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Vom Geiſt
des Judentums
Reden und Geleitworte
von
Martin Buber
Kurt Wolff Verlag / München
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Sechſtes bis achtes Tauſend - 1
Brechet euch einen Neubruch; |
es ift die Zeit, Jahwe zu fuchen.
Hofea 10, 12.
ch habe in dieſem Band drei Reden aus den Jahren
J 1912— 1914 vereinigt; zur Ergänzung find ihnen
die Geleitworte meiner Buͤcher „Die Geſchichten des
Rabbi Nachman“ (1906) und „Die Legende des
Baalſchem“ (1907) beigegeben.
Von der zweiten Auflage an ſind am Schluß der erſten
Rede die Sätze geſtrichen, in denen das deutſche Volk
aufgerufen wurde, in der Umkehr voranzugehen und
eine neue Ara des Einvernehmens mit dem Orient
zu begruͤnden. Das deutſche Volk hat die ihm in
jenen Sätzen zugedachte Funktion nicht auf ſich ge—
nommen und kann ſie nun nicht mehr auf ſich nehmen.
Aber Europa ſteht die Entſcheidung noch bevor.
Der Geiſt des Orients und das Judentum
Is
Im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts und
im Beginn des neunzehnten wußten Herder und
Goethe, Novalis und Goͤrres, daß der Orient eine
Einheit iſt. Wohl kannten ſie die Vielfaͤltigkeit ſeiner
Voͤlker, die in ihren geſchichtlichen und literariſchen
Urkunden damals recht eigentlich erſt von Europa
entdeckt worden waren, aber ſie blickten durch die
Schale der Vielfaͤltigkeit in den einigen Kern des
Geiſtes. Das Morgenland war ihnen kein poetiſcher
Tropus, ſondern eine einheitliche, wirkende Wirk⸗
lichkeit, deren Beruͤhrungen ſie erfuhren und deren
großes Leben ſich ihrer ehrfuͤrchtigen Ahnung auftat.
Dieſe Einſicht blieb lebendig, bis die Raſſentheorie
unſeres Zeitalters ihr mit breitem Erfolg entgegen⸗
trat. Wie die Anwendung der naturwiſſenſchaft⸗
lichen Methode auf die Pſychologie, fo hat hier
deren Anwendung auf die Geſchichte den edelſten
Beſitz der erkennenden Menſchheit zu zerſetzen ver⸗
ſucht: eine Totalitaͤt. Das Verhaͤltnis zwiſchen
9
Reizſtaͤrke und Empfindungsſtaͤrke mag errechenbar
ſein, von der Wirklichkeit ſeelenhaften Geſchehens
weiß dieſe Rechnung nichts auszuſagen; es mag
noch ſo exakt feſtſtellbare Raſſenunterſchiede geben,
die überraffenhaften Gebilde — Voͤlker und Voͤlker⸗
verbaͤnde — bleiben, ſolcher Unterſuchung unzugaͤng⸗
lich, die Wirklichkeit des Geiſtes. Als eine Totalitaͤt
iſt der große Voͤlkerverband des Orients zu erweiſen,
als ein Organismus, in deſſen Gliedern, moͤgen ſie
funktionell noch ſo verſchieden ſein, eine gleichartige
Struktur und eine gleichartige Vitalitaͤt waltet und
der dem Abendland in eignem Recht gegenuͤberſteht.
Man hat den Orientalen zuweilen als eine primi⸗
tive Bildungsſtufe, gleichſam als den ſtehenge⸗
bliebenen Menſchen angeſehen, — eine karge und
ſchematiſierende Betrachtungsweiſe. Wohl aber darf
man vom Drientalen hervorheben, daß die beſtim—
mende Zeit ſeines inneren Schickſals, die Zeit, die
feinen geiſtigen Charakter geprägt und ſeine ſchoͤpfe⸗
riſche Kraft beſtimmt hat, daß die Stunde ſeiner
entſcheidenden Plaſtizitaͤt in eine fruͤhere Epoche
der Erdgeſchichte faͤllt als die plaſtiſche Stunde des
Europaͤers. Was China und Indien, Agypten und
Vorderaſien in dem ungeheuren dritten Jahrtauſend
10
vor Chriſti Geburt an formenden Gewalten erlebten,
laͤßt ſich aus den von dieſem und dem folgenden
Jahrtauſend erhaltenen Reſten ihrer rieſenhaften
Schoͤpfungen, dem Schiking und den Veden, den
Pyramidenſpruͤchen und dem Gilgameſchepos nur
in der Ahnung erſchließen; etwas deutlicher wird
uns, was damals geſchah, wenn wir die Maͤnner
begreifen, die in der Zeit, als uͤber Griechenland
die Bluͤte kam, im Orient erſtanden: Maͤnner der
Reſtauration und Regeneration, Verkuͤnder der
Umkehr und Wiederherſtellung, — die juͤdiſchen
Propheten und die Denker der Upaniſchaden, Zara⸗
thuſtra und Laotſe. Man wird daraus verſtehen,
warum man vom Drientalen, wie etwa von der
aͤgyptiſchen Plaſtik aus dem Anfang des dritten
Jahrtauſends, ſagen darf, daß er zugleich primitiv
und vollendet iſt.
Ich moͤchte den orientaliſchen Menſchentypus,
wie er ebenſo in den Urkunden der aſiatiſchen Antike
wie im heutigen Chineſen oder Inder oder Juden
erkennbar iſt, im Gegenſatz zum abendlaͤndiſchen, der
etwa durch den Griechen der Perikleiſchen Zeit oder
durch den Italiener des Trecento oder durch den
Deutſchen unſerer Tage repraͤſentiert wird, als den
LE
motorischen im Gegenſatz zum ſenſoriſchen an—
ſprechen. Ich nenne ſie ſo nach den Vorgaͤngen, die
bei dem einen und bei dem andern im Mittelpunkt
des feelifchen Prozeſſes ſtehen; wobei ich wohl weiß,
daß ich vereinfachen, Vermiſchtes rein, Fließendes
ſtarr, Verknuͤpftes einſam machen muß, um das
Weſentliche aufzuzeigen.
Der pſychiſche Grundakt des motoriſchen Menſchen
iſt zentrifugal: ein Antrieb geht von ſeiner Seele
aus und wird zur Bewegung. Der pſychiſche Grund;
akt des ſenſoriſchen Menſchen iſt zentripetal: ein
Eindruck fällt in feine Seele und wird zum Bilde.
Beide ſind empfindende, beide handelnde Menſchen;
aber der eine empfindet in Bewegungen, der
andre handelt in Bildern; der erſte hat, wenn er
wahrnimmt, das Erlebnis der Tat, der zweite hat,
wenn er tut, das Erlebnis der Geſtalt. Beide
denken; aber des einen Denken meint Wirken, des
andern Denken meint Form.
Ich ſagte: der motoriſche Menſch empfindet in
Bewegungen; er tut gleichſam ſeine Empfindung;
ſie waͤchſt nicht in ihm, ſondern ſchlaͤgt durch ihn;
ſie niſtet nicht einſam in ſeinem Gehirn, ſondern
breitet ſich allem verbunden in dem erregten Leibe.
12
Die Sinne diefes Menſchentypus find miteinander
und mit dem dunklen Leben des Organismus eng
verbunden; der Eindruck, der einen ſeiner Sinne
trifft, geht als Stoß durch alle, und die ſpezifiſchen
Sinnesqualitaͤten erblaſſen vor der Wucht des Ge;
ſamtzuſtands. Beim ſenſoriſchen Menſchen ſind
die Sinne voneinander und von dem undifferen⸗
zierten Boden des organiſchen Lebens geloͤſt; ſie ſtehen
unter der Hegemonie des geloͤſteſten, unabhaͤngigſten,
objeftioften unter ihnen, des Geſichtsſinns; der
Triumph des Griechentums in der Welt der reinen
Geſtaltung iſt das Werk dieſer Hegemonie. Beim
motoriſchen Menſchen iſt das Sehen nicht ſouveraͤn,
es dient nur der Vermittlung zwiſchen der be—
wegten Welt und der latenten Bewegung des
eignen Leibes, der befaͤhigt iſt, jene mitzuempfinden
und mitzuleben; die Bewegung der Welt iſt es, die
er mit dem Geſicht wie mit den andern Sinnen
aufnimmt und die ſich in ihm fortpflanzt. Er
wird weniger des vielfaͤltigen, ruhenden Seins der
Dinge inne als ihres Geſchehens und ihrer Ber
ziehung, ihrer Gemeinſamkeit und ihrer Gemein⸗
ſchaft; weniger des Umriſſes als der Gebaͤrde; weniger
des Nebeneinander als des Nacheinander; weniger
13
2
des Raums als der Zeit. Dieſer Gegenſatz iſt auch
noch in den innerlichſten Erlebniſſen des Geiſtes
maͤchtig. Platon ſchaut die von je ruhenden
Ideen; was der indiſche Myſtiker ſchaut, iſt nicht
die Ruhe, ſondern das Aufhoͤren der Bewegung.
Platon ſchaut, und da iſt nichts weiter als das
Schauen; der juͤdiſche Prophet ſchaut Gott nur,
um fein Wort zu vernehmen. Platon nennt das
Weſen der Dinge Cidos, das heißt Geſtalt; der
chineſiſche Philoſoph nennt das Weſen der Dinge
Tao, das heißt die Bahn.
Das Weltbild des Orientalen iſt von ſeiner
Seelenartung beſtimmt. Dem ſenſoriſchen Menſchen,
der unter der Fuͤhrung des objektivſten Sinnes,
des Geſichts, ſteht, objektiviert ſich die Welt als eine
Vielheit von Dingen, die ſich vor ſeinen Augen
ausbreitet und zu denen auch er ſelber, ſein Leib
gehoͤrt. Dem motoriſchen Menſchen bekundet ſich
die Welt als die ſchrankenloſe Bewegung, die ihn
durchdringt. Er nimmt die Einzeldinge wahr, aber
nicht jedes als ein fuͤr ſich Seiendes, in ſich Ruhen⸗
des und Beſchloſſenes, ſondern alle nur als Knoten⸗
punkte der unendlichen Bewegung, die durch ihn
ſelber geht. Nur in dieſem Sinn iſt es berechtigt,
14
den Orientalen einen ſubjektiv gerichteten Menſchen
zu nennen; er betrachtet naturgemäß die Welt zu;
naͤchſt als etwas, was an ihm geſchieht; er ſpuͤrt fie
mehr als er ſie wahrnimmt; denn ſie erfaßt und
durchfaͤhrt ihn, ſie, die dem Okzidentalen gegenuͤber⸗
tritt. Der Okzidentale begreift ſeine Empfindung
aus der Welt, der Orientale die Welt aus ſeiner
Empfindung. Der Okzidentale geht in feinem Welt;
bild von der Gegenſtaͤndlichkeit der Welt aus, auch
wo er von ihr zu den oberſten Abſtraktionen auf⸗
ſteigt oder ſich in die ſeelenhafteſten Geheimniſſe
verſenkt, der Orientale von der Innerlichkeit der
Welt, die er in ſeiner Innerlichkeit erlebt. Aber
dieſe ſeine Innerlichkeit, in der alle Bewegung
ſeines Leibes und ſeiner Seele gegruͤndet iſt, iſt
ſelbſt nicht Bewegung; er fuͤhlt ſie in ſich unantaſtbar
und unwandelbar ruhen, aller Vielfaͤltigkeit, allem
Gegenſatz urgrundhaft enthoben, den Mutterſchoß,
der alle Vielfaͤltigkeit und allen Gegenſatz gebiert
und verſchlingt, den namenloſen Kern und Sinn.
Und wie er die Bewegung, die bewegte Erſcheinung
der Welt aus ſeiner Empfindung begreift, ſo iſt es
dieſes ſein Wiſſen um den Kern und Sinn ſeines
Lebens, aus dem er den Kern und Sinn der Welt
15
erſchließt; dieſer offenbart ſich ihm in jenem, und
in der letzten Wahrheit ſind beide eins. In dieſer
Identifizierung wurzelt die ſchoͤpferiſche Gewalt des
orientaliſchen Geiſtes. Der Okzidentale ſchreitet ſtu⸗
fenweiſe von der Erſcheinung zur Wahrheit der Welt
oder dringt in aufblitzender Intuition zu ihr vor,
der Orientale traͤgt die Wahrheit im Kern ſeines
Lebens und findet ſie in der Welt, indem er ſie
ihr gibt. Dieſes Geben und Finden in einem iſt
der religiöfe Akt des Orientalen. Jedes Weltbild
iſt ja, feinem Weſen als Bild gemäß, eine Ver⸗
einfachung und Vereinheitlichung der Welt; aber
der Grieche etwa vereinfacht ſie, indem er ihre
Phaͤnomene unter allgemeine Begriffe einordnet,
der Aſiate, indem er aus ſeiner Innerlichkeit, aus
der Einheit im Geiſte, die einige Welt aufbaut.
Sein Einheitstrieb iſt der elementarere.
Die einige Welt aber ſoll — und hier begegnen
einander alle großen aſiatiſchen Religionen und
Ideologien — nicht bloß konzipiert, ſie ſoll realiſiert
werden. Sie iſt dem Menſchen nicht gegeben,
ſondern aufgegeben; es iſt ſeine Aufgabe, die wahre
Welt zur wirklichen Welt zu machen. Hier bewaͤhrt
ſich der motoriſche Charakter des Orientalen in
16
feiner hoͤchſten Sublimierung: als das Pathos
der Forderung. Die Forderung mag durch eine
ganz innerliche Tat erfuͤllt werden; ſo meint es
der Inder des Vedanta, der, das Gewebe des
Scheins zerreißend, ſein Selbſt als mit dem
Selbſt der Welt identiſch erkennt und die wahre,
die einige Welt in der allumfaſſenden Einſamkeit
ſeiner Seele verwirklicht. Oder aber die Forderung
geht auf die Aktivitaͤt der ganzen Lebenshaltung.
Auf eine Aktivitat etwa, die das Werden der inneren
Welt in der äußeren gegen die Übergriffe der gewalt⸗
ſamen Extreme ſchuͤtzt; fo meint es der tasdiſtiſche
Chineſe, in deſſen uraltem Weltbild das Geſchehen
der Welt aus einem Gegenſpiel zweier Prinzipien,
des hellen und des dunklen, quillt, der aber als
das einige Urprinzip, in dem beide ſtehen, das Tao,
die Bahn, erkennt, das Tao, welches der Weiſe
auf Erden mit ſeinem Leben verwirklicht, nicht ein⸗
greifend und doch durch die Weſenhaftigkeit ſeines
Tuns und ſeines Nichttuns den einigen Sinn der
Welt in der Wirklichkeit durchſetzend. Oder auf eine
Aktivitat, die das Hindernde, das boͤſe Prinzip
bekaͤmpft und ſo dem Durchbruch der Einheit in
der entzweiten Welt dient; ſo meint es der Perſer
2 17
des Aveſta, für den es nicht gilt, das Gleichgewicht
zwiſchen Licht und Finſternis zu halten, ſondern fuͤr
das Licht ruͤckhaltlos Partei zu nehmen und deſſen
Krieg zu führen, bis es die Finſternis völlig ver;
nichtet hat und die Welt unter feinem ausſchließ⸗
lichen Walten geeinigt iſt. Immer aber, in allen
Geſtalten, iſt es die gleiche beſchwingte Forderung
nach dem rechten Leben, dem erfuͤllenden Leben,
nach dem „Weg“. Immer tritt das Wiſſen um
die Beſchaffenheit der Welt, auf dem der Okzidentale
fußt, der ſie bewaͤltigen will, zuruͤck vor dem
Wiſſen um den Weg; von aller Lehre des Orients
iſt zu ſagen, was ein Pilger von Buddha ſagt: er
habe nicht vorgetragen, ob die Welt ewig oder
seitlich fei, er habe einzig den Weg gelehrt. Auch
Sokrates wollte den Weg und nicht das Wiſſen
lehren; aber hier fehlt das Gefuͤhl der oberen
Lebenswahrheit: daß das innere Schickſal der Welt
von der Handlung des Handelnden in einem Maße ab⸗
haͤngt, das keiner zu ermeſſen vermag. Dieſe Wahrheit
bedeutet der „Weg“ der orientaliſchen Lehren. Es iſt
die Wahrheit des Wortes „Eins tut not“.
Die Erkenntnis des Orients iſt: daß die Inner⸗
lichkeit der Welt in ihrer Außerung und Offen⸗
18
barung gehemmt iſt, daß die urgemeinte Einheit
geſpalten und entſtellt iſt, daß die Welt des Men;
ſchengeiſtes bedarf, um ſie zu loͤſen und zu einigen,
und daß das Leben des Menſchen auf der Welt
einzig darin ſeinen Sinn und ſeine Macht hat. Das
Sein ſteht in der Entzweiung: in der Entzweiung
von Ja und Nein, ſagt die chineſiſche Formulierung,
von Gut und Boͤſe, die perſiſche, von wahrer Welt
und Scheinwelt, die indiſche. Der Menſch iſt be—
rufen, das Sein aus der Entzweiung zur Einheit
zu bringen. Die Welt harrt des Menſchen, daß er
ſie einige. Der Pfade, die ihn zu dieſem Werke
fuͤhren, ſind viele, aber der Weg iſt der eine,
7 ödös tod eo (Mc. 12, 14), der Weg Gottes in
der Welt.
Das aber iſt die ewige Groͤße des Orients und
ſeine ewige Bedeutung fuͤr das Menſchentum, daß
dieſe Erkenntnis ganz ins Leben gekehrt iſt: ob ſie
in Einſamkeit oder in Gemeinſchaft, in der Stille
oder im Kampf zu verwirklichen iſt, ihr Weſen iſt,
daß ſie verwirklicht zu werden heiſcht. Als Erkenntnis
iſt ſie nur angelegt, vollendet iſt ſie erſt als Tat.
Die gedachte Idee iſt dem Orient ein Entwurf, der
erſt in der gelebten zur Realitaͤt wird. Sie allein iſt.
2* 19
2.
Das Grundprinzip des Orients, das ich dar—
gelegt habe, iſt in allen ſeinen Voͤlkern, die ſich ein
geiſtiges Haus erbauten, zur Entfaltung gelangt.
Aber in einem unter ihnen, in dem kleinſten und
ſpaͤteſten, an der räumlichen Scheide zwiſchen Mor;
gen⸗ und Abendland geſiedelt und an der zeitlichen
Scheide zwiſchen Bluͤte des Morgenlands und Bluͤte
des Abendlands ſich erſchließend, hat es eine
Wendung erfahren, welche das Geſchick der Menſch—⸗
heit fuͤr die bis zu uns reichende Epoche entſchieden
hat.
Die Juden ſind ein Spaͤtling des Orients. Sie
erſcheinen zu einer Zeit, da die großen Voͤlker des
Orients laͤngſt aus der Ara der Plaſtizitaͤt, der
beſtimmend formenden Erlebniſſe getreten waren,
und ihre ſchoͤpferiſche Kraft beginnt ſich zu offenz
baren, als jene Voͤlker die ihre laͤngſt in weitaus⸗
geſpannten Kulturen ausgepraͤgt hatten. Zwei dieſer
Kulturen, von denen die bibliſchen Urkunden
der aͤlteſten Wanderungen Iſraels zu erzählen
wiſſen, die babyloniſche und die aͤgyptiſche, haben
das junge Volk der Juden beſchenkt. Eine Gruppe
von Gelehrten hat aus dieſer Tatſache die
20
Unſelbſtaͤndigkeit und Unproduktivitaͤt des juͤdi—
ſchen Geiſtes ableiten zu koͤnnen geglaubt. Aber all
ihr Bemühen geht von einer grundfalichen Voraus;
ſetzung aus: es beſtehe die produktive Selbſtaͤndig—⸗
keit eines Menſchen oder eines Volkes darin, daß
die Inhalte ſeiner Schoͤpfung nicht von andern
hergenommen ſind. Das Gegenteil iſt wahr; ſchaffen
heißt die Elemente in ſich verſammeln und zum
Gebilde verſchmelzen, und es gibt keine andre zu—
laͤngliche Selbſtaͤndigkeit als die der Geſtaltung.
Nicht wo einer ein „Motiv“ findet, ſondern was
er daraus bildet, iſt hiſtoriſch entſcheidend. Wenn
ein aͤgyptiſcher Prieſter des zweiten Jahrtauſends
prophezeit, es werde eine Hungersnot uͤber das Land
kommen, dann aber werde ein Koͤnig erſcheinen,
der den fruͤheren Wohlſtand wiederherſtellt, ſo mag
damit ein „Schema“ tradiert fein, aber es iſt ger
haltlos und unfruchtbar; wenn aber tauſend Jahre
danach Amos von Tekoa dieſes Schema ergreift
und mit ſeiner Inbrunſt lebendig macht, wenn er
verkuͤndet, der Herr Jahwe werde Iſrael unter
allen Voͤlkern ſieben, daß kein Korn zur Erde falle,
und werde die zerfallene Huͤtte Davids aufrichten,
dann iſt hier und nicht dort Schoͤpfung, hier und
21
nicht dort Anfang. Und das gleiche ergibt ſich,
wenn man einen babyloniſchen Bußpſalm mit einem
jüdiſchen vergleicht; dort die Beteuerung des Beters,
er habe nur unwiſſentlich gegeſſen, was ſeinem
Gott ein Greuel iſt, hier die Bitte: Gib mir einen
neuen und gewiſſen Geiſt. Was kann es gelten,
wieviel da etwa uͤbernommen wurde, gegenuͤber
dem unſaͤglichen Prozeß der Verinnerlichung, der
ſich daran vollzogen hat? Verinnerlichung — ſo
duͤrfen wir es nennen, was das juͤdiſche Volk an
den geiſtigen Elementen des Orients, die in ſeine
Hand kamen, getan hat. Aber mit dieſem Namen
meine ich nichts Allgemeines, ſondern etwas durch—
aus Eigentuͤmliches.
Alles, was ich vom Orientalen geſagt habe, gilt
mit beſonderer Deutlichkeit vom Juden. Er repraͤ⸗
ſentiert den motoriſchen Menſchentypus in ſeiner
reichſten Auspraͤgung. „Sein Bewegungsſyſtem“,
ſo habe ich es zu formulieren verſucht“), „arbeitet
intenſiver als ſein Sinnenſyſtem, er hat im Handeln
mehr Subſtanz und mehr Perſoͤnlichkeit als im
Wahrnehmen, und ſeinem Leben iſt wichtiger, was
er zuſtande bringt, als was ihm widerfaͤhrt.“ Das
*) Drei Reden über das Judentum (1911).
22
Tun iſt ihm weſentlicher als das Erleben, oder
richtiger: ſein weſentliches Erleben iſt in ſeinem
Tun. Wie der Orientale uͤberhaupt, ſo wird ganz
beſonders der Jude mehr der Gebaͤrde der Dinge
als ihres Umriſſes inne, mehr des Nacheinander
als des Nebeneinander, mehr der Zeit als des
Raumes. „Die malenden Epitheta der Bibel ſpre—
chen im Gegenſatz zu den homeriſchen nicht von
Form und Farbe, ſondern von Schall und Be—
wegung, die adaͤquateſte kuͤnſtleriſche Ausdrucks
form des Juden iſt die ſpezifiſche Zeitkunſt, die
Muſik, und der Zuſammenhang der Generationen iſt
ihm ein ſtaͤrkeres Lebensprinzip als der Genuß der
Gegenwart.“ Er erfaͤhrt die Welt weniger in dem
geſonderten vielfaͤltigen Einzeldaſein der Dinge als
in ihrer Verbindung, ihrer Gemeinſamkeit und Ge;
meinſchaft. „Er ſieht den Wald wahrhafter als die
Baͤume, das Meer wahrhafter als die Welle, die
Gemeinde wahrhafter als den Menſchen. Darum
hat er mehr Stimmungen als Bilder, und darum
auch treibt es ihn, die Fuͤlle der Dinge, ehe ſie noch
ganz durchlebt wurde, im Begriff zu binden.“
Beim Griechen iſt der Begriff der Abſchluß eines
ſeeliſchen Prozeſſes, beim Juden der Anfang. Aber
23
weit tiefer wurzelt in ihm des Orientalen elementarer
Einheitstrieb, der in ihm, wie ich ſchon ſagte, eine
denkwuͤrdige Wendung genommen hat.
Auch der Jude ſieht die Innerlichkeit der Welt
in ihrer Außerung und Offenbarung gehemmt, die
urgemeinte Einheit geſpalten und entſtellt; auch er
ſieht die Welt in der Entzweiung ſtehen. Aber er
erlebt die Entzweiung nicht bloß als etwas, was
ſich ihm in der Welt kundgibt, wie der Chineſe, oder
im Verhaͤltnis zwiſchen der Welt und dem erkennen⸗
den Subjekt, wie der Inder, oder im Verhaͤltnis
zwiſchen der Welt und dem handelnden Subjekt,
wie der Perſer. Sondern er erlebt ſie vor allem
andern zuinnerſt in ſich ſelber: als die Entzweiung
ſeines eignen Ich. Die einige Welt, die aufgebaut
werden ſoll, iſt im Menſchen ſelber gemeint und
angelegt als der „Wille Gottes“; aber im Menſchen
ſelber ſteht ihr das Hemmende, das Widerſtrebende
entgegen. Er fuͤhlt ſich zu jenem berufen, aber in
dieſes eingebettet; er erlebt ſich als den Schauplatz
des ungeheuerſten Widerſpruchs. Ein repraͤſentativer
Jude, Saul von Tarſos, hat dieſe Erfahrung in er⸗
ſchuͤtternd einfachen Worten ausgeſprochen: „Denn
das Gute, das ich will, das tue ich nicht, ſondern das
24
Boͤſe, das ich nicht will, das tue ich.“ Der Menſch,
dem dies widerfaͤhrt, ſteht in der Unfreiheit der
Entzweiung, in der Bedingtheit, im Zwieſpalt, in
der „Suͤnde“; denn Suͤnde bedeutet gar nichts
andres als zwieſpaͤltig, unfrei leben. Er iſt der
Traͤger der Weltentzweiung, er erlebt an ſich ſelber
das Schickſal der Welt, die aus der Freiheit in die
Unfreiheit, aus der Einheit in die Entzweiung
gefallen iſt. Es iſt aber in ſeine Macht gegeben,
auch der Traͤger der Welteinung zu ſein. Wie der
Inder die Welt zur Einheit bringt, indem er erkennt,
ſo bringt der Jude die Welt zur Einheit, indem er
ſich entſcheidet. Beides iſt ſcheinbar nur ein Vor⸗
gang im und am Individuum, in Wahrheit iſt es
ein Vorgang im und am Weſen der Welt. (Der
im Geiſt lebende Orientale fuͤhlt ſich nicht als ein
von den andern getrenntes Individuum, ſondern
als Subjekt ſchlechthin, ebenſo wie er die Gemeinde
nicht als eine Gruppe von Individuen, ſondern als
Subjekt ſchlechthin empfindet.) Das Weſen der
Welt iſt es, das in der Erkenntnis des Inders und
in der Entſcheidung des Juden zu ſich ſelber, zu
ſeiner Einheit und Ganzheit kommt. Darin
offenbart ſich nicht etwa bloß einem Menſchen die
25
Einheit feines Geiſtes mit dem Weltgeiſt, ſondern
es erfuͤllt ſich die Einheit des Seins. In der Ent⸗
ſcheidung entſcheidet ſich die entzweite Welt zur Ein
heit. Der in der Entſcheidung ſteht, weiß nichts,
als daß er zu waͤhlen hat, und auch das weiß er
nicht mit dem Denken, ſondern mit dem Sein; aber
wenn er mit der ganzen Seele waͤhlt, vollzieht ſich
das Myſterium, und der Geiſt Gottes ſchwebt uͤber
den Waſſern.
Mit der ganzen Seele. Wer ſich mit der ganzen
Seele entſcheidet, entſcheidet ſich zu Gott; denn alle
Ganzheit iſt Gottes Ebenbild, und in jeder leuchtet
er ſelber auf. In der wahrhaften, geeinten Ent⸗
ſcheidung, in der alle Zweiheit aufgehoben iſt, er
fuͤllt ſich in ewiger Erſtmaligkeit der Urſinn der Welt.
Von ihr ſagt ein juͤdiſches Wort: „Die Welt iſt
um der Wahl des Waͤhlenden willen erſchaffen
worden.“
Dem Menſchen, der ſich entſcheiden ſoll, ſtellt ſich
ſeine Entzweiung als die von Gut und Boͤſe dar,
das heißt von Richtung und Kraft. Nur wo ſich
eine Seele nicht zur Ganzheit zuſammenzuſchließen
vermag, ergreift fie das Boͤſe: laͤßt fie die richtungs—⸗
loſe Kraft gewaͤhren; die aus ihrer Einheit ent—
26
ſcheidet, in der find Kraft und Richtung vereint,
die ungeſchmaͤlerte Gewalt des leidenſchaftlichen An—
triebs und die unabgelenkte Geradheit der Intention.
An dem ihm anvertrauten Bereich vollendet dieſer
Menſch das Werk der Schoͤpfung. Jedes Dinges
Vollendung aber, des groͤßten und des geringſten,
ruͤhrt an das Goͤttliche.
Man kann von dieſem Ort aus uͤberſchauen,
wie unter allen Orientalen der Jude der offenbarſte
Widerpart des Griechen iſt. Der Grieche will die
Welt bewaͤltigen, der Jude will ſie vollenden; fuͤr
den Griechen iſt ſie da, fuͤr den Juden wird ſie;
der Grieche ſteht ihr gegenuͤber, der Jude iſt ihr ver⸗
bunden; der Grieche erkennt ſie unter dem Aſpekt des
Maßes, der Jude unter dem des Sinns; fuͤr den
Griechen iſt die Tat in der Welt, fuͤr den Juden iſt
die Welt in der Tat.
Jene hoͤchſte Sublimierung des motoriſchen Cha⸗
rakters des Orientalen, das Pathos der Forderung
hat im Judentum ſeine groͤßte Intenſitaͤt gewonnen.
Daß er die Entzweiung der Welt in ſich als die ſeine
erlebt, gibt dem Einheitsverlangen des Juden den
ſiegreichen Impuls. Er hat das Bangen der Welt
nicht bloß erfahren, er hat es erlitten; in ſeinem Willen
27
sum Einswerden pocht die Sehnſucht der Welt; und
was er, erloͤſend und einend, an ſich ſelber und an
den Weſen und Dingen vollbringt, die ihm zugeteilt
find oder ihm begegnen, das tut er in urgeheimem
Zuſammenhang dem Herzen der Welt. In allem
Ereignis bekundet ſich ihm jene obere Lebenswahr—
heit des Orients, von der ich geſprochen habe: daß
das innere Schickſal der Welt von der Handlung
des Handelnden in einem Maße abhaͤngt, das
keiner zu ermeſſen vermag. Die Grundanſchauung
des Judentums iſt die Anſchauung von dem abſo—
luten Wert der Tat als einer Entſcheidung. Scheinbar
iſt die Tat unentrinnbar eingeſtellt in das eherne
Gefuͤge der Urſaͤchlichkeit, aus deſſen Regeln ſich ihr
Gewicht ergibt; aber in Wahrheit wirkt ſie tief und
heimlich ins Schickſal der Welt, und wenn ſie ſich auf
ihr goͤttliches Ziel, die Einheit, beſinnt, wenn ſie ſich
von der Bedingtheit losmacht und im eignen Lichte,
das iſt im Lichte Jahwes, wandelt, iſt ſie frei und
gewaltig wie Gottes Tat.
Unter allen Geiſtesgeſtaltungen der Menſchheit
iſt das Judentum die einzige, in der die Entſcheidung
des Menſchen ſolcherweiſe Mitte und Sinn alles
Geſchehens wird.
28
Teſchuba, Umkehr — ſo heißt der Akt der Ent:
ſcheidung in ſeiner letzten Steigerung: wenn er
die Zaͤſur eines Menſchenlebens, den erneuernden
Umſchwung mitten im Verlauf einer Exiſtenz bedeutet.
Wenn mitten in der „Suͤnde“, in der Entſcheidungs—⸗
loſigkeit, der Wille zur Entſcheidung erwacht, birſt
die Decke des gewohnten Lebens, die Urkraft bricht
durch und ſtuͤrmt zum Himmel empor. An dem
Umkehrenden geſchieht die Schoͤpfung aufs neue;
an ſeiner Erneuerung erneuert ſich der Beſtand
der Welt. Ehe die Welt erſchaffen war, heißt
es, war da nichts als Gott allein und ſein
Name; da geriet es in ſeinem Sinne, die Welt
zu erſchaffen, und er zeichnete ſie vor ſich hin;
aber er ſah, daß die Welt nicht beſtehen konnte,
weil ſie keine Grundfeſte hatte; da ſchuf er die
Umkehr.
Durch die Inbrunſt ſeiner Forderung der Um—
kehr und durch die Inbrunſt ſeines Glaubens an
die Macht und Herrlichkeit der Umkehr, durch ſeine
neue Magie, die Magie der Entſcheidung, hat das
Judentum den Okzident fuͤr die Lehre des Orients
gewonnen. Durch ſie iſt es recht eigentlich der
wirkende Orient geworden.
29
3.
Keine der großen religioͤſen Lehren iſt im Abend—
land entſtanden; das Abendland ſteht ihnen rezeptiv
gegenuͤber. Es verarbeitet, was der Orient ihm
darreicht, es paßt es feinen Denk- und Gefuͤhls⸗
formen an und modelt es nach ihnen um, zuweilen
gelingt es ihm, es auszubauen; niemals aber ver⸗
mochte es den rieſenhaften Sinnbildern Aſiens
ein eignes gegenuͤberzuſtellen, niemals, die fugenloſe
Welt einer Gotteslehre auf irrationalem und un⸗
erſchuͤtterlichem Grunde aufzurichten. Europa hat
Ideologien von unvergleichlicher Reinheit, Sicherheit
und Geſchloſſenheit, aber keiner von ihnen eignet
die elementare Gewalt der großen Lehren; Europa
hat Dichtungen von heiliger Bildkraft, aber keine
von ihnen kennt jene Metaphern des Namenloſen,
welche die Sprache der großen Lehren ſind; Europa
hat religioͤſe Genies von innerſter Legitimitaͤt, aber
keiner von ihnen hat das Myſterium ſelbeigen aus
dem Abgrund gehoben und in die Welt der Menz
ſchen eingeſetzt, ſie alle haben es empfangen, getragen
und offenbart — auch der groͤßte unter ihnen,
Eckhart, iſt nur ein ſpaͤter Sendbote des morgen—
laͤndiſchen Meiſters.
30
Was iſt es, was Europa fehlt, weſſen es allezeit
bedarf und was es aus ſich nie erzeugen kann?
Es hat das umfaͤnglichſte und ausgebildetſte Wiſſen
und findet aus ſich nicht den Sinn; es hat die
ſtrengſte und reinlichſte Zucht und findet aus ſich
nicht den Weg; es hat die reichſte und freieſte Kunſt
und findet aus ſich nicht das Zeichen; es hat den
innigſten und geradeſten Glauben und findet aus
ſich nicht den Gott. Was ihm fehlt, kann nicht die
Einheitsfunktion ſein, all ſein Denken wurzelt in
ihr; es kann nicht die Symbolfunktion ſein, all ſein
Bilden kommt aus ihr her; es kann nicht die Kraft
des Aufbaus fein. Was ihm fehlt, iſt die Aug;
ſchließlichkeit der Kunde vom wahrhaften Leben,
die eingeborne Gewißheit jenes Eins tut not. Dies
iſt es, was in den großen Lehren des Orients und
einzig in ihnen ſchoͤpferiſch beſteht. Sie ſetzen das
wahrhafte Leben als das fundamentale, von nichts
anderm abgeleitete, auf nichts andres zuruͤckzufuͤh⸗
rende metaphyſiſche Prinzip; ſie verkuͤnden den
Weg. Es gibt, ſo ſprechen ſie, dem Menſchen
nirgendwo anders den Sinn als im wahrhaften
Leben, das die Welt einigt und erloͤſt; es gibt ihm
nirgendwo anders die Wahrheit als im wahrhaften
31
Leben. Wer den Weg geht, geht in den Fußtapfen
Gottes.
Unter den großen Geiſtesgeſtaltungen des Orients
mußte die entſcheidende Wirkung auf den abend;
laͤndiſchen Menſchen die ausüben, in der die Ber,
kündung des wahrhaften Lebens als Forderung
an jeden Menſchen erging; fuͤr die es nicht das
Vorrecht des Weiſen, des Erleſenen war, ſondern
jedem gleicherweiſe zugaͤnglich, und die gerade den
Verirrten, den Richtungsloſen, den „Suͤnder“ am
maͤchtigſten beſchwor: die juͤdiſche Lehre von der
Entſcheidung und der Umkehr. Die andern haben
auf Weiſe, auf Erleſene gewirkt, dieſe auf die Voͤlker,
auf das Volk des Abendlands. Daß jedem, der das
Rechte ergreift, die Pforten des Gottesreichs offen⸗
ſtehen, daß, wer ſich nach dem Troſt des Unbe—
dingten ſehnt, das Unbedingte nur handelnd zu
erwaͤhlen braucht, das zwang die Weiſen und die
Einfaͤltigen in eine Gemeinde zuſammen. Die erſte
große werbende Eigentuͤmlichkeit der juͤdiſchen Lehre
war dieſe ihre Alloffenheit, die zweite war ihre
Richtung auf die poſitive Tat. Sie wollte nicht,
wie etwa der Buddhismus, von der Welt weg, fon
dern ins Herz der Welt fuͤhren; ſie forderte von
32
dem tätigen Menſchen nicht, daß er auf das Tun
verzichte, ſondern daß er das Rechte tun lerne; ſie
toͤtete die lebendige Energie der Leidenſchaft nicht,
ja ſie wollte ſie noch ſteigern durch den ungeheuren
Anſpruch, den ſie an ſie ſtellte. Beide Prinzipien
der juͤdiſchen Lehre ſind in den feierlichen Worten
des Tanna debe Elijahu vereinigt: „Ich nehme
zu Zeugen den Himmel und die Erde, daß auf
Heiden und Juden, auf Mann und Weib, auf
Knecht und Magd der heilige Geiſt ruhen kann,
alleinzig nach der Tat des Menſchen.“ Von beiden
Prinzipien war die urchriſtliche Bewegung getragen,
durch deren Entwicklung die juͤdiſche Lehre das
geiſtige Schickſal des Abendlandes geſtaltete.
Wohl hat dieſe Bewegung nicht mit ihrem ur⸗
ſpruͤnglichen Weſen, ſondern ſynkretiſtiſch vermiſcht
das Abendland uͤberwaͤltigt; wohl hat ſie vom
Hellenismus mehr angenommen als Bilder und
Worte; aber das dauernd Zeugende im Chriſten—
tum war juͤdiſches Urgut. Es iſt bedeutſam, daß
das erſte Wort der Predigt Jeſu bei den Syn⸗
optikern, das die Predigt des Täufers wiederholt,
das Grundwort der Propheten iſt: Kehret um,
und in ſeinem innern Sinn nur aus der uͤber⸗
3 33
lieferten Lehre von der Teſchuba verſtanden werden
kann. Die Schwungkraft der Botſchaft Jeſu
iſt die altjuͤdiſche Forderung der unbedingten
Entſcheidung, die den Menſchen wandelt und ins
Gottesreich hebt. Und ſie iſt die Schwungkraft des
Chriſtentums geblieben, auf die es zuruͤckgriff, ſo⸗
oft es ſich erneuern wollte — und wenn es ſich dabei
noch ſo ſehr zu entjuden vermeinte.
4.
Die urchriſtliche Bewegung war im Judentum
keine iſolierte Erſcheinung; wie ſie aus dem Schoße
alter juͤdiſcher Lebensgemeinſchaften entſtanden war,
ſo war ſie auch in ihrer Zeit ſelbſt nur eine der
Außerungen einer neuen geiſtigen Blüte, von der
uns das Schrifttum bedeutende, wenn auch frag⸗
mentariſche Zeugniſſe uͤberliefert hat. Mitten in
dieſer Epoche großer Fruchtbarkeit kam uͤber die
Juden das Verhaͤngnis: der Untergang ihres Staa⸗
tes. In welcher Fuͤlle ſeiner Lebenskraft dieſes
Volk gebrochen wurde, zeigte ſechs Jahrzehnte
nach der Zerſtoͤrung Jeruſalems der große Aufſtand
Barkochbas, der ſo gewaltig war, daß Rom um
ſeinen ganzen orientaliſchen Beſitz bange wurde
34
und daß, als ihm im vierten Jahr unabläffiger An⸗
ſtrengungen ſeiner beſten Feldherrn und Truppen
die Niederwerfung des judaͤiſchen Voͤlkleins gelang,
Hadrian in ſeiner Siegesmeldung an den Senat
die uͤbliche Formel „Ich und mein Heer befinden
uns wohl“ wegließ. Was damals dem Judentum
geſchah, laͤßt ſich in ſeiner tragiſchen Tiefe nur
ahnen; wie ein ungeheuerliches Sinnbild mutet
der Bericht an, daß auf dem Markt an der Terebinthe
Abrahams zu Hebron Juden um den Preis eines
Pferdes verkauft wurden. So kamen ſie an das
Abendland.
Dieſes Ereignis hat die Geſchichte des Judentums
entzweigebrochen, wie es nie zuvor und darnach
einem Volk widerfuhr. Indem es feiner morgen;
laͤndiſchen Erde entriſſen wurde, wurde es zugleich
der Kontinuitaͤt ſeines geiſtigen Werdens entriſſen.
Das iſt aus zwei Dingen zu verſtehen: aus dem
Zuſammenhang des antiken Juden mit feinem
Lande und aus der Geneſis ſeiner geiſtigen
Produktivitaͤt.
Einige Gelehrte, die ſich mit der Pſychologie des
Judentums befaßt haben, ſprechen mit axiomatiſcher
Sicherheit die Anſicht aus, Iſrael ſei ein Nomaden—
35 35
volk geweſen und geblieben, und leiten allerlei
wirkliche oder angebliche juͤdiſche Eigenſchaften davon
ab. Dieſe Anſicht wird etwa damit begruͤndet, daß
in den bibliſchen Büchern, fo bei den meiſten Pro;
pheten, uns uͤberall Bilder und Gleichniſſe aus
dem Hirtenleben entgegentraͤten, wogegen die aus
dem Bauernleben aͤußerſt ſelten ſeien. Das trifft
auf keines der Bücher zu; ja in den aͤlteren der pro;
phetiſchen Buͤcher, deren Urheber am ſtaͤrkſten mit
dem natürlichen Leben des Volkes zuſammenhingen,
wie etwa beim erſten Jeſaja, kommt auf zwanzig
Bilder aus Feld, Garten und Weinberg kaum eins
aus der Viehzucht. In Wahrheit haben wir von der
Zeit vor der Eroberung Kanaans zu wenig zu⸗
verläffige Kenntnis, um die Behauptung wagen zu
duͤrfen, die Juden ſeien damals ein reines Nomaden⸗
volk geweſen; und ſoweit wir die bibliſchen Erzaͤh—
lungen als Quelle anzuſehen berechtigt find, koͤnnen
wir aus ihnen das Gegenteil herausleſen; Iſaaks
Segen an Jakob iſt der Segen eines Ackerbauers und
Joſefs Traum vom Garbenbinden der Traum
eines Ackerbauers. In der palaͤſtinenſiſchen Zeit
aber zeugt das ganze Schrifttum von einer Liebe
zur Scholle, von einer Verklaͤrung des Bodenbaus,
36
1
wie wir ſie bei wenigen andern Voͤlkern finden;
goͤttliche Drohungen und goͤttliche Verheißungen
haben faſt immer den Acker zum Gegenſtand; und
Jeſus Sirach ſpricht das Gefuͤhl der Jahrhunderte
aus, wenn er ſagt, der Pfluͤger erhalte die ewige
Schoͤpfung in ihrem Beſtand. Selten hat es ein
Volk gegeben, das fo in feiner Seßhaftigkeit be;
ſchloſſen und beſeligt war. Und das ganze geiſtige
und religioͤſe Leben des alten Judentums war eng
verbunden mit dem Leben der Erde, mit dem Leben
dieſes vertrauten Bodens; Gott war der Lehnsherr
des Ackers, ſeine Feſte waren Ackerfeſte, und ſein
Geſetz ein Ackergeſetz; zu welcher Hoͤhe allgemeinen
Geiſtes ſich die Prophetie auch erhob, fie wurzelte
immer in dieſem natuͤrlichen Leben, und ihre Forde;
rung wollte in dieſem natuͤrlichen Leben verwirk
licht werden — immer wollte ihr allgemeiner Geiſt
einen Leib aus dieſer beſonderen kanaganaͤiſchen
Erde anziehen. Die juͤdiſche Religion lehrte (und
das außerpauliniſche Urchriſtentum iſt ihr darin
treu geblieben) nicht wie das pauliniſche Chriſtentum
ein Hinaustragen der Botſchaft in die Voͤlker,
nicht wie der Iſlam ein Erobern der Welt fuͤr den
Glauben, ſondern die Einwurzelung im heimatlichen
37
Boden, die Bewährung des rechten Lebens in der
Enge, die vorbildliche Geſtaltung einer Menſchen⸗
gemeinſchaft auf der ſchmalen fanaandifchen Erde.
Und die am tiefſten urſpruͤngliche Schoͤpfung des
Judentums, der Meſſianismus, iſt nur die gleiche
Idee, als letzte Erfuͤllung gedacht, in die abſolute
Zukunft projiziert, da der Herr allen Voͤlkern auf
dem Berge Zion ein Mahl richten wird von reinem
Wein, darinnen keine Hefe iſt. Alles Schaffen
nahm ſeine Kraft und ſeine Geſtalt aus dem orga⸗
niſchen Zuſammenhang mit dieſer Erde. Und nun
wurde dieſer Zuſammenhang zerriſſen; mit ihm
zerriß der innere Zuſammenhang des jiuͤdiſchen
Geiſtes. Gott wurde aus einem Lehnsherrn des
Ackers der Schutzherr der Froͤmmigkeit, ſeine Feſte
aus Ackerfeſten Feſte der Synagoge und ſein Geſetz
aus einem Ackergeſetz ein Ritualgeſetz; der Geiſt
wurde von ſeinen Wurzeln geloͤſt. Damals wurden
die Juden ein Nomadenvolk.
Aber noch ein Zweites kam hinzu. Das geiſtige
Leben der orientaliſchen Voͤlker, in dem die Ge,
fahren des motoriſchen Menſchen mit ſeinen ſub⸗
limſten Moͤglichkeiten verknuͤpft ſind und die Preis⸗
gabe des Selbſt an den Taumel der Welt ſich von
38
den gleichen Wurzeln naͤhrt wie die Beſinnung des
Selbſt auf feine und der Welt unwandelbare Inner;
lichkeit, entwickelt ſich oft in der Form eines Kampfes:
des Kampfes der ſchoͤpferiſchen Geiſter, der Fuͤhrer
und Erloͤſer, gegen die Richtungsloſigkeit der Volks;
triebe. Eine beſondere Intenſitaͤt und Fruchtbarkeit
hat dieſer Kampf im alten Judentum. Aus dem
Erlebnis der inneren Entzweiung und aus der
immanenten Forderung der Entſcheidung, das heißt
des Einswerdens der Seele, ergab fi) das Aus—
einanderfallen des Volkes in zwei geiſtige Klaſſen,
die der Waͤhlenden, der ſich Entſcheidenden, der zur
Unbedingtheit Durchdringenden, der ans Ziel Hin;
gegebenen, und die der Geſchehenlaſſenden, der Ent;
ſcheidungsloſen, der traͤge in der Bedingtheit Ver;
harrenden, der zweckhaft Selbſtſuͤchtigen und Selbſt⸗
zufriedenen; bibliſch geſprochen, die der Diener
Jahwes und die der Diener Baals, wobei zu be;
achten iſt, daß dieſe ſich keineswegs etwa fuͤr Baal
und gegen Jahwe entſchieden, ſondern nach dem
Wort Elijas „auf beiden Seiten hinkten“. Im
Kampf gegen ſie entzuͤndet ſich allezeit die ſpezifiſche
Genialitaͤt der Propheten und Lehrer Iſraels; ſie
iſt eine kaͤmpferiſche Genialitaͤt, und die juͤdiſche
39
Fruchtbarkeit ift eine kaͤmpferiſche Fruchtbarkeit.
Im Gegenſatz zu der des Abendlandes, die auf
das Werk geht und an ihm ihre Grenze hat,
hat die juͤdiſche Produktivitaͤt Form, aber keine
Grenze; ſie hat, darf man wohl ſagen, die Form
des Unendlichen, denn ſie hat die Form des
Geiſteskampfes.
Mit der Zerſtoͤrung des juͤdiſchen Gemeinweſens
wurde die Fruchtbarkeit des Geiſteskampfes ge⸗
ſchwaͤcht. Die geiſtige Kraft ſammelte ſich nunmehr
auf die Erhaltung des Volkstums gegen die aͤußeren
Einfluͤſſe, auf die ſtrenge Umzaͤunung des eignen
Bereiches, um das Eindringen fremder Tendenzen
zu verhuͤten, auf die Kodifizierung der Werte, um
aller Verſchiebung vorzubeugen, auf die unmiß⸗
verſtaͤndliche, unumdeutbare, alſo konſequent ra⸗
tionale Formulierung der Religion. An die Stelle
des gotterfuͤllten, fordernden, ſchoͤpferiſchen Elements
trat immer mehr das ſtarre, nur erhaltende, nur
fortſetzende, nur abwehrende Element des offiziellen
Judentums; ja, es richtete ſich immer mehr gegen
das Schoͤpferiſche, das ihm durch ſeine Kuͤhnheit
und Freiheit den Beſtand des Volkstums zu ge;
faͤhrden ſchien, es wurde verketzernd und lebens
40
feindlich. In der ſterilen Atmoſphaͤre dieſes Kampfes
entwickelte ſich eine abgeloͤſte Geiſtigkeit, eine von
dem Wurzelgrund des natuͤrlichen Lebens und von
den Funktionen des echten Geiſteskampfes abgeloͤſte
Geiſtigkeit, neutral, ſubſtanzlos, dialektiſch, die ſich
an alle Gegenſtaͤnde, auch an die indifferenteſten,
hingeben konnte, um ſie begrifflich zu zergliedern
oder in Beziehung zueinander zu ſetzen, ohne auch
nur einem wirklich ſchauend⸗triebhaft anzugehoͤren.
Die gebrochene, des Zuſammenhangs beraubte ſchoͤp—
feriſche Kraft, die Kraft der Unbedingtheit lebte
nur noch fort in Ketzern, die zumeiſt machtlos und
geſtaltlos blieben und im Dunkel untergingen, zu⸗
weilen, wie der große Spinoza, die Umzaͤunung
durchbrachen und die Welt anredeten, daß ſie ſtille
wurde, um ihnen zu lauſchen; in meſſianiſchen Be⸗
wegungen, die in ungeheuren Wirbeln glaͤubiger
Begeiſterung aufſtiegen und zuſammenfielen; und
in der tiefen Welt der juͤdiſchen Myſtik, die das
heilige Feuer der alten Gottverbundenheit unter⸗
irdiſch huͤtete und es nur einmal, ein einziges ſpaͤtes
Mal ins Volk aufflammen ließ: in der großen reli—
gioͤſen Erhebung des Chaſſidismus, die im acht⸗
zehnten Jahrhundert die polniſche Judenheit er;
41
faßte; er offenbarte noch einmal die ſchrankenloſe
Gewalt des orientaliſchen Menſchen aus den ent⸗
brannten Seelen, aber im Bann der Angſte um
die Wahrung der Art befangen, wagte er die Um;
zaͤunung nicht anzutaſten und vermochte ſich daher
die Funktionen des echten Geiſteskampfes nicht an⸗
zueignen.
So konnte es geſchehen, daß im neunzehnten
Jahrhundert, als die Emanzipation das Judentum
auf einen hohen Berg fuͤhrte und ihm die Reiche
der Welt und ihre Herrlichkeit zeigte, die Umzaͤunung
durchbrochen und niedergetreten wurde nicht von
einer elementaren, zu neuer Schoͤpfung draͤngenden
Kraft, ſondern von blaſſen, ſchwaͤchlichen Reform⸗
verſuchen, die ihre Gedanken und Formen den
Muſterbuͤchern des europaͤiſchen Aufklaͤrertums und
der ſogenannten fortgeſchrittenen Religionen entnah⸗
men. Wir leben in der problematiſchen Situation, die
auf dieſe Verſuche gefolgt iſt: in der im Judentum der
letzte alte Aufbau des orientaliſchen Geiſtes erſchuͤttert
und einem neuen kein Grund gelegt ſcheint.
Und doch beſteht dieſer Grund, beſteht uner—
ſchuͤttert fort. Dieſer Grund iſt die Seele des Juden
ſelbſt. Denn der Jude iſt Orientale geblieben.
42
Er iſt aus feinem Lande getrieben und über die
Laͤnder des Abendlands geworfen worden; er hat
unter einem Himmel wohnen müffen, den er nicht
kannte, und auf einem Boden, den er nicht be—
baute; er hat das Martyrium erduldet und, was
ſchlimmer iſt als Martyrium, das Leben in der
Erniedrigung; die Sitten der Voͤlker, bei denen er
wohnte, haben ihn angeruͤhrt, und er hat die
Sprachen der Voͤlker geſprochen; und in alledem
iſt er Orientale geblieben. Er hat die motoriſche
Schrankenloſigkeit des Grundweſens mit ihren Be;
gleiterſcheinungen, der Herrſchaft des Zeitſinns und
der ſchnellen Begriffsfunktion, in ſich bewahrt, er
hat den elementaren Einheitstrieb und die imma;
nente Forderung in ſich bewahrt, zuweilen ver—
ſchuͤttet, zuweilen entartet, nie völlig erdruͤckt. Man
wird fie im angepaßteſten Juden entdecken, wenn
man ſein Gemuͤt zu erſchließen vermag; und welcher
aus dem Inhalt ſeines Denkens den letzten Reſt
des Judentums ausgerottet hat, der traͤgt es in
der Form ſeines Denkens unausrottbar fort. Aber
weithin erkennbar leben ſie in den an Fertigkeiten
der Ziviliſation armen, aber an Macht des urſpruͤng⸗
lichen Ethos und des unmittelbaren Geiſtes trotz
43
eindringender Verderbnis und Zerſetzung reichen
jüdiſchen Volksmaſſen Oſteuropas. Man ſehe etwa
den epigonenhaften, dennoch auch jetzt noch wunder;
ſamen Chaſſid unſrer Tage an; man ſehe ihn zu
ſeinem Gotte beten, von der Inbrunſt geſchuͤttelt,
mit ſeinem ganzen Leibe das gleiche ausſprechend,
das ſeine Lippen ſagen, ein grotesker und erhabener
Anblick; man ſehe ihn mit koͤniglichen Gebaͤrden und
geſammelter Weihe das heilige Mahl des Sabbat—
ausgangs begehen, an dem die Geheimniſſe der
Welterloͤſung hangen; und man wird fuͤhlen: hier
iſt, verkuͤmmert, verzerrt, dennoch unverkennbar,
aſiatiſche Gewalt und aſiatiſche Innerlichkeit.
Auf dieſem offenbaren oder latenten Orientalis⸗
mus, dieſem unter allen Einfluͤſſen erhaltenen Seelen⸗
grund des Juden baut ſich mein Glaube an eine
neue geiſtig-religioͤſe Schoͤpfung des Judentums
auf. In der Abgeloͤſtheit und Aufgeloͤſtheit ſeiner
abendlaͤndiſchen Exiſtenz kann ihm freilich nur Stuͤck⸗
werk geraten; kuͤhne Wagniſſe des Geiſtes koͤnnen
unternommen, ſtarke Worte des Geiſtes koͤnnen
gepraͤgt werden; religioͤſe Erregungen koͤnnen aus
dem wetterſchweren Dunkel des Volksſchickſals auf⸗
blitzen; aber eine große Schoͤpfung, die ſie alle in
44
einer Syntheſe vereinigt, die die Kontinuität des
juͤdiſchen Werdens wiederaufnimmt und dem un—
ſterblichen juͤdiſchen Einheitstrieb wieder adaͤquaten
Ausdruck gewaͤhrt, wird nur erſtehen koͤnnen, wenn
die Kontinuität des palaͤſtinenſiſchen Lebens wieder;
aufgenommen wird, aus dem einſt die großen Kon
zeptionen dieſes Einheitstriebs erwuchſen. Der Jude
iſt nicht der gleiche, der er damals war; er iſt durch
alle Himmel und Hoͤllen des Abendlands hindurch;
gegangen und hat an ſeiner Seele Schaden gelitten;
aber ſeine Urkraft iſt unverſehrt geblieben, ja ſie iſt
gelaͤutert worden. Wenn ſie ihren muͤtterlichen
Boden beruͤhrt, wird ſie wieder ſchoͤpferiſch ſein.
Der Jude kann ſeinen Beruf unter den Voͤlkern
nur dann wahrhaft erfuͤllen, wenn er von neuem
und mit ſeiner ganzen, unverſehrten, gelaͤuterten
Urkraft daran geht, zu verwirklichen, was ſeine
Religioſitaͤt ihn in der Vorzeit lehrte: die Ein⸗
wurzelung im heimatlichen Boden, die Bewaͤhrung
des rechten Lebens in der Enge, die vorbildliche
Geſtaltung einer Menſchengemeinſchaft auf der ſchma—
len kanaanaͤiſchen Erde.
45
5.
Das Zeitalter, in dem wir leben, wird man einſt
als das der aſiatiſchen Kriſis bezeichnen. Die fuͤh—⸗
renden Voͤlker des Orients ſind teils unter die
aͤußere Gewalt, teils unter den innerlich vergewal⸗
tigenden Einfluß Europas gekommen; ſie haben
ihre heiligſten Guͤter, die großen Traditionen ihres
Geiſtes nicht gewahrt, ja ſie haben ſie zuweilen
ſelber preisgegeben. Die Unterjochung Indiens, die
Selbſteuropaͤiſierung Japans, die Schwaͤchung Per,
ſiens, zuletzt die Zerruͤttung Chinas, in dem der
altorientaliſche Geiſt unantaſtbar ſicher zu wohnen
ſchien, ſind einige Stadien dieſes Prozeſſes. Die
Seele Aſiens wird gemordet, und es ſelber tut bei
dieſem Morde mit. Die Welt iſt im Begriff, das
unerſetzlichſte Gut zu verlieren und kuͤmmert ſich
nicht darum, vielmehr, ſie ſpendet den Nationen
Beifall, die es zerſtoͤren. Selbſtbeſinnung, Ein⸗
kehr, Umkehr tut not. Europa muß ſich unter;
fangen, eine neue Ara der Erhaltung des Orients
und des Einvernehmens mit ihm zu gegenſeitiger
Foͤrderung und gemeinſamer menſchheitlicher Ar—
beit zu begründen, eine Ara, in der Aſien durch
46
Europa nicht vergewaltigt, ſondern aus feinen
eignen Keimkraͤften heraus entfaltet, und Europa
durch Aſien nicht bedroht, ſondern zu den großen
Lebenswahrheiten hingefuͤhrt wird. Fuͤr dieſe welt—
geſchichtliche Miſſion bietet ſich Europa ein Mittler;
volk dar, das alle Weisheit und Kunſt des Abend—
lands erworben und fein orientaliſches Urweſen nicht
verloren hat, das berufen iſt, Orient und Okzident zu
fruchtbarer Gegenſeitigkeit zu verknuͤpfen, wie es viel⸗
leicht berufen iſt, den Geiſt des Orients und den Geiſt
des Okzidents in einer neuen Lehre zu verſchmelzen.
Wie dies geſchehen mag, iſt heute noch nicht zu umgren⸗
zen. Aber dies eine ſei geſagt, daß Jeruſalem immer
noch, ja mehr als je das iſt, als was es im Altertum
galt: das Tor der Völker, Hier iſt der ewige Durch—
gang zwiſchen Orient und Okzident. Hierher lenkte
das antike Aſien ſeinen Schritt, wenn es, wie unter
Nebukadnezar und Cyrus, erobernd gen Abend zog,
hierher das Europa Alexanders und der Roͤmer,
wenn es das Morgenland zu uͤberwaͤltigen gedachte.
Unter dem Anſturm von Oſten nach Weſten brach
der erſte juͤdiſche Staat zuſammen, unter dem An;
ſturm von Weſten nach Oſten der zweite. Seither
hat ſich die Weltbedeutung Palaͤſtinas verdichtet und
47
vertieft. Heute iſt in einem noch ſchwereren, noch
umfaͤnglicheren, noch drohungs⸗ und verheißungs⸗
volleren Sinn Jeruſalem das Tor der Voͤlker. Es
gilt das Heil Jeruſalems zu ſuchen, welches das
Heil der Völker iſt.
Juͤdiſche Religioſitaͤt
Die juͤdiſche Religioſitaͤt iſt nicht, wie viele glauben,
ein Gegenſtand zwar von beſonderer Wuͤrde, aber
von unerheblicher Aktualitaͤt fuͤr die ſogenannte
„Loͤſung der Judenfrage“, ſondern ſie iſt, wie von je,
ſo auch jetzt, für das Judentum der einzige Gegen;
ſtand von abſoluter Aktualitaͤt, Triebkraft ſeines
Schickſals, Richte ſeiner Beſtimmung, die Gewalt,
deren Aufflammen es neu beleben, deren voͤlliges
Verloͤſchen es dem Tode uͤberantworten wuͤrde.
Erneuerung des Judentums bedeutet in Wahrheit:
Erneuerung der juͤdiſchen Religioſitaͤt. Man kann,
ohne ſich um die juͤdiſche Religioſitaͤt zu bekuͤmmern,
die Aufloͤſung des Judentums wuͤnſchen, fordern,
proklamieren; man kann, ohne ſich um ſie zu be⸗
kuͤmmern, die „Erhaltung“, das heißt die unmerkliche
Aufloͤſung des Judentums wuͤnſchen, fordern, prokla⸗
mieren; nicht aber eine Erneuerung des Judentums.
Wer dieſe erſehnt, will, daß es wieder ein mit allen
Sinnen lebendiges, ein aus allen Kraͤften taͤtiges,
ein zu heiliger Gemeinde verbundenes Judentum
4 49
gebe; er hat erkannt, daß dahin aus der Gegenwart
des juͤdiſchen Daſeins kein anderer Weg fuͤhrt als
durch Abſage und Neubeginn. Dem aus ſolchem
Willen und ſolcher Erkenntnis eine Erneuerung
des Judentums Erſehnenden wird, je aktiver ſeine
Sehnſucht iſt, deſto gewiſſer offenbar werden,
daß Erneuerung des Judentums Erneuerung der
juͤdiſchen Religioſitaͤt bedeutet.
Ich ſage und meine: Religioſitaͤt. Ich ſage und
meine nicht: Religion. Religioſitaͤt iſt das ewig
neu werdende, ewig neu ſich ausſprechende und aus⸗
formende, das ſtaunende und anbetende Gefuͤhl
des Menſchen, daß uͤber ſeine Bedingtheit hinaus
und doch mitten aus ihr hervorbrechend ein
Unbedingtes beſteht, ſein Verlangen, mit ihm
lebendige Gemeinſchaft zu ſchließen, und ſein
Wille, es durch ſein Tun zu verwirklichen und
in die Menſchenwelt einzuſetzen. Religion iſt die
Summe der Braͤuche und Lehren, in denen ſich
die Religioſitaͤt einer beſtimmten Epoche eines Volks;
tums ausgeſprochen und ausgeformt hat, in Vor⸗
ſchriften und Glaubensſaͤtzen feſtgelegt, allen kuͤnf⸗
tigen Geſchlechtern ohne Ruͤckſicht auf deren neu
gewordene, nach neuer Geſtalt begehrende Religioſi⸗
50
tät als für fie unverruͤckbar verbindlich überliefert.
Religion ift fo lange wahr, als fie fruchtbar iſt; dies
aber iſt ſie ſo lange, als die Religioſitaͤt, das Joch
der Vorſchriften und Glaubensſaͤtze auf ſich neh—
mend, ſie doch — oft ohne es zu merken — mit
neuem gluͤhenden Sinn zu erfuͤllen und zuinnerſt
zu verwandeln vermag, daß ſie jedem Geſchlecht
erſcheinen, als waͤren ſie ihm ſelber heute offenbart,
ſeine eignen, den Vaͤtern fremden Noͤte zu ſtillen.
Sind aber die Riten und Dogmen einer Religion
ſo erſtarrt, daß die Religioſitaͤt ſie nicht zu bewegen
vermag oder ſich ihnen nicht mehr fuͤgen will, dann
wird die Religion unfruchtbar und damit unwahr.
Es iſt alſo Religioſitaͤt das ſchaffende, Religion das
organiſierende Prinzip; Religioſitaͤt beginnt neu
mit jedem jungen Menſchen, den das Geheimnis
erſchuͤttert, Religion will ihn in ihr ein fuͤr allemal
ſtabiliertes Gefuͤge einzwingen; Religioſitaͤt meint
Aktivitaͤt — ein elementares Sichinverhaͤltnisſetzen
zum Abſoluten —, Religion meint Paſſivitaͤt —
ein Aufſichnehmen des überlieferten Geſetzes; Re—
ligioſitaͤt hat nur ihr Ziel, Religion hat Zwecke;
aus Religioſitaͤt ſtehen die Soͤhne wider die Vaͤter
auf, um ihren ſelbeignen Gott zu finden, aus Re⸗
8 51
ligion verdammen die Väter die Söhne, weil fie
fich ihren Gott nicht auferlegen ließen; Religion
bedeutet Erhaltung, Religioſitaͤt bedeutet Erneue—
rung.
Worin immer aber ein andres Volk ſein Heil finden
mag, dem juͤdiſchen iſt es nirgendwo anders etz
ſchloſſen als in der lebendigen Macht, an die ſein
Volkstum von je gebunden war und durch die es
beſtanden hat: nicht in ſeiner Religion, wohl aber
in ſeiner Religioſitaͤt. Ein Wort des Baalſchem
ſpricht es aus: „Wir ſagen „Gott Abrahams, Gott
Iſaaks und Gott Jakobs“, wir ſagen nicht „Gott
Abrahams, Iſaaks und Jakobs“, damit dir geſagt
ſei: Iſaak und Jakob ſtuͤtzten ſich nicht auf Abra⸗
hams Überlieferung, ſondern ſelber ſuchten ſie das
Goͤttliche.“
Ich will verſuchen, das beſondere Weſen der
juͤdiſchen Religioſitaͤt aus dem Schutt, mit dem es
Rabbinismus und Rationalismus bedeckt haben,
herauszuloͤſen.
Der Akt, der in allen Zeiten dem Judentum als
der Weſensgrund aller Religioſitaͤt erſchien, iſt der
Akt der Entſcheidung als der Verwirklichung der
goͤttlichen Freiheit und Unbedingtheit auf Erden.
52
Der ſpaͤtjuͤdiſche Spruch „Die Welt ift um der Wahl
des Waͤhlenden willen geſchaffen worden“ iſt nur
die reife Formulierung einer Idee, die unformuliert
ſchon in der bibliſchen Zeit lebendig und weſenhaft
war. Wie die Reihe der Sinai-Gebote durch den Ruf
zur ausſchließenden und unbedingten Entſcheidung
fuͤr den Einen eroͤffnet wird, ſo dienen die groͤßten
unter Moſes Worten der gleichen Forderung: „Ganz
ſollſt du mit Jahwe deinem Gott ſein“ und „Jahwe
deinem Gott zu dienen mit deinem ganzen Herzen
und deiner ganzen Seele“; und das gleiche verkuͤnden
die Propheten von Elija an, der zum Volke ſpricht:
„Wie lange noch hinket ihr auf beiden Seiten?“
Das nachbibliſche Schrifttum bildet die Idee immer
praͤgnanter aus. Die Miſchna deutet das Wort
„Du ſollſt Gott lieben mit deinem ganzen Herzen“
dahin, daß gemeint ſei: mit deinen beiden Trieben,
mit dem „guten“ und dem „boͤſen“ Trieb; das
heißt: mit der Entſcheidung und durch ſie, alſo daß
die Inbrunſt der Leidenſchaft gewandelt wird und
mit ihrer ganzen Kraft in die einige Tat eingeht;
iſt doch an ſich kein Antrieb boͤſe, ſondern der Menſch
macht ihn dazu, wenn er ſich ihm ergibt ſtatt ihn
zu regieren; der Midraſch laͤßt Gott zum Menſchen
53
ſprechen: „Du haſt die Leidenſchaft, die in deine
Hand gegeben iſt, boͤſe gemacht.“ So wird auch das
Wort des Pſalmiſten „Mein Herz ſei ganz in deinen
Geſetzen“ dahin gedeutet, David habe zu Gott ge—
ſprochen: „Laß nicht den boͤſen Trieb mich teilen,
ſondern mache mein Herz ganz.“ Und noch nach-
druͤcklicher heißt es: „Nur wenn du ungeteilt biſt“
(d. h. wenn du die innere Zweiheit durch die Entſchei⸗
dung uͤberwunden haſt), „haſt du teil an Jahwe deinem
Gotte.“ Die Traͤgheit aber, die Entſcheidungsloſigkeit
wird als die Wurzel alles Übels bezeichnet; Suͤnde iſt
ganz und gar nichts andres als Traͤgheit. Wer ihr ver⸗
fallen war, dann aber ſich durch die gewaltigſte Ent⸗
ſcheidung ihr entwand, wer in den Abgrund der Ent⸗
zweiung verſunken war und ſich daraus einen Weg
zur Einheit brach, wer ſich ſelber wie einen traͤgen
Erdenkloß in die Haͤnde nahm und zu einem Men⸗
ſchen knetete, der iſt unter allen Gott der liebſte;
oder, wie es die Gemara ausdruͤckt, „an dem Ort,
wo die Umkehrenden ſtehen, vermoͤgen die voll⸗
kommenen Gerechten nicht zu ſtehen“. Die große
Entſcheidung iſt der hoͤchſte, der goͤttliche Augenblick
des Menſchenlebens, ja des ganzen Weltlebens;
„beſſer“, ſagt die Miſchna, „iſt eine Stunde der
54
Umkehr in dieſer Welt, als das ganze Leben der
kommenden Welt“; denn dieſe iſt nur noch Sein,
jene aber iſt das gigantiſche Werden. Suͤnde heißt
nicht frei, das iſt ſich entſcheidend, ſondern unfrei,
bewirkt, bedingt leben; der Umkehrende entzuͤndet
das Myſterium der Freiheit, er ſchwingt ſich aus
der Bedingtheit in die Unbedingtheit, er iſt, wie es
im Sohar heißt, „lebendig an allen Seiten und
vereinigt im Baume des Lebens“.
Kein Menſch kennt den Abgrund der inneren
Zweiheit wie der Jude, aber keiner wie er das
Wunder der Einung, das nicht geglaubt, das nur
erlebt werden kann. Darum kann ihm kein Ver⸗
wirklichtes, ſondern nur die mit jedem neuen Men⸗
ſchen neu anhebende Tat, die Verwirklichung ſelber
Genuͤge tun. Das iſt der Sinn des juͤdiſchen Dualis⸗
mus, daß jeder ſelbeigen aus ſeiner Tiefe und
Finſternis nach goͤttlicher Freiheit und Unbedingt⸗
heit ringt: kein Mittler kann ihm helfen, kein Getanes
ihm ſeine Tat erleichtern, da eben an der durch⸗
brechenden Kraft ſeines Anſturms alles gelegen ift
und jede Hilfe, jeder „Anſchluß“ dieſen Anſturm
nur zu ſchwaͤchen vermag. Deshalb wurde die ur⸗
chriſtliche Bewegung fuͤr den Juden unfruchtbar,
55
als fie aus der wahrhaft juͤdiſchen Verkündigung
Jeſu, jeder koͤnne durch unbedingtes Leben Gottes
Sohn werden, die Lehre machte, allein der Glaube
an den eingebornen Sohn Gottes koͤnne dem
Menſchen die Ewigkeit gewinnen. Deshalb mußte
der Chaſſidismus ſeine volkerneuernde Wirkung
verlieren, als er an die Stelle jener unmittelbaren
Verbindung mit Gott, darin der Menſch „bis zur
Wurzel aller Lehre und alles Gebotes kommt, zu
Gottes Ich, der einfachen Einheit und Schranken⸗
loſigkeit, wo alle Fluͤgel der Gebote und Geſetze
niederſinken“, weil er ſich durch feine Unbedingt;
heit uͤber ſie alle erhoben hat, — als er an die
Stelle dieſer wunderbaren Selbſtbefreiung die Wer;
mittlung des Zaddiks ſetzte. Die Grundan⸗
ſchauung der juͤdiſchen Religioſitaͤt iſt in dem
Spruch enthalten: „Wenn der Menſch ſich ſelbſt
reinigt und heiligt, ergießt ſich der heilige Geiſt
uͤber ihn.“ i
Man faͤlſcht den Sinn des Aktes der Entſcheidung
im Judentum, wenn man ihn als einen bloß
ethiſchen behandelt; er iſt ein religioͤſer, vielmehr:
er iſt der religioͤſe Akt; denn er iſt die Verwirklichung
Gottes durch den Menſchen.
56
In der Auffaſſung dieſer Verwirklichung find in
der juͤdiſchen Religioſitaͤt drei Schichten zu unter—
ſcheiden, in deren Aufeinanderfolge ſich das Werden
jenes unterirdiſchen Judentums kundgibt, welches,
heimlich und unterdruͤckt, das wahrhafte, das zeu—
gende iſt im Gegenſatz zum offiziellen Scheinjuden—
tum, das ohne Berufung herrſcht und ohne Legitimi—
taͤt repraͤſentiert.
In der erſten, fruͤheſten Schicht wird der Akt der
Entſcheidung als eine Verwirklichung Gottes durch
Nachahmung, als eine imitatio Dei aufgefaßt.
Gott iſt das Ziel des Menſchen, das Urſein, deſſen
Ebenbild zu werden er ſtreben ſoll, denn „Gott ſchuf
den Menſchen zu ſeinem Ebenbilde“, d. i. daß er es
werde. Grundlegend fuͤr dieſe Auffaſſung iſt das
Wort des Buches Leviticus: „Heilig ſollt ihr ſein,
denn heilig bin ich Jahwe, euer Gott.“ Es wird
ſo gedeutet: „Wie ich abgeſondert“ — d. i. von
keinem Ding beſtimmt, allem Bedingtſein entruͤckt,
aus mir ſelber wirkend — „bin, fo ſollt ihr abge
ſondert ſein“; und weiter heißt es: „Wie Gott einig
und einzig iſt, ſo ſei euer Dienſt einig.“ Gott
iſt einig; ſo ſoll der Menſch ſeine Entzweiung uͤber⸗
winden und einig werden. Gott iſt unbedingt;
32
ſo ſoll ſich der Menſch den Feſſeln der Bedingtheit
entwinden und unbedingt werden. Am ſchlichteſten
und uͤberzeugendſten wird dieſe Anſchauung in einem
Wort Abba Schauls uͤberliefert; in einer Erklaͤrung
eines Verſes des Liedes Moſe am Schilfmeer
(„Dies iſt mein Gott und ich will ihn preiſen“)
ſprach er: Dies iſt mein Gott — ich und er; das iſt:
ich will wie er werden. Daß es aber dazu keinen
andern Weg gibt als den der Entſcheidung und der
Unbedingtheit, das erweiſt der Mythos des Suͤnden⸗
falls: die Menſchen vermaßen ſich „wie Gott zu
ſein“ und dadurch den Sinn des Lebens zu vereiteln,
der darin beſteht, wie Gott zu werden; fo erlangten
ſie nichts anderes als das Wiſſen um die Zweiheit
von Goͤttlichem und Menſchlichem, die „Erkenntnis
von Gut und Boͤſe“.
In der zweiten Schicht wird 5 Akt der Entſchei⸗
dung als eine Verwirklichung Gottes durch Steige⸗
rung ſeiner Wirklichkeit aufgefaßt. Gott iſt um ſo
wirklicher, je mehr er vom Menſchen in der Welt
verwirklicht wird. Eine paradox klingende und doch
unmittelbar ergreifende Formulierung dieſes Ger
dankens iſt es, wenn zu dem Jeſajawort „Ihr ſeid
meine Zeugen, ſpricht Jahwe, und ich bin Gott“ eine
58
6
Deutung des geheimnisumwitterten Rabbi Simon
ben Jochai angefuͤhrt wird: „Wenn ihr meine Zeugen
ſeid, bin ich Jahwe, und wenn ihr nicht meine Zeugen
ſeid, bin ich nicht Jahwe.“ Gott iſt das Ziel des
Menſchen; ſo fließt jede Gewalt menſchlicher Entſchei—
dung dem Meere goͤttlicher Kraft zu. In dieſem Sinn
wird das Pſalmwort „Gebet Gott die Macht“
durch den Spruch erklaͤrt: Die Gerechten mehren
die Kraft der oberen Gewalt. Das ſpaͤtere, ins—
beſondere das kabbaliſtiſche Schrifttum hat den Ge—
danken, daß der unbedingt handelnde Menſch Gottes
Genoſſe und Helfer in dem ewigen Schoͤpfungswerk
iſt, vielfältig ausgebaut. So nennt der Bahir den Ge,
rechten eine Saͤule, die von der Erde zum Himmel
geht und das Weltall traͤgt. So erklaͤrt der Sohar
das Pſalmwort „Die Werke feiner Haͤnde -
ſind mit Wahrheit und Redlichkeit gemacht“
durch den Einfluß des wahrhaftig und redlich
handelnden Menſchen auf das Werden der Welt;
und der Satz „Gott hatte noch nicht regnen
laſſen auf der Erde, und es war kein Menſch, das
Land zu bebauen“ wird ebenda dahin erlaͤutert, es
habe kein Werk von oben gegeben, weil es keine Tat
von unten gab; dann aber „ſtieg von der Erde ein
59
Dunſt auf, und die Fläche des Landes ward getraͤnkt“,
das heißt: durch Wirkung von unten geſchah Werk
von oben.
In der dritten Schicht endlich, die erſt in der
Kabbala in die Erſcheinung tritt, ſteigert ſich die Auf—
faſſung der Verwirklichung Gottes durch den Men—
ſchen zur Idee einer Wirkung der Menſchentat auf
Gottes Schickſal. Die Gottesherrlichkeit, die Schechina
iſt in die Welt des Bedingten gefallen, ſie iſt wie
Iſrael in der Zerſtreuung, im Galut, fie wandert
und irrt wie Iſrael, ausgeſchuͤttet ins Reich der
Dinge, fie will wie Iſrael erloͤſt, will mit dem
Gottesweſen wiedervereinigt werden. Dazu aber
kann nur der wirken, der in ſich das Bedingte zum
Unbedingten erhebt; durch ihn vollzieht ſich die
Erhebung der Welt, das iſt die Erhebung der
Schechina. Darum ſagt ein chaſſidiſches Wort von den
Umkehrenden, daß ſie Gott loskaufen. Und wie in
dem Eintritt der Seele in den Menſchenleib der
Koͤnig, Gott, ſich der Koͤnigin, der Schechina, in
Liebe zuneigt, ſo hebt ſich in der Bezwingung des
Bedingten durch die umkehrende, die wiedergeborene
Seele die Koͤnigin in Liebe zum Koͤnig empor;
durch ſolche Liebeseinung wird das Sein ewig er—
60
neuert. „So wählt das Leben von oben und von
unten, der Urquell fuͤllt ſich ewig, ewig fuͤllt ſich
das Meer und alles iſt ernaͤhrt.“
Allen drei Schichten gemeinſam und der juͤdiſchen
Religioſitaͤt ureigentuͤmlich iſt die Anſchauung von
dem abſoluten Wert der Menſchentat, der nicht
mit der duͤrftigen Erkenntnis irdiſcher Urſachen
und Wirkungen ermeſſen werden kann. In irgend;
einer Tat irgendeines Menſchen muͤndet Unend—
liches, Unendliches entſtroͤmt ihr. Nicht am Handeln;
den iſt es, zu faſſen, welcher Maͤchte Abgeſandter,
welcher Maͤchte Beweger er iſt, aber er wiſſe, daß
die Fülle des Weltgeſchicks in namenloſen Der;
knuͤpfungen durch ſeine Haͤnde geht. Es heißt in der
Gemara: „Jeder ſoll ſprechen: um meinetwillen iſt
die Welt erſchaffen worden“; und wieder heißt es:
„Jeder ſoll ſagen: auf mir ſteht die Welt“; eine chaſ⸗
ſidiſche Schrift bekraͤftigt: Ja, er iſt der Einzige in
der Welt und ihr Beſtand hangt an ſeiner Tat.
In der Unbedingtheit ſeiner Tat erlebt der Menſch
die Gemeinſchaft mit Gott. Nur fuͤr den Laͤſſigen,
den Entſcheidungsloſen, den Geſchehenlaſſenden, den
in ſeine Zwecke Verſtrickten iſt Gott ein unbekanntes
Weſen jenſeits der Welt; fuͤr den Waͤhlenden, den
61
ſich Entſcheidenden, den um fein Ziel Entbrennen⸗
den, den Unbedingten iſt er das Naͤchſte, das Ver⸗
trauteſte, das er ſelber handelnd ewig neu verwirklicht
und erlebt, und eben darin das Geheimnis der Ge;
heimniſſe. Ob Gott „tranſzendent“ oder „imma⸗
nent“ iſt, iſt nicht eine Sache Gottes; es iſt eine Sache
des Menſchen. Zu der Erzaͤhlung der Geneſis, wie
die drei Maͤnner zu Abraham „in der Glut des
Tages“ kommen, bemerkt der Sohar: „Wenn die
untere Welt im Verlangen nach der oberen auf⸗
lodert, ſteigt dieſe zu ihr herab und beide Welten
vereinigen und durchdringen einander alsdann im
Menſchen.“ Im gleichen Sinn kann das Pſalmwort
erklaͤrt werden „Gott iſt allen nahe, die ihn rufen,
allen die ihn mit der Wahrheit rufen“; das heißt:
mit der Wahrheit, die ſie tun.
Mit der Wahrheit, die ſie tun. Dieſe Wahrheit iſt
kein Was, ſondern ein Wie. Nicht der Inhalt der
Tat macht ſie zur Wahrheit, ſondern ob ſie in menſch⸗
licher Bedingtheit oder in goͤttlicher Unbedingtheit
geſchieht. Nicht die Materie der Tat beſtimmt
daruͤber, ob ſie im Vorhof, im Reich der Dinge
verlaͤuft oder ins Allerheiligſte dringt, ſondern die
Macht der Entſcheidung, die ſie hervorbringt, und
62
die Weihe der Intention, die ihr innewohnt. Jede
Handlung, auch die zu den profanſten gezaͤhlt wird,
iſt heilig, wenn ſie in Heiligkeit, in Unbedingtheit
getan wird.
Die Unbedingtheit iſt der ſpezifiſche religioͤſe Ge—
halt des Judentums. Nicht auf einem Glaubens;
ſatz und nicht auf einer ethiſchen Vorſchrift iſt die
juͤdiſche Religioſitaͤt aufgebaut, ſondern auf einem
Grundgefuͤhl, das dem Menſchenleben ſeinen Sinn
gibt: auf dem Grundgefuͤhl, daß eins not tut.
Wo die Religioſitaͤt gemeinſchaftbildend, religion—
ſtiftend wirkt, wo ſie aus dem Leben des Einzelnen
in das Leben zwiſchen den Menſchen eintritt, wird
dieſes Grundgefuͤhl zur Forderung. Im Zeichen
der Forderung und des Kampfes um ſie ſteht die
Stiftung der juͤdiſchen Religion, ſtehen alle ihre
ſchoͤpferiſchen Erhebungen.
Als Forderung und Kampf vollzieht ſich die
Stiftung der juͤdiſchen Religion. Wenn Moſe, das
Feuer des Dornbuſches in den Augen, vor die
Alteſten Israels tritt, fühlt man ſchon alles vor;
beſtimmt, was geſchehen wird. Ich kenne in Welt
geſchichte und Weltmythos keinen größeren Bor;
gang, keinen furchtbareren. Das Volk iſt von dem
63
abgefallen, den es noch nicht zu fallen vermochte —
die Soͤhne Levis durchſchreiten auf Moſes Geheiß
das Lager und erſchlagen dreitauſend ihrer Brüder,
Das ausziehende Geſchlecht haͤlt den Pruͤfungen der
Wuͤſte nicht ſtand — es muß in der Wuͤſte hinſterben.
In der Vernichtung alles Halben und Unzulaͤnglichen
offenbart ſich der verkuͤndete Gott, als das ver—
zehrende Feuer der Unbedingtheit.
Schon hier treten nebeneinander und gegenein⸗
ander die zwei fuͤhrenden Menſchentypen, zwiſchen
denen die innere Geſchichte des Judentums ſich als
ein Kampf austraͤgt: der Prophet und der Prieſter.
Moſe iſt der Fordernde, der auf nichts hoͤrt als auf
die Stimme und nichts anerkennt als die Tat.
Aaron iſt der Vermittelnde, der den Stimmen
ebenſo zugaͤnglich iſt wie der Stimme und das Volk
durch ſeinen richtungsbaren Formendienſt zuchtlos
macht. Der Prophet will die Wahrheit, der Prieſter
will die Macht. Es find ewige Typen in der Ger
ſchichte des Judentums.
Im Kampf wurde die juͤdiſche Religioſitaͤt aus
dem Geiſte Moſes zur Religion; im Kampf muß
ſie ſich immer wieder mitten in der Religion er⸗
neuern, deren Formenzwang ſie zu erſticken droht,
64
muß immer wieder die erſtarrte Maſſe mit ihrer
gluͤhenden Forderung umzuſchmelzen verſuchen. Nies
mals gelingt es ihr, dem offiziellen Judentum, den
geltenden Inſtitutionen die Herrſchaft zu entreißen;
immer aber wirkt ſie, ſei es offenbar, ſei es heimlich,
tief auf das Werden des Volksgeiſtes ein. Zuweilen
erhebt ſie die Religion zu einem neuen, hoͤheren Leben.
Zuweilen ſprengt ſie das Gefuͤge der Gemeinſchaft.
Zuweilen zerfaͤllt ſie nach einem kurzen Aufbluͤhen.
Fuͤr jede dieſer Moͤglichkeiten gibt uns die Geſchichte
des Judentums ein repraͤſentatives Beiſpiel.
Der Opferkult Iſraels mag aus dem primitiven
Beduͤrfnis nach einer lebenden Gemeinſchaft mit
dem Gott durch den ſakramentaͤlen Akt etwa eines
gemeinſamen Mahles entſtanden ſein; ſicherlich wirkte
bald ein ganz anderes Gefuͤhl mit: das Beduͤrfnis
nach einer Hingabe, welche die eigentlich gewollte
und gemeinte Selbſthingabe ſinnbildlich vertreten
und darſtellen mochte. Unter der Leitung des
Prieſters aber wird das Symbol zum Erſatz. Der
Opferkult wird ſo ausgearbeitet und kodiſtziert,
daß in jeder Lage des Menſchenlebens, in jedem
Augenblick des Menſchenſchickſals ein vorgeſchriebenes
Opfer zur Verfuͤgung ſteht, um die Verbindung mit
5 65
Gott herzuſtellen, und hinwieder befteht dieſe Ver;
bindung in nichts anderm mehr, als in dem Opfer.
Es tut nun nicht mehr not, wenn Leid einen anfaßt
oder die eigne Suͤnde einen erſchreckt, ſich ringend,
hingegeben, im Sturm der Entſcheidung an Gott
zu ſchließen, bis der Schrei der Kreatur verſtummt
vor der heimlichen Stimme; man bringt das Opfer,
man tut, was angeordnet iſt, und der Gott iſt ver;
ſoͤhnt. Wohl tritt Jahwes Opferkult mit dem An⸗
ſpruch der Wahrheit dem vielfaͤltigen Goͤtzendienſt
im Volke entgegen, und noch Elija weiß es nicht
anders zu ſagen, als daß er fuͤr Jahwe und wider
Baal ſtreitet; aber ob ein Dienſt Goͤtzendienſt oder
Gottesdienſt iſt, daruͤber entſcheidet nicht, unter
welchem Namen man ſeinen Gott anruft, ſondern
wie man ihm dient. Das iſt die große Erkenntnis
der ſpaͤteren Propheten, die ein Jahrhundert nach
Elija zum Volke zu reden beginnen. In Worten
einer gebieteriſchen Leidenſchaft verwerfen Amos und
Micha, Jeſaja und Jeremija den „Greuel“ des Opfer⸗
kults und fordern den wahrhaften Gottesdienſt: die
„Gerechtigkeit“, das heißt das unbedingte Leben
mit Gott und mit den Menſchen. Die inhaltlichen
Beſtimmungen, die ſittlichen Normen, hat die Bot
66
ſchaft der Propheten mit Lehren anderer Völker
gemein; das Einzige, das Juͤdiſche an ihr iſt der
Atem der Unbedingtheit, der ſie durchweht, das
Poſtulat der Entſcheidung, das in jedem ihrer Worte
und noch in dem fordernden Rhythmus ihrer Saͤtze
toͤnt: ihre Religioſitaͤt. Jede Konſtruktion einer
„reinen Ethik“ des Judentums iſt von Grund aus
verfehlt; da iſt der Kern des Judentums, wo das
Unbedingte ein verhuͤlltes Gottesangeſicht iſt, das
in der Menſchentat offenbart werden will.
Die Propheten wollten den Opferkult vernichten.
Sie haben ſeine Herrſchaft nicht zu ſchmaͤlern ver⸗
mocht; der Prieſter behielt die Fuͤhrung in Haͤnden.
Und doch haben ſie die juͤdiſche Religioſitaͤt, haben
die Seele des Volkstums erneuert; ſo unſichtbar
vollziehen ſich die Siege des Geiſtes.
Im zweiten Reich tritt eine neue religiöfe Sin;
ſtitution in den Mittelpunkt: die Schrift. Sie wird
als der feſtgelegte Ausdruck der Staatsreligion
allmaͤhlich kanoniſiert. Aus der Fuͤlle uͤberlieferten
Materials ſcheiden dem Prieſtertum botmaͤßige Koͤr⸗
perſchaften alles aus, was ihnen mythiſch, verdächtig
erſcheint. So entſteht das Buch, welches das hin—
fort allein guͤltige Schrifttum umfaßt; es wird ſo
5% 67
alleingültig, daß alle nicht in den Kanon aufge
nommenen Buͤcher untergehen. Aber nicht bloß
uber das übrige Schrifttum ſiegt es, auch über das
Leben. Die Schrift iſt fortan die Wahrheit; man kann
zu Gott nur dadurch gelangen, daß man ſich in allem
an die Schrift haͤlt. Sie wird aber vom Prieſter,
hernach von dem urſpruͤnglich freier geſinnten
Schriftgelehrten nicht als eine im Leben aus zu⸗
geſtaltende, mit neuem Lebensſinn zu fuͤllende
Verkuͤndigung, ſondern als eine Satzung, eine
Summe von Vorſchriften behandelt, vom Prieſter
formaliſtiſch abgegrenzt, vom Schriftgelehrten dialek⸗
tiſch ausgeſponnen, immer aber ins Enge, Starre,
Unfreie gewandt, die lebendige Religioſitaͤt nicht
foͤrdernd, ſondern unterbindend. Dieſer Tendenz
des offiziellen Judentums erwaͤchſt einerſeits eine
mehr vermittelnde Gegenaktion im eigenen Lager,
deren ſpaͤten literariſchen Niederſchlag wir in der
Agada finden, anderſeits eine radikalere Gegen⸗
aktion in der ſich abſondernden eſſaͤiſchen Gemein⸗
ſchaft und der um ſie flutenden Bewegung, die zu⸗
letzt im Urchriſtentum muͤndet. Von beiden gilt in
ihrem Verhältnis zur Schrift, was von den Thera—
peuten geſagt wird: die ganze Geſetzgebung ſcheine
68
ihnen einem lebendigen Weſen vergleichbar, deſſen
Leib die Worte, deſſen Seele der verborgene Sinn
ſei; in dieſem ſchaue die Menſchenſeele ihr eignes
Selbſt an. Beide weiſen der Veraͤußerlichung gegen—
uͤber, die der Schrift angetan worden war, auf ihre
Innerlichkeit hin. Und auch die urchriſtliche Be—
wegung wendet ſich nicht — wie die Propheten ſich
gegen den Opferkult wendeten — gegen die Schrift,
ſondern dagegen, daß deren Sinn vom Unbedingten
ins Bedingte gekehrt wird; ſie will das Pathos der
Forderung wiederherſtellen. Aber keiner dieſer Stroͤ—
mungen gelingt es, die juͤdiſche Religion zu erneuern;
der Agada nicht, weil ſie nur fragmentariſch
wirkte und ihre Kraͤfte nicht zuſammenſchloß; dem
Eſſaͤismus nicht, weil er ſich einer unfruchtbaren
Abſonderung ergab und nicht ins Volk ſtrebte;
das Urchriſtentum aber war fuͤr eine Erneuerung
des Judentums verloren, als es ſich ſelber untreu
wurde und den großen Gedanken, der es empor⸗
getragen hatte, die Idee der gotterobernden Um;
kehr, zum gnadenreichen Anſchluß an den Chriſtus
verengerte: — damals gewann es die Voͤlker und
gab das Judentum preis, indem es das Gefuͤge
ſeiner Gemeinſchaft ſprengte. Das Chriſtentum
69
ift von da aus zur Herrſchaft über die Voͤlker aufge:
ſtiegen, das Judentum in Erſtarrung, Erniedrigung,
Entartung geſunken; aber fein Kern hat unerſchuͤtter—
lich den Anſpruch gewahrt, die wahre Ekkleſia, die
treugebliebene Gemeinde der goͤttlichen Unmittelbar;
keit zu ſein.
Seit der Zerſtoͤrung Jeruſalems ſteht die Tradi—
tion im Zentrum des religioͤſen Lebens des Juden⸗
tums. Ein Zaun wurde um das Geſetz gezogen aus
der Abſicht, das Fremde und Gefaͤhrdende fernzu⸗
halten, aber er hielt oft genug auch die lebendige
Religioſitaͤt fern. Wohl bedarf die Religioſttaͤt
der Formen, wenn ſie ſich in einer Gemeinſchaft
von Menſchen darſtellen, eine Gemeinſchaft bilden
und erhalten, — wenn ſie als Religion beſtehen will;
denn nur in gemeinſamen Lebensformen iſt dau⸗
ernde, von Geſchlecht zu Geſchlecht gehende religioͤſe
Gemeinſchaft moͤglich. Wenn aber die Religion,
ſtatt die Menſchen zur Freiheit in Gott zu verbinden,
ſie unter dem unwandelbaren Geſetz haͤlt und ihr
Verlangen nach Freiheit verdammt, — wenn ſie,
ſtatt ihre Formen als die Bindung zu betrachten,
auf deren Grunde ſich die wahrhafte Freiheit auf:
bauen kann, ſie als die Bindung betrachtet, die alle
70
Freiheit ausschließt, — wenn fie, ftatt dem Geſetz
den großen urzeitlichen Zug zu laſſen, es in einen
wimmelnden Formelnkram verwandelt und die Ent—
ſcheidung uͤber rechtes und unrechtes Handeln zu
einer ſpitzfindigen Kaſuiſtik ausarten laͤßt: — dann
iſt ſie nicht mehr Formung, ſondern Knechtung der
Religioſitaͤt. Dieſer Prozeß kennzeichnet die Ge—
ſchichte der juͤdiſchen Tradition. Die Gegenaktion
der Religioſitaͤt hat zweierlei Geſtolt. Die eine iſt
die von einer Zeit zur andern auffladernde Auf;
lehnung der Ketzer, oft mit gewaltigen, das ganze
Volk aufwuͤhlenden meſſianiſchen Bewegungen ver—
bunden. Die zweite iſt die ſtetige, aufbauende
Taͤtigkeit der juͤdiſchen Myſtik, die den erſtarrten
Ritus durch die Idee der Kawwana, der Intention
zu beleben und jeder religioͤſen Handlung einen
heimlichen, auf Gottes Schickſal und die Erloͤſung
der Welt gerichteten Sinn zu geben ſtrebt. In der
aͤlteren Kabbala wohnt dieſer Tendenz noch ein
theologiſch⸗allegoriſierendes Element inne, das ihr
Volkstuͤmlichwerden verhindert. Erſt in der ſpaͤteren
lurjaniſchen Kabbala wird ſie unmittelbar⸗gefuͤhls⸗
maͤßig, und im Chaſſidismus waͤchſt ſie zur großen
Volksbewegung. Dieſer will das Geſetz nicht
71
ſchmaͤlern, er will es lebendig machen, will es
aus dem Bedingten wieder ins Unbedingte heben:
jeder ſoll durch wahrhaftes Leben ſelbſt eine Thora,
ein Geſetz werden. Aus dem Chaſſidismus haͤtte
die juͤdiſche Neligiofität wie nie zuvor erneuert
werden koͤnnen. Aber vom offiziellen Judentum
verketzert, verleumdet, denunziert, durch die Schwaͤche
des Volkes, das der Entſchiedenheit ſeiner Lehre noch
nicht gewachſen war, entartend, zerfiel er, ehe er fein
Werk getan hatte.
Allen drei Bewegungen, der prophetiſchen, der eſſaͤ—
iſch-urchriſtlichen, der kabbaliſtiſch-chaſſidiſchen iſt es
gemeinſam, daß ſie nicht darauf ausgehen, das Leben
des Menſchen zu erleichtern, ſondern es zu erſchweren,
zugleich freilich, es zu beſeelen und beſeligen. Allen ge⸗
meinſam iſt der Antrieb, die Entſcheidung als die
beſtimmende Macht in aller Religioſitaͤt wiederherzu⸗
ſtellen. Durch die Erſtarrung des Opferkults, durch
die Erſtarrung der Schrift, durch die Erſtarrung der
Tradition wird die freie Entſcheidung im Menſchen
niedergehalten; nicht die aus der Entſcheidung ge;
borene, in Unbedingtheit atmende Tat gilt als der
Weg zu Gott, ſondern die Erfuͤllung der Vorſchriften.
Das Prophetentum aber, das Urchriſtentum, der
72
Chaſſidismus beſinnen ſich auf die Entſcheidung als
auf die Seele der juͤdiſchen Religioſitaͤt und rufen
zu ihr auf. Das iſt der ewige Sinn dieſer Be—
wegungen fuͤr das Judentum, das iſt ihr durch
nichts zu verkuͤrzendes Recht auf unſere Treue;
das macht ſie uns wichtig fuͤr das Werk der Er—
neuerung: nicht worin ſie ausgingen, ſondern woraus
ſie herkamen, nicht die Formen, ſondern die Kraͤfte.
Das ſind die Kraͤfte, die im Judentum nie zulaͤng⸗
liche Form, nie Herrſchaft gewannen, die vom offi-
ziellen Judentum, das iſt von der allzeit herrſchenden
Unkraft, allzeit niedergedruͤckt worden ſind. Es ſind
nicht Kraͤfte von Volkszeiten und Volksteilen, es ſind
nicht Kraͤfte der Auflehnung und des Sektierertums,
es find die Kräfte, die den Geiſteskampf des leben;
digen Judentums gegen die Unfreiheit kaͤmpfen, es
ſind die ewigen Kraͤfte. Aus ihnen allein kann die
religioͤſe Erſchuͤtterung kommen, ohne die keine Er;
neuerung des juͤdiſchen Volkstums geraten kann.
Religioſitaͤt, ſagte ich, iſt das Verlangen des
Menſchen, mit dem Unbedingten lebendige Gemein;
ſchaft zu ſchließen, und ſein Wille, es durch ſein
Tun zu verwirklichen und in die Menſchenwelt ein⸗
zuſetzen. Echte Religioſitaͤt hat ſomit nichts gemein
73
weder mit den Traͤumereien ſchwaͤrmeriſcher Herzen,
noch mit dem Selbſtgenuß aͤſthetiſierender Seelen,
noch mit den tiefſinnigen Spielen einer geuͤbten
Intellektualitaͤt. Echte Religioſitaͤt iſt ein Tun.
Sie will das Unbedingte im Stoff der Erde aus;
formen. Gottes Angeſicht ruht unſichtbar im Block
der Welt; es muß hervorgeholt, herausgemeißelt
werden. Daran arbeiten heißt religioͤs ſein, nichts
anderes. Am innigſten und unmittelbarſten iſt uns
dieſe Aufgabe zugeteilt im Leben der Menſchen, das
unſerer Einwirkung erſchloſſen iſt wie kein anderes
Ding der Welt. Hier wie nirgendwo iſt uns eine
Vielheit in die Hand gegeben, ſie zur Einheit zu
bilden, eine gewaltig formloſe Maſſe, in der wir die
goͤttliche Geſtalt auspraͤgen ſollen. Die Gemeinſchaft
der Menſchen iſt ein angelegtes Werk, das unſer harrt;
ein Chaos, das wir zu ordnen, eine Diaſpora, die wir
zu ſammeln, ein Widerſtreit, den wir zu verſoͤhnen
haben. Dies aber koͤnnen wir einzig dadurch, daß
jeder von uns an ſeiner Stelle, im natuͤrlichen Be⸗
reich ſeines Zuſammenlebens mit den Menſchen das
Rechte, das Einigende, das Geſtaltende tut: weil
Gott durch ihn nicht geglaubt, nicht eroͤrtert, nicht
verfochten, ſondern verwirklicht werden will.
74
Der Mythos der Juden
I.
Wir koͤnnen uns unſer eigenes Gefuͤhl vom My—
thos zunaͤchſt nicht beſſer deuten, als wenn wir uns
den Sinn des Wortes etwa von Platon mitteilen
laſſen. Wir finden dann, daß Mythos bedeutet: ein
Bericht von goͤttlichem Geſchehen als einer ſinnlichen
Wirklichkeit. Es iſt demnach nicht Mythos zu nennen,
wenn das goͤttliche Geſchehen als ein tranſzendenter
Hergang oder als ein Erlebnis der Seele zu erzaͤhlen
verſucht wird: ein theologiſcher Vortrag, ſei er auch
von evangeliſcher Einfalt und Groͤße, oder eine Nach—
richt von ekſtatiſchen Viſionen, ſei fie von noch ſo er;
ſchuͤtternder Sichtbarkeit, ſtehen außerhalb des eigent⸗
liſch Mythiſchen.
Dieſer urſpruͤngliche Gehalt der ſprachlichen über;
lieferung iſt ſo tief und dauernd berechtigt, daß man
es recht wohl begreifen kann, wie ſich aus ihm die An⸗
ſicht bilden mußte, die mythenbildende Kraft ſei ein⸗
zig jenen Voͤlkern eigen, denen das Goͤttliche als eine
ſinnlich gegebene Subſtanz galt, und die daher auch
75
fein Tun und Leiden als einen Zuſammenhang rein
ſinnlicher Begebenheiten auffaßten. Man ging wei;
ter und ſtellte die polytheiſtiſch empfindenden Voͤlker
den monotheiſtiſch empfindenden als die mythen—
ſchaffenden den mythenloſen gegenuͤber. Zu dieſen,
den mythenloſen Voͤlkern, wurde das juͤdiſche gezaͤhlt
und als ſolches verherrlicht oder verachtet; verherr—
licht, wenn der Beurteilende im Mythos eine niedere
Vorſtufe der Religion ſah, verachtet, wenn er in ihm
den ſich uͤber aller Religion erhebenden Gipfel des
Menſchentums, die natuͤrliche und ewige Metaphyſik
der Menſchenſeele erblickte. Solche — zumeiſt recht
wirkſame — Verſuche, das Weſen von Voͤlkern zu be;
werten, ſtatt es zu erkennen, find immer toͤricht und
unnuͤtz; am meiſten dann, wenn ſie wie hier auf
Unkenntnis oder Entſtellung der geſchichtlichen Rea⸗
litaͤt gegruͤndet ſind. Unkenntnis und Entſtellung
find ja die Grundpfeiler der modernen raſſenpſycho⸗
logiſchen Behandlung des Judentums; man ent⸗
deckt etwa einen rationaliſtiſchen oder utilitariſtiſchen
Zug in einigen Ausſpruͤchen oder Gepflogenheiten
des offiziellen Judentums und beteuert, den Ratio;
nalismus oder den Utilitarismus des Judentums
erwieſen zu haben; ohne zu ahnen oder ahnen zu
76
wollen, daß jenes nur unbedeutende, wiewohl gel—
tungsmaͤchtige Stockungen in der großen, aber de—
muͤtigen Flut der inbruͤnſtigen, hingegebenen, uͤber⸗
zweckhaften juͤdiſchen Volksreligioſitaͤt bedeutet. Und
die juͤdiſchen Apologetiker hinwieder, deren armſeliger
Eifer darauf geht, darzulegen, daß das Judentum gar
nichts Beſonderes, ſondern nur die pure Humanitaͤt
ſei, tun das gleiche auf ihre Weiſe: weil ſie ſelbſt
in der Korruption des Rationalismus und Utilita⸗
rismus befangen ſind. So hat man denn auch von
beiden Seiten die Exiſtenz von Mythen im Judentum
lange Zeit geleugnet. Das war nicht gar ſchwer.
Das nachbibliſche Schrifttum blieb in ſeinem Weſen
lange unbekannt: die Agada galt als muͤßiges Phan⸗
taſieſpiel oder als flache Parabeldichtung, der Mi—
draſch als ſpitzfindige und unfruchtbare Kommentar;
ſammlung, die Kabbala als ſinnloſe und groteske
Zahlentuͤftelei, den Chaſſidismus kannte man kaum
dem Namen nach oder tat ihn als eine krankhafte
Schwaͤrmerei mit geringſchaͤtziger Gebaͤrde ab. Die
Bibel aber mochte auch mancher redlichen Erfor—
ſchung ſo erſcheinen, als ſei ihr alles Mythiſche fremd;
iſt ſie doch in die Form, in der ſie auf uns gekommen
iſt, durch eine vom Geiſte des offiziellen ſpaͤtjudiſchen
77
Prieſtertums inſpirierte Koͤrperſchaft gebracht wor;
den, die die naͤhrende Quelle aller wahrhaften Reli—
giofität, den Mythos, als den Erbfeind der Religion,
wie ſie ſie dachte und wollte, anſah und daher aus der
Fülle uͤberkommener Schriften alles Mythiſche nach
beſtem Wiſſen ausſchied. Gluͤcklicherweiſe war dieſes
ihr Wiſſen kein vollſtaͤndiges, und manches entging
ihr, deſſen urſpruͤnglicher Charakter ihr nicht mehr
gegenwaͤrtig war. So finden ſich in allen Buͤchern
der Bibel verſprengte Adern des edlen Erzes. Als ſie
durch die neue Forſchung aufgedeckt wurden, konnte
man die Exiſtenz des juͤdiſchen Mythos nicht laͤnger
leugnen; aber man beſtritt nunmehr feine Gelb;
ſtaͤndigkeit. Wo man bei einem anderen vorder—
aſiatiſchen Volke ein verwandtes mythiſches Motiv
fand, wurde es als das Original, das juͤdiſche als
Abklatſch gekennzeichnet, und wo man keins fand, da
nahm man eben an, das Original ſei verlorengegan⸗
gen. Es tut nicht not, hier dieſen Kleinlichkeiten (die
dem tief fundierten, aber ausſichtsloſen Verlangen
des heutigen Abendlaͤnders entſprungen ſind, ſein
Chriſtentum, auf das er nicht verzichten kann, zu ent⸗
juden) nachzugehen; denn was ſehr viel weſentlicher
iſt, als ſie einzeln zu widerlegen: die ganze Geſchichts⸗
78
auffaſſung, die fie erſt möglich macht, ift eine unge,
heuerliche Verirrung. Es ift ein verkehrtes und ver;
meſſenes Beginnen, einen ſolchen zyklopiſchen Be—
ſtand wie der Mythenbeſitz eines Volkes unter dem
klaͤglich ephemeren Geſichtspunkt der „Driginali—
tat“ zu betrachten. Wo der Geiſt vor uns ſteht, da gilt
nicht Originalitaͤt, ſondern Realitaͤt; und die Werke
des Geiſtes ſind nicht dazu da, daß wir ſie zerlegen und
die Produkte der Analyſe daraufhin pruͤfen, ob ſie hier
zum erſtenmal vorkommen — dieſes „zum erſtenmal“
kann nur der kuͤmmerliche Maulwurfsverſtand kon—
zipieren, der die unendliche Geſchichte des Geiſtes und
ſeine ewig neuen Bildungen aus dem ewig gleichen
Material nicht ahnt —; die Werke des Geiſtes ſind
dazu da, als geformte Ganzheit, als einige Geſtalt,
als Realitaͤt empfangen, erlebt, verehrt zu werden.
Und eine ſolche Realitaͤt iſt der Mythos der Juden,
wie wir ihn trotz aller juͤdiſchen und antijuͤdiſchen An⸗
ſchlaͤge uns wiederaufzubauen vermoͤgen. Er mag
allerlei „Motive“ mit denen anderer Voͤlker gemein
haben, und es wird kaum je moͤglich ſein, wahrhaft zu
ermitteln, welche davon auf einer Wanderung von
Volk zu Volk — wie ſie ja alle Voͤlker, die ſogenann⸗
ten produktiven und die ſogenannten rezeptiven, ge—
79
bend und nehmend erfahren — beruhen, welche hin
gegen auf der Artgemeinſamkeit, die zwiſchen den us
den und jenen anderen Voͤlkern beſtand oder beſteht:
der Gemeinſamkeit der Formen des Erlebens und der
Formen, das Erlebte auszuſprechen, aber auch auf der
Gemeinſamkeit der Erde und des Schickſals: der Ger
meinſamkeit der Inhalte des Erlebens. Das, ſage ich,
wird wohl nie voͤllig zu ermitteln ſein. Aber nicht das
iſt uns Nachgeborenen weſentlich, ſondern die Rein⸗
heit und Groͤße des ſchoͤpferiſchen Menſchentums,
das all dies, wie Cellini ſeinen ganzen Hausrat, in
den Gußofen wirft und daraus die unſterbliche Ge;
ſtalt errichtet. —
Gleichzeitig mit der Bibel wurde auch das ſpaͤt⸗
juͤdiſche Schrifttum, wenn auch nicht in gleichem
Grade, Gegenſtand der neuen Forſchung. Und ob—
gleich auch in ihm, wie in der Bibel, das Walten my⸗
thenfeindlicher Elemente, des Rigorismus des Ge—
ſetzes und der rabbiniſchen Dialektik, ſich kundgibt und
die Außerung beſchraͤnkt, konnte man nicht umhin,
darin eine Fuͤlle mythiſchen Stoffes zu entdecken.
Was als willkuͤrliche Kommentierung bibliſcher Stel;
len gegolten hatte, erwies ſich als ein Schoͤpfen und
Umbilden aͤlteſten Volksguts; ſagenhafte Über⸗
80
lieferungen, die man bei der Redaktion des Kanons
zu erſticken verſucht hatte, bluͤhten hier in urwelt—
lichem Reichtum, eine von Mund zu Ohr und wieder
von Mund zu Ohr durch die Geſchlechter wandernde
Übergabe heiliger Geheimniſſe, und doch auch ein
unablaͤſſiges Neuwerden, bis in die große Umdich—
tung aus dem Geiſte der juͤdiſchen Myſtik. Wie die
antijuͤdiſchen Raſſentheoretiker nach dem Bekannt—
werden der mythiſchen Elemente der Bibel, ſo konn—
ten nach dem Bekanntwerden der mythiſchen Ele—
mente des nachbibliſchen Schrifttums die rationali—
ſtiſchen juͤdiſchen Apologetiker die Fiktion, es gebe
keinen juͤdiſchen Mythos, nicht laͤnger aufrechterhal—
ten. Sie betraten daher einen neuen Weg: fie unter;
ſchieden nunmehr ein negatives, mythologiſches und
ein poſitives, monotheiſtiſches Judentum; jenes ver⸗
warfen ſie als Hemmung und Truͤbung, dieſes feier⸗
ten ſie als die wahre Lehre; ſie ſanktionierten den
Kampf des Rabbinismus gegen den Mythos als die
fortſchreitende Reinigung eines bedeutenden Ideen—⸗
gehalts und ſtellten ſich gleichſam ſelbſt in dieſen
Kampf ein. Ein namhafter juͤdiſcher Gelehrter, der
dieſer Richtung naheſteht, obgleich er ſich groͤßere
Ziele als die Apologetik ſetzt, David Neumark, formu—⸗
6 81
lierte dieſe Anſicht in dem Satz: „Die Entwicklungs⸗
geſchichte der juͤdiſchen Religion iſt in Wahrheit die
Geſchichte der Befreiungskaͤmpfe gegen die eigene und
fremde, altehrwuͤrdige und neugedichtete Mytho—
logie.“ Dieſer Satz enthaͤlt eine Wahrheit, aber ſie iſt
ſo parteiiſch ausgedruͤckt, daß ſein Wahrheitsgehalt
verdunkelt erſcheint. Wir wollen ihn wiederaufhellen
und dem Satz eine gerechtere Faſſung geben: Die
Entwicklungsgeſchichte der juͤdiſchen Religion iſt in
Wahrheit die Geſchichte der Kaͤmpfe zwiſchen dem
natürlichen Gebilde der mythiſch-monotheiſtiſchen
Volksreligion und dem intellektuellen Gebilde der
rational⸗monotheiſtiſchen Rabbinenreligion. Ich
ſagte: der mythiſch-monotheiſtiſchen Volksreligion;
denn es iſt gar nicht wahr, daß Monotheismus und
Mythos einander ausſchloͤſſen und ein monotheiſtiſch
empfindendes Volk ſomit der mythenbildenden Kraft
entbehren müßte. Vielmehr iſt jeder lebendige Mono;
theismus des mythiſchen Elements voll, und nur ſo⸗
lange er dies iſt, iſt er lebendig. Allerdings bemuͤhte
ſich das Rabbinentum in ſeinem blinden Streben
nach „Abgrenzung“ des Judentums um die Herftel;
lung eines vom Mythos „gereinigten“ Gottesglau⸗
bens; aber was es dabei zuſtande brachte, war ein
82
elender Homunkulus. Und dieſer Homunkulus war
der ewige Exilarch, er hatte die Herrſchaft über die
Geſchlechter des Galut; unter ſeiner Tyrannei
mußte die lebendige Kraft des juͤdiſchen Gott-Erle⸗
bens, der Mythos, ſich in den Turm der Kabbala ver;
ſchließen oder ſich am Spinnrocken der Frauen ver—
ſtecken oder aus den Mauern des Ghettos in die Welt
fluͤchten: er wurde als Geheimlehre geduldet oder als
Aberglaube verachtet oder als Ketzerei verſtoßen. Bis
der Chaſſidismus ihn auf den Thron, auf den Thron
eines kurzen Tages ſetzte; von dem er herabgeſtoßen
wurde, um als ein Bettler unſere ſchwermuͤtigen
Traͤume zu durchirren. Und doch iſt er es, dem das
Judentum in den Zeiten der Gefahr ſeine innerſte Ge⸗
ſchloſſenheit verdankte. Nicht Joſef Karo, ſondern
Iſaak Lurja hat im ſechzehnten, nicht der Gaon von
Wilna, ſondern der Baalſchem hat im achtzehnten
Jahrhundert das Judentum wahrhaft gefeſtigt und
abgegrenzt: da ſie die Volksreligion zu einer Macht
in Iſrael erhoben und die Perſoͤnlichkeit des Volkes
erneuerten aus den Wurzeln ſeines Mythos. Und
wenn es den freigelaſſenen Juden unſerer Generation
fo ſchwer wird, ihre menſchliche Religioſitaͤt mit ihrem
Judentum zu einer Einheit zu verſchmelzen, ſo iſt dies
6* 83
die Schuld des Rabbinismus, der das juͤdiſche Ideal
entmannt hat; wenn aber dennoch der Weg zur Ein—
heit uns noch geoͤffnet ſteht und es uns gewaͤhrt iſt,
indem wir unſer Menſchentum vollenden, zugleich
unſer Volkstum zu gewinnen, und indem wir nach
unſerem ſelbeigenen Gefuͤhl das Goͤttliche verehren,
die Flügel des juͤdiſchen Geiſtes über unſerem Haupte
rauſchen zu hoͤren, ſo hat dies uns die hohe Kraft un⸗
ſeres Mythos erwirkt.
2
—
Wollen wir das Weſen des monotheiſtiſchen
jüdischen Mythos erkennen und dadurch zugleich das
Weſen des Mythos uͤberhaupt tiefer erfaſſen lernen,
ſo liegt uns ob, die Entſtehung des juͤdiſchen Mono—
theismus zu betrachten, wie ſie ſich uns aus der
Bibel kundgibt. Wir entdecken dann drei Schichten,
die wir klar zu ſondern vermoͤgen. Von dieſen drei
religionshiſtoriſchen Schichten — die mit den ferfge;
ſchichtlichen der modernen Bibelkritik nicht verwechſelt
werden duͤrfen — ſteht die erſte unter dem Namen
Elohim, die zweite unter dem Namen Jahwe, die
dritte benutzt beide Namen, um ein in Wahrheit na;
menloſes Gottesweſen in ſeiner zwiefachen Erſchei—
84
nung als Allgott und als Volksgott anzudeuten; und
jede dieſer Schichten hat ihre ſpezifiſche Mythologie;
in ihnen baut ſich der juͤdiſche Mythos auf.
Der Name „Elohim“ tritt in der Bibel gewoͤhnlich
als Singular auf, aber es iſt unverkennbar, daß er
urſpruͤnglich ein Plural war und etwa „die Gewal—
ten“ bedeutete. Wir finden zahlreiche Spuren dieſer
Gottvielheit, die nicht in verſchiedene, individual be—
ſtehende Geſtalten von perſoͤnlicher Art und perſoͤn⸗
lichem Leben differenziert iſt, ſondern gleichſam eine
im Weſen geſonderte, im Handeln verbundene Mehr—
heit kosmiſcher Kräfte, ein Aggregat ſchaffender, er
haltender und zerſtoͤrender Maͤchte, eine uͤber die
Erde ziehende, ſich in ſich ſelber beratende
und aus ihrem Rat beſchließende Götter;
wolke darſtellt“). Man kann verwandte Erſchein—
ungen bei anderen Voͤlkern aufzeigen; aber das
ſind alles ſekundaͤre Gottheiten, Hilfsgottheiten —
dem monumentalen Monopluralismus des Elohim—
Mythos iſt nichts anderes an die Seite zu ſetzen.
Einzigartig iſt auch feine weitere Entwicklung. Inner
„ Ich kann an dieſer Stelle nur auf Reſultate hinweiſen; wer unbe⸗
fangen und mit Verſtändnis für den Sinn hebräiſcher Urworte den Bibel;
tert lieſt, wird ſich die Belege leicht zuſammenſtellen.
85
halb der Vielheit des Elohim bildet fich eine domi⸗
nierende Gewalt, ein namentragendes Hauptweſen
heraus, das immer groͤßere Macht an ſich reißt und
ſich endlich, mit den mythiſchen Inſignien eines alten
Stammgottes geſchmuͤckt, als ſelbſtaͤndiger Herrſcher
losloͤſt: Jahwe ... Noch wird geſungen: Wer gleicht
Jahwe unter den Soͤhnen der Goͤtter? Bald aber
fuͤhrt er die Maͤchte, die ihm einſt Gefaͤhrten waren,
als dienende Heerſchar mit ſich, mit der er auch ſeinen
Namen ergaͤnzt: Jahwe des Gewaltenheeres, Jahwe
Zebaot. Zuletzt ſinkt das Elohim zu einem bloßen
Attribut herab: Jahwe Elohim wird der Einzige ge⸗
nannt; aber auch in ſeinen anderen Namen, ſo in
Schaddai, ſchwingt die einſtige Polydaͤmonie nach.
Und noch viel ſpaͤter, als er ſchon ins Unſinnliche ge⸗
hoben worden iſt, redet er zuweilen, als ſpraͤche er
noch zu der urweltlichen Goͤttervielheit.
Jahwe iſt der goͤttliche Heros ſeines Volkes und die
uralten Hymnen, die uns wie aus einer fruͤheren
geologiſchen Epoche bewahrt in den prophetiſchen
Schriften, im Hiob, in den Pſalmen verſprengt er⸗
halten geblieben ſind, preiſen ſeine Siegestaten,
jede ein echter Mythos: wie er das Untier des
Chaos zerſchmetterte und unter dem Jubel der
86
morgendlichen Sterne die Pfeiler der Erde in die
Tiefe ſenkte.
Und nun greift jene ſupreme Tendenz des Juden—
tums ein, die ſich mit keinem Einheitsgebilde beſchei—
det, ſondern von jedem zu einer hoͤheren, vollkomme—
neren Einheit fortſchreitet, und weitet dieſen kosmiſch—⸗
nationalen Jahwe zum Gott des Alls, zum Gott der
Menſchheit, zum Gott der Seele. Aber der Gott des
Alls darf ſich nicht mehr am Abend unter den Baͤu—
men ſeines Paradieſes ergehen, und der Gott der
Menſchheit darf nicht mehr mit Jakob bis zum Mor;
gengrauen ringen, und der Gott der Seele darf nicht
mehr im unverſehrten Dornbuſch brennen. Der
Jahwe der Propheten iſt keine ſinnliche Wirklichkeit
mehr; und die alten mythiſchen Bilder, in denen er
verherrlicht wird, find nur noch Gleichniſſe feiner Un;
ausſprechlichkeit. So ſcheinen denn die Rationaliſten
nun doch noch recht zu bekommen und der juͤdiſche
Mythos ein Ende gefunden zu haben. Aber dem iſt
nicht ſo. Schon deshalb nicht, weil das Volk die Idee
eines ſinnlich nicht erlebbaren Gottes noch Jahrtau—
ſende ſpaͤter nicht wahrhaft angenommen hatte. Vor
allem aber deshalb nicht, weil die Rationaliſten den
Begriff des Mythos zu eng und zu klein faſſen.
87
Wir haben damit begonnen, Mythos den Bericht
von goͤttlichem Geſchehen als einer ſinnlichen Wirk⸗
lichkeit zu nennen. Aber weder Platon noch unſer
Sprachgefuͤhl verſteht dieſe Definition ſo wie die Ra⸗
tionaliſten ſie verſtehen: als ob nur der Erzaͤhlung
von dem Tun oder Leiden eines als ſinnliche Sub⸗
ſtanz gegebenen Gottes der Name eines Mythos zu⸗
kaͤme. Vielmehr iſt dies ihr Sinn: daß wir Mythos
alle Erzaͤhlung von einem ſinnlich wirklichen Geſche⸗
hen zu nennen haben, die es als ein goͤttliches, ein ab⸗
ſolutes Geſchehen empfindet und darſtellt.
Um dies mit aller Klarheit zu erfaſſen, muͤſſen wir
noch einmal nach dem Allgemeinen ausſchauen und
danach fragen, wie denn Mythos entſteht.
3.
Die Welterkenntnis des „ziviliſierten“ Menſchen
iſt getragen von der Funktion der Kauſalitaͤt, von der
Betrachtung der Weltvorgaͤnge in einem empiriſchen
Zuſammenhang der Urſachen und Wirkungen. Durch
dieſe Funktion wird erſt eine Orientierung, ein Sich⸗
zurechtfinden im unendlichen Geſchehen ermoͤglicht;
zugleich aber wird der Sinn des einzelnen Erlebniſſes
geſchwaͤcht, weil es ſo nur aus ſeiner Beziehung zu
88
anderen Erlebniſſen, nicht vollkommen aus ſich felber
erfaßt wird. Beim primitiven Menſchen iſt die Funk-
tion der Kauſalitaͤt noch recht ſchwach ausgebildet.
Faſt ausgeſchaltet iſt ſie bei ihm Ereigniſſen gegen—
uͤber, die ihm eine Sphaͤre darſtellen, in die forſchend,
wiederholend, nachpruͤfend einzudringen nicht in ſei—
ner Macht iſt, wie Traum und Tod; Menſchen gegen—
über, die in fein Leben mit einer gebieteriſchen Daͤ⸗
monie eingreifen, welche er nicht nach der Analogie
ſeiner eigenen Faͤhigkeiten zu begreifen vermag, wie
der Zauberer und der Held. Er reiht dieſe Ereigniſſe
nicht in den urſaͤchlichen Zuſammenhang ein wie die
kleinen Begebenheiten ſeines Tages, er reiht die Taten
dieſer Menſchen nicht in die Kette des Geſchehens ein
wie die ſeinen und die ſeiner Vertrauten, er regiſtriert
ſie nicht mit kundigem Gleichmut wie das Gewohnte
und Verſtaͤndliche, ſondern er nimmt ſie, von der kau—
ſalen Funktion ungehemmt, mit der ganzen Spam
nung und Inbrunſt ſeiner Seele in ihrer Beſonderheit
auf und bezieht ſie nicht auf Urſachen und Wirkungen,
ſondern auf ihren eigenen Gehalt, auf ihren Sinn als
Außerungen des unfagbaren, undenkbaren, nur eben
in ihnen ſich darſtellenden Sinnes der Welt. Daraus
ergibt ſich die unzulaͤngliche Empirie und Zweckſicher⸗
89
heit des Primitiven ſolchen elementaren Erlebniſſen
gegenüber, aber zugleich auch ſein hohes Gefuͤhl fuͤr
das Irrationale des einzelnen Erlebniſſes, für das,
was daran nicht aus anderen Vorgaͤngen zu begrei⸗
fen, ſondern nur aus ihm ſelbſt zu erſchauen iſt, fuͤr
ſeine Bedeutung als Signum eines geheimen, uͤber⸗
kauſalen Zuſammenhangs, fuͤr die Anſchaulichkeit
des Abſoluten. Er ſtellt die Vorgaͤnge in die Welt
des Abſoluten, des Goͤttlichen ein: er mythiſiert ſie.
Sein Bericht von ihnen iſt eine Erzaͤhlung von einem
ſinnlich⸗wirklichen Geſchehen, die es als ein goͤttliches,
ein abſolutes Geſchehen empfindet und darſtellt: iſt
Mythos.
Dieſe mythiſierende, mythenbildende Fakultaͤt er⸗
haͤlt ſich im ſpaͤteren Menſchen trotz aller Entfaltung
der kauſalen Funktion. In Zeiten hoher Spannung
und Intenſitaͤt des Erlebens faͤllt gleichſam vom
Menſchen die Feſſel der Kauſalitaͤtsfunktion ab: er
erkennt das Geſchehen der Welt als ein uͤberkauſal
ſinnvolles, als die Außerung eines zentralen Sinns,
der aber nicht etwa mit dem Gedanken, ſondern nur
mit der wachen Gewalt der Sinne und dem gluͤhen⸗
den Schwingen der ganzen Perſon zu erfaſſen iſt,
als eine anſchauliche, in aller Vielheit gegebene Wirk⸗
90
lichkeit. So etwa iſt noch immer das Verhältnis des
wahrhaft lebendigen Menſchen zu der Geſtalt und dem
Schickſal des Helden beſchaffen; er vermag ihn in die
Urſaͤchlichkeit einzuſtellen und mythiſiert ihn dennoch,
weil ihm die mythiſche Betrachtung eine tiefere, ganzere
Wahrheit eroͤffnet als die kauſale und ihm ſo erſt die
geliebte, beſeligende Geſtalt im Innerſten erſchließt.
So iſt denn der Mythos eine ewige Funktion der
Seele.
Es iſt nun ſeltſam und bedeutſam, wie dieſe
Funktion ſich mit der fundamentalen Anſchauung
der juͤdiſchen Religioſitaͤt begegnet und wie ſie doch
auch wieder in dieſer ein weſensverſchiedenes, fie um—
wandelndes Element findet: wie ſozuſagen von
Natur der juͤdiſche Mythos eine geſchichtliche Konti—
nuitaͤt darſtellt und wie er doch zugleich fein beſon⸗
deres, den anderen, namentlich den okzidentalen
Mythen fremdes Gepraͤge beſitzt.
Die fundamentale Anſchauung der juͤdiſchen Reli—
giofität und der Kern des fo vielfach mißverſtandenen,
ſo grauſam rationaliſierten juͤdiſchen Monotheismus
iſt die Betrachtung aller Dinge als Außerungen
Gottes, alles Geſchehens als einer Kundgebung des
Abſoluten. Waͤhrend dem anderen großen Mono—
91
theiften des Orients, dem indiſchen Weiſen, wie er
ſich uns in den Upaniſchaden darſtellt, die ſinnliche
Wirklichkeit ein Schein iſt, den man abſtreifen muß,
um in die Welt der Wahrheit einzukehren, iſt dem
Juden die ſinnliche Wirklichkeit eine Offenbarung des
goͤttlichen Geiſtes und Willens. Darum iſt fuͤr den
indiſchen Weiſen, wie ſpaͤter fuͤr den Platoniker, aller
Mythos eine Metapher, fuͤr den Juden iſt er ein
wahrhafter Bericht von der Kundgebung Gottes auf
Erden. Der antike Jude kann gar nicht anders als
mythiſch erzählen: weil ihm erſt dann eine Begeben;
heit erzaͤhlenswert iſt, wenn ſie in ihrem goͤttlichen
Sinn gefaßt worden iſt. Alle erzaͤhlenden Buͤcher der
Bibel haben einen Inhalt: die Geſchichte von den
Begegnungen Jahwes mit ſeinem Volke. Und ſpaͤ⸗
ter, als er aus der Sichtbarkeit der Feuerſaͤule und
der Hoͤrbarkeit des Donners uͤber dem Sinai in das
Dunkel und Schweigen der Unſinnlichkeit eingegan⸗
gen iſt, bricht dieſe Kontinuität des mythiſchen Erz
zaͤhlens nicht ab; wohl kann Jahwe nicht mehr wahr⸗
genommen werden, aber wahrgenommen werden
koͤnnen alle ſeine Außerungen in Natur und Hiſtorie.
Aus dieſen baut ſich der unendliche Gegenſtand des
nach bibliſchen Mythos auf.
92
Es geht wohl ſchon aus dem Geſagten hervor, was
das iſt, was ich das beſondere Gepraͤge des juͤdiſchen
Mythos genannt habe. Er hebt die Kauſalitaͤt nicht
auf, er ſetzt nur an die Stelle der empiriſchen eine
metaphyſiſche Kauſalitaͤt, einen urſaͤchlichen Zuſam—
menhang der erlebten Vorgaͤnge mit dem Weſen
Gottes. Das iſt aber nicht etwa bloß in dem Sinn
gemeint, daß ſie von Gott bewirkt ſind, ſondern
immer ſtaͤrker bildet ſich die tiefere und fruchtbarere
umgekehrte Konzeption heraus: die von dem Einfluß
des Menſchen und ſeiner Tat auf Gottes Schickſal.
Dieſe Anſchauung, die ſchon fruͤh eine zugleich naive
und myſtiſche Geſtaltung findet und die im Chaſſidis—
mus ihren hoͤchſten Ausdruck gewinnt, lehrt, daß das
Goͤttliche in den Dingen ſchlummert und nur durch
den erweckt werden kann, der die Dinge in Weihe
empfaͤngt und ſich in ihnen heiligt. Die ſinnliche
Wirklichkeit ift goͤttlich, aber fie muß in ihrer Goͤttlich⸗
keit verwirklicht werden durch den, der ſie wahrhaft
erlebt. Die Gottesherrlichkeit iſt in die Verborgen—
heit gebannt, ſie liegt gebunden auf dem Grunde
jeglichen Dinges, und ſie wird in jedem Dinge er—
loͤſt durch den Menſchen, der ſchauend oder handelnd
dieſes Dinges Seele freimacht. So iſt ein jeder be—
93
rufen, mit feinem eigenen Leben Gottes Schickſal zu
beftimmen; fo ſteht jeder Lebendige tief verwurzelt im
lebendigen Mythos.
Dieſen zwei Konzeptionen entſprechen die zwei
Grundformen, in denen ſich der juͤdiſche Mythos aus;
gebildet hat: die Sage von den Taten Jahwes und
die Legende vom Leben des zentralen, des vollkom⸗
men verwirklichenden Menſchen. Die eine folgt
dem Gang der Bibel, ſo daß ſich um den Beſtand der
Schrift eine zweite, gleichſam eine in unzaͤhligen
Schriften verſtreute Sagenbibel geformt hat; doch
ſchließt ſich auch manches Stuͤck ſpaͤterer Geſchichte
und manche zeitlich nicht lokaliſierte Erzaͤhlung an.
Die zweite Grundform berichtet zunaͤchſt von einigen
bibliſchen Perſonen, insbeſondere von jenen ge⸗
heimnisvollen Geſtalten, die der kanoniſche Text ver⸗
nachlaͤſſigt hat, wie Henoch, der aus Fleiſch zu Feuer
gewandelt wurde und aus einem Sterblichen zu
Matatron, dem Fuͤrſten des goͤttlichen Angeſichtes;
ſodann erzaͤhlt ſie in kosmiſcher Weite das Leben
der heiligen Maͤnner, die uͤber die innere Welt
herrſchten, von Jeſchua aus Nazareth bis zu Iſrael
dem Sohne Elieſers, dem Baalſchem. Die erſte
ſtellt gleichfam den ewigen Zuſammenhang, die
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Die jüdische Myſtik
Die juͤdiſche Myſtik ift eine ununterbrochene Über:
lieferung, deren Anfang wir nicht kennen. Man hat
dieſe Überlieferung lange Zeit zu leugnen geſucht; ſie
kann heute nicht mehr angezweifelt werden. Man hat
nachgewieſen, daß fie von perſiſchen, dann von ſpaͤt—
griechiſchen, dann von albigenſiſchen Quellen geſpeiſt
wurde; ſie hat die Kraft des eigenen Stromes be—
hauptet, der allen Zufluß aufnehmen konnte, ohne
von ihm bezwungen zu werden. Freilich werden wir
ſie nicht mehr ſo anſehen duͤrfen, wie ihre alten Mei⸗
ſter und Juͤnger es taten: als Kabbala, das heißt: als
„Übernahme“ der Lehre von Mund zu Ohr und wieder
von Mund zu Ohr, in ſolcher Weiſe, daß jedes Ge—
ſchlecht ſie empfinge, aber jedes in einer weiteren und
reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am
Ende der Zeiten die reſtloſe Wahrheit verkuͤndet
würde; doch werden wir ihre Einheit, ihre Beſonder—
heit und ihre ſtarke Bedingtheit durch die Art und
das Schickſal des Volkes, aus dem ſie heraufwuchs,
anerkennen muͤſſen. Die juͤdiſche Myſtik mag recht
96
ungleichmaͤßig erſcheinen, oft truͤb, zuweilen klein⸗
lich, wenn wir ſie an Eckhart, an Plotinos, an Laotſe
meſſen; ſie wird ihre Bruͤchigkeit nicht verbergen
koͤnnen, wenn man ſie neben den Upaniſchaden be—
trachten wollte. Sie bleibt die wunderbare Bluͤte
eines uralten Baumes, deren Farbe faſt allzu grell,
deren Duft faſt allzu uͤppig wirkt, und die doch eines
der wenigen Gewaͤchſe innerer Seelenweisheit und
geſammelter Ekſtaſe iſt.
Die myſtiſche Anlage iſt den Juden von Urzeiten
her eigen, und ihre Außerungen find nicht, wie es ge⸗
woͤhnlich geſchieht, als eine zeitweilig auftretende be;
wußte Reaktion gegen die Herrſchaft der Verſtandes—
ordnung aufzufaſſen. Es iſt eine bedeutſame Eigen,
tuͤmlichkeit des Juden, die ſich in den Jahrtauſenden
kaum gewandelt zu haben ſcheint, daß ſich die Ex—
treme bei ihm aneinander entzuͤnden, ſchneller und
maͤchtiger als bei irgendeinem anderen Menſchen.
So geſchieht es, daß mitten in einem unſaͤglich be;
grenzten Daſein, ja gerade aus ſeiner Begrenztheit
heraus plotzlich mit einer Gewalt, die nichts zu baͤn⸗
digen vermag, das Schrankenloſe hervorbricht und
nun die widerſtandslos hingegebene Seele regiert.
Fuͤr dieſe Macht des Unbegreiflichen in enger
7 97
Stille mag uns die Gottesviſion Elijas ein Sinn;
bild fein.
Ein Anderes, Weſentlicheres kam hinzu. Wenn
jede Seele ſich ihre natürliche Subſtanz aus den kraͤf—
tigen, wertbetonten Bildern formt, die fie mit ihren
Sinnen aufgenommen und mit ihrem Gefuͤhl ge—
faßt hat, ſo ſcheint die Seele des Juden an dieſer
natuͤrlichen Subſtanz arm zu ſein. Unvergleichlich
mehr motoriſch als ſenſoriſch veranlagt, reagiert er
auch in ſeinem ganz innerlichen geiſtigen Leben ſehr
viel intenſiver, als er empfaͤngt. Er geſtaltet das
Empfangene mehr zu Wortgedanken, Begriffen, als
zu Bildgedanken, Vorſtellungen, aus. Den vom
Subjekte unabhaͤngigen Gegenſtaͤnden unendlich
fremd, nur für die den Funktionen des Subjektes
unterworfenen Gegenſtaͤnde verſtaͤndnisvoll (ſogar
für Spinoza iſt die Natur more geometrico darleg;
bar), exiſtiert der Jude weniger in Subſtanz, als
in Relation. Er hat den hoͤchſten Sinn fuͤr die all⸗
gemeinen und offenbaren, wie fuͤr die heimlichen und
beſonderen Beziehungen des Kosmos und der Pſyche
und weiß fie in mathematiſchen Formeln und in lo⸗
giſchen Definitionen feſtzulegen oder in Rhythmen
und Melodien auf das Meer der Ewigkeit auszu⸗
98
ſchicken. Aber er hat einen geringen Sinn für die
ganze Wirklichkeit eines Baumes, eines Vogels, eines
Menſchen, der fuͤr ſich ein abſolutes, unerſchoͤpflich
reiches, ſo geartetes Daſein einſchließt. Und ſehr
ſelten vermag er ſchaffend Dinge, Gegenſtaͤnde,
Geſtalten ſichtbar, greifbar, fuͤhlbar hinzuſtellen. Und
ſo verlaͤuft auch ſein Leben ſelbſt mehr in der Bezie—
hung, als in dem Weſen: er opfert ſich dem Nutzen
hin, wenn er eine enge, er bringt ſich einer Idee dar,
wenn er eine weite Seele hat; niemals aber oder faſt
niemals lebt er mit den Dingen, ſie geruhig pflegend
und foͤrdernd, liebreich zu der Welt und ſicher in ſei—
nem Beſtande. Es gibt jedoch ein Element, das all
dies in gewiſſer Weiſe erſetzt, indem es der Seele des
Juden einen Kern, eine Sicherheit, eine Subſtanz
gibt, allerdings keine ſenſoriſche, objektive, ſondern
eine motoriſche, ſubjektive. Das iſt das Pathos. Ich
vermag es nicht zu analyſieren, noch auch in eine Der
finition zu faſſen. Es iſt ein eingeborenes Eigentum,
das ſich einſt mit allen anderen Qualitaͤten des
Stammes aus deſſen Orte und deſſen Geſchicken her—
aus gebildet hat. Will man es immerhin umſchrei—
ben, ſo darf man es vielleicht als das Wollen des
Unmoͤglichen bezeichnen. Es ſtreckt die Arme aus,
7* 99
das Schrankenloſe zu umfangen. Es traͤgt eine
ſchlechthin unerfüllbare Forderung, wie das Pathos
Moſe und der Propheten die Forderung der abſoluten
Gerechtigkeit, wie das Pathos Jeſu und Pauli die
Forderung der abſoluten Liebe; oder eine ſchlechthin
unerfuͤllbare Abſicht, wie das Pathos Spinozas die
Abſicht, das Sein zu formulieren; oder ein ſchlechthin
unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons
und der Kabbala das Verlangen nach der Vermaͤh—
lung mit Gott, die im Sohar „Siwwug“ genannt
wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Din;
gen keinen Boden finden kann, von ihrer Leere und
Unfruchtbarkeit erloͤſt, indem ſie in dem Unmoͤglichen
Wurzel ſchlaͤgt.
Kommt demnach die Kraft der juͤdiſchen Myſtik
aus einer urſpruͤnglichen Eigenſchaft des Volkes, das
ſie erzeugt hat, ſo hat ſich ihr des weiteren auch das
Schickſal des Volkes eingepraͤgt. Das Wandern
und das Martyrium der Juden haben ihre Seelen
immer wieder in die Schwingungen der letzten Ver—
zweiflung verſetzt, aus denen ſo leicht der Blitz der
Ekſtaſe erwacht. Zugleich aber haben fie fie gehindert,
den reinen Ausdruck der Ekſtaſe auszubauen, und ſie
verleitet, Notwendiges, Erlebtes mit Überfluͤſſigem,
100
Aufgeklaubtem durcheinanderzuwerfen, und in dem
Gefühle, das Eigene vor Pein nicht ſagen zu können,
am Fremden geſchwaͤtzig zu werden. So ſind Schriften
wie der „Sohar“, das Buch des Glanzes, entſtanden,
die ein Entzuͤcken und ein Abſcheu ſind. Mitten unter
rohen Anthropomorphismen, die durch die allego—
riſche Ausdeutung nicht ertraͤglicher werden, mitten
unter oͤden und farbloſen Spekulationen, die in einer
verdunkelten, geſpreizten Sprache einherſtelzen, leuch—
ten wieder und wieder Blicke der verſchwiegenen See—
lentiefen und Offenbarungen der letzten Geheimniſſe
auf. Das Pathos erniedrigt ſich oft genug zur Rhe—
torik; dieſem Suͤndenfall waren die Juden von jeher
ausgeſetzt, und nicht immer bloß die mittelmaͤßigen.
Aber immer wieder macht ſich das Pathos frei und iſt
reiner und groͤßer als zuvor. Am groͤßten, wenn es
die Gefahr erkennt, die ihm vom Worte droht. Sich
mitteilend, weil es nicht anders kann, fühlt es doch
die Unzulänglichkeit aller Mitteilung, fuͤhlt die Un⸗
ausſprechlichkeit des Erlebniſſes, und gluͤht auf in
Angſt, von der eigenen Rede geſchaͤndet zu werden.
„Komm und ſchau!“ heißt es im „Sohar“; „Denken
iſt der Anfang von allem, was iſt; aber alſo ſeiend iſt
es in ſich beſchloſſen und unbekannt ... Das wirk⸗
101
liche Denken iſt mit dem Nichts verbunden und Loft
ſich nicht von ihm.“ Und als ein fremder Greis den
Juͤngern Simons ben Jochai, des legendaͤren Ur—
meiſters der Kabbala, die Unvergaͤnglichkeit der
Energie verkuͤndet — „Nichts faͤllt ins Leere, auch
nicht die Worte und die Stimme des Menſchen;
alles hat ſeinen Ort und ſeine Beſtimmung“ —, da
fahren ſie vor ihm zuruͤck, aber ſie fuͤrchten nicht fuͤr
ſich, ſondern fuͤr ihn, der geſprochen hat; ſie reden
zu ihm: „O Greis, was haſt du getan? Haͤtte es nicht
beſſer getaugt, das Schweigen zu bewahren? Denn
nun biſt du davongetragen, ohne Segel und
Maſt, auf einem ungeheuern Meer. Wenn du
aufſteigen wollteſt, koͤnnteſt du es nicht mehr, und
im Niederſinken findeſt du den Abgrund ohne
Boden.“
In der Zeit des Talmuds war die myſtiſche Lehre
noch ein Geheimnis, das man nur einem „Meiſter in
Kuͤnſten und kundig des Fluͤſterns“ anvertrauen
durfte, und von den Eſſaͤern wiſſen wir aus Joſephus,
wie ſorgſam ſie das Myſterium behuͤteten und die ge⸗
heimen Schriften, die ihnen als uralt galten. Erſt
ſpaͤter greift die Lehre uͤber das Gebiet der Sekte und
der perſoͤnlichen Übergabe hinaus. Die erſte uns er;
102
haltene Schrift, das pythagoreiſierende „Buch der
Schoͤpfung“, iſt wahrſcheinlich zwiſchen dem ſiebenten
und dem neunten Jahrhundert entſtanden, und der
„Sohar“ ſtammt — jedenfalls in ſeiner jetzigen Re—
daktion — aus dem Ende des dreizehnten; zwiſchen
beiden liegt die Zeit der eigentlichen Entwicklung der
Kabbala. Aber noch lange bleibt die Beſchaͤftigung
mit ihr auf enge Kreiſe beſchraͤnkt, mochte ſie ſich auch
uͤber Frankreich, Spanien, Italien und Deutſchland
bis nach Agypten und Palaͤſtina erſtrecken. All die
Zeit bleibt auch die Lehre ſelbſt dem Leben fremd: ſie
iſt Theorie im neoplatoniſchen Sinne, Gottſchauen,
und verlangt nichts von der Wirklichkeit menſchlichen
Daſeins; ſie fordert nicht, daß man ihr nachlebe, ſie
hat keine Fuͤhlung mit dem Handeln, das Reich der
Wahl, das der ſpaͤteren juͤdiſchen Myſtik, dem Chaffi-
dismus, alles bedeutete, iſt ihr nicht unmittelbar le⸗
bendig; ſie iſt außermenſchlich und beruͤhrt ſich nur in
der Betrachtung der Ekſtaſe mit der ſeeliſchen Realitaͤt.
Sie ſteht zwei anderen Maͤchten im Judentum gegen⸗
uͤber, der harten, allem perſoͤnlichen Leben feind—
lichen, um das „Geſetz“ beſorgten Strengglaͤubig—
keit und dem von Ariſtoteles beſtimmten, naturfernen
Rationalismus, aber ſie ſetzt dem Ethos der einen
103
und dem des anderen kein eigenes entgegen, und ſo
dringt ihr Sinn nicht ins Volk.
Erſt in den letzten Zeiten dieſer Epoche werden neue
Kraͤfte offenbar. Die Vertreibung der Juden aus
Spanien gab der Kabbala den großen meſſianiſchen
Zug. Der einzige energiſche Verſuch der Diaſpora, im
Exil eine kulturſchaffende Gemeinſchaft und eine
Heimat im Geiſte zu begruͤnden, hatte in Truͤmmern
und Verzweiflung geendet. Der alte Abgrund tat ſich
wieder auf, und aus ihm ſtieg wieder, wie immer, der
alte Erloͤſungstraum empor, ragend und gebieteriſch
wie nie zuvor ſeit den Tagen der Roͤmer. Die Sehn⸗
ſucht brennt: das Abſolute muß Wirklichkeit werden.
Auch der Meſſianismus der Juden war von jeher ein
Wollen des Unmoͤglichen. Die Kabbala konnte ſich
ihm nicht verſchließen. Sie nannte das Reich Gottes
auf Erden „die Welt der Vollendung“. Sie nahm
die Inbrunſt des Volkes in ſich auf. Und als ſie es
tat, zog ſie im Volke ein, wie der Meſſias ſelbſt in
ſeiner Stadt.
Die um die Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts
beginnende neue Ara der juͤdiſchen Myſtik, die den
ethiſch-ekſtatiſchen Akt des Einzelnen als Mitſchaffen
an der Erloͤſung verkuͤndet, wird durch Iſaak Lurja
104
eröffnet. Er, der hundert Jahre vor Locke lehrte,
alles Seiende beſtehe aus Subſtanz und Erſcheinung
und es ſei keine objektive Erkenntnis gegeben, war in
ſeinen Gedanken uͤber die Emanation der Welt aus
Gott und die demiurgiſchen Zwiſchenpotenzen faſt
durchaus von der aͤlteren Kabbala abhaͤngig; aber in
ſeiner Darſtellung der unmittelbaren Wirkung der
Menſchenſeele, die ſich laͤutert und vollendet, auf Gott
und Welterloͤſung gibt er den alten Weisheiten eine
neue Geſtalt und eine neue Folge.
Schon im Talmud heißt es, der Meſſias werde
kommen, wenn alle Seelen in das leibliche Leben ein⸗
getreten fein wuͤrden. Die Kabbaliſten des Mittels
alters glaubten zu erkennen, ob die Seele eines
Menſchen, der vor ihnen ſtand, aus der Welt des
Ungeborenen in ihn niedergeſtiegen oder mitten in
ihrer Wanderung bei ihm eingekehrt ſei. Der Sohar
und die ſpaͤtere Kabbala bauten die Lehre aus, die wir
bei Lurja endguͤltig gefaßt finden. Es gibt danach
zwei Formen der Metempſychoſe: den Kreisgang oder
die Wanderung, Gilgul, und den Überſchwang oder
die Schwaͤngerung, Ibbur. Gilgul iſt das Eintreten
von Seelen, die auf der Fahrt ſind, in einen Menſchen
im Augenblick ſeiner Zeugung oder Geburt. Aber
105
auch ein bereits mit einer Seele begabter Menſch kann
in irgendeinem Moment ſeines Lebens eine oder meh⸗
rere Seelen empfangen, die ſich mit ſeiner vereinigen,
wenn ſie mit ihr verwandt, das heißt, aus derſelben
Ausſtrahlung des Urmenſchen entſtanden ſind. Die
Seele eines Toten verbindet ſich der eines Lebenden,
um ein vollendetes Werk, das ſie im Sterben
laſſen mußte, vollbringen zu koͤnnen. Ein hoher ab⸗
geſchiedener Geiſt ſteigt in ganzer Lichtfuͤlle oder in
einzelnen Strahlen zu einem unfertigen hinab, um
bei ihm zu wohnen und ihm zur Vollendung beizu⸗
ſtehen. So wird Prophetie geboren. Oder zwei un
vollkommene Seelen vereinigen ſich, um einander zu
ergaͤnzen und zu laͤutern. Kommt uͤber eine dieſer
Seelen Schwaͤche und Hilfloſigkeit, dann wird die
andere ihre Mutter, traͤgt ſie in ihrem Schoße und
naͤhrt ſie mit dem eigenen Weſen. Auf allen dieſen
Wegen vollzieht ſich die Reinigung der Seelen von
der Urtruͤbung und die Erloͤſung der Welt aus der
erſten Verwirrung. Iſt dieſes getan, haben alle die
Wegreiſe vollzogen, dann erſt zerbricht die Zeit, und
das Gottesreich hebt an. Als letzte ſteigt die Seele des
Meſſias ins Leben herab. Durch ihn geſchieht die Ver⸗
goͤttlichung der Welt.
106
Lurjas eigentuͤmliche Tat ift, daß er dieſen Welt;
prozeß auf die Haltung einiger Menſchen ſtellen
wollte. Er verkündete, eine unbedingte Lebensfuͤh—
rung derer, die ſich der Erloͤſung weihen, in Tauch—
baͤdern und Nachtwachen, in ekſtatiſcher Betrachtung
und vollkommner Liebe zu allem und allen, würde die
Seelen gleichſam in einem Sturme laͤutern und das
meſſianiſche Reich herbeirufen.
Das Grundgefuͤhl, deſſen ideelle Außerung dieſe
Lehre war, fand nahezu hundert Jahre ſpaͤter ſeinen
elementaren Ausdruck in der großen meſſianiſchen
Bewegung, die den Namen Sabbatai Zewis traͤgt.
Sie war eine Entladung der unbekannten Volks-
kraͤfte und eine Offenbarung der verborgenen Wirk—
lichkeit der Volksſeele. Die ſcheinbar unmittelbarſten
Werte, das heile Leben und der Beſitz, waren ploͤtz—
lich ſchal und nichtswuͤrdig geworden, und die Menge
vermochte es, dieſen zu verlaſſen wie ein uͤberfluͤſſiges
Geraͤt und jenes nur noch mit leichter Hand zu halten
wie ein Gewand, das dem Laufenden entgleitet und
das er, wenn es ihn allzuſehr hemmt, die Finger
oͤffnend fahren läßt, um nackt und frei das Ziel zu
ereilen. Der vermeintlich vom Verſtand regierte
Stamm entbrannte im Eifer um die Botſchaft.
107
Auch dieſe Erhebung brach zuſammen, jaͤmmer—
licher und entſetzlicher zugleich als irgendeine der fruͤ⸗
heren. Und nun verinnerlicht ſich der Meſſianismus
wieder. Das eigentliche Zeitalter der Mortifikation
beginnt. Der Glaube, durch myſtiſche Übung die
oberen Welten zwingen zu koͤnnen, dringt immer tie⸗
fer ins Volk ein. Um das Jahr 1700 vollzieht ſich
jener aſketiſche Zug der Fuͤnfzehnhundert in das
Heilige Land, der in Tod und Elend aufgeht. Aber
auch Einzelne bereiten ſich in ruͤckſichtsloſer Entaͤuße⸗
rung. In Polen namentlich reift in vielen der Wille,
ſich und die Welt zu entſuͤhnen. Manche von ihnen
ziehen, da keine einzelne Kaſteiung ihnen genugtun
kann, auf die Wanderung, „in die Verbannung“, wie
ſie es nennen, nehmen nirgends Speiſe oder Trank
an, und wandern ſo, von ihrem Willen getragen, bis
mit ihrer Kraft auch ihr Leben erliſcht und ſie auf
fremdem Orte unter Fremden tot hinfallen.
Dieſe Maͤrtyrer des Willens ſind die Vorlaͤufer der
letzten und hoͤchſten Entwicklung der juͤdiſchen Myſtik,
des um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ent⸗
ſtandenen Chaſſidismus, der ſie zugleich fortſetzte und
widerlegte. Der Chaſſidismus iſt die Ethos gewordene
Kabbala. Aber das Leben, das er lehrt, iſt nicht
108
r e & a ee 1 — 1 dl a ie
n
r ee el
Aſkeſe, ſondern Freude in Gott. Chaſſid bedeutet: der
Fromme; aber der Chaſſidismus iſt kein Pietismus.
Er entbehrt aller Sentimentalitaͤt und Gefuͤhlsoſten—
tation. Er nimmt das Jenſeits ins Diesſeits heruͤber
und laͤßt es in ihm walten und es formen, wie die
Seele den Koͤrper formt. Sein Kern iſt eine hoͤchſt
gotterfuͤllte und hoͤchſt realiſtiſche Anleitung zur Ck—
ſtaſe, als zu dem Sinn und dem Gipfel des Daſeins.
Aber die Ekſtaſe iſt hier nicht, wie etwa bei der deut—
ſchen Myſtik, ein „Entwerden“ der Seele, ſondern
deren Entfaltung; nicht die ſich beſchraͤnkende und
entaͤußernde, ſondern die ſich vollendende Seele
mündet in das Abſolute. In der Aſkeſe ſchrumpft das
geiſtige Weſen, die Neſchama, zuſammen, fie er
ſchlafft, wird leer und truͤbe; nur in der Freude kann
ſie wachſen und ſich erfuͤllen, bis ſie, alles Mangels
ledig, zum Goͤttlichen heranreift. Niemals hat eine
Lehre das Gottfinden mit einer ſolchen Kraft und in
einer ſolchen Reinheit auf das Selbſtſein geſtellt.
Wieder war es Polen, das ſich ſchoͤpferiſch erwies,
und vor allem die ſteppenreiche Ebene der Ukraine.
Polen hatte eine feſte, durch die fremde, verachtende
Umwelt in ſich geſtaͤrkte judiſche Gemeinſchaft, und
zum erſtenmal ſeit der ſpaniſchen Bluͤte entwickelte
109
ſich hier ein eigenes Leben in Werken und Werten,
eine duͤrftige und gebrechliche aber ſelbſtaͤndige Kulz
tur. Waren ſo die Vorausſetzungen fuͤr geiſtiges
Wirken uͤberhaupt gegeben, ſo konnte eine myſtiſche
Lehre doch nur auf dem Boden der Ukraine empor—
wachſen. Hier herrſchte ſeit den koſakiſchen Juden⸗
metzeleien unter Chmielnicki ein aͤhnlicher Zuſtand der
tiefſten Unſicherheit und Verzweiflung, wie jener,
der einſt nach der Vertreibung aus Spanien die Kab—⸗
bala verjuͤngte. Und dann war der Jude hier nicht,
wie in den uͤbrigen polniſchen Laͤndern, ein Staͤdter,
der in dem engen rabbiniſchen Studium vertrocknete
oder in der Atmoſphaͤre der geſchaͤftigen Maſſe
verflachte, ſondern zumeiſt ein Doͤrfler, einſamer
und ſich ſelbſt naͤher, begrenzt im Wiſſen, aber
urſpruͤnglich im Glauben und ſtark in ſeinem Trau⸗
me von Gott.
Der Begruͤnder des Chaſſidismus war Iſrael aus
Miedzyborz, der „Baal ſchem“, das iſt Meiſter des
wunderwirkenden Gottesnamens, genannt wurde.
Um ihn und ſeine Juͤnger ſpann ſich eine farbenreiche
und innige Legende. Er war ein ſchlichter, wahrz
haftiger Mann, unerſchoͤpflich an Inbrunſt und len⸗
kender Gewalt.
110
Die Lehre des Baalſchem ift uns ſehr unvollkom—
men erhalten. Er ſelbſt ſchrieb ſie nicht nieder; und
auch muͤndlich teilte er, wie er einmal ſagte, nur das
mit, was ihn wie ein allzu volles Gefäß überquellen
machte. Unter ſeinen Schuͤlern ſcheint er keinen als
wuͤrdig befunden zu haben, ſeinen Gedanken reſtlos
aufzunehmen; ein Gebet von ihm wird uͤberliefert:
„Herr, dir iſt bewußt und offenbar, wie vieles in mir
an Erkennen und Vermoͤgen ruht, und da iſt kein
Menſch, dem ich es kundtun koͤnnte.“ Von dem aber,
was er lehrte, ſcheint das meiſte ganz unzulaͤnglich
niedergeſchrieben worden zu fein, oft gänzlich ent:
ſtellt. Beim Durchblicken einer ſolchen Niederſchrift
ſoll er einmal ausgerufen haben: „Hier iſt nicht ein
Wort, das ich geſagt haͤtte.“
Dennoch iſt der wirkliche Sinn ſeiner Grundlehren
unverkennbar.
Gott, fo lehrt der Baalſchem, iſt das Weſen jedes
Dinges. Wer, ungeblendet vom Schein, in das Wer
ſen der Dinge ſchaut, der ſchaut Gott. Gott ſpricht
nicht aus den Dingen, ſondern er denkt in den Din⸗
gen; und ſo kann er nur mit der innerſten Kraft der
Seele empfangen werden. Iſt dieſe Kraft freige⸗
macht, dann iſt es dem Menſchen an jedem Orte und
111
zu jeder Zeit gegeben, ſich mit Gott zu vereinigen.
Jede Handlung, die in ſich geweiht iſt, mag ſie noch
ſo niedrig und ſinnlos erſcheinen dem von außen
Herankommenden, iſt der Weg zum Herzen der Welt.
In allen Dingen, auch in den ſcheinbar voͤllig toten,
wohnen Funken des Lebens, die in die bereite Seele
fallen. Was wir das Boͤſe nennen, iſt kein Weſen,
ſondern ein Mangel; es iſt „Gottes Exil“, die un⸗
terſte Stufe des Guten, der Thron des Guten; es iſt
— in der Sprache der alten Kabbala — die „Schale“,
die das Weſen der Dinge umgibt und verhuͤllt.
Es gibt kein Ding, das boͤſe und der Liebe unwuͤr⸗
dig waͤre. Auch die Triebe des Menſchen ſind nicht
boͤſe; „je groͤßer ein Menſch,“ heißt es ſchon im
Talmud, „deſto groͤßer iſt ſein Trieb“; aber der
Reine und Geheiligte macht aus ſeinem Trieb
„einen Wagen fuͤr Gott“, er loͤſt ihn von aller
Schale ab und laͤßt ſeine Seele ſich daran vollenden.
Der Menſch ſoll ſeine Triebe in ihren Tiefen fuͤhlen
und ſie beſitzen. „Er ſoll den Stolz lernen und
nicht ſtolz ſein, den Zorn kennen und nicht zuͤrnen.
Der Menſch vermag ſich mit allen Wonnen zu
kaſteien. Er vermag zu blicken nach welchem Orte er
will und ſich nicht uͤber ſeine vier Ellen hinaus zu ver⸗
112
lieren; Worten des Scherzes zu lauſchen und fich zu
betruͤben. Und ſo geſchieht es, daß er hier ſitzt und ſein
Herz iſt oben, er ißt und vergnuͤgt ſich in dieſer Welt
und genießt aus der Welt der geiſtigen Seligkeit.“
Das Schickſal des Menſchen iſt nur der Ausdruck ſei—
ner Seele: weſſen Gedanken an unreinen Dingen
umherſtreifen, erlebt Unreines, wer ſich ins Heilige
verſenkt, erfaͤhrt das Heil. Des Menſchen Denken iſt
ſein Sein: wer an die obere Welt denkt, iſt in ihr.
Alles aͤußere Geſetz iſt nur ein Aufſtieg zum inneren;
der letzte Zweck des Einzelnen iſt, ſelbſt ein Geſetz zu
werden. In Wahrheit iſt die obere Welt kein Außen,
ſondern ein Innen; es iſt „die Welt des Gedankens“.
Iſt demnach das Leben des Menſchen in jedem
Punkte und in jeder Taͤtigkeit dem Abſoluten geoͤff⸗
net, ſo ſoll er es auch in Weihe leben. Jeder Morgen
iſt eine neue Berufung. „Er erhebe ſich eilend und in
Eifer von ſeinem Schlafe, denn er iſt geheiligt und
ein anderer Menſch worden und iſt wuͤrdig zu er—
zeugen und iſt wie Gott, der die Welten erzeugt.“
Auf allen Wegen findet der Menſch Gott, und alle
Wege ſind voll der Einung. Aber der reinſte und
unmittelbarſte iſt der Weg des Gebetes. Wer in ſei—⸗
nem Feuer betet, in deſſen Kehle redet Gott ſelbſt das
8 113
innere Wort. Dieſes iſt das Erlebnis; das aͤußere
Wort iſt nur ſein Gewand. „Wie von brennenden
Hoͤlzern der Rauch emporſteigt, aber die ſchweren
Teile am Boden haften und zu Aſche werden, ſo
ſteigt vom Gebete nur der Wille und die Inbrunſt
empor, aber die aͤußeren Worte zerfallen zu Aſche.“
Je hoͤher die Inbrunſt, je gewaltiger die Intentions⸗
kraft, Kawwana, deſto unbedingter iſt die Vereini⸗
gung. „Es iſt eine große Gnade von Gott, daß der
Menſch nach dem Gebete am Leben bleibt, denn nach
der Natur müßte er ſterben, weil er feine Kraft be;
graben und in ſein Gebet eingetan hat, wegen der
Kawwana, die er hegt ... Er denke vor dem Gebete,
daß er bereit iſt zu ſterben um der Kawwana willen.“
Aber das Gebet ſoll nicht in Pein und Buße, ſondern
in großer Freude geſchehen. Freude allein iſt wahr⸗
hafter Gottesdienſt.
Die Lehre des Baalſchem fand bald Eingang im
Volke, das ihrer Idee nicht gewachſen war, aber ihr
Gottesgefuͤhl mitſchwingend empfing. Die Froͤmmig⸗
keit dieſes Volkes hatte von jeher einen Hang zum
myſtiſch Unmittelbaren; ſie nahm die neue Botſchaft
auf wie einen erhobenen Ausdruck ihrer ſelbſt. Die
Verkuͤndigung der Freude in Gott wirkte nach einem
114
Jahrtauſend freudenbarer, freudenfeindlicher Ge;
ſetzesherrſchaft wie eine Befreiung. Dazu kam, daß
das Volk ſich bisher einer durchaus unfruchtbaren,
wirklichkeitsfremden, tatenloſen, aber nie angezwei—
felten „geiſtigen Ariſtokratie“ von Talmudgelehrten
gegenuͤber geſehen hatte. Nun wurde es mit einem
Schlag von dieſem Gegenſatz erloͤſt und auf den ei—
genen Wert geſtellt. Nun wurde ihm geſagt, nicht das
Wiſſen entſcheide uͤber den Rang eines Menſchen,
ſondern die Reinheit und Weihe ſeiner Seele, das iſt:
ſeine Gottnaͤhe. Die neue Lehre kam wie eine Offen—
barung deſſen, was man bisher nicht zu ahnen wagte.
Sie wurde wie eine Offenbarung aufgenommen.
Natuͤrlich ſagte die Orthodoxie der neuen Ketzerei,
der Chaſſidut, den Krieg an und fuͤhrte ihn mit allen
Mitteln, Bannſpruch, Synagogenſchließung und Bir
cherverbrennung, Gefangennahme und oͤffentlicher
Mißhandlung der Führer, ſchrak auch vor Denun⸗
ziationen an die Regierung nicht zuruͤck. Dennoch
konnte hier der Ausgang des Kampfes nicht zweifel⸗
haft fein: die religioͤſe Starrheit konnte der religioͤſen
Erneuerung nicht ſtandhalten. Ein gefaͤhrlicherer
Gegner erſtand dieſer ſpaͤter in der Haskala, der juͤdi⸗
ſchen Aufklaͤrungsbewegung, die im Namen des
8 115
Wiſſens, der Ziviliſation und Europas gegen den
„Aberglauben“ auftrat. Aber auch ſie, die die Got—
tesſehnſucht des Volkes widerlegen wollte, haͤtte der
Bewegung, die dieſe Sehnſucht ſtillte, nicht ein Fuß⸗
breit Bodens abzuringen vermocht, wenn nicht im
Chaſſidismus ſelbſt eine Zerſetzung begonnen haͤtte,
die ihn zu der Entartung brachte, in die er heute
verſenkt iſt. Ihre erſte Urſache beſtand darin,
daß der Chaſſidismus auch nach außenhin eine For⸗
derung des Unmoͤglichen war: daß er vom Volke
eine ſeeliſche Intenſitaͤt und Sammlung verlangte,
die es nicht beſaß. Er gab ihm die Erloͤſung, aber um
einen Preis, den es nicht zahlen konnte. Als die
Bruͤcke zu Gott wies er eine Reinheit und Geflärtheit
des Blickes, eine Spannung und Konzentration des
geiſtigen Lebens, deren immer nur wenige faͤhig ſind,
er aber ſprach zu vielen. Und ſo entſtand aus der
Seelennot des Volkes eine Inſtitution von Mittlern,
welche Zaddikim, das iſt Gerechte genannt wurden.
Die Theorie des Mittlers, der in beiden Welten lebt
und das Bindeglied zwiſchen ihnen iſt, durch den
das Gebet emporgetragen und der Segen herabge—
bracht wird, entwickelte ſich immer uͤppiger und uͤber⸗
wucherte zuletzt alle andere Lehre. Der Zaddik machte
116
die chaſſidiſche Gemeinde reicher an Gottesſicherheit,
aber aͤrmer an dem einzig Wertvollen: dem eigenen
Suchen und Eifern. Dazu kam der wachſende
aͤußere Mißbrauch. Zuerſt wurden nur wirklich
Wuͤrdige, meiſt Schüler und Schuͤlers⸗Schuͤler des
Baalſchem, zu Zaddikim erhoben. Aber weil der
Zaddik von feiner Gemeinde reichlichen Lebensunter—
halt bekam, um ſich ganz ſeinem Dienſte ergeben zu
koͤnnen, draͤngten ſich bald niedrige Menſchen zur
Pfruͤnde, und weil ſie nicht anderes bieten konnten,
verſchafften ſie ſich durch allerlei Wundertuerei
ein Anrecht. Allmaͤhlich entſtanden richtige Dyna—
ſtien von Zaddikim. Mochte deren Prachtliebe
auch zuweilen der Größe nicht ermangeln, fo riß doch
gleichzeitig eine Gaukelei und Heuchelei ein, die die
Reineren abſtieß, die Beſtimmbaren erniedrigte und
die dunkelſte Menge herbeizog. So artete der Chaſſi—
dismus zuletzt in wuͤſtes Sektenweſen aus.
Rabbi Nachman von Bratzlaw
Von einer tiefen Tragik iſt die Zeit der beginnenden
Entartung des Chaſſidismus getragen. Da ſtehen
Maͤnner auf, die den Verfall kommen ſehen und ihn
aufhalten wollen, aber ſie vermoͤgen es nicht. Neben
denen, die abſeits vom Zaddikismus den reinen Ge⸗
danken der Lehre wiederherzuſtellen verſuchten, aber
nicht fo volkstuͤmlich wurden, daß fie der Zerſetzung
in Wahrheit entgegengewirkt haͤtten, gab es auch
ſolche, die die Verkehrtheiten des Zaddiktums wohl
erkannten, aber es nicht vernichten, ſondern heilen
wollten, indem ſie an Stelle des leeren und ver⸗
logenen Wundertuers den geweihten und in der Hin⸗
gabe lebenden Mittler forderten. Dieſe zerbrachen an
der Kleinheit der Menſchen. Wie die Propheten Si
raels, ſo waren auch dieſe ſeine ſpaͤten Soͤhne keine
Reformer, ſondern Revolutionaͤre; ſie forderten
nicht das Beſſere, ſondern das Unbedingte; ſie woll⸗
ten nicht erziehen, ſondern erloͤſen. Unter ihnen der
Groͤßte, der Reinſte, der Tragiſchſte iſt Rabbi
Nachman ben Sſimcha, der nach dem Hauptorte
118
feines Wirkens Rabbi Nachman von Bratzlaw
genannt wird. Er ſann darauf, „der Krone den alten
Glanz wiederzugeben“. Der Zorn wider die Tempel—
ſchaͤnder brannte in ihm: „Dem boͤſen Geiſte,“
pflegte er zu ſagen, „kommt es ſchwer an, ſich mit der
ganzen Welt zu muͤhen, um ſie vom wahren Wege ab—
zuleiten; darum ſetzt er einen Zaddik dahin und einen
Zaddik dorthin.“ Er wollte nicht „ein Fuͤhrer ſein wie
die Fuͤhrer, zu denen die Frommen fahren und
wiſſen nicht, warum fie fahren“. Er hatte einen gro;
ßen Traum vom Zaddik, der „die Seele des Volkes“
iſt. Dieſem Traum opferte er alles Gluͤck und alle
Hoffnung ſeines perſoͤnlichen Lebens hin. In ihn
legte er all ſein Ringen und alle ſeine Gewalten. Um
ſeiner willen verlor er ſeine liebſten Menſchen. Durch
ihn war er arm und von Feinden umgeben bis an ſein
Ende. Aus ihm fand er, jung und vor dem Voll—
bringen, ſeinen Tod. Und weil er ſo ganz in ſeinem
Traume lebte, verſchmaͤhte er es, feine Lehre nieder;
zuſchreiben, ſo daß wir, wie von dem erſten Meiſter
des Chaſſidismus, auch von dem letzten keine wahr⸗
hafte und unmittelbare Botſchaft beſitzen und uns
nur aus den fragmentariſchen und offenbar ent
ſtellenden Berichten ſeiner Schuͤler, die mit ge—
119
ringem Verſtaͤndnis feine Reden, Geſpraͤche und Er;
zaͤhlungen aufzeichneten und ſein Leben ſchilderten,
nach mancherlei Ausſcheidung, Vergleichung und Erz
gaͤnzung ein recht unvollſtaͤndiges Bild feiner Wirk;
lichkeit zu machen vermoͤgen.
Rabbi Nachman war ein Urenkel des Baalſchem
und wurde in der Stadt des Baalſchem, Miedzyborz,
geboren. Seine Kindheit wird als ein angeſpanntes
Suchen und Streiten geſchildert. Er achtete des Ge;
botes nicht, in Freude zu dienen, quaͤlte ſich ab,
faſtete und mied die Ruhe, um der Geſichte teilhaftig
zu werden. Die Tradition des ekſtatiſchen Lebens, die
in feinem Haufe mächtig war, beherrſchte den Kna⸗
ben, und er konnte den langſamen, ſchweren, von Tag
und Nacht gegliederten, von den Geſchaͤften der
Stunde beſtimmten Gang des Daſeins nicht er⸗
tragen. Auch der Gottesdienſt der Gemeinde brachte
ihm keine Offenbarung. Durch das wohl von der
alten Starrheit geloͤſte, aber in freierer Form weiter⸗
beſtehende hebraͤiſche Ritual der Chaſſidim fuͤhlte er
ſich wie gefeſſelt im Angeſichte Gottes. So lief er in
den Naͤchten an irgendeinen menſchenleeren Ort und
redete zu Gott in der Volksſprache, in jenem zärtlich
derben, ſchwermuͤtigen und bitteren Idiom, das der
120
Europäer Jargon nennt. Aber Gott antwortete ihm
nicht. Da ſchien es ihm, „man achte ſeiner nicht, ja
man entferne ihn vom Dienſte, man wolle ihn ganz
und gar nicht“, und der Sturm der Verzweiflung
kam uͤber ihn und ſchuͤttelte ihn, bis an der tiefſten
Verzweiflung die Ekſtaſe ſich entzuͤndete und der
Knabe die erſten Schauer der Verzuͤckung empfand.
Er ſelbſt erzaͤhlte einmal in ſpaͤten Jahren von einem
ſolchen Erlebnis. Er hatte den Sabbat in großer
Weihe empfangen wollen, war nach Mitternacht in
das Tauchbad gegangen und hatte ſich in Bereit—
ſchaft der Seele zur Heiligung in das Waſſer ge—
taucht. Dann war er nach Hauſe gekehrt und hatte
die Sabbatkleider angetan. So ging er nun in das
Bethaus und wandelte in dem einſamen, dunkeln
Raum hin und her, alle Kraͤfte geſpannt im Willen,
die obere Seele, die am Sabbat in den Menſchen hin⸗
abſteigt, zu empfangen. Und er band alle Sinne in
einen und ballte alle Wucht ſeines Mutes zuſammen,
um zu ſchauen, denn nun mußte ihm die Offen⸗
barung werden. Aber er ſah nichts. Er wollte
vergehen um zu ſchauen, aber er ſah nichts. Indeſſen
kamen die erſten Beter in das Haus und begaben ſich
an ihre Plaͤtze und begannen das Hohelied zu ſprechen,
121
ohne den Knaben zu bemerken. Da kroch er an einen
Betſtaͤnder und legte ſich unter den Staͤnder hin und
lehnte den Kopf an deſſen Fuß, und die Tränen fa;
men ihm. So weinte er ganz leiſe, ohne innezuhalten
und ohne aufzuſchauen, Stunden und Stunden, bis
ſeine Augen geſchwollen waren von dem vielen Wei⸗
nen und der Abend anbrach. Da oͤffnete er die Augen,
die das Weinen geſchloſſen hatte, und die Kerzen⸗
flammen des Bethauſes ſchlugen ihm entgegen wie
ein großes Licht, und ſeine Seele wurde ruhig an dem
Lichte. So litt er oft um Gott und wollte nicht ab⸗
laſſen. Aber vor den Leuten hielt er ſein Leben und
ſeinen Willen geheim; er ſtellte allerlei Liſten an, um
ſein Faſten zu verbergen, und wenn er auf die Straße
ging, trieb er alle Art von Kindereien, Scherze und
Streiche, wie jener giullare di Dio, der große Fran⸗
ziskanerdichter Jacopone da Todi, bis es keinem
Menſchen in den Sinn kam, daß es den Knaben nach
Gottes Dienſte verlangte. Aber das Joch des Dien⸗
ſtes war ihm nicht immer leicht: er hatte ein froͤh⸗
liches, ſtarkes Gemuͤt und einen friſchen Sinn fuͤr die
Schoͤnheit der Welt. Erſt ſpaͤter gelang es ihm, ge⸗
rade darauf die Weihe zu ſtellen und in Freude zu
dienen. Damals aber ſchien ihm die Welt noch ein
122
Außen, das ihn hinderte, zu Gott zu kommen. Um
im Kampfe zu beſtehen, dachte er an jedem Morgen,
nur dieſer eine Tag ſei ihm noch gegeben; und in der
Nacht lief er auf das Grab des Urgroßvaters, daß er
ihm beiſtehe. So floſſen die Jahre dieſer Kindheit
dahin.
Mit vierzehn Jahren wurde er dem Brauch der
damaligen Judenheit gemaͤß verheiratet und ließ ſich
in dem Dorfe nieder, wo ſein Schwiegervater wohnte.
Hier kam er zum erſten Male der Natur nahe, und ſie
griff ihm ans innere Herz. Den Juden, der nach einer
in der Enge der Stadt verlebten Kindheit in Juͤng—
lingsjahren in das freie Land hinauskommt, erfaßt
eine namenloſe, dem Nichtjuden unbekannte Gewalt.
Ihm hat eine tauſend Jahre lange Vererbung der
Naturfremdheit die Seele in Banden gehalten. Und
nun ihn, wie in einem zauberhaften Reiche, ſtatt des
graugelben Tons der Gaſſe Waldgruͤn und Wald—
bluͤte umgibt, ſtuͤrzen auf einmal die Mauern ſeines
Geiſtesghettos nieder, die die Macht des Vegetativen
beruͤhrt hat. Selten hat ſich dieſes Erleben in ſo ein—
dringlichem Einfluſſe kundgegeben, wie bei Nachman.
Der Hang zur Askeſe weicht von ihm, der innere
Streit endet, er braucht ſich um die Offenbarung
123
nicht mehr zu mühen, leicht und froh findet er feinen
Gott in allen Dingen. Das Boot, auf dem er, des
Ruderns unkundig aber vertrauensvoll, auf den
Fluß hinausfaͤhrt, fuͤhrt ihn zu Gott, deſſen Stimme
er im Schilfe hoͤrt; und das Pferd, das ihn, ihm zu
feinem Staunen gehorchend, in den Wald traͤgt,
bringt ihn Gott naͤher, der von allen Baͤumen ihn
anblickt und mit dem jedes Kraut auf du und du iſt.
In allen Berghaͤngen und in allen verſteckten kleinen
Taͤlern der Gegend iſt er heimiſch, und jedes iſt ihm
eine andere Art, zu Gott zu kommen. Damals bil⸗
dete ſich in ihm die Lehre von dem Dienſte in der Na⸗
tur aus, die er ſpaͤter immer wieder und in immer
neuem Preiſe ſeinen Schuͤlern verkuͤndete. „Wenn
der Menſch gewuͤrdigt wird,“ redete er zu ihnen, „die
Geſaͤnge der Kraͤuter zu vernehmen, wie jedes Kraut
ſein Lied zu Gott ſpricht ohne alles fremde Wollen und
Denken, wie ſchoͤn und ſuͤß iſt es, ihr Singen zu hoͤren.
Und daher iſt es gar gut, in ihrer Mitte Gott zu die⸗
nen in einſamem Wandeln uͤber das Feld hin zwiſchen
den Gewaͤchſen der Erde und ſeine Rede auszuſchuͤtten
vor Gott in Wahrhaftigkeit. Alle Rede des Feldes
geht dann in deine ein und ſteigert ihre Kraft. Du
trinkſt mit jedem Atemzuge die Luͤfte des Paradieſes,
124
und kehrſt du heim, ift die Welt erneuert in deinen
Augen.“ Die Liebe zu allem Lebendigen und Wach—
ſenden war innig ſtark in ihm. Als er einmal, in der
letzten Zeit ſeines Lebens, in einem Hauſe ſchlief, das
aus jungen Baͤumen gebaut war, traͤumte es ihm,
er liege inmitten von Toten. Am Morgen klagte er
es dem Beſitzer und klagte ihn an. „Denn wenn man
einen Baum abhaut vor ſeiner Zeit, iſt es, als ob
man eine Seele gemordet haͤtte.“
Von dem Dorfe kam er in ein Staͤdtchen, wo er den
und jenen in der chaſſidiſchen Lehre zu unter
weiſen und unter den Frommen bekannt zu wer—
den begann. Die Verſuchung, wie die Zaddikim der
Zeit zu ſein und in Ruhm, Gewinn und Eitelkeit zu
leben, trat an ihn heran, aber er widerſtand ihr. Der
Niedergang des Chaſſidismus bedruckte feine Seele.
Er vermißte den Fortgang der Lehre; die Fackel, die
von Hand zu Hand gehen ſollte, war in muͤßigen
Fingern erloſchen. So ſtieg Nachman aus der Trauer
der Wille auf, die Überlieferung zu erneuern und aus
ihr „ein Ding zu machen, das ewigen Beſtand hat“.
Was die Kabbala nicht geweſen war, ſollte werden:
die Lehre ſollte von Mund zu Ohr gehen und wieder
von Mund zu Ohr, ſich ſtetig aus dem Reich der noch
125
ungeborenen Worte erweiternd, getragen von einer
unaufhoͤrlich ſich ergaͤnzenden Schar der Boten, in
jedem Geſchlechte die Geiſter erweckend, die Welt ver;
juͤngend, „die Wildnis der Herzen in eine Wohnſtaͤtte
Gottes wandelnd“. Aber er erkannte, daß er zu
ſolchem Lehren die Kraft nicht aus den Buͤchern, ſon⸗
dern nur aus wirklichem Leben mit den Menſchen und
in ihnen ſchoͤpfen konnte. So naͤherte er ſich dem
Volke, nahm all ſein Leid und ſeine Sehnſucht in ſich
auf, mochte ganz mit ihm zuſammenwachſen. „Im
Anfang,“ erzaͤhlte er ſpaͤter, „begehrte ich von Gott,
daß ich den Schmerz und die Nöte Iſraels leiden
moͤge. Denn zuzeiten kam einer zu mir und ſagte mir
ſeinen Schmerz, und ich litt den Schmerz nicht. Und
ich betete, daß ich den Schmerz Iſraels leide. Jetzt
aber, wenn mir einer ſeinen Schmerz ſagt, fuͤhle ich
ſeinen Schmerz mehr als er. Denn er kann andere
Gedanken denken und den Schmerz vergeſſen, ich aber
nicht.“ So lebte er mit dem Volke, wie der Baalſchem
und ſeine Juͤnger es getan hatten, und fand in ihm
ſeine Weihe.
Aber bevor er viele zu lehren begann, wollte er den
Segen des heiligen Landes empfangen, des Schick⸗
ſalslandes, das das Herz der Welt und der Geſang
126
r
der Erde iſt. Er wollte die Gräber Simons ben
Jochai und Iſaak Lurjas ſchauen und die Stimmen
hoͤren, die uͤber der Staͤtte der Propheten ſchweben.
Der Baalſchem hatte nicht nach Palaͤſtina kommen
koͤnnen; Zeichen und Erſcheinungen hatten ihn, wie
die Legende erzaͤhlt, knapp vor dem Ziele umkehren
heißen. Rabbi Nachman kam ſchon die Abreiſe ſchwer
an; er war arm und wußte ſich keine Hilfe, als ſeinen
Hausſtand aufzugeben, Frau und Kinder in Dienſt
oder in barmherzige Pflege zu Fremden zu tun und
alles Geraͤt ſeiner Wohnung zu verkaufen, um die
Koſten der Fahrt aufzubringen; doch erleichterten ihm
die Frommen der Gegend, die von ſeinem Entſchluſſe
hoͤrten, die Ausfuͤhrung, indem ſie eine Geldſumme
zuſammenſchoſſen und ihm uͤbergaben. Die Seinen
baten ihn, von der Reiſe abzulaſſen; aber er ſagte im⸗
mer nur: „Mein groͤßeres Teil iſt ſchon dort.“ So trat
er mit einem der Frommen, der ihn zu bedienen ſich
erboͤtig machte, 1798 die Fahrt an. Einer ſeiner
Schuͤler hat ſie ſpaͤter in naiver und ruͤhrender Weiſe
beſchrieben. Wie der Rabbi keinem der Mitreiſenden
ſeinen Namen ſagen will, wie er in Stambul, um ſich
an der Schwelle des Heiligen Landes zu demuͤtigen,
barfuß, ohne Gurt und Oberkleid auf der Straße um⸗
127
hergeht, wie er des „Franzoſenkrieges“ (des aͤgyp⸗
tiſchen Feldzuges) wegen lange in Stambul zuruͤck⸗
gehalten wird, wie dann auf dem Meere ein Sturm
ſein Schiff uͤberfaͤllt, wie die Araber ihn fuͤr einen
franzoͤſiſchen Spion halten und nicht ans Land laſſen
wollen, wie er endlich doch den Boden Palaͤſtinas
betritt und vor großer Freude „ſeine Seele von ſich
werfen“ will, wie dann aber in der Hoͤhle des Pro—
pheten Elija eine Schwermut ihn uͤberkommt, —
all dies wird uns in einem abenteuerlich farbigen,
glaubensvoll innigen Tone erzählt, Von dieſer Reiſe
an datierte Nachman ſein eigentliches Leben. „Alles,
was ich vor Erez Iſrael (dem Lande Iſrael) wußte,
iſt gar nichts,“ pflegte er zu ſagen und verbot, irgend⸗
eine feiner früheren Lehren niedergeſchrieben zu er;
halten. Palaͤſtina wurde für ihn eine Viſion, die ihn
nicht verließ; „mein Ort“, ſagte er, „iſt nur Erez
Iſrael, und wohin ich auch fahre, ich fahre nach Erez
Iſrael.“ Und noch in ſpaͤten Tagen der Krankheit
und Muͤdigkeit verſicherte er: „Ich lebe nur noch da-
von, daß ich in Erez Iſrael war.“
Bald nach feiner Ruͤckkehr ließ er ſich in Bratzlaw
nieder. Aber ſchon bevor er hinkam, hatten einige
Zaddikim, die ihn ſeiner Anſchauungen wegen haßten,
128
rn he a . 1
einen heftigen Kampf gegen ihn entfacht, der bis an
ſein Lebensende dauerte und die wildeſten Feindſelig—
keiten erzeugte; auch nach ſeinem Tode bekriegten die
Gemeinden der anderen die ſeine und wollten von
keinem Frieden wiſſen. Er ſelbſt wunderte ſich uͤber
den Streit nicht. „Wie ſollten fie nicht wider uns ſtrei—
ten?“ ſagte er oft. „Wir ſind gar nicht von der Welt
des Jetzt, und deshalb kann uns die Welt nicht er;
tragen.“ Es fiel ihm nicht ein, die Feindſchaft zu
erwidern. „Die ganze Welt iſt voll des Streites, jedes
Land und jede Stadt und jedes Haus. Aber wer in
ſein Herz aufnimmt die Wirklichkeit, daß der Menſch
an jedem Tage ſtirbt — denn er muß jeden Tag ein
Stuͤck von ſich feinem Tode abgeben —, wie ſoll der
noch ſeine Tage mit Streit verbringen koͤnnen?“ Er
wurde nicht muͤde, in ſeinen Widerſachern Gutes zu
finden und ſie zu rechtfertigen. „Bin ich es denn,“
fragte er, „den fie haſſen? Sie haben ſich einen Men;
ſchen ausgeſchnitzt und ſtreiten wider ihn.“ Und er
wiederholte das Gleichnis des Baalſchem: Einmal
ſtanden Spielleute da und ſpielten, und eine große
Schar bewegte ſich im Reigen nach der Stimme der
Muſik. Da kam ein Tauber heran, der nichts von
Tanz und Klaͤngen wußte, und verwunderte ſich und
9 129
dachte in feinem Herzen: „Wie naͤrriſch find doch dieſe
Menſchen: die einen ſchlagen mit ihren Fingern an
allerlei Geraͤte und die anderen drehen ſich hin und
her.“ So rechtfertigte Rabbi Nachman ſeine Feinde.
Ja, er ſah ihren Zorn und ihr Wuͤten als einen Segen
an: „Alle Worte des Laͤſterns und aller Grimm der
Feindſchaft wider den Echten und Schweigſamen ſind
wie Steine, die gegen ihn geworfen werden, und er
baut aus ihnen ſein Haus.“
In Bratzlaw begann er viele zu lehren und viele
verſammelten ſich um ihn. Das Lehren war fuͤr ihn
ein Myſterium und ſein eigenes Tun voll des Ge⸗
heimniſſes. Die Mitteilung war ihm nicht ein ge⸗
woͤhnlicher Vorgang, uͤber den man nicht nachzuſin⸗
nen braucht, weil er einem ſo ſehr vertraut und ge⸗
laͤufig iſt, ſondern ſeltſam und wunderbar wie etwas
Neuerſchaffenes. Man fuͤhlt ſein Staunen uͤber den
Weg des Wortes, wenn er ſagt: „Das Wort bewegt
eine Luft und dieſe die naͤchſte, bis es zum Menſchen
gelangt, der empfaͤngt das Wort des Genoſſen und
empfaͤngt ſeine Seele darin und wird darin erweckt.“
Das Wort, das nur einen Sinneseindruck raſch und
unzulaͤnglich herſagt, verſchmaͤht er, und die From⸗
men, „die ſogleich kundgeben, was ſie ſehen, und koͤn⸗
130
nen es nicht feſthalten“, gelten ihm weniger als jene,
„deren Wurzel in der Weite iſt und die bei ſich faſſen
koͤnnen, was ſie ſehen“. Aber das Wort, das aus dem
Seelengrunde aufſteigt als die organiſche Ausfor—
mung eines reichen und tiefen Erlebens, iſt ihm ein
hohes Ding, in ſeiner wirkenden Lebendigkeit nicht
mehr das Werk der Seele, ſondern die Seele ſelbſt.
Er ſagt kein Wort der Belehrung, das nicht durch
vieles Leiden gegangen iſt; jedes iſt „in Traͤnen ge—
waſchen“. Das Wort bildet ſich ſpaͤt in ihm; die Lehre
iſt bei ihm zuerſt Erlebnis und wird dann erſt Ge;
danke, das iſt Wort; „ich habe in mir,“ ſagte er, „Leh—
ren ohne Kleider, und es iſt mir gar ſchwer, bis ſie ſich
einkleiden.“ Immer iſt in ihm eine Bangigkeit des
Wortes, die ihm die Kehle zuſammenpreßt, und be—
vor er das erſte Wort einer Lehre ſpricht, ſcheint es
ihm, als muͤſſe feine Seele ausgehen. Erſt das Wir;
ken ſeiner Worte beruhigt ihn. Er betrachtet es und
verwundert ſich daruͤber: „Zuweilen gehen meine
Worte wie ein Schweigen in den Hoͤrenden ein und
ruhen in ihm und wirken ſpaͤt, wie langſame Arzenei;
zuweilen wirken meine Worte erſt gar nicht in dem
Menſchen, dem ich ſie ſage, aber wenn er ſie dann zu
einem anderen ſpricht, kehren ſie zu ihm zuruͤck und
95 131
gehen in fein Herz ein in große Tiefe und fun ihr
Werk in Vollkommenheit“. Dieſes zweite Grund;
verhaͤltnis, das Empfangen von dem eigenen Worte,
das namentlich fuͤr den Juden und ſeine motoriſche
Anlage charakteriſtiſch iſt, ſcheint Rabbi Nachman auch
an ſich ſelbſt erlebt zu haben; er ſtellt es einmal im
Bilde des Lichtreflexes dar: „Wenn einer zu ſeinem
Gefaͤhrten redet, entſteht ein einfaches Licht und ein
wiederkehrendes Licht. Mitunter aber geſchieht es,
daß dieſes ohne jenes wird, denn manchmal empfaͤngt
ſein Gefaͤhrte nicht von ihm, er aber empfaͤngt Er;
weckung von ſeinem Gefaͤhrten, wenn durch den
Schlag der Worte, die aus ſeinem Munde gingen, das
Licht zu ihm zuruͤckkehrt und er erweckt wird.“ Das
Entſcheidende jedoch iſt für Nachman, feiner Auffaſ⸗
ſung des Wortes gemaͤß, nicht die Wirkung auf den
Sprechenden, ſondern die auf den Hoͤrenden. Dieſe
Wirkung gipfelt darin, daß das Verhaͤltnis ſich wan⸗
delt und der Hoͤrende zum Sprechenden wird, ja ſo—
gar ſo, daß er das Letzte und Abſolute ausſpricht: die
Seele des Schuͤlers ſoll ſo in ihren Tiefen erweckt und
berufen werden, daß aus ihr und nicht aus der des
Meiſters das Wort geboren wird, das den oberſten
Sinn der Lehre kuͤndet und ſo das Geſpraͤch in ſich
132
erfüllt. „Wenn ich mit einem zu reden beginne, will
ich von ihm die höchften Worte hören.” So iſt die
Lehrweiſe des Rabbi Nachman ein eigentuͤmliches
Gegenſtuͤck zur ſokratiſchen Maieutik.
Er war fuͤnf Jahre in Bratzlaw, als er der Schwind—
ſucht verfiel, wohl unter dem Einfluß der Kaͤmpfe und
Verfolgungen, von denen er in der Seele unberuͤhrt
blieb, denen er aber im Körper nicht ſtandhalten
konnte. Es wurde ihm bald offenbar, daß er ſterben
muͤſſe, aber ſein Tod war nie ein Ding der Angſt
fuͤr ihn geweſen. „Wer das wahre Wiſſen erlangt,
das Gottwiſſen, dem iſt keine Scheidung zwiſchen Leben
und Tod, denn er hangt an Gott und umfaßt ihn und
lebt das ewige Leben wie Gott allein.“ Er empfand
den Tod vielmehr als ein Aufſteigen zu einem neuen
Stadium der großen Wanderung, zu einer vollkom—
meneren Form des Geſamtlebens, und weil er
glaubte, in dieſem Menſchenkoͤrper zu keiner höheren
Stufe der Vollendung mehr kommen zu koͤnnen, als
die, die er erreicht hatte, ſehnte er ſich nach der
dunkeln Schwelle. „Ich moͤchte ſchon gern das Hemd—
lein ausziehen,“ ſagte er zu ſeinen Schuͤlern in dem
letzten Jahre, „denn ich kann es nicht ertragen, auf
einer Stufe ſtehen zu bleiben.“ Als er nun erkannte,
133
daß der Tod ihm nahe kam, wollte er nicht mehr in
Bratzlaw wohnen, wo er gelehrt und gewirkt hatte,
ſondern beſchloß nach Uman zu uͤberſiedeln, um dort
zu ſterben und dort begraben zu werden. In Uman
waren wenige Jahre vor ſeiner Geburt, 1768, die
Banden der Hajdamaken eingedrungen, denen die
von den Juden und den Polen gemeinſam verteidigte
Feſtung durch Hinterliſt und Verrat zugefallen war,
hatten die ganze Judenſchaft hingemordet und die
Leichen in Haufen uͤber die Stadtmauer geworfen.
Es war Rabbi Nachmans Glaube, eine Folge ſeiner
von Lurja uͤbernommenen und weiter ausgebildeten
Seelenwanderungslehre, daß von den vielen Tauz
ſenden, die zu Uman vor ihrer Zeit erſchlagen worden
waren, eine große Schar von Seelen an den Ort ihres
Todes gebunden ſei und nicht emporſteigen koͤnne, bis
eine Seele zu ihnen kaͤme, der die Macht gegeben ſei,
ſie zu heben; er fuͤhlte in ſich die Berufung, die Har⸗
renden zu erloͤſen, und wollte daher an ihrer Staͤtte
ſterben und ſein Grab neben dem ihren haben, daß
uͤber den Graͤbern das Werk ſich vollziehe. Als er
nach Uman kam, wohnte er in einem Hauſe, deſſen
Fenſter auf den Friedhof, „das Haus des Lebens“,
wie die Juden ihn nennen, gingen; da ſtand er oft im
134
Fenſter und ſah voller Freude auf den Gräbergarten
nieder. Manchmal befiel ihn eine Schwermut, aber
nicht vor dem Sterben, ſondern ob der Arbeit ſeines
Lebens, die die Frucht nicht trug, die er getraͤumt
hatte. Er dachte, ob er nicht beſſer daran getan haͤtte,
die Welt von ſich zu entfernen und abzuwerfen und
ſich einen Ort zu erwaͤhlen, um da allein zu ſitzen, daß
das Joch der Welt nicht auf ihm ſei. Wenn er einſt
nicht begonnen haͤtte mit dem Fuͤhren von Menſchen,
meinte er dann, haͤtte er vielleicht ſeine Vollendung er⸗
reicht und ſeine wahre Tat getan. Das Lehren und
Erziehen, das er ſo verherrlicht hatte, ſchien ihm in
ſolchen Augenblicken wie ein Unrecht, faſt wie eine
Suͤnde. Denn das Weſen des Dienſtes in jedem
Dinge ſei doch, daß der Menſch ſeiner Wahl gelaſſen
werde, daß das Ding auf ſeiner Einſicht bleibe und
kein Gebot ihm gegeben ſei und ihm nicht befohlen
werde, ſo zu tun, ſondern daß er tue nach ſeiner Wahl.
Auch ſchien es ihm da, daß er wenig gewirkt haͤtte,
und er empfand, wie ſchwer es ſei, einen Menſchen
frei zu machen. Es ſei ſchwerer, einem Gerechten,
ſolange er noch im Koͤrper iſt, beim Dienſte zu helfen
und ihn zu erheben, als tauſend Tauſenden von Bd;
ſen, die ſchon im Geiſte ſind, zu helfen und ſie zu er⸗
135
heben, das ift, ihre Seelen zu erlöfen; denn bei einem
Herrn der Wahl ſei es gar ſchwer, etwas zu er—
wirken. In den letzten Tagen aber fiel alle Sorge
und Bekuͤmmerung von ihm ab. Er bereitete ſich
und lebte ſchon im Abſoluten. „Siehe,“ ſagte er ein⸗
mal, „uns entgegen kommt ein gar großer und et;
habener Berg. Aber ich weiß nicht: gehen wir zum
Berge, oder geht der Berg zu uns?“ So ſtarb er im
Frieden (1810). Ein Schüler ſchreibt: „Das Angeſicht
des Toten war wie das Angeſicht des Lebenden, da er
in ſeiner Stube umherging und dachte.“
Rabbi Rachman hatte ſein Werk nicht gewirkt.
Er war der Zaddik geweſen, den er meinte: „die Seele
des Volkes“. Aber das Volk war nicht ſein geworden.
Er hatte den Niedergang der Lehre nicht aufhalten
koͤnnen. Sie war die Bluͤte der Exilſeele; ſie verdarb
aber auch am Exil. Die Juden waren nicht ſtark
und nicht rein genug, ſie zu bewahren. Es iſt uns
nicht gegeben, zu wiſſen, ob ihr eine Auferſtehung ge⸗
waͤhrt iſt. Aber das innere Schickſal des Judentums
ſcheint mir daran zu hangen, ob — gleichviel, in
dieſer Geſtalt oder einer anderen — ſein Pathos
wieder zur Tat wird.
Das Leben der Chaſſidim
Hitlahabut: Von der Inbrunſt
Hitlahabut iſt „das Brennen“: die Inbrunſt der
Ekſtaſe. Sie iſt der Becher der Gnade und der ewige
Schluͤſſel.
Ein feuriges Schwert huͤtet den Weg zum Baume
des Lebens. Es zerſpruͤht vor der Beruͤhrung der
Hitlahabut. Ihr leichter Finger iſt ihm uͤbermaͤchtig.
Ihr iſt die Bahn offen, und alle Schranke verſinkt vor
ihrem ſchrankenloſen Schritt. Die Welt iſt nicht mehr
ihr Ort: ſie iſt der Ort der Welt.
Hitlahabut erſchließt dem Leben ſeinen Sinn.
Ohne ſie hat auch der Himmel keinen Sinn und kein
Weſen. „Wenn ein Menſch die ganze Lehre und alle
Gebote erfuͤllt hat, aber die Wonne und das Brennen
hat er nicht gehabt: wenn er ſtirbt und hinuͤbergeht,
oͤffnet man ihm das Paradies, aber weil er in der
Welt die Wonne nicht gefuͤhlt hat, fuͤhlt er auch die
Wonne des Paradieſes nicht.“
Allerorten und allezeit kann Hitlahabut erſcheinen.
Jede Stunde iſt ihr Schemel und jede Tat ihre Thron⸗
137
lehne. Nichts kann fich ihr entgegenſtemmen, nichts
fie herabdruͤcken, nichts kann ſich ihrer Macht er;
wehren, die allen Koͤrper zu ſeinem Geiſte erhebt.
Wer in ihr iſt, iſt in der Heiligkeit. „Er vermag eitle
Worte mit ſeinem Munde zu reden, und die Lehre des
Herrn iſt in feinem Innern zu dieſer Stunde; fluͤ—
ſternd zu beten, und ſein Herz ſchreit in ſeiner Bruſt;
in einer Gemeinſchaft von Menſchen zu ſitzen, und er
wandelt mit Gott: vermiſcht mit den Kreaturen und
abgeſchieden von der Welt.“ Jedes Ding und jedes
Tun wird ſo geheiligt. „Wenn der Menſch ſich an
Gott ſchließt, kann er ſeinen Mund reden laſſen, was
er reden mag, und ſein Ohr hoͤren, was es hoͤren
mag, und er wird die Dinge binden an ihre obere
Wurzel.“
Die Gewalt, die ſo vieles im Menſchenleben
ſchwaͤcht und entfaͤrbt, die Wiederholung, iſt ohn⸗
maͤchtig vor der Ekſtaſe, die fich gerade an den regel;
maͤßigſten, gleichfoͤrmigſten Ereigniſſen wieder und
wieder entzuͤndet. Über einen Zaddik geriet Hitlaha⸗
but jedesmal, wenn im Vortrage der Schrift die
Worte kamen: „Und Gott ſprach.“ Ein chaſſidiſcher
Weiſer, der dies ſeinen Schuͤlern erzaͤhlte, fuͤgte hin⸗
zu: „Aber auch ich meine: wenn einer in Wahrheit
138
redet und einer in Wahrheit empfängt, dann iſt es
genug an einem Worte, die ganze Welt zu erheben
und die ganze Welt zu durchlaͤutern.“ Ewig neu iſt
dem Inbruͤnſtigen das Allgewohnte. Ein Zaddik
ſtand im erſten Morgendaͤmmer am Fenſter und rief
zitternd: „Vor einer kleinen Stunde war noch Nacht,
und jetzt iſt Tag — Gott bringt den Tag herauf!“
Und er war voll der Angſt und des Zitterns. Auch
ſprach er: „Jeder Geſchaffene ſoll ſich vor dem
Schöpfer ſchaͤmen: wäre er vollkommen, wie ihm be;
ſtimmt war, dann muͤßte er erſtaunen und erwachen
und entbrennen uͤber die Erneuerung der Kreatur zu
jeder Zeit und in jedem Augenblick.“
Aber nicht ein ploͤtzliches Verſinken in die Ewigkeit
iſt Hitlahabut, ſondern ein Aufſtieg zum Unendlichen
von Stufe zu Stufe. Gott finden heißt den Weg fin;
den, der ohne Grenze iſt. Im Bilde dieſes Weges
ſahen die Chaſſidim die „kommende Welt“, die ſie
niemals ein Jenſeits nannten. Ein Frommer ſchaute
einen toten Meiſter im Traume. Der erzaͤhlte ihm,
von der Stunde ſeines Todes an gehe er an jedem
Tage von Welt zu Welt. Und die Welt, die geſtern
als Himmel uͤber ſeinen Blicken ausgeſpannt war,
die iſt heute die Erde unter ſeinem Fuß; und der
139
Himmel von heute ift die Erde von morgen. Und
jede Welt iſt reiner und ſchoͤner und tiefer, als die vor
ihr war.
Die Engel ruhen in Gott, aber die heiligen Geiſter
ſchreiten in Gott vor. „Der Engel iſt ein Stehender
und der heilige Menſch iſt ein Wandelnder. Darum
iſt der Heilige uͤber dem Engel.“
Solch ein Weg iſt die Ekſtaſe. Wenn ſie ein Ende
zu bieten ſcheint, ein Erreichen, Erlangen, Ergreifen,
iſt es nur ein endguͤltiges Nein, kein endguͤltiges Ja:
es iſt das Ende der Gebundenheit, das Abſchuͤtteln
der letzten Kette, die Aufloͤſung, die allem Irdiſchen
enthoben iſt. „Wenn der Menſch von Kraft zu Kraft
wandelt und nur empor und empor, bis er zur Wur⸗
zel aller Lehre und alles Gebotes kommt, zu Gottes
Ich, der einfachen Einheit und Schrankenloſigkeit, —
wenn er da ſteht, dann ſinken alle Fluͤgel der Gebote
und Geſetze nieder, und alle ſind ſie vernichtet. Denn
vernichtet iſt der Trieb, da er daruͤber ſteht.“ |
„Mber der Natur und über der Zeit und über dem
Denken“ — ſo wird der genannt, der in der Inbrunſt
iſt. Er hat alles Leid und alle Schwere abgetan.
„Suͤße Leiden, ich empfange euch in Liebe“, ſagt ein
ſterbender Zaddik, und Rabbi Suſſja ruft, da feine
140
Hand ſich aus dem Feuer ſchleicht, in das er fie ge;
legt hat, verwundert aus: „Wie grob iſt Suffjas
Koͤrper geworden, daß er ſich vor dem Feuer fuͤrchtet.“
Der Inbruͤnſtige regiert das Leben, und kein aͤußeres
Geſchehen, das in ſein Reich eindringt, vermag ſeine
Weihe zu ſtoͤren. Von einem Zaddik wird erzaͤhlt, er
habe, als ſich das heilige Mahl der Lehre bis zum
Morgen hinzog, zu ſeinen Juͤngern geſprochen: „Wir
ſind nicht in die Grenzen des Tages eingeſchritten,
ſondern der Tag iſt in unſere Grenzen eingeſchritten,
und wir brauchen vor ihm nicht zu weichen.“
In der Ekſtaſe ruͤckt alles Vergangene und alles
Zukuͤnftige zur Gegenwart zuſammen. Die Zeit ver;
ſchrumpft, die Linie zwiſchen den Ewigkeiten ver;
ſchwindet, einzig der Augenblick lebt, und der Augen—
blick iſt die Ewigkeit. In ſeinem unzerſplitterten
Lichte erſcheint alles, was war und was ſein wird, ein⸗
fach und geſammelt. Es iſt da, wie ein Herzſchlag da
iſt, und wird offenbar wie er.
Die chaſſidiſche Legende weiß gar viel von den
Wunderbaren zu erzaͤhlen, die ſich ihrer fruͤheren
Daſeinsformen erinnerten, der Zukunft wie der eige—
nen Atemzuͤge gewahr wurden, von einem Ende
der Erde zum anderen blickten und alle Wandlungen,
141
die fich in den Welten ereigneten, wie etwas verfpürz
ten, was ihrem Koͤrper geſchah. All dies reicht nicht
an das Gefuͤhl heran, in dem Hitlahabut die Welt
des Raumes und der Zeit überwunden hat. Wohl
aber deuten uns etwas davon zwei naive, einander
verwandte und einander ergaͤnzende Anekdoten.
Von einem Meiſter wird erzaͤhlt, er habe in Stunden
der Entruͤckung auf die Uhr ſehen muͤſſen, um ſich in
dieſer Welt zu erhalten; und von einem anderen, er
habe, wenn er die Einzeldinge betrachten wollte,
eine Brille aufſetzen muͤſſen, um ſein geiſtiges Sehen
zu bezwingen; „denn ſonſt ſah er alle Einzeldinge der
Welt als eines”,
Aber die hoͤchſte Stufe, von der berichtet wird, iſt
die, auf der der Entruͤckte der eigenen Inbrunſt ent;
gleitet. Als ein Schüler einmal eines Zaddiks „Er:
kalten“ bemerkte und tadelte, wurde er von einem
anderen belehrt: „Es gibt ein ſehr hohes Heiligtum;
wenn man dahin kommt, wird man alles Weſens los
und kann nicht mehr entbrennen.“ So vollendet ſich
die Inbrunſt in der eigenen Aufhebung.
Zuweilen aͤußert ſie ſich in einem Tun, das durch ſie
geweiht und mit heiliger Bedeutung gefuͤllt wird. Die
reinſte Form, die, in der der ganze Koͤrper der erregten
142
Seele dient und jeder ihrer Hebungen und Nei—
gungen das ſichtbare Geſchwiſter erſchafft, aus tau—
ſend Fluten der Bewegung das eine Bild des ver—
zuͤckten Sinnes auftauchen laͤßt, iſt der Tanz. Von
dem Tanz eines Zaddiks wird erzaͤhlt: „Sein Fuß
war leicht wie eines vierjaͤhrigen Kindes. Und alle,
die ſein heiliges Tanzen ſahen, — da war nicht einer,
der nicht zu ſich umgekehrt waͤre, denn er wirkte im
Herzen aller, die es ſahen, beides, Weinen und
Wonne, in einem.“ Oder die Seele erfaßt die Stimme
des Menſchen und macht ſie ſingen, was ſie in den
Hoͤhen erfahren hat; und die Stimme weiß nicht, was
ſie tut. So ſtand ein Zaddik in den „furchtbaren Ta—
gen“ (Neujahr und Verſoͤhnungstag) im Gebet und
ſang neue Melodien, „Wunder der Wunder, die er
nie gehört hatte und die kein Menſchenohr je gehoͤrt
hatte, und er wußte gar nicht, was er ſingt und welche
Weiſe er ſingt, denn er war an die obere Welt gebun—
den“.
Zuweilen treibt es den ſo Gebundenen von
den Menſchen hinweg. Es wird von einem Mei⸗
ſter geſagt, er habe ſich wie ein Fremdling gefuͤhrt,
nach den Worten Davids des Könige: Ein Fremder
bin ich im Lande. „Wie ein Mann, der aus der
143
Ferne kam, aus der Stadt feiner Geburt. Er ſinnt
nicht auf Ehre und nicht auf irgendein Ding zu ſeinem
Wohle, nur darauf ſinnt er, heimzukehren zur Stadt
ſeiner Geburt. Nichts kann ihn beſitzen, denn er
weiß: Das iſt Fremdes und ich muß heim.“ Mancher
geht in die Einſamkeit, in „das Wandeln“. Rabbi
Suſſja pflegte in Wäldern umherzuſtreifen und Lob;
geſaͤnge zu ſingen, mit ſo großer Glut, „daß man
ſchier von ihm geſagt hat, er ſei nicht bei Verſtand“.
Ein anderer war nur in Gaſſen und Gaͤrten und
Hainen zu finden. Als ihn ſein Schwiegervater darob
ermahnte, antwortete er ihm mit dem Gleichnis der
Henne, die Gaͤnſeeier ausgebruͤtet hatte: „und als ſie
ihre Kinder auf der Waſſerflaͤche umherſchwimmen
ſah, lief ſie beſtuͤrzt hin und her, Hilfe zu ſuchen fuͤr
die Ungluͤcklichen; und verſtand nicht, daß dies jenen
all ihr Leben war: dahinzuſtreichen uͤber die Waſſer⸗
flaͤche.“
Doch gibt es tiefer Abgeſchiedene, deren Hitlahabut
in alledem noch nicht erfuͤllt iſt. Die werden „unſtet
und flüchtig”. Sie gehen in die „Verbannung“, um
„das Exil mit der Schechina zu tragen“. Es iſt eine
Urvorſtellung der Kabbala, daß die Schechina, die
Glorie oder Herrlichkeit Gottes, verbannt durch die
144
Unendlichkeit irrt, von ihrem „Herrn“ getrennt, und
daß ſie erſt in der Stunde der Erloͤſung ſich mit ihm
wieder vereinigen wird. So wandern dieſe Ekſtatiker
uͤber die Erde, wohnend in den ſtummen Fernen des
Gottesexils, Genoſſen des heiligen Allgeſchehens,
wiſſend um das Rauſchen im Blute des Weltenher—
zens. Der dergeſtalt Abgeloͤſte iſt Gottes Freund,
„wie ein Fremdling eines anderen Fremdlings
Freund iſt, ihrer Fremdheit auf Erden wegen“.
Ihm widerfahren Augenblicke, in denen er die
Schechina im Menſchenbilde ſchaut, von Angeſicht
zu Angeſicht, wie jener Zaddik fie im Heiligen Lande
ſah, „in der Geſtalt einer Frau, die uͤber den Gemahl
ihrer Jugend weint und klagt“.
Aber nicht bloß in Geſichten aus dem Dunkel und
nicht bloß in dem Schweigen der Wanderſchaft gibt
Gott ſich dem um ihn Entbrannten, ſondern aus
allen Dingen der Erde blickt ſein Auge in das
ſuchende, und jedes Weſen iſt die Frucht, in der er
ſich der verlangenden Seele darbietet. Schleierlos iſt
das Sein in des Heiligen Hand. „Wer eine Frau ſehr
begehrt und ihre buntfarbnen Gewaͤnder betrachtet,
deſſen Sinn geht nicht auf das Prunkzeug und die
Farben, ſondern auf die Herrlichkeit der begehrten
0 145
Frau, die in fie gehuͤllt iſt. Aber die anderen ſehen
nur die Gewaͤnder und nichts mehr. So ſchaut, wer
Gott in Wahrheit begehrt und umfaͤngt, in allen
Dingen der Welt nur die Kraft und den Stolz des
Bildners des Urbeginns, der in den Dingen lebt.
Wer aber nicht auf dieſer Stufe iſt, ſieht die Dinge
von Gott getrennt.“
Dies iſt das Crdenleben der Hitlahabut, die ſich
uͤber alle Grenzen ſchwingt und ſich mit Gott ver—
maͤhlt. Sie iſt die Tochter eines Menſchenwillens und
die Herrin der Heerſcharen, das Fuͤnklein eines We;
ſens, das ſterben muß, und die Flamme, die Raum
und Zeit verzehrt, das im Aufbluͤhen welkende Ge⸗
waͤchs einer Sehnſucht und die Wurzel des Welten⸗
baums. Sie erweitert die Seele zum All. Sie ver⸗
engert das All zum Nichts. Von ihr redet ein
chaſſidiſcher Meiſter in Worten des Geheimniſſes:
„Die Schoͤpfung des Himmels und der Erde iſt die
Entfaltung des Etwas aus dem Nichts, das Hinab⸗
ſteigen des Oberen in das Untere. Aber die Heiligen,
die ſich vom Sein abloͤſen und Gott immerdar an⸗
hangen, die ſehen und erfaſſen ihn in Wahrheit, als
waͤre das Nichts wie vor der Schoͤpfung. Sie wan⸗
deln das Ctwas in Nichts zuruͤck. Und dies iſt das
146
Wunderbarere: das Untere emporzubringen. Wie
es geſchrieben ſteht in der Gemara: ‚Größer iſt das
letzte Wunder als das erſte“.
Aboda: Von dem Dienſte
Hitlahabut iſt das Gottumfangen ohne Zeit und
Raum. Aboda iſt das Gottdienen in der Zeit und
im Raume.
Hitlahabut iſt das myſtiſche Mahl. Aboda iſt das
myſtiſche Opfer.
Es ſind die Pole, zwiſchen denen das Leben des
Heiligen ſchwingt.
Hitlahabut ſchweigt, da ſie an Gottes Herzen liegt.
Aboda redet: „Was bin ich und was iſt mein Le—
ben, daß ich mein Blut und mein Feuer vor dir dat;
bringen will?“
Alles iſt Gott. Und alles dient Gott. Das iſt die
urgegebene Zweiheit, zuſammengefaltet im Daſein
der Welt, entwickelt im Leben des Heiligen. Das
Myſterium, von dem man ſich entfernt, wenn man
von ihm redet, und das in der Wirklichkeit der Gott
habenden, Gott ſuchenden Seele lebendig da iſt: be—
wußt in ihrer Sehnſucht, keimhaft ſchlummernd in
o⸗ 147
ihrer Ekſtaſe, allſichtbar gegliedert im Rhythmus
ihrer Taten.
Hitlahabut iſt ſo fern von Aboda wie Erfuͤllung
von Verlangen. Und doch ſtroͤmt Hitlahabut aus
Aboda wie Gottfinden aus Gottſuchen.
Der Baalſchem erzaͤhlte: Ein Koͤnig baute einſt
einen großen und herrlichen Palaſt mit zahlloſen
Gemaͤchern, aber nur ein Tor war geoͤffnet. Und
als der Bau vollendet war, wurde verkuͤndet, es
ſollten alle Fuͤrſten erſcheinen vor dem Koͤnige, der
in dem letzten der Gemaͤcher throne. Aber als ſie ein⸗
traten, ſahen ſie: da waren Tuͤren offen nach allen
Seiten, von denen fuͤhrten gewundene Gaͤnge in
die Fernen, und da waren wieder Tuͤren und
wieder Gaͤnge, und kein Ende ſtand vor dem
verwirrten Auge. Da kam der Sohn des Koͤnigs
und ſah: eine Spiegelung war all die Irre, und er
ſah ſeinen Vater ſitzen in der Halle vor ſeinem
Angeſicht. |
Das Geheimnis der Gnade iſt nicht zu deuten.
Zwiſchen Suchen und Finden liegt die Spannung
eines Menſchenlebens, ja tauſendfacher Wiederkehr
der bangen wandernden Seele. Und doch iſt der Flug
des Augenblicks langſamer als die Erfuͤllung. Denn
148
W ie De a En U
Gott will geſucht fein, und wie koͤnnte er nicht ger
funden ſein wollen?
Der Enkel Rabbi Baruchs, des Enkels des Baal—
ſchem, ſpielte einſt mit einem anderen Knaben „Ver;
ſtecken“. Und er verbarg ſich und wartete in ſeinem
Verſteck viele Zeit und vermeinte, ſein Gefaͤhrte ſuche
ihn und koͤnne ihn nicht finden. Aber als er lange ge—
wartet hatte, kam er heraus und ſah den anderen
nicht mehr und merkte, daß er ihn vom Anfang an gar
nicht geſucht hatte. Alsdann lief er in die Stube ſeines
Großvaters mit Weinen und Klagen um den Boͤſen.
Da floſſen die Augen Rabbi Baruchs uͤber, und er
ſagte: „So ſpricht Gott auch.“
Wenn der Heilige ewig neues Feuer heranbringt,
daß die Glut auf dem Altar feiner Seele nicht ver;
loͤſche, redet Gott ſelbſt den Opferſpruch.
Gott waltet im Menſchen, wie er im Chaos waltete
zur Zeit der werdenden Welt. „Und wie als die Welt
ſich zu entfalten begann und er ſah: wenn es weiter
auseinander fließt, wird es nicht mehr zu ſeinen
Wurzeln heimkehren koͤnnen, da ſprach er: Ge—
nug! — fo iſt es, wenn die Seele des Menſchen
im Leiden zerflutet und das Übel ſo maͤchtig wird
in ihr, daß ſie bald nicht mehr heimkehren koͤnnte,
149
da erweckt ſich fein Erbarmen, und er ſpricht:
Genug!“
Aber auch der Menſch kann „Genug!“ ſagen: zu
der Vielheit in ſich. Wenn er ſich ſammelt und ver;
eint, naͤhert er ſich der Einheit Gottes, dient er ſeinem
Herrn. Dies iſt Aboda.
Von einem Zaddik wurde geſagt: „Bei ihm iſt
Lehre und Gebet und Eſſen und Schlafen, alles eines,
ein Dienſt, und er kann die Seele zu ihrer Wurzel
erheben.“
Alles Tun in eines gebunden, und das unendliche
Leben in jeder Tat getragen: dies iſt Aboda. „In
alle Taten des Menſchen, Sprechen und Schauen und
Horchen und Gehen und Stehenbleiben und Sich⸗
legen, ſei das Schrankenloſe eingekleidet.“
Aus jeder Tat wird ein Engel geboren, ein guter
oder ein boͤſer. Aber aus den halben und wirren
Taten, die ohne den Sinn oder ohne die Kraft ſind,
werden Engel geboren mit verrenkten Gliedern oder
ohne Haupt oder ohne Haͤnde oder ohne Fuͤße.
In allem Tun durchſtrahlt von den Wellen der
Allſonne und geſammelten Lichtes in allem Tun, dies
iſt der Dienſt. Aber keine Handlung iſt zu ihm aus⸗
erwaͤhlt. Gott will, daß man ihm auf alle Arten diene.
150
„Es gibt zwei Arten von Liebe: die Liebe eines
Mannes zu ſeinem Weibe, der geziemt es im Ge—
heimen zu ſein und nicht am Orte der Schauenden,
dieweil dieſe Liebe vollendet iſt nur an einer von
den Weſen geſchiedenen Staͤtte; und die Liebe zu den
Geſchwiſtern und den Kindern, die keiner Verborgen—
heit bedarf. Und ſo gibt es in der Liebe zu Gott zwei
Arten: die Liebe durch die Lehre und das Gebet und
die Erfuͤllung des Gebotenen, und ihr geziemt es,
in der Stille zu wandeln und nicht im Offenbaren,
damit ſie nicht zu Ruhm und Stolz verfuͤhre; und
die Liebe in der Zeit, da man mit den Geſchoͤpfen ver⸗
miſcht iſt, redet und hoͤrt, gibt und nimmt mit ihnen,
und in dem Geheimnis ſeines Herzens hangt man
an Gott und laͤßt nicht ab, ihm zuzuſinnen. Und dies
iſt eine hoͤhere Stufe als jene, und von ihr iſt geſagt:
Wer gaͤbe dich mir zum Bruder, der an den Bruͤſten
meiner Mutter ſog, ich wuͤrde dich in der Gaſſe fin—
den und dich kuͤſſen, und nicht duͤrften ſie mich darob
verachten.“
Dies iſt aber nicht ſo zu verſtehen, als ſei in dem
dergeſtalt Dienenden eine Spaltung zwiſchen der
irdiſchen und der himmliſchen Tat. Vielmehr iſt jede
Bewegung des Hingegebenen ein Gefaͤß der Weihe
151
und der Macht. Von einem Zaddik wird erzählt, er
habe alle ſeine Glieder ſo geheiligt, daß jeder Schritt
ſeiner Fuͤße Welten miteinander vermaͤhlte. „Der
Menſch iſt eine Leiter, aufgepflanzt auf der Erde, und
ihr Haupt reicht in den Himmel. Und alle ſeine
Gebaͤrden und Geſchaͤfte und Reden ziehen Spuren
in der oberen Welt.“
Hier iſt der innere Sinn der Aboda angedeutet,
der aus der Tiefe der altjuͤdiſchen Geheimlehre kommt
und jenes Myſterium der Zweiheit von Inbrunſt und
Dienſt, von Haben und Suchen wohl nicht klaͤrt, aber
verklaͤrt.
In Zweiheit iſt durch die erſchaffene Welt und ihre
Tat der Gott zerfallen: in das Gottesweſen, Elohut,
das den Kreaturen entruͤckt iſt, und die Gottesglorie,
Schechina, die in den Dingen wohnt, wandernd,
irrend, verſtreut. Erſt die Erloͤſung wird beide in die
Ewigkeit vereinigen. Aber es iſt der Beſitz des Men⸗
ſchengeiſtes, durch ſeinen Dienſt die Schechina ihrem
Quell naͤhern, in ihn eintreten laſſen zu koͤnnen.
Und in dieſem Augenblick der Heimkehr, ehe ſie wieder
niederſteigen muß in das Sein der Dinge, verſtum⸗
men die Wirbel, die durch das Leben der Geſtirne
ſauſen, erlöfchen die Fackeln der großen Verheerung,
152
entſinkt die Geißel der Hand des Geſchickes, halt die
Weltenpein inne und lauſcht: die Gnade der Gnaden
iſt erſchienen, der Segen traͤuft nieder auf die Un⸗
endlichkeit. Bis die Macht der Verſtrickung die Got;
tesglorie herabzuzerren beginnt, und alles wird wie
zuvor.
Das iſt der Sinn des Dienſtes. Nur das Gebet,
das um der Schechina willen geſchieht, lebt wahr;
haft. „Durch ſeine Not und ſeinen Mangel kennt
er den Mangel der Schechina, zu beten, daß der
Mangel der Schechina gefuͤllt werde und daß durch
ihn, den Betenden, die Einung Gottes mit ſei⸗
ner Glorie geſchehe.“ Der Menſch ſoll wiſſen, daß
ſein Leid aus dem Leide der Schechina kommt. Er
iſt „eines von ihren Gliedern“, und die Stillung
ihres Entbehrens iſt allein die echte Stillung des
feinen. „Er ſinne nicht auf feine Löfung im unteren
oder im oberen Beduͤrfen, daß er nicht ſei wie der
die ewige Pflanzung verwuͤſtet, Trennung zu ſchaffen;
ſondern alles tue er um des Mangels der Gottes;
glorie willen, und aus ſich ſelber wird alles geloͤſt
werden, auch ſein eigen Leid befriedet aus der Be⸗
friedung ſeiner oberen Wurzel. Denn alles, oben und
unten, iſt eine Einheit.“ „Ich bin das Gebet“,
153
ſpricht die Schechina. Ein Zaddik ſagte: „Die Men⸗
ſchen meinen, ſie beten vor Gott, aber es iſt nicht ſo,
denn das Gebet ſelbſt iſt Gottheit.“
In der Enge des Selbſt kann kein Beten gedeihen.
„Wer in Leid betet ob der Schwermut, die ihn re—
giert, und denkt, er bete in der Furcht vor Gott, oder
wer in Freude betet ob der Helle ſeines Gemuͤtes,
und denkt, er bete in der Liebe zu Gott, deſſen Gebet
iſt gar nichts. Denn dieſe Furcht iſt nur Schwermut,
und dieſe Liebe iſt nur leere Freude.“
Es wird erzaͤhlt, der Baalſchem ſei einmal an der
Schwelle ſeines Bethauſes ſtehengeblieben und habe
nicht eintreten wollen und habe im Widerwillen
geſprochen: „Da kann ich nicht ein. Iſt doch das Haus
von Ende zu Ende und uͤber alle Ufer voll des Ge⸗
betes.“ Und da ſich die Begleiter verwunderten,
weil ihnen ſchien, es koͤnne kein groͤßeres Lob geben
als dieſes, deutete er es ihnen: Wenn die Worte
nicht in ihrer Abſicht auf das obere Geſchehen ger
richtet ſind, dann koͤnnen ſie nicht aufſteigen, ſon⸗
dern lagern ſich am Boden Schicht auf Schicht, bis
ſie das ganze Haus fuͤllen in dickem Wirrſal.
Zweierlei vermag die Gebete feſtzuhalten: wenn ſie
ohne die Intention geſprochen werden, und wenn die
154
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früheren Taten des Betenden fich zwiſchen ihm und
dem Himmel wie eine harte Wolke breiten. Die Hin—
derung kann nur bezwungen werden, wenn der
Menſch in die Sphaͤre der Inbrunſt emporwaͤchſt und
ſich in ihren Gnaden reinigt, oder wenn eine andere
Seele, die in der Inbrunſt iſt, die gefeſſelten Worte
freimacht und mit dem ihren nach oben traͤgt. So
wird von einem Zaddik erzaͤhlt, er ſei beim Beten der
Gemeinde eine lange Zeit ſtumm und ohne Bewe—
gung dageſtanden und habe dann erſt ſelbſt zu beten
begonnen, „gleichwie der Stamm Dan am Ende des
Lagers zog und alles Verlorene ſammelte“; fein Wort
ſei ein Gewand geweſen, in deſſen Falten haͤtten ſich
die niedergehaltenen Gebete geſchmiegt und ſeien
emporgetragen worden. Dieſer Zaddik pflegte vor
dem Beten zu ſagen: „Ich binde mich mit ganz
Iſrael, mit denen, die groͤßer find als ich, daß durch
fie mein Gedanke aufſteige, und mit denen, die kleiner
ſind als ich, daß ſie durch mich gehoben werden.“
Aber dies iſt das Geheimnis der Gemeinſchaft,
daß nicht bloß der Niedere des Höheren bedarf, ſon—
dern auch der Hohe des Niederen. Hier ruht ein wei⸗
terer Unterſchied zwiſchen dem Zuſtand der Efftafe
und dem Zuſtand des Dienſtes. Hitlahabut iſt des
155
Einzelnen Weg und Ziel; ein Seil geſpannt über dem
Abgrund, an zwei ſchlanke Baͤume gebunden, die der
Sturm bewegt; in Einſamkeit und Grauen betritt es
der Fuß des Wagenden. Hier gibt es keine Menſchen⸗
gemeinſchaft, nicht im Zweifel und nicht im Beſitz.
Der Dienſt aber iſt vielen Seelen in ihrer Vereinigung
erſchloſſen. Er gewaͤhrt die letzten Schauer nicht, aber
er iſt frei von den dunkelſten Angſten. Er iſt nicht ein
Seil, ſondern eine Bruͤcke. Den auf dem Seile Kom⸗
menden umfaͤngt druͤben der Arm des Geliebten; den
Wanderern der Brüde öffnet ſich die Halle des Koͤ⸗
nigs. Die Ekſtaſe will nichts als ihre Vollendung in
Gott, ſie gibt ſich dahin. Im Dienſte lebt eine Ab⸗
ſicht, eine „Kawwana“. Die Wollenden binden ſich
aneinander zu groͤßerer Einheit und Macht. Es gibt
einen Dienſt, den nur die Gemeinde vollbringen
kann.
Der Baalſchem ſagte ein Gleichnis: Menſchen
ſtanden unter einem ſehr hohen Baume. Und einer
von den Menſchen hatte Augen zu ſehen. Und er ſah:
im Wipfel des Baumes ſtand ein Vogel, herrlich in
weſenhafter Schoͤnheit. Aber die anderen ſahen den
Anblick nicht. Und uͤber jenen Mann fiel ein großes
Bangen, zu dem Vogel zu kommen und ihn zu neh⸗
156
men; und er konnte nicht von dannen ohne den Bo;
gel. Aber wegen der Hoͤhe des Baumes war es nicht
in ſeinem Vermoͤgen, und auch eine Leiter war nicht
zu finden. Doch aus dem großen und maͤchtigen
Bangen gab er ſeiner Seele den Rat. Er nahm die
Menſchen, die umherſtanden, und ſtellte fie aufein⸗
ander, jeden auf die Schulter eines Gefaͤhrten.
Er aber ſtieg zu oberſt, alſo daß er zum Vogel kam,
und nahm ihn. Und die Menſchen, wiewohl ſie dem
einen geholfen hatten, wußten nichts von dem Vogel
und ſahen ihn nicht. Er aber, der von ihm wußte und
ihn ſah, haͤtte ohne ſie nicht zu ihm kommen koͤnnen.
Würde jedoch der unterſte von ihnen feinen Ort ver;
laſſen, dann muͤßte der oben zur Erde niederfallen.
„Und der Tempel des Meſſias wird im Buche Sohar
das Vogelneſt genannt.“
Es iſt aber nicht etwa fo, als werde nur des Zad—⸗
diks Gebet von Gott empfangen und als ſei nur die,
ſes lieblich in ſeinen Augen. Kein Beten iſt gnaden⸗
ſtaͤrker und dringt in geraderem Fluge durch alle
Himmelswelten, als das Beten des Einfaͤltigen, der
nichts zu ſagen und nur das ungebrochene Muͤſſen
ſeines Herzens Gott darzubringen weiß. Gott nimmt
es an, wie ein Koͤnig das Singen der Nachtigall in
157
der Nacht feines Gartens, das ihm ſuͤßer klingt als
die Huldigung der Fuͤrſten im Thronſaal. Die chaſſi⸗
diſche Legende weiß ſich nicht genug der Beiſpiele fuͤr
die Gunſt, die dem Ungeſchiedenen leuchtet, und fuͤr
die Macht ſeines Dienſtes. Eines ſei hier mitgeteilt.
Cin Dorfmann, der Jahr fuͤr Jahr an den „furcht⸗
baren Tagen“ im Bethaus des Baalſchem war, hatte
einen Knaben. Der war ſtumpfen Verſtandes und
konnte nicht einmal die Geſtalt der Buchſtaben emp;
fangen, geſchweige denn die heiligen Worte erkennen.
Und der Vater nahm ihn an den furchtbaren Tagen
nicht mit ſich in die Stadt, dieweil er nichts wußte.
Aber als er dreizehn Jahre war und muͤndig vor
Gottes Geſetzen, nahm ihn der Vater am Verſoͤh⸗
nungstag mit, damit er nicht etwa eſſe am Tage der
Kaſteiung aus Mangel feines Wiſſens und Ver⸗
ſiehens. Und der Knabe hatte ein Pfeifchen, darauf
pfiff er immer in der Zeit, da er im Felde ſaß, die
Schafe und Kaͤlber zu weiden. Und er nahm es mit
ſich in der Taſche ſeines Kleides, und ſein Vater ſah
es nicht. Und der Knabe ſaß in den heiligen Stunden
im Bethauſe und wußte nichts zu ſagen. Als aber
das Muſſafgebet angehoben wurde, ſprach er zu ſei—
nem Vater: „Vater, ich habe mein Pfeifchen bei mir
158
r
und ich will darauf fingen.” Da war fein Vater fehr
beſtuͤrzt und fuhr ihn an und ſprach: „Hüte dich und
huͤte deine Seele, daß du dies nicht tueſt.“ Und er
mußte es in ſich bewahren. Aber als das Mincha—
gebet kam, ſprach er wieder: „Vater, erlaube mir
doch, mein Pfeifchen zu nehmen.“ Und als der Vater
fein Verlangen ſah und daß feine Seele bangte zu
pfeifen, war er zornig und fragte ihn: „An welchem
Orte haſt du es?“, und da er ihm den Ort zeigte, legte
er die Hand auf die Taſche und hielt ſie fortan darauf,
um das Pfeifchen zu hüten. Und das Neilagebet
begann, und die Lichter brannten zitternd in den
Abend, und die Herzen brannten wie die Lichter, uns
erſchoͤpft vom langen Harren, und durch das Haus
ſchritten noch einmal muͤde und aufrecht die achtzehn
Segenſpruͤche, und das große Bekenntnis kehrte zum
letztenmal wieder und lag vor der Lade des Herrn,
die Stirn auf der Diele und die Haͤnde gebreitet,
noch einmal, ehe der Abend ſich neigt und Gott ent⸗
ſcheidet. Da konnte der Knabe ſeine Inbrunſt nicht
länger halten und riß das Pfeifchen aus der Taſche
und ließ ſeine Stimme gar maͤchtig ſchallen. Und
alle ſtanden erſchreckt und verwirrt da. Aber der
Baalſchem erhob ſich uͤber ihnen und ſprach: „Das
159
Verhängnis iſt durchbrochen und der Zorn zerſtreut
vom Angeſichte der Erde.“
So iſt jeder Dienſt, der aus einer ſchlichten oder
geſchlichteten zwieſpaltloſen Seele kommt, zureichend
und vollkommen. Noch aber iſt ein hoͤherer. Denn
wer von Aboda zu Hitlahabut aufgeſtiegen iſt und
ſeinen Willen in ſie getaucht hat und ſeine Tat einzig
aus ihr empfaͤngt, der hat jeden beſonderen Dienſt
uͤberſtiegen. „Jeder Zaddik hat ſeine beſondere Art
des Dienſtes. Wenn aber die Zaddikim ihre Wurzel
betrachten und zum Nichts gelangen, dann koͤnnen
ſie Gott auf allen Stufen dienen.“ So ſprach einer
von ihnen: „Ich ſtehe vor Gott wie ein Botenknabe.“
Denn er war zur Vollendung und zum Nichts ge⸗
kommen, bis er keine beſondere Art mehr hatte,
„ſondern er ſtand bereit fuͤr alle Arten, die Gott ihm
weiſen wuͤrde, wie ein Botenknabe daſteht, bereit fuͤr
alles, was ihm ſein Herr befehlen wird“.
Wer dergeſtalt in der Vollendung dient, der hat
die urgegebene Zweiheit beſiegt und hat Hitlahabut
in das Herz der Aboda eingetan. Er wohnt in den
Reichen des Lebens, und doch ſind alle Mauern ge⸗
fallen, alle Grenzſteine ausgeriſſen, alle Scheidung iſt
vernichtet. Er iſt der Bruder der Geſchoͤpfe und
160
fühlt ihren Blick, als waͤre er fein eigener, ihren
Schritt, als gingen ihn ſeine Fuͤße, ihr Blut, als
floͤſſe es in feinem Leibe. Er iſt der Sohn Gottes und
legt bange und ſicher ſeine Seele in die große Hand
zu all den Himmeln und Erden und ungewußten
Welten und ſteht auf den Fluten des Meeres, in
das alle feine Gedanken und aller Weſen Wander;
ſchaften muͤnden. „Er macht ſeinen Koͤrper zum
Throne des Lebens und das Leben zum Throne des
Geiſtes und den Geiſt zum Throne der Seele und
die Seele zum Throne des Lichtes der Gottesglorie,
und das Licht umſtroͤmt ihn ringsum, und er ſitzt
inmitten des Lichtes und zittert und frohlockt.“
Kawwana: Von der Intention
Kawwana iſt das Myſterium der auf ein Ziel ge—
richteten Seele.
Kawwana iſt nicht der Wille. Sie ſinnt nicht dar⸗
auf, ein Bild in die Welt der wirklichen Dinge zu
verſetzen; nicht, einen Traum zum Gegenſtande feſt—
zumachen, daß er bei der Hand ſei, beliebig oft emp—
funden zu werden in ſatter Wiederholung. Auch dar;
auf nicht, den Stein der Tat in die Wellen des Ge;
11 161
ſchehens zu werfen, daß fie eine Weile unruhig werden
und ſich verwundern, um ſodann zuruͤckzukehren zu
den tiefen Befehlen ihres Lebens; einen Funken zu
legen an die Zuͤndſchnur, die durch die Reihe der Ger
ſchlechter geht, daß eine Flamme huͤpfe aus Zeit zu
Zeit, bis ſie in einer ohne Abſchied und Zeichen er⸗
liſcht. Nicht dies iſt Kawwanas Meinen, daß die
Pferde an dem großen Wagen einen Antrieb mehr
verſpuͤren, oder daß ein Bau mehr aufgerichtet werde
vor dem uͤbervollen Blick der Sterne. Kawwana
meint nicht den Zweck, ſondern das Ziel.
Es gibt aber keine Ziele, ſondern das Ziel.
Nur ein Ziel iſt, das nicht luͤgt, das ſich in kei⸗
nen neuen Weg verfaͤngt, in das alle Wege muͤn⸗
den, vor dem kein Abweg ewig fluͤchten kann: die
Erloͤſung.
Kawwana iſt ein Strahl der Gottesglorie, der in
jedem Menſchen wohnt und die Erloͤſung meint.
Dies aber iſt die Erloͤſung, daß die Schechina aus
der Verbannung heimkehre. „Daß alle Schalen von
der Gottesglorie weichen und ſie ſich reinige und
ſich eine ihrem Eigner in vollkommener Einung.“
Des zum Zeichen erſcheint der Meſſias und macht alle
Weſen frei.
162
Manchem ift fein Leben lang, als muͤſſe es hier und
heute geſchehen. Denn er hoͤrt die Stimmen des Wer—
dens in den Schluchten brauſen und fuͤhlt das Keimen
der Ewigkeit auf dem Acker der Zeit, wie wenn es in
ſeinem Blute geſchaͤhe, und ſo kann er es nimmer
anders denken, als dies und dies ſei der erwaͤhlte
Augenblick. Und immer noch heißer zwingt ihn ſein
Waͤhnen, weil immer noch gebieteriſcher die Stimmen
reden und noch heiſchender das Keimen ſchwillt.
Von einem Zaddik wird erzaͤhlt, daß er alſo ſehr
der Erloͤſung harrte: wenn er auf der Gaſſe ein Ge;
tuͤmmel hoͤrte, ſogleich wurde er erregt, zu fragen, was
dies wolle und ob nicht der Bote gekommen ſei; und
jedesmal, wenn er zum Schlafen ging, befahl er ſei—
nem Diener, wenn der Bote kaͤme, ſolle er ihn im
gleichen Augenblick wecken. „Denn alſo ſehr war in
ſeinem Herzen das Kommen des Erloͤſers eingefaßt,
wie wenn ein Vater den einzigen Sohn aus dem
fremden Lande erwartet und ſteht auf der Turm;
warte mit Sehnſucht der Augen und lugt durch alle
Fenſter aus, und wenn man die Tuͤr oͤffnet, eilt er hin⸗
aus, um zu ſehen, ob ſein Sohn nicht gekommen iſt.“
Andere aber ſind des Schreitens kundig in ſeinem
Maße und ſehen Ort und Stunde der Bahn und wiſ—
11 163
fen die Ferne des Kommenden. In allem ſtellt fich
ihnen das Unvollendete dar, die Gebrechen der Weſen
reden zu ihnen, und der Atem der Winde traͤgt ihnen
Bitterkeit zu. Wie eine unreife Frucht iſt die Welt
vor ihren Augen. In ſich ſind ſie der Glorie teil—
haftig — da ſchauen ſie hinaus: Alles liegt im
Kampfe.
Als der große Zaddik Rabbi Menachem in Seru;
ſalem war, ereignete es ſich, daß ein toͤrichter Mann
den Ölberg beſtieg und in die Schofarpoſaune ſtieß.
Und keiner hatte ihn geſehen. Und es war ein Ge⸗
ruͤcht im Volke, dies ſei das Schofarblaſen, das die
Erloͤſung verkuͤndigt. Als dies an die Ohren des
Rabbis kam, oͤffnete er ein Fenſter und ſah in die
Luft der Welt hinaus. Und ſogleich ſprach er: „Da
iſt keine Erneuerung.“
Dies aber iſt der Weg der Erloͤſung: daß alle See⸗
len und Seelenfunken, die der Urſeele entſproſſen und
in der Urtruͤbung der Welt oder durch die Schuld der
Zeiten geſunken und hinausgeſtreut ſind in alle Krea⸗
turen, die Wanderſchaft beſchließen und gelaͤutert
heimkehren. Die Chaſſidim reden davon im Gleichnis
des Fuͤrſten, der das Mahl erſt anheben laͤßt, wenn
der letzte der Gaͤſte eingezogen iſt.
164
Alle Menſchen find die Stätten wandernder See;
len. In vielen Weſen wohnen fie und fireben von
Geſtalt zu Geſtalt nach der Vollendung. Die ſich aber
nicht zu laͤutern vermoͤgen, werden von der „Welt des
Wirrſals“ befangen und hauſen in Waſſerlachen, in
Steinen, in Gewaͤchſen, in Tieren, der erloͤſenden
Stunde entgegenharrend.
Doch nicht bloß Seelen ſind uͤberall verſchloſſen:
auch Seelenfunken. Ihrer iſt kein Ding leer. Sie
leben in allem, was iſt. Jede Form iſt ihr Kerker.
Und dies iſt der Sinn und die Beſtimmung der
Kawwana: daß es dem Menſchen gegeben iſt, die Ge—
fallenen zu heben und die Gefangenen zu befreien.
Nicht bloß warten, nicht bloß ausſchauen: wirken
kann der Menſch an der Erlöfung der Welt.
Dies eben iſt Kawwana: das Myſterium der Seele,
die darauf gerichtet iſt, die Welt zu erloͤſen.
Es wird von Heiligen berichtet, die es im Sturm
und in der Gewalt zu vollbringen vermeinten. In
dieſer Welt; wenn ſie von der Gnade der Inbrunſt
ſo durchgluͤht waren, daß ihnen nichts mehr un⸗
erreichbar ſchien, die ſie doch Gott umfangen hatten.
Oder in der kommenden Welt; ein Zaddik ſprach im
Sterben: „Die Freunde ſind hingegangen und woll⸗
165
ten den Meſſias bringen, und haben es in der Wonne
vergeſſen. Aber ich werde nicht vergeſſen.“
In Wahrheit jedoch kann jeder nur in ſeinem Be⸗
reiche wirken. Jeder hat eine weit in Raum und Zeit
ausgeſpannte Sphaͤre des Seins, die ihm zugeteilt
iſt, durch ihn erloͤſt zu werden. Orte, die von Unge⸗
hobenem beſchwert und in ihrer Seele gefeſſelt ſind,
warten auf den Menſchen, der zu ihnen kommen wird
mit dem Worte der Freiheit. Wenn ein Chaſſid an
einem Orte nicht beten kann und an einen anderen
geht, dann fordert der erſte Ort von ihm: „Warum
wollteſt du nicht auf mir die heiligen Worte ſprechen?
Und wenn Boͤſes an mir iſt, ſo iſt es an dir, mich zu
erloͤſen.“ Aber auch alle Reiſen haben heimliche Be⸗
ſtimmung, die der Reiſende nicht ahnt. |
Von einigen Zaddikim wird geſagt, fie haften die
helfende Macht uͤber die wandernden Seelen gehabt.
In allen Zeiten, ſonderlich aber, wenn ſie im Gebete
ſtanden, ſeien die Irrfahrer der Ewigkeit bittend vor
ihnen erſchienen und haͤtten das Heil aus ihren Haͤn⸗
den empfangen. Doch auch aus eigenem Trieb haͤtten
fie die Stummen unter den Gebannten im Exil eines
muͤden Leibes oder im Dunkel des Elements zu finden
und ſie emporzuretten gewußt.
166
Dieſe Hilfe iſt als ein ungeheures Wagen inmitten
von andringenden Gefahren dargeſtellt, zu dem nur
der Heilige ſich ſpannen kann, ohne niedergeworfen
zu werden. „Wer eine Seele hat, der mag ſich in den
Abgrund hinablaſſen, feſtgebunden durch ſeinen Ge—
danken wie durch ein ſtarkes Seil am oberen Rande,
und wird zuruͤckkehren. Aber wer nur Leben hat oder
nur Leben und Geiſt, der hat die Artung des Gedan—
kens noch nicht, und das Band wird nicht ſtandhalten,
und er wird in die Tiefe fallen.“
Kann alſo nur der Begnadete ruhigen Mutes in
die Finſternis tauchen, um einer Seele beizuſtehen,
die den Wirbeln der Wanderfchaft überliefert iſt, fo iſt
auch dem Geringſten nicht verſagt, die verlorenen
Funken aus ihrem Gewahrſam zu heben und heim—
zuſenden.
Überall ſind die Funken eingetan. Sie haͤngen in
den Dingen wie in verſiegelten Brunnen, ſie ducken
ſich in den Weſen wie in zugemauerten Hoͤhlen, ſie
atmen Bangigkeit aus und Dunkel ein, ſie warten;
und die im Raume wohnen, ſchwirren wie lichttolle
Falter um die Bewegungen der Welt umher, ſchauend,
in welche ſie einkehren koͤnnten, durch ſie geloͤſt zu
werden. Alle harren ſie der Freiheit.
167
„Der Funke in einem Geſtein oder Gewaͤchs oder
einer anderen Kreatur iſt wie eine völlige Geſtalt, die
in der Mitte des Dinges wie in einem Block ſitzt,
daß Haͤnde und Füße ſich nicht ſtrecken koͤnnen und
der Kopf auf den Knien liegt. Und wer den heiligen
Funken zu heben vermag, der fuͤhrt ihn an die Frei⸗
heit, und keine Loͤſung Gefangener iſt groͤßer als dieſe.
Wie wer einen Koͤnigsſohn aus der Gefangenſchaft
errettet und zu ſeinem Vater bringt.“
Aber nicht durch Beſchwoͤrungsformeln und nicht
durch irgendein vorgeſchriebenes ſonderliches Tun
geſchieht die Befreiung. All dies waͤchſt auf dem
Grunde der Anderheit, der nicht der Grund der Kaw—
wana iſt. Es bedarf keines Sprunges aus dem Ge⸗
wohnten ins Wunder. „Mit jeder Tat kann der
Menſch an der Geſtalt der Gottesglorie arbeiten, daß
ſie aus dem Verborgenen trete.“ Nicht die Materie
der Handlung, nur ihre Weihung entſcheidet. Eben
dies, was du im Gleichmaß der Wiederkehr oder in
der Fuͤgung der Ereigniſſe tuſt, eben dieſe aus Übung
erworbene oder aus Eingebung gewonnene Antwort
des Handelnden auf das vielfaͤltige Begehren der
Stunden, eben dieſe Stetigkeit des lebendigen Stro⸗
mes wird, in der Weihe vollzogen, zum Erloͤſen. Wer
168
in Heiligkeit betet und ſingt, in Heiligkeit ißt und
redet, in Heiligkeit des gebotenen Tauchbades und in
Heiligkeit der Geſchaͤfte bedacht iſt, durch den werden
die gefallenen Funken erhoben und die gefallenen
Welten erloͤſt und erneuert.
Um jeden Menſchen iſt — in die weite Sphaͤre ſei—
nes Wirkens eingebaut — ein natuͤrlicher Bezirk von
Dingen gelegt, die vor allem zu befreien er beſtimmt
iſt. Es ſind die Weſen und Gegenſtaͤnde, die der Be—
ſitz des Einzelnen genannt werden: ſeine Tiere und
feine Wände, fein Garten und fein Anger, fein Gerät
und feine Speiſe. Indem er ſie in Heiligkeit hegt und
genießt, macht er ihre Seelen los. „Daher ſoll der
Menſch ſich immerdar ſeiner Geraͤte und alles ſeines
Beſitzes erbarmen.“
Aber auch in der Seele ſelbſt erſcheinen die der Löoͤ—
ſung Beduͤrftigen. Die meiſten ſind die Funken, die
durch die Schuld dieſer Seele in einem ihrer fruͤheren
Leben in die Niederung geraten ſind. Sie ſind die
fremden, ſtoͤrenden Gedanken, die oft den Betenden
befallen. „Wenn der Menſch im Gebete ſteht und be—
gehrt, ſich an das Ewige zu ſchließen, und die fremden
Gedanken kommen und fallen: heilige Funken ſind
es, die geſunken ſind und von ihm erhoben und erloͤſt
169
werden wollen; und die Funken find ihm zugehörig,
der Wurzel ſeiner Seele verſchwiſtert: ſeine Kraͤfte
ſind es, die er erloͤſen ſoll.“ Er erloͤſt ſie, wenn er
jeden truͤben Gedanken ſeiner reinen Quelle wieder⸗
gibt, jeden auf Sonderheit ſinnenden Trieb in den
goͤttlichen Alltrieb ergießt, alles Fremde in der Eigen⸗
heit untergehen laͤßt.
Dies iſt die Kawwana des Empfangens: daß man
die Funken in den umgebenden Dingen und die
Funken, die aus dem Unſichtbaren nahen, erloͤſe.
Aber es gibt noch eine andere Kawwana, das iſt die
Kawwana des Gebens. Sie traͤgt keine verirrten
Seelenſtrahlen in hilfreichen Haͤnden; ſie bindet Wel⸗
ten aneinander und herrſcht in den Geheimniſſen, ſie
ſchuͤttet ſich in die durſtige Ferne, ſie ſchenkt ſich der
Unendlichkeit. Auch ſie bedarf des Wunderbaren
nicht. Ihre Bahn iſt das Schaffen, und das Wort
vor aller anderen Geſtalt des Schaffens.
Die Sprache war fuͤr die juͤdiſche Myſtik von je
ein ſeltſamer und ſchauererweckender Gegenſtand.
Eine eigentuͤmliche Theorie der Buchſtaben als der
Weltelemente liegt vor, die von ihren Vermiſchungen
als von dem Innern der Wirklichkeit handelt. Das
Wort iſt ein Abgrund, durch den der Redende ſchreitet.
170
„Man ſoll die Worte fprechen, als ſeien die Himmel
geöffnet in ihnen. Und als ſei es nicht fo, daß du
das Wort in deinen Mund nimmſt, ſondern als
gingeſt du in das Wort ein.“ Wer des heimlichen
Liedes kundig iſt, das das Innen ins Außen traͤgt, der
tiefen, dunklen Weiſe, die wunderbar die Laute reiht,
des heiligen Reigens, der einſame ſproͤde Worte zum
Geſang der Fernen verſchmilzt, der wird der Gottes—
macht voll, „und es iſt, als ſchuͤfe er Himmel und
Erde und alle Welten von neuem“. Er findet ſein
Reich nicht vor wie der Seelenbefreier, er ſpannt es
aus vom Firmament zu den ſchweigenden Tiefen.
Aber auch er wirkt an der Erloͤſung. „Denn in jedem
Zeichen ſind Welten und Seelen und Goͤttliches, und
ſie ſteigen auf und binden ſich und vereinigen ſich mit⸗
einander, und danach vereinigen ſich die Zeichen und
es wird das Wort, und die Worte einen ſich in
Gott in wahrhafter Einung, da ein Menſch ſeine
Seele in ſie geworfen hat, und alle Welten
einen ſich und ſteigen auf, und die große Wonne
wird geboren.“ So bereitet der Wirkende die letzte
All⸗Einung vor.
Und wie uns Aboda in Hitlahabut, das Urprinzip
des chaſſidiſchen Lebens, muͤndete, ſo muͤndet hier
171
Kawwana in Hitlahabut. Denn Schaffen iſt Ger
ſchaffenwerden: das Goͤttliche bewegt und bewaͤltigt
uns. Und Geſchaffenwerden iſt Ekſtaſe: nur wer ſich
in das Nichts des Abſoluten einſenkt, empfaͤngt die
formende Hand des Geiſtes. Dies wird im Gleichnis
dargeſtellt. Es iſt keinem Ding der Welt gegeben, in
ſich umgeſchaffen zu werden und in neue Geſtalt zu
kommen, es komme denn vordem zum Nichts, das
iſt zur „Geſtalt des Dazwiſchen“. Kein Weſen kann
auf ihr beſtehen, ſie iſt die Kraft vor der Schoͤpfung
und heißt das Chaos. So iſt das Vergehen des Eies
zum Kuͤchlein und ſo der Same, der nicht keimt, ehe
er in der Erde aufgegangen und verweſt iſt. „Und
dies wird Weisheit genannt, das heißt: ein Gedanke,
der keine Offenbarung hat. Und alſo iſt es, wenn der
Menſch will, daß eine neue Schoͤpfung aus ihm
komme, dann muß er mit aller ſeiner Moͤglichkeit zur
Eigenſchaft des Nichts kommen, und dann ſchafft
Gott in ihm eine neue Schoͤpfung, und er iſt wie ein
Quell, der nicht verſiegt, und wie ein Strom, der
nicht aufhoͤrt.“ |
So ift zwiefach der Wille der chaſſidiſchen Lehre von
der Kawwana: daß der Genuß, die Verinnerung des
Außen, in Heiligkeit geſchehe; daß das Schaffen, die
172
r
n
Veräußerung des Innen, in Heiligkeit geſchehe.
Durch heiliges Schaffen und heiligen Genuß voll—
zieht ſich die Erloͤſung der Welt.
Schiflut: Von der Demut
Gott tut nicht zweimal das gleiche Ding, ſagt Rabbi
Nachman von Bratzlaw.
Einzig und einmalig iſt das Seiende. Neu und un⸗
geweſen taucht es aus der Flut der Wiederkuͤnfte auf,
geſchehen und unwiederholbar taucht es in ſie zuruͤck.
Jegliches erſcheint zum anderen Male, aber jegliches
gewandelt. Und die Wuͤrfe und Stuͤrze, die uͤber den
großen Weltgebilden walten, und die Feuer und Waf;
fer, die die Geſtalt der Erde bauen, und die Miſchun⸗
gen und Entmiſchungen, die das Leben der Lebendi⸗
gen lochen, und der Geiſt des Menſchen mit all ſeinem
Verſuchen und Vergreifen an der weichen Fuͤlle des
Moͤglichen, ſie alle koͤnnen nicht ein Gleiches ſchaffen
und nicht wiederbringen eines der Dinge, das da ber
ſiegelt iſt geweſen zu ſein.
Die Einmaligkeit iſt eine Ewigkeit des Einzelnen.
Denn mit ſeiner Einzigkeit iſt er unverloͤſchbar in das
Herz der Allheit eingegraben und liegt im Schoße
173
des Zeitlofen immerdar als der alſo und nicht anders
Beſchaffene. |
So ift die Einzigkeit das weſentliche Gut des Mens
ſchen, das ihm gegeben iſt, es zu entfalten. Und dies
eben iſt der Sinn der Wiederkehr, daß ſich die Einzig⸗
keit in ihr immer mehr reinige und vollkommen
werde; und daß in jedem neuen Leben der Wieder⸗
kehrende in ungetruͤbterer und ungeſtoͤrterer Un⸗
vergleichbarkeit ſtehe. Denn reine Einzigkeit und reine
Vollkommenheit ſind eines, und wer ſo ganz und gar
einzig geworden iſt, daß keine Anderheit mehr Macht
uͤber ihn und Ort in ihm hat, der hat die Reiſe voll⸗
bracht und iſt erloͤſt und kehrt in Gott ein.
„Jedermann ſoll wiſſen und bedenken, daß er in
der Welt einzig iſt in ſeiner Beſchaffenheit, und kein
ihm Gleicher war je im Leben, denn waͤre je ein ihm
Gleicher geweſen, dann brauchte er nicht zu ſein.
Aber in Wahrheit iſt jeglicher ein neues Ding in der
Welt, und er ſoll ſeine Eigenſchaft vollkommen
machen, denn weil ſie nicht vollkommen iſt, zoͤgert
das Kommen des Meſſias.“ j
Nur aus feiner eigenen Art, aus keiner fremden
kann ſich der Strebende vollenden. „Wer die Stufe
des Gefaͤhrten erfaßt und ſeine Stufe fahren laͤßt,
174
diefe und jene wird durch ihn nicht verwirklicht wer;
den. Viele taten wie Rabbi Simon ben Jochai, und
es geriet nicht in ihrer Hand, weil ſie nicht in dieſer
Beſchaffenheit waren, ſondern nur wie er taten, da
ſie ihn in dieſer Beſchaffenheit ſahen.“
Aber wie der Menſch in einſamer Inbrunſt Gott
ſucht und es doch einen hohen Dienſt gibt, den nur die
Gemeinde vollziehen kann, und wie der Menſch mit
dem Tun ſeines Alltags Ungeheures wirkt, aber nicht
allein, ſondern der Welt und der Dinge bedarf er zu
ſolchem Tun, fo bewährt fich die Einzigkeit des Men⸗
ſchen in ſeinem Leben mit den anderen. Denn je
einziger einer in Wahrheit iſt, deſto mehr kann er den
anderen geben, und deſto mehr will er ihnen geben.
Und dies eine iſt ſeine Not, daß ſein Geben einge—
ſchraͤnkt iſt durch den Nehmenden. Denn „der
Schenkende iſt von ſeiten der Gnade und der Emp—
fangende iſt von ſeiten des Gerichts. Und ſo iſt es
mit jedem Ding. Wie wenn man aus einem großen
Gefäß in einen Becher gießt: das Gefaͤß ſchuͤttet ſich
in Fuͤlle aus, aber der Becher ſetzt ſeiner Gabe die
Grenze“.
Der Einzige ſchaut Gott und umſchlingt ihn. Der
Einzige erlöft die gefallenen Welten. Und doch iſt der
175
Einzige kein Ganzes, ſondern ein Teil. Und je reiner
und vollkommener er iſt, deſto inniger weiß er es,
daß er ein Teil iſt, und deſto wacher regt ſich in ihm
die Gemeinſchaft der Weſen. Das iſt das Myſterium
der Demut.
„Der Menſch hat ein Licht uͤber ſich, und wenn zwei
Menſchen einander mit den Seelen begegnen, geſellen
ſich ihre Lichter zueinander, und aus ihnen geht ein
Licht hervor. Und dies wird Zeugung genannt.“ All⸗
zeugung fuͤhlen wie ein Meer und ſich darin wie eine
Welle, das iſt das Myſterium der Demut.
Nicht das iſt Demut, wenn einer „fich uͤberſehr er;
niedrigt und vergißt, daß der Menſch durch ſein Wort
und ſeine Gebaͤrde uͤber alle Welten den uͤber⸗
fließenden Segen herabzubringen vermag“. Dies
wird unreine Demut genannt. „Das groͤßte Boͤſe iſt,
wenn du vergiſſeſt, daß du ein Koͤnigsſohn biſt.“ In
Wahrheit demuͤtig aber iſt, wer die anderen wie ſich
fuͤhlt und ſich in den anderen. |
Hochmut heißt: ſich gegenuͤberſtellen. Nicht wer
ſich weiß, nur wer ſich mit anderen vergleicht, iſt der
Hochmuͤtige. Kein Menſch kann ſich uͤberheben, wenn
er auf ſich ruht: ſind ihm doch alle Himmel offen und
alle Welten ergeben; der uͤberhebt ſich, der ſich dem
176
andern gegenüber fühlt, fich höher ſieht als das
allergeringſte der Dinge, der mit Elle und Gewichten
ſchaltet und Urteil ſpricht.
Ein Zaddik ſprach: „Wenn heute Meſſias kommt
und jagt: Du biſt beſſer als die anderen‘, dann ſage
ich ihm: ‚Du biſt nicht Meſſias.“
Ohne Werk und Weſen lebt die Seele des Hoch—
muͤtigen, flattert und muͤht ſich und wird nicht ge—
ſegnet. Die Gedanken, die nicht das Gedachte, fon;
dern ſich und ihren Glanz meinen, ſind Schatten.
Die Tat, die nicht auf das Ziel, ſondern auf die Gelz
tung ſinnt, hat nicht Körper, nur Fläche, nicht Be;
ſtand, nur Erſcheinung. Wer mißt und waͤgt, wird
leer und unwirklich wie Maß und Gewicht. „Wer
ſeiner voll iſt, in dem hat Gott keinen Raum.“
Von einem Juͤngling wird erzaͤhlt, der die Abge⸗
ſchiedenheit auf ſich nahm und ſich von den Dingen
der Welt loͤſte, allein der Lehre und dem Dienſte an⸗
zuhangen, und ſaß in der Einſamkeit, faſtend von
Sabbat zu Sabbat und lernend und betend. Aber in
ſeinem Sinne hatte er uͤber aller Abſicht den Stolz
ſeines Tuns, und es ſtrahlte vor ſeinen Augen, und
ſeine Finger brannten, es auf ſeine Stirn zu legen wie
den Reif des Geſalbten. Und alſo fiel ſein Werk
12 177
der „anderen Seite“ anheim, und das Heilige hatte
kein Teil daran. Aber immer ſtaͤrker trieb ſich ſein
Herz auf und fuͤhlte das Sinken nicht, indes die
Daͤmonen mit ſeinen Taten ſpielten, und duͤnkte ſich
ganz von Gott beſeſſen. Da kam es einſt, daß er ſich
aus ſich hinauslehnte und die Dinge rings um ſtumm
und abgewandt gewahrte, und da ergriff ihn das Er⸗
kennen, und er ſchaute ſein Tun, aufgeſchichtet zu
Fuͤßen eines rieſenhaften Goͤtzen, und ſich ſelbſt
ſchaute er in ſchwindelnder Leere, preisgegeben dem
Namenloſen. Dies wird erzaͤhlt und nicht weiter.
Der Demuͤtige aber hat die „ziehende Kraft“. Alle
Zeit, die der Menſch ſich uͤber anderen und vor ande⸗
ren ſieht, hat er eine Grenze, „und Gott kann ſeine
Heiligkeit nicht in ihn laſſen, da Gott ohne Grenze
iſt.“ Aber wenn der Menſch in ſich ruht wie im Nichts,
iſt er durch kein anderes begrenzt und iſt grenzenlos,
und Gott gießt ſeine Glorie in ihn.
Die Demut, die hier gemeint iſt, iſt keine gewollte
und geuͤbte Tugend. Sie iſt nichts als innerliches
Sein, Fuͤhlen und Ausſagen. Nirgends iſt ein
Zwang in ihr, nirgends ein Sichbeugen, Sichbeherr⸗
ſchen, Sichbeſtimmen. Sie iſt zwieſpaltbar wie eines
Kindes Blick und ſchlicht wie eines Kindes Rede.
178
Rabbi Jaakob Jizchak von Lublin, der „Seher“,
hatte einen Widerſacher, einen harten und engſuͤchti—
gen Gelehrten, der „der eiſerne Kopf“ genannt wurde.
Der bedraͤngte ihn unaufhoͤrlich mit Fragen, Ein⸗
waͤnden und Vorwuͤrfen. Einmal ſagte er zu ihm:
„Ihr wißt doch ſelbſt, daß Ihr kein Zaddik ſeid. War;
um fuͤhrt Ihr andere auf Eure Wege und ziehet ſie zu
Eurer Gemeinde?“ Sprach Rabbi Jaakob Jigzchak:
„Was kann ich tun? Sie laufen mir zu und werden
meines Wortes froh und begehren es gar.“ Darauf
jener: „So gebet es am Sabbat allen insgeſamt zu
wiſſen, daß Ihr keiner der Erhabenen ſeid.“ Dies zu
tun, war der Zaddik erboͤtig, und am naͤchſten Sabbat
ſprach er vor den Ohren aller die Worte, die jener
ihm befohlen hatte. Da zog in aller Herzen eine tiefe
und wunderſame Demut ein, und hingen ihm fuͤrder
noch eifriger an als bisher. Als er dies dem eiſernen
Kopf bekanntgab, bedachte ſich der und ſagte ſodann:
„Es iſt dies der Weg bei euch Chaſſidim, den Demuͤti⸗
gen zu lieben und den Hochmuͤtigen zu meiden. Darum
ſaget ihnen, Ihr ſeiet der Auserwaͤhlten einer, und ſie
werden ſich von Euch kehren.“ Antwortete der Meiſter:
„Wenn ich auch kein Zaddik bin, fo bin ich doch kein Luͤg⸗
ner, und wie kann ich wider die Wahrheit reden!“
2 179
Der Demütige lebt in jedem Weſen und weiß jedes
Weſens Art und Tugend. Weil keiner ihm „der
andere“ iſt, weiß er aus dem inneren Grunde, daß
keiner des verhuͤllten Wertes ermangelt; weiß, daß
da kein „Menſch iſt, der nicht feine Stunde haͤtte“.
Nicht fließen ihm die Farben der Welt ineinander,
ſondern jede Seele ſteht in der Herrlichkeit ihres a
Eigendaſeins vor ihm. „In jedem Menſchen iſt Koͤſt⸗
liches, das in keinem anderen iſt. Daher ſoll man 4
jeden ehren nach feinem Verborgenen, das nur er
hat und keiner der Gefaͤhrten.“
Rabbi Wolf von Zbaraz ſah an keinem ein Boͤſes
und nannte jeden Menſchen gerecht. Als zwei einſt
miteinander ſtritten und man Wolf gegen den Shuk
digen aufzureden verſuchte, antwortete er: „Bei mir
find fie beide gleich — und wer kann wagen, fh
zwiſchen zwei Gerechte zu ſtellen?“ |
„Gott ſchaut nicht auf den böfen Teil,“ ſagte ein
anderer, „wie duͤrfte ich es tun?“
Wer in den Weſen lebt nach dem Myſterium der
Demut, kann keines verdammen. „Wer uͤber einen
Menſchen das Urteil ſpricht, hat es uͤber ſich ges
ſprochen.“ Der Baalſchem ſagte zu einem Rabbi, der
uͤber einen Suͤndigen eine harte Buße verhaͤngt
180
hatte: „Du haft noch nie den Sinn der Sünde gefühlt
und noch nie den Sinn des gebrochenen Herzens.“
Wer ſich vom Sünder ſondert, geht in der Schuld
von dannen. Der Heilige aber vermag an der Suͤnde
eines Menſchen als an ſeiner eigenen zu leiden. So
wird uns von Rabbi Suſſja dem ſeligen Gottes—
narren, berichtet. Wenn er ein Vergehen erfuhr, war
es ihm, als habe er es getan. So kam er einſt in eine
Herberge und ſah auf dem Angeſicht des Wirtes die
Suͤnden vieler Jahre wie ein Netzwerk aus verſteckten
Furchen. Und eine Weile war er ſtill und unbewegt.
Aber als er allein in der Stube war, die man ihm
gewieſen hatte, fiel der Schauer des Mitlebens auf
ihn, und er warf ſich zu Boden und ſchrie auf: „Suſſja,
Suſſja, du Arger, was haſt du getan? Iſt doch keine
Luͤge, die dich nicht verlockt hätte, und kein Frevel, den
du nicht ausgeſchluͤrft haͤtteſt! Suſſja, Toͤrichter,
Verwirrter, wohin nun mit dir?“ Und nannte die
Sünden des Wirtes mit Ort und Zeit als feine eige⸗
nen und ſchluchzte. Der Wirt war dem ſeltſamen
Manne nachgeſchlichen und ſtand vor der Tuͤr und
hoͤrte ſeine Rede. Erſt faßte ihn eine dumpfe
Beſtuͤrzung, dann aber leuchteten Reue und Gnade
in ihm auf, und er erwachte zu Gott.
181
Mitleben allein ift Gerechtigkeit. Ein Rabbi hieß
im weiten Land der Gerechte, denn er ſprach jedem
das Urteil nach ſeinem Tun, nicht mehr und nicht
geringer. Vor den kam einmal ein Weib, in irgend⸗
einer Sache ſeinen Rat zu erfragen. Er aber fuhr ſie
an: „Eine Buhlerin biſt du!“ und ſchuͤttete ſein Wiſſen
um die Heimlichkeiten ihres Lebens in ſchweren und
drohenden Worten uͤber ſie aus und hieß ſie ſich hin⸗
wegheben. Da antwortete die Frau und ſprach aus
der Bedraͤngnis ihres Herzens: „Der Schoͤpfer der
Welt iſt den Boͤſen langmuͤtig und fordert ihre Schuld
nicht in Eile ein und offenbart ihr Geheimnis keiner
Kreatur, auf daß ſie ſich nicht ſchaͤmen, zu ihm zuruͤck⸗
zukehren, und verbirgt ihnen ſein Angeſicht nicht.
Und der Rabbi von Apt ſitzt auf ſeinem Stuhl und
kann ſich keinen Augenblick lang enthalten, zu offen⸗
baren, was der Schoͤpfer der Welt bedeckt hat.“
Seither pflegte der Rabbi zu ſagen: „Von je hat mich
keiner bezwungen, nur einmal ein Weib.“
Mitleben als Erkennen iſt Gerechtigkeit. Mitleben als
Sein ift Liebe. Denn jenes Gefuͤhl der Naͤhe zu wenigen ;
und jenes Wollen der Nähe zu wenigen, das unter den
Menſchen Liebe heißt, iſt nichts als Erinnerung aus
einem Himmelsleben: „Die im Paradies beieinander
182
faßen und Nachbarn und Verwandte waren, die find
einander nahe auch in dieſer Welt.“ In Wahrheit aber
iſt Liebe ein Urweites und Tragendes und ohne alle
Wahl und Scheidung hingebreitet zu den Lebendigen.
Ein Zaddik ſprach: „Wie koͤnnt ihr von mir ſagen, ich
ſei ein Fuͤhrer des Zeitalters, da ich noch in mir die
Liebe zu den Nahen und zu meinem Samen ſtaͤrker
fuͤhle als zu allen Menſchenſoͤhnen?“ Daß ſich dieſe
Anſcha uung auch auf die Tiere erſtreckt, ſagen die Erzaͤh⸗
lungen von Rabbi Wolf, der nie ein Pferd anzuſchreien
vermochte, von Rabbi Moſche Leib, der die vernach—
laͤſſigten Kaͤlber auf den Maͤrkten traͤnkte, von Rabbi
Suſſja, der keinen Kaͤfig ſehen konnte „und die Un⸗
ſeligkeit der Voͤgel und ihr Bangen nach dem Fluge
in der Luft der Welt, gemäß ihrer Natur, freie Wan—⸗
derer zu ſein“, ohne ihn zu oͤffnen, und die Schlaͤge
des Beſitzers mit laͤchelnder Freude wie einen koſt⸗
baren Lohn empfing. Aber nicht nur die Weſen,
denen der kurze Blick der Menge den Namen der
Lebendigen zuſpricht, gehoͤren der Liebe des Liebenden
zu: „Dir iſt kein Ding in der Welt, in dem nicht Leben
waͤre, und von ſeinem Leben hat jedes die Geſtalt, in
der es vor deinen Augen ſteht. Und ſiehe, dieſes
Leben iſt das Leben Gottes.“
183
So iſt es gemeint: die Liebe zu den Lebendigen ift
die Liebe zu Gott, und ſie iſt hoͤher als irgendein
Dienſt. Ein Meiſter fragte einen Schuͤler: „Du
weißt, daß nicht zwei Kraͤfte zur gleichen Zeit im
Menſchenſinn Faſſung haben. Wenn du dich nun
am Morgen von deinem Lager hebſt und zwei Wege
ſind vor dir: Liebe zu Gott und Liebe zu den Men⸗
ſchen, welcher iſt der erſte?“ Jener antwortete: „Ich
weiß es nicht.“ Da ſprach der Meiſter: „Sieh, es ſteht
geſchrieben in dem Gebetbuche, das in den Haͤnden
des Volkes iſt: Ehe du beteſt, ſage das Wort:
Liebe deinen Naͤchſten wie dich felbft. Meinſt
du, das haͤtten die Ehrwuͤrdigen ohne Abſicht be⸗
fohlen? Wenn einer dir ſagt, er trage Liebe zu
Gott und trage nicht Liebe zu den Lebendigen,
Falſches redet er und Unmoͤgliches gibt er vor zu
beſitzen.“
Darum iſt, wo einer ſich von Gott entfernt, die
Liebe eines Menſchen das einzige Heil. Als ein Vater
dem Baalſchem klagte: „Mein Sohn iſt von Gott
abgewichen — was ſoll ich tun?“, erwiderte er:
„Ihn mehr lieben.“
Eines der chaſſidiſchen Grundworte iſt dieſes:
mehr lieben. Seine Wurzeln graben ſich tief ein und
184
BR“
ſtrecken ſich weit hin. Der mag die Kategorie Juden;
tum neu verſtehen lernen, der es verſtanden hat. Es
iſt eine große Bewegung darin, die ſich in unterirdi—
ſcher Hiſtorie verwirklicht und inniger noch in zeitloſer
Weisheit und am innigſten wohl in einem Traum,
den zu traͤumen und zu tragen allerorten und allezeit
junge Menſchen erſtehen und ſterben.
Eine große Bewegung, und doch wieder nur ein
verlorener Klang. Es iſt ein verlorener Klang, wenn
irgendwo — in jener dunkeln, fenſterloſen Stube —
und irgendwann — in jenen Tagen ohne Kraft der
Botſchaft — die Lippen eines namenloſen, dauer⸗
loſen Menſchen, des Zaddiks Rabbi Rafael, dieſe
Worte bilden: „Wenn ein Menſch ſieht, daß fein Ge;
faͤhrte ihn haßt, ſoll er ihn mehr lieben. Denn die
Gemeinſchaft der Lebendigen iſt der Wagen der Got;
tesglorie, und wo ein Riß im Wagen iſt, muß man
ihn füllen, und wo der Liebe wenig iſt, daß die Fuͤ⸗
gung ſich loͤſt, muß man Liebe mehren an ſeiner
Seite, den Mangel zu zwingen.“
Dieſer Rabbi Rafael rief einſt vor einer Fahrt
einem Schuͤler zu, er ſolle ſich zu ihm in den Wagen
ſetzen. Darauf jener: „Ich fuͤrchte, ich koͤnnte es Euch
eng machen.“ Und er mit erhobener Stimme: „So
185
wollen wir einander mehr lieben: dann wird ung
weit fein.”
Sie follen hier ſtehen als Zeugen, das Sinnbild
und die Wirklichkeit, verſchieden und eines, untrenn⸗
bar, der Wagen der Schechina und der Wagen der
Freunde.
Es iſt die Liebe ein Weſen, das in einem Reiche
lebt, groͤßer als das Reich der Einzelnen, und aus
einem Wiſſen redet, tiefer als das Wiſſen des Ein⸗
zelnen. Sie iſt in Wahrheit zwiſchen den Kreaturen,
das heißt: ſie iſt in Gott. Leben durch Leben gedeckt
und gebuͤrgt, Leben ſich gießend in Leben, ſo ſchaut
ihr die Seele der Welt. Weſſen das eine ermangelt,
des wird das andere ihm entgegenſchwellen. Wenn
eines zu wenig liebt, wird das andere mehr lieben.
Die Dinge helfen einander. Helfen aber iſt: ſelbſt
in einem geſammelten Willen das Seine aus ſich
ſelbſt tun. Wie der, der mehr liebt, dem anderen
nicht Liebe predigt, ſondern ſelbſt liebt und ſich alſo
gewiſſermaßen nicht um ihn kuͤmmert, ſo kuͤmmert
ſich der Helfende gewiſſermaßen nicht um den ande⸗
ren, ſondern tut das Seine aus ſich ſelbſt im Gedan⸗
ken der Hilfe. Das bedeutet: das Eigentliche, was
zwiſchen den Weſen geſchieht, geſchieht nicht durch
186
ihren Verkehr, ſondern durch eines jeden ſcheinbar
einſames, ſcheinbar unbekuͤmmertes, ſcheinbar bruͤk⸗
kenloſes Tun aus ſich ſelbſt. Dies wird im Gleichnis
geſagt: „Wenn ein Menſch ſingt und kann die Stimme
nicht erheben, und einer kommt ihm zu helfen und
hebt an zu ſingen, dann kann auch jener wieder die
Stimme erheben. Und das iſt das Geheimnis der
Verbindung.“
Es gibt aber noch eine andere Hilfe, eine weite
und wiſſende, vom Leid der Welten geboren, von
ihrem Blute genaͤhrt. Wer der ringenden Ewigkeit
hilft, hat jedem Leben geholfen. Auch davon redet
ein ſtilles Geheimnis. Drei Maͤnner ſaßen einſt im
Kerker, an einem Orte ſchwerer Finſternis. Von
dieſen Maͤnnern waren zwei weiſe, der dritte war
ein Tor. Es wurden ihnen aber taͤglich andere Spei—
ſen und anderes Geraͤt zum Eſſen gebracht, und das
Dunkel und die Not hatten den Narren alſo verwirrt,
daß er nicht mehr wußte, wie er die verſchiedenen Ge⸗
raͤte gebrauchen ſolle, die Speiſen zum Munde zu
bringen, und ſtumpf und ratlos daſaß, ohne zu eſſen
und zu trinken, bis es der eine der beiden Weiſen
merkte und ihn unterwies. Am naͤchſten Tag aber
wußte er das neue Geraͤt wieder nicht zu fuͤhren, und
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wieder mußte der Gefährte ihm beiſtehen. Und fo
ging es ſeither Tag fuͤr Tag. Der andere Weiſe aber
ſaß und ſchwieg und achtete keines anderen Dinges
als ſeiner Gedanken. Einmal fragte ihn jener:
„Warum ſtitzeſt du für dich und ſchweigſt und hilfſt
mir nicht, den Toren zu belehren?“ Antwortete er:
„Du muͤhſt dich ſtetig aufs neue und kommſt zu keinem
Ende, denn morgen wandelt ſich das Geraͤt, und du
mußt wieder beginnen. Ich aber ſitze und ſinne, wie
ich in die Wand eine Offnung bohren mag, daß das
Licht der Sonne hineinſtrahle und er alles ſehe.“
Es iſt aber all dies nicht etwa ſo zu verſtehen, als
gaͤlte das einfache Einanderhelfen nicht im Lichte der
Lehre. Vielmehr iſt dieſes einfache Einanderhelfen
keine Aufgabe, ſondern das Selbſtverſtaͤndliche und
die Wirklichkeit, auf die das Zuſammenleben der
Chaſſidim gegruͤndet iſt und uͤber der ſich die hoͤheren
Geſtalten der Hilfe aufbauen. Die Hilfe iſt keine
Tugend, ſondern eine Ader des Daſeins. Das iſt
der neue Sinn des alten juͤdiſchen Wortes, das Wohl⸗
tun rette vom Tode. Nur eins wird geboten und ge⸗
fordert: daß der Helfende ſich nicht auf die anderen
beſinne, die mithelfen koͤnnen, auf Gott und die
Menſchen, und nicht vermeine, eine Teilkraft zu ſein,
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die nur beizutragen habe, ſondern daß jeder als
Ganzheit antworte und einſtehe. So pflegte Rabbi
Moſche Leib zu ſagen: „Es gibt keine Eigenſchaft, die
nicht eine Erhebung haͤtte. Und auch die Gottes—
leugnung hat eine Erhebung. Denn wenn einer zu
dir kommt und von dir Hilfe fordert, ſollſt du nicht
ein weniges tun und dann ein Frommer ſein und zu
ihm ſagen: Habe Vertrauen und wirf deine Not auf
Gott,, ſondern da ſollſt du handeln, als ſei kein an⸗
derer, der ihm helfen koͤnnte, nur du allein.“
Und noch eines wird geboten und gefordert, und
dieſes eine iſt wieder nichts als ein Ausdruck des
Myſteriums der Schiflut: helfen nicht aus Mitleid,
das heißt aus einem ſcharfen, raſchen Schmerz, den
man bannen will, ſondern aus Liebe, das heißt aus
Mitleben. Der Mitleidige lebt nicht das Leid des
Leidenden mit, er traͤgt es nicht im Herzen, wie man
das Leben eines Baumes traͤgt mit allem Saugen
und Treiben und mit dem Traum der Wurzeln und
dem Begehren des Stammes und den tauſend Fahr—
ten der Zweige, oder wie man das Leben eines Tieres
traͤgt, mit allem Gleiten und Strecken und Greifen
und allem Gluͤck der Sehnen und Gelenke und der
dumpfen Spannung des Gehirnes; er traͤgt dieſes
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ſonderliche Weſen, das Leid des andern, nicht im
Herzen, ſondern er empfaͤngt von dieſes Leides aͤußer⸗
lichſter Gebaͤrde einen ſcharfen, raſchen Schmerz, dem
Urſchmerz des Leidenden abgrundweit unaͤhnlich, und
ſo wird er bewegt. Es ſoll aber der Helfende mitleben,
und nur Hilfe aus Mitleben beſteht vor den Augen
der Seele. So wird von einem Zaddik erzaͤhlt, der,
wenn ein Armer ſein Mitleid erregte, erſt ihn mit
aller Notdurft verſorgte, dann aber, da er in ſich ver⸗
ſpuͤrte, daß die Wunde des Mitleids geheilt war, ſich
mit großer, ruhevoll hingegebener Liebe in das Leben
und Beduͤrfen des andern verſenkte, es in ſich als
ſein eigenes Leben und Beduͤrfen faßte und in Wahr⸗
heit zu helfen begann.
Lieben heißt: das Beduͤrfen des andern als ſein
eigenes fuͤhlen und dennoch auch der eigenen Fuͤlle
gewahr werden, ſie helfend auszuteilen. Rabbi
Moſche Leib erzaͤhlte: „Ich habe die Liebe von einem
Dorfmann gelernt. Der ſaß mit anderen Bauern
beiſammen, und als ſein Herz lebhaft war vom
Weine, ſprach er zu einem: Liebſt du mich oder nicht?
Und er antwortete ihm: Ich liebe dich gar fehr.‘
Sprach jener: Du ſagſt, ich liebe dich, weißt du denn,
was mir fehlt? Liebteſt du mich in Wahrheit, du
190
wuͤrdeſt es wiſſen. Da ſchwieg der andere und ver;
mochte kein Wort zu ſagen. Ich aber verſtand: das
iſt die Liebe zu den Menſchen, zu fuͤhlen ihr Beduͤrfen
und zu tragen ihr Leid.“
Wer ſolcherweiſe miterlebt, der verwirklicht mit
ſeinem Tun die Wahrheit, daß alle Seelen eine ſind,
denn jede iſt ein Funken aus der Seele des Urmen;
ſchen, und ſie iſt ganz in ihnen allen. Und weil er die
Einheit der Seelen mit ſeinem Tun verwirklicht,
kann von keiner ihm ein übel nahen. Denn wenn
einer ihm Boͤſes tut, ſieht er es, als habe eine naͤr⸗
riſche Hand die Genoſſin geſchlagen und habe nicht
bedacht, daß fie eins find und dieſer Schmerz ihr
Schmerz und daß das Herz, das ihn erfaͤhrt, eben das
iſt, das ihr eignes Leben traͤgt. Wie ſollte er darob
trauern oder gar zuͤrnen oder gar auf Vergeltung
ſinnen? „Wenn ein Menſch ſich einmal im Irren
einen Schlag verſetzt, wird er nun einen Stock neh⸗
men und die Hand ſchlagen, die ihn geſchlagen hat?
Es geſchah ja aus mangelndem Wiſſen, und wie
ſollte er ſeinen Schmerz noch mehren wollen?“
So lebt der Demuͤtige, der der Gerechte und der
Liebende und der Helfer iſt: vermiſcht mit allen und
allen unberuͤhrbar, der Vielheit ergeben und geſam⸗
191
melt in feiner Einzigkeit; vollziehend auf den Fels
kuppen der Einſamkeit den Bund mit dem Unend⸗
lichen und im Tale des quellenden Lebens den Bund
mit den Irdiſchen, bluͤhend aus tiefem Geluͤbde und
allem Willen der Wollenden entzogen. Er weiß, daß
alles in Gott iſt, und gruͤßt die Boten wie vertraute
Freunde. Ihn ſchreckt nicht das Vorher und Nachher,
nicht das Oben und Unten, nicht das Diesſeits und
Jenſeits. Er iſt zu Hauſe und kann nie verſtoßen
werden. Die Erde kann nicht umhin, ſeine Wiege,
und der Himmel kann nicht umhin, ſein Spiegel und
ſein Echo zu ſein.
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Gedruckt im Frühjahr 1921 bei E. Haberland in Leipzig |
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