laufe der Jahr-
hunderte schuf, wieder abbrechen zugunsten der isolierten
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Probleme der Religion. cgc
Beobachtungsinhalte am Himmel und an den Meßinstru-
menten, die zur Schöpfung dieses Bildes als Materie not-
wendig gewesen sind? Welch ein Nonsens! Otto verfällt
hier demselben Fehler wie Schleiermacher (unbesehen
anderer, die ich hier nicht aufführe) : Er macht aus seinem
Ergebnis eines theoretischen Versuches, sich der in der
Gegebenheitsordnung ursprünglichsten Gehalte der reli-
giösen (hier der positiv christlichen) Anschauungsgegen-
stände durch einen von den Dogmen ausgehenden Re-
duktionsprozeß zu bemächtigen, — einen Prozeß, der an
den immer schon gestaltet und theoretisiert vorliegenden
Dogmen vorgenommen wird, — eine konkrete Religion, die
flir sich existieren soll. Er glaubt femer (darin echt luthe-
risch), es müsse hier das nach seiner Meinung genetisch
Frühere (Urchristentum) auch das HöhereundBessere, Voll-
kommenere sein; und er macht die anschaulichen (nicht
angeschauten) materialen, vorlogischen Gehalte der Dog-
men, die als solche durchaus objektive Bestände, Glau-
bensgutmaterien flir die religiöse Gemeinschaft sind,
zu bloß subjektiven Bewußtseinsreaktionen von Individuen
— zu Reaktionen, von denen man nun gar nicht mehr an-
geben kann, wogegen sie eigentlich reagieren und warum
sie so reagieren und nicht anders. Denn das Glaubensgut
ist bei ihm ja — weggezogen, jenes Objektive, in bezug
auf das diese Reaktionen allein erfolgen können, indem es
: — vermeintlich — erst aus diesen Reaktionen als deren
noch leerer Zielpunkt X soll abgeleitet werden.
3. Der dritfe Irrtum Schleiermachers (im großen ganzen
auch Ottos) ist, daß der religiöse Akt ganz einseitig vor-
wiegend als Gefühl bestimmt wird — ja sogar als zu-
ständliches, je durch das Universum gewirktes Gefühl.
38*
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r
rg5 Probleme der Religion.
Hierdurch werden die im religiösen Akt eingeschlossenen
und sogar ihn leitenden Akte einer unmittelbar anschau-
enden Vernunft zugunsten der wert^erichteten Gemüts-
akte — die der religiöse Akt in concreto gleichfalls ent-
hält — im Widerspruch zum wahren Sachverhalt ausge-
schlossen — und dies unter der falschen philosophischen
Voraussetzung, es gebe nur mittelbar schließende und
nicht auch eine unmittelbar wesensanschauende Ver-
nunft — wie sie doch schon Aristoteles richtig gelehrt hatte,
wenn auch mit unvollständiger Begründung. Die Vemunft-
idee eines unendlichen Seins — wie sie imEns a se schon
mitgesetzt ist — kommt hierdurch nicht zu ihrem Rechte.
Ja, die ganze auf diese Lehre aufgebaute natürliche Theo-
logie erhält hierdurch ein falsches »irrationalistisches« oder
doch arationales Gepräge. Auch dies ist historisch zu
verstehen. Da sich Schleiermacher — hierin mit der Roman-
tik einig — vor allem gegen die Religionstheorie der Auf-
klärung wendet und mit den Rationalisten der Aufklärung
eben darin noch zusammengeht, daß er die ganze Sphäre
eines unmittelbaren Denkens und der Intuitio nicht kennt
und alles Denken = mittelbares und schließendes Denken
setzt, mußte er dazu kommen, die ganze, ja die primäre Ver-
wurzelung des religiösen Bewußtseins in der noch von der
technischen Zielsetzung der »Wissenschaft« freien Ver-
nunft zu verkennen.
4. Mit diesem Irrtum ist aber auch ohne weiteres der an-
dere Irrtum verbunden, daß die so wichtigen wertkognitiven
Gemütsakte in ihrer ursprünglichen und intentionalen
(also nicht kausalen) Grundbeziehung auf die Wertseite des
Göttlichen, — auf das Heilige — mit den »Gefühlen« (oder
doch einer besonderen Art von »Gefühl«) gleichgesetzt
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Probleme der Religion. cgy
werden, d. h. mit Bewußtseinszuständen des Subjekts,
die ihrem Wesen nach weder Aktnatur besitzen noch inten-
tionale ursprüngliche Gerichtetheit auf einen Gegenstand,
noch endlich kognitive (erkennende) Bedeutung. Daß alle
religiösen »Gefühle« nur nachträgliche Reaktionen sind,
die durch die lebendige Berührung mit der objektiven
§eienden Gegenstandssphäre der Religion ausgelöst
wurden, wie sie sich schließlich im Dogma als der fides,
quae creditur verkörpert — diese wichtigste wahre Grund-
ansicht des religiösen Objektivismus wurde durch diesen
Irrtum nicht nur verkannt, es wurde sogar diese Wahrheit
in das Gegenteil verkehrt, in das Gegenteil, das sich in
dem ganz schweren Irrtum Schleiermachers, ausspricht, es
seien die Dogmen der Religionen überhaupt nur nachträg-
liche »Beschreibungen frommer Gefühlszustände«.
Demgegenüber wissen wir nichts sicherer, als daß Re-
flexion auf »fromme Gefühle« mit lebendiger Religion
nichts zu tun hat^; daß femer auch die naiven, einfach
erlebten frommen Gefühle nur erblühen und in die Tiefen
des Menschen wachsen können durch die ursprüngliche
Nahrung und immer neue Erweckung, die sie in regster
Erkenntnis und im Gebetsverkehr mit der objektiven
Sphäre der Glaubens- und Gnadengüter erhalten. Auch
die spezifisch religiösen Gemütsakte, in deren gegen-
ständlich gerichteten Vollzug sich die Wertseite des Gött-
lichen erschließt und aüftut, sind von allem, was Schleier-
macher, »fromme Gefühle« nennt, wesensverschieden. Sie
sind höchstens ihrer Gegenstände nachträgliche
Wirkungen. Nicht minder sind diese Gefühle wesens-
^ Aufmerksame Reflexion auf die religiösen Gefühle stumpft die Gefühle ab,
ja tötet sie auf die Dauer.
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,r
cq3 Probleme der Religion.
verschieden von allem Wollen und Streben, mit denen
sie die hierin psychologisch und wertungstheoretisch sehr
zurückgebliebene Psychologie der Neuthomisten noch ver-
wechselt. Gottesliebe, Ehrfurcht, heilige Scheu, Gottes-
furcht usw. sind keine Gefühle, die nur kausal erweckt
würden durch die Idee Gottes (oder gar wie Schleier-
macher meint, des »Universums«), sondern sie sind Akte
des Gemütes, in denen ein Göttliches und Heiliges erfaßt
und gegeben wird, — sich uns aufschließt — , das ohne
diese Akte des Gemütes uns so wenig gegeben sein kann
wie die Farbe dem Blinden; das aber erst sekundär auch
zu »frommen Gefühlen« im Subjekt fuhren mag. Mit
Recht ist daher diese Schleiermachersche Richtung der
Religionsbegründung »Gefühlstheologie« ^genannt und
darum von allen Vertretern des philosophischen und
theologischen Objektivismus grundsätzlich abgelehnt
worden. Aber wie groß wäre die Täuschung, wollte man
auf die Irrungen dieser »Geflihlstheologie« und ihres Sub-
jektivismus (pietistisch -hermhuterischer Herkunft) jede
Art von Lehre zurückfuhren, die zu einer natürlichen
Theologie noch etwas anderes nötig zu haben glaubt, als
einen »Kausalschluß« aus dem Dasein der Welt: Irgend
eine materialspendende Anschauung für den Gegen-
stand der Religion — durch eine anschauende unmittel-
bare Vernunft und durch intentionale Gemütsakte.
5. Der letzte hierher gehörige Grundirrtum Schleier-
machers ist, daß er — hier in ebenso einseitiger Reaktion
zu Kants falschem Moralismus befangen, wie er sich
als Geflihlstheologe zur rationalen Aufklärungstheologie
befand — die aktive Seite des religiösen Bewußtseins,
insbesondere die Möglichkeit einer mittelbaren und un-
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Probleme der Religion. jgg
mittelbaren Einigung des menschlichen Willens mit dem
Willen Gottes auf Grund der religiösen Erkenntnisakte
und Liebesakte verkannte und daß er dadurch — ähnlich
-wie Luther — Religion und Moral unheilvoll ent-
zweibrach. Auch hier ist das falsche »romantische« Über-
legenheitsbewußtsein über Moral und Recht — neben
der übertreibenden Reaktion gegen Kants in der Tat
philisterhaften Moralismus — in ihm tätig. Es war ein
unhaltbarer Versuch L Kants, das Dasein Gottes — dessen
Wesen er im Unterschiede zu Schleiermacher noch als
in einer reinen Vemunftidee gegeben ansah — auf ein
Postulat der praktischen Vernunft zu gründen, das auf
Grund eines zuvor schon gegebenen und gültigen Sitten
gesetzes, im Grunde nur — wäre es selbst als »Postulat«
berechtigt — zu einem Wesen X fuhren würde, das
zwischen Glückseligkeit und Tugend ausgleicht, also zu
einem Vergeltungs- und Rechtsgaranten. Diesem
Wesen käme auf Grund seiner Form der Auffindung
weder Allmacht, noch Allweisheit und Allwissenheit
noch Allgüte und Alliebe zu. Durch Schleiermacher —
soweit die natürliche Religion in Frage kommt — wurde
es nur ersetzt durch einen rein pantheistischen All-
machtsgott, als dem Korrelat des so einseitig hervor-
gekehrten Gefühles »schlechthiniger Abhängigkeit«. Alle
anderen positiven göttlichen Attribute sollen nach Schleier-
macher erst an der historischen Erfahrung der Person
Christi aufgehen. Von einer allseitigen, die »Attribute«
im rechten Gleichgewicht und der rechten Folgeordnung
stabilierenden Gotteslehre ist also in beiden Fällen
weder bei Kant noch bei Schleiermacher die Rede. Auch
die essentielle Personalität Gottes (die als solche über
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6oO Probleme der Religion.
Ein- und Dreipersönlichkeit noch nichts einschließt) als
Gegenstand schon der natürlichen Theologie ist in beiden
Religionstheorien nicht konstituiert. Denn weder ist es
irgendwie vemunftnotwendig, daß eine nur »vergeltende«
Gerechtigkeit auch persönlich sei (da hierzu auch ein
metaphysisches Weltgesetz, eine bloße »sittliche Welt-
ordnung« ebenso genügen würde, beij. G. Fichtes an Kant
orientierter Jugendliehre ja auch offenkundig genügen
sollte), noch fordert das Gefühl schlechthiniger Abhängig-
keit einen personalen Gott als notwendiges Korrelat.
Erst der Nachweis, daß i. die personale Seinsform die
einem konkreten Geistwesen (und nur Konkretes kann
»real« sein) wesentliche ist und daß 2. .Personwert evi-
dent (und noch unabhängig von aller Religion) höher ist
als Sachwert, Aktwert, Zustandswert usw. führen zu den
Folgerungen, daß ein von der Welt verschiedenes Ens a
se als Geist auch Personalität, daß femer ein sum-
mum bonum (als Wesenseinsicht aus der objektiven Wert-
lehre) gleichfalls kein Sachgut, sondern ein Personwert,
ja eine Wer t per so n sein müsse ^.
Die Lehre vom religiösen Akt und der Selbständigkeit
der Religion führt also — wie all dies zeigt — nur dann
in Subjektivismus und Unsicherheit, wenn ihr nicht ent-
spricht eine Wesensontologie des Göttlichen und
wenn nicht im Aufbau beider Lehrstücke (als Voraus-
setzung der natürlichen Theologie als Realerkenntnis Got-
tes) von der Wesensontologie ausgegangen wird. Gott
in seinem natürlichen Wesen (ein wesenloses, was-unbe-
stimmtes Reales »Gott« ist eine Absurdität) ist der erste
^ Beide Sätze habe ich im »Formalismus in der Ethik und die materiale
Wertethik« eingehend begründet
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Probleme der Religion. 6o I
Gegenstand aller natürlichen Gotteserkenntnis; unser Ver-
hältnis zu ihm, also auch die Aktarteri, durch die ein
Göttliches erfaßbar, erkennbar wird, — mithin die ganze
Lehre vom religiösen Akt und der religiösen Bewußt-
seinsform — ist das Zweite. Erkenntnisquelle für dieses
Lehrstück ist die evidente Wesensreflexion auf die Wei-
sen und FonAen des Teilnehmens unseres menschlichen
Seins am Sein Gottes, von denen auch die Gottes erkenn t-
nis nur eine Art ist.
Wird nun auf diesem Wege die natürliche Theologie wirk-
lich aufgebaut — hier geben wir nur den Fingerzeig auf den
Weg hinzu — so ist die Lehre von einer materialen Er-
kenntnisquelle fiirdie natürliche Theologie, einer Quelle also
hinaus über bloße Schlüsse und induktive Erfahrungs-
daten aus der vorreligiösen Erfahrungswelt, völlig befreit
von den allgemeinenVerirrungen einer subjektivistischen
Philosophie. Nicht ein speziell religicmsphilosophischer
irrtum ist es ja, der bei Schleiermacher stattfindet, son-
dern der ganz allgemein falsche, von der Phänomenologie
widerlegte Grundsatz, es müsse alles, was die sogenann-
ten Empfindungsdaten (eines dazu falsch bestimmten Be-
griffes von »Empfindung«) am Gegebenen der Anschau-
ung, Wahrnehmung und Erfahrung überrage, entweder
auf Empfindungsderivate »zurückgeführt« oder auf eine
konstruktive Zutat, ein Ergebnis der Sy nthesis des mensch-
lichen Geistes zurückgeführt werden; es könne also ein
asensueH, respektive übersensuell »Gegebenes« imd zu-
gleich ursprünglich Gegebenes; und es könnten Wesens-
bestände und Wesensstrukturen von diesem Gegebenen,
die sich über alles zufallig Daseiende des Hie und Nunc
erheben und die ontischen Möglichkeitsbereiche dieses zu-
Digitized by VjOOQ IC
6o2 Probleme der Religion.
fälligen Daseienden regieren, gar nicht geben. Nun gilt
aber dieses alte Vorurteil — wie wir heute wissen — nicht
einmal fiir die einfachsten Tatsachen der natürlichen so-
genannten Sinneswahmehmung. Es gilt nicht für das Be-
deutungsmoment, den Wirklichkeitscharakter, für die Ge-
stalten und sonstigen Formenmomente, die Sachbezie-
hungsphänomene, die Wertcharaktere, die Erscheinungs-
weisen ^er in sie einbezogenen sinnlichen Qualitäten, die
Dinglichkeit (und ihre essentiellen Aufbauteile), die Ma-
terialität und den (eventuellen) Wirkensbezug auf anderes
Wahrgenommene und auf uns (z.B. das Phänomen »Emp-
finden«, das nicht selbst empfunden wird); es gilt femer
nicht für Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Vielheitsmoment; nicht
für die einfachsten Phänomene der Bewegung, Verände-
rung, des Wechsels usw. Alles die Bedeutungen dieser
Worte anschaulich Erfüllende ist wesensmäßig außer-
sensuell und gteichwohl auch »gegeben«, nicht aber
durch unseren Geist »produziert« oder »hinzugetan«. Was
hindert denn dann, ebenso ehrlich und voraussetzungslos
(gegenüber allen genetischen und sonstigen »erkenntnis-
theoretischen« Theorien) zu fragen, als man bei den ge-
nannten Dingen zu fragen sich endlich gewöhnte, auch
nach den wesenhaften Grundgegebenheiten des natür-
lichen religiösen Bewußtseins und den ontischen Wesens-
momenten dieses Gegebenen? Der Sphäre des^Unsinn-
lichen und außersinnlich Gegebenen tritt also das über-
sinnlidi Gegebene (als dem Fundament auch des Ȇber-
natürlichen«) als Studiumsobjekt der Wesensphänomeno-
logie zur Seite.
Aber — fragt man vielleicht — ergibt sich hier nicht
eine unbegrenzte Anzahl von zu studierenden Phänomenen,
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 603
die unseren geistigen Blick mehr verwirrt als erleuchtet?
Nun in der Tat: es gibt eine religionsphilosophische Rich-
tung, bei der eine solche Gefiahr eingetreten ist. Ich denke
hier an das bekannte Werk von William James, das
unter dem Namen »Die Mannigfaltigkeit der religiösen
Erfahrung« auch ins Deutsche übersetzt ist und bei uns
stark gewirkt hat, femer an analoge Versuche wie jene
Starbucks u. a. So wertvoll die lebendigen Beschreibungen
religiöser Bewußtseinszustände besonders in James' Werke
sind, so hat dieses Unternehmen doch mit dem hier um-
rissenen Versuche einer Verbesserung der natürlichen
Theologie nichts zu tun. Denn nicht auf die chaotischen
Zufälligkeiten individueller religiöser Erfahrung, sondern
auf Wesen und Wesensstrukturen zuerst ihrer Ge-
genstände und dann erst der ihnen zugehörigen reli-
giösen Aktformen ist unser Blick gerichtet. Nur im Sinne
des veranschaulichenden Experimentes (wie es auch in
Mathematik und Mechanik üblich ist), nicht im Sinne in-
duktorischer Generalisierung und Abstraktion können wir
zu unseren Zielen auch Beschreibungen solcher Art be-
nutzen. Dazu besitzt diese »Religionsphilosophie« keinerlei
Prinzip religionstheoretischer Evidenz, vermöge dessen
in das Chaos der von ihr aufgeführten »Fälle« Unter-
schiede nach den Richtungen »seinsgegründet« und »illu-
sionär « , » echt — unecht « , » adaequat — inadaequat « , » nor-
mal (im idealtypischen Wortsinne) und anormal«, »voll-
kommen — unvollkommen«, zu machen sind. Ein solches
Prinzip sucht sie vielmehr durch das ganz und gar wurm-
stichige pragmatistisch-biologische, — wenn nicht geradezu
utilitarische Prinzip der günstigen Folgen der Über-
zeugungen für das praktische Leben zu ersetzen.
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6o4 Probleme der Religion.
Dabei rede ich hier — wo diese Richtung nicht zur Kritik
überhaupt steht — gar nicht von ihren übrigen Grund-
mängeln: die Nichtbeachtung der Wesensontologie des
Göttlichen, die aller religiösen Erkenntnislehre voranzuge-
hen hat, die fast völlige Unkenntnis über die gerade der
religiösen Erkenntnis wesenseigentümliche Kollektivform,
die Miteinanderform der religiösen Akte, die neugierige
Vorliebe für den pathologischen oder doch grob sensatio-
nellen Fall.
Aber — fragt man — gibt es denn für eine natürliche
Theologie in unserem Sinne eine solche Evidenz, und fer-
ner religiöse Wahrheits- und Wertnormen, die ihr ent-
springen? Müßten nicht auch wir entweder das Prinzip
eines außerhalb der Religion gültigen Grundsatzes an sie
heranbringen, um schon ihre natürlichen Formen an ihm
zu messen nach wahr und falsch usw. ? Eine Reihe logische
und ontologische Grundsätze überhaupt, wie sie die alte
natürliche rein rationale natürliche Theologie besitzt (Kau-
salprinzip), oder eine der Religion vorhergehende mora-
lische Form, auf deren Realisierungskraft hin die Reli-
gion geprüft wird (Kant), oder ihre Leistungskraft und
nur »transzendentale« Vorausgesetztheit ihrer Sachthe-
sen für die größte Einigung und Entfaltung der geistigen
Gesamtkultur und der Realisierung ihrer Grundwerte? Ich
bin der Meinung, daß alle diese Versuche, Maßstäbe außer-
halb der Religion selbst zu finden, an denen man die Wahr-
heit der Religion messen könnte, sich auf prinzipiell
falscher Fährte befinden. Selbst all dasjenige, was die
Religion für außerreligiöse Werte (Wissenschaft, Moral,
Staat, Recht, Kunst) bedeute, das kann sie ihnen nur
bedeuten, wenn sie nicht um dieser Bedeutung willen.
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Probleme der Religion. 605
sondern aus dem heraus anerkannt und geübt wird, was
in ihr selbst an Evidenz und Sicherheit gelegen ist. Daß
keine religiöse Thesis einsichtigen ontologischen, logischen,
moralischen und ästhetischen Sätzen widerstreiten dürfe,
ist dabei selbstverständlich. Aber daraus folgt nicht, daß
über das »Nichtfalsch« hinaus auch die positive Wahrheit
der Religion also gerechtfertigt werden könnte. Die Maß-
stäbe für die Wahrheit und allen sonstigen Erkenntnis-
wert der Religion können daher nur aus ihrem Wesen
selbst heraus gefunden werden — sie können von keiner
außerreligiösen Sphäre her an sie herangebracht werden.
Auch das ist ja nichts, was für die Religion allein gültig
wäre. Auch die gesamte Ethik, die gesamte Ästhetik sind
ohne eine auf nichts weiter zurückführbare ethische und
ästhetische »Evidenz«, in der sich die Selbstgegebenheit
der betreffenden Werte im strengsten Sinne ankündigt,
eitel Stroh, auch wenn man beliebige Induktionen und alle
mögliche rein logische und ontische Axiomatik voraus-
setzt. Auch die Religion besitzt also in der Selbstgegeben-
heit des Gegenstandes, auf den der religiöse Akt gerichtet
ist — in letzter Linie Gottes — und in der Evidenz, in der
sich diese Selbstgegebenheit dem Bewußtsein erschließt,
ihren letzten und höchsten Erkenntnismaßstab; und es
hieße nur das Festeste auf weniger Festes, stellen, wenn
man das »ungenügend« fände. Alle »kritischen« Urteile,
alle sogenannten Rechtsfragen, auch urteilen zu dürfen,
was man in diesem Sinne des Wortes schaue oder nur
»glaube«, sind hier wie überall nach Meinongs treffendem
Ausdruck^ » Nachurteile « , sind ferner Urteile, die sich ihrer-
seits selbst wieder auf Evidenz zu stützen haben. Es ist
* S. A. Meinong: »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit«, A. Barth.
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6o6 Probleme der Religion.
hier nicht unsere Absicht, das Wesen des Glaubensaktes
als eines Grundaktes aller Religion (auch der natürlichen
Religion) in seinen Unterschieden zu außerreligiösem
Wissen, zum Vermuten imd Meinen, zu allen bloßen
Willensakten und zum »Schauen« des religiösen Gegen-
standes herauszuarbeiten. Evident ist nur, daß alles »Glau-
ben « — sachlich — fundamentiert ist in einem > Schauen « ,
— ich sage sachlich, also nicht so, als müßten beide
Akte demselben Individuum und Bewußtsein angehören.
So ist aller christlicher Glaube in allerletzter Linie funda-
mentiert auf das, was Christus über Gott und über sich
selbst gegeben war, — nicht in Form des Glaubens, son-
dern des Schauens — respektive auf das, was er seiner
Kirche hiervon mitzuteilen für gut fand.
Aber hieraus folg^ nicht, daß das, was an sich evident
ist an Sein und Sosein in einem möglichen auf dieses
Sein und Sosein gerichteten Schauakt uns auch ver-
möge die«5er Evidenz zur Gewißheit werden soll. Das Ur-
prinzip al er religiösen Erkenntnis, das Prinzip evidenter
Selbstgegebenheit, steht genetisch am Schlüsse, nicht am
Anfang des religiösen Erkenntnisprozesses und es
kann daher sehr wohl ein reiches Gefüge mittelbaren Den-
kens nötig sein, damit wir uns dieser Evidenz annähern.
Die Anwendung dieses Prinzips erfolgt daher zunächst
so, daß die gesamte, ungemein reiche — heute noch kaum
ernst angegriffene — onti^che und axiologische Wesens-
axiomatik des religiösen Gegenstandes, an dem Wesen
des Göttlichen entwickelt wird. In dieser Wesensaxiomatik
haben wir einen ersten, dem religiösen Seinsbereich als
solchem zukommenden idealen Maßstab für alle faktischen
Gestaltungen der Religion — auch der faktischen natür-
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Probleme der Religion. 607
liehen Religion — einen spezifisch religiösen Maßstab,
der also als positiver religiöser Erkenntnismaßstab zu den
nur Falschheitskriterien nicht Wahrheitskriterien bilden-
den allgemein ontologischen, logischen, ethischen, ästhe-
tischen Einsichten, denen eine religiöse Thesis nur nicht
widerstreiten darf, hinzukommt. Indes muß man nicht
nur die eminente Bedeutung dieses Maßstabes, man muß
auch seine Grenze genau erkennen.
Er ist — wie Evidenz überhaupt und auf allen Ge-
bieten — ein Maßstab für den Erkenntniswert der je
prälogischen Faktoren unserer Erkenntnis. »Wahrheits«-
maßstab ist Evidenz überall nur insofern, als jenes je in den
Dingen selbst liegende »verum« in Betracht kommt, das in
dem alten Satze gemeint ist: »Omne ens est verum«,
jenes »Wahre«, das wir meinen, wenn wir etwa reden vom
»wahren Gold« gegen Scheingold, dem »wahren Gott«
usw. Sofern dagegen jenes »wahr« und »falsch« in Frage
kommt, das nur Sätzen und Urteilen zukommt, ist Evi-
denz kein Maßstab des Wahren. Diese beiden Dinge muß
man genau unterscheiden. Wahr (oder »echt«, wenn der
Wert des Gegenstandes mit einbezogen ist) bedeutet, daß
ein Gegenstand eben dasjenige auch sei, was er »bedeutet«
(nicht, was wir in unserenBedeutungsintentionen an ihm oder
von ihm »meinen«). Diesem »Wahren« steht also gegen-
über n ich t das Falsche (das es überhaupt nur in der Sphäre
von Urteilen und Sätzen gibt) sondern das Scheinhafte
(und sein Träger, das Phantom), das überall vorliegt, wo
ein Gegenstand nicht das ist, was er bedeutet (was der
ihm selbst immanenten Bedeutungsforderung entspricht).
Dem Scheinhaften entspricht auf der Seite der Akte des
Subjekts nicht der Irrtum, der nur dem Falschen der
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6o8 Probleme der Religion.
Urteilssphäre entspricht, sondern die Täuschung, die also
gleichfalls in der prälogischen Sphäre der Erkenntnis
lieg^ und die durch Urteilswahrheit (Übereinstimmung
des Urteils mit dem durch ihn gemeinten Anschauungs-
gegebenen) und Urteilsrichtigkeit (Immanenz des Prädi-
kates im Subjekt) niemals überwunden werden kann*.
Der Weg vom Scheinhaften zum Rechten und Wahren
ist stets die Ent-täuschung, eine Form, die gerade auf
dem Wege der erkennenden Seele zum »wahren Gott«
eine weit größere und tiefergehende Rolle spielt als alle
Urteilswahrheit und Richtigkeit. Der Weg zum wahren
Gott fuhrt hinweg über die Enttäuschung, die Enttäuschung
über tausenderlei Arten von Scheingöttem oder Götzen.
Es ist daher überall die volle und ganze Wahrheit
eines Urteils (auch eines religiösen Urteils) nicht nur ge-
knüpft an die Übereinstimmung des Urteils mit seinem
anschaulich gegebenen Gegenstand und die Urteilsrichtig-
keit (resp. Schlußrichtigkeit, wenn die Urteile aus ande-
ren deduktiv erschlossen sind), sondern auch daran, daß
dasjenige, womit das Urteil übereinstimmt, auch ein
Wahres und Echtes sei, nicht ein Scheingegenstand
oder ein religiöses Phantom. Und es ist diese prälogische
Sphäre von Einsicht und Täuschung, Wahrem und Schein-
haftem in allen religiösen Gegenständen selber (nicht
erst den Urteilen über sie und den Systemen dieser Urteile),
fiir die wir das Prinzip der religiösen Evidenz und die
besondere Axiomatik des religiösen Seins- und Wert-
gebietes in Anspruch zu nehmen haben.
Daraus folgt wie grundirrig es wäre, wenn man — wie
es eine einseitige dogmatische Methode tut, die immer
* Verg^l. meinen Aufsatz über »Idole der inneren Wahrnehmung«.
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'Probleme der Religion. 609
zugleich eine einseitig rationalistische ist — den
möglichst einheitlichen und widerspruchslosen System-
charakter der religiösen resp. theologischen Sätze
und Urteile zu einem genügenden Wahrheitskriterium
dieser Sätze machen würde. Die noch so große innere
Übereinstimmung der Sätze untereinander, ihre maximale
Ableitbarkeit von wenigen Grundsätzen geben keine Ge-
währ dafür, daß dem Ganzen dieses Systems auch Wahrheit
in\ ersten Sinne zukomme. Auch in einem Bereich bloßer
Phantome wäre ein solches in sich geschlossenes Sys-
tem möglich. Darum hat die natürliche Theologie (nicht
minder auch die positive) ihre Sätze nicht nur immer neu
zu prüfen an den sie fundierenden religiösen Anschauungs-
und Erlebensinhalten; sie hat vielmehr auch diese Inhalte
selbst immer neu zu prüfen nach der Echtheit und Schein-
haftigkeit ihrer Gegenstände. Mißachtet eine natürliche
Theologie (wovon hier allein die Rede sein soll) diese
Unterschiede der Erkenntnismaßstäbe für das religiös
Wahre und Wertvolle, indem sie diese Maßstäbe auf die
nur dir die religiöse und theologische Urteilssphäre
giltigen Maßstäbe beschränkt, so darf sie sich nicht wun-
dem, wenn sie ohne Echo und Wirkung da bleibt, wo
dieses Echo und diese Wirkung vor allem erwünscht wäre
und nur dort gehört wird, wo sie unnötig ist.
Erst wenn die anschaulich evidenten Grundlagen der
Urteile und Schlüsse der natürlichen Theologie in der
Herausarbeitung der religiösen Urphänomene und der
Wesenheiten dieser nebst ihrer Wesenszusammenhänge
vollgesichert sind, wird die rationale Urteilswahrheit
über den religiösen Gegenstand von entschiedenster Be-
deutung. Ist aber diese Grundlage gesichert, so wäre es
39
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6 1 o Probleme der Religion
auch ganz falsch, einem rationalen Zusammenhang
dieser Wahrheiten aus dem Wege zu gehen. Auch
die überlieferten Gottesbeweise als Grundlage eines weit
feineren und differenzierteren Ausbaus, dessen sie fähig
sind, bekommen sofort ihren guten Sinn und ihr volles
Recht, wenn sie sich auf die religiöse Wesensaxiomatik
bereits stützen; und wenn sie nicht beanspruchen, die reli-
giösen Urphänomene allererst zu konstruieren und aus
vorreligiösen Tatsachen und Tatsachenfeststellungen ver-
meintlich (per analogiam) herzuleiten, sondern sich be-
gnügen, eine rationale systematische Einheit unter ihnen
resp. unter den Urteilen über sie und diesen Urteilen mit
dem je gegebenen außerreligiö^en Wissen über die Welt-
wirklichkeit herzustellen.
Und hier ist es nicht »die« sog. Wissenschaft (die es
nicht gibt; denn es gibt nur die Wissenschaften)^ mit
deren Sätzen die natürliche Theologie die religiösen
Gegenstände in rationale Einheit zu bringen hat, sondern
es ist die Philosophie und an erster Stelle die Meta-
physik, die sich selbst erst wieder gründet i. auf die ein-
sichtigen Wesenszusammenhänge unter den Wesens-
ideen der zufälligen Weltwirklichkeit, 2. auf die jeweiligen
Ergebnisse der positiven Wissenschaften. Wie die Philo-
sophie die einzige rechtmäßige Vermittlerin ist zwischen
Theologie und den Wissenschaften, also ein un-
mittelbarer Verkehr von Theologie und Wissenschaft
ohne diese Vermitdung beiden Teilen nicht zusteht, so
ist die natürliche Theologie von der theologisdien
Seite her, die philosophische Metaphysik als die philo-
sophische Erkenntnis vom realen Weltgrund (von philo-
* Vgl. den Aufsatz über das »Wesen der Philosophie«.
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Probleme der Religion. 6 1 1
sophischer Seite her) das Übergangsglied von Welt-
wissen und Gotteswissen. Die philosophische Grund-
erkenntnis, die ontologische Eidethik aller Weltgegeben-
heit (der inneren und äußeren Welt) legt den in dieser
zufälligen Weltwirklichk^it dynamisch realisierten ewigen
Aöyog frei als den Inbegriff aller Wesenheiten und Wesens-
zusammenhänge und -strukturen. Sie gibt also eine Reihe
von Wahrheiten, die obzwar gefunden an dieser zufälligen
Weltwirklichkeit nicht nur für diese Weltwirklichkeit,
sondern für jede mögliche Weltwirklichkeit gelten : also
auch für jenen Teil der Weltwirklichkeit, der die Grenzen
aller möglichen Erfahrung vom Wesen der nur zufälligen
und induktiven Erfahrung überschreitet. Diese Wahr-
heiten oder die Fähigkeit zu ihrer Erkenntnis sind weder
»eingeboren«, noch sind sie nur der Ausdruck subjektiver
Funktionsgesetze unseres Geistes, die für die Gegenstände
der Erfahrung gültig wären, weil sie für deren Erfahren
gültig sind (Kant). Sie sind an dem zufälligen Erfahrungs-
gegenstand durch Wesensschau der in ihm realisierten
Ideen und Ideenzusammenhänge gefunden; sie gelten aber
fiir alle zufälligen Erfahrungsgegenstände desselben
Wesens. Denn was für die Wesenheiten der Gegen-
stände gilt, das gilt auch fiir alle Gegenstände desselben
Wesens a priori — gleichgültig, ob diese Gegenstände
Gegenstände unserer zufälligen Erfahrung sind
oder nicht. In diesem Inbegriff des materialen Apriori
als des Inbegriffs aller ontischen Wesenheiten selbst und
ihres Zusammenschlusses in einer Wesenswelt hat die
Metaphysik ihre Grundstütze — sozusagen ihre erste
obere Schlußprämisse. Gegenüber den Prinzipien der for-
malen Logik sind diese Sätze sämtlich synthetische Wahr-
39*
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6 1 2 Probleme der Religion.
heiten a priori (sofern man unter »synthetisch« nicht ver-
steht : » durch Akte der Sy nthesis geworden « , sondern über
all das hinausgehend, was aus den Prinzipien der Identität
und des logischen Widerspruches folgt). Denn sie stützen
sich auf evidente Anschauung der puren Was-heit der
Gegenstände selbst, nicht auf zufällige Wahrnehmung und
Beobachtung, die ihrer Natur nach ebenso unabgeschlossen
ist für jeden Gegenstand, als die evidente Anschauung
fertig und geschlossen — ungeachtet, daß natürlich auch
sie der Täuschung fähig ist und verschiedene Grade der
Adaequation haben kann. Darum weiß der Meta-
physiker a priori und evident, daß auch in allen Teilen der
Weltwirklichkeit (einschließlich des realen Weltgrundes),
die in keiner direkten oder indirekten Kausalverknüpfung
mit den realen Trägem unserer menschlichen psycho-
physischen Organisation stehen, dieselben Wesenheiten
realisiert, dieselben Wesenszusammenhänge gültig, der-
selbe Aufbau der Wesenswelt (auch der Wesenswerte) ver-
wirklicht ist, der in dem Teile der uns durch mögliche
Wahrnehmung und Beobachtung zugänglichen Wirklich-
keit realisiert ist. Ich kann also das Wesen einer zu-
fälligen Wirklichkeit sehr wohl noch erkennen, die ich selber
als Wirklichkeit nicht kenne, — ja nicht kennen kann
(auf Grund der Grenzen meiner Organisation). Und eben
hierauf beruht die Möglichkeit einer Metaphysik.
Denn da wir einerseits wissen, daß nur ein Teil des zu-
fällig Wirklichen mit unserer Organisation in kausaler
Verknüpfung steht (direkt nur jener, der unsere Sinne
berührt und der dir unsere lebensfördemden oder hin-
dernden Handlungen »wichtig« ist), andererseits aber
die Axiome der allseitigen Abhängigkeit des Seins aller
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Probleme der Religion. 6 1 3
Gegenstände und ihrer Variationen voneinander und das
Axiom der Kausalität selber auf Wesenseinsichten be-
ruhen, die über das , uns gegebene zufallig Wirkliche
hinaus und für alles Mögliche dieser Daseinsart gelten,
— so haben wir auch das gute Recht, uns auf Grund
dessen, was je die positive Wissenschaft in ihrem —
Wesens -unendlichen — Fortschritt* an zufällig Wirk-
lichem feststellt (als Untersatz) und mit jenen Wesens-
einsichten (als Obersatz) uns ein Gedankenbild von der
wirklichen Welt überhaupt und ihrem Daseinsgrunde
zu machen. Doch darf nicht verkannt werden, daß solche
Metaphysik nicht vermöge ihrer ersten, sondern ver-
möge ihrer zweiten Prämisse stets hypothetischen Cha-
rakter behält und femer nur ein wahrscheinliches Wissen
vermittelt. Schon aus diesem Grunde allein vermag sie —
auch in ihrem ideal vollendet gedachten Ausbau — nicht
einmal die natürliche Religion und die von ihr genommene
natürliche Theologie zu ersetzen. Denn es gehört zum
' Alle Wesenheiten und Wesenszusammenhänge, die gefunden sind an der
unserer Organisation zugänglichen zufalligen Weltwirklichkeit, sind als —
irgendwie — realisiert in der uns nicht zugänglichen Weltwirklichkeit an-
zunehmen, wenn nachgewiesen ist, daß wir ihre zufällige Wirklichkeit nicht
feststellen könnten — wenn sie bestünde. Und nur dann ist die Nichtrea-
lisiertheit einer Wesenheit in dem Reiche des zufallig Wirklichen überhaupt
rechtmäßig zu behaupten, wenn nachgewiesen ist, es müsse die Feststellung
dieser Realität uns (auf Grund der Grenzen unserer Organisation) zugäng-
lich sein — wenn das. als zufallig wirklich Vermeinte auch wirklich wäre.
Es ist also (auf Grund in letzter Linie des Satzes, daß im £ns a se als
dem Grunde der Welt das Dasein aus seinem Wesen selbst folgt) die Be-
. hauptung der Nichtrealität eines sonst bekannten Wesens — über die uns
bekannten Fälle seiner Realisiertheit hinaus, — welche die Last des Be-
weises trägt; nicht trägt diese Last die Behauptung seiner Realität Nicht
aber liegt in diesen Thesen die Behauptung, es seien in dem uns sinnlich
unerkennbaren Teile der zufalligen Weltwirklichkeit nur die Wesenheiten
realisiert, die uns an dem uns bekannten Teile dieses Wirklichen erschaubar
sind.
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6 1 4 Probleme der Religion.
Wesen jeder religiösen Überzeugung, daß sie ihren Inhalt
rechtmäßig absolut, nicht relativ gewiß weiß. Darum und
darum allein, muß in der Religion. der Glaube und sein
»Wagnis« da eintreten, wo das Schauen des religiösen
Gegenstandes fehlt.
Ist dieser Grundsatz der Wesensverschiedenheit auch
von Metaphysik und natürlicher Theologie (erst recht von
Religion) also bis in die letzten Grundlagen der Theo-
logie festzuhalten und muß man demgemäß die Lehre
verwerfen, es seien die höchsten Grundsätze der Meta-
physik zugleich Fundamentallehren der Theologie, so
darf man doch ebensowenig verkennen, daß einer Reli-
gion und Theologie ohne Metaphysik alle Anknüpfungs-
punkte und Vermittlungen mit dem Weltwissen und
der weltlichen Lebensführung fehlen würde, die sie zu
ihrem eigenen Dasein und Leben dringend bedarf.
Die falsche, ungegründete Skepsis gegen die Meta-
physik, welche die positivistisch-sensualistische Erkennt-
nislehre und (in anderer Form nur) die Erkenntnistheorie
Kants großgezüchtet haben, ist einer ganzen Schule der
protestantischen Theologie — ohne tiefere Untersuchung
der erkenntnistheoretischen Fragen — als das willkommene
Mittel erschienen, durch vermeintliche Stabilierung eines
vollkommenen Dualismus von Glauben und Wissen
einen Irrationalismus des Glaubens aufzurichten, der nach
der Meinung dieser Theologen dem Glauben und der
Religion erst ihre wahre Freiheit und Selbständigkeit*
zurückgäben. In diesem Sinne hat besonders die neu-
lutherische Theologie der Schule Albrecht Ritschis alle
Metaphysik nicht nur als erkenntnistheoretische Unmög-
lichkeit (mit epigonenhafter Anlehnung sei es an einen
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Probleme der Religion. 6 1 5
sensualistischen Positivismus*, sei es an Kant)*, sondern
auch als einen Schädling für die Religion verworfen.
Der Verzicht auf Vernunft und Erkenntnis (auf die »Hure
Vernunft«, wie Luther zu sagen pflegte) sollte um so un-
bekümmertere massive subjektive »Glaubens-« und reli-
giöse »Werturteile« in Freiheit setzen, die sich dann
möglichst unvermittelt durch Welt, Natur, historische
Entwicklung der Religion und der Kulturgebiete auf die
isolierte Person Christi richten sollten. Ich werde hier nicht
von der ungeheuren Unwahrhaftigkeit reden, zu der diese
Gebietstrennung zwischen Glauben und Wissen, die immer
zugleich eine Trennung zwischen Praxis des Seelsorgers
und theologischer Wissenschaft ist, geführt hat. Hier ist
uns nur wesendich die Einsicht, daß alle Einheit und
Harmonie des geistig-persönlichen Daseins des Men-
schen auf diese Weise unheilvoll zerbrochen worden
ist. Ein hinsichtlich alles Weldichen (Weltweisen, Welt-
praxis) dahinkriechender Wurm (eingebannt in die Enge
seiner Organisation und seiner nächsten Umwelt) soll un-
vermittelt und plötzlich durch das »fiat« eines Glaubens-
urteils sich in die Tiefe der Gottheit versetzen: Das ist
das Bild des Menschen, das diese sonderbare Theologie
erzeugt. Das ist unmöglich, das ist widersinnig — schon
für den guten Geschmack — geschweige für die Logik.
Ein Mensch, der nicht schon in Weltwissen und Welt-
leben mit jenem Ewigkeitssinn die Dinge aufnimmt, mit
jener platonischen Liebe zum Ideenhaften und Wesen-
haften, die der Philosophie ewiges Motiv ist und deren
rastlose Bewegung ihm das Auge des Geistes erst öffnen
^ So insbesondere J. Kaftan in seiner »Philosophie des Protestantismus«.
' So insbesondere Hermann: »JDer Verkehr des Christen mit Gott«.
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6 1 Ö Probleme der Religion.
kann für den in der Welt realisierten Aoyog, ein solch aphi-
losophischer und amusischer Mensch, besitzt nicht und
kann gar nicht besitzen die Prädisposition der geisti-
gen Haltung, in der ihm erst das Reich der religiösen
Gegenstände aufgehen kann.
Ist die Metaphysik auch nicht logisch und sachlich not-
wendig zur Begründung der Religion, so ist sie doch
religionspädagogisch (ganz unangesehen ihres selbstän-
digen inneren theoretischen Rechtes) nicht eine zufällige,
sondern eine wesensnotwendige Vorstufe auch aller
religiösen Erkenntnis und Selbstvollendung. Denn nicht
historischen Entwicklungsstufen oder sogenannten »Zeit-
altem« entspricht — wie A. Comte meinte — das reli-
giöse, metaphysische und positiv -wissenschaftliche Er-
kenntnisziel und -motiv, sondern einer dauernden Kon-
stitution des menschlichen Geistes und einem ganz be-
stimmtem Aufbau dieser Konstitution, vermöge dessen
das Untere zur notwendigen Vorstufe des Oberen wird —
d. h. zu einem Trittbrett, das nicht übersprungen werden
kann, ohne daß der Sprung überhaupt verfehlt wird.
Eine ganze Kultur wie eine singulär-menschliche
Bildung ohne Metaphysik ist also auch eine reli-
giöse Unmöglichkeit. Der Versuch sie aufzurichten
hat nur zur Folge den entsetzlichen Zustand metaphy-
sischer Prätensionen der Einzelwissenschaften — also
schlechter uneinheidicher, anarchischer Metaphysik. Denn
das metaphysische Motiv erheischt notwendig Befriedi-
gung — genau so notwendig wie das Glaubensmotiv.
Und wie das letztere nur die alternative Wahl dem Men-
schen läßt zwischen »Gott« und »Götzen«, so läßt ihm
das metaphysische Motiv nur die Wahl zwischen einer
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Probleme der Religion. 6 1 7
bewußten Metaphysik mit Überschau über die ganze
Welt (als Ideen- und Wesensaufbau) und un- oder halb-
bewußter metaphysischer Hypostasierung eines tech-
nischen Handwerksbegriffes irgend einer Einzelwissen-
schaft. »Scientifismus« (Neukantianer), Energetik, Emp-
findungsmonismus, sog. Panpsychismus, Geschichtsmate-
rialismus, Philologenpaganismus, Biologismus usw. usw.
sind solche Pseudometaphysiken, die den religiösen
Götzendienereien z. B. des Mammonismus, des Staats-
fetischismus, des Nationalismus usw. genau entsprechen.
Das wesensmäßig dazu gehörige soziologische Bild einer
Gesellschaft, in der die Metaphysik als soziale Kultur-
tmd Bildungsfunktion fehlt, besteht in einem schranken-
losen, ungezügelten anarchischen Fachmenschentum,
einer Bildung und eines Wissens, das jeder Universalität
der Geistesbildung verlustig gegangen (also auch der zu
ihr gehörigen pädagogischen Institution, der » Universität < )
und das seine Fachinteressen, Fachbegriffe zu Schlüsseln
für das Weltgeheimnis machen möchte^. Die Welt — sie
ist jeweilig dann das X, das vermeintliche »Schloß«, für
das der Fachmann sich einen Schlüssel verfertigt hat: Sie
ist je nachdem *im Grunde« »Leben«, »Seele«, »Ener-
gie«, »JEmpfindung«, »Wirtschaft« usw. usw. Wer die
Möglichkeit der Metaphysik verneint, dem ist — ehe man
theoretisch diesen Satz widerlegt — zuerst zu zeigen, und
mit absoluter Sicherheit des Erfolges zu zeigen, er habe
Metaphysik, d. h. er habe in seinem Bewußtsein Ideen,
*■ Dafi der hervorragende Fachmann auch anders denken kann, das bezeigt
das mir eben zukommende Buch »Das Weltengeheimnis« von Karl Jellmek
(Stuttgart 192 1), in dem dieser Vertreter der physikalischen Chemie in be-
wundernswerter Weise eine echt philosophische Synthese unseres gegen-
wärtigen Wissensstandes unternimmt.
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6 1 8 Probleme der Religion.
Vorstellungen, Urteile über die metaphysische Seinssphäre
und es seien diese Urteile nur halbe, schlechte, einseitige
Urteile. Es steht hier also genau so wie mit der religiösen
Pädagogik. Wer Gott leugnet, dem ist — vor der Recht-
fertigung seines Daseins — zunächst einmal aus dem Tat-
bestande seines Lebens heraus zu zeigen, er habe und
besitze ein Gut, eine Sache, die er »als wie einen Gott«,
— als wie eine Sache vom Wesen des Göttlichen — in
jedem Moment seines Lebens tatsächlich behandle; er
solle sich diese Sache zum klareiJ Bewußtsein erheben
und durch den Heilsweg der Enttäuschung einsehen,
diese Sache sei ein Götze.
Wie die Metaphysik also soziologisch anstelle einer
Summe von Fachspezialismen Einheit geistiger Bildung
ermöglicht, so gibt auch sie und nur sie die gemeinsame
geistige Plattform und Atmosphäre, in der sich Ange-
hörige verschiedener positiver Religionen und Kirchen
untereinander und mit Leugnern positiver Religion über
die höchsten Angelegenheiten des Daseins und Wissens
ins Benehmen setzen und versuchen können, den je an-
deren Teil auch für ihre religiöse Sache zu gewinnen. So
ist schon das unerläßliche, durch ein absolutes Vemunft-
und Sittengebot geforderte Hinstreben zur ein eil Kirche
Gottes^ von einem Bestände verschiedener positiver Reli-
gionen und »Kirchen« aus, vom Bestand und von der An-
erkennung einer Metaphysik schlechthin abhängig. Wird
sie verneint, so muß dies notwendig fuhren zu einer reli-
giös- und sittenwidrigen, dem Prinzip der Heilssolidarität
* Daß die Idee der Kirche als Institut für die Heils-Solidarität evident
wesenhaft und auf Grund der Unteilbarkeit des Heilswertes eine bt, habe
ich gezeigt in »Formalismus in der Ethik usw.«, IL Teil.
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Probleme der Religion. 6 1 9
und dem Liebesgebot aucn zum Heile des Bruders wider-
streitenden Einkapselung der Kirchen und sonstigen
Religionsgemeinschaften. Daß diese auch die Einheit des
Geistes und der Willensziele des betreffenden Volkes oder
der betreffenden Nation schwer gefährdet und zur Anarchie
aller Zielstrebigkeiten führt — die durch keine Coope-
ration in den nur technischen und utilitarischen Schätzungen
und Willenszielen wiederzugewinnen ist, durch diese viel-
mehr nur noch furchtbarer und gefährlicher gemacht wird
— habe ich in dem Aufsatz dieses Bandes über die » Christ-
liche Gemeinschaftsidee« an dem Beispiel des deutschen
Volkes gezeigt \
Endlich ist die Metaphysik auch das notwendige
Medium, durch das sich die Nationen in Wissensfragen
als Nationen verständigen. Denn Metaphysik als die tiefste
Konzentration aller theoretischen reinen Wissenswerte
(nicht der technisch angewandten und beschränkten) ist
dem soziologischen Geltungsziele nach positiv kosmo-
politisch — nicht »international« wie die Wissenschaft
— und ihrer seelischen Wurzel nach national-geistig —
nicht bloß generell menschlich wie die Wissenschaften. Nur
in der Wechselwirkung metaphysischer Ideen, in ihrer
Befruchtung, gegenseitigen Vertiefung entspinnt sich das
hohe Gespräch der nationalen Geistesarten selbst.
Die Religion und Kirche ist den Nationen von vornherein
überlegen und von ihnen unabhängig. Die Wissenschaften
sind qua Wissenschaften umgekehrt unterhalb der Stufe
des nationalen Geistes und darum können sich ihre Jünger
national prinzipiell grenzenlos vertreten, so daß das Natio-
* Vgl. ferner meinen Aufsatz: »Der Friede unter den Konfessionen« im
»Hochland«, Nov. 1920 u. Januar 1921.
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^,->^S^^^i-^.
i\t:
620 Probleme der Religion.
nale und die spezifischen und reinen Kulturwerte des
Wissens in ihnen nicht wesensnotwendig in die Erschei-
nung treten. Fällt also die Metaphysik, so ist auch der
höchste geistige Verkehr der Nationen auf einer
gemeinsamen Plattform bezüglich der letzten Wissens-
fragen unterbunden und die Einheit der geistigen Kultur
der Menschheit auch in dieser Richtung preisgegeben.
Auch die alle Nationen von Hause aus und ursprünglich
überragende religiöse und kirchliche Autorität vermag
aber auf Nationen, die sich also eines noch gemeinsamen
geistigen Frage- und Antwortgebietes und ihnen als Na-
tionen gemeinsamer Wissensziele begeben haben, nicht
mehr so einzuwirken, daß sie ihnen gemeinsam verständ-
lich wird. So schädigt der Ausfall der Metaphysik auch
in der Richtung auf die übernationale Wirksamkeit der
Kirche die Religion indirekt selber.
Gleichwohl und trotz dieser eminenten indirekten Be-
deutung, welche die Metaphysik für die Religion besitzt
und aus Gründen immer besitzen wird, die im essentiellen
Aufbau der menschlichen Natur selbst gelegen sind,
muß die Religion nicht nur als positive Offenbar ungs-
religion, sondern schon als natürliche Religion als der
notwendigen Vemunftbasis der offenbarten, ihre Selb-
ständigkeit behaupten. Die religiöse Erkenntnis bleibt
von der metaphysischen Erkenntnis geschieden und ist
— sachlich — nicht von dieser abhängig.
Aber nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar not-
wendig zu fordern ist, daß die religiöse Wahrheit und Er-
kenntnis — ^ wo sie gewonnen — die metaphysisdie durch-
leuchte und der metaphysischen Erkenntnis eine letzte reli-
giöse Deutung verleihe, zu der sie selbst nicht fähig ist.
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Probleme der Religion. 62 I
Wie dies geschehe, sei hier an einem Hauptpunkt ge-
zeigt: der religiösen Deutung der Wesenssystematik
der Welt, die zur Metaphysik als der Wirklichkeitserkennt-
nis des jenseits aller möglichen Menschenerfahrung ge-
legenen zufälligen Daseins — wie oben gezeigt — das
Sprungbrett bildet.
Wenn wir vermöge der Reduktion alles zufällig uns
gegebenen Seienden auf seine pure Wesenheit und aller
faktisch erlebten und vollzogenen Akte, dadurch und in
denen uns dieses Seiende gegeben ist, auf ihre Wesenheit
und ihren Wesensauf bau den das All durchwaltenden Äöyog
entschleiert haben, so sind wir durch keine metaphysische
Erkenntnis genötigt oder befugt, diese Wesenheiten sei es
noch weiter abzuleiten oder sie einem realen Subjekte in-
härieren zu lassen. Auch die Metaphysik und ihre Vor-
aussetzung, die Wesensphänomenologie, ist und bleibt
eine selbständige Erkenntnisart, die ihre Evidenz, Wahr-
heit und ihren Wert nicht von der Religion zu Lehen
trägt.
Haben wir aber vermöge der inneren und selbständigen
Evidenz der religiösen Akte eine Erkenntnis von Gottes
Wesen gewonnen und sein Dasein oder das Dasein eines
Sogearteten durch den (natürlichen) Glaubensakt bejaht,
so ändert sich die Sache. Wir dürfen und sollen von
diesem erreichten Stande unseres Glaubens aus nun auch
den erschauten Wesenheiten und Wesenszusammenhängen
den Sinn eines ideellen ewigen Modelies beilegen, nach
dem Gott — der, wenn er existiert, nicht nur die letzte
und eine Ursache der Welt, sondern auch ihr freier
personhafter Schöpfer und Erhalter ist, die Welt
schuf und erhält. Denn so wenig uns ein Kausalschluß
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02 2 Probleme der Religion.
vom Dasein der Welt auf Gott als ihren Schöpfer führt,
so sicher dürfen wir — wenn uns Gottes Dasein und
das Dasein der Welt gegeben ist — den Schluß ziehön,
Gott sei die Ursache und der personhafte freie Schöpfer
der Welt. Und unter diesem Gesichtspunkt erst wer-
den nun auch die erkannten Wesenheiten — wird der ge-
gliederte Aöyog, der der Welt einwohnt, — Ideen Gottes
und die Ideenzusammenhänge die »veritates aetemae«
(oder doch der uns Menschen zugängliche Ausschnitt aus
ihnen), nach denen Gott die wurkliche Welt schuf und
erhält.
Auch der Sinn desErkenntnisprozesses der Wesens-
struktur des Universums ändert sich mit seiner religiösen
Deutung. Wir erkennen nun, daß — wenn immer wir
eine Wesenheit erschaut haben — wir auf inadäquate Weise
etwas von der Idee selbst mit erschaut haben, die Gott
von dieser Sache hat und der gemäß er sie schaffend
oder erhaltend bewirkt (unangesehen der causae secundae,
die nur ihr je relatives So- und Anderssein und
Anderswerden im Verhältnis zum hie et nunc betreffen).
Daß wir — wie Malebranche behauptet hat — alle Ideen
»in Gott« erkennen, das behaupten wir indes mit dieser
These keineswegs. Gott ist nicht der »Ort der Ideen«,
d. h. das bloße X, das Subjekt der Ideen wäre*. Wir
erkennen die Wesen vielmehr in und an den Dingen
selbst; aber wir dürfen und sollen von einem religiösen
Glaubensstande aus, den wir durchaus nicht so wie
Malebranche annahm — wenn er Gott nur als »den Ort
der Ideen« definieren will — auf metaphysischem Wege
gewannen, unsere Erkenntnis der Wesenheiten als Er-
* Siehe Malebranche: >La recherche de la verit^«, Bd. I.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 623
kennfnis einer göttlichen Idee von den Sachen nach-
träglich deuten.
Aber auch unsere Vemunfterkenntnis der Wesensstruk-
tur des Universums selbst — nicht nur ihr Gegenstand —
gewinnt unter dem Lichte des religiösen Glaubens einen
neuen Sinn, der durchaus noch nicht in ihr selbst gelegen
ist. Die Evidenz, — das Einleuchten des Wesens, in
dem es sich im strengsten Sinne als selbstgegeben dar-
stellt — gewinnt nun erst den Charakter einer »natür-
lichen Offenbarung Gottes«, durch die er den erken-
nenden Geist des Menschen über Wesen und Sinn seines
Schöpfungswerkes aktiv belehrt. Die Wesenheiten
und ihre Zusammenhänge werdejn nun »Worte einer
natürlichen Sprache Gottes« an den Menschen und
in den Dingen, durch die er ihm auf seine »Fragen«
durch die Vermittlung des »natürlichen Lichtes« »Ant-
,wort« erteilt. Die — im vorreligiösen Stande — als
spontane Liebe des Geistes zum Wesenhaften in allen
Dingen gegebene Urbedingung* aller philosophischen
Erkenntnis, enthüllt sich unter dieser religiösen Deutung
des Erkenntnisprozesses gleichfalls als etwas neues und
anderes, als sie geschienen: Als Gegenliebe zu der
spontanen und zuvorkommenden Liebe Gottes, durch die
er dem Menschen das Wesen seines Schöpfungswerkes
tätig aufschließt, indem er es in den Geist des Menschen
einleuchten läßt. Es steht also auch hier nicht so, wie
Augustin und seine Nachfolger meinten, daß der Bestand
und die Geltung ewiger Wahrheit (und der Prinzipien ihrer
^ Vgl. die klaren und feinsinnigen Auseinandersetzungen über diesen Au- •
gustinischen »Beweis« neuerdings bei Grabmann : Augustins Lehre über Gott
und die Seele.
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624 Probleme der Religion.
Erkenntnis) selbst schon einen »Gottesbeweis« ergäbe.
Man kann die »Wahrheit« nicht mit Gott so identifizieren,
wie es Augustin versuchte, ohne den persönlichen
Gottesgedanken zugunsten eines bloßen Piatonismus
preiszugeben. Und man kann ebensowenig behaupten, es
sei im Aktvollzuge der Wesenserkenntnis der Dinge selber
schon ein begleitendes Bewußtsein oder evidentes Erleb-
nis davon gegeben, daß dieser Akt selber durch die ewige
Vernunft so kausiert werde, wie es im Sinne des Augu-
stinischen » Omnia cognoscere in lumineDei « gelegen wäre.
Vielmehr handelt es sich nicht um ein Erlebnis, sondern
um eine nachträgliche Deutung des Erkenntnisaktes und
nicht um eine Deutung, die uns zu einer Erkenntnis Gottes
erst hinführte, die wir noch nicht besitzen, sondern um eine
Deutung, deren inneres Recht der religiöse Anschauungs-
und Glaubensakt aus seiner selbständigen Evidenz heraus
trägt und zu verantworten hat, — die also eine ander-
weitige Gegebenheit der Überzeugung vom Dasein
und Wesen Gottes bereits voraussetzt.
Und endlich nimmt nun erst auch die Erkenntnis aller
möglichen Wahrheit selber, die fiir die philosophische und
wissenschaftliche Erkenntnis (im letzteren Falle zwar unter
der Schranke möglicher technischer Zielsetzung) ein abso-
luter Selbstwert ist, einen neuen axiologischen Sinn an. Sie
ordnet sich nun unter dem Werte und dem Ziele eines
ontischen Prozesses, eines Werdens, das selbst über
alle Erkenntnis hinausragt: dem Werte und dem Ziele der
Wesenseinbildung der menschlichen Persönlichkeit in
die götdiche Persönlichkeit; und gleichzeitig der durch den
Erkenntnisakt (im Erkennen der Dinge) mitzuerwirkenden
Hinführung — Hinaufführung der Dinge selbst zu ihrer
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Probleme der Religion. 02=^
Bestimmung: ihrer ontischen Teilnahme an Gott durch
Teilgewinnung an der Idee, die Gott von ihnen hat. Erst
damit ist die Erkenntnis nicht mehr gleichgültig für
die Dinge. Vielmehr wird den Dingen auch etwas ge-
leistet durch die Erkenntnis, die der Mensch von
ihnen gewinnt. Ohne real verändert zu werden (wie
solches nur durch Wollen, Bilden, Handeln möglich ist)^
ohne gar erst ganz oder zum Teile konstruiert zu
werden durch den menschlichen Geist (Kant), — ohne
erst ihre Bestimmungsart und ihren Bestimmungsinhalt,
ihre Bedeutungsart und ihren Bedeutungsinhalt durch
den menschliclien Erkenntnisakt zu gewinnen, die sie
vielmehr ganz unabhängig vom Menschen schon be-
sitzen durch die Ideen Gottes von ihnen, wird doch diese
»Bestimmung« und »Bedeutung« der Dinge durch den
Erkenntnisakt seitens des Menschen allererst reali-
siert. Die Dinge gewinnen ontisch den Anteil an ihrer
Bestimmung und Bedeutung, die sie idealiter schon be-
sitzen: Sie werden Gott als der Wurzel aller Dinge, als
dem Wesensinbegriff aller Wesen und damit auch des
ihrigen »zugeführt«, zu ihm heraufgeführt, zu ihm
zurückgefuhrt\
Alle Erkenntnis stellt sich also unter dem Lichte schon
des natürlichen Glaubens dar als ein Mehr und als ein
Höheres als bloße Erkenntnis. Sie, die bislang im Gegen-
satze stand zu allem Sein und Werden und die darum —
wenn sie nicht pragmatistisch als reale Veränderung der
Dinge resp. als bloßes Mittel für diese oder (kantisch)
^ Man kann auch sagen : Die Wirklichkeit wird sich im Menschen und
durch den Menschen ihrer Bedeutung, ihres Sinnes und ihres Wertes be-
wußt
40
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i
626 Probleme der Relig ion.
als Konstruktion mißdeutet wurde — so leicht als bloße
ideale Verdoppelung des Seienden und Werdenden
mißdeutbar war (als eine Verdoppelung, deren Sinn und
Ziel im Grunde unverständlich ist), wird jetzt selber
nur ein Teilprozeß in einem ontischen Prozesse der
Welt, der durch den erkennenden Menschen gleichsam
nur hindurchführt und j^ich des Erkenntnisprozesses nur
zur Erreichung seines Zieles bedient. Soll dieser Prozeß
einen Namen erhalten, so kann es kein anderer sein als
der Name der gegenseitigen Erlösung aller Dinge
im Menschen zu Gott.
Die geistige Person des Menschen, die in der Philosophie
Wesenserkenntnis und Wahrheit als absoluten Sachwert
sich zum Ziele setzt — ohne ihre Förderung als Person
dabei zu intendieren — erlöst sich de facto unter dem
Lichte des religiösen Glaubens, indem sie sich recht an die
Wesenheiten in liebender Anschauung hingibt und in dieser
Hingabe an dem göttlichen Lichte Anteil gewinnt. Oder
besser und das Ebengesagte mitumfassend: Sie weiß sich,
indem sie ihre Liebe zum Wesenhaften als Antworts- und
Gegenliebe zur Alliebe Gottes deutet, und dem durch sie
motivierten natürlichen Offenbarungsakte, erlöstwer-
dend aus der Enge und Partikularität ihrer psychophy-
sischen Organisation. Aber sie weiß sich nun zugleich als
aktiv miterlösend die Dinge selbst — die sie erkennt — ,
weiß sich als die Dinge emportragend in die Richtung ihres
ewigen Bedeutens und Bestimmtseins zu Gott als ihrem
Ziele.
So wenig — wie sich uns zeigte — ein bloßer Kausal-
schluß von einer noch nicht religiös angeschauten Welt-
realität aus hinführen kann zu Gott als dem einzigen, freien
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Probleme der Religion.
627
Schöpfer der Welt, so wenig fuhrt uns also auch die Er-
kenntnis- und Ideenlehre mit rein philosophischen Mitteln
zu Gott als dem personalen AUichte, das im Erkennen mit
uns natürliche Zwiesprache hält. Aber beide Male besteht
das sichere Recht, die gegebenen Verhältnisse von Welt
und Weltgrund, Erkenntnis und Wesen der Dinge in dieser
Weise religiös zu deuten, wenn die selbständige religiöse
Anschauungs- und Glaubenswahrheit bereits ergriffen ist.
Und nur unter Anwendung dieses Rechtes erhält die Totali-
tät unseres geistigen Verhältnisses zum Seienden letzte
Einheit, letzte Harmonie und letzten Sinn.
Über den Inhalt einer richtigen Metaphysik ist durch
das Gesagte nichts präjudiziert. Diese Fragen behalte ich
einem besonderen Werke über die Metaphysik vor. Nur
das ist klar: Wie immer dieser Inhalt der Metaphysik aus-
sähe, — das wissen wir von vornherein, daß der metaphy-
sische Satz I . dauernd hypothetisch bleibt, 2. nur Wahr-
scheinlichkeit besitzen kann (schon vermöge der »zweiten
Prämisse« , aus der er mit abfolgt, vermöge der in ihn ein-
gehenden positiven Realerkenntnis von zufälligen Tat-
sachen). Und wir wissen zugleich : Je mehr sich in der Stufen-
leiter der Daseinsrelativitätsstufen bis zur Grenze des ab-
soluten Daseienden die zugehörige metaphysische Erkennt-
nis diesem absolut Daseienden nähert, desto mehr steigt
die hypothetische und desto mehr s i n k t an Wert die Wahr-
scheinlichkeit der Erkenntnis. Bei dem absolut Daseienden
selbst, dem ens a se wird sie über ganz formale onto-
logische und axiologische Wesensbestimmungen hinaus
(ein ens a se überhaupt, ein höchstes Werthaftes — nicht
also Gutes — überhaupt) vom Wahrscheinlichkeitswerte
null. Das heißt aber: Es gibt — obzwar Metaphysik —
40*
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628 Probleme der Religion^
doch keine materiale Metaphysik des absoluten
Daseienden.
An dieser Erkenntnis grenze auch aller wohl berechtig-
ten Metaphysik setzt der religiöse Akt und sein in ihm und
nur in ihm gebbarer Gegenstand ganz selbständig ein. Hier
gibt er absolute und felsenfeste Gewißheit, wo die Wahr-
scheinlichkeit auch des höchsterreichbaren philosophisch-
metaphysischen Wissens zu null wird. Und nicht wie der
metaphysische Erkenntnisakt nähert er sich mit Hilfe des
metaphysischen Schlusses aus Wesensprämissen und zu-
fälligem Daseinssatz (unseres Erfahrungsbereiches) dem
absolut Daseienden als dem bloßen »Grunde der Welt«
an: Sondern er versetzt sichalsreligiöser Akt auf unmittel-
bare Weise in eine nur ihm zugängliche Daseins- und Wert-
sphäre als dem positiven Gehalt dieses »Grundes«, — in
einem bestimmten religiösen Wesensgehalt also dieses
Grundes, um unter dem Lichte dieses Glaubenswissens
alles andere Seiende zu verstehen und zu erfassen. —
Bleibt also die religiöse Erkenntnis auf alle Fälle selb-
ständig und autonom gegen die Metaphysik, so gilt dieser
Satz von der Autonomie der Religion noch weit klarer und
viel leichter einsichtig gegenüber einer ganzen Reihe
modemer, — auch eine in ihrem begrenzten Sinne wohl-
berechtigte Metaphysik preisgebender — Versuche, die
Begründung der Religion auf außerreligiöse Erkennt-
nisse, Werte und Gewißheiten zu stellen.
Ein erster sogearteter Versuch war derjenige Kants,
die Religion auf das Sittengesetz aufzubauen.
Die ethischen Werte und die ethische Evidenz, nach
der sitdich gut alles Sein von Personen und Verhalten,
Wollen und Handeln von Personen ist, in dem ein je
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Probleme der Religion. 629
»höherer« (resp. in der Vorzugsevidenz als höher als ein
Vergleichswert gegebener) Wert realisiert ist als der je-
weilige Ausgangswert des Weltzustandes ohne diese
Person, ohne dieses Verhalten, Wollen, Handeln der
Person gewesen war, eröffnen uns nur dann einen Zu-
gang zur religiösen Daseins- und Lebenssphäre, wenn in
die objektive Rangordnung der Werte auch der spe-
zifisch religiöse Wert des »Heiligen«, des Heiles der
Person und ihres subjekti\^n Korrelates, der Seligkeit,
aufgenommen ist^. Ist er aufgenommen, so ist er auch der
evident höchste Wert und seine Realisierung in einer
Person ist dann auch ohne weiteres das sittlich »Beste«.
Ist er es aber nicht, so ist es ganz ausgeschlossen, den
Wert des Heiligen aus anderen Werten herzuleiten oder
ihn als »notwendige Ergänzung« dieser andersartigen
Werte, z. B. der geistigen Werte, der Vitalwerte, der Nutz-
werte, der Annehmlichkeitswerte zu konstruieren — oder
wie man die Wertmodalitäten sonst scheiden mag. Daß der
Wert des Heiligen durchaus nicht in das vollkommenste
sittlich Gute, in Allerkenntnis usw. usw. aufgeht, sondern
ein einfaches Neues an Wertqualität ist, — das hat neuer-
dings R. Otto in ausgezeichneter Weise nachgewiesen.
Er hat darin für mich nur das schärfer verifiziert, was ich
in meinem Buche über den Formalismus in der Ethik be-
hauptet habe. Die Sanktionierung eines nicht religiösen
Gutes (z. B. der sittlichen Güter, als »heilig«, einer Pflicht
als »heilig«, eines Bösen oder moralisch Normwidrigen als
»Sünde«), ist freilich möglich und religiös notwendig; es
setzt aber die Gegebenheit der spezifisch religiösen
— — — 'I H
* Vgl. mein Buch »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert-
ethik« (2. Aufl. im Druck begriffen).
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636 Probleme der Religion.
Werte immer schon voraus. Ein »Sittengesetz« wird
»heilig« erst, sofern es durch die^Würde seines heiligen
Gesetzgebers als einer vollkommenen Person, diese Qua-
lität erhält — eine Voraussetzung, die nicht — wie Kant
mdnl — aus der Gegebenheit eines kategorischen Impe-
rativs durch »Postulate« zu gewinnen ist. Das Postulat eines
Gesetzgebers X dieses Gesetzes und eines den Anspruch
auf Vergeltung erfüllenden sittlichen Weltordners X greift
in die leere Luft, wenn an SteHe dieses X nicht schon eine
positive und inhaltsvolle — und zwar religiös inhalts-
volle — Idee von Gott und femer die Realität eines dieser
Idee entsprechenden Gegenstandes vorgegeben ist.
Aber in einer noch zentralereren Richtung ist die Ver-
hältnisbestimmung, die Kant zwischen Religion und Moral
gegeben hat, nicht nur falsch, sondern widersinnig. Evi-
dent scheint uns der Satz : Wenn es einen Gott gibt, so
ist eine absolute Autonomie der praktischen Vernunft
widersinnig und ^darum unmöglich und Theonomie
selbstverständlich. Wie aber kann die Annahme des
Daseins Gottes auf eine Voraussetzung aufgebaut werden
— nämlich ein Urteil einer autonomen praktischen Ver-
nunft — , deren Sinn, wenn sie wahr ist — nicht nur
deren Wahrheit, sondern schon deren bloßen Sinn in
Widersinn verkehrt? Gibt es Gott, so könnte eine prak-
tische Vernunft nur autonom sein, wenn sie zusammen-
fiele mit der göttlichen Vernunft selbst. Den Weg dieser
Identifizierung beschritten ja auch in der Tat die Nach-
folger Kants, vor allem Fichte und Hegel. Das aber
führte zu einer vemunftpantheistischen äußersten Hete-
ronomie der menschlichen geistigen Persönlichkeit, die
auf Grund dieser Annahme nur als Funktion resp. als
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Probleme der Religion. 63 I
Durchgangspunkt oder Durchstrahlungsort dieser auto-
nomen Urvernunft angesehen werden mußte. Wird aber
— umgekehrt — die Autonomie nicht der Vernunft qua
Vernunft zugesprochen, sondern der Person qua Per-
son, so kann diese Autonomie mit der Annahme einer
Existenz Gottes nicht zusammen bestehen. Man kann also
die Annahme der Existenz Gottes nicht auf eine Voraus-
Setzung aufbauen, die entweder mit dieser Voraussetzung
identisch ist (Vemunftpantheismus) oder die evident sinn-
widrig ist, wenn jene Annahme wahr ist. Und ganz ana-
log liegt es auch, wenn Kant erklärt es müsse die Idee
Gottes, die jemand habe zuvor mit *dem Inhalt des auto-
nomen Sittengesetzes verglichen werden, damit ent-
schieden werden könne, ob diese Idee die Idee Gottes
und nicht die Idee von etwas anderem sei. Es ist aber
evident, daß Gott — wenn er existiert — nicht gemessen
werden kann an einem menschlichen Sittengesetz, daß
ihm nicht die sozusagen apriorische Verpflichtung kann
auferlegt werden, entweder mit diesem übereinzustimmen
oder nicht anerkannt zu werden. Der Satz: »Gott ist gut«,
der ein synthetischer Satz ist, würde dadurch nicht nur
analytisch, sondern sogar eine Tautologie. Denn ist er
nur als »Geber« des Sittengesetzes lu-sprünglich definiert
und konzipiert, so ist auch die Übereinstimmung seines
Willens mit diesem Gesetze selbstverständlich\ Daß der
»Herr« des Seins (das religiös geformte Ens a se et per
se) aber gut sei, — das ist alles andere als selbstver-
ständlich* und ihn von seiten des Menschen her gleichsam
* Vgl. hierzu meine eingehenden Analysen des Autonomiebegrifies in »For-
malismus in der Ethik«, II. Teil.
' Der Satz ist auch nicht analytisch im Sinne der Thomisten, die das Gute
in Grade des Seins durch den Mittelbegriff der VoUkonmienheit auflösen
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632 Probleme der Religion.
schon definitorisch darauf zu verpflichten, gut zu sein und
ihm die Anerkennung als Herr des Seins zu verweigern,
wenn er es nicht sei, das nähme auch seiner möglichen
Güte von vornherein die Freiheit und Autonomie, die doch
— wenn zu irgendeiner — zur götdichen Güte wesens-
mäßig gehört.
Mit dieser Abweichung von der Kantischen »Ethico-
theologie« ist natürlich nicht im entferntesten das andere
Glied der Alternative behauptet, die Kant allein kennt: Es
sei als gut zu definieren, was dem Inhalt des göttlichen
Willen entspricht (Heteronomie). Denn es ist ja über-
haupt falsch, das Gute zu bestimmen, als irgendeinen In-
halt eines zuvor gegebenen Wollen s — sei es Gottes oder
einer praktischen Vernunft. »Gut« ist primär eine Wert-
qualität, sittlich gut aber eine Personqualität, und jegliches
Wollen — also auch dasjenige Wollen, das vermeindich
erst zu bestimmen hätte, daß etwas gut sei und was es
sei, müßte schon gut sein, um es zu bestimmen. Gut ist
also auch in bezug auf Gott ein Wesensprädikat der
göttlichen Person als Person^.
Erst mit dieser Einsicht ist die Voraussetzung gegeben,
auch der anderen falschen Alternative zu entgehen, unter
der Kants Bestimmung des Verhältnisses von Religion
und Moral steht: Es müßte entweder sitdiches Wollen
ohne jeden Hinblick auf Gott erfolgen oder es sei not-
wollen — gemäß dem Satze: Omne ens est bonum. Vgl. meine Widerlegung
dieses Versuches im Foimalismus etc. Dem Satze >Omne ens est bonum«
erkenne ich Evidenz und Wahrheit zu, wenn »bonum« hier bedeutet »wert-
haft überhaupt«, eine Bedeqtung, in der es aber mit dem ersten Glied des
Gegensatzes des Guten und Schlechten noch nicht identisch ist — geschweige
mit dem ersten Glied des Gegensatzes von (sittlich) gut und böse.
' In diesem Punkte stimmen wir mit Thomas Aquinas im Gegensat; zu
den Scotisten überein. Aber auch Kant war »Scotist«.
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Probleme der Religion. 633
wendig (heteronom) bestimmt durch Furcht und Hoffnung
auf Strafe und Lohn. Es ist diese Alternative, die falsch
ist, — nicht der vielmehr an sich richtige Kantische Satz,
daß ein Wollen und Handeln im letzteren Sinne nicht (voll-
kommen) gut sei.
Ein (vollkommenes) sittliches Wollen ohne Hinblick auf
Gott ist erstens eine innere Sachunmöglichkeit. Denn
vollkommenstes sittliches Wollen ist (der Idee nach) das
Wollen der Person, die den evident höchsten der Werte
— die Heiligkeit in Form des Personwertes (mehr oder
weniger adaequat) verkörpert. Die heilige Person ist aber
zugleich die Person, die sich — sofern und soweit sie
»heilig« ist — in ihrem konkreten Aktzentrum mit dem
höchsten Gute, das als »höchstes« selbst heilig in unend-
licher und absoluter Form und Wert per son* ist, als par-
tiell »geeinigt« nicht realiter*, aber hinsichtlich des Wesens
ihres Aktzentrums (also auch seiner Aktinhalte) evident*
erlebt, und weiß.
Ebenso aber gilt: Ein (vollkommen) religiöses Ver-
halten ist — obzwar es nicht definierbar ist, durch sitt-
liches Verhalten oder auf es aufgebaute »Beweise« oder
»Postulate« — evident unmöglich, ohne daß es voll-
kommen sittliches Verhalten in sich schließt. Denn voll-
kommen ist religiöses Sein und Verhalten erst, wenn die
menschliche Person im erkennenden Akte des Wertvor-
zugs und im Willensakte der Realisierung des evident vor-
* Der Person wert ist evident höher als Sachwert, Aktwert, Funktionswert.
Ein »summum« bonum wäre also nicht s u m m u m bonum, wenn es nicht Per-
sonwert, ja Wertperson wäre. Siehe hierzu »Formaltsmus usw.«, i. Teil.
• Reale Einigung, d. h. reales Teilsein oder Funktionsein der menschlichen
Person mit der göttlichen ist die falsche Behauptung verstiegener Mystik
und des Pantheismus, z. B. Spinozas, Fichtes, Hartmanns usw.
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634 Probleme der Religion.
züglichen Wertes auch das summum bonum, d. h. aber
(nach den ondsch und axiologisch gültigen religiösen
Wesenszusammenhängen) den absolut heiligen person-
haften Gott als den Herrn des Seins (im Vorzugsakte) mit
vor dem Blicke des Geistes hat; im Akte der Reali-
sierung das Vorgezogene aber aus dem Wollen Gottes
heraus (velle in Deo) selber will und verwirklicht — nicht
bloß diesem Wollen Gottes auf Grund eines Befehles
oder »Gesetzes« Gehorsam leistet.
Daß die sachevidenten Wertaxiome der Ethik
also auch nicht nur gültig sind für die Philosophie der
Religion, sondern auch zugleich positive Konstruk-
tionsmittel eines wahren Begriffs von Gott, darin
allein hat Kant ganz recht. Das Falsche ist, daß er sach-
evidente und materiale ethische Wertaxiome überhaupt
nicht kennt, sondern (ähnlich wie schon die Scotisten,
•nur an Stelle Gottes den Menschen setzend) das Gute
erst von einem vorgegebenen Willen her (als dessen
Inhalt) definieren möchte und daß er femer aus diesem,
(aber auch noch aus anderen Gründen) weder die Eigen-
art des auch der Ethik mit zugrundeliegenden Wertes
»heilig« noch die Vorzüglichkeit des Personwertes vor
allen Funktions- und Sachwerten (auch denen der Vernunft
und jeglichen »Gesetzes«) zu seheo vermochte. Die reli-
giöse und ethische Wertaxiomatik koinzidiert eben —
obzwar unabhängig gefunden und entdeckt — von
selbst in der Idee des zugleich heiligen und vollkommen
guten Herrn des Seins.
Es ist damit ein Grundsatz über das Verhältnis von
Religion und Sitdichkeit gefunden, der als oberster so
ausgesprochen werden kann: In ihren vollkommenen
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Probleme der Religion. 635
Stufen sind Religiosität und Moralität nicht wesens-
unabhängig, sondern wesensabhängig von* ein-
ander; dies heißt in keinem Sinne identisch — weder
von der Seite der Religion her, wie Luther, noch von der
Seite der Moralität her, wie Kant fälschlich annahm. Sie
werden von einander erst wesens unabhängig, wenn ent-
weder die Moralität oder die Religiosität oder beide un-
vollkommen sind und sie werden um so unabhängiger,
je größer diese UnvoUkommenheit ist. Die Grundsätze
darzulegen, nach denen auf den verschiedenen Stufen der
UnvoUkommenheit beider die moralischen und religiösen
Forderungen an den Menschen auszugleichen sind, ist
nicht dieses Ortes. —
Andere Arten von Versuchen, die Selbständigkeit der
religiösen Evidenz und Wahrheit in Frage zu ziehen, sind
gemacht worden z. B. von Windelband, Jonas Cohn, Paul
Natorp^; der trübste und verkehrteste von allen aber von ^
William James und seinen pragmatistischen Schülern, —
den bewußten und der weit größeren Anzahl der halb-
oder unbewußten. Ich gebe hier nur kurz die leitenden
Ideen für ihre Kritik.
Windelbands » absolutes und reales Normalbewußtsein < ,
das er »das Heilige« nennt und das in dem Erlebnis des
SoUens auf den verschiedenen Gebieten der logischen,
ethischen und ästhetischen Gesetzgebung uns kund werden
soll, ist eine nach den eigenen ersten Grundsätzen dieser
Wertphilosophie völlig unberechtigte »Hypostasierung«
des überdies inhaltlich widersinnigen Begriffes eines
^ Siehe W. Windelband: »Das Heilige«. J. Cohn: »Der Sinn der gegen-
wärtigen Kultur«, P. Natorp: »Religion innerhalb der Grenzen der Huma-
nität«. Auch R. Eucken: »Der Wahrheitsgehalt der Religion« muß in
diese Versuche eingereiht werden.
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636 Probleme der Religion.
»Bewußtseins überhaupt«. Abgesehen von der z.T.
fehlenden, teils falschen Begründung der Existenz eines
solchen Normalbewußtseins, ist es der religionstheoretische
Grundfehler dieses Versuches, daß weder die Eigenart
der Seinsdimension des »Göttlichen« noch die (mate-
riale) Eigenart der Wertdimension des Heiligen aner-
kannt wird, vielmehr der unmögliche Versuch gemacht
wird, das Dasein Gottes auf ein Sollsein (das übrigens
mit dem Seinsollen verwechselt wird) zurückzuführen; die
materiale Wertmodalität des Heiligen aber zurückzufuhren
auf den blofJen Inbegriff oder das bloße Totum der geisti-
gen Werte »gut«, »schön«, »wahr«.
I . Nach den eigenen ersten Grundsätzen dieser Philo-
sophie ist Windelbands Versuch darum unmöglich, weil
man — hat man in der Weise dieser Schule, Sollen und
Sein so abgründig und bis in die absolute Sphäre hinein
voneinander geschieden — auf keine Weise aus dem
»Sollen« allein wieder wirkliches Dasein extrahieren kann,
wie es Windelband dem religiösen Bewußtsein zumutet.
Wäre diese Scheidung richtig, (dazu noch der von mir
streng widerlegte Aufbau einer Wertlehre auf eine Nor-
menlehre^, würde das religiöse Bewußtsein aber gleich-
wohl den Inbegriff dieses freischwebenden »SoUens« zu
einem realen Wesen hypostasieren, so wäre eben das
»religiöse Bewußtsein« nur eineTäuschungs-, Irrtums-
und Fiktionsquelle und die denkbar gefährlichste noch
dazu. Denn es würde ja durch uns Menschen zu Verwirk-
lichendes als realisiert vorspiegeln, uns also den Sinn
der uns gestellten Aufgabe verfälschen und die Kraft zu
ihrer Lösung entziehen, das »Gesollte« zu verwirklichen,
* S. »Formalismus in der Ethik«, 11. Teil: »Sollen und Wert«.
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Probleme der Religion. 637
Der schärfste Kampf gegen das religiöse Bewußtsein
und die Religion in jeder möglichen Form wäre die einzig
richtige logische und praktische Konsequenz aus
diesen Voraussetzungen. Nach dieser Lehre müßte
man mit Recht mit Nietzsche sagen: »Gäbe es Götter
(oder Gott), so hätte ich nichts zu sollen; also gibt es
keinen Gott.« Aber diese Voraussetzungen sind eben
grundirrig. Wie schon der tiefsinnigste Schüler dieser
neufichtischen Schule — der leider im Kriege gefallene
ausgezeichnete junge Forscher Emil Lask^ — selbst ein-
gesehen hatte, kann man den Begriff des Wertes keines-
wegs auf den Begriff des SoUens oder der Norm (auch
nicht des- idealen Sollseins im Unterschiede zum Pflicht-
sollen) zurückführen, muß vielmehr alles Sollen auf zuvor
gegebene Werte gründen; die normative Ethik auf reine
Wertethik, die normative Logik auf reine Gegenstands-
logik. (So auch E. Husserl schon im i. Band der »Logi-
schen Untersuchungen«.)
Femer (was Lask noch nicht einsah) gibt es einen Begriff
des »Seins«, der das (objektive) Wertsein und das (wert-
freie) Existieren noch unter sich als Arten begreift und
der im Begriffe des ens a se steckt. In ihm haben die bei-
den Sphären des Daseins und des Wertseins, die nach
dieser Philosophie^ in das grundirrige Verhältnis gesetzt
werden, demgemäß der Daseins- oder Existenzialsatz auf
die »Geltung« eines Wahrheitswertes (respektive das Exi-
stenzurteil auf die subjektive Anerkennung dieser Gel-
tung) zurückgeführt werden soll, ihre letzte und höchste
* S. E. Lask: »Die Logik der Philosophie und die Katcgorienlehre« Tü-
bingen 191 1.
• VgL zum Folgenden H, Rickert: »Der Gegenstand der Erkenntnis«.
3. Aufl., Tübbgen 191 5.
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638 Probleme der Religion.
Einheit. Und das ist diese Einheit, die es verständlich
macht, daß es letzte formale Axiome gibt, die das ontische
Verhältnis von Dasein und Wert zu einander regeln.
Sie seien hier nicht alle aufgeführt und zur vollen Einsicht
gebracht^. Es seien nur einige derselben genannt. Eines ist
der schon von der Scholastik erkannte, hier aber falsch
interpretierte Satz: Omne ens est bonum (d. h. ein
Werthaftes überhaupt), — ein Satz, dessen Wahrheit
ganz unabhängig davon ist, wie weit wir als Menschen
die Werte des Daseienden fiihlen und auffassen können.
Femer die schon von mir in der Ethik entwickelten Sätze:
die Existenz (= Dasein) jedes Wertes ist selbst ein Wert,
(des positiven Wertes ein positiver Wert, des Unwertes
ein Unwert); die Nichtexistenz eines positiven Wertes ist
ein Unwert; die Nichtexistenz eines Unwertes ist ein posi-
tiver Wert. Femer der Satz: Jeder Wert (als Qualität) ist
Eigenschaft eines daseienden Subjekts — ob dieses Sub-
jekt bekannt ist oder nicht. So wenig aus diesen Sätzen
(wie man meinen könnte) ein dem ontologischen Beweis
ähnlicher Beweis vom Dasein Gottes folgt, so folgt doch
aus ihnen, daß — wenn es einen »höchsten« Wert gibt
— dem evident zu fordemden (gedachten) realen Träger
dieses Wertes auch Dasein zukommen müßte, da er
sonst der »höchste« Wert nicht wäre. Und es folgt femer,
daß — wenn es ein ens a se im Sinne eines aus sei-
nem eigenen Wesen selbst folgenden Daseins eines Da-
seienden überhaupt gibt — dieses Daseiende auch Trä-
ger eines absoluten Selbstwertes sein müsse. (Der
Wert des sittlich »Guten« darf natürlich in diese axiolo-
gisch und ontologisch streng formale Bestimmungen noch
Vgl. hierzu »Formalismus in der Ethik«. I. Teil.
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Probleme der Religion. 630
nicht aufgenommen gedacht werden.) Und diesen objek-
tiven Seinsaxiomen über Wert und Dasein entsprechen
auf der Seite des Geistes und der Akte die Aktfundierungs-
gesetze, daß ursprünglich kein Daseiendes von irgend-
einem Bewußtsein erkennbar (sei es durch Anschauung
oder Denken) ist, dessen Gegenstand nicht in der Folge-
ordnung der gebenden Akte zuerst in interesse-
nehmenden Akten als Wertgegenstand bestimmter Wert-
qualität intentioniert wurde, (sei es geliebt, sei es gehaßt
wurde); und daß eben dieselbe Ordnungsfolge der Akte
auch zwischen interessenehmenden Akten und Wojlens-
akten besteht. Das eben ist (wie ich anderwärts gezeigt)
das Wunderbare des weder auf Erkennen noch Wollen
zurückführbaren Liebesaktes, daß er seinen Gegenstand
auf einer Stufe des »Seins« ergreift, auf der sein Sosein
sowohl seinem existenzialen Sein als seinem Wert sein
noch unbestimmt ist, — 'so daß ebensowohl das eindeu*
tige Ergebnis des adaequaten Erkenntnisaktes als der
mögliche Erfolg seiner Umgestaltung durch Wollen und
Handeln durch diese Aktklasse noch bestimmbar
ist. Diese Stufe des Seins ist eben die nach dem
Gegensatze Wertsein — existenziales Sein noch indiffe-
rente Schicht des Seins, — auf der allein der endliche
Gegenstand noch unmittelbar mit dem Ens a se in der Form
schlechthiniger Abhängigkeit verbunden ist. Darum ist zu
allem bloßen »fertigen« »Dasein«, das wir in der reinen
Theorie der Seinswissenschaften betrachten (mit prin-
zipieller ^nd ausdrücklicher Abstraktion von den stets
und notwendig dem Daseienden zukommenden Werten,
notwendig ein Faktor von Liebe dazu zu denken, der
das Dasein dieses Soseienden oder das Sosein dieses
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640 Probleme der Religion.
Daseienden mitbestimmt hat und ohne den es nicht
wäre, was es ist, respektive nicht dasjenige wäre, was
es ist: auf der objektiven Seite ist dieser Faktor die
universelle Liebesbejahung des Wesens und Daseins des
endlichen Gegenstandes durch Gott; durch sie allein ist
der Gegenstand (gleichsam gerettet aus dem unendlichen
Meere des Nichtseienden und der Nichtigkeit), auf der
subjektiven Seite die Liebes- und Haßregungen des er-
kennenden Subjekts, die das Stattfinden und den Sonder-
inhalt anschauender Erkenntnis^ mitentscheiden. —
2. Der Begriff des »Bewußtseins überhaupt« ist
aber — ganz abgesehen von den eben aufgedeckten
Irrungen der Windelbandschen Religionsbegründung —
außerdem ein in sich widersinniger, Wesenszu-
sammenhängen widerstreitender Begriff. Sieht man suk-
zessiv von allem sogenannten empirischen Inhalte des
Bewußtseins von Etwas ab (dem physischen, dem psycho-
physischen und rein psychischen Gehalt), so behält
man zurück nur den Begriffeines erkennenden, respek-
tive (wenn man den Fehler macht, das Erkennen dem Ur-
teilen gleichzusetzgj und den ferneren Fehler, Urteilen als
Anerkennen oder Aberkennen des sogenannten Wahrheits-
wertes anzusehen; das »Existieren« aber auf Geltung
eines wahren bejahenden Satzes über einen Gegenstand
> zurückzufuhren «)den Begriff eines wertenden Subjekts
überhaupt. Daß diesen Begriff zu einer Realität zu hypo-
stasieren absolut widersinnig ist, das sieht heute auch die
sich von Windelband ableitende Philosophenschule ein.
^ Und darum auch mögliche urteilsmäßige Erfassung der positiven und
negativen Sachverhalte und darauf folgende Bejahung und Verneinung
dieser Sachverhalte.
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Probleme der Religion. 64 1
Nun — schon damit wäre der religionsphilosophische
Versuch Windelbands gerichtet. Aber wir haben hier
weiterzugehen und zu zeigen, daß dieser Begriff zwar
nicht (ohne Zuhilfenahme materialer, also überformaler
logischer Axiome) »widerspruchsvoll«, wohl aber wider-
sinnig ist. Wird das Wort »Subjekt« nicht so sinnvoll
wie bis Ende des 18. Jahrhunderts als Wort für Gegen-
stand überhaupt gebraucht* (wie noch heute das franzö-
sische Sujet, das lateinische »subjectum«) sondern (nach
neuerem Sprachgebrauch) fiir »das« sogenannte Ich, so
gilt wesensgesetzlich fiir jedes Seiende, auf das dieser
Begriff mögliche Anwendung hat: i. Jedes Ich ist
wesensnotwendig individuelles Ich. 2. Jedem Seienden,
das ein Ich ist, steht ein mögliches Du gegenüber. 3. Je-
dem Seienden, das ein Ich ist, stehen wesensnotwendig
gegenüber eine von seinem Sein unabhängig seiende und
auch so gegebene Außenwelt. 4. Jedes Ich zerfällt in ein
stets hie et nunc gegebenes Leibich mit einer Umwelt
und ein seelisches Ich mit einem Abfluß von Erlebnis-
momenten als Korrelat; von Erlebnismomenten, die erst
nachdem sie je als Ganzheiten gegeben, sekundär nach
vielen Richtungen teilbar sind. Jedem dieser — von in-
duktiver Erfahrung unabhängigen — Sätze widerstreitet
aber schon der bloße Begriff eines »Bewußtseins über-
haupt« im Sinne eines »Subjekts überhaupt« ; widerstreitet
ihm nicht erst, sofern der Begriff noch dazu hypostasiert
wurde, sondern schon als rechtsgültige Abstraktion.
Denn man mag mit jedem Rechte »abstrahieren« von allen
Merkmalen eines je zufällig Daseienden; man darf aber
keineswegs abstrahieren auch von demjenigen, was — des
* Vgl. hierzu R. Eucken: »Geschichte der philosophischen Terminologie.«
41
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642 Probleme der Religion.
je zufällig Daseienden ungeachtet — dem Wesen nach zu
einer Sache gehört. Denn dies hieße die Sache schon ihrem
möglichen Sinn- und Bedeutungsbestande nach aufheben,
also das Gegenteil von dem tun, was man nennen darf:
einen Begriff der Sache bilden. Jedem dieser Sätze wider-
streitet aber schon das, was im Worte eines »Subjekts
überhaupt« gemeint ist. Das Subjekt oder das Bewußt-
sein überhaupt soll »überindividuell« sein: Ein hölzernes
Eisen! Denn es gibt zwar ein übersinguläres Gesamt-
bewußtsein (z. B. der Gesamtpersonen Volk, Staat usw.),
aber es »gibt« (im Sinne schon der Wesensmöglichkeit,
nicht nur im Sinne des faktischen Bestandes) kein ȟber-
individuelles Bewußtsein« . Es gibt — im selben Sinne des
»es gibt« — femer kein über den möglichen Gegensatz
von Ich und Du erhabenes mögliches »Ich«; denn die
Gliedschaft in einer möglichen Gemeinschaft ist allem
»Ich« wesenhaft, nicht zufällig, eigen. Wovon wir ab-
sehen können, das ist also nur die besondere Bestimmtheit
des »Du«, das dem, was »Ich» heißen kann, wesensgesetz-
lich gegenübersteht — nicht aber ein Du überhaupt. Und
analog können wir absehen von den besonderen Bestimmt-
heiten, dem je besonderen Gehalt der jedem Ich zuge-
hörigen, all seinem möglichen Bewußtseinsinhalt gegen-
über als »transzendent« gemeinten Außenweltssphäre,
nicht aber vom Bestände dieser Sphäre überhaupt —
wenn wir nicht das Wesen des Ich aufheben wollen. Auch
der Leib ist durchaus keine Gruppe von bloßen Bewußt-
seinsinhalten (der äußeren und inneren fest assoziierten
Sinnesinhalte von ihm, wie diese Auffassung ungeprüft
voraussetzt), sondern eine von allen möglichen rein psy-
chischen und außenweldich bezogenen Inhalten scharf
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Probleme der Religion. 643
getrennte Daseinssphäre eines spezifischen Form-, Män-
nigfaltigkeits-, Einheits- und Gegebenheitscharakters,
eine Sphäre, die als solche bliebe, wenn auch von
jedem besonderen Inhalt der Organempfindungen »ab-
gesehen« würde. Es können Zweifel bestehen über be-
sondere Inhalte der Erfahrung, zu welcher dieser Seins-
sphären sie gehören (ob zur rein psychischen, der leib-
lichen, der Außenweltsphäre); keinerlei Zweifel aber
kann bestehen über die Wesensverschiedenheit
dieser Sphären selbst. Auch von ihnen selber, —
nicht nur von ihrem je besonderen Inhalt — »abstra-
hieren«, »absehen« kann also nicht dazu fuhren, daß
dann noch ein sogenanntes »reines Ich« übrigbleibt,
sondern heißt das Wesen des Ich aufheben und
zerstören.
Endlich enthält der Abstraktionsprozeß, der zu einem
»Bewußtsein überhaupt« führen soll, noch einen letzten
schweren Fehler. Der phänomenale Einheitspunkt in der
Mannigfaltigkeitsgliederung, die allem rein Psychischen zu-
kommt ist nicht ein bestimmter Akt und Inhalt, sondern nur
ein Stellen wert. Diesen Stellenwert können alle möglichen
Akte erfüllen, die damit eben jeweilig die »Ichstelle« des
Bewußtseins gewinnen: nicht aber gibt es einen von allen
Inhalten und sonstigen Akten des Bewußtseins verschie-
denen Inhalt und Ichakt, dem gegenüber alles übrige Ge-
gebene nur Inhalt und (wenn geurteilt) Gegenstand wäre.
Sieht man daher von allen (rein psychischen) Bewußtseins-
inhalten und Akten ab — wie es dieser Gedankenprozeß
fordert — so bleibt zwar noch die feste Form und Ge-
stalt des stets nach einer monarchischen Verfassung ge-
bauten rein seelischen Seins übrig, nicht aber der Mo-
41*
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644 Probleme der Religion.
narch oder ein Monarch, ein sogenanntes »Ich«. Hier
liegt also schon die Hypostasierung einer »Stelle« vor,
der höchsten »Spitze« einer Aufbauform der Akte des
Bewußtseins von Etwas, zu einem vermeintlich absoluten,
in allen individuellen Bewußtseinen identischen Akte oder
Aktvollzieher. Das derbe »Normalbewußtsein« Windel-
bands, das naiv und ehrlich real gesetzt und zu einer Art
Gottessurrogat gemacht wird, ist nur die unverschleierte
Form dieser Hypostasierung, die auch den feineren Formen
zur Last fällt, in denen sich diese Lehre z. B. bei H. Rickert
Ausdruck gegeben hat. Das Formgesetz des rein psychi-
schen Bewußtseins, daß in seinem Mannigfaltigsein j e ein
Akt (der nach allen Variationsrichtungen der Akte wech-
seln kann) die Ich st eile einnehmen muß, da solches zum
We^n eines rein psychischen Bewußtseins »gehört« , wird
hier zum Dasein eines bestimmten absoluten Ichaktes
fälschlich hypostasiert. Und da dies geschieht, ist es be
greiflich, daß man meint, durch ein Verfahren sukzessiven
Absehens von den sogenannten Inhalten des Bewußtseins
ein » erkenn tnisthfeoretisches Subjekt«, ein in allen indivi-
duellen Ichen identisches » Ich überhaupt « übrig zu behalten,
dem eine absolute Existenz zukomme. Was man aber
faktisch durch diese Methode sukzessiven Absehens übrig
behält, das ist nicht ein »absolutes Subjekt«, nicht ein
» Normalbewußtsein « — nicht ein Gott — sondern das pure
Nichts, — oder ein Wesensgesetzen widerstreitender
Begriff. Was anderes als »nichts« sollte denn bei diesem
rein negativen Verfahren des »Absehens« von allen Welt-
inhalten sonst übrig bleiben.? Alle negative Abstraktion
setzt voraus, daß ich positiv das schon erschaut habe, was
ich durch das sukzessive Absehen von Anderem, mit dem
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Probleme der Religion. 645
es irgendwie geeint ist, reinigen und für andere, clie es noch
nicht gewahren, gewahrbar machen will. Niemals ist die
bloß negierende Abstraktion »schöpferisch« fiir den posi-
tiven Inhalt eines Begriffs. Und gar noch die sonderbare
Meinung hegen, es fielen bei diesem Verfahren des »Ab-
sehens« von allem empirischen Inhalt des Bewußtseins nur
die subjektiven Beschränktheiten, die Dunkelheiten und die
Engen, die Täuschungen und Irrtümer der erkennenden
Menschensubjekte aus dem möglichen Weltinhalt = Be-
wußtseinsinhalt des »erkenntnistheoretischen« Ich heraus
— es bliebe aber dem so restierenden erkenntnistheore-
tischen Subjekt überhaupt die Welttotalität in ihrem
reinsten, reichsten, objektivsten Bestände gegenüber lie-
gen als sein Korrelat — so daß wahres und adaequates
Erkennen eines Gegenstandes durch einen Menschen hieße
soviel wie dem Gegenstand gegenüber > erkenn tnis theo-
retisches Subjekt« werden, oder »Normalbewußtsein« wer-
den — das ist die verkehrteste aller Selbsttäuschungen,
die sich nur denken läßt. Indem man von allem » Inhalt «ab-
sieht und dieses Absehen bis zur letzten Grenze steigert,
hat man eben auch »abgesehen« von all demjenigen Teil
des empirischen Inhalts, dem Erkenntniswert und
Wahrheit zukommt — und das, was so »übrig« bleibt,
ist nicht das Sein und der Inhalt der vom individuellen
Subjekt noch unangetasteten WeltfüUe, sondern es ist die
absolute Leere, das Nichts.
Man zweifle nicht, daß hinter solchen tiefen Irrungen
des Denkens auch falsche Lebensweisen derjenigen
stehen, die solche Irrtümer vertreten. Das eigene liebe
»Ich« gleich Fichte aufzublähen zu einem vermeintlichen
Welt- und Gottesbewußtsein, im Augenblick der Anwen-
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646 Probleme der Religion.
dung dieser Weisheiten die feinen — aber sachunmög-
lichen — Unterscheidungen, die man zwischen seinem
lieben Einzelich und dem über alles erhabenen »Bewußt-
sein überhaupt« auf dem Papier gemacht hat, vergessen
zu dürfen — da^ ist ja jene Theorie recht eigentlich
erfunden. Das furchtbare innere Gesetz dieser Denkart,
im Griffe nach dem vermeintlich »Heiligen« gerade in das
Maximum von Leere und Nichts hineinzulangen, bestätigt
sich auch in der Lektüre der Werke dieser philosophi-
schen Schule. Ewiges Herumkreiseln um ein in diesem
schwindelerregenden Kreiselprozeß immer leerer und
leerer werdendes Ich; ermüdendste Stereotypie in der
ewigen Wiederholung immer derselben paar Gedanken;
gänzliche Unfähigkeit, sich irgend einem Sein hinzugeben,
sich in eine Sache zu versenken.
Auch jener Lebensform, dfe mit diesen Gedanken ein-
hergeht, jener leeren aufgeblasenen »Ich «-Souveränität,
die alle lebendige Beziehung zu Sache und Realität, die
auch alle dem Menschen gebotene Demut vor dem Heili-
gen vermissen läßt, gebührt schärfste Verurteilung.
Nicht also auf einem »Normalbewußtsein«, »Bewußt-
sein« oder »Ich überhaupt« und dergleichen läßt sich die
Idee Gottes und die Einsicht in sein Dasein aufbauen.
Vielmehr muß das allem Ich überlegene götdiche Sein
und eigentümliche Wesen des Subjekts und Trägers audi
aller allgemeingültigen Normen auf ganz anderem Wege
schon gegeben sein, wenn ihm der Charakter eines
logischen, ästhetischen, moralischen Gesetzgebers
soll zugesprochen werden.
3. Was aber von der allgemein philosophischen Basis
dieser Religionstheorie gilt, das gilt vice versa nicht
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I
Probleme der Religion. 647
weniger für die in ihr enthaltene spezifisch religiöse
Selbsttäuschung, vermöge der sie die besondere Mo-
dalität aller zur Sphäre des Heiligen gehörigen Werte
verkennt. Das vortreffliche Buch von Otto über »Das
Heilige« kann als geradezu geschrieben gelten, um die
Auffassung zu widerlegen, es sei das Heilige nichts
als eine Art Zusammenfassung des »Guten, Wahren,
Schönen«. Will es ja gerade die »irrationalen Elemente«
im Heiligen und damit all das herausstellen, worin das
Heilige von diesen »Werten« geschieden ist. Die Tatsache,
daß auch sie auf einer bestimmten Stufe der Religion
»sanktioniert« werden, »geheiligt« und daß ihre Anerken-
nung und Bejahung auch unter die religiös verbindlichen
Gebote aufgenommen wird, darf uns fiir den spezifischen,
ganz unvergleichlichen Wertcharakter des Heiligen nicht
blind machen. Daß diese »Sanktionierung« notwendig
ist und möglich — das ist vielmehr nur ein neuer Be-
weis für die Sonderart des Wertes »heilig«. Aber eine
wahre Theorie, ein noch so herrliches künsderisches
Werk, eine moralisch noch so bewundernswerte Hand-
lung erwecken rein aus sich heraus den so charakteristi-
schen Eindruck des Heiligen keineswegs. Sowohl die
emotionalen Akte, durch die das Heilige als »heilig«
erfaßt wird, wie die Reaktionsgeflihle, die es auslöst, sind
von analogen Fühlungen und Gefühlen, die zur guten
Handlung, zur Erkenntnis, zum Kunstwerk oder Natur-
schönen gehören durch einen Abgrund geschieden. Schon
ein in diese Sphäre gehöriger Gegenstand, der im Kulte
eine Rolle spielt — ein »heiliges« Bild, eine geweihte
Schale usw. stehen mit ganz anderen Wertcharakteren
vor dem Bewußtsein wie das herrlichste Kunstwerk.
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648 Probleme der Religion.
»Wundertätige Bilder sind meist nur schlechte Gemälde«
— so Goethe. Heilige Scheu, heilige Furcht und Ehr-
furcht, die erlebte unbedingte Ablehnung aller Berührung
seitens des Gegenstandes selbst (außer zum Zwecke
seines kultischen Gebrauchs), — ^ eine Ablehnung, die
doch wieder begleitet ist von einer ebenso starken An-
ziehungskraft, die von ihm auf das Gemüt ausgeht, haben
nichts, was mit jeder Art von Gefühlen des ästhetischen
Wohlgefallens und Genusses vergleichbar wäre. Und
ebendasselbe gilt, wenn wir das »Heilige« aufsuchen in
seiner höchsten weldichen Daseinsfom, in der Persön-
lichkeit des Menschen. Der »Heilige« ist keine irgend-
wie denkbare Steigerung des künstlerischen Genius, des
Weisen, des Guten, Gerechten, — des Menschenfreundes
oder des großen Gesetzgebers. Auch ein Mensch, der
alles dies zusammen wäre, würde den Eindruck der Heilig-
keit nicht erwecken.
Darum muß auch jede Religionstheorie zurückgewiesen
werden, die auf diesen falschen Voraussetzungen beruhend
in der Objektenwelt der Religion nur eine »Ergänzung«
der geistigen Kulturwerte und -guter sehen will (so
J. Cohn), die der Religion aber nur als das noch undifferen-
zierte Ernheitsbewußtsein von der inneren Zusammenge-
hörigkeit und Wechselabhängigkeit der geistigen Kräfte,
die Kultur schaffen, ansieht; die dann femer dazu neigt,
in dem Maße als eine Religion »Kultur« vorbereitet,
gefördert, entfaltet hat einen Maßstab für ihren Wahr-
heitswert zu erblicken^.
Die Verteidigungshaltung der Anhänger der positiven
^ Den Weg der im Folgenden zurückgewiesenen Religionsbegründung geht
auch R. Eucken. Siehe bes. »Der Wahrheitsgehalt der Religion«.
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Probleme der Religion. 649
Religionen gegen Angriffe auf die Religion seitens der
»kultur« seligen Kreise hat es mit sich gebracht, daß
auch das Denken der Religiösen durch bewußte oder
heimliche Anpassung an die Grundwerte der Irreligiö-
sen diese vermeindiche Verifikationsmethode der Reli*
gion auch da in sich aufnahm, wo man es in abstracto
nicht Wort haben will. Man neigt, die Religionsphilo-
sophie geradezu zu einem Teile der sog. »Kulturphilo-
sophie« zu machen; auch der schauderhafte Ausdruck
»Religiöse Kultur« ist in weiten Kreisen üblich geworden.
Gegenüber Fragen, was die Religion, was femer diese
und jene Religion beigetragen habe zur »Erziehung der
Menschheit«, was sie bedeute als Geisteskitt und als
schöpferische Kraft der Bildung von Gruppen^, was als
Waffe der Gruppen im Kampfe miteinander, was sie für
den Staat, fiir die Struktur der Wirtschaft; für die Kunst
und die Wissenschaft, fiir die ßrziehungskunst bedeutet
und geleistet habe usw. — Fragen, über die jährlich
viele gelehrte und oft wertvolle Werke erscheinen, ver-
schwindet unserem Zeitalter der selbständige
Wahrheitsanspruch der religiösen Grundthesen
in einer fast grotesk zu nennenden Weise. Das
Übergewicht dieser Fragestellungen über die Frage nach
dem eigenen Wahrheitsanspruch der Religion ist wirk-
lich das am meisten charakteristische Moment, das die
Haltung der zweiten Hafte des 19. Jahrhunderts zur Reli-
gion besaß. Und diese Praxis der Behandlung der Reli-
gion ist vielleicht noch gefährlicher fiir ihr echtes Wesen
als die ausgesprochene Theorie, welche den Wahrheits-
* So bes. die französischen »Traditionalisten«, deren neuester Vertreter
Maurice Barrys ist.
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650 Probleme der Religion.
wert der Religion messen möchte an ihrer Ergänzungs-
kraft für die Kulturwerte oder an ihrer Kraft, sie zu för-
dern und zu erhalten.
Man mache sich aber nur einen Augenblick den Wider-
sinn der Grundlage klar, auf die jede solche Erörterung
gestellt ist, wenn sie mehr will als bloße Deskriptionen
des historisch Vorhandenen geben; wenn sie für — oder
auch gegen — die Religion von diesem Maßstabe aus
Etwas behaupten will.
I . Gibt es ein über alles zufällige Dasein der Weltdinge
erhabenes ewiges Sein und höchstes Gut, gibt es ein
ganzes »Reich« Gottes, dessen Besitz als die zentralste
und höchste aller Erwartungen vor der Seele des Menschen
stehen darf und soll, so ist Nichts klarer, als daß alle
mögliche menschliche Kultur — nicht nur die wirkliche —
zu einer Angelegenheit an der Peripherie des Da-
seins herabsinkt. Auf Gottes Ewigkeit und Vollkom-
menheit bezogen erscheinen die Werke menschlicher Kul-
tur als ein Abfluß haltloser, flüchtiger Gebilde — ein-
geschlossen in eine eng begrenzte Zeit. Wie der Strahl der
Sonne in der flüchtigen Welle des Meeres — so spiegeln
sich in ihren Werken zuweilen unvollkommen und immer
verzerrt die ewigen Werte, die in Gott in ewiger
Vollkommenheit und ungeteilt verwirklicht sind.
Es ist unmöglich, Gott auch nur zu denken, ohne alle
mögliche Menschenkultur so zu sehen. Und nun soll das
Recht der Annahme, es sei ein Gott, gleichwohl auf dem
Tatbestande beruhen, daß sie die Fortbewegung und
das Aufundabrauschen der Kulturen fördert! Gewiß!
Dem Menschen, der verstrickt und verwoben in den Ernst
und die Leidenschaft zeitlichen Lebens und zeitlicher Ziele
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Probleme der Religion. 65 1
auf die Güter der Kultur hinblickt, dem scheinen diese
Güter im Zentrum alles Daseins und aller Werte zu
stehen. Denn auch die ihnen an Macht und gediegener
Daseinsbasis so überlegene Na tur außer und im Menschen
(hier tätig als nimmer ruhender Trieb zu Daseinserhaltung
und -Zeugung), hat sich doch erst im Verlaufe der Ge-
schichte der Kultur, der Wissenschaft, der Tech-
nik vor dem Menschen aufgetan als das Wissen um sie
und ist als solches von der Anerkennung durch Akte
des Geistes abhängig, die selbst noch Kulturakte sind.
Wäre der menschliche Gedanke seinem psychischen Dasein
nach auch nur ein flüchtiges Aufblitzen in einem seinem
Dasein gewaltig überlegenen Daseinsgetriebe, das vor
und nach diesem Aufblitzen stumm und dunkel seinen Weg
läuft, so wäre doch, dem Sinn und Inhalt dieses Gedankens
nach, auch dieses Daseinsgetriebe selber noch nur ein
minimaler Teil im Sinngehalte dieses aufblitzenden
Gedankens: Nur das Korrelat des kleinen Teiles
dieses Gedankens, den wir die »Wissenschaft von der
Natur «nennen und der selbst noch zur Kultur gehört. So
darf sich der Mensch in der Tat — so lange er nicht auf
Gott hinschaut — mit Recht den Quellpunkt, von dem alles
Kulturschaffen ausgeht und immer neu gespeist wird, für
den Mittelpunkt der Welt selber halten; fiir Etwas, das
erhaben ist auch über die Elemente und Kräfte der Natur,
die so oft — spielenden Kindern gleich, die ein schönes
Gefäß unbewußt, was sie tun, zertrümmern — seine
Kulturwerke in Feuer, Wasser, Rost und Mottenfraß
in nichts zergehen lassen.
Aber wie anders wird es, wenn der Gedanke an
Gott sich des menschlichen Geistes und Herzens
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652 Probleme der Religion.
bemächtigt! Möchte des Menschen Gedanke auch allem
übrigen Dasein durch die Wissenschaft hindurch, durch die
er dieses Dasein ergreift, »Gesetze vorschreiben« — dem
absoluten Sein und dem ewigen Gute gegenüber, ist auch
der bloße Gedanke daran eine Absurdität und eine Sünde
zugleich. Was ist es doch für ein unmöglicher und sinn-
widriger Gedanke: Gottes rechtmäßige Anerkennung
gerade auf dasjenige zu stellen, das im Zentrum
der Dinge nur stehen könnte, wenn — Gott nicht
existiert; und dessen metaphysischer Ort sofort an die
»Peripherie des Daseins« rückt und so — vergleichs-
weise — nichtig und flüchtig ist, wenn er existiert. Was
ist das für ein »Grund«, der selber nur steht und »grün-
det«, wenn man das durch ihn zu Gründende nicht auf-
stellt und der eben dann wankt und schwankt, wenn man
es tut? Hier ist klar: der Sinn des Satzes »Es ist ein
Gott«, er allein schon schließt den Weg seiner Be-
gründung auf die Möglichkeit der Kultur radikal aus.
Das ist ein ganz eigenartiges, sonst nie wiederkehrendes
Verhältnis, das hier zwischen dem Inhalt der zu begrün-
denden Thesis und dem Weg ihrer möglichen Begründung
besteht. Nur wenn der Quellpunkt der »Kultur« im Zen-
trum der Dinge stünde, dürfte man Gottes Dasein also
begründen. Aber wenn Gott ist, so steht eben dieser
Quellpunkt nicht in diesem Zentrum. Das Begründete
höbe hier das Recht des Grundes selber auf Dieser
Weg ist ein Weg, der zum Ziele nur fuhrt, wenn er das
Ziel — das Dasein Gottes — nicht erreicht. Und er wäre
von vornherein ein falscher Weg, wenn er zum Ziele fuhrt.
Das zu Begründende selbst entwertet hier den Grund
— und zwar allein gemäß dem Sinnverhältnis von Grund
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Probleme der Religion. 653
und Begründetem. Es ist nicht richtig, hier mit der
Unterscheidung antworten zu wollen: Gott sei Daseins-
grund und Wertgrund der Kultur und des kulturschaf-
fenden Aktes, diese beiden aber Erkenntnis und Glau-
bensgrund des Daseins Gottes. Denn es ist schon der
Sinn des Satzes: »Es ist ein Gott«, der diesen Weg der
Begründung des Satzes widersinnig macht, indem er
und er allein erst den Grund entwertet, — auch als Er-
kenntnisgrund — , auf den der zugehörige Existenzsatz
soll aufgebaut werden. Ein Gott um der Kultur willen nicht
nur daseiend, sondern auch schon als Wesen angenommen
um ihretwillen wäre kein Gott; es könnte nicht Gott sein,
was hier angenommen ist. Hat man Gott — so ist die
Begründung seiner Existenz auf die Kultur — als Wert
und Kulturakt — lächerlich! Hat man ihn nicht, so kann
man ihn so nicht erreichen, ohne den Sinn und Wert der
Voraussetzung aufzuheben, auf die hin man ihn als daseiend
urteilen will. Der religiöse Lebensprozeß und die Gesetze
des Gemütes in seiner Wesensreaktion auf die verschieden-
artigen Güter schließt also diesen Weg aus. Ist das Gemüt
wahrhaft erfüllt auch nur von dem echten Ideengehalt des
höchsten ewigen Gutes, so findet es sich in einer Sphäre
und auf einem Gipfelpunkte, von dem aus sich im selben
Maße als es sich mit ihm erfüllt, die menschliche Kultur
als »eitel«, »nichtig«, »fragmentarisch« darstellt — und
immer mehr darstellt. Wie soll das Gemüt dann gleichzeitig
nicht um des höchsten Gutes selber willen sein Dasein
bejahen, sondern um dessenwillen, das so »nichtig« und
»eitel« aussieht? Es handelt sich beim Durchschauen dieses
Irrwegs der Religionsbegründung — wie man sieht —
nicht nur um logische Akribie. Es handelt sich ebenso
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654 Probleme der Religion.
sehr um die religiöse Ehrlichkeit und um den geraden Blick
in der Sache der Religion. Diese Begründungsart — unse-
rem Zeitalter so teuer — hat in letzter Linie in einem
moralischen Manko, in Unehrlichkeit und in einer Art
religiösen Schielens des Geistes ihre Wurzel. Der Auf-
schwung des Geistes und Gemütes schon zur Idee Gottes
wird nicht resolut vollzogen — der Aufschwung, der doch
auch zugleich alles Verständnis der Kultur vorbereitet.
Man bleibt hängen an den irdischen Kulturgütern und hält
eine Wertschätzung ihrer auch noch im Blicke des Geistes
auf Gott aufrecht, die nur Sinn hätte, wenn Gott nicht
wäre; und doch sucht man vermöge dieser Wertschätzung
Gottes Dasein zu rechtfertigen. »Beziehungen« und aber-
mals »Beziehungen« der Religion zu X, Y, Z ersticken
hier ihr Wesen und lassen verkennen das einfache
»Alles oder Nichts«, das gerade, ja allein und ganz allein
im Wesen der religiösen Thesis liegt. Man kann das Rela-
tive, man kann nicht das Absolute relativ schätzen. Das
Absolute muß man auch absolut schätzen und es ist
nicht das Absolute, was man schätzt, wenn man es nicht
absolut schätzt. Schließlich wird dann dieser Denkart das,
was sie »Gott« nennt, nur der Gesichtspunkt, das ge-
suchte und unbekannte X all der »Beziehungen«, die da
heißen: des Staates zu X, der Wirtschaft zu X, der Kunst
zu X, der Wissenschaft zu X usw. Aber das ist der In-
halt des X, in dessen Fülle die echte Religion lebt und
von dessen Selbsterfassung und in dessen Dienste auch
alle jene Beziehungen erst klar werden können.
2. Darum geht es auch nicht an, in der Religion nur
die lebendige noch undifferenzierte Einheit des Kul-
turgeistes, oder im Daseinsbereich ihrer Gegenstände
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Probleme der Religion. 655
und Güter nur eine »ideale Ergänzung« für die Welt der
Kulturwerte und -guter zu sehen. Das Erste ist falsch
«chon darum, da Religion im Falle, daß sie nur jene un-
differenzierte Einheit des kulturschaffenden Geistes wäre,
um so mehr zergehen müßte, je mehr der Differenzierungs-
prozeß des Geistes und seiner Arbeitswelten und Wert-
bereiche sich fortbewegt. Davon finden wir aber in der
Geschichte nichts. Was wir finden ist vielmehr die Tat-
sache, daß die Religion selber und die religiösen Werte und
Güter sich ebenso differenzieren wie die Kunst, der Staat,
die Wissenschaft es ihrerseits tun, und daß dies geschieht
auf dem spezifischen Boden eben der religiösen Güter-
weit als solcher, die etwas ganz anderes ist als eine >Zu-
sanmienfassung« oder eine undifferenzierte Einheit der
übrigen Güterwelten. Gibt es eine solche noch relativ un-
differenzierte Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes
und ein ihr zugehöriges spezifisches Werk, so ist diese
nicht gegeben im religiösen Akt und der Religion, son-
dern im mythischen Denken und Fühlen und der gegen-
ständlichen Welt des Mythos. Der Mythos, — psycholo-
gisch gesehen der Kollektivwach- und Halbwachtraum der
Völker^ — ist überhaupt kein auf besondere Gegenstands-
und Wertgebiete gerichtetes geistiges Aktleben, er ist
nur eine psychische Gegebenheits- und Bewußtseins-
modalität, die geistige Akte aller essentiellen Wesens-
arten und zu allen Arten von Gegenständen und Gütern
gehöriger Akte besitzen können und auf gewissen Ent-
wicklungsstadien besitzen. Er ist eine psychologische, keine
^ Der Mythos ist auch denselben^ Regelmäßigkeiten und Bildungsgesetzen
unterworfen wie der Wachtraum — was hier des näheren nicht gezeigt wer-
den kann.
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r
v«:
f "^ ' 656 Probleme der Religion.
fc^/ , ethische oder axiologische Kategorie. Rechtliches, wirt-
schaftliches, künstlerisches, wissenschaftliches, politisches,
moralisches — und nur auch »religiöses« Denken un«[
Werten, Schätzen und Vorziehen, zeigt sich auf diesen
Stufen der Entwicklung stark in den Mythos eingewickelt;
und auch da, wo in gesteigerter Wachheit des Gruppen-
bewußtseins die geistigen Lebens- und Gegenstandsbe-
reiche sich schärfer vom Mythos ablösen und sich ihm ent-
gegenstellen, bleibt er eine sie färbende, mitbestimmende
seelische Macht. Die Religion vollzieht aber diese Ablö-
sung aus der mythischen Bewußtseinsstüfe genau ebenso
energisch wie die verschiedenen Kulturgebiete und auf
eine prinzipiell nicht andere Weise als jene. Die Religion
gleichsetzen mit dem un- oder noch wenig differenzierten
Kulturgeiste, hieße sie also mit dem Mythos verwechseln
und hieße zudem eine noetische Kategorie gleichsetzen' mit
einer psychologischen^.
Es ist damit nicht gesagt, daß es nicht die Religion sei,
die auch den Kulturtätigkeiten letzte Einheit und letzten
Sinn gebe und überall gegeben habe; es ist nur zurück-
gewiesen, daß sie nichts anderes sei als jene »Einheit«.
Denn sie gibt jene Einheit eben nur von ihrem eigenen
festen Standort aus und kraft ihrer eigenen spezifischen
Güter und Werte und kann sie nur auf diese Weise geben.
Und das gilt auch ganz besonders im soziologischen Sinne.
Der Mythos ist gegliedert nach Völkern und Nationen und
sein Inhalt beruht auf den eindrucksvollsten Momenten,
welche aus der Jugendgeschichte der Völker heraus (da
1 Diese Verwechslung ist besonders üblich innerhalb der romantischen
Religionsphilosophie (Fr. Schlegel, Schelling), sowie innerhalb des Tradi-
tionalismus.
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Probleme der Religion. 657
dem Bewußtsein des Einzelnen gleich, auch das Völker-
bewußtsein in seiner Jugend am meisten plastisch, bild-
sam und eindrucksfähig ist), in deren Tradition eingingen
und hier mannigfachster Verarbeitung durch das Völker-
wachtraumbewußtsein erfahren. Die Religion dagegen be-
nutzt nur diese natürlich- geschichtliche Menschengliede-
rung nach Völkern, um steigend aus sich und ihren
Werten heraus spezifisch religiöse und kirchliche Gemein-
schaften zu stiften, die nicht in den halbbewußten Nebel-
gestalten des Mythos, sondern in Dogmen und Glaubens-
gutem, femer im Kulte verankert sind, die ihrerseits nicht
in Tradition und Gefühlsansteckung, Mittun aus unwill-
kürlicher Nachahmung, sondern durch bewußte Lehre
und Erziehung von Generation auf Generation über-
tragen werden. —
3. Ähnlich steht es mit der Lehre von der »Ergänzung«
der Kulturgüterwelt auf der objektiven Seite der Religion.
Ich frage: Wohin und in welcher Richtung sollen wir
denn diese »Ergänzung« vorgenommen denken, wenn ein
Göttliches und Heiliges nicht schon gegeben ist, das den
Zielpunkt dieser »Ergänzung«, die »Richtung« dieser »Er-
gänzung«, die Art dieser Ergänzung anwiese? Ist aber
dieses gegeben — wozu brauchen wir dann den Weg
der Ergänzung, um dieses Göttliche und Heilige erst zu
gewinnen? Es ist mit dieser religiös- philosophischen »Er-
gänzungslehre« (wie sie z. B. Jonas Cohn mit Geschick
zu vertreten suchte) eben nicht anders, wie mit all
jenen philosophischen Lehren, die begriffliche Gegen-
stände aus Prozessen, sei es des Grenzdenkens, des
Idealisierens oder auch desErgänzens erstehen lassen
wollen. Ich kann den Begriffsgegenstand der »Geraden«
42
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r'
658 Probleme der Religion.
nicht gewonnen denken auf die Weise, daß ich sage: Wir
wollen absehen von der Dicke dieser gezeichneten Linie,
von ihrer Farbe, von ihren eventuellen faktischen Krüm-
mungen, von ihrer tatsächlichen Länge, vermöge deren sie
(auf Grund der Sinnes- und Beachtensschwellen) immer
noch, wie groß sie auch sein mag, nur der Teil des Radius
eines beliebig zu vergrößernden Kreises, also nicht streng
»gerade« sein kann. Denn dieses Verfahren des »Ab-
sehens« führt nicht zur Geraden, sondern zum Nichts,
wenn ich nicht schon irgendwie weiß und erschaut habe,
wann und wo ich bei diesem Absehen soll Halt machen.
Auch eine sog. »Idealisierung« setzt voraus die Schau des
Zieles, zu dem hin ich idealisieren will. »Ergänzung« setzt
wiederum voraus zum mindesten das Gestaltmodell eben
des Ganzen und seine Gegebenheit, das mir die Regel
und Art der Ergänzung vorschreibt. Es ist also die Idee
Gottes immer schon als anderweitig gegeben voraus-
gesetzt, wenn es zu solcher Idealisierung und Ergänzung
kommen soll.
4* Es tritt femer gegen diese Auffassung hinzu, daß
diese Ergänzungstheorie weder die Stelle verstehen läßt,
welche die Religion in der Geschichte der Menschheit ein-
nimmt, noch die soziologischen Bildungen, in denen sie
sich darstellt. Die Religion ist eine Erscheinung, die an
die Existenz einer höheren Kultur in keiner Weise
gebunden ist. Während die letztere eine sehr seltene Er-
scheinung in der Geschichte der Völker ist, ist die Religion
ein allmenschliches Phänomen. Auch den Naturvölkern
und Halbkulturvölkem ist irgend eine Form des religiösen
Bewußtseins eigentümlich. Aber auch da, wo die geistige
Kultur Reife und höhere Vollkommenheit aufweist, ist die
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Probleme der Religion. 659
Religion so wenig ihre »Ergänzung«, daß sie ihr ge-
schichtlich überall in ihrer je charakteristischen Form
vorherzugehen und der besonderen Ausgestaltung der
Kultur überall die Grundform und die Richtung vorzu-
schreiben pflegt. Während niemals eine von Religion zu-
erst unabhängige Kultur aus sich heraus zu einer Aus-
gestaltung des religiösen Bewußtseins geführt hat, ist es
sehr häufig der Fall, daß im Namen und vermöge der
Energie eines neuen religiösen Bewußtseins gegebene
und oft sehr hochgeartete Kulturen zerstört und abge-
brochen und ein Neuanfang auch des kulturellen Schaffens
gesetzt worden ist. Ja, in Zeiten der Zersetzung einer
höheren Kultur, ist es immer das religiöse Bewußtsein,
auf das sich der Mensch zurückzieht, um an seiner Hand
und untef seiner Leitung auch eine neue Kulturform zu
finden. Die sog. Bildungsreligionen sind ähnlich wie
der Pantheismus (von dem sie meist die Form haben)
überall sekundäre und schwache geistige Bildungen, die
überdies dasjenige, was an ihnen noch Religion ist, auch
nicht der Kultur entnehmen, sondern den ihnen voran-
gehenden kraftvolleren und anschaulicheren und ur-
sprünglicheren Bildungen der positiven Volksreli-
gionen. Von deren Traditionen sich ganz zu befreien
haben sie (wie z. B. die tausenderlei religiösen Sekten des
Hellenismus beweisen) so gut wie niemals die Kraft ge-
fiinden. Während femer die geistige Kultur ihre sozio-
logische Wesensform in der Nation und Nationalität
besitzt, strebt jede Religion (mindestens ihrem Anspruch
nach) eigentümlichen soziologischen Bildungen : der Sekte,
der Kirche, den Orden, der Schule usw. zu, die sich
über die nationalen Unterschiede in ihrer Mission erheben.
42*
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-%^:
660 Probleme der Religion.
Wo wir eine höhere Geistesbildung finden, da ist sie immer
eine Sache einer kleinen Bildungsminorität, wogegen
die Religion sich als der Weg zum Heile aller geben muß ,
wenn anders sie überhaupt den Anspruch macht, dem
Menschen vom Sinn seines Daseins zu reden.
5. Aber es ist nicht um der Selbständigkeit des Wesens
und der Wahrheitsquelle der Religion allein wegen, es
ist auch um der relativen Selbständigkeit und Eigen-
art der Kulturwerte willen, daß man diese Religions-
theorie zurückzuweisen befugt ist. Versteht man unter
dem Worte »Kultur« die empirischen, je vorhandenen
Kulturwerke und Bildungsgüter, femer ihre vorhandenen
Formen — die Stile, die Methoden usw. — so bedarf
diese »Kultur« freilich stets mannigfachster Ergänzung,
— wie vollkommen sie auch sei. Aber es ist nicht abzu-
sehen, wieso diese »Ergänzung« in der Religion und
nicht innerhalb der Spannweite der Kultur selbst sollte
gelegen sein, zunächst innerhalb des Ideales von sich selbst,
das jede faktische Kultur als ein dauerndes Bestreben nach
den aus ihrer besonderen Strukturform hervorgehenden
höchsten Zielen in ihrem Schöße trägt, im weiteren Sinne
aber auf alle Fälle innerhalb der allgemein gültigen geis-
tigen Werte, deren charakteristische Ausgestaltung in einer
besonderen Strukturform und eigentümlicher Kulturgüter-
welt jede Kultur darstellt. Die Ergänzung, die Kultur
nötig hat und die sie stets aus sich heraus allein sucht,
liegt also nich t auf dem Boden der Religion, sondern in
diesem doppelten Sinne auf dem Boden ihrer eigenen
Idealität. Die Wissenschaft z. B. ist ein — im Wesen
der Erkenntnisakte der Wissenschaft selbst gelegener —
unendlicher Prozeß der eindeutigen Bestimmung und Ord-
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Probleme der Religion. 66 1
nung der schon an einem einzigen Wahrnehmungsding
unabschließbaren wissenschaftlichen Beobachtungen. Es
ist nicht abzusehen, wann und wo dieser unbegrenzbare
Prozeß still zu halten habe, um sich in der ganz anders-
artigen Dimension der Religion erganzen zu sollen. Ana-
loges gilt für das Wachstum von Kunst und Philosophie,
von Technik und sozialen und rechdichen Institutionen.
Die »Ergänzungen« sind hier überall vorgeschrieben durch
die an den empirischen vorhandenen Werken selbst noch
erkennbaren Intentionen und idealen Zielrichtungen, die sie
über ihr faktisches empirisches Dasein hinaus noch be-
sitzen; hinter denen sie also in verschiedenem Maße zurück-
bleiben oder sie erreichen können; ohne daß man — um
solches festzustellen — Werte, Ideale, Normen an sie von
außen heranbringen müßte — Maßstäbe, die ihnen nicht
selber entnommen wären. Kein Kunstwerk, das nicht außer
dem, was es der Betrachtung und dem Genüsse wirklich
gibt, auch noch mit aussagt oder mit verrät, was es geben
möchte-und sollte; also auch mitverriete, wo es zurück-
blieb hinter diesem idealen Brennpunkt seiner Wert-
linien. Dem »Geiste« in der Person wie im Werke ist
immer und überall diese Transzendenz seiner eigenen Wirk-
lichkeit zu eigen, so daß er nicht nur seine empirische
Schöpfung aufweist, sondern in ihr auch noch die Ziele
und Zielformen wiedergibt, die er unter dem Druck der
tausenderlei Hemmungen, Beschränkungen, Kompromisse
seiner Selbstdarstellung nicht erreichte, sondern verfehlte,
— ja denen er aus dem Wege ging. Wie wir bei jeder
Persönlichkeit, bei jedem Volk, jeder individuellen Gruppe
nicht nur ihre geistige Wirklichkeit erkennen als den
»Charakter«, zu dem sie die Zufälle ihrer Geschichte ge-
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662 Probleme der Religion.
schmiedet haben, sondern auch noch erkennen können ihre
(einmalig individuelle) Bestimmung und jenen empi-
rischen Charakter an dieser Bestimmung noch messen
können; in jeder Rede und in jedem geschriebenen Satze,
ja in jeder geistigen Lebensäußerung nicht nur erfassen
können, was ^gesagt und getan ist, sondern auch was ge-
sagt und getan sein sollte im Sinne der die Rede und
Äußerung führenden Intention, — so zeichnen auch alle
Werke der Kultur, in dem sie sich geben als das, was sie
sind, gleichzeitig noch ein ideales Zielbild von sich selbst
über ihre empirische Existenz hinaus und sprechen damit
aus das ideale Bild ihrer Sehnsucht. Und da wir an
jeder Stelle der geschichtlichen Kultur und ihrer Perso-
nen und Werke (seien es Institute des Rechts oder Kunst-
werke, Wissenschaften oder Philosopheme) die in ihnen
selbst gelegenen Ideale der Kultur neben und außer ihrem
empirischen Dasein miterfassen können, so bedürfen
wir auch keiner Religion, um die Normgestalten zu er-
kennen, nach denen sie einer Ergänzung bedürftig sind.
Daß in einem toto coelo verschiedenen Sinne die Reli-
gion allem möglichen, auch dem denkbar idealsten und
vollkommensten kulturellen Sein »Ergänzung« gebe —
das ist natürlich mit dem Gesagten nicht ausgeschlossen.
Aber diese Ergänzung erfolgt eben von der Religion
her, von ihren eigenen Erkenntnissen und Einsichten, ihren
eigenen Wertungen und Gütern selbst her; ja schon die
Ergänzungsbedürftigkeit der Kultur wird in diesem Sinne
des Wortes erst merkbar und sichtbar vom Boden des
selbständigen religiösen Bewußtseins aus. Wenn in dem
Zentrum meines Geistes und Herzens eine Liebe und ein
darauf gebautes Sehnen und Verlangen treiben, die auf
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Probleme der Religion. 663
jedes ihnen zur Erfüllung vorgehaltene ideal vollkommenste
Werk der Kultur einleuchtende Antwort erteilen: Nein!
Das ist es nicht, was mich erfüllen kann. Es ist ein —
ganz Anderes!, — erst dann wird auch die Idee der
Kultur selbst mir ergänzungsbedürftig erscheinen; und
erst dann ist zugleich und im selben Akte das religiöse
Bewußtsein »geöffnet« zur Aufnahme der Güter des Hei-
les. Erst vom sog. Gottesgedanken her wird und erscheint
die Kultur »ergänzungsbedürftig.« Und erst, wenn ich
diesen Gedanken gewonnen habe, mag auch der ver-
wickelte und dunkle Weg der geistigen Bildung des Men-
schen und all seiner Kultur mir nachträglich als eine Reihe
von Stufen erscheinen, auf denen der Mensch hinauf-
zuschreiten vermag zu seinem Gotte. Aber diese Stufen
sind Stufen, die als solche erkennbar sind erst, wenn man
oben steht und darum kann man nur im pädagogischen
Sinne, nicht im Sinne der objektiven Begründung unseres
Wissens um Gott auf diesen Stufen zu Gott hinschreiten.
5. Am allerwenigsten endlich könnte diese Auffassung
der Religion unser Verständnis aller religiösen Ethik
befriedigen. Der Versuch, die sittlichen Werte, Normen
und Güter selber herleiten zu wollen als Bestandteile und
objektive Förderungsmittel der Kulturevolution, ist an an-
derer Stelle von mir eingehend widerlegt worden^. Hohe
und höchste Kulturen zeigen sich in der Geschichte mit
objektiv sehr geringwertigen Ethosformen und noch mit
mehr mangelhaftester Moralität verknüpft; niedrige und
unvollkommene Kultur mit sehr hochwertigem Ethos und
' Siehe hierzu meinen Artikel > Ethik« in Frischeisen- Köhlers Jahrbuch der
' Philosophie, II. Bd. ; femer »Der Formalismus in der Ethik und diemateriale
Wertethik.« Vgl. auch das sehr Treffende in der »Moralphilosophie« von
Viktor Cathrein.
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664 Probleme der ReligioiL
höchststehender praktischer Moralität. Hätte es noch
eines Beweises bedurft, der Weltkrieg hätte ihn — über die
Maßen großartig — geliefert. Bildung, selbst noch sitt-
liche Bildung, d. h. differenzierte Fühlfähigkeit und Nach-
fühlfähigkeit für die reichen Qualitäten Sittliches bedeu-
tender Werte ist von moralischer Güte des Seins und
Wollens des Menschen gar sehr verschieden. Als Güter-
ethik ist ferner jede Kulturethik als solche falsch, des-
gleichen als Erfolgsethik. Es wäre den Menschen unter-
gegangener Kulturen (den Ägyptern, Babyloniem, Az-
teken) lächerlich erschienen, wenn man ihnen gesagt hätte,
daß sie etwa für die europäische Kultur von heute ihre
Leidenschaften hätten zügeln sollen. Aber auch wenn man
von den übrigen Irrtümern und Fehlern dieser ethischen
Richtung absieht, so ist der Versuch, auch die religiöse
Ethik, — d. h. die Ethik, die Jahrhunderte der Menschen-
geschichte hindurch die allein lebendige Ethik war und es
heimlich noch ist — als bloße »Ergänzung« einer vor- oder
aufSerreligiösen Ethik anzusehen, auf alle Fälle ein grund-
verkehrtes Unternehmen. Mag die Religion auch viele
Moralvorschriften und Normen, die geltend sind, nur hinter-
her »sanktionieren«, so tut sie doch nirgends nur dieses.
Vielmehr geht überall, wo die Religon wirklich ist, auch
ein eigenes Geflecht als sittlich verbindlich geltender
Werte, Normen, Lebensideale aus ihr selbst hervor,
das sich — wo es nicht alleingültig auftritt — als das
höchste Stockwerk der sonst geltenden Werte über die-
jenigen Werte und Normen auflagert, die Religion nur
nachträglich sanktioniert. Zum mindestien sind dies die
Pflichten gegen Gott und die Heils werte des Menschen,
die singulären und die Werte der Heilssolidarität,
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Probleme der Religion. 665
d. h. diejenigen sittlichen Werte, die nur der Mensch mit
geöffnetem religiösem Bewußtsein, d. h. sich und sein
Schicksal beziehend auf den Weltgrund und auf die ab-
solute Seins- Änd Wertsphäre, überhaupt zu erblicken ver-
mag. Mögen diese Heilswerte — nach der herrschenden
positiven Religion — wie immer nach ihrer faktischen An-
erkennung gewechselt haben, sie bildeten doch immer —
der Intention nach zum wenigsten — ein eigenes Stockwerk
in den Wert- und Normgefügen, unter denen der Mensch
lebte. Und darum sind durch die Heils werte hindurch
und ihren besonderen modalen Charakter natürliche Moral
und natürliche Religion unauflösbar verbunden. Weder aus
der Wertklasse der geistigen und Kulturwerte, noch aus
der Wertklasse der Lebenswerte sind sie herzuleiten. Sind
sie gegeben, so relativieren sie alle anderen Wertarten, die
also nur als die » höchsten < erscheinen, sofern die Heilswerte
nicht gegeben sind, Sie allen anderen Werten — wo sie ge-
geben sind — unbedingt vorzuziehen und für ihre Realisie-
rung das Opfer aller Güter zu bringen, die sich nicht den
Heilswerten einordnen, ist ein der Intention nach nie ver-
letztes und nie verletzbares einsichtiges Wertaxiom — wie
oft ihm auch praktisch zuwidergehandelt werden mochte.
Aber auch da, wo die Religion nur sittliche Werte außer-
religiöser Provenienz nachträglich sanktioniert, geschieht
dies aus dem autonomen Ermessen der Religion heraus und
es geschieht eben so oft, daß sie es nicht tut oder sogar die
sonst geltenden Werte und Normen als widerreligiöse in
ihrer Gültigkeit bestreitet und bekämpft. Wäre die Religion
als religiöses Ethos nur eine »Ergänzung« des selbst noch
nicht religiösen und religiös fundierten sittlichen Bewußt-
seins, so wäre dies alles unverständlich und sinnlos.
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666 Probleme der Religion.
So also zeigt sich uns klar: Auch diese Form der Leug-
nung eines selbständigen religiösen urgegebenen Gegen-
stands- und Güterbereiches, ist unhaltbar und ist von
jeder auch nur sinnvollen Philosophie der Religion zu
verlassen.
Diese Forderung aber ist mit besonderer Eindringlich-
keit für die Gegenwart zu stellen. Soll die Religion
wieder zu einer wahren Leiterin und Führerin der
Kulturmenschheit werden und jene tieferen Kräfte der
Menscheneinigung entfalten, die nur sie besitzt und ohne
deren Mitwirksamkeit alle Einigungserwartungen von
»unten« her (von den »Interessen« aus), — wie ich
anderwärts dargelegt — bedeutungslos bleiben^, — be-
deutungslos bleiben müssen nach den ewigen Gesetzen*,
die bezüglich der Teilbarkeit und Mitteilbarkeit der Werte
gelten, so ist die erste Bedingung, daß sie sich ihrer Selb-
ständigkeit bewußt werde, und daß sich das religiöse
Bewußtsein loslöst aus den allzu dichten Verwebungen
mit den durch den Weltkrieg allzu fraglich gewordenen
Werten und Gütern der außerreligiösen sog. »Kultur«.
Die Freisetzung der Religion aus ihrer Gefangen-
schaft und aus den tausenderlei ihrer unwürdigen Dienst-
schaften, die sie der Nation, dem Staate und zehntausend
außerreligiösen » Organisationen « in einem Maße zu leisten
wie ein Dienstbote geheißen wurde, daß sie selbst unter
diesen Dienstschaften zu verschwinden drohte, ist aber
nur möglich und in der Sache gegründet, wenn diese Er-
gänzungstheorie auch aus derGrundlehre von der natür-
' Siehe mein Buch »Krieg und Aufbau« im Aufsatze über die »Soziologische
Neuorientierung der deutschen Katholiken nach dem Kriege«.
* Diese Gesetze sind entwickelt im »Formalismus in der Ethik etc.«, IL Teil.
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Probleme der Religion. 667
liehen Religion verschwindet. Denn diese »Theorie« ist
ja gar nichts anderes als eine logische Formulierung jenes
historisch-praktischen Zustandes in der denkbar reinsten
Form. Ihr ist ja die Religion nichts anderes als eine Art
Schnittpunkt der Kulturenergien resp. objektiv eine
bloße Einheit und Zusammenfassung der höchsten Kultur-
werte. Eben dies aber ist die Formel für jenes Denken,
das schließlich selbst Gott nur als das leere X eines un-
befriedigten Kulturwillens gelten läßt und diese Leere
dann der willkürlichen Ausfüllung überläßt durch die
Phantasie jedes Einzelnen und jeder Gruppe, z. B. auch
der Nationen. Wie aber soll Religion z. B. dem Natio-
nalismus entgegentreten und von jenem letzten Univer-
;5alismus der Gesinnung aus, den ausschließlich der ge-
meinsame Blick der Menschen auf Gott geben kann, die
nationalistischen Leidenschaften sänftigen und begrenzen,
wenn sie selbst nur eine Ergänzung der doch wesenhaft
und notwendig national geformten Kultur sein soll?
Hier bemerken wir ein merkwürdiges Gesetz : Die Reli-
gion vermag die kaum erschöpflichen, nur durch sie und
ihre eigenen Organisationen zu vollziehenden erhabenen
Dienste, die sie de facto auch aller menschlichen Kultur
und Zivilisation mitzuleisten bestimmt und berufen ist, nur
dann zu leisten, wenn sie nicht ihre Wahrheit und ihren
Wert gründet auf jene Dienstschaft, wenn sie vielmehr
im Gegensatze hierzu ausschließlich auf sich selbst und
ihrer eigenen Evidenz ruht. Ihr Dienen ist das frei es te
Dienen, das denkbar ist; und ihre Wahrheit und ihren
Wert abhängig setzen von dieser Dienstschaft, das heißt
zugleich ihr diese Freiheit und damit alle Möglichkeit
wahrer und wertvoller Dienste an der Kultur nehmen.
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668 Probleme der Religion.
Es heißt also in unserem Sinne die Selbständigkeit der
Religion behaupten, nicht im entferntesten sie isolieren
wollen von den Verwebungen, die sie von sich selbst aus
und kraft der Einheit und Alldurchdringung aller Elemente
des historischen Lebens mit den Kulturgebieten eingeht.
Und es ist ohne Zweifel, daß nicht eine schroffe Isolierung
oder gar Kulturfeindschaft der Religion, sondern eine mög-
lichst tiefe und reiche Harmonie von Religion uncK
Geisteskultur der ideal vollkommene Zustand ist.
Nur darf diese Harmonie niemals auf Kosten der Reli-
gion angestrebt werden, wie es im Geiste der Theorie
lieg^, die wir hier bekämpfen. Zeitalter, die diese Harmonie
aufweisen, wie z. B. für das Christentum das 12. Jahrhun-
dert, oder das 1 7. Jahrhundert in Frankreich, haben diesen
idealen Zustand so sehr verwirklicht, daß eine Orientierung
an ihren Theorien der Religion die letzte Wesensunab-
hängigkeit der beiden großen Angelegenheiten der Mensch-
heit leicht verbirgt. Es ist aber dann um so gefährlicher,
solche Theorien zu unmittelbar auf andere Zeitalter zu
übertragen, die solche Harmonie vermissen lassen. Dann
wird falsche Schönfärbung, was einst sinnvoll und verständ-
lich gewesen. Es sind aber wenige Zeitalter in der Ge-
schichte zu finden, in denen dieser Idealzustand weniger
verwirklicht wäre als das unsrige; in denen die religiösen
Werte allgemeiner und gleichgültiger von den bestehen-
den Kulturtendenzen verleugnet wurden, wie das unsrige ;
und in dem das Gefühl und die Ahnung eines Wende-
punktes der Geschichte der Kultur, der Notwendigkeit
relativen Abbruchs des Überkommenen, ja der Notwendig-
keit eines radikalen Bruches mit einer im Kerne religions-
feindlichen Kultur mächtiger verbreitet gewesen wäre.
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Probleme der Religion. 669
Es ist kein Wunder, daß die immer und überall im Grunde
bestehende Wesensunabhängigkeit von Religion und Kul-
tur hier auch offensichtlicher wird als in den Zeiten der
Harmonie; und daß nur derjenige Stützpunkt des mensch-
lichen Geistes und Herzens, der seiner Natur nach allein
dauern kann, wenn die Stützen der überkommenen Kultur
morsch und alt geworden sind, — der Stützpunkt auf
Gott, — Hoffnung, Stärke und Kraft geben kann auf dem
Boden einer neuen und andersartigen Bildungsart
des Menschen seinem Idealzustand wieder näher zu
kommen. Die Theorie, die wir hier bekämpfen, mußte also
gerade in einer Zeit zu falscher Anpassung an eine greisen-
haft gewordene Kultur fuhren, in der diese Anpassung
darum am gefährlichsten für die Reinheit des religiösen
Bewußtseins ist, weil diese Kultur aus religionsfeind-
lichen oder doch indifferenten Potenzen vorzüglich er-
wachsen ist. — Denn nur dann und dort ist die Harmonie
von Religion und Kultur der vollkommenste Stand des
geistigen Daseins, wenn eine zuerst als selbständig er-
griffene und gleichzeitig als die erste und höchste An-
gelegenheit des Menschen allgemein auch wirklich ange-
sehene Religion die Kultur und all ihre Gebiete — ohne
sie durch willkürliche Eingriffe beherrschen und ohne sie
ihrer inneren Eigengesetze und Eigenwerte berauben zu
wollen — unwillkürlich so inspiriert, daß der Hauch
und der Atem ewigen Lebens alles schöpferische Tun
und alles Werk wie von selbst durchflutet.
Ebensowenig ist mit unserer These irgendwie geleug-
net oder in Frage gestellt, daß der Mensch — und auch der
Mensch der Gegenwart — auf den allerverschiedensten
Wegen seiner subjektiven Entwicklung durch eingreifende
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670 Probleme der Religion.
und tiefe Beschäftigung mit irgendeinem der Gebiete der
Kultur soweit an die Schwelle der Religion gelangen kann,
daß er schließlich in einem, allerdings immer noch freien
und selbständigen, Akt des Glaubens die religiösen
Güter ergreifen muß.
Es gibt zwei idealtypisch verschiedene Wege der »Be-
kehrungen«, die beide ihr besonderes inneres Recht be-
sitzen: den unmittelbaren Weg und den mittelbaren Weg.
Der erste mehr persönliche Weg besteht in dem vorwiegend
plötzlichen oder doch schubartig wachsenden Zureinsicht-
kommen, daß die Substanz der Person ihren vollen Da-
seinssinn und ihre Rettung und tiefste Läuterung nur finden
kann in der Hingabe an Gott und in der freien Unter-
ordnung unter die göttliche Macht. Tiefgehende persön-
liche Erlebnisse sind vor allem die Vehikel dieser Art
der Bekehrung. Ohne zu beachten die unendlich mannig-
faltige Folgeerscheinungen und Bindungen, welche die
Religion wie die Irreligion für das kulturelle Leben mit
sich bringt, ohne den Fäden nachzugehen, die ein religiöses
Gesamtleben in die Kulturgebiete hineinsendet, springt
hier das Individuum gleichsam in einem unmittelbaren
Sprunge von seinem vorreligiösen Stande aus in das Zen-
trum der Religion hinein. Es sind das diejenigen Be-
kehrungen, die z. B. der Pietismus, der Methodismus und
ähnliche Färbungen der Frömmigkeit vor allem auszulösen
bestrebt sind — der Sprung von einem tiefen, plötzlich zu
heller Erleuchtung kommenden Sündenstand unter die
bergenden Flügel Christi und den Reichtum der Gnade ^.
* Dieser Bekehrungstypus ist besonders eindringlich von W. James in
seinem Buche: »Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung« beschrieben
worden.
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Probleme der Religion. 67 I
Der mittelbare Weg ist ein anderer. Er nimmt
von dem religiösen Inspirationsgehalt irgend eines Kul-
turgebietes — der Kunst, der Philosophie und Wissen-
schaft, der Erziehung, des Staats- und Rechtslebens, der
Sitte — seinen Ausgang. Der Mensch bemächtigt sich
hier meist in allmählicher und kontinuierlicher Form —
indem er den Fäden der Inspirationswerte des Kultur-
gebietes nachgeht — zunächst nur der besonderen »reli-
giösen Voraussetzungen«, dieses Kulturgebiets, um erst,,
wenn er diese »Voraussetzungen« gefunden, sie mehr
für sich werden zu lassen als bloße Voraussetzungen,
nämlich die höchsten Selbst- und Eigenwerte und -Wahr-
heiten. Die Voraussetzungen werden dann die Haupt-
setzungen. Gleichzeitig wird ihm — ist er an diesen Punkt
gelangt — das konkrete Ganze der religiösen Heils-
güterwelt^ in das er ursprünglich nur von einem beson-
deren Punkte her gleichsam hineingesehen hatte, sich
in einem Blicke des Geistes darbieten. Er wird dann nicht
mehr nur seine einzelne Kulturfunktion — als Künstler,
Erzieher etc. — sondern sich selber in seiner Substanz
diesen Heilsgütern hinzugeben den Versuch machen. Das
ist ein Weg, der viele Stationen haben kann, auf denen
allen ein zeidicher oder endgültiger Stillstand der Entfal-
tung möglich ist; und es ist ein Prozeß, der sich nur lang-
sam und allmählich zu vollziehen pflegt. Aber wie immer sich
dieser Weg vollziehe, seine Deskription wäre grundfalsch,
wollte man sagen, der Mensch könne überhaupt zur Reli-
gion gelangen, ohne die Religion — wenn er ihr Wesen
auch nur an eine w Zipfel erfaßt — als weit mehr zu fassen
denn als bloße »Voraussetzung« der Möglichkeit einer
Kulturfunktion. Eigentümlich ist diesem Wege vielmehr
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672 Probleme der Religion.
dies, daß sich dem Menschen im Fortgang dieser Entwick-
lung immer neue und immer reichere Aussichten auf
Dinge und Realitäten, auf Werte und Güter hin entfalten
und darstellen, die er nicht erwarten und — auch im
ideals ten Falle des schließenden Voraussehens — voraus-
se he n konnte; die — obzwar sie auch die Enden der Fäden
dessen im Göttlichen sind, dessen Inspirationscharakter er
nachging, als solche »Enden« dogh überhaupt nicht er-
► blickt werden können, ohne daß er zugleich weit mehr er-
blickte als die Gr.enzpunkte der »Enden« — nämlich die
ganze Fülle des (natürlich) Göttlichen. Dieser innere
Gang der Seele ist vergleichbar dem Wege eines reisen-
den Wanderers, der von einem unscheinbaren Reiz der
Landschaft verlockt eine bestimmte Richtung einschlägt,
dem sich aber schon, ehe er dieses Ziel ganz erreicht,
das ihm ursprünglich das einzige Ziel war, ganz neue, un-
vorhergesehene Wunder der Natur eröffnen und der dieses
ursprünglich einzige Ziel unter der Anziehung des immer
herrlicher sich ihm eröffnenden Bildes schon zu vergessen
schien. Dieser richtig beschriebene religionspädagogische
Weg ist aber mit der Theorie von der sachlichen Selb-
ständigkeit der Religion in voller Übereinstimmung und
er bestätigt die Lehre von der Religion als Kultur-
voraussetzung so wenig, daß er ihr vielmehr glatt wider-
streitet. Denn nicht diese Form eines sich fort und
fort mit neuem unvorhersehbarem religiösem Gehalt be-
reichernden Entfaltungsprozesses des Geistes samt der
steigenden Umkehr von Mittel- und Selbstwert des
religiösen Gehalts ließe die Theorie von der Religion
als Kulturvoraussetzung erwarten, sondern im höchsten
Falle eine bloß analytische Steigerung des religiösen
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Probleme der Religion. 673
Gehalts durch immer neue Ansatzpunkte im Gebiet der
Kulturwerte.
Aber auch auf diesem Gebiete bloßer Religionspäda-
gogik können und müssen wir noch scheiden die Typik
der besonderen subjektiven Wege, auf denen typisch
geartete Menschen überhaupt und typisch geartete Men-
schen bestimmter Kulturzeitalter zur Religion gelangen,
und eine von der wechselnden individuellen und typischen
Subjektivität noch unabhängige Ordnung des Ganges in
der sachlichen Werte- und Güterleiter selber, der allem
möglichen subjektiven Sehnen des Menschen zu Gott durch
die Seins- und Wertordnung selber zum mindesten als Spiel-
raum vorgeschrieben ist.
Es gibt gleichsam einen Erziehungsgang des Men-
schen zu Gott — verschieden von der rein sachlichen Be-
gründung des Gottesgedankens und des Daseins Gottes
— der in der objektiven Ordnung der Güterwelt und der
Vollkommenheit und Seinsftille der Dinge selber also
vorgezeichnet ist, daß man in diesem Betrachte die
Weltwertordnung (ganz unabhängig vom menschlichen
Subjekt) nennen möchte einen einzigen großen Finger-
zeig der Welt auf Gott — einen Fingerzeig, der in
viele untergeordnete Fingerzeige zerfällt, die erst in ihrem
gegenseitigen zusammengeschauten Hinweisen auf
das göttlich Eine sich ganz verständlich machen können.
Lassen wir Bilder und Gleichnisse zur Seite, so läßt
sich das hiermit Gemeinte in ein einfaches Gesetz fassen,
dem schon Goethe auf der Spur gewesen ist, wenn er
einmal sagt: »Alles, was in seiner Art vollkommen
ist, überschreitet auch seine Art.« Es mündet in eine
höhere Art der Werte.
43
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674 Probleme der Religion.
In der Tat: Die je vollkommene Güterbildung in jeder
Grundwesensart von Werten — den Wertmodalitäten und
den ihren Kreisen je untergeordneten Wertqualitäten —
fuhrt nach einem Gesetze der Wertgüterkontinuität,
das die Diskretion und Sprunghaftigkeit der Werte als
solcher indes keineswegs aufhebt, von selbst in die höhere
und modal — resp. qualitativ — verschiedene Grund-
wesensart hinüber.
Und weil die Heflsgüter die modal höchsten Güter —
weil sie Güter der modal höchsten Wertart — sind, so
gilt auch objektiv und sachgfültig, daß die genaue Ver-
folgung dieser Güterkontuinität — wenn sie die je voll-
kommenen oder doch relativ der Vollkommenheit am
nächsten kommenden Güter der Güterarten durchläuft —
schließlich bei Gott als dem schlechthin heiligen und darum
»höchsten Gute« enden muß.
Erst diese beiden Wertgesetze geben dem Wege der
Bekehrung, die wir die mittelbare nannten, auch eine
sachliche Rechtfertigung, die über den bloßen zufälligen
Erfolg der Erreichung des Zieles — der Gottgewinnung
— hinausreicht, da sie sich stützt auf die objektiven
Fingerzeige und Hinweisungen auf das Göttliche, die nicht
bloß in der Natur des Menschen, sondern in der Welt-
wertordnung vorgezeichnet sind.
Die Wahrheit der beiden Gesetze bestätigt sich auf
allen Wertgebieten. Wo die Übung eines Handwerks, das
als solches noch in den Grenzen der nützlichen Zweck-
mäßigkeit— in irgendeiner Hinsicht des Nützlichen —
gelegen ist, eine in seiner Art vollkommene Bildung er-
reicht,erreichtsiezugleichmehralseinbloßNützliches —
ein kleines zweckfreies Kunstwerk einer zum mindesten »an-
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Probleme der Religion. 675
hangenden Schönheit«. Das Nützliche selbst wird schön ,
wo seine Nützlichkeit vollkommen ist. Steigt der Forscher
einer positiven Einzelwissenschaft in jene letzten Gründe
seines Wissens und in die tiefliegendsten und darum frucht
barsten Prinzipien seines Forschens zurück, so gelangt er
wie von selbst in die Gebiete der Grenzfragen der höheren
Gattung des menschlichen Wissens, das wir das philo-
sophische oder das Wesenswissen nennen. Seine höchsten
»Voraussetzungen« müssen immer auch Wesenswahr-
heiten sein. Denn Gegenstand ist dem Philosophen schon
dasjenige am Wesensgehalt der definitorischen Grundbe-
griffe des positiven Forschers, was diesem selbst noch
bloße, aber letzte »Voraussetzung« seines Forschens ist.
Und ebenso gewiß muß der Philosoph, — entwickelt er
nur voll und restlos auch die Folgen seines Wesens wissen s
— auch Sinngehalte der wahren »Voraussetzungen« der
Wissenschaften mitgewinnen — ohne darum sie zu ge-
winnen nur »als« Voraussetzungen — wie es die Gewohn-
heit der schlechten unphilosophischen > Philosophie « ist, die
bloße > ancilla scientiae « ist. Trotz der grundverschiedenen
Wesensartung des Wissens, das der Philosoph und der
positive Forscher erstrebt, müssen Philosophie und Wissen-
schaft in dem Maße kontinuierlich ineinander übergehen,
als beide vollkommen sind. Nur in den unvollkommenen
Niederungen des beiderseitigen Betriebes gehen Philo-
sophie und Wissenschaften auseinander. In schöpferischen
Zeiten und in schöpferischen Menschen berühren sie sich
scheidewandlos. Nur in unschöpferischen gehen beide un-
abhängigen Gang.
Und wird ein vollkommen heldenhafter Mann nicht not-
wendig zugleich ein Genius wie in Alexander, Caesar,
43*
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676 Probleiiie der Region.
Ns^leon, Friedridi dem Großen,Priii2 Eugen — im Gegen-
satz zu dem Nurhelden, etwa einem Blücher? Je höher die
Werte sind, um deren zugehörige Intentionen (ak wert-
iassende und reah'sierende) es sidi handelt, desto mdir
stützen imd fördern sich die Intentionen g^[enseitig,ja
steigern sidi gegenseitig. Kann ein Künsder vollkommen
sein ohne sittlich gut zusein? Ich muß es aufs bestimmteste
leugnen, obgleidiich über die »Fälle« natürlich nicht ganz
unwissend bin, die mir aus Geschichte imd Leben ent-
gegengehalten werden können. Wer Technik aber — auf
beiden Seiten, denn es gibt auch eine Technik der Moral,
nicht nur eine solche jeder Kunst — nicht verwediselt
mit Kunstwert und Güte und wer diese intuitiv evidenten
Sätze mehr gebraucht, um die Wirklichkeiten der Erfehrung
richtig zu analysieren (also die »Tatsachen« erst festzu-
stellen, um die es sich handelt), als um die Sätze an diesen
Realitäten zu messen, der wird mit jenen sog. »Tatsachen«
und »Fällen« leicht fertig werden.
Vermag man anders ein vollkommener »Führer« zu
sein als so, daß man mehr ist als bloßer Führer — näm-
lich eine zweck- und zielfreie geistige Gestalt, die unwill-
kürlich, ohne daß sie Führerintentionen ausübt, als Vor-
bild Nachfolge erweckt — und die nicht wertvoll ist und
scheint um ihres Führertums allein willen, sondern darum,
weil ein »solcher Mensch in der Welt« ist?
Vermöge dieses Gesetzes verstehen wir, daß es im
Wesen der Kulturwerte selbst gelegen ist, daß der Mensch
schließlich von jeder Gütersphäre aus (Wirtschaft,
Recht, Staat, Kunst, Wissenschaft usw.) zur religiösen
Haltung und in ihr zu Gott muß gelangen können. Aber
dieses religionspädagogische Gesetz schließt nicht ein.
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Probleme der Religion. 677
daß man Religion durch die Beantwortung der Frage
begründen könAe: Wie ist Kultur möglich? Die
Religion und ihre Güter sind und bleiben ein über-
kulturelles Sach- und Wertgebiet, das freilich — wenn
es im religiösen Erkenntnisakt ergriflFen ist — auch den
Kulturwerten erst letzten Sinn und letztes Ziel gibt und
die Produktion der Kulturgüter reflexiv als Stufen im
Aufstieg zu Gott gewahren läßt.
So können wir nicht finden, daß diese neueren, meist
in der philosophischen Kultursphäre des Protestantismus
entsprungenen Versuche, der natürlichen ReCgion eine
Begründung zu geben, sich auf einem Erfolg versprechen-
den Weg befinden. Wie Einzelnes darin auch wertvoll
sein mag: Nur der früher gewiesene Weg scheint uns
auch dieses Wertvolle bergen und richtig gebrauchen zu
lassen. —
Aber diese Untersuchung wäre nicht vollständig, würde
sie nur der Begründungsversuche bereits geltender reli-
giöser Behauptungen gedenken. Es gibt ja heute große
Kreise, die eine »religiöse Erneuerung« in dem Sinne ver-
stehen, daß man die Heraufkunft einer neuen Religion
erwarten müsse oder gar eine neue Religion sozusagen
erfinden müsse. In immer größerer Anzahl melden sich
gegenwärtig Religionsstifter und finden mehr oder weni-
ger Gefolgschaft^.
Wie verhält es sich mit den Aussichten auf eine »neue
Religion«, die nicht zu »begründen«, sondern sozusagen
zu erfinden wäre?
^ Ich erinnere nur an die Christian Science, an die theosophische Bewegung^,
an die Bestrebung^en von Johannes Müller, an die Kreise der um £. Diederichs
Zeitschrift »Die Tat« gruppierten religiös interessierten Jugend.
Digitized by VjOOQ IC
678 Probleme der Religion.
III. Warum keine neue Religion?
Es besteht kein Zweifel: Es ist die Gewohnheit, es ist
nicht Einsicht, was dia Mehrzahl der gläubigen Menschen
bewegt, in den überlieferten Glaubens- und Kultformen ihr
religiöses Leben zu führen. Freilich besagt dies nicht eben
viel. Denn auch alle möglichen Formen der Religions-
entfremdung, ja der Gottesleugnung oder der Indifferenz
haben längst aufgehört, neue Erfindungen und persönliche
geistige Erwerbungen zu sein. Auch sie sind für große
Kreise der europäischen Bevölkerung traditionell ge-
worden und werden durch das Gesetz der Denkträgheit
durch Generationen weitergeschleppt. Der Heroismus, der
einst notwendig war, um den Kirchen entgegenzutreten
und der rein als solcher starke Seelen mehr anziehen als
abstoßen mußte, lädt keinen Edlen mehr zu solchem Tun
ein. Er findet längst auf politischem oder ökonomischem
Boden ein dankbareres Feld. Man ließ vor Kriegsbeginn
auf unsren Hochschulen z. B. jede Form des Atheismus
vertreten, nicht aber durfte ein Gelehrter z. B. Marxist
oder Republikaner sein. Die »Voraussetzungslosigkeit«
der Nationalökonomie ist wichtiger geworden als die der
Philosophie. Immerhin ist aber die Tatsache des reli-
giösen Traditionalismus ein Motiv gerade für religiös
lebendigere Gruppen, die »religiöse Emeperung« im Sinne
einer »neuen Religion« für wünschbar zu halten. Eben
an diese Gruppen möchte sich das Folgende wenden.
Ich formuliere eine selten gestellte Frage so:
Gibt es — von Gewohnheits- und Traditionsglauben
einmal ganz abgesehen — nicht etwa im Wesen der
Religion und im Wesen des möglichen Ursprungs von
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Probleme der Religion. 670
Religionen selber gelegene, der strengen Einsicht zugäng-
liche Gründe zur Annahme, es sei eine »neue Religion«
entweder überhaupt nicht mehr, oder zum mindesten in
Europa nicht mehr zu erwarten?
Gäbe es solche Gründe, die ganz unabhängig von jenem
Motiv der Gewohnheit bestehen, wie tief wäre dann der
Irrtum jener, die nur aus der Reaktion gegen jenen Ge-
wohnheitsglauben oder aus sehr vagen Ideen über einen
notwendigen »Fortschritt« alles dessen, was dem Men-
schen wert ist und wert sein soll, mit der Möglichkeit oder
Wahrscheinlichkeit einer »neuen Religion« rechnen? In-
dem sie »Besseres« oder »VoUkommneres« erwarten,
hätten sie das schlichte Gute ausgeschlagen. Gibt es aber
solche Gründe, dann könnte ja unsere mögliche Grund-
haltung zur Religion nur eine sein: die Haltung der
Bewahrung der religiösen Güter, die wir besitzen und
die Sorge, sie immer fruchtbarer zu machen, d. h. voll
tätig und voll gebend für die Seelen der Menschen.
Es gibt aber solche Gründe, wie mir scheint — und
zwar Gründe ganz prinzipieller, ja im Wesen der Religion
und in ihrem Verhältnis zur Geschichte selber gelegener
Natur; und es ist mir oft merkwürdig erschienen, daß
man — von einigen Ausnahmen abgesehen — bisher
nur wenig getan hat, um diese Gründe in ihrem systema-
tischen Zusammenhang klar herauszustellen.
Die Gründe sind verschiedener Art und verschiedenen Ge-
wichts. Es gibt I . metaphysisch-theologische Gründe, die im
Wesen der Gottesidee selber gelegen sind ; 2 . Gründe, die in
der Entfaltungsrichtung des menschlichen Geistes liegen.
Diese Gründe sind vom Glaubensstandpunkt ganz un-
abhängig und für die Vernunft faßbar.
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68o Probleme der Religion.
Erst wenn sie geltend gemacht und verstanden sind,
darf man die weitere Frage stellen nach der Stellung des
Christentums unter den Religionen und nach den Grün-
den, welche dir und gegen seine sog. »Absolutheit« spre-
chen, d. h. für oder gegen seinen Anspruch, nicht nur die
bisher vollkommenste, höchste und reinste Religion zu
sein, sondern »die« schlechthin wahre oder absolute Re-
ligion.
I.Widerstreit der Idee eines persönlichen Gottes und
der Erwartung einer neuen Religion.
Der erste Grund lieg^ im Wesen des Göttlichen selbst,
sofern es personal gedacht ist — nicht also erst in der
Realsetzung einer bestimmten Glaubensausgestaltung
dieses Wesens.
' ' Dürften wir die Idee Gottes anschauen und denken
ohne die Idee einer personalen Wesensform in ihren Ge-
halt aufzunehmen, also z. B. denken als die Idee eines un-
persönlichen Allgeistes, einer bloßen Ordnung der Welt,
eines Allebens, einer personfreien Substanz, Sache oder
Idee, so wäre es an sich oder so wäre es vom Wesen eines
sogearteten zu erkennenden Gegenstandes her durchaus
möglich, daß im Laufe der menschlichen Geschichte
immer neue und sogar in einem steten Fortschritte der
Erkenntnis Gottes begriffene Religionen aufträten. Warum
auch nicht? Ist nicht die Astronomie z. B. auf diese Weise
in der Geschichte der Erkenntnis fortgeschritten, nicht
nur durch Einzelfortschritte, sondern auch durch den
Wechsel der »Systeme« der Himmelsauffassung (z. B.
antik-biomorphe und modern-mechanische, heliozentrische
und geozentrische Auffessungsform)? Bei jeder Erkenntnis
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Probleme der Religion. 68 l
und Teilnehmung an einer Sache ist Analoges möglich,
d. h. überall da, wo Erkenntnis und Teilnehmung eines
Seienden am Wesen des anderen Seienden ausschließlich
durch spontane Akte des Menschengeistes stattfinden.
Auch für den göttlichen Grund der Welt gilt dieser
Satz, solange und sofern dieser Weltgrund unpersönlich
gefaßt wird. Auch auf diesem Felde der natürlichen spon-
tanen Erkenntnis des göttlichen Weltgrundes nach Wesen
und Dasein kann sich die menschliche Erkenntnisarbeit
im Fortgange ihrer Geschichte häufen, so daß jeder Fol-
gende auf den Schultern seines Lehrers steht. .
Aber wie sehr wenden sich doch die Dinge, wenn wir
— dem aus der Ethik entnommenen einsichtigen Wert-
axiome folgend, daß Personwerte höhere Werte sind als
alle Sachwerte — schon in die Idee eines »summum
bonum« die Personalität als Wesensmerkmal einschließen
müssen? Dann wissen wir durch spontanen Erkenntnisakt
zwar noch lange nicht, daß der durch die Vernunft als da-
seiend erwiesene Weltgrund (mit den ihm eigenen meta-
physischen Prädikaten) auch wirklich persönlich sei. Ja
wir wissen gerade dann und eben auf Grund der Ein-
sicht der wesensnotwendigen Personalität eines summum
bonum vielmehr streng einsichtig sogar das andere: daß,
wenn Gott Personalität irgend einer Form besitzt, es
auch im Wesen Gottes selber gelegen sei, daß Gott,
soweit er persönlich ist, evident niemals nur durch
unsere spontanen Erkenntnisakte zu unserer Erkenntnis
gebracht werden könne; daß vielmehr das Zustande-
kommen dieser auch nur möglichen Erkenntnis bei ihm
selber beginnen müsse, bei seiner souveränen und freien
Herabneigung zu uns, bei irgendeinem Akte, dadurch er
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,682 Probleme der Religion.
sich uns erschließt, er sich uns mitteilt und als Person
selbst enthüllt. Mitteilung solcher Art aber heißt »Ofien-
barung«. Wir wissen also, daß ein personaler Gott —
wenn er da ist und so weit seine Personalität in Frage
kommt — allein durch Offenbarung (resp. Gnade, Er-
leuchtung) für Menschen erkennbar sein könne*.
Es sind also nicht etwaige Mängel »unserer« Ericennt-
niskraft oder »Grenzen« dieser Kraft, sondern es ist eine
Wesensfolge des Gegenstandes, über den mögliche
Erkenntnis hier in Frage steht, daß Gottes personales
Was, ja die Existenz seiner — zwar nicht als Gott über-
haupt, aber als personaler Gott, uns niemals durch spon-
tane Erkenntnisakte gegeben werden könne, sondern nur
durch einen freien Aktus der Selbsterschließung der gött-
lichen Person. Insofern gibt es also sogar eine evidente
Einsicht in die Unbeweisbarkeit Gottes als da-
seiende Person — wenn man will einen »Beweis der
Unbeweisbarkeit Gottes als Person«.
Denn machen wir uns klar, wie überhaupt wir Dasein
und Gehalt eines Gegenstandes vom Wesen der »Person«
uns wesensmöglich zur Erkenntnis bringen können. Ich
nehme einen Menschen wahr mit allen mir von ihm zu-
gänglichen Sinneseindrücken und Anschauungs- und Vor-
stellungsinhalten — und suche ihn zu erkennen, femer mit
allen Schlüssen, die auf diese Erfahrungen aufzubauen sind.
Vermag ich darum — so er sich mir nicht selber durch
' Denn wie immer auch vernünftige Einsicht — ohne Offenbarungslicht —
das Dasein eines Gottes im Sinne der Bestimmungen : £ns a se, res infinita,
summum bonum, Geistigkeit klar zu erkennen vermag — ja auch noch fest-
zustellen vermag, es müsse Personalität zum Wesen eines höchsten Gutes
gehören, — wenn es ist — so bleibt doch der Satz: »Der daseiende Gott ist
Person « aller Vemunfterkenntnis überlegen.
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Probleme der Religion. 683
Rede, Äußerung aller Art, Schrift usw. frei zu erkennen
gibt — zu erkennen, was er denkt, urteilt, wen er
liebt, haßt? Ich vermag es nicht. Der Mensch kann
schweigen. Nur eine Person kann »schweigen«. Denn
es liegt im Wesen einer Person — im Unterschied zu einem
nur beseelten Organismus, und seinen in automatischen
Ausdrucksäußerungen nach außen tretenden Lebensvor-
gängen — daß sie die Erkenntnis dessen, was sie will,
denkt, urteilt, durch ein anderes Wesen von ihrem freiem
Akte undErmessen kann abhängigmachen. Einegeistige
Person allein kann »schweigen« . Eine Person wird erkannt
nur, indem sie sich erkennen läßt, indem sie sich kundgibt.
Eine Person kann lügen, ja sich selbst verbergen. Nur sie
vermag es. Der Stein, der beseelte Organismus, das Tier,
die Pflanze vermögen es nicht. Freilich: der Mensch, da er
nicht nur geistige Person ist, sondern auch beseeltes Lebe-
wesen, da er ferner nicht vollkommene Person ist, sondern
nurunvollkommene Person, d.h. eine Personist, derenAkte,
ja deren stetiger Selbstvollzug ihres Daseins in Akten, an
die Organe und Lebensvorgänge eines Leibes gebunden
ist, vermag auf Grund der Wesenszusammengehörigkeit
von Vitalität und Geistigkeit, Leiblichkeit und Personalität
in seiner Natur, sein bloßes Dasein als Person nicht zu
verbergen. Denn nehmen wir einen Menschen leib wahr
— oder auch irgendwelche seiner Spuren — so schauen
wir in diesem Leibe sein Personsein in der Weise des
Mitschauens mit. Wir tun es auf Grund dieses anschau-
ungsmäßigen Wesenszusanunenhangs von Menschenleib
und Person^. Ist uns also sein Persondasein auch niemals
^ Vgl. hierzu den Anhang meines Buches : »Zur Phänomenologie und Theorie
der Sympathiegefühle«.
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684 Probleme der Religion.
direkt anschaulich selbst gegeben, so doch in der Weise
des Mitgemein tseins — auf Grund eines Wesenszusammen-
hangs, der im puren Gehalt von Menschenleiblichkeit und
Personalität gründet und der uns — zum mindesten —
an der Hand unserer Selbsterfahrung als gültig klar ist;
d. h. unabhängig von der Zahl der Fälle, da wir ihn er-
fahren. Der Mensch vermag darum nur zu schweigen
über das, was er als Person denkt, liebt, urteilt; nicht
vermag er sein personales Dasein selbst zu verbergen.
Wie aber steht es um eine leiblose, unsichtbare,
vollkommene, unendliche und absolut freie Per-
son? Es ist klar, daß es ihr Wesen nicht ausschließt, daß
sie nicht nur ihren Geistesinhalt, sondern auch ihr Da-
sein selber verschweigen, verbergen könnte.
Wenige haben ihn gedacht, — den unabmeßbar furcht-
tiefen Grenzgedanken eines Gottes, der da ist, dej Person
ist und der doch schweigt, ja sich selbst verschweigt ; der
sich selbst verbärge, was er vermag — als Person; den
Gedanken einer Welt, einer Weltgeschichte endlicher Ver-
nunftwesen, über der ein Gott leitend thronte, der sich
nicht zu erkennen gäbe; der sich nicht erkennen ließe;
einer Welt, deren Bewohner nicht aus eigenen Mängeln
oder aus Schuld, sondern darum, weil es Gott so wohl-
gefällig ist, nichts von Gottes Dasein wissen könnten.
Und doch liegt es im Wesen Gottes als vollkommener
Person, daß zwei Weltgeschichten und zwei Welten, in
deren einer es einen Gott gäbe und in deren anderer es
keinen gäbe durch Nichts unterschieden sein müßten —
für die Erkenntniskraft der Menschen; es sei denn, es
offenbare sich Gott in der einen und er offenbare sich in
der anderen nicht.
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Probleme der Religion. 685
Es ist klar, daß je größer der Abstand zweier Geist-
wesen an Vollkommenheit und Souveränität ist, das Zu-
standekommen möglicher Erkenntnis des Vollkommeneren
durch das Unvollkommenere in immer steigendem Maße
an den spontanen Erstbeginn des Sichzuerkennengebens
seitens des Vollkommeneren geknüpft ist.
Wenn dieser Gedanke eines Gottes, der sich selbst
— sein Dasein selbst — verschwiege, so selten klar und
rein gedacht worden ist, so ist der Grund dafür nur, daß
Gott das, was er vermag und kann — als absolut freie,
souveräne, unendliche und vollkommene Person — schon
vermöge seiner Idee gleichzeitig wesensnotwendig nicht
kann, da er diese seine Freiheit, es zu können, vermöge
seiner Alliebe und Allgüte, desgleichen seiner Wahr-
haftigkeit wesensmäßig nicht anwenden kann. Nur weil
Liebe als höchster Aktwert ebenso wesensnotwendig
zur Idee Gottes gehört als die Personalität; ja weil Liebe
es ist, die in allen möglichen Geistern Wollen und Er-
kennen, in Gott aber — wie gezeigt — Schöpfung und
Weisheit gleichzeitig fundieren, enthüllt sich uns die Idee
eines sich selbst verbergenden und schweigenden, ja sich
selbst und selbst sein Dasein verschweigenden Gottes als
das, was sie ist: als Idee eines furchtbaren Gespenstes,
das Dasein nicht haben kann, da Widersinniges auch
nicht da sein kann.
Freie Selbstoffenbarung, stetes Flüstern in den Tiefen
der Personzentren jedes endlichen Vemunftwesens, dauern-
des und kontinuierliches Hereinleuchten des ewigen Lichtes
in die endlichen Geister, Verknüpfung aller endlichen
Geister in der Einheit dieser Liebe und dieses Lichtes
zu einem solidarischen Ganzen — das gehört also zum
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686 Probleme der Religion.
Wesen und zur Idee schon eines möglichen Gottes, der
unter seinen Prädikaten auch jene besitzt, die ihm auf Grund
der einsichtigen, absolut gültigen ethischen Axiome zu-
kommen mußten.
Erst hierdurch aber wird die mögliche Unkenntnis
Gottes — wenn Gott als Person da ist — zur notwendi-
gen Verschuldung des Menschen. Denn diese Ver-
schuldung besteht darin, daß der Mensch dieses Flüstern
nicht hört, jenes Licht nicht in sich aufnimmt, weil er die
Fesseln nicht zu lockern vermag, die ihn an die Gegen-
stände und Bilder der Endlichkeit knüpfen. Unkenntnis
eines unpersönlichen Gottes könnte dagegen nie Ver-
schuldung sein — sondern nur Irrtum. Nicht das Fehlen
also eines sachgemäßen spontanen Erkenntnisaktes, son-
dern das Sichnichtöffnen, das Sichverschließen gegen das
aller spontanen Regung zuvorkommende natürliche Offen-
barungs- und Heilslicht macht das Wesen dieser Ver-
schuldung aus — motiviert, nicht aber determiniert durch
die ungeordnete Verliebtheit in partikulare endliche Gegen-
stände der Erfahrung.
So liegt es also im Wesen eines personalen Gottes,
daß seine Daseinserkenntnis nur möglich sein kann ver-
möge dieses Grundaktes des Sichöffnens, des sich Durch-
fluten- und Durchleuchtenlassens durch das Ganze des in
Gott zentrierten, durch seine Alliebe und seine durch sie
fundierte Offenbarung uns zur Erkenntnis kommenden
Weltsinnes.
In der Liebe zum Göttlichen und Heiligen, — in einer
Liebe, die sich erst in der Bewegung auf ihr Ziel hin als
Gegenliebe erkennt zu einer Liebe, die schon vorher war
und auf diese Seele zielte, ist das letzte heimlichste Trieb-
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion.
687
rad gesetzt, das alle gedankenmäßige Gotteserkenntnis
als Person allererst in Bewegung setzt.
Aus dem Gesagten heraus erblickt man nun aber auch
einen unerwarteten Zusammenhang der Gottesidee selber
mit der Frage einer »neuen« Religion.
Man denke einen Augenblick einen persönlichen Gott,
der sich jener Grenzidee eines sich verschweigenden
Gottes annäherte. Denkt einen Gott, der eben dasjenige,
was — wenn es überhaupt einen Gott gibt, — allein
höchstes Endziel aller vernünftigen Geschöpfe sein kann,
nämlich ihn zu lieben und zu erkennen, geknüpft hätte
an ein sogenanntes Gesetz des Fortschrittes möglicher
Gotteserkenntnis in der Geschichte; der femer auch diese
seine Erkenntnis und ihren Fortschritt wieder geknüpft
hätte an Dasein und Auswirkung einer je gebildeten
Minorität in den Gruppen der endlichen Geister, die da
Völker heißen: Was sollte man wohl denken von einem
so »sparsamen«, einem so »geizigen« Gott, — sparsam
und geizig mit seiner Liebe, sparsam mit seiner Erkennt-
nisgebung? Ich verstehe, — ja es scheint mir sogar not-
wendig— , daß der Pantheismus, — ja jede Art unpersön-
licher Gottesidee überhaupt — mit dieser Vorstellung eines
»Fortschrittes der Gotteserkenntnis durch gebildete Mino-
ritäten« zureiche. Denn wo die Gotteserkenntnis nur eine
Sache ist menschlicher Spontaneität und menschlicher, sich
kumulierender Denkarbeit, da müssen in der Zeit die fort-
geschritteneren Völker, Zeiten, Generationen und gleich-
zeitig die intellektuell Begabteren, die »Weisen« und die
Schichten von »Besitz und Bildung«, die »Gelehrten« auch
am meisten von Gott erkennen. Der Pantheismus ist inso-
fern nach seiner soziologischen und historischen Struktur
1
xJ
Digitized by VjOOQ IC
688 Probleme der Religion.
hin angesehen eine Auffassung, die eben sowohl religiöse
Fortschrittslehre als Aristokratismus der Gebil-
deten sein muß. Das ist also nicht bloß ein strenges Er-
gebnis der historischen Induktion, die uns lehrt — fiif alle
Völker — daß Pantheismus stets eine sogenannte »Bil-
dungsreligion« war, daß er mit Spinoza überall geschieden
hat eine »Religion der Massen« und eine »Religion der
Denker« . Hinter dieser Induktion schlununert vielmehr der
ideale Wesenszusammenhang zwischen Pantheismus
und Bildungsaristokratismus, der uns diese Induktion erst
voll verstehen läßt. Aber was müßten wir sagen von einem
persönlichen Gott, der aus Güte frei sich geben muß und
der seinen Kindern dennoch nur also sich gegeben hätte,
daß er dieses Sichgeben oder Sichmehrgeben geknüpft
hätte an den Zufall, daß ein Mensch oder ein Volk einer
je späteren »fortgeschritteneren Phase der Geschichte« an-
gehöre; oder geknüpft hätte daran, daß dieser Mensch
alle die komplizierten Vorbedingungen erfülle, die dazu ge-
hören, daß man nicht nur ein Mensch, sondern auch ein Ge-
lehrter und Weiser sei? Schon die Frage zeigt, daß diese
Idee nicht wahr sein und keinen realen Gegenstand haben
kann, — da sie widersinnig ist. Ein solcher »persönlicher
Gott« wäre Alles — nur kein Gott. Solange man nicht
beweist, es sei Schuld eines Menschen, früher auf die Welt
zu kommen als ein anderer Mensch, könnte Mangel an
Gotteserkenntnis auch nicht sein, was sie sein muß bei
theistischen Voraussetzungen — nämlich schuldhaft. Auch
das ist ein Wesenszusammenhang zwischen dem Inhalt der
Gottesidee und der Geschichte der möglichen Erkenntnis
Gottes. Kann denn ein alliebender Gott seine Kinder
benachteiligen, nur weil sie zu früh auf die Welt kommen
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 689
oder weil sie nicht zu den Kreisen von »Besitz und Bil-
dung« gehören?
Wir verstehen es sehr gut, daß in allen Gebieten mög-
licher Erkenntnis, die — so bedeutsam sie für die Geistes-
kultur des Menschen, für jede Art von Herrschaft über
die Natur tlnd die Gesellschaft, für Wohlfahrt und Nutzen
sein mögen — , doch nicht heil s notwendig sind, der Grad
und die Vollkommenheit ihrer Förderung und ihrer Ge-
winnung an die Regel der Entwicklung und des Fort
Schritts geknüpft sind; und daß femer diese Förderung
gebunden ist an Minoritäten der Völker (die Forscher
und Gelehrten), — an Menschen, die mit spezifischen Be-
gabungen zu dieser Tätigkeit auch die äußeren Bedin-
gungen der Muße besitzen, die zu dieser Tätigkeit Vor-
aussetzung sind. Eine Erkenntnis aber, die für den Men-
schen als Menschen allein notwendig ist und die femer
heilsnotwendig ist, — eine Erkenntnis, die dazu das nur
sein kann, weil sie nicht betrifft Gegenstände, die in
irgendeiner Art und in irgendeinem Grade daseinsrelati^^
auf die menschliche Organisation und auf die Ziele der
Bildung und den Zweck der Praxis der menschlichen
Natur sind, die vielmehr betrifft die absolute Realität und
das durch sie mitgesetzte letzte und höchste Ziel des Men-
schen, — ja die Ratio und den Sinn seines Wesens und
Daseins — eine solche Erkenntnis kann — wenn sie
überhaupt möglich ist — diesen Bedingungen a priori
nicht unterliegen. Sie kann nur allen zugänglich sein
oder gar keinem. Und es wäre a priori — nur von ihrem
Gegenstande und ihrer Bedeutung aus gesehen — eher
zu erwarten, daß sie die historisch früheste Erkenntnis
gewesen sei, — eine Erkenntnis, die nicht zu entwickeln ,
44
Digitized by
Google
690 Probleme der Religion.
sondern die nur zu bewahren die. Aufgabe aller zukünf-
tigen Menschen gewesen wäre; und es wäre zu erwarten,
daß sie außerdem da, wo sie sich vollendete — eben
um ihre Wesensverschiedenheit von allen anderen Er-
kenntnissen aufzuweisen — nicht zuerst an die Weisen,
sondern an die Toren, nicht an die Gelehrten, sondern
an die Ungelehrten und Kinder des Geistes ergangen
sei, daß sie nicht geboren worden auf einem Throne oder
auf einem Sessel einer Akademie, sondern — in einem
Eselsstalle oder etwas Ahnlichem.
Wunderbares christliches Geheimnis der Herablassung
Gottes in das dunkle, dumpfe Gefängnis des Leibes einer
Zimmermannsfrau! Wunderbare Geburt Gottes in einem
Stalle! Wie sehr stimmen diese christlichen Glaubens-
geheimnisse überein mit dem, was schon unsere Vernunft
von der tiefsten Erschließung Gottes über sein Wesen er-
warten mußte.
Aber auch der anderen Erwartung, diese Erkenntnis
müsse — wenn sie überhaupt möglich ist — die früheste
gewesen sein, entspricht die christliche Lehre vom Ur-
stande Adams, der nur durch Fall und Schuld die voll-
anschauliche Gotteserkenntnis zum Teil verlor und sie
nicht bewahrte.
Aber ich sehe hier ab von allem positiven Christentum
und von positiven Religionen überhaupt. Denn der erste
Irrtum derer, die eine »neue Religion« fordern, ist nicht
ein Glaubens-, sondern auch ein Vemunftirrtum über das
Wesen von Religion überhaupt und über den Gehalt
schon der Gottesidee selber. Sie machen sich nicht klar
die möglichen Erkenntnisbedingungen fiir den Menschen,
die im Wesen eines zugleich absolut souveränen, freien,
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 69 1
allmächtigen und doch alliebenden Wesens persönlicher
Seinsform Hegen. Sie halten Gott für unpersönlich — also
für das bloße summum bonum oder, wenn persönlich,
für geizig oder »ökonomisch«.
Denn: würden sie diese Klarheit besitzen, sie müßten
auch sofort einsehen, daß ihre Art der Einstellung auf
eine »neue Religion«, ihre Erwartung der Forderung
einer solchen in schärfstem Wesenswiderspruche steht zu
derjenigen Einstellung, die alle großen und wirksamen
homines religiosi in der Geschichte gehabt haben. Denn
diese Einstellung enthielt, gerade wenn diese Menschen
religiöses Erkennen und Leben wahrhaft »erneuerten«,
nie und nimmer eine Erwartung oder Forderung »einer«
»neuen Religion«, sondern ausschließlich die Intention
auf Wiederherstellung »der« Religion — der einen, ab-
soluten, wahren Religion. Gerade ftir das, was man ob-
jektiven religiösen Fortschritt in der Geschichte vielleicht
nennen darf, ist die Intention eines »Zurück zu« seitens
derer^ die ihn bewirkten, wesensnotwendig.
Der >homo rerum novarum« hat auf allen Gebieten
menschlichen Wertewirkens sein sehr bedeutsames Recht.
Nur auf dem der Religion ist er — eine wesensmäßig
widersinnige Erscheinung. Denn hier ist das »Zu-
rück zu« die Wesensform der religiösen Erneue-
rung selbst.
Der homo rerum novarum in der Religion ist nicht
weniger eine widersinnige Erscheinung als der Wesens-
typus des »Häretikers«, d. h. des »andersmeinenden«
Menschen, oder des Menschen, der vergißt, daß die Form
des solidarischen, in gegenseitiger Liebe aller Glieder der
sittlichen Welt fundierten Miteinandererkennens, -liebens,
44*
Digitized by VjOOQ IC
692 Probleme der Religion.
-glaubens der Gotteserkenntnis — und im strengsten Sinne
und höchsten Grade nur der Gotteserkenntnis wesent-
lich ist.
Wir statuieren zwei sehr allgemeine Gesetze, die ihren
vollen Beweis erst finden können in einer erkenntnistheo-
retisch fundierten Soziologie des Erkennens. Das erste be-
deutet: die Erkenntnisse sind um so weniger eines konti-
nuierlichen Fortschritts fähig als ihre Gegenstände sich
der daseinsabsoluten Realität annähern und um so mehr,
als sie auf die Organisation des Subjekts daseinsrelativere
Dinge betreffen; desgleichen um so weniger, als unser
Geist sich im Erkennen aufnehmend, — nicht »vorschrei-
bend« — verhalten muß, um zur Erkenntnis des betreffen-
den Gegenstandes zu gelangen; desgleichen um so mehr,
je niedriger und unvollkommener die Gegenstände in der
Rangordnung der Werte und Vollkommenheiten sind : z. B.
die geistigen Kulturwerte schreiten weniger und nach
ganz anderen Gesetzen fort als die zivilisatorischen Werte.
Der zweite Satz lautet: Je vollkommener und absoluter
die Gegenstände der Erkenntnis, desto mehr ist eine mög-
lichst intensive und extensive Form des Miteinander-
erkennens der erkennenden Subjekte Bedingung mög-
licher adaequater Erkenntnis überhaupt; und in desto
breiteren und tieferen historisch-gesellschaftlichen Zusam-
menhängen müssen die erkennenden Subjekte wurzeln.
Desto mehr gilt, daß die ganze Wahrheit über den Gegen-
stand nur durch die Kooperation für diese Erkenntnis un-
ersetzlicher und unvertretbarer Gruppenindividualitäten,
also nur durch die ganze Menschheit erfaßbar ist. Was
für die Gotteserkenntnis aus diesen Gesetzen folgt ist
leicht zu sehen.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 693
Der religiöse homo rerum novarum wie der Häretiker
irrt nicht zuerst darum, weil er materiell Falsches über
Gott behauptet; er muß vielmehr religiös Falsches
wesensnotwendig behaupten, weil seine formale Grundein-
stellung auf Gott dem Wesen des Göttlichen und darum
erst auch seiner möglichen Erkenntnis überhaupt, wider-
streitet. Selbst wo er materiell recht zu haben scheint
— nach dem Maße unserer Vemunfterkenntnis — hat
er noch unrecht. Ein falscher Weg muß zu falschen
Zielen führen, auch wenn nach den ersten Schritten sich
-das Ziel zu nähern schiene.
Mit der Annahme der Personalität Gottes ist aber auch ly/
die Art und Weise bereits bestimmt, in der eine göttliche
Mitteilung (Offenbarung) an den Menschen allein erfolgen
kann: nämlich durch Vermittlung menschlicher Per-
sonen. Die Grundauffassung, daß alle Religion in ihrer
Geschichte nur wächst und abnimmt, steigt und fällt, sich
reinigt und verderbt nach der Regel von personhaftem
Vorbild und Nachfolge, Führer und Gefolgschaft;
daß also keine der großen Wendungen der Religions-
geschichte, sei es aus dem bloßen »Geist der Völker«
oder der Massen fließe, sei es auf Grund der Explikation
irgendwelcher »Ideen« nach einer bestimmten Entwick-
lungsregel zu ermessen sei (Hegel, Hartmann) — diese
Grundauffassung ist jedem Theismus wesentlich. Und
ebenso wesentlich ist dem Pantheismus, wo er geschichtlich
und dynamisch wird — im Gegensatze zu Spinozas stati-
schem und »geometrischem« Pantheismus z. B. — , also
etwa bei Hegel und Hartmann, bei Biedermann und
A. Drews die entgegengesetzte Anschauung: daß den
Kern aller Religionsgeschichte eine Ideenentfaltung
Digitized by VjOOQ IC
694 Probleme der Religion.
bilde, in erster Linie die Entfaltung des Sichbewußt-
werdens der göttlichen Idee im Menschengeiste selber
— was ja nach Hegel und Hartmann usw. das 'Wesen
der Religion ausmacht. Wer also eine »neue Religion«
fordert, der mache sich den Wesenszusammenhang klar,
daß er schon damit allein auf pantheistischem Boden
steht. Fortschrittslehre, Sachauffassung des Götdichen
(also religiöser Impersonalismus) und Bildungsaristokra-
tismus (respektive der falsche Gegensatz »esoterischer«
und »exoterischer« Religion) gehören ebenso wesentlich
zusammen wie Personalismus, Bewahrungslehre und all-
gemeine Volks- respektive Menschheitsreligion (respek-
tive Kirche als objektive Heilsanstalt). Das sirid nicht
Sätze, die auf Beobachtung und Induktion an der Ge-
schichte beruhen, sondern es sind ewige Sinnszusam-
menhänge zwischen dem Gehalt der Gottesidee selber
und ihrer historischen, respektive soziologischen Form
des zu diesem Gehalt gehörigen menschlichen Glaubens.
Es sind Sätze, nach denen wir die positive Religions-
geschichte verstehen müssen, ihre Bewegkräfte unter-
scheiden, ihre mannigfachen Mischungen trennen; die wir
aber nicht aus ihr entnehmen.
Schon mit der Annahme dieser personalen Vermittlung
aller möglichen Offenbarung (die mit einer allgütigen gött-
lichen Person selbst ohne weiteres als notwendig gegeben
ist) ist die Vorstellung eines Fortschrittsgesetzes der reli-
giösen Wahrheit ausgeschlossen. Denn die Person ist in
ihrem Kerne historisch zufällig und unableitbar. Freilich:
dies bedeutet bei der religiösen Vorbildschaft — der Heilig-
keit im eminenten Verstände — noch etwas ganz Eigenes,
was es bei außerreligiösen Vorbildern nie bedeuten kann.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 695
Denn: was ist denn ein homo religiosus, ein Heiliger,
seinem Wesen, seiner Idee nach? Er ist — immer unter
theistischen Voraussetzungen, denn unter pantheistischen
gibt es nur Heilslehrer — , eine Person, deren geistige
Gestalt uns in ausgezeichnetem Maße ein, wenn auch noch
so inadaequates Abbild der Person Gottes also darstellt,
daß alle seine Aussagen, Ausdrucksäußerungen, Hand-
lungen nicht mehr gemessen werden an einer Norm all-
gemeingültiger Form, die wir schon vorher kraft der
Vernunft anerkennen, sondern ausschließlich darum als
götdich, heilig, gut, wahr, schön hin- und angenommen
werden, weil »Er« es ist, der aussagt, ausdrückt, handelt.
Auf allen anderen Gebieten der Werte — Philosophie,
Wissenschaft, Kunst, Staat, Recht — wäre ein solches
Verfahren radikal widersinnig. Jedes Wort und jede Tat
der Führer muß hier vielmehr gemessen werden an all-
gemeingültigen Normen, die unsere Vernunft anerkennt.
Dahingegen Hegt es im Wesen' der personalen Gottes-
idee, daß ihre »Wahrheit« sich auch darstellen muß in
der geistigen Seinsgestalt einer Person, die hier eben
als Person die Wahrheit »ist«, — nicht primär sie nur
»sagt« und die nur darum die Warheit sagt, weil sie die
Wahrheit ist. (Dies wenigstens im denkbar vollkommen-
sten Falle der Heiligkeit, die historisch tatsächlich be-
ansprucht wurde nur von Jesus.)
Und auch dies folgt hieraus, daß alle weitere Erkennt-
nis der religiösen Wahrheit — im Sinne von Sachwahr-
heit — seitens einer historisch sozialen Umwelt der
Heilsperson von nun an gegründet ist in einem Seins-
verhältnis zur Heilsperson, das sich herstellt durch
eine innere Nachgestaltung eben ihrer Persongestalt, d. h.
Digitized by VjOOQ IC
i96
Probleme der Religion.
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.„. lebendigeiV »Nachfolge« ihrer. Die Selbstgestaltung
'- ein Werdensp^fÄzeß des geistigen Lebens - nach
dem Vorbild des Heilig -^^ ^^' ^^^ '^'^^[^ J^"^^"^^"
dingten Glauben fordernde\\rt;;<^l^rismaüschen Qu^^^^^
geht also hier aller positiv reli^^^. . - ,
wendig voraus. Die in lebendigem CjR^ ^ . .
tinuierliche und lebendige ReproduktiJPJ ^. ,
Gestalt des Heiligen am Material der i'w . >. ii
Seelen wird notwendig zur letzten und höchs?£^. . i
auch der Glaubenserkenntnis, d. h. der Erkenn
der rationalen Formulierung alles dessen, was im Be^
sein des Heiligen von Gott und göttlichen Dingen
schaulich gegenwärtig war. Alle übrigen Quellen
Glaubenserkenntnis, als da sind lebendige Tradition,
»heilige« Schriften, dogmatische Definitionen einer kirch-
lichen Autorität, die ihre Stiftung auf den ursprünglich
Heiligen zurückfiihrt, sind also von dieser letzten Quelle
irgendwie abhängig und müssen in dem »Geiste«, der
sich in der Reproduktion der geistigen Seinsgestalt
Heiligen immer neu bildet, aufgefaßt, interpretiert,
braucht werden.
Aber so unverbrüchlich wahr es ist, daß die Kette der
homines religiosi, d. h. der vom ursprünglichen Heiligen
abgeleiteten, ihm nachfolgenden Heiligen gleichsam die
lebendige Seele ist jeder zusammenhängenden Sinn-
geschichte einer Religion und Kirche; daß die wesent-
lichsten »Epochen« und Wendungen solcher Geschichte
immer und überall durch das Auftreten eines je neu-
artigen Typus dieser ausgezeichneten gottinnigen Men-
schen charakterisiert sind : Es folgt doch aus dem früher von
der historisch-soziologischen Form einer personalistischen
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Probleme der Religion. 697
Religion Gesagten gleich noch ein anderes. Es folgt die
Wesensnotwendigkeit einer objektiven allumfassenden
Heilsanstalt mit höchster unfehlbarer Autorität
zur Bewahrung und Zuwendung der Heilsgüter an die
Menschen. Erinnern wir uns nur der Sätze, zu denen wir
am Schlüsse dieser Erörterung gekommen waren. Er
kenntnis und Wahrheit, die einen möglichen Gott perso-
naler Seinsform betreffen, können wesensgesetzlich nicht
durch spontane Akte vom Menschen erdacht werden, son-
dern müssen von Gott gegeben werden. Keine leibfreie
geistige Person kann qua Person auch nur in ihrem Dasein,
erst recht in ihrem besonderen Wesen erkannt werden,
es sei denn, sie »offenbare« sich frei dem Menschen.
Kein allgütiger personaler Gott kann aber Offenbarung
unterlassen. Also muß auch der »ursprünglich Heilige*
(wenigstens der Heilige der höchsten möglichen Wesens
art, nach welcher Selbstmitteilung Gottes erfolgen kann)
nicht zuerst kraft einzelner Handlungen und Werke, die
er tut (z. B. sichtlich vorbildliche oder Wunder), nicht
kraft der Lehren, die er gibt und die noch an einer Ver-
nunftnorm außerhalb seiner zu messen wären und die
über ihm stünde, nicht kraft etwaiger Prophetien usw.,
sondern an erster Stelle ausschließlich kraft seiner
heiligen Person selbst, absolute Glaubens- und
Heils»autorität« sein. Handlungen und Wunder und
Prophetien »begründen« nicht rationell seine ursprüng-
liche Heiligkeit ^^nd^f^ff^Qi^^^^^ikt an sie, sondern
erweisen s.e D.0.0 und bewähren sie; sie veranlassen
und motivieren wohl die geistige Blickrichtung aber m
dieser Blickrichtung muß uns das Wesen semer HeiUgkeu
dann »von selber« aufgehen und zu reinster anschaulicher
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698 Probleme der Reiligon.
Gegebenheit kommen. Femer: der ursprüngliche Heilige,
und zwar der Heilige der wesensmäßig höchsten denk-
baren Form, (nämlich der Heilige, an den Selbstmit-
teilung Gottes im Sinne persönlicher und substantieller
Wesensdurchdringung von göttlicher und menschlischer
Natur im Unterschiede zu bloßer Willens- oder Wissens-
mitteilung ergeht) ist auch schon seiner Idee nach der
»Einzige«. Vemunftzweifel kann nur bestehen, ob ein
Reales dieser Idee existiert; femer, wer dieser »Einzige«
ist. Nicht kann Vemunftzweifel bestehen, ob er der Ein-
zige ist, wenn er ist. Ursprünglich Heilige im Sinne einer
Mehrheit können also wesensmäßig nicht so wie abgeleitet
Heilige oder gar wie Genien, Helden coexistieren und
gemeinsam anerkannt werden, sondem müssen sich gegen-
seitig ausschließen und entsetzen. Wer nicht für »ihn«
ist, muß »gegen ihn« sein und wer nicht gegen ihn ist
für ihn als den «Einzigen«. Damm sind die vom Heiligen
gelehrten Wahrheiten nicht nur in dem Sinne absolut,
wie es alle Wahrheiten qua Wahrheiten sind, auch jene
über beliebig daseinsrelative Gegenstände oder über
flüchtigste Vorgänge; sie sind vielmehr absolut in einem
zwiefach gesteigerten Sinne. Sie sind auch absolute Wahr-
heiten über das absolute Sein und zweitens »die« Wahr-
heit (über Gott), d. h. die totale vollendete, unver-
mehrbare und unverminderbare Wahrheit. Alle
»Entwicklung« kann also nur betreffen die Entwicklung
des Eindringens In ilii 1 1 1I nTTÜ^- h. im Menschen-
kreise gegebene, Wahrheitstotalität^ nicht "hTeme
Entwicklung der Gotteserkenntnis im Menschenkreise
überhaupt. Damm muß auch die geistige Glaubens-An-
nahme dieser Wahrheit auf einer frei autonomen Selbst-
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Probleme der Religion. 699
Unterwerfung der Vernunft beruhen, freilich so, daß in allen
Dingen, die nicht Heilsfragen berühren, die Vernunft nicht
nur ihre volle Autonomie aufrecht hält, sondern sogar
durch diesen Aktus der Selbstunterwerfung unter Gott
diese Autonomie gegenüber der ganzen »Welt« erst ganz
vollzieht und voll realisiert. Drittens — sahen wir —
liegt es im Wesen dieser Erkenntnis und Wahrheit, daß
sie Allen zu teil werden könne — unabhängig von Volks-
tum, Bildungsstufe etc. Das besagt abei^, daß es im Wesen
eines ursprünglich Heiligen selbst gelegen sein müßte, eine
solche Veranstaltung zu treffen, daß die hölbhsten Glaubens-
güter durch diese Veranstaltung kraft seiner Autorität und
ihrer rechtmäßigen Übertragung erhalten und verwaltet
werden^ allen zugänglich seien und allen zugewendet
werden. Diese Veranstaltung, die »kirchliche Autorität«
in Heilsdingen, ist darum so wenig in ihrem Wesen be-
griffen, weil man nicht sieht, daß sie ihre erste Voraus-
setzung schon in der Idee eines alliebenden Gottes hat
und im Satze des Primates der Liebe vor der Erkenntnis,
des göttlichen Erlösungswillens vor der Lehrmitteilung.
Wollte Gott allen — schlechthin — über eine Sache,
— die dem Menschen notwendigste — nämlich über sein
eigenes Wesen und das Endziel des Menschen und aller
Dinge aus Liebe Erkenntnis zuwenden — und er mußte
wesensgesetzlich so wollen, sofern er Person und zugleich
allgütig ist — Allen, unabhängig von ihren Begabungs-
formeh und ihrer besonderen Lage in Menschheit und
Gesellschaft, nach Rasse, Nation, Stand usw., und sollte
diese Erkenntnis absolut im oben bezeichneten Sinne sein:
Mußte dann der ursprünglich Heilige, dem Gott »sich«
selbst, d. h. sein Selbst gab, nicht auch eine Veranstaltung
/y
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700 Probleme der Religion.
treffen, diese Erkenntnis so zu formulieren und zu be-
wahren und auszuspenden für alle mögliche Folgezeit,
daß sie unverletzlich durch alle Geistesströmungen der
Geschichte und durch alle Anmaßungen der Vernunft parti-
kularer Kreise, z. B. der Gebildeten, der Gelehrten hin-
durchgerettet werde? Die Unfehlbarkeit einer allum-
fassenden »Kirche« qua Kirche in Heilsdingen ist also
eine Folge davon, daß nicht primär eine Allweisheit,
nicht primär eine Allmacht, nicht primär eine gerechte
Ordnung, sondern eine personharte Alliebe zu allen
Menschen im Zentrum der Dinge und im Regimente der
Welt gedacht ist und gedacht werden muß. Wo immer es
sich handelt um relative Güter, auch um die höchsten, noch
relativen Güter, die geistigen Kulturgüter, wäre solche
Autorität und Unfehlbarkeit radikal widersinnig. Aber
nicht minder widersinnig wäre umgekehrt das Fehlen einer
unfehlbaren Autorität in Heilssachen in einer Welt, die
von einem allgütigen und allwahrhaftigen Gott geschaffen
und gelenkt ist. Bei allen geistigen Kulturgütern wäre die
Annahme vollendeter Wahrheit, Güte, die nur von einem
wesensmäßig Einzigen ausstrahlen sollen und darum
schlechthin zu bewahren seien, total widersinnig. Nur das
absolute Gut und die heilsnotwendige Wahrheit ist so
beschaffen, daß sie — bei Voraussetzung eines persön-
lichen Gottes — entweder allen oder gar keinem muß
zugänglich sein. Daß sie immer und überall nur von
jedem entweder als absolut (nicht also nur als je bisher
»höchste« Wahrheit) und darum auch für alle mögliche
zukünftige Geschichte und für alle Völker, Klassen,
Stände usw. gültig oder überhaupt gar nicht anerkannt
zu werden verdient. Diese Wesensaltemativen der Aner-
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Probleme der Religion. 70 1
kennung und Ablehnung haben nichts historisch Zu-
fälliges; sie folgen aus dem Wesen (nicht erst der Wirk-
lichkeit) des anzuerkennenden Sachverhaltes selbst. Die
Wesensarten der Zuwendungen, der Anerkennungen, des
Glaubens sind hier eben notwendig an das Wesen der
Gegenstände gebunden, an welche jene Akte der Zuwen-
dung, der Anerkennung, des Glaubens ergehen. Wer nicht
absolut glaubt, der glaubt auch nicht an das absolute
Sein. Wer nicht an die Idee der allumfassenden Heilanstalt
und ihren dauernden Wahrheitsbesitz glaubt, der glaubt
auch nicht ernsthaft an die Allgüte Gottes. Wer seine
Religion nicht für die absolut wahre hält, sondern nur für
die relativ vollkommenste (bisheriger Geschichte) kann auch
nicht glauben, es sei das woran er geglaubt, ein Gott und
ein personaler Gott usw. Einheit und Einzigkeit, Allgütig-
keit und absolute Autorität der Kirche (schon als Wesens-
idee von Kirche) sind also wesensgesetzliche Merkmale
der Idee »Kirche«, als der Kirche eines persönlichen all-
gütigen Gottes. Es tritt femer der früher gefundene Satz
hinzu, daß der mögliche Weg zu Gott und zum ursprüng-
lich Heiligen (höchster Wesensart) nicht sein kann der
Weg der »einsamen Seele«, sondern nur das Mitein-
ander im Gotterkennen, Gottglauben, Gottlieben, An-
beten und Verehren aller Menschen und aller historisch-
zeitlichen und aller sozial-gleichzeitigen Teile der Mensch-
heit. Und da Liebe der Erkenntnis vorhergeht, so ist
Wechselliebe der Gott Erkennenden und einträchtig auf
Gott Bezogenen untereinander auch Bedingung und
Fundament alles möglichen Erkennens und Glaubens in
der Form des Miteinander. Was auf andere Weise, nicht
also zum mindesten in der Intention solidarischer und gegen-
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702 Probleme der Religion
seitiger Heilsverantwortlichkeit und Heilsmitverantwort-
lichkeit an Erkenntnis Gottes gefunden wird, kann alles
sein — nur nicht eine wahre Erkenntnis Gottes. Erst aus
diesem Prinzip — dem am meisten verkannten Prinzip bei
jenen, die »neue Religion« fordern, — ergibt sich not-
wendig dieldee des Heilsgutes, das die Kirche als Kirche,
d. h. als Anstalt, nicht im Sinne einer Summe einzelner
Gläubiger, zu wahren und zu verwalten und den Seelen
zuzuwenden hat. Die Akte im Geiste des Menschen, auf
die sich das Sein von Autorität gründet, ja in denen Auto-
rität sich konstituiert, sind Liebe und Vertrauen und zwar
einsichtig gegründetes Vertrauen auf die höhere und tiefere
Einsicht der Autorität vermöge deren innerer schau-
und fühlbarer Würde. Diese »Würde« besitzt sie nicht
durch die individuell-persönlichen Qualitäten ihrer. »Ver-
walter«, sondern vermöge ihres Ursprungs als Stiftung,
und damit all ihrer »Amter« durch den Heiligen Gottes.
Denn nichts anderes ist ja dieses absolute Vertrauen —
das diese Autorität wesensverschieden macht von allen
anderen nur relativen Arten der Autorität, z. B. der des
Staates — als die Fortsetzung der geistigen Grund-
haltung, welche die Erscheinung des ursprünglich Heiligen,
des vollkommenen homo religiosus von aller Umwelt aus-
schließlich schon durch sein Sein und Wes^n — und erst
in zweiter Linie durch seine Werke — fordert: Die Be-
reitschaft, zu glauben, nur weil er es sagt, da er selbst in
Persona die fleischgewordene Wahrheit ist. Die Über-
tragung dieser Grundhaltung auf seine sichtbare Stiftung,
deren unsichtbares Oberhaupt er bleibt und in der er auf
mystische Weise gegenwärtig ist, macht allein verständ-
lich und rechtfertigt es, daß diese und nur diese unter
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XJ.-*»??
Probleme der Religion. 703
allen möglichen Autoritäten auch das höchste und in
strengstem Sinne vollkommenste und edelste Opfer for-
dern darf, das ein Mensch opfern kann: das freie Opfer
seines individuellen Verstandes, das sog. sacrifizio^^ir
intelletto.
Dieses Opfer oder schon die Idee dieses Opfers ist 5y
nun aber — wie mir scheint — eine der seit langem in
der modernen Welt verkanntesten Ideen, die dem älteren
religiösen Gedankenkreis angehören. Alles, was heute
unter Namen »Autonomie der Vernunft«, > Gewissens-
freiheit« — meist in vagster Rede und. ohne klaren,
bestimmten Begriff — unter uns umgeht, scheint sich
dagegen aufzubäumen, ja dagegen aufzuschreien. Und da
ist es doch schon für den weldichen Ethiker, für den
Moralgenealogen und -historiker ein äußerst reizvolles
Problem, wieso es auch nur möglich ist, daß die ganze
ältere christliche Menschheit in diesem > Opfer« nicht
etwa nur eine durch Not, Angst, Furcht vor irdischen
Folgen und ewigen Strafen mißmutig abgerungene Hand-
lung erblickte, die man eventuell tun müsse, um größere
Schäden für sich selbst und für das Ganze der Gemein-
schaft zu vermeiden, nicht ein »notwendiges Übel«, son-
dern vielmehr im Gegenteil eine an sich höchst ver-
dienstvolle herrliche, vor Gottes Augen ganz besonders
hochwertige Handlung in ihm erblickte. Das ist doch
mehr als merkwürdig! Wie konnte denn das, was in den
Kreisen gegenwärtiger europäischer Bildung im Grunde
als »schimpflicher Sklavensinn«, als > kindische Unter-
würfigkeit«, als »verächtUche Preisgabe der eigenen Ver-
nunft« und des eigenen selbständigen Gewissens gilt,
einst als das gerade Gegenteil wirklich ganz ursprünglich
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f'f
704 Probleme der Religion.
erlebt, empfunden sein? Wie konnte diese Unterordnung
des Verstandes als verdienstvolles freies Opfer — in
einer Linie stehen mit all den anderen »Opfern«, z. B.
von Leben, Ehre, Besitz, von denen doch auch der moderne
Mensch keinen Anstand nimmt, zu bekennen, daß sie für
die eigene Überzeugung und sonstigen höchsten Güter
gegebenenfalls zu opfern seien? Nur als ein solch freies
Opfer nach höherer und darum verdienstvollerer Art?
Wie war solch radikale Umwertung eines menschlichen
Verhaltens möglich?
Nun, ganz so groß — wie es scheint — ist der Abstand
nicht zwischen dem wirklichen Erleben und Fühlen des
modernen und älteren christlichen Menschen. Denn es
sind zunächst eine Reihe schwerer Mißverständnisse,
hinter denen sich der Sinn dieses Empfindens und dieser
Hochschätzung des sacrifizio, d. i. für den Menschen von
heute, verbirgt.
Erstens sollte es doch ein Opfer sein, d. h. eine freie, ja
fröhliche Dahingabe von Etwas, das man gerade als hohen
und positiven Wert empfindet; ja als ein höchstes
Opfer erschien der Aktus, höher z. B. als Aufopferung
des Lebens und der Ehre — die schon die individuelle
Vernunft und Überzeugung um ihrer Selbsterhaltung
willen gebieten kann — freie Hingabe eben dieser indi-
viduellen Vernunft selbst. EHeser Gedanke setzt also
gerade voraus eine eminente Hochschätzung eben dieser
individuellen Vernunft als des »lumen naturale«, des
natürlichen, in jede Seele einstrahlenden Gotteslichtes,
ein reines und starkes Besitzgefühl an ihr und ein tiefes
Vertrauen auf ihre Kraft. Denn wie anders hätte dieser
Aktus der Hingabe der individuellen Vernunft an die
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Probleme der Religion. 705
Autorität denn ein Opfei^tind sogar ein höchstes Opfer
sein sollen? Es war also gerade nicht Geringschätzung,
schwaches Besitzgefühl, Mißtrauen in die Vernunft oder Un-
reife ihrer Ausbildung resp. Unreife des Bewußtseins ihrer
Kräfte und daraus folgend leichte Fügsamkeit und Lenk-
barkeit und kindlicher Herdensinn — wie die Modernen
ungeprüft und als ganz »selbstverständlich« annehmen, —
was der Idee und Wertung des sacrifizio zugrunde lag.
Und ebenso wenig sollte der Aktus ausdrücken bloß .eine
Überordnung des Ganzen der Kirche über das Individuum.
Denn gerade das Individuum, die individuelle Person und
Seele adelt sich selbst in diesem Opfer ihres höchsten
vernünftigen Teiles am meisten. Die Erhaltung der Ein-
heit des Glaubens ist nur eine Folge, nicht der subjektive
Zweck dieses edlen Tuns.
Zweitens: Nicht — wie die Modernen annehmen —
eine nur gelegentlich und ad hoc erfolgende, dem Oppor-
tunismus entquellende Nachgiebigkeit des Gehorchenden
gegen die Autorität auf Kosten des eigenen Gewissens
und der eigenen Vernunft sollte das sacrifizio sein. Solche
Nachgiebigkeit könnte ja — psychologisch — entweder nur
auf der Macht der Suggestion seitens der Autorität beruhen
oder auf geheimer Aufrechterhaltung dieser Überzeugung,
verbunden mit lügenhaftem Bekenntnis, lügenhafter Aus-
sage, oder schmählichem Schweigen über die höchsten
Dinge bei besserem Wissen ^ Wohl ist zuzugeben, daß
sich solches -Verhalten oft geflüchtet hat unter den edlen
* Vgl. hierzu die treffenden Ausfuhrungen von Josef Mausbach in seinem
kleinen Aufsatz: Akademische Lehrfreiheit und kirchliches Lehramt in
Nr. II und 12 der Zeitschrift »Die Hochschule« gegen einige Mißverständ-
nisse A. Messers in dessen Aufsatz «Über akademische Lehr- und Lem-
freiheit« in Nr. 7 der »Hochschule«.
45
r:A
-/.
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7o6 Probleme der Religion.
Namen des sacrifizio; und wohl ist zuzugeben, daß An-
gehörige der Kirche, die inmitten der modernen Welt
z. B. auf Universitäten leben und das moderne Auto-
nomieethos schon in sich tragen, besonders leicht zu dieser
kläglichen, ja widerlichen Haltung gelangen, wenn sie mit
der Autorität in Konflikt kommen. Das wahre sacrifizio
aber ist etwas völlig anderes und wesensverschiedenes.
Es ist eine nur bei kraftvollster Selbständigkeit der eigenen
Verpunft und des eigenen Gewissens hinsichtlich aller
nicht Heilsdinge berührenden Weltfragen mögliche, und
es ist systematische, d. h. nicht den einzelnen Vemunftakt
ad hoc, sondern die Vernunft als Ganzes treffende freie,
selbst noch auf Grund der Weltautonomie der
Vernunft vollzogene Unterordnungsbereitschaft des
Willens unter die Autorität, unter ihren Anspruch der
Interpretation und Fixierung der höchsten Glaubens- und
Sittenregeln im Sinne ihres Stifters. Und diese autonome
und freie Unterordnungs- und Gehorsamsbereitschaft ruht
wieder auf der selbst noch vernunftgemäßen Über-
zeugung, daß nur ein Miteinander der religiös-kirch-
lichen Gemeinschaft (auf Grund des Primates der Wechsel-
liebe all ihrer Kinder in Gott vor der rationalen Er-
kenntnis Gottes) und daß nur durch freie Anerkennung
der kirchlichen Stiftung als einer solidarischen Heilsanstalt
eine Erkenntnis götdicher Dinge überhaupt zu gewinnen
sei. Das ist also nicht ein schwaches, nachgiebiges oder
leicht suggerierbares »Gewissen« oder eine schwache,
nachgiebige »Vernunft«, was die Voraussetzung bildet zu
diesem Aktus, sondern ein anderer Gewissens- und Ver-
nunftinhalt betreffend die Frage nach den möglichen
Wegen zu göttlichen Dingen — wenn man will eine
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Probleme der Religion. 707
andere religiöse Erkenntnistheorie. Und endlich drittens:
Es werden nicht untergeordnet und geopfert die objek-
tiven idealen Prinzipien und Formen und Ideen der
Vernunft — im Sinne des sachlichen-idealen, das Sein
aller Dinge durchformenden ASyog, sondern es wird unter-
geordnet das subjektive, individuelle, menschliche, irr-
tumsfähige Vermögen, sich dieses ASyos zu versichern.
Das stete Bewußtsein dieser Irrtumsfähigkeit aber ent-
hält durch die Anerkennung von Fall und Erbstinde —
ohne welche ja, wie wir sahen, der ganze Theismus schon
vor der Vernunft geradezu unsinnig ist — notwendig auch
ein Bewußtsein der Irrtums- und Täuschungsneigung des
Menschen und das um so mehr, je vollkommener und im
Range der Wertordnung »höher« stehend die Dinge sind,
um die es sich wesensmäßig handelt.
2. Die weltgeschichtliche Funktionsteilung
des menschlichen Geistes und eine »neue Religion«.
Die Erwartung und Forderung einer »neuen Religion«
wurde bisher von mir nur aus Gründen zurückgewiesen,
die den Theismus bereits voraussetzen, damit aber Offen-
barung notwendig mitsetzen. Denn ein Theismus ohne
Offenbarung ist ein Nonsens genau so wie ein Theismus
ohne Fall.
Aber — obgleich wir zwar nicht den Beweis des Da-
seins eines persönlichen Gottes fiir möglich — wohl aber
den Satz für möglich beweisbar halten, es müsse Gott
Person sein, wenn Gott summum bonum ist, — ein Satz,
der bei der natürlichen Erkennbarkeit des Daseins der
Gottheit als summum bonum, als Geist und ewige Ver-
nunft usw. überhaupt Einstellung auf mögliche Offen-
45*
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joS Probleme der Religion.
barung mindestens notwendig macht — , so gibt es doch
noch ganz andere Reihen von Gründen, die dazu nötigen,
den Gedanken einer > neuen Religion« wenn nicht illuso-
risch, so doch äußerst unwahrscheinlich- zu machen.
Eine erste Reihe liegt in einer Entfaltungstendenz des
menschlichen Geistes, die sich uns an allen historischen
Entwicklungsreihen des Völkerdaseins bestätigt und die
ihr letztes Fundament hat in dem, was ich das Altern
der Menschheit als Gattung nenne^
Wir besitzen bisher nur sehr mäßige Anfänge einer
Erkenntnis- und Erlebnistheorie derjenigen Gegenstände,
die ihrem Gesamtinbegriff nach der Wesenssphäre des
»Heiligen« angehören. Der größte Teil aller Erkenntnis-
theorie unserer Zeit ist eigentlich nur Wissenschaftstheorie,
hält sich aber trotzdem für befugt, durch die Antwort auf
die Frage, wie »Wissenschaft möglich« sei, das Ganze
des menschlichen erkennenden Geistes zu bestimmen und
auszuschöpfen. Indem man femer gleichzeitig das Gebiet
des »Apriori« nicht in dem das Seiende selbst durch-
waltenden Logos, als den Inbegriff aller Wesenheiten und
Wesenszusammenhänge erblickte, sondern es als feste
Struktur einer subjektiven »Vernunft« und ihrer Funk-
tionen deutete, — einer Vernunft, die keinerlei Wesens-
verschiedenheit bei den Trägem der großen Kulturkreise
zuläßt, in welche die Menschheit zerfällt, und ebenso-
wenig zuläßt eine wahre historische Entfaltung, Verän-
demng, Entwicklung des subjektiven Erkenntnisvermö-
gens, wird schon die Frage sinnlos, ob.es denn nicht
* Daß auch Arten (nicht nur Individuen) geboren werden (Artengeburt),
altern und sterben (Artentod), und zwar nicht durch äußere Katastrophen,
sondern durch immanente Ursachen, ist viel bestritten. Der Sau kann hier
nicht bewiesen werden.
Digitized by VjOOQ IC
Probleme der Religion. 709
verschiedene und verschiedengeartete subjektive geistige
Erkenntnisorgane ynd -Funktionen gebe, die verschiedenen
Sphären möglicher Realität zugeordnet sind; die sich
nicht aufeinander zurückfuhren lassen und die tcotz Un-
wandelbarkeit des objektiven Logos auch verschiedenartig
und verschiedengradig über die Menschheit verteilt sein
könnten: i. auf die verschiedenen Menschenrassen und
Kulturkreise, 2. auf die Phasen des Lebens der großen
Kulturen, in letzter Linie der ganzen Menschheit und ihrer
Teile. Fällt dieses Vorurteil eines konstanten subjektiven
Apriori, so könnten die Erkenntniskräfte so verteilt sein,
daß je diese Rassen, Kulturkreise und Geschichtsphasen
auch für die Erkenntnis der ganzen Wirklichkeit je etwas
Spezifisches und ein nur ihnen Zukommendes zu leisten
hätten, für das andere Kreise undThasen der Geschichte
nicht eintreten könnten. Die anderen Kreise und Phasen
wären nur befähigt und verpflichtet, das einmal von einer
Gruppe Gefundene zu übernehmen und zu bewahren.
Stände es so, daß nur die ganze Menschheit im Gesamt-
ablauf ihrer Geschichte die Fülle der Fähigkeiten in sich
trüge, oder sukzessive in sich ausbildete, die ganze Wirk-
lichkeit erschöpfend zu erkennen, so wäre es ja auch ge-
radezu absurd, wollte sich ein Teil dieses soziohistorischen
Ganzen zum endgültigen Richter über das Ganze machen.
Dies gälte wenigstens für das Gebiet der Erkenntnis so-
weit, als es sich nicht handelt um die logische Gesetzgebung
von Richtig und Falsch (das die bisherige Erkenntnislehre
so einseitig zum Gegenstände nalim) sondern um die
Stoffe und die stoffgebenden Quellen der Anschauung,
der »Erfahrung« — im weitesten, nichtsensualistischen
Sinn des Wortes. Der subjektive ApriorismuS der Auf-
Digitized by VjOOQ IC
7 I O Probleme der Religion.
klärungsphilosophie erstarrte gleichsam die Idee des
menschlichen Geistes zu einer immer gleichen »Vernunft«.
Nehmen wir aber — wie wir es tun — an, daß eben das,
was heute als »starres« Funktionsgesetz des Denkens er-
scheint, als Inbegriff von »Formen« des Erkennens einst
im Flusse war und sich erst an der Betätigung an den
Sachgebieten aus einer noch weniger differenzierten Er-
kenntnisfunktion bildete, so gibt es gar keine Erkenntnis-
theorie, die nicht zugleich eine Entfaltungstheorie und
eine soziologische Strukturenlehre des Menschen-
geistes in sich zu schließen hätte, oder doch sofort in sie
wie von selber überginge, wenn nur das formalste Wesen
des »erkennenden Aktes« einmal bestimmt ist. Ich brauche
dabei kaum zu sagen, daß wir weit davon entfernt sind,
den Irrtümern zu verfallen, die dem herkömmlichen Em-
pirismus und sensualistischen Positivismus der Comte, Mill,
Spencer eigentümlich sind. Denn deren Irrtum ist ja die
Auslöschung des fiir alle Philosophie grundlegendsten
Unterschiedes von Apriori- Wesenhaftem und (induktiv)
Aposteriori-Zufälligem überhaupt. Ein geistiges Funktions-
gesetz kann sich nie und nimmer bilden durch irgendwelche
»Anpassung des Geistes« an zufällige Tatsachen, d. h.
an solche, die der Sphäre induktiver Beobachtung und
Verallgemeinerung angehören. Der Schluß, ein solches
Funktionsgesetz müsse darum der Urmitgift des Gei-
stes angehört haben, ist gleichwohl falsch. Denn es kann
auch durch Wesensschau ursprünglich erworben worden
sein — also gleichfalls durch eine Art Rezeption; nicht
also braucht es darum, sei es durch spontane Hervor-
b^gung (Kant), sei es vermöge irgend einer Art Ein-
geborenheit (idea innata) dem Geiste zuzukommen.
Digitized by VjOOQIC
Probleme der Religion. 711
Wenden wir diese Grundsätze einer Erkenntnislehre,
die hier nicht zu begründen ist, auf unser Gebiet an, so
müssen wir die Frage stellen, ob die stoif- und gehalt-
gebenden Funktionen und Erkenntnisorgane für Gegen-
stände aus der Sphäre des Heiligen überhaupt — wir
sehen dabei von wahr und falsch zunächst ganz ab — dem
Menschengeiste wirklich zu allen Zeiten und überall so
gleichmäßig und in gleichem Grade zukommen, wie man
es anzunehmen geneigt ist. Ja noch mehr : ob nicht vielleicht
in Folge derselben Prozesse, die den »Verstand« des
Menschen, d. h. das eigentlich zivilisatorische Organ zur
Ordnung und Beherrschung der mechanisch lenkbaren
Seite des äußeren und inneren Universums ausbildeten,
andersgeartete Erkenntnis- und Erlebnisorgane — aber
nicht minder zu Erschließung von Realität befähigte und
gleichsam rechtmäßig »berufene« — einer mählichen
Rückbildung verfallen seien.
Beseitigen wir zuerst einige Vorurteile. Der bloße
Wunsch nachzuweisen, es befände sich alle und jede Er-
kenntnis in einem unaufhaltsamen Fortschritt hat häufig
dazu geführt, daß man von vornherein die Sphäre des Er-
kennbaren auf all das verengte, was tatsächlich einen solchen
kontinuierlichen Fortschritt der Erkenntnis aufwies. So-
wohl die positivistischen Religionstheorien wie alle Arten
von sog. Agnostizismen (auch der nur theoretische Agnosti-
zismus Kants) sind davon ein Zeugnis. Die positivistische
Religionstheorie (und allgemeine Erkenntnistheorie) verfiel
zwar dem Irrtum der Erstarrung des menschlichen Geistes
durch die Annahme eines >ewig« gültigen subjektiven
Apriori nicht. Ihre Erkenntnislehre steht darum mit So-
ziologie und Entwicklungsgeschichte der Menschheit in
Digitized byLjQOQlC,
712 Probleme der Religion.
engster Beziehung. Dies ist ihr Vorzug gegenüber
der Erkenntnislehre Kants. Indem aber die positivistische
Erkenntnislehre — in Konsequenz ihres sensualistischen
Ausgangspunktes — die Sphäre des Wißbaren auf die
Sphäre des kontinuierlich fortschreitenden Wissens ver-
engt, wird ihr selbst die religiöse Anlage der Menschheit
— nicht nur als Fähigkeit der Erfüllung der religiösen
Sehnsucht des Menschen durch die Erkenntnis Gottes,
sondern schon als solche Sehnsucht selber, ja als Be-
dürfnis und Streben nach letztem absolutem Wissen vom
Weltgrund — eine nur historische Kategorie, d. h. ein
Atavismus für den fortgeschrittenen » modernen Menschen <
der > positiven« Epoche (im Unterschied vom Menschen der
religiös-theologischen und metaphysischen Epoche). Der
Grundirrtxmi des Positivismus als Geschichtsphilosophie
des Wissens besteht hierbei nicht ohne weiteres da, wo
ihn seine Gegner häufig gesucht haben: Er besteht nicht in
seiner Annahme, es sei der »religiöse Sinn«, das religiöse
Erkenntnisorgan des Menschen (und nicht minder auch der
davon wohlunterschiedene Sinn metaphysischer Verwunde-
rung), im Laufe der Geschichte der Menschheit — und be-
sonders der westeuropäischen — einer gewissen Rück-
bildung unterworfen gewesen. In genau zu bestimmenden
Grenzen ist diese Annahme richtig. Der wichtigste Irrtum
besteht vielmehr darin, daß man erstens auch die religiöse
Sehnsucht (in letzter Linie fundiert in der ideell noch un-
bestimmten Gottesliebe) und das religiöse wie metaphy-
sische Fragebedürfnis und > Problem « in gleicher Weise
einer Rückbildung unterworfen wähnt, wie die positive
Fähigkeit des Menschen, es durch lebendigen anschauungs-
mäßigen Kontakt mit dem transzendenten Sein zu befrie-
Digitized by
Google
Probleme der Religion. 7^3
digen; und daß man (das 'erst Entscheidende!) aus der
faktischen Rückbildung dieser Fähigkeit der Erkennt-
nis und Fühlungnahme mit dem Absoluten den ganz un-
berechtigten Schluß zieht, es könne all dem, was eine
jüngere Menschheit vermöge dieser in ihr noch leben-
digeren Fähigkeit an spontaner Erkenntniserschließung
des Transzendenten gefunden zu haben meinte, keinerlei
endgültige, von der Fundstelle und den späteren Ver-
änderungen der geistigen Struktur des historischen Men-
schen unabhängige Wahrheit und endgültiger Erkenntnis-
wert zukommen. Denn eben dann wäre aus def vom Posi-
tivismus nicht unrichtig gesehenen Rückbildung des reli-
giösen Erkenntnisorgans im (europäischen) Menschen nicht
ohne weiteres der Schluß zu ziehen auf die Nichtigkeit
der religiösen Erkenntnis, sondern (wenn andere Gründe
dafür sprechen, daß religiöse wie metaphysische Erkennt-
nis überhaupt möglich und wirklich sei) der entgegen-
gesetzte Schluß: Es habe die ältere und spätere Mensch-
heit, in der diese Organe zunehmend einer Rückbildung
verfallen, dasjenige im Glauben zu bewahren, was einst
seitens der jüngeren Menschheit an transzendenten Rea-
litäten geschaut und erfahren wurde. Und femer: Es
habe die je ältere Menschheit vermöge ihrer immer ge-
steigerten Einstellung und Anpassung des Geistes auf die
nur relativen und relativeren Stufen des Daseins (und der
sich daraus ergebenden Ausbildung dfer Geistesorgane des
verständigen Willens zur Weltlenkung und -Ordnung) die
gleichsam mehr pädagogische und technische Auf-
gabe auf Grund ihres besonderen Bestimmungssinnes zu
übernehmen, all das an Werten und Wahrheiten in die
spröde Wirklichkeit dieser relativeren Daseinsstufen wahr-
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714 Probleipe der Religion.
haft einzubilden, was die jüngere vermöge des Vorzugs
ihrer Geisteslage zum absoluten Sein an Werten und
Wahrheiten erschaut und gewonnen hatte. Der Gedanke
einer Gesetzmäßigkeit welthistorischer Funk-
tionsteilung im Erkennen, Wollen und Werten der
jüngeren und älteren Menschheit auf Grund des be-
sonderen Bestimmungssinnes der großen Entwicklungs-
phasen der Menschheit zu spezifischen Erkenntnisarten
und -weisen ; und einer Funktionsteilung der besondem Art,
daß die subjektive Erkennbarkeit alles Daseienden über-
haupt sich im Altem der Menschheit in der Richtung be-
wege von der absoluten Daseinsstufe zu immer relativeren
Daseinsstufen: Dieser Gedanke ist den Positivisten nicht
einmal als mögliche Hypothese in den Sinn gekommen.
Bewegt und bestimmt durch eine ganz partikulare euro-
päische, ja westeuropäische Richtung des Geistes,
in der sie alle und jede geschichtliche Wirklichkeit auf-
nahmen, und außerdem einseitigst eingestellt auf den auch
innerhalb dieser Spannweite liegenden nur fortschrei-
tenden Teil des Wissens; dazu noch ganz übersehend,
was im Gemüte des Menschen auch an erkennenden
(»kognitiven«) Funktionen gegenüber den anderen er-
kennenden Akten beschlossen liegt, die wir den »Ver-
stand« zu nennen pflegen, frug man sich nicht, ob der
positiven Entwicklungsrichtung, die ein Teil der Er-
kenntniskräfte (nicht nur der sich kumulierenden Re-
sultate) des Menschen aufweist, eine entgegengesetzte
Dekadenzrichtung oder Rückbildungsrichtung eines an-
deren Teiles der menschlichen Erkenntniskräfte so ent-
sprechen könne, daß Fortschritt und Dekadenz sogar
nur Seiten eines und desselben eigenartigen Ver-
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Probleme der Religion. # 71c
änderungsprozesses des ganzen menschlichen Geistes
darstellen.
Dieses ohne Prüfung angenommene Dogma vom Fort-
schritt der Menschheit auch bezüglich der Problematik
der Metaphysik und Religion führte die positivistische
Philosophie zu einer ganzen Reihe irrtümlicher Auffas-
sungen, von denen ich hier nur einige nenne.
I . Verkannte man die Eigenart der spezifisch religiösen
Erkenntnisorgane im Menschen, so mußte man auch die
ganze Welt der religiösen Kategorien (Offenbarung, Er-
leuchtung, Gnade, Divination usw.) in ihrer ganzen Be-
deutung prinzipiell verkennen. Ja, man mußte schließlich
die Religion für eine Art unvollkommene primitive wissen-
schaftliche Welt- und Naturerklärung ansehen und in-
folgedessen annehmen, daß jede Vervollkommnung und
jeder Fortschritt der Wissenschaft je einen Teil des
religiösen Bewußtseins abtragen müsse ^. Daß die Religion
von Hause aus immer um einen Gegenstand sich bewege,
der fiir die positive Wissenschaft konstitutiv verschlossen
ist und der seiner je primär gegebenen Wertseite nach
durch die unveränderliche Wertkategorie des Heiligen,
seinem Dasein nach durch die Kategorien des absoluten
und unendlichen Seins umgrenzt ist, — eines Gegenstandes,
dem ganz bestimmte Haltungen des menschlichen Ge-
mütes und des erkennenden Vermögens auf Seiten des
Subjekts zu seiner möglichen Erfahrung entsprechen, —
Haltungen, die keinem endlichen Dinge angemessen sind,
höchstens durch endliche Dinge als Darstellungsmittel,
und Bindungsweisen des Göttlichen ausgelöst werden kön-
^ Vgl. hierzu August Comtes: »Soziologie«, I. Bd., 6. Kapitel, Deutsch von
V. Dorn, Jena 1907.
tH^
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7 1 6 % Probleme der Religion.
nen, — wurde völlig verkannt. Und damit wurde verkannt
das auch für alle Auffassung der Religionsgeschichte grund-
legende Prinzip von der Geschlossenheit und Auto-
nomie der religiösen Erfahrung und ihres Gegen-
standes-
ij 2. Die Tatsache, daß wir an Dingen der absoluten
Daseinsstufe noch sehr bestimmte und charakteristische
Werterfahrungen machen können, wenn die Vorstellungen
und Gedanken über diese Dinge noch fehlen oder im Ver-
hältnisse zu den noch deutlichen und klaren Werteindrücken
undeutlich und verschwommen sind; daß aber auf alle
Pälle unser emotionales Verhältnis zum Transzendenten
allen Ideenbildungen von ihm vorhergeht und diese
Bildung regiert und leitet, — daß mithin unser »Gemüt«
von hause aus unbegrenzter und umfassender ist in der
Spannweite seiner Wertnehmungdes Daseins als unsere
Wahrnehmung und unser Verstand, — diese Tatsache
wurde gleichfalls außer acht gelassen.
3. Die positivistische Geschichtskonstruktion der Ent-
wicklung der Religion, der gemäß Fetischismus, Ani-
mismus, Magie, Schamanismus überall den Anfang der
religiösen Entwicklung gebildet hätten, aus ihnen aber
sich auf verschiedenen Wegen (z. B. »Beseelung« ganzer
Naturbezirke oder Ahnenverehrung) die verschiedenarti-
gen Formen des Polytheismus und endlich durch ein
sich bildendes Übergewicht eines der geglaubten Götter
der Heno- und Monotheismus »entwickelt« hätten, ist
durch die historischen Tatsachen allein nicht im entfern-
testen nahegelegt \ Sie ist fast ausschließlich eine Kon-
* Durch unsere gegenwärtige religionswissenschaftliche Erkenntnis der
Primitiven besonders der Pygmäenvölker, die wieder auf einen Urmono-
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Probleme der Religion. 7^5^
struktion, die in die Religionsgeschichte dasselbe »Fort-
schrittsschema« hineininterpretieren möchte, das wir inner-
halb der westeuropäischen exakten Wissenschaft finden.
Es ist eine Konstruktion, die sich überall des falschen
Prinzips bedient, eine Weltanschauung wüchse aus der Ge-
winnung einzelner Eindrücke vermöge der Assoziations-
gesetze zusammen (nicht erstehe alle Einzelerfahrung
durch Analyse von ursprünglichen Totaleindrücken); des-
gleichen des nicht minder falschen Prinzips, es sei an der
Gegebenheit dc5 Seienden all dasjenige anthropopathische
Zutat, was über die noch sinnlichen Elemente dieses Ge-
gebenen hinausrage. Beide Prinzipien sind schon falsch^
für die einfachste natürliche Sinneswahrnehmung. Sie wer-
den zu den gröbsten Fehlerquellen, wenn sie auf die reli-
• giöse Erfahrung angewandt werden. Auch der primitivste
»Fetisch« stellt das unableitbare Wesen des Göttlichen,
wie unbeholfen auch immer, dar als einer Totalsphäre des
absoluten, mit allen Merkmalen des Heiligen ausgestatte-
ten Daseins. Dieser Fetisch ist immer nur eine Art Öff-
nung, durch die hindurch jenes Ganze des absoluten
heiligen Daseins in der religiösen Intention gemeint und
(wie immer) gefühlt und angeschaut wird — nicht ein iso-
theismus zurückweist, ist die positivistische Lehre vollständig erschüttert.
Vgl. hierzu: Andrew Lang »The Making of Religion, London 1898, und
P. W. Schmidt: »Der Ursprung der Gottesidee», Münster 19 12.
^ Für diesen Satz ist anzuführen das erdrückende Gesamtergebnis der phä-
nomenologischen und experimentalphänomenologischen und -psychologi-
schen Untersuchungen der Wahrnehmung, die von Husserl und seinen
Schülern, femer von Külpe, Bühler, Wertheimer, Köhler, Koffka, Grün-
baum, Jaensch, von Homboster usw. geleistet worden sind. Eine- erste
Übersicht über die Hauptergebnisse dieser Forschungen gewährt Messers
»Einleitung in die Psychologie« und Koffkas Aufsatzreibe über die »Psycho-
logie der Wahrnehmung« in der Zeitschrift »Die Geisteswissenschaften«,
1914.
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7 1 8 Probleme der Religion.
liertes Naturding, dem der es betrachtende Mensch nur
irgendeine seelische Lebendigkeit »eingefühlt« oder »ein-
gelegt« hätte. Dieselben »Tatsachen« der ethnologischen
und religionsgeschichtlichen Forschung nehmen — wie
hier nicht gezeigt werden kann — einen toto coelo verschie-
denen, aber überhaupt erst einen religiösen Sinn an, wenn
wir selbst bei diesen primitiven Religionsbildungen von
der Voraussetzung ausgehen, daß eine gleichsam von
allen Seiten und durch alle Arten von Vehikeln auf den
Menschen eindringende, an sich identischeliatürliche Total-
offenbarung der absoluten Realität bei den verschiedenen
Arten menschlicher Verbände (Völker, Rassen usw.) und
Individuen in oft grundverschiedener Weise aufgenommen,
ausgewählt, gegliedert und nachträglich durch Rationali-
sierung und Systematisierung der isolierten religiösen In- •
tuitionen mit dem Gehalt des sonstigen, auf die Welt und
die Seele bezogenen erkennenden Bewußtseins zu einem
Ganzen vereinigt werde. Die Rangstufen der Offen-
barung, insbesondere die erst mit dem alten Testament
im Judentum einsetzende Erkenntnis des Offenbarungsin-
halts als Offenbarungsinhaltes eines personalen Gottes
und die spezifische Wahrheit dieser Offenbarung im Unter-
schiede erstens zu nur »vermeintlicher« Offenbarung und
zweitens zu einem nur relativen Heilswert anderer Offen-
banmgen in der Völkerwelt, werden durch die Annahme
einer universalen natürlichen Offenbarung (als aller
Offenbarung niedrigste Stufe) nicht m\ mindesten in Frage
gestellt. Von jeher muß die christliche Kirche ja auch die
Offenbarung des alten Testamentes insofern »relativieren« ,
als sei erstens den puren Offenbarungsgehalt des alten
Testamentes unterscheiden muß von der Stufe des gleich-
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Probleme der Religion. 7^9
falls in ihm liegenden Weltwissens,um Natur und Geschichte ^
und als sie zweitens die vollkommene und unüberbietbare
Selbstoffenbarung Gottes nur und ausschließlich in Christo,
als dem Vollender der Heilsgeschichte, gegeben öieht.
Die christliche Kirche besitzt außerdem im Begriffe der
Uroffenbarung eine Kategorie, die, richtig interpretiert,
von selbst auf unsere Auffassung hinleitet, — wenn nur das
ungeheure neue Material der Religionsgeschichte an-
erkannt wird, das in älteren Zeiten verborgen war. Das ist
nur eine Materialfrage der Anwendung der gegebenen
Lehrkategorien, nicht eine neue Kategorie. Die Annahme
von wahren Offenbarungskeimen auch in anderen Religio-
nen die außerhalb des religiösen Geschichtszusammenhangs
der jüdisch-christlichen Entwicklung stehen, widerstreitet
keinem wesentlichen Gedanken der christlich-kirchlichen
Lehre und bekräftigt nur die wahre »Katholizität« der
Kirche, zu deren Prinzipien es gehört. Wahres niemals bloß
darum zu verwerfen, weil es entweder nur inadaequat
Wahres ist, oder nur Wahres in bezug auf faktisch (aber
den betreffenden Menschen noch unbewußt) daseinsrelative
Gegenstände (z. B. Volksgottheiten) oder gar nur darum,
weil der bestimmte Gegenstand noch nicht klar bewußt ist,
von dem die betreffende Wahrheit gilt (so etwa wenn die
* Für diese Unterscheidung gilt als höchstes Prinzip die Einheit und wesens-
notwendige Harmonie der Offenbarung und Heilswahrheit einerseits und
der vernünftigen Weltweisheit andererseits. Falsch (im Sinne eines falschen
Konservativismus) wird dieses Prinzip angewandt, wenn das fortschreitende
Weltwissen einfach gemessen wird an dem, was bis zur Stunde als unver-
mischtes, «reines« Offenbarungswissen nur »galt«. Denn gerade für diese
Reinigung der Heilswahrheit im heiligen Buche von den Beimischungen
des Weltwissens überhaupt, hat das fortschreitende Weltwissen die von sei*
nem eigenen Wahrheitswerte unabhängige positive Bedeutung eines Re-
duktionsmittels aller bloß vermeinten Offenbarung auf ihren »reinen«
Gehalt.
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7 20 Probleme der Religion.
Stiftung Gottes, welche moralische Weltordnung heißt, für
Gott selbst gehalten wird wie im »Himmel« der Chinesen).
Am wenigsten aber nur darum, weil Falsches sehr häufig
mit Wahrem vermischt ist, z. B. vieles auch als Offen-
barungsinhalt ausgegeben wurde, was keiner ist, oder
manches wahrhaft Offenbarungsmäßige (seinem Heilswert
nach) in falsche oder unvollkommene Welterkenntnis ein-
gebettet erscheint. Die Spezifität und die supranaturali-
stische »Ausschließlichkeit« der jüdisch-christlichen Offen-
barung, die moderne liberale Theologen^ häufig geneigt
sind, fiir ein dauerndes Wesenskriterium aller »positiven«
Theologie zu halten (der katholischen wie protestantischen)
ist dem Geiste nach nur ein Merkmal der positiv-prote-
stantischen Theologie lutherischer und calvinistischer Her-
kunft*. Soweit diese Auffassung auch der »katholischen
Wissenschaft« zeitweise eigen sein mochte, ist sie nicht
gegründet in dem unvergänglichen Lehrinhalt der Kirche,
sondern in der Enge des religionsgeschichtlichen Mate-
rials, mit dem man jahrhundertelang arbeitete.
, 4. Nicht minder groß ist der Irrtum des Positivismus
über die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes
(und in ihr der Religion), der aus der falschen Verallge-
meinerung bestimmter Entwicklungstendenzen des vorzüg-
lich westeuropäischen kapitalistischen Zeitalters
auf die vergangene und zukünftige Entwicklung der ganzen
Menschheit hin erwächst. Die positivistische Geschichts-
* z. B. Ernst Trocltsch.
■ Dies wird am sichtbarsten bei der Stellungnahme dieser Theologie zur
antiken Weltweisheit und Religion, die durchgehend eine schroff ableh-
nende ist und die antike Weisheit nirgends mit Origines und Clemens als
pädagogische Vor stufe zu den Wahrheiten des Christentums zu begreifen
vermag.
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^^.
m.:
Probleme der Religion. 7 2 I
lehre ist nur die weltgeschichtliche Selbstauffassung des
westeuropäischen Bürgertums, in dem der »kapitalistische
Geist« auch die Ideale der Erkenntnis und Moral von sich
aus bestimmt hat. Sie ist nicht nur — wie es auch die
Geschichtslehre Hegels und Hartmanns ist — einseitiger
» Europäismus < , d. h. Messung und Beurteilung der mensch-
lichen Universalgeschichte von nur europäisch gültigen
und mit seiner Kultur prinzipiell vergänglichen Ideen- und
Wertungsformen; sie ist aul^erdem noch eine Klassen-
philosophie des nur auf ökonomische Machtentfaltung und
dieser Machtentfaltung alle übrigen Werte unterordnen-
den modernen industriellen bürgerlichen Unternehmer-
tums, mit dem sie geboren ist und mit dessen Verdrängung
aus der Leitung der Völker und Staaten sie verschwinden
wird. Was eine nur episodische und — welthistorisch ge-
sprochen — momentane Ablenkung des menschlichen
Geistes (nur des europäisch-menschlichen) von seiner reli-
giösen Bestimmung ist, nämlich die ausschließliche Hin-
richtung dieses Geistes auf das »savoir pour pr^voir«
zwecks technischer Welteinrichtung und -lenkung, das
hielt die positivistische Philosophie für eine allmensch-
liche Entwicklungstendenz, die sich in der Zukunft immer
mehr durchsetzen werde. —
Wie die geistigen Dispositionen für die religiöse Er-
kenntnis der transzendenten Mächte durch immer weitere
Differenzierung der geistigen Kräfte und durch steigende
Herr Schaftsgewinnung eines nur technisch bedeutsamen
»Verstandes« in der Menschenseele geschichtlich abneh-
men, so sind aber auch die sozialen Bedingungen und
Lebensformen, die den Ursprung neuer Religionen not-
wendig mitbedingen, gerade in und durch den sonstigen
46
^)
r
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72 2 Probleme der Religion.
»Fortschritt der Zivilisation« immer mehr aufgelöst
worden. Der Weg von der Lebensgemeinschaft zu sozia^
len Zweck- und Klassen verbänden, den — wie F. Tönnies ^
so tief gezeigt hat — alle menschlichen sozialen Verbände
genommen haben, schließt schon die notwendigen sozio-
logischen Voraussetzungen aus, unter denen eine neue
Religion entspringen könnte. Darum sind denn auch alle
neueren Versuche religiöser Dogmenbildung und Aufrich-
tung religiöser Autoritäten, wie sie A. Comte, Hegel, Hart-
mann gemacht haben, so vollständig mißlungen. So
kann auch hier nur dies die Aufgabe gegenwärtiger und
zukünftiger Menschheit sein, die echten großen umfassen-
den Gemeinschaftsformen, welche die Religion in älteren
Zeiten, — da solches noch möglich war — geschaffen
hat und die nur sie schaffen konnte, zu bewahren, zu
verlebendigen und zu reformieren, und im höchsten Falle
durch kirchliche Unionsbestrebungen tiefer und macht-
voller miteinander zu verknüpfen. —
Verwundem oder mit pessimistischen Stimmungen er-
füllen werden aber diese Gedanken über die Unwahr-
scheinlichkeit sog. »neuer Religionen« in der zukünftigen
Geschichte der Menschheit nur denjenigen, der die in
diesem Buche festgestellten Wesensunterschiede der reli-
giösen, der philosophischen und positiv- wissenschaftlichen
Erkenntnis nicht zu fassen vermag; der entweder wie der
Positivismus aus den verschiedenen mit dem menschlichen
Geiste selbst gesetzten dauernden Anlagen zu diesen drei
Erkenntnisarten (die wohl zeitweise unterdrückt und ver-
borgen sein können, niemals aber einander ablösen oder
ersetzen können) historische Entwicklungsphasen der
* Siehe F. Tönnies »Gemeinschaft und Gesellschaft« (2. Aufl.).
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Probleme der Religion. 723
Menschheit machen will, oder (gnostisch) Religion in Philo-
sophie will aufgehenlassen, — die Tatsache mißachtend,
daß alle Religion in eigenartigen Wesens typen persön-
lichen Menschentums (im homo religiosus) ihren Ursprung
nimmt und ihr autonomes Maß hat.
Femer werden sie verwundem und traurig stimmen
denjenigen,derdie welthistorische Funktionsteilung
des menschlichen Geistes zwischen der Erwerbung der
religiösen Fundamente des Lebens und den technischen
Einbau der einst erworbenen Fundamentalideen in die
irdische Wirklichkeit (auf Gmnd verstandesmäßiger Er-
forschung) der Welt nicht anerkennen will.
Wer diese Irrtümer vermeidet, dem erscheint die Auf-
gabe das Kapital an religiösen Gütern, das lebendig unter
uns existiert, zu bewahren, aber den Seelen um so
reicher zuzuwenden, edler und wertvoller, als der falsche
Gedanke, da erfinden zu wollen, wo es allein nur heißen
muß und kann:
»Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden,
Das alte Wahre faß es an. « (Goethe.)
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Inhalt
Sdte
Vorrede i
Reue und Wiedergeburt 5
Vom Wesen der Philosophie und der mora-
lischen Bedingung des philosophischen Er-
kennens 59
1. Die Autonomie der Philosophie 62
2. Die philosophische Geisteshaltung (oder die Idee
des Philosophen) •. . . 65
3. Analyse des moralische^ Aufschwungs 95
a) Der Akt des Aufschwungs als Personakt »des ganzen
Menschen« 9^
b) Ausgangspunkt und Elemente des Aufschwungs . . 10 1
4. Der Gegenstand der Philosophie tmd die philoso-
phische Erkenntnishaltung iii
Die christliche Liebesidee und die gegenwär-
tige Welt 1 124
II. Die chrisdiche Gemeinschaftsidee 149
in. Das Verhältnis der christlichen Gemeinschaftsidee
zum gegenwärtigen Zeitalter 160
Vom kulturellen Wiederaufbau Europas I. . . , 204
n 234
Probleme der Religion (zur religiösen Erneuerung) 279
. I. Religion und Philosophie 317
A. Typik der bisherigen Anschauungen 317
B. Der partielle und der totale Identitätstypus . . 320
C. Dualistische Typen von Glauben und Wissen 342
D. Das Konformitätssystem 348
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Inhalt. 725
Seite
II. DieWesensphänomenologie der Religion. . 376
1. Einteilung 376
2. Das Göttliche 379
3 . Die Attribute Gottes in der natürlichen Religion 396
4. Wachstum und Abnahme der natürlichen Got-
teserkenntnis 440
5. Attribute des göttlichen Geistes 467
6. Der religiöse Akt 521
A) Gegenständliche Bedingung der Abgrenzung reli-
giöser Akte 521
B) Immanente Charakteristik des religiösen Akts nach
seiner Konstitution 523
C) Art und Weise der Selbstgesetzlichkeit religiöser Akte 529
7. Innere und äußere Seite, individuelle und soziale
Seite des religiösen Akts 553
8. Der religiöse Akt wird von jedem Menschen
notwendig vollzogen 559
9. Über einige neuere Versuche einer natürlichen
Religionsbegründung 564
III. Warum keine neue Religion? 677
1. Widerstreit der Idee eines persönlichen. Grottes
und der Erwartung einer neuen Religion .... 679
2. Die weltgeschichtliche Funktionsteilung des
menschlichen Geistes und eine »neue Religion« 707
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Hof-Buch- und -Steindruckerei
Dietsch & Brückner in Weimar
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MAX SCHELER
erschienen ferner in unserem Verlag:
DER GENIUS DES KRIEGES UND DER
DEUTSCHE KRIEG
3. Auflage. / Geh. M. 15. — , geb. M. 19. —
Inhalts- Übersicht:
DER GENIUS DES KRIEGES / Wurzel und Sinn des Krie-
ges als Welteinrichtung: i. Der Krieg und das organische
Leben / 2. Krieg und Geisteskultur | 3. Krieg und Ethik /Zur
Metaphysik des Krieges: i. Die Realität der Nation / 2. Der
Krieg und der Tod / 3. Der Krieg als Gottesgericht / Der ge-
rechte und der ungerechte Krieg.
DER DEUTSCHE KRIEG : i. Seine Gerechtigkeit / 2. Der Glaube
an unser höheres Recht in diesem Kriege / Die geistige Ein-
heit Europas und ihre politische Forderung/ Los von
England.
ANHANG: Zur Psychologie des englischenEthos unddes
cant / Kategorientafel des englischen Denkens.
KRIEG UND AUFBAU
Geh. M. 15.— , geb. M. 19. —
Inhalts-Übersicht:
I. Der Krieg als Gesamterlebnis / 2. Über ösdiches und westliches
Christentum / 3. Das Nationale im Denken Frankreichs / 4. Über
die Nationalideen der großen Nationen / 5. Bemerkungen zum
Geiste und den ideellen Grundlagen der Demokratien der großen
Nationen / 6. Über Gesinnungs- und Zweckmilitarismus. Eine Studie
zur Psychologie des Militarismus / 7. Soziologische Neuorientierung
und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg / 8. Das
allgemein menschliche Gebot der Stunde / 9. Nation und ihre Quer-
s'chichtungen / 10. Das Versagen der Kräfte »von unten« und die
Hoffnung auf neue Kräfte »von oben« / 11. Potenz und neue Ver-
antwortung / 12. Neue Lage und neue Aufgaben: I. Unsere Be-
gegnung mit den Zurückkehrenden. II. Der neue Rahmen 1 13. Vom
Sinn des Leides / 14. Liebe und Erkenntnis.
VERLAG DER NEUE GEIST / LEIPZIG
Auf alle Preise so*/« Verlagsteuerungszuschlag
Digitized by
Google
DIE
URSACHEN DES DEUTSCHENHASSES
Eine nationalpädagogische Erörterung
Zweite durchgesehene und vermehrte Auflage
Geh. M. 6 —
Inhalts-Obersicht:
Vorbemerkung / i. Unzureichende Erklärungsmethoden /IL Afiekt-
menge und Hintergründe des Hasses | III. Größenordnung und
Träger des Hasses / IV. Arten und Einteilung der unmittelbaren
Ursachen | V. Die Vertreibung aus dem Paradiese /VI. Notwen-
dige nicht schuldhafte Mißverständnisse: i. Was sind notwendige
Mißverständnisse? 2. Das notwendige Mißverständnis unseres soge-
nannten Militarismus. 3. Das notwendige Mißverständnis unserer
Freiheitsidee/ VII. Abwendbare Mißverständnisse als Haßursachen :
I. Der deutsche Auslandskaufmann. 2. Sozialdemokratische Kritik
und alldeutsche Literatur/ VI IL Unser Verhalten zum Hasse der
Welt / Anmerkungen.
VOM UMSTURZ DER WERTE
ZWEI BÄNDE
(Der Abhandlungen und Aufsätze
^zweite, durchgesehene Auflage)
Geh. M. 30. — , geb. M. 42. —
Inhalts-Ubersicht:
I. Band: i. Zur Rehabilitierung der Tugend / 2. Das Ressentiment
im Aufbau der Moralen | 3. Zum Phänomen des Tragischen / 4. Zur
Idee des Menschen.
I I. B a n d : i . Die Idole der Selbsterkenntnis / 2, Versuche einer Philo-
sophie des Lebens / 3. Die Psychologie der sogenannten Renten-
hysterie und der rechte Kampf gegen das Übel / 4. Zum Sinn der
Frauenbewegung / 5. Der Bourgeois und die religiösen Mächte /
7. Die Zukunft des Kapitalismus.
VERLAG DER NEUE GEIST / LEIPZIG
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ä10äQ135T13
L|l| ILllillll I Hill II I llllllt I
Illlll!
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Thifl book may be kept
FOURTEEN DAYS
A fine of TWO CENTS will be charged
for each day the book is kept overtime.
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