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Full text of "Vom Geist des Judentums : Reden und Geleitworte"

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Vom Geiſt 
des Judentums 


Reden und Geleitworte 


von 


Martin Buber 


Kurt Wolff Verlag / München 


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Sechſtes bis achtes Tauſend - 1 


Brechet euch einen Neubruch; | 
es ift die Zeit, Jahwe zu fuchen. 


Hofea 10, 12. 


ch habe in dieſem Band drei Reden aus den Jahren 
J 1912— 1914 vereinigt; zur Ergänzung find ihnen 


die Geleitworte meiner Buͤcher „Die Geſchichten des 


Rabbi Nachman“ (1906) und „Die Legende des 
Baalſchem“ (1907) beigegeben. 

Von der zweiten Auflage an ſind am Schluß der erſten 
Rede die Sätze geſtrichen, in denen das deutſche Volk 
aufgerufen wurde, in der Umkehr voranzugehen und 
eine neue Ara des Einvernehmens mit dem Orient 
zu begruͤnden. Das deutſche Volk hat die ihm in 
jenen Sätzen zugedachte Funktion nicht auf ſich ge— 
nommen und kann ſie nun nicht mehr auf ſich nehmen. 
Aber Europa ſteht die Entſcheidung noch bevor. 


Der Geiſt des Orients und das Judentum 


Is 


Im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts und 
im Beginn des neunzehnten wußten Herder und 
Goethe, Novalis und Goͤrres, daß der Orient eine 
Einheit iſt. Wohl kannten ſie die Vielfaͤltigkeit ſeiner 
Voͤlker, die in ihren geſchichtlichen und literariſchen 
Urkunden damals recht eigentlich erſt von Europa 
entdeckt worden waren, aber ſie blickten durch die 
Schale der Vielfaͤltigkeit in den einigen Kern des 
Geiſtes. Das Morgenland war ihnen kein poetiſcher 
Tropus, ſondern eine einheitliche, wirkende Wirk⸗ 
lichkeit, deren Beruͤhrungen ſie erfuhren und deren 
großes Leben ſich ihrer ehrfuͤrchtigen Ahnung auftat. 
Dieſe Einſicht blieb lebendig, bis die Raſſentheorie 
unſeres Zeitalters ihr mit breitem Erfolg entgegen⸗ 
trat. Wie die Anwendung der naturwiſſenſchaft⸗ 
lichen Methode auf die Pſychologie, fo hat hier 
deren Anwendung auf die Geſchichte den edelſten 
Beſitz der erkennenden Menſchheit zu zerſetzen ver⸗ 
ſucht: eine Totalitaͤt. Das Verhaͤltnis zwiſchen 


9 


Reizſtaͤrke und Empfindungsſtaͤrke mag errechenbar 
ſein, von der Wirklichkeit ſeelenhaften Geſchehens 
weiß dieſe Rechnung nichts auszuſagen; es mag 
noch ſo exakt feſtſtellbare Raſſenunterſchiede geben, 
die überraffenhaften Gebilde — Voͤlker und Voͤlker⸗ 
verbaͤnde — bleiben, ſolcher Unterſuchung unzugaͤng⸗ 
lich, die Wirklichkeit des Geiſtes. Als eine Totalitaͤt 
iſt der große Voͤlkerverband des Orients zu erweiſen, 
als ein Organismus, in deſſen Gliedern, moͤgen ſie 
funktionell noch ſo verſchieden ſein, eine gleichartige 
Struktur und eine gleichartige Vitalitaͤt waltet und 
der dem Abendland in eignem Recht gegenuͤberſteht. 

Man hat den Orientalen zuweilen als eine primi⸗ 
tive Bildungsſtufe, gleichſam als den ſtehenge⸗ 
bliebenen Menſchen angeſehen, — eine karge und 
ſchematiſierende Betrachtungsweiſe. Wohl aber darf 
man vom Drientalen hervorheben, daß die beſtim— 
mende Zeit ſeines inneren Schickſals, die Zeit, die 
feinen geiſtigen Charakter geprägt und ſeine ſchoͤpfe⸗ 
riſche Kraft beſtimmt hat, daß die Stunde ſeiner 
entſcheidenden Plaſtizitaͤt in eine fruͤhere Epoche 
der Erdgeſchichte faͤllt als die plaſtiſche Stunde des 
Europaͤers. Was China und Indien, Agypten und 
Vorderaſien in dem ungeheuren dritten Jahrtauſend 


10 


vor Chriſti Geburt an formenden Gewalten erlebten, 
laͤßt ſich aus den von dieſem und dem folgenden 
Jahrtauſend erhaltenen Reſten ihrer rieſenhaften 
Schoͤpfungen, dem Schiking und den Veden, den 
Pyramidenſpruͤchen und dem Gilgameſchepos nur 
in der Ahnung erſchließen; etwas deutlicher wird 
uns, was damals geſchah, wenn wir die Maͤnner 
begreifen, die in der Zeit, als uͤber Griechenland 
die Bluͤte kam, im Orient erſtanden: Maͤnner der 
Reſtauration und Regeneration, Verkuͤnder der 
Umkehr und Wiederherſtellung, — die juͤdiſchen 
Propheten und die Denker der Upaniſchaden, Zara⸗ 
thuſtra und Laotſe. Man wird daraus verſtehen, 
warum man vom Drientalen, wie etwa von der 
aͤgyptiſchen Plaſtik aus dem Anfang des dritten 
Jahrtauſends, ſagen darf, daß er zugleich primitiv 
und vollendet iſt. 

Ich moͤchte den orientaliſchen Menſchentypus, 
wie er ebenſo in den Urkunden der aſiatiſchen Antike 
wie im heutigen Chineſen oder Inder oder Juden 
erkennbar iſt, im Gegenſatz zum abendlaͤndiſchen, der 
etwa durch den Griechen der Perikleiſchen Zeit oder 
durch den Italiener des Trecento oder durch den 
Deutſchen unſerer Tage repraͤſentiert wird, als den 


LE 


motorischen im Gegenſatz zum ſenſoriſchen an— 
ſprechen. Ich nenne ſie ſo nach den Vorgaͤngen, die 
bei dem einen und bei dem andern im Mittelpunkt 
des feelifchen Prozeſſes ſtehen; wobei ich wohl weiß, 
daß ich vereinfachen, Vermiſchtes rein, Fließendes 
ſtarr, Verknuͤpftes einſam machen muß, um das 
Weſentliche aufzuzeigen. 

Der pſychiſche Grundakt des motoriſchen Menſchen 
iſt zentrifugal: ein Antrieb geht von ſeiner Seele 
aus und wird zur Bewegung. Der pſychiſche Grund; 
akt des ſenſoriſchen Menſchen iſt zentripetal: ein 
Eindruck fällt in feine Seele und wird zum Bilde. 
Beide ſind empfindende, beide handelnde Menſchen; 
aber der eine empfindet in Bewegungen, der 
andre handelt in Bildern; der erſte hat, wenn er 
wahrnimmt, das Erlebnis der Tat, der zweite hat, 
wenn er tut, das Erlebnis der Geſtalt. Beide 
denken; aber des einen Denken meint Wirken, des 
andern Denken meint Form. 

Ich ſagte: der motoriſche Menſch empfindet in 
Bewegungen; er tut gleichſam ſeine Empfindung; 
ſie waͤchſt nicht in ihm, ſondern ſchlaͤgt durch ihn; 
ſie niſtet nicht einſam in ſeinem Gehirn, ſondern 
breitet ſich allem verbunden in dem erregten Leibe. 


12 


Die Sinne diefes Menſchentypus find miteinander 
und mit dem dunklen Leben des Organismus eng 
verbunden; der Eindruck, der einen ſeiner Sinne 
trifft, geht als Stoß durch alle, und die ſpezifiſchen 
Sinnesqualitaͤten erblaſſen vor der Wucht des Ge; 
ſamtzuſtands. Beim ſenſoriſchen Menſchen ſind 
die Sinne voneinander und von dem undifferen⸗ 
zierten Boden des organiſchen Lebens geloͤſt; ſie ſtehen 
unter der Hegemonie des geloͤſteſten, unabhaͤngigſten, 
objeftioften unter ihnen, des Geſichtsſinns; der 
Triumph des Griechentums in der Welt der reinen 
Geſtaltung iſt das Werk dieſer Hegemonie. Beim 
motoriſchen Menſchen iſt das Sehen nicht ſouveraͤn, 
es dient nur der Vermittlung zwiſchen der be— 
wegten Welt und der latenten Bewegung des 


eignen Leibes, der befaͤhigt iſt, jene mitzuempfinden 


und mitzuleben; die Bewegung der Welt iſt es, die 
er mit dem Geſicht wie mit den andern Sinnen 
aufnimmt und die ſich in ihm fortpflanzt. Er 
wird weniger des vielfaͤltigen, ruhenden Seins der 
Dinge inne als ihres Geſchehens und ihrer Ber 
ziehung, ihrer Gemeinſamkeit und ihrer Gemein⸗ 
ſchaft; weniger des Umriſſes als der Gebaͤrde; weniger 


des Nebeneinander als des Nacheinander; weniger 


13 


2 


des Raums als der Zeit. Dieſer Gegenſatz iſt auch 
noch in den innerlichſten Erlebniſſen des Geiſtes 
maͤchtig. Platon ſchaut die von je ruhenden 
Ideen; was der indiſche Myſtiker ſchaut, iſt nicht 
die Ruhe, ſondern das Aufhoͤren der Bewegung. 
Platon ſchaut, und da iſt nichts weiter als das 
Schauen; der juͤdiſche Prophet ſchaut Gott nur, 
um fein Wort zu vernehmen. Platon nennt das 
Weſen der Dinge Cidos, das heißt Geſtalt; der 
chineſiſche Philoſoph nennt das Weſen der Dinge 
Tao, das heißt die Bahn. 

Das Weltbild des Orientalen iſt von ſeiner 
Seelenartung beſtimmt. Dem ſenſoriſchen Menſchen, 
der unter der Fuͤhrung des objektivſten Sinnes, 
des Geſichts, ſteht, objektiviert ſich die Welt als eine 
Vielheit von Dingen, die ſich vor ſeinen Augen 
ausbreitet und zu denen auch er ſelber, ſein Leib 
gehoͤrt. Dem motoriſchen Menſchen bekundet ſich 
die Welt als die ſchrankenloſe Bewegung, die ihn 
durchdringt. Er nimmt die Einzeldinge wahr, aber 
nicht jedes als ein fuͤr ſich Seiendes, in ſich Ruhen⸗ 
des und Beſchloſſenes, ſondern alle nur als Knoten⸗ 
punkte der unendlichen Bewegung, die durch ihn 
ſelber geht. Nur in dieſem Sinn iſt es berechtigt, 


14 


den Orientalen einen ſubjektiv gerichteten Menſchen 
zu nennen; er betrachtet naturgemäß die Welt zu; 
naͤchſt als etwas, was an ihm geſchieht; er ſpuͤrt fie 
mehr als er ſie wahrnimmt; denn ſie erfaßt und 
durchfaͤhrt ihn, ſie, die dem Okzidentalen gegenuͤber⸗ 
tritt. Der Okzidentale begreift ſeine Empfindung 
aus der Welt, der Orientale die Welt aus ſeiner 
Empfindung. Der Okzidentale geht in feinem Welt; 
bild von der Gegenſtaͤndlichkeit der Welt aus, auch 
wo er von ihr zu den oberſten Abſtraktionen auf⸗ 
ſteigt oder ſich in die ſeelenhafteſten Geheimniſſe 
verſenkt, der Orientale von der Innerlichkeit der 
Welt, die er in ſeiner Innerlichkeit erlebt. Aber 
dieſe ſeine Innerlichkeit, in der alle Bewegung 
ſeines Leibes und ſeiner Seele gegruͤndet iſt, iſt 
ſelbſt nicht Bewegung; er fuͤhlt ſie in ſich unantaſtbar 
und unwandelbar ruhen, aller Vielfaͤltigkeit, allem 
Gegenſatz urgrundhaft enthoben, den Mutterſchoß, 
der alle Vielfaͤltigkeit und allen Gegenſatz gebiert 
und verſchlingt, den namenloſen Kern und Sinn. 
Und wie er die Bewegung, die bewegte Erſcheinung 
der Welt aus ſeiner Empfindung begreift, ſo iſt es 
dieſes ſein Wiſſen um den Kern und Sinn ſeines 
Lebens, aus dem er den Kern und Sinn der Welt 


15 


erſchließt; dieſer offenbart ſich ihm in jenem, und 
in der letzten Wahrheit ſind beide eins. In dieſer 
Identifizierung wurzelt die ſchoͤpferiſche Gewalt des 
orientaliſchen Geiſtes. Der Okzidentale ſchreitet ſtu⸗ 
fenweiſe von der Erſcheinung zur Wahrheit der Welt 
oder dringt in aufblitzender Intuition zu ihr vor, 
der Orientale traͤgt die Wahrheit im Kern ſeines 
Lebens und findet ſie in der Welt, indem er ſie 
ihr gibt. Dieſes Geben und Finden in einem iſt 
der religiöfe Akt des Orientalen. Jedes Weltbild 
iſt ja, feinem Weſen als Bild gemäß, eine Ver⸗ 
einfachung und Vereinheitlichung der Welt; aber 
der Grieche etwa vereinfacht ſie, indem er ihre 
Phaͤnomene unter allgemeine Begriffe einordnet, 
der Aſiate, indem er aus ſeiner Innerlichkeit, aus 
der Einheit im Geiſte, die einige Welt aufbaut. 
Sein Einheitstrieb iſt der elementarere. 

Die einige Welt aber ſoll — und hier begegnen 
einander alle großen aſiatiſchen Religionen und 
Ideologien — nicht bloß konzipiert, ſie ſoll realiſiert 
werden. Sie iſt dem Menſchen nicht gegeben, 
ſondern aufgegeben; es iſt ſeine Aufgabe, die wahre 
Welt zur wirklichen Welt zu machen. Hier bewaͤhrt 
ſich der motoriſche Charakter des Orientalen in 


16 


feiner hoͤchſten Sublimierung: als das Pathos 
der Forderung. Die Forderung mag durch eine 
ganz innerliche Tat erfuͤllt werden; ſo meint es 
der Inder des Vedanta, der, das Gewebe des 
Scheins zerreißend, ſein Selbſt als mit dem 
Selbſt der Welt identiſch erkennt und die wahre, 
die einige Welt in der allumfaſſenden Einſamkeit 
ſeiner Seele verwirklicht. Oder aber die Forderung 
geht auf die Aktivitaͤt der ganzen Lebenshaltung. 
Auf eine Aktivitat etwa, die das Werden der inneren 
Welt in der äußeren gegen die Übergriffe der gewalt⸗ 
ſamen Extreme ſchuͤtzt; fo meint es der tasdiſtiſche 
Chineſe, in deſſen uraltem Weltbild das Geſchehen 
der Welt aus einem Gegenſpiel zweier Prinzipien, 
des hellen und des dunklen, quillt, der aber als 
das einige Urprinzip, in dem beide ſtehen, das Tao, 
die Bahn, erkennt, das Tao, welches der Weiſe 
auf Erden mit ſeinem Leben verwirklicht, nicht ein⸗ 
greifend und doch durch die Weſenhaftigkeit ſeines 
Tuns und ſeines Nichttuns den einigen Sinn der 
Welt in der Wirklichkeit durchſetzend. Oder auf eine 
Aktivitat, die das Hindernde, das boͤſe Prinzip 
bekaͤmpft und ſo dem Durchbruch der Einheit in 
der entzweiten Welt dient; ſo meint es der Perſer 


2 17 


des Aveſta, für den es nicht gilt, das Gleichgewicht 
zwiſchen Licht und Finſternis zu halten, ſondern fuͤr 
das Licht ruͤckhaltlos Partei zu nehmen und deſſen 
Krieg zu führen, bis es die Finſternis völlig ver; 
nichtet hat und die Welt unter feinem ausſchließ⸗ 
lichen Walten geeinigt iſt. Immer aber, in allen 
Geſtalten, iſt es die gleiche beſchwingte Forderung 
nach dem rechten Leben, dem erfuͤllenden Leben, 
nach dem „Weg“. Immer tritt das Wiſſen um 
die Beſchaffenheit der Welt, auf dem der Okzidentale 
fußt, der ſie bewaͤltigen will, zuruͤck vor dem 
Wiſſen um den Weg; von aller Lehre des Orients 
iſt zu ſagen, was ein Pilger von Buddha ſagt: er 
habe nicht vorgetragen, ob die Welt ewig oder 
seitlich fei, er habe einzig den Weg gelehrt. Auch 
Sokrates wollte den Weg und nicht das Wiſſen 
lehren; aber hier fehlt das Gefuͤhl der oberen 
Lebenswahrheit: daß das innere Schickſal der Welt 
von der Handlung des Handelnden in einem Maße ab⸗ 
haͤngt, das keiner zu ermeſſen vermag. Dieſe Wahrheit 
bedeutet der „Weg“ der orientaliſchen Lehren. Es iſt 
die Wahrheit des Wortes „Eins tut not“. 

Die Erkenntnis des Orients iſt: daß die Inner⸗ 
lichkeit der Welt in ihrer Außerung und Offen⸗ 


18 


barung gehemmt iſt, daß die urgemeinte Einheit 
geſpalten und entſtellt iſt, daß die Welt des Men; 
ſchengeiſtes bedarf, um ſie zu loͤſen und zu einigen, 
und daß das Leben des Menſchen auf der Welt 
einzig darin ſeinen Sinn und ſeine Macht hat. Das 
Sein ſteht in der Entzweiung: in der Entzweiung 
von Ja und Nein, ſagt die chineſiſche Formulierung, 
von Gut und Boͤſe, die perſiſche, von wahrer Welt 
und Scheinwelt, die indiſche. Der Menſch iſt be— 
rufen, das Sein aus der Entzweiung zur Einheit 
zu bringen. Die Welt harrt des Menſchen, daß er 
ſie einige. Der Pfade, die ihn zu dieſem Werke 
fuͤhren, ſind viele, aber der Weg iſt der eine, 
7 ödös tod eo (Mc. 12, 14), der Weg Gottes in 
der Welt. 

Das aber iſt die ewige Groͤße des Orients und 
ſeine ewige Bedeutung fuͤr das Menſchentum, daß 
dieſe Erkenntnis ganz ins Leben gekehrt iſt: ob ſie 
in Einſamkeit oder in Gemeinſchaft, in der Stille 
oder im Kampf zu verwirklichen iſt, ihr Weſen iſt, 
daß ſie verwirklicht zu werden heiſcht. Als Erkenntnis 
iſt ſie nur angelegt, vollendet iſt ſie erſt als Tat. 
Die gedachte Idee iſt dem Orient ein Entwurf, der 
erſt in der gelebten zur Realitaͤt wird. Sie allein iſt. 


2* 19 


2. 

Das Grundprinzip des Orients, das ich dar— 
gelegt habe, iſt in allen ſeinen Voͤlkern, die ſich ein 
geiſtiges Haus erbauten, zur Entfaltung gelangt. 
Aber in einem unter ihnen, in dem kleinſten und 
ſpaͤteſten, an der räumlichen Scheide zwiſchen Mor; 
gen⸗ und Abendland geſiedelt und an der zeitlichen 
Scheide zwiſchen Bluͤte des Morgenlands und Bluͤte 
des Abendlands ſich erſchließend, hat es eine 
Wendung erfahren, welche das Geſchick der Menſch—⸗ 
heit fuͤr die bis zu uns reichende Epoche entſchieden 
hat. 

Die Juden ſind ein Spaͤtling des Orients. Sie 
erſcheinen zu einer Zeit, da die großen Voͤlker des 
Orients laͤngſt aus der Ara der Plaſtizitaͤt, der 
beſtimmend formenden Erlebniſſe getreten waren, 
und ihre ſchoͤpferiſche Kraft beginnt ſich zu offenz 
baren, als jene Voͤlker die ihre laͤngſt in weitaus⸗ 
geſpannten Kulturen ausgepraͤgt hatten. Zwei dieſer 
Kulturen, von denen die bibliſchen Urkunden 
der aͤlteſten Wanderungen Iſraels zu erzählen 
wiſſen, die babyloniſche und die aͤgyptiſche, haben 
das junge Volk der Juden beſchenkt. Eine Gruppe 
von Gelehrten hat aus dieſer Tatſache die 


20 


Unſelbſtaͤndigkeit und Unproduktivitaͤt des juͤdi— 
ſchen Geiſtes ableiten zu koͤnnen geglaubt. Aber all 
ihr Bemühen geht von einer grundfalichen Voraus; 
ſetzung aus: es beſtehe die produktive Selbſtaͤndig—⸗ 
keit eines Menſchen oder eines Volkes darin, daß 
die Inhalte ſeiner Schoͤpfung nicht von andern 
hergenommen ſind. Das Gegenteil iſt wahr; ſchaffen 
heißt die Elemente in ſich verſammeln und zum 
Gebilde verſchmelzen, und es gibt keine andre zu— 
laͤngliche Selbſtaͤndigkeit als die der Geſtaltung. 
Nicht wo einer ein „Motiv“ findet, ſondern was 
er daraus bildet, iſt hiſtoriſch entſcheidend. Wenn 
ein aͤgyptiſcher Prieſter des zweiten Jahrtauſends 
prophezeit, es werde eine Hungersnot uͤber das Land 
kommen, dann aber werde ein Koͤnig erſcheinen, 
der den fruͤheren Wohlſtand wiederherſtellt, ſo mag 
damit ein „Schema“ tradiert fein, aber es iſt ger 
haltlos und unfruchtbar; wenn aber tauſend Jahre 
danach Amos von Tekoa dieſes Schema ergreift 
und mit ſeiner Inbrunſt lebendig macht, wenn er 
verkuͤndet, der Herr Jahwe werde Iſrael unter 
allen Voͤlkern ſieben, daß kein Korn zur Erde falle, 
und werde die zerfallene Huͤtte Davids aufrichten, 
dann iſt hier und nicht dort Schoͤpfung, hier und 


21 


nicht dort Anfang. Und das gleiche ergibt ſich, 
wenn man einen babyloniſchen Bußpſalm mit einem 
jüdiſchen vergleicht; dort die Beteuerung des Beters, 
er habe nur unwiſſentlich gegeſſen, was ſeinem 
Gott ein Greuel iſt, hier die Bitte: Gib mir einen 
neuen und gewiſſen Geiſt. Was kann es gelten, 
wieviel da etwa uͤbernommen wurde, gegenuͤber 
dem unſaͤglichen Prozeß der Verinnerlichung, der 
ſich daran vollzogen hat? Verinnerlichung — ſo 
duͤrfen wir es nennen, was das juͤdiſche Volk an 
den geiſtigen Elementen des Orients, die in ſeine 
Hand kamen, getan hat. Aber mit dieſem Namen 
meine ich nichts Allgemeines, ſondern etwas durch— 
aus Eigentuͤmliches. 

Alles, was ich vom Orientalen geſagt habe, gilt 
mit beſonderer Deutlichkeit vom Juden. Er repraͤ⸗ 
ſentiert den motoriſchen Menſchentypus in ſeiner 
reichſten Auspraͤgung. „Sein Bewegungsſyſtem“, 
ſo habe ich es zu formulieren verſucht“), „arbeitet 
intenſiver als ſein Sinnenſyſtem, er hat im Handeln 
mehr Subſtanz und mehr Perſoͤnlichkeit als im 
Wahrnehmen, und ſeinem Leben iſt wichtiger, was 
er zuſtande bringt, als was ihm widerfaͤhrt.“ Das 


*) Drei Reden über das Judentum (1911). 


22 


Tun iſt ihm weſentlicher als das Erleben, oder 
richtiger: ſein weſentliches Erleben iſt in ſeinem 
Tun. Wie der Orientale uͤberhaupt, ſo wird ganz 
beſonders der Jude mehr der Gebaͤrde der Dinge 
als ihres Umriſſes inne, mehr des Nacheinander 
als des Nebeneinander, mehr der Zeit als des 
Raumes. „Die malenden Epitheta der Bibel ſpre— 
chen im Gegenſatz zu den homeriſchen nicht von 
Form und Farbe, ſondern von Schall und Be— 
wegung, die adaͤquateſte kuͤnſtleriſche Ausdrucks 
form des Juden iſt die ſpezifiſche Zeitkunſt, die 
Muſik, und der Zuſammenhang der Generationen iſt 
ihm ein ſtaͤrkeres Lebensprinzip als der Genuß der 
Gegenwart.“ Er erfaͤhrt die Welt weniger in dem 
geſonderten vielfaͤltigen Einzeldaſein der Dinge als 
in ihrer Verbindung, ihrer Gemeinſamkeit und Ge; 
meinſchaft. „Er ſieht den Wald wahrhafter als die 
Baͤume, das Meer wahrhafter als die Welle, die 
Gemeinde wahrhafter als den Menſchen. Darum 
hat er mehr Stimmungen als Bilder, und darum 
auch treibt es ihn, die Fuͤlle der Dinge, ehe ſie noch 
ganz durchlebt wurde, im Begriff zu binden.“ 
Beim Griechen iſt der Begriff der Abſchluß eines 
ſeeliſchen Prozeſſes, beim Juden der Anfang. Aber 


23 


weit tiefer wurzelt in ihm des Orientalen elementarer 
Einheitstrieb, der in ihm, wie ich ſchon ſagte, eine 
denkwuͤrdige Wendung genommen hat. 

Auch der Jude ſieht die Innerlichkeit der Welt 
in ihrer Außerung und Offenbarung gehemmt, die 
urgemeinte Einheit geſpalten und entſtellt; auch er 
ſieht die Welt in der Entzweiung ſtehen. Aber er 
erlebt die Entzweiung nicht bloß als etwas, was 
ſich ihm in der Welt kundgibt, wie der Chineſe, oder 
im Verhaͤltnis zwiſchen der Welt und dem erkennen⸗ 
den Subjekt, wie der Inder, oder im Verhaͤltnis 
zwiſchen der Welt und dem handelnden Subjekt, 
wie der Perſer. Sondern er erlebt ſie vor allem 
andern zuinnerſt in ſich ſelber: als die Entzweiung 
ſeines eignen Ich. Die einige Welt, die aufgebaut 
werden ſoll, iſt im Menſchen ſelber gemeint und 
angelegt als der „Wille Gottes“; aber im Menſchen 
ſelber ſteht ihr das Hemmende, das Widerſtrebende 
entgegen. Er fuͤhlt ſich zu jenem berufen, aber in 
dieſes eingebettet; er erlebt ſich als den Schauplatz 
des ungeheuerſten Widerſpruchs. Ein repraͤſentativer 
Jude, Saul von Tarſos, hat dieſe Erfahrung in er⸗ 
ſchuͤtternd einfachen Worten ausgeſprochen: „Denn 
das Gute, das ich will, das tue ich nicht, ſondern das 


24 


Boͤſe, das ich nicht will, das tue ich.“ Der Menſch, 
dem dies widerfaͤhrt, ſteht in der Unfreiheit der 
Entzweiung, in der Bedingtheit, im Zwieſpalt, in 
der „Suͤnde“; denn Suͤnde bedeutet gar nichts 
andres als zwieſpaͤltig, unfrei leben. Er iſt der 
Traͤger der Weltentzweiung, er erlebt an ſich ſelber 
das Schickſal der Welt, die aus der Freiheit in die 
Unfreiheit, aus der Einheit in die Entzweiung 
gefallen iſt. Es iſt aber in ſeine Macht gegeben, 
auch der Traͤger der Welteinung zu ſein. Wie der 
Inder die Welt zur Einheit bringt, indem er erkennt, 
ſo bringt der Jude die Welt zur Einheit, indem er 
ſich entſcheidet. Beides iſt ſcheinbar nur ein Vor⸗ 
gang im und am Individuum, in Wahrheit iſt es 
ein Vorgang im und am Weſen der Welt. (Der 
im Geiſt lebende Orientale fuͤhlt ſich nicht als ein 
von den andern getrenntes Individuum, ſondern 
als Subjekt ſchlechthin, ebenſo wie er die Gemeinde 
nicht als eine Gruppe von Individuen, ſondern als 
Subjekt ſchlechthin empfindet.) Das Weſen der 
Welt iſt es, das in der Erkenntnis des Inders und 
in der Entſcheidung des Juden zu ſich ſelber, zu 
ſeiner Einheit und Ganzheit kommt. Darin 
offenbart ſich nicht etwa bloß einem Menſchen die 


25 


Einheit feines Geiſtes mit dem Weltgeiſt, ſondern 
es erfuͤllt ſich die Einheit des Seins. In der Ent⸗ 
ſcheidung entſcheidet ſich die entzweite Welt zur Ein 
heit. Der in der Entſcheidung ſteht, weiß nichts, 
als daß er zu waͤhlen hat, und auch das weiß er 
nicht mit dem Denken, ſondern mit dem Sein; aber 
wenn er mit der ganzen Seele waͤhlt, vollzieht ſich 
das Myſterium, und der Geiſt Gottes ſchwebt uͤber 
den Waſſern. 

Mit der ganzen Seele. Wer ſich mit der ganzen 
Seele entſcheidet, entſcheidet ſich zu Gott; denn alle 
Ganzheit iſt Gottes Ebenbild, und in jeder leuchtet 
er ſelber auf. In der wahrhaften, geeinten Ent⸗ 
ſcheidung, in der alle Zweiheit aufgehoben iſt, er 
fuͤllt ſich in ewiger Erſtmaligkeit der Urſinn der Welt. 
Von ihr ſagt ein juͤdiſches Wort: „Die Welt iſt 
um der Wahl des Waͤhlenden willen erſchaffen 
worden.“ 

Dem Menſchen, der ſich entſcheiden ſoll, ſtellt ſich 
ſeine Entzweiung als die von Gut und Boͤſe dar, 
das heißt von Richtung und Kraft. Nur wo ſich 
eine Seele nicht zur Ganzheit zuſammenzuſchließen 
vermag, ergreift fie das Boͤſe: laͤßt fie die richtungs—⸗ 
loſe Kraft gewaͤhren; die aus ihrer Einheit ent— 


26 


ſcheidet, in der find Kraft und Richtung vereint, 
die ungeſchmaͤlerte Gewalt des leidenſchaftlichen An— 
triebs und die unabgelenkte Geradheit der Intention. 
An dem ihm anvertrauten Bereich vollendet dieſer 
Menſch das Werk der Schoͤpfung. Jedes Dinges 
Vollendung aber, des groͤßten und des geringſten, 
ruͤhrt an das Goͤttliche. 

Man kann von dieſem Ort aus uͤberſchauen, 
wie unter allen Orientalen der Jude der offenbarſte 
Widerpart des Griechen iſt. Der Grieche will die 
Welt bewaͤltigen, der Jude will ſie vollenden; fuͤr 
den Griechen iſt ſie da, fuͤr den Juden wird ſie; 
der Grieche ſteht ihr gegenuͤber, der Jude iſt ihr ver⸗ 
bunden; der Grieche erkennt ſie unter dem Aſpekt des 
Maßes, der Jude unter dem des Sinns; fuͤr den 
Griechen iſt die Tat in der Welt, fuͤr den Juden iſt 
die Welt in der Tat. 

Jene hoͤchſte Sublimierung des motoriſchen Cha⸗ 
rakters des Orientalen, das Pathos der Forderung 
hat im Judentum ſeine groͤßte Intenſitaͤt gewonnen. 
Daß er die Entzweiung der Welt in ſich als die ſeine 
erlebt, gibt dem Einheitsverlangen des Juden den 
ſiegreichen Impuls. Er hat das Bangen der Welt 
nicht bloß erfahren, er hat es erlitten; in ſeinem Willen 


27 


sum Einswerden pocht die Sehnſucht der Welt; und 
was er, erloͤſend und einend, an ſich ſelber und an 
den Weſen und Dingen vollbringt, die ihm zugeteilt 
find oder ihm begegnen, das tut er in urgeheimem 
Zuſammenhang dem Herzen der Welt. In allem 
Ereignis bekundet ſich ihm jene obere Lebenswahr— 
heit des Orients, von der ich geſprochen habe: daß 
das innere Schickſal der Welt von der Handlung 
des Handelnden in einem Maße abhaͤngt, das 
keiner zu ermeſſen vermag. Die Grundanſchauung 
des Judentums iſt die Anſchauung von dem abſo— 
luten Wert der Tat als einer Entſcheidung. Scheinbar 
iſt die Tat unentrinnbar eingeſtellt in das eherne 
Gefuͤge der Urſaͤchlichkeit, aus deſſen Regeln ſich ihr 
Gewicht ergibt; aber in Wahrheit wirkt ſie tief und 
heimlich ins Schickſal der Welt, und wenn ſie ſich auf 
ihr goͤttliches Ziel, die Einheit, beſinnt, wenn ſie ſich 
von der Bedingtheit losmacht und im eignen Lichte, 
das iſt im Lichte Jahwes, wandelt, iſt ſie frei und 
gewaltig wie Gottes Tat. 

Unter allen Geiſtesgeſtaltungen der Menſchheit 
iſt das Judentum die einzige, in der die Entſcheidung 
des Menſchen ſolcherweiſe Mitte und Sinn alles 
Geſchehens wird. 


28 


Teſchuba, Umkehr — ſo heißt der Akt der Ent: 
ſcheidung in ſeiner letzten Steigerung: wenn er 
die Zaͤſur eines Menſchenlebens, den erneuernden 
Umſchwung mitten im Verlauf einer Exiſtenz bedeutet. 
Wenn mitten in der „Suͤnde“, in der Entſcheidungs—⸗ 
loſigkeit, der Wille zur Entſcheidung erwacht, birſt 
die Decke des gewohnten Lebens, die Urkraft bricht 
durch und ſtuͤrmt zum Himmel empor. An dem 
Umkehrenden geſchieht die Schoͤpfung aufs neue; 
an ſeiner Erneuerung erneuert ſich der Beſtand 
der Welt. Ehe die Welt erſchaffen war, heißt 
es, war da nichts als Gott allein und ſein 
Name; da geriet es in ſeinem Sinne, die Welt 
zu erſchaffen, und er zeichnete ſie vor ſich hin; 
aber er ſah, daß die Welt nicht beſtehen konnte, 
weil ſie keine Grundfeſte hatte; da ſchuf er die 
Umkehr. 

Durch die Inbrunſt ſeiner Forderung der Um— 
kehr und durch die Inbrunſt ſeines Glaubens an 
die Macht und Herrlichkeit der Umkehr, durch ſeine 
neue Magie, die Magie der Entſcheidung, hat das 
Judentum den Okzident fuͤr die Lehre des Orients 
gewonnen. Durch ſie iſt es recht eigentlich der 
wirkende Orient geworden. 


29 


3. 

Keine der großen religioͤſen Lehren iſt im Abend— 
land entſtanden; das Abendland ſteht ihnen rezeptiv 
gegenuͤber. Es verarbeitet, was der Orient ihm 
darreicht, es paßt es feinen Denk- und Gefuͤhls⸗ 
formen an und modelt es nach ihnen um, zuweilen 
gelingt es ihm, es auszubauen; niemals aber ver⸗ 
mochte es den rieſenhaften Sinnbildern Aſiens 
ein eignes gegenuͤberzuſtellen, niemals, die fugenloſe 
Welt einer Gotteslehre auf irrationalem und un⸗ 
erſchuͤtterlichem Grunde aufzurichten. Europa hat 
Ideologien von unvergleichlicher Reinheit, Sicherheit 
und Geſchloſſenheit, aber keiner von ihnen eignet 
die elementare Gewalt der großen Lehren; Europa 
hat Dichtungen von heiliger Bildkraft, aber keine 
von ihnen kennt jene Metaphern des Namenloſen, 
welche die Sprache der großen Lehren ſind; Europa 
hat religioͤſe Genies von innerſter Legitimitaͤt, aber 
keiner von ihnen hat das Myſterium ſelbeigen aus 
dem Abgrund gehoben und in die Welt der Menz 
ſchen eingeſetzt, ſie alle haben es empfangen, getragen 
und offenbart — auch der groͤßte unter ihnen, 
Eckhart, iſt nur ein ſpaͤter Sendbote des morgen— 
laͤndiſchen Meiſters. 


30 


Was iſt es, was Europa fehlt, weſſen es allezeit 
bedarf und was es aus ſich nie erzeugen kann? 
Es hat das umfaͤnglichſte und ausgebildetſte Wiſſen 
und findet aus ſich nicht den Sinn; es hat die 
ſtrengſte und reinlichſte Zucht und findet aus ſich 
nicht den Weg; es hat die reichſte und freieſte Kunſt 
und findet aus ſich nicht das Zeichen; es hat den 
innigſten und geradeſten Glauben und findet aus 
ſich nicht den Gott. Was ihm fehlt, kann nicht die 
Einheitsfunktion ſein, all ſein Denken wurzelt in 
ihr; es kann nicht die Symbolfunktion ſein, all ſein 
Bilden kommt aus ihr her; es kann nicht die Kraft 
des Aufbaus fein. Was ihm fehlt, iſt die Aug; 
ſchließlichkeit der Kunde vom wahrhaften Leben, 
die eingeborne Gewißheit jenes Eins tut not. Dies 
iſt es, was in den großen Lehren des Orients und 
einzig in ihnen ſchoͤpferiſch beſteht. Sie ſetzen das 
wahrhafte Leben als das fundamentale, von nichts 
anderm abgeleitete, auf nichts andres zuruͤckzufuͤh⸗ 
rende metaphyſiſche Prinzip; ſie verkuͤnden den 
Weg. Es gibt, ſo ſprechen ſie, dem Menſchen 
nirgendwo anders den Sinn als im wahrhaften 
Leben, das die Welt einigt und erloͤſt; es gibt ihm 
nirgendwo anders die Wahrheit als im wahrhaften 


31 


Leben. Wer den Weg geht, geht in den Fußtapfen 
Gottes. 

Unter den großen Geiſtesgeſtaltungen des Orients 
mußte die entſcheidende Wirkung auf den abend; 
laͤndiſchen Menſchen die ausüben, in der die Ber, 
kündung des wahrhaften Lebens als Forderung 
an jeden Menſchen erging; fuͤr die es nicht das 
Vorrecht des Weiſen, des Erleſenen war, ſondern 
jedem gleicherweiſe zugaͤnglich, und die gerade den 
Verirrten, den Richtungsloſen, den „Suͤnder“ am 
maͤchtigſten beſchwor: die juͤdiſche Lehre von der 
Entſcheidung und der Umkehr. Die andern haben 
auf Weiſe, auf Erleſene gewirkt, dieſe auf die Voͤlker, 
auf das Volk des Abendlands. Daß jedem, der das 
Rechte ergreift, die Pforten des Gottesreichs offen⸗ 
ſtehen, daß, wer ſich nach dem Troſt des Unbe— 
dingten ſehnt, das Unbedingte nur handelnd zu 
erwaͤhlen braucht, das zwang die Weiſen und die 
Einfaͤltigen in eine Gemeinde zuſammen. Die erſte 
große werbende Eigentuͤmlichkeit der juͤdiſchen Lehre 
war dieſe ihre Alloffenheit, die zweite war ihre 
Richtung auf die poſitive Tat. Sie wollte nicht, 
wie etwa der Buddhismus, von der Welt weg, fon 
dern ins Herz der Welt fuͤhren; ſie forderte von 


32 


dem tätigen Menſchen nicht, daß er auf das Tun 
verzichte, ſondern daß er das Rechte tun lerne; ſie 
toͤtete die lebendige Energie der Leidenſchaft nicht, 
ja ſie wollte ſie noch ſteigern durch den ungeheuren 
Anſpruch, den ſie an ſie ſtellte. Beide Prinzipien 
der juͤdiſchen Lehre ſind in den feierlichen Worten 
des Tanna debe Elijahu vereinigt: „Ich nehme 
zu Zeugen den Himmel und die Erde, daß auf 
Heiden und Juden, auf Mann und Weib, auf 
Knecht und Magd der heilige Geiſt ruhen kann, 
alleinzig nach der Tat des Menſchen.“ Von beiden 
Prinzipien war die urchriſtliche Bewegung getragen, 
durch deren Entwicklung die juͤdiſche Lehre das 
geiſtige Schickſal des Abendlandes geſtaltete. 

Wohl hat dieſe Bewegung nicht mit ihrem ur⸗ 
ſpruͤnglichen Weſen, ſondern ſynkretiſtiſch vermiſcht 
das Abendland uͤberwaͤltigt; wohl hat ſie vom 
Hellenismus mehr angenommen als Bilder und 
Worte; aber das dauernd Zeugende im Chriſten— 
tum war juͤdiſches Urgut. Es iſt bedeutſam, daß 
das erſte Wort der Predigt Jeſu bei den Syn⸗ 
optikern, das die Predigt des Täufers wiederholt, 
das Grundwort der Propheten iſt: Kehret um, 
und in ſeinem innern Sinn nur aus der uͤber⸗ 


3 33 


lieferten Lehre von der Teſchuba verſtanden werden 
kann. Die Schwungkraft der Botſchaft Jeſu 
iſt die altjuͤdiſche Forderung der unbedingten 
Entſcheidung, die den Menſchen wandelt und ins 
Gottesreich hebt. Und ſie iſt die Schwungkraft des 
Chriſtentums geblieben, auf die es zuruͤckgriff, ſo⸗ 
oft es ſich erneuern wollte — und wenn es ſich dabei 
noch ſo ſehr zu entjuden vermeinte. 


4. 

Die urchriſtliche Bewegung war im Judentum 
keine iſolierte Erſcheinung; wie ſie aus dem Schoße 
alter juͤdiſcher Lebensgemeinſchaften entſtanden war, 
ſo war ſie auch in ihrer Zeit ſelbſt nur eine der 
Außerungen einer neuen geiſtigen Blüte, von der 
uns das Schrifttum bedeutende, wenn auch frag⸗ 
mentariſche Zeugniſſe uͤberliefert hat. Mitten in 
dieſer Epoche großer Fruchtbarkeit kam uͤber die 
Juden das Verhaͤngnis: der Untergang ihres Staa⸗ 
tes. In welcher Fuͤlle ſeiner Lebenskraft dieſes 
Volk gebrochen wurde, zeigte ſechs Jahrzehnte 
nach der Zerſtoͤrung Jeruſalems der große Aufſtand 
Barkochbas, der ſo gewaltig war, daß Rom um 
ſeinen ganzen orientaliſchen Beſitz bange wurde 


34 


und daß, als ihm im vierten Jahr unabläffiger An⸗ 
ſtrengungen ſeiner beſten Feldherrn und Truppen 
die Niederwerfung des judaͤiſchen Voͤlkleins gelang, 
Hadrian in ſeiner Siegesmeldung an den Senat 
die uͤbliche Formel „Ich und mein Heer befinden 
uns wohl“ wegließ. Was damals dem Judentum 
geſchah, laͤßt ſich in ſeiner tragiſchen Tiefe nur 
ahnen; wie ein ungeheuerliches Sinnbild mutet 
der Bericht an, daß auf dem Markt an der Terebinthe 
Abrahams zu Hebron Juden um den Preis eines 
Pferdes verkauft wurden. So kamen ſie an das 
Abendland. 

Dieſes Ereignis hat die Geſchichte des Judentums 
entzweigebrochen, wie es nie zuvor und darnach 
einem Volk widerfuhr. Indem es feiner morgen; 
laͤndiſchen Erde entriſſen wurde, wurde es zugleich 
der Kontinuitaͤt ſeines geiſtigen Werdens entriſſen. 
Das iſt aus zwei Dingen zu verſtehen: aus dem 
Zuſammenhang des antiken Juden mit feinem 
Lande und aus der Geneſis ſeiner geiſtigen 
Produktivitaͤt. 

Einige Gelehrte, die ſich mit der Pſychologie des 
Judentums befaßt haben, ſprechen mit axiomatiſcher 
Sicherheit die Anſicht aus, Iſrael ſei ein Nomaden— 


35 35 


volk geweſen und geblieben, und leiten allerlei 
wirkliche oder angebliche juͤdiſche Eigenſchaften davon 
ab. Dieſe Anſicht wird etwa damit begruͤndet, daß 
in den bibliſchen Büchern, fo bei den meiſten Pro; 
pheten, uns uͤberall Bilder und Gleichniſſe aus 
dem Hirtenleben entgegentraͤten, wogegen die aus 
dem Bauernleben aͤußerſt ſelten ſeien. Das trifft 
auf keines der Bücher zu; ja in den aͤlteren der pro; 
phetiſchen Buͤcher, deren Urheber am ſtaͤrkſten mit 
dem natürlichen Leben des Volkes zuſammenhingen, 
wie etwa beim erſten Jeſaja, kommt auf zwanzig 
Bilder aus Feld, Garten und Weinberg kaum eins 
aus der Viehzucht. In Wahrheit haben wir von der 
Zeit vor der Eroberung Kanaans zu wenig zu⸗ 
verläffige Kenntnis, um die Behauptung wagen zu 
duͤrfen, die Juden ſeien damals ein reines Nomaden⸗ 
volk geweſen; und ſoweit wir die bibliſchen Erzaͤh— 
lungen als Quelle anzuſehen berechtigt find, koͤnnen 
wir aus ihnen das Gegenteil herausleſen; Iſaaks 
Segen an Jakob iſt der Segen eines Ackerbauers und 
Joſefs Traum vom Garbenbinden der Traum 
eines Ackerbauers. In der palaͤſtinenſiſchen Zeit 
aber zeugt das ganze Schrifttum von einer Liebe 
zur Scholle, von einer Verklaͤrung des Bodenbaus, 


36 


1 


wie wir ſie bei wenigen andern Voͤlkern finden; 
goͤttliche Drohungen und goͤttliche Verheißungen 
haben faſt immer den Acker zum Gegenſtand; und 
Jeſus Sirach ſpricht das Gefuͤhl der Jahrhunderte 
aus, wenn er ſagt, der Pfluͤger erhalte die ewige 
Schoͤpfung in ihrem Beſtand. Selten hat es ein 
Volk gegeben, das fo in feiner Seßhaftigkeit be; 
ſchloſſen und beſeligt war. Und das ganze geiſtige 
und religioͤſe Leben des alten Judentums war eng 
verbunden mit dem Leben der Erde, mit dem Leben 
dieſes vertrauten Bodens; Gott war der Lehnsherr 
des Ackers, ſeine Feſte waren Ackerfeſte, und ſein 
Geſetz ein Ackergeſetz; zu welcher Hoͤhe allgemeinen 
Geiſtes ſich die Prophetie auch erhob, fie wurzelte 
immer in dieſem natuͤrlichen Leben, und ihre Forde; 
rung wollte in dieſem natuͤrlichen Leben verwirk 
licht werden — immer wollte ihr allgemeiner Geiſt 
einen Leib aus dieſer beſonderen kanaganaͤiſchen 
Erde anziehen. Die juͤdiſche Religion lehrte (und 
das außerpauliniſche Urchriſtentum iſt ihr darin 
treu geblieben) nicht wie das pauliniſche Chriſtentum 
ein Hinaustragen der Botſchaft in die Voͤlker, 
nicht wie der Iſlam ein Erobern der Welt fuͤr den 
Glauben, ſondern die Einwurzelung im heimatlichen 


37 


Boden, die Bewährung des rechten Lebens in der 
Enge, die vorbildliche Geſtaltung einer Menſchen⸗ 
gemeinſchaft auf der ſchmalen fanaandifchen Erde. 
Und die am tiefſten urſpruͤngliche Schoͤpfung des 
Judentums, der Meſſianismus, iſt nur die gleiche 
Idee, als letzte Erfuͤllung gedacht, in die abſolute 
Zukunft projiziert, da der Herr allen Voͤlkern auf 
dem Berge Zion ein Mahl richten wird von reinem 
Wein, darinnen keine Hefe iſt. Alles Schaffen 
nahm ſeine Kraft und ſeine Geſtalt aus dem orga⸗ 
niſchen Zuſammenhang mit dieſer Erde. Und nun 
wurde dieſer Zuſammenhang zerriſſen; mit ihm 
zerriß der innere Zuſammenhang des jiuͤdiſchen 
Geiſtes. Gott wurde aus einem Lehnsherrn des 
Ackers der Schutzherr der Froͤmmigkeit, ſeine Feſte 
aus Ackerfeſten Feſte der Synagoge und ſein Geſetz 
aus einem Ackergeſetz ein Ritualgeſetz; der Geiſt 
wurde von ſeinen Wurzeln geloͤſt. Damals wurden 
die Juden ein Nomadenvolk. 

Aber noch ein Zweites kam hinzu. Das geiſtige 
Leben der orientaliſchen Voͤlker, in dem die Ge, 
fahren des motoriſchen Menſchen mit ſeinen ſub⸗ 
limſten Moͤglichkeiten verknuͤpft ſind und die Preis⸗ 
gabe des Selbſt an den Taumel der Welt ſich von 


38 


den gleichen Wurzeln naͤhrt wie die Beſinnung des 
Selbſt auf feine und der Welt unwandelbare Inner; 
lichkeit, entwickelt ſich oft in der Form eines Kampfes: 
des Kampfes der ſchoͤpferiſchen Geiſter, der Fuͤhrer 
und Erloͤſer, gegen die Richtungsloſigkeit der Volks; 
triebe. Eine beſondere Intenſitaͤt und Fruchtbarkeit 
hat dieſer Kampf im alten Judentum. Aus dem 
Erlebnis der inneren Entzweiung und aus der 
immanenten Forderung der Entſcheidung, das heißt 
des Einswerdens der Seele, ergab fi) das Aus— 
einanderfallen des Volkes in zwei geiſtige Klaſſen, 
die der Waͤhlenden, der ſich Entſcheidenden, der zur 
Unbedingtheit Durchdringenden, der ans Ziel Hin; 
gegebenen, und die der Geſchehenlaſſenden, der Ent; 
ſcheidungsloſen, der traͤge in der Bedingtheit Ver; 
harrenden, der zweckhaft Selbſtſuͤchtigen und Selbſt⸗ 
zufriedenen; bibliſch geſprochen, die der Diener 
Jahwes und die der Diener Baals, wobei zu be; 
achten iſt, daß dieſe ſich keineswegs etwa fuͤr Baal 
und gegen Jahwe entſchieden, ſondern nach dem 
Wort Elijas „auf beiden Seiten hinkten“. Im 
Kampf gegen ſie entzuͤndet ſich allezeit die ſpezifiſche 
Genialitaͤt der Propheten und Lehrer Iſraels; ſie 
iſt eine kaͤmpferiſche Genialitaͤt, und die juͤdiſche 


39 


Fruchtbarkeit ift eine kaͤmpferiſche Fruchtbarkeit. 
Im Gegenſatz zu der des Abendlandes, die auf 
das Werk geht und an ihm ihre Grenze hat, 
hat die juͤdiſche Produktivitaͤt Form, aber keine 
Grenze; ſie hat, darf man wohl ſagen, die Form 
des Unendlichen, denn ſie hat die Form des 
Geiſteskampfes. 

Mit der Zerſtoͤrung des juͤdiſchen Gemeinweſens 
wurde die Fruchtbarkeit des Geiſteskampfes ge⸗ 
ſchwaͤcht. Die geiſtige Kraft ſammelte ſich nunmehr 
auf die Erhaltung des Volkstums gegen die aͤußeren 
Einfluͤſſe, auf die ſtrenge Umzaͤunung des eignen 
Bereiches, um das Eindringen fremder Tendenzen 
zu verhuͤten, auf die Kodifizierung der Werte, um 
aller Verſchiebung vorzubeugen, auf die unmiß⸗ 
verſtaͤndliche, unumdeutbare, alſo konſequent ra⸗ 
tionale Formulierung der Religion. An die Stelle 
des gotterfuͤllten, fordernden, ſchoͤpferiſchen Elements 
trat immer mehr das ſtarre, nur erhaltende, nur 
fortſetzende, nur abwehrende Element des offiziellen 
Judentums; ja, es richtete ſich immer mehr gegen 
das Schoͤpferiſche, das ihm durch ſeine Kuͤhnheit 
und Freiheit den Beſtand des Volkstums zu ge; 
faͤhrden ſchien, es wurde verketzernd und lebens 


40 


feindlich. In der ſterilen Atmoſphaͤre dieſes Kampfes 
entwickelte ſich eine abgeloͤſte Geiſtigkeit, eine von 
dem Wurzelgrund des natuͤrlichen Lebens und von 
den Funktionen des echten Geiſteskampfes abgeloͤſte 
Geiſtigkeit, neutral, ſubſtanzlos, dialektiſch, die ſich 
an alle Gegenſtaͤnde, auch an die indifferenteſten, 
hingeben konnte, um ſie begrifflich zu zergliedern 
oder in Beziehung zueinander zu ſetzen, ohne auch 
nur einem wirklich ſchauend⸗triebhaft anzugehoͤren. 
Die gebrochene, des Zuſammenhangs beraubte ſchoͤp— 
feriſche Kraft, die Kraft der Unbedingtheit lebte 
nur noch fort in Ketzern, die zumeiſt machtlos und 
geſtaltlos blieben und im Dunkel untergingen, zu⸗ 
weilen, wie der große Spinoza, die Umzaͤunung 
durchbrachen und die Welt anredeten, daß ſie ſtille 
wurde, um ihnen zu lauſchen; in meſſianiſchen Be⸗ 
wegungen, die in ungeheuren Wirbeln glaͤubiger 
Begeiſterung aufſtiegen und zuſammenfielen; und 
in der tiefen Welt der juͤdiſchen Myſtik, die das 
heilige Feuer der alten Gottverbundenheit unter⸗ 
irdiſch huͤtete und es nur einmal, ein einziges ſpaͤtes 
Mal ins Volk aufflammen ließ: in der großen reli— 
gioͤſen Erhebung des Chaſſidismus, die im acht⸗ 
zehnten Jahrhundert die polniſche Judenheit er; 


41 


faßte; er offenbarte noch einmal die ſchrankenloſe 
Gewalt des orientaliſchen Menſchen aus den ent⸗ 
brannten Seelen, aber im Bann der Angſte um 
die Wahrung der Art befangen, wagte er die Um; 
zaͤunung nicht anzutaſten und vermochte ſich daher 
die Funktionen des echten Geiſteskampfes nicht an⸗ 
zueignen. 

So konnte es geſchehen, daß im neunzehnten 
Jahrhundert, als die Emanzipation das Judentum 
auf einen hohen Berg fuͤhrte und ihm die Reiche 
der Welt und ihre Herrlichkeit zeigte, die Umzaͤunung 
durchbrochen und niedergetreten wurde nicht von 
einer elementaren, zu neuer Schoͤpfung draͤngenden 
Kraft, ſondern von blaſſen, ſchwaͤchlichen Reform⸗ 
verſuchen, die ihre Gedanken und Formen den 
Muſterbuͤchern des europaͤiſchen Aufklaͤrertums und 
der ſogenannten fortgeſchrittenen Religionen entnah⸗ 
men. Wir leben in der problematiſchen Situation, die 
auf dieſe Verſuche gefolgt iſt: in der im Judentum der 
letzte alte Aufbau des orientaliſchen Geiſtes erſchuͤttert 
und einem neuen kein Grund gelegt ſcheint. 

Und doch beſteht dieſer Grund, beſteht uner— 
ſchuͤttert fort. Dieſer Grund iſt die Seele des Juden 
ſelbſt. Denn der Jude iſt Orientale geblieben. 


42 


Er iſt aus feinem Lande getrieben und über die 
Laͤnder des Abendlands geworfen worden; er hat 
unter einem Himmel wohnen müffen, den er nicht 
kannte, und auf einem Boden, den er nicht be— 
baute; er hat das Martyrium erduldet und, was 
ſchlimmer iſt als Martyrium, das Leben in der 
Erniedrigung; die Sitten der Voͤlker, bei denen er 
wohnte, haben ihn angeruͤhrt, und er hat die 
Sprachen der Voͤlker geſprochen; und in alledem 
iſt er Orientale geblieben. Er hat die motoriſche 
Schrankenloſigkeit des Grundweſens mit ihren Be; 
gleiterſcheinungen, der Herrſchaft des Zeitſinns und 
der ſchnellen Begriffsfunktion, in ſich bewahrt, er 
hat den elementaren Einheitstrieb und die imma; 
nente Forderung in ſich bewahrt, zuweilen ver— 
ſchuͤttet, zuweilen entartet, nie völlig erdruͤckt. Man 
wird fie im angepaßteſten Juden entdecken, wenn 
man ſein Gemuͤt zu erſchließen vermag; und welcher 
aus dem Inhalt ſeines Denkens den letzten Reſt 
des Judentums ausgerottet hat, der traͤgt es in 
der Form ſeines Denkens unausrottbar fort. Aber 
weithin erkennbar leben ſie in den an Fertigkeiten 
der Ziviliſation armen, aber an Macht des urſpruͤng⸗ 
lichen Ethos und des unmittelbaren Geiſtes trotz 


43 


eindringender Verderbnis und Zerſetzung reichen 
jüdiſchen Volksmaſſen Oſteuropas. Man ſehe etwa 
den epigonenhaften, dennoch auch jetzt noch wunder; 
ſamen Chaſſid unſrer Tage an; man ſehe ihn zu 
ſeinem Gotte beten, von der Inbrunſt geſchuͤttelt, 
mit ſeinem ganzen Leibe das gleiche ausſprechend, 
das ſeine Lippen ſagen, ein grotesker und erhabener 
Anblick; man ſehe ihn mit koͤniglichen Gebaͤrden und 
geſammelter Weihe das heilige Mahl des Sabbat— 
ausgangs begehen, an dem die Geheimniſſe der 
Welterloͤſung hangen; und man wird fuͤhlen: hier 
iſt, verkuͤmmert, verzerrt, dennoch unverkennbar, 
aſiatiſche Gewalt und aſiatiſche Innerlichkeit. 

Auf dieſem offenbaren oder latenten Orientalis⸗ 
mus, dieſem unter allen Einfluͤſſen erhaltenen Seelen⸗ 
grund des Juden baut ſich mein Glaube an eine 
neue geiſtig-religioͤſe Schoͤpfung des Judentums 
auf. In der Abgeloͤſtheit und Aufgeloͤſtheit ſeiner 
abendlaͤndiſchen Exiſtenz kann ihm freilich nur Stuͤck⸗ 
werk geraten; kuͤhne Wagniſſe des Geiſtes koͤnnen 
unternommen, ſtarke Worte des Geiſtes koͤnnen 
gepraͤgt werden; religioͤſe Erregungen koͤnnen aus 
dem wetterſchweren Dunkel des Volksſchickſals auf⸗ 
blitzen; aber eine große Schoͤpfung, die ſie alle in 


44 


einer Syntheſe vereinigt, die die Kontinuität des 
juͤdiſchen Werdens wiederaufnimmt und dem un— 
ſterblichen juͤdiſchen Einheitstrieb wieder adaͤquaten 
Ausdruck gewaͤhrt, wird nur erſtehen koͤnnen, wenn 
die Kontinuität des palaͤſtinenſiſchen Lebens wieder; 
aufgenommen wird, aus dem einſt die großen Kon 
zeptionen dieſes Einheitstriebs erwuchſen. Der Jude 
iſt nicht der gleiche, der er damals war; er iſt durch 
alle Himmel und Hoͤllen des Abendlands hindurch; 
gegangen und hat an ſeiner Seele Schaden gelitten; 
aber ſeine Urkraft iſt unverſehrt geblieben, ja ſie iſt 
gelaͤutert worden. Wenn ſie ihren muͤtterlichen 
Boden beruͤhrt, wird ſie wieder ſchoͤpferiſch ſein. 
Der Jude kann ſeinen Beruf unter den Voͤlkern 
nur dann wahrhaft erfuͤllen, wenn er von neuem 
und mit ſeiner ganzen, unverſehrten, gelaͤuterten 
Urkraft daran geht, zu verwirklichen, was ſeine 
Religioſitaͤt ihn in der Vorzeit lehrte: die Ein⸗ 
wurzelung im heimatlichen Boden, die Bewaͤhrung 
des rechten Lebens in der Enge, die vorbildliche 
Geſtaltung einer Menſchengemeinſchaft auf der ſchma— 
len kanaanaͤiſchen Erde. 


45 


5. 

Das Zeitalter, in dem wir leben, wird man einſt 
als das der aſiatiſchen Kriſis bezeichnen. Die fuͤh—⸗ 
renden Voͤlker des Orients ſind teils unter die 
aͤußere Gewalt, teils unter den innerlich vergewal⸗ 
tigenden Einfluß Europas gekommen; ſie haben 
ihre heiligſten Guͤter, die großen Traditionen ihres 
Geiſtes nicht gewahrt, ja ſie haben ſie zuweilen 
ſelber preisgegeben. Die Unterjochung Indiens, die 
Selbſteuropaͤiſierung Japans, die Schwaͤchung Per, 
ſiens, zuletzt die Zerruͤttung Chinas, in dem der 
altorientaliſche Geiſt unantaſtbar ſicher zu wohnen 
ſchien, ſind einige Stadien dieſes Prozeſſes. Die 
Seele Aſiens wird gemordet, und es ſelber tut bei 
dieſem Morde mit. Die Welt iſt im Begriff, das 
unerſetzlichſte Gut zu verlieren und kuͤmmert ſich 
nicht darum, vielmehr, ſie ſpendet den Nationen 
Beifall, die es zerſtoͤren. Selbſtbeſinnung, Ein⸗ 
kehr, Umkehr tut not. Europa muß ſich unter; 
fangen, eine neue Ara der Erhaltung des Orients 
und des Einvernehmens mit ihm zu gegenſeitiger 
Foͤrderung und gemeinſamer menſchheitlicher Ar— 
beit zu begründen, eine Ara, in der Aſien durch 


46 


Europa nicht vergewaltigt, ſondern aus feinen 
eignen Keimkraͤften heraus entfaltet, und Europa 
durch Aſien nicht bedroht, ſondern zu den großen 
Lebenswahrheiten hingefuͤhrt wird. Fuͤr dieſe welt— 
geſchichtliche Miſſion bietet ſich Europa ein Mittler; 
volk dar, das alle Weisheit und Kunſt des Abend— 
lands erworben und fein orientaliſches Urweſen nicht 
verloren hat, das berufen iſt, Orient und Okzident zu 
fruchtbarer Gegenſeitigkeit zu verknuͤpfen, wie es viel⸗ 
leicht berufen iſt, den Geiſt des Orients und den Geiſt 
des Okzidents in einer neuen Lehre zu verſchmelzen. 
Wie dies geſchehen mag, iſt heute noch nicht zu umgren⸗ 
zen. Aber dies eine ſei geſagt, daß Jeruſalem immer 
noch, ja mehr als je das iſt, als was es im Altertum 
galt: das Tor der Völker, Hier iſt der ewige Durch— 
gang zwiſchen Orient und Okzident. Hierher lenkte 
das antike Aſien ſeinen Schritt, wenn es, wie unter 
Nebukadnezar und Cyrus, erobernd gen Abend zog, 
hierher das Europa Alexanders und der Roͤmer, 
wenn es das Morgenland zu uͤberwaͤltigen gedachte. 
Unter dem Anſturm von Oſten nach Weſten brach 
der erſte juͤdiſche Staat zuſammen, unter dem An; 
ſturm von Weſten nach Oſten der zweite. Seither 
hat ſich die Weltbedeutung Palaͤſtinas verdichtet und 


47 


vertieft. Heute iſt in einem noch ſchwereren, noch 
umfaͤnglicheren, noch drohungs⸗ und verheißungs⸗ 
volleren Sinn Jeruſalem das Tor der Voͤlker. Es 
gilt das Heil Jeruſalems zu ſuchen, welches das 
Heil der Völker iſt. 


Juͤdiſche Religioſitaͤt 

Die juͤdiſche Religioſitaͤt iſt nicht, wie viele glauben, 
ein Gegenſtand zwar von beſonderer Wuͤrde, aber 
von unerheblicher Aktualitaͤt fuͤr die ſogenannte 
„Loͤſung der Judenfrage“, ſondern ſie iſt, wie von je, 
ſo auch jetzt, für das Judentum der einzige Gegen; 
ſtand von abſoluter Aktualitaͤt, Triebkraft ſeines 
Schickſals, Richte ſeiner Beſtimmung, die Gewalt, 
deren Aufflammen es neu beleben, deren voͤlliges 
Verloͤſchen es dem Tode uͤberantworten wuͤrde. 
Erneuerung des Judentums bedeutet in Wahrheit: 
Erneuerung der juͤdiſchen Religioſitaͤt. Man kann, 
ohne ſich um die juͤdiſche Religioſitaͤt zu bekuͤmmern, 
die Aufloͤſung des Judentums wuͤnſchen, fordern, 
proklamieren; man kann, ohne ſich um ſie zu be⸗ 
kuͤmmern, die „Erhaltung“, das heißt die unmerkliche 
Aufloͤſung des Judentums wuͤnſchen, fordern, prokla⸗ 
mieren; nicht aber eine Erneuerung des Judentums. 
Wer dieſe erſehnt, will, daß es wieder ein mit allen 
Sinnen lebendiges, ein aus allen Kraͤften taͤtiges, 
ein zu heiliger Gemeinde verbundenes Judentum 


4 49 


gebe; er hat erkannt, daß dahin aus der Gegenwart 
des juͤdiſchen Daſeins kein anderer Weg fuͤhrt als 
durch Abſage und Neubeginn. Dem aus ſolchem 
Willen und ſolcher Erkenntnis eine Erneuerung 
des Judentums Erſehnenden wird, je aktiver ſeine 
Sehnſucht iſt, deſto gewiſſer offenbar werden, 
daß Erneuerung des Judentums Erneuerung der 
juͤdiſchen Religioſitaͤt bedeutet. 

Ich ſage und meine: Religioſitaͤt. Ich ſage und 
meine nicht: Religion. Religioſitaͤt iſt das ewig 
neu werdende, ewig neu ſich ausſprechende und aus⸗ 
formende, das ſtaunende und anbetende Gefuͤhl 
des Menſchen, daß uͤber ſeine Bedingtheit hinaus 
und doch mitten aus ihr hervorbrechend ein 
Unbedingtes beſteht, ſein Verlangen, mit ihm 
lebendige Gemeinſchaft zu ſchließen, und ſein 
Wille, es durch ſein Tun zu verwirklichen und 
in die Menſchenwelt einzuſetzen. Religion iſt die 
Summe der Braͤuche und Lehren, in denen ſich 
die Religioſitaͤt einer beſtimmten Epoche eines Volks; 
tums ausgeſprochen und ausgeformt hat, in Vor⸗ 
ſchriften und Glaubensſaͤtzen feſtgelegt, allen kuͤnf⸗ 
tigen Geſchlechtern ohne Ruͤckſicht auf deren neu 
gewordene, nach neuer Geſtalt begehrende Religioſi⸗ 


50 


tät als für fie unverruͤckbar verbindlich überliefert. 
Religion ift fo lange wahr, als fie fruchtbar iſt; dies 
aber iſt ſie ſo lange, als die Religioſitaͤt, das Joch 
der Vorſchriften und Glaubensſaͤtze auf ſich neh— 
mend, ſie doch — oft ohne es zu merken — mit 
neuem gluͤhenden Sinn zu erfuͤllen und zuinnerſt 
zu verwandeln vermag, daß ſie jedem Geſchlecht 
erſcheinen, als waͤren ſie ihm ſelber heute offenbart, 
ſeine eignen, den Vaͤtern fremden Noͤte zu ſtillen. 
Sind aber die Riten und Dogmen einer Religion 
ſo erſtarrt, daß die Religioſitaͤt ſie nicht zu bewegen 
vermag oder ſich ihnen nicht mehr fuͤgen will, dann 
wird die Religion unfruchtbar und damit unwahr. 
Es iſt alſo Religioſitaͤt das ſchaffende, Religion das 
organiſierende Prinzip; Religioſitaͤt beginnt neu 
mit jedem jungen Menſchen, den das Geheimnis 
erſchuͤttert, Religion will ihn in ihr ein fuͤr allemal 
ſtabiliertes Gefuͤge einzwingen; Religioſitaͤt meint 
Aktivitaͤt — ein elementares Sichinverhaͤltnisſetzen 
zum Abſoluten —, Religion meint Paſſivitaͤt — 
ein Aufſichnehmen des überlieferten Geſetzes; Re— 
ligioſitaͤt hat nur ihr Ziel, Religion hat Zwecke; 
aus Religioſitaͤt ſtehen die Soͤhne wider die Vaͤter 
auf, um ihren ſelbeignen Gott zu finden, aus Re⸗ 


8 51 


ligion verdammen die Väter die Söhne, weil fie 
fich ihren Gott nicht auferlegen ließen; Religion 
bedeutet Erhaltung, Religioſitaͤt bedeutet Erneue— 
rung. 

Worin immer aber ein andres Volk ſein Heil finden 
mag, dem juͤdiſchen iſt es nirgendwo anders etz 
ſchloſſen als in der lebendigen Macht, an die ſein 
Volkstum von je gebunden war und durch die es 
beſtanden hat: nicht in ſeiner Religion, wohl aber 
in ſeiner Religioſitaͤt. Ein Wort des Baalſchem 
ſpricht es aus: „Wir ſagen „Gott Abrahams, Gott 
Iſaaks und Gott Jakobs“, wir ſagen nicht „Gott 
Abrahams, Iſaaks und Jakobs“, damit dir geſagt 
ſei: Iſaak und Jakob ſtuͤtzten ſich nicht auf Abra⸗ 
hams Überlieferung, ſondern ſelber ſuchten ſie das 
Goͤttliche.“ 

Ich will verſuchen, das beſondere Weſen der 
juͤdiſchen Religioſitaͤt aus dem Schutt, mit dem es 
Rabbinismus und Rationalismus bedeckt haben, 
herauszuloͤſen. 

Der Akt, der in allen Zeiten dem Judentum als 
der Weſensgrund aller Religioſitaͤt erſchien, iſt der 
Akt der Entſcheidung als der Verwirklichung der 
goͤttlichen Freiheit und Unbedingtheit auf Erden. 


52 


Der ſpaͤtjuͤdiſche Spruch „Die Welt ift um der Wahl 
des Waͤhlenden willen geſchaffen worden“ iſt nur 
die reife Formulierung einer Idee, die unformuliert 
ſchon in der bibliſchen Zeit lebendig und weſenhaft 
war. Wie die Reihe der Sinai-Gebote durch den Ruf 
zur ausſchließenden und unbedingten Entſcheidung 
fuͤr den Einen eroͤffnet wird, ſo dienen die groͤßten 
unter Moſes Worten der gleichen Forderung: „Ganz 
ſollſt du mit Jahwe deinem Gott ſein“ und „Jahwe 
deinem Gott zu dienen mit deinem ganzen Herzen 
und deiner ganzen Seele“; und das gleiche verkuͤnden 
die Propheten von Elija an, der zum Volke ſpricht: 
„Wie lange noch hinket ihr auf beiden Seiten?“ 
Das nachbibliſche Schrifttum bildet die Idee immer 
praͤgnanter aus. Die Miſchna deutet das Wort 
„Du ſollſt Gott lieben mit deinem ganzen Herzen“ 
dahin, daß gemeint ſei: mit deinen beiden Trieben, 
mit dem „guten“ und dem „boͤſen“ Trieb; das 
heißt: mit der Entſcheidung und durch ſie, alſo daß 
die Inbrunſt der Leidenſchaft gewandelt wird und 
mit ihrer ganzen Kraft in die einige Tat eingeht; 
iſt doch an ſich kein Antrieb boͤſe, ſondern der Menſch 
macht ihn dazu, wenn er ſich ihm ergibt ſtatt ihn 
zu regieren; der Midraſch laͤßt Gott zum Menſchen 


53 


ſprechen: „Du haſt die Leidenſchaft, die in deine 
Hand gegeben iſt, boͤſe gemacht.“ So wird auch das 
Wort des Pſalmiſten „Mein Herz ſei ganz in deinen 
Geſetzen“ dahin gedeutet, David habe zu Gott ge— 
ſprochen: „Laß nicht den boͤſen Trieb mich teilen, 
ſondern mache mein Herz ganz.“ Und noch nach- 
druͤcklicher heißt es: „Nur wenn du ungeteilt biſt“ 
(d. h. wenn du die innere Zweiheit durch die Entſchei⸗ 
dung uͤberwunden haſt), „haſt du teil an Jahwe deinem 
Gotte.“ Die Traͤgheit aber, die Entſcheidungsloſigkeit 
wird als die Wurzel alles Übels bezeichnet; Suͤnde iſt 
ganz und gar nichts andres als Traͤgheit. Wer ihr ver⸗ 
fallen war, dann aber ſich durch die gewaltigſte Ent⸗ 
ſcheidung ihr entwand, wer in den Abgrund der Ent⸗ 
zweiung verſunken war und ſich daraus einen Weg 
zur Einheit brach, wer ſich ſelber wie einen traͤgen 
Erdenkloß in die Haͤnde nahm und zu einem Men⸗ 
ſchen knetete, der iſt unter allen Gott der liebſte; 
oder, wie es die Gemara ausdruͤckt, „an dem Ort, 
wo die Umkehrenden ſtehen, vermoͤgen die voll⸗ 
kommenen Gerechten nicht zu ſtehen“. Die große 
Entſcheidung iſt der hoͤchſte, der goͤttliche Augenblick 
des Menſchenlebens, ja des ganzen Weltlebens; 
„beſſer“, ſagt die Miſchna, „iſt eine Stunde der 


54 


Umkehr in dieſer Welt, als das ganze Leben der 
kommenden Welt“; denn dieſe iſt nur noch Sein, 
jene aber iſt das gigantiſche Werden. Suͤnde heißt 
nicht frei, das iſt ſich entſcheidend, ſondern unfrei, 
bewirkt, bedingt leben; der Umkehrende entzuͤndet 
das Myſterium der Freiheit, er ſchwingt ſich aus 
der Bedingtheit in die Unbedingtheit, er iſt, wie es 
im Sohar heißt, „lebendig an allen Seiten und 
vereinigt im Baume des Lebens“. 

Kein Menſch kennt den Abgrund der inneren 
Zweiheit wie der Jude, aber keiner wie er das 
Wunder der Einung, das nicht geglaubt, das nur 
erlebt werden kann. Darum kann ihm kein Ver⸗ 
wirklichtes, ſondern nur die mit jedem neuen Men⸗ 
ſchen neu anhebende Tat, die Verwirklichung ſelber 
Genuͤge tun. Das iſt der Sinn des juͤdiſchen Dualis⸗ 
mus, daß jeder ſelbeigen aus ſeiner Tiefe und 
Finſternis nach goͤttlicher Freiheit und Unbedingt⸗ 
heit ringt: kein Mittler kann ihm helfen, kein Getanes 
ihm ſeine Tat erleichtern, da eben an der durch⸗ 
brechenden Kraft ſeines Anſturms alles gelegen ift 
und jede Hilfe, jeder „Anſchluß“ dieſen Anſturm 
nur zu ſchwaͤchen vermag. Deshalb wurde die ur⸗ 
chriſtliche Bewegung fuͤr den Juden unfruchtbar, 


55 


als fie aus der wahrhaft juͤdiſchen Verkündigung 
Jeſu, jeder koͤnne durch unbedingtes Leben Gottes 
Sohn werden, die Lehre machte, allein der Glaube 
an den eingebornen Sohn Gottes koͤnne dem 
Menſchen die Ewigkeit gewinnen. Deshalb mußte 
der Chaſſidismus ſeine volkerneuernde Wirkung 
verlieren, als er an die Stelle jener unmittelbaren 
Verbindung mit Gott, darin der Menſch „bis zur 
Wurzel aller Lehre und alles Gebotes kommt, zu 
Gottes Ich, der einfachen Einheit und Schranken⸗ 
loſigkeit, wo alle Fluͤgel der Gebote und Geſetze 
niederſinken“, weil er ſich durch feine Unbedingt; 
heit uͤber ſie alle erhoben hat, — als er an die 
Stelle dieſer wunderbaren Selbſtbefreiung die Wer; 
mittlung des Zaddiks ſetzte. Die Grundan⸗ 
ſchauung der juͤdiſchen Religioſitaͤt iſt in dem 
Spruch enthalten: „Wenn der Menſch ſich ſelbſt 
reinigt und heiligt, ergießt ſich der heilige Geiſt 
uͤber ihn.“ i 

Man faͤlſcht den Sinn des Aktes der Entſcheidung 
im Judentum, wenn man ihn als einen bloß 
ethiſchen behandelt; er iſt ein religioͤſer, vielmehr: 
er iſt der religioͤſe Akt; denn er iſt die Verwirklichung 
Gottes durch den Menſchen. 


56 


In der Auffaſſung dieſer Verwirklichung find in 
der juͤdiſchen Religioſitaͤt drei Schichten zu unter— 
ſcheiden, in deren Aufeinanderfolge ſich das Werden 
jenes unterirdiſchen Judentums kundgibt, welches, 
heimlich und unterdruͤckt, das wahrhafte, das zeu— 
gende iſt im Gegenſatz zum offiziellen Scheinjuden— 
tum, das ohne Berufung herrſcht und ohne Legitimi— 
taͤt repraͤſentiert. 

In der erſten, fruͤheſten Schicht wird der Akt der 
Entſcheidung als eine Verwirklichung Gottes durch 
Nachahmung, als eine imitatio Dei aufgefaßt. 
Gott iſt das Ziel des Menſchen, das Urſein, deſſen 
Ebenbild zu werden er ſtreben ſoll, denn „Gott ſchuf 
den Menſchen zu ſeinem Ebenbilde“, d. i. daß er es 
werde. Grundlegend fuͤr dieſe Auffaſſung iſt das 
Wort des Buches Leviticus: „Heilig ſollt ihr ſein, 
denn heilig bin ich Jahwe, euer Gott.“ Es wird 
ſo gedeutet: „Wie ich abgeſondert“ — d. i. von 
keinem Ding beſtimmt, allem Bedingtſein entruͤckt, 
aus mir ſelber wirkend — „bin, fo ſollt ihr abge 
ſondert ſein“; und weiter heißt es: „Wie Gott einig 
und einzig iſt, ſo ſei euer Dienſt einig.“ Gott 
iſt einig; ſo ſoll der Menſch ſeine Entzweiung uͤber⸗ 
winden und einig werden. Gott iſt unbedingt; 


32 


ſo ſoll ſich der Menſch den Feſſeln der Bedingtheit 
entwinden und unbedingt werden. Am ſchlichteſten 
und uͤberzeugendſten wird dieſe Anſchauung in einem 
Wort Abba Schauls uͤberliefert; in einer Erklaͤrung 
eines Verſes des Liedes Moſe am Schilfmeer 
(„Dies iſt mein Gott und ich will ihn preiſen“) 
ſprach er: Dies iſt mein Gott — ich und er; das iſt: 
ich will wie er werden. Daß es aber dazu keinen 
andern Weg gibt als den der Entſcheidung und der 
Unbedingtheit, das erweiſt der Mythos des Suͤnden⸗ 
falls: die Menſchen vermaßen ſich „wie Gott zu 
ſein“ und dadurch den Sinn des Lebens zu vereiteln, 
der darin beſteht, wie Gott zu werden; fo erlangten 
ſie nichts anderes als das Wiſſen um die Zweiheit 
von Goͤttlichem und Menſchlichem, die „Erkenntnis 
von Gut und Boͤſe“. 

In der zweiten Schicht wird 5 Akt der Entſchei⸗ 
dung als eine Verwirklichung Gottes durch Steige⸗ 
rung ſeiner Wirklichkeit aufgefaßt. Gott iſt um ſo 
wirklicher, je mehr er vom Menſchen in der Welt 
verwirklicht wird. Eine paradox klingende und doch 
unmittelbar ergreifende Formulierung dieſes Ger 
dankens iſt es, wenn zu dem Jeſajawort „Ihr ſeid 
meine Zeugen, ſpricht Jahwe, und ich bin Gott“ eine 


58 


6 


Deutung des geheimnisumwitterten Rabbi Simon 
ben Jochai angefuͤhrt wird: „Wenn ihr meine Zeugen 
ſeid, bin ich Jahwe, und wenn ihr nicht meine Zeugen 
ſeid, bin ich nicht Jahwe.“ Gott iſt das Ziel des 
Menſchen; ſo fließt jede Gewalt menſchlicher Entſchei— 
dung dem Meere goͤttlicher Kraft zu. In dieſem Sinn 
wird das Pſalmwort „Gebet Gott die Macht“ 
durch den Spruch erklaͤrt: Die Gerechten mehren 
die Kraft der oberen Gewalt. Das ſpaͤtere, ins— 
beſondere das kabbaliſtiſche Schrifttum hat den Ge— 
danken, daß der unbedingt handelnde Menſch Gottes 
Genoſſe und Helfer in dem ewigen Schoͤpfungswerk 
iſt, vielfältig ausgebaut. So nennt der Bahir den Ge, 
rechten eine Saͤule, die von der Erde zum Himmel 
geht und das Weltall traͤgt. So erklaͤrt der Sohar 
das Pſalmwort „Die Werke feiner Haͤnde - 
ſind mit Wahrheit und Redlichkeit gemacht“ 
durch den Einfluß des wahrhaftig und redlich 
handelnden Menſchen auf das Werden der Welt; 
und der Satz „Gott hatte noch nicht regnen 
laſſen auf der Erde, und es war kein Menſch, das 


Land zu bebauen“ wird ebenda dahin erlaͤutert, es 


habe kein Werk von oben gegeben, weil es keine Tat 
von unten gab; dann aber „ſtieg von der Erde ein 


59 


Dunſt auf, und die Fläche des Landes ward getraͤnkt“, 
das heißt: durch Wirkung von unten geſchah Werk 
von oben. 

In der dritten Schicht endlich, die erſt in der 
Kabbala in die Erſcheinung tritt, ſteigert ſich die Auf— 
faſſung der Verwirklichung Gottes durch den Men— 
ſchen zur Idee einer Wirkung der Menſchentat auf 
Gottes Schickſal. Die Gottesherrlichkeit, die Schechina 
iſt in die Welt des Bedingten gefallen, ſie iſt wie 
Iſrael in der Zerſtreuung, im Galut, fie wandert 
und irrt wie Iſrael, ausgeſchuͤttet ins Reich der 
Dinge, fie will wie Iſrael erloͤſt, will mit dem 
Gottesweſen wiedervereinigt werden. Dazu aber 
kann nur der wirken, der in ſich das Bedingte zum 
Unbedingten erhebt; durch ihn vollzieht ſich die 
Erhebung der Welt, das iſt die Erhebung der 
Schechina. Darum ſagt ein chaſſidiſches Wort von den 
Umkehrenden, daß ſie Gott loskaufen. Und wie in 
dem Eintritt der Seele in den Menſchenleib der 
Koͤnig, Gott, ſich der Koͤnigin, der Schechina, in 
Liebe zuneigt, ſo hebt ſich in der Bezwingung des 
Bedingten durch die umkehrende, die wiedergeborene 
Seele die Koͤnigin in Liebe zum Koͤnig empor; 
durch ſolche Liebeseinung wird das Sein ewig er— 


60 


neuert. „So wählt das Leben von oben und von 
unten, der Urquell fuͤllt ſich ewig, ewig fuͤllt ſich 
das Meer und alles iſt ernaͤhrt.“ 

Allen drei Schichten gemeinſam und der juͤdiſchen 
Religioſitaͤt ureigentuͤmlich iſt die Anſchauung von 
dem abſoluten Wert der Menſchentat, der nicht 
mit der duͤrftigen Erkenntnis irdiſcher Urſachen 
und Wirkungen ermeſſen werden kann. In irgend; 
einer Tat irgendeines Menſchen muͤndet Unend— 
liches, Unendliches entſtroͤmt ihr. Nicht am Handeln; 
den iſt es, zu faſſen, welcher Maͤchte Abgeſandter, 
welcher Maͤchte Beweger er iſt, aber er wiſſe, daß 
die Fülle des Weltgeſchicks in namenloſen Der; 
knuͤpfungen durch ſeine Haͤnde geht. Es heißt in der 
Gemara: „Jeder ſoll ſprechen: um meinetwillen iſt 
die Welt erſchaffen worden“; und wieder heißt es: 
„Jeder ſoll ſagen: auf mir ſteht die Welt“; eine chaſ⸗ 
ſidiſche Schrift bekraͤftigt: Ja, er iſt der Einzige in 
der Welt und ihr Beſtand hangt an ſeiner Tat. 

In der Unbedingtheit ſeiner Tat erlebt der Menſch 
die Gemeinſchaft mit Gott. Nur fuͤr den Laͤſſigen, 
den Entſcheidungsloſen, den Geſchehenlaſſenden, den 
in ſeine Zwecke Verſtrickten iſt Gott ein unbekanntes 
Weſen jenſeits der Welt; fuͤr den Waͤhlenden, den 


61 


ſich Entſcheidenden, den um fein Ziel Entbrennen⸗ 
den, den Unbedingten iſt er das Naͤchſte, das Ver⸗ 
trauteſte, das er ſelber handelnd ewig neu verwirklicht 
und erlebt, und eben darin das Geheimnis der Ge; 
heimniſſe. Ob Gott „tranſzendent“ oder „imma⸗ 
nent“ iſt, iſt nicht eine Sache Gottes; es iſt eine Sache 
des Menſchen. Zu der Erzaͤhlung der Geneſis, wie 
die drei Maͤnner zu Abraham „in der Glut des 
Tages“ kommen, bemerkt der Sohar: „Wenn die 
untere Welt im Verlangen nach der oberen auf⸗ 
lodert, ſteigt dieſe zu ihr herab und beide Welten 
vereinigen und durchdringen einander alsdann im 
Menſchen.“ Im gleichen Sinn kann das Pſalmwort 
erklaͤrt werden „Gott iſt allen nahe, die ihn rufen, 
allen die ihn mit der Wahrheit rufen“; das heißt: 
mit der Wahrheit, die ſie tun. 

Mit der Wahrheit, die ſie tun. Dieſe Wahrheit iſt 
kein Was, ſondern ein Wie. Nicht der Inhalt der 
Tat macht ſie zur Wahrheit, ſondern ob ſie in menſch⸗ 
licher Bedingtheit oder in goͤttlicher Unbedingtheit 
geſchieht. Nicht die Materie der Tat beſtimmt 
daruͤber, ob ſie im Vorhof, im Reich der Dinge 
verlaͤuft oder ins Allerheiligſte dringt, ſondern die 
Macht der Entſcheidung, die ſie hervorbringt, und 


62 


die Weihe der Intention, die ihr innewohnt. Jede 
Handlung, auch die zu den profanſten gezaͤhlt wird, 
iſt heilig, wenn ſie in Heiligkeit, in Unbedingtheit 
getan wird. 

Die Unbedingtheit iſt der ſpezifiſche religioͤſe Ge— 
halt des Judentums. Nicht auf einem Glaubens; 
ſatz und nicht auf einer ethiſchen Vorſchrift iſt die 
juͤdiſche Religioſitaͤt aufgebaut, ſondern auf einem 
Grundgefuͤhl, das dem Menſchenleben ſeinen Sinn 
gibt: auf dem Grundgefuͤhl, daß eins not tut. 

Wo die Religioſitaͤt gemeinſchaftbildend, religion— 
ſtiftend wirkt, wo ſie aus dem Leben des Einzelnen 
in das Leben zwiſchen den Menſchen eintritt, wird 
dieſes Grundgefuͤhl zur Forderung. Im Zeichen 
der Forderung und des Kampfes um ſie ſteht die 
Stiftung der juͤdiſchen Religion, ſtehen alle ihre 
ſchoͤpferiſchen Erhebungen. 

Als Forderung und Kampf vollzieht ſich die 
Stiftung der juͤdiſchen Religion. Wenn Moſe, das 
Feuer des Dornbuſches in den Augen, vor die 
Alteſten Israels tritt, fühlt man ſchon alles vor; 
beſtimmt, was geſchehen wird. Ich kenne in Welt 
geſchichte und Weltmythos keinen größeren Bor; 
gang, keinen furchtbareren. Das Volk iſt von dem 


63 


abgefallen, den es noch nicht zu fallen vermochte — 
die Soͤhne Levis durchſchreiten auf Moſes Geheiß 
das Lager und erſchlagen dreitauſend ihrer Brüder, 
Das ausziehende Geſchlecht haͤlt den Pruͤfungen der 
Wuͤſte nicht ſtand — es muß in der Wuͤſte hinſterben. 
In der Vernichtung alles Halben und Unzulaͤnglichen 
offenbart ſich der verkuͤndete Gott, als das ver— 
zehrende Feuer der Unbedingtheit. 

Schon hier treten nebeneinander und gegenein⸗ 
ander die zwei fuͤhrenden Menſchentypen, zwiſchen 
denen die innere Geſchichte des Judentums ſich als 
ein Kampf austraͤgt: der Prophet und der Prieſter. 
Moſe iſt der Fordernde, der auf nichts hoͤrt als auf 
die Stimme und nichts anerkennt als die Tat. 
Aaron iſt der Vermittelnde, der den Stimmen 
ebenſo zugaͤnglich iſt wie der Stimme und das Volk 
durch ſeinen richtungsbaren Formendienſt zuchtlos 
macht. Der Prophet will die Wahrheit, der Prieſter 
will die Macht. Es find ewige Typen in der Ger 
ſchichte des Judentums. 

Im Kampf wurde die juͤdiſche Religioſitaͤt aus 
dem Geiſte Moſes zur Religion; im Kampf muß 
ſie ſich immer wieder mitten in der Religion er⸗ 
neuern, deren Formenzwang ſie zu erſticken droht, 


64 


muß immer wieder die erſtarrte Maſſe mit ihrer 
gluͤhenden Forderung umzuſchmelzen verſuchen. Nies 
mals gelingt es ihr, dem offiziellen Judentum, den 
geltenden Inſtitutionen die Herrſchaft zu entreißen; 
immer aber wirkt ſie, ſei es offenbar, ſei es heimlich, 
tief auf das Werden des Volksgeiſtes ein. Zuweilen 
erhebt ſie die Religion zu einem neuen, hoͤheren Leben. 
Zuweilen ſprengt ſie das Gefuͤge der Gemeinſchaft. 
Zuweilen zerfaͤllt ſie nach einem kurzen Aufbluͤhen. 
Fuͤr jede dieſer Moͤglichkeiten gibt uns die Geſchichte 
des Judentums ein repraͤſentatives Beiſpiel. 

Der Opferkult Iſraels mag aus dem primitiven 
Beduͤrfnis nach einer lebenden Gemeinſchaft mit 
dem Gott durch den ſakramentaͤlen Akt etwa eines 
gemeinſamen Mahles entſtanden ſein; ſicherlich wirkte 
bald ein ganz anderes Gefuͤhl mit: das Beduͤrfnis 
nach einer Hingabe, welche die eigentlich gewollte 
und gemeinte Selbſthingabe ſinnbildlich vertreten 
und darſtellen mochte. Unter der Leitung des 
Prieſters aber wird das Symbol zum Erſatz. Der 
Opferkult wird ſo ausgearbeitet und kodiſtziert, 
daß in jeder Lage des Menſchenlebens, in jedem 
Augenblick des Menſchenſchickſals ein vorgeſchriebenes 
Opfer zur Verfuͤgung ſteht, um die Verbindung mit 


5 65 


Gott herzuſtellen, und hinwieder befteht dieſe Ver; 
bindung in nichts anderm mehr, als in dem Opfer. 
Es tut nun nicht mehr not, wenn Leid einen anfaßt 
oder die eigne Suͤnde einen erſchreckt, ſich ringend, 
hingegeben, im Sturm der Entſcheidung an Gott 
zu ſchließen, bis der Schrei der Kreatur verſtummt 
vor der heimlichen Stimme; man bringt das Opfer, 
man tut, was angeordnet iſt, und der Gott iſt ver; 
ſoͤhnt. Wohl tritt Jahwes Opferkult mit dem An⸗ 
ſpruch der Wahrheit dem vielfaͤltigen Goͤtzendienſt 
im Volke entgegen, und noch Elija weiß es nicht 
anders zu ſagen, als daß er fuͤr Jahwe und wider 
Baal ſtreitet; aber ob ein Dienſt Goͤtzendienſt oder 
Gottesdienſt iſt, daruͤber entſcheidet nicht, unter 
welchem Namen man ſeinen Gott anruft, ſondern 
wie man ihm dient. Das iſt die große Erkenntnis 
der ſpaͤteren Propheten, die ein Jahrhundert nach 
Elija zum Volke zu reden beginnen. In Worten 
einer gebieteriſchen Leidenſchaft verwerfen Amos und 
Micha, Jeſaja und Jeremija den „Greuel“ des Opfer⸗ 
kults und fordern den wahrhaften Gottesdienſt: die 
„Gerechtigkeit“, das heißt das unbedingte Leben 
mit Gott und mit den Menſchen. Die inhaltlichen 
Beſtimmungen, die ſittlichen Normen, hat die Bot 


66 


ſchaft der Propheten mit Lehren anderer Völker 
gemein; das Einzige, das Juͤdiſche an ihr iſt der 
Atem der Unbedingtheit, der ſie durchweht, das 
Poſtulat der Entſcheidung, das in jedem ihrer Worte 
und noch in dem fordernden Rhythmus ihrer Saͤtze 
toͤnt: ihre Religioſitaͤt. Jede Konſtruktion einer 
„reinen Ethik“ des Judentums iſt von Grund aus 
verfehlt; da iſt der Kern des Judentums, wo das 
Unbedingte ein verhuͤlltes Gottesangeſicht iſt, das 
in der Menſchentat offenbart werden will. 

Die Propheten wollten den Opferkult vernichten. 
Sie haben ſeine Herrſchaft nicht zu ſchmaͤlern ver⸗ 
mocht; der Prieſter behielt die Fuͤhrung in Haͤnden. 
Und doch haben ſie die juͤdiſche Religioſitaͤt, haben 
die Seele des Volkstums erneuert; ſo unſichtbar 
vollziehen ſich die Siege des Geiſtes. 

Im zweiten Reich tritt eine neue religiöfe Sin; 
ſtitution in den Mittelpunkt: die Schrift. Sie wird 
als der feſtgelegte Ausdruck der Staatsreligion 
allmaͤhlich kanoniſiert. Aus der Fuͤlle uͤberlieferten 
Materials ſcheiden dem Prieſtertum botmaͤßige Koͤr⸗ 
perſchaften alles aus, was ihnen mythiſch, verdächtig 
erſcheint. So entſteht das Buch, welches das hin— 
fort allein guͤltige Schrifttum umfaßt; es wird ſo 


5% 67 


alleingültig, daß alle nicht in den Kanon aufge 
nommenen Buͤcher untergehen. Aber nicht bloß 
uber das übrige Schrifttum ſiegt es, auch über das 
Leben. Die Schrift iſt fortan die Wahrheit; man kann 
zu Gott nur dadurch gelangen, daß man ſich in allem 
an die Schrift haͤlt. Sie wird aber vom Prieſter, 
hernach von dem urſpruͤnglich freier geſinnten 
Schriftgelehrten nicht als eine im Leben aus zu⸗ 
geſtaltende, mit neuem Lebensſinn zu fuͤllende 
Verkuͤndigung, ſondern als eine Satzung, eine 
Summe von Vorſchriften behandelt, vom Prieſter 
formaliſtiſch abgegrenzt, vom Schriftgelehrten dialek⸗ 
tiſch ausgeſponnen, immer aber ins Enge, Starre, 
Unfreie gewandt, die lebendige Religioſitaͤt nicht 
foͤrdernd, ſondern unterbindend. Dieſer Tendenz 
des offiziellen Judentums erwaͤchſt einerſeits eine 
mehr vermittelnde Gegenaktion im eigenen Lager, 
deren ſpaͤten literariſchen Niederſchlag wir in der 
Agada finden, anderſeits eine radikalere Gegen⸗ 
aktion in der ſich abſondernden eſſaͤiſchen Gemein⸗ 
ſchaft und der um ſie flutenden Bewegung, die zu⸗ 
letzt im Urchriſtentum muͤndet. Von beiden gilt in 
ihrem Verhältnis zur Schrift, was von den Thera— 
peuten geſagt wird: die ganze Geſetzgebung ſcheine 


68 


ihnen einem lebendigen Weſen vergleichbar, deſſen 
Leib die Worte, deſſen Seele der verborgene Sinn 
ſei; in dieſem ſchaue die Menſchenſeele ihr eignes 
Selbſt an. Beide weiſen der Veraͤußerlichung gegen— 
uͤber, die der Schrift angetan worden war, auf ihre 
Innerlichkeit hin. Und auch die urchriſtliche Be— 
wegung wendet ſich nicht — wie die Propheten ſich 
gegen den Opferkult wendeten — gegen die Schrift, 
ſondern dagegen, daß deren Sinn vom Unbedingten 
ins Bedingte gekehrt wird; ſie will das Pathos der 
Forderung wiederherſtellen. Aber keiner dieſer Stroͤ— 
mungen gelingt es, die juͤdiſche Religion zu erneuern; 
der Agada nicht, weil ſie nur fragmentariſch 
wirkte und ihre Kraͤfte nicht zuſammenſchloß; dem 
Eſſaͤismus nicht, weil er ſich einer unfruchtbaren 
Abſonderung ergab und nicht ins Volk ſtrebte; 
das Urchriſtentum aber war fuͤr eine Erneuerung 
des Judentums verloren, als es ſich ſelber untreu 
wurde und den großen Gedanken, der es empor⸗ 
getragen hatte, die Idee der gotterobernden Um; 
kehr, zum gnadenreichen Anſchluß an den Chriſtus 
verengerte: — damals gewann es die Voͤlker und 
gab das Judentum preis, indem es das Gefuͤge 
ſeiner Gemeinſchaft ſprengte. Das Chriſtentum 


69 


ift von da aus zur Herrſchaft über die Voͤlker aufge: 
ſtiegen, das Judentum in Erſtarrung, Erniedrigung, 
Entartung geſunken; aber fein Kern hat unerſchuͤtter— 
lich den Anſpruch gewahrt, die wahre Ekkleſia, die 
treugebliebene Gemeinde der goͤttlichen Unmittelbar; 
keit zu ſein. 

Seit der Zerſtoͤrung Jeruſalems ſteht die Tradi— 
tion im Zentrum des religioͤſen Lebens des Juden⸗ 
tums. Ein Zaun wurde um das Geſetz gezogen aus 
der Abſicht, das Fremde und Gefaͤhrdende fernzu⸗ 
halten, aber er hielt oft genug auch die lebendige 
Religioſitaͤt fern. Wohl bedarf die Religioſttaͤt 
der Formen, wenn ſie ſich in einer Gemeinſchaft 
von Menſchen darſtellen, eine Gemeinſchaft bilden 
und erhalten, — wenn ſie als Religion beſtehen will; 
denn nur in gemeinſamen Lebensformen iſt dau⸗ 
ernde, von Geſchlecht zu Geſchlecht gehende religioͤſe 
Gemeinſchaft moͤglich. Wenn aber die Religion, 
ſtatt die Menſchen zur Freiheit in Gott zu verbinden, 
ſie unter dem unwandelbaren Geſetz haͤlt und ihr 
Verlangen nach Freiheit verdammt, — wenn ſie, 
ſtatt ihre Formen als die Bindung zu betrachten, 
auf deren Grunde ſich die wahrhafte Freiheit auf: 
bauen kann, ſie als die Bindung betrachtet, die alle 


70 


Freiheit ausschließt, — wenn fie, ftatt dem Geſetz 
den großen urzeitlichen Zug zu laſſen, es in einen 
wimmelnden Formelnkram verwandelt und die Ent— 
ſcheidung uͤber rechtes und unrechtes Handeln zu 
einer ſpitzfindigen Kaſuiſtik ausarten laͤßt: — dann 
iſt ſie nicht mehr Formung, ſondern Knechtung der 
Religioſitaͤt. Dieſer Prozeß kennzeichnet die Ge— 
ſchichte der juͤdiſchen Tradition. Die Gegenaktion 
der Religioſitaͤt hat zweierlei Geſtolt. Die eine iſt 
die von einer Zeit zur andern auffladernde Auf; 
lehnung der Ketzer, oft mit gewaltigen, das ganze 
Volk aufwuͤhlenden meſſianiſchen Bewegungen ver— 
bunden. Die zweite iſt die ſtetige, aufbauende 
Taͤtigkeit der juͤdiſchen Myſtik, die den erſtarrten 
Ritus durch die Idee der Kawwana, der Intention 
zu beleben und jeder religioͤſen Handlung einen 
heimlichen, auf Gottes Schickſal und die Erloͤſung 
der Welt gerichteten Sinn zu geben ſtrebt. In der 
aͤlteren Kabbala wohnt dieſer Tendenz noch ein 
theologiſch⸗allegoriſierendes Element inne, das ihr 
Volkstuͤmlichwerden verhindert. Erſt in der ſpaͤteren 
lurjaniſchen Kabbala wird ſie unmittelbar⸗gefuͤhls⸗ 
maͤßig, und im Chaſſidismus waͤchſt ſie zur großen 
Volksbewegung. Dieſer will das Geſetz nicht 


71 


ſchmaͤlern, er will es lebendig machen, will es 
aus dem Bedingten wieder ins Unbedingte heben: 
jeder ſoll durch wahrhaftes Leben ſelbſt eine Thora, 
ein Geſetz werden. Aus dem Chaſſidismus haͤtte 
die juͤdiſche Neligiofität wie nie zuvor erneuert 
werden koͤnnen. Aber vom offiziellen Judentum 
verketzert, verleumdet, denunziert, durch die Schwaͤche 
des Volkes, das der Entſchiedenheit ſeiner Lehre noch 
nicht gewachſen war, entartend, zerfiel er, ehe er fein 
Werk getan hatte. 

Allen drei Bewegungen, der prophetiſchen, der eſſaͤ— 
iſch-urchriſtlichen, der kabbaliſtiſch-chaſſidiſchen iſt es 
gemeinſam, daß ſie nicht darauf ausgehen, das Leben 
des Menſchen zu erleichtern, ſondern es zu erſchweren, 
zugleich freilich, es zu beſeelen und beſeligen. Allen ge⸗ 
meinſam iſt der Antrieb, die Entſcheidung als die 
beſtimmende Macht in aller Religioſitaͤt wiederherzu⸗ 
ſtellen. Durch die Erſtarrung des Opferkults, durch 
die Erſtarrung der Schrift, durch die Erſtarrung der 
Tradition wird die freie Entſcheidung im Menſchen 
niedergehalten; nicht die aus der Entſcheidung ge; 
borene, in Unbedingtheit atmende Tat gilt als der 
Weg zu Gott, ſondern die Erfuͤllung der Vorſchriften. 
Das Prophetentum aber, das Urchriſtentum, der 


72 


Chaſſidismus beſinnen ſich auf die Entſcheidung als 
auf die Seele der juͤdiſchen Religioſitaͤt und rufen 
zu ihr auf. Das iſt der ewige Sinn dieſer Be— 
wegungen fuͤr das Judentum, das iſt ihr durch 
nichts zu verkuͤrzendes Recht auf unſere Treue; 
das macht ſie uns wichtig fuͤr das Werk der Er— 
neuerung: nicht worin ſie ausgingen, ſondern woraus 
ſie herkamen, nicht die Formen, ſondern die Kraͤfte. 
Das ſind die Kraͤfte, die im Judentum nie zulaͤng⸗ 
liche Form, nie Herrſchaft gewannen, die vom offi- 
ziellen Judentum, das iſt von der allzeit herrſchenden 
Unkraft, allzeit niedergedruͤckt worden ſind. Es ſind 
nicht Kraͤfte von Volkszeiten und Volksteilen, es ſind 
nicht Kraͤfte der Auflehnung und des Sektierertums, 
es find die Kräfte, die den Geiſteskampf des leben; 
digen Judentums gegen die Unfreiheit kaͤmpfen, es 
ſind die ewigen Kraͤfte. Aus ihnen allein kann die 
religioͤſe Erſchuͤtterung kommen, ohne die keine Er; 
neuerung des juͤdiſchen Volkstums geraten kann. 
Religioſitaͤt, ſagte ich, iſt das Verlangen des 
Menſchen, mit dem Unbedingten lebendige Gemein; 
ſchaft zu ſchließen, und ſein Wille, es durch ſein 
Tun zu verwirklichen und in die Menſchenwelt ein⸗ 
zuſetzen. Echte Religioſitaͤt hat ſomit nichts gemein 


73 


weder mit den Traͤumereien ſchwaͤrmeriſcher Herzen, 
noch mit dem Selbſtgenuß aͤſthetiſierender Seelen, 
noch mit den tiefſinnigen Spielen einer geuͤbten 
Intellektualitaͤt. Echte Religioſitaͤt iſt ein Tun. 
Sie will das Unbedingte im Stoff der Erde aus; 
formen. Gottes Angeſicht ruht unſichtbar im Block 
der Welt; es muß hervorgeholt, herausgemeißelt 
werden. Daran arbeiten heißt religioͤs ſein, nichts 
anderes. Am innigſten und unmittelbarſten iſt uns 
dieſe Aufgabe zugeteilt im Leben der Menſchen, das 
unſerer Einwirkung erſchloſſen iſt wie kein anderes 
Ding der Welt. Hier wie nirgendwo iſt uns eine 
Vielheit in die Hand gegeben, ſie zur Einheit zu 
bilden, eine gewaltig formloſe Maſſe, in der wir die 
goͤttliche Geſtalt auspraͤgen ſollen. Die Gemeinſchaft 
der Menſchen iſt ein angelegtes Werk, das unſer harrt; 
ein Chaos, das wir zu ordnen, eine Diaſpora, die wir 
zu ſammeln, ein Widerſtreit, den wir zu verſoͤhnen 
haben. Dies aber koͤnnen wir einzig dadurch, daß 
jeder von uns an ſeiner Stelle, im natuͤrlichen Be⸗ 
reich ſeines Zuſammenlebens mit den Menſchen das 
Rechte, das Einigende, das Geſtaltende tut: weil 
Gott durch ihn nicht geglaubt, nicht eroͤrtert, nicht 
verfochten, ſondern verwirklicht werden will. 


74 


Der Mythos der Juden 


I. 


Wir koͤnnen uns unſer eigenes Gefuͤhl vom My— 
thos zunaͤchſt nicht beſſer deuten, als wenn wir uns 
den Sinn des Wortes etwa von Platon mitteilen 
laſſen. Wir finden dann, daß Mythos bedeutet: ein 
Bericht von goͤttlichem Geſchehen als einer ſinnlichen 
Wirklichkeit. Es iſt demnach nicht Mythos zu nennen, 
wenn das goͤttliche Geſchehen als ein tranſzendenter 
Hergang oder als ein Erlebnis der Seele zu erzaͤhlen 
verſucht wird: ein theologiſcher Vortrag, ſei er auch 
von evangeliſcher Einfalt und Groͤße, oder eine Nach— 
richt von ekſtatiſchen Viſionen, ſei fie von noch ſo er; 
ſchuͤtternder Sichtbarkeit, ſtehen außerhalb des eigent⸗ 
liſch Mythiſchen. 

Dieſer urſpruͤngliche Gehalt der ſprachlichen über; 
lieferung iſt ſo tief und dauernd berechtigt, daß man 
es recht wohl begreifen kann, wie ſich aus ihm die An⸗ 
ſicht bilden mußte, die mythenbildende Kraft ſei ein⸗ 
zig jenen Voͤlkern eigen, denen das Goͤttliche als eine 
ſinnlich gegebene Subſtanz galt, und die daher auch 


75 


fein Tun und Leiden als einen Zuſammenhang rein 
ſinnlicher Begebenheiten auffaßten. Man ging wei; 
ter und ſtellte die polytheiſtiſch empfindenden Voͤlker 
den monotheiſtiſch empfindenden als die mythen— 
ſchaffenden den mythenloſen gegenuͤber. Zu dieſen, 
den mythenloſen Voͤlkern, wurde das juͤdiſche gezaͤhlt 
und als ſolches verherrlicht oder verachtet; verherr— 
licht, wenn der Beurteilende im Mythos eine niedere 
Vorſtufe der Religion ſah, verachtet, wenn er in ihm 
den ſich uͤber aller Religion erhebenden Gipfel des 
Menſchentums, die natuͤrliche und ewige Metaphyſik 
der Menſchenſeele erblickte. Solche — zumeiſt recht 
wirkſame — Verſuche, das Weſen von Voͤlkern zu be; 
werten, ſtatt es zu erkennen, find immer toͤricht und 
unnuͤtz; am meiſten dann, wenn ſie wie hier auf 
Unkenntnis oder Entſtellung der geſchichtlichen Rea⸗ 
litaͤt gegruͤndet ſind. Unkenntnis und Entſtellung 
find ja die Grundpfeiler der modernen raſſenpſycho⸗ 
logiſchen Behandlung des Judentums; man ent⸗ 
deckt etwa einen rationaliſtiſchen oder utilitariſtiſchen 
Zug in einigen Ausſpruͤchen oder Gepflogenheiten 
des offiziellen Judentums und beteuert, den Ratio; 
nalismus oder den Utilitarismus des Judentums 
erwieſen zu haben; ohne zu ahnen oder ahnen zu 


76 


wollen, daß jenes nur unbedeutende, wiewohl gel— 
tungsmaͤchtige Stockungen in der großen, aber de— 
muͤtigen Flut der inbruͤnſtigen, hingegebenen, uͤber⸗ 
zweckhaften juͤdiſchen Volksreligioſitaͤt bedeutet. Und 
die juͤdiſchen Apologetiker hinwieder, deren armſeliger 
Eifer darauf geht, darzulegen, daß das Judentum gar 
nichts Beſonderes, ſondern nur die pure Humanitaͤt 
ſei, tun das gleiche auf ihre Weiſe: weil ſie ſelbſt 
in der Korruption des Rationalismus und Utilita⸗ 
rismus befangen ſind. So hat man denn auch von 
beiden Seiten die Exiſtenz von Mythen im Judentum 
lange Zeit geleugnet. Das war nicht gar ſchwer. 
Das nachbibliſche Schrifttum blieb in ſeinem Weſen 
lange unbekannt: die Agada galt als muͤßiges Phan⸗ 
taſieſpiel oder als flache Parabeldichtung, der Mi— 
draſch als ſpitzfindige und unfruchtbare Kommentar; 
ſammlung, die Kabbala als ſinnloſe und groteske 
Zahlentuͤftelei, den Chaſſidismus kannte man kaum 
dem Namen nach oder tat ihn als eine krankhafte 
Schwaͤrmerei mit geringſchaͤtziger Gebaͤrde ab. Die 
Bibel aber mochte auch mancher redlichen Erfor— 
ſchung ſo erſcheinen, als ſei ihr alles Mythiſche fremd; 
iſt ſie doch in die Form, in der ſie auf uns gekommen 
iſt, durch eine vom Geiſte des offiziellen ſpaͤtjudiſchen 


77 


Prieſtertums inſpirierte Koͤrperſchaft gebracht wor; 
den, die die naͤhrende Quelle aller wahrhaften Reli— 
giofität, den Mythos, als den Erbfeind der Religion, 
wie ſie ſie dachte und wollte, anſah und daher aus der 
Fülle uͤberkommener Schriften alles Mythiſche nach 
beſtem Wiſſen ausſchied. Gluͤcklicherweiſe war dieſes 
ihr Wiſſen kein vollſtaͤndiges, und manches entging 
ihr, deſſen urſpruͤnglicher Charakter ihr nicht mehr 
gegenwaͤrtig war. So finden ſich in allen Buͤchern 
der Bibel verſprengte Adern des edlen Erzes. Als ſie 
durch die neue Forſchung aufgedeckt wurden, konnte 
man die Exiſtenz des juͤdiſchen Mythos nicht laͤnger 
leugnen; aber man beſtritt nunmehr feine Gelb; 
ſtaͤndigkeit. Wo man bei einem anderen vorder— 
aſiatiſchen Volke ein verwandtes mythiſches Motiv 
fand, wurde es als das Original, das juͤdiſche als 
Abklatſch gekennzeichnet, und wo man keins fand, da 
nahm man eben an, das Original ſei verlorengegan⸗ 
gen. Es tut nicht not, hier dieſen Kleinlichkeiten (die 
dem tief fundierten, aber ausſichtsloſen Verlangen 
des heutigen Abendlaͤnders entſprungen ſind, ſein 
Chriſtentum, auf das er nicht verzichten kann, zu ent⸗ 
juden) nachzugehen; denn was ſehr viel weſentlicher 
iſt, als ſie einzeln zu widerlegen: die ganze Geſchichts⸗ 


78 


auffaſſung, die fie erſt möglich macht, ift eine unge, 
heuerliche Verirrung. Es ift ein verkehrtes und ver; 
meſſenes Beginnen, einen ſolchen zyklopiſchen Be— 
ſtand wie der Mythenbeſitz eines Volkes unter dem 
klaͤglich ephemeren Geſichtspunkt der „Driginali— 
tat“ zu betrachten. Wo der Geiſt vor uns ſteht, da gilt 
nicht Originalitaͤt, ſondern Realitaͤt; und die Werke 
des Geiſtes ſind nicht dazu da, daß wir ſie zerlegen und 
die Produkte der Analyſe daraufhin pruͤfen, ob ſie hier 
zum erſtenmal vorkommen — dieſes „zum erſtenmal“ 
kann nur der kuͤmmerliche Maulwurfsverſtand kon— 
zipieren, der die unendliche Geſchichte des Geiſtes und 
ſeine ewig neuen Bildungen aus dem ewig gleichen 
Material nicht ahnt —; die Werke des Geiſtes ſind 
dazu da, als geformte Ganzheit, als einige Geſtalt, 
als Realitaͤt empfangen, erlebt, verehrt zu werden. 
Und eine ſolche Realitaͤt iſt der Mythos der Juden, 
wie wir ihn trotz aller juͤdiſchen und antijuͤdiſchen An⸗ 
ſchlaͤge uns wiederaufzubauen vermoͤgen. Er mag 
allerlei „Motive“ mit denen anderer Voͤlker gemein 
haben, und es wird kaum je moͤglich ſein, wahrhaft zu 
ermitteln, welche davon auf einer Wanderung von 
Volk zu Volk — wie ſie ja alle Voͤlker, die ſogenann⸗ 
ten produktiven und die ſogenannten rezeptiven, ge— 


79 


bend und nehmend erfahren — beruhen, welche hin 
gegen auf der Artgemeinſamkeit, die zwiſchen den us 
den und jenen anderen Voͤlkern beſtand oder beſteht: 
der Gemeinſamkeit der Formen des Erlebens und der 
Formen, das Erlebte auszuſprechen, aber auch auf der 
Gemeinſamkeit der Erde und des Schickſals: der Ger 
meinſamkeit der Inhalte des Erlebens. Das, ſage ich, 
wird wohl nie voͤllig zu ermitteln ſein. Aber nicht das 
iſt uns Nachgeborenen weſentlich, ſondern die Rein⸗ 
heit und Groͤße des ſchoͤpferiſchen Menſchentums, 
das all dies, wie Cellini ſeinen ganzen Hausrat, in 
den Gußofen wirft und daraus die unſterbliche Ge; 
ſtalt errichtet. — 

Gleichzeitig mit der Bibel wurde auch das ſpaͤt⸗ 
juͤdiſche Schrifttum, wenn auch nicht in gleichem 
Grade, Gegenſtand der neuen Forſchung. Und ob— 
gleich auch in ihm, wie in der Bibel, das Walten my⸗ 
thenfeindlicher Elemente, des Rigorismus des Ge— 
ſetzes und der rabbiniſchen Dialektik, ſich kundgibt und 
die Außerung beſchraͤnkt, konnte man nicht umhin, 
darin eine Fuͤlle mythiſchen Stoffes zu entdecken. 
Was als willkuͤrliche Kommentierung bibliſcher Stel; 
len gegolten hatte, erwies ſich als ein Schoͤpfen und 
Umbilden aͤlteſten Volksguts; ſagenhafte Über⸗ 


80 


lieferungen, die man bei der Redaktion des Kanons 
zu erſticken verſucht hatte, bluͤhten hier in urwelt— 
lichem Reichtum, eine von Mund zu Ohr und wieder 
von Mund zu Ohr durch die Geſchlechter wandernde 
Übergabe heiliger Geheimniſſe, und doch auch ein 
unablaͤſſiges Neuwerden, bis in die große Umdich— 
tung aus dem Geiſte der juͤdiſchen Myſtik. Wie die 
antijuͤdiſchen Raſſentheoretiker nach dem Bekannt— 
werden der mythiſchen Elemente der Bibel, ſo konn— 
ten nach dem Bekanntwerden der mythiſchen Ele— 
mente des nachbibliſchen Schrifttums die rationali— 
ſtiſchen juͤdiſchen Apologetiker die Fiktion, es gebe 
keinen juͤdiſchen Mythos, nicht laͤnger aufrechterhal— 
ten. Sie betraten daher einen neuen Weg: fie unter; 
ſchieden nunmehr ein negatives, mythologiſches und 
ein poſitives, monotheiſtiſches Judentum; jenes ver⸗ 
warfen ſie als Hemmung und Truͤbung, dieſes feier⸗ 
ten ſie als die wahre Lehre; ſie ſanktionierten den 
Kampf des Rabbinismus gegen den Mythos als die 
fortſchreitende Reinigung eines bedeutenden Ideen—⸗ 
gehalts und ſtellten ſich gleichſam ſelbſt in dieſen 
Kampf ein. Ein namhafter juͤdiſcher Gelehrter, der 
dieſer Richtung naheſteht, obgleich er ſich groͤßere 
Ziele als die Apologetik ſetzt, David Neumark, formu—⸗ 


6 81 


lierte dieſe Anſicht in dem Satz: „Die Entwicklungs⸗ 
geſchichte der juͤdiſchen Religion iſt in Wahrheit die 
Geſchichte der Befreiungskaͤmpfe gegen die eigene und 
fremde, altehrwuͤrdige und neugedichtete Mytho— 
logie.“ Dieſer Satz enthaͤlt eine Wahrheit, aber ſie iſt 
ſo parteiiſch ausgedruͤckt, daß ſein Wahrheitsgehalt 
verdunkelt erſcheint. Wir wollen ihn wiederaufhellen 
und dem Satz eine gerechtere Faſſung geben: Die 
Entwicklungsgeſchichte der juͤdiſchen Religion iſt in 
Wahrheit die Geſchichte der Kaͤmpfe zwiſchen dem 
natürlichen Gebilde der mythiſch-monotheiſtiſchen 
Volksreligion und dem intellektuellen Gebilde der 
rational⸗monotheiſtiſchen Rabbinenreligion. Ich 
ſagte: der mythiſch-monotheiſtiſchen Volksreligion; 
denn es iſt gar nicht wahr, daß Monotheismus und 
Mythos einander ausſchloͤſſen und ein monotheiſtiſch 
empfindendes Volk ſomit der mythenbildenden Kraft 
entbehren müßte. Vielmehr iſt jeder lebendige Mono; 
theismus des mythiſchen Elements voll, und nur ſo⸗ 
lange er dies iſt, iſt er lebendig. Allerdings bemuͤhte 
ſich das Rabbinentum in ſeinem blinden Streben 
nach „Abgrenzung“ des Judentums um die Herftel; 
lung eines vom Mythos „gereinigten“ Gottesglau⸗ 
bens; aber was es dabei zuſtande brachte, war ein 


82 


elender Homunkulus. Und dieſer Homunkulus war 
der ewige Exilarch, er hatte die Herrſchaft über die 
Geſchlechter des Galut; unter ſeiner Tyrannei 
mußte die lebendige Kraft des juͤdiſchen Gott-Erle⸗ 
bens, der Mythos, ſich in den Turm der Kabbala ver; 
ſchließen oder ſich am Spinnrocken der Frauen ver— 
ſtecken oder aus den Mauern des Ghettos in die Welt 
fluͤchten: er wurde als Geheimlehre geduldet oder als 
Aberglaube verachtet oder als Ketzerei verſtoßen. Bis 
der Chaſſidismus ihn auf den Thron, auf den Thron 
eines kurzen Tages ſetzte; von dem er herabgeſtoßen 
wurde, um als ein Bettler unſere ſchwermuͤtigen 
Traͤume zu durchirren. Und doch iſt er es, dem das 
Judentum in den Zeiten der Gefahr ſeine innerſte Ge⸗ 
ſchloſſenheit verdankte. Nicht Joſef Karo, ſondern 
Iſaak Lurja hat im ſechzehnten, nicht der Gaon von 
Wilna, ſondern der Baalſchem hat im achtzehnten 
Jahrhundert das Judentum wahrhaft gefeſtigt und 
abgegrenzt: da ſie die Volksreligion zu einer Macht 
in Iſrael erhoben und die Perſoͤnlichkeit des Volkes 
erneuerten aus den Wurzeln ſeines Mythos. Und 
wenn es den freigelaſſenen Juden unſerer Generation 
fo ſchwer wird, ihre menſchliche Religioſitaͤt mit ihrem 
Judentum zu einer Einheit zu verſchmelzen, ſo iſt dies 


6* 83 


die Schuld des Rabbinismus, der das juͤdiſche Ideal 
entmannt hat; wenn aber dennoch der Weg zur Ein— 
heit uns noch geoͤffnet ſteht und es uns gewaͤhrt iſt, 
indem wir unſer Menſchentum vollenden, zugleich 
unſer Volkstum zu gewinnen, und indem wir nach 
unſerem ſelbeigenen Gefuͤhl das Goͤttliche verehren, 
die Flügel des juͤdiſchen Geiſtes über unſerem Haupte 
rauſchen zu hoͤren, ſo hat dies uns die hohe Kraft un⸗ 
ſeres Mythos erwirkt. 


2 
— 


Wollen wir das Weſen des monotheiſtiſchen 
jüdischen Mythos erkennen und dadurch zugleich das 
Weſen des Mythos uͤberhaupt tiefer erfaſſen lernen, 
ſo liegt uns ob, die Entſtehung des juͤdiſchen Mono— 
theismus zu betrachten, wie ſie ſich uns aus der 
Bibel kundgibt. Wir entdecken dann drei Schichten, 
die wir klar zu ſondern vermoͤgen. Von dieſen drei 
religionshiſtoriſchen Schichten — die mit den ferfge; 
ſchichtlichen der modernen Bibelkritik nicht verwechſelt 
werden duͤrfen — ſteht die erſte unter dem Namen 
Elohim, die zweite unter dem Namen Jahwe, die 
dritte benutzt beide Namen, um ein in Wahrheit na; 
menloſes Gottesweſen in ſeiner zwiefachen Erſchei— 


84 


nung als Allgott und als Volksgott anzudeuten; und 
jede dieſer Schichten hat ihre ſpezifiſche Mythologie; 
in ihnen baut ſich der juͤdiſche Mythos auf. 

Der Name „Elohim“ tritt in der Bibel gewoͤhnlich 
als Singular auf, aber es iſt unverkennbar, daß er 
urſpruͤnglich ein Plural war und etwa „die Gewal— 
ten“ bedeutete. Wir finden zahlreiche Spuren dieſer 
Gottvielheit, die nicht in verſchiedene, individual be— 
ſtehende Geſtalten von perſoͤnlicher Art und perſoͤn⸗ 
lichem Leben differenziert iſt, ſondern gleichſam eine 
im Weſen geſonderte, im Handeln verbundene Mehr— 
heit kosmiſcher Kräfte, ein Aggregat ſchaffender, er 
haltender und zerſtoͤrender Maͤchte, eine uͤber die 
Erde ziehende, ſich in ſich ſelber beratende 
und aus ihrem Rat beſchließende Götter; 
wolke darſtellt“). Man kann verwandte Erſchein— 
ungen bei anderen Voͤlkern aufzeigen; aber das 
ſind alles ſekundaͤre Gottheiten, Hilfsgottheiten — 
dem monumentalen Monopluralismus des Elohim— 
Mythos iſt nichts anderes an die Seite zu ſetzen. 
Einzigartig iſt auch feine weitere Entwicklung. Inner 

„ Ich kann an dieſer Stelle nur auf Reſultate hinweiſen; wer unbe⸗ 
fangen und mit Verſtändnis für den Sinn hebräiſcher Urworte den Bibel; 
tert lieſt, wird ſich die Belege leicht zuſammenſtellen. 


85 


halb der Vielheit des Elohim bildet fich eine domi⸗ 
nierende Gewalt, ein namentragendes Hauptweſen 
heraus, das immer groͤßere Macht an ſich reißt und 
ſich endlich, mit den mythiſchen Inſignien eines alten 
Stammgottes geſchmuͤckt, als ſelbſtaͤndiger Herrſcher 
losloͤſt: Jahwe ... Noch wird geſungen: Wer gleicht 
Jahwe unter den Soͤhnen der Goͤtter? Bald aber 
fuͤhrt er die Maͤchte, die ihm einſt Gefaͤhrten waren, 
als dienende Heerſchar mit ſich, mit der er auch ſeinen 
Namen ergaͤnzt: Jahwe des Gewaltenheeres, Jahwe 
Zebaot. Zuletzt ſinkt das Elohim zu einem bloßen 
Attribut herab: Jahwe Elohim wird der Einzige ge⸗ 
nannt; aber auch in ſeinen anderen Namen, ſo in 
Schaddai, ſchwingt die einſtige Polydaͤmonie nach. 
Und noch viel ſpaͤter, als er ſchon ins Unſinnliche ge⸗ 
hoben worden iſt, redet er zuweilen, als ſpraͤche er 
noch zu der urweltlichen Goͤttervielheit. 

Jahwe iſt der goͤttliche Heros ſeines Volkes und die 
uralten Hymnen, die uns wie aus einer fruͤheren 
geologiſchen Epoche bewahrt in den prophetiſchen 
Schriften, im Hiob, in den Pſalmen verſprengt er⸗ 
halten geblieben ſind, preiſen ſeine Siegestaten, 
jede ein echter Mythos: wie er das Untier des 
Chaos zerſchmetterte und unter dem Jubel der 


86 


morgendlichen Sterne die Pfeiler der Erde in die 
Tiefe ſenkte. 

Und nun greift jene ſupreme Tendenz des Juden— 
tums ein, die ſich mit keinem Einheitsgebilde beſchei— 
det, ſondern von jedem zu einer hoͤheren, vollkomme— 
neren Einheit fortſchreitet, und weitet dieſen kosmiſch—⸗ 
nationalen Jahwe zum Gott des Alls, zum Gott der 
Menſchheit, zum Gott der Seele. Aber der Gott des 
Alls darf ſich nicht mehr am Abend unter den Baͤu— 
men ſeines Paradieſes ergehen, und der Gott der 
Menſchheit darf nicht mehr mit Jakob bis zum Mor; 
gengrauen ringen, und der Gott der Seele darf nicht 
mehr im unverſehrten Dornbuſch brennen. Der 
Jahwe der Propheten iſt keine ſinnliche Wirklichkeit 
mehr; und die alten mythiſchen Bilder, in denen er 
verherrlicht wird, find nur noch Gleichniſſe feiner Un; 
ausſprechlichkeit. So ſcheinen denn die Rationaliſten 
nun doch noch recht zu bekommen und der juͤdiſche 
Mythos ein Ende gefunden zu haben. Aber dem iſt 
nicht ſo. Schon deshalb nicht, weil das Volk die Idee 
eines ſinnlich nicht erlebbaren Gottes noch Jahrtau— 
ſende ſpaͤter nicht wahrhaft angenommen hatte. Vor 
allem aber deshalb nicht, weil die Rationaliſten den 
Begriff des Mythos zu eng und zu klein faſſen. 


87 


Wir haben damit begonnen, Mythos den Bericht 
von goͤttlichem Geſchehen als einer ſinnlichen Wirk⸗ 
lichkeit zu nennen. Aber weder Platon noch unſer 
Sprachgefuͤhl verſteht dieſe Definition ſo wie die Ra⸗ 
tionaliſten ſie verſtehen: als ob nur der Erzaͤhlung 
von dem Tun oder Leiden eines als ſinnliche Sub⸗ 
ſtanz gegebenen Gottes der Name eines Mythos zu⸗ 
kaͤme. Vielmehr iſt dies ihr Sinn: daß wir Mythos 
alle Erzaͤhlung von einem ſinnlich wirklichen Geſche⸗ 
hen zu nennen haben, die es als ein goͤttliches, ein ab⸗ 
ſolutes Geſchehen empfindet und darſtellt. 

Um dies mit aller Klarheit zu erfaſſen, muͤſſen wir 
noch einmal nach dem Allgemeinen ausſchauen und 
danach fragen, wie denn Mythos entſteht. 


3. 

Die Welterkenntnis des „ziviliſierten“ Menſchen 
iſt getragen von der Funktion der Kauſalitaͤt, von der 
Betrachtung der Weltvorgaͤnge in einem empiriſchen 
Zuſammenhang der Urſachen und Wirkungen. Durch 
dieſe Funktion wird erſt eine Orientierung, ein Sich⸗ 
zurechtfinden im unendlichen Geſchehen ermoͤglicht; 
zugleich aber wird der Sinn des einzelnen Erlebniſſes 
geſchwaͤcht, weil es ſo nur aus ſeiner Beziehung zu 


88 


anderen Erlebniſſen, nicht vollkommen aus ſich felber 
erfaßt wird. Beim primitiven Menſchen iſt die Funk- 
tion der Kauſalitaͤt noch recht ſchwach ausgebildet. 
Faſt ausgeſchaltet iſt ſie bei ihm Ereigniſſen gegen— 
uͤber, die ihm eine Sphaͤre darſtellen, in die forſchend, 
wiederholend, nachpruͤfend einzudringen nicht in ſei— 
ner Macht iſt, wie Traum und Tod; Menſchen gegen— 
über, die in fein Leben mit einer gebieteriſchen Daͤ⸗ 
monie eingreifen, welche er nicht nach der Analogie 
ſeiner eigenen Faͤhigkeiten zu begreifen vermag, wie 
der Zauberer und der Held. Er reiht dieſe Ereigniſſe 
nicht in den urſaͤchlichen Zuſammenhang ein wie die 
kleinen Begebenheiten ſeines Tages, er reiht die Taten 
dieſer Menſchen nicht in die Kette des Geſchehens ein 
wie die ſeinen und die ſeiner Vertrauten, er regiſtriert 
ſie nicht mit kundigem Gleichmut wie das Gewohnte 
und Verſtaͤndliche, ſondern er nimmt ſie, von der kau— 
ſalen Funktion ungehemmt, mit der ganzen Spam 
nung und Inbrunſt ſeiner Seele in ihrer Beſonderheit 
auf und bezieht ſie nicht auf Urſachen und Wirkungen, 
ſondern auf ihren eigenen Gehalt, auf ihren Sinn als 
Außerungen des unfagbaren, undenkbaren, nur eben 
in ihnen ſich darſtellenden Sinnes der Welt. Daraus 
ergibt ſich die unzulaͤngliche Empirie und Zweckſicher⸗ 


89 


heit des Primitiven ſolchen elementaren Erlebniſſen 
gegenüber, aber zugleich auch ſein hohes Gefuͤhl fuͤr 
das Irrationale des einzelnen Erlebniſſes, für das, 
was daran nicht aus anderen Vorgaͤngen zu begrei⸗ 
fen, ſondern nur aus ihm ſelbſt zu erſchauen iſt, fuͤr 
ſeine Bedeutung als Signum eines geheimen, uͤber⸗ 
kauſalen Zuſammenhangs, fuͤr die Anſchaulichkeit 
des Abſoluten. Er ſtellt die Vorgaͤnge in die Welt 
des Abſoluten, des Goͤttlichen ein: er mythiſiert ſie. 
Sein Bericht von ihnen iſt eine Erzaͤhlung von einem 
ſinnlich⸗wirklichen Geſchehen, die es als ein goͤttliches, 
ein abſolutes Geſchehen empfindet und darſtellt: iſt 
Mythos. 

Dieſe mythiſierende, mythenbildende Fakultaͤt er⸗ 
haͤlt ſich im ſpaͤteren Menſchen trotz aller Entfaltung 
der kauſalen Funktion. In Zeiten hoher Spannung 
und Intenſitaͤt des Erlebens faͤllt gleichſam vom 
Menſchen die Feſſel der Kauſalitaͤtsfunktion ab: er 
erkennt das Geſchehen der Welt als ein uͤberkauſal 
ſinnvolles, als die Außerung eines zentralen Sinns, 
der aber nicht etwa mit dem Gedanken, ſondern nur 
mit der wachen Gewalt der Sinne und dem gluͤhen⸗ 
den Schwingen der ganzen Perſon zu erfaſſen iſt, 
als eine anſchauliche, in aller Vielheit gegebene Wirk⸗ 


90 


lichkeit. So etwa iſt noch immer das Verhältnis des 
wahrhaft lebendigen Menſchen zu der Geſtalt und dem 
Schickſal des Helden beſchaffen; er vermag ihn in die 
Urſaͤchlichkeit einzuſtellen und mythiſiert ihn dennoch, 
weil ihm die mythiſche Betrachtung eine tiefere, ganzere 
Wahrheit eroͤffnet als die kauſale und ihm ſo erſt die 
geliebte, beſeligende Geſtalt im Innerſten erſchließt. 

So iſt denn der Mythos eine ewige Funktion der 
Seele. 

Es iſt nun ſeltſam und bedeutſam, wie dieſe 
Funktion ſich mit der fundamentalen Anſchauung 
der juͤdiſchen Religioſitaͤt begegnet und wie ſie doch 
auch wieder in dieſer ein weſensverſchiedenes, fie um— 
wandelndes Element findet: wie ſozuſagen von 
Natur der juͤdiſche Mythos eine geſchichtliche Konti— 
nuitaͤt darſtellt und wie er doch zugleich fein beſon⸗ 
deres, den anderen, namentlich den okzidentalen 
Mythen fremdes Gepraͤge beſitzt. 

Die fundamentale Anſchauung der juͤdiſchen Reli— 
giofität und der Kern des fo vielfach mißverſtandenen, 
ſo grauſam rationaliſierten juͤdiſchen Monotheismus 
iſt die Betrachtung aller Dinge als Außerungen 
Gottes, alles Geſchehens als einer Kundgebung des 
Abſoluten. Waͤhrend dem anderen großen Mono— 


91 


theiften des Orients, dem indiſchen Weiſen, wie er 
ſich uns in den Upaniſchaden darſtellt, die ſinnliche 
Wirklichkeit ein Schein iſt, den man abſtreifen muß, 
um in die Welt der Wahrheit einzukehren, iſt dem 
Juden die ſinnliche Wirklichkeit eine Offenbarung des 
goͤttlichen Geiſtes und Willens. Darum iſt fuͤr den 
indiſchen Weiſen, wie ſpaͤter fuͤr den Platoniker, aller 
Mythos eine Metapher, fuͤr den Juden iſt er ein 
wahrhafter Bericht von der Kundgebung Gottes auf 
Erden. Der antike Jude kann gar nicht anders als 
mythiſch erzählen: weil ihm erſt dann eine Begeben; 
heit erzaͤhlenswert iſt, wenn ſie in ihrem goͤttlichen 
Sinn gefaßt worden iſt. Alle erzaͤhlenden Buͤcher der 
Bibel haben einen Inhalt: die Geſchichte von den 
Begegnungen Jahwes mit ſeinem Volke. Und ſpaͤ⸗ 
ter, als er aus der Sichtbarkeit der Feuerſaͤule und 
der Hoͤrbarkeit des Donners uͤber dem Sinai in das 
Dunkel und Schweigen der Unſinnlichkeit eingegan⸗ 
gen iſt, bricht dieſe Kontinuität des mythiſchen Erz 
zaͤhlens nicht ab; wohl kann Jahwe nicht mehr wahr⸗ 
genommen werden, aber wahrgenommen werden 
koͤnnen alle ſeine Außerungen in Natur und Hiſtorie. 
Aus dieſen baut ſich der unendliche Gegenſtand des 
nach bibliſchen Mythos auf. 


92 


Es geht wohl ſchon aus dem Geſagten hervor, was 
das iſt, was ich das beſondere Gepraͤge des juͤdiſchen 
Mythos genannt habe. Er hebt die Kauſalitaͤt nicht 
auf, er ſetzt nur an die Stelle der empiriſchen eine 
metaphyſiſche Kauſalitaͤt, einen urſaͤchlichen Zuſam— 
menhang der erlebten Vorgaͤnge mit dem Weſen 
Gottes. Das iſt aber nicht etwa bloß in dem Sinn 
gemeint, daß ſie von Gott bewirkt ſind, ſondern 
immer ſtaͤrker bildet ſich die tiefere und fruchtbarere 
umgekehrte Konzeption heraus: die von dem Einfluß 
des Menſchen und ſeiner Tat auf Gottes Schickſal. 
Dieſe Anſchauung, die ſchon fruͤh eine zugleich naive 
und myſtiſche Geſtaltung findet und die im Chaſſidis— 
mus ihren hoͤchſten Ausdruck gewinnt, lehrt, daß das 
Goͤttliche in den Dingen ſchlummert und nur durch 
den erweckt werden kann, der die Dinge in Weihe 
empfaͤngt und ſich in ihnen heiligt. Die ſinnliche 
Wirklichkeit ift goͤttlich, aber fie muß in ihrer Goͤttlich⸗ 
keit verwirklicht werden durch den, der ſie wahrhaft 
erlebt. Die Gottesherrlichkeit iſt in die Verborgen— 
heit gebannt, ſie liegt gebunden auf dem Grunde 
jeglichen Dinges, und ſie wird in jedem Dinge er— 
loͤſt durch den Menſchen, der ſchauend oder handelnd 
dieſes Dinges Seele freimacht. So iſt ein jeder be— 


93 


rufen, mit feinem eigenen Leben Gottes Schickſal zu 
beftimmen; fo ſteht jeder Lebendige tief verwurzelt im 
lebendigen Mythos. 

Dieſen zwei Konzeptionen entſprechen die zwei 
Grundformen, in denen ſich der juͤdiſche Mythos aus; 
gebildet hat: die Sage von den Taten Jahwes und 
die Legende vom Leben des zentralen, des vollkom⸗ 
men verwirklichenden Menſchen. Die eine folgt 
dem Gang der Bibel, ſo daß ſich um den Beſtand der 
Schrift eine zweite, gleichſam eine in unzaͤhligen 
Schriften verſtreute Sagenbibel geformt hat; doch 
ſchließt ſich auch manches Stuͤck ſpaͤterer Geſchichte 
und manche zeitlich nicht lokaliſierte Erzaͤhlung an. 
Die zweite Grundform berichtet zunaͤchſt von einigen 
bibliſchen Perſonen, insbeſondere von jenen ge⸗ 
heimnisvollen Geſtalten, die der kanoniſche Text ver⸗ 
nachlaͤſſigt hat, wie Henoch, der aus Fleiſch zu Feuer 
gewandelt wurde und aus einem Sterblichen zu 
Matatron, dem Fuͤrſten des goͤttlichen Angeſichtes; 
ſodann erzaͤhlt ſie in kosmiſcher Weite das Leben 
der heiligen Maͤnner, die uͤber die innere Welt 
herrſchten, von Jeſchua aus Nazareth bis zu Iſrael 
dem Sohne Elieſers, dem Baalſchem. Die erſte 
ſtellt gleichfam den ewigen Zuſammenhang, die 


94 


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Die jüdische Myſtik 


Die juͤdiſche Myſtik ift eine ununterbrochene Über: 
lieferung, deren Anfang wir nicht kennen. Man hat 
dieſe Überlieferung lange Zeit zu leugnen geſucht; ſie 
kann heute nicht mehr angezweifelt werden. Man hat 
nachgewieſen, daß fie von perſiſchen, dann von ſpaͤt— 
griechiſchen, dann von albigenſiſchen Quellen geſpeiſt 
wurde; ſie hat die Kraft des eigenen Stromes be— 
hauptet, der allen Zufluß aufnehmen konnte, ohne 
von ihm bezwungen zu werden. Freilich werden wir 
ſie nicht mehr ſo anſehen duͤrfen, wie ihre alten Mei⸗ 
ſter und Juͤnger es taten: als Kabbala, das heißt: als 
„Übernahme“ der Lehre von Mund zu Ohr und wieder 
von Mund zu Ohr, in ſolcher Weiſe, daß jedes Ge— 
ſchlecht ſie empfinge, aber jedes in einer weiteren und 
reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am 
Ende der Zeiten die reſtloſe Wahrheit verkuͤndet 
würde; doch werden wir ihre Einheit, ihre Beſonder— 
heit und ihre ſtarke Bedingtheit durch die Art und 
das Schickſal des Volkes, aus dem ſie heraufwuchs, 
anerkennen muͤſſen. Die juͤdiſche Myſtik mag recht 


96 


ungleichmaͤßig erſcheinen, oft truͤb, zuweilen klein⸗ 
lich, wenn wir ſie an Eckhart, an Plotinos, an Laotſe 
meſſen; ſie wird ihre Bruͤchigkeit nicht verbergen 
koͤnnen, wenn man ſie neben den Upaniſchaden be— 
trachten wollte. Sie bleibt die wunderbare Bluͤte 
eines uralten Baumes, deren Farbe faſt allzu grell, 
deren Duft faſt allzu uͤppig wirkt, und die doch eines 
der wenigen Gewaͤchſe innerer Seelenweisheit und 
geſammelter Ekſtaſe iſt. 

Die myſtiſche Anlage iſt den Juden von Urzeiten 
her eigen, und ihre Außerungen find nicht, wie es ge⸗ 
woͤhnlich geſchieht, als eine zeitweilig auftretende be; 
wußte Reaktion gegen die Herrſchaft der Verſtandes— 
ordnung aufzufaſſen. Es iſt eine bedeutſame Eigen, 
tuͤmlichkeit des Juden, die ſich in den Jahrtauſenden 
kaum gewandelt zu haben ſcheint, daß ſich die Ex— 
treme bei ihm aneinander entzuͤnden, ſchneller und 
maͤchtiger als bei irgendeinem anderen Menſchen. 
So geſchieht es, daß mitten in einem unſaͤglich be; 
grenzten Daſein, ja gerade aus ſeiner Begrenztheit 
heraus plotzlich mit einer Gewalt, die nichts zu baͤn⸗ 
digen vermag, das Schrankenloſe hervorbricht und 
nun die widerſtandslos hingegebene Seele regiert. 
Fuͤr dieſe Macht des Unbegreiflichen in enger 


7 97 


Stille mag uns die Gottesviſion Elijas ein Sinn; 
bild fein. 

Ein Anderes, Weſentlicheres kam hinzu. Wenn 
jede Seele ſich ihre natürliche Subſtanz aus den kraͤf— 
tigen, wertbetonten Bildern formt, die fie mit ihren 
Sinnen aufgenommen und mit ihrem Gefuͤhl ge— 
faßt hat, ſo ſcheint die Seele des Juden an dieſer 
natuͤrlichen Subſtanz arm zu ſein. Unvergleichlich 
mehr motoriſch als ſenſoriſch veranlagt, reagiert er 
auch in ſeinem ganz innerlichen geiſtigen Leben ſehr 
viel intenſiver, als er empfaͤngt. Er geſtaltet das 
Empfangene mehr zu Wortgedanken, Begriffen, als 
zu Bildgedanken, Vorſtellungen, aus. Den vom 
Subjekte unabhaͤngigen Gegenſtaͤnden unendlich 
fremd, nur für die den Funktionen des Subjektes 
unterworfenen Gegenſtaͤnde verſtaͤndnisvoll (ſogar 
für Spinoza iſt die Natur more geometrico darleg; 
bar), exiſtiert der Jude weniger in Subſtanz, als 
in Relation. Er hat den hoͤchſten Sinn fuͤr die all⸗ 
gemeinen und offenbaren, wie fuͤr die heimlichen und 
beſonderen Beziehungen des Kosmos und der Pſyche 
und weiß fie in mathematiſchen Formeln und in lo⸗ 
giſchen Definitionen feſtzulegen oder in Rhythmen 
und Melodien auf das Meer der Ewigkeit auszu⸗ 


98 


ſchicken. Aber er hat einen geringen Sinn für die 
ganze Wirklichkeit eines Baumes, eines Vogels, eines 
Menſchen, der fuͤr ſich ein abſolutes, unerſchoͤpflich 
reiches, ſo geartetes Daſein einſchließt. Und ſehr 
ſelten vermag er ſchaffend Dinge, Gegenſtaͤnde, 
Geſtalten ſichtbar, greifbar, fuͤhlbar hinzuſtellen. Und 
ſo verlaͤuft auch ſein Leben ſelbſt mehr in der Bezie— 
hung, als in dem Weſen: er opfert ſich dem Nutzen 
hin, wenn er eine enge, er bringt ſich einer Idee dar, 
wenn er eine weite Seele hat; niemals aber oder faſt 
niemals lebt er mit den Dingen, ſie geruhig pflegend 
und foͤrdernd, liebreich zu der Welt und ſicher in ſei— 
nem Beſtande. Es gibt jedoch ein Element, das all 
dies in gewiſſer Weiſe erſetzt, indem es der Seele des 
Juden einen Kern, eine Sicherheit, eine Subſtanz 
gibt, allerdings keine ſenſoriſche, objektive, ſondern 
eine motoriſche, ſubjektive. Das iſt das Pathos. Ich 
vermag es nicht zu analyſieren, noch auch in eine Der 
finition zu faſſen. Es iſt ein eingeborenes Eigentum, 
das ſich einſt mit allen anderen Qualitaͤten des 
Stammes aus deſſen Orte und deſſen Geſchicken her— 
aus gebildet hat. Will man es immerhin umſchrei— 
ben, ſo darf man es vielleicht als das Wollen des 
Unmoͤglichen bezeichnen. Es ſtreckt die Arme aus, 


7* 99 


das Schrankenloſe zu umfangen. Es traͤgt eine 
ſchlechthin unerfüllbare Forderung, wie das Pathos 
Moſe und der Propheten die Forderung der abſoluten 
Gerechtigkeit, wie das Pathos Jeſu und Pauli die 
Forderung der abſoluten Liebe; oder eine ſchlechthin 
unerfuͤllbare Abſicht, wie das Pathos Spinozas die 
Abſicht, das Sein zu formulieren; oder ein ſchlechthin 
unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons 
und der Kabbala das Verlangen nach der Vermaͤh— 
lung mit Gott, die im Sohar „Siwwug“ genannt 
wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Din; 
gen keinen Boden finden kann, von ihrer Leere und 
Unfruchtbarkeit erloͤſt, indem ſie in dem Unmoͤglichen 
Wurzel ſchlaͤgt. 

Kommt demnach die Kraft der juͤdiſchen Myſtik 
aus einer urſpruͤnglichen Eigenſchaft des Volkes, das 
ſie erzeugt hat, ſo hat ſich ihr des weiteren auch das 
Schickſal des Volkes eingepraͤgt. Das Wandern 
und das Martyrium der Juden haben ihre Seelen 
immer wieder in die Schwingungen der letzten Ver— 
zweiflung verſetzt, aus denen ſo leicht der Blitz der 
Ekſtaſe erwacht. Zugleich aber haben fie fie gehindert, 
den reinen Ausdruck der Ekſtaſe auszubauen, und ſie 
verleitet, Notwendiges, Erlebtes mit Überfluͤſſigem, 


100 


Aufgeklaubtem durcheinanderzuwerfen, und in dem 
Gefühle, das Eigene vor Pein nicht ſagen zu können, 
am Fremden geſchwaͤtzig zu werden. So ſind Schriften 
wie der „Sohar“, das Buch des Glanzes, entſtanden, 
die ein Entzuͤcken und ein Abſcheu ſind. Mitten unter 
rohen Anthropomorphismen, die durch die allego— 
riſche Ausdeutung nicht ertraͤglicher werden, mitten 
unter oͤden und farbloſen Spekulationen, die in einer 
verdunkelten, geſpreizten Sprache einherſtelzen, leuch— 
ten wieder und wieder Blicke der verſchwiegenen See— 
lentiefen und Offenbarungen der letzten Geheimniſſe 
auf. Das Pathos erniedrigt ſich oft genug zur Rhe— 
torik; dieſem Suͤndenfall waren die Juden von jeher 
ausgeſetzt, und nicht immer bloß die mittelmaͤßigen. 
Aber immer wieder macht ſich das Pathos frei und iſt 
reiner und groͤßer als zuvor. Am groͤßten, wenn es 
die Gefahr erkennt, die ihm vom Worte droht. Sich 
mitteilend, weil es nicht anders kann, fühlt es doch 
die Unzulänglichkeit aller Mitteilung, fuͤhlt die Un⸗ 
ausſprechlichkeit des Erlebniſſes, und gluͤht auf in 
Angſt, von der eigenen Rede geſchaͤndet zu werden. 
„Komm und ſchau!“ heißt es im „Sohar“; „Denken 
iſt der Anfang von allem, was iſt; aber alſo ſeiend iſt 
es in ſich beſchloſſen und unbekannt ... Das wirk⸗ 


101 


liche Denken iſt mit dem Nichts verbunden und Loft 
ſich nicht von ihm.“ Und als ein fremder Greis den 
Juͤngern Simons ben Jochai, des legendaͤren Ur— 
meiſters der Kabbala, die Unvergaͤnglichkeit der 
Energie verkuͤndet — „Nichts faͤllt ins Leere, auch 
nicht die Worte und die Stimme des Menſchen; 
alles hat ſeinen Ort und ſeine Beſtimmung“ —, da 
fahren ſie vor ihm zuruͤck, aber ſie fuͤrchten nicht fuͤr 
ſich, ſondern fuͤr ihn, der geſprochen hat; ſie reden 
zu ihm: „O Greis, was haſt du getan? Haͤtte es nicht 
beſſer getaugt, das Schweigen zu bewahren? Denn 
nun biſt du davongetragen, ohne Segel und 
Maſt, auf einem ungeheuern Meer. Wenn du 
aufſteigen wollteſt, koͤnnteſt du es nicht mehr, und 
im Niederſinken findeſt du den Abgrund ohne 
Boden.“ 

In der Zeit des Talmuds war die myſtiſche Lehre 
noch ein Geheimnis, das man nur einem „Meiſter in 
Kuͤnſten und kundig des Fluͤſterns“ anvertrauen 
durfte, und von den Eſſaͤern wiſſen wir aus Joſephus, 
wie ſorgſam ſie das Myſterium behuͤteten und die ge⸗ 
heimen Schriften, die ihnen als uralt galten. Erſt 
ſpaͤter greift die Lehre uͤber das Gebiet der Sekte und 
der perſoͤnlichen Übergabe hinaus. Die erſte uns er; 


102 


haltene Schrift, das pythagoreiſierende „Buch der 
Schoͤpfung“, iſt wahrſcheinlich zwiſchen dem ſiebenten 
und dem neunten Jahrhundert entſtanden, und der 
„Sohar“ ſtammt — jedenfalls in ſeiner jetzigen Re— 
daktion — aus dem Ende des dreizehnten; zwiſchen 
beiden liegt die Zeit der eigentlichen Entwicklung der 
Kabbala. Aber noch lange bleibt die Beſchaͤftigung 
mit ihr auf enge Kreiſe beſchraͤnkt, mochte ſie ſich auch 
uͤber Frankreich, Spanien, Italien und Deutſchland 
bis nach Agypten und Palaͤſtina erſtrecken. All die 
Zeit bleibt auch die Lehre ſelbſt dem Leben fremd: ſie 
iſt Theorie im neoplatoniſchen Sinne, Gottſchauen, 
und verlangt nichts von der Wirklichkeit menſchlichen 
Daſeins; ſie fordert nicht, daß man ihr nachlebe, ſie 
hat keine Fuͤhlung mit dem Handeln, das Reich der 
Wahl, das der ſpaͤteren juͤdiſchen Myſtik, dem Chaffi- 
dismus, alles bedeutete, iſt ihr nicht unmittelbar le⸗ 
bendig; ſie iſt außermenſchlich und beruͤhrt ſich nur in 
der Betrachtung der Ekſtaſe mit der ſeeliſchen Realitaͤt. 
Sie ſteht zwei anderen Maͤchten im Judentum gegen⸗ 
uͤber, der harten, allem perſoͤnlichen Leben feind— 
lichen, um das „Geſetz“ beſorgten Strengglaͤubig— 
keit und dem von Ariſtoteles beſtimmten, naturfernen 
Rationalismus, aber ſie ſetzt dem Ethos der einen 


103 


und dem des anderen kein eigenes entgegen, und ſo 
dringt ihr Sinn nicht ins Volk. 

Erſt in den letzten Zeiten dieſer Epoche werden neue 
Kraͤfte offenbar. Die Vertreibung der Juden aus 
Spanien gab der Kabbala den großen meſſianiſchen 
Zug. Der einzige energiſche Verſuch der Diaſpora, im 
Exil eine kulturſchaffende Gemeinſchaft und eine 
Heimat im Geiſte zu begruͤnden, hatte in Truͤmmern 
und Verzweiflung geendet. Der alte Abgrund tat ſich 
wieder auf, und aus ihm ſtieg wieder, wie immer, der 
alte Erloͤſungstraum empor, ragend und gebieteriſch 
wie nie zuvor ſeit den Tagen der Roͤmer. Die Sehn⸗ 
ſucht brennt: das Abſolute muß Wirklichkeit werden. 
Auch der Meſſianismus der Juden war von jeher ein 
Wollen des Unmoͤglichen. Die Kabbala konnte ſich 
ihm nicht verſchließen. Sie nannte das Reich Gottes 
auf Erden „die Welt der Vollendung“. Sie nahm 
die Inbrunſt des Volkes in ſich auf. Und als ſie es 
tat, zog ſie im Volke ein, wie der Meſſias ſelbſt in 
ſeiner Stadt. 

Die um die Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts 
beginnende neue Ara der juͤdiſchen Myſtik, die den 
ethiſch-ekſtatiſchen Akt des Einzelnen als Mitſchaffen 
an der Erloͤſung verkuͤndet, wird durch Iſaak Lurja 


104 


eröffnet. Er, der hundert Jahre vor Locke lehrte, 
alles Seiende beſtehe aus Subſtanz und Erſcheinung 
und es ſei keine objektive Erkenntnis gegeben, war in 
ſeinen Gedanken uͤber die Emanation der Welt aus 
Gott und die demiurgiſchen Zwiſchenpotenzen faſt 
durchaus von der aͤlteren Kabbala abhaͤngig; aber in 
ſeiner Darſtellung der unmittelbaren Wirkung der 
Menſchenſeele, die ſich laͤutert und vollendet, auf Gott 
und Welterloͤſung gibt er den alten Weisheiten eine 
neue Geſtalt und eine neue Folge. 

Schon im Talmud heißt es, der Meſſias werde 
kommen, wenn alle Seelen in das leibliche Leben ein⸗ 
getreten fein wuͤrden. Die Kabbaliſten des Mittels 
alters glaubten zu erkennen, ob die Seele eines 
Menſchen, der vor ihnen ſtand, aus der Welt des 
Ungeborenen in ihn niedergeſtiegen oder mitten in 
ihrer Wanderung bei ihm eingekehrt ſei. Der Sohar 
und die ſpaͤtere Kabbala bauten die Lehre aus, die wir 
bei Lurja endguͤltig gefaßt finden. Es gibt danach 
zwei Formen der Metempſychoſe: den Kreisgang oder 
die Wanderung, Gilgul, und den Überſchwang oder 
die Schwaͤngerung, Ibbur. Gilgul iſt das Eintreten 
von Seelen, die auf der Fahrt ſind, in einen Menſchen 
im Augenblick ſeiner Zeugung oder Geburt. Aber 


105 


auch ein bereits mit einer Seele begabter Menſch kann 
in irgendeinem Moment ſeines Lebens eine oder meh⸗ 
rere Seelen empfangen, die ſich mit ſeiner vereinigen, 
wenn ſie mit ihr verwandt, das heißt, aus derſelben 
Ausſtrahlung des Urmenſchen entſtanden ſind. Die 
Seele eines Toten verbindet ſich der eines Lebenden, 
um ein vollendetes Werk, das ſie im Sterben 
laſſen mußte, vollbringen zu koͤnnen. Ein hoher ab⸗ 
geſchiedener Geiſt ſteigt in ganzer Lichtfuͤlle oder in 
einzelnen Strahlen zu einem unfertigen hinab, um 
bei ihm zu wohnen und ihm zur Vollendung beizu⸗ 
ſtehen. So wird Prophetie geboren. Oder zwei un 
vollkommene Seelen vereinigen ſich, um einander zu 
ergaͤnzen und zu laͤutern. Kommt uͤber eine dieſer 
Seelen Schwaͤche und Hilfloſigkeit, dann wird die 
andere ihre Mutter, traͤgt ſie in ihrem Schoße und 
naͤhrt ſie mit dem eigenen Weſen. Auf allen dieſen 
Wegen vollzieht ſich die Reinigung der Seelen von 
der Urtruͤbung und die Erloͤſung der Welt aus der 
erſten Verwirrung. Iſt dieſes getan, haben alle die 
Wegreiſe vollzogen, dann erſt zerbricht die Zeit, und 
das Gottesreich hebt an. Als letzte ſteigt die Seele des 
Meſſias ins Leben herab. Durch ihn geſchieht die Ver⸗ 
goͤttlichung der Welt. 


106 


Lurjas eigentuͤmliche Tat ift, daß er dieſen Welt; 
prozeß auf die Haltung einiger Menſchen ſtellen 
wollte. Er verkündete, eine unbedingte Lebensfuͤh— 
rung derer, die ſich der Erloͤſung weihen, in Tauch— 
baͤdern und Nachtwachen, in ekſtatiſcher Betrachtung 
und vollkommner Liebe zu allem und allen, würde die 
Seelen gleichſam in einem Sturme laͤutern und das 
meſſianiſche Reich herbeirufen. 

Das Grundgefuͤhl, deſſen ideelle Außerung dieſe 
Lehre war, fand nahezu hundert Jahre ſpaͤter ſeinen 
elementaren Ausdruck in der großen meſſianiſchen 
Bewegung, die den Namen Sabbatai Zewis traͤgt. 
Sie war eine Entladung der unbekannten Volks- 
kraͤfte und eine Offenbarung der verborgenen Wirk— 
lichkeit der Volksſeele. Die ſcheinbar unmittelbarſten 
Werte, das heile Leben und der Beſitz, waren ploͤtz— 
lich ſchal und nichtswuͤrdig geworden, und die Menge 
vermochte es, dieſen zu verlaſſen wie ein uͤberfluͤſſiges 
Geraͤt und jenes nur noch mit leichter Hand zu halten 
wie ein Gewand, das dem Laufenden entgleitet und 
das er, wenn es ihn allzuſehr hemmt, die Finger 
oͤffnend fahren läßt, um nackt und frei das Ziel zu 
ereilen. Der vermeintlich vom Verſtand regierte 
Stamm entbrannte im Eifer um die Botſchaft. 


107 


Auch dieſe Erhebung brach zuſammen, jaͤmmer— 
licher und entſetzlicher zugleich als irgendeine der fruͤ⸗ 
heren. Und nun verinnerlicht ſich der Meſſianismus 
wieder. Das eigentliche Zeitalter der Mortifikation 
beginnt. Der Glaube, durch myſtiſche Übung die 
oberen Welten zwingen zu koͤnnen, dringt immer tie⸗ 
fer ins Volk ein. Um das Jahr 1700 vollzieht ſich 
jener aſketiſche Zug der Fuͤnfzehnhundert in das 
Heilige Land, der in Tod und Elend aufgeht. Aber 
auch Einzelne bereiten ſich in ruͤckſichtsloſer Entaͤuße⸗ 
rung. In Polen namentlich reift in vielen der Wille, 
ſich und die Welt zu entſuͤhnen. Manche von ihnen 
ziehen, da keine einzelne Kaſteiung ihnen genugtun 
kann, auf die Wanderung, „in die Verbannung“, wie 
ſie es nennen, nehmen nirgends Speiſe oder Trank 
an, und wandern ſo, von ihrem Willen getragen, bis 
mit ihrer Kraft auch ihr Leben erliſcht und ſie auf 
fremdem Orte unter Fremden tot hinfallen. 

Dieſe Maͤrtyrer des Willens ſind die Vorlaͤufer der 
letzten und hoͤchſten Entwicklung der juͤdiſchen Myſtik, 
des um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ent⸗ 
ſtandenen Chaſſidismus, der ſie zugleich fortſetzte und 
widerlegte. Der Chaſſidismus iſt die Ethos gewordene 
Kabbala. Aber das Leben, das er lehrt, iſt nicht 


108 


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Aſkeſe, ſondern Freude in Gott. Chaſſid bedeutet: der 
Fromme; aber der Chaſſidismus iſt kein Pietismus. 
Er entbehrt aller Sentimentalitaͤt und Gefuͤhlsoſten— 
tation. Er nimmt das Jenſeits ins Diesſeits heruͤber 
und laͤßt es in ihm walten und es formen, wie die 
Seele den Koͤrper formt. Sein Kern iſt eine hoͤchſt 
gotterfuͤllte und hoͤchſt realiſtiſche Anleitung zur Ck— 
ſtaſe, als zu dem Sinn und dem Gipfel des Daſeins. 
Aber die Ekſtaſe iſt hier nicht, wie etwa bei der deut— 
ſchen Myſtik, ein „Entwerden“ der Seele, ſondern 
deren Entfaltung; nicht die ſich beſchraͤnkende und 
entaͤußernde, ſondern die ſich vollendende Seele 
mündet in das Abſolute. In der Aſkeſe ſchrumpft das 
geiſtige Weſen, die Neſchama, zuſammen, fie er 
ſchlafft, wird leer und truͤbe; nur in der Freude kann 
ſie wachſen und ſich erfuͤllen, bis ſie, alles Mangels 
ledig, zum Goͤttlichen heranreift. Niemals hat eine 
Lehre das Gottfinden mit einer ſolchen Kraft und in 
einer ſolchen Reinheit auf das Selbſtſein geſtellt. 
Wieder war es Polen, das ſich ſchoͤpferiſch erwies, 
und vor allem die ſteppenreiche Ebene der Ukraine. 
Polen hatte eine feſte, durch die fremde, verachtende 
Umwelt in ſich geſtaͤrkte judiſche Gemeinſchaft, und 
zum erſtenmal ſeit der ſpaniſchen Bluͤte entwickelte 


109 


ſich hier ein eigenes Leben in Werken und Werten, 
eine duͤrftige und gebrechliche aber ſelbſtaͤndige Kulz 
tur. Waren ſo die Vorausſetzungen fuͤr geiſtiges 
Wirken uͤberhaupt gegeben, ſo konnte eine myſtiſche 
Lehre doch nur auf dem Boden der Ukraine empor— 
wachſen. Hier herrſchte ſeit den koſakiſchen Juden⸗ 
metzeleien unter Chmielnicki ein aͤhnlicher Zuſtand der 
tiefſten Unſicherheit und Verzweiflung, wie jener, 
der einſt nach der Vertreibung aus Spanien die Kab—⸗ 
bala verjuͤngte. Und dann war der Jude hier nicht, 
wie in den uͤbrigen polniſchen Laͤndern, ein Staͤdter, 
der in dem engen rabbiniſchen Studium vertrocknete 
oder in der Atmoſphaͤre der geſchaͤftigen Maſſe 
verflachte, ſondern zumeiſt ein Doͤrfler, einſamer 
und ſich ſelbſt naͤher, begrenzt im Wiſſen, aber 
urſpruͤnglich im Glauben und ſtark in ſeinem Trau⸗ 
me von Gott. 

Der Begruͤnder des Chaſſidismus war Iſrael aus 
Miedzyborz, der „Baal ſchem“, das iſt Meiſter des 
wunderwirkenden Gottesnamens, genannt wurde. 
Um ihn und ſeine Juͤnger ſpann ſich eine farbenreiche 
und innige Legende. Er war ein ſchlichter, wahrz 
haftiger Mann, unerſchoͤpflich an Inbrunſt und len⸗ 
kender Gewalt. 


110 


Die Lehre des Baalſchem ift uns ſehr unvollkom— 
men erhalten. Er ſelbſt ſchrieb ſie nicht nieder; und 
auch muͤndlich teilte er, wie er einmal ſagte, nur das 
mit, was ihn wie ein allzu volles Gefäß überquellen 
machte. Unter ſeinen Schuͤlern ſcheint er keinen als 
wuͤrdig befunden zu haben, ſeinen Gedanken reſtlos 
aufzunehmen; ein Gebet von ihm wird uͤberliefert: 
„Herr, dir iſt bewußt und offenbar, wie vieles in mir 
an Erkennen und Vermoͤgen ruht, und da iſt kein 
Menſch, dem ich es kundtun koͤnnte.“ Von dem aber, 
was er lehrte, ſcheint das meiſte ganz unzulaͤnglich 
niedergeſchrieben worden zu fein, oft gänzlich ent: 
ſtellt. Beim Durchblicken einer ſolchen Niederſchrift 
ſoll er einmal ausgerufen haben: „Hier iſt nicht ein 
Wort, das ich geſagt haͤtte.“ 

Dennoch iſt der wirkliche Sinn ſeiner Grundlehren 
unverkennbar. 

Gott, fo lehrt der Baalſchem, iſt das Weſen jedes 
Dinges. Wer, ungeblendet vom Schein, in das Wer 
ſen der Dinge ſchaut, der ſchaut Gott. Gott ſpricht 
nicht aus den Dingen, ſondern er denkt in den Din⸗ 
gen; und ſo kann er nur mit der innerſten Kraft der 
Seele empfangen werden. Iſt dieſe Kraft freige⸗ 
macht, dann iſt es dem Menſchen an jedem Orte und 


111 


zu jeder Zeit gegeben, ſich mit Gott zu vereinigen. 
Jede Handlung, die in ſich geweiht iſt, mag ſie noch 
ſo niedrig und ſinnlos erſcheinen dem von außen 
Herankommenden, iſt der Weg zum Herzen der Welt. 
In allen Dingen, auch in den ſcheinbar voͤllig toten, 
wohnen Funken des Lebens, die in die bereite Seele 
fallen. Was wir das Boͤſe nennen, iſt kein Weſen, 
ſondern ein Mangel; es iſt „Gottes Exil“, die un⸗ 
terſte Stufe des Guten, der Thron des Guten; es iſt 
— in der Sprache der alten Kabbala — die „Schale“, 
die das Weſen der Dinge umgibt und verhuͤllt. 
Es gibt kein Ding, das boͤſe und der Liebe unwuͤr⸗ 
dig waͤre. Auch die Triebe des Menſchen ſind nicht 
boͤſe; „je groͤßer ein Menſch,“ heißt es ſchon im 
Talmud, „deſto groͤßer iſt ſein Trieb“; aber der 
Reine und Geheiligte macht aus ſeinem Trieb 
„einen Wagen fuͤr Gott“, er loͤſt ihn von aller 
Schale ab und laͤßt ſeine Seele ſich daran vollenden. 
Der Menſch ſoll ſeine Triebe in ihren Tiefen fuͤhlen 
und ſie beſitzen. „Er ſoll den Stolz lernen und 
nicht ſtolz ſein, den Zorn kennen und nicht zuͤrnen. 
Der Menſch vermag ſich mit allen Wonnen zu 
kaſteien. Er vermag zu blicken nach welchem Orte er 
will und ſich nicht uͤber ſeine vier Ellen hinaus zu ver⸗ 


112 


lieren; Worten des Scherzes zu lauſchen und fich zu 
betruͤben. Und ſo geſchieht es, daß er hier ſitzt und ſein 
Herz iſt oben, er ißt und vergnuͤgt ſich in dieſer Welt 
und genießt aus der Welt der geiſtigen Seligkeit.“ 
Das Schickſal des Menſchen iſt nur der Ausdruck ſei— 
ner Seele: weſſen Gedanken an unreinen Dingen 
umherſtreifen, erlebt Unreines, wer ſich ins Heilige 
verſenkt, erfaͤhrt das Heil. Des Menſchen Denken iſt 
ſein Sein: wer an die obere Welt denkt, iſt in ihr. 
Alles aͤußere Geſetz iſt nur ein Aufſtieg zum inneren; 
der letzte Zweck des Einzelnen iſt, ſelbſt ein Geſetz zu 
werden. In Wahrheit iſt die obere Welt kein Außen, 
ſondern ein Innen; es iſt „die Welt des Gedankens“. 

Iſt demnach das Leben des Menſchen in jedem 
Punkte und in jeder Taͤtigkeit dem Abſoluten geoͤff⸗ 
net, ſo ſoll er es auch in Weihe leben. Jeder Morgen 
iſt eine neue Berufung. „Er erhebe ſich eilend und in 
Eifer von ſeinem Schlafe, denn er iſt geheiligt und 
ein anderer Menſch worden und iſt wuͤrdig zu er— 
zeugen und iſt wie Gott, der die Welten erzeugt.“ 
Auf allen Wegen findet der Menſch Gott, und alle 
Wege ſind voll der Einung. Aber der reinſte und 
unmittelbarſte iſt der Weg des Gebetes. Wer in ſei—⸗ 
nem Feuer betet, in deſſen Kehle redet Gott ſelbſt das 


8 113 


innere Wort. Dieſes iſt das Erlebnis; das aͤußere 
Wort iſt nur ſein Gewand. „Wie von brennenden 
Hoͤlzern der Rauch emporſteigt, aber die ſchweren 
Teile am Boden haften und zu Aſche werden, ſo 
ſteigt vom Gebete nur der Wille und die Inbrunſt 
empor, aber die aͤußeren Worte zerfallen zu Aſche.“ 
Je hoͤher die Inbrunſt, je gewaltiger die Intentions⸗ 
kraft, Kawwana, deſto unbedingter iſt die Vereini⸗ 
gung. „Es iſt eine große Gnade von Gott, daß der 
Menſch nach dem Gebete am Leben bleibt, denn nach 
der Natur müßte er ſterben, weil er feine Kraft be; 
graben und in ſein Gebet eingetan hat, wegen der 
Kawwana, die er hegt ... Er denke vor dem Gebete, 
daß er bereit iſt zu ſterben um der Kawwana willen.“ 
Aber das Gebet ſoll nicht in Pein und Buße, ſondern 
in großer Freude geſchehen. Freude allein iſt wahr⸗ 
hafter Gottesdienſt. 

Die Lehre des Baalſchem fand bald Eingang im 
Volke, das ihrer Idee nicht gewachſen war, aber ihr 
Gottesgefuͤhl mitſchwingend empfing. Die Froͤmmig⸗ 
keit dieſes Volkes hatte von jeher einen Hang zum 
myſtiſch Unmittelbaren; ſie nahm die neue Botſchaft 
auf wie einen erhobenen Ausdruck ihrer ſelbſt. Die 
Verkuͤndigung der Freude in Gott wirkte nach einem 


114 


Jahrtauſend freudenbarer, freudenfeindlicher Ge; 
ſetzesherrſchaft wie eine Befreiung. Dazu kam, daß 
das Volk ſich bisher einer durchaus unfruchtbaren, 
wirklichkeitsfremden, tatenloſen, aber nie angezwei— 
felten „geiſtigen Ariſtokratie“ von Talmudgelehrten 
gegenuͤber geſehen hatte. Nun wurde es mit einem 
Schlag von dieſem Gegenſatz erloͤſt und auf den ei— 
genen Wert geſtellt. Nun wurde ihm geſagt, nicht das 
Wiſſen entſcheide uͤber den Rang eines Menſchen, 
ſondern die Reinheit und Weihe ſeiner Seele, das iſt: 
ſeine Gottnaͤhe. Die neue Lehre kam wie eine Offen— 
barung deſſen, was man bisher nicht zu ahnen wagte. 
Sie wurde wie eine Offenbarung aufgenommen. 
Natuͤrlich ſagte die Orthodoxie der neuen Ketzerei, 
der Chaſſidut, den Krieg an und fuͤhrte ihn mit allen 
Mitteln, Bannſpruch, Synagogenſchließung und Bir 
cherverbrennung, Gefangennahme und oͤffentlicher 
Mißhandlung der Führer, ſchrak auch vor Denun⸗ 
ziationen an die Regierung nicht zuruͤck. Dennoch 
konnte hier der Ausgang des Kampfes nicht zweifel⸗ 
haft fein: die religioͤſe Starrheit konnte der religioͤſen 
Erneuerung nicht ſtandhalten. Ein gefaͤhrlicherer 
Gegner erſtand dieſer ſpaͤter in der Haskala, der juͤdi⸗ 
ſchen Aufklaͤrungsbewegung, die im Namen des 


8 115 


Wiſſens, der Ziviliſation und Europas gegen den 
„Aberglauben“ auftrat. Aber auch ſie, die die Got— 
tesſehnſucht des Volkes widerlegen wollte, haͤtte der 
Bewegung, die dieſe Sehnſucht ſtillte, nicht ein Fuß⸗ 
breit Bodens abzuringen vermocht, wenn nicht im 
Chaſſidismus ſelbſt eine Zerſetzung begonnen haͤtte, 
die ihn zu der Entartung brachte, in die er heute 
verſenkt iſt. Ihre erſte Urſache beſtand darin, 
daß der Chaſſidismus auch nach außenhin eine For⸗ 
derung des Unmoͤglichen war: daß er vom Volke 
eine ſeeliſche Intenſitaͤt und Sammlung verlangte, 
die es nicht beſaß. Er gab ihm die Erloͤſung, aber um 
einen Preis, den es nicht zahlen konnte. Als die 
Bruͤcke zu Gott wies er eine Reinheit und Geflärtheit 
des Blickes, eine Spannung und Konzentration des 
geiſtigen Lebens, deren immer nur wenige faͤhig ſind, 
er aber ſprach zu vielen. Und ſo entſtand aus der 
Seelennot des Volkes eine Inſtitution von Mittlern, 
welche Zaddikim, das iſt Gerechte genannt wurden. 
Die Theorie des Mittlers, der in beiden Welten lebt 
und das Bindeglied zwiſchen ihnen iſt, durch den 
das Gebet emporgetragen und der Segen herabge— 
bracht wird, entwickelte ſich immer uͤppiger und uͤber⸗ 
wucherte zuletzt alle andere Lehre. Der Zaddik machte 


116 


die chaſſidiſche Gemeinde reicher an Gottesſicherheit, 
aber aͤrmer an dem einzig Wertvollen: dem eigenen 
Suchen und Eifern. Dazu kam der wachſende 
aͤußere Mißbrauch. Zuerſt wurden nur wirklich 
Wuͤrdige, meiſt Schüler und Schuͤlers⸗Schuͤler des 
Baalſchem, zu Zaddikim erhoben. Aber weil der 
Zaddik von feiner Gemeinde reichlichen Lebensunter— 
halt bekam, um ſich ganz ſeinem Dienſte ergeben zu 
koͤnnen, draͤngten ſich bald niedrige Menſchen zur 
Pfruͤnde, und weil ſie nicht anderes bieten konnten, 
verſchafften ſie ſich durch allerlei Wundertuerei 
ein Anrecht. Allmaͤhlich entſtanden richtige Dyna— 
ſtien von Zaddikim. Mochte deren Prachtliebe 
auch zuweilen der Größe nicht ermangeln, fo riß doch 
gleichzeitig eine Gaukelei und Heuchelei ein, die die 
Reineren abſtieß, die Beſtimmbaren erniedrigte und 
die dunkelſte Menge herbeizog. So artete der Chaſſi— 
dismus zuletzt in wuͤſtes Sektenweſen aus. 


Rabbi Nachman von Bratzlaw 


Von einer tiefen Tragik iſt die Zeit der beginnenden 
Entartung des Chaſſidismus getragen. Da ſtehen 
Maͤnner auf, die den Verfall kommen ſehen und ihn 
aufhalten wollen, aber ſie vermoͤgen es nicht. Neben 
denen, die abſeits vom Zaddikismus den reinen Ge⸗ 
danken der Lehre wiederherzuſtellen verſuchten, aber 
nicht fo volkstuͤmlich wurden, daß fie der Zerſetzung 
in Wahrheit entgegengewirkt haͤtten, gab es auch 
ſolche, die die Verkehrtheiten des Zaddiktums wohl 
erkannten, aber es nicht vernichten, ſondern heilen 
wollten, indem ſie an Stelle des leeren und ver⸗ 
logenen Wundertuers den geweihten und in der Hin⸗ 
gabe lebenden Mittler forderten. Dieſe zerbrachen an 
der Kleinheit der Menſchen. Wie die Propheten Si 
raels, ſo waren auch dieſe ſeine ſpaͤten Soͤhne keine 
Reformer, ſondern Revolutionaͤre; ſie forderten 
nicht das Beſſere, ſondern das Unbedingte; ſie woll⸗ 
ten nicht erziehen, ſondern erloͤſen. Unter ihnen der 
Groͤßte, der Reinſte, der Tragiſchſte iſt Rabbi 
Nachman ben Sſimcha, der nach dem Hauptorte 


118 


feines Wirkens Rabbi Nachman von Bratzlaw 
genannt wird. Er ſann darauf, „der Krone den alten 
Glanz wiederzugeben“. Der Zorn wider die Tempel— 
ſchaͤnder brannte in ihm: „Dem boͤſen Geiſte,“ 
pflegte er zu ſagen, „kommt es ſchwer an, ſich mit der 
ganzen Welt zu muͤhen, um ſie vom wahren Wege ab— 
zuleiten; darum ſetzt er einen Zaddik dahin und einen 
Zaddik dorthin.“ Er wollte nicht „ein Fuͤhrer ſein wie 
die Fuͤhrer, zu denen die Frommen fahren und 
wiſſen nicht, warum fie fahren“. Er hatte einen gro; 
ßen Traum vom Zaddik, der „die Seele des Volkes“ 
iſt. Dieſem Traum opferte er alles Gluͤck und alle 
Hoffnung ſeines perſoͤnlichen Lebens hin. In ihn 
legte er all ſein Ringen und alle ſeine Gewalten. Um 
ſeiner willen verlor er ſeine liebſten Menſchen. Durch 
ihn war er arm und von Feinden umgeben bis an ſein 
Ende. Aus ihm fand er, jung und vor dem Voll— 
bringen, ſeinen Tod. Und weil er ſo ganz in ſeinem 
Traume lebte, verſchmaͤhte er es, feine Lehre nieder; 
zuſchreiben, ſo daß wir, wie von dem erſten Meiſter 
des Chaſſidismus, auch von dem letzten keine wahr⸗ 
hafte und unmittelbare Botſchaft beſitzen und uns 
nur aus den fragmentariſchen und offenbar ent 
ſtellenden Berichten ſeiner Schuͤler, die mit ge— 


119 


ringem Verſtaͤndnis feine Reden, Geſpraͤche und Er; 
zaͤhlungen aufzeichneten und ſein Leben ſchilderten, 
nach mancherlei Ausſcheidung, Vergleichung und Erz 
gaͤnzung ein recht unvollſtaͤndiges Bild feiner Wirk; 
lichkeit zu machen vermoͤgen. 

Rabbi Nachman war ein Urenkel des Baalſchem 
und wurde in der Stadt des Baalſchem, Miedzyborz, 
geboren. Seine Kindheit wird als ein angeſpanntes 
Suchen und Streiten geſchildert. Er achtete des Ge; 
botes nicht, in Freude zu dienen, quaͤlte ſich ab, 
faſtete und mied die Ruhe, um der Geſichte teilhaftig 
zu werden. Die Tradition des ekſtatiſchen Lebens, die 


in feinem Haufe mächtig war, beherrſchte den Kna⸗ 


ben, und er konnte den langſamen, ſchweren, von Tag 
und Nacht gegliederten, von den Geſchaͤften der 
Stunde beſtimmten Gang des Daſeins nicht er⸗ 
tragen. Auch der Gottesdienſt der Gemeinde brachte 
ihm keine Offenbarung. Durch das wohl von der 
alten Starrheit geloͤſte, aber in freierer Form weiter⸗ 
beſtehende hebraͤiſche Ritual der Chaſſidim fuͤhlte er 
ſich wie gefeſſelt im Angeſichte Gottes. So lief er in 
den Naͤchten an irgendeinen menſchenleeren Ort und 
redete zu Gott in der Volksſprache, in jenem zärtlich 
derben, ſchwermuͤtigen und bitteren Idiom, das der 


120 


Europäer Jargon nennt. Aber Gott antwortete ihm 
nicht. Da ſchien es ihm, „man achte ſeiner nicht, ja 
man entferne ihn vom Dienſte, man wolle ihn ganz 
und gar nicht“, und der Sturm der Verzweiflung 
kam uͤber ihn und ſchuͤttelte ihn, bis an der tiefſten 
Verzweiflung die Ekſtaſe ſich entzuͤndete und der 
Knabe die erſten Schauer der Verzuͤckung empfand. 
Er ſelbſt erzaͤhlte einmal in ſpaͤten Jahren von einem 
ſolchen Erlebnis. Er hatte den Sabbat in großer 
Weihe empfangen wollen, war nach Mitternacht in 
das Tauchbad gegangen und hatte ſich in Bereit— 
ſchaft der Seele zur Heiligung in das Waſſer ge— 
taucht. Dann war er nach Hauſe gekehrt und hatte 
die Sabbatkleider angetan. So ging er nun in das 
Bethaus und wandelte in dem einſamen, dunkeln 
Raum hin und her, alle Kraͤfte geſpannt im Willen, 
die obere Seele, die am Sabbat in den Menſchen hin⸗ 
abſteigt, zu empfangen. Und er band alle Sinne in 
einen und ballte alle Wucht ſeines Mutes zuſammen, 
um zu ſchauen, denn nun mußte ihm die Offen⸗ 
barung werden. Aber er ſah nichts. Er wollte 
vergehen um zu ſchauen, aber er ſah nichts. Indeſſen 
kamen die erſten Beter in das Haus und begaben ſich 
an ihre Plaͤtze und begannen das Hohelied zu ſprechen, 


121 


ohne den Knaben zu bemerken. Da kroch er an einen 
Betſtaͤnder und legte ſich unter den Staͤnder hin und 
lehnte den Kopf an deſſen Fuß, und die Tränen fa; 
men ihm. So weinte er ganz leiſe, ohne innezuhalten 
und ohne aufzuſchauen, Stunden und Stunden, bis 
ſeine Augen geſchwollen waren von dem vielen Wei⸗ 
nen und der Abend anbrach. Da oͤffnete er die Augen, 
die das Weinen geſchloſſen hatte, und die Kerzen⸗ 
flammen des Bethauſes ſchlugen ihm entgegen wie 
ein großes Licht, und ſeine Seele wurde ruhig an dem 
Lichte. So litt er oft um Gott und wollte nicht ab⸗ 
laſſen. Aber vor den Leuten hielt er ſein Leben und 
ſeinen Willen geheim; er ſtellte allerlei Liſten an, um 
ſein Faſten zu verbergen, und wenn er auf die Straße 
ging, trieb er alle Art von Kindereien, Scherze und 
Streiche, wie jener giullare di Dio, der große Fran⸗ 
ziskanerdichter Jacopone da Todi, bis es keinem 
Menſchen in den Sinn kam, daß es den Knaben nach 
Gottes Dienſte verlangte. Aber das Joch des Dien⸗ 
ſtes war ihm nicht immer leicht: er hatte ein froͤh⸗ 


liches, ſtarkes Gemuͤt und einen friſchen Sinn fuͤr die 


Schoͤnheit der Welt. Erſt ſpaͤter gelang es ihm, ge⸗ 
rade darauf die Weihe zu ſtellen und in Freude zu 
dienen. Damals aber ſchien ihm die Welt noch ein 


122 


Außen, das ihn hinderte, zu Gott zu kommen. Um 
im Kampfe zu beſtehen, dachte er an jedem Morgen, 
nur dieſer eine Tag ſei ihm noch gegeben; und in der 
Nacht lief er auf das Grab des Urgroßvaters, daß er 
ihm beiſtehe. So floſſen die Jahre dieſer Kindheit 
dahin. 

Mit vierzehn Jahren wurde er dem Brauch der 
damaligen Judenheit gemaͤß verheiratet und ließ ſich 
in dem Dorfe nieder, wo ſein Schwiegervater wohnte. 
Hier kam er zum erſten Male der Natur nahe, und ſie 
griff ihm ans innere Herz. Den Juden, der nach einer 
in der Enge der Stadt verlebten Kindheit in Juͤng— 
lingsjahren in das freie Land hinauskommt, erfaßt 
eine namenloſe, dem Nichtjuden unbekannte Gewalt. 
Ihm hat eine tauſend Jahre lange Vererbung der 
Naturfremdheit die Seele in Banden gehalten. Und 
nun ihn, wie in einem zauberhaften Reiche, ſtatt des 
graugelben Tons der Gaſſe Waldgruͤn und Wald— 
bluͤte umgibt, ſtuͤrzen auf einmal die Mauern ſeines 
Geiſtesghettos nieder, die die Macht des Vegetativen 
beruͤhrt hat. Selten hat ſich dieſes Erleben in ſo ein— 
dringlichem Einfluſſe kundgegeben, wie bei Nachman. 
Der Hang zur Askeſe weicht von ihm, der innere 
Streit endet, er braucht ſich um die Offenbarung 


123 


nicht mehr zu mühen, leicht und froh findet er feinen 
Gott in allen Dingen. Das Boot, auf dem er, des 
Ruderns unkundig aber vertrauensvoll, auf den 
Fluß hinausfaͤhrt, fuͤhrt ihn zu Gott, deſſen Stimme 
er im Schilfe hoͤrt; und das Pferd, das ihn, ihm zu 
feinem Staunen gehorchend, in den Wald traͤgt, 
bringt ihn Gott naͤher, der von allen Baͤumen ihn 
anblickt und mit dem jedes Kraut auf du und du iſt. 
In allen Berghaͤngen und in allen verſteckten kleinen 
Taͤlern der Gegend iſt er heimiſch, und jedes iſt ihm 
eine andere Art, zu Gott zu kommen. Damals bil⸗ 
dete ſich in ihm die Lehre von dem Dienſte in der Na⸗ 
tur aus, die er ſpaͤter immer wieder und in immer 
neuem Preiſe ſeinen Schuͤlern verkuͤndete. „Wenn 
der Menſch gewuͤrdigt wird,“ redete er zu ihnen, „die 
Geſaͤnge der Kraͤuter zu vernehmen, wie jedes Kraut 
ſein Lied zu Gott ſpricht ohne alles fremde Wollen und 
Denken, wie ſchoͤn und ſuͤß iſt es, ihr Singen zu hoͤren. 
Und daher iſt es gar gut, in ihrer Mitte Gott zu die⸗ 
nen in einſamem Wandeln uͤber das Feld hin zwiſchen 
den Gewaͤchſen der Erde und ſeine Rede auszuſchuͤtten 
vor Gott in Wahrhaftigkeit. Alle Rede des Feldes 
geht dann in deine ein und ſteigert ihre Kraft. Du 
trinkſt mit jedem Atemzuge die Luͤfte des Paradieſes, 


124 


und kehrſt du heim, ift die Welt erneuert in deinen 
Augen.“ Die Liebe zu allem Lebendigen und Wach— 
ſenden war innig ſtark in ihm. Als er einmal, in der 
letzten Zeit ſeines Lebens, in einem Hauſe ſchlief, das 
aus jungen Baͤumen gebaut war, traͤumte es ihm, 
er liege inmitten von Toten. Am Morgen klagte er 
es dem Beſitzer und klagte ihn an. „Denn wenn man 
einen Baum abhaut vor ſeiner Zeit, iſt es, als ob 
man eine Seele gemordet haͤtte.“ 

Von dem Dorfe kam er in ein Staͤdtchen, wo er den 
und jenen in der chaſſidiſchen Lehre zu unter 
weiſen und unter den Frommen bekannt zu wer— 
den begann. Die Verſuchung, wie die Zaddikim der 
Zeit zu ſein und in Ruhm, Gewinn und Eitelkeit zu 
leben, trat an ihn heran, aber er widerſtand ihr. Der 
Niedergang des Chaſſidismus bedruckte feine Seele. 
Er vermißte den Fortgang der Lehre; die Fackel, die 
von Hand zu Hand gehen ſollte, war in muͤßigen 
Fingern erloſchen. So ſtieg Nachman aus der Trauer 
der Wille auf, die Überlieferung zu erneuern und aus 
ihr „ein Ding zu machen, das ewigen Beſtand hat“. 
Was die Kabbala nicht geweſen war, ſollte werden: 
die Lehre ſollte von Mund zu Ohr gehen und wieder 
von Mund zu Ohr, ſich ſtetig aus dem Reich der noch 


125 


ungeborenen Worte erweiternd, getragen von einer 
unaufhoͤrlich ſich ergaͤnzenden Schar der Boten, in 
jedem Geſchlechte die Geiſter erweckend, die Welt ver; 
juͤngend, „die Wildnis der Herzen in eine Wohnſtaͤtte 
Gottes wandelnd“. Aber er erkannte, daß er zu 
ſolchem Lehren die Kraft nicht aus den Buͤchern, ſon⸗ 
dern nur aus wirklichem Leben mit den Menſchen und 
in ihnen ſchoͤpfen konnte. So naͤherte er ſich dem 
Volke, nahm all ſein Leid und ſeine Sehnſucht in ſich 
auf, mochte ganz mit ihm zuſammenwachſen. „Im 
Anfang,“ erzaͤhlte er ſpaͤter, „begehrte ich von Gott, 
daß ich den Schmerz und die Nöte Iſraels leiden 
moͤge. Denn zuzeiten kam einer zu mir und ſagte mir 
ſeinen Schmerz, und ich litt den Schmerz nicht. Und 
ich betete, daß ich den Schmerz Iſraels leide. Jetzt 
aber, wenn mir einer ſeinen Schmerz ſagt, fuͤhle ich 
ſeinen Schmerz mehr als er. Denn er kann andere 
Gedanken denken und den Schmerz vergeſſen, ich aber 
nicht.“ So lebte er mit dem Volke, wie der Baalſchem 


und ſeine Juͤnger es getan hatten, und fand in ihm 


ſeine Weihe. 

Aber bevor er viele zu lehren begann, wollte er den 
Segen des heiligen Landes empfangen, des Schick⸗ 
ſalslandes, das das Herz der Welt und der Geſang 


126 


r 


der Erde iſt. Er wollte die Gräber Simons ben 
Jochai und Iſaak Lurjas ſchauen und die Stimmen 
hoͤren, die uͤber der Staͤtte der Propheten ſchweben. 
Der Baalſchem hatte nicht nach Palaͤſtina kommen 
koͤnnen; Zeichen und Erſcheinungen hatten ihn, wie 
die Legende erzaͤhlt, knapp vor dem Ziele umkehren 
heißen. Rabbi Nachman kam ſchon die Abreiſe ſchwer 
an; er war arm und wußte ſich keine Hilfe, als ſeinen 
Hausſtand aufzugeben, Frau und Kinder in Dienſt 
oder in barmherzige Pflege zu Fremden zu tun und 
alles Geraͤt ſeiner Wohnung zu verkaufen, um die 
Koſten der Fahrt aufzubringen; doch erleichterten ihm 
die Frommen der Gegend, die von ſeinem Entſchluſſe 
hoͤrten, die Ausfuͤhrung, indem ſie eine Geldſumme 
zuſammenſchoſſen und ihm uͤbergaben. Die Seinen 
baten ihn, von der Reiſe abzulaſſen; aber er ſagte im⸗ 
mer nur: „Mein groͤßeres Teil iſt ſchon dort.“ So trat 
er mit einem der Frommen, der ihn zu bedienen ſich 
erboͤtig machte, 1798 die Fahrt an. Einer ſeiner 
Schuͤler hat ſie ſpaͤter in naiver und ruͤhrender Weiſe 
beſchrieben. Wie der Rabbi keinem der Mitreiſenden 
ſeinen Namen ſagen will, wie er in Stambul, um ſich 
an der Schwelle des Heiligen Landes zu demuͤtigen, 
barfuß, ohne Gurt und Oberkleid auf der Straße um⸗ 


127 


hergeht, wie er des „Franzoſenkrieges“ (des aͤgyp⸗ 
tiſchen Feldzuges) wegen lange in Stambul zuruͤck⸗ 
gehalten wird, wie dann auf dem Meere ein Sturm 
ſein Schiff uͤberfaͤllt, wie die Araber ihn fuͤr einen 
franzoͤſiſchen Spion halten und nicht ans Land laſſen 
wollen, wie er endlich doch den Boden Palaͤſtinas 
betritt und vor großer Freude „ſeine Seele von ſich 
werfen“ will, wie dann aber in der Hoͤhle des Pro— 
pheten Elija eine Schwermut ihn uͤberkommt, — 
all dies wird uns in einem abenteuerlich farbigen, 
glaubensvoll innigen Tone erzählt, Von dieſer Reiſe 
an datierte Nachman ſein eigentliches Leben. „Alles, 
was ich vor Erez Iſrael (dem Lande Iſrael) wußte, 
iſt gar nichts,“ pflegte er zu ſagen und verbot, irgend⸗ 
eine feiner früheren Lehren niedergeſchrieben zu er; 
halten. Palaͤſtina wurde für ihn eine Viſion, die ihn 
nicht verließ; „mein Ort“, ſagte er, „iſt nur Erez 
Iſrael, und wohin ich auch fahre, ich fahre nach Erez 
Iſrael.“ Und noch in ſpaͤten Tagen der Krankheit 
und Muͤdigkeit verſicherte er: „Ich lebe nur noch da- 
von, daß ich in Erez Iſrael war.“ 

Bald nach feiner Ruͤckkehr ließ er ſich in Bratzlaw 
nieder. Aber ſchon bevor er hinkam, hatten einige 
Zaddikim, die ihn ſeiner Anſchauungen wegen haßten, 


128 


rn he a . 1 


einen heftigen Kampf gegen ihn entfacht, der bis an 
ſein Lebensende dauerte und die wildeſten Feindſelig— 
keiten erzeugte; auch nach ſeinem Tode bekriegten die 
Gemeinden der anderen die ſeine und wollten von 
keinem Frieden wiſſen. Er ſelbſt wunderte ſich uͤber 
den Streit nicht. „Wie ſollten fie nicht wider uns ſtrei— 
ten?“ ſagte er oft. „Wir ſind gar nicht von der Welt 
des Jetzt, und deshalb kann uns die Welt nicht er; 
tragen.“ Es fiel ihm nicht ein, die Feindſchaft zu 
erwidern. „Die ganze Welt iſt voll des Streites, jedes 
Land und jede Stadt und jedes Haus. Aber wer in 
ſein Herz aufnimmt die Wirklichkeit, daß der Menſch 
an jedem Tage ſtirbt — denn er muß jeden Tag ein 
Stuͤck von ſich feinem Tode abgeben —, wie ſoll der 
noch ſeine Tage mit Streit verbringen koͤnnen?“ Er 
wurde nicht muͤde, in ſeinen Widerſachern Gutes zu 


finden und ſie zu rechtfertigen. „Bin ich es denn,“ 


fragte er, „den fie haſſen? Sie haben ſich einen Men; 
ſchen ausgeſchnitzt und ſtreiten wider ihn.“ Und er 
wiederholte das Gleichnis des Baalſchem: Einmal 
ſtanden Spielleute da und ſpielten, und eine große 
Schar bewegte ſich im Reigen nach der Stimme der 
Muſik. Da kam ein Tauber heran, der nichts von 
Tanz und Klaͤngen wußte, und verwunderte ſich und 


9 129 


dachte in feinem Herzen: „Wie naͤrriſch find doch dieſe 
Menſchen: die einen ſchlagen mit ihren Fingern an 
allerlei Geraͤte und die anderen drehen ſich hin und 
her.“ So rechtfertigte Rabbi Nachman ſeine Feinde. 
Ja, er ſah ihren Zorn und ihr Wuͤten als einen Segen 
an: „Alle Worte des Laͤſterns und aller Grimm der 
Feindſchaft wider den Echten und Schweigſamen ſind 
wie Steine, die gegen ihn geworfen werden, und er 
baut aus ihnen ſein Haus.“ 

In Bratzlaw begann er viele zu lehren und viele 
verſammelten ſich um ihn. Das Lehren war fuͤr ihn 
ein Myſterium und ſein eigenes Tun voll des Ge⸗ 
heimniſſes. Die Mitteilung war ihm nicht ein ge⸗ 
woͤhnlicher Vorgang, uͤber den man nicht nachzuſin⸗ 
nen braucht, weil er einem ſo ſehr vertraut und ge⸗ 
laͤufig iſt, ſondern ſeltſam und wunderbar wie etwas 
Neuerſchaffenes. Man fuͤhlt ſein Staunen uͤber den 
Weg des Wortes, wenn er ſagt: „Das Wort bewegt 
eine Luft und dieſe die naͤchſte, bis es zum Menſchen 
gelangt, der empfaͤngt das Wort des Genoſſen und 
empfaͤngt ſeine Seele darin und wird darin erweckt.“ 
Das Wort, das nur einen Sinneseindruck raſch und 
unzulaͤnglich herſagt, verſchmaͤht er, und die From⸗ 
men, „die ſogleich kundgeben, was ſie ſehen, und koͤn⸗ 


130 


nen es nicht feſthalten“, gelten ihm weniger als jene, 
„deren Wurzel in der Weite iſt und die bei ſich faſſen 
koͤnnen, was ſie ſehen“. Aber das Wort, das aus dem 
Seelengrunde aufſteigt als die organiſche Ausfor— 
mung eines reichen und tiefen Erlebens, iſt ihm ein 
hohes Ding, in ſeiner wirkenden Lebendigkeit nicht 
mehr das Werk der Seele, ſondern die Seele ſelbſt. 
Er ſagt kein Wort der Belehrung, das nicht durch 
vieles Leiden gegangen iſt; jedes iſt „in Traͤnen ge— 
waſchen“. Das Wort bildet ſich ſpaͤt in ihm; die Lehre 
iſt bei ihm zuerſt Erlebnis und wird dann erſt Ge; 
danke, das iſt Wort; „ich habe in mir,“ ſagte er, „Leh— 
ren ohne Kleider, und es iſt mir gar ſchwer, bis ſie ſich 
einkleiden.“ Immer iſt in ihm eine Bangigkeit des 
Wortes, die ihm die Kehle zuſammenpreßt, und be— 
vor er das erſte Wort einer Lehre ſpricht, ſcheint es 
ihm, als muͤſſe feine Seele ausgehen. Erſt das Wir; 
ken ſeiner Worte beruhigt ihn. Er betrachtet es und 
verwundert ſich daruͤber: „Zuweilen gehen meine 
Worte wie ein Schweigen in den Hoͤrenden ein und 
ruhen in ihm und wirken ſpaͤt, wie langſame Arzenei; 
zuweilen wirken meine Worte erſt gar nicht in dem 
Menſchen, dem ich ſie ſage, aber wenn er ſie dann zu 
einem anderen ſpricht, kehren ſie zu ihm zuruͤck und 


95 131 


gehen in fein Herz ein in große Tiefe und fun ihr 
Werk in Vollkommenheit“. Dieſes zweite Grund; 
verhaͤltnis, das Empfangen von dem eigenen Worte, 
das namentlich fuͤr den Juden und ſeine motoriſche 
Anlage charakteriſtiſch iſt, ſcheint Rabbi Nachman auch 
an ſich ſelbſt erlebt zu haben; er ſtellt es einmal im 
Bilde des Lichtreflexes dar: „Wenn einer zu ſeinem 
Gefaͤhrten redet, entſteht ein einfaches Licht und ein 
wiederkehrendes Licht. Mitunter aber geſchieht es, 
daß dieſes ohne jenes wird, denn manchmal empfaͤngt 
ſein Gefaͤhrte nicht von ihm, er aber empfaͤngt Er; 
weckung von ſeinem Gefaͤhrten, wenn durch den 
Schlag der Worte, die aus ſeinem Munde gingen, das 
Licht zu ihm zuruͤckkehrt und er erweckt wird.“ Das 
Entſcheidende jedoch iſt für Nachman, feiner Auffaſ⸗ 
ſung des Wortes gemaͤß, nicht die Wirkung auf den 
Sprechenden, ſondern die auf den Hoͤrenden. Dieſe 
Wirkung gipfelt darin, daß das Verhaͤltnis ſich wan⸗ 
delt und der Hoͤrende zum Sprechenden wird, ja ſo— 
gar ſo, daß er das Letzte und Abſolute ausſpricht: die 
Seele des Schuͤlers ſoll ſo in ihren Tiefen erweckt und 
berufen werden, daß aus ihr und nicht aus der des 
Meiſters das Wort geboren wird, das den oberſten 
Sinn der Lehre kuͤndet und ſo das Geſpraͤch in ſich 


132 


erfüllt. „Wenn ich mit einem zu reden beginne, will 
ich von ihm die höchften Worte hören.” So iſt die 
Lehrweiſe des Rabbi Nachman ein eigentuͤmliches 
Gegenſtuͤck zur ſokratiſchen Maieutik. 

Er war fuͤnf Jahre in Bratzlaw, als er der Schwind— 
ſucht verfiel, wohl unter dem Einfluß der Kaͤmpfe und 
Verfolgungen, von denen er in der Seele unberuͤhrt 
blieb, denen er aber im Körper nicht ſtandhalten 
konnte. Es wurde ihm bald offenbar, daß er ſterben 
muͤſſe, aber ſein Tod war nie ein Ding der Angſt 
fuͤr ihn geweſen. „Wer das wahre Wiſſen erlangt, 
das Gottwiſſen, dem iſt keine Scheidung zwiſchen Leben 
und Tod, denn er hangt an Gott und umfaßt ihn und 
lebt das ewige Leben wie Gott allein.“ Er empfand 
den Tod vielmehr als ein Aufſteigen zu einem neuen 
Stadium der großen Wanderung, zu einer vollkom— 
meneren Form des Geſamtlebens, und weil er 
glaubte, in dieſem Menſchenkoͤrper zu keiner höheren 
Stufe der Vollendung mehr kommen zu koͤnnen, als 
die, die er erreicht hatte, ſehnte er ſich nach der 
dunkeln Schwelle. „Ich moͤchte ſchon gern das Hemd— 
lein ausziehen,“ ſagte er zu ſeinen Schuͤlern in dem 
letzten Jahre, „denn ich kann es nicht ertragen, auf 

einer Stufe ſtehen zu bleiben.“ Als er nun erkannte, 


133 


daß der Tod ihm nahe kam, wollte er nicht mehr in 
Bratzlaw wohnen, wo er gelehrt und gewirkt hatte, 
ſondern beſchloß nach Uman zu uͤberſiedeln, um dort 
zu ſterben und dort begraben zu werden. In Uman 
waren wenige Jahre vor ſeiner Geburt, 1768, die 
Banden der Hajdamaken eingedrungen, denen die 
von den Juden und den Polen gemeinſam verteidigte 
Feſtung durch Hinterliſt und Verrat zugefallen war, 
hatten die ganze Judenſchaft hingemordet und die 
Leichen in Haufen uͤber die Stadtmauer geworfen. 
Es war Rabbi Nachmans Glaube, eine Folge ſeiner 
von Lurja uͤbernommenen und weiter ausgebildeten 
Seelenwanderungslehre, daß von den vielen Tauz 
ſenden, die zu Uman vor ihrer Zeit erſchlagen worden 
waren, eine große Schar von Seelen an den Ort ihres 
Todes gebunden ſei und nicht emporſteigen koͤnne, bis 
eine Seele zu ihnen kaͤme, der die Macht gegeben ſei, 
ſie zu heben; er fuͤhlte in ſich die Berufung, die Har⸗ 
renden zu erloͤſen, und wollte daher an ihrer Staͤtte 
ſterben und ſein Grab neben dem ihren haben, daß 
uͤber den Graͤbern das Werk ſich vollziehe. Als er 
nach Uman kam, wohnte er in einem Hauſe, deſſen 
Fenſter auf den Friedhof, „das Haus des Lebens“, 
wie die Juden ihn nennen, gingen; da ſtand er oft im 


134 


Fenſter und ſah voller Freude auf den Gräbergarten 
nieder. Manchmal befiel ihn eine Schwermut, aber 
nicht vor dem Sterben, ſondern ob der Arbeit ſeines 
Lebens, die die Frucht nicht trug, die er getraͤumt 
hatte. Er dachte, ob er nicht beſſer daran getan haͤtte, 
die Welt von ſich zu entfernen und abzuwerfen und 
ſich einen Ort zu erwaͤhlen, um da allein zu ſitzen, daß 
das Joch der Welt nicht auf ihm ſei. Wenn er einſt 
nicht begonnen haͤtte mit dem Fuͤhren von Menſchen, 
meinte er dann, haͤtte er vielleicht ſeine Vollendung er⸗ 
reicht und ſeine wahre Tat getan. Das Lehren und 
Erziehen, das er ſo verherrlicht hatte, ſchien ihm in 
ſolchen Augenblicken wie ein Unrecht, faſt wie eine 
Suͤnde. Denn das Weſen des Dienſtes in jedem 
Dinge ſei doch, daß der Menſch ſeiner Wahl gelaſſen 
werde, daß das Ding auf ſeiner Einſicht bleibe und 
kein Gebot ihm gegeben ſei und ihm nicht befohlen 
werde, ſo zu tun, ſondern daß er tue nach ſeiner Wahl. 
Auch ſchien es ihm da, daß er wenig gewirkt haͤtte, 
und er empfand, wie ſchwer es ſei, einen Menſchen 
frei zu machen. Es ſei ſchwerer, einem Gerechten, 
ſolange er noch im Koͤrper iſt, beim Dienſte zu helfen 
und ihn zu erheben, als tauſend Tauſenden von Bd; 
ſen, die ſchon im Geiſte ſind, zu helfen und ſie zu er⸗ 


135 


heben, das ift, ihre Seelen zu erlöfen; denn bei einem 
Herrn der Wahl ſei es gar ſchwer, etwas zu er— 
wirken. In den letzten Tagen aber fiel alle Sorge 
und Bekuͤmmerung von ihm ab. Er bereitete ſich 
und lebte ſchon im Abſoluten. „Siehe,“ ſagte er ein⸗ 
mal, „uns entgegen kommt ein gar großer und et; 
habener Berg. Aber ich weiß nicht: gehen wir zum 
Berge, oder geht der Berg zu uns?“ So ſtarb er im 
Frieden (1810). Ein Schüler ſchreibt: „Das Angeſicht 
des Toten war wie das Angeſicht des Lebenden, da er 
in ſeiner Stube umherging und dachte.“ 

Rabbi Rachman hatte ſein Werk nicht gewirkt. 
Er war der Zaddik geweſen, den er meinte: „die Seele 
des Volkes“. Aber das Volk war nicht ſein geworden. 
Er hatte den Niedergang der Lehre nicht aufhalten 
koͤnnen. Sie war die Bluͤte der Exilſeele; ſie verdarb 
aber auch am Exil. Die Juden waren nicht ſtark 
und nicht rein genug, ſie zu bewahren. Es iſt uns 
nicht gegeben, zu wiſſen, ob ihr eine Auferſtehung ge⸗ 
waͤhrt iſt. Aber das innere Schickſal des Judentums 
ſcheint mir daran zu hangen, ob — gleichviel, in 
dieſer Geſtalt oder einer anderen — ſein Pathos 
wieder zur Tat wird. 


Das Leben der Chaſſidim 
Hitlahabut: Von der Inbrunſt 


Hitlahabut iſt „das Brennen“: die Inbrunſt der 
Ekſtaſe. Sie iſt der Becher der Gnade und der ewige 
Schluͤſſel. 

Ein feuriges Schwert huͤtet den Weg zum Baume 
des Lebens. Es zerſpruͤht vor der Beruͤhrung der 
Hitlahabut. Ihr leichter Finger iſt ihm uͤbermaͤchtig. 
Ihr iſt die Bahn offen, und alle Schranke verſinkt vor 
ihrem ſchrankenloſen Schritt. Die Welt iſt nicht mehr 
ihr Ort: ſie iſt der Ort der Welt. 

Hitlahabut erſchließt dem Leben ſeinen Sinn. 
Ohne ſie hat auch der Himmel keinen Sinn und kein 
Weſen. „Wenn ein Menſch die ganze Lehre und alle 
Gebote erfuͤllt hat, aber die Wonne und das Brennen 
hat er nicht gehabt: wenn er ſtirbt und hinuͤbergeht, 
oͤffnet man ihm das Paradies, aber weil er in der 
Welt die Wonne nicht gefuͤhlt hat, fuͤhlt er auch die 
Wonne des Paradieſes nicht.“ 

Allerorten und allezeit kann Hitlahabut erſcheinen. 
Jede Stunde iſt ihr Schemel und jede Tat ihre Thron⸗ 


137 


lehne. Nichts kann fich ihr entgegenſtemmen, nichts 
fie herabdruͤcken, nichts kann ſich ihrer Macht er; 
wehren, die allen Koͤrper zu ſeinem Geiſte erhebt. 
Wer in ihr iſt, iſt in der Heiligkeit. „Er vermag eitle 
Worte mit ſeinem Munde zu reden, und die Lehre des 
Herrn iſt in feinem Innern zu dieſer Stunde; fluͤ— 
ſternd zu beten, und ſein Herz ſchreit in ſeiner Bruſt; 
in einer Gemeinſchaft von Menſchen zu ſitzen, und er 
wandelt mit Gott: vermiſcht mit den Kreaturen und 
abgeſchieden von der Welt.“ Jedes Ding und jedes 
Tun wird ſo geheiligt. „Wenn der Menſch ſich an 
Gott ſchließt, kann er ſeinen Mund reden laſſen, was 
er reden mag, und ſein Ohr hoͤren, was es hoͤren 
mag, und er wird die Dinge binden an ihre obere 
Wurzel.“ 

Die Gewalt, die ſo vieles im Menſchenleben 
ſchwaͤcht und entfaͤrbt, die Wiederholung, iſt ohn⸗ 
maͤchtig vor der Ekſtaſe, die fich gerade an den regel; 
maͤßigſten, gleichfoͤrmigſten Ereigniſſen wieder und 
wieder entzuͤndet. Über einen Zaddik geriet Hitlaha⸗ 
but jedesmal, wenn im Vortrage der Schrift die 
Worte kamen: „Und Gott ſprach.“ Ein chaſſidiſcher 
Weiſer, der dies ſeinen Schuͤlern erzaͤhlte, fuͤgte hin⸗ 
zu: „Aber auch ich meine: wenn einer in Wahrheit 


138 


redet und einer in Wahrheit empfängt, dann iſt es 
genug an einem Worte, die ganze Welt zu erheben 
und die ganze Welt zu durchlaͤutern.“ Ewig neu iſt 
dem Inbruͤnſtigen das Allgewohnte. Ein Zaddik 
ſtand im erſten Morgendaͤmmer am Fenſter und rief 
zitternd: „Vor einer kleinen Stunde war noch Nacht, 
und jetzt iſt Tag — Gott bringt den Tag herauf!“ 
Und er war voll der Angſt und des Zitterns. Auch 
ſprach er: „Jeder Geſchaffene ſoll ſich vor dem 
Schöpfer ſchaͤmen: wäre er vollkommen, wie ihm be; 
ſtimmt war, dann muͤßte er erſtaunen und erwachen 
und entbrennen uͤber die Erneuerung der Kreatur zu 
jeder Zeit und in jedem Augenblick.“ 

Aber nicht ein ploͤtzliches Verſinken in die Ewigkeit 
iſt Hitlahabut, ſondern ein Aufſtieg zum Unendlichen 
von Stufe zu Stufe. Gott finden heißt den Weg fin; 
den, der ohne Grenze iſt. Im Bilde dieſes Weges 
ſahen die Chaſſidim die „kommende Welt“, die ſie 
niemals ein Jenſeits nannten. Ein Frommer ſchaute 
einen toten Meiſter im Traume. Der erzaͤhlte ihm, 
von der Stunde ſeines Todes an gehe er an jedem 
Tage von Welt zu Welt. Und die Welt, die geſtern 
als Himmel uͤber ſeinen Blicken ausgeſpannt war, 
die iſt heute die Erde unter ſeinem Fuß; und der 


139 


Himmel von heute ift die Erde von morgen. Und 
jede Welt iſt reiner und ſchoͤner und tiefer, als die vor 
ihr war. 

Die Engel ruhen in Gott, aber die heiligen Geiſter 
ſchreiten in Gott vor. „Der Engel iſt ein Stehender 
und der heilige Menſch iſt ein Wandelnder. Darum 
iſt der Heilige uͤber dem Engel.“ 

Solch ein Weg iſt die Ekſtaſe. Wenn ſie ein Ende 
zu bieten ſcheint, ein Erreichen, Erlangen, Ergreifen, 
iſt es nur ein endguͤltiges Nein, kein endguͤltiges Ja: 
es iſt das Ende der Gebundenheit, das Abſchuͤtteln 
der letzten Kette, die Aufloͤſung, die allem Irdiſchen 
enthoben iſt. „Wenn der Menſch von Kraft zu Kraft 
wandelt und nur empor und empor, bis er zur Wur⸗ 
zel aller Lehre und alles Gebotes kommt, zu Gottes 
Ich, der einfachen Einheit und Schrankenloſigkeit, — 
wenn er da ſteht, dann ſinken alle Fluͤgel der Gebote 
und Geſetze nieder, und alle ſind ſie vernichtet. Denn 
vernichtet iſt der Trieb, da er daruͤber ſteht.“ | 

„Mber der Natur und über der Zeit und über dem 
Denken“ — ſo wird der genannt, der in der Inbrunſt 
iſt. Er hat alles Leid und alle Schwere abgetan. 
„Suͤße Leiden, ich empfange euch in Liebe“, ſagt ein 
ſterbender Zaddik, und Rabbi Suſſja ruft, da feine 


140 


Hand ſich aus dem Feuer ſchleicht, in das er fie ge; 
legt hat, verwundert aus: „Wie grob iſt Suffjas 
Koͤrper geworden, daß er ſich vor dem Feuer fuͤrchtet.“ 
Der Inbruͤnſtige regiert das Leben, und kein aͤußeres 
Geſchehen, das in ſein Reich eindringt, vermag ſeine 
Weihe zu ſtoͤren. Von einem Zaddik wird erzaͤhlt, er 
habe, als ſich das heilige Mahl der Lehre bis zum 
Morgen hinzog, zu ſeinen Juͤngern geſprochen: „Wir 
ſind nicht in die Grenzen des Tages eingeſchritten, 
ſondern der Tag iſt in unſere Grenzen eingeſchritten, 
und wir brauchen vor ihm nicht zu weichen.“ 

In der Ekſtaſe ruͤckt alles Vergangene und alles 
Zukuͤnftige zur Gegenwart zuſammen. Die Zeit ver; 
ſchrumpft, die Linie zwiſchen den Ewigkeiten ver; 
ſchwindet, einzig der Augenblick lebt, und der Augen— 
blick iſt die Ewigkeit. In ſeinem unzerſplitterten 
Lichte erſcheint alles, was war und was ſein wird, ein⸗ 
fach und geſammelt. Es iſt da, wie ein Herzſchlag da 
iſt, und wird offenbar wie er. 

Die chaſſidiſche Legende weiß gar viel von den 
Wunderbaren zu erzaͤhlen, die ſich ihrer fruͤheren 
Daſeinsformen erinnerten, der Zukunft wie der eige— 
nen Atemzuͤge gewahr wurden, von einem Ende 
der Erde zum anderen blickten und alle Wandlungen, 


141 


die fich in den Welten ereigneten, wie etwas verfpürz 
ten, was ihrem Koͤrper geſchah. All dies reicht nicht 
an das Gefuͤhl heran, in dem Hitlahabut die Welt 
des Raumes und der Zeit überwunden hat. Wohl 
aber deuten uns etwas davon zwei naive, einander 
verwandte und einander ergaͤnzende Anekdoten. 
Von einem Meiſter wird erzaͤhlt, er habe in Stunden 
der Entruͤckung auf die Uhr ſehen muͤſſen, um ſich in 
dieſer Welt zu erhalten; und von einem anderen, er 
habe, wenn er die Einzeldinge betrachten wollte, 
eine Brille aufſetzen muͤſſen, um ſein geiſtiges Sehen 
zu bezwingen; „denn ſonſt ſah er alle Einzeldinge der 
Welt als eines”, 

Aber die hoͤchſte Stufe, von der berichtet wird, iſt 
die, auf der der Entruͤckte der eigenen Inbrunſt ent; 
gleitet. Als ein Schüler einmal eines Zaddiks „Er: 
kalten“ bemerkte und tadelte, wurde er von einem 
anderen belehrt: „Es gibt ein ſehr hohes Heiligtum; 
wenn man dahin kommt, wird man alles Weſens los 
und kann nicht mehr entbrennen.“ So vollendet ſich 
die Inbrunſt in der eigenen Aufhebung. 

Zuweilen aͤußert ſie ſich in einem Tun, das durch ſie 
geweiht und mit heiliger Bedeutung gefuͤllt wird. Die 
reinſte Form, die, in der der ganze Koͤrper der erregten 


142 


Seele dient und jeder ihrer Hebungen und Nei— 
gungen das ſichtbare Geſchwiſter erſchafft, aus tau— 
ſend Fluten der Bewegung das eine Bild des ver— 
zuͤckten Sinnes auftauchen laͤßt, iſt der Tanz. Von 
dem Tanz eines Zaddiks wird erzaͤhlt: „Sein Fuß 
war leicht wie eines vierjaͤhrigen Kindes. Und alle, 
die ſein heiliges Tanzen ſahen, — da war nicht einer, 
der nicht zu ſich umgekehrt waͤre, denn er wirkte im 
Herzen aller, die es ſahen, beides, Weinen und 
Wonne, in einem.“ Oder die Seele erfaßt die Stimme 
des Menſchen und macht ſie ſingen, was ſie in den 
Hoͤhen erfahren hat; und die Stimme weiß nicht, was 
ſie tut. So ſtand ein Zaddik in den „furchtbaren Ta— 
gen“ (Neujahr und Verſoͤhnungstag) im Gebet und 
ſang neue Melodien, „Wunder der Wunder, die er 
nie gehört hatte und die kein Menſchenohr je gehoͤrt 
hatte, und er wußte gar nicht, was er ſingt und welche 
Weiſe er ſingt, denn er war an die obere Welt gebun— 
den“. 

Zuweilen treibt es den ſo Gebundenen von 
den Menſchen hinweg. Es wird von einem Mei⸗ 
ſter geſagt, er habe ſich wie ein Fremdling gefuͤhrt, 
nach den Worten Davids des Könige: Ein Fremder 
bin ich im Lande. „Wie ein Mann, der aus der 


143 


Ferne kam, aus der Stadt feiner Geburt. Er ſinnt 
nicht auf Ehre und nicht auf irgendein Ding zu ſeinem 
Wohle, nur darauf ſinnt er, heimzukehren zur Stadt 
ſeiner Geburt. Nichts kann ihn beſitzen, denn er 
weiß: Das iſt Fremdes und ich muß heim.“ Mancher 
geht in die Einſamkeit, in „das Wandeln“. Rabbi 
Suſſja pflegte in Wäldern umherzuſtreifen und Lob; 
geſaͤnge zu ſingen, mit ſo großer Glut, „daß man 
ſchier von ihm geſagt hat, er ſei nicht bei Verſtand“. 
Ein anderer war nur in Gaſſen und Gaͤrten und 
Hainen zu finden. Als ihn ſein Schwiegervater darob 
ermahnte, antwortete er ihm mit dem Gleichnis der 
Henne, die Gaͤnſeeier ausgebruͤtet hatte: „und als ſie 
ihre Kinder auf der Waſſerflaͤche umherſchwimmen 
ſah, lief ſie beſtuͤrzt hin und her, Hilfe zu ſuchen fuͤr 
die Ungluͤcklichen; und verſtand nicht, daß dies jenen 
all ihr Leben war: dahinzuſtreichen uͤber die Waſſer⸗ 
flaͤche.“ 

Doch gibt es tiefer Abgeſchiedene, deren Hitlahabut 
in alledem noch nicht erfuͤllt iſt. Die werden „unſtet 
und flüchtig”. Sie gehen in die „Verbannung“, um 
„das Exil mit der Schechina zu tragen“. Es iſt eine 
Urvorſtellung der Kabbala, daß die Schechina, die 
Glorie oder Herrlichkeit Gottes, verbannt durch die 


144 


Unendlichkeit irrt, von ihrem „Herrn“ getrennt, und 
daß ſie erſt in der Stunde der Erloͤſung ſich mit ihm 
wieder vereinigen wird. So wandern dieſe Ekſtatiker 
uͤber die Erde, wohnend in den ſtummen Fernen des 
Gottesexils, Genoſſen des heiligen Allgeſchehens, 
wiſſend um das Rauſchen im Blute des Weltenher— 
zens. Der dergeſtalt Abgeloͤſte iſt Gottes Freund, 
„wie ein Fremdling eines anderen Fremdlings 
Freund iſt, ihrer Fremdheit auf Erden wegen“. 
Ihm widerfahren Augenblicke, in denen er die 
Schechina im Menſchenbilde ſchaut, von Angeſicht 
zu Angeſicht, wie jener Zaddik fie im Heiligen Lande 
ſah, „in der Geſtalt einer Frau, die uͤber den Gemahl 


ihrer Jugend weint und klagt“. 


Aber nicht bloß in Geſichten aus dem Dunkel und 
nicht bloß in dem Schweigen der Wanderſchaft gibt 
Gott ſich dem um ihn Entbrannten, ſondern aus 
allen Dingen der Erde blickt ſein Auge in das 
ſuchende, und jedes Weſen iſt die Frucht, in der er 
ſich der verlangenden Seele darbietet. Schleierlos iſt 
das Sein in des Heiligen Hand. „Wer eine Frau ſehr 


begehrt und ihre buntfarbnen Gewaͤnder betrachtet, 


deſſen Sinn geht nicht auf das Prunkzeug und die 
Farben, ſondern auf die Herrlichkeit der begehrten 


0 145 


Frau, die in fie gehuͤllt iſt. Aber die anderen ſehen 
nur die Gewaͤnder und nichts mehr. So ſchaut, wer 
Gott in Wahrheit begehrt und umfaͤngt, in allen 
Dingen der Welt nur die Kraft und den Stolz des 
Bildners des Urbeginns, der in den Dingen lebt. 
Wer aber nicht auf dieſer Stufe iſt, ſieht die Dinge 
von Gott getrennt.“ 

Dies iſt das Crdenleben der Hitlahabut, die ſich 
uͤber alle Grenzen ſchwingt und ſich mit Gott ver— 
maͤhlt. Sie iſt die Tochter eines Menſchenwillens und 
die Herrin der Heerſcharen, das Fuͤnklein eines We; 
ſens, das ſterben muß, und die Flamme, die Raum 
und Zeit verzehrt, das im Aufbluͤhen welkende Ge⸗ 
waͤchs einer Sehnſucht und die Wurzel des Welten⸗ 
baums. Sie erweitert die Seele zum All. Sie ver⸗ 
engert das All zum Nichts. Von ihr redet ein 
chaſſidiſcher Meiſter in Worten des Geheimniſſes: 
„Die Schoͤpfung des Himmels und der Erde iſt die 
Entfaltung des Etwas aus dem Nichts, das Hinab⸗ 
ſteigen des Oberen in das Untere. Aber die Heiligen, 
die ſich vom Sein abloͤſen und Gott immerdar an⸗ 
hangen, die ſehen und erfaſſen ihn in Wahrheit, als 
waͤre das Nichts wie vor der Schoͤpfung. Sie wan⸗ 
deln das Ctwas in Nichts zuruͤck. Und dies iſt das 


146 


Wunderbarere: das Untere emporzubringen. Wie 
es geſchrieben ſteht in der Gemara: ‚Größer iſt das 
letzte Wunder als das erſte“. 


Aboda: Von dem Dienſte 


Hitlahabut iſt das Gottumfangen ohne Zeit und 
Raum. Aboda iſt das Gottdienen in der Zeit und 
im Raume. 

Hitlahabut iſt das myſtiſche Mahl. Aboda iſt das 
myſtiſche Opfer. 

Es ſind die Pole, zwiſchen denen das Leben des 
Heiligen ſchwingt. 

Hitlahabut ſchweigt, da ſie an Gottes Herzen liegt. 
Aboda redet: „Was bin ich und was iſt mein Le— 
ben, daß ich mein Blut und mein Feuer vor dir dat; 
bringen will?“ 

Alles iſt Gott. Und alles dient Gott. Das iſt die 
urgegebene Zweiheit, zuſammengefaltet im Daſein 
der Welt, entwickelt im Leben des Heiligen. Das 
Myſterium, von dem man ſich entfernt, wenn man 
von ihm redet, und das in der Wirklichkeit der Gott 
habenden, Gott ſuchenden Seele lebendig da iſt: be— 
wußt in ihrer Sehnſucht, keimhaft ſchlummernd in 


o⸗ 147 


ihrer Ekſtaſe, allſichtbar gegliedert im Rhythmus 
ihrer Taten. 

Hitlahabut iſt ſo fern von Aboda wie Erfuͤllung 
von Verlangen. Und doch ſtroͤmt Hitlahabut aus 
Aboda wie Gottfinden aus Gottſuchen. 

Der Baalſchem erzaͤhlte: Ein Koͤnig baute einſt 
einen großen und herrlichen Palaſt mit zahlloſen 
Gemaͤchern, aber nur ein Tor war geoͤffnet. Und 
als der Bau vollendet war, wurde verkuͤndet, es 
ſollten alle Fuͤrſten erſcheinen vor dem Koͤnige, der 
in dem letzten der Gemaͤcher throne. Aber als ſie ein⸗ 
traten, ſahen ſie: da waren Tuͤren offen nach allen 
Seiten, von denen fuͤhrten gewundene Gaͤnge in 
die Fernen, und da waren wieder Tuͤren und 
wieder Gaͤnge, und kein Ende ſtand vor dem 
verwirrten Auge. Da kam der Sohn des Koͤnigs 
und ſah: eine Spiegelung war all die Irre, und er 
ſah ſeinen Vater ſitzen in der Halle vor ſeinem 
Angeſicht. | 

Das Geheimnis der Gnade iſt nicht zu deuten. 


Zwiſchen Suchen und Finden liegt die Spannung 


eines Menſchenlebens, ja tauſendfacher Wiederkehr 
der bangen wandernden Seele. Und doch iſt der Flug 
des Augenblicks langſamer als die Erfuͤllung. Denn 


148 


W ie De a En U 


Gott will geſucht fein, und wie koͤnnte er nicht ger 
funden ſein wollen? 

Der Enkel Rabbi Baruchs, des Enkels des Baal— 
ſchem, ſpielte einſt mit einem anderen Knaben „Ver; 
ſtecken“. Und er verbarg ſich und wartete in ſeinem 
Verſteck viele Zeit und vermeinte, ſein Gefaͤhrte ſuche 
ihn und koͤnne ihn nicht finden. Aber als er lange ge— 
wartet hatte, kam er heraus und ſah den anderen 
nicht mehr und merkte, daß er ihn vom Anfang an gar 
nicht geſucht hatte. Alsdann lief er in die Stube ſeines 
Großvaters mit Weinen und Klagen um den Boͤſen. 
Da floſſen die Augen Rabbi Baruchs uͤber, und er 
ſagte: „So ſpricht Gott auch.“ 

Wenn der Heilige ewig neues Feuer heranbringt, 
daß die Glut auf dem Altar feiner Seele nicht ver; 
loͤſche, redet Gott ſelbſt den Opferſpruch. 

Gott waltet im Menſchen, wie er im Chaos waltete 
zur Zeit der werdenden Welt. „Und wie als die Welt 
ſich zu entfalten begann und er ſah: wenn es weiter 
auseinander fließt, wird es nicht mehr zu ſeinen 
Wurzeln heimkehren koͤnnen, da ſprach er: Ge— 
nug! — fo iſt es, wenn die Seele des Menſchen 
im Leiden zerflutet und das Übel ſo maͤchtig wird 
in ihr, daß ſie bald nicht mehr heimkehren koͤnnte, 


149 


da erweckt ſich fein Erbarmen, und er ſpricht: 
Genug!“ 

Aber auch der Menſch kann „Genug!“ ſagen: zu 
der Vielheit in ſich. Wenn er ſich ſammelt und ver; 
eint, naͤhert er ſich der Einheit Gottes, dient er ſeinem 
Herrn. Dies iſt Aboda. 

Von einem Zaddik wurde geſagt: „Bei ihm iſt 
Lehre und Gebet und Eſſen und Schlafen, alles eines, 
ein Dienſt, und er kann die Seele zu ihrer Wurzel 
erheben.“ 

Alles Tun in eines gebunden, und das unendliche 
Leben in jeder Tat getragen: dies iſt Aboda. „In 
alle Taten des Menſchen, Sprechen und Schauen und 
Horchen und Gehen und Stehenbleiben und Sich⸗ 
legen, ſei das Schrankenloſe eingekleidet.“ 

Aus jeder Tat wird ein Engel geboren, ein guter 
oder ein boͤſer. Aber aus den halben und wirren 
Taten, die ohne den Sinn oder ohne die Kraft ſind, 
werden Engel geboren mit verrenkten Gliedern oder 
ohne Haupt oder ohne Haͤnde oder ohne Fuͤße. 

In allem Tun durchſtrahlt von den Wellen der 
Allſonne und geſammelten Lichtes in allem Tun, dies 
iſt der Dienſt. Aber keine Handlung iſt zu ihm aus⸗ 
erwaͤhlt. Gott will, daß man ihm auf alle Arten diene. 


150 


„Es gibt zwei Arten von Liebe: die Liebe eines 
Mannes zu ſeinem Weibe, der geziemt es im Ge— 
heimen zu ſein und nicht am Orte der Schauenden, 
dieweil dieſe Liebe vollendet iſt nur an einer von 
den Weſen geſchiedenen Staͤtte; und die Liebe zu den 
Geſchwiſtern und den Kindern, die keiner Verborgen— 
heit bedarf. Und ſo gibt es in der Liebe zu Gott zwei 
Arten: die Liebe durch die Lehre und das Gebet und 
die Erfuͤllung des Gebotenen, und ihr geziemt es, 
in der Stille zu wandeln und nicht im Offenbaren, 
damit ſie nicht zu Ruhm und Stolz verfuͤhre; und 
die Liebe in der Zeit, da man mit den Geſchoͤpfen ver⸗ 
miſcht iſt, redet und hoͤrt, gibt und nimmt mit ihnen, 
und in dem Geheimnis ſeines Herzens hangt man 
an Gott und laͤßt nicht ab, ihm zuzuſinnen. Und dies 
iſt eine hoͤhere Stufe als jene, und von ihr iſt geſagt: 
Wer gaͤbe dich mir zum Bruder, der an den Bruͤſten 
meiner Mutter ſog, ich wuͤrde dich in der Gaſſe fin— 
den und dich kuͤſſen, und nicht duͤrften ſie mich darob 
verachten.“ 

Dies iſt aber nicht ſo zu verſtehen, als ſei in dem 
dergeſtalt Dienenden eine Spaltung zwiſchen der 
irdiſchen und der himmliſchen Tat. Vielmehr iſt jede 
Bewegung des Hingegebenen ein Gefaͤß der Weihe 


151 


und der Macht. Von einem Zaddik wird erzählt, er 
habe alle ſeine Glieder ſo geheiligt, daß jeder Schritt 
ſeiner Fuͤße Welten miteinander vermaͤhlte. „Der 
Menſch iſt eine Leiter, aufgepflanzt auf der Erde, und 
ihr Haupt reicht in den Himmel. Und alle ſeine 
Gebaͤrden und Geſchaͤfte und Reden ziehen Spuren 
in der oberen Welt.“ 

Hier iſt der innere Sinn der Aboda angedeutet, 
der aus der Tiefe der altjuͤdiſchen Geheimlehre kommt 
und jenes Myſterium der Zweiheit von Inbrunſt und 
Dienſt, von Haben und Suchen wohl nicht klaͤrt, aber 
verklaͤrt. 

In Zweiheit iſt durch die erſchaffene Welt und ihre 
Tat der Gott zerfallen: in das Gottesweſen, Elohut, 
das den Kreaturen entruͤckt iſt, und die Gottesglorie, 
Schechina, die in den Dingen wohnt, wandernd, 
irrend, verſtreut. Erſt die Erloͤſung wird beide in die 
Ewigkeit vereinigen. Aber es iſt der Beſitz des Men⸗ 
ſchengeiſtes, durch ſeinen Dienſt die Schechina ihrem 
Quell naͤhern, in ihn eintreten laſſen zu koͤnnen. 
Und in dieſem Augenblick der Heimkehr, ehe ſie wieder 
niederſteigen muß in das Sein der Dinge, verſtum⸗ 
men die Wirbel, die durch das Leben der Geſtirne 
ſauſen, erlöfchen die Fackeln der großen Verheerung, 


152 


entſinkt die Geißel der Hand des Geſchickes, halt die 
Weltenpein inne und lauſcht: die Gnade der Gnaden 
iſt erſchienen, der Segen traͤuft nieder auf die Un⸗ 
endlichkeit. Bis die Macht der Verſtrickung die Got; 
tesglorie herabzuzerren beginnt, und alles wird wie 
zuvor. 

Das iſt der Sinn des Dienſtes. Nur das Gebet, 
das um der Schechina willen geſchieht, lebt wahr; 
haft. „Durch ſeine Not und ſeinen Mangel kennt 
er den Mangel der Schechina, zu beten, daß der 
Mangel der Schechina gefuͤllt werde und daß durch 
ihn, den Betenden, die Einung Gottes mit ſei⸗ 
ner Glorie geſchehe.“ Der Menſch ſoll wiſſen, daß 
ſein Leid aus dem Leide der Schechina kommt. Er 
iſt „eines von ihren Gliedern“, und die Stillung 
ihres Entbehrens iſt allein die echte Stillung des 
feinen. „Er ſinne nicht auf feine Löfung im unteren 
oder im oberen Beduͤrfen, daß er nicht ſei wie der 
die ewige Pflanzung verwuͤſtet, Trennung zu ſchaffen; 
ſondern alles tue er um des Mangels der Gottes; 
glorie willen, und aus ſich ſelber wird alles geloͤſt 
werden, auch ſein eigen Leid befriedet aus der Be⸗ 
friedung ſeiner oberen Wurzel. Denn alles, oben und 
unten, iſt eine Einheit.“ „Ich bin das Gebet“, 


153 


ſpricht die Schechina. Ein Zaddik ſagte: „Die Men⸗ 
ſchen meinen, ſie beten vor Gott, aber es iſt nicht ſo, 
denn das Gebet ſelbſt iſt Gottheit.“ 

In der Enge des Selbſt kann kein Beten gedeihen. 
„Wer in Leid betet ob der Schwermut, die ihn re— 
giert, und denkt, er bete in der Furcht vor Gott, oder 
wer in Freude betet ob der Helle ſeines Gemuͤtes, 
und denkt, er bete in der Liebe zu Gott, deſſen Gebet 
iſt gar nichts. Denn dieſe Furcht iſt nur Schwermut, 
und dieſe Liebe iſt nur leere Freude.“ 

Es wird erzaͤhlt, der Baalſchem ſei einmal an der 
Schwelle ſeines Bethauſes ſtehengeblieben und habe 
nicht eintreten wollen und habe im Widerwillen 
geſprochen: „Da kann ich nicht ein. Iſt doch das Haus 
von Ende zu Ende und uͤber alle Ufer voll des Ge⸗ 
betes.“ Und da ſich die Begleiter verwunderten, 
weil ihnen ſchien, es koͤnne kein groͤßeres Lob geben 
als dieſes, deutete er es ihnen: Wenn die Worte 
nicht in ihrer Abſicht auf das obere Geſchehen ger 
richtet ſind, dann koͤnnen ſie nicht aufſteigen, ſon⸗ 
dern lagern ſich am Boden Schicht auf Schicht, bis 
ſie das ganze Haus fuͤllen in dickem Wirrſal. 

Zweierlei vermag die Gebete feſtzuhalten: wenn ſie 
ohne die Intention geſprochen werden, und wenn die 


154 


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früheren Taten des Betenden fich zwiſchen ihm und 
dem Himmel wie eine harte Wolke breiten. Die Hin— 
derung kann nur bezwungen werden, wenn der 
Menſch in die Sphaͤre der Inbrunſt emporwaͤchſt und 
ſich in ihren Gnaden reinigt, oder wenn eine andere 
Seele, die in der Inbrunſt iſt, die gefeſſelten Worte 
freimacht und mit dem ihren nach oben traͤgt. So 
wird von einem Zaddik erzaͤhlt, er ſei beim Beten der 
Gemeinde eine lange Zeit ſtumm und ohne Bewe— 
gung dageſtanden und habe dann erſt ſelbſt zu beten 
begonnen, „gleichwie der Stamm Dan am Ende des 
Lagers zog und alles Verlorene ſammelte“; fein Wort 
ſei ein Gewand geweſen, in deſſen Falten haͤtten ſich 
die niedergehaltenen Gebete geſchmiegt und ſeien 
emporgetragen worden. Dieſer Zaddik pflegte vor 
dem Beten zu ſagen: „Ich binde mich mit ganz 
Iſrael, mit denen, die groͤßer find als ich, daß durch 
fie mein Gedanke aufſteige, und mit denen, die kleiner 
ſind als ich, daß ſie durch mich gehoben werden.“ 
Aber dies iſt das Geheimnis der Gemeinſchaft, 
daß nicht bloß der Niedere des Höheren bedarf, ſon— 
dern auch der Hohe des Niederen. Hier ruht ein wei⸗ 
terer Unterſchied zwiſchen dem Zuſtand der Efftafe 
und dem Zuſtand des Dienſtes. Hitlahabut iſt des 


155 


Einzelnen Weg und Ziel; ein Seil geſpannt über dem 
Abgrund, an zwei ſchlanke Baͤume gebunden, die der 
Sturm bewegt; in Einſamkeit und Grauen betritt es 
der Fuß des Wagenden. Hier gibt es keine Menſchen⸗ 
gemeinſchaft, nicht im Zweifel und nicht im Beſitz. 
Der Dienſt aber iſt vielen Seelen in ihrer Vereinigung 
erſchloſſen. Er gewaͤhrt die letzten Schauer nicht, aber 
er iſt frei von den dunkelſten Angſten. Er iſt nicht ein 
Seil, ſondern eine Bruͤcke. Den auf dem Seile Kom⸗ 
menden umfaͤngt druͤben der Arm des Geliebten; den 
Wanderern der Brüde öffnet ſich die Halle des Koͤ⸗ 
nigs. Die Ekſtaſe will nichts als ihre Vollendung in 
Gott, ſie gibt ſich dahin. Im Dienſte lebt eine Ab⸗ 
ſicht, eine „Kawwana“. Die Wollenden binden ſich 
aneinander zu groͤßerer Einheit und Macht. Es gibt 
einen Dienſt, den nur die Gemeinde vollbringen 
kann. 

Der Baalſchem ſagte ein Gleichnis: Menſchen 
ſtanden unter einem ſehr hohen Baume. Und einer 
von den Menſchen hatte Augen zu ſehen. Und er ſah: 
im Wipfel des Baumes ſtand ein Vogel, herrlich in 
weſenhafter Schoͤnheit. Aber die anderen ſahen den 
Anblick nicht. Und uͤber jenen Mann fiel ein großes 
Bangen, zu dem Vogel zu kommen und ihn zu neh⸗ 


156 


men; und er konnte nicht von dannen ohne den Bo; 
gel. Aber wegen der Hoͤhe des Baumes war es nicht 
in ſeinem Vermoͤgen, und auch eine Leiter war nicht 
zu finden. Doch aus dem großen und maͤchtigen 
Bangen gab er ſeiner Seele den Rat. Er nahm die 
Menſchen, die umherſtanden, und ſtellte fie aufein⸗ 
ander, jeden auf die Schulter eines Gefaͤhrten. 
Er aber ſtieg zu oberſt, alſo daß er zum Vogel kam, 
und nahm ihn. Und die Menſchen, wiewohl ſie dem 
einen geholfen hatten, wußten nichts von dem Vogel 
und ſahen ihn nicht. Er aber, der von ihm wußte und 
ihn ſah, haͤtte ohne ſie nicht zu ihm kommen koͤnnen. 
Würde jedoch der unterſte von ihnen feinen Ort ver; 
laſſen, dann muͤßte der oben zur Erde niederfallen. 
„Und der Tempel des Meſſias wird im Buche Sohar 
das Vogelneſt genannt.“ 

Es iſt aber nicht etwa fo, als werde nur des Zad—⸗ 
diks Gebet von Gott empfangen und als ſei nur die, 
ſes lieblich in ſeinen Augen. Kein Beten iſt gnaden⸗ 
ſtaͤrker und dringt in geraderem Fluge durch alle 
Himmelswelten, als das Beten des Einfaͤltigen, der 
nichts zu ſagen und nur das ungebrochene Muͤſſen 
ſeines Herzens Gott darzubringen weiß. Gott nimmt 
es an, wie ein Koͤnig das Singen der Nachtigall in 


157 


der Nacht feines Gartens, das ihm ſuͤßer klingt als 
die Huldigung der Fuͤrſten im Thronſaal. Die chaſſi⸗ 
diſche Legende weiß ſich nicht genug der Beiſpiele fuͤr 
die Gunſt, die dem Ungeſchiedenen leuchtet, und fuͤr 
die Macht ſeines Dienſtes. Eines ſei hier mitgeteilt. 
Cin Dorfmann, der Jahr fuͤr Jahr an den „furcht⸗ 

baren Tagen“ im Bethaus des Baalſchem war, hatte 
einen Knaben. Der war ſtumpfen Verſtandes und 
konnte nicht einmal die Geſtalt der Buchſtaben emp; 
fangen, geſchweige denn die heiligen Worte erkennen. 
Und der Vater nahm ihn an den furchtbaren Tagen 
nicht mit ſich in die Stadt, dieweil er nichts wußte. 
Aber als er dreizehn Jahre war und muͤndig vor 
Gottes Geſetzen, nahm ihn der Vater am Verſoͤh⸗ 
nungstag mit, damit er nicht etwa eſſe am Tage der 
Kaſteiung aus Mangel feines Wiſſens und Ver⸗ 
ſiehens. Und der Knabe hatte ein Pfeifchen, darauf 
pfiff er immer in der Zeit, da er im Felde ſaß, die 
Schafe und Kaͤlber zu weiden. Und er nahm es mit 
ſich in der Taſche ſeines Kleides, und ſein Vater ſah 
es nicht. Und der Knabe ſaß in den heiligen Stunden 
im Bethauſe und wußte nichts zu ſagen. Als aber 
das Muſſafgebet angehoben wurde, ſprach er zu ſei— 
nem Vater: „Vater, ich habe mein Pfeifchen bei mir 


158 


r 


und ich will darauf fingen.” Da war fein Vater fehr 
beſtuͤrzt und fuhr ihn an und ſprach: „Hüte dich und 
huͤte deine Seele, daß du dies nicht tueſt.“ Und er 
mußte es in ſich bewahren. Aber als das Mincha— 
gebet kam, ſprach er wieder: „Vater, erlaube mir 
doch, mein Pfeifchen zu nehmen.“ Und als der Vater 
fein Verlangen ſah und daß feine Seele bangte zu 
pfeifen, war er zornig und fragte ihn: „An welchem 
Orte haſt du es?“, und da er ihm den Ort zeigte, legte 
er die Hand auf die Taſche und hielt ſie fortan darauf, 
um das Pfeifchen zu hüten. Und das Neilagebet 
begann, und die Lichter brannten zitternd in den 
Abend, und die Herzen brannten wie die Lichter, uns 
erſchoͤpft vom langen Harren, und durch das Haus 
ſchritten noch einmal muͤde und aufrecht die achtzehn 
Segenſpruͤche, und das große Bekenntnis kehrte zum 
letztenmal wieder und lag vor der Lade des Herrn, 
die Stirn auf der Diele und die Haͤnde gebreitet, 
noch einmal, ehe der Abend ſich neigt und Gott ent⸗ 
ſcheidet. Da konnte der Knabe ſeine Inbrunſt nicht 
länger halten und riß das Pfeifchen aus der Taſche 
und ließ ſeine Stimme gar maͤchtig ſchallen. Und 
alle ſtanden erſchreckt und verwirrt da. Aber der 
Baalſchem erhob ſich uͤber ihnen und ſprach: „Das 


159 


Verhängnis iſt durchbrochen und der Zorn zerſtreut 
vom Angeſichte der Erde.“ 

So iſt jeder Dienſt, der aus einer ſchlichten oder 
geſchlichteten zwieſpaltloſen Seele kommt, zureichend 
und vollkommen. Noch aber iſt ein hoͤherer. Denn 
wer von Aboda zu Hitlahabut aufgeſtiegen iſt und 
ſeinen Willen in ſie getaucht hat und ſeine Tat einzig 
aus ihr empfaͤngt, der hat jeden beſonderen Dienſt 
uͤberſtiegen. „Jeder Zaddik hat ſeine beſondere Art 
des Dienſtes. Wenn aber die Zaddikim ihre Wurzel 
betrachten und zum Nichts gelangen, dann koͤnnen 
ſie Gott auf allen Stufen dienen.“ So ſprach einer 
von ihnen: „Ich ſtehe vor Gott wie ein Botenknabe.“ 
Denn er war zur Vollendung und zum Nichts ge⸗ 
kommen, bis er keine beſondere Art mehr hatte, 
„ſondern er ſtand bereit fuͤr alle Arten, die Gott ihm 
weiſen wuͤrde, wie ein Botenknabe daſteht, bereit fuͤr 
alles, was ihm ſein Herr befehlen wird“. 

Wer dergeſtalt in der Vollendung dient, der hat 
die urgegebene Zweiheit beſiegt und hat Hitlahabut 
in das Herz der Aboda eingetan. Er wohnt in den 
Reichen des Lebens, und doch ſind alle Mauern ge⸗ 
fallen, alle Grenzſteine ausgeriſſen, alle Scheidung iſt 
vernichtet. Er iſt der Bruder der Geſchoͤpfe und 


160 


fühlt ihren Blick, als waͤre er fein eigener, ihren 
Schritt, als gingen ihn ſeine Fuͤße, ihr Blut, als 
floͤſſe es in feinem Leibe. Er iſt der Sohn Gottes und 
legt bange und ſicher ſeine Seele in die große Hand 
zu all den Himmeln und Erden und ungewußten 
Welten und ſteht auf den Fluten des Meeres, in 
das alle feine Gedanken und aller Weſen Wander; 
ſchaften muͤnden. „Er macht ſeinen Koͤrper zum 
Throne des Lebens und das Leben zum Throne des 
Geiſtes und den Geiſt zum Throne der Seele und 
die Seele zum Throne des Lichtes der Gottesglorie, 
und das Licht umſtroͤmt ihn ringsum, und er ſitzt 
inmitten des Lichtes und zittert und frohlockt.“ 


Kawwana: Von der Intention 


Kawwana iſt das Myſterium der auf ein Ziel ge— 
richteten Seele. 

Kawwana iſt nicht der Wille. Sie ſinnt nicht dar⸗ 
auf, ein Bild in die Welt der wirklichen Dinge zu 
verſetzen; nicht, einen Traum zum Gegenſtande feſt— 
zumachen, daß er bei der Hand ſei, beliebig oft emp— 
funden zu werden in ſatter Wiederholung. Auch dar; 
auf nicht, den Stein der Tat in die Wellen des Ge; 


11 161 


ſchehens zu werfen, daß fie eine Weile unruhig werden 
und ſich verwundern, um ſodann zuruͤckzukehren zu 
den tiefen Befehlen ihres Lebens; einen Funken zu 
legen an die Zuͤndſchnur, die durch die Reihe der Ger 
ſchlechter geht, daß eine Flamme huͤpfe aus Zeit zu 
Zeit, bis ſie in einer ohne Abſchied und Zeichen er⸗ 
liſcht. Nicht dies iſt Kawwanas Meinen, daß die 
Pferde an dem großen Wagen einen Antrieb mehr 
verſpuͤren, oder daß ein Bau mehr aufgerichtet werde 
vor dem uͤbervollen Blick der Sterne. Kawwana 
meint nicht den Zweck, ſondern das Ziel. 

Es gibt aber keine Ziele, ſondern das Ziel. 
Nur ein Ziel iſt, das nicht luͤgt, das ſich in kei⸗ 
nen neuen Weg verfaͤngt, in das alle Wege muͤn⸗ 
den, vor dem kein Abweg ewig fluͤchten kann: die 
Erloͤſung. 

Kawwana iſt ein Strahl der Gottesglorie, der in 
jedem Menſchen wohnt und die Erloͤſung meint. 

Dies aber iſt die Erloͤſung, daß die Schechina aus 
der Verbannung heimkehre. „Daß alle Schalen von 
der Gottesglorie weichen und ſie ſich reinige und 
ſich eine ihrem Eigner in vollkommener Einung.“ 
Des zum Zeichen erſcheint der Meſſias und macht alle 
Weſen frei. 


162 


Manchem ift fein Leben lang, als muͤſſe es hier und 
heute geſchehen. Denn er hoͤrt die Stimmen des Wer— 
dens in den Schluchten brauſen und fuͤhlt das Keimen 
der Ewigkeit auf dem Acker der Zeit, wie wenn es in 
ſeinem Blute geſchaͤhe, und ſo kann er es nimmer 
anders denken, als dies und dies ſei der erwaͤhlte 
Augenblick. Und immer noch heißer zwingt ihn ſein 
Waͤhnen, weil immer noch gebieteriſcher die Stimmen 
reden und noch heiſchender das Keimen ſchwillt. 

Von einem Zaddik wird erzaͤhlt, daß er alſo ſehr 
der Erloͤſung harrte: wenn er auf der Gaſſe ein Ge; 
tuͤmmel hoͤrte, ſogleich wurde er erregt, zu fragen, was 
dies wolle und ob nicht der Bote gekommen ſei; und 
jedesmal, wenn er zum Schlafen ging, befahl er ſei— 
nem Diener, wenn der Bote kaͤme, ſolle er ihn im 
gleichen Augenblick wecken. „Denn alſo ſehr war in 
ſeinem Herzen das Kommen des Erloͤſers eingefaßt, 
wie wenn ein Vater den einzigen Sohn aus dem 
fremden Lande erwartet und ſteht auf der Turm; 
warte mit Sehnſucht der Augen und lugt durch alle 
Fenſter aus, und wenn man die Tuͤr oͤffnet, eilt er hin⸗ 
aus, um zu ſehen, ob ſein Sohn nicht gekommen iſt.“ 

Andere aber ſind des Schreitens kundig in ſeinem 
Maße und ſehen Ort und Stunde der Bahn und wiſ— 


11 163 


fen die Ferne des Kommenden. In allem ſtellt fich 
ihnen das Unvollendete dar, die Gebrechen der Weſen 
reden zu ihnen, und der Atem der Winde traͤgt ihnen 
Bitterkeit zu. Wie eine unreife Frucht iſt die Welt 
vor ihren Augen. In ſich ſind ſie der Glorie teil— 
haftig — da ſchauen ſie hinaus: Alles liegt im 
Kampfe. 

Als der große Zaddik Rabbi Menachem in Seru; 
ſalem war, ereignete es ſich, daß ein toͤrichter Mann 
den Ölberg beſtieg und in die Schofarpoſaune ſtieß. 
Und keiner hatte ihn geſehen. Und es war ein Ge⸗ 
ruͤcht im Volke, dies ſei das Schofarblaſen, das die 
Erloͤſung verkuͤndigt. Als dies an die Ohren des 
Rabbis kam, oͤffnete er ein Fenſter und ſah in die 
Luft der Welt hinaus. Und ſogleich ſprach er: „Da 
iſt keine Erneuerung.“ 

Dies aber iſt der Weg der Erloͤſung: daß alle See⸗ 
len und Seelenfunken, die der Urſeele entſproſſen und 
in der Urtruͤbung der Welt oder durch die Schuld der 
Zeiten geſunken und hinausgeſtreut ſind in alle Krea⸗ 
turen, die Wanderſchaft beſchließen und gelaͤutert 
heimkehren. Die Chaſſidim reden davon im Gleichnis 
des Fuͤrſten, der das Mahl erſt anheben laͤßt, wenn 
der letzte der Gaͤſte eingezogen iſt. 


164 


Alle Menſchen find die Stätten wandernder See; 
len. In vielen Weſen wohnen fie und fireben von 
Geſtalt zu Geſtalt nach der Vollendung. Die ſich aber 
nicht zu laͤutern vermoͤgen, werden von der „Welt des 
Wirrſals“ befangen und hauſen in Waſſerlachen, in 
Steinen, in Gewaͤchſen, in Tieren, der erloͤſenden 
Stunde entgegenharrend. 

Doch nicht bloß Seelen ſind uͤberall verſchloſſen: 
auch Seelenfunken. Ihrer iſt kein Ding leer. Sie 
leben in allem, was iſt. Jede Form iſt ihr Kerker. 

Und dies iſt der Sinn und die Beſtimmung der 
Kawwana: daß es dem Menſchen gegeben iſt, die Ge— 
fallenen zu heben und die Gefangenen zu befreien. 

Nicht bloß warten, nicht bloß ausſchauen: wirken 
kann der Menſch an der Erlöfung der Welt. 

Dies eben iſt Kawwana: das Myſterium der Seele, 
die darauf gerichtet iſt, die Welt zu erloͤſen. 

Es wird von Heiligen berichtet, die es im Sturm 
und in der Gewalt zu vollbringen vermeinten. In 
dieſer Welt; wenn ſie von der Gnade der Inbrunſt 
ſo durchgluͤht waren, daß ihnen nichts mehr un⸗ 
erreichbar ſchien, die ſie doch Gott umfangen hatten. 
Oder in der kommenden Welt; ein Zaddik ſprach im 
Sterben: „Die Freunde ſind hingegangen und woll⸗ 


165 


ten den Meſſias bringen, und haben es in der Wonne 
vergeſſen. Aber ich werde nicht vergeſſen.“ 

In Wahrheit jedoch kann jeder nur in ſeinem Be⸗ 
reiche wirken. Jeder hat eine weit in Raum und Zeit 
ausgeſpannte Sphaͤre des Seins, die ihm zugeteilt 
iſt, durch ihn erloͤſt zu werden. Orte, die von Unge⸗ 
hobenem beſchwert und in ihrer Seele gefeſſelt ſind, 
warten auf den Menſchen, der zu ihnen kommen wird 
mit dem Worte der Freiheit. Wenn ein Chaſſid an 
einem Orte nicht beten kann und an einen anderen 
geht, dann fordert der erſte Ort von ihm: „Warum 
wollteſt du nicht auf mir die heiligen Worte ſprechen? 
Und wenn Boͤſes an mir iſt, ſo iſt es an dir, mich zu 
erloͤſen.“ Aber auch alle Reiſen haben heimliche Be⸗ 
ſtimmung, die der Reiſende nicht ahnt. | 

Von einigen Zaddikim wird geſagt, fie haften die 
helfende Macht uͤber die wandernden Seelen gehabt. 
In allen Zeiten, ſonderlich aber, wenn ſie im Gebete 
ſtanden, ſeien die Irrfahrer der Ewigkeit bittend vor 
ihnen erſchienen und haͤtten das Heil aus ihren Haͤn⸗ 
den empfangen. Doch auch aus eigenem Trieb haͤtten 
fie die Stummen unter den Gebannten im Exil eines 
muͤden Leibes oder im Dunkel des Elements zu finden 
und ſie emporzuretten gewußt. 


166 


Dieſe Hilfe iſt als ein ungeheures Wagen inmitten 
von andringenden Gefahren dargeſtellt, zu dem nur 
der Heilige ſich ſpannen kann, ohne niedergeworfen 
zu werden. „Wer eine Seele hat, der mag ſich in den 
Abgrund hinablaſſen, feſtgebunden durch ſeinen Ge— 
danken wie durch ein ſtarkes Seil am oberen Rande, 
und wird zuruͤckkehren. Aber wer nur Leben hat oder 
nur Leben und Geiſt, der hat die Artung des Gedan— 
kens noch nicht, und das Band wird nicht ſtandhalten, 
und er wird in die Tiefe fallen.“ 

Kann alſo nur der Begnadete ruhigen Mutes in 
die Finſternis tauchen, um einer Seele beizuſtehen, 
die den Wirbeln der Wanderfchaft überliefert iſt, fo iſt 
auch dem Geringſten nicht verſagt, die verlorenen 
Funken aus ihrem Gewahrſam zu heben und heim— 
zuſenden. 

Überall ſind die Funken eingetan. Sie haͤngen in 
den Dingen wie in verſiegelten Brunnen, ſie ducken 
ſich in den Weſen wie in zugemauerten Hoͤhlen, ſie 
atmen Bangigkeit aus und Dunkel ein, ſie warten; 
und die im Raume wohnen, ſchwirren wie lichttolle 
Falter um die Bewegungen der Welt umher, ſchauend, 
in welche ſie einkehren koͤnnten, durch ſie geloͤſt zu 
werden. Alle harren ſie der Freiheit. 


167 


„Der Funke in einem Geſtein oder Gewaͤchs oder 
einer anderen Kreatur iſt wie eine völlige Geſtalt, die 
in der Mitte des Dinges wie in einem Block ſitzt, 
daß Haͤnde und Füße ſich nicht ſtrecken koͤnnen und 
der Kopf auf den Knien liegt. Und wer den heiligen 
Funken zu heben vermag, der fuͤhrt ihn an die Frei⸗ 
heit, und keine Loͤſung Gefangener iſt groͤßer als dieſe. 
Wie wer einen Koͤnigsſohn aus der Gefangenſchaft 
errettet und zu ſeinem Vater bringt.“ 

Aber nicht durch Beſchwoͤrungsformeln und nicht 
durch irgendein vorgeſchriebenes ſonderliches Tun 
geſchieht die Befreiung. All dies waͤchſt auf dem 
Grunde der Anderheit, der nicht der Grund der Kaw— 
wana iſt. Es bedarf keines Sprunges aus dem Ge⸗ 
wohnten ins Wunder. „Mit jeder Tat kann der 
Menſch an der Geſtalt der Gottesglorie arbeiten, daß 
ſie aus dem Verborgenen trete.“ Nicht die Materie 
der Handlung, nur ihre Weihung entſcheidet. Eben 
dies, was du im Gleichmaß der Wiederkehr oder in 
der Fuͤgung der Ereigniſſe tuſt, eben dieſe aus Übung 
erworbene oder aus Eingebung gewonnene Antwort 
des Handelnden auf das vielfaͤltige Begehren der 
Stunden, eben dieſe Stetigkeit des lebendigen Stro⸗ 
mes wird, in der Weihe vollzogen, zum Erloͤſen. Wer 


168 


in Heiligkeit betet und ſingt, in Heiligkeit ißt und 
redet, in Heiligkeit des gebotenen Tauchbades und in 
Heiligkeit der Geſchaͤfte bedacht iſt, durch den werden 
die gefallenen Funken erhoben und die gefallenen 
Welten erloͤſt und erneuert. 

Um jeden Menſchen iſt — in die weite Sphaͤre ſei— 
nes Wirkens eingebaut — ein natuͤrlicher Bezirk von 
Dingen gelegt, die vor allem zu befreien er beſtimmt 
iſt. Es ſind die Weſen und Gegenſtaͤnde, die der Be— 
ſitz des Einzelnen genannt werden: ſeine Tiere und 
feine Wände, fein Garten und fein Anger, fein Gerät 
und feine Speiſe. Indem er ſie in Heiligkeit hegt und 
genießt, macht er ihre Seelen los. „Daher ſoll der 
Menſch ſich immerdar ſeiner Geraͤte und alles ſeines 
Beſitzes erbarmen.“ 

Aber auch in der Seele ſelbſt erſcheinen die der Löoͤ— 
ſung Beduͤrftigen. Die meiſten ſind die Funken, die 
durch die Schuld dieſer Seele in einem ihrer fruͤheren 
Leben in die Niederung geraten ſind. Sie ſind die 
fremden, ſtoͤrenden Gedanken, die oft den Betenden 
befallen. „Wenn der Menſch im Gebete ſteht und be— 
gehrt, ſich an das Ewige zu ſchließen, und die fremden 
Gedanken kommen und fallen: heilige Funken ſind 
es, die geſunken ſind und von ihm erhoben und erloͤſt 


169 


werden wollen; und die Funken find ihm zugehörig, 
der Wurzel ſeiner Seele verſchwiſtert: ſeine Kraͤfte 
ſind es, die er erloͤſen ſoll.“ Er erloͤſt ſie, wenn er 
jeden truͤben Gedanken ſeiner reinen Quelle wieder⸗ 
gibt, jeden auf Sonderheit ſinnenden Trieb in den 
goͤttlichen Alltrieb ergießt, alles Fremde in der Eigen⸗ 
heit untergehen laͤßt. 

Dies iſt die Kawwana des Empfangens: daß man 
die Funken in den umgebenden Dingen und die 
Funken, die aus dem Unſichtbaren nahen, erloͤſe. 
Aber es gibt noch eine andere Kawwana, das iſt die 
Kawwana des Gebens. Sie traͤgt keine verirrten 
Seelenſtrahlen in hilfreichen Haͤnden; ſie bindet Wel⸗ 
ten aneinander und herrſcht in den Geheimniſſen, ſie 
ſchuͤttet ſich in die durſtige Ferne, ſie ſchenkt ſich der 
Unendlichkeit. Auch ſie bedarf des Wunderbaren 
nicht. Ihre Bahn iſt das Schaffen, und das Wort 
vor aller anderen Geſtalt des Schaffens. 

Die Sprache war fuͤr die juͤdiſche Myſtik von je 
ein ſeltſamer und ſchauererweckender Gegenſtand. 
Eine eigentuͤmliche Theorie der Buchſtaben als der 
Weltelemente liegt vor, die von ihren Vermiſchungen 
als von dem Innern der Wirklichkeit handelt. Das 
Wort iſt ein Abgrund, durch den der Redende ſchreitet. 


170 


„Man ſoll die Worte fprechen, als ſeien die Himmel 
geöffnet in ihnen. Und als ſei es nicht fo, daß du 
das Wort in deinen Mund nimmſt, ſondern als 
gingeſt du in das Wort ein.“ Wer des heimlichen 
Liedes kundig iſt, das das Innen ins Außen traͤgt, der 
tiefen, dunklen Weiſe, die wunderbar die Laute reiht, 
des heiligen Reigens, der einſame ſproͤde Worte zum 
Geſang der Fernen verſchmilzt, der wird der Gottes— 
macht voll, „und es iſt, als ſchuͤfe er Himmel und 
Erde und alle Welten von neuem“. Er findet ſein 
Reich nicht vor wie der Seelenbefreier, er ſpannt es 
aus vom Firmament zu den ſchweigenden Tiefen. 
Aber auch er wirkt an der Erloͤſung. „Denn in jedem 
Zeichen ſind Welten und Seelen und Goͤttliches, und 
ſie ſteigen auf und binden ſich und vereinigen ſich mit⸗ 
einander, und danach vereinigen ſich die Zeichen und 
es wird das Wort, und die Worte einen ſich in 
Gott in wahrhafter Einung, da ein Menſch ſeine 
Seele in ſie geworfen hat, und alle Welten 
einen ſich und ſteigen auf, und die große Wonne 
wird geboren.“ So bereitet der Wirkende die letzte 
All⸗Einung vor. 

Und wie uns Aboda in Hitlahabut, das Urprinzip 
des chaſſidiſchen Lebens, muͤndete, ſo muͤndet hier 


171 


Kawwana in Hitlahabut. Denn Schaffen iſt Ger 
ſchaffenwerden: das Goͤttliche bewegt und bewaͤltigt 
uns. Und Geſchaffenwerden iſt Ekſtaſe: nur wer ſich 
in das Nichts des Abſoluten einſenkt, empfaͤngt die 
formende Hand des Geiſtes. Dies wird im Gleichnis 
dargeſtellt. Es iſt keinem Ding der Welt gegeben, in 
ſich umgeſchaffen zu werden und in neue Geſtalt zu 
kommen, es komme denn vordem zum Nichts, das 
iſt zur „Geſtalt des Dazwiſchen“. Kein Weſen kann 
auf ihr beſtehen, ſie iſt die Kraft vor der Schoͤpfung 
und heißt das Chaos. So iſt das Vergehen des Eies 
zum Kuͤchlein und ſo der Same, der nicht keimt, ehe 
er in der Erde aufgegangen und verweſt iſt. „Und 
dies wird Weisheit genannt, das heißt: ein Gedanke, 
der keine Offenbarung hat. Und alſo iſt es, wenn der 
Menſch will, daß eine neue Schoͤpfung aus ihm 
komme, dann muß er mit aller ſeiner Moͤglichkeit zur 
Eigenſchaft des Nichts kommen, und dann ſchafft 
Gott in ihm eine neue Schoͤpfung, und er iſt wie ein 
Quell, der nicht verſiegt, und wie ein Strom, der 
nicht aufhoͤrt.“ | 

So ift zwiefach der Wille der chaſſidiſchen Lehre von 
der Kawwana: daß der Genuß, die Verinnerung des 
Außen, in Heiligkeit geſchehe; daß das Schaffen, die 


172 


r 


n 


Veräußerung des Innen, in Heiligkeit geſchehe. 
Durch heiliges Schaffen und heiligen Genuß voll— 
zieht ſich die Erloͤſung der Welt. 


Schiflut: Von der Demut 


Gott tut nicht zweimal das gleiche Ding, ſagt Rabbi 
Nachman von Bratzlaw. 

Einzig und einmalig iſt das Seiende. Neu und un⸗ 
geweſen taucht es aus der Flut der Wiederkuͤnfte auf, 
geſchehen und unwiederholbar taucht es in ſie zuruͤck. 
Jegliches erſcheint zum anderen Male, aber jegliches 
gewandelt. Und die Wuͤrfe und Stuͤrze, die uͤber den 
großen Weltgebilden walten, und die Feuer und Waf; 
fer, die die Geſtalt der Erde bauen, und die Miſchun⸗ 
gen und Entmiſchungen, die das Leben der Lebendi⸗ 
gen lochen, und der Geiſt des Menſchen mit all ſeinem 
Verſuchen und Vergreifen an der weichen Fuͤlle des 
Moͤglichen, ſie alle koͤnnen nicht ein Gleiches ſchaffen 
und nicht wiederbringen eines der Dinge, das da ber 
ſiegelt iſt geweſen zu ſein. 

Die Einmaligkeit iſt eine Ewigkeit des Einzelnen. 
Denn mit ſeiner Einzigkeit iſt er unverloͤſchbar in das 
Herz der Allheit eingegraben und liegt im Schoße 


173 


des Zeitlofen immerdar als der alſo und nicht anders 
Beſchaffene. | 

So ift die Einzigkeit das weſentliche Gut des Mens 
ſchen, das ihm gegeben iſt, es zu entfalten. Und dies 
eben iſt der Sinn der Wiederkehr, daß ſich die Einzig⸗ 
keit in ihr immer mehr reinige und vollkommen 
werde; und daß in jedem neuen Leben der Wieder⸗ 
kehrende in ungetruͤbterer und ungeſtoͤrterer Un⸗ 
vergleichbarkeit ſtehe. Denn reine Einzigkeit und reine 
Vollkommenheit ſind eines, und wer ſo ganz und gar 
einzig geworden iſt, daß keine Anderheit mehr Macht 
uͤber ihn und Ort in ihm hat, der hat die Reiſe voll⸗ 
bracht und iſt erloͤſt und kehrt in Gott ein. 

„Jedermann ſoll wiſſen und bedenken, daß er in 
der Welt einzig iſt in ſeiner Beſchaffenheit, und kein 
ihm Gleicher war je im Leben, denn waͤre je ein ihm 
Gleicher geweſen, dann brauchte er nicht zu ſein. 
Aber in Wahrheit iſt jeglicher ein neues Ding in der 
Welt, und er ſoll ſeine Eigenſchaft vollkommen 
machen, denn weil ſie nicht vollkommen iſt, zoͤgert 
das Kommen des Meſſias.“ j 

Nur aus feiner eigenen Art, aus keiner fremden 
kann ſich der Strebende vollenden. „Wer die Stufe 
des Gefaͤhrten erfaßt und ſeine Stufe fahren laͤßt, 


174 


diefe und jene wird durch ihn nicht verwirklicht wer; 
den. Viele taten wie Rabbi Simon ben Jochai, und 
es geriet nicht in ihrer Hand, weil ſie nicht in dieſer 
Beſchaffenheit waren, ſondern nur wie er taten, da 
ſie ihn in dieſer Beſchaffenheit ſahen.“ 

Aber wie der Menſch in einſamer Inbrunſt Gott 
ſucht und es doch einen hohen Dienſt gibt, den nur die 
Gemeinde vollziehen kann, und wie der Menſch mit 
dem Tun ſeines Alltags Ungeheures wirkt, aber nicht 
allein, ſondern der Welt und der Dinge bedarf er zu 
ſolchem Tun, fo bewährt fich die Einzigkeit des Men⸗ 
ſchen in ſeinem Leben mit den anderen. Denn je 
einziger einer in Wahrheit iſt, deſto mehr kann er den 
anderen geben, und deſto mehr will er ihnen geben. 
Und dies eine iſt ſeine Not, daß ſein Geben einge— 
ſchraͤnkt iſt durch den Nehmenden. Denn „der 
Schenkende iſt von ſeiten der Gnade und der Emp— 
fangende iſt von ſeiten des Gerichts. Und ſo iſt es 
mit jedem Ding. Wie wenn man aus einem großen 
Gefäß in einen Becher gießt: das Gefaͤß ſchuͤttet ſich 
in Fuͤlle aus, aber der Becher ſetzt ſeiner Gabe die 
Grenze“. 

Der Einzige ſchaut Gott und umſchlingt ihn. Der 
Einzige erlöft die gefallenen Welten. Und doch iſt der 


175 


Einzige kein Ganzes, ſondern ein Teil. Und je reiner 
und vollkommener er iſt, deſto inniger weiß er es, 
daß er ein Teil iſt, und deſto wacher regt ſich in ihm 
die Gemeinſchaft der Weſen. Das iſt das Myſterium 
der Demut. 

„Der Menſch hat ein Licht uͤber ſich, und wenn zwei 
Menſchen einander mit den Seelen begegnen, geſellen 
ſich ihre Lichter zueinander, und aus ihnen geht ein 
Licht hervor. Und dies wird Zeugung genannt.“ All⸗ 
zeugung fuͤhlen wie ein Meer und ſich darin wie eine 
Welle, das iſt das Myſterium der Demut. 

Nicht das iſt Demut, wenn einer „fich uͤberſehr er; 
niedrigt und vergißt, daß der Menſch durch ſein Wort 
und ſeine Gebaͤrde uͤber alle Welten den uͤber⸗ 
fließenden Segen herabzubringen vermag“. Dies 
wird unreine Demut genannt. „Das groͤßte Boͤſe iſt, 
wenn du vergiſſeſt, daß du ein Koͤnigsſohn biſt.“ In 
Wahrheit demuͤtig aber iſt, wer die anderen wie ſich 
fuͤhlt und ſich in den anderen. | 

Hochmut heißt: ſich gegenuͤberſtellen. Nicht wer 
ſich weiß, nur wer ſich mit anderen vergleicht, iſt der 
Hochmuͤtige. Kein Menſch kann ſich uͤberheben, wenn 
er auf ſich ruht: ſind ihm doch alle Himmel offen und 
alle Welten ergeben; der uͤberhebt ſich, der ſich dem 


176 


andern gegenüber fühlt, fich höher ſieht als das 
allergeringſte der Dinge, der mit Elle und Gewichten 
ſchaltet und Urteil ſpricht. 

Ein Zaddik ſprach: „Wenn heute Meſſias kommt 
und jagt: Du biſt beſſer als die anderen‘, dann ſage 
ich ihm: ‚Du biſt nicht Meſſias.“ 

Ohne Werk und Weſen lebt die Seele des Hoch— 
muͤtigen, flattert und muͤht ſich und wird nicht ge— 
ſegnet. Die Gedanken, die nicht das Gedachte, fon; 
dern ſich und ihren Glanz meinen, ſind Schatten. 
Die Tat, die nicht auf das Ziel, ſondern auf die Gelz 
tung ſinnt, hat nicht Körper, nur Fläche, nicht Be; 
ſtand, nur Erſcheinung. Wer mißt und waͤgt, wird 
leer und unwirklich wie Maß und Gewicht. „Wer 
ſeiner voll iſt, in dem hat Gott keinen Raum.“ 

Von einem Juͤngling wird erzaͤhlt, der die Abge⸗ 
ſchiedenheit auf ſich nahm und ſich von den Dingen 
der Welt loͤſte, allein der Lehre und dem Dienſte an⸗ 
zuhangen, und ſaß in der Einſamkeit, faſtend von 
Sabbat zu Sabbat und lernend und betend. Aber in 
ſeinem Sinne hatte er uͤber aller Abſicht den Stolz 
ſeines Tuns, und es ſtrahlte vor ſeinen Augen, und 
ſeine Finger brannten, es auf ſeine Stirn zu legen wie 
den Reif des Geſalbten. Und alſo fiel ſein Werk 


12 177 


der „anderen Seite“ anheim, und das Heilige hatte 
kein Teil daran. Aber immer ſtaͤrker trieb ſich ſein 
Herz auf und fuͤhlte das Sinken nicht, indes die 
Daͤmonen mit ſeinen Taten ſpielten, und duͤnkte ſich 
ganz von Gott beſeſſen. Da kam es einſt, daß er ſich 
aus ſich hinauslehnte und die Dinge rings um ſtumm 
und abgewandt gewahrte, und da ergriff ihn das Er⸗ 
kennen, und er ſchaute ſein Tun, aufgeſchichtet zu 
Fuͤßen eines rieſenhaften Goͤtzen, und ſich ſelbſt 
ſchaute er in ſchwindelnder Leere, preisgegeben dem 
Namenloſen. Dies wird erzaͤhlt und nicht weiter. 

Der Demuͤtige aber hat die „ziehende Kraft“. Alle 
Zeit, die der Menſch ſich uͤber anderen und vor ande⸗ 
ren ſieht, hat er eine Grenze, „und Gott kann ſeine 
Heiligkeit nicht in ihn laſſen, da Gott ohne Grenze 
iſt.“ Aber wenn der Menſch in ſich ruht wie im Nichts, 
iſt er durch kein anderes begrenzt und iſt grenzenlos, 
und Gott gießt ſeine Glorie in ihn. 

Die Demut, die hier gemeint iſt, iſt keine gewollte 
und geuͤbte Tugend. Sie iſt nichts als innerliches 
Sein, Fuͤhlen und Ausſagen. Nirgends iſt ein 
Zwang in ihr, nirgends ein Sichbeugen, Sichbeherr⸗ 
ſchen, Sichbeſtimmen. Sie iſt zwieſpaltbar wie eines 
Kindes Blick und ſchlicht wie eines Kindes Rede. 


178 


Rabbi Jaakob Jizchak von Lublin, der „Seher“, 
hatte einen Widerſacher, einen harten und engſuͤchti— 
gen Gelehrten, der „der eiſerne Kopf“ genannt wurde. 
Der bedraͤngte ihn unaufhoͤrlich mit Fragen, Ein⸗ 
waͤnden und Vorwuͤrfen. Einmal ſagte er zu ihm: 
„Ihr wißt doch ſelbſt, daß Ihr kein Zaddik ſeid. War; 
um fuͤhrt Ihr andere auf Eure Wege und ziehet ſie zu 
Eurer Gemeinde?“ Sprach Rabbi Jaakob Jigzchak: 
„Was kann ich tun? Sie laufen mir zu und werden 
meines Wortes froh und begehren es gar.“ Darauf 
jener: „So gebet es am Sabbat allen insgeſamt zu 
wiſſen, daß Ihr keiner der Erhabenen ſeid.“ Dies zu 
tun, war der Zaddik erboͤtig, und am naͤchſten Sabbat 
ſprach er vor den Ohren aller die Worte, die jener 
ihm befohlen hatte. Da zog in aller Herzen eine tiefe 
und wunderſame Demut ein, und hingen ihm fuͤrder 
noch eifriger an als bisher. Als er dies dem eiſernen 
Kopf bekanntgab, bedachte ſich der und ſagte ſodann: 
„Es iſt dies der Weg bei euch Chaſſidim, den Demuͤti⸗ 
gen zu lieben und den Hochmuͤtigen zu meiden. Darum 
ſaget ihnen, Ihr ſeiet der Auserwaͤhlten einer, und ſie 
werden ſich von Euch kehren.“ Antwortete der Meiſter: 
„Wenn ich auch kein Zaddik bin, fo bin ich doch kein Luͤg⸗ 
ner, und wie kann ich wider die Wahrheit reden!“ 


2 179 


Der Demütige lebt in jedem Weſen und weiß jedes 


Weſens Art und Tugend. Weil keiner ihm „der 
andere“ iſt, weiß er aus dem inneren Grunde, daß 
keiner des verhuͤllten Wertes ermangelt; weiß, daß 
da kein „Menſch iſt, der nicht feine Stunde haͤtte“. 

Nicht fließen ihm die Farben der Welt ineinander, 


ſondern jede Seele ſteht in der Herrlichkeit ihres a 


Eigendaſeins vor ihm. „In jedem Menſchen iſt Koͤſt⸗ 


liches, das in keinem anderen iſt. Daher ſoll man 4 
jeden ehren nach feinem Verborgenen, das nur er 


hat und keiner der Gefaͤhrten.“ 

Rabbi Wolf von Zbaraz ſah an keinem ein Boͤſes 
und nannte jeden Menſchen gerecht. Als zwei einſt 
miteinander ſtritten und man Wolf gegen den Shuk 
digen aufzureden verſuchte, antwortete er: „Bei mir 
find fie beide gleich — und wer kann wagen, fh 
zwiſchen zwei Gerechte zu ſtellen?“ | 

„Gott ſchaut nicht auf den böfen Teil,“ ſagte ein 
anderer, „wie duͤrfte ich es tun?“ 

Wer in den Weſen lebt nach dem Myſterium der 
Demut, kann keines verdammen. „Wer uͤber einen 
Menſchen das Urteil ſpricht, hat es uͤber ſich ges 
ſprochen.“ Der Baalſchem ſagte zu einem Rabbi, der 
uͤber einen Suͤndigen eine harte Buße verhaͤngt 


180 


hatte: „Du haft noch nie den Sinn der Sünde gefühlt 
und noch nie den Sinn des gebrochenen Herzens.“ 

Wer ſich vom Sünder ſondert, geht in der Schuld 
von dannen. Der Heilige aber vermag an der Suͤnde 
eines Menſchen als an ſeiner eigenen zu leiden. So 
wird uns von Rabbi Suſſja dem ſeligen Gottes— 
narren, berichtet. Wenn er ein Vergehen erfuhr, war 
es ihm, als habe er es getan. So kam er einſt in eine 
Herberge und ſah auf dem Angeſicht des Wirtes die 
Suͤnden vieler Jahre wie ein Netzwerk aus verſteckten 
Furchen. Und eine Weile war er ſtill und unbewegt. 
Aber als er allein in der Stube war, die man ihm 
gewieſen hatte, fiel der Schauer des Mitlebens auf 
ihn, und er warf ſich zu Boden und ſchrie auf: „Suſſja, 
Suſſja, du Arger, was haſt du getan? Iſt doch keine 
Luͤge, die dich nicht verlockt hätte, und kein Frevel, den 
du nicht ausgeſchluͤrft haͤtteſt! Suſſja, Toͤrichter, 
Verwirrter, wohin nun mit dir?“ Und nannte die 
Sünden des Wirtes mit Ort und Zeit als feine eige⸗ 
nen und ſchluchzte. Der Wirt war dem ſeltſamen 
Manne nachgeſchlichen und ſtand vor der Tuͤr und 
hoͤrte ſeine Rede. Erſt faßte ihn eine dumpfe 
Beſtuͤrzung, dann aber leuchteten Reue und Gnade 
in ihm auf, und er erwachte zu Gott. 


181 


Mitleben allein ift Gerechtigkeit. Ein Rabbi hieß 
im weiten Land der Gerechte, denn er ſprach jedem 
das Urteil nach ſeinem Tun, nicht mehr und nicht 
geringer. Vor den kam einmal ein Weib, in irgend⸗ 
einer Sache ſeinen Rat zu erfragen. Er aber fuhr ſie 
an: „Eine Buhlerin biſt du!“ und ſchuͤttete ſein Wiſſen 
um die Heimlichkeiten ihres Lebens in ſchweren und 
drohenden Worten uͤber ſie aus und hieß ſie ſich hin⸗ 
wegheben. Da antwortete die Frau und ſprach aus 
der Bedraͤngnis ihres Herzens: „Der Schoͤpfer der 
Welt iſt den Boͤſen langmuͤtig und fordert ihre Schuld 
nicht in Eile ein und offenbart ihr Geheimnis keiner 
Kreatur, auf daß ſie ſich nicht ſchaͤmen, zu ihm zuruͤck⸗ 
zukehren, und verbirgt ihnen ſein Angeſicht nicht. 
Und der Rabbi von Apt ſitzt auf ſeinem Stuhl und 
kann ſich keinen Augenblick lang enthalten, zu offen⸗ 
baren, was der Schoͤpfer der Welt bedeckt hat.“ 
Seither pflegte der Rabbi zu ſagen: „Von je hat mich 
keiner bezwungen, nur einmal ein Weib.“ 

Mitleben als Erkennen iſt Gerechtigkeit. Mitleben als 


Sein ift Liebe. Denn jenes Gefuͤhl der Naͤhe zu wenigen ; 


und jenes Wollen der Nähe zu wenigen, das unter den 
Menſchen Liebe heißt, iſt nichts als Erinnerung aus 
einem Himmelsleben: „Die im Paradies beieinander 


182 


faßen und Nachbarn und Verwandte waren, die find 
einander nahe auch in dieſer Welt.“ In Wahrheit aber 
iſt Liebe ein Urweites und Tragendes und ohne alle 
Wahl und Scheidung hingebreitet zu den Lebendigen. 
Ein Zaddik ſprach: „Wie koͤnnt ihr von mir ſagen, ich 
ſei ein Fuͤhrer des Zeitalters, da ich noch in mir die 
Liebe zu den Nahen und zu meinem Samen ſtaͤrker 
fuͤhle als zu allen Menſchenſoͤhnen?“ Daß ſich dieſe 
Anſcha uung auch auf die Tiere erſtreckt, ſagen die Erzaͤh⸗ 
lungen von Rabbi Wolf, der nie ein Pferd anzuſchreien 
vermochte, von Rabbi Moſche Leib, der die vernach— 
laͤſſigten Kaͤlber auf den Maͤrkten traͤnkte, von Rabbi 
Suſſja, der keinen Kaͤfig ſehen konnte „und die Un⸗ 
ſeligkeit der Voͤgel und ihr Bangen nach dem Fluge 
in der Luft der Welt, gemäß ihrer Natur, freie Wan—⸗ 
derer zu ſein“, ohne ihn zu oͤffnen, und die Schlaͤge 
des Beſitzers mit laͤchelnder Freude wie einen koſt⸗ 
baren Lohn empfing. Aber nicht nur die Weſen, 
denen der kurze Blick der Menge den Namen der 
Lebendigen zuſpricht, gehoͤren der Liebe des Liebenden 
zu: „Dir iſt kein Ding in der Welt, in dem nicht Leben 
waͤre, und von ſeinem Leben hat jedes die Geſtalt, in 
der es vor deinen Augen ſteht. Und ſiehe, dieſes 
Leben iſt das Leben Gottes.“ 


183 


So iſt es gemeint: die Liebe zu den Lebendigen ift 
die Liebe zu Gott, und ſie iſt hoͤher als irgendein 
Dienſt. Ein Meiſter fragte einen Schuͤler: „Du 
weißt, daß nicht zwei Kraͤfte zur gleichen Zeit im 
Menſchenſinn Faſſung haben. Wenn du dich nun 
am Morgen von deinem Lager hebſt und zwei Wege 
ſind vor dir: Liebe zu Gott und Liebe zu den Men⸗ 
ſchen, welcher iſt der erſte?“ Jener antwortete: „Ich 
weiß es nicht.“ Da ſprach der Meiſter: „Sieh, es ſteht 
geſchrieben in dem Gebetbuche, das in den Haͤnden 
des Volkes iſt: Ehe du beteſt, ſage das Wort: 
Liebe deinen Naͤchſten wie dich felbft. Meinſt 
du, das haͤtten die Ehrwuͤrdigen ohne Abſicht be⸗ 
fohlen? Wenn einer dir ſagt, er trage Liebe zu 
Gott und trage nicht Liebe zu den Lebendigen, 
Falſches redet er und Unmoͤgliches gibt er vor zu 
beſitzen.“ 

Darum iſt, wo einer ſich von Gott entfernt, die 
Liebe eines Menſchen das einzige Heil. Als ein Vater 
dem Baalſchem klagte: „Mein Sohn iſt von Gott 
abgewichen — was ſoll ich tun?“, erwiderte er: 
„Ihn mehr lieben.“ 

Eines der chaſſidiſchen Grundworte iſt dieſes: 
mehr lieben. Seine Wurzeln graben ſich tief ein und 


184 


BR“ 


ſtrecken ſich weit hin. Der mag die Kategorie Juden; 
tum neu verſtehen lernen, der es verſtanden hat. Es 
iſt eine große Bewegung darin, die ſich in unterirdi— 
ſcher Hiſtorie verwirklicht und inniger noch in zeitloſer 
Weisheit und am innigſten wohl in einem Traum, 
den zu traͤumen und zu tragen allerorten und allezeit 
junge Menſchen erſtehen und ſterben. 

Eine große Bewegung, und doch wieder nur ein 
verlorener Klang. Es iſt ein verlorener Klang, wenn 
irgendwo — in jener dunkeln, fenſterloſen Stube — 
und irgendwann — in jenen Tagen ohne Kraft der 
Botſchaft — die Lippen eines namenloſen, dauer⸗ 
loſen Menſchen, des Zaddiks Rabbi Rafael, dieſe 
Worte bilden: „Wenn ein Menſch ſieht, daß fein Ge; 
faͤhrte ihn haßt, ſoll er ihn mehr lieben. Denn die 
Gemeinſchaft der Lebendigen iſt der Wagen der Got; 
tesglorie, und wo ein Riß im Wagen iſt, muß man 
ihn füllen, und wo der Liebe wenig iſt, daß die Fuͤ⸗ 
gung ſich loͤſt, muß man Liebe mehren an ſeiner 
Seite, den Mangel zu zwingen.“ 

Dieſer Rabbi Rafael rief einſt vor einer Fahrt 
einem Schuͤler zu, er ſolle ſich zu ihm in den Wagen 
ſetzen. Darauf jener: „Ich fuͤrchte, ich koͤnnte es Euch 
eng machen.“ Und er mit erhobener Stimme: „So 


185 


wollen wir einander mehr lieben: dann wird ung 
weit fein.” 

Sie follen hier ſtehen als Zeugen, das Sinnbild 
und die Wirklichkeit, verſchieden und eines, untrenn⸗ 
bar, der Wagen der Schechina und der Wagen der 
Freunde. 

Es iſt die Liebe ein Weſen, das in einem Reiche 
lebt, groͤßer als das Reich der Einzelnen, und aus 
einem Wiſſen redet, tiefer als das Wiſſen des Ein⸗ 
zelnen. Sie iſt in Wahrheit zwiſchen den Kreaturen, 
das heißt: ſie iſt in Gott. Leben durch Leben gedeckt 
und gebuͤrgt, Leben ſich gießend in Leben, ſo ſchaut 
ihr die Seele der Welt. Weſſen das eine ermangelt, 
des wird das andere ihm entgegenſchwellen. Wenn 
eines zu wenig liebt, wird das andere mehr lieben. 

Die Dinge helfen einander. Helfen aber iſt: ſelbſt 
in einem geſammelten Willen das Seine aus ſich 
ſelbſt tun. Wie der, der mehr liebt, dem anderen 
nicht Liebe predigt, ſondern ſelbſt liebt und ſich alſo 
gewiſſermaßen nicht um ihn kuͤmmert, ſo kuͤmmert 
ſich der Helfende gewiſſermaßen nicht um den ande⸗ 
ren, ſondern tut das Seine aus ſich ſelbſt im Gedan⸗ 
ken der Hilfe. Das bedeutet: das Eigentliche, was 
zwiſchen den Weſen geſchieht, geſchieht nicht durch 


186 


ihren Verkehr, ſondern durch eines jeden ſcheinbar 
einſames, ſcheinbar unbekuͤmmertes, ſcheinbar bruͤk⸗ 
kenloſes Tun aus ſich ſelbſt. Dies wird im Gleichnis 
geſagt: „Wenn ein Menſch ſingt und kann die Stimme 
nicht erheben, und einer kommt ihm zu helfen und 
hebt an zu ſingen, dann kann auch jener wieder die 
Stimme erheben. Und das iſt das Geheimnis der 
Verbindung.“ 

Es gibt aber noch eine andere Hilfe, eine weite 
und wiſſende, vom Leid der Welten geboren, von 
ihrem Blute genaͤhrt. Wer der ringenden Ewigkeit 
hilft, hat jedem Leben geholfen. Auch davon redet 
ein ſtilles Geheimnis. Drei Maͤnner ſaßen einſt im 
Kerker, an einem Orte ſchwerer Finſternis. Von 
dieſen Maͤnnern waren zwei weiſe, der dritte war 
ein Tor. Es wurden ihnen aber taͤglich andere Spei— 
ſen und anderes Geraͤt zum Eſſen gebracht, und das 
Dunkel und die Not hatten den Narren alſo verwirrt, 
daß er nicht mehr wußte, wie er die verſchiedenen Ge⸗ 
raͤte gebrauchen ſolle, die Speiſen zum Munde zu 
bringen, und ſtumpf und ratlos daſaß, ohne zu eſſen 
und zu trinken, bis es der eine der beiden Weiſen 
merkte und ihn unterwies. Am naͤchſten Tag aber 
wußte er das neue Geraͤt wieder nicht zu fuͤhren, und 


187 


wieder mußte der Gefährte ihm beiſtehen. Und fo 
ging es ſeither Tag fuͤr Tag. Der andere Weiſe aber 
ſaß und ſchwieg und achtete keines anderen Dinges 
als ſeiner Gedanken. Einmal fragte ihn jener: 
„Warum ſtitzeſt du für dich und ſchweigſt und hilfſt 
mir nicht, den Toren zu belehren?“ Antwortete er: 
„Du muͤhſt dich ſtetig aufs neue und kommſt zu keinem 
Ende, denn morgen wandelt ſich das Geraͤt, und du 
mußt wieder beginnen. Ich aber ſitze und ſinne, wie 
ich in die Wand eine Offnung bohren mag, daß das 
Licht der Sonne hineinſtrahle und er alles ſehe.“ 
Es iſt aber all dies nicht etwa ſo zu verſtehen, als 
gaͤlte das einfache Einanderhelfen nicht im Lichte der 
Lehre. Vielmehr iſt dieſes einfache Einanderhelfen 
keine Aufgabe, ſondern das Selbſtverſtaͤndliche und 
die Wirklichkeit, auf die das Zuſammenleben der 
Chaſſidim gegruͤndet iſt und uͤber der ſich die hoͤheren 
Geſtalten der Hilfe aufbauen. Die Hilfe iſt keine 
Tugend, ſondern eine Ader des Daſeins. Das iſt 
der neue Sinn des alten juͤdiſchen Wortes, das Wohl⸗ 
tun rette vom Tode. Nur eins wird geboten und ge⸗ 
fordert: daß der Helfende ſich nicht auf die anderen 
beſinne, die mithelfen koͤnnen, auf Gott und die 
Menſchen, und nicht vermeine, eine Teilkraft zu ſein, 


188 


die nur beizutragen habe, ſondern daß jeder als 
Ganzheit antworte und einſtehe. So pflegte Rabbi 
Moſche Leib zu ſagen: „Es gibt keine Eigenſchaft, die 
nicht eine Erhebung haͤtte. Und auch die Gottes— 
leugnung hat eine Erhebung. Denn wenn einer zu 
dir kommt und von dir Hilfe fordert, ſollſt du nicht 
ein weniges tun und dann ein Frommer ſein und zu 
ihm ſagen: Habe Vertrauen und wirf deine Not auf 
Gott,, ſondern da ſollſt du handeln, als ſei kein an⸗ 
derer, der ihm helfen koͤnnte, nur du allein.“ 
Und noch eines wird geboten und gefordert, und 
dieſes eine iſt wieder nichts als ein Ausdruck des 


Myſteriums der Schiflut: helfen nicht aus Mitleid, 


das heißt aus einem ſcharfen, raſchen Schmerz, den 


man bannen will, ſondern aus Liebe, das heißt aus 


Mitleben. Der Mitleidige lebt nicht das Leid des 
Leidenden mit, er traͤgt es nicht im Herzen, wie man 
das Leben eines Baumes traͤgt mit allem Saugen 
und Treiben und mit dem Traum der Wurzeln und 
dem Begehren des Stammes und den tauſend Fahr— 
ten der Zweige, oder wie man das Leben eines Tieres 
traͤgt, mit allem Gleiten und Strecken und Greifen 
und allem Gluͤck der Sehnen und Gelenke und der 
dumpfen Spannung des Gehirnes; er traͤgt dieſes 


189 


ſonderliche Weſen, das Leid des andern, nicht im 
Herzen, ſondern er empfaͤngt von dieſes Leides aͤußer⸗ 
lichſter Gebaͤrde einen ſcharfen, raſchen Schmerz, dem 
Urſchmerz des Leidenden abgrundweit unaͤhnlich, und 
ſo wird er bewegt. Es ſoll aber der Helfende mitleben, 
und nur Hilfe aus Mitleben beſteht vor den Augen 
der Seele. So wird von einem Zaddik erzaͤhlt, der, 
wenn ein Armer ſein Mitleid erregte, erſt ihn mit 
aller Notdurft verſorgte, dann aber, da er in ſich ver⸗ 
ſpuͤrte, daß die Wunde des Mitleids geheilt war, ſich 
mit großer, ruhevoll hingegebener Liebe in das Leben 
und Beduͤrfen des andern verſenkte, es in ſich als 
ſein eigenes Leben und Beduͤrfen faßte und in Wahr⸗ 
heit zu helfen begann. 

Lieben heißt: das Beduͤrfen des andern als ſein 
eigenes fuͤhlen und dennoch auch der eigenen Fuͤlle 
gewahr werden, ſie helfend auszuteilen. Rabbi 
Moſche Leib erzaͤhlte: „Ich habe die Liebe von einem 
Dorfmann gelernt. Der ſaß mit anderen Bauern 
beiſammen, und als ſein Herz lebhaft war vom 
Weine, ſprach er zu einem: Liebſt du mich oder nicht? 
Und er antwortete ihm: Ich liebe dich gar fehr.‘ 
Sprach jener: Du ſagſt, ich liebe dich, weißt du denn, 
was mir fehlt? Liebteſt du mich in Wahrheit, du 


190 


wuͤrdeſt es wiſſen. Da ſchwieg der andere und ver; 
mochte kein Wort zu ſagen. Ich aber verſtand: das 
iſt die Liebe zu den Menſchen, zu fuͤhlen ihr Beduͤrfen 
und zu tragen ihr Leid.“ 

Wer ſolcherweiſe miterlebt, der verwirklicht mit 
ſeinem Tun die Wahrheit, daß alle Seelen eine ſind, 
denn jede iſt ein Funken aus der Seele des Urmen; 
ſchen, und ſie iſt ganz in ihnen allen. Und weil er die 
Einheit der Seelen mit ſeinem Tun verwirklicht, 
kann von keiner ihm ein übel nahen. Denn wenn 
einer ihm Boͤſes tut, ſieht er es, als habe eine naͤr⸗ 
riſche Hand die Genoſſin geſchlagen und habe nicht 
bedacht, daß fie eins find und dieſer Schmerz ihr 
Schmerz und daß das Herz, das ihn erfaͤhrt, eben das 
iſt, das ihr eignes Leben traͤgt. Wie ſollte er darob 
trauern oder gar zuͤrnen oder gar auf Vergeltung 
ſinnen? „Wenn ein Menſch ſich einmal im Irren 
einen Schlag verſetzt, wird er nun einen Stock neh⸗ 
men und die Hand ſchlagen, die ihn geſchlagen hat? 
Es geſchah ja aus mangelndem Wiſſen, und wie 
ſollte er ſeinen Schmerz noch mehren wollen?“ 

So lebt der Demuͤtige, der der Gerechte und der 
Liebende und der Helfer iſt: vermiſcht mit allen und 
allen unberuͤhrbar, der Vielheit ergeben und geſam⸗ 


191 


melt in feiner Einzigkeit; vollziehend auf den Fels 
kuppen der Einſamkeit den Bund mit dem Unend⸗ 
lichen und im Tale des quellenden Lebens den Bund 
mit den Irdiſchen, bluͤhend aus tiefem Geluͤbde und 


allem Willen der Wollenden entzogen. Er weiß, daß 
alles in Gott iſt, und gruͤßt die Boten wie vertraute 
Freunde. Ihn ſchreckt nicht das Vorher und Nachher, 


nicht das Oben und Unten, nicht das Diesſeits und 
Jenſeits. Er iſt zu Hauſe und kann nie verſtoßen 
werden. Die Erde kann nicht umhin, ſeine Wiege, 


und der Himmel kann nicht umhin, ſein Spiegel und 


ſein Echo zu ſein. 


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Das Leben einn Pr 


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Gedruckt im Frühjahr 1921 bei E. Haberland in Leipzig | 
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY 
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565 Vom Geist des Judentums 
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