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JUDENTUM
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Verein Jüdischer HochschUler
Bar Kochba In Prag
Leipzig
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1913
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VOM
JUDENTUM
EIN SAMMELBUCH
Herausgegeben vom
Verein jüdischer Hochschüler
BAR KOCHBA
in Prag
ZWEITE AUFLAGE
1913
KURT WOLFF VERLAG • LEIPZIG
GEDRUCKT BEI
POESCHEL & TREPTE
IN LEIPZIG
COPYRIGHT 1913 BY KURT WOLFF VERLAG, LEIPZIG
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Hans Kohn: Geleitwort V
JÜDISCHES WESEN
Dr. Karl Wolfskehl (München): Das jüdische Geheimnis 5
Jakob Wassermann (Wien): Der Jude als Orientale 5
Hans Kohn-Bar Kochba, (Prag): Der Geist des Orients 9
JÜDISCHE RELIGIOSITÄT:
Dr. Martin Buber (Zehlendorf b. Berlin): Der Mythos der Juden , . 21
Dr. Hugo Bergmann-Bar Kochba, (Prag): Die Heiligung des Namens . 32
Elijahu Rappeport (Göttingen): Jeschualegeuden 44.
JÜDISCHES DENKEN
Margarete Susman (Rüschlikon) : Spinoza und das jüdische Weltgefühl 51
Dr. Kurt M. Singer (Hamburg): Von der Sendung des Judentums, . . 71
DAS NEUE JUDENTUM
Moses Calvary (Crossen a. O.): Das neue Judentum und die schöpferische
Phantasie 105
Dr. Erich Kahler (Wien): Über Pathos 117
Dr. Alfred Wolff (Berlin): Jüdische Romantik 122
DAS WERDEN DER JÜDISCHEN BEWEGUNG
Dr. Wilhelm Stein-Bar Kochba, (Prag): Unsere Geschichte 135
Adolf Böhm (Wien): Wandlungen im Zionismus 139
Robert Weltsch-Bar Kochba, (Prag): Theodor Herzl und wir , . , ,155
DIE AUFGABEN DER JÜDISCHEN BEWEGUNG
Dr. Arthur Salz (Heidelberg): Ver sacrum 169
Dr. Oskar Epstein-Bar Kochba, (Prag): Erhaltung oder Erneuerung? . 173
Ludwig Strauß (Berlin): Die Revolutionierung der westjüdischen Intelligenz 179
Dr. Hugo Herrmann-Bar Kochba, (Prag): Erziehung im Judentum , . i86
DER JUDE UND EUROPA
Dr. Moritz Goldstein (Berlin): Wir und Europa 195
Arnold Zweig (München): Die Demokratie und die Seele des Juden . 210
PROBLEME DER GEGENWART UND DER ZUKUNFT
Dr. Nathan Birnbaum (Berlin): Das Erwachen der jüdischen Seele , , 239
Gustav Landauer (Hermsdorf b. Berlin): Sind das Ketzergedanken?, , 250
Moritz Heimann (Berlin): Jüdische Kunst 258
Dr. Max Brod (Prag): Der jüdische Dichter deutscher Zunge . , , . 261
AUS ALTEN BÜCHERN
Micha Josef bin Gorion (Berlin): In Bethlehem, in Jerusalem und in Rom 267
Aus dem Buche Sohar:
I. Subjekt und Objekt der Welt — Der Mensch ein göttliches und gott-
mächtiges Wesen — Die Sabbatheiligung — Gottes Wesen — Ruhe
und Wandel. Übertragung von Dr. Hugo Bergmann, Bar Kochba, (Prag) 274
IL Das Licht des Urquells. Übertragung von Dr. Ernst Müller (Wien) 281
2095482
Geleitwort
Als wir, der Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag,
daran gingen, dieses Buch herauszugeben, waren wir uns dessen
bewußt, daß dieses Buch nur dann einen Sinn habe, wenn es einer
Notwendigkeit entspringt: der Notwendigkeit der Aussprache
einer Generation, die in dem Bewußtsein lebt, daß in ihrem
Leben und durch ihr Leben das Schicksal des Judentums die
entscheidende Wendung erfährt. Wir hofften, daß es außerhalb
unserer engen Freundesgemeinschaft Menschen gebe, die unseren
Kampf und unser Wollen teilen.
Dieses Buch ist herausgegeben von Zionisten; dies sei, um
jede Falschmeldung zu vermeiden, von vornherein gesagt. Nichts
sei uns fremder als der verlogene oder spielerische Mantel kühler
Objektivität. Wir wollten nicht kluge und kühne und kühle Aus-
sprüche, Erwägungen, Beobachtungen sammeln, uns interessiert
es nicht zu hören, was der oder jener in dem Leben der Welt
noch so geltende Mann über die Judenfrage denkt; wir wollten
Menschen hören, die aus Not und verzweifelter Empörung einen
Weg suchen, einen Weg zu den Wirklichkeiten neuen jüdischen
Lebens. Einen Weg, der das Heute verneint, weil es knechtisch
und unerträglich ist, und der in Gemeinschaft das Morgen
schaffen will. Schaffen will: nicht müßige Worte, nicht
schöne Reden, nicht kluges und weites Denken soll dies Buch
offenbaren, sondern es soll, weil es nicht anders geht, auf dem
Wege geistiger Aussprache die Gemeinschaft aufbauen, die ent-
schlossen ist, Worte in Taten überzuleiten, die den Ernst und
den Mut aufbringt, mit ihrem Sein sich für das Werden des
Gewollten, für die Verwirklichung des Sehnsuchtstraumes einzu-
setzen.
Darum ist dieses Buch grundverschieden von den meisten
anderen; denn kaum noch waren Menschen so aller Bücher und
Worte müde wie wir und so voll Spannung und Sehnsucht nach
dem Leben.
GELEITWORT
Wir wissen es, daß dieses Buch nur einen Teü der Erfüllung
dessen bedeutet, was wir gewollt haben. Wir haben uns an unsere
Mitarbeiter ohne jeden Unterschied des Parteibekenntnisses und
ohne jede Engherzigkeit gewandt. Wir machten nur eine Voraus-
setzung: daß sie sich als Glieder und Träger einer ihrer selbst
bewußt gewordenen jüdischen Volksgemeinschaft fühlen. Heute
ist es ein allgemeines Streben der Einzelnen, über das Individuelle
hinauszugehen, sich in überindividuelle Zusammenhänge einzu-
stellen. Es weisen manche Anzeichen darauf hin, daß in unseren
Tagen eine Wende eintritt, nicht nur für das Judentum, son-
dern für die Menschheit, die sich — am äußerlichsten — im Ok-
zident im Kampfe gegen die mechanisierende, entseelende, ent-
göttlichende Zweckhaftigkeit, im Orient im Wiedererwachen der
alten Kulturkreise und in den Versuchen Europas, den Gehalt
Asiens in sich aufzunehmen, manifestiert. Und in dieser Krise
des geistigen Lebens, die uns das Überindividuelle aller Kultur,
alles Lebens, des Geistes erkennen läßt, lernen Avir, jenseits unser
und doch in unserem Ureigensten — es gilt auch hier, daß das
Persönlichste das Sachlichste ist — festen Fuß fassen, fühlen
uns als Teil eines höheren überindividueilen Geschehens, wissen
uns voll innerer Sicherheit und Tatenfreudigkeit. Die Kraft, die
uns gestaltet hat und sich in uns entfaltet: die Vergangenheit,
und die Aufgabe, diese Kraft über uns hinauszuführen: die Ver-
antwortung für die Zukunft bestimmen weiterhin unser Leben.
Es ist dies schon etwas Großes: es ist eine neue Art Jude
entstanden. Denn der Jude, den man kennt, ist heute der Phi-
lister, ein Mensch, der nach außen scheinbar in rührigster Tätig-
keit lebt, voll unaufhörlicher Geschäftigkeit, und doch im Innern
in vollster Unangefochtenheit und Herzensträgheit vegetiert
(während der andere Typus Mensch ein ewiger Wanderer ist,
verzehrt von Sehnsucht nach unerreichbarer Ruhe), ein Mensch,
dessen Horizont gekennzeichnet ist durch den Stolz auf tech-
nischen Fortschritt und das Leben in satter Behaglichkeit, mög-
lichst ferne allen Erregungen und Erschütterungen und allem
Mute zur Wahrhaftigkeit; — oder der Jude ist ein Götzendiener
seines Ich, ein feiner, kluger Genießer, oder er geht hin und
opfert sich fremden Göttern, in bewußter oder unbewußter Ich-
lüge, im Verzicht auf alle natürlichen Bindungen und die Dauer
Vi
GELEITWORT
des Zusammenhanges, seine Seele verleugnend und auf der
glühenden Suche nach ihr die Welt kalt, leer, seelenlos findend.
Der neue Jude aber hat gelernt, sich in seiner geschichtlichen
Gemeinschaft zu bejahen, und weiß sein Wachstum mit dem
ihren verknüpft.
Diesen neuen Juden, der nur eine Vorstufe und ein Über-
gang ist, sollte unser Buch die in aller Zerstreuung notwendige
Gemeinsamkeit schaffen. Leider konnten wir nicht alle vereini-
gen, die wir zusammenschließen wollten, und manche der uns
übersandten (und aufgenommenen) Beiträge sind nicht — wie
wir es gewünscht hätten — repräsentativ für das Wesen und die
Strebungen des Mannes. Auch muß gesagt sein, daß einige der
Aufsätze, denen wir Raum gegeben haben, nicht etwa als pro-
grammatisch für den Verein gelten können. Dennoch möge dieses
Buch, so unvollkommen es ist, hinausgehen, denn alles, was wir
hier im Galuth tun, ist nur eine Stufe dem Ziele zu. Dies Buch
ist nur eine ganz niedrige Stufe, seinen Sinn erhält es erst durch
die Bewährung in Taten des Lebens. Es soll uns zeigen, wo und
wie wir sind, von hier aus dann, was wir tun sollen.
„Eine Renaissance wird hauptsächlich nicht durch vollkom-
mene Werke hervorgerufen, sondern durch die Kraft und Ein-
heitlichkeit des Ideals bei einer lebensvollen Generation" (Mau-
rice Denis). Man wird das, was ich hier in der Einleitung sage,
in den einzelnen Beiträgen ausgeführt, weitergedacht, exempli-
fiziert finden. Denn uns alle verbindet das gleiche Grundgefühl,
und allen Seiten des Problemes liegt die eine Frage nach Sinn,
Ziel und Steigerung unseres jüdischen Lebens zugrunde. Wir
sehen das jüdische Volk, kaum ein Volk mehr, eine zerrissene, ver-
lorene Herde, ängstlich und feige, tatenlos und stumpf, dem All-
tag ergeben, in Ehrfurcht allein vor seinen Bedingtheiten, seine
Schwäche als seine Norm empfindend. Nirgendwo ein großes
Gefühl, das das Netz der Bedingtheiten zerrisse und ihm ein neues
Reich, dem Geiste und der alle Materie formenden Idee ent-
sprossen, entgegensetzte, nirgendwo ein großes Wollen, das eine
schöpferische Tat zeugte. Es war ein ostjüdischer Denker, und
sein Name dari in einem Buche des Prager Bar Kochba nicht
VII
GELEITWORT
fehlen (auch der Name unseres Bundesbruders Dr. Viktor Kellner,
Lehrers am hebräischen Gymnasium in Jaffa, der uns zuerst mit
ihm vertraut machte, der seine Worte in Taten umsetzte und der
leider hier nicht selbst zu Worte kommen konnte, sei hier ge-
nannt) — es war Achad Haam, der uns lehrte, daß vor jeder
äußeren Emanzipation die Befreiung vom inneren Galuth, von
der inneren Knechtschaft erfolgen müsse, eine Reinigung
des Herzens, ein Wachstum des Volkes über sich hinaus. Seit
Martin Buber, der seine drei Reden über das Judentum in
unserem Verein gehalten hat und von dessen Einfluß dieses Buch
so vielfach Zeugnis ablegt und dessen werktätiger Mitarbeit es
sein Zustandekommen verdankt, wissen wir, daß der Zionismus,
tief verwurzelt in dem ur jüdischen Geisteskampfe der Wollenden
wider die Geschehenlassenden, die sittliche Bewegung derer ist,
die es mit ihrem Judentum und ihrem Menschentum ernst
nehmen.
Zionismus ist keine Wissenschaft, kein logisches Begriffs-
system, er hat mit Rassentheorien und Definitionen des Volks-
tums nichts zu tun. Es ist nicht möglich, jemandem den Zionis-
mus durch Argumente beizubringen, und alles, was rassenbio-
logische oder soziologische Forschung entdeckt, läßt uns un-
berührt. Der Zionismus liegt in einer völlig anderen Ebene des
Seins. Er ist kein Wissen, sondern Leben.
Leben war stets Kampf. Zionismus ist der Kampf der Jugend,
die höher will, gegen die Alten, die Trägen, die Müden, die nicht
mehr wachsen können und die kein Sturm der Begeisterung mehr
aufrütteln kann. Wie im Judentum die Glühenden, Mutigen und
Schaffenden stets mit dem Volke rangen, so ist es auch unsere
Aufgabe, mit diesem Volke zu ringen, um es zu neuem, reinem,
freiem Dasein zu führen. — Dieses Ringen mit dem Volke kann
nichts weniger bedeuten wollen, als daß wir uns in selbstgenüg-
samer Höhe mit unsern Idealen von der Masse entfernen und ent-
fremden wollen. Im Gegenteil! Dies ist jüdischer Idealismus!
Das Hohe und Große am Alltag und an seiner Wirklichkeit be-
wahren. Wie der Zionismus unsere heilige Sprache aus ihrer
Tagesfremdheit erlöst und wieder zur Sprache des Alltags ge-
macht hat, nicht um sie zu profanieren, vielmehr um diesen All-
tag durch seine Sprache zu heiligen, so ist uns dies eine große
VIII
GELEITWORT
Wunder, das wir schon erlebt haben, die Verlebendigung des
Hebräischen, nur ein Symbol für den Sinn unseres ganzen
Kampfes mit dem Volke und um dieses Volk.
Es schien uns unumgänglich notwendig, dies dem Buche vor-
auszuschicken. Unsere Freude aber ist es, daß die Beiträge ein
einheitliches Gepräge zeigen und getragen sind von dem gleichen
Geiste. Sie erklären und ergänzen einander und geben so ein
Bild der Kräfte, die heute im Judentum am W^erk sind.
Vor zehn Jahren erschien der erste jüdische Almanach, und
in Berthold Feiwels Geleitwort hieß es: „Ein Ausblick soll sich
eröffnen in die neue jüdische Welt, und von dem brausenden
Akkord des Vorfrühlings soll man einen tönenden Widerhall
heraushören." Ob wir weitergekommen sind auf unserem Wege
in den zehn Jahren, möge man entscheiden: es spricht hier eine
neue Generation, die wenigsten haben die frühere Zeit miterlebt.
Daß aber auch in uns das Brausen des Frühlings und Mut der
Jugend herrscht, wissen wir.
Wir wollen diesem Buche, falls sich seine Berechtigung er-
weist, in jährlichen oder längeren Zwischenräumen andere folgen
lassen, Dokumente der Fortschritte und Wandlungen. Wir warten
auf den Widerhall, den dieses erste Buch in jungen jüdischen
Herzen wecken wird.
Prag, im Juni 191 3. Hans Kohn.
IX
JÜDISCHES WESEN
Das jüdische Geheimnis
Von Karl Wolfskehl
J-Jas Judentum ist ganz Historie und ganz Metaphysik, es ist
beides schlechthin: ganz Wirklichkeit und ganz Idee. Dies Volk
hat als Volksganzes das Unzeitliche, das vom zeitlichen Zustand
wesenhaft verschiedene Moment der Währung, als Zeitlichkeit
innerhalb des Hier, raumhaft ausgedrückt, es ist immer dagewesen
und lebte immer wo anders. Man kann es eigentlich nicht das
„alte Volk" nennen, denn die Gesetze des Wachsens in der Zeit
sind nicht seine Gesetze. Darum hat es auch keine besonderen,
abgesonderten Blütezeiten oder es hat deren viele. Es wird nicht,
es besteht, und selbst in seinen heiligen Büchern, die von seinem
Anfang reden, ist es ein ursprünglich Gegebenes, könnte man
doch mit allem Fuge sagen: schon Abraham ist das ganze Volk,
Altvater und Einheit. Dessen verhülltes Spiel mit den Mächtigen
der Erde, sein Kauf der Grabstatt als einzigen Grundes, den er
sicher will (wie wichtig ist das, wie aufschlußgebend, daß dem
Jenseits ein Hier gegeben wird und nur ihm ! ) sein Freien aus
dem gleichen Stamm, den es noch nicht gab, sein Feilschen um
die Anderen (Sodom! ), sein in den Geist verlegtes Fleischesopfer
des Sohnes: ist das nicht die ganze Jüdischheit im Einzelsein?
Was sonst Leben heißt, scheint hier in jedem Moment in Frage
gebracht, ja überwunden, was sonst Denkformen, Denknamen
sind, ist hier Erscheinung geworden. So ist das Judentum da,
greifbar, schmeckbar wie sonst nichts auf der Erde, faktisch und
sich selber gleich, selbst eigen — so ist es zugleich bildlos in
jedem Verstand, ist nicht Form, nicht Leib, nicht schaubar im
höchsten griechischen, im Mysteriensinne, ist fremd und anders,
unerlebbar den Völkern, die in seinem AUerheiligsten, da sie es
sprengten. Nichts fanden. Denn diese wirklichste Wirklichkeit
entzieht sich der symbiotischen, pflanzenhaften Gemeinschaft von
Leben und Leben, sie befruchtet ohne die Organe des Zeugens.
Und so spottet sie auch der Einordnung in Gattungen, so kann
sie unter keinen „Gesichtspunkt" gebracht werden. Ratlos
stehen Natur- und Geschichtswissenschaften vor dem Problem.
Ist das Judentum eine Rasse oder eine Glaubenseinheit oder eine
Zufallsmischung (Luschan, Wellhausen!), ein Staat oder eine
Gemeinde, ist es zugrund gegangen oder lebt es weiter, wann war
DAS JÜDISCHE GEHEIMNIS
seine antike Lebensstufe, wann beginnt seine Transzendenz, ist
der Profetismus, dies unerhörte novuni in der Welt, ein novum
fürs Jüdische? Jede Erwägung geht fehl, jede Feststellung wirkt
zufällig, flach gegenüber diesem Unfaßbaren. Ja die letzten ein-
fachsten Fragen sind nicht zu erledigen, nicht mystische, nicht
sittliche, nicht äußerlich reale. Ist es zuhaus oder in der Fremde,
ist es treu oder abtrünnig, ist es berufen oder verfehmt? Das
Göttliche selber war immer im Hader mit ihm und ist immer
mit ihm zusammen gewesen: welch ein Zustand, welch eine Be-
wegung, unzählbare Wege, dunkel das Ziel. Unendlich die Wir-
kung in die Weite, unendlich die Vereinsamung. Mehr ist nicht
auszusagen, als daß hier das schlechthin Antithetische Wesen wird.
Und so dürfen wir gewiß sein, daß diese stets starre und stets
zerstiebende Einheit, dies Beharren und dies Verstreuen, dies
Bändigen und dies Befreien, dies ewige Jetzt, diese Moses und
diese Bergson nimmer auslöschen. Gott ist diesem Wesen fern
und nah gewesen, nie so eins mit ihm, daß er es ganz schmelze,
ganz übergehen ließe in das Andere Reich, nie so abgewandt,
daß es in Schutt und Scherben zerfalle, daß es untergehe.
Der Jude als Orientale
Lieber Freund Martin Buber I
oie haben mich gebeten, ich möge eine auf Juden und Juden
tum sich beziehende Stelle in meinem Büchlein „Der Literat oder
Mythos und Persönlichkeit" zugunsten einer Sammelschrift in
ausführlicherer Weise, als es dort geschehen ist, also gleichsam
erläuternd oder exemplifizierend, der Betrachtung würdigen und
dabei das Angedeutete, Hingeworfene und scheinbar Beiläufige
rechtfertigen, festigen und klarstellen.
Die Stelle lautet: In der Existenz des Juden gibt sich die
schärfste Gegensätzlichkeit geistiger und seelischer Eigenschaften
kund. Er ist entweder der gottloseste oder der gotterfüllteste aller
Menschen; er ist entweder wahrhaft sozial, sei es in veralteten,
leblosen Formen, sei es in neuen, utopischen, das Alte zerstören-
den, oder er will in anarchischer Einsamkeit nur sich selber
suchen. Entweder ist er ein Fanatiker oder ein Gleichgültiger,
entweder ein Söldner oder ein Prophet. Das Schicksal der Nation,
ihre Vereinzelung unter fremden Nationen, ihre ungeheuren
wirtschaftlichen und geistigen Anstrengungen im Kampf gegen
die widrigsten Umstände, der fortwährende Zustand der Abwehr,
der Selbstbehauptung, das plötzliche Erwachen am Morgen eines
Kulturtags, das leidenschaftliche Ergreifen der Hilfsmittel und
Waffen dieser Kultur und die darauf erfolgte gewaltsame Unter-
drückung und Zerschneidung der Tradition, all das hat die Juden
als ganzes Volk zu einer Art von Literatenrolle vorbestimmt. Wo
sich hingegen der einzelne wieder des großen Zusammenhangs
bewußt wird, wo er im Schoß der Geschichte, der Überlieferung
ruht, wo urewige Symbole ihn tragen, urewige Blutströme ihm
Adelsbewußtsein verleihen und zugleich alles Errungene und Er-
worbene organisch damit verschmilzt, da mag er wohl den Weg
zu Göttlichem leichter als andere finden. Der Jude als Europäer,
als Kosmopolit ist ein Literat; der Jude als Orientale, nicht im
ethnographischen, sondern im mythischen Sinne, als welcher die
verwandelnde Kraft zur Gegenwart schon zur Bedingung macht,
kann Schöpfer sein.
So schrieb ich im Jahre 1909. Diese Überzeugung hat sich
seitdem verstärkt, ja, sie ist zu einer Art von Maxime geworden,
einem Maßstab, einem geistigen Gesetz. Allein ich sehe wohl, daß
hier eine gewisse Zusammenfassung des Ausdrucks und Weit-
DER JUDE ALS ORIENTALE
maschigkeit der Schlüsse denjenigen befremden muß, der in
diese spezifische Abbreviatur nicht eingeweiht ist und die Worte
nur nach ihrem engsten Verstände fragt. Ich will daher ver-
suchen, mehr in der Fläche zu bleiben.
Wie Ihnen vielleicht noch erinnerlich ist, hatte ich in jenem
Buch den Literaten als den vom Mythos losgelösten Menschen
bezeichnet, und es war damit, nach meinem Dafürhalten, ziem-
lich viel Licht auf diesen Begriff gefallen, obgleich ich zugeben
muß, daß nun auf einmal der „Literat", der ,, Gottlose", nur
noch in einer sehr lockeren Verbindung mit der „Literatur" stand
und mehr als Gegensatz zum schöpferischen Menschen fixiert
war. Dieser Gegensatz führte auf logischem Wege auch zu dem
zwischen dem Juden als Europäer, als Kosmopolit, und dem
Juden als Orientalen.
Es ist der Gegensatz zwischen Verwelkung und Fruchtbarkeit,
zwischen Vereinzelung und Zugehörigkeit, zwischen Anarchie und
Tradition. Sich von der Vergangenheit abzuschneiden, ist das
leidenschaftliche Bestreben des auf sich selbst gestellten Juden,
gerade weil ihn Milieu, Reminiszenz, Gewöhnung und Ver-
pflichtung mancherlei Art äußerlich oder innerlich an die Ver-
gangenheit binden. Aber er findet in der Bindung das Gesetz
nicht, und so zerstört er sie und wird Einzelner, Individualist.
Er hat nicht Phantasie genug, um zwei nur dem Scheine nach
verschiedene Formen der Existenz in seinem Gemüt zum Ein-
klang zu bringen, und so leugnet er die eine, die wurzelhafte,
und macht die andere zu einem Zufallsprodukt, wähnend, er sei
dessen Lenker und Beherrscher. Ein Wahn, der nicht verhindert,
daß er die tiefe Unsicherheit seiner Position beständig spürt;
weil er sie spürt, will er sie desto glaubhafter machen und greift
daher zu Mitteln, die seinen Charakter kompromittieren, indem
sie sein Selbstgefühl nur in der Gebärde steigern. Alles wird
Gebärde an ihm, alles Überhitzung, alles Manie. Ihm ist sozu-
sagen die Idee seines Daseins geraubt, infolgedessen muß er
jeden Erfolg, jede Wirkung, jede Förderung seiner eigenen iso-
lierten Persönlichkeit abzwingen, und so besitzt er auch nichts
weiter als eben diese Persönlichkeit, deren Sklave und Opfer er
ist. Er muß sich behaupten, er muß sich durchsetzen, und da er
ohne lebendige Wechselwirkung und ohne tiefere Zugehörigkeit
DER JUDE ALS ORIENTALE
lebt, muß er seine Anlagen und Fähigkeiten überspannen und
bietet ein jammervolles Schauspiel beständigen Krampfes, be-
ständiger Gier, beständiger Unruhe.
Wir kennen sie ja, lieber Freund, wir kennen sie und wir
leiden an ihnen, diesen tausenden sogenannten modernen Juden,
die alle Fundamente benagen, weil sie selbst ohne Fundament
sind; die heute verwerfen, was sie gestern erobert, heute be-
sudeln, was sie gestern geliebt, denen der Verrat eine Wollust,
Würdelosigkeit ein Schmuck und Verneinung ein Ziel ist. Sie
geben sich nur hin, wo sie sich verlieren können, und bewundern
nur dort, wo sie sich verstoßen fühlen. Im Grunde ihres Herzens
glauben sie bloß an das Fremde, das Andere, das Anderssein,
erklärlicherweise, denn als Entgötterte sind sie ja unverwandel-
bar und suchen vermittels eines salto mortale oder einer Ekstase
die Ergänzung im Extrem. Die in der Gier und im Krampf ver-
geudete Seelenkraft macht ihr Gemüt alsbald arm und öde und
drängt sie auf das Feld steriler Spekulation, d. h. sie treiben
Kritik um der Kritik willen, der Formel und dem Urteil zuliebe.
Aber sie leiden auch selbst, und ihr Leiden ist ein tötliches, das
wissen sie so gut wie wir, die wir ihnen nur ins Antlitz zu
schauen brauchen, um den Tod darin zu erkennen.
Der Jude hingegen, den ich den Orientalen nenne, — es ist
natürlich eine symbolische Figur; ich könnte ihn ebensowohl
den Erfüllten nennen, oder den legitimen Erben, — ist seiner
selbst sicher, ist der Welt und der Menschheit sicher. Er kann
sich nicht verlieren, da ihn ein edles Bewußtsein, Blutbewußt-
sein, an die Vergangenheit knüpft und eine ungemeine Verant-
wortung der Zukunft verpflichtet; und er kann sich nicht ver-
raten, da er gleichsam ein offenbartes Wesen ist. Er ist kein
Leugner, sondern ein Bestätiger. Er ist niemals Sektierer, niemals
Partikularist, er hat nichts von einem Fanatiker, von einem Prä-
tendenten, von einem Zurückgesetzten, er hat alles innen, was
die andern außen suchen; nicht in verbrennender Rastlosigkeit,
sondern in freier Bewegung und Hingabe nimmt er teil am fort-
schreitenden Leben der Völker. Er ist frei, und jene sind Knechte.
Er ist wahr, und jene lügen. Er kennt seine Quellen, er wohnt
bei den Müttern, er ruht und schafft, jene sind die ewig wandern-
den Unwandelbaren.
DER JUDE ALS ORIE-NT.\LE
Er ist, in solcher Vollkommenheit gesehen. Welleicht mehr eine
Idee als eine Erscheinung. Doch sind es nicht die Ideen, durch
welche die Erscheinungen hervorgebracht werden? Jede mensch-
liche Wirklichkeit ist das Erzeugnis einer Idee, imd die bloße
Aimung des Sternes, der über dem Sumpf des Rationalismus
leuditet, ist wirklicher als das beharrliche LJuaken des Frosches
in seiner Mitte. Leben Sie wohl, lieber Freund, und seien Sie
gegrüßt von Ihrem
Jak oh Wassermann.
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Der Geist des Orients
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Leben za erfollai. On.'
unseres Seins hat ms in
unsere RücUE:dir zu unserer IMcben^gtt .
DER GEIST DES ORIENTS
sticht nach unserer Erfüllung, nach unserem Sinne, unsere Ab-
sage an das Sinnlose und Fragmentarische unseres bisherigen
Lebens, an das träge Gewährenlassen und die selbstbewußte Bil-
dungsphilisterei, die Erfassung unser selbst als einer spontan-
aktiven Kraft, die schöpferisch in das Leben eingreift, all das,
was wir Zionismus nennen, hat seinen Ursprung in den tiefsten
Nöten unseres Ichs und unserer Zeit.
Die Reihe der Zusammenhänge hat uns weitergeführt; wir
tragen heute in uns das Bewußtsein, in die große Kultureinheit
des Orients hineinzuragen. Näheres darüber zu sagen ist unmög-
lich und unzulässig. Nur das: es scheint, daß heute nicht nur
Europa, sondern auch Asien an einem Abgrunde steht; die Stim-
mung ist allgemein und es kann leicht vielfach aus arischen Auto-
ren nachgewiesen werden, daß die große Auseinandersetzung des
Orients und Okzidents herankomme. Viel wird davon abhängen,
ob das Judentum sich auf sich und seine Aufgabe besinnen wird;
man spricht oft davon, daß Judäa nicht nur geographisch in der
Mitte zwischen Europa und Asien liege: wenn die Juden Europa,
das sie voll in sich aufgenommen haben, überwinden, kann das
Heil noch einmal von den Juden ausgehen.
II.
Es mag gewagt und vermessen erscheinen und ein Beweis mehr
sein für jene, die es rügen, daß die Jugend heute allzu leicht-
fertig alle Grenzen verwischt und mit großen Worten spielt,
denen das konkrete Gegenbild fehlt, wenn hier der Versuch ge-
macht wird, an eine Stelle in Karl Joels ,, Seele und Welt" an-
zuknüpfen, die mich durch die Übereinstimmung mit für mich
lange feststehenden Gedanken frappierte, und von hier aus eini-
ges über den Geist des Orients zu sagen. Wie bei allen dies&n
Dingen nur andeutend und auf das emotionelle Verständnis des
Lesers angewiesen. — Den Tadlern sei entgegengehalten, daß
seit je Orient und Okzident als — entgegengesetzte — Einheiten
empfunden und betrachtet wurden, und wenn die Wissenschaft
des letzten Jahrhunderts über den Teilen das Ganze vergaß, so
möge eine neue — deduktiv-synthetische, von der ursprünglichen
Intuition getragene und genährte — allein wahre Wissenschaft
erkennen, daß das Ganze ebenso wirklich ist wie seine Teile.
lO
DER GEIST DES ORIENTS
Jede Erkenntnis aber fordert von uns ebenso Zusammenschauen
als Übersehen.
Während die Einheit des Orients nahe liegt, ist es viel schwie-
riger, den Umfang des Begriffes Europa zu bestimmen. Klar ist
nur, daß jene großen Lebenseinheiten, die hier gemeint sind,
mit den Grenzen der biologischen Rassenforschung nichts ge-
mein haben. Trotz des Verschwimmenden des Begriffes Europa
halte ich — im Gegensatz zu Emil Luckas Auffassung in seinen
„Die drei Stufen der Erotik" — das Hellenentum und die euro-
päische Kultur seit der Renaissance zwar nicht positiv, wohl aber
negativ in ihrer Abgrenzung gegen den Orient für eine Einheit.
Der Orient ist das Land der einen Richtung, das Reich der
Höhendimension: man vergleiche die ägyptischen Pyramiden,
den Turmbau zu Babel, ,, dessen Spitze bis an den Himmel
reichte", die Pagoden des Ostens, man vergleiche all diese Him-
melsstürmer mit den weiten, die Breite der bunten Welt ver-
klärenden Tempeln der Griechen, und man wird den hellenischen
Geist als den Geist des Nebeneinander dem orientalischen gegen-
überstellen. Aus dieser schönen antithetischen Formel lassen sich
dann viele Züge ableiten, die unschwer im einzelnen ihre Be-
währung an dem uns bekannten Orient finden können. Hier sei
nur das wichtigste hervorgehoben. Rechtfertigend für uns ist vor
allem der Umstand, daß die Züge, die Joel aus obiger Antithese
für den Orient ableitet, sich im wesentlichen mit den Eigen-
schaften des Judentums decken, die Martin Buber in seiner Ein-
leitung zu den Geschichten des Rabbi Nachman festgestellt hat:
dem Griechen eignet vor allem der Raumsinn, die Verklärung
des Raumes, die Herrschaft des Auges, dem Orientalen der Zeit-
sinn, die Verklärung der Zeit (in messianischen Hoffnungen wie
in der Lehre von der Seelenwanderung), die Herrschaft des Ohres
als des innerlichen Sinnes, wie die Zeit dem Raum gegenüber die
Anschauungsform innerlichen Erlebens ist, woher es kommt, daß
das Denken und Vorstellen des Orientalen musikhaft ist gegen-
über der Bildhaftigkeit des Hellenen.
Wie das Leben im letzten Grunde irrational, unerklärlich ist,
so auch die Zusammenhänge, wie der Geist einer Epoche, dieses
so oft mißbrauchte und doch als daseiend empfundene Symbol,
1 1
DER GEIST DES ORIENTS
in verschiedenen Gestaltungen, in verschiedenen Menschen ein
gleiches Weltbild hervorbringt. Denn die Zeiten, da ein Volk zu
leben beginnt, wo seine Bindungen durch die gemeinsame Not
erstarken, geben sich in einer an alle Wurzeln unseres Wesens
rührenden Erregung kund, in einem neuen Lebensgefühl, das an
uralte Werte anknüpft, die plötzlich neues Leben gewinnen, und
zugleich in einem ungestümen Drängen nach neuem unerhörten
Schaffen, nach ganz neuer Schönheit des Lebens: und für dieses
neue und doch im uralten Rhythmus dahinströmende Lebens-
gefühl schafft sich das Volk, in äusserlich kaum bestehendem
Zusammenhang, in verschiedenen seiner besten Köpfe einen Aus-
druck, eine Gestaltung. Und wie vor hundert Jahren die Roman-
tik, die Gefühlserregung, dem deutschen Volke erst wieder sein
nationales Dasein schenkte, ihm die alten Sagen und Märchen
entdeckte, den alten Stolz und die alte Einheit, und wie die Glut
der Freiheitskriege und die nachkantische idealistische Philo-
sophie Hand in Hand gingen, sich (außer in Fichte), kaum be-
rührend, und doch voll der gleichen Stimmung: so ist heute in
Henri Bergson, Karl Joel, Martin Buber, Gustav Landauer u. a.
eine jüdische Generation herangewachsen, die das jüdische Welt-
bild der jungen Generation gestaltet, gedeutet hat. Man sehe, wie
Henri Bergson und Martin Buber (in seinem „Daniel"), von-
einander völlig unabhängig, ihre Werke gegenseitig nicht ken-
nend, zu im Grunde völlig gleichen Ansichten gelangen. Und wie
in der deutschen Philosophie der Freiheitskriege das Größte deut-
schen Geistes, wie Meister Eckehart auferstand, deutlicher und
undeutlicher, in reiner Form oder in der Gestalt, die ihm seine
Schüler gegeben haben, in Fichte, Schelling, Hegel, Krause, No-
valis und allen anderen, so reckt sich in den jüdischen Philo-
sophen des Heute glühender orientalischer Geist, erwacht das Blut
der morgenländischen Ahnen. (In diesem Buche hat Kurt Singer
dies für Bergson gezeigt, und man vergleiche hierzu noch die
Arbeit Martin Bubers über den jüdischen Mythus und die grund-
legende Studie Hugo Bergmanns). An einem einzigen Beispiele,
das auf unserem Wege liegt, möge das Erwachen des Orients in
den Heutigen gezeigt werden und damit die scheinbare Abwei-
chung von unserem Thema entschuldigt werden: an der Auffas-
sung der Zeit.
12
DER GEIST DES ORIENTS
Man erkennt die Zeit bald als das tragende Prinzip alles Welt-
geschehens, bald wenigstens als das Prinzip der Auffassung des
eigenen Volkes. Buber und Joel haben — denn eine andere Quelle
steht schwerlich in Betracht — aus der Erkenntnis ihrer selbst
die Zeit (das Ohr und die Musik) als die Grundformung des Er-
lebens des Juden aufgestellt, Bergsons ganze Philosophie ist eine
Verherrlichung der Zeit und aus Gustav Landauers „Skepsis
und Mystik" seien folgende bezeichnende, wohl weniger bekannte
Stellen hergesetzt: ,, Alles Räumliche zeitlich auszudrücken, ist
vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben kommender Menschen."
„Es wäre gut, mit Hilfe des Gehörs alle Welt einmal zeitlich zu
vernehmen und zu sagen. Die Musik ist vielleicht nur ein primi-
tiver Anfang zu dieser neuen Sprache." „Der Raum mit allem,
was darin ist, ist eine Eigenschaft der Zeit. Was uns räumlich
beharrend erscheint, ist eine zeitliche Veränderung; was uns im
Raum bewegt erscheint, sind die wechselnden Qualitäten zeitlicher
Vorgänge." „Die Zahl ist der Weg vom Raum zur Zeit, von den
Dingen zum Seelenfließen, von der Gesichtssprache zur Musik,
von der Weltanschauung zur Weltbeherrschung." ,,An die Stelle
der Dinglichkeit, der Kausalität, der Materie hat die Intensität,
das Fließen, die Psyche zu treten, an die Stelle des Raumes die
Zeit." Das Buch Landauers ist 1908 erschienen, ohne jede Kennt-
nis Bergsons, vor Bubers Einleitung zu „Rabbi Nachman". —
In allem, was wir hier zuletzt betrachtet haben, feiert die Span-
nung zwischen zwei Polen, das ungestüme in einer Richtung him-
melhoch ragende Verlangen nach Auslösung der Spannung, nach
Wachsen, feiert die Eindimensionalität ihre Triumphe. Und aus
der Eindimensionalität folgen für den Morgenländer die Kraft
der Extreme, sein Gefühlsüberschwang wie seine Begabung für
Mathematik. Und auf das Leben angewendet: das Leben des
Griechen können wir in seiner Breite erfassen, indem wir die ge-
wohnte Stimmung seines Alltagsdaseins in uns aufnehmen und
so einen Gesamteindruck gewinnen. Es gibt in seinem Leben
keinen Punkt, der 'uns schlechthin rätselhaft, unverständlich wäre,
jeder logischen, verstandesmäßigen Kausalität entrückt, ein
Durchbruch unerklärlicher, unheimlicher Grundkräfte des Le-
i3
DER GEIST DES ORIENTS
bens. Das gilt auch von dem die Lust an der bunten Welt spie-
gelnden Leben der griechischen Romantiker, von dem Überschäu-
men der Stürmer und Dränger; ihr Leben ist — wie das des heute
in Romanen vorwiegenden Heldentypus, des modernen Gondot-
tiere, voll des Duftes der Abenteuer und des Rausches der Fer-
nen, aber es ist ein vielfarbiger Teppich, dessen Maschen mit
Kunst, aber dennoch eindeutig kenntlich geknüpft sind, ohne
jeden plötzlichen Abbruch. Das Leben des Orientalen dagegen
bietet sich uns nur in jenen Augenblicken, wo es in ungeheurer
Konzentration den Urgrund und Sinn seines Seins offenbart. Das
Leben des Hellenen war statischer und seine Sehnsucht die Har-
monie, das Maß der nebeneinander aufgestellten und so indivi-
duell zerfallenden und doch wieder zusammengeschauten Dinge;
das Leben des Orientalen war dynamischer, er lebte begeistert, er
lebte vor allem seine Tat. Es war ein Leben in Krisen, ein Leben,
das Augenblick für Augenblick tötet und neugebiert. Ihm war es
gegeben, statt sein Leben in die Breite versickern zu lassen, es
zusammenzunehmen und in eine Richtung zu bringen; für ihn
zerfiel nicht Denken und Handeln, wie es Krishna in der Bha-
gavadgita Arjuna lehrte. Denn sein Leben kannte die Umkehr,
die Berufung, die seinem Leben die Tat brachte und ihn in die
Wüste trieb wie die Rechabiter oder sein Leben gestaltete wie
das Leben des Elia, des Amos und des Jesaja und so viele Heim
und Familie verlassen und die endlose Landstrasse ziehen ließ;
etwas Unheimliches und ein Grauen, denn wir spüren, daß hier
all das, was uns hält und uns bequeme Sicherheit gibt, gesprengt
wird, etwas Unanfaßbares, Letztes sich kundgibt. Diese Menschen
sind scheinbar müßig und fordern Friede und Ruhe, und meiden
Waffenlärm und Kämpferfreude auf den Heerstraßen, aber ihre
Friedensliebe ist nur scheinbar, nur in Beziehung auf den flüchtig
huschenden Schein, das beständige Sichabnützen, das sinnlose
Zerstreutsein der Menschen, weil die Kämpfe, die sie führen,
ihre Entscheidungen und Erschütterungen in einer unendlich ge-
fährlicheren, ungesicherteren Stellung, in einer andern Ebene des
Seins fallen. Denn das Abendland kennt die Spannung der Rich-
tung nicht, sondern die Ausgeglichenheit der vielen Dimensionen,
die so leicht das Philisterium, den Kultus des Normalen erzeugt,
nicht die höchste ethische Gefahr der Spitze — nur der exzep-
i4
DER GEIST DES ORIENTS
tionelle Europäer erfährt als Tragik seines Lebens, was dem
Orientalen Form des Lebens ist: Kierkegaard, der sie kannte, ging
an dem Paradox zugrunde, aber auch Nietzsche hat sie gekannt:
,,Ihr sollt es immer schlimmer und härter haben: so allein wächst
der Mensch in die Höhe, wo der Blitz ihn trifft und zerbricht,
hoch genug für den Blitz!" wie wurden doch gerade solche
Worte, die ein Kampfruf sind gegen das Ideal der Behaglich-
keit, der Bequemlichkeit, des Kompromisses und der Halbheit,
bei Nietzsche überhört — das Abendland kennt vor allem die
Umkehr nicht, die Gnade, ,, worin unsere Lippe von Seraphim
berührt wird, daß unsere Missetat von uns genommen und unsere
Sünde versöhnet sei", worin ,,sich des Herzens Knoten spgJtet";
die Umkehr, die im Orient alltäglich ist und darum auf uns nicht
die große erschütternde Wirkung ausübt, wie die wenigen abend-
ländischen Erlebnisse eines Jacopone, Franciscus oder des Abbe
de Rance.
Die Umkehr beraubt den Orient des Maßes, macht ihn zum
Maßlosen, zum stets Überfließenden. Der Europäer hat selbst
das Unfaßbare geformt; an Stelle der bildlosen metaphysi-
schen Kausalitäten der Taolehre und der Upanishaden treten die
Bilder der glühend innigen Sinnlichkeit Jacopones oder Mech-
thilds, und Plotin, der Späthellene, der geistig wie sein Schüler
Proklus ganz die Gebärde des gebietenden Magiers Asiens an-
genommen und der als letzter in ungeheuerer Synthese versucht
hat, die Antike mit dem Orient zu versöhnen, war als Mystiker
Grieche, die Mystik saß ihm im Auge, er verlangte die Schau
Gottes, die klare, lichtvolle Schau des ihm transzendent bleiben-
den Gottes. Der Orient dagegen wendet sich ab von jeder künst-
lerischen Gestaltung, er sucht und gewinnt in dem tiefsten Ur-
grund seiner Seele einen Standpunkt, Von wo er das nackte Leben
ergreifen kann — für die Upanishaden hat es, wie ich glaube,
zum erstenmal Paul Eberhardt in „Der Weisheit letzter Schluß",
wohl nicht unbeeinflußt von Bergson, für die Taolehre Buber
im Nachwort zum Tschuang-Tse ausgesprochen, — wo er
durch alle Hüllen hindurchfaßt und jedem Ding in die Brust
greift, wo er das Letzte, Übermenschliche erfährt: die Umkehr,
die Wandlung, die Wiedergeburt. Es ist das Erlebnis, das die
Propheten gefaßt und ihr Leben zu einer Einheit gebunden hat,
i5
DER GEIST DES ORIENTS
das sie aus dem bürgerlichen Leben in das heroische trieb, das
einem einzigen Sinne unterworfen ist: Gott. Es ist dieses Erleb-
nis, das das jüdische Volk stets zu einem Schöße neuer Gottes-
erlebnisse des Volkes mid der Menschheit machte zur Zeit der
Propheten wie zur Zeit Christi, zur Zeit Lurjas wie zur Zeit
Baalschems.
III.
Das Substrat des Lebens des Orients liegt aber in zwei chinesi-
schen Begriffen, im Ming und im Li. Ming ist der „Wille des
Himmels, dessen Stimme jedes unverdorbene Herz in sich ver-
nimmt, und die ihm ganz leise, ganz vernehmlich anzeigt, was zu
ergreifen ist und was zu fliehen. "Li ist die Ehrfurcht vor dem Men-
schen als Gefäß des Ming. Ming, der in allen Menschen wohnende
Wille des All, der Hingabe und Empfänglichkeit fordert an die
Harmonie der Welt, die die Harmonie der vollendeten Menschen-
seele ist, und Li, das Band zwischen den Menschen, macht das
Denken des Orients nicht zum persönlichen Denken allein für
sich stehender Individuen, sondern wie das Wesen des Orients
Bindung und Zusammenhang ist in Sippe, Kaste, Volk — und
diese Harmonie des Lebens Kultur bedingt — , so ist auch sein
Denken das Denken des Volkes in seiner Steigerung, in seiner
Erhebung, und der uns oft dem Namen, fast stets seinem Schick-
sale nach unbekannte Sprecher wirklich das Sprachrohr der
Schweigenden, des ganzen Volkes, nicht in jenem Sinne, wie es
in der Kindheit jedes Volkes der Fall ist, sondern in jenejm
schöpferischen Sinne, den man im Anschluß an ein Wort Sim-
meis dahin fassen kann, daß Kultur der Weg ist von der un-
beA>Tißten Einheit über die Mannigfaltigkeit zur bewußten
Einheit.
Dem Orient liegt das Weltzentrum nicht in der Einzelpersön-
lichkeit, sondern in der Gemeinschaft. Das Individuum fand in
der Gruppe seinen natürlichen Boden, seine Dauer und seine
Unsterblichkeit. Dem Japaner im Kriege gegen Rußland war
das willige und restlose Sich-Einsetzen für die Ziele der Ge-
samtheit eine Selbstverständlichkeit. Und den größten Orien-
talen: Buddha und Christus nahte der Versucher, Mara und Sa-
tanas, sie zu überreden, das Heil ihrer Seele zu retten, aber ihnen
i6
DER GEIST DES ORIENTS
handelte es sich nicht um die Erlösung ihrer Seele, sondern um
das Kommen des überindividuellen Reiches Gottes. Die neue
Menschheit, die neue Gemeinschaft war ihr Ziel. Und so müssen
auch wir lernen: nur die Menschen leben wahrhaft, die be-
geistert, erhoben, überwältigt leben.
Das bedeutet nicht, der Orient habe die „Persönlichkeit" nicht
gekannt. Im Anfang unserer Religion steht das „Ich bin", und
wer könnte z.B. in Tschuang-Tses Gleichnissen das stolze Selbst-
bewußtsein machtvoller Individualität übersehen. Als Individua-
lität kann nur der gelten, der sich auf das höchste anspannt, im
steten Bewußtsein, Werkzeug der Notwendigkeit zu sein, der
vollständig im Sachlichen aufgeht und in sinnvoller Ordnung
lebt. Uns Juden fehlt seit Jahrhunderten die sinnvoll-lebendige
Ordnung, erlangen können wir sie nur dort, wo wir mit unserem
tiefsten Leben wurzeln: im Orient. Dort können wir wieder
reine Gefäße des himmlischen Willens werden, ehrfürchtig vor-
einander, mutig gegen Gott.
* # # * *
Alle Philosophie — im weitesten Sinne gemeint als das Staunen
und Forschen des Menschen vor den unerklärlichen Geheimnissen
und Zusammenhängen der Welt — hat ihren Wert nicht um des
Wissens willen, sondern als Form des menschlichen Willens, sich
über seine Ziele klar zu werden. Nur das erlebte, das gelebte,
das in Handlung umgesetzte Wissen gilt. Was wollen wir?
Wir wollen die Revolutionierung der Judenheit, nicht nur der
westjüdischen, sondern vor allem der ostjüdischen. Dies Buch
spricht oft davon. Wir, ein unerhört intellektuelles Geschlecht,
wollen, wie Nathan Birnbaum, die Revolutionierung, aus der eine
neue Religion kommen muß. Religiosität ist der Zionismus schon
heute: die Begeisterung, die Sehnsucht nach neuer Gemeinschaft,
das Einsetzen für überindividuelle Ziele, der feste, uns beseelende
Glaube, daß es so kommen muß, sind mir Vorboten des Wieder-
erwachens jüdischer Religiosität.
Man kann kommen und sagen: Ihr sprecht von Revolutionie-
rung und tut nicht. Dies mag dann sein, wenn man den Worten
eine Heilsbotschaft zutraut, die den Wirkungskreis des ein-
zelnen übersteigt. Wohl aber können wir jeder in unserer
nächsten Umgebung Gemeinschaften schaffen, Menschen um-
17
DER GEIST DES ORIENTS
formen, Geister wecken. Und stets wurde in kleinen Kreisen —
Geheimbünden — früher und lebhafter gefühlt, was später die
Allgemeinheit bewegte und erschütterte. In diesen Gemein-
schaften wird die neue Form des Lebens geboren, noch nicht
als Erfüllung, aber als Verheißung. Und aus diesen Gemein-
schaften erwächst dann stets einer, der den Mut hat und die
Tat vollführt.
Denn diese Revolutionierung, diese Erneuerung ist nur eine
Stufe, ein Übergang, und man muß sich hüten, ihn als das letzte
zu betrachten. In seiner charakteristischen Art sagt einmal Alf-
red Kerr: „Chaos ist der Vorzustand eines Sterns. Die Ansicht,
wenn aus dem Chaos ein Stern geboren werde, sei nicht das
Chaos das Bemerkenswerte, sondern der Stern, wird von den
meisten verworfen, — begünstigt bleibt sehr der Vorzustand eines
Sterns." Und die Gefahr ist, daß man sich an das Chaos hingibt,
es perenniert und die Tat versäumt.
Und von der Tat will ich noch kurz etwas sagen, leise und
ehrfürchtig, wie es sich für den ziemt, der noch nicht den Mut
zu dieser Tat gefunden hat. Und doch geht durch diese Worte
ein starkes, tröstliches Jauchzen, denn an dieser Tat, die im
Laufe der letzten dreißig Jahre oft erfüllt wurde, meist still
und unbemerkt, erkennen wir, daß es uns, auch uns möglich
ist, heroisch zu werden und an der neuen Gemeinschaft anders
als in Dumpfheit und im Worte mitzubauen. Die Tat tut der,
der mit allem bricht, was ihm hier bisher schön und gut war, der
den Schein alles Unwesentlichen abtut und sich reiner Erde ver-
mählt, Bauer wird in Palästina. Dies — und nur dies — ist wahr-
haft ver sacrum, ist Gründung der neuen Lebensgemeinschaft.
Wir sind heute Juden, Juden der Abstammung, der Geschichte
nach, in unserem Denken und Fühlen durch die Faktoren des
Blutes bestimmt. Daß wir jüdisch leben, Kinder seines Geistes,
muß das Judentum wieder ein lebendiger Fluß werden, ein
Geisteskampf, muß es seine Grenzen erweitern, aus seiner Starr-
heit und Verknöcherung treten und in ungeheuerem Aufschwung
seine Kraft sammeln zur erlösenden Tat.
Es ist dies eine Frage unseres Mutes und unserer sittlichen Kraft.
18
JÜDISCHE RELIGIOSITÄT
Der Mythos der Juden
Aus einem Vortrag von Martin Buber
I.
Wir können uns unser eigenes Gefühl vom Mythos zunächst
nicht besser deuten, als wenn wir uns den Sinn des Wortes etwa
von Plato mitteilen lassen. Wir finden dann, daß Mythos be-
deutet: ein Bericht von göttlichem Geschehen als einer sinn-
lichen Wirklichkeit. Es ist demnach nicht Mythos zu nennen,
wenn das göttliche Geschehen als ein transzendenter Hergang
oder als ein Erlebnis der Seele zu erzählen versucht wird: ein
theologischer Vortrag, sei er auch von evangelischer Einfalt und
Größe, oder eine Nachricht von ekstatischen Visionen, sei sie
von noch so erschütternder Sichtbarkeit, stehen außerhalb des
eigentlich Mythischen.
Dieser ursprüngliche Gehalt der sprachlichen Überlieferung
ist so tief und dauernd berechtigt, daß man es recht wohl be-
greifen kann, wie sich aus ihm die Ansicht bilden mußte, die
mythenbildende Kraft sei einzig jenen Völkern eigen, denen das
Göttliche als eine sinnlich gegebene Substanz galt und die daher
auch sein Tun und Leiden als einen Zusammenhang rein sinn-
licher Begebenheiten auffaßten. Man ging weiter und stellte diepo-
lytheistisch empfindenden Völker den monotheistisch empfinden-
den als die mythenschaffenden den mythenlosen gegenüber. Zu
diesen, den mythenlosen Völkern, wurde das jüdische gezählt
und als solches verherrlicht oder verachtet; verherrlicht, wenn
der Beurteilende im Mythos eine niedere Vorstufe der Religion
sah, verachtet, wenn er in ihm den sich über aller Religion er-
hebenden Gipfel des Menschentums, die natürliche und ewige
Metaphysik der Menschenseele erblickte. Solche — zumeist recht
wirksame — Versuche, das Wesen von Völkern zu bewerten,
statt es zu erkennen, sind immer töricht und unnütz ; am meisten
dann, wenn sie wie hier auf Unkenntnis oder Entstellung der
geschichtlichen Realität gegründet sind. Unkenntnis und Ent-
stellung sind ja die Grundpfeiler der modernen rassenpsycho-
logischen Behandlung des Judentums; man entdeckt etwa einen
rationalistischen oder utilitaristischen Zug in einigen Aus-
sprüchen oder Gepflogenheiten des offiziellen Judentums und
beteuert, den Rationalismus oder den Utilitarismus des Juden-
21
DER MYTHOS DER JUDEN
tums erwiesen zu haben; ohne zu ahnen oder ahnen zu wollen,
daß jenes nur unbedeutende, wiewohl geltungsmächtige Stockun-
gen in der großen, aber demütigen Flut der inbrünstigen, hin-
gegebenen, überz weckhaften jüdischen Volksreligiosität bedeutet.
Und die jüdischen Apologetiker hinwieder, deren armseliger
Eifer darauf geht darzulegen, daß das Judentum gar nichts Be-
sonderes, sondern nur die pure Humanität sei, tun das Gleiche
auf ihre Weise: weil sie selbst in der Korruption des Rationalis-
mus und Utilitarismus befangen sind. So hat man denn auch von
beiden Seiten die Existenz von Mythen im Judentum lange Zeit
geleugnet. Das war nicht gar schwer. Das nachbiblische Schrift-
tum blieb in seinem Wesen lange unbekannt: die Agada galt
als müßiges Phantasiespiel oder als flache Parabeldichtung, der
Midrasch als spitzfindige und unfruchtbare Kommentarsamm-
lung, die Kabbala als sinnlose und groteske Zahlentüftelei, den
Chassidismus kannte man kaum dem Namen nach oder tat ihn
als eine krankhafte Schwärmerei mit geringschätziger Gebärde
ab. Die Bibel aber mochte auch mancher redlichen Erforschung
so erscheinen, als sei ihr alles Mythische fremd; ist sie doch in
die Form, in der sie auf uns gekommen ist, durch eine vom Geiste
des offiziellen spätjüdischen Priestertums inspirierte Körper-
schaft gebracht worden, die die nährende Quelle aller wahrhaften
Religiosität, den Mythos, als den Erbfeind der Religion, wie sie
sie dachte und wollte, ansah und daher aus der Fülle überkom-
mener Schriften alles Mythische nach bestem Wissen ausschied.
Glücklicherweise war dieses ihr Wissen kein vollständiges, und
manches entging ihr, dessen ursprünglicher Charakter ihr nicht
mehr gegenwärtig war. So finden sich in allen Büchern der Bibel
versprengte Adern des edlen Erzes. Als sie durch die neue
Forschung aufgedeckt wurden, konnte man die Existenz des
jüdischen Mythos nicht länger leugnen; aber man bestritt nun-
mehr seine Selbständigkeit. Wo man bei einem anderen vorder-
asiatischen Volke ein verwandtes mythisches Motiv fand, wurde
es als das Original, das jüdische als Abklatsch proklamiert; und
wo man keins fand, da nahm man eben an, das Original sei
verloren gegangen. Es tut nicht not, hier diesen Kleinlichkeiten
(die dem tief fundierten, aber aussichtslosen Verlangen des heuti-
gen Abendländers entsprungen sind, sein Christentum, auf das
22
DER MYTHOS DER JUDEN
er nicht verzichten kann, zu entjuden) nachzugehen; denn was
unendlich wesentlicher ist als sie einzeln zu widerlegen: die
ganze Geschichtsauffassung, die sie erst möglich macht, ist eine
ungeheuerliche Verirrung. Es ist ein verkehrtes und vermessenes
Beginnen, einen solchen zyklopischen Bestand wie den Mythen-
besitz eines Volkes unter dem kläglich ephemeren Gesichtspunkt
der sogenannten Originalität zu betrachten. Wo der Geist vor
uns steht, da gilt nicht Originalität, sondern Realität; und die
T^erke des Geistes sind nicht dazu da, daß wir sie zerlegen und
die Produkte der Analyse daraufhin prüfen, ob sie hier zum
erstenmal vorkommen — dieses „zum erstenmal" kann nur der
kümmerliche Maulwurfsverstand konzipieren, der die unendliche
Geschichte des Geistes und seine ewig neuen Bildungen aus dem
ewig gleichen Material nicht ahnt — ; die Werke des Geistes
sind dazu da, als geformte Ganzheit, als einige Gestalt, als Realität
empfangen, erlebt, verehrt zu werden. Und eine solche Realität
ist der Mythos der Juden, wie wir ihn trotz aller jüdischen und
antijüdischen Anschläge uns wieder aufzubauen vermögen. Er
mag allerlei „Motive" mit denen anderer Völker gemein haben,
und es wird kaum je möglich sein, wahrhaft zu ermitteln, welche
davon auf einer Wanderung von Volk zu Volk — wie sie ja alle
Völker, die sogenannten produktiven und die sogenannten rezep-
tiven, gebend und nehmend erfahren — beruhen, welche hin-
gegen auf der Artgemeinsamkeit, die zwischen den Juden und
jenen anderen Völkern bestand oder besteht: der Gemeinsam-
keit der Formen des Erlebens und der Formen, das Erlebte aus-
zusprechen, aber auch auf der Gemeinsamkeit der Erde und des
Schicksals: der Gemeinsamkeit der Inhalte des Erlebens. Das,
sage ich, wird wohl nie völlig zu ermitteln sein. Aber nicht das ist
uns Nachgeborenen wesentlich, sondern die Reinheit und Größe
des schöpferischen Menschentums, das all dies, wie Cellini seinen
ganzen Hausrat, in den Gußofen wirft und daraus die unsterb-
liche Gestalt errichtet. —
Gleichzeitig mit der Bibel wurde auch das spätjüdische Schrift-
tum, wenn auch nicht in gleichem Grade, Gegenstand der neuen
Forschung. Und obgleich auch in ihm, wie in der Bibel, das
Walten mythenfeindlicher Elemente, des Rigorismus des Ge-
setzes und der rabbinischen Dialektik, sich kundgibt und die
23
DER MYTHOS DER JUDEN
Äußerung beschränkt, konnte man nicht umhin, darin eine Fülle
mythischen Stoffes zu entdecken. Was als willkürliche Kommen-
tierung biblischer Stellen gegolten hatte, erwies sich als ein
Schöpfen und Umbilden ältesten Volksgutes; sagenhafte Über-
lieferungen, die man bei der Redaktion des Kanons zu ersticken
versucht hatte, blühten hier in urweltlichem Reichtum; eine von
Mund zu Ohr und wieder von Mund zu Ohr durch die Ge-
schlechter wandernde Übergabe heiliger Geheimnisse, und doch
auch ein unablässiges Neuwerden, bis in die große Umdichtung
aus dem Geiste der jüdischen Mystik. — Wie die anti jüdischen
Rassentheoretiker nach dem Bekanntwerden der mythischen
Elemente der Bibel, so konnten nach dem Bekanntwerden der
mythischen Elemente des nachbiblischen Schrifttums die ratio-
nalistischen jüdischen Apologetiker die Fiktion, es gebe keinen
jüdischen Mythos, nicht länger aufrechterhalten. Sie betraten da-
her einen neuen Weg: sie unterschieden nunmehr ein negatives,
mythologisches und ein positives, monotheistisches Judentum;
jenes verwarfen sie als Hemmung und Trübung, dieses feierten
sie als die wahre Lehre; sie sanktionierten den Kampf des Rabbi-
nismus gegen den Mythos als die fortschreitende Reinigung eines
bedeutenden Ideengehalts und stellten sich gleichsam selbst in
diesen Kampf ein. Ein namhafter jüdischer Gelehrter, der dieser
Richtung naliesteht, obgleich er sich größere Ziele als die Apo-
logetik setzt, David Neumark, formulierte diese Ansicht in dem
Satz: „Die Entwicklungsgeschichte der jüdischen Religion ist
in Wahrheit die Geschichte der Befreiungskämpfe gegen die
eigene und fremde, altehrwürdige und neugedichtete Mytho-
logie." Dieser Satz enthält eine Wahrheit, aber sie ist so parteiisch
ausgedrückt, daß sein Wahrheitsgehalt verdunkelt erscheint.
Wir wollen ihn wieder aufhellen und dem Satz eine gerechtere
Fassung geben: „Die Entwicklungsgeschichte der jüdischen
Religion ist in Wahrheit die Geschichte der Kämpfe zwischen
dem natürlichen Gebilde der mythisch-monotheistischen Volks-
religion und dem intellektuellen Gebilde der rational-monothe-
istischen Rabbinenreligion." Ich sagte: der mythisch - monothe-
istischen Volksreligion; denn es ist gar nicht wahr, daß Mono-
theismus und Mythos einander ausschlössen und ein monotheistisch
empfindendes Volk somit der mythenbildenden Kraft entbehren
24
DER MYTHOS DER JUDEN
müßte. Vielmehr ist jeder lebendige Monotheismus des mythi-
schen Elements voll, und nur solange er dies ist, ist er lebendig.
Allerdings bemühte sich das Rabbinentum in seinem blinden
Streben nach ,, Abgrenzung" des Judentums um die Herstellung
eines vom Mythos ,, gereinigten" Gottesglaubens; aber was es da-
bei zustande brachte, war ein elender Homunkulus. Und dieser
Homunkulus war der ewige Exilarch, er hatte die Herrschaft über
die Geschlechter des Galuth; unter seiner Tyrannei mußte die
lebendige Kraft des jüdischen Gott-Erlebens, der Mythos, sich
in den Turm der Kabbala verschließen oder sich am Spinnrocken
der Frauen verstecken oder aus den Mauern des Ghetto in die
Welt flüchten: er wurde als Geheimlehre geduldet oder als Aber-
glaube verachtet oder als Ketzerei verstoßen. Bis der Chassidis-
mus ihn auf den Thron, auf den Thron eines kurzen Tages setzte;
von dem er herabgestoßen wurde, um als ein Bettler unsere
schwermütigen Träume zu durchirren. Und doch ist er es, dem
das Judentum in den Zeiten der Gefahr seine innerste Ge-
schlossenheit verdankte. Nicht Josef Karo, sondern Isaak Lurja
hat im sechzehnten, nicht der Gaon von Wilna, sondern der Baal-
schem hat im achtzehnten Jahrhundert das Judentum wahrhaft
gefestigt und abgegrenzt : da sie die Volksreligion zu einer Macht
in Israel erhoben und die Persönlichkeit des Volkes erneuerten
aus den Wurzeln seines Mythos. Und wenn es den freigelassenen
Juden unserer Generation so schwer wird, ihre menschliche Reli-
giosität mit ihrem Judentum zu einer Einheit zu verschmelzen,
so ist dies die Schuld des Rabbinismus, der das jüdische Ideal
entmannt hat; wenn aber dennoch der Weg zur Einheit uns
noch geöffnet steht und es uns gewährt ist, indem wir unser
Menschentum vollenden, zugleich unser Volkstum zu gewinnen,
und indem wir nach unserem selbeigenen Gefühl das Göttliche
verehren, die Flügel des jüdischen Geistes über unserem Haupte
rauschen zu hören, so hat dies uns die hohe Kraft unseres Mythos
erwirkt.
Wollen wir nun das Wesen des monotheistischen jüdischen
Mythos erkennen und dadurch zugleich das Wesen des Mythos
überhaupt tiefer erfassen lernen , so liegt uns ob , die Ent-
25
DER MYTHOS DER JUDEN
stehung des jüdischen Monotheismus zu betrachten, wie sie sich
uns aus der Bibel kundgibt. Wir entdecken dann drei Schichten,
die wir klar zu sondern vermögen. Von diesen drei religionshisto-
rischen Schichten — die mit den textgeschichtlichen der modernen
Bibelkritik nicht verwechselt werden dürfen — steht die erste
unter dem Namen Elohim, die zweite unter dem Namen Jahwe,
die dritte benutzt beide Namen, um ein in Wahrheit namenloses
Gotteswesen in seiner zwiefachen Erscheinung als Allgott und
als Volksgott anzudeuten; und jede dieser Schichten hat ihre
spezifische Mythologie; in ihnen baut sich der jüdische Mythos
auf.
Der Name „Elohim" tritt in der Bibel gewöhnlich als Singular
auf, aber es ist unverkennbar, daß er ursprünglich ein Plural
war und etwa „die Gewalten" bedeutete. Wir finden zahlreiche
Spuren dieser Gottvielheit, die nicht in verschiedene, individual
existierende Gestalten von persönlicher Art und persönlichem
Leben differenziert ist, sondern gleichsam eine im Wesen ge-
sonderte, im Handeln verbundene Mehrheit kosmischer Kräfte,
ein Aggregat schaffender, erhaltender und zerstörender Mächte,
eine seltsame und unvergleichbare, über die Erde ziehende, sich
in sich selber beratende und aus ihrem Rat beschließende Götter-
wolke darstellt*). Man kann verwandte Erscheinungen bei
anderen Völkern aufzeigen; aber das sind alles sekundäre
Gottheiten, Hilfsgottheiten — dem monumentalen Monoplu-
ralismus des Elohim -Mythos ist nichts anderes an die Seite
zu setzen. Einzigartig ist auch seine weitere Entwicklung.
Innerhalb der Vielheit des Elohim bildet sich eine dominierende
Gewalt, ein namentragendes Hauptwesen heraus, das immer
größere Macht an sich reißt und sich endlich, mit den mythischen
Insignien eines alten Stammgottes geschmückt, als selbständiger
Herrscher loslöst: Jahwe... Noch wird gesungen: Wer gleicht
Jahwe unter den Söhnen der Götter? Bald aber führt er die Mächte,
die ihm einst Gefährten waren, als dienende Heerschar mit sich,
mit der er auch seinen Namen ergänzt: Jahwe des Gewalten-
heeres, Jahwe Zebaoth. Zuletzt sinkt das Elohim zu einem bloßen
*) Ich kann an dieser Stelle nur auf Resultate hinweisen; wer unbefangen
imd mit Verständnis für den Sinn hebräischer Urworte den Bibeltext liest,
wird sich die Belege leicht zusammenstellen,
26
DER MYTHOS DER JUDEN
Attribut herab: Jahwe Elohim wird der Einzige genannt; aber
auch in seinen- anderen Namen, so in Schaddai, schwingt die
einstige Polydämonie nach. Und noch viel später, als er schon
ins Unsinnliche gehoben worden ist, redet er zuweilen, als spräche
er noch zu der urweltlichen Göttervielheit.
Jahwe ist der göttliche Heros seines Volkes und die uralten
Hymnen, die uns wie aus einer früheren geologischen Epoche
bewahrt in den prophetischen Schriften, im Hiob, in den Psalmen
versprengt erhalten geblieben sind, preisen seine Siegestaten,
jede ein echter Mythos: wie er das Untier des Chaos zer-
schmetterte und unter dem Jubel der morgendlichen Sterne die
Pfeiler der Erde in die Tiefe senkte. —
Und nun greift jene supreme Tendenz des Judentums ein, die
sich mit keinem Einheitsgebilde bescheidet, sondern von jedem
zu einer höheren, vollkommeneren Einheit fortschreitet, und
weitet diesen kosmisch-nationalen Jahwe zum Gott des Alls, zum
Gott der Menschheit, zum Gott der Seele. Aber der Gott des
Alls darf sich nicht mehr am Abend unter den Bäumen seines
Paradieses ergehen, und der Gott der Menschheit darf nicht mehr
mit Jakob bis zum Morgengrauen ringen, und der Gott der Seele
darf nicht mehr im unversehrten Dornbusch brennen. Der Jahwe
der Propheten ist keine sinnliche Wirklichkeit mehr; und die
alten mythischen Bilder, in denen er verherrlicht wird, sind nur
noch Gleichnisse seiner Unaussprechlichkeit. So scheinen denn
die Rationalisten nun doch noch Recht zu bekommen und der
jüdische Mythos ein Ende gefunden zu haben. Aber dem ist
nicht so. Schon deshalb nicht, weil das Volk die Idee eines sinn-
lich nicht erlebbaren Gottes noch Jahrtausende später nicht
wahrhaft angenommen hatte. Vor allem aber deshalb nicht, weil
die Rationalisten den Begriff des Mythos zu eng und zu klein
fassen.
Wir haben damit begonnen, Mythos den Bericht von göttlichem
Geschehen als einer sinnlichen Wirklichkeit zu nennen. Aber
weder Plato noch unser Sprachgefühl versteht diese Definition
so wie die Rationalisten sie verstehen: als ob nur der Erzählung
von dem Tun oder Leiden eines als sinnliche Substanz gegebenen
Gottes der Name eines Mythos zukäme. Vielmehr ist dies ihr
Sinn: daß wir Mythos alle Erzählung von einem sinnlich wirk-
27
DER MYTHOS DER JUDEN
liehen Geschehen zu nennen haben, die es als ein göttliches, ein
absolutes Geschehen empfindet und darstellt.
Um dies mit aller Klarheit zu erfassen, müssen wir noch ein-
mal nach dem Allgemeinen ausschauen und danach fragen, wie
denn Mythos entsteht.
3.
Die Welterkenntnis des ,, zivilisierten" Menschen ist getragen
von der Funktion der Kausalität, von der Betrachtung der Welt-
vorgänge in einem empirischen Zusammenhang der Ursachen und
Wirkungen. Durch diese Funktion wird erst eine Orientierung, ein
Sichzurechtfinden im unendlichen Geschehen ermöglicht; zu-
gleich aber wird der Sinn des einzelnen Erlebnisses geschwächt,
weil es so nur aus seiner Beziehung zu anderen Erlebnissen, nicht
vollkommen aus sich selber erfaßt wird. Beim primitiven Men-
schen ist die Funktion der Kausalität noch recht schwach aus-
gebildet. Fast ausgeschaltet ist sie bei ihm Ereignissen gegenüber,
die ihm eine Sphäre darstellen, in die forschend, wiederholend,
nachprüfend einzudringen nicht in seiner Macht ist, wie Traum
und Tod; Menschen gegenüber, die in sein Leben mit einer ge-
bieterischen Dämonie eingreifen, die er nicht nach Analogie
seiner eigenen Fähigkeiten zu begreifen vermag, wie der Zauberer
und der Held. Er reiht diese Ereignisse nicht in den ursächlichen
Zusammenhang ein wie die kleinen Begebenheiten seines Tages,
er reiht die Taten dieser Menschen nicht in die Kette des Ge-
schehens ein wie die seinen und die seiner Vertrauten, er regi-
striert sie nicht mit kundigem Gleichmut wie das Gewohnte und
Verständliche, sondern er nimmt sie, von der kausalen Funktion
ungehemmt, mit der ganzen Spannung und Inbrunst seiner Seele
in ihrer Besonderheit auf und bezieht sie nicht auf Ursachen
und Wirkungen, sondern auf ihren eigenen Gehalt, auf ihren
Sinn als Äußerungen des unsagbaren, undenkbaren, nur eben
in ihnen sich darstellenden Sinnes der Welt. Daraus ergibt sich
die unzulängliche Empirie und Zwecksicherheit des Primitiven
solchen elementaren Erlebnissen gegenüber, aber zugleich auch
sein hohes Gefühl für das Irrationale des einzelnen Erlebnisses,
für das, was daran nicht aus andern Vorgängen zu begreifen,
sondern nur aus ihm selbst zu erschauen ist, für seine Bedeutung
28
DER MYTHOS DER JUDEN
als Signum eines geheimen, überkauseJen Zusammenhangs, für
die Anschaulichkeit des Absoluten. Er stellt die Vorgänge in die
Welt des Absoluten, des Göttlichen ein: er mythisiert sie. Sein
Bericht von ihnen ist eine Erzählung von einem sinnlich-w^irk-
lichen Geschehen, die es als ein göttliches, ein absolutes Ge-
schehen empfindet und darstellt: ist Mythos.
Diese mythisierende, mythenbildende Fakultät erhält sich im
späteren Menschen trotz aller Entfaltung der kausalen Funktion.
In Zeiten hoher Spannung und Intensität des Erlebens fällt
gleichsam vom Menschen die Fessel der Kausalitätsfunktion ab:
er erkennt das Geschehen der Welt als ein überkausal sinnvolles,
als die Äußerung eines zentralen Sinnes, der aber nicht etwa mit
dem Gedanken, sondern nur mit der wachen Gewalt der Sinne
und dem glühenden Schwingen der ganzen Person zu erfassen
ist, als eine anschauliche, in aller Vielheit gegebene Wirklich-
keit. So etwa ist noch immer das Verhältnis des wahrhaft lebendi-
gen Menschen zu der Gestalt und dem Schicksal des Helden be-
schaffen; er vermag ihn in die Ursächlichkeit einzustellen und
mythisiert ihn dennoch, weil ihm die mythische Betrachtung eine
tiefere, ganzere Wahrheit eröffnet als die kausale und ihm so
erst die geliebte, beseligende Gestalt im Innersten erschließt.
So ist denn der Mythos eine ewige Funktion der Seele.
Es ist nun seltsam und bedeutsam zu beobachten, wie diese
Funktion sich mit der fundamentalen Anschauung der jüdischen
Religiosität begegnet und wie sie doch auch wieder in dieser
ein wesensverschiedenes, sie umwandelndes Element findet: wie
sozusagen von Natur der jüdische Mythos eine geschichtliche
Kontinuität darstellt und wie er doch zugleich sein besonderes,
den andern, namentlich den okzidentalen Mythen fremdes Ge-
präge besitzt.
Die fundamentale Anschauung der jüdischen Religiosität und
der Kern des so vielfach mißverstandenen, so grausam rationali-
sierten jüdischen Monotheismus ist die Betrachtung aller Dinge
als Äußerungen Gottes, alles Geschehens als einer Kundgebung
des Absoluten. Während dem andern großen Monotheisten des
Orients, dem indischen Weisen, wie er sich uns in den Upani-
schaden darstellt, die sinnliche Wirklichkeit ein Schein ist, den
man abstreifen muß, um in die Welt der Wahrheit einzukehren,
29
DER MYTHOS DER JUDEN
ist dem Juden die sinnliche Wirklichkeit eine Offenbarung des
göttlichen Geistes und Willens. Darum ist für den indischen
Weisen, wie später für den Platoniker, aller Mythos eine Metapher,
für den Juden ist er ein wahrhafter Bericht von der Kundgebung
Gottes auf Erden. Der antike Jude kann gar nicht anders als
mythisch erzählen: weil ihm erst dann eine Begebenheit er-
zählenswert ist, wenn sie in ihrem göttlichen Sinn gefaßt worden
ist. Alle erzählenden Bücher der Bibel haben einen Inhalt: die
Geschichte von den Begegnungen Jahwes mit seinem Volke. Und
später, als er aus der Sichtbarkeit der Feuersäule und der Hör-
barkeit des Donners über dem Sinai in das Dunkel und Schweigen
der Unsinnlichkeit eingegangen ist, bricht diese Kontinuität des
mythischen Erzählens nicht ab; wohl kann Jahwe nicht mehr
wahrgenommen werden, aber wahrgenommen werden können
alle seine Äußerungen in Natur und Historie. Aus diesen baut
sich der unendliche Gegenstand des nachbiblischen Mythos auf.
Es geht wohl schon aus dem Gesagten hervor, was das ist,
was ich das besondere Gepräge des jüdischen Mythos genannt
habe. Er hebt die Kausalität nicht auf, er setzt nur an die Stelle
der empirischen eine metaphysische Kausalität, einen ursäch-
lichen Zusammenhang der erlebten Vorgänge mit dem Wesen
Gottes. Das ist aber nicht etwa bloß in dem Sinne gemeint, daß
sie von Gott bewirkt sind, sondern immer stärker bildet sich die
tiefere und fruchtbarere umgekehrte Konzeption heraus: die
von dem Einfluß des Menschen und seiner Tat auf Gottes Schick-
sal. Diese Anschauung, die schon früh eine zugleich naive und
mystische Gestaltung findet und die im Chassidismus ihren
höchsten Ausdruck gewinnt, lehrt, daß das Göttliche in den
Dingen schlummert und nur durch den erweckt werden kann,
der die Dinge in Weihe empfängt und sich in ihnen heiligt. Die
sinnliche Wirklichkeit ist göttlich, aber sie muß in ihrer Gött-
lichkeit verwirklicht werden durch den, der sie wahrhaft erlebt.
Die Gottesherrlichkeit ist in die Verborgenheit gebannt, sie liegt
gebunden auf dem Grunde jeglichen Dinges, und sie wird in
jedem Dinge erlöst durch den Menschen, der schauend oder
handelnd dieses Dinges Seele freimacht. So ist ein jeder be-
rufen, mit seinem eigenen Leben Gottes Schicksal zu bestimmen;
so steht jeder Lebendige tief verwurzelt im lebendigen Mythos.
3o
DER MYTHOS DER JUDEN
Diesen zwei Konzeptionen entsprechen die zwei Grundformen,
in denen sich der jüdische Mythos ausgebildet hat: die Sage
von den Taten Jahwes und die Legende vom Leben des zentralen,
des vollkommen verwirklichenden Menschen. Die eine folgt dem
Gang der Bibel, so daß sich um den Bestand der Schrift eine
zweite, gleichsam eine in unzähligen Schriften verstreute Sagen-
bibel geformt hat; doch schließt sich auch manches Stück
späterer Geschichte und manche zeitlich nicht lokalisierte Er-
zählung an. Die zweite Grundform berichtet zunächst von einigen
biblischen Personen, insbesondere von jenen geheimnisvollen
Gestalten, die der kanonische Text vernachlässigt hat, wieHenoch,
der aus Fleisch zu Feuer gewandelt wurde und aus einem Sterb-
lichen zu Matatron, dem Fürsten des göttlichen Angesichtes; so-
dann erzählt sie in kosmischer Weite das Leben der heiligen
Männer, die über die innere Welt herrschten, von Jeschua aus
Nazareth bis zu Israel dem Sohne Eliesers, dem Baalschem, Die
erste stellt gleichsam den ewigen Zusammenhang, die zweite die
ewige Erneuerung dar. Die eine lehrt uns, daß wir Bedingte
sind; die andere, daß wir Unbedingte werden können. Die eine
ist der Mythos der Welterhaltung, die andere der der Welt-
erlösung.
3i
Die Heiligung des Namens
(KIDDUSCH HASCHEM)
Von Hugo Bergmann
Im 2 2. Kapitel des dritten Buches Moses findet sich eine Stelle,
welche bestimmt war, den Ausgangspunkt einer der eigenartigsten
religiösen Konzeptionen des jüdischen Volkes zu bilden. Es heißt
da: „Beobachtet meine Gebote und erfüllet sie; ich bin Jahwe.
Und entweihet nicht den Namen meiner Heiligkeit, auf daß ich
geheiligt werde in der Mitte der Kinder Israels. Ich bin Jahwe,
der euch heiligt."
Das Merkwürdige an diesem Verse liegt in dem Worte ,,Wenik-
daschti": ich werde geheiligt in der Mitte der Kinder Israel.
Gott, der Heilige, er, der selbst, wie es hier heißt, die Heiligkeit
verleiht, soll durch die Kinder Israels geheiligt werden. Man
könnte geneigt sein, in dem Vers nur eine Metapher zu erblicken,
aber unsere Ausführungen wollen zeigen, daß hier ein ganz tiefes
Wort ausgesprochen wurde. Sehr mit Recht hat Jellinek den
Vers als Israels Bibel im kleinen bezeichnet.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Sinn des Wortes „ka-
dosch" (heilig). Der Gebrauch des Wortes in der Bibel weist
auf einen innigen Zusammenhang zwischen der Forderung der
Heiligkeit und der der Sittlichkeit hin. Aber die Heiligkeit ist
die besondere Weise der Sittlichkeit, wie sie Gott zukommt. Er
heiligt ja. Dem Menschen tritt die sittliche Forderung zunächst
als fremde, gebietende Gewalt entgegen. Die jüdische Tradition
erzählt, daß Gott, als er den Israeliten die Offenbarung am
Berge Sinai brachte, „den Berg wie ein Faß über sie gestülpt
hat". Das Sittliche ist für uns zunächst ein Zwang, der uns an-
getan wird. Obzwar wir dem Sittengesetze nur in Freiheit folgen
können und es keine Nötigung zur sittlichen Handlung geben
kann — denn der Zwang würde sie unsittlich oder sittlich in-
different machen — so kann der Mensch doch — solange er
Mensch ist — nur aus einem Widerstreite gegen seine sinnliche
Natur dem sittlichen Gebote folgen. Gott dagegen wird als der
Urheber des Sittengesetzes gedacht; nicht freilich so, wie es sich
eine spitzfindige Sophistik ausgeklügelt hat, als ob er, einem
launischen Despoten gleich, zum Sittlichen stempeln könnte,
was er wollte, sondern so, daß Wahrheit und Sittlichkeit sein
32
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
Wesen, von ihm unzertrennlich sind. Er ist der Heilige, denn
in reiner, lauterer Klarheit, ohne Widerstand und Widerstreit,
vollbringt er die sittliche Tat.
Damit aber erscheint der Begriff des G eheiligtiver dens erst
recht schwer. Wenn Gott in sich heilig ist, was soll es heißen,
daß er durch den Menschen geheiligt werden soll? Wollen wir
dies verstehen, so müssen wir uns in die Gottesvorstellung ver-
tiefen, welche die jüdische Religiosität charakterisiert. Sie ist
von der uns aus der Begriffswelt unseres Kulturkreises bekannten
gründlich verschieden. In der Betrachtungsweise des heutigen
Abendlandes sind Gott und Welt etwas ein- für allemal Ge-
gebenes, die Welt und die Menschen in ihr von Gott geschieden.
Auch die jüdische Auffassung trennt Gott und Welt, aber sie
verknüpft das Schicksal der Welt und Gottes so miteinander,
daß nicht bloß die Welt von Gott, sondern — und das ist für
unsere Betrachtung von zentraler Bedeutung — das Schicksal
\Gottes von der Welt abhängt. Wir werden vielleicht den Gegen-
satz der heutigen Anschauung gegenüber der jüdischen am besten
so charakterisieren können, daß das Verhältnis von Gott und
Welt in der europäischen Anschauung ein statisches, in der
jüdischen ein dynamisches ist. Nach jener ist Gott und ist einer
und ist heilig und so fort. Die jüdische Ansicht betrachtet Gott
vom Standpunkte des Menschen aus, als des menschlichen Lebens
Ziel und Aufgabe. Mag nun Lagardes Übersetzung der Worte
El und Elohini (Gott) mit Ziel philologisch richtig sein oder
nicht, sie trifft jedenfalls den Sinn der jüdischen Gottesvor-
stellung sehr gut. Gott ist dem Menschen die Aufgabe, die erfüllt,
das Ziel, das erreicht werden soll. Selbst die Eigenschaft Gottes,
die für den Juden die größte Bedeutung hatte, seine Einheit,
wird in dieser Weise dynamisch gefaßt. Man spricht nicht von
der Einheit, sondern der Einung Gottes: Jichud haschem. Die
Einheit Gottes — so lehrt der Sohar (I 44b unten) — hängt ab
vom Gebete des Menschen; der Sohar gibt uns eine ausführliche,
in seiner phantastischen Art gehaltene Schilderung, wie das Ein-
dringen des Gebetes in den Himmel die Einung zustande bringt.
Man findet am Schlüsse des Versöhnungstages in den Gebeten
die siebenmalige Wiederholung der Worte: ,, Jahwe ist Elohim! "
Heute ist uns das bloße Formel. Dem Juden war es Ausdruck
-5 33
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
des höchsten Geheimnisses. Die innige Erhebung, in welcher er
den Tag der Versöhnung verbracht hatte, bewirkte, daß Jahwe
und Elohim sich vereinigten: die Schöpfung, deren Prinzip
Elohim ist*), hatte sich wieder ihrem Urquell, dem göttlichen
Welterhalter, Jahwe, zugewendet. Im innigen Gebete hatte der
Jude seine Mannigfaltigkeit zur Einheit versöhnt und konnte nun
rufen: Eines ist die Vielheit, göttlich ist die Welt, Jahwe ist
der Elohim! Die siebenmalige Wiederholung dieses Rufes am
Schlüsse des Versöhnungstages sprach so gewissermaßen das aus,,
was durch Gebet, Fasten und Versenkung den Tag über erreicht
worden war**).
Vom Menschen aus gesehen, ist Gott also wesentlich Aufgabe
und sein Schicksal hängt sofern vom Menschen ab. Im Midrasch
Wajikra rabbah, cap. 3o heißt es: ,,Und wenn ihr also tut, spricht
Gott, wenn ihr zu einem Bunde werdet, in derselben Stunde steige
ich empor, werde ich erhöht." An anderer Stelle des Midrasch
(Theruma cap. 34) wird als Grund dafür, warum Gott seine
Wohnung in Israel aufgeschlagen hat, ein sehr tiefes Wort aus-
gesprochen: „Ist euch je ein Kauf vorgekommen, wo mit dem
Gegenstand der Verkäufer selbst zugleich mit erhandelt wird?
Gewiß nicht! Ich aber, spricht Gott, habe euch meine Lehre ver-
kauft, und bin mit ihr mitverkauft." Und das heißt nicht nur,
daß derjenige, der im Sinne dieser Lehre steht, an Gottesstatt
richten und entscheiden kann — „der Gerechte beschließt und
der Heilige, gebenedeit sei er, führt aus" (Gemarah Sabbath ög)
— es bedeutet: Gottes Schicksal ist in des Gerechten Hand gelegt.
Es seien einige Stellen hierzu angeführt: Es heißt Psalm 68.
„Gebet Gott die Macht!", was der Jalkut I 7^3, Bl. 2 24a, Sp. 2
so erklärt: „Die Gerechten fügen Kraft hinzu zur oberen Ge-
walt." Im Midrasch Bereschith rabbah, Par. 69 heißt es: „Die
Bösen bestehen durch ihren Gott; aber die Gerechten — da be-
*) Die Kabbalisten weisen darauf hin, daß der hebräische Name für „die
Natur" (Hatebha), wenn man die Buchstaben als Ziffern auffaßt und zusammen-
zählt, dieselbe Summe (86) ergibt, wie Elohim. Vielleicht erhält die Mehrzahl-
form des Namens Elohim von da her ihren Sinn: Gott als Schöpfer, als Prinzip
der Vielheit.
**) Vgl. auch Sohar I. 95a; II. 161a, b, Joel, Religionsphilosophie des Sohar
254 ff, Molitor, Philosophie d. Geschichte I S. 589 ff.
34
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
steht Gott durch sie, denn es ist gesagt worden: Siehe der Herr
steht auf ihm ..."
Die Kabbalah erklärt die Einwirkung des Gerechten auf die
obere Welt so, daß er wohl nicht wirken könne auf diese Welt in
ihrem Verhältnis zu sich selbst; dagegen auf ihr Verhältnis zur
unteren Welt. Durch die sittliche Handlung des Menschen wird
der ständige Gnadenzufluß aus dem Unendlichen, dem Ensof,
in die Sephiroth so sehr vermehrt, daß sie überfließen, wodurch
dann alle Welten einen wohltätigen Einfluß verspüren*).
Aber dies ist immerhin schon eine Art Physik der Sephiroth —
obzwar der Gedanke, daß der Mensch nicht auf das Verhältnis
des Göttlichen zu sich selbst, sondern nur auf sein Verhältnis
zu ihm einwirken kann, sehr bedeutsam ist und uns noch später
begegnen wird. An anderen Stellen des Sohar findet man die
Lehre von der Abhängigkeit der göttlichen Einheit und des durch
sie verbürgten Bestandes der Welt von dem Akte der Einung
der Kreatur mit Gott einfach in wuchtiger Lapidarität hinge-
stellt, ohne den Versuch einer weiteren Erklärung. So heißt es
gleich in den einleitenden Worten des Sohar: Wie im Gottes-
namen Elohim cnb« die beiden Worte <^^Ä5 „dieses" und ^1^
„wer" zusammenkommen und zusammen den Namen des schöp-
ferischen Gottes geben, so besteht überhaupt die Welt nur durch
die Vereinigung des Offenbaren, des Manifesten (Dieses!) mit
dem nicht offenbaren „Wer", dem Subjekte der Welt. „Und
durch dieses Geheimnis besteht die Welt ..."
So ist also der Mensch ebenso Welterhalter wie Gott. Gott
schuf die Welt, der Mensch aber erhält sie, indem er sie als gött-
lich erkennt; er erhält seine Welt, indem er sich mit dem Gött-
lichen vereinigt, es in seine Welt herunterbringt. Wer eine sitt-
liche Tat vollbringt, wie z. B. der gerechte Bichter, wird einJ
Genosse des Heiligen im Werke des Urbeginns."**)
Und wie der Mensch durch seine sittliche Handlung das Schöp-
ferwerk Gottes erneuert, so hängt auch umgekehrt mit seiner
Sünde eine Erniedrigung Gottes zusammen. Nicht nur in der
*) Joel, a. a. O. 126.
**) Vgl. den Rechtskodex Tur chosan mi§pat des Jakob b. Ascher. I. i. Über
die Erzväter als Welterhalter die bei Joel, S. 289 zitierte Soharstelle (III. 103 a)
Der Mensch als Welterhalter, Sohar II, i6ia.
35
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
Seele des Sünders verursacht seine Tat eine Scharte (pegimah),
sondern auch in der göttlichen Glorie, so daß sie in die „unteren
Stufen" herabsinkt*). Im Sohar (I 57b) wird von Gott erzählt,
daß er dem ersten Menschen nach seiner Sünde zugerufen habe:
„Weh dir, daß du geschwächt hast die obere Kraft und ver-
dunkelt hast das obere Licht." Sehr schön und tief ist an einer
anderen Stelle (I 53b) die Vertreibung des Menschen aus dem
Paradiese so gedeutet, daß Gott durch die Sünde des Menschen
aus dem Paradiese vertrieben wurde. Es wird in dem Verse Gen.
in. 24 Q^iin ns Itn^^"] das rix als Gottesname und als das zu 'ßTiä'^l
gehörige Objekt gedeutet. Die Sünde des Menschen vertrieb den
nx aus dem Paradiese.
Man könnte die Stellen aus dem jüdischen Schrifttum, welche
in dieser W^eise die Abhängigkeit des göttlichen Schicksals
vom menschlichen Tun betonen, schier ins Unendliche ver-
mehren. Es mag mit den hier — ohne systematische Absicht —
angeführten genug sein. Sie werden zur Bildung einer gewissen
Vorstellung von dem Gesagten hinreichen. Schwieriger aber ist
es, diese Vorstellung ganz durchzudenken und sie insbesondere
in Einklang zu bringen mit der anderen Gewißheit, von der das
jüdische Denken durchdrungen ist: mit der sicheren Über-
zeugung vom Dasein Gottes. Wenn Gott ist, wie ist er von uns
abhängig und sein Sein mit unserem Tun verflochten? Wieso
wirkt die Kreatur auf den Schöpfer zurück? Wie können wir
Menschen Gott heiligen?
Denn daran kann kein Zweifel sein: die Gottesidee ganz und
gar aufzulösen in ein Ziel, Gott bloß zu denken als das Telos,
daß zu verwirklichen ist — hieße den jüdischen Gottesbegriff
verfehlen. Daß Gott ist, unabhängig davon, ob ich ihn mir
realisiere, ist dem Juden über jeden Zweifel erhaben. Aber —
und hier ist die entscheidende Gedankenwendung, die der Jude
vollzieht — Gott ist nur für sich, ist kein an sich bestehendes,
das man von außen ergreifen, haben könnte, wie man ein Ding
ergreift; so ist er also auch nur für den Gottgeeinten, So
fragt denn der Jude: Wie ist Gott also für mich? Und ant-
I wortet: indem er in deinem Leben zu deiner Tat wird. Indem du
I ihn bewährst, ist er in deiner Welt Wirklichkeit geworden. So
*) Vgl. Molitor III 635. 637.
36
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
heißt es in der Pesikta des R. Kahana 102b zum Verse: „Ihr
seid meine Zeugen, spricht der Ewige und ich bin Gott": „Rabbi
Simeon ben Jochai sagte: „Wenn ihr mich bezeugt, so bin
ich der Ewige. Seid ihr nicht meine Zeugen, so bin ich auch
nicht."*)
In jenem abgrundtiefen Worte, mit dem sich Gott dem Moses
am Dornbusch offenbart als der Ehje ascher ehje, liegt dem
Sinne nach wohl das ,,Ich bin, der ich bin", aber dies ,,bin" ist
ein Imperfektum, in der Zeit des unvollendeten Seins ausge-
sprochen und kann darum mit demselben Rechte als das ,,Ich
werde sein" übersetzt werden. Als das seiende, aber doch zugleich
unvollendete, zu verwirklichende loh gibt sich Gott kund.
Als Ich. Auch das ist tief bedeutsam. Das Ich ist für jeden,
der nicht dies Ich ist, es nicht in seiner Innerlichkeit ergreift,
ein — Er. So Gott in der jüdischen Religiosität. Nur der Gott-
geeinte kann Gottes Sein wahrhaft bejahen, der Außenstehende
redet eigentlich gar nicht mehr von ihm**) ; denn Gott entwindet
sich dem Wort, das ihn von außen ergreifen möchte, wie man
ein Ding in der Rede ergreift und festhält. Ängstlich bemühen
sich die jüdischen Religionsphilosophen, von Gott jedes Attribut
fernzuhalten, auf daß nur ja nicht Gott begriffen werde wie ein
Objekt. Das Ding — ja, das ist oder ist nicht und ist ein für
allemal und für jeden, so wie es ist. Hier ist das Sein „vollendet".
Hier wäre ein Widersinn, was dort tiefster Sinn ist: die Ver-
einigung von Sein und Aufgegebensein, der Vollendung in sich
und der zu verwirklichenden Erfüllung. Nicht auf d&n Gegen-
satz von Schöpfung und Schöpfer stellt so der Jude seine Reli-
giosität, sondern auf den von Ding und Ich, ,, Schale" und
„Funken"***). „Der Mensch — so lesen wir im Sefer leson
chassidim-j-) — ist wie eine Leiter. Er steht auf dem Boden,
und sein Haupt ragt in die Himmel, und die Engel Gottes steigen
auf ihm, durch ihn auf und nieder. Denn die Glorie und der
Gotteswagen sinken hinunter, wenn er sinkt, und wenn er zur
*) cit. nach Perles, Der Begriff des Kiddusch Haschern. (Jüd. Skizzen, S. 117).
**) "Vgl. das Dichtervvort: Spricht die Seele, so spricht, ach ! die Seele nicht mehr.
***) Indem Spinozas Monismus, Gott und Dingwelt identifiziert, bildet er
den strikten Gegensatz zu dieser Anschauung.
f) Ausgabe Lemberg 1876, Bl. 17a. Artikel „Hithchazkuth".
37
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
Höhe steigt, steigen sie alle empor". Das ist die Auserwähltheit,
die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, daß er eine Leiter ist
zur Welt der Erfüllung, daß — wie der Sohar sich ausdrückt —
Gott ihn zum Wagen gebrauchen kann, auf dem er herabfährt.
So hat das Göttliche diese eigentümliche Doppelnatur an sich,
daß es ist und aufgegeben ist. ,,rst" für Gott selbst, für den
Gottgeeinten , aufgegeben ist für den , der außerhalb dieser
Einung steht. Diese Doppelnatur der Göttlichen ist es — glaube
ich — , welche das hebräische Denken durch die Zweiheit Gott
und Sehern zum Ausdruck gebracht hat. Sehern heißt „Name",
es bezeichnet den Gottesnamen Jahwe, ist aber von ihm zu
scheiden. Es ist das, was man von Gott mit Worten bezeichnen,
sagen kann, die Potenzialität des Göttlichen, die vom Menschen
erst noch zu verwirklichen ist. Wenn dies getan ist, wenn der
Mensch die Einung, den Jichud Haschern, in sich vollzogen hat,
dann erst kann er zu Gott: Gott, Jahwe sagen. R. Simon ben
Jochai bemerkt (Sohar, Jithro 88 a) unter Berufung darauf, daß
erst nach Vollendung der Weltschöpfung der volle Gottesname
Jahwe Elohim in der Schöpfungsgeschichte vorkommt, es sei
eben erst mit der Herstellung der Welteinheit die Möglichkeit
gegeben gewesen, Gott bei seinem Namen selbst anzurufen.
So können wir es verstehen, daß nur einmal im Jahre, im
Augenblicke der höchsten religiösen Ergriffenheit, am Ver-
söhnungstage, der Hohepriester Gottes Namen aussprach. Die
Gemeinde aber, die diesen Namen der Einung (Schem hamju-
chad*) hörte, aber gewissermaßen nicht jene Sammlung hat, wie
der Hohepriester, die also außerhalb der Einung steht, antwortet :
Gelobt sei der Schem der Herrlichkeit seines Reiches in Ewig-
keit.
An allen anderen Tagen, wenn die Einung nicht vollständig
erreicht war, ersetzte man im Gottesdienst den Gottesnamen
durch Adonaj (Herr). Wenn man aber im Leben des Alltags von
Gott sprach, sagte man Haschern. So ist also Haschem Gott als
Objekt der Rede, dasjenige, was wir, ohne in der Einung zu
sein, von ihm ergreifen können. Der' in unser Wissen eingestellte,
aber nicht von uns verwirklichte Gott ist Haschem.
*) Die Jewish Encyclopaedia (art. „name") übersetzt dies sonderbarerweise mit
extraordinary name! Vgl. auch den Ausspruch: rr^lti D\I3a lUKPiü ^rü. (Joel S. 235.)
38
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
Unsere Schriften drücken sich auch so aus, daß sie die gött-
liche Glorie, die Schechinah, von Gott unterscheiden. Wenn ge-
lehrt wird, daß mit der Zerstörung des Tempels auch die Schechi-
nah von Gott verbannt wurde und mit Israel ins Exil zog, so
scheint auch hier derselbe Gedanke zugrunde zu liegen: Seit
der Tempelzerstörung kann der Jude gewissermaßen die Einung
mit Gott niemals mehr herstellen, er kann nur mehr Gottes ,, Ge-
wand" ergreifen. Die Priester hören von da ab auf, den Namen
der Einung auszusprechen, und der Talmud (Sanhedrin iia)
sagt: Wer den Namen ausspricht, verliert seinen Anteil an der
zukünftigen Welt . . . *) Die Kabbalisten aber beginnen jedes ihrer
Gebote mit den Worten: Im Namen und zur Vollendung der
Einung Gottes und seiner Schechinah spreche ich dieses Gebet.
Harnack hat in seinem ,, Wesen des Christentums" als eine
der auszeichnenden Lehren des Christentums die vom unend-
lichen Werte der Menschenseele bezeichnet. Diese Lehre ist durch
und durch jüdisch. (Was hier natürlich nicht aus lächerlichen
Prioritätsansprüchen heraus gesagt wird, vielmehr weil es für
den heutigen Juden notwendig ist, sich dessen bewußt zu werden:
die Lehre Jesu von Nazareth ist, wenn sie nur wahrhaft im
„Wesen" ergriffen wird, jüdisch, und er konnte mit Recht sagen,
daß er gekommen sei, die Lehre zu erfüllen. Nicht freilich so,
wie es das Abendland und wohl schon Paulus mißverstanden hat,
um sie für uns zu erfüllen. Die Aufgabe, die er erfüllen wollte,
besteht weiter von Geschlecht zu Geschlecht.)
Unendlich wertvoll ist dem Juden die Menschenseele, denn
sie ist der Ort, wo das große Wunder der Einung vollbracht
werden soll, die Knospe gewissermaßen, aus welcher Gott er-
blühen kann und soll. So konnte R. Nehemia in den Aboth des
R. Nathan (c. 3i) sagen: „Ein einziger Mensch ist gleichwertig
*) Die Schechinah ist als das weibliche Prinzip zugleich die Trösterin, die
liebende Mutter, Rahel, die um die verbannten Kinder weint. Hierüber findet
man bei Hillel Zeitlin, Schechinah, schöne Worte und viel Material. (In seinen
hebr. Ausgewählten Schriften IL 2. S. 100 — 156. Warschau 1912. Verlag
Tuschija). Nebenbei : Ed. v. Hartmann sagt, die Schechinah sei „nichts anderes
als die hypostasierte persische Lichtigkeit und in ihrer sinnlichen Natur ein
religiös wertloser Begriff"! Man soll sich solche Worte merken, um sich dessen
bewußt zu sein, wie weit man gelangt, wenn man das Judentum aus fremden
Quellen kennen lernen muß.
39
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
der ganzen Weltschöpfung", und der Talmud (Sanhedrin 37 b):
„Jeder Mensch ist verpf Höhtet, sich selbst zu betrachten, als sei
die Welt um seinetwillen geschaffen worden." Und die Me-
chiltha bemerkt zu Exodus 17,6, wo Gott sagt: Ich stehe vor
dir dort auf dem Felsen am Horeb: Was heißt das denn, Gott
steht auf dem Berge? Es ist gemeint: AUwo du eine Spur von
Mensc/ienfüßen findest, da bin ich bei dir.
Heutzutage würde man eine solche Einschätzung des Menschen
als Anthropozentrismus brandmarken. Aber dem Juden war es
mindestens ebenso bewußt wie den Heutigen, daß der Mensch
ein Stäubchen im Weltall ist usw. Aber er sah auch, daß das-
jenige, was den Menschen als Menschen charakterisiert, etwas
ist, was ihn sofort aus der ganzen Welt der Objekte, und wäre
sie noch so groß, heraushebt: seine Freiheit. Weil der Mensch
sich frei entscheiden kann, weil er sich aus den Netzen der Be-
dingtheit befreien, sich zum unbedingten Wesen machen kann,
darum ist er der Wagen Gottes. Diese Freiheit des Menschen
wäre nicht möglich, wenn es in seinem Leben nicht ein Ja und
ein Nein, nicht Gutes und Böses gäbe. Erst dadurch, daß der
Mensch Nein sagen kann zur Bedingtheit, daß er sich der Ver-
suchung versagen kann, dadurch ist er Mensch. ,,Im Ebenbilde
Gottes schuf er den Menschen — ".
In der Erzählung von der Weltschöpfung im ersten Kapitel
der Genesis fehlt bekanntlich am zweiten Schöpfungstage das
sonst ständig wiederkehrende „Und Gott sah, daß es gut war".
Dafür sagt der Erzähler am sechsten Tage: „Und siehe, es war
sehr gut." Diese sonderbare Wortfügung hat die jüdische Phan-
tasie sehr beschäftigt. Aus der Fülle der Auslegungen sei hier
eine für uns wichtige hervorgehoben*). Am zweiten Tage schafft
Gott die Dehnung, die scheiden soll zwischen Wassern und
Wassern. Zum erstenmal tritt die Dualität in die Welt ein. Dies
ist der Grund, warum Gott sein Werk nicht gut findet. Aber am
sechsten Tage, als der Mensch geschaffen ward, er, der der Voll-
bringer der Einung sein sollte, war im Grunde alle Entzweiung
schon überwunden: So konnte Gott nicht nur das Werk dieses
*) Vgl. Genes r. c. 9. diese Erklärung auch bei Hieronymus. Vgl. GrätZy
Haggadische Elemente bei den Kirchenvätern (Monatsschr. f. Gesch. u. Wiss.
d. Judent. 1854).
40
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
Tages segnen, sondern noch im Rückblick auf das Werk des
zweiten Tages auch für dieses den Segen hinzufügen: Und Gott
sah, daß es sehr gut war. „Und siehe, es war sehr gut" — so
erläutert der Midrasch — ,,dies Sehr meint den bösen Trieb".
Weil der Mensch auch böse sein kann, weil er in Freiheit der
Versuchung widerstehen kann, deshalb ist er der Mittelpunkt der
Schöpfung.
So ist für die jüdische Auffassung der Mensch Geschöpf und
Schöpfer zugleich. Geschöpf bloß, solange er wie ein Ding von
außen gestoßen, bedingt sein muß, um zu handeln. Schöpfer,
wenn er, sich aus den Ketten fremder Nötigung befreiend, frei
zur sittlichen Tat aufsteigt. Als sittliches Wesen ist der Mensch
sein eigener Selbstschöpfer, so lehrt der Talmud ausdrücklich
(Sanhedrin 99 b), Und dies ist — in der Sprache des Sohar*) —
die Aufgabe des Menschen: aus einer Zisterne, die nur Behält-
nis fremden Wassers ist, soll er ein Quell werden, der selbst
Wasser hervorsprudeln läßt. So verstehen wir jetzt die im Sohar
stets wiederkehrende**) Mahnung, Gott selbst gebiete dem Men-
schen, ihm gleich zu werden in allen Dingen. So verstehen wir
auch, wie schon der Pentateuch Gott sagen lassen kann: „Heilig
sollt ihr sein, denn heilig bin ich, euer Gott." Die Begründung
dieses Gebotes scheint paradox. Es wird dem Menschen befohlen,
eine Eigenschaft zu haben, deswegen, weil Gott sie hat. Für die
jüdische Auffassung ist sie ganz natürlich; denn Gott ist das
Ziel menschlichen Strebens. In jeder Tat, in welcher wir uns
aus einem Ding zu einem Ich, aus dem bedingten Geschöpf zum
freien Wesen machen, in jeder sittlichen Tat handeln wir gott-
gleich, realisieren wir das Göttliche.
Wir haben den Sinn des ,, Heilig" darin gefunden, daß der
Heilige so ganz und gar auf sich gestellt ist, daß er in kampf-
loser Sicherheit und Klarheit, ohne erst den Weg durch die
Wirrnis zu gehen, der des Menschen Schicksal ist, die sittliche
Tat vollbringt. Der Kiddusch Haschem ist die Richtung auf
dieses Ziel: daß wir das Gebot des Sittengesetzes nicht mehr
als ein fremdes, sondern als unseres Seins ureigenste Wesenheit
erleben. Durch unser Gewissen, sagt Fichte einmal, sind wir
*) I. 60 a. Vgl. dazu Jesu Gespräch mit der Samaritanerin im Evang. Joh, 4.
**) Vgl. z. B. I. gb, 10a.
4i
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
Bürger einer anderen Welt. Doch in Wahrheit sind wir nicht
Bürger, sind kaum Gäste in diesem Reiche. Der Kiddusch
Haschern meint die Verwurzelung in diesem Absoluten.
Wir sollen durch unser Leben Zeugen dafür sein, daß Gott
ist — dies ist jener umfassende Sinn des Kiddusch Haschem,
der tief in das Bewußtsein des jüdischen Volkes eingegangen
ist. Gott ist das Wesen, das nur aus sich selbst zur Tat bestimmt
wird. Dasjenige Leben wird also Gott bewähren, das sich heraus-
hebt aus der Verflechtung der Bedingtheiten, der Rücksichten
und Kompromisse, das unbedingte Leben. So wird die Heiligung
des Gottesnamens zur Forderung des heroischen Lebens. Als
tiefste Bezeugung der Realität des Übersinnlichen galt aber dem
Juden die Aufopferung des sinnlichen Seins, der Tod des „Zeu-
gen", des Märtyrers. Und man wich dieser Bewährung nicht aus.
So sehr wuchs zur Zeit der Römerkriege die Zahl derer, die mit
ihrem Leben für die Heiligung des Namens eintraten, daß sich
unsere Lehrer gedrängt fühlten, Einspruch zu erheben und die
wenigen Fälle ausdrücklich festzustellen, in welchen der Jude
den Tod dem Chillul haschem, der Entweihung des Namens vor-
zuziehen habe. Aber, so fügte man hinzu, zur Zeit der Verfolgung
müsse der Jude es so ernst nehmen mit der Heiligung des Namens,
daß er sich auch weigern müsse, den Schuhriemen nach heid-
nischer Art zu knüpfen . . .
Aber wie alle tieferen jüdischen Grundbegriffe die Tragödie
der Polarität des jüdischen Charakters in sich haben, so auch
der des Kiddusch haschem. Der reinste Ausdruck der Unbedingt-
heit der jüdischen Ethik, erhielt er mit dem Verfall des Volks-
ethos einen Nebensinn, der ihn fast zum Ausdrucke der bedingte-
sten Bedingtheit gemacht hätte.
Es ist ja selbstverständlich, daß die Bewährung Gottes durch
fdie sittliche Tat vor allem vor denen erfolgen sollte, denen die
Gottesidee fremd ist. In diesem Sinne findet sich schon bei
Ezechiel (20, 3i) die Forderung, den Gottesnamen in den Augen
der Heiden zu heiligen. So wird denn jedes sittliche Verhalten
im Verkehr {mit NichtJuden zu einer Heiligung des Namens.
Doch darf natürlich das Verhalten nicht durch die Anwesenheit
des NichtJuden bedingt sein. Aber gerade dies geschieht, indem
die Ethik der Juden sinkt und ihr Verhältnis zu den NichtJuden
42
DIE HEILIGUNG DES NAMENS
würdelos und unaufrichtig wird. Der Name, der einst so Großes
bezeichnete, verliert den heroischen Klang. Jedes Wort, das vor
NichtJuden über das Judentum gesprochen werden darf, wird
zum „Kiddusch haschem". Es wird ein „Kiddusch haschem",
wenn ein Rabbiner einen hohen Herrn hebräisch segnen darf,
wenn ein Jude eine Auszeichnung oder einen Titel bekommt,
wenn ein Würdenträger ihn empfängt oder gar die Synagoge
besucht . . . Die schmählichste Selbsterniedrigung wird mit dem
großen Namen gedeckt; bis das letzte Geschlecht mit dem Sinn
auch noch den Namen vergessen hat.
Wir wollen den alten Sinn des großen Wortes wieder er-
neuern. Den Weg weist uns die sittliche Bewegung unter den
Juden dieser Zeit, die wir den Zionismus nennen: Schüttelt ab
von euch jede Halbheit, jeden Kompromiß und jede Opportuni-
tät, seid ganz auf euren Wegen, erneut euch aus dem Geiste
rücksichtsloser Strenge, daß Gott euch wieder werde, was er
dem Moses war: Ein verzehrendes Feuer 1
Der Zionismus ist unser Kiddusch haschem.
43
J es chualeg enden
Von Elijahu Rappeport
I.
Ues alten Juden Schiff hielt am Ufer des heiligen Landes.
Er watete ans Land, über seine Erde zu wandern. Was für
ein köstliches Ding war das, — seine Erde.
Er ging nicht weit, da setzte er sich auf einen Stein am Kreuz-
weg und schaute nach den Hügeln des Ostens. Ein harter Stein
am Kreuzweg; Wege der Heimat.
Er schaute wie ein Tier, das weder lauert noch schläft, das
weder heiß ist noch kalt, weder bang noch trotzig, so schaute
er. So schaute er nach den Hügeln des Ostens.
Da kam Jeschua des Weges, blieb stehen am Kreuzweg und
sah auf des alten Juden Schauen.
Da kam auch der Fischer, dessen Söhne dem Jeschua anhingen,
der sah Jeschua und sah den alten Juden. Da tat er sein Geräte
Von den Schultern und blieb stehen und sah auf den alten Juden.
Da kamen auch seine Söhne, und auch sie blieben stehen. Und
kamen noch etliche, und wieder etliche, hielten zu gehen an,
da sie die andern stehen sahen, und blieben stille stehen, da sie
den alten Juden sahen.
Und so standen nun viele und standen ohne Warten und Er-
wartung. Sie sahen nach den Augen des alten Juden, der nach
den Hügeln des Ostens schaute, wie ein Tier, das weder lauert
noch schläft, nicht heiß noch kalt, nicht bang noch trotzig.
Da kam auch Jehuda des Weges, der sich zu Jeschua hielt,
der sah die Leute stehen.
„Was sehet ihr?" frug er sie.
Aber sie hörten ihn nicht.
Da wandte er sich an einen, der ihm zunächst war:
„Was siehst du?"
Der stand ihm nicht Rede, aber wandte sich und ging seiner
Wege.
Und er frug dieselbe Frage einen andern.
Der wandte sich, stand ihm auch nicht Rede und ging seiner
Wege.
Und da es ein dritter auch so tat, ward Jehuda ungeduldig,
erhub seine Stimme überlaut und rief:
44
JESGHUALEGENDEN
„Was stehet und schauet und sehet ihr hier, ihr Männer und
Frauen?"
Da waren sie betroffen von seiner Stimme, schämten sich,
denn sie wußten es sich nicht zu sagen und ihm nicht, nahmen
auf, was sie aufzunehmen hatten, und zogen ihren Weg.
Es blieb aber der alte Jude in seinem Schauen, und Jeschua
stand noch wie früher da.
Da näherte sich Jehuda von seitwärts und sprach:
„Was sieht du, Jeschua?"
Jeschua wandte ihm sein Gesicht zu und antwortete:
„Ein Kind trinkt an der Mutterbrust."
Jehuda schämte sich, weil er nichts zu sagen wußte, wandte
sich und ging, wie die Leute gegangen waren, die er zuvor ge-
fragt hatte.
Und der alte Jude schaute gegen die Hügel des Ostens. Und
Jeschua sah auf sein Schauen. Bis der alte Jude des Jeschua
gewahr ward.
Da sahen sie einander in die Augen.
Und in den Augen des Alten stand eine Frage auf. Jeschua
sah die Frage, und gleichwohl er seine Augen gegen das Meer
hatte, sprach er:
„Ich sehe die Hügel des Ostens."
Und der alte Jude sprach:
„Ich sehe das Westmeer in seiner Ruhe."
Der alte Jude erhob sich von dem harten Stein am Kreuzweg,
an den Wegen seiner Erde. Er ging den einen Weg, Jeschua
ging den andern.
Des alten Juden Füße küßten die Wege der Heimat. Sie küßten
alle Wege der Heimat, solange Jeschua bei uns war.
IL
Jehuda aber sprach von der Nähe des Maschiach und sprach
vom Maschiach als einem, der aus Davids Geschlecht unter alle
Völker fahren wird wie ein wütender Sturm und der Israels
Ruhm begründen wird. Er sprach vom Maschiach als von einem
König und Führer, der die Zerstreuten aus Israel zu einem Heer
45
JESCHUALEGEP^DEN
sammeln wird und besiegen und erschlagen viele Heiden der
Rache wegen.
Da wandte sich Jeschua an Jehuda und hielt ihm dies Gleich-
nis vor:
„Rabbi Pinchas ben Sakkai bereitete sich zu einem Gelöbnis,
daß ihm auferlegt würde, was er zu tun habe, daß er den
Maschiach führe unter die Lebenden. Der Zeit seiner Bereit-
schaft bestimmte er sieben Jahre. Als er am Abend des ersten
Tages seiner Bereitschaft fragte:
,Was soll ich tun, daß ich den Maschiach herbeirufe?'
Antwortete ihm ein Engel des Herrn:
jSündige ! '
Er aber wurde nicht irre und ließ nicht ab von seiner Be^-
reitschaft, und es wurden drei Jahre voll. Da warnte ihn der
Engel des Herrn, daß seine Aufgabe ihm zu schwer sein werde,
denn die Zeit sei- noch nicht erfüllt. Aber Rabbi Pinchas ben
Sakkai harrte aus, alle sieben Jahre seiner Bereitschaft.
Da trat der Engel des Herrn vor ihn und sprach:
,Deine Bereitschaft ist erfüllet, so folge mir in die Räume
aller Gestalten. Dort ist auch, den du suchest, der Maschiach.
Wenn du ihn finden wirst in den Nächten dieser zwölf Jahre,
die dir noch bleiben, dann wird er sich aufmachen und dir
folgen.'
Und der Engel des Herrn führte ihn zu den Räumen der Ge-
stalten, da suchte Rabbi Pinchas ben Sakkai in allen Nächten
seiner Zeit und fand nicht, den er suchte, den Maschiach, wie-
wohl er ihm in jeder Nacht begegnete.
Da aber seine Zeit schon um war, wies ihm der Engel den
Gesalbten, an dem er in jeder Nacht vorbeigegangen war. Der
saß aber am Fuße eines hohen, steinigen Berges wie ein Stein-
klopfer und zerschlug die Steine am Sabbath.
Andere aber trugen ihm die Steine zu, denn er konnte sie
nicht anfassen. Wo die Steinsplitter den Körper des Maschiach
trafen, da ließen sie Wunden, gleich Brandblasen zurück, darum
war auch sein Körper so entstellt, daß ihn Rabbi Pinchas ben
Sakkai nicht erkannt hatte.
Inmitten des Berges war ein hoher Fels, den nannten sie den
Davidstein. Und es fielen immer neue Steine auf den Berg, wie
46
JESCHUALEGENDEN
von einem Steinregen. Jeder Stein war eine Sünde in Israel,
denn gemäß jeder Sünde fiel ein Stein auf den Berg. Und jeder
fallende Stein machte eine Strieme auf des Maschiach Körper.
Auf dem Berg aber standen die Zaddikim, und die fallenden
Steine trafen sie hart und peinigten sie. Und die Zaddikim
nahmen große Steine des Berges und warfen sie in die Höhe,
und die geworfenen Steine wurden leicht und kamen nicht
wieder.
Der Maschiach aber versuchte von Zeit zu Zeit den Berg der
Schuld auf seine Schultern zu heben und konnte es nicht,
und er sprach:
jNoch ist er nicht schwer genug.'
Als der Berg größer und größer wurde, daß der Felsen des
David schon ganz mit Steinen umgeben war, da war der Berg
schon schwer genug, daß der Maschiach ihn auf die Schultern
heben konnte, aber noch war er zu leicht, um damit zu schreiten.
Und die Zaddikim lösten die Steine, so viele sie konnten und
taten sie von dem Berg.
Da erkannte Rabbi Pinchas ben Sakkai, warum ihm der Engel
gerufen hatte:
, Sündige! '
Und warum er den Maschiach nicht fand.
Aber ich sage dir, hätte Rabbi Pinchas ben Sakkai heute ge-
lebt, er hätte den Maschiach gefunden!"
III.
Einst wollte Jochanan nicht mehr verbleiben in der bedrücken-
den Stadt Jeruschalajim. Und da er wegziehen wollte, kam einer
an ihn, der hatte Feld und Acker gen Beth-El zu und sprach zu
Jochanan, daß er ihm sein Land bestellte.
Das freute Jochanan erst, dann aber ward ihm schwer, und
er sprach:
„Ich getraue mich's nicht, Herr."
,Wie traust du dich nicht, was sich jeder Bauer traut im ganzen
Land? Ist denn die Erde nicht üppig genug, um dir wachsen
zu lassen, wessen du bedarfst, dazu dein Vieh zu nähren und
mehren?'
47
JESCHUALEGENDEN
„Ja, hätt' ich den Mut des Bauern, und wäre es auch einer
aus Schomron, mich sollte es freuen. Doch habe ich allzeit den
Dienst der Erde verschmäht und in der Weisheit gesucht. Ich
getraue mich's nicht."
, Fürchtest du, die Erde werde dich nicht sättigen?'
„Das ist's nicht, Herr. Daß ich satt werde, des bedarf es wenig.
Doch daß ich auch der Erde genüge, der ich hier stets in der
Schrift der Lehre gelesen. Mir ist zu bange."
,Wie soll ich dich verstehen? Dir, Jochanan, ist bange? Dem
Jochanan, der vor der ganzen Gemeinde Worte gewagt hat wie
keiner seit Geschlechtern, dem Jochanan, dem nicht bange
war vor allem Haß der Eiferer, dem ist bange vor dem Feld?
Was fürchtest du?'
,,Wenn ich den Menschen predige, Herr, was soll ich fürchten?
Der Menschen Wüten kann ich entzünden, doch können sie's
niederkämpfen. Um ihre Wüste können sie kämpfen, und irren
sie ob meiner Worte, so war's ihr Irrtum.
Aber wie soll ich nicht bange sein , hinzugehen und in die
Erde zu schneiden und ihr Samen zu gebieten, der ich nicht
weiß, was der Erde frommt? Kann sich die Erde denn auch
wehren meiner Willkür? Und kann ich's vermessen, die Erde
Gottes nach meinem Willen zu formen, der sie nicht versteht?
Wie soll ich bestehen vor der Erde und vor Gott , wenn ich
falsch gesäet, der Erde zum Ekel; und mich zur Erntezeit jeder
Halm ansieht, voll Qual und Vorwurf, und dem Herrn einschreibt
den üblen Willen, die mein Stumpfsinn ihm geschaffen, zu dem
ich ihn' geboren. Wie soll die Erde mich tragen, zu. der ^ch
gesprochen:
„ „Nach meinem Willen sollst du tragen, dies und das sollst
du gebären! " "
So sie es widerwärtig trägt und nächtens zu Gott stöhnt?
Kann sie auch, wie ein Mensch, den Samen verleugnen?
Ich will lieber hingehen unter die Menschen, wenn ich satt
bin der Einsamkeit, und wo sie den Samen verworfen haben,
da sollen sie sich bereiten dem kundigeren Säemann denn ich.'
Und der andere ließ Jochanan ziehen, denn er versprach sich
nicht Gewinn von solchem Pächter,
48
JÜDISCHES DENKEN
Spinoza und das jüdische Weltgefühl
Von Margarete Susman
In allen Lebensanschauungen, Religionen und Spekulationen
vom Mythos bis zum metaphysischen System und zur späten
Dichtung drückt sich die Doppelform alles menschlichen Daseins
aus: daß der Mensch als das Wesen, das vor die ewig gleichen
Lebensrätsel gestellt ist und ihre Lösung sucht, zugleich das
Wesen ist, von dessen Lösungen keine je der anderen gleich sein
kann. Denn der vor das gleiche Rätsel gestellt ist, ist nie der
gleiche, und die letzte Lebensgemeinsamkeit der Menschen be-
steht in dem, was ihnen wurde, nicht in dem, was sie sind. Was
sie sind, bewirkt das Unvergleichliche, Einzige jeder mensch-
lichen Lösung, von denen jede wie eine einsame Insel für sich
ruht; was ihnen wurde, schafft die Verbindung von Insel zu Insel,
läßt den einen verstehen, was der andere sah. Aber das ihnen
Gewordene reicht zugleich unergründlich tief hinunter in das
Wesen der Menschen und ihrer Leistungen, und wenn wir unter
den individuellen Verschiedenheiten der Lösungen immer neue
Gemeinsamkeiten sich spannen sehen, so erscheinen sie endlich
unauflösbar verwebt mit jenem letzten und einzigen Kern, aus
dem die neue Form sich entwickelt.
So ist es vor allem mit den geheimnisvollen Verschlingungen
nationaler Grundzüge, wie sie in allen Menschen von noch so
fester Eigenart wiederkehren und den einzelnen einem be-
stimmten Typus einordnen. Und diese immer wiederkehrenden
Gemeinsamkeiten wirken um so rätselhafter und überzeugender,
als es sich bei den unablässigen Wechselbeziehungen zwischen
den Völkern, bei den langen Zeitspannen, über die die Entwick-
lung eines Volkes sich erstreckt, und bei der wachsenden Indi-
vidualisierung der Menschen nicht um inhaltliche Gemeinsam-
keiten handeln kann, sondern lediglich um solche formaler und
dynamischer Art, um bestimmte Proportionen, in denen die
großen Grundtatsachen des Lebens erblickt werden, und um die
Gefühlsweisen, die sich an diese Verhältnisse knüpfen und ihre
Ordnung im Erleben bestätigen und erfüllen. Gewisse Richtungs-
und Verhältnisgefühle scheinen den Völkern unausrottbar inne-
zuwohnen und prägen sich in allem, was ihre Geschichte aus-
macht, so sichtbar aus, als wäre von dem Ort, dem sie ent-
öl
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
stammen, ein ihnen eigener Blickpunkt und Ausgangspunkt für
alle Weltbetrachtung ihnen mitgegeben. Jedes Volk steht gleich-
sam an einer bestimmten Stelle im Universum, die ihm mit
seinem Blut angeboren, anererbt ist. Tiefer als das irdische
Heimatgefühl ist das metaphysische. Wir fühlen, daß wir nur
hier in der Unendlichkeit wurzeln und dort die anderen Nationen,
und aller Kosmopolitismus kann, solange noch bestimmte Na-
tionen und Stämme bestehen, nichts anderes sein als ein sich
die Hände-Reichen über diese Abgründe hinweg, in denen die
Abgründe zwischen Mensch und Mensch sich in einer besonderen
Weise vertiefen; er kann eine Sehnsucht nach einem weiteren
reicheren Menschsein in sich schließen und erfüllen; er kann
unseren Blick über das Eigene hinaus zum Begreifen des Frem-
den erweitern; aber er kann den Punkt nicht verrücken, auf
den unsere Geburt uns gestellt hat.
Kein Volk muß diese eigentümliche Unverrückbarkeit tiefer
und schwermütiger empfinden als das durch alle Welt verstreute
heimatlose Volk der Juden. Die Juden sind in ihrer irdischen
Heimat entwurzelt; aber nicht dies, sondern ob sie es in der
metaphysischen sind, hat über ihre Lebensberechtigung, ihre
Lebensfähigkeit als dieses Volk zu entscheiden. Und diese Ent-
scheidung kann wiederum nur daran getroffen werden, ob wir
in allem Verhalten großer jüdischer Geister trotz der ungeheuren
Verschiedenheit der Inhalte, die aus der tiefen Beeinflussung
durch die wechselnden Kulturen, in denen Juden gelebt haben
und die sie in sich aufgenommen haben, hervorgebracht sind,
noch ein darunter liegendes Gemeinsames zu erblicken vermögen,
das sich zugleich von dem, was jene fremden Kulturen charak-
terisiert, unterscheidet und jene letzte Gemeinsamkeit des natio-r
nalen Weltgefühls ausdrückt.
Spinoza steht im großen Zusammenhang der abendländischen
Philosophie ■ — vorwärts und rückwärts mit klaren Fäden eben-
bürtigen Geistern, verwandten Gedankengängen verbunden. Er
hat alle Bestimmtheit durch seine jüdische Abkunft und Bildung
offen von sich abgestreift und von ihr nichts bewahrt als eine
größere Unabhängigkeit den die damalige Welt beherrschenden
religiösen Strömungen gegenüber. Und Spinoza gehört auf der
anderen Seite jenem seltenen menschlichen Typus an, dessen
53
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFCHL
grundlegende Erfahrungen nicht aus der empirischen Welt
stammen: dem Typus des reinen Metaphysikers. Und wiederum
steht er als Erscheinung im Leben in einer besonderen Weise
für sich. Der Schauer der Einsamkeit, der alles ganz Große um-
weht, scheint um Spinoza weiter und kühler zu wehen als um
andere menschliche Erscheinungen, durch die erhabene Verwirk-
lichung seiner Erkenntnisse, in die er sein eigenes Leben wie
in eine es gegen die Welt isolierende Hülle einschloß. Vermögen
wir in dieser nach drei grundlegenden Seiten ihres Wesens gegen
eine nationale Gemeinsamkeit sich absetzenden und von ihr ge-
lösten Erscheinung noch die Wurzel jüdischen Weltgefühls zu
erfassen, so muß es uns gewiß werden, daß die metaphysische
Heimat des Judentums nicht mit der irdischen verloren ge-
gangen ist.
Es ist nach der Stellung Spinozas klar, daß es sich hier nicht um
das Aufsuchen historischer Zusammenhänge handeln kann, die
bei ihrer ungeheuren Kompliziertheit unmöglich dazu dienen
könnten, den Wesenszusammenhang klar herauszustellen, auf
den allein es hier ankommt. Um eben dieser Kompliziertheit
willen scheidet auch jede inhaltliche Vergleichung von vorn-
herein aus. Den Gott Spinozas mit dem Gott des alten Judentums
zu vergleichen, würde nicht mehr Sinn haben, als Spinozas
System zu vergleichen mit der Erfahrungswelt, über die der Gott
der Juden herrschte. Um nichts anderes kann es sich für uns
handeln, als um jene formalen und dynamischen Gemeinsam-
keiten des Weltgefühls: um die Weise, in der die großen Welt-
verhältnisse erblickt und empfunden werden.
Spinozas Weg war nicht der Weg von der Erde zu den Sternen,
sondern von den Sternen zur Erde. Das ewige Gesetz der Dinge
war ihm die Gewißheit, von der er ausging, nicht die bunten,
hellen und dunklen Dinge des Lebens, deren Bedrängnis er emp-
fand, aber nicht als Wahrheit irgendeiner Art anerkannte. Wie
wir den uns unergreifbaren Sternenhimmel unendlich klarer zu
schauen und reiner zu ordnen vermögen als das verwirrende
Durcheinander unseres nächsten Lebens, so sah Spinoza den Wesens-
zusammenhang der Dinge unendlich klarer als ihre verworrene be-
drückende Empirie, die durch ihre plumpe Nähe kein reines An-
schauen, kein unmittelbares Erfassen ihrer Zusammenhänge zu-
53
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
läßt. Alles, was Erkenntnis heißt, ist für ihn diese Erfassung der
ewigen Wesenszusammenhänge, und damit Erfassung des Zusam-
menhanges des Weltganzen. Denn alle Erkenntnis des Wesens der
einzelnen Dinge kann nur auf der Erkenntnis ihres absoluten
Zusammenhanges beruhen, auf der Erkenntnis des Wesens der
Dinge schlechthin. Vor allen Einzelwahrheiten gilt es, die Wahr-
heit selbst zu besitzen, um erst von ihr aus alles einzelne in
seinem Verhältnis zu ihr zu begreifen. Denn für sich sind die
Dinge nichts; in ihrer Beziehung auf das Ganze allein können
wir an ihnen das erfassen, was wesenhaft ist; ihr eigenes Wesen
ist nichts als der Punkt, an dem sie mit der Walirheit des Ganzen
zusammenhängen, der Punkt, der an ihnen aufleuchtet, wenn
das Licht der Ewigkeit aus dem gesamten Gesetzeszusammen-
hang der Welt auf sie fällt und sie dem Chaos des Werdens und
Vergehens, des Vereinzeltseins und der Vielheit entreißt: es ist
der Punkt an den Dingen, der eins ist mit ihrer Idee. Nur in
der Idee haben wir das wahre Wesen der Dinge, und nur das
Wesen der Dinge ist ihre wahre Idee. Darum kann keine un-
mittelbare Versenkung in die einzelnen Dinge, wie sie uns in
der Erfahrung gegeben sind, ihr Wesen ergreifen, sondern nur
die Versenkung in den Weltzusammenhang, in dem ihre Idee
offenbar wird. Diese Versenkung allein ist Erkenntnis.
Und diese erkennende Versenkung in die Idee ist eins mit der
in den begrifflichen Zusammenhang der Dinge. Denn der Welt-
zusammenhang ist kein anderer als der uns im Denken unmittel-
bar gegebene. Es gäbe überhaupt keine Beziehung zwischen der
Ewigkeit der Wahrheit und den vergänglichen Einzeldingen,
wenn nicht der Wesenszusammenhang der Dinge, wie er in un-
serem Denken lebt, das Sein der Welt selbst wäre. So sind die
begrifflichen Zusammenhänge nichts anderes als die Wesens-
zusammenhänge selbst; die Idee der Dinge, in der wir ihr Wesen
erfassen, ist ihr reiner Begriff. Nur durch den begrifflichen
Zusammenhang vermögen wir darum ein Ding, wo wir es nicht
unmittelbar aus dem Ganzen zu erkennen vermögen, rückwärts
erschließend zum absoluten Prinzip zurückzuleiten, aus dem
allein es begriffen werden kann. So erfaßt die reinste Versenkung
in die Dinge, die sie gelöst aus allen ihnen gewohnheits- und
erfahrungsmäßig anhängenden Assoziationen rein ihrem Wesen
54
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
nach betrachtet, in ihnen zugleich die strenge begriffliche Ge-
setzlichkeit der Weltordnung; das Gesetz der Dinge, das wir nur
in uns, in unserem Denken erfassen können, das eins ist mit dem
wahrhaft angeschauten Naturganzen, das die absolute Einheit des
Wesens und der Idee, des Seins und des Begreif ens ist; denn die
Welt ist nichts als diese Identität.
In dieser Identität, der absoluten Wahrheit des Ganzen, die
uns als die klarste und wahrste Idee, an der nichts Erfahrungs-
mäßiges, nichts Einzelnes und nichts Vielfaches mehr haftet, ge-
geben ist, verdichtet sich die Struktur des gesamten Weltzusam-
menhanges; sie ist als die unmittelbar zu erfassende Identität
dessen, was wir an allem einzelnen nur gesondert zu erfassen
imstande sind, als die absolute Weltidentität, die an jedem Punkte
Identität ist, die sich nur in den zwei Reihen des Dinglichen
und Begrifflichen uns darstellt, das Sein und die Idee der
Dinge, das absolute Wesen, die erschöpfende Totalität und Voll-
kommenheit und damit die alles in sich begreifende Substanz
der Welt.
Alles Erfahrungsmäßige, ja auch alles Gefühlsmäßige ist
unter dieser streng logischen Struktur des Weltganzen versunken
wie ein verworrenes Traumbild. Die Luft wird dünn und dünner.
Wir stehen in der reinen Seinswelt des Metaphysikers, in der
farblosen Reinheit einer metaphysischen Landschaft, die wie die
großen und furchtbaren Landschaften des Mondes ohne die At-
mosphäre und ihre vermittelnden Erscheinungen einzig in
weißeUi Licht und schwarzer Nacht brennt, in der der ganze
Schmelz und Zauber der Farben und Lufterscheinungen und
alles Übergehenden, in dem allein sich Leben bildet und erhalten
kann, fehlt. Wir stehen nahe an der Ewigkeit selbst, dem farb-
losen Quell der letzten Gewißheit. Und aus ihm, dem über alle
Sonnen hinausliegenden, strömt über diese harte Landschaft eine
neue unbegreifliche Kraft, die dadurch, daß sie mehr als nur
Licht ist, die starre leblose Welt von Weiß und Schwarz mit einer
magischen lebendigen Einheit bindet.
Es ist keine andere Einheit, als die diesem ganzen System inne-
wohnt und es bildet, und doch ergießt aus ihr, weil sie nicht nur
die Identität, sondern der göttliche Quell selbst ist, sich ein Strom
von Glut und Kraft, der den kalten logischen Gesetzeszusammen-
55
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
hang dieser Welt lebendig aufglühen läßt und ihm damit erst
seinen letzten Sinn für den Menschen und sein Tun gibt. Die
absolute Identität des Weltzusammenhanges, die Idee aller Ideen,
der als Sein allein der gesamte Weltinhalt entspricht, ist Gott.
Gott ist das Ganze, von dem wir nimmermehr eine Vorstellung
haben, dessen Idee uns aber als das unerschütterlich Gewisse, als
die letzte Lebensklarheit selbst innewohnt.
Wäre Spinozas Gott nichts als dies, so wäre er nur der voll-
endete Ausdruck der rationalen Welterfassung des reinen Meta-
physikers: dessen, dem das Sein viel gewisser und unmittelbarer
gegeben ist als die Welt der Erscheinungen, die Wirklichkeit des
Denkens viel konkreter als die der Erfahrung, die Wahrheit un-
endlich gewisser als der Irrtum, für den es die Einzeldinge zu
erklären einer Ableitung aus der höchsten Wahrheit bedarf, wäh-
rend die Walirheit keines Kennzeichens an den Einzeldingen be-
darf, noch ein solches an ihnen finden könnte. Wäre Spinozas Gott
nichts als diese absolute Intuition, diese unmittelbare Gewißheit
des Geistes über die Dinge, die sich als Identität dessen darstellt,
was uns nur unter zwei verschiedenen Darstellungsformen er-
greifbar ist, so würde er rein zusammenfallen mit der Wahrheit
selbst und würde kaum den Nfunen Gott verdienen. Aber er ist
noch ein Anderes, noch ein Mehr als dieses logische Gebilde.
Denn Raum und Ausdehnung, seine Darstellungs weisen für uns,
sind nicht seine einzigen Darstellungs weisen; sie vermögen nicht,
den Umfang und die Kraft seiner gewaltigen Wesenheit zu er-
schöpfen. Gott ist nicht allein die Weltsubstanz mit den beiden
Attributen, unter denen wir die Welt begreifen, sondern er ist
die Substanz mit unendlichen Attributen, von denen unserem
Erfassen nur zwei zugänglich sind. In Spinozas Welt der
strengen Folgerichtigkeit blickt man durch die unendlichen
Attribute Gottes in eine Seinswelt von ewig unerfaßbarer
Weite hinaus. Wie Spinoza immer wieder betont, daß die
Welt nicht auf den Menschen angelegt sein könne, so ist auch
sein Gott mehr als ein der Seele, dem Erkennen erfaßbarer Gott.
Daß wir Gott nur unter zweien seiner Attribute erfassen können,
was anders ist es gegenüber der Unendlichkeit seiner Attribute
als der Ausdruck der unendlichen Kleinheit des Menschen in der
göttlichen Natur? Die unendlichen Attribute, „die uns sagen,
56
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
daß sie da sind, ohne uns ebenso auch zu sagen, was sie sind",
sagen uns damit, daß die erkennbare Welt nur ein winziger Teil
der göttlichen Welt ist.
An diesem Punkte wird das religiöse Weltgefühl Herr über
das metaphysische. Gott als die Identität nicht nur des uns erfaß-
baren, sondern eines unermeßlich darüber hinausgreifenden
Seins und Geschehens durchtränkt die Welt damit, daß er Gott
ist, in einem ganz anderen, gewaltigeren und überrationaleren
Sinne, als er es als die bloße Einheit der erkennbaren Welt ver-
möchte. Der strenge Gesetzeszusammenhang unserer Welt ist
göttlicher Natur — das bedeutet nun nicht mehr nur: er ist in
der absoluten Wahrheit gegründet, sondern er ist gegründet in
der absoluten Vollkommenheit, von der sich einen Begriff zu
machen, die menschliche Fassungskraft unendlich übersteigt. Aus
der Unfaßbarkeit strömt das logische Gesetz der Dinge hervor,
in der Unfaßbarkeit ruht die erfaßbare Welt. Die Eine Unend-
lichkeit der Welt ist untergetaucht in ein Meer von dunkleren
Unendlichkeiten — als ob die metaphysische Weltunendlichkeit
der religiösen noch nicht genug getan hätte, als ob der Gott der
Menschenwelt noch nicht genug über alles Einzelsein hinaus-
griffe. Und durch diese Steigerung des metaphysischen Gottes
zum religiösen vollzieht sich das Wunder, daß gerade an dem
Punkte, an dem der Weltzusammenhang über das menschliche
Erkennen hinausgreift, er zum erstenmal wahrhaft auf den Men-
schen und sein Tun bezogen ist.
Denn der rein logische Weltzusammenhang gestattet keinen
Übergang zu der lebendigen menschlichen Seele. Gott als bloße
logische Identität ergibt kein Gottesbewußtsein, und die begriff-
liche Struktur der Welt, die aus ihm folgt, ergibt kein Selbst-
bewußtsein. Im bloßen Gesetz Gottes stehen ist noch keine Hin-
wendung zu ihm. Der begriffliche Zusammenhang, in den wir
einbezogen sind, könnte uns nirgends die Kraft zur Aktivität, zur
Rückwendung auf Gott und damit zu seiner Erkenntnis geben;
wir müßten, wenn Gott nichts wäre als die letzte Ursache dieser
Abfolge, die er selbst ist, in die logische Notwendigkeit des Ge-
schehens so verflochten bleiben, daß wir nicht imstande wären,
ihn als diese Ursache und uns selbst in dieser Abfolge zu
erblicken. Niemals wären wir imstande, unsere Idee in Gott zu
57
SPINOZA UN^D DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
begreifen, wenn nicht in Gott selbst mit dieser Idee eine Macht
gegeben wäre, sie in uns auf sich zurückzuwenden.
Diese Macht, die uns zur Erkenntnis Gottes und damit un-
serer selbst befähigt, ist der in Gott angelegte Überfluß, die
unfaßbare Weltengewalt, Vollkommenheit, die den in sich
Ruhenden durch sich selbst bedrängt, die durch ihre Wucht ge-
trieben ist, sich aus ihm zu ergießen und sich nur zu ihm zurück
ergießen kann. Es ist der ungeheure Andrang seiner in sich krei-
senden Kraft gegen sich, der ihn zwingt, sich selbst als das, der
nichts außer sich hat, mit unendlicher Liebe zu ergreifen. Die
eigentliche Umkehr der göttlichen Welt gegen sich selbst: die
sich im Menschen gegen sich zurückwendende Aktivität ent-
springt aus dem, oder ist eins mit dem, was in Gott — nicht so-
weil er logische Identität ist, angelegt ist, sondern in Gott, soweit
er alle Vollkommenheit aller Welten, alle begreiflichen und un-
begreiflichen Kräfte alles Geschehens und damit den unend-
lichen Drang zu sich selbst in sich schließt. Dieser Drang in Gott
ist das, was in uns aktiver Affekt wird.
Spinozas dithyrambisches Wort von der Freude: ,,Wenn die
Freude im Übergang zu größerer Vollkommenheit besteht, so
muß die Seligkeit wohl darin bestehen, daß die Seele sich im
Besitz der Vollkommenheit selbst befindet", weist den Weg zu
dem Punkt der Umkehr der Welt gegen sich selbst, den wir das
Selbstbewußtsein nennen. Das Selbstbewußtsein fällt für Spinoza
vollkommen mit dem Gottesbewußtsein zusammen. Gott wird
begriffen allein durch sein eigenes Gesetz, das die Seele in sich
erblickt als in dem Punkt, an dem sie es am adäquatesten be-
greifen kann. Denn allein die Seele, sofern sie selbst ewig ist
und sich selbst in Gott weiß, kann adäquate Erkenntnisse bilden,
und je weiter die Seele auf dem Wege dieses Erkennens gelangt,
um so mehr ist sie sich ihrer selbst und Gottes bewußt. Die Ewig-
keit der Seele ist selbst dies, daß sie es ist, die die Dinge unter
einer Art der Ewigkeit zu begreifen vermag. Nichts anderes aber
kann die Seele zu dieser ihrer Ewigkeit hinführen, nichts anderes
in diesem logischen Zusammenhang der Welt sie dazu treiben,
diese Logik zu durchschauen, sich Gottes und ihrer selbst bewußt
zu werden als der steigernde, beglückende aktive Affekt, der
Affekt nur als Affektion von Gott, aktiv als die in dieser Affek-
58
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
tion empfangene göttliche Aktivität selbst ist. Nichts anderes
vermag die in starrer Ruhe des ewigen Ablaufs gegebene Seele
zu bewegen und sich entgegenzuführen als die Sehnsucht nach
jener reinsten Freude, die sich allein auf Gott und sein Gesetz
bezieht, aus dem sie entspringt und zu dem sie zurückstrebt,
nichts anderes die unabsehlich fortlaufende mathematische
Schlußkette lebendig in sich zurückzuführen als jene heilige
wachsende Freude, die Spinoza die geistige Liebe zu Gott nennt.
So ist die Liebe bei Spinoza die eigentliche Umkehr des Lebens
gegen sich selbst, das Wirken Gottes, das sich selbst an diesem
Punkte anschaut und seiner Vollkommenheit durch alles ver-
worren Gefühlsmäßige des Lebens hindurch leidenschaftlich
innezuwerden drängt. In Gott selbst liegt dies unermeßlich
dithyrambische Element, das sich in der Seele zu ihm zurück-
entzündet und die starre logische Gesetzlichkeit an diesem einen
Punkt entflammt, sich selber zu begreifen. Das Selbstbewußt-
sein, das nichts ist als die Erkenntnis der Seele im Lichte der
Ewigkeit, das Erkennen ihres Wesens in Gott, kann wirkend und
damit wirklich werden allein durch die Liebe.
Eine der beiden großen Formen menschlicher Liebe leuchtet
hier aus Spinozas System hervor. Es ist nicht die dunkle ver-
zehrende Liebe, deren Drang und Ziel die Einswerdung der Seele
mit dem Geliebten ist und die die Seele um dieser Vereinigung
als um einer höheren Form willen vernichtet. Hier scheidet sich
die Liebe Spinozas scharf von der der Mystik aller Zeiten. Eine
Vereinigung der Einzelseele mit Gott durch die Gewalt der eksta-
tischen Versenkung müßte für Spinoza die ganze Sinnlosigkeit
der Identifikation eines Teils mit dem Ganzen haben. Der Gott
Spinozas greift in völlig anderer und auch vom gewaltigsten
Affekt unberührbarer Weise über die Einzelseele hinaus. Das
Gewordene ist im Ungewordenen beschlossen; es kann nicht
entwerden, sondern nur reiner das werden, was es ist. Das Er-
kennen der Gesetze des Ungewordenen, die immer klarere Er-
fassung aller in ihm gegebenen Verhältnisse muß das Gewordene
zur Erfüllung dieser Gesetze und damit zur Wahrung der eigenen
Form treiben. Nicht Aufhebung des Selbstbewußtseins, sondern
immer vollkommeneres Selbstbewußtsein ist das Ziel der Liebe
Spinozas. Wie bei den Mystikern soll man auch bei ihm nicht
59
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
auf endliche Weise, empirisch wissen, sondern auf unmittelbar
anschauende, aber nicht um in mystischer Erhebung zu Gott
das Letzte zu erfassen, von dem kein Weg zur Welt zurückführt
und das aus ihr so wenig ableitbar ist, wie sie aus ihm — sondern
um durch dieses Wissen die Dinge selbst zu erblicken, wie sie
in Wahrheit sind, um in dem Licht des Absoluten den reinen
Gesetzeszusammenhang der Welt und sich selbst in der Ab-
hängigkeit von ihm zu begreifen. So ist die Liebe Spinozas im
Gegensatz zu jenem mystischen Versinken die Befreiung der
Seele nicht von, sondern zu sich selbst: sie ist die Liebe ohne
Bangigkeit, die im reinen Anschauen des Geliebten seine Ge-
setze begreift und erfüllt. Der einzige Punkt, an dem Liebe und
Wahrheit sich berühren, ja in dem sie zusammenfallen, ist in
Spinozas geistiger Liebe zu Gott ergriffen: in dem Begreifen
der Dinge in ihrem Verhältnis zum Absoluten besitzen wir den
letzten Sinn der Wahrheit wie die letzte Wahrheit der Liebe.
Und in der Vorstellung intuitiven Begreifens, reinen sich-Ver-
senkens in die Natur der Dinge durchdringen sich bei Spinoza
Liebe und Wahrheit mit einer so heiligen Gewalt, daß wir an
diesem Punkt aus dem starren göttlichen Gesetz den Blitz der
Liebe springen sehen und in der rückgewandten Liebe zum Ab-
soluten, in der erkannten Abhängigkeit von seinem Gesetz die
wahre Freiheit des Menschen begreifen.
Als einzige Entflammung der menschlichen Aktivität, als
der universale aktive Affekt, der sich gegen alle Leiden-
schaft, alles Leiden, das nicht von Gott und so eins mit dem
Tun ist, gegen alles Leiden, das von Fremdem, Einzelnem
stammt und uns lähmt, mit der tätigen Kraft des Begreifens
und Klärens wendet und das dunkle Gewölk mit dem hellen
heiligen Licht der Wahrheit durchglüht und zerreißt, ist die Liebe
die einzige Freiheit der Seele. Eine Freiheit, die sich von der
Kantisch-Fichteschen Freiheit unterscheidet wie die Gesetz-
gebung Mosis' von der Tat des Prometheus. Wirkliche, bedin-
gungslose Freiheit, Freiheit von Göttern und Menschen ist nur
diese; denn die Gesetze Mosis' sind empfangen von Gott, und
die schwere Zunge des Propheten spricht nur die Gesetze Gottes
aus. Frei ist er nur unter den Menschen; tiefer und ewiger als alle
dumpferen Menschen ist er bestimmt und gebunden durch Gott.
60
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
Dies ist die Freiheit Spinozas: Liebe zur Totalität des Seins,
die zugleich die der Idee ist, die alles Einzelne durch sich be-
stimmt, vor der alles Einzelne sich zu verantworten hat, und durch
die vv^ir um so freier sind, je mehr wir nur von ihr abhängen.
Denn Freiheit kann nicht sein, sich zu befreien von den Gesetzen
der Welt, sondern von ihnen immer reiner bestimmt zu werden
und so Macht über das Ungesetzliche des empirischen Lebens zu
gewinnen. Je mehr unser Sein und Erkennen auf der einen Seite,
unser Erkennen und Tun auf der anderen Seite zusammenfallen,
je mehr so unser Tun nur noch der Ausdruck der Natur der Dinge
selbst ist, um so freier sind wir dem Leben gegenüber. Denn wie
wir nicht frei sind zu erkennen, was wir wollen, sondern nur den
Zusammenhang der Dinge selbst durch das Denken fassen können,
so kann unsere Willensfreiheit nicht darin bestehen, das Be-
liebige zu wollen, sondern nur darin, in unserem Tun den Zu-
sammenhang des göttlichen Gesetzes zu fassen. Wie wir um so
klarer erkennen, je deutlicher sich der wahre Zusammenhang
der Dinge in uns darstellt, so handeln wir um so freier, je mehr
wir nur das wollen, was das ewige Gesetz der Dinge in uns aus-
drückt. Denn wie das klare Erkennen der realen Zusammenhänge
uns von dem verworren Imaginativen, Uneigentlichen befreit,
das als finstere Lebensmasse um den leuchtenden Kern ge-
schlungen ist, der das Wesen der Dinge ausmacht, so befreit das
Handeln nach dem göttlichen Gesetz uns von dem Andrang
falscher Leiden und Freuden, in denen die Schwere und Furcht-
barkeit des dumpfen Lebens uns mit verworrenen Träumen be-
drückt, aus denen kein blindes Handeln, sondern nur ein be-
freiendes Erwachen erlöst.
So ist bei Spinoza die Verantwortung vor der Totalität des
Seins schon im ewigen Gesetz der Dinge selbst angelegt. Durch
unser Dasein haben wir die Verpflichtung, unserer Idee gerecht
zu werden, unserer Idee in Gott, die unser reinstes Wesen ist.
Nur darum, weil er nicht in der Form des Sollens auftritt, konnte
Spinozas Freiheitsbegriff so tief verkannt werden, als ob er mit
der Leugnung der absoluten menschlichen Freiheit den Menschen
rein in das dumpfe, blinde Naturgeschehen verstrickte und ihm
jede Möglichkeit moralischer Entscheidungen und Handlungen
benähme. Wäre die Weltkausalität bloßer Naturablauf, so wäre
6i
SPI^OZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
dies allerdings der Fall; aber aller Naturablauf ist zugleich Ge-
schehen in Gott; darum tritt an Stelle desSollens bei Spinoza die
unmittelbarere Form des Müssens, des Gedrängtseins, der Liebe,
sobald der Mensch auf die Idee der Dinge gerichtet und also
wahrhaft Mensch ist. Von Gottes Gesetz abhängen heißt nichts
anderes als bestimmt sein durch ein übergreifendes Sein, durch
ein allgemeines und zugleich mir immanentes Gesetz: durch
meine Idee, wie sie in Gott, wie sie ewig und wahr ist. —
Es hat zu allen Zeiten zwei Weisen der Betrachtung gegeben,
durch die das Weltgefühl der Völker wie der Einzelnen sich als
ein im Kern verschiedenes offenbart: die Überordnung der Idee
im weitesten Sinne auf der einen, die des Ich als des alles in
sich befassenden Prinzips auf der anderen Seite. In den frühen
Zeiten hat sich die erste Form zum schroffen Dualismus des
Judentums, die zweite sich zu der ersten großen Identitätsphilo-
sophie, der der Inder, verdichtet. Im ersteren ist uns die reinste
und ursprünglichste Darstellung des semitischen Weltgefühls er-
halten, in der zweiten die Grundkonzeption des germanischen
Geistes.
Wenn wir von allen unendlich sich verschlingenden histo-
rischen Zusammenhängen und wechselseitigen Beeinflussungen
absehen und nur die Wurzel der Erkenntnis- und Gefühlsweisen
der Völker fassen, so bleibt die Anordnung der Welt, wie sie in
diesen beiden Konzeptionen sich darstellt, im letzten Grunde für
alle Darstellungsepochen des indogermanischen und des semiti-
schen Geistes charakteristisch. Beide Weltauffassungen gehen
aus von der Erlösungsfrage: beide sind also entstanden auf reli-
giöser Grundlage. Mehr aber und durchgreifender als auf allen
anderen Gebieten haben sich gerade auf dem der Religion die
Konzeptionen der Völker verwischt : der semitische Geist hat das
leuchtende Dunkel seiner Lehre über das ganze Abendland ge-
worfen, und das Abendland hat die semitische Konzeption mit
seinem Geist durchtränkt und verwandelt. Und dennoch, ein wie
deutliches Mischprodukt auch gerade die germanische Mystik sei:
in ihr ist die Verwandlung der jüdisch-christlichen Welterfassung
durch den germanischen Geist so stark, daß jenes ursprüng-
liche indogermanische Weltgefühl in ihr wieder mit völliger
Klarheit durchbricht und die Mystik als ein wesentlich germa-
62
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
nisches Gebilde dem eigentlichen Christentum gegenüberstellt.
Auch die griechische Welt, durch das Vorwiegen des Erkennt-
nismäßigen und des darauf sich aufbauenden Ethischen später
fast ausschließlich bestimmt, zeigt in ihrer religiösen Grund-
konzeption: der dionysischen, jene letzten Verhältnisgefühle des
indogermanischen Geistes, die vom Menschen aus gleichsam eine
Umkehrung der semitischen Welterfassung bedeuten.
Die Inder fragen in ihren frühesten Lehren, in den Veden,
nach der Erlösung des Selbst von der Bedrängnis der Dinge,
des Einen, das als eigentlich empfunden wird, von dem als un-
eigentlich empfundenen Vielfachen und Äußeren, und ihre
Lösung ist ein dunkles unendliches Zusammenschlagen beider,
einer überwundenen entweltlichten Welt der Dinge in einem
entselbsteten Selbst — eine Identität in dem, was nicht ist. Alles,
was dieser Identität zuführt, liegt auf dem Wege der äußersten
Vertiefung, Verwandlung des Selbst zu einem immer tieferen
Selbst, bis zu dem Punkte, wo es erlöschend übergeht in das letzte
Sein, in dem Ich und Welt im Nichtsein eins sind. In dieser
Lösung ist die vollkommene Freiheit des Ich über das Ich vor-
ausgesetzt und gefordert. Keine Leitung zum Leben wird ge-
sucht und angenommen, als die das Selbst über Ich und Welt
ausübt.
Die Juden dagegen fragen im Alten Testament vor allem nach
einer Leitung für das Leben. An Stelle der bedingungslosen Er-
kenntnis suchen sie Festigung, Glauben, an Stelle der Freiheit
suchen sie die letzte Bindung. Das schwer und langsam aus dem
Dunkel verworrenen Dienstes und übermächtiger Triebe sich
loswindende Volk sieht den Feind da, wo der Inder die Leitung
sieht: im menschlichen Selbst, und dieses gilt es durch Auf-
stellung klarer übergreifender Gesetze zu überwinden. Darum
müssen die Juden auf jener Stufe notwendig das Göttliche aus
sich herausversetzen; das Selbst muß klein werden vor dem, der
es leitet. Die gesetzgebende Kraft wird unendlich weit über das
Einzelne erhöht — so weit, daß nur noch ihre Stimme zu dem
Erwählten dringt und daß das Antlitz des Unbeschränkten dem be-
schränkten Sterblichen für immer unsichtbar bleibt — ja, daß
die Menge selbst den Abglanz des Ewigen auf dem Antlitz des
Erwählten nicht erträgt.
63
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
Das scheidet unverrückbar die zwei großen Konzeptionen des
indogermanischen und des semitischen Geistes, und das ist es,
was in allen späteren komplizierteren Welterfassungen der
beiden Völker sich wieder durchsetzt : der Inder nimmt keine Ge-
gebenheit an, jede Gegebenheit verlischt vor dem Selbst, das sie
alle vorfindet und darum in der metaphysischen Ordnung der
Dinge vor ihnen allen, der letzte apriorische Punkt der Welt
ist — der Punkt, der alles Einzelne, jede Form, in der es sich
und die Welt sich ihm äußert, in sich zieht und in sich unter-
gehen läßt. Insofern hat es Macht über die Formen aller Dinge,
und die leidenschaftliche und unaufhörliche Hinwendung des
Menschen zum Selbst vermag durch eine ungeheure Anspannung
des Willens die erste Erscheinungsweise des Selbst aufzuheben,
sein existierendes Wesen durch ein ekstatisches Untertauchen in
das wahre Selbst alles Seins zu einem existenzlosen zu verwandeln
und ein dem willenlosen fleischlichen Tod unendlich übergeord-
netes Nichtsein zu erreichen. Dies ist die gewaltige Freiheit, die
der Inder durch Hinwendung zum wahren Selbst über sein vor-
läufiges Selbst besitzt — dieselbe Freiheit, die in der germa-
nischen Mystik wiederkehrt und die im dionysischen Kult der
Griechen das Untertauchen der Seele in die Identität des Seins
trägt.
Die Juden dagegen als die, die an Stelle der Freiheit die Bin-
dung, an Stelle der Auflösung die Festigkeit des Gesetzes suchen,
nehmen durchaus und vor allem hin. An Stell Ci der freien Er-
hebung steht bei ihnen die Frömmigkeit. Die menschliche
Kreatürlichkeit ist ihnen in ganz anderem Sinne als den Indern
einem höchsten Prinzip Untertan: daß sie es nicht Selbst, son-
dern Gott nennen, bezeichnet die tiefe brückenlose Entfernung
der einzelnen Seele vom Absoluten. Denn sie selbst hat keine
Macht über ihre Form, sondern ihre Form hat sie empfangen
als Zeichen ihrer Einordnung in den ewigen Weltzusammen-
hang, der sie trägt; der reinste Ausdruck dieses Weltverhält-
nisses liegt allezeit in dem Wort Spinozas, „daß der Geist die
Seele wie den Körper Gott anheimgibt ohne allen Aberglauben".
Die Stelle des Alten Testaments, der Philo wie Paulus die funda-
mentale Wichtigkeit für ihre eigene, soviel höher entwickelte
Lehre zuschreiben ,,Und Abraham glaubte Gott, und er rech-
64
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
nete es ihm zur Gerechtigkeit", hat bis zu diesen Worten Spi-
nozas durch allen Ausdruck jüdischer Religiosität hindurch ihre
Grundbedeutung nicht verloren: daß der Glaube die vollkom-
menste der jüdischen Tugenden ist — der reine Glaube an die
höchste, mir unendlich übergeordnete Gegebenheit im Gegen-
satz zur Freiheit der Seele von allem ihr Gewordenen. Nur was
Spinoza in diesem Wort als durch das von der Liebe geleitete
reine Erkennen der ewigen Zusammenhänge bewirkt wissen will,
das muß auf niederer Stufe durch den Gehorsam bewirkt wer-
den. Was anders bedeutet der mit solcher Leidenschaft, mit so
flammender Strenge und Ausschließlichkeit geforderte Gehor-
sam im Alten Testament, als die Übertragung der von den Klar-
blickenden erkannten ewigen und notwendigen Gesetze Gottes
auf die, die sie noch nicht zu erkennen vermögen? Die Forderung
dieses absoluten Gehorsams läßt schon Moses das harte aus-
schließende Wort sprechen, das Christus im Hinblick auf
seine Lehre wiederholt: Wer von seinem Vater und von
seiner Mutter spricht: Ich sehe ihn nicht, und von seinem
Bruder: Ich kenne ihn nicht, und von seinem Sohne: Ich weiß
nicht, die halten deine Rede und bewahren deinen Bund. Gott
wird erblickt und geliebt, nicht aber der Mensch, nicht aber die
Seele — auf diese kommt es nicht an, sondern allein auf Gott
und die Vollziehung seiner Gesetze. Aber auch nicht das höchste
und ewige menschliche Selbst kann geliebt werden. Gott ist ein
so strenger Gott, daß aus der Freiheit des Menschen der Tod
stammt. Restloses Unterordnen unter Gott wäre Befreiung vom
Tod — nicht aber in dem Sinne des Eingehens und Untergehens
in Gott, sondern in dem härteren und drückenderen Sinne des
Niemals-Erwachtseins. Für dieses Nichtwiederzugewinnende des
verlorenen menschlichen Gehorsams kann nur die reinste Ein-
ordnung in das Gesetz Gottes eintreten — nur die tiefe drängende
Einordnung, die die Sehnsucht ist, ganz in diesem Gesetz zu
stehen und es zu erfüllen, die nichts weiß und sieht als Gott, weil
sie die Liebe zu Gott selbst ist. Daß die Abhängung der Seele
von Gott ihr wahres Wesen bedeutet, daß das Gesetz Gottes zu
erfüllen darum ihre letzte Sehnsucht sein muß, und daß das
harte, eherne und ewige Gesetz Gottes nur durch die Liebe Avahr-
haft zu erfassen und zu erfüllen ist, das bedeutet das Erscheinen
< 65
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
Christi für das Leben, das bedeutet in einer gänzlich anderen
Form die Lehre Spinozas für das Erkennen.
Die Juden sind im Alten Testament an der Tiefe des Selbst
ganz vorbeigegangen. Und sogar das Wunder des von Gott er-
glänzenden Antlitzes des Propheten hat keine Erhebung des
Selbstgefühls in den Juden bewirkt. Alles sich Auflehnen des
menschlichen Prinzips gegen das göttliche, alles sich Angleichen
diesem Prinzip ist Sünde vor dem Gesetz. Das Bewußtsein der
Sünde ist geboren aus dem Gefühl der Abhängigkeit von der
Idee der Vollkommenheit, vom Gesetz, von Gott. Vor die Tiefe
des Selbst schiebt sich die Größe der absoluten Forderung an
den Menschen. Aus diesem Abhängigkeitsgefühl von einem als
unendlich größer Empfundenen ist alles Höchste des Juden zu
begreifen und vieles Niedere zu verzeihen: das Höchste jüdischer
Leistungen und alles, was die Juden in Zeiten der Schmach auf-
recht erhielt, an denen jedes Volk, das Freiheit als sein höchstes
Gut empfindet, zugrunde gegangen wäre; die Absolutheit des
hohen Juden auf der einen Seite und die Biegsamkeit des
niederen vor dem Schicksal auf der anderen. Alle diese Züge
des jüdischen Wesens sind durch die harten und bitteren Schick-
sale des jüdischen Volkes hindurch zurückzuführen auf das Ge-
fühl einer bedingungslosen Abhängigkeit von den Gesetzen eines
ewig übergeordneten und vom Einzelnen nie zu erfassenden
Ganzen.
In diesem Weltverhältnis der Juden, verglichen mit dem der
Inder ist das Eine deutlich: die Juden haben nicht wie die Inder
eine unmittelbare Beziehung zur Welt, zu Gott, zum Selbst, zu
den letzten Quellen des Lebens, sondern eine solche, die erst
durch das Gesetz begriffen, durch die Liebe vermittelt werden
muß. Dem Welterfassen der Inder könnte weder Liebe noch
Gesetz etwas Entscheidendes bedeuten. Was soll dem Drang nach
bedingungsloser Freiheit von allem Seienden das Gesetz? Was
soll die Liebe im Verhältnis des Ich zum Ich, das nur das Ver-
sinken in ein immer tieferes Ich verlangt? Die Mystiker haben
die Liebe aus dem Christentum herübergenommen, weil sie die
alten Lebensgegensätze des Christentums, Gott und Seele, mit
übernahmen; aber aus der christlichen Liebe wurde bei ihnen
eine Liebe so anderer Art, daß es scheint, als seien die uralten,
66
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
germanischen Leidenschaftsbeziehungen zwischen Mensch und
Mensch in dieser inbrünstigen, versinkenden, verschmelzenden
Liebe zu Gott wieder emporgetaucht und ins Gestaltlose ge-
steigert. Die Liebe ist gebunden an das Du, und daß ihr dies in
der Mystik immer tiefer zurückweicht und zuletzt versinkt, gibt
dieser Liebe den Charakter schwindelnder Ekstase, den die jü-
dische Liebe und die eigentliche christliche Liebe als die zu einem
unverrückbar Übergeordneten nicht kennt. Denn alle Liebe geht
ursprünglich aus vom dualistischen Weltgefühl. Der Mittler-
gedanke ist der eigentliche Liebesgedanke der Menschheit, und
das eigentliche Zeichen der Liebe ist das Symbol in seiner ur-
sprünglichen Bedeutung: als die Vereinigung zweier getrennter
Ringhälften. Alle Liebe ist Kraft zur Überwindung ewiger Le-
bensgegensätze, ist der Drang, der in den Gegensätzen selbst sich
erzeugt, sobald sie sich als Teile eines gleichen Lebens empfinden
und sich so ineinanderzufügen streben, daß sie selbst das Ganze
werden. Aber nicht in einer Verschmelzung, einer Aufsaugung
des einen durch das andere kann das dualistische Weltgefühl
diese Einigung begreifen, sondern im Sinne eines sich ineinander
Einfügens, eines Zusammenwachsens zu einem Ganzen, zu dem
die Teile selbst sich angelegt fühlen im letzten Sinne als eine Voll-
endung des Weltganzen durch die Kraft des gereinigten, seine
Stellung begreifenden menschlichen Willens. Sich zu schließen ist
das Streben jedes Zwiespalts, der ein lebendiger ist, und so trägt
jede dualistische Welterfassung den Drang zur Versöhnung der
Welthälften in sich. Je größer die Kluft ist, um so gewaltiger
wächst der Drang zu ihrer Überbrückung, um so mehr muß dieser
Drang ein Selbständiges, für sich Bestehendes werden, das sich
als Prinzip, als Gestalt, als Engel und schließlich als Person,
die beider Welthälften Anlage in sich trägt, herausstellt. So lebt
der Messiasgedanke tief in der Wurzel des Judentums, und durch
das ganze alte Testament mit seiner Strenge und Härte leuchtet
wie ein Funke, der die Welt ergreifen will und muß und erst
als Flamme aufschlagen wird, wenn sie ganz ergriffen ist, die
Liebe hervor. Die Liebe, die hier noch ausschließlich in der
schlichten Hülle der Gesetzeserfüllung lebt und doch wie in der
Opferung Isaaks bereits über den Gehorsam hinaus eine brennen-
dere Kraft zum Opfer aus sich entfaltet — und die in Josephs
67
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
schlichtem Wort zu seinen Brüdern: „Fürchtet euch nicht, denn
ich bin unter Gott", schon als Liebe im keimenden Begreifen des
göttlichen Gesetzes über die bloße Gerechtigkeit siegt. —
Spinozas System der Identität scheint die Liebe in diesem Sinne
auszuschließen. Hier ist keine Vermittlung zwischen getrennten
Welthälften nötig. Diese streng geschlossene Welteinheit scheint
der Liebe keinen Raum zu lassen. Und dennoch ist hier das Ver-
hältnis des Einzelwesens, des empirischen Selbst zum absoluten
Selbst, das Verhältnis des Ich zu Gott, auf das allein es bei der
Liebe ankommt, so verschieden von dem des Inders wie das des
Judentums selbst.
Wie für das alte Judentum wäre für Spinoza eine Einwirkung
des Selbst auf seine Form, eine Änderung des existenzialen Cha-
rakters des Einzelseins durch den eigenen Willen, und die da-
durch erreichte Annäherung an das absolute, göttliche Selbst
Wahnsinn vor dem Gesetzescharakter der Welt. Gerade das
vollkommene Ich- und Weltsein Gottes greift dadurch, daß es
selbst der gesamte Weltzusammenhang ist, so unermeßlich über
die Beschränkung, in der dies am Einzelnen sich darstellt, hinaus
wie das Sein über eine seiner zahllosen flüchtigen Daseinsweisen.
Die Notwendigkeit, die das Ganze ist, kommt allein ihm, dem
ewigen Wesen der Dinge zu; das ewige Gesetz, das in ihnen
lebt, ist allein, und an ihm kann durch den Einzelnen nichts
geändert werden. Was verändert werden kann, ist einzig die
Klarheit der Beziehung des Einzelnen auf das Ganze. Die Da-
seinsweise kann das Göttliche reiner oder weniger rein dar-
stellen, und sie hat Ewigkeit einzig, sofern sie es darstellt, und
um so mehr, je wahrhafter sie es darstellt. Und doch liegt auch
alles, was an den göttlichen Daseinsweisen falsch, schlecht oder
vorläufig erscheinen könnte, wiederum nur in unserer von den
Affekten gegen die Dinge verwirrten Betrachtungsweise, so daß
sie nichts sind als diese Gesetzlichkeit, die sie darstellen, und
wir, je reiner wir sehen, um so mehr sie selbst sehen. So ist
unser Erkennen des Wesens der Dinge die Kraft, die sie in uns
zu sich führt, und so würden wir, indem wir etwas an den Dingen,
und mehr noch an unserem Selbst, durch das wir sie erkennen,
ändern, verwandeln wollten, uns nur immer tiefer in diese falsche
vorläufige Auffassung verstricken; je reiner wir den ewigen und
68
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
notwendigen Zusammenhang der Dinge erkennen, um so reiner
werden wir uns ihm einzufügen und damit wir selbst zu sein
streben. In diesem Sinne führt die Erkenntnis auf die höchste
der Tugenden, die Spinoza im schroffen Gegensatz zu den in-
dischen Lehren als die Selbsterhaltung begreift. Selbsterhaltung
als reinster Gegensatz zum Eigennutz: als Abstreifung alles
Fremden, Äußeren, mit dem ich mich verwirren würde, als
Wahrung des göttlichen Gesetzes an dem Punkt, wo ich es am
tiefsten begreife, als Steigerung des Selbstbewußtseins, des
Gottesbewußtseins, als reines Ergreifen des eigenen Wesens in
und durch Gott. Zu dieser Selbsterhaltung führt nur die Liebe
zu Gott. Denn nicht mich suche ich in ihr, sondern Gottes Ge-
setz in mir. Nicht auslöschen will ich mein Selbst in einer letzten
Identität von Selbst und Welt, sondern mich besser begreifen
lernen als Daseinsweise, die soviel vom göttlichen Selbst- und
Weltsein in sich zu realisieren strebt, wie sie erfassen kann. Denn
niemals kann für Spinoza die Identität der Welt jene verwan-
delnde, auflösende Bedeutung für das menschliche Selbst haben
wie für den Inder der Veden. Nur logisch ist für ihn die Identi-
tät der Welt gegeben. Sie ist nicht die lebendige Identität des
Inders, die das schwankende einmalige Selbst durch das Erleben
seines tieferen Selbst unmittelbar in seinen letzten Quell zurück-
führt. Zu Gott führt in diesem logischen Gesetzeszusammenhang
für das Einzelwesen, das lediglich eine seiner Daseinsweisen,
seiner Darstellungsformen ist, kein Weg; soweit dieser Zusam-
menhang ein bloß logischer ist, ist es starr und tot in ihm be-
schlossen. Und wenn auch die Liebe diesen Zusammenhang nicht
zu durchbrechen, nicht aus ihm herauszuführen vermag, Herz
an Herz eines lebendigen Gottes, so kann doch nur sie dazu
führen, Gottes ewiges Gesetz und sich in ihm zu begreifen. Dies
Durchschauen der Notwendigkeit alles Seins und Geschehens in
Gott ist die Erlösung durch die Liebe zu ihm, die nichts ist als
die unendliche Sehnsucht nach dem vollkommenen Begreifen
seines Gesetzes.
So schafft auch hier erst die Liebe als das dynamische
Moment der göttlichen Unendlichkeit die wahre Verbindung
zwischen Ich und Gott. Die an sich leblose und dem Leben des
Subjektes unzugängliche Identität der Welt wird als lebendige
69
SPINOZA UND DAS JÜDISCHE WELTGEFÜHL
nur hergestellt durch die Liebe, die aus unermessenen Unend-
lichkeiten hereinflutend das starre Weltgesetz bewegt und in
ihm selbst die rückgCAvandte Sehnsucht zu Gott, zum Begreifen
des göttlichen Gesetzes entzündet. Insofern ist die Liebe auch
hier die lebendige Mittlerin zwischen Mensch und Gott und die
wahre Erfüllung des Gesetzes.
Nüchtern und kühl steht neben der indischen Ekstase und
der Ekstase der Mystik und neben dem dionysischen Orgiasmus
diese Liebe, die nichts durchbrechen, nichts verwandeln, nichts
zerstören und erbauen will, deren einzige Aktivität die zähe starre
Wahrung des für göttlich Erkannten gegenüber jeder unreinen
Vermischung und freventlichen Erhebung des Einzelnen ist. Wie
das kühle klare Wasser, das in immer gleicher Form der Erde
entquillt, dem sich aus ihr durch Rebe, Blüte und Frucht, durch
Gärung und Klärung zu immer neuen berauschenden Verwand-
lungen entfaltenden Wein, der weiter berauscht und verwandelt,
steht die Gesetzesliebe des Alten Testaments, die Gesetzesliebe
Spinozas der Mystik aller Zeiten gegenüber. Wie das Wasser,
das reinigt und läutert, kühlt und erfrischt, — aber auch wie
das Wasser, das in ruhiger, tief bewegter Weite als das Meer
vor uns liegt, dessen rhythmischer Schlag den ewigen Dithyram-
bus der göttlichen Ordnung, der Gesetzlichkeit des Weltalls
immer neu zu uns emporträgt und in jeder seiner Wellen die
Unendlichkeit verkündet, in der sie ist, aus der sie stammt und
in die sie liebend als in das Ihre zurückkehrt.
70
Von der Sendung des Judentums
IDEEN ZUR PHILOSOPHIE HENRI BERGSONS
Von Kurt M. Singer
J_Ja Hegel die Geschichte des Weltgeistes übersann, wurden
ihm Orient und Okzident zu Zeiten des einen ungeheuren Ge-
schehens, in dem sich die Fülle der im Geist beschlossenen Rich-
tungen entfaltet und verwirklicht wie das Leben des Baumes in
Stamm und Gezweig. Als Träger dieser Einheit erschien ihm
das Judentum.
Morgenländisch ist nach Hegel die Richtung auf das Eine und
Allgemeine — „denn dem Morgenlande gehören die maßlosen
Anschauungen an, die alles Begrenzte über sich hinaustreiben".
Das Judentum aber bedeutet ihm die äußerste Steigerung und
zugleich die Umkehr des Orients: das unbestimmte Allgemeine
verwirklicht sich zur Realität des einen, unsinnlichen Gottes.
Der Geist löst sich hier aus der Substanzialität, der dunklen In-
differenz des Orients. Er geht in sich nieder und erkennt sich als
das Eine, Innere, im Gegensatz zur Materie, die er nunmehr als
das Vielfache, Äußerliche, Geschaffene bestimmt. „Dadurch ge-
schieht der Bruch zwischen dem Osten und Westen."
Weiter aber ist es nach Hegel die Sendung des Judentums,
das wieder zu verbinden, was es um der höheren Einheit willen
trennen mußte. Als der Geist von der abstrakten Form, in der
ihn das Judentum erfaßt hatte, im Griechentum fortgeschritten
ist zur Erfüllung in der schönen Individualität, und als diese
neue Welt, durchaus ans Sinnliche, Einzelne, Konkrete gebunden
und nur durch glücklichen Zufall in lebendigem Gleichgewicht
gehalten, zur römischen Zeit in absolute Zersplitterung undVer-
äußerlichung gerät — ist es das Judentum, das den Geist rettet,
indem es die Zerrissenheit in sein eigenes Selbst hineinnimmt,
den Dualismus, dessen Mythos es im Bilde des Sündenfalls ge-
schaffen hatte, in sich wiederfindet und zugleich die orienta-
lische Substanzialität, als Gewähr der Einheit. Es erträgt das
allgemeine Elend nicht durch Stumpfheit, wie die Römer, son-
dern durch unendliche Energie der. Sehnsucht. Es leugnet nicht
stoisch den Schmerz. „Die jüdische Empfindung beharrt viel-
mehr in der Realität und verlangt darin die Versöhnung, denn
sie ruht auf der orientalischen Einheit der Natur, d. i. der Reali-
71
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
tat, der Subjektivität und der Substanz des Einen." So bereitet
sich im Judentum die Durchdringung orientalischen und okzi-
dentalischen Wesens vor, die in der Form des Christentums fast
zwei Jahrtausende Europa beherrscht hat.
Diese Synthese ist heute erschüttert; das Gefühl ist allgemein,
daß die religiöse Grundlage des europäischen Lebens nicht mehr
ausreicht, den neuen Bau zu tragen. Eine unübersehbare Masse
von Einrichtungen und Apparaten legt sich auf den Menschen,
schwerer noch als einst das römische Imperium, das doch im
Kerne menschliche Wirklichkeit gewesen war. Die religiösen Tra-
ditionen erweisen sich als unfähig, die erstarrende Masse mit
neuem Leben zu füllen, ja sie scheinen mit irrealen Forderungen
die Verv/irrung zu steigern. So sehen einige der Besten das Heil
in der Abstreifung dieser Tradition und in der Rückkehr zum
griechischen Begriff der Menschheit: Griechentum als Bändi-
gung des eingeborenen Chaos durch begrenzende Gestaltung, im
Gegensatz zu den maßlosen Forderungen des Orients.
Auf der anderen Seite erhebt sich das Morgenland langsam
zum Bewußtsein seiner selbst. Es will nicht länger als bloße
Vorstufe zum Abendlande gelten. Es nimmt die europäische
Technik an, aber es findet im Abendlande hinter den vielen
Zwecken und Mitteln nicht den einen Unendlichkeitsgedanken,
ohne den der Orientale nicht atmen kann. So setzt es dem viel-
spältigen Treiben des Westens sich selbst als Hüter des Unbe-
dingten entgegen. Das Netz der Verkehrsmittel, das Ost und West
zu verbinden schien, hat die Welten furchtbarer getrennt, als
es am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts geahnt werden
konnte. Es scheint heute vielen, daß kein geistiger Wille mehr
die Hälften der Welt zu verschmelzen vermag.
Der Zwiespalt aber setzt sich ins Innere fort. Im Abendland
regt sich das Gefühl, daß mit der Rückkehr zum Griechentum
nicht alle Nöte zum Schweigen gebracht sind. Das Bedürfnis
nach einem Transzendenten ist geblieben, heftet sich dort, wo
die Traditionen stark sind, an die Reste des christlichen Zeit-
alters, und sucht sich Scheinerfüllungen, wo der Zusammenhang
mit der Vergangenheit nicht mehr lebendig ist, und keine seelische
72
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Gewalt die alten Regungen zu bannen vermag. Asien £iber muß
erkennen, daß seine traumhafte Einheit sich bei der Berührung
mit dem Westen in ein unvermitteltes Nebeneinander der un-
vereinbarsten Teile auflöst, und wird durch die Notwendigkeiten
sozialer Rekonstruktion darin gehemmt, seine besten Kräfte an
die Schöpfung einer neuen geistigen Einheit zu wenden.
Was hat das Judentum in diesem ungeheuren Ringen an
Kräften einzusetzen? Es muß an ihm teilnehmen, wenn es nicht
zwischen den feindlichen Welten zu wesenlosem Staub zerrieben
werden will.
Wo aber ist die Kraft, die ihm die Entscheidung verbürgte?
Es fehlt ihm ebenso die freie Gestaltungskraft, die das Erbteil
Griechenlands ist, wie die von allem Leben entbundene Schau
der indischen Heiligen. Es kann sich weder in den Traum des
Morgenlandes zurückbeugen, noch in dem gestaltenreichen Chaos
des Westens verharren. Ist seine Mission beendet? Oder sind
Anzeichen da, daß sich unterirdische Kräfte im Judentum regen,
in deren Hand wiederum die Entscheidung über den Streit der
Welten gelegt ist?
Ich suche diese Anzeichen nicht in der unruhigen Geschäftig-
keit derer, die aus der Empfindung einer Not nach Heilmitteln
suchen. Erneuerung kommt, nach dem tiefen Worte Georges, aus
dem Fernsten; nicht aus dem Wesensfremden, aber aus Regionen,
die sich nur dem erschließen, dem ein neues Bild des Göttlichen
aus der Fülle des Wesens aufsteigt — in der Verwirklichung, die
dem Tage nicht näher ist als den Sternen.
So rede ich von dem Wege, auf dem uns Bergson wie von
unsichtbaren Mächten gezogen einer neuen Erfüllung entgegen-
gehen läßt — als einem dieser Anzeichen, und in der Hoff-
nung, daß sich zugleich sein Werk, dessen Sinn so durchsichtig
scheint und sich doch dem Erfassen geheimnisvoll entzieht, von
diesem Wege aus in seiner tieferen Einheit erschließen wird.
Die Struktur der Philosophie Bergsons ist von dem Aufbau
früherer metaphysischer Systeme durchaus verschieden. Seit
den Anfängen des griechischen Denkens hat die Philosophie den
Anspruch erhoben, dem Leben mit der Strenge kristallinischer
73
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Form gegenüberzustehen : dem Wandel der Dinge enthoben, sich
selbst genügend, um eine feste Mitte nach unveränderlicher Norm
geordnet. Was von Schimmern und Strahlen des Lebens ein-
trat in dies Gebilde, sollte nach dem ew^igen Gesetz gebrochen
in das Reich des Mannigfaltigen und des Flusses zurückgesandt
werden: das Gesetz aber sollte das Wesen der Welt spiegeln,
das sich einst zur Fülle der Erscheinungen verbreitet hat und
sich nun zur Einheit des philosophischen Gedankens sammelt.
Die Philosophie ist oft über diesen ihren Begriff hinaus-
gegangen, aber nur wie gegen ihren Willen. Erst mit Bergson
beginnt eine Philosophie, die ihr Gleichnis nicht im Kristall, son-
dern im Lebendigen sieht. Die ältere Metaphysik hatte nach
einem System von Begriffen gestrebt, die sich, um einen Zentral-
begriff geordnet, im Gleichgewicht halten, jeder gestützt und
stützend, freischwebend über dem dumpfen Sturz der vergäng-
lichen Dinge und Wesen. Die Philosophie Bergsons will sich
nicht aus der Sphäre des Lebendigen lösen: So kann sie auch
fordern, daß man sie nicht nur in den geometrischen Linien
eines Konturs erfasse, in dem begrifflichen Substrat, dessen sie
sich zur Mitteilung ihrer Erkenntnisse bedient, sondern aus dem
geheimen Anhauch, dessen sprachgewordener Ausdruck dieses
Werk ist: Lebendige Gestalt erschöpft sich nicht in dem Gesetz
ihres Umrisses, über alle greifbare, räumliche Spur hinaus ist
sie Verkörperung eines Ursprünglichen, dem keine endliche Form
angemessen ist — ist Dämon, Bewegt-Bewegendes und kommt
zu uns als Stimme der Urtiefe.
Es scheint, daß die Mißverständnisse, die Bergsons Werk mit
immer zäherer Kruste umgeben, alle auf die Neigung zurückgehen,
ein unfertiges aber verschleiertes System dort zu suchen, wo nichts
ist als die Stetigkeit eines Antriebs: des Antriebs, eben diesen
Hang zum geometrisch-systematischen Deduzieren zu überwinden ;
nicht die Einheit eines obersten Begriffes, sondern eines Weges.
Bergson ist diesen Weg noch nicht zu Ende gegangen, und so
bleibt es gewagt, über ein Werk zu sprechen, das vielleicht schon
in diesem Augenblick eine unerwartete Wendung genommen hat;
nehmen darf — denn es gewinnt seine Erkenntnisse nicht durch
Ableitung aus einem abgegrenzten System von Grundsätzen und
trägt in sich keine Schranken, die es bestimmen könnten, irgend-
74
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
ein Wirkliches aus seinem Kreis auszuschließen. Aber ich rede
auch nicht von dem Inhalte dieses Werkes, von den durch-
laufenen Strecken seines Weges, sondern vom Wege selbst, vom
Gehen dieses Weges — von der Einheit von Weg und Bewegung.
Ich will nichts hören als die Stimme, die in diesem Werke Mund
und Sprache gewonnen hat und so zu einer Kraft in unserem
Leben geworden ist.
Bergson gilt als der Philosoph des gegenwärtigen Übergangs,
sein Werk als der geniale Ausdruck dieser Zeit. Es heißt oft, er
spreche das Verhängnis unserer Epoche aus, aber das Überzeit-
liche sei ihm verschlossen. Wenn er die Bewegung im Be-
harrenden sehen lehrt, das Werden das kein Sein kennt, die
Auflösung alles Festen, das rastlose Gleiten, die Mischung,
wenn er den Übergang aller Dinge als ihr Wesen erkennen
läßt — so sieht man darin nur das Schicksal einer Epoche ge-
spiegelt, der alles Überkommene, Ruhende, Gesicherte sich ins
immer Flüchtigere auflöst und alles Wesenhafte fragwürdig
wird. Seine wie ihre Mission, sagt man, ist kritisch: sie haben
die stockenden Reste abgelebter Zeiten zu zersetzen, das Tote
und das Wuchernde zu entfernen und den Boden für die neue
Saat zu bereiten. So wird Bergson gelobt, wo er die Übergriffe
der mechanistischen Wissenschaft, die Tyrannei des Intellektua-
lismus abwehrt und Raum und Licht für die schöpferischen
Kräfte des Lebens schafft. Wo er aber über die Grenzen seiner
kritischen Tat hinwegschreitet, scheut man sich mit ihm zu
gehen. Die schöpferische Wirklichkeit als Bewegung, Werden,
Zeit, Dauer zu deuten — heißt das nicht in das Chaos dieser Zeit
zurücktauchen, die Krise in Permanenz erklären und die Mög-
lichkeit künftigen Aufbaues schlechthin verneinen?
So scheint Bergson alles gegen sich zu haben , was zur
Schöpfung eines neuen geistigen Reiches strebt, die visionäre
Kraft des Künstlers wie die konstruktive Leidenschaft des Pla-
tonikers, und es würde ihm, nach kurzem Auflodern allgemeiner
Begeisterung, nicht viel mehr bleiben als historischer Ruhm und
die trübe Gefolgschaft der einen, die ihre Müdigkeit in eine
Orthodoxie, und der anderen, die ihre Verworrenheit in eine
,5
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
blinde Aktion treibt, und denen beiden eine Kritik des Intellekts
gelegen kommt.
Es genügt aber, das Werk aus dieser dumpf gespannten Atmo-
sphäre einer Zeit zu heben, in der nicht Urkräfte miteinander
ringen, sondern Splitter vergangenen Lebens, Süchte und Worte
sich reiben, und ihm die Stille zurückzugeben, in der es emp-
fangen ist, um zu erkennen, Avie unbedingt es sich dieser Zeit
entgegensetzt, des Neuen, Schöpferischen, Unantastbaren in sich
so gewiß, daß es den Gegensatz zur Umwelt und zu den Mitleben-
den nicht erst betonen braucht.
Diese Zeit hat alle Werte fraglich gemacht; was von Zwecken
und Normen gebundener Epochen auf sie gekommen ist, hat sie
gelockert, und es ist ihr nichts geblieben als das dunkle Ver-
rinnen des bloßen Lebens. Sie funktioniert, aber sie handelt nicht.
Sie ist Bewegtheit um der Bewegung Avillen, als fürchte sie die
Ruhe, in der sich ihre Leere offenbaren könnte. So ist sie Prozeß
schlechthin, Wandlung ohne Ziel. Sie eilt, um nur an das Wohin
nicht denken zu müssen. Dabei würde sie gern etwas Beharrendes
anerkennen. Aber sobald sie vor eine solche Entscheidung ge-
stellt wird, sieht sie gleich, daß es ihr verwehrt ist: es ist ihr
Verhängnis, auch das Eherne anfressen zu müssen wie eine Säure.
Immer muß sie sich am Unveränderlichen , Wandellosen
messen, sie hängt an ihm mit einer völlig romantischen Sehn-
sucht: der Sehnsucht des Schwachen, die sicher ist, daß ihr der
Gegenstand ihres Begehrens niemals gehören wird, und der es
Genuß und Schicksal bedeutet, zwischen Schwärmen und Ver-
zweifeln auf- und abgeweht zu werden.
Bergson ist in diesen Höllenkreis nicht verschlagen. Er redet
von einer Sphäre aus, in der der Widerspruch, der die Zeit zer-
reißt, aufgehoben ist — nicht durch bloße Dialektik, sondern
durch ein tieferes Erlebnis, das jene Antinomie als scheinhaft
verblassen läßt. Die anscheinende Rastlosigkeit der Zeit erweist
sich hier in Wirklichkeit als trägste Ruhe, und unser tiefstes
Wesen erkennt, daß ihm nicht Ausruhen in einem Unveränder-
lich-Vollkommenen angemessen ist, sondern Tat und Steigerung.
Die Heilmittel, die die Zeit verlangt, erscheinen von da als bloßer
Ausdruck ihrer Krankheit. Sie fordert das Sein, weil sie unfähig
ist, das Werden als Schöpfung zu erleben, statt als Verfließen
76
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
und Abrinnen. Sie sieht die Wirklichkeit nicht und greift so
zu ihrer Erlösung nach einem Scheingebilde, das die wirklich-
keitsfremden Züge ihres Weltbildes ins Kosmische steigert.
Das Leben erscheint uns als sinnloses Wachsen und Welken,
pure Bewegtheit, weil wir dem Hang nicht widerstehen, uns von
den Dingen treiben zu lassen. Dann folgt ein Inhalt auf den
anderen, und jeder Augenblick geht im folgenden verloren. Wir
glauben zu schauen und zu handeln, verbinden uns, stürzen und
reißen mit: aber in alledem ist nur die unfreie Bewegung, die
wir dem fallenden Steine zuschreiben. Dieser ist während seiner
Bewegung an unendlich vielen Stellen des Raumes. Aber keine
der Stellen weiß von der vorigen. Sie existieren nur in dem ins
Unendliche wiederholten Anheben einer Gegenwart, die ohne Ver-
gangenheit und ohne Zukunft ist, denn ihr Verhältnis zum Vorher
und Nachher erschöpft sich in der äußerlichen Kausalität, die
aus der gleichen Ursache die gleiche Wirkung hervorgehen läßt,
und zwar so, daß die Ursache in der Wirkung aufgehoben ist,
ohne in ihr anzudauern.
So haben auch die Inhalte unseres inneren Lebens die Ten-
denz sich gegeneinander zu isolieren, sich zu verdinglichen, sich
aus ihrer geheimen Durchdringung und Spannung zu lösen, um
zur Ruhe, zum absoluten Auseinander, zu der völligen Entspan-
nung und Berechenbarkeit zu kommen, die der Raum repräsen-
tiert. Was sich nicht auflösen läßt in objektiv-mathematische
Beziehung von Raumpunkten — gilt als unerheblich. Die Un-
teilbarkeit unserer Erlebnisse, die im Innersten durchaus unver-
gleichlich und namenlos sind, wird zerfällt in ein Produkt all-
gemeiner Gegenstände und unserer Subjektivität, die ebenfalls
unter dem Schema eines Raumdings begriffen wird. Diese Welt
scheint so unablässige Bewegung zu sein, während sie doch aus
einer Unendlichkeit von Zuständen zusammengesetzt ist Avie ein
Mosaik.
Bergson leugnet das Recht dieser statistischen Betrachtungs-
weisen nicht schlechthin, ja er begründet ihre Legitimität — in
der Anwendung auf die peripherischen Provinzen des Lebens,
dort, wo wir mit den Bedingungen der räumlichen und sozialen
Umwelt handgemein werden. Wir passen uns der Materie an,
um uns gegen sie zu behaupten, und dazu ist uns ein grob ver-
77
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
einfachtes Bild der Welt nötig, Ordnung der Dinge nach allge-
meinen Kausalitätsgesetzen, verstandesgemäßes Handeln nach
Zwecken und Mitteln. Es gilt aber, über die Krusten des Ich, die
in der Wechselwirkung mit der Materie den Charakter der Dinge
angenommen haben, vorzudringen zu dem Leben, dessen ent-
seelter Rest diese Welt ist, in der wir uns gemeinhin bewegen.
Es ist schwer diesen Weg zu gehen, einen langen, peinlichen
Weg durch die Verschlingungen unseres Wesens mit der Außen-
welt, in der uns die schlichte Notwendigkeit, uns zu sichern gegen
den Ansturm der Elemente, festzuhalten scheint. Der Weg von
der Welt der dinglichen Notwendigkeit zum Reich der Freiheit
ist nicht mit einem Sprung zu nehmen, wie es die Früheren an-
nahmen, die ein Reich der Noumena postulierten, indem sie
hinter die Welt der Dinge ihr entfärbtes Nachbild stellten. Denn
der Übergang ist, vom Beschauenden aus geurteilt, ganz unmerk-
lich. Es gilt zu erkennen, daß in jeder Handlung, so automatisch
sie scheine, ein Funke von Spontaneität wohnt, der sich anfachen
läßt; daß nur die Beschränkung des Blicks, durch die Abhängig-
keit von den nächsten Bedürfnissen, die individuelle Tönung
übersehen läßt, die jedes menschliche Erlebnis mit der Ganzheit
einer Individualität verbindet. Auch die Erinnerungen, die in
einem Menschen bei dem Duft einer Blüte aufsteigen, sind nicht
Assoziationen, die sich als subjektive Zutaten an eine objektive
Realität heften, sondern sind eins mit diesem Duft: In dem Er-
lebnis der Blüte sind Erinnerungen und Empfindungen zu einem
unteilbaren, absolut individuellen Ganzen verschmolzen, auf das
die Analyse kein Recht hat, soweit es sich um das Erlebnis und
nicht um die Orientierung in Zusammenhängen handelt, die ihm
wesensfremd sind.
Von diesen mehr peripherischen Erlebnissen, in deren flüch-
tiger Färbung der Anteil unserer Persönlichkeit nur schwer zu
fassen ist, gilt es dann aufzusteigen zu den Akten, in denen unsere
Freiheit sich immer reiner entfaltet: zu Erlebnissen, in denen
wir uns nicht nur wiederfinden, sondern uns selbst schaffen,
Handlungen, in denen unser Wesen aus innerer Notwendigkeit,
nicht durch Anpassung an eine veränderte Lage, eine neue Form
annimmt — in einen Akt, der Tun und Getanes nicht mehr zu
scheiden gestattet.
78
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Erst in dieser Sphäre löst sich alles Stockende, Isolierte, Starre
auf in unhaltsame Bewegung. Die Elemente dieses Prozesses be-
harren nicht mehr außereinander, sondern durchdringen sich.
Wir erfahren, daß wir mehr sind als ein Bestand von aufzeig-
baren Teilen, den die Worte der Praxis umschreiben; mehr als
die Zeichen, die unserer täglichen Orientierung dienen. Wir sind
Prozeß; aber nicht Verrinnen — sondern Dauer. In unsere
Gegenwart geht unsere ganze Vergangenheit ein, nicht wie eine
materielle Ursache in ihrer Wirkung verloren geht, sondern als
lebendige Erinnerung, die an unserem Wesen baut und in ihm
fortlebt. In unseren höchsten Augenblicken wird alles wirklich,
was je in uns lebendig war und drängt gegen die Pforte der Zu-
kunft — Erinnerung nicht als Komplex abgeblaßter Wahr-
nehmungen, sondern als Substanz unseres Wesens: eben als
Dauer. Denn mit diesem Wort wird hier nicht eine kategoriale
Form des Erlebens bezeichnet, nicht eine Form des zeitlichen Ab-
flusses, sondern die Intuition der Wirklichkeit selbst, in der das
Wirkende nicht vom Wirken ablösbar ist, die unerhörte Erfah-
rung, daß Ewigkeit nicht Unveränderlichkeit zum Korrelat hat,
sondern Bewegtheit. So istDauer nicht zu deuten als Zeitlosigkeit,
sondern als Beharren in der Veränderung. Aber auch dieser Aus-
druck kann irre führen: Dauer ist das Sein als Bewegung, Be-
wegung als Reifen, Reifen als Sich Selbst Schaffen; es ist also
das Gegenteil der Zeit, die wir mit Uhren messen und die nichts
anderes ist als Verräumlichung, Veräußerlichung der Dauer, die
in ihrer reinsten Form allerdings zeitlos ist — wenn man hier
Zeit im Sinne der Naturwissenschaft und der täglichen Praxis
versteht.
Die Erfahrung der Dauer führt uns in die Mitte unseres
eigenen Wesens, dorthin wo unser Leben, ganz ohne Seitenblick
auf die Außenwelt, sich aus sich selbst entfaltet; aber es isoliert uns
nicht. In der Spannung der schöpferischen Augenblicke erfassen
wir das Wirkliche in uns; und zugleich erschließt sich, wie durch
ein Wunder, die Wirklichkeit auch des Fernsten. Auch die Reihe
der lebendigen Wesen, die zu uns aufwärts führt, ohne daß wir
uns anmaßen dürften ihr Zweck zu sein, erfassen wir jetzt aus
79
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
ihrer schöpferischen Mitte heraus. Das Leben außer uns erscheint
nicht mehr als Gegenbild unserer ziellosen Unrast, pures Strömen
der Energien, blinde Bewegtheit. Es ist mehr als der Wille
Schopenhauers. Aber es ist auch nicht die dionysische Macht,
die ihrem eigenen Hang überlassen mit Naturnotwendigkeit die
höchste Steigerung erzeugt. Auch das Leben der Pflanzen und
Tiere hat teil an dem Widerstreit der Tendenzen, die Bergson,
um uns ein erstes Verständigungsmittel zu schaffen, als Trieb zur
Spannung und Trieb zur Entspannung bezeichnet. Es hat teil an
der spontanen Aufwärtsbewegung der schöpferischen Kräfte und
zugleich am Herabgleiten der Materie. Wie es hervorgegangen
ist aus dem Drang des werdenden Geistes, die Materie zu über-
winden, indem er sich ihr anpaßt, um die so Überlistete in sein
Streben einzubeziehen, so trägt noch jedes Lebewesen das Siegel
dieses Dualismus: es ist Verkörperung des elan vital und zu-
gleich seine Begrenzung durch die Eigenwilligkeit der Materie.
Der Urantrieb des Lebens will höchste Spannung der Kräfte,
Einsatz des ganzen Wesens, Gefahr und Opfer: der Einzelne aber
will nur seine Sicherung. Er verkrustet sich eher, als daß er sich
wagte: comme des tourbillons de poussiere souleves par le vent
qni passe, les vivants tournent sur eux-memes, suspendus au
grand souffle de la vie.
Jede neue organische Form ist ein Sieg der schöpferischen
über die materielle Notwendigkeit. Statt sich aber als Keim zu
fühlen, als Bewahrer einer Bewegung, die es gesteigert weiter-
zugeben bestimmt ist, versinkt das Individuum, über sein eigenes
Bild gebeugt, in Starre. So erscheint alles Leben, von atißen
gesehen, als bloße Anpassung, Reaktion auf äußere Reize, blinde
Bewegtheit. In Wirklichkeit ist die Materialität des Körpers
nichts Positives: es ist die Summe der beseitigten Hindernisse,
die dem sich befreienden Leben im Wege standen. Das Auge
ist nur der Prozeß des Sehens, von außen betrachtet. Mit diesen
äußeren Aspekten der schöpferischen Entwicklung allein hat es
die Biologie zu tun, ihr Blick ist stets rückwärts gewandt, auf
die Produkte der Evolution, nicht auf den Akt der Entwicklung
selbst.
Der Lebensbegriff Bergsons ist also durchaus suprabiologisch.
Er gibt der organischen Entwicklung einen Sinn, der nicht mit
80
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
den Mitteln der wissenschaftlichen Analyse gefunden und schwer-
lich durch die Biologie verifiziert werden kann. Er stellt sich
auch jenseits der Antithese von Natur und Geist: das Leben Berg-
sons verharrt weder in der Sphäre der Naturgesetze noch in einem
Transzendenten, es ist überhaupt nicht, sondern wird, indem es
das Ringen der beiden Urtendenzen des Weltgeschehens in sich
verwirklicht: une realite qui se fait ä travers Celle qui se defait.
Verfolgt man diese Urtendenzen über ihren Schnittpunkt im
Lebewesen hinaus, so erscheint die eine als reinste Spannung,
intensive Existenz, Identität des Tuns und des Getanen, lebendige
Ewigkeit, in der sich die Dauer der Lebewesen verdichtet wieder-
findet wie die Schwingungen des Äthers im Licht; die andere
als Zerstreuung, Extensität der Bewegung, Auflösung des Was
ins Wieviel, des Besonderen ins Homogene. Es ist uns Lebenden
nicht gegeben, diese Wege zu Ende zu gehen oder auch nur
ihre Realisierung zu schauen. Wir mögen das Ziel der völligen
Entspannung im reinen Räume der Mathematik, in den Normen
der geometrischen Logik vorgezeichnet finden: die uns gegebene
Materialität der Dinge aber erschöpft sich nicht ganz in ihrer
Räumlichkeit, — ein gewisses Eingefaltetsein ihrer Teile ist nötig,
damit jeder überallhin wirken könne. Und auch das Schöpferische,
die Tendenz zu Tat, Freiheit, Steigerung ist uns nicht ent-
bunden von der Bürde des Niederziehenden gegeben. Das Leben,
das uns wirklich ist, verhaftet uns an beide: so ist uns auch
der Sinn jeder Tendenz mit dem Sinn der entgegenstehenden
durchdrungen: nicht durch historisch zufällige Begegnung, son-
dern durch sein Wesen. Freiheit hat uns nur Sinn in bezug auf
eine Gebundenheit, der sie gegenübersteht, tiefer noch: die sie
in sich zu überwinden hat. Wir sind nicht nur an die Dualität
von Licht und Dunkel gebunden, sondern erkennen, daß es dem
Licht wesentlich ist, Dunkel zu überwinden.
Von dieser Erkenntnis aus erhält Bergsons Begriff des Lebens
die tiefste Bedeutung. Leben ist ihm nicht die Gestaltung eines
vorgefundenen Stoffes durch einen gestaltenden Geist, die Zwei-
heit von Gestaltendem und Gestaltetem ist nicht auf zwei Sub-
jekte verteilt, aus deren Wechselwirkung das Lebendige hervor-
6 8i
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
geht, sondern das Gestaltende hat das Formlose in sich, nicht
nur als abstraktes Bild, sondern als seine Gefahr, seine Sünde.
Die Räumlichkeit steht hier nicht mehr dem Geist und Geist-
ähnlichen gegenüber als dumpfes Verhängnis, mit dem es sich,
so gut es geht, abzufinden hat; sie ist ihm nicht äußerlich, son-
dern entsteht rein aus ihm selbst, sobald seine Spannung sich
löst, sein W^ille sich befriedigt fühlt, die Bewegung stockt.
Steigen wir in der Reihe der organischen Wesen bis zu dem
Ursprung der Quellflüsse hinauf, so verdichtet sich die Einsicht
in die Vielheit der Dualismen zu der Intuition des kosmischen
Prozesses, in dem der Geist im blinden Trieb nach Verwirk-
lichung zur Materie wird und erst auf unendlich vielen Stufen
den eingeborenen Hang zu dieser leichten Entfaltung überwindet,
um zur Verwirklichung dessen zu kommen, was als dumpfer
Drang in ihm angelegt war, immer bedroht von der Tendenz zur
Entspannung.
Gott selbst, als Ursprung alles Seienden, Bewegenden in jeder
Bewegung, Quelle des Lebens, hat Anteil an der Urzweiheit. Er
ist nichts Fertiges, Dinghaftes, In-sich-selbst-Seliges, sondern
Stetigkeit des Quellens, Tat, Selbstbefreiung: auch Gott wird.
Er selbst ist nicht reiner Geist, der seine ewige Form einer
amorphen Materie aufprägt, und Schöpfung bedeutet nicht das
Heraussetzen einer vorgegebenen Realität in das bloße Nichts,
das nach Bergsons Lehre nicht einmal denkbar ist — sondern
Entfaltung, Reife, Aufhellung, Zu-sich-selbst-Kommen eines Ur-
sprünglichen, anfänglich Unerschlossenen. Dieses wird nicht als
zeitlose Vollkommenheit gedacht, sondern als unendliche Fülle
von Kräften und Richtungen, die nach Verwirklichung drängen,
so daß dieser Prozeß ihrer Verwirklichung erst ihren Sinn wie
den Sinn ihres Ursprungs entfaltet.
Auf diesen Zug des Daseins scheint Hegel gedeutet zu haben,
als er den Weltprozeß als die Selbstverwirklichung der Idee be-
zeichnete und mit einem ungeheuren Aufwand dialektischer
Kraft das begriffliche Denken fähig machen wollte, diesen Pro-
zeß nachzuerzeugen. Bergson aber lehrt, daß das begriffliche
Denken zur Erfassung des Mysteriums nicht ausreicht, in dem
die Dumpfheit eines unendlichen Dranges aus dem chao-
tischen Zustand, in dem Materie und Geist traumhaft inein-
82
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
ander verrinnen, durch die Reihe der lebendigen Wesen zu
immer hellerer Verwirklichung ihrer Fülle und ihres Sinnes auf-
steigt: immer reineres Sich-selbst-gehören, stetigere Sicherung
gegen die Gefahren von außen und helleres Bewußtsein der
Gefahr von innen — Gefahr des Absinkens, des Automatismus,
der Bedingtheit. Alle unsere Kategorien erweisen sich vor diesem
Prozeß als unzulänglich: er trägt das Siegel der Steigerung,
aber weder die Vermehrung einer Kraft noch ihre bessere Aus-
nützung geben ein adäquates Bild von dem Vorgang, in dem sich
das Leben aus der ursprünglichen Beschränkung ins Unbe-
dingte hebt.
Es wäre ganz verfehlt, diese Deutung des Daseins zu den Welt-
anschauungen zu rechnen, die das Wesen der Welt in der Seele,
dem Willen, der Aktivität des Geistes oder in der absoluten In-
differenz suchen. Denn das Absolute Bergsons ist nicht das
Seelische, losgelöst vom Materiellen, nicht der Wille im Gegen-
satz zur Vorstellung, das Formende im Gegensatz zu Geformtem,
überhaupt nicht eine begrifflich eindeutige Bestimmung irgend-
eines Seinszuges; was sich durch die Kontingenz der Erschei-
nungen hindurch entfaltet, reift, sich schafft, ist überhaupt nicht
ein Inhalt, der sich von dem Akt seiner Verwirklichung trennen
ließe. Sein Wesen offenbart sich, nicht nur für uns, allein in
seinem Werden, dem Prozeß seiner Realisierung, ebenso wie sich
im Akt des künstlerischen Schaffens oder in den gesteigerten
Augenblicken, wo wir in einer gänzlichen Spannung unseres
Wesens uns selbst in eine neue Form hinüberbilden, das Neue aus
den Bedingungen nie ableiten läßt. Erst vor dem Gewordenen hat
die Analyse das Recht, Inhalt und Prozeß zu scheiden; in der
Schöpfung selbst ist beides untrennbar. Die menschlichen
Schöpfungsakte aber sind nichts anderes als eine Phase des
kosmischen Schöpfungsprozesses. So erfassen wir denn auch
dieses Geschehen nur in dem Maße, wie wir uns selber schaffen.
Um die gewordenen Dinge zu erkennen, genügen unsere in-
tellektuellen Fähigkeiten, die durch die Praxis und durch die
Wissenschaft ausgebildet sind. Wollen wir aber über die er-
starrten Reste des Weltprozesses zu der Wirklichkeit des Pro-
zesses selbst vordringen, zum Werden des Unbedingten, so genügt
das Denken nicht, das auf unorganische Objekte eingestellt ist
83
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
und alle anderen Gegenstände in deren Formen zu pressen strebt,
sondern es gilt uns mit unserem gesamten Wesen einzusetzen.
Das begriffliche Denken zersplittert in Widersprüchen, wo es
mit dieser undurchdringlichsten aller Wirklichkeiten in Berüh-
rung kommt. Ihr Sinn erschließt sich nur im Tun des Menschen,
der nicht mit der Nachzeichnung einer fremden Vollkommen-
heit beschäftigt ist, sondern sein Leben von innen heraus ge-
staltet. In diesem Tun wird erfahren, daß nicht von einem
Sinn des Lebens geredet Averden kann, der dem Leben wie
ein Plan zugrunde läge, denn das Leben ist Entfaltung einer
Unendlichkeit von Richtungen, deren tragische Antagonismen
unaufhebbar sind — sondern daß alle Einheit in dem Antrieb
des Tuns liegt: in der Entscheidung für die lebendige Dauer
und gegen den eingeborenen Hang zum Lösen der Spannung:
für die Verwirklichung Gottes. Dies also ist Intuition; nicht An-
schauung eines Raumlosen, sondern der Akt, in dem ein Wesen
seinen tiefsten Antrieb, jenseits aller Zwecke und Gegenstände,
erlebt.
* * * * #
Es ist schwer, zu dieser Intuition vorzudringen, und noch
schwerer, in ihr zu verharren. Die Denkgewohnheiten, die der
Mensch im Kampf mit der Materie ausgebildet hat, sind so stark,
daß sie auch die reine Schau des Wesens in ihre armen Rahmen zu
strecken versuchen. Sie werden argumentieren, daß doch in allem
Werden ein Werdendes, in aller Bewegung ein Subjekt, von
dem die Bewegung ausgesagt wird, existieren müsse; daß also
das Werden Gottes doch das Sein eines Ewigen, in aller Ver-
änderung Beharrenden, voraussetze. Aber gerade das Recht dieser
Trennung steht in Frage, die für die elementaren Bedürfnisse
der täglichen Praxis wohl genügt, aber dort ohnmächtig ist, wo
die Dinge ohne Absichten und ohne wesensfremde Gesichtspunkte
rein aus ihrem Innern heraus erkannt werden sollen. Je höher
wir aufsteigen im Reich des Lebendigen, desto unmöglicher wird
es, eine abstrakte Bewegung von einem abstrakten Bewegten zu
isolieren. Es mag im sozialen Leben dienlich sein, zwischen dem
Charakter eines Menschen und seinen Taten zu scheiden: von
innen gesehen sind beide untrennbar vereint in der Unteilbarkeit
eines Prozesses, in dem sie sich wechselwirkend erzeugen.
84
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Wird überhaupt das Werden verständlicher, wenn man ihm
ein Seiendes unterlegt? In Wirklichkeit lenkt man dadurch den
Blick von der konkreten Realität ab und bietet ihr an deren Statt
ein konventionelles Schema, das der Verstand geschaffen hat,
um das Leben von den Seiten der Welt abzuleiten, die für die
sichere Befriedigung der nächsten Bedürfnisse ohne Belang sind
— das aber einen unlösbaren Widerspruch in sich offenbart,
wenn es in den Dienst der reinen Schau gestellt wird. Es bleibt
unbegreiflich, wie vom reinen Sein ein Werden ausgesagt werden
kann. Und auch wenn man das Werden selbst, den Prozeß der
Entfaltung als — Sein bezeichnen wollte, da doch auch diese als
gegebene Einheit aufgefaßt werden könne, so hat man damit die
Intuition des Werdens zugunsten einer intellektualistischen Ver-
dünnung aufgegeben. Das Werden selbst ist nie gegeben, über-
schaubar; nur das Wort täuscht seine Dinglichkeit vor.
Man mag glauben, so den Begriff des Ewigen gerettet zu halben.
Aber die Rettung wäre schwerlich nötig, wenn man gewahr ge-
worden wäre, was dem griechischen Begriff der Ewigkeit und
Bergsons Intuition der Dauer gemeinsam ist — und wodurch sie
für immer getrennt sind. Beide sind sie Gegensätze zum bloßen
Abfließen der mathematischen, abstrakten Zeit. Während aber
der Grieche Ewigkeit als Zeitlosigkeit zu erfassen glaubt, er-
kennt Bergson, daß hier nur ein Augenblick dieser abstrakten
Zeit zur Unendlichkeit gedehnt wird. Lebendige Ewigkeit ist ihm
nur möglich in der konkreten Zeit, die nicht ein Abfließen ist,
sondern ein Aufbauen, schöpferisches Tun, das die ganze Ver-
gangenheit erneuert in zukünftige Gestaltung überführt.
Für den Griechen war die reine Form der Ewigkeit das Sich-
Gleich-Bleiben eines Vollkommenen jenseits aller Veränderung;
für Bergson ist sie mehr ein Gegenstand unserer Aktivität als
unseres Anschauens, denn sie ist immer von neuem zu schaffen,
gegen den bloßen Abfluß der Dinge. Sie hat, ebenso wie die
Freiheit, viele Grade, von der Dauer eines Baumes, über die Ge-
stalt menschlicher Persönlichkeit, zu höheren Formen, die wir
verehrend ahnen. Daß dieser Prozeß, in dem Ewigkeit immer
reiner sich realisiert, nicht mit den Kategorien des Verstandes
begriffen werden kann, beweist schwerlich die Gültigkeit des an-
tiken Ewigkeitsbegriffes. Dagegen macht es das Erlebnis der
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VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Dauer verständlich, warum die Griechen bei diesem Begriff der
toten Ewigkeit stehen geblieben sind.
Der griechische Geist war nach außen gerichtet, Geist im
Kampf mit der Natur und den Menschen, Geist des Künstlers, der
im Steine bildet. Es macht die Größe griechischen Lebens aus,
daß eine unerhörte innere Bewegtheit, Unrast, Leidenschaft sich
zu bändigen vermochte, indem sie das Gesetz der Gestaltung auf
sich nahm. Im Agon, in der Tragödie, in der Philosophie: über-
all erlöst sich eine quälende Überfülle von Kräften in einem
Gebilde, das der Bewegtheit gegenübersteht wie eine Norm. So
rettet sich der griechische Geist aus der Zerrissenheit und Un-
ruhe in eine gegenständlich-objektive Welt des Maßes; wendet
die Kräfte, die ihn zu zerspringen drohen, nach außen auf ein
Allgemeines, Gültiges, der Unruhe und dem Wechsel Enthobenes,
und es entsteht jene beispiellose Vergeistigung des Stoffes und
Verleiblichung des Geistes, die das Griechentum jahrhunderte-
lang als Urbild alles menschlichen Tuns erscheinen ließ.
In diesem Drang des griechischen Lebens nach Bindung, Form,
Gestaltung ruht der Blick so verlangend auf dem vorschwebenden
Ziel, daß der Prozeß seiner Verwirklichung ganz in den Schatten
fällt; er ist nichts als das notwendige Übel, da nun einmal Materie
besteht und das reine Für-Sich-Sein des Geistes zwingt, sich in
ihr, wenn auch unrein, zu offenbaren. Das Höchste wäre in der
Schau des Wandellos-Einen verharren zu können.
Die Wurzeln dieser Metaphysik sind schon im griechischen
Volksglauben sichtbar. Auch hier das Bewußtsein versöhnungs-
losen Abstands von Göttlichem und Menschlichem, des zu Hast
und Bewegung verurteilten Sterblichen und des Unsterblichen,
das selig in sich selbst ist. Menschen und Götter entstammen der
gleichen Mutter, und die Mythologie läßt die Grenze zwischen
beiden oft fließend erscheinen. Um so furchtbarer ist die Er-
fahrung der tragischen Grenze, wie sie dem Ajax des Sophokles
offenbar wird.
Dieses Weltgefühl macht es dem Griechen unmöglich, in der
Bewegung einen Wert zu sehen. Bewegung bedeutet ihm gleich
Unbestimmtheit, Unrast, Unseligkeit; sie kann also nicht im
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VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Göttlichen angelegt sein, sondern entsteht, indem sich die Materie,
das Nicht-Sein, der Raum zwischen die ewigen Urbilder schleicht
und sie in Unruhe versetzt. So ist Bewegung nur Abfall von der
göttlichen Seinsfülle, nicht ihre Steigerung. Was könnte dem
Griechen ein Göttliches bedeuten, das nicht zeitlos über Leben
und Werden kreiste!
So leidenschaftlich aber sich das Griechentum gegen die Ma-
terie als die Trüberin der Ideen aufgelehnt hat, so sehr ist doch
sein ganzes Denken von der Wechselwirkung mit ihr abhängig.
In Griechenland wird der Geist frei von der Fesselung an die
unmittelbaren Zwecke des Lebens, er wird nicht mehr darin
verbraucht, der Praxis zu dienen, Werkzeuge und Meßmittel
zu ersinnen, wie sie die Technik des kleinen Lebens braucht.
Das Denken löst sich von den Objekten, zu deren Ordnung
es ursprünglich berufen war, und damit wird die Form des
Denkens unabhängig von seinem Inhalt. Es erfaßt sein eigenes
Prinzip, und indem es seine eigenen Akte zu Gegenständen des
Denkens macht, geht es von der Ordnung der Dinge zur Er-
fassung der Kategorien über. Aber die von seinen Ursprüngen
bedingte Wendung auf die Welt der Dinge ist so stark, daß
es auch seine neuen Gegenstände nur unter dem Bilde der Ding-
lichkeit zu sehen vermag. Die Tugend des Künstlers wird dem
Denker zur Verführung.
Die Erfahrung des Menschen, der sich aus der Unruhe der
vielfältigen Triebe rettet, indem er seinem Leben das Bild eines
Schönen vorsetzt, in dessen Verwirklichung er seine auseinander-
strebenden Kräfte bindet, gilt hier als Schlüssel des Welt-
prozesses. Wie im menschlichen Handeln ein Ziel der verstän-
digen Tätigkeit vorausgeht, so muß auch den Kosmos eine sinn-
volle Gliederung von Zwecken beherrschen, und alles fromme
Tun muß darauf gerichtet sein, durch die Trübung der Materie
hindurch die immer reineren Formen der Ideen gewahr zu
werden. Wenn diese Ideen so über dem Weltprozeß schweben,
wie das Bild des Guten dem Wollen der Menschen stetig vor-
schwebt, müssen sie aller Veränderung enthoben sein, ewig wie
eine geometrische Figur, die im Räume festgelegt ist, und wie
sie — ein Gegenstand des Schauens. Griechentum aber ist der
Glaube, daß allein aus dem Schauen alles Heil fließe. Bis dann
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VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Plotin ein Innewerden des Göttlichen erlebt, das bildlos ist, und
ganz verwundert fragt: Wie ist es möglich, daß man mit der
Schönheit vereint sein kann, ohne sie zu schauen?
Die Antinomien, an denen der griechische Geist seine Grenze
erfährt, sobald er die Realität des Göttlichen in seine Kategorien
fassen will, gelten nicht nur für das religiöse Denken der
Griechen. Wo immer das Göttliche als ein Vollkommenes, Ruhen-
des, Sich-Selbst-Genügendes begriffen werden soll, erhebt sich
die Frage, Avarum dies Selige mit seiner unendlichen Macht nicht
den Abfall in die schlechte Wirklichkeit der Zeit hat verhindern
können. Warum ist die Verwirklichung Gottes an das trübe
Medium des Raumes gebunden? Und warum darf ich nicht in
der Einswerdung mit dem Göttlichen verharren, da doch jedes
Aufwachen aus mystischem Rausch zur Wirklichkeit des End-
lichen die Rückkehr in die Verbannung bedeutet?
Das Denken Bergsons ist in diese Antinomien nicht ver-
strickt. Denn es erfährt das Göttliche nicht als ein Dingliches,
Unveränderliches, das man mit einem mystischen Blicke um-
fassen oder in das man jäh versinken könnte, — sondern Gott
wird, er ist in jedem Wesen, in jedem Prozeß als der Urantrieb
zur Aktivität, der das Wesen über sich hinaus in die Dauer führt:
und fordert im Wollen ergriffen zu werden, in der Sammlung des
eigenen Wesens bis zu der Tief e und Spannung, in der der Einzelne
seine Egozentrizität aufgibt und sich öffnet für den großen Hauch
aus der Urtiefe. Das Schauen erscheint hier nicht als das Letzte,
sondern als Moment im Prozeß des Werdens: es ist das Wollen,
das sich auf die Welt und auf sich selbst richtet, um heller und
stärker zu werden, von dem einfachen Akt des Sehens, der den
praktischen Aktionsradius der Lebewesen erweitert, aufsteigend,
bis zu der metaphysischen Intuition, die es gestattet, das All in die
Spannung unseres Willens aufzunehmen.
Man mag in einigen Gestalten historischer Religionen diese
Wendung des Gottesbegriffs vorweggenommen finden, um so
reiner, je mehr man sich dem Zentrum des religiösen Lebens
in den großen Heiligen und den Mystikern zuwendet. Das Gött-
liche ganz als Tat zu begreifen, hat aber nur die chassidische
88
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Lehre gewagt, die hier eine geheimnisvoll starke Verwandtschaft
mit der Metaphysik Bergsons offenbart.
Die mystische Unterströmung der jüdischen Religiosität, die
im Chassidismus *) nach Gestaltung ringt, hat den vollkommenen,
ewigkeitsgültigen Ausdruck nicht gefunden, der es uns gestattete,
ihr Wesen aus den Überlieferungen ihrer Lehre so abzulesen,
wie die ihr verwandten indischen und chinesischen Bewegungen
aus dem Niederschlag ihrer Lehren erkannt werden können. Sie
scheint in den mittelalterlichen Jahrhunderten immer umstellt
von den begrifflichen Resten fremder, spätgriechischer Religiosi-
tät, und es macht ihre eigentümliche Spannung aus, daß sie sich
nicht allein dieser Denkformen zum Ausdruck ihres religiösen Er-
lebnisses bedient, sondern sich auch lange nicht bewußt wird, daß
ihr tiefstes Streben der Richtung des griechischen Gottesgefühls
ganz entgegengesetzt war. Erlösung bedeutet anfangs auch ihr:
Gott schauen, die enge Wirklichkeit der individuellen Existenz
aufgeben und ins Meer göttlicher Vollkommenheit auftauchen.
Durch die Urtrübung hat sich die Welt des Irdischen von Gott
gesondert. Einheit mit ihm bedeutet Entäußerung von Zeit und
Raum.
Dieses weitabgewandte Schauen wird, seit dem sechzehnten
Jahrhundert, durch einen neuen Willen verdrängt. Aus der Ver-
zweiflung furchtbarer Enttäuschungen entsteht eine Bewegung, die
Gott nicht mehr durch Schauen, sondern durch Wahl erlösen will.
Die kosmischen Rätsel verblassen jetzt vor dem Gefühl, daß der
Mensch in Gefahr ist, und mit ihm Gott, und daß es des Ein-
satzes aller Seelen bedarf, um Gott zu retten. Alles ist hier in
den Willen der Menschen hineingenommen: Angst, Verlockung
und Heiligung, Hemmung und Erlösung; es ist an ihm, sich
zu entscheiden gegen das Einzelne, Dumpfe, Schwere, den Trieb
der sich selbst Zweck sein will, und für das Aufsteigen ins Licht,
für die schrankenlose Steigerung: „Gott finden heißt den Weg
finden, der ohne Grenze ist."
Der Mensch ordnet sich hier nicht einem Kosmos objektiver
*) Alles, was hier über die chassidische Lehre gesagt wird, beruht, wie kaum
bemerkt zu werden braucht, auf den Büchern Martin Bubers — ohne daß
diesem die Verantwortung aufgebürdet werden dürfte für die Deutung, die hier
gewagt ist.
89 .
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Zwecke ein, unter deren Norm sich zu beugen, Sinn und Heiligung
seines Lebens bedeutet: die Welt ist nur um der Wahl und des
Wählenden willen geschaffen. Überall ringt Gott mit der Ur-
trübung und braucht einen Willen, der ihn verwirkliche. Denn
Gott ist hier nicht die von Ewigkeit zu Ewigkeit wandellos be-
stehende Vollkommenheit, der das Irdische sich mühsam ent-
gegenhebt, ohne Hoffnung, sie je dauernd zu erreichen, sondern
im Innersten dieses Gottes ist es angelegt, ein Werdender zu sein.
Gott ist zerrissen in Gotteswesen und Gottesglorie, und aller
Sinn des Lebens bedeutet, die Gottesglorie, die in den Geschöpfen
zu Funken und Flammen vereinzelt ist, zu sammeln und zurück-
zubringen. Ist dies vollbracht, trägt das Gotteswesen wieder die
Krone der Gottesglorie, so kommt der Messias, nicht um die
Menschen zu erlösen, sondern um die durch ihre Tat Befreiten
loszusprechen. Das Kommen des Messias aber wird nicht in eine
unerreichbare Zukunft gesetzt als einzelnes Ereignis, sondern in
ewige Gegenwart als dauernde Erneuerung. Der Kampf zwischen
Herabziehendem und Aufsteigendem ist nie zu Ende, und kein
Einzelner kann hoffen, mit der ihm gegebenen Kraft die ganze
Masse der Dunkelheit zu zerteilen: aber in dem Maße, wie er
es vermag, ist der Messias in ihm. Der Messias ist das Koramen
des Gottesreiches, Werden Gottes.
Hier und da scheint die Vorstellung einer anfänglichen Voll-
kommenheit Gottes durch, aber sie wird immer mehr überstrahlt
von dem neuen Erlebnis des Heiligen. ,Die Schöpfung des Him-
mels und der Erde ist die Entfaltung des Etwas aus dem Nichts,
das Hinabsteigen des Oberen in das Untere. Aber die Heiligen,
die sich vom Sein ablösen und Gott immerdar anhängen, die
sehen und erfassen ihn in Wahrheit, als wäre das Nichts wie
vor der Schöpfung. Sie wandeln das Etwas ins Nichts zurück.
Und dies ist das Wunderbarere: das Untere emporzubringen.
Wie es geschrieben steht in der Gemara: „Größer ist das letzte
Wunder als das erste' ".
So dürfen auch die Seelen nicht in ihrer ungetrübten Rein-
heit verbleiben, sie müssen alle in die Materie eingehen. Die
Seelen, die sich noch nicht offenbart haben, leiden darunter,
daß sie weder steigen noch fallen können. Nur indem sie in
die Materie eingehen, können sie das Schicksal der Gottes-
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VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
glorie teilen, die durch die Unendlichkeit des Raumes irrt, und
an ihrer Erlösung wirken.
Dieser Dienst ist nicht an Dogma und Ritus gebunden, er
muß die ganze Fülle des Daseins durchdringen, und ohne bösen
Trieb ist kein vollkommener Dienst: auch er muß zu einem
Wagen zu Gott umgeschaffen werden. Heiligkeit bedeutet nicht
Entäußerung des Selbsts, sondern Steigerung — nicht durch
Entfesselung einzelner Fähigkeiten, sondern durch Einheit: in-
dem alles Tun gerichtet wird auf die Erlösung Gottes und der
Mensch so weit wird, daß er alles Geschehen der Welt als sein
eigenes fühlt, alle Geschöpfe als Mitlebende, Schemel und
Krönung und Herz seines Lebens. Nicht der Inhalt einer Tat
entscheidet, sondern ihre Weihung. Sie mag Gebet oder Tanz,
Helfen oder Einsamkeit sein; nur daß sie mit ganzer Seele, im
Entbrennen des ganzen Wesens getan wird, nicht in sich selbst
Genüge findet, sondern über sich hinausweist in ein höheres
Schicksal. Daher auch die Furcht vor dem wandlungslosen Be-
harren. Der Fromme muß unstet sein, immer dem namenlosen
Antrieb offen, er darf nicht in irgendeine Gewohnheit versinken,
bei irgendeiner Form des Ewigen verharren. Gott tut nicht
zweimal das gleiche Ding; so muß auch der Heilige alles Wieder-
kehrende mit dem Brennen seiner ungeteilten Seele durchdringen
und es so erneuern. Denn Gott selbst ist Erneuerung, Rettung
des Dunklen, Bedrohten, Verfließenden in das immer lichtere
Dauern des aufsteigenden Geistes.
Es ist das Verheißende an Bergsons Philosophie, daß sie dem
gleichen Urerlebnis zu entspringen scheint, — daß ihre in
kühlerer Luft geformte Oberfläche unverkennbar das Zeichen
tief erer Gluten trägt, die aus dem chassidischen Brande stammen.
Man wird diesem Werke schwerlich gerecht werden, wenn man
in ihm nicht den Weg sieht, das verschüttete Gottesbild wieder-
zufinden. Die Kritik des mechanistischen Weltbildes und der
griechischen Philosophie hätte wenig Gewicht, wenn sie aus
einer Vorliebe für vielfältige Bewegung oder aus Freude an dem
irrationellen Wandel des Wachsens und Verblühens entstanden
wäre.
91
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Bergson selbst hat rückschauend die Logik, die seine drei
großen Bücher verbindet, in einem Brief an den P. de Ton-
quedec so gedeutet: das erste sollte die Tatsache der Freiheit,
das zweite die Realität des Geistes, das dritte die Schöpfung
als Tatsache darstellen — aus alledem ergebe sich klar die
Existenz eines schöpferischen und freien Gottes, der zugleich
Materie und Leben erzeugt, und dessen Schöpfungskraft sich,
auf Seiten des Lebens, fortsetzt durch die Entwicklung der Arten
und durch die Bildung der menschlichen Persönlichkeiten.
Diese Feststellung richtet sich gegen die flache Ausdeutung
seiner Lehre, die in ihr einen Beleg für die Wahrheit des Mo-
nismus sieht. Bergsons Lehre ist nicht pantheistisch; sie setzt
nicht alles Vorhandene gleich dem Göttlichen, sondern unter-
scheidet in allen Wesen, was in ihnen Bewegung nach oben und
was Absinken ist. Aber es muß hinzugefügt werden, daß sie
ebensowenig Theismus im üblichen Verstände ist. Der theistische
Gottesbegriff setzt die absolute Trennung von Göttlichem und
Menschlichem voraus. Gott ist transzendentes Sein, Ursache und
Norm des diesseitigen, und der Mensch hat sich durch eigene
Kraft oder durch Einwirkung der transzendenten Realität über
die Sphäre des Endlichen zu erheben — bis zur Einung mit dem
Unendlichen, die alle Rückkehr in die Welt als Verbannung
empfinden läßt und doch das Eigenrecht der Welt nicht leugnen
kann.
Es scheint, daß diese Autonomie des religiösen Denkens für
Bergson nicht besteht. Indem er das Göttliche nicht als sich selbst
genügsames Sein, sondern als Bewegendes in jeder Bewegung, in
jeder Erlösung als zur Erlösung Drängendes, als Werden des
Gottesreiches erfassen lehrt, in der Geschichte des Pflanzenreichs
wie in dem Leben der Persönlichkeit, und indem er die begriff-
lichen Krusten entfernt, die uns hinderten, das religiöse Gefühl
rein aufzufassen, verliert der Gegensatz von Immanenz und
Transzendenz seine Schärfe. Bergson dekretiert nicht eine dia-
lektische Synthese der gegensätzlichen Begriffe; er hat sich über-
haupt noch nicht über diese Bereiche ausgesprochen. Aber schon
heute ist es deutlich, daß seine Intuition uns erlaubt, ihnen einen
neuen Sinn zu geben. Denn von Bergsons Werk aus können wir
erkennen, daß die Unversöhnlichkeit des theologischen Imma-
92
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
nenz- und des Transzendenzbegriffes auf ihrer Abhängigkeit von
der Metaphysik des gemeinen Verstandes beruht.
Gilt die ganze empirische Welt als eine Summe von Dinglich-
keiten, die durch abstrakte Notwendigkeit nach allgemeinen Ge-
setzen zusammengehalten werden, verschmilzt der Begriff des
Diesseits mit dem Bereich des Nur-Sinnlichen, restlos dem Hören
und Sehen und Tasten Zugänglichen, erkennt man nur das als
verständlich an, was sich in die Kategorie des Werkverstandes
pressen läßt, so muß allerdings das Göttliche zum Unverständ-
lichen und sein Eingreifen zum Wunder werden, und jeder Ver-
such, sich zu ihm in Beziehung zu setzen, muß in immer furcht-
barerer Entfremdung enden. Das Gotteserlebnis selbst wird, um
ein Mittel der Verständigung zu schaffen, verdinglicht. Gott
wird zu einem substantiellen, vollkommenen Sein, sein Wirken
zu einem Eingriff, sein Verhältnis zum Menschen ausdrückbar in
Nähe und Ferne, Gewähren und Fordern. Auf seinen letzten
Höhen überwindet das Religiöse die Verdinglichung — um auf
den Stufen, da die Spannung des Gotteserlebnisses nachläßt, um
so stärkere Unruhe über den Gläubigen zu bringen, der seines
Gottes gewiß ist und doch jeden Weg zu seiner Erfassung als Ab-
weg erfährt. Der ethische und metaphysische Dualismus zweier
Bewegungen, zweier Strömungen, zweier Schicksale, wird ver-
räumlicht zum Bilde des Dualismus zweier Welten, einer sicht-
baren und einer unsichtbaren, einer unräumlichen und einer über-
räumlichen, und doch nach räumlichem Schema aufgefaßten,
einer natürlichen Kausalität und einer übernatürlichen, die nur
eine Umformung der ersten ist. Diese Tendenz mag aller reli-
giösen Erfahrung eingeboren sein, das Erbe des menschlichen
Geistes, der immer geneigt ist, sich seinem Hang zur Räumlich-
keit und Dinglichkeit zu überlassen. Aber es scheint, daß die
Nachwirkungen des griechischen Weltbildes und die ungeistigere
Natur der Völker, die die Reiche der nachantiken Epoche ge-
schaffen haben, diese Tendenz stärker haben anwachsen lassen
als es in den Ursprüngen auch der christlichen Lehre angelegt
war. Erst die Geschichte des europäischen Christentums ent-
wickelt den Gegensatz von Transzendenz und Immanenz zu der
unversöhnbaren Feindschaft, gegen die die Mystiker vergeblich
ihr reineres Gotteserlebnis gesetzt haben.
93
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Wenn also von einigen Kritikern die Meinung geäußert wird,
Bergsons Lehre beruhe auf dem christlichen Gegensatz eines
immateriellen Geistes und eines sinnlich-räumlichen Seins, in
das jener durch seine Sünde gefallen sei, so darf ohne Paradoxie
erwidert werden, daß dieser Dualismus zwar in der griechischen
Welt unvermeidlich und aus ihr in das historische Christentum
übergegangen sei, daß aber Bergson gerade diese abstrakte
Trennung von Geist und Körper unmöglich gemacht hat. Das
Griechentum allerdings trennt in seinem höchsten philosophischen
Ausdruck, mit einer Entschiedenheit, die das Schrifttum der
antiken Juden schwerlich gekannt hatte, die Seele als ein unräum-
liches, unsterbliches Wesen von dem dunklen Körper, in den
sie zur Läuterung eingeschlossen ist; dessen sich zu entledigen
ihr Erlösung bedeutet. Bergson aber ist von diesem Spiri-
tualismus ebenso entfernt wie von seinem materialistischen
Gegenbild. Seele ist ihm nicht ein dem Körper Wesensfremdes,
ihre Einheit und Getrenntheit nichts Unbegreifliches. Sein un-
sagbar mühevoller Versuch, die Durchdringung der Wirklich-
keiten im einfachsten der Fälle erfassen zu können, im Studium
der Störungen des Sprachgedächtnisses, ist nur durch diese In-
tuition möglich geworden und ebenso seine Deutung der bio-
logischen Entwicklung: überall sind hier die Sphären der Frei-
heit und der Notwendigkeit in einem neuen Welterlebnis, das nur
indirekt mitzuteilen ist, da es eine Umwendung des ganzen
Menschen verlangt, aus ihrem lebendigen Zusammenhang und
Ursprung begriffen. Das bedeutet weder die Verwirrung des me-
chanistischen Weltbildes durch willkürliche Interpretation, noch
die Fälschung des Geistigen durch Reduktion auf sein räum-
liches Substrat: gerade weil die beiden Welttendenzen klar ge-
schieden sind, ist es möglich, ihre Einheit zu erkennen. Den
Griechen aber wirft Bergson vor, daß sie bei einer unklaren
Vermischung des Seelischen und des Körperlichen stehen ge-
blieben sind.
Seele und Leib erscheinen ihm nun unter dem Bild des Flusses,
der durch seine Ufer bestimmt wird, ohne doch durch sie er-
klärbar oder gar mit ihnen identisch zu sein. Unsterblichkeit
verliert ihren Widersinn, wenn nicht das Individuum, dieses
Kompromiß des Geistes und der Materie, sondern der Hauch,
94
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
der es trägt, als Ewig- Wirkendes anerkannt wird — der Strom,
der sich in die tausend Rinnsale ergießt. Das Unbedingte reißt
sich nicht los von der Welt der Bedingtheit, sondern wird in
ihr; es lebt in jedem Impuls, mit dem sich ein Lebewesen dem
Hang zum Automatismus widersetzt, wie in jeder Selbstbefreiung
des Heiligen. Das höchste Erlebnis: die Welt in ewiger Er-
neuerung begriffen zu fühlen, geht nur dem auf, der sich selbst
erneuert und sich so durch die Normen und Riten hindurch dem
einen Ursprung nähert, in dem alles Wesen und Sein ist.
Damit hat Bergson den Weg frei gemacht zu den Erkennt-
nissen des antiken Orients. Indem er die griechischen Bindungen
des Verstandes zerbricht, an denen das Griechentum selbst ge-
rüttelt hatte und die es doch nicht überwinden konnte, da es
immer in einem Zustand ewig bedrohter Selbstbehauptung auf
ein unmittelbar den Sinnen Gegebenes, Schaubares, Gegenständ-
liches gerichtet war — findet er einen Zugang zu der Sphäre,
in der das Leben rein aus seiner eigenen Mitte und Innerlichkeit
heraus spricht wie einst durch die Lehren des mütterlichen Asien.
Es liegt nahe, die Dauer Bergsons mit dem Tao Laotses zu
vergleichen. Wie Bergson der mechanisierten Welt mit ihrem
toten Ewigkeitsideal und ihrem Chaos der Normen und Zwecke
die Intuition der lebendigen Dauer entgegensetzt, die als Be-
wegung und als Schicksal in jedem Wesen lebt, hatte Laotse
seine erstarrende, regelsüchtige, matte und verwirrte Zeit die
Rückkehr zum Quell aller Dinge gelehrt, die Wendung von
allem Eigenwilligen, Abgesonderten, Egozentrischen zu dem
Einen, Unscheinbaren, Ursprünglichen, das vor aller Gestaltung
ist: nicht als blosse Ursache der Wesen und ihrer Wandlung,
sondern als die währende Wandlung selbst, ewiger Anhauch,
ohne den die Wesen ihre Lebendigkeit und ihre Dauer verlieren
würden — als das an sich Untätige: denn seine Bewegung kann
mit keinem Zweck umschrieben werden. Es steht jenseits des
Dualismus, von Subjekt und Objekt, von Zweck und Mittel; es
ist die Wechselbedingtheit der Gegensätze selbst, deren Glieder zu
Unrecht zu absoluten werden wollen: es ist schließlich, wie es
ein moderner Japaner gesagt hat, die Relativität des Absoluten.
Und zugleich ist es der Weg des Menschen, der sich reinigt von
der Verstrickung in die tausend Ziele und heimkehrt zu der un-
95
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
geschiedenen Einheit alles Lebens — der sich ganz der inneren
Quelle öffnet. Erfüllt ihn der erneuernde Anhauch, so kann
er der Normen, die sich ihm von außen fordernd entgegen-
stellen, entbehren: er trägt das Gesetz in sich; wie das Leben
selbst lebt er aus sich selbst, wird nicht durch irgendeine Tat,
einen Zustand, ein Werk gefesselt, sondern schreitet fort zu
lebendiger Dauer, Dauer im Wandel.
Der europäische, von den Griechen gezeugte Geist, ist immer
bereit gewesen, in dem Orient eine gestaltlose, dämmernde, auf-
lösende Welt zu sehen, die Verlockung zu tatenlosem Genuß,
vegetativem Traum — der er seinen strengen Willen zu Gesetz
und Maß entgegenstellt. Er vergißt leicht, daß der Orient mehr
ist als Folie, und daß sich auf dem Boden des Orients selbst Be-
wegungen erhoben haben, die die Menschen über die Fragwürdig-
keiten nicht nur des asiatischen Lebens erhoben haben und die
Grenzen der griechischen Welt weit überschreiten: nicht aus
Maßlosigkeit, sondern mit dem Recht eines Gotteserlebnisses.
Der griechische Begriff des Menschlichen an sich ist hier noch
nicht entwickelt; keine absolute Sonderung trennt hier Subjekt
und Objekt, Formendes und Geformtes. Mensch und Tier und
Gott haben die festen Grenzen gegeneinander noch nicht ge-
funden: alles Einzelne bewahrt noch einen Flaum der mütter-
lichen Einheit, aus der es nie ganz entlassen ist.
Von dieser Welt hat sich das Griechentum losgerissen, indem
es den Einzelnen auf die Souveränität seines Denkens stellte, ihn
aus dem schlichten Mitleben löste und ihm die neuen Normen
anwies, die nun seinem Leben Stütze geben sollten. Die grie-
chische Kultur hat niemals vergessen können, daß ihr erster Im-
puls von dem ionischen Küstenrande hergekommen ist — von Los-
gelösten, von Altären und Gräbern Verjagten. Die Freiheit des
Epos und der Wissenschaft sind um den Preis der Staatenlosig-
keit und der Erschütterung des ersten Glaubens erkauft. Das
stets bedrohte Leben, dem Stürzen und Steigen der binnenländi-
schen Reiche ausgeliefert, spannt die Energien, macht die In-
dividuen frei , setzt an Stelle des Hingenommenen , Über-
lieferten die Entscheidung des vernünftigen Willens, und dieser
Anstoß wirkt noch bis in die Metaphysik des Aristoteles fort,
in der das Denken des Denkens als letzter ruhender Pol aller
96
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Bewegung erfaßt wird. So isoliert sich das Denken von dem
Leben: sie hatten sich in der klassischen Zeit durch ein glück-
liches Zusammentreffen der Reihen im Gleichgewicht gehalten,
und die Schönheit ihrer Einung hatte darüber hinweggetäuscht,
daß diese Einung nur bedingt war. Ist aber die naturgegebene
Bindung des griechischen Geistes — a child's sleep just disturbed,
nennt es Walter Pater — einmal zerbrochen, so muß in dem
Geist das Verlangen nach einer tieferen Einheit entstehen, wie
sie in dem höchsten Leben des Orients vorgeahnt war.
Dieses entbehrt der schöpferischen Souveränität des Griechen-
tums. Es schafft nicht Formen kraft der Eigenwilligkeit eines
Subjekts, sondern mündet in Hingabe, Rückkehr, Bereitschaft:
auch die ganz gelöste Phantasie einer japanischen Land-
schaft ist passiver als die realistische Treue einer römischen
Porträtbüste. Wir rühren hier an den Zug, auf den Hegel ge-
deutet hat, wenn er von der Substanzialität des orientalischen
Geistes redete. Auch wo dieser Geist sich über die schwere
Welt der Regeln und Zwecke und Dinge hinwegsetzt, schwingt
in seinen dunklen Worten eine Sphäre mit, die im Griechentum
nie hörbar ist: die Sphäre des Ursprungs, des Lebens vor aller
Besonderung in Formen und Zwecke, die innere Rhythmik der
Lebensbewegung selbst. Was uns in asiatischen Werken ergreift,
von einem ägyptischen Tierrelief bis zu einem Hymnus der
Upanishaden — ist dies Sichselbstaussprechen des bloßen Lebens,
die Sättigung jedes Wortes und jeder Form mit der geheimnis-
vollen Luft, in der der Urgrund des Lebens atmet. Sie haben eine
Unmittelbarkeit, die sie als Sein, nicht als Leistung über alles
Europäische hinaushebt. Ihre Gedanken überschreiten die
Grenzen unseres Werkverstandes, aber sie sind durchaus mit
dem Siegel des Unwiderleglichen gezeichnet — denn ihre Kraft
kommt ihnen nicht aus einer abgesonderten Funktion des Lebens,
sondern aus seiner Ganzheit.
* # «r # #
Zu dieser Spannung des Denkens, das nichts ist als das Sich-
Beugen des Lebens über sich selbst, vor allen Begriffen des Werk-
verstandes und allem Willen zur Nutzung der Welt, leitet Berg-
sons Intuition zurück. Während aber die orientalische Lehre in
der Rückkehr zum urgründigen Einen den Sinn des Lebens sieht
7 97
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
und alles endliche Tun als unbeträchtlich und hindernd abweist,
sind in der Intuition Bergsons Momente enthalten, die über
dies erste Zu-Sich-Selbst-Erwachen des Weltsinnes hinausdeuten.
Für ihn ist Bewegung zum Höchsten nicht Bückkehr, sondern
Ausgang zur Verwirklichung — nicht Gleichgewicht der Gegen-
sätze, sondern leidenschaftliches Bingen der Urtendenzen. Die
Materie, der Verstand und alle Formen der gemeinen Welt sind
nicht nur wertlose Masse, von der sich das Absolute abhebt,
sondern ein Stachel. So trägt ihn auch hier das jüdische Welt-
gefühl, das sich durch alle Krusten hindurch unverkennbar in
der chassidischen Überlieferung ausspricht: das Gefühl für die
Notwendigkeit des Dualismus, für die Schmalheit des Grates, auf
dem zu gehen wir bestimmt sind, für die Gefahr — die sich bis in
das Herz des Göttlichen selbst erstreckt. Denn auch das Gottes-
wesen hatte nicht die Kraft, die Glorie mit sich vereint zu halten,
und bedarf der Spannung unseres ganzen Wesens zu seiner
eigenen Verwirklichung : ebenso wie Bergsons schöpferische Welt-
substanz nicht vom Ursprung an der lebendigen Dauer fähig ist,
sondern sich erst zu ihr erhebt, auf furchtbaren Umwegen. Und
wie in der Lehre der Chassidim jede Tat geweiht ist, wenn sie
nur mit der Inbrunst einer ganzen Seele getan wird, so lehrt
Bergson, daß wir frei und aus dem Grunde des Weltantriebes
heraus handeln, wenn die Tat unser ganzes Wesen umfaßt und
zu neuer Form schafft, alles Stockende auflösend in dem gött-
lichen Anhauch, der das Lebende dem toten Ablauf entzieht und
zur Dauer erhebt.
Es kann nicht unbemerkt bleiben, daß Ansätze zu dieser Wen-
dung des Weltgefühles im Griechentum gegeben sind. Wenn
Plato die Unsterblichkeit nicht im Sein des Vollkommenen, son-
dern in seiner Erzeugung sieht, wenn Eros, das Streben zum
Göttlichen, als der älteste Gott erkannt wird, und wenn die ab-
strakte Sonderung von Göttlichem und Menschlichem dadurch
gemildert wird, daß Dämonen eingeschoben werden, die zwischen
Göttern und Menschen vermitteln und die zersprengte Welt durch
ihre Doppelnatur in sich binden, — so hebt sich darin der
griechische Geist zu einer Erkenntnis, die die Schranken seiner
Kategorien übersteigt. Sie spricht sich daher nur in Begungen,
ohne Beziehung zu der gestaltenden Mitte der griechischen Philo-
98
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
Sophie aus. Die Bindung an die endlichen Bilder der unend-
lichen Potenzen ist so stark, daß dieser Welt die Grenze des Rela-
tiven und des Absoluten ewig verschwimmt: der Wille zum Un-
bedingten wird immer wieder aufgehoben in dem Streben nach
Maß, Einordnung, Harmonie der Gegensätze.
Das Judentum aber lebt an dieser Grenze. Sein Dasein und
sein Schicksal sind an diesen Dualismus gebunden, daß es stärker
als andere Völker die Fesselung des Willens, ja des ganzen Seins,
an endliche Zwecke kennt, an die übersehbare, nach Ursache
und Wirkung zu ordnende Existenz, und daß es sich wiederum
stärker als die anderen zusammenraffen kann zu einer Spannung
seines Wesens, in der alles Endliche verzehrt ist, und von der
aus der maßlose Aufwand an Energie, mit der es sich in dem
Bereich der mechanisierten Welt betätigt hatte, als bloßes Sich-
gehenlassen erscheint.
Wenn Bergson den Menschen als das Werkzeugtier deutet,
das sich mit Hilfe von Sprache und Gesellschaft so weit unab-
hängig von dem blinden Spiel der materiellen Kräfte macht,
daß es sich in den zerstückten Teilen der Materie orientieren
und sie zur Verwirklichung seiner Zwecke benutzen kann —
und wenn es ihm als die höhere Mission des Menschen erscheint,
auch noch die Bindung zu durchbrechen, die der Mensch sich
selbst schafft, indem er sich in dem Netz seines Werkverstandes
fängt, so gilt das in besonderer Tiefe von dem Juden, dessen
eingeborener Dualismus hier eine letzte Deutung erfährt. Die
Unruhe, die Geschäftigkeit, das ewig wache Bewußtsein begreifen
zu lernen als Tendenzen eines Geistes, die aus der Bindung der
Mitte gerissen den Menschen in Fragwürdigkeit stürzen, sich
aber im höchsten Erlebnis zurückverwandeln in Organe des Gött-
lichen — dies leistet die Lehre Bergsons von der Substanz, der
Bewegung, Bewußtsein, Freiheit nur Wege zur Entscheidung und
Erneuerung sind.
Fällt damit nicht auch ein unerwarteter Schein auf Hegels
Gedanken über die Aufgabe des Judentums und erhellt den welt-
geschichtlichen Prozeß, in dem der jüdische Geist zum Verkünder
des Unbedingten und seiner Verwirklichung durch äußerste Stei-
99
VON DER SENDUNG DES JUDENTUMS
gerung der Dualität und der Spannung aufwächst und so die
Welten des Ostens und des Westens, des Einen und des Vielen
aus ihrem Fürsichsein reißt?
Die Formen, in denen sich dieser Prozeß bisher verwirklicht
hat, sind heute Selbstzweck geworden, verkrustet und entseelt, ein
Bestand von historisch gewordenen Begriffen und Ordnungen,
die kraft der Beharrungsschwere historischer Gebilde sich be-
haupten, mit dem Anspruch, alles neue Leben durch sich hin-
durchzuleiten, und doch ohne Macht die Zweifel abzuwehren:
ob dies Ableiten in die gegebenen Kanäle die spärlichen Wasser
nicht ganz versickern ließe, und ob es nicht besser sei sie auf-
zustauen, bis sie aus unerträglichem Drang sich ein neues Bett
graben müssen.
So wäre es in dem Ringen dieser Zeit, die an dem Übermaß
lebloser Gebilde, Lebens- wie Glaubensformen, zu ersticken
droht, die Sendung des Judentums, das Bewußtsein des Dua-
lismus rein zu erhalten, angesichts der teilhaften Erfüllungen,
die die Zeit anbietet: und die Spannung zwischen dem Bedingten
und dem Unbedingten ganz zu realisieren — damit so der Weg
freigemacht werde für den Durchbruch der letzten umschaffen-
den Gewalt, des Hauches, von dem gesagt ist: Der Wind blaset,
wo er will, und du hörest sein Sausen wohl, aber du weißt nicht,
von wannen er kommt und wohin er fähret.
IOC
DAS NEUE JUDENTUM
Das neue Judentum
und die schöpferische Phantasie
Von Moses Calvary
I.
rLs ist schon des öfteren betont worden: der Jude der Gegen-
wart ist Rationalist, stärker als seine Umwelt, die Zeit, in der
er die ersten Kämpfe um seine geistige Emanzipation führte,
hielt ihn lange in ihrem Bann. Nicht auf einmal, und nicht aus
einer Wurzel heraus wurde die Aufklärung in Deutschland über-
wunden: eine dieser Wurzeln war die Anerkennung der schöpfe-
rischen Phantasie.
Der Begriff des Schöpferischen stammt recht eigentlich aus
der Zeit der abklingenden Aufklärung, der Mitte des i8. Jahr-
hunderts. An englischen Vorbildern erwachsen, wurde er ein Leit-
wort des Kreises, der sich um und an Herder bildete, und ist
ein Hauptbestandteil des Ideenkomplexes, der mit dem Worte
Genie bezeichnet ward: schöpferisch ist allein das Genie, nie
der Philister. Wenn damals die Phantasie — „welcher Unsterb-
lichen soll der höchste Preis sein?" — mit auf den Schild er-
hoben wurde, so war das nicht ohne eine tiefe Umformung des
Begriffes möglich. Für Christian Wolff war sie — darauf macht
Wundt einmal aufmerksam — noch eine niedere Funktion, die
Vorstellungsfähigkeit überhaupt. Wenn sie nun zur Göttin des
Dichters wurde, so mußte man erst von ihr ausscheiden, was
rein kombinatorischen Charakters war, um sie zur Grundlage
künstlerischen Schaffens, zur schöpferischen Kraft, zu erheben.
Die neuerwachte Phantasie klammert sich, ganz anders als der
so gepriesene Verstand, mit Lebenslust an die Welt der Sinne,
die Formen und Farben des reichen Volksdaseins, — und so
war die Aufklärung, die die Welt erkennen, nicht schauen und
nicht gestalten wollte, von einem Punkte aus überwunden.
2.
Der deutsche Jude war noch nicht so weit, und als er es
wurde, oder hätte werden können, da gab es für seine Phantasie
kaum ein Volksdasein, an dem sie sich hätte erneuern mögen.
Es wai- ganz und gar in Gesetzlichkeit gehüllt. Denn es ist sicher,
so energisch wir auch statt der rein religiösen Auffassung des
io3
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
Judentums den Blutzusammenhang als ausschlaggebend emp-
finden, — es schleicht sich in den Ton der Sicherheit, mit dem
wir den rein nationalen Charakter des Judentums als den einzig
natürlichen verteidigen, dessen Bewußtsein erst den allerletzten
Generationen abhanden gekommen sei, doch wohl leicht eine
kleine geschichtliche Fälschung. Daß das Blut für die Erhaltung
des Judentums bestimmend war, ist freilich unsere Überzeugung,
aber keine Frage: die Theologisierung der jüdischen Nation ist
sehr alt. Sie stammt, eine echte Goluspflanze, aus dem ersten
Exil, aus Babylon, und ist der Fluch des zweiten jüdischen Staates
gewesen. Wo hat sich sonst der Kampf zwischen den Herrschen-
den und dem Volke in die Form religiöser Kämpfe gehüllt?
Wo ist sonst eine volkstümliche, blutvolle Literatur ad maiorem
dei gloriam ausgewählt und vergeistigt worden, daß nur noch
kümmerliche Reste eines naiv-künstlerischen Schrifttums er-
halten blieben, und auch die nur, wo sie die Umdeutung ins
Religiöse vertrugen? Und was jene Epoche begonnen, wurde
nach der Zerstörung Jerusalems in jahrhundertelangen Be-
mühungen, nicht erst von gestern und heute, vollendet. Leider
gibt es noch keine rechte Geschichte der nachbiblischen Welt-
und Lebensauffassung. So sind wir Laien genötigt, uns aus
kleinen, hier und da verstreuten Notizen ein Bild dieser Ent-
wicklung zu machen. Denn weder die romanhafte Art, in der
Heinrich Graetz Geschichte schrieb, noch pragmatische Bro-
schüren oder die emsige Kleinarbeit der gegenwärtigen jüdischen
Gelehrten kann uns hier befriedigen. (Immerhin seien, neben
älteren Schriften, Güdemanns und Berliners Arbeiten mit Nach-
druck hervorgehoben.) Ich denke nicht eigentlich an die Ge-
schichte der religiösen Vorschriften selber, — die ist in rabbi-
nischen Kreisen ziemlich bekannt, und auch seit dem Abschluß
des Talmuds nur in einzelnen Punkten bemerkenswert: galt doch
der Talmud den Dezisoren im allgemeinen als Quelle und Grund-
lage ihrer Entscheidungen. Wohl aber drängt sich die Frage
auf: wie weit war die Judenheit im ganzen überhaupt der rabbi-
nischen Stimmung unterworfen? Die Antwort findet ihre natür-
liche Schwierigkeit in der Beschaffenheit der uns erhaltenen
Quellen: sie stammen fast alle eben aus rabbinischen Kreisen.
Daß eine solche Auswahl, genau wie für die biblische Zeit, ge-
io4
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
troffen werden konnte, ist freilich allein schon bezeichnend für
das Vorherrschen der religiösen Stimmung; durch sie kam es,
daß die Geschichte des Judentums heute rein religionsgeschicht-
lich behandelt wird. Wie etwa der Homerforscher, der den ur-
sprünglichen, vor der endgültigen Redaktion vorhandenen
Homertext rekonstruieren möchte, vielfach auf die Verse an-
gewiesen ist, die in den Scholien Alexandrinischer Forscher als
unecht bekämpft werden und nur dort zitiert sind, so müssen
uns die rabbinischen Gegner irgendwelcher Sitten dazu helfen,
die Sitten selbst konstatieren zu können. Ob die Erstarkung und
Festigung der Lehre das einzige Mittel war, die Judenheit zu
erhalten, ob die religiöse Vertiefung an sich uns gefördert oder
beengt hat, ist dabei gleichgültig: unabhängig von jedem Wert-
urteil, sollte eine solche Geschichte der jüdischen Volkssitte ein-
mal geschrieben werden.
Der Sieg Babylons über das freie jüdische Volksleben war sicher
nicht eben leicht; schon früh bereisten Sendboten Europa, und
noch im neunten Jahrhundert durften die Gaonim nicht ermüden,
Sura und Pumpadita als die eigentlichen Stätten der religiösen
Wahrheit hinzustellen. Nach Spanien kam das erste Talmud-
exemplar erst Ende des achten Jahrhunderts, und erst im drei-
zehnten wurde in Nordspanien das Tefillimlegen eingeführt, das
vielleicht auch von den griechisch-ägyptischen Juden nicht geübt
worden war. Daß in Nordfrankreich die Mesusa unbekannt war,
bezeugt noch Rabbenu Tam, und die Kopfbedeckung in der
Synagoge setzte sich erst allmählich durch. Man weiß, daß selbst
die rabbinischen Autoritäten noch im elften und dreizehnten
Jahrhundert kühne, neuernde Entscheidungen trafen, erst dann
verbreitete sich, vor allem in Deutschland, die skrupulöse, an
den Buchstaben der Tradition sich klammernde Gesetzlichkeit,
Eine freiere mystisch-moralische Strömung hörte nicht auf zu
fließen, beherrschte aber gerade die deutschen Juden nicht sehr
stark. Epoche macht der Schulchan Aruch, nicht unbedingt, nicht
auf einmal, jiicht überall gleichmäßig. Die Briefe von 1619
(herausgegeben von Landau und Wachstein) zeigen schon völlig
die Stimmung der späteren Orthodoxie, sie stammen aus Prag;
aber noch in demselben Jahrhundert zeigt sich in Glückel von
Hameln, einer Norddeutschen, eine viel unbefangenere, freiere
io5
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
Stellung zur Religion, nicht als ob sie ausdrücklich sich irgend-
einer Vorschrift entzieht — das liegt ihr gänzlich fern — , aber
es fällt doch zuweilen auf, wie sie Dinge unbeachtet und un-
besprochen läßt, die für eine Frau ihrer Frömmigkeit in späteren
Zeilen unbedingt im Vordergrunde gestanden hätten.
Das alles sind freilich mehr negative Momente, wichtiger ist,
daß die steigende Gesetzlichkeit notwendig auch die positive Ge-
staltung der religiösen Sitten ihrer Lebensfülle entkleidete. Sie
hebt deren Farbigkeit nicht auf — es ist sogar möglich, daß
die stärkere Gebundenheit eine gewisse feierliche Formenpracht
erst ausgebildet, zum mindesten aufrecht erhalten hat — , wohl
aber erschwerte die Bändigung des Gefühlslebens dem Juden,
die leisen Schwingungen der Seele in künstlerisch-religiöse Tat
umzusetzen. Ein Vergleich mit dem Chassidismus der Ostjuden
zeigt das deutlich, er entstand als Auflehnung des gefesselten
Gefühls.
Vor allem die persönlichen Erlebnisse — Geburt, Namen-
gebung, Einführung in die Schule, Hochzeit, Tod — waren in
eine reiche Fülle religiöser Formen gehüllt, die zum großen Teil,
ohne ersetzt zu sein, einfach verschwunden sind. Verschwunden,
weil das Leben sie erzeugt hatte, ohne daß sie in der schrift-
lichen Tradition begründet waren. Die allgemeinen religiösen
Festtage widerstanden der Nivellierung stärker, und noch heute
zeigen, um nur einiges von vielen herauszugreifen, der Freitag-
abend, der Sabbatnachmittag, der Sederabend, Purim, da wo man
auf sie Wert legt, einen starken Rest von persönlich-familien-
hafter Färbung. Am stärksten gelitten hat das, was man heute
Aberglauben zu nennen pflegt, das weite Gebiet des persön-
lichsten — und zugleich allgemeinsten Glaubens: von der Ge-
setzlichkeit wie der Aufklärung gleichmäßig angegriffen, hat er
am wenigsten standhalten können.
Eben dieser Punkt, daß scheinbare Gegensätze, Orthodoxie und
reine Verstandeskultur, in derselben Richtung wirken konnten,
ist von tiefer Bedeutung. Keineswegs genügt es, die geschicht-
liche Entwicklung einfach in Thesis und Antithesis, in Aktion
und Reaktion zu zerlegen, immer wieder ist zu bemerken, daß
die Höhe der Thesis durchaus schon die Elemente der Antithesis
in sich enthält, mindestens aber das eine Element bereits betont,
io6
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
das später zur Herrschaft kommt. Wo es sich nicht um bloße
Geistesgeschichte handelt, sondern um die historische Erfassung
konkreter Erscheinungen, wie in der Geschichte der Kunst und
der Musik, ist das längst anerkannt: die Hochrenaissance ist
schon ein Stück Barock, Beethovens Klassik ein Stück Romantik.
Ebenso enthält die — christliche und jüdische — Orthodoxie
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts schon den Willen,
die Erscheinungen durch ein — formal genommen — rationales
Element zu beherrschen, und dieser Wille schlug nicht sowohl
in die Aufklärung um, als er sich vielmehr in ihr vollendete.
So wurde denn die jüdische Aufklärung die unmittelbare
natürliche Fortsetzung der jüdischen Gesetzlichkeit, im Grunde
schon in Moses Mendelssohn, vollends aber in dem jüdischen
sogenannten Liberalismus der Gegenwart. Damit schien das freie
Volksleben endgültig überwunden, die Phantasie war abgesetzt,
zum mindesten in ihrer Betätigung für ein jüdisches Dasein. Die
— religionsgesetzliche oder aufklärerische — Vernunft hatte
im Kampfe mit der Willkür nationalen Lebens gesiegt. Wenn
wir heute wieder ein rein völkisches Judentum predigen, so be-
finden wir uns in bewußtem Gegensatz zu einer Jahrhunderte-,
ja jahrtausendelangen Tendenz, einem Gegensatz, den wir zu ver-
kleistern keinen Grund haben.
3.
Es ist überaus schwer zu entscheiden, wie weit das reich aus-
gestattete Leben im deutschen Mittelalter, soweit es sich der ge-
setzlichen Normierung widersetzte, nun eigentlich echt jüdische
Farben trägt. Güdemanns Gelehrsamkeit steht ganz im Banne
der Tendenz, das Ineinander deutscher und jüdischer Sitten dar-
zulegen. Und es kann gar kein Zweifel sein, daß zum mindesten
eine erstaunlich gleichmäßige Entwicklung stattgefunden hat, am
erstaunlichsten in den Zeiten, wo die äußere Stellung der Juden
zu seiner Umwelt höchst unerquicklich war. Gilt das doch sogar
von der Entwicklung der Glaubenslehre selbst, bis heute: Scho-
lastik, Piatonismus, Mystik und Orthodoxie, Aufklärung, Natio-
nalismus, es ist dieselbe Reihe im jüdischen wie im nichtjüdischen
Europa. Vollends auf folkloristischem Gebiete: es wimmelt von
Parallelen, Werwolf und Hexenglaube, Daumendrücken und
107
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
Geisterbeschwören, die Anzahl läßt sich beliebig vermehren, be-
gegnen uns, selbst die heilige Neunzahl — nach Hermann Diels
das deutlichste Kennzeichen arischer Religion neben der Sieben
der Semiten — ist reichlich eingedrungen. Sogar die Briefform
ist dieselbe: die Frauen fangen ihre jiddischen Briefe mit ein
paar Reimen an, — wie die deutschen Frauen, die Männer be-
ginnen mit rein hebräischen Wendungen, — wie die deutschen
Männer mit lateinischen. Soweit es sich um Einzelzüge handelt,
scheint meist deutscher Einfluß vorzuliegen, ist zuweilen ein
jüdischer Ausgangspunkt anzunehmen; für die große Gedanken-
entwdcklung werden wir immer, wie in den Einzelerscheinungen
oft genug, an irgendeine parallele Entwicklung, einen Zeitgeist
glauben müssen. Es ist schwer, sich das im einzelnen vorzustellen,
aber bisher ist doch auch das viel wichtigere Problem gleicher
Art noch völlig ungelöst, in welchem Zusammenhang — und er
muß vorliegen — die gCAvaltige religiöse Erregung die Geister
Indiens, Israels, Griechenlands fast gleichzeitig, im sechsten Jahr-
hundert V. Chr., ergreifen konnte. Schließlich ist die Herkunft
der Begriffe und Formen ja nur für den Historiker wichtig,
dem Wertenden gleichgültig: wenn nur der Jude sich in der
neuen Form lebendig ausdrückt.
4.
So sind wir auch jetzt wieder von einer allgemeinen Strömung
getragen, wenn wir eine Erneuerung des Volkslebens erstreben.
Es ist im Grunde derselbe Ruf, der auch bei den Völkern um
uns ertönt: der Ruf nach einer farbigeren, künstlerischen Ge-
staltung des Lebens. Es muß in aller Schärfe betont werden:
gerade weil hier Mißverständnisse infolge übergroßer Empfind-
lichkeit und Ketzerriecherei sicli ßo leicht einstellen: nicht um
eine Abkehr von der Gebundenheit, um Lust an Willkür handelt
es sich. Vielleicht ist es eher umgekehrt: wenigstens sucht der
norddeutsche Protestantismus heute vielfach in seinen Formen
sich an dem künstlerischer und doch gebundener gestalteten
Katholizismus zu orientieren. Aber die Forderung reicht weit
über kirchliche Bestrebungen hinaus: die Erweckung des Volks-
liedes, der Dorffeste, eine Heimatkunst, die Betonung stammes-
io8
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
tümlicher Zusammenhänge, all das dient künstlerischen Werten
und gehört in die große Bewegung gegen die gesetzliche oder
vernunftmäßige Nivellierung. Zwei Richtungen sind erkennbar:
eine romantische, rückwärts gewandte, eine nach vorwärts
strebende, beide in Forderungen künstlerischer Phantasie
wurzelnd. Der Wunsch nach Wiederweckung alten Volkslebens
im Deutschtum führte zu einem Studium mittelalterlicher Sitten,
und da zeigt sich deutlich, daß die Volkssitte, nicht ausschließ-
lich, aber doch großenteils, sich auf zwei Gebiete beschränkt: das
religiöse, sei es das christliche, sei es das altgermanische Fest, und
das Kinderspiel, Aber wenn auch der Wille zur künstlerischen
Gesamtkultur erwacht ist, ist es doch so, daß unsere Zeit infolge
der Tendenz eines ungehinderten Verkehrs nicht eigentlich im-
stande ist, im alten Sinne unmittelbar eine Tradition zu schaffen.
So werden zuweilen im Eifer, künstlerische Elemente der alten
Zeit wieder aufzufrischen, auch Dinge ergriffen, die der Be-
lebung sich widersetzen. Demgegenüber erstehen einerseits Ver-
teidiger der Großstadt, der neuen Bewegtheit, aber auch sie be-
tonen, daß es sich für sie um die Entdeckung einer neuen, ner-
vöseren, komplizierteren, noch wenig verstandenen, — aber doch
eben einer Schönheit handelt, andererseits will man die indi-
viduelle Phantasie in den Dienst des Volkes stellen, und so be-
ginnt in Deutschland die „Heimatkunst".
5.
Der deutsche Jude ist nun in das moderne Getriebe — schon
als Städter — so tief verschlungen, daß wir kaum hoffen dürfen,
seine Phantasie werde naiv und selbstsicher ihren natürlichen
Zielen zustreben. Er wird sich, dahin deuten schon die beiden
größeren Schriften Herzls, von ihr lieber in die Weite als in die
Enge tragen lassen, und so vielleicht als erster die Werte dej*
Gegenwartsseele in künstlerisch gestaltete Wirklichkeit umsetzen
können.
Daß erst ein künstlerischer Geist wie Herzl dem dumpfen
Nationalleben den Schwung einer lebendigen, zielbestimmten Be-
wegung geben konnte, war innerlichste Notwendigkeit. Gleich
bei Beginn des erwachten Lebens ertönten neue Lieder, von ganz
anderer Wärme und Inbrunst als die altgewohnten, — und das
109
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
jiddische Lied, das einzige, was wir an Volksliedern besitzen,
drang in weitere Kreise. Eine Art Heimatkunst, der Judenroman,
ist unterwegs. Ob er zum Ziele kommen wird? Vestigia terrent.
Wo bisher — neben den massenhaften wertlosen Erzeugnissen
— echte Heimatkunst gestaltet wurde, lag es nicht am Heimat-
gedanken, sondern an der ursprünglichen Kraft des Dichters.
Aber vielleicht verstreut auch hier die Natur Millionen Keime
scheinbar vergeblich, damit irgendwo und irgendwann ein volles
Gewächs heranreift.
Ein jüdisches Kinderspiel gibt es bei uns nur noch ganz ver-
einzelt. Eine natürliche Tendenz, es zu erneuen, sehe ich nirgends;
das ist kein Wunder. Denn fast alles, was an deutschen Kinder-
spielen lebendig ist — und dasselbe gilt im Grunde auch vom
Kindermärchen — stammt aus uralten mythologischen Zeiten und
ist zum großen Teil allen Völkern gemeinsam, — es kann um-
gewandelt, aber nicht wohl erfunden werden. Und gerade gegen
das naive Kinderspiel hat die gesetzlich gerichtete Epoche am
grausamsten sich vergangen, was braucht ein jüdisch Kind zu
spielen, es soll Taure lernen, so früh wie möglich. So schaffens-
kräftig aber ist unsere Phantasie nicht mehr, daß sie einen neuen
Mythos zeugen könnte. Unsere Kinder spielen wieder, Gott sei
Dank, und werden einst im Anschluß an jüdische Feste auch
wieder jüdisch spielen lernen.
Denn eine Sehnsucht, die alten Feste wieder zu beleben und
neue zu schaffen, ist heute unverkennbar. Die jüdische Jugend
der Gegenwart diskutiert lebhaft die Frage, wie sie wieder, auch
wo ihr der religiöse Weg rettungslos verschüttet ist, einen Zu-
gang zu den jüdischen Festen gewinnen könnte.
Jene Herrschaft, die die religiös-dogmatische Gesetzlichkeit
über die Volksphantasie gewonnen hat, wirkt natürlich er-
schwerend. Ich hörte einmal von einem Manne, der sich in ästhe-
tischem Entzücken an den Freitagabend, das Lichterbenschen
seiner Jugend erinnerte und auf die Frage, warum er es denn
nicht in seinem Hause einführe, ganz betrübt antwortete: „Ja,
ich glaube doch nicht daranl"
Es ist bezeichnend für unsere abnorme, an Glauben und Dogma
gebundene Stellung zur jüdischen Sitte, daß wir diese auf den
ersten Blick skurile Antwort ganz gut nachfühlen können. Dieses
HO
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
Hemmnis hat eine noch allgemeinere Geltung. Schon im elften
Jahrhundert werden die deutschen Juden gerühmt, weil sie sich
in religionsgesetzlich zweifelhaften Fällen nach der erschweren-
den Seite neigten, und seitdem hat sich immer stärker die Auf-
fassung befestigt, daß die Erschwerung, die Hemmung des natür-
lichen Trieblebens, das Opferbringen religiös verdienstlich sei.
Zudem ist die religiöse Sitte so sehr durch Tausende von Einzel-
vorschriften eingeengt und in bestimmte Bahn gewiesen, daß für
die freie Hingabe an die einfach schöne künstlerische Gestaltung
wenig Raum mehr bleibt*). Einige Vergleiche, nicht als Wert-
urteil, sondern zur Illustration: der starke, künstlerische Reiz des
deutsch-christlichen Weihnachtsfestes ist nicht denkbar ohne die
Freiheit, die es der Familienphantasie läßt, eine Stimmung, die
durch den Waldesduft noch gehoben wird, — viel feierlicher,
starrer, selbst an den Wortlaut des Segensspruches stärker ge-
bunden ist unser Entzünden der Chanukahlichter. Wenn ein An-
gehöriger stirbt, greift wohl die Ostjüdin zur Techinnah odei
Zennerenne, wie die Christin zu den Psalmen oder Evangelien,
— bei uns wird Mischnajes gelernt.
So kommt es, daß gerade die Kreise, in denen aus Gründen
des Glaubens die religiöse Sitte gepflegt wird, gar nicht recht
an ihrer Wiederbelebung teilnehmen können, ja ihr sogar in ge-
wissem Sinne widerstreben. Wenigstens war es eigentümlich, und
für den außerhalb der religiösen Kampfesstimmung Stehenden
fast ein wenig erheiternd, mit wie ausschließlicher Erbitterung
im vorigen Jahre der Kampf gegen die „Richtlinien" aufge-
nommen wurde, die ja in manchen Punkten radikal neuern, in
denen doch aber die liberalen Juden Deutschlands zum ersten
Male erklärten, wie viel ihnen selbst, freilich mit Einschränkung,
freilich nach Maßgabe der „praktischen Möglichkeit oder Be-
quemlichkeit", an den religiösen Formen gelegen sei. Hier zeigt
sich der Gegensatz. Die ,, Bequemlichkeit" erscheint der Ortho-
doxie fragwürdig, während viele von uns, die dem Richtlinien-
*) Es darf nicht verschwiegen werden, daß hier bewußt von den Forderungen
der Phantasie, des künstlerischen Triebes ausgegangen wird, von gewissen
andern, mehr sittlichen Voraussetzungen aus beschließt gerade die Unbedingt-
heit gesetzlicher Forderungen für die, denen sie überhaupt erträglich ist, eine
gewisse Sicherheit und Beruhigung in sich.
III
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
Liberalismus ganz fern stehen, gerade das Opfer, die Gehorsam-
stimmung ablehnen, und die ganze Fruchtbarkeit der religiösen
Sitte erst dann entfaltet sehen, wenn unsere Phantasie unmittel-
bar, in naiver Freude an der Schönheit, im Gefühle einer Be-
reicherung, eines inneren Wachstums die religiösen Formen ge-
staltet.
In der Festigkeit der Formen also liegt die Schwierigkeit, aber
sie ist doch nicht unüberwindlich. Denn immerhin gibt es bei
uns noch Möglichkeiten der Entwickelung. Es wurde schon
darauf hingewiesen, daß in den allgemeinen Festen ein gewisser
Spielraum für die Phantasie vorhanden blieb. Schade, daß wir
noch keine Geschichte der Sabbatstimmung haben, eine lohnende
und mögliche Aufgabe. Hier seien nur zwei bezeichnende Bei-
spiele herausgegriffen. Der jüdische Gemeindevorstand in Candia
muß im dreizehnten Jahrhundert einmal konstatieren, daß die
jungen Leute den Sonnabendvormittag, statt in die Synagoge zu
gehen, zu Spaziergängen in die Berge und Bootfahrten benutzen,
und hält es für nötig, ja nicht gerade das überhaupt zu verbieten
oder den Synagogenbesuch zu erzwingen, wohl aber zu verordnen,
sich wenigstens bis zum Schluß des Gottesdienstes zu Hause zu
halten. Im südlichen Europa war eben der Rabbinismus nicht
so heimisch wie in Deutschland, — darauf hat auch kürzlich
Rafael Strauß in seiner Studie über die Juden in Sizilien hin-
gewiesen. An diese Episode konnte man im vorigen Jahre durch
einen Bericht der „Welt" erinnert werden, der bewegliche Klage
über die Juden von Saloniki anstimmte: sie feierten zwar den
Sabbat, aber er habe eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem
deutschen Sonntag, sei absolut un jüdisch, ein Erholungs-, aber
kein Feiertag, man sitze in den Cafes und mache Korsofahrten.
Ja, dagegen wird nun wohl nichts zu machen sein, daß die
Ghettobeschaulichkeit, die auf den Oppenheimschen Bildern
herrscht, allmählich verschwindet. Der ,, deutsche Sonntag" sah
vor zweihundert Jahren auch anders aus als heute. Fand doch,
im zweiten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, eine förmliche
Umwälzung in dem europäischen Naturempfinden statt, es wäre
unnatürlich und ge£ährlich, wenn diese Gefühlswandlung die
Juden nicht ergriffe. Das soziale Leben der Gegenwart ferner
zwingt Juden wie NichtJuden zur „Ausspannung", und führt die
112
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
Frommen nicht nur Salonikis, sondern auch Frankfurts und
Berlins am Sabbat in die Erholungsstätten. Das läßt sich wirklich
nicht mit dem Worte Assimilation abtun. In Italien pflegte man
einstmals am Purim eine Hamanspuppe auszustaffieren und sie
nach feierlichem Umzug zu verbrennen: ich glaube, daß das ein
gut jüdisches Volksfest war, wenn es auch einer ,, indogerma-
nischen" Winteraustreibung so ähnlich sieht wie ein Ei dem
andern. Es kommt eben auch hier nicht auf die Herkunft an,
was fruchtbar ist und den Sinn belebt, wird wieder in den Dienst
der jüdischen Idee treten.
Anregungen für eine solche Feier geben zu wollen, wäre an-
maßend und liegt nicht in der Absicht dieser Zeilen. Ich selber
wurde in einem Dorfe groß, in dem sich eine Art jüdisches
Herrengefühl von selbst einstellte, so daß die jüdische Sitte uns
Jungen das natürlich Gegebene schien und selbst unsere Kinder-
spiele mit christlichen Kameraden beeinflußte. Gewisse Spazier-
gänge, den Jahreszeiten angepaßt, waren für die Festtage fast
die Regel, wie man denn am Schewuaußmorgen, mit oder ohne
die traditionell durchwachte Nacht, gern in Feld und Wald die
Sonne erwartete. Am Sabbatnachmittag wurden, während die
Alten den Talmud vorzogen, in aller Form im Freien national-
jüdische Debatten geführt. Purim und Simchasthorah wurden
zum harmlos übermütigen Karneval, und Sederabend wie Rosch-
haschanah waren von der neuen nationalen Stimmung getragen,
ohne alle dogmatischen Bedenklichkeiten. Das läßt sich nicht
ohne weiteres in das städtische Leben übersetzen, vor allem, weil
die selbstverständliche Verbindung mit der Natur sowie der
Gruppenzusammenhang meistens fehlt. Da wird das Tempera-
ment des einzelnen wählen und entscheiden müssen. Der eine
sehnt sich danach, auch in der völlig religionsgebundenen Form
einen ursprünglichen Volkstrieb zu entdecken und macht den Ver-
such, ihn sich anzueignen, andere meiden bewußt die rein reli-
gionsgesetzlichen Beziehungen und können doch die alte Formen-
welt persönlich erleben. Dazwischen sind manche Übergänge
möglich. Nur keine künstliche Mumifizierung aus falscher Ro-
mantik, — mögen die Toten ihre Toten begraben! Immer wird
das der Maßstab sein, wie weit die Form imstande ist, unserer
Phantasie Nahrung zu geben, ihr eine bestimmte Richtung zu
8 ii3
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
verleihen, innerhalb dieser Bahn ihr aber so viel Freude an
schöpferischer Freiheit zu lassen, daß sie nie sich beengt, stets
bereichert fühlt.
Nur aus der besonderen Schätzung der volkstümlich-künst-
lerischen Werte des Lebens ist die Stellung zu erklären, die weite
Kreise des deutschen Nationaljudentums neben oder zwischen
Orthodoxie und Liberalismus einnehmen. Der Richtlinien-Libe-
ralismus betonte die Wahrheit sittlich- jüdischer Glaubenssätze
und sieht in der religiösen Sitte nur Erscheinungsformen, er-
wünscht, soweit sie die Lehre und die Judenheit erhalten, die
Orthodoxie hat demgegenüber von neuem entschieden die Un-
dingtheit des Religionsgesetzes als Gesetz verfochten: von
der Strömung aus, die hier zu deuten versucht wurde, sind die
Formen Selbstzweck, erschaffen aus einem Überschuß künstle-
rischen Volkstriebes, zusammengehalten und belebt durch das
nationale Bewußtsein.
Die so erneuerten Feste, die ihre sittliche wie künstlerische
Bedeutung als Familienfeste haben, können uns mehr und
weniger bedeuten als unseren Vätern. Weniger, weil wir in einer
Epoche leben, in der der Familienzusammenhang überhaupt sich
lockert, mehr, weil gerade infolge der Auflösung der Familie
die vereinzelten, einigenden Momente tiefer ergreifen. Aber im
ganzen nimmt die Phantasie der Gegenwart eine andere Richtung,
und so treten denn zum Teil Volksveranstaltungen anstelle der
alten Feste. Diese selbst werden vielleicht bald von der Gemeinde
— oder der zionistischen Ortsgruppe — in größerem Maßstabe
veranstaltet werden, das geschieht heute schon vielfach; dann
aber findet in Schauturnen, Volksversammlungen, Makkabäer-
f esten auch das neue Volksgefühl seinen künstlerischen Ausdruck.
Das hat alles einen etwas offiziellen Charakter, nicht nur, weil
der intimere, leisere Ton ein für allemal fehlen muß, sondern
vor allem, weil der in ungestümer Neuerung nach Formen
suchende Volksgeist noch gar nicht Zeit fand, in den Massen die
Fähigkeif der Resonanz zu erzeugen, die sich bei den Nicht Juden
Deutschlands, etwa bei den gleichfalls neuen oder erneuerten
Dorf spielen, Sonnwendfesten, Maifeiern, sehr viel leichter
einstellt.
Die Resonanz ist in Wahrheit erst da gegeben, wo Luft und
ii4
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
Land und Gemeinschaftswerte ein einheitliches Tempo des
Lebensgefühls erzeugen können: in Palästina. Alle Versuche der
gestaltenden Phantasie, von denen bisher gesprochen wurde,
können nur dort vollendet werden: die literarischen so gut wie
die Formen schaffenden. Aber das enthebt uns in keiner Weise
der Pflicht, den Trieb, der uns erfaßt, auch hier künstlerisch
zu Ende zu leben. Das ist der tiefste Gegensatz, in dem wir zu
den Männern stehen — und es gibt deren in allen jüdischen
Lagern — die uns einen Geist des Judentums predigen; auch
Achad Haams schwankende Stellung zum Zionismus ist aus
diesem Punkte heraus zu erklären*). Ach, aber wir sind des Geistes
so reichlich müde und freuen uns, wo in irgendeinem Winkel
ein Stückchen jüdischen Körpergefühls, jüdischen Auges und
jüdischer Hand sich einen Ausdruck sucht. Darum liegt uns an
Palästina, weil jedes Leben dort, auch das „unjüdischste", ein
sinnlich greifbares Judentum ist, darum erfüllt es uns mit Mut,
wenn auch das Leben des Exils von schöpferischer Phantasie
ergriffen ist.
6.
Es mag zwecklos erscheinen, in der Weise, wie es auf diesen
Blättern geschehen ist, die geschichtliche Tatsache eines neuen
Judentums scheinbar auf einen Grund zurückzuführen: ist es
doch dem oberflächlichsten Betrachter klar, daß auch Zusammen-
hänge ganz anderer Art, soziale, politische, intellektuelle, reli-
giöse, sittliche, jene Tatsache mit haben erzeugen helfen. Genug,
wenn wir uns bewußt werden, wie stark jener eine Zug unsere
Welt bestimmt hat.
Das gilt sogar für die bedeutsamste Tatsache der jüdischen
Gegenwart, für die Flut nationalen Lebens, die uns heute trägt.
In einer Kultur der Aufklärung wäre sie nie entstanden: es
ist ja keineswegs so, als ob die Nation da war, und nur vom
Verstände ihre Anerkennung heischte. Als vor hundert Jahren
in der Napoleonischen Epoche Deutschlands zuerst wieder in
Europa eine nationale Bewegung im heutigen Sinne des Wortes
*) Ich denke hier nicht gerade an seine Lehre vom „Geistigen Zentrum";
hier ist das Wort „Geist" nur in der deutschen Sprache mißverständlich, und
man träfe den hebräischen Ausdruck ebensogut, wenn man von einem inneren
Zentrum spräche.
Ili
DAS NEUE JUDENTUM UND DIE SCHÖPFERISCHE PHANTASIE
erwachte, da war nichts als ein zerstückeltes Land vorhanden,
Elemente gemeinsamen geistigen Lebens und die Ohnmacht einer
kosmopolitischen, einheitsgrauen Weltanschauung. Die Vernunft
hätte sich damit schon irgendwie abgefunden, die Not vielleicht
eine rein staatliche Neubildung erzwungen, aber die Phantasie
bedurfte der Farbe, des geschlossenen Bildes, der in sich ruhen-
den Kraft, der Gemeinwille entstand und — schuf die Nation.
Das ist der tiefe Sinn der idealistischen Philosophie, daß die
gestaltende Idee irgendwie vorhanden ist, unabhängig von ihrer
Verwirklichung. Es ist eines der bösesten und schädlichsten Miß-
verständnisse, dem wir gerade in zionistischen Aufsätzen zu-
weilen begegnen, als ob die Stimmung, die das Wort ,, national"
begleitet, einfach auf die Tatsache der gemeinsamen Abstam-
mung zurückzuführen sei. Dann freilich hätte Hermann Cohen
vielleicht recht, wenn er die Nation als ein bloßes Gebilde der
Natur den Gebilden des Geistes, dem Rechte, dem Staate gegen-
überstellt. Vom Blutzusammenhang mag das gelten, aber der
ist eben noch nicht notwendig eine nationale Erscheinung. Wie
wenig gerade der Jude des Mittelalters, der Orthodoxie, der Auf-
klärung sich als völkisches Gebilde empfand, obwohl doch das
gemeinsame Blut vorhanden war, darauf ist bereits zu Anfang
dieses Aufsatzes hingewiesen. Aber auch ihn erfaßte der schöpfe-
rische Wille der Phantasie: die Nation ist die Krone ihrer Schöp-
fungen. Die Nation, die keine triebhaft-körperliche Erscheinung
ist, die einen auf Blut und Geschichte beruhenden funktionellen
Kulturzusammenhang darstellt, der den Kulturinhalt erst formt.
So ward der Jude der Gegenwart. Die Blutzusammenhänge
selber freilich sind da, anerkannt oder nicht, ein Naturgebilde;
daß sie zur Nation werden, zum lebendigen Träger der Entwick-
lung, das ist unser — künstlerischer — Wille.
Es handelt sich hier nicht, das dürfte klargeworden sein, um eine
artistisch-ästhetische Betrachtung, — die Phantasie erobert sieb
bereits in der wissenschaftlichen Psychologie eine Stellung als.
Grundlage und Grundstimmung der menschlichen Seele. Daß
das ErAvachen der schöpferischen Phantasie ein europäisches Er-
eignis ist, soll uns weder stören, noch befriedigen: von uns erst
wird es abhängen, ob es im Sinne des Judentums Früchte tragen,
wird oder nicht.
ii6
über Pathos
Von Erich Kahler
„So laßt mich scheinen, bis ich werde."
Die menschliche Rede ist niemals so leichtfertig und dünn-
sinnig geübt worden wie in unseren Tagen. Bereits mit Absicht
und Willen der Geister bewegt sie sich in Einzelarten — die
wissenschaftliche, die künstlerische, die unmittelbar agierende —
geteilt und noch innerhalb dieser Arten uneins mit der Not-
wendigkeit, von der sie autorisiert sein soll. Immer mehr und
engere Disziplin betreiben immer niederer und kurzsichtiger
an der Materie hinschleichende Untersuchungen, die schon seit
vieler Folge aufgehört haben, einem Sinn und Wohl des tätig
schreitenden menschlichen Lebens zu dienen. Als „Dichtung"
erhalten wir täglich eine ungewählte Menge von Geschichten,
Theaterstücken, Ergüssen, welche mit vielen leicht genommenen
und leicht gegebenen Worten alles Flüchtigste, Launischeste, Per-
sönlichste, ja oft vorsätzlich das Singulare ausstellen, offenbar
für Menschen von so müßiger Art, daß sie die kostbare Zeit und
Aufmerksamkeit des einen Lebens an dies und das aus jener
Vergangenheit und solchem Ort, welches in keiner Weise auf
sie Beziehung hat, vergeuden können. Die Reden der Beratung
und der Unterhaltung, welche in den großen Zeitaltern nicht
durch Ton und Wesen, sondern nur durch den stärkeren oder
schwächeren Druck des Augenblicks sich unterschieden, sind
heute dazu da, um den Wust der kleinlichen Bedürfnisse, den
man in dieser alles verstehenden, verzeihenden und nachgebenden
Zeit aufwuchern ließ, rastlos zu erledigen oder tatlos und unver-
bindlich zu beschwätzen.
Solchen Äußerungen gegenüber geht, teils schablonig, teils
brünstig undeutlich angefühlt, ein Allgemeines um, Namen ab-
gelebter Größe, bei denen man übereingekommen ist, daß jeder
sie zu jedem ohne Verantwortung, aber nur an besonderen
Punkten des Lebens, aus dem Täglichen entrückt, gebrauchen
darf. Man verschmäht es nicht, sich damit zu schmücken und zu
feiern, man verschmäht es oft nicht, als letzte Waffe den im
Blute der Väter mächtigen Zauber heraufzubeschwören. Und dies
wirkt nun in verderblichem Kreis. Die Redlicheren unter uns
drängt von solchem Mißbrauch der Widerwille so weit ab, daß
1 1'
ÜBER PATHOS
sie glauben, in ihrem Ausdruck nie kleinsichtig genug, nie dem
Ding nahe genug sein zu können, daß sie die Sache mit ihrem
Detail, Wirklichkeit mit Materialität, Treue mit Kurzzügigkeit
verwechseln. Wahrheit, Liebe, Herkommen, alle ehrwürdigen
Worte, welche durch die mannigfaltigen Wandlungen von Ort
und Zeit dem menschlichen Wesen natürlich notwendige,
unumstößlich ewige Bedeutungen hindurchtragen, der hohe ein-
fache, das Menschliche in seinem ganzen Bereich zusammen-
haltende Ton der Vorfahren, begegnen dem zweifelnden Spott
und dem ängstlichen Abscheu, wie oft gerade der zur Wahr-
haftigkeit geneigten Personen! Verblichen, von Lüge angefärbt,
vom täglichen Leben längst ungeprüft und unbestätigt, ließ man
sie zu zerschlissenen Standarten werden, die nur für Prahlerei
unwürdigen Volkes wehen. Und viele Gemüter, welche bereits
lebendig als Bedürfnis und Devotion solches in sich tragen, wo-
von hohe Worte der Ausdruck sind, fühlen verschämt und miß-
trauisch, verborgen und verbergend, unter der Äußerung hinweg
und wollen es nicht gesprochen haben. Die Hingebung eines Ge-
lehrten an die im besinnungslosen Fluß der spezialistischen
Forschung sich stellende Aufgabe trägt gewiß manchmal ein
verstecktes Brennen für ein Allgemeines, das er Wahrheit nennt:
ein Wort jedoch, ein Begriff, in dem er alles und nichts versteht,
zu kostbar, um die alltägliche Geschäftigkeit der Hände zu
decken, und gerade gut genug, um bei Promotionen und Inaugu-
rationen, wo keiner mehr an die Arbeit der Jahre denkt, als ge-
läufiges Dekorum hinausgehalten zu werden. Das Flämmchen
ehrlichen Eifers in dem konfusen Überschwang eines beginnen-
den Dichters, eines plänereichen Jünglings, welcher in einem
verrotteten Großstadtidiom die künstlichen und höchst unwich-
tigen Krisen seiner unerzogenen Seele oder seiner zufälligen Um-
gebung in die Welt erzählt, glüht vielleicht einem nie vor-
gestellten Ungefähr von Schönheit und Kunst. Doch ihm ist
weder ernst bewußt, zu welchem in das Herz der Menschheit
wirkenden Sinn er zu reden sich anschickt, noch was Kunst, was
Schönheit dem Herzen der Menschheit bedeuten. Jedenfalls wird
er vermeiden, seine Rede aus edlen Worten zusammenzusetzen,
denn die edlen Worte sind ihm hohl und trivial und sie drücken
ja „die moderne Wirklichkeit" nicht aus. Und wer wird vollends
ii8
ÜBER PATHOS
heute, wie sehr auch das Gefühl der Öde, der Trostlosigkeit
unserer Tage in manchem anschwillt, wer wird im „gewöhn-
lichen" Leben es wagen, frei und einfach herauszusprechen, daß
er liebt, daß er glaubt, daß er wieder Held sein will?
Worte aber, Begriffe sind nichts an sich, hinter ihnen harren
— wenn auch für manche Menge in mancher Ära verfälscht und
machtlos — die lebendigen Bedeutungen, bereit, innerlicher zu be-
wirken, was die Worte nur sachte anrühren. Die erhabene Rede
ist aus unserem täglichen Leben verkommen, und was in ihr und
mit ihr ferne bleibt, ist die erhabene Tat. Die richterlichen Be-
griffe sind verwiesen in solchen Abstand von dem Werk unsrer
Hände, daß sie nicht mehr überschauen, nicht mehr als ernste
Gewalten geglaubt werden können. Wie man die Welt will, nennt,
zumutet, so ist sie, so wird sie: Begnügt sich eine Menschheit,
mit den wimmelnden heutigen Namen geschwätzig zu sein, mit
denen sie die viel zu vielen willkürlichen Erzeugnisse ihrer
Fertigkeit bezeichnet, schöpft sie sich nicht immer neu aus den
Erinnerungen der höheren schöpferischen Mächte, denen sie
unterliegt, so wird ihr die Welt immer niederer und niederer
selbst als die eigene Fähigkeit sich entwickeln. Läßt sie jedoch
die stolzen Bilder wieder ein in das Geheg ihres Daseins, daß
sie messend und nah die Geschäftigkeit des Tages begleiten, so
müssen diese Bilder wahrer und deutlicher, das aus ihnen be-
strahlte Handeln aber muß größer werden. Lernt eine Jugend
nur das Grob-Sinnfälligste faßbar, ausdrückbar, bewirkbar zu
meinen, alle hohen Worte hingegen und weiter das, was sie in
sich tragen können, mißtrauisch und mit äußerstem Zweifel an-
zuschauen, ist sie dazu gedrängt, gleich ihren ersten Enthusias-
mus in Kramerei versanden oder in zag -sentimentaler Scham
namenlos innen verquellen zu lassen, so wird die Kleinheit des
Anspruchs sie wieder in fortgezeugte Kleinheit des Fühlens und
Leistens niederdrücken. Lehrt man die Jünglinge aber sich so
mächtig zu äußern wie sie fühlen können und handeln wollen,
und nimmt man ihre Äußerung wieder so ernst und gewichtig,
ja immer ernster und schwerer verpflichtend als sie gegeben ist,
so wird diese ihre Sprache, alles Leben zu sich emporreißend,
noch größer im Bewähren sein denn im Geloben.
Es darf indes nicht verstanden werden, daß wir ein schon
119
ÜBER PATHOS
vollendetes und historisches Pathos, die hohe Rede irgendwelcher
Vorfahren in unsere Gegenwart hereinbeziehen mögen, uns er-
ziehen an den Begriffen, wie sie andern aus andern Notwendig-
keiten heraus gegolten haben; sondern daß wir ein eigenes Pathos
uns schaffen sollen: Das Ewige nicht in schon geprägten ir-
dischen Formen übernehmen, aber zu unserer Form aus unserem
Leben täglich und stündlich hervorwirken. Nicht ,, Ideale" werden
uns frommen, fertig aufgestellte Transzendenzen, zu denen wir
ohne Verpflichtung sie je zu erreichen emporstreben mögen,
sondern die der menschlichen Fähigkeit einruhenden reinen und
unwandelbaren Mächte, welche wir befreien und mit jeder
Regung unserer Finger zur Gestalt bringen sollen. Und nicht
als ein mähliches Annähern an ein Äußeres stellt sich die nötige
Arbeit dar, hingegen als ein augenblickliches, immer neues und
gründiges Herausbauen unseres Innern.
In ihrer Anwendung auf den wirklichen Vorgang bedeutet
die erkannte Forderung nicht mehr und nicht weniger als: Sach-
lichkeit im allerstrengsten Verstand. Sachlichkeit nach der einen
Seite gegenüber jenen Ängstlichen und Verschämten, welche an
der Offenbarung, ja an der Existenz höchster Einheiten zweifeln;
gegen diese muß behauptet werden, daß es Detail an sich nicht
gibt und daß ein Glied, welches vom Ganzen nichts weiß, nicht
Glied mehr ist, sondern aus jeder Ordnung losgelöstes einzelnes.
Sachlichkeit nach der andern Seite gegenüber den Lügnern und
Schwärmern, welche die schwersten, dichtesten, verantwortungs-
vollsten Namen leichthin und dämmerhaft, ohne die vollste
Deckung durch greifbares Leben gebrauchen; gegen sie muß
verteidigt werden, daß Allgemeines, Ewiges, Zeitloses nicht be-
steht, sofern es nicht aus unserem Hier und Heut und So, sich
und unser Sein beglaubigend, entsteigt und daß nichts Macht
auf uns hat, was nicht Macht aus uns ist.
Sachlichkeit bedeutet eine Einstellung von vornherein eines
jeglichen Tuns. Jeder vor seinen Unternehmungen mag sich
wieder die höchsten und einfachsten Fragen vorlegen: VV^ie einer,
der in unübersehbarer Gegend sich verirrt hat, den Plan des
Landes vor sich aufbreitet und aus den W^eltrichtungen, aus den
ihn umgebenden Formen, aus der Witterung, dem Gang der
Gestirne und der eigenen Fähigkeit sich zusammenruft, wie er
I20
ÜBER PATHOS
kam, wie er steht, wie er gehen soll; nicht anders mag jeder
Weltenwanderer inmitten der unzähligen Wege von heute seine
Bedingungen um sich versammeln. Er mag diese Welt zu den
übrigen Welten, diese Zeit zu den übrigen Zeiten, sich selbst,
seine Familie, sein Volk unter anderen betrachten, und das Über-
schauen der ganzen Umgebung im weitesten Kreise wird ihn
sicher zu den letzten bewegenden Mächten leiten. Und diese
werden ihn lehren, wo er abgeirrt ist und welcher Weg ihn zu
seinem Gedeihen führt, welches Wissen hierzu er allein aber
unbedingt braucht, in welchem Verhältnis er sich zu dem lieben-
den Walten der Gestirne rühren muß und darf, welche Ver-
teilung der Kräfte, von Mühe und Ruh seinen Gang zu einem
schönen, stolzen, sich selbst genießenden macht. Und ihm, dem
wieder durch sein immerwährendes Absehen die ewigen Größen
der Natur einfach und geläufig sind, wird der Gesang und die
Frage und Antwort seines Weges von ihren erhabenen Namen
und der Nähe ihres Wirkens tönen. Dann, wenn er sein Geschick
bis in die geringsten Fälle hinein nicht blind vertändelt noch
stumpf erschleppt, sondern wach und elastisch, seiner Kräfte
und unzerstörbaren Hilfskräfte sich bewußt, aus den göttlichen
Quellen erleidet, dann wird seine Rede befeuertes und wieder-
befeuerndes Pathos sein, ohne daß er sich dessen versieht.
Diese Worte sind dringender als an andere junge Menschen
unserer Zeit an die Juden gesagt. Allzuviel sah man sie als Bei-
spiel und Führer der Skepsis vor andern Völkern, und heute
noch bezeichnet eine wenn nicht materiale, so logisierende
Ängstlichkeit die meisten der von ihnen beherrschten ernsteren
Zentren. Unbegabung für das Subalterne, Mißtrauen gegen ewige
Gültigkeiten reißt sie oft hin und her, und anstatt daß alle ihre
Kräfte in die nur eine hohe Vernunft gesammelt eingehen,
windet, überwindet sich rastlos ihr hungerndes Streben um die
großen Einheiten herum in Verstand. Möge endlich unser Volk
an seinem eigenen, in unvergleichlichen Altern bis heute nicht
löschbaren Feuer sich wieder zum Ewigen emporlernen, möge
es für die kommende Zeit Beispiel und Führer im Glauben sein!
121
Jüdische Romantik
Von Alfred Wolff
V on einem objektiv faßbaren, allgemein gültigen Lebensgefühl
des heutigen oder von einem auch nur ahnbaren Weltgefühl des
kommenden Juden zu sprechen, so wie man in den Zeiten des
Ghetto und andererseits in den Zeiten der Assimilation bei aller
Differenziertheit doch eine Art einheitlicher Grundstimmung,
Weltbetrachtung konstatieren konnte, ist heute fast unmöglich,
da sich in der Gärung der Zeit und des Judentums in dieser
Zeit nicht mit absoluter Allein- oder Allgemeingültigkeit sagen
läßt, wohin die zwingenden Kräfte weisen und wo die erlösenden
Gewalten liegen. Und doch schälen sich seit dem Ende des
19. Jahrhunderts, als Symbol und Symptom eines neuen jüdi-
schen Zeitalters, das den Juden und der Welt tiefere und reinere
Formen und Inhalte hervorzubringen willens ist, organisch ge-
wachsene Tendenzen und gesetzmäßig fundierte Ideen heraus,
welche, im Zeitgefühl verwurzelt, mit formkräftiger Wesens-
umprägung versuchen, den Juden das Bewußtsein von und den
Willen zu unerhörten, über ihr bisheriges Können weit- hinaus-
reichenden Möglichkeiten und Erfüllungen zu geben. Diese Ge-
dankengänge, als Ideologie noch wenig theoretisch begründet, als
praktische Notwendigkeit erst allmählich zum Bewußtsein ge-
bracht, entsprangen neben wirtschaftlichen, politischen und vor
allem geistesgeschichtlichen Grundlagen dem Zusammenprall
zwischen dem neuen Weltgefühl, das heute dank ungeahnter
Erweiterungen des technischen, aber auch seelischen Horizontes
die Menschen umfängt, und auf der anderen Seite dem jüdischen
Lebensgefühl, das in einer gefährlichen Krise begriffen, seine
Lebenskräfte an andere zu verlieren im Begriffe war.
Gegen diesen Selbstmordversuch erhob sich als Reaktion die
große Bewegung im heutigen Judentum, welche rein politisch
in der wahrhaftesten und konkretesten Form des Zionismus sich
niederschlug, der als erster wieder das gesamte Judentum traf
und band, und welche kulturell in dem Renaissanceprozeß ver-
suchte, aus Selbstbesinnung und Wertgefühl, aus der Ewigkeit
des Einst und der vorwärts führenden Sehnsucht nach Juden-
tum schöpferisch zu wirken. Wie weit dieser psycho-physische
Parallelismus von Volk und Kultur sein Ziel erreicht hat oder
122
JÜDISCHE ROMANTIK
in unseren Tagen erreichen wird, geht uns hier nichts an, woi
es mehr darauf ankommt, die Argumentation dieser ganzen
Weltbetrachtung durch schärfere Betonung einschlägiger Ge-
danken zu vertiefen, durch Erkenntnis und Forderungen das
Bleibende und das Überwindbare festzustellen.
Die Ideen, aus denen sich die Erstarkung und neue Zielsetzung
der Judenheit von heute und morgen ihre Waffen geschmiedet
hat, gruppieren sich bewußt oder unausgesprochen um einen
Begriff, der zu den großen, schöpferischen und notwendigen
Gedanken der Geistesgeschichte gehört, den des Romantischen.
Von seinem Gehalt und Wert in unseren Tagen zu sprechen,
erscheint überflüssig, da heute der Zug der Zeit in tausend Ver-
zweigungen und Brechungen auch für den Unempfindlichen
spürbar, für den Kundigen eine Selbstverständlichkeit fast, von
romantischen Empfindungen getränkt ist, und da das Bewußt-
sein dessen, was kommen wird, des Anfangs, den wir bilden,
stärker als je in den Rhythmus des Lebens und in das Pathos
des Denkens sich eingesenkt hat. Dabei soll nicht darauf hin-
gewiesen werden, wie stark unter den Deutern, Fortführern und
Erneuerern der Romantik, die in unseren Tagen eine Renaissance
feiert, das jüdische Element vertreten ist, noch auch mit der apo-
logetikgefärbten Lüsternheit des assimilierten Juden daraus ein
Wertmaßstab für geistige Fähigkeiten des Juden, ja nicht einmal
ein Kriterium seiner spezifischen Begabung hergeleitet werden.
Man übergehe auch die Modedinge des literarischen Lebens, von
denen ein gut Teil in die neuromantische Literatur des Jahr-
zehnts sich verflüchtigt hat, und man wird doch nicht verkennen,
daß hinter der Etikette und dem Schlagwort von der Romantik
ein tiefer Drang nach neuen Formen rückwärts gewandte Wege
geht; man wende sein Ohr den Stimmen zu, die auf Irr- und
Abwegen, auf Wegen aus weiter Ferne einer religiösen Erneue-
rung wieder das Wort reden; man wende sich, um soziale Er-
scheinungen zu betrachten, den Gedankengängen zu, mit denen
die Intellektuellen des Zeitalters die Anschauungen des Fort-
schritts bekämpfen, in Kämpfen, die mehr sind als der ewige
Kampf der Jungen gegen das Philistertum aller Zeiten. Und
man schließe den Kreis, um von den politischen, technischen Be-
rührungspunkten mit der Romantik zu schweigen, mit dem
123
JÜDISCHE ROMANTIK
Streben nach philosophischer Weltanschauung, wie sie nicht
bloß im Juden Bergson und nicht in ihm allein den romantischen
Gedanken erneut, erweitert und über sich emporgehoben hat.
So lehrt eine kurze Überschau, wie stark und im Vordringen
heute der romantische Gedanke in allen Abtönungen ist, an
dessen Erneuerung Juden, teils als Vermittler, teils als Erweiterer
beteiligt sind, mit der unbewußten Zugehörigkeit zu einer Ge-
meinschaft, die es nunmehr ablehnt, nur Mittler zu sein, selbst
im Goetheschen Sinne, und die über Vorläufer hinaus, zur ak-
tiven Entfaltung kommen will. Das tut sie, indem sie diesen Ge-
danken, der die Zauber- und Wünschelrute in Händen trägt, ver-
borgene Schätze des eigenen Könnens und der eigenen Seele ans
Tageslicht zu fördern, in sich aufsaugt. Freilich muß man den
Begriff auch so weit fassen, wie er es in seiner Blütezeit bean-
spruchte, wie er heute sich in vielen Formationen unserer Welt
neu prägt; man darf ihn nicht fassen als schamhafte oder scham-
lose Träumerei versinkender Menschen, denen Dämmerung und
Abend und Untergang geweihte und heilige Dinge sind, die müde
sind und zur Ruhe wollen und ein Ende leben, noch einmal
Wirrnisse und Erlebnisse des Tages voll naiven Gefühls oder
voll Raffiniertheit an ihrem Auge vorüberführen als Bilder, als
Gewesenes oder Gebrochenes; Menschen, die nur Beziehungen
in ihrer Geschichte sehen von außen her, wo es doch gälte, wesen-
haft zu werden, den Morgen und den kommenden Tag zu lieben
und frisch zu sein und zukunftsfürchtig, zukunftstätig, zum
Herrschen bereit. Deshalb nehme man den romantischen Ge-
danken als die erlösende und entbindende Kraft, die über Ge-
dachtes zur Tat kommen will — und unsere, die jüdische Ro-
mantik, besonders ist hindurchgegangen durch das eiserne Zeit-
alter der Politik und des Kapitalismus und der Organisation;
man fasse die romantische Kraft als eine Gewalt, die nicht immer
imstande ist (es sei denn auf Umwegen), Welten zu vernichten
und neue an die Stelle zu setzen (wenn sie und weil sie leicht
gebrochen wird von Traum und Wort und Geist), die aber wohl
imstande ist, im unbändigen Drang die Schlösser zu entriegeln,
die vor dem eigenen Selbst liegen, und die Wege deutlich zu zeigen,
auf denen die Seele zur Höhe gelangt.
Aus allen diesen Gesichtspunkten ergibt sich, daß Romantik
124
JÜDISCHE ROMANTIK
eine von Sehnsucht getränkte Idee ist, die das Suchen über
die Erfüllung stellt, den Wandel und die Erregung über die
Sättigung und über die Blässe, die Gemeinschaft der Zu-
sammengehörigen, der gleich Empfindenden als Zentrum des
Volkes über die individualistische Isolierung des einzelnen und
über die unorganische mechanische Verbundenheit der Masse;
sie ist eine von den ew^igen ehernen großen Ideen, die der
Welt zu eigen und über sie Herrscher, des Daseins Kreise
und Gesetze bestimmen. So kommt sie auf ihrem Lauf durch
die Welt zu Zeiten und Völkern, berührt sie sich, herab-
gestiegen aus ihrer Höhe, mit dem Zeitgefühl und der Volksart,
und aus diesem Zusammenprall ergibt sich die neue Orientierung,
aus der ein tendenz-gerichteter Wille und eine andersartige For-
mation des Geistes und des Lebens herauswächst. Und es ist klar,
daß die Idee der Romantik w^ie jede Idee bei jedem Volke, d. h.
bei einer traditions-belasteten, eigen-gebundenen, prädestinierten
und selbst-orientierten Gemeinschaft, zu jeder Zeit eine eigen-
artige Prägung erhält, andere Richtung enthält. So ist unser
jüdisch-romantisches Empfinden, weil bedingt vom Judentum
und von der Welt, ein anderes, als das romantische Empfinden vor
IOC Jahren, dem Juden bei ihrem Eintritt in die neue Gesell-
schaft, an die die meisten sich mechanisch, die wenigsten sich
organisch anknüpften, mit heißer Inbrunst und aufgesogener
Hingabe sich weihten; und die Worte dieser Zeit und ihre Be-
griffe, die heute wieder stärker bis zur Abgegriffenheit in unser
Bewußtsein eindringen, gelten für uns nur als völker-psycho-
logische Parallele und bedeuten weder eine Übertragung der Ter-
minologie noch der Ideologie, noch eine entschuldigende Grund-
lage oder Anknüpfung.
In Wahrheit verknüpft sich nämlich dies romantische Emp-
finden unserer jüdischen Zeit mit alten, stets wieder hervor-
gebrochenen, reinen oder rohen, offenen oder verborgenen
Geistesgesetzen der Judenentfaltung: Es ist das stark jüdische
Sehnsuchtsgefühl, das emportreibend, aber auch gestaltend sich
in echter Romantik Pfeiler geschaffen hat, auf denen ganze
Zeiten des Judentums ruhten: Den Mystizismus als aufwärts ge-
wandte, die Zionssehnsucht als rückwärtsgewandte, den Messia-
nismus in seiner hehrsten und heiligsten Form als die vorwärts-
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JÜDISCHE ROMANTIK
gewandte Bewegung, im Vergleich zu der der moderne Missions-
gedanke, solange er so quietistisch-passiv, für die eigenen Be-
kenner unverbindlich bleibt, nur eine Karrikatur bedeutet.
Aber neben diese von der Romantik gefärbte Formation des
jüdischen Wesens stellte sich die falsche Romantik mit ihren
verkleinernden, verengenden, aus Tagesleid geborenen, an Tages-
leid gebundenen, aber über den Tag hinaus in die Judenpsyche
eingenisteten Zügen: Es genüge an die Zwie- und Mehrspältig-
keit seines Wesens zu erinnern, an seine vielseitige Schauspiel-
haftigkeit, durch die sein sonst intellekt-belasteter Sinn verirrt
und verwirrt wurde. So wurde er ein Virtuose der Vielheit (in
Ungarn geboren, in Deutschland Patriot), die ihn stärker als jedes
andere Wesen die Unmöglichkeit des Eigenwerdens und die Zer-
rissenheit des Lebens am eigenen Schicksal erkennen ließ. Aus
dieser Erkenntnis wuchsen, verbunden mit der schutzsuchenden
Abwehr gegen die äußeren Feinde, die Surrogatempfindungen
der unfruchtbaren Ironie, die ohne aufbauende Elemente war,
der nur selten plastische Humor und der nie schöpferische
Weltschmerz, der hart und zerrüttend oder aber weich und zer-
schmelzend den einzelnen und die Vielheit zum Untergang und
zur Zerreibung führte. Und dazu traten später noch, zur Patho-
logie des Juden gehörig, das Schwerpunkt- und rückgratlose, von
Wurzellosigkeit zeugende Bildungsbedürfnis, das, ursprünglich
nicht unedel, in seiner unheimlichen und heimatlosen Ausdeh-
nung ein Ersatz für eigenes, geistiges Gesamtleben, mit seiner
Orientierung an fremden Werten eigenes Können unterschätzte.
Und dem gegenüber stand, ein Zeichen unechter Klassik, das auf
der Fiktion aufgebaute Missionsideal mit seiner uferlosen, über-
heblichen Übertreibung, das mit Stimmungen und Geistesgesetzen
der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verwurzelt, damals
seine endgültige Form erhalten hatte. Dieser falsche Klassizis-
mus, der mit der falschen Romantik hier zusammengenommen
sei, weil sie beide aufhaltende und verwirrende Ingredienzen ins
jüdische Blut und Wesen getragen haben, spiegelte sich auch in
anderen Umbildungen der jüdischen Gemeinschaft wieder, die,
scheinbar fern von allen Gesetzen, wie keine, die die Erde trägt,
bei aller Stärke doch die schwächste ist, die bei aller innerlichen
Verbundenheit, doch nicht zu sich selbst kommen kann, die ewig
126
JÜDISCHE ROMANTIK
ist und doch nicht in die nahe Zukunft blicken kann, ohne Ge-
fahr und ohne Sorgen, die vom Alten lebt und das Neue nicht
will, nicht sieht, noch nicht kann. Diese Klassik, die satt ist, die
sich umgibt mit bestimmten Werten, erkennt ihr Volk nur in
Feiertagsstunden und spricht echohaft von Werten, die einst
Ideal, jetzt Idol w^erden und Götze, hart, grausam, unkenntlich
und unentrinnbar. In dieser Auffassung bedeutete Klassik etwas
Abgeschlossenes, das doch nur Wert hätte, wenn es erneuert,
vom Piedestal heruntergenommen und, bei aller Ehrfurcht, in
die Kämpfe des Lebens hineingezogen wird; und in diesem Sinn
machte die Zeit Moses Mendelssohns, dessen Kinder sich taufen
ließen, und ihrer Nachkommen für ihre Zeit und für ihre Kreise
das Judentum klassisch, tot, zum Prunkmahl für die Gelegenheit.
So bohrten sich im Wesen und in der Geschichte des Juden
als Form und Farbe, und manchmal als Norm Züge ein, welche
nicht so sehr in seinen Lehr- und Jugendjahren geschaffen
waren, die für unser Empfinden nur ein Anfang sind, kein Ab-
schluss, eine Grundlegung, keine Festlegung, sondern die in den
Wander Jahren entstanden, da das Exil die entwurzelten jüdi-
schen Menschen aufnahm, und in erdrückender Weise die Seele
des Volkes zermürbte. Von da an zog Unreinheit und Unfroheit
in seine Art ein, Eigenschaften, die vorher gedämpft wie ein
spielender, leise klingender Ton in der Seele geruht und ge-
schlummert hatten; da zog er voll Unrast durch die Lande im
ewigen Wandern, mit müdem Schritt, nicht wie der Handwerks-
bursche mit dem Land verwachsen, und nicht wie der Kolonist
mit der erobernden bewußten Gier des Tätigen, sondern gejagt
und geschüttelt.
Aber diese Zeiten, in denen der Jude alles Leid, das die Welt
vergeben kann, in sich aufgespeichert hat, in denen der Jude
alle Taten, die die Welt geübt, mit wachem Blick als Zuschauer,
und nur selten als tätiger, stets als Diener der anderen und von
ihrem Willen bestimmt, beobachtet hat, diese Zeiten nähern sich
dem Ende, und die Zeit, in der wir heutigen Juden, westöstliche
Menschen y.ar i^oyJ]v^ leben und in der wir anfangen, in Ge-
danken und in Werken unser eigenes Leben zu leben, ist das
Übergangsalter. Wir werden reif, wir sind reif und spüren, daß
wir zu unseren Herren- und Meister jähren, wie wir sie noch nie
127
JÜDISCHE ROMANTIK
in unserer Vergangenheit geschaffen haben, kommen werden, und
aus dem Chaos der Zeiten, das sich in unserer Seele zusammen-
geballt hat, treten schärfer und reiner die Linien eines reinen
Kosmos hervor.
Auf diese Weise deuten wir die Bestimmung der Zeit, in der
tausend Kräfte sich regen, mit einem Optimismus, der mehr ist
als Predigt, mehr als Glaube, mehr als Schauen; er ist der Mut,
alles zu wünschen, alles zu können; er ist Zuversicht und Da-
sein, er ist Bereitschaft und Tat, er ist Wille und Erfüllung, er
gibt Forderungen und Pflichten um unsertwillen und der Welt.
Aus den beengenden und umspannenden Bindungen mechanisti-
scher Weltanschauung löst sich das starke Eroberergefühl, das
abseits vom stets Dagewesenen, das nichts Neues unter der Sonne
kannte, neues Pathos in Wort, Tat, Lebensführung herbeibringt,
das lebensbejahend im höchsten Sinne an das glaubt, was vor
uns liegt, aber auch glaubt und weiß um gewaltige schlummernde
Potenzen, die im Wirbel und der Mitgerissenheit der Welt die
ruhenden Pole gewähren. So zeigen sich ideologisch und prin-
zipienhaft die Ziele, die nach abwärts gerichteten Zeiten des
Judentums einmal aufzustellen, schon genug gewesen wäre. Von
ihrer geschichtlichen Berechtigung, von Parallelen und Voraus-
setzungen und von unserer jüdischen Zeit seelischer Situation
sei noch einiges gesagt.
Es war vor mehr als loo Jahren, da wurde von solchen Trieben
und Tendenzen und ähnlichen Meinungen der Zeit und Meinun-
gen über die Zeit die weitwirkende Bewegung des romantischen
Gedankens beeinflußt, die später der Umbildung des deutschen
und überhaupt des modernen Menschen so wesentliche Impulse
zuführte. Damals pochte der romantische Gedanke, er nicht
allein, aber er am stärksten, hellsten und sozialsten, an das Irra-
tionale im Menschen; er rief die unterirdischen Bindungen, die
tief im Ursprung der Seelen beschlossen liegen, zum Kampf
gegen die Oberfläche auf. Er wandte sich an die letzten, inner-
lichen Abgründe, aus denen da, wo sie verborgen sind, den ur-
ewigen Müttern gleich, des Lebens Blutströme in ewig fließender
Erneuerung aufsteigen; er pochte in Wort und Werk an den
Volksgeist, an das national fundierte Empfinden, das in der
Kette angefügter Geschlechter den Menschen der Zeit so schuf.
128
JÜDISCHE ROMANTIK
Von hier aus ging der Weg dazu, Religion zu suchen und zu
erleben, Mythologie in Märchen und Legenden, in Künsten und
Werken aufzubauen, die Wissenschaft zu begründen, welche dem
Logos, dem Wesen des deutschen Menschen voll Liebe und heili-
ger Kritik nachspüren, seine Verwurzelungen im Einst auf-
decken, seine Ausweitungen in Zeit und Zukunft pflegen und
fördern sollte. Von hier aus ging der Weg in der vorwärts ge-
wandten Freude am eigenen Selbst über manche Verirrungen,
über Burschenschaftsrauheit, über schwärmerische Verranntheit
dahin, wo es galt, dem neuen deutschen Menschen das Land zu
bauen in reiner Freiheit, daß er sich eins und Herr und mächtig
fühle, und auf dieser Grundlage in eigenartigem Erlebnis ein
neues seelisches Deutschtum zu schaffen.
Das Problem, das hier an diesem Schulfall so ausführlich ent-
wickelt wurde und bei jeder entscheidenden Volks- und
Menschenwandlung ähnlich liegt, trägt für die Neuformung des
jüdischen Menschen, auf die wir hier steuern, ähnliche Züge (so-
weit auf die abnorme Gestalt jüdischer Entwickelung, die sich
auf eigene Gesetze stützt, überhaupt Parallelen angewandt werden
können). Auch wir haben unsere Aufklärungsperiode gehabt, als
notwendige Erscheinung, vieles freimachend, mehr noch zer-
störend, und letzten Sinnes für die Fortentwickelung jüdischer
Wesensart zu höheren Menschheitswerten in diesen Formen doch
nicht reich genug. Denn diese Assimilation sah nicht, daß die
Geschichte in den langen Zeiten des Ghetto den Juden gezwungen
hatte, Knecht zu sein, wo der andere sich als Herr aufgespielt
hatte, daß der Jude Betrachter mit Neid- und Leidgefühl ge-
wesen war, wo der andere die neuen Wege des Geschehens wies
und ging. Aus diesem unhistorischen Empfinden heraus, das die
Unterschiede übersah, nicht überwand, das zusammengesetzt war
aus Gläubigkeit oder Suggestion, Phantastik oder einem Ratio-
nalismus der Oberfläche, hastete die jüdische Aufklärung des
i8. und 19. Jahrhunderts danach, über das tiefste, was Menschen
zu scheiden vermag, Blut und Schicksal, in zu stürmischer Gier
hinwegzukommen, gefahrvoll für sich und die anderen, denen
sie, in Liebe und Ehrfurcht, mit Recht sich wahlverwandt ge-
fühlt hatte.
Gegen diese Assimilation erhob sich, aus Judenleid geboren,
9 129
JÜDISCHE ROMANTIK
von Judennot getränkt, von Sehnsucht nach Judentum getrieben,
das eigene Gewissen des jüdischen Volkes, das gebildet war an
den Ideen des Lebens, wie es die Erhaltung und Umbildung des
Einzelwesens und einer wertvollen Gesamtheit predigt und
fördert.
Auch jetzt ruft diese Gesinnung, die mehr ist als Wille, mehr
als Tendenz, die Unterirdischen auf, die Großen, das Blut und
den Geist, daß sie um unseretwillen sich erneuen in unseren
Tagen; peitscht Sehnsüchte auf, die nie verklungen waren, und
fügt das alte Lied vom gelobten Land hinzu, als der stärksten,
wurzelhaften Kraft, an der als dem Boden sich der Wille und
die Tat und der Wert erneue. Mit naturgesetzlicher Notwendig-
keit ballt sich aus dem Weltgefühl und dem eigenen Lebens-
gefühl des Volkes das neue Suchen und der neue Weg zusammen,
die aus der unentrinnbaren Wirrnis, in der der Jude Werkzeug,
Vorläufer, Mittler war, in noch unbekannte Gegenden führen
will, wo die Harmonie und Größe herrschen werden. Unbekannt
freilich nur den Möglichkeiten des Schaffens nach, von denen
zu träumen und zu wünschen und die vorzubereiten und die zu
beginnen notwendig ist, unbekannt nur, soweit das ,,Was'* der
Werte, der Ernte, der Erfüllung in Frage kommt, nicht aber
das ,,Wie", nicht aber das ,,Daß" . . . Zu dieser Zuversicht be-
rechtigt uns nicht hemmungslose Utopie, sondern Erkenntnis
unserer eigengesetzlichen Bedingungen in unserer Zeit, die uns die
Rüstigkeit des Reifen zeigt, der sich geschenkt und hingegeben
hat und nach Versuchen und Versuchungen heimkehrt zu sich,
heimkehrt als Herr in das Land, von dem er ausging und das
er zu Herren- und Meister jähren führen will; in dessen Erinne-
rung sich die Welt klarer, vielgestaltiger widerspiegelt und ein-
gehaftet hat als in der einer anderen Menschenart, dessen
Blut und Seele überschwemmt wurde von dem Mancherlei aus
Höhen und Tiefen; der in das Buch seines Lebens die Blätter
und Bilder eingetragen hat von Menschen und Völkern, die unter-
gingen vor ihm und deren Druck er zag, furchtsam, voll Weh-
mut und Wut gespürt hatte.
Und aus all diesen Eindrücken und Erlebnissen, die den Juden
vor sich entwertet haben, weil er ihnen unterlag, taucht der Wille
zu sich und dem eigenen Selbst auf, das den Juden stärkt und
i3o
JÜDISCHE ROMANTIK
voller und reicher macht, wenn er sich jetzt mit freier Wahl und
aus seiner Seele hineinwirft in die Welt, ihre Güter an sich zieht,
daß sie seine Art befruchten, ohne sie zu töten, daß sie sein»
Leistung erhöhen, ohne ihn sich zu entfremden.
So stellt sich die seelische Situation dar, die diese, unsere Ro-
mantik, uns lehrt: daß wir im Einklang mit den schöpferischen
Kräften der Welt, deren Ideen, unbewußt oft, uns formten, deren
Ideen aber auch, wider unseren Willen, uns bis zur Zerstörung
zerbrachen, daran gehen, jüdische Bildung zu begreifen als
Aufbau und Bildung oder Umbildung des jüdischen Menschen
in unseren Zeiten, daß wir daran gehen, nicht bloß, um La-
gardes schönes Wort zu variieren. Erbe und Enkel zu sein, son-
dern Ahne zu werden und selbst wirkende Traditionen zu
schaffen. Wir erkennen den Weg und weisen zum Ziel; wir
führen aber, was mehr ist, auch zum Ziel: indem wir durch
Gemeinschaft der Zusammengehörigen den einen mit dem
anderen durchtränken und uns mit dem Geist unseres Volkes
verknüpfen; indem wir das Naturgefühl des Landes, von dem
wir ausgingen und in dem wir die Wurzeln unseres Wesens
bildeten, auf uns wirken lassen, sei es in der tätigen Berührung
unseres täglichen Lebens mit ihm oder in der Erkenntnis seines
Wertes und seiner Verbundenheit mit uns, die wir sein Blühen
beeilen; indem wir an Stelle der Gemeinde die Gemeinschaft,
der Konfession (ohne Bekenntnis) die fordernde Einheit, an
Stelle der Etikette das Symbol, an Stelle der losen Verbunden-
heit die innerliche, von gemeinsamem Erlebnis gewirkte Ver-
knüpftheit setzen und wieder zu Ehren bringen.
Und so tritt wieder Leidenschaft auf, wo häßliche Bläßlich-
keit war, und beflügelt Rhythmus und Tempo, . . . und ein
anderer heißerer Trieb bewegt uns das Blut, ein neues Zeitbe-
wußtsein und Lebensgefühl voll gierigen Enthusiasmus quält und
erhebt und läßt uns zu größeren Faktoren der Welt werden, da-
mit wir ihr den Dank abstatten, den sie nicht immer um uns
verdient hat . . .
Wir wissen aber, daß unsere Schicksalsfrage nicht lautet: sind
wir noch Juden, wie sie ähnlich im 19, Jahrhundert oft genug der
gläubige und ungläubige Christ für seine Welt und seinen Glau-
ben auf warf, sondern die Frage heißt: sind wir schon Juden?
i3i
JÜDISCHE ROMANTIK
So suchen wir und bilden wir in der tiefen Ehrfurcht und
heiligen Verbundenheit mit unseren Kräften, die am Anfang der
Zeiten uns unsere seelischen Gesetze und die großen Werte gaben,
das ragende Judentum, das uns lieben wird und das wir lieben
werden, das uns wieder bedeutend werden und bedeutend machen
wird; wir erleben uns in der Gemeinschaft des Willens und der
Gesinnung, wir erhöhen uns in der Gemeinschaft der Arbeit,
bis wir ausklingen werden in eine Gemeinschaft des Lebens, ein
Bund, verknüpft durch die Tat, ein Organismus, der mit an-»
spannender Energie die Kleinen schützt und die Großen weckt,
eine Gesellschaft, die solche Forderungen an sich stellt, weil sie
sie erfüllen kann und erfüllen muß.
Dann werden wir auch aus den eigenen Bedingtheiten unserer
Entwicklung zu einem jüdischen Idealismus kommen, als der be-
stimmenden Philosophie unseres Lebens, als der tragenden Form
unseres Judentums, das seine geistigen und seelischen Kräfte an
sich ziehen, sie und sich einheitlicher, für die Welt wertreicher
machen wird; und wir werden nach den Tagen unseres Über-
ganges, in denen wir heute leben und die romantisches Gepräge
tragen mußten, durch eine ethische Renaissance hindurch, die
dem Judentypus die verantwortungsvolle Ehrfurcht und die reif-
machende Freiheit aufdrücken wird, zu einem jüdischen Klassi-
zismus gelangen, der die Seelen und das Tun der Juden lenken
und als eine von der Ewigkeit des jüdischen Volkes geformte
Denk- und Deutungsart uns unsere Normen auferlegen, unsere
Kräfte offenbaren, unsere Energien, Wünsche, Träume er-
lösen wird.
l32
DAS WERDEN
DER JÜDISCHEN BEWEGUNG
Unsere Geschichte
Von Wilhelm Stein
Uer empirische Naturalismus des vergangenen Jahrhunderts
hat infolge seiner grenzenlosen Verehrung des Stoffes von
keinerlei Form des Erkennens gewußt. Erst unsere Zeit sucht
wieder nach einer Urform, die als Schema der Entwicklung an-
zusprechen wäre; und sie scheint bei jener Dreiheit zu landen,
die Goethe als Aufstieg in Spiralen, die Idealisten Fichte, Schel-
ling und Hegel als Trichotomie wirksam sahen und in der sich
selbst der inkonsequente Positivismus Comtes verfing. Aber dem
leblosen, mechanisch-starren Dreiklang der Hegelianer, dem die
innere Rechtfertigung abging, unterlegen wir heute den Sinn,
daß das unfruchtbare Pendelspiel der Gegensätze zeugungs-
kräftig wird in der Durchbrechung dieses eintönigen Rhythmus,
um zur Vermählung von Beharrung und Veränderung im Dritten,
Höheren, das das Bleibende beider zusammenfaßt, aufzusteigen;
Karl Joels Versuch einer organischen Auffassung des Lebens —
enthalten in dem Buche ,, Seele und VV^elt" — beruht ganz auf
dieser Dreiheit, die er in der biologischen Kurve, in den Funk-
tionen, in den Aggregatzuständen, in der Sprache wiederfindet.
Die „Erkenntnisgeste" der Dreiheit befähigt uns, greifbar hell
das Verhalten des Juden zu seiner Vergangenheit in den drei
Hauptphasen seiner Geschichte zu beleuchten.
Der ganze Zeitraum von der Zertrümmerung der politischen
Existenz bis in die Tage der Emanzipation ist gekennzeichnet
durch eine furchtbare Überschätzung der Geschichte; natürlich
nicht in der Form theoretischen, vielmehr abstrakten Wissens,
das in völliger Bewußtheit das Leben beherrscht, sondern in der
Gestalt der bis zur Dumpfheit bedingungslosen Hingabe an die
Tradition. Damit war ein Zustand gegeben, in dem die Menschen
der jeweiligen Gegenwart erdrückt werden mußten, von der allein
gültigen Vergangenheit einerseits und der großen, strahlenden
Zukunft auf der andern Seite, die verheißen war und kommen
mußte, ohne Zutun des Menschen, auf das Wort Gottes hin, am
Ende der Tage. Dieses Leben der Stabilität, dem jede Be-
wegung — nach welcher Richtung immer — fehlte, hatte den
Schwerpunkt naturgemäß nicht innerhalb seines Getriebes, son-
dern er lag weit rückwärts in Thora, Mischna und Gemara.
i35
UNSERE GESCHICHTE
Es darf als ein gutes Zeichen für die innere Lebenskraft des
jüdischen Volkes genommen werden, daß trotz dieses Jahr-
hunderte währenden Zustandes die Sehnsucht nach Abschüttelung
der Geschichte wach werden konnte. Leon de Modena, Uriel
Akosta, Spinoza sind die ersten Sünder und Märtyrer dieser Sehn-
sucht, bis mit elementarer Wucht die Menschen, deren Dasein
von einem übermächtigen Gewesensein erstickt zu werden drohte,
diese Last abzuwerfen wagten. Denn das scheint der wahre Sinn
jener Epoche, die man einzig im Hinblick auf äußerliche Rechte
das Zeitalter der Emanzipation genannt hat: der politischen Frei-
heitsbewegung liegt der Kampf um den Wert und die Würde
der Gegenwart und damit des Individuums zugrunde, das nicht
irgendein willensberaubtes Glied eines festen, allseitig ge-
schlossenen Ringes sein möchte; es ist ein Kreuzzug, ein heiliger
Krieg des Individuums um sein Selbstbestimmungsrecht, da es
fühlt, daß das Beste am Menschen — Einheit und Innerlich-
keit — im Lebenskreise des Ghetto verloren gehen müsse. Gerade
die zionistischen Kreise haben die historische Berechtigung des
Emanzipationskampfes des Individuums in doktrinärer Kurzsich-
tigkeit immer übersehen, weil sie die damit verbundene Assimi-
lation bekämpften.
Der Prozeß der inneren Emanzipation, das Erwachen des Sub-
jektivismus ist von tiefster Notwendigkeit im Rahmen unserer
Geschichtsentwicklung. Aber ausscheiden mußte nicht allein, was
innerhalb der Überlieferung der Belebung und Verjüngung
widerstand, die Wucht des Angriffes fand naturgemäß nicht die
Besonnenheit des Maßhaltens und zerriß und verwarf die ge-
samte Vergangenheit und verleugnete jede Tradition: die reli-
giöse Reform, die jeden Inhalt zu entfernen wußte, ist das greif-
barste Gebiet, auf dem sich eine solche Entwicklung begab, und
die völlige Umwandlung der täglichen Lebensformen ihr radi-
kalstes Ergebnis.
Nur £im Anfang haftet einer solchen, fast nihilistischen Nega-
tion schwellendes Kraftgefühl und freudige Zuversicht an. Der
Befreiung von der Geschichte und den Wertmaßstäben ihrer
Autorität hatte der Befreite bloß die Wirklichkeit des Augen-
blicks entgegenzuhalten und allein den Wertmesser, den er nicht
aus entlegener Vergangenheit herzuholen brauchte, sondern der
i36
UNSERE GESCHICHTE
schon in der Selbstbesinnung des Individuums gegeben war: das
Denken. Und hatte man zunächst die Bindung durch die Autorität
der Tradition durch die Geltung des reinen Sollens zu ersetzen
getrachtet, die Beherrschung der Umwelt also nach der Ethik
orientiert — die Kantianer Salomon Maimon, David Gans, Mar-
kus Herz, Moriz Lazarus, Hermann Cohen sind mehr als zu-
fällige Erscheinungen — so war von der Göttlichkeitserklärung
der Vernunft zum Götzendienst des Verstandes nur eine kaum
merkliche Wendung. Damit schiebt sich zwischen den Menschen
und die Wirklichkeit das ewige Erwägen und Berechnen; zum
Ziel hat dieses Verhalten zur Umwelt dann immer das Materiellste
und einzig den Erfolg zum Wertmesser: das sind die einzigen
Götzenbilder geworden, vor denen unsere jüdische Gegenwart
das Knie beugt.
Bedacht muß hier werden, wie unendlich eng eine Wirklich-
keit wird, die nur auf den Augenblick zusammengedrängt ist,
und wie das unaufhörliche Bestreben, jede Regung und jede
Wahrnehmung in die Beleuchtung des Zwecks einzustellen, alle
Unmittelbarkeit des Lebens raubt. Und wieder, wie in der Zeit
der Wendung zum Individualismus, ist es der Durst nach Wirk-
lichkeit, der in die dritte Phase treibt; nur ist es der heiße Drang
nach einer breiteren, umfassenderen Wirklichkeit. Und das In-
dividuum, das sich eben noch in das Bewußtsein stolzer Über-
legenheit eingesponnen hat, im starken Glauben an sich selbst,
beginnt zu merken, daß der einzelne nicht vor dem Allgemeinen
und der Teil nicht vor dem Ganzen war. So steigt die Ahnung
eines tiefinneren Zusammenhanges mit den Menschen im Neben-
einandei und den Menschen des Nacheinander auf und man
,,hört den Lebensstrom wieder rauschen durch alle kleinen
Ruderschläge des Verstandes hindurch."
Diese Aufgabe, eine Synthese zu finden zwischen der Freiheit
des Individuums mit allen seinen Forderungen und der histo-
rischen Bedingtheit desselben ist dem Zionismus zugefallen; er
nimmt in dieser Hinsicht die gleiche Stellung ein, die der Ro-
mantik im deutschen Geistesleben zukommt, während die Eman-
zipationsepoche dem Zeitalter der Aufklärung entsprochen hatte.
Das Bekenntnis zum Zionismus, natürlich in seinem weitesten
Sinne als jungjüdische Bewegung, bedeutet nicht allein ein Auf-
13,
UNSERE GESCHICHTE
sichnehmen der Verantwortung der gesamten jüdischen Gegen-
wart, auch mehr als das bewußte Wollen der Zukunft, es ist ein
Jasagen zur Vergangenheit; daß dieses bald mehr, bald minder
freudig klingt und meist Propagandazwecken dient, verhüllt nur
den Kern. Wer sein Ohr an den allumfassenden Körper der
Vergangenheit legt, wer den ewigen Rhythmus des Werdens und
Vergehens erfühlen möchte, dem kommt das wärmende und er-
leuchtende Erlebnis, das Schopenhauer als das große Wunder
des Einsseins aller Wesen ansprach: frühere Zeiten rücken näher,
verwandte Gesichter tauchen empor, und aus der klaren Ein-
fachheit ihres Daseins flackert die erhellende Deutung unseres
eigenen komplizierten Wesens auf; ,,und die eigene Zeit er-
scheint als die Spitze eines Gesamtbaues, der alle Zeiten um-
faßt; von solcher Spitze aus gesehen erscheint alles Frühere als
ein allmähliches Ansteigen zur Höhe; auch in dem Niederen wird
nicht sowohl der Abstand und Gegensatz als die Annäherung
und Vorbereitung gesehen" (Eucken).
Darum berührt uns das mehr theoretische Problem der Be-
handlung der Geschichte als Wissenschaft kaum oder gar nicht.
Denn wenn es auf der einen Seite eine billige Lösung ist, den
sinnlosen, dumpfen Zufall im Reiche der Geschichte herrschen
zu lassen, weil große Ereignisse durch Zufälle verursacht worden
sind — der Zufall fügt ja nur eine neue Bedingung zu den be-
reits bestehenden hinzu — , so ist auch die durchgängige Geltung
des Kausalprinzips, wie sie Lamprecht will, die einseitige Über-
spannung einer an sich berechtigten Idee.
Aus der vielfältigen Erweiterung nach der Tiefe hin wird etwas
sichtbar, das als ein Sinn gedeutet werden muß, indem wir in
allem Reichtum der Geschehnisse mehr fühlen als zusammen-
hanglose Stöße und Erschütterungen, und es wächst aus diesem
wirren Chaos die Ruhe entgegen, die die angstvollen Gedanken
des Verstehenden glättet.
Ein Sinn kann in unserer Geschichte gedeutet werden: vom
Ghetto über die Emanzipation zum Zionismus.
i38
Wandlungen im Zionismus
Von Adolf Böhm
Alle großen sozialen Bewegungen charakterisieren sich als eine
Auflehnung gegen die vorhandenen Zustände, die plötzlich als
unerträglich empfunden werden.
Das Gefühl der Unerträglichkeit gegebener Verhältnisse kann
zweierlei Genesis haben.
Erstens kann ein vorhandener Übelstand, an den man sich
durch Abstumpfung, angepaßte Ideologie, Unwissenheit usw.
schon gewöhnt hatte, sich so verstärken, daß er das Maß dessen
übersteigt, was man bisher als erträglich empfunden hatte: Ver-
stärkung des Druckes auf unterworfene Nationen, Klassen usw.
ruft Aufstände der Unterdrückten hervor, die oft jahrhunderte-
lang ihre Ketten geduldig ertragen hatten. Dafür liefert die Ge-
schichte unzählige Beispiele, und für die nächste Zukunft hat
Karl Marx angenommen, daß durch die sicher zu erwartende
Steigerung der Ausbeutung, Verknechtung, Bedrückung des Pro-
letariats dieses seinen Zustand endlich als unerträglich empfinden
und in einer gewaltigen Revolutionierung der Gesellschaftsord-
nung die Expropriateure expropriieren werde.
Zweitens kann ein gegebener Zustand auch dann als unerträg-
lich empfunden werden, d. h. als solcher, den man durch Aktion
radikal umgestalten müsse, wenn sich in den Köpfen einer ge-
nügend großen Zahl von Menschen ein neues Weltbild festgesetzt
hat, das sich zu dem tatsächlichen Zustand der Dinge in starkem
Gegensatz befindet. Dies ist der Weg, den meist religiöse Be-
wegungen gehen.
Fast immer sind beide Momente aufs innigste verknüpft und
durch einander bedingt. Bei sehr vielen großen Revolutionen
hat ein von Denkern und Dichtern aufgestelltes neues Weltbild,
das sich der Köpfe bemächtigte, das meiste dazu beigetragen,
um den Mut zur Erhebung gegen die — wegen gesteigerten
Druckes — als unerträglich empfundenen Zustände zu entfachen,
wie andererseits die Konzeption eines solchen neuen Weltbildes
meist erst aus der Unzufriedenheit mit den gegebenen Zuständen
geboren wurde. Trotzdem finden wir auch beide Momente isoliert
wirkend. Die meisten Aufstände unterdrückter Schichten, — Ple-
bejer, Sklaven, Höriger usw. — hatten nur eine rein quantitative
189
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
Steigerung- des Druckes zur Ursache, während sehr oft auch
eine religiöse oder philosophische Richtung, die eine Umfor-
mung des menschlichen Gefühlslebens zur Folge hatte, die Ur-
sache war, daß altgewohnte bisherige Einrichtungen erst durch
die neue Art zu fühlen als unerträglich empfunden wurden. Dies
ist bei nahezu allen Religionskriegen und -Verfolgungen zu be-
obachten.
In der jüdischen Geschichte, seit Untergang des Reiches,
finden wir, wie in so vielen Beziehungen, auch in Hinblick auf
soziale Erhebungen ein Abweichen von aller sonstigen histori-
schen Entwicklung. Obzwar von den Juden in all den Jahr-
hunderten des Diasporalebens die Unerträglichkeit ihrer Lage
genügend stark empfunden wurde und sie ein geradezu ideales
Weltbild: das messianische Gottesreich auf Erden, gläubig rezi-
piert hatten, finden wir niemals, bis zur zionistischen Bewegung,
eine Auflehnung gegen die vorhandenen Zustände. Man hat das
denselben Juden, die auf der Folter und am Scheiterhaufen für ihr
Judentum standhaft litten und starben, als Mangel an Mut oder
als vorsichtige Klugheit — waren sie doch überall eine verschwin-
dende Minorität — ausgelegt. Wer aber auch nur auf das flüch-
tigste mit der jüdischen Geschichte bekannt ist, weiß, daß die
Erklärung für dieses Verhalten eine andere ist: Der Schwer-
punkt der jüdischen Existenz war seit der Zerstörung Jerusalems
in das religiös-sittliche Sein verlegt worden. Während die Stadt
noch von Titus belagert wurde, ließ sich Jochanan ben Sakkai
nach der bekannten Überlieferung heimlich ins Lager des Feld-
herrn tragen, erwirkte von ihm die Lehrfreiheit und errichtete
das Lehrhaus von Jabneh, dem in ununterbrochener Folge an
allen Orten und zu allen Zeiten die Lehrstellen des Judentums
folgten. Die Vernichtung der staatlich-politischen Existenz wurde
dadurch nicht zur Vernichtung der geistig-sittlichen, des Juden-
tums. Während der vielen Jahrhunderte des Diasporalebens emp-
fanden die Juden dieses Judentum als ihren einzigen Lebenskern.
Trotz aller Verfolgungen, vorübergehender Zwangsbekehrungen
usw. war doch in der ganzen trüben Zeit der Fortbestand des
Judentums nicht bedroht. Da dieses aber für die Juden ihr ein-
ziges Existenzziel war, so konnten sie ihre schreckliche Lage wohl
als ein Unglück ansehen, waren jedoch in ihrem innersten Lebens-
i4o
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
kern nicht betroffen. Daher die relative Gleichgültigkeit der
Juden gegen ihre äußere Lage, daher ihre erschreckende Ohn-
macht und der Mangel jedes Versuchs einer Auflehnung gegen
diesen Zustand bei aller Todesverachtung im Festhalten am
Judentum. Daran änderte auch das Weltbild, das die Juden in
sich trugen, nichts, denn war es auch ein unsagbar herrliches,
so konnte es nach ihrer Vorstellung nur durch Eingreifen Gottes,
durch den von ihm gesandten Boten (Messias), nicht aber durch
eigene Aktion verwirklicht werden, es konnte auch nur am „Ende
der Zeiten", also in einem von Gott und nicht von Menschen be-
stimmten Zeitpunkt kommen.
Es ändert nichts, wenn man das Flüchten in eine rein geistige
Existenz und das Erwarten einer Befreiung durch Gott umge-
kehrt als eine Anpassung an die gegebenen Verhältnisse, die
jeden Machtkampf und Machterwerb ausschlössen, ansieht. Tat-
sächlich waren damit die Elemente, die zu einer sozialen oder
nationalen Bewegung hätten führen können, aus dem Bewußt-
sein der Juden verdrängt. Der Zionismus liegt daher nicht, wie
noch vielfach geglaubt wird, in der Verlängerungslinie des histo-
rischen Judentums. Er entstand nicht dadurch, daß nach dem
W^egfall der rechtlichen Hemmungen, welche der Judenheit eine
aktive politische und kolonisatorische Tätigkeit unmöglich ge-
machthatten, diese daran gegangen wäre, der jüdischen Diaspora,
die seit ihrem Bestehen als ein Provisorium angesehen wurde,
ein Ende zu bereiten und nach dem ,, dritten Exil" — wie Moses
Heß, ein Vorläufer der zionistischen Bewegung, bei dem starke
Anklänge an diese Auffassung zu finden sind, sagt — das jüdische
Gemeinwesen in Palästina wieder aufzurichten. Der Zionismus
ist vielmehr eine Bewegung, deren Entstehungsgrund in der
furchtbaren Krise liegt, in welcher sich heute, nach hundert-
jähriger Entwickelung, seit der ersten Rezeption (in Frankreich)
Judenheit und Judentum befinden. Das bewegende Motiv im
Zionismus ist, diese Krise zu überwinden, die heutige „Juden-
frage" zu lösen.
Es ist nicht unwichtig, dies hervorzuheben, weil vielfach auch
Zionisten im Laufe ihrer zionistischen Betätigung langsam zu
der Anschauung zurückgleiten, daß der Zionismus tatsächlich
nur die Konsequenz einer altjüdischen Auffassung sei, ohne
i4i
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
sich weiter darüber Rechenschaft zu geben, aus welchen Mo-
tiven sie selbst Zionisten geworden sind. Hier liegt die Gefahr
reaktionärer Anwandlungen und eine Verminderung der neu-
schöpferischen Kraft der Bewegung. In Wahrheit ist der Zio-
nismus ein Kind der Zeit, d. h. eines durch die Rezeptionsperiode
völlig veränderten Judentums. Wenn man das Schema Hegels
anwenden wollte, so könnte man die Entwickelung seit Öffnung
der Ghettoschranken sehr gut damit kennzeichnen, daß man als
Position das Judentum, als Negation die Assimilation und als
Synthese den Zionismus setzt. Tatsächlich hat nach der Rezeption
keine zionistische, sondern eine vom Judentum wegführende, un-
gemein starke assimilatorische Strömung unter den Juden ein-
gesetzt, und erst nach den Enttäuschungen, die diese verursacht
hat, die zionistische. Aber weit mehr noch als vom äußeren Ge-
schick der Judenheit gilt jenes Schema von dem inneren Zu-
stand der Juden. Sie haben sich vom Judentum innerlich loszu-
lösen versucht und sich assimilieren wollen. Erst als assimilierte
Juden haben sie die Unmöglichkeit ihrer Situation empfunden,
und was daraus entstand, war nicht etwa eine Strömung zur Rück-
kehr zum früheren Judentum, sondern eine Bewegung zum Auf-
bau eines modernen Judentums, d. h. eines solchen, das auch die
nicht jüdischen Kulturelemente der Jetztzeit aufnehmen sollte.
Niemals hätte eine zionistische Bewegung entstehen können,
ohne daß durch die nichtjüdische Kulturwelt der innere Habi-
tus der jüdischen Psyche von Grund auf verändert worden wäre.
Zum Verständnis des Zionismus tut deshalb eine Einsicht in
das wahre Wesen, in den letzten Grund der jüdischen Krise not,
die sich zwar als ein ganzer Komplex von verschiedenen „Juden-
fragen" darstellt, aber von einem Punkte aus zu begreifen ist.
Nur wenn man die Rezeption nicht einfach als eine Wegräumung
der letzten trennenden Schranke ansieht, welche die Juden noch
von der formalen Rechtsgleichheit abschloß, sondern als Auf-
lösung des jüdischen Gemeinschaftslebens begreift, hat man
diesen Punkt gefunden.
Diese Auflösung bedeutete nicht weniger als eine völlige Zer-
störung des historischen Judentums, das in seiner vollen Aus-
prägung nur als Gemeinschaftsleben möglich ist. Denn die zwei
im Leben des Volkes sich auswirkenden Grundgedanken des
i42
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
Judentums, die Idee der Einheit alles Lebens und die der theo-
kratischen Gemeinschaft sind so wesentlicher und bestimmender
Natur, daß ohne die Möglichkeit ihrer Entfaltung von einem
„Judentum" im alten, großen Sinne nicht die Rede sein kann.
Das Judentum als „Konfession" ist nur ein Bruchstück und kann
als solches eine Macht über die Seelen auf die Dauer nicht aus-
üben. Hier liegt ein Hauptgrund des Mangels an Festhaltungs-
kraft, den das heutige Judentum zeigt. Alle Untersuchungen reli-
giöser und nationaler Kreise über die Ursachen der Massenflucht
aus dem Judentum, deren Zeugen wir heute sind, können nicht
zur Klarheit über dieses Phänomen führen, solange man den
Mangel an Widerstandskraft, den der Jude gegenüber der An-
ziehung, welche naturgemäß die nicht jüdischen Lebenskreise auf
ihn ausüben, zeigt, bloß als Charakterschwäche ansieht und nicht
bemerkt, daß und warum das Judentum keine Festhaltungskraft
mehr aufweist.
Im Ghetto war das Gemeinschaftsleben ein vollständiges, es
umfaßte nicht nur Religion, sondern auch Sitte, Recht, Sprache,
Familienleben, in vollständiger Einheit. Der Geist des Volkes
schuf sich seine Lebensformen. Der Verkehr mit der nicht-
jüdischen VV^elt rangierte quasi nur unter der Kategorie „äußere
Politik". Die theokratische Gemeinschaftsidee, nach welcher Gott
der alleinige Herrscher und der Spender des einen, unteilbaren
Lebens sei, bedingt die Anschauung, daß das Göttliche oder der
göttliche Ursprung des Lebens sich im Gemeinschaftsleben als
Sittlichkeit, Gerechtigkeit usw. offenbare. Diese Auffassung
mußte zur Folge haben, daß alle Beziehungen der Menschen
untereinander und zur Gemeinschaft religiösen Charakter er-
hielten, daß sie alle durch religiöse Vorschriften geregelt oder
umgekehrt, alle sozialen Bildungen, selbst die profaner Natur,
als religiöses Gesetz betrachtet und in den religiösen Gesetz-
büchern aufgezeichnet wurden. Das ,, Judentum" war keine bloße
Konfession, nicht allein Individualreligion, sondern umfaßte die
Gesamtheit aller durch Gesetz und Tradition geheiligten Formen
des Gemeinschaftslebens in ihrer bestimmten Eigenart.
Eine Auflösung des jüdischen Gemeinschaftslebens mußte des-
halb für dieses „Judentum" katastrophal werden. Durch die Re-
zeption der Juden trat diese Katastrophe ein. Die jüdischen
i43
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
Menschen wurden Glieder einer Staats-, Rechts-, Arbeits- und
Lebensgemeinschaft, die keine jüdische war, sie hatten mit ihren
nichtjüdischen Mitbürgern alle Freuden und noch mehr alle
Leiden dieser Gemeinschaft zu tragen, ihr Denken wurde durch
die nicht jüdische Wissenschaft geschult, nicht jüdische Künstler
und Philosophen beeinflußten ihr Empfindungsleben und ihre
Anschauungsweise. Es blieb nichts vom Gemeinschaftsleben zu-
rück, als die rein religiösen Angelegenheiten und der instinktive
Familien- und Verkehrszusammenhalt, gefördert durch die Ge-
fühle der Blutsverwandtschaft, der Empfindung identischer
Lebensanschauung, ähnlicher Dispositionen und gleicher sozialer
Lage. Dieser Zusammenhalt konnte wohl auf der einen Seite eine
Abneigung der Wirtsvölker gegen die Juden hervorrufen und
andererseits stark genug wirken, um den Juden in einer oder der
anderen Form das Gefühl der Solidarität zu verleihen, aber er
war nicht einmal ein Schatten des früheren Gemeinschaftslebens
mehr.
Nichts bezeichnet treffender die Situation, als das Wort, daß
die Juden als Gemeinschaft heute „weder leben noch sterben
können".
Begreift man die jüdische Krise als eine solche der jüdischen
Gemeinschaft, dann wird es klar, daß sie nicht nur eine Krise der
Judenheit ist, einer Gruppe durch bestimmte Momente zu-
sammengehöriger Menschen, sondern auch eine Krise des Juden-
tums. Es ist, wie schon bemerkt, eine schwere Selbsttäuschung,
die zur Konfession her abgedrückte jüdische Religion als das alte
traditionelle Judentum anzusehen. Judentum ist vor allem eine
durch religiöse Vorstellungen bestimmte Form des Zusammen-
lebens, nicht bloß eine individuelle Religion, und im Zentrum der
Religionsvorstellungen steht die Idee einer bestimmten Aufgabe
des jüdischen, dazu auserwählten Volkes: das Reich Gottes in
Erscheinung zu bringen.
Ein Judentum im alten Sinne ist daher nirgends mehr vor-
handen und die jüdischen Menschen von heute gehören wohl —
was übrigens auch bestritten wird — demselben Blutskreis an,
haben ähnliche Dispositionen, Neigungen usw. aber sie sind doch
auch organisch verwachsen mit dem europäischen Kulturkreis,
in dessen Einflußsphäre sie stehen, dem ihre hauptsächlichste
i44
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
Arbeit gilt. Die Unmög-lichkeit, eine vollkommene Einheit
zwischen diesen beiden Wesenselementen der heutigen Juden zu
bilden, ist die Ursache der seelischen Zerrissenheit der modernen
Juden, der Krise des jüdischen Individuums.
Die moderne Judenfrage hat somit einen dreifachen Aspekt:
Insofern man die äußere Lage der Gesamtheit der Juden be-
trachtet, ist diese moralisch eine unwürdige, infolge der Minder-
wertung der Juden und des Widerstands gegen ihr Assimila-
tionsstreben, politisch eine ohnmächtige, da die Juden überall
nur eine verschwindende Minderheit bilden und nirgends eine
widerstandsfähige, in sich selbst geschlossene Wirtschafts-
verfassung besitzen, und im Osten Europas, wo die Mehrheit der
Juden wohnt, ist sie auch ökonomisch und physisch infolge
von Ausnahmegesetzen, Bedrückungen und Verfolgungen eine
beispiellos elende. Die Judenfrage ist aber nicht, wie fast
immer angenommen wird, bloß eine Judenheits frage, sondern
sie ist auch aufs stärkste verknüpft und bedingt durch die ge-
schilderte Krisis des Judentums, welche die Ursache der inneren
Wurzellosigkeit der heutigen Juden, ihren Mangel an Wider-
standskraft, Beharrungsvermögen und namentlich an Selbst-
achtung bedingt. An der Krise von Judenheit und Judentum
leidend, halb im Jüdischen, halb im Nicht jüdischen wurzelnd,
ist der moderne Jude in einer inneren Not, welche als individuelle
Judenfrage bezeichnet werden kann.
Der Zionismus als Bewegung zur Überwindung der jüdischen
Frage konnte erst entstehen, als den Juden die Unerträglichkeit
ihrer Lage deutlich zum Bewußtsein gekommen war und sie ein
Weltbild konzipiert hatten, das ihnen die Möglichkeit eines
anderen, menschenwürdigeren Daseins zeigte. Um dahin zu ge-
langen, mußten sie erst innerlich vollkommen moderne Menschen
werden, denn als Juden hatten sie infolge der Krisis, in der sie
standen, keine Selbstachtung mehr. Das Gefühl für persönliche
Würde, das überhaupt nie im Judentum vorhanden war, sondern,
als Erbteil hellenischer Kultur in der Moderne zu finden ist,
mußte erst in ihnen Wurzel geschlagen haben. Und anstelle der
im Judentum liegenden Idee der Hilfe von oben, mußten sie die
durchaus moderne, von englischen Reformern stammende Idee
der Selbsthilfe rezipiert haben.
lo i45
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
Wie bei allen großen Bewegungen war es auch bei der neu-
jüdischen so, daß erst ein großes Individuum imstande war, sie
zu entfachen. In Theodor Herzl, einem Manne von modernstem
Kulturempfinden, war das Gefühl für persönliche Würde so stark
ausgeprägt, wie vor ihm noch in keinem jüdischen Menschen.
Deshalb konnte er sich, als er den Dreyfushandel miterlebte,
nicht mit dem in anderen Juden als Erbteil der Ghettoanpassung
tief wurzelnden Empfinden: ,,es ist nicht so arg, es wird vor-
übergehen", beruhigen. Er konnte sich nicht ducken und auch
nicht irgendeiner Selbsttäuschung hingeben. Als fein empfin-
dender Mensch reagierte er auf jenen antisemitischen Exzeß so-
fort mit der Impression, daß die Lage der Juden eine unmögliche
und unerträgliche sei. Hätte Herzl bloß diesem Empfinden Aus-
druck gegeben, die Wirkung wäre ausgeblieben. Ein Vorgänger
von ihm, Leo Pinsker, hatte schon 1 4 Jahre vor Herzls Auftreten
dies in viel schärferer und logischerer Weise getan, ohne auch nur
annähernd eine ähnliche Wirkung zu erzielen, wie er. Diese er-
klärt sich daraus, daß Herzl Phantasie genug hatte, um auf die
Judenfrage, als sie ihm zuerst fühlbar wurde, sofort mit der Kon-
zeption eines Weltbildes zu erwidern, das den denkbar stärksten
Kontrast zu dem bestehenden Zustand in sich schloß. Gegenüber
der geradezu lächerlichen Ohnmacht der heutigen Juden ver-
langt Herzl nichts weniger, als einen souveränen ,, Judenstaat" 1
Mit diesem Bilde begeisterte er die Juden und erst, als sie erfüllt
waren von dem neuen großen Gedanken, als sie „mit diesem
Trank im Leibe" die nüchterne Wirklichkeit betrachteten, diese
an dem Ideal maßen, das Herzl aufgestellt hatte, wurde ihnen
mit einem Male klar, was sie früher nur schwach oder gar nicht
empfunden hatten: Die Erbärmlichkeit der gegebenen Lage. Erst
die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit löste die Energie
aus, welche die große Bewegung schaffen konnte.
Vielleicht hätte auch sie nicht genügt, um die nüchternen, ratio-
nalistischen und skeptischen Juden mit fortzureißen, wenn nicht bei
Herzl ein drittes Moment wirksam gewesen wäre: Er konzipierte
nicht nur das neue Weltbild, sondern er glaubte auch mit der
ganzen Kraft seiner großen Seele an die Möglichkeit der Verwirk-
lichung seines Ideals. Dieser Glaube einer starken Persönlichkeit
wirkte wie ein religiöser, er riß eine Schar von Menschen mit
i46
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
und erfüllte ihre Herzen, als Herzl ihn dadurch bekräftigte, daß
er selbst die Verwirklichung seines Phantasiebildes in die Hand
nahm.
Die Ideen und Pläne, die er für diese Verwirklichung ent-
wickelte und befolgte, waren durchaus von modernen, durch die
„Assimilation" erworbenen Anschauungen bestimmt. Das Ziel
war die Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung des Volkes,
Ideen, die aus dem Vermächtnis der Enzyklopädisten stammen
und in der jüdisch-theokratischen Staatsauffassung nicht zu
finden sind, das Mittel war organisierte Selbsthilfe, ein durchaus
modernes Prinzip, während den Juden der Begriff der Selbst-
emanzipation fremd war und ihnen Philantropie als religiöse
Pflicht die höchste Form sozialer Hilfe bedeutete.
Die Reste von Anschauungen, die noch, vom Ghetto übernom-
men, in den Anhängern Herzls steckten, waren der Entwickelung
der Bewegung deshalb nur hinderlich, wie z. B. die messianisch
gefärbte Auffassung seiner Sendung, die zur Folge hatte, daß
die Organisation von seiner alleinigen Tätigkeit alles erwartete
und gewissermaßen nur der Resonanzboden für seine Stimme
war, was freilich der autoritären Natur Herzls entgegen kam. Es
bedurfte langer Jahre, um die Zionisten zu der Anschauung zu
erziehen, daß nur ihre eigene vereinte Anstrengung zum Ziele
führen könne.
Vom Judentum übernahm Herzl nur die sozialen Ideen. Das
neue jüdische Gemeinwesen sollte keine Kopie der alten Welt wer-
den und mit dem Fluch der sozialen Frage behaftet sein, es sollte
von vornherein auf den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit aufge-
baut werden. Allein wie ,, jüdisch" dieses Streben auch erscheint,
Herzl waren die sozialen Ideen doch eher durch den modernen
Sozialismus geläufig, als durch sein Judentum. Seine ganze Auf-
fassung der Judenfrage hatte mit Judentum sehr wenig gemein.
Sie bezog sich fast durchaus auf die Judenheitsfrage. Herzl wollte
durch Aufrichtung eines jüdischen Machtzentrums die äußere
(moralische und politische) Lage der Judenheit revolutionieren.
Bei manchen aus dem Westen stammenden Zionisten finden wir
heute noch diese Anschauung ganz unverändert vor. Die Mehrzahl
der Zionisten hat aber im Laufe der Zeit eine große Wandlung
der Anschauungen erfahren, die hauptsächlich der Einwirkung
i47
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
zu danken ist, welche die „Chowewe Zion" — Zionsfreunde —
auf sie ausübten. Diese Gruppe, meist aus ostjüdischen Kreisen
sich rekrutierend, hatte schon lange vor Herzl die praktische
Kolonisationsarbeit in Palästina betrieben. In ihren Anschauungen
waren zwar schon alle die Momente enthalten, die Herzl später
in so großartiger Weise im politischen Zionismus zusammen-
gefaßt hat, doch das Ziel, das ihnen vorschwebte, das Ideal,
das sie leitete, war nicht ein ,, Machtzentrum" der Juden, son-
dern, wie es einer ihrer ersten Vorkämpfer, der auch erst über
die Assimilation zum Zionismus gekommen war, Lilienblum, for-
muliert hatte: ,,Die Wiedergeburt des jüdischen Volkes im heili-
gen Lande ihrer Väter." Hatte Herzl durch begriffliche Konstruk-
tion nachzuweisen versucht, daß die Juden ein Volk seien, was für
die überwältigende Mehrheit der Westjuden förmlich eine neue
Entdeckung war, so hatten die ost jüdischen Zionisten in ihrer
Brust ein lebendiges Volksempfinden; hatte Herzl den Aufbau
des Machtzentrums als politisches Erfordernis für die Änderung
der Lage der Judenheit angesehen und deshalb nicht ausschließ-
lich Palästina im Auge gehabt, so war den Ghowewe Zion der
Gedanke der nationalen Renaissance das hohe Ideal, für das sie
sich einsetzten und, wie die ersten Pioniere der Kolonisation,
opferten, ein Ideal, das natürlich nur auf dem durch die natio-
nale und religiöse Tradition geheiligten Boden Palästinas ver-
wirklicht werden konnte. Hatte Herzl geglaubt, daß im neuen jüdi-
schen Gemeinwesen eine europäische Sprache herrschen werde,
so war es den Ghowewe Zion selbstverständlich, daß nur das
Hebräische die Sprache der nationalen Renaissance sein könnte.
Die Festlegung der zionistischen Organisation auf Palästina,
die Wiederaufnahme der praktischen Kolonisationsarbeit, die
immer tiefer gehende Nationalisierung und Hebraisierung der
westlichen Zionisten, diese große Wandlung von einer rein po-
litisch-moralischen zu einer vorwiegend national-kulturellen Auf-
fassung des Zionismus ist der Einwirkung der östlichen Zio-
nisten und der geistig von ihnen befruchteten Neuschöpfungen
in Palästina zu danken. Durch diese Wandlung hat die in der
zionistischen Organisation zusammengefaßte Bewegung einen
einheitlichen Gharakter erhalten, und ihr Ziel ist nunmehr klar
umgrenzt.
i48
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
Dr. Arthur Ruppin, der Initiator der neueren zionistischen
Kolonisationsarbeit, hat es in seinem Buche „Die Juden der
Gegenwart" (II. Auflage) in folgenden knappen Worten formu-
liert: ,,Das Ziel des Zionismus ist die Bildung einer kohärenten
jüdischen Bevölkerung in Palästina, mit der Landwirtschaft als
ökonomischer Grundlage und dem Hebräischen als nationaler
Sprache."
Diese Vereinheitlichung konnte trotz aller Verschiedenheit der
Anschauungen zustande kommen, weil beide Richtungen einen
gemeinsamen Ausgangspunkt und ein gemeinsames Endziel
hatten. Beide trafen sich in dem Bestreben, die Lage der Juden-
heit, die unerträglich geworden war, zu ändern. Daß Herzl vor
allem von der politischen und moralischen Lage des Volkes aus-
ging, die Ghowewe Zion hingegen mehr von dem Empfinden
geleitet waren, daß der Bestand des Volkes in der Diaspora ge-
fährdet sei, konnte zwar den bekannten Streit über die Methoden
und das Tempo der Arbeit entfesseln, doch keinen inneren Gegen-
satz bedeuten. Vielmehr scheinen beide Richtungen einander zu
ergänzen. Der Herzische Zionismus hatte die Juden theoretisch
als Volk erkannt und dann erst das wirkliche jüdische Volk ent-
deckt, die Ghowewe Zion hatten im kleinen eine Sache unter-
nommen, welche nur als alljüdische und politische durchführbar
war, sie fanden bei Herzl die Kraft, ihre Herzensangelegenheit
zur Sache einer Weltbewegung zu erheben.
Es ist somit leicht erkennbar, daß es sich, trotz aller national-
kulturellen Färbung der Ghowewe Zion und der heutigen zio-
nistischen Organisation, im Zionismus doch vor allem um eine
Bewegung handelt, welche die Judenheitsirage lösen will. Nur
dafür ist es möglich, ein einheitliches Programm aufzustellen.
Der Zionismus als geistige Bewegung greift aber weit darüber
hinaus. Indem er an der Wiedergeburt des jüdischen Volkes
arbeitet, rührt er notwendigerweise nn die Judentumsfra.ge, nicht
nur in Palästina, wo die Praxis des Lebens und der neu jüdischen
Erziehung fortwährend das Problem des jüdischen Inhalts auf-
wirft, sondern auch in der Diaspora, wo durch die Nationali-
sierung, sowie durch die Ausstrahlungen der palästinensischen
Schöpfungen mit Notwendigkeit der Drang erwacht, dem jüdi-
schen Leben einen jüdischen Inhalt zu geben. Schon Herzl sagte:
i49
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
,,Der Zionismus ist die Rückkehr zum Judentum vor der Rück-
kehr ins Judenland", wenn er auch mit dem Worte „Judentum"
mehr allgemein die jüdische Gemeinschaft meinte, mit der Rück-
kehr die Abkehr von der Assimilation.
Die Krise des Judentums ist ihrer Natur nach viel zu kom-
pliziert, als daß der Zionismus in Hinblick auf sie eine eindeutige
Bewegung sein könnte. Hier ist noch alles im Flusse und die Be-
griffe, Anschauungen, Empfindungen sind noch chaotisch. Mit
dem vom Zionismus erstrebten und schrittweise sich verwirklichen-
den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinschaft ist zwar die Vor-
bedingung für eine Lösung dieser Krise gegeben. Aber das neue
Judentum kann nicht mehr das alte sein. Der Einfluß der Assi-
milationsperiode, die völlig geänderten Lebensverhältnisse und
seelischen Bedürfnisse der heutigen Juden bedingen eine Situa-
tion, in welcher es problematisch geworden ist, welchen Inhalt
das neue Judentum haben kann.
Innerhalb der zionistischen Bewegung hat bisher nur ein
Denker, Achad Haam, konsequent und klar die Richtung ge-
wiesen, in der die Renaissance des Judentums erstrebt werden solle.
Achad Haam hat die jüdische Frage seit j eher als eine Judentums-
frage angesehen. Er betrachtete es stets als aussichtslos, die Juden-
heitsfrage zu lösen. Für ihn handelte es sich darum, das Juden-
tum, als geistig-sittliches Sein, das sich in schwerer Krise be-
findet, zu regenerieren. Dies könnte, nach seiner Ansicht, nur
durch ein geistiges Zentrum in Palästina geschehen. Würde
das Judentum dadurch wieder zu einer kulturell hoch-
wertigen Erscheinung werden, so würde dies nicht nur die mo-
ralische Lage der Judenheit ändern, sondern auch die Juden wieder
für das Judentum gewinnen. Dann würde vielleicht auch die
äußere Befreiung glücken. Es ist begreiflich, daß Achad Haam
mit diesen Anschauungen in den schärfsten Gegensatz zur Herzi-
schen Auffassung gelangen, wie andererseits, daß er den stärksten
Einfluß auf die kulturelle Arbeit in Palästina und ihre Pioniere
ausüben mußte. Achad Haam denkt an eine Regeneration des
Judentums aus dem Geiste der Zeit. Er will keine „Reform" der
Religion, ebensowenig wie Orthodoxie oder freidenkerische Irreli-
giosität. Ihm ist Judentum all das, was uns historisch über-
kommen ist, er will dies daher aufs treueste pflegen, doch soll
i5o
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
das neue Leben in Palästina das Judentum, das nie starr war,
verjüngen, dem Verhalten einen neuen Sinn geben. Nur das Leben
selbst, nicht aber eine rationalistische Reform, kann das Über-
kommene weiterentwickeln, mit dem heutigen Geist in Einklang
bringen.
Tatsächlich scheint das, was Achad Haam vorschwebt, un-
gefähr den Weg zu bezeichnen, den jene Gruppe von Erziehern
geht, welche das hebräische Gymnasium in Jaffa leitet. In dieser
Schule, in der alle Gegenstände in neuhebräischer Sprache unter-
richtet werden, gibt es keine Religionsstunde. Religion ist pri-
vate Sache der häuslichen Erziehung. Wohl aber werden Bibel,
Talmud usw., das ganze religiöse Schrifttum, sehr ausführlich
als Literatur und Geistesgeschichte des Judentums unterrichtet.
Natürlich ist es nicht ohne Kämpfe um den Geist, in welchem
die Schüler darin unterwiesen werden sollen, ferner um Auswahl
und Umfang des Stoffes, abgegangen. Speziell der Versuch, die
Bibel nach den neuesten kritischen Methoden zu zergliedern,
mußte aufgegeben werden. Die Schüler erhalten außer der
jüdischen eine vollkommene humanistische Bildung; Liebe zur
Heimat und zur Natur wird ihnen eingepflanzt, und so kann
erwartet werden, daß in den Herzen der Schüler, die mit dem
jüdischen Land, der jüdischen Sprache, dem jüdischen Geist,
wie er in den alten Schriften quillt, ebenso vertraut sind, wie mit
den modernen Wissenschaften und Kulturideen, ein neues, leben-
diges Judentum in Palästina wach werden wird.
Dieser positive Versuch ist gewiß zukunftsversprechend. Ob
jemals das neue Judentum in Palästina durch seine Ausstrah-
lungen den jüdischen Menschen der Diaspora wird erlösen
können, darüber heute zu diskutieren, ist eine Unmöglichkeit.
Für die Gegenwart kann nur konstatiert werden, daß der Zionis-
mus mit der Devise der ,, Rückkehr zum Judentum" den modernen
Juden vor ein Dilemma stellt. Er hat ihm damit eine SehnsucJit
eingepflanzt, die er noch nicht befriedigen kann. Und so sehen
wir, daß manche Zionisten diese Rückkehr dahin auffassen, daß
sie eine solche zum heutigen Judentum bedeutet. Was kann dieses
aber dem modernen Juden geben! Er hat sich weit von ihm
entfernt, wie weit, das zeigt beispielsweise sein Verhalten zum
Christentum. Die traditionelle jüdische Scheu vor dessen Stifter
i5i
WANDLUNGEN DI ZIONISMUS
und seinen Lehren kann er nicht mitmachen, er sieht vielmehr
klar den Fortschritt, den es bedeutete, als das Christentum den
Quell der religiösen Sittlichkeit ins Innere der Menschenbrust
verlegte. Es ist gar kein Zufall, daß in der hebräischen Literatur
ein geistiger Kampf gerade über die Stellung zum Christentum
entbrannt ist, daß Achad Haam, der das Judentum mit einigen
festen Begriffen abzugrenzen versucht, darob so manche An-
griffe erfaliren muß.
In diesem Ringen um das neue Judentum, nach dem die Sehn-
sucht des modernen Juden geht, fiel das Wort von der „Er-
neuerung des Judentums", das Martin Buber geprägt hat und
das in seinem Munde eine spezielle Bedeutung hat. Buber sieht
nämlich in der jüdischen Entwicklung seit Uranfang zwei Strö-
mungen mit einander ringen: Das lebendige, geistige, mythen-
schaffende, ein unmittelbares Verhältnis zum Absoluten be-
sitzende ,, unterirdische" Judentum, wie es in den Mythen der
Bibel, im Urchristentum, in der Agada, der Kabbala und zuletzt
im Chassidismus schöpferisch war, und das ,, offizielle" Juden-
tum der Rabbiner, das immer und immer wieder dieses quellende
religiöse Leben unterdrückte und die Religion in starre For-
meln, Gesetze faßte. Das Judentum, das wir heute kennen, ist
nur ein solches offizielles. Buber meint, daß die Zerrissenheit,
die heute die Signatur der jüdischen Seele ist, die Spannungen
und Erwartungen, mit denen sie erfüllt ist, einen Zustand be-
deuten, der einer religiösen Erneuerung günstig ist. Dieser gelte
es die Wege zu bereiten.
Der Standpunkt Bubers eröffnet die Möglichkeit, ein bewußter
Jude zu sein, ohne aus Opportunität irgend etwas mitmachen
zu müssen, was man innerlich überwunden hat. Die „Rückkehr
zum Judentum", die der Zionismus proklamiert und fordert, als
Rückkehr zum heutigen Judentum gedeutet, birgt diese Gefahr
und beschwört Konflikte herauf, die nur diesem Mißverständnis
entspringen. Zudem muß die zionistische Organisation als po-
litische Körperschaft eine gewisse Taktik einhalten, sie muß auf
gewisse Gefühle und Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Aus
Opportunität heraus wird aber nichts Neues, Großes geboren
werden; nur aus dem unbedingten Leben kann es quellen.
Aus diesem Grunde ist Bubers Richtung für die individuelle.
102
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
seelische Not des heutigen modernen Juden von der größten Be-
deutung. Der moderne Jude, der alle Bildungselemente der Zeit
in sich aufgenommen hat und der sich doch seiner — zumindest
durch bestimmte Dispositionen gekennzeichneten — Eigenart
tief bewußt bleibt, ist nicht nur der Träger der allgemeinen, in
der Zeit liegenden Sehnsucht, sondern, durch die besondere Span-
nung, die sein Judentum mit all seinen Sonderheiten und Wider-
sprüchen verursacht, in einem viel stärkeren, inneren Aufruhr,
als der moderne Mensch anderer Volkszugehörigkeit. Er ver-
wirft die sogenannte ,, Assimilation", soweit darunter die Sucht
zu verstehen ist, das ,, Jüdische" vollkommen abzustreifen, nicht
so sehr aus dem mehr äußeren Grunde, weil sie unwürdig ist,
sondern aus dem inneren, daß sie eine Unmöglichkeit bedeutet.
Das Tiefste, das seiner Seele eigen ist, kann er nicht durch ,,Über-
winden" zum Schweigen bringen. Der Glaube, daß dies mög-
lich sei, ist der fundamentale Irrtum der sogenannten Assimi-
lanten, an dem sie scheitern, wenn sie es auch nicht eingestehen.
Dieser Weg zur Erringung der inneren Einheit ist aussichtslos.
Der Zionismus weist den entgegengesetzten: Auf dem
jüdischen Boden zu verharren und diesem die modernen Kultur-
keime einzupflanzen; dadurch aber wird das bisherige Juden-
tum, das aus ganz anderen Entwickelungen hervorging, völlig
verändert. Deshalb kann eine Rückkehr zum heutigen Judentum
oder dessen bloße Regeneration die Krisis des modernen jüdi-
schen Individuums nicht lösen. Diese verlangt vielmehr nach
einer völligen Erneuerung des Judentums.
Der Zionismus ist noch nicht die Erneuerung. Aber durch die
Umwandlung der jüdischen Psyche, die er vollbringt, bereitet
er der Erneuerung den Boden: In den durch Rationalismus und
Zweckstreberei verkümmerten jüdischen Seelen richtet er ein
Ideal auf, an Stelle der allzu flinken Anpassung an die äußeren
Verhältnisse stärkt er die Beharrungskraft und den Glauben an
die schöpferische Macht des Geistes, gegen das passive Dulden
setzt er die befreiende Tat und ruft die in ödem Eudämonismus
versunkenen Juden, denen materielle Güter-Sicherheit, Besitz,
Gesundheit usw. — alles bedeuten, zu einer heroischen Anstren-
gung auf.
Je stärker diese Umwandlung, desto größer die Entfernung
i53
WANDLUNGEN IM ZIONISMUS
vom bisherigen Judentum, sowie die Sehnsucht nach einer durch-
gängigen Erneuerung. So weist der Zionismus den Weg der
Lösung der jüdischen Krise, indem er erst die Spannung schafft,
aus welcher die Erneuerung mit elementarer Macht, gleich einer
neuen Religiosität, hervorbrechen muß.
Die Erneuerungsbewegung hat dem Zionismus eine Weite ge-
geben, vermöge der er über den Rahmen der zionistischen Or-
ganisation hinaus all die Menschen, welche den tiefen Zwiespalt
der modernen jüdischen Seele empfinden, umspannen und tragen
kann. Erkenne der moderne Jude darum, daß der Zionismus
keine engbegrenzte Parteiangelegenheit ist, daß er sich nicht er-
schöpft in politischer und kolonisatorischer Arbeit und im
Streben nach einem regenerierten Judentum, daß in ihm viel-
mehr die letzte und höchste seelische Not des heutigen Juden
nach Erlösung ringt. Will der moderne Jude zu einer höheren
Lebensgestaltung gelangen, zu innerer Harmonie, so lasse er seine
Note ertönen in der Symphonie der neu jüdischen Bewegung, statt
sich auf sein Ich zurückzuziehen und in Skepsis oder, was noch
schlimmer ist, in Resignation zu versinken, die lebensfeindliche,
niederdrückende Mächte sind und den Seelenzustand des mo-
dernen Juden nur noch mehr herabstimmen. Nur der Wille, auf
einer höheren Stufe des Seins die inneren Widersprüche aufzu-
heben und zu überwinden, kann befreiend und lebenssteigernd
wirken. Und solcher Wille heißt: Zionismus!
i54
Theodor Herzl und wir
Von Robert Weltsch
„Ein Volk, wo Geist und Größe keinen Geist und
keine Größe mehr erzeugt, hat nichts mehr gemein
mit andern, die noch Menschen sind, hat keine Rechte
mehr, und es ist ein leeres Possenspiel, ein Aber-
glauben , wenn man solche willenlose Leichname
noch ehren will, als wäre ein Römerherz in ihnen.
Weg mit ihnen! Er darf nicht stehen, wo er steht,
der dürre, faule Baum, er stiehlt ja Licht und Luft
dem jungen Leben, das für eine neue Welt heran-
reift." Hölderlin.
I.
(jFustav Landauer spricht in seiner Darstellung der Revolution
davon, daß in der Aufeinanderfolge von Beziehungen mensch-
lichen Mitlebens, die wir Entwicklung oder gar Fortschritt der
Menschheit zu nennen gewohnt sind, stets ein Zustand relativer
Stabilität aller Erscheinungsformen des Mitlebens abgelöst wird
durch eine Krise, in der das revolutionierende Prinzip, der Geist,
die Schranken der autoritativen Festsetzungen durchbricht, die
Formen sprengt, die Ruhe in Bewegung wandelt. Dieser be-
wegende Geist wird erzeugt durch die Utopie. ,,Die Utopie gehört
von Haus aus nicht dem Bereiche des Mitlebens, sondern des
Individuallebens an. Unter Utopie verstehen wir ein Gemenge
individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer
heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der
Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer
Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organi-
sieren: zu der Tendenz nämlich, eine tadellos funktionierende
Topie zu gestalten, die keinerlei Schädlichkeiten und Ungerech-
tigkeiten mehr in sich schließt."
Utopisten sind Menschen, welche in Fesseln nicht leben können.
Wenn eine vom Geiste geschaffene Welt lebendiger, sinnvoller
Beziehungen durch den Lauf der Zeit und den Wechsel der Ge-
schlechter zur Erstarrung toter und sinnloser Formen geführt
hat, die von den Menschen nicht gelebt und nicht verstanden,
nur ihnen überkommen sind, — erhebt der Utopist, sich ab-
wendend von dem Leben der Lüge und geistlosen Geschäftigkeit,
die vollkommene Welt, deren Bild er geschaut hat, zu seinem
i55
THEODOR HERZL UND WIR
Ziele. Er glaubt daran, daß sie erstehen wird, erstehen durch
sein Werk; er will Schöpfer sein, Schöpfer in seinem Ebenbild,
Verwirklicher seiner Idee. So erstrebt er das schlechthin Un-
mögliche, seinem Bewußtsein ist es möglich, und die verständigen
Menschen seiner Umwelt mit ihren berechtigten Zweifeln sind
ihm ebenso unbegreiflich wie er ihnen.
Der gemeine Mann nennt diese Menschen auch Träumer oder
Idealisten. Und die Erfahrung zeigt, daß der Utopist sein Ziel,
das Unerreichbare, nicht erreicht; wohl aber wird durch sein
Wirken, das zunächst das Ungewöhnliche unternimmt, etwas er-
reicht. Wüßte er, daß sein Ziel unmöglich ist, es lohnte ihm
nicht, die Hand anzulegen. Er weiß, daß es unendlich fern von
seiner Gegenwart liegt; und da er es zu ergreifen ausgeht, ist
das höchste Maß von Stoßkraft nötig. Dieser höchsten Stoßkraft
bedarf es aber, um auch nur die nächsten Mauern zu brechen.
Die Masse, die über den Utopisten lächelt, ist die auf das Ge-
schäft der materiellen Selbsterhaltung ganz und ausschließlich
bedachte. Von dem Geist hat sie kein Wissen; ihr Leben ist in
ein von der Kraft der Ströme früherer Zeiten gegrabenes Bett
gebettet, und sie wird jeder Anfechtung erbitterten Widerstand
leisten. Daß die Gewohnheit des Menschen Amme ist, mag für
den Menschen dieses Zeitalters seine ausschließliche Richtigkeit
haben. Sei auch sein ganzes Leben eine Lüge; so ist es doch seine
Lebenslüge. Wer jenseits dieser Lüge die Wahrheit schaut und,
diese aussprechend, jener Bestand erschüttert, ist ein Revolu-
tionär. Der Revolutionär meint zunächst, daß die von seinem
Geist gefundene Wahrheit, da sie doch Wahrheit ist, anerkannt
werden wird. Wenn er daran geht, sie zu verkünden, stößt er
auf den großen Widerstand; da muß er zum Kämpfer werden.
Die Wut der aus ihrer Ruhe, ihrem Schlaf, den sie Glück nennen,
aufgescheuchten Menschen kehrt sich gegen ihn. Er vs^ird ver-
folgt, ergriffen, gerichtet; wie Amos von Tekoa, wie Sokrates
und Savonarola.
Das jüdische Volk mußte, nach der Vernichtung seiner poli-
tischen Selbständigkeit und der Vertreibung von seinem Terri-
torium, in hartem Kampf um seine Erhaltung ringen; es um-
schloß sich mit dem undurchdringbaren Panzer des Gottesgesetzes ;
das Leben wurde in allen Einzelheiten genau geregelt und die
i56
THEODOR HERZL UND WIR
kommenden Geschlechter wurden auf diese Regeln verbunden.
Als der Fruchtboden des geistigen Seins des Judentums verdorrte,
wurden aus den lebendigen Werten Traditionswerte, die von der
Macht der Trägheit geschützt wurden.
Als zu Ende des i8. Jahrhunderts die Wogen des Befreiungs-
kampfes der geknechteten Menschheit hoch gingen, erwachten
auch im jüdischen Ghetto Menschen, die, von der Bewegtheit
der Zeit ergriffen, ihr Volk aus den Banden erlösen wollten.
Der Verkümmerung und Ernüchterung wollten sie wehren; was
sie erstrebten, war durchaus eine Neubefruchtung der jüdischen
Welt und die Pioniere dieses Gedankens waren entfernt davon,
eine Auflösung des Judentums zu wollen, die sich später aller-
dings als Folge ihrer Bestrebungen einstellte. Dazu kommt, daß
damals ein neues Empfinden für menschliche und bürgerliche
Ehre erwacht war; auch jene Juden, die mit einem fast unbe-
greiflichen Idealismus für das papierene Ideal der Gleichberech-
tigung kämpften, wollten ihr Volk aus seiner ehrlosen Stellung
befreien. Wenn wir diesen Männern Gerechtigkeit widerfahren
lassen, müssen wir sie nach ihrem Idealismus und nicht nach
ihrem Ideal beurteilen. Sie waren es, die die Fesseln gebrochen
haben, welche das Judentum umfangen hatten.
Nachdem die Emanzipation durchgesetzt war, gewöhnten sich
die Juden schnell an die neuen Verhältnisse. Sie nahmen deutsche
Bildung an, besuchten deutsche Schulen; sie fanden sich in den
neuen Wirtschaftskreis und suchten nach Geltung. Als Grad-
messer des Wertes erschien die Anerkennung, und jeder wollte
„es zu etwas bringen". Wie jene Ära, die wir Liberalismus nennen
und die eine sehr verschlechterte Wiederholung der Aufklärung
des i8. Jahrhunderts war, das materialistische Ideal alleinherr-
schend machte, so wirkte sie besonders auf den Juden, der, zum
ersten Male ganz entwurzelt, diese Entwicklung mitmachen
durfte. Im deutschen Volke konnte diese Zeit den „Bildungs-
philister" erzeugen, den Nietzsche bekämpft hat. Der jüdische
Bildungsphilister bekommt seine eigene Note dadurch , daß
er außer auf die Macht seines Verstandes und die Errungen-
schaften seines Zeitalters noch auf die neuerworbene „europä-
ische Kultur" stolz ist. Die jüdische Gemeinschaft ist aufgelöst
und entwürdigt. In keinem Menschen triumphiert der liberale
i57
THEODOR HERZL UND WIR
Individualismus so wie im Juden. Seine Interessen erschöpfen
sich in einem dauernden Geplänkel um die faktische Durch-
setzung der auf dem Papier gewährten Rechte. Nirgends fließt
der Strom des Lebens; der Jude will den Schein des Lebens
erwecken. Er wird Schauspieler, Fälscher, Lügner. Der Typus
des Literaten, den Jakob Wassermann gezeigt hat.
IL
In diese Zeit ist Theodor Herzl gestellt worden. Er war ihr
Kind, und eines ihrer besten; er war untergetaucht in die Lite-
ratenkultur, aber sein warmes Herz hatte zu schlagen nicht auf-
gehört. Und plötzlich, bei geringem Anlaß, kam über ihn die
Erkenntnis, die ihm die ganze Erbärmlichkeit des Lügengebäudes
zeigte, in dem er wohnte.
Die Wahrheit, die Herzl schaute, war die: die Juden sind eine
Bluts- und Schicksalsgemeinschaft, ein Volk, und werden als
solches von allen andern Völkern deutlich gefühlt. Sie selber
hatten bisher nicht die Reife und vor allem nicht die Unbefangen-
heit, dies zu erkennen. Die Judenfrage ist nicht eine Frage des
Rechts, sondern eine Frage der Macht; sie ist eine politische
Frage, also nur durch Machtmittel zu lösen. Die Ursache der
Judennot ist die zerstreute Lage der Juden ohne Besitz eines
Machtzentrums. Daher muß die vollkommenste Art nationalen
Zusammenlebens erstrebt werden: der Judenstaat. Der Weg dazu
ist der der Selbsthilfe: ,,Ein Volk kann nur sich selbst helfen;
kann es das nicht, so ist ihm nicht zu helfen." Daß Herzl ein
Selbsthelfer war, hebt ihn über alle „Theoretiker" der Juden-
frage und über alle seine Kritiker.
Herzl war von der zwingenden Kraft der ihm offenbar ge-
wordenen Wahrheit so erfüllt, daß er meinte, er brauche sie nur
zu sagen, und alle Menschen werden sich ihrer wie eines lange
gesuchten Gutes, das Befreiung von einem drückenden Alp
bringt, bemächtigen. Er vergaß, daß nicht die Wahrheit und
das Gute, sondern die Trägheit und das Bequeme das Tun der
Menschen bestimmen. Als Herzl seine Lehre aussprach, warf
sich ihm die kompakte Majorität der aus dem Schlummer auf-
gescheuchten Juden entgegen. Da erst wurde Herzl, der gemeint
hatte, nur politischer Sachwalter sein zu müssen, zum Kämpfer.
i58
THEODOR HERZL UND WIR
Der Kampf jener ersten, großen, heroischen Zeit des Zionismus
ist das Größte in der Geschichte des neuzeitlichen Judentums.
Wie der Stoß eines Sturmwinds war der revolutionierende Geist
in die träge Masse der Juden gefahren; es ward dem Judentum
ein neues Bewußtsein gegeben und, gemäß der Doppelbedeutung
des Wortes ,,conscientia", ein Gewissen. Der Unehrlichkeit, der
Unaufrichtigkeit des jüdischen Lebens stellte Herzl die Offenheit
seines Bekenntnisses gegenüber; dem trostlosen, moralischen und
materiellen Elend der jüdischen Gegenwart stellte er seine voll-
endet schöne, utopische Vision eines Judenstaates gegenüber. Er
glaubte an die Ausführbarkeit seines unendlichen, unmöglichen
Planes; „wenn ihr wollt," sagte er, „ist es kein Märchen". Er
hat sein ganzes Leben dieser Tat geweiht; mit beispielloser Hin-
gebung, in schwerstem Kampfe hat er in einer jeder Größe ent-
behrenden Zeit, in einem jeder Größe baren Volke, gestanden
und gerufen, wie ein Rufer in der Wüste. Er hat das Volk zu-
sammengeballt und schuf als unmittelbarsten Ausdruck seines
Erlebens die zionistische Organisation und den zionistischen Kon-
greß; die ersten lebenden jüdischen Gemeinschaftsformen in-
mitten einer abgestorbenen Welt.
,,Das ist in unseren Jahrhunderten des Übergangs die Be-
stimmung der Revolution: den Menschen ein Bad des Geistes
zu sein. In dem Feuer, der Hingerissenheit, der Brüderlichkeit
dieser aggressiven Bewegungen erwacht immer wieder das Bild
und das Gefühl der positiven Einung durch verbindende Eigen-
schaft, durch Liebe, die Kraft ist; und ohne diese vorübergehende
Regeneration könnten wir nicht weiter leben und müßten ver-
sinken." (Landauer.) Die zionistische Revolution Theodor Herzls
hat uns das erstemal wieder das lebendige Gefühl der positiven
Einung gegeben; sie ist eine Regeneration auf dem Wege zur
Erneuerung.
m.
Es gibt Krisen im Leben des Menschen, die ihn so ganz und
gar, so von Grund auf zu wandeln vermögen, daß sie von der
Stunde die Richtung seines Lebens bewirken. Dem Heimatlosen,
der, nach Hofmannsthals Wort, sich jeder Welle hingibt, wird
eine Heimat im Geiste, der in ihn gefahren ist: er hat seine Bahn.
i59
THEODOR HERZL UND WIR
Theodor lierzl, der Künstler und Ästhet, der Mann des tändeln-
den Spieles, ist im Feuer seines Erlebnisses — das wir Offen-
barung oder Berufung nennen können — neu geschmiedet
worden. Er schreibt am S.April 1896, als ihm ein Entwurf zur
Lösung der Judenfrage vorgelegt worden war, in einem Briefe:
,,Ich zweifelte nicht mehr an der Güte unseres Menschen-
materials, als ich die Kraft des nationalen Erwachens in mir
selbst erlebte. Zur Zeit, als ihr Freund jene Worte niederschrieb,
war ich noch ein spöttischer Jude, der wahrscheinlich gelacht
hätte, wenn ihm diese Aufzeichnungen zu Gesicht gekommen
wären. Aber es ist in mir eine Wandlung vorgegangen, die ich
als das Glück und den Stolz meines Lebens empfinde . . ."*)
Der chinesische Weise Tschuang-Tse hat dieses Gleichnis ge-
sagt:
„Ich, Tschuang-Tse, träumte einst, ich sei ein Schmetterling,
ein hin und her flatternder, in allen Zwecken und Zielen ein
Schmetterling. Ich wußte nur, daß ich meinen Launen wie ein
Schmetterling folgte, und war meines Menschenwesens unbe-
wußt. Plötzlich erwachte ich; und da lag ich: wieder „ich selbst".
Nun weiß ich nicht: war ich da ein Mensch, der träumt, er sei
ein Schmetterling, oder bin ich jetzt ein Schmetterling, der
träumt, er sei ein Mensch? Zwischen Mensch und Schmetterling
ist eine Schranke. Sie überschreiten ist Wandlung genannt."*)
IV.
Die Generation von Juden, die nach Herzl kam, war von dem
Mutterboden des Judentums in jeder Form losgelöst; der Jude
hatte seinen Gesichtskreis durch die ganze Fülle des Geistes-
lebens Europas erweitert, und da er nur aufnehmen konnte, nahm
er fast unbegrenzt auf; und schließlich kam er dazu, nicht aus
einer Enge, sondern aus dem Reichtum seines Bewußtseins her-
aus, das Letzte und Wichtigste zu suchen, das er verloren hatte,
und das doch die unerläßliche Voraussetzung, der Träger allen
Lebens und aller Kultur ist: sich selbst. Die Bekanntschaft
mit dem Zionismus Theodor Herzls und die Kunde von seinem
*) Mitgeteilt von G. Cohen in der Zeitschrift „Ost und West", 1904.
**) „Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse". Deutsche Auswahl von Martin
Buber. Leipzig 1911.
160
THEODOR HERZL UND WIR
Leben wird für den jungen Juden dieser Zeit das wandelnde)
Erlebnis. Wie der einzelne sich des Zusammenhanges mit
seinem Volke inne wird, hat Martin Buber in seiner ersten Rede
gesagt.
„Zionistisches Leben", wie es unsere Generation versteht, ist
nicht identisch mit dem Zionismus Theodor Herzls. Die Be-
sinnung auf sein Volkstum wirkt auf das Leben des jungen Juden
umgestaltend etwa — sofern, um der Deutlichkeit willen, eine
Schematisierung erlaubt ist — in drei Richtungen.
Erstens: die Wahrheit, die uns offenbar wurde und die uns
aus der Unsicherheit und Zwecklosigkeit unseres Daseins eine
Aufgabe hebt, erfüllt uns zunächst mit einem Gefühl der Be-
freiung, einem Rausche vergleichbar, mit einem Glücksgefühl
hohen Sinnes, wie die Sicherheit erreichten Landes den ver-
schlagenen Meerfahrer. Jeder, der dies wahrhaft mitgemacht hat,
erlebt die Zeit, wo er sein neues Glück in alle Winde hinaus-
schreien möchte, wie Herzl in dem jauchzenden Satz: „Wir sind
ein Volk, ein Volk." Er erfährt die Freude des Bekennens, die
ihn stark macht. Dieses Bekennen der neugefundenen Zusam-
mengehörigkeit ist eine Rückkehr zum Judentum in rein for-
maler Hinsicht, wie sie Herzl gemeint hat. Herzls Werk war es,
diesem Bekenntnis einen Ausdruck zu schaffen. Die zionistische
Organisation gibt die Möglichkeit, das Bekenntnis durch einen
öffentlichen Akt zu vollziehen. Dieses Werk zu bauen war eine
ungeheure Tat; heute ist die Organisation historische Tatsache,
und es droht die Gefahr, daß man mit dem Anschluß an ein
Vorhandenes sich begnüge. Herzl wollte alle kulturellen und reli-
giösen Fragen ausschalten, weil er wußte, daß an diesen immer
wieder der Streit sich entzündet hatte; denn er wollte die Or-
ganisation der Juden schaffen. Sein ungeheurer Gedanke
scheiterte an der Kleinheit der Zeit. Und da die radikale Ände-
rung des Lebens der Juden, die Herzls Phantasie vorgeschwebt
hatte, unmöglich war, so vollzog sich zunächst gar keine Ände-
rung. Wer zur zionistischen Partei gekommen war, konnte in
derselben Weise leben wie vordem. Zionismus aber ist der Wille
zur Änderung des Lebens; er ist die persönliche Aufgabe jedes
einzelnen. Das formale Bekenntnis, der Mut des Kampfes, die
Verantwortung, die der Soldat mit seinem Posten auf sich nimmt,
11 i6i
THEODOR HERZL UND WIR
ist die erste Stufe, die wir ersteigen; aber wir dürfen auf ihr
nicht stehen bleiben.
Zweitens: wenn wir unser Zugehören zur jüdischen Gemein-
schaft erkannt haben, so ist es uns ein Bedürfnis, die inhalt-
lichen Elemente dieser Zusammengehörigkeit zu stärken; der
Halbheit unseres früheren Lebens absagend, wollen wir ganz
und gar nur Juden sein. Das Wesen der Gemeinschaft, die uns
nicht in der Tatsächlichkeit einer Lebensform, sondern nur im
Bewußtsein gegeben ist, ist uns Problem. Daraus erwacht unsere
Sehnsucht nach der Geschichte; wir gehen daran, die jüdische
Geschichte als die Kunde von den Vorbedingungen unseres Lebens
und den Entstehungsbedingungen unseres Wesens zu suchen;
wir verstehen sie nicht als eine Folge von Ereignissen, sondern
als eine Fülle von Bewegungen. Wir suchen die Schöpfungen
des jüdischen Volkes, in denen das Denken und Fühlen jüdischer
Menschen anderer Zeiten und anderer Himmelsstriche uns be-
wahrt ist. Die Bekanntschaft mit dem Kulturleben der Ostjuden,
mit ihrer Literatur, die uns das Bild und die Stimmung einer
jüdischen Welt vermittelt, macht uns reich. Das weitaus Wich-
tigste aber ist für uns das Werk der jüdischen Antike, das größte
Werk aller Zeiten und aller Völker, das uns durch den Ungeist
der Zeit, in der wir erzogen wurden, geraubt ward. Wir müssen,
befreit von dogmatischen Vorurteilen der theologischen oder frei-
denkerischen Orthodoxie, die Wesentlichkeit dieses größten aller
nationalen Dokumente uns zu eigen machen. Was in der Ver-
gangenheit von der Triebkraft, dem webenden Geist der Volks-
phantasie geschaffen worden ist, muß wieder unser nationales
Gut werden : der ungeahnte Reichtum unserer Mythologie, unsere
Sagenwelt, unsere Poesie, unsere Weisheit, unsere religiöse In-
brunst, unsere Mystik. Jahwe mit dem Rate der Elohim, Simson
und Elijahu müssen wieder lebendige Gestalten unseres Volkes
werden. Die Sprache des Buches, das nur in seiner Sprache ver-
standen werden kann, soll wieder unsere Sprache werden. Diese
Sprache gibt unserem Volkstum innere Kraft; sie schafft uns
auch die Beziehung zu dem in unseren Tagen neu beginnenden
jüdischen Gemeinschaftsleben in Palästina, das, ein Phänomen
ohnegleichen, nur als die Schöpfung des ungeheuren Enthusias-
mus neuer Juden begriffen werden kann.
162
THEODOR HERZL UND WIR
Die Aufnahme jüdischer Kulturwerte ist von tiefgehendstem
Einfluß auf unser Leben. Daß dies nicht so zu verstehen ist,
als ob wir — auf alles andere verzichtend — nur noch „jüdische"
Inhalte kennen dürften, ist deshalb nicht überflüssig zu sagen,
weil es immer wieder so verstanden wird. Unbegreiflicherweise:
als ob dem Deutschen, der an seinen Siegfried glaubt, Sophokles,
Michelangelo, Shakespeare, Tolstoi nichts bedeuten dürften. Aber
auch so ist es nicht zu verstehen, daß wir zu einer jüdischen
Tradition von Sitten und Gebräuchen, die für uns sinnlos sind,
zurückkehren sollten. Nicht Formen suchen wir, sondern Kräfte;
die Kräfte des Judentums werden aus unserem Leben die
neuen Formen schaffen. Wir haben den Glauben, daß aus der
großen Erschütterung, die unser Geschlecht des Überganges
ergriffen hat, die Erneuerung des Judentums vor sich gehen
wird.
Drittens: ,,Wenn wir uns so im Judentum bejaht haben, so
fühlen wir die ganze Entartung mit, aus der wir unsere kommen-
den Geschlechter befreien müssen." (Buber.) Wenn wir glauben,
daß unser Leben einen Sinn, eine Weihe erhalten hat, so gilt
es, die Wahrheit der Idee in der Unbedingtheit des Lebens zu
erfüllen. Wenn wir uns zur jüdischen Gemeinschaft stellen,
dann erwacht das Gefühl der Verantwortlichkeit für diese. Wir
erkennen die innere Unwahrheit, die Wesenlosigkeit des Juden-
tums unserer Zeit. Die Lüge und Kriecherei, eine Folge der Ge-
wöhnung an Unterdrückung und des aufgezwungenen Erhal-
tungskampfes, rationalistische Überhebung und materialistische
Geschäftigkeit, eine Folge des Anteiles an der europäischen Ent-
wicklung, sind die beherrschenden Mächte im Leben des Juden;
wir sind verantwortlich, daß das neue Geschlecht von Juden aus
dieser Entartung befreit werde. Unser Tun muß den Sinn haben,
daß wir als Juden das Leben ehrlich und ernst nehmen; ehrlich,
indem wir uns nicht selbst täuschen und uns das Schwere nicht
leicht machen; ernst, indem wir den neuen Geist in unserem
Leben verwirklichen. Das ist eine Forderung unseres Menschen-
tums; aller echte Nationalismus ist Bewährung der menschlichen
Aufgabe. Das Bewußtsein der Verantwortung lehrt uns, daß wir
die ,, Auserwählten" sind: jeder einzelne auserwählt, daß er voll-
l)ringe. Der durch die Schwere der Materie zerdrückte Wille
i63
THEODOR HERZL UND WIR
mache sich frei zur Tat. Nicht auf eine „Gesinnung" kommt es
an, sondern auf ihre Bewährung und Bezeugung im Leben.
Hier muß wieder gegen einen Irrtum gesprochen werden, der
besonders in zionistischen Kreisen häufig ist; daß nämlich die
Übersiedlung nach Palästina allein für einen Juden die Erneue-
rung bewirken könnte. Viele Zeichen haben bewiesen, daß auch
in Palästina ,,Galuth" sein kann. Denn unsere Befreiung meint
vor allem eine innere Läuterung. Der Sinn des Zionismus ist
es, daß die Juden, die reinen Herzens sind, von ihrer Sehnsucht
nach Ganzheit und Harmonie und radikaler Änderung des Lebens
nach Palästina getragen werden. Das ist die tiefste und wahrste
Bedeutung der Lehre Achad Haams von der Bereitung des Volkes
und der Wiederbelebung der Herzen.
Die Juden, die es nicht aushalten können, finden sich zu-
sammen, umschlungen von ihrer gemeinsamen Sehnsucht, ihrem
gemeinsamen Glauben, ihrem gemeinsamen Wollen. Aus dem
Großen, Neuen, Freien, dessen Schauer wir erleben, wird der
Geist des Judentums ein neues Weltgefühl gestalten.
V.
Der Weg, den wir Jungen gehen, ist nicht der Weg Theodor
Herzls. Wir, die ihn recht zu verstehen glauben, können ohne
Scheu das zugeben. Herzl ist zu groß, als daß wir ihn zu fäl-
schen brauchten.
Wir sagten schon: was Herzl anstrebte, war die formale Zu-
sammenfassung der Judenheit; die wirkliche, innerliche Ver-
knüpfung, der jüdische Geist, das Judentum war ihm unwichtig.
Aber seine Tat war die große Absage an die Ehrlosigkeit, an die
dumpfe Selbstzufriedenheit, das träge Behagen; sein Leben war,
ein erstes in der Geschichte des Zerstreuungs-Judentums, ein
heroisches Leben. Er wollte seinem Volke eine glückliche Stätte
von strahlender Vollkommenheit bereiten; er erwählte den Weg
mühseligster Arbeit, wie im griechischen Mythos der Lichtgott
Herakles, und gleich diesem wird ihm der Olymp zuteil. Was
als rein und hoch, als schön und edel, von Menschen verehrt
wird, war in der politischen Romantik Theodor Herzls. Sein
Leben liegt vor uns, die ihn nicht mehr erlebt haben, als ein
Märchen von hinreißender Pracht.
i64
THEODOR HERZL UND WIR
Nicht, Herzls mißlungene diplomatische Aktionen, nicht seine
politischen Methoden, selbst nicht die Einzelzüge seiner Vor-
stellung von der Lösung der Judenfrage sind wesentlich. Nicht
was er gewollt, sondern daß er gewollt und wie er gewollt. Das
ewige Erbe, das er uns gelassen hat, ist dieses: der Mythos von
seinem Leben.
Als in der christlichen Kirche der Übergang vom lebendigen
Mythos zum erstarrenden Dogma sich vollzog, da sprach der
Kirchenvater Augustinus, in dem das Feuer des Mythos loderte,
die Forderung: ,,Non Christiani, sed Christi sumus." So möchte
ich sagen: Nicht Herzlianer sollen wir sein, sondern Herzle.
Nicht Herzls Theorien wollen wir nachreden, sondern den Rhyth-
mus seines Lebens zu leben suchen. Jeder von uns soll ein kleiner
Herzl sein: so stark in der Hingabe, fest im Glauben, groß im
Leiden, unbedingt im Wollen, heldenhaft im Kampfe, treu und
echt im Handeln, ewig in der Hoffnung. Das rauschende Pathos
seiner Seele gilt es für uns zu verwirklichen.
So erhebt sich über dem historischen Herzl der ewig lebende
Herzl, der das ragende Symbol der jüdischen Bewegung unserer
Zeit bleiben wird. Das Geschlecht, das Herzl so besitzt, wird reif
sein zur Erneuerung.
VL
Es gibt kein Warten; weder auf politische Wunder, noch auf
den günstigen Zeitpunkt einer Übersiedlung nach Palästina.
Es hat einmal eine Zeit im Judentum gegeben, die gleich der
unseren eine Krise bedeutete. In dumpfer Leerheit, in schwüler
Unruhe wartete man: auf die Erlösung. Die Spannung wuchs,
die Sehnsucht wuchs, aber der Geist der Schwere lag auf den
Gemütern. Damals trat ein Mann auf in Israel; dieser Mann war
Jehoschua von Nazareth. Und er sprach zu dem Volke:
Wozu die tragen Erwartungen? Verkündiget ist ein geistiges
Reich; es liegt an uns, daß es erscheine. Die Zeit ist da.
i65
DIE AUFGABEN
DER JÜDISCHEN BEWEGUNG
Ver sacrum
Von Arthur Salz
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t,rjxriaiv vno rwv yscvafxevcov unoavaXsvvsg ... o rs
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avzoig wg ta noXXa iöoxst xai nuQa zrjv dvÖQojmvTjv
öo^ttv xaxoQ&ovv Tag aTtoixiag.
Aus der Morgendämmerung der Geschichte, die das Werden
und Schicksal der Völker verhüllt, dringt wie in geheimnisvoller
Runenschrift geschrieben die Kunde vom heiligen Frühling zu
uns. Mit diesem, dem religiösen wie dem staatlichen Dasein an-
gehörenden Brauche, von dem die ältesten Schriften schon als
von einem Uralten, Dunklen sprechen, hat es diese Bewandtnis.
In den Zeiten höchster Not, wenn zürnende Götter den Staat
in Bedrängnis brachten oder wenn die heimische Erde für die
Fülle des Zuwachses zu eng ward — gelobte man den heiligen
Frühling. Die Erstlinge an Früchten und Tieren wurden ge-
opfert, die Jünglinge aber wurden, herangewachsen, als geweihte
heilige Schar, mit Waffen versehen, hinausgeschickt, auf daß
sie sich eine neue Heimat suchten. Die so aus der Gemeinschaft
Gestoßenen geleitete der kriegerische Gott nach den neuen Sitzen.
Düster und dunkel ist der Sinn dieses politischen Ritus, das
Sühneopfer eines ganzen Volkes — aber wem könnte er sich besser
erschließen als dem Volke, dem es als geschichtliches Schicksal
bestimmt zu sein scheint, ewig im heiligen Frühling unter den
Völkern zu leben, dessen Geschichte das Epos der aus allen
Grenzen Gebannten ist, einer heiligen Schar unter den Völkern,
deren Geschick sich erfüllt, indem sie die beklemmende Enge,
die sie sich selbst schafft, immer wieder durchbricht und wieder
weiterziehend in nie erfüllter Sehnsucht nach einer bleibenden
Ruhestätte sich verzehrt.
Dem von den gleichen Nöten Bedrängten und vom gleichen Glück
Durchströmten, den das Leben selbst in seine tiefsten Mysterien
eingeweiht hat als einen Geweihten, dem entriegelt sich und
wird offenbar der Sinn der ältesten Riten und Symbole, er er-
kennt sie als die Wegsteine, die von Ewigkeit zu Ewigkeit für
alle des Lebens vielerfahrene Wanderer aufgepflanzt sind.
Wir, die heute jung sind, fühlen in uns von neuem die uralte,
drängende, heilige Frühlingsnot; wir fühlen, daß in den Räu-
169
VER SACRUM
men der alten bequemen Welt für uns kein Platz mehr ist, daß
wir hinaus müssen über die väterlichen Grenzen, in denen wir
heimisch waren, auf die Suche nach einer neuen geistigen Heimat.
Die Erde brennt unter unseren ungeduldigen Füßen, und schon
sind wir der quälenden Enge entronnen und stehen, die Segens-
wünsche und die Zweifel und Ratschläge unserer Väter noch im
Ohr, mitten auf dem Wege nach einem uns selbst nicht bekannten
Ziel und ohne den göttlichen Führer. Mit versiegelten Befehlen
fahren wir hinaus aus dem sicheren Hafen auf das stürmische
Meer des Lebens, nur die unbändige Pflicht und den Frühlings-
drang verspürend und guten Mutes voll, aber ohne Gewißheit,
ob zu Kampf und Sieg oder Verderben und Niederlage. Viele
werden mutlos werden und ermattet hinsinken oder zu den
Fleischtöpfen heimkehren; wir aber, die das heilige Feuer mit
uns führen, wir können nicht zurück. Daß wir die Erstlinge sind
eines neuen Geschlechts, dem Gotte ein würdiges Opfer, dies
wird uns retten: Der „Herr des Krieges" heißt, „Ewiger ist sein
Name", wird uns führen und retten. Was nutzt es, den Ruf in
uns zu ertöten, wenn wir uns zu der Wanderung nach einer
seelischen Heimat berufen fühlen, was nutzt es, daß man ims
als Heimatlose und Ent>\airzelte zum Bleiben einlädt? Wir
werden ihn ewig in unseren Ohren gellend vernehmen. Hinaus!
Hinaus! Hinaus aus dem geistigen und sittlichen Ghetto, in das
wir eingepfercht sind, hinaus aus der schimpflichsten aller
Sklavereien, aus der freiwilligen! Noch ist die letzte Freiheit zu
erringen,, die einzige, um derentwillen es sich lohnt, gekämpft
und geduldet zu haben. Dieser Freiheitskampf aber ist der
schwerste, denn wir haben als Gegner nur uns selbst, uns selbst
muß sie abgerungen werden. Kein anderer Feind bedrängt uns,
niemand hindert uns, unsere Ketten zu zerbrechen. Wir sind
frei in dem Augenblick, in dem wir frei sein wollen! Frei sein
aber heißt den Mut zu sich selbst haben! Knechtschaft aber heißt,
die Freiheit der anderen beneiden und nachahmen. — Freund-
williger Nachbar! was hast du für ein schönes, buntes Kleid!
Wie sicher und geschützt ist dein Haus, wie schlängelt sich dir
dein Weg so bequem und leicht zum Hügel und wie freundlich
grüßen dich die Menschen auf allen Straßen! So hören wir viele
sprechen und für sich wünschen. Dies alles aber ist nicht für
170
VER SACRUM
uns und dafür unsere Seele nicht feil. Du, Bruder, hast unter
deinem schmutzigen Kittel die Narben von Jahrtausenden und
frische Wunden, deine Wohnstätte ist die Erde und der Himmel
dein Obdach, dein Pfad ist voll von spitzen Steinen. Aber du
gehst, ohne zu straucheln, mit aufrechter Sicherheit und demüti-
gem Stolze. So in den Kampf gestellt und gestärkt durch das'
Bewußtsein, anzugehören einer heiligen Schar, bleibst du ein
Liebling der Götter (wie die Griechen wußten), dein Menschtum
wächst mit deinen Nöten und selbst das blindwütende Schicksal
macht halt vor deinen männlichen Tugenden. Vertraue dich
deinem Stolze an, dem zähen, unbeugsamen, hilf allen und laß
dir nichf helfen, gehe deinen Weg, wenn nötig als Einsamer
und nicht im breiten Gleise der anderen, bahne dir. Gesalbter
des Herrn, einen Weg und verschmähe es unterzukriechen in
den Hütten der geistig Armen, in den Gehäusen der Nützlich-
keit und Bequemlichkeit, die lebensfördernd heißen, weil sie
Geld und Ehren einbringen, wobei die Seele verdorrt und aller
Aufschwung, dessen der Edelgeborene fähig ist; erfülle deine
bürgerlichen Pflichten als Selbstverständlichkeiten, gerne, aber
ohne auf Lohn zu sinnen, und bewahre dir vor allem deine Demut
vor dem, der dich und deine Väter geführt bis zu diesem Tage.
Dann aber, geläutert durch Kampf und Not und Entbehrung,
werden wir, wenn jeder sein eigener Führer geworden, ein Reich
in uns aufrichten in diesem Leben und doch nicht von dieser
Welt und es begrüßen als ein Ziel, das zu erreichen wir aus-
gezogen, und einen Jubel ertönen lassen zu dem, der sein Wunder
tut an uns!
Lasset uns. Freunde, unser Schicksal, unsere „Frage" unter
diesem Aspekt erleben! Sie ist eine wahrhaft sittliche, eine
Menschheitsfrage. Es handelt sich hierbei nicht um eine An-
gelegenheit, die zwischen einzelnen Klassen und Volkssplittern
spielt, nicht um eine Frage zwischen Armen und Reichen, Edel-
geborenen und Niedrigen, des einzelnen und der Masse, sondern
um eine Frage der Ganzheit, sie hat den großen Ernst der letzten
Dinge. Für ihre Lösung sind die höchsten sittlichen Kräfte ein-
zusetzen und Opfer zu bringen in einer Welt, in der alle alten
Werte fragwürdig geworden sind und es an neuen fehlt, die an
ihre Stelle treten könnten. Es fehlt der Welt an einem Zweck,
71
YER SAGRUM
der als höchster allgemein anerkannt wird, und es fehlt ihr an
der zwingenden Not, die die zersprengten Volksteile, die ein-
ander fremd geworden, w'ieder zu einem machtvollen, von heili-
gem Leben durchglühten Ganzen zusammenschweißt. Darunter
leiden wir als Bürger dieser Welt, sozusagen als profane Mit-
glieder der civitas terrena auch mit. — Aber es ist nicht das,
was un^ im besonderen drückt, ,was uns allein angeht als
Pfahlbürger und Ehrenansiedler dieser Welt. Denn wir haben
das Bewußtsein, daß wir, ob reich oder arm, hoch oder niedrig,
zusammengehören durch unlösbare Bande, wir wissen, so viele
Sprachen wir auch reden, daß ein Geist in uns wohnt und uns
beseelt.
Uns obliegt es, in heroischem Entschluß den Mut und die
Kraft aufzubringen, uns zu unserer — der menschlichsten! —
Freiheit durchzuringen, um keines anderen Lohnes willen als
um den, ganze, mutige, ehrliche Menschen und keine Knechte
zu sein! Dies nenne ich die eminent sittliche Aufgabe; wenn wir
das tun in dem Bewußtsein, daß dieser Heroismus uns alle An-
nehmlichkeiten kosten kann: Ehre, Anerkennung, Einfluß und
wie sonst die Prämien heißen, die eine Gesellschaft dafür aus-
setzt, daß man ihre Ordnung und ihre Formen vergöttert und
die für uns zu erringen unsere Väter gearbeitet, gehofft, sich
verleugnet haben. Die griechischen Philosophen haben ihren
Volksgenossen, denen der Staat der größte Stolz und der letzte
Wert war, als höchste der politischen Tugenden, zu der geläuterte
gesellschaftliche Sittlichkeit sich erheben könne, gelehrt: den
Willen zur Freiheit von der Macht der wirtschaftlichen Güter,
und das alte Christentum ist darin der antiken Tradition gefolgt.
Uns aber ist eine noch höhere Aufgabe gesetzt, zu der in altem
Zeiten sich nur die Weisesten und Besten um das schmerzliche
Opfer, ihre anererbten Begabungen brachliegen zu lassen, durch-
gerungen haben: uns ist gesetzt, von der Macht und den
Lockungen der gesellschaftlichen Güter uns zu befreien und da
keine entehrenden Anerbietungen zu stellen, wo man ohne uns
fertig zu werden wünscht, das Übermaß an Kraft und Ge-
staltungswillen ganz auf uns zu richten, bis wir als innerlich
Befreite und völlig souverän geworden das Ziel unserer heiligen
Wanderschaft erreicht haben.
172
Erhaltung oder Erneuerung
Von Oskar Epstein
Ijei normal lebenden Völkern ist es eine Selbstverständlich-
keit, daß in ihrem Leben Erneuerung die Voraussetzung der Er-
haltung ist. Es geht mit ihrem seelischen Besitzstand wie mit
dem einzelnen Menschen in körperlicher Beziehung. Sein Leben
besteht darin, daß er Zellen verbraucht und dadurch einen ge-
sunden Hunger nach neuer Stoffzufuhr erzeugt. Wird der
Mensch aber krank, so sucht er krampfhaft den alten Besitz-
stand zu erhalten, sich durch ,, Schonung" zu retten. Das ist zu-
meist der Anfang vom Ende; aber in Ausnahmsfällen dauert
ein solches Siechtum auch viele Jahre. Im Leben kranker Völker
entsprechen dem Jahrhunderte und eins von diesen Völkern, das
jüdische, hat es zuwege gebracht, als Gemeinschaft Jahrhunderte
zu bestehen, ohne im wesentlichen etwas Schöpferisches hervor-
zubringen, und ohne die Zellen seines Organismus zu erneuern.
Zu dieser Art des Daseins scheint nun das jüdische Volk eine
große Liebe gefaßt zu haben. So morsch das alte Gerüst ist,
man stürmt dagegen vergebens. Man könnte es anders nicht er-
klären, daß große Teile der jüdischen Gemeinschaft an ihr fest-
halten, ohne irgendeinen nationalen, religiösen oder anderen
Grund dafür angeben zu können. Juden, die durchaus nicht
wissen, warum sie es sind, wehren sich ganz entschieden gegen
ein entschlossenes Zerschneiden der Bande, die sie noch an die
jüdische Gemeinschaft knüpfen. W^enn in ihrer Nähe jemand
diesen Schnitt vollzieht, halten sie sich zur Empörung berechtigt;
der jüdischen Gemeinschaft aber neue Lebenskräfte zuzuführen,
das liegt selbst als schüchterner Versuch ihnen vollkommen fern.
Man kann dies nicht gut anders erklären, als daß sie zum Mitleben
in einem gesunden, sich immer meder erneuernden Volke die Eig-
nung verloren haben. Das seelische Siechtum ist ihre Lebensform
und sie suchen krampfhaft eine Gemeinschaft zu erhalten, die von
jedem gesunden, sich immer wieder erneuernden Volke so weit
abschließt, daß man in seinem Schöße die Möglichkeit eines
solchen in aller Ruhe für ein Hirngespinst erklären kann.
Die Erneuerung anderer Völker ist allerdings unmittelbar für
uns nicht zu erkennen. Die Phasen des absoluten Lebens eines
lebenden Volkes sind zu groß, um von einem einzelnen erfaßt
173
ERHALTUNG ODER ERNEUERUNG?
werden zu können. Was wir vor unseren Augen sich abspielen
sehen, ist nicht die Erneuerung selbst, sondern etwas, das un-
fehlbar zu dieser führt, nämlich die sittliche Erhebung, so wie
der Hunger zur physischen Erneuerung führt. Es handelt sich
dabei aber um eine Erhebung des menschlichen Willens gegen
die niederdrückende Schwere der Materie. Nun ist es klar, daß
jedes Volk, um seine Erhebung gegen die Materie so recht in
Angriff nehmen zu können, in hohem Grade Herr seines ma-
teriellen Lebens sein muß. Ich glaube allerdings, daß auch dann,
wenn wie beim jüdischen Volke diese Voraussetzung fehlt, eine
Erhebung möglich ist, ja kommen muß. Da man aber den Feind
(d. h. die Materie) sehr wenig in seiner Hand hat, so ist selbst-
verständlich die Gefahr sehr groß, die Erhebungstendenzen zu
fälschen. Es ist daher hundertmal mehr als anderswo wichtig,
den Gegensatz gegen andere Tendenzen aufs schärfste hervor-
zukehren. Das wird einem insbesondere klar, wenn man sich vor
Augen zu halten sucht, was durch Vernachlässigung dieser Forde-
rung aus den modernen jüdischen Erhebungstendenzen Herzls
heute geworden ist.
Was ist das Wesen von Herzls Zionismus? In bezug auf eine
Kraft ist man sich klar, daß sie nicht oder nur in ganz geringem
Grade die treibende des Herzlischen Zionismus war: die natio-
nale Eigenart, das Blut oder wie man sie nennen will. Wie schon
Achad Haam in der seinerzeitigen Kritik von ,, Altneuland" im
„Haschiloach" sehen wir darin gewöhnlich nur einen sehr be-
dauernswerten Mangel. In dieser Beziehung könnte man eigent-
lich eines besseren belehrt werden, wenn man sieht, wie wenig
die Tendenz der Erhaltung einer erkennbaren , jüdischen
Menschengruppe — so müßte man sie wohl etwas exakter for-
mulieren — geeignet ist, der Erhebung zu dienen. Die Erhaltung
des Zusammengehörigkeitsgefühls besorgt z. B. viel besser, als
es der Zionismus vermag, die Synagoge und was drum und
dran hängt; man denke bloß an das schon erwähnte lebhafte
Widerstreben gegen die Taufe bei denjenigen Juden, welche
wir sozusagen als den Gegenpol des Zionisten empfinden. Solche
Juden sind dadurch charakterisiert, daß sie große Ideale im
174
ERHALTUNG ODER ERNEUERUNG?
Munde führen, diejenigen aber verlachen, welche eines derselben
ausführen wollen. Droht es aber mit den Idealen doch ernst zu
werden, dann appelliert dieser Typus — man wird wohl schon
erkannt haben, daß er mit Herzls „Mauschel" so ziemlich iden-
tisch ist — gerade an den Erhaltungssinn: durch den Radi-
kalismus, der die Voraussetzung der Verwirklichung eines jeden
Ideals ist, wird die Gruppeneinheit gefährdet. Es geht nämlich
die leider so große Zahl derjenigen verloren, welchen es bei der
Verwirklichung eines jeden Ideals schwüle wird, die aber Mau-
schel die jüdische Menschengruppe so wertvoll machen: Mauschel
liebt das jüdische Milieu innig und aufrichtig, solange er hier
viele seinesgleichen findet; darum sucht er es selbst dann noch
auf, wenn er getauft ist! — Viel deutlicher als das Element der
Gruppeneinheit und -Zusammengehörigkeit treten wenigstens in
der Darstellung von Herzls zionistischem Gedankengang zwei
andere Kräfte hervor: das philanthropische und das sozialrefor-
matorische oder, wie man mit ebensolchem Recht sagen kann,
das sozialistische Moment. Doch hat Herzl offenbar nur deshalb
diese Mittel als Zwecke hingestellt, weil sie von den den da-
maligen Juden faßbaren seinem wahren Ziele am nächsten
standen. (Den tieferen Zusammenhang zwischen einem Sozia-
lismus Landauers und dem Zionismus, der allerdings besteht,
können wir in diesem Zusammenhange wohl vernachlässigen.)
An so manchen Stellen von Herzls Schriften aber bricht der
wahre Ton des Herzischen Pathos in einer Weise durch, wie
sie über das Maß der beliebten ethisch-philanthropischen An-
hängsel sozialpolitischer Theorien zu weit hinausgeht, um nicht
die Hauptsache zu sein. Man vergegenwärtige sich z. B. den Fan-
farenton am Ende des ,, Judenstaats", der sich doch sonst als eine
Art kaltes, nüchternes Rechenexempel zu geben sucht: „Darum
glaube ich, daß ein Geschlecht wunderbarer ( ! ) Juden aus der
Erde wachsen wird. Die Makkabäer werden wieder auferstehen.
— Noch einmal sei das W^ort des Anfangs wiederholt: Die Juden,
die wollen (!), werden ihren Staat haben. — W^ir wollen end-
lich als freie Männer auf unserer eigenen Scholle leben und in
unserer eigenen Heimat ruhig sterben. — Die Welt wird durch
unsere Freiheit befreit, durch unseren Reichtum bereichert. —
Und was wir dort nur für unser eigenes Gedeihen versuchen,
175
ERHALTUNG ODER ERNEUERUNG?
wirkt machtvoll und beglückend hinaus zum Wohle aller Men-
schen." Ebenso müßte man den Brief an Baron Hirsch hierher
setzen, in welchem die schönen Worte stehen: „Ja nur das Phan-
tastische (hier ganz im Sinne von Erhebung gemeint) ergreift
den Menschen, und wer damit nichts anzufangen weiß, der mag
ein vortrefflicher, braver und nüchterner Mann sein und selbst
ein Wohltäter im großen Stil, führen wird er die Menschen
nicht, und es wird keine Spur von ihm bleiben." Wie der „Juden-
staat" eigentlich gegen diejenigen Menschen in der jüdischen
Gemeinschaft geschrieben wurde, die ähnlich wie Jarl Skule in
Ibsens „Kronprätendenten" nur an dasjenige glauben, was sie
schon mit den Sinnen wahrgenommen haben, die sich also nicht
erheben können, zeigt auch der Umstand, daß Herzl später ohne
die Fiktion des Rechenexempeltons, mit seinem Herzblut, den
Roman „Altneuland" schrieb, der deshalb noch heute trotz seinen
künstlerischen Schwächen wahrhaft herzerquickend wirkt. Im
„Mauschel" aber handelt es sich um denselben Gegensatz als
tiefstes Wesen des Zionismus wie in Bubers ,,Das Judentum und
die Menschheit", wenn dieser dort sagt: „Es gilt hier nicht die
Sache zwischen Nationalisten und Nichtnationalisten oder der-
gleichen — das ist alles oberflächlich und unwesentlich — ; es
gilt hier die Sache zwischen Wählenden und Geschehenlassenden,
zwischen Zielmenschen und Zweckmenschen, zwischen Schaffen-
den und Zersetzenden, zwischen Urjuden (die auch im Golus
sich finden) und Golusjuden (die auch in Palästina sich finden),"
Wenn der Mensch wählt, wählt er ja nur die Erhebung, sie ist
sein Ziel, der Gegenstand seines Schaffens, das Ursprüngliche
an ihm. So Avenig ich annehmen möchte, daß Herzl das Phänomen
der Polarität als Charakteristikum des jüdischen Volkes, auf das
Buber hier anspielt, klar erkannt hat, so muß er diese tiefe Gegen-
sätzlichkeit doch intuitiv geschaut haben, wenn er im „Mauschel"
sagt: „Als wäre in irgendeinem dunklen Augenblick unserer Ge-
schichte eine niedrigere Volksmasse in unsere unglückliche
Nation hineingeraten ... so nehmen sich diese unerklärbaren,
unvereinbaren Gegensätze aus." —
Wir würden daher im Sinne Herzls das Wesen des Zionismus
etwa folgendermaßen formulieren müssen: Der Zionismus er-
strebt, die im jüdischen Volk bestehenden unvereinbaren Gegen-
17C
ERHALTUNG ODER ERNEUERUNG?
Sätze zwischen Judentum und Mauscheltum bewußt zu machen
und ihre Austragung zugunsten des ersteren zu erzwingen. Oder
«was dasselbe sagt: Der Zionismus erstrebt die Erhebung des
jüdischen Volkes (Erhebung im Gegensatz zu bloßer Erhaltung).
Ich fühle mich berechtigt, die beiden Definitionen im Grunde
«einander gleichzustellen. Denn die Bekämpfung des Mauschel-
tums wird Erhebung des jüdischen Volkes, wenn man nicht in
Geschrei und Säbelrasseln das Wesen dieser Bekämpfung sieht,
die sich vor allem auf seelischem Gebiete vollziehen muß; und
die Erhebung des jüdischen Volkes ist immer Bekämpfung des
Mauscheltums, wenn man die ,, Erhebung" nicht in schönen Reden
und ästhetisierender und überhaupt theoretisierender Mystik
sucht. Die Erhebung kann überhaupt nicht beschrieben, sie muß
gelebt werden; trotzdem will ich in Anlehnung an Herzl sie in
ein paar Schlagworte zu fassen suchen: Von der Heimlichkeit
(Mauscheis Prinzip des „Chillul haschem") zur Offenheit (Herzls
immerwährende Forderung nach unbedingter Öffentlichkeit aller
jüdischen Verhandlungen), von der Charakterlosigkeit zur Mann-
haftigkeit, von der Kleinmütigkeit zum Glauben, vom Kompro-
miß zur Konsequenz, vom sowohl-als auch zum entweder-oder,
Ton der Frivolität zum Ernst, vom Mauscheltum zum Judentum.
Der Kampf zwischen diesen beiden zieht sich durch die ganze
jüdische Geschichte; in der Diaspora, fern vom stärkenden und
gesunden Boden, ist er immer zuungunsten des letzteren aus-
gefallen. Wir aber sind Zionisten, weil wir unsere Existenz da-
für einsetzen wollen, daß derselbe Kampf, der in unseren Tagen
von neuem zum Austrag kommen soll, diesmal zugunsten des
Judentums entschieden werde.
Herzl hatte das richtige Gefühl, daß das Austragen der un-
vereinbaren Gegensätze die Aufgabe unserer Zeit, der Sinn des
Zionismus sei. Zwar ging er von einer sozialpolitisch gefärbten
Philanthropie aus. Aber er wählte dazu aus einem gesunden In-
stinkt heraus Mittel, die dem Denken derjenigen Juden, welche
er sich ,,in einem dunklen Augenblick unserer Geschichte in
unsere unglückliche Nation hineingeraten" dachte, direkt ent-
gegengesetzt waren. Ich denke hier an den Staatsgedanken und
den Glauben an die Persönlichkeit. Die tiefe Bedeutung dieser
beiden psychischen Elemente hat Otto Weininger in seinem „Ge-
177
ERHALTUNG ODER ERNEUERUNG?
schlecht und Charakter" mit bewundernswürdiger Tiefe heraus-
gearbeitet, doch ist er in den Fehler verfallen, Mauscheltum und
jüdische Gemeinschaft zu identifizieren. Viel augenfälliger aber
noch zeigte die Bedeutung dieser Dinge Mauscheis verzweifelter
Widerstand gegen sie. Wieviel von ihnen und dem Widerstand
gegen sie geblieben sind, kann sich jeder selbst ausmalen. Und
wer die Schuld an diesem Verlust trägt, soll nicht untersucht
werden; diese Untersuchung hätte auch nicht viel Sinn. Aber
besinnen wir uns darauf, daß wir die Bannerträger der Erhebung
im jüdischen Volke sind. Das ist die Hauptsache.
178
Die Revolutionierung
der westjüdischen Intelligenz
Von Ludwig Strauß
JcLs ist eine vielfach ausgesprochene Erkenntnis, daß das Natio-
nale sich als formale Kraft äußert. Nun ist der Begriff des For-
malen ein durchaus relativer w^ie der Begriff des Nördlichen
etwa. Er bezeichnet eine Richtung; einen festen Ort bezeichnet
er nur in Beziehung zu einem andern festen Ort. Gedanklichen
Inhalten gegenüber ist die Sprache formal zu nennen; die
Sprache wiederum ist Inhalt gegenüber der formalen Kraft des
persönlichen Stils. Wir können also das Nationale nicht nur in
einer Situation, sondern in einer durch seine Natur bestimmten
Bewegung erkennen: Je mehr fremde Inhalte in die Nation ein-
dringen, desto weiter zieht sich das Nationale zurück in der
Richtung des Formalen, jener Richtung, in welcher mathematisch
gesprochen unendlich fern der Begriff des Nationalen ruht. Es
hat die Tendenz, jeden fremden Inhalt zu formen, jede fremde
Form sich zum Inhalt zu machen. So läßt sich in der Geschichte
der jüdischen Assimilation im 19. Jahrhundert sein Rückzug
beobachten: aus der (eigenen) Sprache in die Handhabung der
(fremden) Sprache, aus der Sitte in die Handhabung der
Sitte.
Neben dem religiösen entstand ein nationaler Älissionsgedanke:
daß wir Juden, indem wir das Leben der Völker in uns auf-
nehmen und in unserer besonderen Art verarbeiten, unsere Kraft
auf die fruchtbarste Weise in den Dienst der Menschheitsent-
wicklung stellen. Der jüdische Liberale und Sozialist, anderer-
seits der jüdische Literat und Bohemien: diese Typen gelten
vielen als die Repräsentanten der jüdischen Werte für Europa
und damit, wie man glaubt, für die Menschheit.
Und in der Tat, die immer vollendetere Abstraktion des
Nationalen, seine immer höher gesteigerte Anwendbarkeit auf
fremde Inhalte, ist eine interessante Kraftprobe. Nur freilich
läßt die Wirklichkeit die Durchführung dieser Kraftprobe nicht
zu, da der geschilderte Prozeß natürlich nicht in seiner idealen
Reinheit vor sich zu gehen vermag, sondern von tausend sozio-
logischen Momenten durchspielt und verzerrt wird. Gerade jene,
deren Leben von ihrer Nationalität am charakteristischsten gc-
179
DIE REVOLUTIONIERUNG DER WESTJÜDISCHEN INTELLIGENZ
formt wurde, die Intelligenz der politischen und künstlerischen
Oppositionen, verloren sich im höchsten Grade an ihr Milieu.
Die Macht des Traditionellen war in ihnen minimal, und aus
freier Wahl entschieden sie sich ebensowenig wie die Bourgeoisie
für ihr abstrakt gewordenes Judentum — teilten sie doch Sprache
und Sitte derer, mit denen gemeinsam oder gegen die sie ihr
Ziel verfochten. Die Mischehe wurde in ihren Kreisen äußerst
häufig, denn dem Aufnehmen fremder Erlebnisinhalte konnten
sie beim Erotischen nicht eine willkürliche Schranke setzen —
damit aber war der erste Schritt zur Selbstvernichtung getan.
Lesen wir die Verheißungen des Bundes, der mit Jahwe ge-
schlossen war. Des Bundes, der für die größten Zeiten unserer
Nation ihre geistigen Inhalte bestimmte. Sechs Stämme auf dem
Berge Garizim sprachen den Segen aus über das treue Israel.
Sechs auf dem Berge Ebal den Fluch über das treulose. Und der
Fluch enthielt diese Sätze:
„Ein Weib wirst Du Dir vertrauen lassen, aber ein andrer wird
bei ihr schlafen. Ein Haus wirst Du bauen, aber ein andrer wird
drinnen wohnen. Einen Weinberg wirst Du pflanzen; aber Du
wirst seiner Früchte nicht genießen.
. . . Deine Söhne und Deine Töchter werden einem andern
Volk gegeben werden, daß Deine Augen zusehen, und ver-
schmachten über ihnen täglich; und wird keine Stärke in Deinen
Händen sein.
Die Früchte Deines Landes und alle Deine Arbeit wird ein
Volk verzehren, das Du nicht kennest, und wirst Unrecht leiden,
und zerstoßen werden Dein Leben lang.
. . . Denn der Herr wird Dich zerstreuen unter alle Völker
von einem Ende der Welt bis ans andre; und wirst daselbst
andern Göttern dienen, die Du nicht kennest noch Deine Väter,
Holz und Steinen.
Dazu wirst Du unter denselben Völkern kein bleibend Wesen
haben, und Deine Fußsohlen werden keine Ruhe haben, denn
der Herr wird Dir daselbst ein bebendes Herz geben und ver-
schmachtete Augen und verdorrete Seele,
Daß Dein Leben wird vor Dir schweben. Nacht und Tag wirst
Du Dich fürchten, und Deines Lebens nicht sicher sein.
. . . Darum daß Du der Stimme des Herrn, Deines Gottes
i8o
DIE REVOLUTIONIERUNG DER WESTJÜDISCHEN INTELLIGENZ
nicht gehorchet hast, daß Du seine Gebote und Rechte hieltest,
die er Dir geboten hat."
Wir von heute und gestern waren „treuloser" als irgendeine
andere Zeit, Wir haben Gott und seine Gebote verloren, haben alle
Inhalte der nationalen Kultur verloren, alle Fähigkeit, in unserer
Gemeinschaft einzig zu leben. Und für uns hat sich, stärker viel-
leicht und dem Volk als Ganzes gefährlicher als für irgendeine
Generation, der Fluch verwirklicht. Es ist nicht nötig hier Bei-
spiele aufzuzählen davon, wie die fremden Inhalte unseres Lebens
sich gegen uns selber richten. VV^ie wir Strömungen fördern, bei
denen wir ewig fürchten müssen, daß sie eines Tages uns zurück-
drängen, und wie wir oft genug von ihnen zurückgedrängt wer-
den. Wie unsere Sprache und Sitte als ein unüberwindlicher
Wall vor uns steht, wenn wir denen nahen wollen, die mit uns
gleichen Stammes sind. Wie wir die eigene Art geringschätzen*),
weil wir sie mit fremden Maßen messen. „Deine Söhne und Deine
Töchter werden einem fremden Volk gegeben werden." Jede
Generation sieht ihr Leben weniger ausgefüllt von jüdischem
Gehalt, für jede wird es schwerer durch allen fremden Inhalt
vorzudringen zu der unendlich vergeistigten Macht der Nationali-
tät in ihr. In jeder sind mehr Gleichgültige und Abtrünnige.
Israel war treulos geworden. Kein Gott und Gesetz, keine
eigene Sprache und Sitte, kein überlieferter Geistesinhalt füllte
mehr sein Leben aus, und der Fluch auf dem Berge Ebal hatte
sich erfüllt. Da geschah das große Neue und Erneuernde.
Als Israel den Gott verlassen hatte, der ihn zwang, er selbst
zu bleiben, als er schwach und alt geworden schien und kindisch
allen nachsprach — da stand er wie einst in der Nacht auf und
suchte einen neuen Engel, um mit ihm zu ringen. Und er fand
den Engel und rang mit ihm und empfing von ihm Segnung und
Befehl zu leben und Kraft zum Gehorsam. Aber kein Gott hatte
ihn gesandt und aus keinen Himmeln war er herabgestiegen, son-
dern der neue Engel, mit dem Israel rang, war seine eigene Seele.
Frei von allem bestimmten Inhalt fanden wir unser Judentum
als unser Selbst, als die gestaltende Macht, die unser Leben
formt.
*) Siehe meinen Aufsatz: „Ein Dokument der Assimilation". Die Freistatt,
1913, Aprilheft.
181
DIE REVOLUTIONIERUNG DER WESTJÜDISCHEN INTELLIGENZ
Als im Übergang von dem alten in festen Inhalten ruhenden
und längst schon faulenden jüdischen Volk zum fremden die
letzte innerhalb der realen Bedingtheit mögliche Abstraktion des
Nationalen erreicht war, ohne daß es sich schon ins Fremdartige
verloren hatte — da stellte, von den nationalen Strömungen des
Ostens angeregt und erinnert, aber vom eigenen tiefsten Willen
bestimmt, ein großer Teil der west jüdischen Intelligenz das natio-
nale Judentum, das ihre vergessenste Möglichkeit war, als Befehl
über ihr Leben. Das abstrakt Gewordene, die ins Feinste ver-
flüchtigte formale Qualität, oft kaum fühlbar und selten nur
nachweisbar — daraus bildete ein unerhört intellektuelles Ge-
schlecht sich seine Ziele, außerhalb und entgegen aller äußeren
und inneren Realität, aller Gewohnheit und Zweckmäßigkeit.
Man beschloß, sich auszugießen und neu zu füllen. Man ver-
neinte das, was man war, weil man das erkannt hatte, was man
bei einer unbedingten Entwicklung geworden wäre. Geworden,
wenn man so rein seinem inneren Gesetz gefolgt wäre wie ein
Körper, der im luftleeren Räume fällt, dem Gesetz der Schwere.
Man erklärte sich bereit, die Welt zu zerstören und neu zu
schaffen. Es bildete sich der Wille zur Revolution par excellence:
zum Zurücktauchen ins Chaos und zum Bilden des Kosmos nach
dem Befehl des Geistes.
Noch ist dieser Wille nur wenigen evident in seiner ganzen
radikalen Macht. Noch hat man nicht begriffen, daß es für uns
kein höheres Lob gibt als den Vorwurf der Gegner, unser Wille
sei unhistorisch, sei anorganisch, unsere Tat eine künstliche.
Das unbedingte Schaffen unter dem geistigen Befehl ist freilich
(subjektiv) unhistorisch, denn seine erste Tat ist die Zerstörung
des Gewordenen, um dem Geschaffenen einen Raum zu bereiten.
Und freilich zerstören wir unseren Organismus, um ihn aus
unseren tiefsten Keimen neu und rein treiben zu lassen. Und wenn
das künstlich ist, was nicht die blinde Natur, sondern die beseelten
Hände des Lebendigen und Sehenden schaffen, so ist unser Tun
und alles, was wir damit erreicht haben, eminent künstlich.
Wir vertreten die Sache des gestaltenden Geistes gegenüber
der Materie. Während bisher das Nationale ewig sich zurückzog
ins Formale, bereiten wir ihm die Bahn aus dem Abstrakten ins
Konkrete, aus der Idee zur Realität. Bis nicht mehr die Rede sein
182
DIE REVOLUTIONIERUNG DER WESTJÜDISGHEN INTELLIGENZ
kann von einem Kückzug, bis wir geschlossen sind, durch
Sprache und Land verbunden und abgeschlossen, und jeder In-
halt unseres Lebens bestimmt und von Anfang gestaltet ist durch
unsere Nationalität. Bis nicht mehr in jedem einzelnen sein
Jüdischwerden mühsam sich vollziehen muß, sondern das er-
wachsende Kind jüdisch geprägte Inhalte in sich aufnimmt.
Der Weg dazu ist nur die geistige Revolution. Wir sahen Aus-
gangs- und Zielpunkte dieser Revolution. Wenn gesagt wurde,
daß unser Wille unhistorisch sei, so bedeutet dies natürlich nur,
subjektiv unhistorisch, insofern er mit dem historisch Gewor-
denen radikal bricht. Objektiv Unhistorisches kann nicht ge-
schehen, jede Erscheinung muß ihren historischen Ursprung
haben. Der ist für unsere Bewegung unsere abstrakte, formal
wirkende Nationalität, von der gesprochen wurde. Und in diesem
Punkt müssen wir die Gegenwart bejahen. Hier ist das Fleckchen
Boden in der Gegenwart, auf dem wir Halt suchen, um sie zu
zerstören und um an einer besseren Zukunft zu bilden. Bejahen
müssen wir, wo nicht das westliche Judentum, so doch die Mög-
lichkeit der Westjuden, zum Judentum zu kommen. Man kann
auch die Dichtung vieler Westjuden etwa nicht ohne Ungerech-
tigkeit als unjüdisch bezeichnen. Man versucht das zu recht-
fertigen, indem man die Abhängigkeit der Werke der einzelnen
Dichter von deutschen oder anderen fremdnationalen literarischen
Strömungen nachweist. Gewiß, fremdartige Strömungen gehen
durch uns alle, und unser Ich kann sich nur in der Art äußern,
wie es diese Strömungen aufnimmt und färbt. Und erst hier, im
extrem Formalen, hat die Untersuchung einzusetzen, die uns
zeigen wird, daß unsere Dichtung ebenso jüdisch und unjüdisch
ist, wie wir alle, also unsere, der werdenden Juden, eigenste An-
gelegenheit.
Bejahen wir hier einen Ausgangspunkt für unser Jüdisch-
werden in der Gegenwart, so doch niemals einen Ruhepunkt für
unser Jüdischsein. Freie Juden können wir nicht sein, solange wir
in einem fremden Kulturkreis stehen. Und unsere Entfremdung
von dem uns umgebenden Volk, unsere kulturelle Geschlossen-
heit als Juden müssen wir schon hier mit allen Mitteln fördern.
Nichts ist gefährlicher als die beiden Auffassungen, die zum
Ruhen der jüdischen Kulturarbeit in der Diaspora führen. Die
i83
DIE REVOLUTIONIERUNG DER WESTJÜDISCHEN INTELLIGENZ.
eine, die sagt: wir sind Juden, wie wir jetzt und hier sind, da wir
unser Judentum fühlen. Denn sie verkennt, daß eine Nationali-
tät, die sich immer weniger im Konkreten äußert, von einer in-
tellektuellen Generation gefühlt, aber nicht dauernd und für ein
ganzes Volk erhalten werden kann. Und die andere, die sagt:
Hier ist nichts zu erreichen, hier muß alles künstlich bleiben;
warten wir auf Palästina! Nun, was in Palästina erreicht worden
ist, etwa in der Verbreitung der hebräischen Sprache, das ist
sicherlich in seinem Entstehen in hohem Grade künstlich, wenn
nicht ein wenig gewaltsam gewesen. (Das bedingt das Wesen
unserer Bewegung als einer revolutionären.) Es ist jedoch schon
in der jungen Generation durchaus Natur. Wann aber wird es
möglich sein, eine größere Anzahl von Westjuden nach Palästina
zu verpflanzen? In absehbarer Zeit ganz gewiß nicht, und in-
zwischen wird hier unser Judentum immer mehr verwässern.
Denn unsere Kinder werden wahrlich nicht dadurch jüdischer,
daß sie frühzeitig das Baseler Programm und die Ideologie des
Zionismus kennen lernen.
Die Forderung des nationalen Willens heißt: Schaffung kon-
kreter jüdischer Elemente im Leben der Westjuden. Die he-
bräische und für den, der sie vorzieht, die jiddische Sprache als
Umgangssprache soll uns verbinden mit dem zentralen Leben
des jüdischen Volkes, wie es im Osten — und hoffentlich bald
freier und vollkommener in Palästina — existiert. Diese Forde-
rung mag unnatürlich und unhistorisch erscheinen — sie ist nicht
unnatürlicher und unhistorischer als unsere ganze nationale Be-
wegung, deren direkte Konsequenz sie ist. Einem nicht sehr
großen Bruchteil der westlichen Judenheit nur wird dieser
schwere Weg gangbar sein, aber nur dieser Bruchteil und kein
einziger darüber hinaus wird deni jüdischen Volke erhalten bleiben.
Wir verlangen, daß ernst gemacht wird. Die Richtung des
alten Volkes hat sich bewährt in unserer Bewegung, die Geistig-
keit derer, die den unsichtbaren Gott über ihr Leben stellten,
in uns, die unsere nicht mehr konkrete Nationalität über das
unsere stellen. Möge sich nun auch ihre Kraft bewähren in
unserer Tat. Alle Geistigen mögen den Befehl des Geistes er-
kennen und ihm folgen. Denn ein Befehl ist die nationale Idee
und nicht eine Fahne, die man vor sich herträgt.
i84
DIE REVOLUTIONIERUNG DER WESTJÜDISCHEN INTELLIGENZ
Keine Begeisterung für die Fahne, wie sie in der zionistischen
Bewegung ja genugsam herrscht, wird dem Volk die west jüdische
Intelligenz retten und keine nur organisatorische und politische
Arbeit. Die, denen es ernst ist, werden sich sammeln zum letzten
Versuch dieser Bettung: zur revolutionären Tat.
i85
Erziehung im Judentum
Von Hugo Herrmann
Als vielfacher Laie will ich ein paar Worte zu diesem Gegen-
stand wagen, die meine persönliche Anschauung und weiter zu-
nächst nichts geben sollen.
Ich glaube, der möglichen Standpunkte zur jüdischen Er-
ziehung im Westen, wie überhaupt zu jüdischen Dingen, wie
überhaupt zu allen Dingen, sind zwei: der eine sieht Fragen,,
die gelöst, der andere sieht Dinge, die gemacht werden wollen.
Ich sehe gern, daß das nur zwei Ausdrücke für dieselbe Sache,
zwei Auffassungen oder Abstufungen für das Bewußtsein der
Unzulänglichkeit des Bestehenden sind; das wichtigste ist eben
'die Art, jivie man dieses Bewußtsein hat und wie es sich
äußert.
Wir haben vor allem ein Problem des jüdischen Religions-
unterrichtes herausgefunden. (Ich beschränke mich im folgen-
den, ohne es immer zu betonen, auf den Westen, das heißt
wesentlich auf Österreich und Deutschland.) Wir haben mit dem
Pathos, das in unseren Kreisen (Reihen, sagen wir) mit Recht
üblich ist, darauf hingewiesen, wie elend der jüdische Religions-
unterricht an unseren Schulen ist, wie die Kinder, statt in der
Schule Liebe zum jüdischen Volke, Begeisterung für seine Ge-
schichte, erste und erfreuliche Kenntnis des Hebräischen zu ge-
winnen, dort nur lernen, sich ihres Judentums zu schämen.
Wir haben dann mit der Zielsicherheit, die uns gleichfalls aus-
zeichnet, gleich herausgehabt, wer die Verantwortung für diesen
höchst beklagenswerten Zustand trägt: die Religionslehrer, das
sind in der Mehrzahl der Fälle (nahezu überall auf dem Lande)
die Rabbiner. Und man liest immer wieder, wiederkehrend wie
das Ceterum censeo des guten Cato, in unseren Blättern den vom
Herzen kommenden Appell an die Rabbiner und Religionslehrer,
sie möchten doch ein Einsehen haben und ihren Schülern und
Schülerinnen von nun an Liebe zum jüdischen Volke und zum
Hebräischen beibringen. Mir klingt dies immer so, als wenn je-
mand an einen an den Füßen eng Gefesselten die herzbewegliche
Bitte richtete, doch einmal recht schnell zu laufen.
Ich denke einmal an den katholischen Religionsunterricht an
den Schulen, die ich kenne. Da gab es zwei Lehrertypen: der
i86
ERZIEHUNG IM JUDENTUM
eine war ,, christlich", mild und liebevoll, und die Schüler nahmen
ihn nicht ernst, etwa so wie sie die meisten jüdischen Religions-
lehrer zu nehmen pflegen. Sie machten während der Religions-
stunde die Aufgaben für die andern Gegenstände oder trieben
Possen; ,, Liebe" zur Religion lernten sie, mit verschwindenden
Ausnahmen, nicht. Der andere Typus war hart und streng, ließ
jährlich zwei oder drei Schüler wegen schlechten Erfolges im
Religionsunterrichte die Klasse wiederholen, erzielte auch, daß
man die Religion lernte wie die lateinischen Verba; ich habe
schon erlebt, daß Schüler eines solchen Katecheten, die doch in
sich ein starkes religiöses Bedürfnis fanden, übertraten und pro-
testantische Geistliche wurden. Die Wurzel dieser Schwierigkeit
liegt, glaube ich, darin, daß unsere heutige Schule in ihrem
ganzen Wesen rationalistisch, aufklärerisch, liberal, antireligiös
ist, selbst in Österreich unter unserer durchaus klerikalen Schul-
verwaltung, und es noch immer mehr wird; in diesem Rahmen
kann ein starker, tiefgehender Religionsunterricht, eine Reli-
gionserziehung vielmehr, nicht aufkommen, und darunter leidet
unser jüdischer Unterricht, der eben nicht nur äußerlich als
ReligionsxmXOiVTichi betrieben wird, gleichermaßen wie der
katholische.
Freilich darf diese Gleichstellung nicht überschätzt werden.
Mag unser jüdischer Unterricht leiden, so hat er doch einen un-
geheuren Vorteil vor dem katholischen, da er zugleich Geschichts-
unterricht ist, und dieses in weitem Maße. Es wäre also, ist die
Folgerung dieser Überlegung, notwendig, den eigentlichen Reli-
grio/isunterricht zugunsten des Gesc/iic/i^sunterrichts zurückzu-
drängen. Wenn aber dieser Geschichtsunterricht, wie im bis-
herigen Lehrplan wohl überall wesentlich, als eine Art Fasten
behandelt wird, als eine kalendermäßige Erklärung zu den reli-
giösen Festen, so ist mit ihm sehr wenig geholfen. Es müßte
wirklich Geschichte unterrichtet werden, auf der Unterstufe alles
Anekdotische gegeben, Männer und Ereignisse mit ausgeprägtem
Antlitz ins unverlierbare Bewußtsein der Kinder gesenkt werden,
auf der Oberstufe die Zusammenhänge der geschichtlichen Ent-
wicklung und die Verknüpfung und Verschränkung der jüdischen
mit der allgemeinen Geschichte aufgehellt werden. Von unsern
Lehrern aber bei den heutigen Lehrplänen und mit den heutigen
187
ERZIEHUNG IM JUDENTUM
Lehrbüchern die Lösung dieser Aufgabe zu verlangen, ist un-
gerecht und unmöglich.
In all diesen Dingen wird es notwendig sein, daß in der
nächsten Zeit eine ganz starke und ihres Zieles bewußte Tätig-
keit von unserer Seite einsetzt. Wenn wir das Ideal fordern und
vielleicht sogar in idealen Büchern vorzeichnen, wird sich nie-
mand finden, der es verwirklicht. Wir müssen wissen, daß alles,
was wir im Galuth arbeiten, Stückwerk bleibt, daß alles, was
wir hier tun, nur eine Stufe sein kann, wie mein Freund Emil
Theiner sagt, dem wir in diesen Dingen so viel verdanken, und
der gar nie genannt wird und genannt werden wird, so sehr ver-
schwindet seine Person hinter dem, was er tut und — tun läßt.
So sind die zwei Kinderheftchen, die ich zu Chanuka 191 1 und
zu Purim 1912 schrieb und die er illustrierte, ganz und gar sein
Werk. Etwas Kleines und Geringes, eine erste Stufe; aber doch
eben eine. Wir werden von hier weiter arbeiten müssen. Wir
werden eine Sammlung von Märchen schaffen, deren erster Ge-
sichtspunkt sein wird, daß sie Kindern erzählt und von ihnen
wiedererzählt werden sollen. Es wird nicht leicht sein, den Wett-
bewerb mit den Brüdern Grimm aufzunehmen; aber wenn wir
uns fürchten und uns mißlungener oder halbgelungener Dinge
schämen wollen, wird nie etwas werden. Wir werden eine Samm-
lung von Liedern veranstalten, vom Eio popeio an bis zu Balladen
und Romanzen; ich habe zwei oder drei 'Bänkelgesänge zur
biblischen Geschichte und über palästinensische Landschaften,
im Anschluß an Matthias Claudius und deutsche Volkslieder,
auf deutsche Volksweisen verfertigt, die Kindern sehr gut ge-
fallen haben: ästhetisch empfindende Jünglinge haben die Nase
gerümpft (ich auch), aber die Kinder haben Freude daran ge-
habt, und wir werden jüdischer werden: es war eine erste Stufe.
Wir werden diese Lieder illustrieren und Bilderbücher schaffen,
von den ersten „Unzerreißbaren" bis zu den künstlerischen
Büchern verwöhnter Kinder aus reichen Häusern. Wir werden
im Anschluß daran Wandbilder herausgeben, die in jüdischen
Kinderzimmern hängen werden statt der vier, fünf Litho-
graphien von Caspari und Rehm, die, dürftig genug, alle deut-
schen Kinderzimmer mit Wandschmuck versorgen. Mein Freund
Kamil Kohn hat zu meinen Bänkelliedern Wandbilder gemalt, die
188
ERZIEHUNG IM JUDENTUM
eine erste Stufe hier bilden. Wir werden im Anschluß an unsere
Märchen-, Lieder-, Bilderbücher Kinderspiele erfinden, von den
ersten Bewegungs- oder Fingerspielen der Kleinen bis zu den
Schreib- und Quartettspielen der Größeren und Fast-Großen.
So werden die Kinder längst, ehe sie in die Volksschule
kommen, lernen, daß es selbstverständlich ist, daß sie Juden sind.
Noah, Moses, Simson, David, König Salomo werden ihnen ver-
traut und lieb sein als ihre Spielgenossen. Sie werden in der
Schule das, was sie hören, an längst Erlebtes anknüpfen. Wir
werden dafür sorgen, daß auch dann der Schullehre gemüt- und
herzbewegende Beschäftigung zu Hause antwortet, wir werden
Sagen, Erzählungen, Romane und Novellen als eine jüdische
Jugend-Bücherei schaffen, die ein vollwertiges Gleichgewicht
gegen Dietrich von Bern, Gulliver und die Hosen des Herrn
von Bredow bilden werden. Das alles wird nicht leicht sein; aber
es wird selbstverständlich werden. Wir werden viel Material aus-
nützen können; Moliere sagte: Je prends mon bien oü je le
trouve; wir werden unzählbare Plagiate begehen, und ihre
Summe wird höchst ursprünglich und uns eigen sein.
Wir werden Kindergärten schaffen, wo mit unserem Material
gearbeitet werden wird; nicht hebräische Kindergärten, sondern
Stufen. Wir werden unsern Kindern in der Volksschule schon
neue Bücher geben müssen, wir werden den jüdischen Religions-
unterricht auf die erneuerte, breite Grundlage des „Unterrichtes
im Volkstum" stellen. Wir werden vor allem bedacht sein, daß
unsere neuen Bücher von den Unterrichtsbehörden approbiert
werden; denn hier sind wir keine Utopisten. Unser Ziel ist die
eigene jüdische Volksschule; sie ist möglicher, als man glaubt,
denn ihr wesentliches Merkmal ist nicht irgendein nebelhaftes
Judentum, auch nicht unmenschlich viel Hebräisch, sondern die
Selbstverständlichkeit, daß alle Schüler und alle Lehrer Juden
sind.
Diese Schüler werden dann von der Mittelschule etwas mehr
Jüdisches verlangen, als sie ihnen heute gibt. Darum werden sie
es erlangen. Die Schule muß den Schülern geben, was sie ver-
langen. Wir werden den jüdischen Unterricht dadurch fördern,
daß wir einen Lehrplan aufstellen und — vor allem — die dazu
nötigen Lehrbücher schaffen. Nach meiner Vorstellung ist der
189
ERZIEHUNG IM JUDENTUM
Hauptgegenstand dieses Unterrichtes die Geschichte des jüdischen
Altertums. Sie wäre auf der Unterstufe, etwa in den ersten drei
Klassen, in der oben angedeuteten anekdotischen Weise zu
lehren; in der Übergangszeit, in der vierten und fünften Klasse,
würde ich die jüdische Geschichte in Mittelalter und Neuzeit
geben, um die Verknüpfung der Gegenwart mit der Antike her-
zustellen, und diese Verknüpfung als das eigentliche Lehrziel be-
trachten; die obersten Klassen würde ich dann der eingehenden
Versenkung in die große Zeit unseres Volkes und in seine größte
Schöpfung, die Bibel, weihen. Man sage nicht, daß zwei Wochen-
stunden, und mehr sind vorderhand kaum zu erreichen, für diesen
Zweck zu wenig sind, da doch noch das Hebräische daneben
steht; zwei Stunden, wenn sich die Schüler am Schluß der einen
schon auf die nächste freuen, geben mehr als acht, wenn dio
Kinder beim Beginn einer jeden schon das Glockenzeichen zum
Schluß ersehnen.
Das Hebräische freilich kann in diesem Rahmen nicht zu
seinem Rechte kommen. Aber wenn die Schule so das Volks-
tum pflegt, werden die Schüler Interesse am Betrieb des He-
bräischen außerhalb der Schule bekommen. Wir werden für die
Einrichtung solcher Kurse sorgen, und endlich wird die jüdische
Gemeinschaft von allen ihren Angehörigen fordern, daß sie ihre
Kinder an diesen Kursen teilnehmen lassen. Je weiter wir hierin
kommen, desto möglicher wird es sein, in der Schule bloß die
außer und neben ihr erworbenen Sprachkenntnisse auszunützen,
zu vertiefter historischer, literatur- und geistesgeschichtlicher Be-
schäftigung.
Leichter wird alles das werden, sobald wir die jüdische Mittel-
schule haben. Wir werden sie gründen; als humanistische Schule.
Ich ahne einen parallelen Unterricht des Latein und des He-
bräischen, der unerhörte Früchte tragen wird. Wir müssen nur
den Mut haben, die ganze Schule auf das Geschichtlich-Sprach-
liche, das heißt auf den Humanismus zu stellen, in der Geschichte
das Mittelalter und die Neuzeit gegenüber dem Altertum, im
ganzen die Naturwissenschaften gegenüber Geschichte und
Sprachen zu bagatellisieren. Wir müssen nur den Mut haben,
eine unpraktische Schule zu gründen, dann wird sie schon wirken
und ihre Schüler zu Juden und Menschen machen, die nie unter-
190
ERZIEHUNG IM JUDENTUM
gehen können. Was hilft unserm haltlosen Geschlecht die reale
Erziehung auf ,, Aussichten", Befähigungen, auf praktisch ver-
wertbare Kenntnisse und Fähigkeiten hin? Wären sie doch etwas
größere Menschen! Dann sollte mir auch um ihr materielles
Wohl nicht bange sein.
An die Möglichkeit einer jüdischen Hochschule im Galuth
oder fürs Galuth glaube ich nicht. Aber auch die jüdischen Hoch-
schüler brauchen noch jüdische Erziehung. Sie soll in Vereini-
gungen verwirklicht werden, wie wir einige wenige schon haben,
die unsere jungen Leute, wenn sie Juden aus Selbstverständlich-
keit geworden sind, zum Bewußtsein ihres Judentums bringen
soll. Hier muß das historische Studium bis in seine höchsten
Stufen entwickelt werden, zur Geschichte des jüdischen Geistes
werden; es muß eine sichere Grundlage erhalten in genauer und
eingehender Betrachtung der jüdischen Soziologie in Vergangen-
heit und Gegenwart. Hier erst soll der bewußte Anschluß an
die jüdischen Erneuerungsbestrebungen erfolgen; auf früheren
Stufen würde er zu hohler Spielerei, die dann öde Vereinsmeierei
statt eines lebendigen Gemeinschaftslebens in den Hochschul-
jahren herbeiführen müßte.
Die Früchte dieser Erziehung, die jungen Leute, die durch
diese Stufen der jüdischen Entwicklung gegangen sind, werden
dann geeignet sein, ihrerseits wieder die Erziehung des Volkes
zu leiten. Sie werden wissen, daß dieses Volk nur eine einzige
Erziehung braucht, das ist die zur sittlichen Reinheit, zur Selbst-
losigkeit, zur Befreiung von den schnödesten materiellen
Zwecken. Das Mittel dieser Erziehung ist der schöne völkische
Idealismus, der der Gemeinschaft, der jeder einzelne verbunden
ist, ein hohes, leuchtendes Ziel setzt; der glaubt, daß diese Ge-
meinschaft, Erbin hoher Gedanken, dieses Zieles würdig ist; und
daß sich diesem Ziel hinzugeben schöner ist, glücklicher macht,
als sich selber durchzusetzen.
Ich konnte nicht viel sagen; es kommt auch nicht darauf an,
viel zu sagen. Es wird nötig sein, für die umfassende und ziel-
bewußte Arbeit, die vor uns liegt, die Kräfte in der richtigen
Weise zu sammeln und in Mitwirkung zu setzen. Hoffentlich
werden diese meine Worte zu diesem ersten Schritte beitragen.
Hoffentlich sind auch sie eine Stufe.
191
DER JUDE UND EUROPA
Wir und Europa
Von Moritz Goldstein
1 heodor Herzls Konzeption, die er in die Formel faßte: „Wir
sind ein Volk, ein Volk", — soweit sie nicht aus Abwehrinstinkten
entsprang, also in ihren echteren und edleren Motiven — war
durchaus kein jüdisches, sondern ein höchst europäisches Er-
eignis. Wie hätte auch dieser weltgewandte, durch und durch
moderne Mann dazu kommen sollen, sich außerhalb Europas zu
stellen in eine fast mittelalterliche Gemeinschaft hinein? Außer-
halb dieses Europas, dem er so gut wie alles verdankte, was er
war und womit er wirken konnte? Nein, der Antrieb, unter dem
er seinen Judenstaat ersann, stammte aus Europa und ergriff
den Europäer in ihm. Er tat nichts, als daß er eine gesamt-
europäische Geistesbewegung auf die Juden anwandte; aber ge-
rade diese Konsequenz war so schwer und lag zugleich so nahe,
daß Genie dazu gehörte. Es handelt sich um jene geistige Be-
wegung, die etwa nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts
sichtbar wurde, in Männern wie Nietzsche und Ibsen ihre wirk-
samsten Vertreter fand und die heute allmählich in praktische
Wirkung sich umzusetzen und gleichzeitig zu trivialisieren be-
ginnt: es handelt sich um den Individualismus. Dieses Lebens-
ideal ist das notwendige Widerspiel des Humanismus des
18. Jahrhunderts und mußte ihn nach dem Gesetz des Gegen-
satzes ablösen. Daß alle Menschen verschieden seien, daß jeder
einzelne eine unvergleichliche, nie wieder vorkommende Existenz
darstelle und daß sein Wert auf dem beruhe, was ihn von anderen
unterscheidet, diese Lehre und Wertsetzung trat naturgemäß an
die Stelle des überwundenen Humanismus, wonach gerade das
allen Menschen Gemeinsame, die von Natur gleiche Mensch-
lichkeit, humanitas, den Wert der Persönlichkeit bestimmte.
Folgte aus dem alten Ideal, daß man die nicht von Natur, son-
dern durch Kultur gesetzten Unterschiede zwischen den Men-
schen, also die sozialen und politischen Grenzen auslöschen
müsse, um „die Menschheit" zu erhalten, so fordert das neue,
daß man, im Gegenteil, die Unterschiede betonen, die „Distanzen
aufreißen" müsse, um das wertvolle Individuum sich entfalten
zu lassen. Mit dem individuellen Wert des einzelnen entdeckte
man auch den der Nation; man erfand den nationalen Indivi-
195
WIR UND EUROPA
dualismus. Und nun mußte man auf die Folgerung stoßen: Also
liegt auch der Wert der Juden nicht in dem, was sie mit anderen
gemein haben, sondern in dem, was sie von ihnen unterscheidet.
Wenn die Juden überhaupt etwas wert sind, so sind sie es als
nationales Individuum. Sie haben etwas zu bedeuten, weil auch
sie ein Volk sind — oder wenn sie es noch nicht sind, so müssen
sie es werden. Mit dieser Konsequenz war der Zionismus ge-
gründet, nämlich der Zionismus, der mit einem Male werbende
Kraft besaß und Anhänger gewann. Nicht als Reaktionäre, son-
dern als sehr moderne Menschen sind wir National] uden ge-
worden. Man könnte paradox sagen: Wir sind es geworden als
Schüler Nietzsches.
Die Herzische Formulierung wäre hundert Jahre früher nicht
möglich gewesen; sie hätte lächerlich, nämlich selbstverständ-
lich geklungen; und sie wirkte nur als Gegensatz zu einer anderen
Konzeption, die vorhergehen mußte; oder sagen wir lieber: einer
Ausdeutung, die ihrerseits ebenfalls eine europäische Konsequenz
war und sich zum Humanismus genau so verhielt wie National-
judentum zum Individualismus. Um die Juden als eine, eine
Nation zu entdecken, mußten sie vorher für etwas anderes ge-
halten worden sein. Sie waren gehalten worden für Bekenner
einer Religion, sogar einer Konfession. Das war der genaue Aus-
druck der allgemeinen Kulturlage um 1800. Unter dem be-
freienden Odem des Humanitätsideals, nach der Verkündigung
der Menschenrechte waren auch die bis daliin verachteten Juden
in den Orden der „Menschheit", wie man sagte, der Kultur-
menschheit, wie man meinte, d. h. in die Gemeinschaft Europas
aufgenommen worden. Das erste Beispiel eines Ghettojuden, der
es durch Selbstzucht zum Europäer gebracht hatte, bot unter
dem verwunderten Beifall von Juden und Christen Moses Men-
delssohn dar. Seitdem drängten sich die neuen Schüler massen-
weise zur europäischen Kultur. Europäer zu werden, das ist
letzten Endes das Ziel und der Stolz der Assimilation, in ihren
Anfängen so gut wie heute. Man emanzipierte sich von den un-
europäischen Volkssitten oder -Unsitten, legte die unterscheidende
Tracht ab, lernte deutsch oder französisch oder englisch schreiben
und sprechen; man emanzipierte sich auch von dem alttestament-
lichen Jehova und dem rabbinischen Ritual und machte das
196
WIR UND EUROPA
Judentum europafähig, demselben Zuge der Aufklärung folgend,
der auch die christliche Religion zum Bekennen eines fast un-
persönlichen höchsten Wesens und zur allgemeinen Moralität
ohne bestimmte Vorschriften vergeistigte oder verflüchtigte.
Äußeres Kennzeichen, sozusagen das Diplom für erreichte
Europawürde, war die Verleihung der unbeschränkten staats-
bürgerlichen Rechte in den jeweiligen Heimatstaaten. Und um
den Anspruch auf solche Einfügung theoretisch zu erweisen, er-
klärte man das Judentum als bloße Religion, versteht sich das
Judentum in geläuterter Fassung, wie es liberale Rabbiner in
Reformtempeln ausdeuteten, in welcher Gestalt es sich nun
>virklich von der ebenso gedeuteten christlichen Religion durch
kaum mehr als den Namen unterschied.
Der Stolz auf unser Europäertum sitzt uns Juden allen noch
heutigen Tages tief im Blute. Die uns Semiten und Asiaten
nennen, wissen sehr gut unsere empfindlichste Stelle zu treffen.
Wir beweisen mit diesem Stolz und dieser Empfindlichkeit das
Gegenteil von dem, was wir beweisen wollen: daß die Würde
neu und ungewohnt ist, daß wir die Parvenüs in Europa sind.
Daß sämtliche Juden, plötzlich in Palästina vereinigt, nicht
Europa, nicht Kultur, sondern Unkultur wären, ein bloßer Haufe
ganz disparater Elemente, das ist die Tragik im Zionismus, das
ist es, warum sich zu ihm bekennen für uns Westeuropäer ein
Opfer bedeutet. Daß man sie um ihre Würde als Europäer
bringen wolle, dieser Verdacht reizt unsere jüdischen Gegner so
heftig gegen uns auf; diese Furcht hält sie von uns fern. Sie
ahnen nicht, daß sie es sind, die noch immer an einem alten,
schon veralteten Ideale hängen; sie erkennen nicht die Zeichen
der Zeit, welche vom Humanismus und Weltbürgertum fortge-
schritten ist zum Individualismus und Nationalismus; sie merken
nichts davon, daß wir National Juden, die wir die neue geistige
Orientierung als gute Schüler auf uns selber angewendet haben,
die europäischeren Juden sind. Sie wollen sich auch nicht ein-
gestehen, daß sie in doppeltem Sinne für eine verlorene Sache
fechten: nicht nur, weil sie auf einer überwundenen Entwicke-
lungsstufe Europas stehen geblieben sind, sondern auch, weil das
Judentum, in ihrem Sinne als bloße Religion gefaßt, tot ist.
Denn ein höchstes göttliches Wesen und das allgemeine Sitten-
197
WIR UND EUROPA
gesetz, etwa in Kants Sinne, auf welche beiden Begriffe man
jetzt das ,, mosaische Bekenntnis" hinzudeuten liebt, sind zwar
schöne Dinge an sich, auf Grund deren uns kein Gerechter seine
Achtung mehr versagen darf. Aber sie besitzen gar keine
werbende oder auch nur festhaltende Kraft; sie begründen auch
keinen Unterschied gegen das übrige geistige Europa. Wenn
Judentum weiter nichts ist, dann gibt es wahrhaftig keinen Grund
mehr, daß wir uns innerhalb der europäischen Welt als etwas
Besonderes erhalten; in diesem Glauben treffen wir mit dem
aufgeklärten Christentume durchaus zusammen. Zudem: wenn
wir das Judentum reformieren, warum sollen wir bei der Lehre
vom persönlichen Gott, und sei es ein noch so liberaler Gott,
stehen bleiben, da doch die Entwicklung mindestens weiter
Kreise auf eine Überwindung dieses Glaubens überhaupt hin-
drängt? Wenn alle Welt unreligiös — im bisherigen Sinne des
Wortes — und, mit Nietzsche zu sprechen, amoralistisch werden
will, warum sollen wir Juden, wir ehrgeizigen Europäer, beim
lieben Gott und seiner Moral verharren? Aber freilich, diese
Konsequenz darf der Staatsbürger jüdischen Glaubens nicht
ziehen, solange er noch ein Judentum erhalten will; denn eines
außerhalb des Glaubens kennt er ja nicht. Wir dagegen er-
klären das Judentum, für das unsere Väter lebten, litten und
starben, für tot. Wir dürfen es getrost ; denn ist gleich das Juden-
tum tot: die Juden leben. Und indem wir dieses Lebendige mit
Leidenschaft ergreifen, haben wir das Judentum in neuer Form,
als nationales Judentum gerettet und für eine neue Zukunft ge-
gründet.
Dieses unser National Judentum wird sich nun aber mit jenem
Europa, aus dem es entsprungen ist und dem es seine Kraft vor-
läufig und bis auf weiteres verdankt, irgendwie auseinander-
setzen müssen. Denn das Verhältnis beider ist nur, solange wir
in unserem europäischen Gedanken- und Empfindungskreise
bleiben, klar und selbstverständlich, wird aber sehr problematisch,
sobald wir uns nicht mehr als Juden von heute und gestern, son-
dern von dreitausend Jahren fühlen und sobald wir den Anschluß
an unsere eigene Tradition wiederzugewinnen suchen.
Hier wäre nun zunächst die Frage zu beantworten, was denn
Europa ist. Wir wollen uns nicht auf lange historische und philo-
198
WIR UND EUROPA
sophische Erörterungen einlassen, sondern uns im wesentlichen
auf das berufen, was jedem von uns bei diesem Worte ohne
weiteres gegenwärtig ist. Nur so viel sei bemerkt, daß dieses
Europa, von dem wir hier reden, sich, wie billig, nicht mit dem
geographischen Begriffe deckt, sondern teils weniger, teils mehr
als die so genannte asiatische Halbinsel umfaßt; daß wir es ferner
hier wiederum mit einer Konzeption zu tun haben, die freilich
nicht auf einmal vom Hirn eines Menschen gefaßt wurde, son-
dern allmählich sich entwickelt hat und wohl noch nicht bei
ihrer letzten Ausprägung angekommen ist; daß endlich die Reali-
tät dieses Begriffes in dem Einheitsbewußtsein eines Teiles der
Menschheit liegt, welcher sich den übrigen Teilen entgegensetzt,
vielmehr sich darüber stellt und sich selbst naiv für den Mittel-
punkt der Menschheit, für die bisher erreichte höchste Spitze,
kurz für die Menschheit im eigentlichen Sinne hält. Ohne uns
bei der Frage aufzuhalten, auf welchem Grunde dieses Einheits-
bewußtsein ruhe und ob diese Selbstschätzung berechtigt sei —
was mindestens im Hinblick auf Süd- und Ostasien bezweifelt
werden darf — , stellen wir fest, daß wir Juden uns in das euro-
päische Bewußtsein eingefügt haben; daß, wenn wir auch nicht
widerspruchslos darin aufgenommen werden, wir selbst doch
durchaus und instinktiv darin zu Hause sind. Diese geistige Zu-
gehörigkeit zum Europäismus besteht für unser Gefühl ohne
Rücksicht auf alle Volks- und Rassentheorien. Obwohl der Zu-
sammenhang keineswegs selbstverständlich ist; denn in seinen
Anfängen gehörten die Juden zum babylonisch-assyrischen und
ägyptischen Kulturkreis, der ältesten, dem heutigen Europa ähn-
lichen Kulturgemeinschaft, die wir kennen, und später wurden
sie von der zweiten großen Kulturgruppe, der mittelländischen,
umschlossen — wobei es nichts verschlägt, daß sie sich in prin-
zipiellem Gegensatz zu diesen Gruppen befunden haben. Es ist
bezeichnend für die jüdische Psyche und Lebenskraft, daß wir
mit der Wanderung des Kulturschwerpunktes von Osten nach
Westen mitgewandert sind.
Mit diesem Europa, wie gesagt, muß sich das neue National-
judentum irgendwie auseinandersetzen — ich meine hier natür-
lich geistig, nicht politisch. Die Lage scheint zunächst sehr ein-
fach. Heinrich Heine, dem das Jüdische tiefer im Blute stak.
199
WIR UND EUROPA
als ihm selber lieb war, nennt einmal die Bibel das auf-
geschriebene Vaterland der Kinder Gottes, ein Wort, das die
ganze Tragik der Juden und sein Gefühl dafür mit einem Schlage
offenbart. Das aufgeschriebene Vaterland — das heißt, wir haben
kein Land der Väter, keinen Boden, in dem unsere Wurzeln
stecken, keine Scholle, deren Duft wir an uns tragen; und was
uns einigt, ist ein Buch, etwas Unreales, rein Geistiges, bloße
Symbole und Zeichen! Auf dem dünnen Boden der Schrift hat
dieses gespenstige Volk zweitausend Jahre gelebt, aus ihm hat
es seine Energien gezogen, und eine Generation nach der anderen
hat ihre Arbeit darauf gehäuft. Das Buch war für lange Ketten
von Geschlechtern Trost und Zuflucht, Hoffnung und Lohn,
Licht, Luft und Sonne.
Wenn wir also suchen, dem Volke sein Land zurückzugeben,
so wollen wir damit nichts geringeres, als eine zweitausendjährige
Krankheit heilen und der Nation aus einer Scheinexistenz zu
einer wirklichen Existenz verhelfen. Indessen dieser Zionismus
ist so alt wie unsere Heimatlosigkeit und deckt sich nicht ganz
mit dem Nationalismus, den Herzl konzipierte und den wir als
europäisches Ereignis begriffen haben. Denn unser Zionismus
begnügt sich nicht damit, dem Volke seine Heimat wiederzu-
geben, sondern er will — in dem Heineschen Bilde zu bleiben —
mit dem Lande das Buch ersetzen. Die einigende Wirkung, die
während zweitausend Jahren „das Buch" ausgeübt hat, soll
künftig „das Land" ausüben; wir sollen aus einem Volke der
Schrift und der Lehre nach dem Beispiele des glücklicheren
Europa ein Volk des eigenen Bodens, der Industrie, des Handels,
der eigenen Kunst und Wissenschaft werden. Wir denken uns
ein Palästina, wie wir ein Deutschland, ein England kennen, nur
daß die Einwohner Juden sind.
Das aber ist nicht nur eine Gesundung, sondern zugleich eine
Gefahr, der man, wenn sie auch nicht zu vermeiden ist, doch
ins Auge sehen muß.
Wenn die Juden ein besonders begabtes und lebensfähiges
Volk sind: als Volk des Landes sind sie es gerade nicht, sondern
als Volk des Buches. Als politisches Volk haben sie es schon
einmal, und zwar an derselben Stelle, schlecht gemacht. Nun
hoffen wir zwar, daß es ihnen ein zweites, vielmehr ein drittes
200
WIR UND EUROPA
Mal besser glücken werde. Wir hoffen nämlich, daß sie als ein
europäisches Volk in einer europäisch gewordenen Welt, im
Schutze eben dieses Europas, werden Wurzel schlagen und ge-
deihen können. Aber bewiesen ist das nicht. Bewiesen ist viel-
mehr, daß das Volk, dem Bibel und Talmud schlechtweg
bindende Gesetze waren und das sein gesamtes Leben unter ein
strenges Ritual stellte, sich unter den ungünstigsten äußeren Ver-
hältnissen erhalten hat. Die Kraft der Juden, die sich bewährt
hat, lag im Gesetz. Oder sagen wir mit einem weiteren Begriff:
in der Idee.
Man kann den Wert eines Menschen bestimmen nach seinem
Verhältnis zur Idee, nämlich darnach, welche Macht das bloß
Ideelle über ihn hat, ob er einer Idee dienen, sich ihr opfern, ob
er sein Leben von der Idee leiten lassen kann. Dabei ist ihr In-
halt für den sittlichen Wert des Menschen gleichgültig und nur
für seine Intelligenz und sein Wissen bezeichnend.
Dasselbe gilt nun auch für Nationen, und da scheint mir ganz
unzweifelhaft, daß, wenn nicht der Wert, so doch die Eigenart
der Juden darin besteht, daß sie vor anderen Völkern ein Volk
der Idee sind. Bei den Juden hat von jeher die Idee, das Un-
wirkliche, der Geist eine ungeheure, oft verhängnisvolle Rolle
gespielt, es hat das Leben des einzelnen wie des Ganzen gleich
einer realen Macht geführt, ja, das Unreale war wirklicher als
das Wirkliche. Von den Juden ist die Gerechtigkeit Gottes er-
funden worden. Von den Juden: die Griechen kannten sie nicht;
ihre Götter waren so ungerecht, von Liebe und Haß, Gunst und
Zufall so abhängig wie nur möglich. Erfunden: denn gesehen
hat sie noch niemand. Daß es den Guten gut und den Schlechten
schlecht gehe, ist eine bloße Idee. Die nüchterne Erfahrung be-
weist das Gegenteil, und um Gottes Gerechtigkeit dieser Er-
fahrung zum Trotz aufrecht zu erhalten, mußte man ein Jenseits
erfinden, in dem der Ausgleich erfolge, oder sich damit trösten,
daß der menschliche Verstand nicht hinreiche, um Gottes Wege
zu begreifen. Den Frommen, der trotz unverdienten Mißge-
schickes nicht an der göttlichen Güte zweifelt, haben wir „freien
Geister" also nicht zunächst ob seiner Torheit und intellektuellen
Unreinlichkeit gering zu schätzen, sondern wir haben die Kraft
zu bewundern, mit der die Idee in ihm mächtig ist. Schließlich
20I
WIR UND EUROPA
hat die Gerechtigkeit Gottes nur als Idee, als Gegensatz zu jeder
Erfahrung überhaupt einen Wert. Denn gesetzt, man könnte sie
erfahren, gesetzt, es ließe sich auf empirischem Wege, sozusagen
experimentell feststellen, daß die Guten am Ende ihren Lohn
und die Schlechten ihre Strafe finden — was hätte dann alles
Gutsein für einen Wert?
Die Juden haben die Idee von Gottes Gerechtigkeit hoch ge-
halten, trotzdem sie ihre nationale Selbständigkeit sinken sahen,
trotzdem der Tempel in Flammen aufging, das Volk in alle
Winde zerstreut wurde und durch das Martyrium der tiefsten
Demütigung hindurclftnußte. Es war eher bereit, sich selbst die
schwersten Sünden zuzuschreiben als sein Schicksal für unver-
dient und Gott für ungerecht zu halten. Ja, es hat nicht aufgehört
zu glauben, daß es ein besonderer Liebling des Himmels sei. Der
Einfall, dieses kleine, verachtete und getretene Völklein, diese
Handvoll entrechteter Menschen sei das auserwählte Volk Gottes
und leide, um sich seiner herrlichen Zukunft würdig zu machen,
dieser närrische, aller Wirklichkeit Hohn sprechende Einfall, er-
schütternd in seiner grandiosen Tragikomik, zeigt wie kaum ein
anderes Beispiel, was der Geist über den Leib vermag; es verrät
auch, daß die eigentliche Kraft der Juden in der Idee liegt. Denn
die Donquixoterie, sich als auserwähltes Volk zu fühlen, hat die
Juden Jahrtausende lang beherrscht und buchstäblich erhalten;
ohne diesen Glauben wäre die jüdische Nation verschwunden wie
so viele andere und größere.
Die Idee in ihrer Reinheit ist aber immer nur für wenige.
Die vielen bedürfen der Symbole und Zeichen; sie veräußer-
lichen und materialisieren die Idee, entfremden sie dem Leben
und nehmen ihr den Sinn. Der einfache Gedanke, das Volk
Gottes zu sein, genügt nicht; man verlangt nach sinnfälligem
Ausdruck. Man setzt also die Idee in bestimmte Einzelvorschriften
für das tägliche Leben um; oder man legt alle Regeln der Sitte,
des Rechtes, der Hygiene als göttliche Gebote aus, in deren
Beobachtung die Gottkindschaft besteht, durch deren Über-
tretung man sich der göttlichen Auserwähltheit unwürdig macht.
Es entsteht der Pharisäismus: die Popularisierung und Materiali-
sierung einer Idee bei einem Volke von Spiritualisten und Ideo-
logen. In den peinlichen Umständlichkeiten der Speisegesetze
202
WIR UND EUROPA
und den Erschwerungen der Sabbatruhe liegt deshalb Größe,
weil man ohne praktische Rücksichten sich tausend Mühselig-
keiten auferlegt, um der Idee zu dienen; wer diese Lasten auf
sich nimmt, beweist ein fanatisches Verhältnis zur Idee — die
Idee mag immerhin klein und leer geworden sein.
Pharisäismus ist eine Volkskrankheit, die nicht erst mit dem
Untergang des Tempels entstand, sondern bis auf die Zeiten
Esras zurückgeht. Sie hat die Lebenskraft des jüdischen Staates
aufgesogen; denn eine Nation, die am Sabbat nicht kämpfen
darf oder es nur mit bösem GeAvissen tut, ist in dieser Welt nicht
existenzfähig. Aber die Krankheit war zugleich unsere Rettung.
Wäre nur einfach ein Volk von den Römern unterworfen und
ihre Hauptstadt zerstört worden, so gäbe es dieses Volk heute
nicht mehr; es wäre von ihm, wie von den Karthagern, nichts
übrig als der Name. Hier aber hatte die Versteinerung den Baum
so weit ergriffen, daß er den Verlust des Bodens ertrug. Was
für jeden anderen Organismus tötlich gewesen wäre: diesem in
seinen Panzer starrer Ideologie eingeschlossenen vermochte es
nicht mehr zu schaden. Er lebte zwar nicht mehr, aber er konnte
sich auch nicht auflösen; er wurde konserviert.
Wir stehen also in eigentümlichem Verhältnis zum traditio-
nellen Judentum. Was unsere Krankheit, unser Fluch, unsere
Unnatur war, das ist zugleich die Kraft gewesen, die uns er-
halten hat. Es war freilich eine Kraft der bloßen Dauer, nicht
fruchtbarer Lebenstrieb. Aber wenn wir nun diese Kruste steril-
gewordener Lehren abstreifen und uns dafür rüstig auf den
nackten Boden der Heimat stellen wollen, wenn wir streben, als
traditionslose Kolonisatoren nichts zu tun als mit jungen Armen
den alten Boden neu zu brechen — so spielen wir ein gewagtes
Spiel!
Indessen es bleibt uns wiederum nichts anderes übrig als das
Spiel zu wagen. Das Buch, die Bibel mit allem, was sich daran
knüpft, kann nicht mehr das Ein und Alles sein für Menschen,
die von Europa gelernt haben, mit kühler Wissenschaftlichkeit
an die heiligen Bücher heranzutreten, die ihrer Entstehungs-
geschichte mit profanen Händen nachgeforscht haben, und denen
es selbstverständlich ist, in den Werken göttlicher Offenbarung
historische Dokumente mit allen menschlichen Schwächen zu
2o3
WIR UND EUROPA
erblicken. Gegen das „Gesetz", und wenn es hundertmal unsere
Rettung war, sträuben sich all unsere europäischen Instinkte,
Daß es von irgendwelchem — außer allenfalls demonstra-
tivem — Belang sein sollte, ob ich dies oder jenes esse
oder nicht esse, ob ich dies oder jenes tue oder nicht tue,
können wir durch Aufklärung und Humanität erzogenen Euro-
päer, wir tollkühnen Forscher und frivolen Zweifler nicht mehr
fassen. Führte man uns in ein Land, wo das Gesetz noch gälte,
wir müßten einen Voltaire, nein: hundert Voltaire aus unserer
Mitte hervorbringen, die mit allen Giften des Spottes, mit allen
Sprengschüssen des Witzes das dumpfe Gebäude zu Falle
brächten. Der alte Kampf, was mehr wert sei, das Judentum
oder die Juden, müßte wieder aufgenommen und zu Ende ge-
führt werden bis zum Untergange des Pharisäismus. Vielmehr
er ist schon entschieden durch die bloße Tatsache, daß wir die
alten Ideen ersetzt haben durch die neuen vom jüdischen Volke,
Diese Idee rettet uns vom Untergang in der doppelt gefährlichen
Epoche der nationalen Zerstreuung und der religiösen In-
differenz.
Während wir also das orthodoxe Judentum zwar als erhaltende
Macht anerkennen, aber doch künftig nicht mehr ertragen wollen
und nach der neuen Konzeption der jüdischen Nationalität auch
nicht mehr zu ertragen brauchen: bleibt die Grundeigenschaft
der Juden als eines Volkes der Idee bestehen. Unter den Mensch-
lichkeiten des Rituals und des Pharisäismus finden wir als
goldenen Kern und lebenspendenden Talisman die Idee,
Dieser Charakter als Volk der Idee hat Israel von jeher —
wenn ich mich so ausdrücken darf — außerhalb des jeweiligen
Europa gestellt. Von Abraham, der sich in Gegensatz zur baby-
lonischen Kultursphäre setzte, gilt dies ebenso wie von den Juden
der hellenistischen Epoche und denen unterm römischen Im-
perium, Wenn wir heutigen aus unserem Europa die Folgerung
ziehen, einfach eine Nation zu sein, wie die andern auch, und
weiter nichts: so ist unser Zionismus eine ganz arge Assimilation
an dieses Europa, höchst gefährlich, weil wir sie durchaus naiv
und mit gutem Gewissen vollziehen. Nein, wenn wir von Europa
gelernt haben, die nationale Individualität zu entwickeln, so
müssen wir auch die letzte Konsequenz ziehen. Europäisch sein
2o4
WIR UND EUROPA
heißt für uns über Europa hinausgehen. Wollen wir eine jüdische
Nation sein, so müssen wir uns aufs neue außerhalb Europas
stellen und das werden, was wir im Grunde sind: das Volk
der Idee.
Hier aber haben wir zunächst zu fragen, was denn das für eine
Idee ist, diese urjüdische Idee, die unsere Vergangenheit war
und unsere Zukunft sein soll?
Wenn man überhaupt von geistigem Nationalcharakter
sprechen will, so darf man von Israel sagen, daß es vor anderen
Völkern die Gabe und den Trieb besitze, nach dem letzten Sinn
und Zweck des Daseins zu fragen, oder vielmehr: nicht zu
fragen, sondern eine Antwort zu geben. Was hier zugrunde
liegt, ist also nicht ein philosophischer Instinkt des Forschens
und Erkennens, sondern eine ethische Leidenschaft, die Sinn-
losigkeit des Daseins zu überwinden und das Leben durch eine
höchste Pflicht zu rechtfertigen. Israel ist das Volk der ethischen
Idee.
Um dies deutlich zu machen, müssen wir ein klein wenig
philosophisch ausholen.
Kant unterscheidet bekanntlich in seiner Kritik der prak-
tischen Vernunft zwei Arten von Forderungen, nämlich erstens
solche, die uns gestellt werden durch irgendeinen Zweck, den
wir uns freiwillig wählen, und zweitens solche, die uns, abge-
sehen von jedem Zweck, unbedingt und unter allen Umständen
aufliegen — oder hypothetische und kategorische Imperative.
Jene muß ich erfüllen, falls ich den Zweck erreichen will, z. B.
arbeiten, wenn ich vorwärts kommen will; aber es ist meine
Sache, ob ich das will. Diese hängen von keiner Bedingung ab;
es sind die ethischen Forderungen, die mir als Pflicht und Ge-
wissenssache unbedingt obliegen. Eigentlich gibt es nur einen
kategorischen Imperativ: nämlich dem Sittengesetze zu ge-
horchen oder ein sittlicher Mensch zu sein. Was ich unter diesem
Gesetz nun wirklich zu tun habe, wird von Kant nirgends ge-
sagt, sondern hängt von den Umständen und meiner Erkenntnis
ab. Kant hat nicht eine neue — oder alte — Moral gepredigt,
sondern das ethische Phänomen selbst, nämlich daß sich dem
Menschen je nach den Umständen Handlungen in der Form des
unbedingten Gebotes aufdrängen, zum Gegenstand seiner Unter-
2o5
WIR UND EUROPA
suchung gemacht; er gibt nicht Moralvorschriften, sondern eine
Formel, ganz im Gegensatz zu Nietzsche, der eine bestimmte
neue Moral der Menschheit aufzwingen will. Kant hat keine
Moral geschaffen, er hat nur das uralte, menschlich - psycho-
logische Phänomen der Moral, das allen Moralen zugrunde liegt,
entdeckt und wissenschaftlich sichergestellt.
Mit dieser Kantischen Entdeckung nun finden wir, daß die
Erscheinung des kategorischen Imperativs in Europa oder für
Europa — Asien muß außerhalb der Betrachtung bleiben —
zuerst und bis heute am intensivsten die Juden dargestellt haben.
Bei ihnen tritt die sittliche Forderung in ihrer Majestät auf, nicht
philosophisch abstrakt, daher unwirksam, wie bei Kant oder bei
den Griechen (Plato), sondern lebendig gemacht durch das
große Symbol des einen Gottes; auch nicht verengt zu einer
oder einigen bestimmten Vorschriften, sondern in der Allgemein-
heit des bloßen Sittengesetzes. Du sollst Gott dienen! Und was
verlangt Gott? Du sollst gut sein und das Gute tun! Es ist in-
teressant, sich klarzumachen, daß die jüdische Nationaltugend,
die von der Bibel immer wieder eingeschärft wird: die Ge-
rechtigkeit, im Grunde nichts ist als Kants Moralformel, wie diese
weit entfernt davon, ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben;
wie diese darauf angewiesen, ihren Inhalt erst vom Einzelfall
zu erhalten; und doch soviel wärmer, bildhafter, lebendiger als
sie. Im Judentum ist der kategorische Imperativ, unter dem
Bilde des einzigen Gottes, zur Volksreligion geworden; im Juden-
tum zuerst erklingt, noch heute vernehmbar, die dröhnende
Stimme des ethischen Pathos; aus dem Judentum stammt die
unbedingte sittliche Forderung und bildet, noch immer fort-
wirkend, eine der Wurzeln, aus denen der Europäismus her-
vorgegangen ist, und vielleicht seine stärkste. Die Juden waren
Voreuropäer.
Das Christentum ist der Weg, auf dem das Abendland seinen
Führern nachfolgt und sie einholt; fortan geht das Judentum
während des ganzen Mittelalters neben Europa her und spiegelt,
nicht mehr stark genug, selbst Einfluß auszuüben, seine geistigen
Bewegungen getreulich ab. Dieses Mitschwingen verdient noch
genau untersucht zu werden, wie z. B. Scholastik, Mystik, In-
quisition usw. im Ghetto widerhallen, wobei übrigens nicht vor-
206
WIR UND EUROPA
weg behauptet werden soll, daß wir nur der empfangende Teil
gewesen seien. Bis um das Jahr i4oo ist Judentum neben-
europäisch; von da an bleibt es zurück; denn nun erwirbt
Europa etwas Neues hinzu, was das Volk der Tradition und des
Gesetzes nicht anerkennen darf: Freiheit der Forschung, vor-
aussetzungslose Wissenschaft. Künftig ist Judentum im Ver-
gleich mit dem übrigen Europa mittelalterlich, eine Situation,
die übrigens zur Zeit Philos schon einmal da war. Wie mancher
mag abtrünnig geworden sein, nur um diesem Mittelalter zu ent-
gehen! Erst wir Nationaljuden haben den Weg gefunden, wie
man Jude sein kann, ohne sich an die mittelalterliche Tradition
zu binden und ohne durch Reformen das Judentum überhaupt
zu gefährden.
Nun aber, im 19. Jahrhundert, infolge einer ungeahnten Ent-
wickelung der voraussetzungslosen Wissenschaft, ist dieses Eu-
ropa auf seltsame Weise gezwungen, sich mit seinen, aus Judäa
stammenden ethischen Grundlagen aufs neue auseinanderzu-
setzen. Nämlich die sittliche Forderung, auch in der allgemeinen
Form der jüdischen Ethik, ja in der abstrakten Fassung der
Kantischen Moralformel bedarf doch einer letzten Rechtferti-
gung. Der unbedingte Imperativ ist nicht ganz so unbedingt wie
Kant dachte; auch er gilt unter einer Bedingung, allerdings einer,
von der Kant nicht ahnen konnte, daß sie einmal fehlen würde:
Diese Bedingung ist, daß die Welt überhaupt einen Sinn oder
einen Zweck habe. Müßten wir annehmen, daß die Welt ab-
solut sinnlos wäre, daß sie nicht wenigstens eine Aufwärts- und
Vorwärtsbewegung darstellte, so hätte auch die sittliche Forde-
rung keine Berechtigung, und jeder Maßstab einer Beurteilung
des Sittlichen würde fehlen. In der jüdisch-christlichen Ethik
ist jener Sinn gewährleistet durch den Glauben an einen per-
sönlichen Gott, in dem das Gutsein sich rechtfertigt. Nun ist
aber gerade dieser Glaube in der Auflösung begriffen; die
wachsende Naturerkenntnis, vor allem die Entwickelungstheorie
hat dahin geführt, daß wir mehr und mehr uns von der Vor-
stellung eines persönlichen Gottes emanzipieren. Namentlich ein
Gott, der Gebote erläßt und Lohn und Strafe spendet, ist uns
ein unmöglicher Glaube geworden. Friedrich Nietzsche hat am
entschiedensten auf den Zustand hingewiesen, der entstehen muß,
207
WIR UND EUROPA
wenn wir Gott, auf den wir Jahrtausende lang all unsere Wer-
tungen bezogen haben und instinktiv noch beziehen, aus dieser
Welt herausnehmen. Er nennt ihn europäischen Nihilismus: ein
Zustand der Verzweiflung, der völligen Rat- und Ziellosigkeit.
Nun könnte es ja einen Sinn und Zweck der Welt auch außer-
halb des persönlichen Gottes geben, z.B. im beständigen Fort-
schritt zum Vollkommeneren. Allein wir stehen augenblicklich
mindestens vor der Möglichkeit, daß bewiesen werde, die Welt
habe kein Ziel und keinen Zweck, sondern sei blinde Kausalität
und durchlaufe einen Kreislauf aus dem Chaos in das Chaos.
Genug, wir sehen uns heute gegenüber der Schwierigkeit, daß
die einzige Bedingung, unter der Kants Sittengesetz und die
jüdisch -christliche Ethik gilt, verloren zu gehen droht oder
schon verloren ist; die Gefahr der europäischen Geisteslage ist
groß, und Nietzsche, der sie erkannt und ausgesprochen, hat
auch gleich das Mittel angegeben, ihr zu begegnen — ein höchst
geniales Mittel: Wenn die Welt keinen Sinn hat und wenn wir
doch ohne diesen Sinn nicht leben können, so muß der Mensch,
vermöge seiner Fähigkeit des Wertesetzens, ihr einen Sinn geben.
Dieser neue Sinn ist, in Nietzsches Formel, bekanntlich der Über-
mensch.
Man darf heute, glaube ich, getrost behaupten, daß — trotz
des wachsenden Einflusses Nietzsches — sein Versuch einer neuen
Wertsetzung gescheitert ist. Mit aller Anstrengung eines heroi-
schen Geisteslebens wird, neben der künstlerischen und tausend
anderen Anregungen, wie so oft, am Ende nichts erreicht sein,
als daß Werte, die früher unterschätzt wurden, künftig die rechte
Geltung haben. Aber den neuen Wert hat uns Nietzsche nicht
gegeben, den Sinn der Welt nicht wiedergefunden, die Gefahr
des europäischen Nihilismus nicht beseitigt.
Und das kann nicht anders sein. Zwar hat Nietzsche ganz
recht: der Mensch selbst muß die Tat einer neuen Wertsetzung
vollbringen. Aber nicht der Mensch wird das tun, der die Not-
wendigkeit mit hellem Verstände einsieht, nicht der allzu ge-
scheite, durch theoretisches Denken dahin gelangte Philosoph,
sondern die dumpfe, ihrer selbst nicht bewußte Genialität einer
tief religiösen Natur, einer, der nicht den Sinn der Welt sucht,
sondern der ihn besitzt, der ihn in sich trägt und ihn nur aus-
208
WIR UND EUROPA
zusprechen braucht. Ja, vielleicht genügt es auch noch nicht, daß
solch ein Mensch komme und ins gebildete, allzu gebildete Eu-
ropa hinein seine Botschaft verkünde; vielleicht gehört dazu ein
Volk, das vorbereitet ist, diese Botschaft aufzunehmen und ihr
eine nationale Resonanz zu geben.
Die Krisis des europäischen Nihilismus erleben wir Juden mit-
samt dem übrigen Europa. Seine Zweifel sind auch unsere
Zweifel, sein Bedürfnis nach einer neuen Rechtfertigung der
Welt — oder, um ein altes, wenn auch mißverständliches Wort
zu gebrauchen: nach einer neuen Religion — ist auch unser
Bedürfnis. Wenn die Phrase von der Mission eines Volkes einen
Sinn haben soll, so kann es nur der sein: seine Mission, das sind
seine Fähigkeiten, seine latenten Kräfte, seine Entwickelungs-
möglichkeiten. Und nach allem, was wir von der jüdischen
Psyche wissen und meinen, glaube ich — wenn wir nur erst
den nationalen Zusammenschluß wiedergefunden haben, und
wenn die Millionen Kräfte wieder auf ein Ziel hinwirken
können — ich glaube, daß das Volk der Juden den neuen Sinn
der Welt aus sich herausgebären wird, ich glaube, daß dieser
neue Sinn, die Antwort auf eine immer drohender tönende Frage
wie eine elektrische Spannung in ihm liegt und, sobald die
äußeren Bedingungen nationalen Lebens gegeben sind, sich ent-
laden muß.
Seltsamer Kreislauf! Nachdem wir einen und vielleicht den
stärksten Anstoß zur Bildung des geistigen Europa gegeben
haben, nachdem wir lange Jahrhunderte nur unterirdisch im
Strom der europäischen Entwickelung mitgeführt wurden, nach-
dem wir endlich zum modernen Europäismus erwacht sind und
aus ihm die Kraft zu nationaler Wiedergeburt gesogen haben:
stellen wir uns nun, als letzte Konsequenz europäischer Lehren,
entschlossen außerhalb Europas. Wir werden hypereuropäisch,
und zum zweiten Male im Laufe der Weltbegebenheiten geht von
Judäa das Heil aus.
14
209
Die Demokratie und die Seele des Juden
Von Arnold Zweig
I.
IVlan kann in einem Aufsatze, der sich vornimmt, dem Einfluß
der Demokratie auf die jüdische Seele nachzugehen, nicht mehr
finden als Hinweise und Ergebnisse — denn das Thema benötigt
den Raum eines Buches. Nur an einigen Beispielen wird be-
trachtet werden, welcher Art innere Umformung sich an dem
Orientalen, dem Juden, vollziehen mußte, als er in die Sphäre
des demokratischen Geistes eintrat, und diese in ihn. Blicken wir
aber auf jene Erscheinungen der politischen Öffentlichkeit, die
in ihrer Vielfalt den Komplex Demokratie ausmachen, so geht
uns zunächst auf, daß ihre innerste Quelle eine Haltung zum
Dasein ist, die nicht mehr hinnimmt, sondern vergleicht. In einer
weiten Fülle von Abstufungen und Verschiedenheiten zieht sich
das Leben hin; in ihm findet sich keine Gleichheit, sondern allen-
falls Gemeinsamkeiten: wie Bauer mit Bauer das Bauersein ge-
mein hat und alles was es ausmacht, aber nichts darüber. Dieser
bestehenden Ungleichheit kann man, sobald sie mit dem Staunen
jeder echten Entdeckung aufgenommen ist, auf zwei Arten ent-
gegentreten: entweder erkennt man die Notwendigkeit, den
Eigenwert und die Schönheit jeder Stufe, die Eintracht von Recht
und Verpflichtung im Handwerker wie im Herrscher, und fordert
dann von dem auf sie Gestellten nur eines, nämlich daß er sie
vollkommen lebe, daß also der Goldschmied mit derselben Hin-
gabe, Rechtlichkeit und Ehrlichkeit seinen Ring schaffe, mit der
der Herrscher ein Gesetz oder der Philosoph eine Erkenntnis
deutet — das ist die eine. Die andere ist jene, die vergleicht, und
den Abstand mißt zwischen dem der die Krone schafft und dem
der sie trägt — die aber, nicht ins Wesen sehend, uneinsichtig
an den Unterschieden des Gestelltseins, des äußeren Glanzes, der
Macht haftet. Sie kann nur jemand einnehmen, der irgendwie
sich übergeordnet Schichten sieht, die ihm nicht erreichbar sind,
mit einem Blick von unten nach oben. Kreist sein Denken um
diesen Abstand, so tritt der Augenblick ein, wo er die Spannung
zwischen sich und dem Höheren nicht mehr erträgt, und er, je
nach seiner Art, sich in offener Empörung dagegen erhebt, mit
dem Bewußtsein eines haßvollen und starken Rebellen, der ohne
210
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Reue, wenn es sein muß, im Kampfe fällt — oder er, zu schwach
zu ehrlichem Haß, eine Ebene sucht, auf der das quälende
Wenigersein nicht mehr besteht, wo er dem Höheren gleich ist:
er entdeckt, daß der andere auch nur ein Mensch ist. Nun braucht
er nicht mehr zu verlangen: alle Menschen sollen gleich sein,
sondern er stellt fest: alle Menschen sind gleich; die Tatsache,
daß jener hoch, er aber niedriger steht, ist als Ungerechtigkeit
erwiesen, denn mit dem ,, Menschsein" des anderen ist ihm ver-
bunden, daß er „ein Mensch wie ich" sei; und von nun an kann
er entweder seine Unterordnung mit Gleichmut hinnehmen, oder
mit „gutem Gewissen" die Hoheit des anderen unterminieren.
Was für ein Geist ist nötig, um diesen ,, Menschen" zu ent-
entdecken? Sicherlich keiner der zu jener ersten Art gehört.
Denn indem dieser schauend und hingebend ins Wesen jedes Ge-
schaffenen hineingeleitet wird, enthüllt sich ihm der Kern des
Königs im Königsein, der des Bauern im Bauersein; was jeder
für sich hat, das macht seine Art aus, und das Gemeinsame ist
unwesentlich und nichtig, nämlich das Menschsein, das dem
anderen Geiste so gründend erscheint. Dieser hat in einer be-
stimmten Sphäre auch recht, in der des Faktischen; faktisch ist
der König wie der Bauer der species homo sapiens angehörig;
der naturwissenschaftliche Tatbestand des Menschseins etwa im
Gegensatz zum Affesein ist unleugbar, ist vielmehr mit den
Pingern zu greifen. Und daran hält er sich: was greifbar ist und
niemand leugnen kann, was jeder zugeben muß, ist ihm das
Wesentliche und Wahre; während man alles das sehr wohl
leugnen kann, was nur im Schauen erlebt wird, wenn man diesem
Erlebnis, das zu haben schon auszeichnet, nicht zugänglich und
blind dafür ist. Das Faktische jedoch, jederzeit durch ein Ex-
periment vorzeigbar, besteht, daß der König wie der Bauer essen
und schlafen muß, um zu leben . . . Dieser Geist also, dem das
Greifbare und „Feststellbare" allein oder hauptsächlich Genüge
tut, der also auch das Minimum von erkennender Begabung be-
friedigt, ist der demokratische Geist, der Geist jedermanns. Er
muß die Fähigkeit haben, vom Leben abzusehen, das ihn jederzeit
Lügen straft; er muß blind sein für die Hierarchie der ethischen
Werte, für die notwendige Schlichtung der Gemeinschaften; er
muß groß sein im Fordern und im Sich- Vorstellen, wie es wäre.
211
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
wenn alles anders wäre; gleitend, angreiferisch, geschickt ab-
trennend und im Verbinden verführerisch, den Dingen gegen-
über souverän, unandächtig; er muß lieber noch das Leben in
„Erscheinungen" verdunsten lassen, deren Einheit und An-sich-
sein jenseits des Erkennbaren, ins Transzendente verlegt ist, als
in der Vielfalt des Geschiedenen Wesentliches zuzulassen. Es ist
der naturwissenschaftliche Geist, der hier zugrunde liegt, groß
in seiner Sphäre, im Experimentellen und Technisch-Praktischen,
völlig inadäquat aber allem, was von der Seele und den Werten
bestimmt wird, und dort ganz unzulänglich. Es ist (nicht der
europäische Geist, aber) ein Geist, der nur in Europa möglich
war. Die Demokratie ist ein westliches Phänomen, nur im
Okzident erstanden und möglich nur in ihm. Zum Beweise sehe
man auf Indien: sicherlich gab es hier einen Geist, der an radi-
kaler Aufhebung des Lebens, ja alles Wirklichen, den strengsten
Europäern überlegen war, mit einer Fähigkeit vom Sein zu ab-
strahieren wie nirgendwo; aber er blieb in den Grenzen, die ihm
zukommen, nämlich in der Schicht des Erkennens, und bildete
gleichzeitig das großartigste und strengste System sozialer Schich-
tung auS; das man kennt. Und wenn Lao Tse in dem schönen
Bild vom Bogenspanner sagt, daß das Tao (der Sinn) des Him-
mels das Hohe niederdrücke, das Niedrige erhöhe, Fülle verringere
und Mangel ergänze, so könnte das nur in einem mechanistischen
Gleichnis als ,, Nivellieren, Gleichmachen" gedeutet werden;
während doch gemeint ist, daß das Hohe, auch vom Schicksal
niedergedrückt, das Hohe bleibt, weil es sich in Demut vollendet,
das Niedere aber, erhöht, nicht aufhört, niedrig zu sein. Auch
China, das gegliederte Reich, ist trotz seiner Republik keines
demokratischen Geistes verdächtig, wie er von der Mitte des
1 8. Jahrhunderts an in Europa sich ausbreitete; denn die Auf-
lehnung des Volkes gilt im wesentlichen der Austreibung einer
volksfremden Beamtendynastie. Jener andere Geist aber, von
dem zuerst gesprochen wurde, der schauend sich verschenkende
und wahrhaft wesentlich erkennende ist der Geist Asiens, und
es ist kein Zufall, daß der echteste Sohn des Reiches, das in
Europa allein asiatischem Wesen nahekommt, Rußlands Sohn
Leo Tolstoi — aber eines anderen Rußlands Sohn als jenes
Beamtenstaats, der zur Lösung politischer Schwierigkeit Juden
212
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
erschlagen läßt — die Lehre vom Nicht-Handeln verkündet hat,
als sei er ein echter Schüler Lao Tses, des „Alten".
— — Zwei Einreden seien hier vorweggenommen: die eine,
besagend, daß uns Nietzsche gelehrt habe zu sehen, wie das
Christentum, rein asiatischen Geistes, durchaus demokratisch sei,
ja die Wurzel aller modernen Demokratie; die andere, daß in
der messianischen Idee der Juden ein Sozialismus wie nirgendwo
sonst vorgebildet zu finden sei. Was die erste erledigt, steht in
Schelers wundervoller Schrift „Über Ressentiment"*): die christ-
liche Liebe erkannt als das Überquellen des Überreichen, das
Herabbeugen des aus reinstem und gütigstem Herzen Schenken-
den. Und die andere wird beantwortet, indem man darauf hin-
weist, daß jener Sozialismus keineswegs Demokratie ist. Ihm
fehlt völlig jene Geste des Absetzens und Herunterziehens, die,
wie wir sahen, der Demokratie wesentlich ist (man vergleiche
die französische Revolution!). Es ist vielmehr ein Geschenk
Gottes, ein Zur-Ruhe-kommen des Streites, und das innige Zu-
friedensein aller Menschen. Nicht ein Wort der Bibel weist auf
Gleichheit hin; vielmehr ist das Schweigen der Begierde, die
jedem Streite vorangeht, nicht die Folge, sondern die Ursache
des messianischen Zeitalters, in dem jeder in seiner Art und
seinem Stande ohne Hader und Unglück gedacht wird. Wie aber
diese Verheißung in die absolute Zukunft gestellt ist, ein Ideal
dem Ende der Tage, das hat uns Buber tief verkündet. Echter
Sozialismus, geboren aus einem Überfließen ähnlich jener gött-
lichen Liebe, würde in dem schlichten, helfenden, durch Res-
sentiment nicht vergifteten Herabbeugen des Stärkeren zum
Schwächeren bestehen, einem Beglücken dadurch, daß die echten
Nöte des Ärmeren gestillt und ihm seine Begierden, die falschen
Nöte, durch Aufdecken ihrer Nichtigkeit genommen würden,
ohne daß man die Suggestion der geforderten Gleichheit
brauchte. Echte Hilfe ist nur unter Ungleichen möglich, und
zu ihrem Bestehen gehört Freiwilligkeit des Helfers und williges
Empfangen dessen, dem geholfen werden soll, ohne Gedanken
an Vergeltung; Gleichstarke schließen Verträge und bedingen
sich Leistung und Gegenleistung. — —
Der Geist des echten Judentums ist nun, was auch immer,
*) Leipzig, Engelmann 1912 (Über Ressentiment und moralisches Werturteil)
2l3
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
jedenfalls nicht demokratischer Art. Das Gesetz, welches das
ganze Leben des Juden durchadert, wird der technische Aus-
druck jener Richtung, in der der Jude lebt: der Richtung auf
Gott. Indem es bei den Handlungen des Tages wie bei seinem
Anbruch und Ende durch Riten und Gebete in den Ablauf der
praktischen Existenz eingriff, verwandelte es sie in ein ununter-
brochenes Hinsehen auf Gott; und Erkenntnis, ,, Lernen", war
mit religiöser Erkenntnis identisch, so daß auch diese Zone des
Lebens in das allgemeine Strömen eingeschlossen war. Aber
über der breiten Grundfläche des Volkes erhob sich, von Geburt
bestimmt, berechtet und verpflichtet, eine gesonderte Schicht,
die durch einen dienenden Anteil am zeremoniellen Darstellen
der Gottverehrung, am Kultus, herausgehoben waren, die Le-
viten; ihnen überordneten sich die Priester, auch sie geboren
für den Dienst im Tempel, beschränkt auf die Abkömmlinge
einer Familie, die Aharoniden, die Kohanim; und wie sie allein
im Heiligtume walten durften, war das Allerheiligste einem ein-
zigen erschlossen, dem Erstgeborenen, dem Hohepriester, der
an nur einem Tage jenen Raum betrat, in dem Jehova gegen-
wärtiger war als überall sonst. Und wie sich hier im Ritus und
Kultus die Pyramide der Ordnung und Aristokratie erhob, so
baute die instinktive Werthaltung des Volkes jene Rangordnung
nach der Stärke und Innigkeit der Hingebung an die Erkenntnis
und das Nachleben des göttlichen Willens, die von dem schlicht
das Gebot erfüllenden Juden über den wohltätig und wirkend
seinen Brüdern helfenden Frommen zu dem Schüler aufstieg,
der sein Dasein lernend der Gotteserkenntnis weihte, bis der
Rabbi, der Weise, der diese Erkenntnis lebend verkörperte und
lehrend ausgoß, ganz oben die Treppe krönte, die Treppe zu
Gott. Jeder Stufe aber war ihr eigener Wert zugemessen, keine
gering, jede die andere bedingend, und nur gültig, wenn sie rein
erfüllt ward.
Dies aber ist das Bedeutsame am Juden: daß er nur voll-
kommen war, wenn er sich im Tun auswirkte. Die Handlung,
durch Segenspruch (Brocho) ins Religiöse einbezogen, wurde
ein wenig jener anderen verwandt, die sich überhaupt als rituelle
Geste erfüllte (die Waschung der Hände, das bedeutungsvoll
ausgebildete Anlegen der Gebetriemen jeden Tag, Kiddusch und
2i4
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Havvdoloh an jedem Sabbat, die Beschneidung am Eingang des
Lebens, die Leichenriten an seinem Ausgang), und die als Sym-
bol kenntlich, zu Gott hinauf\vies. Dadurch, daß das tätige all-
tägliche Leben mit Zeremonie durchsetzt wurde, erhielt es einen
Hinweis, nicht blind und an der Oberfläche, sondern tiefer ge-
lebt zu werden. Was ausgeschlossen sein sollte, war nicht die
Tat, sondern nur die Tat ohne Andacht. Das Leben sollte nicht
mechanisch, nicht zweckhaft ablaufen, sondern wenn der Jude
bei Blitz und Donner, beim Erblicken des Regenbogens, beim
Begegnen eines großen schöpferischen Menschen seine Brochoth
sprach, den Dank an Gott, daß es das gab, war er angewiesen,
die Bedeutung dieser einzelnen Erscheinungen und des Lebens
in seiner Ganzheit wenigstens für kurze Zeit wahrhaftig zu er-
fassen, und nicht darüber hinzugehen, um sie ins nützlich-un-
lebendige Treiben der Geschäftigen zu verflachen. Das Brot-
brechen, das Einschenken des Weines, das völlige Ruhen nach
der Arbeit sollten sein Leben wesentlich machen und erhöhen,
er sollte verweilen und schauen, und über der praktischen Funk-
tion der Gebärde die Keuschheit der lebendigen Vorgänge nicht
vergessen. Schauen und Tun sollten ineinander übergleiten, in-
dem die Tat selbst Gegenstand des Erlebens ward, und das
Schauen sich in Handlung verwandelte, wenn man das Leben
lebte. Nicht besser kann man den Unterschied des echten und
des entgeisteten Lebens darstellen, als an der Idee der Aus-
breitung, wie sie das Judentum enthielt. Es sollte wachsen, sich
organisch erweitern, sich vermehren wie ein Baum oder eine
Herde; es sollte die natürliche Tendenz des Lebens, sich zu
steigern und zu bereichern, vollziehen durch das Symbol ver-
heißener Fruchtbarkeit; und zugleich ward ihm nicht verwehrt,
durch das Beispiel seines auf Gott hindeutenden und von ihm
durchtränkten Lebens den Impuls solcher zu wecken, die, von
Geburt außerhalb der Gemeinde, in sie aufgenommen zu werden
wünschten, von innerem Trieb gedrängt, Gott auf diesem Wege
nahezukommen — und um den Ernst des Triebes zu erproben,
sollte Erschwerung und Gegenrede geübt werden. Nicht aber war
erlaubt, Propaganda zu machen, geschäftig darauf zu sinnen, die
Lehre zu verbreiten ohne den Trieb; gleichsam durch künstliche
Übertragung, durch Impfung mit Judentum Gottes Dienst zu
3l5
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
vergrößern, seine Oberfläche auszudehnen. Das war auch nicht
erzwungen dadurch, daß das Judentum der einzige Weg war
zu Gott; die Gerechten aller Völker hatten teil an der Verewigung
in ihm, und es war kein selbstgerechtes Ausschließen aller anderen
die zu ihm strebten, wenn auf dem jüdischen Weg nur Juden
schreiten sollten: alle Wege führten zu ihm.
Dieses Judentum besteht noch. Es ist unzerstörbar als Idee,
als geistige Wesenheit. Aber es wird von sehr vielen Juden nicht
mehr gelebt; eine Teilung hat sich vollzogen zwischen dem was
sein sollte und dem was ist. Dieses was ist zu kennen, schicken
wir uns jetzt an, indem wir zugleich auf die Bedeutsamkeit des
Augenblicks hinweisen, in dem wir leben, und in dem sich das
Schicksal der Judenheit, unser aller Geschick, wieder einmal
wendet.
II.
Von allen Völkern sind es allein die modernen Juden und
die Amerikaner, die einer Unterscheidung in Klassen und
Stände zu ermangeln scheinen, bei denen es außer den Ab-
stufungen des Besitzes und den seelischen Verschiedenheiten der
Individuen keine Schichtungen des Ranges gibt. Die Amerikaner
beiseite, so scheint es, als machten die Juden lediglich die Ord-
nungen der Völker mit, bei denen sie leben, und seien Aristokraten,
Bürger oder Proletarier, abgesehen davon, daß sie Juden sind,
als Juden aber eine amorphe Masse. Wir werden jetzt vergessen,
daß wir diese Meinung als irrtümlich erwiesen haben; diejenigen,
die außerhalb des Judentums stehend darauf blicken, begehen
den Irrtum jedenfalls, und unterscheiden nicht zwischen ver-
schiedenen Typen von Juden, weil sie nur einen sehen (wobei
natürlich nicht die Verschiedenheit des östlichen vom deutschen
Juden oder dergl. gemeint ist). Diesen einen, den sichtbarsten
Typus ,,Jude", halten sie für den Repräsentanten des Juden über-
haupt, weil sie gewöhnt sind, an der ausgesetztesten Stelle und
gleichsam in der ersten Reihe eines Volkes seinen Adel anzu-
treffen, der die bezeichnendsten Eigenschaften des Volkes auf
auserlesene Art in sich darstellt und verkörpert, und in der Person
des Monarchen auch den Adel noch einmal zusammengefaßt zu
finden. Und wer steht nun im Judentum so allen Blicken dar-
216
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
geboten, so allen sichtbar ausgestellt, wie die eben Reichgewor-
denen? Niemand hat sie dorthin gestellt; niemand hat ihnen zu-
gemutet, das Judentum nach außen hin zu vertreten — sie selber
haben sich vornhin geschoben und erfüllen nun, vor aller Augen
und davon wohlig erwärmt, die Öffentlichkeit mit ihren etwas
lauten, etwas bunten und etwas ungepflegten Gebärden; im
Gegensatz zu denen, die, durch Generationen hin im Besitz, zu-
rückhalten und still für sich leben, oder das Judentum aus-
drücklich und wirklich aufgegeben haben, also unsichtbar ge-
worden sind. Die Gestaltung des materiellen Lebens der letzten
Jahrzehnte hat es ermöglicht, daß gerade die Eigenschaften des
seelisch wenig verfeinerten Menschen dauernd erfolgreich
machten, Zähigkeit, Unterwürfigkeit im Anfang, eine gewisse
Waghalsigkeit, das völlig rücksichtslose Benutzen aller Gelegen-
heiten emporzukommen, die Anspannung der eigenen aber auch
aller botmäßigen fremden Kräfte, und ein gradweises Ausbreiten
des Arbeitsfeldes mit jener Vorsicht, die kleine Gewinne ohne
Gefahr den großen Würfen vorzieht — alles Eigenschaften, die
dem jüdischen wie dem nicht jüdischen Kleinbürger gemein sind;
und wenn er nun, zu Geld gekommen, versucht aufzutreten und
zu genießen, so sind es eben wieder Eigenschaften der Empor-
kömmlinge jedes Volkes, die ihn, den Kulturlosen, innerlich Bar-
barischen, nach außen hin Unsicheren und darum Übertreiben-
den, der, in der neuen Umwelt fremd und berauscht von den
Möglichkeiten des Geldes, jenes peinliche und belästigende
Schauspiel des „fetten Bürgers" gibt, das durch den oft echten
Kulturhunger und eine gewisse Gutmütigkeit nicht weniger be-
drückena wirkt. Aber während man den nicht jüdischen ,, Par-
venü" der Nation zu der er gehört nicht sehr anrechnet, weil er
ein ephemeres Gebilde ist, und weil vor allem die echte Art des
Volkes jederzeit durch eine vollendete Aristokratie verbürgt und
ausgesprochen ist, neben der der Neugemachte verschwindet,
findet man an den Juden kein solches korrigierendes Höchstmaß
völkischer Möglichkeit, keine breite Klasse von Vornehmeren
steht, den Blicken zugänglich, über den Massen und weist die
Auffallenden durch ihr bloßes Vorhandensein in die Anonymität
zurück in die sie hineingehören : und so kommt es, daß man den
unedlen und seelisch gewöhnlichen Bereicherten für den typi-
21'
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
sehen Juden halten kann. Wir, die wir diesen Sachverhalt von
innen sehen, und die wir wissen, daß es sehr wohl einen jüdischen
Adel gibt, Männer und Frauen von sehr geistiger, diskreter und
angeborener Vornehmheit, können nicht einmal auf sie verweisen,
denn wir würden sie verletzen und nur machen, daß sie sich
fremd und zart in eine schwer durchschaubare Maske zurück-
ziehen; und so lassen wir es geschehen, daß heute der materiell
erfolgreiche Jude als der beste Typ erscheint, während wir, nach
alt jüdischer Weise und ganz aus Impuls, eine materielle Wertung
der Menschen überhaupt nicht anerkennen und nach der Bildung
der Seele fragen, wenn wir die Juden einer Rangordnung unter-
werfen, wie früher das religiöse Nachleben und eindringliches
Vertrautsein mit der ,, Lehre" als alleiniger Maßstab des Juden
dastand.
Dies alles festzustellen wäre vielleicht nötig aber nicht dring-
lich, wenn nicht gerade in dieser Zeit die falsche Einschätzung
der Arrivierten auf die Juden selbst überzugreifen drohte. Nichts
ist natürlicher: wer dauernd von außen als repräsentativ ange-
sprochen wird, ohne daß ein Widerspruch erfolgt, muß sich
schließlich selbst als höchsten Ranges fühlen, zumal die Zeit den
Begüterten als den vollkommenen Menschen empfindet, und
Lebens- und Geisteswerte nach dem Geldertrag einschätzt, den
sie darstellen (der arme Adlige oder Künstler wird der Gegen-
stand mitleidiger Verachtung). Und da niemand auftritt, den
Anspruch zu beschämen, dem Ärmeren, dem Volksganzen aber
das verlockende Bild des Reichtums und seiner Herrschaft täg-
lich pomphaft vor Augen steht, und jedermann sogleich fühlt,
daß jene Leute sich von ihm selbst weder durch eine edlere Seele,
noch durch rühmlichere Ahnen, noch durch einen verfeinerten
und erlauchten Geist, sondern nur durch Güterbesitz und Glücks-
umstände unterscheiden, tritt jene sehnsüchtige Verehrung ein,
die mehr der Lage gilt als den Personen, die sich in ihr befinden,
und die in einem unasketischen Zeitalter niemandem besonders
angerechnet werden kann. Besonders das junge Geschlecht, von
dieser geistigen Perversion angesteckt, droht in eine ameri-
kanische Geldverehrung zu verfallen, und nicht nur den erfolg-
reichen Kaufmann — in dessen Wertschicht das noch normaler
wäre — , sondern auch den erfolgreichen Arzt, Gelehrten,
3l8
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Künstler nach dem Einkommen zu ehren, das er sich schafft,
und in eine Verachtung der vornehmen oder geistigen Menschen
zu geraten, die für den Proleten kennzeichnend ist, und die,
breiter um sich greifend, den Verfall und die völlige W^ertlosig-
keit des Volkes als Ende hätte.
III.
„Das Kind einer jüdischen Mutter ist ein Jude, gleichviel wer
der Vater ist" — dieses talmudische Gesetz drückt einfach einen
bestehenden Sachverhalt aus, der täglich an Mischehen jüdischer
Frauen zu beobachten ist; und dieselbe eminente Lebenskraft
unseres Blutes ist es, die das Rätsel der Existenz einer Juden-
heit in diesem zwanzigsten Jahrhundert seit der Zerstörung ju-
däischer Staatsformen zwar nicht löst, aber wenigstens plau-
sibel macht. Wie, können die Völker fragen, es gibt immer noch
Juden? Aber wir haben das unsere dagegen getan: wir haben
sie in Ställe gesperrt, die jeder neueren Hygiene als Gegenbei-
spiel dienen können, haben sie von allen gesunderhaltenden
Übungen und Gewerben ausgeschlossen, haben ihre Gewölbe mit
den Dünsten unseres verbrauchten Hausrats gefüllt, und haben,
von allen Gewaltmitteln zu schweigen, dieses Volk gezwungen,
eine Männergeneration nach der anderen im puren Lebenserwerb
zu verbrauchen: haben ihre Sinne durch den Kampf ums Brot
verkümmert, ihre Seelen erniedrigt und ihre Gedanken auf das
Geld zusammengedrängt, weil es ihre einzige Waffe gegen uns
war; wir haben sie ganze Zeiten unter beständiger Angst ge-
halten, haben durch Drohungen, Verfolgungen und Austrei-
bungen ihre Nerven in beständiger Anspannung bis zum Reißen
angezogen, und allen Neurosen einen Boden bereitet, wie sie ihn
selten wieder finden werden. Und es gibt immer noch sehr
lebendige Juden. — Wir wüßten allerdings die Antwort, die
dieses Staunen befriedigen könnte. Geben wir zunächst zu, daß
die Arbeit der Jahrhunderte keineswegs ohne Erfolge war. Ein
Teil der Männer jeder Generation ist unbedingt für das Volk
verloren, ein anderer geschwächt und gleichsam verzerrt. Zu der
ungeheuren Schädigung, die ein beständig auf Erwerben ge-
richteter Sinn zuletzt jedem Menschen eintragen muß — was
deformiert die Seele mehr als das Geld, wenn es Selbstzweck
219
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
und Maß aller Dinge wird — und die besonders die Männer
befiel, ist seit dem zweiten (napoleonischen) Kaiserreich jene
Tendenz auf stupiden und aufreibenden Genuß getreten, die mit
der Stadt Jugend aller Länder auch die Jünglinge der Juden vor-
zeitig altert, erkältet, schwächt und verdummt; und das Ergebnis
kennen wir, wenn wir empört und angewidert in allen gesell-
schaftlichen Schichten — denn der „Genuß" hat sich sehr
verbilligt — auf jene ,, Juden" treffen, die mit uns nicht einmal
das Aussehen gemein haben und für die wir uns, weil sie unseres
Volkes sind, dennoch tief schämen. Und trotz dieses Verderbs
vieler unserer jungen oder reifen Männer in allen Städten aller
Länder konnten wir bis vor kurzem dennoch mit Ruhe auf die
Existenz unseres Volkes blicken, und jede Statistik mit der
Gleichgültigkeit besehen, die man in unserer zahlengläubigen
Zeit so schlecht versteht — bis vor kurzem.
Denn es gab eine unangetastete, üppig verjüngende Kraft,
deren Wirkung unaufhörlich und unbekämpfbar andauerte: die
Existenz der jüdischen Frau. Natur — nah und unbewegt, blieb
sie die Mitte der jüdischen Familie; sie gebar ihre Kinder, nicht
sehr viele vielleicht, im Durchschnitt vielleicht drei oder vier,
aber sie hatte in ihnen ihr ganzes Dasein und versammelte auf
die Ehe, das Gebären und die Frucht alle Kräfte ihrer Seele.
Sie war nicht abgelenkt und an vieles ausgeteilt, weder hatte man
ihr einen ,, weiten Horizont" gegeben, noch viel Wissen, noch
hatte man auf eine Ausbildung des theoretischen Verstandes
irgendeinen Akzent gelegt; geschah es, so geschah es beiläufig
und auf eigene Faust. Ihre Aufklärung war nicht tief gedrungen;
um so ungestörter drang jene praktische Weisheit aus ihr heraus,
die tätige und intuitive Beurteilung des Lebens, die zugleich
seine Handhabung war, und die ihr, sobald sie ihren Lebenskreis
meisterte, jene Heiterkeit und Güte gab, die ihren Umkreis um
so intensiver durchdrang, je enger er war. Sie beschied sich:
das Lernen, der Geist, das Wissenwollen war Männersache, das
Erwerben und der Krieg des Lebens ebenso, und nicht minder
der lautwerdende Anteil an allem öffentlichen und Politi-
schen. Ihr aber gehörte die Familie, die Kinder, denen der Vater
etwas entrückt und fremder vorkam als sie, die mit ihnen lebte,
und die Verwaltung dessen, was man besaß. Im Besitz war die
220
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Dauer der Generation verbürgt; man besaß nur, um zu ver-
erben, und darum wachte sie leidenschaftlich über ihm, und
nahm ihren Anteil an ihm, indem sie, die Wohnung verlassend
und den Laden in ihren Bereich einbeziehend, an der Kasse
saß, verv^^altend, ein- und ausgebend, zählend. Als Mädchen war
sie weit weg gewesen von der unpraktischen Unterschätzung des
Besitzes, den sie selbst einmal von ihrem zukünftigen Gatten er-
wartete; aber nur einer Witwe galt es ziemlich, selbst zu er-
werben, und sie wußte, daß selbst entfernteste Verwandte die
Mittel zusammenbringen würden, um ihr einen Gatten zu geben,
der ihr vielleicht nicht sehr gefiel, den sie nicht gerade liebte,
der aber der Weg war zu Kindern und zu dem ,,Haus", dessen
Herrin zu sein sie geboren war. Erziehen und verwalten, diese
beiden Tätigkeiten strahlten ihr Wesen aus und gaben ihr ihre
Würde als Trägerin des jüdischen Geschlechts.
Aber das folgende geschieht: der Erwerb, infolge eines jäh
beschleunigten Wettbewerbes, steigenden Bedarfes und massen-
hafter Herstellung, verzehnfacht seine Intensität und sein Tempo;
zugleich verbessern sich die Schulen für Mädchen, will sagen,
die Ausbildung des Intellekts wird, viel mehr Schulstunden als
früher beanspruchend, lange Jugendjahre hindurch der wich-
tigste Punkt der Erziehung und ein Ziel des Ehrgeizes. Damit
wird die Entdeckung der Individualität des Weibes und ihr Recht,
außerhalb der Familie, öffentlich zu gelten, die die Romantik für
einige Erlesene gemacht hatte, plötzlich Eigentum der weiblichen
Masse. Man entdeckt das Verbum ,,sich ausleben" und fügt hinzu:
,,wie die Männer". Denn die geistige Demokratie, die keinq
Wesensunterschiede der Menschen kennt und alle ihre Gesetze
auf ,,den Menschen" bezieht, muß auch in bezug auf alles Öffent-
liche und Rechtliche der Lebensregelung zwischen Mann und
Weib prinzipiell jede Verschiedenheit leugnen. Die Frau, die
vorher nur für die natürlichen Gemeinschaften der Familie und
des Volkes Wert und Bestimmung hatte, sieht sich, und mit
Freuden, in den Staat, die Gesellschaft einbezogen. Die jungen
Mädchen helfen beim Erwerb; Heere von „Geschäftsfräulein"
bilden sich; der Staat schafft Frauenberufe, weibliche Beamte;
die Universitäten erhalten jedes Jahr mehr Mädchen, um sie den
akademischen Berufen zuzuführen — die ganze Breite der tech-
221
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
nischen Zivilisation unseres Lebens, von der Fabrikarbeit bis
hinauf in die geistigsten Tätigkeiten durchsetzt sich mit Frauen-
arbeit, die von der Frau alles verlangt, nur nicht Weiblichkeit,
und die auf die besondere frauliche Konstitution Rücksicht
nehmen weder kann noch will. Die letzte und notwendige Folge-
rung aus dem Eintritt der weiblichen Masse ins Staatsleben zieht
sich von selbst: die Frau organisiert sich, wird politischer Fak-
tor, verlangt Rechte, Einfluß, Mitbestimmung — das politische
Wahlrecht der Frau wird gefordert und kann auf die Dauer
den selbsterwerbenden Frauen nicht verweigert werden. Noch
lange vor seiner Erteilung, in der die Wählende vor der Nicht-
berechtigten eine Auszeichnung sieht, fühlt sie sich als die Wert-
vollere, die Bessere; man beginnt die pure Hausmutter, die
zwecklos lebende ,, Tochter", ja die Dame zu verachten; dieses
Sinken des eigenen Wertes wird von den Minderbewerteten inner-
lich mitgemacht und anerkannt, kraft psychischer Ansteckung
und des Neuheitswertes des Errungenen; ein seelischer Antrieb
ist damit gegeben, in die praktische, die tätige, die wertvollere
Klasse aufzusteigen; gerade die Ehrgeizigen und Begabten unter
den Frauen folgen ihm. Vereinigt sich damit noch das Recht,
auch liebend über sich zu verfügen, und in einer allgemein auf
Vergnügen ausgehenden Umwelt die Erholung von anstrengen-
dem Tagewerke nach großstädtischer Weise einzurichten, so ist
damit die Veränderung flüchtig gemalt, die unsere Zeit kenn-
zeichnet. An ihr nehmen die Jüdinnen lebhaften Anteil, dank
geistiger Regsamkeit und einem starken Drang aus der Enge ins
Weitere; von der Fabrik bis zur Universität sind sie überall zu
finden.
Nun können alle anderen Völker dieses Abströmen vieler
Frauen aus dem häuslichen Leben hinnehmen. Vom flachen
Lande her, aus der fruchtbaren Enge kleiner Städte kommen
immer neue Frauen als Ersatz; frisch und wie erdhaft gewachsen,
ohne gezüchtete Geistigkeit und ganz Mütter, das Volk zu er-
halten. Und ferner ist ihnen das Leben milder und ungefähr-
licher als die formulierte Theorie, denn es scheint vom Boden
selbst, den sie bewohnen, von dem heimatlichen Erdreich, das sie
gebildet hat, vom Wasser ihrer Ströme und vom Dunste ihrer
Heiden ein erneuernder und gesundender Duft auszugehen, der
223
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
verhindert, daß sie ganz in jene abgeschnittene und leblos
machende Zone geraten, in der jene blutlosen Gruppen leben,
denen die Kultur der Städte der einzige Boden ist, auf dem sie
schwankend, gebrechlich und oft sublim wurzeln. Aber die
Juden? Ihnen ermangelt jede Natur, die sie erneut und stärkt,
wenn die Frau, die Mutter, von Zielen des Verstandes und der
Politik abgelenkt, nicht mehr ihr ganzes Wesen im Zeugen,
Nähren und Behüten versammelt. Wie keine andere Nahrung
der gleichwertig ist, die die Mutter ihrer Frucht spendet, ohne
daß der Chemiker oder Biologe, diese heute so gern als Eidzeugen
gerufenen Empiriker, die Milch der Mutter von der der Amme
unterscheiden kann, so ist der ungeteilte Trieb der Frau, alle ihre
geistigen Ausstrahlungen, das ganze unbeschreiblich reine und
dumpfe Fluidum vonnöten, um, lange vor dem Geborenwerden,
dem Kinde, also dem kommenden Volke, jene Gewachsenheit
und Gesundheit zu geben, die allein ihm die hinreichende Lust
des Eroberns und sich Ausbreitens im Dasein verleiht. Die
Lebenseinheit des Judentums, und zwar die einzige in zwei Jahr-
tausenden, war die Familie. Die Mitte der Familie, in der alle
ihre Kräfte zusammengefaßt sind, ist die Mutter. Ihr sind, in
der wichtigsten Zeit ihres Lebens, bis zum sechsten Jahr, die
Kinder allein überlassen; wie unsäglich bestimmend diese Zeit
für das ganze Sein des Menschen ist, hat die Freudsche Lehre
mit unheimlichen Beweisen dargetan — wenn irgendwer geneigt
wäre, es zu leugnen. Man gebe uns nun Mütter, die, während sie
das Kind noch tragen, von Wissenschaft oder Politik in einer
anderen Richtung ebenso zerstreut sind wie jene andere, leicht-
fertigere, weniger ernst und geistig strebende Art von Frauen
durch gesellschaftliches Vergnügen; man lasse sie, die primi-
tiven Triebe durch Intellektualisierung und falsche Bildung ge-
schwächt, mit Erziehungstheorien und -zwecken beladen, die
ernsthafteste Zeit der Jugend ihrer Kinder überwachen, man
entferne sie, sowie diese Kinder erwachsener sind, von ihnen
durch irgendeinen Beruf: und die Widerstandskraft der Juden,
die (wie Ruppin überzeugend darlegt) lediglich auf der inten-
siven Betreuung des jungen Nachwuchses durch die Mutter be-
ruht, nimmt ab wie ein Wasser, dessen Quelle abgegraben wird.
Die Demokratie, die ohnehin in dieser Zeit die Familie miniert,
223
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
indem ihr Individualismus das verantwortungslose Recht der
Kinder auf sich selbst verkündet, indem die ganz veränderte
Bildungswelt und der äußerst bereicherte Erfahrungsstoff der
Kinder ein echtes Verstehen der beiden Generationen schwerer
macht als je, und indem sie das Recht der Gesellschaft (des
Staates, nicht des Volkes) die Unterweisung der Jugend nach
ihrem Nutzen einzurichten, mit praktischen Maßregeln (Schul-
gestaltung) proklamiert und ausführt, legt ihre zerfasernden
Hände an die letzte Wurzel der Judenheit.
Wenn es noch so wäre, daß lediglich, wie man (Nietzsche)
früher wollte, die Mißratenen und irgendwie zu kurz Gekom-
menen in diese Strömung gerissen und zum Heile des Volkes
unfruchtbar gemacht würden, könnte man sie mit Gelassenheit
ihren Weg nehmen sehen. Aber das Gegenteil tritt ein; was
heute von Jüdinnen zu ihr hindrängt, sind vielfach unsere
besten Mädchen: mit geistiger Energie auf Unterweisung aus,
gesund und geduldig im Erarbeiten, fern von jeder Spielerei mit
ihrem Geschick; durstig nach Kultur, die Seele zu erfrischen,
feinen Empfindens unter einem Zustande leidend, den sie als
unwürdig empfinden, die Leistung erstrebend als Legitimation
ihrer Persönlichkeit, mit Hingabe an Idee und Ideal hängend
wie nur je echte Jünglinge, die Sinne durch Arbeit bändigend,
und alles Persönliche einer Sache opfernd, die sie als wertvoller
empfinden als persönliches Glück. Sie verzichten darauf, auch
in der Ehe, vorläufig und früh ein Kind zu haben, das sie doch
ersehnen, um einer Arbeit zu dienen, der sie sich hingegeben,
haben; sie wollen der Kamerad des Mannes sein, den sie sich
selbst wählen; sie stellen sich als tapfere und entbehrungsfrohe
Soldaten in die Reihen von Allgemeinheiten und kämpfen für
ihr Geschlecht und für zukünftige Frauen, für Kulturparteien,
für das Proletariat, für die Erziehung fremder Kinder; und sie
sehen nicht, daß ihre eigenen und ihr Volk dabei vernachlässigt
werden und gefährdet.
Gibt es dagegen keine Hilfe? Und wenn man etwas Retten-
des tun kann, was? Allein auf jene bauende Kraft der Natur
sich zu verlassen, die in der jungen Frau, allem bewußten Wollen
zum Trotz, die Urtriebe wieder heraufholt und ein mütterliches
Wesen aus ihr macht, das vieles einst Angebetete einfach ver-
224
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
gißt, wäre optimistisch fahrlässig, und wenn diese Wandlung
auch oft eintritt, kann sie, von der Erziehung zernagt, in späteren
Generationen an Macht verlieren, die sie heute noch hat. Ferner
wäre es ganz vergeblich und töricht, etwa rückschraubend den
geistigen Drang der Mädchen einzudämmen, die Möglichkeit zu
lernen ihnen zu nehmen, und anstatt die neuen Kulturbestand-
teile verarbeiten zu lassen, sie künstlich auszumerzen. Eine po-
litische und allgemeine Bewegung, wie die Demokratie sie dar-
stellt, ist weder zu hemmen noch zu brechen; man wird sie
überwinden, indem man ihr in einer Richtung, nämlich der auf
die geistigen und politischen Rechte, alle Hemmnisse wegnimmt,
jeden vergiftenden und die Seele zerstörenden Kampf vermeidet
(England!), und auf der neuen Plattform freier Betätigung,
wie sie der Zionismus in sicherem Instinkt den Frauen sofort
gewährt hat, die alte unveränderliche Rangordnung wieder her-
stellt, auf deren oberster Stufe das unsterbliche Symbol der
Mutter mit dem Kinde thront.
IV.
Die Demokratie verkehrt im Juden das Wertgefühl, sie leugnet
die zu tiefst im Wesen begründete Verschiedenheit von Mann
und Weib und gefährdet damit die Dauer des Volks; aber nicht
allein dies ist, womit sie uns bedroht: sie geht darauf aus, den
jüdischen Geist in seinem Innersten zu pervertieren, zu ent-
werten, zu zerstören. Dies zu erläutern, scheiden Wr zunächst
einige der Bedeutungen voneinander, die das Wort „Geist" hat.
Es bezeichnet zunächst die Einheit aller der Akte, in denen die
Eigenart des Volkes sich auswirkt: seine Haltung zur Welt, zu
Gott, zu sich selbst, die Emanationen, die daraus fließen (seine
Kunst) und die Bilder (Ideale), unter denen er sich selbst und
seiner Zukunft Dauer wünscht. So etwa meint der junge Nietzsche
den „deutschen Geist", der nicht etwa erschöpft ist in der Summe
des spezifisch deutschen Anteils an der Kultur der Welt (Philo-
sophie und Mystik, Lyrik, Drama, Musik und Graphik seien ge-
nannt), sondern der als Antrieb alledem zugrunde liegt, es cha-
rakteristisch färbt und unformulierbar, aber ebenso unverkenn-
bar aus ihm redet. „Geist" bezeichnet zweitens in einer engeren
Bedeutung alles, was von Lebensinhalten auf die Erkenntnis-
^5 220
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Seite übertragen wird und den leidenschaftlichen Drang zu solch
erkennender Gestaltung des Lebens. Das ist der ,, Geist", der,
losgelöst von bestimmten Trägern, als Idee anderen Ideen, etwa
der „Gewalt", gegenübergestellt wird. Drittens sondert man,
wenn man vom ,, Geist einer Zeit" spricht, unter dieser Bezeich-
nung das aus, was sie an richtunggebenden Tendenzen beherrscht
hat; hier ist Geist nicht mehr Erkenntnis, sondern Programm,
Forderung, Maßstab: man kann sich gegen diesen Geist ver-
sündigen, z.B. gegen den des 1 8. Jahrhunderts, wenn man in-
tolerant, gegen den des 19., wenn man antiexperimentell ver-
fährt. Auf derselben Basis spricht man vom Geist einer kul-
turellen Bewegung (Geist der Aufklärung, der Demokratie),
wenn man ihr Wesen knapp zusammenfassen will. Viertens ge-
braucht man Geist, mit einer Person als Träger verbunden (die
großen Geister der Menschheit) ; was damit gemeint ist, braucht
hier nicht zergliedert zu werden; und während man unter einem
,, geistvollen" Menschen oft nur einen auf besondere Art klugen
Menschen versteht, der seine Klugheit in gewissen, anmutig-über-
raschenden Worten äußert, so daß hier Inhalt und Form in
einem Gleichgewicht schweben, zum erstenmal aber das Formu-
lieren in den ,, Geist" mit eintritt, bleibt als fünfte Art jener
Geist zu nennen, der fast nur Form des Denkens ist, dem esprit
entspricht, den man am Geistreichen findet, und der in einer
gewandten und schlagfertigen, zugleich einseitigen und Uner-
wartetes verbindenden Behandlung irgendeines Vorkommnisses
bestrebt, am Worte und an der Oberfläche des Ereignisses haftet,
und sich in der Absicht betätigt, ein Lächeln oder Lachen zu
erregen, in dem Bewunderung für den Geistreichen und die
Niederlage des Belachten enthalten sein sollen.
Das folgende soll die Notwendigkeit dieser Scheidungen er-
bringen, die, so vorläufig, unvollkommen und grob sie hier
stehen, genügen werden, um die Analyse dessen zu fördern, was
heute als der ,, jüdische Geist" gilt und was wirklich häufig dort
angetroffen wird, wo Juden an Kulturbewegungen einen zahl-
und einflußreichen Anteil nehmen: in der politischen Presse,
der Börse, der kritischen Literatur über Künstler und Kunst.
Dieser Geist ist zunächst offensiv, angreifend, mit zwei charak-
teristischen Eigenheiten: er hat keine Achtung vor dem An-
226
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
gegriffenen, was sich im Ton ausdrückt, und er benutzt ent-
weder von vornherein, oder wenn er zunächst nicht erfolgreich
ist, das Mittel, eine Sache zu fällen, indem er die Personen be-
kämpft, die sie tragen — beides und besonders das zweite oft
sehr naiv: er weiß nicht, daß man auch anders verfahren
kann. Wird er selbst angefeindet, so antwortet er durch Gegen-
angriff. In guten Fällen attackiert er fanatisch, in anderen
kalt und frech. Er fühlt sich als Sieger, wenn der Gegner
schweigt oder wenn die Menge ihn dafür hält; das Mittel, das
am sichersten dazu führt, ist die Preisgabe an das Gelächter,
demgegenüber sich der Angegriffene, je vornehmer und zarter
er ist, um so weniger wehren kann; Wehrlosigkeit gegen Plump-
heit aber deutet er als Minderwertigkeit gegen Stärke. Bergson
hat das Lachen der Menge gedeutet als die Korrektur, die sie an
dem einzelnen macht, wenn er, sein Ziel ohne Rücksicht ver-
folgend, den glatten Verkehr der Gesellschaft hemmt; aber er
hat, leider allzu verschleiert, auch darauf gewiesen, daß es manch-
mal (in Wahrheit kann es aber stets so sein) die Rache des
Schlechten an dem Besseren ist, die Gehässigkeit des Oberfläch-
lichen, praktisch Geschäftigen gegen den Vertieften, Wesent-
lichen, echter Lebenden, der freilich in die Maschinerie dieser Zi-
vilisation störend hineingerät. (Ein Gelehrter, der auf der Straße
stolpert, fällt und den man auslacht, kann recht gut von der In-
spiration befallen und im Schauen des Wahren begriffen gewesen
sein . . .) Um den Gegner lächerlich zu machen, hat er alle jene
behenden Mittel zur Verfügung, die dem „Geistreichen" geläufig
sind, die so leicht, so billig und darum so ansteckend wirken,
und vor denen die Leute bewundernd stehen, geblendet von soviel
„Geist". Der Gegner selbst aber ist notwendig ein Wert, der
diesem Geiste deshalb ärgerlich ist, weil er ein höherer ist als er
selbst, ohne daß er ihm als „höherer" deutlich bewußt gegeben
sein muss (Kritiker gegen Produktivität). Da der gesunde Men-
schenverstand der entscheidende Richter ist, die Majorität des
Beifalls den Sieg bestimmt und jeder das Recht hat, seine Mei-
nung zu sagen (Stimme des Abonnenten, des Käufers, des Wäh-
lers): da aber Gleichheit der Rechte Gleichheit des Wesens zur
Voraussetzung hat, und da endlich das als gut gesetzt ist, was den
meisten gefällt, d. i. nutzt, so ergibt sich hieraus, daß der Kampf
227
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
gegen jederlei Bevorrechtigung gerichtet ist, die nicht durch Ar-
beit, d.i. materielle Leistung und materiellen Erfolg, verdient ist;
und um auch diese Stufe, so wenig besagend sie an sich ist, zu
verhindern, wird die Gleichwertigkeit aller menschlichen Arbeit
verkündet, die in der gleichen Zeit geleistet wird, so daß nun jede
Arbeit ihres Lohnes, d. h. alle Arbeiter des gleichen Lohnes wert
seien. Auch ohne diese letzte Folgerung erkennt man längst den
Geist der Demokratie, der beweglichen Modernität, die gegen ver-
altete Vorurteile und Ungerechtigkeiten zu Felde zieht. Die
Formel für Gerechtigkeit heißt hier nicht Jedem das Seine, son-
dern Allen das Gleiche (also dasselbe Zuchthaus für Oscar Wilde
und irgendeinen Rindfleischesser); zugrunde aber liegt jene
falsche Rationalität, die das Wesen der lebendigen Ordnung ver-
kennend und den Menschen unter dem Gesichtswinkel entweder
der mathematischen oder der mittels Maschinen hergestellten
Gleichheit (zweier Dreiecke oder zweier mechanischer Produkte,
Stecknadeln etwa) begreifend, in einem völlig irregehenden Ab-
straktionsprozeß am Leben vorüber das Leben zu ordnen ver-
sucht. Da der moderne Staat sich theoretisch diese Lebensan-
schauung längst angeeignet hat, an der praktischen Durch-
führung aber scheitert, so ist der Ungerechtigkeit kein Ende, und
so ergibt sich ein Gefühl des Entrechtetseins durch Staat
und Gesellschaft, dessen entrüstetes und unablässiges Angehen
gegen dieses Unrecht von denen, die auf Grund natürlicher Wert-
ordnung diese Vorrechte innehaben (Offizierkorps, gewisse Ge-
sellschaftsklassen) als Aufdringlichkeit, Mangel an Takt und
Frechheit empfunden wird, während die Unrechtleidenden in das
Pathos des manchmal falschen, manchmal echten Schmerzes
fallen können, das allerdings, wenn der Anlaß dem Beurteilen-
den allzu gering und die Gebärde dafür allzu groß und heftig ist,
als Pose und Sentimentalität erscheinen darf; und schließlich
kommt dazu, daß die Ausgeschlossenen, denen man ein theore-
tisch zugebilligtes Recht faktisch verweigert, sich als die Geistigen
empfinden müssen, die der brutalen Gewalt widerstehend es
darauf ankommen lassen, ihr Opfer zu werden, woraus das Hoch-
gefühl des eigentlich Überlegenen, der nur um der Sache, der
Gerechtigkeit willen ficht, ressentimental quillt. Erfolgen nun
alle diese Äußerungen mit der Vehemenz und Lebhaftigkeit von
228
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Wort und Gebärde, die dem heftigeren und schnelleren Gemüts-
leben eines schwarzhaarigen Mittelmeervolks entsprechen, unter
langsameren und gezügelten blonden Nordländern, so berührt
auch diese Fremdheit weit peinlicher als objektiv begründet,
und ein Gefühl der Ablehnung gegen den Geist eines so undis-
ziplinierten Volkes stellt sich ein, während der Abgelehnte
findet, daß jener „sich habe".
Ist dies der „jüdische Geist"? und wenn er's, vag gezeichnet,
sei, was ist an ihm gemein jüdisch und nur an Juden gebunden?
Nichts. Die Manieren der Presse und der literarischen Fehden
findet man alle in der völlig judenfreien Presse etwa des deut-
schen achtzehnten Jahrhunderts, in den heute völlig unbegreif-
lichen Rohheiten und Niederträchtigkeiten der Gelehrten- und
Cliquenkämpfe jener Zeit überboten (das bekannteste Beispiel
ist ja in Klotz kontra Herder und Lessing gegeben); den Geist
als Waffe handhabten Swift und Voltaire weit schonungsloser als
etwa Heine und Börne, und der falsche Geist ihrer Nachahmer
war um nichts artiger als der der heutigen Journale. Daß der
demokratische Geist in England wie im vorrevolutionären Frank-
reich ganz ohne Mitarbeit der Juden sich ausbildete, braucht bei
der historischen Lage der Juden nicht erst bewiesen zu werden,
und der Geist des Geldmachens war den Lombarden gegeben wie
den Griechen, wie nicht zuletzt den Engländern, ohne daß sie
von Juden zu lernen brauchten. Und da weiter vorn gezeigt wurde,
daß Emporkömmlinge jedes Volkes sich über Jahrtausende hin
gleichen (man sehe Trimalchio neben Herrn Türkheimer aus
H. Manns „Schlaraffenland") so braucht nur darauf verwiesen
zu werden, daß die Juden selbst in ihren politisch oder kulturell
selbständigen Gemeinschaften weder eine Demokratie, noch eine
Presse, noch eine überwiegend kaufmännische Organisation des
Lebens ausgebildet haben. Der sogenannte „jüdische Geist" er-
weist sich als der Geist der Demokratie, der den Esprit als
Kampfmittel und den theoretischen Geist gegen die Gewalt als
Helfer genommen und zersetzt hat, gehandhabt von fremd-
rassigen Menschen.
Woher aber, muß jetzt gefragt werden, der intensive Anteil
der Juden an diesem Geiste? Woher die ungewöhnliche Wider-
standslosigkeit dieser zähen Menschen gegen den fremden Geist?
229
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Zunächst wäre zu sagen, daß er und sein Vorbereiter, die Huma-
nität des i8. Jahrhunderts, mit einer messianisch anmutenden
Beglückung an sie herankamen: aus Verachteten sollten Brüder
werden, in Jahrhunderten war ihnen Unrecht geschehen und das
wollte man alles gut machen, die Revolution war der Föhn, der
den Frühling der Völker verkündete. Die Kultur, die sich ihnen
zugleich öffnete, jene echte weltbürgerliche Atmosphäre um
Goethe, Schiller und Humboldt wie vorher um Lessing, Herder,
Klopstock und Kant, die keinerlei Volkskultur sein wollte, son-
dern sich, mit dem Rechte der genialen Menschen, über das Na-
tionale aufragend ins Reinmenschliche streckte, war gewiß ge-
eignet, zu verführen; bei einigen dieser Geister drückte sie sich
in denselben Worten aus, die die Revolution unaufhörlich wieder-
holte (Schiller, Herder, Klopstock). Als man nach i8i5 wieder
in jene Zustände zurückgeführt werden sollte, deren man längst
entwöhn* war, hatte man den Staaten Bürgerdienste mit Gut und
Blut geleistet, und in der ganz ebenso unterdrückten Demokratie
fand man den Genossen des Geschicks, den Helfer für später,
dessen einzige Waffe eben die Presse war, die man durch strenge
Zensur an offener Scheltrede hinderte und zum Geist zwang. So
bildeten für die theoretischen Juden die Presse und die Literatur,
für die praktischen der durch Maschinen und Politik beflügelte
Geldmarkt die Becken, in die sich ihre Aktivität ergießt; und sie
werden, paradox genug, die Führer der Demokratie und ihres
Feindes, des Kapitalismus, die beide den gleichen, den Juden
allein erreichbaren, Maßstab des materiellen Wertes ausbilden;
die Tradition übt ihre übermittelnde Wirkung, und so wächst
beiden Bewegungen ein durch Erfolg, politische Verhältnisse und
Nachahmung stets größerer Anhang zu.
Es wäre gut, wenn dem so wäre. Denn man hätte alle Ursache
zu glauben, daß eine veränderte Umwelt jene Erscheinungen be-
seitigen müßte, die im wahren Wesen der Juden keine Veranke-
rung erfahren haben könnten, so daß etwa bei durchgesetzten
demokratischem Staatsideal oder in einer eigenen zu gründenden
Gesellschaft, wenn jener Druck von neuem aufhört, der diesen
Geist den Juden gleichsam anpreßt, das Fremde abfallen und
der echte Jude wieder erscheinen würde. Aber es ist vielmehr
so, daß im Wesen des Juden Züge enthalten sind, die dem Geiste
280
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
der Demokratie verwandt sind, und diese sind es, die die
wahren Ursachen des jüdischen Anteils an ihm ausmachen, wenn
sie auch verzerrt und flacher und oft anders gerichtet erscheinen
als jene. Die starke Intellektualität des Juden und sein logisch-
mathematischer Geist verführen ihn, die vorhin geschilderte Me-
chanisierung der Welt, ihren rationalistischen Aufbau und die
Abstraktion vom Leben mitzumachen. Die Überlegenheit des Er-
kennenden über das Erkannte wird ihm zum Hochmut gegen-
über allem noch Undurchleuchteten, Dumpfen, Unerkannten, oft
der theoretischen Erkenntnis überhaupt Entrückten. Die Idee der
Gerechtigkeit, selbst in der Verkehrung, die wir sahen, ergreift
ihn mit unaussprechlicher Gewalt und macht ihn, den sittlich
Fordernden, blind für den Irrtum, in den er gerissen wird. Das
Pathos der Propheten, die die ethische Durchdringung der
menschlichen Existenz wieder und wieder dem von Lust und
Bequemen regierten Dasein abverlangen, entzündet sich für den
geknechteten Menschen. Die messianische Hoffnung scheint in
dem Zukunftstraum des von der Demokratie erbauten Sozialis-
mus eine Verwirklichung in der Zeit zu finden. Die Lust am
Geiste, die in der talmudischen Dialektik noch immer an das
Streben gebunden war, die Erkenntnis zu verfeinern und zu
klären, und die leidenschaftliche Hingabe an sie, vergessen diese
wohltätige Hemmung und stürzen sich aus Freude der Betäti-
gung in jeden Kampf. Die literarische Begabung des Juden läßt
ihn jede Sprache handhaben und entzieht der eigenen, strengeren
und schwierigeren, den größten Teil aller lebendigen Zuflüsse.
Und die Religion selbst endlich, sie, die dem Menschen im Juden
schließlich im Hinstreben zu Gott keinen Vorrang gibt vor dem
Menschen im NichtJuden, macht, daß er um so leichter dem Men-
schen glaubt, den der demokratische Geist erfindet und der mit
jenem ersten nur Name und Physis gemein hat.
Dies ist die Gefahr für den jüdischen Geist: daß er das Leichte
für das Schwere nehme, das Moderne für das Ewige, das Surrogat
für die Echtheit, das Ventil für den rechten Ausweg, daß er sich
vergeude anstatt sich zu bewahren und das Eigene vergesse, um
einer unechten Menschheit unecht zu dienen. Auch ein Volk dient
der Menschheit in Wahrheit nur, wenn es sich selbst im rechten
Ernste dient.
23l
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Und was tut uns not? Wohin greifen wir, um nicht zu fallen?
Wir sind ganz allein, niemand kann uns auch nur mit seiner
Stimme einen Rat rufen, niemand, der nicht zu uns gehört und
mit uns erschrickt. Aus uns muß der Entschluß und das Be-
kenntnis und die Tat springen, oder wir sind Verlorene und
dahin. Wir müssen anders werden, neu werden; dies muß unser
Entschluß sein, und wenn es in uns zustande gekommen ist,
dieses Zufallen aller anderen Türen, dieses Schreiten durch die
einzige offene Pforte, dieses Verbot jedes Rückwärtssehens,
dieses Vorwärtswollen Zähne auf Zähne gesetzt — wenn dieser
Entschluß die Seele zusammengerafft hat, so hat die Erneuerung
begonnen. Sie muß mit ihm beginnen. Unmöglich, sie echt zu
schauen und sie dann nicht wollen, ohne daß man ein Schlechter
sei. Es ist Bubers Wort: Erneuerung; er als erster hat es uns
verkündet, hat es gegen Evolution aufgerichtet, wie eine ver-
bietende Hand, gegen jenes auch dem Schwächsten und Feigsten
mögliche Vorwärtskriechen um ein Stückchen, gegen den Fort-
schritt, der nicht wagen darf zu sagen, wohin er schreiten will.
Er hat weiter gesagt, daß sie nichts hinzufügen werde zur Seele
und nichts hinwegnehmen, und dennoch wird die Seele anders
sein und so neu wie jener Naaman, der blühend wie ein Kind
aus dem Jordan stieg in seinem großen Glauben, wo er doch
vorher ganz aussätzig zum Propheten kam. Wie es aber geschehen
wird, dieses große Zusammenschlagen der Fluten und dieses Her-
vortreten in Neusein, darüber hat er geschwiegen und so auch
uns geheißen, zu schweigen; wir wissen es nicht. Nur bereit sein
sollen wir und so bereiten. Und darüber weniges zu sagen ist
uns gegeben: wir sollen wesentlich werden.
Wesentlich werden. Wir sind es nicht, und darum ist nichts
um uns wesentlich. Der Apfel, den wir in der Hand halten, ist
uns ein Ding, das man essen soll, oder ein Ding, das gewachsen
ist, oder ein Ding, das man erkauft, oder ein farbig rundes Ding
oder ein Ding zu erkennen; aber nicht jene schlichte Fülle
„Apfel" genannt, die wir schauen können und in der wir, wenn
wir uns ihr nahen vertieft nur in sie, einen Blick in die Welt
der wahren Existenz tun. Was uns heute die Dinge verdeckt,
das ist ihre schlimme Verflochtenheit in den Nutzen, die Praxis,
und die Maske, die die Gewöhnung und falsche Schulung ihnen
282
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
gibt. Und so sind wir Juden, Juden aufs Geratewohl, ohne zu
wissen, was das heißt, Jude sein; sind Juden nicht viel anders
als wir Leser sind, und Verkäufer imd Spaziergänger und solche,
die sich Krawatten umbinden. Viele glauben, Juden zu sein, weil
sie sich laut so nennen, oder weil sie allerlei für eine Partei im
Judentum tun, oder weil sie andere für diese Partei anwerben,
oder weil sie die Riten einer sterbenden Kirche treu und ehrlich
befolgen; anderen genügt, daß sie eine Stimme in sich reden
hören: du bist Jude, und nichts tun, diese Stimme stumm zu
machen. Noch andere sind für kurze Zeiten Juden mit ganzem
Herzen und ganzer Seele, wenn ein heiliger Tag sie erschüttert
oder das martyrische Sterben ferner Brüder; aber die Glut er-
lischt.
Wesentlich werden: was hieße das? Bei allem, was wir er-
leben, im Denken oder in der tätigen Welt, ganz gegenwärtig
zu sein. Nicht mehr mit Abkürzungen vorlieb nehmen, ehe wir
nicht mindestens einmal das Ganze, das sie meinen, völlig er-
füllt und vollzogen haben, so daß wir später stets, wenn die
Abkürzung auftaucht, in einem blitzgleichen Blick uns das Ganze
wieder vor die Seele stellen können. Schauen lernen, wie der
Dichter schaut und der Philosoph, dem das Wort nie mehr etwas
anderes sein kann als das Symbol einer Wesenheit, wenn er ein-
mal die Wesenheit selbst erblickt hat. So einmal schauen, was
Jude ist; es nie mehr vergessen; versuchen es zu sein, es zu
leben. Es ist uns noch nicht gegeben zu sagen, wie das ist; das
Erlebnis mitzuteilen, es in klarer Sprache zu gestalten. Mag man
uns unterdes für Stammler halten, für Redner oder Schauspieler
— was liegt daran, wenn wir nur streng gegen uns sind und
jede Widerrede unterlassen? Vielleicht kommen uns einmal auch
dafür Worte. Die den gleichen Weg gehen, werden uns ver-
stehen; und vorläufig ist jeder mit seinem Erlebnis allein.
Wesentlich werden, heißt die Demokratie überwinden. Wer
sein Eigensein, seine unvergleichliche Einzigkeit erfaßt hat, wie
sollte der an Gleichheit glauben? Wie sollte der vergleichen
können mit jenem unzufriedenen Blick, der in sich selbst ruht
und jeden Augenblick die endlose Mannigfaltigkeit an sich heran-
treten fühlt, damit er ihr gerecht werde? Wie sollte nicht die
Begierde schwinden, anders zu sein, und in irgendeinem anderen
233
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Sinne reicher zu werden als in der Bereicherung der Seele durch
Erleben, mehr zu werden anders als mehr er selbst zu sein? Wie
sollte Unzufriedenheit bleiben dort, wo die Gerechtigkeit jedes
Dinges geschaut wird? Wie sollte die Leere bestehen bleiben,
die heute so grell und verzweifelnd den Menschen von sich selbst
forttreibt, Avenn er erst angefangen hat, zu sehen, daß er bis
jetzt von Fülle umgeben war und selbst angefüllt mit Unbe-
merktem, Unerlebtem, das nun bewältigt werden will? Wie sollte
der unruhig bleiben, dessen Dasein plötzlich ins Gleichmaß
der Welt gestellt ist? Und das Recht des Menschen an die Welt,
kann es gestört werden durch den Anblick anderer. Höherer,
mit anderem und höherem Sein, die anderen und höheren Auf-
gaben folgen: wenn er selbst seine Notwendigkeit sieht und die
Unersetzlichkeit seiner eigenen Aufgabe, und daß niemand als
er sie auf seine Weise erfüllen kann?
Wesentlich werden: dabei kann niemand dem anderen im
Anfang helfen. Jeder muß eines Tages geweckt werden, von
einem Wort, das plötzlich seinen Sinn verliert, von einer Tat,
die er getan hat, ohne daß er sie gewollt hat, von einem Buche,
von der Gebärde eines Vorübergehenden. Und so muß ihm ein-
mal sein Judesein so nahe rücken, daß er sich entsetzt, oder so
fern, daß er es ganz überblickt und erstaunt, oder es muß ihn
ganz durchdringen und aus ihm ausstrahlen so glühend, daß alle
seine Dinge um ihn daran teilhaben und sich sondern in solche,
die sich einfügen, und solche, die tot bleiben. Einmal muß er
sein Judentum an die Welt um ihn und in ihm als Maß legen,
messen und scheiden. Darauf aber wird ihm vergeblich scheinen,
Religion zu sehen oder Nationalität oder Rasse, sondern eiuQ
tiefere Einheit wird ihm aufgehen, und es wird ihm oberfläch-
lich scheinen, sie in dieser oder jener Formel zu verengen.
Jüdisch sein wird sich ihm darstellen als eine bestimmte Weise
als Mensch zu leben.
Wesentlich werden: dagegen streitet die Zeit um uns und in
uns. Wenn wir arm sind, zwingt sie uns, irgend etwas von uns
zu verkaufen, um davon zu leben, und ein beständiger .Zwist ist
da, denn wie können wir einen Teil unseres Wesens verkaufen,
ohne daran zu leiden? Wenn wir von Geburt und so durch
Zwang zu Menschen gesellt sind, die uns verhindern wollen, unser
234
DIE DEMOKRATIE UND DIE SEELE DES JUDEN
Wesen zu vollziehen, damit wir dem Bilde gleichen, das sie sich
von uns gemacht haben; die uns voll besten Willens und „zu
unserem Glück" in den Formeln des unlebendigen Lebens zu-
rückhalten und darauf sinnen, uns darin festzumachen — wie
können wir vollkommen werden und wirklich, ohne gegen sie
zu kämpfen und daran zu leiden? Wenn uns eine Aufgabe, die
wir innerlich bejahen, in diese Zeit stellt, wie sollen wir uns
aus ihr entfernen? Und wenn wir erkennen, daß auch diese Zeit
auf dem Wege der Menschheit ein sehr nötiges Tor ist, zu durch-
schreiten, wie können wir seitwärts gehen? Da zeigt sich, daß
es für uns nichts anderes als eine stete Aufgabe sein kann, wesent-
lich zu werden, daß wir in einem beständigen Zwiste leben
müssen, und daß wir unaufhörlich dieses Aufgegebene vor Augen
haben müssen, unverzagt und demütig, wenn uns nicht gegeben
ist, es ganz zu vollbringen. Wir sind das Geschlecht, das in der
Wüste wandert und sterben wird.
Wesentlich werden: uns ist es nicht gegeben. Aber der große
Ernst und die große Freudigkeit soll uns bleiben, daß wir nicht
vergebens wandern, jeder für sich an seinem Stabe. Wir schauen
um uns und sehen, daß wir mehrere sind und zuletzt viele. Und
der Weg, den wir gemacht: Spätere brauchen ihn nicht noch
einmal zurückzulegen. Und wir rufen einander zu und sind uns
Gefährten und Vorposten. Denn wir glauben, daß aus den Vielen
das Volk werden wird, wenn wir sehen, daß wir allesamt jung
sind und wissen, daß andere auf uns blicken, zweifelnd, hoffend,
ob wir es wohl vollbringen werden. Wir werden es nicht voll-
bringen, aber was liegt an uns? Die anderen, diese Späteren
werden es vollbringen, einmal, dereinst, nicht am Ende der Zeit,
sondern in der Zeit. Nicht gleich, nicht bald, denn ein Volk wächst
langsamer als ein Wald, aber kein Schritt kann jemals zurück-
genommen werden, der einmal vorwärtsgegangen ist. Wir
glauben an den Frühling und an die Wiedergeburt und an das
Volk, das nicht stirbt. Wir glauben an den Weg und den Willen.
Wir gehen.
235
PROBLEME DER GEGENWART
UND DER ZUKUNFT
Das Erwachen der jüdischen Seele*)
Von Nathan Birnbaum
iLs gibt heutzutage viele, die auf die Frage, ob das Judentum
eine Zukunft hat, ob es bestehen und würdig bestehen wird, mit
Nein antworten. Soweit sich diese Verneiner außerhalb des Juden-
tums gestellt, die Beziehungen zu ihm gelöst, daher auch den
Sinn für sein Wesen und die Witterung für das Werden in ihm
verloren haben, kann ich ihnen eigentlich nicht gram sein. Aber
wenn ich auch in den verschiedenen nationalgesinnten Gruppen
solchen Verneinern oder zumindest Zweiflern begegne, — und
zwar geständigen und nicht geständigen, tragischen und
komischen, seufzenden und lachenden, schwerfälligen und leicht
koketten — dann — kann ich sie nicht mehr so ruhig hinnehmen.
Wohl begreife ich auch sie, begreife sie als Produkte des mecha-
nistischen Nationalismus der letzten Jahrzehnte in seinen ver-
schiedenen Formen, als die Zeugen der Verwirrung, in die er
mündete und münden mußte. Aber ich ärgere mich doch auch
schon ein wenig über ihre schlotternde, winselnde, lächelnde Im-
potenz; und daß sie sich, die Zwerge, in ihren Kähnchen an das
große Schaufelrad des jüdischen Volksschiffes heranwagten,
dessen mächtiges Gebrause sie nicht zu deuten vermochten, dessen
Kraft sie nicht ahnten und an dem sie nun jämmerlich zerschellen
müssen.
Und gerade diesen Leuten gegenüber erkläre ich doppelt gerne,
was ich auch sonst nicht verschweige, daß ich mit zwingenden
Gegenbeweisen selbstverständlich nicht dienen kann, wohl aber
voll und ganz an den Weiterbestand, an die Erhebung und an
die Zukunft, an die Ewigkeit des jüdischen Volkes glaube. Ja,
an seine Ewigkeit. Daran, daß ein Ewigkeitsfunke in die Seele
dieses Volkes gefallen ist, der wohl manchmal unter Schutt und
Asche zu verglimmen scheint, aber immer wieder aufglühen muß
und das Volk nicht sterben läßt, nicht sterben ließ, nicht sterben
lassen wird. Niemals, niemals!
Darum schreckt mich auch nicht das Golus mit allen seinen
Bitternissen und Katastrophen, Es ist wahr, daß, wenn gehäufte
*) Dieser Aufsatz ist das minmehr ein wenig geänderte Original eines im
IV. Heft des Sammelbuches „Heathid" in hebräischer Übersetzung erschienenen,
vor zwei Jahren geschriebenen Artikels. N. B.
289
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
Schläge auf die jüdischen Köpfe niedersausen, dann einzelne und
ganze Gruppen betäubt, entwürdigt, losgerissen werden und in
fremden Welten spurlos untergehen. Aber es bleibt doch stets ein
Zentrum unseres Lebens, wo die Ewigkeit still weiter waltet. Zer-
schlug man uns doch einmal unsere staatliche Existenz, und wir
haben uns dennoch herausgewunden, haben dennoch Leib und
Seele unseres Volkes gerettet. Und nun sollten wir zugrunde
gehen, weil sich da und dort weitere Katastrophen ereignen —
nun, da die Verteilung über die ganze Welt hin selbst eine Art
Existenzgarantie bietet? Wobei mir diese Verteilung auch kein
mechanischer Zufall, sondern wieder nichts anderes als Wirkung
und Erfüllung unserer Ewigkeit zu sein scheint.
Aber ich glaube nicht nur nicht an den Untergang des Juden-
tums, sondern auch an seine Erhebung und glorreiche Zukunft.
Und auch insofern schreckt mich das Golus nicht.
Gewiß haben wir große Zeiten erlebt in unserem Lande, gewiß
hat es seine große Rolle gespielt im gewaltigen Ewigkeitsdrama
unseres Volkes und wird sie sicherlich irgendwie wieder spielen.
Aber es sah uns auch in großen Niedergängen, es hat den Abstieg,
den seelischen meine ich, nicht nur den staatlichen, nicht ver-
hindern können. Und andererseits ist das Golus nicht so trost-
los, wie es leicht einknickenden Geistern erscheint. Gewiß hat
es uns bisher nicht die allerstolzesten Aufschwünge gebracht,
aber sicherlich doch manches Große und Ewige, das alle Über-
treibungen der Goluszitterer nicht aus der Welt schaffen werden.
Und die Zukunft kann diesbezüglich mehr leisten als die Ver-
gangenheit. Denn wohl bleibt das Territorium noch für lange,
lange Zeit die praktischste und sicherste Unterlage nationaler
Kulturen. Aber es ist doch deutlich zu sehen, daß sich diese,
wenn auch sehr langsam, so doch sicher, von der unbedingten
Notwendigkeit großer, zusammenhängender Territorien immer
mehr emanzipieren. Immer weniger bedarf die Bodenständigkeit
des Territoriums, damit ihre ursprüngliche und wahrhaft ent-
scheidende Unterlage, die einzelne örtlichkeit, zur Geltung
komme. Der moderne Verkehr zeigt sich immer mehr befähigt,
den Zusammenschluß der bodenständigen, örtlichen Kulturzellen
zur nationalen Gesamtkulturarbeit zu vermitteln. Und gerade das
jüdische Volk hat es in dieser Hinsicht schon zu einer stark ent-
24o
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
wickelten Übung gebracht, alles weist darauf hin, daß es sich
auf diese Art interterritorieller Einheitskultur immer mehr ein-
richtet. Es braucht also auf keinen Fall zu verzweifeln.
Man sagt, daß, weil Israel seinen Staat verlor, sich sein Genius
von ihm wandte. Aber richtig ist das Gegenteil : weil sein Genius
ermattete, weil es noch nicht reif war, um den ihm ein-
geschriebenen ewigen Plan in seiner ganzen Herrlichkeit das
Leben selbst erfüllen zu lassen, ein Leben ohne ihn aber
— rein wie es die Völker lebten und ja auch noch heute
leben — ihm doch zu schal, zu widerwärtig, zu unwürdig vor-
kam, um Mühe und Liebe daran zu wenden — darum starb das
Reich. Und wenn das Golus dessen Todesursache als Erbschaft
mitschleppte — natürlich, ohne daran zu sterben, Golusse ver-
gehen eben nicht wie Reiche, — so ist das nicht seine Schuld.
Es liegt eben nichts vor als eine große Stockung, die noch auf
dem Boden des Landes Israel entstand und noch heute anhält —
eine Stockung, die kommen mußte und wieder schwinden Avird,
wenn das Volk auf dem Wege seines Planes wieder reif geworden
sein wird.
Ich liebe Erez Israel. Ich glaube an seine Zukunft. Ich glaube,
daß Israel dereinst auch dort wieder Großes vollbringen wird. Ich
begrüße jede Tat, die in stiller, bescheidener und inniger Liebe
zu Erez Israel getan wird, — in einer Liebe, die Vorbild und
Teil künftiger Kraft ist. Ich freue mich, wenn solche Taten sich
organisieren und summieren, aber ich bin längst über meine
„Jugendsünde" eines mechanistischen Territoriums- und Staats-
gedankens hinaus. Ich habe diesen Gedanken, der die Juden-
frage von der zeitlich-weltlich-rationalen Seite irrationell, von
der ewigkeitlich-geistlich-irrationalen Seite rationell beantworten
will, als Irrtum erkannt. Ich brauche ihn nicht und ich glaube,
daß ihn auch das Judentum nicht brauchen kann. Gewiß hat
das Golus seine Dissonanzen und tragischen Momente. Aber
doch, nur um so sicherer, wird es die Stunde der Reife bringen.
Dann wird die große Stockung vorüber sein, und dann wird
Israel sich erheben, neue Lebens- und Schaffensströme werden
es durchziehen, im Golus und im Lande Israels.
Man wird mir entgegenhalten: Pogrome, Entrechtung, Ver-
elendung, ewige Minderheitsstellung allerorten — wie soll da
i6 24i
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
die innere Wiedergeburt kommen? Wie soll sich da Israel er-
neuen?
Ich könnte diesem Einwände gegenüber darauf verweisen, daß
sich heute unter den Zionisten nur mehr die wenigst Denkenden
von Zion auch eine ausgiebige materiell-politische Hilfe für das
Golus versprechen und könnte mit der Gegenfrage kommen:
Wie, wenn wirklich schon ein jüdisches Kulturzentrum in Pa-
lästina besteht und dieses doch nicht imstande ist, den Schrecken
des Golus zu wehren? Wie soll es trotz dieser Schrecken die
Erneuerung Israels im Golus durchführen? Aber ich verzichte
darauf. Ich kenne ja diese Fragen alle, kenne sie aus meinem
eigenen Gehirne, das doch auch seine materialistische Frohnzeit
mitmachen mußte. Gewiß ist mir auch heute klar, daß ein Volk
nicht gedeihen kann, das nicht in gesunden politischen und öko-
nomischen Verhältnissen lebt, ja ich bin heute noch mehr als je
ein Verehrer peinlichst geordneter Verhältnisse. Ich weiß jedoch
auch, daß diese gesunde Ordnung selbst vom Geiste sich her-
schreibt, der sich als Genius einer Rasse oder eines bestimmten
Volkes oder einer Zeit manifestieren mag, daß sie erst Wirkung
und dann erst Ursache ist. Und ich weiß auch, daß ein geistig
gesundes oder geistig genesendes Volk niemals aus seinen Ver-
hältnissen sozusagen herausspringen will, sondern an ihnen seine
geistgeborene Kraft und Lebenslust mit unbewußter Ausdauer
versucht. So hat es im Grunde selbst das Israel des Mittelalters
gehalten, das den widrigen Verhältnissen, die es umgaben, die
geistige Existenz und ein gewisses Gedeihen abzuringen wußte.
Und das Israel der nahen und der fernen Zukunft wird seine
geistige Gesundheit und seine geistige Stärke dadurch zu be-
weisen haben, daß es seine denn doch gesteigerten Bewegungs-
möglichkeiten benutzt, um sich trotz aller Drangsale nicht nur
zu erhalten, sondern auch zu verjüngen und zu erneuen.
Ich habe es gar nicht nötig, die zukünftige Lage im
Golus in rosigen Farben zu malen. Ich würde damit das viele
Dunkel nicht wegwischen können, das unser noch wartet. Gewiß,
wir werden vielleicht noch viele Jahrhunderte schwer zu leiden
haben. Aber wir werden eben die Augen offen, die Köpfe klar
und die Hände tatbereit halten müssen und halten, um allen den
schwierigen Situationen gewachsen zu sein, um das Golus den
242
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
gegebenen Möglichkeiten entsprechend zu ertragen und zu über-
winden. Und wenn einmal der Genius zu voller Kraft in uns
erwachen wird, dann wird er in seiner siegreichen Majestät nicht
zum geringsten Teile auch die Not und die Mühsal unseres Volkes
hinwegräumen.
Wenn ich nun aber sagen soll, was ich mir unter jener auch
das materielle Leben mittelbar bedingenden Reifung oder inneren
Erneuerung des jüdischen Volkes vorstelle, muß ich zunächst
auf das Verhältnis zurückkommen, das bei ihm zwischen seiner
so stark betonten geistlichen Lebensauffassung und den welt-
lichen Aspirationen, wie sie normalerweise jedem Volke eignen,
besteht. Und wenn ich hier wieder vorzugsweise von dem sprechen
werde, was ich glaube, möge man sich erinnern, was ich ein-
gangs darüber sagte. Es ist nun einmal meine Bescheidenheit
und mein Hochmut zugleich geworden, gerade in derlei großen
Fragen nicht mit allerlei zwingenden Beweisen zu flunkern, son-
dern einfach auszusagen, welche Antwort meine suchende Seele
auf sie gibt.
Nun, ich glaube, daß das jüdische Volk seine weltliche Kraft
einbüßen, aus seiner weltlichen Bahn gestoßen werden mußte,
als der Impuls zu einer geistlichen Volksexistenz plötzlich mit
einer gebieterischen Macht in ihm auftrat, die ihresgleichen nicht
hatte und hat unter allen Völkern der Erde. Ich glaube, daß es
deshalb seinen Staat nicht mit den nötigen Kräftegarantien aus-
stattete, daß sich deshalb seine Religion in der Form des stolzen
Tempeltums nicht behaupten konnte, daß es deshalb zu wandern
begann, als noch niemand es trieb, daß deshalb sein Jerusalem
zweimal zerstört wurde, und daß es deshalb im Golus, was auch
denkbar gewesen wäre, nicht zu einem Helden-, sondern zu einem
Märtyrervolke gezüchtet wurde. Aber ich glaube nicht, daß das
jüdische Volk ewig unter der Wirkung dieses ersten Stoßes stehen
wird. Und ich glaube nicht, daß seine Entwicklung nach der geist-
lichen Richtung eine weltliche mit irgendwelchen Grundlagen
von Macht und Freude durchaus ausschließt. Ich glaube viel-
mehr, daß Geistlichkeit und Weltlichkeit des Wesens, Heiligkeit
und Weltleben im tiefen Grunde keine Gegensätze, sondern
verschiedene Seiten vollkommenen Lebens sind, die sich ergänzen
müssen, um das Leben eben vollkommen zu machen. Ich glaube,
243
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
daß Heiligkeit nicht gelebt werden kann ohne Weltlichkeit und
Weltlichkeit tot ist ohne Gott, und ich glaube, daß dem jüdischen
Volke mit seiner heißen Lebensbejahung weltliche Art, welt-
liches Glück und weltliche Macht adäquat sind und daß seine
Seele unwillkürlich nach nichts anderem strebt, als das Exempel
eines weltlichen Gottesvolkes zu statuieren. Nur daß eben Jahr-
tausende nötig sind, um die nach den gewaltigen Sensationen
der Offenbarung begreifliche Einseitigkeit zu überwinden. Ich
glaube, daß der verzweifelte Kampf des Tempeltums um seinen
Bestand, die gewaltigen Kämpfe der Makkabäer, die entschiedene
Ablehnung des Christentums, die verzweifelten Anstrengungen
der Verteidiger Jerusalems gegen die Römer, endlich die ruhige
Geduld des mittelalterlichen Judentums nichts anderes als Doku-
mente des ewigen Verlangens sind, sich von der erwähnten Ein-
seitigkeit zu emanzipieren.
Ich würde auch die neueren, so vielfach auseinandergehenden
und so vielfach verworrenen Bestrebungen, in Palästina, oder
auf irgendeinem anderen Territorium, oder in der Zerstreuung
selbst Stützpunkte weltlicher Kraft zu schaffen, zu diesen Doku-
menten zählen müssen, wenn ich nur auf den Anklang und das
Echo zu hören brauchte, die diese Bestrebungen in allerdings sehr
geringem Maße bei den gläubigen Massen gefunden haben. Aber
das eben kann ich nicht. Ich erkenne sie ja vielmehr der Haupt-
sache nach als Bewegungen der Intelligenz, jener Intelligenz,
die ohne Rücksicht auf ihre jeweilige theoretische Stellung zur
Assimilation seit dem Ausgange des jüdischen Mittelalters, seit
den Tagen der Haskoloh sich gleich geblieben ist. Und ich weiß
doch, daß seit diesen Tagen das Judentum weit weniger an seiner
alten geistlichen Einseitigkeit, die ja sicher auch nicht zu halten
ist, als an der Rebellion leidet, die seine Flachköpfe angezettelt
haben, um aus dem jüdischen Volke gerade die Heiligkeit, ge-
rade die Gottesvolkschaft, gerade den allereigensten Genius zu
bannen. Wenn diese Leute heute nicht mehr assimilatorische,
sondern quasi nationale Kostüme tragen, so können sie mich
damit über ihren wahren Charakter nicht täuschen, erinnern
mich vielmehr nur um so nachdrücklicher, daß es sich augen-
blicklich weniger um den Kampf gegen die alte, als gegen die
neue Einseitigkeit handelt: um den Kampf gegen diejenigen, die
244
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
die Erhabenheit unseres Volkes zerpulvern wollen oder unbe-
wußt an dieser Zerpulverung arbeiten. Oder wenn man den Beob-
achtungspunkt des Mitbeteiligten aufgibt: überhaupt nicht um
den Kampf, sondern darum, daß die Wiederbesinnung des
jüdischen Volkes auf seine Gottesvolkschaft und die Notwendig-
keit, sie wieder einmal fortschreitend und gestaltend zu be-
tätigen, auf der Tagesordnung steht.
Von diesem Gesichtspunkte aus sehe ich nun vor allem auch
auf die Sprachenfrage.
Gewiß lassen es schon Erfahrungen und Erwägungen ein-
fachster Art als mehr denn unwahrscheinlich erscheinen, daß
Hebräisch jemals noch die gesprochene Sprache des ganzen jü-
dischen Volkes oder auch nur eines größeren Teiles desselben
werden wird. Nirgends ist die gewaltige Kraft zu sehen, zu fühlen,
die die tausende realen Widerstände überwinden könnte. Rein
nationale Empfindung kann auf Grund neuerer Erfahrungen und
Entwicklungen in den Massen die passive Sprachbeharrlichkeit
auslösen, vermöge deren sie an ihrer Muttersprache trotz der
ökonomischen Notwendigkeit, auch eine andere zu beherrschen,
festhalten. Sie kann aber auf Massen, noch dazu eines verstreuten
Volkes kaum so mächtig einwirken, daß sie im Wirbel des öko-
nomischen Lebens soviel Selbstdisziplin und Energie aufbringen,
um eine nicht gesprochene Sprache neben die Sprache des öko-
nomischen Interesses und an die Stelle der übrigens oft auch im
Wirtschaftsleben ausreichenden Sprache der häuslichen Gewohn-
heit zu setzen.
Aber mehr als alle diese Erwägungen gibt den Ausschlag, daß
die völlige Wiederbelebung der hebräischen Sprache ein in seinen
Grundzügen echt maskilisches, echt rationalistisches, schablonen-
haft rationalistisches Ideal ist, das den innersten Lebens- und
Entwicklungsgesetzen des jüdischen Volkes widerspricht und
daher schon von dem Instinkte des Volkes, wie es heute ist, ge-
schweige, wie es in Zukunft durch seine große Wiederbesinnung
werden soll, abgelehnt werden muß.
Das Volk liebt Hebräisch. Gewiß! Aber gerade das nicht mehr
gesprochene, das gebetete und das auf dem Wege religiösen und
religionsgesetzlichen Studiums von Geschlecht zu Geschlecht
weitergepflanzte, teilweise auch weiter entwickelte Hebräisch,
245
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
übrigens einschließlich der talmudisch-aramäischen Sprache. Das
Volk fühlt und wird es früher oder später noch mehr fühlen,
daß es in diesem Hebräisch, gerade durch seine Kanonisierung,
gerade durch seine Verewigung, gerade durch sein Eingehen in
das ewige Leben ein reiches nationalreligiöses Gut besitzt. In
seiner Ehrfurcht vor dieser Ewigkeit und Heiligkeit des He-
bräischen kann das Volk wohl noch Interesse für diejenigen
gewinnen, die sich gedrängt fühlen, weltliche Literatur in he-
bräischer Sprache zu schreiben oder in hebräische Sprache zu
übersetzen, — wobei die Tatsache des Nichtgesprochenwerdens
den Dichtern ohnehin gewisse Grenzen zieht. Aber weiter wird
das Volk niemals gehen, weil es Angst hat und immer heiben wird,
daß durch ein Hebräisch, welches etwa mit dem Ansprüche einer
ausschließlichen oder auch nur vorzugsweisen Literatursprache,
oder gar des Gesprochenwerdens auftritt, seinem Hebräisch, dem
ewigen, dem unsterblichen, Abbruch getan werden könnte. Das
Volk fühlt eben, woher der Wind weht; es fühlt, daß die Idee
des wieder gesprochenen Hebräisch — ganz abgesehen von der
augenscheinlichen Unausführbarkeit des Planes — nichts anderes
ist als ein Glied mehr in der Kette jener Bestrebungen, die be-
wußt oder unbewußt darauf abzielen, das Heiligkeitskapital des
Judentums zu vermindern, sein Erbe aus der großen national-
religiösen Epoche zu verweltlichen, es gründlich zu verphilistern.
Nun ist ja freilich ein derartiges geistliches Gut, wie die
hebräische Sprache, nur als eine Zugabe möglich, die eine in so
eminentem Maße geistlich gestimmte Nation, wie die jüdische
allen anderen Nationen voraus hat. Und als Zugabe kann sie na-
türlich nicht die lebende, zeitlich lebende, kann sie nicht jene
Sprache, die auch die weltlichen Bedürfnisse befriedigt, für
das religiöse Leben entbehrlich machen, zumal, wenn dieses in
eine Epoche der Steigerung und des Aufschwunges eintreten
soll. Hierfür aber kann erst recht nicht ein neues Hebräisch
in Betracht kommen, das man erst mühsam aus der Retorte des
Philologen und philologischen Amateurs in den Mund und Sinn
des Volkes bringen will, sondern nur eben seine Sprache, die
Sprache, die es spricht, die aus seinen verstecktesten, geheimsten
Seelenfasern Zufluß erhält. Und das ist eben für drei Viertel
unseres Volkes — und gerade für jene drei Viertel, die noch
246
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
einzig und allein vollblütiges und keimkräftiges Judentum vor-
stellen, — die gesprochene jüdische Sprache, für die ja insofern
auch schon die ersten Verkünder des Chassidismus Zeugnis ab-
gelegt haben.
Unsere alten und neuen Maskilim, — die assimilatorischen
sowohl als die nationalistischen, die bewußten sowohl als auch
viele, die die maskilische Erbschaft längst überwunden zu haben
glauben, während sie ihnen im Blute liegt, — fanden aller-
dings an dieser Sprache keinen Gefallen. Sie haben ihr sogar
den entehrenden, völlig unzutreffenden Namen „Jargon" bei-
gelegt. Aber das Volk hat ja gar keinen Anteil an dieser kleinen,
zur höheren Ehre des Götzen Haskoloh begangenen Geschichts-
fälschung. Und von ihnen selbst kann doch niemand verlangen,
daß sie in der Herauskristallisierung des Jüdischen aus der
deutschen Sprache die W^irksamkeit der jüdischen Volksenergie
erkennen. Oder daß sie sich etwa gar darüber freuen sollen,
daß uns der Genius unserer Geschichte zwei Sprachen ge-
schenkt hat: Eine ewige, wie sie sich für das ewige Volk
ziemt, und eine zeitliche, mit der es gleich anderen Völkern
Ewigkeit und Zeit auf seine Weise erleben, miteinander im
Leben verbinden kann? Wie sollen sie derlei erkennen und emp-
finden? Dann wären sie ja keine Maskilim mehr, und dürften
nicht mehr Altertum einfach kopieren, dürften nicht mehr neue
Seeleninhalte bagatellisieren, dürften nicht mehr Ewigkeit in Zeit
zurückschmelzen wollen, nicht mehr jungen Kulturtrieben, Kul-
turformen, Kulturwerten mit der Frage nach dem Paßport und
dem Geburtsschein entgegentreten.
Ich bin nun aber kein Maskil, und glaube daher an die Kraft,
Bedeutung und Zukunft der jüdischen Sprache für die geist-
liche und für die weltliche Seite des jüdischen Volkslebens, — für
die weltliche besonders auch als Basis kultureller Schöpfungen
und als Grundlage autonomer Berechtigungen. Und ebenso
glaube ich als Nicht-Maskil an die Kraft, Bedeutung und Ewig-
keit des Hebräischen. Weil ich jedoch beide Sprachen als
Notwendigkeiten vor mir sehe, jede mit ihren Wirksamkeiten
und Kompetenzen, und weil ich überzeugt bin, daß die Haskoloh
nun endlich doch ihrem Ende entgegengeht, glaube ich, daß das
Leben den angeblichen Widerstreit von Hebräisch und Jüdisch
2^7
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
schlichten wird. Ich glaube daran voll und ganz, und mit inniger
Freude, daß ich daran glauben kann.
Ich bin kein Maskil. Ich bin es nicht mehr. Schritt für Schritt
bin ich auf dem Wege von der konstruierten abstrakten Natio-
nalität zur lebendigen, konkreten Volkstümlichkeit vorwärts-
gegangen, bis ich gewürdigt wurde, auch den letzten gehen zu
dürfen. Und diesem letzten Schritte gemäß weise ich hier über-
haupt ein sogenanntes rein Aveltliches Judentum zurück, ebenso
wie ich ein sogenanntes rein geistliches zurückweise. Weder in
dem einen noch in dem andern allein wird sich das Judentum
seinem Wesen nach ausleben. Sein Geist wird nicht eher sieg-
reich sein, ehe er nicht auch auf eine breite, große Weltlichkeit
scheinen, ehe er sich nicht in ihr widerspiegeln und sie als seine
Lebensprojektion ausweisen kann. Und niemals wird das jüdische
Volk, wie es einmal ist, laut dem Genius, der seit unvordenklichen
Zeiten in seine Seele versenkt ist, große, breite Weltlichkeit er-
reichen, wenn es ihm nicht gelingt, von diesem seinen Genius
die letzten Früchte, die tiefsten, reinsten und reichsten Ekstasen
zu gewinnen.
Ich glaube nicht an ein durchaus nach der rationalistischen
Schablone verweltlichtes Judentum, das, wenn es sich wirklich
durchsetzte, nur eine lächerliche Karrikatur, ein hohles, aufge-
blasenes, spreizbeiniges Ding wäre, eine Art Organisation höch-
stens für Verewigung des Journalismus, des Dilettantismus, der
leeren Moralphrase, der klebrigen, süßlichen Geistreichelei, die
uns heute schon genug schänden. Ich fühle vielmehr, speziell
im jüdischsprechenden Judentum, als dem lebendigsten, verant-
wortlichsten Teile des jüdischen Volkes, ruhende Kräfte er-
wachen. Ich höre die verhaltene Stimme der Empörung gegen
die Mißhandlung unseres Genius und glaube voll und ganz an
das wahrhaft Große, das uns bevorsteht.
Nein, der Genius unseres Volkes wird nicht abdanken. Es
wird den Maskilim nicht glücken, den Ewigkeitsatem in uns zu
ersticken, die Schaffensquellen zu verstopfen. Aber es wird auch
nicht bleiben können bei der Ruhe und Schlafseligkeit, der sich
unser geistliches Genie seit so langer Zeit hingegeben hat, und
wodurch jene zu ihrem Vorgehen quasi berechtigt wurden. Das
von Israel Baalschem und seinen nächsten Nachstrebenden verfrüht
248
DAS ERWACHEN DER JÜDISCHEN SEELE
und deshalb mit unzureichenden Mitteln und Horizonten versuchte
und später noch überdies durch den Zaddikismus so gründlich
verdorbene Werk der Verjüngung unserer Ewigkeit der Frucht-
barmachung unserer Heiligkeit, der Heiligung und so einzig mög-
lichen Realisierung unserer Weltlichkeit, wird sicherlich wieder
aufgenommen und zu besseren Ergebnissen geführt werden.
Ich hoffe und glaube, daß in einem großen Sturme der Seelen
unser geistlicher Genius wieder erwachen und in einer mächtigen
Konzeption für Jahrtausende unserem Volke eine neue und un-
geahnte plastische Kraft verleihen wird. Tausend Ströme der
Befruchtung werden aus unbekannten , bisher schutt- und
schmutzbedeckten Tiefen unserer Seele hervorbrechen und sich
gestaltend über unser Gesamtheitsleben und das Leben jedes ein-
zelnen ergießen. Dann werden wir nicht mehr sein die ewig
stümpernden Projektenmacher einerseits, und Spielbälle anderer-
seits in den Händen entfremdeter, entjüdischter ,, Versorger";
nicht mehr sein die öden, selbstgefälligen Journalistennaturen,
nicht mehr sein die naseweisen, beschränkten Ausschroter von
Broschüren- und Enzyklopädienweisheit. Unsere Massen werden
nicht mehr in Sackgassen ohne Horizonte verkümmern und nicht
mehr dem Partei-Idiotismus auf der einen und dem niedrigsten
Opportunismus auf der andern Seite entgegenreifen. Sondern
die Gabe des Bauens, des ahnungsvoll gestaltenden, organischen
Bauens wird uns wieder gegeben sein. Bauen werden wir mannig-
fache politische, kulturelle und ökonomische Grundlagen für die
Erhöhung unserer inneren und äußeren Würde, schaff en Werke
der großen Kunst, pflanzen Freude, Freiheit und Schönheit im
Volke. Und Beispiele !w^erden wir werden für den Weg der
Menschheit zu Gott und zu ihrer inneren Adelung.
Ich übersehe keineswegs, wie verschieden die Gegenwart von
solcher Zukunft ist. Ich sehe den ganzen Jammer unseres Volkes,
den äußeren und den inneren, die Kleinheit der einzelnen und
die Unzulänglichkeit der Gesamtheit. Ich sehe aber auch den
Genius im Volke; ich sehe, wie er auf den Augenblick wartet,
wo er wieder frei werden kann, um neue wunderbare Volks-
und Menschheitswerte zu schaffen. Vielleicht ist dieser Augen-
blick näher als man ahnt. Mich dünkt er jedenfalls nahe, und
ich lebe ihm sehnsüchtig, gläubig und lauschend entgegen.
Sind das Retzergedanken?
Von Gustav Landauer
rLin Kennzeichen unserer Zeit ist, daß vieles im Geiste, aber
wenig in Wirklichkeit fertig wird. Vielleicht entspricht sogar
dem Mangel an tatsächlicher Durchsetzung eine besondere Reg-
samkeit des Geistes, der fortwährend darauf aus ist, seine eigenen
Gestaltungen, ohne daß sie die Form der Phantasie und der
Doktrin verlassen, zu überwinden. Man könnte sich eine also
beschaffene Gesellschaft der Menschen denken, daß die Ideen
in ihr Werkzeugcharakter hätten, d. h. daß sie wie ein Spaten
oder ein Fahrzeug nur im Gebrauch Sinn und Leben hätten und
auch nur durch die Anwendung sich abnutzen könnten. Bei uns
haben die Ideen die Art nicht von dienenden Werkzeugen, son-
dern von Gestalten eines Dramas, das sich in der Luft abspielt:
die Ideen wandeln sich, bekämpfen einander, bringen einander
und sich selber um, setzen natürliche und unnatürliche Kinder
in die Welt, und derweile liegt die Wirklichkeit stumpf und
geistlos da und kommt nicht von der Stelle. Fast unser gesamtes
Parteiwesen ist eine solche dramatische, meist tragikomische Fata
morgana als Ersatz wirklicher Lebensdramatik.
Man betrachte einmal z. B. die Geschichte des Sozialismus von
diesem Standpunkt aus. Ist es nicht die Geschichte einer mit
lebhaften Fiebergesichten verbundenen Gelähmtheit? Fast die
einzige Wirklichkeit, die in dieser langen Geschichte zu gewahren
ist, ist die sogenannte soziale Gesetzgebung, das Arbeiterschutz-
und Versicherungswesen, das der Realpolitiker Bismarck begann.
Die Untätigkeit aber im Lager der eigentlichen Sozialisten ist so
stark, und die Hemmungen, die sie vor allem in sich selber vor-
finden, sind so gewaltig, daß eine eigene Theorie, die Entwicke-
lungslehre der Marxisten, erfunden Averden mußte, damit die
Idee sich selber ui)d ihr eigenes Scheinleben ertrug.
Hier waltet ein Verhängnis über unserer Zeit. Die Ideen, die
in den einzelnen entstehen, sind sozialer Natur, d. h. es ersteht
ein Plan im Geist eines Individuums, der sich aber nur durch-
führen läßt, ja der erst Blut und Nerv gewinnt durch die Be-
teiligung vieler am Beginn. Da kommt Theodor Hertzka oder
Silvio Gesell oder Franz Oppenheimer oder Josef Popper nach
intensivem Miterleben unserer drückenden und beschämenden
25o
SIND DAS KETZERGEDANKEN?
Zustände, und jeder von einem andern Erleben, Denken und
Wünschen her sagt schlicht, klar, eingehend, was zu tun, gleich
jetzt zu tun sei. Aber sie haben in die Luft gesprochen, und ihr
ganzer Erfolg wäre etwa, daß ihre Anhänger einander gegen-
seitig totreden.
Möglich, daß dieser Zustand eine Blüte starker Kunst herbei-
führt. Denn produktiv geladene Naturen, die solche Verein-
samung erleben, mögen schließlich erkennen, daß der Gegen-
satz zwischen der individuellen Form und dem sozialen Inhalt
ihrer Idee die Schuld an dem tragischen Mißverhältnis trägt.
Schöpferisch und aktiv wie sie sind, mag ihnen nichts übrig
bleiben, als in ihre Idee die Erfüllung mit hineinzunehmen und
also allein in der Phantasie zu vollbringen, was in Wirklichkeit
nur die vereinte Kraft stark Fortgerissener tun könnte.
Ich glaube zu gewahren, daß auch die Idee der Erneuerung
des Judentums keinen andern Gang geht als diesen. Noch ist
nicht der kleinste Anfang einer Verwirklichung da, und schon
nimmt der Parteienkampf alles vorweg, was irgend an Wirk-
lichkeiten aufeinander folgen könnte. Man nehme alle Parteien,
die es in irgendwelchen Nationen gibt, und sehe zu, ob die
jüdische Nation, die noch gar keine äußere Gestalt hat, nicht
noch ein paar mehr hat als sie alle zusammengenommen. Kenn-
zeichnend für das, was hier Partei genannt wird, ist eine Art
masturbierende Selbstbefriedigung der sogenannten Bewegung
in sich selbst; die Partei ist wie ein Binnensee, in den die Idee
eingeströmt ist, aus dem sie aber nicht wieder hervorkommt.
Die Aktivität der Idee verwandelt sich so in die unpsychologische
und lieblos verketzernde Unduldsamkeit der Partei. Haben nun
die andern Nationen wenigstens das Scheingebilde ihres Staates,
so daß sich die Politik, der Schein der Wirklichkeit, aus all
dem Streit der Unfruchtbarkeit ergibt, so geht der Schemen-
kampf der sich selbst verzehrenden jüdischen Ideologie in noch
dünnerer Luft vor sich: es wird um Auffassungen, um ein un-
endlich variables und variiertes ,,Wenn ..." gestritten. Welches
soll die Sprache sein, wenn wir in Zion sind? Welches werden
die gemeinsamen Sitten und Bräuche sein? Ich zweifle nicht,
daß schon irgendwo untersucht worden ist, ob die Schweinezucht
zulässig sein wird.
25l
SIND DAS KETZERGEDANKEN?
Dazu kommt noch ein sehr Wichtiges. Je stärker wir uns
unserer jüdischen Nationalität bewußt werden, um so mehr
werden wir uns ihrer als einer Tatsächlichkeit bewußt, die erst
dann volles, schönes, strömendes und all unser Wesen erfüllendes
Leben hat, wenn wir es nicht mehr nötig haben, sie mit dem
Bewußtsein zu halten und zu umklammern. Die starke Betonung
der eigenen Nationalität, auch wenn sie nicht in Chauvinismus
ausartet, ist Schwäche. Schreibt ein Deutscher über die Ro-
mantik oder den Sozialismus oder die Erhaltung der Energie, so
schreibt er eben über die Romantik oder den Sozialismus oder
die Erhaltung der Energie. Der bewußte Jude schreibt über. Ro-
mantik und Judentum, über Sozialismus und Judentum, über
die Erhaltung der Energie und das Judentum und auch noch
über das Radium und das Judentum, Aber auch hier geht der
Kreislauf der Idee, im Geiste verharrend, ohne eine Verwirk-
lichung äußerer Art auch nur zu berühren, rasch vor sich. Schon
sind wir dieser unausgesetzten Betonung dessen, was nur wahr
und wertvoll ist, wenn es selbstverständlich ist, müde. Schon
erkennen wir, daß unser Judentum zu den Dingen göttlichen
Unwissens gehört, von denen Meister Eckhart sagt: ,,Der
Mensch ist, das muß wahr sein, ein Tier, ein Affe, ein Tor, so-
lange er im Unwissen verharrt. Das Wissen aber soll sich formen
zu einer Überform, und dies Unwissen soll nicht vom Nicht-
wissen kommen, vielmehr: vom Wissen soll man in ein Un-
wissen kommen. Dann sollen wir wissend werden des göttlichen
Unwissens, und dann wird unser Unwissen geadelt und geziert
mit dem übernatürlichen Wissen!" Uns allen war es Bereiche-
rung und Erhöhung und Befestigung unserer Tatsächlichkeit, als
wir anfingen, mit vollem Bewußtsein Juden zu sein. Aber jetzt
sind wir es so sehr, daß wir wissen: wir sind es in jeder geistigen
und seelischen Regung und Tätigkeit, und sind es dann am
wenigsten, wenn wir das Judentum für sich allein betonen.
Nation ist eine Bereitschaft oder Disposition, die dürr und hohl
und klappernd wird, wenn sie ohne Verbindung mit der Sach-
wirklichkeit, mit Aufgaben und Arbeiten auftritt und wenn sie
anderes ist als deren Ursprung und Tönung.
Noch mehr also kommt dazu. Keiner, der eine Aufgabe in sich
spürt, die ihm die Frage, wozu er lebe, erspart, vermag es, in
202
SIND DAS KETZERGEDANKEN?
suspenso zu leben. Man wirkt aus dem Grunde seiner Nationalität
heraus für eine Sache, die wohl verschiedene Verzweigungen und
Benennungen hat, aber in aller Vielfältigkeit die Sache der
Menschheit ist, die zur W^irklichkeit werden soll. Wiewohl für
diesen Kampf und Aufbau all das gilt, was eben über die Selbst-
verzehrung der Idee gesagt worden ist, gibt es doch eine Schar
von solchen, die sich bereit halten und als Zusammengehörige
fühlen. Nicht nur, daß sie aus allen Nationen kommen und sich
eins und neu fühlen; zu wenig gesagt; sie fühlen sich so durch
das Band des Geistes verbunden und von denen, die nicht mit-
gehen, getrennt, wie wenn sie eine neue Nation wären. Und sie
nehmen das Beste, was sie von ihrer alten Nationalität fühlen,
mit in diese neue auf. In jedem Volk sind heute entscheidende
Trennungen zwischen den Vielen und den W^enigen; und dieser
Riß geht durchs Judentum wie durch die andern Völker. In der
neuen Nation, die im Werden ist, sind freilich eine überwiegend
große Zahl Juden; aber diese Juden fühlen sich als Einheit, als
einen Bund, der seinen Beruf an der Menschheit zu erfüllen
hat; und je mehr sie das in sich spüren, um so mehr ist für sie
Zion schon lebendig. Denn was anders ist die Nation, als ein
Bund solcher, die von verbindendem Geist geeint in sich eine
besondere Aufgabe für die Menschheit spüren? Nation sein heißt
ein Amt haben.
Was da geschildert wird, ist ein neues Gebilde, etwas wie eine
werdende Nation, die sich als neue Gemeinschaft zum Aufbauen
der Anfänge einer gerechten, einer schöpferische Kräfte ent-
fesselnden freien Gesellschaft empörerisch allen alten National-
staaten, dynastischen Staaten, Unrechts- und Gewaltstaaten ent-
gegenwirft. Sie, die so das Werdende in sich spüren und das
Schaffende aus sich loslassen wollen, sind bewußt Abgesonderte,
die all das uralt heilige Gut der individuell nationalen Organi-
sation ihrer Leiblichkeit und Geistigkeit in den Dienst ihrer vor-
bildlichen Arbeit an der Menschheit stellen, die durch sie Wirk-
lichkeit werden soll. Die Bewußtheit und Betonung dieser, dieser
erst werdenden Nation ergibt sich als immer frische Notwendig-
keit, weil hier erst aus dem Geiste eine Wirklichkeit wachsen
soll. Wir Juden nun, die wir geworden werdende Juden sind,
können da nicht zweierlei und getrenntes in uns finden; die neu
253
SIND DAS KETZERGEDANKEN?
werdende Als-ob-Nation, von der hier gesprochen wird, und das,
was uns eint, wenn wir aussprechen wollen, was wir als Juden
sind, das beides ist ein und dasselbe. Wir haben uns abgetrennt
und finden uns beisammen; der Dienst an der Menschheit treibt
uns und unser Geist lechzt, mehr und anderes zu werden als
Geist: Gesellschaft, Volk, Körperschaft, Organismus. So daß,
je mehr wir unsere Nation aus der verborgenen Stille bloßer
Tatsächlichkeit zu Worten des Willens und der Wandlung er-
heben, je mehr wir bewußte Juden werden, die unter Judentum
unser Wesen verstehen, Judentum für uns zusammenfällt mit
einer sachlichen Richtung einer Erfüllung zu. Je völliger und
reiner und wirklichkeitsgesättigter wir dies unser Wesen und
Drängen und Wissen und Bereiten aussprechen, um so zuge-
höriger werden sie aus allen Nationen zu uns stoßen und uns
in liebevoller Gemeinschaft beibringen, daß das uralt Gewordene,
das wir aus unserer Seele emporheben, der Weg der werdenden
Menschheit ist, daß unserer gemarterten und sehnsuchtsvollen
Herzen Tradition nichts anderes ist als die Revolution und Re-
generation der Menschheit. Wie ein wilder Schrei über die Welt
hin und wie eine kaum flüsternde Stimme in unserem Innersten
sagt uns unabweisbar eine Stimme, daß der Jude nur zugleich
mit der Menschheit erlöst Averden kann und daß es ein und das-
selbe ist: auf den Messias in Verbannung und Zerstreuung zu
harren und der Messias der Völker zu sein.
Nation sein heißt ein Amt haben; und wo mein Amt ist, da
ist mein Vaterland. Haben wir Abgesprengte als unser Judentum
den Dienst an der Umwandlung der Gesellschaft, an der Be-
gründung neuen Volkes und allererst neuer Menschheit entdeckt;
haben wir gefunden, daß wir, im Suchen nach unserem inneren
Wesen, der grenzenlosen und schrankensprengenden Erneuerung
der Völker durch die Abstreifung oberflächlicher Gewaltbe-
ziehungen und die Durchsetzung echter freudig-liebevoller Ge-
meinschaft begegnet sind; haben wir staunend und beglückt als
das urältest in uns Versenkte nichts anderes als all die ungeheuer
mächtigen und innigen Triebkräfte der Reinigung zum Licht
gehoben, — wer, der soweit ist, wer also, der der Dumpfheit
entronnen, sich selbst vor Augen sieht und in der Hand hält als
einen, der soll und will, wer wollte da nicht als den Ort seines
254
SIND DAS KETZERGEDANKEN?
Wirkens die Welt erkennen und als seine Welt die Gegenwart,
in der es zu wirken gilt?
Kein rechter Mensch vermag es, sich nur als Brücke für
kommende Geschlechter, als Vorbereitung, als Same und Dung
zu wissen; er will selber etwas sein und leisten. Mag sein, daß
die Muttersprache irgendwelcher aus meinen Lenden entspros-
senen Nachkommen hebräisch sein wird; es rührt mich nicht;
meine und meiner Kinder Sprache ist deutsch. Mein Judentum
spüre ich in meiner Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner
Haltung, meinem Aussehen und so geben diese Zeichen mir die
Gewißheit, daß es in allem lebt, was ich beginne und bin.
Weitaus mehr aber — sofern es da ein Mehr gibt — als
Chamisso der Franzose ein deutscher Dichter war, bin ich,
der ich ein Jude bin, ein Deutscher. Deutscher Jude oder russi-
scher Jude — diese Ausdrücke empfinde ich als schief, ebenso
wie jüdischer Deutscher oder Russe. Ich weiß da von keinem
Abhängigkeits- oder Adjektivitätsverhältnis; die Schickungen
nehme und bin ich, wie sie sind, und mein Deutschtum und
Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb. Wie zwei
Brüder, ein Erstgeborener und ein Benjamin, von einer Mutter
nicht in gleicher Art, aber im gleichen Maße geliebt werden,
und wie diese beiden Brüder einträchtig miteinander leben, wo
sie sich berühren und auch, wo jeder für sich seinen Weg geht,
so erlebe ich dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als
ein Köstliches und kenne in diesem Verhältnis nichts Primäres
oder Sekundäres. Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, mich zu
simplifizieren oder durch Verleugnung meiner selbst zu uni-
fizieren; ich akzeptiere den Komplex, der ich bin, und hoffe noch
vielfältiger eins zu sein als ich weiß.
Da ich aber jetzt lebe und wirke, also auch als Jude jetzt bin
und tue, was zu tun mir obliegt, kann ich mich innerlich nicht
auf eine Sache bereiten wollen, kann den Willen zu einer neuen
Vorkehrung nicht in mir finden, die einen Teil meines Wesens
auslöschen oder hemmen würde.
Andere sind anderer Herkunft und haben anderes zu be-
schreiben. Sie mögen es so auf richtig tun wie es hier geschehen ist.
Noch wieder andere sind jetzt dabei, unsereins beibringen zu wollen,
wir seien eine Halbheit und ein Mischlingsprodukt und müßten
255
SIND DAS KETZERGEDANKEN?
uns in Demut vor den östlichen Juden, den wahren Juden, beugen.
Wer so geschwächt ist, daß er sich selber die Existenzberech-
tigung abzusprechen meint, soll nicht aufgehalten werden. Wir
in unsrer Besonderheit und Vielfältigkeit werden unsre östlichen
Brüder als ebenfalls, wennschon in anderen Abstufungen, Viel-
fältige erkennen. Russische oder polnische Juden gibt es nicht,
wohl aber zumindest dreifach mit Nationalität Gespeiste: denn
sie, die Östlichen, sind Juden und sind Russen oder Polen oder
Litauer und sind Deutsche eines besonderen Schlages (Mittel-
hochdeutsche, Jiddisch-Deutsche) zugleich. Trotz allen Ver-
folgungen und Entbehrungen fühlen sich die aus Rußland
stammenden Juden, wenn sie bei uns wohnen, wie heimatlos und
im Elend, nicht bloß und oft nicht in erster Linie, weil sie unter
uns die ihnen gewohnten jüdischen Bräuche vermissen, sondern
weil ihnen das russische Milieu, die spezifisch russische Güte
und Weichheit fehlt; und wenn sie nicht die russische Zigarette
und den Samowar und manche Einrichtung russischen Gemein-
schaftslebens auch bei uns haben könnten, vermöchten sie es nicht
bei uns auszuhalten.
Mag sein, daß eine Entwicklung kommt, die das Jüdische so
um sich greifen läßt, daß unser Deutschtum, jener Russentum
erdrückt wird; mag sein, daß ein hebräisches Judentum kommt,
das das jiddische vertilgt. Bloß — wer, der sich zu sich selbst be-
kennt, wer, der sich in all seiner Vielfältigkeit als eins und
einmalig, als an seiner Stelle zum Dienst an der Menschheit
berufen fühlt, kann es wünschen und herbeiführen wollen?
Nur die Doktrinäre könnten es wollen; doktrinär ist, wer
das Eine so für das All nimmt, daß er die andern Offen-
barungen des Einen mißachtet und unterdrückt; wehrt sich
aber nicht gerade, was wir jüdisch in uns finden, gegen die
kalte Lieblosigkeit und das dumme Verstandestum des Doktri-
narismus?
Nur geworden-werdendes lebt; nur wer in seiner Gegenwart
und Wirklichkeit Vergangenheit und Zukunft in eins begreift,
nur wer sich selber, wie er wahrhaft und ganz ist, mitnimmt auf
die Reise nach seinem gelobten Land, in dem nur scheint mir das
Judentum ein lebendiges Gut zu sein. Die Nationen, die sich zu
Staaten abgegrenzt haben, haben draußen Nachbarn, die ihre
256
SIND DAS KETZERGEDANKEN?
Feinde sind; unsere Nation hat die Nachbarn in der eigenen
Brust; und diese Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit
in jedem, der ein Ganzer ist und sich zu sich bekennt. Sollte
das nicht ein Zeichen sein des Berufs, den das Judentum an der
Menschheit, in der Menschheit zu erfüllen hat?
17
267
Jüdische Kunst
Von Moritz Heimann.
rLs gibt jüdische Künstler; das sind Künstler, die Juden sind;
oder Juden, die Künstler sind. Jeder Fall der Art ist ein einzelner
Fall. Die Kunst selbst — die nach dem wahren Sprichwort lang,
indessen das Leben kurz ist — hat göttliche Macht genug, dafür
zu sorgen, daß jeder, der ihr verfällt, vollauf damit zu tun hat,
ihr Gebot zu erfüllen. Wenn die Stunde des Ermattens Zaudern,
Zweifel und schlechtes Gewissen bringt, so wird der Künstler
daraus, daß er Jude ist, sich das Gift so gut saugen, wie aus
jeder andern Tatsache seines Schicksals, und wird auch dieses
Gift, wie ein anderes, zu einem heilsamen oder einem zerstören-
den machen, je nach dem Glück und der Kraft seines Geistes.
Immer bleibt es ein einzelner, ein besonderer Fall. Wie sehr
der zuschauende Müßiggang oder die ungebetene Wissenschaft
es zu einem generellen Fall machen möchte, der Künstler selbst
wird niemals damit einverstanden sein. Er wird nie erlauben,
daß ein ewig unentscheidbares Verhältnis von kurzer Hand
entschieden werde, das nämlich zwischen dem einzelnen
Willen des Künstlers und seiner unendlichen Verpflichtung
gegen die Jahrtausende, die ihre Sprache, Fertigkeiten und
Verwandlungen in das große Element geleitet haben, das ihn
trägt.
Hiergegen sich wehren, heißt den Fluß bergan treiben — eine
Beschäftigung für Don Quixote, der übrigens ein ehrenwerter
Mann ist. Kein jüdischer Künstler von heute hat eine so allgemein
als rassig anerkannte Physiognomie, wie Liebermann; keiner ist
über den Verdacht der würdelosen Assimilation so erhaben;
aber wenn er malt, hat er ein ,,treu holländisch" Auge. Wer
in seinen Bildern den Juden sieht, Bartels von hüben und Bartels
von drüben, betrügt sich, wie der Lichtenbergsche Neunmalkluge:
Wenn man weiß, daß einer blind ist, glaubt man, man sieht es
ihm von hinten an. Hebbel, der über jedes Ding auf Erden, das
ihn angeht, spricht, spricht von keinem so wenig wie von seinem
Dithmarschentum ; das blieb seinem Landsmann vorbehalten —
wir wollen uns vor derlei Landsmannschaft hüten.
Aber lassen wir die Beispiele, und lassen wir die Künstler. Die
junge jüdische Bewegung sorgt um das weitere Problem, sie dis-
258
JÜDISCHE KUNST
kutiert eine jüdische Kunst; fragen wir uns also, ob eine solche
möglich sei, das heißt: welches Merkmal ihr zukäme.
Nicht der jüdische Stoff an sich würde ihr den Charakter
geben; der altjüdisch heroische nicht, der Gemeingut aller Lite-
raturen ist; aber auch der moderne nicht, der die betreffenden
Werke immer nur zu Spezialfällen einer sozialen Kunst zu
machen imstande ist. (Auch ein Thorarollenschreiber von Israels
ist nur eine besondere Art von altem Manne.) Die Form wiederum
manifestiert, so bald und so lange die nationale Gebundenheit
nicht mehr eng ist — das gilt nicht bloß für Juden, sondern
allgemein — in so hohem Grade das bloße Individuum, daß sie
kein Kriterium für die Nationalität abgibt. (Wenn man von
sonstwo wüßte, daß Hebbel ein Jude sei, so würde man in seiner
Form nichts als Bestätigung dafür lesen; und bei Wagner erleben
wir es ja, daß er für die einen der Überdeutsche ist, während er
für die andern schon ,,judenzt", jenachdem, ob man die bekannte
Hypothese über seine Abstammung glaubt oder nicht.)
Junge, provisorischer und unklarer Zustände müde Juden
haben die unausbleibliche Paradoxie der jüdischen Kunst ein-
gesehen. Unter den Heilmitteln, auf die sie verfielen, ist das
kühnste und auf den ersten Blick radikale, daß sie nun hebräisch
auch lernen, um hebräisch zu schreiben. Die Frage ist, ob man
in einer erlernten Sprache anders als künstlich, nachahmend, ja
unbewußt travestierend dichten kann; oder ob die Sprache stark
genug ist, ihr Gesetz, ihren Willen und ihre Vergangenheit über
alle sonstige Vergangenheit siegen zu lassen. Sie müßte in diesem
Falle sogar noch imstande sein, den Pinsel des Malers so gut wie
den Meißel des Bildhauers und die Höhlung eines Saiteninstru-
mentes zu verändern. Vielleicht könnte sie das sogar; und außer
denen, die sie erst lernen müssen, gibt es ja längst die vielen, die
sie von Hause aus beherrschen und, wie die Sachverständigen uns
belehren, immer lebendiger sprechen und schöpferischer schrei-
ben; aber auch diese alle mitgezählt, hätten wir zwar eine he-
bräische Literatur, doch immer noch keine jüdische Kunst.
Schließlich: als die Juden aramäisch und griechisch sprachen,
ging ihre besondere Produktivität nicht verloren; die verlorene
wiederzufinden, wird es nicht ausreichend sein, hebräisch zu
sprechen.
259
JÜDISCHE KUNST
Denn der Gehalt der Kunst wird durch Stoff und Form nicht
ausgemacht. Es ist in ihm noch ein besonderes geistiges Element,
das mehr darin besteht, zu wem die Kunst spricht, als über was
und wie sie spricht. Zu wem also würde eine jüdische Kunst zu
sprechen haben? Zu Juden natürlich. Aber, wenn ein heutiges
Theaterpublikum nicht nur zu Neunzehnteln, sondern vollständig
aus Juden bestünde, wenn alle Schauspieler, alle Textverfasser
nebst dem Komponisten der Operette Juden wären, so würde das
doch hoffentlich nicht eine jüdische Kunst ergeben. Die würde
sich nicht an zufällig zusammengelaufene, sondern an notwendig
zusammenhängende Menschen wenden. Und solche finden sich
ausschließlich im geordneten, durch Festtage eingeteilten Leben
der Gemeinde. So wie allein im Schutzbezirk des Gemeinde-
lebens der Jude sich nicht am fremden Werte mißt und keinen
Haß und keine Verachtung zu verderblicher oder heilsamer Ver-
wirrung in die einzelne Seele dringen läßt, so kann einzig die
jüdische Gemeinde die Realität sein, zu der eine jüdische Kunst
sprechen, und also existieren könnte. Vom schlichtesten und
schläfrigsten Sonntagskirchentag eines kleinen Dorfes bis zu den
großen Chorwerken Bachs gibt es immer noch eine Verbindung.
Ein jüdischer Musiker könnte aus dem Sabbatabend und dem
Versöhnungsabend Gebilde schaffen, die wiederum ihren Ur-
sprung heiligten. (Es genügt nicht, eine synagogale Melodie für
das Cello zu verarbeiten.) Die Thorarollen sind mit Schmuck
und Stickereien geehrt, — da sind Aufgaben für das Kunsthand-
werk. Es wäre zu denken, daß ein jüdischer, für das Drama be-
gabter Mann das Purimfest zum Anlaß nimmt, Stücke zu dichten,
die aus der Lebens- und Maskenfreude des Tages geboren sind
und ihr anheimfallen.
Ich sage den jüdischen Künstlern nicht, daß sie dieses alles
tun sollen. Aber all ihr Theoretisieren wird unnütz sein, solange
sie es nicht tun. Nur auf diese Weise könnte es eine jüdische
Kunst geben; andernfalls haben wir immer nur einen mehr oder
weniger umstrittenen, mehr oder weniger wertvollen Anteil der
Juden an der Kunst.
360
Der jüdische Dichter deutscher Zunge
Von Max Brod
Ich möchte zu diesem schwierigen Thema einige noch sehr
im Flusse befindliche Gedanken notieren, ohne die Prätention
endgültiger Formulierung.
Die Fähigkeit zu großer dichterischer Gestaltung und zu naivem
Gefühl wird von vielen modernen Theoretikern den Juden über-
haupt abgesprochen. Schon dies veranlaßt vielleicht den Dichter,
der sich als Jude fühlt, Beziehungen zu den Leistungen der
jüdischen Literatur zu suchen. Denn allein mit seinen Werken
wagt er der Schneide eines solchen Urteils gar nicht entgegen-
zutreten. Die Vertrautheit mit dem biblischen und nachbiblischen
hebräischen Schrifttum belebt alle heroischen Kräfte im jüdi-
schen Dichter. Daneben bleibt es ein ungeheures Erlebnis, mit
der neuen jiddischen Literatur bekannt zu werden und zu sehen,
daß dort, wo wir Volk sind, die volkstümliche Naivität allsobald
sich einfindet, — Es bleibt von dem Urteil der oben erwähnten
Theoretiker kein Hauch übrig.
Von biblischer Größe und ostjüdischer Einfachheit erschüttert,
reiht sich der national empfindende jüdische Dichter in die
jüdische Literatur ein. Ein Konflikt entsteht, wenn er sich in
deutscher Sprache, mit dem von deutscher Gefühlsarbeit durch-
pulsten Wortschatz und im Ausschwingen einer deutschen Lite-
raturbewegung schaffen sieht. Das Volk, an dessen Sprache ich
weiterwebe, kann mir nicht fremd sein.
Eines ist sicher: Dieser Konflikt verschwindet nicht durch
Bagatellisieren, Nicht-Beachtung.
Der Dichter kann sein Nationalgefühl ausstreichen. Aber nur
um den Preis, in seiner ganzen Persönlichkeit ein unkompletter
Mensch zu werden.
Der andere mögliche Weg scheint ehrlicher und schöner (denn
der dritte einer assimilatorischen Erlangung deutscher Nationali-
tät ist wohl überhaupt nicht vorhanden): durch Vertiefung des
eigenen jüdischen Nationalgefühls wie von einer ungewollten,
ungeahnten Seite her auch fremde nationale Begeisterung anderer
Völker plötzlich zu verstehen. — Die Beziehung zur deutschen
Literatur ist dann dadurch gegeben, daß der jüdische Dichter
die einzelnen Persönlichkeiten der deutschen Literatur aus seiner
261
DER JÜDISCHE DICHTER DEUTSCHER ZUNGE
allgemeinen Kunstliebe heraus erfaßt, daß er aber außerdem die
innerlichste Einbettung dieser Großen in ihr Volksgefühl, gleich-
sam die Nährflüssigkeit um sie herum durch Analogie mit seinem
eigenen Volksempfinden miterlebt.
Im einzelnen ergeben sich natürlich die seltsamsten Wider-
stände. — Die rein sprachliche Seite schon. Nicht die geringste;
— denn jedes Wort, jeder Teil der Form wird dem Dichter ernst-
haftester Inhalt. Ist es nun möglich, daß ein Jude jemals die
Sprachgewalt Gerhart Hauptmanns oder Robert Walsers, die
gegenwärtig wie an der Quelle deutscher Wortbildung zu sitzen
scheinen, erlangt? Oder ist es für ihn anständiger, auf Archais-
men und Neufindungen überhaupt zu verzichten, da es nicht das
Erbe seiner Ahnen ist, das er verwaltet, sondern fremder Besitz?
— Es ist meine Meinung, daß auf dem Wege tiefer jüdischer
Nationalempfindung dem jüdischen Dichter deutscher Zunge
zum erstenmal Zutritt zum wahren deutschen Volksgeist ermög-
licht wird, daß er erst auf diesem Wege des Gewichtes nationaler
Sprachwerte und der Verantwortlichkeit für ihren reinen Ge-
brauch sich voll bewußt wird. Die Freude am eigenen Volkstum
ist der Freude an fremdem Volkstum verwandter als die ver-
suchte Erschleichung fremden Volkstums. — Zwei Worte in
neuer Richtung zusammenzusetzen, beispielsweise, diese echt
deutsche Wortneubildung kann dem national- jüdisch empfinden-
den Dichter legitim gelingen; er wird auch aus der frischen
Mundart, die ihn umgibt, glücklich entlehnen dürfen. Denn er
hat Volk in sich.
Nur allzu schnelle Verzweiflung wird das, was heute deutsch-
schreibende Juden in Worte fassen, für puren Übergang, un-
organische Arbeit halten, für Unika, deren jüdischer Geist erst
in hebräischer Übersetzung aufleben würde, für künstliche Ge-
bilde, deren Vorzug bestenfalls eine abstrakte unschöpferische
Sprachrichtigkeit wäre.
Auch das Problem des Stoffes für den deutschdichtenden
Juden ist kompliziert. Die Beschränkung auf jüdische Stoffe
wäre natürlich Mißverständnis. Ich glaube aber, daß der jüdische
Dichter mit Selbstverständlichkeit in denjenigen Figuren, die er
von innen erleuchtet, meist Juden darstellt. So auch der Lyriker
im „Ich" seiner Verse. Auch von außen her, also rein episch,
262
DER JÜDISCHE DICHTER DEUTSCHER ZUNGE
treten an diesen Dichter nebst anderen zahllose jüdische Per-
sonen und Zustände heran, mit der Forderung, dargestellt zu
werden. Es wäre klein, wollte man nur die Darstellung idealer
jüdischer Zustände vom Nationalgefühl des Dichters erwarten,
also etwa nur die Darstellung jüdischer Ekstase, oder nur jener
Hauptprobleme, die als ,, Taufe" oder „Zionismus" oder „Assimi-
lation" auch dem Nicht-Juden sichtbar im Vordergrund des heuti-
gen jüdischen Lebens stehen. Diese ganz krassen Konflikte interes-
sieren dichterisch vornehmlich den, der in seinem jüdischen Natio-
nalgefühl noch Neuling ist. Dem Eingeweihten eröffnen sich die
tausend Schattierungen der Judenseele; er ist mit ihren Haupt-
konturen so vertraut, daß er zartere Details formen kann, ohne
die Hauptlinien zu stören. Das Gigantische der neuen Bewegung
ist ihm selbstverständlich, weil er in ihrem Kern und nicht am
Rande ist. Ein solcher Dichter hat sein zukunftsvolles Judentum
so fest in sich, daß er sich nun auch zu gefährlichen Ghettotypen
in Beziehung setzen kann. Auch der Galuth ist epischer Stoff,
auch das bröckligste Westjudentum beschreibenswert. Man hat
meine Romane „Jüdinnen" und „Arnold Beer" gerade in natio-
naljüdischen Kreisen vielfach so mißverstanden, als hätte ich
keinen Blick für die höchsten Ziele der Renaissancebewegung,
während mir scheint, daß ich in diesen Büchern gerade aus Ziel-
festigkeit die Diskussion über das Ziel ganz ausschalten und
damit den echten jüdischen Roman, dessen Stärke nicht der Kon-
flikt, sondern das Dichterische in ihm ist, mitbegründen konnte.
Überflüssig zu sagen, daß ich auch die nationale Begeisterung,
die mystische Versenkung in die Tiefen des Judentums für her-
vorragende dichterische Stoffe halte. Aber auch das unauffällige,
gleichsam mittlere, schon halbverfälschte, bedauerliche Juden-
wesen kann dem liebenden Blicke aufblühen. Nicht nur das
Judenproblem: der ganze Jude ist mir dichterisches Problem.
Womit nicht geleugnet sein soll, daß für die Tat und Politik
alles Zwischenstufenhafte und Zwittrige dem ganz großen Ideal
des reinen Volkes ohne weiteres zu opfern ist.
263
AUS ALTEN BÜCHERN
In Bethlehem, in Jerusalem und in Rom
Fünf messianische Texte, zusammengestellt von M. J. bin Gorion
I.*)
Hjlnstmals war Elia der Seher seines Weges gegangen — es
war an dem Tage, da der Tempel zerstört wurde — und hörte
eine Stimme rufen und klagen: Vernichtet wird das Haus des
Herrn. Des Königs Söhne werden in Gefangenschaft geraten, die
Frau des Königs wird eine Witwe werden! Wie Elia dies ver-
nahm, gedachte er die ganze Welt zu zerstören. Er ging weiter
und sah die Leute im Felde noch ackern und säen. Da sprach er
zu ihnen: Gott der Herr zürnt seiner Welt und will sein Haus
zerstören und seine Kinder unter die Völker vertreiben, und ihr
habet euer Tagewerk im Sinn. Da erscholl eine Stimme vom
Himmel, die rief: Laß sie gewähren, denn schon ist Israel sein
Erlöser geboren. Sprach Elia: An welchem Orte ist er geboren?
Und es ward ihm zur Antwort: Zu Bethlehem im jüdischen
Lande.
Und Elia begab sich nach Bethlehem. Da er dorthin kam,
fand er ein Weib an der Türe ihres Hauses sitzen, und vor ihr
lag ein Knäblein, noch blutig vom Mutterleib. Da fragte sie Elia:
Tochter, so hast du einen Sohn geboren? Sprach das Weib: So
ist es. Sprach Elia weiter: Warum hast du ihn da aber im Blute
liegen lassen? Sprach das Weib: Ach, ob des Unglücks! Ist
er doch an dem Tage geboren, da das Haus Gottes zerstört wurde.
Da sprach Elia: Tochter, steh auf und nimm den Knaben zu dir,
daß du ihn pflegest, denn durch ihn wird dereinst großes Heil
euch zuteil werden. Und er gab ihr Kleider und Kleinode, daß
sie den Knaben schmücken solle; aber sie wollte nichts an-
nehmen. Sprach der Seher: Nimm es nur, nach Tagen komme
ich wieder und hole mir den Preis. Da ergriff das Weib den
Knaben und hob ihn auf.
Und der Seher verließ den Ort und wanderte weiter fünf Jahre
lang; und wie diese Zeit um war, sprach er zu sich: Ich will
hingehen und will nach dem Erlöser Israels schauen, wächst
er als ein König auf oder als ein Engel Gottes. Und er ging
*) Nach einer Kopie der Prager Handschrift des Beregith Rabbati, Besitz A.
Epstein, Wien, zitiert bei Raymundi Martini: Pugio Fidei, Lipsia u. bei Is.
Abravanel: Jesuoth Mesiho II!
267
IN BETHLEHEM, IN JERUSALEM UND IN ROM
hin nach Bethlehem und fand abermals das Weib vor der Türe
ihres Hauses sitzen, und wieder lag der Knabe vor ihr. Sprach
Elia: Tochter, v^as ist mit deinem Sohn? Sprach das Weib:
O Herr mein, sagte ich's dir nicht schon einmal, daß er zu Un-
glück geboren ward; war es doch der Tag, da der Tempel zer-
stört wurde. Und siehe auch das: Füße hat er und kann nicht
gehen, Augen hat er und kann nicht sehen, Ohren hat er und
kann nicht hören, einen Mund hat er und kann nicht sprechen,
und immer liegt er da gleichwie ein Stein.
Da aber das Weib noch redete, kamen Winde von allen vier
Seiten der Welt, trugen den Knaben fort und warfen ihn ins
Meer. Da zerriß Elia seine Kleider und raufte sich die Haare,
schrie und rief: Wehe, dahin ist das Heil Israels! Aber abermals
erscholl eine Stimme vom Himmel und rief: Dem ist nicht so,
wie du meinest, sondern vierhundert Jahre wird der Messias im
Meere bleiben; achtzig Jahre wird er an dem Orte wohnen, wo
die Rauchwolken der Kinder Korahs steigen; achtzig Jahre wird
er vor den Toren Roms sitzen. In den übrigen Jahren aber wird
er alle großen Reiche durchstreifen, bis daß die Zeit des Endes
kommt.
II.*)
Es wird von einem Manne erzählt, der an dem Tage, da der
Tempel zerstört ward, seinen Acker pflügte; auf einmal stieß
sein Ochse einen Schrei aus. Da ging einer aus dem Araber-
lande vorbei und sprach: Sohn Israels, nimm das Joch von
deinem Ochsen ab und löse deinen Pflug. Sprach der Mann:
Warum dies? Sprach der Fremde: Darum, daß der Tempel zer-
stört worden ist. Sprach der Mann: Woher weißt du das? Sprach
der Fremde: Daher, daß ich deinen Ochsen heulen hörte.
Da sie noch miteinander redeten, brüllte der Ochse zum zweiten
Male. Sprach der Fremde: Spanne wieder deinen Ochsen ein und
laß ihn den Pflug ziehen, denn eben ist Israel sein Messias ge-
boren worden. Sprach der Mann: Und wie heißt er mit seinem
Namen? Sprach der Fremde: Menahem ist sein Name. Sprach
der Mann: Und wie heißt sein Vater? Sprach der Fremde:
Hiskia heißt sein Vater. Sprach der Mann: Aus welchem Orte
♦) Nach Palästinens. Talmud, Traktat Berachoth und Midrag Echah Rabba I.
268
IN BETHLEHEM, IN JERUSALEM UND IN ROM
ist er? Sprach der Fremde: Aus dem Schlosse des Königs zu
Bethlehem in Juda.
Da ging der Mann hin und verkaufte seinen Ochsen mit Pflug
und Joch und fing an mit Tüchern und Leinen zu handeln, so
man die Kinder in sie wickelt. Also ging er von Stadt zu Stadt,
von Land zu Land, bis er dorthin nach Bethlehem kam, das im
jüdischen Lande ist. Da kamen alle Dorfleute zu ihm, Tücher
und Leinen von ihm zu kaufen. Allein das Weib, die Mutter
des neugeborenen Knaben, war nicht gekommen. Aber der Mann
hörte, wie die Weiber ihr riefen: Du, Mutter Menahems, komm
her und kaufe was für deinen Sohn. Sprach das Weib: Lieber
will ich ihn erwürgen, denn an dem Tage, da er geboren ward,
ist das Haus Gottes zerstört worden. Sprach der Mann: Ich bin
es sicher, daß gleichwie es an seinem Tage zerstört wurde, so
wird es auch an seinem Tage wieder aufgebaut werden. So komme
doch her und kaufe was für deinen Knaben. Aber das Weib
sprach: Ich habe auch kein Geld. Sprach der Mann: Nimm nur
was er braucht, und hast du kein Geld, so will ich ein andermal
herkommen und das Geld dafür holen.
Und es geschah nach Tagen, daß der Mann sprach: Ich will
wieder hingehen und will sehen, ob es wohl um den Knaben stehe.
Und er kam zu dem Weib und sprach zu ihr: Der Knabe dein,
was ist mit ihm? Sprach das Weib: Habe ich's dir nicht gesagt,
schwer wird sein Schicksal sein, denn da er geboren ward, ward
auch der Tempel zerstört. Gleich darnach, da du ihn sahst, kamen
Winde her und trugen ihn hinweg von mir. Sprach der Mann:
Habe auch ich es dir schon einmal gesagt: Gleichwie das Haus
an seinem Tage fiel, so wird es auch an seinem Tage wieder auf-
gerichtet werden!
III.*)
Es wird erzählt, daß an dem Tage, wo die Feinde in die heilige
Stadt eindrangen und den Tempel zerstörten, weitab von Jeru-
salem ein Mann seinen Acker pflügte. Da sah er mit einem Mal,
daß die Kuh, die den Pflug zog, sich zur Erde niederwarf und
nicht weiter pflügen wollte und seltsam heulte. Da staunte der
Mann ob dieses Anblickes. Er schlug das Tier, daß es weiter
*) Nach Midras Echah Suta ^- Ed. S. Buber.
269
IN BETHLEHEM, IN JERUSALEM UND IN ROM
arbeiten sollte, aber das Tier wollte nicht gehorchen und fiel
immer wieder zur Erde.
Da er die Kuh immer peitschte, hörte er eine Stimme rufen:
Was willst du von dem Tier; laß es in Ruh; klagt es doch darum,
daß das Haus Gottes zerstört wurde und daß das Heiligtum ver-
brannt ist. Als der Mann dies vernahm, zerriß er seine Kleider,
raufte sich die Haare und schrie, bedeckte sein Haupt mit Asche
und weinte und rief: Wehe mir, wehe mir!
Aber nachdem einige Stunden vergangen waren, stand die Kuh
wieder auf ihre Füße, sprang voll Freude umher und tanzte.
Da wunderte sich der Mann über die Maßen; und gleich hörte
er wieder eine Stimme, die sprach: Spanne die Kuh wieder ein
und ackere weiter, denn eben ist der Messias geboren.
Da wusch sich der Mann sein Angesicht und machte sich
freudig auf; er ging nach seinem Hause, holte von dort lange
Seidenbänder für die Wiegenkinder und begab sich nach Jeru-
salem. Da er dort hinkam, machte er die Bänder um seine Arme
um und rief in den Straßen: Wer kauft eine Wickelschnur für
seinen Neugebornen, ob es ein Knabe oder ein Mägdlein ist. Das
hörte die Nachbarin der Messiasmutter und sprach zu dem
Manne: Geh hin nach dem Hause, das ich dir weise, dort ist vor
kurzem ein Knabe geboren.
Da ging der Mann hin, kam in das Haus und sprach zu dem
Weibe: Kaufe deinem Sohne ein Band. Sprach das Weib: Nicht
will ich ihm was kaufen, denn er ist an dem Tage geboren, da
der Tempel zerstört wurde, verflucht sei der Tag, an dem er
geboren ward. Aber der Mann trat an den Knaben heran, küßte
sein Haupt, legte das Band für ihn hin und bat die Mutter für
ihn. Alsdann ging er heim.
Seitdem aber kam er alljährlich nach Jerusalem um nach dem
Knaben zu sehen. Menahem ben Amiel ward der Messias genannt.
Aber als einst der Mann wieder nach Jerusalem kam und das
Haus betrat, erhub die Muttter des Knaben ihre Stimme und
sprach: Dahin ist mein Trost, Menahem ist fort!
270
IN BETHLEHEM, IN JERUSALEM UND IN ROM
IV.*)
Es steht in der Schrift: Der dichte Wald wird mit Eisen um-
gehauen werden, und der Libanon wird durch den Mächtigen
fallen. Und bald darauf steht es: Es wird ein Reis aufgehen
von dem Stamme Isais. Wie hängen diese beiden Sprüche zu-
sammen? Also deuteten es unsere Weisen: An dem Tage, da der
Tempel zerstört wurde, ward der Messias geboren.
Es wird erzählt: Einer aus dem Arabervolke baute sein Feld,
der hatte einen Knecht aus dem Stamme Israels. Da heulte die
Kuh, und der Araber sprach: Tuet keine Arbeit mehr! Abermals
heulte die Kuh, und der Araber sprach: Auf, an die Arbeit! Da
fragte der Sohn Israels: Warum befiehlst du bald so und bald
so? Sprach der Araber: Beim ersten Heulen fiel das Haus Gottes,
beim zweiten ward der Messias geboren; Menahem ist sein Name;
sein Vater aber ist Hiskia.
Da ließ der jüdische Knecht von der Arbeit und ging hin und
zog von nun an als Händler umher. Also kam er auch nach jener
Stadt und fragte: Wo wohnt hier Hiskia? Und die Leute sagten
ihm: An jenem Orte dort. Da ging er hin und fand den Ort.
Die Weiber kamen herzu und kauften von allem, was er feilbot.
Allein die Mutter Menahems nahm ihm nichts ab. Sprach der
Mann zu ihr: Kaufe auch du was für deinen Sohn. Da erwiderte
das Weib: Ist er doch nur gekommen, daß ihm auf den Fuß
Böses folge in Israel. Hätte ich ihn doch lieber zu Grabe getragen,
denn an dem Tage, da er zur Welt kam, ward das Heiligtum
zerstört.
Da aber der Mann das hörte, freute er sich und sprach: Dieser
ist der Messias! Und er sprach zu dem Weibe: Kaufst du ihm
gar nichts, so will ich ihm was schenken. Und er legte ein Kleid
hin für den Knaben und küßte ihn.
Seit dann kam er alle Jahre den Knaben wieder zu sehen;
er küßte ihn jedesmal und gab ihm ein Kleid. Also tat er nach
dieser Weise drei Jahre lang. Aber nach fünf Jahren kam er hin
und fand den Knaben nicht wieder. Da fragte er: Wo ist die
Mutter Menahems hin? Und die Leute erwiderten ihm: Sie ist
mit ihrem Sohn davongegangen, und wurden nicht mehr gesehen.
*) Nach einem Fragment beigedruckt dem Jalkut Ha-Machiri zu den Sprüchen
Salomonis. Ausgabe Grünhut.
271
IN BETHLEHEM, IN JERUSALEM UND IN ROM
Wo ist er auch hin? Manche sagen, er sei nach Rom gegangen,
denn es steht: Daselbst weiden Kälber und ruhen und fressen
Reiser ab.
V.*)
Es begab sich nach Jahr und Tag, daß der Rabbi Josua, der
Sohn Levais, den Propheten Elia erblickte, der stand am Eingang
der Höhle des Rabbi Simeons, des Sohnes Johais. Zwei sah der
Sohn Levais vor sich, Elia und Simeon, aber noch eine dritte
Stimme war hörbar: die Majestät Gottes weilte unter ihnen. Da
fragte Rabbi Josua den Seher: Werde ich wohl des zukünftigen
Lebens teilhaftig werden? Sprach Elia: Wenn dies unser Herr
hier wollen wird. Und Rabbi Josua fuhr fort Elia zu fragen:
Wann wird wohl der Messias kommen? Da sprach Elia: Geh
hin zu ihm und befrage ihn. Sprach der Sohn Levais: Wo finde
ich ihn aber? Sprach Elia: Vor den Toren Roms. Rabbi Josua
fragte weiter: Und welches ist sein Abzeichen? Da antwortete
Elia: Er sitzt unter Armen, von Krätze befallenen; alle binden
sie zu gleicher Zeit ihre Wunden auf, tupfen sie aus und ver-
binden sie wieder; allein der Messias nimmt jede Wunde für
sich vor; erst bindet er eine auf, trocknet sie aus und verbindet
sie wieder, hernach macht er die andere auf; nie nimmt er auf
einmal von zwei Wunden den Verband ab, denn er spricht: Mög-
lich, man ruft mich, daß ich erlöse, so will ich mich nicht ver-
säumen.
Da begab sich Rabbi Josua und kam vor den Messias und
sprach: Friede sei mit dir, du Herr mein und Meister! Sprach
der Messias: Friede mit dir, Sohn des Levais! Sprach Rabbi
Josua zu dem Messias: Wann will mein Herr kommen? Sprach
der Messias: Heute noch.
Da wendete sich Rabbi Josua und kehrte zurück zu Elia. Und
Elia fragte: Was sagte dir der Messias? Da erwiderte Rabbi
Josua: Er sagte zu mir: Friede sei mit dir, du Sohn des Levais.
Darauf sprach Elia: Damit hat er sowohl dir als deinem Vater
das Wort gesprochen, daß ihr das ewige Leben erlangen werdet;
denn wäret ihr nicht die Gerechten vollauf, er hätte dir nicht
den Frieden zugerufen und hätte nicht des Namens deines Vaters
*) Nach dem babylonischen Talmud, Traktat Sanhedrin.
272
IN BETHLEHEM, IN JERUSALEM UND IN ROM
gedacht. Da sprach Rabbi Josua: Aber unwahr war, daß der
Messias gesprochen hatte; er sagte, er würde heute noch kommen
und ist nicht erschienen. Da antwortete Elia: Also meinte er es:
Ich komme noch heute, wenn ihr auf Gottes Stimme höret.
(Übertragen von Rahel Ramberg-Berdyczewski.)
273
Aus dem Buche Sohar
I.
(übertragen von Hugo Bergmann)
Subjekt und Objekt der Welt (ib)
„Im Anfang." Rabbi Eleazar begann den Lehrvortrag mit
folgendem Zitat. Es heißt: „Erhebt in die Höhe eure Augen und
sehet, wer hat dies geschaffen?" Erhebt eure Augen? Wohin?
An jenen Ort, an dem alle Augen hangen. Und welcher Ort ist
dies? Der Ort, der die Augen öffnet. Dort werdet ihr erfahren,
daß der verborgene Alte, Er, bei dem alles Fragen Halt machen
muß, dies geschaffen hat. Wer aber ist dieser Schöpfer? Er
ist der Wer, in dessen Macht alles steht. Eben weil bei ihm alles
Fragen Halt machen muß, weil seine Wege verborgen sind und
er sich nicht enthüllet, wird er der Wer genannt. Über diesen Wer
darf man nichts fragen. Dies ist das eine Ende der Welt, das Wer
genannt wird. Das andere Ende der Welt aber nach unten hin
wird Was genannt. Was für ein Unterschied besteht zwischen dem
Wer und dem Was? Jenes Wer entzieht sich allen Fragen. Wenn
ein Mensch forscht und fragt und suchend aufsteigt von Stufe
zu Stufe und zur höchsten Stufe gelangt, dann begreift er das
Was der Welt, Dieses wird Was genannt, denn wie sehr man
erkannt, geschaut und untersucht hat, das Gefundene weist
immer über sich hinaus, und immer wieder kann man sagen:
Was weißt du jetzt? Was hast du erkannt? Was hast du er-
forscht? — Es ist ja alles unbegreiflich und unerforschbar, ver-
borgen wie vorher! Und dies Geheimnis ist angedeutet in den
Worten der Schrift: Das Was rufe ich zum Zeugen an, dem Was
vergleiche ich dich.
Rabbi Simeon wandte sich an seinen Sohn R. Eleazar und
sagte: Mein Sohn, fahre fort, den Vers zu erklären, auf daß
das höchste Geheimnis enthüllt werde, das die Kinder dieser Welt
noch nicht kennen. Rabbi Eleazar schwieg. Da nahm R. Simeon
das Wort und sagte: Eleazar, was bedeutet denn das ;Wort
„Dieses" (Eleh) in jenem Vers: ,,Wer schuf dieses?" Es kann
doch nicht den physischen Kosmos bedeuten, die Welt der Sterne,
weil sie ja sichtbar sind. Auf sie müßte doch also die Schrift
nicht erst hinweisen. Auch sind sie durch das Was geschaffen
worden, wie es heißt: Durch das Wort des Herrn wurden die
274
AUS DEM BUCHE SOHAR
Himmel geschaffen. Aber auch auf die verborgenen Worte kann
sich das „Dies" nicht beziehen, denn es enthält einen Hinweis,
kann also nur auf Offenbares Bezug haben. Dieses Geheimnis
ward mir nicht eher enthüllt, als bis ich eines Tages auf dem
Ufer des Meeres stand und Elijah zu mir kam und mir sagte:
„Rabbi, weißt du, was das bedeutet: Wer hat dies geschaffen?"
Als der Verborgene aller Verborgenen sich offenbaren wollte,
schuf er wie in einem Punkte vereinigt den göttlichen Gedanken,
prägte ihm alle Formen ein, und er wird Wer (Mi) genannt.
„Wer" — denn er ist der Urbeginn, er ist und ist nicht, tief
verborgen ist er in seinem Namen. Da aber Gott sich offenbaren
und bei seinem Namen genannt sein wollte, hüllte er sich das
kostbare, strahlende Kleid der Welt um und schuf ,, dieses". So
verband sich das „Dieses" mit dem Wer, das «^^i? mit dem
'"'2 und bildete den Gottesnamen D'Tibsi. Solange er nichts ge-
schaffen hatte, besaß Er diesen Namen nicht. Gott vor der
Schöpfung kann noch nicht Gott genannt werden. Die Ab-
trünnigen, welche das goldene Kalb anbeteten, riefen darum aus:
„Dieses ist dein Gott, o Israel." Ihr Gott war nicht der schaffende
Gott, in dem sich schöpferisches Prinzip und Schöpfung vereint ;
vielmehr machten sie das Dieses, das Geschaffene zum Gotte
und darin bestand ihre Sünde. Und wie sich in der Schöpfung
das schöpferische Mi (Wer) mit dem geschaffenen Eleh (Dieses)
verbindet, so wird auch der Gottesname durch diese Vereinigung
immer wieder erneuert. Und durch dieses Geheimnis besteht die
Welt." Dies sagte mir Elijah, dann flog er davon und ich sah ihn
nicht mehr. Ihm verdanke ich die Enthüllung des Geheimnisses.
Als Rabbi Eleazar und seine Freunde dies hörten, traten sie
vor R. Simeon ben Jochaj hin, verneigten sich vor ihm, weinten
und sprachen: Wären wir nur auf die Welt gekommen, um
dies Geheimnis zu vernehmen, es wäre genug gewesen.
Der Mensch ein göttliches und gottmächtiges
Wesen (9 b)
Rabbi Eleazar fragte seinen Vater: Was bedeuten die Worte
der Schrift: „Wer wird Dich nicht fürchten, o König der Völker?
Alles gehöret Dir zu." Was ist denn das für ein Lob, der König
der Völker zu sein? Rabbi Simeon antwortete: „Die Fortsetzung
275
AUS DEM BUCHE SOHAR
jenes Verses lautet: Denn unter allen Weisen der Völker und
in allen ihren Reichen ist niemand Dir gleich. Nun suchte mich
eines Tages ein heidnischer Philosoph auf und sagte mir: Ihr
sagt, daß euer Gott im höchsten Himmel thront und daß keine
Engelschar ihn erreichen, jioch sein Wesen erkennen könne. Dann
aber drückt jener Vers kein Gottes würdiges Lob aus. Denn was
ist das für ein Ruhm für Gott, daß Er unter den Menschen, ver-
gänglichen Wesen, nicht seinesgleichen findet? Und übrigens
deutet ihr doch jenen anderen Vers: „Es erhob sich kein Prophet
mehr in Israel, der Moses gliche" in der Weise, daß Moses
unter den Israeliten nicht seinesgleichen habe, wohl aber unter
den übrigen Völkern der Welt. Nun könnte ich durch eine gleiche
Schlußfolgerung aus dem obern Verse beweisen, daß Gott aller-
dings unter den Weisen der Völker nicht seinesgleichen habe,
wohl aber unter den Weisen Israels. Dann aber wäre Gott nicht
unvergleichlicher Herr der Welt. Prüfe jenen Vers nach und du
wirst dich von der Richtigkeit meiner Beweißführung über-
zeugen." Ich antwortete jenem Philosophen: „In der Tat — du
hast Recht damit, daß es unter den Lehrern und Führern Israels
solche gab, die Gott glichen. Wer erweckt die Toten? Ist es
nicht der Herr, gebenedeit sei Er! ? Und doch haben auch Elijah
und Elisah Tote erweckt. Wer läßt regnen? Ist Er es nicht? Und
doch vermochte Elijah durch sein Gebet den Regen zu beherr-
schen. Wer hat Himmel und Erde geschaffen? Nicht Er der
Heilige? Und doch bestehen sie durch Abrahams Verdienst! Re-
giert Er nicht den Lauf der Sonne? Und doch hat Josua sie zum
Stillstand gebracht. Der Heilige, gebenedeit sei Er, bestimmt
Strafen und Moses hatte dieselbe Macht: er verhängte Strafen
und sie erfüllten sich. Und auch noch das: Gott verhängt Strafen
und die Gerechten Israels vermögen deren Wirkung aufzuheben,
wie es im zweiten Buche Samuelis heißt: Der Gerechte beherrscht
die Furcht vor Gott. Noch mehr: Gott selbst befiehlt den Ge-
rechten Israels, in seinen Bahnen zu wandeln und ihm gleich zu
werden in allen Dingen."
Nach diesem Gespräch verließ mich jener Philosoph und ward
ein Bekenner der Wahrheit und nahm den Namen Josse Quatinaa
an. Er widmete sich im Dorfe Sehalim dem Studium der Lehre
und wurde ein Weiser und Gerechter in jenem Kreise.
276
AUS DEM BUCHE SOHAR
Die Sabbatheiligung (i4 b)
Unsere Lehrer, gesegnet sei ihr Andenken, haben uns über-
liefert: Durch dreierlei Vergehen zieht sich der Mensch das Böse
zu: Wenn er sich selbst flucht; wenn er Brotkrümchen zu Boden
fallen läßt; vor allem aber, wenn er am Ausgang des Sabbats ein
Licht entzündet, ehe die Gemeinde den Segensspruch gesprochen
hat, welcher den Sabbat vom Wochentage scheidet. Denn da-
durch bewirkt er, daß das Feuer der Hölle vor der Zeit entzündet
wird. Es gibt nämlich in der Hölle eine besondere Abteilung, wo
diejenigen hausen, welche den Sabbat entweiht haben. Den Sabbat
über aber sind sie befreit vom höllischen Feuer. Wenn dann die
Feuer der Hölle zu früh entbrennen, schleudern sie Flüche gegen
diejenigen, so da vor der Zeit das Licht entzündet haben. Sie
rufen dann mit dem Propheten Jesaias (XXII, 17) ,, Siehe, der
Herr wird dich wegwerfen, wie ein Starker einen wegwirft, und
wird dich greifen und dich umtreiben wie eine Kugel auf weitem
Land." Solange der Sabbat währt, lagert seine Heiligkeit über
uns allen. Wenn aber der Segenspruch der Sonderung von Sabbat
und Wochentag gesprochen worden ist, dann kehren alle die
Heerscharen, welche am Wochentag Dienst zu verrichten haben,
zu ihrem Ort und ihrer Arbeit zurück, die ihnen aufgetragen ist.
Denn wenn der Sabbat heraufgekommen ist und der Tag geheiligt
wurde, verliert die Wochentäglichkeit ihre Herrschaft. Und auch
wenn dann der Werketag herangebrochen ist, kehren die Scharen
nicht zu ihrem Dienst zurück, solange Israel nicht den Segen-
spruch gesprochen hat. Dann erst beginnen sie ihre Arbeit, wenn
sie das Licht aus den Häusern leuchten sehen. Das ist der Grund,
warum die Verdammten jenen fluchen, welche am Sabbataus-
gang das Licht zu früh entzünden. Wer aber zögert mit der Ent-
zündung der Flamme, den segnen sie mit den Worten: ,,Das
Gott dir gebe Überfluß vom Tau des Himmels und vom Fett der
Erde! Sei gesegnet in der Stadt, sei gesegnet auf dem Lande.
Glücklich der Mensch, der ein Einsehen hat mit den Armen.
Gott wird ihn befreien am Tage des Bösen! "
Gottes Wesen (22 a)
Es steht geschrieben : Und es sprach Elohim : Schaffen wir einen
Menschen, und anderswo heißt es wieder: Der Herr läßt seine
377
AUS DEM BUCHE SOHAR
Geheimnisse wissen diejenigen, die ihn fürchten. Der Alte der
Alten ließ seine Stimme hören und sagte: „Simeon, Simeon,
wer ist das, der da von Elohim sagt: Es sprach Elohim: Schaffen
wir einen Menschen?" Kaum aher hatte der Alte der Alten diese
•Worte gesprochen, als er verschwand und Rabbi Simeon ihn
nicht mehr sah. Weil aber Rabbi Simeon gehört hatte, daß ihn
die Stimme bloß mit seinem Namen, nicht als Rabbi angerufen
hatte, sagte er zu seinen Genossen: Sicher ist das der Heilige,
gelobt sei er, der mich gerufen hat, jener, von dem die Schrift
sagt: „Und der Alte der Tage saß." Nun ist auch die Zeit ge-
kommen, ein Geheimnis zu enthüllen, das bisher nicht offenbar
werden durfte. Denn jetzt erhielten wir die Erlaubnis, es zu er-
öffnen. Und er begann: Es war einst ein König, der viele Ge-
bäude zu errichten hatte. Er hatte einen Baumeister, welcher
aber nichts baute ohne Einwilligung seines Königs, wie es von
der Weisheit heißt: Ich war bei ihm Baumeister. Der König
oben ist die höhere Weisheit, und die mittlere Säule ist unten
der König. Elohim ist aber der Baumeister oben und wird daher
genannt „die hohe Mutter", und er ist auch Baumeister unten
und wird so bezeichnet als die Schechina von unten. Wie aber
eine Frau nicht die Erlaubnis hat, etwas ohne Einwilligung ihres
Mannes zu unternehmen, so hat auch der Vater sein Wort an die
Mutter gerichtet: Es werde dies und das, wie es denn heißt:
„Es werde Licht" und dann: „Es ward Licht." Das heißt: Der
Herr des Palastes ordnet an und der Baumeister schafft sofort
durch seine Macht. So wurden alle Gebäude geschaffen. Wie
es denn heißt: Es werde eine Ausdehnung! Es mögen Lichter
erstehen! — und alles dann sofort ward. Als man aber dazu
kam, die Welt der Trennungen zu schaffen, jenen Zustand der
Welt, da die Sonderung alles auseinander hält, da sagte der Bau-
meister zum Bauherrn: Machen wir einen Menschen in unserem
Ebenbilde und nach unserer Gestalt! Der Bauherr erwiderte:
Sicherlich wäre es gut, ihn zu schaffen, aber er wird sündigen
gegen dich, denn er ist unvernünftig; wie es heißt: Ein guter
Sohn erfreut den Vater und ein törichter ist das Leid der Mutter.
Da antwortete Elohim, die Mutter: „Weil die Vergehen des Men-
schen die Mutter und nicht den Vater kränken werden, will ich
ihn nach meinem Bilde schaffen." Deshalb heißt es: „Elohim
278
AUS DEM BUCHE SOHAR
schuf den Menschen nach seinem Ebenbilde" (und nicht mehr,
wie oben, auch: in seiner Gestalt). Der Vater wollte sich an
seiner Schöpfung nicht beteiligen. So heißt es denn auch aber
dort, wo von der Sünde des Menschen gesprochen wird: „Um
eurer Sünde willen ist entlassen worden eure Mutter." Es sagte
nämlich der König zur Mutter: „Sagte ich dir nicht, daß er
sündigen wird?" In jener Zeit wurde der Mensch davongejagt
und die Mutter mit ihm. Deswegen heißt es: „Ein weiser Sohn
erfreut den Vater und ein törichter ist das Leid seiner Mutter."
„Der weise Sohn", das ist der Mensch, wie er Gottes Gedanken
entsprungen ist. „Der törichte Sohn", das ist der Mensch, wie
er in Wirklichkeit geworden ist.
Als Rabbi Simeon so gesprochen, standen alle Genossen aui
und riefen: ,, Lehrer, Lehrer, gibt es denn eine Trennung
zwischen dem Vater und der Mutter, so daß der Mensch in Ge-
danken von dem Vater und in seiner Verwirklichung von der
Mutter urständen sollte?" Er erwiderte ihnen: „Möchten eure
Ohren hören, was euer Mund spricht! Ich habe euch weder ge-
sagt, daß die Ursache aller Ursachen mit Elohim eines ist, noch
habe ich euch gesagt, daß eine Verschiedenheit zwischen ihnen
besteht. Denn in der letzten göttlichen Wesenheit gibt es keine
Zweiheit, es gibt keinen zweiten, mit dem sich Gott beraten
könnte. Er ist ein einziger und hJat keinen Genossen, und des-
wegen heißt es (V. Mos. 82, 89): „Ich bin Ich und kein Elohim
bei mir, mit dem ich Rates pflegen würde. Es gibt keine Mehr-
heit, keine Verbindung, kein Maß in ihm. Er ist eines in allem.
Die innige Verbindung von Mann und Weib mag mit seiner Ein-
heit verglichen werden, denn auch sie werden für eines erachtet,
wie es heißt: ,Als eines habe ich sie gerufen.' Deswegen hat
Gott gesagt: ,Ich bin Ich und kein Elohim bei mir. Denn Ich
bin Elohim und Elohim ist Ich.* " Da erhoben sich alle Genossen
R. Simeons, warfen sich hin vor den Meister und riefen: „Selig
der Mensch, dem Gott erlaubt hat, die Geheimnisse zu enthüllen,
die selbst den Engeln nicht offenbart worden sind."
Ruheund Wandel (I. 5o b)
Rabbi Simeon begann den Vortrag und sagte: Zwei Sätze
stehen im Fünfbuche nebeneinander, und der eine scheint dem
279
AUS DEM BUCHE SOHAR
andern zu widersprechen. Es steht geschrieben: „Der Herr, dein
Gott, ist ein verzehrendes Feuer" (V. Mos. 4, 24), und doch
wieder heißt es ebenda: „Und ihr, die ihr anhanget dem Herrn,
eurem Gott, bleibt alle bis heute am Leben" (V. Mos. 4, 4). Wenn
Gott ein verzehrendes Feuer ist, wie mag man ihm anhangen
und dabei leben bleiben?
Die Freunde haben schon erklärt, der Vers, der Gott dem
Feuer vergleicht, müsse so verstanden werden, daß Gott ein Feuer
ist, welches das Feuer verzehrt. Denn es kann ein Feuer mächtiger
sein als das andere. Wer aber dies Geheimnis der göttlichen
Einung ganz begreifen will, der betrachte eine Leuchte. Die
Flamme erhebt sich da, sei es aus der Kohle, sei es aus der
entzündeten Kerze. Nie kann die Flamme entbrennen, geht sie
nicht aus von einem groben Stoffe. Und nun beachte: es gibt
in der Flamme, die da emporschlägt, zwei Lichter: ein weißes
und ein dunkles. Das weiße ist oben und ragt gerade auf, und
unter ihm, als wäre es sein Thron, düstert das dunkle Licht.
Beide sind eine Flamme, aber das dunkle ist der Thron des hellen
Lichtes. Dies dunkle Licht aber — das wir den Thron nannten —
verbindet sich mit dem Körper, an dem es entbrennt, und reicht
hinauf in das leuchtend helle. Das dunkle spielt in allen Farben:
bald ist es blau, bald schwarz, bald rot. Das weiße Licht jedoch
verändert sich niemals, ohne Wechsel beharrt es. Das dunkle
Licht nun verbindet das strahlende Weiß der Flamme mit dem
Körper, an dem ihr Glanz entbrennt. Und die dunkle Flamme
zehrt an diesem Körper, und je mehr sie in die Höhe strebt,
desto mehr muß sie zehren. Nicht so die weiße Lohe: sie zehrt
nichts auf und beharrt ohne Wandel.
So meinte es Moses, als er sprach: „Der Herr, dein Gott, ist
ein verzehrendes Feuer." Denn er verzehrt alles, was unter ihm
ist — bis das Göttliche in dir zur weißen Flamme emporge-
läutert ist. Darum sagte auch Moses: Der Herr, dein Gott, und
nicht mein oder unser Gott, denn Moses selbst stand schon in
jener weißen Flamme, die oben leuchtet und nichts verzehrt.
Und nun beachtet, daß die Einheit des dunklen mit dem hellen
Lichte ein Werk Israels — der göttlichen Gemeinde auf Erden —
ist. Indem sich Israel an die dunkle Flamme hingibt, vereinigt
sich diese mit der leuchtenden Helle über ihr. Und obwohl es
280
AUS DEM BUCHE SOHAR
die Art des dunklen Lichtes ist, alles zu verzehren, was unter
ihm ist und sich ihm ergibt, bleibt Israel doch bestehen. Darum
heißt es: „Und ihr, die ihr anhanget dem Herrn, eurem Gotte,
lebet alle heute."
Über der weißen Flamme endlich lagert ein verborgener Glanz,
der sie umgibt. Er deutet uns das höchste Geheimnis an.
So ist uns die Flamme ein Bild aller hehren Geheimnisse.
Als Rabbi Pinchas diese Worte Rabbi Simeons hörte, trat er
hin, küßte ihn und sprach: Gelobt sei der Allerbarmer, der meine
Schritte zu dir gelenkt hat!
II.
(Übertragen von Ernst Müller)
Das Licht des Urquells
Es sprach Gott: ,,Es werde Licht — und werde*) Licht." Das
Sprechen kann nur an andere gerichtet sein. Und zwar geht das
erste ,, werde" an die diesseitige, das zweite an die künftige Welt.
Es ist dies das Leuchten, das der Hochgebenedeite im Uranfang
schuf, genannt das Licht des Urquells. Dieses Licht lieh der Hoch-
gebenedeite dem Urmenschen, darin zu schauen vom Anfang bis
ans Ende der Welt. Desgleichen dem David, der dies in seinem
Hymnus in den Worten bekannte: „Wie reich ist dein Gut, das
du den dich Ehrfürchtenden als Schatz bewahret hast" (Ps. 3i,
v. 20). Desgleichen auch dem Moses, der darin blicken konnte
von Gilead bis Dan.
Gott hatte es aber verborgen in Voraussicht der drei sündigen
Geschlechter: des Enoch, der Sündflut und derer, die sich zum
Turmbau von Babel vermaßen — damit sie sein nicht genießen
und es mißbrauchen können.
Und er gab es wieder dem Moses, der die drei Monate nach
seiner Geburt sich seiner bediente — darum heißt es: ,,Sie hütete
ihn (wie einen Schatz**) drei Monde lang." (Ex. c. II, v. 2.)
Nach drei Monaten kam er vor Pharao — da nahm der Hoch-
*) Der Satz: „Es werde Licht und — ward Licht" läßt bei völliger Gleich-
heit des ersten und zweiten Teils auch die Möglichkeit obiger Auffassung zu,
welche der „Sohar" hier zugrunde legt.
**) Es ist dasselbe Wort gebraucht wie in dem oben zitierten Psalmvers.
281
AUS DEM BUCHE SOHAR
gebenedeite das Licht von ihm; bis er auf dem Berge Sinai stand,
um die Thorah zu empfangen, da kehrte ihm das Licht zurück,
und er konnte es alle Tage seines Lebens benützen. Aus diesem
Grunde vermochten die Kinder Israels nicht sich ihm zu nähern,
bis er „einen Schleier über das Angesicht zog", so wie es heißt:
„Sie fürchteten an ihn heranzutreten." (Ex. c. 34, v. 3o u. 35.)
Und es umhüllte ihn das Licht wie ein Mantel, darum heißt es:
„Er bedeckt sich mit Licht wie mit einem Kleide." (Ps. io4, v. 2.)
Also sprach Rabbi Jizchak : Das Licht, das der Hochgebenedeite
im Schöpfungswerk geschaffen — sein Strahlen ging von Welten-
ende zu Weltenende, und dann blieb es verborgen. Aus welchem
Grunde? Damit die Sündigen nicht seiner genießen. Es bleibt
aber bewahrt für die Geläuterten (Zaddikim). So heißt es aus-
drücklich: „Licht ist gesät für den Geläuterten, für jene aber,
so geraden Herzens sind, Freudigkeit." (Ps. 97, v. 11.) Bis daß
die Welten zur Veredlung kommen und schließlich zur Einheit
' — bis zu jener künftigen Welt bleibt es verborgen und ver-
wahrt.
Und jenes künftige Licht muß aus der Finsternis kommen,
in deren Hüllenwesen es noch verborgen ist — so lange, bis aus
jenem ursprünglich zurückgezogenen Licht auf einem Pfad ein
Verborgenes sich einprägt der „unteren Finsternis", worinnen
Licht noch zurückgelassen ist. Diese „untere Finsternis" ist es,
welche Nacht (Lailah) genannt ist, so wie es heißt: „Die Finster-
nis rief er ,Lailah'." Hierauf bezüglich haben wir auch den
Schriftsatz deuten gelernt: „Er offenbart Tiefen aus der Finster-
nis." (Job, c. 12, V. 22.) Sprach Rabbi Josse: Sollte hiemit nur
gemeint sein, daß alle jene erhabenen „Kronen", welche auch
„Tiefen" genannt sind, aus dem Verborgenen enthüllt werden?
Es will vielmehr gerade darauf hingedeutet sein, daß sie nur aus
jener Finsternis heraus offenbart werden können. Dann wird
das Licht des Mondes mit dem Sonnenlicht auf einer Stufe sein,
während es bis dahin verborgen und verschlossen war.
Beachte auch wohl, wie all jene kostbaren Verborgenheiten,
die aus Gedankenkraft kommen, die aber die hörbare Stimme
hin wegträgt, erst durch das ,,Wort" geoffenbart werden. Dieses
„Wort" wird auch mit dem Namen ,, Sabbat" bezeichnet, und
darum darf nichts Unheiliges am Sabbat gesprochen werden,
282
AUS DEM BUCHE SOHAR
weil jenes Wort zur Herrschaft kommen soll, kein anderes. Das
Wort ist es aber, das aus der Region der Finsternis kommen muß,
um die „Tiefen zu offenbaren".
Sprach Rabbi Jizchak: Wenn dem so ist, warum heißt es dann:
„Er unterschied zwischen Licht und Finsternis"? Die Antwort
lautete: „Licht ließ Tag entstehen, Finsternis Nacht. In dieser
Form konnte sie Gott wieder in eine Einheit binden, so wie es
heißt: „Es war Abend, es war Morgen — ein Tag" — so daß
Tag und Nacht eins genannt werden. Und die Scheidung bezieht
sich auf die Zeit der Verbannung, darinnen alles geschieden ist."
Sprach wiederum Rabbi Jizchak: ,Bis nun wohnt das Männliche
im Licht, das Weibliche in der Finsternis. Später werden sie in
eins verbunden. Was bedeutete dann der Unterschied zwischen
Licht und Finsternis?* „Es ist ein Unterschied der Stufen, und
beide sind eins insof erne, als es kein Licht gibt als in der Finster-
nis und keine Finsternis als nur im Lichte; und wieder, obwohl
sie auf diese Weise eine unlösbare Einheit bilden, sind sie ihrer
Art nach doch unterschieden."
Rabbi Simeon sprach: Aus dem ,, Bunde" kommt der Welt
Schöpfung und Bestand, so wie es heißt: Ohne meinen „Bund
von Tag und Nacht — Gesetze von Himmel und Erde hätt' ich
nicht geprägt" (Jer., c. 33, v.,25). Wer ist der Bund? Der Ge-
läuterte, die Grundfeste der Welt — er bezeichnet auch das Ge-
heimnis des „Eingedenkseins", und so kann denn die Welt ver-
möge des Bundes von Tag und Nacht als eine bestehen. Die
„Gesetze des Himmels" — sie kommen herab vom oberen
„Eden".
Auch begann R. Simeon einmal seinen Lehrvortrag mit folgen-
dem Schriftsatz: ,,Von der Stimme der in der Mitte Schreitenden,
zwischen den Schöpfenden — dort preisen sie die Lauterkeiten
Jahwes." (Richter, c. 5, v. n.)*) j^Die Stimme der in der Mitte
Schreitenden" — das ist die Stimme Jakobs. Dieses Wort: „die
in der Mitte Schreitenden" („Mechazzim") entspricht auch dem
rätselhaften Worte: „ein Mann des zwischen zwei (Welten) Be-
findlichen". Und dieses Mittlerwesen wohnt zwischen jenen,
*) Im folgenden wird das Deborahlied, überreich an schwer verständlichen,
resp, archaistisch scheinenden Worten, mystisch gedeutet und auf ein Mittler-
wesen zwischen Menschen- und Gotteswelt bezogen.
ä83
AUS DEM BUCHE SOHAR
welche die Wasser der Höhe schöpfen — es faßt aber beide Seiten
und nimmt jene (Schöpfenden) in sich auf. „Dort" bezeichnet die
Stätte des treuen Anhangens. Und „dort" saugen und schöpfen
sie von den Lauterkeiten Jehovas. Das sind die „Lauterkeiten
seines überreichen Spendens" (in Israel) (ebd.) — das bezieht
sich auf den Lautersten der Welt, der beständig und heilig ist
und aus allem schöpft und wieder ausgießt zu einem weiten
Meere die Wasser der Höhen. „In Israel" — denn das ist sein
ewiges Erbe, solange es die Zeichen des Bundes in richtiger
Weise wahrt.
„Sie kamen an den Toren herab" — das sind die Tore der
Lauterkeit, vor denen sie sich hielten, ohne aber einzutreten. So
heißt es auch von jener Zeit: „Die Söhne Israels verließen den
Herrn usw." — (Richter, c. 2, v. 12) — , bis Deborah kam, so wie
es heißt: „Als Wildheit war in Israel", doch „das Volk sich be-
schenken ließ" (ebd., c. 5, v. 2), und darum auch wieder: „Auf-
gehört hatte das überreiche Spenden an Israel", das Spenden
nämlich jenes Beständigen und Heiligen. „Bis ich aufstand, De-
borah, aufstand, eine Mutter in Israel." Was bedeutet hier
„Mutter"? „Ich ließ hernieder Wasser der oberen Welten, um
festzugründen eine Welt auf Israel, nach oben und nach unten —
und offenbar zu machen, daß die Welt nicht besteht als nur
durch solchen Bestand." Und das ganze Geheimnis ist auch schon
in den Worten ausgesprochen: „Der Geläuterte ist die Grund-
feste der Welt.*' (Sprüche, c. 10, v. 25.)
So heißt es auch: Drei gehen aus von Einem, Einer besteht in
Drei; Einer tritt zwischen Zwei; Zwei saugen Wesen an Einem
und Einer von allen Seiten. So wird alles Eins. Dies ist auch
angedeutet in dem Satze: „Und ward Abend und ward Morgen
— ein Tag." Gleichwie der Tag Abend und Morgen umfaßt, so
ist es das Geheimnis des Bundes, daß er Tag und Nacht verbindet
und alles in ihm doch eins ist.
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