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Full text of "Vom Judentum : ein Sammelbuch"

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VOM 
JUDENTUM 

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Verein  Jüdischer  HochschUler 
Bar  Kochba  In  Prag 


Leipzig 


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1913 


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VOM 
JUDENTUM 


EIN  SAMMELBUCH 


Herausgegeben  vom 

Verein  jüdischer  Hochschüler 

BAR  KOCHBA 

in  Prag 


ZWEITE    AUFLAGE 


1913 

KURT  WOLFF  VERLAG  •  LEIPZIG 


GEDRUCKT  BEI 

POESCHEL  &  TREPTE 

IN  LEIPZIG 


COPYRIGHT  1913   BY    KURT   WOLFF   VERLAG,  LEIPZIG 


INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

Hans  Kohn:  Geleitwort V 

JÜDISCHES  WESEN 

Dr.  Karl  Wolfskehl  (München):  Das  jüdische  Geheimnis 5 

Jakob  Wassermann  (Wien):  Der  Jude  als  Orientale 5 

Hans  Kohn-Bar  Kochba,  (Prag):   Der  Geist  des  Orients 9 

JÜDISCHE  RELIGIOSITÄT: 

Dr.  Martin  Buber  (Zehlendorf  b.  Berlin):  Der  Mythos  der  Juden      ,     .  21 

Dr.  Hugo  Bergmann-Bar  Kochba,  (Prag):  Die  Heiligung  des  Namens     .  32 

Elijahu  Rappeport  (Göttingen):  Jeschualegeuden 44. 

JÜDISCHES  DENKEN 

Margarete   Susman  (Rüschlikon) :    Spinoza   und    das  jüdische  Weltgefühl  51 

Dr.  Kurt  M.  Singer  (Hamburg):  Von  der  Sendung  des  Judentums,     .     .  71 

DAS  NEUE  JUDENTUM 

Moses  Calvary  (Crossen  a.  O.):  Das  neue  Judentum  und  die  schöpferische 

Phantasie 105 

Dr.  Erich  Kahler  (Wien):  Über  Pathos 117 

Dr.  Alfred  Wolff  (Berlin):  Jüdische  Romantik 122 

DAS  WERDEN  DER  JÜDISCHEN  BEWEGUNG 

Dr.  Wilhelm  Stein-Bar  Kochba,  (Prag):  Unsere  Geschichte 135 

Adolf  Böhm  (Wien):  Wandlungen  im  Zionismus 139 

Robert  Weltsch-Bar  Kochba,  (Prag):  Theodor  Herzl  und  wir     ,     .     ,     ,155 

DIE  AUFGABEN  DER  JÜDISCHEN  BEWEGUNG 

Dr.  Arthur  Salz  (Heidelberg):  Ver  sacrum 169 

Dr.  Oskar  Epstein-Bar  Kochba,  (Prag):  Erhaltung  oder  Erneuerung?     .  173 

Ludwig  Strauß  (Berlin):  Die  Revolutionierung  der  westjüdischen  Intelligenz  179 

Dr.  Hugo  Herrmann-Bar  Kochba,  (Prag):  Erziehung  im  Judentum     ,     .  i86 

DER  JUDE  UND  EUROPA 

Dr.  Moritz  Goldstein  (Berlin):  Wir  und  Europa 195 

Arnold  Zweig  (München):  Die  Demokratie  und  die  Seele  des  Juden       .  210 

PROBLEME  DER  GEGENWART  UND  DER  ZUKUNFT 

Dr.  Nathan  Birnbaum  (Berlin):  Das  Erwachen  der  jüdischen  Seele    ,     ,  239 

Gustav  Landauer  (Hermsdorf  b.  Berlin):  Sind  das  Ketzergedanken?,     ,  250 

Moritz  Heimann  (Berlin):  Jüdische  Kunst 258 

Dr.  Max  Brod  (Prag):  Der  jüdische  Dichter  deutscher  Zunge    .     ,     ,     .  261 

AUS  ALTEN  BÜCHERN 

Micha  Josef  bin  Gorion  (Berlin):  In  Bethlehem,  in  Jerusalem  und  in  Rom  267 

Aus  dem  Buche  Sohar: 

I.  Subjekt  und  Objekt  der  Welt  —  Der  Mensch  ein  göttliches  und  gott- 
mächtiges Wesen  —  Die  Sabbatheiligung  —  Gottes  Wesen  —  Ruhe 
und  Wandel.  Übertragung  von  Dr.  Hugo  Bergmann,  Bar  Kochba,  (Prag)  274 

IL  Das  Licht  des  Urquells.  Übertragung  von  Dr.  Ernst  Müller  (Wien)  281 


2095482 


Geleitwort 

Als  wir,  der  Verein  jüdischer  Hochschüler  Bar  Kochba  in  Prag, 
daran  gingen,  dieses  Buch  herauszugeben,  waren  wir  uns  dessen 
bewußt,  daß  dieses  Buch  nur  dann  einen  Sinn  habe,  wenn  es  einer 
Notwendigkeit  entspringt:  der  Notwendigkeit  der  Aussprache 
einer  Generation,  die  in  dem  Bewußtsein  lebt,  daß  in  ihrem 
Leben  und  durch  ihr  Leben  das  Schicksal  des  Judentums  die 
entscheidende  Wendung  erfährt.  Wir  hofften,  daß  es  außerhalb 
unserer  engen  Freundesgemeinschaft  Menschen  gebe,  die  unseren 
Kampf  und  unser  Wollen  teilen. 

Dieses  Buch  ist  herausgegeben  von  Zionisten;  dies  sei,  um 
jede  Falschmeldung  zu  vermeiden,  von  vornherein  gesagt.  Nichts 
sei  uns  fremder  als  der  verlogene  oder  spielerische  Mantel  kühler 
Objektivität.  Wir  wollten  nicht  kluge  und  kühne  und  kühle  Aus- 
sprüche, Erwägungen,  Beobachtungen  sammeln,  uns  interessiert 
es  nicht  zu  hören,  was  der  oder  jener  in  dem  Leben  der  Welt 
noch  so  geltende  Mann  über  die  Judenfrage  denkt;  wir  wollten 
Menschen  hören,  die  aus  Not  und  verzweifelter  Empörung  einen 
Weg  suchen,  einen  Weg  zu  den  Wirklichkeiten  neuen  jüdischen 
Lebens.  Einen  Weg,  der  das  Heute  verneint,  weil  es  knechtisch 
und  unerträglich  ist,  und  der  in  Gemeinschaft  das  Morgen 
schaffen  will.  Schaffen  will:  nicht  müßige  Worte,  nicht 
schöne  Reden,  nicht  kluges  und  weites  Denken  soll  dies  Buch 
offenbaren,  sondern  es  soll,  weil  es  nicht  anders  geht,  auf  dem 
Wege  geistiger  Aussprache  die  Gemeinschaft  aufbauen,  die  ent- 
schlossen ist,  Worte  in  Taten  überzuleiten,  die  den  Ernst  und 
den  Mut  aufbringt,  mit  ihrem  Sein  sich  für  das  Werden  des 
Gewollten,  für  die  Verwirklichung  des  Sehnsuchtstraumes  einzu- 
setzen. 

Darum  ist  dieses  Buch  grundverschieden  von  den  meisten 
anderen;  denn  kaum  noch  waren  Menschen  so  aller  Bücher  und 
Worte  müde  wie  wir  und  so  voll  Spannung  und  Sehnsucht  nach 
dem  Leben. 


GELEITWORT 

Wir  wissen  es,  daß  dieses  Buch  nur  einen  Teü  der  Erfüllung 
dessen  bedeutet,  was  wir  gewollt  haben.  Wir  haben  uns  an  unsere 
Mitarbeiter  ohne  jeden  Unterschied  des  Parteibekenntnisses  und 
ohne  jede  Engherzigkeit  gewandt.  Wir  machten  nur  eine  Voraus- 
setzung: daß  sie  sich  als  Glieder  und  Träger  einer  ihrer  selbst 
bewußt  gewordenen  jüdischen  Volksgemeinschaft  fühlen.  Heute 
ist  es  ein  allgemeines  Streben  der  Einzelnen,  über  das  Individuelle 
hinauszugehen,  sich  in  überindividuelle  Zusammenhänge  einzu- 
stellen. Es  weisen  manche  Anzeichen  darauf  hin,  daß  in  unseren 
Tagen  eine  Wende  eintritt,  nicht  nur  für  das  Judentum,  son- 
dern für  die  Menschheit,  die  sich  —  am  äußerlichsten  —  im  Ok- 
zident im  Kampfe  gegen  die  mechanisierende,  entseelende,  ent- 
göttlichende  Zweckhaftigkeit,  im  Orient  im  Wiedererwachen  der 
alten  Kulturkreise  und  in  den  Versuchen  Europas,  den  Gehalt 
Asiens  in  sich  aufzunehmen,  manifestiert.  Und  in  dieser  Krise 
des  geistigen  Lebens,  die  uns  das  Überindividuelle  aller  Kultur, 
alles  Lebens,  des  Geistes  erkennen  läßt,  lernen  Avir,  jenseits  unser 
und  doch  in  unserem  Ureigensten  —  es  gilt  auch  hier,  daß  das 
Persönlichste  das  Sachlichste  ist  —  festen  Fuß  fassen,  fühlen 
uns  als  Teil  eines  höheren  überindividueilen  Geschehens,  wissen 
uns  voll  innerer  Sicherheit  und  Tatenfreudigkeit.  Die  Kraft,  die 
uns  gestaltet  hat  und  sich  in  uns  entfaltet:  die  Vergangenheit, 
und  die  Aufgabe,  diese  Kraft  über  uns  hinauszuführen:  die  Ver- 
antwortung für  die  Zukunft  bestimmen  weiterhin  unser  Leben. 

Es  ist  dies  schon  etwas  Großes:  es  ist  eine  neue  Art  Jude 
entstanden.  Denn  der  Jude,  den  man  kennt,  ist  heute  der  Phi- 
lister, ein  Mensch,  der  nach  außen  scheinbar  in  rührigster  Tätig- 
keit lebt,  voll  unaufhörlicher  Geschäftigkeit,  und  doch  im  Innern 
in  vollster  Unangefochtenheit  und  Herzensträgheit  vegetiert 
(während  der  andere  Typus  Mensch  ein  ewiger  Wanderer  ist, 
verzehrt  von  Sehnsucht  nach  unerreichbarer  Ruhe),  ein  Mensch, 
dessen  Horizont  gekennzeichnet  ist  durch  den  Stolz  auf  tech- 
nischen Fortschritt  und  das  Leben  in  satter  Behaglichkeit,  mög- 
lichst ferne  allen  Erregungen  und  Erschütterungen  und  allem 
Mute  zur  Wahrhaftigkeit;  —  oder  der  Jude  ist  ein  Götzendiener 
seines  Ich,  ein  feiner,  kluger  Genießer,  oder  er  geht  hin  und 
opfert  sich  fremden  Göttern,  in  bewußter  oder  unbewußter  Ich- 
lüge, im  Verzicht  auf  alle  natürlichen  Bindungen  und  die  Dauer 

Vi 


GELEITWORT 

des  Zusammenhanges,  seine  Seele  verleugnend  und  auf  der 
glühenden  Suche  nach  ihr  die  Welt  kalt,  leer,  seelenlos  findend. 
Der  neue  Jude  aber  hat  gelernt,  sich  in  seiner  geschichtlichen 
Gemeinschaft  zu  bejahen,  und  weiß  sein  Wachstum  mit  dem 
ihren  verknüpft. 

Diesen  neuen  Juden,  der  nur  eine  Vorstufe  und  ein  Über- 
gang ist,  sollte  unser  Buch  die  in  aller  Zerstreuung  notwendige 
Gemeinsamkeit  schaffen.  Leider  konnten  wir  nicht  alle  vereini- 
gen, die  wir  zusammenschließen  wollten,  und  manche  der  uns 
übersandten  (und  aufgenommenen)  Beiträge  sind  nicht  —  wie 
wir  es  gewünscht  hätten  —  repräsentativ  für  das  Wesen  und  die 
Strebungen  des  Mannes.  Auch  muß  gesagt  sein,  daß  einige  der 
Aufsätze,  denen  wir  Raum  gegeben  haben,  nicht  etwa  als  pro- 
grammatisch für  den  Verein  gelten  können.  Dennoch  möge  dieses 
Buch,  so  unvollkommen  es  ist,  hinausgehen,  denn  alles,  was  wir 
hier  im  Galuth  tun,  ist  nur  eine  Stufe  dem  Ziele  zu.  Dies  Buch 
ist  nur  eine  ganz  niedrige  Stufe,  seinen  Sinn  erhält  es  erst  durch 
die  Bewährung  in  Taten  des  Lebens.  Es  soll  uns  zeigen,  wo  und 
wie  wir  sind,  von  hier  aus  dann,  was  wir  tun  sollen. 

„Eine  Renaissance  wird  hauptsächlich  nicht  durch  vollkom- 
mene Werke  hervorgerufen,  sondern  durch  die  Kraft  und  Ein- 
heitlichkeit des  Ideals  bei  einer  lebensvollen  Generation"  (Mau- 
rice Denis).  Man  wird  das,  was  ich  hier  in  der  Einleitung  sage, 
in  den  einzelnen  Beiträgen  ausgeführt,  weitergedacht,  exempli- 
fiziert finden.  Denn  uns  alle  verbindet  das  gleiche  Grundgefühl, 
und  allen  Seiten  des  Problemes  liegt  die  eine  Frage  nach  Sinn, 
Ziel  und  Steigerung  unseres  jüdischen  Lebens  zugrunde.  Wir 
sehen  das  jüdische  Volk,  kaum  ein  Volk  mehr,  eine  zerrissene,  ver- 
lorene Herde,  ängstlich  und  feige,  tatenlos  und  stumpf,  dem  All- 
tag ergeben,  in  Ehrfurcht  allein  vor  seinen  Bedingtheiten,  seine 
Schwäche  als  seine  Norm  empfindend.  Nirgendwo  ein  großes 
Gefühl,  das  das  Netz  der  Bedingtheiten  zerrisse  und  ihm  ein  neues 
Reich,  dem  Geiste  und  der  alle  Materie  formenden  Idee  ent- 
sprossen, entgegensetzte,  nirgendwo  ein  großes  Wollen,  das  eine 
schöpferische  Tat  zeugte.  Es  war  ein  ostjüdischer  Denker,  und 
sein  Name  dari  in  einem  Buche  des  Prager  Bar  Kochba  nicht 

VII 


GELEITWORT 

fehlen  (auch  der  Name  unseres  Bundesbruders  Dr.  Viktor  Kellner, 
Lehrers  am  hebräischen  Gymnasium  in  Jaffa,  der  uns  zuerst  mit 
ihm  vertraut  machte,  der  seine  Worte  in  Taten  umsetzte  und  der 
leider  hier  nicht  selbst  zu  Worte  kommen  konnte,  sei  hier  ge- 
nannt) —  es  war  Achad  Haam,  der  uns  lehrte,  daß  vor  jeder 
äußeren  Emanzipation  die  Befreiung  vom  inneren  Galuth,  von 
der  inneren  Knechtschaft  erfolgen  müsse,  eine  Reinigung 
des  Herzens,  ein  Wachstum  des  Volkes  über  sich  hinaus.  Seit 
Martin  Buber,  der  seine  drei  Reden  über  das  Judentum  in 
unserem  Verein  gehalten  hat  und  von  dessen  Einfluß  dieses  Buch 
so  vielfach  Zeugnis  ablegt  und  dessen  werktätiger  Mitarbeit  es 
sein  Zustandekommen  verdankt,  wissen  wir,  daß  der  Zionismus, 
tief  verwurzelt  in  dem  ur  jüdischen  Geisteskampfe  der  Wollenden 
wider  die  Geschehenlassenden,  die  sittliche  Bewegung  derer  ist, 
die  es  mit  ihrem  Judentum  und  ihrem  Menschentum  ernst 
nehmen. 

Zionismus  ist  keine  Wissenschaft,  kein  logisches  Begriffs- 
system, er  hat  mit  Rassentheorien  und  Definitionen  des  Volks- 
tums nichts  zu  tun.  Es  ist  nicht  möglich,  jemandem  den  Zionis- 
mus durch  Argumente  beizubringen,  und  alles,  was  rassenbio- 
logische oder  soziologische  Forschung  entdeckt,  läßt  uns  un- 
berührt. Der  Zionismus  liegt  in  einer  völlig  anderen  Ebene  des 
Seins.  Er  ist  kein  Wissen,  sondern  Leben. 

Leben  war  stets  Kampf.  Zionismus  ist  der  Kampf  der  Jugend, 
die  höher  will,  gegen  die  Alten,  die  Trägen,  die  Müden,  die  nicht 
mehr  wachsen  können  und  die  kein  Sturm  der  Begeisterung  mehr 
aufrütteln  kann.  Wie  im  Judentum  die  Glühenden,  Mutigen  und 
Schaffenden  stets  mit  dem  Volke  rangen,  so  ist  es  auch  unsere 
Aufgabe,  mit  diesem  Volke  zu  ringen,  um  es  zu  neuem,  reinem, 
freiem  Dasein  zu  führen.  —  Dieses  Ringen  mit  dem  Volke  kann 
nichts  weniger  bedeuten  wollen,  als  daß  wir  uns  in  selbstgenüg- 
samer Höhe  mit  unsern  Idealen  von  der  Masse  entfernen  und  ent- 
fremden wollen.  Im  Gegenteil!  Dies  ist  jüdischer  Idealismus! 
Das  Hohe  und  Große  am  Alltag  und  an  seiner  Wirklichkeit  be- 
wahren. Wie  der  Zionismus  unsere  heilige  Sprache  aus  ihrer 
Tagesfremdheit  erlöst  und  wieder  zur  Sprache  des  Alltags  ge- 
macht hat,  nicht  um  sie  zu  profanieren,  vielmehr  um  diesen  All- 
tag durch  seine  Sprache  zu  heiligen,  so  ist  uns  dies  eine  große 

VIII 


GELEITWORT 

Wunder,  das  wir  schon  erlebt  haben,  die  Verlebendigung  des 
Hebräischen,  nur  ein  Symbol  für  den  Sinn  unseres  ganzen 
Kampfes  mit  dem  Volke  und  um  dieses  Volk. 

Es  schien  uns  unumgänglich  notwendig,  dies  dem  Buche  vor- 
auszuschicken. Unsere  Freude  aber  ist  es,  daß  die  Beiträge  ein 
einheitliches  Gepräge  zeigen  und  getragen  sind  von  dem  gleichen 
Geiste.  Sie  erklären  und  ergänzen  einander  und  geben  so  ein 
Bild  der  Kräfte,  die  heute  im  Judentum  am  W^erk  sind. 

Vor  zehn  Jahren  erschien  der  erste  jüdische  Almanach,  und 
in  Berthold  Feiwels  Geleitwort  hieß  es:  „Ein  Ausblick  soll  sich 
eröffnen  in  die  neue  jüdische  Welt,  und  von  dem  brausenden 
Akkord  des  Vorfrühlings  soll  man  einen  tönenden  Widerhall 
heraushören."  Ob  wir  weitergekommen  sind  auf  unserem  Wege 
in  den  zehn  Jahren,  möge  man  entscheiden:  es  spricht  hier  eine 
neue  Generation,  die  wenigsten  haben  die  frühere  Zeit  miterlebt. 
Daß  aber  auch  in  uns  das  Brausen  des  Frühlings  und  Mut  der 
Jugend  herrscht,  wissen  wir. 


Wir  wollen  diesem  Buche,  falls  sich  seine  Berechtigung  er- 
weist, in  jährlichen  oder  längeren  Zwischenräumen  andere  folgen 
lassen,  Dokumente  der  Fortschritte  und  Wandlungen.  Wir  warten 
auf  den  Widerhall,  den  dieses  erste  Buch  in  jungen  jüdischen 
Herzen  wecken  wird. 

Prag,  im  Juni  191 3.  Hans  Kohn. 


IX 


JÜDISCHES  WESEN 


Das  jüdische  Geheimnis 

Von  Karl  Wolfskehl 

J-Jas  Judentum  ist  ganz  Historie  und  ganz  Metaphysik,  es  ist 
beides  schlechthin:  ganz  Wirklichkeit  und  ganz  Idee.  Dies  Volk 
hat  als  Volksganzes  das  Unzeitliche,  das  vom  zeitlichen  Zustand 
wesenhaft  verschiedene  Moment  der  Währung,  als  Zeitlichkeit 
innerhalb  des  Hier,  raumhaft  ausgedrückt,  es  ist  immer  dagewesen 
und  lebte  immer  wo  anders.  Man  kann  es  eigentlich  nicht  das 
„alte  Volk"  nennen,  denn  die  Gesetze  des  Wachsens  in  der  Zeit 
sind  nicht  seine  Gesetze.  Darum  hat  es  auch  keine  besonderen, 
abgesonderten  Blütezeiten  oder  es  hat  deren  viele.  Es  wird  nicht, 
es  besteht,  und  selbst  in  seinen  heiligen  Büchern,  die  von  seinem 
Anfang  reden,  ist  es  ein  ursprünglich  Gegebenes,  könnte  man 
doch  mit  allem  Fuge  sagen:  schon  Abraham  ist  das  ganze  Volk, 
Altvater  und  Einheit.  Dessen  verhülltes  Spiel  mit  den  Mächtigen 
der  Erde,  sein  Kauf  der  Grabstatt  als  einzigen  Grundes,  den  er 
sicher  will  (wie  wichtig  ist  das,  wie  aufschlußgebend,  daß  dem 
Jenseits  ein  Hier  gegeben  wird  und  nur  ihm ! )  sein  Freien  aus 
dem  gleichen  Stamm,  den  es  noch  nicht  gab,  sein  Feilschen  um 
die  Anderen  (Sodom! ),  sein  in  den  Geist  verlegtes  Fleischesopfer 
des  Sohnes:  ist  das  nicht  die  ganze  Jüdischheit  im  Einzelsein? 
Was  sonst  Leben  heißt,  scheint  hier  in  jedem  Moment  in  Frage 
gebracht,  ja  überwunden,  was  sonst  Denkformen,  Denknamen 
sind,  ist  hier  Erscheinung  geworden.  So  ist  das  Judentum  da, 
greifbar,  schmeckbar  wie  sonst  nichts  auf  der  Erde,  faktisch  und 
sich  selber  gleich,  selbst  eigen  —  so  ist  es  zugleich  bildlos  in 
jedem  Verstand,  ist  nicht  Form,  nicht  Leib,  nicht  schaubar  im 
höchsten  griechischen,  im  Mysteriensinne,  ist  fremd  und  anders, 
unerlebbar  den  Völkern,  die  in  seinem  AUerheiligsten,  da  sie  es 
sprengten.  Nichts  fanden.  Denn  diese  wirklichste  Wirklichkeit 
entzieht  sich  der  symbiotischen,  pflanzenhaften  Gemeinschaft  von 
Leben  und  Leben,  sie  befruchtet  ohne  die  Organe  des  Zeugens. 
Und  so  spottet  sie  auch  der  Einordnung  in  Gattungen,  so  kann 
sie  unter  keinen  „Gesichtspunkt"  gebracht  werden.  Ratlos 
stehen  Natur-  und  Geschichtswissenschaften  vor  dem  Problem. 
Ist  das  Judentum  eine  Rasse  oder  eine  Glaubenseinheit  oder  eine 
Zufallsmischung  (Luschan,  Wellhausen!),  ein  Staat  oder  eine 
Gemeinde,  ist  es  zugrund  gegangen  oder  lebt  es  weiter,  wann  war 


DAS  JÜDISCHE  GEHEIMNIS 

seine  antike  Lebensstufe,  wann  beginnt  seine  Transzendenz,  ist 
der  Profetismus,  dies  unerhörte  novuni  in  der  Welt,  ein  novum 
fürs  Jüdische?  Jede  Erwägung  geht  fehl,  jede  Feststellung  wirkt 
zufällig,  flach  gegenüber  diesem  Unfaßbaren.  Ja  die  letzten  ein- 
fachsten Fragen  sind  nicht  zu  erledigen,  nicht  mystische,  nicht 
sittliche,  nicht  äußerlich  reale.  Ist  es  zuhaus  oder  in  der  Fremde, 
ist  es  treu  oder  abtrünnig,  ist  es  berufen  oder  verfehmt?  Das 
Göttliche  selber  war  immer  im  Hader  mit  ihm  und  ist  immer 
mit  ihm  zusammen  gewesen:  welch  ein  Zustand,  welch  eine  Be- 
wegung, unzählbare  Wege,  dunkel  das  Ziel.  Unendlich  die  Wir- 
kung in  die  Weite,  unendlich  die  Vereinsamung.  Mehr  ist  nicht 
auszusagen,  als  daß  hier  das  schlechthin  Antithetische  Wesen  wird. 
Und  so  dürfen  wir  gewiß  sein,  daß  diese  stets  starre  und  stets 
zerstiebende  Einheit,  dies  Beharren  und  dies  Verstreuen,  dies 
Bändigen  und  dies  Befreien,  dies  ewige  Jetzt,  diese  Moses  und 
diese  Bergson  nimmer  auslöschen.  Gott  ist  diesem  Wesen  fern 
und  nah  gewesen,  nie  so  eins  mit  ihm,  daß  er  es  ganz  schmelze, 
ganz  übergehen  ließe  in  das  Andere  Reich,  nie  so  abgewandt, 
daß  es  in  Schutt  und  Scherben  zerfalle,  daß  es  untergehe. 


Der  Jude  als  Orientale 

Lieber  Freund  Martin  Buber  I 

oie  haben  mich  gebeten,  ich  möge  eine  auf  Juden  und  Juden 
tum  sich  beziehende  Stelle  in  meinem  Büchlein  „Der  Literat  oder 
Mythos  und  Persönlichkeit"  zugunsten  einer  Sammelschrift  in 
ausführlicherer  Weise,  als  es  dort  geschehen  ist,  also  gleichsam 
erläuternd  oder  exemplifizierend,  der  Betrachtung  würdigen  und 
dabei  das  Angedeutete,  Hingeworfene  und  scheinbar  Beiläufige 
rechtfertigen,  festigen  und  klarstellen. 

Die  Stelle  lautet:  In  der  Existenz  des  Juden  gibt  sich  die 
schärfste  Gegensätzlichkeit  geistiger  und  seelischer  Eigenschaften 
kund.  Er  ist  entweder  der  gottloseste  oder  der  gotterfüllteste  aller 
Menschen;  er  ist  entweder  wahrhaft  sozial,  sei  es  in  veralteten, 
leblosen  Formen,  sei  es  in  neuen,  utopischen,  das  Alte  zerstören- 
den, oder  er  will  in  anarchischer  Einsamkeit  nur  sich  selber 
suchen.  Entweder  ist  er  ein  Fanatiker  oder  ein  Gleichgültiger, 
entweder  ein  Söldner  oder  ein  Prophet.  Das  Schicksal  der  Nation, 
ihre  Vereinzelung  unter  fremden  Nationen,  ihre  ungeheuren 
wirtschaftlichen  und  geistigen  Anstrengungen  im  Kampf  gegen 
die  widrigsten  Umstände,  der  fortwährende  Zustand  der  Abwehr, 
der  Selbstbehauptung,  das  plötzliche  Erwachen  am  Morgen  eines 
Kulturtags,  das  leidenschaftliche  Ergreifen  der  Hilfsmittel  und 
Waffen  dieser  Kultur  und  die  darauf  erfolgte  gewaltsame  Unter- 
drückung und  Zerschneidung  der  Tradition,  all  das  hat  die  Juden 
als  ganzes  Volk  zu  einer  Art  von  Literatenrolle  vorbestimmt.  Wo 
sich  hingegen  der  einzelne  wieder  des  großen  Zusammenhangs 
bewußt  wird,  wo  er  im  Schoß  der  Geschichte,  der  Überlieferung 
ruht,  wo  urewige  Symbole  ihn  tragen,  urewige  Blutströme  ihm 
Adelsbewußtsein  verleihen  und  zugleich  alles  Errungene  und  Er- 
worbene organisch  damit  verschmilzt,  da  mag  er  wohl  den  Weg 
zu  Göttlichem  leichter  als  andere  finden.  Der  Jude  als  Europäer, 
als  Kosmopolit  ist  ein  Literat;  der  Jude  als  Orientale,  nicht  im 
ethnographischen,  sondern  im  mythischen  Sinne,  als  welcher  die 
verwandelnde  Kraft  zur  Gegenwart  schon  zur  Bedingung  macht, 
kann  Schöpfer  sein. 

So  schrieb  ich  im  Jahre  1909.  Diese  Überzeugung  hat  sich 
seitdem  verstärkt,  ja,  sie  ist  zu  einer  Art  von  Maxime  geworden, 
einem  Maßstab,  einem  geistigen  Gesetz.  Allein  ich  sehe  wohl,  daß 
hier  eine  gewisse  Zusammenfassung  des  Ausdrucks  und  Weit- 


DER  JUDE  ALS  ORIENTALE 

maschigkeit  der  Schlüsse  denjenigen  befremden  muß,  der  in 
diese  spezifische  Abbreviatur  nicht  eingeweiht  ist  und  die  Worte 
nur  nach  ihrem  engsten  Verstände  fragt.  Ich  will  daher  ver- 
suchen, mehr  in  der  Fläche  zu  bleiben. 

Wie  Ihnen  vielleicht  noch  erinnerlich  ist,  hatte  ich  in  jenem 
Buch  den  Literaten  als  den  vom  Mythos  losgelösten  Menschen 
bezeichnet,  und  es  war  damit,  nach  meinem  Dafürhalten,  ziem- 
lich viel  Licht  auf  diesen  Begriff  gefallen,  obgleich  ich  zugeben 
muß,  daß  nun  auf  einmal  der  „Literat",  der  ,, Gottlose",  nur 
noch  in  einer  sehr  lockeren  Verbindung  mit  der  „Literatur"  stand 
und  mehr  als  Gegensatz  zum  schöpferischen  Menschen  fixiert 
war.  Dieser  Gegensatz  führte  auf  logischem  Wege  auch  zu  dem 
zwischen  dem  Juden  als  Europäer,  als  Kosmopolit,  und  dem 
Juden  als  Orientalen. 

Es  ist  der  Gegensatz  zwischen  Verwelkung  und  Fruchtbarkeit, 
zwischen  Vereinzelung  und  Zugehörigkeit,  zwischen  Anarchie  und 
Tradition.  Sich  von  der  Vergangenheit  abzuschneiden,  ist  das 
leidenschaftliche  Bestreben  des  auf  sich  selbst  gestellten  Juden, 
gerade  weil  ihn  Milieu,  Reminiszenz,  Gewöhnung  und  Ver- 
pflichtung mancherlei  Art  äußerlich  oder  innerlich  an  die  Ver- 
gangenheit binden.  Aber  er  findet  in  der  Bindung  das  Gesetz 
nicht,  und  so  zerstört  er  sie  und  wird  Einzelner,  Individualist. 
Er  hat  nicht  Phantasie  genug,  um  zwei  nur  dem  Scheine  nach 
verschiedene  Formen  der  Existenz  in  seinem  Gemüt  zum  Ein- 
klang zu  bringen,  und  so  leugnet  er  die  eine,  die  wurzelhafte, 
und  macht  die  andere  zu  einem  Zufallsprodukt,  wähnend,  er  sei 
dessen  Lenker  und  Beherrscher.  Ein  Wahn,  der  nicht  verhindert, 
daß  er  die  tiefe  Unsicherheit  seiner  Position  beständig  spürt; 
weil  er  sie  spürt,  will  er  sie  desto  glaubhafter  machen  und  greift 
daher  zu  Mitteln,  die  seinen  Charakter  kompromittieren,  indem 
sie  sein  Selbstgefühl  nur  in  der  Gebärde  steigern.  Alles  wird 
Gebärde  an  ihm,  alles  Überhitzung,  alles  Manie.  Ihm  ist  sozu- 
sagen die  Idee  seines  Daseins  geraubt,  infolgedessen  muß  er 
jeden  Erfolg,  jede  Wirkung,  jede  Förderung  seiner  eigenen  iso- 
lierten Persönlichkeit  abzwingen,  und  so  besitzt  er  auch  nichts 
weiter  als  eben  diese  Persönlichkeit,  deren  Sklave  und  Opfer  er 
ist.  Er  muß  sich  behaupten,  er  muß  sich  durchsetzen,  und  da  er 
ohne  lebendige  Wechselwirkung  und  ohne  tiefere  Zugehörigkeit 


DER  JUDE  ALS  ORIENTALE 

lebt,  muß  er  seine  Anlagen  und  Fähigkeiten  überspannen  und 
bietet  ein  jammervolles  Schauspiel  beständigen  Krampfes,  be- 
ständiger Gier,  beständiger  Unruhe. 

Wir  kennen  sie  ja,  lieber  Freund,  wir  kennen  sie  und  wir 
leiden  an  ihnen,  diesen  tausenden  sogenannten  modernen  Juden, 
die  alle  Fundamente  benagen,  weil  sie  selbst  ohne  Fundament 
sind;  die  heute  verwerfen,  was  sie  gestern  erobert,  heute  be- 
sudeln, was  sie  gestern  geliebt,  denen  der  Verrat  eine  Wollust, 
Würdelosigkeit  ein  Schmuck  und  Verneinung  ein  Ziel  ist.  Sie 
geben  sich  nur  hin,  wo  sie  sich  verlieren  können,  und  bewundern 
nur  dort,  wo  sie  sich  verstoßen  fühlen.  Im  Grunde  ihres  Herzens 
glauben  sie  bloß  an  das  Fremde,  das  Andere,  das  Anderssein, 
erklärlicherweise,  denn  als  Entgötterte  sind  sie  ja  unverwandel- 
bar  und  suchen  vermittels  eines  salto  mortale  oder  einer  Ekstase 
die  Ergänzung  im  Extrem.  Die  in  der  Gier  und  im  Krampf  ver- 
geudete Seelenkraft  macht  ihr  Gemüt  alsbald  arm  und  öde  und 
drängt  sie  auf  das  Feld  steriler  Spekulation,  d.  h.  sie  treiben 
Kritik  um  der  Kritik  willen,  der  Formel  und  dem  Urteil  zuliebe. 
Aber  sie  leiden  auch  selbst,  und  ihr  Leiden  ist  ein  tötliches,  das 
wissen  sie  so  gut  wie  wir,  die  wir  ihnen  nur  ins  Antlitz  zu 
schauen  brauchen,  um  den  Tod  darin  zu  erkennen. 

Der  Jude  hingegen,  den  ich  den  Orientalen  nenne,  —  es  ist 
natürlich  eine  symbolische  Figur;  ich  könnte  ihn  ebensowohl 
den  Erfüllten  nennen,  oder  den  legitimen  Erben,  —  ist  seiner 
selbst  sicher,  ist  der  Welt  und  der  Menschheit  sicher.  Er  kann 
sich  nicht  verlieren,  da  ihn  ein  edles  Bewußtsein,  Blutbewußt- 
sein, an  die  Vergangenheit  knüpft  und  eine  ungemeine  Verant- 
wortung der  Zukunft  verpflichtet;  und  er  kann  sich  nicht  ver- 
raten, da  er  gleichsam  ein  offenbartes  Wesen  ist.  Er  ist  kein 
Leugner,  sondern  ein  Bestätiger.  Er  ist  niemals  Sektierer,  niemals 
Partikularist,  er  hat  nichts  von  einem  Fanatiker,  von  einem  Prä- 
tendenten, von  einem  Zurückgesetzten,  er  hat  alles  innen,  was 
die  andern  außen  suchen;  nicht  in  verbrennender  Rastlosigkeit, 
sondern  in  freier  Bewegung  und  Hingabe  nimmt  er  teil  am  fort- 
schreitenden Leben  der  Völker.  Er  ist  frei,  und  jene  sind  Knechte. 
Er  ist  wahr,  und  jene  lügen.  Er  kennt  seine  Quellen,  er  wohnt 
bei  den  Müttern,  er  ruht  und  schafft,  jene  sind  die  ewig  wandern- 
den Unwandelbaren. 


DER  JUDE  ALS  ORIE-NT.\LE 

Er  ist,  in  solcher  Vollkommenheit  gesehen.  Welleicht  mehr  eine 
Idee  als  eine  Erscheinung.  Doch  sind  es  nicht  die  Ideen,  durch 
welche  die  Erscheinungen  hervorgebracht  werden?  Jede  mensch- 
liche Wirklichkeit  ist  das  Erzeugnis  einer  Idee,  imd  die  bloße 
Aimung  des  Sternes,  der  über  dem  Sumpf  des  Rationalismus 
leuditet,  ist  wirklicher  als  das  beharrliche  LJuaken  des  Frosches 
in  seiner  Mitte.  Leben  Sie  wohl,  lieber  Freund,  und  seien  Sie 
gegrüßt  von  Ihrem 

Jak  oh  Wassermann. 


8 


Der  Geist  des  Orients 


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Welt  hii^ 

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über  Om  bmaas  —  iiK  1.  -.e  Oöe^  wo 

liat,  aUeic  for  rädi  dtwpLS  '  -  '   "vie  ■u 

es  ist  die  Häle,  solang  

Kreis,  der  meilerCukrt,  -  ^;ewiß  der  kier 

talsiciilicfae  WerdeoaBc:  ^  die  Mtfin. 

Am  dfiesen  Zeilen  Sf:  -  -rsiae  Zeis 

Seliiisiicht  nach  eineni  L  uen.  n^ 

i^annnng  nnaerer  ganiT 
tmm  ihres  Wesens,  nari 
den  WirküHikgit  derZn? 
adiqnatiacjrenden  WirtL 
los,  ohne  Erhdbmi^  wl 

seinen   Polen,  iwisAibl  ^.—  i    v^-u  .j: 

immer  goUXetncr,  sede:  .  tser.  Die  JodcL 

Ifgrhanisä^mnng  mit  her.  :  .:  7  :h.  die  Xot» 

Geschichte  waK«n  sie  ef 
verloKen,  ihre  Seele  mi- 
und  Bedingdieit  immer 
artigoi,  abet  unertrigli 
Zivilisati<n  büdel,  die 
jJeigett  nnd  ihre  Mögh : 
daher   unsere,  der  Jnc: 
Leben  za  erfollai.  On.' 
unseres  Seins  hat  ms  in 
unsere  RücUE:dir  zu  unserer  IMcben^gtt . 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

sticht  nach  unserer  Erfüllung,  nach  unserem  Sinne,  unsere  Ab- 
sage an  das  Sinnlose  und  Fragmentarische  unseres  bisherigen 
Lebens,  an  das  träge  Gewährenlassen  und  die  selbstbewußte  Bil- 
dungsphilisterei,  die  Erfassung  unser  selbst  als  einer  spontan- 
aktiven Kraft,  die  schöpferisch  in  das  Leben  eingreift,  all  das, 
was  wir  Zionismus  nennen,  hat  seinen  Ursprung  in  den  tiefsten 
Nöten  unseres  Ichs  und  unserer  Zeit. 

Die  Reihe  der  Zusammenhänge  hat  uns  weitergeführt;  wir 
tragen  heute  in  uns  das  Bewußtsein,  in  die  große  Kultureinheit 
des  Orients  hineinzuragen.  Näheres  darüber  zu  sagen  ist  unmög- 
lich und  unzulässig.  Nur  das:  es  scheint,  daß  heute  nicht  nur 
Europa,  sondern  auch  Asien  an  einem  Abgrunde  steht;  die  Stim- 
mung ist  allgemein  und  es  kann  leicht  vielfach  aus  arischen  Auto- 
ren nachgewiesen  werden,  daß  die  große  Auseinandersetzung  des 
Orients  und  Okzidents  herankomme.  Viel  wird  davon  abhängen, 
ob  das  Judentum  sich  auf  sich  und  seine  Aufgabe  besinnen  wird; 
man  spricht  oft  davon,  daß  Judäa  nicht  nur  geographisch  in  der 
Mitte  zwischen  Europa  und  Asien  liege:  wenn  die  Juden  Europa, 
das  sie  voll  in  sich  aufgenommen  haben,  überwinden,  kann  das 
Heil  noch  einmal  von  den  Juden  ausgehen. 

II. 

Es  mag  gewagt  und  vermessen  erscheinen  und  ein  Beweis  mehr 
sein  für  jene,  die  es  rügen,  daß  die  Jugend  heute  allzu  leicht- 
fertig alle  Grenzen  verwischt  und  mit  großen  Worten  spielt, 
denen  das  konkrete  Gegenbild  fehlt,  wenn  hier  der  Versuch  ge- 
macht wird,  an  eine  Stelle  in  Karl  Joels  ,, Seele  und  Welt"  an- 
zuknüpfen, die  mich  durch  die  Übereinstimmung  mit  für  mich 
lange  feststehenden  Gedanken  frappierte,  und  von  hier  aus  eini- 
ges über  den  Geist  des  Orients  zu  sagen.  Wie  bei  allen  dies&n 
Dingen  nur  andeutend  und  auf  das  emotionelle  Verständnis  des 
Lesers  angewiesen.  —  Den  Tadlern  sei  entgegengehalten,  daß 
seit  je  Orient  und  Okzident  als  —  entgegengesetzte  —  Einheiten 
empfunden  und  betrachtet  wurden,  und  wenn  die  Wissenschaft 
des  letzten  Jahrhunderts  über  den  Teilen  das  Ganze  vergaß,  so 
möge  eine  neue  —  deduktiv-synthetische,  von  der  ursprünglichen 
Intuition  getragene  und  genährte  —  allein  wahre  Wissenschaft 
erkennen,  daß  das  Ganze  ebenso  wirklich  ist  wie  seine  Teile. 


lO 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

Jede  Erkenntnis  aber  fordert  von  uns  ebenso  Zusammenschauen 
als  Übersehen. 

Während  die  Einheit  des  Orients  nahe  liegt,  ist  es  viel  schwie- 
riger, den  Umfang  des  Begriffes  Europa  zu  bestimmen.  Klar  ist 
nur,  daß  jene  großen  Lebenseinheiten,  die  hier  gemeint  sind, 
mit  den  Grenzen  der  biologischen  Rassenforschung  nichts  ge- 
mein haben.  Trotz  des  Verschwimmenden  des  Begriffes  Europa 
halte  ich  —  im  Gegensatz  zu  Emil  Luckas  Auffassung  in  seinen 
„Die  drei  Stufen  der  Erotik"  —  das  Hellenentum  und  die  euro- 
päische Kultur  seit  der  Renaissance  zwar  nicht  positiv,  wohl  aber 
negativ  in  ihrer  Abgrenzung  gegen  den  Orient  für  eine  Einheit. 

Der  Orient  ist  das  Land  der  einen  Richtung,  das  Reich  der 
Höhendimension:  man  vergleiche  die  ägyptischen  Pyramiden, 
den  Turmbau  zu  Babel,  ,, dessen  Spitze  bis  an  den  Himmel 
reichte",  die  Pagoden  des  Ostens,  man  vergleiche  all  diese  Him- 
melsstürmer mit  den  weiten,  die  Breite  der  bunten  Welt  ver- 
klärenden Tempeln  der  Griechen,  und  man  wird  den  hellenischen 
Geist  als  den  Geist  des  Nebeneinander  dem  orientalischen  gegen- 
überstellen. Aus  dieser  schönen  antithetischen  Formel  lassen  sich 
dann  viele  Züge  ableiten,  die  unschwer  im  einzelnen  ihre  Be- 
währung an  dem  uns  bekannten  Orient  finden  können.  Hier  sei 
nur  das  wichtigste  hervorgehoben.  Rechtfertigend  für  uns  ist  vor 
allem  der  Umstand,  daß  die  Züge,  die  Joel  aus  obiger  Antithese 
für  den  Orient  ableitet,  sich  im  wesentlichen  mit  den  Eigen- 
schaften des  Judentums  decken,  die  Martin  Buber  in  seiner  Ein- 
leitung zu  den  Geschichten  des  Rabbi  Nachman  festgestellt  hat: 
dem  Griechen  eignet  vor  allem  der  Raumsinn,  die  Verklärung 
des  Raumes,  die  Herrschaft  des  Auges,  dem  Orientalen  der  Zeit- 
sinn, die  Verklärung  der  Zeit  (in  messianischen  Hoffnungen  wie 
in  der  Lehre  von  der  Seelenwanderung),  die  Herrschaft  des  Ohres 
als  des  innerlichen  Sinnes,  wie  die  Zeit  dem  Raum  gegenüber  die 
Anschauungsform  innerlichen  Erlebens  ist,  woher  es  kommt,  daß 
das  Denken  und  Vorstellen  des  Orientalen  musikhaft  ist  gegen- 
über der  Bildhaftigkeit  des  Hellenen. 

Wie  das  Leben  im  letzten  Grunde  irrational,  unerklärlich  ist, 
so  auch  die  Zusammenhänge,  wie  der  Geist  einer  Epoche,  dieses 
so  oft  mißbrauchte  und  doch  als  daseiend  empfundene  Symbol, 


1 1 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

in  verschiedenen  Gestaltungen,  in  verschiedenen  Menschen  ein 
gleiches  Weltbild  hervorbringt.  Denn  die  Zeiten,  da  ein  Volk  zu 
leben  beginnt,  wo  seine  Bindungen  durch  die  gemeinsame  Not 
erstarken,  geben  sich  in  einer  an  alle  Wurzeln  unseres  Wesens 
rührenden  Erregung  kund,  in  einem  neuen  Lebensgefühl,  das  an 
uralte  Werte  anknüpft,  die  plötzlich  neues  Leben  gewinnen,  und 
zugleich  in  einem  ungestümen  Drängen  nach  neuem  unerhörten 
Schaffen,  nach  ganz  neuer  Schönheit  des  Lebens:  und  für  dieses 
neue  und  doch  im  uralten  Rhythmus  dahinströmende  Lebens- 
gefühl schafft  sich  das  Volk,  in  äusserlich  kaum  bestehendem 
Zusammenhang,  in  verschiedenen  seiner  besten  Köpfe  einen  Aus- 
druck, eine  Gestaltung.  Und  wie  vor  hundert  Jahren  die  Roman- 
tik, die  Gefühlserregung,  dem  deutschen  Volke  erst  wieder  sein 
nationales  Dasein  schenkte,  ihm  die  alten  Sagen  und  Märchen 
entdeckte,  den  alten  Stolz  und  die  alte  Einheit,  und  wie  die  Glut 
der  Freiheitskriege  und  die  nachkantische  idealistische  Philo- 
sophie Hand  in  Hand  gingen,  sich  (außer  in  Fichte),  kaum  be- 
rührend, und  doch  voll  der  gleichen  Stimmung:  so  ist  heute  in 
Henri  Bergson,  Karl  Joel,  Martin  Buber,  Gustav  Landauer  u.  a. 
eine  jüdische  Generation  herangewachsen,  die  das  jüdische  Welt- 
bild der  jungen  Generation  gestaltet,  gedeutet  hat.  Man  sehe,  wie 
Henri  Bergson  und  Martin  Buber  (in  seinem  „Daniel"),  von- 
einander völlig  unabhängig,  ihre  Werke  gegenseitig  nicht  ken- 
nend, zu  im  Grunde  völlig  gleichen  Ansichten  gelangen.  Und  wie 
in  der  deutschen  Philosophie  der  Freiheitskriege  das  Größte  deut- 
schen Geistes,  wie  Meister  Eckehart  auferstand,  deutlicher  und 
undeutlicher,  in  reiner  Form  oder  in  der  Gestalt,  die  ihm  seine 
Schüler  gegeben  haben,  in  Fichte,  Schelling,  Hegel,  Krause,  No- 
valis und  allen  anderen,  so  reckt  sich  in  den  jüdischen  Philo- 
sophen des  Heute  glühender  orientalischer  Geist,  erwacht  das  Blut 
der  morgenländischen  Ahnen.  (In  diesem  Buche  hat  Kurt  Singer 
dies  für  Bergson  gezeigt,  und  man  vergleiche  hierzu  noch  die 
Arbeit  Martin  Bubers  über  den  jüdischen  Mythus  und  die  grund- 
legende Studie  Hugo  Bergmanns).  An  einem  einzigen  Beispiele, 
das  auf  unserem  Wege  liegt,  möge  das  Erwachen  des  Orients  in 
den  Heutigen  gezeigt  werden  und  damit  die  scheinbare  Abwei- 
chung von  unserem  Thema  entschuldigt  werden:  an  der  Auffas- 
sung der  Zeit. 


12 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

Man  erkennt  die  Zeit  bald  als  das  tragende  Prinzip  alles  Welt- 
geschehens, bald  wenigstens  als  das  Prinzip  der  Auffassung  des 
eigenen  Volkes.  Buber  und  Joel  haben  —  denn  eine  andere  Quelle 
steht  schwerlich  in  Betracht  —  aus  der  Erkenntnis  ihrer  selbst 
die  Zeit  (das  Ohr  und  die  Musik)  als  die  Grundformung  des  Er- 
lebens des  Juden  aufgestellt,  Bergsons  ganze  Philosophie  ist  eine 
Verherrlichung  der  Zeit  und  aus  Gustav  Landauers  „Skepsis 
und  Mystik"  seien  folgende  bezeichnende,  wohl  weniger  bekannte 
Stellen  hergesetzt:  ,, Alles  Räumliche  zeitlich  auszudrücken,  ist 
vielleicht  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  kommender  Menschen." 
„Es  wäre  gut,  mit  Hilfe  des  Gehörs  alle  Welt  einmal  zeitlich  zu 
vernehmen  und  zu  sagen.  Die  Musik  ist  vielleicht  nur  ein  primi- 
tiver Anfang  zu  dieser  neuen  Sprache."  „Der  Raum  mit  allem, 
was  darin  ist,  ist  eine  Eigenschaft  der  Zeit.  Was  uns  räumlich 
beharrend  erscheint,  ist  eine  zeitliche  Veränderung;  was  uns  im 
Raum  bewegt  erscheint,  sind  die  wechselnden  Qualitäten  zeitlicher 
Vorgänge."  „Die  Zahl  ist  der  Weg  vom  Raum  zur  Zeit,  von  den 
Dingen  zum  Seelenfließen,  von  der  Gesichtssprache  zur  Musik, 
von  der  Weltanschauung  zur  Weltbeherrschung."  ,,An  die  Stelle 
der  Dinglichkeit,  der  Kausalität,  der  Materie  hat  die  Intensität, 
das  Fließen,  die  Psyche  zu  treten,  an  die  Stelle  des  Raumes  die 
Zeit."  Das  Buch  Landauers  ist  1908  erschienen,  ohne  jede  Kennt- 
nis Bergsons,  vor  Bubers  Einleitung  zu  „Rabbi  Nachman".  — 


In  allem,  was  wir  hier  zuletzt  betrachtet  haben,  feiert  die  Span- 
nung zwischen  zwei  Polen,  das  ungestüme  in  einer  Richtung  him- 
melhoch ragende  Verlangen  nach  Auslösung  der  Spannung,  nach 
Wachsen,  feiert  die  Eindimensionalität  ihre  Triumphe.  Und  aus 
der  Eindimensionalität  folgen  für  den  Morgenländer  die  Kraft 
der  Extreme,  sein  Gefühlsüberschwang  wie  seine  Begabung  für 
Mathematik.  Und  auf  das  Leben  angewendet:  das  Leben  des 
Griechen  können  wir  in  seiner  Breite  erfassen,  indem  wir  die  ge- 
wohnte Stimmung  seines  Alltagsdaseins  in  uns  aufnehmen  und 
so  einen  Gesamteindruck  gewinnen.  Es  gibt  in  seinem  Leben 
keinen  Punkt,  der  'uns  schlechthin  rätselhaft,  unverständlich  wäre, 
jeder  logischen,  verstandesmäßigen  Kausalität  entrückt,  ein 
Durchbruch  unerklärlicher,  unheimlicher  Grundkräfte   des  Le- 

i3 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

bens.  Das  gilt  auch  von  dem  die  Lust  an  der  bunten  Welt  spie- 
gelnden Leben  der  griechischen  Romantiker,  von  dem  Überschäu- 
men der  Stürmer  und  Dränger;  ihr  Leben  ist  —  wie  das  des  heute 
in  Romanen  vorwiegenden  Heldentypus,  des  modernen  Gondot- 
tiere,  voll  des  Duftes  der  Abenteuer  und  des  Rausches  der  Fer- 
nen, aber  es  ist  ein  vielfarbiger  Teppich,  dessen  Maschen  mit 
Kunst,  aber  dennoch  eindeutig  kenntlich  geknüpft  sind,  ohne 
jeden  plötzlichen  Abbruch.  Das  Leben  des  Orientalen  dagegen 
bietet  sich  uns  nur  in  jenen  Augenblicken,  wo  es  in  ungeheurer 
Konzentration  den  Urgrund  und  Sinn  seines  Seins  offenbart.  Das 
Leben  des  Hellenen  war  statischer  und  seine  Sehnsucht  die  Har- 
monie, das  Maß  der  nebeneinander  aufgestellten  und  so  indivi- 
duell zerfallenden  und  doch  wieder  zusammengeschauten  Dinge; 
das  Leben  des  Orientalen  war  dynamischer,  er  lebte  begeistert,  er 
lebte  vor  allem  seine  Tat.  Es  war  ein  Leben  in  Krisen,  ein  Leben, 
das  Augenblick  für  Augenblick  tötet  und  neugebiert.  Ihm  war  es 
gegeben,  statt  sein  Leben  in  die  Breite  versickern  zu  lassen,  es 
zusammenzunehmen  und  in  eine  Richtung  zu  bringen;  für  ihn 
zerfiel  nicht  Denken  und  Handeln,  wie  es  Krishna  in  der  Bha- 
gavadgita  Arjuna  lehrte.  Denn  sein  Leben  kannte  die  Umkehr, 
die  Berufung,  die  seinem  Leben  die  Tat  brachte  und  ihn  in  die 
Wüste  trieb  wie  die  Rechabiter  oder  sein  Leben  gestaltete  wie 
das  Leben  des  Elia,  des  Amos  und  des  Jesaja  und  so  viele  Heim 
und  Familie  verlassen  und  die  endlose  Landstrasse  ziehen  ließ; 
etwas  Unheimliches  und  ein  Grauen,  denn  wir  spüren,  daß  hier 
all  das,  was  uns  hält  und  uns  bequeme  Sicherheit  gibt,  gesprengt 
wird,  etwas  Unanfaßbares,  Letztes  sich  kundgibt.  Diese  Menschen 
sind  scheinbar  müßig  und  fordern  Friede  und  Ruhe,  und  meiden 
Waffenlärm  und  Kämpferfreude  auf  den  Heerstraßen,  aber  ihre 
Friedensliebe  ist  nur  scheinbar,  nur  in  Beziehung  auf  den  flüchtig 
huschenden  Schein,  das  beständige  Sichabnützen,  das  sinnlose 
Zerstreutsein  der  Menschen,  weil  die  Kämpfe,  die  sie  führen, 
ihre  Entscheidungen  und  Erschütterungen  in  einer  unendlich  ge- 
fährlicheren, ungesicherteren  Stellung,  in  einer  andern  Ebene  des 
Seins  fallen.  Denn  das  Abendland  kennt  die  Spannung  der  Rich- 
tung nicht,  sondern  die  Ausgeglichenheit  der  vielen  Dimensionen, 
die  so  leicht  das  Philisterium,  den  Kultus  des  Normalen  erzeugt, 
nicht  die  höchste  ethische  Gefahr  der  Spitze  —  nur  der  exzep- 

i4 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

tionelle  Europäer  erfährt  als  Tragik  seines  Lebens,  was  dem 
Orientalen  Form  des  Lebens  ist:  Kierkegaard,  der  sie  kannte,  ging 
an  dem  Paradox  zugrunde,  aber  auch  Nietzsche  hat  sie  gekannt: 
,,Ihr  sollt  es  immer  schlimmer  und  härter  haben:  so  allein  wächst 
der  Mensch  in  die  Höhe,  wo  der  Blitz  ihn  trifft  und  zerbricht, 
hoch  genug  für  den  Blitz!"  wie  wurden  doch  gerade  solche 
Worte,  die  ein  Kampfruf  sind  gegen  das  Ideal  der  Behaglich- 
keit, der  Bequemlichkeit,  des  Kompromisses  und  der  Halbheit, 
bei  Nietzsche  überhört  —  das  Abendland  kennt  vor  allem  die 
Umkehr  nicht,  die  Gnade,  ,, worin  unsere  Lippe  von  Seraphim 
berührt  wird,  daß  unsere  Missetat  von  uns  genommen  und  unsere 
Sünde  versöhnet  sei",  worin  ,,sich  des  Herzens  Knoten  spgJtet"; 
die  Umkehr,  die  im  Orient  alltäglich  ist  und  darum  auf  uns  nicht 
die  große  erschütternde  Wirkung  ausübt,  wie  die  wenigen  abend- 
ländischen Erlebnisse  eines  Jacopone,  Franciscus  oder  des  Abbe 
de  Rance. 

Die  Umkehr  beraubt  den  Orient  des  Maßes,  macht  ihn  zum 
Maßlosen,  zum  stets  Überfließenden.  Der  Europäer  hat  selbst 
das  Unfaßbare  geformt;  an  Stelle  der  bildlosen  metaphysi- 
schen Kausalitäten  der  Taolehre  und  der  Upanishaden  treten  die 
Bilder  der  glühend  innigen  Sinnlichkeit  Jacopones  oder  Mech- 
thilds,  und  Plotin,  der  Späthellene,  der  geistig  wie  sein  Schüler 
Proklus  ganz  die  Gebärde  des  gebietenden  Magiers  Asiens  an- 
genommen und  der  als  letzter  in  ungeheuerer  Synthese  versucht 
hat,  die  Antike  mit  dem  Orient  zu  versöhnen,  war  als  Mystiker 
Grieche,  die  Mystik  saß  ihm  im  Auge,  er  verlangte  die  Schau 
Gottes,  die  klare,  lichtvolle  Schau  des  ihm  transzendent  bleiben- 
den Gottes.  Der  Orient  dagegen  wendet  sich  ab  von  jeder  künst- 
lerischen Gestaltung,  er  sucht  und  gewinnt  in  dem  tiefsten  Ur- 
grund seiner  Seele  einen  Standpunkt,  Von  wo  er  das  nackte  Leben 
ergreifen  kann  —  für  die  Upanishaden  hat  es,  wie  ich  glaube, 
zum  erstenmal  Paul  Eberhardt  in  „Der  Weisheit  letzter  Schluß", 
wohl  nicht  unbeeinflußt  von  Bergson,  für  die  Taolehre  Buber 
im  Nachwort  zum  Tschuang-Tse  ausgesprochen,  —  wo  er 
durch  alle  Hüllen  hindurchfaßt  und  jedem  Ding  in  die  Brust 
greift,  wo  er  das  Letzte,  Übermenschliche  erfährt:  die  Umkehr, 
die  Wandlung,  die  Wiedergeburt.  Es  ist  das  Erlebnis,  das  die 
Propheten  gefaßt  und  ihr  Leben  zu  einer  Einheit  gebunden  hat, 

i5 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

das  sie  aus  dem  bürgerlichen  Leben  in  das  heroische  trieb,  das 
einem  einzigen  Sinne  unterworfen  ist:  Gott.  Es  ist  dieses  Erleb- 
nis, das  das  jüdische  Volk  stets  zu  einem  Schöße  neuer  Gottes- 
erlebnisse des  Volkes  mid  der  Menschheit  machte  zur  Zeit  der 
Propheten  wie  zur  Zeit  Christi,  zur  Zeit  Lurjas  wie  zur  Zeit 
Baalschems. 

III. 

Das  Substrat  des  Lebens  des  Orients  liegt  aber  in  zwei  chinesi- 
schen Begriffen,  im  Ming  und  im  Li.  Ming  ist  der  „Wille  des 
Himmels,  dessen  Stimme  jedes  unverdorbene  Herz  in  sich  ver- 
nimmt, und  die  ihm  ganz  leise,  ganz  vernehmlich  anzeigt,  was  zu 
ergreifen  ist  und  was  zu  fliehen.  "Li  ist  die  Ehrfurcht  vor  dem  Men- 
schen als  Gefäß  des  Ming.  Ming,  der  in  allen  Menschen  wohnende 
Wille  des  All,  der  Hingabe  und  Empfänglichkeit  fordert  an  die 
Harmonie  der  Welt,  die  die  Harmonie  der  vollendeten  Menschen- 
seele ist,  und  Li,  das  Band  zwischen  den  Menschen,  macht  das 
Denken  des  Orients  nicht  zum  persönlichen  Denken  allein  für 
sich  stehender  Individuen,  sondern  wie  das  Wesen  des  Orients 
Bindung  und  Zusammenhang  ist  in  Sippe,  Kaste,  Volk  —  und 
diese  Harmonie  des  Lebens  Kultur  bedingt  — ,  so  ist  auch  sein 
Denken  das  Denken  des  Volkes  in  seiner  Steigerung,  in  seiner 
Erhebung,  und  der  uns  oft  dem  Namen,  fast  stets  seinem  Schick- 
sale nach  unbekannte  Sprecher  wirklich  das  Sprachrohr  der 
Schweigenden,  des  ganzen  Volkes,  nicht  in  jenem  Sinne,  wie  es 
in  der  Kindheit  jedes  Volkes  der  Fall  ist,  sondern  in  jenejm 
schöpferischen  Sinne,  den  man  im  Anschluß  an  ein  Wort  Sim- 
meis dahin  fassen  kann,  daß  Kultur  der  Weg  ist  von  der  un- 
beA>Tißten  Einheit  über  die  Mannigfaltigkeit  zur  bewußten 
Einheit. 

Dem  Orient  liegt  das  Weltzentrum  nicht  in  der  Einzelpersön- 
lichkeit, sondern  in  der  Gemeinschaft.  Das  Individuum  fand  in 
der  Gruppe  seinen  natürlichen  Boden,  seine  Dauer  und  seine 
Unsterblichkeit.  Dem  Japaner  im  Kriege  gegen  Rußland  war 
das  willige  und  restlose  Sich-Einsetzen  für  die  Ziele  der  Ge- 
samtheit eine  Selbstverständlichkeit.  Und  den  größten  Orien- 
talen: Buddha  und  Christus  nahte  der  Versucher,  Mara  und  Sa- 
tanas, sie  zu  überreden,  das  Heil  ihrer  Seele  zu  retten,  aber  ihnen 

i6 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

handelte  es  sich  nicht  um  die  Erlösung  ihrer  Seele,  sondern  um 
das  Kommen  des  überindividuellen  Reiches  Gottes.  Die  neue 
Menschheit,  die  neue  Gemeinschaft  war  ihr  Ziel.  Und  so  müssen 
auch  wir  lernen:  nur  die  Menschen  leben  wahrhaft,  die  be- 
geistert, erhoben,  überwältigt  leben. 

Das  bedeutet  nicht,  der  Orient  habe  die  „Persönlichkeit"  nicht 
gekannt.  Im  Anfang  unserer  Religion  steht  das  „Ich  bin",  und 
wer  könnte  z.B.  in  Tschuang-Tses  Gleichnissen  das  stolze  Selbst- 
bewußtsein machtvoller  Individualität  übersehen.  Als  Individua- 
lität kann  nur  der  gelten,  der  sich  auf  das  höchste  anspannt,  im 
steten  Bewußtsein,  Werkzeug  der  Notwendigkeit  zu  sein,  der 
vollständig  im  Sachlichen  aufgeht  und  in  sinnvoller  Ordnung 
lebt.  Uns  Juden  fehlt  seit  Jahrhunderten  die  sinnvoll-lebendige 
Ordnung,  erlangen  können  wir  sie  nur  dort,  wo  wir  mit  unserem 
tiefsten  Leben  wurzeln:  im  Orient.  Dort  können  wir  wieder 
reine  Gefäße  des  himmlischen  Willens  werden,  ehrfürchtig  vor- 
einander, mutig  gegen  Gott. 

*  #  #  *  * 

Alle  Philosophie  —  im  weitesten  Sinne  gemeint  als  das  Staunen 
und  Forschen  des  Menschen  vor  den  unerklärlichen  Geheimnissen 
und  Zusammenhängen  der  Welt  —  hat  ihren  Wert  nicht  um  des 
Wissens  willen,  sondern  als  Form  des  menschlichen  Willens,  sich 
über  seine  Ziele  klar  zu  werden.  Nur  das  erlebte,  das  gelebte, 
das  in  Handlung  umgesetzte  Wissen  gilt.  Was  wollen  wir? 

Wir  wollen  die  Revolutionierung  der  Judenheit,  nicht  nur  der 
westjüdischen,  sondern  vor  allem  der  ostjüdischen.  Dies  Buch 
spricht  oft  davon.  Wir,  ein  unerhört  intellektuelles  Geschlecht, 
wollen,  wie  Nathan  Birnbaum,  die  Revolutionierung,  aus  der  eine 
neue  Religion  kommen  muß.  Religiosität  ist  der  Zionismus  schon 
heute:  die  Begeisterung,  die  Sehnsucht  nach  neuer  Gemeinschaft, 
das  Einsetzen  für  überindividuelle  Ziele,  der  feste,  uns  beseelende 
Glaube,  daß  es  so  kommen  muß,  sind  mir  Vorboten  des  Wieder- 
erwachens jüdischer  Religiosität. 

Man  kann  kommen  und  sagen:  Ihr  sprecht  von  Revolutionie- 
rung und  tut  nicht.  Dies  mag  dann  sein,  wenn  man  den  Worten 
eine  Heilsbotschaft  zutraut,  die  den  Wirkungskreis  des  ein- 
zelnen übersteigt.  Wohl  aber  können  wir  jeder  in  unserer 
nächsten  Umgebung  Gemeinschaften  schaffen,  Menschen    um- 

17 


DER  GEIST  DES  ORIENTS 

formen,  Geister  wecken.  Und  stets  wurde  in  kleinen  Kreisen  — 
Geheimbünden  —  früher  und  lebhafter  gefühlt,  was  später  die 
Allgemeinheit  bewegte  und  erschütterte.  In  diesen  Gemein- 
schaften wird  die  neue  Form  des  Lebens  geboren,  noch  nicht 
als  Erfüllung,  aber  als  Verheißung.  Und  aus  diesen  Gemein- 
schaften erwächst  dann  stets  einer,  der  den  Mut  hat  und  die 
Tat  vollführt. 

Denn  diese  Revolutionierung,  diese  Erneuerung  ist  nur  eine 
Stufe,  ein  Übergang,  und  man  muß  sich  hüten,  ihn  als  das  letzte 
zu  betrachten.  In  seiner  charakteristischen  Art  sagt  einmal  Alf- 
red Kerr:  „Chaos  ist  der  Vorzustand  eines  Sterns.  Die  Ansicht, 
wenn  aus  dem  Chaos  ein  Stern  geboren  werde,  sei  nicht  das 
Chaos  das  Bemerkenswerte,  sondern  der  Stern,  wird  von  den 
meisten  verworfen,  —  begünstigt  bleibt  sehr  der  Vorzustand  eines 
Sterns."  Und  die  Gefahr  ist,  daß  man  sich  an  das  Chaos  hingibt, 
es  perenniert  und  die  Tat  versäumt. 

Und  von  der  Tat  will  ich  noch  kurz  etwas  sagen,  leise  und 
ehrfürchtig,  wie  es  sich  für  den  ziemt,  der  noch  nicht  den  Mut 
zu  dieser  Tat  gefunden  hat.  Und  doch  geht  durch  diese  Worte 
ein  starkes,  tröstliches  Jauchzen,  denn  an  dieser  Tat,  die  im 
Laufe  der  letzten  dreißig  Jahre  oft  erfüllt  wurde,  meist  still 
und  unbemerkt,  erkennen  wir,  daß  es  uns,  auch  uns  möglich 
ist,  heroisch  zu  werden  und  an  der  neuen  Gemeinschaft  anders 
als  in  Dumpfheit  und  im  Worte  mitzubauen.  Die  Tat  tut  der, 
der  mit  allem  bricht,  was  ihm  hier  bisher  schön  und  gut  war,  der 
den  Schein  alles  Unwesentlichen  abtut  und  sich  reiner  Erde  ver- 
mählt, Bauer  wird  in  Palästina.  Dies  —  und  nur  dies  —  ist  wahr- 
haft ver  sacrum,  ist  Gründung  der  neuen  Lebensgemeinschaft. 


Wir  sind  heute  Juden,  Juden  der  Abstammung,  der  Geschichte 
nach,  in  unserem  Denken  und  Fühlen  durch  die  Faktoren  des 
Blutes  bestimmt.  Daß  wir  jüdisch  leben,  Kinder  seines  Geistes, 
muß  das  Judentum  wieder  ein  lebendiger  Fluß  werden,  ein 
Geisteskampf,  muß  es  seine  Grenzen  erweitern,  aus  seiner  Starr- 
heit und  Verknöcherung  treten  und  in  ungeheuerem  Aufschwung 
seine  Kraft  sammeln  zur  erlösenden  Tat. 

Es  ist  dies  eine  Frage  unseres  Mutes  und  unserer  sittlichen  Kraft. 

18 


JÜDISCHE   RELIGIOSITÄT 


Der  Mythos  der  Juden 

Aus  einem  Vortrag  von  Martin  Buber 

I. 

Wir  können  uns  unser  eigenes  Gefühl  vom  Mythos  zunächst 
nicht  besser  deuten,  als  wenn  wir  uns  den  Sinn  des  Wortes  etwa 
von  Plato  mitteilen  lassen.  Wir  finden  dann,  daß  Mythos  be- 
deutet: ein  Bericht  von  göttlichem  Geschehen  als  einer  sinn- 
lichen Wirklichkeit.  Es  ist  demnach  nicht  Mythos  zu  nennen, 
wenn  das  göttliche  Geschehen  als  ein  transzendenter  Hergang 
oder  als  ein  Erlebnis  der  Seele  zu  erzählen  versucht  wird:  ein 
theologischer  Vortrag,  sei  er  auch  von  evangelischer  Einfalt  und 
Größe,  oder  eine  Nachricht  von  ekstatischen  Visionen,  sei  sie 
von  noch  so  erschütternder  Sichtbarkeit,  stehen  außerhalb  des 
eigentlich  Mythischen. 

Dieser  ursprüngliche  Gehalt  der  sprachlichen  Überlieferung 
ist  so  tief  und  dauernd  berechtigt,  daß  man  es  recht  wohl  be- 
greifen kann,  wie  sich  aus  ihm  die  Ansicht  bilden  mußte,  die 
mythenbildende  Kraft  sei  einzig  jenen  Völkern  eigen,  denen  das 
Göttliche  als  eine  sinnlich  gegebene  Substanz  galt  und  die  daher 
auch  sein  Tun  und  Leiden  als  einen  Zusammenhang  rein  sinn- 
licher Begebenheiten  auffaßten.  Man  ging  weiter  und  stellte  diepo- 
lytheistisch  empfindenden  Völker  den  monotheistisch  empfinden- 
den als  die  mythenschaffenden  den  mythenlosen  gegenüber.  Zu 
diesen,  den  mythenlosen  Völkern,  wurde  das  jüdische  gezählt 
und  als  solches  verherrlicht  oder  verachtet;  verherrlicht,  wenn 
der  Beurteilende  im  Mythos  eine  niedere  Vorstufe  der  Religion 
sah,  verachtet,  wenn  er  in  ihm  den  sich  über  aller  Religion  er- 
hebenden Gipfel  des  Menschentums,  die  natürliche  und  ewige 
Metaphysik  der  Menschenseele  erblickte.  Solche  —  zumeist  recht 
wirksame  —  Versuche,  das  Wesen  von  Völkern  zu  bewerten, 
statt  es  zu  erkennen,  sind  immer  töricht  und  unnütz ;  am  meisten 
dann,  wenn  sie  wie  hier  auf  Unkenntnis  oder  Entstellung  der 
geschichtlichen  Realität  gegründet  sind.  Unkenntnis  und  Ent- 
stellung sind  ja  die  Grundpfeiler  der  modernen  rassenpsycho- 
logischen Behandlung  des  Judentums;  man  entdeckt  etwa  einen 
rationalistischen  oder  utilitaristischen  Zug  in  einigen  Aus- 
sprüchen oder  Gepflogenheiten  des  offiziellen  Judentums  und 
beteuert,  den  Rationalismus  oder  den  Utilitarismus  des  Juden- 


21 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

tums  erwiesen  zu  haben;  ohne  zu  ahnen  oder  ahnen  zu  wollen, 
daß  jenes  nur  unbedeutende,  wiewohl  geltungsmächtige  Stockun- 
gen in  der  großen,  aber  demütigen  Flut  der  inbrünstigen,  hin- 
gegebenen, überz weckhaften  jüdischen  Volksreligiosität  bedeutet. 
Und  die  jüdischen  Apologetiker  hinwieder,  deren  armseliger 
Eifer  darauf  geht  darzulegen,  daß  das  Judentum  gar  nichts  Be- 
sonderes, sondern  nur  die  pure  Humanität  sei,  tun  das  Gleiche 
auf  ihre  Weise:  weil  sie  selbst  in  der  Korruption  des  Rationalis- 
mus und  Utilitarismus  befangen  sind.  So  hat  man  denn  auch  von 
beiden  Seiten  die  Existenz  von  Mythen  im  Judentum  lange  Zeit 
geleugnet.  Das  war  nicht  gar  schwer.  Das  nachbiblische  Schrift- 
tum blieb  in  seinem  Wesen  lange  unbekannt:  die  Agada  galt 
als  müßiges  Phantasiespiel  oder  als  flache  Parabeldichtung,  der 
Midrasch  als  spitzfindige  und  unfruchtbare  Kommentarsamm- 
lung, die  Kabbala  als  sinnlose  und  groteske  Zahlentüftelei,  den 
Chassidismus  kannte  man  kaum  dem  Namen  nach  oder  tat  ihn 
als  eine  krankhafte  Schwärmerei  mit  geringschätziger  Gebärde 
ab.  Die  Bibel  aber  mochte  auch  mancher  redlichen  Erforschung 
so  erscheinen,  als  sei  ihr  alles  Mythische  fremd;  ist  sie  doch  in 
die  Form,  in  der  sie  auf  uns  gekommen  ist,  durch  eine  vom  Geiste 
des  offiziellen  spätjüdischen  Priestertums  inspirierte  Körper- 
schaft gebracht  worden,  die  die  nährende  Quelle  aller  wahrhaften 
Religiosität,  den  Mythos,  als  den  Erbfeind  der  Religion,  wie  sie 
sie  dachte  und  wollte,  ansah  und  daher  aus  der  Fülle  überkom- 
mener Schriften  alles  Mythische  nach  bestem  Wissen  ausschied. 
Glücklicherweise  war  dieses  ihr  Wissen  kein  vollständiges,  und 
manches  entging  ihr,  dessen  ursprünglicher  Charakter  ihr  nicht 
mehr  gegenwärtig  war.  So  finden  sich  in  allen  Büchern  der  Bibel 
versprengte  Adern  des  edlen  Erzes.  Als  sie  durch  die  neue 
Forschung  aufgedeckt  wurden,  konnte  man  die  Existenz  des 
jüdischen  Mythos  nicht  länger  leugnen;  aber  man  bestritt  nun- 
mehr seine  Selbständigkeit.  Wo  man  bei  einem  anderen  vorder- 
asiatischen Volke  ein  verwandtes  mythisches  Motiv  fand,  wurde 
es  als  das  Original,  das  jüdische  als  Abklatsch  proklamiert;  und 
wo  man  keins  fand,  da  nahm  man  eben  an,  das  Original  sei 
verloren  gegangen.  Es  tut  nicht  not,  hier  diesen  Kleinlichkeiten 
(die  dem  tief  fundierten,  aber  aussichtslosen  Verlangen  des  heuti- 
gen Abendländers  entsprungen  sind,  sein  Christentum,  auf  das 


22 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

er  nicht  verzichten  kann,  zu  entjuden)  nachzugehen;  denn  was 
unendlich  wesentlicher  ist  als  sie  einzeln  zu  widerlegen:  die 
ganze  Geschichtsauffassung,  die  sie  erst  möglich  macht,  ist  eine 
ungeheuerliche  Verirrung.  Es  ist  ein  verkehrtes  und  vermessenes 
Beginnen,  einen  solchen  zyklopischen  Bestand  wie  den  Mythen- 
besitz eines  Volkes  unter  dem  kläglich  ephemeren  Gesichtspunkt 
der  sogenannten  Originalität  zu  betrachten.  Wo  der  Geist  vor 
uns  steht,  da  gilt  nicht  Originalität,  sondern  Realität;  und  die 
T^erke  des  Geistes  sind  nicht  dazu  da,  daß  wir  sie  zerlegen  und 
die  Produkte  der  Analyse  daraufhin  prüfen,  ob  sie  hier  zum 
erstenmal  vorkommen  —  dieses  „zum  erstenmal"  kann  nur  der 
kümmerliche  Maulwurfsverstand  konzipieren,  der  die  unendliche 
Geschichte  des  Geistes  und  seine  ewig  neuen  Bildungen  aus  dem 
ewig  gleichen  Material  nicht  ahnt  — ;  die  Werke  des  Geistes 
sind  dazu  da,  als  geformte  Ganzheit,  als  einige  Gestalt,  als  Realität 
empfangen,  erlebt,  verehrt  zu  werden.  Und  eine  solche  Realität 
ist  der  Mythos  der  Juden,  wie  wir  ihn  trotz  aller  jüdischen  und 
antijüdischen  Anschläge  uns  wieder  aufzubauen  vermögen.  Er 
mag  allerlei  „Motive"  mit  denen  anderer  Völker  gemein  haben, 
und  es  wird  kaum  je  möglich  sein,  wahrhaft  zu  ermitteln,  welche 
davon  auf  einer  Wanderung  von  Volk  zu  Volk  —  wie  sie  ja  alle 
Völker,  die  sogenannten  produktiven  und  die  sogenannten  rezep- 
tiven, gebend  und  nehmend  erfahren  —  beruhen,  welche  hin- 
gegen auf  der  Artgemeinsamkeit,  die  zwischen  den  Juden  und 
jenen  anderen  Völkern  bestand  oder  besteht:  der  Gemeinsam- 
keit der  Formen  des  Erlebens  und  der  Formen,  das  Erlebte  aus- 
zusprechen, aber  auch  auf  der  Gemeinsamkeit  der  Erde  und  des 
Schicksals:  der  Gemeinsamkeit  der  Inhalte  des  Erlebens.  Das, 
sage  ich,  wird  wohl  nie  völlig  zu  ermitteln  sein.  Aber  nicht  das  ist 
uns  Nachgeborenen  wesentlich,  sondern  die  Reinheit  und  Größe 
des  schöpferischen  Menschentums,  das  all  dies,  wie  Cellini  seinen 
ganzen  Hausrat,  in  den  Gußofen  wirft  und  daraus  die  unsterb- 
liche Gestalt  errichtet.  — 

Gleichzeitig  mit  der  Bibel  wurde  auch  das  spätjüdische  Schrift- 
tum, wenn  auch  nicht  in  gleichem  Grade,  Gegenstand  der  neuen 
Forschung.  Und  obgleich  auch  in  ihm,  wie  in  der  Bibel,  das 
Walten  mythenfeindlicher  Elemente,  des  Rigorismus  des  Ge- 
setzes und  der  rabbinischen  Dialektik,    sich  kundgibt    und  die 

23 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

Äußerung  beschränkt,  konnte  man  nicht  umhin,  darin  eine  Fülle 
mythischen  Stoffes  zu  entdecken.  Was  als  willkürliche  Kommen- 
tierung biblischer  Stellen  gegolten  hatte,  erwies  sich  als  ein 
Schöpfen  und  Umbilden  ältesten  Volksgutes;  sagenhafte  Über- 
lieferungen, die  man  bei  der  Redaktion  des  Kanons  zu  ersticken 
versucht  hatte,  blühten  hier  in  urweltlichem  Reichtum;  eine  von 
Mund  zu  Ohr  und  wieder  von  Mund  zu  Ohr  durch  die  Ge- 
schlechter wandernde  Übergabe  heiliger  Geheimnisse,  und  doch 
auch  ein  unablässiges  Neuwerden,  bis  in  die  große  Umdichtung 
aus  dem  Geiste  der  jüdischen  Mystik.  —  Wie  die  anti jüdischen 
Rassentheoretiker  nach  dem  Bekanntwerden  der  mythischen 
Elemente  der  Bibel,  so  konnten  nach  dem  Bekanntwerden  der 
mythischen  Elemente  des  nachbiblischen  Schrifttums  die  ratio- 
nalistischen jüdischen  Apologetiker  die  Fiktion,  es  gebe  keinen 
jüdischen  Mythos,  nicht  länger  aufrechterhalten.  Sie  betraten  da- 
her einen  neuen  Weg:  sie  unterschieden  nunmehr  ein  negatives, 
mythologisches  und  ein  positives,  monotheistisches  Judentum; 
jenes  verwarfen  sie  als  Hemmung  und  Trübung,  dieses  feierten 
sie  als  die  wahre  Lehre;  sie  sanktionierten  den  Kampf  des  Rabbi- 
nismus  gegen  den  Mythos  als  die  fortschreitende  Reinigung  eines 
bedeutenden  Ideengehalts  und  stellten  sich  gleichsam  selbst  in 
diesen  Kampf  ein.  Ein  namhafter  jüdischer  Gelehrter,  der  dieser 
Richtung  naliesteht,  obgleich  er  sich  größere  Ziele  als  die  Apo- 
logetik setzt,  David  Neumark,  formulierte  diese  Ansicht  in  dem 
Satz:  „Die  Entwicklungsgeschichte  der  jüdischen  Religion  ist 
in  Wahrheit  die  Geschichte  der  Befreiungskämpfe  gegen  die 
eigene  und  fremde,  altehrwürdige  und  neugedichtete  Mytho- 
logie." Dieser  Satz  enthält  eine  Wahrheit,  aber  sie  ist  so  parteiisch 
ausgedrückt,  daß  sein  Wahrheitsgehalt  verdunkelt  erscheint. 
Wir  wollen  ihn  wieder  aufhellen  und  dem  Satz  eine  gerechtere 
Fassung  geben:  „Die  Entwicklungsgeschichte  der  jüdischen 
Religion  ist  in  Wahrheit  die  Geschichte  der  Kämpfe  zwischen 
dem  natürlichen  Gebilde  der  mythisch-monotheistischen  Volks- 
religion und  dem  intellektuellen  Gebilde  der  rational-monothe- 
istischen Rabbinenreligion."  Ich  sagte:  der  mythisch  -  monothe- 
istischen Volksreligion;  denn  es  ist  gar  nicht  wahr,  daß  Mono- 
theismus und  Mythos  einander  ausschlössen  und  ein  monotheistisch 
empfindendes  Volk  somit  der  mythenbildenden  Kraft  entbehren 

24 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

müßte.  Vielmehr  ist  jeder  lebendige  Monotheismus  des  mythi- 
schen Elements  voll,  und  nur  solange  er  dies  ist,  ist  er  lebendig. 
Allerdings  bemühte  sich  das  Rabbinentum  in  seinem  blinden 
Streben  nach  ,, Abgrenzung"  des  Judentums  um  die  Herstellung 
eines  vom  Mythos  ,, gereinigten"  Gottesglaubens;  aber  was  es  da- 
bei zustande  brachte,  war  ein  elender  Homunkulus.  Und  dieser 
Homunkulus  war  der  ewige  Exilarch,  er  hatte  die  Herrschaft  über 
die  Geschlechter  des  Galuth;  unter  seiner  Tyrannei  mußte  die 
lebendige  Kraft  des  jüdischen  Gott-Erlebens,  der  Mythos,  sich 
in  den  Turm  der  Kabbala  verschließen  oder  sich  am  Spinnrocken 
der  Frauen  verstecken  oder  aus  den  Mauern  des  Ghetto  in  die 
Welt  flüchten:  er  wurde  als  Geheimlehre  geduldet  oder  als  Aber- 
glaube verachtet  oder  als  Ketzerei  verstoßen.  Bis  der  Chassidis- 
mus  ihn  auf  den  Thron,  auf  den  Thron  eines  kurzen  Tages  setzte; 
von  dem  er  herabgestoßen  wurde,  um  als  ein  Bettler  unsere 
schwermütigen  Träume  zu  durchirren.  Und  doch  ist  er  es,  dem 
das  Judentum  in  den  Zeiten  der  Gefahr  seine  innerste  Ge- 
schlossenheit verdankte.  Nicht  Josef  Karo,  sondern  Isaak  Lurja 
hat  im  sechzehnten,  nicht  der  Gaon  von  Wilna,  sondern  der  Baal- 
schem  hat  im  achtzehnten  Jahrhundert  das  Judentum  wahrhaft 
gefestigt  und  abgegrenzt :  da  sie  die  Volksreligion  zu  einer  Macht 
in  Israel  erhoben  und  die  Persönlichkeit  des  Volkes  erneuerten 
aus  den  Wurzeln  seines  Mythos.  Und  wenn  es  den  freigelassenen 
Juden  unserer  Generation  so  schwer  wird,  ihre  menschliche  Reli- 
giosität mit  ihrem  Judentum  zu  einer  Einheit  zu  verschmelzen, 
so  ist  dies  die  Schuld  des  Rabbinismus,  der  das  jüdische  Ideal 
entmannt  hat;  wenn  aber  dennoch  der  Weg  zur  Einheit  uns 
noch  geöffnet  steht  und  es  uns  gewährt  ist,  indem  wir  unser 
Menschentum  vollenden,  zugleich  unser  Volkstum  zu  gewinnen, 
und  indem  wir  nach  unserem  selbeigenen  Gefühl  das  Göttliche 
verehren,  die  Flügel  des  jüdischen  Geistes  über  unserem  Haupte 
rauschen  zu  hören,  so  hat  dies  uns  die  hohe  Kraft  unseres  Mythos 
erwirkt. 


Wollen  wir  nun  das  Wesen  des  monotheistischen  jüdischen 
Mythos  erkennen  und  dadurch  zugleich  das  Wesen  des  Mythos 
überhaupt   tiefer   erfassen   lernen ,   so   liegt   uns   ob ,    die   Ent- 

25 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

stehung  des  jüdischen  Monotheismus  zu  betrachten,  wie  sie  sich 
uns  aus  der  Bibel  kundgibt.  Wir  entdecken  dann  drei  Schichten, 
die  wir  klar  zu  sondern  vermögen.  Von  diesen  drei  religionshisto- 
rischen Schichten  —  die  mit  den  textgeschichtlichen  der  modernen 
Bibelkritik  nicht  verwechselt  werden  dürfen  —  steht  die  erste 
unter  dem  Namen  Elohim,  die  zweite  unter  dem  Namen  Jahwe, 
die  dritte  benutzt  beide  Namen,  um  ein  in  Wahrheit  namenloses 
Gotteswesen  in  seiner  zwiefachen  Erscheinung  als  Allgott  und 
als  Volksgott  anzudeuten;  und  jede  dieser  Schichten  hat  ihre 
spezifische  Mythologie;  in  ihnen  baut  sich  der  jüdische  Mythos 
auf. 

Der  Name  „Elohim"  tritt  in  der  Bibel  gewöhnlich  als  Singular 
auf,  aber  es  ist  unverkennbar,  daß  er  ursprünglich  ein  Plural 
war  und  etwa  „die  Gewalten"  bedeutete.  Wir  finden  zahlreiche 
Spuren  dieser  Gottvielheit,  die  nicht  in  verschiedene,  individual 
existierende  Gestalten  von  persönlicher  Art  und  persönlichem 
Leben  differenziert  ist,  sondern  gleichsam  eine  im  Wesen  ge- 
sonderte, im  Handeln  verbundene  Mehrheit  kosmischer  Kräfte, 
ein  Aggregat  schaffender,  erhaltender  und  zerstörender  Mächte, 
eine  seltsame  und  unvergleichbare,  über  die  Erde  ziehende,  sich 
in  sich  selber  beratende  und  aus  ihrem  Rat  beschließende  Götter- 
wolke darstellt*).  Man  kann  verwandte  Erscheinungen  bei 
anderen  Völkern  aufzeigen;  aber  das  sind  alles  sekundäre 
Gottheiten,  Hilfsgottheiten  —  dem  monumentalen  Monoplu- 
ralismus  des  Elohim -Mythos  ist  nichts  anderes  an  die  Seite 
zu  setzen.  Einzigartig  ist  auch  seine  weitere  Entwicklung. 
Innerhalb  der  Vielheit  des  Elohim  bildet  sich  eine  dominierende 
Gewalt,  ein  namentragendes  Hauptwesen  heraus,  das  immer 
größere  Macht  an  sich  reißt  und  sich  endlich,  mit  den  mythischen 
Insignien  eines  alten  Stammgottes  geschmückt,  als  selbständiger 
Herrscher  loslöst:  Jahwe...  Noch  wird  gesungen:  Wer  gleicht 
Jahwe  unter  den  Söhnen  der  Götter?  Bald  aber  führt  er  die  Mächte, 
die  ihm  einst  Gefährten  waren,  als  dienende  Heerschar  mit  sich, 
mit  der  er  auch  seinen  Namen  ergänzt:  Jahwe  des  Gewalten- 
heeres, Jahwe  Zebaoth.  Zuletzt  sinkt  das  Elohim  zu  einem  bloßen 

*)  Ich  kann  an  dieser  Stelle  nur  auf  Resultate  hinweisen;  wer  unbefangen 
imd  mit  Verständnis  für  den  Sinn  hebräischer  Urworte  den  Bibeltext  liest, 
wird  sich  die  Belege  leicht  zusammenstellen, 

26 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

Attribut  herab:  Jahwe  Elohim  wird  der  Einzige  genannt;  aber 
auch  in  seinen-  anderen  Namen,  so  in  Schaddai,  schwingt  die 
einstige  Polydämonie  nach.  Und  noch  viel  später,  als  er  schon 
ins  Unsinnliche  gehoben  worden  ist,  redet  er  zuweilen,  als  spräche 
er  noch  zu  der  urweltlichen  Göttervielheit. 

Jahwe  ist  der  göttliche  Heros  seines  Volkes  und  die  uralten 
Hymnen,  die  uns  wie  aus  einer  früheren  geologischen  Epoche 
bewahrt  in  den  prophetischen  Schriften,  im  Hiob,  in  den  Psalmen 
versprengt  erhalten  geblieben  sind,  preisen  seine  Siegestaten, 
jede  ein  echter  Mythos:  wie  er  das  Untier  des  Chaos  zer- 
schmetterte und  unter  dem  Jubel  der  morgendlichen  Sterne  die 
Pfeiler  der  Erde  in  die  Tiefe  senkte.  — 

Und  nun  greift  jene  supreme  Tendenz  des  Judentums  ein,  die 
sich  mit  keinem  Einheitsgebilde  bescheidet,  sondern  von  jedem 
zu  einer  höheren,  vollkommeneren  Einheit  fortschreitet,  und 
weitet  diesen  kosmisch-nationalen  Jahwe  zum  Gott  des  Alls,  zum 
Gott  der  Menschheit,  zum  Gott  der  Seele.  Aber  der  Gott  des 
Alls  darf  sich  nicht  mehr  am  Abend  unter  den  Bäumen  seines 
Paradieses  ergehen,  und  der  Gott  der  Menschheit  darf  nicht  mehr 
mit  Jakob  bis  zum  Morgengrauen  ringen,  und  der  Gott  der  Seele 
darf  nicht  mehr  im  unversehrten  Dornbusch  brennen.  Der  Jahwe 
der  Propheten  ist  keine  sinnliche  Wirklichkeit  mehr;  und  die 
alten  mythischen  Bilder,  in  denen  er  verherrlicht  wird,  sind  nur 
noch  Gleichnisse  seiner  Unaussprechlichkeit.  So  scheinen  denn 
die  Rationalisten  nun  doch  noch  Recht  zu  bekommen  und  der 
jüdische  Mythos  ein  Ende  gefunden  zu  haben.  Aber  dem  ist 
nicht  so.  Schon  deshalb  nicht,  weil  das  Volk  die  Idee  eines  sinn- 
lich nicht  erlebbaren  Gottes  noch  Jahrtausende  später  nicht 
wahrhaft  angenommen  hatte.  Vor  allem  aber  deshalb  nicht,  weil 
die  Rationalisten  den  Begriff  des  Mythos  zu  eng  und  zu  klein 
fassen. 

Wir  haben  damit  begonnen,  Mythos  den  Bericht  von  göttlichem 
Geschehen  als  einer  sinnlichen  Wirklichkeit  zu  nennen.  Aber 
weder  Plato  noch  unser  Sprachgefühl  versteht  diese  Definition 
so  wie  die  Rationalisten  sie  verstehen:  als  ob  nur  der  Erzählung 
von  dem  Tun  oder  Leiden  eines  als  sinnliche  Substanz  gegebenen 
Gottes  der  Name  eines  Mythos  zukäme.  Vielmehr  ist  dies  ihr 
Sinn:   daß  wir  Mythos  alle  Erzählung  von  einem  sinnlich  wirk- 

27 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

liehen  Geschehen  zu  nennen  haben,  die  es  als  ein  göttliches,  ein 
absolutes  Geschehen  empfindet  und  darstellt. 

Um  dies  mit  aller  Klarheit  zu  erfassen,  müssen  wir  noch  ein- 
mal nach  dem  Allgemeinen  ausschauen  und  danach  fragen,  wie 
denn  Mythos  entsteht. 

3. 

Die  Welterkenntnis  des  ,, zivilisierten"  Menschen  ist  getragen 
von  der  Funktion  der  Kausalität,  von  der  Betrachtung  der  Welt- 
vorgänge in  einem  empirischen  Zusammenhang  der  Ursachen  und 
Wirkungen.  Durch  diese  Funktion  wird  erst  eine  Orientierung,  ein 
Sichzurechtfinden  im  unendlichen  Geschehen  ermöglicht;  zu- 
gleich aber  wird  der  Sinn  des  einzelnen  Erlebnisses  geschwächt, 
weil  es  so  nur  aus  seiner  Beziehung  zu  anderen  Erlebnissen,  nicht 
vollkommen  aus  sich  selber  erfaßt  wird.  Beim  primitiven  Men- 
schen ist  die  Funktion  der  Kausalität  noch  recht  schwach  aus- 
gebildet. Fast  ausgeschaltet  ist  sie  bei  ihm  Ereignissen  gegenüber, 
die  ihm  eine  Sphäre  darstellen,  in  die  forschend,  wiederholend, 
nachprüfend  einzudringen  nicht  in  seiner  Macht  ist,  wie  Traum 
und  Tod;  Menschen  gegenüber,  die  in  sein  Leben  mit  einer  ge- 
bieterischen Dämonie  eingreifen,  die  er  nicht  nach  Analogie 
seiner  eigenen  Fähigkeiten  zu  begreifen  vermag,  wie  der  Zauberer 
und  der  Held.  Er  reiht  diese  Ereignisse  nicht  in  den  ursächlichen 
Zusammenhang  ein  wie  die  kleinen  Begebenheiten  seines  Tages, 
er  reiht  die  Taten  dieser  Menschen  nicht  in  die  Kette  des  Ge- 
schehens ein  wie  die  seinen  und  die  seiner  Vertrauten,  er  regi- 
striert sie  nicht  mit  kundigem  Gleichmut  wie  das  Gewohnte  und 
Verständliche,  sondern  er  nimmt  sie,  von  der  kausalen  Funktion 
ungehemmt,  mit  der  ganzen  Spannung  und  Inbrunst  seiner  Seele 
in  ihrer  Besonderheit  auf  und  bezieht  sie  nicht  auf  Ursachen 
und  Wirkungen,  sondern  auf  ihren  eigenen  Gehalt,  auf  ihren 
Sinn  als  Äußerungen  des  unsagbaren,  undenkbaren,  nur  eben 
in  ihnen  sich  darstellenden  Sinnes  der  Welt.  Daraus  ergibt  sich 
die  unzulängliche  Empirie  und  Zwecksicherheit  des  Primitiven 
solchen  elementaren  Erlebnissen  gegenüber,  aber  zugleich  auch 
sein  hohes  Gefühl  für  das  Irrationale  des  einzelnen  Erlebnisses, 
für  das,  was  daran  nicht  aus  andern  Vorgängen  zu  begreifen, 
sondern  nur  aus  ihm  selbst  zu  erschauen  ist,  für  seine  Bedeutung 

28 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

als  Signum  eines  geheimen,  überkauseJen  Zusammenhangs,  für 
die  Anschaulichkeit  des  Absoluten.  Er  stellt  die  Vorgänge  in  die 
Welt  des  Absoluten,  des  Göttlichen  ein:  er  mythisiert  sie.  Sein 
Bericht  von  ihnen  ist  eine  Erzählung  von  einem  sinnlich-w^irk- 
lichen  Geschehen,  die  es  als  ein  göttliches,  ein  absolutes  Ge- 
schehen empfindet  und  darstellt:   ist  Mythos. 

Diese  mythisierende,  mythenbildende  Fakultät  erhält  sich  im 
späteren  Menschen  trotz  aller  Entfaltung  der  kausalen  Funktion. 
In  Zeiten  hoher  Spannung  und  Intensität  des  Erlebens  fällt 
gleichsam  vom  Menschen  die  Fessel  der  Kausalitätsfunktion  ab: 
er  erkennt  das  Geschehen  der  Welt  als  ein  überkausal  sinnvolles, 
als  die  Äußerung  eines  zentralen  Sinnes,  der  aber  nicht  etwa  mit 
dem  Gedanken,  sondern  nur  mit  der  wachen  Gewalt  der  Sinne 
und  dem  glühenden  Schwingen  der  ganzen  Person  zu  erfassen 
ist,  als  eine  anschauliche,  in  aller  Vielheit  gegebene  Wirklich- 
keit. So  etwa  ist  noch  immer  das  Verhältnis  des  wahrhaft  lebendi- 
gen Menschen  zu  der  Gestalt  und  dem  Schicksal  des  Helden  be- 
schaffen; er  vermag  ihn  in  die  Ursächlichkeit  einzustellen  und 
mythisiert  ihn  dennoch,  weil  ihm  die  mythische  Betrachtung  eine 
tiefere,  ganzere  Wahrheit  eröffnet  als  die  kausale  und  ihm  so 
erst  die  geliebte,  beseligende  Gestalt  im  Innersten  erschließt. 

So  ist  denn  der  Mythos  eine  ewige  Funktion  der  Seele. 

Es  ist  nun  seltsam  und  bedeutsam  zu  beobachten,  wie  diese 
Funktion  sich  mit  der  fundamentalen  Anschauung  der  jüdischen 
Religiosität  begegnet  und  wie  sie  doch  auch  wieder  in  dieser 
ein  wesensverschiedenes,  sie  umwandelndes  Element  findet:  wie 
sozusagen  von  Natur  der  jüdische  Mythos  eine  geschichtliche 
Kontinuität  darstellt  und  wie  er  doch  zugleich  sein  besonderes, 
den  andern,  namentlich  den  okzidentalen  Mythen  fremdes  Ge- 
präge besitzt. 

Die  fundamentale  Anschauung  der  jüdischen  Religiosität  und 
der  Kern  des  so  vielfach  mißverstandenen,  so  grausam  rationali- 
sierten jüdischen  Monotheismus  ist  die  Betrachtung  aller  Dinge 
als  Äußerungen  Gottes,  alles  Geschehens  als  einer  Kundgebung 
des  Absoluten.  Während  dem  andern  großen  Monotheisten  des 
Orients,  dem  indischen  Weisen,  wie  er  sich  uns  in  den  Upani- 
schaden  darstellt,  die  sinnliche  Wirklichkeit  ein  Schein  ist,  den 
man  abstreifen  muß,  um  in  die  Welt  der  Wahrheit  einzukehren, 


29 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

ist  dem  Juden  die  sinnliche  Wirklichkeit  eine  Offenbarung  des 
göttlichen  Geistes  und  Willens.   Darum  ist  für  den    indischen 
Weisen,  wie  später  für  den  Platoniker,  aller  Mythos  eine  Metapher, 
für  den  Juden  ist  er  ein  wahrhafter  Bericht  von  der  Kundgebung 
Gottes  auf  Erden.  Der  antike  Jude  kann  gar  nicht  anders  als 
mythisch  erzählen:    weil  ihm  erst  dann  eine    Begebenheit    er- 
zählenswert ist,  wenn  sie  in  ihrem  göttlichen  Sinn  gefaßt  worden 
ist.  Alle  erzählenden  Bücher  der  Bibel  haben  einen  Inhalt:   die 
Geschichte  von  den  Begegnungen  Jahwes  mit  seinem  Volke.  Und 
später,  als  er  aus  der  Sichtbarkeit  der  Feuersäule  und  der  Hör- 
barkeit des  Donners  über  dem  Sinai  in  das  Dunkel  und  Schweigen 
der  Unsinnlichkeit  eingegangen  ist,  bricht  diese  Kontinuität  des 
mythischen  Erzählens  nicht  ab;    wohl  kann  Jahwe  nicht  mehr 
wahrgenommen  werden,  aber  wahrgenommen    werden    können 
alle  seine  Äußerungen  in  Natur  und  Historie.  Aus  diesen  baut 
sich  der  unendliche  Gegenstand  des  nachbiblischen  Mythos  auf. 
Es  geht  wohl  schon  aus  dem  Gesagten  hervor,  was  das  ist, 
was  ich  das  besondere  Gepräge  des  jüdischen  Mythos  genannt 
habe.  Er  hebt  die  Kausalität  nicht  auf,  er  setzt  nur  an  die  Stelle 
der  empirischen  eine  metaphysische  Kausalität,  einen    ursäch- 
lichen Zusammenhang  der  erlebten  Vorgänge  mit  dem  Wesen 
Gottes.  Das  ist  aber  nicht  etwa  bloß  in  dem  Sinne  gemeint,  daß 
sie  von  Gott  bewirkt  sind,  sondern  immer  stärker  bildet  sich  die 
tiefere   und   fruchtbarere   umgekehrte   Konzeption   heraus:    die 
von  dem  Einfluß  des  Menschen  und  seiner  Tat  auf  Gottes  Schick- 
sal. Diese  Anschauung,  die  schon  früh  eine  zugleich  naive  und 
mystische    Gestaltung    findet    und    die    im    Chassidismus  ihren 
höchsten  Ausdruck  gewinnt,  lehrt,  daß  das    Göttliche    in    den 
Dingen  schlummert  und  nur  durch  den  erweckt  werden  kann, 
der  die  Dinge  in  Weihe  empfängt  und  sich  in  ihnen  heiligt.  Die 
sinnliche  Wirklichkeit  ist  göttlich,  aber  sie  muß  in  ihrer  Gött- 
lichkeit verwirklicht  werden  durch  den,  der  sie  wahrhaft  erlebt. 
Die  Gottesherrlichkeit  ist  in  die  Verborgenheit  gebannt,  sie  liegt 
gebunden  auf  dem  Grunde  jeglichen  Dinges,  und  sie  wird  in 
jedem  Dinge  erlöst  durch  den  Menschen,  der    schauend    oder 
handelnd  dieses  Dinges  Seele  freimacht.   So  ist  ein  jeder    be- 
rufen, mit  seinem  eigenen  Leben  Gottes  Schicksal  zu  bestimmen; 
so  steht  jeder  Lebendige  tief  verwurzelt  im  lebendigen  Mythos. 

3o 


DER  MYTHOS  DER  JUDEN 

Diesen  zwei  Konzeptionen  entsprechen  die  zwei  Grundformen, 
in  denen  sich  der  jüdische  Mythos  ausgebildet  hat:  die  Sage 
von  den  Taten  Jahwes  und  die  Legende  vom  Leben  des  zentralen, 
des  vollkommen  verwirklichenden  Menschen.  Die  eine  folgt  dem 
Gang  der  Bibel,  so  daß  sich  um  den  Bestand  der  Schrift  eine 
zweite,  gleichsam  eine  in  unzähligen  Schriften  verstreute  Sagen- 
bibel geformt  hat;  doch  schließt  sich  auch  manches  Stück 
späterer  Geschichte  und  manche  zeitlich  nicht  lokalisierte  Er- 
zählung an.  Die  zweite  Grundform  berichtet  zunächst  von  einigen 
biblischen  Personen,  insbesondere  von  jenen  geheimnisvollen 
Gestalten,  die  der  kanonische  Text  vernachlässigt  hat,  wieHenoch, 
der  aus  Fleisch  zu  Feuer  gewandelt  wurde  und  aus  einem  Sterb- 
lichen zu  Matatron,  dem  Fürsten  des  göttlichen  Angesichtes;  so- 
dann erzählt  sie  in  kosmischer  Weite  das  Leben  der  heiligen 
Männer,  die  über  die  innere  Welt  herrschten,  von  Jeschua  aus 
Nazareth  bis  zu  Israel  dem  Sohne  Eliesers,  dem  Baalschem,  Die 
erste  stellt  gleichsam  den  ewigen  Zusammenhang,  die  zweite  die 
ewige  Erneuerung  dar.  Die  eine  lehrt  uns,  daß  wir  Bedingte 
sind;  die  andere,  daß  wir  Unbedingte  werden  können.  Die  eine 
ist  der  Mythos  der  Welterhaltung,  die  andere  der  der  Welt- 
erlösung. 


3i 


Die  Heiligung  des  Namens 

(KIDDUSCH   HASCHEM) 

Von  Hugo  Bergmann 

Im  2  2.  Kapitel  des  dritten  Buches  Moses  findet  sich  eine  Stelle, 
welche  bestimmt  war,  den  Ausgangspunkt  einer  der  eigenartigsten 
religiösen  Konzeptionen  des  jüdischen  Volkes  zu  bilden.  Es  heißt 
da:  „Beobachtet  meine  Gebote  und  erfüllet  sie;  ich  bin  Jahwe. 
Und  entweihet  nicht  den  Namen  meiner  Heiligkeit,  auf  daß  ich 
geheiligt  werde  in  der  Mitte  der  Kinder  Israels.  Ich  bin  Jahwe, 
der  euch  heiligt." 

Das  Merkwürdige  an  diesem  Verse  liegt  in  dem  Worte  ,,Wenik- 
daschti":  ich  werde  geheiligt  in  der  Mitte  der  Kinder  Israel. 
Gott,  der  Heilige,  er,  der  selbst,  wie  es  hier  heißt,  die  Heiligkeit 
verleiht,  soll  durch  die  Kinder  Israels  geheiligt  werden.  Man 
könnte  geneigt  sein,  in  dem  Vers  nur  eine  Metapher  zu  erblicken, 
aber  unsere  Ausführungen  wollen  zeigen,  daß  hier  ein  ganz  tiefes 
Wort  ausgesprochen  wurde.  Sehr  mit  Recht  hat  Jellinek  den 
Vers  als  Israels  Bibel  im  kleinen  bezeichnet. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  zunächst  den  Sinn  des  Wortes  „ka- 
dosch"  (heilig).  Der  Gebrauch  des  Wortes  in  der  Bibel  weist 
auf  einen  innigen  Zusammenhang  zwischen  der  Forderung  der 
Heiligkeit  und  der  der  Sittlichkeit  hin.  Aber  die  Heiligkeit  ist 
die  besondere  Weise  der  Sittlichkeit,  wie  sie  Gott  zukommt.  Er 
heiligt  ja.  Dem  Menschen  tritt  die  sittliche  Forderung  zunächst 
als  fremde,  gebietende  Gewalt  entgegen.  Die  jüdische  Tradition 
erzählt,  daß  Gott,  als  er  den  Israeliten  die  Offenbarung  am 
Berge  Sinai  brachte,  „den  Berg  wie  ein  Faß  über  sie  gestülpt 
hat".  Das  Sittliche  ist  für  uns  zunächst  ein  Zwang,  der  uns  an- 
getan wird.  Obzwar  wir  dem  Sittengesetze  nur  in  Freiheit  folgen 
können  und  es  keine  Nötigung  zur  sittlichen  Handlung  geben 
kann  —  denn  der  Zwang  würde  sie  unsittlich  oder  sittlich  in- 
different machen  —  so  kann  der  Mensch  doch  —  solange  er 
Mensch  ist  —  nur  aus  einem  Widerstreite  gegen  seine  sinnliche 
Natur  dem  sittlichen  Gebote  folgen.  Gott  dagegen  wird  als  der 
Urheber  des  Sittengesetzes  gedacht;  nicht  freilich  so,  wie  es  sich 
eine  spitzfindige  Sophistik  ausgeklügelt  hat,  als  ob  er,  einem 
launischen  Despoten  gleich,  zum  Sittlichen  stempeln  könnte, 
was  er  wollte,  sondern  so,  daß  Wahrheit  und  Sittlichkeit  sein 

32 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

Wesen,  von  ihm  unzertrennlich  sind.  Er  ist  der  Heilige,  denn 
in  reiner,  lauterer  Klarheit,  ohne  Widerstand  und  Widerstreit, 
vollbringt  er  die  sittliche  Tat. 

Damit  aber  erscheint  der  Begriff  des  G eheiligtiver dens  erst 
recht  schwer.  Wenn  Gott  in  sich  heilig  ist,  was  soll  es  heißen, 
daß  er  durch  den  Menschen  geheiligt  werden  soll?  Wollen  wir 
dies  verstehen,  so  müssen  wir  uns  in  die  Gottesvorstellung  ver- 
tiefen, welche  die  jüdische  Religiosität  charakterisiert.  Sie  ist 
von  der  uns  aus  der  Begriffswelt  unseres  Kulturkreises  bekannten 
gründlich  verschieden.  In  der  Betrachtungsweise  des  heutigen 
Abendlandes  sind  Gott  und  Welt  etwas  ein-  für  allemal  Ge- 
gebenes, die  Welt  und  die  Menschen  in  ihr  von  Gott  geschieden. 
Auch  die  jüdische  Auffassung  trennt  Gott  und  Welt,  aber  sie 
verknüpft  das  Schicksal  der  Welt  und  Gottes  so  miteinander, 
daß  nicht  bloß  die  Welt  von  Gott,  sondern  —  und  das  ist  für 
unsere  Betrachtung  von  zentraler  Bedeutung  —  das  Schicksal 
\Gottes  von  der  Welt  abhängt.  Wir  werden  vielleicht  den  Gegen- 
satz der  heutigen  Anschauung  gegenüber  der  jüdischen  am  besten 
so  charakterisieren  können,  daß  das  Verhältnis  von  Gott  und 
Welt  in  der  europäischen  Anschauung  ein  statisches,  in  der 
jüdischen  ein  dynamisches  ist.  Nach  jener  ist  Gott  und  ist  einer 
und  ist  heilig  und  so  fort.  Die  jüdische  Ansicht  betrachtet  Gott 
vom  Standpunkte  des  Menschen  aus,  als  des  menschlichen  Lebens 
Ziel  und  Aufgabe.  Mag  nun  Lagardes  Übersetzung  der  Worte 
El  und  Elohini  (Gott)  mit  Ziel  philologisch  richtig  sein  oder 
nicht,  sie  trifft  jedenfalls  den  Sinn  der  jüdischen  Gottesvor- 
stellung sehr  gut.  Gott  ist  dem  Menschen  die  Aufgabe,  die  erfüllt, 
das  Ziel,  das  erreicht  werden  soll.  Selbst  die  Eigenschaft  Gottes, 
die  für  den  Juden  die  größte  Bedeutung  hatte,  seine  Einheit, 
wird  in  dieser  Weise  dynamisch  gefaßt.  Man  spricht  nicht  von 
der  Einheit,  sondern  der  Einung  Gottes:  Jichud  haschem.  Die 
Einheit  Gottes  —  so  lehrt  der  Sohar  (I  44b  unten)  —  hängt  ab 
vom  Gebete  des  Menschen;  der  Sohar  gibt  uns  eine  ausführliche, 
in  seiner  phantastischen  Art  gehaltene  Schilderung,  wie  das  Ein- 
dringen des  Gebetes  in  den  Himmel  die  Einung  zustande  bringt. 
Man  findet  am  Schlüsse  des  Versöhnungstages  in  den  Gebeten 
die  siebenmalige  Wiederholung  der  Worte:  ,, Jahwe  ist  Elohim!  " 
Heute  ist  uns  das  bloße  Formel.  Dem  Juden  war  es  Ausdruck 

-5  33 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

des  höchsten  Geheimnisses.  Die  innige  Erhebung,  in  welcher  er 
den  Tag  der  Versöhnung  verbracht  hatte,  bewirkte,  daß  Jahwe 
und  Elohim  sich  vereinigten:  die  Schöpfung,  deren  Prinzip 
Elohim  ist*),  hatte  sich  wieder  ihrem  Urquell,  dem  göttlichen 
Welterhalter,  Jahwe,  zugewendet.  Im  innigen  Gebete  hatte  der 
Jude  seine  Mannigfaltigkeit  zur  Einheit  versöhnt  und  konnte  nun 
rufen:  Eines  ist  die  Vielheit,  göttlich  ist  die  Welt,  Jahwe  ist 
der  Elohim!  Die  siebenmalige  Wiederholung  dieses  Rufes  am 
Schlüsse  des  Versöhnungstages  sprach  so  gewissermaßen  das  aus,, 
was  durch  Gebet,  Fasten  und  Versenkung  den  Tag  über  erreicht 
worden  war**). 

Vom  Menschen  aus  gesehen,  ist  Gott  also  wesentlich  Aufgabe 
und  sein  Schicksal  hängt  sofern  vom  Menschen  ab.  Im  Midrasch 
Wajikra  rabbah,  cap.  3o  heißt  es:  ,,Und  wenn  ihr  also  tut,  spricht 
Gott,  wenn  ihr  zu  einem  Bunde  werdet,  in  derselben  Stunde  steige 
ich  empor,  werde  ich  erhöht."  An  anderer  Stelle  des  Midrasch 
(Theruma  cap.  34)  wird  als  Grund  dafür,  warum  Gott  seine 
Wohnung  in  Israel  aufgeschlagen  hat,  ein  sehr  tiefes  Wort  aus- 
gesprochen: „Ist  euch  je  ein  Kauf  vorgekommen,  wo  mit  dem 
Gegenstand  der  Verkäufer  selbst  zugleich  mit  erhandelt  wird? 
Gewiß  nicht!  Ich  aber,  spricht  Gott,  habe  euch  meine  Lehre  ver- 
kauft, und  bin  mit  ihr  mitverkauft."  Und  das  heißt  nicht  nur, 
daß  derjenige,  der  im  Sinne  dieser  Lehre  steht,  an  Gottesstatt 
richten  und  entscheiden  kann  —  „der  Gerechte  beschließt  und 
der  Heilige,  gebenedeit  sei  er,  führt  aus"  (Gemarah  Sabbath  ög) 
—  es  bedeutet:  Gottes  Schicksal  ist  in  des  Gerechten  Hand  gelegt. 
Es  seien  einige  Stellen  hierzu  angeführt:  Es  heißt  Psalm  68. 
„Gebet  Gott  die  Macht!",  was  der  Jalkut  I  7^3,  Bl.  2  24a,  Sp.  2 
so  erklärt:  „Die  Gerechten  fügen  Kraft  hinzu  zur  oberen  Ge- 
walt." Im  Midrasch  Bereschith  rabbah,  Par.  69  heißt  es:  „Die 
Bösen  bestehen  durch  ihren  Gott;  aber  die  Gerechten  —  da  be- 

*)  Die  Kabbalisten  weisen  darauf  hin,  daß  der  hebräische  Name  für  „die 
Natur"  (Hatebha),  wenn  man  die  Buchstaben  als  Ziffern  auffaßt  und  zusammen- 
zählt, dieselbe  Summe  (86)  ergibt,  wie  Elohim.  Vielleicht  erhält  die  Mehrzahl- 
form des  Namens  Elohim  von  da  her  ihren  Sinn:  Gott  als  Schöpfer,  als  Prinzip 
der  Vielheit. 

**)  Vgl.  auch  Sohar  I.  95a;  II.   161a,  b,  Joel,  Religionsphilosophie  des  Sohar 
254  ff,  Molitor,  Philosophie  d.  Geschichte  I  S.  589  ff. 

34 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

steht  Gott  durch  sie,  denn  es  ist  gesagt  worden:  Siehe  der  Herr 
steht  auf  ihm  ..." 

Die  Kabbalah  erklärt  die  Einwirkung  des  Gerechten  auf  die 
obere  Welt  so,  daß  er  wohl  nicht  wirken  könne  auf  diese  Welt  in 
ihrem  Verhältnis  zu  sich  selbst;  dagegen  auf  ihr  Verhältnis  zur 
unteren  Welt.  Durch  die  sittliche  Handlung  des  Menschen  wird 
der  ständige  Gnadenzufluß  aus  dem  Unendlichen,  dem  Ensof, 
in  die  Sephiroth  so  sehr  vermehrt,  daß  sie  überfließen,  wodurch 
dann  alle  Welten  einen  wohltätigen  Einfluß  verspüren*). 

Aber  dies  ist  immerhin  schon  eine  Art  Physik  der  Sephiroth  — 
obzwar  der  Gedanke,  daß  der  Mensch  nicht  auf  das  Verhältnis 
des  Göttlichen  zu  sich  selbst,  sondern  nur  auf  sein  Verhältnis 
zu  ihm  einwirken  kann,  sehr  bedeutsam  ist  und  uns  noch  später 
begegnen  wird.  An  anderen  Stellen  des  Sohar  findet  man  die 
Lehre  von  der  Abhängigkeit  der  göttlichen  Einheit  und  des  durch 
sie  verbürgten  Bestandes  der  Welt  von  dem  Akte  der  Einung 
der  Kreatur  mit  Gott  einfach  in  wuchtiger  Lapidarität  hinge- 
stellt, ohne  den  Versuch  einer  weiteren  Erklärung.  So  heißt  es 
gleich  in  den  einleitenden  Worten  des  Sohar:  Wie  im  Gottes- 
namen Elohim  cnb«  die  beiden  Worte  <^^Ä5  „dieses"  und  ^1^ 
„wer"  zusammenkommen  und  zusammen  den  Namen  des  schöp- 
ferischen Gottes  geben,  so  besteht  überhaupt  die  Welt  nur  durch 
die  Vereinigung  des  Offenbaren,  des  Manifesten  (Dieses!)  mit 
dem  nicht  offenbaren  „Wer",  dem  Subjekte  der  Welt.  „Und 
durch  dieses  Geheimnis  besteht  die  Welt  ..." 

So  ist  also  der  Mensch  ebenso  Welterhalter  wie  Gott.  Gott 
schuf  die  Welt,  der  Mensch  aber  erhält  sie,  indem  er  sie  als  gött- 
lich erkennt;  er  erhält  seine  Welt,  indem  er  sich  mit  dem  Gött- 
lichen vereinigt,  es  in  seine  Welt  herunterbringt.  Wer  eine  sitt- 
liche Tat  vollbringt,  wie  z.  B.  der  gerechte  Bichter,  wird  einJ 
Genosse  des  Heiligen  im  Werke  des  Urbeginns."**) 

Und  wie  der  Mensch  durch  seine  sittliche  Handlung  das  Schöp- 
ferwerk Gottes  erneuert,  so  hängt  auch  umgekehrt  mit  seiner 
Sünde  eine  Erniedrigung  Gottes  zusammen.  Nicht  nur  in  der 

*)  Joel,  a.  a.  O.   126. 
**)  Vgl.  den  Rechtskodex  Tur  chosan  mi§pat  des  Jakob  b.  Ascher.  I.   i.  Über 
die  Erzväter  als  Welterhalter  die  bei  Joel,  S.  289  zitierte  Soharstelle  (III.  103  a) 
Der  Mensch  als  Welterhalter,  Sohar  II,   i6ia. 

35 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

Seele  des  Sünders  verursacht  seine  Tat  eine  Scharte  (pegimah), 
sondern  auch  in  der  göttlichen  Glorie,  so  daß  sie  in  die  „unteren 
Stufen"  herabsinkt*).  Im  Sohar  (I  57b)  wird  von  Gott  erzählt, 
daß  er  dem  ersten  Menschen  nach  seiner  Sünde  zugerufen  habe: 
„Weh  dir,  daß  du  geschwächt  hast  die  obere  Kraft  und  ver- 
dunkelt hast  das  obere  Licht."  Sehr  schön  und  tief  ist  an  einer 
anderen  Stelle  (I  53b)  die  Vertreibung  des  Menschen  aus  dem 
Paradiese  so  gedeutet,  daß  Gott  durch  die  Sünde  des  Menschen 
aus  dem  Paradiese  vertrieben  wurde.  Es  wird  in  dem  Verse  Gen. 
in.  24  Q^iin  ns  Itn^^"]  das  rix  als  Gottesname  und  als  das  zu  'ßTiä'^l 
gehörige  Objekt  gedeutet.  Die  Sünde  des  Menschen  vertrieb  den 
nx  aus  dem  Paradiese. 

Man  könnte  die  Stellen  aus  dem  jüdischen  Schrifttum,  welche 
in  dieser  W^eise  die  Abhängigkeit  des  göttlichen  Schicksals 
vom  menschlichen  Tun  betonen,  schier  ins  Unendliche  ver- 
mehren. Es  mag  mit  den  hier  —  ohne  systematische  Absicht  — 
angeführten  genug  sein.  Sie  werden  zur  Bildung  einer  gewissen 
Vorstellung  von  dem  Gesagten  hinreichen.  Schwieriger  aber  ist 
es,  diese  Vorstellung  ganz  durchzudenken  und  sie  insbesondere 
in  Einklang  zu  bringen  mit  der  anderen  Gewißheit,  von  der  das 
jüdische  Denken  durchdrungen  ist:  mit  der  sicheren  Über- 
zeugung vom  Dasein  Gottes.  Wenn  Gott  ist,  wie  ist  er  von  uns 
abhängig  und  sein  Sein  mit  unserem  Tun  verflochten?  Wieso 
wirkt  die  Kreatur  auf  den  Schöpfer  zurück?  Wie  können  wir 
Menschen  Gott  heiligen? 

Denn  daran  kann  kein  Zweifel  sein:  die  Gottesidee  ganz  und 
gar  aufzulösen  in  ein  Ziel,  Gott  bloß  zu  denken  als  das  Telos, 
daß  zu  verwirklichen  ist  —  hieße  den  jüdischen  Gottesbegriff 
verfehlen.  Daß  Gott  ist,  unabhängig  davon,  ob  ich  ihn  mir 
realisiere,  ist  dem  Juden  über  jeden  Zweifel  erhaben.  Aber  — 
und  hier  ist  die  entscheidende  Gedankenwendung,  die  der  Jude 
vollzieht  —  Gott  ist  nur  für  sich,  ist  kein  an  sich  bestehendes, 
das  man  von  außen  ergreifen,  haben  könnte,  wie  man  ein  Ding 
ergreift;  so  ist  er  also  auch  nur  für  den  Gottgeeinten,  So 
fragt  denn  der  Jude:  Wie  ist  Gott  also  für  mich?  Und  ant- 
I  wortet:  indem  er  in  deinem  Leben  zu  deiner  Tat  wird.  Indem  du 
I  ihn  bewährst,  ist  er  in  deiner  Welt  Wirklichkeit  geworden.    So 

*)   Vgl.  Molitor  III  635.  637. 

36 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

heißt  es  in  der  Pesikta  des  R.  Kahana  102b  zum  Verse:  „Ihr 
seid  meine  Zeugen,  spricht  der  Ewige  und  ich  bin  Gott":  „Rabbi 
Simeon  ben  Jochai  sagte:  „Wenn  ihr  mich  bezeugt,  so  bin 
ich  der  Ewige.  Seid  ihr  nicht  meine  Zeugen,  so  bin  ich  auch 
nicht."*) 

In  jenem  abgrundtiefen  Worte,  mit  dem  sich  Gott  dem  Moses 
am  Dornbusch  offenbart  als  der  Ehje  ascher  ehje,  liegt  dem 
Sinne  nach  wohl  das  ,,Ich  bin,  der  ich  bin",  aber  dies  ,,bin"  ist 
ein  Imperfektum,  in  der  Zeit  des  unvollendeten  Seins  ausge- 
sprochen und  kann  darum  mit  demselben  Rechte  als  das  ,,Ich 
werde  sein"  übersetzt  werden.  Als  das  seiende,  aber  doch  zugleich 
unvollendete,  zu  verwirklichende  loh  gibt  sich  Gott  kund. 

Als  Ich.  Auch  das  ist  tief  bedeutsam.  Das  Ich  ist  für  jeden, 
der  nicht  dies  Ich  ist,  es  nicht  in  seiner  Innerlichkeit  ergreift, 
ein  —  Er.  So  Gott  in  der  jüdischen  Religiosität.  Nur  der  Gott- 
geeinte kann  Gottes  Sein  wahrhaft  bejahen,  der  Außenstehende 
redet  eigentlich  gar  nicht  mehr  von  ihm**) ;  denn  Gott  entwindet 
sich  dem  Wort,  das  ihn  von  außen  ergreifen  möchte,  wie  man 
ein  Ding  in  der  Rede  ergreift  und  festhält.  Ängstlich  bemühen 
sich  die  jüdischen  Religionsphilosophen,  von  Gott  jedes  Attribut 
fernzuhalten,  auf  daß  nur  ja  nicht  Gott  begriffen  werde  wie  ein 
Objekt.  Das  Ding  —  ja,  das  ist  oder  ist  nicht  und  ist  ein  für 
allemal  und  für  jeden,  so  wie  es  ist.  Hier  ist  das  Sein  „vollendet". 
Hier  wäre  ein  Widersinn,  was  dort  tiefster  Sinn  ist:  die  Ver- 
einigung von  Sein  und  Aufgegebensein,  der  Vollendung  in  sich 
und  der  zu  verwirklichenden  Erfüllung.  Nicht  auf  d&n  Gegen- 
satz von  Schöpfung  und  Schöpfer  stellt  so  der  Jude  seine  Reli- 
giosität, sondern  auf  den  von  Ding  und  Ich,  ,, Schale"  und 
„Funken"***).  „Der  Mensch  —  so  lesen  wir  im  Sefer  leson 
chassidim-j-)  —  ist  wie  eine  Leiter.  Er  steht  auf  dem  Boden, 
und  sein  Haupt  ragt  in  die  Himmel,  und  die  Engel  Gottes  steigen 
auf  ihm,  durch  ihn  auf  und  nieder.  Denn  die  Glorie  und  der 
Gotteswagen  sinken  hinunter,  wenn  er  sinkt,  und  wenn  er  zur 

*)  cit.  nach  Perles,  Der  Begriff  des  Kiddusch  Haschern.  (Jüd.  Skizzen,  S.  117). 
**)  "Vgl.  das  Dichtervvort:  Spricht  die  Seele,  so  spricht,  ach !  die  Seele  nicht  mehr. 
***)  Indem    Spinozas    Monismus,    Gott    und   Dingwelt   identifiziert,   bildet   er 
den  strikten   Gegensatz  zu  dieser  Anschauung. 

f)  Ausgabe  Lemberg  1876,    Bl.   17a.  Artikel  „Hithchazkuth". 

37 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

Höhe  steigt,  steigen  sie  alle  empor".  Das  ist  die  Auserwähltheit, 
die  Gottesebenbildlichkeit  des  Menschen,  daß  er  eine  Leiter  ist 
zur  Welt  der  Erfüllung,  daß  —  wie  der  Sohar  sich  ausdrückt  — 
Gott  ihn  zum  Wagen  gebrauchen  kann,  auf  dem  er  herabfährt. 

So  hat  das  Göttliche  diese  eigentümliche  Doppelnatur  an  sich, 
daß  es  ist  und  aufgegeben  ist.  ,,rst"  für  Gott  selbst,  für  den 
Gottgeeinten ,  aufgegeben  ist  für  den ,  der  außerhalb  dieser 
Einung  steht.  Diese  Doppelnatur  der  Göttlichen  ist  es  —  glaube 
ich  — ,  welche  das  hebräische  Denken  durch  die  Zweiheit  Gott 
und  Sehern  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Sehern  heißt  „Name", 
es  bezeichnet  den  Gottesnamen  Jahwe,  ist  aber  von  ihm  zu 
scheiden.  Es  ist  das,  was  man  von  Gott  mit  Worten  bezeichnen, 
sagen  kann,  die  Potenzialität  des  Göttlichen,  die  vom  Menschen 
erst  noch  zu  verwirklichen  ist.  Wenn  dies  getan  ist,  wenn  der 
Mensch  die  Einung,  den  Jichud  Haschern,  in  sich  vollzogen  hat, 
dann  erst  kann  er  zu  Gott:  Gott,  Jahwe  sagen.  R.  Simon  ben 
Jochai  bemerkt  (Sohar,  Jithro  88  a)  unter  Berufung  darauf,  daß 
erst  nach  Vollendung  der  Weltschöpfung  der  volle  Gottesname 
Jahwe  Elohim  in  der  Schöpfungsgeschichte  vorkommt,  es  sei 
eben  erst  mit  der  Herstellung  der  Welteinheit  die  Möglichkeit 
gegeben  gewesen,  Gott  bei  seinem  Namen  selbst  anzurufen. 

So  können  wir  es  verstehen,  daß  nur  einmal  im  Jahre,  im 
Augenblicke  der  höchsten  religiösen  Ergriffenheit,  am  Ver- 
söhnungstage, der  Hohepriester  Gottes  Namen  aussprach.  Die 
Gemeinde  aber,  die  diesen  Namen  der  Einung  (Schem  hamju- 
chad*)  hörte,  aber  gewissermaßen  nicht  jene  Sammlung  hat,  wie 
der  Hohepriester,  die  also  außerhalb  der  Einung  steht,  antwortet : 
Gelobt  sei  der  Schem  der  Herrlichkeit  seines  Reiches  in  Ewig- 
keit. 

An  allen  anderen  Tagen,  wenn  die  Einung  nicht  vollständig 
erreicht  war,  ersetzte  man  im  Gottesdienst  den  Gottesnamen 
durch  Adonaj  (Herr).  Wenn  man  aber  im  Leben  des  Alltags  von 
Gott  sprach,  sagte  man  Haschern.  So  ist  also  Haschem  Gott  als 
Objekt  der  Rede,  dasjenige,  was  wir,  ohne  in  der  Einung  zu 
sein,  von  ihm  ergreifen  können.  Der'  in  unser  Wissen  eingestellte, 
aber  nicht  von  uns  verwirklichte  Gott  ist  Haschem. 

*)  Die  Jewish  Encyclopaedia  (art.  „name")  übersetzt  dies  sonderbarerweise  mit 
extraordinary  name!  Vgl.  auch  den  Ausspruch:  rr^lti  D\I3a lUKPiü ^rü.  (Joel  S.  235.) 

38 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

Unsere  Schriften  drücken  sich  auch  so  aus,  daß  sie  die  gött- 
liche Glorie,  die  Schechinah,  von  Gott  unterscheiden.  Wenn  ge- 
lehrt wird,  daß  mit  der  Zerstörung  des  Tempels  auch  die  Schechi- 
nah von  Gott  verbannt  wurde  und  mit  Israel  ins  Exil  zog,  so 
scheint  auch  hier  derselbe  Gedanke  zugrunde  zu  liegen:  Seit 
der  Tempelzerstörung  kann  der  Jude  gewissermaßen  die  Einung 
mit  Gott  niemals  mehr  herstellen,  er  kann  nur  mehr  Gottes  ,, Ge- 
wand" ergreifen.  Die  Priester  hören  von  da  ab  auf,  den  Namen 
der  Einung  auszusprechen,  und  der  Talmud  (Sanhedrin  iia) 
sagt:  Wer  den  Namen  ausspricht,  verliert  seinen  Anteil  an  der 
zukünftigen  Welt .  . .  *)  Die  Kabbalisten  aber  beginnen  jedes  ihrer 
Gebote  mit  den  Worten:  Im  Namen  und  zur  Vollendung  der 
Einung  Gottes  und  seiner  Schechinah  spreche  ich  dieses  Gebet. 

Harnack  hat  in  seinem  ,, Wesen  des  Christentums"  als  eine 
der  auszeichnenden  Lehren  des  Christentums  die  vom  unend- 
lichen Werte  der  Menschenseele  bezeichnet.  Diese  Lehre  ist  durch 
und  durch  jüdisch.  (Was  hier  natürlich  nicht  aus  lächerlichen 
Prioritätsansprüchen  heraus  gesagt  wird,  vielmehr  weil  es  für 
den  heutigen  Juden  notwendig  ist,  sich  dessen  bewußt  zu  werden: 
die  Lehre  Jesu  von  Nazareth  ist,  wenn  sie  nur  wahrhaft  im 
„Wesen"  ergriffen  wird,  jüdisch,  und  er  konnte  mit  Recht  sagen, 
daß  er  gekommen  sei,  die  Lehre  zu  erfüllen.  Nicht  freilich  so, 
wie  es  das  Abendland  und  wohl  schon  Paulus  mißverstanden  hat, 
um  sie  für  uns  zu  erfüllen.  Die  Aufgabe,  die  er  erfüllen  wollte, 
besteht  weiter  von  Geschlecht  zu  Geschlecht.) 

Unendlich  wertvoll  ist  dem  Juden  die  Menschenseele,  denn 
sie  ist  der  Ort,  wo  das  große  Wunder  der  Einung  vollbracht 
werden  soll,  die  Knospe  gewissermaßen,  aus  welcher  Gott  er- 
blühen kann  und  soll.  So  konnte  R.  Nehemia  in  den  Aboth  des 
R.  Nathan  (c.  3i)  sagen:   „Ein  einziger  Mensch  ist  gleichwertig 

*)  Die  Schechinah  ist  als  das  weibliche  Prinzip  zugleich  die  Trösterin,  die 
liebende  Mutter,  Rahel,  die  um  die  verbannten  Kinder  weint.  Hierüber  findet 
man  bei  Hillel  Zeitlin,  Schechinah,  schöne  Worte  und  viel  Material.  (In  seinen 
hebr.  Ausgewählten  Schriften  IL  2.  S.  100 — 156.  Warschau  1912.  Verlag 
Tuschija).  Nebenbei :  Ed.  v.  Hartmann  sagt,  die  Schechinah  sei  „nichts  anderes 
als  die  hypostasierte  persische  Lichtigkeit  und  in  ihrer  sinnlichen  Natur  ein 
religiös  wertloser  Begriff"!  Man  soll  sich  solche  Worte  merken,  um  sich  dessen 
bewußt  zu  sein,  wie  weit  man  gelangt,  wenn  man  das  Judentum  aus  fremden 
Quellen  kennen  lernen  muß. 

39 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

der  ganzen  Weltschöpfung",  und  der  Talmud  (Sanhedrin  37  b): 
„Jeder  Mensch  ist  verpf Höhtet,  sich  selbst  zu  betrachten,  als  sei 
die  Welt  um  seinetwillen  geschaffen  worden."  Und  die  Me- 
chiltha  bemerkt  zu  Exodus  17,6,  wo  Gott  sagt:  Ich  stehe  vor 
dir  dort  auf  dem  Felsen  am  Horeb:  Was  heißt  das  denn,  Gott 
steht  auf  dem  Berge?  Es  ist  gemeint:  AUwo  du  eine  Spur  von 
Mensc/ienfüßen  findest,  da  bin  ich  bei  dir. 

Heutzutage  würde  man  eine  solche  Einschätzung  des  Menschen 
als  Anthropozentrismus  brandmarken.  Aber  dem  Juden  war  es 
mindestens  ebenso  bewußt  wie  den  Heutigen,  daß  der  Mensch 
ein  Stäubchen  im  Weltall  ist  usw.  Aber  er  sah  auch,  daß  das- 
jenige, was  den  Menschen  als  Menschen  charakterisiert,  etwas 
ist,  was  ihn  sofort  aus  der  ganzen  Welt  der  Objekte,  und  wäre 
sie  noch  so  groß,  heraushebt:  seine  Freiheit.  Weil  der  Mensch 
sich  frei  entscheiden  kann,  weil  er  sich  aus  den  Netzen  der  Be- 
dingtheit befreien,  sich  zum  unbedingten  Wesen  machen  kann, 
darum  ist  er  der  Wagen  Gottes.  Diese  Freiheit  des  Menschen 
wäre  nicht  möglich,  wenn  es  in  seinem  Leben  nicht  ein  Ja  und 
ein  Nein,  nicht  Gutes  und  Böses  gäbe.  Erst  dadurch,  daß  der 
Mensch  Nein  sagen  kann  zur  Bedingtheit,  daß  er  sich  der  Ver- 
suchung versagen  kann,  dadurch  ist  er  Mensch.  ,,Im  Ebenbilde 
Gottes  schuf  er  den  Menschen  — ". 

In  der  Erzählung  von  der  Weltschöpfung  im  ersten  Kapitel 
der  Genesis  fehlt  bekanntlich  am  zweiten  Schöpfungstage  das 
sonst  ständig  wiederkehrende  „Und  Gott  sah,  daß  es  gut  war". 
Dafür  sagt  der  Erzähler  am  sechsten  Tage:  „Und  siehe,  es  war 
sehr  gut."  Diese  sonderbare  Wortfügung  hat  die  jüdische  Phan- 
tasie sehr  beschäftigt.  Aus  der  Fülle  der  Auslegungen  sei  hier 
eine  für  uns  wichtige  hervorgehoben*).  Am  zweiten  Tage  schafft 
Gott  die  Dehnung,  die  scheiden  soll  zwischen  Wassern  und 
Wassern.  Zum  erstenmal  tritt  die  Dualität  in  die  Welt  ein.  Dies 
ist  der  Grund,  warum  Gott  sein  Werk  nicht  gut  findet.  Aber  am 
sechsten  Tage,  als  der  Mensch  geschaffen  ward,  er,  der  der  Voll- 
bringer der  Einung  sein  sollte,  war  im  Grunde  alle  Entzweiung 
schon  überwunden:    So  konnte  Gott  nicht  nur  das  Werk  dieses 

*)  Vgl.  Genes  r.  c.  9.  diese  Erklärung  auch  bei  Hieronymus.  Vgl.  GrätZy 
Haggadische  Elemente  bei  den  Kirchenvätern  (Monatsschr.  f.  Gesch.  u.  Wiss. 
d.  Judent.   1854). 

40 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

Tages  segnen,  sondern  noch  im  Rückblick  auf  das  Werk  des 
zweiten  Tages  auch  für  dieses  den  Segen  hinzufügen:  Und  Gott 
sah,  daß  es  sehr  gut  war.  „Und  siehe,  es  war  sehr  gut"  —  so 
erläutert  der  Midrasch  —  ,,dies  Sehr  meint  den  bösen  Trieb". 
Weil  der  Mensch  auch  böse  sein  kann,  weil  er  in  Freiheit  der 
Versuchung  widerstehen  kann,  deshalb  ist  er  der  Mittelpunkt  der 
Schöpfung. 

So  ist  für  die  jüdische  Auffassung  der  Mensch  Geschöpf  und 
Schöpfer  zugleich.  Geschöpf  bloß,  solange  er  wie  ein  Ding  von 
außen  gestoßen,  bedingt  sein  muß,  um  zu  handeln.  Schöpfer, 
wenn  er,  sich  aus  den  Ketten  fremder  Nötigung  befreiend,  frei 
zur  sittlichen  Tat  aufsteigt.  Als  sittliches  Wesen  ist  der  Mensch 
sein  eigener  Selbstschöpfer,  so  lehrt  der  Talmud  ausdrücklich 
(Sanhedrin  99  b),  Und  dies  ist  —  in  der  Sprache  des  Sohar*)  — 
die  Aufgabe  des  Menschen:  aus  einer  Zisterne,  die  nur  Behält- 
nis fremden  Wassers  ist,  soll  er  ein  Quell  werden,  der  selbst 
Wasser  hervorsprudeln  läßt.  So  verstehen  wir  jetzt  die  im  Sohar 
stets  wiederkehrende**)  Mahnung,  Gott  selbst  gebiete  dem  Men- 
schen, ihm  gleich  zu  werden  in  allen  Dingen.  So  verstehen  wir 
auch,  wie  schon  der  Pentateuch  Gott  sagen  lassen  kann:  „Heilig 
sollt  ihr  sein,  denn  heilig  bin  ich,  euer  Gott."  Die  Begründung 
dieses  Gebotes  scheint  paradox.  Es  wird  dem  Menschen  befohlen, 
eine  Eigenschaft  zu  haben,  deswegen,  weil  Gott  sie  hat.  Für  die 
jüdische  Auffassung  ist  sie  ganz  natürlich;  denn  Gott  ist  das 
Ziel  menschlichen  Strebens.  In  jeder  Tat,  in  welcher  wir  uns 
aus  einem  Ding  zu  einem  Ich,  aus  dem  bedingten  Geschöpf  zum 
freien  Wesen  machen,  in  jeder  sittlichen  Tat  handeln  wir  gott- 
gleich, realisieren  wir  das  Göttliche. 

Wir  haben  den  Sinn  des  ,, Heilig"  darin  gefunden,  daß  der 
Heilige  so  ganz  und  gar  auf  sich  gestellt  ist,  daß  er  in  kampf- 
loser Sicherheit  und  Klarheit,  ohne  erst  den  Weg  durch  die 
Wirrnis  zu  gehen,  der  des  Menschen  Schicksal  ist,  die  sittliche 
Tat  vollbringt.  Der  Kiddusch  Haschem  ist  die  Richtung  auf 
dieses  Ziel:  daß  wir  das  Gebot  des  Sittengesetzes  nicht  mehr 
als  ein  fremdes,  sondern  als  unseres  Seins  ureigenste  Wesenheit 
erleben.    Durch  unser  Gewissen,  sagt  Fichte  einmal,  sind  wir 

*)  I.  60  a.  Vgl.  dazu  Jesu  Gespräch  mit  der  Samaritanerin  im  Evang.  Joh,  4. 

**)   Vgl.  z.  B.  I.  gb,   10a. 

4i 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

Bürger  einer  anderen  Welt.  Doch  in  Wahrheit  sind  wir  nicht 
Bürger,  sind  kaum  Gäste  in  diesem  Reiche.  Der  Kiddusch 
Haschern  meint  die  Verwurzelung  in  diesem  Absoluten. 

Wir  sollen  durch  unser  Leben  Zeugen  dafür  sein,  daß  Gott 
ist  —  dies  ist  jener  umfassende  Sinn  des  Kiddusch  Haschem, 
der  tief  in  das  Bewußtsein  des  jüdischen  Volkes  eingegangen 
ist.  Gott  ist  das  Wesen,  das  nur  aus  sich  selbst  zur  Tat  bestimmt 
wird.  Dasjenige  Leben  wird  also  Gott  bewähren,  das  sich  heraus- 
hebt aus  der  Verflechtung  der  Bedingtheiten,  der  Rücksichten 
und  Kompromisse,  das  unbedingte  Leben.  So  wird  die  Heiligung 
des  Gottesnamens  zur  Forderung  des  heroischen  Lebens.  Als 
tiefste  Bezeugung  der  Realität  des  Übersinnlichen  galt  aber  dem 
Juden  die  Aufopferung  des  sinnlichen  Seins,  der  Tod  des  „Zeu- 
gen", des  Märtyrers.  Und  man  wich  dieser  Bewährung  nicht  aus. 
So  sehr  wuchs  zur  Zeit  der  Römerkriege  die  Zahl  derer,  die  mit 
ihrem  Leben  für  die  Heiligung  des  Namens  eintraten,  daß  sich 
unsere  Lehrer  gedrängt  fühlten,  Einspruch  zu  erheben  und  die 
wenigen  Fälle  ausdrücklich  festzustellen,  in  welchen  der  Jude 
den  Tod  dem  Chillul  haschem,  der  Entweihung  des  Namens  vor- 
zuziehen habe.  Aber,  so  fügte  man  hinzu,  zur  Zeit  der  Verfolgung 
müsse  der  Jude  es  so  ernst  nehmen  mit  der  Heiligung  des  Namens, 
daß  er  sich  auch  weigern  müsse,  den  Schuhriemen  nach  heid- 
nischer Art  zu  knüpfen  .  .  . 

Aber  wie  alle  tieferen  jüdischen  Grundbegriffe  die  Tragödie 
der  Polarität  des  jüdischen  Charakters  in  sich  haben,  so  auch 
der  des  Kiddusch  haschem.  Der  reinste  Ausdruck  der  Unbedingt- 
heit  der  jüdischen  Ethik,  erhielt  er  mit  dem  Verfall  des  Volks- 
ethos einen  Nebensinn,  der  ihn  fast  zum  Ausdrucke  der  bedingte- 
sten Bedingtheit  gemacht  hätte. 

Es  ist  ja  selbstverständlich,  daß  die  Bewährung  Gottes  durch 
fdie  sittliche  Tat  vor  allem  vor  denen  erfolgen  sollte,  denen  die 
Gottesidee  fremd  ist.  In  diesem  Sinne  findet  sich  schon  bei 
Ezechiel  (20,  3i)  die  Forderung,  den  Gottesnamen  in  den  Augen 
der  Heiden  zu  heiligen.  So  wird  denn  jedes  sittliche  Verhalten 
im  Verkehr  {mit  NichtJuden  zu  einer  Heiligung  des  Namens. 
Doch  darf  natürlich  das  Verhalten  nicht  durch  die  Anwesenheit 
des  NichtJuden  bedingt  sein.  Aber  gerade  dies  geschieht,  indem 
die  Ethik  der  Juden  sinkt  und  ihr  Verhältnis  zu  den  NichtJuden 

42 


DIE  HEILIGUNG  DES  NAMENS 

würdelos  und  unaufrichtig  wird.  Der  Name,  der  einst  so  Großes 
bezeichnete,  verliert  den  heroischen  Klang.  Jedes  Wort,  das  vor 
NichtJuden  über  das  Judentum  gesprochen  werden  darf,  wird 
zum  „Kiddusch  haschem".  Es  wird  ein  „Kiddusch  haschem", 
wenn  ein  Rabbiner  einen  hohen  Herrn  hebräisch  segnen  darf, 
wenn  ein  Jude  eine  Auszeichnung  oder  einen  Titel  bekommt, 
wenn  ein  Würdenträger  ihn  empfängt  oder  gar  die  Synagoge 
besucht  .  .  .  Die  schmählichste  Selbsterniedrigung  wird  mit  dem 
großen  Namen  gedeckt;  bis  das  letzte  Geschlecht  mit  dem  Sinn 
auch  noch  den  Namen  vergessen  hat. 

Wir  wollen  den  alten  Sinn  des  großen  Wortes  wieder  er- 
neuern. Den  Weg  weist  uns  die  sittliche  Bewegung  unter  den 
Juden  dieser  Zeit,  die  wir  den  Zionismus  nennen:  Schüttelt  ab 
von  euch  jede  Halbheit,  jeden  Kompromiß  und  jede  Opportuni- 
tät, seid  ganz  auf  euren  Wegen,  erneut  euch  aus  dem  Geiste 
rücksichtsloser  Strenge,  daß  Gott  euch  wieder  werde,  was  er 
dem  Moses  war:   Ein  verzehrendes  Feuer  1 

Der  Zionismus  ist  unser  Kiddusch  haschem. 


43 


J  es  chualeg  enden 

Von  Elijahu  Rappeport 

I. 

Ues  alten  Juden  Schiff  hielt  am  Ufer  des  heiligen  Landes. 

Er  watete  ans  Land,  über  seine  Erde  zu  wandern.  Was  für 
ein  köstliches  Ding  war  das,  —  seine  Erde. 

Er  ging  nicht  weit,  da  setzte  er  sich  auf  einen  Stein  am  Kreuz- 
weg und  schaute  nach  den  Hügeln  des  Ostens.  Ein  harter  Stein 
am  Kreuzweg;   Wege  der  Heimat. 

Er  schaute  wie  ein  Tier,  das  weder  lauert  noch  schläft,  das 
weder  heiß  ist  noch  kalt,  weder  bang  noch  trotzig,  so  schaute 
er.  So  schaute  er  nach  den  Hügeln  des  Ostens. 

Da  kam  Jeschua  des  Weges,  blieb  stehen  am  Kreuzweg  und 
sah  auf  des  alten  Juden  Schauen. 

Da  kam  auch  der  Fischer,  dessen  Söhne  dem  Jeschua  anhingen, 
der  sah  Jeschua  und  sah  den  alten  Juden.  Da  tat  er  sein  Geräte 
Von  den  Schultern  und  blieb  stehen  und  sah  auf  den  alten  Juden. 

Da  kamen  auch  seine  Söhne,  und  auch  sie  blieben  stehen.  Und 
kamen  noch  etliche,  und  wieder  etliche,  hielten  zu  gehen  an, 
da  sie  die  andern  stehen  sahen,  und  blieben  stille  stehen,  da  sie 
den  alten  Juden  sahen. 

Und  so  standen  nun  viele  und  standen  ohne  Warten  und  Er- 
wartung. Sie  sahen  nach  den  Augen  des  alten  Juden,  der  nach 
den  Hügeln  des  Ostens  schaute,  wie  ein  Tier,  das  weder  lauert 
noch  schläft,  nicht  heiß  noch  kalt,  nicht  bang  noch  trotzig. 

Da  kam  auch  Jehuda  des  Weges,  der  sich  zu  Jeschua  hielt, 
der  sah  die  Leute  stehen. 

„Was  sehet  ihr?"  frug  er  sie. 

Aber  sie  hörten  ihn  nicht. 

Da  wandte  er  sich  an  einen,  der  ihm  zunächst  war: 

„Was  siehst  du?" 

Der  stand  ihm  nicht  Rede,  aber  wandte  sich  und  ging  seiner 
Wege. 

Und  er  frug  dieselbe  Frage  einen  andern. 

Der  wandte  sich,  stand  ihm  auch  nicht  Rede  und  ging  seiner 
Wege. 

Und  da  es  ein  dritter  auch  so  tat,  ward  Jehuda  ungeduldig, 
erhub  seine  Stimme  überlaut  und  rief: 

44 


JESGHUALEGENDEN 

„Was  stehet  und  schauet  und  sehet  ihr  hier,  ihr  Männer  und 
Frauen?" 

Da  waren  sie  betroffen  von  seiner  Stimme,  schämten  sich, 
denn  sie  wußten  es  sich  nicht  zu  sagen  und  ihm  nicht,  nahmen 
auf,  was  sie  aufzunehmen  hatten,  und  zogen  ihren  Weg. 

Es  blieb  aber  der  alte  Jude  in  seinem  Schauen,  und  Jeschua 
stand  noch  wie  früher  da. 

Da  näherte  sich  Jehuda  von  seitwärts  und  sprach: 

„Was  sieht  du,  Jeschua?" 

Jeschua  wandte  ihm  sein  Gesicht  zu  und  antwortete: 

„Ein  Kind  trinkt  an  der  Mutterbrust." 

Jehuda  schämte  sich,  weil  er  nichts  zu  sagen  wußte,  wandte 
sich  und  ging,  wie  die  Leute  gegangen  waren,  die  er  zuvor  ge- 
fragt hatte. 

Und  der  alte  Jude  schaute  gegen  die  Hügel  des  Ostens.  Und 
Jeschua  sah  auf  sein  Schauen.  Bis  der  alte  Jude  des  Jeschua 
gewahr  ward. 

Da  sahen  sie  einander  in  die  Augen. 

Und  in  den  Augen  des  Alten  stand  eine  Frage  auf.  Jeschua 
sah  die  Frage,  und  gleichwohl  er  seine  Augen  gegen  das  Meer 
hatte,  sprach  er: 

„Ich  sehe  die  Hügel  des  Ostens." 

Und  der  alte  Jude  sprach: 

„Ich  sehe  das  Westmeer  in  seiner  Ruhe." 

Der  alte  Jude  erhob  sich  von  dem  harten  Stein  am  Kreuzweg, 
an  den  Wegen  seiner  Erde.  Er  ging  den  einen  Weg,  Jeschua 
ging  den  andern. 

Des  alten  Juden  Füße  küßten  die  Wege  der  Heimat.  Sie  küßten 
alle  Wege  der  Heimat,  solange  Jeschua  bei  uns  war. 


IL 

Jehuda  aber  sprach  von  der  Nähe  des  Maschiach  und  sprach 
vom  Maschiach  als  einem,  der  aus  Davids  Geschlecht  unter  alle 
Völker  fahren  wird  wie  ein  wütender  Sturm  und  der  Israels 
Ruhm  begründen  wird.  Er  sprach  vom  Maschiach  als  von  einem 
König  und  Führer,  der  die  Zerstreuten  aus  Israel  zu  einem  Heer 

45 


JESCHUALEGEP^DEN 

sammeln  wird  und  besiegen  und  erschlagen  viele  Heiden  der 
Rache  wegen. 

Da  wandte  sich  Jeschua  an  Jehuda  und  hielt  ihm  dies  Gleich- 
nis vor: 

„Rabbi  Pinchas  ben  Sakkai  bereitete  sich  zu  einem  Gelöbnis, 
daß  ihm  auferlegt  würde,  was  er  zu  tun  habe,  daß  er  den 
Maschiach  führe  unter  die  Lebenden.  Der  Zeit  seiner  Bereit- 
schaft bestimmte  er  sieben  Jahre.  Als  er  am  Abend  des  ersten 
Tages  seiner  Bereitschaft  fragte: 

,Was  soll  ich  tun,  daß  ich  den  Maschiach  herbeirufe?' 

Antwortete  ihm  ein  Engel  des  Herrn: 

jSündige ! ' 

Er  aber  wurde  nicht  irre  und  ließ  nicht  ab  von  seiner  Be^- 
reitschaft,  und  es  wurden  drei  Jahre  voll.  Da  warnte  ihn  der 
Engel  des  Herrn,  daß  seine  Aufgabe  ihm  zu  schwer  sein  werde, 
denn  die  Zeit  sei-  noch  nicht  erfüllt.  Aber  Rabbi  Pinchas  ben 
Sakkai  harrte  aus,  alle  sieben  Jahre  seiner  Bereitschaft. 

Da  trat  der  Engel  des  Herrn  vor  ihn  und  sprach: 

,Deine  Bereitschaft  ist  erfüllet,  so  folge  mir  in  die  Räume 
aller  Gestalten.  Dort  ist  auch,  den  du  suchest,  der  Maschiach. 
Wenn  du  ihn  finden  wirst  in  den  Nächten  dieser  zwölf  Jahre, 
die  dir  noch  bleiben,  dann  wird  er  sich  aufmachen  und  dir 
folgen.' 

Und  der  Engel  des  Herrn  führte  ihn  zu  den  Räumen  der  Ge- 
stalten, da  suchte  Rabbi  Pinchas  ben  Sakkai  in  allen  Nächten 
seiner  Zeit  und  fand  nicht,  den  er  suchte,  den  Maschiach,  wie- 
wohl er  ihm  in  jeder  Nacht  begegnete. 

Da  aber  seine  Zeit  schon  um  war,  wies  ihm  der  Engel  den 
Gesalbten,  an  dem  er  in  jeder  Nacht  vorbeigegangen  war.  Der 
saß  aber  am  Fuße  eines  hohen,  steinigen  Berges  wie  ein  Stein- 
klopfer und  zerschlug  die  Steine  am  Sabbath. 

Andere  aber  trugen  ihm  die  Steine  zu,  denn  er  konnte  sie 
nicht  anfassen.  Wo  die  Steinsplitter  den  Körper  des  Maschiach 
trafen,  da  ließen  sie  Wunden,  gleich  Brandblasen  zurück,  darum 
war  auch  sein  Körper  so  entstellt,  daß  ihn  Rabbi  Pinchas  ben 
Sakkai  nicht  erkannt  hatte. 

Inmitten  des  Berges  war  ein  hoher  Fels,  den  nannten  sie  den 
Davidstein.  Und  es  fielen  immer  neue  Steine  auf  den  Berg,  wie 

46 


JESCHUALEGENDEN 

von  einem  Steinregen.  Jeder  Stein  war  eine  Sünde  in  Israel, 
denn  gemäß  jeder  Sünde  fiel  ein  Stein  auf  den  Berg.  Und  jeder 
fallende  Stein  machte  eine  Strieme  auf  des  Maschiach  Körper. 

Auf  dem  Berg  aber  standen  die  Zaddikim,  und  die  fallenden 
Steine  trafen  sie  hart  und  peinigten  sie.  Und  die  Zaddikim 
nahmen  große  Steine  des  Berges  und  warfen  sie  in  die  Höhe, 
und  die  geworfenen  Steine  wurden  leicht  und  kamen  nicht 
wieder. 

Der  Maschiach  aber  versuchte  von  Zeit  zu  Zeit  den  Berg  der 
Schuld  auf  seine  Schultern  zu  heben  und  konnte  es  nicht, 
und  er  sprach: 

jNoch  ist  er  nicht  schwer  genug.' 

Als  der  Berg  größer  und  größer  wurde,  daß  der  Felsen  des 
David  schon  ganz  mit  Steinen  umgeben  war,  da  war  der  Berg 
schon  schwer  genug,  daß  der  Maschiach  ihn  auf  die  Schultern 
heben  konnte,  aber  noch  war  er  zu  leicht,  um  damit  zu  schreiten. 
Und  die  Zaddikim  lösten  die  Steine,  so  viele  sie  konnten  und 
taten  sie  von  dem  Berg. 

Da  erkannte  Rabbi  Pinchas  ben  Sakkai,  warum  ihm  der  Engel 
gerufen  hatte: 

, Sündige! ' 

Und  warum  er  den  Maschiach  nicht  fand. 

Aber  ich  sage  dir,  hätte  Rabbi  Pinchas  ben  Sakkai  heute  ge- 
lebt, er  hätte  den  Maschiach  gefunden!" 


III. 

Einst  wollte  Jochanan  nicht  mehr  verbleiben  in  der  bedrücken- 
den Stadt  Jeruschalajim.  Und  da  er  wegziehen  wollte,  kam  einer 
an  ihn,  der  hatte  Feld  und  Acker  gen  Beth-El  zu  und  sprach  zu 
Jochanan,  daß  er  ihm  sein  Land  bestellte. 

Das  freute  Jochanan  erst,  dann  aber  ward  ihm  schwer,  und 
er  sprach: 

„Ich  getraue  mich's  nicht,  Herr." 

,Wie  traust  du  dich  nicht,  was  sich  jeder  Bauer  traut  im  ganzen 
Land?  Ist  denn  die  Erde  nicht  üppig  genug,  um  dir  wachsen 
zu  lassen,  wessen  du  bedarfst,  dazu  dein  Vieh  zu  nähren  und 
mehren?' 

47 


JESCHUALEGENDEN 

„Ja,  hätt'  ich  den  Mut  des  Bauern,  und  wäre  es  auch  einer 
aus  Schomron,  mich  sollte  es  freuen.  Doch  habe  ich  allzeit  den 
Dienst  der  Erde  verschmäht  und  in  der  Weisheit  gesucht.  Ich 
getraue  mich's  nicht." 

, Fürchtest  du,  die  Erde  werde  dich  nicht  sättigen?' 

„Das  ist's  nicht,  Herr.  Daß  ich  satt  werde,  des  bedarf  es  wenig. 
Doch  daß  ich  auch  der  Erde  genüge,  der  ich  hier  stets  in  der 
Schrift  der  Lehre  gelesen.  Mir  ist  zu  bange." 

,Wie  soll  ich  dich  verstehen?  Dir,  Jochanan,  ist  bange?  Dem 
Jochanan,  der  vor  der  ganzen  Gemeinde  Worte  gewagt  hat  wie 
keiner  seit  Geschlechtern,  dem  Jochanan,  dem  nicht  bange 
war  vor  allem  Haß  der  Eiferer,  dem  ist  bange  vor  dem  Feld? 
Was  fürchtest  du?' 

,,Wenn  ich  den  Menschen  predige,  Herr,  was  soll  ich  fürchten? 
Der  Menschen  Wüten  kann  ich  entzünden,  doch  können  sie's 
niederkämpfen.  Um  ihre  Wüste  können  sie  kämpfen,  und  irren 
sie  ob  meiner  Worte,  so  war's  ihr  Irrtum. 

Aber  wie  soll  ich  nicht  bange  sein ,  hinzugehen  und  in  die 
Erde  zu  schneiden  und  ihr  Samen  zu  gebieten,  der  ich  nicht 
weiß,  was  der  Erde  frommt?  Kann  sich  die  Erde  denn  auch 
wehren  meiner  Willkür?  Und  kann  ich's  vermessen,  die  Erde 
Gottes  nach  meinem  Willen  zu  formen,  der  sie  nicht  versteht? 
Wie  soll  ich  bestehen  vor  der  Erde  und  vor  Gott ,  wenn  ich 
falsch  gesäet,  der  Erde  zum  Ekel;  und  mich  zur  Erntezeit  jeder 
Halm  ansieht,  voll  Qual  und  Vorwurf,  und  dem  Herrn  einschreibt 
den  üblen  Willen,  die  mein  Stumpfsinn  ihm  geschaffen,  zu  dem 
ich  ihn'  geboren.  Wie  soll  die  Erde  mich  tragen,  zu. der  ^ch 
gesprochen: 

„  „Nach  meinem  Willen  sollst  du  tragen,  dies  und  das  sollst 
du  gebären! "  " 

So  sie  es  widerwärtig  trägt  und  nächtens  zu  Gott  stöhnt? 
Kann  sie  auch,  wie  ein  Mensch,  den  Samen  verleugnen? 

Ich  will  lieber  hingehen  unter  die  Menschen,  wenn  ich  satt 
bin  der  Einsamkeit,  und  wo  sie  den  Samen  verworfen  haben, 
da  sollen  sie  sich  bereiten  dem  kundigeren  Säemann  denn  ich.' 

Und  der  andere  ließ  Jochanan  ziehen,  denn  er  versprach  sich 
nicht  Gewinn  von  solchem  Pächter, 


48 


JÜDISCHES   DENKEN 


Spinoza  und  das  jüdische  Weltgefühl 

Von  Margarete  Susman 

In  allen  Lebensanschauungen,  Religionen  und  Spekulationen 
vom  Mythos  bis  zum  metaphysischen  System  und  zur  späten 
Dichtung  drückt  sich  die  Doppelform  alles  menschlichen  Daseins 
aus:  daß  der  Mensch  als  das  Wesen,  das  vor  die  ewig  gleichen 
Lebensrätsel  gestellt  ist  und  ihre  Lösung  sucht,  zugleich  das 
Wesen  ist,  von  dessen  Lösungen  keine  je  der  anderen  gleich  sein 
kann.  Denn  der  vor  das  gleiche  Rätsel  gestellt  ist,  ist  nie  der 
gleiche,  und  die  letzte  Lebensgemeinsamkeit  der  Menschen  be- 
steht in  dem,  was  ihnen  wurde,  nicht  in  dem,  was  sie  sind.  Was 
sie  sind,  bewirkt  das  Unvergleichliche,  Einzige  jeder  mensch- 
lichen Lösung,  von  denen  jede  wie  eine  einsame  Insel  für  sich 
ruht;  was  ihnen  wurde,  schafft  die  Verbindung  von  Insel  zu  Insel, 
läßt  den  einen  verstehen,  was  der  andere  sah.  Aber  das  ihnen 
Gewordene  reicht  zugleich  unergründlich  tief  hinunter  in  das 
Wesen  der  Menschen  und  ihrer  Leistungen,  und  wenn  wir  unter 
den  individuellen  Verschiedenheiten  der  Lösungen  immer  neue 
Gemeinsamkeiten  sich  spannen  sehen,  so  erscheinen  sie  endlich 
unauflösbar  verwebt  mit  jenem  letzten  und  einzigen  Kern,  aus 
dem  die  neue  Form  sich  entwickelt. 

So  ist  es  vor  allem  mit  den  geheimnisvollen  Verschlingungen 
nationaler  Grundzüge,  wie  sie  in  allen  Menschen  von  noch  so 
fester  Eigenart  wiederkehren  und  den  einzelnen  einem  be- 
stimmten Typus  einordnen.  Und  diese  immer  wiederkehrenden 
Gemeinsamkeiten  wirken  um  so  rätselhafter  und  überzeugender, 
als  es  sich  bei  den  unablässigen  Wechselbeziehungen  zwischen 
den  Völkern,  bei  den  langen  Zeitspannen,  über  die  die  Entwick- 
lung eines  Volkes  sich  erstreckt,  und  bei  der  wachsenden  Indi- 
vidualisierung der  Menschen  nicht  um  inhaltliche  Gemeinsam- 
keiten handeln  kann,  sondern  lediglich  um  solche  formaler  und 
dynamischer  Art,  um  bestimmte  Proportionen,  in  denen  die 
großen  Grundtatsachen  des  Lebens  erblickt  werden,  und  um  die 
Gefühlsweisen,  die  sich  an  diese  Verhältnisse  knüpfen  und  ihre 
Ordnung  im  Erleben  bestätigen  und  erfüllen.  Gewisse  Richtungs- 
und Verhältnisgefühle  scheinen  den  Völkern  unausrottbar  inne- 
zuwohnen  und  prägen  sich  in  allem,  was  ihre  Geschichte  aus- 
macht, so  sichtbar  aus,  als  wäre  von  dem  Ort,  dem  sie  ent- 
öl 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

stammen,  ein  ihnen  eigener  Blickpunkt  und  Ausgangspunkt  für 
alle  Weltbetrachtung  ihnen  mitgegeben.  Jedes  Volk  steht  gleich- 
sam an  einer  bestimmten  Stelle  im  Universum,  die  ihm  mit 
seinem  Blut  angeboren,  anererbt  ist.  Tiefer  als  das  irdische 
Heimatgefühl  ist  das  metaphysische.  Wir  fühlen,  daß  wir  nur 
hier  in  der  Unendlichkeit  wurzeln  und  dort  die  anderen  Nationen, 
und  aller  Kosmopolitismus  kann,  solange  noch  bestimmte  Na- 
tionen und  Stämme  bestehen,  nichts  anderes  sein  als  ein  sich 
die  Hände-Reichen  über  diese  Abgründe  hinweg,  in  denen  die 
Abgründe  zwischen  Mensch  und  Mensch  sich  in  einer  besonderen 
Weise  vertiefen;  er  kann  eine  Sehnsucht  nach  einem  weiteren 
reicheren  Menschsein  in  sich  schließen  und  erfüllen;  er  kann 
unseren  Blick  über  das  Eigene  hinaus  zum  Begreifen  des  Frem- 
den erweitern;  aber  er  kann  den  Punkt  nicht  verrücken,  auf 
den  unsere  Geburt  uns  gestellt  hat. 

Kein  Volk  muß  diese  eigentümliche  Unverrückbarkeit  tiefer 
und  schwermütiger  empfinden  als  das  durch  alle  Welt  verstreute 
heimatlose  Volk  der  Juden.  Die  Juden  sind  in  ihrer  irdischen 
Heimat  entwurzelt;  aber  nicht  dies,  sondern  ob  sie  es  in  der 
metaphysischen  sind,  hat  über  ihre  Lebensberechtigung,  ihre 
Lebensfähigkeit  als  dieses  Volk  zu  entscheiden.  Und  diese  Ent- 
scheidung kann  wiederum  nur  daran  getroffen  werden,  ob  wir 
in  allem  Verhalten  großer  jüdischer  Geister  trotz  der  ungeheuren 
Verschiedenheit  der  Inhalte,  die  aus  der  tiefen  Beeinflussung 
durch  die  wechselnden  Kulturen,  in  denen  Juden  gelebt  haben 
und  die  sie  in  sich  aufgenommen  haben,  hervorgebracht  sind, 
noch  ein  darunter  liegendes  Gemeinsames  zu  erblicken  vermögen, 
das  sich  zugleich  von  dem,  was  jene  fremden  Kulturen  charak- 
terisiert, unterscheidet  und  jene  letzte  Gemeinsamkeit  des  natio-r 
nalen  Weltgefühls  ausdrückt. 

Spinoza  steht  im  großen  Zusammenhang  der  abendländischen 
Philosophie  ■ —  vorwärts  und  rückwärts  mit  klaren  Fäden  eben- 
bürtigen Geistern,  verwandten  Gedankengängen  verbunden.  Er 
hat  alle  Bestimmtheit  durch  seine  jüdische  Abkunft  und  Bildung 
offen  von  sich  abgestreift  und  von  ihr  nichts  bewahrt  als  eine 
größere  Unabhängigkeit  den  die  damalige  Welt  beherrschenden 
religiösen  Strömungen  gegenüber.  Und  Spinoza  gehört  auf  der 
anderen   Seite  jenem  seltenen  menschlichen  Typus  an,    dessen 

53 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFCHL 

grundlegende  Erfahrungen  nicht  aus  der  empirischen  Welt 
stammen:  dem  Typus  des  reinen  Metaphysikers.  Und  wiederum 
steht  er  als  Erscheinung  im  Leben  in  einer  besonderen  Weise 
für  sich.  Der  Schauer  der  Einsamkeit,  der  alles  ganz  Große  um- 
weht, scheint  um  Spinoza  weiter  und  kühler  zu  wehen  als  um 
andere  menschliche  Erscheinungen,  durch  die  erhabene  Verwirk- 
lichung seiner  Erkenntnisse,  in  die  er  sein  eigenes  Leben  wie 
in  eine  es  gegen  die  Welt  isolierende  Hülle  einschloß.  Vermögen 
wir  in  dieser  nach  drei  grundlegenden  Seiten  ihres  Wesens  gegen 
eine  nationale  Gemeinsamkeit  sich  absetzenden  und  von  ihr  ge- 
lösten Erscheinung  noch  die  Wurzel  jüdischen  Weltgefühls  zu 
erfassen,  so  muß  es  uns  gewiß  werden,  daß  die  metaphysische 
Heimat  des  Judentums  nicht  mit  der  irdischen  verloren  ge- 
gangen ist. 

Es  ist  nach  der  Stellung  Spinozas  klar,  daß  es  sich  hier  nicht  um 
das  Aufsuchen  historischer  Zusammenhänge  handeln  kann,  die 
bei  ihrer  ungeheuren  Kompliziertheit  unmöglich  dazu  dienen 
könnten,  den  Wesenszusammenhang  klar  herauszustellen,  auf 
den  allein  es  hier  ankommt.  Um  eben  dieser  Kompliziertheit 
willen  scheidet  auch  jede  inhaltliche  Vergleichung  von  vorn- 
herein aus.  Den  Gott  Spinozas  mit  dem  Gott  des  alten  Judentums 
zu  vergleichen,  würde  nicht  mehr  Sinn  haben,  als  Spinozas 
System  zu  vergleichen  mit  der  Erfahrungswelt,  über  die  der  Gott 
der  Juden  herrschte.  Um  nichts  anderes  kann  es  sich  für  uns 
handeln,  als  um  jene  formalen  und  dynamischen  Gemeinsam- 
keiten des  Weltgefühls:  um  die  Weise,  in  der  die  großen  Welt- 
verhältnisse erblickt  und  empfunden  werden. 

Spinozas  Weg  war  nicht  der  Weg  von  der  Erde  zu  den  Sternen, 
sondern  von  den  Sternen  zur  Erde.  Das  ewige  Gesetz  der  Dinge 
war  ihm  die  Gewißheit,  von  der  er  ausging,  nicht  die  bunten, 
hellen  und  dunklen  Dinge  des  Lebens,  deren  Bedrängnis  er  emp- 
fand, aber  nicht  als  Wahrheit  irgendeiner  Art  anerkannte.  Wie 
wir  den  uns  unergreifbaren  Sternenhimmel  unendlich  klarer  zu 
schauen  und  reiner  zu  ordnen  vermögen  als  das  verwirrende 
Durcheinander  unseres  nächsten  Lebens,  so  sah  Spinoza  den  Wesens- 
zusammenhang der  Dinge  unendlich  klarer  als  ihre  verworrene  be- 
drückende Empirie,  die  durch  ihre  plumpe  Nähe  kein  reines  An- 
schauen, kein  unmittelbares  Erfassen  ihrer  Zusammenhänge  zu- 

53 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

läßt.  Alles,  was  Erkenntnis  heißt,  ist  für  ihn  diese  Erfassung  der 
ewigen  Wesenszusammenhänge,  und  damit  Erfassung  des  Zusam- 
menhanges des  Weltganzen.  Denn  alle  Erkenntnis  des  Wesens  der 
einzelnen  Dinge  kann  nur  auf  der  Erkenntnis  ihres  absoluten 
Zusammenhanges  beruhen,  auf  der  Erkenntnis  des  Wesens  der 
Dinge  schlechthin.  Vor  allen  Einzelwahrheiten  gilt  es,  die  Wahr- 
heit selbst  zu  besitzen,  um  erst  von  ihr  aus  alles  einzelne  in 
seinem  Verhältnis  zu  ihr  zu  begreifen.  Denn  für  sich  sind  die 
Dinge  nichts;  in  ihrer  Beziehung  auf  das  Ganze  allein  können 
wir  an  ihnen  das  erfassen,  was  wesenhaft  ist;  ihr  eigenes  Wesen 
ist  nichts  als  der  Punkt,  an  dem  sie  mit  der  Walirheit  des  Ganzen 
zusammenhängen,  der  Punkt,  der  an  ihnen  aufleuchtet,  wenn 
das  Licht  der  Ewigkeit  aus  dem  gesamten  Gesetzeszusammen- 
hang der  Welt  auf  sie  fällt  und  sie  dem  Chaos  des  Werdens  und 
Vergehens,  des  Vereinzeltseins  und  der  Vielheit  entreißt:  es  ist 
der  Punkt  an  den  Dingen,  der  eins  ist  mit  ihrer  Idee.  Nur  in 
der  Idee  haben  wir  das  wahre  Wesen  der  Dinge,  und  nur  das 
Wesen  der  Dinge  ist  ihre  wahre  Idee.  Darum  kann  keine  un- 
mittelbare Versenkung  in  die  einzelnen  Dinge,  wie  sie  uns  in 
der  Erfahrung  gegeben  sind,  ihr  Wesen  ergreifen,  sondern  nur 
die  Versenkung  in  den  Weltzusammenhang,  in  dem  ihre  Idee 
offenbar  wird.  Diese  Versenkung  allein  ist  Erkenntnis. 

Und  diese  erkennende  Versenkung  in  die  Idee  ist  eins  mit  der 
in  den  begrifflichen  Zusammenhang  der  Dinge.  Denn  der  Welt- 
zusammenhang ist  kein  anderer  als  der  uns  im  Denken  unmittel- 
bar gegebene.  Es  gäbe  überhaupt  keine  Beziehung  zwischen  der 
Ewigkeit  der  Wahrheit  und  den  vergänglichen  Einzeldingen, 
wenn  nicht  der  Wesenszusammenhang  der  Dinge,  wie  er  in  un- 
serem Denken  lebt,  das  Sein  der  Welt  selbst  wäre.  So  sind  die 
begrifflichen  Zusammenhänge  nichts  anderes  als  die  Wesens- 
zusammenhänge selbst;  die  Idee  der  Dinge,  in  der  wir  ihr  Wesen 
erfassen,  ist  ihr  reiner  Begriff.  Nur  durch  den  begrifflichen 
Zusammenhang  vermögen  wir  darum  ein  Ding,  wo  wir  es  nicht 
unmittelbar  aus  dem  Ganzen  zu  erkennen  vermögen,  rückwärts 
erschließend  zum  absoluten  Prinzip  zurückzuleiten,  aus  dem 
allein  es  begriffen  werden  kann.  So  erfaßt  die  reinste  Versenkung 
in  die  Dinge,  die  sie  gelöst  aus  allen  ihnen  gewohnheits-  und 
erfahrungsmäßig  anhängenden  Assoziationen  rein  ihrem  Wesen 

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SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

nach  betrachtet,  in  ihnen  zugleich  die  strenge  begriffliche  Ge- 
setzlichkeit der  Weltordnung;  das  Gesetz  der  Dinge,  das  wir  nur 
in  uns,  in  unserem  Denken  erfassen  können,  das  eins  ist  mit  dem 
wahrhaft  angeschauten  Naturganzen,  das  die  absolute  Einheit  des 
Wesens  und  der  Idee,  des  Seins  und  des  Begreif ens  ist;  denn  die 
Welt  ist  nichts  als  diese  Identität. 

In  dieser  Identität,  der  absoluten  Wahrheit  des  Ganzen,  die 
uns  als  die  klarste  und  wahrste  Idee,  an  der  nichts  Erfahrungs- 
mäßiges, nichts  Einzelnes  und  nichts  Vielfaches  mehr  haftet,  ge- 
geben ist,  verdichtet  sich  die  Struktur  des  gesamten  Weltzusam- 
menhanges; sie  ist  als  die  unmittelbar  zu  erfassende  Identität 
dessen,  was  wir  an  allem  einzelnen  nur  gesondert  zu  erfassen 
imstande  sind,  als  die  absolute  Weltidentität,  die  an  jedem  Punkte 
Identität  ist,  die  sich  nur  in  den  zwei  Reihen  des  Dinglichen 
und  Begrifflichen  uns  darstellt,  das  Sein  und  die  Idee  der 
Dinge,  das  absolute  Wesen,  die  erschöpfende  Totalität  und  Voll- 
kommenheit und  damit  die  alles  in  sich  begreifende  Substanz 
der  Welt. 

Alles  Erfahrungsmäßige,  ja  auch  alles  Gefühlsmäßige  ist 
unter  dieser  streng  logischen  Struktur  des  Weltganzen  versunken 
wie  ein  verworrenes  Traumbild.  Die  Luft  wird  dünn  und  dünner. 
Wir  stehen  in  der  reinen  Seinswelt  des  Metaphysikers,  in  der 
farblosen  Reinheit  einer  metaphysischen  Landschaft,  die  wie  die 
großen  und  furchtbaren  Landschaften  des  Mondes  ohne  die  At- 
mosphäre und  ihre  vermittelnden  Erscheinungen  einzig  in 
weißeUi  Licht  und  schwarzer  Nacht  brennt,  in  der  der  ganze 
Schmelz  und  Zauber  der  Farben  und  Lufterscheinungen  und 
alles  Übergehenden,  in  dem  allein  sich  Leben  bildet  und  erhalten 
kann,  fehlt.  Wir  stehen  nahe  an  der  Ewigkeit  selbst,  dem  farb- 
losen Quell  der  letzten  Gewißheit.  Und  aus  ihm,  dem  über  alle 
Sonnen  hinausliegenden,  strömt  über  diese  harte  Landschaft  eine 
neue  unbegreifliche  Kraft,  die  dadurch,  daß  sie  mehr  als  nur 
Licht  ist,  die  starre  leblose  Welt  von  Weiß  und  Schwarz  mit  einer 
magischen  lebendigen  Einheit  bindet. 

Es  ist  keine  andere  Einheit,  als  die  diesem  ganzen  System  inne- 
wohnt und  es  bildet,  und  doch  ergießt  aus  ihr,  weil  sie  nicht  nur 
die  Identität,  sondern  der  göttliche  Quell  selbst  ist,  sich  ein  Strom 
von  Glut  und  Kraft,  der  den  kalten  logischen  Gesetzeszusammen- 

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SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

hang  dieser  Welt  lebendig  aufglühen  läßt  und  ihm  damit  erst 
seinen  letzten  Sinn  für  den  Menschen  und  sein  Tun  gibt.  Die 
absolute  Identität  des  Weltzusammenhanges,  die  Idee  aller  Ideen, 
der  als  Sein  allein  der  gesamte  Weltinhalt  entspricht,  ist  Gott. 
Gott  ist  das  Ganze,  von  dem  wir  nimmermehr  eine  Vorstellung 
haben,  dessen  Idee  uns  aber  als  das  unerschütterlich  Gewisse,  als 
die  letzte  Lebensklarheit  selbst  innewohnt. 

Wäre  Spinozas  Gott  nichts  als  dies,  so  wäre  er  nur  der  voll- 
endete Ausdruck  der  rationalen  Welterfassung  des  reinen  Meta- 
physikers:  dessen,  dem  das  Sein  viel  gewisser  und  unmittelbarer 
gegeben  ist  als  die  Welt  der  Erscheinungen,  die  Wirklichkeit  des 
Denkens  viel  konkreter  als  die  der  Erfahrung,  die  Wahrheit  un- 
endlich gewisser  als  der  Irrtum,  für  den  es  die  Einzeldinge  zu 
erklären  einer  Ableitung  aus  der  höchsten  Wahrheit  bedarf,  wäh- 
rend die  Walirheit  keines  Kennzeichens  an  den  Einzeldingen  be- 
darf, noch  ein  solches  an  ihnen  finden  könnte.  Wäre  Spinozas  Gott 
nichts  als  diese  absolute  Intuition,  diese  unmittelbare  Gewißheit 
des  Geistes  über  die  Dinge,  die  sich  als  Identität  dessen  darstellt, 
was  uns  nur  unter  zwei  verschiedenen  Darstellungsformen  er- 
greifbar ist,  so  würde  er  rein  zusammenfallen  mit  der  Wahrheit 
selbst  und  würde  kaum  den  Nfunen  Gott  verdienen.  Aber  er  ist 
noch  ein  Anderes,  noch  ein  Mehr  als  dieses  logische  Gebilde. 
Denn  Raum  und  Ausdehnung,  seine  Darstellungs weisen  für  uns, 
sind  nicht  seine  einzigen  Darstellungs  weisen;  sie  vermögen  nicht, 
den  Umfang  und  die  Kraft  seiner  gewaltigen  Wesenheit  zu  er- 
schöpfen. Gott  ist  nicht  allein  die  Weltsubstanz  mit  den  beiden 
Attributen,  unter  denen  wir  die  Welt  begreifen,  sondern  er  ist 
die  Substanz  mit  unendlichen  Attributen,  von  denen  unserem 
Erfassen  nur  zwei  zugänglich  sind.  In  Spinozas  Welt  der 
strengen  Folgerichtigkeit  blickt  man  durch  die  unendlichen 
Attribute  Gottes  in  eine  Seinswelt  von  ewig  unerfaßbarer 
Weite  hinaus.  Wie  Spinoza  immer  wieder  betont,  daß  die 
Welt  nicht  auf  den  Menschen  angelegt  sein  könne,  so  ist  auch 
sein  Gott  mehr  als  ein  der  Seele,  dem  Erkennen  erfaßbarer  Gott. 
Daß  wir  Gott  nur  unter  zweien  seiner  Attribute  erfassen  können, 
was  anders  ist  es  gegenüber  der  Unendlichkeit  seiner  Attribute 
als  der  Ausdruck  der  unendlichen  Kleinheit  des  Menschen  in  der 
göttlichen  Natur?  Die  unendlichen  Attribute,  „die  uns  sagen, 

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SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

daß  sie  da  sind,  ohne  uns  ebenso  auch  zu  sagen,  was  sie  sind", 
sagen  uns  damit,  daß  die  erkennbare  Welt  nur  ein  winziger  Teil 
der  göttlichen  Welt  ist. 

An  diesem  Punkte  wird  das  religiöse  Weltgefühl  Herr  über 
das  metaphysische.  Gott  als  die  Identität  nicht  nur  des  uns  erfaß- 
baren, sondern  eines  unermeßlich  darüber  hinausgreifenden 
Seins  und  Geschehens  durchtränkt  die  Welt  damit,  daß  er  Gott 
ist,  in  einem  ganz  anderen,  gewaltigeren  und  überrationaleren 
Sinne,  als  er  es  als  die  bloße  Einheit  der  erkennbaren  Welt  ver- 
möchte. Der  strenge  Gesetzeszusammenhang  unserer  Welt  ist 
göttlicher  Natur  —  das  bedeutet  nun  nicht  mehr  nur:  er  ist  in 
der  absoluten  Wahrheit  gegründet,  sondern  er  ist  gegründet  in 
der  absoluten  Vollkommenheit,  von  der  sich  einen  Begriff  zu 
machen,  die  menschliche  Fassungskraft  unendlich  übersteigt.  Aus 
der  Unfaßbarkeit  strömt  das  logische  Gesetz  der  Dinge  hervor, 
in  der  Unfaßbarkeit  ruht  die  erfaßbare  Welt.  Die  Eine  Unend- 
lichkeit der  Welt  ist  untergetaucht  in  ein  Meer  von  dunkleren 
Unendlichkeiten  —  als  ob  die  metaphysische  Weltunendlichkeit 
der  religiösen  noch  nicht  genug  getan  hätte,  als  ob  der  Gott  der 
Menschenwelt  noch  nicht  genug  über  alles  Einzelsein  hinaus- 
griffe. Und  durch  diese  Steigerung  des  metaphysischen  Gottes 
zum  religiösen  vollzieht  sich  das  Wunder,  daß  gerade  an  dem 
Punkte,  an  dem  der  Weltzusammenhang  über  das  menschliche 
Erkennen  hinausgreift,  er  zum  erstenmal  wahrhaft  auf  den  Men- 
schen und  sein  Tun  bezogen  ist. 

Denn  der  rein  logische  Weltzusammenhang  gestattet  keinen 
Übergang  zu  der  lebendigen  menschlichen  Seele.  Gott  als  bloße 
logische  Identität  ergibt  kein  Gottesbewußtsein,  und  die  begriff- 
liche Struktur  der  Welt,  die  aus  ihm  folgt,  ergibt  kein  Selbst- 
bewußtsein. Im  bloßen  Gesetz  Gottes  stehen  ist  noch  keine  Hin- 
wendung zu  ihm.  Der  begriffliche  Zusammenhang,  in  den  wir 
einbezogen  sind,  könnte  uns  nirgends  die  Kraft  zur  Aktivität,  zur 
Rückwendung  auf  Gott  und  damit  zu  seiner  Erkenntnis  geben; 
wir  müßten,  wenn  Gott  nichts  wäre  als  die  letzte  Ursache  dieser 
Abfolge,  die  er  selbst  ist,  in  die  logische  Notwendigkeit  des  Ge- 
schehens so  verflochten  bleiben,  daß  wir  nicht  imstande  wären, 
ihn  als  diese  Ursache  und  uns  selbst  in  dieser  Abfolge  zu 
erblicken.   Niemals  wären  wir  imstande,  unsere  Idee  in  Gott  zu 

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SPINOZA  UN^D  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

begreifen,  wenn  nicht  in  Gott  selbst  mit  dieser  Idee  eine  Macht 
gegeben  wäre,  sie  in  uns  auf  sich  zurückzuwenden. 

Diese  Macht,  die  uns  zur  Erkenntnis  Gottes  und  damit  un- 
serer selbst  befähigt,  ist  der  in  Gott  angelegte  Überfluß,  die 
unfaßbare  Weltengewalt,  Vollkommenheit,  die  den  in  sich 
Ruhenden  durch  sich  selbst  bedrängt,  die  durch  ihre  Wucht  ge- 
trieben ist,  sich  aus  ihm  zu  ergießen  und  sich  nur  zu  ihm  zurück 
ergießen  kann.  Es  ist  der  ungeheure  Andrang  seiner  in  sich  krei- 
senden Kraft  gegen  sich,  der  ihn  zwingt,  sich  selbst  als  das,  der 
nichts  außer  sich  hat,  mit  unendlicher  Liebe  zu  ergreifen.  Die 
eigentliche  Umkehr  der  göttlichen  Welt  gegen  sich  selbst:  die 
sich  im  Menschen  gegen  sich  zurückwendende  Aktivität  ent- 
springt aus  dem,  oder  ist  eins  mit  dem,  was  in  Gott  —  nicht  so- 
weil  er  logische  Identität  ist,  angelegt  ist,  sondern  in  Gott,  soweit 
er  alle  Vollkommenheit  aller  Welten,  alle  begreiflichen  und  un- 
begreiflichen Kräfte  alles  Geschehens  und  damit  den  unend- 
lichen Drang  zu  sich  selbst  in  sich  schließt.  Dieser  Drang  in  Gott 
ist  das,  was  in  uns  aktiver  Affekt  wird. 

Spinozas  dithyrambisches  Wort  von  der  Freude:  ,,Wenn  die 
Freude  im  Übergang  zu  größerer  Vollkommenheit  besteht,  so 
muß  die  Seligkeit  wohl  darin  bestehen,  daß  die  Seele  sich  im 
Besitz  der  Vollkommenheit  selbst  befindet",  weist  den  Weg  zu 
dem  Punkt  der  Umkehr  der  Welt  gegen  sich  selbst,  den  wir  das 
Selbstbewußtsein  nennen.  Das  Selbstbewußtsein  fällt  für  Spinoza 
vollkommen  mit  dem  Gottesbewußtsein  zusammen.  Gott  wird 
begriffen  allein  durch  sein  eigenes  Gesetz,  das  die  Seele  in  sich 
erblickt  als  in  dem  Punkt,  an  dem  sie  es  am  adäquatesten  be- 
greifen kann.  Denn  allein  die  Seele,  sofern  sie  selbst  ewig  ist 
und  sich  selbst  in  Gott  weiß,  kann  adäquate  Erkenntnisse  bilden, 
und  je  weiter  die  Seele  auf  dem  Wege  dieses  Erkennens  gelangt, 
um  so  mehr  ist  sie  sich  ihrer  selbst  und  Gottes  bewußt.  Die  Ewig- 
keit der  Seele  ist  selbst  dies,  daß  sie  es  ist,  die  die  Dinge  unter 
einer  Art  der  Ewigkeit  zu  begreifen  vermag.  Nichts  anderes  aber 
kann  die  Seele  zu  dieser  ihrer  Ewigkeit  hinführen,  nichts  anderes 
in  diesem  logischen  Zusammenhang  der  Welt  sie  dazu  treiben, 
diese  Logik  zu  durchschauen,  sich  Gottes  und  ihrer  selbst  bewußt 
zu  werden  als  der  steigernde,  beglückende  aktive  Affekt,  der 
Affekt  nur  als  Affektion  von  Gott,  aktiv  als  die  in  dieser  Affek- 

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SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

tion  empfangene  göttliche  Aktivität  selbst  ist.  Nichts  anderes 
vermag  die  in  starrer  Ruhe  des  ewigen  Ablaufs  gegebene  Seele 
zu  bewegen  und  sich  entgegenzuführen  als  die  Sehnsucht  nach 
jener  reinsten  Freude,  die  sich  allein  auf  Gott  und  sein  Gesetz 
bezieht,  aus  dem  sie  entspringt  und  zu  dem  sie  zurückstrebt, 
nichts  anderes  die  unabsehlich  fortlaufende  mathematische 
Schlußkette  lebendig  in  sich  zurückzuführen  als  jene  heilige 
wachsende  Freude,  die  Spinoza  die  geistige  Liebe  zu  Gott  nennt. 

So  ist  die  Liebe  bei  Spinoza  die  eigentliche  Umkehr  des  Lebens 
gegen  sich  selbst,  das  Wirken  Gottes,  das  sich  selbst  an  diesem 
Punkte  anschaut  und  seiner  Vollkommenheit  durch  alles  ver- 
worren Gefühlsmäßige  des  Lebens  hindurch  leidenschaftlich 
innezuwerden  drängt.  In  Gott  selbst  liegt  dies  unermeßlich 
dithyrambische  Element,  das  sich  in  der  Seele  zu  ihm  zurück- 
entzündet und  die  starre  logische  Gesetzlichkeit  an  diesem  einen 
Punkt  entflammt,  sich  selber  zu  begreifen.  Das  Selbstbewußt- 
sein, das  nichts  ist  als  die  Erkenntnis  der  Seele  im  Lichte  der 
Ewigkeit,  das  Erkennen  ihres  Wesens  in  Gott,  kann  wirkend  und 
damit  wirklich  werden  allein  durch  die  Liebe. 

Eine  der  beiden  großen  Formen  menschlicher  Liebe  leuchtet 
hier  aus  Spinozas  System  hervor.  Es  ist  nicht  die  dunkle  ver- 
zehrende Liebe,  deren  Drang  und  Ziel  die  Einswerdung  der  Seele 
mit  dem  Geliebten  ist  und  die  die  Seele  um  dieser  Vereinigung 
als  um  einer  höheren  Form  willen  vernichtet.  Hier  scheidet  sich 
die  Liebe  Spinozas  scharf  von  der  der  Mystik  aller  Zeiten.  Eine 
Vereinigung  der  Einzelseele  mit  Gott  durch  die  Gewalt  der  eksta- 
tischen Versenkung  müßte  für  Spinoza  die  ganze  Sinnlosigkeit 
der  Identifikation  eines  Teils  mit  dem  Ganzen  haben.  Der  Gott 
Spinozas  greift  in  völlig  anderer  und  auch  vom  gewaltigsten 
Affekt  unberührbarer  Weise  über  die  Einzelseele  hinaus.  Das 
Gewordene  ist  im  Ungewordenen  beschlossen;  es  kann  nicht 
entwerden,  sondern  nur  reiner  das  werden,  was  es  ist.  Das  Er- 
kennen der  Gesetze  des  Ungewordenen,  die  immer  klarere  Er- 
fassung aller  in  ihm  gegebenen  Verhältnisse  muß  das  Gewordene 
zur  Erfüllung  dieser  Gesetze  und  damit  zur  Wahrung  der  eigenen 
Form  treiben.  Nicht  Aufhebung  des  Selbstbewußtseins,  sondern 
immer  vollkommeneres  Selbstbewußtsein  ist  das  Ziel  der  Liebe 
Spinozas.  Wie  bei  den  Mystikern  soll  man  auch  bei  ihm  nicht 

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SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

auf  endliche  Weise,  empirisch  wissen,  sondern  auf  unmittelbar 
anschauende,  aber  nicht  um  in  mystischer  Erhebung  zu  Gott 
das  Letzte  zu  erfassen,  von  dem  kein  Weg  zur  Welt  zurückführt 
und  das  aus  ihr  so  wenig  ableitbar  ist,  wie  sie  aus  ihm  —  sondern 
um  durch  dieses  Wissen  die  Dinge  selbst  zu  erblicken,  wie  sie 
in  Wahrheit  sind,  um  in  dem  Licht  des  Absoluten  den  reinen 
Gesetzeszusammenhang  der  Welt  und  sich  selbst  in  der  Ab- 
hängigkeit von  ihm  zu  begreifen.  So  ist  die  Liebe  Spinozas  im 
Gegensatz  zu  jenem  mystischen  Versinken  die  Befreiung  der 
Seele  nicht  von,  sondern  zu  sich  selbst:  sie  ist  die  Liebe  ohne 
Bangigkeit,  die  im  reinen  Anschauen  des  Geliebten  seine  Ge- 
setze begreift  und  erfüllt.  Der  einzige  Punkt,  an  dem  Liebe  und 
Wahrheit  sich  berühren,  ja  in  dem  sie  zusammenfallen,  ist  in 
Spinozas  geistiger  Liebe  zu  Gott  ergriffen:  in  dem  Begreifen 
der  Dinge  in  ihrem  Verhältnis  zum  Absoluten  besitzen  wir  den 
letzten  Sinn  der  Wahrheit  wie  die  letzte  Wahrheit  der  Liebe. 

Und  in  der  Vorstellung  intuitiven  Begreifens,  reinen  sich-Ver- 
senkens  in  die  Natur  der  Dinge  durchdringen  sich  bei  Spinoza 
Liebe  und  Wahrheit  mit  einer  so  heiligen  Gewalt,  daß  wir  an 
diesem  Punkt  aus  dem  starren  göttlichen  Gesetz  den  Blitz  der 
Liebe  springen  sehen  und  in  der  rückgewandten  Liebe  zum  Ab- 
soluten, in  der  erkannten  Abhängigkeit  von  seinem  Gesetz  die 
wahre  Freiheit  des  Menschen  begreifen. 

Als  einzige  Entflammung  der  menschlichen  Aktivität,  als 
der  universale  aktive  Affekt,  der  sich  gegen  alle  Leiden- 
schaft, alles  Leiden,  das  nicht  von  Gott  und  so  eins  mit  dem 
Tun  ist,  gegen  alles  Leiden,  das  von  Fremdem,  Einzelnem 
stammt  und  uns  lähmt,  mit  der  tätigen  Kraft  des  Begreifens 
und  Klärens  wendet  und  das  dunkle  Gewölk  mit  dem  hellen 
heiligen  Licht  der  Wahrheit  durchglüht  und  zerreißt,  ist  die  Liebe 
die  einzige  Freiheit  der  Seele.  Eine  Freiheit,  die  sich  von  der 
Kantisch-Fichteschen  Freiheit  unterscheidet  wie  die  Gesetz- 
gebung Mosis'  von  der  Tat  des  Prometheus.  Wirkliche,  bedin- 
gungslose Freiheit,  Freiheit  von  Göttern  und  Menschen  ist  nur 
diese;  denn  die  Gesetze  Mosis'  sind  empfangen  von  Gott,  und 
die  schwere  Zunge  des  Propheten  spricht  nur  die  Gesetze  Gottes 
aus.  Frei  ist  er  nur  unter  den  Menschen;  tiefer  und  ewiger  als  alle 
dumpferen  Menschen  ist  er  bestimmt  und  gebunden  durch  Gott. 

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SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

Dies  ist  die  Freiheit  Spinozas:  Liebe  zur  Totalität  des  Seins, 
die  zugleich  die  der  Idee  ist,  die  alles  Einzelne  durch  sich  be- 
stimmt, vor  der  alles  Einzelne  sich  zu  verantworten  hat,  und  durch 
die  vv^ir  um  so  freier  sind,  je  mehr  wir  nur  von  ihr  abhängen. 
Denn  Freiheit  kann  nicht  sein,  sich  zu  befreien  von  den  Gesetzen 
der  Welt,  sondern  von  ihnen  immer  reiner  bestimmt  zu  werden 
und  so  Macht  über  das  Ungesetzliche  des  empirischen  Lebens  zu 
gewinnen.  Je  mehr  unser  Sein  und  Erkennen  auf  der  einen  Seite, 
unser  Erkennen  und  Tun  auf  der  anderen  Seite  zusammenfallen, 
je  mehr  so  unser  Tun  nur  noch  der  Ausdruck  der  Natur  der  Dinge 
selbst  ist,  um  so  freier  sind  wir  dem  Leben  gegenüber.  Denn  wie 
wir  nicht  frei  sind  zu  erkennen,  was  wir  wollen,  sondern  nur  den 
Zusammenhang  der  Dinge  selbst  durch  das  Denken  fassen  können, 
so  kann  unsere  Willensfreiheit  nicht  darin  bestehen,  das  Be- 
liebige zu  wollen,  sondern  nur  darin,  in  unserem  Tun  den  Zu- 
sammenhang des  göttlichen  Gesetzes  zu  fassen.  Wie  wir  um  so 
klarer  erkennen,  je  deutlicher  sich  der  wahre  Zusammenhang 
der  Dinge  in  uns  darstellt,  so  handeln  wir  um  so  freier,  je  mehr 
wir  nur  das  wollen,  was  das  ewige  Gesetz  der  Dinge  in  uns  aus- 
drückt. Denn  wie  das  klare  Erkennen  der  realen  Zusammenhänge 
uns  von  dem  verworren  Imaginativen,  Uneigentlichen  befreit, 
das  als  finstere  Lebensmasse  um  den  leuchtenden  Kern  ge- 
schlungen ist,  der  das  Wesen  der  Dinge  ausmacht,  so  befreit  das 
Handeln  nach  dem  göttlichen  Gesetz  uns  von  dem  Andrang 
falscher  Leiden  und  Freuden,  in  denen  die  Schwere  und  Furcht- 
barkeit des  dumpfen  Lebens  uns  mit  verworrenen  Träumen  be- 
drückt, aus  denen  kein  blindes  Handeln,  sondern  nur  ein  be- 
freiendes Erwachen  erlöst. 

So  ist  bei  Spinoza  die  Verantwortung  vor  der  Totalität  des 
Seins  schon  im  ewigen  Gesetz  der  Dinge  selbst  angelegt.  Durch 
unser  Dasein  haben  wir  die  Verpflichtung,  unserer  Idee  gerecht 
zu  werden,  unserer  Idee  in  Gott,  die  unser  reinstes  Wesen  ist. 
Nur  darum,  weil  er  nicht  in  der  Form  des  Sollens  auftritt,  konnte 
Spinozas  Freiheitsbegriff  so  tief  verkannt  werden,  als  ob  er  mit 
der  Leugnung  der  absoluten  menschlichen  Freiheit  den  Menschen 
rein  in  das  dumpfe,  blinde  Naturgeschehen  verstrickte  und  ihm 
jede  Möglichkeit  moralischer  Entscheidungen  und  Handlungen 
benähme.  Wäre  die  Weltkausalität  bloßer  Naturablauf,  so  wäre 

6i 


SPI^OZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

dies  allerdings  der  Fall;  aber  aller  Naturablauf  ist  zugleich  Ge- 
schehen in  Gott;  darum  tritt  an  Stelle  desSollens  bei  Spinoza  die 
unmittelbarere  Form  des  Müssens,  des  Gedrängtseins,  der  Liebe, 
sobald  der  Mensch  auf  die  Idee  der  Dinge  gerichtet  und  also 
wahrhaft  Mensch  ist.  Von  Gottes  Gesetz  abhängen  heißt  nichts 
anderes  als  bestimmt  sein  durch  ein  übergreifendes  Sein,  durch 
ein  allgemeines  und  zugleich  mir  immanentes  Gesetz:  durch 
meine  Idee,  wie  sie  in  Gott,  wie  sie  ewig  und  wahr  ist.  — 

Es  hat  zu  allen  Zeiten  zwei  Weisen  der  Betrachtung  gegeben, 
durch  die  das  Weltgefühl  der  Völker  wie  der  Einzelnen  sich  als 
ein  im  Kern  verschiedenes  offenbart:  die  Überordnung  der  Idee 
im  weitesten  Sinne  auf  der  einen,  die  des  Ich  als  des  alles  in 
sich  befassenden  Prinzips  auf  der  anderen  Seite.  In  den  frühen 
Zeiten  hat  sich  die  erste  Form  zum  schroffen  Dualismus  des 
Judentums,  die  zweite  sich  zu  der  ersten  großen  Identitätsphilo- 
sophie, der  der  Inder,  verdichtet.  Im  ersteren  ist  uns  die  reinste 
und  ursprünglichste  Darstellung  des  semitischen  Weltgefühls  er- 
halten, in  der  zweiten  die  Grundkonzeption  des  germanischen 
Geistes. 

Wenn  wir  von  allen  unendlich  sich  verschlingenden  histo- 
rischen Zusammenhängen  und  wechselseitigen  Beeinflussungen 
absehen  und  nur  die  Wurzel  der  Erkenntnis-  und  Gefühlsweisen 
der  Völker  fassen,  so  bleibt  die  Anordnung  der  Welt,  wie  sie  in 
diesen  beiden  Konzeptionen  sich  darstellt,  im  letzten  Grunde  für 
alle  Darstellungsepochen  des  indogermanischen  und  des  semiti- 
schen Geistes  charakteristisch.  Beide  Weltauffassungen  gehen 
aus  von  der  Erlösungsfrage:  beide  sind  also  entstanden  auf  reli- 
giöser Grundlage.  Mehr  aber  und  durchgreifender  als  auf  allen 
anderen  Gebieten  haben  sich  gerade  auf  dem  der  Religion  die 
Konzeptionen  der  Völker  verwischt :  der  semitische  Geist  hat  das 
leuchtende  Dunkel  seiner  Lehre  über  das  ganze  Abendland  ge- 
worfen, und  das  Abendland  hat  die  semitische  Konzeption  mit 
seinem  Geist  durchtränkt  und  verwandelt.  Und  dennoch,  ein  wie 
deutliches  Mischprodukt  auch  gerade  die  germanische  Mystik  sei: 
in  ihr  ist  die  Verwandlung  der  jüdisch-christlichen  Welterfassung 
durch  den  germanischen  Geist  so  stark,  daß  jenes  ursprüng- 
liche indogermanische  Weltgefühl  in  ihr  wieder  mit  völliger 
Klarheit  durchbricht  und  die  Mystik  als  ein  wesentlich  germa- 

62 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

nisches  Gebilde  dem  eigentlichen  Christentum  gegenüberstellt. 
Auch  die  griechische  Welt,  durch  das  Vorwiegen  des  Erkennt- 
nismäßigen und  des  darauf  sich  aufbauenden  Ethischen  später 
fast  ausschließlich  bestimmt,  zeigt  in  ihrer  religiösen  Grund- 
konzeption: der  dionysischen,  jene  letzten  Verhältnisgefühle  des 
indogermanischen  Geistes,  die  vom  Menschen  aus  gleichsam  eine 
Umkehrung  der  semitischen  Welterfassung  bedeuten. 

Die  Inder  fragen  in  ihren  frühesten  Lehren,  in  den  Veden, 
nach  der  Erlösung  des  Selbst  von  der  Bedrängnis  der  Dinge, 
des  Einen,  das  als  eigentlich  empfunden  wird,  von  dem  als  un- 
eigentlich empfundenen  Vielfachen  und  Äußeren,  und  ihre 
Lösung  ist  ein  dunkles  unendliches  Zusammenschlagen  beider, 
einer  überwundenen  entweltlichten  Welt  der  Dinge  in  einem 
entselbsteten  Selbst  —  eine  Identität  in  dem,  was  nicht  ist.  Alles, 
was  dieser  Identität  zuführt,  liegt  auf  dem  Wege  der  äußersten 
Vertiefung,  Verwandlung  des  Selbst  zu  einem  immer  tieferen 
Selbst,  bis  zu  dem  Punkte,  wo  es  erlöschend  übergeht  in  das  letzte 
Sein,  in  dem  Ich  und  Welt  im  Nichtsein  eins  sind.  In  dieser 
Lösung  ist  die  vollkommene  Freiheit  des  Ich  über  das  Ich  vor- 
ausgesetzt und  gefordert.  Keine  Leitung  zum  Leben  wird  ge- 
sucht und  angenommen,  als  die  das  Selbst  über  Ich  und  Welt 
ausübt. 

Die  Juden  dagegen  fragen  im  Alten  Testament  vor  allem  nach 
einer  Leitung  für  das  Leben.  An  Stelle  der  bedingungslosen  Er- 
kenntnis suchen  sie  Festigung,  Glauben,  an  Stelle  der  Freiheit 
suchen  sie  die  letzte  Bindung.  Das  schwer  und  langsam  aus  dem 
Dunkel  verworrenen  Dienstes  und  übermächtiger  Triebe  sich 
loswindende  Volk  sieht  den  Feind  da,  wo  der  Inder  die  Leitung 
sieht:  im  menschlichen  Selbst,  und  dieses  gilt  es  durch  Auf- 
stellung klarer  übergreifender  Gesetze  zu  überwinden.  Darum 
müssen  die  Juden  auf  jener  Stufe  notwendig  das  Göttliche  aus 
sich  herausversetzen;  das  Selbst  muß  klein  werden  vor  dem,  der 
es  leitet.  Die  gesetzgebende  Kraft  wird  unendlich  weit  über  das 
Einzelne  erhöht  —  so  weit,  daß  nur  noch  ihre  Stimme  zu  dem 
Erwählten  dringt  und  daß  das  Antlitz  des  Unbeschränkten  dem  be- 
schränkten Sterblichen  für  immer  unsichtbar  bleibt  —  ja,  daß 
die  Menge  selbst  den  Abglanz  des  Ewigen  auf  dem  Antlitz  des 
Erwählten  nicht  erträgt. 

63 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

Das  scheidet  unverrückbar  die  zwei  großen  Konzeptionen  des 
indogermanischen  und  des  semitischen  Geistes,  und  das  ist  es, 
was  in  allen  späteren  komplizierteren  Welterfassungen  der 
beiden  Völker  sich  wieder  durchsetzt :  der  Inder  nimmt  keine  Ge- 
gebenheit an,  jede  Gegebenheit  verlischt  vor  dem  Selbst,  das  sie 
alle  vorfindet  und  darum  in  der  metaphysischen  Ordnung  der 
Dinge  vor  ihnen  allen,  der  letzte  apriorische  Punkt  der  Welt 
ist  —  der  Punkt,  der  alles  Einzelne,  jede  Form,  in  der  es  sich 
und  die  Welt  sich  ihm  äußert,  in  sich  zieht  und  in  sich  unter- 
gehen läßt.  Insofern  hat  es  Macht  über  die  Formen  aller  Dinge, 
und  die  leidenschaftliche  und  unaufhörliche  Hinwendung  des 
Menschen  zum  Selbst  vermag  durch  eine  ungeheure  Anspannung 
des  Willens  die  erste  Erscheinungsweise  des  Selbst  aufzuheben, 
sein  existierendes  Wesen  durch  ein  ekstatisches  Untertauchen  in 
das  wahre  Selbst  alles  Seins  zu  einem  existenzlosen  zu  verwandeln 
und  ein  dem  willenlosen  fleischlichen  Tod  unendlich  übergeord- 
netes Nichtsein  zu  erreichen.  Dies  ist  die  gewaltige  Freiheit,  die 
der  Inder  durch  Hinwendung  zum  wahren  Selbst  über  sein  vor- 
läufiges Selbst  besitzt  —  dieselbe  Freiheit,  die  in  der  germa- 
nischen Mystik  wiederkehrt  und  die  im  dionysischen  Kult  der 
Griechen  das  Untertauchen  der  Seele  in  die  Identität  des  Seins 
trägt. 

Die  Juden  dagegen  als  die,  die  an  Stelle  der  Freiheit  die  Bin- 
dung, an  Stelle  der  Auflösung  die  Festigkeit  des  Gesetzes  suchen, 
nehmen  durchaus  und  vor  allem  hin.  An  Stell Ci  der  freien  Er- 
hebung steht  bei  ihnen  die  Frömmigkeit.  Die  menschliche 
Kreatürlichkeit  ist  ihnen  in  ganz  anderem  Sinne  als  den  Indern 
einem  höchsten  Prinzip  Untertan:  daß  sie  es  nicht  Selbst,  son- 
dern Gott  nennen,  bezeichnet  die  tiefe  brückenlose  Entfernung 
der  einzelnen  Seele  vom  Absoluten.  Denn  sie  selbst  hat  keine 
Macht  über  ihre  Form,  sondern  ihre  Form  hat  sie  empfangen 
als  Zeichen  ihrer  Einordnung  in  den  ewigen  Weltzusammen- 
hang, der  sie  trägt;  der  reinste  Ausdruck  dieses  Weltverhält- 
nisses  liegt  allezeit  in  dem  Wort  Spinozas,  „daß  der  Geist  die 
Seele  wie  den  Körper  Gott  anheimgibt  ohne  allen  Aberglauben". 
Die  Stelle  des  Alten  Testaments,  der  Philo  wie  Paulus  die  funda- 
mentale Wichtigkeit  für  ihre  eigene,  soviel  höher  entwickelte 
Lehre  zuschreiben  ,,Und  Abraham  glaubte  Gott,  und  er  rech- 

64 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

nete  es  ihm  zur  Gerechtigkeit",  hat  bis  zu  diesen  Worten  Spi- 
nozas durch  allen  Ausdruck  jüdischer  Religiosität  hindurch  ihre 
Grundbedeutung  nicht  verloren:  daß  der  Glaube  die  vollkom- 
menste der  jüdischen  Tugenden  ist  —  der  reine  Glaube  an  die 
höchste,  mir  unendlich  übergeordnete  Gegebenheit  im  Gegen- 
satz zur  Freiheit  der  Seele  von  allem  ihr  Gewordenen.  Nur  was 
Spinoza  in  diesem  Wort  als  durch  das  von  der  Liebe  geleitete 
reine  Erkennen  der  ewigen  Zusammenhänge  bewirkt  wissen  will, 
das  muß  auf  niederer  Stufe  durch  den  Gehorsam  bewirkt  wer- 
den. Was  anders  bedeutet  der  mit  solcher  Leidenschaft,  mit  so 
flammender  Strenge  und  Ausschließlichkeit  geforderte  Gehor- 
sam im  Alten  Testament,  als  die  Übertragung  der  von  den  Klar- 
blickenden erkannten  ewigen  und  notwendigen  Gesetze  Gottes 
auf  die,  die  sie  noch  nicht  zu  erkennen  vermögen?  Die  Forderung 
dieses  absoluten  Gehorsams  läßt  schon  Moses  das  harte  aus- 
schließende Wort  sprechen,  das  Christus  im  Hinblick  auf 
seine  Lehre  wiederholt:  Wer  von  seinem  Vater  und  von 
seiner  Mutter  spricht:  Ich  sehe  ihn  nicht,  und  von  seinem 
Bruder:  Ich  kenne  ihn  nicht,  und  von  seinem  Sohne:  Ich  weiß 
nicht,  die  halten  deine  Rede  und  bewahren  deinen  Bund.  Gott 
wird  erblickt  und  geliebt,  nicht  aber  der  Mensch,  nicht  aber  die 
Seele  —  auf  diese  kommt  es  nicht  an,  sondern  allein  auf  Gott 
und  die  Vollziehung  seiner  Gesetze.  Aber  auch  nicht  das  höchste 
und  ewige  menschliche  Selbst  kann  geliebt  werden.  Gott  ist  ein 
so  strenger  Gott,  daß  aus  der  Freiheit  des  Menschen  der  Tod 
stammt.  Restloses  Unterordnen  unter  Gott  wäre  Befreiung  vom 
Tod  —  nicht  aber  in  dem  Sinne  des  Eingehens  und  Untergehens 
in  Gott,  sondern  in  dem  härteren  und  drückenderen  Sinne  des 
Niemals-Erwachtseins.  Für  dieses  Nichtwiederzugewinnende  des 
verlorenen  menschlichen  Gehorsams  kann  nur  die  reinste  Ein- 
ordnung in  das  Gesetz  Gottes  eintreten  —  nur  die  tiefe  drängende 
Einordnung,  die  die  Sehnsucht  ist,  ganz  in  diesem  Gesetz  zu 
stehen  und  es  zu  erfüllen,  die  nichts  weiß  und  sieht  als  Gott,  weil 
sie  die  Liebe  zu  Gott  selbst  ist.  Daß  die  Abhängung  der  Seele 
von  Gott  ihr  wahres  Wesen  bedeutet,  daß  das  Gesetz  Gottes  zu 
erfüllen  darum  ihre  letzte  Sehnsucht  sein  muß,  und  daß  das 
harte,  eherne  und  ewige  Gesetz  Gottes  nur  durch  die  Liebe  Avahr- 
haft  zu  erfassen  und  zu  erfüllen  ist,  das  bedeutet  das  Erscheinen 

<  65 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

Christi  für  das  Leben,  das  bedeutet  in  einer  gänzlich  anderen 
Form  die  Lehre  Spinozas  für  das  Erkennen. 

Die  Juden  sind  im  Alten  Testament  an  der  Tiefe  des  Selbst 
ganz  vorbeigegangen.  Und  sogar  das  Wunder  des  von  Gott  er- 
glänzenden Antlitzes  des  Propheten  hat  keine  Erhebung  des 
Selbstgefühls  in  den  Juden  bewirkt.  Alles  sich  Auflehnen  des 
menschlichen  Prinzips  gegen  das  göttliche,  alles  sich  Angleichen 
diesem  Prinzip  ist  Sünde  vor  dem  Gesetz.  Das  Bewußtsein  der 
Sünde  ist  geboren  aus  dem  Gefühl  der  Abhängigkeit  von  der 
Idee  der  Vollkommenheit,  vom  Gesetz,  von  Gott.  Vor  die  Tiefe 
des  Selbst  schiebt  sich  die  Größe  der  absoluten  Forderung  an 
den  Menschen.  Aus  diesem  Abhängigkeitsgefühl  von  einem  als 
unendlich  größer  Empfundenen  ist  alles  Höchste  des  Juden  zu 
begreifen  und  vieles  Niedere  zu  verzeihen:  das  Höchste  jüdischer 
Leistungen  und  alles,  was  die  Juden  in  Zeiten  der  Schmach  auf- 
recht erhielt,  an  denen  jedes  Volk,  das  Freiheit  als  sein  höchstes 
Gut  empfindet,  zugrunde  gegangen  wäre;  die  Absolutheit  des 
hohen  Juden  auf  der  einen  Seite  und  die  Biegsamkeit  des 
niederen  vor  dem  Schicksal  auf  der  anderen.  Alle  diese  Züge 
des  jüdischen  Wesens  sind  durch  die  harten  und  bitteren  Schick- 
sale des  jüdischen  Volkes  hindurch  zurückzuführen  auf  das  Ge- 
fühl einer  bedingungslosen  Abhängigkeit  von  den  Gesetzen  eines 
ewig  übergeordneten  und  vom  Einzelnen  nie  zu  erfassenden 
Ganzen. 

In  diesem  Weltverhältnis  der  Juden,  verglichen  mit  dem  der 
Inder  ist  das  Eine  deutlich:  die  Juden  haben  nicht  wie  die  Inder 
eine  unmittelbare  Beziehung  zur  Welt,  zu  Gott,  zum  Selbst,  zu 
den  letzten  Quellen  des  Lebens,  sondern  eine  solche,  die  erst 
durch  das  Gesetz  begriffen,  durch  die  Liebe  vermittelt  werden 
muß.  Dem  Welterfassen  der  Inder  könnte  weder  Liebe  noch 
Gesetz  etwas  Entscheidendes  bedeuten.  Was  soll  dem  Drang  nach 
bedingungsloser  Freiheit  von  allem  Seienden  das  Gesetz?  Was 
soll  die  Liebe  im  Verhältnis  des  Ich  zum  Ich,  das  nur  das  Ver- 
sinken in  ein  immer  tieferes  Ich  verlangt?  Die  Mystiker  haben 
die  Liebe  aus  dem  Christentum  herübergenommen,  weil  sie  die 
alten  Lebensgegensätze  des  Christentums,  Gott  und  Seele,  mit 
übernahmen;  aber  aus  der  christlichen  Liebe  wurde  bei  ihnen 
eine  Liebe  so  anderer  Art,  daß  es  scheint,  als  seien  die  uralten, 

66 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

germanischen  Leidenschaftsbeziehungen  zwischen  Mensch  und 
Mensch  in  dieser  inbrünstigen,  versinkenden,  verschmelzenden 
Liebe  zu  Gott  wieder  emporgetaucht  und  ins  Gestaltlose  ge- 
steigert. Die  Liebe  ist  gebunden  an  das  Du,  und  daß  ihr  dies  in 
der  Mystik  immer  tiefer  zurückweicht  und  zuletzt  versinkt,  gibt 
dieser  Liebe  den  Charakter  schwindelnder  Ekstase,  den  die  jü- 
dische Liebe  und  die  eigentliche  christliche  Liebe  als  die  zu  einem 
unverrückbar  Übergeordneten  nicht  kennt.  Denn  alle  Liebe  geht 
ursprünglich  aus  vom  dualistischen  Weltgefühl.  Der  Mittler- 
gedanke ist  der  eigentliche  Liebesgedanke  der  Menschheit,  und 
das  eigentliche  Zeichen  der  Liebe  ist  das  Symbol  in  seiner  ur- 
sprünglichen Bedeutung:  als  die  Vereinigung  zweier  getrennter 
Ringhälften.  Alle  Liebe  ist  Kraft  zur  Überwindung  ewiger  Le- 
bensgegensätze, ist  der  Drang,  der  in  den  Gegensätzen  selbst  sich 
erzeugt,  sobald  sie  sich  als  Teile  eines  gleichen  Lebens  empfinden 
und  sich  so  ineinanderzufügen  streben,  daß  sie  selbst  das  Ganze 
werden.  Aber  nicht  in  einer  Verschmelzung,  einer  Aufsaugung 
des  einen  durch  das  andere  kann  das  dualistische  Weltgefühl 
diese  Einigung  begreifen,  sondern  im  Sinne  eines  sich  ineinander 
Einfügens,  eines  Zusammenwachsens  zu  einem  Ganzen,  zu  dem 
die  Teile  selbst  sich  angelegt  fühlen  im  letzten  Sinne  als  eine  Voll- 
endung des  Weltganzen  durch  die  Kraft  des  gereinigten,  seine 
Stellung  begreifenden  menschlichen  Willens.  Sich  zu  schließen  ist 
das  Streben  jedes  Zwiespalts,  der  ein  lebendiger  ist,  und  so  trägt 
jede  dualistische  Welterfassung  den  Drang  zur  Versöhnung  der 
Welthälften  in  sich.  Je  größer  die  Kluft  ist,  um  so  gewaltiger 
wächst  der  Drang  zu  ihrer  Überbrückung,  um  so  mehr  muß  dieser 
Drang  ein  Selbständiges,  für  sich  Bestehendes  werden,  das  sich 
als  Prinzip,  als  Gestalt,  als  Engel  und  schließlich  als  Person, 
die  beider  Welthälften  Anlage  in  sich  trägt,  herausstellt.  So  lebt 
der  Messiasgedanke  tief  in  der  Wurzel  des  Judentums,  und  durch 
das  ganze  alte  Testament  mit  seiner  Strenge  und  Härte  leuchtet 
wie  ein  Funke,  der  die  Welt  ergreifen  will  und  muß  und  erst 
als  Flamme  aufschlagen  wird,  wenn  sie  ganz  ergriffen  ist,  die 
Liebe  hervor.  Die  Liebe,  die  hier  noch  ausschließlich  in  der 
schlichten  Hülle  der  Gesetzeserfüllung  lebt  und  doch  wie  in  der 
Opferung  Isaaks  bereits  über  den  Gehorsam  hinaus  eine  brennen- 
dere Kraft  zum  Opfer  aus  sich  entfaltet  —  und  die  in  Josephs 

67 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

schlichtem  Wort  zu  seinen  Brüdern:  „Fürchtet  euch  nicht,  denn 
ich  bin  unter  Gott",  schon  als  Liebe  im  keimenden  Begreifen  des 
göttlichen  Gesetzes  über  die  bloße  Gerechtigkeit  siegt.  — 

Spinozas  System  der  Identität  scheint  die  Liebe  in  diesem  Sinne 
auszuschließen.  Hier  ist  keine  Vermittlung  zwischen  getrennten 
Welthälften  nötig.  Diese  streng  geschlossene  Welteinheit  scheint 
der  Liebe  keinen  Raum  zu  lassen.  Und  dennoch  ist  hier  das  Ver- 
hältnis des  Einzelwesens,  des  empirischen  Selbst  zum  absoluten 
Selbst,  das  Verhältnis  des  Ich  zu  Gott,  auf  das  allein  es  bei  der 
Liebe  ankommt,  so  verschieden  von  dem  des  Inders  wie  das  des 
Judentums  selbst. 

Wie  für  das  alte  Judentum  wäre  für  Spinoza  eine  Einwirkung 
des  Selbst  auf  seine  Form,  eine  Änderung  des  existenzialen  Cha- 
rakters des  Einzelseins  durch  den  eigenen  Willen,  und  die  da- 
durch erreichte  Annäherung  an  das  absolute,  göttliche  Selbst 
Wahnsinn  vor  dem  Gesetzescharakter  der  Welt.  Gerade  das 
vollkommene  Ich-  und  Weltsein  Gottes  greift  dadurch,  daß  es 
selbst  der  gesamte  Weltzusammenhang  ist,  so  unermeßlich  über 
die  Beschränkung,  in  der  dies  am  Einzelnen  sich  darstellt,  hinaus 
wie  das  Sein  über  eine  seiner  zahllosen  flüchtigen  Daseinsweisen. 
Die  Notwendigkeit,  die  das  Ganze  ist,  kommt  allein  ihm,  dem 
ewigen  Wesen  der  Dinge  zu;  das  ewige  Gesetz,  das  in  ihnen 
lebt,  ist  allein,  und  an  ihm  kann  durch  den  Einzelnen  nichts 
geändert  werden.  Was  verändert  werden  kann,  ist  einzig  die 
Klarheit  der  Beziehung  des  Einzelnen  auf  das  Ganze.  Die  Da- 
seinsweise kann  das  Göttliche  reiner  oder  weniger  rein  dar- 
stellen, und  sie  hat  Ewigkeit  einzig,  sofern  sie  es  darstellt,  und 
um  so  mehr,  je  wahrhafter  sie  es  darstellt.  Und  doch  liegt  auch 
alles,  was  an  den  göttlichen  Daseinsweisen  falsch,  schlecht  oder 
vorläufig  erscheinen  könnte,  wiederum  nur  in  unserer  von  den 
Affekten  gegen  die  Dinge  verwirrten  Betrachtungsweise,  so  daß 
sie  nichts  sind  als  diese  Gesetzlichkeit,  die  sie  darstellen,  und 
wir,  je  reiner  wir  sehen,  um  so  mehr  sie  selbst  sehen.  So  ist 
unser  Erkennen  des  Wesens  der  Dinge  die  Kraft,  die  sie  in  uns 
zu  sich  führt,  und  so  würden  wir,  indem  wir  etwas  an  den  Dingen, 
und  mehr  noch  an  unserem  Selbst,  durch  das  wir  sie  erkennen, 
ändern,  verwandeln  wollten,  uns  nur  immer  tiefer  in  diese  falsche 
vorläufige  Auffassung  verstricken;  je  reiner  wir  den  ewigen  und 

68 


SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

notwendigen  Zusammenhang  der  Dinge  erkennen,  um  so  reiner 
werden  wir  uns  ihm  einzufügen  und  damit  wir  selbst  zu  sein 
streben.  In  diesem  Sinne  führt  die  Erkenntnis  auf  die  höchste 
der  Tugenden,  die  Spinoza  im  schroffen  Gegensatz  zu  den  in- 
dischen Lehren  als  die  Selbsterhaltung  begreift.  Selbsterhaltung 
als  reinster  Gegensatz  zum  Eigennutz:  als  Abstreifung  alles 
Fremden,  Äußeren,  mit  dem  ich  mich  verwirren  würde,  als 
Wahrung  des  göttlichen  Gesetzes  an  dem  Punkt,  wo  ich  es  am 
tiefsten  begreife,  als  Steigerung  des  Selbstbewußtseins,  des 
Gottesbewußtseins,  als  reines  Ergreifen  des  eigenen  Wesens  in 
und  durch  Gott.  Zu  dieser  Selbsterhaltung  führt  nur  die  Liebe 
zu  Gott.  Denn  nicht  mich  suche  ich  in  ihr,  sondern  Gottes  Ge- 
setz in  mir.  Nicht  auslöschen  will  ich  mein  Selbst  in  einer  letzten 
Identität  von  Selbst  und  Welt,  sondern  mich  besser  begreifen 
lernen  als  Daseinsweise,  die  soviel  vom  göttlichen  Selbst-  und 
Weltsein  in  sich  zu  realisieren  strebt,  wie  sie  erfassen  kann.  Denn 
niemals  kann  für  Spinoza  die  Identität  der  Welt  jene  verwan- 
delnde, auflösende  Bedeutung  für  das  menschliche  Selbst  haben 
wie  für  den  Inder  der  Veden.  Nur  logisch  ist  für  ihn  die  Identi- 
tät der  Welt  gegeben.  Sie  ist  nicht  die  lebendige  Identität  des 
Inders,  die  das  schwankende  einmalige  Selbst  durch  das  Erleben 
seines  tieferen  Selbst  unmittelbar  in  seinen  letzten  Quell  zurück- 
führt. Zu  Gott  führt  in  diesem  logischen  Gesetzeszusammenhang 
für  das  Einzelwesen,  das  lediglich  eine  seiner  Daseinsweisen, 
seiner  Darstellungsformen  ist,  kein  Weg;  soweit  dieser  Zusam- 
menhang ein  bloß  logischer  ist,  ist  es  starr  und  tot  in  ihm  be- 
schlossen. Und  wenn  auch  die  Liebe  diesen  Zusammenhang  nicht 
zu  durchbrechen,  nicht  aus  ihm  herauszuführen  vermag,  Herz 
an  Herz  eines  lebendigen  Gottes,  so  kann  doch  nur  sie  dazu 
führen,  Gottes  ewiges  Gesetz  und  sich  in  ihm  zu  begreifen.  Dies 
Durchschauen  der  Notwendigkeit  alles  Seins  und  Geschehens  in 
Gott  ist  die  Erlösung  durch  die  Liebe  zu  ihm,  die  nichts  ist  als 
die  unendliche  Sehnsucht  nach  dem  vollkommenen  Begreifen 
seines  Gesetzes. 

So  schafft  auch  hier  erst  die  Liebe  als  das  dynamische 
Moment  der  göttlichen  Unendlichkeit  die  wahre  Verbindung 
zwischen  Ich  und  Gott.  Die  an  sich  leblose  und  dem  Leben  des 
Subjektes  unzugängliche  Identität  der  Welt  wird  als  lebendige 

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SPINOZA  UND  DAS  JÜDISCHE  WELTGEFÜHL 

nur  hergestellt  durch  die  Liebe,  die  aus  unermessenen  Unend- 
lichkeiten hereinflutend  das  starre  Weltgesetz  bewegt  und  in 
ihm  selbst  die  rückgCAvandte  Sehnsucht  zu  Gott,  zum  Begreifen 
des  göttlichen  Gesetzes  entzündet.  Insofern  ist  die  Liebe  auch 
hier  die  lebendige  Mittlerin  zwischen  Mensch  und  Gott  und  die 
wahre  Erfüllung  des  Gesetzes. 

Nüchtern  und  kühl  steht  neben  der  indischen  Ekstase  und 
der  Ekstase  der  Mystik  und  neben  dem  dionysischen  Orgiasmus 
diese  Liebe,  die  nichts  durchbrechen,  nichts  verwandeln,  nichts 
zerstören  und  erbauen  will,  deren  einzige  Aktivität  die  zähe  starre 
Wahrung  des  für  göttlich  Erkannten  gegenüber  jeder  unreinen 
Vermischung  und  freventlichen  Erhebung  des  Einzelnen  ist.  Wie 
das  kühle  klare  Wasser,  das  in  immer  gleicher  Form  der  Erde 
entquillt,  dem  sich  aus  ihr  durch  Rebe,  Blüte  und  Frucht,  durch 
Gärung  und  Klärung  zu  immer  neuen  berauschenden  Verwand- 
lungen entfaltenden  Wein,  der  weiter  berauscht  und  verwandelt, 
steht  die  Gesetzesliebe  des  Alten  Testaments,  die  Gesetzesliebe 
Spinozas  der  Mystik  aller  Zeiten  gegenüber.  Wie  das  Wasser, 
das  reinigt  und  läutert,  kühlt  und  erfrischt,  —  aber  auch  wie 
das  Wasser,  das  in  ruhiger,  tief  bewegter  Weite  als  das  Meer 
vor  uns  liegt,  dessen  rhythmischer  Schlag  den  ewigen  Dithyram- 
bus der  göttlichen  Ordnung,  der  Gesetzlichkeit  des  Weltalls 
immer  neu  zu  uns  emporträgt  und  in  jeder  seiner  Wellen  die 
Unendlichkeit  verkündet,  in  der  sie  ist,  aus  der  sie  stammt  und 
in  die  sie  liebend  als  in  das  Ihre  zurückkehrt. 


70 


Von   der  Sendung   des  Judentums 

IDEEN  ZUR  PHILOSOPHIE  HENRI  BERGSONS 

Von  Kurt  M.  Singer 

J_Ja  Hegel  die  Geschichte  des  Weltgeistes  übersann,  wurden 
ihm  Orient  und  Okzident  zu  Zeiten  des  einen  ungeheuren  Ge- 
schehens, in  dem  sich  die  Fülle  der  im  Geist  beschlossenen  Rich- 
tungen entfaltet  und  verwirklicht  wie  das  Leben  des  Baumes  in 
Stamm  und  Gezweig.  Als  Träger  dieser  Einheit  erschien  ihm 
das  Judentum. 

Morgenländisch  ist  nach  Hegel  die  Richtung  auf  das  Eine  und 
Allgemeine  —  „denn  dem  Morgenlande  gehören  die  maßlosen 
Anschauungen  an,  die  alles  Begrenzte  über  sich  hinaustreiben". 
Das  Judentum  aber  bedeutet  ihm  die  äußerste  Steigerung  und 
zugleich  die  Umkehr  des  Orients:  das  unbestimmte  Allgemeine 
verwirklicht  sich  zur  Realität  des  einen,  unsinnlichen  Gottes. 
Der  Geist  löst  sich  hier  aus  der  Substanzialität,  der  dunklen  In- 
differenz des  Orients.  Er  geht  in  sich  nieder  und  erkennt  sich  als 
das  Eine,  Innere,  im  Gegensatz  zur  Materie,  die  er  nunmehr  als 
das  Vielfache,  Äußerliche,  Geschaffene  bestimmt.  „Dadurch  ge- 
schieht der  Bruch  zwischen  dem  Osten  und  Westen." 

Weiter  aber  ist  es  nach  Hegel  die  Sendung  des  Judentums, 
das  wieder  zu  verbinden,  was  es  um  der  höheren  Einheit  willen 
trennen  mußte.  Als  der  Geist  von  der  abstrakten  Form,  in  der 
ihn  das  Judentum  erfaßt  hatte,  im  Griechentum  fortgeschritten 
ist  zur  Erfüllung  in  der  schönen  Individualität,  und  als  diese 
neue  Welt,  durchaus  ans  Sinnliche,  Einzelne,  Konkrete  gebunden 
und  nur  durch  glücklichen  Zufall  in  lebendigem  Gleichgewicht 
gehalten,  zur  römischen  Zeit  in  absolute  Zersplitterung  undVer- 
äußerlichung  gerät  —  ist  es  das  Judentum,  das  den  Geist  rettet, 
indem  es  die  Zerrissenheit  in  sein  eigenes  Selbst  hineinnimmt, 
den  Dualismus,  dessen  Mythos  es  im  Bilde  des  Sündenfalls  ge- 
schaffen hatte,  in  sich  wiederfindet  und  zugleich  die  orienta- 
lische Substanzialität,  als  Gewähr  der  Einheit.  Es  erträgt  das 
allgemeine  Elend  nicht  durch  Stumpfheit,  wie  die  Römer,  son- 
dern durch  unendliche  Energie  der. Sehnsucht.  Es  leugnet  nicht 
stoisch  den  Schmerz.  „Die  jüdische  Empfindung  beharrt  viel- 
mehr in  der  Realität  und  verlangt  darin  die  Versöhnung,  denn 
sie  ruht  auf  der  orientalischen  Einheit  der  Natur,  d.  i.  der  Reali- 


71 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

tat,  der  Subjektivität  und  der  Substanz  des  Einen."  So  bereitet 
sich  im  Judentum  die  Durchdringung  orientalischen  und  okzi- 
dentalischen  Wesens  vor,  die  in  der  Form  des  Christentums  fast 
zwei  Jahrtausende  Europa  beherrscht  hat. 


Diese  Synthese  ist  heute  erschüttert;  das  Gefühl  ist  allgemein, 
daß  die  religiöse  Grundlage  des  europäischen  Lebens  nicht  mehr 
ausreicht,  den  neuen  Bau  zu  tragen.  Eine  unübersehbare  Masse 
von  Einrichtungen  und  Apparaten  legt  sich  auf  den  Menschen, 
schwerer  noch  als  einst  das  römische  Imperium,  das  doch  im 
Kerne  menschliche  Wirklichkeit  gewesen  war.  Die  religiösen  Tra- 
ditionen erweisen  sich  als  unfähig,  die  erstarrende  Masse  mit 
neuem  Leben  zu  füllen,  ja  sie  scheinen  mit  irrealen  Forderungen 
die  Verv/irrung  zu  steigern.  So  sehen  einige  der  Besten  das  Heil 
in  der  Abstreifung  dieser  Tradition  und  in  der  Rückkehr  zum 
griechischen  Begriff  der  Menschheit:  Griechentum  als  Bändi- 
gung des  eingeborenen  Chaos  durch  begrenzende  Gestaltung,  im 
Gegensatz  zu  den  maßlosen  Forderungen  des  Orients. 

Auf  der  anderen  Seite  erhebt  sich  das  Morgenland  langsam 
zum  Bewußtsein  seiner  selbst.  Es  will  nicht  länger  als  bloße 
Vorstufe  zum  Abendlande  gelten.  Es  nimmt  die  europäische 
Technik  an,  aber  es  findet  im  Abendlande  hinter  den  vielen 
Zwecken  und  Mitteln  nicht  den  einen  Unendlichkeitsgedanken, 
ohne  den  der  Orientale  nicht  atmen  kann.  So  setzt  es  dem  viel- 
spältigen  Treiben  des  Westens  sich  selbst  als  Hüter  des  Unbe- 
dingten entgegen.  Das  Netz  der  Verkehrsmittel,  das  Ost  und  West 
zu  verbinden  schien,  hat  die  Welten  furchtbarer  getrennt,  als 
es  am  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  geahnt  werden 
konnte.  Es  scheint  heute  vielen,  daß  kein  geistiger  Wille  mehr 
die  Hälften  der  Welt  zu  verschmelzen  vermag. 

Der  Zwiespalt  aber  setzt  sich  ins  Innere  fort.  Im  Abendland 
regt  sich  das  Gefühl,  daß  mit  der  Rückkehr  zum  Griechentum 
nicht  alle  Nöte  zum  Schweigen  gebracht  sind.  Das  Bedürfnis 
nach  einem  Transzendenten  ist  geblieben,  heftet  sich  dort,  wo 
die  Traditionen  stark  sind,  an  die  Reste  des  christlichen  Zeit- 
alters, und  sucht  sich  Scheinerfüllungen,  wo  der  Zusammenhang 
mit  der  Vergangenheit  nicht  mehr  lebendig  ist,  und  keine  seelische 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Gewalt  die  alten  Regungen  zu  bannen  vermag.  Asien  £iber  muß 
erkennen,  daß  seine  traumhafte  Einheit  sich  bei  der  Berührung 
mit  dem  Westen  in  ein  unvermitteltes  Nebeneinander  der  un- 
vereinbarsten Teile  auflöst,  und  wird  durch  die  Notwendigkeiten 
sozialer  Rekonstruktion  darin  gehemmt,  seine  besten  Kräfte  an 
die  Schöpfung  einer  neuen  geistigen  Einheit  zu  wenden. 

Was  hat  das  Judentum  in  diesem  ungeheuren  Ringen  an 
Kräften  einzusetzen?  Es  muß  an  ihm  teilnehmen,  wenn  es  nicht 
zwischen  den  feindlichen  Welten  zu  wesenlosem  Staub  zerrieben 
werden  will. 

Wo  aber  ist  die  Kraft,  die  ihm  die  Entscheidung  verbürgte? 
Es  fehlt  ihm  ebenso  die  freie  Gestaltungskraft,  die  das  Erbteil 
Griechenlands  ist,  wie  die  von  allem  Leben  entbundene  Schau 
der  indischen  Heiligen.  Es  kann  sich  weder  in  den  Traum  des 
Morgenlandes  zurückbeugen,  noch  in  dem  gestaltenreichen  Chaos 
des  Westens  verharren.  Ist  seine  Mission  beendet?  Oder  sind 
Anzeichen  da,  daß  sich  unterirdische  Kräfte  im  Judentum  regen, 
in  deren  Hand  wiederum  die  Entscheidung  über  den  Streit  der 
Welten  gelegt  ist? 

Ich  suche  diese  Anzeichen  nicht  in  der  unruhigen  Geschäftig- 
keit derer,  die  aus  der  Empfindung  einer  Not  nach  Heilmitteln 
suchen.  Erneuerung  kommt,  nach  dem  tiefen  Worte  Georges,  aus 
dem  Fernsten;  nicht  aus  dem  Wesensfremden,  aber  aus  Regionen, 
die  sich  nur  dem  erschließen,  dem  ein  neues  Bild  des  Göttlichen 
aus  der  Fülle  des  Wesens  aufsteigt  —  in  der  Verwirklichung,  die 
dem  Tage  nicht  näher  ist  als  den  Sternen. 

So  rede  ich  von  dem  Wege,  auf  dem  uns  Bergson  wie  von 
unsichtbaren  Mächten  gezogen  einer  neuen  Erfüllung  entgegen- 
gehen läßt  —  als  einem  dieser  Anzeichen,  und  in  der  Hoff- 
nung, daß  sich  zugleich  sein  Werk,  dessen  Sinn  so  durchsichtig 
scheint  und  sich  doch  dem  Erfassen  geheimnisvoll  entzieht,  von 
diesem  Wege  aus  in  seiner  tieferen  Einheit  erschließen  wird. 


Die  Struktur  der  Philosophie  Bergsons  ist  von  dem  Aufbau 
früherer  metaphysischer  Systeme  durchaus  verschieden.  Seit 
den  Anfängen  des  griechischen  Denkens  hat  die  Philosophie  den 
Anspruch  erhoben,  dem  Leben  mit  der  Strenge  kristallinischer 


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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Form  gegenüberzustehen :  dem  Wandel  der  Dinge  enthoben,  sich 
selbst  genügend,  um  eine  feste  Mitte  nach  unveränderlicher  Norm 
geordnet.  Was  von  Schimmern  und  Strahlen  des  Lebens  ein- 
trat in  dies  Gebilde,  sollte  nach  dem  ew^igen  Gesetz  gebrochen 
in  das  Reich  des  Mannigfaltigen  und  des  Flusses  zurückgesandt 
werden:  das  Gesetz  aber  sollte  das  Wesen  der  Welt  spiegeln, 
das  sich  einst  zur  Fülle  der  Erscheinungen  verbreitet  hat  und 
sich  nun  zur  Einheit  des  philosophischen  Gedankens  sammelt. 

Die  Philosophie  ist  oft  über  diesen  ihren  Begriff  hinaus- 
gegangen, aber  nur  wie  gegen  ihren  Willen.  Erst  mit  Bergson 
beginnt  eine  Philosophie,  die  ihr  Gleichnis  nicht  im  Kristall,  son- 
dern im  Lebendigen  sieht.  Die  ältere  Metaphysik  hatte  nach 
einem  System  von  Begriffen  gestrebt,  die  sich,  um  einen  Zentral- 
begriff geordnet,  im  Gleichgewicht  halten,  jeder  gestützt  und 
stützend,  freischwebend  über  dem  dumpfen  Sturz  der  vergäng- 
lichen Dinge  und  Wesen.  Die  Philosophie  Bergsons  will  sich 
nicht  aus  der  Sphäre  des  Lebendigen  lösen:  So  kann  sie  auch 
fordern,  daß  man  sie  nicht  nur  in  den  geometrischen  Linien 
eines  Konturs  erfasse,  in  dem  begrifflichen  Substrat,  dessen  sie 
sich  zur  Mitteilung  ihrer  Erkenntnisse  bedient,  sondern  aus  dem 
geheimen  Anhauch,  dessen  sprachgewordener  Ausdruck  dieses 
Werk  ist:  Lebendige  Gestalt  erschöpft  sich  nicht  in  dem  Gesetz 
ihres  Umrisses,  über  alle  greifbare,  räumliche  Spur  hinaus  ist 
sie  Verkörperung  eines  Ursprünglichen,  dem  keine  endliche  Form 
angemessen  ist  —  ist  Dämon,  Bewegt-Bewegendes  und  kommt 
zu  uns  als  Stimme  der  Urtiefe. 

Es  scheint,  daß  die  Mißverständnisse,  die  Bergsons  Werk  mit 
immer  zäherer  Kruste  umgeben,  alle  auf  die  Neigung  zurückgehen, 
ein  unfertiges  aber  verschleiertes  System  dort  zu  suchen,  wo  nichts 
ist  als  die  Stetigkeit  eines  Antriebs:  des  Antriebs,  eben  diesen 
Hang  zum  geometrisch-systematischen  Deduzieren  zu  überwinden ; 
nicht  die  Einheit  eines  obersten  Begriffes,  sondern  eines  Weges. 

Bergson  ist  diesen  Weg  noch  nicht  zu  Ende  gegangen,  und  so 
bleibt  es  gewagt,  über  ein  Werk  zu  sprechen,  das  vielleicht  schon 
in  diesem  Augenblick  eine  unerwartete  Wendung  genommen  hat; 
nehmen  darf  —  denn  es  gewinnt  seine  Erkenntnisse  nicht  durch 
Ableitung  aus  einem  abgegrenzten  System  von  Grundsätzen  und 
trägt  in  sich  keine  Schranken,  die  es  bestimmen  könnten,  irgend- 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

ein  Wirkliches  aus  seinem  Kreis  auszuschließen.  Aber  ich  rede 
auch  nicht  von  dem  Inhalte  dieses  Werkes,  von  den  durch- 
laufenen Strecken  seines  Weges,  sondern  vom  Wege  selbst,  vom 
Gehen  dieses  Weges  —  von  der  Einheit  von  Weg  und  Bewegung. 
Ich  will  nichts  hören  als  die  Stimme,  die  in  diesem  Werke  Mund 
und  Sprache  gewonnen  hat  und  so  zu  einer  Kraft  in  unserem 
Leben  geworden  ist. 


Bergson  gilt  als  der  Philosoph  des  gegenwärtigen  Übergangs, 
sein  Werk  als  der  geniale  Ausdruck  dieser  Zeit.  Es  heißt  oft,  er 
spreche  das  Verhängnis  unserer  Epoche  aus,  aber  das  Überzeit- 
liche sei  ihm  verschlossen.  Wenn  er  die  Bewegung  im  Be- 
harrenden sehen  lehrt,  das  Werden  das  kein  Sein  kennt,  die 
Auflösung  alles  Festen,  das  rastlose  Gleiten,  die  Mischung, 
wenn  er  den  Übergang  aller  Dinge  als  ihr  Wesen  erkennen 
läßt  —  so  sieht  man  darin  nur  das  Schicksal  einer  Epoche  ge- 
spiegelt, der  alles  Überkommene,  Ruhende,  Gesicherte  sich  ins 
immer  Flüchtigere  auflöst  und  alles  Wesenhafte  fragwürdig 
wird.  Seine  wie  ihre  Mission,  sagt  man,  ist  kritisch:  sie  haben 
die  stockenden  Reste  abgelebter  Zeiten  zu  zersetzen,  das  Tote 
und  das  Wuchernde  zu  entfernen  und  den  Boden  für  die  neue 
Saat  zu  bereiten.  So  wird  Bergson  gelobt,  wo  er  die  Übergriffe 
der  mechanistischen  Wissenschaft,  die  Tyrannei  des  Intellektua- 
lismus abwehrt  und  Raum  und  Licht  für  die  schöpferischen 
Kräfte  des  Lebens  schafft.  Wo  er  aber  über  die  Grenzen  seiner 
kritischen  Tat  hinwegschreitet,  scheut  man  sich  mit  ihm  zu 
gehen.  Die  schöpferische  Wirklichkeit  als  Bewegung,  Werden, 
Zeit,  Dauer  zu  deuten  —  heißt  das  nicht  in  das  Chaos  dieser  Zeit 
zurücktauchen,  die  Krise  in  Permanenz  erklären  und  die  Mög- 
lichkeit künftigen  Aufbaues  schlechthin  verneinen? 

So  scheint  Bergson  alles  gegen  sich  zu  haben ,  was  zur 
Schöpfung  eines  neuen  geistigen  Reiches  strebt,  die  visionäre 
Kraft  des  Künstlers  wie  die  konstruktive  Leidenschaft  des  Pla- 
tonikers,  und  es  würde  ihm,  nach  kurzem  Auflodern  allgemeiner 
Begeisterung,  nicht  viel  mehr  bleiben  als  historischer  Ruhm  und 
die  trübe  Gefolgschaft  der  einen,  die  ihre  Müdigkeit  in  eine 
Orthodoxie,  und  der  anderen,  die  ihre  Verworrenheit  in  eine 

,5 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

blinde  Aktion  treibt,  und  denen  beiden  eine  Kritik  des  Intellekts 
gelegen  kommt. 

Es  genügt  aber,  das  Werk  aus  dieser  dumpf  gespannten  Atmo- 
sphäre einer  Zeit  zu  heben,  in  der  nicht  Urkräfte  miteinander 
ringen,  sondern  Splitter  vergangenen  Lebens,  Süchte  und  Worte 
sich  reiben,  und  ihm  die  Stille  zurückzugeben,  in  der  es  emp- 
fangen ist,  um  zu  erkennen,  Avie  unbedingt  es  sich  dieser  Zeit 
entgegensetzt,  des  Neuen,  Schöpferischen,  Unantastbaren  in  sich 
so  gewiß,  daß  es  den  Gegensatz  zur  Umwelt  und  zu  den  Mitleben- 
den nicht  erst  betonen  braucht. 

Diese  Zeit  hat  alle  Werte  fraglich  gemacht;  was  von  Zwecken 
und  Normen  gebundener  Epochen  auf  sie  gekommen  ist,  hat  sie 
gelockert,  und  es  ist  ihr  nichts  geblieben  als  das  dunkle  Ver- 
rinnen des  bloßen  Lebens.  Sie  funktioniert,  aber  sie  handelt  nicht. 
Sie  ist  Bewegtheit  um  der  Bewegung  Avillen,  als  fürchte  sie  die 
Ruhe,  in  der  sich  ihre  Leere  offenbaren  könnte.  So  ist  sie  Prozeß 
schlechthin,  Wandlung  ohne  Ziel.  Sie  eilt,  um  nur  an  das  Wohin 
nicht  denken  zu  müssen.  Dabei  würde  sie  gern  etwas  Beharrendes 
anerkennen.  Aber  sobald  sie  vor  eine  solche  Entscheidung  ge- 
stellt wird,  sieht  sie  gleich,  daß  es  ihr  verwehrt  ist:  es  ist  ihr 
Verhängnis,  auch  das  Eherne  anfressen  zu  müssen  wie  eine  Säure. 

Immer  muß  sie  sich  am  Unveränderlichen ,  Wandellosen 
messen,  sie  hängt  an  ihm  mit  einer  völlig  romantischen  Sehn- 
sucht: der  Sehnsucht  des  Schwachen,  die  sicher  ist,  daß  ihr  der 
Gegenstand  ihres  Begehrens  niemals  gehören  wird,  und  der  es 
Genuß  und  Schicksal  bedeutet,  zwischen  Schwärmen  und  Ver- 
zweifeln auf-  und  abgeweht  zu  werden. 

Bergson  ist  in  diesen  Höllenkreis  nicht  verschlagen.  Er  redet 
von  einer  Sphäre  aus,  in  der  der  Widerspruch,  der  die  Zeit  zer- 
reißt, aufgehoben  ist  —  nicht  durch  bloße  Dialektik,  sondern 
durch  ein  tieferes  Erlebnis,  das  jene  Antinomie  als  scheinhaft 
verblassen  läßt.  Die  anscheinende  Rastlosigkeit  der  Zeit  erweist 
sich  hier  in  Wirklichkeit  als  trägste  Ruhe,  und  unser  tiefstes 
Wesen  erkennt,  daß  ihm  nicht  Ausruhen  in  einem  Unveränder- 
lich-Vollkommenen angemessen  ist,  sondern  Tat  und  Steigerung. 
Die  Heilmittel,  die  die  Zeit  verlangt,  erscheinen  von  da  als  bloßer 
Ausdruck  ihrer  Krankheit.  Sie  fordert  das  Sein,  weil  sie  unfähig 
ist,  das  Werden  als  Schöpfung  zu  erleben,  statt  als  Verfließen 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

und  Abrinnen.  Sie  sieht  die  Wirklichkeit  nicht  und  greift  so 
zu  ihrer  Erlösung  nach  einem  Scheingebilde,  das  die  wirklich- 
keitsfremden Züge  ihres  Weltbildes  ins  Kosmische  steigert. 

Das  Leben  erscheint  uns  als  sinnloses  Wachsen  und  Welken, 
pure  Bewegtheit,  weil  wir  dem  Hang  nicht  widerstehen,  uns  von 
den  Dingen  treiben  zu  lassen.  Dann  folgt  ein  Inhalt  auf  den 
anderen,  und  jeder  Augenblick  geht  im  folgenden  verloren.  Wir 
glauben  zu  schauen  und  zu  handeln,  verbinden  uns,  stürzen  und 
reißen  mit:  aber  in  alledem  ist  nur  die  unfreie  Bewegung,  die 
wir  dem  fallenden  Steine  zuschreiben.  Dieser  ist  während  seiner 
Bewegung  an  unendlich  vielen  Stellen  des  Raumes.  Aber  keine 
der  Stellen  weiß  von  der  vorigen.  Sie  existieren  nur  in  dem  ins 
Unendliche  wiederholten  Anheben  einer  Gegenwart,  die  ohne  Ver- 
gangenheit und  ohne  Zukunft  ist,  denn  ihr  Verhältnis  zum  Vorher 
und  Nachher  erschöpft  sich  in  der  äußerlichen  Kausalität,  die 
aus  der  gleichen  Ursache  die  gleiche  Wirkung  hervorgehen  läßt, 
und  zwar  so,  daß  die  Ursache  in  der  Wirkung  aufgehoben  ist, 
ohne  in  ihr  anzudauern. 

So  haben  auch  die  Inhalte  unseres  inneren  Lebens  die  Ten- 
denz sich  gegeneinander  zu  isolieren,  sich  zu  verdinglichen,  sich 
aus  ihrer  geheimen  Durchdringung  und  Spannung  zu  lösen,  um 
zur  Ruhe,  zum  absoluten  Auseinander,  zu  der  völligen  Entspan- 
nung und  Berechenbarkeit  zu  kommen,  die  der  Raum  repräsen- 
tiert. Was  sich  nicht  auflösen  läßt  in  objektiv-mathematische 
Beziehung  von  Raumpunkten  —  gilt  als  unerheblich.  Die  Un- 
teilbarkeit unserer  Erlebnisse,  die  im  Innersten  durchaus  unver- 
gleichlich und  namenlos  sind,  wird  zerfällt  in  ein  Produkt  all- 
gemeiner Gegenstände  und  unserer  Subjektivität,  die  ebenfalls 
unter  dem  Schema  eines  Raumdings  begriffen  wird.  Diese  Welt 
scheint  so  unablässige  Bewegung  zu  sein,  während  sie  doch  aus 
einer  Unendlichkeit  von  Zuständen  zusammengesetzt  ist  Avie  ein 
Mosaik. 

Bergson  leugnet  das  Recht  dieser  statistischen  Betrachtungs- 
weisen nicht  schlechthin,  ja  er  begründet  ihre  Legitimität  —  in 
der  Anwendung  auf  die  peripherischen  Provinzen  des  Lebens, 
dort,  wo  wir  mit  den  Bedingungen  der  räumlichen  und  sozialen 
Umwelt  handgemein  werden.  Wir  passen  uns  der  Materie  an, 
um  uns  gegen  sie  zu  behaupten,  und  dazu  ist  uns  ein  grob  ver- 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

einfachtes  Bild  der  Welt  nötig,  Ordnung  der  Dinge  nach  allge- 
meinen Kausalitätsgesetzen,  verstandesgemäßes  Handeln  nach 
Zwecken  und  Mitteln.  Es  gilt  aber,  über  die  Krusten  des  Ich,  die 
in  der  Wechselwirkung  mit  der  Materie  den  Charakter  der  Dinge 
angenommen  haben,  vorzudringen  zu  dem  Leben,  dessen  ent- 
seelter Rest  diese  Welt  ist,  in  der  wir  uns  gemeinhin  bewegen. 

Es  ist  schwer  diesen  Weg  zu  gehen,  einen  langen,  peinlichen 
Weg  durch  die  Verschlingungen  unseres  Wesens  mit  der  Außen- 
welt, in  der  uns  die  schlichte  Notwendigkeit,  uns  zu  sichern  gegen 
den  Ansturm  der  Elemente,  festzuhalten  scheint.  Der  Weg  von 
der  Welt  der  dinglichen  Notwendigkeit  zum  Reich  der  Freiheit 
ist  nicht  mit  einem  Sprung  zu  nehmen,  wie  es  die  Früheren  an- 
nahmen, die  ein  Reich  der  Noumena  postulierten,  indem  sie 
hinter  die  Welt  der  Dinge  ihr  entfärbtes  Nachbild  stellten.  Denn 
der  Übergang  ist,  vom  Beschauenden  aus  geurteilt,  ganz  unmerk- 
lich. Es  gilt  zu  erkennen,  daß  in  jeder  Handlung,  so  automatisch 
sie  scheine,  ein  Funke  von  Spontaneität  wohnt,  der  sich  anfachen 
läßt;  daß  nur  die  Beschränkung  des  Blicks,  durch  die  Abhängig- 
keit von  den  nächsten  Bedürfnissen,  die  individuelle  Tönung 
übersehen  läßt,  die  jedes  menschliche  Erlebnis  mit  der  Ganzheit 
einer  Individualität  verbindet.  Auch  die  Erinnerungen,  die  in 
einem  Menschen  bei  dem  Duft  einer  Blüte  aufsteigen,  sind  nicht 
Assoziationen,  die  sich  als  subjektive  Zutaten  an  eine  objektive 
Realität  heften,  sondern  sind  eins  mit  diesem  Duft:  In  dem  Er- 
lebnis der  Blüte  sind  Erinnerungen  und  Empfindungen  zu  einem 
unteilbaren,  absolut  individuellen  Ganzen  verschmolzen,  auf  das 
die  Analyse  kein  Recht  hat,  soweit  es  sich  um  das  Erlebnis  und 
nicht  um  die  Orientierung  in  Zusammenhängen  handelt,  die  ihm 
wesensfremd  sind. 

Von  diesen  mehr  peripherischen  Erlebnissen,  in  deren  flüch- 
tiger Färbung  der  Anteil  unserer  Persönlichkeit  nur  schwer  zu 
fassen  ist,  gilt  es  dann  aufzusteigen  zu  den  Akten,  in  denen  unsere 
Freiheit  sich  immer  reiner  entfaltet:  zu  Erlebnissen,  in  denen 
wir  uns  nicht  nur  wiederfinden,  sondern  uns  selbst  schaffen, 
Handlungen,  in  denen  unser  Wesen  aus  innerer  Notwendigkeit, 
nicht  durch  Anpassung  an  eine  veränderte  Lage,  eine  neue  Form 
annimmt  —  in  einen  Akt,  der  Tun  und  Getanes  nicht  mehr  zu 
scheiden  gestattet. 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Erst  in  dieser  Sphäre  löst  sich  alles  Stockende,  Isolierte,  Starre 
auf  in  unhaltsame  Bewegung.  Die  Elemente  dieses  Prozesses  be- 
harren nicht  mehr  außereinander,  sondern  durchdringen  sich. 
Wir  erfahren,  daß  wir  mehr  sind  als  ein  Bestand  von  aufzeig- 
baren Teilen,  den  die  Worte  der  Praxis  umschreiben;  mehr  als 
die  Zeichen,  die  unserer  täglichen  Orientierung  dienen.  Wir  sind 
Prozeß;  aber  nicht  Verrinnen  —  sondern  Dauer.  In  unsere 
Gegenwart  geht  unsere  ganze  Vergangenheit  ein,  nicht  wie  eine 
materielle  Ursache  in  ihrer  Wirkung  verloren  geht,  sondern  als 
lebendige  Erinnerung,  die  an  unserem  Wesen  baut  und  in  ihm 
fortlebt.  In  unseren  höchsten  Augenblicken  wird  alles  wirklich, 
was  je  in  uns  lebendig  war  und  drängt  gegen  die  Pforte  der  Zu- 
kunft —  Erinnerung  nicht  als  Komplex  abgeblaßter  Wahr- 
nehmungen, sondern  als  Substanz  unseres  Wesens:  eben  als 
Dauer.  Denn  mit  diesem  Wort  wird  hier  nicht  eine  kategoriale 
Form  des  Erlebens  bezeichnet,  nicht  eine  Form  des  zeitlichen  Ab- 
flusses, sondern  die  Intuition  der  Wirklichkeit  selbst,  in  der  das 
Wirkende  nicht  vom  Wirken  ablösbar  ist,  die  unerhörte  Erfah- 
rung, daß  Ewigkeit  nicht  Unveränderlichkeit  zum  Korrelat  hat, 
sondern  Bewegtheit.  So  istDauer  nicht  zu  deuten  als  Zeitlosigkeit, 
sondern  als  Beharren  in  der  Veränderung.  Aber  auch  dieser  Aus- 
druck kann  irre  führen:  Dauer  ist  das  Sein  als  Bewegung,  Be- 
wegung als  Reifen,  Reifen  als  Sich  Selbst  Schaffen;  es  ist  also 
das  Gegenteil  der  Zeit,  die  wir  mit  Uhren  messen  und  die  nichts 
anderes  ist  als  Verräumlichung,  Veräußerlichung  der  Dauer,  die 
in  ihrer  reinsten  Form  allerdings  zeitlos  ist  —  wenn  man  hier 
Zeit  im  Sinne  der  Naturwissenschaft  und  der  täglichen  Praxis 
versteht. 


Die  Erfahrung  der  Dauer  führt  uns  in  die  Mitte  unseres 
eigenen  Wesens,  dorthin  wo  unser  Leben,  ganz  ohne  Seitenblick 
auf  die  Außenwelt,  sich  aus  sich  selbst  entfaltet;  aber  es  isoliert  uns 
nicht.  In  der  Spannung  der  schöpferischen  Augenblicke  erfassen 
wir  das  Wirkliche  in  uns;  und  zugleich  erschließt  sich,  wie  durch 
ein  Wunder,  die  Wirklichkeit  auch  des  Fernsten.  Auch  die  Reihe 
der  lebendigen  Wesen,  die  zu  uns  aufwärts  führt,  ohne  daß  wir 
uns  anmaßen  dürften  ihr  Zweck  zu  sein,  erfassen  wir  jetzt  aus 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

ihrer  schöpferischen  Mitte  heraus.  Das  Leben  außer  uns  erscheint 
nicht  mehr  als  Gegenbild  unserer  ziellosen  Unrast,  pures  Strömen 
der  Energien,  blinde  Bewegtheit.  Es  ist  mehr  als  der  Wille 
Schopenhauers.  Aber  es  ist  auch  nicht  die  dionysische  Macht, 
die  ihrem  eigenen  Hang  überlassen  mit  Naturnotwendigkeit  die 
höchste  Steigerung  erzeugt.  Auch  das  Leben  der  Pflanzen  und 
Tiere  hat  teil  an  dem  Widerstreit  der  Tendenzen,  die  Bergson, 
um  uns  ein  erstes  Verständigungsmittel  zu  schaffen,  als  Trieb  zur 
Spannung  und  Trieb  zur  Entspannung  bezeichnet.  Es  hat  teil  an 
der  spontanen  Aufwärtsbewegung  der  schöpferischen  Kräfte  und 
zugleich  am  Herabgleiten  der  Materie.  Wie  es  hervorgegangen 
ist  aus  dem  Drang  des  werdenden  Geistes,  die  Materie  zu  über- 
winden, indem  er  sich  ihr  anpaßt,  um  die  so  Überlistete  in  sein 
Streben  einzubeziehen,  so  trägt  noch  jedes  Lebewesen  das  Siegel 
dieses  Dualismus:  es  ist  Verkörperung  des  elan  vital  und  zu- 
gleich seine  Begrenzung  durch  die  Eigenwilligkeit  der  Materie. 
Der  Urantrieb  des  Lebens  will  höchste  Spannung  der  Kräfte, 
Einsatz  des  ganzen  Wesens,  Gefahr  und  Opfer:  der  Einzelne  aber 
will  nur  seine  Sicherung.  Er  verkrustet  sich  eher,  als  daß  er  sich 
wagte:  comme  des  tourbillons  de  poussiere  souleves  par  le  vent 
qni  passe,  les  vivants  tournent  sur  eux-memes,  suspendus  au 
grand  souffle  de  la  vie. 

Jede  neue  organische  Form  ist  ein  Sieg  der  schöpferischen 
über  die  materielle  Notwendigkeit.  Statt  sich  aber  als  Keim  zu 
fühlen,  als  Bewahrer  einer  Bewegung,  die  es  gesteigert  weiter- 
zugeben bestimmt  ist,  versinkt  das  Individuum,  über  sein  eigenes 
Bild  gebeugt,  in  Starre.  So  erscheint  alles  Leben,  von  atißen 
gesehen,  als  bloße  Anpassung,  Reaktion  auf  äußere  Reize,  blinde 
Bewegtheit.  In  Wirklichkeit  ist  die  Materialität  des  Körpers 
nichts  Positives:  es  ist  die  Summe  der  beseitigten  Hindernisse, 
die  dem  sich  befreienden  Leben  im  Wege  standen.  Das  Auge 
ist  nur  der  Prozeß  des  Sehens,  von  außen  betrachtet.  Mit  diesen 
äußeren  Aspekten  der  schöpferischen  Entwicklung  allein  hat  es 
die  Biologie  zu  tun,  ihr  Blick  ist  stets  rückwärts  gewandt,  auf 
die  Produkte  der  Evolution,  nicht  auf  den  Akt  der  Entwicklung 
selbst. 

Der  Lebensbegriff  Bergsons  ist  also  durchaus  suprabiologisch. 
Er  gibt  der  organischen  Entwicklung  einen  Sinn,  der  nicht  mit 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

den  Mitteln  der  wissenschaftlichen  Analyse  gefunden  und  schwer- 
lich durch  die  Biologie  verifiziert  werden  kann.  Er  stellt  sich 
auch  jenseits  der  Antithese  von  Natur  und  Geist:  das  Leben  Berg- 
sons  verharrt  weder  in  der  Sphäre  der  Naturgesetze  noch  in  einem 
Transzendenten,  es  ist  überhaupt  nicht,  sondern  wird,  indem  es 
das  Ringen  der  beiden  Urtendenzen  des  Weltgeschehens  in  sich 
verwirklicht:  une  realite  qui  se  fait  ä  travers  Celle  qui  se  defait. 
Verfolgt  man  diese  Urtendenzen  über  ihren  Schnittpunkt  im 
Lebewesen  hinaus,  so  erscheint  die  eine  als  reinste  Spannung, 
intensive  Existenz,  Identität  des  Tuns  und  des  Getanen,  lebendige 
Ewigkeit,  in  der  sich  die  Dauer  der  Lebewesen  verdichtet  wieder- 
findet wie  die  Schwingungen  des  Äthers  im  Licht;  die  andere 
als  Zerstreuung,  Extensität  der  Bewegung,  Auflösung  des  Was 
ins  Wieviel,  des  Besonderen  ins  Homogene.  Es  ist  uns  Lebenden 
nicht  gegeben,  diese  Wege  zu  Ende  zu  gehen  oder  auch  nur 
ihre  Realisierung  zu  schauen.  Wir  mögen  das  Ziel  der  völligen 
Entspannung  im  reinen  Räume  der  Mathematik,  in  den  Normen 
der  geometrischen  Logik  vorgezeichnet  finden:  die  uns  gegebene 
Materialität  der  Dinge  aber  erschöpft  sich  nicht  ganz  in  ihrer 
Räumlichkeit,  —  ein  gewisses  Eingefaltetsein  ihrer  Teile  ist  nötig, 
damit  jeder  überallhin  wirken  könne.  Und  auch  das  Schöpferische, 
die  Tendenz  zu  Tat,  Freiheit,  Steigerung  ist  uns  nicht  ent- 
bunden von  der  Bürde  des  Niederziehenden  gegeben.  Das  Leben, 
das  uns  wirklich  ist,  verhaftet  uns  an  beide:  so  ist  uns  auch 
der  Sinn  jeder  Tendenz  mit  dem  Sinn  der  entgegenstehenden 
durchdrungen:  nicht  durch  historisch  zufällige  Begegnung,  son- 
dern durch  sein  Wesen.  Freiheit  hat  uns  nur  Sinn  in  bezug  auf 
eine  Gebundenheit,  der  sie  gegenübersteht,  tiefer  noch:  die  sie 
in  sich  zu  überwinden  hat.  Wir  sind  nicht  nur  an  die  Dualität 
von  Licht  und  Dunkel  gebunden,  sondern  erkennen,  daß  es  dem 
Licht  wesentlich  ist,  Dunkel  zu  überwinden. 


Von  dieser  Erkenntnis  aus  erhält  Bergsons  Begriff  des  Lebens 
die  tiefste  Bedeutung.  Leben  ist  ihm  nicht  die  Gestaltung  eines 
vorgefundenen  Stoffes  durch  einen  gestaltenden  Geist,  die  Zwei- 
heit  von  Gestaltendem  und  Gestaltetem  ist  nicht  auf  zwei  Sub- 
jekte verteilt,  aus  deren  Wechselwirkung  das  Lebendige  hervor- 

6  8i 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

geht,  sondern  das  Gestaltende  hat  das  Formlose  in  sich,  nicht 
nur  als  abstraktes  Bild,  sondern  als  seine  Gefahr,  seine  Sünde. 
Die  Räumlichkeit  steht  hier  nicht  mehr  dem  Geist  und  Geist- 
ähnlichen gegenüber  als  dumpfes  Verhängnis,  mit  dem  es  sich, 
so  gut  es  geht,  abzufinden  hat;  sie  ist  ihm  nicht  äußerlich,  son- 
dern entsteht  rein  aus  ihm  selbst,  sobald  seine  Spannung  sich 
löst,  sein  W^ille  sich  befriedigt  fühlt,  die  Bewegung  stockt. 

Steigen  wir  in  der  Reihe  der  organischen  Wesen  bis  zu  dem 
Ursprung  der  Quellflüsse  hinauf,  so  verdichtet  sich  die  Einsicht 
in  die  Vielheit  der  Dualismen  zu  der  Intuition  des  kosmischen 
Prozesses,  in  dem  der  Geist  im  blinden  Trieb  nach  Verwirk- 
lichung zur  Materie  wird  und  erst  auf  unendlich  vielen  Stufen 
den  eingeborenen  Hang  zu  dieser  leichten  Entfaltung  überwindet, 
um  zur  Verwirklichung  dessen  zu  kommen,  was  als  dumpfer 
Drang  in  ihm  angelegt  war,  immer  bedroht  von  der  Tendenz  zur 
Entspannung. 

Gott  selbst,  als  Ursprung  alles  Seienden,  Bewegenden  in  jeder 
Bewegung,  Quelle  des  Lebens,  hat  Anteil  an  der  Urzweiheit.  Er 
ist  nichts  Fertiges,  Dinghaftes,  In-sich-selbst-Seliges,  sondern 
Stetigkeit  des  Quellens,  Tat,  Selbstbefreiung:  auch  Gott  wird. 
Er  selbst  ist  nicht  reiner  Geist,  der  seine  ewige  Form  einer 
amorphen  Materie  aufprägt,  und  Schöpfung  bedeutet  nicht  das 
Heraussetzen  einer  vorgegebenen  Realität  in  das  bloße  Nichts, 
das  nach  Bergsons  Lehre  nicht  einmal  denkbar  ist  —  sondern 
Entfaltung,  Reife,  Aufhellung,  Zu-sich-selbst-Kommen  eines  Ur- 
sprünglichen, anfänglich  Unerschlossenen.  Dieses  wird  nicht  als 
zeitlose  Vollkommenheit  gedacht,  sondern  als  unendliche  Fülle 
von  Kräften  und  Richtungen,  die  nach  Verwirklichung  drängen, 
so  daß  dieser  Prozeß  ihrer  Verwirklichung  erst  ihren  Sinn  wie 
den  Sinn  ihres  Ursprungs  entfaltet. 

Auf  diesen  Zug  des  Daseins  scheint  Hegel  gedeutet  zu  haben, 
als  er  den  Weltprozeß  als  die  Selbstverwirklichung  der  Idee  be- 
zeichnete und  mit  einem  ungeheuren  Aufwand  dialektischer 
Kraft  das  begriffliche  Denken  fähig  machen  wollte,  diesen  Pro- 
zeß nachzuerzeugen.  Bergson  aber  lehrt,  daß  das  begriffliche 
Denken  zur  Erfassung  des  Mysteriums  nicht  ausreicht,  in  dem 
die  Dumpfheit  eines  unendlichen  Dranges  aus  dem  chao- 
tischen Zustand,  in  dem  Materie  und  Geist    traumhaft    inein- 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

ander  verrinnen,  durch  die  Reihe  der  lebendigen  Wesen  zu 
immer  hellerer  Verwirklichung  ihrer  Fülle  und  ihres  Sinnes  auf- 
steigt: immer  reineres  Sich-selbst-gehören,  stetigere  Sicherung 
gegen  die  Gefahren  von  außen  und  helleres  Bewußtsein  der 
Gefahr  von  innen  —  Gefahr  des  Absinkens,  des  Automatismus, 
der  Bedingtheit.  Alle  unsere  Kategorien  erweisen  sich  vor  diesem 
Prozeß  als  unzulänglich:  er  trägt  das  Siegel  der  Steigerung, 
aber  weder  die  Vermehrung  einer  Kraft  noch  ihre  bessere  Aus- 
nützung geben  ein  adäquates  Bild  von  dem  Vorgang,  in  dem  sich 
das  Leben  aus  der  ursprünglichen  Beschränkung  ins  Unbe- 
dingte hebt. 

Es  wäre  ganz  verfehlt,  diese  Deutung  des  Daseins  zu  den  Welt- 
anschauungen zu  rechnen,  die  das  Wesen  der  Welt  in  der  Seele, 
dem  Willen,  der  Aktivität  des  Geistes  oder  in  der  absoluten  In- 
differenz suchen.  Denn  das  Absolute  Bergsons  ist  nicht  das 
Seelische,  losgelöst  vom  Materiellen,  nicht  der  Wille  im  Gegen- 
satz zur  Vorstellung,  das  Formende  im  Gegensatz  zu  Geformtem, 
überhaupt  nicht  eine  begrifflich  eindeutige  Bestimmung  irgend- 
eines Seinszuges;  was  sich  durch  die  Kontingenz  der  Erschei- 
nungen hindurch  entfaltet,  reift,  sich  schafft,  ist  überhaupt  nicht 
ein  Inhalt,  der  sich  von  dem  Akt  seiner  Verwirklichung  trennen 
ließe.  Sein  Wesen  offenbart  sich,  nicht  nur  für  uns,  allein  in 
seinem  Werden,  dem  Prozeß  seiner  Realisierung,  ebenso  wie  sich 
im  Akt  des  künstlerischen  Schaffens  oder  in  den  gesteigerten 
Augenblicken,  wo  wir  in  einer  gänzlichen  Spannung  unseres 
Wesens  uns  selbst  in  eine  neue  Form  hinüberbilden,  das  Neue  aus 
den  Bedingungen  nie  ableiten  läßt.  Erst  vor  dem  Gewordenen  hat 
die  Analyse  das  Recht,  Inhalt  und  Prozeß  zu  scheiden;  in  der 
Schöpfung  selbst  ist  beides  untrennbar.  Die  menschlichen 
Schöpfungsakte  aber  sind  nichts  anderes  als  eine  Phase  des 
kosmischen  Schöpfungsprozesses.  So  erfassen  wir  denn  auch 
dieses  Geschehen  nur  in  dem  Maße,  wie  wir  uns  selber  schaffen. 

Um  die  gewordenen  Dinge  zu  erkennen,  genügen  unsere  in- 
tellektuellen Fähigkeiten,  die  durch  die  Praxis  und  durch  die 
Wissenschaft  ausgebildet  sind.  Wollen  wir  aber  über  die  er- 
starrten Reste  des  Weltprozesses  zu  der  Wirklichkeit  des  Pro- 
zesses selbst  vordringen,  zum  Werden  des  Unbedingten,  so  genügt 
das  Denken  nicht,  das  auf  unorganische  Objekte  eingestellt  ist 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

und  alle  anderen  Gegenstände  in  deren  Formen  zu  pressen  strebt, 
sondern  es  gilt  uns  mit  unserem  gesamten  Wesen  einzusetzen. 
Das  begriffliche  Denken  zersplittert  in  Widersprüchen,  wo  es 
mit  dieser  undurchdringlichsten  aller  Wirklichkeiten  in  Berüh- 
rung kommt.  Ihr  Sinn  erschließt  sich  nur  im  Tun  des  Menschen, 
der  nicht  mit  der  Nachzeichnung  einer  fremden  Vollkommen- 
heit beschäftigt  ist,  sondern  sein  Leben  von  innen  heraus  ge- 
staltet. In  diesem  Tun  wird  erfahren,  daß  nicht  von  einem 
Sinn  des  Lebens  geredet  Averden  kann,  der  dem  Leben  wie 
ein  Plan  zugrunde  läge,  denn  das  Leben  ist  Entfaltung  einer 
Unendlichkeit  von  Richtungen,  deren  tragische  Antagonismen 
unaufhebbar  sind  —  sondern  daß  alle  Einheit  in  dem  Antrieb 
des  Tuns  liegt:  in  der  Entscheidung  für  die  lebendige  Dauer 
und  gegen  den  eingeborenen  Hang  zum  Lösen  der  Spannung: 
für  die  Verwirklichung  Gottes.  Dies  also  ist  Intuition;  nicht  An- 
schauung eines  Raumlosen,  sondern  der  Akt,  in  dem  ein  Wesen 
seinen  tiefsten  Antrieb,  jenseits  aller  Zwecke  und  Gegenstände, 

erlebt. 

*  *  *  *  # 

Es  ist  schwer,  zu  dieser  Intuition  vorzudringen,  und  noch 
schwerer,  in  ihr  zu  verharren.  Die  Denkgewohnheiten,  die  der 
Mensch  im  Kampf  mit  der  Materie  ausgebildet  hat,  sind  so  stark, 
daß  sie  auch  die  reine  Schau  des  Wesens  in  ihre  armen  Rahmen  zu 
strecken  versuchen.  Sie  werden  argumentieren,  daß  doch  in  allem 
Werden  ein  Werdendes,  in  aller  Bewegung  ein  Subjekt,  von 
dem  die  Bewegung  ausgesagt  wird,  existieren  müsse;  daß  also 
das  Werden  Gottes  doch  das  Sein  eines  Ewigen,  in  aller  Ver- 
änderung Beharrenden,  voraussetze.  Aber  gerade  das  Recht  dieser 
Trennung  steht  in  Frage,  die  für  die  elementaren  Bedürfnisse 
der  täglichen  Praxis  wohl  genügt,  aber  dort  ohnmächtig  ist,  wo 
die  Dinge  ohne  Absichten  und  ohne  wesensfremde  Gesichtspunkte 
rein  aus  ihrem  Innern  heraus  erkannt  werden  sollen.  Je  höher 
wir  aufsteigen  im  Reich  des  Lebendigen,  desto  unmöglicher  wird 
es,  eine  abstrakte  Bewegung  von  einem  abstrakten  Bewegten  zu 
isolieren.  Es  mag  im  sozialen  Leben  dienlich  sein,  zwischen  dem 
Charakter  eines  Menschen  und  seinen  Taten  zu  scheiden:  von 
innen  gesehen  sind  beide  untrennbar  vereint  in  der  Unteilbarkeit 
eines  Prozesses,  in  dem  sie  sich  wechselwirkend  erzeugen. 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Wird  überhaupt  das  Werden  verständlicher,  wenn  man  ihm 
ein  Seiendes  unterlegt?  In  Wirklichkeit  lenkt  man  dadurch  den 
Blick  von  der  konkreten  Realität  ab  und  bietet  ihr  an  deren  Statt 
ein  konventionelles  Schema,  das  der  Verstand  geschaffen  hat, 
um  das  Leben  von  den  Seiten  der  Welt  abzuleiten,  die  für  die 
sichere  Befriedigung  der  nächsten  Bedürfnisse  ohne  Belang  sind 
—  das  aber  einen  unlösbaren  Widerspruch  in  sich  offenbart, 
wenn  es  in  den  Dienst  der  reinen  Schau  gestellt  wird.  Es  bleibt 
unbegreiflich,  wie  vom  reinen  Sein  ein  Werden  ausgesagt  werden 
kann.  Und  auch  wenn  man  das  Werden  selbst,  den  Prozeß  der 
Entfaltung  als  —  Sein  bezeichnen  wollte,  da  doch  auch  diese  als 
gegebene  Einheit  aufgefaßt  werden  könne,  so  hat  man  damit  die 
Intuition  des  Werdens  zugunsten  einer  intellektualistischen  Ver- 
dünnung aufgegeben.  Das  Werden  selbst  ist  nie  gegeben,  über- 
schaubar; nur  das  Wort  täuscht  seine  Dinglichkeit  vor. 

Man  mag  glauben,  so  den  Begriff  des  Ewigen  gerettet  zu  halben. 
Aber  die  Rettung  wäre  schwerlich  nötig,  wenn  man  gewahr  ge- 
worden wäre,  was  dem  griechischen  Begriff  der  Ewigkeit  und 
Bergsons  Intuition  der  Dauer  gemeinsam  ist  —  und  wodurch  sie 
für  immer  getrennt  sind.  Beide  sind  sie  Gegensätze  zum  bloßen 
Abfließen  der  mathematischen,  abstrakten  Zeit.  Während  aber 
der  Grieche  Ewigkeit  als  Zeitlosigkeit  zu  erfassen  glaubt,  er- 
kennt Bergson,  daß  hier  nur  ein  Augenblick  dieser  abstrakten 
Zeit  zur  Unendlichkeit  gedehnt  wird.  Lebendige  Ewigkeit  ist  ihm 
nur  möglich  in  der  konkreten  Zeit,  die  nicht  ein  Abfließen  ist, 
sondern  ein  Aufbauen,  schöpferisches  Tun,  das  die  ganze  Ver- 
gangenheit erneuert  in  zukünftige  Gestaltung  überführt. 

Für  den  Griechen  war  die  reine  Form  der  Ewigkeit  das  Sich- 
Gleich-Bleiben  eines  Vollkommenen  jenseits  aller  Veränderung; 
für  Bergson  ist  sie  mehr  ein  Gegenstand  unserer  Aktivität  als 
unseres  Anschauens,  denn  sie  ist  immer  von  neuem  zu  schaffen, 
gegen  den  bloßen  Abfluß  der  Dinge.  Sie  hat,  ebenso  wie  die 
Freiheit,  viele  Grade,  von  der  Dauer  eines  Baumes,  über  die  Ge- 
stalt menschlicher  Persönlichkeit,  zu  höheren  Formen,  die  wir 
verehrend  ahnen.  Daß  dieser  Prozeß,  in  dem  Ewigkeit  immer 
reiner  sich  realisiert,  nicht  mit  den  Kategorien  des  Verstandes 
begriffen  werden  kann,  beweist  schwerlich  die  Gültigkeit  des  an- 
tiken Ewigkeitsbegriffes.    Dagegen  macht  es  das  Erlebnis   der 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Dauer  verständlich,  warum  die  Griechen  bei  diesem  Begriff  der 
toten  Ewigkeit  stehen  geblieben  sind. 


Der  griechische  Geist  war  nach  außen  gerichtet,  Geist  im 
Kampf  mit  der  Natur  und  den  Menschen,  Geist  des  Künstlers,  der 
im  Steine  bildet.  Es  macht  die  Größe  griechischen  Lebens  aus, 
daß  eine  unerhörte  innere  Bewegtheit,  Unrast,  Leidenschaft  sich 
zu  bändigen  vermochte,  indem  sie  das  Gesetz  der  Gestaltung  auf 
sich  nahm.  Im  Agon,  in  der  Tragödie,  in  der  Philosophie:  über- 
all erlöst  sich  eine  quälende  Überfülle  von  Kräften  in  einem 
Gebilde,  das  der  Bewegtheit  gegenübersteht  wie  eine  Norm.  So 
rettet  sich  der  griechische  Geist  aus  der  Zerrissenheit  und  Un- 
ruhe in  eine  gegenständlich-objektive  Welt  des  Maßes;  wendet 
die  Kräfte,  die  ihn  zu  zerspringen  drohen,  nach  außen  auf  ein 
Allgemeines,  Gültiges,  der  Unruhe  und  dem  Wechsel  Enthobenes, 
und  es  entsteht  jene  beispiellose  Vergeistigung  des  Stoffes  und 
Verleiblichung  des  Geistes,  die  das  Griechentum  jahrhunderte- 
lang als  Urbild  alles  menschlichen  Tuns  erscheinen  ließ. 

In  diesem  Drang  des  griechischen  Lebens  nach  Bindung,  Form, 
Gestaltung  ruht  der  Blick  so  verlangend  auf  dem  vorschwebenden 
Ziel,  daß  der  Prozeß  seiner  Verwirklichung  ganz  in  den  Schatten 
fällt;  er  ist  nichts  als  das  notwendige  Übel,  da  nun  einmal  Materie 
besteht  und  das  reine  Für-Sich-Sein  des  Geistes  zwingt,  sich  in 
ihr,  wenn  auch  unrein,  zu  offenbaren.  Das  Höchste  wäre  in  der 
Schau  des  Wandellos-Einen  verharren  zu  können. 

Die  Wurzeln  dieser  Metaphysik  sind  schon  im  griechischen 
Volksglauben  sichtbar.  Auch  hier  das  Bewußtsein  versöhnungs- 
losen Abstands  von  Göttlichem  und  Menschlichem,  des  zu  Hast 
und  Bewegung  verurteilten  Sterblichen  und  des  Unsterblichen, 
das  selig  in  sich  selbst  ist.  Menschen  und  Götter  entstammen  der 
gleichen  Mutter,  und  die  Mythologie  läßt  die  Grenze  zwischen 
beiden  oft  fließend  erscheinen.  Um  so  furchtbarer  ist  die  Er- 
fahrung der  tragischen  Grenze,  wie  sie  dem  Ajax  des  Sophokles 
offenbar  wird. 

Dieses  Weltgefühl  macht  es  dem  Griechen  unmöglich,  in  der 
Bewegung  einen  Wert  zu  sehen.  Bewegung  bedeutet  ihm  gleich 
Unbestimmtheit,  Unrast,  Unseligkeit;   sie  kann    also    nicht    im 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Göttlichen  angelegt  sein,  sondern  entsteht,  indem  sich  die  Materie, 
das  Nicht-Sein,  der  Raum  zwischen  die  ewigen  Urbilder  schleicht 
und  sie  in  Unruhe  versetzt.  So  ist  Bewegung  nur  Abfall  von  der 
göttlichen  Seinsfülle,  nicht  ihre  Steigerung.  Was  könnte  dem 
Griechen  ein  Göttliches  bedeuten,  das  nicht  zeitlos  über  Leben 
und  Werden  kreiste! 

So  leidenschaftlich  aber  sich  das  Griechentum  gegen  die  Ma- 
terie als  die  Trüberin  der  Ideen  aufgelehnt  hat,  so  sehr  ist  doch 
sein  ganzes  Denken  von  der  Wechselwirkung  mit  ihr  abhängig. 

In  Griechenland  wird  der  Geist  frei  von  der  Fesselung  an  die 
unmittelbaren  Zwecke  des  Lebens,  er  wird  nicht  mehr  darin 
verbraucht,  der  Praxis  zu  dienen,  Werkzeuge  und  Meßmittel 
zu  ersinnen,  wie  sie  die  Technik  des  kleinen  Lebens  braucht. 
Das  Denken  löst  sich  von  den  Objekten,  zu  deren  Ordnung 
es  ursprünglich  berufen  war,  und  damit  wird  die  Form  des 
Denkens  unabhängig  von  seinem  Inhalt.  Es  erfaßt  sein  eigenes 
Prinzip,  und  indem  es  seine  eigenen  Akte  zu  Gegenständen  des 
Denkens  macht,  geht  es  von  der  Ordnung  der  Dinge  zur  Er- 
fassung der  Kategorien  über.  Aber  die  von  seinen  Ursprüngen 
bedingte  Wendung  auf  die  Welt  der  Dinge  ist  so  stark,  daß 
es  auch  seine  neuen  Gegenstände  nur  unter  dem  Bilde  der  Ding- 
lichkeit zu  sehen  vermag.  Die  Tugend  des  Künstlers  wird  dem 
Denker  zur  Verführung. 

Die  Erfahrung  des  Menschen,  der  sich  aus  der  Unruhe  der 
vielfältigen  Triebe  rettet,  indem  er  seinem  Leben  das  Bild  eines 
Schönen  vorsetzt,  in  dessen  Verwirklichung  er  seine  auseinander- 
strebenden Kräfte  bindet,  gilt  hier  als  Schlüssel  des  Welt- 
prozesses. Wie  im  menschlichen  Handeln  ein  Ziel  der  verstän- 
digen Tätigkeit  vorausgeht,  so  muß  auch  den  Kosmos  eine  sinn- 
volle Gliederung  von  Zwecken  beherrschen,  und  alles  fromme 
Tun  muß  darauf  gerichtet  sein,  durch  die  Trübung  der  Materie 
hindurch  die  immer  reineren  Formen  der  Ideen  gewahr  zu 
werden.  Wenn  diese  Ideen  so  über  dem  Weltprozeß  schweben, 
wie  das  Bild  des  Guten  dem  Wollen  der  Menschen  stetig  vor- 
schwebt, müssen  sie  aller  Veränderung  enthoben  sein,  ewig  wie 
eine  geometrische  Figur,  die  im  Räume  festgelegt  ist,  und  wie 
sie  —  ein  Gegenstand  des  Schauens.  Griechentum  aber  ist  der 
Glaube,  daß  allein  aus  dem  Schauen  alles  Heil  fließe.  Bis  dann 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Plotin  ein  Innewerden  des  Göttlichen  erlebt,  das  bildlos  ist,  und 
ganz  verwundert  fragt:  Wie  ist  es  möglich,  daß  man  mit  der 
Schönheit  vereint  sein  kann,  ohne  sie  zu  schauen? 


Die  Antinomien,  an  denen  der  griechische  Geist  seine  Grenze 
erfährt,  sobald  er  die  Realität  des  Göttlichen  in  seine  Kategorien 
fassen  will,  gelten  nicht  nur  für  das  religiöse  Denken  der 
Griechen.  Wo  immer  das  Göttliche  als  ein  Vollkommenes,  Ruhen- 
des, Sich-Selbst-Genügendes  begriffen  werden  soll,  erhebt  sich 
die  Frage,  Avarum  dies  Selige  mit  seiner  unendlichen  Macht  nicht 
den  Abfall  in  die  schlechte  Wirklichkeit  der  Zeit  hat  verhindern 
können.  Warum  ist  die  Verwirklichung  Gottes  an  das  trübe 
Medium  des  Raumes  gebunden?  Und  warum  darf  ich  nicht  in 
der  Einswerdung  mit  dem  Göttlichen  verharren,  da  doch  jedes 
Aufwachen  aus  mystischem  Rausch  zur  Wirklichkeit  des  End- 
lichen die  Rückkehr  in  die  Verbannung  bedeutet? 

Das  Denken  Bergsons  ist  in  diese  Antinomien  nicht  ver- 
strickt. Denn  es  erfährt  das  Göttliche  nicht  als  ein  Dingliches, 
Unveränderliches,  das  man  mit  einem  mystischen  Blicke  um- 
fassen oder  in  das  man  jäh  versinken  könnte,  —  sondern  Gott 
wird,  er  ist  in  jedem  Wesen,  in  jedem  Prozeß  als  der  Urantrieb 
zur  Aktivität,  der  das  Wesen  über  sich  hinaus  in  die  Dauer  führt: 
und  fordert  im  Wollen  ergriffen  zu  werden,  in  der  Sammlung  des 
eigenen  Wesens  bis  zu  der  Tief  e  und  Spannung,  in  der  der  Einzelne 
seine  Egozentrizität  aufgibt  und  sich  öffnet  für  den  großen  Hauch 
aus  der  Urtiefe.  Das  Schauen  erscheint  hier  nicht  als  das  Letzte, 
sondern  als  Moment  im  Prozeß  des  Werdens:  es  ist  das  Wollen, 
das  sich  auf  die  Welt  und  auf  sich  selbst  richtet,  um  heller  und 
stärker  zu  werden,  von  dem  einfachen  Akt  des  Sehens,  der  den 
praktischen  Aktionsradius  der  Lebewesen  erweitert,  aufsteigend, 
bis  zu  der  metaphysischen  Intuition,  die  es  gestattet,  das  All  in  die 
Spannung  unseres  Willens  aufzunehmen. 

Man  mag  in  einigen  Gestalten  historischer  Religionen  diese 
Wendung  des  Gottesbegriffs  vorweggenommen  finden,  um  so 
reiner,  je  mehr  man  sich  dem  Zentrum  des  religiösen  Lebens 
in  den  großen  Heiligen  und  den  Mystikern  zuwendet.  Das  Gött- 
liche ganz  als  Tat  zu  begreifen,  hat  aber  nur  die  chassidische 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Lehre  gewagt,  die  hier  eine  geheimnisvoll  starke  Verwandtschaft 
mit  der  Metaphysik  Bergsons  offenbart. 

Die  mystische  Unterströmung  der  jüdischen  Religiosität,  die 
im  Chassidismus  *)  nach  Gestaltung  ringt,  hat  den  vollkommenen, 
ewigkeitsgültigen  Ausdruck  nicht  gefunden,  der  es  uns  gestattete, 
ihr  Wesen  aus  den  Überlieferungen  ihrer  Lehre  so  abzulesen, 
wie  die  ihr  verwandten  indischen  und  chinesischen  Bewegungen 
aus  dem  Niederschlag  ihrer  Lehren  erkannt  werden  können.  Sie 
scheint  in  den  mittelalterlichen  Jahrhunderten  immer  umstellt 
von  den  begrifflichen  Resten  fremder,  spätgriechischer  Religiosi- 
tät, und  es  macht  ihre  eigentümliche  Spannung  aus,  daß  sie  sich 
nicht  allein  dieser  Denkformen  zum  Ausdruck  ihres  religiösen  Er- 
lebnisses bedient,  sondern  sich  auch  lange  nicht  bewußt  wird,  daß 
ihr  tiefstes  Streben  der  Richtung  des  griechischen  Gottesgefühls 
ganz  entgegengesetzt  war.  Erlösung  bedeutet  anfangs  auch  ihr: 
Gott  schauen,  die  enge  Wirklichkeit  der  individuellen  Existenz 
aufgeben  und  ins  Meer  göttlicher  Vollkommenheit  auftauchen. 
Durch  die  Urtrübung  hat  sich  die  Welt  des  Irdischen  von  Gott 
gesondert.  Einheit  mit  ihm  bedeutet  Entäußerung  von  Zeit  und 
Raum. 

Dieses  weitabgewandte  Schauen  wird,  seit  dem  sechzehnten 
Jahrhundert,  durch  einen  neuen  Willen  verdrängt.  Aus  der  Ver- 
zweiflung furchtbarer  Enttäuschungen  entsteht  eine  Bewegung,  die 
Gott  nicht  mehr  durch  Schauen,  sondern  durch  Wahl  erlösen  will. 
Die  kosmischen  Rätsel  verblassen  jetzt  vor  dem  Gefühl,  daß  der 
Mensch  in  Gefahr  ist,  und  mit  ihm  Gott,  und  daß  es  des  Ein- 
satzes aller  Seelen  bedarf,  um  Gott  zu  retten.  Alles  ist  hier  in 
den  Willen  der  Menschen  hineingenommen:  Angst,  Verlockung 
und  Heiligung,  Hemmung  und  Erlösung;  es  ist  an  ihm,  sich 
zu  entscheiden  gegen  das  Einzelne,  Dumpfe,  Schwere,  den  Trieb 
der  sich  selbst  Zweck  sein  will,  und  für  das  Aufsteigen  ins  Licht, 
für  die  schrankenlose  Steigerung:  „Gott  finden  heißt  den  Weg 
finden,  der  ohne  Grenze  ist." 

Der  Mensch  ordnet  sich  hier  nicht  einem  Kosmos  objektiver 

*)  Alles,  was  hier  über  die  chassidische  Lehre  gesagt  wird,  beruht,  wie  kaum 
bemerkt  zu  werden  braucht,  auf  den  Büchern  Martin  Bubers  —  ohne  daß 
diesem  die  Verantwortung  aufgebürdet  werden  dürfte  für  die  Deutung,  die  hier 
gewagt  ist. 

89  . 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Zwecke  ein,  unter  deren  Norm  sich  zu  beugen,  Sinn  und  Heiligung 
seines  Lebens  bedeutet:  die  Welt  ist  nur  um  der  Wahl  und  des 
Wählenden  willen  geschaffen.  Überall  ringt  Gott  mit  der  Ur- 
trübung  und  braucht  einen  Willen,  der  ihn  verwirkliche.  Denn 
Gott  ist  hier  nicht  die  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit  wandellos  be- 
stehende Vollkommenheit,  der  das  Irdische  sich  mühsam  ent- 
gegenhebt, ohne  Hoffnung,  sie  je  dauernd  zu  erreichen,  sondern 
im  Innersten  dieses  Gottes  ist  es  angelegt,  ein  Werdender  zu  sein. 

Gott  ist  zerrissen  in  Gotteswesen  und  Gottesglorie,  und  aller 
Sinn  des  Lebens  bedeutet,  die  Gottesglorie,  die  in  den  Geschöpfen 
zu  Funken  und  Flammen  vereinzelt  ist,  zu  sammeln  und  zurück- 
zubringen. Ist  dies  vollbracht,  trägt  das  Gotteswesen  wieder  die 
Krone  der  Gottesglorie,  so  kommt  der  Messias,  nicht  um  die 
Menschen  zu  erlösen,  sondern  um  die  durch  ihre  Tat  Befreiten 
loszusprechen.  Das  Kommen  des  Messias  aber  wird  nicht  in  eine 
unerreichbare  Zukunft  gesetzt  als  einzelnes  Ereignis,  sondern  in 
ewige  Gegenwart  als  dauernde  Erneuerung.  Der  Kampf  zwischen 
Herabziehendem  und  Aufsteigendem  ist  nie  zu  Ende,  und  kein 
Einzelner  kann  hoffen,  mit  der  ihm  gegebenen  Kraft  die  ganze 
Masse  der  Dunkelheit  zu  zerteilen:  aber  in  dem  Maße,  wie  er 
es  vermag,  ist  der  Messias  in  ihm.  Der  Messias  ist  das  Koramen 
des  Gottesreiches,  Werden  Gottes. 

Hier  und  da  scheint  die  Vorstellung  einer  anfänglichen  Voll- 
kommenheit Gottes  durch,  aber  sie  wird  immer  mehr  überstrahlt 
von  dem  neuen  Erlebnis  des  Heiligen.  ,Die  Schöpfung  des  Him- 
mels und  der  Erde  ist  die  Entfaltung  des  Etwas  aus  dem  Nichts, 
das  Hinabsteigen  des  Oberen  in  das  Untere.  Aber  die  Heiligen, 
die  sich  vom  Sein  ablösen  und  Gott  immerdar  anhängen,  die 
sehen  und  erfassen  ihn  in  Wahrheit,  als  wäre  das  Nichts  wie 
vor  der  Schöpfung.  Sie  wandeln  das  Etwas  ins  Nichts  zurück. 

Und  dies  ist  das  Wunderbarere:  das  Untere  emporzubringen. 
Wie  es  geschrieben  steht  in  der  Gemara:  „Größer  ist  das  letzte 
Wunder  als  das  erste'  ". 

So  dürfen  auch  die  Seelen  nicht  in  ihrer  ungetrübten  Rein- 
heit verbleiben,  sie  müssen  alle  in  die  Materie  eingehen.  Die 
Seelen,  die  sich  noch  nicht  offenbart  haben,  leiden  darunter, 
daß  sie  weder  steigen  noch  fallen  können.  Nur  indem  sie  in 
die  Materie  eingehen,  können    sie    das    Schicksal    der    Gottes- 

90 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

glorie  teilen,  die  durch  die  Unendlichkeit  des  Raumes  irrt,  und 
an  ihrer  Erlösung  wirken. 

Dieser  Dienst  ist  nicht  an  Dogma  und  Ritus  gebunden,  er 
muß  die  ganze  Fülle  des  Daseins  durchdringen,  und  ohne  bösen 
Trieb  ist  kein  vollkommener  Dienst:  auch  er  muß  zu  einem 
Wagen  zu  Gott  umgeschaffen  werden.  Heiligkeit  bedeutet  nicht 
Entäußerung  des  Selbsts,  sondern  Steigerung  —  nicht  durch 
Entfesselung  einzelner  Fähigkeiten,  sondern  durch  Einheit:  in- 
dem alles  Tun  gerichtet  wird  auf  die  Erlösung  Gottes  und  der 
Mensch  so  weit  wird,  daß  er  alles  Geschehen  der  Welt  als  sein 
eigenes  fühlt,  alle  Geschöpfe  als  Mitlebende,  Schemel  und 
Krönung  und  Herz  seines  Lebens.  Nicht  der  Inhalt  einer  Tat 
entscheidet,  sondern  ihre  Weihung.  Sie  mag  Gebet  oder  Tanz, 
Helfen  oder  Einsamkeit  sein;  nur  daß  sie  mit  ganzer  Seele,  im 
Entbrennen  des  ganzen  Wesens  getan  wird,  nicht  in  sich  selbst 
Genüge  findet,  sondern  über  sich  hinausweist  in  ein  höheres 
Schicksal.  Daher  auch  die  Furcht  vor  dem  wandlungslosen  Be- 
harren. Der  Fromme  muß  unstet  sein,  immer  dem  namenlosen 
Antrieb  offen,  er  darf  nicht  in  irgendeine  Gewohnheit  versinken, 
bei  irgendeiner  Form  des  Ewigen  verharren.  Gott  tut  nicht 
zweimal  das  gleiche  Ding;  so  muß  auch  der  Heilige  alles  Wieder- 
kehrende mit  dem  Brennen  seiner  ungeteilten  Seele  durchdringen 
und  es  so  erneuern.  Denn  Gott  selbst  ist  Erneuerung,  Rettung 
des  Dunklen,  Bedrohten,  Verfließenden  in  das  immer  lichtere 
Dauern  des  aufsteigenden  Geistes. 


Es  ist  das  Verheißende  an  Bergsons  Philosophie,  daß  sie  dem 
gleichen  Urerlebnis  zu  entspringen  scheint,  —  daß  ihre  in 
kühlerer  Luft  geformte  Oberfläche  unverkennbar  das  Zeichen 
tief erer  Gluten  trägt,  die  aus  dem  chassidischen  Brande  stammen. 
Man  wird  diesem  Werke  schwerlich  gerecht  werden,  wenn  man 
in  ihm  nicht  den  Weg  sieht,  das  verschüttete  Gottesbild  wieder- 
zufinden. Die  Kritik  des  mechanistischen  Weltbildes  und  der 
griechischen  Philosophie  hätte  wenig  Gewicht,  wenn  sie  aus 
einer  Vorliebe  für  vielfältige  Bewegung  oder  aus  Freude  an  dem 
irrationellen  Wandel  des  Wachsens  und  Verblühens  entstanden 
wäre. 


91 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Bergson  selbst  hat  rückschauend  die  Logik,  die  seine  drei 
großen  Bücher  verbindet,  in  einem  Brief  an  den  P.  de  Ton- 
quedec  so  gedeutet:  das  erste  sollte  die  Tatsache  der  Freiheit, 
das  zweite  die  Realität  des  Geistes,  das  dritte  die  Schöpfung 
als  Tatsache  darstellen  —  aus  alledem  ergebe  sich  klar  die 
Existenz  eines  schöpferischen  und  freien  Gottes,  der  zugleich 
Materie  und  Leben  erzeugt,  und  dessen  Schöpfungskraft  sich, 
auf  Seiten  des  Lebens,  fortsetzt  durch  die  Entwicklung  der  Arten 
und  durch  die  Bildung  der  menschlichen  Persönlichkeiten. 

Diese  Feststellung  richtet  sich  gegen  die  flache  Ausdeutung 
seiner  Lehre,  die  in  ihr  einen  Beleg  für  die  Wahrheit  des  Mo- 
nismus sieht.  Bergsons  Lehre  ist  nicht  pantheistisch;  sie  setzt 
nicht  alles  Vorhandene  gleich  dem  Göttlichen,  sondern  unter- 
scheidet in  allen  Wesen,  was  in  ihnen  Bewegung  nach  oben  und 
was  Absinken  ist.  Aber  es  muß  hinzugefügt  werden,  daß  sie 
ebensowenig  Theismus  im  üblichen  Verstände  ist.  Der  theistische 
Gottesbegriff  setzt  die  absolute  Trennung  von  Göttlichem  und 
Menschlichem  voraus.  Gott  ist  transzendentes  Sein,  Ursache  und 
Norm  des  diesseitigen,  und  der  Mensch  hat  sich  durch  eigene 
Kraft  oder  durch  Einwirkung  der  transzendenten  Realität  über 
die  Sphäre  des  Endlichen  zu  erheben  —  bis  zur  Einung  mit  dem 
Unendlichen,  die  alle  Rückkehr  in  die  Welt  als  Verbannung 
empfinden  läßt  und  doch  das  Eigenrecht  der  Welt  nicht  leugnen 
kann. 

Es  scheint,  daß  diese  Autonomie  des  religiösen  Denkens  für 
Bergson  nicht  besteht.  Indem  er  das  Göttliche  nicht  als  sich  selbst 
genügsames  Sein,  sondern  als  Bewegendes  in  jeder  Bewegung,  in 
jeder  Erlösung  als  zur  Erlösung  Drängendes,  als  Werden  des 
Gottesreiches  erfassen  lehrt,  in  der  Geschichte  des  Pflanzenreichs 
wie  in  dem  Leben  der  Persönlichkeit,  und  indem  er  die  begriff- 
lichen Krusten  entfernt,  die  uns  hinderten,  das  religiöse  Gefühl 
rein  aufzufassen,  verliert  der  Gegensatz  von  Immanenz  und 
Transzendenz  seine  Schärfe.  Bergson  dekretiert  nicht  eine  dia- 
lektische Synthese  der  gegensätzlichen  Begriffe;  er  hat  sich  über- 
haupt noch  nicht  über  diese  Bereiche  ausgesprochen.  Aber  schon 
heute  ist  es  deutlich,  daß  seine  Intuition  uns  erlaubt,  ihnen  einen 
neuen  Sinn  zu  geben.  Denn  von  Bergsons  Werk  aus  können  wir 
erkennen,  daß  die  Unversöhnlichkeit  des  theologischen  Imma- 

92 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

nenz-  und  des  Transzendenzbegriffes  auf  ihrer  Abhängigkeit  von 
der  Metaphysik  des  gemeinen  Verstandes  beruht. 

Gilt  die  ganze  empirische  Welt  als  eine  Summe  von  Dinglich- 
keiten, die  durch  abstrakte  Notwendigkeit  nach  allgemeinen  Ge- 
setzen zusammengehalten  werden,  verschmilzt  der  Begriff  des 
Diesseits  mit  dem  Bereich  des  Nur-Sinnlichen,  restlos  dem  Hören 
und  Sehen  und  Tasten  Zugänglichen,  erkennt  man  nur  das  als 
verständlich  an,  was  sich  in  die  Kategorie  des  Werkverstandes 
pressen  läßt,  so  muß  allerdings  das  Göttliche  zum  Unverständ- 
lichen und  sein  Eingreifen  zum  Wunder  werden,  und  jeder  Ver- 
such, sich  zu  ihm  in  Beziehung  zu  setzen,  muß  in  immer  furcht- 
barerer Entfremdung  enden.  Das  Gotteserlebnis  selbst  wird,  um 
ein  Mittel  der  Verständigung  zu  schaffen,  verdinglicht.  Gott 
wird  zu  einem  substantiellen,  vollkommenen  Sein,  sein  Wirken 
zu  einem  Eingriff,  sein  Verhältnis  zum  Menschen  ausdrückbar  in 
Nähe  und  Ferne,  Gewähren  und  Fordern.  Auf  seinen  letzten 
Höhen  überwindet  das  Religiöse  die  Verdinglichung  —  um  auf 
den  Stufen,  da  die  Spannung  des  Gotteserlebnisses  nachläßt,  um 
so  stärkere  Unruhe  über  den  Gläubigen  zu  bringen,  der  seines 
Gottes  gewiß  ist  und  doch  jeden  Weg  zu  seiner  Erfassung  als  Ab- 
weg erfährt.  Der  ethische  und  metaphysische  Dualismus  zweier 
Bewegungen,  zweier  Strömungen,  zweier  Schicksale,  wird  ver- 
räumlicht  zum  Bilde  des  Dualismus  zweier  Welten,  einer  sicht- 
baren und  einer  unsichtbaren,  einer  unräumlichen  und  einer  über- 
räumlichen, und  doch  nach  räumlichem  Schema  aufgefaßten, 
einer  natürlichen  Kausalität  und  einer  übernatürlichen,  die  nur 
eine  Umformung  der  ersten  ist.  Diese  Tendenz  mag  aller  reli- 
giösen Erfahrung  eingeboren  sein,  das  Erbe  des  menschlichen 
Geistes,  der  immer  geneigt  ist,  sich  seinem  Hang  zur  Räumlich- 
keit und  Dinglichkeit  zu  überlassen.  Aber  es  scheint,  daß  die 
Nachwirkungen  des  griechischen  Weltbildes  und  die  ungeistigere 
Natur  der  Völker,  die  die  Reiche  der  nachantiken  Epoche  ge- 
schaffen haben,  diese  Tendenz  stärker  haben  anwachsen  lassen 
als  es  in  den  Ursprüngen  auch  der  christlichen  Lehre  angelegt 
war.  Erst  die  Geschichte  des  europäischen  Christentums  ent- 
wickelt den  Gegensatz  von  Transzendenz  und  Immanenz  zu  der 
unversöhnbaren  Feindschaft,  gegen  die  die  Mystiker  vergeblich 
ihr  reineres  Gotteserlebnis  gesetzt  haben. 

93 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Wenn  also  von  einigen  Kritikern  die  Meinung  geäußert  wird, 
Bergsons  Lehre  beruhe  auf  dem  christlichen  Gegensatz  eines 
immateriellen  Geistes  und  eines  sinnlich-räumlichen  Seins,  in 
das  jener  durch  seine  Sünde  gefallen  sei,  so  darf  ohne  Paradoxie 
erwidert  werden,  daß  dieser  Dualismus  zwar  in  der  griechischen 
Welt  unvermeidlich  und  aus  ihr  in  das  historische  Christentum 
übergegangen  sei,  daß  aber  Bergson  gerade  diese  abstrakte 
Trennung  von  Geist  und  Körper  unmöglich  gemacht  hat.  Das 
Griechentum  allerdings  trennt  in  seinem  höchsten  philosophischen 
Ausdruck,  mit  einer  Entschiedenheit,  die  das  Schrifttum  der 
antiken  Juden  schwerlich  gekannt  hatte,  die  Seele  als  ein  unräum- 
liches, unsterbliches  Wesen  von  dem  dunklen  Körper,  in  den 
sie  zur  Läuterung  eingeschlossen  ist;  dessen  sich  zu  entledigen 
ihr  Erlösung  bedeutet.  Bergson  aber  ist  von  diesem  Spiri- 
tualismus ebenso  entfernt  wie  von  seinem  materialistischen 
Gegenbild.  Seele  ist  ihm  nicht  ein  dem  Körper  Wesensfremdes, 
ihre  Einheit  und  Getrenntheit  nichts  Unbegreifliches.  Sein  un- 
sagbar mühevoller  Versuch,  die  Durchdringung  der  Wirklich- 
keiten im  einfachsten  der  Fälle  erfassen  zu  können,  im  Studium 
der  Störungen  des  Sprachgedächtnisses,  ist  nur  durch  diese  In- 
tuition möglich  geworden  und  ebenso  seine  Deutung  der  bio- 
logischen Entwicklung:  überall  sind  hier  die  Sphären  der  Frei- 
heit und  der  Notwendigkeit  in  einem  neuen  Welterlebnis,  das  nur 
indirekt  mitzuteilen  ist,  da  es  eine  Umwendung  des  ganzen 
Menschen  verlangt,  aus  ihrem  lebendigen  Zusammenhang  und 
Ursprung  begriffen.  Das  bedeutet  weder  die  Verwirrung  des  me- 
chanistischen Weltbildes  durch  willkürliche  Interpretation,  noch 
die  Fälschung  des  Geistigen  durch  Reduktion  auf  sein  räum- 
liches Substrat:  gerade  weil  die  beiden  Welttendenzen  klar  ge- 
schieden sind,  ist  es  möglich,  ihre  Einheit  zu  erkennen.  Den 
Griechen  aber  wirft  Bergson  vor,  daß  sie  bei  einer  unklaren 
Vermischung  des  Seelischen  und  des  Körperlichen  stehen  ge- 
blieben sind. 

Seele  und  Leib  erscheinen  ihm  nun  unter  dem  Bild  des  Flusses, 
der  durch  seine  Ufer  bestimmt  wird,  ohne  doch  durch  sie  er- 
klärbar oder  gar  mit  ihnen  identisch  zu  sein.  Unsterblichkeit 
verliert  ihren  Widersinn,  wenn  nicht  das  Individuum,  dieses 
Kompromiß  des  Geistes  und  der  Materie,  sondern  der  Hauch, 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

der  es  trägt,  als  Ewig- Wirkendes  anerkannt  wird  —  der  Strom, 
der  sich  in  die  tausend  Rinnsale  ergießt.  Das  Unbedingte  reißt 
sich  nicht  los  von  der  Welt  der  Bedingtheit,  sondern  wird  in 
ihr;  es  lebt  in  jedem  Impuls,  mit  dem  sich  ein  Lebewesen  dem 
Hang  zum  Automatismus  widersetzt,  wie  in  jeder  Selbstbefreiung 
des  Heiligen.  Das  höchste  Erlebnis:  die  Welt  in  ewiger  Er- 
neuerung begriffen  zu  fühlen,  geht  nur  dem  auf,  der  sich  selbst 
erneuert  und  sich  so  durch  die  Normen  und  Riten  hindurch  dem 
einen  Ursprung  nähert,  in  dem  alles  Wesen  und  Sein  ist. 

Damit  hat  Bergson  den  Weg  frei  gemacht  zu  den  Erkennt- 
nissen des  antiken  Orients.  Indem  er  die  griechischen  Bindungen 
des  Verstandes  zerbricht,  an  denen  das  Griechentum  selbst  ge- 
rüttelt hatte  und  die  es  doch  nicht  überwinden  konnte,  da  es 
immer  in  einem  Zustand  ewig  bedrohter  Selbstbehauptung  auf 
ein  unmittelbar  den  Sinnen  Gegebenes,  Schaubares,  Gegenständ- 
liches gerichtet  war  —  findet  er  einen  Zugang  zu  der  Sphäre, 
in  der  das  Leben  rein  aus  seiner  eigenen  Mitte  und  Innerlichkeit 
heraus  spricht  wie  einst  durch  die  Lehren  des  mütterlichen  Asien. 

Es  liegt  nahe,  die  Dauer  Bergsons  mit  dem  Tao  Laotses  zu 
vergleichen.  Wie  Bergson  der  mechanisierten  Welt  mit  ihrem 
toten  Ewigkeitsideal  und  ihrem  Chaos  der  Normen  und  Zwecke 
die  Intuition  der  lebendigen  Dauer  entgegensetzt,  die  als  Be- 
wegung und  als  Schicksal  in  jedem  Wesen  lebt,  hatte  Laotse 
seine  erstarrende,  regelsüchtige,  matte  und  verwirrte  Zeit  die 
Rückkehr  zum  Quell  aller  Dinge  gelehrt,  die  Wendung  von 
allem  Eigenwilligen,  Abgesonderten,  Egozentrischen  zu  dem 
Einen,  Unscheinbaren,  Ursprünglichen,  das  vor  aller  Gestaltung 
ist:  nicht  als  blosse  Ursache  der  Wesen  und  ihrer  Wandlung, 
sondern  als  die  währende  Wandlung  selbst,  ewiger  Anhauch, 
ohne  den  die  Wesen  ihre  Lebendigkeit  und  ihre  Dauer  verlieren 
würden  —  als  das  an  sich  Untätige:  denn  seine  Bewegung  kann 
mit  keinem  Zweck  umschrieben  werden.  Es  steht  jenseits  des 
Dualismus,  von  Subjekt  und  Objekt,  von  Zweck  und  Mittel;  es 
ist  die  Wechselbedingtheit  der  Gegensätze  selbst,  deren  Glieder  zu 
Unrecht  zu  absoluten  werden  wollen:  es  ist  schließlich,  wie  es 
ein  moderner  Japaner  gesagt  hat,  die  Relativität  des  Absoluten. 
Und  zugleich  ist  es  der  Weg  des  Menschen,  der  sich  reinigt  von 
der  Verstrickung  in  die  tausend  Ziele  und  heimkehrt  zu  der  un- 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

geschiedenen  Einheit  alles  Lebens  —  der  sich  ganz  der  inneren 
Quelle  öffnet.  Erfüllt  ihn  der  erneuernde  Anhauch,  so  kann 
er  der  Normen,  die  sich  ihm  von  außen  fordernd  entgegen- 
stellen, entbehren:  er  trägt  das  Gesetz  in  sich;  wie  das  Leben 
selbst  lebt  er  aus  sich  selbst,  wird  nicht  durch  irgendeine  Tat, 
einen  Zustand,  ein  Werk  gefesselt,  sondern  schreitet  fort  zu 
lebendiger  Dauer,  Dauer  im  Wandel. 

Der  europäische,  von  den  Griechen  gezeugte  Geist,  ist  immer 
bereit  gewesen,  in  dem  Orient  eine  gestaltlose,  dämmernde,  auf- 
lösende Welt  zu  sehen,  die  Verlockung  zu  tatenlosem  Genuß, 
vegetativem  Traum  —  der  er  seinen  strengen  Willen  zu  Gesetz 
und  Maß  entgegenstellt.  Er  vergißt  leicht,  daß  der  Orient  mehr 
ist  als  Folie,  und  daß  sich  auf  dem  Boden  des  Orients  selbst  Be- 
wegungen erhoben  haben,  die  die  Menschen  über  die  Fragwürdig- 
keiten nicht  nur  des  asiatischen  Lebens  erhoben  haben  und  die 
Grenzen  der  griechischen  Welt  weit  überschreiten:  nicht  aus 
Maßlosigkeit,   sondern  mit  dem  Recht  eines  Gotteserlebnisses. 

Der  griechische  Begriff  des  Menschlichen  an  sich  ist  hier  noch 
nicht  entwickelt;  keine  absolute  Sonderung  trennt  hier  Subjekt 
und  Objekt,  Formendes  und  Geformtes.  Mensch  und  Tier  und 
Gott  haben  die  festen  Grenzen  gegeneinander  noch  nicht  ge- 
funden: alles  Einzelne  bewahrt  noch  einen  Flaum  der  mütter- 
lichen Einheit,  aus  der  es  nie  ganz  entlassen  ist. 

Von  dieser  Welt  hat  sich  das  Griechentum  losgerissen,  indem 
es  den  Einzelnen  auf  die  Souveränität  seines  Denkens  stellte,  ihn 
aus  dem  schlichten  Mitleben  löste  und  ihm  die  neuen  Normen 
anwies,  die  nun  seinem  Leben  Stütze  geben  sollten.  Die  grie- 
chische Kultur  hat  niemals  vergessen  können,  daß  ihr  erster  Im- 
puls von  dem  ionischen  Küstenrande  hergekommen  ist  —  von  Los- 
gelösten, von  Altären  und  Gräbern  Verjagten.  Die  Freiheit  des 
Epos  und  der  Wissenschaft  sind  um  den  Preis  der  Staatenlosig- 
keit und  der  Erschütterung  des  ersten  Glaubens  erkauft.  Das 
stets  bedrohte  Leben,  dem  Stürzen  und  Steigen  der  binnenländi- 
schen Reiche  ausgeliefert,  spannt  die  Energien,  macht  die  In- 
dividuen frei ,  setzt  an  Stelle  des  Hingenommenen ,  Über- 
lieferten die  Entscheidung  des  vernünftigen  Willens,  und  dieser 
Anstoß  wirkt  noch  bis  in  die  Metaphysik  des  Aristoteles  fort, 
in  der  das  Denken  des  Denkens  als  letzter  ruhender  Pol  aller 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Bewegung  erfaßt  wird.  So  isoliert  sich  das  Denken  von  dem 
Leben:  sie  hatten  sich  in  der  klassischen  Zeit  durch  ein  glück- 
liches Zusammentreffen  der  Reihen  im  Gleichgewicht  gehalten, 
und  die  Schönheit  ihrer  Einung  hatte  darüber  hinweggetäuscht, 
daß  diese  Einung  nur  bedingt  war.  Ist  aber  die  naturgegebene 
Bindung  des  griechischen  Geistes  —  a  child's  sleep  just  disturbed, 
nennt  es  Walter  Pater  —  einmal  zerbrochen,  so  muß  in  dem 
Geist  das  Verlangen  nach  einer  tieferen  Einheit  entstehen,  wie 
sie  in  dem  höchsten  Leben  des  Orients  vorgeahnt  war. 

Dieses  entbehrt  der  schöpferischen  Souveränität  des  Griechen- 
tums. Es  schafft  nicht  Formen  kraft  der  Eigenwilligkeit  eines 
Subjekts,  sondern  mündet  in  Hingabe,  Rückkehr,  Bereitschaft: 
auch  die  ganz  gelöste  Phantasie  einer  japanischen  Land- 
schaft ist  passiver  als  die  realistische  Treue  einer  römischen 
Porträtbüste.  Wir  rühren  hier  an  den  Zug,  auf  den  Hegel  ge- 
deutet hat,  wenn  er  von  der  Substanzialität  des  orientalischen 
Geistes  redete.  Auch  wo  dieser  Geist  sich  über  die  schwere 
Welt  der  Regeln  und  Zwecke  und  Dinge  hinwegsetzt,  schwingt 
in  seinen  dunklen  Worten  eine  Sphäre  mit,  die  im  Griechentum 
nie  hörbar  ist:  die  Sphäre  des  Ursprungs,  des  Lebens  vor  aller 
Besonderung  in  Formen  und  Zwecke,  die  innere  Rhythmik  der 
Lebensbewegung  selbst.  Was  uns  in  asiatischen  Werken  ergreift, 
von  einem  ägyptischen  Tierrelief  bis  zu  einem  Hymnus  der 
Upanishaden  —  ist  dies  Sichselbstaussprechen  des  bloßen  Lebens, 
die  Sättigung  jedes  Wortes  und  jeder  Form  mit  der  geheimnis- 
vollen Luft,  in  der  der  Urgrund  des  Lebens  atmet.  Sie  haben  eine 
Unmittelbarkeit,  die  sie  als  Sein,  nicht  als  Leistung  über  alles 
Europäische  hinaushebt.  Ihre  Gedanken  überschreiten  die 
Grenzen  unseres  Werkverstandes,  aber  sie  sind  durchaus  mit 
dem  Siegel  des  Unwiderleglichen  gezeichnet  —  denn  ihre  Kraft 
kommt  ihnen  nicht  aus  einer  abgesonderten  Funktion  des  Lebens, 
sondern  aus  seiner  Ganzheit. 

*    #   «r   #   # 

Zu  dieser  Spannung  des  Denkens,  das  nichts  ist  als  das  Sich- 
Beugen  des  Lebens  über  sich  selbst,  vor  allen  Begriffen  des  Werk- 
verstandes und  allem  Willen  zur  Nutzung  der  Welt,  leitet  Berg- 
sons  Intuition  zurück.  Während  aber  die  orientalische  Lehre  in 
der  Rückkehr  zum  urgründigen  Einen  den  Sinn  des  Lebens  sieht 

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VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

und  alles  endliche  Tun  als  unbeträchtlich  und  hindernd  abweist, 
sind  in  der  Intuition  Bergsons  Momente  enthalten,  die  über 
dies  erste  Zu-Sich-Selbst-Erwachen  des  Weltsinnes  hinausdeuten. 
Für  ihn  ist  Bewegung  zum  Höchsten  nicht  Bückkehr,  sondern 
Ausgang  zur  Verwirklichung  —  nicht  Gleichgewicht  der  Gegen- 
sätze, sondern  leidenschaftliches  Bingen  der  Urtendenzen.  Die 
Materie,  der  Verstand  und  alle  Formen  der  gemeinen  Welt  sind 
nicht  nur  wertlose  Masse,  von  der  sich  das  Absolute  abhebt, 
sondern  ein  Stachel.  So  trägt  ihn  auch  hier  das  jüdische  Welt- 
gefühl, das  sich  durch  alle  Krusten  hindurch  unverkennbar  in 
der  chassidischen  Überlieferung  ausspricht:  das  Gefühl  für  die 
Notwendigkeit  des  Dualismus,  für  die  Schmalheit  des  Grates,  auf 
dem  zu  gehen  wir  bestimmt  sind,  für  die  Gefahr  —  die  sich  bis  in 
das  Herz  des  Göttlichen  selbst  erstreckt.  Denn  auch  das  Gottes- 
wesen hatte  nicht  die  Kraft,  die  Glorie  mit  sich  vereint  zu  halten, 
und  bedarf  der  Spannung  unseres  ganzen  Wesens  zu  seiner 
eigenen  Verwirklichung :  ebenso  wie  Bergsons  schöpferische  Welt- 
substanz nicht  vom  Ursprung  an  der  lebendigen  Dauer  fähig  ist, 
sondern  sich  erst  zu  ihr  erhebt,  auf  furchtbaren  Umwegen.  Und 
wie  in  der  Lehre  der  Chassidim  jede  Tat  geweiht  ist,  wenn  sie 
nur  mit  der  Inbrunst  einer  ganzen  Seele  getan  wird,  so  lehrt 
Bergson,  daß  wir  frei  und  aus  dem  Grunde  des  Weltantriebes 
heraus  handeln,  wenn  die  Tat  unser  ganzes  Wesen  umfaßt  und 
zu  neuer  Form  schafft,  alles  Stockende  auflösend  in  dem  gött- 
lichen Anhauch,  der  das  Lebende  dem  toten  Ablauf  entzieht  und 
zur  Dauer  erhebt. 

Es  kann  nicht  unbemerkt  bleiben,  daß  Ansätze  zu  dieser  Wen- 
dung des  Weltgefühles  im  Griechentum  gegeben  sind.  Wenn 
Plato  die  Unsterblichkeit  nicht  im  Sein  des  Vollkommenen,  son- 
dern in  seiner  Erzeugung  sieht,  wenn  Eros,  das  Streben  zum 
Göttlichen,  als  der  älteste  Gott  erkannt  wird,  und  wenn  die  ab- 
strakte Sonderung  von  Göttlichem  und  Menschlichem  dadurch 
gemildert  wird,  daß  Dämonen  eingeschoben  werden,  die  zwischen 
Göttern  und  Menschen  vermitteln  und  die  zersprengte  Welt  durch 
ihre  Doppelnatur  in  sich  binden,  —  so  hebt  sich  darin  der 
griechische  Geist  zu  einer  Erkenntnis,  die  die  Schranken  seiner 
Kategorien  übersteigt.  Sie  spricht  sich  daher  nur  in  Begungen, 
ohne  Beziehung  zu  der  gestaltenden  Mitte  der  griechischen  Philo- 

98 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

Sophie  aus.  Die  Bindung  an  die  endlichen  Bilder  der  unend- 
lichen Potenzen  ist  so  stark,  daß  dieser  Welt  die  Grenze  des  Rela- 
tiven und  des  Absoluten  ewig  verschwimmt:  der  Wille  zum  Un- 
bedingten wird  immer  wieder  aufgehoben  in  dem  Streben  nach 
Maß,  Einordnung,  Harmonie  der  Gegensätze. 

Das  Judentum  aber  lebt  an  dieser  Grenze.  Sein  Dasein  und 
sein  Schicksal  sind  an  diesen  Dualismus  gebunden,  daß  es  stärker 
als  andere  Völker  die  Fesselung  des  Willens,  ja  des  ganzen  Seins, 
an  endliche  Zwecke  kennt,  an  die  übersehbare,  nach  Ursache 
und  Wirkung  zu  ordnende  Existenz,  und  daß  es  sich  wiederum 
stärker  als  die  anderen  zusammenraffen  kann  zu  einer  Spannung 
seines  Wesens,  in  der  alles  Endliche  verzehrt  ist,  und  von  der 
aus  der  maßlose  Aufwand  an  Energie,  mit  der  es  sich  in  dem 
Bereich  der  mechanisierten  Welt  betätigt  hatte,  als  bloßes  Sich- 
gehenlassen erscheint. 

Wenn  Bergson  den  Menschen  als  das  Werkzeugtier  deutet, 
das  sich  mit  Hilfe  von  Sprache  und  Gesellschaft  so  weit  unab- 
hängig von  dem  blinden  Spiel  der  materiellen  Kräfte  macht, 
daß  es  sich  in  den  zerstückten  Teilen  der  Materie  orientieren 
und  sie  zur  Verwirklichung  seiner  Zwecke  benutzen  kann  — 
und  wenn  es  ihm  als  die  höhere  Mission  des  Menschen  erscheint, 
auch  noch  die  Bindung  zu  durchbrechen,  die  der  Mensch  sich 
selbst  schafft,  indem  er  sich  in  dem  Netz  seines  Werkverstandes 
fängt,  so  gilt  das  in  besonderer  Tiefe  von  dem  Juden,  dessen 
eingeborener  Dualismus  hier  eine  letzte  Deutung  erfährt.  Die 
Unruhe,  die  Geschäftigkeit,  das  ewig  wache  Bewußtsein  begreifen 
zu  lernen  als  Tendenzen  eines  Geistes,  die  aus  der  Bindung  der 
Mitte  gerissen  den  Menschen  in  Fragwürdigkeit  stürzen,  sich 
aber  im  höchsten  Erlebnis  zurückverwandeln  in  Organe  des  Gött- 
lichen —  dies  leistet  die  Lehre  Bergsons  von  der  Substanz,  der 
Bewegung,  Bewußtsein,  Freiheit  nur  Wege  zur  Entscheidung  und 
Erneuerung  sind. 


Fällt  damit  nicht  auch  ein  unerwarteter  Schein  auf  Hegels 
Gedanken  über  die  Aufgabe  des  Judentums  und  erhellt  den  welt- 
geschichtlichen Prozeß,  in  dem  der  jüdische  Geist  zum  Verkünder 
des  Unbedingten  und  seiner  Verwirklichung  durch  äußerste  Stei- 

99 


VON  DER  SENDUNG  DES  JUDENTUMS 

gerung  der  Dualität  und  der  Spannung  aufwächst  und  so  die 
Welten  des  Ostens  und  des  Westens,  des  Einen  und  des  Vielen 
aus  ihrem  Fürsichsein  reißt? 

Die  Formen,  in  denen  sich  dieser  Prozeß  bisher  verwirklicht 
hat,  sind  heute  Selbstzweck  geworden,  verkrustet  und  entseelt,  ein 
Bestand  von  historisch  gewordenen  Begriffen  und  Ordnungen, 
die  kraft  der  Beharrungsschwere  historischer  Gebilde  sich  be- 
haupten, mit  dem  Anspruch,  alles  neue  Leben  durch  sich  hin- 
durchzuleiten, und  doch  ohne  Macht  die  Zweifel  abzuwehren: 
ob  dies  Ableiten  in  die  gegebenen  Kanäle  die  spärlichen  Wasser 
nicht  ganz  versickern  ließe,  und  ob  es  nicht  besser  sei  sie  auf- 
zustauen, bis  sie  aus  unerträglichem  Drang  sich  ein  neues  Bett 
graben  müssen. 

So  wäre  es  in  dem  Ringen  dieser  Zeit,  die  an  dem  Übermaß 
lebloser  Gebilde,  Lebens-  wie  Glaubensformen,  zu  ersticken 
droht,  die  Sendung  des  Judentums,  das  Bewußtsein  des  Dua- 
lismus rein  zu  erhalten,  angesichts  der  teilhaften  Erfüllungen, 
die  die  Zeit  anbietet:  und  die  Spannung  zwischen  dem  Bedingten 
und  dem  Unbedingten  ganz  zu  realisieren  —  damit  so  der  Weg 
freigemacht  werde  für  den  Durchbruch  der  letzten  umschaffen- 
den Gewalt,  des  Hauches,  von  dem  gesagt  ist:  Der  Wind  blaset, 
wo  er  will,  und  du  hörest  sein  Sausen  wohl,  aber  du  weißt  nicht, 
von  wannen  er  kommt  und  wohin  er  fähret. 


IOC 


DAS   NEUE   JUDENTUM 


Das  neue  Judentum 
und  die   schöpferische  Phantasie 

Von  Moses  Calvary 
I. 

rLs  ist  schon  des  öfteren  betont  worden:  der  Jude  der  Gegen- 
wart ist  Rationalist,  stärker  als  seine  Umwelt,  die  Zeit,  in  der 
er  die  ersten  Kämpfe  um  seine  geistige  Emanzipation  führte, 
hielt  ihn  lange  in  ihrem  Bann.  Nicht  auf  einmal,  und  nicht  aus 
einer  Wurzel  heraus  wurde  die  Aufklärung  in  Deutschland  über- 
wunden: eine  dieser  Wurzeln  war  die  Anerkennung  der  schöpfe- 
rischen Phantasie. 

Der  Begriff  des  Schöpferischen  stammt  recht  eigentlich  aus 
der  Zeit  der  abklingenden  Aufklärung,  der  Mitte  des  i8.  Jahr- 
hunderts. An  englischen  Vorbildern  erwachsen,  wurde  er  ein  Leit- 
wort des  Kreises,  der  sich  um  und  an  Herder  bildete,  und  ist 
ein  Hauptbestandteil  des  Ideenkomplexes,  der  mit  dem  Worte 
Genie  bezeichnet  ward:  schöpferisch  ist  allein  das  Genie,  nie 
der  Philister.  Wenn  damals  die  Phantasie  —  „welcher  Unsterb- 
lichen soll  der  höchste  Preis  sein?"  —  mit  auf  den  Schild  er- 
hoben wurde,  so  war  das  nicht  ohne  eine  tiefe  Umformung  des 
Begriffes  möglich.  Für  Christian  Wolff  war  sie  —  darauf  macht 
Wundt  einmal  aufmerksam  —  noch  eine  niedere  Funktion,  die 
Vorstellungsfähigkeit  überhaupt.  Wenn  sie  nun  zur  Göttin  des 
Dichters  wurde,  so  mußte  man  erst  von  ihr  ausscheiden,  was 
rein  kombinatorischen  Charakters  war,  um  sie  zur  Grundlage 
künstlerischen  Schaffens,  zur  schöpferischen  Kraft,  zu  erheben. 
Die  neuerwachte  Phantasie  klammert  sich,  ganz  anders  als  der 
so  gepriesene  Verstand,  mit  Lebenslust  an  die  Welt  der  Sinne, 
die  Formen  und  Farben  des  reichen  Volksdaseins,  —  und  so 
war  die  Aufklärung,  die  die  Welt  erkennen,  nicht  schauen  und 
nicht  gestalten  wollte,  von  einem  Punkte  aus  überwunden. 

2. 

Der  deutsche  Jude  war  noch  nicht  so  weit,  und  als  er  es 
wurde,  oder  hätte  werden  können,  da  gab  es  für  seine  Phantasie 
kaum  ein  Volksdasein,  an  dem  sie  sich  hätte  erneuern  mögen. 
Es  wai-  ganz  und  gar  in  Gesetzlichkeit  gehüllt.  Denn  es  ist  sicher, 
so  energisch  wir  auch  statt  der  rein  religiösen  Auffassung  des 

io3 


DAS  NEUE  JUDENTUM  UND  DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

Judentums  den  Blutzusammenhang  als  ausschlaggebend  emp- 
finden, —  es  schleicht  sich  in  den  Ton  der  Sicherheit,  mit  dem 
wir  den  rein  nationalen  Charakter  des  Judentums  als  den  einzig 
natürlichen  verteidigen,  dessen  Bewußtsein  erst  den  allerletzten 
Generationen  abhanden  gekommen  sei,  doch  wohl  leicht  eine 
kleine  geschichtliche  Fälschung.  Daß  das  Blut  für  die  Erhaltung 
des  Judentums  bestimmend  war,  ist  freilich  unsere  Überzeugung, 
aber  keine  Frage:  die  Theologisierung  der  jüdischen  Nation  ist 
sehr  alt.  Sie  stammt,  eine  echte  Goluspflanze,  aus  dem  ersten 
Exil,  aus  Babylon,  und  ist  der  Fluch  des  zweiten  jüdischen  Staates 
gewesen.  Wo  hat  sich  sonst  der  Kampf  zwischen  den  Herrschen- 
den und  dem  Volke  in  die  Form  religiöser  Kämpfe  gehüllt? 
Wo  ist  sonst  eine  volkstümliche,  blutvolle  Literatur  ad  maiorem 
dei  gloriam  ausgewählt  und  vergeistigt  worden,  daß  nur  noch 
kümmerliche  Reste  eines  naiv-künstlerischen  Schrifttums  er- 
halten blieben,  und  auch  die  nur,  wo  sie  die  Umdeutung  ins 
Religiöse  vertrugen?  Und  was  jene  Epoche  begonnen,  wurde 
nach  der  Zerstörung  Jerusalems  in  jahrhundertelangen  Be- 
mühungen, nicht  erst  von  gestern  und  heute,  vollendet.  Leider 
gibt  es  noch  keine  rechte  Geschichte  der  nachbiblischen  Welt- 
und  Lebensauffassung.  So  sind  wir  Laien  genötigt,  uns  aus 
kleinen,  hier  und  da  verstreuten  Notizen  ein  Bild  dieser  Ent- 
wicklung zu  machen.  Denn  weder  die  romanhafte  Art,  in  der 
Heinrich  Graetz  Geschichte  schrieb,  noch  pragmatische  Bro- 
schüren oder  die  emsige  Kleinarbeit  der  gegenwärtigen  jüdischen 
Gelehrten  kann  uns  hier  befriedigen.  (Immerhin  seien,  neben 
älteren  Schriften,  Güdemanns  und  Berliners  Arbeiten  mit  Nach- 
druck hervorgehoben.)  Ich  denke  nicht  eigentlich  an  die  Ge- 
schichte der  religiösen  Vorschriften  selber,  —  die  ist  in  rabbi- 
nischen  Kreisen  ziemlich  bekannt,  und  auch  seit  dem  Abschluß 
des  Talmuds  nur  in  einzelnen  Punkten  bemerkenswert:  galt  doch 
der  Talmud  den  Dezisoren  im  allgemeinen  als  Quelle  und  Grund- 
lage ihrer  Entscheidungen.  Wohl  aber  drängt  sich  die  Frage 
auf:  wie  weit  war  die  Judenheit  im  ganzen  überhaupt  der  rabbi- 
nischen  Stimmung  unterworfen?  Die  Antwort  findet  ihre  natür- 
liche Schwierigkeit  in  der  Beschaffenheit  der  uns  erhaltenen 
Quellen:  sie  stammen  fast  alle  eben  aus  rabbinischen  Kreisen. 
Daß  eine  solche  Auswahl,  genau  wie  für  die  biblische  Zeit,  ge- 

io4 


DAS  NEUE  JUDENTUM  UND  DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

troffen  werden  konnte,  ist  freilich  allein  schon  bezeichnend  für 
das  Vorherrschen  der  religiösen  Stimmung;  durch  sie  kam  es, 
daß  die  Geschichte  des  Judentums  heute  rein  religionsgeschicht- 
lich behandelt  wird.  Wie  etwa  der  Homerforscher,  der  den  ur- 
sprünglichen,  vor  der  endgültigen  Redaktion  vorhandenen 
Homertext  rekonstruieren  möchte,  vielfach  auf  die  Verse  an- 
gewiesen ist,  die  in  den  Scholien  Alexandrinischer  Forscher  als 
unecht  bekämpft  werden  und  nur  dort  zitiert  sind,  so  müssen 
uns  die  rabbinischen  Gegner  irgendwelcher  Sitten  dazu  helfen, 
die  Sitten  selbst  konstatieren  zu  können.  Ob  die  Erstarkung  und 
Festigung  der  Lehre  das  einzige  Mittel  war,  die  Judenheit  zu 
erhalten,  ob  die  religiöse  Vertiefung  an  sich  uns  gefördert  oder 
beengt  hat,  ist  dabei  gleichgültig:  unabhängig  von  jedem  Wert- 
urteil, sollte  eine  solche  Geschichte  der  jüdischen  Volkssitte  ein- 
mal geschrieben  werden. 

Der  Sieg  Babylons  über  das  freie  jüdische  Volksleben  war  sicher 
nicht  eben  leicht;  schon  früh  bereisten  Sendboten  Europa,  und 
noch  im  neunten  Jahrhundert  durften  die  Gaonim  nicht  ermüden, 
Sura  und  Pumpadita  als  die  eigentlichen  Stätten  der  religiösen 
Wahrheit  hinzustellen.  Nach  Spanien  kam  das  erste  Talmud- 
exemplar erst  Ende  des  achten  Jahrhunderts,  und  erst  im  drei- 
zehnten wurde  in  Nordspanien  das  Tefillimlegen  eingeführt,  das 
vielleicht  auch  von  den  griechisch-ägyptischen  Juden  nicht  geübt 
worden  war.  Daß  in  Nordfrankreich  die  Mesusa  unbekannt  war, 
bezeugt  noch  Rabbenu  Tam,  und  die  Kopfbedeckung  in  der 
Synagoge  setzte  sich  erst  allmählich  durch.  Man  weiß,  daß  selbst 
die  rabbinischen  Autoritäten  noch  im  elften  und  dreizehnten 
Jahrhundert  kühne,  neuernde  Entscheidungen  trafen,  erst  dann 
verbreitete  sich,  vor  allem  in  Deutschland,  die  skrupulöse,  an 
den  Buchstaben  der  Tradition  sich  klammernde  Gesetzlichkeit, 
Eine  freiere  mystisch-moralische  Strömung  hörte  nicht  auf  zu 
fließen,  beherrschte  aber  gerade  die  deutschen  Juden  nicht  sehr 
stark.  Epoche  macht  der  Schulchan  Aruch,  nicht  unbedingt,  nicht 
auf  einmal,  jiicht  überall  gleichmäßig.  Die  Briefe  von  1619 
(herausgegeben  von  Landau  und  Wachstein)  zeigen  schon  völlig 
die  Stimmung  der  späteren  Orthodoxie,  sie  stammen  aus  Prag; 
aber  noch  in  demselben  Jahrhundert  zeigt  sich  in  Glückel  von 
Hameln,  einer  Norddeutschen,  eine  viel  unbefangenere,  freiere 

io5 


DAS  NEUE  JUDENTUM  UND  DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

Stellung  zur  Religion,  nicht  als  ob  sie  ausdrücklich  sich  irgend- 
einer Vorschrift  entzieht  —  das  liegt  ihr  gänzlich  fern  — ,  aber 
es  fällt  doch  zuweilen  auf,  wie  sie  Dinge  unbeachtet  und  un- 
besprochen  läßt,  die  für  eine  Frau  ihrer  Frömmigkeit  in  späteren 
Zeilen  unbedingt  im  Vordergrunde  gestanden  hätten. 

Das  alles  sind  freilich  mehr  negative  Momente,  wichtiger  ist, 
daß  die  steigende  Gesetzlichkeit  notwendig  auch  die  positive  Ge- 
staltung der  religiösen  Sitten  ihrer  Lebensfülle  entkleidete.  Sie 
hebt  deren  Farbigkeit  nicht  auf  —  es  ist  sogar  möglich,  daß 
die  stärkere  Gebundenheit  eine  gewisse  feierliche  Formenpracht 
erst  ausgebildet,  zum  mindesten  aufrecht  erhalten  hat  — ,  wohl 
aber  erschwerte  die  Bändigung  des  Gefühlslebens  dem  Juden, 
die  leisen  Schwingungen  der  Seele  in  künstlerisch-religiöse  Tat 
umzusetzen.  Ein  Vergleich  mit  dem  Chassidismus  der  Ostjuden 
zeigt  das  deutlich,  er  entstand  als  Auflehnung  des  gefesselten 
Gefühls. 

Vor  allem  die  persönlichen  Erlebnisse  —  Geburt,  Namen- 
gebung,  Einführung  in  die  Schule,  Hochzeit,  Tod  —  waren  in 
eine  reiche  Fülle  religiöser  Formen  gehüllt,  die  zum  großen  Teil, 
ohne  ersetzt  zu  sein,  einfach  verschwunden  sind.  Verschwunden, 
weil  das  Leben  sie  erzeugt  hatte,  ohne  daß  sie  in  der  schrift- 
lichen Tradition  begründet  waren.  Die  allgemeinen  religiösen 
Festtage  widerstanden  der  Nivellierung  stärker,  und  noch  heute 
zeigen,  um  nur  einiges  von  vielen  herauszugreifen,  der  Freitag- 
abend, der  Sabbatnachmittag,  der  Sederabend,  Purim,  da  wo  man 
auf  sie  Wert  legt,  einen  starken  Rest  von  persönlich-familien- 
hafter  Färbung.  Am  stärksten  gelitten  hat  das,  was  man  heute 
Aberglauben  zu  nennen  pflegt,  das  weite  Gebiet  des  persön- 
lichsten —  und  zugleich  allgemeinsten  Glaubens:  von  der  Ge- 
setzlichkeit wie  der  Aufklärung  gleichmäßig  angegriffen,  hat  er 
am  wenigsten  standhalten  können. 

Eben  dieser  Punkt,  daß  scheinbare  Gegensätze,  Orthodoxie  und 
reine  Verstandeskultur,  in  derselben  Richtung  wirken  konnten, 
ist  von  tiefer  Bedeutung.  Keineswegs  genügt  es,  die  geschicht- 
liche Entwicklung  einfach  in  Thesis  und  Antithesis,  in  Aktion 
und  Reaktion  zu  zerlegen,  immer  wieder  ist  zu  bemerken,  daß 
die  Höhe  der  Thesis  durchaus  schon  die  Elemente  der  Antithesis 
in  sich  enthält,  mindestens  aber  das  eine  Element  bereits  betont, 

io6 


DAS   NEUE   JUDENTUM  UND   DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

das  später  zur  Herrschaft  kommt.  Wo  es  sich  nicht  um  bloße 
Geistesgeschichte  handelt,  sondern  um  die  historische  Erfassung 
konkreter  Erscheinungen,  wie  in  der  Geschichte  der  Kunst  und 
der  Musik,  ist  das  längst  anerkannt:  die  Hochrenaissance  ist 
schon  ein  Stück  Barock,  Beethovens  Klassik  ein  Stück  Romantik. 
Ebenso  enthält  die  —  christliche  und  jüdische  —  Orthodoxie 
des  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhunderts  schon  den  Willen, 
die  Erscheinungen  durch  ein  —  formal  genommen  —  rationales 
Element  zu  beherrschen,  und  dieser  Wille  schlug  nicht  sowohl 
in  die  Aufklärung  um,  als  er  sich  vielmehr  in  ihr  vollendete. 

So  wurde  denn  die  jüdische  Aufklärung  die  unmittelbare 
natürliche  Fortsetzung  der  jüdischen  Gesetzlichkeit,  im  Grunde 
schon  in  Moses  Mendelssohn,  vollends  aber  in  dem  jüdischen 
sogenannten  Liberalismus  der  Gegenwart.  Damit  schien  das  freie 
Volksleben  endgültig  überwunden,  die  Phantasie  war  abgesetzt, 
zum  mindesten  in  ihrer  Betätigung  für  ein  jüdisches  Dasein.  Die 
—  religionsgesetzliche  oder  aufklärerische  —  Vernunft  hatte 
im  Kampfe  mit  der  Willkür  nationalen  Lebens  gesiegt.  Wenn 
wir  heute  wieder  ein  rein  völkisches  Judentum  predigen,  so  be- 
finden wir  uns  in  bewußtem  Gegensatz  zu  einer  Jahrhunderte-, 
ja  jahrtausendelangen  Tendenz,  einem  Gegensatz,  den  wir  zu  ver- 
kleistern keinen  Grund  haben. 

3. 

Es  ist  überaus  schwer  zu  entscheiden,  wie  weit  das  reich  aus- 
gestattete Leben  im  deutschen  Mittelalter,  soweit  es  sich  der  ge- 
setzlichen Normierung  widersetzte,  nun  eigentlich  echt  jüdische 
Farben  trägt.  Güdemanns  Gelehrsamkeit  steht  ganz  im  Banne 
der  Tendenz,  das  Ineinander  deutscher  und  jüdischer  Sitten  dar- 
zulegen. Und  es  kann  gar  kein  Zweifel  sein,  daß  zum  mindesten 
eine  erstaunlich  gleichmäßige  Entwicklung  stattgefunden  hat,  am 
erstaunlichsten  in  den  Zeiten,  wo  die  äußere  Stellung  der  Juden 
zu  seiner  Umwelt  höchst  unerquicklich  war.  Gilt  das  doch  sogar 
von  der  Entwicklung  der  Glaubenslehre  selbst,  bis  heute:  Scho- 
lastik, Piatonismus,  Mystik  und  Orthodoxie,  Aufklärung,  Natio- 
nalismus, es  ist  dieselbe  Reihe  im  jüdischen  wie  im  nichtjüdischen 
Europa.  Vollends  auf  folkloristischem  Gebiete:  es  wimmelt  von 
Parallelen,    Werwolf   und    Hexenglaube,    Daumendrücken    und 

107 


DAS  NEUE  JUDENTUM  UND  DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

Geisterbeschwören,  die  Anzahl  läßt  sich  beliebig  vermehren,  be- 
gegnen uns,  selbst  die  heilige  Neunzahl  —  nach  Hermann  Diels 
das  deutlichste  Kennzeichen  arischer  Religion  neben  der  Sieben 
der  Semiten  —  ist  reichlich  eingedrungen.  Sogar  die  Briefform 
ist  dieselbe:  die  Frauen  fangen  ihre  jiddischen  Briefe  mit  ein 
paar  Reimen  an,  —  wie  die  deutschen  Frauen,  die  Männer  be- 
ginnen mit  rein  hebräischen  Wendungen,  —  wie  die  deutschen 
Männer  mit  lateinischen.  Soweit  es  sich  um  Einzelzüge  handelt, 
scheint  meist  deutscher  Einfluß  vorzuliegen,  ist  zuweilen  ein 
jüdischer  Ausgangspunkt  anzunehmen;  für  die  große  Gedanken- 
entwdcklung  werden  wir  immer,  wie  in  den  Einzelerscheinungen 
oft  genug,  an  irgendeine  parallele  Entwicklung,  einen  Zeitgeist 
glauben  müssen.  Es  ist  schwer,  sich  das  im  einzelnen  vorzustellen, 
aber  bisher  ist  doch  auch  das  viel  wichtigere  Problem  gleicher 
Art  noch  völlig  ungelöst,  in  welchem  Zusammenhang  —  und  er 
muß  vorliegen  —  die  gCAvaltige  religiöse  Erregung  die  Geister 
Indiens,  Israels,  Griechenlands  fast  gleichzeitig,  im  sechsten  Jahr- 
hundert V.  Chr.,  ergreifen  konnte.  Schließlich  ist  die  Herkunft 
der  Begriffe  und  Formen  ja  nur  für  den  Historiker  wichtig, 
dem  Wertenden  gleichgültig:  wenn  nur  der  Jude  sich  in  der 
neuen  Form  lebendig  ausdrückt. 


4. 

So  sind  wir  auch  jetzt  wieder  von  einer  allgemeinen  Strömung 
getragen,  wenn  wir  eine  Erneuerung  des  Volkslebens  erstreben. 
Es  ist  im  Grunde  derselbe  Ruf,  der  auch  bei  den  Völkern  um 
uns  ertönt:  der  Ruf  nach  einer  farbigeren,  künstlerischen  Ge- 
staltung des  Lebens.  Es  muß  in  aller  Schärfe  betont  werden: 
gerade  weil  hier  Mißverständnisse  infolge  übergroßer  Empfind- 
lichkeit und  Ketzerriecherei  sicli  ßo  leicht  einstellen:  nicht  um 
eine  Abkehr  von  der  Gebundenheit,  um  Lust  an  Willkür  handelt 
es  sich.  Vielleicht  ist  es  eher  umgekehrt:  wenigstens  sucht  der 
norddeutsche  Protestantismus  heute  vielfach  in  seinen  Formen 
sich  an  dem  künstlerischer  und  doch  gebundener  gestalteten 
Katholizismus  zu  orientieren.  Aber  die  Forderung  reicht  weit 
über  kirchliche  Bestrebungen  hinaus:  die  Erweckung  des  Volks- 
liedes, der  Dorffeste,  eine  Heimatkunst,  die  Betonung  stammes- 

io8 


DAS  NEUE  JUDENTUM  UND  DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

tümlicher  Zusammenhänge,  all  das  dient  künstlerischen  Werten 
und  gehört  in  die  große  Bewegung  gegen  die  gesetzliche  oder 
vernunftmäßige  Nivellierung.  Zwei  Richtungen  sind  erkennbar: 
eine  romantische,  rückwärts  gewandte,  eine  nach  vorwärts 
strebende,  beide  in  Forderungen  künstlerischer  Phantasie 
wurzelnd.  Der  Wunsch  nach  Wiederweckung  alten  Volkslebens 
im  Deutschtum  führte  zu  einem  Studium  mittelalterlicher  Sitten, 
und  da  zeigt  sich  deutlich,  daß  die  Volkssitte,  nicht  ausschließ- 
lich, aber  doch  großenteils,  sich  auf  zwei  Gebiete  beschränkt:  das 
religiöse,  sei  es  das  christliche,  sei  es  das  altgermanische  Fest,  und 
das  Kinderspiel,  Aber  wenn  auch  der  Wille  zur  künstlerischen 
Gesamtkultur  erwacht  ist,  ist  es  doch  so,  daß  unsere  Zeit  infolge 
der  Tendenz  eines  ungehinderten  Verkehrs  nicht  eigentlich  im- 
stande ist,  im  alten  Sinne  unmittelbar  eine  Tradition  zu  schaffen. 
So  werden  zuweilen  im  Eifer,  künstlerische  Elemente  der  alten 
Zeit  wieder  aufzufrischen,  auch  Dinge  ergriffen,  die  der  Be- 
lebung sich  widersetzen.  Demgegenüber  erstehen  einerseits  Ver- 
teidiger der  Großstadt,  der  neuen  Bewegtheit,  aber  auch  sie  be- 
tonen, daß  es  sich  für  sie  um  die  Entdeckung  einer  neuen,  ner- 
vöseren, komplizierteren,  noch  wenig  verstandenen,  —  aber  doch 
eben  einer  Schönheit  handelt,  andererseits  will  man  die  indi- 
viduelle Phantasie  in  den  Dienst  des  Volkes  stellen,  und  so  be- 
ginnt in  Deutschland  die  „Heimatkunst". 

5. 

Der  deutsche  Jude  ist  nun  in  das  moderne  Getriebe  —  schon 
als  Städter  —  so  tief  verschlungen,  daß  wir  kaum  hoffen  dürfen, 
seine  Phantasie  werde  naiv  und  selbstsicher  ihren  natürlichen 
Zielen  zustreben.  Er  wird  sich,  dahin  deuten  schon  die  beiden 
größeren  Schriften  Herzls,  von  ihr  lieber  in  die  Weite  als  in  die 
Enge  tragen  lassen,  und  so  vielleicht  als  erster  die  Werte  dej* 
Gegenwartsseele  in  künstlerisch  gestaltete  Wirklichkeit  umsetzen 
können. 

Daß  erst  ein  künstlerischer  Geist  wie  Herzl  dem  dumpfen 
Nationalleben  den  Schwung  einer  lebendigen,  zielbestimmten  Be- 
wegung geben  konnte,  war  innerlichste  Notwendigkeit.  Gleich 
bei  Beginn  des  erwachten  Lebens  ertönten  neue  Lieder,  von  ganz 
anderer  Wärme  und  Inbrunst  als  die  altgewohnten,  —  und  das 

109 


DAS   NEUE   JUDENTUM   UND   DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

jiddische  Lied,  das  einzige,  was  wir  an  Volksliedern  besitzen, 
drang  in  weitere  Kreise.  Eine  Art  Heimatkunst,  der  Judenroman, 
ist  unterwegs.  Ob  er  zum  Ziele  kommen  wird?  Vestigia  terrent. 
Wo  bisher  —  neben  den  massenhaften  wertlosen  Erzeugnissen 
—  echte  Heimatkunst  gestaltet  wurde,  lag  es  nicht  am  Heimat- 
gedanken, sondern  an  der  ursprünglichen  Kraft  des  Dichters. 
Aber  vielleicht  verstreut  auch  hier  die  Natur  Millionen  Keime 
scheinbar  vergeblich,  damit  irgendwo  und  irgendwann  ein  volles 
Gewächs  heranreift. 

Ein  jüdisches  Kinderspiel  gibt  es  bei  uns  nur  noch  ganz  ver- 
einzelt. Eine  natürliche  Tendenz,  es  zu  erneuen,  sehe  ich  nirgends; 
das  ist  kein  Wunder.  Denn  fast  alles,  was  an  deutschen  Kinder- 
spielen lebendig  ist  —  und  dasselbe  gilt  im  Grunde  auch  vom 
Kindermärchen  —  stammt  aus  uralten  mythologischen  Zeiten  und 
ist  zum  großen  Teil  allen  Völkern  gemeinsam,  —  es  kann  um- 
gewandelt, aber  nicht  wohl  erfunden  werden.  Und  gerade  gegen 
das  naive  Kinderspiel  hat  die  gesetzlich  gerichtete  Epoche  am 
grausamsten  sich  vergangen,  was  braucht  ein  jüdisch  Kind  zu 
spielen,  es  soll  Taure  lernen,  so  früh  wie  möglich.  So  schaffens- 
kräftig aber  ist  unsere  Phantasie  nicht  mehr,  daß  sie  einen  neuen 
Mythos  zeugen  könnte.  Unsere  Kinder  spielen  wieder,  Gott  sei 
Dank,  und  werden  einst  im  Anschluß  an  jüdische  Feste  auch 
wieder  jüdisch  spielen  lernen. 

Denn  eine  Sehnsucht,  die  alten  Feste  wieder  zu  beleben  und 
neue  zu  schaffen,  ist  heute  unverkennbar.  Die  jüdische  Jugend 
der  Gegenwart  diskutiert  lebhaft  die  Frage,  wie  sie  wieder,  auch 
wo  ihr  der  religiöse  Weg  rettungslos  verschüttet  ist,  einen  Zu- 
gang zu  den  jüdischen  Festen  gewinnen  könnte. 

Jene  Herrschaft,  die  die  religiös-dogmatische  Gesetzlichkeit 
über  die  Volksphantasie  gewonnen  hat,  wirkt  natürlich  er- 
schwerend. Ich  hörte  einmal  von  einem  Manne,  der  sich  in  ästhe- 
tischem Entzücken  an  den  Freitagabend,  das  Lichterbenschen 
seiner  Jugend  erinnerte  und  auf  die  Frage,  warum  er  es  denn 
nicht  in  seinem  Hause  einführe,  ganz  betrübt  antwortete:  „Ja, 
ich  glaube  doch  nicht  daranl" 

Es  ist  bezeichnend  für  unsere  abnorme,  an  Glauben  und  Dogma 
gebundene  Stellung  zur  jüdischen  Sitte,  daß  wir  diese  auf  den 
ersten  Blick  skurile  Antwort  ganz  gut  nachfühlen  können.  Dieses 

HO 


DAS   NEUE   JUDENTUM  UND   DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

Hemmnis  hat  eine  noch  allgemeinere  Geltung.  Schon  im  elften 
Jahrhundert  werden  die  deutschen  Juden  gerühmt,  weil  sie  sich 
in  religionsgesetzlich  zweifelhaften  Fällen  nach  der  erschweren- 
den Seite  neigten,  und  seitdem  hat  sich  immer  stärker  die  Auf- 
fassung befestigt,  daß  die  Erschwerung,  die  Hemmung  des  natür- 
lichen Trieblebens,  das  Opferbringen  religiös  verdienstlich  sei. 
Zudem  ist  die  religiöse  Sitte  so  sehr  durch  Tausende  von  Einzel- 
vorschriften eingeengt  und  in  bestimmte  Bahn  gewiesen,  daß  für 
die  freie  Hingabe  an  die  einfach  schöne  künstlerische  Gestaltung 
wenig  Raum  mehr  bleibt*).  Einige  Vergleiche,  nicht  als  Wert- 
urteil, sondern  zur  Illustration:  der  starke,  künstlerische  Reiz  des 
deutsch-christlichen  Weihnachtsfestes  ist  nicht  denkbar  ohne  die 
Freiheit,  die  es  der  Familienphantasie  läßt,  eine  Stimmung,  die 
durch  den  Waldesduft  noch  gehoben  wird,  —  viel  feierlicher, 
starrer,  selbst  an  den  Wortlaut  des  Segensspruches  stärker  ge- 
bunden ist  unser  Entzünden  der  Chanukahlichter.  Wenn  ein  An- 
gehöriger stirbt,  greift  wohl  die  Ostjüdin  zur  Techinnah  odei 
Zennerenne,  wie  die  Christin  zu  den  Psalmen  oder  Evangelien, 
—  bei  uns  wird  Mischnajes  gelernt. 

So  kommt  es,  daß  gerade  die  Kreise,  in  denen  aus  Gründen 
des  Glaubens  die  religiöse  Sitte  gepflegt  wird,  gar  nicht  recht 
an  ihrer  Wiederbelebung  teilnehmen  können,  ja  ihr  sogar  in  ge- 
wissem Sinne  widerstreben.  Wenigstens  war  es  eigentümlich,  und 
für  den  außerhalb  der  religiösen  Kampfesstimmung  Stehenden 
fast  ein  wenig  erheiternd,  mit  wie  ausschließlicher  Erbitterung 
im  vorigen  Jahre  der  Kampf  gegen  die  „Richtlinien"  aufge- 
nommen wurde,  die  ja  in  manchen  Punkten  radikal  neuern,  in 
denen  doch  aber  die  liberalen  Juden  Deutschlands  zum  ersten 
Male  erklärten,  wie  viel  ihnen  selbst,  freilich  mit  Einschränkung, 
freilich  nach  Maßgabe  der  „praktischen  Möglichkeit  oder  Be- 
quemlichkeit", an  den  religiösen  Formen  gelegen  sei.  Hier  zeigt 
sich  der  Gegensatz.  Die  ,, Bequemlichkeit"  erscheint  der  Ortho- 
doxie fragwürdig,  während  viele  von  uns,  die  dem  Richtlinien- 

*)  Es  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  hier  bewußt  von  den  Forderungen 
der  Phantasie,  des  künstlerischen  Triebes  ausgegangen  wird,  von  gewissen 
andern,  mehr  sittlichen  Voraussetzungen  aus  beschließt  gerade  die  Unbedingt- 
heit  gesetzlicher  Forderungen  für  die,  denen  sie  überhaupt  erträglich  ist,  eine 
gewisse  Sicherheit  und  Beruhigung  in  sich. 

III 


DAS   NEUE   JUDENTUM  UND   DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

Liberalismus  ganz  fern  stehen,  gerade  das  Opfer,  die  Gehorsam- 
stimmung ablehnen,  und  die  ganze  Fruchtbarkeit  der  religiösen 
Sitte  erst  dann  entfaltet  sehen,  wenn  unsere  Phantasie  unmittel- 
bar, in  naiver  Freude  an  der  Schönheit,  im  Gefühle  einer  Be- 
reicherung, eines  inneren  Wachstums  die  religiösen  Formen  ge- 
staltet. 

In  der  Festigkeit  der  Formen  also  liegt  die  Schwierigkeit,  aber 
sie  ist  doch  nicht  unüberwindlich.  Denn  immerhin  gibt  es  bei 
uns  noch  Möglichkeiten  der  Entwickelung.  Es  wurde  schon 
darauf  hingewiesen,  daß  in  den  allgemeinen  Festen  ein  gewisser 
Spielraum  für  die  Phantasie  vorhanden  blieb.  Schade,  daß  wir 
noch  keine  Geschichte  der  Sabbatstimmung  haben,  eine  lohnende 
und  mögliche  Aufgabe.  Hier  seien  nur  zwei  bezeichnende  Bei- 
spiele herausgegriffen.  Der  jüdische  Gemeindevorstand  in  Candia 
muß  im  dreizehnten  Jahrhundert  einmal  konstatieren,  daß  die 
jungen  Leute  den  Sonnabendvormittag,  statt  in  die  Synagoge  zu 
gehen,  zu  Spaziergängen  in  die  Berge  und  Bootfahrten  benutzen, 
und  hält  es  für  nötig,  ja  nicht  gerade  das  überhaupt  zu  verbieten 
oder  den  Synagogenbesuch  zu  erzwingen,  wohl  aber  zu  verordnen, 
sich  wenigstens  bis  zum  Schluß  des  Gottesdienstes  zu  Hause  zu 
halten.  Im  südlichen  Europa  war  eben  der  Rabbinismus  nicht 
so  heimisch  wie  in  Deutschland,  —  darauf  hat  auch  kürzlich 
Rafael  Strauß  in  seiner  Studie  über  die  Juden  in  Sizilien  hin- 
gewiesen. An  diese  Episode  konnte  man  im  vorigen  Jahre  durch 
einen  Bericht  der  „Welt"  erinnert  werden,  der  bewegliche  Klage 
über  die  Juden  von  Saloniki  anstimmte:  sie  feierten  zwar  den 
Sabbat,  aber  er  habe  eine  verzweifelte  Ähnlichkeit  mit  dem 
deutschen  Sonntag,  sei  absolut  un jüdisch,  ein  Erholungs-,  aber 
kein  Feiertag,  man  sitze  in  den  Cafes  und  mache  Korsofahrten. 
Ja,  dagegen  wird  nun  wohl  nichts  zu  machen  sein,  daß  die 
Ghettobeschaulichkeit,  die  auf  den  Oppenheimschen  Bildern 
herrscht,  allmählich  verschwindet.  Der  ,, deutsche  Sonntag"  sah 
vor  zweihundert  Jahren  auch  anders  aus  als  heute.  Fand  doch, 
im  zweiten  Drittel  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  eine  förmliche 
Umwälzung  in  dem  europäischen  Naturempfinden  statt,  es  wäre 
unnatürlich  und  ge£ährlich,  wenn  diese  Gefühlswandlung  die 
Juden  nicht  ergriffe.  Das  soziale  Leben  der  Gegenwart  ferner 
zwingt  Juden  wie  NichtJuden  zur  „Ausspannung",  und  führt  die 


112 


DAS  NEUE  JUDENTUM  UND  DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

Frommen  nicht  nur  Salonikis,  sondern  auch  Frankfurts  und 
Berlins  am  Sabbat  in  die  Erholungsstätten.  Das  läßt  sich  wirklich 
nicht  mit  dem  Worte  Assimilation  abtun.  In  Italien  pflegte  man 
einstmals  am  Purim  eine  Hamanspuppe  auszustaffieren  und  sie 
nach  feierlichem  Umzug  zu  verbrennen:  ich  glaube,  daß  das  ein 
gut  jüdisches  Volksfest  war,  wenn  es  auch  einer  ,, indogerma- 
nischen" Winteraustreibung  so  ähnlich  sieht  wie  ein  Ei  dem 
andern.  Es  kommt  eben  auch  hier  nicht  auf  die  Herkunft  an, 
was  fruchtbar  ist  und  den  Sinn  belebt,  wird  wieder  in  den  Dienst 
der  jüdischen  Idee  treten. 

Anregungen  für  eine  solche  Feier  geben  zu  wollen,  wäre  an- 
maßend und  liegt  nicht  in  der  Absicht  dieser  Zeilen.  Ich  selber 
wurde  in  einem  Dorfe  groß,  in  dem  sich  eine  Art  jüdisches 
Herrengefühl  von  selbst  einstellte,  so  daß  die  jüdische  Sitte  uns 
Jungen  das  natürlich  Gegebene  schien  und  selbst  unsere  Kinder- 
spiele mit  christlichen  Kameraden  beeinflußte.  Gewisse  Spazier- 
gänge, den  Jahreszeiten  angepaßt,  waren  für  die  Festtage  fast 
die  Regel,  wie  man  denn  am  Schewuaußmorgen,  mit  oder  ohne 
die  traditionell  durchwachte  Nacht,  gern  in  Feld  und  Wald  die 
Sonne  erwartete.  Am  Sabbatnachmittag  wurden,  während  die 
Alten  den  Talmud  vorzogen,  in  aller  Form  im  Freien  national- 
jüdische Debatten  geführt.  Purim  und  Simchasthorah  wurden 
zum  harmlos  übermütigen  Karneval,  und  Sederabend  wie  Rosch- 
haschanah  waren  von  der  neuen  nationalen  Stimmung  getragen, 
ohne  alle  dogmatischen  Bedenklichkeiten.  Das  läßt  sich  nicht 
ohne  weiteres  in  das  städtische  Leben  übersetzen,  vor  allem,  weil 
die  selbstverständliche  Verbindung  mit  der  Natur  sowie  der 
Gruppenzusammenhang  meistens  fehlt.  Da  wird  das  Tempera- 
ment des  einzelnen  wählen  und  entscheiden  müssen.  Der  eine 
sehnt  sich  danach,  auch  in  der  völlig  religionsgebundenen  Form 
einen  ursprünglichen  Volkstrieb  zu  entdecken  und  macht  den  Ver- 
such, ihn  sich  anzueignen,  andere  meiden  bewußt  die  rein  reli- 
gionsgesetzlichen Beziehungen  und  können  doch  die  alte  Formen- 
welt persönlich  erleben.  Dazwischen  sind  manche  Übergänge 
möglich.  Nur  keine  künstliche  Mumifizierung  aus  falscher  Ro- 
mantik, —  mögen  die  Toten  ihre  Toten  begraben!  Immer  wird 
das  der  Maßstab  sein,  wie  weit  die  Form  imstande  ist,  unserer 
Phantasie  Nahrung  zu  geben,  ihr  eine  bestimmte  Richtung  zu 

8  ii3 


DAS   NEUE  JUDENTUM  UND   DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

verleihen,  innerhalb  dieser  Bahn  ihr  aber  so  viel  Freude  an 
schöpferischer  Freiheit  zu  lassen,  daß  sie  nie  sich  beengt,  stets 
bereichert  fühlt. 

Nur  aus  der  besonderen  Schätzung  der  volkstümlich-künst- 
lerischen Werte  des  Lebens  ist  die  Stellung  zu  erklären,  die  weite 
Kreise  des  deutschen  Nationaljudentums  neben  oder  zwischen 
Orthodoxie  und  Liberalismus  einnehmen.  Der  Richtlinien-Libe- 
ralismus betonte  die  Wahrheit  sittlich- jüdischer  Glaubenssätze 
und  sieht  in  der  religiösen  Sitte  nur  Erscheinungsformen,  er- 
wünscht, soweit  sie  die  Lehre  und  die  Judenheit  erhalten,  die 
Orthodoxie  hat  demgegenüber  von  neuem  entschieden  die  Un- 
dingtheit  des  Religionsgesetzes  als  Gesetz  verfochten:  von 
der  Strömung  aus,  die  hier  zu  deuten  versucht  wurde,  sind  die 
Formen  Selbstzweck,  erschaffen  aus  einem  Überschuß  künstle- 
rischen Volkstriebes,  zusammengehalten  und  belebt  durch  das 
nationale  Bewußtsein. 

Die  so  erneuerten  Feste,  die  ihre  sittliche  wie  künstlerische 
Bedeutung  als  Familienfeste  haben,  können  uns  mehr  und 
weniger  bedeuten  als  unseren  Vätern.  Weniger,  weil  wir  in  einer 
Epoche  leben,  in  der  der  Familienzusammenhang  überhaupt  sich 
lockert,  mehr,  weil  gerade  infolge  der  Auflösung  der  Familie 
die  vereinzelten,  einigenden  Momente  tiefer  ergreifen.  Aber  im 
ganzen  nimmt  die  Phantasie  der  Gegenwart  eine  andere  Richtung, 
und  so  treten  denn  zum  Teil  Volksveranstaltungen  anstelle  der 
alten  Feste.  Diese  selbst  werden  vielleicht  bald  von  der  Gemeinde 
—  oder  der  zionistischen  Ortsgruppe  —  in  größerem  Maßstabe 
veranstaltet  werden,  das  geschieht  heute  schon  vielfach;  dann 
aber  findet  in  Schauturnen,  Volksversammlungen,  Makkabäer- 
f esten  auch  das  neue  Volksgefühl  seinen  künstlerischen  Ausdruck. 
Das  hat  alles  einen  etwas  offiziellen  Charakter,  nicht  nur,  weil 
der  intimere,  leisere  Ton  ein  für  allemal  fehlen  muß,  sondern 
vor  allem,  weil  der  in  ungestümer  Neuerung  nach  Formen 
suchende  Volksgeist  noch  gar  nicht  Zeit  fand,  in  den  Massen  die 
Fähigkeif  der  Resonanz  zu  erzeugen,  die  sich  bei  den  Nicht  Juden 
Deutschlands,  etwa  bei  den  gleichfalls  neuen  oder  erneuerten 
Dorf  spielen,  Sonnwendfesten,  Maifeiern,  sehr  viel  leichter 
einstellt. 

Die  Resonanz  ist  in  Wahrheit  erst  da  gegeben,  wo  Luft  und 

ii4 


DAS   NEUE   JUDENTUM  UND   DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

Land  und  Gemeinschaftswerte  ein  einheitliches  Tempo  des 
Lebensgefühls  erzeugen  können:  in  Palästina.  Alle  Versuche  der 
gestaltenden  Phantasie,  von  denen  bisher  gesprochen  wurde, 
können  nur  dort  vollendet  werden:  die  literarischen  so  gut  wie 
die  Formen  schaffenden.  Aber  das  enthebt  uns  in  keiner  Weise 
der  Pflicht,  den  Trieb,  der  uns  erfaßt,  auch  hier  künstlerisch 
zu  Ende  zu  leben.  Das  ist  der  tiefste  Gegensatz,  in  dem  wir  zu 
den  Männern  stehen  —  und  es  gibt  deren  in  allen  jüdischen 
Lagern  —  die  uns  einen  Geist  des  Judentums  predigen;  auch 
Achad  Haams  schwankende  Stellung  zum  Zionismus  ist  aus 
diesem  Punkte  heraus  zu  erklären*).  Ach,  aber  wir  sind  des  Geistes 
so  reichlich  müde  und  freuen  uns,  wo  in  irgendeinem  Winkel 
ein  Stückchen  jüdischen  Körpergefühls,  jüdischen  Auges  und 
jüdischer  Hand  sich  einen  Ausdruck  sucht.  Darum  liegt  uns  an 
Palästina,  weil  jedes  Leben  dort,  auch  das  „unjüdischste",  ein 
sinnlich  greifbares  Judentum  ist,  darum  erfüllt  es  uns  mit  Mut, 
wenn  auch  das  Leben  des  Exils  von  schöpferischer  Phantasie 
ergriffen  ist. 

6. 

Es  mag  zwecklos  erscheinen,  in  der  Weise,  wie  es  auf  diesen 
Blättern  geschehen  ist,  die  geschichtliche  Tatsache  eines  neuen 
Judentums  scheinbar  auf  einen  Grund  zurückzuführen:  ist  es 
doch  dem  oberflächlichsten  Betrachter  klar,  daß  auch  Zusammen- 
hänge ganz  anderer  Art,  soziale,  politische,  intellektuelle,  reli- 
giöse, sittliche,  jene  Tatsache  mit  haben  erzeugen  helfen.  Genug, 
wenn  wir  uns  bewußt  werden,  wie  stark  jener  eine  Zug  unsere 
Welt  bestimmt  hat. 

Das  gilt  sogar  für  die  bedeutsamste  Tatsache  der  jüdischen 
Gegenwart,  für  die  Flut  nationalen  Lebens,  die  uns  heute  trägt. 
In  einer  Kultur  der  Aufklärung  wäre  sie  nie  entstanden:  es 
ist  ja  keineswegs  so,  als  ob  die  Nation  da  war,  und  nur  vom 
Verstände  ihre  Anerkennung  heischte.  Als  vor  hundert  Jahren 
in  der  Napoleonischen  Epoche  Deutschlands  zuerst  wieder  in 
Europa  eine  nationale  Bewegung  im  heutigen  Sinne  des  Wortes 

*)  Ich  denke  hier  nicht  gerade  an  seine  Lehre  vom  „Geistigen  Zentrum"; 
hier  ist  das  Wort  „Geist"  nur  in  der  deutschen  Sprache  mißverständlich,  und 
man  träfe  den  hebräischen  Ausdruck  ebensogut,  wenn  man  von  einem  inneren 
Zentrum  spräche. 


Ili 


DAS  NEUE  JUDENTUM  UND  DIE  SCHÖPFERISCHE  PHANTASIE 

erwachte,  da  war  nichts  als  ein  zerstückeltes  Land  vorhanden, 
Elemente  gemeinsamen  geistigen  Lebens  und  die  Ohnmacht  einer 
kosmopolitischen,  einheitsgrauen  Weltanschauung.  Die  Vernunft 
hätte  sich  damit  schon  irgendwie  abgefunden,  die  Not  vielleicht 
eine  rein  staatliche  Neubildung  erzwungen,  aber  die  Phantasie 
bedurfte  der  Farbe,  des  geschlossenen  Bildes,  der  in  sich  ruhen- 
den Kraft,  der  Gemeinwille  entstand  und  —  schuf  die  Nation. 
Das  ist  der  tiefe  Sinn  der  idealistischen  Philosophie,  daß  die 
gestaltende  Idee  irgendwie  vorhanden  ist,  unabhängig  von  ihrer 
Verwirklichung.  Es  ist  eines  der  bösesten  und  schädlichsten  Miß- 
verständnisse, dem  wir  gerade  in  zionistischen  Aufsätzen  zu- 
weilen begegnen,  als  ob  die  Stimmung,  die  das  Wort  ,, national" 
begleitet,  einfach  auf  die  Tatsache  der  gemeinsamen  Abstam- 
mung zurückzuführen  sei.  Dann  freilich  hätte  Hermann  Cohen 
vielleicht  recht,  wenn  er  die  Nation  als  ein  bloßes  Gebilde  der 
Natur  den  Gebilden  des  Geistes,  dem  Rechte,  dem  Staate  gegen- 
überstellt. Vom  Blutzusammenhang  mag  das  gelten,  aber  der 
ist  eben  noch  nicht  notwendig  eine  nationale  Erscheinung.  Wie 
wenig  gerade  der  Jude  des  Mittelalters,  der  Orthodoxie,  der  Auf- 
klärung sich  als  völkisches  Gebilde  empfand,  obwohl  doch  das 
gemeinsame  Blut  vorhanden  war,  darauf  ist  bereits  zu  Anfang 
dieses  Aufsatzes  hingewiesen.  Aber  auch  ihn  erfaßte  der  schöpfe- 
rische Wille  der  Phantasie:  die  Nation  ist  die  Krone  ihrer  Schöp- 
fungen. Die  Nation,  die  keine  triebhaft-körperliche  Erscheinung 
ist,  die  einen  auf  Blut  und  Geschichte  beruhenden  funktionellen 
Kulturzusammenhang  darstellt,  der  den  Kulturinhalt  erst  formt. 
So  ward  der  Jude  der  Gegenwart.  Die  Blutzusammenhänge 
selber  freilich  sind  da,  anerkannt  oder  nicht,  ein  Naturgebilde; 
daß  sie  zur  Nation  werden,  zum  lebendigen  Träger  der  Entwick- 
lung, das  ist  unser  —  künstlerischer  —  Wille. 

Es  handelt  sich  hier  nicht,  das  dürfte  klargeworden  sein,  um  eine 
artistisch-ästhetische  Betrachtung,  —  die  Phantasie  erobert  sieb 
bereits  in  der  wissenschaftlichen  Psychologie  eine  Stellung  als. 
Grundlage  und  Grundstimmung  der  menschlichen  Seele.  Daß 
das  ErAvachen  der  schöpferischen  Phantasie  ein  europäisches  Er- 
eignis ist,  soll  uns  weder  stören,  noch  befriedigen:  von  uns  erst 
wird  es  abhängen,  ob  es  im  Sinne  des  Judentums  Früchte  tragen, 
wird  oder  nicht. 

ii6 


über  Pathos 

Von  Erich  Kahler 

„So  laßt  mich  scheinen,  bis  ich  werde." 

Die  menschliche  Rede  ist  niemals  so  leichtfertig  und  dünn- 
sinnig geübt  worden  wie  in  unseren  Tagen.  Bereits  mit  Absicht 
und  Willen  der  Geister  bewegt  sie  sich  in  Einzelarten  —  die 
wissenschaftliche,  die  künstlerische,  die  unmittelbar  agierende  — 
geteilt  und  noch  innerhalb  dieser  Arten  uneins  mit  der  Not- 
wendigkeit, von  der  sie  autorisiert  sein  soll.  Immer  mehr  und 
engere  Disziplin  betreiben  immer  niederer  und  kurzsichtiger 
an  der  Materie  hinschleichende  Untersuchungen,  die  schon  seit 
vieler  Folge  aufgehört  haben,  einem  Sinn  und  Wohl  des  tätig 
schreitenden  menschlichen  Lebens  zu  dienen.  Als  „Dichtung" 
erhalten  wir  täglich  eine  ungewählte  Menge  von  Geschichten, 
Theaterstücken,  Ergüssen,  welche  mit  vielen  leicht  genommenen 
und  leicht  gegebenen  Worten  alles  Flüchtigste,  Launischeste,  Per- 
sönlichste, ja  oft  vorsätzlich  das  Singulare  ausstellen,  offenbar 
für  Menschen  von  so  müßiger  Art,  daß  sie  die  kostbare  Zeit  und 
Aufmerksamkeit  des  einen  Lebens  an  dies  und  das  aus  jener 
Vergangenheit  und  solchem  Ort,  welches  in  keiner  Weise  auf 
sie  Beziehung  hat,  vergeuden  können.  Die  Reden  der  Beratung 
und  der  Unterhaltung,  welche  in  den  großen  Zeitaltern  nicht 
durch  Ton  und  Wesen,  sondern  nur  durch  den  stärkeren  oder 
schwächeren  Druck  des  Augenblicks  sich  unterschieden,  sind 
heute  dazu  da,  um  den  Wust  der  kleinlichen  Bedürfnisse,  den 
man  in  dieser  alles  verstehenden,  verzeihenden  und  nachgebenden 
Zeit  aufwuchern  ließ,  rastlos  zu  erledigen  oder  tatlos  und  unver- 
bindlich zu  beschwätzen. 

Solchen  Äußerungen  gegenüber  geht,  teils  schablonig,  teils 
brünstig  undeutlich  angefühlt,  ein  Allgemeines  um,  Namen  ab- 
gelebter Größe,  bei  denen  man  übereingekommen  ist,  daß  jeder 
sie  zu  jedem  ohne  Verantwortung,  aber  nur  an  besonderen 
Punkten  des  Lebens,  aus  dem  Täglichen  entrückt,  gebrauchen 
darf.  Man  verschmäht  es  nicht,  sich  damit  zu  schmücken  und  zu 
feiern,  man  verschmäht  es  oft  nicht,  als  letzte  Waffe  den  im 
Blute  der  Väter  mächtigen  Zauber  heraufzubeschwören.  Und  dies 
wirkt  nun  in  verderblichem  Kreis.  Die  Redlicheren  unter  uns 
drängt  von  solchem  Mißbrauch  der  Widerwille  so  weit  ab,  daß 


1 1' 


ÜBER  PATHOS 

sie  glauben,  in  ihrem  Ausdruck  nie  kleinsichtig  genug,  nie  dem 
Ding  nahe  genug  sein  zu  können,  daß  sie  die  Sache  mit  ihrem 
Detail,  Wirklichkeit  mit  Materialität,  Treue  mit  Kurzzügigkeit 
verwechseln.  Wahrheit,  Liebe,  Herkommen,  alle  ehrwürdigen 
Worte,  welche  durch  die  mannigfaltigen  Wandlungen  von  Ort 
und  Zeit  dem  menschlichen  Wesen  natürlich  notwendige, 
unumstößlich  ewige  Bedeutungen  hindurchtragen,  der  hohe  ein- 
fache, das  Menschliche  in  seinem  ganzen  Bereich  zusammen- 
haltende Ton  der  Vorfahren,  begegnen  dem  zweifelnden  Spott 
und  dem  ängstlichen  Abscheu,  wie  oft  gerade  der  zur  Wahr- 
haftigkeit geneigten  Personen!  Verblichen,  von  Lüge  angefärbt, 
vom  täglichen  Leben  längst  ungeprüft  und  unbestätigt,  ließ  man 
sie  zu  zerschlissenen  Standarten  werden,  die  nur  für  Prahlerei 
unwürdigen  Volkes  wehen.  Und  viele  Gemüter,  welche  bereits 
lebendig  als  Bedürfnis  und  Devotion  solches  in  sich  tragen,  wo- 
von hohe  Worte  der  Ausdruck  sind,  fühlen  verschämt  und  miß- 
trauisch, verborgen  und  verbergend,  unter  der  Äußerung  hinweg 
und  wollen  es  nicht  gesprochen  haben.  Die  Hingebung  eines  Ge- 
lehrten an  die  im  besinnungslosen  Fluß  der  spezialistischen 
Forschung  sich  stellende  Aufgabe  trägt  gewiß  manchmal  ein 
verstecktes  Brennen  für  ein  Allgemeines,  das  er  Wahrheit  nennt: 
ein  Wort  jedoch,  ein  Begriff,  in  dem  er  alles  und  nichts  versteht, 
zu  kostbar,  um  die  alltägliche  Geschäftigkeit  der  Hände  zu 
decken,  und  gerade  gut  genug,  um  bei  Promotionen  und  Inaugu- 
rationen, wo  keiner  mehr  an  die  Arbeit  der  Jahre  denkt,  als  ge- 
läufiges Dekorum  hinausgehalten  zu  werden.  Das  Flämmchen 
ehrlichen  Eifers  in  dem  konfusen  Überschwang  eines  beginnen- 
den Dichters,  eines  plänereichen  Jünglings,  welcher  in  einem 
verrotteten  Großstadtidiom  die  künstlichen  und  höchst  unwich- 
tigen Krisen  seiner  unerzogenen  Seele  oder  seiner  zufälligen  Um- 
gebung in  die  Welt  erzählt,  glüht  vielleicht  einem  nie  vor- 
gestellten Ungefähr  von  Schönheit  und  Kunst.  Doch  ihm  ist 
weder  ernst  bewußt,  zu  welchem  in  das  Herz  der  Menschheit 
wirkenden  Sinn  er  zu  reden  sich  anschickt,  noch  was  Kunst,  was 
Schönheit  dem  Herzen  der  Menschheit  bedeuten.  Jedenfalls  wird 
er  vermeiden,  seine  Rede  aus  edlen  Worten  zusammenzusetzen, 
denn  die  edlen  Worte  sind  ihm  hohl  und  trivial  und  sie  drücken 
ja  „die  moderne  Wirklichkeit"  nicht  aus.  Und  wer  wird  vollends 

ii8 


ÜBER  PATHOS 

heute,  wie  sehr  auch  das  Gefühl  der  Öde,  der  Trostlosigkeit 
unserer  Tage  in  manchem  anschwillt,  wer  wird  im  „gewöhn- 
lichen" Leben  es  wagen,  frei  und  einfach  herauszusprechen,  daß 
er  liebt,  daß  er  glaubt,  daß  er  wieder  Held  sein  will? 

Worte  aber,  Begriffe  sind  nichts  an  sich,  hinter  ihnen  harren 
—  wenn  auch  für  manche  Menge  in  mancher  Ära  verfälscht  und 
machtlos  —  die  lebendigen  Bedeutungen,  bereit,  innerlicher  zu  be- 
wirken, was  die  Worte  nur  sachte  anrühren.  Die  erhabene  Rede 
ist  aus  unserem  täglichen  Leben  verkommen,  und  was  in  ihr  und 
mit  ihr  ferne  bleibt,  ist  die  erhabene  Tat.  Die  richterlichen  Be- 
griffe sind  verwiesen  in  solchen  Abstand  von  dem  Werk  unsrer 
Hände,  daß  sie  nicht  mehr  überschauen,  nicht  mehr  als  ernste 
Gewalten  geglaubt  werden  können.  Wie  man  die  Welt  will,  nennt, 
zumutet,  so  ist  sie,  so  wird  sie:  Begnügt  sich  eine  Menschheit, 
mit  den  wimmelnden  heutigen  Namen  geschwätzig  zu  sein,  mit 
denen  sie  die  viel  zu  vielen  willkürlichen  Erzeugnisse  ihrer 
Fertigkeit  bezeichnet,  schöpft  sie  sich  nicht  immer  neu  aus  den 
Erinnerungen  der  höheren  schöpferischen  Mächte,  denen  sie 
unterliegt,  so  wird  ihr  die  Welt  immer  niederer  und  niederer 
selbst  als  die  eigene  Fähigkeit  sich  entwickeln.  Läßt  sie  jedoch 
die  stolzen  Bilder  wieder  ein  in  das  Geheg  ihres  Daseins,  daß 
sie  messend  und  nah  die  Geschäftigkeit  des  Tages  begleiten,  so 
müssen  diese  Bilder  wahrer  und  deutlicher,  das  aus  ihnen  be- 
strahlte Handeln  aber  muß  größer  werden.  Lernt  eine  Jugend 
nur  das  Grob-Sinnfälligste  faßbar,  ausdrückbar,  bewirkbar  zu 
meinen,  alle  hohen  Worte  hingegen  und  weiter  das,  was  sie  in 
sich  tragen  können,  mißtrauisch  und  mit  äußerstem  Zweifel  an- 
zuschauen, ist  sie  dazu  gedrängt,  gleich  ihren  ersten  Enthusias- 
mus in  Kramerei  versanden  oder  in  zag -sentimentaler  Scham 
namenlos  innen  verquellen  zu  lassen,  so  wird  die  Kleinheit  des 
Anspruchs  sie  wieder  in  fortgezeugte  Kleinheit  des  Fühlens  und 
Leistens  niederdrücken.  Lehrt  man  die  Jünglinge  aber  sich  so 
mächtig  zu  äußern  wie  sie  fühlen  können  und  handeln  wollen, 
und  nimmt  man  ihre  Äußerung  wieder  so  ernst  und  gewichtig, 
ja  immer  ernster  und  schwerer  verpflichtend  als  sie  gegeben  ist, 
so  wird  diese  ihre  Sprache,  alles  Leben  zu  sich  emporreißend, 
noch  größer  im  Bewähren  sein  denn  im  Geloben. 

Es  darf  indes  nicht  verstanden  werden,  daß  wir  ein  schon 


119 


ÜBER  PATHOS 

vollendetes  und  historisches  Pathos,  die  hohe  Rede  irgendwelcher 
Vorfahren  in  unsere  Gegenwart  hereinbeziehen  mögen,  uns  er- 
ziehen an  den  Begriffen,  wie  sie  andern  aus  andern  Notwendig- 
keiten heraus  gegolten  haben;  sondern  daß  wir  ein  eigenes  Pathos 
uns  schaffen  sollen:  Das  Ewige  nicht  in  schon  geprägten  ir- 
dischen Formen  übernehmen,  aber  zu  unserer  Form  aus  unserem 
Leben  täglich  und  stündlich  hervorwirken.  Nicht ,, Ideale"  werden 
uns  frommen,  fertig  aufgestellte  Transzendenzen,  zu  denen  wir 
ohne  Verpflichtung  sie  je  zu  erreichen  emporstreben  mögen, 
sondern  die  der  menschlichen  Fähigkeit  einruhenden  reinen  und 
unwandelbaren  Mächte,  welche  wir  befreien  und  mit  jeder 
Regung  unserer  Finger  zur  Gestalt  bringen  sollen.  Und  nicht 
als  ein  mähliches  Annähern  an  ein  Äußeres  stellt  sich  die  nötige 
Arbeit  dar,  hingegen  als  ein  augenblickliches,  immer  neues  und 
gründiges  Herausbauen  unseres  Innern. 

In  ihrer  Anwendung  auf  den  wirklichen  Vorgang  bedeutet 
die  erkannte  Forderung  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als:  Sach- 
lichkeit im  allerstrengsten  Verstand.  Sachlichkeit  nach  der  einen 
Seite  gegenüber  jenen  Ängstlichen  und  Verschämten,  welche  an 
der  Offenbarung,  ja  an  der  Existenz  höchster  Einheiten  zweifeln; 
gegen  diese  muß  behauptet  werden,  daß  es  Detail  an  sich  nicht 
gibt  und  daß  ein  Glied,  welches  vom  Ganzen  nichts  weiß,  nicht 
Glied  mehr  ist,  sondern  aus  jeder  Ordnung  losgelöstes  einzelnes. 
Sachlichkeit  nach  der  andern  Seite  gegenüber  den  Lügnern  und 
Schwärmern,  welche  die  schwersten,  dichtesten,  verantwortungs- 
vollsten Namen  leichthin  und  dämmerhaft,  ohne  die  vollste 
Deckung  durch  greifbares  Leben  gebrauchen;  gegen  sie  muß 
verteidigt  werden,  daß  Allgemeines,  Ewiges,  Zeitloses  nicht  be- 
steht, sofern  es  nicht  aus  unserem  Hier  und  Heut  und  So,  sich 
und  unser  Sein  beglaubigend,  entsteigt  und  daß  nichts  Macht 
auf  uns  hat,  was  nicht  Macht  aus  uns  ist. 

Sachlichkeit  bedeutet  eine  Einstellung  von  vornherein  eines 
jeglichen  Tuns.  Jeder  vor  seinen  Unternehmungen  mag  sich 
wieder  die  höchsten  und  einfachsten  Fragen  vorlegen:  VV^ie  einer, 
der  in  unübersehbarer  Gegend  sich  verirrt  hat,  den  Plan  des 
Landes  vor  sich  aufbreitet  und  aus  den  W^eltrichtungen,  aus  den 
ihn  umgebenden  Formen,  aus  der  Witterung,  dem  Gang  der 
Gestirne  und  der  eigenen  Fähigkeit  sich  zusammenruft,  wie  er 


I20 


ÜBER  PATHOS 

kam,  wie  er  steht,  wie  er  gehen  soll;  nicht  anders  mag  jeder 
Weltenwanderer  inmitten  der  unzähligen  Wege  von  heute  seine 
Bedingungen  um  sich  versammeln.  Er  mag  diese  Welt  zu  den 
übrigen  Welten,  diese  Zeit  zu  den  übrigen  Zeiten,  sich  selbst, 
seine  Familie,  sein  Volk  unter  anderen  betrachten,  und  das  Über- 
schauen der  ganzen  Umgebung  im  weitesten  Kreise  wird  ihn 
sicher  zu  den  letzten  bewegenden  Mächten  leiten.  Und  diese 
werden  ihn  lehren,  wo  er  abgeirrt  ist  und  welcher  Weg  ihn  zu 
seinem  Gedeihen  führt,  welches  Wissen  hierzu  er  allein  aber 
unbedingt  braucht,  in  welchem  Verhältnis  er  sich  zu  dem  lieben- 
den Walten  der  Gestirne  rühren  muß  und  darf,  welche  Ver- 
teilung der  Kräfte,  von  Mühe  und  Ruh  seinen  Gang  zu  einem 
schönen,  stolzen,  sich  selbst  genießenden  macht.  Und  ihm,  dem 
wieder  durch  sein  immerwährendes  Absehen  die  ewigen  Größen 
der  Natur  einfach  und  geläufig  sind,  wird  der  Gesang  und  die 
Frage  und  Antwort  seines  Weges  von  ihren  erhabenen  Namen 
und  der  Nähe  ihres  Wirkens  tönen.  Dann,  wenn  er  sein  Geschick 
bis  in  die  geringsten  Fälle  hinein  nicht  blind  vertändelt  noch 
stumpf  erschleppt,  sondern  wach  und  elastisch,  seiner  Kräfte 
und  unzerstörbaren  Hilfskräfte  sich  bewußt,  aus  den  göttlichen 
Quellen  erleidet,  dann  wird  seine  Rede  befeuertes  und  wieder- 
befeuerndes Pathos  sein,  ohne  daß  er  sich  dessen  versieht. 

Diese  Worte  sind  dringender  als  an  andere  junge  Menschen 
unserer  Zeit  an  die  Juden  gesagt.  Allzuviel  sah  man  sie  als  Bei- 
spiel und  Führer  der  Skepsis  vor  andern  Völkern,  und  heute 
noch  bezeichnet  eine  wenn  nicht  materiale,  so  logisierende 
Ängstlichkeit  die  meisten  der  von  ihnen  beherrschten  ernsteren 
Zentren.  Unbegabung  für  das  Subalterne,  Mißtrauen  gegen  ewige 
Gültigkeiten  reißt  sie  oft  hin  und  her,  und  anstatt  daß  alle  ihre 
Kräfte  in  die  nur  eine  hohe  Vernunft  gesammelt  eingehen, 
windet,  überwindet  sich  rastlos  ihr  hungerndes  Streben  um  die 
großen  Einheiten  herum  in  Verstand.  Möge  endlich  unser  Volk 
an  seinem  eigenen,  in  unvergleichlichen  Altern  bis  heute  nicht 
löschbaren  Feuer  sich  wieder  zum  Ewigen  emporlernen,  möge 
es  für  die  kommende  Zeit  Beispiel  und  Führer  im  Glauben  sein! 


121 


Jüdische  Romantik 

Von  Alfred  Wolff 

V  on  einem  objektiv  faßbaren,  allgemein  gültigen  Lebensgefühl 
des  heutigen  oder  von  einem  auch  nur  ahnbaren  Weltgefühl  des 
kommenden  Juden  zu  sprechen,  so  wie  man  in  den  Zeiten  des 
Ghetto  und  andererseits  in  den  Zeiten  der  Assimilation  bei  aller 
Differenziertheit  doch  eine  Art  einheitlicher  Grundstimmung, 
Weltbetrachtung  konstatieren  konnte,  ist  heute  fast  unmöglich, 
da  sich  in  der  Gärung  der  Zeit  und  des  Judentums  in  dieser 
Zeit  nicht  mit  absoluter  Allein-  oder  Allgemeingültigkeit  sagen 
läßt,  wohin  die  zwingenden  Kräfte  weisen  und  wo  die  erlösenden 
Gewalten  liegen.  Und  doch  schälen  sich  seit  dem  Ende  des 
19.  Jahrhunderts,  als  Symbol  und  Symptom  eines  neuen  jüdi- 
schen Zeitalters,  das  den  Juden  und  der  Welt  tiefere  und  reinere 
Formen  und  Inhalte  hervorzubringen  willens  ist,  organisch  ge- 
wachsene Tendenzen  und  gesetzmäßig  fundierte  Ideen  heraus, 
welche,  im  Zeitgefühl  verwurzelt,  mit  formkräftiger  Wesens- 
umprägung  versuchen,  den  Juden  das  Bewußtsein  von  und  den 
Willen  zu  unerhörten,  über  ihr  bisheriges  Können  weit- hinaus- 
reichenden Möglichkeiten  und  Erfüllungen  zu  geben.  Diese  Ge- 
dankengänge, als  Ideologie  noch  wenig  theoretisch  begründet,  als 
praktische  Notwendigkeit  erst  allmählich  zum  Bewußtsein  ge- 
bracht, entsprangen  neben  wirtschaftlichen,  politischen  und  vor 
allem  geistesgeschichtlichen  Grundlagen  dem  Zusammenprall 
zwischen  dem  neuen  Weltgefühl,  das  heute  dank  ungeahnter 
Erweiterungen  des  technischen,  aber  auch  seelischen  Horizontes 
die  Menschen  umfängt,  und  auf  der  anderen  Seite  dem  jüdischen 
Lebensgefühl,  das  in  einer  gefährlichen  Krise  begriffen,  seine 
Lebenskräfte  an  andere  zu  verlieren  im  Begriffe  war. 

Gegen  diesen  Selbstmordversuch  erhob  sich  als  Reaktion  die 
große  Bewegung  im  heutigen  Judentum,  welche  rein  politisch 
in  der  wahrhaftesten  und  konkretesten  Form  des  Zionismus  sich 
niederschlug,  der  als  erster  wieder  das  gesamte  Judentum  traf 
und  band,  und  welche  kulturell  in  dem  Renaissanceprozeß  ver- 
suchte, aus  Selbstbesinnung  und  Wertgefühl,  aus  der  Ewigkeit 
des  Einst  und  der  vorwärts  führenden  Sehnsucht  nach  Juden- 
tum schöpferisch  zu  wirken.  Wie  weit  dieser  psycho-physische 
Parallelismus  von  Volk  und  Kultur  sein  Ziel  erreicht  hat  oder 


122 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

in  unseren  Tagen  erreichen  wird,  geht  uns  hier  nichts  an,  woi 
es  mehr  darauf  ankommt,  die  Argumentation  dieser  ganzen 
Weltbetrachtung  durch  schärfere  Betonung  einschlägiger  Ge- 
danken zu  vertiefen,  durch  Erkenntnis  und  Forderungen  das 
Bleibende  und  das  Überwindbare  festzustellen. 

Die  Ideen,  aus  denen  sich  die  Erstarkung  und  neue  Zielsetzung 
der  Judenheit  von  heute  und  morgen  ihre  Waffen  geschmiedet 
hat,  gruppieren  sich  bewußt  oder  unausgesprochen  um  einen 
Begriff,  der  zu  den  großen,  schöpferischen  und  notwendigen 
Gedanken  der  Geistesgeschichte  gehört,  den  des  Romantischen. 
Von  seinem  Gehalt  und  Wert  in  unseren  Tagen  zu  sprechen, 
erscheint  überflüssig,  da  heute  der  Zug  der  Zeit  in  tausend  Ver- 
zweigungen und  Brechungen  auch  für  den  Unempfindlichen 
spürbar,  für  den  Kundigen  eine  Selbstverständlichkeit  fast,  von 
romantischen  Empfindungen  getränkt  ist,  und  da  das  Bewußt- 
sein dessen,  was  kommen  wird,  des  Anfangs,  den  wir  bilden, 
stärker  als  je  in  den  Rhythmus  des  Lebens  und  in  das  Pathos 
des  Denkens  sich  eingesenkt  hat.  Dabei  soll  nicht  darauf  hin- 
gewiesen werden,  wie  stark  unter  den  Deutern,  Fortführern  und 
Erneuerern  der  Romantik,  die  in  unseren  Tagen  eine  Renaissance 
feiert,  das  jüdische  Element  vertreten  ist,  noch  auch  mit  der  apo- 
logetikgefärbten Lüsternheit  des  assimilierten  Juden  daraus  ein 
Wertmaßstab  für  geistige  Fähigkeiten  des  Juden,  ja  nicht  einmal 
ein  Kriterium  seiner  spezifischen  Begabung  hergeleitet  werden. 
Man  übergehe  auch  die  Modedinge  des  literarischen  Lebens,  von 
denen  ein  gut  Teil  in  die  neuromantische  Literatur  des  Jahr- 
zehnts sich  verflüchtigt  hat,  und  man  wird  doch  nicht  verkennen, 
daß  hinter  der  Etikette  und  dem  Schlagwort  von  der  Romantik 
ein  tiefer  Drang  nach  neuen  Formen  rückwärts  gewandte  Wege 
geht;  man  wende  sein  Ohr  den  Stimmen  zu,  die  auf  Irr-  und 
Abwegen,  auf  Wegen  aus  weiter  Ferne  einer  religiösen  Erneue- 
rung wieder  das  Wort  reden;  man  wende  sich,  um  soziale  Er- 
scheinungen zu  betrachten,  den  Gedankengängen  zu,  mit  denen 
die  Intellektuellen  des  Zeitalters  die  Anschauungen  des  Fort- 
schritts bekämpfen,  in  Kämpfen,  die  mehr  sind  als  der  ewige 
Kampf  der  Jungen  gegen  das  Philistertum  aller  Zeiten.  Und 
man  schließe  den  Kreis,  um  von  den  politischen,  technischen  Be- 
rührungspunkten   mit   der   Romantik    zu    schweigen,    mit    dem 

123 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

Streben  nach  philosophischer  Weltanschauung,  wie  sie  nicht 
bloß  im  Juden  Bergson  und  nicht  in  ihm  allein  den  romantischen 
Gedanken  erneut,  erweitert  und  über  sich  emporgehoben  hat. 

So  lehrt  eine  kurze  Überschau,  wie  stark  und  im  Vordringen 
heute  der  romantische  Gedanke  in  allen  Abtönungen  ist,  an 
dessen  Erneuerung  Juden,  teils  als  Vermittler,  teils  als  Erweiterer 
beteiligt  sind,  mit  der  unbewußten  Zugehörigkeit  zu  einer  Ge- 
meinschaft, die  es  nunmehr  ablehnt,  nur  Mittler  zu  sein,  selbst 
im  Goetheschen  Sinne,  und  die  über  Vorläufer  hinaus,  zur  ak- 
tiven Entfaltung  kommen  will.  Das  tut  sie,  indem  sie  diesen  Ge- 
danken, der  die  Zauber-  und  Wünschelrute  in  Händen  trägt,  ver- 
borgene Schätze  des  eigenen  Könnens  und  der  eigenen  Seele  ans 
Tageslicht  zu  fördern,  in  sich  aufsaugt.  Freilich  muß  man  den 
Begriff  auch  so  weit  fassen,  wie  er  es  in  seiner  Blütezeit  bean- 
spruchte, wie  er  heute  sich  in  vielen  Formationen  unserer  Welt 
neu  prägt;  man  darf  ihn  nicht  fassen  als  schamhafte  oder  scham- 
lose Träumerei  versinkender  Menschen,  denen  Dämmerung  und 
Abend  und  Untergang  geweihte  und  heilige  Dinge  sind,  die  müde 
sind  und  zur  Ruhe  wollen  und  ein  Ende  leben,  noch  einmal 
Wirrnisse  und  Erlebnisse  des  Tages  voll  naiven  Gefühls  oder 
voll  Raffiniertheit  an  ihrem  Auge  vorüberführen  als  Bilder,  als 
Gewesenes  oder  Gebrochenes;  Menschen,  die  nur  Beziehungen 
in  ihrer  Geschichte  sehen  von  außen  her,  wo  es  doch  gälte,  wesen- 
haft zu  werden,  den  Morgen  und  den  kommenden  Tag  zu  lieben 
und  frisch  zu  sein  und  zukunftsfürchtig,  zukunftstätig,  zum 
Herrschen  bereit.  Deshalb  nehme  man  den  romantischen  Ge- 
danken als  die  erlösende  und  entbindende  Kraft,  die  über  Ge- 
dachtes zur  Tat  kommen  will  —  und  unsere,  die  jüdische  Ro- 
mantik, besonders  ist  hindurchgegangen  durch  das  eiserne  Zeit- 
alter der  Politik  und  des  Kapitalismus  und  der  Organisation; 
man  fasse  die  romantische  Kraft  als  eine  Gewalt,  die  nicht  immer 
imstande  ist  (es  sei  denn  auf  Umwegen),  Welten  zu  vernichten 
und  neue  an  die  Stelle  zu  setzen  (wenn  sie  und  weil  sie  leicht 
gebrochen  wird  von  Traum  und  Wort  und  Geist),  die  aber  wohl 
imstande  ist,  im  unbändigen  Drang  die  Schlösser  zu  entriegeln, 
die  vor  dem  eigenen  Selbst  liegen,  und  die  Wege  deutlich  zu  zeigen, 
auf  denen  die  Seele  zur  Höhe  gelangt. 

Aus  allen  diesen  Gesichtspunkten  ergibt  sich,  daß  Romantik 

124 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

eine  von  Sehnsucht  getränkte  Idee  ist,  die  das  Suchen  über 
die  Erfüllung  stellt,  den  Wandel  und  die  Erregung  über  die 
Sättigung  und  über  die  Blässe,  die  Gemeinschaft  der  Zu- 
sammengehörigen, der  gleich  Empfindenden  als  Zentrum  des 
Volkes  über  die  individualistische  Isolierung  des  einzelnen  und 
über  die  unorganische  mechanische  Verbundenheit  der  Masse; 
sie  ist  eine  von  den  ew^igen  ehernen  großen  Ideen,  die  der 
Welt  zu  eigen  und  über  sie  Herrscher,  des  Daseins  Kreise 
und  Gesetze  bestimmen.  So  kommt  sie  auf  ihrem  Lauf  durch 
die  Welt  zu  Zeiten  und  Völkern,  berührt  sie  sich,  herab- 
gestiegen aus  ihrer  Höhe,  mit  dem  Zeitgefühl  und  der  Volksart, 
und  aus  diesem  Zusammenprall  ergibt  sich  die  neue  Orientierung, 
aus  der  ein  tendenz-gerichteter  Wille  und  eine  andersartige  For- 
mation des  Geistes  und  des  Lebens  herauswächst.  Und  es  ist  klar, 
daß  die  Idee  der  Romantik  w^ie  jede  Idee  bei  jedem  Volke,  d.  h. 
bei  einer  traditions-belasteten,  eigen-gebundenen,  prädestinierten 
und  selbst-orientierten  Gemeinschaft,  zu  jeder  Zeit  eine  eigen- 
artige Prägung  erhält,  andere  Richtung  enthält.  So  ist  unser 
jüdisch-romantisches  Empfinden,  weil  bedingt  vom  Judentum 
und  von  der  Welt,  ein  anderes,  als  das  romantische  Empfinden  vor 
IOC  Jahren,  dem  Juden  bei  ihrem  Eintritt  in  die  neue  Gesell- 
schaft, an  die  die  meisten  sich  mechanisch,  die  wenigsten  sich 
organisch  anknüpften,  mit  heißer  Inbrunst  und  aufgesogener 
Hingabe  sich  weihten;  und  die  Worte  dieser  Zeit  und  ihre  Be- 
griffe, die  heute  wieder  stärker  bis  zur  Abgegriffenheit  in  unser 
Bewußtsein  eindringen,  gelten  für  uns  nur  als  völker-psycho- 
logische  Parallele  und  bedeuten  weder  eine  Übertragung  der  Ter- 
minologie noch  der  Ideologie,  noch  eine  entschuldigende  Grund- 
lage oder  Anknüpfung. 

In  Wahrheit  verknüpft  sich  nämlich  dies  romantische  Emp- 
finden unserer  jüdischen  Zeit  mit  alten,  stets  wieder  hervor- 
gebrochenen, reinen  oder  rohen,  offenen  oder  verborgenen 
Geistesgesetzen  der  Judenentfaltung:  Es  ist  das  stark  jüdische 
Sehnsuchtsgefühl,  das  emportreibend,  aber  auch  gestaltend  sich 
in  echter  Romantik  Pfeiler  geschaffen  hat,  auf  denen  ganze 
Zeiten  des  Judentums  ruhten:  Den  Mystizismus  als  aufwärts  ge- 
wandte, die  Zionssehnsucht  als  rückwärtsgewandte,  den  Messia- 
nismus  in  seiner  hehrsten  und  heiligsten  Form  als  die  vorwärts- 

125 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

gewandte  Bewegung,  im  Vergleich  zu  der  der  moderne  Missions- 
gedanke, solange  er  so  quietistisch-passiv,  für  die  eigenen  Be- 
kenner  unverbindlich  bleibt,  nur  eine  Karrikatur  bedeutet. 

Aber  neben  diese  von  der  Romantik  gefärbte  Formation  des 
jüdischen  Wesens  stellte  sich  die  falsche  Romantik  mit  ihren 
verkleinernden,  verengenden,  aus  Tagesleid  geborenen,  an  Tages- 
leid gebundenen,  aber  über  den  Tag  hinaus  in  die  Judenpsyche 
eingenisteten  Zügen:  Es  genüge  an  die  Zwie-  und  Mehrspältig- 
keit  seines  Wesens  zu  erinnern,  an  seine  vielseitige  Schauspiel- 
haftigkeit,  durch  die  sein  sonst  intellekt-belasteter  Sinn  verirrt 
und  verwirrt  wurde.  So  wurde  er  ein  Virtuose  der  Vielheit  (in 
Ungarn  geboren,  in  Deutschland  Patriot),  die  ihn  stärker  als  jedes 
andere  Wesen  die  Unmöglichkeit  des  Eigenwerdens  und  die  Zer- 
rissenheit des  Lebens  am  eigenen  Schicksal  erkennen  ließ.  Aus 
dieser  Erkenntnis  wuchsen,  verbunden  mit  der  schutzsuchenden 
Abwehr  gegen  die  äußeren  Feinde,  die  Surrogatempfindungen 
der  unfruchtbaren  Ironie,  die  ohne  aufbauende  Elemente  war, 
der  nur  selten  plastische  Humor  und  der  nie  schöpferische 
Weltschmerz,  der  hart  und  zerrüttend  oder  aber  weich  und  zer- 
schmelzend den  einzelnen  und  die  Vielheit  zum  Untergang  und 
zur  Zerreibung  führte.  Und  dazu  traten  später  noch,  zur  Patho- 
logie des  Juden  gehörig,  das  Schwerpunkt-  und  rückgratlose,  von 
Wurzellosigkeit  zeugende  Bildungsbedürfnis,  das,  ursprünglich 
nicht  unedel,  in  seiner  unheimlichen  und  heimatlosen  Ausdeh- 
nung ein  Ersatz  für  eigenes,  geistiges  Gesamtleben,  mit  seiner 
Orientierung  an  fremden  Werten  eigenes  Können  unterschätzte. 
Und  dem  gegenüber  stand,  ein  Zeichen  unechter  Klassik,  das  auf 
der  Fiktion  aufgebaute  Missionsideal  mit  seiner  uferlosen,  über- 
heblichen Übertreibung,  das  mit  Stimmungen  und  Geistesgesetzen 
der  ersten  Jahrzehnte  des  19.  Jahrhunderts  verwurzelt,  damals 
seine  endgültige  Form  erhalten  hatte.  Dieser  falsche  Klassizis- 
mus, der  mit  der  falschen  Romantik  hier  zusammengenommen 
sei,  weil  sie  beide  aufhaltende  und  verwirrende  Ingredienzen  ins 
jüdische  Blut  und  Wesen  getragen  haben,  spiegelte  sich  auch  in 
anderen  Umbildungen  der  jüdischen  Gemeinschaft  wieder,  die, 
scheinbar  fern  von  allen  Gesetzen,  wie  keine,  die  die  Erde  trägt, 
bei  aller  Stärke  doch  die  schwächste  ist,  die  bei  aller  innerlichen 
Verbundenheit,  doch  nicht  zu  sich  selbst  kommen  kann,  die  ewig 

126 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

ist  und  doch  nicht  in  die  nahe  Zukunft  blicken  kann,  ohne  Ge- 
fahr und  ohne  Sorgen,  die  vom  Alten  lebt  und  das  Neue  nicht 
will,  nicht  sieht,  noch  nicht  kann.  Diese  Klassik,  die  satt  ist,  die 
sich  umgibt  mit  bestimmten  Werten,  erkennt  ihr  Volk  nur  in 
Feiertagsstunden  und  spricht  echohaft  von  Werten,  die  einst 
Ideal,  jetzt  Idol  w^erden  und  Götze,  hart,  grausam,  unkenntlich 
und  unentrinnbar.  In  dieser  Auffassung  bedeutete  Klassik  etwas 
Abgeschlossenes,  das  doch  nur  Wert  hätte,  wenn  es  erneuert, 
vom  Piedestal  heruntergenommen  und,  bei  aller  Ehrfurcht,  in 
die  Kämpfe  des  Lebens  hineingezogen  wird;  und  in  diesem  Sinn 
machte  die  Zeit  Moses  Mendelssohns,  dessen  Kinder  sich  taufen 
ließen,  und  ihrer  Nachkommen  für  ihre  Zeit  und  für  ihre  Kreise 
das  Judentum  klassisch,  tot,  zum  Prunkmahl  für  die  Gelegenheit. 

So  bohrten  sich  im  Wesen  und  in  der  Geschichte  des  Juden 
als  Form  und  Farbe,  und  manchmal  als  Norm  Züge  ein,  welche 
nicht  so  sehr  in  seinen  Lehr-  und  Jugendjahren  geschaffen 
waren,  die  für  unser  Empfinden  nur  ein  Anfang  sind,  kein  Ab- 
schluss,  eine  Grundlegung,  keine  Festlegung,  sondern  die  in  den 
Wander  Jahren  entstanden,  da  das  Exil  die  entwurzelten  jüdi- 
schen Menschen  aufnahm,  und  in  erdrückender  Weise  die  Seele 
des  Volkes  zermürbte.  Von  da  an  zog  Unreinheit  und  Unfroheit 
in  seine  Art  ein,  Eigenschaften,  die  vorher  gedämpft  wie  ein 
spielender,  leise  klingender  Ton  in  der  Seele  geruht  und  ge- 
schlummert hatten;  da  zog  er  voll  Unrast  durch  die  Lande  im 
ewigen  Wandern,  mit  müdem  Schritt,  nicht  wie  der  Handwerks- 
bursche mit  dem  Land  verwachsen,  und  nicht  wie  der  Kolonist 
mit  der  erobernden  bewußten  Gier  des  Tätigen,  sondern  gejagt 
und  geschüttelt. 

Aber  diese  Zeiten,  in  denen  der  Jude  alles  Leid,  das  die  Welt 
vergeben  kann,  in  sich  aufgespeichert  hat,  in  denen  der  Jude 
alle  Taten,  die  die  Welt  geübt,  mit  wachem  Blick  als  Zuschauer, 
und  nur  selten  als  tätiger,  stets  als  Diener  der  anderen  und  von 
ihrem  Willen  bestimmt,  beobachtet  hat,  diese  Zeiten  nähern  sich 
dem  Ende,  und  die  Zeit,  in  der  wir  heutigen  Juden,  westöstliche 
Menschen  y.ar  i^oyJ]v^  leben  und  in  der  wir  anfangen,  in  Ge- 
danken und  in  Werken  unser  eigenes  Leben  zu  leben,  ist  das 
Übergangsalter.  Wir  werden  reif,  wir  sind  reif  und  spüren,  daß 
wir  zu  unseren  Herren-  und  Meister  jähren,  wie  wir  sie  noch  nie 

127 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

in  unserer  Vergangenheit  geschaffen  haben,  kommen  werden,  und 
aus  dem  Chaos  der  Zeiten,  das  sich  in  unserer  Seele  zusammen- 
geballt hat,  treten  schärfer  und  reiner  die  Linien  eines  reinen 
Kosmos  hervor. 

Auf  diese  Weise  deuten  wir  die  Bestimmung  der  Zeit,  in  der 
tausend  Kräfte  sich  regen,  mit  einem  Optimismus,  der  mehr  ist 
als  Predigt,  mehr  als  Glaube,  mehr  als  Schauen;  er  ist  der  Mut, 
alles  zu  wünschen,  alles  zu  können;  er  ist  Zuversicht  und  Da- 
sein, er  ist  Bereitschaft  und  Tat,  er  ist  Wille  und  Erfüllung,  er 
gibt  Forderungen  und  Pflichten  um  unsertwillen  und  der  Welt. 
Aus  den  beengenden  und  umspannenden  Bindungen  mechanisti- 
scher Weltanschauung  löst  sich  das  starke  Eroberergefühl,  das 
abseits  vom  stets  Dagewesenen,  das  nichts  Neues  unter  der  Sonne 
kannte,  neues  Pathos  in  Wort,  Tat,  Lebensführung  herbeibringt, 
das  lebensbejahend  im  höchsten  Sinne  an  das  glaubt,  was  vor 
uns  liegt,  aber  auch  glaubt  und  weiß  um  gewaltige  schlummernde 
Potenzen,  die  im  Wirbel  und  der  Mitgerissenheit  der  Welt  die 
ruhenden  Pole  gewähren.  So  zeigen  sich  ideologisch  und  prin- 
zipienhaft  die  Ziele,  die  nach  abwärts  gerichteten  Zeiten  des 
Judentums  einmal  aufzustellen,  schon  genug  gewesen  wäre.  Von 
ihrer  geschichtlichen  Berechtigung,  von  Parallelen  und  Voraus- 
setzungen und  von  unserer  jüdischen  Zeit  seelischer  Situation 
sei  noch  einiges  gesagt. 

Es  war  vor  mehr  als  loo  Jahren,  da  wurde  von  solchen  Trieben 
und  Tendenzen  und  ähnlichen  Meinungen  der  Zeit  und  Meinun- 
gen über  die  Zeit  die  weitwirkende  Bewegung  des  romantischen 
Gedankens  beeinflußt,  die  später  der  Umbildung  des  deutschen 
und  überhaupt  des  modernen  Menschen  so  wesentliche  Impulse 
zuführte.  Damals  pochte  der  romantische  Gedanke,  er  nicht 
allein,  aber  er  am  stärksten,  hellsten  und  sozialsten,  an  das  Irra- 
tionale im  Menschen;  er  rief  die  unterirdischen  Bindungen,  die 
tief  im  Ursprung  der  Seelen  beschlossen  liegen,  zum  Kampf 
gegen  die  Oberfläche  auf.  Er  wandte  sich  an  die  letzten,  inner- 
lichen Abgründe,  aus  denen  da,  wo  sie  verborgen  sind,  den  ur- 
ewigen Müttern  gleich,  des  Lebens  Blutströme  in  ewig  fließender 
Erneuerung  aufsteigen;  er  pochte  in  Wort  und  Werk  an  den 
Volksgeist,  an  das  national  fundierte  Empfinden,  das  in  der 
Kette  angefügter  Geschlechter  den  Menschen  der  Zeit  so  schuf. 

128 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

Von  hier  aus  ging  der  Weg  dazu,  Religion  zu  suchen  und  zu 
erleben,  Mythologie  in  Märchen  und  Legenden,  in  Künsten  und 
Werken  aufzubauen,  die  Wissenschaft  zu  begründen,  welche  dem 
Logos,  dem  Wesen  des  deutschen  Menschen  voll  Liebe  und  heili- 
ger Kritik  nachspüren,  seine  Verwurzelungen  im  Einst  auf- 
decken, seine  Ausweitungen  in  Zeit  und  Zukunft  pflegen  und 
fördern  sollte.  Von  hier  aus  ging  der  Weg  in  der  vorwärts  ge- 
wandten Freude  am  eigenen  Selbst  über  manche  Verirrungen, 
über  Burschenschaftsrauheit,  über  schwärmerische  Verranntheit 
dahin,  wo  es  galt,  dem  neuen  deutschen  Menschen  das  Land  zu 
bauen  in  reiner  Freiheit,  daß  er  sich  eins  und  Herr  und  mächtig 
fühle,  und  auf  dieser  Grundlage  in  eigenartigem  Erlebnis  ein 
neues  seelisches  Deutschtum  zu  schaffen. 

Das  Problem,  das  hier  an  diesem  Schulfall  so  ausführlich  ent- 
wickelt wurde  und  bei  jeder  entscheidenden  Volks-  und 
Menschenwandlung  ähnlich  liegt,  trägt  für  die  Neuformung  des 
jüdischen  Menschen,  auf  die  wir  hier  steuern,  ähnliche  Züge  (so- 
weit auf  die  abnorme  Gestalt  jüdischer  Entwickelung,  die  sich 
auf  eigene  Gesetze  stützt,  überhaupt  Parallelen  angewandt  werden 
können).  Auch  wir  haben  unsere  Aufklärungsperiode  gehabt,  als 
notwendige  Erscheinung,  vieles  freimachend,  mehr  noch  zer- 
störend, und  letzten  Sinnes  für  die  Fortentwickelung  jüdischer 
Wesensart  zu  höheren  Menschheitswerten  in  diesen  Formen  doch 
nicht  reich  genug.  Denn  diese  Assimilation  sah  nicht,  daß  die 
Geschichte  in  den  langen  Zeiten  des  Ghetto  den  Juden  gezwungen 
hatte,  Knecht  zu  sein,  wo  der  andere  sich  als  Herr  aufgespielt 
hatte,  daß  der  Jude  Betrachter  mit  Neid-  und  Leidgefühl  ge- 
wesen war,  wo  der  andere  die  neuen  Wege  des  Geschehens  wies 
und  ging.  Aus  diesem  unhistorischen  Empfinden  heraus,  das  die 
Unterschiede  übersah,  nicht  überwand,  das  zusammengesetzt  war 
aus  Gläubigkeit  oder  Suggestion,  Phantastik  oder  einem  Ratio- 
nalismus der  Oberfläche,  hastete  die  jüdische  Aufklärung  des 
i8.  und  19.  Jahrhunderts  danach,  über  das  tiefste,  was  Menschen 
zu  scheiden  vermag,  Blut  und  Schicksal,  in  zu  stürmischer  Gier 
hinwegzukommen,  gefahrvoll  für  sich  und  die  anderen,  denen 
sie,  in  Liebe  und  Ehrfurcht,  mit  Recht  sich  wahlverwandt  ge- 
fühlt hatte. 

Gegen  diese  Assimilation  erhob  sich,  aus  Judenleid  geboren, 

9  129 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

von  Judennot  getränkt,  von  Sehnsucht  nach  Judentum  getrieben, 
das  eigene  Gewissen  des  jüdischen  Volkes,  das  gebildet  war  an 
den  Ideen  des  Lebens,  wie  es  die  Erhaltung  und  Umbildung  des 
Einzelwesens  und  einer  wertvollen  Gesamtheit  predigt  und 
fördert. 

Auch  jetzt  ruft  diese  Gesinnung,  die  mehr  ist  als  Wille,  mehr 
als  Tendenz,  die  Unterirdischen  auf,  die  Großen,  das  Blut  und 
den  Geist,  daß  sie  um  unseretwillen  sich  erneuen  in  unseren 
Tagen;  peitscht  Sehnsüchte  auf,  die  nie  verklungen  waren,  und 
fügt  das  alte  Lied  vom  gelobten  Land  hinzu,  als  der  stärksten, 
wurzelhaften  Kraft,  an  der  als  dem  Boden  sich  der  Wille  und 
die  Tat  und  der  Wert  erneue.  Mit  naturgesetzlicher  Notwendig- 
keit ballt  sich  aus  dem  Weltgefühl  und  dem  eigenen  Lebens- 
gefühl des  Volkes  das  neue  Suchen  und  der  neue  Weg  zusammen, 
die  aus  der  unentrinnbaren  Wirrnis,  in  der  der  Jude  Werkzeug, 
Vorläufer,  Mittler  war,  in  noch  unbekannte  Gegenden  führen 
will,  wo  die  Harmonie  und  Größe  herrschen  werden.  Unbekannt 
freilich  nur  den  Möglichkeiten  des  Schaffens  nach,  von  denen 
zu  träumen  und  zu  wünschen  und  die  vorzubereiten  und  die  zu 
beginnen  notwendig  ist,  unbekannt  nur,  soweit  das  ,,Was'*  der 
Werte,  der  Ernte,  der  Erfüllung  in  Frage  kommt,  nicht  aber 
das  ,,Wie",  nicht  aber  das  ,,Daß"  .  .  .  Zu  dieser  Zuversicht  be- 
rechtigt uns  nicht  hemmungslose  Utopie,  sondern  Erkenntnis 
unserer  eigengesetzlichen  Bedingungen  in  unserer  Zeit,  die  uns  die 
Rüstigkeit  des  Reifen  zeigt,  der  sich  geschenkt  und  hingegeben 
hat  und  nach  Versuchen  und  Versuchungen  heimkehrt  zu  sich, 
heimkehrt  als  Herr  in  das  Land,  von  dem  er  ausging  und  das 
er  zu  Herren-  und  Meister  jähren  führen  will;  in  dessen  Erinne- 
rung sich  die  Welt  klarer,  vielgestaltiger  widerspiegelt  und  ein- 
gehaftet hat  als  in  der  einer  anderen  Menschenart,  dessen 
Blut  und  Seele  überschwemmt  wurde  von  dem  Mancherlei  aus 
Höhen  und  Tiefen;  der  in  das  Buch  seines  Lebens  die  Blätter 
und  Bilder  eingetragen  hat  von  Menschen  und  Völkern,  die  unter- 
gingen vor  ihm  und  deren  Druck  er  zag,  furchtsam,  voll  Weh- 
mut und  Wut  gespürt  hatte. 

Und  aus  all  diesen  Eindrücken  und  Erlebnissen,  die  den  Juden 
vor  sich  entwertet  haben,  weil  er  ihnen  unterlag,  taucht  der  Wille 
zu  sich  und  dem  eigenen  Selbst  auf,  das  den  Juden  stärkt  und 

i3o 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

voller  und  reicher  macht,  wenn  er  sich  jetzt  mit  freier  Wahl  und 
aus  seiner  Seele  hineinwirft  in  die  Welt,  ihre  Güter  an  sich  zieht, 
daß  sie  seine  Art  befruchten,  ohne  sie  zu  töten,  daß  sie  sein» 
Leistung  erhöhen,  ohne  ihn  sich  zu  entfremden. 

So  stellt  sich  die  seelische  Situation  dar,  die  diese,  unsere  Ro- 
mantik, uns  lehrt:  daß  wir  im  Einklang  mit  den  schöpferischen 
Kräften  der  Welt,  deren  Ideen,  unbewußt  oft,  uns  formten,  deren 
Ideen  aber  auch,  wider  unseren  Willen,  uns  bis  zur  Zerstörung 
zerbrachen,  daran  gehen,  jüdische  Bildung  zu  begreifen  als 
Aufbau  und  Bildung  oder  Umbildung  des  jüdischen  Menschen 
in  unseren  Zeiten,  daß  wir  daran  gehen,  nicht  bloß,  um  La- 
gardes  schönes  Wort  zu  variieren.  Erbe  und  Enkel  zu  sein,  son- 
dern Ahne  zu  werden  und  selbst  wirkende  Traditionen  zu 
schaffen.  Wir  erkennen  den  Weg  und  weisen  zum  Ziel;  wir 
führen  aber,  was  mehr  ist,  auch  zum  Ziel:  indem  wir  durch 
Gemeinschaft  der  Zusammengehörigen  den  einen  mit  dem 
anderen  durchtränken  und  uns  mit  dem  Geist  unseres  Volkes 
verknüpfen;  indem  wir  das  Naturgefühl  des  Landes,  von  dem 
wir  ausgingen  und  in  dem  wir  die  Wurzeln  unseres  Wesens 
bildeten,  auf  uns  wirken  lassen,  sei  es  in  der  tätigen  Berührung 
unseres  täglichen  Lebens  mit  ihm  oder  in  der  Erkenntnis  seines 
Wertes  und  seiner  Verbundenheit  mit  uns,  die  wir  sein  Blühen 
beeilen;  indem  wir  an  Stelle  der  Gemeinde  die  Gemeinschaft, 
der  Konfession  (ohne  Bekenntnis)  die  fordernde  Einheit,  an 
Stelle  der  Etikette  das  Symbol,  an  Stelle  der  losen  Verbunden- 
heit die  innerliche,  von  gemeinsamem  Erlebnis  gewirkte  Ver- 
knüpftheit  setzen  und  wieder  zu  Ehren  bringen. 

Und  so  tritt  wieder  Leidenschaft  auf,  wo  häßliche  Bläßlich- 
keit war,  und  beflügelt  Rhythmus  und  Tempo,  .  .  .  und  ein 
anderer  heißerer  Trieb  bewegt  uns  das  Blut,  ein  neues  Zeitbe- 
wußtsein und  Lebensgefühl  voll  gierigen  Enthusiasmus  quält  und 
erhebt  und  läßt  uns  zu  größeren  Faktoren  der  Welt  werden,  da- 
mit wir  ihr  den  Dank  abstatten,  den  sie  nicht  immer  um  uns 
verdient  hat  .  .  . 

Wir  wissen  aber,  daß  unsere  Schicksalsfrage  nicht  lautet:  sind 
wir  noch  Juden,  wie  sie  ähnlich  im  19,  Jahrhundert  oft  genug  der 
gläubige  und  ungläubige  Christ  für  seine  Welt  und  seinen  Glau- 
ben auf  warf,  sondern  die  Frage  heißt:   sind  wir  schon  Juden? 

i3i 


JÜDISCHE  ROMANTIK 

So  suchen  wir  und  bilden  wir  in  der  tiefen  Ehrfurcht  und 
heiligen  Verbundenheit  mit  unseren  Kräften,  die  am  Anfang  der 
Zeiten  uns  unsere  seelischen  Gesetze  und  die  großen  Werte  gaben, 
das  ragende  Judentum,  das  uns  lieben  wird  und  das  wir  lieben 
werden,  das  uns  wieder  bedeutend  werden  und  bedeutend  machen 
wird;  wir  erleben  uns  in  der  Gemeinschaft  des  Willens  und  der 
Gesinnung,  wir  erhöhen  uns  in  der  Gemeinschaft  der  Arbeit, 
bis  wir  ausklingen  werden  in  eine  Gemeinschaft  des  Lebens,  ein 
Bund,  verknüpft  durch  die  Tat,  ein  Organismus,  der  mit  an-» 
spannender  Energie  die  Kleinen  schützt  und  die  Großen  weckt, 
eine  Gesellschaft,  die  solche  Forderungen  an  sich  stellt,  weil  sie 
sie  erfüllen  kann  und  erfüllen  muß. 

Dann  werden  wir  auch  aus  den  eigenen  Bedingtheiten  unserer 
Entwicklung  zu  einem  jüdischen  Idealismus  kommen,  als  der  be- 
stimmenden Philosophie  unseres  Lebens,  als  der  tragenden  Form 
unseres  Judentums,  das  seine  geistigen  und  seelischen  Kräfte  an 
sich  ziehen,  sie  und  sich  einheitlicher,  für  die  Welt  wertreicher 
machen  wird;  und  wir  werden  nach  den  Tagen  unseres  Über- 
ganges, in  denen  wir  heute  leben  und  die  romantisches  Gepräge 
tragen  mußten,  durch  eine  ethische  Renaissance  hindurch,  die 
dem  Judentypus  die  verantwortungsvolle  Ehrfurcht  und  die  reif- 
machende Freiheit  aufdrücken  wird,  zu  einem  jüdischen  Klassi- 
zismus gelangen,  der  die  Seelen  und  das  Tun  der  Juden  lenken 
und  als  eine  von  der  Ewigkeit  des  jüdischen  Volkes  geformte 
Denk-  und  Deutungsart  uns  unsere  Normen  auferlegen,  unsere 
Kräfte  offenbaren,  unsere  Energien,  Wünsche,  Träume  er- 
lösen wird. 


l32 


DAS  WERDEN 
DER  JÜDISCHEN  BEWEGUNG 


Unsere  Geschichte 

Von  Wilhelm  Stein 

Uer  empirische  Naturalismus  des  vergangenen  Jahrhunderts 
hat  infolge  seiner  grenzenlosen  Verehrung  des  Stoffes  von 
keinerlei  Form  des  Erkennens  gewußt.  Erst  unsere  Zeit  sucht 
wieder  nach  einer  Urform,  die  als  Schema  der  Entwicklung  an- 
zusprechen wäre;  und  sie  scheint  bei  jener  Dreiheit  zu  landen, 
die  Goethe  als  Aufstieg  in  Spiralen,  die  Idealisten  Fichte,  Schel- 
ling  und  Hegel  als  Trichotomie  wirksam  sahen  und  in  der  sich 
selbst  der  inkonsequente  Positivismus  Comtes  verfing.  Aber  dem 
leblosen,  mechanisch-starren  Dreiklang  der  Hegelianer,  dem  die 
innere  Rechtfertigung  abging,  unterlegen  wir  heute  den  Sinn, 
daß  das  unfruchtbare  Pendelspiel  der  Gegensätze  zeugungs- 
kräftig wird  in  der  Durchbrechung  dieses  eintönigen  Rhythmus, 
um  zur  Vermählung  von  Beharrung  und  Veränderung  im  Dritten, 
Höheren,  das  das  Bleibende  beider  zusammenfaßt,  aufzusteigen; 
Karl  Joels  Versuch  einer  organischen  Auffassung  des  Lebens  — 
enthalten  in  dem  Buche  ,, Seele  und  VV^elt"  —  beruht  ganz  auf 
dieser  Dreiheit,  die  er  in  der  biologischen  Kurve,  in  den  Funk- 
tionen, in  den  Aggregatzuständen,  in  der  Sprache  wiederfindet. 

Die  „Erkenntnisgeste"  der  Dreiheit  befähigt  uns,  greifbar  hell 
das  Verhalten  des  Juden  zu  seiner  Vergangenheit  in  den  drei 
Hauptphasen  seiner  Geschichte  zu  beleuchten. 

Der  ganze  Zeitraum  von  der  Zertrümmerung  der  politischen 
Existenz  bis  in  die  Tage  der  Emanzipation  ist  gekennzeichnet 
durch  eine  furchtbare  Überschätzung  der  Geschichte;  natürlich 
nicht  in  der  Form  theoretischen,  vielmehr  abstrakten  Wissens, 
das  in  völliger  Bewußtheit  das  Leben  beherrscht,  sondern  in  der 
Gestalt  der  bis  zur  Dumpfheit  bedingungslosen  Hingabe  an  die 
Tradition.  Damit  war  ein  Zustand  gegeben,  in  dem  die  Menschen 
der  jeweiligen  Gegenwart  erdrückt  werden  mußten,  von  der  allein 
gültigen  Vergangenheit  einerseits  und  der  großen,  strahlenden 
Zukunft  auf  der  andern  Seite,  die  verheißen  war  und  kommen 
mußte,  ohne  Zutun  des  Menschen,  auf  das  Wort  Gottes  hin,  am 
Ende  der  Tage.  Dieses  Leben  der  Stabilität,  dem  jede  Be- 
wegung —  nach  welcher  Richtung  immer  —  fehlte,  hatte  den 
Schwerpunkt  naturgemäß  nicht  innerhalb  seines  Getriebes,  son- 
dern er  lag  weit  rückwärts  in  Thora,  Mischna  und  Gemara. 

i35 


UNSERE  GESCHICHTE 

Es  darf  als  ein  gutes  Zeichen  für  die  innere  Lebenskraft  des 
jüdischen  Volkes  genommen  werden,  daß  trotz  dieses  Jahr- 
hunderte währenden  Zustandes  die  Sehnsucht  nach  Abschüttelung 
der  Geschichte  wach  werden  konnte.  Leon  de  Modena,  Uriel 
Akosta,  Spinoza  sind  die  ersten  Sünder  und  Märtyrer  dieser  Sehn- 
sucht, bis  mit  elementarer  Wucht  die  Menschen,  deren  Dasein 
von  einem  übermächtigen  Gewesensein  erstickt  zu  werden  drohte, 
diese  Last  abzuwerfen  wagten.  Denn  das  scheint  der  wahre  Sinn 
jener  Epoche,  die  man  einzig  im  Hinblick  auf  äußerliche  Rechte 
das  Zeitalter  der  Emanzipation  genannt  hat:  der  politischen  Frei- 
heitsbewegung liegt  der  Kampf  um  den  Wert  und  die  Würde 
der  Gegenwart  und  damit  des  Individuums  zugrunde,  das  nicht 
irgendein  willensberaubtes  Glied  eines  festen,  allseitig  ge- 
schlossenen Ringes  sein  möchte;  es  ist  ein  Kreuzzug,  ein  heiliger 
Krieg  des  Individuums  um  sein  Selbstbestimmungsrecht,  da  es 
fühlt,  daß  das  Beste  am  Menschen  —  Einheit  und  Innerlich- 
keit —  im  Lebenskreise  des  Ghetto  verloren  gehen  müsse.  Gerade 
die  zionistischen  Kreise  haben  die  historische  Berechtigung  des 
Emanzipationskampfes  des  Individuums  in  doktrinärer  Kurzsich- 
tigkeit immer  übersehen,  weil  sie  die  damit  verbundene  Assimi- 
lation bekämpften. 

Der  Prozeß  der  inneren  Emanzipation,  das  Erwachen  des  Sub- 
jektivismus ist  von  tiefster  Notwendigkeit  im  Rahmen  unserer 
Geschichtsentwicklung.  Aber  ausscheiden  mußte  nicht  allein,  was 
innerhalb  der  Überlieferung  der  Belebung  und  Verjüngung 
widerstand,  die  Wucht  des  Angriffes  fand  naturgemäß  nicht  die 
Besonnenheit  des  Maßhaltens  und  zerriß  und  verwarf  die  ge- 
samte Vergangenheit  und  verleugnete  jede  Tradition:  die  reli- 
giöse Reform,  die  jeden  Inhalt  zu  entfernen  wußte,  ist  das  greif- 
barste Gebiet,  auf  dem  sich  eine  solche  Entwicklung  begab,  und 
die  völlige  Umwandlung  der  täglichen  Lebensformen  ihr  radi- 
kalstes Ergebnis. 

Nur  £im  Anfang  haftet  einer  solchen,  fast  nihilistischen  Nega- 
tion schwellendes  Kraftgefühl  und  freudige  Zuversicht  an.  Der 
Befreiung  von  der  Geschichte  und  den  Wertmaßstäben  ihrer 
Autorität  hatte  der  Befreite  bloß  die  Wirklichkeit  des  Augen- 
blicks entgegenzuhalten  und  allein  den  Wertmesser,  den  er  nicht 
aus  entlegener  Vergangenheit  herzuholen  brauchte,  sondern  der 

i36 


UNSERE  GESCHICHTE 

schon  in  der  Selbstbesinnung  des  Individuums  gegeben  war:  das 
Denken.  Und  hatte  man  zunächst  die  Bindung  durch  die  Autorität 
der  Tradition  durch  die  Geltung  des  reinen  Sollens  zu  ersetzen 
getrachtet,  die  Beherrschung  der  Umwelt  also  nach  der  Ethik 
orientiert  —  die  Kantianer  Salomon  Maimon,  David  Gans,  Mar- 
kus Herz,  Moriz  Lazarus,  Hermann  Cohen  sind  mehr  als  zu- 
fällige Erscheinungen  —  so  war  von  der  Göttlichkeitserklärung 
der  Vernunft  zum  Götzendienst  des  Verstandes  nur  eine  kaum 
merkliche  Wendung.  Damit  schiebt  sich  zwischen  den  Menschen 
und  die  Wirklichkeit  das  ewige  Erwägen  und  Berechnen;  zum 
Ziel  hat  dieses  Verhalten  zur  Umwelt  dann  immer  das  Materiellste 
und  einzig  den  Erfolg  zum  Wertmesser:  das  sind  die  einzigen 
Götzenbilder  geworden,  vor  denen  unsere  jüdische  Gegenwart 
das  Knie  beugt. 

Bedacht  muß  hier  werden,  wie  unendlich  eng  eine  Wirklich- 
keit wird,  die  nur  auf  den  Augenblick  zusammengedrängt  ist, 
und  wie  das  unaufhörliche  Bestreben,  jede  Regung  und  jede 
Wahrnehmung  in  die  Beleuchtung  des  Zwecks  einzustellen,  alle 
Unmittelbarkeit  des  Lebens  raubt.  Und  wieder,  wie  in  der  Zeit 
der  Wendung  zum  Individualismus,  ist  es  der  Durst  nach  Wirk- 
lichkeit, der  in  die  dritte  Phase  treibt;  nur  ist  es  der  heiße  Drang 
nach  einer  breiteren,  umfassenderen  Wirklichkeit.  Und  das  In- 
dividuum, das  sich  eben  noch  in  das  Bewußtsein  stolzer  Über- 
legenheit eingesponnen  hat,  im  starken  Glauben  an  sich  selbst, 
beginnt  zu  merken,  daß  der  einzelne  nicht  vor  dem  Allgemeinen 
und  der  Teil  nicht  vor  dem  Ganzen  war.  So  steigt  die  Ahnung 
eines  tiefinneren  Zusammenhanges  mit  den  Menschen  im  Neben- 
einandei  und  den  Menschen  des  Nacheinander  auf  und  man 
,,hört  den  Lebensstrom  wieder  rauschen  durch  alle  kleinen 
Ruderschläge  des  Verstandes  hindurch." 

Diese  Aufgabe,  eine  Synthese  zu  finden  zwischen  der  Freiheit 
des  Individuums  mit  allen  seinen  Forderungen  und  der  histo- 
rischen Bedingtheit  desselben  ist  dem  Zionismus  zugefallen;  er 
nimmt  in  dieser  Hinsicht  die  gleiche  Stellung  ein,  die  der  Ro- 
mantik im  deutschen  Geistesleben  zukommt,  während  die  Eman- 
zipationsepoche dem  Zeitalter  der  Aufklärung  entsprochen  hatte. 
Das  Bekenntnis  zum  Zionismus,  natürlich  in  seinem  weitesten 
Sinne  als  jungjüdische  Bewegung,  bedeutet  nicht  allein  ein  Auf- 

13, 


UNSERE  GESCHICHTE 

sichnehmen  der  Verantwortung  der  gesamten  jüdischen  Gegen- 
wart, auch  mehr  als  das  bewußte  Wollen  der  Zukunft,  es  ist  ein 
Jasagen  zur  Vergangenheit;  daß  dieses  bald  mehr,  bald  minder 
freudig  klingt  und  meist  Propagandazwecken  dient,  verhüllt  nur 
den  Kern.  Wer  sein  Ohr  an  den  allumfassenden  Körper  der 
Vergangenheit  legt,  wer  den  ewigen  Rhythmus  des  Werdens  und 
Vergehens  erfühlen  möchte,  dem  kommt  das  wärmende  und  er- 
leuchtende Erlebnis,  das  Schopenhauer  als  das  große  Wunder 
des  Einsseins  aller  Wesen  ansprach:  frühere  Zeiten  rücken  näher, 
verwandte  Gesichter  tauchen  empor,  und  aus  der  klaren  Ein- 
fachheit ihres  Daseins  flackert  die  erhellende  Deutung  unseres 
eigenen  komplizierten  Wesens  auf;  ,,und  die  eigene  Zeit  er- 
scheint als  die  Spitze  eines  Gesamtbaues,  der  alle  Zeiten  um- 
faßt; von  solcher  Spitze  aus  gesehen  erscheint  alles  Frühere  als 
ein  allmähliches  Ansteigen  zur  Höhe;  auch  in  dem  Niederen  wird 
nicht  sowohl  der  Abstand  und  Gegensatz  als  die  Annäherung 
und  Vorbereitung  gesehen"  (Eucken). 

Darum  berührt  uns  das  mehr  theoretische  Problem  der  Be- 
handlung der  Geschichte  als  Wissenschaft  kaum  oder  gar  nicht. 
Denn  wenn  es  auf  der  einen  Seite  eine  billige  Lösung  ist,  den 
sinnlosen,  dumpfen  Zufall  im  Reiche  der  Geschichte  herrschen 
zu  lassen,  weil  große  Ereignisse  durch  Zufälle  verursacht  worden 
sind  —  der  Zufall  fügt  ja  nur  eine  neue  Bedingung  zu  den  be- 
reits bestehenden  hinzu  — ,  so  ist  auch  die  durchgängige  Geltung 
des  Kausalprinzips,  wie  sie  Lamprecht  will,  die  einseitige  Über- 
spannung einer  an  sich  berechtigten  Idee. 

Aus  der  vielfältigen  Erweiterung  nach  der  Tiefe  hin  wird  etwas 
sichtbar,  das  als  ein  Sinn  gedeutet  werden  muß,  indem  wir  in 
allem  Reichtum  der  Geschehnisse  mehr  fühlen  als  zusammen- 
hanglose Stöße  und  Erschütterungen,  und  es  wächst  aus  diesem 
wirren  Chaos  die  Ruhe  entgegen,  die  die  angstvollen  Gedanken 
des  Verstehenden  glättet. 

Ein  Sinn  kann  in  unserer  Geschichte  gedeutet  werden:  vom 
Ghetto  über  die  Emanzipation  zum  Zionismus. 


i38 


Wandlungen  im  Zionismus 

Von  Adolf  Böhm 

Alle  großen  sozialen  Bewegungen  charakterisieren  sich  als  eine 
Auflehnung  gegen  die  vorhandenen  Zustände,  die  plötzlich  als 
unerträglich  empfunden  werden. 

Das  Gefühl  der  Unerträglichkeit  gegebener  Verhältnisse  kann 
zweierlei  Genesis  haben. 

Erstens  kann  ein  vorhandener  Übelstand,  an  den  man  sich 
durch  Abstumpfung,  angepaßte  Ideologie,  Unwissenheit  usw. 
schon  gewöhnt  hatte,  sich  so  verstärken,  daß  er  das  Maß  dessen 
übersteigt,  was  man  bisher  als  erträglich  empfunden  hatte:  Ver- 
stärkung des  Druckes  auf  unterworfene  Nationen,  Klassen  usw. 
ruft  Aufstände  der  Unterdrückten  hervor,  die  oft  jahrhunderte- 
lang ihre  Ketten  geduldig  ertragen  hatten.  Dafür  liefert  die  Ge- 
schichte unzählige  Beispiele,  und  für  die  nächste  Zukunft  hat 
Karl  Marx  angenommen,  daß  durch  die  sicher  zu  erwartende 
Steigerung  der  Ausbeutung,  Verknechtung,  Bedrückung  des  Pro- 
letariats dieses  seinen  Zustand  endlich  als  unerträglich  empfinden 
und  in  einer  gewaltigen  Revolutionierung  der  Gesellschaftsord- 
nung die  Expropriateure  expropriieren  werde. 

Zweitens  kann  ein  gegebener  Zustand  auch  dann  als  unerträg- 
lich empfunden  werden,  d.  h.  als  solcher,  den  man  durch  Aktion 
radikal  umgestalten  müsse,  wenn  sich  in  den  Köpfen  einer  ge- 
nügend großen  Zahl  von  Menschen  ein  neues  Weltbild  festgesetzt 
hat,  das  sich  zu  dem  tatsächlichen  Zustand  der  Dinge  in  starkem 
Gegensatz  befindet.  Dies  ist  der  Weg,  den  meist  religiöse  Be- 
wegungen gehen. 

Fast  immer  sind  beide  Momente  aufs  innigste  verknüpft  und 
durch  einander  bedingt.  Bei  sehr  vielen  großen  Revolutionen 
hat  ein  von  Denkern  und  Dichtern  aufgestelltes  neues  Weltbild, 
das  sich  der  Köpfe  bemächtigte,  das  meiste  dazu  beigetragen, 
um  den  Mut  zur  Erhebung  gegen  die  —  wegen  gesteigerten 
Druckes  —  als  unerträglich  empfundenen  Zustände  zu  entfachen, 
wie  andererseits  die  Konzeption  eines  solchen  neuen  Weltbildes 
meist  erst  aus  der  Unzufriedenheit  mit  den  gegebenen  Zuständen 
geboren  wurde.  Trotzdem  finden  wir  auch  beide  Momente  isoliert 
wirkend.  Die  meisten  Aufstände  unterdrückter  Schichten,  —  Ple- 
bejer, Sklaven,  Höriger  usw.  —  hatten  nur  eine  rein  quantitative 

189 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

Steigerung-  des  Druckes  zur  Ursache,  während  sehr  oft  auch 
eine  religiöse  oder  philosophische  Richtung,  die  eine  Umfor- 
mung des  menschlichen  Gefühlslebens  zur  Folge  hatte,  die  Ur- 
sache war,  daß  altgewohnte  bisherige  Einrichtungen  erst  durch 
die  neue  Art  zu  fühlen  als  unerträglich  empfunden  wurden.  Dies 
ist  bei  nahezu  allen  Religionskriegen  und  -Verfolgungen  zu  be- 
obachten. 

In  der  jüdischen  Geschichte,  seit  Untergang  des  Reiches, 
finden  wir,  wie  in  so  vielen  Beziehungen,  auch  in  Hinblick  auf 
soziale  Erhebungen  ein  Abweichen  von  aller  sonstigen  histori- 
schen Entwicklung.  Obzwar  von  den  Juden  in  all  den  Jahr- 
hunderten des  Diasporalebens  die  Unerträglichkeit  ihrer  Lage 
genügend  stark  empfunden  wurde  und  sie  ein  geradezu  ideales 
Weltbild:  das  messianische  Gottesreich  auf  Erden,  gläubig  rezi- 
piert hatten,  finden  wir  niemals,  bis  zur  zionistischen  Bewegung, 
eine  Auflehnung  gegen  die  vorhandenen  Zustände.  Man  hat  das 
denselben  Juden,  die  auf  der  Folter  und  am  Scheiterhaufen  für  ihr 
Judentum  standhaft  litten  und  starben,  als  Mangel  an  Mut  oder 
als  vorsichtige  Klugheit  —  waren  sie  doch  überall  eine  verschwin- 
dende Minorität  —  ausgelegt.  Wer  aber  auch  nur  auf  das  flüch- 
tigste mit  der  jüdischen  Geschichte  bekannt  ist,  weiß,  daß  die 
Erklärung  für  dieses  Verhalten  eine  andere  ist:  Der  Schwer- 
punkt der  jüdischen  Existenz  war  seit  der  Zerstörung  Jerusalems 
in  das  religiös-sittliche  Sein  verlegt  worden.  Während  die  Stadt 
noch  von  Titus  belagert  wurde,  ließ  sich  Jochanan  ben  Sakkai 
nach  der  bekannten  Überlieferung  heimlich  ins  Lager  des  Feld- 
herrn tragen,  erwirkte  von  ihm  die  Lehrfreiheit  und  errichtete 
das  Lehrhaus  von  Jabneh,  dem  in  ununterbrochener  Folge  an 
allen  Orten  und  zu  allen  Zeiten  die  Lehrstellen  des  Judentums 
folgten.  Die  Vernichtung  der  staatlich-politischen  Existenz  wurde 
dadurch  nicht  zur  Vernichtung  der  geistig-sittlichen,  des  Juden- 
tums. Während  der  vielen  Jahrhunderte  des  Diasporalebens  emp- 
fanden die  Juden  dieses  Judentum  als  ihren  einzigen  Lebenskern. 
Trotz  aller  Verfolgungen,  vorübergehender  Zwangsbekehrungen 
usw.  war  doch  in  der  ganzen  trüben  Zeit  der  Fortbestand  des 
Judentums  nicht  bedroht.  Da  dieses  aber  für  die  Juden  ihr  ein- 
ziges Existenzziel  war,  so  konnten  sie  ihre  schreckliche  Lage  wohl 
als  ein  Unglück  ansehen,  waren  jedoch  in  ihrem  innersten  Lebens- 

i4o 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

kern  nicht  betroffen.  Daher  die  relative  Gleichgültigkeit  der 
Juden  gegen  ihre  äußere  Lage,  daher  ihre  erschreckende  Ohn- 
macht und  der  Mangel  jedes  Versuchs  einer  Auflehnung  gegen 
diesen  Zustand  bei  aller  Todesverachtung  im  Festhalten  am 
Judentum.  Daran  änderte  auch  das  Weltbild,  das  die  Juden  in 
sich  trugen,  nichts,  denn  war  es  auch  ein  unsagbar  herrliches, 
so  konnte  es  nach  ihrer  Vorstellung  nur  durch  Eingreifen  Gottes, 
durch  den  von  ihm  gesandten  Boten  (Messias),  nicht  aber  durch 
eigene  Aktion  verwirklicht  werden,  es  konnte  auch  nur  am  „Ende 
der  Zeiten",  also  in  einem  von  Gott  und  nicht  von  Menschen  be- 
stimmten Zeitpunkt  kommen. 

Es  ändert  nichts,  wenn  man  das  Flüchten  in  eine  rein  geistige 
Existenz  und  das  Erwarten  einer  Befreiung  durch  Gott  umge- 
kehrt als  eine  Anpassung  an  die  gegebenen  Verhältnisse,  die 
jeden  Machtkampf  und  Machterwerb  ausschlössen,  ansieht.  Tat- 
sächlich waren  damit  die  Elemente,  die  zu  einer  sozialen  oder 
nationalen  Bewegung  hätten  führen  können,  aus  dem  Bewußt- 
sein der  Juden  verdrängt.  Der  Zionismus  liegt  daher  nicht,  wie 
noch  vielfach  geglaubt  wird,  in  der  Verlängerungslinie  des  histo- 
rischen Judentums.  Er  entstand  nicht  dadurch,  daß  nach  dem 
W^egfall  der  rechtlichen  Hemmungen,  welche  der  Judenheit  eine 
aktive  politische  und  kolonisatorische  Tätigkeit  unmöglich  ge- 
machthatten, diese  daran  gegangen  wäre,  der  jüdischen  Diaspora, 
die  seit  ihrem  Bestehen  als  ein  Provisorium  angesehen  wurde, 
ein  Ende  zu  bereiten  und  nach  dem  ,, dritten  Exil"  —  wie  Moses 
Heß,  ein  Vorläufer  der  zionistischen  Bewegung,  bei  dem  starke 
Anklänge  an  diese  Auffassung  zu  finden  sind,  sagt  —  das  jüdische 
Gemeinwesen  in  Palästina  wieder  aufzurichten.  Der  Zionismus 
ist  vielmehr  eine  Bewegung,  deren  Entstehungsgrund  in  der 
furchtbaren  Krise  liegt,  in  welcher  sich  heute,  nach  hundert- 
jähriger Entwickelung,  seit  der  ersten  Rezeption  (in  Frankreich) 
Judenheit  und  Judentum  befinden.  Das  bewegende  Motiv  im 
Zionismus  ist,  diese  Krise  zu  überwinden,  die  heutige  „Juden- 
frage" zu  lösen. 

Es  ist  nicht  unwichtig,  dies  hervorzuheben,  weil  vielfach  auch 
Zionisten  im  Laufe  ihrer  zionistischen  Betätigung  langsam  zu 
der  Anschauung  zurückgleiten,  daß  der  Zionismus  tatsächlich 
nur    die  Konsequenz    einer    altjüdischen  Auffassung    sei,    ohne 

i4i 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

sich  weiter  darüber  Rechenschaft  zu  geben,  aus  welchen  Mo- 
tiven sie  selbst  Zionisten  geworden  sind.  Hier  liegt  die  Gefahr 
reaktionärer  Anwandlungen  und  eine  Verminderung  der  neu- 
schöpferischen Kraft  der  Bewegung.  In  Wahrheit  ist  der  Zio- 
nismus ein  Kind  der  Zeit,  d.  h.  eines  durch  die  Rezeptionsperiode 
völlig  veränderten  Judentums.  Wenn  man  das  Schema  Hegels 
anwenden  wollte,  so  könnte  man  die  Entwickelung  seit  Öffnung 
der  Ghettoschranken  sehr  gut  damit  kennzeichnen,  daß  man  als 
Position  das  Judentum,  als  Negation  die  Assimilation  und  als 
Synthese  den  Zionismus  setzt.  Tatsächlich  hat  nach  der  Rezeption 
keine  zionistische,  sondern  eine  vom  Judentum  wegführende,  un- 
gemein starke  assimilatorische  Strömung  unter  den  Juden  ein- 
gesetzt, und  erst  nach  den  Enttäuschungen,  die  diese  verursacht 
hat,  die  zionistische.  Aber  weit  mehr  noch  als  vom  äußeren  Ge- 
schick der  Judenheit  gilt  jenes  Schema  von  dem  inneren  Zu- 
stand der  Juden.  Sie  haben  sich  vom  Judentum  innerlich  loszu- 
lösen versucht  und  sich  assimilieren  wollen.  Erst  als  assimilierte 
Juden  haben  sie  die  Unmöglichkeit  ihrer  Situation  empfunden, 
und  was  daraus  entstand,  war  nicht  etwa  eine  Strömung  zur  Rück- 
kehr zum  früheren  Judentum,  sondern  eine  Bewegung  zum  Auf- 
bau eines  modernen  Judentums,  d.  h.  eines  solchen,  das  auch  die 
nicht  jüdischen  Kulturelemente  der  Jetztzeit  aufnehmen  sollte. 
Niemals  hätte  eine  zionistische  Bewegung  entstehen  können, 
ohne  daß  durch  die  nichtjüdische  Kulturwelt  der  innere  Habi- 
tus der  jüdischen  Psyche  von  Grund  auf  verändert  worden  wäre. 

Zum  Verständnis  des  Zionismus  tut  deshalb  eine  Einsicht  in 
das  wahre  Wesen,  in  den  letzten  Grund  der  jüdischen  Krise  not, 
die  sich  zwar  als  ein  ganzer  Komplex  von  verschiedenen  „Juden- 
fragen" darstellt,  aber  von  einem  Punkte  aus  zu  begreifen  ist. 
Nur  wenn  man  die  Rezeption  nicht  einfach  als  eine  Wegräumung 
der  letzten  trennenden  Schranke  ansieht,  welche  die  Juden  noch 
von  der  formalen  Rechtsgleichheit  abschloß,  sondern  als  Auf- 
lösung des  jüdischen  Gemeinschaftslebens  begreift,  hat  man 
diesen  Punkt  gefunden. 

Diese  Auflösung  bedeutete  nicht  weniger  als  eine  völlige  Zer- 
störung des  historischen  Judentums,  das  in  seiner  vollen  Aus- 
prägung nur  als  Gemeinschaftsleben  möglich  ist.  Denn  die  zwei 
im    Leben    des  Volkes  sich  auswirkenden  Grundgedanken    des 

i42 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

Judentums,  die  Idee  der  Einheit  alles  Lebens  und  die  der  theo- 
kratischen  Gemeinschaft  sind  so  wesentlicher  und  bestimmender 
Natur,  daß  ohne  die  Möglichkeit  ihrer  Entfaltung  von  einem 
„Judentum"  im  alten,  großen  Sinne  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Das  Judentum  als  „Konfession"  ist  nur  ein  Bruchstück  und  kann 
als  solches  eine  Macht  über  die  Seelen  auf  die  Dauer  nicht  aus- 
üben. Hier  liegt  ein  Hauptgrund  des  Mangels  an  Festhaltungs- 
kraft, den  das  heutige  Judentum  zeigt.  Alle  Untersuchungen  reli- 
giöser und  nationaler  Kreise  über  die  Ursachen  der  Massenflucht 
aus  dem  Judentum,  deren  Zeugen  wir  heute  sind,  können  nicht 
zur  Klarheit  über  dieses  Phänomen  führen,  solange  man  den 
Mangel  an  Widerstandskraft,  den  der  Jude  gegenüber  der  An- 
ziehung, welche  naturgemäß  die  nicht  jüdischen  Lebenskreise  auf 
ihn  ausüben,  zeigt,  bloß  als  Charakterschwäche  ansieht  und  nicht 
bemerkt,  daß  und  warum  das  Judentum  keine  Festhaltungskraft 
mehr  aufweist. 

Im  Ghetto  war  das  Gemeinschaftsleben  ein  vollständiges,  es 
umfaßte  nicht  nur  Religion,  sondern  auch  Sitte,  Recht,  Sprache, 
Familienleben,  in  vollständiger  Einheit.  Der  Geist  des  Volkes 
schuf  sich  seine  Lebensformen.  Der  Verkehr  mit  der  nicht- 
jüdischen VV^elt  rangierte  quasi  nur  unter  der  Kategorie  „äußere 
Politik".  Die  theokratische  Gemeinschaftsidee,  nach  welcher  Gott 
der  alleinige  Herrscher  und  der  Spender  des  einen,  unteilbaren 
Lebens  sei,  bedingt  die  Anschauung,  daß  das  Göttliche  oder  der 
göttliche  Ursprung  des  Lebens  sich  im  Gemeinschaftsleben  als 
Sittlichkeit,  Gerechtigkeit  usw.  offenbare.  Diese  Auffassung 
mußte  zur  Folge  haben,  daß  alle  Beziehungen  der  Menschen 
untereinander  und  zur  Gemeinschaft  religiösen  Charakter  er- 
hielten, daß  sie  alle  durch  religiöse  Vorschriften  geregelt  oder 
umgekehrt,  alle  sozialen  Bildungen,  selbst  die  profaner  Natur, 
als  religiöses  Gesetz  betrachtet  und  in  den  religiösen  Gesetz- 
büchern aufgezeichnet  wurden.  Das  ,, Judentum"  war  keine  bloße 
Konfession,  nicht  allein  Individualreligion,  sondern  umfaßte  die 
Gesamtheit  aller  durch  Gesetz  und  Tradition  geheiligten  Formen 
des  Gemeinschaftslebens  in  ihrer  bestimmten  Eigenart. 

Eine  Auflösung  des  jüdischen  Gemeinschaftslebens  mußte  des- 
halb für  dieses  „Judentum"  katastrophal  werden.  Durch  die  Re- 
zeption der  Juden  trat  diese    Katastrophe    ein.    Die  jüdischen 

i43 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

Menschen  wurden  Glieder  einer  Staats-,  Rechts-,  Arbeits-  und 
Lebensgemeinschaft,  die  keine  jüdische  war,  sie  hatten  mit  ihren 
nichtjüdischen  Mitbürgern  alle  Freuden  und  noch  mehr  alle 
Leiden  dieser  Gemeinschaft  zu  tragen,  ihr  Denken  wurde  durch 
die  nicht  jüdische  Wissenschaft  geschult,  nicht  jüdische  Künstler 
und  Philosophen  beeinflußten  ihr  Empfindungsleben  und  ihre 
Anschauungsweise.  Es  blieb  nichts  vom  Gemeinschaftsleben  zu- 
rück, als  die  rein  religiösen  Angelegenheiten  und  der  instinktive 
Familien-  und  Verkehrszusammenhalt,  gefördert  durch  die  Ge- 
fühle der  Blutsverwandtschaft,  der  Empfindung  identischer 
Lebensanschauung,  ähnlicher  Dispositionen  und  gleicher  sozialer 
Lage.  Dieser  Zusammenhalt  konnte  wohl  auf  der  einen  Seite  eine 
Abneigung  der  Wirtsvölker  gegen  die  Juden  hervorrufen  und 
andererseits  stark  genug  wirken,  um  den  Juden  in  einer  oder  der 
anderen  Form  das  Gefühl  der  Solidarität  zu  verleihen,  aber  er 
war  nicht  einmal  ein  Schatten  des  früheren  Gemeinschaftslebens 
mehr. 

Nichts  bezeichnet  treffender  die  Situation,  als  das  Wort,  daß 
die  Juden  als  Gemeinschaft  heute  „weder  leben  noch  sterben 
können". 

Begreift  man  die  jüdische  Krise  als  eine  solche  der  jüdischen 
Gemeinschaft,  dann  wird  es  klar,  daß  sie  nicht  nur  eine  Krise  der 
Judenheit  ist,  einer  Gruppe  durch  bestimmte  Momente  zu- 
sammengehöriger Menschen,  sondern  auch  eine  Krise  des  Juden- 
tums. Es  ist,  wie  schon  bemerkt,  eine  schwere  Selbsttäuschung, 
die  zur  Konfession  her  abgedrückte  jüdische  Religion  als  das  alte 
traditionelle  Judentum  anzusehen.  Judentum  ist  vor  allem  eine 
durch  religiöse  Vorstellungen  bestimmte  Form  des  Zusammen- 
lebens, nicht  bloß  eine  individuelle  Religion,  und  im  Zentrum  der 
Religionsvorstellungen  steht  die  Idee  einer  bestimmten  Aufgabe 
des  jüdischen,  dazu  auserwählten  Volkes:  das  Reich  Gottes  in 
Erscheinung  zu  bringen. 

Ein  Judentum  im  alten  Sinne  ist  daher  nirgends  mehr  vor- 
handen und  die  jüdischen  Menschen  von  heute  gehören  wohl  — 
was  übrigens  auch  bestritten  wird  —  demselben  Blutskreis  an, 
haben  ähnliche  Dispositionen,  Neigungen  usw.  aber  sie  sind  doch 
auch  organisch  verwachsen  mit  dem  europäischen  Kulturkreis, 
in  dessen  Einflußsphäre  sie  stehen,  dem  ihre  hauptsächlichste 

i44 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

Arbeit  gilt.  Die  Unmög-lichkeit,  eine  vollkommene  Einheit 
zwischen  diesen  beiden  Wesenselementen  der  heutigen  Juden  zu 
bilden,  ist  die  Ursache  der  seelischen  Zerrissenheit  der  modernen 
Juden,  der  Krise  des  jüdischen  Individuums. 

Die  moderne  Judenfrage  hat  somit  einen  dreifachen  Aspekt: 
Insofern  man  die  äußere  Lage  der  Gesamtheit  der  Juden  be- 
trachtet, ist  diese  moralisch  eine  unwürdige,  infolge  der  Minder- 
wertung der  Juden  und  des  Widerstands  gegen  ihr  Assimila- 
tionsstreben, politisch  eine  ohnmächtige,  da  die  Juden  überall 
nur  eine  verschwindende  Minderheit  bilden  und  nirgends  eine 
widerstandsfähige,  in  sich  selbst  geschlossene  Wirtschafts- 
verfassung besitzen,  und  im  Osten  Europas,  wo  die  Mehrheit  der 
Juden  wohnt,  ist  sie  auch  ökonomisch  und  physisch  infolge 
von  Ausnahmegesetzen,  Bedrückungen  und  Verfolgungen  eine 
beispiellos  elende.  Die  Judenfrage  ist  aber  nicht,  wie  fast 
immer  angenommen  wird,  bloß  eine  Judenheits frage,  sondern 
sie  ist  auch  aufs  stärkste  verknüpft  und  bedingt  durch  die  ge- 
schilderte Krisis  des  Judentums,  welche  die  Ursache  der  inneren 
Wurzellosigkeit  der  heutigen  Juden,  ihren  Mangel  an  Wider- 
standskraft, Beharrungsvermögen  und  namentlich  an  Selbst- 
achtung bedingt.  An  der  Krise  von  Judenheit  und  Judentum 
leidend,  halb  im  Jüdischen,  halb  im  Nicht  jüdischen  wurzelnd, 
ist  der  moderne  Jude  in  einer  inneren  Not,  welche  als  individuelle 
Judenfrage  bezeichnet  werden  kann. 

Der  Zionismus  als  Bewegung  zur  Überwindung  der  jüdischen 
Frage  konnte  erst  entstehen,  als  den  Juden  die  Unerträglichkeit 
ihrer  Lage  deutlich  zum  Bewußtsein  gekommen  war  und  sie  ein 
Weltbild  konzipiert  hatten,  das  ihnen  die  Möglichkeit  eines 
anderen,  menschenwürdigeren  Daseins  zeigte.  Um  dahin  zu  ge- 
langen, mußten  sie  erst  innerlich  vollkommen  moderne  Menschen 
werden,  denn  als  Juden  hatten  sie  infolge  der  Krisis,  in  der  sie 
standen,  keine  Selbstachtung  mehr.  Das  Gefühl  für  persönliche 
Würde,  das  überhaupt  nie  im  Judentum  vorhanden  war,  sondern, 
als  Erbteil  hellenischer  Kultur  in  der  Moderne  zu  finden  ist, 
mußte  erst  in  ihnen  Wurzel  geschlagen  haben.  Und  anstelle  der 
im  Judentum  liegenden  Idee  der  Hilfe  von  oben,  mußten  sie  die 
durchaus  moderne,  von  englischen  Reformern  stammende  Idee 
der  Selbsthilfe  rezipiert  haben. 

lo  i45 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

Wie  bei  allen  großen  Bewegungen  war  es  auch  bei  der  neu- 
jüdischen so,  daß  erst  ein  großes  Individuum  imstande  war,  sie 
zu  entfachen.  In  Theodor  Herzl,  einem  Manne  von  modernstem 
Kulturempfinden,  war  das  Gefühl  für  persönliche  Würde  so  stark 
ausgeprägt,  wie  vor  ihm  noch  in  keinem  jüdischen  Menschen. 
Deshalb  konnte  er  sich,  als  er  den  Dreyfushandel  miterlebte, 
nicht  mit  dem  in  anderen  Juden  als  Erbteil  der  Ghettoanpassung 
tief  wurzelnden  Empfinden:  ,,es  ist  nicht  so  arg,  es  wird  vor- 
übergehen", beruhigen.  Er  konnte  sich  nicht  ducken  und  auch 
nicht  irgendeiner  Selbsttäuschung  hingeben.  Als  fein  empfin- 
dender Mensch  reagierte  er  auf  jenen  antisemitischen  Exzeß  so- 
fort mit  der  Impression,  daß  die  Lage  der  Juden  eine  unmögliche 
und  unerträgliche  sei.  Hätte  Herzl  bloß  diesem  Empfinden  Aus- 
druck gegeben,  die  Wirkung  wäre  ausgeblieben.  Ein  Vorgänger 
von  ihm,  Leo  Pinsker,  hatte  schon  1 4  Jahre  vor  Herzls  Auftreten 
dies  in  viel  schärferer  und  logischerer  Weise  getan,  ohne  auch  nur 
annähernd  eine  ähnliche  Wirkung  zu  erzielen,  wie  er.  Diese  er- 
klärt sich  daraus,  daß  Herzl  Phantasie  genug  hatte,  um  auf  die 
Judenfrage,  als  sie  ihm  zuerst  fühlbar  wurde,  sofort  mit  der  Kon- 
zeption eines  Weltbildes  zu  erwidern,  das  den  denkbar  stärksten 
Kontrast  zu  dem  bestehenden  Zustand  in  sich  schloß.  Gegenüber 
der  geradezu  lächerlichen  Ohnmacht  der  heutigen  Juden  ver- 
langt Herzl  nichts  weniger,  als  einen  souveränen  ,, Judenstaat"  1 
Mit  diesem  Bilde  begeisterte  er  die  Juden  und  erst,  als  sie  erfüllt 
waren  von  dem  neuen  großen  Gedanken,  als  sie  „mit  diesem 
Trank  im  Leibe"  die  nüchterne  Wirklichkeit  betrachteten,  diese 
an  dem  Ideal  maßen,  das  Herzl  aufgestellt  hatte,  wurde  ihnen 
mit  einem  Male  klar,  was  sie  früher  nur  schwach  oder  gar  nicht 
empfunden  hatten:  Die  Erbärmlichkeit  der  gegebenen  Lage.  Erst 
die  Spannung  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit  löste  die  Energie 
aus,  welche  die  große  Bewegung  schaffen  konnte. 

Vielleicht  hätte  auch  sie  nicht  genügt,  um  die  nüchternen,  ratio- 
nalistischen und  skeptischen  Juden  mit  fortzureißen,  wenn  nicht  bei 
Herzl  ein  drittes  Moment  wirksam  gewesen  wäre:  Er  konzipierte 
nicht  nur  das  neue  Weltbild,  sondern  er  glaubte  auch  mit  der 
ganzen  Kraft  seiner  großen  Seele  an  die  Möglichkeit  der  Verwirk- 
lichung seines  Ideals.  Dieser  Glaube  einer  starken  Persönlichkeit 
wirkte  wie  ein  religiöser,  er  riß  eine  Schar  von  Menschen  mit 

i46 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

und  erfüllte  ihre  Herzen,  als  Herzl  ihn  dadurch  bekräftigte,  daß 
er  selbst  die  Verwirklichung  seines  Phantasiebildes  in  die  Hand 
nahm. 

Die  Ideen  und  Pläne,  die  er  für  diese  Verwirklichung  ent- 
wickelte und  befolgte,  waren  durchaus  von  modernen,  durch  die 
„Assimilation"  erworbenen  Anschauungen  bestimmt.  Das  Ziel 
war  die  Freiheit,  Souveränität  und  Selbstbestimmung  des  Volkes, 
Ideen,  die  aus  dem  Vermächtnis  der  Enzyklopädisten  stammen 
und  in  der  jüdisch-theokratischen  Staatsauffassung  nicht  zu 
finden  sind,  das  Mittel  war  organisierte  Selbsthilfe,  ein  durchaus 
modernes  Prinzip,  während  den  Juden  der  Begriff  der  Selbst- 
emanzipation fremd  war  und  ihnen  Philantropie  als  religiöse 
Pflicht  die  höchste  Form  sozialer  Hilfe  bedeutete. 

Die  Reste  von  Anschauungen,  die  noch,  vom  Ghetto  übernom- 
men, in  den  Anhängern  Herzls  steckten,  waren  der  Entwickelung 
der  Bewegung  deshalb  nur  hinderlich,  wie  z.  B.  die  messianisch 
gefärbte  Auffassung  seiner  Sendung,  die  zur  Folge  hatte,  daß 
die  Organisation  von  seiner  alleinigen  Tätigkeit  alles  erwartete 
und  gewissermaßen  nur  der  Resonanzboden  für  seine  Stimme 
war,  was  freilich  der  autoritären  Natur  Herzls  entgegen  kam.  Es 
bedurfte  langer  Jahre,  um  die  Zionisten  zu  der  Anschauung  zu 
erziehen,  daß  nur  ihre  eigene  vereinte  Anstrengung  zum  Ziele 
führen  könne. 

Vom  Judentum  übernahm  Herzl  nur  die  sozialen  Ideen.  Das 
neue  jüdische  Gemeinwesen  sollte  keine  Kopie  der  alten  Welt  wer- 
den und  mit  dem  Fluch  der  sozialen  Frage  behaftet  sein,  es  sollte 
von  vornherein  auf  den  Prinzipien  sozialer  Gerechtigkeit  aufge- 
baut werden.  Allein  wie  ,, jüdisch"  dieses  Streben  auch  erscheint, 
Herzl  waren  die  sozialen  Ideen  doch  eher  durch  den  modernen 
Sozialismus  geläufig,  als  durch  sein  Judentum.  Seine  ganze  Auf- 
fassung der  Judenfrage  hatte  mit  Judentum  sehr  wenig  gemein. 
Sie  bezog  sich  fast  durchaus  auf  die  Judenheitsfrage.  Herzl  wollte 
durch  Aufrichtung  eines  jüdischen  Machtzentrums  die  äußere 
(moralische  und  politische)  Lage  der  Judenheit  revolutionieren. 
Bei  manchen  aus  dem  Westen  stammenden  Zionisten  finden  wir 
heute  noch  diese  Anschauung  ganz  unverändert  vor.  Die  Mehrzahl 
der  Zionisten  hat  aber  im  Laufe  der  Zeit  eine  große  Wandlung 
der  Anschauungen  erfahren,  die  hauptsächlich  der  Einwirkung 

i47 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

zu  danken  ist,  welche  die  „Chowewe  Zion"  —  Zionsfreunde  — 
auf  sie  ausübten.  Diese  Gruppe,  meist  aus  ostjüdischen  Kreisen 
sich  rekrutierend,  hatte  schon  lange  vor  Herzl  die  praktische 
Kolonisationsarbeit  in  Palästina  betrieben.  In  ihren  Anschauungen 
waren  zwar  schon  alle  die  Momente  enthalten,  die  Herzl  später 
in  so  großartiger  Weise  im  politischen  Zionismus  zusammen- 
gefaßt hat,  doch  das  Ziel,  das  ihnen  vorschwebte,  das  Ideal, 
das  sie  leitete,  war  nicht  ein  ,, Machtzentrum"  der  Juden,  son- 
dern, wie  es  einer  ihrer  ersten  Vorkämpfer,  der  auch  erst  über 
die  Assimilation  zum  Zionismus  gekommen  war,  Lilienblum,  for- 
muliert hatte:  ,,Die  Wiedergeburt  des  jüdischen  Volkes  im  heili- 
gen Lande  ihrer  Väter."  Hatte  Herzl  durch  begriffliche  Konstruk- 
tion nachzuweisen  versucht,  daß  die  Juden  ein  Volk  seien,  was  für 
die  überwältigende  Mehrheit  der  Westjuden  förmlich  eine  neue 
Entdeckung  war,  so  hatten  die  ost jüdischen  Zionisten  in  ihrer 
Brust  ein  lebendiges  Volksempfinden;  hatte  Herzl  den  Aufbau 
des  Machtzentrums  als  politisches  Erfordernis  für  die  Änderung 
der  Lage  der  Judenheit  angesehen  und  deshalb  nicht  ausschließ- 
lich Palästina  im  Auge  gehabt,  so  war  den  Ghowewe  Zion  der 
Gedanke  der  nationalen  Renaissance  das  hohe  Ideal,  für  das  sie 
sich  einsetzten  und,  wie  die  ersten  Pioniere  der  Kolonisation, 
opferten,  ein  Ideal,  das  natürlich  nur  auf  dem  durch  die  natio- 
nale und  religiöse  Tradition  geheiligten  Boden  Palästinas  ver- 
wirklicht werden  konnte.  Hatte  Herzl  geglaubt,  daß  im  neuen  jüdi- 
schen Gemeinwesen  eine  europäische  Sprache  herrschen  werde, 
so  war  es  den  Ghowewe  Zion  selbstverständlich,  daß  nur  das 
Hebräische  die  Sprache  der  nationalen  Renaissance  sein  könnte. 
Die  Festlegung  der  zionistischen  Organisation  auf  Palästina, 
die  Wiederaufnahme  der  praktischen  Kolonisationsarbeit,  die 
immer  tiefer  gehende  Nationalisierung  und  Hebraisierung  der 
westlichen  Zionisten,  diese  große  Wandlung  von  einer  rein  po- 
litisch-moralischen zu  einer  vorwiegend  national-kulturellen  Auf- 
fassung des  Zionismus  ist  der  Einwirkung  der  östlichen  Zio- 
nisten und  der  geistig  von  ihnen  befruchteten  Neuschöpfungen 
in  Palästina  zu  danken.  Durch  diese  Wandlung  hat  die  in  der 
zionistischen  Organisation  zusammengefaßte  Bewegung  einen 
einheitlichen  Gharakter  erhalten,  und  ihr  Ziel  ist  nunmehr  klar 
umgrenzt. 

i48 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

Dr.  Arthur  Ruppin,  der  Initiator  der  neueren  zionistischen 
Kolonisationsarbeit,  hat  es  in  seinem  Buche  „Die  Juden  der 
Gegenwart"  (II.  Auflage)  in  folgenden  knappen  Worten  formu- 
liert: ,,Das  Ziel  des  Zionismus  ist  die  Bildung  einer  kohärenten 
jüdischen  Bevölkerung  in  Palästina,  mit  der  Landwirtschaft  als 
ökonomischer  Grundlage  und  dem  Hebräischen  als  nationaler 
Sprache." 

Diese  Vereinheitlichung  konnte  trotz  aller  Verschiedenheit  der 
Anschauungen  zustande  kommen,  weil  beide  Richtungen  einen 
gemeinsamen  Ausgangspunkt  und  ein  gemeinsames  Endziel 
hatten.  Beide  trafen  sich  in  dem  Bestreben,  die  Lage  der  Juden- 
heit,  die  unerträglich  geworden  war,  zu  ändern.  Daß  Herzl  vor 
allem  von  der  politischen  und  moralischen  Lage  des  Volkes  aus- 
ging, die  Ghowewe  Zion  hingegen  mehr  von  dem  Empfinden 
geleitet  waren,  daß  der  Bestand  des  Volkes  in  der  Diaspora  ge- 
fährdet sei,  konnte  zwar  den  bekannten  Streit  über  die  Methoden 
und  das  Tempo  der  Arbeit  entfesseln,  doch  keinen  inneren  Gegen- 
satz bedeuten.  Vielmehr  scheinen  beide  Richtungen  einander  zu 
ergänzen.  Der  Herzische  Zionismus  hatte  die  Juden  theoretisch 
als  Volk  erkannt  und  dann  erst  das  wirkliche  jüdische  Volk  ent- 
deckt, die  Ghowewe  Zion  hatten  im  kleinen  eine  Sache  unter- 
nommen, welche  nur  als  alljüdische  und  politische  durchführbar 
war,  sie  fanden  bei  Herzl  die  Kraft,  ihre  Herzensangelegenheit 
zur  Sache  einer  Weltbewegung  zu  erheben. 

Es  ist  somit  leicht  erkennbar,  daß  es  sich,  trotz  aller  national- 
kulturellen Färbung  der  Ghowewe  Zion  und  der  heutigen  zio- 
nistischen Organisation,  im  Zionismus  doch  vor  allem  um  eine 
Bewegung  handelt,  welche  die  Judenheitsirage  lösen  will.  Nur 
dafür  ist  es  möglich,  ein  einheitliches  Programm  aufzustellen. 
Der  Zionismus  als  geistige  Bewegung  greift  aber  weit  darüber 
hinaus.  Indem  er  an  der  Wiedergeburt  des  jüdischen  Volkes 
arbeitet,  rührt  er  notwendigerweise  nn  die  Judentumsfra.ge,  nicht 
nur  in  Palästina,  wo  die  Praxis  des  Lebens  und  der  neu  jüdischen 
Erziehung  fortwährend  das  Problem  des  jüdischen  Inhalts  auf- 
wirft, sondern  auch  in  der  Diaspora,  wo  durch  die  Nationali- 
sierung, sowie  durch  die  Ausstrahlungen  der  palästinensischen 
Schöpfungen  mit  Notwendigkeit  der  Drang  erwacht,  dem  jüdi- 
schen Leben  einen  jüdischen  Inhalt  zu  geben.  Schon  Herzl  sagte: 

i49 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

,,Der  Zionismus  ist  die  Rückkehr  zum  Judentum  vor  der  Rück- 
kehr ins  Judenland",  wenn  er  auch  mit  dem  Worte  „Judentum" 
mehr  allgemein  die  jüdische  Gemeinschaft  meinte,  mit  der  Rück- 
kehr die  Abkehr  von  der  Assimilation. 

Die  Krise  des  Judentums  ist  ihrer  Natur  nach  viel  zu  kom- 
pliziert, als  daß  der  Zionismus  in  Hinblick  auf  sie  eine  eindeutige 
Bewegung  sein  könnte.  Hier  ist  noch  alles  im  Flusse  und  die  Be- 
griffe, Anschauungen,  Empfindungen  sind  noch  chaotisch.  Mit 
dem  vom  Zionismus  erstrebten  und  schrittweise  sich  verwirklichen- 
den Wiederaufbau  der  jüdischen  Gemeinschaft  ist  zwar  die  Vor- 
bedingung für  eine  Lösung  dieser  Krise  gegeben.  Aber  das  neue 
Judentum  kann  nicht  mehr  das  alte  sein.  Der  Einfluß  der  Assi- 
milationsperiode, die  völlig  geänderten  Lebensverhältnisse  und 
seelischen  Bedürfnisse  der  heutigen  Juden  bedingen  eine  Situa- 
tion, in  welcher  es  problematisch  geworden  ist,  welchen  Inhalt 
das  neue  Judentum  haben  kann. 

Innerhalb  der  zionistischen  Bewegung  hat  bisher  nur  ein 
Denker,  Achad  Haam,  konsequent  und  klar  die  Richtung  ge- 
wiesen, in  der  die  Renaissance  des  Judentums  erstrebt  werden  solle. 

Achad  Haam  hat  die  jüdische  Frage  seit  j  eher  als  eine  Judentums- 
frage angesehen.  Er  betrachtete  es  stets  als  aussichtslos,  die  Juden- 
heitsfrage zu  lösen.  Für  ihn  handelte  es  sich  darum,  das  Juden- 
tum, als  geistig-sittliches  Sein,  das  sich  in  schwerer  Krise  be- 
findet, zu  regenerieren.  Dies  könnte,  nach  seiner  Ansicht,  nur 
durch  ein  geistiges  Zentrum  in  Palästina  geschehen.  Würde 
das  Judentum  dadurch  wieder  zu  einer  kulturell  hoch- 
wertigen Erscheinung  werden,  so  würde  dies  nicht  nur  die  mo- 
ralische Lage  der  Judenheit  ändern,  sondern  auch  die  Juden  wieder 
für  das  Judentum  gewinnen.  Dann  würde  vielleicht  auch  die 
äußere  Befreiung  glücken.  Es  ist  begreiflich,  daß  Achad  Haam 
mit  diesen  Anschauungen  in  den  schärfsten  Gegensatz  zur  Herzi- 
schen Auffassung  gelangen,  wie  andererseits,  daß  er  den  stärksten 
Einfluß  auf  die  kulturelle  Arbeit  in  Palästina  und  ihre  Pioniere 
ausüben  mußte.  Achad  Haam  denkt  an  eine  Regeneration  des 
Judentums  aus  dem  Geiste  der  Zeit.  Er  will  keine  „Reform"  der 
Religion,  ebensowenig  wie  Orthodoxie  oder  freidenkerische  Irreli- 
giosität. Ihm  ist  Judentum  all  das,  was  uns  historisch  über- 
kommen ist,  er  will  dies  daher  aufs  treueste  pflegen,  doch  soll 

i5o 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

das  neue  Leben  in  Palästina  das  Judentum,  das  nie  starr  war, 
verjüngen,  dem  Verhalten  einen  neuen  Sinn  geben.  Nur  das  Leben 
selbst,  nicht  aber  eine  rationalistische  Reform,  kann  das  Über- 
kommene weiterentwickeln,  mit  dem  heutigen  Geist  in  Einklang 
bringen. 

Tatsächlich  scheint  das,  was  Achad  Haam  vorschwebt,  un- 
gefähr den  Weg  zu  bezeichnen,  den  jene  Gruppe  von  Erziehern 
geht,  welche  das  hebräische  Gymnasium  in  Jaffa  leitet.  In  dieser 
Schule,  in  der  alle  Gegenstände  in  neuhebräischer  Sprache  unter- 
richtet werden,  gibt  es  keine  Religionsstunde.  Religion  ist  pri- 
vate Sache  der  häuslichen  Erziehung.  Wohl  aber  werden  Bibel, 
Talmud  usw.,  das  ganze  religiöse  Schrifttum,  sehr  ausführlich 
als  Literatur  und  Geistesgeschichte  des  Judentums  unterrichtet. 
Natürlich  ist  es  nicht  ohne  Kämpfe  um  den  Geist,  in  welchem 
die  Schüler  darin  unterwiesen  werden  sollen,  ferner  um  Auswahl 
und  Umfang  des  Stoffes,  abgegangen.  Speziell  der  Versuch,  die 
Bibel  nach  den  neuesten  kritischen  Methoden  zu  zergliedern, 
mußte  aufgegeben  werden.  Die  Schüler  erhalten  außer  der 
jüdischen  eine  vollkommene  humanistische  Bildung;  Liebe  zur 
Heimat  und  zur  Natur  wird  ihnen  eingepflanzt,  und  so  kann 
erwartet  werden,  daß  in  den  Herzen  der  Schüler,  die  mit  dem 
jüdischen  Land,  der  jüdischen  Sprache,  dem  jüdischen  Geist, 
wie  er  in  den  alten  Schriften  quillt,  ebenso  vertraut  sind,  wie  mit 
den  modernen  Wissenschaften  und  Kulturideen,  ein  neues,  leben- 
diges Judentum  in  Palästina  wach  werden  wird. 

Dieser  positive  Versuch  ist  gewiß  zukunftsversprechend.  Ob 
jemals  das  neue  Judentum  in  Palästina  durch  seine  Ausstrah- 
lungen den  jüdischen  Menschen  der  Diaspora  wird  erlösen 
können,  darüber  heute  zu  diskutieren,  ist  eine  Unmöglichkeit. 
Für  die  Gegenwart  kann  nur  konstatiert  werden,  daß  der  Zionis- 
mus mit  der  Devise  der ,, Rückkehr  zum  Judentum"  den  modernen 
Juden  vor  ein  Dilemma  stellt.  Er  hat  ihm  damit  eine  SehnsucJit 
eingepflanzt,  die  er  noch  nicht  befriedigen  kann.  Und  so  sehen 
wir,  daß  manche  Zionisten  diese  Rückkehr  dahin  auffassen,  daß 
sie  eine  solche  zum  heutigen  Judentum  bedeutet.  Was  kann  dieses 
aber  dem  modernen  Juden  geben!  Er  hat  sich  weit  von  ihm 
entfernt,  wie  weit,  das  zeigt  beispielsweise  sein  Verhalten  zum 
Christentum.  Die  traditionelle  jüdische  Scheu  vor  dessen  Stifter 

i5i 


WANDLUNGEN  DI  ZIONISMUS 

und  seinen  Lehren  kann  er  nicht  mitmachen,  er  sieht  vielmehr 
klar  den  Fortschritt,  den  es  bedeutete,  als  das  Christentum  den 
Quell  der  religiösen  Sittlichkeit  ins  Innere  der  Menschenbrust 
verlegte.  Es  ist  gar  kein  Zufall,  daß  in  der  hebräischen  Literatur 
ein  geistiger  Kampf  gerade  über  die  Stellung  zum  Christentum 
entbrannt  ist,  daß  Achad  Haam,  der  das  Judentum  mit  einigen 
festen  Begriffen  abzugrenzen  versucht,  darob  so  manche  An- 
griffe erfaliren  muß. 

In  diesem  Ringen  um  das  neue  Judentum,  nach  dem  die  Sehn- 
sucht des  modernen  Juden  geht,  fiel  das  Wort  von  der  „Er- 
neuerung des  Judentums",  das  Martin  Buber  geprägt  hat  und 
das  in  seinem  Munde  eine  spezielle  Bedeutung  hat.  Buber  sieht 
nämlich  in  der  jüdischen  Entwicklung  seit  Uranfang  zwei  Strö- 
mungen mit  einander  ringen:  Das  lebendige,  geistige,  mythen- 
schaffende, ein  unmittelbares  Verhältnis  zum  Absoluten  be- 
sitzende ,, unterirdische"  Judentum,  wie  es  in  den  Mythen  der 
Bibel,  im  Urchristentum,  in  der  Agada,  der  Kabbala  und  zuletzt 
im  Chassidismus  schöpferisch  war,  und  das  ,, offizielle"  Juden- 
tum der  Rabbiner,  das  immer  und  immer  wieder  dieses  quellende 
religiöse  Leben  unterdrückte  und  die  Religion  in  starre  For- 
meln, Gesetze  faßte.  Das  Judentum,  das  wir  heute  kennen,  ist 
nur  ein  solches  offizielles.  Buber  meint,  daß  die  Zerrissenheit, 
die  heute  die  Signatur  der  jüdischen  Seele  ist,  die  Spannungen 
und  Erwartungen,  mit  denen  sie  erfüllt  ist,  einen  Zustand  be- 
deuten, der  einer  religiösen  Erneuerung  günstig  ist.  Dieser  gelte 
es  die  Wege  zu  bereiten. 

Der  Standpunkt  Bubers  eröffnet  die  Möglichkeit,  ein  bewußter 
Jude  zu  sein,  ohne  aus  Opportunität  irgend  etwas  mitmachen 
zu  müssen,  was  man  innerlich  überwunden  hat.  Die  „Rückkehr 
zum  Judentum",  die  der  Zionismus  proklamiert  und  fordert,  als 
Rückkehr  zum  heutigen  Judentum  gedeutet,  birgt  diese  Gefahr 
und  beschwört  Konflikte  herauf,  die  nur  diesem  Mißverständnis 
entspringen.  Zudem  muß  die  zionistische  Organisation  als  po- 
litische Körperschaft  eine  gewisse  Taktik  einhalten,  sie  muß  auf 
gewisse  Gefühle  und  Empfindlichkeiten  Rücksicht  nehmen.  Aus 
Opportunität  heraus  wird  aber  nichts  Neues,  Großes  geboren 
werden;  nur  aus  dem  unbedingten  Leben  kann  es  quellen. 
Aus  diesem  Grunde  ist  Bubers  Richtung  für  die  individuelle. 


102 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

seelische  Not  des  heutigen  modernen  Juden  von  der  größten  Be- 
deutung. Der  moderne  Jude,  der  alle  Bildungselemente  der  Zeit 
in  sich  aufgenommen  hat  und  der  sich  doch  seiner  —  zumindest 
durch  bestimmte  Dispositionen  gekennzeichneten  —  Eigenart 
tief  bewußt  bleibt,  ist  nicht  nur  der  Träger  der  allgemeinen,  in 
der  Zeit  liegenden  Sehnsucht,  sondern,  durch  die  besondere  Span- 
nung, die  sein  Judentum  mit  all  seinen  Sonderheiten  und  Wider- 
sprüchen verursacht,  in  einem  viel  stärkeren,  inneren  Aufruhr, 
als  der  moderne  Mensch  anderer  Volkszugehörigkeit.  Er  ver- 
wirft die  sogenannte  ,, Assimilation",  soweit  darunter  die  Sucht 
zu  verstehen  ist,  das  ,, Jüdische"  vollkommen  abzustreifen,  nicht 
so  sehr  aus  dem  mehr  äußeren  Grunde,  weil  sie  unwürdig  ist, 
sondern  aus  dem  inneren,  daß  sie  eine  Unmöglichkeit  bedeutet. 
Das  Tiefste,  das  seiner  Seele  eigen  ist,  kann  er  nicht  durch  ,,Über- 
winden"  zum  Schweigen  bringen.  Der  Glaube,  daß  dies  mög- 
lich sei,  ist  der  fundamentale  Irrtum  der  sogenannten  Assimi- 
lanten,  an  dem  sie  scheitern,  wenn  sie  es  auch  nicht  eingestehen. 
Dieser  Weg  zur  Erringung  der  inneren  Einheit  ist  aussichtslos. 

Der  Zionismus  weist  den  entgegengesetzten:  Auf  dem 
jüdischen  Boden  zu  verharren  und  diesem  die  modernen  Kultur- 
keime einzupflanzen;  dadurch  aber  wird  das  bisherige  Juden- 
tum, das  aus  ganz  anderen  Entwickelungen  hervorging,  völlig 
verändert.  Deshalb  kann  eine  Rückkehr  zum  heutigen  Judentum 
oder  dessen  bloße  Regeneration  die  Krisis  des  modernen  jüdi- 
schen Individuums  nicht  lösen.  Diese  verlangt  vielmehr  nach 
einer  völligen  Erneuerung  des  Judentums. 

Der  Zionismus  ist  noch  nicht  die  Erneuerung.  Aber  durch  die 
Umwandlung  der  jüdischen  Psyche,  die  er  vollbringt,  bereitet 
er  der  Erneuerung  den  Boden:  In  den  durch  Rationalismus  und 
Zweckstreberei  verkümmerten  jüdischen  Seelen  richtet  er  ein 
Ideal  auf,  an  Stelle  der  allzu  flinken  Anpassung  an  die  äußeren 
Verhältnisse  stärkt  er  die  Beharrungskraft  und  den  Glauben  an 
die  schöpferische  Macht  des  Geistes,  gegen  das  passive  Dulden 
setzt  er  die  befreiende  Tat  und  ruft  die  in  ödem  Eudämonismus 
versunkenen  Juden,  denen  materielle  Güter-Sicherheit,  Besitz, 
Gesundheit  usw.  —  alles  bedeuten,  zu  einer  heroischen  Anstren- 
gung auf. 

Je  stärker  diese  Umwandlung,  desto  größer  die  Entfernung 

i53 


WANDLUNGEN  IM  ZIONISMUS 

vom  bisherigen  Judentum,  sowie  die  Sehnsucht  nach  einer  durch- 
gängigen Erneuerung.  So  weist  der  Zionismus  den  Weg  der 
Lösung  der  jüdischen  Krise,  indem  er  erst  die  Spannung  schafft, 
aus  welcher  die  Erneuerung  mit  elementarer  Macht,  gleich  einer 
neuen  Religiosität,  hervorbrechen  muß. 

Die  Erneuerungsbewegung  hat  dem  Zionismus  eine  Weite  ge- 
geben, vermöge  der  er  über  den  Rahmen  der  zionistischen  Or- 
ganisation hinaus  all  die  Menschen,  welche  den  tiefen  Zwiespalt 
der  modernen  jüdischen  Seele  empfinden,  umspannen  und  tragen 
kann.  Erkenne  der  moderne  Jude  darum,  daß  der  Zionismus 
keine  engbegrenzte  Parteiangelegenheit  ist,  daß  er  sich  nicht  er- 
schöpft in  politischer  und  kolonisatorischer  Arbeit  und  im 
Streben  nach  einem  regenerierten  Judentum,  daß  in  ihm  viel- 
mehr die  letzte  und  höchste  seelische  Not  des  heutigen  Juden 
nach  Erlösung  ringt.  Will  der  moderne  Jude  zu  einer  höheren 
Lebensgestaltung  gelangen,  zu  innerer  Harmonie,  so  lasse  er  seine 
Note  ertönen  in  der  Symphonie  der  neu  jüdischen  Bewegung,  statt 
sich  auf  sein  Ich  zurückzuziehen  und  in  Skepsis  oder,  was  noch 
schlimmer  ist,  in  Resignation  zu  versinken,  die  lebensfeindliche, 
niederdrückende  Mächte  sind  und  den  Seelenzustand  des  mo- 
dernen Juden  nur  noch  mehr  herabstimmen.  Nur  der  Wille,  auf 
einer  höheren  Stufe  des  Seins  die  inneren  Widersprüche  aufzu- 
heben und  zu  überwinden,  kann  befreiend  und  lebenssteigernd 
wirken.  Und  solcher  Wille  heißt:   Zionismus! 


i54 


Theodor  Herzl  und  wir 

Von  Robert  Weltsch 

„Ein  Volk,  wo  Geist  und  Größe  keinen  Geist  und 
keine  Größe  mehr  erzeugt,  hat  nichts  mehr  gemein 
mit  andern,  die  noch  Menschen  sind,  hat  keine  Rechte 
mehr,  und  es  ist  ein  leeres  Possenspiel,  ein  Aber- 
glauben ,  wenn  man  solche  willenlose  Leichname 
noch  ehren  will,  als  wäre  ein  Römerherz  in  ihnen. 
Weg  mit  ihnen!  Er  darf  nicht  stehen,  wo  er  steht, 
der  dürre,  faule  Baum,  er  stiehlt  ja  Licht  und  Luft 
dem  jungen  Leben,  das  für  eine  neue  Welt  heran- 
reift." Hölderlin. 

I. 

(jFustav  Landauer  spricht  in  seiner  Darstellung  der  Revolution 
davon,  daß  in  der  Aufeinanderfolge  von  Beziehungen  mensch- 
lichen Mitlebens,  die  wir  Entwicklung  oder  gar  Fortschritt  der 
Menschheit  zu  nennen  gewohnt  sind,  stets  ein  Zustand  relativer 
Stabilität  aller  Erscheinungsformen  des  Mitlebens  abgelöst  wird 
durch  eine  Krise,  in  der  das  revolutionierende  Prinzip,  der  Geist, 
die  Schranken  der  autoritativen  Festsetzungen  durchbricht,  die 
Formen  sprengt,  die  Ruhe  in  Bewegung  wandelt.  Dieser  be- 
wegende Geist  wird  erzeugt  durch  die  Utopie.  ,,Die  Utopie  gehört 
von  Haus  aus  nicht  dem  Bereiche  des  Mitlebens,  sondern  des 
Individuallebens  an.  Unter  Utopie  verstehen  wir  ein  Gemenge 
individueller  Bestrebungen  und  Willenstendenzen,  die  immer 
heterogen  und  einzeln  vorhanden  sind,  aber  in  einem  Moment  der 
Krise  sich  durch  die  Form  des  begeisterten  Rausches  zu  einer 
Gesamtheit  und  zu  einer  Mitlebensform  vereinigen  und  organi- 
sieren: zu  der  Tendenz  nämlich,  eine  tadellos  funktionierende 
Topie  zu  gestalten,  die  keinerlei  Schädlichkeiten  und  Ungerech- 
tigkeiten mehr  in  sich  schließt." 

Utopisten  sind  Menschen,  welche  in  Fesseln  nicht  leben  können. 
Wenn  eine  vom  Geiste  geschaffene  Welt  lebendiger,  sinnvoller 
Beziehungen  durch  den  Lauf  der  Zeit  und  den  Wechsel  der  Ge- 
schlechter zur  Erstarrung  toter  und  sinnloser  Formen  geführt 
hat,  die  von  den  Menschen  nicht  gelebt  und  nicht  verstanden, 
nur  ihnen  überkommen  sind,  —  erhebt  der  Utopist,  sich  ab- 
wendend von  dem  Leben  der  Lüge  und  geistlosen  Geschäftigkeit, 
die  vollkommene  Welt,  deren  Bild  er  geschaut  hat,  zu  seinem 

i55 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

Ziele.  Er  glaubt  daran,  daß  sie  erstehen  wird,  erstehen  durch 
sein  Werk;  er  will  Schöpfer  sein,  Schöpfer  in  seinem  Ebenbild, 
Verwirklicher  seiner  Idee.  So  erstrebt  er  das  schlechthin  Un- 
mögliche, seinem  Bewußtsein  ist  es  möglich,  und  die  verständigen 
Menschen  seiner  Umwelt  mit  ihren  berechtigten  Zweifeln  sind 
ihm  ebenso  unbegreiflich  wie  er  ihnen. 

Der  gemeine  Mann  nennt  diese  Menschen  auch  Träumer  oder 
Idealisten.  Und  die  Erfahrung  zeigt,  daß  der  Utopist  sein  Ziel, 
das  Unerreichbare,  nicht  erreicht;  wohl  aber  wird  durch  sein 
Wirken,  das  zunächst  das  Ungewöhnliche  unternimmt,  etwas  er- 
reicht. Wüßte  er,  daß  sein  Ziel  unmöglich  ist,  es  lohnte  ihm 
nicht,  die  Hand  anzulegen.  Er  weiß,  daß  es  unendlich  fern  von 
seiner  Gegenwart  liegt;  und  da  er  es  zu  ergreifen  ausgeht,  ist 
das  höchste  Maß  von  Stoßkraft  nötig.  Dieser  höchsten  Stoßkraft 
bedarf  es  aber,  um  auch  nur  die  nächsten  Mauern  zu  brechen. 

Die  Masse,  die  über  den  Utopisten  lächelt,  ist  die  auf  das  Ge- 
schäft der  materiellen  Selbsterhaltung  ganz  und  ausschließlich 
bedachte.  Von  dem  Geist  hat  sie  kein  Wissen;  ihr  Leben  ist  in 
ein  von  der  Kraft  der  Ströme  früherer  Zeiten  gegrabenes  Bett 
gebettet,  und  sie  wird  jeder  Anfechtung  erbitterten  Widerstand 
leisten.  Daß  die  Gewohnheit  des  Menschen  Amme  ist,  mag  für 
den  Menschen  dieses  Zeitalters  seine  ausschließliche  Richtigkeit 
haben.  Sei  auch  sein  ganzes  Leben  eine  Lüge;  so  ist  es  doch  seine 
Lebenslüge.  Wer  jenseits  dieser  Lüge  die  Wahrheit  schaut  und, 
diese  aussprechend,  jener  Bestand  erschüttert,  ist  ein  Revolu- 
tionär. Der  Revolutionär  meint  zunächst,  daß  die  von  seinem 
Geist  gefundene  Wahrheit,  da  sie  doch  Wahrheit  ist,  anerkannt 
werden  wird.  Wenn  er  daran  geht,  sie  zu  verkünden,  stößt  er 
auf  den  großen  Widerstand;  da  muß  er  zum  Kämpfer  werden. 
Die  Wut  der  aus  ihrer  Ruhe,  ihrem  Schlaf,  den  sie  Glück  nennen, 
aufgescheuchten  Menschen  kehrt  sich  gegen  ihn.  Er  vs^ird  ver- 
folgt, ergriffen,  gerichtet;  wie  Amos  von  Tekoa,  wie  Sokrates 
und  Savonarola. 

Das  jüdische  Volk  mußte,  nach  der  Vernichtung  seiner  poli- 
tischen Selbständigkeit  und  der  Vertreibung  von  seinem  Terri- 
torium, in  hartem  Kampf  um  seine  Erhaltung  ringen;  es  um- 
schloß sich  mit  dem  undurchdringbaren  Panzer  des  Gottesgesetzes ; 
das  Leben  wurde  in  allen  Einzelheiten  genau  geregelt  und  die 

i56 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

kommenden  Geschlechter  wurden  auf  diese  Regeln  verbunden. 
Als  der  Fruchtboden  des  geistigen  Seins  des  Judentums  verdorrte, 
wurden  aus  den  lebendigen  Werten  Traditionswerte,  die  von  der 
Macht  der  Trägheit  geschützt  wurden. 

Als  zu  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  die  Wogen  des  Befreiungs- 
kampfes der  geknechteten  Menschheit  hoch  gingen,  erwachten 
auch  im  jüdischen  Ghetto  Menschen,  die,  von  der  Bewegtheit 
der  Zeit  ergriffen,  ihr  Volk  aus  den  Banden  erlösen  wollten. 
Der  Verkümmerung  und  Ernüchterung  wollten  sie  wehren;  was 
sie  erstrebten,  war  durchaus  eine  Neubefruchtung  der  jüdischen 
Welt  und  die  Pioniere  dieses  Gedankens  waren  entfernt  davon, 
eine  Auflösung  des  Judentums  zu  wollen,  die  sich  später  aller- 
dings als  Folge  ihrer  Bestrebungen  einstellte.  Dazu  kommt,  daß 
damals  ein  neues  Empfinden  für  menschliche  und  bürgerliche 
Ehre  erwacht  war;  auch  jene  Juden,  die  mit  einem  fast  unbe- 
greiflichen Idealismus  für  das  papierene  Ideal  der  Gleichberech- 
tigung kämpften,  wollten  ihr  Volk  aus  seiner  ehrlosen  Stellung 
befreien.  Wenn  wir  diesen  Männern  Gerechtigkeit  widerfahren 
lassen,  müssen  wir  sie  nach  ihrem  Idealismus  und  nicht  nach 
ihrem  Ideal  beurteilen.  Sie  waren  es,  die  die  Fesseln  gebrochen 
haben,  welche  das  Judentum  umfangen  hatten. 

Nachdem  die  Emanzipation  durchgesetzt  war,  gewöhnten  sich 
die  Juden  schnell  an  die  neuen  Verhältnisse.  Sie  nahmen  deutsche 
Bildung  an,  besuchten  deutsche  Schulen;  sie  fanden  sich  in  den 
neuen  Wirtschaftskreis  und  suchten  nach  Geltung.  Als  Grad- 
messer des  Wertes  erschien  die  Anerkennung,  und  jeder  wollte 
„es  zu  etwas  bringen".  Wie  jene  Ära,  die  wir  Liberalismus  nennen 
und  die  eine  sehr  verschlechterte  Wiederholung  der  Aufklärung 
des  i8.  Jahrhunderts  war,  das  materialistische  Ideal  alleinherr- 
schend machte,  so  wirkte  sie  besonders  auf  den  Juden,  der,  zum 
ersten  Male  ganz  entwurzelt,  diese  Entwicklung  mitmachen 
durfte.  Im  deutschen  Volke  konnte  diese  Zeit  den  „Bildungs- 
philister" erzeugen,  den  Nietzsche  bekämpft  hat.  Der  jüdische 
Bildungsphilister  bekommt  seine  eigene  Note  dadurch ,  daß 
er  außer  auf  die  Macht  seines  Verstandes  und  die  Errungen- 
schaften seines  Zeitalters  noch  auf  die  neuerworbene  „europä- 
ische Kultur"  stolz  ist.  Die  jüdische  Gemeinschaft  ist  aufgelöst 
und  entwürdigt.  In  keinem  Menschen  triumphiert  der  liberale 

i57 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

Individualismus  so  wie  im  Juden.  Seine  Interessen  erschöpfen 
sich  in  einem  dauernden  Geplänkel  um  die  faktische  Durch- 
setzung der  auf  dem  Papier  gewährten  Rechte.  Nirgends  fließt 
der  Strom  des  Lebens;  der  Jude  will  den  Schein  des  Lebens 
erwecken.  Er  wird  Schauspieler,  Fälscher,  Lügner.  Der  Typus 
des  Literaten,  den  Jakob  Wassermann  gezeigt  hat. 

IL 

In  diese  Zeit  ist  Theodor  Herzl  gestellt  worden.  Er  war  ihr 
Kind,  und  eines  ihrer  besten;  er  war  untergetaucht  in  die  Lite- 
ratenkultur, aber  sein  warmes  Herz  hatte  zu  schlagen  nicht  auf- 
gehört. Und  plötzlich,  bei  geringem  Anlaß,  kam  über  ihn  die 
Erkenntnis,  die  ihm  die  ganze  Erbärmlichkeit  des  Lügengebäudes 
zeigte,  in  dem  er  wohnte. 

Die  Wahrheit,  die  Herzl  schaute,  war  die:  die  Juden  sind  eine 
Bluts-  und  Schicksalsgemeinschaft,  ein  Volk,  und  werden  als 
solches  von  allen  andern  Völkern  deutlich  gefühlt.  Sie  selber 
hatten  bisher  nicht  die  Reife  und  vor  allem  nicht  die  Unbefangen- 
heit, dies  zu  erkennen.  Die  Judenfrage  ist  nicht  eine  Frage  des 
Rechts,  sondern  eine  Frage  der  Macht;  sie  ist  eine  politische 
Frage,  also  nur  durch  Machtmittel  zu  lösen.  Die  Ursache  der 
Judennot  ist  die  zerstreute  Lage  der  Juden  ohne  Besitz  eines 
Machtzentrums.  Daher  muß  die  vollkommenste  Art  nationalen 
Zusammenlebens  erstrebt  werden:  der  Judenstaat.  Der  Weg  dazu 
ist  der  der  Selbsthilfe:  ,,Ein  Volk  kann  nur  sich  selbst  helfen; 
kann  es  das  nicht,  so  ist  ihm  nicht  zu  helfen."  Daß  Herzl  ein 
Selbsthelfer  war,  hebt  ihn  über  alle  „Theoretiker"  der  Juden- 
frage und  über  alle  seine  Kritiker. 

Herzl  war  von  der  zwingenden  Kraft  der  ihm  offenbar  ge- 
wordenen Wahrheit  so  erfüllt,  daß  er  meinte,  er  brauche  sie  nur 
zu  sagen,  und  alle  Menschen  werden  sich  ihrer  wie  eines  lange 
gesuchten  Gutes,  das  Befreiung  von  einem  drückenden  Alp 
bringt,  bemächtigen.  Er  vergaß,  daß  nicht  die  Wahrheit  und 
das  Gute,  sondern  die  Trägheit  und  das  Bequeme  das  Tun  der 
Menschen  bestimmen.  Als  Herzl  seine  Lehre  aussprach,  warf 
sich  ihm  die  kompakte  Majorität  der  aus  dem  Schlummer  auf- 
gescheuchten Juden  entgegen.  Da  erst  wurde  Herzl,  der  gemeint 
hatte,  nur  politischer  Sachwalter  sein  zu  müssen,  zum  Kämpfer. 

i58 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

Der  Kampf  jener  ersten,  großen,  heroischen  Zeit  des  Zionismus 
ist  das  Größte  in  der  Geschichte  des  neuzeitlichen  Judentums. 
Wie  der  Stoß  eines  Sturmwinds  war  der  revolutionierende  Geist 
in  die  träge  Masse  der  Juden  gefahren;  es  ward  dem  Judentum 
ein  neues  Bewußtsein  gegeben  und,  gemäß  der  Doppelbedeutung 
des  Wortes  ,,conscientia",  ein  Gewissen.  Der  Unehrlichkeit,  der 
Unaufrichtigkeit  des  jüdischen  Lebens  stellte  Herzl  die  Offenheit 
seines  Bekenntnisses  gegenüber;  dem  trostlosen,  moralischen  und 
materiellen  Elend  der  jüdischen  Gegenwart  stellte  er  seine  voll- 
endet schöne,  utopische  Vision  eines  Judenstaates  gegenüber.  Er 
glaubte  an  die  Ausführbarkeit  seines  unendlichen,  unmöglichen 
Planes;  „wenn  ihr  wollt,"  sagte  er,  „ist  es  kein  Märchen".  Er 
hat  sein  ganzes  Leben  dieser  Tat  geweiht;  mit  beispielloser  Hin- 
gebung, in  schwerstem  Kampfe  hat  er  in  einer  jeder  Größe  ent- 
behrenden Zeit,  in  einem  jeder  Größe  baren  Volke,  gestanden 
und  gerufen,  wie  ein  Rufer  in  der  Wüste.  Er  hat  das  Volk  zu- 
sammengeballt und  schuf  als  unmittelbarsten  Ausdruck  seines 
Erlebens  die  zionistische  Organisation  und  den  zionistischen  Kon- 
greß; die  ersten  lebenden  jüdischen  Gemeinschaftsformen  in- 
mitten einer  abgestorbenen  Welt. 

,,Das  ist  in  unseren  Jahrhunderten  des  Übergangs  die  Be- 
stimmung der  Revolution:  den  Menschen  ein  Bad  des  Geistes 
zu  sein.  In  dem  Feuer,  der  Hingerissenheit,  der  Brüderlichkeit 
dieser  aggressiven  Bewegungen  erwacht  immer  wieder  das  Bild 
und  das  Gefühl  der  positiven  Einung  durch  verbindende  Eigen- 
schaft, durch  Liebe,  die  Kraft  ist;  und  ohne  diese  vorübergehende 
Regeneration  könnten  wir  nicht  weiter  leben  und  müßten  ver- 
sinken." (Landauer.)  Die  zionistische  Revolution  Theodor  Herzls 
hat  uns  das  erstemal  wieder  das  lebendige  Gefühl  der  positiven 
Einung  gegeben;  sie  ist  eine  Regeneration  auf  dem  Wege  zur 
Erneuerung. 

m. 

Es  gibt  Krisen  im  Leben  des  Menschen,  die  ihn  so  ganz  und 
gar,  so  von  Grund  auf  zu  wandeln  vermögen,  daß  sie  von  der 
Stunde  die  Richtung  seines  Lebens  bewirken.  Dem  Heimatlosen, 
der,  nach  Hofmannsthals  Wort,  sich  jeder  Welle  hingibt,  wird 
eine  Heimat  im  Geiste,  der  in  ihn  gefahren  ist:  er  hat  seine  Bahn. 

i59 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

Theodor  lierzl,  der  Künstler  und  Ästhet,  der  Mann  des  tändeln- 
den Spieles,  ist  im  Feuer  seines  Erlebnisses  —  das  wir  Offen- 
barung oder  Berufung  nennen  können  —  neu  geschmiedet 
worden.  Er  schreibt  am  S.April  1896,  als  ihm  ein  Entwurf  zur 
Lösung  der  Judenfrage  vorgelegt  worden  war,  in  einem  Briefe: 
,,Ich  zweifelte  nicht  mehr  an  der  Güte  unseres  Menschen- 
materials, als  ich  die  Kraft  des  nationalen  Erwachens  in  mir 
selbst  erlebte.  Zur  Zeit,  als  ihr  Freund  jene  Worte  niederschrieb, 
war  ich  noch  ein  spöttischer  Jude,  der  wahrscheinlich  gelacht 
hätte,  wenn  ihm  diese  Aufzeichnungen  zu  Gesicht  gekommen 
wären.  Aber  es  ist  in  mir  eine  Wandlung  vorgegangen,  die  ich 
als  das  Glück  und  den  Stolz  meines  Lebens  empfinde  .  .  ."*) 

Der  chinesische  Weise  Tschuang-Tse  hat  dieses  Gleichnis  ge- 
sagt: 

„Ich,  Tschuang-Tse,  träumte  einst,  ich  sei  ein  Schmetterling, 
ein  hin  und  her  flatternder,  in  allen  Zwecken  und  Zielen  ein 
Schmetterling.  Ich  wußte  nur,  daß  ich  meinen  Launen  wie  ein 
Schmetterling  folgte,  und  war  meines  Menschenwesens  unbe- 
wußt. Plötzlich  erwachte  ich;  und  da  lag  ich:  wieder  „ich  selbst". 
Nun  weiß  ich  nicht:  war  ich  da  ein  Mensch,  der  träumt,  er  sei 
ein  Schmetterling,  oder  bin  ich  jetzt  ein  Schmetterling,  der 
träumt,  er  sei  ein  Mensch?  Zwischen  Mensch  und  Schmetterling 
ist  eine  Schranke.  Sie  überschreiten  ist  Wandlung  genannt."*) 

IV. 

Die  Generation  von  Juden,  die  nach  Herzl  kam,  war  von  dem 
Mutterboden  des  Judentums  in  jeder  Form  losgelöst;  der  Jude 
hatte  seinen  Gesichtskreis  durch  die  ganze  Fülle  des  Geistes- 
lebens Europas  erweitert,  und  da  er  nur  aufnehmen  konnte,  nahm 
er  fast  unbegrenzt  auf;  und  schließlich  kam  er  dazu,  nicht  aus 
einer  Enge,  sondern  aus  dem  Reichtum  seines  Bewußtseins  her- 
aus, das  Letzte  und  Wichtigste  zu  suchen,  das  er  verloren  hatte, 
und  das  doch  die  unerläßliche  Voraussetzung,  der  Träger  allen 
Lebens  und  aller  Kultur  ist:  sich  selbst.  Die  Bekanntschaft 
mit  dem  Zionismus  Theodor  Herzls  und  die  Kunde  von  seinem 

*)  Mitgeteilt  von  G.  Cohen  in  der  Zeitschrift  „Ost  und  West",   1904. 
**)  „Reden  und  Gleichnisse  des  Tschuang-Tse".  Deutsche  Auswahl  von  Martin 
Buber.  Leipzig  1911. 

160 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

Leben  wird  für  den  jungen  Juden  dieser  Zeit  das  wandelnde) 
Erlebnis.  Wie  der  einzelne  sich  des  Zusammenhanges  mit 
seinem  Volke  inne  wird,  hat  Martin  Buber  in  seiner  ersten  Rede 
gesagt. 

„Zionistisches  Leben",  wie  es  unsere  Generation  versteht,  ist 
nicht  identisch  mit  dem  Zionismus  Theodor  Herzls.  Die  Be- 
sinnung auf  sein  Volkstum  wirkt  auf  das  Leben  des  jungen  Juden 
umgestaltend  etwa  —  sofern,  um  der  Deutlichkeit  willen,  eine 
Schematisierung  erlaubt  ist  —  in  drei  Richtungen. 

Erstens:  die  Wahrheit,  die  uns  offenbar  wurde  und  die  uns 
aus  der  Unsicherheit  und  Zwecklosigkeit  unseres  Daseins  eine 
Aufgabe  hebt,  erfüllt  uns  zunächst  mit  einem  Gefühl  der  Be- 
freiung, einem  Rausche  vergleichbar,  mit  einem  Glücksgefühl 
hohen  Sinnes,  wie  die  Sicherheit  erreichten  Landes  den  ver- 
schlagenen Meerfahrer.  Jeder,  der  dies  wahrhaft  mitgemacht  hat, 
erlebt  die  Zeit,  wo  er  sein  neues  Glück  in  alle  Winde  hinaus- 
schreien möchte,  wie  Herzl  in  dem  jauchzenden  Satz:  „Wir  sind 
ein  Volk,  ein  Volk."  Er  erfährt  die  Freude  des  Bekennens,  die 
ihn  stark  macht.  Dieses  Bekennen  der  neugefundenen  Zusam- 
mengehörigkeit ist  eine  Rückkehr  zum  Judentum  in  rein  for- 
maler Hinsicht,  wie  sie  Herzl  gemeint  hat.  Herzls  Werk  war  es, 
diesem  Bekenntnis  einen  Ausdruck  zu  schaffen.  Die  zionistische 
Organisation  gibt  die  Möglichkeit,  das  Bekenntnis  durch  einen 
öffentlichen  Akt  zu  vollziehen.  Dieses  Werk  zu  bauen  war  eine 
ungeheure  Tat;  heute  ist  die  Organisation  historische  Tatsache, 
und  es  droht  die  Gefahr,  daß  man  mit  dem  Anschluß  an  ein 
Vorhandenes  sich  begnüge.  Herzl  wollte  alle  kulturellen  und  reli- 
giösen Fragen  ausschalten,  weil  er  wußte,  daß  an  diesen  immer 
wieder  der  Streit  sich  entzündet  hatte;  denn  er  wollte  die  Or- 
ganisation der  Juden  schaffen.  Sein  ungeheurer  Gedanke 
scheiterte  an  der  Kleinheit  der  Zeit.  Und  da  die  radikale  Ände- 
rung des  Lebens  der  Juden,  die  Herzls  Phantasie  vorgeschwebt 
hatte,  unmöglich  war,  so  vollzog  sich  zunächst  gar  keine  Ände- 
rung. Wer  zur  zionistischen  Partei  gekommen  war,  konnte  in 
derselben  Weise  leben  wie  vordem.  Zionismus  aber  ist  der  Wille 
zur  Änderung  des  Lebens;  er  ist  die  persönliche  Aufgabe  jedes 
einzelnen.  Das  formale  Bekenntnis,  der  Mut  des  Kampfes,  die 
Verantwortung,  die  der  Soldat  mit  seinem  Posten  auf  sich  nimmt, 

11  i6i 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

ist  die  erste  Stufe,  die  wir  ersteigen;   aber  wir  dürfen  auf  ihr 
nicht  stehen  bleiben. 

Zweitens:  wenn  wir  unser  Zugehören  zur  jüdischen  Gemein- 
schaft erkannt  haben,  so  ist  es  uns  ein  Bedürfnis,  die  inhalt- 
lichen Elemente  dieser  Zusammengehörigkeit  zu  stärken;  der 
Halbheit  unseres  früheren  Lebens  absagend,  wollen  wir  ganz 
und  gar  nur  Juden  sein.  Das  Wesen  der  Gemeinschaft,  die  uns 
nicht  in  der  Tatsächlichkeit  einer  Lebensform,  sondern  nur  im 
Bewußtsein  gegeben  ist,  ist  uns  Problem.  Daraus  erwacht  unsere 
Sehnsucht  nach  der  Geschichte;  wir  gehen  daran,  die  jüdische 
Geschichte  als  die  Kunde  von  den  Vorbedingungen  unseres  Lebens 
und  den  Entstehungsbedingungen  unseres  Wesens  zu  suchen; 
wir  verstehen  sie  nicht  als  eine  Folge  von  Ereignissen,  sondern 
als  eine  Fülle  von  Bewegungen.  Wir  suchen  die  Schöpfungen 
des  jüdischen  Volkes,  in  denen  das  Denken  und  Fühlen  jüdischer 
Menschen  anderer  Zeiten  und  anderer  Himmelsstriche  uns  be- 
wahrt ist.  Die  Bekanntschaft  mit  dem  Kulturleben  der  Ostjuden, 
mit  ihrer  Literatur,  die  uns  das  Bild  und  die  Stimmung  einer 
jüdischen  Welt  vermittelt,  macht  uns  reich.  Das  weitaus  Wich- 
tigste aber  ist  für  uns  das  Werk  der  jüdischen  Antike,  das  größte 
Werk  aller  Zeiten  und  aller  Völker,  das  uns  durch  den  Ungeist 
der  Zeit,  in  der  wir  erzogen  wurden,  geraubt  ward.  Wir  müssen, 
befreit  von  dogmatischen  Vorurteilen  der  theologischen  oder  frei- 
denkerischen Orthodoxie,  die  Wesentlichkeit  dieses  größten  aller 
nationalen  Dokumente  uns  zu  eigen  machen.  Was  in  der  Ver- 
gangenheit von  der  Triebkraft,  dem  webenden  Geist  der  Volks- 
phantasie geschaffen  worden  ist,  muß  wieder  unser  nationales 
Gut  werden :  der  ungeahnte  Reichtum  unserer  Mythologie,  unsere 
Sagenwelt,  unsere  Poesie,  unsere  Weisheit,  unsere  religiöse  In- 
brunst, unsere  Mystik.  Jahwe  mit  dem  Rate  der  Elohim,  Simson 
und  Elijahu  müssen  wieder  lebendige  Gestalten  unseres  Volkes 
werden.  Die  Sprache  des  Buches,  das  nur  in  seiner  Sprache  ver- 
standen werden  kann,  soll  wieder  unsere  Sprache  werden.  Diese 
Sprache  gibt  unserem  Volkstum  innere  Kraft;  sie  schafft  uns 
auch  die  Beziehung  zu  dem  in  unseren  Tagen  neu  beginnenden 
jüdischen  Gemeinschaftsleben  in  Palästina,  das,  ein  Phänomen 
ohnegleichen,  nur  als  die  Schöpfung  des  ungeheuren  Enthusias- 
mus neuer  Juden  begriffen  werden  kann. 

162 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

Die  Aufnahme  jüdischer  Kulturwerte  ist  von  tiefgehendstem 
Einfluß  auf  unser  Leben.  Daß  dies  nicht  so  zu  verstehen  ist, 
als  ob  wir  —  auf  alles  andere  verzichtend  —  nur  noch  „jüdische" 
Inhalte  kennen  dürften,  ist  deshalb  nicht  überflüssig  zu  sagen, 
weil  es  immer  wieder  so  verstanden  wird.  Unbegreiflicherweise: 
als  ob  dem  Deutschen,  der  an  seinen  Siegfried  glaubt,  Sophokles, 
Michelangelo,  Shakespeare,  Tolstoi  nichts  bedeuten  dürften.  Aber 
auch  so  ist  es  nicht  zu  verstehen,  daß  wir  zu  einer  jüdischen 
Tradition  von  Sitten  und  Gebräuchen,  die  für  uns  sinnlos  sind, 
zurückkehren  sollten.  Nicht  Formen  suchen  wir,  sondern  Kräfte; 
die  Kräfte  des  Judentums  werden  aus  unserem  Leben  die 
neuen  Formen  schaffen.  Wir  haben  den  Glauben,  daß  aus  der 
großen  Erschütterung,  die  unser  Geschlecht  des  Überganges 
ergriffen  hat,  die  Erneuerung  des  Judentums  vor  sich  gehen 
wird. 

Drittens:  ,,Wenn  wir  uns  so  im  Judentum  bejaht  haben,  so 
fühlen  wir  die  ganze  Entartung  mit,  aus  der  wir  unsere  kommen- 
den Geschlechter  befreien  müssen."  (Buber.)  Wenn  wir  glauben, 
daß  unser  Leben  einen  Sinn,  eine  Weihe  erhalten  hat,  so  gilt 
es,  die  Wahrheit  der  Idee  in  der  Unbedingtheit  des  Lebens  zu 
erfüllen.  Wenn  wir  uns  zur  jüdischen  Gemeinschaft  stellen, 
dann  erwacht  das  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  für  diese.  Wir 
erkennen  die  innere  Unwahrheit,  die  Wesenlosigkeit  des  Juden- 
tums unserer  Zeit.  Die  Lüge  und  Kriecherei,  eine  Folge  der  Ge- 
wöhnung an  Unterdrückung  und  des  aufgezwungenen  Erhal- 
tungskampfes, rationalistische  Überhebung  und  materialistische 
Geschäftigkeit,  eine  Folge  des  Anteiles  an  der  europäischen  Ent- 
wicklung, sind  die  beherrschenden  Mächte  im  Leben  des  Juden; 
wir  sind  verantwortlich,  daß  das  neue  Geschlecht  von  Juden  aus 
dieser  Entartung  befreit  werde.  Unser  Tun  muß  den  Sinn  haben, 
daß  wir  als  Juden  das  Leben  ehrlich  und  ernst  nehmen;  ehrlich, 
indem  wir  uns  nicht  selbst  täuschen  und  uns  das  Schwere  nicht 
leicht  machen;  ernst,  indem  wir  den  neuen  Geist  in  unserem 
Leben  verwirklichen.  Das  ist  eine  Forderung  unseres  Menschen- 
tums; aller  echte  Nationalismus  ist  Bewährung  der  menschlichen 
Aufgabe.  Das  Bewußtsein  der  Verantwortung  lehrt  uns,  daß  wir 
die  ,, Auserwählten"  sind:  jeder  einzelne  auserwählt,  daß  er  voll- 
l)ringe.    Der  durch  die  Schwere  der  Materie  zerdrückte  Wille 

i63 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

mache  sich  frei  zur  Tat.  Nicht  auf  eine  „Gesinnung"  kommt  es 
an,  sondern  auf  ihre  Bewährung  und  Bezeugung  im  Leben. 

Hier  muß  wieder  gegen  einen  Irrtum  gesprochen  werden,  der 
besonders  in  zionistischen  Kreisen  häufig  ist;  daß  nämlich  die 
Übersiedlung  nach  Palästina  allein  für  einen  Juden  die  Erneue- 
rung bewirken  könnte.  Viele  Zeichen  haben  bewiesen,  daß  auch 
in  Palästina  ,,Galuth"  sein  kann.  Denn  unsere  Befreiung  meint 
vor  allem  eine  innere  Läuterung.  Der  Sinn  des  Zionismus  ist 
es,  daß  die  Juden,  die  reinen  Herzens  sind,  von  ihrer  Sehnsucht 
nach  Ganzheit  und  Harmonie  und  radikaler  Änderung  des  Lebens 
nach  Palästina  getragen  werden.  Das  ist  die  tiefste  und  wahrste 
Bedeutung  der  Lehre  Achad  Haams  von  der  Bereitung  des  Volkes 
und  der  Wiederbelebung  der  Herzen. 

Die  Juden,  die  es  nicht  aushalten  können,  finden  sich  zu- 
sammen, umschlungen  von  ihrer  gemeinsamen  Sehnsucht,  ihrem 
gemeinsamen  Glauben,  ihrem  gemeinsamen  Wollen.  Aus  dem 
Großen,  Neuen,  Freien,  dessen  Schauer  wir  erleben,  wird  der 
Geist  des  Judentums  ein  neues  Weltgefühl  gestalten. 

V. 

Der  Weg,  den  wir  Jungen  gehen,  ist  nicht  der  Weg  Theodor 
Herzls.  Wir,  die  ihn  recht  zu  verstehen  glauben,  können  ohne 
Scheu  das  zugeben.  Herzl  ist  zu  groß,  als  daß  wir  ihn  zu  fäl- 
schen brauchten. 

Wir  sagten  schon:  was  Herzl  anstrebte,  war  die  formale  Zu- 
sammenfassung der  Judenheit;  die  wirkliche,  innerliche  Ver- 
knüpfung, der  jüdische  Geist,  das  Judentum  war  ihm  unwichtig. 
Aber  seine  Tat  war  die  große  Absage  an  die  Ehrlosigkeit,  an  die 
dumpfe  Selbstzufriedenheit,  das  träge  Behagen;  sein  Leben  war, 
ein  erstes  in  der  Geschichte  des  Zerstreuungs-Judentums,  ein 
heroisches  Leben.  Er  wollte  seinem  Volke  eine  glückliche  Stätte 
von  strahlender  Vollkommenheit  bereiten;  er  erwählte  den  Weg 
mühseligster  Arbeit,  wie  im  griechischen  Mythos  der  Lichtgott 
Herakles,  und  gleich  diesem  wird  ihm  der  Olymp  zuteil.  Was 
als  rein  und  hoch,  als  schön  und  edel,  von  Menschen  verehrt 
wird,  war  in  der  politischen  Romantik  Theodor  Herzls.  Sein 
Leben  liegt  vor  uns,  die  ihn  nicht  mehr  erlebt  haben,  als  ein 
Märchen  von  hinreißender  Pracht. 

i64 


THEODOR  HERZL  UND  WIR 

Nicht,  Herzls  mißlungene  diplomatische  Aktionen,  nicht  seine 
politischen  Methoden,  selbst  nicht  die  Einzelzüge  seiner  Vor- 
stellung von  der  Lösung  der  Judenfrage  sind  wesentlich.  Nicht 
was  er  gewollt,  sondern  daß  er  gewollt  und  wie  er  gewollt.  Das 
ewige  Erbe,  das  er  uns  gelassen  hat,  ist  dieses:  der  Mythos  von 
seinem  Leben. 

Als  in  der  christlichen  Kirche  der  Übergang  vom  lebendigen 
Mythos  zum  erstarrenden  Dogma  sich  vollzog,  da  sprach  der 
Kirchenvater  Augustinus,  in  dem  das  Feuer  des  Mythos  loderte, 
die  Forderung:  ,,Non  Christiani,  sed  Christi  sumus."  So  möchte 
ich  sagen:  Nicht  Herzlianer  sollen  wir  sein,  sondern  Herzle. 
Nicht  Herzls  Theorien  wollen  wir  nachreden,  sondern  den  Rhyth- 
mus seines  Lebens  zu  leben  suchen.  Jeder  von  uns  soll  ein  kleiner 
Herzl  sein:  so  stark  in  der  Hingabe,  fest  im  Glauben,  groß  im 
Leiden,  unbedingt  im  Wollen,  heldenhaft  im  Kampfe,  treu  und 
echt  im  Handeln,  ewig  in  der  Hoffnung.  Das  rauschende  Pathos 
seiner  Seele  gilt  es  für  uns  zu  verwirklichen. 

So  erhebt  sich  über  dem  historischen  Herzl  der  ewig  lebende 
Herzl,  der  das  ragende  Symbol  der  jüdischen  Bewegung  unserer 
Zeit  bleiben  wird.  Das  Geschlecht,  das  Herzl  so  besitzt,  wird  reif 
sein  zur  Erneuerung. 

VL 

Es  gibt  kein  Warten;  weder  auf  politische  Wunder,  noch  auf 
den  günstigen  Zeitpunkt  einer  Übersiedlung  nach  Palästina. 

Es  hat  einmal  eine  Zeit  im  Judentum  gegeben,  die  gleich  der 
unseren  eine  Krise  bedeutete.  In  dumpfer  Leerheit,  in  schwüler 
Unruhe  wartete  man:  auf  die  Erlösung.  Die  Spannung  wuchs, 
die  Sehnsucht  wuchs,  aber  der  Geist  der  Schwere  lag  auf  den 
Gemütern.  Damals  trat  ein  Mann  auf  in  Israel;  dieser  Mann  war 
Jehoschua  von  Nazareth.  Und  er  sprach  zu  dem  Volke: 

Wozu  die  tragen  Erwartungen?  Verkündiget  ist  ein  geistiges 
Reich;  es  liegt  an  uns,  daß  es  erscheine.  Die  Zeit  ist  da. 


i65 


DIE   AUFGABEN 
DER    JÜDISCHEN   BEWEGUNG 


Ver  sacrum 

Von  Arthur  Salz 

tspä  riq  i^eXQ^ovaa  veörrjg,  dvÖQsq  iliyoi  xaxa  ßiov 
t,rjxriaiv  vno  rwv  yscvafxevcov  unoavaXsvvsg ...  o  rs 
S-söi;,  ü>  xarovofJiaad-sZev  dnsXavvoßSvoi,  avlXafißavsiv 
avzoig  wg  ta  noXXa  iöoxst  xai  nuQa  zrjv  dvÖQojmvTjv 
öo^ttv  xaxoQ&ovv  Tag  aTtoixiag. 

Aus  der  Morgendämmerung  der  Geschichte,  die  das  Werden 
und  Schicksal  der  Völker  verhüllt,  dringt  wie  in  geheimnisvoller 
Runenschrift  geschrieben  die  Kunde  vom  heiligen  Frühling  zu 
uns.  Mit  diesem,  dem  religiösen  wie  dem  staatlichen  Dasein  an- 
gehörenden Brauche,  von  dem  die  ältesten  Schriften  schon  als 
von  einem  Uralten,  Dunklen  sprechen,  hat  es  diese  Bewandtnis. 
In  den  Zeiten  höchster  Not,  wenn  zürnende  Götter  den  Staat 
in  Bedrängnis  brachten  oder  wenn  die  heimische  Erde  für  die 
Fülle  des  Zuwachses  zu  eng  ward  —  gelobte  man  den  heiligen 
Frühling.  Die  Erstlinge  an  Früchten  und  Tieren  wurden  ge- 
opfert, die  Jünglinge  aber  wurden,  herangewachsen,  als  geweihte 
heilige  Schar,  mit  Waffen  versehen,  hinausgeschickt,  auf  daß 
sie  sich  eine  neue  Heimat  suchten.  Die  so  aus  der  Gemeinschaft 
Gestoßenen  geleitete  der  kriegerische  Gott  nach  den  neuen  Sitzen. 

Düster  und  dunkel  ist  der  Sinn  dieses  politischen  Ritus,  das 
Sühneopfer  eines  ganzen  Volkes  —  aber  wem  könnte  er  sich  besser 
erschließen  als  dem  Volke,  dem  es  als  geschichtliches  Schicksal 
bestimmt  zu  sein  scheint,  ewig  im  heiligen  Frühling  unter  den 
Völkern  zu  leben,  dessen  Geschichte  das  Epos  der  aus  allen 
Grenzen  Gebannten  ist,  einer  heiligen  Schar  unter  den  Völkern, 
deren  Geschick  sich  erfüllt,  indem  sie  die  beklemmende  Enge, 
die  sie  sich  selbst  schafft,  immer  wieder  durchbricht  und  wieder 
weiterziehend  in  nie  erfüllter  Sehnsucht  nach  einer  bleibenden 
Ruhestätte  sich  verzehrt. 

Dem  von  den  gleichen  Nöten  Bedrängten  und  vom  gleichen  Glück 
Durchströmten,  den  das  Leben  selbst  in  seine  tiefsten  Mysterien 
eingeweiht  hat  als  einen  Geweihten,  dem  entriegelt  sich  und 
wird  offenbar  der  Sinn  der  ältesten  Riten  und  Symbole,  er  er- 
kennt sie  als  die  Wegsteine,  die  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit  für 
alle  des  Lebens  vielerfahrene  Wanderer  aufgepflanzt  sind. 

Wir,  die  heute  jung  sind,  fühlen  in  uns  von  neuem  die  uralte, 
drängende,  heilige  Frühlingsnot;   wir  fühlen,  daß  in  den  Räu- 

169 


VER  SACRUM 

men  der  alten  bequemen  Welt  für  uns  kein  Platz  mehr  ist,  daß 
wir  hinaus  müssen  über  die  väterlichen  Grenzen,  in  denen  wir 
heimisch  waren,  auf  die  Suche  nach  einer  neuen  geistigen  Heimat. 
Die  Erde  brennt  unter  unseren  ungeduldigen  Füßen,  und  schon 
sind  wir  der  quälenden  Enge  entronnen  und  stehen,  die  Segens- 
wünsche und  die  Zweifel  und  Ratschläge  unserer  Väter  noch  im 
Ohr,  mitten  auf  dem  Wege  nach  einem  uns  selbst  nicht  bekannten 
Ziel  und  ohne  den  göttlichen  Führer.  Mit  versiegelten  Befehlen 
fahren  wir  hinaus  aus  dem  sicheren  Hafen  auf  das  stürmische 
Meer  des  Lebens,  nur  die  unbändige  Pflicht  und  den  Frühlings- 
drang verspürend  und  guten  Mutes  voll,  aber  ohne  Gewißheit, 
ob  zu  Kampf  und  Sieg  oder  Verderben  und  Niederlage.  Viele 
werden  mutlos  werden  und  ermattet  hinsinken  oder  zu  den 
Fleischtöpfen  heimkehren;  wir  aber,  die  das  heilige  Feuer  mit 
uns  führen,  wir  können  nicht  zurück.  Daß  wir  die  Erstlinge  sind 
eines  neuen  Geschlechts,  dem  Gotte  ein  würdiges  Opfer,  dies 
wird  uns  retten:  Der  „Herr  des  Krieges"  heißt,  „Ewiger  ist  sein 
Name",  wird  uns  führen  und  retten.  Was  nutzt  es,  den  Ruf  in 
uns  zu  ertöten,  wenn  wir  uns  zu  der  Wanderung  nach  einer 
seelischen  Heimat  berufen  fühlen,  was  nutzt  es,  daß  man  ims 
als  Heimatlose  und  Ent>\airzelte  zum  Bleiben  einlädt?  Wir 
werden  ihn  ewig  in  unseren  Ohren  gellend  vernehmen.  Hinaus! 
Hinaus!  Hinaus  aus  dem  geistigen  und  sittlichen  Ghetto,  in  das 
wir  eingepfercht  sind,  hinaus  aus  der  schimpflichsten  aller 
Sklavereien,  aus  der  freiwilligen!  Noch  ist  die  letzte  Freiheit  zu 
erringen,,  die  einzige,  um  derentwillen  es  sich  lohnt,  gekämpft 
und  geduldet  zu  haben.  Dieser  Freiheitskampf  aber  ist  der 
schwerste,  denn  wir  haben  als  Gegner  nur  uns  selbst,  uns  selbst 
muß  sie  abgerungen  werden.  Kein  anderer  Feind  bedrängt  uns, 
niemand  hindert  uns,  unsere  Ketten  zu  zerbrechen.  Wir  sind 
frei  in  dem  Augenblick,  in  dem  wir  frei  sein  wollen!  Frei  sein 
aber  heißt  den  Mut  zu  sich  selbst  haben!  Knechtschaft  aber  heißt, 
die  Freiheit  der  anderen  beneiden  und  nachahmen.  —  Freund- 
williger Nachbar!  was  hast  du  für  ein  schönes,  buntes  Kleid! 
Wie  sicher  und  geschützt  ist  dein  Haus,  wie  schlängelt  sich  dir 
dein  Weg  so  bequem  und  leicht  zum  Hügel  und  wie  freundlich 
grüßen  dich  die  Menschen  auf  allen  Straßen!  So  hören  wir  viele 
sprechen  und  für  sich  wünschen.  Dies  alles  aber  ist  nicht  für 

170 


VER  SACRUM 

uns  und  dafür  unsere  Seele  nicht  feil.  Du,  Bruder,  hast  unter 
deinem  schmutzigen  Kittel  die  Narben  von  Jahrtausenden  und 
frische  Wunden,  deine  Wohnstätte  ist  die  Erde  und  der  Himmel 
dein  Obdach,  dein  Pfad  ist  voll  von  spitzen  Steinen.  Aber  du 
gehst,  ohne  zu  straucheln,  mit  aufrechter  Sicherheit  und  demüti- 
gem Stolze.  So  in  den  Kampf  gestellt  und  gestärkt  durch  das' 
Bewußtsein,  anzugehören  einer  heiligen  Schar,  bleibst  du  ein 
Liebling  der  Götter  (wie  die  Griechen  wußten),  dein  Menschtum 
wächst  mit  deinen  Nöten  und  selbst  das  blindwütende  Schicksal 
macht  halt  vor  deinen  männlichen  Tugenden.  Vertraue  dich 
deinem  Stolze  an,  dem  zähen,  unbeugsamen,  hilf  allen  und  laß 
dir  nichf  helfen,  gehe  deinen  Weg,  wenn  nötig  als  Einsamer 
und  nicht  im  breiten  Gleise  der  anderen,  bahne  dir.  Gesalbter 
des  Herrn,  einen  Weg  und  verschmähe  es  unterzukriechen  in 
den  Hütten  der  geistig  Armen,  in  den  Gehäusen  der  Nützlich- 
keit und  Bequemlichkeit,  die  lebensfördernd  heißen,  weil  sie 
Geld  und  Ehren  einbringen,  wobei  die  Seele  verdorrt  und  aller 
Aufschwung,  dessen  der  Edelgeborene  fähig  ist;  erfülle  deine 
bürgerlichen  Pflichten  als  Selbstverständlichkeiten,  gerne,  aber 
ohne  auf  Lohn  zu  sinnen,  und  bewahre  dir  vor  allem  deine  Demut 
vor  dem,  der  dich  und  deine  Väter  geführt  bis  zu  diesem  Tage. 

Dann  aber,  geläutert  durch  Kampf  und  Not  und  Entbehrung, 
werden  wir,  wenn  jeder  sein  eigener  Führer  geworden,  ein  Reich 
in  uns  aufrichten  in  diesem  Leben  und  doch  nicht  von  dieser 
Welt  und  es  begrüßen  als  ein  Ziel,  das  zu  erreichen  wir  aus- 
gezogen, und  einen  Jubel  ertönen  lassen  zu  dem,  der  sein  Wunder 
tut  an  uns! 

Lasset  uns.  Freunde,  unser  Schicksal,  unsere  „Frage"  unter 
diesem  Aspekt  erleben!  Sie  ist  eine  wahrhaft  sittliche,  eine 
Menschheitsfrage.  Es  handelt  sich  hierbei  nicht  um  eine  An- 
gelegenheit, die  zwischen  einzelnen  Klassen  und  Volkssplittern 
spielt,  nicht  um  eine  Frage  zwischen  Armen  und  Reichen,  Edel- 
geborenen  und  Niedrigen,  des  einzelnen  und  der  Masse,  sondern 
um  eine  Frage  der  Ganzheit,  sie  hat  den  großen  Ernst  der  letzten 
Dinge.  Für  ihre  Lösung  sind  die  höchsten  sittlichen  Kräfte  ein- 
zusetzen und  Opfer  zu  bringen  in  einer  Welt,  in  der  alle  alten 
Werte  fragwürdig  geworden  sind  und  es  an  neuen  fehlt,  die  an 
ihre  Stelle  treten  könnten.  Es  fehlt  der  Welt  an  einem  Zweck, 


71 


YER  SAGRUM 

der  als  höchster  allgemein  anerkannt  wird,  und  es  fehlt  ihr  an 
der  zwingenden  Not,  die  die  zersprengten  Volksteile,  die  ein- 
ander fremd  geworden,  w'ieder  zu  einem  machtvollen,  von  heili- 
gem Leben  durchglühten  Ganzen  zusammenschweißt.  Darunter 
leiden  wir  als  Bürger  dieser  Welt,  sozusagen  als  profane  Mit- 
glieder der  civitas  terrena  auch  mit.  —  Aber  es  ist  nicht  das, 
was  un^  im  besonderen  drückt,  ,was  uns  allein  angeht  als 
Pfahlbürger  und  Ehrenansiedler  dieser  Welt.  Denn  wir  haben 
das  Bewußtsein,  daß  wir,  ob  reich  oder  arm,  hoch  oder  niedrig, 
zusammengehören  durch  unlösbare  Bande,  wir  wissen,  so  viele 
Sprachen  wir  auch  reden,  daß  ein  Geist  in  uns  wohnt  und  uns 
beseelt. 

Uns  obliegt  es,  in  heroischem  Entschluß  den  Mut  und  die 
Kraft  aufzubringen,  uns  zu  unserer  —  der  menschlichsten!  — 
Freiheit  durchzuringen,  um  keines  anderen  Lohnes  willen  als 
um  den,  ganze,  mutige,  ehrliche  Menschen  und  keine  Knechte 
zu  sein!  Dies  nenne  ich  die  eminent  sittliche  Aufgabe;  wenn  wir 
das  tun  in  dem  Bewußtsein,  daß  dieser  Heroismus  uns  alle  An- 
nehmlichkeiten kosten  kann:  Ehre,  Anerkennung,  Einfluß  und 
wie  sonst  die  Prämien  heißen,  die  eine  Gesellschaft  dafür  aus- 
setzt, daß  man  ihre  Ordnung  und  ihre  Formen  vergöttert  und 
die  für  uns  zu  erringen  unsere  Väter  gearbeitet,  gehofft,  sich 
verleugnet  haben.  Die  griechischen  Philosophen  haben  ihren 
Volksgenossen,  denen  der  Staat  der  größte  Stolz  und  der  letzte 
Wert  war,  als  höchste  der  politischen  Tugenden,  zu  der  geläuterte 
gesellschaftliche  Sittlichkeit  sich  erheben  könne,  gelehrt:  den 
Willen  zur  Freiheit  von  der  Macht  der  wirtschaftlichen  Güter, 
und  das  alte  Christentum  ist  darin  der  antiken  Tradition  gefolgt. 
Uns  aber  ist  eine  noch  höhere  Aufgabe  gesetzt,  zu  der  in  altem 
Zeiten  sich  nur  die  Weisesten  und  Besten  um  das  schmerzliche 
Opfer,  ihre  anererbten  Begabungen  brachliegen  zu  lassen,  durch- 
gerungen haben:  uns  ist  gesetzt,  von  der  Macht  und  den 
Lockungen  der  gesellschaftlichen  Güter  uns  zu  befreien  und  da 
keine  entehrenden  Anerbietungen  zu  stellen,  wo  man  ohne  uns 
fertig  zu  werden  wünscht,  das  Übermaß  an  Kraft  und  Ge- 
staltungswillen ganz  auf  uns  zu  richten,  bis  wir  als  innerlich 
Befreite  und  völlig  souverän  geworden  das  Ziel  unserer  heiligen 
Wanderschaft  erreicht  haben. 


172 


Erhaltung  oder  Erneuerung 

Von  Oskar  Epstein 

Ijei  normal  lebenden  Völkern  ist  es  eine  Selbstverständlich- 
keit, daß  in  ihrem  Leben  Erneuerung  die  Voraussetzung  der  Er- 
haltung ist.  Es  geht  mit  ihrem  seelischen  Besitzstand  wie  mit 
dem  einzelnen  Menschen  in  körperlicher  Beziehung.  Sein  Leben 
besteht  darin,  daß  er  Zellen  verbraucht  und  dadurch  einen  ge- 
sunden Hunger  nach  neuer  Stoffzufuhr  erzeugt.  Wird  der 
Mensch  aber  krank,  so  sucht  er  krampfhaft  den  alten  Besitz- 
stand zu  erhalten,  sich  durch  ,, Schonung"  zu  retten.  Das  ist  zu- 
meist der  Anfang  vom  Ende;  aber  in  Ausnahmsfällen  dauert 
ein  solches  Siechtum  auch  viele  Jahre.  Im  Leben  kranker  Völker 
entsprechen  dem  Jahrhunderte  und  eins  von  diesen  Völkern,  das 
jüdische,  hat  es  zuwege  gebracht,  als  Gemeinschaft  Jahrhunderte 
zu  bestehen,  ohne  im  wesentlichen  etwas  Schöpferisches  hervor- 
zubringen, und  ohne  die  Zellen  seines  Organismus  zu  erneuern. 

Zu  dieser  Art  des  Daseins  scheint  nun  das  jüdische  Volk  eine 
große  Liebe  gefaßt  zu  haben.  So  morsch  das  alte  Gerüst  ist, 
man  stürmt  dagegen  vergebens.  Man  könnte  es  anders  nicht  er- 
klären, daß  große  Teile  der  jüdischen  Gemeinschaft  an  ihr  fest- 
halten, ohne  irgendeinen  nationalen,  religiösen  oder  anderen 
Grund  dafür  angeben  zu  können.  Juden,  die  durchaus  nicht 
wissen,  warum  sie  es  sind,  wehren  sich  ganz  entschieden  gegen 
ein  entschlossenes  Zerschneiden  der  Bande,  die  sie  noch  an  die 
jüdische  Gemeinschaft  knüpfen.  W^enn  in  ihrer  Nähe  jemand 
diesen  Schnitt  vollzieht,  halten  sie  sich  zur  Empörung  berechtigt; 
der  jüdischen  Gemeinschaft  aber  neue  Lebenskräfte  zuzuführen, 
das  liegt  selbst  als  schüchterner  Versuch  ihnen  vollkommen  fern. 
Man  kann  dies  nicht  gut  anders  erklären,  als  daß  sie  zum  Mitleben 
in  einem  gesunden,  sich  immer  meder  erneuernden  Volke  die  Eig- 
nung verloren  haben.  Das  seelische  Siechtum  ist  ihre  Lebensform 
und  sie  suchen  krampfhaft  eine  Gemeinschaft  zu  erhalten,  die  von 
jedem  gesunden,  sich  immer  wieder  erneuernden  Volke  so  weit 
abschließt,  daß  man  in  seinem  Schöße  die  Möglichkeit  eines 
solchen  in  aller  Ruhe  für  ein  Hirngespinst  erklären  kann. 

Die  Erneuerung  anderer  Völker  ist  allerdings  unmittelbar  für 
uns  nicht  zu  erkennen.  Die  Phasen  des  absoluten  Lebens  eines 
lebenden  Volkes  sind  zu  groß,  um  von  einem  einzelnen  erfaßt 

173 


ERHALTUNG  ODER  ERNEUERUNG? 

werden  zu  können.  Was  wir  vor  unseren  Augen  sich  abspielen 
sehen,  ist  nicht  die  Erneuerung  selbst,  sondern  etwas,  das  un- 
fehlbar zu  dieser  führt,  nämlich  die  sittliche  Erhebung,  so  wie 
der  Hunger  zur  physischen  Erneuerung  führt.  Es  handelt  sich 
dabei  aber  um  eine  Erhebung  des  menschlichen  Willens  gegen 
die  niederdrückende  Schwere  der  Materie.  Nun  ist  es  klar,  daß 
jedes  Volk,  um  seine  Erhebung  gegen  die  Materie  so  recht  in 
Angriff  nehmen  zu  können,  in  hohem  Grade  Herr  seines  ma- 
teriellen Lebens  sein  muß.  Ich  glaube  allerdings,  daß  auch  dann, 
wenn  wie  beim  jüdischen  Volke  diese  Voraussetzung  fehlt,  eine 
Erhebung  möglich  ist,  ja  kommen  muß.  Da  man  aber  den  Feind 
(d.  h.  die  Materie)  sehr  wenig  in  seiner  Hand  hat,  so  ist  selbst- 
verständlich die  Gefahr  sehr  groß,  die  Erhebungstendenzen  zu 
fälschen.  Es  ist  daher  hundertmal  mehr  als  anderswo  wichtig, 
den  Gegensatz  gegen  andere  Tendenzen  aufs  schärfste  hervor- 
zukehren. Das  wird  einem  insbesondere  klar,  wenn  man  sich  vor 
Augen  zu  halten  sucht,  was  durch  Vernachlässigung  dieser  Forde- 
rung aus  den  modernen  jüdischen  Erhebungstendenzen  Herzls 
heute  geworden  ist. 


Was  ist  das  Wesen  von  Herzls  Zionismus?  In  bezug  auf  eine 
Kraft  ist  man  sich  klar,  daß  sie  nicht  oder  nur  in  ganz  geringem 
Grade  die  treibende  des  Herzlischen  Zionismus  war:  die  natio- 
nale Eigenart,  das  Blut  oder  wie  man  sie  nennen  will.  Wie  schon 
Achad  Haam  in  der  seinerzeitigen  Kritik  von  ,, Altneuland"  im 
„Haschiloach"  sehen  wir  darin  gewöhnlich  nur  einen  sehr  be- 
dauernswerten Mangel.  In  dieser  Beziehung  könnte  man  eigent- 
lich eines  besseren  belehrt  werden,  wenn  man  sieht,  wie  wenig 
die  Tendenz  der  Erhaltung  einer  erkennbaren ,  jüdischen 
Menschengruppe  —  so  müßte  man  sie  wohl  etwas  exakter  for- 
mulieren —  geeignet  ist,  der  Erhebung  zu  dienen.  Die  Erhaltung 
des  Zusammengehörigkeitsgefühls  besorgt  z.  B.  viel  besser,  als 
es  der  Zionismus  vermag,  die  Synagoge  und  was  drum  und 
dran  hängt;  man  denke  bloß  an  das  schon  erwähnte  lebhafte 
Widerstreben  gegen  die  Taufe  bei  denjenigen  Juden,  welche 
wir  sozusagen  als  den  Gegenpol  des  Zionisten  empfinden.  Solche 
Juden  sind  dadurch  charakterisiert,  daß  sie  große    Ideale    im 

174 


ERHALTUNG  ODER  ERNEUERUNG? 

Munde  führen,  diejenigen  aber  verlachen,  welche  eines  derselben 
ausführen  wollen.  Droht  es  aber  mit  den  Idealen  doch  ernst  zu 
werden,  dann  appelliert  dieser  Typus  —  man  wird  wohl  schon 
erkannt  haben,  daß  er  mit  Herzls  „Mauschel"  so  ziemlich  iden- 
tisch ist  —  gerade  an  den  Erhaltungssinn:  durch  den  Radi- 
kalismus, der  die  Voraussetzung  der  Verwirklichung  eines  jeden 
Ideals  ist,  wird  die  Gruppeneinheit  gefährdet.  Es  geht  nämlich 
die  leider  so  große  Zahl  derjenigen  verloren,  welchen  es  bei  der 
Verwirklichung  eines  jeden  Ideals  schwüle  wird,  die  aber  Mau- 
schel die  jüdische  Menschengruppe  so  wertvoll  machen:  Mauschel 
liebt  das  jüdische  Milieu  innig  und  aufrichtig,  solange  er  hier 
viele  seinesgleichen  findet;  darum  sucht  er  es  selbst  dann  noch 
auf,  wenn  er  getauft  ist!  —  Viel  deutlicher  als  das  Element  der 
Gruppeneinheit  und  -Zusammengehörigkeit  treten  wenigstens  in 
der  Darstellung  von  Herzls  zionistischem  Gedankengang  zwei 
andere  Kräfte  hervor:  das  philanthropische  und  das  sozialrefor- 
matorische  oder,  wie  man  mit  ebensolchem  Recht  sagen  kann, 
das  sozialistische  Moment.  Doch  hat  Herzl  offenbar  nur  deshalb 
diese  Mittel  als  Zwecke  hingestellt,  weil  sie  von  den  den  da- 
maligen Juden  faßbaren  seinem  wahren  Ziele  am  nächsten 
standen.  (Den  tieferen  Zusammenhang  zwischen  einem  Sozia- 
lismus Landauers  und  dem  Zionismus,  der  allerdings  besteht, 
können  wir  in  diesem  Zusammenhange  wohl  vernachlässigen.) 
An  so  manchen  Stellen  von  Herzls  Schriften  aber  bricht  der 
wahre  Ton  des  Herzischen  Pathos  in  einer  Weise  durch,  wie 
sie  über  das  Maß  der  beliebten  ethisch-philanthropischen  An- 
hängsel sozialpolitischer  Theorien  zu  weit  hinausgeht,  um  nicht 
die  Hauptsache  zu  sein.  Man  vergegenwärtige  sich  z.  B.  den  Fan- 
farenton am  Ende  des  ,, Judenstaats",  der  sich  doch  sonst  als  eine 
Art  kaltes,  nüchternes  Rechenexempel  zu  geben  sucht:  „Darum 
glaube  ich,  daß  ein  Geschlecht  wunderbarer  ( ! )  Juden  aus  der 
Erde  wachsen  wird.  Die  Makkabäer  werden  wieder  auferstehen. 
—  Noch  einmal  sei  das  W^ort  des  Anfangs  wiederholt:  Die  Juden, 
die  wollen  (!),  werden  ihren  Staat  haben.  —  W^ir  wollen  end- 
lich als  freie  Männer  auf  unserer  eigenen  Scholle  leben  und  in 
unserer  eigenen  Heimat  ruhig  sterben.  —  Die  Welt  wird  durch 
unsere  Freiheit  befreit,  durch  unseren  Reichtum  bereichert.  — 
Und  was  wir  dort  nur  für  unser  eigenes  Gedeihen  versuchen, 

175 


ERHALTUNG  ODER  ERNEUERUNG? 

wirkt  machtvoll  und  beglückend  hinaus  zum  Wohle  aller  Men- 
schen." Ebenso  müßte  man  den  Brief  an  Baron  Hirsch  hierher 
setzen,  in  welchem  die  schönen  Worte  stehen:  „Ja  nur  das  Phan- 
tastische (hier  ganz  im  Sinne  von  Erhebung  gemeint)  ergreift 
den  Menschen,  und  wer  damit  nichts  anzufangen  weiß,  der  mag 
ein  vortrefflicher,  braver  und  nüchterner  Mann  sein  und  selbst 
ein  Wohltäter  im  großen  Stil,  führen  wird  er  die  Menschen 
nicht,  und  es  wird  keine  Spur  von  ihm  bleiben."  Wie  der  „Juden- 
staat" eigentlich  gegen  diejenigen  Menschen  in  der  jüdischen 
Gemeinschaft  geschrieben  wurde,  die  ähnlich  wie  Jarl  Skule  in 
Ibsens  „Kronprätendenten"  nur  an  dasjenige  glauben,  was  sie 
schon  mit  den  Sinnen  wahrgenommen  haben,  die  sich  also  nicht 
erheben  können,  zeigt  auch  der  Umstand,  daß  Herzl  später  ohne 
die  Fiktion  des  Rechenexempeltons,  mit  seinem  Herzblut,  den 
Roman  „Altneuland"  schrieb,  der  deshalb  noch  heute  trotz  seinen 
künstlerischen  Schwächen  wahrhaft  herzerquickend  wirkt.  Im 
„Mauschel"  aber  handelt  es  sich  um  denselben  Gegensatz  als 
tiefstes  Wesen  des  Zionismus  wie  in  Bubers  ,,Das  Judentum  und 
die  Menschheit",  wenn  dieser  dort  sagt:  „Es  gilt  hier  nicht  die 
Sache  zwischen  Nationalisten  und  Nichtnationalisten  oder  der- 
gleichen —  das  ist  alles  oberflächlich  und  unwesentlich  — ;  es 
gilt  hier  die  Sache  zwischen  Wählenden  und  Geschehenlassenden, 
zwischen  Zielmenschen  und  Zweckmenschen,  zwischen  Schaffen- 
den und  Zersetzenden,  zwischen  Urjuden  (die  auch  im  Golus 
sich  finden)  und  Golusjuden  (die  auch  in  Palästina  sich  finden)," 
Wenn  der  Mensch  wählt,  wählt  er  ja  nur  die  Erhebung,  sie  ist 
sein  Ziel,  der  Gegenstand  seines  Schaffens,  das  Ursprüngliche 
an  ihm.  So  Avenig  ich  annehmen  möchte,  daß  Herzl  das  Phänomen 
der  Polarität  als  Charakteristikum  des  jüdischen  Volkes,  auf  das 
Buber  hier  anspielt,  klar  erkannt  hat,  so  muß  er  diese  tiefe  Gegen- 
sätzlichkeit doch  intuitiv  geschaut  haben,  wenn  er  im  „Mauschel" 
sagt:  „Als  wäre  in  irgendeinem  dunklen  Augenblick  unserer  Ge- 
schichte eine  niedrigere  Volksmasse  in  unsere  unglückliche 
Nation  hineingeraten  ...  so  nehmen  sich  diese  unerklärbaren, 
unvereinbaren  Gegensätze  aus."  — 

Wir  würden  daher  im  Sinne  Herzls  das  Wesen  des  Zionismus 
etwa  folgendermaßen  formulieren  müssen:  Der  Zionismus  er- 
strebt, die  im  jüdischen  Volk  bestehenden  unvereinbaren  Gegen- 

17C 


ERHALTUNG  ODER  ERNEUERUNG? 

Sätze  zwischen  Judentum  und  Mauscheltum  bewußt  zu  machen 
und  ihre  Austragung  zugunsten  des  ersteren  zu  erzwingen.  Oder 
«was  dasselbe  sagt:  Der  Zionismus  erstrebt  die  Erhebung  des 
jüdischen  Volkes  (Erhebung  im  Gegensatz  zu  bloßer  Erhaltung). 
Ich  fühle  mich  berechtigt,  die  beiden  Definitionen  im  Grunde 
«einander  gleichzustellen.  Denn  die  Bekämpfung  des  Mauschel- 
tums  wird  Erhebung  des  jüdischen  Volkes,  wenn  man  nicht  in 
Geschrei  und  Säbelrasseln  das  Wesen  dieser  Bekämpfung  sieht, 
die  sich  vor  allem  auf  seelischem  Gebiete  vollziehen  muß;  und 
die  Erhebung  des  jüdischen  Volkes  ist  immer  Bekämpfung  des 
Mauscheltums,  wenn  man  die  ,, Erhebung"  nicht  in  schönen  Reden 
und  ästhetisierender  und  überhaupt  theoretisierender  Mystik 
sucht.  Die  Erhebung  kann  überhaupt  nicht  beschrieben,  sie  muß 
gelebt  werden;  trotzdem  will  ich  in  Anlehnung  an  Herzl  sie  in 
ein  paar  Schlagworte  zu  fassen  suchen:  Von  der  Heimlichkeit 
(Mauscheis  Prinzip  des  „Chillul  haschem")  zur  Offenheit  (Herzls 
immerwährende  Forderung  nach  unbedingter  Öffentlichkeit  aller 
jüdischen  Verhandlungen),  von  der  Charakterlosigkeit  zur  Mann- 
haftigkeit, von  der  Kleinmütigkeit  zum  Glauben,  vom  Kompro- 
miß zur  Konsequenz,  vom  sowohl-als  auch  zum  entweder-oder, 
Ton  der  Frivolität  zum  Ernst,  vom  Mauscheltum  zum  Judentum. 
Der  Kampf  zwischen  diesen  beiden  zieht  sich  durch  die  ganze 
jüdische  Geschichte;  in  der  Diaspora,  fern  vom  stärkenden  und 
gesunden  Boden,  ist  er  immer  zuungunsten  des  letzteren  aus- 
gefallen. Wir  aber  sind  Zionisten,  weil  wir  unsere  Existenz  da- 
für einsetzen  wollen,  daß  derselbe  Kampf,  der  in  unseren  Tagen 
von  neuem  zum  Austrag  kommen  soll,  diesmal  zugunsten  des 
Judentums  entschieden  werde. 

Herzl  hatte  das  richtige  Gefühl,  daß  das  Austragen  der  un- 
vereinbaren Gegensätze  die  Aufgabe  unserer  Zeit,  der  Sinn  des 
Zionismus  sei.  Zwar  ging  er  von  einer  sozialpolitisch  gefärbten 
Philanthropie  aus.  Aber  er  wählte  dazu  aus  einem  gesunden  In- 
stinkt heraus  Mittel,  die  dem  Denken  derjenigen  Juden,  welche 
er  sich  ,,in  einem  dunklen  Augenblick  unserer  Geschichte  in 
unsere  unglückliche  Nation  hineingeraten"  dachte,  direkt  ent- 
gegengesetzt waren.  Ich  denke  hier  an  den  Staatsgedanken  und 
den  Glauben  an  die  Persönlichkeit.  Die  tiefe  Bedeutung  dieser 
beiden  psychischen  Elemente  hat  Otto  Weininger  in  seinem  „Ge- 

177 


ERHALTUNG  ODER  ERNEUERUNG? 

schlecht  und  Charakter"  mit  bewundernswürdiger  Tiefe  heraus- 
gearbeitet, doch  ist  er  in  den  Fehler  verfallen,  Mauscheltum  und 
jüdische  Gemeinschaft  zu  identifizieren.  Viel  augenfälliger  aber 
noch  zeigte  die  Bedeutung  dieser  Dinge  Mauscheis  verzweifelter 
Widerstand  gegen  sie.  Wieviel  von  ihnen  und  dem  Widerstand 
gegen  sie  geblieben  sind,  kann  sich  jeder  selbst  ausmalen.  Und 
wer  die  Schuld  an  diesem  Verlust  trägt,  soll  nicht  untersucht 
werden;  diese  Untersuchung  hätte  auch  nicht  viel  Sinn.  Aber 
besinnen  wir  uns  darauf,  daß  wir  die  Bannerträger  der  Erhebung 
im  jüdischen  Volke  sind.  Das  ist  die  Hauptsache. 


178 


Die  Revolutionierung 
der  westjüdischen  Intelligenz 

Von  Ludwig  Strauß 

JcLs  ist  eine  vielfach  ausgesprochene  Erkenntnis,  daß  das  Natio- 
nale sich  als  formale  Kraft  äußert.  Nun  ist  der  Begriff  des  For- 
malen ein  durchaus  relativer  w^ie  der  Begriff  des  Nördlichen 
etwa.  Er  bezeichnet  eine  Richtung;  einen  festen  Ort  bezeichnet 
er  nur  in  Beziehung  zu  einem  andern  festen  Ort.  Gedanklichen 
Inhalten  gegenüber  ist  die  Sprache  formal  zu  nennen;  die 
Sprache  wiederum  ist  Inhalt  gegenüber  der  formalen  Kraft  des 
persönlichen  Stils.  Wir  können  also  das  Nationale  nicht  nur  in 
einer  Situation,  sondern  in  einer  durch  seine  Natur  bestimmten 
Bewegung  erkennen:  Je  mehr  fremde  Inhalte  in  die  Nation  ein- 
dringen, desto  weiter  zieht  sich  das  Nationale  zurück  in  der 
Richtung  des  Formalen,  jener  Richtung,  in  welcher  mathematisch 
gesprochen  unendlich  fern  der  Begriff  des  Nationalen  ruht.  Es 
hat  die  Tendenz,  jeden  fremden  Inhalt  zu  formen,  jede  fremde 
Form  sich  zum  Inhalt  zu  machen.  So  läßt  sich  in  der  Geschichte 
der  jüdischen  Assimilation  im  19.  Jahrhundert  sein  Rückzug 
beobachten:  aus  der  (eigenen)  Sprache  in  die  Handhabung  der 
(fremden)  Sprache,  aus  der  Sitte  in  die  Handhabung  der 
Sitte. 

Neben  dem  religiösen  entstand  ein  nationaler  Älissionsgedanke: 
daß  wir  Juden,  indem  wir  das  Leben  der  Völker  in  uns  auf- 
nehmen und  in  unserer  besonderen  Art  verarbeiten,  unsere  Kraft 
auf  die  fruchtbarste  Weise  in  den  Dienst  der  Menschheitsent- 
wicklung stellen.  Der  jüdische  Liberale  und  Sozialist,  anderer- 
seits der  jüdische  Literat  und  Bohemien:  diese  Typen  gelten 
vielen  als  die  Repräsentanten  der  jüdischen  Werte  für  Europa 
und  damit,  wie  man  glaubt,  für  die  Menschheit. 

Und  in  der  Tat,  die  immer  vollendetere  Abstraktion  des 
Nationalen,  seine  immer  höher  gesteigerte  Anwendbarkeit  auf 
fremde  Inhalte,  ist  eine  interessante  Kraftprobe.  Nur  freilich 
läßt  die  Wirklichkeit  die  Durchführung  dieser  Kraftprobe  nicht 
zu,  da  der  geschilderte  Prozeß  natürlich  nicht  in  seiner  idealen 
Reinheit  vor  sich  zu  gehen  vermag,  sondern  von  tausend  sozio- 
logischen Momenten  durchspielt  und  verzerrt  wird.  Gerade  jene, 
deren  Leben  von  ihrer  Nationalität  am  charakteristischsten  gc- 

179 


DIE  REVOLUTIONIERUNG  DER  WESTJÜDISCHEN  INTELLIGENZ 

formt  wurde,  die  Intelligenz  der  politischen  und  künstlerischen 
Oppositionen,  verloren  sich  im  höchsten  Grade  an  ihr  Milieu. 
Die  Macht  des  Traditionellen  war  in  ihnen  minimal,  und  aus 
freier  Wahl  entschieden  sie  sich  ebensowenig  wie  die  Bourgeoisie 
für  ihr  abstrakt  gewordenes  Judentum  —  teilten  sie  doch  Sprache 
und  Sitte  derer,  mit  denen  gemeinsam  oder  gegen  die  sie  ihr 
Ziel  verfochten.  Die  Mischehe  wurde  in  ihren  Kreisen  äußerst 
häufig,  denn  dem  Aufnehmen  fremder  Erlebnisinhalte  konnten 
sie  beim  Erotischen  nicht  eine  willkürliche  Schranke  setzen  — 
damit  aber  war  der  erste  Schritt  zur  Selbstvernichtung  getan. 

Lesen  wir  die  Verheißungen  des  Bundes,  der  mit  Jahwe  ge- 
schlossen war.  Des  Bundes,  der  für  die  größten  Zeiten  unserer 
Nation  ihre  geistigen  Inhalte  bestimmte.  Sechs  Stämme  auf  dem 
Berge  Garizim  sprachen  den  Segen  aus  über  das  treue  Israel. 
Sechs  auf  dem  Berge  Ebal  den  Fluch  über  das  treulose.  Und  der 
Fluch  enthielt  diese  Sätze: 

„Ein  Weib  wirst  Du  Dir  vertrauen  lassen,  aber  ein  andrer  wird 
bei  ihr  schlafen.  Ein  Haus  wirst  Du  bauen,  aber  ein  andrer  wird 
drinnen  wohnen.  Einen  Weinberg  wirst  Du  pflanzen;  aber  Du 
wirst  seiner  Früchte  nicht  genießen. 

.  .  .  Deine  Söhne  und  Deine  Töchter  werden  einem  andern 
Volk  gegeben  werden,  daß  Deine  Augen  zusehen,  und  ver- 
schmachten über  ihnen  täglich;  und  wird  keine  Stärke  in  Deinen 
Händen  sein. 

Die  Früchte  Deines  Landes  und  alle  Deine  Arbeit  wird  ein 
Volk  verzehren,  das  Du  nicht  kennest,  und  wirst  Unrecht  leiden, 
und  zerstoßen  werden  Dein  Leben  lang. 

.  .  .  Denn  der  Herr  wird  Dich  zerstreuen  unter  alle  Völker 
von  einem  Ende  der  Welt  bis  ans  andre;  und  wirst  daselbst 
andern  Göttern  dienen,  die  Du  nicht  kennest  noch  Deine  Väter, 
Holz  und  Steinen. 

Dazu  wirst  Du  unter  denselben  Völkern  kein  bleibend  Wesen 
haben,  und  Deine  Fußsohlen  werden  keine  Ruhe  haben,  denn 
der  Herr  wird  Dir  daselbst  ein  bebendes  Herz  geben  und  ver- 
schmachtete Augen  und  verdorrete  Seele, 

Daß  Dein  Leben  wird  vor  Dir  schweben.  Nacht  und  Tag  wirst 
Du  Dich  fürchten,  und  Deines  Lebens  nicht  sicher  sein. 

.  .  .  Darum  daß  Du  der  Stimme  des  Herrn,  Deines  Gottes 

i8o 


DIE  REVOLUTIONIERUNG  DER  WESTJÜDISCHEN  INTELLIGENZ 

nicht  gehorchet  hast,  daß  Du  seine  Gebote  und  Rechte  hieltest, 
die  er  Dir  geboten  hat." 

Wir  von  heute  und  gestern  waren  „treuloser"  als  irgendeine 
andere  Zeit,  Wir  haben  Gott  und  seine  Gebote  verloren,  haben  alle 
Inhalte  der  nationalen  Kultur  verloren,  alle  Fähigkeit,  in  unserer 
Gemeinschaft  einzig  zu  leben.  Und  für  uns  hat  sich,  stärker  viel- 
leicht und  dem  Volk  als  Ganzes  gefährlicher  als  für  irgendeine 
Generation,  der  Fluch  verwirklicht.  Es  ist  nicht  nötig  hier  Bei- 
spiele aufzuzählen  davon,  wie  die  fremden  Inhalte  unseres  Lebens 
sich  gegen  uns  selber  richten.  VV^ie  wir  Strömungen  fördern,  bei 
denen  wir  ewig  fürchten  müssen,  daß  sie  eines  Tages  uns  zurück- 
drängen, und  wie  wir  oft  genug  von  ihnen  zurückgedrängt  wer- 
den. Wie  unsere  Sprache  und  Sitte  als  ein  unüberwindlicher 
Wall  vor  uns  steht,  wenn  wir  denen  nahen  wollen,  die  mit  uns 
gleichen  Stammes  sind.  Wie  wir  die  eigene  Art  geringschätzen*), 
weil  wir  sie  mit  fremden  Maßen  messen.  „Deine  Söhne  und  Deine 
Töchter  werden  einem  fremden  Volk  gegeben  werden."  Jede 
Generation  sieht  ihr  Leben  weniger  ausgefüllt  von  jüdischem 
Gehalt,  für  jede  wird  es  schwerer  durch  allen  fremden  Inhalt 
vorzudringen  zu  der  unendlich  vergeistigten  Macht  der  Nationali- 
tät in  ihr.  In  jeder  sind  mehr  Gleichgültige  und  Abtrünnige. 

Israel  war  treulos  geworden.  Kein  Gott  und  Gesetz,  keine 
eigene  Sprache  und  Sitte,  kein  überlieferter  Geistesinhalt  füllte 
mehr  sein  Leben  aus,  und  der  Fluch  auf  dem  Berge  Ebal  hatte 
sich  erfüllt.  Da  geschah  das  große  Neue  und  Erneuernde. 

Als  Israel  den  Gott  verlassen  hatte,  der  ihn  zwang,  er  selbst 
zu  bleiben,  als  er  schwach  und  alt  geworden  schien  und  kindisch 
allen  nachsprach  —  da  stand  er  wie  einst  in  der  Nacht  auf  und 
suchte  einen  neuen  Engel,  um  mit  ihm  zu  ringen.  Und  er  fand 
den  Engel  und  rang  mit  ihm  und  empfing  von  ihm  Segnung  und 
Befehl  zu  leben  und  Kraft  zum  Gehorsam.  Aber  kein  Gott  hatte 
ihn  gesandt  und  aus  keinen  Himmeln  war  er  herabgestiegen,  son- 
dern der  neue  Engel,  mit  dem  Israel  rang,  war  seine  eigene  Seele. 

Frei  von  allem  bestimmten  Inhalt  fanden  wir  unser  Judentum 
als  unser  Selbst,  als  die  gestaltende  Macht,  die  unser  Leben 
formt. 

*)   Siehe  meinen  Aufsatz:   „Ein  Dokument   der  Assimilation".  Die  Freistatt, 
1913,  Aprilheft. 

181 


DIE  REVOLUTIONIERUNG  DER  WESTJÜDISCHEN  INTELLIGENZ 

Als  im  Übergang  von  dem  alten  in  festen  Inhalten  ruhenden 
und  längst  schon  faulenden  jüdischen  Volk  zum  fremden  die 
letzte  innerhalb  der  realen  Bedingtheit  mögliche  Abstraktion  des 
Nationalen  erreicht  war,  ohne  daß  es  sich  schon  ins  Fremdartige 
verloren  hatte  —  da  stellte,  von  den  nationalen  Strömungen  des 
Ostens  angeregt  und  erinnert,  aber  vom  eigenen  tiefsten  Willen 
bestimmt,  ein  großer  Teil  der  west jüdischen  Intelligenz  das  natio- 
nale Judentum,  das  ihre  vergessenste  Möglichkeit  war,  als  Befehl 
über  ihr  Leben.  Das  abstrakt  Gewordene,  die  ins  Feinste  ver- 
flüchtigte formale  Qualität,  oft  kaum  fühlbar  und  selten  nur 
nachweisbar  —  daraus  bildete  ein  unerhört  intellektuelles  Ge- 
schlecht sich  seine  Ziele,  außerhalb  und  entgegen  aller  äußeren 
und  inneren  Realität,  aller  Gewohnheit  und  Zweckmäßigkeit. 
Man  beschloß,  sich  auszugießen  und  neu  zu  füllen.  Man  ver- 
neinte das,  was  man  war,  weil  man  das  erkannt  hatte,  was  man 
bei  einer  unbedingten  Entwicklung  geworden  wäre.  Geworden, 
wenn  man  so  rein  seinem  inneren  Gesetz  gefolgt  wäre  wie  ein 
Körper,  der  im  luftleeren  Räume  fällt,  dem  Gesetz  der  Schwere. 
Man  erklärte  sich  bereit,  die  Welt  zu  zerstören  und  neu  zu 
schaffen.  Es  bildete  sich  der  Wille  zur  Revolution  par  excellence: 
zum  Zurücktauchen  ins  Chaos  und  zum  Bilden  des  Kosmos  nach 
dem  Befehl  des  Geistes. 

Noch  ist  dieser  Wille  nur  wenigen  evident  in  seiner  ganzen 
radikalen  Macht.  Noch  hat  man  nicht  begriffen,  daß  es  für  uns 
kein  höheres  Lob  gibt  als  den  Vorwurf  der  Gegner,  unser  Wille 
sei  unhistorisch,  sei  anorganisch,  unsere  Tat  eine  künstliche. 
Das  unbedingte  Schaffen  unter  dem  geistigen  Befehl  ist  freilich 
(subjektiv)  unhistorisch,  denn  seine  erste  Tat  ist  die  Zerstörung 
des  Gewordenen,  um  dem  Geschaffenen  einen  Raum  zu  bereiten. 
Und  freilich  zerstören  wir  unseren  Organismus,  um  ihn  aus 
unseren  tiefsten  Keimen  neu  und  rein  treiben  zu  lassen.  Und  wenn 
das  künstlich  ist,  was  nicht  die  blinde  Natur,  sondern  die  beseelten 
Hände  des  Lebendigen  und  Sehenden  schaffen,  so  ist  unser  Tun 
und  alles,  was  wir  damit  erreicht  haben,  eminent  künstlich. 

Wir  vertreten  die  Sache  des  gestaltenden  Geistes  gegenüber 
der  Materie.  Während  bisher  das  Nationale  ewig  sich  zurückzog 
ins  Formale,  bereiten  wir  ihm  die  Bahn  aus  dem  Abstrakten  ins 
Konkrete,  aus  der  Idee  zur  Realität.  Bis  nicht  mehr  die  Rede  sein 

182 


DIE  REVOLUTIONIERUNG  DER  WESTJÜDISGHEN  INTELLIGENZ 

kann  von  einem  Kückzug,  bis  wir  geschlossen  sind,  durch 
Sprache  und  Land  verbunden  und  abgeschlossen,  und  jeder  In- 
halt unseres  Lebens  bestimmt  und  von  Anfang  gestaltet  ist  durch 
unsere  Nationalität.  Bis  nicht  mehr  in  jedem  einzelnen  sein 
Jüdischwerden  mühsam  sich  vollziehen  muß,  sondern  das  er- 
wachsende Kind  jüdisch  geprägte  Inhalte  in  sich  aufnimmt. 

Der  Weg  dazu  ist  nur  die  geistige  Revolution.  Wir  sahen  Aus- 
gangs- und  Zielpunkte  dieser  Revolution.  Wenn  gesagt  wurde, 
daß  unser  Wille  unhistorisch  sei,  so  bedeutet  dies  natürlich  nur, 
subjektiv  unhistorisch,  insofern  er  mit  dem  historisch  Gewor- 
denen radikal  bricht.  Objektiv  Unhistorisches  kann  nicht  ge- 
schehen, jede  Erscheinung  muß  ihren  historischen  Ursprung 
haben.  Der  ist  für  unsere  Bewegung  unsere  abstrakte,  formal 
wirkende  Nationalität,  von  der  gesprochen  wurde.  Und  in  diesem 
Punkt  müssen  wir  die  Gegenwart  bejahen.  Hier  ist  das  Fleckchen 
Boden  in  der  Gegenwart,  auf  dem  wir  Halt  suchen,  um  sie  zu 
zerstören  und  um  an  einer  besseren  Zukunft  zu  bilden.  Bejahen 
müssen  wir,  wo  nicht  das  westliche  Judentum,  so  doch  die  Mög- 
lichkeit der  Westjuden,  zum  Judentum  zu  kommen.  Man  kann 
auch  die  Dichtung  vieler  Westjuden  etwa  nicht  ohne  Ungerech- 
tigkeit als  unjüdisch  bezeichnen.  Man  versucht  das  zu  recht- 
fertigen, indem  man  die  Abhängigkeit  der  Werke  der  einzelnen 
Dichter  von  deutschen  oder  anderen  fremdnationalen  literarischen 
Strömungen  nachweist.  Gewiß,  fremdartige  Strömungen  gehen 
durch  uns  alle,  und  unser  Ich  kann  sich  nur  in  der  Art  äußern, 
wie  es  diese  Strömungen  aufnimmt  und  färbt.  Und  erst  hier,  im 
extrem  Formalen,  hat  die  Untersuchung  einzusetzen,  die  uns 
zeigen  wird,  daß  unsere  Dichtung  ebenso  jüdisch  und  unjüdisch 
ist,  wie  wir  alle,  also  unsere,  der  werdenden  Juden,  eigenste  An- 
gelegenheit. 

Bejahen  wir  hier  einen  Ausgangspunkt  für  unser  Jüdisch- 
werden in  der  Gegenwart,  so  doch  niemals  einen  Ruhepunkt  für 
unser  Jüdischsein.  Freie  Juden  können  wir  nicht  sein,  solange  wir 
in  einem  fremden  Kulturkreis  stehen.  Und  unsere  Entfremdung 
von  dem  uns  umgebenden  Volk,  unsere  kulturelle  Geschlossen- 
heit als  Juden  müssen  wir  schon  hier  mit  allen  Mitteln  fördern. 
Nichts  ist  gefährlicher  als  die  beiden  Auffassungen,  die  zum 
Ruhen  der  jüdischen  Kulturarbeit  in  der  Diaspora  führen.  Die 

i83 


DIE  REVOLUTIONIERUNG  DER  WESTJÜDISCHEN  INTELLIGENZ. 

eine,  die  sagt:  wir  sind  Juden,  wie  wir  jetzt  und  hier  sind,  da  wir 
unser  Judentum  fühlen.  Denn  sie  verkennt,  daß  eine  Nationali- 
tät, die  sich  immer  weniger  im  Konkreten  äußert,  von  einer  in- 
tellektuellen Generation  gefühlt,  aber  nicht  dauernd  und  für  ein 
ganzes  Volk  erhalten  werden  kann.  Und  die  andere,  die  sagt: 
Hier  ist  nichts  zu  erreichen,  hier  muß  alles  künstlich  bleiben; 
warten  wir  auf  Palästina!  Nun,  was  in  Palästina  erreicht  worden 
ist,  etwa  in  der  Verbreitung  der  hebräischen  Sprache,  das  ist 
sicherlich  in  seinem  Entstehen  in  hohem  Grade  künstlich,  wenn 
nicht  ein  wenig  gewaltsam  gewesen.  (Das  bedingt  das  Wesen 
unserer  Bewegung  als  einer  revolutionären.)  Es  ist  jedoch  schon 
in  der  jungen  Generation  durchaus  Natur.  Wann  aber  wird  es 
möglich  sein,  eine  größere  Anzahl  von  Westjuden  nach  Palästina 
zu  verpflanzen?  In  absehbarer  Zeit  ganz  gewiß  nicht,  und  in- 
zwischen wird  hier  unser  Judentum  immer  mehr  verwässern. 
Denn  unsere  Kinder  werden  wahrlich  nicht  dadurch  jüdischer, 
daß  sie  frühzeitig  das  Baseler  Programm  und  die  Ideologie  des 
Zionismus  kennen  lernen. 

Die  Forderung  des  nationalen  Willens  heißt:  Schaffung  kon- 
kreter jüdischer  Elemente  im  Leben  der  Westjuden.  Die  he- 
bräische und  für  den,  der  sie  vorzieht,  die  jiddische  Sprache  als 
Umgangssprache  soll  uns  verbinden  mit  dem  zentralen  Leben 
des  jüdischen  Volkes,  wie  es  im  Osten  —  und  hoffentlich  bald 
freier  und  vollkommener  in  Palästina  —  existiert.  Diese  Forde- 
rung mag  unnatürlich  und  unhistorisch  erscheinen  —  sie  ist  nicht 
unnatürlicher  und  unhistorischer  als  unsere  ganze  nationale  Be- 
wegung, deren  direkte  Konsequenz  sie  ist.  Einem  nicht  sehr 
großen  Bruchteil  der  westlichen  Judenheit  nur  wird  dieser 
schwere  Weg  gangbar  sein,  aber  nur  dieser  Bruchteil  und  kein 
einziger  darüber  hinaus  wird  deni  jüdischen  Volke  erhalten  bleiben. 

Wir  verlangen,  daß  ernst  gemacht  wird.  Die  Richtung  des 
alten  Volkes  hat  sich  bewährt  in  unserer  Bewegung,  die  Geistig- 
keit derer,  die  den  unsichtbaren  Gott  über  ihr  Leben  stellten, 
in  uns,  die  unsere  nicht  mehr  konkrete  Nationalität  über  das 
unsere  stellen.  Möge  sich  nun  auch  ihre  Kraft  bewähren  in 
unserer  Tat.  Alle  Geistigen  mögen  den  Befehl  des  Geistes  er- 
kennen und  ihm  folgen.  Denn  ein  Befehl  ist  die  nationale  Idee 
und  nicht  eine  Fahne,  die  man  vor  sich  herträgt. 

i84 


DIE  REVOLUTIONIERUNG  DER  WESTJÜDISCHEN  INTELLIGENZ 

Keine  Begeisterung  für  die  Fahne,  wie  sie  in  der  zionistischen 
Bewegung  ja  genugsam  herrscht,  wird  dem  Volk  die  west jüdische 
Intelligenz  retten  und  keine  nur  organisatorische  und  politische 
Arbeit.  Die,  denen  es  ernst  ist,  werden  sich  sammeln  zum  letzten 
Versuch  dieser  Bettung:   zur  revolutionären  Tat. 


i85 


Erziehung  im  Judentum 

Von  Hugo  Herrmann 

Als  vielfacher  Laie  will  ich  ein  paar  Worte  zu  diesem  Gegen- 
stand wagen,  die  meine  persönliche  Anschauung  und  weiter  zu- 
nächst nichts  geben  sollen. 

Ich  glaube,  der  möglichen  Standpunkte  zur  jüdischen  Er- 
ziehung im  Westen,  wie  überhaupt  zu  jüdischen  Dingen,  wie 
überhaupt  zu  allen  Dingen,  sind  zwei:  der  eine  sieht  Fragen,, 
die  gelöst,  der  andere  sieht  Dinge,  die  gemacht  werden  wollen. 
Ich  sehe  gern,  daß  das  nur  zwei  Ausdrücke  für  dieselbe  Sache, 
zwei  Auffassungen  oder  Abstufungen  für  das  Bewußtsein  der 
Unzulänglichkeit  des  Bestehenden  sind;  das  wichtigste  ist  eben 
'die  Art,  jivie  man  dieses  Bewußtsein  hat  und  wie  es  sich 
äußert. 

Wir  haben  vor  allem  ein  Problem  des  jüdischen  Religions- 
unterrichtes herausgefunden.  (Ich  beschränke  mich  im  folgen- 
den, ohne  es  immer  zu  betonen,  auf  den  Westen,  das  heißt 
wesentlich  auf  Österreich  und  Deutschland.)  Wir  haben  mit  dem 
Pathos,  das  in  unseren  Kreisen  (Reihen,  sagen  wir)  mit  Recht 
üblich  ist,  darauf  hingewiesen,  wie  elend  der  jüdische  Religions- 
unterricht an  unseren  Schulen  ist,  wie  die  Kinder,  statt  in  der 
Schule  Liebe  zum  jüdischen  Volke,  Begeisterung  für  seine  Ge- 
schichte, erste  und  erfreuliche  Kenntnis  des  Hebräischen  zu  ge- 
winnen, dort  nur  lernen,  sich  ihres  Judentums  zu  schämen. 

Wir  haben  dann  mit  der  Zielsicherheit,  die  uns  gleichfalls  aus- 
zeichnet, gleich  herausgehabt,  wer  die  Verantwortung  für  diesen 
höchst  beklagenswerten  Zustand  trägt:  die  Religionslehrer,  das 
sind  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  (nahezu  überall  auf  dem  Lande) 
die  Rabbiner.  Und  man  liest  immer  wieder,  wiederkehrend  wie 
das  Ceterum  censeo  des  guten  Cato,  in  unseren  Blättern  den  vom 
Herzen  kommenden  Appell  an  die  Rabbiner  und  Religionslehrer, 
sie  möchten  doch  ein  Einsehen  haben  und  ihren  Schülern  und 
Schülerinnen  von  nun  an  Liebe  zum  jüdischen  Volke  und  zum 
Hebräischen  beibringen.  Mir  klingt  dies  immer  so,  als  wenn  je- 
mand an  einen  an  den  Füßen  eng  Gefesselten  die  herzbewegliche 
Bitte  richtete,  doch  einmal  recht  schnell  zu  laufen. 

Ich  denke  einmal  an  den  katholischen  Religionsunterricht  an 
den  Schulen,  die  ich  kenne.  Da  gab  es  zwei  Lehrertypen:   der 

i86 


ERZIEHUNG  IM  JUDENTUM 

eine  war  ,, christlich",  mild  und  liebevoll,  und  die  Schüler  nahmen 
ihn  nicht  ernst,  etwa  so  wie  sie  die  meisten  jüdischen  Religions- 
lehrer zu  nehmen  pflegen.  Sie  machten  während  der  Religions- 
stunde die  Aufgaben  für  die  andern  Gegenstände  oder  trieben 
Possen;  ,, Liebe"  zur  Religion  lernten  sie,  mit  verschwindenden 
Ausnahmen,  nicht.  Der  andere  Typus  war  hart  und  streng,  ließ 
jährlich  zwei  oder  drei  Schüler  wegen  schlechten  Erfolges  im 
Religionsunterrichte  die  Klasse  wiederholen,  erzielte  auch,  daß 
man  die  Religion  lernte  wie  die  lateinischen  Verba;  ich  habe 
schon  erlebt,  daß  Schüler  eines  solchen  Katecheten,  die  doch  in 
sich  ein  starkes  religiöses  Bedürfnis  fanden,  übertraten  und  pro- 
testantische Geistliche  wurden.  Die  Wurzel  dieser  Schwierigkeit 
liegt,  glaube  ich,  darin,  daß  unsere  heutige  Schule  in  ihrem 
ganzen  Wesen  rationalistisch,  aufklärerisch,  liberal,  antireligiös 
ist,  selbst  in  Österreich  unter  unserer  durchaus  klerikalen  Schul- 
verwaltung, und  es  noch  immer  mehr  wird;  in  diesem  Rahmen 
kann  ein  starker,  tiefgehender  Religionsunterricht,  eine  Reli- 
gionserziehung vielmehr,  nicht  aufkommen,  und  darunter  leidet 
unser  jüdischer  Unterricht,  der  eben  nicht  nur  äußerlich  als 
ReligionsxmXOiVTichi  betrieben  wird,  gleichermaßen  wie  der 
katholische. 

Freilich  darf  diese  Gleichstellung  nicht  überschätzt  werden. 
Mag  unser  jüdischer  Unterricht  leiden,  so  hat  er  doch  einen  un- 
geheuren Vorteil  vor  dem  katholischen,  da  er  zugleich  Geschichts- 
unterricht ist,  und  dieses  in  weitem  Maße.  Es  wäre  also,  ist  die 
Folgerung  dieser  Überlegung,  notwendig,  den  eigentlichen  Reli- 
grio/isunterricht  zugunsten  des  Gesc/iic/i^sunterrichts  zurückzu- 
drängen. Wenn  aber  dieser  Geschichtsunterricht,  wie  im  bis- 
herigen Lehrplan  wohl  überall  wesentlich,  als  eine  Art  Fasten 
behandelt  wird,  als  eine  kalendermäßige  Erklärung  zu  den  reli- 
giösen Festen,  so  ist  mit  ihm  sehr  wenig  geholfen.  Es  müßte 
wirklich  Geschichte  unterrichtet  werden,  auf  der  Unterstufe  alles 
Anekdotische  gegeben,  Männer  und  Ereignisse  mit  ausgeprägtem 
Antlitz  ins  unverlierbare  Bewußtsein  der  Kinder  gesenkt  werden, 
auf  der  Oberstufe  die  Zusammenhänge  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung und  die  Verknüpfung  und  Verschränkung  der  jüdischen 
mit  der  allgemeinen  Geschichte  aufgehellt  werden.  Von  unsern 
Lehrern  aber  bei  den  heutigen  Lehrplänen  und  mit  den  heutigen 

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ERZIEHUNG  IM  JUDENTUM 

Lehrbüchern  die  Lösung  dieser  Aufgabe  zu  verlangen,  ist  un- 
gerecht und  unmöglich. 

In  all  diesen  Dingen  wird  es  notwendig  sein,  daß  in  der 
nächsten  Zeit  eine  ganz  starke  und  ihres  Zieles  bewußte  Tätig- 
keit von  unserer  Seite  einsetzt.  Wenn  wir  das  Ideal  fordern  und 
vielleicht  sogar  in  idealen  Büchern  vorzeichnen,  wird  sich  nie- 
mand finden,  der  es  verwirklicht.  Wir  müssen  wissen,  daß  alles, 
was  wir  im  Galuth  arbeiten,  Stückwerk  bleibt,  daß  alles,  was 
wir  hier  tun,  nur  eine  Stufe  sein  kann,  wie  mein  Freund  Emil 
Theiner  sagt,  dem  wir  in  diesen  Dingen  so  viel  verdanken,  und 
der  gar  nie  genannt  wird  und  genannt  werden  wird,  so  sehr  ver- 
schwindet seine  Person  hinter  dem,  was  er  tut  und  —  tun  läßt. 

So  sind  die  zwei  Kinderheftchen,  die  ich  zu  Chanuka  191 1  und 
zu  Purim  1912  schrieb  und  die  er  illustrierte,  ganz  und  gar  sein 
Werk.  Etwas  Kleines  und  Geringes,  eine  erste  Stufe;  aber  doch 
eben  eine.  Wir  werden  von  hier  weiter  arbeiten  müssen.  Wir 
werden  eine  Sammlung  von  Märchen  schaffen,  deren  erster  Ge- 
sichtspunkt sein  wird,  daß  sie  Kindern  erzählt  und  von  ihnen 
wiedererzählt  werden  sollen.  Es  wird  nicht  leicht  sein,  den  Wett- 
bewerb mit  den  Brüdern  Grimm  aufzunehmen;  aber  wenn  wir 
uns  fürchten  und  uns  mißlungener  oder  halbgelungener  Dinge 
schämen  wollen,  wird  nie  etwas  werden.  Wir  werden  eine  Samm- 
lung von  Liedern  veranstalten,  vom  Eio  popeio  an  bis  zu  Balladen 
und  Romanzen;  ich  habe  zwei  oder  drei  'Bänkelgesänge  zur 
biblischen  Geschichte  und  über  palästinensische  Landschaften, 
im  Anschluß  an  Matthias  Claudius  und  deutsche  Volkslieder, 
auf  deutsche  Volksweisen  verfertigt,  die  Kindern  sehr  gut  ge- 
fallen haben:  ästhetisch  empfindende  Jünglinge  haben  die  Nase 
gerümpft  (ich  auch),  aber  die  Kinder  haben  Freude  daran  ge- 
habt, und  wir  werden  jüdischer  werden:  es  war  eine  erste  Stufe. 
Wir  werden  diese  Lieder  illustrieren  und  Bilderbücher  schaffen, 
von  den  ersten  „Unzerreißbaren"  bis  zu  den  künstlerischen 
Büchern  verwöhnter  Kinder  aus  reichen  Häusern.  Wir  werden 
im  Anschluß  daran  Wandbilder  herausgeben,  die  in  jüdischen 
Kinderzimmern  hängen  werden  statt  der  vier,  fünf  Litho- 
graphien von  Caspari  und  Rehm,  die,  dürftig  genug,  alle  deut- 
schen Kinderzimmer  mit  Wandschmuck  versorgen.  Mein  Freund 
Kamil  Kohn  hat  zu  meinen  Bänkelliedern  Wandbilder  gemalt,  die 

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ERZIEHUNG  IM  JUDENTUM 

eine  erste  Stufe  hier  bilden.  Wir  werden  im  Anschluß  an  unsere 
Märchen-,  Lieder-,  Bilderbücher  Kinderspiele  erfinden,  von  den 
ersten  Bewegungs-  oder  Fingerspielen  der  Kleinen  bis  zu  den 
Schreib-  und  Quartettspielen  der  Größeren  und  Fast-Großen. 

So  werden  die  Kinder  längst,  ehe  sie  in  die  Volksschule 
kommen,  lernen,  daß  es  selbstverständlich  ist,  daß  sie  Juden  sind. 
Noah,  Moses,  Simson,  David,  König  Salomo  werden  ihnen  ver- 
traut und  lieb  sein  als  ihre  Spielgenossen.  Sie  werden  in  der 
Schule  das,  was  sie  hören,  an  längst  Erlebtes  anknüpfen.  Wir 
werden  dafür  sorgen,  daß  auch  dann  der  Schullehre  gemüt-  und 
herzbewegende  Beschäftigung  zu  Hause  antwortet,  wir  werden 
Sagen,  Erzählungen,  Romane  und  Novellen  als  eine  jüdische 
Jugend-Bücherei  schaffen,  die  ein  vollwertiges  Gleichgewicht 
gegen  Dietrich  von  Bern,  Gulliver  und  die  Hosen  des  Herrn 
von  Bredow  bilden  werden.  Das  alles  wird  nicht  leicht  sein;  aber 
es  wird  selbstverständlich  werden.  Wir  werden  viel  Material  aus- 
nützen können;  Moliere  sagte:  Je  prends  mon  bien  oü  je  le 
trouve;  wir  werden  unzählbare  Plagiate  begehen,  und  ihre 
Summe  wird  höchst  ursprünglich  und  uns  eigen  sein. 

Wir  werden  Kindergärten  schaffen,  wo  mit  unserem  Material 
gearbeitet  werden  wird;  nicht  hebräische  Kindergärten,  sondern 
Stufen.  Wir  werden  unsern  Kindern  in  der  Volksschule  schon 
neue  Bücher  geben  müssen,  wir  werden  den  jüdischen  Religions- 
unterricht auf  die  erneuerte,  breite  Grundlage  des  „Unterrichtes 
im  Volkstum"  stellen.  Wir  werden  vor  allem  bedacht  sein,  daß 
unsere  neuen  Bücher  von  den  Unterrichtsbehörden  approbiert 
werden;  denn  hier  sind  wir  keine  Utopisten.  Unser  Ziel  ist  die 
eigene  jüdische  Volksschule;  sie  ist  möglicher,  als  man  glaubt, 
denn  ihr  wesentliches  Merkmal  ist  nicht  irgendein  nebelhaftes 
Judentum,  auch  nicht  unmenschlich  viel  Hebräisch,  sondern  die 
Selbstverständlichkeit,  daß  alle  Schüler  und  alle  Lehrer  Juden 
sind. 

Diese  Schüler  werden  dann  von  der  Mittelschule  etwas  mehr 
Jüdisches  verlangen,  als  sie  ihnen  heute  gibt.  Darum  werden  sie 
es  erlangen.  Die  Schule  muß  den  Schülern  geben,  was  sie  ver- 
langen. Wir  werden  den  jüdischen  Unterricht  dadurch  fördern, 
daß  wir  einen  Lehrplan  aufstellen  und  —  vor  allem  —  die  dazu 
nötigen  Lehrbücher  schaffen.  Nach  meiner  Vorstellung  ist  der 

189 


ERZIEHUNG  IM  JUDENTUM 

Hauptgegenstand  dieses  Unterrichtes  die  Geschichte  des  jüdischen 
Altertums.  Sie  wäre  auf  der  Unterstufe,  etwa  in  den  ersten  drei 
Klassen,  in  der  oben  angedeuteten  anekdotischen  Weise  zu 
lehren;  in  der  Übergangszeit,  in  der  vierten  und  fünften  Klasse, 
würde  ich  die  jüdische  Geschichte  in  Mittelalter  und  Neuzeit 
geben,  um  die  Verknüpfung  der  Gegenwart  mit  der  Antike  her- 
zustellen, und  diese  Verknüpfung  als  das  eigentliche  Lehrziel  be- 
trachten; die  obersten  Klassen  würde  ich  dann  der  eingehenden 
Versenkung  in  die  große  Zeit  unseres  Volkes  und  in  seine  größte 
Schöpfung,  die  Bibel,  weihen.  Man  sage  nicht,  daß  zwei  Wochen- 
stunden, und  mehr  sind  vorderhand  kaum  zu  erreichen,  für  diesen 
Zweck  zu  wenig  sind,  da  doch  noch  das  Hebräische  daneben 
steht;  zwei  Stunden,  wenn  sich  die  Schüler  am  Schluß  der  einen 
schon  auf  die  nächste  freuen,  geben  mehr  als  acht,  wenn  dio 
Kinder  beim  Beginn  einer  jeden  schon  das  Glockenzeichen  zum 
Schluß  ersehnen. 

Das  Hebräische  freilich  kann  in  diesem  Rahmen  nicht  zu 
seinem  Rechte  kommen.  Aber  wenn  die  Schule  so  das  Volks- 
tum pflegt,  werden  die  Schüler  Interesse  am  Betrieb  des  He- 
bräischen außerhalb  der  Schule  bekommen.  Wir  werden  für  die 
Einrichtung  solcher  Kurse  sorgen,  und  endlich  wird  die  jüdische 
Gemeinschaft  von  allen  ihren  Angehörigen  fordern,  daß  sie  ihre 
Kinder  an  diesen  Kursen  teilnehmen  lassen.  Je  weiter  wir  hierin 
kommen,  desto  möglicher  wird  es  sein,  in  der  Schule  bloß  die 
außer  und  neben  ihr  erworbenen  Sprachkenntnisse  auszunützen, 
zu  vertiefter  historischer,  literatur-  und  geistesgeschichtlicher  Be- 
schäftigung. 

Leichter  wird  alles  das  werden,  sobald  wir  die  jüdische  Mittel- 
schule haben.  Wir  werden  sie  gründen;  als  humanistische  Schule. 
Ich  ahne  einen  parallelen  Unterricht  des  Latein  und  des  He- 
bräischen, der  unerhörte  Früchte  tragen  wird.  Wir  müssen  nur 
den  Mut  haben,  die  ganze  Schule  auf  das  Geschichtlich-Sprach- 
liche, das  heißt  auf  den  Humanismus  zu  stellen,  in  der  Geschichte 
das  Mittelalter  und  die  Neuzeit  gegenüber  dem  Altertum,  im 
ganzen  die  Naturwissenschaften  gegenüber  Geschichte  und 
Sprachen  zu  bagatellisieren.  Wir  müssen  nur  den  Mut  haben, 
eine  unpraktische  Schule  zu  gründen,  dann  wird  sie  schon  wirken 
und  ihre  Schüler  zu  Juden  und  Menschen  machen,  die  nie  unter- 


190 


ERZIEHUNG  IM  JUDENTUM 

gehen  können.  Was  hilft  unserm  haltlosen  Geschlecht  die  reale 
Erziehung  auf  ,, Aussichten",  Befähigungen,  auf  praktisch  ver- 
wertbare Kenntnisse  und  Fähigkeiten  hin?  Wären  sie  doch  etwas 
größere  Menschen!  Dann  sollte  mir  auch  um  ihr  materielles 
Wohl  nicht  bange  sein. 

An  die  Möglichkeit  einer  jüdischen  Hochschule  im  Galuth 
oder  fürs  Galuth  glaube  ich  nicht.  Aber  auch  die  jüdischen  Hoch- 
schüler brauchen  noch  jüdische  Erziehung.  Sie  soll  in  Vereini- 
gungen verwirklicht  werden,  wie  wir  einige  wenige  schon  haben, 
die  unsere  jungen  Leute,  wenn  sie  Juden  aus  Selbstverständlich- 
keit geworden  sind,  zum  Bewußtsein  ihres  Judentums  bringen 
soll.  Hier  muß  das  historische  Studium  bis  in  seine  höchsten 
Stufen  entwickelt  werden,  zur  Geschichte  des  jüdischen  Geistes 
werden;  es  muß  eine  sichere  Grundlage  erhalten  in  genauer  und 
eingehender  Betrachtung  der  jüdischen  Soziologie  in  Vergangen- 
heit und  Gegenwart.  Hier  erst  soll  der  bewußte  Anschluß  an 
die  jüdischen  Erneuerungsbestrebungen  erfolgen;  auf  früheren 
Stufen  würde  er  zu  hohler  Spielerei,  die  dann  öde  Vereinsmeierei 
statt  eines  lebendigen  Gemeinschaftslebens  in  den  Hochschul- 
jahren herbeiführen  müßte. 

Die  Früchte  dieser  Erziehung,  die  jungen  Leute,  die  durch 
diese  Stufen  der  jüdischen  Entwicklung  gegangen  sind,  werden 
dann  geeignet  sein,  ihrerseits  wieder  die  Erziehung  des  Volkes 
zu  leiten.  Sie  werden  wissen,  daß  dieses  Volk  nur  eine  einzige 
Erziehung  braucht,  das  ist  die  zur  sittlichen  Reinheit,  zur  Selbst- 
losigkeit, zur  Befreiung  von  den  schnödesten  materiellen 
Zwecken.  Das  Mittel  dieser  Erziehung  ist  der  schöne  völkische 
Idealismus,  der  der  Gemeinschaft,  der  jeder  einzelne  verbunden 
ist,  ein  hohes,  leuchtendes  Ziel  setzt;  der  glaubt,  daß  diese  Ge- 
meinschaft, Erbin  hoher  Gedanken,  dieses  Zieles  würdig  ist;  und 
daß  sich  diesem  Ziel  hinzugeben  schöner  ist,  glücklicher  macht, 
als  sich  selber  durchzusetzen. 

Ich  konnte  nicht  viel  sagen;  es  kommt  auch  nicht  darauf  an, 
viel  zu  sagen.  Es  wird  nötig  sein,  für  die  umfassende  und  ziel- 
bewußte Arbeit,  die  vor  uns  liegt,  die  Kräfte  in  der  richtigen 
Weise  zu  sammeln  und  in  Mitwirkung  zu  setzen.  Hoffentlich 
werden  diese  meine  Worte  zu  diesem  ersten  Schritte  beitragen. 
Hoffentlich  sind  auch  sie  eine  Stufe. 

191 


DER  JUDE  UND  EUROPA 


Wir  und  Europa 

Von  Moritz  Goldstein 

1  heodor  Herzls  Konzeption,  die  er  in  die  Formel  faßte:  „Wir 
sind  ein  Volk,  ein  Volk",  —  soweit  sie  nicht  aus  Abwehrinstinkten 
entsprang,  also  in  ihren  echteren  und  edleren  Motiven  —  war 
durchaus  kein  jüdisches,  sondern  ein  höchst  europäisches  Er- 
eignis. Wie  hätte  auch  dieser  weltgewandte,  durch  und  durch 
moderne  Mann  dazu  kommen  sollen,  sich  außerhalb  Europas  zu 
stellen  in  eine  fast  mittelalterliche  Gemeinschaft  hinein?  Außer- 
halb dieses  Europas,  dem  er  so  gut  wie  alles  verdankte,  was  er 
war  und  womit  er  wirken  konnte?  Nein,  der  Antrieb,  unter  dem 
er  seinen  Judenstaat  ersann,  stammte  aus  Europa  und  ergriff 
den  Europäer  in  ihm.  Er  tat  nichts,  als  daß  er  eine  gesamt- 
europäische Geistesbewegung  auf  die  Juden  anwandte;  aber  ge- 
rade diese  Konsequenz  war  so  schwer  und  lag  zugleich  so  nahe, 
daß  Genie  dazu  gehörte.  Es  handelt  sich  um  jene  geistige  Be- 
wegung, die  etwa  nach  dem  ersten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts 
sichtbar  wurde,  in  Männern  wie  Nietzsche  und  Ibsen  ihre  wirk- 
samsten Vertreter  fand  und  die  heute  allmählich  in  praktische 
Wirkung  sich  umzusetzen  und  gleichzeitig  zu  trivialisieren  be- 
ginnt:  es  handelt  sich  um  den  Individualismus.  Dieses  Lebens- 
ideal   ist    das    notwendige    Widerspiel    des     Humanismus     des 
18.  Jahrhunderts  und  mußte  ihn  nach  dem  Gesetz  des  Gegen- 
satzes ablösen.  Daß  alle  Menschen  verschieden  seien,  daß  jeder 
einzelne  eine  unvergleichliche,  nie  wieder  vorkommende  Existenz 
darstelle  und  daß  sein  Wert  auf  dem  beruhe,  was  ihn  von  anderen 
unterscheidet,  diese  Lehre  und  Wertsetzung  trat  naturgemäß  an 
die  Stelle  des  überwundenen  Humanismus,  wonach  gerade  das 
allen  Menschen  Gemeinsame,  die  von  Natur    gleiche    Mensch- 
lichkeit, humanitas,  den   Wert    der    Persönlichkeit    bestimmte. 
Folgte  aus  dem  alten  Ideal,  daß  man  die  nicht  von  Natur,  son- 
dern durch  Kultur  gesetzten  Unterschiede  zwischen  den  Men- 
schen,   also   die    sozialen    und   politischen    Grenzen    auslöschen 
müsse,  um  „die  Menschheit"  zu  erhalten,  so  fordert  das  neue, 
daß  man,  im  Gegenteil,  die  Unterschiede  betonen,  die  „Distanzen 
aufreißen"  müsse,  um  das  wertvolle  Individuum  sich  entfalten 
zu  lassen.  Mit  dem  individuellen  Wert  des  einzelnen  entdeckte 
man  auch  den  der  Nation;   man  erfand  den  nationalen  Indivi- 

195 


WIR  UND  EUROPA 

dualismus.  Und  nun  mußte  man  auf  die  Folgerung  stoßen:  Also 
liegt  auch  der  Wert  der  Juden  nicht  in  dem,  was  sie  mit  anderen 
gemein  haben,  sondern  in  dem,  was  sie  von  ihnen  unterscheidet. 
Wenn  die  Juden  überhaupt  etwas  wert  sind,  so  sind  sie  es  als 
nationales  Individuum.  Sie  haben  etwas  zu  bedeuten,  weil  auch 
sie  ein  Volk  sind  —  oder  wenn  sie  es  noch  nicht  sind,  so  müssen 
sie  es  werden.  Mit  dieser  Konsequenz  war  der  Zionismus  ge- 
gründet, nämlich  der  Zionismus,  der  mit  einem  Male  werbende 
Kraft  besaß  und  Anhänger  gewann.  Nicht  als  Reaktionäre,  son- 
dern als  sehr  moderne  Menschen  sind  wir  National] uden  ge- 
worden. Man  könnte  paradox  sagen:  Wir  sind  es  geworden  als 
Schüler  Nietzsches. 

Die  Herzische  Formulierung  wäre  hundert  Jahre  früher  nicht 
möglich  gewesen;  sie  hätte  lächerlich,  nämlich  selbstverständ- 
lich geklungen;  und  sie  wirkte  nur  als  Gegensatz  zu  einer  anderen 
Konzeption,  die  vorhergehen  mußte;  oder  sagen  wir  lieber:  einer 
Ausdeutung,  die  ihrerseits  ebenfalls  eine  europäische  Konsequenz 
war  und  sich  zum  Humanismus  genau  so  verhielt  wie  National- 
judentum zum  Individualismus.  Um  die  Juden  als  eine,  eine 
Nation  zu  entdecken,  mußten  sie  vorher  für  etwas  anderes  ge- 
halten worden  sein.  Sie  waren  gehalten  worden  für  Bekenner 
einer  Religion,  sogar  einer  Konfession.  Das  war  der  genaue  Aus- 
druck der  allgemeinen  Kulturlage  um  1800.  Unter  dem  be- 
freienden Odem  des  Humanitätsideals,  nach  der  Verkündigung 
der  Menschenrechte  waren  auch  die  bis  daliin  verachteten  Juden 
in  den  Orden  der  „Menschheit",  wie  man  sagte,  der  Kultur- 
menschheit, wie  man  meinte,  d.  h.  in  die  Gemeinschaft  Europas 
aufgenommen  worden.  Das  erste  Beispiel  eines  Ghettojuden,  der 
es  durch  Selbstzucht  zum  Europäer  gebracht  hatte,  bot  unter 
dem  verwunderten  Beifall  von  Juden  und  Christen  Moses  Men- 
delssohn dar.  Seitdem  drängten  sich  die  neuen  Schüler  massen- 
weise zur  europäischen  Kultur.  Europäer  zu  werden,  das  ist 
letzten  Endes  das  Ziel  und  der  Stolz  der  Assimilation,  in  ihren 
Anfängen  so  gut  wie  heute.  Man  emanzipierte  sich  von  den  un- 
europäischen Volkssitten  oder  -Unsitten,  legte  die  unterscheidende 
Tracht  ab,  lernte  deutsch  oder  französisch  oder  englisch  schreiben 
und  sprechen;  man  emanzipierte  sich  auch  von  dem  alttestament- 
lichen  Jehova  und  dem  rabbinischen  Ritual    und    machte    das 

196 


WIR  UND  EUROPA 

Judentum  europafähig,  demselben  Zuge  der  Aufklärung  folgend, 
der  auch  die  christliche  Religion  zum  Bekennen  eines  fast  un- 
persönlichen höchsten  Wesens  und  zur  allgemeinen  Moralität 
ohne  bestimmte  Vorschriften  vergeistigte  oder  verflüchtigte. 
Äußeres  Kennzeichen,  sozusagen  das  Diplom  für  erreichte 
Europawürde,  war  die  Verleihung  der  unbeschränkten  staats- 
bürgerlichen Rechte  in  den  jeweiligen  Heimatstaaten.  Und  um 
den  Anspruch  auf  solche  Einfügung  theoretisch  zu  erweisen,  er- 
klärte man  das  Judentum  als  bloße  Religion,  versteht  sich  das 
Judentum  in  geläuterter  Fassung,  wie  es  liberale  Rabbiner  in 
Reformtempeln  ausdeuteten,  in  welcher  Gestalt  es  sich  nun 
>virklich  von  der  ebenso  gedeuteten  christlichen  Religion  durch 
kaum  mehr  als  den  Namen  unterschied. 

Der  Stolz  auf  unser  Europäertum  sitzt  uns  Juden  allen  noch 
heutigen  Tages  tief  im  Blute.  Die  uns  Semiten  und  Asiaten 
nennen,  wissen  sehr  gut  unsere  empfindlichste  Stelle  zu  treffen. 
Wir  beweisen  mit  diesem  Stolz  und  dieser  Empfindlichkeit  das 
Gegenteil  von  dem,  was  wir  beweisen  wollen:  daß  die  Würde 
neu  und  ungewohnt  ist,  daß  wir  die  Parvenüs  in  Europa  sind. 
Daß  sämtliche  Juden,  plötzlich  in  Palästina  vereinigt,  nicht 
Europa,  nicht  Kultur,  sondern  Unkultur  wären,  ein  bloßer  Haufe 
ganz  disparater  Elemente,  das  ist  die  Tragik  im  Zionismus,  das 
ist  es,  warum  sich  zu  ihm  bekennen  für  uns  Westeuropäer  ein 
Opfer  bedeutet.  Daß  man  sie  um  ihre  Würde  als  Europäer 
bringen  wolle,  dieser  Verdacht  reizt  unsere  jüdischen  Gegner  so 
heftig  gegen  uns  auf;  diese  Furcht  hält  sie  von  uns  fern.  Sie 
ahnen  nicht,  daß  sie  es  sind,  die  noch  immer  an  einem  alten, 
schon  veralteten  Ideale  hängen;  sie  erkennen  nicht  die  Zeichen 
der  Zeit,  welche  vom  Humanismus  und  Weltbürgertum  fortge- 
schritten ist  zum  Individualismus  und  Nationalismus;  sie  merken 
nichts  davon,  daß  wir  National  Juden,  die  wir  die  neue  geistige 
Orientierung  als  gute  Schüler  auf  uns  selber  angewendet  haben, 
die  europäischeren  Juden  sind.  Sie  wollen  sich  auch  nicht  ein- 
gestehen, daß  sie  in  doppeltem  Sinne  für  eine  verlorene  Sache 
fechten:  nicht  nur,  weil  sie  auf  einer  überwundenen  Entwicke- 
lungsstufe  Europas  stehen  geblieben  sind,  sondern  auch,  weil  das 
Judentum,  in  ihrem  Sinne  als  bloße  Religion  gefaßt,  tot  ist. 
Denn  ein  höchstes  göttliches  Wesen  und  das  allgemeine  Sitten- 

197 


WIR  UND  EUROPA 

gesetz,  etwa  in  Kants  Sinne,  auf  welche  beiden  Begriffe  man 
jetzt  das  ,, mosaische  Bekenntnis"  hinzudeuten  liebt,  sind  zwar 
schöne  Dinge  an  sich,  auf  Grund  deren  uns  kein  Gerechter  seine 
Achtung  mehr  versagen  darf.  Aber  sie  besitzen  gar  keine 
werbende  oder  auch  nur  festhaltende  Kraft;  sie  begründen  auch 
keinen  Unterschied  gegen  das  übrige  geistige  Europa.  Wenn 
Judentum  weiter  nichts  ist,  dann  gibt  es  wahrhaftig  keinen  Grund 
mehr,  daß  wir  uns  innerhalb  der  europäischen  Welt  als  etwas 
Besonderes  erhalten;  in  diesem  Glauben  treffen  wir  mit  dem 
aufgeklärten  Christentume  durchaus  zusammen.  Zudem:  wenn 
wir  das  Judentum  reformieren,  warum  sollen  wir  bei  der  Lehre 
vom  persönlichen  Gott,  und  sei  es  ein  noch  so  liberaler  Gott, 
stehen  bleiben,  da  doch  die  Entwicklung  mindestens  weiter 
Kreise  auf  eine  Überwindung  dieses  Glaubens  überhaupt  hin- 
drängt? Wenn  alle  Welt  unreligiös  —  im  bisherigen  Sinne  des 
Wortes  —  und,  mit  Nietzsche  zu  sprechen,  amoralistisch  werden 
will,  warum  sollen  wir  Juden,  wir  ehrgeizigen  Europäer,  beim 
lieben  Gott  und  seiner  Moral  verharren?  Aber  freilich,  diese 
Konsequenz  darf  der  Staatsbürger  jüdischen  Glaubens  nicht 
ziehen,  solange  er  noch  ein  Judentum  erhalten  will;  denn  eines 
außerhalb  des  Glaubens  kennt  er  ja  nicht.  Wir  dagegen  er- 
klären das  Judentum,  für  das  unsere  Väter  lebten,  litten  und 
starben,  für  tot.  Wir  dürfen  es  getrost ;  denn  ist  gleich  das  Juden- 
tum tot:  die  Juden  leben.  Und  indem  wir  dieses  Lebendige  mit 
Leidenschaft  ergreifen,  haben  wir  das  Judentum  in  neuer  Form, 
als  nationales  Judentum  gerettet  und  für  eine  neue  Zukunft  ge- 
gründet. 

Dieses  unser  National  Judentum  wird  sich  nun  aber  mit  jenem 
Europa,  aus  dem  es  entsprungen  ist  und  dem  es  seine  Kraft  vor- 
läufig und  bis  auf  weiteres  verdankt,  irgendwie  auseinander- 
setzen müssen.  Denn  das  Verhältnis  beider  ist  nur,  solange  wir 
in  unserem  europäischen  Gedanken-  und  Empfindungskreise 
bleiben,  klar  und  selbstverständlich,  wird  aber  sehr  problematisch, 
sobald  wir  uns  nicht  mehr  als  Juden  von  heute  und  gestern,  son- 
dern von  dreitausend  Jahren  fühlen  und  sobald  wir  den  Anschluß 
an  unsere  eigene  Tradition  wiederzugewinnen  suchen. 

Hier  wäre  nun  zunächst  die  Frage  zu  beantworten,  was  denn 
Europa  ist.  Wir  wollen  uns  nicht  auf  lange  historische  und  philo- 

198 


WIR  UND  EUROPA 

sophische  Erörterungen  einlassen,  sondern  uns  im  wesentlichen 
auf  das  berufen,  was  jedem  von  uns  bei  diesem  Worte  ohne 
weiteres  gegenwärtig  ist.  Nur  so  viel  sei  bemerkt,  daß  dieses 
Europa,  von  dem  wir  hier  reden,  sich,  wie  billig,  nicht  mit  dem 
geographischen  Begriffe  deckt,  sondern  teils  weniger,  teils  mehr 
als  die  so  genannte  asiatische  Halbinsel  umfaßt;  daß  wir  es  ferner 
hier  wiederum  mit  einer  Konzeption  zu  tun  haben,  die  freilich 
nicht  auf  einmal  vom  Hirn  eines  Menschen  gefaßt  wurde,  son- 
dern allmählich  sich  entwickelt  hat  und  wohl  noch  nicht  bei 
ihrer  letzten  Ausprägung  angekommen  ist;  daß  endlich  die  Reali- 
tät dieses  Begriffes  in  dem  Einheitsbewußtsein  eines  Teiles  der 
Menschheit  liegt,  welcher  sich  den  übrigen  Teilen  entgegensetzt, 
vielmehr  sich  darüber  stellt  und  sich  selbst  naiv  für  den  Mittel- 
punkt der  Menschheit,  für  die  bisher  erreichte  höchste  Spitze, 
kurz  für  die  Menschheit  im  eigentlichen  Sinne  hält.  Ohne  uns 
bei  der  Frage  aufzuhalten,  auf  welchem  Grunde  dieses  Einheits- 
bewußtsein ruhe  und  ob  diese  Selbstschätzung  berechtigt  sei  — 
was  mindestens  im  Hinblick  auf  Süd-  und  Ostasien  bezweifelt 
werden  darf  — ,  stellen  wir  fest,  daß  wir  Juden  uns  in  das  euro- 
päische Bewußtsein  eingefügt  haben;  daß,  wenn  wir  auch  nicht 
widerspruchslos  darin  aufgenommen  werden,  wir  selbst  doch 
durchaus  und  instinktiv  darin  zu  Hause  sind.  Diese  geistige  Zu- 
gehörigkeit zum  Europäismus  besteht  für  unser  Gefühl  ohne 
Rücksicht  auf  alle  Volks-  und  Rassentheorien.  Obwohl  der  Zu- 
sammenhang keineswegs  selbstverständlich  ist;  denn  in  seinen 
Anfängen  gehörten  die  Juden  zum  babylonisch-assyrischen  und 
ägyptischen  Kulturkreis,  der  ältesten,  dem  heutigen  Europa  ähn- 
lichen Kulturgemeinschaft,  die  wir  kennen,  und  später  wurden 
sie  von  der  zweiten  großen  Kulturgruppe,  der  mittelländischen, 
umschlossen  —  wobei  es  nichts  verschlägt,  daß  sie  sich  in  prin- 
zipiellem Gegensatz  zu  diesen  Gruppen  befunden  haben.  Es  ist 
bezeichnend  für  die  jüdische  Psyche  und  Lebenskraft,  daß  wir 
mit  der  Wanderung  des  Kulturschwerpunktes  von  Osten  nach 
Westen  mitgewandert  sind. 

Mit  diesem  Europa,  wie  gesagt,  muß  sich  das  neue  National- 
judentum irgendwie  auseinandersetzen  —  ich  meine  hier  natür- 
lich geistig,  nicht  politisch.  Die  Lage  scheint  zunächst  sehr  ein- 
fach. Heinrich  Heine,  dem  das  Jüdische  tiefer  im  Blute  stak. 


199 


WIR  UND  EUROPA 

als  ihm  selber  lieb  war,  nennt  einmal  die  Bibel  das  auf- 
geschriebene Vaterland  der  Kinder  Gottes,  ein  Wort,  das  die 
ganze  Tragik  der  Juden  und  sein  Gefühl  dafür  mit  einem  Schlage 
offenbart.  Das  aufgeschriebene  Vaterland  —  das  heißt,  wir  haben 
kein  Land  der  Väter,  keinen  Boden,  in  dem  unsere  Wurzeln 
stecken,  keine  Scholle,  deren  Duft  wir  an  uns  tragen;  und  was 
uns  einigt,  ist  ein  Buch,  etwas  Unreales,  rein  Geistiges,  bloße 
Symbole  und  Zeichen!  Auf  dem  dünnen  Boden  der  Schrift  hat 
dieses  gespenstige  Volk  zweitausend  Jahre  gelebt,  aus  ihm  hat 
es  seine  Energien  gezogen,  und  eine  Generation  nach  der  anderen 
hat  ihre  Arbeit  darauf  gehäuft.  Das  Buch  war  für  lange  Ketten 
von  Geschlechtern  Trost  und  Zuflucht,  Hoffnung  und  Lohn, 
Licht,  Luft  und  Sonne. 

Wenn  wir  also  suchen,  dem  Volke  sein  Land  zurückzugeben, 
so  wollen  wir  damit  nichts  geringeres,  als  eine  zweitausendjährige 
Krankheit  heilen  und  der  Nation  aus  einer  Scheinexistenz  zu 
einer  wirklichen  Existenz  verhelfen.  Indessen  dieser  Zionismus 
ist  so  alt  wie  unsere  Heimatlosigkeit  und  deckt  sich  nicht  ganz 
mit  dem  Nationalismus,  den  Herzl  konzipierte  und  den  wir  als 
europäisches  Ereignis  begriffen  haben.  Denn  unser  Zionismus 
begnügt  sich  nicht  damit,  dem  Volke  seine  Heimat  wiederzu- 
geben, sondern  er  will  —  in  dem  Heineschen  Bilde  zu  bleiben  — 
mit  dem  Lande  das  Buch  ersetzen.  Die  einigende  Wirkung,  die 
während  zweitausend  Jahren  „das  Buch"  ausgeübt  hat,  soll 
künftig  „das  Land"  ausüben;  wir  sollen  aus  einem  Volke  der 
Schrift  und  der  Lehre  nach  dem  Beispiele  des  glücklicheren 
Europa  ein  Volk  des  eigenen  Bodens,  der  Industrie,  des  Handels, 
der  eigenen  Kunst  und  Wissenschaft  werden.  Wir  denken  uns 
ein  Palästina,  wie  wir  ein  Deutschland,  ein  England  kennen,  nur 
daß  die  Einwohner  Juden  sind. 

Das  aber  ist  nicht  nur  eine  Gesundung,  sondern  zugleich  eine 
Gefahr,  der  man,  wenn  sie  auch  nicht  zu  vermeiden  ist,  doch 
ins  Auge  sehen  muß. 

Wenn  die  Juden  ein  besonders  begabtes  und  lebensfähiges 
Volk  sind:  als  Volk  des  Landes  sind  sie  es  gerade  nicht,  sondern 
als  Volk  des  Buches.  Als  politisches  Volk  haben  sie  es  schon 
einmal,  und  zwar  an  derselben  Stelle,  schlecht  gemacht.  Nun 
hoffen  wir  zwar,  daß  es  ihnen  ein  zweites,  vielmehr  ein  drittes 


200 


WIR  UND  EUROPA 

Mal  besser  glücken  werde.  Wir  hoffen  nämlich,  daß  sie  als  ein 
europäisches  Volk  in  einer  europäisch  gewordenen  Welt,  im 
Schutze  eben  dieses  Europas,  werden  Wurzel  schlagen  und  ge- 
deihen können.  Aber  bewiesen  ist  das  nicht.  Bewiesen  ist  viel- 
mehr, daß  das  Volk,  dem  Bibel  und  Talmud  schlechtweg 
bindende  Gesetze  waren  und  das  sein  gesamtes  Leben  unter  ein 
strenges  Ritual  stellte,  sich  unter  den  ungünstigsten  äußeren  Ver- 
hältnissen erhalten  hat.  Die  Kraft  der  Juden,  die  sich  bewährt 
hat,  lag  im  Gesetz.  Oder  sagen  wir  mit  einem  weiteren  Begriff: 
in  der  Idee. 

Man  kann  den  Wert  eines  Menschen  bestimmen  nach  seinem 
Verhältnis  zur  Idee,  nämlich  darnach,  welche  Macht  das  bloß 
Ideelle  über  ihn  hat,  ob  er  einer  Idee  dienen,  sich  ihr  opfern,  ob 
er  sein  Leben  von  der  Idee  leiten  lassen  kann.  Dabei  ist  ihr  In- 
halt für  den  sittlichen  Wert  des  Menschen  gleichgültig  und  nur 
für  seine  Intelligenz  und  sein  Wissen  bezeichnend. 

Dasselbe  gilt  nun  auch  für  Nationen,  und  da  scheint  mir  ganz 
unzweifelhaft,  daß,  wenn  nicht  der  Wert,  so  doch  die  Eigenart 
der  Juden  darin  besteht,  daß  sie  vor  anderen  Völkern  ein  Volk 
der  Idee  sind.  Bei  den  Juden  hat  von  jeher  die  Idee,  das  Un- 
wirkliche, der  Geist  eine  ungeheure,  oft  verhängnisvolle  Rolle 
gespielt,  es  hat  das  Leben  des  einzelnen  wie  des  Ganzen  gleich 
einer  realen  Macht  geführt,  ja,  das  Unreale  war  wirklicher  als 
das  Wirkliche.  Von  den  Juden  ist  die  Gerechtigkeit  Gottes  er- 
funden worden.  Von  den  Juden:  die  Griechen  kannten  sie  nicht; 
ihre  Götter  waren  so  ungerecht,  von  Liebe  und  Haß,  Gunst  und 
Zufall  so  abhängig  wie  nur  möglich.  Erfunden:  denn  gesehen 
hat  sie  noch  niemand.  Daß  es  den  Guten  gut  und  den  Schlechten 
schlecht  gehe,  ist  eine  bloße  Idee.  Die  nüchterne  Erfahrung  be- 
weist das  Gegenteil,  und  um  Gottes  Gerechtigkeit  dieser  Er- 
fahrung zum  Trotz  aufrecht  zu  erhalten,  mußte  man  ein  Jenseits 
erfinden,  in  dem  der  Ausgleich  erfolge,  oder  sich  damit  trösten, 
daß  der  menschliche  Verstand  nicht  hinreiche,  um  Gottes  Wege 
zu  begreifen.  Den  Frommen,  der  trotz  unverdienten  Mißge- 
schickes nicht  an  der  göttlichen  Güte  zweifelt,  haben  wir  „freien 
Geister"  also  nicht  zunächst  ob  seiner  Torheit  und  intellektuellen 
Unreinlichkeit  gering  zu  schätzen,  sondern  wir  haben  die  Kraft 
zu  bewundern,  mit  der  die  Idee  in  ihm  mächtig  ist.  Schließlich 


20I 


WIR  UND  EUROPA 

hat  die  Gerechtigkeit  Gottes  nur  als  Idee,  als  Gegensatz  zu  jeder 
Erfahrung  überhaupt  einen  Wert.  Denn  gesetzt,  man  könnte  sie 
erfahren,  gesetzt,  es  ließe  sich  auf  empirischem  Wege,  sozusagen 
experimentell  feststellen,  daß  die  Guten  am  Ende  ihren  Lohn 
und  die  Schlechten  ihre  Strafe  finden  —  was  hätte  dann  alles 
Gutsein  für  einen  Wert? 

Die  Juden  haben  die  Idee  von  Gottes  Gerechtigkeit  hoch  ge- 
halten, trotzdem  sie  ihre  nationale  Selbständigkeit  sinken  sahen, 
trotzdem  der  Tempel  in  Flammen  aufging,  das  Volk  in  alle 
Winde  zerstreut  wurde  und  durch  das  Martyrium  der  tiefsten 
Demütigung  hindurclftnußte.  Es  war  eher  bereit,  sich  selbst  die 
schwersten  Sünden  zuzuschreiben  als  sein  Schicksal  für  unver- 
dient und  Gott  für  ungerecht  zu  halten.  Ja,  es  hat  nicht  aufgehört 
zu  glauben,  daß  es  ein  besonderer  Liebling  des  Himmels  sei.  Der 
Einfall,  dieses  kleine,  verachtete  und  getretene  Völklein,  diese 
Handvoll  entrechteter  Menschen  sei  das  auserwählte  Volk  Gottes 
und  leide,  um  sich  seiner  herrlichen  Zukunft  würdig  zu  machen, 
dieser  närrische,  aller  Wirklichkeit  Hohn  sprechende  Einfall,  er- 
schütternd in  seiner  grandiosen  Tragikomik,  zeigt  wie  kaum  ein 
anderes  Beispiel,  was  der  Geist  über  den  Leib  vermag;  es  verrät 
auch,  daß  die  eigentliche  Kraft  der  Juden  in  der  Idee  liegt.  Denn 
die  Donquixoterie,  sich  als  auserwähltes  Volk  zu  fühlen,  hat  die 
Juden  Jahrtausende  lang  beherrscht  und  buchstäblich  erhalten; 
ohne  diesen  Glauben  wäre  die  jüdische  Nation  verschwunden  wie 
so  viele  andere  und  größere. 

Die  Idee  in  ihrer  Reinheit  ist  aber  immer  nur  für  wenige. 
Die  vielen  bedürfen  der  Symbole  und  Zeichen;  sie  veräußer- 
lichen und  materialisieren  die  Idee,  entfremden  sie  dem  Leben 
und  nehmen  ihr  den  Sinn.  Der  einfache  Gedanke,  das  Volk 
Gottes  zu  sein,  genügt  nicht;  man  verlangt  nach  sinnfälligem 
Ausdruck.  Man  setzt  also  die  Idee  in  bestimmte  Einzelvorschriften 
für  das  tägliche  Leben  um;  oder  man  legt  alle  Regeln  der  Sitte, 
des  Rechtes,  der  Hygiene  als  göttliche  Gebote  aus,  in  deren 
Beobachtung  die  Gottkindschaft  besteht,  durch  deren  Über- 
tretung man  sich  der  göttlichen  Auserwähltheit  unwürdig  macht. 
Es  entsteht  der  Pharisäismus:  die  Popularisierung  und  Materiali- 
sierung einer  Idee  bei  einem  Volke  von  Spiritualisten  und  Ideo- 
logen.  In  den  peinlichen  Umständlichkeiten  der   Speisegesetze 


202 


WIR  UND  EUROPA 

und  den  Erschwerungen  der  Sabbatruhe  liegt  deshalb  Größe, 
weil  man  ohne  praktische  Rücksichten  sich  tausend  Mühselig- 
keiten auferlegt,  um  der  Idee  zu  dienen;  wer  diese  Lasten  auf 
sich  nimmt,  beweist  ein  fanatisches  Verhältnis  zur  Idee  —  die 
Idee  mag  immerhin  klein  und  leer  geworden  sein. 

Pharisäismus  ist  eine  Volkskrankheit,  die  nicht  erst  mit  dem 
Untergang  des  Tempels  entstand,  sondern  bis  auf  die  Zeiten 
Esras  zurückgeht.  Sie  hat  die  Lebenskraft  des  jüdischen  Staates 
aufgesogen;  denn  eine  Nation,  die  am  Sabbat  nicht  kämpfen 
darf  oder  es  nur  mit  bösem  GeAvissen  tut,  ist  in  dieser  Welt  nicht 
existenzfähig.  Aber  die  Krankheit  war  zugleich  unsere  Rettung. 
Wäre  nur  einfach  ein  Volk  von  den  Römern  unterworfen  und 
ihre  Hauptstadt  zerstört  worden,  so  gäbe  es  dieses  Volk  heute 
nicht  mehr;  es  wäre  von  ihm,  wie  von  den  Karthagern,  nichts 
übrig  als  der  Name.  Hier  aber  hatte  die  Versteinerung  den  Baum 
so  weit  ergriffen,  daß  er  den  Verlust  des  Bodens  ertrug.  Was 
für  jeden  anderen  Organismus  tötlich  gewesen  wäre:  diesem  in 
seinen  Panzer  starrer  Ideologie  eingeschlossenen  vermochte  es 
nicht  mehr  zu  schaden.  Er  lebte  zwar  nicht  mehr,  aber  er  konnte 
sich  auch  nicht  auflösen;   er  wurde  konserviert. 

Wir  stehen  also  in  eigentümlichem  Verhältnis  zum  traditio- 
nellen Judentum.  Was  unsere  Krankheit,  unser  Fluch,  unsere 
Unnatur  war,  das  ist  zugleich  die  Kraft  gewesen,  die  uns  er- 
halten hat.  Es  war  freilich  eine  Kraft  der  bloßen  Dauer,  nicht 
fruchtbarer  Lebenstrieb.  Aber  wenn  wir  nun  diese  Kruste  steril- 
gewordener Lehren  abstreifen  und  uns  dafür  rüstig  auf  den 
nackten  Boden  der  Heimat  stellen  wollen,  wenn  wir  streben,  als 
traditionslose  Kolonisatoren  nichts  zu  tun  als  mit  jungen  Armen 
den  alten  Boden  neu  zu  brechen  —  so  spielen  wir  ein  gewagtes 
Spiel! 

Indessen  es  bleibt  uns  wiederum  nichts  anderes  übrig  als  das 
Spiel  zu  wagen.  Das  Buch,  die  Bibel  mit  allem,  was  sich  daran 
knüpft,  kann  nicht  mehr  das  Ein  und  Alles  sein  für  Menschen, 
die  von  Europa  gelernt  haben,  mit  kühler  Wissenschaftlichkeit 
an  die  heiligen  Bücher  heranzutreten,  die  ihrer  Entstehungs- 
geschichte mit  profanen  Händen  nachgeforscht  haben,  und  denen 
es  selbstverständlich  ist,  in  den  Werken  göttlicher  Offenbarung 
historische  Dokumente  mit  allen  menschlichen    Schwächen    zu 

2o3 


WIR  UND  EUROPA 

erblicken.  Gegen  das  „Gesetz",  und  wenn  es  hundertmal  unsere 
Rettung  war,  sträuben  sich  all  unsere  europäischen  Instinkte, 
Daß  es  von  irgendwelchem  —  außer  allenfalls  demonstra- 
tivem —  Belang  sein  sollte,  ob  ich  dies  oder  jenes  esse 
oder  nicht  esse,  ob  ich  dies  oder  jenes  tue  oder  nicht  tue, 
können  wir  durch  Aufklärung  und  Humanität  erzogenen  Euro- 
päer, wir  tollkühnen  Forscher  und  frivolen  Zweifler  nicht  mehr 
fassen.  Führte  man  uns  in  ein  Land,  wo  das  Gesetz  noch  gälte, 
wir  müßten  einen  Voltaire,  nein:  hundert  Voltaire  aus  unserer 
Mitte  hervorbringen,  die  mit  allen  Giften  des  Spottes,  mit  allen 
Sprengschüssen  des  Witzes  das  dumpfe  Gebäude  zu  Falle 
brächten.  Der  alte  Kampf,  was  mehr  wert  sei,  das  Judentum 
oder  die  Juden,  müßte  wieder  aufgenommen  und  zu  Ende  ge- 
führt werden  bis  zum  Untergange  des  Pharisäismus.  Vielmehr 
er  ist  schon  entschieden  durch  die  bloße  Tatsache,  daß  wir  die 
alten  Ideen  ersetzt  haben  durch  die  neuen  vom  jüdischen  Volke, 
Diese  Idee  rettet  uns  vom  Untergang  in  der  doppelt  gefährlichen 
Epoche  der  nationalen  Zerstreuung  und  der  religiösen  In- 
differenz. 

Während  wir  also  das  orthodoxe  Judentum  zwar  als  erhaltende 
Macht  anerkennen,  aber  doch  künftig  nicht  mehr  ertragen  wollen 
und  nach  der  neuen  Konzeption  der  jüdischen  Nationalität  auch 
nicht  mehr  zu  ertragen  brauchen:  bleibt  die  Grundeigenschaft 
der  Juden  als  eines  Volkes  der  Idee  bestehen.  Unter  den  Mensch- 
lichkeiten des  Rituals  und  des  Pharisäismus  finden  wir  als 
goldenen  Kern  und  lebenspendenden  Talisman  die  Idee, 

Dieser  Charakter  als  Volk  der  Idee  hat  Israel  von  jeher  — 
wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf  —  außerhalb  des  jeweiligen 
Europa  gestellt.  Von  Abraham,  der  sich  in  Gegensatz  zur  baby- 
lonischen Kultursphäre  setzte,  gilt  dies  ebenso  wie  von  den  Juden 
der  hellenistischen  Epoche  und  denen  unterm  römischen  Im- 
perium, Wenn  wir  heutigen  aus  unserem  Europa  die  Folgerung 
ziehen,  einfach  eine  Nation  zu  sein,  wie  die  andern  auch,  und 
weiter  nichts:  so  ist  unser  Zionismus  eine  ganz  arge  Assimilation 
an  dieses  Europa,  höchst  gefährlich,  weil  wir  sie  durchaus  naiv 
und  mit  gutem  Gewissen  vollziehen.  Nein,  wenn  wir  von  Europa 
gelernt  haben,  die  nationale  Individualität  zu  entwickeln,  so 
müssen  wir  auch  die  letzte  Konsequenz  ziehen.  Europäisch  sein 

2o4 


WIR  UND  EUROPA 

heißt  für  uns  über  Europa  hinausgehen.  Wollen  wir  eine  jüdische 
Nation  sein,  so  müssen  wir  uns  aufs  neue  außerhalb  Europas 
stellen  und  das  werden,  was  wir  im  Grunde  sind:  das  Volk 
der  Idee. 

Hier  aber  haben  wir  zunächst  zu  fragen,  was  denn  das  für  eine 
Idee  ist,  diese  urjüdische  Idee,  die  unsere  Vergangenheit  war 
und  unsere  Zukunft  sein  soll? 

Wenn  man  überhaupt  von  geistigem  Nationalcharakter 
sprechen  will,  so  darf  man  von  Israel  sagen,  daß  es  vor  anderen 
Völkern  die  Gabe  und  den  Trieb  besitze,  nach  dem  letzten  Sinn 
und  Zweck  des  Daseins  zu  fragen,  oder  vielmehr:  nicht  zu 
fragen,  sondern  eine  Antwort  zu  geben.  Was  hier  zugrunde 
liegt,  ist  also  nicht  ein  philosophischer  Instinkt  des  Forschens 
und  Erkennens,  sondern  eine  ethische  Leidenschaft,  die  Sinn- 
losigkeit des  Daseins  zu  überwinden  und  das  Leben  durch  eine 
höchste  Pflicht  zu  rechtfertigen.  Israel  ist  das  Volk  der  ethischen 
Idee. 

Um  dies  deutlich  zu  machen,  müssen  wir  ein  klein  wenig 
philosophisch  ausholen. 

Kant  unterscheidet  bekanntlich  in  seiner  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft  zwei  Arten  von  Forderungen,  nämlich  erstens 
solche,  die  uns  gestellt  werden  durch  irgendeinen  Zweck,  den 
wir  uns  freiwillig  wählen,  und  zweitens  solche,  die  uns,  abge- 
sehen von  jedem  Zweck,  unbedingt  und  unter  allen  Umständen 
aufliegen  —  oder  hypothetische  und  kategorische  Imperative. 
Jene  muß  ich  erfüllen,  falls  ich  den  Zweck  erreichen  will,  z.  B. 
arbeiten,  wenn  ich  vorwärts  kommen  will;  aber  es  ist  meine 
Sache,  ob  ich  das  will.  Diese  hängen  von  keiner  Bedingung  ab; 
es  sind  die  ethischen  Forderungen,  die  mir  als  Pflicht  und  Ge- 
wissenssache unbedingt  obliegen.  Eigentlich  gibt  es  nur  einen 
kategorischen  Imperativ:  nämlich  dem  Sittengesetze  zu  ge- 
horchen oder  ein  sittlicher  Mensch  zu  sein.  Was  ich  unter  diesem 
Gesetz  nun  wirklich  zu  tun  habe,  wird  von  Kant  nirgends  ge- 
sagt, sondern  hängt  von  den  Umständen  und  meiner  Erkenntnis 
ab.  Kant  hat  nicht  eine  neue  —  oder  alte  —  Moral  gepredigt, 
sondern  das  ethische  Phänomen  selbst,  nämlich  daß  sich  dem 
Menschen  je  nach  den  Umständen  Handlungen  in  der  Form  des 
unbedingten  Gebotes  aufdrängen,  zum  Gegenstand  seiner  Unter- 

2o5 


WIR  UND  EUROPA 

suchung  gemacht;  er  gibt  nicht  Moralvorschriften,  sondern  eine 
Formel,  ganz  im  Gegensatz  zu  Nietzsche,  der  eine  bestimmte 
neue  Moral  der  Menschheit  aufzwingen  will.  Kant  hat  keine 
Moral  geschaffen,  er  hat  nur  das  uralte,  menschlich  -  psycho- 
logische Phänomen  der  Moral,  das  allen  Moralen  zugrunde  liegt, 
entdeckt  und  wissenschaftlich  sichergestellt. 

Mit  dieser  Kantischen  Entdeckung  nun  finden  wir,  daß  die 
Erscheinung  des  kategorischen  Imperativs  in  Europa  oder  für 
Europa  —  Asien  muß  außerhalb  der  Betrachtung  bleiben  — 
zuerst  und  bis  heute  am  intensivsten  die  Juden  dargestellt  haben. 
Bei  ihnen  tritt  die  sittliche  Forderung  in  ihrer  Majestät  auf,  nicht 
philosophisch  abstrakt,  daher  unwirksam,  wie  bei  Kant  oder  bei 
den  Griechen  (Plato),  sondern  lebendig  gemacht  durch  das 
große  Symbol  des  einen  Gottes;  auch  nicht  verengt  zu  einer 
oder  einigen  bestimmten  Vorschriften,  sondern  in  der  Allgemein- 
heit des  bloßen  Sittengesetzes.  Du  sollst  Gott  dienen!  Und  was 
verlangt  Gott?  Du  sollst  gut  sein  und  das  Gute  tun!  Es  ist  in- 
teressant, sich  klarzumachen,  daß  die  jüdische  Nationaltugend, 
die  von  der  Bibel  immer  wieder  eingeschärft  wird:  die  Ge- 
rechtigkeit, im  Grunde  nichts  ist  als  Kants  Moralformel,  wie  diese 
weit  entfernt  davon,  ein  bestimmtes  Handeln  vorzuschreiben; 
wie  diese  darauf  angewiesen,  ihren  Inhalt  erst  vom  Einzelfall 
zu  erhalten;  und  doch  soviel  wärmer,  bildhafter,  lebendiger  als 
sie.  Im  Judentum  ist  der  kategorische  Imperativ,  unter  dem 
Bilde  des  einzigen  Gottes,  zur  Volksreligion  geworden;  im  Juden- 
tum zuerst  erklingt,  noch  heute  vernehmbar,  die  dröhnende 
Stimme  des  ethischen  Pathos;  aus  dem  Judentum  stammt  die 
unbedingte  sittliche  Forderung  und  bildet,  noch  immer  fort- 
wirkend, eine  der  Wurzeln,  aus  denen  der  Europäismus  her- 
vorgegangen ist,  und  vielleicht  seine  stärkste.  Die  Juden  waren 
Voreuropäer. 

Das  Christentum  ist  der  Weg,  auf  dem  das  Abendland  seinen 
Führern  nachfolgt  und  sie  einholt;  fortan  geht  das  Judentum 
während  des  ganzen  Mittelalters  neben  Europa  her  und  spiegelt, 
nicht  mehr  stark  genug,  selbst  Einfluß  auszuüben,  seine  geistigen 
Bewegungen  getreulich  ab.  Dieses  Mitschwingen  verdient  noch 
genau  untersucht  zu  werden,  wie  z.  B.  Scholastik,  Mystik,  In- 
quisition usw.  im  Ghetto  widerhallen,  wobei  übrigens  nicht  vor- 

206 


WIR  UND  EUROPA 

weg  behauptet  werden  soll,  daß  wir  nur  der  empfangende  Teil 
gewesen  seien.  Bis  um  das  Jahr  i4oo  ist  Judentum  neben- 
europäisch; von  da  an  bleibt  es  zurück;  denn  nun  erwirbt 
Europa  etwas  Neues  hinzu,  was  das  Volk  der  Tradition  und  des 
Gesetzes  nicht  anerkennen  darf:  Freiheit  der  Forschung,  vor- 
aussetzungslose  Wissenschaft.  Künftig  ist  Judentum  im  Ver- 
gleich mit  dem  übrigen  Europa  mittelalterlich,  eine  Situation, 
die  übrigens  zur  Zeit  Philos  schon  einmal  da  war.  Wie  mancher 
mag  abtrünnig  geworden  sein,  nur  um  diesem  Mittelalter  zu  ent- 
gehen! Erst  wir  Nationaljuden  haben  den  Weg  gefunden,  wie 
man  Jude  sein  kann,  ohne  sich  an  die  mittelalterliche  Tradition 
zu  binden  und  ohne  durch  Reformen  das  Judentum  überhaupt 
zu  gefährden. 

Nun  aber,  im  19.  Jahrhundert,  infolge  einer  ungeahnten  Ent- 
wickelung  der  voraussetzungslosen  Wissenschaft,  ist  dieses  Eu- 
ropa auf  seltsame  Weise  gezwungen,  sich  mit  seinen,  aus  Judäa 
stammenden  ethischen  Grundlagen  aufs  neue  auseinanderzu- 
setzen. Nämlich  die  sittliche  Forderung,  auch  in  der  allgemeinen 
Form  der  jüdischen  Ethik,  ja  in  der  abstrakten  Fassung  der 
Kantischen  Moralformel  bedarf  doch  einer  letzten  Rechtferti- 
gung. Der  unbedingte  Imperativ  ist  nicht  ganz  so  unbedingt  wie 
Kant  dachte;  auch  er  gilt  unter  einer  Bedingung,  allerdings  einer, 
von  der  Kant  nicht  ahnen  konnte,  daß  sie  einmal  fehlen  würde: 
Diese  Bedingung  ist,  daß  die  Welt  überhaupt  einen  Sinn  oder 
einen  Zweck  habe.  Müßten  wir  annehmen,  daß  die  Welt  ab- 
solut sinnlos  wäre,  daß  sie  nicht  wenigstens  eine  Aufwärts-  und 
Vorwärtsbewegung  darstellte,  so  hätte  auch  die  sittliche  Forde- 
rung keine  Berechtigung,  und  jeder  Maßstab  einer  Beurteilung 
des  Sittlichen  würde  fehlen.  In  der  jüdisch-christlichen  Ethik 
ist  jener  Sinn  gewährleistet  durch  den  Glauben  an  einen  per- 
sönlichen Gott,  in  dem  das  Gutsein  sich  rechtfertigt.  Nun  ist 
aber  gerade  dieser  Glaube  in  der  Auflösung  begriffen;  die 
wachsende  Naturerkenntnis,  vor  allem  die  Entwickelungstheorie 
hat  dahin  geführt,  daß  wir  mehr  und  mehr  uns  von  der  Vor- 
stellung eines  persönlichen  Gottes  emanzipieren.  Namentlich  ein 
Gott,  der  Gebote  erläßt  und  Lohn  und  Strafe  spendet,  ist  uns 
ein  unmöglicher  Glaube  geworden.  Friedrich  Nietzsche  hat  am 
entschiedensten  auf  den  Zustand  hingewiesen,  der  entstehen  muß, 

207 


WIR  UND  EUROPA 

wenn  wir  Gott,  auf  den  wir  Jahrtausende  lang  all  unsere  Wer- 
tungen bezogen  haben  und  instinktiv  noch  beziehen,  aus  dieser 
Welt  herausnehmen.  Er  nennt  ihn  europäischen  Nihilismus:  ein 
Zustand  der  Verzweiflung,  der  völligen  Rat-  und  Ziellosigkeit. 
Nun  könnte  es  ja  einen  Sinn  und  Zweck  der  Welt  auch  außer- 
halb des  persönlichen  Gottes  geben,  z.B.  im  beständigen  Fort- 
schritt zum  Vollkommeneren.  Allein  wir  stehen  augenblicklich 
mindestens  vor  der  Möglichkeit,  daß  bewiesen  werde,  die  Welt 
habe  kein  Ziel  und  keinen  Zweck,  sondern  sei  blinde  Kausalität 
und  durchlaufe  einen  Kreislauf  aus  dem  Chaos  in  das  Chaos. 
Genug,  wir  sehen  uns  heute  gegenüber  der  Schwierigkeit,  daß 
die  einzige  Bedingung,  unter  der  Kants  Sittengesetz  und  die 
jüdisch -christliche  Ethik  gilt,  verloren  zu  gehen  droht  oder 
schon  verloren  ist;  die  Gefahr  der  europäischen  Geisteslage  ist 
groß,  und  Nietzsche,  der  sie  erkannt  und  ausgesprochen,  hat 
auch  gleich  das  Mittel  angegeben,  ihr  zu  begegnen  —  ein  höchst 
geniales  Mittel:  Wenn  die  Welt  keinen  Sinn  hat  und  wenn  wir 
doch  ohne  diesen  Sinn  nicht  leben  können,  so  muß  der  Mensch, 
vermöge  seiner  Fähigkeit  des  Wertesetzens,  ihr  einen  Sinn  geben. 
Dieser  neue  Sinn  ist,  in  Nietzsches  Formel,  bekanntlich  der  Über- 
mensch. 

Man  darf  heute,  glaube  ich,  getrost  behaupten,  daß  —  trotz 
des  wachsenden  Einflusses  Nietzsches  —  sein  Versuch  einer  neuen 
Wertsetzung  gescheitert  ist.  Mit  aller  Anstrengung  eines  heroi- 
schen Geisteslebens  wird,  neben  der  künstlerischen  und  tausend 
anderen  Anregungen,  wie  so  oft,  am  Ende  nichts  erreicht  sein, 
als  daß  Werte,  die  früher  unterschätzt  wurden,  künftig  die  rechte 
Geltung  haben.  Aber  den  neuen  Wert  hat  uns  Nietzsche  nicht 
gegeben,  den  Sinn  der  Welt  nicht  wiedergefunden,  die  Gefahr 
des  europäischen  Nihilismus  nicht  beseitigt. 

Und  das  kann  nicht  anders  sein.  Zwar  hat  Nietzsche  ganz 
recht:  der  Mensch  selbst  muß  die  Tat  einer  neuen  Wertsetzung 
vollbringen.  Aber  nicht  der  Mensch  wird  das  tun,  der  die  Not- 
wendigkeit mit  hellem  Verstände  einsieht,  nicht  der  allzu  ge- 
scheite, durch  theoretisches  Denken  dahin  gelangte  Philosoph, 
sondern  die  dumpfe,  ihrer  selbst  nicht  bewußte  Genialität  einer 
tief  religiösen  Natur,  einer,  der  nicht  den  Sinn  der  Welt  sucht, 
sondern  der  ihn  besitzt,  der  ihn  in  sich  trägt  und  ihn  nur  aus- 

208 


WIR  UND  EUROPA 

zusprechen  braucht.  Ja,  vielleicht  genügt  es  auch  noch  nicht,  daß 
solch  ein  Mensch  komme  und  ins  gebildete,  allzu  gebildete  Eu- 
ropa hinein  seine  Botschaft  verkünde;  vielleicht  gehört  dazu  ein 
Volk,  das  vorbereitet  ist,  diese  Botschaft  aufzunehmen  und  ihr 
eine  nationale  Resonanz  zu  geben. 

Die  Krisis  des  europäischen  Nihilismus  erleben  wir  Juden  mit- 
samt dem  übrigen  Europa.  Seine  Zweifel  sind  auch  unsere 
Zweifel,  sein  Bedürfnis  nach  einer  neuen  Rechtfertigung  der 
Welt  —  oder,  um  ein  altes,  wenn  auch  mißverständliches  Wort 
zu  gebrauchen:  nach  einer  neuen  Religion  —  ist  auch  unser 
Bedürfnis.  Wenn  die  Phrase  von  der  Mission  eines  Volkes  einen 
Sinn  haben  soll,  so  kann  es  nur  der  sein:  seine  Mission,  das  sind 
seine  Fähigkeiten,  seine  latenten  Kräfte,  seine  Entwickelungs- 
möglichkeiten.  Und  nach  allem,  was  wir  von  der  jüdischen 
Psyche  wissen  und  meinen,  glaube  ich  —  wenn  wir  nur  erst 
den  nationalen  Zusammenschluß  wiedergefunden  haben,  und 
wenn  die  Millionen  Kräfte  wieder  auf  ein  Ziel  hinwirken 
können  —  ich  glaube,  daß  das  Volk  der  Juden  den  neuen  Sinn 
der  Welt  aus  sich  herausgebären  wird,  ich  glaube,  daß  dieser 
neue  Sinn,  die  Antwort  auf  eine  immer  drohender  tönende  Frage 
wie  eine  elektrische  Spannung  in  ihm  liegt  und,  sobald  die 
äußeren  Bedingungen  nationalen  Lebens  gegeben  sind,  sich  ent- 
laden muß. 

Seltsamer  Kreislauf!  Nachdem  wir  einen  und  vielleicht  den 
stärksten  Anstoß  zur  Bildung  des  geistigen  Europa  gegeben 
haben,  nachdem  wir  lange  Jahrhunderte  nur  unterirdisch  im 
Strom  der  europäischen  Entwickelung  mitgeführt  wurden,  nach- 
dem wir  endlich  zum  modernen  Europäismus  erwacht  sind  und 
aus  ihm  die  Kraft  zu  nationaler  Wiedergeburt  gesogen  haben: 
stellen  wir  uns  nun,  als  letzte  Konsequenz  europäischer  Lehren, 
entschlossen  außerhalb  Europas.  Wir  werden  hypereuropäisch, 
und  zum  zweiten  Male  im  Laufe  der  Weltbegebenheiten  geht  von 
Judäa  das  Heil  aus. 


14 


209 


Die  Demokratie  und  die  Seele  des  Juden 

Von  Arnold  Zweig 

I. 

IVlan  kann  in  einem  Aufsatze,  der  sich  vornimmt,  dem  Einfluß 
der  Demokratie  auf  die  jüdische  Seele  nachzugehen,  nicht  mehr 
finden  als  Hinweise  und  Ergebnisse  —  denn  das  Thema  benötigt 
den  Raum  eines  Buches.  Nur  an  einigen  Beispielen  wird  be- 
trachtet werden,  welcher  Art  innere  Umformung  sich  an  dem 
Orientalen,  dem  Juden,  vollziehen  mußte,  als  er  in  die  Sphäre 
des  demokratischen  Geistes  eintrat,  und  diese  in  ihn.  Blicken  wir 
aber  auf  jene  Erscheinungen  der  politischen  Öffentlichkeit,  die 
in  ihrer  Vielfalt  den  Komplex  Demokratie  ausmachen,  so  geht 
uns  zunächst  auf,  daß  ihre  innerste  Quelle  eine  Haltung  zum 
Dasein  ist,  die  nicht  mehr  hinnimmt,  sondern  vergleicht.  In  einer 
weiten  Fülle  von  Abstufungen  und  Verschiedenheiten  zieht  sich 
das  Leben  hin;  in  ihm  findet  sich  keine  Gleichheit,  sondern  allen- 
falls Gemeinsamkeiten:  wie  Bauer  mit  Bauer  das  Bauersein  ge- 
mein hat  und  alles  was  es  ausmacht,  aber  nichts  darüber.  Dieser 
bestehenden  Ungleichheit  kann  man,  sobald  sie  mit  dem  Staunen 
jeder  echten  Entdeckung  aufgenommen  ist,  auf  zwei  Arten  ent- 
gegentreten: entweder  erkennt  man  die  Notwendigkeit,  den 
Eigenwert  und  die  Schönheit  jeder  Stufe,  die  Eintracht  von  Recht 
und  Verpflichtung  im  Handwerker  wie  im  Herrscher,  und  fordert 
dann  von  dem  auf  sie  Gestellten  nur  eines,  nämlich  daß  er  sie 
vollkommen  lebe,  daß  also  der  Goldschmied  mit  derselben  Hin- 
gabe, Rechtlichkeit  und  Ehrlichkeit  seinen  Ring  schaffe,  mit  der 
der  Herrscher  ein  Gesetz  oder  der  Philosoph  eine  Erkenntnis 
deutet  —  das  ist  die  eine.  Die  andere  ist  jene,  die  vergleicht,  und 
den  Abstand  mißt  zwischen  dem  der  die  Krone  schafft  und  dem 
der  sie  trägt  —  die  aber,  nicht  ins  Wesen  sehend,  uneinsichtig 
an  den  Unterschieden  des  Gestelltseins,  des  äußeren  Glanzes,  der 
Macht  haftet.  Sie  kann  nur  jemand  einnehmen,  der  irgendwie 
sich  übergeordnet  Schichten  sieht,  die  ihm  nicht  erreichbar  sind, 
mit  einem  Blick  von  unten  nach  oben.  Kreist  sein  Denken  um 
diesen  Abstand,  so  tritt  der  Augenblick  ein,  wo  er  die  Spannung 
zwischen  sich  und  dem  Höheren  nicht  mehr  erträgt,  und  er,  je 
nach  seiner  Art,  sich  in  offener  Empörung  dagegen  erhebt,  mit 
dem  Bewußtsein  eines  haßvollen  und  starken  Rebellen,  der  ohne 


210 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Reue,  wenn  es  sein  muß,  im  Kampfe  fällt  —  oder  er,  zu  schwach 
zu  ehrlichem  Haß,  eine  Ebene  sucht,  auf  der  das  quälende 
Wenigersein  nicht  mehr  besteht,  wo  er  dem  Höheren  gleich  ist: 
er  entdeckt,  daß  der  andere  auch  nur  ein  Mensch  ist.  Nun  braucht 
er  nicht  mehr  zu  verlangen:  alle  Menschen  sollen  gleich  sein, 
sondern  er  stellt  fest:  alle  Menschen  sind  gleich;  die  Tatsache, 
daß  jener  hoch,  er  aber  niedriger  steht,  ist  als  Ungerechtigkeit 
erwiesen,  denn  mit  dem  ,, Menschsein"  des  anderen  ist  ihm  ver- 
bunden, daß  er  „ein  Mensch  wie  ich"  sei;  und  von  nun  an  kann 
er  entweder  seine  Unterordnung  mit  Gleichmut  hinnehmen,  oder 
mit  „gutem  Gewissen"  die  Hoheit  des  anderen  unterminieren. 

Was  für  ein  Geist  ist  nötig,  um  diesen  ,, Menschen"  zu  ent- 
entdecken? Sicherlich  keiner  der  zu  jener  ersten  Art  gehört. 
Denn  indem  dieser  schauend  und  hingebend  ins  Wesen  jedes  Ge- 
schaffenen hineingeleitet  wird,  enthüllt  sich  ihm  der  Kern  des 
Königs  im  Königsein,  der  des  Bauern  im  Bauersein;  was  jeder 
für  sich  hat,  das  macht  seine  Art  aus,  und  das  Gemeinsame  ist 
unwesentlich  und  nichtig,  nämlich  das  Menschsein,  das  dem 
anderen  Geiste  so  gründend  erscheint.  Dieser  hat  in  einer  be- 
stimmten Sphäre  auch  recht,  in  der  des  Faktischen;  faktisch  ist 
der  König  wie  der  Bauer  der  species  homo  sapiens  angehörig; 
der  naturwissenschaftliche  Tatbestand  des  Menschseins  etwa  im 
Gegensatz  zum  Affesein  ist  unleugbar,  ist  vielmehr  mit  den 
Pingern  zu  greifen.  Und  daran  hält  er  sich:  was  greifbar  ist  und 
niemand  leugnen  kann,  was  jeder  zugeben  muß,  ist  ihm  das 
Wesentliche  und  Wahre;  während  man  alles  das  sehr  wohl 
leugnen  kann,  was  nur  im  Schauen  erlebt  wird,  wenn  man  diesem 
Erlebnis,  das  zu  haben  schon  auszeichnet,  nicht  zugänglich  und 
blind  dafür  ist.  Das  Faktische  jedoch,  jederzeit  durch  ein  Ex- 
periment vorzeigbar,  besteht,  daß  der  König  wie  der  Bauer  essen 
und  schlafen  muß,  um  zu  leben  .  .  .  Dieser  Geist  also,  dem  das 
Greifbare  und  „Feststellbare"  allein  oder  hauptsächlich  Genüge 
tut,  der  also  auch  das  Minimum  von  erkennender  Begabung  be- 
friedigt, ist  der  demokratische  Geist,  der  Geist  jedermanns.  Er 
muß  die  Fähigkeit  haben,  vom  Leben  abzusehen,  das  ihn  jederzeit 
Lügen  straft;  er  muß  blind  sein  für  die  Hierarchie  der  ethischen 
Werte,  für  die  notwendige  Schlichtung  der  Gemeinschaften;  er 
muß  groß  sein  im  Fordern  und  im  Sich- Vorstellen,  wie  es  wäre. 


211 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

wenn  alles  anders  wäre;    gleitend,  angreiferisch,  geschickt  ab- 
trennend und  im  Verbinden  verführerisch,  den  Dingen  gegen- 
über souverän,  unandächtig;   er  muß  lieber  noch  das  Leben  in 
„Erscheinungen"  verdunsten  lassen,  deren  Einheit  und  An-sich- 
sein  jenseits  des  Erkennbaren,  ins  Transzendente  verlegt  ist,  als 
in  der  Vielfalt  des  Geschiedenen  Wesentliches  zuzulassen.  Es  ist 
der  naturwissenschaftliche  Geist,  der  hier  zugrunde  liegt,  groß 
in  seiner  Sphäre,  im  Experimentellen  und  Technisch-Praktischen, 
völlig  inadäquat  aber  allem,  was  von  der  Seele  und  den  Werten 
bestimmt  wird,  und  dort  ganz  unzulänglich.  Es  ist  (nicht  der 
europäische  Geist,  aber)  ein  Geist,  der  nur  in  Europa  möglich 
war.    Die   Demokratie   ist    ein    westliches    Phänomen,    nur   im 
Okzident  erstanden  und  möglich  nur  in  ihm.  Zum  Beweise  sehe 
man  auf  Indien:  sicherlich  gab  es  hier  einen  Geist,  der  an  radi- 
kaler Aufhebung  des  Lebens,  ja  alles  Wirklichen,  den  strengsten 
Europäern  überlegen  war,  mit  einer  Fähigkeit  vom  Sein  zu  ab- 
strahieren wie  nirgendwo;  aber  er  blieb  in  den  Grenzen,  die  ihm 
zukommen,  nämlich  in  der  Schicht  des  Erkennens,  und  bildete 
gleichzeitig  das  großartigste  und  strengste  System  sozialer  Schich- 
tung auS;  das  man  kennt.  Und  wenn  Lao  Tse  in  dem  schönen 
Bild  vom  Bogenspanner  sagt,  daß  das  Tao  (der  Sinn)  des  Him- 
mels das  Hohe  niederdrücke,  das  Niedrige  erhöhe,  Fülle  verringere 
und  Mangel  ergänze,  so  könnte  das  nur  in  einem  mechanistischen 
Gleichnis    als    ,, Nivellieren,    Gleichmachen"    gedeutet    werden; 
während  doch  gemeint  ist,  daß  das  Hohe,  auch  vom  Schicksal 
niedergedrückt,  das  Hohe  bleibt,  weil  es  sich  in  Demut  vollendet, 
das  Niedere  aber,  erhöht,  nicht  aufhört,  niedrig  zu  sein.  Auch 
China,  das  gegliederte  Reich,  ist  trotz  seiner  Republik  keines 
demokratischen   Geistes  verdächtig,   wie   er  von   der   Mitte   des 
1 8.  Jahrhunderts  an  in  Europa  sich  ausbreitete;   denn  die  Auf- 
lehnung des  Volkes  gilt  im  wesentlichen  der  Austreibung  einer 
volksfremden  Beamtendynastie.  Jener  andere  Geist    aber,    von 
dem  zuerst  gesprochen  wurde,  der  schauend  sich  verschenkende 
und  wahrhaft  wesentlich  erkennende  ist  der  Geist  Asiens,  und 
es  ist  kein  Zufall,  daß  der  echteste  Sohn  des  Reiches,  das  in 
Europa  allein  asiatischem  Wesen  nahekommt,  Rußlands  Sohn 
Leo  Tolstoi  —  aber  eines  anderen  Rußlands    Sohn    als    jenes 
Beamtenstaats,  der  zur  Lösung  politischer  Schwierigkeit  Juden 


212 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

erschlagen  läßt  —  die  Lehre  vom  Nicht-Handeln  verkündet  hat, 
als  sei  er  ein  echter  Schüler  Lao  Tses,  des  „Alten". 

—  —  Zwei  Einreden  seien  hier  vorweggenommen:  die  eine, 
besagend,  daß  uns  Nietzsche  gelehrt  habe  zu  sehen,  wie  das 
Christentum,  rein  asiatischen  Geistes,  durchaus  demokratisch  sei, 
ja  die  Wurzel  aller  modernen  Demokratie;  die  andere,  daß  in 
der  messianischen  Idee  der  Juden  ein  Sozialismus  wie  nirgendwo 
sonst  vorgebildet  zu  finden  sei.  Was  die  erste  erledigt,  steht  in 
Schelers  wundervoller  Schrift  „Über  Ressentiment"*):  die  christ- 
liche Liebe  erkannt  als  das  Überquellen  des  Überreichen,  das 
Herabbeugen  des  aus  reinstem  und  gütigstem  Herzen  Schenken- 
den. Und  die  andere  wird  beantwortet,  indem  man  darauf  hin- 
weist, daß  jener  Sozialismus  keineswegs  Demokratie  ist.  Ihm 
fehlt  völlig  jene  Geste  des  Absetzens  und  Herunterziehens,  die, 
wie  wir  sahen,  der  Demokratie  wesentlich  ist  (man  vergleiche 
die  französische  Revolution!).  Es  ist  vielmehr  ein  Geschenk 
Gottes,  ein  Zur-Ruhe-kommen  des  Streites,  und  das  innige  Zu- 
friedensein aller  Menschen.  Nicht  ein  Wort  der  Bibel  weist  auf 
Gleichheit  hin;  vielmehr  ist  das  Schweigen  der  Begierde,  die 
jedem  Streite  vorangeht,  nicht  die  Folge,  sondern  die  Ursache 
des  messianischen  Zeitalters,  in  dem  jeder  in  seiner  Art  und 
seinem  Stande  ohne  Hader  und  Unglück  gedacht  wird.  Wie  aber 
diese  Verheißung  in  die  absolute  Zukunft  gestellt  ist,  ein  Ideal 
dem  Ende  der  Tage,  das  hat  uns  Buber  tief  verkündet.  Echter 
Sozialismus,  geboren  aus  einem  Überfließen  ähnlich  jener  gött- 
lichen Liebe,  würde  in  dem  schlichten,  helfenden,  durch  Res- 
sentiment nicht  vergifteten  Herabbeugen  des  Stärkeren  zum 
Schwächeren  bestehen,  einem  Beglücken  dadurch,  daß  die  echten 
Nöte  des  Ärmeren  gestillt  und  ihm  seine  Begierden,  die  falschen 
Nöte,  durch  Aufdecken  ihrer  Nichtigkeit  genommen  würden, 
ohne  daß  man  die  Suggestion  der  geforderten  Gleichheit 
brauchte.  Echte  Hilfe  ist  nur  unter  Ungleichen  möglich,  und 
zu  ihrem  Bestehen  gehört  Freiwilligkeit  des  Helfers  und  williges 
Empfangen  dessen,  dem  geholfen  werden  soll,  ohne  Gedanken 
an  Vergeltung;  Gleichstarke  schließen  Verträge  und  bedingen 
sich  Leistung  und  Gegenleistung.  —  — 

Der  Geist  des  echten  Judentums  ist  nun,  was  auch  immer, 

*)  Leipzig,  Engelmann  1912  (Über  Ressentiment  und  moralisches  Werturteil) 

2l3 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

jedenfalls  nicht  demokratischer  Art.  Das  Gesetz,  welches  das 
ganze  Leben  des  Juden  durchadert,  wird  der  technische  Aus- 
druck jener  Richtung,  in  der  der  Jude  lebt:  der  Richtung  auf 
Gott.  Indem  es  bei  den  Handlungen  des  Tages  wie  bei  seinem 
Anbruch  und  Ende  durch  Riten  und  Gebete  in  den  Ablauf  der 
praktischen  Existenz  eingriff,  verwandelte  es  sie  in  ein  ununter- 
brochenes Hinsehen  auf  Gott;  und  Erkenntnis,  ,, Lernen",  war 
mit  religiöser  Erkenntnis  identisch,  so  daß  auch  diese  Zone  des 
Lebens  in  das  allgemeine  Strömen  eingeschlossen  war.  Aber 
über  der  breiten  Grundfläche  des  Volkes  erhob  sich,  von  Geburt 
bestimmt,  berechtet  und  verpflichtet,  eine  gesonderte  Schicht, 
die  durch  einen  dienenden  Anteil  am  zeremoniellen  Darstellen 
der  Gottverehrung,  am  Kultus,  herausgehoben  waren,  die  Le- 
viten; ihnen  überordneten  sich  die  Priester,  auch  sie  geboren 
für  den  Dienst  im  Tempel,  beschränkt  auf  die  Abkömmlinge 
einer  Familie,  die  Aharoniden,  die  Kohanim;  und  wie  sie  allein 
im  Heiligtume  walten  durften,  war  das  Allerheiligste  einem  ein- 
zigen erschlossen,  dem  Erstgeborenen,  dem  Hohepriester,  der 
an  nur  einem  Tage  jenen  Raum  betrat,  in  dem  Jehova  gegen- 
wärtiger war  als  überall  sonst.  Und  wie  sich  hier  im  Ritus  und 
Kultus  die  Pyramide  der  Ordnung  und  Aristokratie  erhob,  so 
baute  die  instinktive  Werthaltung  des  Volkes  jene  Rangordnung 
nach  der  Stärke  und  Innigkeit  der  Hingebung  an  die  Erkenntnis 
und  das  Nachleben  des  göttlichen  Willens,  die  von  dem  schlicht 
das  Gebot  erfüllenden  Juden  über  den  wohltätig  und  wirkend 
seinen  Brüdern  helfenden  Frommen  zu  dem  Schüler  aufstieg, 
der  sein  Dasein  lernend  der  Gotteserkenntnis  weihte,  bis  der 
Rabbi,  der  Weise,  der  diese  Erkenntnis  lebend  verkörperte  und 
lehrend  ausgoß,  ganz  oben  die  Treppe  krönte,  die  Treppe  zu 
Gott.  Jeder  Stufe  aber  war  ihr  eigener  Wert  zugemessen,  keine 
gering,  jede  die  andere  bedingend,  und  nur  gültig,  wenn  sie  rein 
erfüllt  ward. 

Dies  aber  ist  das  Bedeutsame  am  Juden:  daß  er  nur  voll- 
kommen war,  wenn  er  sich  im  Tun  auswirkte.  Die  Handlung, 
durch  Segenspruch  (Brocho)  ins  Religiöse  einbezogen,  wurde 
ein  wenig  jener  anderen  verwandt,  die  sich  überhaupt  als  rituelle 
Geste  erfüllte  (die  Waschung  der  Hände,  das  bedeutungsvoll 
ausgebildete  Anlegen  der  Gebetriemen  jeden  Tag,  Kiddusch  und 

2i4 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Havvdoloh  an  jedem  Sabbat,  die  Beschneidung  am  Eingang  des 
Lebens,  die  Leichenriten  an  seinem  Ausgang),  und  die  als  Sym- 
bol kenntlich,  zu  Gott  hinauf\vies.  Dadurch,  daß  das  tätige  all- 
tägliche Leben  mit  Zeremonie  durchsetzt  wurde,  erhielt  es  einen 
Hinweis,  nicht  blind  und  an  der  Oberfläche,  sondern  tiefer  ge- 
lebt zu  werden.  Was  ausgeschlossen  sein  sollte,  war  nicht  die 
Tat,  sondern  nur  die  Tat  ohne  Andacht.  Das  Leben  sollte  nicht 
mechanisch,  nicht  zweckhaft  ablaufen,  sondern  wenn  der  Jude 
bei  Blitz  und  Donner,  beim  Erblicken  des  Regenbogens,  beim 
Begegnen  eines  großen  schöpferischen  Menschen  seine  Brochoth 
sprach,  den  Dank  an  Gott,  daß  es  das  gab,  war  er  angewiesen, 
die  Bedeutung  dieser  einzelnen  Erscheinungen  und  des  Lebens 
in  seiner  Ganzheit  wenigstens  für  kurze  Zeit  wahrhaftig  zu  er- 
fassen, und  nicht  darüber  hinzugehen,  um  sie  ins  nützlich-un- 
lebendige Treiben  der  Geschäftigen  zu  verflachen.  Das  Brot- 
brechen, das  Einschenken  des  Weines,  das  völlige  Ruhen  nach 
der  Arbeit  sollten  sein  Leben  wesentlich  machen  und  erhöhen, 
er  sollte  verweilen  und  schauen,  und  über  der  praktischen  Funk- 
tion der  Gebärde  die  Keuschheit  der  lebendigen  Vorgänge  nicht 
vergessen.  Schauen  und  Tun  sollten  ineinander  übergleiten,  in- 
dem die  Tat  selbst  Gegenstand  des  Erlebens  ward,  und  das 
Schauen  sich  in  Handlung  verwandelte,  wenn  man  das  Leben 
lebte.  Nicht  besser  kann  man  den  Unterschied  des  echten  und 
des  entgeisteten  Lebens  darstellen,  als  an  der  Idee  der  Aus- 
breitung, wie  sie  das  Judentum  enthielt.  Es  sollte  wachsen,  sich 
organisch  erweitern,  sich  vermehren  wie  ein  Baum  oder  eine 
Herde;  es  sollte  die  natürliche  Tendenz  des  Lebens,  sich  zu 
steigern  und  zu  bereichern,  vollziehen  durch  das  Symbol  ver- 
heißener Fruchtbarkeit;  und  zugleich  ward  ihm  nicht  verwehrt, 
durch  das  Beispiel  seines  auf  Gott  hindeutenden  und  von  ihm 
durchtränkten  Lebens  den  Impuls  solcher  zu  wecken,  die,  von 
Geburt  außerhalb  der  Gemeinde,  in  sie  aufgenommen  zu  werden 
wünschten,  von  innerem  Trieb  gedrängt,  Gott  auf  diesem  Wege 
nahezukommen  —  und  um  den  Ernst  des  Triebes  zu  erproben, 
sollte  Erschwerung  und  Gegenrede  geübt  werden.  Nicht  aber  war 
erlaubt,  Propaganda  zu  machen,  geschäftig  darauf  zu  sinnen,  die 
Lehre  zu  verbreiten  ohne  den  Trieb;  gleichsam  durch  künstliche 
Übertragung,  durch  Impfung  mit  Judentum  Gottes  Dienst  zu 

3l5 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

vergrößern,  seine  Oberfläche  auszudehnen.  Das  war  auch  nicht 
erzwungen  dadurch,  daß  das  Judentum  der  einzige  Weg  war 
zu  Gott;  die  Gerechten  aller  Völker  hatten  teil  an  der  Verewigung 
in  ihm,  und  es  war  kein  selbstgerechtes  Ausschließen  aller  anderen 
die  zu  ihm  strebten,  wenn  auf  dem  jüdischen  Weg  nur  Juden 
schreiten  sollten:   alle  Wege  führten  zu  ihm. 

Dieses  Judentum  besteht  noch.  Es  ist  unzerstörbar  als  Idee, 
als  geistige  Wesenheit.  Aber  es  wird  von  sehr  vielen  Juden  nicht 
mehr  gelebt;  eine  Teilung  hat  sich  vollzogen  zwischen  dem  was 
sein  sollte  und  dem  was  ist.  Dieses  was  ist  zu  kennen,  schicken 
wir  uns  jetzt  an,  indem  wir  zugleich  auf  die  Bedeutsamkeit  des 
Augenblicks  hinweisen,  in  dem  wir  leben,  und  in  dem  sich  das 
Schicksal  der  Judenheit,  unser  aller  Geschick,  wieder  einmal 
wendet. 

II. 

Von  allen  Völkern  sind  es  allein  die  modernen  Juden  und 
die  Amerikaner,  die  einer  Unterscheidung  in  Klassen  und 
Stände  zu  ermangeln  scheinen,  bei  denen  es  außer  den  Ab- 
stufungen des  Besitzes  und  den  seelischen  Verschiedenheiten  der 
Individuen  keine  Schichtungen  des  Ranges  gibt.  Die  Amerikaner 
beiseite,  so  scheint  es,  als  machten  die  Juden  lediglich  die  Ord- 
nungen der  Völker  mit,  bei  denen  sie  leben,  und  seien  Aristokraten, 
Bürger  oder  Proletarier,  abgesehen  davon,  daß  sie  Juden  sind, 
als  Juden  aber  eine  amorphe  Masse.  Wir  werden  jetzt  vergessen, 
daß  wir  diese  Meinung  als  irrtümlich  erwiesen  haben;  diejenigen, 
die  außerhalb  des  Judentums  stehend  darauf  blicken,  begehen 
den  Irrtum  jedenfalls,  und  unterscheiden  nicht  zwischen  ver- 
schiedenen Typen  von  Juden,  weil  sie  nur  einen  sehen  (wobei 
natürlich  nicht  die  Verschiedenheit  des  östlichen  vom  deutschen 
Juden  oder  dergl.  gemeint  ist).  Diesen  einen,  den  sichtbarsten 
Typus  ,,Jude",  halten  sie  für  den  Repräsentanten  des  Juden  über- 
haupt, weil  sie  gewöhnt  sind,  an  der  ausgesetztesten  Stelle  und 
gleichsam  in  der  ersten  Reihe  eines  Volkes  seinen  Adel  anzu- 
treffen, der  die  bezeichnendsten  Eigenschaften  des  Volkes  auf 
auserlesene  Art  in  sich  darstellt  und  verkörpert,  und  in  der  Person 
des  Monarchen  auch  den  Adel  noch  einmal  zusammengefaßt  zu 
finden.  Und  wer  steht  nun  im  Judentum  so  allen  Blicken  dar- 

216 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

geboten,  so  allen  sichtbar  ausgestellt,  wie  die  eben  Reichgewor- 
denen? Niemand  hat  sie  dorthin  gestellt;  niemand  hat  ihnen  zu- 
gemutet, das  Judentum  nach  außen  hin  zu  vertreten  —  sie  selber 
haben  sich  vornhin  geschoben  und  erfüllen  nun,  vor  aller  Augen 
und  davon  wohlig  erwärmt,  die  Öffentlichkeit  mit  ihren  etwas 
lauten,  etwas  bunten  und  etwas  ungepflegten  Gebärden;  im 
Gegensatz  zu  denen,  die,  durch  Generationen  hin  im  Besitz,  zu- 
rückhalten und  still  für  sich  leben,  oder  das  Judentum  aus- 
drücklich und  wirklich  aufgegeben  haben,  also  unsichtbar  ge- 
worden sind.  Die  Gestaltung  des  materiellen  Lebens  der  letzten 
Jahrzehnte  hat  es  ermöglicht,  daß  gerade  die  Eigenschaften  des 
seelisch  wenig  verfeinerten  Menschen  dauernd  erfolgreich 
machten,  Zähigkeit,  Unterwürfigkeit  im  Anfang,  eine  gewisse 
Waghalsigkeit,  das  völlig  rücksichtslose  Benutzen  aller  Gelegen- 
heiten emporzukommen,  die  Anspannung  der  eigenen  aber  auch 
aller  botmäßigen  fremden  Kräfte,  und  ein  gradweises  Ausbreiten 
des  Arbeitsfeldes  mit  jener  Vorsicht,  die  kleine  Gewinne  ohne 
Gefahr  den  großen  Würfen  vorzieht  —  alles  Eigenschaften,  die 
dem  jüdischen  wie  dem  nicht  jüdischen  Kleinbürger  gemein  sind; 
und  wenn  er  nun,  zu  Geld  gekommen,  versucht  aufzutreten  und 
zu  genießen,  so  sind  es  eben  wieder  Eigenschaften  der  Empor- 
kömmlinge jedes  Volkes,  die  ihn,  den  Kulturlosen,  innerlich  Bar- 
barischen, nach  außen  hin  Unsicheren  und  darum  Übertreiben- 
den, der,  in  der  neuen  Umwelt  fremd  und  berauscht  von  den 
Möglichkeiten  des  Geldes,  jenes  peinliche  und  belästigende 
Schauspiel  des  „fetten  Bürgers"  gibt,  das  durch  den  oft  echten 
Kulturhunger  und  eine  gewisse  Gutmütigkeit  nicht  weniger  be- 
drückena  wirkt.  Aber  während  man  den  nicht  jüdischen  ,, Par- 
venü" der  Nation  zu  der  er  gehört  nicht  sehr  anrechnet,  weil  er 
ein  ephemeres  Gebilde  ist,  und  weil  vor  allem  die  echte  Art  des 
Volkes  jederzeit  durch  eine  vollendete  Aristokratie  verbürgt  und 
ausgesprochen  ist,  neben  der  der  Neugemachte  verschwindet, 
findet  man  an  den  Juden  kein  solches  korrigierendes  Höchstmaß 
völkischer  Möglichkeit,  keine  breite  Klasse  von  Vornehmeren 
steht,  den  Blicken  zugänglich,  über  den  Massen  und  weist  die 
Auffallenden  durch  ihr  bloßes  Vorhandensein  in  die  Anonymität 
zurück  in  die  sie  hineingehören :  und  so  kommt  es,  daß  man  den 
unedlen  und  seelisch  gewöhnlichen  Bereicherten  für  den  typi- 


21' 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

sehen  Juden  halten  kann.  Wir,  die  wir  diesen  Sachverhalt  von 
innen  sehen,  und  die  wir  wissen,  daß  es  sehr  wohl  einen  jüdischen 
Adel  gibt,  Männer  und  Frauen  von  sehr  geistiger,  diskreter  und 
angeborener  Vornehmheit,  können  nicht  einmal  auf  sie  verweisen, 
denn  wir  würden  sie  verletzen  und  nur  machen,  daß  sie  sich 
fremd  und  zart  in  eine  schwer  durchschaubare  Maske  zurück- 
ziehen; und  so  lassen  wir  es  geschehen,  daß  heute  der  materiell 
erfolgreiche  Jude  als  der  beste  Typ  erscheint,  während  wir,  nach 
alt  jüdischer  Weise  und  ganz  aus  Impuls,  eine  materielle  Wertung 
der  Menschen  überhaupt  nicht  anerkennen  und  nach  der  Bildung 
der  Seele  fragen,  wenn  wir  die  Juden  einer  Rangordnung  unter- 
werfen, wie  früher  das  religiöse  Nachleben  und  eindringliches 
Vertrautsein  mit  der  ,, Lehre"  als  alleiniger  Maßstab  des  Juden 
dastand. 

Dies  alles  festzustellen  wäre  vielleicht  nötig  aber  nicht  dring- 
lich, wenn  nicht  gerade  in  dieser  Zeit  die  falsche  Einschätzung 
der  Arrivierten  auf  die  Juden  selbst  überzugreifen  drohte.  Nichts 
ist  natürlicher:  wer  dauernd  von  außen  als  repräsentativ  ange- 
sprochen wird,  ohne  daß  ein  Widerspruch  erfolgt,  muß  sich 
schließlich  selbst  als  höchsten  Ranges  fühlen,  zumal  die  Zeit  den 
Begüterten  als  den  vollkommenen  Menschen  empfindet,  und 
Lebens-  und  Geisteswerte  nach  dem  Geldertrag  einschätzt,  den 
sie  darstellen  (der  arme  Adlige  oder  Künstler  wird  der  Gegen- 
stand mitleidiger  Verachtung).  Und  da  niemand  auftritt,  den 
Anspruch  zu  beschämen,  dem  Ärmeren,  dem  Volksganzen  aber 
das  verlockende  Bild  des  Reichtums  und  seiner  Herrschaft  täg- 
lich pomphaft  vor  Augen  steht,  und  jedermann  sogleich  fühlt, 
daß  jene  Leute  sich  von  ihm  selbst  weder  durch  eine  edlere  Seele, 
noch  durch  rühmlichere  Ahnen,  noch  durch  einen  verfeinerten 
und  erlauchten  Geist,  sondern  nur  durch  Güterbesitz  und  Glücks- 
umstände  unterscheiden,  tritt  jene  sehnsüchtige  Verehrung  ein, 
die  mehr  der  Lage  gilt  als  den  Personen,  die  sich  in  ihr  befinden, 
und  die  in  einem  unasketischen  Zeitalter  niemandem  besonders 
angerechnet  werden  kann.  Besonders  das  junge  Geschlecht,  von 
dieser  geistigen  Perversion  angesteckt,  droht  in  eine  ameri- 
kanische Geldverehrung  zu  verfallen,  und  nicht  nur  den  erfolg- 
reichen Kaufmann  —  in  dessen  Wertschicht  das  noch  normaler 
wäre    — ,    sondern    auch    den    erfolgreichen    Arzt,    Gelehrten, 

3l8 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Künstler  nach  dem  Einkommen  zu  ehren,  das  er  sich  schafft, 
und  in  eine  Verachtung  der  vornehmen  oder  geistigen  Menschen 
zu  geraten,  die  für  den  Proleten  kennzeichnend  ist,  und  die, 
breiter  um  sich  greifend,  den  Verfall  und  die  völlige  W^ertlosig- 
keit  des  Volkes  als  Ende  hätte. 

III. 

„Das  Kind  einer  jüdischen  Mutter  ist  ein  Jude,  gleichviel  wer 
der  Vater  ist"  —  dieses  talmudische  Gesetz  drückt  einfach  einen 
bestehenden  Sachverhalt  aus,  der  täglich  an  Mischehen  jüdischer 
Frauen  zu  beobachten  ist;  und  dieselbe  eminente  Lebenskraft 
unseres  Blutes  ist  es,  die  das  Rätsel  der  Existenz  einer  Juden- 
heit  in  diesem  zwanzigsten  Jahrhundert  seit  der  Zerstörung  ju- 
däischer  Staatsformen  zwar  nicht  löst,  aber  wenigstens  plau- 
sibel macht.  Wie,  können  die  Völker  fragen,  es  gibt  immer  noch 
Juden?  Aber  wir  haben  das  unsere  dagegen  getan:  wir  haben 
sie  in  Ställe  gesperrt,  die  jeder  neueren  Hygiene  als  Gegenbei- 
spiel dienen  können,  haben  sie  von  allen  gesunderhaltenden 
Übungen  und  Gewerben  ausgeschlossen,  haben  ihre  Gewölbe  mit 
den  Dünsten  unseres  verbrauchten  Hausrats  gefüllt,  und  haben, 
von  allen  Gewaltmitteln  zu  schweigen,  dieses  Volk  gezwungen, 
eine  Männergeneration  nach  der  anderen  im  puren  Lebenserwerb 
zu  verbrauchen:  haben  ihre  Sinne  durch  den  Kampf  ums  Brot 
verkümmert,  ihre  Seelen  erniedrigt  und  ihre  Gedanken  auf  das 
Geld  zusammengedrängt,  weil  es  ihre  einzige  Waffe  gegen  uns 
war;  wir  haben  sie  ganze  Zeiten  unter  beständiger  Angst  ge- 
halten, haben  durch  Drohungen,  Verfolgungen  und  Austrei- 
bungen ihre  Nerven  in  beständiger  Anspannung  bis  zum  Reißen 
angezogen,  und  allen  Neurosen  einen  Boden  bereitet,  wie  sie  ihn 
selten  wieder  finden  werden.  Und  es  gibt  immer  noch  sehr 
lebendige  Juden.  —  Wir  wüßten  allerdings  die  Antwort,  die 
dieses  Staunen  befriedigen  könnte.  Geben  wir  zunächst  zu,  daß 
die  Arbeit  der  Jahrhunderte  keineswegs  ohne  Erfolge  war.  Ein 
Teil  der  Männer  jeder  Generation  ist  unbedingt  für  das  Volk 
verloren,  ein  anderer  geschwächt  und  gleichsam  verzerrt.  Zu  der 
ungeheuren  Schädigung,  die  ein  beständig  auf  Erwerben  ge- 
richteter Sinn  zuletzt  jedem  Menschen  eintragen  muß  —  was 
deformiert  die  Seele  mehr  als  das  Geld,  wenn  es  Selbstzweck 


219 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

und  Maß  aller  Dinge  wird  —  und  die  besonders  die  Männer 
befiel,  ist  seit  dem  zweiten  (napoleonischen)  Kaiserreich  jene 
Tendenz  auf  stupiden  und  aufreibenden  Genuß  getreten,  die  mit 
der  Stadt  Jugend  aller  Länder  auch  die  Jünglinge  der  Juden  vor- 
zeitig altert,  erkältet,  schwächt  und  verdummt;  und  das  Ergebnis 
kennen  wir,  wenn  wir  empört  und  angewidert  in  allen  gesell- 
schaftlichen Schichten  —  denn  der  „Genuß"  hat  sich  sehr 
verbilligt  —  auf  jene  ,, Juden"  treffen,  die  mit  uns  nicht  einmal 
das  Aussehen  gemein  haben  und  für  die  wir  uns,  weil  sie  unseres 
Volkes  sind,  dennoch  tief  schämen.  Und  trotz  dieses  Verderbs 
vieler  unserer  jungen  oder  reifen  Männer  in  allen  Städten  aller 
Länder  konnten  wir  bis  vor  kurzem  dennoch  mit  Ruhe  auf  die 
Existenz  unseres  Volkes  blicken,  und  jede  Statistik  mit  der 
Gleichgültigkeit  besehen,  die  man  in  unserer  zahlengläubigen 
Zeit  so  schlecht  versteht  —  bis  vor  kurzem. 

Denn  es  gab  eine  unangetastete,  üppig  verjüngende  Kraft, 
deren  Wirkung  unaufhörlich  und  unbekämpfbar  andauerte:  die 
Existenz  der  jüdischen  Frau.  Natur — nah  und  unbewegt,  blieb 
sie  die  Mitte  der  jüdischen  Familie;  sie  gebar  ihre  Kinder,  nicht 
sehr  viele  vielleicht,  im  Durchschnitt  vielleicht  drei  oder  vier, 
aber  sie  hatte  in  ihnen  ihr  ganzes  Dasein  und  versammelte  auf 
die  Ehe,  das  Gebären  und  die  Frucht  alle  Kräfte  ihrer  Seele. 
Sie  war  nicht  abgelenkt  und  an  vieles  ausgeteilt,  weder  hatte  man 
ihr  einen  ,, weiten  Horizont"  gegeben,  noch  viel  Wissen,  noch 
hatte  man  auf  eine  Ausbildung  des  theoretischen  Verstandes 
irgendeinen  Akzent  gelegt;  geschah  es,  so  geschah  es  beiläufig 
und  auf  eigene  Faust.  Ihre  Aufklärung  war  nicht  tief  gedrungen; 
um  so  ungestörter  drang  jene  praktische  Weisheit  aus  ihr  heraus, 
die  tätige  und  intuitive  Beurteilung  des  Lebens,  die  zugleich 
seine  Handhabung  war,  und  die  ihr,  sobald  sie  ihren  Lebenskreis 
meisterte,  jene  Heiterkeit  und  Güte  gab,  die  ihren  Umkreis  um 
so  intensiver  durchdrang,  je  enger  er  war.  Sie  beschied  sich: 
das  Lernen,  der  Geist,  das  Wissenwollen  war  Männersache,  das 
Erwerben  und  der  Krieg  des  Lebens  ebenso,  und  nicht  minder 
der  lautwerdende  Anteil  an  allem  öffentlichen  und  Politi- 
schen. Ihr  aber  gehörte  die  Familie,  die  Kinder,  denen  der  Vater 
etwas  entrückt  und  fremder  vorkam  als  sie,  die  mit  ihnen  lebte, 
und  die  Verwaltung  dessen,  was  man  besaß.  Im  Besitz  war  die 


220 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Dauer  der  Generation  verbürgt;  man  besaß  nur,  um  zu  ver- 
erben, und  darum  wachte  sie  leidenschaftlich  über  ihm,  und 
nahm  ihren  Anteil  an  ihm,  indem  sie,  die  Wohnung  verlassend 
und  den  Laden  in  ihren  Bereich  einbeziehend,  an  der  Kasse 
saß,  verv^^altend,  ein-  und  ausgebend,  zählend.  Als  Mädchen  war 
sie  weit  weg  gewesen  von  der  unpraktischen  Unterschätzung  des 
Besitzes,  den  sie  selbst  einmal  von  ihrem  zukünftigen  Gatten  er- 
wartete; aber  nur  einer  Witwe  galt  es  ziemlich,  selbst  zu  er- 
werben, und  sie  wußte,  daß  selbst  entfernteste  Verwandte  die 
Mittel  zusammenbringen  würden,  um  ihr  einen  Gatten  zu  geben, 
der  ihr  vielleicht  nicht  sehr  gefiel,  den  sie  nicht  gerade  liebte, 
der  aber  der  Weg  war  zu  Kindern  und  zu  dem  ,,Haus",  dessen 
Herrin  zu  sein  sie  geboren  war.  Erziehen  und  verwalten,  diese 
beiden  Tätigkeiten  strahlten  ihr  Wesen  aus  und  gaben  ihr  ihre 
Würde  als  Trägerin  des  jüdischen  Geschlechts. 

Aber  das  folgende  geschieht:  der  Erwerb,  infolge  eines  jäh 
beschleunigten  Wettbewerbes,  steigenden  Bedarfes  und  massen- 
hafter Herstellung,  verzehnfacht  seine  Intensität  und  sein  Tempo; 
zugleich  verbessern  sich  die  Schulen  für  Mädchen,  will  sagen, 
die  Ausbildung  des  Intellekts  wird,  viel  mehr  Schulstunden  als 
früher  beanspruchend,  lange  Jugendjahre  hindurch  der  wich- 
tigste Punkt  der  Erziehung  und  ein  Ziel  des  Ehrgeizes.  Damit 
wird  die  Entdeckung  der  Individualität  des  Weibes  und  ihr  Recht, 
außerhalb  der  Familie,  öffentlich  zu  gelten,  die  die  Romantik  für 
einige  Erlesene  gemacht  hatte,  plötzlich  Eigentum  der  weiblichen 
Masse.  Man  entdeckt  das  Verbum  ,,sich  ausleben"  und  fügt  hinzu: 
,,wie  die  Männer".  Denn  die  geistige  Demokratie,  die  keinq 
Wesensunterschiede  der  Menschen  kennt  und  alle  ihre  Gesetze 
auf  ,,den  Menschen"  bezieht,  muß  auch  in  bezug  auf  alles  Öffent- 
liche und  Rechtliche  der  Lebensregelung  zwischen  Mann  und 
Weib  prinzipiell  jede  Verschiedenheit  leugnen.  Die  Frau,  die 
vorher  nur  für  die  natürlichen  Gemeinschaften  der  Familie  und 
des  Volkes  Wert  und  Bestimmung  hatte,  sieht  sich,  und  mit 
Freuden,  in  den  Staat,  die  Gesellschaft  einbezogen.  Die  jungen 
Mädchen  helfen  beim  Erwerb;  Heere  von  „Geschäftsfräulein" 
bilden  sich;  der  Staat  schafft  Frauenberufe,  weibliche  Beamte; 
die  Universitäten  erhalten  jedes  Jahr  mehr  Mädchen,  um  sie  den 
akademischen  Berufen  zuzuführen  —  die  ganze  Breite  der  tech- 


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DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

nischen  Zivilisation  unseres  Lebens,  von  der  Fabrikarbeit  bis 
hinauf  in  die  geistigsten  Tätigkeiten  durchsetzt  sich  mit  Frauen- 
arbeit, die  von  der  Frau  alles  verlangt,  nur  nicht  Weiblichkeit, 
und  die  auf  die  besondere  frauliche  Konstitution  Rücksicht 
nehmen  weder  kann  noch  will.  Die  letzte  und  notwendige  Folge- 
rung aus  dem  Eintritt  der  weiblichen  Masse  ins  Staatsleben  zieht 
sich  von  selbst:  die  Frau  organisiert  sich,  wird  politischer  Fak- 
tor, verlangt  Rechte,  Einfluß,  Mitbestimmung  —  das  politische 
Wahlrecht  der  Frau  wird  gefordert  und  kann  auf  die  Dauer 
den  selbsterwerbenden  Frauen  nicht  verweigert  werden.  Noch 
lange  vor  seiner  Erteilung,  in  der  die  Wählende  vor  der  Nicht- 
berechtigten eine  Auszeichnung  sieht,  fühlt  sie  sich  als  die  Wert- 
vollere, die  Bessere;  man  beginnt  die  pure  Hausmutter,  die 
zwecklos  lebende  ,, Tochter",  ja  die  Dame  zu  verachten;  dieses 
Sinken  des  eigenen  Wertes  wird  von  den  Minderbewerteten  inner- 
lich mitgemacht  und  anerkannt,  kraft  psychischer  Ansteckung 
und  des  Neuheitswertes  des  Errungenen;  ein  seelischer  Antrieb 
ist  damit  gegeben,  in  die  praktische,  die  tätige,  die  wertvollere 
Klasse  aufzusteigen;  gerade  die  Ehrgeizigen  und  Begabten  unter 
den  Frauen  folgen  ihm.  Vereinigt  sich  damit  noch  das  Recht, 
auch  liebend  über  sich  zu  verfügen,  und  in  einer  allgemein  auf 
Vergnügen  ausgehenden  Umwelt  die  Erholung  von  anstrengen- 
dem Tagewerke  nach  großstädtischer  Weise  einzurichten,  so  ist 
damit  die  Veränderung  flüchtig  gemalt,  die  unsere  Zeit  kenn- 
zeichnet. An  ihr  nehmen  die  Jüdinnen  lebhaften  Anteil,  dank 
geistiger  Regsamkeit  und  einem  starken  Drang  aus  der  Enge  ins 
Weitere;  von  der  Fabrik  bis  zur  Universität  sind  sie  überall  zu 
finden. 

Nun  können  alle  anderen  Völker  dieses  Abströmen  vieler 
Frauen  aus  dem  häuslichen  Leben  hinnehmen.  Vom  flachen 
Lande  her,  aus  der  fruchtbaren  Enge  kleiner  Städte  kommen 
immer  neue  Frauen  als  Ersatz;  frisch  und  wie  erdhaft  gewachsen, 
ohne  gezüchtete  Geistigkeit  und  ganz  Mütter,  das  Volk  zu  er- 
halten. Und  ferner  ist  ihnen  das  Leben  milder  und  ungefähr- 
licher als  die  formulierte  Theorie,  denn  es  scheint  vom  Boden 
selbst,  den  sie  bewohnen,  von  dem  heimatlichen  Erdreich,  das  sie 
gebildet  hat,  vom  Wasser  ihrer  Ströme  und  vom  Dunste  ihrer 
Heiden  ein  erneuernder  und  gesundender  Duft  auszugehen,  der 


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DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

verhindert,  daß  sie  ganz  in  jene  abgeschnittene  und  leblos 
machende  Zone  geraten,  in  der  jene  blutlosen  Gruppen  leben, 
denen  die  Kultur  der  Städte  der  einzige  Boden  ist,  auf  dem  sie 
schwankend,  gebrechlich  und  oft  sublim  wurzeln.  Aber  die 
Juden?  Ihnen  ermangelt  jede  Natur,  die  sie  erneut  und  stärkt, 
wenn  die  Frau,  die  Mutter,  von  Zielen  des  Verstandes  und  der 
Politik  abgelenkt,  nicht  mehr  ihr  ganzes  Wesen  im  Zeugen, 
Nähren  und  Behüten  versammelt.  Wie  keine  andere  Nahrung 
der  gleichwertig  ist,  die  die  Mutter  ihrer  Frucht  spendet,  ohne 
daß  der  Chemiker  oder  Biologe,  diese  heute  so  gern  als  Eidzeugen 
gerufenen  Empiriker,  die  Milch  der  Mutter  von  der  der  Amme 
unterscheiden  kann,  so  ist  der  ungeteilte  Trieb  der  Frau,  alle  ihre 
geistigen  Ausstrahlungen,  das  ganze  unbeschreiblich  reine  und 
dumpfe  Fluidum  vonnöten,  um,  lange  vor  dem  Geborenwerden, 
dem  Kinde,  also  dem  kommenden  Volke,  jene  Gewachsenheit 
und  Gesundheit  zu  geben,  die  allein  ihm  die  hinreichende  Lust 
des  Eroberns  und  sich  Ausbreitens  im  Dasein  verleiht.  Die 
Lebenseinheit  des  Judentums,  und  zwar  die  einzige  in  zwei  Jahr- 
tausenden, war  die  Familie.  Die  Mitte  der  Familie,  in  der  alle 
ihre  Kräfte  zusammengefaßt  sind,  ist  die  Mutter.  Ihr  sind,  in 
der  wichtigsten  Zeit  ihres  Lebens,  bis  zum  sechsten  Jahr,  die 
Kinder  allein  überlassen;  wie  unsäglich  bestimmend  diese  Zeit 
für  das  ganze  Sein  des  Menschen  ist,  hat  die  Freudsche  Lehre 
mit  unheimlichen  Beweisen  dargetan  —  wenn  irgendwer  geneigt 
wäre,  es  zu  leugnen.  Man  gebe  uns  nun  Mütter,  die,  während  sie 
das  Kind  noch  tragen,  von  Wissenschaft  oder  Politik  in  einer 
anderen  Richtung  ebenso  zerstreut  sind  wie  jene  andere,  leicht- 
fertigere, weniger  ernst  und  geistig  strebende  Art  von  Frauen 
durch  gesellschaftliches  Vergnügen;  man  lasse  sie,  die  primi- 
tiven Triebe  durch  Intellektualisierung  und  falsche  Bildung  ge- 
schwächt, mit  Erziehungstheorien  und  -zwecken  beladen,  die 
ernsthafteste  Zeit  der  Jugend  ihrer  Kinder  überwachen,  man 
entferne  sie,  sowie  diese  Kinder  erwachsener  sind,  von  ihnen 
durch  irgendeinen  Beruf:  und  die  Widerstandskraft  der  Juden, 
die  (wie  Ruppin  überzeugend  darlegt)  lediglich  auf  der  inten- 
siven Betreuung  des  jungen  Nachwuchses  durch  die  Mutter  be- 
ruht, nimmt  ab  wie  ein  Wasser,  dessen  Quelle  abgegraben  wird. 
Die  Demokratie,  die  ohnehin  in  dieser  Zeit  die  Familie  miniert, 

223 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

indem  ihr  Individualismus  das  verantwortungslose  Recht  der 
Kinder  auf  sich  selbst  verkündet,  indem  die  ganz  veränderte 
Bildungswelt  und  der  äußerst  bereicherte  Erfahrungsstoff  der 
Kinder  ein  echtes  Verstehen  der  beiden  Generationen  schwerer 
macht  als  je,  und  indem  sie  das  Recht  der  Gesellschaft  (des 
Staates,  nicht  des  Volkes)  die  Unterweisung  der  Jugend  nach 
ihrem  Nutzen  einzurichten,  mit  praktischen  Maßregeln  (Schul- 
gestaltung) proklamiert  und  ausführt,  legt  ihre  zerfasernden 
Hände  an  die  letzte  Wurzel  der  Judenheit. 

Wenn  es  noch  so  wäre,  daß  lediglich,  wie  man  (Nietzsche) 
früher  wollte,  die  Mißratenen  und  irgendwie  zu  kurz  Gekom- 
menen in  diese  Strömung  gerissen  und  zum  Heile  des  Volkes 
unfruchtbar  gemacht  würden,  könnte  man  sie  mit  Gelassenheit 
ihren  Weg  nehmen  sehen.  Aber  das  Gegenteil  tritt  ein;  was 
heute  von  Jüdinnen  zu  ihr  hindrängt,  sind  vielfach  unsere 
besten  Mädchen:  mit  geistiger  Energie  auf  Unterweisung  aus, 
gesund  und  geduldig  im  Erarbeiten,  fern  von  jeder  Spielerei  mit 
ihrem  Geschick;  durstig  nach  Kultur,  die  Seele  zu  erfrischen, 
feinen  Empfindens  unter  einem  Zustande  leidend,  den  sie  als 
unwürdig  empfinden,  die  Leistung  erstrebend  als  Legitimation 
ihrer  Persönlichkeit,  mit  Hingabe  an  Idee  und  Ideal  hängend 
wie  nur  je  echte  Jünglinge,  die  Sinne  durch  Arbeit  bändigend, 
und  alles  Persönliche  einer  Sache  opfernd,  die  sie  als  wertvoller 
empfinden  als  persönliches  Glück.  Sie  verzichten  darauf,  auch 
in  der  Ehe,  vorläufig  und  früh  ein  Kind  zu  haben,  das  sie  doch 
ersehnen,  um  einer  Arbeit  zu  dienen,  der  sie  sich  hingegeben, 
haben;  sie  wollen  der  Kamerad  des  Mannes  sein,  den  sie  sich 
selbst  wählen;  sie  stellen  sich  als  tapfere  und  entbehrungsfrohe 
Soldaten  in  die  Reihen  von  Allgemeinheiten  und  kämpfen  für 
ihr  Geschlecht  und  für  zukünftige  Frauen,  für  Kulturparteien, 
für  das  Proletariat,  für  die  Erziehung  fremder  Kinder;  und  sie 
sehen  nicht,  daß  ihre  eigenen  und  ihr  Volk  dabei  vernachlässigt 
werden  und  gefährdet. 

Gibt  es  dagegen  keine  Hilfe?  Und  wenn  man  etwas  Retten- 
des tun  kann,  was?  Allein  auf  jene  bauende  Kraft  der  Natur 
sich  zu  verlassen,  die  in  der  jungen  Frau,  allem  bewußten  Wollen 
zum  Trotz,  die  Urtriebe  wieder  heraufholt  und  ein  mütterliches 
Wesen  aus  ihr  macht,  das  vieles  einst  Angebetete  einfach  ver- 

224 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

gißt,  wäre  optimistisch  fahrlässig,  und  wenn  diese  Wandlung 
auch  oft  eintritt,  kann  sie,  von  der  Erziehung  zernagt,  in  späteren 
Generationen  an  Macht  verlieren,  die  sie  heute  noch  hat.  Ferner 
wäre  es  ganz  vergeblich  und  töricht,  etwa  rückschraubend  den 
geistigen  Drang  der  Mädchen  einzudämmen,  die  Möglichkeit  zu 
lernen  ihnen  zu  nehmen,  und  anstatt  die  neuen  Kulturbestand- 
teile verarbeiten  zu  lassen,  sie  künstlich  auszumerzen.  Eine  po- 
litische und  allgemeine  Bewegung,  wie  die  Demokratie  sie  dar- 
stellt, ist  weder  zu  hemmen  noch  zu  brechen;  man  wird  sie 
überwinden,  indem  man  ihr  in  einer  Richtung,  nämlich  der  auf 
die  geistigen  und  politischen  Rechte,  alle  Hemmnisse  wegnimmt, 
jeden  vergiftenden  und  die  Seele  zerstörenden  Kampf  vermeidet 
(England!),  und  auf  der  neuen  Plattform  freier  Betätigung, 
wie  sie  der  Zionismus  in  sicherem  Instinkt  den  Frauen  sofort 
gewährt  hat,  die  alte  unveränderliche  Rangordnung  wieder  her- 
stellt, auf  deren  oberster  Stufe  das  unsterbliche  Symbol  der 
Mutter  mit  dem  Kinde  thront. 

IV. 

Die  Demokratie  verkehrt  im  Juden  das  Wertgefühl,  sie  leugnet 
die  zu  tiefst  im  Wesen  begründete  Verschiedenheit  von  Mann 
und  Weib  und  gefährdet  damit  die  Dauer  des  Volks;  aber  nicht 
allein  dies  ist,  womit  sie  uns  bedroht:  sie  geht  darauf  aus,  den 
jüdischen  Geist  in  seinem  Innersten  zu  pervertieren,  zu  ent- 
werten, zu  zerstören.  Dies  zu  erläutern,  scheiden  Wr  zunächst 
einige  der  Bedeutungen  voneinander,  die  das  Wort  „Geist"  hat. 
Es  bezeichnet  zunächst  die  Einheit  aller  der  Akte,  in  denen  die 
Eigenart  des  Volkes  sich  auswirkt:  seine  Haltung  zur  Welt,  zu 
Gott,  zu  sich  selbst,  die  Emanationen,  die  daraus  fließen  (seine 
Kunst)  und  die  Bilder  (Ideale),  unter  denen  er  sich  selbst  und 
seiner  Zukunft  Dauer  wünscht.  So  etwa  meint  der  junge  Nietzsche 
den  „deutschen  Geist",  der  nicht  etwa  erschöpft  ist  in  der  Summe 
des  spezifisch  deutschen  Anteils  an  der  Kultur  der  Welt  (Philo- 
sophie und  Mystik,  Lyrik,  Drama,  Musik  und  Graphik  seien  ge- 
nannt), sondern  der  als  Antrieb  alledem  zugrunde  liegt,  es  cha- 
rakteristisch färbt  und  unformulierbar,  aber  ebenso  unverkenn- 
bar aus  ihm  redet.  „Geist"  bezeichnet  zweitens  in  einer  engeren 
Bedeutung  alles,  was  von  Lebensinhalten  auf  die    Erkenntnis- 

^5  220 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Seite  übertragen  wird  und  den  leidenschaftlichen  Drang  zu  solch 
erkennender  Gestaltung  des  Lebens.  Das  ist  der  ,, Geist",  der, 
losgelöst  von  bestimmten  Trägern,  als  Idee  anderen  Ideen,  etwa 
der  „Gewalt",  gegenübergestellt  wird.  Drittens  sondert  man, 
wenn  man  vom  ,, Geist  einer  Zeit"  spricht,  unter  dieser  Bezeich- 
nung das  aus,  was  sie  an  richtunggebenden  Tendenzen  beherrscht 
hat;  hier  ist  Geist  nicht  mehr  Erkenntnis,  sondern  Programm, 
Forderung,  Maßstab:  man  kann  sich  gegen  diesen  Geist  ver- 
sündigen, z.B.  gegen  den  des  1 8.  Jahrhunderts,  wenn  man  in- 
tolerant, gegen  den  des  19.,  wenn  man  antiexperimentell  ver- 
fährt. Auf  derselben  Basis  spricht  man  vom  Geist  einer  kul- 
turellen Bewegung  (Geist  der  Aufklärung,  der  Demokratie), 
wenn  man  ihr  Wesen  knapp  zusammenfassen  will.  Viertens  ge- 
braucht man  Geist,  mit  einer  Person  als  Träger  verbunden  (die 
großen  Geister  der  Menschheit) ;  was  damit  gemeint  ist,  braucht 
hier  nicht  zergliedert  zu  werden;  und  während  man  unter  einem 
,, geistvollen"  Menschen  oft  nur  einen  auf  besondere  Art  klugen 
Menschen  versteht,  der  seine  Klugheit  in  gewissen,  anmutig-über- 
raschenden Worten  äußert,  so  daß  hier  Inhalt  und  Form  in 
einem  Gleichgewicht  schweben,  zum  erstenmal  aber  das  Formu- 
lieren in  den  ,, Geist"  mit  eintritt,  bleibt  als  fünfte  Art  jener 
Geist  zu  nennen,  der  fast  nur  Form  des  Denkens  ist,  dem  esprit 
entspricht,  den  man  am  Geistreichen  findet,  und  der  in  einer 
gewandten  und  schlagfertigen,  zugleich  einseitigen  und  Uner- 
wartetes verbindenden  Behandlung  irgendeines  Vorkommnisses 
bestrebt,  am  Worte  und  an  der  Oberfläche  des  Ereignisses  haftet, 
und  sich  in  der  Absicht  betätigt,  ein  Lächeln  oder  Lachen  zu 
erregen,  in  dem  Bewunderung  für  den  Geistreichen  und  die 
Niederlage  des  Belachten  enthalten  sein  sollen. 

Das  folgende  soll  die  Notwendigkeit  dieser  Scheidungen  er- 
bringen, die,  so  vorläufig,  unvollkommen  und  grob  sie  hier 
stehen,  genügen  werden,  um  die  Analyse  dessen  zu  fördern,  was 
heute  als  der  ,, jüdische  Geist"  gilt  und  was  wirklich  häufig  dort 
angetroffen  wird,  wo  Juden  an  Kulturbewegungen  einen  zahl- 
und  einflußreichen  Anteil  nehmen:  in  der  politischen  Presse, 
der  Börse,  der  kritischen  Literatur  über  Künstler  und  Kunst. 
Dieser  Geist  ist  zunächst  offensiv,  angreifend,  mit  zwei  charak- 
teristischen Eigenheiten:    er  hat  keine  Achtung  vor    dem    An- 

226 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

gegriffenen,  was  sich  im  Ton  ausdrückt,  und  er  benutzt  ent- 
weder von  vornherein,  oder  wenn  er  zunächst  nicht  erfolgreich 
ist,  das  Mittel,  eine  Sache  zu  fällen,  indem  er  die  Personen  be- 
kämpft, die  sie  tragen  —  beides  und  besonders  das  zweite  oft 
sehr  naiv:  er  weiß  nicht,  daß  man  auch  anders  verfahren 
kann.  Wird  er  selbst  angefeindet,  so  antwortet  er  durch  Gegen- 
angriff. In  guten  Fällen  attackiert  er  fanatisch,  in  anderen 
kalt  und  frech.  Er  fühlt  sich  als  Sieger,  wenn  der  Gegner 
schweigt  oder  wenn  die  Menge  ihn  dafür  hält;  das  Mittel,  das 
am  sichersten  dazu  führt,  ist  die  Preisgabe  an  das  Gelächter, 
demgegenüber  sich  der  Angegriffene,  je  vornehmer  und  zarter 
er  ist,  um  so  weniger  wehren  kann;  Wehrlosigkeit  gegen  Plump- 
heit aber  deutet  er  als  Minderwertigkeit  gegen  Stärke.  Bergson 
hat  das  Lachen  der  Menge  gedeutet  als  die  Korrektur,  die  sie  an 
dem  einzelnen  macht,  wenn  er,  sein  Ziel  ohne  Rücksicht  ver- 
folgend, den  glatten  Verkehr  der  Gesellschaft  hemmt;  aber  er 
hat,  leider  allzu  verschleiert,  auch  darauf  gewiesen,  daß  es  manch- 
mal (in  Wahrheit  kann  es  aber  stets  so  sein)  die  Rache  des 
Schlechten  an  dem  Besseren  ist,  die  Gehässigkeit  des  Oberfläch- 
lichen, praktisch  Geschäftigen  gegen  den  Vertieften,  Wesent- 
lichen, echter  Lebenden,  der  freilich  in  die  Maschinerie  dieser  Zi- 
vilisation störend  hineingerät.  (Ein  Gelehrter,  der  auf  der  Straße 
stolpert,  fällt  und  den  man  auslacht,  kann  recht  gut  von  der  In- 
spiration befallen  und  im  Schauen  des  Wahren  begriffen  gewesen 
sein  .  .  .)  Um  den  Gegner  lächerlich  zu  machen,  hat  er  alle  jene 
behenden  Mittel  zur  Verfügung,  die  dem  „Geistreichen"  geläufig 
sind,  die  so  leicht,  so  billig  und  darum  so  ansteckend  wirken, 
und  vor  denen  die  Leute  bewundernd  stehen,  geblendet  von  soviel 
„Geist".  Der  Gegner  selbst  aber  ist  notwendig  ein  Wert,  der 
diesem  Geiste  deshalb  ärgerlich  ist,  weil  er  ein  höherer  ist  als  er 
selbst,  ohne  daß  er  ihm  als  „höherer"  deutlich  bewußt  gegeben 
sein  muss  (Kritiker  gegen  Produktivität).  Da  der  gesunde  Men- 
schenverstand der  entscheidende  Richter  ist,  die  Majorität  des 
Beifalls  den  Sieg  bestimmt  und  jeder  das  Recht  hat,  seine  Mei- 
nung zu  sagen  (Stimme  des  Abonnenten,  des  Käufers,  des  Wäh- 
lers): da  aber  Gleichheit  der  Rechte  Gleichheit  des  Wesens  zur 
Voraussetzung  hat,  und  da  endlich  das  als  gut  gesetzt  ist,  was  den 
meisten  gefällt,  d.  i.  nutzt,  so  ergibt  sich  hieraus,  daß  der  Kampf 

227 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

gegen  jederlei  Bevorrechtigung  gerichtet  ist,  die  nicht  durch  Ar- 
beit, d.i.  materielle  Leistung  und  materiellen  Erfolg,  verdient  ist; 
und  um  auch  diese  Stufe,  so  wenig  besagend  sie  an  sich  ist,  zu 
verhindern,  wird  die  Gleichwertigkeit  aller  menschlichen  Arbeit 
verkündet,  die  in  der  gleichen  Zeit  geleistet  wird,  so  daß  nun  jede 
Arbeit  ihres  Lohnes,  d.  h.  alle  Arbeiter  des  gleichen  Lohnes  wert 
seien.  Auch  ohne  diese  letzte  Folgerung  erkennt  man  längst  den 
Geist  der  Demokratie,  der  beweglichen  Modernität,  die  gegen  ver- 
altete Vorurteile  und  Ungerechtigkeiten  zu  Felde  zieht.  Die 
Formel  für  Gerechtigkeit  heißt  hier  nicht  Jedem  das  Seine,  son- 
dern Allen  das  Gleiche  (also  dasselbe  Zuchthaus  für  Oscar  Wilde 
und  irgendeinen  Rindfleischesser);  zugrunde  aber  liegt  jene 
falsche  Rationalität,  die  das  Wesen  der  lebendigen  Ordnung  ver- 
kennend und  den  Menschen  unter  dem  Gesichtswinkel  entweder 
der  mathematischen  oder  der  mittels  Maschinen  hergestellten 
Gleichheit  (zweier  Dreiecke  oder  zweier  mechanischer  Produkte, 
Stecknadeln  etwa)  begreifend,  in  einem  völlig  irregehenden  Ab- 
straktionsprozeß am  Leben  vorüber  das  Leben  zu  ordnen  ver- 
sucht. Da  der  moderne  Staat  sich  theoretisch  diese  Lebensan- 
schauung längst  angeeignet  hat,  an  der  praktischen  Durch- 
führung aber  scheitert,  so  ist  der  Ungerechtigkeit  kein  Ende,  und 
so  ergibt  sich  ein  Gefühl  des  Entrechtetseins  durch  Staat 
und  Gesellschaft,  dessen  entrüstetes  und  unablässiges  Angehen 
gegen  dieses  Unrecht  von  denen,  die  auf  Grund  natürlicher  Wert- 
ordnung diese  Vorrechte  innehaben  (Offizierkorps,  gewisse  Ge- 
sellschaftsklassen) als  Aufdringlichkeit,  Mangel  an  Takt  und 
Frechheit  empfunden  wird,  während  die  Unrechtleidenden  in  das 
Pathos  des  manchmal  falschen,  manchmal  echten  Schmerzes 
fallen  können,  das  allerdings,  wenn  der  Anlaß  dem  Beurteilen- 
den allzu  gering  und  die  Gebärde  dafür  allzu  groß  und  heftig  ist, 
als  Pose  und  Sentimentalität  erscheinen  darf;  und  schließlich 
kommt  dazu,  daß  die  Ausgeschlossenen,  denen  man  ein  theore- 
tisch zugebilligtes  Recht  faktisch  verweigert,  sich  als  die  Geistigen 
empfinden  müssen,  die  der  brutalen  Gewalt  widerstehend  es 
darauf  ankommen  lassen,  ihr  Opfer  zu  werden,  woraus  das  Hoch- 
gefühl des  eigentlich  Überlegenen,  der  nur  um  der  Sache,  der 
Gerechtigkeit  willen  ficht,  ressentimental  quillt.  Erfolgen  nun 
alle  diese  Äußerungen  mit  der  Vehemenz  und  Lebhaftigkeit  von 

228 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Wort  und  Gebärde,  die  dem  heftigeren  und  schnelleren  Gemüts- 
leben eines  schwarzhaarigen  Mittelmeervolks  entsprechen,  unter 
langsameren  und  gezügelten  blonden  Nordländern,  so  berührt 
auch  diese  Fremdheit  weit  peinlicher  als  objektiv  begründet, 
und  ein  Gefühl  der  Ablehnung  gegen  den  Geist  eines  so  undis- 
ziplinierten Volkes  stellt  sich  ein,  während  der  Abgelehnte 
findet,  daß  jener  „sich  habe". 

Ist  dies  der  „jüdische  Geist"?  und  wenn  er's,  vag  gezeichnet, 
sei,  was  ist  an  ihm  gemein  jüdisch  und  nur  an  Juden  gebunden? 
Nichts.  Die  Manieren  der  Presse  und  der  literarischen  Fehden 
findet  man  alle  in  der  völlig  judenfreien  Presse  etwa  des  deut- 
schen achtzehnten  Jahrhunderts,  in  den  heute  völlig  unbegreif- 
lichen Rohheiten  und  Niederträchtigkeiten  der  Gelehrten-  und 
Cliquenkämpfe  jener  Zeit  überboten  (das  bekannteste  Beispiel 
ist  ja  in  Klotz  kontra  Herder  und  Lessing  gegeben);  den  Geist 
als  Waffe  handhabten  Swift  und  Voltaire  weit  schonungsloser  als 
etwa  Heine  und  Börne,  und  der  falsche  Geist  ihrer  Nachahmer 
war  um  nichts  artiger  als  der  der  heutigen  Journale.  Daß  der 
demokratische  Geist  in  England  wie  im  vorrevolutionären  Frank- 
reich ganz  ohne  Mitarbeit  der  Juden  sich  ausbildete,  braucht  bei 
der  historischen  Lage  der  Juden  nicht  erst  bewiesen  zu  werden, 
und  der  Geist  des  Geldmachens  war  den  Lombarden  gegeben  wie 
den  Griechen,  wie  nicht  zuletzt  den  Engländern,  ohne  daß  sie 
von  Juden  zu  lernen  brauchten.  Und  da  weiter  vorn  gezeigt  wurde, 
daß  Emporkömmlinge  jedes  Volkes  sich  über  Jahrtausende  hin 
gleichen  (man  sehe  Trimalchio  neben  Herrn  Türkheimer  aus 
H.  Manns  „Schlaraffenland")  so  braucht  nur  darauf  verwiesen 
zu  werden,  daß  die  Juden  selbst  in  ihren  politisch  oder  kulturell 
selbständigen  Gemeinschaften  weder  eine  Demokratie,  noch  eine 
Presse,  noch  eine  überwiegend  kaufmännische  Organisation  des 
Lebens  ausgebildet  haben.  Der  sogenannte  „jüdische  Geist"  er- 
weist sich  als  der  Geist  der  Demokratie,  der  den  Esprit  als 
Kampfmittel  und  den  theoretischen  Geist  gegen  die  Gewalt  als 
Helfer  genommen  und  zersetzt  hat,  gehandhabt  von  fremd- 
rassigen Menschen. 

Woher  aber,  muß  jetzt  gefragt  werden,  der  intensive  Anteil 
der  Juden  an  diesem  Geiste?  Woher  die  ungewöhnliche  Wider- 
standslosigkeit  dieser  zähen  Menschen  gegen  den  fremden  Geist? 

229 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Zunächst  wäre  zu  sagen,  daß  er  und  sein  Vorbereiter,  die  Huma- 
nität des  i8.  Jahrhunderts,  mit  einer  messianisch  anmutenden 
Beglückung  an  sie  herankamen:  aus  Verachteten  sollten  Brüder 
werden,  in  Jahrhunderten  war  ihnen  Unrecht  geschehen  und  das 
wollte  man  alles  gut  machen,  die  Revolution  war  der  Föhn,  der 
den  Frühling  der  Völker  verkündete.  Die  Kultur,  die  sich  ihnen 
zugleich  öffnete,  jene  echte  weltbürgerliche  Atmosphäre  um 
Goethe,  Schiller  und  Humboldt  wie  vorher  um  Lessing,  Herder, 
Klopstock  und  Kant,  die  keinerlei  Volkskultur  sein  wollte,  son- 
dern sich,  mit  dem  Rechte  der  genialen  Menschen,  über  das  Na- 
tionale aufragend  ins  Reinmenschliche  streckte,  war  gewiß  ge- 
eignet, zu  verführen;  bei  einigen  dieser  Geister  drückte  sie  sich 
in  denselben  Worten  aus,  die  die  Revolution  unaufhörlich  wieder- 
holte (Schiller,  Herder,  Klopstock).  Als  man  nach  i8i5  wieder 
in  jene  Zustände  zurückgeführt  werden  sollte,  deren  man  längst 
entwöhn*  war,  hatte  man  den  Staaten  Bürgerdienste  mit  Gut  und 
Blut  geleistet,  und  in  der  ganz  ebenso  unterdrückten  Demokratie 
fand  man  den  Genossen  des  Geschicks,  den  Helfer  für  später, 
dessen  einzige  Waffe  eben  die  Presse  war,  die  man  durch  strenge 
Zensur  an  offener  Scheltrede  hinderte  und  zum  Geist  zwang.  So 
bildeten  für  die  theoretischen  Juden  die  Presse  und  die  Literatur, 
für  die  praktischen  der  durch  Maschinen  und  Politik  beflügelte 
Geldmarkt  die  Becken,  in  die  sich  ihre  Aktivität  ergießt;  und  sie 
werden,  paradox  genug,  die  Führer  der  Demokratie  und  ihres 
Feindes,  des  Kapitalismus,  die  beide  den  gleichen,  den  Juden 
allein  erreichbaren,  Maßstab  des  materiellen  Wertes  ausbilden; 
die  Tradition  übt  ihre  übermittelnde  Wirkung,  und  so  wächst 
beiden  Bewegungen  ein  durch  Erfolg,  politische  Verhältnisse  und 
Nachahmung  stets  größerer  Anhang  zu. 

Es  wäre  gut,  wenn  dem  so  wäre.  Denn  man  hätte  alle  Ursache 
zu  glauben,  daß  eine  veränderte  Umwelt  jene  Erscheinungen  be- 
seitigen müßte,  die  im  wahren  Wesen  der  Juden  keine  Veranke- 
rung erfahren  haben  könnten,  so  daß  etwa  bei  durchgesetzten 
demokratischem  Staatsideal  oder  in  einer  eigenen  zu  gründenden 
Gesellschaft,  wenn  jener  Druck  von  neuem  aufhört,  der  diesen 
Geist  den  Juden  gleichsam  anpreßt,  das  Fremde  abfallen  und 
der  echte  Jude  wieder  erscheinen  würde.  Aber  es  ist  vielmehr 
so,  daß  im  Wesen  des  Juden  Züge  enthalten  sind,  die  dem  Geiste 

280 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

der  Demokratie  verwandt  sind,  und  diese  sind  es,  die  die 
wahren  Ursachen  des  jüdischen  Anteils  an  ihm  ausmachen,  wenn 
sie  auch  verzerrt  und  flacher  und  oft  anders  gerichtet  erscheinen 
als  jene.  Die  starke  Intellektualität  des  Juden  und  sein  logisch- 
mathematischer Geist  verführen  ihn,  die  vorhin  geschilderte  Me- 
chanisierung der  Welt,  ihren  rationalistischen  Aufbau  und  die 
Abstraktion  vom  Leben  mitzumachen.  Die  Überlegenheit  des  Er- 
kennenden über  das  Erkannte  wird  ihm  zum  Hochmut  gegen- 
über allem  noch  Undurchleuchteten,  Dumpfen,  Unerkannten,  oft 
der  theoretischen  Erkenntnis  überhaupt  Entrückten.  Die  Idee  der 
Gerechtigkeit,  selbst  in  der  Verkehrung,  die  wir  sahen,  ergreift 
ihn  mit  unaussprechlicher  Gewalt  und  macht  ihn,  den  sittlich 
Fordernden,  blind  für  den  Irrtum,  in  den  er  gerissen  wird.  Das 
Pathos  der  Propheten,  die  die  ethische  Durchdringung  der 
menschlichen  Existenz  wieder  und  wieder  dem  von  Lust  und 
Bequemen  regierten  Dasein  abverlangen,  entzündet  sich  für  den 
geknechteten  Menschen.  Die  messianische  Hoffnung  scheint  in 
dem  Zukunftstraum  des  von  der  Demokratie  erbauten  Sozialis- 
mus eine  Verwirklichung  in  der  Zeit  zu  finden.  Die  Lust  am 
Geiste,  die  in  der  talmudischen  Dialektik  noch  immer  an  das 
Streben  gebunden  war,  die  Erkenntnis  zu  verfeinern  und  zu 
klären,  und  die  leidenschaftliche  Hingabe  an  sie,  vergessen  diese 
wohltätige  Hemmung  und  stürzen  sich  aus  Freude  der  Betäti- 
gung in  jeden  Kampf.  Die  literarische  Begabung  des  Juden  läßt 
ihn  jede  Sprache  handhaben  und  entzieht  der  eigenen,  strengeren 
und  schwierigeren,  den  größten  Teil  aller  lebendigen  Zuflüsse. 
Und  die  Religion  selbst  endlich,  sie,  die  dem  Menschen  im  Juden 
schließlich  im  Hinstreben  zu  Gott  keinen  Vorrang  gibt  vor  dem 
Menschen  im  NichtJuden,  macht,  daß  er  um  so  leichter  dem  Men- 
schen glaubt,  den  der  demokratische  Geist  erfindet  und  der  mit 
jenem  ersten  nur  Name  und  Physis  gemein  hat. 

Dies  ist  die  Gefahr  für  den  jüdischen  Geist:  daß  er  das  Leichte 
für  das  Schwere  nehme,  das  Moderne  für  das  Ewige,  das  Surrogat 
für  die  Echtheit,  das  Ventil  für  den  rechten  Ausweg,  daß  er  sich 
vergeude  anstatt  sich  zu  bewahren  und  das  Eigene  vergesse,  um 
einer  unechten  Menschheit  unecht  zu  dienen.  Auch  ein  Volk  dient 
der  Menschheit  in  Wahrheit  nur,  wenn  es  sich  selbst  im  rechten 
Ernste  dient. 

23l 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Und  was  tut  uns  not?  Wohin  greifen  wir,  um  nicht  zu  fallen? 
Wir  sind  ganz  allein,  niemand  kann  uns  auch  nur  mit  seiner 
Stimme  einen  Rat  rufen,  niemand,  der  nicht  zu  uns  gehört  und 
mit  uns  erschrickt.  Aus  uns  muß  der  Entschluß  und  das  Be- 
kenntnis und  die  Tat  springen,  oder  wir  sind  Verlorene  und 
dahin.  Wir  müssen  anders  werden,  neu  werden;  dies  muß  unser 
Entschluß  sein,  und  wenn  es  in  uns  zustande  gekommen  ist, 
dieses  Zufallen  aller  anderen  Türen,  dieses  Schreiten  durch  die 
einzige  offene  Pforte,  dieses  Verbot  jedes  Rückwärtssehens, 
dieses  Vorwärtswollen  Zähne  auf  Zähne  gesetzt  —  wenn  dieser 
Entschluß  die  Seele  zusammengerafft  hat,  so  hat  die  Erneuerung 
begonnen.  Sie  muß  mit  ihm  beginnen.  Unmöglich,  sie  echt  zu 
schauen  und  sie  dann  nicht  wollen,  ohne  daß  man  ein  Schlechter 
sei.  Es  ist  Bubers  Wort:  Erneuerung;  er  als  erster  hat  es  uns 
verkündet,  hat  es  gegen  Evolution  aufgerichtet,  wie  eine  ver- 
bietende Hand,  gegen  jenes  auch  dem  Schwächsten  und  Feigsten 
mögliche  Vorwärtskriechen  um  ein  Stückchen,  gegen  den  Fort- 
schritt, der  nicht  wagen  darf  zu  sagen,  wohin  er  schreiten  will. 
Er  hat  weiter  gesagt,  daß  sie  nichts  hinzufügen  werde  zur  Seele 
und  nichts  hinwegnehmen,  und  dennoch  wird  die  Seele  anders 
sein  und  so  neu  wie  jener  Naaman,  der  blühend  wie  ein  Kind 
aus  dem  Jordan  stieg  in  seinem  großen  Glauben,  wo  er  doch 
vorher  ganz  aussätzig  zum  Propheten  kam.  Wie  es  aber  geschehen 
wird,  dieses  große  Zusammenschlagen  der  Fluten  und  dieses  Her- 
vortreten in  Neusein,  darüber  hat  er  geschwiegen  und  so  auch 
uns  geheißen,  zu  schweigen;  wir  wissen  es  nicht.  Nur  bereit  sein 
sollen  wir  und  so  bereiten.  Und  darüber  weniges  zu  sagen  ist 
uns  gegeben:  wir  sollen  wesentlich  werden. 

Wesentlich  werden.  Wir  sind  es  nicht,  und  darum  ist  nichts 
um  uns  wesentlich.  Der  Apfel,  den  wir  in  der  Hand  halten,  ist 
uns  ein  Ding,  das  man  essen  soll,  oder  ein  Ding,  das  gewachsen 
ist,  oder  ein  Ding,  das  man  erkauft,  oder  ein  farbig  rundes  Ding 
oder  ein  Ding  zu  erkennen;  aber  nicht  jene  schlichte  Fülle 
„Apfel"  genannt,  die  wir  schauen  können  und  in  der  wir,  wenn 
wir  uns  ihr  nahen  vertieft  nur  in  sie,  einen  Blick  in  die  Welt 
der  wahren  Existenz  tun.  Was  uns  heute  die  Dinge  verdeckt, 
das  ist  ihre  schlimme  Verflochtenheit  in  den  Nutzen,  die  Praxis, 
und  die  Maske,  die  die  Gewöhnung  und  falsche  Schulung  ihnen 

282 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

gibt.  Und  so  sind  wir  Juden,  Juden  aufs  Geratewohl,  ohne  zu 
wissen,  was  das  heißt,  Jude  sein;  sind  Juden  nicht  viel  anders 
als  wir  Leser  sind,  und  Verkäufer  imd  Spaziergänger  und  solche, 
die  sich  Krawatten  umbinden.  Viele  glauben,  Juden  zu  sein,  weil 
sie  sich  laut  so  nennen,  oder  weil  sie  allerlei  für  eine  Partei  im 
Judentum  tun,  oder  weil  sie  andere  für  diese  Partei  anwerben, 
oder  weil  sie  die  Riten  einer  sterbenden  Kirche  treu  und  ehrlich 
befolgen;  anderen  genügt,  daß  sie  eine  Stimme  in  sich  reden 
hören:  du  bist  Jude,  und  nichts  tun,  diese  Stimme  stumm  zu 
machen.  Noch  andere  sind  für  kurze  Zeiten  Juden  mit  ganzem 
Herzen  und  ganzer  Seele,  wenn  ein  heiliger  Tag  sie  erschüttert 
oder  das  martyrische  Sterben  ferner  Brüder;  aber  die  Glut  er- 
lischt. 

Wesentlich  werden:  was  hieße  das?  Bei  allem,  was  wir  er- 
leben, im  Denken  oder  in  der  tätigen  Welt,  ganz  gegenwärtig 
zu  sein.  Nicht  mehr  mit  Abkürzungen  vorlieb  nehmen,  ehe  wir 
nicht  mindestens  einmal  das  Ganze,  das  sie  meinen,  völlig  er- 
füllt und  vollzogen  haben,  so  daß  wir  später  stets,  wenn  die 
Abkürzung  auftaucht,  in  einem  blitzgleichen  Blick  uns  das  Ganze 
wieder  vor  die  Seele  stellen  können.  Schauen  lernen,  wie  der 
Dichter  schaut  und  der  Philosoph,  dem  das  Wort  nie  mehr  etwas 
anderes  sein  kann  als  das  Symbol  einer  Wesenheit,  wenn  er  ein- 
mal die  Wesenheit  selbst  erblickt  hat.  So  einmal  schauen,  was 
Jude  ist;  es  nie  mehr  vergessen;  versuchen  es  zu  sein,  es  zu 
leben.  Es  ist  uns  noch  nicht  gegeben  zu  sagen,  wie  das  ist;  das 
Erlebnis  mitzuteilen,  es  in  klarer  Sprache  zu  gestalten.  Mag  man 
uns  unterdes  für  Stammler  halten,  für  Redner  oder  Schauspieler 
—  was  liegt  daran,  wenn  wir  nur  streng  gegen  uns  sind  und 
jede  Widerrede  unterlassen?  Vielleicht  kommen  uns  einmal  auch 
dafür  Worte.  Die  den  gleichen  Weg  gehen,  werden  uns  ver- 
stehen; und  vorläufig  ist  jeder  mit  seinem  Erlebnis  allein. 

Wesentlich  werden,  heißt  die  Demokratie  überwinden.  Wer 
sein  Eigensein,  seine  unvergleichliche  Einzigkeit  erfaßt  hat,  wie 
sollte  der  an  Gleichheit  glauben?  Wie  sollte  der  vergleichen 
können  mit  jenem  unzufriedenen  Blick,  der  in  sich  selbst  ruht 
und  jeden  Augenblick  die  endlose  Mannigfaltigkeit  an  sich  heran- 
treten fühlt,  damit  er  ihr  gerecht  werde?  Wie  sollte  nicht  die 
Begierde  schwinden,  anders  zu  sein,  und  in  irgendeinem  anderen 

233 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Sinne  reicher  zu  werden  als  in  der  Bereicherung  der  Seele  durch 
Erleben,  mehr  zu  werden  anders  als  mehr  er  selbst  zu  sein?  Wie 
sollte  Unzufriedenheit  bleiben  dort,  wo  die  Gerechtigkeit  jedes 
Dinges  geschaut  wird?  Wie  sollte  die  Leere  bestehen  bleiben, 
die  heute  so  grell  und  verzweifelnd  den  Menschen  von  sich  selbst 
forttreibt,  Avenn  er  erst  angefangen  hat,  zu  sehen,  daß  er  bis 
jetzt  von  Fülle  umgeben  war  und  selbst  angefüllt  mit  Unbe- 
merktem, Unerlebtem,  das  nun  bewältigt  werden  will?  Wie  sollte 
der  unruhig  bleiben,  dessen  Dasein  plötzlich  ins  Gleichmaß 
der  Welt  gestellt  ist?  Und  das  Recht  des  Menschen  an  die  Welt, 
kann  es  gestört  werden  durch  den  Anblick  anderer.  Höherer, 
mit  anderem  und  höherem  Sein,  die  anderen  und  höheren  Auf- 
gaben folgen:  wenn  er  selbst  seine  Notwendigkeit  sieht  und  die 
Unersetzlichkeit  seiner  eigenen  Aufgabe,  und  daß  niemand  als 
er  sie  auf  seine  Weise  erfüllen  kann? 

Wesentlich  werden:  dabei  kann  niemand  dem  anderen  im 
Anfang  helfen.  Jeder  muß  eines  Tages  geweckt  werden,  von 
einem  Wort,  das  plötzlich  seinen  Sinn  verliert,  von  einer  Tat, 
die  er  getan  hat,  ohne  daß  er  sie  gewollt  hat,  von  einem  Buche, 
von  der  Gebärde  eines  Vorübergehenden.  Und  so  muß  ihm  ein- 
mal sein  Judesein  so  nahe  rücken,  daß  er  sich  entsetzt,  oder  so 
fern,  daß  er  es  ganz  überblickt  und  erstaunt,  oder  es  muß  ihn 
ganz  durchdringen  und  aus  ihm  ausstrahlen  so  glühend,  daß  alle 
seine  Dinge  um  ihn  daran  teilhaben  und  sich  sondern  in  solche, 
die  sich  einfügen,  und  solche,  die  tot  bleiben.  Einmal  muß  er 
sein  Judentum  an  die  Welt  um  ihn  und  in  ihm  als  Maß  legen, 
messen  und  scheiden.  Darauf  aber  wird  ihm  vergeblich  scheinen, 
Religion  zu  sehen  oder  Nationalität  oder  Rasse,  sondern  eiuQ 
tiefere  Einheit  wird  ihm  aufgehen,  und  es  wird  ihm  oberfläch- 
lich scheinen,  sie  in  dieser  oder  jener  Formel  zu  verengen. 
Jüdisch  sein  wird  sich  ihm  darstellen  als  eine  bestimmte  Weise 
als  Mensch  zu  leben. 

Wesentlich  werden:  dagegen  streitet  die  Zeit  um  uns  und  in 
uns.  Wenn  wir  arm  sind,  zwingt  sie  uns,  irgend  etwas  von  uns 
zu  verkaufen,  um  davon  zu  leben,  und  ein  beständiger  .Zwist  ist 
da,  denn  wie  können  wir  einen  Teil  unseres  Wesens  verkaufen, 
ohne  daran  zu  leiden?  Wenn  wir  von  Geburt  und  so  durch 
Zwang  zu  Menschen  gesellt  sind,  die  uns  verhindern  wollen,  unser 

234 


DIE  DEMOKRATIE  UND  DIE  SEELE  DES  JUDEN 

Wesen  zu  vollziehen,  damit  wir  dem  Bilde  gleichen,  das  sie  sich 
von  uns  gemacht  haben;  die  uns  voll  besten  Willens  und  „zu 
unserem  Glück"  in  den  Formeln  des  unlebendigen  Lebens  zu- 
rückhalten und  darauf  sinnen,  uns  darin  festzumachen  —  wie 
können  wir  vollkommen  werden  und  wirklich,  ohne  gegen  sie 
zu  kämpfen  und  daran  zu  leiden?  Wenn  uns  eine  Aufgabe,  die 
wir  innerlich  bejahen,  in  diese  Zeit  stellt,  wie  sollen  wir  uns 
aus  ihr  entfernen?  Und  wenn  wir  erkennen,  daß  auch  diese  Zeit 
auf  dem  Wege  der  Menschheit  ein  sehr  nötiges  Tor  ist,  zu  durch- 
schreiten, wie  können  wir  seitwärts  gehen?  Da  zeigt  sich,  daß 
es  für  uns  nichts  anderes  als  eine  stete  Aufgabe  sein  kann,  wesent- 
lich zu  werden,  daß  wir  in  einem  beständigen  Zwiste  leben 
müssen,  und  daß  wir  unaufhörlich  dieses  Aufgegebene  vor  Augen 
haben  müssen,  unverzagt  und  demütig,  wenn  uns  nicht  gegeben 
ist,  es  ganz  zu  vollbringen.  Wir  sind  das  Geschlecht,  das  in  der 
Wüste  wandert  und  sterben  wird. 

Wesentlich  werden:  uns  ist  es  nicht  gegeben.  Aber  der  große 
Ernst  und  die  große  Freudigkeit  soll  uns  bleiben,  daß  wir  nicht 
vergebens  wandern,  jeder  für  sich  an  seinem  Stabe.  Wir  schauen 
um  uns  und  sehen,  daß  wir  mehrere  sind  und  zuletzt  viele.  Und 
der  Weg,  den  wir  gemacht:  Spätere  brauchen  ihn  nicht  noch 
einmal  zurückzulegen.  Und  wir  rufen  einander  zu  und  sind  uns 
Gefährten  und  Vorposten.  Denn  wir  glauben,  daß  aus  den  Vielen 
das  Volk  werden  wird,  wenn  wir  sehen,  daß  wir  allesamt  jung 
sind  und  wissen,  daß  andere  auf  uns  blicken,  zweifelnd,  hoffend, 
ob  wir  es  wohl  vollbringen  werden.  Wir  werden  es  nicht  voll- 
bringen, aber  was  liegt  an  uns?  Die  anderen,  diese  Späteren 
werden  es  vollbringen,  einmal,  dereinst,  nicht  am  Ende  der  Zeit, 
sondern  in  der  Zeit.  Nicht  gleich,  nicht  bald,  denn  ein  Volk  wächst 
langsamer  als  ein  Wald,  aber  kein  Schritt  kann  jemals  zurück- 
genommen werden,  der  einmal  vorwärtsgegangen  ist.  Wir 
glauben  an  den  Frühling  und  an  die  Wiedergeburt  und  an  das 
Volk,  das  nicht  stirbt.  Wir  glauben  an  den  Weg  und  den  Willen. 
Wir  gehen. 


235 


PROBLEME   DER   GEGENWART 
UND   DER   ZUKUNFT 


Das  Erwachen  der  jüdischen  Seele*) 

Von  Nathan  Birnbaum 

iLs  gibt  heutzutage  viele,  die  auf  die  Frage,  ob  das  Judentum 
eine  Zukunft  hat,  ob  es  bestehen  und  würdig  bestehen  wird,  mit 
Nein  antworten.  Soweit  sich  diese  Verneiner  außerhalb  des  Juden- 
tums gestellt,  die  Beziehungen  zu  ihm  gelöst,  daher  auch  den 
Sinn  für  sein  Wesen  und  die  Witterung  für  das  Werden  in  ihm 
verloren  haben,  kann  ich  ihnen  eigentlich  nicht  gram  sein.  Aber 
wenn  ich  auch  in  den  verschiedenen  nationalgesinnten  Gruppen 
solchen  Verneinern  oder  zumindest  Zweiflern  begegne,  —  und 
zwar  geständigen  und  nicht  geständigen,  tragischen  und 
komischen,  seufzenden  und  lachenden,  schwerfälligen  und  leicht 
koketten  —  dann  —  kann  ich  sie  nicht  mehr  so  ruhig  hinnehmen. 
Wohl  begreife  ich  auch  sie,  begreife  sie  als  Produkte  des  mecha- 
nistischen Nationalismus  der  letzten  Jahrzehnte  in  seinen  ver- 
schiedenen Formen,  als  die  Zeugen  der  Verwirrung,  in  die  er 
mündete  und  münden  mußte.  Aber  ich  ärgere  mich  doch  auch 
schon  ein  wenig  über  ihre  schlotternde,  winselnde,  lächelnde  Im- 
potenz; und  daß  sie  sich,  die  Zwerge,  in  ihren  Kähnchen  an  das 
große  Schaufelrad  des  jüdischen  Volksschiffes  heranwagten, 
dessen  mächtiges  Gebrause  sie  nicht  zu  deuten  vermochten,  dessen 
Kraft  sie  nicht  ahnten  und  an  dem  sie  nun  jämmerlich  zerschellen 
müssen. 

Und  gerade  diesen  Leuten  gegenüber  erkläre  ich  doppelt  gerne, 
was  ich  auch  sonst  nicht  verschweige,  daß  ich  mit  zwingenden 
Gegenbeweisen  selbstverständlich  nicht  dienen  kann,  wohl  aber 
voll  und  ganz  an  den  Weiterbestand,  an  die  Erhebung  und  an 
die  Zukunft,  an  die  Ewigkeit  des  jüdischen  Volkes  glaube.  Ja, 
an  seine  Ewigkeit.  Daran,  daß  ein  Ewigkeitsfunke  in  die  Seele 
dieses  Volkes  gefallen  ist,  der  wohl  manchmal  unter  Schutt  und 
Asche  zu  verglimmen  scheint,  aber  immer  wieder  aufglühen  muß 
und  das  Volk  nicht  sterben  läßt,  nicht  sterben  ließ,  nicht  sterben 
lassen  wird.  Niemals,  niemals! 

Darum  schreckt  mich  auch  nicht  das  Golus  mit  allen  seinen 
Bitternissen  und  Katastrophen,  Es  ist  wahr,  daß,  wenn  gehäufte 

*)  Dieser  Aufsatz  ist  das  minmehr  ein  wenig  geänderte  Original  eines  im 
IV.  Heft  des  Sammelbuches  „Heathid"  in  hebräischer  Übersetzung  erschienenen, 
vor  zwei  Jahren  geschriebenen  Artikels.  N.  B. 

289 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

Schläge  auf  die  jüdischen  Köpfe  niedersausen,  dann  einzelne  und 
ganze  Gruppen  betäubt,  entwürdigt,  losgerissen  werden  und  in 
fremden  Welten  spurlos  untergehen.  Aber  es  bleibt  doch  stets  ein 
Zentrum  unseres  Lebens,  wo  die  Ewigkeit  still  weiter  waltet.  Zer- 
schlug man  uns  doch  einmal  unsere  staatliche  Existenz,  und  wir 
haben  uns  dennoch  herausgewunden,  haben  dennoch  Leib  und 
Seele  unseres  Volkes  gerettet.  Und  nun  sollten  wir  zugrunde 
gehen,  weil  sich  da  und  dort  weitere  Katastrophen  ereignen  — 
nun,  da  die  Verteilung  über  die  ganze  Welt  hin  selbst  eine  Art 
Existenzgarantie  bietet?  Wobei  mir  diese  Verteilung  auch  kein 
mechanischer  Zufall,  sondern  wieder  nichts  anderes  als  Wirkung 
und  Erfüllung  unserer  Ewigkeit  zu  sein  scheint. 

Aber  ich  glaube  nicht  nur  nicht  an  den  Untergang  des  Juden- 
tums, sondern  auch  an  seine  Erhebung  und  glorreiche  Zukunft. 
Und  auch  insofern  schreckt  mich  das  Golus  nicht. 

Gewiß  haben  wir  große  Zeiten  erlebt  in  unserem  Lande,  gewiß 
hat  es  seine  große  Rolle  gespielt  im  gewaltigen  Ewigkeitsdrama 
unseres  Volkes  und  wird  sie  sicherlich  irgendwie  wieder  spielen. 
Aber  es  sah  uns  auch  in  großen  Niedergängen,  es  hat  den  Abstieg, 
den  seelischen  meine  ich,  nicht  nur  den  staatlichen,  nicht  ver- 
hindern können.  Und  andererseits  ist  das  Golus  nicht  so  trost- 
los, wie  es  leicht  einknickenden  Geistern  erscheint.  Gewiß  hat 
es  uns  bisher  nicht  die  allerstolzesten  Aufschwünge  gebracht, 
aber  sicherlich  doch  manches  Große  und  Ewige,  das  alle  Über- 
treibungen der  Goluszitterer  nicht  aus  der  Welt  schaffen  werden. 
Und  die  Zukunft  kann  diesbezüglich  mehr  leisten  als  die  Ver- 
gangenheit. Denn  wohl  bleibt  das  Territorium  noch  für  lange, 
lange  Zeit  die  praktischste  und  sicherste  Unterlage  nationaler 
Kulturen.  Aber  es  ist  doch  deutlich  zu  sehen,  daß  sich  diese, 
wenn  auch  sehr  langsam,  so  doch  sicher,  von  der  unbedingten 
Notwendigkeit  großer,  zusammenhängender  Territorien  immer 
mehr  emanzipieren.  Immer  weniger  bedarf  die  Bodenständigkeit 
des  Territoriums,  damit  ihre  ursprüngliche  und  wahrhaft  ent- 
scheidende Unterlage,  die  einzelne  örtlichkeit,  zur  Geltung 
komme.  Der  moderne  Verkehr  zeigt  sich  immer  mehr  befähigt, 
den  Zusammenschluß  der  bodenständigen,  örtlichen  Kulturzellen 
zur  nationalen  Gesamtkulturarbeit  zu  vermitteln.  Und  gerade  das 
jüdische  Volk  hat  es  in  dieser  Hinsicht  schon  zu  einer  stark  ent- 

24o 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

wickelten  Übung  gebracht,  alles  weist  darauf  hin,  daß  es  sich 
auf  diese  Art  interterritorieller  Einheitskultur  immer  mehr  ein- 
richtet. Es  braucht  also  auf  keinen  Fall  zu  verzweifeln. 

Man  sagt,  daß,  weil  Israel  seinen  Staat  verlor,  sich  sein  Genius 
von  ihm  wandte.  Aber  richtig  ist  das  Gegenteil :  weil  sein  Genius 
ermattete,  weil  es  noch  nicht  reif  war,  um  den  ihm  ein- 
geschriebenen ewigen  Plan  in  seiner  ganzen  Herrlichkeit  das 
Leben  selbst  erfüllen  zu  lassen,  ein  Leben  ohne  ihn  aber 
—  rein  wie  es  die  Völker  lebten  und  ja  auch  noch  heute 
leben  —  ihm  doch  zu  schal,  zu  widerwärtig,  zu  unwürdig  vor- 
kam, um  Mühe  und  Liebe  daran  zu  wenden  —  darum  starb  das 
Reich.  Und  wenn  das  Golus  dessen  Todesursache  als  Erbschaft 
mitschleppte  —  natürlich,  ohne  daran  zu  sterben,  Golusse  ver- 
gehen eben  nicht  wie  Reiche,  —  so  ist  das  nicht  seine  Schuld. 
Es  liegt  eben  nichts  vor  als  eine  große  Stockung,  die  noch  auf 
dem  Boden  des  Landes  Israel  entstand  und  noch  heute  anhält  — 
eine  Stockung,  die  kommen  mußte  und  wieder  schwinden  Avird, 
wenn  das  Volk  auf  dem  Wege  seines  Planes  wieder  reif  geworden 
sein  wird. 

Ich  liebe  Erez  Israel.  Ich  glaube  an  seine  Zukunft.  Ich  glaube, 
daß  Israel  dereinst  auch  dort  wieder  Großes  vollbringen  wird.  Ich 
begrüße  jede  Tat,  die  in  stiller,  bescheidener  und  inniger  Liebe 
zu  Erez  Israel  getan  wird,  —  in  einer  Liebe,  die  Vorbild  und 
Teil  künftiger  Kraft  ist.  Ich  freue  mich,  wenn  solche  Taten  sich 
organisieren  und  summieren,  aber  ich  bin  längst  über  meine 
„Jugendsünde"  eines  mechanistischen  Territoriums-  und  Staats- 
gedankens hinaus.  Ich  habe  diesen  Gedanken,  der  die  Juden- 
frage von  der  zeitlich-weltlich-rationalen  Seite  irrationell,  von 
der  ewigkeitlich-geistlich-irrationalen  Seite  rationell  beantworten 
will,  als  Irrtum  erkannt.  Ich  brauche  ihn  nicht  und  ich  glaube, 
daß  ihn  auch  das  Judentum  nicht  brauchen  kann.  Gewiß  hat 
das  Golus  seine  Dissonanzen  und  tragischen  Momente.  Aber 
doch,  nur  um  so  sicherer,  wird  es  die  Stunde  der  Reife  bringen. 
Dann  wird  die  große  Stockung  vorüber  sein,  und  dann  wird 
Israel  sich  erheben,  neue  Lebens-  und  Schaffensströme  werden 
es  durchziehen,  im  Golus  und  im  Lande  Israels. 

Man  wird  mir  entgegenhalten:  Pogrome,  Entrechtung,  Ver- 
elendung, ewige  Minderheitsstellung  allerorten  —  wie  soll  da 

i6  24i 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

die  innere  Wiedergeburt  kommen?  Wie  soll  sich  da  Israel  er- 
neuen? 

Ich  könnte  diesem  Einwände  gegenüber  darauf  verweisen,  daß 
sich  heute  unter  den  Zionisten  nur  mehr  die  wenigst  Denkenden 
von  Zion  auch  eine  ausgiebige  materiell-politische  Hilfe  für  das 
Golus  versprechen  und  könnte  mit  der  Gegenfrage  kommen: 
Wie,  wenn  wirklich  schon  ein  jüdisches  Kulturzentrum  in  Pa- 
lästina besteht  und  dieses  doch  nicht  imstande  ist,  den  Schrecken 
des  Golus  zu  wehren?  Wie  soll  es  trotz  dieser  Schrecken  die 
Erneuerung  Israels  im  Golus  durchführen?  Aber  ich  verzichte 
darauf.  Ich  kenne  ja  diese  Fragen  alle,  kenne  sie  aus  meinem 
eigenen  Gehirne,  das  doch  auch  seine  materialistische  Frohnzeit 
mitmachen  mußte.  Gewiß  ist  mir  auch  heute  klar,  daß  ein  Volk 
nicht  gedeihen  kann,  das  nicht  in  gesunden  politischen  und  öko- 
nomischen Verhältnissen  lebt,  ja  ich  bin  heute  noch  mehr  als  je 
ein  Verehrer  peinlichst  geordneter  Verhältnisse.  Ich  weiß  jedoch 
auch,  daß  diese  gesunde  Ordnung  selbst  vom  Geiste  sich  her- 
schreibt, der  sich  als  Genius  einer  Rasse  oder  eines  bestimmten 
Volkes  oder  einer  Zeit  manifestieren  mag,  daß  sie  erst  Wirkung 
und  dann  erst  Ursache  ist.  Und  ich  weiß  auch,  daß  ein  geistig 
gesundes  oder  geistig  genesendes  Volk  niemals  aus  seinen  Ver- 
hältnissen sozusagen  herausspringen  will,  sondern  an  ihnen  seine 
geistgeborene  Kraft  und  Lebenslust  mit  unbewußter  Ausdauer 
versucht.  So  hat  es  im  Grunde  selbst  das  Israel  des  Mittelalters 
gehalten,  das  den  widrigen  Verhältnissen,  die  es  umgaben,  die 
geistige  Existenz  und  ein  gewisses  Gedeihen  abzuringen  wußte. 
Und  das  Israel  der  nahen  und  der  fernen  Zukunft  wird  seine 
geistige  Gesundheit  und  seine  geistige  Stärke  dadurch  zu  be- 
weisen haben,  daß  es  seine  denn  doch  gesteigerten  Bewegungs- 
möglichkeiten benutzt,  um  sich  trotz  aller  Drangsale  nicht  nur 
zu  erhalten,  sondern  auch  zu  verjüngen  und  zu  erneuen. 

Ich  habe  es  gar  nicht  nötig,  die  zukünftige  Lage  im 
Golus  in  rosigen  Farben  zu  malen.  Ich  würde  damit  das  viele 
Dunkel  nicht  wegwischen  können,  das  unser  noch  wartet.  Gewiß, 
wir  werden  vielleicht  noch  viele  Jahrhunderte  schwer  zu  leiden 
haben.  Aber  wir  werden  eben  die  Augen  offen,  die  Köpfe  klar 
und  die  Hände  tatbereit  halten  müssen  und  halten,  um  allen  den 
schwierigen  Situationen  gewachsen  zu  sein,  um  das  Golus  den 

242 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

gegebenen  Möglichkeiten  entsprechend  zu  ertragen  und  zu  über- 
winden. Und  wenn  einmal  der  Genius  zu  voller  Kraft  in  uns 
erwachen  wird,  dann  wird  er  in  seiner  siegreichen  Majestät  nicht 
zum  geringsten  Teile  auch  die  Not  und  die  Mühsal  unseres  Volkes 
hinwegräumen. 

Wenn  ich  nun  aber  sagen  soll,  was  ich  mir  unter  jener  auch 
das  materielle  Leben  mittelbar  bedingenden  Reifung  oder  inneren 
Erneuerung  des  jüdischen  Volkes  vorstelle,  muß  ich  zunächst 
auf  das  Verhältnis  zurückkommen,  das  bei  ihm  zwischen  seiner 
so  stark  betonten  geistlichen  Lebensauffassung  und  den  welt- 
lichen Aspirationen,  wie  sie  normalerweise  jedem  Volke  eignen, 
besteht.  Und  wenn  ich  hier  wieder  vorzugsweise  von  dem  sprechen 
werde,  was  ich  glaube,  möge  man  sich  erinnern,  was  ich  ein- 
gangs darüber  sagte.  Es  ist  nun  einmal  meine  Bescheidenheit 
und  mein  Hochmut  zugleich  geworden,  gerade  in  derlei  großen 
Fragen  nicht  mit  allerlei  zwingenden  Beweisen  zu  flunkern,  son- 
dern einfach  auszusagen,  welche  Antwort  meine  suchende  Seele 
auf  sie  gibt. 

Nun,  ich  glaube,  daß  das  jüdische  Volk  seine  weltliche  Kraft 
einbüßen,  aus  seiner  weltlichen  Bahn  gestoßen  werden  mußte, 
als  der  Impuls  zu  einer  geistlichen  Volksexistenz  plötzlich  mit 
einer  gebieterischen  Macht  in  ihm  auftrat,  die  ihresgleichen  nicht 
hatte  und  hat  unter  allen  Völkern  der  Erde.  Ich  glaube,  daß  es 
deshalb  seinen  Staat  nicht  mit  den  nötigen  Kräftegarantien  aus- 
stattete, daß  sich  deshalb  seine  Religion  in  der  Form  des  stolzen 
Tempeltums  nicht  behaupten  konnte,  daß  es  deshalb  zu  wandern 
begann,  als  noch  niemand  es  trieb,  daß  deshalb  sein  Jerusalem 
zweimal  zerstört  wurde,  und  daß  es  deshalb  im  Golus,  was  auch 
denkbar  gewesen  wäre,  nicht  zu  einem  Helden-,  sondern  zu  einem 
Märtyrervolke  gezüchtet  wurde.  Aber  ich  glaube  nicht,  daß  das 
jüdische  Volk  ewig  unter  der  Wirkung  dieses  ersten  Stoßes  stehen 
wird.  Und  ich  glaube  nicht,  daß  seine  Entwicklung  nach  der  geist- 
lichen Richtung  eine  weltliche  mit  irgendwelchen  Grundlagen 
von  Macht  und  Freude  durchaus  ausschließt.  Ich  glaube  viel- 
mehr, daß  Geistlichkeit  und  Weltlichkeit  des  Wesens,  Heiligkeit 
und  Weltleben  im  tiefen  Grunde  keine  Gegensätze,  sondern 
verschiedene  Seiten  vollkommenen  Lebens  sind,  die  sich  ergänzen 
müssen,  um  das  Leben  eben  vollkommen  zu  machen.  Ich  glaube, 

243 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

daß  Heiligkeit  nicht  gelebt  werden  kann  ohne  Weltlichkeit  und 
Weltlichkeit  tot  ist  ohne  Gott,  und  ich  glaube,  daß  dem  jüdischen 
Volke  mit  seiner  heißen  Lebensbejahung  weltliche  Art,  welt- 
liches Glück  und  weltliche  Macht  adäquat  sind  und  daß  seine 
Seele  unwillkürlich  nach  nichts  anderem  strebt,  als  das  Exempel 
eines  weltlichen  Gottesvolkes  zu  statuieren.  Nur  daß  eben  Jahr- 
tausende nötig  sind,  um  die  nach  den  gewaltigen  Sensationen 
der  Offenbarung  begreifliche  Einseitigkeit  zu  überwinden.  Ich 
glaube,  daß  der  verzweifelte  Kampf  des  Tempeltums  um  seinen 
Bestand,  die  gewaltigen  Kämpfe  der  Makkabäer,  die  entschiedene 
Ablehnung  des  Christentums,  die  verzweifelten  Anstrengungen 
der  Verteidiger  Jerusalems  gegen  die  Römer,  endlich  die  ruhige 
Geduld  des  mittelalterlichen  Judentums  nichts  anderes  als  Doku- 
mente des  ewigen  Verlangens  sind,  sich  von  der  erwähnten  Ein- 
seitigkeit zu  emanzipieren. 

Ich  würde  auch  die  neueren,  so  vielfach  auseinandergehenden 
und  so  vielfach  verworrenen  Bestrebungen,  in  Palästina,  oder 
auf  irgendeinem  anderen  Territorium,  oder  in  der  Zerstreuung 
selbst  Stützpunkte  weltlicher  Kraft  zu  schaffen,  zu  diesen  Doku- 
menten zählen  müssen,  wenn  ich  nur  auf  den  Anklang  und  das 
Echo  zu  hören  brauchte,  die  diese  Bestrebungen  in  allerdings  sehr 
geringem  Maße  bei  den  gläubigen  Massen  gefunden  haben.  Aber 
das  eben  kann  ich  nicht.  Ich  erkenne  sie  ja  vielmehr  der  Haupt- 
sache nach  als  Bewegungen  der  Intelligenz,  jener  Intelligenz, 
die  ohne  Rücksicht  auf  ihre  jeweilige  theoretische  Stellung  zur 
Assimilation  seit  dem  Ausgange  des  jüdischen  Mittelalters,  seit 
den  Tagen  der  Haskoloh  sich  gleich  geblieben  ist.  Und  ich  weiß 
doch,  daß  seit  diesen  Tagen  das  Judentum  weit  weniger  an  seiner 
alten  geistlichen  Einseitigkeit,  die  ja  sicher  auch  nicht  zu  halten 
ist,  als  an  der  Rebellion  leidet,  die  seine  Flachköpfe  angezettelt 
haben,  um  aus  dem  jüdischen  Volke  gerade  die  Heiligkeit,  ge- 
rade die  Gottesvolkschaft,  gerade  den  allereigensten  Genius  zu 
bannen.  Wenn  diese  Leute  heute  nicht  mehr  assimilatorische, 
sondern  quasi  nationale  Kostüme  tragen,  so  können  sie  mich 
damit  über  ihren  wahren  Charakter  nicht  täuschen,  erinnern 
mich  vielmehr  nur  um  so  nachdrücklicher,  daß  es  sich  augen- 
blicklich weniger  um  den  Kampf  gegen  die  alte,  als  gegen  die 
neue  Einseitigkeit  handelt:  um  den  Kampf  gegen  diejenigen,  die 

244 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

die  Erhabenheit  unseres  Volkes  zerpulvern  wollen  oder  unbe- 
wußt an  dieser  Zerpulverung  arbeiten.  Oder  wenn  man  den  Beob- 
achtungspunkt des  Mitbeteiligten  aufgibt:  überhaupt  nicht  um 
den  Kampf,  sondern  darum,  daß  die  Wiederbesinnung  des 
jüdischen  Volkes  auf  seine  Gottesvolkschaft  und  die  Notwendig- 
keit, sie  wieder  einmal  fortschreitend  und  gestaltend  zu  be- 
tätigen, auf  der  Tagesordnung  steht. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sehe  ich  nun  vor  allem  auch 
auf  die  Sprachenfrage. 

Gewiß  lassen  es  schon  Erfahrungen  und  Erwägungen  ein- 
fachster Art  als  mehr  denn  unwahrscheinlich  erscheinen,  daß 
Hebräisch  jemals  noch  die  gesprochene  Sprache  des  ganzen  jü- 
dischen Volkes  oder  auch  nur  eines  größeren  Teiles  desselben 
werden  wird.  Nirgends  ist  die  gewaltige  Kraft  zu  sehen,  zu  fühlen, 
die  die  tausende  realen  Widerstände  überwinden  könnte.  Rein 
nationale  Empfindung  kann  auf  Grund  neuerer  Erfahrungen  und 
Entwicklungen  in  den  Massen  die  passive  Sprachbeharrlichkeit 
auslösen,  vermöge  deren  sie  an  ihrer  Muttersprache  trotz  der 
ökonomischen  Notwendigkeit,  auch  eine  andere  zu  beherrschen, 
festhalten.  Sie  kann  aber  auf  Massen,  noch  dazu  eines  verstreuten 
Volkes  kaum  so  mächtig  einwirken,  daß  sie  im  Wirbel  des  öko- 
nomischen Lebens  soviel  Selbstdisziplin  und  Energie  aufbringen, 
um  eine  nicht  gesprochene  Sprache  neben  die  Sprache  des  öko- 
nomischen Interesses  und  an  die  Stelle  der  übrigens  oft  auch  im 
Wirtschaftsleben  ausreichenden  Sprache  der  häuslichen  Gewohn- 
heit zu  setzen. 

Aber  mehr  als  alle  diese  Erwägungen  gibt  den  Ausschlag,  daß 
die  völlige  Wiederbelebung  der  hebräischen  Sprache  ein  in  seinen 
Grundzügen  echt  maskilisches,  echt  rationalistisches,  schablonen- 
haft rationalistisches  Ideal  ist,  das  den  innersten  Lebens-  und 
Entwicklungsgesetzen  des  jüdischen  Volkes  widerspricht  und 
daher  schon  von  dem  Instinkte  des  Volkes,  wie  es  heute  ist,  ge- 
schweige, wie  es  in  Zukunft  durch  seine  große  Wiederbesinnung 
werden  soll,  abgelehnt  werden  muß. 

Das  Volk  liebt  Hebräisch.  Gewiß!  Aber  gerade  das  nicht  mehr 
gesprochene,  das  gebetete  und  das  auf  dem  Wege  religiösen  und 
religionsgesetzlichen  Studiums  von  Geschlecht  zu  Geschlecht 
weitergepflanzte,  teilweise    auch    weiter  entwickelte  Hebräisch, 

245 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

übrigens  einschließlich  der  talmudisch-aramäischen  Sprache.  Das 
Volk  fühlt  und  wird  es  früher  oder  später  noch  mehr  fühlen, 
daß  es  in  diesem  Hebräisch,  gerade  durch  seine  Kanonisierung, 
gerade  durch  seine  Verewigung,  gerade  durch  sein  Eingehen  in 
das  ewige  Leben  ein  reiches  nationalreligiöses  Gut  besitzt.  In 
seiner  Ehrfurcht  vor  dieser  Ewigkeit  und  Heiligkeit  des  He- 
bräischen kann  das  Volk  wohl  noch  Interesse  für  diejenigen 
gewinnen,  die  sich  gedrängt  fühlen,  weltliche  Literatur  in  he- 
bräischer Sprache  zu  schreiben  oder  in  hebräische  Sprache  zu 
übersetzen,  —  wobei  die  Tatsache  des  Nichtgesprochenwerdens 
den  Dichtern  ohnehin  gewisse  Grenzen  zieht.  Aber  weiter  wird 
das  Volk  niemals  gehen,  weil  es  Angst  hat  und  immer  heiben  wird, 
daß  durch  ein  Hebräisch,  welches  etwa  mit  dem  Ansprüche  einer 
ausschließlichen  oder  auch  nur  vorzugsweisen  Literatursprache, 
oder  gar  des  Gesprochenwerdens  auftritt,  seinem  Hebräisch,  dem 
ewigen,  dem  unsterblichen,  Abbruch  getan  werden  könnte.  Das 
Volk  fühlt  eben,  woher  der  Wind  weht;  es  fühlt,  daß  die  Idee 
des  wieder  gesprochenen  Hebräisch  —  ganz  abgesehen  von  der 
augenscheinlichen  Unausführbarkeit  des  Planes  —  nichts  anderes 
ist  als  ein  Glied  mehr  in  der  Kette  jener  Bestrebungen,  die  be- 
wußt oder  unbewußt  darauf  abzielen,  das  Heiligkeitskapital  des 
Judentums  zu  vermindern,  sein  Erbe  aus  der  großen  national- 
religiösen Epoche  zu  verweltlichen,  es  gründlich  zu  verphilistern. 
Nun  ist  ja  freilich  ein  derartiges  geistliches  Gut,  wie  die 
hebräische  Sprache,  nur  als  eine  Zugabe  möglich,  die  eine  in  so 
eminentem  Maße  geistlich  gestimmte  Nation,  wie  die  jüdische 
allen  anderen  Nationen  voraus  hat.  Und  als  Zugabe  kann  sie  na- 
türlich nicht  die  lebende,  zeitlich  lebende,  kann  sie  nicht  jene 
Sprache,  die  auch  die  weltlichen  Bedürfnisse  befriedigt,  für 
das  religiöse  Leben  entbehrlich  machen,  zumal,  wenn  dieses  in 
eine  Epoche  der  Steigerung  und  des  Aufschwunges  eintreten 
soll.  Hierfür  aber  kann  erst  recht  nicht  ein  neues  Hebräisch 
in  Betracht  kommen,  das  man  erst  mühsam  aus  der  Retorte  des 
Philologen  und  philologischen  Amateurs  in  den  Mund  und  Sinn 
des  Volkes  bringen  will,  sondern  nur  eben  seine  Sprache,  die 
Sprache,  die  es  spricht,  die  aus  seinen  verstecktesten,  geheimsten 
Seelenfasern  Zufluß  erhält.  Und  das  ist  eben  für  drei  Viertel 
unseres  Volkes  —  und  gerade  für  jene  drei  Viertel,   die  noch 

246 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

einzig  und  allein  vollblütiges  und  keimkräftiges  Judentum  vor- 
stellen, —  die  gesprochene  jüdische  Sprache,  für  die  ja  insofern 
auch  schon  die  ersten  Verkünder  des  Chassidismus  Zeugnis  ab- 
gelegt haben. 

Unsere  alten  und  neuen  Maskilim,  —  die  assimilatorischen 
sowohl  als  die  nationalistischen,  die  bewußten  sowohl  als  auch 
viele,  die  die  maskilische  Erbschaft  längst  überwunden  zu  haben 
glauben,  während  sie  ihnen  im  Blute  liegt,  —  fanden  aller- 
dings an  dieser  Sprache  keinen  Gefallen.  Sie  haben  ihr  sogar 
den  entehrenden,  völlig  unzutreffenden  Namen  „Jargon"  bei- 
gelegt. Aber  das  Volk  hat  ja  gar  keinen  Anteil  an  dieser  kleinen, 
zur  höheren  Ehre  des  Götzen  Haskoloh  begangenen  Geschichts- 
fälschung. Und  von  ihnen  selbst  kann  doch  niemand  verlangen, 
daß  sie  in  der  Herauskristallisierung  des  Jüdischen  aus  der 
deutschen  Sprache  die  W^irksamkeit  der  jüdischen  Volksenergie 
erkennen.  Oder  daß  sie  sich  etwa  gar  darüber  freuen  sollen, 
daß  uns  der  Genius  unserer  Geschichte  zwei  Sprachen  ge- 
schenkt hat:  Eine  ewige,  wie  sie  sich  für  das  ewige  Volk 
ziemt,  und  eine  zeitliche,  mit  der  es  gleich  anderen  Völkern 
Ewigkeit  und  Zeit  auf  seine  Weise  erleben,  miteinander  im 
Leben  verbinden  kann?  Wie  sollen  sie  derlei  erkennen  und  emp- 
finden? Dann  wären  sie  ja  keine  Maskilim  mehr,  und  dürften 
nicht  mehr  Altertum  einfach  kopieren,  dürften  nicht  mehr  neue 
Seeleninhalte  bagatellisieren,  dürften  nicht  mehr  Ewigkeit  in  Zeit 
zurückschmelzen  wollen,  nicht  mehr  jungen  Kulturtrieben,  Kul- 
turformen, Kulturwerten  mit  der  Frage  nach  dem  Paßport  und 
dem  Geburtsschein  entgegentreten. 

Ich  bin  nun  aber  kein  Maskil,  und  glaube  daher  an  die  Kraft, 
Bedeutung  und  Zukunft  der  jüdischen  Sprache  für  die  geist- 
liche und  für  die  weltliche  Seite  des  jüdischen  Volkslebens,  —  für 
die  weltliche  besonders  auch  als  Basis  kultureller  Schöpfungen 
und  als  Grundlage  autonomer  Berechtigungen.  Und  ebenso 
glaube  ich  als  Nicht-Maskil  an  die  Kraft,  Bedeutung  und  Ewig- 
keit des  Hebräischen.  Weil  ich  jedoch  beide  Sprachen  als 
Notwendigkeiten  vor  mir  sehe,  jede  mit  ihren  Wirksamkeiten 
und  Kompetenzen,  und  weil  ich  überzeugt  bin,  daß  die  Haskoloh 
nun  endlich  doch  ihrem  Ende  entgegengeht,  glaube  ich,  daß  das 
Leben  den  angeblichen  Widerstreit  von  Hebräisch  und  Jüdisch 

2^7 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

schlichten  wird.  Ich  glaube  daran  voll  und  ganz,  und  mit  inniger 
Freude,  daß  ich  daran  glauben  kann. 

Ich  bin  kein  Maskil.  Ich  bin  es  nicht  mehr.  Schritt  für  Schritt 
bin  ich  auf  dem  Wege  von  der  konstruierten  abstrakten  Natio- 
nalität zur  lebendigen,  konkreten  Volkstümlichkeit  vorwärts- 
gegangen, bis  ich  gewürdigt  wurde,  auch  den  letzten  gehen  zu 
dürfen.  Und  diesem  letzten  Schritte  gemäß  weise  ich  hier  über- 
haupt ein  sogenanntes  rein  Aveltliches  Judentum  zurück,  ebenso 
wie  ich  ein  sogenanntes  rein  geistliches  zurückweise.  Weder  in 
dem  einen  noch  in  dem  andern  allein  wird  sich  das  Judentum 
seinem  Wesen  nach  ausleben.  Sein  Geist  wird  nicht  eher  sieg- 
reich sein,  ehe  er  nicht  auch  auf  eine  breite,  große  Weltlichkeit 
scheinen,  ehe  er  sich  nicht  in  ihr  widerspiegeln  und  sie  als  seine 
Lebensprojektion  ausweisen  kann.  Und  niemals  wird  das  jüdische 
Volk,  wie  es  einmal  ist,  laut  dem  Genius,  der  seit  unvordenklichen 
Zeiten  in  seine  Seele  versenkt  ist,  große,  breite  Weltlichkeit  er- 
reichen, wenn  es  ihm  nicht  gelingt,  von  diesem  seinen  Genius 
die  letzten  Früchte,  die  tiefsten,  reinsten  und  reichsten  Ekstasen 
zu  gewinnen. 

Ich  glaube  nicht  an  ein  durchaus  nach  der  rationalistischen 
Schablone  verweltlichtes  Judentum,  das,  wenn  es  sich  wirklich 
durchsetzte,  nur  eine  lächerliche  Karrikatur,  ein  hohles,  aufge- 
blasenes, spreizbeiniges  Ding  wäre,  eine  Art  Organisation  höch- 
stens für  Verewigung  des  Journalismus,  des  Dilettantismus,  der 
leeren  Moralphrase,  der  klebrigen,  süßlichen  Geistreichelei,  die 
uns  heute  schon  genug  schänden.  Ich  fühle  vielmehr,  speziell 
im  jüdischsprechenden  Judentum,  als  dem  lebendigsten,  verant- 
wortlichsten Teile  des  jüdischen  Volkes,  ruhende  Kräfte  er- 
wachen. Ich  höre  die  verhaltene  Stimme  der  Empörung  gegen 
die  Mißhandlung  unseres  Genius  und  glaube  voll  und  ganz  an 
das  wahrhaft  Große,  das  uns  bevorsteht. 

Nein,  der  Genius  unseres  Volkes  wird  nicht  abdanken.  Es 
wird  den  Maskilim  nicht  glücken,  den  Ewigkeitsatem  in  uns  zu 
ersticken,  die  Schaffensquellen  zu  verstopfen.  Aber  es  wird  auch 
nicht  bleiben  können  bei  der  Ruhe  und  Schlafseligkeit,  der  sich 
unser  geistliches  Genie  seit  so  langer  Zeit  hingegeben  hat,  und 
wodurch  jene  zu  ihrem  Vorgehen  quasi  berechtigt  wurden.  Das 
von  Israel  Baalschem  und  seinen  nächsten  Nachstrebenden  verfrüht 

248 


DAS  ERWACHEN  DER  JÜDISCHEN  SEELE 

und  deshalb  mit  unzureichenden  Mitteln  und  Horizonten  versuchte 
und  später  noch  überdies  durch  den  Zaddikismus  so  gründlich 
verdorbene  Werk  der  Verjüngung  unserer  Ewigkeit  der  Frucht- 
barmachung unserer  Heiligkeit,  der  Heiligung  und  so  einzig  mög- 
lichen Realisierung  unserer  Weltlichkeit,  wird  sicherlich  wieder 
aufgenommen  und  zu  besseren  Ergebnissen  geführt  werden. 

Ich  hoffe  und  glaube,  daß  in  einem  großen  Sturme  der  Seelen 
unser  geistlicher  Genius  wieder  erwachen  und  in  einer  mächtigen 
Konzeption  für  Jahrtausende  unserem  Volke  eine  neue  und  un- 
geahnte plastische  Kraft  verleihen  wird.  Tausend  Ströme  der 
Befruchtung  werden  aus  unbekannten ,  bisher  schutt-  und 
schmutzbedeckten  Tiefen  unserer  Seele  hervorbrechen  und  sich 
gestaltend  über  unser  Gesamtheitsleben  und  das  Leben  jedes  ein- 
zelnen ergießen.  Dann  werden  wir  nicht  mehr  sein  die  ewig 
stümpernden  Projektenmacher  einerseits,  und  Spielbälle  anderer- 
seits in  den  Händen  entfremdeter,  entjüdischter  ,, Versorger"; 
nicht  mehr  sein  die  öden,  selbstgefälligen  Journalistennaturen, 
nicht  mehr  sein  die  naseweisen,  beschränkten  Ausschroter  von 
Broschüren-  und  Enzyklopädienweisheit.  Unsere  Massen  werden 
nicht  mehr  in  Sackgassen  ohne  Horizonte  verkümmern  und  nicht 
mehr  dem  Partei-Idiotismus  auf  der  einen  und  dem  niedrigsten 
Opportunismus  auf  der  andern  Seite  entgegenreifen.  Sondern 
die  Gabe  des  Bauens,  des  ahnungsvoll  gestaltenden,  organischen 
Bauens  wird  uns  wieder  gegeben  sein.  Bauen  werden  wir  mannig- 
fache politische,  kulturelle  und  ökonomische  Grundlagen  für  die 
Erhöhung  unserer  inneren  und  äußeren  Würde,  schaff en  Werke 
der  großen  Kunst,  pflanzen  Freude,  Freiheit  und  Schönheit  im 
Volke.  Und  Beispiele  !w^erden  wir  werden  für  den  Weg  der 
Menschheit  zu  Gott  und  zu  ihrer  inneren  Adelung. 

Ich  übersehe  keineswegs,  wie  verschieden  die  Gegenwart  von 
solcher  Zukunft  ist.  Ich  sehe  den  ganzen  Jammer  unseres  Volkes, 
den  äußeren  und  den  inneren,  die  Kleinheit  der  einzelnen  und 
die  Unzulänglichkeit  der  Gesamtheit.  Ich  sehe  aber  auch  den 
Genius  im  Volke;  ich  sehe,  wie  er  auf  den  Augenblick  wartet, 
wo  er  wieder  frei  werden  kann,  um  neue  wunderbare  Volks- 
und Menschheitswerte  zu  schaffen.  Vielleicht  ist  dieser  Augen- 
blick näher  als  man  ahnt.  Mich  dünkt  er  jedenfalls  nahe,  und 
ich  lebe  ihm  sehnsüchtig,  gläubig  und  lauschend  entgegen. 


Sind  das  Retzergedanken? 

Von  Gustav  Landauer 

rLin  Kennzeichen  unserer  Zeit  ist,  daß  vieles  im  Geiste,  aber 
wenig  in  Wirklichkeit  fertig  wird.  Vielleicht  entspricht  sogar 
dem  Mangel  an  tatsächlicher  Durchsetzung  eine  besondere  Reg- 
samkeit des  Geistes,  der  fortwährend  darauf  aus  ist,  seine  eigenen 
Gestaltungen,  ohne  daß  sie  die  Form  der  Phantasie  und  der 
Doktrin  verlassen,  zu  überwinden.  Man  könnte  sich  eine  also 
beschaffene  Gesellschaft  der  Menschen  denken,  daß  die  Ideen 
in  ihr  Werkzeugcharakter  hätten,  d.  h.  daß  sie  wie  ein  Spaten 
oder  ein  Fahrzeug  nur  im  Gebrauch  Sinn  und  Leben  hätten  und 
auch  nur  durch  die  Anwendung  sich  abnutzen  könnten.  Bei  uns 
haben  die  Ideen  die  Art  nicht  von  dienenden  Werkzeugen,  son- 
dern von  Gestalten  eines  Dramas,  das  sich  in  der  Luft  abspielt: 
die  Ideen  wandeln  sich,  bekämpfen  einander,  bringen  einander 
und  sich  selber  um,  setzen  natürliche  und  unnatürliche  Kinder 
in  die  Welt,  und  derweile  liegt  die  Wirklichkeit  stumpf  und 
geistlos  da  und  kommt  nicht  von  der  Stelle.  Fast  unser  gesamtes 
Parteiwesen  ist  eine  solche  dramatische,  meist  tragikomische  Fata 
morgana  als  Ersatz  wirklicher  Lebensdramatik. 

Man  betrachte  einmal  z.  B.  die  Geschichte  des  Sozialismus  von 
diesem  Standpunkt  aus.  Ist  es  nicht  die  Geschichte  einer  mit 
lebhaften  Fiebergesichten  verbundenen  Gelähmtheit?  Fast  die 
einzige  Wirklichkeit,  die  in  dieser  langen  Geschichte  zu  gewahren 
ist,  ist  die  sogenannte  soziale  Gesetzgebung,  das  Arbeiterschutz- 
und  Versicherungswesen,  das  der  Realpolitiker  Bismarck  begann. 
Die  Untätigkeit  aber  im  Lager  der  eigentlichen  Sozialisten  ist  so 
stark,  und  die  Hemmungen,  die  sie  vor  allem  in  sich  selber  vor- 
finden, sind  so  gewaltig,  daß  eine  eigene  Theorie,  die  Entwicke- 
lungslehre  der  Marxisten,  erfunden  Averden  mußte,  damit  die 
Idee  sich  selber  ui)d  ihr  eigenes  Scheinleben  ertrug. 

Hier  waltet  ein  Verhängnis  über  unserer  Zeit.  Die  Ideen,  die 
in  den  einzelnen  entstehen,  sind  sozialer  Natur,  d.  h.  es  ersteht 
ein  Plan  im  Geist  eines  Individuums,  der  sich  aber  nur  durch- 
führen läßt,  ja  der  erst  Blut  und  Nerv  gewinnt  durch  die  Be- 
teiligung vieler  am  Beginn.  Da  kommt  Theodor  Hertzka  oder 
Silvio  Gesell  oder  Franz  Oppenheimer  oder  Josef  Popper  nach 
intensivem  Miterleben   unserer   drückenden  und  beschämenden 

25o 


SIND  DAS  KETZERGEDANKEN? 

Zustände,  und  jeder  von  einem  andern  Erleben,  Denken  und 
Wünschen  her  sagt  schlicht,  klar,  eingehend,  was  zu  tun,  gleich 
jetzt  zu  tun  sei.  Aber  sie  haben  in  die  Luft  gesprochen,  und  ihr 
ganzer  Erfolg  wäre  etwa,  daß  ihre  Anhänger  einander  gegen- 
seitig totreden. 

Möglich,  daß  dieser  Zustand  eine  Blüte  starker  Kunst  herbei- 
führt. Denn  produktiv  geladene  Naturen,  die  solche  Verein- 
samung erleben,  mögen  schließlich  erkennen,  daß  der  Gegen- 
satz zwischen  der  individuellen  Form  und  dem  sozialen  Inhalt 
ihrer  Idee  die  Schuld  an  dem  tragischen  Mißverhältnis  trägt. 
Schöpferisch  und  aktiv  wie  sie  sind,  mag  ihnen  nichts  übrig 
bleiben,  als  in  ihre  Idee  die  Erfüllung  mit  hineinzunehmen  und 
also  allein  in  der  Phantasie  zu  vollbringen,  was  in  Wirklichkeit 
nur  die  vereinte  Kraft  stark  Fortgerissener  tun  könnte. 

Ich  glaube  zu  gewahren,  daß  auch  die  Idee  der  Erneuerung 
des  Judentums  keinen  andern  Gang  geht  als  diesen.  Noch  ist 
nicht  der  kleinste  Anfang  einer  Verwirklichung  da,  und  schon 
nimmt  der  Parteienkampf  alles  vorweg,  was  irgend  an  Wirk- 
lichkeiten aufeinander  folgen  könnte.  Man  nehme  alle  Parteien, 
die  es  in  irgendwelchen  Nationen  gibt,  und  sehe  zu,  ob  die 
jüdische  Nation,  die  noch  gar  keine  äußere  Gestalt  hat,  nicht 
noch  ein  paar  mehr  hat  als  sie  alle  zusammengenommen.  Kenn- 
zeichnend für  das,  was  hier  Partei  genannt  wird,  ist  eine  Art 
masturbierende  Selbstbefriedigung  der  sogenannten  Bewegung 
in  sich  selbst;  die  Partei  ist  wie  ein  Binnensee,  in  den  die  Idee 
eingeströmt  ist,  aus  dem  sie  aber  nicht  wieder  hervorkommt. 
Die  Aktivität  der  Idee  verwandelt  sich  so  in  die  unpsychologische 
und  lieblos  verketzernde  Unduldsamkeit  der  Partei.  Haben  nun 
die  andern  Nationen  wenigstens  das  Scheingebilde  ihres  Staates, 
so  daß  sich  die  Politik,  der  Schein  der  Wirklichkeit,  aus  all 
dem  Streit  der  Unfruchtbarkeit  ergibt,  so  geht  der  Schemen- 
kampf der  sich  selbst  verzehrenden  jüdischen  Ideologie  in  noch 
dünnerer  Luft  vor  sich:  es  wird  um  Auffassungen,  um  ein  un- 
endlich variables  und  variiertes  ,,Wenn  ..."  gestritten.  Welches 
soll  die  Sprache  sein,  wenn  wir  in  Zion  sind?  Welches  werden 
die  gemeinsamen  Sitten  und  Bräuche  sein?  Ich  zweifle  nicht, 
daß  schon  irgendwo  untersucht  worden  ist,  ob  die  Schweinezucht 
zulässig  sein  wird. 

25l 


SIND  DAS  KETZERGEDANKEN? 

Dazu  kommt  noch  ein  sehr  Wichtiges.  Je  stärker  wir  uns 
unserer  jüdischen  Nationalität  bewußt  werden,  um  so  mehr 
werden  wir  uns  ihrer  als  einer  Tatsächlichkeit  bewußt,  die  erst 
dann  volles,  schönes,  strömendes  und  all  unser  Wesen  erfüllendes 
Leben  hat,  wenn  wir  es  nicht  mehr  nötig  haben,  sie  mit  dem 
Bewußtsein  zu  halten  und  zu  umklammern.  Die  starke  Betonung 
der  eigenen  Nationalität,  auch  wenn  sie  nicht  in  Chauvinismus 
ausartet,  ist  Schwäche.  Schreibt  ein  Deutscher  über  die  Ro- 
mantik oder  den  Sozialismus  oder  die  Erhaltung  der  Energie,  so 
schreibt  er  eben  über  die  Romantik  oder  den  Sozialismus  oder 
die  Erhaltung  der  Energie.  Der  bewußte  Jude  schreibt  über. Ro- 
mantik und  Judentum,  über  Sozialismus  und  Judentum,  über 
die  Erhaltung  der  Energie  und  das  Judentum  und  auch  noch 
über  das  Radium  und  das  Judentum,  Aber  auch  hier  geht  der 
Kreislauf  der  Idee,  im  Geiste  verharrend,  ohne  eine  Verwirk- 
lichung äußerer  Art  auch  nur  zu  berühren,  rasch  vor  sich.  Schon 
sind  wir  dieser  unausgesetzten  Betonung  dessen,  was  nur  wahr 
und  wertvoll  ist,  wenn  es  selbstverständlich  ist,  müde.  Schon 
erkennen  wir,  daß  unser  Judentum  zu  den  Dingen  göttlichen 
Unwissens  gehört,  von  denen  Meister  Eckhart  sagt:  ,,Der 
Mensch  ist,  das  muß  wahr  sein,  ein  Tier,  ein  Affe,  ein  Tor,  so- 
lange er  im  Unwissen  verharrt.  Das  Wissen  aber  soll  sich  formen 
zu  einer  Überform,  und  dies  Unwissen  soll  nicht  vom  Nicht- 
wissen kommen,  vielmehr:  vom  Wissen  soll  man  in  ein  Un- 
wissen kommen.  Dann  sollen  wir  wissend  werden  des  göttlichen 
Unwissens,  und  dann  wird  unser  Unwissen  geadelt  und  geziert 
mit  dem  übernatürlichen  Wissen!"  Uns  allen  war  es  Bereiche- 
rung und  Erhöhung  und  Befestigung  unserer  Tatsächlichkeit,  als 
wir  anfingen,  mit  vollem  Bewußtsein  Juden  zu  sein.  Aber  jetzt 
sind  wir  es  so  sehr,  daß  wir  wissen:  wir  sind  es  in  jeder  geistigen 
und  seelischen  Regung  und  Tätigkeit,  und  sind  es  dann  am 
wenigsten,  wenn  wir  das  Judentum  für  sich  allein  betonen. 
Nation  ist  eine  Bereitschaft  oder  Disposition,  die  dürr  und  hohl 
und  klappernd  wird,  wenn  sie  ohne  Verbindung  mit  der  Sach- 
wirklichkeit, mit  Aufgaben  und  Arbeiten  auftritt  und  wenn  sie 
anderes  ist  als  deren  Ursprung  und  Tönung. 

Noch  mehr  also  kommt  dazu.  Keiner,  der  eine  Aufgabe  in  sich 
spürt,  die  ihm  die  Frage,  wozu  er  lebe,  erspart,  vermag  es,  in 

202 


SIND  DAS  KETZERGEDANKEN? 

suspenso  zu  leben.  Man  wirkt  aus  dem  Grunde  seiner  Nationalität 
heraus  für  eine  Sache,  die  wohl  verschiedene  Verzweigungen  und 
Benennungen  hat,  aber  in  aller  Vielfältigkeit  die  Sache  der 
Menschheit  ist,  die  zur  W^irklichkeit  werden  soll.  Wiewohl  für 
diesen  Kampf  und  Aufbau  all  das  gilt,  was  eben  über  die  Selbst- 
verzehrung  der  Idee  gesagt  worden  ist,  gibt  es  doch  eine  Schar 
von  solchen,  die  sich  bereit  halten  und  als  Zusammengehörige 
fühlen.  Nicht  nur,  daß  sie  aus  allen  Nationen  kommen  und  sich 
eins  und  neu  fühlen;  zu  wenig  gesagt;  sie  fühlen  sich  so  durch 
das  Band  des  Geistes  verbunden  und  von  denen,  die  nicht  mit- 
gehen, getrennt,  wie  wenn  sie  eine  neue  Nation  wären.  Und  sie 
nehmen  das  Beste,  was  sie  von  ihrer  alten  Nationalität  fühlen, 
mit  in  diese  neue  auf.  In  jedem  Volk  sind  heute  entscheidende 
Trennungen  zwischen  den  Vielen  und  den  W^enigen;  und  dieser 
Riß  geht  durchs  Judentum  wie  durch  die  andern  Völker.  In  der 
neuen  Nation,  die  im  Werden  ist,  sind  freilich  eine  überwiegend 
große  Zahl  Juden;  aber  diese  Juden  fühlen  sich  als  Einheit,  als 
einen  Bund,  der  seinen  Beruf  an  der  Menschheit  zu  erfüllen 
hat;  und  je  mehr  sie  das  in  sich  spüren,  um  so  mehr  ist  für  sie 
Zion  schon  lebendig.  Denn  was  anders  ist  die  Nation,  als  ein 
Bund  solcher,  die  von  verbindendem  Geist  geeint  in  sich  eine 
besondere  Aufgabe  für  die  Menschheit  spüren?  Nation  sein  heißt 
ein  Amt  haben. 

Was  da  geschildert  wird,  ist  ein  neues  Gebilde,  etwas  wie  eine 
werdende  Nation,  die  sich  als  neue  Gemeinschaft  zum  Aufbauen 
der  Anfänge  einer  gerechten,  einer  schöpferische  Kräfte  ent- 
fesselnden freien  Gesellschaft  empörerisch  allen  alten  National- 
staaten, dynastischen  Staaten,  Unrechts-  und  Gewaltstaaten  ent- 
gegenwirft. Sie,  die  so  das  Werdende  in  sich  spüren  und  das 
Schaffende  aus  sich  loslassen  wollen,  sind  bewußt  Abgesonderte, 
die  all  das  uralt  heilige  Gut  der  individuell  nationalen  Organi- 
sation ihrer  Leiblichkeit  und  Geistigkeit  in  den  Dienst  ihrer  vor- 
bildlichen Arbeit  an  der  Menschheit  stellen,  die  durch  sie  Wirk- 
lichkeit werden  soll.  Die  Bewußtheit  und  Betonung  dieser,  dieser 
erst  werdenden  Nation  ergibt  sich  als  immer  frische  Notwendig- 
keit, weil  hier  erst  aus  dem  Geiste  eine  Wirklichkeit  wachsen 
soll.  Wir  Juden  nun,  die  wir  geworden  werdende  Juden  sind, 
können  da  nicht  zweierlei  und  getrenntes  in  uns  finden;  die  neu 

253 


SIND  DAS  KETZERGEDANKEN? 

werdende  Als-ob-Nation,  von  der  hier  gesprochen  wird,  und  das, 
was  uns  eint,  wenn  wir  aussprechen  wollen,  was  wir  als  Juden 
sind,  das  beides  ist  ein  und  dasselbe.  Wir  haben  uns  abgetrennt 
und  finden  uns  beisammen;  der  Dienst  an  der  Menschheit  treibt 
uns  und  unser  Geist  lechzt,  mehr  und  anderes  zu  werden  als 
Geist:  Gesellschaft,  Volk,  Körperschaft,  Organismus.  So  daß, 
je  mehr  wir  unsere  Nation  aus  der  verborgenen  Stille  bloßer 
Tatsächlichkeit  zu  Worten  des  Willens  und  der  Wandlung  er- 
heben, je  mehr  wir  bewußte  Juden  werden,  die  unter  Judentum 
unser  Wesen  verstehen,  Judentum  für  uns  zusammenfällt  mit 
einer  sachlichen  Richtung  einer  Erfüllung  zu.  Je  völliger  und 
reiner  und  wirklichkeitsgesättigter  wir  dies  unser  Wesen  und 
Drängen  und  Wissen  und  Bereiten  aussprechen,  um  so  zuge- 
höriger werden  sie  aus  allen  Nationen  zu  uns  stoßen  und  uns 
in  liebevoller  Gemeinschaft  beibringen,  daß  das  uralt  Gewordene, 
das  wir  aus  unserer  Seele  emporheben,  der  Weg  der  werdenden 
Menschheit  ist,  daß  unserer  gemarterten  und  sehnsuchtsvollen 
Herzen  Tradition  nichts  anderes  ist  als  die  Revolution  und  Re- 
generation der  Menschheit.  Wie  ein  wilder  Schrei  über  die  Welt 
hin  und  wie  eine  kaum  flüsternde  Stimme  in  unserem  Innersten 
sagt  uns  unabweisbar  eine  Stimme,  daß  der  Jude  nur  zugleich 
mit  der  Menschheit  erlöst  Averden  kann  und  daß  es  ein  und  das- 
selbe ist:  auf  den  Messias  in  Verbannung  und  Zerstreuung  zu 
harren  und  der  Messias  der  Völker  zu  sein. 

Nation  sein  heißt  ein  Amt  haben;  und  wo  mein  Amt  ist,  da 
ist  mein  Vaterland.  Haben  wir  Abgesprengte  als  unser  Judentum 
den  Dienst  an  der  Umwandlung  der  Gesellschaft,  an  der  Be- 
gründung neuen  Volkes  und  allererst  neuer  Menschheit  entdeckt; 
haben  wir  gefunden,  daß  wir,  im  Suchen  nach  unserem  inneren 
Wesen,  der  grenzenlosen  und  schrankensprengenden  Erneuerung 
der  Völker  durch  die  Abstreifung  oberflächlicher  Gewaltbe- 
ziehungen und  die  Durchsetzung  echter  freudig-liebevoller  Ge- 
meinschaft begegnet  sind;  haben  wir  staunend  und  beglückt  als 
das  urältest  in  uns  Versenkte  nichts  anderes  als  all  die  ungeheuer 
mächtigen  und  innigen  Triebkräfte  der  Reinigung  zum  Licht 
gehoben,  —  wer,  der  soweit  ist,  wer  also,  der  der  Dumpfheit 
entronnen,  sich  selbst  vor  Augen  sieht  und  in  der  Hand  hält  als 
einen,  der  soll  und  will,  wer  wollte  da  nicht  als  den  Ort  seines 

254 


SIND  DAS  KETZERGEDANKEN? 

Wirkens  die  Welt  erkennen  und  als  seine  Welt  die  Gegenwart, 
in  der  es  zu  wirken  gilt? 

Kein  rechter  Mensch  vermag  es,  sich  nur  als  Brücke  für 
kommende  Geschlechter,  als  Vorbereitung,  als  Same  und  Dung 
zu  wissen;  er  will  selber  etwas  sein  und  leisten.  Mag  sein,  daß 
die  Muttersprache  irgendwelcher  aus  meinen  Lenden  entspros- 
senen Nachkommen  hebräisch  sein  wird;  es  rührt  mich  nicht; 
meine  und  meiner  Kinder  Sprache  ist  deutsch.  Mein  Judentum 
spüre  ich  in  meiner  Mimik,  in  meinem  Gesichtsausdruck,  meiner 
Haltung,  meinem  Aussehen  und  so  geben  diese  Zeichen  mir  die 
Gewißheit,  daß  es  in  allem  lebt,  was  ich  beginne  und  bin. 
Weitaus  mehr  aber  —  sofern  es  da  ein  Mehr  gibt  —  als 
Chamisso  der  Franzose  ein  deutscher  Dichter  war,  bin  ich, 
der  ich  ein  Jude  bin,  ein  Deutscher.  Deutscher  Jude  oder  russi- 
scher Jude  —  diese  Ausdrücke  empfinde  ich  als  schief,  ebenso 
wie  jüdischer  Deutscher  oder  Russe.  Ich  weiß  da  von  keinem 
Abhängigkeits-  oder  Adjektivitätsverhältnis;  die  Schickungen 
nehme  und  bin  ich,  wie  sie  sind,  und  mein  Deutschtum  und 
Judentum  tun  einander  nichts  zuleid  und  vieles  zulieb.  Wie  zwei 
Brüder,  ein  Erstgeborener  und  ein  Benjamin,  von  einer  Mutter 
nicht  in  gleicher  Art,  aber  im  gleichen  Maße  geliebt  werden, 
und  wie  diese  beiden  Brüder  einträchtig  miteinander  leben,  wo 
sie  sich  berühren  und  auch,  wo  jeder  für  sich  seinen  Weg  geht, 
so  erlebe  ich  dieses  seltsame  und  vertraute  Nebeneinander  als 
ein  Köstliches  und  kenne  in  diesem  Verhältnis  nichts  Primäres 
oder  Sekundäres.  Ich  habe  nie  das  Bedürfnis  gehabt,  mich  zu 
simplifizieren  oder  durch  Verleugnung  meiner  selbst  zu  uni- 
fizieren; ich  akzeptiere  den  Komplex,  der  ich  bin,  und  hoffe  noch 
vielfältiger  eins  zu  sein  als  ich  weiß. 

Da  ich  aber  jetzt  lebe  und  wirke,  also  auch  als  Jude  jetzt  bin 
und  tue,  was  zu  tun  mir  obliegt,  kann  ich  mich  innerlich  nicht 
auf  eine  Sache  bereiten  wollen,  kann  den  Willen  zu  einer  neuen 
Vorkehrung  nicht  in  mir  finden,  die  einen  Teil  meines  Wesens 
auslöschen  oder  hemmen  würde. 

Andere  sind  anderer  Herkunft  und  haben  anderes  zu  be- 
schreiben. Sie  mögen  es  so  auf  richtig  tun  wie  es  hier  geschehen  ist. 
Noch  wieder  andere  sind  jetzt  dabei,  unsereins  beibringen  zu  wollen, 
wir  seien  eine  Halbheit  und  ein  Mischlingsprodukt  und  müßten 

255 


SIND  DAS  KETZERGEDANKEN? 

uns  in  Demut  vor  den  östlichen  Juden,  den  wahren  Juden,  beugen. 
Wer  so  geschwächt  ist,  daß  er  sich  selber  die  Existenzberech- 
tigung abzusprechen  meint,  soll  nicht  aufgehalten  werden.  Wir 
in  unsrer  Besonderheit  und  Vielfältigkeit  werden  unsre  östlichen 
Brüder  als  ebenfalls,  wennschon  in  anderen  Abstufungen,  Viel- 
fältige erkennen.  Russische  oder  polnische  Juden  gibt  es  nicht, 
wohl  aber  zumindest  dreifach  mit  Nationalität  Gespeiste:  denn 
sie,  die  Östlichen,  sind  Juden  und  sind  Russen  oder  Polen  oder 
Litauer  und  sind  Deutsche  eines  besonderen  Schlages  (Mittel- 
hochdeutsche, Jiddisch-Deutsche)  zugleich.  Trotz  allen  Ver- 
folgungen und  Entbehrungen  fühlen  sich  die  aus  Rußland 
stammenden  Juden,  wenn  sie  bei  uns  wohnen,  wie  heimatlos  und 
im  Elend,  nicht  bloß  und  oft  nicht  in  erster  Linie,  weil  sie  unter 
uns  die  ihnen  gewohnten  jüdischen  Bräuche  vermissen,  sondern 
weil  ihnen  das  russische  Milieu,  die  spezifisch  russische  Güte 
und  Weichheit  fehlt;  und  wenn  sie  nicht  die  russische  Zigarette 
und  den  Samowar  und  manche  Einrichtung  russischen  Gemein- 
schaftslebens auch  bei  uns  haben  könnten,  vermöchten  sie  es  nicht 
bei  uns  auszuhalten. 

Mag  sein,  daß  eine  Entwicklung  kommt,  die  das  Jüdische  so 
um  sich  greifen  läßt,  daß  unser  Deutschtum,  jener  Russentum 
erdrückt  wird;  mag  sein,  daß  ein  hebräisches  Judentum  kommt, 
das  das  jiddische  vertilgt.  Bloß  —  wer,  der  sich  zu  sich  selbst  be- 
kennt, wer,  der  sich  in  all  seiner  Vielfältigkeit  als  eins  und 
einmalig,  als  an  seiner  Stelle  zum  Dienst  an  der  Menschheit 
berufen  fühlt,  kann  es  wünschen  und  herbeiführen  wollen? 
Nur  die  Doktrinäre  könnten  es  wollen;  doktrinär  ist,  wer 
das  Eine  so  für  das  All  nimmt,  daß  er  die  andern  Offen- 
barungen des  Einen  mißachtet  und  unterdrückt;  wehrt  sich 
aber  nicht  gerade,  was  wir  jüdisch  in  uns  finden,  gegen  die 
kalte  Lieblosigkeit  und  das  dumme  Verstandestum  des  Doktri- 
narismus? 

Nur  geworden-werdendes  lebt;  nur  wer  in  seiner  Gegenwart 
und  Wirklichkeit  Vergangenheit  und  Zukunft  in  eins  begreift, 
nur  wer  sich  selber,  wie  er  wahrhaft  und  ganz  ist,  mitnimmt  auf 
die  Reise  nach  seinem  gelobten  Land,  in  dem  nur  scheint  mir  das 
Judentum  ein  lebendiges  Gut  zu  sein.  Die  Nationen,  die  sich  zu 
Staaten  abgegrenzt  haben,    haben  draußen  Nachbarn,    die  ihre 

256 


SIND  DAS  KETZERGEDANKEN? 

Feinde  sind;  unsere  Nation  hat  die  Nachbarn  in  der  eigenen 
Brust;  und  diese  Nachbargenossenschaft  ist  Friede  und  Einheit 
in  jedem,  der  ein  Ganzer  ist  und  sich  zu  sich  bekennt.  Sollte 
das  nicht  ein  Zeichen  sein  des  Berufs,  den  das  Judentum  an  der 
Menschheit,  in  der  Menschheit  zu  erfüllen  hat? 


17 


267 


Jüdische  Kunst 

Von  Moritz  Heimann. 

rLs  gibt  jüdische  Künstler;  das  sind  Künstler,  die  Juden  sind; 
oder  Juden,  die  Künstler  sind.  Jeder  Fall  der  Art  ist  ein  einzelner 
Fall.  Die  Kunst  selbst  —  die  nach  dem  wahren  Sprichwort  lang, 
indessen  das  Leben  kurz  ist  —  hat  göttliche  Macht  genug,  dafür 
zu  sorgen,  daß  jeder,  der  ihr  verfällt,  vollauf  damit  zu  tun  hat, 
ihr  Gebot  zu  erfüllen.  Wenn  die  Stunde  des  Ermattens  Zaudern, 
Zweifel  und  schlechtes  Gewissen  bringt,  so  wird  der  Künstler 
daraus,  daß  er  Jude  ist,  sich  das  Gift  so  gut  saugen,  wie  aus 
jeder  andern  Tatsache  seines  Schicksals,  und  wird  auch  dieses 
Gift,  wie  ein  anderes,  zu  einem  heilsamen  oder  einem  zerstören- 
den machen,  je  nach  dem  Glück  und  der  Kraft  seines  Geistes. 
Immer  bleibt  es  ein  einzelner,  ein  besonderer  Fall.  Wie  sehr 
der  zuschauende  Müßiggang  oder  die  ungebetene  Wissenschaft 
es  zu  einem  generellen  Fall  machen  möchte,  der  Künstler  selbst 
wird  niemals  damit  einverstanden  sein.  Er  wird  nie  erlauben, 
daß  ein  ewig  unentscheidbares  Verhältnis  von  kurzer  Hand 
entschieden  werde,  das  nämlich  zwischen  dem  einzelnen 
Willen  des  Künstlers  und  seiner  unendlichen  Verpflichtung 
gegen  die  Jahrtausende,  die  ihre  Sprache,  Fertigkeiten  und 
Verwandlungen  in  das  große  Element  geleitet  haben,  das  ihn 
trägt. 

Hiergegen  sich  wehren,  heißt  den  Fluß  bergan  treiben  —  eine 
Beschäftigung  für  Don  Quixote,  der  übrigens  ein  ehrenwerter 
Mann  ist.  Kein  jüdischer  Künstler  von  heute  hat  eine  so  allgemein 
als  rassig  anerkannte  Physiognomie,  wie  Liebermann;  keiner  ist 
über  den  Verdacht  der  würdelosen  Assimilation  so  erhaben; 
aber  wenn  er  malt,  hat  er  ein  ,,treu  holländisch"  Auge.  Wer 
in  seinen  Bildern  den  Juden  sieht,  Bartels  von  hüben  und  Bartels 
von  drüben,  betrügt  sich,  wie  der  Lichtenbergsche  Neunmalkluge: 
Wenn  man  weiß,  daß  einer  blind  ist,  glaubt  man,  man  sieht  es 
ihm  von  hinten  an.  Hebbel,  der  über  jedes  Ding  auf  Erden,  das 
ihn  angeht,  spricht,  spricht  von  keinem  so  wenig  wie  von  seinem 
Dithmarschentum ;  das  blieb  seinem  Landsmann  vorbehalten  — 
wir  wollen  uns  vor  derlei  Landsmannschaft  hüten. 

Aber  lassen  wir  die  Beispiele,  und  lassen  wir  die  Künstler.  Die 
junge  jüdische  Bewegung  sorgt  um  das  weitere  Problem,  sie  dis- 

258 


JÜDISCHE  KUNST 

kutiert  eine  jüdische  Kunst;  fragen  wir  uns  also,  ob  eine  solche 
möglich  sei,  das  heißt:   welches  Merkmal  ihr  zukäme. 

Nicht  der  jüdische  Stoff  an  sich  würde  ihr  den  Charakter 
geben;  der  altjüdisch  heroische  nicht,  der  Gemeingut  aller  Lite- 
raturen ist;  aber  auch  der  moderne  nicht,  der  die  betreffenden 
Werke  immer  nur  zu  Spezialfällen  einer  sozialen  Kunst  zu 
machen  imstande  ist.  (Auch  ein  Thorarollenschreiber  von  Israels 
ist  nur  eine  besondere  Art  von  altem  Manne.)  Die  Form  wiederum 
manifestiert,  so  bald  und  so  lange  die  nationale  Gebundenheit 
nicht  mehr  eng  ist  —  das  gilt  nicht  bloß  für  Juden,  sondern 
allgemein  —  in  so  hohem  Grade  das  bloße  Individuum,  daß  sie 
kein  Kriterium  für  die  Nationalität  abgibt.  (Wenn  man  von 
sonstwo  wüßte,  daß  Hebbel  ein  Jude  sei,  so  würde  man  in  seiner 
Form  nichts  als  Bestätigung  dafür  lesen;  und  bei  Wagner  erleben 
wir  es  ja,  daß  er  für  die  einen  der  Überdeutsche  ist,  während  er 
für  die  andern  schon  ,,judenzt",  jenachdem,  ob  man  die  bekannte 
Hypothese  über  seine  Abstammung  glaubt  oder  nicht.) 

Junge,  provisorischer  und  unklarer  Zustände  müde  Juden 
haben  die  unausbleibliche  Paradoxie  der  jüdischen  Kunst  ein- 
gesehen. Unter  den  Heilmitteln,  auf  die  sie  verfielen,  ist  das 
kühnste  und  auf  den  ersten  Blick  radikale,  daß  sie  nun  hebräisch 
auch  lernen,  um  hebräisch  zu  schreiben.  Die  Frage  ist,  ob  man 
in  einer  erlernten  Sprache  anders  als  künstlich,  nachahmend,  ja 
unbewußt  travestierend  dichten  kann;  oder  ob  die  Sprache  stark 
genug  ist,  ihr  Gesetz,  ihren  Willen  und  ihre  Vergangenheit  über 
alle  sonstige  Vergangenheit  siegen  zu  lassen.  Sie  müßte  in  diesem 
Falle  sogar  noch  imstande  sein,  den  Pinsel  des  Malers  so  gut  wie 
den  Meißel  des  Bildhauers  und  die  Höhlung  eines  Saiteninstru- 
mentes zu  verändern.  Vielleicht  könnte  sie  das  sogar;  und  außer 
denen,  die  sie  erst  lernen  müssen,  gibt  es  ja  längst  die  vielen,  die 
sie  von  Hause  aus  beherrschen  und,  wie  die  Sachverständigen  uns 
belehren,  immer  lebendiger  sprechen  und  schöpferischer  schrei- 
ben; aber  auch  diese  alle  mitgezählt,  hätten  wir  zwar  eine  he- 
bräische Literatur,  doch  immer  noch  keine  jüdische  Kunst. 
Schließlich:  als  die  Juden  aramäisch  und  griechisch  sprachen, 
ging  ihre  besondere  Produktivität  nicht  verloren;  die  verlorene 
wiederzufinden,  wird  es  nicht  ausreichend  sein,  hebräisch  zu 
sprechen. 

259 


JÜDISCHE  KUNST 

Denn  der  Gehalt  der  Kunst  wird  durch  Stoff  und  Form  nicht 
ausgemacht.  Es  ist  in  ihm  noch  ein  besonderes  geistiges  Element, 
das  mehr  darin  besteht,  zu  wem  die  Kunst  spricht,  als  über  was 
und  wie  sie  spricht.  Zu  wem  also  würde  eine  jüdische  Kunst  zu 
sprechen  haben?  Zu  Juden  natürlich.  Aber,  wenn  ein  heutiges 
Theaterpublikum  nicht  nur  zu  Neunzehnteln,  sondern  vollständig 
aus  Juden  bestünde,  wenn  alle  Schauspieler,  alle  Textverfasser 
nebst  dem  Komponisten  der  Operette  Juden  wären,  so  würde  das 
doch  hoffentlich  nicht  eine  jüdische  Kunst  ergeben.  Die  würde 
sich  nicht  an  zufällig  zusammengelaufene,  sondern  an  notwendig 
zusammenhängende  Menschen  wenden.  Und  solche  finden  sich 
ausschließlich  im  geordneten,  durch  Festtage  eingeteilten  Leben 
der  Gemeinde.  So  wie  allein  im  Schutzbezirk  des  Gemeinde- 
lebens der  Jude  sich  nicht  am  fremden  Werte  mißt  und  keinen 
Haß  und  keine  Verachtung  zu  verderblicher  oder  heilsamer  Ver- 
wirrung in  die  einzelne  Seele  dringen  läßt,  so  kann  einzig  die 
jüdische  Gemeinde  die  Realität  sein,  zu  der  eine  jüdische  Kunst 
sprechen,  und  also  existieren  könnte.  Vom  schlichtesten  und 
schläfrigsten  Sonntagskirchentag  eines  kleinen  Dorfes  bis  zu  den 
großen  Chorwerken  Bachs  gibt  es  immer  noch  eine  Verbindung. 
Ein  jüdischer  Musiker  könnte  aus  dem  Sabbatabend  und  dem 
Versöhnungsabend  Gebilde  schaffen,  die  wiederum  ihren  Ur- 
sprung heiligten.  (Es  genügt  nicht,  eine  synagogale  Melodie  für 
das  Cello  zu  verarbeiten.)  Die  Thorarollen  sind  mit  Schmuck 
und  Stickereien  geehrt,  —  da  sind  Aufgaben  für  das  Kunsthand- 
werk. Es  wäre  zu  denken,  daß  ein  jüdischer,  für  das  Drama  be- 
gabter Mann  das  Purimfest  zum  Anlaß  nimmt,  Stücke  zu  dichten, 
die  aus  der  Lebens-  und  Maskenfreude  des  Tages  geboren  sind 
und  ihr  anheimfallen. 

Ich  sage  den  jüdischen  Künstlern  nicht,  daß  sie  dieses  alles 
tun  sollen.  Aber  all  ihr  Theoretisieren  wird  unnütz  sein,  solange 
sie  es  nicht  tun.  Nur  auf  diese  Weise  könnte  es  eine  jüdische 
Kunst  geben;  andernfalls  haben  wir  immer  nur  einen  mehr  oder 
weniger  umstrittenen,  mehr  oder  weniger  wertvollen  Anteil  der 
Juden  an  der  Kunst. 


360 


Der  jüdische  Dichter  deutscher  Zunge 

Von  Max  Brod 

Ich  möchte  zu  diesem  schwierigen  Thema  einige  noch  sehr 
im  Flusse  befindliche  Gedanken  notieren,  ohne  die  Prätention 
endgültiger  Formulierung. 

Die  Fähigkeit  zu  großer  dichterischer  Gestaltung  und  zu  naivem 
Gefühl  wird  von  vielen  modernen  Theoretikern  den  Juden  über- 
haupt abgesprochen.  Schon  dies  veranlaßt  vielleicht  den  Dichter, 
der  sich  als  Jude  fühlt,  Beziehungen  zu  den  Leistungen  der 
jüdischen  Literatur  zu  suchen.  Denn  allein  mit  seinen  Werken 
wagt  er  der  Schneide  eines  solchen  Urteils  gar  nicht  entgegen- 
zutreten. Die  Vertrautheit  mit  dem  biblischen  und  nachbiblischen 
hebräischen  Schrifttum  belebt  alle  heroischen  Kräfte  im  jüdi- 
schen Dichter.  Daneben  bleibt  es  ein  ungeheures  Erlebnis,  mit 
der  neuen  jiddischen  Literatur  bekannt  zu  werden  und  zu  sehen, 
daß  dort,  wo  wir  Volk  sind,  die  volkstümliche  Naivität  allsobald 
sich  einfindet,  —  Es  bleibt  von  dem  Urteil  der  oben  erwähnten 
Theoretiker  kein  Hauch  übrig. 

Von  biblischer  Größe  und  ostjüdischer  Einfachheit  erschüttert, 
reiht  sich  der  national  empfindende  jüdische  Dichter  in  die 
jüdische  Literatur  ein.  Ein  Konflikt  entsteht,  wenn  er  sich  in 
deutscher  Sprache,  mit  dem  von  deutscher  Gefühlsarbeit  durch- 
pulsten Wortschatz  und  im  Ausschwingen  einer  deutschen  Lite- 
raturbewegung schaffen  sieht.  Das  Volk,  an  dessen  Sprache  ich 
weiterwebe,  kann  mir  nicht  fremd  sein. 

Eines  ist  sicher:  Dieser  Konflikt  verschwindet  nicht  durch 
Bagatellisieren,  Nicht-Beachtung. 

Der  Dichter  kann  sein  Nationalgefühl  ausstreichen.  Aber  nur 
um  den  Preis,  in  seiner  ganzen  Persönlichkeit  ein  unkompletter 
Mensch  zu  werden. 

Der  andere  mögliche  Weg  scheint  ehrlicher  und  schöner  (denn 
der  dritte  einer  assimilatorischen  Erlangung  deutscher  Nationali- 
tät ist  wohl  überhaupt  nicht  vorhanden):  durch  Vertiefung  des 
eigenen  jüdischen  Nationalgefühls  wie  von  einer  ungewollten, 
ungeahnten  Seite  her  auch  fremde  nationale  Begeisterung  anderer 
Völker  plötzlich  zu  verstehen.  —  Die  Beziehung  zur  deutschen 
Literatur  ist  dann  dadurch  gegeben,  daß  der  jüdische  Dichter 
die  einzelnen  Persönlichkeiten  der  deutschen  Literatur  aus  seiner 

261 


DER  JÜDISCHE  DICHTER  DEUTSCHER  ZUNGE 

allgemeinen  Kunstliebe  heraus  erfaßt,  daß  er  aber  außerdem  die 
innerlichste  Einbettung  dieser  Großen  in  ihr  Volksgefühl,  gleich- 
sam die  Nährflüssigkeit  um  sie  herum  durch  Analogie  mit  seinem 
eigenen  Volksempfinden  miterlebt. 

Im  einzelnen  ergeben  sich  natürlich  die  seltsamsten  Wider- 
stände. —  Die  rein  sprachliche  Seite  schon.  Nicht  die  geringste; 

—  denn  jedes  Wort,  jeder  Teil  der  Form  wird  dem  Dichter  ernst- 
haftester Inhalt.  Ist  es  nun  möglich,  daß  ein  Jude  jemals  die 
Sprachgewalt  Gerhart  Hauptmanns  oder  Robert  Walsers,  die 
gegenwärtig  wie  an  der  Quelle  deutscher  Wortbildung  zu  sitzen 
scheinen,  erlangt?  Oder  ist  es  für  ihn  anständiger,  auf  Archais- 
men und  Neufindungen  überhaupt  zu  verzichten,  da  es  nicht  das 
Erbe  seiner  Ahnen  ist,  das  er  verwaltet,  sondern  fremder  Besitz? 

—  Es  ist  meine  Meinung,  daß  auf  dem  Wege  tiefer  jüdischer 
Nationalempfindung  dem  jüdischen  Dichter  deutscher  Zunge 
zum  erstenmal  Zutritt  zum  wahren  deutschen  Volksgeist  ermög- 
licht wird,  daß  er  erst  auf  diesem  Wege  des  Gewichtes  nationaler 
Sprachwerte  und  der  Verantwortlichkeit  für  ihren  reinen  Ge- 
brauch sich  voll  bewußt  wird.  Die  Freude  am  eigenen  Volkstum 
ist  der  Freude  an  fremdem  Volkstum  verwandter  als  die  ver- 
suchte Erschleichung  fremden  Volkstums.  —  Zwei  Worte  in 
neuer  Richtung  zusammenzusetzen,  beispielsweise,  diese  echt 
deutsche  Wortneubildung  kann  dem  national- jüdisch  empfinden- 
den Dichter  legitim  gelingen;  er  wird  auch  aus  der  frischen 
Mundart,  die  ihn  umgibt,  glücklich  entlehnen  dürfen.  Denn  er 
hat  Volk  in  sich. 

Nur  allzu  schnelle  Verzweiflung  wird  das,  was  heute  deutsch- 
schreibende Juden  in  Worte  fassen,  für  puren  Übergang,  un- 
organische Arbeit  halten,  für  Unika,  deren  jüdischer  Geist  erst 
in  hebräischer  Übersetzung  aufleben  würde,  für  künstliche  Ge- 
bilde, deren  Vorzug  bestenfalls  eine  abstrakte  unschöpferische 
Sprachrichtigkeit  wäre. 

Auch  das  Problem  des  Stoffes  für  den  deutschdichtenden 
Juden  ist  kompliziert.  Die  Beschränkung  auf  jüdische  Stoffe 
wäre  natürlich  Mißverständnis.  Ich  glaube  aber,  daß  der  jüdische 
Dichter  mit  Selbstverständlichkeit  in  denjenigen  Figuren,  die  er 
von  innen  erleuchtet,  meist  Juden  darstellt.  So  auch  der  Lyriker 
im  „Ich"  seiner  Verse.  Auch  von  außen  her,  also  rein  episch, 

262 


DER  JÜDISCHE  DICHTER  DEUTSCHER  ZUNGE 

treten  an  diesen  Dichter  nebst  anderen  zahllose  jüdische  Per- 
sonen und  Zustände  heran,  mit  der  Forderung,  dargestellt  zu 
werden.  Es  wäre  klein,  wollte  man  nur  die  Darstellung  idealer 
jüdischer  Zustände  vom  Nationalgefühl  des  Dichters  erwarten, 
also  etwa  nur  die  Darstellung  jüdischer  Ekstase,  oder  nur  jener 
Hauptprobleme,  die  als  ,, Taufe"  oder  „Zionismus"  oder  „Assimi- 
lation" auch  dem  Nicht-Juden  sichtbar  im  Vordergrund  des  heuti- 
gen jüdischen  Lebens  stehen.  Diese  ganz  krassen  Konflikte  interes- 
sieren dichterisch  vornehmlich  den,  der  in  seinem  jüdischen  Natio- 
nalgefühl noch  Neuling  ist.  Dem  Eingeweihten  eröffnen  sich  die 
tausend  Schattierungen  der  Judenseele;  er  ist  mit  ihren  Haupt- 
konturen so  vertraut,  daß  er  zartere  Details  formen  kann,  ohne 
die  Hauptlinien  zu  stören.  Das  Gigantische  der  neuen  Bewegung 
ist  ihm  selbstverständlich,  weil  er  in  ihrem  Kern  und  nicht  am 
Rande  ist.  Ein  solcher  Dichter  hat  sein  zukunftsvolles  Judentum 
so  fest  in  sich,  daß  er  sich  nun  auch  zu  gefährlichen  Ghettotypen 
in  Beziehung  setzen  kann.  Auch  der  Galuth  ist  epischer  Stoff, 
auch  das  bröckligste  Westjudentum  beschreibenswert.  Man  hat 
meine  Romane  „Jüdinnen"  und  „Arnold  Beer"  gerade  in  natio- 
naljüdischen Kreisen  vielfach  so  mißverstanden,  als  hätte  ich 
keinen  Blick  für  die  höchsten  Ziele  der  Renaissancebewegung, 
während  mir  scheint,  daß  ich  in  diesen  Büchern  gerade  aus  Ziel- 
festigkeit die  Diskussion  über  das  Ziel  ganz  ausschalten  und 
damit  den  echten  jüdischen  Roman,  dessen  Stärke  nicht  der  Kon- 
flikt, sondern  das  Dichterische  in  ihm  ist,  mitbegründen  konnte. 
Überflüssig  zu  sagen,  daß  ich  auch  die  nationale  Begeisterung, 
die  mystische  Versenkung  in  die  Tiefen  des  Judentums  für  her- 
vorragende dichterische  Stoffe  halte.  Aber  auch  das  unauffällige, 
gleichsam  mittlere,  schon  halbverfälschte,  bedauerliche  Juden- 
wesen kann  dem  liebenden  Blicke  aufblühen.  Nicht  nur  das 
Judenproblem:  der  ganze  Jude  ist  mir  dichterisches  Problem. 
Womit  nicht  geleugnet  sein  soll,  daß  für  die  Tat  und  Politik 
alles  Zwischenstufenhafte  und  Zwittrige  dem  ganz  großen  Ideal 
des  reinen  Volkes  ohne  weiteres  zu  opfern  ist. 


263 


AUS   ALTEN   BÜCHERN 


In  Bethlehem,  in  Jerusalem  und  in  Rom 

Fünf  messianische  Texte,  zusammengestellt  von  M.  J.  bin  Gorion 

I.*) 

Hjlnstmals  war  Elia  der  Seher  seines  Weges  gegangen  —  es 
war  an  dem  Tage,  da  der  Tempel  zerstört  wurde  —  und  hörte 
eine  Stimme  rufen  und  klagen:  Vernichtet  wird  das  Haus  des 
Herrn.  Des  Königs  Söhne  werden  in  Gefangenschaft  geraten,  die 
Frau  des  Königs  wird  eine  Witwe  werden!  Wie  Elia  dies  ver- 
nahm, gedachte  er  die  ganze  Welt  zu  zerstören.  Er  ging  weiter 
und  sah  die  Leute  im  Felde  noch  ackern  und  säen.  Da  sprach  er 
zu  ihnen:  Gott  der  Herr  zürnt  seiner  Welt  und  will  sein  Haus 
zerstören  und  seine  Kinder  unter  die  Völker  vertreiben,  und  ihr 
habet  euer  Tagewerk  im  Sinn.  Da  erscholl  eine  Stimme  vom 
Himmel,  die  rief:  Laß  sie  gewähren,  denn  schon  ist  Israel  sein 
Erlöser  geboren.  Sprach  Elia:  An  welchem  Orte  ist  er  geboren? 
Und  es  ward  ihm  zur  Antwort:  Zu  Bethlehem  im  jüdischen 
Lande. 

Und  Elia  begab  sich  nach  Bethlehem.  Da  er  dorthin  kam, 
fand  er  ein  Weib  an  der  Türe  ihres  Hauses  sitzen,  und  vor  ihr 
lag  ein  Knäblein,  noch  blutig  vom  Mutterleib.  Da  fragte  sie  Elia: 
Tochter,  so  hast  du  einen  Sohn  geboren?  Sprach  das  Weib:  So 
ist  es.  Sprach  Elia  weiter:  Warum  hast  du  ihn  da  aber  im  Blute 
liegen  lassen?  Sprach  das  Weib:  Ach,  ob  des  Unglücks!  Ist 
er  doch  an  dem  Tage  geboren,  da  das  Haus  Gottes  zerstört  wurde. 
Da  sprach  Elia:  Tochter,  steh  auf  und  nimm  den  Knaben  zu  dir, 
daß  du  ihn  pflegest,  denn  durch  ihn  wird  dereinst  großes  Heil 
euch  zuteil  werden.  Und  er  gab  ihr  Kleider  und  Kleinode,  daß 
sie  den  Knaben  schmücken  solle;  aber  sie  wollte  nichts  an- 
nehmen. Sprach  der  Seher:  Nimm  es  nur,  nach  Tagen  komme 
ich  wieder  und  hole  mir  den  Preis.  Da  ergriff  das  Weib  den 
Knaben  und  hob  ihn  auf. 

Und  der  Seher  verließ  den  Ort  und  wanderte  weiter  fünf  Jahre 
lang;  und  wie  diese  Zeit  um  war,  sprach  er  zu  sich:  Ich  will 
hingehen  und  will  nach  dem  Erlöser  Israels  schauen,  wächst 
er  als  ein  König  auf  oder  als  ein  Engel  Gottes.  Und  er  ging 

*)  Nach  einer  Kopie  der  Prager  Handschrift  des  Beregith  Rabbati,  Besitz  A. 
Epstein,  Wien,  zitiert  bei  Raymundi  Martini:  Pugio  Fidei,  Lipsia  u.  bei  Is. 
Abravanel:  Jesuoth  Mesiho  II! 

267 


IN  BETHLEHEM,  IN  JERUSALEM  UND  IN  ROM 

hin  nach  Bethlehem  und  fand  abermals  das  Weib  vor  der  Türe 
ihres  Hauses  sitzen,  und  wieder  lag  der  Knabe  vor  ihr.  Sprach 
Elia:  Tochter,  v^as  ist  mit  deinem  Sohn?  Sprach  das  Weib: 
O  Herr  mein,  sagte  ich's  dir  nicht  schon  einmal,  daß  er  zu  Un- 
glück geboren  ward;  war  es  doch  der  Tag,  da  der  Tempel  zer- 
stört wurde.  Und  siehe  auch  das:  Füße  hat  er  und  kann  nicht 
gehen,  Augen  hat  er  und  kann  nicht  sehen,  Ohren  hat  er  und 
kann  nicht  hören,  einen  Mund  hat  er  und  kann  nicht  sprechen, 
und  immer  liegt  er  da  gleichwie  ein  Stein. 

Da  aber  das  Weib  noch  redete,  kamen  Winde  von  allen  vier 
Seiten  der  Welt,  trugen  den  Knaben  fort  und  warfen  ihn  ins 
Meer.  Da  zerriß  Elia  seine  Kleider  und  raufte  sich  die  Haare, 
schrie  und  rief:  Wehe,  dahin  ist  das  Heil  Israels!  Aber  abermals 
erscholl  eine  Stimme  vom  Himmel  und  rief:  Dem  ist  nicht  so, 
wie  du  meinest,  sondern  vierhundert  Jahre  wird  der  Messias  im 
Meere  bleiben;  achtzig  Jahre  wird  er  an  dem  Orte  wohnen,  wo 
die  Rauchwolken  der  Kinder  Korahs  steigen;  achtzig  Jahre  wird 
er  vor  den  Toren  Roms  sitzen.  In  den  übrigen  Jahren  aber  wird 
er  alle  großen  Reiche  durchstreifen,  bis  daß  die  Zeit  des  Endes 
kommt. 

II.*) 

Es  wird  von  einem  Manne  erzählt,  der  an  dem  Tage,  da  der 
Tempel  zerstört  ward,  seinen  Acker  pflügte;  auf  einmal  stieß 
sein  Ochse  einen  Schrei  aus.  Da  ging  einer  aus  dem  Araber- 
lande vorbei  und  sprach:  Sohn  Israels,  nimm  das  Joch  von 
deinem  Ochsen  ab  und  löse  deinen  Pflug.  Sprach  der  Mann: 
Warum  dies?  Sprach  der  Fremde:  Darum,  daß  der  Tempel  zer- 
stört worden  ist.  Sprach  der  Mann:  Woher  weißt  du  das?  Sprach 
der  Fremde:   Daher,  daß  ich  deinen  Ochsen  heulen  hörte. 

Da  sie  noch  miteinander  redeten,  brüllte  der  Ochse  zum  zweiten 
Male.  Sprach  der  Fremde:  Spanne  wieder  deinen  Ochsen  ein  und 
laß  ihn  den  Pflug  ziehen,  denn  eben  ist  Israel  sein  Messias  ge- 
boren worden.  Sprach  der  Mann:  Und  wie  heißt  er  mit  seinem 
Namen?  Sprach  der  Fremde:  Menahem  ist  sein  Name.  Sprach 
der  Mann:  Und  wie  heißt  sein  Vater?  Sprach  der  Fremde: 
Hiskia  heißt  sein  Vater.  Sprach  der  Mann:   Aus  welchem  Orte 

♦)  Nach  Palästinens.  Talmud,  Traktat  Berachoth  und  Midrag  Echah  Rabba  I. 

268 


IN  BETHLEHEM,  IN  JERUSALEM  UND  IN  ROM 

ist  er?  Sprach  der  Fremde:  Aus  dem  Schlosse  des  Königs  zu 
Bethlehem  in  Juda. 

Da  ging  der  Mann  hin  und  verkaufte  seinen  Ochsen  mit  Pflug 
und  Joch  und  fing  an  mit  Tüchern  und  Leinen  zu  handeln,  so 
man  die  Kinder  in  sie  wickelt.  Also  ging  er  von  Stadt  zu  Stadt, 
von  Land  zu  Land,  bis  er  dorthin  nach  Bethlehem  kam,  das  im 
jüdischen  Lande  ist.  Da  kamen  alle  Dorfleute  zu  ihm,  Tücher 
und  Leinen  von  ihm  zu  kaufen.  Allein  das  Weib,  die  Mutter 
des  neugeborenen  Knaben,  war  nicht  gekommen.  Aber  der  Mann 
hörte,  wie  die  Weiber  ihr  riefen:  Du,  Mutter  Menahems,  komm 
her  und  kaufe  was  für  deinen  Sohn.  Sprach  das  Weib:  Lieber 
will  ich  ihn  erwürgen,  denn  an  dem  Tage,  da  er  geboren  ward, 
ist  das  Haus  Gottes  zerstört  worden.  Sprach  der  Mann:  Ich  bin 
es  sicher,  daß  gleichwie  es  an  seinem  Tage  zerstört  wurde,  so 
wird  es  auch  an  seinem  Tage  wieder  aufgebaut  werden.  So  komme 
doch  her  und  kaufe  was  für  deinen  Knaben.  Aber  das  Weib 
sprach:  Ich  habe  auch  kein  Geld.  Sprach  der  Mann:  Nimm  nur 
was  er  braucht,  und  hast  du  kein  Geld,  so  will  ich  ein  andermal 
herkommen  und  das  Geld  dafür  holen. 

Und  es  geschah  nach  Tagen,  daß  der  Mann  sprach:  Ich  will 
wieder  hingehen  und  will  sehen,  ob  es  wohl  um  den  Knaben  stehe. 
Und  er  kam  zu  dem  Weib  und  sprach  zu  ihr:  Der  Knabe  dein, 
was  ist  mit  ihm?  Sprach  das  Weib:  Habe  ich's  dir  nicht  gesagt, 
schwer  wird  sein  Schicksal  sein,  denn  da  er  geboren  ward,  ward 
auch  der  Tempel  zerstört.  Gleich  darnach,  da  du  ihn  sahst,  kamen 
Winde  her  und  trugen  ihn  hinweg  von  mir.  Sprach  der  Mann: 
Habe  auch  ich  es  dir  schon  einmal  gesagt:  Gleichwie  das  Haus 
an  seinem  Tage  fiel,  so  wird  es  auch  an  seinem  Tage  wieder  auf- 
gerichtet werden! 

III.*) 

Es  wird  erzählt,  daß  an  dem  Tage,  wo  die  Feinde  in  die  heilige 
Stadt  eindrangen  und  den  Tempel  zerstörten,  weitab  von  Jeru- 
salem ein  Mann  seinen  Acker  pflügte.  Da  sah  er  mit  einem  Mal, 
daß  die  Kuh,  die  den  Pflug  zog,  sich  zur  Erde  niederwarf  und 
nicht  weiter  pflügen  wollte  und  seltsam  heulte.  Da  staunte  der 
Mann  ob  dieses  Anblickes.  Er  schlug  das  Tier,  daß  es  weiter 

*)  Nach  Midras  Echah  Suta  ^-  Ed.  S.  Buber. 

269 


IN  BETHLEHEM,  IN  JERUSALEM  UND  IN  ROM 

arbeiten  sollte,  aber  das  Tier  wollte  nicht  gehorchen  und  fiel 
immer  wieder  zur  Erde. 

Da  er  die  Kuh  immer  peitschte,  hörte  er  eine  Stimme  rufen: 
Was  willst  du  von  dem  Tier;  laß  es  in  Ruh;  klagt  es  doch  darum, 
daß  das  Haus  Gottes  zerstört  wurde  und  daß  das  Heiligtum  ver- 
brannt ist.  Als  der  Mann  dies  vernahm,  zerriß  er  seine  Kleider, 
raufte  sich  die  Haare  und  schrie,  bedeckte  sein  Haupt  mit  Asche 
und  weinte  und  rief:  Wehe  mir,  wehe  mir! 

Aber  nachdem  einige  Stunden  vergangen  waren,  stand  die  Kuh 
wieder  auf  ihre  Füße,  sprang  voll  Freude  umher  und  tanzte. 
Da  wunderte  sich  der  Mann  über  die  Maßen;  und  gleich  hörte 
er  wieder  eine  Stimme,  die  sprach:  Spanne  die  Kuh  wieder  ein 
und  ackere  weiter,  denn  eben  ist  der  Messias  geboren. 

Da  wusch  sich  der  Mann  sein  Angesicht  und  machte  sich 
freudig  auf;  er  ging  nach  seinem  Hause,  holte  von  dort  lange 
Seidenbänder  für  die  Wiegenkinder  und  begab  sich  nach  Jeru- 
salem. Da  er  dort  hinkam,  machte  er  die  Bänder  um  seine  Arme 
um  und  rief  in  den  Straßen:  Wer  kauft  eine  Wickelschnur  für 
seinen  Neugebornen,  ob  es  ein  Knabe  oder  ein  Mägdlein  ist.  Das 
hörte  die  Nachbarin  der  Messiasmutter  und  sprach  zu  dem 
Manne:  Geh  hin  nach  dem  Hause,  das  ich  dir  weise,  dort  ist  vor 
kurzem  ein  Knabe  geboren. 

Da  ging  der  Mann  hin,  kam  in  das  Haus  und  sprach  zu  dem 
Weibe:  Kaufe  deinem  Sohne  ein  Band.  Sprach  das  Weib:  Nicht 
will  ich  ihm  was  kaufen,  denn  er  ist  an  dem  Tage  geboren,  da 
der  Tempel  zerstört  wurde,  verflucht  sei  der  Tag,  an  dem  er 
geboren  ward.  Aber  der  Mann  trat  an  den  Knaben  heran,  küßte 
sein  Haupt,  legte  das  Band  für  ihn  hin  und  bat  die  Mutter  für 
ihn.  Alsdann  ging  er  heim. 

Seitdem  aber  kam  er  alljährlich  nach  Jerusalem  um  nach  dem 
Knaben  zu  sehen.  Menahem  ben  Amiel  ward  der  Messias  genannt. 

Aber  als  einst  der  Mann  wieder  nach  Jerusalem  kam  und  das 
Haus  betrat,  erhub  die  Muttter  des  Knaben  ihre  Stimme  und 
sprach:    Dahin  ist  mein  Trost,  Menahem  ist  fort! 


270 


IN  BETHLEHEM,  IN  JERUSALEM  UND  IN  ROM 

IV.*) 

Es  steht  in  der  Schrift:  Der  dichte  Wald  wird  mit  Eisen  um- 
gehauen werden,  und  der  Libanon  wird  durch  den  Mächtigen 
fallen.  Und  bald  darauf  steht  es:  Es  wird  ein  Reis  aufgehen 
von  dem  Stamme  Isais.  Wie  hängen  diese  beiden  Sprüche  zu- 
sammen? Also  deuteten  es  unsere  Weisen:  An  dem  Tage,  da  der 
Tempel  zerstört  wurde,  ward  der  Messias  geboren. 

Es  wird  erzählt:  Einer  aus  dem  Arabervolke  baute  sein  Feld, 
der  hatte  einen  Knecht  aus  dem  Stamme  Israels.  Da  heulte  die 
Kuh,  und  der  Araber  sprach:  Tuet  keine  Arbeit  mehr!  Abermals 
heulte  die  Kuh,  und  der  Araber  sprach:  Auf,  an  die  Arbeit!  Da 
fragte  der  Sohn  Israels:  Warum  befiehlst  du  bald  so  und  bald 
so?  Sprach  der  Araber:  Beim  ersten  Heulen  fiel  das  Haus  Gottes, 
beim  zweiten  ward  der  Messias  geboren;  Menahem  ist  sein  Name; 
sein  Vater  aber  ist  Hiskia. 

Da  ließ  der  jüdische  Knecht  von  der  Arbeit  und  ging  hin  und 
zog  von  nun  an  als  Händler  umher.  Also  kam  er  auch  nach  jener 
Stadt  und  fragte:  Wo  wohnt  hier  Hiskia?  Und  die  Leute  sagten 
ihm:  An  jenem  Orte  dort.  Da  ging  er  hin  und  fand  den  Ort. 
Die  Weiber  kamen  herzu  und  kauften  von  allem,  was  er  feilbot. 
Allein  die  Mutter  Menahems  nahm  ihm  nichts  ab.  Sprach  der 
Mann  zu  ihr:  Kaufe  auch  du  was  für  deinen  Sohn.  Da  erwiderte 
das  Weib:  Ist  er  doch  nur  gekommen,  daß  ihm  auf  den  Fuß 
Böses  folge  in  Israel.  Hätte  ich  ihn  doch  lieber  zu  Grabe  getragen, 
denn  an  dem  Tage,  da  er  zur  Welt  kam,  ward  das  Heiligtum 
zerstört. 

Da  aber  der  Mann  das  hörte,  freute  er  sich  und  sprach:  Dieser 
ist  der  Messias!  Und  er  sprach  zu  dem  Weibe:  Kaufst  du  ihm 
gar  nichts,  so  will  ich  ihm  was  schenken.  Und  er  legte  ein  Kleid 
hin  für  den  Knaben  und  küßte  ihn. 

Seit  dann  kam  er  alle  Jahre  den  Knaben  wieder  zu  sehen; 
er  küßte  ihn  jedesmal  und  gab  ihm  ein  Kleid.  Also  tat  er  nach 
dieser  Weise  drei  Jahre  lang.  Aber  nach  fünf  Jahren  kam  er  hin 
und  fand  den  Knaben  nicht  wieder.  Da  fragte  er:  Wo  ist  die 
Mutter  Menahems  hin?  Und  die  Leute  erwiderten  ihm:  Sie  ist 
mit  ihrem  Sohn  davongegangen,  und  wurden  nicht  mehr  gesehen. 

*)  Nach  einem  Fragment  beigedruckt  dem  Jalkut  Ha-Machiri  zu  den  Sprüchen 
Salomonis.  Ausgabe   Grünhut. 

271 


IN  BETHLEHEM,  IN  JERUSALEM  UND  IN  ROM 

Wo  ist  er  auch  hin?  Manche  sagen,  er  sei  nach  Rom  gegangen, 
denn  es  steht:  Daselbst  weiden  Kälber  und  ruhen  und  fressen 
Reiser  ab. 

V.*) 

Es  begab  sich  nach  Jahr  und  Tag,  daß  der  Rabbi  Josua,  der 
Sohn  Levais,  den  Propheten  Elia  erblickte,  der  stand  am  Eingang 
der  Höhle  des  Rabbi  Simeons,  des  Sohnes  Johais.  Zwei  sah  der 
Sohn  Levais  vor  sich,  Elia  und  Simeon,  aber  noch  eine  dritte 
Stimme  war  hörbar:  die  Majestät  Gottes  weilte  unter  ihnen.  Da 
fragte  Rabbi  Josua  den  Seher:  Werde  ich  wohl  des  zukünftigen 
Lebens  teilhaftig  werden?  Sprach  Elia:  Wenn  dies  unser  Herr 
hier  wollen  wird.  Und  Rabbi  Josua  fuhr  fort  Elia  zu  fragen: 
Wann  wird  wohl  der  Messias  kommen?  Da  sprach  Elia:  Geh 
hin  zu  ihm  und  befrage  ihn.  Sprach  der  Sohn  Levais:  Wo  finde 
ich  ihn  aber?  Sprach  Elia:  Vor  den  Toren  Roms.  Rabbi  Josua 
fragte  weiter:  Und  welches  ist  sein  Abzeichen?  Da  antwortete 
Elia:  Er  sitzt  unter  Armen,  von  Krätze  befallenen;  alle  binden 
sie  zu  gleicher  Zeit  ihre  Wunden  auf,  tupfen  sie  aus  und  ver- 
binden sie  wieder;  allein  der  Messias  nimmt  jede  Wunde  für 
sich  vor;  erst  bindet  er  eine  auf,  trocknet  sie  aus  und  verbindet 
sie  wieder,  hernach  macht  er  die  andere  auf;  nie  nimmt  er  auf 
einmal  von  zwei  Wunden  den  Verband  ab,  denn  er  spricht:  Mög- 
lich, man  ruft  mich,  daß  ich  erlöse,  so  will  ich  mich  nicht  ver- 
säumen. 

Da  begab  sich  Rabbi  Josua  und  kam  vor  den  Messias  und 
sprach:  Friede  sei  mit  dir,  du  Herr  mein  und  Meister!  Sprach 
der  Messias:  Friede  mit  dir,  Sohn  des  Levais!  Sprach  Rabbi 
Josua  zu  dem  Messias:  Wann  will  mein  Herr  kommen?  Sprach 
der  Messias:   Heute  noch. 

Da  wendete  sich  Rabbi  Josua  und  kehrte  zurück  zu  Elia.  Und 
Elia  fragte:  Was  sagte  dir  der  Messias?  Da  erwiderte  Rabbi 
Josua:  Er  sagte  zu  mir:  Friede  sei  mit  dir,  du  Sohn  des  Levais. 
Darauf  sprach  Elia:  Damit  hat  er  sowohl  dir  als  deinem  Vater 
das  Wort  gesprochen,  daß  ihr  das  ewige  Leben  erlangen  werdet; 
denn  wäret  ihr  nicht  die  Gerechten  vollauf,  er  hätte  dir  nicht 
den  Frieden  zugerufen  und  hätte  nicht  des  Namens  deines  Vaters 

*)   Nach  dem  babylonischen  Talmud,  Traktat  Sanhedrin. 

272 


IN  BETHLEHEM,  IN  JERUSALEM  UND  IN  ROM 

gedacht.  Da  sprach  Rabbi  Josua:  Aber  unwahr  war,  daß  der 
Messias  gesprochen  hatte;  er  sagte,  er  würde  heute  noch  kommen 
und  ist  nicht  erschienen.  Da  antwortete  Elia:  Also  meinte  er  es: 
Ich  komme  noch  heute,  wenn  ihr  auf  Gottes  Stimme  höret. 

(Übertragen  von  Rahel  Ramberg-Berdyczewski.) 


273 


Aus  dem  Buche  Sohar 
I. 

(übertragen  von  Hugo  Bergmann) 

Subjekt  und  Objekt  der  Welt  (ib) 

„Im  Anfang."  Rabbi  Eleazar  begann  den  Lehrvortrag  mit 
folgendem  Zitat.  Es  heißt:  „Erhebt  in  die  Höhe  eure  Augen  und 
sehet,  wer  hat  dies  geschaffen?"  Erhebt  eure  Augen?  Wohin? 
An  jenen  Ort,  an  dem  alle  Augen  hangen.  Und  welcher  Ort  ist 
dies?  Der  Ort,  der  die  Augen  öffnet.  Dort  werdet  ihr  erfahren, 
daß  der  verborgene  Alte,  Er,  bei  dem  alles  Fragen  Halt  machen 
muß,  dies  geschaffen  hat.  Wer  aber  ist  dieser  Schöpfer?  Er 
ist  der  Wer,  in  dessen  Macht  alles  steht.  Eben  weil  bei  ihm  alles 
Fragen  Halt  machen  muß,  weil  seine  Wege  verborgen  sind  und 
er  sich  nicht  enthüllet,  wird  er  der  Wer  genannt.  Über  diesen  Wer 
darf  man  nichts  fragen.  Dies  ist  das  eine  Ende  der  Welt,  das  Wer 
genannt  wird.  Das  andere  Ende  der  Welt  aber  nach  unten  hin 
wird  Was  genannt.  Was  für  ein  Unterschied  besteht  zwischen  dem 
Wer  und  dem  Was?  Jenes  Wer  entzieht  sich  allen  Fragen.  Wenn 
ein  Mensch  forscht  und  fragt  und  suchend  aufsteigt  von  Stufe 
zu  Stufe  und  zur  höchsten  Stufe  gelangt,  dann  begreift  er  das 
Was  der  Welt,  Dieses  wird  Was  genannt,  denn  wie  sehr  man 
erkannt,  geschaut  und  untersucht  hat,  das  Gefundene  weist 
immer  über  sich  hinaus,  und  immer  wieder  kann  man  sagen: 
Was  weißt  du  jetzt?  Was  hast  du  erkannt?  Was  hast  du  er- 
forscht? —  Es  ist  ja  alles  unbegreiflich  und  unerforschbar,  ver- 
borgen wie  vorher!  Und  dies  Geheimnis  ist  angedeutet  in  den 
Worten  der  Schrift:  Das  Was  rufe  ich  zum  Zeugen  an,  dem  Was 
vergleiche  ich  dich. 

Rabbi  Simeon  wandte  sich  an  seinen  Sohn  R.  Eleazar  und 
sagte:  Mein  Sohn,  fahre  fort,  den  Vers  zu  erklären,  auf  daß 
das  höchste  Geheimnis  enthüllt  werde,  das  die  Kinder  dieser  Welt 
noch  nicht  kennen.  Rabbi  Eleazar  schwieg.  Da  nahm  R.  Simeon 
das  Wort  und  sagte:  Eleazar,  was  bedeutet  denn  das  ;Wort 
„Dieses"  (Eleh)  in  jenem  Vers:  ,,Wer  schuf  dieses?"  Es  kann 
doch  nicht  den  physischen  Kosmos  bedeuten,  die  Welt  der  Sterne, 
weil  sie  ja  sichtbar  sind.  Auf  sie  müßte  doch  also  die  Schrift 
nicht  erst  hinweisen.  Auch  sind  sie  durch  das  Was  geschaffen 
worden,  wie  es  heißt:   Durch  das  Wort  des  Herrn  wurden  die 

274 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

Himmel  geschaffen.  Aber  auch  auf  die  verborgenen  Worte  kann 
sich  das  „Dies"  nicht  beziehen,  denn  es  enthält  einen  Hinweis, 
kann  also  nur  auf  Offenbares  Bezug  haben.  Dieses  Geheimnis 
ward  mir  nicht  eher  enthüllt,  als  bis  ich  eines  Tages  auf  dem 
Ufer  des  Meeres  stand  und  Elijah  zu  mir  kam  und  mir  sagte: 
„Rabbi,  weißt  du,  was  das  bedeutet:  Wer  hat  dies  geschaffen?" 
Als  der  Verborgene  aller  Verborgenen  sich  offenbaren  wollte, 
schuf  er  wie  in  einem  Punkte  vereinigt  den  göttlichen  Gedanken, 
prägte  ihm  alle  Formen  ein,  und  er  wird  Wer  (Mi)  genannt. 
„Wer"  —  denn  er  ist  der  Urbeginn,  er  ist  und  ist  nicht,  tief 
verborgen  ist  er  in  seinem  Namen.  Da  aber  Gott  sich  offenbaren 
und  bei  seinem  Namen  genannt  sein  wollte,  hüllte  er  sich  das 
kostbare,  strahlende  Kleid  der  Welt  um  und  schuf  ,, dieses".  So 
verband  sich  das  „Dieses"  mit  dem  Wer,  das  «^^i?  mit  dem 
'"'2  und  bildete  den  Gottesnamen  D'Tibsi.  Solange  er  nichts  ge- 
schaffen hatte,  besaß  Er  diesen  Namen  nicht.  Gott  vor  der 
Schöpfung  kann  noch  nicht  Gott  genannt  werden.  Die  Ab- 
trünnigen, welche  das  goldene  Kalb  anbeteten,  riefen  darum  aus: 
„Dieses  ist  dein  Gott,  o  Israel."  Ihr  Gott  war  nicht  der  schaffende 
Gott,  in  dem  sich  schöpferisches  Prinzip  und  Schöpfung  vereint ; 
vielmehr  machten  sie  das  Dieses,  das  Geschaffene  zum  Gotte 
und  darin  bestand  ihre  Sünde.  Und  wie  sich  in  der  Schöpfung 
das  schöpferische  Mi  (Wer)  mit  dem  geschaffenen  Eleh  (Dieses) 
verbindet,  so  wird  auch  der  Gottesname  durch  diese  Vereinigung 
immer  wieder  erneuert.  Und  durch  dieses  Geheimnis  besteht  die 
Welt."  Dies  sagte  mir  Elijah,  dann  flog  er  davon  und  ich  sah  ihn 
nicht  mehr.  Ihm  verdanke  ich  die  Enthüllung  des  Geheimnisses. 
Als  Rabbi  Eleazar  und  seine  Freunde  dies  hörten,  traten  sie 
vor  R.  Simeon  ben  Jochaj  hin,  verneigten  sich  vor  ihm,  weinten 
und  sprachen:  Wären  wir  nur  auf  die  Welt  gekommen,  um 
dies  Geheimnis  zu  vernehmen,  es  wäre  genug  gewesen. 

Der  Mensch  ein  göttliches  und  gottmächtiges 
Wesen  (9  b) 

Rabbi  Eleazar  fragte  seinen  Vater:  Was  bedeuten  die  Worte 
der  Schrift:  „Wer  wird  Dich  nicht  fürchten,  o  König  der  Völker? 
Alles  gehöret  Dir  zu."  Was  ist  denn  das  für  ein  Lob,  der  König 
der  Völker  zu  sein?  Rabbi  Simeon  antwortete:  „Die  Fortsetzung 

275 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

jenes  Verses  lautet:  Denn  unter  allen  Weisen  der  Völker  und 
in  allen  ihren  Reichen  ist  niemand  Dir  gleich.  Nun  suchte  mich 
eines  Tages  ein  heidnischer  Philosoph  auf  und  sagte  mir:  Ihr 
sagt,  daß  euer  Gott  im  höchsten  Himmel  thront  und  daß  keine 
Engelschar  ihn  erreichen,  jioch  sein  Wesen  erkennen  könne.  Dann 
aber  drückt  jener  Vers  kein  Gottes  würdiges  Lob  aus.  Denn  was 
ist  das  für  ein  Ruhm  für  Gott,  daß  Er  unter  den  Menschen,  ver- 
gänglichen Wesen,  nicht  seinesgleichen  findet?  Und  übrigens 
deutet  ihr  doch  jenen  anderen  Vers:  „Es  erhob  sich  kein  Prophet 
mehr  in  Israel,  der  Moses  gliche"  in  der  Weise,  daß  Moses 
unter  den  Israeliten  nicht  seinesgleichen  habe,  wohl  aber  unter 
den  übrigen  Völkern  der  Welt.  Nun  könnte  ich  durch  eine  gleiche 
Schlußfolgerung  aus  dem  obern  Verse  beweisen,  daß  Gott  aller- 
dings unter  den  Weisen  der  Völker  nicht  seinesgleichen  habe, 
wohl  aber  unter  den  Weisen  Israels.  Dann  aber  wäre  Gott  nicht 
unvergleichlicher  Herr  der  Welt.  Prüfe  jenen  Vers  nach  und  du 
wirst  dich  von  der  Richtigkeit  meiner  Beweißführung  über- 
zeugen." Ich  antwortete  jenem  Philosophen:  „In  der  Tat  —  du 
hast  Recht  damit,  daß  es  unter  den  Lehrern  und  Führern  Israels 
solche  gab,  die  Gott  glichen.  Wer  erweckt  die  Toten?  Ist  es 
nicht  der  Herr,  gebenedeit  sei  Er!  ?  Und  doch  haben  auch  Elijah 
und  Elisah  Tote  erweckt.  Wer  läßt  regnen?  Ist  Er  es  nicht?  Und 
doch  vermochte  Elijah  durch  sein  Gebet  den  Regen  zu  beherr- 
schen. Wer  hat  Himmel  und  Erde  geschaffen?  Nicht  Er  der 
Heilige?  Und  doch  bestehen  sie  durch  Abrahams  Verdienst!  Re- 
giert Er  nicht  den  Lauf  der  Sonne?  Und  doch  hat  Josua  sie  zum 
Stillstand  gebracht.  Der  Heilige,  gebenedeit  sei  Er,  bestimmt 
Strafen  und  Moses  hatte  dieselbe  Macht:  er  verhängte  Strafen 
und  sie  erfüllten  sich.  Und  auch  noch  das:  Gott  verhängt  Strafen 
und  die  Gerechten  Israels  vermögen  deren  Wirkung  aufzuheben, 
wie  es  im  zweiten  Buche  Samuelis  heißt:  Der  Gerechte  beherrscht 
die  Furcht  vor  Gott.  Noch  mehr:  Gott  selbst  befiehlt  den  Ge- 
rechten Israels,  in  seinen  Bahnen  zu  wandeln  und  ihm  gleich  zu 
werden  in  allen  Dingen." 

Nach  diesem  Gespräch  verließ  mich  jener  Philosoph  und  ward 
ein  Bekenner  der  Wahrheit  und  nahm  den  Namen  Josse  Quatinaa 
an.  Er  widmete  sich  im  Dorfe  Sehalim  dem  Studium  der  Lehre 
und  wurde  ein  Weiser  und  Gerechter  in  jenem  Kreise. 

276 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

Die  Sabbatheiligung  (i4  b) 
Unsere  Lehrer,  gesegnet  sei  ihr  Andenken,  haben  uns  über- 
liefert: Durch  dreierlei  Vergehen  zieht  sich  der  Mensch  das  Böse 
zu:  Wenn  er  sich  selbst  flucht;  wenn  er  Brotkrümchen  zu  Boden 
fallen  läßt;  vor  allem  aber,  wenn  er  am  Ausgang  des  Sabbats  ein 
Licht  entzündet,  ehe  die  Gemeinde  den  Segensspruch  gesprochen 
hat,  welcher  den  Sabbat  vom  Wochentage  scheidet.  Denn  da- 
durch bewirkt  er,  daß  das  Feuer  der  Hölle  vor  der  Zeit  entzündet 
wird.  Es  gibt  nämlich  in  der  Hölle  eine  besondere  Abteilung,  wo 
diejenigen  hausen,  welche  den  Sabbat  entweiht  haben.  Den  Sabbat 
über  aber  sind  sie  befreit  vom  höllischen  Feuer.  Wenn  dann  die 
Feuer  der  Hölle  zu  früh  entbrennen,  schleudern  sie  Flüche  gegen 
diejenigen,  so  da  vor  der  Zeit  das  Licht  entzündet  haben.  Sie 
rufen  dann  mit  dem  Propheten  Jesaias  (XXII,  17)  ,, Siehe,  der 
Herr  wird  dich  wegwerfen,  wie  ein  Starker  einen  wegwirft,  und 
wird  dich  greifen  und  dich  umtreiben  wie  eine  Kugel  auf  weitem 
Land."  Solange  der  Sabbat  währt,  lagert  seine  Heiligkeit  über 
uns  allen.  Wenn  aber  der  Segenspruch  der  Sonderung  von  Sabbat 
und  Wochentag  gesprochen  worden  ist,  dann  kehren  alle  die 
Heerscharen,  welche  am  Wochentag  Dienst  zu  verrichten  haben, 
zu  ihrem  Ort  und  ihrer  Arbeit  zurück,  die  ihnen  aufgetragen  ist. 
Denn  wenn  der  Sabbat  heraufgekommen  ist  und  der  Tag  geheiligt 
wurde,  verliert  die  Wochentäglichkeit  ihre  Herrschaft.  Und  auch 
wenn  dann  der  Werketag  herangebrochen  ist,  kehren  die  Scharen 
nicht  zu  ihrem  Dienst  zurück,  solange  Israel  nicht  den  Segen- 
spruch gesprochen  hat.  Dann  erst  beginnen  sie  ihre  Arbeit,  wenn 
sie  das  Licht  aus  den  Häusern  leuchten  sehen.  Das  ist  der  Grund, 
warum  die  Verdammten  jenen  fluchen,  welche  am  Sabbataus- 
gang das  Licht  zu  früh  entzünden.  Wer  aber  zögert  mit  der  Ent- 
zündung der  Flamme,  den  segnen  sie  mit  den  Worten:  ,,Das 
Gott  dir  gebe  Überfluß  vom  Tau  des  Himmels  und  vom  Fett  der 
Erde!  Sei  gesegnet  in  der  Stadt,  sei  gesegnet  auf  dem  Lande. 
Glücklich  der  Mensch,  der  ein  Einsehen  hat  mit  den  Armen. 
Gott  wird  ihn  befreien  am  Tage  des  Bösen! " 

Gottes  Wesen  (22  a) 
Es  steht  geschrieben :  Und  es  sprach  Elohim :  Schaffen  wir  einen 
Menschen,  und  anderswo  heißt  es  wieder:   Der  Herr  läßt  seine 


377 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

Geheimnisse  wissen  diejenigen,  die  ihn  fürchten.  Der  Alte  der 
Alten  ließ  seine  Stimme  hören  und  sagte:  „Simeon,  Simeon, 
wer  ist  das,  der  da  von  Elohim  sagt:  Es  sprach  Elohim:  Schaffen 
wir  einen  Menschen?"  Kaum  aher  hatte  der  Alte  der  Alten  diese 
•Worte  gesprochen,  als  er  verschwand  und  Rabbi  Simeon  ihn 
nicht  mehr  sah.  Weil  aber  Rabbi  Simeon  gehört  hatte,  daß  ihn 
die  Stimme  bloß  mit  seinem  Namen,  nicht  als  Rabbi  angerufen 
hatte,  sagte  er  zu  seinen  Genossen:  Sicher  ist  das  der  Heilige, 
gelobt  sei  er,  der  mich  gerufen  hat,  jener,  von  dem  die  Schrift 
sagt:  „Und  der  Alte  der  Tage  saß."  Nun  ist  auch  die  Zeit  ge- 
kommen, ein  Geheimnis  zu  enthüllen,  das  bisher  nicht  offenbar 
werden  durfte.  Denn  jetzt  erhielten  wir  die  Erlaubnis,  es  zu  er- 
öffnen. Und  er  begann:  Es  war  einst  ein  König,  der  viele  Ge- 
bäude zu  errichten  hatte.  Er  hatte  einen  Baumeister,  welcher 
aber  nichts  baute  ohne  Einwilligung  seines  Königs,  wie  es  von 
der  Weisheit  heißt:  Ich  war  bei  ihm  Baumeister.  Der  König 
oben  ist  die  höhere  Weisheit,  und  die  mittlere  Säule  ist  unten 
der  König.  Elohim  ist  aber  der  Baumeister  oben  und  wird  daher 
genannt  „die  hohe  Mutter",  und  er  ist  auch  Baumeister  unten 
und  wird  so  bezeichnet  als  die  Schechina  von  unten.  Wie  aber 
eine  Frau  nicht  die  Erlaubnis  hat,  etwas  ohne  Einwilligung  ihres 
Mannes  zu  unternehmen,  so  hat  auch  der  Vater  sein  Wort  an  die 
Mutter  gerichtet:  Es  werde  dies  und  das,  wie  es  denn  heißt: 
„Es  werde  Licht"  und  dann:  „Es  ward  Licht."  Das  heißt:  Der 
Herr  des  Palastes  ordnet  an  und  der  Baumeister  schafft  sofort 
durch  seine  Macht.  So  wurden  alle  Gebäude  geschaffen.  Wie 
es  denn  heißt:  Es  werde  eine  Ausdehnung!  Es  mögen  Lichter 
erstehen!  —  und  alles  dann  sofort  ward.  Als  man  aber  dazu 
kam,  die  Welt  der  Trennungen  zu  schaffen,  jenen  Zustand  der 
Welt,  da  die  Sonderung  alles  auseinander  hält,  da  sagte  der  Bau- 
meister zum  Bauherrn:  Machen  wir  einen  Menschen  in  unserem 
Ebenbilde  und  nach  unserer  Gestalt!  Der  Bauherr  erwiderte: 
Sicherlich  wäre  es  gut,  ihn  zu  schaffen,  aber  er  wird  sündigen 
gegen  dich,  denn  er  ist  unvernünftig;  wie  es  heißt:  Ein  guter 
Sohn  erfreut  den  Vater  und  ein  törichter  ist  das  Leid  der  Mutter. 
Da  antwortete  Elohim,  die  Mutter:  „Weil  die  Vergehen  des  Men- 
schen die  Mutter  und  nicht  den  Vater  kränken  werden,  will  ich 
ihn  nach  meinem  Bilde  schaffen."  Deshalb  heißt  es:   „Elohim 

278 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

schuf  den  Menschen  nach  seinem  Ebenbilde"  (und  nicht  mehr, 
wie  oben,  auch:  in  seiner  Gestalt).  Der  Vater  wollte  sich  an 
seiner  Schöpfung  nicht  beteiligen.  So  heißt  es  denn  auch  aber 
dort,  wo  von  der  Sünde  des  Menschen  gesprochen  wird:  „Um 
eurer  Sünde  willen  ist  entlassen  worden  eure  Mutter."  Es  sagte 
nämlich  der  König  zur  Mutter:  „Sagte  ich  dir  nicht,  daß  er 
sündigen  wird?"  In  jener  Zeit  wurde  der  Mensch  davongejagt 
und  die  Mutter  mit  ihm.  Deswegen  heißt  es:  „Ein  weiser  Sohn 
erfreut  den  Vater  und  ein  törichter  ist  das  Leid  seiner  Mutter." 
„Der  weise  Sohn",  das  ist  der  Mensch,  wie  er  Gottes  Gedanken 
entsprungen  ist.  „Der  törichte  Sohn",  das  ist  der  Mensch,  wie 
er  in  Wirklichkeit  geworden  ist. 

Als  Rabbi  Simeon  so  gesprochen,  standen  alle  Genossen  aui 
und  riefen:  ,, Lehrer,  Lehrer,  gibt  es  denn  eine  Trennung 
zwischen  dem  Vater  und  der  Mutter,  so  daß  der  Mensch  in  Ge- 
danken von  dem  Vater  und  in  seiner  Verwirklichung  von  der 
Mutter  urständen  sollte?"  Er  erwiderte  ihnen:  „Möchten  eure 
Ohren  hören,  was  euer  Mund  spricht!  Ich  habe  euch  weder  ge- 
sagt, daß  die  Ursache  aller  Ursachen  mit  Elohim  eines  ist,  noch 
habe  ich  euch  gesagt,  daß  eine  Verschiedenheit  zwischen  ihnen 
besteht.  Denn  in  der  letzten  göttlichen  Wesenheit  gibt  es  keine 
Zweiheit,  es  gibt  keinen  zweiten,  mit  dem  sich  Gott  beraten 
könnte.  Er  ist  ein  einziger  und  hJat  keinen  Genossen,  und  des- 
wegen heißt  es  (V.  Mos.  82,  89):  „Ich  bin  Ich  und  kein  Elohim 
bei  mir,  mit  dem  ich  Rates  pflegen  würde.  Es  gibt  keine  Mehr- 
heit, keine  Verbindung,  kein  Maß  in  ihm.  Er  ist  eines  in  allem. 
Die  innige  Verbindung  von  Mann  und  Weib  mag  mit  seiner  Ein- 
heit verglichen  werden,  denn  auch  sie  werden  für  eines  erachtet, 
wie  es  heißt:  ,Als  eines  habe  ich  sie  gerufen.'  Deswegen  hat 
Gott  gesagt:  ,Ich  bin  Ich  und  kein  Elohim  bei  mir.  Denn  Ich 
bin  Elohim  und  Elohim  ist  Ich.*  "  Da  erhoben  sich  alle  Genossen 
R.  Simeons,  warfen  sich  hin  vor  den  Meister  und  riefen:  „Selig 
der  Mensch,  dem  Gott  erlaubt  hat,  die  Geheimnisse  zu  enthüllen, 
die  selbst  den  Engeln  nicht  offenbart  worden  sind." 

Ruheund  Wandel  (I.  5o  b) 
Rabbi  Simeon  begann  den  Vortrag  und    sagte:     Zwei  Sätze 
stehen  im  Fünfbuche  nebeneinander,  und  der  eine  scheint  dem 


279 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

andern  zu  widersprechen.  Es  steht  geschrieben:  „Der  Herr,  dein 
Gott,  ist  ein  verzehrendes  Feuer"  (V.  Mos.  4,  24),  und  doch 
wieder  heißt  es  ebenda:  „Und  ihr,  die  ihr  anhanget  dem  Herrn, 
eurem  Gott,  bleibt  alle  bis  heute  am  Leben"  (V.  Mos.  4,  4).  Wenn 
Gott  ein  verzehrendes  Feuer  ist,  wie  mag  man  ihm  anhangen 
und  dabei  leben  bleiben? 

Die  Freunde  haben  schon  erklärt,  der  Vers,  der  Gott  dem 
Feuer  vergleicht,  müsse  so  verstanden  werden,  daß  Gott  ein  Feuer 
ist,  welches  das  Feuer  verzehrt.  Denn  es  kann  ein  Feuer  mächtiger 
sein  als  das  andere.  Wer  aber  dies  Geheimnis  der  göttlichen 
Einung  ganz  begreifen  will,  der  betrachte  eine  Leuchte.  Die 
Flamme  erhebt  sich  da,  sei  es  aus  der  Kohle,  sei  es  aus  der 
entzündeten  Kerze.  Nie  kann  die  Flamme  entbrennen,  geht  sie 
nicht  aus  von  einem  groben  Stoffe.  Und  nun  beachte:  es  gibt 
in  der  Flamme,  die  da  emporschlägt,  zwei  Lichter:  ein  weißes 
und  ein  dunkles.  Das  weiße  ist  oben  und  ragt  gerade  auf,  und 
unter  ihm,  als  wäre  es  sein  Thron,  düstert  das  dunkle  Licht. 
Beide  sind  eine  Flamme,  aber  das  dunkle  ist  der  Thron  des  hellen 
Lichtes.  Dies  dunkle  Licht  aber  —  das  wir  den  Thron  nannten  — 
verbindet  sich  mit  dem  Körper,  an  dem  es  entbrennt,  und  reicht 
hinauf  in  das  leuchtend  helle.  Das  dunkle  spielt  in  allen  Farben: 
bald  ist  es  blau,  bald  schwarz,  bald  rot.  Das  weiße  Licht  jedoch 
verändert  sich  niemals,  ohne  Wechsel  beharrt  es.  Das  dunkle 
Licht  nun  verbindet  das  strahlende  Weiß  der  Flamme  mit  dem 
Körper,  an  dem  ihr  Glanz  entbrennt.  Und  die  dunkle  Flamme 
zehrt  an  diesem  Körper,  und  je  mehr  sie  in  die  Höhe  strebt, 
desto  mehr  muß  sie  zehren.  Nicht  so  die  weiße  Lohe:  sie  zehrt 
nichts  auf  und  beharrt  ohne  Wandel. 

So  meinte  es  Moses,  als  er  sprach:  „Der  Herr,  dein  Gott,  ist 
ein  verzehrendes  Feuer."  Denn  er  verzehrt  alles,  was  unter  ihm 
ist  —  bis  das  Göttliche  in  dir  zur  weißen  Flamme  emporge- 
läutert ist.  Darum  sagte  auch  Moses:  Der  Herr,  dein  Gott,  und 
nicht  mein  oder  unser  Gott,  denn  Moses  selbst  stand  schon  in 
jener  weißen  Flamme,  die  oben  leuchtet  und  nichts  verzehrt. 

Und  nun  beachtet,  daß  die  Einheit  des  dunklen  mit  dem  hellen 
Lichte  ein  Werk  Israels  —  der  göttlichen  Gemeinde  auf  Erden  — 
ist.  Indem  sich  Israel  an  die  dunkle  Flamme  hingibt,  vereinigt 
sich  diese  mit  der  leuchtenden  Helle  über  ihr.  Und  obwohl  es 

280 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

die  Art  des  dunklen  Lichtes  ist,  alles  zu  verzehren,  was  unter 
ihm  ist  und  sich  ihm  ergibt,  bleibt  Israel  doch  bestehen.  Darum 
heißt  es:  „Und  ihr,  die  ihr  anhanget  dem  Herrn,  eurem  Gotte, 
lebet  alle  heute." 

Über  der  weißen  Flamme  endlich  lagert  ein  verborgener  Glanz, 
der  sie  umgibt.  Er  deutet  uns  das  höchste  Geheimnis  an. 

So  ist  uns  die  Flamme  ein  Bild  aller  hehren  Geheimnisse. 

Als  Rabbi  Pinchas  diese  Worte  Rabbi  Simeons  hörte,  trat  er 
hin,  küßte  ihn  und  sprach:  Gelobt  sei  der  Allerbarmer,  der  meine 
Schritte  zu  dir  gelenkt  hat! 

II. 

(Übertragen  von  Ernst  Müller) 

Das  Licht  des  Urquells 

Es  sprach  Gott:  ,,Es  werde  Licht  —  und  werde*)  Licht."  Das 
Sprechen  kann  nur  an  andere  gerichtet  sein.  Und  zwar  geht  das 
erste  ,, werde"  an  die  diesseitige,  das  zweite  an  die  künftige  Welt. 

Es  ist  dies  das  Leuchten,  das  der  Hochgebenedeite  im  Uranfang 
schuf,  genannt  das  Licht  des  Urquells.  Dieses  Licht  lieh  der  Hoch- 
gebenedeite dem  Urmenschen,  darin  zu  schauen  vom  Anfang  bis 
ans  Ende  der  Welt.  Desgleichen  dem  David,  der  dies  in  seinem 
Hymnus  in  den  Worten  bekannte:  „Wie  reich  ist  dein  Gut,  das 
du  den  dich  Ehrfürchtenden  als  Schatz  bewahret  hast"  (Ps.  3i, 
v.  20).  Desgleichen  auch  dem  Moses,  der  darin  blicken  konnte 
von  Gilead  bis  Dan. 

Gott  hatte  es  aber  verborgen  in  Voraussicht  der  drei  sündigen 
Geschlechter:  des  Enoch,  der  Sündflut  und  derer,  die  sich  zum 
Turmbau  von  Babel  vermaßen  —  damit  sie  sein  nicht  genießen 
und  es  mißbrauchen  können. 

Und  er  gab  es  wieder  dem  Moses,  der  die  drei  Monate  nach 
seiner  Geburt  sich  seiner  bediente  —  darum  heißt  es:  ,,Sie  hütete 
ihn  (wie  einen  Schatz**)  drei  Monde  lang."  (Ex.  c.  II,  v.  2.) 
Nach  drei  Monaten  kam  er  vor  Pharao  —  da  nahm  der  Hoch- 

*)  Der  Satz:  „Es  werde  Licht  und  —  ward  Licht"  läßt  bei  völliger  Gleich- 
heit des  ersten  und  zweiten  Teils  auch  die  Möglichkeit  obiger  Auffassung  zu, 
welche  der  „Sohar"  hier  zugrunde  legt. 
**)  Es  ist  dasselbe  Wort  gebraucht  wie  in  dem  oben  zitierten  Psalmvers. 

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AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

gebenedeite  das  Licht  von  ihm;  bis  er  auf  dem  Berge  Sinai  stand, 
um  die  Thorah  zu  empfangen,  da  kehrte  ihm  das  Licht  zurück, 
und  er  konnte  es  alle  Tage  seines  Lebens  benützen.  Aus  diesem 
Grunde  vermochten  die  Kinder  Israels  nicht  sich  ihm  zu  nähern, 
bis  er  „einen  Schleier  über  das  Angesicht  zog",  so  wie  es  heißt: 
„Sie  fürchteten  an  ihn  heranzutreten."  (Ex.  c.  34,  v.  3o  u.  35.) 
Und  es  umhüllte  ihn  das  Licht  wie  ein  Mantel,  darum  heißt  es: 
„Er  bedeckt  sich  mit  Licht  wie  mit  einem  Kleide."  (Ps.  io4,  v.  2.) 

Also  sprach  Rabbi  Jizchak :  Das  Licht,  das  der  Hochgebenedeite 
im  Schöpfungswerk  geschaffen  —  sein  Strahlen  ging  von  Welten- 
ende zu  Weltenende,  und  dann  blieb  es  verborgen.  Aus  welchem 
Grunde?  Damit  die  Sündigen  nicht  seiner  genießen.  Es  bleibt 
aber  bewahrt  für  die  Geläuterten  (Zaddikim).  So  heißt  es  aus- 
drücklich: „Licht  ist  gesät  für  den  Geläuterten,  für  jene  aber, 
so  geraden  Herzens  sind,  Freudigkeit."  (Ps.  97,  v.  11.)  Bis  daß 
die  Welten  zur  Veredlung  kommen  und  schließlich  zur  Einheit 
' —  bis  zu  jener  künftigen  Welt  bleibt  es  verborgen  und  ver- 
wahrt. 

Und  jenes  künftige  Licht  muß  aus  der  Finsternis  kommen, 
in  deren  Hüllenwesen  es  noch  verborgen  ist  —  so  lange,  bis  aus 
jenem  ursprünglich  zurückgezogenen  Licht  auf  einem  Pfad  ein 
Verborgenes  sich  einprägt  der  „unteren  Finsternis",  worinnen 
Licht  noch  zurückgelassen  ist.  Diese  „untere  Finsternis"  ist  es, 
welche  Nacht  (Lailah)  genannt  ist,  so  wie  es  heißt:  „Die  Finster- 
nis rief  er  ,Lailah'."  Hierauf  bezüglich  haben  wir  auch  den 
Schriftsatz  deuten  gelernt:  „Er  offenbart  Tiefen  aus  der  Finster- 
nis." (Job,  c.  12,  V.  22.)  Sprach  Rabbi  Josse:  Sollte  hiemit  nur 
gemeint  sein,  daß  alle  jene  erhabenen  „Kronen",  welche  auch 
„Tiefen"  genannt  sind,  aus  dem  Verborgenen  enthüllt  werden? 
Es  will  vielmehr  gerade  darauf  hingedeutet  sein,  daß  sie  nur  aus 
jener  Finsternis  heraus  offenbart  werden  können.  Dann  wird 
das  Licht  des  Mondes  mit  dem  Sonnenlicht  auf  einer  Stufe  sein, 
während  es  bis  dahin  verborgen  und  verschlossen  war. 

Beachte  auch  wohl,  wie  all  jene  kostbaren  Verborgenheiten, 
die  aus  Gedankenkraft  kommen,  die  aber  die  hörbare  Stimme 
hin  wegträgt,  erst  durch  das  ,,Wort"  geoffenbart  werden.  Dieses 
„Wort"  wird  auch  mit  dem  Namen  ,, Sabbat"  bezeichnet,  und 
darum  darf  nichts  Unheiliges  am  Sabbat  gesprochen    werden, 

282 


AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

weil  jenes  Wort  zur  Herrschaft  kommen  soll,  kein  anderes.  Das 
Wort  ist  es  aber,  das  aus  der  Region  der  Finsternis  kommen  muß, 
um  die  „Tiefen  zu  offenbaren". 

Sprach  Rabbi  Jizchak:  Wenn  dem  so  ist,  warum  heißt  es  dann: 
„Er  unterschied  zwischen  Licht  und  Finsternis"?  Die  Antwort 
lautete:  „Licht  ließ  Tag  entstehen,  Finsternis  Nacht.  In  dieser 
Form  konnte  sie  Gott  wieder  in  eine  Einheit  binden,  so  wie  es 
heißt:  „Es  war  Abend,  es  war  Morgen  —  ein  Tag"  —  so  daß 
Tag  und  Nacht  eins  genannt  werden.  Und  die  Scheidung  bezieht 
sich  auf  die  Zeit  der  Verbannung,  darinnen  alles  geschieden  ist." 
Sprach  wiederum  Rabbi  Jizchak:  ,Bis  nun  wohnt  das  Männliche 
im  Licht,  das  Weibliche  in  der  Finsternis.  Später  werden  sie  in 
eins  verbunden.  Was  bedeutete  dann  der  Unterschied  zwischen 
Licht  und  Finsternis?*  „Es  ist  ein  Unterschied  der  Stufen,  und 
beide  sind  eins  insof  erne,  als  es  kein  Licht  gibt  als  in  der  Finster- 
nis und  keine  Finsternis  als  nur  im  Lichte;  und  wieder,  obwohl 
sie  auf  diese  Weise  eine  unlösbare  Einheit  bilden,  sind  sie  ihrer 
Art  nach  doch  unterschieden." 

Rabbi  Simeon  sprach:  Aus  dem  ,, Bunde"  kommt  der  Welt 
Schöpfung  und  Bestand,  so  wie  es  heißt:  Ohne  meinen  „Bund 
von  Tag  und  Nacht  —  Gesetze  von  Himmel  und  Erde  hätt'  ich 
nicht  geprägt"  (Jer.,  c.  33,  v.,25).  Wer  ist  der  Bund?  Der  Ge- 
läuterte, die  Grundfeste  der  Welt  —  er  bezeichnet  auch  das  Ge- 
heimnis des  „Eingedenkseins",  und  so  kann  denn  die  Welt  ver- 
möge des  Bundes  von  Tag  und  Nacht  als  eine  bestehen.  Die 
„Gesetze  des  Himmels"  —  sie  kommen  herab  vom  oberen 
„Eden". 

Auch  begann  R.  Simeon  einmal  seinen  Lehrvortrag  mit  folgen- 
dem Schriftsatz:  ,,Von  der  Stimme  der  in  der  Mitte  Schreitenden, 
zwischen  den  Schöpfenden  —  dort  preisen  sie  die  Lauterkeiten 
Jahwes."  (Richter,  c.  5,  v.  n.)*)  j^Die  Stimme  der  in  der  Mitte 
Schreitenden"  —  das  ist  die  Stimme  Jakobs.  Dieses  Wort:  „die 
in  der  Mitte  Schreitenden"  („Mechazzim")  entspricht  auch  dem 
rätselhaften  Worte:  „ein  Mann  des  zwischen  zwei  (Welten)  Be- 
findlichen".   Und   dieses   Mittlerwesen   wohnt   zwischen   jenen, 

*)  Im  folgenden  wird  das  Deborahlied,  überreich  an  schwer  verständlichen, 
resp,  archaistisch  scheinenden  Worten,  mystisch  gedeutet  und  auf  ein  Mittler- 
wesen zwischen  Menschen-  und  Gotteswelt  bezogen. 

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AUS  DEM  BUCHE  SOHAR 

welche  die  Wasser  der  Höhe  schöpfen  —  es  faßt  aber  beide  Seiten 
und  nimmt  jene  (Schöpfenden)  in  sich  auf.  „Dort"  bezeichnet  die 
Stätte  des  treuen  Anhangens.  Und  „dort"  saugen  und  schöpfen 
sie  von  den  Lauterkeiten  Jehovas.  Das  sind  die  „Lauterkeiten 
seines  überreichen  Spendens"  (in  Israel)  (ebd.)  —  das  bezieht 
sich  auf  den  Lautersten  der  Welt,  der  beständig  und  heilig  ist 
und  aus  allem  schöpft  und  wieder  ausgießt  zu  einem  weiten 
Meere  die  Wasser  der  Höhen.  „In  Israel"  —  denn  das  ist  sein 
ewiges  Erbe,  solange  es  die  Zeichen  des  Bundes  in  richtiger 
Weise  wahrt. 

„Sie  kamen  an  den  Toren  herab"  —  das  sind  die  Tore  der 
Lauterkeit,  vor  denen  sie  sich  hielten,  ohne  aber  einzutreten.  So 
heißt  es  auch  von  jener  Zeit:  „Die  Söhne  Israels  verließen  den 
Herrn  usw."  —  (Richter,  c.  2,  v.  12)  — ,  bis  Deborah  kam,  so  wie 
es  heißt:  „Als  Wildheit  war  in  Israel",  doch  „das  Volk  sich  be- 
schenken ließ"  (ebd.,  c.  5,  v.  2),  und  darum  auch  wieder:  „Auf- 
gehört hatte  das  überreiche  Spenden  an  Israel",  das  Spenden 
nämlich  jenes  Beständigen  und  Heiligen.  „Bis  ich  aufstand,  De- 
borah, aufstand,  eine  Mutter  in  Israel."  Was  bedeutet  hier 
„Mutter"?  „Ich  ließ  hernieder  Wasser  der  oberen  Welten,  um 
festzugründen  eine  Welt  auf  Israel,  nach  oben  und  nach  unten  — 
und  offenbar  zu  machen,  daß  die  Welt  nicht  besteht  als  nur 
durch  solchen  Bestand."  Und  das  ganze  Geheimnis  ist  auch  schon 
in  den  Worten  ausgesprochen:  „Der  Geläuterte  ist  die  Grund- 
feste der  Welt.*'  (Sprüche,  c.  10,  v.  25.) 

So  heißt  es  auch:  Drei  gehen  aus  von  Einem,  Einer  besteht  in 
Drei;  Einer  tritt  zwischen  Zwei;  Zwei  saugen  Wesen  an  Einem 
und  Einer  von  allen  Seiten.  So  wird  alles  Eins.  Dies  ist  auch 
angedeutet  in  dem  Satze:  „Und  ward  Abend  und  ward  Morgen 
—  ein  Tag."  Gleichwie  der  Tag  Abend  und  Morgen  umfaßt,  so 
ist  es  das  Geheimnis  des  Bundes,  daß  er  Tag  und  Nacht  verbindet 
und  alles  in  ihm  doch  eins  ist. 


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