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Full text of "Von der Klassifikation der psychischen Phänomene"

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BRITISH  COLUMBIA 


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http://www.archive.org/details/vonderklassifikaOObren 


Von  der  Klassifikation 


der 


psydiisdien  Phänomene 


Neue,  durdi  Naditräge  stark  vermehrte  Ausgabe 

der   betreffenden   Kapitel    der    Psychologie    vom 

empirisdien  Standpunkt 


Franz  Brentano 


Leipzig 

Verlag   von  Dund^er   &   Humblot 

1911 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


III  — 


Vorwort. 

Nicht  die  Lehr-  und  Handbücher,  welche  sich  die  Dar- 
stelkmg  einer  wissenschaftlichen  Disziplin  als  Ganzes  zur 
Aufgabe  setzen,  sondern  Monographien,  welche  einem  ein- 
zelnen Problem  gewidmet  smd,  pflegen  am  meisten  zum 
Fortschritt  der  Wissenschaft  beizutragen.  Und  so  ist  es 
denn  nicht  zu  verwundern ,  wenn  meine  Psychologie  vom 
empirischen  Standpunkt,  die  ein  Fragment  geblieben  ist, 
trotzdem  in  weiten  Kreisen  Teilnahme  finden  konnte^ 
gewisse  elementare  Fragen  waren  darin  in  ganz  neuer 
Weise  beantwortet,  und  durch  eingehendste  Begründung 
hatte  ich  jede  neue  Bestimmung  zu  sichern  mich  bemüht. 
So  hat  sich  insbesondere  meiner  Untersuchung  über  die 
Klassifikation  der  psychischen  Phänomene  mehr  und  mehr 
die  allgemeine  Aufmerksamkeit  zugewandt,  und  als  Zeichen 
eines  noch  immer  wachsenden  Interesses  mag  es  betrachtet 
werden ,  wenn  ich  jüngst  um  die  Erlaubnis  zu  einer  neuen 
Veröffentlichung  der  betreffenden  Kapitel  in  italienischer 
Übersetzung  angegangen  wurde. 

Mehr  als  drei  Dezennien  waren  seit  dem  Erscheinen 
meines  Buches  verflossen,  und  neue  Forschungen  hatten  bei 
mir  zwar  der  Hauptsache  nach  die  damals  ausgesprochenen 
Ansichten  bestehen  lassen,  aber  doch  in  manchem  nicht 
unwichtigen  Punkt  zu  einer  lortbildung  oder,  wie  ich 
wenigstens  glaube,  berichtigenden  Modifikation  geführt.  Es 
schien  mii'  unmöglich,  dieselben  unerwähnt  zu  lassen.  Und 
doch  empfahl  es  sich  zugleich,  die  Darlegung  in  ihrer 
ursprünglichen  Gestalt,  in  der  sie  auf  die  Zeitgenossen  ge- 
wirkt hatte,   beizubehalten;   und  dies  um  so  mehr,  als  ich 

I* 


—    IV    — 

die  Erfahrung  gemacht  hatte,  daß  manche  angesehene 
Psychologen,  die  meiner  Lehre  ernste  Beachtung  geschenkt, 
ihr  mehr  in  der  früheren  Fassung  beizupflichten ,  als  auf 
den  neuemgeschlagenen  Wegen  mir  zu  folgen  geneigt  waren. 
So  entschloß  ich  mich  zu  einer  so  gut  wie  unveränderten 
Wiedergabe  des  alten  Textes,  zugleich  aber  zu  seiner  Be- 
reicherung durch  gewisse  Bemerkungen,  die  ich  zum  Teil 
als  Fußnoten,  zum  Teil  aber,  und  vorzüglich,  als  Anhang 
beifügte.  Sie  enthalten  neben  einer  Verteidigung  gegen 
gewisse  Angrifl'e,  welche  meine  Lehre  von  anderer  Seite 
erfahren,  auch  eine  Angabe  von  solchen  Momenten,  für  die 
ich  selbst  eme  Korrektur  nötig  finde. 

Eine  der  wichtigsten  Neuerungen  ist  die,  daß  ich  nicht 
mehr  der  Ansicht  bin,  daß  eine  psychische  Beziehung  jemals 
anderes  als  Reales  zum  Objekt  haben  könne.  Die  Absicht, 
gerade  in  diesem  Stücke  meinen  gegenwärtigen  Standpunkt 
als  den  richtigen  zu  erweisen,  nötigte  mich,  ganz  neue 
Fragen  einzubezieheu,  wie  z.  B.  auf  die  Untersuchung  über 
die  Modi  des  Vorstellens  einzugehen. 

Ich  weiß  wohl,  daß  die  Gedrängtheit  der  Darstellung 
das  Verständnis  nicht  erleichtert.  Umsomehr  habe  ich  mich 
großer  Präzision  im  Ausdruck  beflissen. 

Deutsche  Psychologen,  welche  von  der  italienischen 
Übersetzmig  und  den  Zugaben  zu  ihr  erfahren  hatten, 
machten  mich  darauf  aufmerksam,  daß  ich  doch  wohl  tun 
werde,  des  Buch  zugleich  in  deutscher  Sprache  erscheinen 
zu  lassen,  zumal  meine  Psychologie  vom  empirischen  Stand- 
punkt seit  Jahren  vergriffen  sei.  Und  so  erschemt  denn 
auf  ihre  Anregmig  alles,  was  die  italienische  Neuausgabe 
enthält,  hier  auch  als  zweite,  in  der  angegebenen  Weise 
erweiterte  Neuausgabe  des  deutschen  Originals. 

Florenz  1911. 

Franz  Brentauo. 


—    V    — 


Inhalt. 


Er  s t e  s  Kap  it e  1. 

■"-  Seite 

Überblick    über    die    vorzügrlichsteu    Tersuclie    einer   Elassifi- 
kation  der  psychischeu  Pbänoiueiie 1 

§  1.    Piatons  Unterscheidung  eines  begierlichen,  zornmütigen  und 

vernünftigen  Seelenteiles 1 

§  2.     Die     Grundeinteilungen     der     psychischen    Phänomene    bei 

Aristoteles 4 

§  S.    Nachwirkung    der    Aristotelischen    Klassifikationen.      Wolii". 

Hume.     Reid.     Brown 7 

§  4.  Die  Dreiteilung  in  Vorstellung,  Gefühl  und  Begehren.  Tetens. 
Mendelssohn.  Kant.  Hamilton.  Lotze.  Welches  war  das 
eigentlich  maßgebende  Prinzip? g 

§  5.     Annahme    der    drei   Glieder    der  Einteilung   von   Seiten   der 

Herbartschen  Schule 20 

§  6.     Die  Einteilungen  von  Bain 20 

§  7.  Rückblick  auf  die  zum  Behuf  einer  Grundeinteiluug  an- 
gewandten Prinzipien 23 

Zweites   Kapitel. 
Einteilung:  der  Seeleutätigkeiteu  in  Yorstelluugen,  Urteile  und 
Phänomene  der  Liebe  und  des  Hasses 25 

§  1.     Verwerfung  der  Grundeinteilungen,  die  nicht  aus  dem  Studium 

der  psychischen  Erscheinungen  hervorgehen 2-"i 

§  2.  Eine  Grundeinteilung,  welche  die  verschiedene  Weise  der 
Beziehung  zum  immanenten  Objekte  zum  Prinzipe  nimmt,  ist 
gegenwärtig  jeder  anderen  vorzuziehen 2(> 

§  8.  Die  drei  natürlichen  Grundklassen  sind:  Vorstellungen,  Ur- 
teile und  Phänomene  der  Liebe  und  des  Hasses 30 

§  4.     Welches    Verfahren    zur    Rechtfertigung     und    Begründung 

dieser  Einteilung  einzuschlagen  sei 3H 

Drittes  Kapitel. 
Yorstellung-  und  Urteil   zwei  verscliiedene  Grundklassen       •   •      35 

§  1.     Zeugnis  der  inneren  Erfahrung 35 


—    VI    — 

Sfif 

§  2.     Der    Unterschied    zwischen   Vorstellung    und   Urteil    ist    ein  . 

Unterschied  in  den  Tätigkeiten  selbst 36 

§  3.     Er  ist  kein  Unterschied  der  Intensität 39 

;^  4.     Er  ist  kein  Unterschied  des  Inhaltes 41 

§  5.  Es  ist  nicht  richtig,  daß  die  Verbindung  von  Subjekt  und 
Prädikat  oder  eine  andere  derartige  Kombination  zum  Wesen 
des  Urteils  gehört.     Dies  zeigt  erstens  die  Betrachtung  des 

affirmativen  und  negativen  Existenzialsatzes  ; 45 

§6.  zweitens  bestätigt  es  sich  im  Hinblicke  auf  die  Wahr- 
nehmungen, und  insbesondere  auf  die  Bedingungen  der  ersten 

Wahrnehmungen ; 46 

§7.  drittens  ergibt  es  sich  aus  der  Rückführbarkeit  aller  Aus- 
sagen auf  Existenzialsätze 49 

§  8.  Es  bleibt  hienach  nichts  übrig,  als  die  Eigentümlichkeit  des 
Urteils  in  der  besonderen  Beziehungsweise   auf  seinen  Inhalt 

zu  erkennen 58 

§  9.  Alle  Eigentümlichkeiten,  die  anderwärts  den  fundamentalen 
Unterschied   in   der  Weise   der  Beziehung    zum   Gegenstande 

kennzeichnen,  finden  sich  auch  in  unserem  Falle 60 

§  10.     Rückblick  auf  die  dreifache  Weise  der  Begründung  ....       64 
§  11.     Die  irrige  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Vorstellung  und 
Urteil  wurde  dadurch   veranlaßt,   daß  in  jedem  Akte  des  Be- 
wußtseins eine  Erkenntnis  beschlossen  ist 65 

§  12.    Dazu   kamen   sprachliche  Gründe  der  Täuschung:    einmal 

die  gemeinsame  Bezeichnung  als  Denken  : 67 

§  13.     dann  der  Ausdruck  in  Sätzen 68 

§  14.  Folgen  der  Verkennung  der  Natur  des  Urteils  für  die  Meta- 
physik,             70 

§  15.    für  die  Logik, 71 

§  16.     für  die  Psychologie 74 

Viertes    Kapitel. 

Einheit  der  (xruudklasse  fttr  Gefühl  und  Willen '^7 

§  1.  Die  innere  Erfahrung  lehrt  die  Einheit  der  Grundklasse  für 
Gefühl  lind  Willen;  einmal,  indem  sie  uns  mittlere  Zustände 
zeigt,  durch  welche  zwischen  ihnen  ein  allmählicher,  kon- 
tinuierlicher Übergang  gebildet  wird  : 77 

§  2.     dann,  indem  sie  uns  den  übei'einstimmenden  Charakter  ihrer 

Beziehungen  auf  den  Inhalt  erkennen  läßt 80 

§  3.  Nachweis,  daß  jedes  Wollen  und  Begehren  auf  etwas  als  gut 
oder  schlecht  gerichtet  ist.  Die  Philosophen  aller  Zeiten  sind 
darin  einig 84 

§  4.     Nachweis,  daß  hinsichtlich  der  Gefühle  dasselbe  gilt ....       86 


—    VII    — 

Seite 

§  5.  Charakter  der  Klassenunterschiede  innerhalb  des  Gebietes 
von  Gefühl  und  Willen:  Definierbarkeit  mit  Hilfe  der  zu 
Grunde  liegenden  Phänomene  : 93 

§  6.    untergeordnete  A^'erschiedenheiten  der  Beziehungsweise   zum 

Objekte 96 

§  7.  Keine  von  den  Eigentümlichkeiten,  welche  in  anderen  Fällen 
die  fundamentale  Verschiedenheit  in  der  Weise  der  Beziehung 
zum  Gegenstande  kennzeichnen,  charakterisiert  den  Unterschied 
von  Gefühl  und  Willen 98 

§  8.     Rückblick  auf  die  vorangegangene  dreifache  Erörterung    .    .     104 

§  9.  Die  vornehmsten  Ursachen,  welche  die  Täuschung  über  das 
Verhältnis  von  Gefühl  und  Willen  veranlaßten,  waren  folgende : 
Erstens  die  besondere  Vereinigung  des  inneren  Bewußtseins 
mit  seinem  Objekte  war  leicht  mit  einer  besonderen  Weise 
des  Bewußtseins  zu  \erwechseln 104 

§  10.     Zweitens    setzt    das   Wollen    eine    aus    dem    Vermögen   der 

Liebe  unableitbare  Fähigkeit  des  Wirkens  voraus 106 

§  11.  Dazu  kam  ein  sprachlicher  Anlaß:  die  ungeeignete  Bezeich- 
nung der  gemeinsamen  Klasse  mit  dem  Namen  Begehren    .    .     109 

§  12.  Auch  förderte  die  Verkennuug  des  Verhältnisses  von  Vor- 
stellung und  Urteil  die  Täuschung  über  jenes  von  Gefühl  und 
Willen.  Beziehung  der  drei  Ideen  des  Schönen,  Wahren  und 
Guten  zu  den  drei  Grundklassen 110 

Fünftes  Kapitel. 

Yergleich  der  drei  Orundklassen  mit  dem  dreifachen  Phä- 
nomen des  inneren  Bewußtseins.  Bestimmung  ihrer  natiir- 
liclien  Ordnung 117 

§  1.  Je  eines  der  drei  Momente  des  inneren  Bewußtseins  ent- 
spricht einer  der  drei  Klassen  der  psychischen  Phänomene.    .     117 

§  2.     Die    natürliche    Ordnung    der   drei   Grundklassen    ist  diese : 

erstens  Vorstellung,  zweitens  Urteil,  drittens  Liebe 119 

A  n  h  a  n  g. 

Nachträgliche  Bemerkungen  zur  Erläuterung  und  Verteidigung, 
wie  zur  Berichtigung  und  Weiterlührung  der  Lehre  ....     122 
I.  Die   psychische  Beziehung   im  Unterschied  \on   der  Relation 

im  eigentlichen  Sinne 122 

IL  Von  der  psychischen  Beziehung  auf  etwas  als  sekundäres 
Objekt 127 

III.  Von  den  Modis  des  Vorstellens 131 

IV.  Von  der  attiübutiven  Vor3telluugs\-erbindung  in  recto  und  in 
obliquo 134 


—    VIII    — 

Seite 
V.  Von   der  Modifikation   der  Urteile   und   Gemütsbewegungen 

durch  die  Modi  des  Vorstellens 135 

VI.  Von  der  Unmöglichkeit,  jeder  psychischen  Beziehung  eine 
Intensität  zuzuerkennen  und  insbesondere  die  Grade  der 
Überzeugung  und  Bevorzugung  als  Unterschiede  der  Intensi- 
tät zu  fassen 138 

VII.  Von  der  Unmöglichkeit,  Urteil  und  Gemütsbeziehung  in  einer 

Grundklasse  zu  verL'inigen 140 

VIII.  Von  der  Unmöglichkeit,  für  Gefühl  und  Wille  in  Analogie 
zu  Vorstellung  und  Urteil  verschiedene  Grundklassen  an- 
zunehmen     143 

IX.  Von  den  wahren  und  fiktiven  Objekten 145 

X.  Von  den  Versuchen,  die  Logik  zu  mathematisieren    ....     158 
XI.  Vom  Psychologismus 165 


—   1    - 


Erstes  Kapiter. 

Überblick  über  die  vorzügliclisten  Yersiicbe 

einer  Klassifikation  der  psycliiscben 

Phänomene. 

§  1.  Wir  kommen  zu  einer  Untersuchimg,  die  nicht 
bloß  an  sich,  sondern  auch  für  alle  folgenden  von  großer 
Wichtigkeit  ist.  Denn  die  wissenschaftliche  Betrachtimg 
bedarf  der  Emteihmg  und  Ordnung,  und  diese  dürfen  nicht 
willkürlich  gewählt  werden.  Sie  sollen,  so  viel  als  möglich, 
natürlich  sein  und  sind  dieses  dann,  wenn  sie  einer  mög- 
hchst  natürlichen  Klassifikation  ihres  Gegenstandes  ent- 
sprechen. 

Wie  anderwärts,  so  werden  auch  in  bezug  auf  die 
psychischen  Phänomene  Haupteinteilungen  und  Unter- 
einteilungen zu  treffen  sein.  Zunächst  aber  wird  es  sich 
um  die  Bestimmung  der  allgemeinsten  Klassen  handeln. 

Die  ersten  Klassifikationen,  wie  überhaupt  so  auch  auf 
psychischem  Gebiete,  ergaben  sich  Hand  in  Hand  mit  der 
fortschreitenden  Entwickelung  der  Sprache.  Diese  enthält 
allgemeinere  wie  minder  allgemeine  Ausdrücke  für  Phäno- 
mene des  inneren  Gebietes,  und  die  frühesten  Erzeugnisse 
der  Dichtkunst  beweisen,  daß  schon  vor  Beginn  der 
griechischen    Philosophie    der    Hauptsache    nach    dieselben 

^  Dieses  Kapitel  ist  das  fünfte  des  zweiten  Buches  meiner  Psycho- 
logie vom  empirischen  Standpunlit.  Die  früheren,  hier  entfallenen 
Kapitel  dieses  Buches,  auf  deren  Inhalt  manchmal  zurückgeblickt  wird, 
handeln:  Kap.  I  von  dem  Unterschiede  der  psychischen  und  physischen 
Phänomene,  Kap.  II  und  III  vom  inneren  Bewußtsein  und  Kap.  IV  von 
der  Einheit  des  Bewußtseins. 

Brentano,  Klassifikation  der  psychischen  Phänomene.  1 


Unterscheidungen  gemacht  waren,  welche  noch  jetzt  eine 
im  Leben  gangbare  Bezeichnung  finden.  Bevor  jedoch 
Sokrates  zur  Definition  anregte,  mit  welcher  die  wissen- 
schaftliche Klassifikation  aufs  Innigste  zusammenhängt, 
wurde  von  keinem  Philosophen  ein  nennenswerter  Ver- 
such zu  einer  Grundeinteilung  der  psychischen  Erschei- 
nungen gemacht. 

Piaton  gebührt  wohl  das  Verdienst,  hier  die  Bahn 
gebrochen  zu  haben.  Er  unterschied  drei  Grundklassen  der 
psychischen  Phänomene,  oder  vielmehr,  wie  er  sich  aus- 
drückte, drei  Teile  der  Seele,  von  denen  jeder  besondere 
Seelentätigkeiten  umschloß  •,  nämlich  den  be  gier  liehen, 
den  zornmütigen  und  den  vernünftigen  SeelenteiP. 
Diesen  drei  Teilen  entsprachen,  wie  wir  schon  gelegentlich 
bemerkten^,  die  drei  Stände,  welche  Piaton  als  die  haupt- 
sächlichsten im  Staate  unterschied:  der  Stand  der  Er- 
werbenden ,  welcher  die  Hirten ,  Ackerbauer ,  Handwerker, 
Kaufleute  und  andere  umfaßte,  der  Stand  der  Wächter  oder 
Krieger  und  der  Stand  der  Herrscher.  Auch  sollten  sich 
nach  denselben  drei  Seelenteilen  und  in  Rücksicht  auf  ihr 
relatives  Übergewicht  die  drei  hauptsächlichsten  Völker- 
gruppen, die  der  verweichlichten,  nach  den  Genüssen  des 
Reichtums  jagenden  Südländer  (Phönizier  und  Ägypter),  die 
der  tapferen  aber  rohen  nördlichen  Barbaren  und  die  der 
bildungsliebenden  Hellenen  unterscheiden. 

Wie  Piaton  seine  Einteilung  bei  der  Bestimmung  der 
wesentlichsten  Unterschiede  von  Richtungen  des  Strebens  als 
Anhalt  benützte,  so  scheint  er  sie  im  Hinblicke  auf  solche 
Verschiedenheiten  auch  aufgestellt  zu  haben.  Er  fand  in 
dem  Menschen  einen  Kampf  von  Gegensätzen ;  einmal  zwischen 
den  Forderungen  der  Vernunft  und  den  sinnlichen  Trieben, 
dann  aber  auch  zwischen  den  sinnlichen  Trieben  selbst ;  und 
hier  schien  ihm  der  Gegensatz  von  heftig  aufbrausender 
Leidenschaft,   die   dem  Schmerz   und  Tod   entgegenstürmt, 

'  Die  griechischen  Ausdrücke  sind  tö  £7:t))'jarjTiv.ov,  10  i)y;j.o£to£;  und 
TO  /.o-(>.'JTi-/yj\. 

-  Buch  1  Kap.  2  §  7  m.  Psych,  v.  emp.  St. 


und  weichlichem  Hang  zum  Genüsse,  der  vor  jedem  Schmerze 
sich  zurückzieht,  besonders  auffallend  und  nicht  minder  groß 
als  der  Gegensatz  zwischen  vernünftigem  und  unvernünftigem 
Verlangen  selbst.  So  glaubte  er  drei,  auch  ihrem  Sitze  nach 
verschiedene  Seelenteile  anerkennen  zu  sollen.  Der  ver- 
nünftige Teil  sollte  im  Haupte,  der  zornmütige  im  Herzen, 
der  begierliche  im  Unterleibe  wohnen  ^ ;  der  erste  jedoch  so, 
daß  er  vom  Leibe  trennbar  und  unsterblich  sei,  und  nur  die 
beiden  anderen  an  ihm  haftend  und  in  ihrem  Bestehen  an 
ihn  gebunden.  Auch  hinsichtlich  ihrer  Verbreitung  über  einen 
engeren  oder  weiteren  Kreis  von  lebenden  Wesen  glaubte 
Piaton  sie  verschieden.  Der  vernünftige  Teil  sollte  unter 
allem,  was  auf  Erden  lebt,  nur  dem  Menschen  zukommen, 
den  zornmütigen  sollte  der  Mensch  mit  den  Tieren,  den 
begierlichen  endlich  sowohl  mit  ihnen  als  auch  mit  den 
Pflanzen  gemein  haben. 

Die  Unvollkommenheit  dieser  Einteilung  ist  leicht  er- 
kennbar. Ihre  Wurzeln  liegen  einseitig  auf  ethischem  Ge- 
biete, und  dem  widerspricht  es  nicht,  wenn  ein  Teil  als  der 
vernünftige  bezeichnet  wird,  da  Piaton  wie  Sokrates  die 
Tugend  als  ein  Wissen  betrachtete.  Sobald  man  bestimmen 
will,  welchem  Teile  diese  oder  jene  einzelne  Tätigkeit  zu- 
zuschreiben sei,  kommt  man  in  Verlegenheit.  Die  sinnliche 
Wahrnehmung  z.  B.  scheint  sowohl  dem  begierlichen  als 
zornmütigen  zugeschrieben  werden  zu  müssen  und  an  ge- 
wissen Stellen  scheint  Piaton  mit  anderen  Weisen  der  Er- 
kenntnis auch  sie  dem  vernünftigen  Teile  beizulegen  ^.    Auch 


^  Schon  Demokrit  hatte  geglaubt,  das  Deukeu  habe  im  Gehirn,  der 
Zorn  im  Herzen  seinen  Sitz.  Die  Begierde  liatte  er  in  die  Leber  ver- 
legt. Dies  wäre  ein  unbedeutender  Unterschied  von  der  späteren  Platoni- 
schen Lehre.  Aber  nichts  macht  wahrscheinlich,  daß  Demokrit  in  diesen 
drei  Teilen  die  Gesamtheit  der  Seelentätigkeiteu  begreifen  AvoUte;  viel- 
mehr verlangte  der  Zusammenhang  seiner  Ansichten,  daß  er  jedes  Organ 
mit  besonderen  Seelentätigkeiten  begabt  dachte,  und  eben  darauf  scheint 
eine  Stelle  Plutarchs  hinzudeuten.  (Plac.  IV,  t.  3.)  So  können  wir  denn 
überhaupt  nicht  sagen,  daß  von  Demokrit  bereits  ein  Versuch  zu  einer 
Grundeinteilung  der  psychischen  Phänomene  gcMnaclit  worden  sei. 

-  Vgl.  Zellers  Bemerkungen  in  seiner  Philosophie  der  Griechen, 
II,  a.    2.  Aufl:  S.  540.  1  * 


k 


—     4.     — 

die  Anwendungen,  die  Piaton  von  der  Einteilung  macht, 
und  in  deren  vermeintem  Gelingen  er  eine  Bestärkung  finden 
mochte,  zeigen  vielmehr  aufs  neue  ihre  Schwäche.  Es  wird 
heutzutage  kaum  jemand  geneigt  sein,  mit  Piaton  in  den 
drei  Ständen  der  Erwerbenden,  Krieger  und  Herrscher  die 
hauptsächlichen  Berufstätigkeiten,  welche  in  der  Gesell- 
schaft sich  auseinanderzweigen,  in  erschöpfender  Weise  dar- 
gestellt zu  sehen.  Weder  die  Kunst  findet  in  ihr  die  ge- 
bührende Stelle,  noch  die  Wissenschaft.  Demi  die  Er- 
fahrung zeigt  zu  deutlich  die  Verschiedenheit  der  Begabung 
für  theoretische  und  praktische  Leistungen,  als  daß  wir  in 
der  Tüchtigkeit  des  wissenschaftlichen  Denkers  nicht  eine 
ganz  andere  Art  von  Vollkommenheit  als  in  der  Tüchtigkeit 
des  Herrschers  anerkennen  müßten;  abgesehen  davon,  daß 
durch  die  Herrschaft  eines  Philosophen,  die  Piaton  als  Ideal 
vorschwebte,  die  Treiheit  der  Wissenschaft,  und  somit  ihr 
ungehemmter  Fortschritt,  am  allermeisten  gefährdet  sein 
vNÜrde. 

Nichtsdestoweniger  lagen  in  der  Platonischen  Einteilung 
die  Keime  für  die  Bestimmungen,  welche  bei  Aristoteles  ihre 
Stelle  einnahmen,  und  welche,  ungleich  bedeutender  als  die 
Piatons  selbst,  für  Jahrtausende  maßgebend  geworden  sind. 

§  2.  Wir  finden  bei  Aristoteles  drei  Grundeintei- 
lungen der  psychischen  Phänomene,  von  welchen  jedoch 
zwei,  in  ihrer  Gliederung  vollkommen  sich  deckend,  als 
eine  betrachtet  werden  können. 

Einmal  unterschied  er  die  Seelenerscheinungen,  insofern 
er  die  einen  für  Tätigkeiten  des  Zentralorgans,  die 
anderen  für  immateriell  hielt,  also  in  Phänomene  eines 
sterblichen  und  unsterblichen  Seelenteiles. 

Dann  unterschied  er  sie  nach  üirer  größeren  oder  ge- 
ringeren Verbreitung  in  allgemein  animalische  und 
eigentümlich  menschliche.  Diese  Einteilung  erscheint 
bei  ihm  dreigliederig ,  indem  Aristoteles  vermöge  seines 
weiteren  Begriffes  des  Seelischen,  wie  wir  schon  früher 
hörten,   auch   die  Pflanzen   für  beseelt   erklärte.     Er  zählt 


darum  einen  vegetativen,  sensitiven  und  intellektiven  Teil 
der  Seele  auf.  Der  erste,  der  die  Phänomene  der  Ernährung, 
des  Wachstums  und  der  Erzeugung  in  sich  schließt,  soll 
allen  irdischen  lebenden  Wesen,  auch  den  Pflanzen,  gemein- 
sam zukommen.  Der  zweite ,  der  Sinn  und  Phantasie  und 
andere  verwandte  Erscheinungen  und  mit  ihnen  die  Affekte 
enthält,  gilt  ihm  als  der  spezifisch  animalische.  Den  dritten 
endlich,  welcher  das  höhere  Denken  und  Wollen  in  sich 
begreift,  glaubt  er  unter  den  irdischen  lebenden  Wesen  dem 
Menschen  ausschließlich  eigentümlich.  Aber  infolge  der  Be- 
schränkung, welche  der  Begriff  der  psychischen  Tätigkeit 
später  erfuhr,  fällt  das  erste  der  drei  Glieder  gänzlich  außer- 
halb ihres  Bereiches.  Die  Seelentätigkeiten  im  neueren 
Sinne  des  Wortes  hat  also  Aristoteles  vermöge  dieser  Ein- 
teilung nur  in  die  zwei  Gruppen  der  allgemein  animalischen 
und  eigentümlich  menschlichen  zerlegt.  Diese  Glieder  fallen 
mit  den  Gliedern  der  ersten  zusammen.  Ihre  Ordnung  aber 
bestimmt  der  Grad  der  Allgemeinheit  ihres  Bestehens. 

Eme  andere  Haupteinteilung,  die  Aristoteles  gibt, 
scheidet  die  psychischen  Phänomene,  —  das  Wort  in 
unserem  Sinne  genommen  \  —  in  Denken  und  Begehreu, 
vooc  und  ops^ic,  im  weitesten  Sinne.  Diese  Einteilung  kreuzt 
sich  bei  ihm  mit  der  vorigen,  so  weit  sie  für  uns  in  Betracht 
kommt.  Denn  in  der  Klasse  des  Denkens  faßt  Aristoteles 
mit  den  höchsten  Verstandesbetätigungen,  wie  Abstraktion, 
Bildung  allgemeiner  Urteile  und  wissenschaftlicher  Schluß- 
folgerung, auch  Sinneswahrnehmung  und  Phantasie,  Ge- 
dächtnis und  erfahrungsmäßige  Erwartung  zusammen-.     In 


1  Vgl.  De  Anim.  III,  9.  Aiif.,  10.  Auf. 

-  Wuudt  macht  denen,  welche  Empfinden  und  höheres  Erkennen 
einander  ähnlich  finden,  den  VorAvurf  des  „Logizismus''.  Dieser 
würde,  wenn  begründet,  auch  Aristoteles  treffen.  Doch  wie  käme  es 
dann,  daß  Descartes  hier  ganz  ebenso  geurteilt  hat,  ja  daß  manche,  in- 
dem sie  die  universellen  Begriffe  ganz  leugneten,  die  betrefteuden  Denk- 
tätigkeiten den  empfindenden  unterordnen  wollten?  Freilich  war  dies 
ein  Fehler,  aber  ein  nicht  minder  großer  Fehler  würde  es  sein,  wenn 
einer  das,  was  dem  Empfinden  und  intellektiven  Denken  gemeinsam  ist, 
in  Abrede  stellte. 


—     6     — 

der  des  Begehrens  aber  sind  ebenso  das  höhere  Verlangen 
und  Streben  wie  der  niedrigste  Trieb,  nnd  mit  ihnen  alle 
Gefühle  und  Affekte ,  kurzum  alles ,  was  von  psychischen 
Phänomenen  der  ersten  Klasse  nicht  einzuordnen  ist,  be- 
griffen. 

Wenn  wir  untersuchen,  was  Aristoteles  dazu  gefülirt 
habe,  vermöge  dieser  Einteilung  zu  verbinden,  was  die 
frühere  Einteilung  geschieden  hatte :  so  erkennen  wir  leicht, 
daß  ihn  dabei  eine  gewisse  Ähnlichkeit  bestimmte,  welche 
das  sinnliche  Vorstellen  und  Scheinen  mit  dem  intellektuelle]!, 
begrifflichen  Vorstellen  und  Fürwahrhalten  und  ebenso  das 
niedere  Begehren  mit  dem  höheren  Streben  zeigt.  Er  fand 
hier  und  dort,  um  es  mit  einem  Ausdrucke,  den  wir  schon 
früher  einmal  den  Scholastikern  entlehnten,  zu  bezeichnen, 
die  gleiche  Weise  der  intentionalen  Inexistenz  \  Und  aus 
demselben  Prinzipe  ergab  sich  dann  auch  die  Trennung  von 
Tätigkeiten,  welche  die  frühere  Einteilung  verbunden  hatte. 
in  verschiedene  Klassen.  Denn  die  Beziehung  auf  den  Gegen- 
stand ist  bei  Denken  und  Begehren  verschieden.  Und  darein 
eben  setzte  Aristoteles  den  Unterschied  der  beiden  Klassen. 
Nicht  auf  verschiedene  Objekte  glaubte  er  sie  gerichtet,  son- 
dern auf  dieselben  Objekte  in  verschiedener  Weise.  Deutlich 
sagt  er,  sowolil  in  seinen  Büchern  von  der  Seele  als  in 
seiner  Metaphysik,  daß  dasselbe  Gegenstand  des  Denkens 
und    Begehi'ens    sei    und,    zuerst    im    Denkvennögen    puf- 


^  Dieser  Ausdruck  ist  in  der  Art  miß^-erstanden  worden,  daß  man 
meinte,  es  handle  sich  dabei  um  Absicht  und  Verfolgung  eines  Zieles. 
So  hätte  ich  vielleicht  besser  getan  ihn  zu  vermeiden.  Die  Scholastiker 
gebrauchen  weit  häufiger  noch  statt  „intentional"  den  Ausdruck  „ob- 
jektiv". In  der  Tat  handelt  es  sich  darum,  daß  etwas  für  das  psychisch 
tätige  Objekt  und  als  solches,  sei  es  als  bloß  gedacht  oder  sei  es  auch 
als  begehrt,  geflohen  oder  dergleichen,  gewissennaßen  in  seinem  Be- 
wußtsein gegenwärtig  ist.  Wenn  ich  dem  Ausdruck  „intentional"  den 
Vorzug  gab,  so  tat  ich  es,  weil  ich  die  Gefahr  eines  Mißverständnisses 
für  noch  gi-ößer  hielt,  wenn  ich  das  Gedachte  als  gedacht  objektiv 
seiend  genannt  hätte,  wo  die  Modernen,  im  Gegensatz  zu  „bloß  sub- 
jektiven Erscheinungen",  denen  keine  "Wirklichkeit  entspricht,  das  wirk- 
lich Seiende  so  zu  nennen  pflegen. 


—     7     — 

genommen,  dann  das  Begehren  bewege  ^  Wie  also  bei  der 
früheren  Einteilung  die  Verschiedenlieit  des  Trägers  der 
psychischen  Phänomene  so  wie  die  Verbreitimg  über  einen 
weiteren  oder  engeren  Kreis  psychisch  begabter  Wesen  den 
Einteilungsgrund  bildete,  so  bildet  ihn  bei  dieser  der  Unter- 
schied in  ihrer  Beziehung  auf  den  immanenten  Gegenstand, 
Die  Ordnung  der  Aufeinanderfolge  der  Glieder  ist  durch 
die  relative  Unabhängigkeit  der  Phänomene  bestimmt  ^.  Die 
Vorstellungen  gehören  zur  ersten  Klasse ;  ein  Vorstellen  aber 
ist  die  notwendige  Vorbedingung  eines  jeden  Begehrens. 

§  3.  Im  Mittelalter  blieben  die  Aristotelischen  Ein- 
teilungen wesentlich  in  Kraft ;  ja  bis  in  die  neue  Zeit  hinein 
reicht  ihr  Einfluß, 

Wenn  Wolff  die  Seelenvermögen  einmal  in  höhere 
und  niedere  mid  dann  in  Erkenntnis-  und  Begeh- 
rungsvermögen scheidet  und  diese  zwei  Einteilungen 
sich  kreuzen  läßt,  so  erkennen  wir  hierin  leicht  ein  der 
doppelten  Aristotelischen  Gliederung  wesentlich  entprechen- 
des  Schema. 

Auch  in  England  hat  wenigstens  die  letzte  Einteilung 
sehr  lange  nachgewirkt.  Den  Untersuchungen  von  Hume 
liegt  sie  zugrunde ;  und  R  e  i  d  sowohl  als  Brown  brachten 
nur  unbedeutende  und  keineswegs  glückliche  Andermigen 
an,  wenn  jener  intellektive  und  aktive^  Seelen- 
vermögen unterschied,  und  dieser,  nachdem  er  zmiächst  die 
Empfindungen  als  äußere  Affektionen  allen  übrigen  als 
inneren  Affektionen  gegenübergestellt  hatte,  die  letzteren 
dann  in  intellektuelle  Geisteszustände  und  Ge- 
mütsbewegungen sonderte  ^.  Alles,  was  Aristoteles  unter 
seiner  opsctc,  begreift  Brown  unter  der  letztgenannten  Klasse. 


1  De  Anim.  III,  10.     Metaph.  A,  7. 

2  Vgl.  die  oben  zitierten  Stellen. 

3  Aristoteles  hatte  das  Begehren  zugleich  für  das  Prinzip  der  Avill- 
kürlichen  Bewegung  erklärt.    (De  Anim.  III,  10.) 

*  External  —   internal   atiectious;    intellectual    states   of  mind   — 
emotions. 


§    4.     Eine   Einteilung,    die   in   ihrer   Abweichung   be- 
deutender und  in  ihrem  Einflüsse  nachhaltiger  war,  und  die 
gemeiniglich  noch   heute   als  ein  Fortschritt  in  der  Klassi- 
fikation   der    psychischen    Erscheinungen    betrachtet    wird, 
wurde  in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  von 
Tetens  und  Mendelssohn  aufgestellt.    Sie  schieden  die 
Seelentätigkeiten  in  drei  koordinierte  Klassen  und  nahmen 
füi-  jede    von    ilinen    ein    besonderes    Seelenvermögen    an. 
Tetens  namite  seine  drei  Grundvermögen  Gefühl,  Ver- 
stand und  Tätigkeitskrafti  (Willen);  Mendelssohn 
bezeichnete   sie   als   Erkenntnisvermögen,   als   Emp- 
findungs-  oder  Bill igungs vermögen  („vermöge  dessen 
wir  an  einer  Sache  Lust   oder  Unlust  empfinden")  und  als 
Begehrungsvermögen2.      Kant,    ihr    Zeitgenosse, 
machte  die  neue  Klassifikation  in  seiner  Weise  ^  sich  eio-en  • 
er    nannte    die    drei    Seelen  vermögen    das    Erkenntnis- 
vermögen,  das   Gefühl   der   Lust   und  Unlust   und 
das  Begehrungs vermögen  und  legte  sie  der  Einteilung 
seiner  kritischen  Philosophie  zu  Grunde.    Seine  „Kritik  der 
remen  Vei-nunft"  bezieht  sich  auf  das  Erkenntnisvermögen, 
insofern  es  die  Prinzipien  des  Erkemiens  selbst,  seine  „Kritik 
der  Urteilskraft"  auf  das  Erkenntnisvermögen,  insofern  es  die 
Prinzipien  des  Fühlens,  seine  „Kritik  der  praktischen  Ver- 
nunft'- endlich  auf  das  Erkenntnisvermögen,  insofern  es  die 
Prinzipien   des   Begehrens   enthält.      Hierdurch    vorzüglich 
gewann  die  Klassifikation  Einfluß  und  Verbreitung,  so  daß 
sie  noch  heute  ziemlich  allgemein  herrschend  ist. 

Kant  hält  die  Einteilung  der  Seelentätigkeiten  in  Er- 
kennen, Fühlen  und  Wollen  darum  für  fundamental,  weil 
er  glaubt,  daß  keine  der  drei  Klassen  aus  der  anderen  ab- 
leitbar sei,   oder  mit   ihr  auf  eine  dritte    als  ihre  gemein- 

'  Über  die  menschliche  Natur  I.  Versuch  X,  S.  6-^5.  (1777  er- 
schienen.) 

2  In  gi,^gj.  Bemerkung  über  das  Erkenntnis-,  Empfinduugs-  und 
Begehrungsvermögen,  die,  obwohl  erst  in  den  gesammelten  Schriften 
(IV,  b.  122 ff.)  gedruckt,  aus  dem  Jahre  1776  stammt,  und  in  den  1785 
erschienenen  Morgenstunden,  Vorles.  VII  (ges.  Schriften  II,  S.  295). 

«  \  gl.  darüber  J.  B.  Meyer,  Kants  P.sychologie  S.  41  ff. 


—    9     — 

schaftliche  Wurzel  zurückgeführt  werden  könne  ^  Die 
Unterschiede  zwischen  dem  Erkennen  und  Fühlen  seien  zu 
groß,  als  daß  etwas  Derartiges  denkbar  scheine.  Wie  auch 
immer  Lust  und  Unlust  ein  Erkennen  voraussetzen,  so  sei 
doch  eine  Erkenntnis  schlechterdings  kein  Gefühl,  und  ein 
Gefühl  sclilechterdings  keine  Erkenntnis.  Und  ebenso  zeige 
das  Begehren  sich  der  einen  wie  dem  anderen  völlig 
heterogen.  Denn  jedes  Begehren,  und  nicht  bloß  das  aus- 
gesprochene Wollen,  sondern  auch  der  ohnmächtige  Wunsch, 
ja  selbst  die  Sehnsucht  nach  dem  anerkannt  Unmöglichen  ^, 
sei  ein  Streben  nach  der  Verwirklichung  eines  Objektes, 
während  die  Erkemitnis  das  Objekt  nur  erfasse  und  be- 
urteile, das  Gefühl  der  Lust  aber  gar  nicht  auf  das  Objekt, 
sondern  bloß  auf  das  Subjekt  sich  beziehe,  indem  es  für 
sich  selbst  Grund  sei,  seine  eigene  Existenz  im  Subjekte 
zu  erhalten^. 

'    „Alle  Seelenvermögen    oder    Fähigkeiten    können    auf   die    drei 
zurückgeführt  werden,  welche  sich  nicht  ferner  aus  einem  gemeinschaft- 
lichen Grunde  ableiten  lassen :  das  Erkenntnisvermögen,  das  Gefühl  der  - 
Lust   und  Unlust   und   das  Begehruugsvermögen."     (Kritik  der  Urteils- 
ki-aft,  Einleit.,  III.) 

2  Ebenda  Anm. 

3  In  dem  Abschnitte  der  Abhandlung-  über  die  Philosophie  über- 
haupt, in  Avelchem  Kant  „Von  dem  System  aller  Vermögen  des  mensch- 
lichen Gemüts"  handelt  und  ausführlicher  als  anderwärts  seine  Lehre 
vorträgt  und  begründet,  sagt  er,  man  habe  \'on  Seiten  gewisser  Philo- 
sophen sich  bemüht,  die  Verschiedenheit  des  Erkenntnisvermögens, 
des  Gefühles  für  Lust  und  Unlust  und  des  Begehrungsvermögens  „nur 
für  scheinbar  zu  erklären  und  alle  Vermögen  aufs  bloße  Erkenntnis- 
vermögen zu  bringen".  Aber  vergeblich.  „Denn  es  ist  immer  ein 
großer  Unterschied  zwischen  Vorstellungen,  so  ferne  sie,  bloß  aufs 
Objekt  und  die  Einheit  des  Bewußtseins  desselben  bezogen,  zum  Er- 
kenntnis gehören,  ingleichen  zwischen  derjenigen  objektiven  Be- 
ziehung, da  sie,  zugleich  als  Ursache  der  Wirklichkeit  dieses  Objekts 
betrachtet,  zum  Begehrungs vermögen  gezählt  werden,  und  ihrer 
Beziehung  bloß  aufs  Subjekt,  da  sie  für  sich  selbst  Gründe  sind,  ihre 
eigene  Existenz  in  demselben  bloß  zu  erhalten,  und  so  ferne  im  Ver- 
hältnisse zum  Gefühle  der  Lust  betrachtet  werden,  welches  letztere 
schlechterdings  kein  Erkenntnis  ist  noch  verschafft,  ob  es  zwar  der- 
gleichen zum  Bestimmungsgrunde  voraussetzen  mag."  (Kants  Werke, 
Ausgabe  v.  Rosenkranz  I,  S.  586  ff.) 


—     10     — 

Die   Bemerkungen  Kants  zur  Begründung  und  Recht- 1 
fertigung  seiner  Einteilung  sind  spärlich.     Da  aber  später^ 
manche  Philosophen,  wie  Carus,  Weiß,   Krug  und  andere,! 
die  wieder  auf  die  Zweiteilung  von  Vorstellungs-  und  Be- 
strebungsvermögen zurückgingen,    sie   nicht  bloß  angriffen, 
sondern  sie  als  von  vornherein  unmöglich  hinstellen  wollten, 
übernahmen  andere,  und  namentlich  W.  Hamilton,  ihre  Ver- 
teidigung und   fühi-ten   die   Gedanken,   die   Kant   bloß   an- 
gedeutet hatte,  weiter  aus. 

Die  Angriffe  waren  freilich  sonderbar.  So  argumentierte 
Krug,  nur  darmn  seien  Vorstellungs-  und  Bestrebungs- 
vermögen als  zwei  anzusehen,  weil  die  Tätigkeit  des  Geistes 
eine  doppelte  Richtung,  eine  Richtung  einwärts  und  eine 
Richtung  auswärts,  habe.  Daher  seien  die  Betätigungen 
des  Geistes  in  immanente  oder  theoretische  und  in  trans- 
eunte  oder  praktische  zu  scheiden.  Unmöghch  aber  sei  es, 
zwischen  ihnen  eine  dritte  Klasse  emzuschieben ;  denn  diese 
müßte  eine  Richtung  haben,  die  weder  einwärts  noch  aus- 
wärts ginge,  was  undenkbar  sei. 

Hamilton  mußte  es  leicht  werden,  ein  solches  Rai- 
sonnement  als  nichtig  darzutun.  Warum,  fragt  er  mit 
Biunde,  sollten  wir  nicht  vielmehr  sagen,  daß  drei  Gattungen 
von  Tätigkeiten  in  der  Seele  zu  denken  seien,  von  welchen 
die  einen  ineunt,  die  anderen  inunanent,  die  dritten  trans- 
eunt  wären  *?  — Und  wirklich  käme  man  auf  diesem,  aller- 
dings etwas  abenteuerHchen,  Wege  zu  einer  Klassifikation, 
die  in  ihren  drei  Gliedern  mit  dem,  was  Kant  in  der  oben 
zitierten  Stelle  von  Erkenntnis,  Gefühl  und  Begehi-en  sagte, 
ziemlich  gut  stimmen  würde. 

Aber  Hamilton  weist  nicht  l)loß  diesen  Angriff  zurück ; 
er  versucht  auch  eme  positive  Begründung  der  Notwendig- 
keit der  Annahme  der  Gefühle  als  einer  besonderen  Grund- 
klasse. Zu  diesem  Zwecke  zeigt  er,  daß  es  gewisse  Zu- 
stände  des  Bewußtseins  gebe,  die  weder  als  ein  Denken 
noch   auch   als   ein   Bestreben  klassifiziert  werden  können. 

'  Sir  W.  Hamilton,  Lectures  on  Metaphysics  II  p.  423. 


—    11    — 

5olche  seien  die  Gemütsbewegungen,  die  in  jemand  eiTegt 
Verden,  wenn  er  den  Bericht  vom  Tode  des  Leonidas  bei 
len  Thermopylen  lese,  oder  wenn  er  die  folgende  schöne 
5trophe  aus  einer  bekannten  alten  Ballade  höre: 

„Um  Widdringtou  hüllt  Gram  mein  Haupt, 
Weil  ilm  der  Tod  rafft'  hin, 
Der,  als  die  Füße  ihm  geraubt, 
Noch  focht  auf  seinen  Knien." 

Solche  Gemütsbewegungen  seien  kein  bloßes  Denken;  und 
mch  als  Wollen  oder  Begehren  lassen  sie  sich  nicht  be- 
zeichnen. Aber  doch  gehören  auch  sie  zu  den  psychischen 
Phänomenen,  und  somit  sei  es  notwendig,  den  beiden  Klassen 
eine  dritte  zu  koordinieren,  die  man  mit  Kant  als  die  der 
GefiÜile  bezeichnen  könne'. 

Daß  dieses  Argument  ungenügend  sei,  ist  leicht  er- 
kennbar. Es  könnte  sein,  daß  die  Ausdrücke  Wollen  und 
Begehren  nach  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  zu  eng 
wären,  um  alle  psychischen  Phänomene  außer  den  Phäno- 
menen des  Denkens  zu  umfassen,  und  daß  überhaupt  ein 
hierzu  geeigneter  Name  in  der  gewöhnlichen  Sprache  fehlte,  - 
daß  aber  nichtsdestoweniger  die  Erscheinungen,  die  wir 
Begierden,  und  die,  welche  wir  Gefühle  nennen,  zusammen 
eine  einheitliche,  weitere  und  den  Phänomenen  des  Denkens 
naturgemäß  koordinierte  Klasse  psychischer  Phänomene 
bildeten.  Eine  wahre  Rechtfertigung  der  Einteilung  ist 
nicht  möglich  ohne  Darlegung  des  Einteilungsprinzips.  Und 
Hamilton  versäumt  nicht,  an  einer  anderen  Stelle  eine 
solche  zu  geben,  indem  er  mit  Kant  die  drei  Klassen  für 
Phänomene  verschiedener  Vermögen  der  Seele  erklärt,  von 
welchen  keines  einer  Ableitung  fähig  sei. 

Descartes,  Leibnitz,  Spinoza,  Wolff,  Platner  und  andere 
Philosophen,  sagt  er,  haben,  weil  die  Erkenntnis  des  inneren 
Bewußtseins  alle  Phänomene  begleitet,  das  Vorstellungs- 
vermögen als  das  Grundvermögen  des  Geistes  betrachten  zu 
müssen  geglaubt,  von  dem  die  anderen  nui-  abgeleitet  seien. 
Allein  mit  Unrecht.     „Diese  Philosophen   bemerkten  nicht, 

1  Sir  W.  Hamilton,  Lectures  on  Metaphysics  II,  p.  420. 


-    12    -  ! 

daß,  obwohl  Lust  und  Schmerz  und  ebenso  Begehren  un( 
Wollen  nur  sind,  insofern  sie  als  seiend  erkannt  werden 
dennoch  in  diesen  Modifikationen  eine  absolut  neue  Quali 
tat,  ein  absolut  neues  Geistesphänomen  hinzugekommen  ist 
welches  niemals  in  der  Fähigkeit  der  Erkenntnis  inbegriffer 
war  und  daher  auch  nie  aus  ihr  entwickelt  werden  konnte 
Die  Fähigkeit  des  Erkennens  ist  unstreitig  die  erste  dei 
Ordnung  nach  und  so  die  conditio  sine  qua  non  der  anderen, 
und  wir  smd  fähig,  ein  Wesen  zu  denken,  das  etwas  ah 
•seiend  zu  erkennen  fähig  ist  und  doch  gänzlich  aller  Ge- 
fühle von  Lust  und  Schmerz,  aller  Fähigkeiten  zum  Be- 
gehren und  Wollen  ermangelt.  Auf  der  anderen  Seite  sind 
wir  völlig  unfähig,  ein  Wesen  zu  denken,  welches,  im  Be- 
sitze von  Gefühl  und  Begehren,  —  zugleich  ohne  Erkenntnis 
irgendwelchen  Objektes,  auf  welches  seine  Affekte  sich 
richteten  und  ohne  ein  Bewußtsein  von  diesen  Affektioneni 
selbst  wäre. 

„Wir  können  ferner  ein  Wesen  denken,  welches  mit 
Erkenntnis  und  Gefühl  allein  ausgestattet  wäre,  ein  Wesen, 
begabt  mit  einer  Fälligkeit,  Objekte  zu  erkennen  und  sich 
freuend  in  der  Ausübung,  sich  betrübend  bei  der  Hemmmig 
semer  Tätigkeit,  —  und  dennoch  beraubt  jener  Fähigkeit 
zur  Willensenergie,  jenes  Bestrebens,  welches  wir  im  Menschen 
finden.  Solch  einem  Wesen  würden  Gefühle  von  Schmerz 
und  Lust,  nicht  aber  Begehren  und  Willen  im  eigentlichen 
Sinne  zukommen. 

„Auf  der  anderen  Seite  jedoch  können  wir  unmöglich! 
denken,  daß  eine  Willenstätigkeit  unabhängig  von  allem] 
Gefühle  bestehe ;  denn  die  Willensbestrebung  ist  eine  Fähig- 
keit, welche  nur  durch  einen  Schmerz  oder  eine  Lust  zur 
Betätigung  bestimmt  werden  kann,  —  nämlich  durch  eine' 
Schätzung  des  relativen  Wertes  der  Objekte  ^" 

Diese  Rechtfertigung  der  Klassifikation  in  bezug  auf 
Prinzip,  Zahl,  Art   und  Ordnung  der  Glieder  darf  wohl  als  , 

1  Lect.  on  Metaph.  I,  p.  187  s.;  vgl.  II,  p.  431. 


—     13    — 

(ine    weitere    Ausführung     der    Bemerkungen    Kants    im 
gleichen  Sinne  betrachtet  werden. 

Hören  wir  auch  noch  Lotze,  der  gegenüber  Herbarts 
leuem  Versuche,  jede  Mehrheit  von  Vermögen  zu  beseitigen, 
n  seiner  Medizinischen  Psychologie  und  mehr  noch  in  seinem 
^krokosmus  der  Kantschen  Dreiteilung  eine  eingehende 
^Verteidigung  widmet. 

„Die  frühere  Psychologie",  sagt  Lotze,    „hat  geglaubt, 
laß  Gefühl   und  Wille   eigentümliche   Elemente   enthalten, 
«welche  weder  aus  der  Natur  des  Vorstellens  fließen,   noch 
ms  dem  allgemeinen  Charakter  des  Bewußtseins,   an   dem 
beide  mit  diesem  zugleich  Teil  haben;  dem  Vermögen  des 
V^orstellens  wm'den   sie  deshalb   als   zwei  ebenso  ursprüng- 
liche Fähigkeiten  zugesellt,  und  neuere  Auffassungen  schei- 
nen  nicht   glücklich   in   der  Widerlegung  der  Gründe,   die 
zu  dieser  Dreiheit  der  Urvermögen  veranlaßten.    Zwar  nicht 
das  können  wir  behaupten  wollen,   daß  Vorstellen,  Gefühl 
und  Wille   als   drei   unabhängige   Entwickeluugsreihen   mit 
geschiedenen  Wurzeln  entspringend  sich  in  den  Boden  der 
Seele  teilen,  und  jede  für  sich  fort  wachsend,  nur  mit  ihren 
letzten    Verzweigungen     sich     zu     mannigfachen    Wechsel- 
wirkungen  berühren.     Zu   deutlich   zeigt   die  Beobachtung, 
daß    meistens    Ereignisse    des    Vorstellungslaufes    die    An- 
knüpfungspunkte der  Gefühle  sind  und  daß  aus  diesen,  aus 
Lust  und  Unlust,  sich  begehrende  und  abstoßende  Strebungen 
entwickeln.    Aber  diese  offen  vorliegende  Abhängigkeit  ent- 
scheidet doch  nicht  darüber,  ob  hier  das  vorangehende  Er- 
eignis in  der  Tat  als  die  volle  und  hinreichend  bewirkende 
Ursache  aus  eigener  Kraft  das  nachfolgende  erzeugt,   oder 
ob  es  nur  als  veranlassende  Gelegenheit   dieses  nach   sich 
zieht,    indem    es    zum  Teil    mit    der   fremden    Kraft    einer 
unserer  Beobachtung  entgehenden,  im  Stillen  mithelfenden 
Bedingung  wirksam  ist  .  .  . 

,Die  Vergleichung  jener  geistigen  Erscheinungen  nötigt 
uns,  wenn  wir  nicht  irren,  zu  dieser  letzteren  Annahme. 
Betrachten  wir  die  Seele  nur  als  vorstellendes  Wesen,  so 
werden   wir    in    kemer    noch    so   eigentümlichen   Lage,    m 


welche  sie  durch  die  Ausübung  dieser  Tätigkeit  geriete, 
einen  hinlänglichen  Grund  entdecken,  der  sie  nötigte,  nun 
aus  dieser  Weise  ihres  Äußerns  hinauszugehen  und  Gefühle 
der  Lust  und  Unlust  in  sich  zu  entwickeln.  Allerdings  kann 
es  scheinen,  als  verstände  im  Gegenteil  nichts  so  sehr  sich 
von  selbst,  als  daß  unversöhnte  Gegensätze  zwischen  mannig- 
fachen Vorstellungen,  deren  Widerstreit  der  Seele  Gewalt: 
antut,  ihre  Unlust  erregen,  und  daß  aus  dieser  ein  Streben 
nach  heilender  Verbesserung  entspringen  müsse.  Aber  nui 
mis  scheint  dies  so,  die  wir  eben  mehr  als  vorstellende 
Wesen  sind:  nicht  von  selbst  versteht  sich  die  Notwendig- 1 
keit  jener  Aufeinanderfolge,  sondern  sie  versteht  sich  ausi 
dem  allgememen  Herkommen  unserer  imieren  Erfalu-ung,i 
die  uns  längst  an  ihre  tatsächliche  Unvermeidlichkeit  ge- 
wöhnt hat  und  uns  darüber  hinwegsehen  läßt,  daß  in  Wahr- 
heit hier  zwischen  jedem  vorangehenden  und  dem  folgendem 
Gliede  der  Reihe  eine  Lücke  ist.  die  wir  nur  durch  Hinzu- 
nahme einer  noch  unbeobachteten  Bedingung  ausfüllen 
können.  Sehen  wir  ab  von  dieser  Erfahrung,  so  mirde  die 
bloß  vorstellende  Seele  keinen  Grund  in  sich  finden,  eine 
innere  Veränderung,  wäre  sie  selbst  gefahrdrohend  für  die 
Fortdauer  ihres  Daseins,  anders  als  mit  der  gleichgültigen 
Schärfe  der  Beobachtung  aufzufassen,  mit  der  sie  jeden 
anderen  Widerstreit  von  Kräften  betrachten  würde;  ent- 
stände ferner  aus  anderen  Quellen  doch  neben  der  Wahr- 
nehmung noch  ein  Gefühl,  so  würde  doch  die  bloß  fühlende 
Seele  selbst  in  dem  tötenden  Schmerze  weder  Grund  noch 
Befähigmig  in  sich  finden,  zu  einem  Streben  nach  Ver- 
änderung überzugehen;  sie  würde  leiden,  ohne  zum  Wollen 
aufgeregt  zu  werden.  Da  dies  nun  nicht  so  ist,  und  damit 
es  anders  sein  könne,  nmß  die  Fähigkeit,  Lust  und  Unlust 
zu  fühlen,  ursprünglich  in  der  Seele  liegen,  und  die  Er- 
eignisse des  Vorstellungslaufes,  zurückwirkend  auf  die  Natur 
der  Seele,  wecken  sie  zur  Äußermig,  ohne  sie  erst  aus  sich 
zu  erzeugen ;  welche  Gefülile  ferner  das  Gemüt  beherrschen 
mögen,  sie  Ijringen  nicht  ein  Streben  hervor,  sondern  sie 
werden   nur  zu   Beweggründen    füi-    ein    vorhandenes   Ver- 


-     15     — 

mögen  des  WoUens,   das  sie  in  der  Seele  vorfinden,   ohne 
es  ihr  jemals  geben  zu  können,  wenn  es  ihr  fehlte  .  .  . 

„So  würden  nun  diese  drei  Urvermögen  sich  als  stufen- 
weise höhere  Anlagen  darstellen,  und  die  Äußerung  der 
einen  die  Tätigkeit  der  folgenden  auslösend" 

Lotze  führt  seine  Erläuterung  und  verteidigende  Be- 
gründung der  Kantschen  Klassifikation  noch  weiter  fort. 
Doch  genügt  die  angezogene  Stelle,  um  uns  zu  zeigen,  daß 
er  ihr  Prinzip  ebenso  faßt  wie  Hamilton,  und  daß  er  auch 
in  einer  ganz  ähnlichen  Weise  sowohl  die  Dreiheit  der  Ver- 
mögen, als  auch  ihi^e  Ordnung  feststellt.  Beide  tun  eben 
nichts  anderes,  als  daß  sie  den  Gedanken  Kants  weiter 
ausführen. 

Indessen  scheint  das  Prinzip,  welches  Kant  bei  seiner 
Grundeinteilung  der  psychischen  Phänomene  anwandte,  und 
welches  Hamilton  sowohl  als  Lotze  und  mit  ihnen  viele 
andere  sich  eigen  machten,  zur  Bestimmung  der  höchsten 
Klassen  wenig  geeignet;  und  dies  nicht  etwa,  weil  Hevbarts 
Meinung  sich  aufrecht  erhalten  ließe,  sondern,  ich  möchte 
sagen,  aus  einem  entgegengesetzten  Grunde. 

Wenn  zwei  psychische  Phänomene,  schon  deshalb,  weil 
aus  der  Fähigkeit  zu  dem  einen  auf  die  Fähigkeit  zu  dem 
anderen  nicht  von  vornherein  geschlossen  werden  kann, 
verschiedenen  Grundklassen  zuzurechnen  wären,  so  müßte 
man  nicht  bloß,  wie  Kant,  Hamilton  und  Lotze  wollen,  das 
Vorstellen  vom  Fühlen  und  Begehren,  sondern  auch  das 
Sehen  vom  Schmecken,  ja  das  Rotsehen  vom  Blausehen 
als  von  einem  Phänomene  scheiden,  das  zu  einer  anderen 
höchsten  Klasse  gehörte. 

In  betreff  des  Sehens  und  Schmeckens  ist,  was  ich 
sagte,  einleuchtend;  gibt  es  ja  zahlreiche  Gattungen  von 
niederen  Tieren,  die  am  Geschmacke,  nicht  aber  am  Ge- 
sichte teilhaben.  Aber  auch  für  Rotsehen  und  Blausehen 
gilt,  wie  gesagt,  dasselbe;  und  ein  handgreiflicher  Beweis 
liegt  in  der  Tatsache  der  Rotblindheit,  dem  sogenannten 
Daltonismus,  vor. 

1  Mikrokosmus  I,  S.  193  ff. 


—    1(J    — 

Diese  Betrachtungen  zeigen  gewiß  aufs  deutlichste,  daß 
die  Fähigkeit  für  eine  Farben  Wahrnehmung  nicht  von  vorn- 
herein auf  die  Fähigkeit  für  eine  andere  schließen  läßt. 
Und  in  der  Tat  würden  wir,  auf  das  Sehen  des  Blauen 
und  Gelben  beschi'änkt,  nie  eine  Ahnung  vom  Roten  be- 
kommen. Auch  J.  St.  Mill  betrachtet  darum  die  Er- 
schemung  jeder  einzelnen  Farbe  als  eine  letzte  unableitbare 
Tatsache  ^ 

Nun  sieht  aber  jeder  ein,  daß  es  ungereimt  wäre,  die 
Vorstellungen  von  Rot  und  anderen  einzelnen  Farbenarten, 
als  Phänomene,  die  auf  verschiedenen  ursprünglichen,  nicht 
voneinander  ableitbaren  Vermögen  beruhten,  verschiedenen 
höchsten  Klassen  zuzuweisen.  Und  somit  sehen  wir  uns  zu 
dem  Schlüsse  genötigt,  daß  dieses  Einteilungsprinzip  flu- 
die  Bestimmmig  der  höchsten  Klassen  der  psychischen 
Phänomene  in  keiner  Weise  geeignet  ist.  Wäre  dies  aber 
der  Fall,  so  wüi^den  wir  offenbar  nicht  Denken,  Fühlen  und 
Streben,  sondern  eine  ungleich  größere  Zahl  von  höchsten 
Klassen  der  psychischen  Phänomene  zu  imterscheiden 
haben. 

Es  ist  gewiß  etwas  Mißliches,  zu  behaupten,  daß  Kant 
und  die  bedeutenden  Männer,  welche  nach  ihm  seine  Drei- 
teilung vertraten,  sich  über  das  Prinzip,  welches  sie  bei 
ihrer  Klassifikation  bestimmte,  selbst  nicht  genügend 
Rechenschaft  gegeben  hätten.  Und  zudem  finden  wir,  daß 
auch  schon  die  Vorläufer  Kants,  Tetens  und  Mendelssohn, 
sich  auf  die  Unableitbarkeit  der  Vermögen  als  Bürgschaft 
für  ihre  Grundemteilung  beriefen.  Dennoch  läßt  sich,  wenn 
man  das  Mißverhältnis  zwischen  dem  angeblichen  Ein- 
teilungsgrunde und  der  Gliederung  der  Einteilung  ins  Auge 
faßt,  die  Annahme  nicht  umgehen,  daß  alle  diese  Denker, 
sich  selbst  mehr  oder  minder  unbewußt,  durch  ganz  andere 
Motive  geleitet  wurden.  Und  in  ihren  Äußerungen  finden 
sich  deutliche  Spuren,  die  darauf  hinweisen. 

Was   Kant  in  Wahrheit   bestimmte,   die   psychischen 

•  Dedukt.  und  Indukt.  Log.  Buch  III,  Kap.  14  §  2. 


• 


—     17     — 

Tätigkeiten  in  seine  drei  Klassen  zu  scheiden,  war,  glaube 
ich,  ihre  Übereinstimmung  oder  Verschiedenheit  unter  einem 
ähnlichen  Gesichtspunkte  wie  der,  welcher  Aristoteles  bei 
seiner  Unterscheidung  von  Denken  imd  Begehren  maß 
gebend  gewesen  ist.  Eine  Stelle,  welche  wir  oben  seiner 
Abhandlung  über  die  Philosophie  überhaupt  entlehnten 
setzt  die  Verschiedenheit  zwischen  Erkennen  und  Be 
g  e  h  r  e  n  deutlich  in  einen  Unterschied  der  Beziehung  aufs 
Objekt,  während  die  Besonderheit  des  Fühlens  darin 
gesucht  wird ,  daß  hier  jede  derartige  Beziehung  mangele, 
indem  das  psychische  Phänomen  bloß  aufs  Subjekt  Bezug 
habe  ^  Das  also  war  die  große  Differenz,  aus  welcher  sich 
die  gegenseitige  Unableitbarkeit  allerdings  als  eine  Folger- 
ung ergeben  mochte,  welche  aber  in  sich  selbst  eine  tiefer 
einschneidende  Kluft  als  die  UnmögUchkeit  der  Ableitung  war ; 
eine  Kluft,  welche  nicht  ebenso  in  jenen  anderen  Fällen 
besteht,  die  zur  Annahme  besonderer  ursprünglicher  Ver- 
mögen nötigen. 

Dasselbe  zeigt  sich  bei  Hamilton.  Fragen  wir  ilin, 
warum  er  Gefühle  und  Strebungen  als  Phänomene  be- 
sonderer Urvermögen  bezeichne,  und  es  für  unmöglich 
halte,  daß  sie  aus  dem  einen  Grundvermögen  erklärbar 
seien:  so  gibt  er  in  dem  zweiten  Bande  seiner  Vorlesungen 
über  Metaphysik  folgende  Antwort.  Darum,  sagt  er,  tue 
er  dies,  weil  das  Bewußtsein  uns  in  diesen  Phänomenen, 
obwohl  ihnen  wegen  der  inneren  Wahrnehmung  allgemein 
eine  Erkenntnis  beigemischt  sei,  außer  ihr  gewisse  Be- 
schaffenheiten (certain  qualities)  zeige,  die  weder  explicite 
noch  implicite  in  den  Phänomenen  der  Erkenntnis  selbst 
enthalten  seien.  „Die  Eigentümlichkeiten,  wodurch  diese 
drei  Klassen  gegenseitig  sich  voneinander  unterscheiden, 
sind  folgende:  Bei  den  Phänomenen  der  Erkenntnis  unter- 
scheidet das  Bewußtsein  ein  erkanntes  Objekt  von  dem 
erkennenden  Subjekt  .  .  .  Bei  dem  Gefühle,  bei  den  Phäno- 
menen von  Lust  und  Schmerz   ist  dies   dagegen   nicht  der 

'  S.  9  Anm.  3. 
Brentano,  Klassifikation  der  psychischen  rhänomene.  2 


—     18     — 

Fall.  Das  Bewußtsein  stellt  hier  nicht  den  psychischen 
Zustand  sich  selbst  gegenüber,  sondern  ist  gleichsam  mit 
ihm  m  eins  verschmolzen.  In  dem  Gefühle  ist  daher  nichts, 
als  was  subjektivisch  subjektiv  (subjektively  subjective) 
ist"  —  ein  Ausspruch,  dessen  wir  schon  einmal  Erwähnung 
getan  haben.  ..In  den  Phänomenen  des  Strebens,  den 
Phänomenen  der  Begierde  und  des  Willens,  endlich  findet 
sich  zwar  wie  bei  denen  der  Erkenntnis  ein  Objekt  und 
zwar  ein  Objekt,  das  auch  ein  Objekt  der  Erkenntnis  ist. 
Aber  obwohl  beide,  Erkenntnis  und  Strebung,  eine  Relation 
zu  einem  Objekte  in  sich  tragen,  so  sind  sie  doch  unter- 
schieden durch  die  Verschiedenheit  dieser  Re- 
lation selbst.  Bei  der  Erkenntnis  besteht  kein  Bedürfnis; 
und  das  Objekt  wird  weder  gesucht  noch  gemieden;  wäh- 
rend bei  der  Strebung  ein  Mangel  und  eine  Neigung  voraus- 
gesetzt wird,  welche  zu  dem  Versuche  führt,  entweder  das 
Objekt  zu  erreichen  (im  Falle  nämlich  die  Erkenntnisfähig- 
keiten es  so  geartet  darstellen,  daß  es  den  Genuß  dessen, 
was  man  bedarf,  zu  gewähren  verspricht)  oder  das  Objekt 
abzuhalten,  wenn  diese  Tätigkeiten  es  so  angetan  erscheinen 
lassen,  daß  es  den  Versuch  jenem  Bedürfnisse  zu  genügen 
zu  vereiteln  droht'." 

Diese  SteUe  aus  Hamilton  erscheint  fast  wie  eine  kom- 
mentierende Paraphi"ase  der  zuvor  erwähnten  Bemerkung 
Kants.  Im  wesentlichen  übereinstimmend,  spricht  sie  aur 
ausführlicher  und  klarer.  Und  offenbar  ist  nach  ihr  der 
Gesichtspunkt,  von  welchem  aus  Hamilton,  wenn  man  auf 
den  letzten  Grund  geht,  die  psychischen  Phänomene  in 
verschiedeue  höchste  Klassen  zerlegt  hat,  wie  bei  Ai-istoteles 
jener  der  intentionalen  Inexistenz.  Bei  einigen  psychischen 
Phänomenen  findet  sich,  wie  Hamilton  meint,  gar  keine 
intentionale  Inexistenz  eines  Objektes  und  als  solche  gelten 
ihm  die  Gefühle.  Aber  auch  diejenigen,  bei  welchen  sich 
eine  finde,  sollen  nach  ihm  hinsichtlich  der  Weise  dieser 
Inexistenz  einen  fundamentalen  Unter.schied  zeigen  mid  so 
in  Gedanken  und  Strebungen  zerfallen. 

1  Lect.  ou  Metaph.  II,  p.  431. 


I 


—     19     — 

Was   schließlich   Lotze   betrifft,   so   fehlt  es  auch  bei 
ihm  nicht  an  Zeichen,    daß  ein   bedeutenderes  Moment  als 
die  bloße  Unableitbarkeit  der  Vermögen  ihn  die  drei  Klassen 
des  Vorstellens,  Fühlens  und  Strebens  als  die  verschiedenen 
Grundklassen  der  Seelenerscheinungen  betrachten  ließ.    Nur 
der  Umstand,  daß  die  Unmöglichkeit  der  Ableitung  von  der 
Herbartschen  Schule  geleugnet  worden  war,  führt  ihn  dazu 
gerade   diesen  Punkt   mit  besonderem  Nachdrucke   zu   be- 
tonen.    Lotze  verkennt  so  wenig,   daß  die   nicht  von  einer 
anderen   ableitbaren  Fähigkeiten   der  Seele   sich  nicht   auf 
eine  Dreizahl  beschränken :  daß  er  vielmehi*  ebenso  wie  wir 
die  Anlagen   zum   Sehen   und   Hören   als   verschiedene   ur- 
sprüngliche Anlagen  betrachtet ;  und  gerade  bei  seiner  Unter- 
suchung über  die  drei  Grundklassen  finden  vnr  diese  Wahr- 
heit berührte     Warum   hat   er  nun  die  Vorstellungen  von 
Tönen  und  Farben  dennoch  derselben  Grundklasse  zugeteilt, 
und  ebenso  andere  Unterschiede,  welche  man,  namentlich 
innerhalb   des   Bereiches    der   Gefühle,    leicht    als    ähnlich 
unableitbar   nachweisen   kann,    bei  seiner   Grundeinteilung^ 
nicht  maßgebend  werden  lassen?    Die  Wahi*nehmung  eines  . 
ganz  besonders  tiefgehenden  Unterschiedes,   der,  zwischen 
jenen  drei  Klassen  vorhanden,   nicht   in  gleicher  Weise  m 
anderen  Fällen  unmöglicher  Ableitung  gefmiden  wird,  muß 
hier  bestimmend   gewesen   sein.     Nach  dem,   was   wir   bei 
Kant  und  Hamilton  gefunden,   ist   es   aber  von  vornherein 
zu    vermuten ,    daß    eine    Verschiedenheit    der    Seelentätig- 
keiten  in  Rücksicht   auf  die  Beziehung  zum  Objekte,  auch 
Lotze   dazu   führte,   gerade   diese  drei  Klassen   als  die   am 
meisten  verschiedenen   und   als   die  Grundklassen  der  psy- 
chischen Erscheinungen  anzusehen. 

So  bleibt  denn  nur  noch  zu  untersuchen,  ol)  man  wirk- 
lich gut  getan  habe,  diesen  Gesichtspunkt  bei  einer  Haupt- 
einteilung der  Seelentätigkeiten  geltend  zu  machen ;  so  wie, 
ob  die  Dreiteilung  in  Denken,  Fühlen,  Streben  mit  den 
fundamentalen  Unterschieden,  welche  die  psychischen  Phäno- 


1  Mikrokosmus  I,  8.  198. 


—     20     — 

mene  in  dieser  Beziebung  zeigen,  in  Wahrheit  koinzidrerc 
und  sie  erschöpfe.  Wenn  wir  am  Ende  dieses  Überblickes 
über  die  bisher  versuchten  Klassifikationen  uns  selbst  über 
die  Frage  zu  entscheiden  haben,  werden  wir  auch  diesen 
Punkt  behandeln. 

§  5.  Wie  schon  bemerkt,  ist  die  eben  besprochene 
Einteilung  des  Bewußtseins  in  Vorstellung,  Gefühl  und 
Willen  in  neuerer  Zeit  sehr  allgemein  geworden.  Auch 
Her  hart  und  seine  Schule  haben  sie  angenommen;  und 
bei  den  Darstellungen  der  empirischen  Psychologie  pflegen 
die  Herbartianer  in  derselben  Weise  wie  andere  sie  der 
Ordnung  des  Stofi^es  zugrunde  zu  legen.  Das  Unterscheidende 
bei  ihnen  ist  nm*  dies,  daß  sie  die  beiden  letzten  Klassen 
nicht  auf  besondere  Urvermögen  zurückführen,  sondern  aus 
der  ersten  ableiten  wollen;  ein,  wie  schon  wiederholt  be- 
merkt, offenbar  vergebliches  Bemühen. 

§  6.  Unter  den  Vertretern  der  empirischen  Schule  in 
England,  die  in  einem  gewissen  Gegensatze  zur  Schule 
Hamiltons  steht,  hat  Alexander  B  a  i  n  ebenfalls  seine  Drei- 
teilung unter  ähnlichen  Namen  aufgestellt.  Er  unter- 
scheidet: erstens  Gedanken,  Verstand  oder  Erkenntnis 
(Thought ,  Intellect  or  Cognition) ;  zweitens  Gefühl 
(Feelingj;  und  endhch  drittens  Streben  oder  Wollen 
(Volition  or  the  Will).  Auch  hier  scheint  also  dieselbe 
Grundeinteilung  mis  zu  begegnen,  und  Bain  selbst  beruft 
sich   auf   diese  Übereinstimmung  als   auf  eine  Bestätigung. 

Wenn  man  indessen  auf  die  Erklärungen  achtet,  die 
Bain  von  den  drei  Gliedern  seiner  Klassifikation  gibt,  so 
zeigt  sich,  daß  die  Gleichheit  der  Ausdrücke  eine  große 
Verschiedenheit  der  Gedanken  verdeckt.  Unter  der  dritten 
Klasse,  dem  Streben  oder  Willen,  versteht  Bain  etwas  ganz 
anderes,  als  was  die  deutschen  Psychologen  so  wie  auch 
Hamilton  mit  dem  Worte  zu  bezeichnen  pflegen,  nämlich 
das  von  psychischen  Phänomenen  ausgehende  Wirken.  So 
erklärt   er  im  Anfang   seines   umfangreichen  Werkes   über 


—     21     — 

die  Sinne  und  den  Verstand,  das  Streben  oder  der  Wille 
umfasse  das  Ganze  unserer  Aktivität,  so  weit  sie 
von  unseren  Gefühlen  geleitet  werde  ^-  Und  weiter  unten 
erläutert  er  den  Begriff  also:  „Alle  Wesen",  sagt  er,  „die 
wir  als  mit  Bewußtsein  begabt  kennen,  haben  nicht  bloß 
die  Fähigkeit  zu  fühlen,  sondern  auch  zu  handeln  (act). 
Die  Anwendung  einer  Kraft  zur  Erreichung  eines  Zweckes 
ist  das  Zeichen  einer  psychischen  Natur.  Essen,  Gehen, 
Fliegen,  Bauen,  Sprechen,  —  sind  Betätigungen,  die 
aus  psychischen  Bewegungen  hervorgehen.  Sie  entspringen 
alle  aus  gewissen  Gefühlen,  die  befriedigt  werden  sollen, 
und  dieses  gibt  ihnen  den  Charakter  eigentüm- 
licher psychischer  Tätigkeiten.  Wenn  ein  Tier 
seine  Nahrung  zerreißt,  kaut  und  verschlingt, 
auf  Beute  Jagd  macht  oder  vor  einer  Gefahr 
flieht,  so  sind  es  Empfindungen  oder  Gefühle,  die  seine 
Tätigkeit  am-egen  und  erhalten.  Dieser  dem  Gefühle 
entstammten  Aktivität  geben  wir  den  Namen 
Streben  (Volition)"2. 

Essen,  Gehen,  Sprechen  und  dergleichen  würden  wir 
nicht  als  Wollen,  sondern  nur  etwa  als  Wirkungen  eines 
Wollens  bezeichnen.  Kant  allerdings  spricht  manchmal  von 
dem  Begehren,  als  verstehe  er  darunter  ein  Hervorbringen 
der  begehrten  Objekte.  Er  definiert  in  seiner  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  das  Begehrungsvermögen  als  „das 
Vermögen,  durch  seine  Vorstellungen  Ursache  von  der 
Wirklichkeit  der  Gegenstände  dieser  Vorstellungen  zu 
sein"  ^.  Aber  nimmermehr  glaube  ich,  daß  er  sich  dazu 
verstanden  hätte,  das  Essen  oder  Gehen  als  ein  Begehren 
zu  bezeiclmen;   sondern  alles  weist  darauf  hin,  daß  er  nur 


^  The  Senses  and  the  Intellect  p.  '2. 

2  The  Senses  and  the  Intellect  p.  4.  Vgl.  Mental  and  Moral 
Science  p.  2. 

'  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  Vorrede.  Vgl.  Kritik  der  Urteils- 
kraft, Einleitung  III.  Anm.  und  die  oben  angezogene  Stelle  aus  der  Ab- 
handlung über  die  Philosophie  überhaupt  iS,  241  Anm.  1). 


—     22     — 

in  ungeeigneter  Weise  seinen  Gedanken  erklärtet  Anders 
ist  es  bei  Bain.  Seine  oben  betrachteten  Aussprüche  nötigen 
uns  anzunehmen,  daß  er  mit  dem  Namen  ,,\Yillen"  in  Wahr- 
heit einen  abweichenden  Sinn  verband,  und  auch  das  un- 
mittelbar Folgende  bestätigt  diese  Auffassung,  indem  Bain 
den  Unterschied  von  seinem  Wollen  gegenüber  den  Natur- 
kräften des  Windes,  Wassers,  der  Schwere,  des  Pulvers  usf. 
und  dann  ebenso  gegenüber  unbewußten  physiologischen 
Funktionen,  vne  z.B.  dem  Blutumlaufe,  festzustellen  sucht  — 
was  alles  er  offenbar  nicht  nötig  hätte,  wenn  er  nicht  unter 
dem  Wollen  nicht  sowohl  ein  innerliches,  psychisches  Phä- 
nomen als  eine  von  psychischen  Phänomenen  ausgehende 
(physische)  verstände. 

So  stimmt  Bains  Einteilung  der  Seelenerschemungen 
der  Sache  nach  mehr  mit  der  Aristotelischen  Zweiteilung 
in  Denken  und  Begehren  (an  welches  letztere  unter  Um- 
ständen eine  ^willkürliche  Bewegung  sich  knüpft)  als  mit 
der  späteren  Dreiteilung  in  Vorstellen,  Fühlen  und  Be- 
gehren zusammen.  Was  w  i  r  Begehren  mid  Wollen  nennen, 
gehört  bei  Bain  zu  dem  Gefühl.  Und  es  erschemt  Gefühl 
und  Begehren  bei  ihm  wiederum  zu  einer  Klasse  ver- 
bunden. Außerdem  hat  er  das  Gebiet  der  Gefühle  auch 
nach  einer  anderen  Seite  erweitert,  indem  er  die  Sinnes- 
empfindungen, welche  nach  den  meisten  Neueren  und  auch 
nach  Aristoteles  der  ersten  Klasse  zuzurechnen  wären,  mit 
in  ihr  Bereich  zieht. 

Außer  cheser  Einteilung  gibt  Bam  noch  eine  andere, 
die  sich  mit  der  vorerwähnten  kreuzt.  Er  scheidet  die 
psychischen  Phänomene  in  primitive  und  in  solche,  welche 
sich  aus  diesen  in  weiterer  Entwicklung  ergeben.  Zu  den 
ersteren  rechnet  er  die  Empfindungen,  die  aus  den  Be- 
dürfnissen des  Organismus  hervorgehenden  Begierden  und 
die   Instinkte,   worunter   er   die   Bewegungen  versteht,  die 


^  Er  würde  sonst  nicht  jeden  Wunsch  und  jede  Sehnsucht  zum 
Begehren  rechnen  (was  Bain  nicht  tut),  noch  auch  die  Freiheit  in  das 
Begehrungsvermögen  verlegen. 


—     23     — 

man,  ohne  sie  erlernt  oder  sich  angeübt  zu  haben,  ausführt. 
Diese  Zweiteihmg  hat  er  in  den  späteren  Ausgaben  seines 
großen  psychologischen  Werkes,  so  wie  in  seinem  Kom- 
pendium vor  allen  anderen  bei  der  Anordnung  des  Stoffes 
zugrunde  gelegt.  Die  Anregung  zu  ihr  scheint  Bain  durch 
Herbert  Spencer  erhalten  zu  haben,  bei  welchem  sich 
eine  ähnliche  Scheidung  in  primitive  und  entwickeltere 
psychische  Phänomene  erkennen  läßt,  wie  überhaupt  die 
Idee  der  Evolution  in  seinen  „Prinzipien  der  Psychologie" 
jede  andere  beherrscht.  Die  entwickelteren  Seelentätig- 
keiten scheidet  Spencer  in  kognitive  (Gedächtnis,  Vernunft) 
und  affektive  (Gefühl,  Willen)  und  denkt  die  Anfänge  der 
einen  wie  der  anderen  Klasse  in  den  primitiven  Erschei- 
nungen vorhanden,  so  daß  man  vielleicht  sagen  könnte,  er 
lasse  mit  der  ersten  eine  zweite  Einteilung  sich  kreuzen, 
welche  in  ihrer  Gliederung  an  die  Aristotelische  Scheidung 
von  voüs  und  opsci?  erinnert  \ 

§  7.  Hiermit  können  wir  unsere  Übersicht  über  die 
vorzüglichsten  Klassifikations versuche  abschließen.  Achten 
wir  auf  die  Prinzipien,  welche  wir  bei  ihnen  angewandt 
fanden,  so  erkennen  wir,  daß  sie  von  vier  verschiedenen 
Gesichtspunkten  aus  gemacht  wurden.  Drei  davon  waren 
uns  schon  bei  Aristoteles  begegnet.  Er  hatte  die  psychi- 
«chen  Tätigkeiten  geschieden:  einmal,  insofern  er  sie  teils- 
an  dem  Leibe  haftend,  teils  nicht  an  ihn  gebunden  glaubte ; 
dann,  insofern  er  sie  teils  dem  Menschen  mit  den  Tieren 
gemein,  teils  ihm  ausschließlich  eigentümlich  dachte,  und 
endlich  nach  dem  Unterschiede  der  Weise  der  intentio- 
nalen  Inexistenz  oder,  wie  wir  sagen  könnten,  nach  dem 
Unterschiede  der  Weise  des  Bewußtseins.  Das  letzte  Ein- 
teilungsprinzip sehen  wir  besonders  häufig  und  zu  allen 
Zeiten   angewandt.     Hierzu   konnnt  dann   noch  das  Prinzip 


'  Vgl.  Ribot,  Psychologie  Anglaise  Contemporainc ,  Pai-is  1870 
(p.  191),  eiue  Schrift,  in  welcher  insbesondere  über  Herbert  Spencers 
psychologische  Ansichten  ein  sehr  hübscher  Überblick  gegeben  wird. 


—     24     — 

der  zweiten  Einteilung  von  Bain,  welche  die  psychischen 
Erscheinungen  in  primitive  und  in  solche  zerlegt,  w^elche 
sich  aus  primitiven  entwickeln. 

Wir  werden  nun  in  den  folgenden  Untersuchungen 
sowohl  hinsichtlich  des  Prmzipes  als  hinsichtlich  der  Glieder- 
ung der  Grundeinteilung  unsererseits  eine  Entscheidung 
zu  treffen  haben. 


—    25     - 


Zweites  Kapitel. 

Einteilung  der  Seelentätigkeiten  in  Vor- 
stellungen, Urteile  und  Phänomene 
der  Liebe  und  des  Hasses. 

§  1.  An  welche  Grundsätze  haben  wir  uns  bei  der 
Grundeinteilung  der  psychischen  Phänomene  zu  halten?  — 
Offenbar  an  diejenigen,  welche  auch  anderwärts  bei  der 
Klassifikation  in  Betracht  kommen  und  von  deren  An- 
wendung uns  die  Naturwissenschaft  mehr  als  ein  aus- 
gezeichnetes Beispiel  bietet. 

Eine  wissenschaftliche  Klassifikation  soll  von  der  Art 
sein,  daß  sie  in  einer  der  Forschung  dienlichen  Weise  die 
Gegenstände  ordnet.  Zu  diesem  Zwecke  muß  sie  natürlich 
sein;  d.  h.  sie  muß  das  zu  einer  Klasse  vereinigen,  was 
seiner  Natur  nach  enger  zusammengehört,  und  sie  muß  das 
in  verschiedene  Klassen  trennen,  was  seiner  Natur  nach 
sich  relativ  fern  steht.  Daher  wird  sie  erst  bei  einem  ge- 
wissen Maße  von  Kenntnis  der  Objekte  möglich;  und  es 
ist  die  Grundregel  der  Klassifikation,  daß  sie  aus  dem 
Studium  der  zu  klassifizierenden  Gegenstände,  nicht  aber 
aus  apriorischer  Konstruktion  hervorgehen  soll.  Krug  fiel 
in  diesen  Fehler,  wenn  er  von  vornherein  argumentierte, 
daß  die  Seelentätigkeiten  von  zweifacher  Gattung  sem 
müßten :  solche,  die  von  außen  nach  innen,  und  solche,  die 
von  innen  nach  außen  gerichtet  seien.  Und  auch  Hör  wie  z 
verstieß  gegen  das  Prinzip,  wenn  er,  wie  wir  früher  sahen  V 
statt  durch  ein  genaueres  Studium  der  Seelenerscheinungen 


1  Buch  I,  Kap.  3,  ^  5  m.  Psych,  v.  emp.  St. 


—     26     — 

selbst  eine  Sicherung  oder  Berichtigung  der  üblichen  Grund- 
einteilung anzustreben,  auf  dem  Grunde  physiologischer  Be- 
trachtungen, die  ihm  den  Gegensatz  von  Empfindungs-  und 
Bewegungsnerven  zeigten,  zur  Annahme  eines  ähnlichen, 
das  ganze  Seelengebiet  durchdringenden  Gegensatzes  von 
Denken  und  Begehren  sich  verstieg  Allerdings  begreift  es 
sich  bei  dem  zurückgel)liebenen  Zustande  der  Psychologie 
sehr  wohl,  daß  man  gerne  auf  andere  Untersuchungen  als 
die  der  psychischen  Phänomene  gestützt  eine  entsprechende 
Klassifikation  gewinnen  möchte.  Allein  wenn  der  natur- 
gemäße Weg  noch  wenig  gangbar  ist,  so  knüpft  sich  doch 
an  keinen  anderen  eine  Hoffnmig  dem  Ziele  näher  zu 
kommen.  Derjenige  aber,  welcher  die  bis  jetzt  erlangten 
Kenntnisse  der  psychischen  Erscheinungen  maßgebend 
werden  läßt,  wird  selbst  dann,  wenn  es  ihm  heute  noch 
unmöglich  wäre,  eine  endgültig  beste  Grundeinteilung  fest- 
zustellen, eine  solche  wenigstens  vorbereiten,  indem  wie 
anderwärts  auch  hier  Klassifikation  und  Kenntnis  der  Eigen- 
tümhchkeiten  und  Gesetze  sich  in  der  weiteren  Entwickelung 
der  Wissenschaft  dann  gegenseitig  vervollkommnen  werden. 

§  2.  Die  in  dem  vorigen  Kapitel  betrachteten  Ein- 
teilungsversuche sind  sämtlich  insoweit  zu  billigen,  als  sie 
aus  dem  Studium  der  psychischen  Phänomene  selbst  her- 
vorgegangen sind.  Auch  waren  ihre  Urheber  darauf  be- 
dacht, daß  die  Gliederung  naturgemäß  sei,  indem  sie  die 
Unabhängigkeit  der  einen  Erscheinungen  von  den  anderen 
oder  eine  tiefgreifende  Unähnlichkeit  maßgebend  werden 
ließen.  Freilich  ist  damit  nicht  gesagt,  daß  nicht  vielleicht 
die  Unvollkommenheit  ihrer  Kenntnis  des  psychologischen 
Gebietes  sie  l^ei  diesem  Streben  mißleitet  habe.  Und  jeden- 
falls sind  einige  von  den  Einteilungsversuchen  nicht  in 
gleichem  Maße  wie  andere  verwertbar;  sowohl  weil  ihi-e 
Grundlage  noch  strittig  ist,  als  auch  weil  die  Vorteile, 
welche  sie  der  Forschung  zu  gewähren  versprechen,  infolge 
besonderer  Hindernisse  verloren  gehen. 

Machen  wir  dies  im  einzelnen  klar. 


-  •  27     - 

Aristoteles  schied  die  psychischen  Phänomene  in  solche^ 
welche  dem  Menschen  mit  den  Tieren  gemein,  und  solche, 
welche  ihm  eigentümlich  seien.  Stellen  wir  uns  auf  den 
Standpunkt  der  Aristotelischen  Lehre,  so  wird  diese  Ein- 
teilung in  vieler  Hinsicht  vorzüglich  scheinen.  Denn  Aristo- 
teles glaubte  gewisse  Seelen  vermögen  dem  Menschen  aus- 
schließlich eigen,  und  hielt  diese  für  immateriell,  die  all- 
gemein animalischen  dagegen  für  Vermögen  eines  körper- 
lichen Organes.  Es  sondert  also,  wenn  wir  die  Richtigkeit 
seiner  Anschauungen  voraussetzen,  jene  Einteilung  in  dem 
ersten  Gliede  Erscheinungen  für  sich  ab,  welche  auch  in 
der  Natur  von  den  anderen  isoliert  auftreten ;  und  der  Um- 
stand, daß  die  einen  Funktionen  eines  Organs  sind,  die 
anderen  nicht,  läßt  erwarten,  daß  jede  der  beiden  Klassen 
wichtige  gemeinsame  Eigentümlichkeiten  und  Gesetze  zeigen 
werde.  Aber  die  Aristotelischen  Ansichten,  auf  Grund  deren 
die  Einteilung  sich  empfehlen  würde,  enthalten  gar  manches^ 
was  bestritten  werden  kann.  Viele  stellen  in  Abrede,  daß 
dem  Menschen  iui  Gegensatze  zum  Tiere  geistige  Kräfte 
eigen  seien;  ja  überhaupt  ist  man  schon  darüber  nicht 
einig,  welche  psychischen  Erscheinungen  dem  Menschen 
mit  dem  Tiere  gemein  seien  und  welche  nicht.  Während 
Descartes  den  Tieren  alle  psychische  Tätigkeit  abspricht, 
lassen  andere  und  nicht  unbedeutende  Forscher  die  höheren 
Tierklassen  an  allen  Arten  unserer  einfacheren  psychischen 
Phänomene  Teil  haben.  Nur  graduell  glauben  sie  ihre 
Tätigkeiten  von  den  unsrigen  verschieden  und  sind  der 
Meinung,  daß  der  gesamte  Unterschied  ihrer  Leistungen 
sich  genugsam  daraus  erklären  lasse.  Wenn  insbesondere 
Aristoteles  der  Ansicht  ist,  daß  den  Tieren  das  Vermögen 
für  allgemeine,  abstrakte  Begriffe  fehle,  so  stimmt  zwar 
Locke  ihm  bei,  aber  von  anderen  und  entgegengesetzten 
Seiten  streitet  man  dagegen,  daß  hierin  eine  fundamentale 
Verschiedenheit  zwischen  der  psychischen  Begabung  von 
Mensch  und  Tier  zu  finden  sei:  die  einen  wollen  all- 
gemeine Begriffe  mit  Bestimmtheit  auch  bei  Tieren  nach- 
gewiesen   haben;    die    anderen,    Berkeley    an    der    Spitze, 


—     28     — 

leugnen,  daß  sie  auch  nur  dem  Menschen  in  Wirklichkeil 
zukommen. 

Die  Ansicht  von  Descartes,  wenn  auch  manche  im  Hin- 
blick auf  die  Reflexerscheinungen  sich  neuerdings  ihr  zu- 
neigen, wird  uns  wohl  weniger  beirren :  für  die  entgegen- 
gesetzte treten  aber  auch  jetzt  noch  angesehene  Denker 
von  sonst  verschiedenen  Richtungen  ein ;  und  insbesondere 
sind  die  Berkeleyaner  in  England  zahlreich  geworden  und 
fangen  auch  auf  dem  Kontinent  sich  auszubreiten  an.  Fände 
sich  nun  wirklich  zwischen  der  psychischen  Begabmig  von 
Menschen  und  Tieren  kein,  wie  man  sich  ausdrückt,  quali- 
tativer Unterschied:  so  würde  offenbar  die  Einteilmig  der 
psychischen  Phänomene  in  allgemein  animalische  und  eigen- 
tümlich menschliche  viel  von  ihrer  Bedeutung  verlieren. 
Und  jedenfalls  erlaubt  es  uns  schon  der  Streit  der  An- 
sichten und  die  Schwierigkeit  ihn  zu  entscheiden  nicht, 
diese  Einteilung  bei  der  Anordnung  unseres  Stoffes  als 
Grundeinteilung  zu  benützen. 

Zudem  wird  der  vorzüglichste  Vorteil,  welchen  die 
Klassifikation  im  besten  Falle  der  Forschung  bieten  könnte, 
nämlich  das  isolierte  Studium  eines  Teiles  unserer  psychi- 
schen Phänomene,  dadm-ch  wesentlich  beeinträchtigt,  daß 
wir  in  das  psychische  Leben  der  Tiere  nur  indirekt  einen 
Einblick  besitzen.  Und  dieser  Umstand  sowohl  als  auch 
der  Wunsch  keine  unerwiesenen  Voraussetzungen  zu  machen, 
hat  selbst  Aristoteles  abgehalten,  sie  bei  der  systematisch 
geordneten  Darlegung  seiner  Seelenlehi-e  als  Grundeinteüung 
zu  verwenden. 

Bain,  wie  wir  hörten,  hat  die  Seelenerscheinungen  in 
elementare  und  in  solche  geschieden,  welche  aus  diesen  in 
weiterer  Entwickelung  sich  ergeben.  Auch  hier  umfaßt  die 
erste  Klasse  Erscheinungen,  welche  in  der  Natur  von  den 
anderen  unabhängig  auftreten.  Aber  auch  hier  gilt  älin- 
liches  wie  das,  was  wir  eben  bemerkten,  daß  sie  nämlich 
da,  wo  sie  unabhängig  auftreten,  nicht  direkt  von  uns  zu 
beobachten  sind.  Auch  hat  es  keine  geringen  Schwierig- 
keiten,  sich   über   den  Charakter  der   ersten  Anfänge   des 


—    29    — 

Seelenlebens  ein  sicheres  Urteil  zu  bilden.  Wenn  in  späteren 
Jahren  ein  physischer  Reiz  eine  Empfindung  hervorruft,  so 
können  erworbene  Dispositionen  einen  mächtig  umgestalten- 
den Einfluß  auf  die  Erscheinung  üben.  Und  so  finden  wir 
tatsächlich,  daß  dieses  Feld  heutzutage  ein  vorzügliches 
Gebiet  des  Streites  ist.  Wie  wir  daher  auch  immer  den 
Bainschen  Gesichtspunkt  bei  der  Anordnung  unserer  Unter- 
suchungen zu  berücksichtigen  haben  werden,  für  die  Grund- 
einteilung werden  wir  besser  tun  emen  anderen  Maßstab 
zu  wählen. 

Es  bleiben  von  den  betrachteten  Klassifikationen  noch 
diejenigen  übrig,  welche  die  verschiedene  Beziehung  zum 
immanenten  Gegenstande  der  psychischen  Tätigkeit  oder 
die  verschiedene  Weise  seiner  intentionalen  Existenz  zum 
Einteilungsgrunde  haben.  Dieser  Gesichtspunkt  war  es,  den 
Aristoteles  bei  der  Anordnung  des  Stoffes  vor  allen  übrigen 
bevorzugte,  und  den  häufiger  als  irgendeinen  anderen  auch 
die  verschiedensten  Denker  späterer  Zeit,  mehr  oder  minder 
bewußt,  bei  der  Grundeinteilung  der  psychischen  Phäno- 
mene einnahmen.  Die  psychischen  Phänomene  unterscheiden 
sich  von  allen  physischen  durch  nichts  so  sehr  als  dadurch, 
daß  ihnen  etwas  gegenständlich  inwohnt.  Und  darum  ist 
es  sehr  begreiflich,  wenn  die  am  tiefsten  greifenden  Unter- 
schiede in  der  Weise,  in  welcher  ihnen  etwas  gegenständ- 
lich ist,  zwischen  ihnen  selbst  wieder  die  vorzüglichsten 
Klassenunterschiede  bilden.  Je  mehr  die  Psychologie  sich 
entwickelte,  um  so  mehr  hat  sie  auch  gefunden,  daß  an  die 
fundamentalen  Unterschiede  in  der  Weise  der  Beziehung 
zum  Objekt  sich  mehr  als  an  irgendwelche  andere  gemein- 
same Eigentümlichkeiten  und  Gesetze  knüpfen.  Und  wenn 
die  zuvor  besprochenen  Klassifikationen  dem  Bedenken 
unterlagen,  daß  ihr  Nutzen  großenteils  durch  die  Stellung 
des  Beobachters  verloren  geht,  so  ist  dagegen  diese  frei 
von  einer  solchen  Beeinträchtigung  ihres  Wertes.  Somit 
werden  wir  durch  die  mannigfachsten  Erwägungen  dazu 
geführt,  das  gleiche  Prinzip  auch  bei  unserer  Grund- 
einteilung zu  benützen. 


—     30     — 

§  3.  Aber  wie  viele  und  welche  höchste  Klassen  werden 
wir  zu  unterscheiden  haben?  —  Wir  s?hen,  daß  in  dieser 
Hinsicht  zwischen  den  Psychologen  keine  Einigkeit  besteht. 
Aristoteles  hat  zwei  verschiedene  Grundklassen  unter- 
schieden, Denken  und  Begehren.  Unter  den  Modernen 
aber  ist  eine  Dreiteilung  in  Vorstellung,  Gefühl  und  Streben 
(oder  wie  man  sonst  die  drei  Gattungen  zu  benennen  liebt) 
anstatt  jener  Zweiteilung  üblich  geworden. 

Um  sogleich  unsere  Ansicht  auszuprechen ,  so  halten 
auch  wir  dafür,  daß  hinsichtlich  der  verschiedenen  Weise 
ihrer  Beziehung  zum  Inhalte  drei  Hauptklassen  von  Seelen- 
tätigkeiten zu  unterscheiden  sind.  Aber  diese  drei  Gattungen 
sind  nicht  dieselben  wie  die,  welche  man  gemeiniglich  auf- 
stellt, und  wir  bezeichnen  in  Ermangelung  passenderer  Aus- 
drücke die  erste  mit  dem  Namen  Vorstellung,  die  zweite 
mit  dem  Namen  Urteil,  die  dritte  mit  dem  Namen  Ge- 
mütsbewegung, Interesse  oder  Liebe. 

Keine  dieser  Benennungen  ist  von  der  Art,  daß  sie 
nicht  mißverständlich  wäre;  vielmehr  wird  jede  häufig  in 
einem  engeren  Sinne  angewandt.  Aber  unser  Wortvorrat 
bietet  uns  keine  einheitlichen  Ausdrücke,  welche  sich  besser 
mit  den  Begriffen  decken.  Und  obwohl  es  etwas  Mißliches 
hat,  Ausdrücke  von  schwankender  Bedeutung  als  Termini 
bei  so  wichtigen  Bestimmungen  zu  benützen,  und  mehr 
noch,  sie  in  einem  vielleicht  ungewöhnlich  erweiterten  Sinne 
anzuwenden:  so  scheint  mir  dies  in  unserem  Falle  doch 
besser  als  die  Einführung  völlig  neuer  und  unbekannter 
Benennungen. 

Darüber,  was  wir  Vorstellen  nennen,  haben  wir  uns 
auch  früher  schon  erklärt.  Wir  reden  von  einem  Vorstellen, 
wo  immer  uns  etwas  erscheint.  Wenn  wir  etwas  sehen, 
stellen  wir  uns  eine  Farbe,  wenn  wir  etwas  hören,  einen 
Schall,  wenn  wir  etwas  phantasieren,  ein  Phantasiegebilde 
vor.  Vermöge  der  Allgemeinheit,  in  der  wir  das  Wort  ge- 
brauchen ,  konnten  wir  sagen ,  es  sei  unmöglich ,  daß  die 
Seelentätigkeit  in  irgendeiner  Weise  sich  auf  etwas  beziehe, 


—    31     — 

was  nicht  vorgestellt  werde  ^  Höre  und  verstehe  ich  einen 
Namen,  so  stelle  ich  mir  das,  was  er  bezeichnet,  vor;  und 
im  allgemeinen  ist  dieses  der  Zweck  der  Namen,  Vor- 
stellungen hervorzurufen  ^. 

Unter  dem  Urteilen  verstehen  wir,  in  Überein- 
stimmung mit  dem  gewöhnlichen  philosophischen  Gebrauche, 
ein  (als  wahr)  Annehmen  oder  (als  falsch)  Verwerfen.  Daß 
aber  ein  solches  Annehmen  oder  Verwerfen  auch  da  vor- 
kommt, wo  Viele  den  Ausdruck  Urteil  nicht  gebrauchen, 
wie  z.  B.  bei  der  W^ahrnehmung  psychischer  Akte  und  bei 
der  Erinnerung,  haben  wir  schon  berührt.  Und  natürlich 
werden  wir  uns  nicht  abhalten  lassen,  auch  diese  Fälle  der 
Klasse  des  Urteils  unterzuordnen. 

Für  die  dritte  Hauptklasse,  deren  Phänomene  wir  als 
Gemütsbewegungen,  als  Phänomene  des  Interesses 
oder  als  Phänomene  der  Liebe  bezeichneten,  fehlt  am 
meisten  ein  recht  geeigneter  einheitlicher  Ausdruck.  Diese 
Klasse  soll  nach  uns  alle  psychischen  Erscheinungen  be- 
greifen, die  nicht  in  den  beiden  ersten  Klassen  enthalten 
sind.  Aber  unter  den  Gemütsbewegungen  begreift  man 
gemeiniglich  nur  Affekte,  die  mit  einer  merklichen  physi- 
schen Aufregung  verbunden  sind.  Zorn,  Angst,  heftige  Be- 
gierde wird  jeder  als  Gemütsbewegungen  bezeichnen;  in 
der  Allgemeinheit,  in  der  wir  das  Wort  gebrauchen,  soll 
es  dagegen  auch  auf  jeden  Wunsch,  jeden  Entschluß  mid 
jede  Absicht  in  gleicher  Weise  Anwendung  finden.  Doch 
bediente   sich  Kant  wenigstens  des  Wortes  Gemüt  in  noch 


1  Buch  II,  Kap.  1,  §  3  m.  Psych.  \-.  cmp.  St. 

2  Viel  euger  fassen  Meyer  (Kants  Psychologie),  Bergmauu  [Vom 
Bewußtsein),  Wundt  (Physiologische  Psychologie)  u.  a.  den  Begriff  der 
Vorstellung,  während  z.  B.  Herbart  und  Lotze  den  Namen  ähnlich  wie 
wir  gebrauchen.  Es  gilt  hier,  was  wir  früher  in  betreff  des  Namens 
Bewußtsein  bemerkten  (Buch  II,  Kap.  2,  §  1).  Man  wird  am  besten  tun, 
den  Namen  so  zu  gebrauchen,  daß  er  am  meisten  eine  Lücke  in  der 
Tei-miuologie  auszufüllen  dient.  Nun  besitzen  wir  für  jene  spezielleren 
Klassen  auch  andere  Ausdrücke,  Avährend  für  unsere  erste  Grundklasse 
kein  anderer  uns  gegeben  ist.  Somit  scheint  die  Verwendung  in  diesem 
allgemeinsten  Sinne  geboten. 


—     32     — 

weiterem  Sinne  als  wir,  indem  er  jedes  psychische  Ver- 
mögen, sogar  das  der  Erkenntnis,  als  ein  Vermögen  des 
Gemütes  bezeichnete. 

Auch  den  Ausdruck  Interesse  pflegt  man  vorzugsweise 
nur  für  gewisse  Akte,  die  zu  dem  hier  umschriebenen  Ge- 
biete gehören,  zu  gebrauchen;  namentlich  in  Fällen,  wo 
Wißbegier  oder  Neugier  erregt  wird.  Doch  kann  man  wohl 
nicht  leugnen,  daß  jede  Lust  oder  Unlust  an  etwas,  sich 
nicht  ganz  unpassend  als  Interesse  bezeichnen  läßt,  und 
daß  auch  jeder  Wunsch,  jede  Hoffnung,  jeder  Willens- 
entschluß ein  Akt  des  Interesses  ist,  welches  an  etwas  ge- 
nommen wird. 

Statt  mit  dem  einfachen  Namen  Liebe,  hätte  ich  die 
Klasse  streng  genommen  als  Lieben  oder  Hassen  bezeichnen 
müssen ;  und  nur  weil  man  auch  anderwärts,  wie  z.  B.  wenn 
man  das  Urteilen  als  ein  Fürwahrhalten  bezeichnet,  oder 
von  Phänomenen  des  Begehrens  in  weiterem  Sinne  redet  ^, 
den  Gegensatz  mit  eingeschlossen  denkt,  habe  ich  der 
Kürze  halber  den  einen  Namen  für  sich  allein  das  Nanien- 
paar  vertreten  lassen.  Aber  auch  abgesehen  davon  wird 
vielleicht  mancher  mir  vorwerfen,  daß  ich  den  Namen  zu 
weit  gebrauche.  Und  es  ist  sicher,  daß  er  nicht  in  jedem 
Sinne  das  ganze  Gebiet  umspannt.  In  einem  anderen  Sinne 
sagt  man  nämlich,  daß  man  einen  Freund,  in  einem  anderen, 
daß  man  den  Wein  liebe;  jenen  liebe  ich,  indem  ich  ihm 
Gutes  wünsche,  diesen,  indem  ich  ihn  selbst  als  etwas 
Gutes  begehre  und  mit  Lust  genieße.  In  einem  Sinne  wie 
dem,  welchen  das  Wort  in  dem  zweiten  Falle  hat,  glaube 
ich  nun,  daß  in  jedem  Akte,  der  zu  dieser  dritten  Klasse 
gehört,  etwas  geliebt,  genauer  gesprochen  etwas  geliebt 
oder  gehaßt  wii-d.  Wie  jedes  Urteil  einen  Gegenstand  für 
wahr  oder  falsch  nimmt,  so  ninrnit  in  analoger  Weise  jedes 
Phänomen,    welches    der    dritten    Klasse    zugehört,    einen 


'  Wie  Kant,  wenn  er  das  eine  seiner  drei  Grundvermögen  Be- 
gehrungs\emiögen  nennt,  und  Aristoteles,  indem  er  ö'p£;i;  als  Namen 
einer  Grundklasse  verwendet. 


—     33     — 

Gegenstand  für  gut  oder  schlecht.  Spätere  Erörterungen 
werden  dies  näher  erklären  und  hoffentlich  vollkommen 
außer  Zweifel  setzen. 

§  4.  Vergleichen  wir  unsere  Dreiteilung  mit  derjenigen, 
welche  seit  Kant  in  der  Psychologie  vorherrscht,  so  finden 
wir,  daß  sie  in  einer  doppelten  Hinsicht  von  ihr  abweicht. 
Sie  trennt  in  zwei  Grundklassen  die  Phänomene,  die  bisher 
in  der  ersten  Klasse  vereinigt  wurden;  und  sie  faßt  die 
Phänomene  der  beiden  letzten  Klassen  in  einem  Gliede 
zusammen.  In  jeder  dieser  Beziehungen  w^erden  wir  uns 
zu  rechtfertigen  haben. 

Wie  aber  soll  uns  eine  solche  Rechtfertigung  gelingen  ? 
Werden  wir  etwas  anderes  tun  können,  als  auf  die  innere 
Erfahrung  verweisen,  welche  lehre,  daß  die  Beziehung  des 
Bewußtseins  zum  Objekte  in  den  einen  Fällen  eine  durch- 
aus gleiche  oder  eine  ähnliche,  in  den  anderen  dagegen 
eine  grundverschiedene  sei?  —  Es  scheint,  als  ob  kein 
anderes  Mittel  uns  zu  Gebote  stehe.  Die  innere  Erfahrung 
ist  offenbar  die  Schiedsrichterin,  die  in  dem  Streite  über 
Gleichheit  oder  Verschiedenheit  der  intentionalen  Beziehung 
allein  zum  Urteile  berechtigt  ist.  —  Aber  auf  seine  innere 
Erfahrung  beruft  sich  auch  jeder  von  unseren  Gegnern. 
Und   wessen  Erfahrung  wdrd   hier   den  Vorzug  verdienen? 

Doch  die  Schwierigkeit  ist  keine  andere  als  in  vielen 
anderen  Fällen.  Auch  sonst  geschieht  es,  daß  man  bei  der 
Beobachtung  Fehler  macht:  sei  es,  daß  man  etwas  über- 
sieht; sei  es,  daß  man  etwas,  was  man  erschließt  oder  sonst 
wie  denkend  hinzubringt,  mit  dem  Beobachteten  vermengt 
oder  verwechselt.  Wird  man  aber  von  anderen  aufmerksam 
gemacht,  so  erkennt  man,  namentlich  bei  erneuerter  Be- 
obachtung, den  begangenen  Fehler.  Dies  also  werden  wir 
auch  hier  tun  müssen,  in  der  Hoffnung,  eine  Änderung  ab- 
weichender Überzeugungen  und  eine  allgemeine  Überein- 
stimmung in  dieser  wichtigen  Frage  zu  erzielen. 

Indeß,  wenn  angestammte  und  tief  eingewurzelte  Vor- 
urteile dem  Fehler  der  Beobachtung  zur  Seite  stehen,  so 
lehrt   die  Erfahrung   und   erklärt  die  Psychologie,   daß  die 

Brentano,  Klassifikation  der  psychisclien  Phiiuomene.  3 


—     34     — 

Erkenntnis  des  Irrtums  nicht  wenig  erschwert  ist.  Es  ge- 
nügen dann  nicht  ein  bloßer  Widerspruch  gegen  die  her- 
gebrachte Meinung  und  eine  Aufforderung  zu  neuer  Be- 
trachtung; auch  nicht  ein  Hinweis  auf  die  Punkte,  in 
welchen  die  Fehler  der  Beobachtung  liegen,  die  man  be- 
richtigen will,  und  eine  Entgegenstellung  des  wahren  Tat- 
bestandes: vielmehr  wird  es  nötig  sein,  die  Aufmerksamkeit 
zugleich  auf  solche  Eigentümlichkeiten  zu  lenken,  die  damir 
in  Zusammenhang  stehen,  und  namentlich  auch  auf  solches. 
was  gemeinsam  anerkannt,  aber  im  Widerspruche  mit  der 
angeblichen  Beobachtung  ist.  Endlich  muß  man  suchen, 
nicht  allein  die  Täuschung,  sondern  auch  den  Grund  der 
Täuschung  aufzudecken. 

Wenn  irgendwo,  so  ist  alles  dieses  auch  in  unserem 
Falle  geboten;  und  wir  werden  auf  solche  Weise  im 
nächsten  Kapitel  unsere  Trennung  von  Vorstellung  imd 
Urteil,  und  in  dem  darauf  folgenden  unsere  Zusammen- 
fassung von  Gefühl  und  Streben  sorgfältig  zu  rechtfertigen 
uns  bemühen. 


35 


Drittes  Kapitel. 

Vorstellung  und  Urteil  zAvei  verschiedene 
Grnndklassen. 

§  1.  Weiin  wir  sagen,  Vorstellimg  und  Urteil  seien 
verschiedene  Grundklassen  psychischer  Phänomene,  so 
meinen  wir  damit  nach  dem  zuvor  Bemerkten,  sie  seien 
zwei  gänzlich  verschiedene  Weisen  des  Bewußtseins  von 
einem  Gegenstande.  Dabei  leugnen  wir  nicht,  daß  alles 
Urteilen  ein  Vorstellen  zur  Voraussetzung  habe.  Wü-  be- 
haupten vielmehr,  daß  jeder  Gegenstand,  der  beurteilt 
werde,  in  einer  doppelten  Weise  im  BewTißtsein  auf- 
genommen sei,  als  vorgestellt  und  als  anerkannt  oder  ge- 
leugnet. So  wäre  denn  das  Verhältnis  ähnlich  dem,  welches 
mit  Recht,  wie  wir  sahen,  von  der  großen  Melu-zahl  der 
Philosophen,  und  von  Kant  nicht  minder  als  von  Aristoteles, 
zwischen  Vorstellen  und  Begehren  angenonmien  wird. 
Nichts  wird  begehrt,  was  nicht  vorgestellt  wird ;  aber  doch 
ist  das  Begehren  eine  zweite,  ganz  neue  und  eigentümliche 
Weise  der  Beziehung  zmn  Objekte,  eine  zweite,  ganz  neue 
Art  von  Aufnahme  desselben  ins  Bewußtsein.  Nichts  wird 
auch  bem-teilt,  was  nicht  vorgestellt  wird;  aber  wir  be- 
haupten, daß,  indem  der  Gegenstand  einer  Vorstellung 
Gegenstand  eines  anerkennenden  oder  verwerfenden  Urteils 
werde,  das  Bewußtsein  in  eine  völlig  neue  Art  von  Be- 
ziehung zu  ihm  trete.  Er  ist  dann  doppelt  im  Bewußtsein 
aufgenommen,  als  vorgestellt  und  als  füi'  wahr  gehalten  oder 
geleugnet,  wie  er,  wenn  die  Begierde  auf  ihn  sich  richtet, 
als  vorgestellt  zugleich  und  als  liegehrt  ihm  innewohnt. 

Das,  sagen  wir,  ist,  was  die  innere  Wahrnehmung  und 

3* 


—     36     — 

die   aufmerksame   Betrachtung  der  Erscheinungen   des  Ur- 
teilens  im  Gedächtnisse  klar  erkennen  lassen. 

§  2.  Freilich  hat  dies  nicht  verhindert,  daß  das  wählte 
Verhältnis  zwischen  Vorstellen  und  Urteilen  bis  jetzt  all- 
gemein verkannt  wurde,  und  ich  muß  deshalb  darauf 
rechnen,  daß  ich,  wenn  ich  auch  nichts  anderes  sage,  als 
was  das  Zeugnis  der  inneren  Wahrnehmung  unmittelbar 
Ijestätigt,  mit  meiner  Aufstellung  zunächst  dem  größten 
Mißtrauen  begegne. 

Aber  wenn  man  nicht  annehmen  will,  daß  im  urteilen 
zum  bloßen  Vorstellen  eine  zweite,  grundverschiedene  Weise 
der  Beziehung  des  Bewußtseins  zum  Gegenstand  hinzutrete, 
so  leugnet  man  doch  nicht  und  kann  nicht  leugnen,  daß 
irgend  ein  Unterschied  zwdschen  dem  einen  und  anderen  Zu- 
stande bestehe.  Vielleicht  wird  eine  nähere  Erwägung 
darüber,  worin  die  Verschiedenheit  des  Urteilens,  wenn  sie 
nicht  in  unserer  Weise  aufgefaßt  wird,  eigentlich  liegen 
möge,  zur  Annahme  unserer  Behauptung  geneigter  machen, 
indem  sie  zeigt,  daß  keine  einigermaßen  haltbare  Antwort 
gegeben  werden  kann. 

Käme  im  Urteilen  nicht  eine  zweite  und  eigentümliche 
Weise  der  Beziehung  zum  Vorstellen  hinzu;  wäre  also  die 
Weise,  wie  der  Gegenstand  des  Urteils  im  Bewußtsein  ist, 
wesentlich  dieselbe  wie  die,  welche  Gegenständen,  insofern 
sie  vorgestellt  werden,  zukommt :  so  kömite  ihr  Unterschied 
wohl  nur  gefunden  werden  entweder  in  einem  Unterschiede 
des  Inhalts,  d.  h.  in  einem  Unterschiede  zwischen  den 
Gegenständen ,  auf  welche  sich  Vorstellung  und  Urteil  be- 
ziehen, oder  in  einem  Unterschiede  der  Vollkonmienheit, 
mit  welcher  derselbe   Inhalt^   beim  bloßen  Vorstellen  und 


1  Die  Weise,  in  welcher  ich  hier  den  Namen  „Inhalt"  gebrauche, 
und  welche  ich,  meiner  Absicht  getreuer  Reproduktion  entsprechend,  auch 
in  dieser  Ausgabe  beibehalte,  ist  kaum  empfehlenswert.  Sie  entfernt 
sich  von  dem,  was  gemeinüblich  ist.  Denn  niemand  dürfte  von  dem 
Urteil  „Gott  ist"  sagen,  daß  es  mit  dem  Urteil  „Grott  ist  nicht"  denselben 
Inhalt  habe,  weil  es  mit  ihm  dasselbe  Objekt  hat.    In  den  Bemerkungen, 


—     37     — 

beim  Urteilen  von  uns  gedacht  wird.  Denn  zwischen  dem 
Denken,  welches  wir  Vorstellen,  und  demjenigen,  welches 
wir  Urteilen  nennen,  besteht  ja  doch  ein  innerer  Unter- 
schied. 

A.  Bain  allerdings  hatte  den  unglücklichen  Gedanken, 
den  Unterschied  zwischen  Vorstellen  und  Urteilen  nicht  in 
diesen  Denktätigkeiten  selbst,  sondern  in  den  daran  ge- 
knüpften Folgen  zu  suchen.  Weil  wir  dann,  wann  wir 
etwas  nicht  bloß  vorstellen,  sondern  auch  für  wahr  halten, 
in  besonderer  Weise  bei  unserem  Wollen  und  Handeln  es 
maßgebend  werden  lassen,  so  meinte  er,  der  Unterschied 
des  Fürwahrhaltens  von  dem  bloßen  Vorstellen  bestehe  in 
nichts  anderem  als  in  diesem  Einflüsse  auf  den  Willen.  Das 
Vorstellen,  welches  einen  solchen  Einfluß  übe,  sei  dadurch, 
daß  es  ihn  übe,  ein  Glauben  (belief).  Ich  nannte  diese 
Theorie  eine  unglückliche.  Und  in  der  Tat,  woher  kommt 
es  denn,  daß  das  eine  Vorstellen  des  Gegenstandes  jenen 
Einfluß  auf  das  Handeln  hat,  das  andere  aber  ihn  nicht 
hat?  —  Das  bloße  Aufwerfen  der  Frage  genügt,  um  das 
Versehen,  dessen  Bain  sich  schuldig  machte,  deutlich  zu 
zeigen.  Die  besonderen  Folgen  wüi-den  nicht  sein,  wemi 
nicht  ein  besonderer  Grund  dafih-  in  der  Beschaffenheit  des 
Denkens  gegeben  wäre.  Weit  entfernt,  daß  der  Unter- 
schied in  den  Folgen  die  Annahme  einer  inneren  Ver- 
schiedenheit zwischen  der  bloßen  Vorstellung  und  dem 
Urteil  entbehrlich  machte,  weist  er  vielmehr  nachdrücklich 
auf  eine  solche  innere  Verschiedenheit  hin.  Von  John 
Stuart  Mill  bekämpft^,  hat  darum  Bain  selbst  die  von  ihm 
in  seinem  großen  Werke  über  die  Gemütsbewegungen  und 
den  Willen  2,  so  wie  in  den  ersten  Ausgaben  seines  Kom- 
pendiums der  Psychologie  vertretene  Behauptung   in   einer 

die  ick  dieser  Ausgabe  als  Anhang  beifüge,  habe  ich  selbst  das  Wort 
„Inhalt"  nicht  in  diesem,  hier  ihm  gegebenen  ungewöhnlichen  Sinne 
genommen,  sondern  mich  an  den  gemeinüblicheu  g'^halteu. 

'  In  einer  Note  zur  Analysis  of  the  Phenomena  of  the  Human 
Mind  von  James  Mill,  2,  edit.,  I,  p.  402. 

-  The  Emotions  and  the  Will. 


—     38    — 

Schlnßlienierkung  zu   dessen   dritter  Auflage   als   irrig  an- 
erkannt und  zurückgenommen  ^ 

In  einen  ähnlichen  Fehler  ist  der  ältere  MilP  und  in 
neuester  Zeit  wieder  Herbert  Spencer^  gefallen.  Diese  j 
beiden  Philosophen  sind  der  Meinung,  das  Vorstellen  einer  ] 
Vereinigmig  von  zwei  Merkmalen  sei  dann  mit  Glauben  1 
(belief)  verbunden,  wenn  sich  in  dem  Bewußtsein  zwischen 
den  beiden  Merkmalen  eine  untrennbare  Assoziation  ge- 
gebildet habe,  d.  h.  wenn  die  Gewohnheit  zwei  Merk- 
male verbunden  vorzustellen  so  stark  geworden  sei,  daß 
die  Vorstellung  des  einen  Merkmals  unausbleiblich  und  ' 
unwiderstehlich  auch  das  andere  ins  Bewußtsem  rufe  imd 
mit  ihm  verknüpfe.  In  nichts  anderem  als  in  einer  solchen 
untrennbaren  Assoziation,  lehren  sie,  bestehe  das  Glauben. 
Wir  wollen  hier  nicht  untersuchen,  ob  wirklich  in  jedem 
Falle,  in  welchem  eine  gewisse  Verbindung  von  Merkmalen 
für  wahr  gehalten  wird ,  eine  untrennbare  Assoziation 
zwischen  ihnen  bestehe,  und  ob  wirklich  in  jedem  Falle,  in 
welchem  eine  solche  Assoziation  sich  gebildet  hat,  die  Ver- 
bindung für  wahr  gehalten  werde.  Angenommen  vielmehr, 
beides  sei  richtig,  so  ist  es  doch  leicht  erkennbar,  daß  diese 
Bestimmung  des  Unterschiedes  zwischen  Urteil  und  Vor- 
stellung nicht  genügen  kann ,  da ,  wemi  der  angegebene 
Unterschied  allein  zwischen  dem  Urteil  und  der  betreffen- 
den Vorstellung  bestände,  beide  in  sich  selbst  betrachtet 
ein  vöUig  gleiches  Denken  sein  würden.  Die  Gewohnheit 
zwei  Merkmale  vereinigt  zu  denken  ist  nicht  selbst  ein 
Denken  oder  die  besondere  Beschaffenheit  eines  Denkens, 
sondern  eine  Disposition,  die  einzig  und  allein  in  ihren 
Folgen  sich  offenbart.  Und  die  Unmöglichkeit  von  z\N'ei 
Merkmalen  das  eine  ohne  das  andere  zu  denken,  ist  ebenso 


*  Mental  aud  Moral  Science,  3.  edit.  London  1872.  Note  on  the 
chapter  on  Belief,  Append.  p.  100. 

-  Anal,  of  the  Phenom.  of  the  Human  Mind.     Chapt.  XI. 

3  Principles  of  Psychology,  2.  edit.  I.  London  and  Edinburgh  1870. 
Sieh  darüber  J.  St.  Mill  in  einer  Note  zu  dem  eben  zitierten  Kapitel 
der  Anal.  p.  402. 


—  so- 
wenig selbst  ein  Denken  oder  die  besondere  BeschafPen- 
heit  eines  Denkens;  sie  ist  viehnehr  nach  der  Ansicht  der 
genannten  Philosophen  nur  ein  besonders  hoher  Grad  jener 
Disposition.  Wenn  sich  diese  Disposition  nur  darin  offen- 
bart, daß  die  Verbindung  von  Merkmalen  ausnahmslos,  aber 
ganz  in  derselben  Weise  wie  vor  ihrer  Erwerbung  gedacht 
wird,  so  ist  es  klar,  daß,  wie  wir  sagten,  zwischen  dem 
Denken  vorher,  welches  ein  bloßes  Vorstellen,  und  dem 
Denken  nachher,  welches  ein  Glauben  sein  soll,  in  sich 
selbst  kein  Unterschied  besteht.  Wenn  sich  die  Disposition 
aber  noch  in  anderer  Weise  von  Einfluß  zeigt,  so  daß  nach 
ihrer  Erwerbung  das  Denken  der  Verbindung  modifiziert  ist 
und  eine  neue,  besondere  Beschaffenheit  erlangt  hat,  so 
muß  man  sagen,  daß  in  dieser  Beschaffenheit,  nicht  aber 
in  der  inseparabelen  Assoziation,  aus  welcher  sie  hervor- 
geht, der  eigentliche  Unterschied  des  Fürwahrhaltens  vom 
bloßen  Vorstellen  anzuerkennen  sei.  Darum  sagte  ich,  der 
Fehler  von  James  Mill  und  Herbert  Spencer  sei  demjenigen 
von  Bain  verwandt.  Denn,  wie  Bain  eine  Besonderheit 
der  Folgen  mit  der  inneren  Besonderheit  des  Fürwahr- 
haltens verwechselte,  so  haben  der  ältere  Mill  und  Spencer 
etwas  als  Besonderheit  dieser  Weise  des  Denkens  geltend 
gemacht,  was  sie  nur  etwa  als  Ursache  seiner  Besonderheit 
hätten  bezeichnen  dürfen. 

§  3.  So  viel  also  steht  fest,  daß  der  Unterschied 
zwischen  Vorstellen  und  Urteilen  ein  innerer  Unterschied  des 
einen  Denkens  vom  anderen  sein  muß.  Und  wenn  dies, 
so  gilt,  was  wir  oben  gesagt  haben,  daß  nämlich,  wer 
unsere  Anschauung  über  das  Urteilen  bestreitet,  die  Ver- 
schiedenheit, die  zwischen  ihm  und  dem  bloßen  Vorstellen 
besteht,  nur  in  einem  von  beiden,  entweder  in  einem 
Unterschiede  der  gedachten  Gegenstände,  oder  in  einem 
Unterschiede  der  Vollkommenheit,  mit  welcher  sie  gedacht 
werden,  suchen  kann.  Ziehen  wir  von  diesen  zwei  An- 
nahmen zunächst  die  letztere  in  Erwägung. 

Wo  es  sich  um  einen  Unterschied  der  Vollkommenheit 


—     40     — 

zweier  psychischer  Tätigkeiten  handelt,  die  sowohl  hinsicht- 
Hch  der  Weise  ihrer  Beziehung  auf  das  Objekt  als  auch 
hinsichtlich  des  Inhalts,  auf  welchen  sie  sich  beziehen, 
übereinstinnnen,  da  kann  wohl  von  nichts  anderem  als  von 
einem  Unterscliiede  der  Stärke  des  einen  und  anderen 
Aktes  die  Rede  sein.  Die  Frage,  die  wir  zu  untersuchen 
haben,  ist  also  keine  andere  als  die,  ob  etwa  darin  die  Be- 
sonderheit des  Urteilens  gegenüber  dem  Vorstellen  bestehe. 
daß  beim  Urteilen  der  Inhalt  mit  größerer  Intensität  ge- 
dacht, also  das  Vorstellen  eines  Objektes  durch  eine  Zu- 
nahme seiner  Intensität  zum  Fürwahrhalten  gesteigert 
werde.  Es  leuchtet  ein,  daß  eine  solche  Auffassung  nicht 
richtig  sein  kann.  Nach  ihr  wäre  das  Urteil  eine  stärkere 
Vorstellung,  die  Vorstellung  ein  schwächeres  Urteil.  Aber 
ein  Vorgestelltsein,  wenn  auch  noch  so  klar  und  deutlich 
und  lebendig,  ist  nicht  ein  Beurteiltsein,  und  ein  mit  noch 
so  geringer  Zuversicht  gefälltes  Urteil  ist  nicht  eine  bloße 
Vorstellung.  Allerdings  mag  es  geschehen,  daß  einer  etwas, 
was  ihm  mit  fieberhafter  Lebhaftigkeit  in  der  Phantasie 
erscheint  wie  etwas,  was  er  sieht,  für  wirklich  nimmt,  was 
er  nicht  tun  würde,  wemi  es  ihm  in  schwächerem  Eindrucke 
erschiene;  aber  wenn  mit  der  größeren  Stärke  einer  Vor- 
stellung in  gewissen  Fällen  ein  Fürwahrhalten  gegeben 
ist,  so  ist  sie  deshalb  nicht  selbst  das  Fürwahrhalten.  Die 
Illusion  kann  darum  schwinden,  während  die  Lebendigkeit 
der  Vorstellung  beharrt.  Und  in  anderen  Fällen  hält  man 
mit  aller  Zuversicht  etwas  für  wahr,  obwohl  der  Inhalt  des 
Urteils  nichts  weniger  als  lebendig  vorgestellt  wird.  Wie 
endlich  sollte,  wenn  die  Anerkennung  eines  Gegenstandes 
ein  starkes  Vorstellen  wäre,  die  verneinende  Verwerfung 
desselben  gefaßt  werden? 

Gewiß  wäre  es  unnütz,  wollten  wir  uns  länger  mit  der 
Bekämpfung  einer  Hypothese  aufhalten,  bei  welcher  schon 
von  vornherein  nur  wenige  geneigt  sein  werden,  sie  zu  ver- 
treten. Sehen  wir  vielmehr,  ob  es  uns  ebenso  gelingen 
wü'd,  den  anderen  Weg,  auf  welchem  man  mit  größerem 
Scheine  unsere  Annahme  für  vermeidlich  halten  könnte,  als 
einen  unmöglichen  nachzuweisen. 


—    41     — 

§  4.  In  der  Tat  geht  eine  sehi-  gewöhnliche  Meinung 
dahin,  daß  das  Urteilen  in  einem  Verbinden  oder  Trennen 
bestehe,  welches  in  dem  Bereiche  unseres  Vorstellens  sich 
vollziehe,  und  das  bejahende  Urteil  und,  in  etwas  modifi- 
zierter Art,  auch  das  verneinende  werden  darum  im  Gegen- 
satze zur  bloßen  Vorstellung  sehr-  gewöhnlich  als  ein  zu- 
sammengesetztes oder  auch  beziehendes  Denken  bezeichnet. 
So  gefaßt  würde  das,  was  den  Unterschied  des  Urteilens 
vom  bloßen  Vorstellen  ausmachte,  wirklich  nichts  anderes 
sein  als  ein  Unterschied  des  Urteilsinhaltes  vom  Inhalte 
des  bloß  vorstellenden  Denkens.  Würde  eine  gewisse  Art 
von  Verbindung  oder  Beziehung  zweier  Merkmale  gedacht, 
so  wäre  der  Gedanke  ein  Urteil,  während  jeder  Gedanke, 
der  nicht  eine  solche  Beziehung  zum  Inhalte  hätte,  eine 
bloße  Vorstellung  genannt  werden  müßte. 

Aber  auch  diese  Ansicht  ist  unhaltbar. 

Nehmen  wir  an,  es  sei  richtig,  daß  immer  nur  eine 
gewisse  Art  von  Verbindung  mehrerer  Merkmale  den  Inhalt 
eines  Urteils  bilde,  so  wird  dies  die  Urteile  zwar  von 
einigen,  keineswegs  aber  von  allen  Vorstellungen  unter- 
scheiden. Denn  offenbar  kommt  es  vor,  daß  em  Denkakt, 
welcher  nichts  als  ein  bloßes  Vorstellen  ist,  eine  voll- 
kommen ähnliche,  ja  eine  völlig  gleiche  Zusammensetzung 
melu-erer  Merkmale  zum  Inhalte  hat,  wie  diejenige,  welche 
in  einem  anderen  Falle  den  Gegenstand  eines  Urteils  bildet. 
Wenn  ich  sage:  irgend  ein  Baum  ist  grün,  so  bildet  das 
Grün  als  Eigentümlichkeit  mit  einem  Baume  verbunden 
den  Inhalt  meines  Urteils.  Es  könnte  mich  aber  einer 
fragen :  ist  irgend  ein  Baum  rot  ?  und  ich,  in  der  Pflanzen- 
welt nicht  genugsam  erfahren  und  uneingedenk  der  herbst- 
lichen Farbe  der  Blätter,  könnte  mich  jedes  Urteils  über 
die  Frage  enthalten.  Aber  dennoch  würde  ich  die  Frage 
verstehen  und  mir  infolgedessen  einen  roten  Baum  vor- 
stellen. Das  Rot,  ganz  ähnlich  wie  zuvor  das  Grün,  als 
Eigentümlichkeit  mit  einem  Baume  verbunden,  würde  dann 
den  Inhalt  einer  Vorstellung  bilden,  mit  welcher  kein  Urteil 
gegeben  wäre.     Und   hätte  jemand  nm-  Bäume   mit   roten 


—     42     — 

und  niemals  einen  mit  grünen  Blättern  gesehen,  so  würde 
er    vielleicht    bei    einer   Frage    über    grüne   Bämiie   nicht 
bloß  eine  ähnliche,  sondern  sogar  dieselbe  Verbindung  von 
Merkmalen,   die  der  Inhalt   meines  Urteils  war,   in  bloßer 
Vorstellung  erfassen. 

Offenbar  hatten  James  Mill  und  Herbert  Spencer  dies 
erkannt,  da  sie  bei  der  Bestimmung  der  Eigentümlichkeit 
des  Urteils  nicht  wie  die  meisten  anderen  dabei  stehen 
blieben,  daß  der  Inhalt  des  Urteils  eine  gewisse  Art  von 
Verbindung  vorgestellter  Merkmale  sei,  sondern  als  eine 
weitere  Bedingung  hinzufügten,  daß  eine  inseparabele 
Assoziation  zwischen  denselben  bestehen  müsse.  Und  auch 
A.  Bain  hatte  darum  für  nötig  gehalten,  noch  eine  besondere 
Bestimmung  hinzuzufügen,  nämlich  den  Emfluß  des  Denkens 
auf  das  Handeln.  Der  Fehler,  den  sie  begingen,  wai-  nur 
der,  daß  sie  nicht  in  der  Angabe  einer  inneren  Besonder- 
heit des  urteilenden  Denkens,  sondern  in  einem  Unter- 
schiede von  Dispositionen  oder  Folgen  die  Ergänzung 
suchten.  Glücklicher  war  hier  John  Stuart  Mill,  der  den 
besprochenen  Punkt  mit  großem  Nachdrucke  hervorhob 
und  überhaupt  melu-  als  irgend  ein  anderer  Philosoph  einer 
richtigen  Würdigung  des  Unterschiedes  zwischen  Vorstellung 
und  Urteil  nahe  gekommen  ist. 

„Es  ist",  sagt  er  in  seiner  Logik,  „ganz  richtig,  daß 
wü-,  wenn  wir  urteilen  .Gold  ist  gelb',  die  Idee  von  Gold 
und  die  Idee  von  gelb  haben ,  imd  daß  beide  Ideen  in 
imserem  Geiste  zusammengebracht  werden  müssen.  Es  ist 
aber  klar,  daß  dies  nm-  ein  Teil  von  dem  ist,  was  vorgeht ; 
denn  ^^'ir  können  zwei  Ideen  zusammenstellen,  ohne  daß 
ein  Glauben  stattfindet,  wie  wenn  wir  etwas,  z.  B.  einen 
goldenen  Berg,  nur  erdichten,  oder  wenn  wir  geradezu 
nicht  glauben;  denn  sogar  um  nicht  zu  glauben,  daß 
Mohammed  ein  Apostel  Gottes  war.  müssen  wir  die  Idee 
von  Mohammed  und  die  eines  Apostels  Gottes  zusammen- 
stellen. Zu  bestimmen,  was  im  Falle  von  Zustimmung  oder 
Leugnung   außer  dem  Zusammenstellen   zweier  Ideen  noch 


—     43     — 

weiter  vorgeht,  ist  eines  der  verwickeltsten  metaphysischen 
Probleme  ^" 

In  seinen  kritischen  Noten  zu  James  Mills  Analyse  der 
Phänomene  des  menschlichen  Geistes  geht  er  tiefer  in  die 
Sache  ein.  Er  bekämpft  in  dem  Kapitel  über  die  Aussage 
(Prädikation)  die  Ansicht,  welche  in  ihr  in  ähnlicher  Weise 
den  Ausdruck  für  eine  gewisse  Ordnung  von  Ideen  wie  in 
dem  Namen  den  Ausdruck  für  eine  einzelne  Idee  sehen 
wollte.  Der  charakteristische  Unterschied  zwischen  einer 
Aussage  und  einer  anderen  Form  des  Sprechens,  behauptet 
er  seinerseits,  sei  vielmehr  der,  daß  sie  nicht  bloß  ein  ge- 
wisses Objekt  vor  den  Geist  bringe,  sondern  daß  sie  etwas 
darüber  behaupte,  daß  sie  nicht  bloß  zur  Vorstellung 
einer  gewissen  Ordnung  von  Ideen,  sondern  zum  Glauben 
an  sie  anrege,  indem  sie  anzeige,  daß  diese  Ordnung  eine 
wirkliche  Tatsache  sei^.  Wiederholt  kommt  er  darauf 
zurück,  sowohl  bei  demselben^  als  bei  späteren  Kapiteln, 
wie  beim  Kapitel  über  das  Gedächtnis,  wo  außer  der  Idee 
von  dem  Dinge  und  der  Idee  davon,  daß  ich  es  gesehen, 
nebst  anderem  auch  noch  der  Glauben,  daß  ich  es  ge- 
sehen habe,  hinzukommen  müsse*.  Besonders  ausführlich 
handelt  er  aber  in  einer  langen  Anmerkmig  zum  Kapitel 
„Belief"  von  der  eigentümlichen  Natur  des  Urteils  gegen- 
über der  bloßen  Vorstellung.     Er  zeigt  wiederum  deutlich, 

^  Ded.  u.  lud.  Logik  Buch  I,  Kap.  .5,  §  1. 

2  The  characteristic  diflference  between  a  predication  and  auy  other 
form  of  Speech,  is  that  it  does  uot  merely  bring  to  mind  a  certaiu  ob- 
ject  .  .  .;  it  asserts  something  respecting  it  .  .  .  Whatever  view  we 
adopt  of  the  psychological  nature  of  ßelief,  it  is  necessary  to  distinguish 
between  the  mere  Suggestion  to  the  mind  of  a  certaiu  order  among 
sensations  or  ideas  —  such  as  takes  place  when  we  think  of  the  aipha- 
bet, or  the  numeration  table  —  and  the  indication  that  this  order  is  an 
actual  fact,  which  is  occurring,  or  which  has  occurred  once  or  oftener, 
or  which,  in  certain  definite  circumstances,  always  occurs;  which  are 
the  things  indicated  as  true  by  an  affirmative  predication,  and  as  false 
by  a  negati\'e  one.  (Anal,  of  the  Pheuom.  of  the  Human  Mind  2.  edit. 
Ch.  IV,  Sect.  4,  Note  48,  I,  p.  162  s.). 

3  Ebend.  Note  55,  I,  p.  187. 

+  Ebend.  Ch.  X,  Note  91,  I,  p.  329. 


—     44     — 

daß  es  sich  nicht  in  bloße  Vorstellungen  auflösen  und  durch 
bloße  Zusammensetzung  von  Vorstellungen  bilden  lasse.  Viel- 
mehr, sagt  er,  müsse  man  jeden  Versuch  einer  Ableitung 
der  einen  aus  der  anderen  Erscheinung  als  etwas  Unmög- 
liches anerkennen  und  den  Unterschied  zwischen  Vor- 
stellung und  Urteil  als  eine  letzte  und  ursprüngliche  Tat- 
sache betrachten.  „Kurzum",  fragt  er  am  Schlüsse  einer 
längeren  Erörterung,  „was  ist  für  unseren  Geist  der  Unter- 
schied zwischen  dem  Gedanken,  es  sei  etwas  wirklich,  und 
der  Vorstellung  eines  von  der  Einbildungskraft  entworfenen 
Gemäldes?  Ich  gestehe,  daß  ich  keinen  Ausweg  finde,  auf 
dem  man  sich  der  Ansicht  entziehen  könnte,  daß  der  Unter- 
schied em  letzter  und  ursprünglicher  ist^"  Wir  sehen, 
J.  St.  Mill  erkemit  hier  einen  Unterschied  an,  ähnlich  dem, 
welchen  Kant  und  andere  zwischen  Denken  und  Gefühl 
geltend  gemacht  haben.  In  ihrer  Sprache  ausgedrückt, 
würde  die  Behauptung  von  Mill  diese  sein,  daß  für  Vor- 
stellen und  Glauben  oder,  wie  wir  sagen  würden,  für  Vor- 
stellen und  Urteilen  zwei  verschiedene  Urvermögen  an- 
genommen werden  müssen.  Nach  unserer  Ausdrucksweise 
aber  ist  seine  Lehre  die,  daß  Vorstellen  und  Urteilen  zwei 
völlig  verschiedene  Arten  der  Beziehung  auf  einen  Inhalt, 
zwei  grundverschiedene  Weisen  des  Bewußtseins  von  einem 
Gegenstande  seien. 

Also,  wie  gesagt,  angenommen  sogar  es  finde  wirklich 
bei  jedem  Urteilen  ein  Verbinden  oder  Trennen  vorgestellter 
Merkmale  statt  —  und  John  Stuart  Mill  war  in  der  Tat 
dieser  Ansicht  ^  — :  so  besteht  hierin  doch  nicht  die  wesent- 

^  „that  the  distinction  is  ultimate  and  primordial".  (Ebeud.  I, 
p.  412.) 

2  Sowohl  in  seiner  Logik  gibt  sie  sich  zu  erkennen,  wo  Mill  von 
dem  Inhalte  der  Urteile  handelt  (Buch  I,  Kap.  5)  als  auch  in  seinen 
Noten  zu  dem  genannten  Werke  seines  Vaters.  So  z.  B.  in  folgender 
Stelle:  „I  think  it  is  true,  that  every  assertion,  every  object  of  Belief, 
—  everything  that  can  be  true  or  falsa  —  that  can  be  an  object  of 
assent  or  dissent  —  is  some  order  of  sensations  or  of  ideas :  some 
coexistence  or  succession  of  sensatioas  or  ideas  actuälly  experienced,  or 
supposed  capable  of  being  experienced."    (a.  a.  0.  Ch.  IV,  Note  48,  p.  162.) 


—    45     — 

liehe  Eigentümlichkeit  des  urteilenden  im  Gegensatze  zu 
dem  bloß  vorstellenden  Denken.  Eine  solche  Eigentümlich- 
keit des  Inhaltes  würde  die  Urteile  zwar  von  einigen,  nicht 
aber  schlechthin  von  allen  Vorstellungen  unterscheiden. 
Und  sie  würde  darum  die  Annahme  einer  anderen  und 
mehr  charakteristischen  Besonderheit,  wie  die,  welche  wir 
in  dem  Unterschiede  der  Weise  des  Bewußtseins  an- 
erkennen, nicht  entbehrlich  machen, 

§  5.  Aber  noch  mehr.  Es  ist  nicht  einmal  richtig, 
daß  bei  allem  Urteilen  eine  Verbindung  oder  Trennung 
vorgestellter  Merkmale  statt  hat.  So  wenig  als  das  Be- 
gehren oder  Verabscheuen,  so  wenig  ist  auch  das  An- 
erkennen oder  Verwerfen  ausschließlich  auf  Zusammen- 
setzungen oder  Beziehungen  gerichtet.  Auch  ein  einzelnes 
Merkmal,  das  wir  vorstellen,  kann  anerkannt  oder  ver- 
worfen werden. 

Wenn  wir  sagen,  „A  ist",  so  ist  dieser  Satz  nicht,  wie 
viele  geglaubt  haben  und  noch  jetzt  glauben,  eine  Prädi- 
kation, in  welcher  die  Existenz  als  Prädikat  mit  A  als  Sub- 
jekt verbunden  wird.  Nicht  die  Verbindung  eines  Merk- 
mals „Existenz"  mit  „A",  sondern  „A"  selbst  ist  der  Gegen- 
stand, den  wir  anerkennen.  Ebenso  wenn  wir  sagen,  „A  ist 
nicht",  so  ist  dies  keine  Prädikation  der  Existenz  von  A 
in  entgegengesetztem  Sinne,  keine  Leugnung  der  Verbindung 
eines  Merkmals  „Existenz"  mit  „A",  sondern  „A"  ist  der 
Gegenstand,  den  wir  leugnen. 

Damit  dies  recht  deutlich  werde,  mache  ich  darauf 
aufmerksam,  daß,  wer  ein  Ganzes  anerkennt,  jeden  einzelnen 
Teil  des  Ganzen  einschließlich  anerkennt.  Wer  innner  da- 
her eine  Verbindung  von  Merkmalen  anerkennt,  erkennt 
einschlieljlich  jedes  einzelne  Element  der  Verbindung  an. 
Wer  anerkennt,  daß  ein  gelehrter  Mann,  d.  h.  die  Ver- 
bindung eines  Mannes  mit  dem  Merkmale  „Gelehrsamkeit" 
sei,  erkennt  einschließlich  an,  daß  ein  Mann  sei.  Wenden 
wir  dies  an  auf  das  Urteil  „A  ist".  Wäre  dieses  Urteil  die 
Anerkennung   der  Verbindung  eines  Merkmals    „Existenz" 


—    46     — 

mit  ,,A",  so  würde  darin  einschließlich  die  Anerkennung 
jedes  einzelnen  Elementes  der  Verbindung,  also  auch  die 
Anerkennung  von  A  liegen.  Wir  kämen  also  an  der  An- 
nahme einer  einschließlichen  einfachen  Anerkennung  von 
A  nicht  vorbei.  Aber  wodm*ch  würde  sich  diese  einfache 
Anerkennmig  von  A  von  der  Anerkennung  der  Verbindung 
von  A  mit  dem  Merkmale  „Existenz",  welche  in  dem  Satze 
„A  ist"  ausgesprochen  sein  soll,  unterscheiden?  Offenbar 
in  gar  keiner  Weise.  Somit  sehen  wir,  daß  vielmehr  die 
Anerkennung  von  A  der  wahre  und  volle  Sinn  des  Satzes, 
also  nichts  anderes  als  A  Gegenstand  des  Urteils  ist.  / 

Erwägen  wir  in  derselben  Weise  den  Satz  ,,A  ist  nicht" ; 
vielleicht  wird  seine  Betrachtung  die  Wahrheit  unserer 
Auffassung  noch  einleuchtender  machen.  Wenn  derjenige, 
welcher  ein  Ganzes  anerkennt,  jeden  Teil  des  Ganzen  ein- 
schließhch  anerkennt,  so  gilt  doch  nicht  ebenso,  daß  der- 
jenige, welcher  ein  Ganzes  leugnet,  jeden  Teil  des  Ganzen 
einschließlich  leugnet.  Wer  leugnet,  daß  es  weiße  und 
blaue  Schwäne  gibt,  leugnet  darum  nicht  einschließlich,  daß 
es  weiße  Schwäne  gibt.  Und  natürlich ;  da,  wenn  auch  nur 
ein  Teil  falsch  ist,  das  Ganze  nicht  wahi-  sein  kann.  Wer 
daher  eine  Verbindung  von  Merkmalen  verwirft,  verwirft 
dadurch  keineswegs  einschließlich  jedes  einzelne  Merkmal, 
welches  Element  der  Verbindung  ist.  Wer  z,  B.  leugnet, 
daß  es  einen  gelehrten  Vogel,  d.  h.  die  Verbindung  eines 
Vogels  mit  dem  Merkmale  „Gelehrsamkeit"  gebe,  leugnet 
damit  nicht  einschließlich,  daß  ein  Vogel,  oder  daß  Gelehr- 
samkeit in  Wirklichkeit  bestehe.  Machen  wir  auch  hie- 
ven auf  unseren  Fall  Anwendung.  Wäre  das  Urteil  ,,A 
ist  nicht"  die  Leugnung  der  Verbindung  eines  Merkmals 
„Existenz"  mit  .,A",  so  würde  damit  keineswegs  A  selbst 
geleugnet  sein.  Das  aber  wird  unmöglich  jemand  behaupten. 
Vielmehr  ist  klar,  daß  nichts  anderes  als  eben  dies  der 
Sinn  des  Satzes  ist.  Somit  ist  auch  nichts  anderes  als  A 
der  Gegenstand  dieses  verwerfenden  Urteils. 

§  6.    Daß  die  Prädikation  nicht  zum  Wesen  eines  jeden 


—    47     — 

Urteils  gehört,  geht  auch  daraus  recht  deutlich  hervor,  daß 
jede  Wahrnehmung  zu  den  Urteilen  zählt;  ist  sie  ja' eine 
Erkenntnis  oder  doch  ein,  wenn  auch  irrtümliches,  Fürwahr- 
nehmen. Wir  haben  dies,  da  wir  von  den  verschiedenen 
Momenten  des  inneren  Bewußtseins  sprachen,  schon  be- 
rührt'. Und  es  wird  auch  von  solchen  Denkern  nicht  ge- 
leugnet, welche  dafür  halten,  daß  jedes  Urteilen  in  einem 
Verbinden  von  Subjekt  und  Prädikat  bestehe.  So  erkennt 
z.  B.  J.  St.  Mill  es  ausdrücklich  an  sowohl  anderwärts  als 
auch  an  der  zuletzt  von  uns  zitierten  Stelle.  Es  liege,  fügt 
er  hier  bei,  keine  größere  Schwierigkeit  darin,  so,  wie  er 
es  getan,  den  Unterschied  zwischen  dem  Anerkennen  emer 
Realität  und  dem  Vorstellen  eines  imaginären  Gebildes  für 
einen  letzten  und  ursprünglichen  zu  halten,  als  darin,  den 
Unterschied  zwischen  einer  Sensation  und  einer  Idee^  für 
einen  ursprünglichen  zu  erklären.  Es  scheine  dieser  kaum 
etwas  anderes  als  dieselbe  Differenz  miter  verändertem  Ge- 
sichtspunkte betrachtet  ^  Nun  dürfte  es  aber  nicht  leicht 
etwas  geben,  was  offenbarer  und  unverkennbarer  wäre,  als 
daß  eine  Wahrnehmung  nicht  in  der  Verbindung  eines  Sub- 
jekt- und  Prädikatbegriffes  bestehe,  oder  sich  auf  eine  solche 
beziehe,  daß  vielmehr  der  Gegenstand  einer  inneren  Wahi-- 
nehmmig  nichts  anderes  als  ein  psychisches  Phänomen,  der 
Gegenstand  einer  äußeren  nichts  anderes  als  ein  phy- 
sisches Phänomen,  Ton,  Geruch  oder  dergleichen  sei.  Also 
ha,ben  wir  hier  einen  recht  augenscheinlichen  Beleg  für  die 
Wahrheit  unserer  Behauptung. 

1  Buch  II,  Kap.  8,  §  1,  flf.  m.  Psych,  v.  emp.  St. 

2  Im  Sinne  Humes,  s.  m.  Psych,  v.  emp.  St.  Buch  I,  Kap.  1,  §  2, 
S.  15. 

^  Er  fährt  fort:  There  is  no  more  difficulty  in  holding  it  to  be 
so,  than  in  holding  the  difference  betweeu  a  Sensation  and  an  idea  to 
be  primordial.  It  seems  almost  another  aspect  of  the  same  difference. 
Ebenso  sagt  er  im  Verlaufe  derselben  Abhandlung:  The  difference 
[between  recognising  something  as  a  reality  in  nature,  and  regarding 
it  as  mere  thought  of  our  own]  presents  itself  in  its  most  elenientary 
form  in  the  distiuction  between  a  Sensation  and  au  idea.  (a.  a.  0. 
p.  419.) 


—     48     — 

Oder  sollte  einer  auch  hier  noch  Bedenken  hegen  ?  Sollte 
er,  weil  man  nicht  bloß  sagt,  man  nehme  eine  Farbe,  einen 
Ton,  man  nehme  ein  Sehen,  ein  Hören  wahi\  sondern  auch, 
man  nehme  wahr,  daß  ein  Sehen,  Hören  existiere,  sich  zu 
dem  Glauben  verleiten  lassen,  auch  die  Wahrnehmung  he- 
stehe  in  der  Anerkennmig  der  Verbindung  eines  Merkmal- 
„Existenz"  mit  dem  betreffenden  Phänomene?  Mir  scheint 
eine  solche  Yerkennung  offen  liegender  Tatsachen  fast  un- 
denkbar. Doch  aufs  neue  und  mit  einer  vorzüglichen  Klar- 
heit wird  sich  die  Unhaltbarkeit  einer  solchen  Meinung 
aus  der  Erörterung  des  Begi'iffes  der  Existenz  ergeben. 
Manche  waren  der  Ansicht,  daß  dieser  Begi'iff  nicht  der 
Erfahrung  entnommen  sein  könne.  Wir  werden  darum  bei 
der  Untersuchung  über  die  sogenannten  angeborenen  Ideen 
ihn  in  dieser  Hinsicht  zu  prüfen  haben.  Und  wir  werden 
dann  fuiden,  daß  er  allerdings  der  Erfahrung,  aber  der 
inneren  Ei'falu'ung  entstammt  und  nur  im  Hinblick  auf 
das  Urteil  gewonnen  wm'de.  So  wenig  daher'  der  Begriff 
des  Urteils  in  dem  ersten  Urteile  Prädikat  sein  konnte,  so 
wenig  der  Begriff  der  Existenz.  Und  darum  erkennt  man 
auch  auf  diesem  Wege,  daß  wenigstens  die  erste  Wahr- 
nehmung, diejenige,  welche  in  dem  ersten  psychischen 
Phänomene  gegeben  war,  unmöglich  in  einer  solchen  Prä- 
dikation bestanden  haben  kann. 

J.  St.  ]Mill  definiert  in  der  letzten  (achten)  Ausgabe 
seiner  Logik  den  Begriff'  .Existenz"  in  folgender  Weise. 
Sein,  sagt  er,  heiße  so  viel  als  irgendwelche  (gleich- 
viel welche)  Sinnesempfindungen  oder  sonstige  Bewußt- 
seinszustände  erregen  oder  en-egen  können  ^  Obwohl  ich 
diese  Bestimmung  nicht  vollkommen  billige,  so  wüi'de  doch 
auch  sie  genügen,  um  die  Unmöglichkeit,  daß  bei  der  ersten 
Empfindung  der  Begriff'  „Existenz"  als  Prädikat  des  Urteils 
benützt  werden  konnte,  recht  anschaulich  zu  machen. 
Denn  darin  stimmt  sie  mit  derjenigen,  welche  wir  als  die 
richtige  darzutun  hoffen,  überein,  daß  sie  erst  im  Hinblick 


'  Übersetzung  vou  Gomperz,  Anhang,  III,  S.  37-3. 


—    49    — 

auf  psychische  Tätigkeiten  gewonnen  werden  konnte,  die 
in  jenem  Falle  umgekehrt  ihrerseits  ihn  voraussetzen  und 
als  einen  schon  gegebenen  verwenden  würden. 

^  7.  Daß  nicht  jedes  Urteil  auf  eine  Verbmdung  vor- 
gestellter Merkmale  sich  beziehe,  und  die  Prädikation  eines 
Begriffes  von  einem  anderen  nicht  unumgänghch  dazu  ge- 
höre, ist  eine  Wahrheit,  die  zwar  gewöhnlich,  aber  doch 
nicht  ausnahmslos  verkannt  wurde.  Kant  hat  bei  seiner 
Kritik  des  ontologischen  Gottesbeweises  die  treffende  Be- 
merkung gemacht,  in  einem  Existentialsatze,  d.  h.  in  einem 
Satze  von  der  Formel  „A  ist",  sei  das  Sein  „kein  reales 
Prädikat,  d.  i.  ein  Begriff  von  etwas,  was  zu  dem  Begriffe 
emes  Dinges  hinzukommen  könne".  „Es  ist",  sagte  er, 
„bloß  die  Position  eines  Dinges  oder  gewisser  Bestimmungen 
an  sich  selbst."  Anstatt  aber  nun  zu  erklären,  daß  der 
Existentialsatz  überhaupt  kein  kategorischer  Satz  sei,  weder 
ein  im  Kantschen  Sinne  analytischer,  d.  h.  ein  solcher,  bei 
welchem  das  Prädikat  im  Subjekt  eingeschlossen  ist,  noch 
em  sjTithetischer,  bei  welchem  das  Subjekt  das  Prädikat 
nicht  in  sich  begreift  \  ließ  Kant  sich  dazu  verleiten,  den 
Satz  zu  den  S3-nthetischen  zu  rechnen,  indem  er  memte, 
wie  das  „isf"  der  Copula  gewöhnlich  zwei  Begriffe  zu- 
emander  in  Beziehung  setze,  so  setze  das  „ist"  in  dem 
Existentialsatz  „den  Gegenstand  in  Beziehung  auf  meinen 
Begriff".  „Der  Gegenstand",  sagt  er,  „kommt  zu  meinem 
Begriffe  synthetisch  hinzu  2. '' 

1  Auch  diese  Bestimmungen  gebe  ich  nach  Kant.  Daß  sie  eifrent- 
lich  nicht  auf  die  betrefienden  Urteile  passen  (was  aus  den  folgenden 
Untersuchungen  hervorgehen  wird),  hindert  nicht,  daß  sie.  we^en  ihrer 
Übereinstimmung  mit  der  Ansicht,  die  man  gemeiniglich  von  ihnen  hat, 
sie  genugsam  kennzeichnen. 

2  Daß  Kant  die  Urteile  der  Existentialsatze  noch  mit  zu  den 
kategorischen  Urteilen  rechnete .  ersieht  mau  daraus .  daß  er  ihrer  bei 
der  Kelation  der  Urteile  nicht  besonders  erwähnt. 

Ganz  eb'uso  nahe  wie  Kant  ist  im  Mittelalter  Thomas  von  Aiiuin 
der  Wahrheit  gekommen,  und  merkwürdigerweise  in  Reflexion  auf  den- 
selben Satz  „Gott  ist".     Auch  nach  ihm  soll  das  „ist"  kein  reales  Prä- 
dikat,  sondern  ein  Zeichen   des  Fürwahrhaltens  sein.    (Summ.   TheoL 
lirentano,  Klassifikation  der  psychischen  Phänomene.  4 


—    50    — 

Dies  war  eine  unklare  und  widerspruchsvolle  Halbheit. 
Her  hart  machte  ihr  ein  Ende,  indem  er  die  Existential- 
sätze  deutlich  als  eine  besondere  Art  von  den  kategorischen 
Sätzen  unterschied  ^  Andere  Philosophen,  und  nicht  bloß 
seine  zahlreichen  Anhänger,  sondern  bis  zu  gewissem  Maße 
auch  solche,  die,  wie  Trendelen  bürg,  der  Herbartschen 
Schule  gewöhnlich  polemisch  entgegentreten,  haben  sich  ihm 
in  diesem  Punkte  angeschlossen^. 

Aber  noch  mehi*.  Wenn  auch  nicht  alle  Denker  die 
von  uns  vertretene  Auffassung  des  Existentialsatzes  bereits 
als  richtig  anerkennen,  so  geben  doch  gegenwärtig  alle  ohne 


P.  I,  Q.  3,  A.  4  ad  2.)  Aber  auch  er  hält  dennoch  den  Satz  für  kate- 
gorisch (ebend.)  und  glaubt,  daß  das  Urteil  einen  Vergleich  unserer 
Vorstellung  mit  ihrem  Gegenstande  enthalte,  was  nach  ihm  von  jedem 
Urteile  gelten  soll.  (Q.  16,  A.  2.)  Daß  dies  unmöglich  ist,  haben  wir 
früher  gesehen.   (Vgl.  Buch  II,  Kap.  3,  §  2,  S.  182  ff.  d.  Psych,  v.  emp.  St. . 

^  Vgl.  darüber  Drobisch,  Logik,  3.  Aufl.  S.  61. 

2  Logische  Untersuchungen  2.  Aufl.,  II,  S.  208.  Vgl.  auch  da^ 
Zitat  aus  Schleier  mache  r  (ebeuda  S.  214,  Anm.  1).  Anklänge  au 
die  richtige  Auffassung  der  Existentialsätze  finden  sich  schon  bei 
Aristoteles.  Doch  scheint  er  nicht  zu  voller  Klarheit  über  sie  ge- 
langt zu  sein.  In  seiner  Metaphysik,  0,  10  lehrt  er,  daß,  da  die  Wahr- 
heit des  Denkens  in  seiner  Übereinstimmung  mit  den  Dingen  bestehe, 
die  Erkenntnis  einfacher  Gegenstände  im  Gegensatze  zu  anderen  Er- 
kenntnissen nicht  eine  Verbindung  oder  Trennung  von  Merkmalen, 
sondern  ein  einfaches  Denken,  ein  Wahrnehmen  (er  nennt  es  Berühren, 
i>tY£iv)  sein  müsse.  In  der  Schrift  „De  Interpretatione"  (Kap.  3)  spricht 
er  klar  aus,  daß  das  „Sein"  der  Copula  nicht  etwas  für  sich  bedeute 
wie  ein  Name,  sondern  nur  den  Ausdruck  eines  Urteils  ergänze,  und 
von  diesem  „Sein"  der  Copula  hat  er  das  „Sein"  im  Existentialsätze 
nie  als  etwas  wesentlich  anderes,  und  als  etwas,  was  schon  für  sich 
eine  Bedeutung  habe,  unterschieden.  Zeller  sagt  mit  Kecht:  „Daß  jeder 
Satz,  selbst  der  Existentialsatz ,  logisch  betrachtet  aus  drei  Bestand- 
teilen besteht,  sagt  Aristoteles  nirgends."  Und  er  macht  darauf  auf- 
merksam, wie  vielmehr  manches  eine  entgegengesetzte  Ansicht  bei 
Aristoteles  erkennen  lasse.  (Philos.  d.  Griechen  II,  2,  S.  158,  Anm.  2.) 
Wäre  dies  richtig,  so  würde  Aristoteles  hiedurch  nicht  hinter  der  Lehre 
der  gewöhnlichen  späteren  Logik  zurückstehen,  wie  Zeller  zu  glauben 
scheint,  sondern  im  Gegenteile  hier  wie  in  manchem  anderen  Punkte 
eine  richtigere  Anschauung  antizipiert  haben.  (Man  vgl.  auch  die  Re-  ü 
Produktion  der  Aristotelischen  Lehre  bei  Thomas  von  Aquin,  Summ 
Theol.  P.,  I,  Q.  85,  A.  5.) 


—     51     — 

Ausnahme  eine  andere  Wahrheit  zu,  aus  welcher  sich  die- 
selben  mit   größter  Stringenz   erschließen   läßt.     Auch  die- 
jenigen, welche  die  Natur  des  „ist"  und  „ist  nicht"  in  dem 
Existentialsatze   mißdeuten,   beurteilen  doch  das  „ist"  und 
„ist  nicht",  welche  als  Copula  zu  einem  Subjekt  und  Prädikat 
hinzukommen,  vollkommen  richtig.    Wenn  sie  glauben,  daß 
das  „ist"  und  „ist  nicht"  im  Existentialsatze  etwas  für  sich 
allein    bezeichne,    daß    es    die    Vorstellung    des    Prädikats 
„Existenz"  zu  der  Vorstellung  des  Subjekts  hinzubringe,  um 
beide  miteinander  zu  verknüpfen :  so  erkennen  sie  dagegen 
hinsichtlich    der   Copula    an,    daß    sie,    für   sich   allein  ge- 
nommen ohne  alle  Bedeutung,  nur  den  Ausdruck  von  Vor- 
stellungen   zum  Ausdrucke   eines   anerkennenden  oder  ver- 
werfenden  Urteils   ergänze.     Hören   wir  z.  B.   J.    St.   Mill, 
der  in   der  Auffassung   des  Existentialsatzes  unser  Gegner 
ist:    „Ein  Prädikat  und  ein  Subjekt",   sagt  er,    „sind  alles, 
was  nötig  ist,  um  ein  Urteil  zu  bilden.    Da  wir  a])er  aus  der 
bloßen    Zusammenstellung     zweier    Namen     nicht    ersehen 
können,    daß    sie    Prädikat   und   Subjekt    sind,    d.   h.   daß 
das  eine  von  dem  anderen  behauptet  oder  verneint  werden 
soll,   so   muß   ein  Modus   oder  eine  Form  da  sein,   woraus 
sich   das   erkennen   läßt,   irgendein  Zeichen,   um  eine  Prä- 
dikation von  jeder  anderen  Redeform  zu  unterscheiden.  .  .  . 
Diese  Funktion  wird  bei  einer  Affirmation  gewöhnlich  von 
dem  Worte   .ist',   bei   einer   Negation  von   ,ist   nicht'   oder 
dm'ch     einen     anderen    Teil    des    Zeitwortes     ,sein'    über- 
nonmien.    Ein  solches  als  Zeichen  der  Prädikation  dienendes 
Wort   wird  Copula  genannt^".    Von  diesem  „ist"  oder  „ist 
nicht"  der  Copula  unterscheidet  er  dann  ausdrücklich  das- 
jenige ,    welches    den    Begriff   der   Existenz    in    seiner    Be- 
deutung  einschließe.     Das   ist   die   Lehre   nicht  allein   von 
Mill,    sondern   man   darf  sagen   von   allen,   welche   in   der 
Auffassung    des    Existentialsatzes    nicht    mit   uns    überein- 
stimmen.    Außer  von   Logikern   findet   man   sie   auch   von 
Grammatikern   und  Lexikographen  vertreten'*.     Und   wenn 

1  Ded.  u.  Indukt.  Logik.     Übers,  v.  Schiel,  I,  S.  93. 

2  Vgl.  z.  B.  Heyses  Wörterbuch  der  üeutschen  Sprache. 

4* 


—     52     — 

J.  St.  Mill  erst  James  Mill  diese  Auffassung  klar  entwickeln 
läßt  ^  so  ist  er  selu"  im  Unrecht.  Er  hätte  sie  z.  B.  in  der 
Logik  von  Port  Royal  schon  ganz  ebenso  dargelegt  finden 
können^. 

Wohlan  denn,  —  es  bedarf  nicht  mehr  als  dieses  Zu- 
geständnisses, welches  unsere  Gegner  allgemein  inbetreff 
der  Copula  machen ,  um  daraus  mit  Notwendigkeit  zu 
folgern,  daß  auch  dem  „ist"  und  „ist  nicht"  des  Existential- 
satzes  keine  andere  Funktion  zugeschrieben  werden  könne. 
Denn  aufs  Deutlichste  läßt  sich  zeigen,  daß  jeder  katego- 
rische Satz  ohne  irgend  welche  Änderung  des  Sinnes  in 
einen  Existentialsatz  übersetzt  werden  kann,  und  daß  dann 
das  „ist"  und  „ist  nicht"  des  Existentialsatzes  an  die  Stelle 
der  Copula  tritt. 

Ich  will  dies  an  einigen  Beispielen  nachweisen. 

Der  kategorische  Satz  „irgendein  Mensch  ist  krank" 
hat  denselben  Sinn  wie  der  Existentialsatz  „ein  kranker 
Mensch  ist"  oder  „es  gibt  einen  kranken  Menschen". 

Der  kategorische  Satz  „kein  Stern  ist  lebendig"  hat  den- 
selben Sinn  wie  der  Existentialsatz  „ein  lebendiger  Stein 
ist  nicht"  oder  „es  gibt  nicht  einen  lebendigen  Stein". 

Der  kategorische  Satz  „alle  Menschen  sind  stei blich" 
hat  denselben  Sinn  wie  der  Existentialsatz  „ein  unsterb- 
licher Mensch  ist  nicht"  oder  „es  gibt  nicht  einen  unsterb- 
lichen Menschen"  ^. 

Der  kategorische  Satz  „irgendein  Mensch  ist  nicht 
gelehrt"  hat  denselben  Sinn  wie  der  Existentialsatz  „ein 
ungelehrter  Mensch  ist"  oder  „es  gibt  einen  ungelehrigen 
Menschen". 

Da  in  den  vier  Beispielen ,  die  ich  wählte ,  die  sämt- 
lichen vier  Klassen  von  kategorischen  Urteilen,  welche  die 


1  Ebend.  S.  95.  [i 

-  Logique  ou  l'Art  de  Peuser,  IL  Partie,  Chap.  3. 

^  Die  gjewöhnliche  Logik  erklärt,  die  Urteile  „alle  Menschen  sind 

sterblich"  und  „kein  Mensch  ist  nicht  sterblich"  für  äquipollent  (vgl.  z.B. 

Ueberweg,  Logik,  Th.  5,   §  96,  2.  Aufl.,  S.  235);  in  Wahrheit   sind  sie 

identisch. 


—     53     — 

Logiker  zu  unterscheiden  pflegen  ^ ,  vertreten  sind ,  so  ist 
die  Möglichkeit  der  sprachlichen  Umwandlung  der  katego- 
rischen Sätze  in  Existentialsätze  dadurch  allgemein  erwiesen  : 
und  es  ist  deutlich,  daß  das  „ist"  und  „ist  nicht"  des 
Existentialsatzes  nichts  als  ein  Äquivalent  der  Copula,  also 
kein  Prädikat ,  und  für  sich  allein  genommen  gänzlich  be- 
deutungslos ist. 

Doch  ist  die  von  uns  gegebene  Rückführung  der  vier 
kategorischen  Sätze  auf  Existentialsätze  auch  wirklich 
richtig?  Gerade  von  selten  Herbarts,  den  wir  zuvor  als 
Zeugen  anriefen,  würde  sie  vielleicht  beanstandet  werden 
Denn  seine  Auffassung  der  kategorischen  Sätze  war  von 
der  unserigen  völlig  verschieden.  Er  glaubte,  daß  jeder 
kategorische  Satz  ein  hypothetisches  Urteil  ausdrücke,  daß 
das  Prädikat  nur  unter  einer  gewissen  Voraussetzung,  nämlich 
unter  Voraussetzung  der  Existenz  des  Subjekts,  demselben 
zu-  oder  abgesprochen  werde.  Gerade  darauf  gründete  er 
seinen  Beweisversuch  dafür,  daß  der  Existentialsatz  nicht 
als  ein  kategorischer  Satz  gefaßt  werden  dürfe  2.  Nach  uns 
dagegen  entspricht  der  kategorische  Satz  einem  Urteile, 
das  man  ebensogut  in  der  existentialen  Formel  aussprechen 
kann,  und  die  in  Wahrheit  affirmativen  kategorischen  Sätze 
enthalten   einschließlich   die  Anerkennung   des  Subjektes^. 


^  Die  partikulär  bejahenden,  die  allgemein  verneinenden,  und  die 
irrtümlich  sogenannten  allgemein  bejahenden  und  partikulär  verneinen- 
den. In  Wahrheit  ist,  wie  die  obige  Rückführung  auf  die  existentiale 
Formel  deutlich  erkennen  läßt,  kein  bejahendes  Urteil  allgemein  (es 
müßte  denn  ein  Urteil  mit  individueller  Materie  allgemein  genannt 
werden)  und  kein  verneinendes  Urteil  partikulär. 

2  Vgl.  Drobisch,  Logik,  3.  Aufl.,  S.  59  &. 

^  Die  in  Wahrheit  affirmativen  sind  nach  dem,  was  in  einer  vor- 
ausgehenden Note  bemerkt  worden  ist,  das  sogenannte  partikulär  be- 
jahende und  das  sogenannte  partikulär  verneinende.  Die  in  Wahrheit 
negativen  Behauptungen,  zu  welchen  auch  die  allgemein  bejahenden 
gehören,  enthalten  selbstverständlich  nicht  die  Anerkennung  des  Sub- 
jekts, da  sie  ja  überhaupt  nicht  etwas  anerkennen,  sondern  verworfen- 
Warum  sie  auch  nicht  die  Verwerfung  des  Subjekts  enthalten ,  zeigt 
eine  frühere  Erörterung  (S.  46). 


—    54    — 

Allein,  so  sein*  wir  die  Ansicht  Herbarts  über  das  „Sein- 
des  Existentialsatzes  billigen,  so  wenig  können  wir  mit 
seiner  Deduktion  derselben  uns  einverstanden  erklären. 
Vielmehr  scheint  uns  diese  ein  Beisi^iel,  das  in  ausgezeich- 
neter Weise  die  Bemerkung  des  Aristoteles  bestätigt,  dal.» 
irrige  Prämissen  zu  einem  richtigen  Schlußsätze  führen 
können.  Es  ist  eine  starke,  ja  unmögliche  Zumutung,  zu 
glauben,  daß  der  Satz  „irgendein  Mensch  geht  spazieren 
oder  auch  der  oben  angeführte  „irgendein  Mensch  ist  krank'- 
die  stillschweigende  Voraussetzung  „wenn  es  nämlich  einen 
Menschen  gibt"  enthalte.  Und  ebenso  ist  es  nicht  bloß 
nicht  richtig,  sondern  es  hat  auch  nicht  den  mindesten 
Schein  für  sich,  daß  der  Satz  „irgendein  Mensch  ist  nicht 
gelehrt"  diese  Voraussetzung  mache.  Bei  dem  Satze  „kein 
Stein  ist  lebendig"  wüßte  ich  gar  nicht,  was  die  Be- 
schränkung „wenn  es  nämlich  einen  Stein  gibt"  für  eine 
Bedeutung  haben  sollte.  Wenn  es  keinen  Stein  gäbe,  so 
wäre  es  ja  sicher  eben  so  richtig,  daß  es  keinen  lebendigen 
Stein  gibt,  als  jetzt,  da  Steine  existieren.  Nur  bei  dem 
Beispiele  „alle  Menschen  sind  sterblich",  einem  von  den 
gewöhnlich  sogenannten  allgemein  bejahenden  Sätzen,  hat 
es  allerdings  einen  gewissen  Schein,  als  ob  eine  be- 
schränkende Bedingung  darin  enthalten  sei.  Er  scheint  die 
Verbindung  von  „Mensch"  und  „sterblich"  zu  behaupten. 
Diese  Verbindung  von  Mensch  und  sterblich  besteht  offenbar 
nicht,  wenn  kein  Mensch  besteht.  Und  doch  läßt  sich  aus 
dem  Satze  „alle  Menschen  sind  sterblich"  die  Existenz 
eines  Menschen  nicht  erschließen.  Somit  scheint  er  die 
Verbindung  von  Mensch  und  sterblich  nur  unter  der  Vorau^- 
setzung  der  Existenz  eines  Menschen  zu  behaupten.  Doch 
ein  Blick  auf  den  diesem  kategorischen  Satze  äquivalenten 
Existentialsatz  löst  die  ganze  Sch■w^erigkeit.  Er  zeigt,  daß 
der  Satz  in  Wahrheit  keine  Bejahung,  sondern  eine  Ver- 
neinung ist,  und  darum  gilt  von  ihm  Ähnliches  wie  das, 
was  wir  soeben  über  den  Satz  „kein  Stein  ist  lebendig"  be- 
merkten. 

Wenn  ich  übrigens  die  Lehre  Herbarts,  daß  alle  kate- 


—    55     — 

gorischen  Sätze  hypothetische  Sätze  seien,  hier  bekämpfte, 
so  tat  ich  es  nur,  um  meine  oben  gegebenen  Übersetzungen 
in  Existentialsätze  im  einzelnen  zu  rechtfertigen,  nicht  aber, 
weil  in  dem  Falle,  daß  Herbart  recht  hätte,  eine  solche 
Rückführung  unmöglich  sein  würde.  Im  Gegenteile  gilt 
von  den  hypothetischen  Sätzen  dasselbe,  was  ich  von  den 
kategorischen  sagte;  auch  sie  lassen  sich  sämtlich  in  die 
existentiale  Formel  kleiden,  und  es  ergibt  sich  dann,  daß 
sie  lauter  veraeinende  Behauptungen  sind.  Ein  Beispiel 
wird  genügen,  um  zu  zeigen,  wie  dasselbe  Urteil  ohne  die 
geringste  Veränderung  sowohl  in  der  Formel  eines  hypothe- 
tischen als  in  der  eines  kategorischen  und  eines  Existential- 
satzes  ausgesprochen  werden  kann.  Der  Satz  „wenn  ein 
Mensch  schlecht  handelt,  schädigt  er  sich  selbst'"  ist  ein 
hypothetischer  Satz.  Er  ist  aber  dem  Sinne  nach  derselbe 
wie  der  kategorische  Satz  „alle  schlechthandelnden  Menschen 
schädigen  sich  selbst".  Und  dieser  ^viederum  hat  keine 
andere  Bedeutung  als  der  Existentialsatz  „ein  sich  selbst 
nicht  schädigender  schlechthandelnder  Mensch  ist  nicht" 
oder,  etwas  gefälliger  ausgedrückt,  „es  gibt  keinen  sich 
selbst  nicht  schädigenden  schlechthandelnden  Menschen". 
Die  schwerfällige  Gestalt,  die  der  Ausdruck  des  Urteils  in 
der  existentialen  Formel  erhält,  macht  es  sehr  begreiflich, 
warum  die  Sprache  außer  ihr  auch  andere  syntaktische 
Einkleidungen  erfunden  hat,  aber  mehr  als  ein  Unterschied 
sprachlichen  Ausdruckes  liegt  in  der  Verschiedenheit  der 
drei  Sätze  nicht  vor,  obwohl  der  berühmte  Philosoph  von 
Königsberg  sich  verleiten  ließ,  um  derartiger  Verscliieden- 
heiten  willen  fundamentale  Unterschiede  der  Urteile  an- 
zunehmen, und  besondere  apriorische  Kategorien  auf  diese 
„Relation  der  Urteile"  zu  gründen. 

Die  Rückführbarkeit  der  kategorischen,  ja  die  Rück- 
führbarkeit  aller  Sätze,  welche  ein  Urteil  ausdrücken,  auf 
Existentialsätze   ist   also   zweifellos'.     Und   dieses  dient  in 


^  Es  gibt  noch  gewisse  Fälle,  iu  welchen  eine  solche  Rückführbar- 
keit aus  spezielleren  Gründen  beanstandet  werden  könnte.    Obwohl  ich 


—    50    — 

doppelter  Weise  die  irrige  Meinung  derjenigen  zu  wider- 
legen, welche  den  wesentlichen  Unterschied  des  Urteils  von 

ihretwegen  den  Gang  der  Untersuchung  im  Texte  nicht  aufhalten  will 
(denn  mancher  wird  sich  von  vornherein  wenig  daran  stoßen),  so  scheint 
es  mir  doch  anderseits  gut,  sie  wenigstens  in  einer  Anmerkung  zu  be- 
rücksichtigen. J.  St.  Mill,  wo  er  in  seiner  Logik  die  verschiedene  Natur 
des  „Seins"  der  Copula  und  des  „Seins"  des  Existentialsatzes,  weichet^ 
nach  ihm  den  Begriff  8er  Existenz  einschließt,  klar  machen  will,  beruft 
sich  zur  Verdeutlichung  auf  den  Satz  „ein  Zentaur  ist  eine  Erfindung 
der  Poeten".  Dieser,  sagt  er,  könne  unmöglich  eine  Existenz  aussagen. 
da  vielmehr  im  Gegenteil  daraus  hervorgehe,  daß  das  Subjekt  kein 
reales  Dasein  besitze.  (Buch  I,  Kap.  4,  §  1.)  Ein  anderes  Mal  führt  er 
zu  ähnlichem  Zwecke  den  Satz  an:  „Jupiter  ist  ein  Non-Ens".  In  der 
Tat  sind  diese  Sätze  von  der  Art,  daß  bei  ihnen  die  Rückführbarkeit 
auf  existentiale  Sätze  am  wenigsten  möglich  scheint.  Im  Briefwechsel 
mit  Mill  hatte  ich  einmal  die  Frage  über  die  Existentialsätze  zui 
Sprache  gebracht,  und  laamentlich  auch  die  Möglichkeit  der  Zurück- 
führung  einer  jeden  Aussage  auf  einen  Existeutialsatz  dagegen  geltend 
gemacht,  daß  das  „Sein"  desselben  sich  zu  dem  der  Copula  so,  wie  er 
glaubte,  verhalte.  In  seiner  Antwort  beharrte  Mill  auf  seiner  alter. 
Auffassung.  Und  obwohl  er  nicht  ausdrücklich  der  von  mir  dargelegten 
Rückführbarkeit  aller  anderen  Aussagen  auf  existentiale  widersprach, 
so  vermutete  ich  doch ,  ich  möge  diesen  Punkt  meiner  Beweisführung 
ihm  nicht  genugsam  einleuchtend  gemacht  haben.  Ich  kam  darum 
nochmals  auf  ihn  zurück  und  besprach  auch  speziell  die  Beispiele  in 
seiner  Logik.  Da  ich  unter  meinen  Papieren  gerade  ein  Brouillon  des 
Briefes  finde ,  so  will  ich  die  kleine  Erörterung  hier  wörtlich  wieder- 
holen. „Es  dürfte",  schrieb  ich,  „nicht  undienlich  sein,  wenn  ich  die 
Möglichkeit  einer  solchen  Reduktion  speziell  an  einem  Satze  zeige, 
welchen  Sie  in  Ihrer  Logik  sozusagen  als  ein  Beispiel,  an  dem  das 
Gegenteil  ersichtlich  sei,  anführen.  Der  Satz  ,ein  Zentaur  ibt  eine  Er- 
findung der  Poeten'  verlangt,  wie  Sie  mit  Recht  bemerken,  nicht,  daß 
ein  Zentaur  existiere,  vielmehr  das  Gegenteil.  Allein  er  verlangt,  um 
wahr  zu  sein,  wenigstens,  daß  etwas  anderes  existiere,  nämlich  eine 
Fiktion  der  Poeten,  die  in  einer  besonderen  Weise  Teile  des  mensch- 
lichen Organismus  und  Teile  des  Pferdes  verbindet.  Wenn  es  keine 
Fiktion  der  Poeten  gäbe,  und  wenn  es  keinen  von  den  Poeten  fin- 
gierten Zentauren  gäbe,  so  wäre  der  Satz  falsch ;  und  seine  Bedeutung 
ist  tatsächlich  keine  andere  als  die,  ,es  gibt  eine  poetische  Fiktion, 
welche  einen  menschlichen  Oberleib  mit  dem  Rumpfe  eines  Pferdes  zu 
einem  lebenden  Wesen  vereinigt  denkt',  oder  (was  dasselbe  sagt)  ,es 
gibt  einen  von  den  Poeten  fingierten  Zentauren'.  Ähnliches  gilt, 
wenn  ich  sage,  Jupiter  sei  ein  Non-Ens,   d.  h.  wohl,   er  sei  etwas,  was 


der  Vorstellung  darin  finden  wollten,  daß  es  eine  Ver- 
bindung von  Merkmalen  zum  Inhalt  habe.    Einmal  tritt  bei 

bloß  in  der  Einbildung,  nicht  aber  in  Wirklichkeit  bestehe.  Die  AVahr- 
heit  des  Satzes  verlangt  nicht,  daß  es  einen  Jupiter,  wohl  aber,  daß  es 
etwas  anderes  gebe.  Gäbe  es  nicht  etwas,  was  bloß  in  der  Vor- 
stellung existierte,  so  wäre  der  Satz  nicht  wahr.  —  Der  besondere 
Orund,  warum  man  bei  Sätzen  wie  ,der  Zentaur  ist  eine  Fiktion'  ge- 
neigt ist,  ihre  Rückführbarkeit  auf  Existentialsätze  anzuzweifeln,  liegt 
in  einem,  wie  mir  scheint,  von  den  Logikern  bisher  übersehenen  Ver- 
hältnis ihrer  Prädikate  zu  ihren  Subjekten.  Ähnlich  wie  die  Adjektiva 
für  das  ihnen  beigefügte  Substantiv,  sind  auch  die  Prädikate  für  das 
mit  ihnen  verbundene  Subjekt  gewöhnlich  etwas,  was  den  Begriff  durch 
neue  Bestimmungen  bereichert,  manchmal  aber  etwas,  was  ihn  modifi- 
ziert. Das  erste  gilt  z.  B. ,  wenn  ich  sage  ,ein  Mensch  ist  gelehrt'; 
das  zweite,  wenn  ich  sage  ,ein  Mensch  ist  tot'.  Ein  gelehrter  Mensch 
ist  ein  Mensch;  ein  toter  Mensch  ist  aber  kein  Mensch.  So  setzt  denn 
der  Satz  ,ein  toter  Mensch  ist'  nicht,  um  wahr  zu  sein,  die  Existenz 
«Ines  Menschen,  sondern  nur  die  eines  toten  Menschen  voraus;  und 
ähnlich  fordert  der  Satz  ,ein  Zentaur  ist  eine  Fiktion'  nicht,  daß  es 
einen  Zentauren,  sondern  einen  fingierten  Zentauren,  d.  i,  die  Fiktion 
eines  Zentauren  gebe,  usf."  Vielleicht  dient  diese  Erklärung  dazu,  ein 
Bedenken,  das  in  jemand  entstanden  sein  konnte,  zu  beseitigen.  Was 
Mill  selbst  betriflFt,  so  zeigte  es  sich,  daß  sie  bei  ihm  gar  nicht  nötig 
gewesen  wäre,  denn  er  ai^twortete  mir  unterm  6.  Februar  1873:  „You 
did  not,  as  you  seem  to  suppose  fail  to  convince  me  of  the  invariable 
convertibility  of  all  categorical  affirmative  propositions  into  predications 
of  existence  (er  meint  affirmative  Existentialsätze,  die  ich  natürlich  nicht 
als  „Prädikationen  von  Existenz"  bezeichnet  hatte).  The  Suggestion  was 
new  to  me,  but  I  at  once  saw  its  truth  when  pointed  out.  It  is  not 
■on  that  point  that  our  difference  hinges  etc."  Daß  Mill  trotz  der  zu- 
gestandenen Rückführbarkeit  aller  kategorischen  Sätze  auf  Existential- 
sätze seine  Meinung,  das  „ist"  und  „ist  nicht"  in  ihnen  enthalte  einen 
Prädikatsbegriff  „Existenz"  wie  früher  festhielt,  zeigt  sich  schon  in  der 
mitgeteilten  Stelle  seines  Briefes,  und  er  sprach  es  in  dem  darauf 
Folgenden  noch  entschiedener  aus.  Wie  er  aber  dabei  an  seiner  Lehre 
von  der  Copula  festhalten  könne,  zeigte  er  nicht.  Konsequent  hätte  er 
sie  aufgeben  und  überhaupt  noch  vieles  ir,  seiner  Logik  (wie  z.  B.  Buch  I, 
Kap.  5,  §  ."))  wesentlich  umbilden  müssen.  Ich  hofi'te,  im  Frühsommer 
seiner  Einladung  nach  Avignon  folgend,  über  diese  wie  über  andere 
zwischen  uns  schwebende  Fragen  mündlich  mich  leichter  mit  ihm  ver- 
ständigen zu  können,  und  urgierte  den  Punkt  nicht  weiter.  Doch  sein 
plötzlicher  Tod  vereitelte  meine  Hoffnungen. 

Nur  noch  eine  kurze  Bemerkung  will  ich  meiner  Erörterung  gegen 


—     58    — 

der  Rückführung  des  kategorischen  auf  den  Existentialsatz 
das  -Sein"  des  Existentialsatzes  an  die  Stelle  der  Copula 
und  läßt  so  erkennen,  daß  es  so  wenig  wie  diese  ein 
Prädikat  enthält.  Dann  sieht  man  recht  anschaidich,  -wie 
die  Verbindung  mehrerer  Glieder,  die  man  für  die  all- 
gemeine und  besondere  Xatur  der  Urteile  so  wesentlich 
glaubte,  die  Kombination  von  Subjekt  und  Prädikat,  von 
Antezedens  und  Konsequens  usf.,  in  Wahi^heit  nichts  anderes 
als  Sache  des  sprachlichen  Ausdruckes  ist. 

Hätte  man  dies  von  Anfang  erkannt,  so  wäre  wohl 
niemand  auf  den  Gedanken  gekommen,  Vorstellungen  und 
Urteile  dadurch  zu  unterscheiden,  daß  der  Inhalt  der 
ersteren  ein  einfacher,  der  Inhalt  der  letzteren  ein  zusammen- 
gesetzter Gedanke  sei.  Denn  in  Wahrheit  besteht  hin- 
sichtlich des  Inhaltes  nicht  der  geringste  Unterschied.  Der 
Bejahende ,  der  Verneinende  und  der  ungewiß  Fragende 
haben  denselben  Gegenstand  im  Bewußtsein:  der  letzte, 
indem  er  ihn  bloß  vorstellt,  die  beiden  ersten,  indem 
sie  ihn  zugleich  vorstellen  und  anerkennen  oder  ver- 
werfen. Und  jedes  Objekt,  das  Inhalt  einer  Vorstellung 
ist,  kann  unter  Umständen  auch  Inhalt  eines  Urteils  werden. 

§  8.  Überblicken  wir  noch  emmal  rasch  den  Gang 
unserer  Untersuchung   in  seinen  wesentlichsten  Momenten. 


Mill  beifügen.    Die  Sätze  von  der  Art  wie  „ein  Mensch  ist  tot"  sind  im 
"wahren  Sinne   des  Wortes   gar  nicht  kategorisch   zu  nennen,   weil  tot 
kein   Attribut,   sondern,   wie   gesagt,   eine   Modifikation  des   Subjektes 
enthält.    Was  würde  einer  zu  dem  kategorischen  Schlüsse  sagen :  „alle  , 
Menschen    sind   lebende    Wesen;    irgend  ein   Mensch  ist  tot;    also    ist 
irgend  ein  totes  ein  lebendes  Wesen?"     Er  wäre  aber,  wenn  die  Minor 
ein  wahrer  kategorischer  Satz   wäre,   ein   gültiger   Schluß   der  dritten 
Figur.     Wollten   wir    nun  mit   Kant,    solchen  verschiedenen  Aussage- 
formen entsprechend,  verschiedene  Klassen  von  „Relation"  der  Urteile 
annehmen,    so  hätten    wir    hier   wieder   neue    „transszendentale"    Ent- 
deckungen  zu  machen.     In  Wahrheit  ist   aber  die  besondere  Aussage- 
formel leicht  abgestreift,  indem  der  Existentialsatz  „es  gibt  einen  toten 
Menschen"  ganz  und  gar  dasselbe  besagt.     Und  somit ,  hoffe  ich ,  wird  i , 
man  endlich  einmal  aufhören,  hier  sprachliche  Unterschiede  mit  Unter-  :  i 
schieden  des  Denkens  zu  vei-wechseln. 


—     59     — 

Wir  sagteil,  wenn  man  nicht  zugebe,  daß  zwischen  Vor- 
stellung und  Urteil  ein  Unterschied  wie  zwischen  Vor- 
stellung und  Begehren,  d.  h,  ein  Unterschied  in  der  Weise 
der  Beziehung  zum  Gegenstand  bestehe,  so  leugne  doch 
niemand,  dnü  irgendein  Unterschied  zwischen  beiden 
anerkannt  werden  müsse.  Ein  bloß  äußerer  Unterschied, 
eine  bloße  Verschiedenheit  in  den  Ui'sachen  oder  Folgen 
könne  aber  dieser  Unterschied  offenbar  nicht  sein.  Viel- 
mehr sei  er,  wenn  man  die  Verschiedenheit  der  Bezielumgs- 
weisen  ausschließe,  nur  in  zweifacher  Art  denkbar;  entweder 
als  ein  Unteischied  in  dem,  was  gedacht  wird,  oder  als  ein 
Unterschied  der  Intensität,  mit  welcher  es  gedacht 
wird.  Wir  prüften  beide  Hypothesen.  Die  zweite  erwies 
sich  sofort  als  hinfällig.  Aber  auch  die  erste,  zu  der  man 
zunächst  eher  geneigt  sein  konnte,  zeigte  sich  bei  näherer 
Betrachtung  als  völlig  unhaltbar.  Wenn  eine  noch  immer 
sehr  gewöhnliche  Meinung  dahin  geht,  daß  die  Vorstellung 
auf  einen  einfacheren,  das  Urteil  auf  einen  zusammen- 
gesetzteren Gegenstand,  auf  eine  Verbindung  oder  Trennung 
gehe,  so  wiesen  wir  dagegen  nach,  daß  auch  bloße  Vor- 
stellungen diese  zusammengesetzteren  Gegenstände,  und 
andererseits  auch  Urteile  jene  einfacheren  Gegenstände  zum 
Inhalte  haben.  Wir  zeigten,  daß  die  Verbindung  von  Sub- 
jekt und  Prädikat  und  andere  derartige  Kombinationen 
durchaus  nicht  zum  Wesen  des  Urteils  gehören.  Wir  be- 
gründeten dies  durch  Betrachtung  des  affirmativen  wie 
negativen  Existentialsatzes ;  wir  bestätigten  es  durch  den 
Hinweis  auf  unsere  Wahrnehmungen  und  insbesondere 
unsere  ersten  Wahrnehmungen ,  und  endlich  dm'cli  die 
Rückfühi'ung  der  kategorischen ,  ja  aller  Arten  von  Aus- 
sagen auf  Existentialsätze.  So  wenig  also  ein  Unterschied 
der  Intensität,  so  wenig  kann  ein  Unterschied  des  Inhaltes 
es  sein,  was  die  Eigentümlichkeit  des  Urteils  gegenüber 
der  Vorstellmig  ausmacht.  Somit  bleibt  nichts  anderes 
übrig  als,  wie  wir  es  getan,  die  Eigentümlichkeit  des  Ur- 
teils als  eine  Besonderheit  in  der  Beziehung  aul*  den 
immanenten  Gegenstand  zu  begreifen. 


—     00     — 

§  9.  Icli  glaube,  die  eljen  beendete  Erörterung  ist  eine 
kräftige  Bestätigung  unserer  These;  so  zwar,  daß  sie  jeden 
Zweifel  daran  niederschlägt.  Dennoch  wollen  wir  wegen 
der  fundamentalen  Bedeutung  der  Frage  den  Unterschied 
von  Vorstellung  und  Urteil  nochmals  und  von  einer  anderen 
Seite  her  beleuchten.  Denn  nicht  bloß  die  Unmöglichkeit 
sonstwie  von  ihm  Rechenschaft  zu  geben,  auch  vieles  andere 
weist  uns  auf  die  Walu'heit  hin,  die  nach  unserer  Be- 
hauptung unmittelbar  in  der  inneren  Erfahrung  vorliegt, 

Vergleichen  wir  zu  diesem  Zwecke  das  Verhältnis  von 
Vorstellung  und  Urteil  mit  dem  Verhältnis  zwischen  zwei 
Klassen  von  Phänomenen,  deren  tiefgreifende  Verschieden- 
heit in  der  Beziehmig  zum  Objekt  außer  Frage  steht: 
nämlich  mit  dem  Verhältnis  zwischen  Vorstellungen  und 
Phänomenen  von  Liebe  oder  Haß.  So  sicher  es  ist,  daß 
ein  Gegenstand,  der  zugleich  vorgestellt  und  geliebt,  oder 
zugleich  vorgestellt  und  gehaßt  wird,  in  zweifacher  Weise 
intentional  im  Bewußtsein  ist:  so  sicher  gilt  dasselbe  auch 
in  betreff  eines  Gegenstandes,  den  wir  zugleich  vorstellen 
und  anerkennen,  oder  zugleich  vorstellen  und  leugnen. 

Alle  Umstände  sind  hier  und  dort  analog;  alle  zeigen, 
daß,  wenn  in  dem  einen,  auch  in  dem  anderen  Falle  eine 
zweite,  grundverschiedene  Weise  des  Bewußtseins  zu  der 
ersten  hinzugekonunen  ist. 

Betrachten  wir  dies  im  einzelnen. 

Zwischen  Vorstellungen  finden  wdr  keine  Gegensätze 
außer  die  der  Objekte ,  die  in  ihnen  aufgenommen  sind. 
Insofern  Warm  und  Kalt,  Licht  und  Dmikel,  hoher  und 
tiefer  Ton  u.  dgl.  Gegensätze  bilden,  können  wir  die  Vor- 
stellung des  einen  und  des  anderen  entgegengesetzte  nennen; 
und  in  einem  anderen  Sinne  findet  sich  überhaupt  auf  dem 
ganzen  Gebiete  dieser  Seelentätigkeiten  kein  Gegensatz. 

Indem  Liebe  und  Haß  hinzutreten,  tritt  eine  ganz 
andere  Art  von  Gegensätzen  auf.  Ihr  Gegensatz  ist  kein 
Gegensatz  zwischen  den  Objekten,  denn  derselbe  Gegen- 
stand kann  geliebt  oder  gehaßt  werden:  er  ist  ein  Gegen- 
satz   zwischen    den    Beziehungen    zum    Objekt;    gewiß    ein 


—    61     — 

deutliches  Zeichen,  daß  wir  es  hier  mit  einer  Klasse  von 
Phänomenen  zu  tun  haben,  bei  welchen  der  Charakter  der 
Beziehung  zum  Objekt  ein  durchaus  anderer  als  bei  den 
Vorstellungen  ist. 

Ein  ganz  analoger  Gegensatz  tritt  aber  unverkennbar 
auch  dann  in  dem  Bereiche  der  Seelenerscheinungen  auf, 
wenn  nicht  Liebe  und  Haß,  sondern  Anerkennung  und 
Ijeugnung  auf   die   vorgestellten  Gegenstände   sich  richten. 

Ferner  ^  In  den  Vorstellungen  findet  sich  keine  In- 
tensität außer  der  größeren  oder  geringeren  Schärfe  und 
Lebhaftigkeit  der  Erscheinung. 

Indem  Liebe  und  Haß  hinzukommen,  kommt  eine  ganz 
neue  Gattung  von  Intensität  hinzu,  die  größere  oder  ge- 
ringere Energie,  die  Heftigkeit  oder  Mäßigung  in  der  Gewalt 
dieser  Gefühle. 

In  gnnz  analoger  Weise  finden  wir  aber  auch  eine  voll- 
kommen neue  Gattung  von  Intensität  in  dem  zur  Vor- 
stellung hinzutretenden  Urteile.  Denn  das  größere  oder 
geringere  Maß  von  Gewißheit  in  Überzeugung  oder  Meinung 
ist  offenbar  nichts,  was  dem  Unterschiede  in  der  Stärke  der 
Vorstellungen  verwandter  genannt  werden  könnte  als  der 
Unterschied  in  der  Stärke  der  Liebe. 

Noch  mehr.  In  den  Vorstellungen  wohnt  keine 
Tugend  und  keine  sittliche  Schlechtigkeit, 
keine  Erkenntnis  und  kein  Irrtum.  Das  alles  ist 
ihnen  innerlich  fi'emd,  und  höchstens  in  homonymer  Weise 
können  wir  eine  Vorstellung  sittlich  gut  oder  schlecht, 
wahr  oder  falsch  nennen;  wie  z.  B.  eine  Vorstelhmg 
schlecht  genannt  wird,  weil,  wer  das  Vorgestellte  liebte, 
sündigen,  und  eine  andere  falsch,  weil,  wer  das  Vorgestellte 
anerkennte,  irren  würde ;  oder  auch,  weil  in  der  Vorstellung 
eine  Gefahr  zu  jener  Liebe,  eine  Gefahr  zu  dieser  An- 
erkennung gegeben  ist^. 


^  Zi;  dem  hier  Folge)iden  vgl.  die  Erörterungen  des  Anhangs  und 
meine  Untersuchungen  zur  Sinnespsychologie,  auf  welche  ich  in  diesen 
verweise. 

2  Vgl.,   was  schon  Aristoteles   in  dieser  Hinsicht  bemerkt  hat,   in 


—     62     — 

Das  Gebiet  der  Liebe  und  des  Hasses  zeigt  uns  also 
eine  ganz  neue  Gattung  von  Vollkommenheit  und  Unvoll- 
kommenheit,  von  welcher  das  Gebiet  der  Vorstellung  nicht 
die  leiseste  Spur  enthält.  Indem  Liebe  und  Haß  zu  den 
Vorstellungsphänomenen  sich  gesellen,  tritt  —  wenigstens 
häufig,  und  da,  wo  es  sich  um  zm-echnungsfähige  psychische 
Wesen  handelt  —  das  sittlich  Gute  und  Böse  in  das  Reich 
der  Seelentätigkeit  ein. 

Doch  auch  hier  gilt  in  bezug  auf  das  L^rteil  Ähnhches. 
Denn  die  andere  eben  so  neue  und  wichtige  Gattung  von 
Vollkommenheit  und  Unvollkommenheit,  an  der,  wie  wir 
sagten,  kein  bloßes  Vorstellen  Teil  hat,  ist  in  ähnlicher 
Weise  das  Eigentum  des  Gebietes  des  Urteils  wie  die  erst- 
genannte das  Eigentum  des  Gebietes  der  Liebe  und  des 
Hasses  ist.  Wie  die  Liebe  und  der  Haß  Tugend  oder 
Schlechtigkeit  sind,  so  sind  die  Anerkennung  oder  Leugnmig 
Erkenntnis  oder  Irrtum. 

Endlich  noch  eines.  Obwohl  von  den  Gesetzen  des 
Vorstellungslaufes  nicht  unabhängig,  unterliegen  doch  Lie1)e 
und  Haß,  als  eine  besondere,  in  der  ganzen  Weise  des 
Bewußtseins  grundverschiedene  Gattung  von  Phänomenen, 
noch  besonderen  Gesetzen  der  Sukzession  und 
Entwickelung,  welche  vornehmlich  die  psychologische 
Grundlage  der  Ethik  ausmachen.  Sehi'  häufig  wird  ein 
Gegenstand  wegen  eines  anderen  geliebt  und  gehnßt. 
während  er  an  und  für  sich  in  keiner  von  beiden  Weisen 
oder  vielleicht  nur  in  einer  entgegengesetzten  uns  bewegen 
würde.  Lnd  oft  haftet  die  Liebe,  einmal  in  dieser  Weise 
übertragen,  ohne  Rücksicht  auf  den  Ursprung  bleibend  an 
dem  neuen  Objekte. 

Auch  in  dieser  Hinsicht  aber  finden  wir  eine  ganz 
analoge  Tatsache  bei  den  Urteilen.  Auch  bei  ihnen  kommen 
zu  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Vorstellungslaufes,  deren 
Einfluß   auf  dem  Gebiete   des  Urteils    nicht   zu   verkennen 


meiner  Abhandlung   „Von   der  mannigfachen   Bedeutung  des  Seienden 
nach  Aristoteles"  S.  31  f. 


—    63     — 

ist,  noch  besondere  Gesetze  hinzu,  die  speziell  für  die  Ur- 
teile Geltung  haben,  und  in  ähnlicher  Beziehung  zur  Logik, 
wie  die  Gesetze  der  Liebe  und  des  Hasses  zur  Ethik 
stehen.  Wie  eine  Liebe  aus  der  anderen  nach  besonderen 
Gesetzen  entsteht,  so  wird  ein  Urteil  aus  dem  anderen 
nach  besonderen  Gesetzen  gefolgert. 

So  sagt  denn  mit  Recht  J.  St.  Mill  in  seiner  Logik  der 
Geisteswissenschaften:  „Li  betreff  des  Glaubens  werden 
die  Psychologen  immer  durch  spezifisches  Studium 
nach  den  Regeln  der  Liduktion  zu  untersuchen  haben, 
welchen  Glauben  wir  durch  unmittelbares  Bewußtsein 
haben,  und  nach  welchen  Gesetzen  ein  Glaube  den  anderen 
erzeugt;  welches  die  Gesetze  sind,  kraft  deren  ein  Ding, 
mit  Recht  oder  mit  Unrecht,  von  unserem  Geiste  als  Be- 
weis füi'  ein  anderes  Ding  angesehen  wird.  In  bezug  auf 
das  Begehren  werden  sie  ebenso  zu  untersuchen  haben, 
welche  Gegenstände  wir  ursprünglich  begehren,  und  welche 
Ursachen  uns  dazu  fülii-en,  Dinge  zu  begehi-en,  die  uns  ur- 
sprünglich gleichgültig  oder  sogar  unangenehm  sind  usw."  ^ 
Dem  entsprechend  verwirft  er  in  seinen  Noten  zur  Analyse 
von  James  Mill  nicht  bloß  die  Ansicht  des  Verfassers  so 
wie  Herbert  Spencers,  daß  der  Glaube  in  einer  untrennbar 
festen  Assoziation  von  Vorstellungen  bestehe,  sondern  er 
leugnet  auch,  daß,  wie  diese  beiden  Denker  notwendig  an- 
nehmen mußten,  der  Glaube  nur  nach  den  Gesetzen  der 
Ideenassoziation  sich  bilde.  ,,Wäre  dies  der  Fall",  sagt  er, 
„so  würde  das  Fürwahrhalten  eine  Sache  der  Gewohnheit 
und  des  Zufalls  und  nicht  der  Vernunft  sein.  Sicher  ist 
eine  Assoziation  zwischen  zwei  Vorstellungen,  so  stark  sie 
auch  sein  mag,  kein  hinreichender  Grund  des  Fürwahr- 
haltens; sie  ist  kein  Beweis  dafür,  daß  die  betreffenden 
Tatsachen  in  der  äußeren  Natur  verbunden  sind.  Die 
Theorie  scheint  jeden  Unterschied  aufzuheben  zwischen 
dem  Fürwahrhalten  des  Weisen,  welches  durch  Beweis- 
gründe geleitet  wird  und  den  wirklichen  Sukzessionen  und 


1  Ded.  u.  lud.  Logik  B.  VI,  Kap.  4,  §  3. 


-     64     — 

Coexistenzen  der  Tatsachen  iii  der  Welt  entspricht,  und 
dem  Fürwahrhalten  eines  Toren,  welches  durch  irgend- 
welche zufälhge  Assoziation,  w^elche  die  Vorstellung  einer 
Sukzession  oder  Coexistenz  in  dem  Geiste  hervorruft, 
mechanisch  hervorgebracht  worden  ist,  einem  Fürwahr- 
halten, das  treffend  charakterisiert  wird  durch  die  gemein- 
übliche Bezeichnung,  , etwas  für  wahr  halten,  weil  rnan  es 
sich  in  den  Kopf  gesetzt  hat'"  ^ 

Es  wäre  überflüssig,  jetzt  länger  bei  einem  Punkte  zu 
verweilen,  der  genügend  klar  und,  mit  geringen  Ausnahmen, 
auch  von  allen  Denkern  anerkannt  wird.  Spätere  Er- 
örterungen werden  das,  was  hier  über  die  besonderen  Ge- 
setze der  Urteile  und  der  Gemütsbewegungen  gesagt 
worden  ist,  noch  mehr  ins  Licht  setzen^. 

Unser  Ergebnis  ist  also  dieses:  Aus  der  Analogie  aller 
begleitenden  Verhältnisse  ist  aufs  neue  ersichtlich,  daß, 
wenn  zwischen  Vorstellung  und  Liebe,  und  überhaupt 
irgendwo  zwischen  zwei  verschiedenen  psychischen  Phäno- 
menen, auch  zwischen  Vorstellung  und  Urteil  eine  funda- 
mentale Verschiedenheit  der  Beziehung  zum  Objekte  an- 
genommen werden  muß. 

§  10.  Fassen  wir  die  Beweisgründe  für  diese  Wahrheit 
kurz  zusammen,  so  sind  es  folgende: 

Erstens  zeigt  die  innere  Erfahrung  unmittelbar  die 
Verschiedenheit  in  der  Beziehung  auf  den  Lihalt,  die  wir 
für  Vorstellung  und  Urteil  behaupten. 

Zweitens  würde,  wenn  nicht  ein  solcher,  überhaupt 
kein  Unterschied  zwischen  ihnen  bestehen.  Weder  die  An- 
nahme einer  verschiedenen  Intensität,  noch  die  Annahme 
eines  verschiedenen  Inhaltes  für  die  bloße  Vorstellung  und 
das  Urteil  ist  haltbar. 

Drittens  endlich  findet  man,  wenn  man  den  Unter- 
schied   von    Vorstellung    und    Urteil    mit    anderen   Fällen 

'  a.  a.  0.  Ch.  XI,  Note  108;  I,  p.  407. 

2  Buch  IV  und  V.     (Nicht  zum  Drucke  gelangt). 


—     (35     — 

psychischer  Unterschiede  vergleicht,  daß  von  allen  Eigen- 
tümlichkeiten, welche  sich  anderwärts  zeigen,  wo  das  Be- 
wußtsem in  völlig  verschiedenen  Weisen  zu  einem  Gegen- 
stande in  Beziehung  tritt,  auch  hier  nicht  eine  einzige 
mangelt.  Also,  wenn  nicht  hier,  so  dürften  wir  wohl  auch 
in  keinem  anderen  Falle  einen  solchen  Unterschied  auf 
psychischem  Gebiete  anerkennen. 

§  11.  Es  bleibt  uns  nun  noch  eine  Aufgabe  zu  lösen. 
Außer  dem  Irrtum  in  der  gewöhnlichen  Ansicht  müssen 
wir  auch  den  Anlaß  des  Irrtums  nachweisen. 

Die  Ursachen  der  Täuschung  waren,  wie  mir  scheint, 
von  doppelter  Art.  Der  eine  Grund  war  ein  psychischer, 
d.  h.  eine  psychische  Tatsache,  welche  die  Täuschung  be- 
günstigte; der  andere  ein  sprachlicher. 

Der  psychische  Grund  scheint  mir  vorzüglich  darin 
zu  liegen,  daß  in  jedem  Akte  des  Bewußtseins,  so  einfach 
er  auch  sein  mag,  wie  z.  B.  in  dem,  worin  ich  einen  Ton 
vorstelle,  nicht  bloß  eme  Vorstellung,  sondern  zugleich 
auch  ein  Urteil,  eine  Erkenntnis  beschlossen  ist.  Es  ist 
dies  die  Erkenntnis  des  psychischen  Phänomens  im  inneren 
Bewußtsein ,  deren  Allgemeinheit  wir  früher  nachwiesen  ^ 
Dieser  Umstand,  der  manche  Denker  dazu  veranlaßt  hat, 
alle  psychischen  Phänomene  unter  den  Begriff  des  Er- 
kennens  als  unter  eine  einheitliche  Gattung  zu  subsumieren, 
hat  andere  bestimmt,  wenigstens  Vorstellung  und  Urteil, 
weil  sie  nie  getrennt  erscheinen ,  in  eins  zu  fassen,  indem 
sie  nur  für  die  Phänomene,  die,  wie  Gefühle  und  Be- 
strebungen, in  besonderen  Fällen  hinzukommen,  besondere 
neue  Klassen  aufstellten. 

Ich  brauche,  um  diese  Bemerkung  zu  bestätigen,  nur 
eine  schon  fi'üher  einmal  angezogene  Stelle  aus  Hamiltons 
Vorlesungen  in  Erinnerung  zu  bringen.  „Es  ist  offenbar", 
sagte  er,  „daß  jedes  psychische  Phänomen  entweder  ein 
Akt  der  Erkenntnis  oder  einzig  und  allein  durch  einen  Akt 

1  Bucli  II,  Kap.  3  m.  Psych,  v.  cmp.  St. 
Brentano,  Klassifikation  fler  psychischen  PhSnomeue.  5 


—     Öi)      — 

der  Erkenntnis  möglich  ist,  denn  das  innere  Bewußt- 
sein ist  eine  Erkenntnis;  und  dies  ist  der  Gruml. 
weshalb  viele  Philosophen  —  wie  Descartes,  Leibniz. 
Spinoza,  Wolff,  Platner  u.  a.  —  dazu  geführt  wTirden,  die 
vorstellende  Fähigkeit,  wie  sie  sie  nannten,  die  Fähigkeit 
der  Erkenntnis,  als  das  Grundvermögen  der  Seele  zu  be- 
trachten, von  dem  alle  anderen  sich  ableiteten.  Die  Ant- 
wort darauf  ist  leicht.  Jene  Philosophen  beachteten  nicht, 
daß,  obwohl  Lust  und  Unlust,  Begierde  und  Willen  bloß 
sind,  insofern  sie  als  seiend  erkannt  werden,  dennoch  in 
diesen  Modifikationen  ein  absolut  neues  Phänomen 
hinzugekommen  ist,  welches  nie  in  der  bloßen  Fähig- 
keit der  Erkenntnis  enthalten  war,  und  daher  auch  nie 
daraus  entwickelt  werden  konnte.  Die  Fähigkeit  der 
Erkenntnis  ist  sicher  die  erste  der  Ordnung  nach 
und  insofern  die  conditio  sine  qua  non  der  übrigen  usw.\  " 

Wir  sehen,  weil  kein  psychisches  Phänomen  möglich 
ist,  außer  insofern  es  von  innerer  Erkenntnis  begleitet  ist, 
so  glaubt  Hamilton,  ein  Erkennen  sei  der  Ordnung  nach 
das  erste  in  uns,  und  unterscheidet,  indem  er  das  Vor- 
stellen mit  ihm  in  eines  faßt,  nur  noch  für  Gefühl  und 
Streben  besondere  Klassen.  In  der  Tat  ist  es  aber  nicht 
richtig,  daß  ein  Erkennen  der  Ordnung  nach  das  erste  ist, 
da  ein  solches  zwar  in  jedem  und  darum  auch  in  dem  ersten 
psychischen  Akte  auftritt,  aber  nur  sekmidär.  Das  primäre 
Objekt  des  Aktes  ist  nicht  immer  erkannt  (sonst  könnten 
wir  nie  etwas  falsch  beurteilen)  und  auch  nicht  immer  be- 
urteilt (sonst  würden  die  Frage  und  Untersuchung  darüber 
wegfallen),  sondern  oft  und  in  den  einfachsten  Akten  nur 
vorgestellt.  Und  auch  hinsichtlich  des  sekundären  Objekts 
bildet  die  Erkenntnis  in  gewisser  Weise  nur  das  zweite 
Moment,  indem  sie  wie  jedes  Urteil  die  Vorstellung  des 
Beurteilten  zur  Vorbedingung  hat,  also  diese  (wenn  auch 
nicht  zeitlich,  doch  der  Natur  nach)  das  Früliere  ist. 

Auf  dieselbe  Weise,  wie  Hamilton  für  die  Erkenntnis, 

1  Lectures  on  Metaphysics  I,  p.  1«7. 


—     67     - 

könnte  man  auch  für  das  Gefühl  den  ersten  Platz  in  der 
Ordnung  der  Phänomene  in  Anspruch  nehmen  und  infolge 
davon  auch  dieses  mit  Vorstellung  und  Urteil  konfimdieren. 
Denn,  wie  wir  gesehen  haben,  kommt  auch  ein  Gefühl  als 
sekundäres  Phänomen  in  jedem  psychischen  Akte  vor '. 
Wenn  dieses  nicht  oder  doch  nicht  so  häufig  wie  die  All- 
gemeinheit der  begleitenden  inneren  Wahrnehmung  zu 
einem  ähnlichen  Mißgriffe  veranlaßte,  so  erklärte  sich  dies 
nur  daraus,  daß  einerseits  die  Allgegenwart  der  Gefülile 
nicht  so  allgemein  erkannt  wurde,  und  andererseits  gewisse 
Vorstellungen  uns  wenigstens  relativ  gleichgültig  lassen, 
und  dieselbe  Vorstellung  zu  verschiedenen  Zeiten  von  ver- 
schiedenen, ja  entgegengesetzten  Gefühlen  begleitet  ist^. 
Die  innere  Wahrnehmung  dagegen  besteht  immer  und 
wechsellos  mit  derselben  Fülle  der  Überzeugung,  und  wemi 
sie  einem  Unterschiede  der  Intensität  unterliegt,  so  ist  es 
ein  solcher,  der  mit  einer  Intensität  des  von  ihi*  begleiteten 
Phänomens  in  gleichem  Grade  steigt  und  fällt  ^. 

Dies  also  ist,  was  ich  den  psychischen  Grund  des  Irr- 
tums nannte. 

§.  12.  Zu  ihm  kommt,  wie  gesagt,  auch  ein  sprach- 
licher. 

Wir  können  nicht  erwarten,  daß  Verhältnisse,  die  sogar 
scharfsinnigen  Denkern  der  Anlaß  einer  Täuschung  wurden, 
nicht  auch  auf  die  gewöhnlichen  Ansichten  einen  Einfluß 
gewonnen  haben  sollten.  Aus  diesem  aber  erwächst  die 
Sprache  des  Volkes.  Und  so  müssen  wir  von  vorn  herein 
vermuten,  daß  unter  den  Namen,  mit  welchen  das  gemeine 
Leben  die  psychischen  Tätigkeiten  zu  bezeichnen  pflegt, 
sich  einer  finde,  welcher  auf  Vorstellungen  wie  Urteile,  aber 
auf  kein  anderes  Phänomen  anwendbar,  beide  wie  zu  einer 


1  S.  Buch  II,  Kap.  3,  §  6  m.  Psych,  v.  emp.  St.  —  Vgl.  iihei  auch 
die  Erörterungen  im  Anhang  und  meine  Untersuchungen  zur  Sinnos- 
psychologie,  auf  die  sie  verweisen. 

^  Vgl.  ebend. 

^  S.  ebend.  §  4 

5* 


—    68     — 

einheitlichen,  weiteren  Klasse  gehörig  zusammenfaßt.  Dies 
zeigt  sich  in  der  Tat.  Wir  nennen  Vorstellen  und  Urteilen 
mit  gleicher  Ungezwungenheit  ein  Denken;  auf  ein  Fühlen 
oder  Wollen  dagegen  können  wir  den  Ausdruck  nicht  wohl 
anw^enden,  ohne  der  Sprache  Gewalt  anzutun.  Auch  fmden 
wir  in  fremden  Sprachen,  antiken  wde  modernen,  Bezeich- 
nungen, die  in  demselben  Umfange  gebräuchlich  sind. 

Wer  die  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
kennt,  värd  mir  nicht  widersprechen,  wenn  ich  diesem  Um- 
stand einen  hindernden  Einfluß  zuschreibe.  Wenn  sehr  be- 
rühmte Philosophen  der  Neuzeit,  ein  um  das  andere  Mal, 
sogar  dem  Paralogismus  der  Äquivokation  erlegen  sind,  wie 
sollte  nicht  eine  Gleichheit  der  Benennung  bei  der  Klassi- 
fikation eines  Erscheinungsgebietes  verführerisch  für  sie 
gewesen  sein  ?  Whewell  in  seiner  Geschichte  der  inductiven 
Wissenschaften  zeigt  solche  Versehen  und  andere  ihnen  ver- 
wandte Fehler  in  reichen  Beispielen ;  denn  wde  zu  einem 
Verbinden,  wo  keine  Gleichheit,  so  führte  die  Sprache  oft 
zu  einem  Unterscheiden,  wo  keine  Verschiedenheit  vorlag, 
und  die  Scholastiker  waren  nicht  die  einzigen,  die  Distink- 
tionen  auf  bloße  Worte  gründeten.  Es  ist  also  sehr  natürlich, 
wenn  die  Homonymie  des  Namens  „Denken"  in  unserem 
Falle  nachteilig  gewirkt  hat. 

§  13.  Aber  weit  mehr  ohne  Zweifel  hat  eine  andere 
Eigenheit  des  sprachlichen  Ausdrucks  die  Erkenntnis  des 
richtigen  Verhältnisses  erschwert. 

Die  Aussage  eines  Urteils  ist,  man  kann  sagen,  durch- 
gehends  ein  Satz,  eine  Verbindung  mehrerer  Worte,  was  sicli 
auch  von  unserem  Standpunkte  leicht  begreifen  läßt.  Es 
hängt  damit  zusammen,  daß  eine  Vorstellung  die  Grundlage 
eines  jeden  Urteiles  ist,  und  daß  bejahende  und  verneinende 
Urteile  hinsichtlich  des  Inhalts,  auf  den  sie  sich  beziehen, 
übereinstimmen,  indem  das  negative  Urteil  nur  den  Gegen- 
stand leugnet,  den  das  entsprechende  affirmative  anerkennt. 
Obwohl  der  Ausdruck  des  Urteils  der  vorzügliche  Zweck 
.sprachlicher  Mitteilung  war,  so  war  es  daher  sehr  nahe  gelegt, 


—     69    — 

den  einfachsten  sprachlichen  Ausdruck,  das  einzelne  Wort, 
nicht  für  sich  allein  dazu  zu  verwenden.  Benützte  man  es 
für  sich  als  den  Ausdruck  der  einem  Urteilspaare  gemein- 
sam zu  Grunde  liegenden  Vorstellung,  und  fügte  man,  um 
Ausdrücke  für  die  Urteile  selbst  zu  erhalten,  eine  doppelte 
Art  von  Flektion  oder  auch  eine  doppelte  Art  von  stereotypen 
Wörtchen  (wie  „sein"  und  „nicht  sein")  hinzu,  so  ersparte 
man  durch  diesen  einfachen  Kunstgriff  dem  Gedächtnis  die 
Hälfte  der  Leistung,  indem  dieselben  Namen  in  den  affir- 
mativen und  in  den  entsprechenden  negativen  Urteilen  Ver- 
wendung fanden.  Außerdem  hatte  man  den  Vorteil,  bei  der 
Weglassung  jener  Ergänzungszeichen  den  Ausdruck  einer 
anderen  Klasse  von  Phänomenen,  der  Vorstellungen,  rein  für 
sich  zu  besitzen,  welcher,  da  die  Vorstellungen  auch  für 
Begehren  und  Fühlen  die  Grundlage  sind,  in  Fragen,  in 
Ausrufungen,  in  Befehlen  u.  s.  f.  noch  weitere  treffliche 
Dienste  leisten  konnte. 

So  konnte  es  nicht  fehlen,  daß  längst  vor  den  Anfängen 
eigentlich  wissenschaftlicher  Forschung  der  Ausdruck  des 
Urteils  eine  Zusammensetzung  aus  mehreren  unterscheid- 
baren Bestandteilen  geworden  war. 

Danach  bildete  man  sich  die  Ansicht,  das  Urteil  selbst 
müsse  ebenfalls  eine  Zusammensetzung,  und  zwar  —  da  die 
Mehrzahl  der  Worte  Namen,  Ausdrücke  von  Vorstellmigen, 
sind  —  eine  Zusammensetzung  von  Vorstellungen  sein  ^  Und 
stand  einmal  dieses  fest,  so  schien  ein  unterscheidendes  Merk- 
mal des  Urteils  von  der  Vorstellung  gegeben,  und  man  fühlte 
sich  nicht  aufgefordert  näher  zu  untersuchen,  ob  dies  der 
ganze  Unterschied  zwischen  Vorstellung  und  Urteil  sein  könne, 
ja  ob  ihre  Verschiedenheit  nur  irgendwie  in  dieser  Weise 
sich  begreifen  lasse. 

Nach  allem  dem  vermögen  wir  es  uns  recht  wohl  zu 
erklären,  weshalb  das  wahre  Verhältniss  zwischen  zwei  funda- 


1  Man  vergleiche  zum  Beleg  das  erste  Kapitel  der  Aristotelischen 
»Schrift  De  Interpretatioue. 


—     70     — 

mental  verschiedenen  Klassen  psychischer  Erscheinungen  so 
lange  Zeit  verborgen  blieb. 

§.  14.  Inzwischen  hat  natürlich  die  falsche  Wurzel  man- 
nigfache Schösslinge  des  Irrtums  hervorgetrieben,  welche  in 
weiter  Verzw^eigung  nicht  bloß  über  das  Gebiet  der  Psycho- 
logie, sondern  auch  über  das  der  Metaphysik  und  Logik  sicli 
ausbreiteten.  Das  ontologische  Argument  für  das  Dasein 
Gottes  ist  nur  eine  ihrer  Früchte.  Die  gewaltigen  Kämpfe, 
welche  die  mittelalterlichen  Schulen  über  essentia  und 
esse,  ja  über  esse  essen tiae  und  esse  existentiae 
führten,  geben  von  den  convulsivischen  Anstrengungen  einer 
energischen  Denkkraft  Zeugnis,  w^elche  sich  müht  des  un- 
verdaulichen Elementes  Herr  zu  werden.  Thomas,  Scotus, 
Occam,  Suarez  —  alle  beteiligen  sich  lebhaft  an  dem  Kampfe; 
jeder  hat  in  der  Polemik,  keiner  in  seinen  positiven  Auf- 
stellungen Recht.  Immer  dreht  sich  die  Frage  nur  darum, 
ob  die  Existenz  des  Wesens  eine  andere,  oder  ob  sie  dieselbe 
Realität  wie  das  Wesen  sei.  Scotus,  Occam,  Suarez  leugnen 
mit  Recht,  daß  sie  eine  andere  Realität  sei  (was  besonders 
Scotus  sehr  hoch  anzurechnen  und  schier  bei  ihm  wie  ein 
Wunder  zu  betrachten  ist) ;  aber  sie  fallen  in  Folge  dessen 
in  den  Irrtum,  die  Existenz  eines  jeden  Dinges  gehöre  zum 
Wesen  des  Dinges  selbst,  sie  betrachten  dieselbe  als  seinen 
allgemeinsten  Begriff.  Hier  war  nun  der  Widerspruch  der 
Thomisten  im  Rechte,  obwohl  ihi-e  Kritik  den  eigentlich 
schwachen  Punkt  nicht  traf  und  sich  vornehmlich  auf  die 
Grundlage  gemeinsamer  irriger  Annahmen  stützte.  Wie, 
riefen  sie,  die  Existenz  eines  jeden  Dinges  sein  allgemeinster 
Begriff?  -  Das  ist  unmöglich!  —  Würde  doch  seine 
Existenz  sich  dann  aus  seiner  Definition  ergeben,  und  folg- 
lich die  Existenz  des  Geschöpfes  so  selbstevident  und  von 
vorn  herein  notwendig  wie  die  des  Schöpfers  selber  sein. 
Aus  der  Definition  eines  kreatürlichen  Seins  ergibt  sich 
nicht  mehr,  als  daß  es  ohne  Widerspruch,  also  möglich 
ist.  Das  Wesen  einer  Kreatur  ist  demnach  ihre  blosse  Mög- 
lichkeit,  und  jede  wirkliche  Kreatur  ist  aus  zwei  Bestand- 


—     71     — 

teilen,  aus  einer  realen  Möglichkeit  und  einer  realen  Wirk- 
lichkeit zusammengesetzt,  deren  eine  von  der  anderen  im 
Existentialsatz  ausgesagt  wird,  und  die  sich  ähnlich  wie 
nach  Aristoteles  Materie  und  Form  in  den  Körpern  zu- 
einander verhalten.  Die  Grenzen  der  Möglichkeit  sind  natür- 
hch  auch  die  der  in  ihr  aufgenommenen  Wirklichkeit.  Und 
so  ist  die  Existenz,  die  an  sich  etwas  Schrankenloses  und 
Allumfassendes  wäre,  in  der  Kreatur  eine  beschränkte.  Anders 
ist  es  bei  Gott.  Er  ist  das  in  sich  selbst  notwendig  Seiende, 
auf  welches  alles  Zufällige  zurückweist.  Er  ist  also  nicht 
aus  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  zusammengesetzt.  Sein 
Wesen  ist  seine  Existenz ;  die  Behauptung,  daß  er  nicht  sei, 
ein  Widerspruch.  Und  eben  darum  ist  er  unendlich.  In 
keiner  Mögliclikeit  aufgenommen,  ist  die  Existenz  bei  ihm 
unbeschränkt ;  und  so  ist  er  der  Inbegriff  aller  Realität  und 
Vollkommenheit. 

Dassmd  hochfliegende  Spekulationen,  die  aber  niemanden 
mehr  mit  sich  über  die  Wolken  erheben  werden.  Bezeich- 
nend ist  es  aber,  daß  ein  eminenter  Denker,  wie  Thomas 
von  Aquin  sicher  einer  war,  wirklich  mittels  eines  solchen 
Beweises  die  unendliche  Vollkommenheit  des  Urgrundes 
der  Welt  dargetan  zu  haben  glaubte.  Ich  brauche  hienach 
nicht  mehr  auf  die  allbekannten  Beispiele  der  neueren  Meta- 
physik zu  verweisen,  welche  den  nachteiligen  Einfluß  irriger 
Anschauungen  über  die  Urteile  und  das,  was  damit  in  näch- 
stem Zusammenhange  steht,  nicht  minder  anschaulich  machen 
könnend 

§.  15.  Auch  in  der  Logik  hat  die  Verkennung  des  We- 
sens der  Urteile  mit  Notwendigkeit  weitere  Irrtümer  er- 
zeugt. Ich  habe  den  Gedanken  nach  dieser  Seite  in  seine 
Konsequenzen  verfolgt  und  gefunden,  daß  er  zu  nichts  Ge- 
ringerem als  zu  einem  völligen  Umsturz  aber  auch  zu  einem 
Wiederaufbau  der  elementaren  Logik  führt.    Und  Alles  wird 

1  Einwirkungen  auf  Kants  Transzendentalphilosophie  wurdon  im 
vorausgehenden  berührt. 


ri 


dann  einfacher,  durchsichtiger  und  exakter.  Nur  in  einigen 
Beispielen  will  ich  den  Kontrast  zwischen  den  Regeln 
dieser  reformierten  Logik  und  der  althergebrachten  nach- 
weisen, indem  uns  hier  die  vollständige  Durchführung  und 
Begründung  natürlich  zu  lange  aufhalten  und  zu  weit  von 
unserem  Thema  abfühi*en  würde*. 

An  die  Stelle  der  früheren  Regeln  von  den  kategorischen 
Schlüssen  treten  als  Hauptregeln,  die  eine  unmittelbare 
Anwendung  auf  jede  Figur  gestatten,  und  für  sich  allein 
zur  Prüfung  eines  jeden  Syllogismus  vollkommen  ausreichend 
sind,  folgende  drei: 

1.  Jeder  kategorische  Syllogismus  enthält 
vier  Termini,  von  denen  zwei  einander  entgegen- 
gesetzt sind  und  die  beiden  anderen  zweimal  zu 
stehen  kommen. 

2.  Ist  der  Schlußsatz  negativ,  so  hat  jede 
der  Prämissen  die  Qualität  und  einen  Terminus 
mit  ihm  gemein. 

3.  Ist  der  Schlußsatz  affirmativ,  so  hat  die 
eine  Prämisse  die  gleiche  Qualität  und  einen 
gleichen  Terminus,  die  andere  die  entgegenge- 
setzte Qualität  und  einen  entgegengesetzten 
Terminus. 

Das  sind  Regeln,  die  ein  Logiker  der  alten  Schule  zu- 
nächst nicht   ohne  Grauen  hören    wird.     Vier  Termini  soll 


*  Zum  Behuf  meiner  Vorlesungen  über  Logik,  die  ich  im  Winter 
1870'71  an  der  Würzburger  Hochschule  hielt,  habe  ich  eine  auf  die  neue 
Basis  gegründete  logische  Elementarlehre  vollständig  und  systematisch 
ausgearbeitet.  Da  sie  nicht  bloß  bei  meinen  Zuhörern,  sondern  auch 
bei  Fachmännern  in  der  Philosophie,  denen  ich  davon  Mitteilung  machte, 
Interesse  erregte,  so  ist  es  meine  Absicht,  sie  nach  vollendeter  Heraus- 
gabe meiner  Psychologie  nochmals  zu  revidieren  und  zu  veröffentlichen. 
Die  Regeln,  die  ich  hier  im  Texte  beispielsweise  folgen  lasse,  werden, 
mit  den  übrigen,  in  dieser  Schrift  jene  sorgfältige  Begründung  finden, 
die  man  bei  einem  Widerspruch  gegen  die  gesamte  Tradition  seit 
Aristoteles  gewiß  zu  verlangen  bei'eehtigt  ist.  Übrigens  werden  viele 
vielleicht  von  selbst  die  notwendige  Verkettung  mit  der  dargelegten 
Ansicht  von  der  Natur  des  Urteils  erkennen.  Vgl.  hiezu  Franz  Hille- 
brand,  Neuere  Theorien  von  den  kategorischen  Schlüssen. 


—     73     - 

jeder  Syllogismus  haben:  und  er  hat  die  Quaternio  ter- 
minorum  immer  als  Paralogismus  verdammt  ^  Negative 
Schlußsätze  sollen  lauter  negative  Prämissen  haben:  und 
er  hat  immer  gelehrt,  daß  aus  zwei  negativen  Prämissen 
nichts  gefolgert  werden  könne.  Auch  unter  den  Prämissen 
des  affirmativen  Schlußsatzes  soll  sich  ein  negatives  Urteil 
finden:  und  er  hätte  darauf  geschworen,  daß  er  unum- 
gänglich zwei  affirmative  Prämissen  verlange.  Ja,  für  einen 
kategorischen  Schluß  aus  affirmativen  Prämissen  ist  gar 
kein  Raum  gelassen:  und  er  hatte  doziert,  daß  die  affir- 
mativen Prämissen  die  vorzüglichsten  seien,  indem  er,  wo 
eine  negative  sich  dazu  gesellte,  diese  als  die  „pejor  pars" 
bezeichnete.  Von  „allgemein"  und  „partikulär"  endlich  hört 
man  in  den  neuen  Regeln  gar  nichts:  und  er  hatte  diese 
Ausdrücke  sozusagen  immer  im  Munde  geführt.  Und  haben 
nicht  seine  alten  Regeln  sich  bei  der  Prüfung  der  Syllo- 
gismen so  geeignet  erwiesen,  daß  nun  umgekehrt  wieder  die 
tausend  an  ihrem  Maßstabe  gemessenen  Schlüsse  für  sie 
selbst  Probe  und  Bewähi'ung  sind?  Sollen  wir  den  be-_ 
rühmten  Schluß:  „Alle  Menschen  sind  sterblich,  Cajus  ist  ein 
Mensch,  also  ist  Cajus  sterblich",  und  alle  seine  Begleiter 
nicht  mehr  als  bündig  anerkennen  ?  —  Das  scheint  eine  un- 
mögliche Zumutung. 

Doch  so  schlimm  steht  die  Sache  auch  nicht.  Da  die 
Fehler,  aus  welchen  die  früheren  Regeln  der  Syllogistik 
entsprangen,  in  der  Verkennung  der  Natur  der  Urteile  nach 


1  In  der  allerneuesten  Zeit  hat  auch  ein  englischer  Logiker,  B  o  o  1  e , 
richtig  erkannt,  daß  manche  kategorische  SyUogismen  vier  Termini  haben, 
von  denen  zwei  einander  kontradiktorisch  entgegengesetzt  seien.  Ändert^ 
haben  ihm  beigepflichtet,  und  auch  A.  Bain,  der  in  seiner  Logik  ausführlich 
über  Booles  Zusätze  zur  Syllogistik  berichtet,  gibt  seine  Zustimmung 
unzweideutig  zu  erkennen  (I,  p.  205).  Obwohl  Boole  diese  Syllogismen 
mit  vier  Terminis  nur  neben  Syllogismen  mit  drei  Terminis  stellt,  statt 
die  Quaternio  terminorum  als  allgemeine  Regel  anzuerkennen,  und  (.b- 
wohl  die  ganze  Weise  seiner  Ableitung  mit  der  meinigen  keine  Ähnlich- 
keit hat:  so  war  sie  mir  doch  interessant  als  ein  Zeichen,  daß  man 
auch  jenseits  des  Kanals  an  dem  Gesetze  der  Dreiheit  der  Termini  zu 
zweifeln  anfängt 


—     74     — 

Inhalt  und  Form  bestanden,  so  glichen  sie,  bei  der  Anwen- 
dung derselben  konsequent  festgehalten,  meistens  ihre  nacli- 
teilige  Wirkung  selber  aus^  Von  allen  Schlüssen,  die  man 
nach  den  bisherigen  Regeln  für  richtig  erklärte,  waren  nur 
die  nach  vier  Modis  gefolgerten  ungültig,  wogegen  auf  der 
anderen  Seite  freilich  auch  eine  nicht  unbedeutende  Zahl 
richtiger  Modi  übersehen  wurde  2. 

Schädlicher  waren  die  Folgen  in  der  Lehre  von  den  so 
genannten  unmittelbaren  Schlüssen.  Nicht  bloß  ist  z.  B. 
die  richtige  Regel  für  die  Konversion,  daß  jeder  kategorische 
Satz  simpliciter  konvertibel  ist  (man  muß  nm-  über  das 
wahi-e  Subjekt  und  über  das  wahre  Prädikat  im  Klaren 
sein),  sondern  man  erklärte  nach  den  alten  Regeln  auch 
viele  Konversionen  für  gültig,  die  in  Wahrheit  ungültig 
sind,  mid  umgekehrt.  Bei  den  so  genannten  Schlüssen 
durch  Subalternation  und  Opposition  ergibt  sich  dasselbe  \ 
Auch  stellt  sich,  wenn  man  kritisch  die  alten  Regeln  mit 
einander  vergleicht,  seltsam  genug  heraus,  daß  sie  zuweilen 
miteinander  im  Widerspruch  stehen,  so  daß,  was  nach  der 
einen  als  gültig  nach  der  anderen  als  ungültig  zu  bezeichnen 
wäre. 

§.  16.  Doch  wir  überlassen  es  einer  künftigen  Revision 
der  Logik,  dies  im  Einzelnen  auszuführen  und  zu  bewähren*. 

'  Sagte  mau  z.  B.  infolge  des  Mißverständnisses  der  Sätze:  zum 
richtigen  kategorischen  Schlüsse  gehören  drei  Termini,  so  bewirkte  das- 
selbe Mißverständnis,  daß  man  im  einzelnen  Schlüsse  drei  Termini  iah, 
wo  in  Wahrheit  vier  gegeben  waren. 

-  Letzteres  wurde  auch  von  den  vorerAvähnten  englischen  Logikern 
bereits  erkannt.  Die  vier  ungültigen  Modi,  von  denen  ich  spreche,  sind 
m  der  dritten  Figur  Darapti  und  Felaptou  und  in  der  vierten  Bamalip 
und  Fesapo. 

^  Unzulässig  ist  die  Konversion  eines  sogenannten  allgemein  be- 
jahenden in  einen  partikulär  bejahenden  Satz;  die  gewöhnlichen  Schlüsse 
durch  Subalternation  sind  sämtlich  ungültig,  und  von  denen  durch 
Opposition  die  Schlüsse  auf  die  Unwahrheit  der  sogenannten  konträren 
so  wie  die  auf  die  Wahrheit  der  sogenannten  subkonträren  Urteile. 

*  Vgl.   die   inzwischen  erschienene  Abhandlung   von  Franz  Hille- 


—     ro 


Uns  gehen  hier  weniger  die  nachteiligen  Folgen  an,  welche 
die  Verkennung  der  Natur  des  Urteils  für  Logik  oder  Meta- 
physik hatte,  als  diejenigen,  welche  für  die  Psychologie  sich 
ergaben  und,  wegen  des  Verhältnisses  der  Psychologie  zur 
Logik,  allerdings  auch  für  diese  ein  neues  Hindernis 
fruchtbarer  Entwickelung  wurden.  Die  bisherige  Psychologie 
hat,  man  kann  sagen,  durchwegs  die  Erforschung  der  Ge- 
setze der  Entstehung  der  Urteile  in  ungebührlicher  W^eise 
vernachlässigt;  und  dies  kam  daher,  weil  man  immer  Vor- 
stellen und  Urteilen  als  „Denken"  zu  einer  Klasse  zusammen- 
rechnete, und  mit  der  Erforschung  der  Gesetze  der  Auf- 
einanderfolge der  Vorstellungen  auch  für  die  Urteile  das 
Wesentliche  getan  glaubte.  So  sagt  selbst  ein  so  eminenter 
Psychologe  wie  Hermann  Lotze:  „In  bezug  auf  die  Urteils- 
kraft und  Einbildungskraft  werden  wir  ohne  Bedenken  zu- 
geben, daß  diese  beiden  nicht  zu  dem  angeborenen  Besitze 
der  Seele  gehören,  sondern  Fertigkeiten  sind,  die  sich  durch 
die  Bildung  des  Lebens,  die  eine  langsam,  die  andere  schnell 
entwickeln.  Wir  werden  zugleich  zugestehen,  daß  zur  Er- 
klärung ihrer  Entstehung  nichts  als  die  Gesetze  des 
Vorstellungslaufes  nötig  sind"^  Hier  zeigt  sich 
der  Grund  des  großen  Versäumnisses  unverhüllt.  Er  lag 
in  der  mangelhaften  Klassifikation,  die  Lotze  von  Kant  über- 
kommen hatte. 

Richtiger  hat  hier  J.  St.  Mill  geurteilt.  In  den  fi-üher 
von  uns  zitirten  Stellen  sahen  wir  ihn  mit  Nachdruck  eine 
spezifische  Erforschung  der  Gesetze  des  Fürwahrhaltens 
als  unumgängliches  Bedürfnis  betonen.  Eine  bloße  Ablei- 
tung aus  den  Gesetzen  des  Vorstellungsverlaufes  schien  ihm 
in  keiner  Weise  genügend.  Aber  die  Vorstellungsverbindung, 
die  Zusammensetzung  von  Subjekt  und  Prädikat,  die  er  bei 
sonst  sehr  richtigen  Ansichten  über  die  Natur  des  Urteils 
immer  noch  für  wesentlich   hielt,   ließ   den  Charakter  des- 


brand,  Neuere  Theorien  der  kategorischen  Schlüsse,    welche   bei   dem. 
was  ich  hier  berührte,  eingehender  verweilt. 
1  Mikrokosmus  1.  Aufl.,  I,  S.  192. 


—     76     — 

selben  als  einer  besonderen,  den  andern  ebenbürtigen  Grund - 
klasse  nicht  hinreichend  hervortreten.  Und  so  ist  es  ge- 
kommen, daß  nicht  einmal  Bain,  der  Mill  so  nahe  stand 
die  von  ihm  gegebenen  Winke  zur  Ausfüllung  einer  weit- 
klaffenden Lücke  der  Psychologie  benützt  hat. 

Das  Wort,  welches  die  Scholastik  von  Aristoteles  ererbt 
hatte,  „parvus  error  in  principio  maximus  in  fine"  hat  also 
in  unserem  Falle  nach  jeder  Seite  hin  sich  bewährt. 


77 


Viertes  Kapitel. 

Einheit  der  Griiiidklasse  für  Gefühl  und 
Willen. 

§  1.  Nachdem  Vorstellung  und  Urteil  als  verschiedene 
I  Grundklassen  psychischer  Phänomene  festgestellt  sind, 
haben  wir  uns  noch  in  betreff  unserer  zweiten  Abweichung 
von  der  herrschenden  Klassifikation  zu  rechtfertigen.  Wie 
wir  Vorstellung  und  Urteil  trennen,  so  vereinigen  wir  Ge- 
fühl und  W^illen. 

I  Hier  sind  wir  nicht  so  sehr  wie  im  früheren  Pimkte 
I Neuerer;  denn  von  Aristoteles  bis  herab  auf  Tetens, 
Mendelssohn  und  Kant  hat  man  allgemein  bloß  eine 
Grundklasse  für  Fühlen  und  Streben  angenommen;  und 
unter  den  psychologischen  Autoritäten  der  Gegenwart  sahen 
wir  Herbert  Spencer  nur  zwei  Seiten  des  Seelenlebens,  eine 
kognitive  und  eine  affektive,  unterscheiden.  Doch  dies  soll 
uns  bei  der  Wichtigkeit  der  Frage  nicht  abhalten,  mit  der 
gleichen  Sorgfalt  und  unter  Benutzung  der  sämtlichen  ims 
zu  Gebote  stehenden  Hilfsmittel  unsere  Lehre  zu  begründen 
und  zu  sichern. 

Wir  halten   hier  denselben   Gang   wie  bei   der  Unter- 
suchung über   das   Verhältnis   von  Vorstellung   und   Urteil 
, ein;   war  berufen  ims  daher  vor  allem  auf  das  Zeugnis  un- 
I mittelbarer   Erfahrung.     Die   innere   Wahrnehmung,   sagen 
wir ,    zeigt   deutlich   hier   den   Mangel ,    wie   dort  das  Vor- 
handensein   eines   fundamentalen  Unterscliiedes ;    und   hier 
jeine   wesentliche  Übereinstimmung,   wie   dort  eine   völlige 
Verschiedenheit   in   der  Weise  der  Beziehung  zum  Objekt. 

Wenn   wirklich   der  rückständige  Teil  der  psychischen 


—     78     — 

Phänomene,  von  welchem  wir  jetzt  handeln,  einen  ähnlidi 
tiefgreifenden  Unterschied  wie  das  vorstellende  mid  m-- 
teilende  Denken  zeigte ;  wenn  wirklich  auch  zwischen 
Fühlen  und  Streben  von  der  Natur  selbst  eine  scharfe 
Grenzlinie  vorgezeichnet  wäre:  so  könnten  vielleicht  in 
die  Bestimmung  der  eigentümlichen  Natur  der  einen  und 
anderen  Klasse  Irrtümer  sich  einmischen;  aber  die  Al)- 
grenzung  der  Gattungen,  die  Angabe,  welche  Erscheinungen 
der  einen  und  welche  der  anderen  Gattung  angehörten, 
würde  sicher  ein  Leichtes  sein.  So  wird  man  ohne  Zögern 
sagen,  daß  „Mensch"  eine  bloße  Vorstellung,  „es  gibt 
Menschen"  ein  Fürwahrhalten  ausdrücke ,  auch  wenn  man 
über  die  Natur  des  Urteils  völlig  im  unklaren  ist;  und 
Ähnliches  gilt  für  das  ganze  Gebiet  der  einen  und  anderen 
Gattung  des  Denkens.  Aber  bei  der  Frage,  was  ein  Gefühl 
und  was  ein  Begehren,  Wollen  oder  Streben  sei,  verhält 
es  sich  ganz  anders ;  und  ich  wenigstens  weiß  in  Wahrheit 
nicht,  wo  die  Grenze  zwischen  beiden  Klassen  eigentlich 
liegen  sollte.  Zwischen  den  Gefühlen  der  Lust  und  Unlust 
und  dem,  was  man  gewöhnlich  Wollen  oder  Streben  nennt, 
stehen  andere  Erscheinungen  in  der  Mitte;  und  zwischen 
den  Extremen  mag  der  Abstand  groß  erscheinen.  Wenn 
man  aber  die  mittleren  Zustände  mit  in  Betracht  zieht: 
wenn  man  immer  nur  das  nächststehende  mit  dem  nächst- 
stehenden Phänomene  vergleicht:  so  zeigt  sich  auf  dem 
gesamten  Gebiete  nirgends  eine  Kluft,  sondern  ganz  all- 
mähUch  finden  die  Übergänge  statt. 

Betrachten  wii-  als  Beispiel  die  folgende  Reihe:  Traurig- 
keit —  Sehnsucht  nach  dem  vermißten  Gute  —  Hoffnung. 
daß  es  uns  zuteil  werde  —  Verlangen,  es  uns  zu  ver- 
schaffen —  Mut,  den  Versuch  zu  unternehmen  —  Willens- 
entschluß zur  Tat.  Das  eine  Extrem  ist  ein  Gefühl,  das 
andere  ein  Willen;  und  sie  scheinen  weit  voneinander  ab- 
zustehen. Wenn  man  aber  auf  die  Zwischenglieder  achtet 
und  immer  nur  die  nächststehenden  miteinander  vergleicht, 
zeigt  sich  da  nicht  überall  der  innigste  Anschluß  und  ein 
fast   unmerklicher  Übergang?  —  Wenn   wir  klassifizierend 


—    79    — 

in  Gefühle  und  Strebungen  sie  scheiden  wollen,  zu  welcher 
von  beiden  Grundklassen  sollen  wir  die  einzelnen  rechnen  ?  — 
Wir  sagen:  „ich  fühle  Sehnsucht",  „ich  fühle  Hoffnung", 
„ich  fühle  ein  Verlangen,  mir  dieses  zu  verschaffen", 
„ich  fühle  Mut,  dieses  zu  versuchen" ;  —  nur,  daß  er  einen 
Willensentschluß  fühle ,  wird  wohl  keiner  sagen :  ist 
darum  vielleicht  hier  die  Grenzmarke  und  gehören  alle 
Mittelglieder  noch  der  Grundklasse  der  Gefühle  an  ?  Wenn 
wir  durch  den  Sprachgebrauch  des  Volkes  uns  bestimmen 
lassen,  werden  wir  allerdings  so  urteilen;  und  in  der  Tat 
verhalten  wenigstens  die  Traurigkeit  über  die  Entbehrung 
und  die  Sehnsucht  nach  dem  Besitze  sich  etwa  so,  wie  sich 
die  Leugnung  eines  Gegenstandes  und  die  Anerkennung 
seines  Nichtseins  zueinander  verhalten.  Aber  liegt  nicht 
demungeachtet  schon  in  der  Sehnsucht  ein  Keim  des 
Strebens?  und  sprießt  dieser  nicht  auf  in  der  Hoffnung, 
und  entfaltet  sich,  bei  dem  Gedanken  an  ein  etwaiges 
eigenes  Zutun,  in  dem  Wunsche  zu  handeln  und  in  dem 
Mute  dazu;  bis  endlich  das  Verlangen  danach  zugleich  die 
Scheu  vor  jedem  Opfer  und  den  Wunsch  jeder  längeren 
Erwägung  überwiegt  und  so  zum  Willensentschluß  gereift 
ist?  —  Sicher,  wenn  wir  diese  Reihe  von  Phänomenen 
nun  doch  einmal  in  eine  Mehrheit  von  Grundklassen  zer- 
teilen wollen,  so  dürfen  wir  die  mittleren  Glieder  ebenso- 
wenig mit  dem  ersten  Gliede  dem  letzten  unter  dem  Namen 
Gefühl,  als  mit  dem  letzten  Gliede  dem  ersten  unter  dem 
Namen  Willen  oder  Strebung  entgegensetzen:  vielmehr 
wird  nichts  übrig  bleiben,  als  jedes  Phänomen  für  sich  als 
eine  besondere  Klasse  zu  betrachten.  Dann  aber,  glaube 
ich,  ist  es  für  jeden  unverkennbar,  daß  die  Unterschiede 
der  Klassen  hier  keine  so  tief  einschneidenden  Differenzen 
wie  die  zwischen  Vorstellung  und  Urteil,  oder  zwischen 
ihnen  und  allen  übrigen  psychischen  Phänomenen  sind ;  und 
so  nötigt  uns  der  Charakter  unserer  inneren  Erscheinungen, 
die  Einheit  derselben  natürlichen  Grundklasse  über  das 
ganze  Reich  des  Fühlens  und  Strebens  auszudelmen*. 

1   Es   ist  interessant  und  leluTeich,  das  vergebliche  Bemühen  der 


—     80     — 

^  2.     Wenn    die   Grundklasse   für   die  Phänomene   des 
Gefühls   und  Willens   dieselbe  ist,   so  muß,  nach  dem  von 

Psychologen  um  eiue  feste  Greuzbestimmung  zwischen  Gefühl  und 
Willen  oder  Streben  zu  beobachten.  Sie  widersprechen  dabei  dem  her- 
kömmliehen Sprachgebrauche;  und  der  eine  widerspricht  dem  anderen, 
ja  nicht  selten  sogar  sich  selbst.  Kant  rechnet  schon  die  hoffnungs- 
lose Sehnsucht  nach  anerkannt  Unmöglichem  zum  Begehrungsvermögen, 
und  ich  zweifle  kaum ,  daß  er  auch  die  Reue  dazu  gerechnet  haben 
würde ;  und  doch  stimmt  dies  ebensowenig  mit  der  gewöhnlichen  Weise 
der  Bezeichnung,  da  man  von  einem  Gefühle  der  Sehnsucht  spricht,  als 
mit  seiner  Definition  des  Begehrungsvermögens  als  „Vermögens  durch 
seine  Vorstellungen  Ursache  von  den  Wirklichkeiten  der  Gegenstände 
dieser  Vorstellungen  zu  sein"  (s.  o.  S.  21).  Hamilton  wundert  sich 
über  die,  wie  er  anerkennt,  sehr  häufige  Konfusion  von  Erscheinungen 
der  beiden  Klassen,  da  es  doch  so  leicht  sei,  die  natürliche  Grenzscheide 
zwischen  ihnen  zu  erkennen  (Lect.  on  Metaph.  II,  p.  433);  aber  seine 
wiederholten  Bemühungen,  eine  genaue  Bestimmung  dafür  zu  geben, 
zeigen,  daß  dies  keineswegs  eine  leichte  Sache  ist.  Er  bestimmt,  Avie 
wir  schon  hörten,  daß  die  Gefühle  objektlos  im  vollen  Sinne  des  Wortes, 
daß  sie  „subjektivisch  subjektiv"  seien  (11,  432;  vgl.  o.  S.  18\  während 
nach  ihm  die  Strebungen  alle  auf  ein  Objekt  gerichtet  sind;  und  hierin, 
sollte  man  meinen,  werde  man  ein  einfaches  und  leicht  anwendbares 
Kriterium  besitzen:  aber  so  sicher  dies  der  Fall  sein  müßte,  wenn  die 
Bestimmung  der  Eigentümlichkeit  der  Erscheinungen  entspräche,  so 
wenig  konnte  Hamilton  bei  ihrer  tatsächlichen  Unrichtigkeit  mit  ihr 
ausreichen;  selbst  bei  den  entschiedensten  Gefühlen,  wie  Freude  und 
Trauer,  wird  eben  jeder  sagen,  auch  sie  schienen  ihm  ein  Objekt  zu 
zu  haben.  Da  macht  denn  Hamilton  noch  einen  anderen  Unterschied 
obwohl  vielleicht  nicht  ohne  einigen  Widerspruch  zum  ersten,  geltend ; 
er  bestimmt,  daß  das  Gefühl  es  bloß  mit  Gegenwärtigem  zu  tun  habe, 
während  die  Strebung  auf  Zukünftiges  sich  richte.  —  „Lust  und  Un- 
lust", sagt  er,  „als  Gefühle,  gehören  ausschließlich  der  Gegenwart  an. 
während  die  Strebuug  sich  einzig  und  allein  auf  die  Zukunft  bezieht; 
denn  Strebung  ist  ein  Verlangen,  ein  Trachten,  entweder  den  gegen- 
wärtigen Zustand  dauernd  zu  erhalten ,  oder  ihn  gegen  einen  anderen 
zu  vertauschen"  (II,  p.  633).  Diese  Bestimmungen  sind  nicht  wie  die 
vorigen  in  der  Art  verfehlt,  daß  der  einen  von  ihnen  in  Wahrheit  kein 
psychisches  Phänomen  entspräche.  Das  ist  aber  auch  ihr  einziges  Lob : 
denn  die  Scheidung  des  Gebietes  nach  Gegenwart  und  Zukunft  ist  so- 
wohl unvollständig  als  Avillkürlich.  Sie  ist  unvollständig,  denn  wohin 
sollen  wir  jene  Gemütsbewegungen  rechnen ,  die  nicht  auf  Gegen- 
wärtiges oder  Zukünftiges,  sondern  wie  die  Reue  und  das  Dankgefühl 
auf  Vergangenes  sich  beziehen?—  Man  müßte  wohl  für  sie  eine  dritte 


—  Si- 
nns angenommenen  Prinzipe  der  Einteilung,  die  Weise  der 
Beziehung  des  einen  und  anderen  Bewußtseins  eine  wesent- 
lich verwandte  sein.  Was  aber  sollen  wir  als  den  gemein- 
samen Charakter  ihrer  Richtung  auf  die  Gegenstände  an- 
Klasse bilden.  Doch  das  wäre  das  geringere  Übel;  viel  schlimmer  ist 
die  Willkürlichkeit,  mit  welcher,  in  Rücksicht  auf  verschiedene  Zeit- 
bestimmungen der  Objekte,  psychische  Erscheinungen,  die  sich  ^•orzüg- 
lich  nahe  stehen,  hier  in  verschiedene  Grundklassen  zu  sondern  wären. 
So  z.  B.  gehen  die  Phänomene,  die  man  als  Wünsche  zu  bezeichnen 
pflegt,  teils  auf  Zukünftiges,  teils  auf  Gegenwärtiges,  teils  auf  Ver- 
gangenes. Ich  wünsche  dich  oft  zu  sehen;  ich  möchte,  ich  wäre  ein 
reicher  Mann;  ich  wünschte,  ich  hätte  das  nicht  getan;  das  sind  Bei- 
spiele, welche  die  drei  Zeiten  vertreten;  und  wenn  die  letzten  beiden 
Wünsche  unfruchtbar  und  aussichtslos  sind,  so  bleibt  doch,  wie  Kant, 
Hamiltons  vorzüglichste  Autorität,  anerkennt,  der  allgemeine  Charakter 
des  Wunsches  dabei  gewahrt.  Es  kann  aber  sogar  geschehen,  daß, 
indem  einer  wünscht,  sein  Bruder  sei  glücklich  in  Amerika  angekommen, 
sein  Wunsch  sich  auf  Vergangenes  bezieht,  ohne  darum  auf  etwas  zu 
gehen,  dessen  Unmöglichkeit  offenbar  ist.  Sollen  wir  nun  die  psychischen 
Zustände,  welche  die  Sprache  hier  unter  dem  Namen  der  Wünsche  ver- 
einigt, als  in  keiner  Weise  enger  verwandt  betrachten?  sollen  wir  sie 
voneinander  scheiden,  um  einen  Teil  mit  den  Willensakten,  einen 
anderen  mit  Lust  und  Unlust,  einen  dritten  mit  der  für  die  Vergangen- 
heit zu  bildenden  Klasse  zu  vereinigen?  Ich  glaube,  keinem  entgeht, 
wie  ungerechtfertigt  und  widernatürlich  ein  solches  Verfahren  wäre. 
Es  ist  demnach  auch  dieser  Versuch  einer  Grenzbestimmung  zwischen 
Gefühl  und  Willen  völlig  verunglückt.  Kein  Wunder  daher,  wenn  die 
Konfusion  zwischen  Gefühlen  und  Strebungen,  die  Hamilton  an  andern 
tadelte,  ihm  selbst  in  keiner  Weise  erspart  bleibt.  Hört  man  die  Be- 
griffsbestimmungen, die  er  von  den  spezielleren  Erscheinungen  gibt,  so 
wird  man  oft  schwerlich  erraten,  zu  welcher  von  seinen  zwei  Grund- 
klassen er  die  eine  oder  andere  rechnen  wollte.  Die  Eitelkeit  definiert 
er  als  „den  Wunsch  anderen  zu  gefallen  aus  Begierde  von  ihnen  ge- 
achtet zu  werden"  und  rechnet  sie  —  zu  den  Gefühlen  (II,  p.  519);  und 
ebendazu  rechnet  er  die  Reue  und  die  Scham,  d.  i.  „die  Furcht  und 
Sorge,  die  Mißachtung  anderer  sich  zuzuziehen" ;  als  ob  nicht  bei  beiden 
ihre  Richtung  auf  ein  Objekt,  und  —  bei  der  einen  an  sich  schon,  bei 
der  anderen  nach  der  Definition,  die  Hamilton  gibt  —  ihre  Beziehung 
auf  etwas  nicht  Gegenwärtiges  aufs  deutlichste  ersichtlicli  wäre.  Dieser 
vollständige  Mißerfolg  eines  so  angesehenen  Denkers  bestätigt,  glaube 
ich,  in  einer  schlagenden  Weise,  was  ich  über  den  Maugel  einer  von 
der  Natur  selbst  vorgezeichneten,  deutlichen  Abgrenzung  zwischen  den 
angeblichen  zwei  Grundklassen  bemerkt  habe. 

Brentano,  Klassifikation  der  psychisolion  Phänomene.  6 


—     82     — 

geben?  Auch  lüerauf  muß.  wenn  unsere  Ansicht  richtig 
ist,  die  innere  Erfahrung  antworten.  Sie  tut  dies  wirklich 
und  liefert  so  noch  unmittelbarer  den  Beweis  für  die  Ein- 
heit der  höchsten  Klasse. 

Wie  die  allgemeine  Natur  des  Urteils  darin  besteht, 
daß  eine  Tatsache  angenommen  oder  verworfen  wird,  so 
besteht  nach  dem  Zeugnisse  der  inneren  Erfahrung  auch 
der  allgemeine  Charakter  des  Gebietes,  welches  uns  jetzt 
vorliegt,  in  einem  gewissen  Annehmen  oder  Verwerfen; 
nicht  in  demselben,  aber  m  einem  analogen  Sinne.  Wenn 
etwas  Inhalt  eines  Urteils  werden  kann,  insofern  es  als 
wahr  annehmlich  oder  als  falsch  verwerflich  ist,  so  kann 
es  Inhalt  emes  Phänomens  der  dritten  Grundklasse  werden, 
insofern  es  als  gut  genehm  (im  weitesten  Sinne  des  Worten ) 
oder  als  schlecht  ungenehm  sein  kann.  Es  handelt  sich, 
wie  dort  um  Wahrheit  und  Falschheit,  hier  um  Wert  und 
Unwert  eines  Gegenstandes. 

Ich  glaube,  niemand  wird  meine  Worte  so  verstehen, 
als  wollte  ich  sagen,  die  Phänomene  dieser  Klasse  seien 
Erkenntnisakte,  vermöge  deren  Güte  oder  Schlechtigkeit, 
W^ert  oder  Unwert  in  gewissen  Gegenständen  wahrgenommen 
werde ;  doch  bemerke  ich  ausdrücklich,  um  jede  solche  Aus- 
legung vollends  unmöglich  zu  machen,  daß  dies  eine  gänz- 
liche Yerkemiung  meiner  wahren  Meinmig  wäre.  Einmal, 
würde  ich  ja  sonst  diese  Phänomene  zu  den  Urt^.ilen 
rechnen;  ich  trenne  sie  aber  von  ihnen  als  eine  besondere 
Klasse;  und  dann,  würde  ich  die  Vorstellungen  von  Güte 
und  Schlechtigkeit,  Wert  und  Unwert  für  diese  Klasse  v^on 
Phänomenen  allgemein  voraussetzen,  während  dies  so  wenig 
der  FaU  ist,  daß  ich  viehnehr  zeigen  werde,  wie  alle  der- 
artigen Vorstellinigen  erst  aus  der  inneren  Erfahrung  dieser 
Phänomene  entspringen.  Auch  die  Vorstellungen  voii 
Wahrheit  und  Falschheit  werden,  wie  wohl  niemand  be- 
zweifelt, nn  Hinblick  auf  Urteile  und  miter  Voraussetzung 
ihrer  uns  zuteil.  Wenn  wir  sagen,  jedes  anerkennende 
Urteil  sei  ein  Fürwahrhalten,  jedes  verwerfende  ein  Für- 
falschhalten, so  bedeutet  dies  also  nicht,  daß  jenes  in  einer 


—     83     — 

Prädikation  der  Wahrheit  von  dem  Fürwahrgehaltenen. 
dieses  in  einer  Prädikation  der  Falschheit  von  dem  Für- 
falschgehaltenen  bestehe ;  unsere  früheren  Erörterungen 
haben  vielmehr  dargetan,  daß,  was  die  Ausdrücke  bedeuten, 
eine  besondere  Weise  intentionaler  Aufnahme  eines  Gegen- 
standes, eine  besondere  Weise  der  psychischen  Beziehung 
zu  einem  Inhalte  des  Bewußtseins  ist.  Nur  das  ist  richtig, 
daß,  wer  etwas  für  wahr  hält,  nicht  bloß  den  Gegenstand 
anerkennt,  sondern  dann,  auf  die  Frage,  ob  der  Gegenstand 
anzuerkennen  sei,  auch  das  Anzuerkennensein  des  Gegen- 
standes, d.  h.  (denn  nichts  anderes  bedeutet  der  barbarische 
Ausdruck)  die  Wahrheit  des  Gegenstandes  ebenfalls  an- 
erkennen wird.  Und  damit  mag  der  Ausdruck  „Fürwahr- 
halten" zusammenhängen.  Der  Ausdruck  „Fürfalschhalten" 
aber  wird  in  analoger  Weise  sich  erklären. 

Ebenso  bedeuten  uns  denn  die  Ausdrücke,  die  wir  hier 
in  analoger  Weise  gebrauchen,  „als  gut  genehm  sein",  „als 
schlecht  ungenehm  sein",  nicht,  daß  in  den  Phänomenen 
dieser  Klasse  Güte  einem  als  gut  Genehmen,  oder  Schlechtig- 
keit einem  als  schlecht  Ungenehmen  zugeschrieben  werde, 
vielmehr  bedeuten  auch  sie  eine  besondere  Weise  der  Be- 
ziehung der  psychischen  Tätigkeit  auf  einen  Inhalt.  Nur 
das  ist  auch  hier  richtig,  daß  einer,  dessen  Bewußtsein  sich 
in  solcher  Weise  auf  einen  Inhalt  bezieht,  die  Frage,  ob 
der  Gegenstand  von  der  Art  sei,  daß  man  zu  ihm  in  die 
betreffende  Beziehung  treten  könne,  infolge  davon  bejahen 
wird;  was  dann  nichts  anderes  heißt,  als  ihm  Güte  oder 
Schlechtigkeit,  Wert  oder  Unwert  zuschreiben. 

Ein  Phänomen  dieser  Klasse  ist  nicht  ein  Urteil:  „dies 
ist  zu  lieben",  oder  „dies  ist  zu  hassen"  (das  wäre  ein 
Urteil  über  Güte  oder  Schlechtigkeit);  aber  es  ist  ein 
Lieben  oder  Hassen. 

Im  Sinne  der  gegebenen  Erläuterung  wiederhole  ich 
also  jetzt  ohne  Besorgnis  mißverstanden  zu  werden,  daß  es 
sich  analog  wie  bei  den  Urteilen  um  Wahrheit  oder  Un- 
wahrheit bei  den  Phänomenen  dieser  Klasse  um  Güte  und 
Schlechtigkeit,    um    Wert    oder   Unwert    der   Gegenstände 


—     84     — 

handelt.  Und  diese  charakteristische  Beziehung  zum  Ob- 
jekte ist  es,  die,  wie  ich  behaupte,  bei  Begehren  und  Wollen 
so  wie  bei  allem,  was  wir  Gefühl  oder  Gemütsbewegung 
nennen,  die  innere  Wahrnehmung  in  gleich  unmittelbarer 
und  evidenter  Weise  erkennen  läßt. 

§  3.  Beim  Streben,  Begehi-en  und  Wollen  darf,  was 
ich  sage,  als  allgemein  anerkannt  betrachtet  werden.  Hören 
wir  darüber  einen  der  hervorragendsten  und  einflußreichsten 
Verteidiger  der  fimdamentalen  Scheidung  von  Gefühl  und 
Willen. 

Lotze,  wo  er  diejenigen  bekämpft,  welche  das  Wollen 
als  ein  Wissen  fassen  und  sagen,  das  .,ich  will"  sei  gleich 
einem  zuversichtlichen  ,,ich  werde",  setzt  das  Wesen  des 
Wollens  in  eine  Billigung  oder  Mißbilligung,  also  in  ein 
Gutfinden  oder  Schlechtfinden.  „Nm-  die  Gewißheit  viel- 
leicht, daß  ich  handeln  werde",  sagt  er,  „mag  gleich- 
geltend sein  mit  dem  Wissen  meines  Wollens,  aber 
dann  wird  in  dem  Begriffe  des  Handelns  jenes  eigentüm- 
liche Element  der  Billigung,  der  Zulassung  oder  Absicht 
eingeschlossen  sein,  welches  den  Willen  zum  Willen 
macht."  Und  wiederum,  gegen  diejenigen  gewendet,  welche 
den  Willen  als  eme  gewisse  Macht  zum  Wirken  begreifen 
wollen,  erklärt  er:  „Diese  Billigung  nmi,  durch  welche 
unser  Wille  den  Entschluß,  welchen  die  drängenden  Be- 
weggründe des  Vorstellungslaufes  ihm  darbieten,  als  den 
seinigen  adoptiert,  oder  die  Mißbilligung,  mit  welcher 
er  ihn  von  sich  zurückweist,  beide  würden  denkbar  sein, 
auch  wenn  keiner  von  beiden  die  geringste  Macht  besäße, 
bestimmend  und  verändernd  in  den  Ablauf  der  inneren  Er- 
eignisse einzugreifen" '.  —  Was  ist  diese  Billigung  oder 
Mißbilhgung,  von  der  Lotze  spricht?  Es  ist  klar,  daß  er 
nicht  ein  Gut-  und  Schlechtfinden  im  Sinne  eines  prak- 
tischen Urteils  meint,  da  er  die  Urteile,  wie  wir  sahen, 
zur  Klasse   der  Vorstellungen  rechnet.     Was   lehrt  er  also 


*  Mikrokosmus,  1.  Aufl.,  I,  p.  280. 


—    85    — 

anderes,  als  daß  das  Wesen  des  WoUens  in  einer  be- 
sonderen Beziehung  der  psychischen  Tätigkeit  auf  den 
Gegenstand  als  gut  oder  schlecht  bestehe? 

Ähnlich  könnten  wir  Stellen  von  Kant  und  von 
Mendelssohn,  den  vorzüglichsten  Begründern  der  üb- 
lichen Dreiteilung,  anführen,  die  dafür  sprechen,  daß  eine 
solche  Beziehung  auf  den  Gegenstand  als  gut  oder  schlecht 
den  Grundcharakter  eines  jeden  Begehrens  ausmache  ^ 
Doch  wir  greifen  lieber  sogleich  in  das  Altertum  zurück, 
um  das  Zeugnis  der  antiken  Psychologie  mit  dem  der 
modernen  zu  verbinden. 

Aristoteles  spricht  hier  mit  einer  Deutlichkeit,  die 
nichts  zu  wünschen  übrig  läßt.  „Gut"  und  „begehrbar" 
sind  ihm  gleichbedeutende  Ausdrücke.  „Der  Gegenstand 
des  Begehrens"  (xo  opsxxov),  sagt  er  in  seinen  Büchern  von 
der  Seele,  „ist  das  Gute  oder  das  als  gut  Erscheinende"; 
und  am  Anfange  seiner  Ethik  erklärt  er:  „Jede  Handlung 
und  jede  Wahl  scheint  nach  einem  Gute  zu  streben;  wes- 
halb man  mit  Recht  das  Gute  als  dasjenige  bezeiclmet  hat, 
wonach  alles  strebt"  ^.  Daher  identifiziert  er  auch  die 
Zweckursache  mit  dem  Guten  ^.  Dieselbe  Lehre  erhielt  sich 
dann  im  Mittelalter.  Thomas  von  Aquin  lehrt  mit  aller 
Klarheit,  daß,  wie  das  Denken  zu  einem  Objekt  als  erkenn- 
barem, das  Begehren  zu  ilim  als  gutem  in  Beziehmig  trete. 
So  könne  es  geschehen,  daß  ein  und  dasselbe  Gegenstand 
ganz  heterogener  psychischer  Tätigkeiten  sei*. 

Wir  sehen  an  diesen  Beispielen,  wie  die  hervorragend- 
sten Denker  verschiedener  Perioden  hinsichtlich  des 
Strebens  und  WoUens  in  der  Anerkennung  der  von  uns 
geltend  gemachten  Erfahrungstatsache  einig  sind,  wenn  sie 
auch  vielleicht  nichi  alle  in  gleicher  Weise  ihre  Bedeutung 
würdigen. 


1  Vgl.  Mendelssohn,  Gesammelte  Schriften  IV,  p.  12 '2  ff. 
'•=  De   Anim.   III,   10.     Eth.   Nie.  I,  1.     Metaph.  A,  7.     Vgl.   aucli 
Kliet.  I,  6. 

^  Metaph.  A,  10  u.  anderwärts. 

4  Vgl.  z.  B.  Summ.  Theol.  P.  I.  Q.  80.  A.  1  ad  2. 


—     86     — 

§  4.  Wenden  wir  uns  zn  den  andern  Phänomenen,  um 
die  es  sich  handelt,  und  namentlich  zu  Lust  und  Unlust, 
die  am  meisten  als  Gefühle  von  dem  Willen  gesondert  zu 
werden  pflegen.  Ist  es  richtig,  daß  auch  hier  die  innere 
Erfahrung  jene  eigentümliche  Weise  der  Beziehung  zum 
Inhalte,  jenes  „als  gut  Genehmsein"  oder  „als  schlecht  Unge- 
nehmsein'"  als  Grundcharakter  der  Erscheinungen  mit  Klar- 
heit erkennen  läßt?  Handelt  es  sich  auch  hier  deutlich  in 
ähnlicher  Weise  um  den  Wert  und  Unwert,  wie  beim  Ur- 
teile um  die  Wahrheit  und  Falschheit  der  Gegenstände?  — 
Was  mich  betrifft  j  so  scheint  mir  dies  bei  ihnen  nicht 
minder  einleuchtend  als  beim  Begehren. 

Weil  man  aber  glauben  könnte,  daß  eine  Voreinge- 
nommenheit hierbei  im  Spiele  sei  und  mich  die  Erschei- 
nmigen  mißdeuten  lasse,  so  will  ich  mich  auch  hier  wieder 
zugleich  auf  die  Zeugnisse  anderer  berufen. 

Hören  wir  auch  in  diesem  Punkte  vor  allem  Lotze. 
.,War  es  eine  ursprüngliche  Eigentümlichkeit  des  Geistes", 
sagt  er  in  seinem  Mikrokosmus  ^,  „Veränderungen  nicht  nur 
zu  erfahren,  sondern  sie  auch  vorstellend  wahrzunehmen, 
so  ist  es  ein  ebenso  ursprünglicher  Zug  desselben,  sie  nicht 
nur  vorzustellen,  sondern  in  Lust  und  Unlust  auch  des 
Wertes  inne  zu  werden,  den  sie  für  ihn  haben."  Un- 
mittelbar darauf  äußert  er  sich  ähnlich:  ,,Im  Gefühle  der 
Lust  wird  die  Seele  sich  der  Übung  ihrer  Kräfte  als  einer 
Steigerung  in  dem  Werte  ihres  Daseins  bewußt."  So 
wiederholt  er  noch  öfter  den  Gedanken  und  hält  bei 
höheren  wie  niederen  Gefühlen  gleichmäßig  ihn  fest.  Der 
eigentliche  Kern  des  sinnlichen  Triebes  ist  nach  ihm  „immei- 
nur  ein  Gefühl,  das  in  Lust  und  Unlust  uns  den  Wert 
eines  \delleicht  nicht  zur  bewaißten  Einsicht  kommenden 
körperlichen  Zustandes  veri'ät"^;  und  „die  sittlichen  Grund- 
sätze jeder  Zeit  waren  Aussprüche  des  wertempfinden- 
den Gefühles";   sie    „wurden  stets  von  dem  Gemüte  in 


1  Mikrokosmus  1.  Aufl.,  I,  p.  261. 

2  j:bend.  p.  277. 


—    87     — 

einer   anderen  Weise   gebilligt   als  die  Wahrheiten 
der  Erkenntnis"  \ 

Wie  sich  Lotze  das  Empfinden  des  Wertes  in  dem 
Gefühle  denkt,  wage  ich  nicht  mit  voller  Sicherheit  zu  be- 
stimmen; daß  er  aber  das  Gefühl  selbst  nicht  als  die  Er- 
kenntnis eines  Wertes  ansah,  ist  unzweifelhaft,  nicht  bloß 
wegen  einzelner  Äußerungen^,  sondern  auch  schon  darum. 


1  Mikrokosmus  1.  Aufl.,  p.  268. 

2  So  setzte  er  in  der  eben  mitgeteilten  Stelle  die  Billigung  durch 
das  Gefühl  als  eine  „andere  Weise  der  Billigung"  jeder  Anerkennung 
einer  Wahrheit  entgegen.  Und  p.  262  sagt  er,  die  Gefühle  der  Lust 
oder  Unlust  würden  „immer  von  uns  auf  irgend  eine  unbekannte  Förde- 
rung oder  Störung  gedeutet  werden".  Die  Annahme  folgt  also  erst 
dem  Fühlen,  wenn  auch  vielleicht  auf  dem  Fuße.  —  Fragen  wir  aber, 
warum  jene  Gefühle  immer  so  gedeutet  werden,  so  bekommen  wir  von 
Lotze,  wie  mir  scheint,  keine  ganz  genügende  Antwort.  Daß  die  Vor- 
stellung einer  Lust  ohne  eine  gleichzeitige  Förderung  wie  die,  auf 
welche  wir  sie  nach  Lotze  deuten,  eine  Kontradiktion  enthalten  würde, 
scheint  nicht  seine  Ansicht;  woher  also  jene  Notwendigkeit  oder  unüber- 
windliche Neigung?  — •  Wir-,  auf  unserem  Standpunkte,  können,  glaube 
ich,  die  Frage  beantworten.  Mit  derselben  Notwendigkeit,  mit  welcher 
jemand  dem  Objekte  eines  anerkennenden  oder  verwerfenden  Urteils 
infolge  dieses  Urteils  Wahrheit  zuschreibt,  mit  derselben  Notwendigkeit 
schreibt  er  bei  der  Ausübung  einer  Tätigkeit  der  dritten  Grundklasse 
infolge  dieser  Tätigkeit  ihrem  Objekte  einen  Wert  oder  Unwert  zu 
(s.  0.  S.  83).  So  denn  auch  bei  Lust  und  Unlust.  Haben  wir  also  eine 
von  Lust  begleitete  sinnliche  Empfindung,  so  schreiben  wir  der  Emp- 
findung einen  Wert  zu,  und  insoweit  ist  der  Prozeß  oifenbar  notwendig. 
Wir  werden  aber  alsbald  weiter  geführt.  Indem  wir  z.  B.  bemerken, 
daß  die  angenehmen  Empfindungen  von  gewissen  körperlichen  Pro- 
zessen abhängen,  werden  uns  notwendig  auch  diese  Avegen  ihrer  Folgen 
wertvoll  sein;  und  vermöge  der  eigentümlichen  Gesetze,  welche  wir 
später  für  dieses  Gebiet  der  Seelenerscheinungen  festzustellen  haben, 
wird  es  dann  geschehen,  daß  sie  allmählich  auch  ohne  Berücksichtigung 
der  Folgen  Gegenstand  unserer  Liebe  und  Wertschätzung  werden.  Ja 
es  kann  dazu  kommen,  daß  wir  ihnen  Vorzüge  beilegen,  für  deren  An- 
nahme wir  nicht  den  mindesten  vernünftigen  Anhalt  besitzen,  wie  wenn 
wir  ohne  jede  Erfahrung,  daß  wohlschmeckende  Speisen  der  Gesund- 
heit zuträglicher  seien,  ihnen  um  ihres  Wohlgeschmackes  willen  auch 
diese  gute  Eigenschaft  zuschrieben.  Hat  ja  der  Aberglaube  des  Volkes 
in  dem  Golde,  weil  es  in  anderer  Hinsicht  sich  vielfach  wertvoll  und 
nützlich  erwies ,  infolgedessen  auch  ein  tretfliches  Heilmittel  vermutet. 


weil  er  es  sonst  seiner  ersten  Klasse  untergeordnet  haben 
würde.  Danach  scheint  aber  der  Ausdruck  nur  mehr  in 
einer  Weise,  und  zwar  im  Sinne  unserer  Anschauung  sich 
rechtfertigen  zu  lassen.  Es  ist  auch  bemerkenswert,  daß 
Lotze  nicht  bloß  sagt,  daß  das  Gefühl  Wert  und  Unwert 
empfmde,  und  es  so  zu  dem  Gegenstand  als  gut  und 
schlecht  in  Beziehung  setzt,  sondern  bei  ihm  auch  ganz 
derselben  Bezeichnung  „billigen"  sich  bedient,  die  er  zuvor 
angewandt  hatte,  um  das  „eigentümliche  Element,  welches 
den  Willen  zum  Willen  macht",  zu  benennen.  Umgekehrt 
sagt  er  em  anderes  Mal  für  „Wollen"  „herzliche  Teil- 
nahme"^, ein  Ausdruck,  der  gewöhnlich  für  Phänomene 
von  Lust  und  Leid  gebraucht  wird.  Wie  sollte  nicht  in 
dieser  Übertragung  der  am  meisten  charakteristischen  Be- 
nennungen des  einen  Gebietes  auf  das  andere  ein  unwill- 
kürliches, aber  bedeutungsvolles  Zeugnis  für  die  wesentliche 
Verwandtschaft  in  der  Beziehungsweise  der  beiderseitigen 
Erscheinungen  zu  ihren  Objekten  und  somit  füi*  ilii-e  Zu- 
sammengehörigkeit zu  einer  Grundklasse  liegen? 

Hamilton  —  denn  auch  diesen  großen  Verteidiger 
der  Sonderstellung  der  Gefühle  wollen  wir  nicht  unberück- 
sichtigt lassen  —  nennt  mit  ganz  ähnlichen  Ausdrücken 
wie  Lotze  „Lust  und  Unlust"  „eine  Schätzung  des  relativen 
Wertes  der  Objekte"^,  wobei  wir  es  freilich  ihm  selbst 
überlassen  müssen,  diesen  Ausspruch  mit  dem,  wie  er  uns 
lehrte,  ..subjektivisch  subjektiven"  Charakter  der  Gefühle 
in  Einklang  zu  bringen.  Solche  Äußerungen,  welche  die 
Beziehung   der  Gefühlsphänomene  auf  die  Gegenstände  als 


Doch  gibt  es  in  unserem  Falle  auch  spezifische  Erfahrungen,  die  einen 
sehr  weitgehenden  Zusammenhang  von  Lust  und  organischer  Förderung 
erkennen  lassen.,  und  so  eine  vernünftigere  Vermutung  gestatten,  es 
möge  auch  in  dem  einzelnen,  vorliegenden  Falle  dasselbe  gelten.  Auch 
diese  mögen,  wenn  nicht  allgemein,  doch  in  der  Eegel  zu  den  vorher 
besprochenen  Motiven  hinzukommen  und  mit  ihnen  zusammenwirken. 

1  Ebend.  p.  280. 

2  Lgct.  on  Metaph.  I,  p.  188. 


—    89     - 

gut  und  schlecht  deutlich  anerkennen,  kehren  bei  ihm  auch 
anderwärts,  ja  sehr  häufig  wieder  \ 

Kant  endlich,  in  seiner  Kritik  der  Urteilskraft,  be- 
zeichnet gerade  da,  wo  er  Gefühl  und  Begehren  scheiden 
will,  beide  als  ein  Wohlgefallen,  nur  das  eine  als  un- 
interessiertes, das  andere  als  praktisches.  Näher  untersucht, 
läuft  dies  darauf  hinaus,  daß  man  in  dem  Gefühle  bloß  an 
der  Vorstellung  eines  Gegenstandes,  in  dem  Begehren  an 
der  Existenz  eines  Gegenstandes  ein  Interesse  habe;  und 
auch  dieser  Unterschied  würde  aufgehoben,  wenn  es  sich 
zeigen  sollte,  daß,  was  Kant  hier  Gefühl  nennt,  in  Wahr- 
heit auf  jene  Vorstellung  selbst  als  seinen  Gegenstand  ge- 
richtet ist.  In  einer  früheren  Schrift  aber  sagt  Kant  ge- 
radezu: „Man  hat  es  in  unseren  Tagen  allerst  einzusehen 
angefangen,  daßdas  Vermögen,  das  Wahre  vorzustellen, 
die  Erkenntnis,  dasjenige  aber,  das  Gute  zu  empfinden, 
das  Gefühl  sei,  und  daß  beide  ja  nicht  miteinander 
müssen  verwechselt  w^erden"  -. 

Solche  Zeugnisse  aus  dem  Munde  der  am  meisten  her- 
vorragenden Gegner  sind  gew4ß  von  unleugbarer  Be- 
deutung.   Und  auch  hier  verbinden  sich  mit  den  modernen  ^ 


^  Vgl.  ebenda  II,  p.  434  ff.   besonders  p.  436  Nr.  3  u.  4. 

2  Untersuchung  über  die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  der  natür- 
lichen Theologie  und  Moral  (I,  S.  109),  eine  Schrift  aus  dem  Jahre  1763. 

3  Einige  andere,  freilich  sehr  unfreiwillige  neuere  Zeugnisse  für 
den  übereinstimmenden  Charakter  von  Gefühl  und  Willen  führt  Herbart 
an.  Wenn  man  die  Psychologen  nach  dem  Ursprünge  der  Grenze 
zwischen  Fühlen  und  Begehren  fragt,  sagt  er:  „drehen  sich  ihre  Er- 
klärungen im  Zirkel"  ....  Maaß  in  dem  Werke  über  die  Gefühle 
(S.  39  des  I.  T.)  erklärt  Fühlen  durch  Begehren  („ein  Gefühl  ist  an- 
genehm, so  fern  es  um  seiner  selbst  willen  begehrt  wird"),  aber 
eben  derselbe,  in  dem  Werke  über  die  Leidenschaften  (S.  2,  vgl.  S.  7) 
sagt:  es  sei  ein  bekanntes  Naturgesetz,  zu  begehren  was  als  gut,  zu 
verabscheuen,  was  als  böse  vorgestellt  werde.  Wobei  die  Frage  ent- 
steht, was  denn  gut,  und  was  denn  böse  sei?  Darauf  nun  er- 
halten wir  die  Antwort:  die  Sinnlichkeit  stelle  als  gut  vor  das,  wovon 
sie  angenehm  affiziert  werde  usw.  Und  hiermit  sind  wir  im  Zirkel 
herum  geführt.  —  Hoffbauer,  in  seinem  Grundrisse  der  Erfahrungs- 
seelenlehre, fängt  die  Kapitel  vom  Gefühlsvermögen  und  Begehruugs- 


—    90    — 

die  übereinstimmenden  Aussagen  längst  vergangener 
Perioden.  Wie  wenig  es  richtig  ist,  daß  man,  wie  Kant 
meinte,  erst  zu  seiner  Zeit  ein  besonderes  Vermögen, 
welches  sich  auf  etwas  als  gut  bezieht,  dem,  welches  auf 
etwas  als  wahr  gerichtet  ist,  zur  Seite  zu  stellen  anfing, 
hat  uns  imser  historischer  Überblick  gelehrt.  Die  ältere 
Psychologie,  so  weit  und  so  lange  Aristoteles  sie  be- 
herrschte, schied  ja  in  diesem  Sinne  Denken  und  Begehren. 
In  dem  Begehren  -  so  sehr  entschränkte  sie  den  Aus- 
druck —  waren  auch  die  Gefühle  von  Lust  und  Unlust  imd 
überhaupt  alles,  was  nicht  ein  vorstellendes  oder  urteilendes 
Denken  ist,  begriffen.  Hierin  lag,  was  uns  bei  unserer 
Frage  vorzüglich  interessiert,  die  Anerkennung,  daß  die 
Relation  zu  den  Objekten  als  guten  oder  schlechten ,  die 
wir  als  den  allgemeinen  wesentlichen  Grundcharakter  der 
Gefühle  behaupten,  bei  ihnen  nicht  minder  als  beim  Be- 
gehren und  Wollen  gegeben  sei.  Dasselbe  zeigen  die  Aus- 
sprüche des  Aristoteles  über  die  Beziehung  der  begleitenden 
Lust  zur  Vollkommenheit  des  Aktes,  die  man  in  der  Niko- 
machischen  Ethik  findet,  und  die  wir  bei  der  Untersuchung 
über  das  Bewußtsein  erwähnt  haben,  sowie  einige  Stellen 
seiner  Rhetorik  ^  Die  Peripatetische  Schule  des  Mittel- 
alters, insbesondere  Thomas  von  Aquin  in  seiner 
interessanten  Lehre  von  dem  Zusammenhange  der  Gemüts- 
bewegungen vertritt  aufs  Unzweideutigste  dieselbe  An- 
schauung ^. 

Auch  die  Sprache  des  gewöhnlichen  Lebens  deutet  dar- 
auf  hin,    daß    bei   Lust   und   Unlust    eine  Beziehung    zum 


vermögen  so  an:  „Wir  sind  uns  manclier  Zvxstände  bewußt,  welche  wir 
uns  bestreben  hervorzubringen,  diese  nennen  wir  angenehm:  ge- 
wisse Vorstellungen  erzeugen  in  uns  das  Bestreben  ihren  Gegenstand 
wirklich  zu  machen,  dies  nennen  wir  Begehren"  usw.  Hier  ist  einerlei 
Grund,  das  Bestreben,  den  Gefühlen  und  Begierden  untergelegt.  (Lehr- 
buch zur  Psychologie  T.  2,  Abschn.  1,  Kap.  4,  §  96). 

*  S.  Buch  II,  Kap.  'S,  §  6  m.  Psych,  v,  emp.  St.  und  Ehet.  I,  11, 
besonders  p.  1370,  a,  16;  II,  4,  p.  1:381,  a,  6. 

2  Summ.  Theol.  P.  U,  1.  Q.  26  ff. 


-     91     — 

Gegenstand  bestehe,  die  derjenigen  des  Wollens  wesentlich 
verwandt  ist.  Sie  liebt  es,  Ausdrücke,  die  sie  zunächst  auf 
dem  einen  Gebiete  anwandte,  dann  auf  das  andere  zu  über- 
tragen. So  nennen  wir  angenehm  das,  was  uns  Lust,  unan- 
genehm das,  was  uns  Unlust  gewährt,  wir  sprechen  aber 
auch  von  einem  Genehmsein  und  einer  Genehmigung  auf 
der  Seite  des  Willens.  Ebenso  wurde  das  „Placet"  im  Sinne 
einer  Gutheißung  offenbar  aus  dem  Gebiete  des  Gefühls  auf 
einen  Willensentschluß  übertragen ;  und  nicht  minder  deut- 
lich hat  der  deutsche  Ausdruck  „gefallen"  in  „tue,  was 
dir  gefällt!"  oder  „ist  Ihnen  etwas  gefällig?"  u.  s.  f.  das- 
selbe erfahren.  Ja  selbst  das  Wort  „Lust"  wird  in  der 
Frage:  „hast  du  Lust?"  zur  unverkennbaren  Bezeichnimg 
einer  Willensrichtung.  Andererseits  ist  der  „Unwillen"  kaum 
ein  Wille  zu  nennen,  obwohl  der  Ausdruck  daher  entlehnt 
ist,  und  der  „Widerwillen"  als  Bezeichnung  gewisser  Er- 
scheinungen des  Ekels  ist  unverkennbar  der  Name  eines 
Gefühls  geworden. 

Die  Sprache  tut  aber  mehr  als  daß  sie  gewisse  Namen 
von  Erscheinungen  des  einen  auf  Erscheinungen  des  anderen 
Gebietes  überträgt.  Sie  hat  in  den  Ausdrücken  „Liebe" 
und  „Haß"  ein  Mittel  der  Bezeichnung,  das  in  ganz  eigent- 
hcher  Weise  bei  jedem  Phänomen  in  dem  gesamten  Be- 
reiche anwendbar  ist.  Denn,  sind  sie  auch  in  dem  einen 
oder  anderen  Fall  minder  üblich,  so  versteht  einer  doch, 
wenn  man  sie  gebraucht,  was  damit  gemeint  ist,  und  er- 
kennt, daß  sie  ihrer  eigentlichen  Bedeutung  nicht  entfremdet 
werden.  Das  Einzige,  was  in  solchen  Fällen  gegen  sie 
spricht,  ist,  daß  der  Sprachgebrauch  hier  spezielleren  Be- 
zeichnungen den  Vorzug  zu  geben  pflegt.  Denn  in  Wahr- 
heit sind  sie  in  einem  sehr  gewöhnlich,  obwohl  nicht  aus- 
schließlich damit  verbundenen  Sinne  Ausdrücke,  welche 
die  unserer  dritten  Grundklasse  eigentümliche  Weise  der 
Beziehung  zum  Gegenstande  in  ihrer  Allgemeinheit  kenn- 
zeichnen. 

Die  Zusammenstellmigen  von  „Lust  imd  Liebe"  „lieb 
und   leid"    und   dgl.  zeigen   den  Ausdruck   „Liebe"  auf  die 


—    92     — 

entschiedensten  Gefühle  angewandt.  Und  wenn  wir  sagen 
„lieblich",  „häßhch",  was  meinen  wir  anderes  als  eine  Lust 
oder  Unlust  erweckende  Erscheinung?  Andererseits  weisen 
Äußerungen  wie  „es  beliebt  mir",  „tue  was  dir  lieb  ist 
deutlich  auf  Phänomene  des  Willens  liin.  In  dem  Satze  „er 
hat  eine  Vorliebe  für  wissenschafthche  Beschäftigung"  ist 
etwas  ausgesprochen,  was  vielleicht  manche  zu  dem  Gefühle 
rechnen,  während  es  andere  für  eine  habituelle  Richtung 
des  Willens  erklären  werden.  Ebenso  überlasse  ich  es 
anderen,  zu  entscheiden,  ob  bei  Namen  wie  „mißliebig",  „un- 
liebsam", „Liebling"  („Lieblingspferd"  und  „Lieblingsstudium" 
miteinbegriffen)  mehr  Gründe  für  die  Einordnung  des  Lie- 
bens,  von  dem  die  Rede  ist,  in  das  Gebiet,  das  sie  Gefühle 
nennen,  oder  in  das,  welches  sie  dem  Willen  zuweisen,  sich 
anführen  lassen.  Was  mich  betrifft,  so  glaube  ich,  daß  es 
als  allgemeinerer  Ausdruck  auch  in  diesem  einzelnen  Falle 
beide  umspannt. 

Wer  sich  nach  etwas  sehnt,  der  liebt  es  zu  haben ;  wer 
über  etwas  trauert,  dem  ist  das  unlieb,  worüber  er  trauert : 
wer  sich  über  etwas  freut,  liebt,  daß  es  so  ist;  wer  etwas 
tun  will,  liebt  es  zu  tun  (wenn  nicht  an  und  für  sich,  so 
doch  in  Rücksicht  auf  diese  oder  jene  Folge)  u.  s.  f.,  und 
die  genannten  Akte  sind  nicht  etwas,  was  bloß  mit  einem 
Lieben  zusammen  besteht,  sondern  sie  selbst  sind  Akte  der 
Liebe.  So  zeigt  sich,  daß  „gut  sein"  und  „irgendwie  zu  lieb.3n 
sein"  so  wie  andererseits  „schlecht  sein"  und  „irgendwie  zu 
hassen  sein"  dasselbe  besagen,  und  wir  sind  gerechtfertigt, 
wenn  wir  den  Ausdruck  „Liebe"  zum  Namen  unserer  dritten 
Grundklasse  wählten ,  indem  wir  dabei,  wie  schon  bemerkt, 
wie  man  bei  Begehi-en  und  Wollen  ähnlich  zu  tun  pflegt, 
den  Gegensatz  miteinbegriffen. 

Als  Ergebnis  unserer  Erörterung  dürfen  wir  also  aus- 
sprechen, daß  die  innere  Erfahrung  deutlich  die  Einheit  der 
Grundklasse  für  Gefühl  und  Willen  offenbart.  Sie  tut  es, 
indem  sie  uns  zeigt,  daß  nirgends  zwischen  ihnen  eine  scharf 
gezogene  Grenze  ist,  und  daß  ein  gemeinsamer  Charakter 
ihrer  Beziehung  auf  den  Inhalt  sie  von  den  übrigen  psychi- 


—    93     — 

sehen  Phänomenen  unterscheidet.  Was  die  Philosophen  der 
verschiedensten  Richtung  und  selbst  die,  welche  das  Gebiet 
in  zwei  Grundklassen  sondern,  darüber  äußerten,  wies  deut- 
lich auf  diesen  gemeinsamen  Charakter  hin  und  bestätigte, 
ebenso  wie  die  Sprache  des  Volkes,  die  Richtigkeit  unserer 
Beschreibung  der  inneren  Erscheinungen. 

§.  5.  Verfolgen  wir  weiter  den  Plan  unserer  Unter- 
suchung. 

Als  es  sich  darum  handelte,  Vorstellung  und  Urteil  als 
zwei  verschiedene  Grundklassen  psychischer  Phänomene  zu 
erweisen,  begnügten  wir  uns  nicht  damit,  das  direkte  Zeug- 
niß  der  Erfahrung  anzurufen;  vielmehr  haben  wir  auch  ge- 
zeigt, daß  der  große  Unterschied,  der  unleugbar  zwischen 
dem  einen  und  anderen  Phänomene  besteht,  gänzlich  auf 
Rechnung  der  verschiedenen  Weise  ihrer  Beziehung  zum 
Objekte  zu  setzen  ist.  Von  diesem  Unterschiede  abgesehen, 
würde  jedes  Urteil  mit  einer  Vorstellung  sich  gedeckt  haben 
und  umgekehrt.  Werfen  wir  jetzt  in  betreff  der  Gefühle 
und  des  Willens  die  gleiche  Frage  auf.  Wäre,  wer  keiner- 
lei Unterschied  in  der  Weise  des  Bewußtseins  zwischen 
einem  Fühlen  von  Freude  und  Schmerz  und  einem  Wollen 
anerkennte,  vielleicht  ebenfalls  außerstande  irgend  etwas 
als  unterscheidend  namhaft  zu  machen  ?  wüi'de  auch  zwischen 
ihnen  jede  Verschiedenheit  dann  ausgeglichen  sein?  — 
Sicher  ist  dieses  nicht  der  Fall. 

Wir  haben  früher  gesehen,  wie  zwischen  dem  Fühlen 
einer  Freude  oder  eines  Schmerzes  und  dem  Wollen  im 
eigentlichsten  Sinne  eine  Reihe  von  Seelenzuständen  so  zu 
sagen  in  der  Mitte  steht,  von  welchen  man  nicht  recht 
weiß,  ob  sie  bei  einer  Scheidung  des  Gebietes  in  Gefühl 
und  Willen  besser  der  einen  oder  anderen  Seite  zugerechnet 
werden.  Sehnsucht,  Hoffnung,  Mut  und  andere  Erscheinungen 
gehören  hieher.  Gewiß  wird  niemand  behaupten,  jede  dieser 
Klassen  sei  von  der  Art,  daß  sich  außer  einer  etwaigen  Be- 
sonderheit der  Beziehung  zum  Objekte  kein  Unterschied 
dafür  angeben  lasse.    Eigentümlichkeiten  der  Vorstellungen 


—    94    — 

und  Eigentümlichkeiten  der  Urteile,  die  ihnen  zugrunde 
liegen,  dienen  dazu,  die  eine  von  der  anderen  zu  unter- 
scheiden ;  und  an  solche  Unterschiede  hat  man  sich  darum 
gehalten,  da  man  in  älterer  wie  neuerer  Zeit  Versuche 
machte,  sie  definierend  gegeneinander  abzugrenzen.  Dies 
hat  schon  Aristoteles  in  seiner  Rhetorik ,  so  wie  in  der 
Nikomachischen  Ethik  getan,  und  andere  wie  z.  B.  Cicero 
im  vierten  Buch  der  Tusculanae  Quaestiones  sind  seinem 
Beispiele  gefolgt.  Später  finden  wir  ähnliche  Versuche  bei 
Kirchenvätern  me  Gregor  von  Nyssa,  Augustinus  und 
anderen ,  und  in  einem  vorzüglichen  Maße  im  Mittelalter 
bei  Thomas  von  Aquin  in  seiner  Prima  Secundae.  Wiederum 
begegnen  sie  uns  in  der  Neuzeit  bei  Descartes  in  seiner 
Abhandlung  über  die  Leidenschaften,  bei  Spinoza  im  dritten 
Teile  seiner  Ethik,  wohl  dem  verdienstvollsten  des  ganzen 
Werkes;  ferner  bei  Hume,  Hartley,  James  Mill  usf.  bis  auf 
unsere  Zeit. 

Natürlich  konnten  solche  Definitionen,  indem  sie  die 
einzelne  Klasse  nicht  bloß  gegen  eine,  sondern  gegen  jede 
andere  abgrenzen  wollten,  nicht  immer  von  dem  Gegensatze 
absehen ,  welcher  dieses  Gebiet ,  wie  Anerkennung  und 
Leugnung  das  der  Urteile  durchdringt,  und  ebenso  mußten 
sie  auf  die  Unterschiede  in  der  Stärke  der  Phänomene  mit- 
unter Rücksicht  nehmen.  Mehr  aber  ist  in  der  Tat  nicht 
nötig,  und  im  übrigen  mit  den  zuvor  erwähnten  Mitteln  Lei 
der  Bestimmung  eines  jeden  zu  diesem  Gebiete  gehörigen 
Klassenbegriffes  voUkonnnen  auszureichen;  womit  selbst- 
verständlich nicht  gesagt  sein  soll,  daß  jeder  Versuch,  den 
man  mit  ihrer  Hilfe  gemacht  hat,  auch  wirklich  ge- 
lungen sei. 

Lotze,  der  in  seiner  medizinischen  Psychologie  hinsicht- 
lich verschiedener  Klassen,  die  er  zu  den  Gefühlen  rechnet, 
denselben  Weg  der  Definition  betritt,  enthält  sich  dagegen 
in  betreft'  der  Besonderheit  des  Wollens  eines  jeden  solchen 
Versuches,  indem  er  ihn  für  notwendig  erfolglos  hält.  „Ver- 
geblich'', sagt  er,  „sucht  man  das  Vorhandensein  des 
Wollens  zu   leugnen,   ebenso   vergeblich,   als   wir   uns  be- 


—     95    — 

mühen  würden,  seine  einfache  Natur,  die  nur  unmittelbar 
sich  erleben  läßt,  durch  umschreibende  Erklärungen  zu  ver- 
deutlichen ^ " .  Dies  ist  auf  seinem  Standpunkt  konsequent 
geurteilt  ^;  richtig  aber  scheint  es  mir  in  keiner  Weise.  Jedes 
Wollen  partizipiert  an  dem  gemeinsamen  Charakter  unserer 
dritten  Grundklasse;  und  wer  darum  das  Gewollte  als 
etwas,  was  jemand  lieb  ist,  bezeichnet,  hat  dadurch  schon 
einigermaßen  und  in  äußerster  Allgemeinheit  die  Natur  der 
Willenstätigkeit  gekennzeichnet.  Fügt  man  dann  Bestim- 
mungen über  die  Besonderheit  des  Inhaltes,  über  die  Eigen- 
tündichkeit  der  Vorstellung  und  des  Urteils  hinzu,  die  dem 
Wollen  zugrunde  liegen,  so  ergänzt  sich  die  erste  Angabe 
in  ähnlicher  Weise  zu  einer  genau  abgrenzenden  Definition, 
wie  in  anderen  Fällen  die  einer  Klasse  von  Gefühlen.  Jede;^ 
Wollen  geht  auf  ein  Tun,  von  dem  wir  glauben,  daß  es  in 
unserer  Macht  liege,  auf  ein  Gut,  welches  als  Folge  des 
Wollens  selbst  erwartet  wird.  An  diese  spezialisierenden 
Bestimmungen  hat  schon  Aristoteles  gerührt,  indem  er  das 
Wählbare  als  ein  durch  Handeln  zu  erreichendes  Gut  be- 
zeichnete. Eingehender  haben  James  Mill  und  Alexander 
Bain  die  besonderen  Bedingungen  des  Phänomens,  die  in 
den  zugrunde  liegenden  Vorstellungen  und  Urteilen  ge- 
geben sind,  analysiert.  Diese  Analysen,  selbst  wenn  einer 
das  eine  oder  andere  noch  daran  auszusetzen  fände,  werden 
doch,  glaube  ich,  in  jedem,  der  sie  beachtet,  die  Über- 
zeugung erwecken,  daß  man  wirklich  auch  das  Wollen  in 
ähnlicher  Weise  und  mit  ähnlichen  Mitteln  wie  die  ein- 
zelnen   Klassen    der    Gefühle    definieren    kann,    und    daß 


1  Mikrokosmus  1.  Aufl.  I,  S.  280. 

2  Kant  und  Hamilton  haben  freilich  die  Kousequeuz  nicht  gezogen: 
aber  einerseits  waren  sie  bei  ihren  Versuchen  wenig  glücklich,  ander- 
seits so  weit  sie  Erfolg  hatten,  geben  sie  dadurch  nur  selbst  gegen 
ihren  Grundgedanken  eines  fundamentalen  lvlassenunterschicdi>s  Zeugnis. 
So  Kant,  wenn  er  das  Wohlgefallen  des  Willens,  als  Wohlgefallen  am 
Sein,  dem  Wohlgefallen  des  Gefühles  als  dem  uninteressierten  Wohl- 
gefallen, welches  durch  die  bloße  Vorstellung  befriedigt  ist,  gegenüber- 
stellt.    (S.  o.  S.  89.) 


—    96     - 

es    nicht    so    unbeschreiblich    einfach    ist,    wie    Lotze    uns 
lehrte  K 

§  6.  Wenn  wir  indessen  sagten,  daß  das  Wollen  durcli 
Hinzufügung  von  solcherlei  Bestimmungen  zum  allgemeinen 
Begriffe  der  Liebe  definierbar  sei,  so  meinen  w^ir  damit 
nicht,  daß  jemand,  der  das  spezielle  Phänomen  nie  selbst 
in  sich  erfahren  hätte,  durch  die  Definition  zu  vollkommener 
Klarheit  darüber  gelangen  körnite.  Dies  ist  keineswegs  der 
Fall.  Es  besteht  in  dieser  Beziehung  ein  großer  Unter- 
schied zwischen  der  Definition  des  WoUens  und  der  Begriffs- 
bestimmung einer  besonderen  Klasse  von  Urteilen  durch 
Angabe  der  Gattung  des  Inhaltes,  auf  welchen  sie  an- 
erkennend oder  verwerfend  gerichtet  sind.  Wenn  man  nur 
irgendwelche  bejahende  und  verneinende  Urteile  gefällt  hat, 
so  kann  man  sich  jedes  andere  Urteil  anschaulich  vor- 
stellen, sobald  man  weiß,  worauf  es  bejahend  oder  ver- 
neinend gerichtet  ist.  Hätte  sich  dagegen  jemand  auch 
noch  so  häufig  liebend  und  hassend  betätigt  und  in  mannig- 
fachen Abstufungen  der  Stärke,  so  würde  doch  füi"  ihn, 
wenn  er  nie  in  specie  etwas  gewollt  hätte,  aus  der  Angabe 
der  Besonderheit  des  WoUens  in  den  erwähnten  Beziehungen 
das  Phänomen  in  seiner  eigentümlichen  Natur  nie  voll- 
kommen vorstellbar  werden.  Wenn  Lotze  nichts  anderes 
hätte  sagen  wollen,  so  würden  mr  uns  vollkommen  mit  ihm 
einverstanden  erklären. 

Aber  dies  ist  nichts,  was  nicht  ebenso  für  andere 
spezielle  Klassen,  die  man  gewöhnlich  dem  Gefühle  unter- 
ordnet, gelten  würde ;  denn  auch  von  ihnen  zeigt,  um  mich 
eines  Ausdruckes  von  Lotze  selbst  zu  bedienen,  jede  eine 
besondere  Färbung.  Wer  nur  Gefühle  der  Freude  und  der 
Trauer  gehabt  hätte,  dem  würde  durch  eine  Definition  des 
Hoffens  oder  Fürchtens  dessen  innere  Eigentümlichkeit  un- 
möglich vollkommen  anschauHch  werden ;  ja  schon  hinsicht- 
lich   verschiedener   Arten    von    Freude    gilt    dasselbe:    die 

^  Im  fünften  Buche  werden  wir  uns  eingehend  mit  der  Frage  zu 
beschäftigen  haben. 


—    97     - 

Freude  des  guten  Gewissens  und  die  Lust  bei  angenehmer 
Erwärmung,  die  Freude  beim  Anblick  eines  schönen  Ge- 
mäldes und  die  Lust  beim  Wohlgeschmacke  einer  Speise 
sind  nicht  etwa  bloß  quantitativ,  sie  sind  qualitativ  von- 
einander verschieden,  und  ohne  eine  spezifische  Erfahrung 
würde  die  Angabe  des  besonderen  Objekts  zur  Erweckung 
einer  vollkommen  entsprechenden  Vorstellung  nicht  führen 
können. 

Um  dieser  qualitativen  Verschiedenheiten  willen  wird 
man  allerdings  zugeben  müssen,  daß  innerhalb  des  Gebietes 
der  Liebe  noch  Unterschiede  in  der  Weise  der  Beziehung 
zum  Objekte  bestehen.  Aber  damit  ist  nicht  gesagt,  daß 
nicht  die  Einheit  derselben  Grundklasse  alle  Phänomene 
der  Liebe  umfasse.  Wie  vielmehr  zwischen  qualitativ  ver- 
schiedenen Farben,  so  besteht  auch  zwischen  qualitativ 
verschiedenen  Phänomenen  der  Liebe  eine  wesentliche  Ver- 
wandtschaft und  Übereinstimmung.  Auch  der  Vergleich 
mit  dem  Gebiete  des  Urteils  macht  dies  deutlich.  Auch 
hier  fehlt  es  nicht  an  Unterschieden  in  der  Weise  der  Be- 
ziehung zum  Objekt,  wie  denn  vor  allem  der  Unterschied 
von  Anerkennen  und  Verwerfen  ganz  offenbar  als  ein 
solcher  zu  betrachten  ist\  Man  nennt  sie  mit  Recht 
qualitativ  verschieden.  Dennoch  erstreckt  sich,  da  sie  in 
ihrem  allgemeinen  Charakter  miteinander  übereinstimmen, 
die  Einheit  derselben  Grundklasse  über  beide,  imd  ihre 
Scheidung,  obwohl  ebenfalls  durch  die  Natur  vorgezeichnet, 
ist  doch  keine,  welche  auch  nur  annähernd  eine  ähnlich 
fundamentale  Bedeutung  wie  die  zwischen  Vorstellung  und 
Urteil  hätte.  Ganz  dasselbe  gilt  in  unserem  Falle.  Ja,  es 
ist  womöglich  noch  einleuchtender,  daß  bei  einer  Grund- 
einteilung der  psychischen  Phänomene  die  qualitativen 
Unterschiede  spezieller  Weisen  des  Liebens  nicht  in  Betracht 
kommen  können,  als  daß  die  Unterschiede  der  Qualität  der 


^  Auch  an  die  Unterschiede  von  eviihMit  und  nicht  evident,  apo- 
diktisch und  bloß  assertorisch  und  noch  andere  mehr  wäre  hier  zu 
denken. 

Brentano,  Klassifikation  der  jisychischen  Phänomene.  7 


—    98    — 

Urteile  nicht  dabei  zu  berücksichtigen  sind.  Die  höchsten 
Klassen  würden  außerordentlich  zahlreich  oder  vielmehr 
geradezu  unzählig  werden,  namentlich  da  dasjenige,  was  zu 
einem  geliebten  oder  gehaßten  Gegenstande  in  Beziehung 
tritt,  selbst  wieder  Gegenstand  einer  Liebe  oder  eines 
Hasses  wird,  und  sehr  gewöhnlich  mit  einer  veränderten 
Färbung  des  Phänomenes.  Auch  würde  die  enge  Umgrenzunii. 
die  jede  von  diesen  höchsten  Klassen  erhielte,  dem  Zwecke 
einer  ersten  und  fundamentalen  Einteilung  entgegen  sein. 
Darum  haben  auch  diejenigen,  welche  das  von  uns  ein- 
heitlich umschriebene  Gebiet  in  mehrere  Grundklassen  zer- 
legten, bei  ihrer  Einteilung  nicht  allen  diesen  Unter- 
schieden Rechnung  getragen.  Sie  scheiden  nur  zwei 
Klassen,  Gefühl  und  Willen;  alle  speziellen  Färbungen  der 
Phänomene  der  Liebe  und  des  Hasses,  welche  innerhall) 
des  Gebiets,  das  sie  Willen  nennen,  und  zahlreicher  noch 
innerhalb  des  Bereiches  der  Gefühle  bestehen,  lassen  sie 
dagegen  unberücksichtigt.  So  erkennen  sie  durch  ihr  prak- 
tisches Verhalten  in  der  bei  weitem  größeren  Zahl  der 
Fälle  an,  daß  solche  untergeordnete  Unterschiede  nicht  eine 
Sonderung  in  verschiedene  Grundklassen  rechtfertigen,  und 
hiermit  ist,  wenn  misere  Auseinandersetzung  richtig  ist, 
auch  die  Verwerfung  ihrer  Unterscheidung  von  Gefühl  und 
Willen  als  höchster  Klassen  im  Prinzipe  zugegeben. 

S  7.  Wir  kommen  zu  einer  dritten  Reihe  von  Er- 
örterungen,  welche  die  von  uns  behauptete  Zusammen- 
gehörigkeit von  Gefühl  mid  ^^'illen  zu  einer  natürlichen 
Grundklasse  bestätigen  wird. 

Da  es  sich  um  die  Feststellung  der  fundamentalen  Ver- 
schiedenheit von  Vorstellung  und  Urteil  handelte,  zeigten 
wir,  wie  alle  Umstände  darauf  hinweisen,  daß  ein  grund- 
verschiedenes Verhältnis  zum  Inhalte  das  eine  von  dem 
anderen  Phänomen  unterscheidet.  Wo  das  Urteil  zur  Vor- 
stellung hinzutritt,  findet  man  eine  ganz  neue  Gattung  von 
Gegensätzen,  eine  ganz  neue  Gattung  von  Intensität,  eine 
ganz  neue  Gattung  von  Vollkommenheit  und  Unvollkommen- 


—    99     — 

heit  und  eine  ganz  neue  Gattung  von  Gesetzen  der  Ent- 
stehung und  Aufeinanderfolge.  Auch  die  Klasse  der  Liebe 
und  des  Hasses,  als  Ganzes  genommen,  zeigte  sich  uns  da- 
mals der  Vorstellung  und  dem  Urteile  gegenüber  in  der- 
selben allseitigen  Weise  durch  Eigentümlichkeiten  aus- 
gezeichnet. Sollte  innerhalb  dieser  Klasse  selbst  noch  ein 
fundamentaler  Unterschied  in  der  Beziehungsweise  zum 
Objekte  bestehen,  so  dürfen  wir  demnach  erwarten,  daß 
auch  hier  in  ähnlicher  Art  das  eine  Gebiet  von  dem 
anderen  in  jeder  der  angegebenen  Richtungen  die  Besonder- 
heit seines  Charakters  offenbaren  w^erde. 

Aber  in  keiner  Weise  ist  dies  der  Fall. 

Vor  allem  wird  man  sich  leicht  überzeugen,  daß  inner- 
halb des  ganzen  Gebietes  von  Gefühl  und  Willen  nirgends 
eine  Verschiedenheit  von  Gegensätzen  auftritt ,  von 
denen  das  eine  Paar  dem  anderen  so  heterogen  w^äre,  wie 
es  der  Gegensatz  von  Liebe  und  Haß  dem  von  Anerkennung 
und  Leugnung  ist.  Auch  wenn  wir  Freude  und  Traurigkeit 
mit  Wollen  und  Nichtwollen  vergleichen,  erkemien  wir,  daß 
hier  und  dort  im  Grunde  genommen  derselbe  Gegensatz 
von  Lieb-  und  Unliebsein,  Gefallen  und  Mißfallen  uns  ent- 
gegentritt. Allerdings  erscheint  er  in  jedem  der  beiden 
Fälle  etwas  modifiziert,  entsprechend  der  verschiedenen 
Färbung  der  Phänomene;  aber  der  Unterschied  ist  nicht 
größer  als  der,  welcher  zwischen  den  Gegensätzen  von 
Freude  und  Trauer,  Hoffnung  und  Furcht,  Mut  und  Ver- 
zagen ,  Verlangen  und  Fliehen  und  vielen  anderen  in  der 
Klasse  gefunden  wird. 

Da.sselbe  gilt  in  betreff  der  Stärke.  Die  Gesamtheit 
der  Klasse  ist  deutlich  durch  eine  besondere  Gattung  von 
Intensität  ausgezeichnet.  Die  Unterschiede  der  Gewißheit 
sind,  wie  schon  früher  bemerkt,  mit  den  Unterschieden  der 
Grade  des  Liebens  und  Hassens  unvergleichbar ;  ja  geradezu 
lächerlich  würde  es  sein,  wenn  einer  sagte :  es  ist  mir  dies 
doppelt  so  wahrscheinlich ,  als  mir  jenes  lieb  ist  oder  der- 
gleichen. Aber  innerhalb  der  Klasse  selbst  gilt  nirgends 
dasselbe.     Wie   die  verschiedenen  Stufen  der  Überzeugimg 

7* 


—     100     — 

im  Anerkennen  und  Verwerfen,  so  lassen  auch  die  Grad- 
unterschiede im  Lieben  und  Hassen  sich  miteinander  ver- 
gleichen. Wie  ich  ohne  Inkonvenienz  sagen  kann,  daß  ich 
das  eine  mit  größerer  Gewißheit  annehme,  als  ich  das 
andere  leugne :  so  kann  ich  auch  sagen ,  daß  ich  das  eine 
in  höherem  Maße  liebe,  als  ich  das  andere  hasse.  Und 
nicht  bloß  die  Stärke  von  Gegensätzen,  sondern  auch  die 
von  Freude  und  Verlangen  und  Willen  mid  Vorsatz  kann 
ich  im  Verhältnis  zueinander  als  größer  und  geringer  be- 
stimmen. Ich  freue  mich  mehr  darüber,  als  ich  nach  jenem 
verlange;  mein  Verlangen  ihn  wieder  zu  sehen  ist  nicht 
so  stark,  als  mein  Vorsatz  ihn  meine  Mißbilligung  empfinden 
zu  lassen  usf. 

Äluiliches  zeigt  sich  in  Hinsicht  auf  die  Vollkommen- 
heit und  U  n  V  o  1 1  k  0  m  m  e  n  h  e  i  t.  Wir  sahen,  wie  in  den 
Vorstellungen  einerseits  weder  Tugend  noch  sittliche 
Schlechtigkeit,  anderseits  weder  Erkenntnis  noch  Irrtum 
liegt.  Mit  den  Phänomenen  des  Urteilens  kommen  die 
letzten  beiden  hinzu;  das  erste  Paar  dagegen  liegt,  wie 
schon  gesagt,  ausschließlich  in  dem  Gebiete  der  Liebe  und 
des  Hasses.  Findet  es  sich  nun  vielleicht  nur  in  der  einen 
der  beiden  Klassen,  in  welche  man  das  Gebiet  zerlegt  hat, 
in  dem  Willen,  nicht  aber  in  dem  der  Gefühle?  —  Man 
erkennt  leicht,  daß  dies  nicht  der  Fall  ist,  sondern  daß  es 
wie  einen  sittlich  guten  und  sittlich  schlechten  Willen,  auch 
sittlich  gute  mid  sittlich  schlechte  Gefühle  gibt,  wie  z.  B. 
Mitleid,  Dankbarkeit,  Heldenmut,  Neid,  Schadenfreude,  feige 
Furcht  usf.  Wegen  des  besprochenen  Mangels  deutlicher 
Abgrenzung  weiß  ich  freilich  nicht,  in  wie  weit  einer  ein- 
zelne von  diesen  Beispielen  vielleicht  lieber  zum  Gebiete 
des  Willens  rechnet;  aber  auch  nur  eines  von  ihnen 
würde  zu  unserem  Zwecke  genügen  \    Auch  kann  man  nicht 


^  Es  ist  lichtig,  daß  die  Nameu  Tugend  ixud  Schlechtigkeit  voa 
uns  in  einem  zu  engen  Sinne  gebraucht  zu  werden  pflegen,  als  daß  man 
von  jedem  Akte  der  Liebe  oder  des  Hasses  sagen  könnte,  er  sei 
tugendhaft  oder  schlecht.  Nur  gewisse  ausgezeichnete  Akte,  in  welchen 
das   wahrhaft  Liebenswürdige    geliebt,    das   wahrhaft  Hassenswürdige 


—     101     - 

behaupten,  daß  zwar  Tugend  und  Schlechtigkeit  beiden 
Gebieten  gemein,  aber  im  Willen  noch  eine  neue,  l)esondere 
Klasse  von  Vollkommenheit  und  Unvollkommenheit  zu 
ihnen  hinzugekommen  sei;  und  bis  jetzt  wenigstens  hat, 
meines  Wissens,  niemand  eine  solche  bezeichnet. 

Wenden  wir  uns  zu  dem  letzten  Punkte  des  Vergleiches, 
zu  den  Gesetzen  der  Sukzession  der  Erscheinungen. 

Bei  den  Urteilen,  obwohl  sie  von  den  allgemeinen  Ge- 
setzen des  Vorstellungslaufes  sich  keineswegs  unabhängig 
zeigen,  kommen  doch  noch  andere,  besondere  Gesetze  hinzu, 
welche  aus  ihnen  nicht  abgeleitet  werden  können.  Wir 
bemerkten  bereits,  daß  diese  Gesetze  die  vorzügliche 
psychologische  Grmidlage  der  Logik  ausmachen.  Bei  Liebe 
und  Haß,  sagten  wir  damals,  sei  etwas  ähnliches  der  Fall; 
und  in  der  Tat  sind  zwar  diese  Phänomene  weder  von  den 
Gesetzen  des  Vorstellungslaufes  noch  von  denen  der  Ent- 
stehung und  Sukzession  der  L'rteile  unabhängig;  aber 
dennoch  zeigen  auch  sie  besondere  unableitbare  Gesetze 
ihrer  Aufeinanderfolge  und  Entwickelung ,  welche  die 
psychologische  Grundlage  der  Ethik  bilden. 

Fragen  wir  nun,  wie  es  mit  diesen  Gesetzen  sich  ver- 
halte. Sind  sie  vielleicht  auf  die  Klasse  des  Willens  allein 
beschränkt?  oder  beherrscht  wenigstens  nur  ein  Teil  von 
ihnen  Gefühle  und  Willenstätigkeiten  gemeinsam,  wälu-end 
ein  anderer,  durch  einen  neuen  und  eigentümlichen  Cha- 
rakter ausgezeichnet,  für  die  Phänomene  des  Wollens  aus- 
schließlich Geltung  hat?  —  Keines  von  beidem  ist  richtig; 
vielmehr   gehen   in   ganz   ähnlicher   Weise   in   einem   Falle 

gehaßt  wird,  ehren  wir  mit  dem  Namen  Tiit,''end:  und  ebenso  legen  wir 
nur  gewissen  ausgezeichneten  Akten,  in  Avelcheu  ein  entgegengesetztes 
Verhalten  stattfindet,  den  Namen  Schlechtigkeit  bei.  Akte  von  Liebe 
und  Haß,  bei  welchen  ein  entsprechendes  A'erhalten  selbstverständlich 
erscheint,  werden  wir  nicht  als  tugendhaft  bezeichnen.  Wir  köuntcu 
vielleicht  zeigen,  wie  sich  die  Begriffe  zu  einer  vollkommen  allgemeinen 
Anwendbarkeit  entschränken  ließen.  Doch  genügt  es  uns  hier,  dar- 
getan zu  haben,  daß  sie  so,  wie  mau  sie  gemeiniglich  anwendet,  wenig- 
stens der  üblichen  Unterscheidung  von  Gefühl  und  AVillen  keine  Stütze 
bieten. 


—     102     — 

Akte  des  Wollens  wie  in  einem  anderen  Akte  der  Freude 
und  Traurigkeit  auseinander  hervor.  Ich  freue  mich  oder 
betrübe  mich  über  einen  Gegenstand  um  eines  anderen 
willen,  während  er  sonst  mich  unberührt  gelassen  hätte; 
und  ebenso  begehre  und  will  ich  etwas  wegen  eines  anderen, 
obwohl  ich  sonst  nicht  danach  verlangte.  Auch  erzeugt 
die  Gewohnheit  des  Genusses  bei  eingetretenem  Mangel 
eine  stärkere  Begierde,  wie  umgekehrt  ein  vorausgegangenes 
längeres  Verlangen  den  eingetretenen  Genuß  verstärkt  und 
hebt. 

Doch  wie?  —  Wir  sagen,  daß  wesentlich  dieselben 
Gesetze  auf  dem  Gebiete  der  Gefühle  und  auf  dem  des 
Willens  Geltung  haben;  und  doch  scheint  gerade  hier  der 
größte  Gegensatz  zu  bestehen,  der  überhaupt  auf  psychi- 
schem Gebiete  sich  zeigt.  Denn  der  Wille,  im  Unter- 
schiede von  allen  übrigen  Gattungen,  gilt  als  das  Reich 
der  Freiheit,  welches,  wenn  nicht  jeden  Einfluß,  doch  sicher 
eine  Herrschaft  von  Gesetzen,  wie  sie  auf  den  anderen 
Gebieten  besteht,  von  sich  ausschließe.  Somit  scheint  hier 
ein  starker  Grund  für  die  herkömmliche  Scheidung  von 
Gefühl  und  Willen  vorzuliegen. 

Die  Tatsache  der  Willensfreiheit,  auf  weiche  sich 
dieser  Einwand  stützt,  hat  bekanntlich  von  altersher  den 
Gegenstand  eifrigen  Streites  gebildet,  an  dem  wir  selbst 
uns  erst  an  einem  späteren  Orte  beteiligen  werden  ^  Aber 
ohne  dem  künftigen  Ergebnis  irgendwie  vorzugreifen ,  sind 
w^ir.  glaube  ich,  schon  jetzt  das  Argument  zurückzuweisen 
imstande.  Angenommen,  es  finde  sich  auf  dem  Gebiet  des 
Willens  wirklich  jene  volle  Freiheit,  welche  in  demselben 
einzelnen  Fall  ein  Wollen  und  Nichtwollen  und  ein  ent- 
gegengesetztes Wollen  als  möglich  erscheinen  läßt :  so  be- 
steht dieselbe  doch  sicher  nicht  auf  dem  ganzen  Gebiete, 
sondern  nm*  etw^a  da,  wo  entweder  verschiedene  Arten  des, 
Handelns  oder  wenigstens  Handeln  und  Nichthandeln,  jedes 
in    seiner  Weise    als    ein   Gut  in   Betracht    kommt.     Dies 


^  Als  solcher  war  Buch  V  in  Aussicht  genommen. 


—     103     — 

wurde  von  den  bedeutendsten  Vertretern  der  Willens- 
freiheit immer  und  ausdrücklich  anerkannt.  Was  aber, 
obwohl  vielleicht  minder  deutlich  ausgesprochen,  dennoch 
ebenso  unverkennbar  als  ihre  Überzeugung  sich  zu  erkennen 
gibt,  ist,  daß  sich  unter  jenen  Seelentätigkeiten,  die  nicht 
als  ein  Wollen  bezeichnet  werden  können,  und  die  man 
den  Gefühlen  zurechnet ,  gleichfalls  freie  Akte  fhiden.  So 
hält  man  den  Schmerz  der  Reue  über  ein  früheres  Ver- 
gehen, die  schadenfrohe  Lust  und  viele  andere  Phänomene 
der  Freude  und  Traurigkeit  für  nicht  weniger  freie  Akte, 
als  den  Vorsatz,  sein  Leben  zu  ändern  und  die  Absicht, 
jemand  einen  Nachteil  zuzufügen.  Ja,  die  Gefühle  einer 
kontemplativen  Gottesliebe  gelten  vielen  als  verdienstlicher 
als  die  hilfreiche  Betätigung  des  Willens  im  Dienste  des 
Nächsten,  obwohl  sie  nur  bei  freien  Betätigungen  von  Ver- 
dienst und  Mißverdienst  sprechen  wollen.  Wenn  man 
trotzdem  im  allgemeinen  nur  von  Willens  fi-eiheit  sprach, 
so  hing  dies  bei  älteren  Philosophen  mit  dem,  wie  wir 
sahen,  erweiterten  und  auf  Gefühl  und  Willen  im  engeren 
Smne  gleichmäßig  ausgedehnten  Gebrauche  dieses  Namens, 
bei  modernen  aber  häufig  mit  anderen  Unklarheiten  zu- 
sammen, die  sich  in  ihre  Untersuchung  einmischten.  So 
hat  selbst  Locke  die  Unterscheidung  zwischen  dem  Ver- 
mögen, eine  Handlung,  je  nachdem  man  sie  will  oder  nicht 
will,  zu  üben  oder  zu  unterlassen,  und  der  Möglichkeit, 
unter  denselben  Umständen  sie  zu  w^ollen  oder  nicht  zu 
wollen,  niemals  klar  vollzogen.  Es  ist  also  sicher,  daß, 
wenn  überhaupt  auf  dem  Gebiete  der  Liebe  und  des  Hasses 
Freiheit  besteht,  dieselbe  nicht  auf  Akte  des  Wollens 
allein,  sondern  ebenso  auf  gewisse  Betätigungen  der  Ge- 
fühle sich  erstreckt,  und  daß  anderseits  ebensowenig  jeder 
Akt  des  Wollens  als  jeder  Akt  des  Fühlens  frei  gemmnt 
werden  kann.  Dies  genügt,  um  zu  zeigen,  wie  durch  die 
Anerkennung  der  Freiheit  die  Kluft  zwischen  Gefühl  und 
Willen  nicht  erweitert  und  der  hergebrachten  Klassen- 
einteilung keine  Stütze  geboten  wird. 


ij^x  —    104    — 


«*-' 


§  8.  Wir  haben  nun  den  vorgezeichneten  Weg  unserer 
Untersuchung  auch  seinem  dritten  Teile  nach  zurückgelegt. 
Es  war  wesentlich  derselbe  Gang,  den  wir  jetzt  einhielten, 
da  wir  das  Verhältnis  von  Gefühl  und  Begehren  prüften, 
wie  früher,  als  es  sich  um  den  Nachweis  des  fundamentalen 
Unterschiedes  zwischen  Vorstellung  und  Urteil  handelte. 
Aber  Schritt  für  Schritt  waren  unsere  Wahrnehmungen 
dieses  Mal  die  entgegengesetzten. 

Fassen  wü-  das  Ergebnis  kurz  zusammen. 

Erstens  hat  uns  die  innere  Erfahrung  gezeigt,  wie 
zwischen  Gefühl  und  Willen  nirgends  eine  scharfe  Grenze 
gezogen  ist.  Wir  haben  bei  allen  psychischen  Phänomenen, 
die  nicht  Vorstellungen  oder  Urteile  sind,  einen  überein- 
stimmenden Charakter  der  Beziehung  auf  den  Inhalt  ge- 
funden, und  können  sie  alle  in  einem  einheitlichen  Smne 
als  Phänomene  der  Liebe  mid  des  Hasses  bezeichnen. 

Zweitens,  wenn  bei  Vorstellmig  mid  Urteil  mit  der 
Leugnung  einer  Verschiedenheit  in  der  Weise  des  Bewußt- 
seins die  Angabe  eines  Unterschiedes  überhaupt  unmöglich 
wurde:  so  haben  wir  auf  dem  Gebiete  von  Gefühl  und 
Willen  im  Gegenteile  gesehen,  daß  unter  Zuhilfenahme  des 
Gegensatzes  von  Liebe  und  Haß  und  ihrer  Gradunter- 
schiede sich  jede  einzelne  Klasse  durch  Berücksichtigung  der 
besonderen  zugrunde  liegenden  Phänomene  definieren  läßt. 

Drittens  endlich  haben  wir  gesehen,  daß  eine 
Variation  von  Umständen,  wie  sie  bei  einer  Verschiedenheit 
der  Weise  des  Bewußtseins  anderwärts  sich  zu  zeigen  pflegt, 
bei  Gefühl  und  Willen  nicht  gefunden  wird. 

Somit  dürfen  wir  wohl  die  Einheit  unserer  dritten 
Grundklass('  als  vollkommen  erwiesen  ])etrachten,  und  es 
bleibt  uns  nur  noch  übrig,  wie  früher  ])ei  Vorstellung  und 
Urteil,  so  jetzt  bei  Gefühl  und  Willen  die  Gründe  auf- 
zudecken, welche  eine  Verkennung  des  wahren  Verhältnisses 
begünstigten. 

§  9.  Diese  Anlässe  der  Täuschung  scheinen  mir  von 
dreifacher  Art  gewesen   zu  sein:   psychische,   sprach- 


—     105     — 

liehe  und,  wenn  wir  sie  so  nennen  wollen,  historische, 
d.  h.  solche  Anlässe,  welche  durch  vorausgegangene  Ver- 
irrungen  der  Psychologie  in  anderen  Fragen  gegeben 
wurden. 

Betrachten  wir  zunächst  die  vornehmsten  psychi- 
schen Gründe. 

Wir  haben  früher  gesehen,  wie  die  Phänomene  des 
inneren  Bewußtseins  in  eigentümlicher  Weise  mit  ihrem 
Objekt  verschmolzen  sind.  Die  innere  Wahrnehimmg  ist 
in  dem  Akte,  den  sie  wahrnimmt,  mitbegriffen,  und  ebenso 
ist  das  innere  Gefühl,  welches  einen  Akt  begleitet,  selbst 
Teil  seines  Gegenstandes.  Es  lag  nahe,  diese  besondere 
Weise  der  Verbindung  mit  dem  Objekte  mit  einer  be- 
sonderen Weise  von  intentionaler  Beziehung  zu  ihm  zu 
verwechseln,  und  so  die  zum  inneren  Bewußtsem  gehörigen 
Phänomene  der  Liebe  und  des  Hasses  von  allen  übrigen, 
wie  eine  Grundklasse  von  einer  anderen  zu  sondern. 

Wenn  wir  an  die  Weise  zurückdenken,  in  welcher  Kant 
über  den  Unterschied  des  Gefühls  und  Begehrens  sich 
äußerte,  so  glaube  ich,  werden  wir  deutliche  Spuren  eines 
Zusammenhanges  seiner  Lehre  mit  dem  eben  erwähnten 
Unterschiede  erkennen ;  sagte  er  doch,  daß  das  Begehrungs- 
vermögen eine  „objektive  Beziehung"  habe,  während  das 
Gefühl  „bloß  aufs  Subjekt"  sich  beziehe  '. 

Bei  Hamilton  tritt  dasselbe  in  dem  Maße  auffälliger 
hervor,  als  er  sich  ausführlicher  über  die  Scheidung  von 
Gefühl  und  Streben  verbreitet;  und  Bestimmungen,  die  im 
übrigen  schwer  miteinander  in  Einklang  zu  bringen  sind, 
weisen  doch  übereinstimmend  darauf  hin,  daß  ihm  bei  der 
Klasse  des  Gefühls  hauptsächlich  die  zum  inneren  Bewußt- 
sein gehörigen  Gefühlsphänomene  vorschwebten.  Seine  Be- 
stimmung, daß  das  Gefühl  ausschließlich  der  Gegenwart 
angehöre,  ist  dann  gerechtfertigt;  und  seine  Charakteristik 
der  Gefühle  als  „subjektivisch  subjektiv"  wenigstens  be- 
greiflich geworden.    Auch  steht  die  Untersuchung  über  die 


1  S.  oben  S.  19  Aum.  3. 


—     106     — 

Entstehimg  der  Gefühle,  wie  man  sie  im  zweiten  Bande 
seiner  Yorlesimgen  findet,  vollkommen  mit  einer  solchen 
Auffassung  im  Einklang  ^ 

Wie  kommt  es  aber,  daß.  wenn  hier  die  besondere 
Verbindung  der  inneren  Phänomene  mit  ihrem  Objekte  zu 
einer  Unterscheidung  zweier  Grundklassen  führte,  auf  dem 
Gebiete  der  Erkenntnis  nicht  dasselbe  der  Fall  war? 
Warum  hat  man  nicht  auch  die  innere  Wahrnehmung  von 
jeder  anderen  Erkenntnis  als  eine  eigene,  grundverschiedene 
Weise  des  Bew^ußtseins  abgesondert  ?  —  Die  Antwort  hier- 
auf ist  leicht.  Wir  haben  gesehen,  wie  es  eine  Eigen, 
tümlichkeit  unserer  dritten  Grundklasse  ist,  eine  Menge 
von  Arten  in  sich  zu  schließen,  die  mehr  als  besondere 
Klassen  von  Urteilen  voneinander  verschieden  sind.  So 
war  es  denn  hier  überhaupt  leichter,  die  Übereinstimmung 
im  allgemeinen  Charakter  der  Beziehung  zum  Objekte  zu 
verkennen  als  bei  den  Phänomenen  der  Erkenntnis;  und 
derselbe  Umstand,  der  auf  diesem  Gebiete  keinerlei  Ver- 
suchung mit  sich  führte,  konnte  auf  dem  anderen  die 
Täuschung  veranlassen. 

§  10.  Zu  dem  angegebenen  kommt  aber  noch  ein 
anderer  psychischer  Grund.  Wie  wir  uns  erinnern, 
machten  Kant  und  seme  Nachfolger  für  die  fundamentale 
Verschiedenheit  des  Wollens  von  dem  Gefühle  seine  Un- 
ableitbarkeit  aus  den  Phänomenen  dieser  Klasse  geltend. 
Es  ist  außer  Frage,  daß  die  Erscheinungen  des  Willens 
wirklich  aus  anderen  psychischen  Phänomenen  nicht  ab- 
geleitet w^erden  können.  Und  ich  meine  hier  nicht  etwa 
dies,  daß  die  besondere  Färbung  der  Willensbetätigungen 
nur  durch  spezifische  Erfahrung  erkannt  werden  kann ;  denn 
das  ist  etwas,  w^as  ebenso  für  andere  spezielle  Klassen  der 
Liebe  und  des  Hasses  gilt.  Die  besondere  Färbung  der 
Hoffnung  gegenüber  dem  besitzenden  Genüsse,  die  besondere 


^  Lectures  on  Metaphysics  II,  p.  4:36  ss.     Vgl.  auch  Lotze,  Mikro- 
kosmus 1.  Aufl.  I,  S.  261  ff.  und  a.  a.  0. 


—     107     — 

Färbung  der  edlen  geistigen  Freude  gegenüber  der  niederen 
Sinnenliist  sind  ebenfalls  unableitbar.  Ein  anderer  Um- 
stand ist,  der  in  einer  ganz  vorzüglichen  Weise  gerade  das 
Wollen  als  unableitbar  erscheinen  und  gerade  bei  ihm  die 
Neigung  entstehen  läßt,  es  als  Betätigung  eines  l)esonderen 
Urvermögens  zu  fassen. 

Jedes  Wollen    oder   Streben    im    eigentlicheren   Sinne 
bezieht  sich  auf  ein  Handeln.    Es  ist  nicht  einfach  ein  Be- 
gehren,  daß  etwas  geschehe,   sondern  ein  Verlangen,   daß 
etwas  als  Folge  des  Verlangens  selbst  eintrete.    Ehe  jemand 
die  Erkenntnis   oder  wenigstens   die  Vermutung  gewonnen 
hat.  daß  gewisse  Phänomene  der  Liebe  und  des  Verlangens 
die   geliebten  Gegenstände   unmittelbar   oder  mittelbar  als 
Folge  nach  sich  ziehen ,  ist  ein  Wollen  für  ihn  unmöglich. 
Wie  soll  er  nun  aber  zu  einer  solchen  Erkenntnis  oder 
Vermutung   gelangen?   -   Aus   der  Natur  der  Phänomene 
der  Liebe,  seien  sie  Phänomene  der  Lust  oder  Unlust,  des 
Verlangens,   der  Furcht   oder   andere,   läßt   sie   sich   nicht 
schöpfen.    Es  bleibt  also  nur  übrig,  entweder  anzunehmen, 
daß  sie  ihm  angeboren  sei,  oder  daß  sie,  ähnlich  wie  auch 
andere   Erkenntnisse   von  Kraftbeziehungen,   von  ihm   der 
Erfahrung  entnommen  werde.    Das  erste  wäre  offenbar  die 
Annahme  einer  ganz  außerordentlichen  Tatsache,  die,  wenn 
irgend   etwas,   keine  Ableitung   zuließe.     Das  zweite   aber, 
das  gewiß  von  vornherem  unvergleichlich  wahrscheinlicher 
ist,  setzt  deutHch  einen  besonderen  Kreis  von  Erfahrungen 
und  die  Existenz  und  wirkliche  Betätigung  einer  besonderen 
C4attung  von  Kräften  voraus,  auf  welche  diese  Erfahrungen 
sich   beziehen.     Somit   ist   die    Kraft  gewisser   Phänomene 
der  Liebe  zur  Verwirklichung  der  Gegenstände,  auf  welche 
sie  gerichtet   sind,   eine   Vorbedingung   des   Wollens,   und 
gibt,   auch   wenn   man   nicht,   wie  Bain  es  getan  hat,   das 
Vermögen  zu  handeln  als  das  Vermögen  des  Wollens  selbst 
betrachtet,   in  gewisser  Weise   erst  die  Fähigkeit  zu  ihm. 
Da  nun  diese  Kraft  zur  Äußerung  und  Betätigung  der  Liebe 
und   des  Verlangens   der  Fähigkeit   zu  diesen  Phänomenen 
selbst  völlig  heterogen  ist,  und  darum  nicht  mehr,  ja  eher 


—     108     — 

noch  viel  weniger  aus  ihr,  als  sie  aus  dem  Vermögen  der 
Erkenntnis,  ableitbar  erscheint:  so  erscheint  natürlich  auch 
die  Fähigkeit  zum  Streben  und  Wollen  als  ein  in  ganz 
vorzüglicher  Weise  unableitbares  Vermögen,  obwohl  die 
Unmöglichkeit  der  Ableitung  nicht  darin  ihren  Grund  hat. 
daß  die  betreffenden  Phänomene  selbst  einen  von  den 
übrigen  Phänomenen  der  Liebe  fundamental  verschiedenen 
Charakter  zeigen. 

Im  Gegenteile  wird  man  bei  näherer  Erwägung  finden, 
daß  sich  hier  aufs  neue  ein  Zug  der  Verwandtschaft  der 
Willensphänomene  mit  anderen  Erscheinungen  der  Liebe 
und  des  Verlangens  offenbart.  Wenn  das  Wollen  die  Er- 
fahrung eines  Einflusses  von  Phänomenen  der  Liebe  znr 
Hervorbringung  des  geliebten  Gegenstandes  voraussetzt,  so 
setzt  es  offenbar  voraus,  daß  auch  Phänomene  der  Liebe, 
welche  kein  Wollen  genannt  werden  können,  ähnlich  wie 
das  Wollen,  wenn  auch  vielleicht  in  schwächerem  Grade, 
sich  wirksam  erweisen.  Denn  würde  eine  solche  Einwirkuns; 
sich  ausschließlich  an  das  Wollen  knüpfen,  so  würde  man 
in  einen  verhängnisvollen  Zirkel  verwickelt.  Das  Wollen 
würde  die  Erfahrung  des  Wollens  voraussetzen,  während 
natürlich  umgekehrt  auch  diese  das  Wollen  voraussetzt. 
Anders,  wenn  auch  schon  das  bloße  Verlangen  nach  ge- 
wissen Ereignissen  ihr  Eintreten  zur  Folge  hat;  es  kann 
dann  mit  der  Modifikation,  welche  die  Kenntnis  von  dieser 
Kraftbeziehung  ihm  gibt,  d.  i.  als  Wollen  sich  wiederholen. 

Mögen  diese  Andeutungen  genügen,  bis  wir  später  uns 
eingehend  mit  dem  Probleme  der  Entstehung  des  Wollens 
beschäftigen  werden. 

Wenn  wir  aus  einer  früher  betrachteten  Äußerung 
Kants  über  die  Eigentümlichkeit  der  Gefühle  den  Zu- 
sammenhang seiner  Klassifikation  mit  der  Zugehörigkeit 
gewisser  Phänomene  der  Liebe  zum  inneren  Bewußtsein 
erkannten,  so  weisen  andere,  und  nicht  wenige,  sehr  deut- 
lich auf  die  eben  betrachteten  Verhältnisse  hin.  Hat  doch 
Kant  das  Begehrungsvermögen  geradezu  als  das  „Vermögen 
durch   seine  Vorstellungen  Ursache   von   der   Wirklichkeit 


—     109     — 

der  Gegenstände  dieser  Vorstellungen  zu  sein"  definiert, 
und  an  derselben  Stelle,  an  welcher  er  von  einer  Beziehung 
von  Vorstellungen  „bloß  aufs  Subjekt"  redet,  hinsichtlich 
welcher  sie  „im  Verhältnisse  zum  Gefülde  der  Lust  be- 
trachtet werden",  spricht  er  von  einer  anderen,  „objektiven 
Beziehung,  da  sie,  zugleich  als  Ursache  der  Wirklichkeit 
dieses  Objektes  betrachtet,  zum  Begehrungsvermögen  gezählt 
werden".  Nun  fällt  aber  die  Abgrenzung  der  beiden  Klassen, 
welche  sich  ergibt,  w^enn  man  die  inneren  Phänomene  der 
Liebe  als  Gefühle  zusammenfaßt  und  allen  übrigen  ent- 
gegenstellt, keineswegs  mit  jener  zusammen,  zu  welcher 
man  gelangt,  wenn  man  das  Streben  nach  einem  Gegen- 
stande, das  die  besprochene  Kraftbeziehung  als  bekannt 
voraussetzt,  von  allen  übrigen  Phänomenen  der  Liebe 
scheidet.  Daher  finden  wir  bei  Kant  jene  befremdende 
Behauptung,  daß  jeder  Wunsch,  und  wenn  es  ein  anerkannt 
unmöglicher  wäre,  wie  z.  B.  der  Wunsch  Flügel  zu  haben, 
schon  ein  Bestreben  sei,  das  Gewünschte  zu  erlangen,  und 
die  Vorstellung  der  Kausalität  unserer  Begehrung  ent-, 
halte  ^  Sie  ist  ein  verzweifelter  Versuch  die  Grenzlinie 
der  beiden  Klassen,  so  wie  die  eme  Rücksicht  sie  verlangt, 
auch  mit  der  anderen  in  Einklang  zu  bringen.  Andere 
haben  es  vorgezogen,  die  Klasse  der  Gefühle  weiter  und 
bis  zur  Grenze  des  eigentlichen  Wollens  auszudehnen ;  und 
wieder  andere  haben  jeder  der  beiden  Klassen  mehr  oder 
minder  beträchtliche  Teile  von  dem  Zwischengebiete  zu- 
gewiesen. Daher  die  Unsicherheit  der  Grenzscheidung,  die 
wir  gefunden  haben. 

§  11.  Wir  sagten,  zu  den  psychischen  Gründen,  die  in 
der  eigentümlichen  Natur  der  Phänomene  selbst  liegen, 
seien  sprachliche  Anlässe  hinzugekommen. 

Aristoteles,  welcher  die  Einheit  unserer  dritten  Grund- 
klasse richtig  erkannt  hatte,  bezeichnete  sie,  wie  wir  hörten, 
mit  dem  Namen  Begehren  (opscu:).    Der  Ausdruck  war  wenig 


1  Kritik  der  Urteilskraft,  Eiuleitun;,^  III,  Amn. 


—     110     — 

passend  gewählt  ^ ;  denn  nichts  liegt  dem  Sprachgebrauche 
des  gewöhnlichen  Lebens  ferner,  als  die  Freude  ein  Be- 
gehren zu  nennen.  Doch  dies  hinderte  nicht,  daß  das 
Mittelalter  sich  hier  wie  in  so  mancher  anderen  Beziehung 
von  der  Autorität  des  „Philosophen"  und  seiner  Übersetzer 
leiten  ließ  und  das  Vermögen  zu  den  sämtlichen  hierher 
gehörigen  Akten  als  „facultas  appetendi"  bezeichnete^; 
und  an  die  Ausdrücke  der  Scholastiker  schloß  sich  später 
Wolff  bei  der  Unterscheidung  seines  Erkenntnis-  und  Be- 
gehrungsvermögens an.  Da  nun  der  Namen  Begehren  im 
Leben  eine  viel  zu  enge  Bezeichnung  hat ,  als  daß  er  alle 
psychischen  Phänomene  außer  denen  des  Denkens  umfassen 
könnte,  so  lag  der  Gedanke  nahe,  daß  es  Phänomene  gebe, 
die  in  den  bisher  aufgestellten  Klassen  nicht  inbegriffen 
seien,  und  daß  somit  diesen  eine  neue  Klasse  koordiniert 
werden  müsse.  Daß  wirklich  auch  dieser  Umstand  nicht 
ohne  Einfluß  blieb,  zeigt  eine  fi'üher  aus  Hamilton  an- 
gezogene Stelle^. 

§  12.  Wir  sagten  aber,  die  Täuschung  hinsichtlich  der 
Einheit  dieser  Klasse  psychischer  Phänomene  habe  auch 
noch  eine  dritte  Art  von  Ursachen  gehabt;  in  früheren 
Untersuchungen  begangene  Fehler  haben  hier 
nachteilig  eingewirkt. 

Der  Irrtum,  den  wir  hier  vorzüglich  im  Auge  hatten, 
war  der,   daß   man  Vorstellung  und  Urteil  als  Phänomene 


^  Aristoteles  wurde  auf  ihn  wahrscheiulich  durch  eine  verallge- 
meinernde Zusammenfassung  von  jbfj-oc  und  ir.(.>)'j'M'x  geführt,  die  in 
Piatons  Einteilung  neben  dem  Äoytsao;  erscheinen;  ein  Zeichen  mehr 
für  die  Wahrheit  unserer  früheren  Bemerkung,  daß  sich  die  Grund- 
einteilungen des  Aristoteles  sämtlich  aus  der  Platonischen  entwickelt 
haben.  Nach  anderen  Seiten  hin  ist  der  Zusammenhang  ohnehin  un- 
verkennbar. 

-  Nur  einzelne  Male  zeigen  sich  Spuren  von  Emanzipation,  wie 
z.  B.  bei  Thomas  von  Aquin,  Avenn  er  Summ.  Theol.  P.  I,  Q.  37,  art.  1 
und  öfter  den  Ausdruck  „amare"  als  allgemeinsten  Klassennamen  ge- 
braucht. 

3  Lectures  on  Metaph.  II,  p.  420;  vgl.  oben  Kap.  1,  §  4. 


—    111    — 

derselben  Griindklasse  betrachtete.  Man  fand  die  drei 
Ideen  (wie  man  sie  oft  mit  Auszeichnung  nennt)  des 
Wahren,  G  u  t  e  n  und  Schönen;  und  sie  schienen 
einander  koordiniert.  Man  glaubte,  sie  müßten  eine  Be- 
ziehung zu  drei  koordinierten,  grundverschiedenen  Seiten 
unseres  Seelenlebens  haben.  Die  Idee  des  Wahren  teilte 
man  dem  Erkenntnisvermögen,  die  Idee  des  Guten  dem 
Begehrungsvermögen  zu :  da  war  denn  das  dritte  Vermögen, 
das  der  Gefühle ,  eine  willkommene  Entdeckung ,  um  ihm 
die  Idee  des  Schönen  als  seinen  Anteil  zuzuweisen.  So  ist 
schon  bei  Mendelssohn,  wo  er  von  den  drei  Seelenvermögen 
spricht,  von  dem  Wahren,  Guten  und  Schönen  die  Rede. 
Und  Kant  wird  es  von  späteren  Vertretern  einer  ähnlichen 
Dreiteilung  zum  Vorwurfe  gemacht,  daß  er  das  Gefühl  der 
Lust  und  Unlust  „einseitig  auf  das  ästhetische  Geschmacks- 
urteil" beschränkte,  und  ebenso  „das  Begehrungs vermögen 
nicht  als  rein  psychologische  Kraft,  sondern  in  Beziehung 
zum  Ideal  des  Guten,  dem  es  dienen  soll,  betrachtete^'". 

Bei  einer  genaueren  Untersuchung,  ob  die  Verteilung 
des  Wahren,  Guten  und  Schönen  auf  die  drei  Klassen  des 
Erkenntnis-,  Begehrungs-  und  Gefühlsvermögens  wirklich 
zu  rechtfertigen  sei,  wird  sich  freilich  manches  Bedenken 
erheben. 

Wir  haben  früher  eine  Stelle  von  Lotze  angeführt, 
worin  dieser  Denker,  der  doch  selbst  Willen  und  Gefühl 
als  Grundvermögen  scheidet,  „die  sittlichen  Grundsätze  jeder 
Zeit"  als  „Aussprüche  eines  wertempfindenden  Gefühles" 
bezeichnet.  In  der  Tat  hat  Herbart  ^  die  ganze  Ethik,  wie 
einen  besonderen  Zweig,  der  Ästhetik  als  der  allgemeineren 
Wissenschaft  zugewiesen,  so  daß  bei  ihm  das  Ideal  des 
Guten  ganz  in  dem  des  Schönen  unterzugehen  droht,  oder 


1  J.  B.  Meyer,  Kants  Psychologie,  S.  120. 

-  Im  Grunde  genommeu  schon  Adam  Smith,  wenn  anders  Kant 
Recht  hat,  indem  er  sagt,  schön  sei,  was  uninteressiertes  Wohlgefallen 
en-ege.  Ja,  lauge  vor  ihnen  sagte  Augustinus:  „Honestum  voco  in- 
telligibilem  pulchritudinem,  quam  spiritualem  nos  proprie  dicimus." 
(83  Q.  Q.  quaest.  30  nahe  am  Auf.) 


—     112     — 

doch    als    eine    besondere    Gestaltung    dem    umfassenderen 
Gedanken  sich  unterordnet. 

Andere  haben  einen  entgegengesetzten  Versuch  ge- 
macht; sie  haben  das  Schöne  unter  den  Begriff  des  Guten 
gestellt,  wie  z.  B.  Thomas  von  Aquin,  indem  er  sagt,  gut 
sei  das,  was  gefalle,  schön  das,  dessen  Erscheinung  gefalle  \ 
Hier  wird  zunächst  die  Erscheinung  des  Schönen  als  etwas 
Gutes  betrachtet,  und  dann  natürhch  ist  auch  das,  was  die 
Erscheinung  hervorruft,  in  Rücksicht  darauf  ein  Gut.  In 
der  Tat  gehört  die  Schönheit  in  diesem  Sinne  ohne  Zweifel 
unter  die  Güter;  aber  auch  von  der  AYahrheit  muß  Ähn- 
liches gesagt  werden ;  und  somit  scheint  der  Charakter  des 
Begehrenswerten  allen  dreien  gemeinsam  zu  sein,  wie  es 
ja  auch  darum,  weil  es  sich  um  drei  Ideale  handelt,  nicht 
anders  denkbar  ist. 

Es  tut  also  not,  in  einer  etwas  anderen  Weise  die  Drei- 
heit  des  Schönen,  Wahren  und  Guten  zu  fassen,  und 
es  wird  sich  dann  zeigen,  daß  sie  wirklich  zu  einer  Dreiheit 
der  Seiten  unseres  Seelenlebens  in  Beziehung  steht;  nicht 
aber  zu  Erkenntnis,  Gefühl  und  Willen,  sondern  zu  jener 
Dreiheit,  die  wir  in  den  drei  Grundklassen  der  psychischen 
Phänomene  unterschieden  haben. 

Jede  Grundklasse  von  psychischen  Phänomenen  hat  eine 
ihr  eigentümliche  Gattung  von  Vollkommenheit;  und  diese 
gibt  sich  in  dem  inneren  Gefühle,  welches,  wie  wir  sahon, 
jeden  Akt  begleitet,  zu  erkennen.  Den  vollkommensten 
Akten  jeder  Grundklasse  wohnt  eine  darauf  bezügliche,  wie 
wir  sagen,  edle  Freude  inne.  Die  höchste  Vollkommenheit 
der  vorstellenden  Tätigkeit  liegt  in  der  Betrachtung 
des  Schönen,  sei  diese  nun  durch  die  Einwirkung  des  Ob- 
jektes unterstützt,  oder  von  einer  solchen  unabhängig.    An 


^  De  ratione  boni  est  quod  in  eo  quietetur  appetitus.  Sed  ad 
rationem  pulchri  pertinet  quod  in  ejus  aspectu  seu  cognitione  quietetur 
appetitus  ....  Pulchrum  addit  supra  bonum  quendam  ordinem  ad 
vim  cognoscitivam ;  ita  quod  bonum  dicatui-  id  quod  simpliciter  com- 
placet  appetitui;  pulchrum  autem  dicatur  id  cujus  ipsa  apprehensio 
placet.    (Summ.  Theol.  P.  II,  1,  Q.  27,  A.  1  ad  3.) 


—     113     — 

sie  knüpft  sich  der  höchste  Genuß,  welchen  wir  in  der 
vorstellenden  Tätigkeit  als  solcher  finden  können.  Die 
höchste  Vollkommenheit  der  urteilenden  Tätigkeit  liegt 
in  der  Erkenntnis  der  Wahrheit;  am  meisten  natürlich  in 
der  Erkenntnis  solcher  Wahrheiten,  die  mehr  als  andere 
eine  reiche  Fülle  des  Seins  uns  offenbaren.  Dies  ist  z.  B. 
dann  der  Fall,  wenn  wir  ein  Gesetz  erfassen,  durch  welches, 
wie  durch  das  Gesetz  der  Gravitation,  mit  einem  Schlage 
ein  weites  Gebiet  von  Erscheinungen  erklärt  wird.  Darum 
ist  das  Wissen  eine  Freude  und  ein  Gut  an  und  für  sich 
und  abgesehen  von  allem  praktischen  Nutzen,  den  es  ge- 
währt. „Alle  Menschen  verlangen  von  Natur  nach  dem 
Wissen",  sagt  der  große  Denker,  der  mehr  als  viele  andere 
die  Freuden  der  Erkenntnis  verkostet  hat.  Und  wiederum 
sagt  er:  „die  erkennende  Betrachtung  ist  das  Süßeste  und 
Beste  ^ " .  Die  höchste  Vollkommenheit  der  liebenden 
Tätigkeit  endlich  liegt  in  der  durch  Rücksicht  auf  eigene 
Lust  und  eigenen  Gewinn  ungehemmten  freien  Erhebung 
zu  höheren  Gütern,  in  der  opferwilligen  Hingabe  ihrer 
selbst  an  das,  was  um  seiner  Vollkommenheit  willen  mehr 
und  über  alles  liebenswürdig  ist,  in  der  Übung  der  Tugend 
oder  der  Liebe  des  Guten  um  seiner  selbst  willen  und 
nach  dem  Maße  seiner  Vollkommenheit.  Die  Freude,  die 
der  edlen  Handlung  und  überhaupt  der  edlen  Liebe  inne- 
wohnt, ist  es,  die  in  ähnlicher  Weise  dieser  Vollkommen- 
heit, wie  die  Freuden  der  Erkenntnis  und  der  Betrachtung 
des  Schönen  der  Vollkommenheit  der  anderen  beiden  Seiten 
des  Seelenlebens,  entspricht.  Das  Ideal  der  Ideale  be- 
steht in  der  Einheit  alles  Wahren,  Guten  und  Schönen, 
d.  i.  in  einem  Wesen,  dessen  Vorstellung  die  unend- 
liche Schönheit  und  in  ihr  wie  in  ihrem  unendlich  über- 
ragenden Urbilde  alle  denkbare  endliche  Schönheit  zeigt; 
dessen  Erkenntnis  die  unendliche  Wahrheit  und  in  ihr 
wie  in  ihrem  ersten  und  allgemeinen  Erklärungsgrunde  alle 


1  Arist.  Metapli.  A,  1;  A,  7. 
Brentano,  Klassifikation  der  psychischen  Phänomene. 


—     114     — 

endliche  "Wahrheit  offenbart;  und  dessen  Liebe  das  un- 
endliche, allumfassende  Gut  und  in  ihm  jedes  andere  liebt, 
welches  in  endlicher  Weise  an  der  Vollkommenheit  Teil 
hat.  Das,  sage  ich,  ist  das  Ideal  der  Ideale.  Und  die 
Sehgkeit  aller  Seligkeiten  bestände  in  dem  dreifachen 
Genüsse  dieser  dreifachen  Einheit,  indem  die  unendhche 
Schönheit  angeschaut,  und  aus  ihrer  Anschauung  durch  sich 
selbst  als  notwendige  und  unendliche  Wahrheit  erkannt, 
und  als  unendliche  Liebenswürdigkeit  offenbar  geworden 
mit  gänzlicher  und  notwendiger  Hingabe  als  das  unendliche 
Gut  geliebt  würde.  Dies  ist  auch  die  Verheißung  der  Selig- 
keit, welche  in  der  vollkommensten  der  Religionen,  die  in 
der  Geschichte  aufgetreten  sind,  in  dem  Christentume,  ge- 
geben wird ;  und  mit  ihm  stimmen  die  größten  Denker  des 
Heidentums  und  namentlich  der  gottbegeisterte  Piaton  in 
der  Hoffnung  auf  ein  solches  beseligendes  Glück  überein. 
Wir  sehen,  auch  wenn  man  mit  uns  das  Gefühl  als 
eine  Grundklasse  verwirft,  wenn  man  nur  zugleich  im 
Übrigen  unsere  Grundeinteilung  sich  eigen  macht,  läßt  die 
Dreiheit  der  Ideale,  des  Schönen,  Wahren  und  Guten,  sich 
aus  dem  System  der  psychischen  Vermögen  wohl  erklären. 
Ja  sie  wird  dadurch  erst  in  voUer  Weise  verständlich  ge- 
macht; und  selbst  bei  Kant  fehlt  es  nicht  an  Äußerungen, 
welche  dafür  zeugen,  daß  nur  diu-ch  die  von  uns  durch- 
geführte Beziehung  des  Schönen  zur  vorstellenden  Tätig- 
keit die  richtige  Stellung  ihm  gegeben  wird.  Unter  vielen 
will  ich  hier  nur  die  eine  oder  andere  Stelle  aus  ver- 
scliiedenen  seiner  Schriften  hervorheben.  In  der  Kritik  der 
Urteilskraft  sagt  Kant  -.  „Wessen  Gegenstandes  Form  in  der 
bloßen  Reflexion  über  dieselbe  als  der  Grund  einer  Lust 
an  der  Vorstellung  eines  solchen  Objektes  be- 
urteilt wird;  mit  dessen  Vorstellung  wird  diese 
Lust  auch  als  notwendig  verbunden  geurteilt, 
folglich  als  nicht  bloß  für  das  Subjekt,  welches  diese  Form 
auffaßt,  sondern  für  jeden  Urteilenden  überhaupt.  Der 
Gegenstand  heißt  alsdann  s  c  h  ö  n ;  u  n  d  d  a  s  V  e  r  ■ 
mögen    durch    eine    solche    Lust    (folglich    auch    all- 


-     115     — 

gemeingültig)  zu  urteilen,  der  Geschmack^".  luden 
metaphysischen  Anfangsgründen  der  Rechtslehre  (1797) 
wiederholt  er  nochmals,  daß  es  eine  Lust  gebe,  welche  mit 
gar  keinem  Begehren  des  Gegenstandes,  sondern  mit  der 
bloßen  Vorstellung,  die  man  sich  von  einem  Gegen- 
stande macht,  schon  verknüpft  sei,  und  bemerkt:  „Man 
würde  die  Lust,  die  mit  dem  Begehren  des  Gegenstandes 
nicht  notwendig  verbunden  ist,  die  also  im  Grunde  nicht 
eine  Lust  an  der  Existenz  des  Objektes  der  Vorstellung 
ist,  sondern  bloß  an  der  Vorstellung  allein  haftet, 
bloß  kontemplative  Lust  oder  untätiges  Wohlgefallen  nennen 
können.  Das  Gefühl  der  letzteren  Art  von  Lust  nennen 
wir  Geschmack-." 

So  bewährt  sich  unsere  Behauptung,  daß  die  Ver- 
kennung der  fundamentalen  Verschiedenheit  von  Vorstellung 
und  Urteil  die  Annahme  eines  anderen  fmidamentalen  Unter- 
schiedes, der  nicht  wirklich  vorhanden  ist,  vorbereitete; 
und  daß  so  der  erste  in  der  Einteilung  der  psychischen 
Phänomene  begangene  Fehler  zur  Entstehung  des  zweiten 
wesentlich  beitrug.  Es  scheint,  als  ob  dieser  Umstand  nicht 
am  wenigsten  ein  störendes  Moment  geworden  sei. 

Außerdem  wurde  der  neue  Irrtum  natürlich  auch  durch 
den  Mangel  an  Klarheit  über  das  eigentliche  Prinzip  der 
Einteilung  begünstigt.  Wir  haben  davon  schon  früher  ge- 
sprochen mid  können  uns  darum  jetzt  jedes  weitere  Wort 
ersparen. 

Was  immer  sonst  noch  dazu  beigetragen  haben  mag, 
daß  man  Gefühl  und  Willen  irrtümlich  für  zwei  verschiedene 
Grundklassen   psychischer  Erscheinungen   hielt:    die  haupt- 


1  Krit.  d.  Urtpilskr.  Einl.  VI. 

2  Metaph.  Anfangsgr.  der  Eeehtslehre  Kap.  I.  —  Auch  Thomas 
von  Aquin,  der,  wie  überhiuipt  die  Pcripatetisehe  Schule,  deu  Fehler 
der  Vereinignug  von  Vorstellung  und  Urteil  in  derselben  Grundklasse 
mit  Kant  gemein  liatte,  gibt  in  der  oben  (S.  112  Anm.  1)  mitgeteilten 
Stelle  der  Beziehung  des  Schönen  zur  Vorstellung  Zeugnis.  Au  einem 
anderen  Orte  sagt  er:  „Bonum  proprie  respieit  appetitum  .  .  .  Pulchrum 
autem  respieit  vira  cognoscitivam:  pulchra  enim  dicuntur,  quae  visa 
placent."     (Summ.  Theol.  P.  I,  Q.  5,  A.  4  ad  1.) 

8* 


—     116     — 

sächlichsten  Anlässe  der  Täuschung  haben  wir,  glaube  ich. 
in  der  vorausgegangenen  Untei*suchung  zusammengestellt. 
Sie  sind  so  mannigfach  und  bedeutend ,  daß  wir  uns  nicht 
darü])er  verwundern  können,  wenn  sich  auch  mancher  her- 
vorragende Denker  dadurch  verführen  ließ;  und  so  hoffe 
ich,  wird  durch  ihre  Darlegung  das  letzte  Bedenken  gegen 
die  von  uns  verfochtene  Zusammengehörigkeit  von  Gefühl 
und  Willen  verschwunden  sein.  Dami  aber  scheint  unsere 
Grundeinteilung  überhaupt  gesichert.  Wir  dürfen  es  daher 
als  feststehend  betrachten,  daß  die  psychischen  Phänomene 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  einen  dreifachen  funda- 
mentalen Unterschied  hinsichtlich  ihrer  Beziehung  zum  In- 
halte, oder,  wie  wir  uns  ausdrücken  können,  hinsichtlich 
der  Weise  des  Bewußtseins  zeigen;  und  daß  sie  hienach 
in  drei  Grundklassen  zerfallen:  in  die  Klasse  der  Vor- 
stellungen, in  die  der  Urteile  und  in  die  der  Phäno- 
mene der  Liebe  und  des  Hasses. 


—     117     — 


Fünftes  Kapitel. 

Vergleich  der  drei  Griindklasseii  mit  dem  drei- 
fachen   Phänomene    des    inneren  BeAvnßtseins. 
Bestimmnng  ihrer  natürlichen  Ordnung. 

ij  1 .  Die  drei  von  uns  festgestellten  Grundklassen  der 
y orstellimg ,  des  Urteils  und  der  Liebe  erinnern  uns  an 
eine  früher  gefundene  Dreilieit  von  Phänomenen.  In  dem 
inneren  Bewußtsein,  das  jede  psychische  Erscheinung  be- 
gleitet, sahen  wir  eine  darauf  gerichtete  Vorstellung,  eine 
Erkenntnis  und  ein  Gefühl  beschlossen,  mid  offenbar  ent- 
spricht je  eines  dieser  Momente  einer  der  drei  Klassen  der 
Seelentätigkeiten,  die  sich  uns  jetzt  ergeben  haben. 

Hieraus  ersehen  wir,  daß  Phänomene  der  drei  Grund- 
klassen aufs  innigste  sich  miteinander  verflechten.  Denn 
eine  innigere  Verbindung  als  die  zwischen  den  drei 
Momenten  des  inneren  Bewußtseins  ist  nicht  mehr  denkbar. 

Wir  erkennen  ferner,  daß  die  drei  Klassen  von  äußerster 
Allgemeinheit  sind;  es  gibt  keinen  psychischen  Akt,  bei 
welchem  nicht  alle  vertreten  wären.  Jeder  Klasse  kommt 
eine  gewisse  Allgegenwart   in  dem    ganzen  Seelenleben  zu. 

Daraus  folgt  aber,  wie  auch  früher  bemerkt,  nicht,  daß 
sie  auseinander  ableitbar  sind.  Aus  jedem  Gesamtzustande 
des  psychischen  Lebens  läßt  sich  erkennen,  daß  ein  Ver- 
mögen zu  jeder  der  drei  Gattungen  von  Tätigkeiten  vor- 
handen ist.  Aber  ohne  Widerspruch  ließe  es  sich  denken, 
daß  ein  psychisches  Leben  bestände ,  dem  die  eine  oder 
auch  zwei  von  den  Gattungen,  sowie  die  Fähigkeit  zu  ihnen 
mangelte.  Ebenso  bleibt  ein  Unterschied  zwischen  psychi- 
schen   Akten,    die    in    einem    relativen   Sinne    bloße   Vor- 


—     118    — 

Stellungsakte  zu  nennen  sind,  und  solchen,  bei  welchen  dies 
nicht  der  Fall  ist,  insofern  das  primäre  Objekt  eines  Aktes 
bald  bloß  vorgestellt,  bald  auch  anerkannt  oder  geleugnet, 
bald  zugleich  in  irgendwelcher  Weise  geliebt  oder  gehaßt 
wird.  Bei  den  letzteren  werden  Saiten,  die  in  dem  ersten 
Falle  nur  mitgeklungen  hatten,  sozusagen  direkt  an- 
geschlagen. 

Die  Tatsache  gibt  also  nur  der  universellen  Bedeutung 
jeder  der  drei  Klassen  Zeugnis;  und  dieses  Zeugnis  ist,  wo 
es  sich  um  die  Frage  nach  dem  fundamentalen  Charakter 
der  Klasse  handelt,  gewiß  willkommen.  Die  übliche  Drei- 
teilung in  Erkenntnis,  Gefühl  und  Willen  kann  es  nicht  in 
gleicher  Weise  für  sich  anführen.  Hamilton,  wahrschemlich 
weil  er  die  Bedeutsamkeit  des  Umstandes  begriff,  hat  freilich 
auch  für  die  Willenstätigkeit  den  Anspruch  vollkommener 
Allgemeinheit  erhoben.  ..In  unseren  philosophischenßüchern", 
sagt  er,  .,da  mögen  allerdings  Erkenntnis,  Gefühl  und  Be- 
strebung, jedes  von  dem  anderen  getrennt  in  Büchern  und 
Kapiteln  stehen:  in  der  Natur  sind  sie  aber  miteinander 
verwoben.  In  jeder,  auch  der  einfachsten  Modifikation  des 
Geistes  finden  sich  Erkenntnis,  Gefühl  und  Willen  zu- 
sammen, um  den  psychischen  Zustand  zu  bilden"^,  usf. 
Aber  demjenigen,  welcher  den  Begriff  des  Wollens  analy- 
siert, kann  es  nicht  zweifelhaft  bleiben,  daß  Hamilton  für 
seine  dritte  Grundklasse  Unmögliches  behauptet.  Wird  doch 
ein  Wollen,  wie  wir  auch  früher  sagten,  erst  durch  den 
Gedanken  an  ein  eigenes  Wirken  möglich;  ein  Umstand 
der,  wie  er  überhaupt  den  weniger  generellen  Charakter 
dieses  Klassenbegriffes  anzeigt ,  in.sbesondere  beweist .  vrie 
weit  er  davon  entfernt  ist,  auf  eine  primitive  Betätigung 
Anwendung  fmden  zu  können. 

So  sehen  wir  auch  nach  dieser  Seite  hin  unsere  Klassi- 
fikation gegenüber  der  gegenwärtig  üblichen  im  Vorteile, 
obwohl  ich  diesem  Umstände  nicht  eine  gleich  entscheidende 

1  Lect.  on  Metaph,  I,  p.  188.  Später  (ebenda  II,  p.  433)  wiederholt 
er  nochmals  denselben  Gedanken ,  aber  nicht  mehr  mit  der  gleichen 
Zuversicht. 


—     119     - 

Bedeutung   wie   manchen  Ergebnissen   früherer  Erörterung 
beilegen  möchte. 

§  2.  Es  bleibt  uns  jetzt  nur  noch  eine  Frage  zu  be- 
antworten, und  auch  für  sie  ist  die  Entscheidung  in  den 
vorangegangenen  Untersuchungen  vorbereitet,  ja  gewisser- 
maßen schon  antizipiert.  Es  ist  die  Frage  nach  der  natür- 
lichen Reihenfolge  der  drei  Klassen. 

Wie  ülierall,  so  muß  auch  in  unserem  Falle  die  relative 
Unabhängigkeit,  Einfachheit  und  Allgemeinheit  der  Klassen 
für  ihre  Ordnung  bestimmend  werden. 

Nach  diesem  Prinzipe  ist  es  klar,  daß  der  Vorstellung 
der   erste   Platz   gebührt:   denn   sie   ist   das   einfachste  der 
drei  Phänomene,  indem  Urteil  und  Liebe  immer  eine  Vor- 
stellung in  sich  schließen ;  sie  ist  ebenso  das  unabhängigste 
unter   ihnen,    da   sie   die   Grundlage   der   übrigen   ist;    und 
ebendarum  ist  dieses  Phänomen  auch  das  allgememste.^  Ich 
sage   dies   nicht,   als  wollte   ich  leugnen,   daß   auch  Urteil 
und   Liebe   in  jedem   psychischen  Zustande   irgendwie  ver- 
treten  seien;    dies   haben   wir   vielmehr   soeben  noch    aus- 
drücklich hervorgehoben.    Aber  wir  haben  dennoch  zugleich 
einen  gewissen  Unterschied  der  Allgemeinheit  bemerkt,  in- 
sofern ^das  primäre  Objekt  notwendig  und  allgemein  nur  in 
der  dem  Vorstellen   eigenen  Weise   der  intentionalen   Em- 
wohnung  im  Bewußtsein  gegenwärtig  ist.   Auch  könnte  man 
sich  ohne  Widerspruch  ein  Wesen  denken,  welches,    ohne 
Vermögen  für  Urteil  und  Liebe,  allein  mit  dem  Vermögen 
der  Vorstellung   ausgestattet   wäre,   nicht  aber  umgekehrt; 
und  die   Gesetze   des  Vorstellungslaufes   bei   einer   solchen 
psvchischen  Fiktion  könnten  einige  von  den  Gesetzen  sein, 
die  auch  jetzt  in  unserem  psychischen  Leben  ihren  Einfluß 

offenbaren.  .,     t  •. 

Aus  ähnlichen  Gründen  gebührt  dem  Urteile  die  zweite 
Stelle.  Denn  das  Urteil  ist  nächst  der  VorsteUung  die  ein- 
fachste Klasse.  Es  hat  nur  die  Vorstellung  zu  seiner  Grund- 
lage nicht  aber  die  Phänomene  der  Liebe  mid  des  Hasses. 
Der   Gedanke   eines  Wesens,    das  mit  der  Tätigkeit  zum 


—     12U     — 


Vorstellen    die    zum    Urteilen    verbände,    aber    ohne    jede 
Regung  der  Liebe  oder  des  Hasses  bliebe,    enthält    keinen 
Widerspruch;   und    wir   sind   imstande    zu   jenen   Gesetzen 
des  Vorstellungslaufes ,   von   welchen   wir   sprachen,   einen 
gewissen  Kreis  von  besonderen  Gesetzen  des  Urteiles  liinzu- 
zufügen,  worin  noch  von  allen  Phänomenen  der  Liebe  gänz- 
lich Umgang   genommen  wird.     Anderes   gilt   dagegen   von 
diesen  Erscheinungen,    wenn   man   sie   in  ihrem  Verhältnis 
zu  den  Urteilen  betrachtet.    Es  ist  gewiß  nicht  nötig,  daß 
derjenige,   welcher   etwas   liebt,    glaubt,    daß   es   existiere, 
oder   auch   nur  existieren   könne;    aber    dennoch   ist  jedes 
Lieben  ein  Lieben,    daß  etwas  sei;   und    wenn   eine   Liebe 
die  andere  erzeugt,  wenn  eines  um  des  anderen  willen  ge- 
liebt wird,  so  gescliieht  dies  nie,  ohne  daß  ein  Glauben  an 
gewisse  Beziehmigen  des  einen  zum  anderen  dabei  beteiligt 
ist.    Je  nach  dem  Urteile  über  das  Sein  oder  Nichtsein,  die 
Wahrscheinlichkeit  oder  Unwahrscheinlichkeit  dessen,   was 
man  hebt,  ist  der  Akt  der  Liebe  bald  Freude,  bald  Trauer, 
bald  Hoffnung,    bald  Furcht,   und   nimmt  so  noch  mannig- 
fache  andere   Formen  an.     So   scheint   es  in   der   Tat   un- 
denkbar, daß  ein  Wesen  mit  dem  Vermögen  der  Liebe  und 
des  Hasses  begabt  wäre,  ohne  an  dem  des  Urteiles  Teil  zu 
haben.    Und  ebenso  ist  es  unmögHch,  irgendwelches  Gesetz 
der  Aufeinanderfolge   für   diese   Gattung   von  Phänomenen 
aufzustellen,  welches  von  den  Phänomenen  des  Urteiles  gänz- 
lich absieht.     Li   bezug  auf  Unabhängigkeit .    in   bezug   auf 
Einfachheit,  und  eben  darum  auch  in  bezug  auf  Allgemein- 
heit steht  also  diese  Klasse  der  des  Urteiles  nach;  an  All- 
gemeinheit natürlich  nur  in  dem  Sinne,   in  welchem  allein 
auch  bei  Vorstellung   und  Urteil   von    einem   Unterschiede 
der  Allgemeinheit  gesprochen  werden  konnte. 

Man  erkennt  aus  dem  Gesagten,  wie  vollständig  die- 
jenigen den  wahren  Zusammenhang  der  Tatsachen  ver- 
kennen, welche,  vde  es  gerade  in  unseren  Tagen  von 
mehreren  Seiten  geschieht,  den  Willen  unter  allen  psy- 
chischen Phänomenen  als  das  erste  betrachten.  Nicht  bloß 
das  Vorstellen  ist  offenbar  eine  Vorbedingung  des  WoUens ; 


—     121     — 

die  eben  geführten  Erörterungen  zeigen,  daß  auch  das  Ur- 
teilen dem  Lieben  und  Hassen  überhaupt,  und  um  so  mehr 
dem  relativ  späten  Phänomene  des  Wollens  vorgeht.  Jene 
Philosophen  verkehren  also  die  naturgemäße  Ordnung 
geradezu  in  ihr  Gegenteil. 

Wie  die  gefundene  natürliche  Klassifikation,  so  werden 
wir  auch  die  natürliche  Ordnung  ihrer  Glieder  den  folgen- 
den spezielleren  Untersuchungen  zugrunde  legen.  Wir  werden 
zuerst  von  den  Gesetzen  der  Vorstellungen,  dann  von  denen 
der  Urteile,  endlich  von  denen  der  Liebe  und  des  Hasses 
sprechen.  Allerdings  wird  es  unmöglich  sein,  bei  der  Be- 
trachtung der  früheren  Klasse  einen  Blick  auf  die  spätere 
völlig  auszuschließen,  da  ihre  Unabhängigkeit  ja  nur  in 
einem  beschränkten  und  relativen  Sinne  von  uns  behauptet 
wurde  und  behauptet  werden  konnte.  Der  Wille  greift 
herrschend  nicht  bloß  in  die  Außenwelt,  sondern  auch  in 
das  innere  Gebiet  der  Vorstellung  ein  und  auch  die  Gefühle 
beeinflussen  ihren  Lauf.  Ebenso  ist  es  bekannt,  wie  häufig 
die  Menschen  etwas  darum  für  wahr  halten,  weil  es  ihrer 
Eitelkeit  schmeichelt  oder  sonst  ihren  Wünschen  entspricht. 
Wie  die  natürlichste  Einteilung,  so  ist  auch  die  natürlichste 
Ordnung  ihrer  Glieder  immer  noch  etwas  Künstliches.  Da 
Comte  in  seiner  berühmten  Hierarchie  der  Wissenschaften 
alle  theoretischen  Disziplinen  in  eine  Reihe  ordnete,  stellte 
ihr  Herbert  Spencer  seine  Lehre  von  dem  „Consensus" 
aller  Wissenschaften  entgegen,  welcher  es  verbiete,  die 
eine  der  anderen  gegenüber  als  die  frühere  zu  bezeichnen. 
Vielleicht  ging  diese  Behauptung  zu  weit ;  aber  Comte  selbst 
hatte  zugegeben,  daß  seme  Stufenleiter  keine  absolute  sei, 
und  daß  auch  die  frühere  Wissenschaft  vielfach  durch  die 
spätere  gestützt  und  gehoben  werde. 


122    — 


Anhang. 

Nacliträgliclie   Bemerkungen    zur    Erläuterung- 

und  Verteidigung,  Avie  zur  Berichtigung  und 

Weiterftilirung  der  Lehre. 


I.  Die  psychische  Beziehimg  im  Unterschied  tou  der 
Relation  im  eigentlichen  Sinne. 

Das  Charakteristische  für  jede  psychische  Tätigkeit 
besteht,  wie  ich  gezeigt  zu  haben  glaube,  in  der  Beziehung 
zu  etwas  als  Objekt.  Hienach  scheint  jede  psychische 
Tätigkeit  etwas  Relatives.  Und  in  der  Tat  hat  Aristoteles, 
wo  er  die  verschiedenen  Hauptklassen  seines  r.poc  ii  aul- 
zählt, auch  der  psychischen  Beziehung  Erwähnung  getan. 
Doch  versäumt  er  nicht  auf  etwas  aufmerksam  zu  machen, 
was  diese  Klasse  von  anderen  unterscheide.  Wenn  bei 
anderen  Relationen  sowohl  Fundament  als  Terminus  ^eal 
sind,  sei  es  hier  nm-  das  Fundament. 

Verdeutlichen  wir  uns  ein  wenig  seine  Meinung !  Wenn 
ich  ein  Relativ  aus  der  weiten  Klasse  von  Vergleichs- 
verhältnissen nehme,  z.  B.  ein  Größeres  oder  Kleineres,  S(^ 
muß,  wenn  das  Größere  ist,  auch  das  Kleinere  sein.  Ist 
ein  Haus  größer  als  ein  anderes  Haus,  so  muß  auch  das 
andere  Haus  sein  und  eine  Größe  haben.  Ähnliches  wie 
von  Verhältnissen  der  Gleichheit  und  Verschiedenheit  gilt 
auch  von  jedem  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung. 
Damit  ein  solches  bestehe,  muß  sowohl  das,  was  verursacht, 
als  das,  was  verursacht  wird,  existieren.  Das  Wirkende 
wirkt  nur  so  lange,   als  das  Gewirkte  gewirkt  wird.     Kein    ,, 


—    123    — 


Wirken  ohne  zeitlichen  Kontakt.  Und  was  sich  zeitlich 
herührt,  hat  die  zeitliche,  wie  das,  was  sich  räumlich  be- 
rührt, die  räumliche  Grenze  gemein.  Dauert  die  Einwirkung 
fort,  so  besteht  für  Wirkendes  und  Gewirktwerdendes 
ebenso  lange  eine  zeitliche  Koinzidenz. 

Ganz   anders   ist   es   dagegen  bei   der  psychischen  Be- 
ziehung.    Denkt  einer  etwas,    so  muß  zwar  das  Denkende, 
keineswegs  aber  das  Objekt  seines  Denkens  existieren;  ja, 
wenn   er  etwas  leugnet,   ist   dies   in   allen  Fällen,   wo  die 
Leugnung  richtig  ist,  geradezu  ausgeschlossen.    So  ist  denn 
das   Denkende    das   einzige   Ding,    welches   die   psychische 
Beziehung  verlangt.  Der  Terminus  der  sogenamiten  Relation 
muß  gar  nicht  in  Wirklichkeit  gegeben  sein.    Man  könnte 
darum  zweifeln,   ob  hier  wirklich  etwas  Relatives  vorliege, 
und  nicht  vielmehr  etwas  in  gewissem  Betracht  einem  Rela- 
tiven  Ähnliches,    was    man    darum    als    etwas    „Relativ- 
liches"  bezeichnen  könnte.    Die  Ähnlichkeit  besteht  darm, 
daß,  wie  derjenige,   der  ein  Relativ  im  eigentlichen  Sinne 
denkt,   auch  der,  welcher  eine  psychische  Tätigkeit  denkt, 
in   gewisser  Weise   zugleich  zwei  Objekte  denkt,   das  eine 
sozusagen  in  recto,  das  andere  in  obliquo.    Denke  ich  emen 
Blumenliebenden,   so   ist   der   Blumenliebende  das  Objekt, 
das  ich  in  recto  denke,  die  Blumen  aber  sind  das,  was  ich 
in   obhquo  denke.     Das  aber  ist  ähnlich  dem  Fall,   wo  ich 
einen   denke,   der  größer  ist  als  Cajus.     Der  Größere  wird 
in  recto,  Cajus  in  obliquo  gedacht. 

Es  ist  mir  nicht  unbekannt,  daß  heutzutage  manche  im 
Gegensatz  zu  Aristoteles  leugnen,  daß  auch  dazu,  daß  etwas 
größer  oder  kleiner  sei  als  ein  anderes,  die  Existenz  des 
anderen  gefordert  werde.  So  sei  z.  B.  eine  Menge  von 
drei  kleiner  als  eine  Trillion,  möge  es  nun  eine  Trillion 
geben  oder  nicht.  So  erschiene  denn  jener  Unterschied, 
von  dem  ich  sprach,  aufgehoben.  Ja,  wii-  sähen  ihn  geradezu 
ins  Gegenteil  verkehrt,  wenn  wir  auch  noch  die  weitere 
Behauptung,  in  der  sich  manche  gefallen,  gelten  heßen, 
daß  eine  Menge  von  drei  auch  noch  dann  kleiner  sei  als 
eine  Trillion,   wenn   wie   die  Trillion   auch   die  Drei   nicht 


-     124    — 

existierten.  Denn  dazu,  daß  etwas  in  psychischer  Be- 
ziehung stehe,  gehört  wesenthch,  wenn  nicht  die  Existenz 
des  Objektes,  doch  die  eines  psychisch  sich  darauf  Be- 
ziehenden. Doch  wie  sollte  eine  Menge  von  drei  noch 
kleiner  als  eine  Trilhon  sein,  wenn  sie  gar  nicht  mehr  eine 
Menge  von  drei  ist  ?  Und  sie  ist  ja  nicht  länger  eine  Menge 
von  drei  als  sie  ist.  Wie  ein  Würfel,  wenn  man  ilm  zur 
Kugel  umgeformt  hat,  indem  er  dann  aufgehört  hat  zu  sein, 
auch  aufgehört  hat  sechs  quadratische  Flächen  zu  haben 
und  ein  Würfel  zu  sein.  Wir  sehen  also,  daß  hier  eine 
Täuschung  durch  Äquivokation  vorliegt.  Wer  sagt,  drei 
sei  kleiner  als  Trillion,  will  nicht  positiv  die  Existenz  einer 
Relation  behaupten,  vielmehr  sagt  er  nur,  daß,  w^enn  eine 
Menge  von  drei  und  eine  Trillion  bestehen,  jene  Relation 
zwaschen  ihnen  bestehen  nmß ;  mit  anderen  Worten,  daß  in 
keinem  Fall  drei  und  eine  Trilhon  ohne  jene  Relation  be- 
stehen können. 

Ähnlich  darf  man  sich  auch  nicht  auf  Fälle  berufen, 
w^o  wir  sagen,  ein  Enkel  sei  größer,  als  sein  Großvater  ge- 
wesen sei,  wo  dann  der  Großvater  doch  nicht  ebenso  wde 
der  Enkel  existiert.  Auch  hier  besagt  die  Behauptung 
nicht  soviel  wie,  der  Enkel  sei  größer  als  der  Großvater. 
Denn  wäre  dies,  so  würde  für  einen  Fall,  wo  ein  älterer 
Mensch  von  einem  jüngeren  überw-achsen  wnrd,  in  dem  Augen- 
blick, wo  dieser  ihn  an  Größe  erreicht,  nicht  bloß  gesagt 
werden  können,  daß  er  jetzt  ihm  gleich  groß,  sondern  auch 
größer  und  kleiner  als  er  sei.  Das  aber  ist  absurd,  richtig 
vielmehr  nur,  daß  er,  wie  w^r  uns  ausdrücken,  größer  ist, 
als  jener  war  und  kleiner  ist,  als  er  sein  wird,  was  nicht 
mehr  bedeutet,  als  daß,  wenn  der  Jüngere  noch  die  Größe 
hätte,  die  er  frülier  gehabt  hat  oder  schon  die  Größe  hätte, 
die  er  erreichen  wird,  der  Ältere  nicht  ihm  an  Größe  gleich, 
sondern  größer  bzw.  kleiner  als  er  sein  w^ürde. 

Und  ähnlich  ist  es  auch,  wenn  ich  sage:  ,,Titus  ist 
größer,  als  Cajus  glaubt. '=  Ein  eigentliches  Größen  Verhältnis 
besteht  hier  nicht,  wenn  auch  eine  gewisse  andere  Art  von 


—     125     — 

Vergleichsbeziehiing  zwischen  dem ,  was  groß  ist  und  was 
ihm  urteilend  eine  Größe  zuschreibt,  bei  welcher,  wie  man 
leicht  erkennt,  der  eigentümliche  Charakter  der  psychischen 
Beziehung  mit  hereinspielt.  Kant  sagt  einmal,  daß  hundert 
wirkliche  Taler  um  keinen  Taler  mehr  seien,  als  hundert 
gedachte  Taler.  Die  Wahrheit  aber  ist,  daß  hundert  ge- 
dachte Taler  nicht  bloß  um  einen,  sondern  um  volle  hundert 
Taler  weniger  sind  als  hundert  Taler  oder  vielmehr,  daß 
sie.  weil  sie  gar  keine  Geldsumme  sind,  ja  gar  nicht  sind, 
auch  in  gar  keinem  Größenverhältnis,  wie  es  zwischen 
Geldsummen  besteht,  weder  in  dem  von  gleich  zu  gleich, 
noch  von  größer  imd  kleiner  oder  kleiner  und  größer  zu 
den  wirklichen  hundert  Talern  stehen  können. 

Ich  will  diese  Erörterung  über  die  psychische  Be- 
ziehung nicht  schließen,  ohne  mit  einem  Worte  eine 
Meinung  berücksichtigt  zu  haben,  welche  zwischen  „sein" 
imd  ., existieren"  unterscheidet.  Dabei  soll  das  eine  wie 
andere  in  ganz  eigentlichem  Sinn  genommen  werden.  *Es 
könnte  nämlich  daraufhin  einem  einfallen  zu  sagen,  wenn 
einer  sich  psychisch  auf  etwas  als  Objekt  beziehe,  so  sei 
dieses  immer  ebenso  eigentlich  wie  er  selbst,  wenn  es  auch 
nicht  immer  ebenso  wie  er  selbst  existiere. 

Vielleicht  ist  von  den  Vertretern  dieser  Meinung  bisher 
keiner  ganz  so  weit  gegangen.  Doch  von  dem  Roten, 
Blauen,  das  wir  sehen,  von  den  Tönen,  die  wir  hören  und 
anderen  Empfindungsobjekten,  an  deren  Existenz  die 
Wissenschaft  nicht  glaubt,  lehren  allerdings  viele  von 
ihnen,  daß  sie  zwar  nicht  existierten,  aber  doch  seien.  Und 
wenn  wir  allgemeine  Begriffe  denken,  so  behaupten  sie, 
daß  die  Universalien,  welche  unsere  Objekte  sind,  als  Uni- 
versalien seien,  obwohl  nicht  existierten. 

Ich  bekenne,  daß  ich  unfähig  bin,  dieser  Unterscheidung 
zwischen  Sein  und  Existenz  überhaupt  irgendwelchen  Sinn 
abzugewinnen.  Was  die  Universalien  anlangt,  so  ist  die 
Aimahme,  sie  seien,  jedenfalls  ebenso  absurd  wie  die,  daß 
sie  existierten,  denn  sie  führt  zu  Widersprüchen.    Und  der 


—     126    — 

Satz  des  Widerspruches  verwirft  nicht  bloß,  daß  dassellje 
zugleich  existiere  und  nicht  existiere ,  sondern  jedenfalls 
ebenso,  daß  dasselbe  zugleich  sei  und  nicht  sei.  Was  wäre 
unter  einem  für  sich  bestehenden  Dreieck  im  allgemeinen 
zu  denken?  —  Offenbar  etwas,  dem  alles  das  zukäme,  was 
von  allen  einzelnen  Dreiecken  gemeinsam  gilt,  aber  nichts 
von  dem,  was  von  dem  einen  gilt  und  von  dem  anderen 
nicht  gilt.  Darum  wäre  von  dem  für  sich  bestehenden 
Dreieck  im  allgemeinen  zu  leugnen,  daß  es  rechtwinklig 
sei  und  ebenso,  daß  es  spitzwinklig  sei  und  ebenso,  daß  es 
stumpfwinklig  sei,  woraus  sich  ergeben  müßte,  daß  es 
weder  rechtwinklig,  noch  spitzwinklig,  noch  stumpfwinklig 
sei.  Aber  gerade  dies  widerspricht  der  Natur  des  Dreiecks 
im  allgemeinen,  da  es,  allgemein  gesprochen,  kein  einzelnes 
Dreieck  geben  kann,  das  weder  rechtwinklig,  noch  spitz- 
winklig, noch  stumpfwinklig  ist.  So  kommt  es  denn  auch 
jedem  einzelnen  Dreieck  zu ,  daß  es  spezifizierende  und 
individualisierende  Differenzen  besitzt ,  wenn  auch  diese 
Differenzen  von  Dreieck  zu  Dreieck  wechseln.  Und  somit 
müßte  es  auch  dem  für  sich  bestehenden  Dreieck  im  all- 
gemeinen eigen  sein,  daß  es  spezifizierende  und  individuali- 
sierende Differenzen  besäße.  Das  aber  zugeben  und  noch  seine 
Universalität  und  Freiheit  von  allen  individuellen  Differenzen 
behaupten,  wäre  ein  Widerspruch,  wie  er  fiagranter  nicht 
gedacht  werden  kann.  —  Doch  der  Nachweis,  daß  es  un- 
tunlich ist.  jene  Unterscheidung  zwischen  Sein  und  Existenz. 
der  ich  keinen  vernünftigen  Sinn  abgewinnen  kann,  für  die 
psychische  Beziehung  allgemein  zu  verwerten,  ergab  sich 
ja  schon  genugsam  aus  dem  ol)en  gegebenen  Hinweis  auf 
die  Fälle,  wo  wir  ein  Objekt,  das  wir  vorstellen,  zugleich 
zum  Gegenstand  einer  richtigen  Leugnung  machen  ^  — 


1  Ich  habe  mich  in  dem  Vorstehenden  hinsichtlich  des  Temiiuns 
„Relation"  an  den  Sprachgebrauch  des  Aristoteles  gehalten,  erkenne 
aber  gerne  an,  daß  dies  keineswegs  geboten  ist.  Will  einer  darum. 
weil  nicht  bloß  das  was  ist,  sondern  auch  das  was  war  und  das  was 
sein  wird,   im  Gegensatz  zu  dem.   was  niemals   ist,   in   gewisser  Weise 


—     127     — 

II.   Tou  der  psychischen  Beziehung  auf  etwas  als 
sekundäres  Objekt. 

Wenn  wir  sagten,  daß  die  Beziehung  zu  etwas  als 
Objekt,  das  für  die  psychische  Tätigkeit  am  meisten 
Charakteristische  sei,  so  darf  dies  nicht  so  gedeutet  werden, 
als  sei  unter  „psychischer  Tätigkeit"  und  „Beziehung  zu 
etwas  als  Objekt"  geradezu  dasselbe  zu  verstehen.  Das 
Gegenteil  zeigt  sich  mit  Khirheit  schon  darin,  daß,  wie  wir 
sagten,  jede  psychische  Tätigkeit  sich  auf  sich  selbst  als 
Objekt  bezieht,  aber  nicht  primär,  sondern  sekundär  oder 
wie  Aristoteles,  von  dem  die  Tatsache  bereits  bemerkt 
worden  war,  sich  ausdrückt  „nebenbei"  (iv  -rapspYto).  Wu* 
haben  also  bei  einheitlicher  psychischer  Tätigkeit  immer 
eine   Mehrheit    von    Beziehungen    und    eine    Mehrheit   von 

Objekten. 

Als  sekundäres  Objekt  der  psychischen  Tätigkeit  hat 
man  sich  aber,  wie  ich  schon  in  meiner  „Psychologie  vom 
empirischen  Standpunkt  betonte,  nicht  eine  einzelne  dieser 
Beziehungen,  wie  etwa  die  zum  primären  Objekt  zu  denken, 
was  leicht  ersichtlich  zu  einer  unendlichen  Vervielfältigung 
führen  würde  (müßte  doch  eine  dritte  Beziehung  vorhanden 
sein,  welche  die  sekundäre,  eine  vierte,  welche  die  so  hinzu- 
kommende tertiäre  Beziehung  usw.  usw.  zum  Objekt  hätte), 
sondern  die  psychische  Tätigkeit,  genauer  gesprochen  das 
psychisch  Tätige,  in  welchem  mit  der  primären  Beziehung 
auch  die  sekundäre  selber  beschlossen  ist.  Obwohl  nun 
aber  jene  unendliche  Vervielfältigung  der  psychischen  Be- 
ziehungen £v  -7.p£pYto  nicht  statt  hat,  so  folgt  daraus  doch 
nicht,  daß  sie  als  eine  einzige  zu  denken  sei.  Die  psy- 
chischen Beziehungen,  auch  wenn  sie  dasselbe  Objekt  haben, 
können  ja  noch  immer  mehrere  sein,  wenn  die  Modi  der 
Beziehungen  mehrere  sind  und  so  finden  wir  es  bei  den 
psychischen  Beziehungen  iv  TrapIpYto.   Wir  haben  drei  Grund- 


zum  Bereich  des  Tatsächlichen  gehört,  auch  von  Relationen  zu  Ver- 
gangenem und  Zukünftigem  sprechen,  so  wäre  es  töricht,  sich  m  emeu 
Wortstreit  mit  ihm  einzulassen. 


—     128     — 

klassen  von  Modis  unterschieden:  Vorstellung,  Urteil  und 
Gemütsbeziehung.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  bei  den 
psychischen  Beziehungen  h  •Kotpsp-to  die  der  Vorstellung 
niemals  fehlt,  denn  sie  ist  die  Vorbedingung  der  andern. 
So  wenig  wie  diese,  fehlt  aber  auch  jemals  das  Urteil,  und 
zwar  liegt  immer  eine  evidente  Anerkennung  vor.  Außer- 
dem glaubt  man  auch  sehr  allgemein,  in  jeder  psychischen 
Tätigkeit  einen  sogenannten  „Gefühlston"  gegeben,  was 
soviel  sagen  würde,  als  daß  jede  psychische  Tätigkeit',  wie 
der  Gegenstand  einer  in  ihr  beschlossenen  Vorstellung  und 
eines  in  ihr  beschlossenen,  evident  anerkennenden  Urteils, 
so  auch  der  einer  in  ihr  beschlossenen  Gemütsbeziehung 
sei.  Ich  selbst  hatte  mich  in  meiner  Psychologie  vom 
empirischen  Standpunkt  dieser  Meinung  angeschlossen.  Seit- 
dem aber  bin  ich  davon  zurückgekommen  und  glaube  nun 
mehr,  daß  es  sogar  unter  den  Sensationen  viele  gibt, 
welchen  diese  Gemütsbeziehung,  also  jede  in  ihnen  selbst 
beschlossene  Lust  und  Unlust,  fehlt.  Ja,  die  ganzen  weiten 
Klassen  der  Gesichts-  und  Gehörsempfindungen  halte  ich 
für  gänzlich  frei  von  dem  Charakter  eines  Affekts ;  was  nicht 
ausschließt,  daß  sehr  lebhafte  Affekte  von  Lust  und  Unlust 
sie  mannigfach  gesetzmäßig  zu  begleiten  pflegen.  Man  ver- 
gleiche darüber  meine  „Untersuchungen  zur  Sinnespsycho- 
logie". 

Die  Tatsache,  daß  das  psychisch  Tätige,  wie  immer  es 
primär  sich  auf  anderes  als  Objekt  bezieht,  sekundär  sich 
selbst  zum  Objekte  hat,  ist  von  großer  Wichtigkeit.  Es. 
gibt  daraufhin  keine  Aussage  über  primäre  Objekte,  in. 
welcher  nicht  mehrere  Behauptungen  enthalten  sind.  Sage 
ich  z.  B.  „es  gibt  einen  Gott",  so  liegt  darin  zugleich  aus- 
gesagt, daß  ich  urteile,  es  gebe  einen  Gott.  Oder  „es  gibt 
keinen  Gott",  so  liegt  darin,  daß  ich  leugne,  daß  es  einen 
gebe.  Dies  ist  bei  der  psychologischen  Analyse  der  Urteile 
gar  wohl  zu  beachten;  denn  es  wird  sich  für  sie  darauf- 
hm  bei  gehöriger  Sorgfalt  des  Verfahrens  sehr  oft  ergeben^ 
daß  die  Objekte  der  Urteile  und  der  ihnen  zu  Grunde  liegen- 
den Vorstellungen  ganz  andere  sind,  als  man  sich  gemeinig- 


—     12i>     — 

lieh  einbildet,  und  ein  guter  Teil  von  ihnen  wird  sich  als 
Gegenstand  der  sv  7rotf>ep7oj  gegebenen  Beziehungen  erweisen, 
welche  mit  den  primären  Objekten  in  eigentümlicher  Weise 
determinierend  zusammengesetzt  werden. 

In  bezug  auf  das  Gesagte  erscheint  es  aber  nicht  über- 
flüssig, noch  einige  Bemerkungen  beizufügen,  welche  Miß- 
verständnissen vorbeugen  und  gegen  naheliegende  Ein- 
wände schützen,  die  denn  auch  wirklich  des  öfteren  er- 
hoben werden. 

Nicht  alles,  was  erfaßt  wird,  wird  explizit  und  distinkt, 
manches  vielmehr  nur  implizit  und  konfus  erfaßt.  Ich  glaube 
so  in  meinen  „Untersuchungen  zur  Sinnespsychologie"  nach- 
gewiesen zu  haben,  daß  die  in  einem  Akkord  vereinigten 
Töne  und  die  in  multiplen  Farben  gegebenen  Farben- 
elemente zwar  immer  wirklich  erfaßt,  aber  oft  nicht  unter- 
schieden werden.  Der  noch  heute  nicht  beendete  Streit 
über  die  Einfachheit  oder  Zusammensetzung  des  phänome- 
nalen Grün  hängt  damit  zusammen.  Ja,  ich  glaube  gezeigt 
zu  haben,  daß  auch  die  Intensitätsunterschiede  der  sen- 
siblen Objekte  auf  Unterschiede  phänomenaler  Dichtigkeit 
zurückzuführen  sind.  Der  Sinnesraum  ist  stellenweise 
wechselnd  erfüllt  und  leer,  die  einzelnen  vollen  und  leeren 
Teile  aber  werden  nicht  deutlich  unterschieden.  Gilt  dies 
von  den  physischen  Phänomenen,  so  Analoges  auch  von 
der  darauf  bezüglichen  psychischen  Tätigkeit.  Wir  haben 
also  hier,  und  vielfach  auch  anderwärts  psychische  Tätig- 
keiten ,  die  nicht  in  allen  ihren  Teilen  explizit  wahr- 
genommen werden.  Die  innere  Wahrnehmung  ist  vielmehr 
konfus,  und  obwohl  diese  Unvollkommenheit  die  Evidenz 
nicht  beeinträchtigt,  so  hat  sie  doch  zu  mannigfachen 
Irrungen  Anlaß  gegeben,  welche  selbst  wieder  gewisse 
Psychologen  verleitet  haben,  die  Tatsache  der  Evidenz,  ja 
sogar  der  Richtigkeit  der  inneren  Wahrnehnmng  als  eine 
allgemein  gültige  zu  bestreiten. 

Zu  derselben  irrigen  Ansicht  wurden  andere  geführt, 
indem  sie  jede  Vorstellung  und  jedes  Urteil,   welches  sich 

Brentano,  Klassifikation  der  psychischen  Phänomene.  9 


—     13(1     — 

auf  e  gene  psychische  Tätigkeit  bezieht ,  ohne  weiteres-  zur 
inneren  Wahrnehmung  rechneten.  Aber  mit  Unrecht;  nicht 
bloß  Physisches,  auch  Psychisches  kann  primäres  Objekt 
werden,  wie  z.B.  ganz  unverkennbar,  wenn  wnr  uns  das  innere 
Seelenleben  eines  andern  veranschaulichen,  was  wir  und 
auch  die  Tiere  in  häutigen  Fällen  tun.  Wir  erkennen  oder 
vermuten,  daß  sie  in  einer  gewissen  Weise  empfinden,  denken 
und  w^oUen,  die  mit  unserer  Weise  zu  empfinden,  zu  urteilen 
und  zu  begehren  mehr  oder  minder  übereinstimmt  oder  ihr 
widerstreitet.  Ganz  ähnlich  stellen  wir  uns  nun  oft  vor,  daß 
wir  selbst  unter  gegebenen  Bedingungen  so  oder  so  psychisch 
tätig  sein  würden,  und  sind  auch  oft  überzeugt,  daß  wir 
wirklich  so  empfinden  und  wollen  w^erden  oder  empfunden 
und  gewollt  haben.  Nun  ist  freilich  auch  dann  immer  eine 
innere  Wahrnehmung  gegeben,  aber  sie  geht  nicht  auf  das 
genannte  eigene  psychische  Tun,  sondern  auf  ein  ändert^ 
jetzt  in  uns  wirkliches .  welches  auf  jenes  als  primäres 
Objekt  gerichtet  ist. 

Alle  unsere  Erinnerung  und  Erwartung,  die  sich  auf 
eigne  psychische  Erlebnisse  bezieht .  hat  es  mit  ihnen  al> 
primärem  und  mit  sich  selbst  nur  als  sekundärem  Objekt 
oder  als  Teil  von  diesem  zu  tun. 

Dies  gibt  mir  das  Mittel  zur  Verteidigung  gegen  einen 
mir  gemachten  Vorwurf.  Man  hat  daran  Anstoß  genommen, 
daß  ich  sagte,  die  innere  Wahrnehmung  könne  nicht  zur 
inneren  Beobachtung  w^erden,  wohl  aber  beobachteten  wir 
oft  früher  innerlich  Wahrgenommenes  später  gewissermaßen 
im  Gedächtnis,  und  hat  dagegen  geltend  gemaciit,  daß  das 
Gedächtnis  nur  eine  schwächere  Wiederholung  des  psychi- 
schen Aktes  sei,  an  den  wir  uns  erinnern.  Doch  man  erkennt 
leicht,  daß  dies  nicht  der  Fall  ist ;  müßte  doch  sonst  einer, 
der  sich  eines  früheren  Irrtums  erinnert,  wieder  irren  und 
einer,  der  eines  früheren  sündigen  Wollens  reuig  gedenkt, 
wieder  sündigen.  Die  frühere  eigene  psychische  Tätigkeit. 
deren  ich  gedenke,  erscheint  nicht  als  sekundäres  Objekt 
£v  -7.f>£[>Yoj,  sondern  als  primäres,  ähnlich  wie  wenn  ich  einen 
andern  vorstellend  oder  sonstwie  psychisch  tätig  glaube. 


—      181     — 

III.   Ton  den  Modis  des  Torstellens. 

Wenn  ich  Vorstellen,  Urteilen  und  Gemütsbeziehung 
als  die  drei  Grundklassen  der  psychischen  Beziehungen  be- 
2;eichnete,  so  war  damit  bedeutet,  daß  sie  noch  mannigfacher 
Untereinteilungen  fähig  sein  mögen.  In  Wahrheit  ist  eine 
solche  für  die  Grundklasse  des  Urteilens  bereits  in  dem 
Gegensatz  von  Anerkennen  und  Verwerfen  und  für  die 
Grundklasse  der  Gemütsbeziehung  in  dem  zwischen  Lieben 
und  Hassen  gegeben.  Aber  auch  von  der  Grundklasse  der 
Vorstellung  gilt,  daß  die  im  allgemeinen  gleiche  Beziehungs- 
weise sich  in  besonderen  Modis  differenziert.  Und  wie  zwei 
Urteile,  die  dasselbe  Objekt  haben,  trotzdem,  wenn  das 
eine  Urteil  anerkennt,  was  das  andere  verwirft,  der  Art 
nach  verschieden  sind,  so  sind  es  oft  auch  zwei  Vor- 
stellungen trotz  der  Gleichheit  des  Objektes. 

Als  ich  meme  „Psychologie  vom  empirischen  Stand- 
punkt" schrieb,  war  mir  dies  noch  nicht  oder  wenigstens 
nicht  in  seinem  vollen  Umfang  offenbar  geworden,  und 
manches  bleibt  mir  infolge  davon  nicht  bloß  zu  ergänzen, 
sondern  auch  zu  berichtigen. 

Vor  allem  sind  als  verschiedene  Modi  des  Vorstellens 
seine  temporalen  Differenzen  zu  bezeichnen.  Wer  Gegen- 
wart, Vergangenheit  und  Zukunft  für  Differenzen  der  Ob- 
jekte halten  würde,  der  würde  ebenso  irren  wie  der,  welcher 
Existenz  und  Nichtexistenz  für  reale  Attribute  ansähe. 
Wenn  wir  in  Rede  oder  Melodie  eine  Tonfolge  hören,  oder 
wenn  wir  einen  Körper  schauen,  der  in  Bewegung  oder 
Farbenveränderung  begriffen  ist,  so  erscheint  uns  derselbe 
individuelle  Ton,  dasselbe  örtlich  und  qualitativ  individuell 
bestimmte  Farbige  zuerst  als  gegenwärtig,  dami  mehr  und 
mehr  als  vergangen,  während  andere  als  gegenwärtig  auf- 
treten, deren  Vorstellung  dann  dieselbe  modale  Veränderung 
erleidet.  Wer  diese  Unterschiede  für  Unterschiede  der 
Objekte  nehmen  würde,  ähnlich  wie  die  räumlichen  Diffe- 
renzen, wenn  ich  etwas  mehr  rechts  oder  mehr  links  im 
Sehfelde  vorstelle,  es  ohne  Zweifel  sind,  der  würde  dem 
großen  Unterschied,   der  zwischen  Raum  und  Zeit  besteht. 


—     182     — 

nicht  gerecht  werden  können.  Was  den  Raum  anlangt,  so 
vermögen  wir  ohne  Absurdität  anzunehmen,  daß  es  auch 
imräumliche  Dinge  gebe :  Geister  ohne  Länge ,  Breite  und 
Tiefe  und  ohne  eigentliches  Hier  und  Dort;  und  ebenso 
(was  der  neuesten  Geometrie  ein  sehr  geläufiger  Gedanke 
ist)  Topoide  von  vier  und  mehr  Dimensionen,  bei  welchen 
die  vierte  zu  Länge,  Breite  und  Tiefe  analog  wie  beim 
Körperlichen  die  Tiefe  zur  Breite,  die  Breite  zur  Länge 
hinzukäme  und  von  jeder  weiteren  Dimension  in  bezug  auf 
die  vorausgehende  wieder  dasselbe  gelten  würde.  Dagegen 
wäre  es  schlechterdings  absurd,  wenn  einer  eine  Hypothese 
aufstellte,  nach  welcher  etwas  wäre,  ohne  gegenwärtig  und 
mit  allem  andern,  was  ist,  zugleich  zu  sein,  indem  es  ent- 
weder ohne  jedes  Analogon  zu  dem  Jetzt,  oder  in  einem 
Chronoid  von  mehr  als  einer  Dimension  dauernd  oder 
wechselnd  bestände.  Wie  ein  Qualitätsmodus  keinem  Urteil 
fehlen  kann,  und  wir  dies  zuversichtlich  für  alle  urteilenden 
Wesen  zu  behaupten  vermögen,  so  ist  auch  ein  Temporal- 
modus schlechterdings  für  jedes  Vorstellen  erforderlich  und 
es  kann  dies  ohne  Kühnheit  nicht  bloß  für  Mensch  und 
Tier,  sondern  für  jedes  vorstellende  Wesen  überhaupt  ge- 
sagt werden.  Es  gilt  mit  derselben  Sicherheit  wie  der  Satz, 
daß  es  keine  Vorstellung  gibt  ohne  Objekt. 

Dieser  Punkt  ist  von  höchster  Wichtigkeit,  hat  die 
weittragendsten  Konsequenzen,  und  ich  behalte  mir  vor, 
ein  anderes  Mal  eingehender  bei  ihm  zu  verweilen.  Dann 
werde  ich  auch  auf  die  Frage  eingehen,  ob  nicht  vielleicht 
bei  allem,  was  eine  Zeit  lang  besteht,  außer  der  kontinuier- 
lichen Reihe  der  Temporalmodi,  mit  welchen  es  zu  denken 
ist,  auch  eine  kontinuierliche  Sukzession  realer  Differenzen 
angenommen  werden  müsse,  welche  aber  dann,  als  ganz  trans- 
zendent, in  keiner  unserer  Anschauungen  gegeben  sein  würden. 

Dagegen  will  ich  es  nicht  ganz  unerwähnt  lassen,  daß 
es  nicht  möglich  ist.  mit  einem  verallgemeinerten  Temporal- 
modus vorzustellen,  wie,  wenn  etwas  unbestimmt  als  ge- 
wesen, zukünftig  oder  noch  un})estimmter  als  irgend  einmal 
tatsächlich   erschiene.     Es   ist   dies   so   untunlich,    wie  daß 


—     138     — 

einer  mit  einem  unbestimmten  qualitativen  Modus  urteilt, 
also  urteilend  weder  anerkennt  noch  leugnet.  Wie  sich 
aber  der  Schein  erkläre,  als  ob  dem  doch  so  sei,  darauf 
will  ich  hier  nicht  näher  emgehen. 

Es  braucht  wohl  kaum  ausdrücklich  bemerkt  zu  werden, 
daß  die  Frage ,  was  unter  Zeit  zu  verstehen  sei ,  mit  der. 
was  uns  bei  der  Messung  zeitlicher  Größen  und  Abstände, 
sei  es  durch  verstandesmäßige  Beurteilung,  sei  es  durch 
gewohnheitsmäßige  oder  ursprünglich  instinktive  Schätzung, 
zum  Anhalt  diene .  keineswegs  zusammenfällt.  Auch  die 
letztere  ist  von  hohem  psychologischen  Interesse  und  führt 
den  Forscher  auf  ähnlich  teleologische  Momente,  wie  sie  in 
dem  blinden  Vertrauen  auf  das  Gedächtnis,  der  gewolmheits- 
mäßigen  Erwartung  und  manchen  natürlichen  Zuneigungen 
und  Abneigungen  gefunden  werden.  Doch  nicht  sie,  son- 
dern nur  die  erste,  vor  allen  wichtige  Frage  ist  es.  mit  der 
wir  uns  hier  zu  beschäftigen  hatten. 

Ein  anderer  wichtiger  Gesichtspunkt,  unter  welchem 
von  einem  Unterschied  von  Modis  der  Vorstellung  zu 
sprechen  ist,  ist  schon  früher  berührt  worden.  Es  ist  der, 
von  welchem  aus  wir  den  Modus  rectus  und  den  Modus 
obliquus  unterscheiden.  Der  erste  fehlt  zwar  niemals, 
wenn  wir  vorstellend  tätig  sind;  der  zweite  aber  ist  neben 
ihm  gegeben,  so  oft  wir  ein  psychisch  sich  Beziehendes 
oder  auch  im  eigentlichen  Sinn  Relatives  denken.  Außer 
dem  psychisch  Tätigen,  das  ich  in  recto  denke,  wird 
von  mir  inmier  auch  sein  Objekt,  außer  dem  Fundament 
der  Relation,  das  ich  in  recto  denke,  ilii-  Terminus 
in  obliquo  gedacht.  Und  der  modus  obliquus  selbst  ist 
eigentlich  nicht  einer,  vielmehr  ist  er  mannigfach  differen- 
ziert. Er  ist  ein  anderer,  wenn  es  sich  um  eine  Grüßen- 
beziehung, ein  anderer,  wenn  es  sich  um  ein  Kausalverhält- 
nis, ein  anderer,  wenn  es  sich  um  eine  psychische  Beziehung 
zum  Objekt  handelt;  ja,  er  ist  ein  anderer,  wenn  diese 
psychische  Beziehung  ein  bloßes  Vorstellen  oder  ein  Ur- 
teilen, ein  anderer,  wenn  sie  ein  anerkennendes  oder  ver- 
werfendes Urteilen  ist  usw.  usw. 


\ 


—     134     — 

IT.   Ton  der  attributiven  TorstellungsYerbindung  in  reeto 
und  in  obliquo. 

Bekannt  ist,  daß  wir  Objekte,  die  nicht  ganz  einfach 
sind,  bald  mehr,  bald  minder  deutlich  vorstellen.  So  oft 
wir  sie  einigermaßen  deutlich  vorstellen,  ist  die  vorstellende 
Beziehung  eine  mehrfache  und  mehrfach  klare  im  cartesiani- 
schen  Sinn.  Sie  geht  wie  auf  das  Ganze,  so  auch  im  besonderen 
noch  auf  Teile,  die  dann  determinierend  mit  einander  ver- 
bunden erscheinen;  so  z.B.  wenn  ich  einen  roten  Fleck  als 
farbig,  als  rot,  als  räumlich,  als  hier  befindlich,  als  dreieckig 
usw.  unterscheide  und  ihn  als  durch  alle  diese  Merkmale 
charakterisiert  denke.  Eines  erscheint  dann  als  etwas,  was 
mit  dem  anderen  determinierend  verbunden  ist.  Jede  Vor- 
stellungsbeziehung zu  einem  Merkmal  hat  ein  besonderes 
Objekt,  das,  indem  sich  die  Merkmale  determinieren,  mit 
den  anderen  zusammen  die  Verdeutlichmig  des  anschaulich 
vorgestellten  einheitlichen  Ganzen  bildet. 

Wir  vermögen  nun  aber  daraufhin  die  verschiedensten 
Objekte  identifizierend  miteinander  zu  verbinden,  gleichviel 
ob  sie  in  Wirklichkeit  miteinander  verträglich  seien  oder 
nicht,  und  konmien  so  zu  einem  Objektganzen  von  attribu- 
tiver, obwohl  nicht  anschaulicher  Einheit;  wie  ich  denn 
z.  B.  in  solcher  Weise  ein  rundes  Viereck,  einen  schwarzen 
Schimmel  und  ein  blaues  Rotes  zu  denken  vermag.  Auch 
kann  ich  so  dasselbe  Merkmal  mit  sich  selbst  identifiziert 
vorstellen,  wie  z.  B.  ein  weißes  Weißes,  wo  dann  die  Identi- 
fikation zu  einem  Äquivalent  des  Merkmals  selbst  führt, 
und  es  ist  leicht  ersichtlich,  daß  es  älmlich  geschehen  kanji. 
daß  wir  auch  solche  Merkmale,  die  einer  anschaulichen  Ver- 
einigung fähig  wären ,  wie  z.  B.  eine  gewisse  Gestalt  und 
eine  gewisse  Farbe,  nicht  in  anschaulicher,  sondern  in  bloß 
attributiver  Weise  vorstellend  vereinigen. 

Daß,  wer  zwei  Merkmale  in  der  Vorstellung  attributiv 
identifiziert,  hiemit  noch  nicht  ein  Urteil  fällt,  welches 
eins  von  dem  anderen  aussagt,  habe  ich  in  meiner  Psycho- 
logie ausführlich  dargelegt.  Doch  soll,  wie  es  für  jeden. 
der  an  das  zuvor  über  die  sekundäre  Beziehung  Ausgeführte 


—     135     — 

zurückdenkt,  selbstverständlich  ist,  hiemit  nicht  gesagt 
sein,  daß  hier  jedes  Urteil  überhaupt  fehle.  Ja,  auch  das 
dürfte  sich  bei  genauer  Untersuchung  ergeben,  daß  w4r,  so 
oft  wir  deutlich  vorstellen,  uns  in  gewisser  Weise  negativ 
urteilend  verhalten,  indem  wir  erkennen,  daß  die  psychische 
Beziehung  zum  einen  Teil  von  der  psychischen  Beziehung 
zum  andern  verschieden  ist. 

Es   ist   klar,   daß   eine  Verdeutlichung  der  Vorstellung 
durch  eine  Zergliederung  des  Objekts   sowohl   in  recto  als 
in  obliquo  statthaben  kann.    Und   so   sind  denn  auch  jene 
freien    Identifizierungen    ebenso    in    obliquo    wie    in    recto 
möglich.     Und  auch ,  was  in  recto  gedacht  wird ,  kann  mit 
einem  in  obliquo  Gedachten  identifiziert  werden,  wie  z.  B. 
wenn  ich  in  recto  Blumen  und   einen   nach  diesen  Blumen 
verlangenden  Blumenliebhaber  vorstelle,   wo  dann  Blumen 
in  recto  und  in  obliquo  vorgestellt  und  miteinander  identifi- 
ziert werden.  Stelle  ich  mir  einen  grünen  Baum  vor,  so  denke 
ich  den  Baum  in  recto  und  wohl   auch  das  Grüne  in  recto 
und  identifiziere  beide  vorstellend.    Stelle  ich  mir  dagegen, 
wie  man  sagt,  einen  nicht  grünen  Baum  vor,  so  scheint  das 
Verfahren  ein  viel  komplizierteres;  denn  Aristoteles  wenig- 
stens leugnete,  daß  ein  Negatives  Objekt  sein  könne.    Und 
wenn  dies,   wie  ich  nicht  bezweifle,  wirklich  unmöglich  ist, 
so  bleibt  wohl  nichts  übrig,  als  anzunehmen,  daß  wir  emen 
Baum  vorstellen,  von  welchem  man  mit  Recht  leugne,  daß 
er  grün  sei,  so  daß  es  sich  dann  um  eine  Identifikation  in 
obliquo  handelt.    Wir  werden  darauf  später  zurückkommen. 
Von  dem  Verneinenden  hob  schon  Leibniz  hervor,   daß  er 
als  solcher  nicht  etwas  Negatives  sei  und  es  besteht  darum 
für  ihn   nicht   dasselbe   Bedenken  wie   für  das  Nichtgrüne, 
ihn  als  Objekt  einer  Vorstellung  zu  fassen. 

Y.   Ton   der  Modifikation   der   Urteile   und   Gemüts- 
bewegungen durch  die  Modi  des  Vorstellens. 

Wie  die  Differenzen  der  Objekte  der  Vorstellungen,  so 
haben  auch  die  Differenzen  ihrer  Modi  nicht  bloß  für  sie 
selbst,  sondern  auch  für  die  Urteils-  und  Gemütsbeziehungen 
Bedeutung,  da  sich  ja  diese  auf  die  Vorstellungen  gründen. 


h 


—     18()     — 

Es  gilt  dies  deutlich  von  den  Tempoialmodis.  Wenn 
ich  urteile,  ein  Baum  sei,  und,  ein  Baum  sei  gewesen,  so 
erkenne  ich  ihn  in  beiden  Fällen  an,  aber  mit  einem  andern 
Modus  der  Anerkennung.  Wie  das  Objekt  der  Vorstellung 
„Baum"  nicht  bloß  die  Vorstellung,  sondern  auch  die  An- 
erkennung zu  einer  andern  macht,  so  auch  der  Temporal- 
modus der  Vorstellung;  er  differenziert  auch  die  An- 
erkennung temporal.  Und  ähnlich  ist  es,  wemi  ich  etwas 
für  die  Gegenwart  oder  für  die  Zukunft  wünsche.  Beides 
sind  Akte  der  Liebe,  aber  sie  sind  temporal  differenziert 
wie  die  Vorstellungen,  auf  die  sie  sich  gründen. 

Man  bemerkt  hier  leicht,  daß  dies  ohne  Vermittlung 
eines  temporalen  Urteils  geschieht.  Der  Wunsch  für  die 
Gegenwart  oder  für  die  Zukunft  schließt  weder  den  Glauben, 
daß  das  Gewünschte  sei  oder  sein  werde,  noch  die  ihm  ent- 
gegengesetzte Leugnung  ein.  Und  ich  unterlasse  nicht, 
dies  ausdrücklich  hervorzuheben,  weil  jemand  wegen  der 
besonderen  Rücksichtnahme  der  Konjugation  des  Zeitwoi"ts 
auf  die  Zeitunterschiede  zu  der  Meinung  hinneigen  könnre. 
daß  es  sich  bei  den  Temporalmodis  um  Differenzen  handle, 
die  erst  das  Urteil,  nicht  aber  ebenso  schon  die  Vorstellung 
treffen.  Denn  das  Zeitwort  ist  jene  sprachliche  Form, 
welche  besonders  dazu  dient,  den  Ausdruck  des  Urteils  zu 
ergänzen. 

In  bezug  auf  die  Differenz  von  Modus  rectus  und  obli- 
quus  gilt,  daß  nur  auf  die  Vorstellungen  in  modo  recto  sich 
Urteile  mid  Gemütsbeziehungen  gründen,  nicht  auf  Vor- 
stellungen in  modo  oblique  für  sich  allein,  wie  diese  ja  auch 
nie  für  sich  allein  gegeben  sind,  vielmehr  nur  in  derselben 
Tätigkeit  mit  dem  Modus  rectus.  Stelle  ich  einen  vor,  ja, 
erkenne  ich  einen  an,  der  etwas  leugnet,  so  leugne  ich  selbst 
dieses  nicht  in  modo  obliquo,  so  wenig  als  ich,  wenn  ich 
denke,  daß  eine  Ursache  etwas  bewirke,  dieses  selbst  ver- 
ursache, obwohl  das  indirekte  Objekt  und  der  besondere 
Modus  obliquus,  mit  welchem  sich  mein  Denken  darauf 
bezieht,  für  den  Inhalt  meines  Urteils  nicht  gleichgültig 
ist;  es  ist  ja  infolge  davon  auf  ein  anderes  C»)jekt  gerichtet. 


—     137     — 


Indem  Meinong  den  Fall,  wo  einer  sagt:  „Locke  lehrte, 
daß  es  keine  angeborenen  Ideen  gebe",  einer  psychologischen 
Analyse  unterzog,  erkannte  er  ganz  richtig,  daß,  wer  diese 
Behauptung  ausspricht,  nicht  behauptet,  daß  es  keine  an- 
geborenen Ideen  gebe.  Statt  aber  wie  wir  zu  sagen,  daß 
er  hier  in  recto  den  die  angeborenen  Ideen  leugnenden 
Locke  vorstelle  und  anerkenne,  in  obliquo  aber  sich  mit 
doppeltem  Modus  obliquus  auf  die  angeborenen  Ideen  vor- 
stellend beziehe,  meint  er,  daß  man  es  hier  mit  einer  vierten 
Grundklasse  der  Beziehungen  zu  einem  Objekt  zu  tun  habe, 
die  zwischen  der  des  Yorstellens  und  des  Urteilens  in  der 
Mitte  stehe,  und  die  dem  in  der  Sprache  traditionellen 
Ausdruck  „annehmen"  entspreche.  Es  ist  leicht  nachweisbar, 
daß  er  hier  in  mehrfacher  Täuschung  befangen  ist. 

Der  Modus  obliquus  des  Yorstellens  ist,  wenn  wir  einen 
ein  Objekt  Anerkennenden  oder  Leugnenden  denken,  zwar 
ein  anderer,  als  wemi  wir  einen  es  Vorstellenden  denken. 
Aber  dies  gilt  ähnlich  auch  im  Fall,  wo  wir  einen  das 
Objekt  Liebenden  oder  Hassenden  denken:  und  wn-  haben 
in  dem  ersten  Fall  so  wenig  als  in  dem  zweiten  enien 
Grund  von  einer  besonderen  Hauptklasse  von  psychischen 
Beziehungen  zu  sprechen,  müßten  wir  doch  sonst,  kon- 
sequent gesprochen,  es  sogar  auch  da  tun,  wo  wir,  indem 
wir  eine  Ursache  in  recto,  die  Wirkung  in  obhquo  vor- 
stellen. Vielmehr  handelt  es  sich  deutlich  um  Unterarten 
der  indirekten  Vorstellungsweise,  welche  dann  freilich,  wie 
schon  bemerkt,  auch  für  das  auf  die  Vorstellung  mit  dem 
Modus  rectus  gegründete  Urteil  Bedeutung  gewinnen. 

Außerdem  wird  kein  Kenner  der  deutschen  Sprache 
Meinong  zugestehen,  daß  er  hier  das  Wort  .annehmen"  in 
einer  der  bisher  üblichen  Bedeutungen  verwende.  ^^  le 
Meinong  es  gebraucht,  würden  wir  oft  zugleich  Entgegen- 
gesetztes annehmen,  wie  z.B.  wenn  wh'  sagen:  Locke  be- 
hauptet, daß  Descartes  unrecht  habe,  wenn  er  lehrt  daß 
es  angeborene  Ideen  gebe".  Denn  hier  würden  wir  zugleich 
annehmen,  daß  einer  unrecht  habe,  wenn  er  lehrt,  daß  es 
angeborene  Ideen   gebe,  und   auch   annehmen,    daß   es   an- 


k 


—     138    — 

geborene  Ideen  gebe.  Andernfalls  hätte  ja  Meinong  für 
diese  indirekte  Beziehung  zweiter  Ordnung  wieder  eine 
neue  Grundklasse  aufstellen  müssen .  die  sich  zu  seinem 
^annehmen"  wie  sein  „annehmen"  zum  Urteil  verhalten 
würde. 

Manchmal  wird  „annehmen"  synonym  mit  „anerkennen" 
und  namentlich  mit  „zustimmen"  gebraucht,  wenn  ein 
anderer  eine  Behauptung  ausgesprochen.  Manchmal  und 
in  besonders  häufigen  Fällen  bedeutet  es  aber  ein  noch 
komplizierteres  psychisches  Verhalten,  nämlich  das  absicht- 
liche Festhalten  der  Vorstellung,  als  ob  ich  etwas  urteile, 
um  zu  untersuchen,  zu  welchen  anderen  Urteilen  oder 
praktischen  Entschlüssen  ich  also  denkend  vernünftiger- 
weise geführt  werden  würde.  Wie  ich  ein  Objekt  analy- 
sieren kann,  ohne  es  anzuerkennen,  so  kann  ich  auch  die 
Folgerungen,  zu  denen  ein  Urteil  führen  muß,  mir  klar 
machen,  indem  ich  den  Urteilenden  nur  vorstelle  imd  nicht 
anerkenne.  Der  hypothetisch  Verfahrende  verfährt  so,  ob- 
wohl er  etwas  nicht  weiß,  ganz  analog,  als  wenn  er  es 
wüßte.  Man  hat  es  also  auch  bei  dem,  was  wahrhaft  dem 
Namen  „annehmen"  entspricht,  nicht  mit  einer  besonderen 
Grundklasse,  sondern  mit  einer  Komplikation  von  mehreren 
bereits  sehr  spezifizierten  psychischen  Tätigkeiten  zu  tun. 
(Vgl.  Marty.  Zur  Grundlegung  der  allgemeinen  Grammatik 
und  Sprachphilosophie  S,  244  If.) 

YI.   Ton  der  Unmöglichkeit,  jeder  psychischen  Beziehung 

eine  Intensität  zuzuerkennen  und  insbesondere  die  Grade 

der  Überzeugung  und  Bevorzugung  als  Unterschiede  der 

Intensität  zu  fassen. 

Als  ich  in  meiner  Psychologie  es  unternahm,  den  Nach- 
weis zu  erbringen,  daß  man  es  bei  Vorstellen  und  Urteilen 
mit  zwei  verschiedenen  Grundklassen  der  psychischen  Be- 
ziehung zum  Objekt  zu  tun  habe,  berief  ich  mich  auch  auf  die 
Unvergleichbarkeit  der  Grade  der  Intensität  dieser  beiden 
ßeziehungsweisen ,  indem  ich  dabei  der  herkömmlichen 
Meinung   folgte,   nach    welcher   die  Uberzeugungsgrade   als 


—     130     — 

Unterschiede   der   Intensität   der  Urteile   zu   fassen  wären. 
Allein  diese  Meinung  ist,   wie  ich  jetzt   erkannt  habe,  eine 
iiTige.    Ich  verweise  dafür  auf  meine  „Untersuchungen  zur 
Sinnespsychologie".     Hier  zeigte  ich  auch,  daß  ähnlich  die 
Grade  der  Bevorzugung  und  die  Grade  der  Entschiedenheit 
des  Wohens   nichts   den  Intensitätsgraden   einer  Sensation 
Analoges   sind,   und  daß  überhaupt  die  Meinung,  daß  jede 
psychische  Beziehung  eine  Intensität  im  eigentlichen  Sinne 
aufweise,  aufgegeben  werden  müsse,  da  auch  Vorstellungen 
(wie  z.  B.  die  der  Zahl  „drei"  im  allgemeinen)  ohne  Intensi- 
tät  gefunden    werden.      Wer    im    Unterschied    von    einem 
anderen,  der  etwas  mit  Ausschluß  jedes  Zweifels  anerkennt, 
mit  bloßer  Wahrscheinhchkeit  daran  glaubt,  der  fällt  nicht 
dasselbe  Urteil   wie   jener,   nur   mit   geringerer  Intensität; 
vielmehr   ein,    ja   mehrere   inhaltUch    davon    verschiedene 
Urteile,  die  nur  in  obliquo  das  berühren,  worauf  das  Urteil 
des  andern  in  recto  gerichtet  war.    Schon  Laplace  erkannte 
dies  recht  wohl,   als  er  sagte,  die  Wahrscheinlichkeit  setze 
sich    zusammen    aus    einem    mehrfachen    Wissen:    erstens 
dem  Wissen,  daß  von  einer  Mehrheit  sich  ausschließender 
Fälle   der    eine     oder    andere    gegeben    sei    und    zweitens 
dem,   daß  ich  nicht   mehr   Grund   habe,  den  einen  als  den 
andern  Fall   für   wirklich   zu   halten.     Man  darf  sich   nicht 
dadurch    täuschen    lassen,    daß    man    wie   von    Graden  der 
Intensität    einer   Sensation    auch    von   Überzeugungsgraden 
spricht.     Auch    bei    der   Geschwindigkeit    einer   Bewegung 
spricht  man  von  verschiedenen  Graden;  und  doch  hat  das, 
was  man  daraufhin  Intensität  der  Bewegung  nennen  möchte, 
keine   tiefere   Verwandtschaft   mit   der   Intensität,   wie    sie 
einer   Sensation   zukommt.     Der  Naturforscher  weiß,    daß 
der  Zustand    der  Ruhe    an   Realität    keinem    Zustand    der 
Bewegmig    etwas    nachgibt.     Wenn    der   Schwerpunkt    der 
Welt  statt  zu  ruhen  in  irgend  einer  Richtung  sich  mit  be- 
hebig großer  Geschwindigkeit  fortbewegte,   so  würde  dies 
für  den  inneren  Zusammenhang  der  physikaHschen.  chemi- 
schen und  physiologischen  Prozesse  vollständig  gleichgültig 
sein.     Ganz   anders   ist  es   bei  der  Intensität,   wie   sie   der 


—     14U     — 

Sensation  eignet.  Ein  laut  Hörender  übertrifft  als  solcher 
an  Realität  des  Hörens  einen  leise  Hörenden ,  wie  einer, 
der  nicht  bloß  hört,  sondern  auch  Tastempfindungen  hat 
und  riecht  und  schmeckt,  caeteris  paribus  an  Reahtät 
des  Empfindens  einem,  der  nur  hört,  überlegen  ist. 
Und  so  wäre  auch  ein  lauter  Ton,  wenn  er,  wie  phäno- 
menal, auch  in  Wirklichkeit  bestünde,  ein  Mehr  von  Realität 
als  ein  leiser. 

Dies  also  in  Kürze  zur  Berichtigung  eines  früher  be- 
gangenen Fehlers.  Ich  brauche  kaum  eigens  hinzuzufügen, 
daß  ich  durch  den  Entfall  dieses  Argumentes  meine  Beweis- 
führung für  die  Scheidung  von  Vorstellung  und  Urteil  als 
Grundklassen  im  allgemeinen  nicht  entkräftet  glaube. 

TU.  Ton  der  Unmöglichkeit,  Urteil  und  (xemütsbezieliung 
in  einer  Grundklasse  zu  vereinigen. 

Ich  habe  in  meiner  Psychologie  bemerkt,  daß  man. 
wenn  man  Urteilen  und  Begehren  zwei  verschiedenen  Grund- 
klassen zuweist,  um  so  weniger  Anstand  nehmen  dürfe, 
Vorstellung  und  Urteil  als  fundamental  verschiedene  Klassen 
von  Beziehung  anzuerkennen,  da  sich  für  Urteil  und  Gemüts- 
beziehung vielfache  Ähnlichkeiten  zeigten,  die  bei  der  Vor- 
stellung im  Vergleich  mit  dem  Urteil  nicht  beständen.  So 
fuide  sich  unter  den  Gemütsbeziehungen  ein  Gegensatz  von 
Liebe  und  Haß,  wie  unter  den  Urteilsbeziehungen  ein  Gegen- 
satz von  Anerkennen  und  Verwerfen;  bei  der  Vorstellung 
aber  sei  ein  ähnlicher  Gegensatz  nicht  vorhanden.  Damit 
hängen  für  Urteile  und  Gemütsbeziehungen  weitere  Ana- 
logien zusammen,  zu  welchen  auf  dem  Gebiet  der  Vor- 
stellung die  Parallele  fehlt.  Wie  die  Urteile  teils  richtig,  teils 
unrichtig  sind,  so  gibt  es  auch  ein  Richtig  und  Unrichtig  auf 
dem  Gebiet  von  Liebe  und  Haß.  Man  vergleiche  darüber  meine 
Abhandlung  „  Vom  Ursprung  sittlicher  Erkenntnis " ,  wo  ich  auch 
nachgewiesen  habe,  daß,  wie  manche  Urteile  auch  manche  Ge- 
mütsbeziehungen unmittelbar  als  richtig  charakterisiert  sind. 
Ich  hätte  hier  bei  eingehenderer  Erörterung  auch  noch  zeigen 
können ,   wie  die  Gemütsbeziehungen ,   die  uns   unmittelbar 


—     141     — 

als  richtig  einleuchten,  eine  Ähnlichkeit  mit  den  Urteilen 
haben,  welche,  wie  man  sagt,  ex  terminis  evident  sind.  Sind 
wir  uns  hier  bewußt,  daß  unser  richtiges  Urteil  aus  einer 
Vorstellung  mit  Notwendigkeit  hervorgeht,  mit  anderen 
Worten,  daß  wir  als  Vorstellende  uns  als  so  Urteilende 
wirkend  hervorbringen,  so  gilt  Ähnliches  bei  der  unmittel- 
bar als  richtig  charakterisierten  Gemütsbeziehung.  Und  wie 
wir  darum  dort  das  Urteil  als  allgemein  und  notwendig 
richtig  erkennen,  so  gilt  bei  einer  solchen  Gemütsbeziehung 
das  Gleiche ;  wie  wir  denn  z.  B.  nicht  als  bloß  für  den  ein- 
zelnen Fall  oder  wenigstens  bloß  für  uns  Menschen,  sondern 
als  allgemein  und  notwendig  erkennen,  daß  caeteris  paribus 
die  Freude  dem  Leid,  die  Erkenntnis  dem  Irrtum  vorzu- 
ziehen ist.  In  einer  Note  zur  englischen  Übersetzung  meiner 
erwähnten  ethischen  Abhandlung,  die  von  Marty  herrührt, 
findet  man  den  Gedanken  noch  weiter  erläutert. 

Unter  solchen  Umständen  darf  es  nicht  allzusehr  be- 
fremden, wenn  manche,  die  sich  durch  die  Ausführungen 
in  meiner  Psychologie  davon  überzeugt  fanden,  daß  das 
Urteil  von  der  Vorstellung  der  Grundklasse  nach  zu  scheiden 
sei,  nun  auf  den  Gedanken  gerieten,  es  mit  den  Gemüts- 
beziehungen in  einer  Grundklasse  zu  vereinigen  und  die 
Anerkennung  wie  eine  Art  Liebe,  die  Leugnung  wie  eine 
Art  Haß  aufzufassen.  Gar  manche  gemeinübliche  sprach- 
liche Ausdrücke  könnten  als  Bestätigung  erscheinen,  wie 
denn  das  Wort  „Anerkennung"  auch  im  Sinne  von  „Hoch- 
schätzung'' gebraucht  wird  und  für  Leugnung  oder  Ver- 
neinung wohl  auch  der  Ausdruck  „Verwerfung''  üblich  ist, 
welcher  auch  dem  Schlechten,  Mißfälligen  gegenüber  in 
Gebrauch  ist. 

So  erscheint  es  denn  nicht  überflüssig,  nnt  kurzem 
Worte  darzulegen,  wie  trotzdem  das  Urteil  so  wenig  mit 
der  Gemütsbeziehung  als  mit  der  Vorstellung  zur  selben 
Grundklasse  zu  rechnen  ist. 

Es  ist  etwas  ganz  anderes  an  ein  Objekt  glauben  und 
es  lieben,  und  ebenso  etwas  ganz  anderes  ein  Objekt  leugnen 
und     es     hassen;     sonst    wäre    jede    Trauerbotschaft    aus- 


—     142     — 

geschlossen.  Und  es  genügt  hiegegen  zur  Abwehr  nicht, 
darauf  zu  verweisen,  daß,  weil  dasselbe  unter  verschiedenen 
Gesichtspunkten  schlecht  und  gut  gefunden,  auch  etwas 
zugleich  gehaßt  und  glaubend  geliebt  werden  könne.  Denn, 
wenn  einer  einen  Gegenstand  im  übrigen  haßt,  so  ist  er 
ihm  gewiß  nicht  darum  lieber,  weil  er  ist,  da  er  vielmehr 
wünscht,  daß  er  nicht  sei.  Auch  darf  man  nicht  übersehen- 
daß.  wemi  zwischen  dem  Gebiet  des  Urteils  und  dem  der 
Gemütsbeziehung  vielfache  Analogien  bestehen,  dieselben 
doch  nicht  durchgängig  gefunden  werden.  Ich  hebe  hier 
einen  Punkt  als  besonders  bezeichnend  hervor,  auf  den  ich 
auch  in  meinem  Ursprung  sittlicher  Erkenntnis  aus  be- 
sonderem Grund  die  Aufmerksamkeit  lenken  mußte.  Es 
gibt  auf  dem  Gebiet  des  Urteils  ein  Wahr  und  Falsch.  Da- 
zwischen aber  gibt  es  kein  Mittleres,  so  wenig  als  zwischen 
Sein  und  Nichtsein,  nach  dem  bekannten  Gesetz  des  aus- 
geschlossenen Dritten.  Dagegen  gibt  es  für  das  Gebiet  der 
Liebe  nicht  bloß  ein  „gut"  und  „sclüecht'^  sondern  auch  ein 
„besser"  und  „weniger  gut",  „schlechter"  und  „weniger 
schlecht".  Es  hängt  dies  mit  der  Eigentümlichkeit  des 
Bevorzugens  zusammen,  einer  besonderen  Klasse  von  Ge- 
mütsbeziehungen, der,  wie  ich  in  meinem  Ursprung  sitt- 
licher Erkenntnis  zeige,  auf  dem  Gebiet  des  Urteils  nichts 
entspricht.  Auch  wird  durch  Hinzufügung  von  Gutem  zu 
Gutem  ein  Besseres  gewonnen;  ja  auch  zu  Schlechtem  ge- 
fügt ergibt  das  Gute  mit  ihm  ein  Ganzes,  welches  wir  viel- 
leicht einem  gewissen  andern  reinen  Gut  für  sich  allein  mit 
Recht  vorziehen,  wie  man  in  der  Theodicee  zu  sagen  pflege. 
Gott  habe  das  Schlechte  in  der  Welt  zugelassen,  weil  die 
Welt  infolgö  dieser  Zulassung  alles  in  allem  jeder  von 
allem  Schlechten  freien  an  Vollkommenheit  überlegen  sei. 
So  will  man  denn  und  wählt  oft  implizit  das  Schlechte  mit, 
während  man  urteilend,  bei  richtigem  Verfahren  niemals 
einer  Unwahrheit  Zutritt  gestattet,  um  dadurch  das  Ganze 
wahrer  zu  machen. 

Noch  eins  I    Bei  dem,  was  wir  mit  Recht  lieben,  unter- 
scheiden wir  solches,  was  an  sich  und  solches,  was  nur  um 


—     148     — 

eines  andern  willen  gut  ist,  und  nennen  das  letztere  „nütz- 
lich". Bei  dem,  was  wir  mit  Recht  anerkennen,  gibt  es 
einen  analogen  Unterschied  nicht ;  alles,  was  existiert,  auch 
wenn  es  in  einem  andern  seine  wirkende  Ursache  hat, 
ist  als  solches  (und  nicht  bloß  in  Rücksicht  auf  jenes) 
existierend. 

YIII.   Ton  der  Unmöglichkeit  für   Gefühl   und  Wille   in 

Analogie   zu  Vorstellung  und  Urteil   verschiedene  Grund- 

klassen  anzunehmen. 

Haben  wir  eben  gesehen,  wie  manche  neuere  Forscher 
die  Zahl  der  von  uns  aufgestellten  Grundklassen  durch  die 
Subsumtion  des  Urteils  unter  die  Gemütsbeziehung  auf  zwei 
reduzieren  wollen,  so  finden  sich  daneben  andere,  welche 
noch  immer  nicht  zugeben,  daß  mit  den  Gefühlen  von 
Freude  und  Leid  auch  alles  das,  was  wir  begehren,  vor- 
ziehen, wünschen,  wollen  und  wählen  nennen,  in  einer 
Grundklasse  vereinbar  sei.  Und  wenn  ich  auf  die  All- 
mählichkeit des  Übergangs  zwischen  dem ,  was  man  fühlen 
und  wollen  nennt,  hinwies,  so  hörte  ich  namentlich  einen 
Punkt  als  einen  solchen  namhaft  machen,  wo  die  Grenze 
denn  doch  in  scharfer  Zeichnung  hervortrete.  Unter  jenen 
psychischen  Beziehungen,  welche  ich  als  Liebe  dem  Haß 
entgegengesetzt  habe,  sagte  man,  fänden  sich  solche,  welche, 
obwohl  auf  Unvereinbares  gerichtet,  nicht  selbst  mit- 
einander unvereinbar  seien.  Das  Gegenteil  gelte  aber 
von  gewissen  anderen  Beziehungen,  welche  ich  ebenfalls 
derselben  Klasse  zugewiesen  habe.  So  könne  einer  z.  B. 
recht  wohl  zugleich  an  dem  Aufenthalt  in  jeder  von  zwei 
schönen  Gegenden  Gefallen  finden,  dagegen  könne  er  nicht 
zugleich  in  der  einen  wie  andern  Gegend  sich  aufhalten 
wollen.  Es  sei  dies  ähnlich,  wie  wir  zugleich  Entgegen- 
gesetztes vorstellen  und  in  mannigfacher  Beziehung  ver- 
gleichen können,  während  im  Urteil  die  Anerkennung  des 
einen  Entgegengesetzten,  die  des  andern  ausschließt.  Und 
so  erscheine  denn,  wie  Urteilen  von  Vorstellen,  auch 
Wollen  von  Lieben  verschieden.    Es  möge  das  Wollen  das 


—     144     — 

Lieben  voraussetzen,  wie  ja  auch  das  Urteilen  das  Vorstellen 
voraussetzt,  aber  doch  nur,  um  wie  eine  psychische  Be- 
ziehung von  anderer  Grundklasse  sich  darauf  zu  gründen. 

Doch  der  Vergleich  mit  dem  Verhältnis  von  Vorstellen 
und  Urteilen,  wenn  man  ihn  genauer  anstellt,  läßt  er- 
kennen ,  daß  die  Sache  in  diesem  Fall  wesentlich  anders 
liegt.  Kommt  zum  Vorstellen  das  Anerkennen  hinzu,  so 
liegt  darin  keine  Addition,  welche  Vorstellen  zu  Vorstellen 
fügt.  Hier  dagegen  erscheint,  wenn  ich  von  zwei  un- 
vereinbaren Dingen,  die  beide  mir  gefallen,  das  eine  wähle, 
zu  dem  Lieben,  das  im  Gefallen  zutage  trat,  eine  neue 
Betätigung  der  Liebe  zum  selben  Objekt  hinzuzukommen. 

Auch  sind  es  keineswegs  jene  psychischen  Beziehungen 
zum  Objekt,  die  man  Wollen  und  Wählen  nennt,  in  welchen 
allem  jene  Ausschließlichkeit  sich  zeigt.  Das  Wollen  und 
Wählen  geht  immer  auf  das  Praktische.  Und  so  kann 
denn  z.  B.  niemand,  der  nicht  wie  ein  Äolus  über  Wind 
und  Wetter  zu  gebieten  glaubt,  wollen,  daß  in  drei  Tagen 
dies  oder  jenes  Wetter  sei.  Aber  doch  kann  es  Fälle 
geben,  wo  ihm  an  demselben  Tage  aus  gewissem  Grunde 
das  schöne,  aus  anderem  das  schlechte  Wetter  lieb  ist,  in- 
dem hier  wie  anderwärts  Wohlgefallen  mit  Wohlgefallen 
sich  verträgt;  daß  er  aber  doch  ganz  entschieden  wünscht, 
daß  das  eine  und  nicht  das  andere  eintrete. 

Sollen  wir  nun  sagen,  daß  das  Bevorzugen  es  sei, 
welches  vor  anderem .  was  wir  Gemütsbeziehmig  nannten, 
diesen  Charakter  der  Ausschließlichkeit  besitze?  —  Wenn 
dies,  so  wäre  es  wohl  unverkennbar,  daß  es  sich  um  eine 
wahre  Liebesbeziehung  handelt,  wie  darum  ja  auch  die  ge- 
meine Sprache  von  „Vorliebe"  spricht.  Oder  sollen  wir, 
da,  wenn  mehr  als  zwei  unvereinbare  Objekte  in  Frage 
kommen,  oft  das,  was  vor  einem  bevorzugt,  zugleich  einem 
Dritten  nachgesetzt  und  dann  nur  dieses,  wie  man  sich 
ausdrückt,  „gewünscht^'  wird,  das  nicht  bloß  relative, 
sondern  absolute  Bevorzugen  allein  als  ein  Beispiel  jener 
neuen  Grundklasse  betrachten  ?  —  Man  sieht,  daß  dies  eben- 
sowenig Schein  für  sich  hat. 


—     145    — 

Vielleicht  sagt  aber  einer,  nicht  um  einen  Unterschied 
des  Bevorzugens  vor  anderem,  was  einem  lieb  ist.  oder  des 
Bevorzugens  vor  allem  gegenüber  dem  Bevorzugen  vor 
einigem  handle  es  sich ;  es  gebe  Fälle,  wo  wir  die  als  schön 
erkannte  Handlungsweise  vor  allen  anderen  bevorzugen 
und  doch,  von  der  Leidenschaft  beherrscht,  entgegengesetzt 
wollen  und  handeln.  Doch  wenn  dies,  so  wäre  es  nur 
etwa,  wie  Aristoteles  den  Fall  auffaßt,  zu  denken;  daß 
nämlich  die  Leidenschaft  die  höhere  Liebe  und  Wert- 
schätzung nicht  recht  zu  Wort  kommen  ließe;  daß  sie  ver- 
hinderte, daß  sie  sich  zu  ihren  Konsequenzen  entwickelt, 
indem  sie  selbst  nach  innen  wie  außen  prädominierte.  Ob- 
wohl das  Verlangen  nach  einer  sinnHchen  Lust  nicht  mit 
dem ,  was  die  Vernunft  bevorzugen  heißt ,  im  Einklang  ist, 
so  kommen  doch  Vernunftüberlegungen  in  den  Dienst  der 
Leidenschaft,  machen  die  Mittel  ausfindig,  die  zur  Erreichung 
der  Lust  dienen  und  die  Liebe  und  Lust  der  Bevorzugung 
übertragen  sich  auf  die  Mittel  und  führen  zm-  Handlung, 
während  die  entgegengesetzte  edle  Bevorzugung  ohne  Ein- 
fluß bleibt.  Fassen  wir  die  Sache  so,  so  haben  wir  es  also 
mit  einer  Komplikation  von  Beziehungen  zu  tun.  An  den 
Affekt  knüpfen  sich  Vorstellungen  und  Urteile  und  darauf- 
hin noch  weitere  Akte  der  Liebe,  worin  wir  nach  etwas 
als  Mittel  begehren,  und  schließlich  die  äußere  Handlung, 
Man  wird  aber  auch  hier  vergeblich  nach  einem  Moment 
suchen,  das  uns  zur  Annahme  einer  neuen  Grundklasse 
berechtigte. 

IX.  Ton  den  wahren  und  fiktiven  Objekten. 

Alles  ps}' chisch  sich  Beziehende  bezieht  sich  auf  Dinge. 

Die  Dinge,  auf  welche  man  sich  psychisch  bezieht,  sind  in 
vielen  Fällen  nicht.  Man  pflegt  aber  zu  sagen,  sie  seien  auch 
dann  als  Objekte.  Es  ist  dies  ein  uneigentlicher  Gebrauch 
des  Wortes  „sein",  den  man  sich  der  Bequemlichkeit  halber 
ebenso  ungestraft  erlaubt,  wie  den  des  „Auf-  und  Unter- 
gehens" in  seiner  Anwendung  auf  die  Sonne.  Man  sagt  damit 
eben  nicht  mehr,  als  daß  sich  ein  psychisch  Tätiges  darauf 

Brentano,  Klassittkation  der  psychiseheu  Phäaomone.  10 


—     140     — 

beziehe.  Es  ist  nur  konsequent,  wenn  man  sich  daraufhin 
auch  Äußerimgen  erlaubt  wie  „ein  Zentaur  ist  halb  Mensch, 
halb  Pferd",  obwohl  ein  Zentaur  im  eigenthchen  Sinn  nicht 
ist  und  darum  im  eigentlichen  Sinn  kein  Zentaur  ist,  keinen 
Leib  hat.  der  zur  Hälfte  menschlich  und  zur  Hälfte  pferde- 
artig wäre. 

Wie   die  Eigentümlichkeit  des  psychisch  Tätigen,   sich 
auf  Dinge  zu  beziehen,    dazu  geführt  hat,   von  Objekten  zu 
sprechep,   die  in  dem  psychisch  Tätigen  seien,   so  hat  der 
Umstand,    daß   sich   das   psychisch  Tätige   verschiedentlich 
auf    dasselbe    Ding   bezieht,    dazu    geführt,    von    etwas    zu 
sprechen,  was  in  gewisser  Weise   mehr  als  das  Objekt  sei, 
dasselbe  in   sich    enthalte   und   ebenfalls  in  dem  psychisch 
Tätigen  sich   finde.      Man  nannte  es  den  „Inhalt"  der  psy- 
chischen Beziehung.     Namentlich   bei   der  urteilenden  psy- 
chischen Tätigkeit  sprach  man  außer  von  einem  Objekt  von 
einem  Inhalt  des  Urteils.     Wenn  ich  urteile:   „ein  Zentaur 
ist    nicht",    so    sagte   man,    das    Objekt    sei    Zentaur,    der 
Inhalt  des  Urteils  aber  sei,  daß  ein  Zentaur  nicht  sei  oder 
auch  das  Nichtsein  eines  Zentauren.     Sagt  man,   dieser  In- 
halt sei  in  dem  psychisch  Tätigen,  so  gebraucht  man  wieder 
das  „sein"    in   einem   uneigentlichen  Sinn   und   sagt   nichts 
anderes,  als  was  man  beim  Gebrauch  des  „seins"  im  eigent- 
lichen   Sinne    in    den   Worten    ausspricht:    ,.ein    psychisch 
Tätiges  verneint  in  dem  Modus  praesens  einen  Zentauren". 
Man  ist  aber  hier  noch  weiter  geführt  worden  und  hat 
in  Rücksicht  auf  den  Unterschied  des  richtig  und  unrichtig 
urteilend    Tätigen    von    Inhalten    gesprochen,     welche    in 
Wirklichkeit  seien  und  solchen,   die   in  Wirklichkeit  nicht 
seien.     So  z.  B,  da  der,    welcher   einen  Zentauren  leugnet, 
richtig  urteilt,  sagte   man,   das  Nichtsein  des  Zentauren  sei 
wirklich,  wähi-end   das  Sein   des  Zentauren  nicht  wirklich 
sei.     Und  umgekehrt,  weil  es  wahr  ist,  daß  es  einen  Baum 
gibt,   so   sagte  man  nicht  bloß,   es  sei  ein  Bamn,   sondern 
auch,   es   sei  das  Sein   eines  Baumes  und  es  sei  nicht  sein 
Nichtsem.    Man  behandelte  also  die  Inhalte  analog  wie  die 
Objekte,    von  denen  man  solche  unterscheidet,    die   nur  im 


—     147     — 

uneigentlichen  Sinn  im  psychisch  Tätigen  und  solche,  die 
außerdem  im  eigentlichen  Sinne  sind,  wo  sie  dann  zu  den 
wirklichen  Dingen  gehören.  Da  man  aber  doch  Anstand 
nahm,  das  Nichtsein  eines  Zentauren  für  ein  wirkliches 
Ding  zu  erklären,  so  glaubte  man  diesem  Unterschied  und 
jener  Ähnlichkeit  zugleich  Rechnung  zu  tragen,  indem  man 
die  Inhalte  „Objektive"  nannte. 

Doch  sicher  handelt  es  sich  hier  nur  um  Fiktionen.  Wer 
sagt,  daß  das  Nichtsein  eines  Zentauren  sei,  oder  auch  die 
Frage,  ob  ein  Zentaur  nicht  sei,  mit  einem  „so  ist  es'" 
beantwortet,  will  nichts  anderes  sagen,  als  daß  er  den 
Zentauren  mit  dem  Modus  praesens  leugne  und  als  Folge 
davon  auch  glaube,  daß  jeder,  der  einen  Zentauren  leugne, 
richtig  urteile.  Aristoteles  sagt  darum  ganz  richtig,  jenes 
„so  ist  es",  wodurch  wir  einem  Urteil  beipflichten,  besage 
nichts  anderes,  als  das  Urteil  sei  wahr,  und  die  Wahrheit 
bestehe  nicht  außer  dem  Urteilenden,  mit  andern  Worten 
nur  in  jenem  uneigentlichen  Shm,  nicht  aber  eigentlich  und 
in  Wirklichkeit.  Es  würde  zu  den  heillosesten  Kompli- 
kationen führen,  wenn  man  sich  an  dieser  aristotelischen 
Lehre  irr  machen  ließe  und  jene  Fiktionen  für  etwas  im 
eigentlichen  Sinne  Bestehendes  nähme.  Es  gäbe  dann 
außer  einem  Apfel  auch  das  Sein  eines  Apfels,  das  Nicht- 
sein des  Nichtseins  eines  Apfels,  das  Sein  des  Nichtseins 
des  Nichtseins  eines  Apfels  usw.  in  infinitum,  und  unendlich- 
facli  würden  sich  die  unendlichen  Komplikationen  verviel- 
fältigen. 

Wenn  man  dafür,  daß  das  Nichtsem  eines  Zentauren 
eigentlich  und  in  Wirklichkeit  bestehe,  sich  auf  den  Satz 
berief:  „die  Wahrheit  eines  Urteils  ist  seine  Übereinstinunung 
mit  der  Wirklichkeit"  und  sagte,  daß,  da  diese  Überein- 
stimmung beim  negativen  Urteil,  wenn  nicht  etwas  ihm  Ent- 
sprechendes in  Wirklichkeit,  sich  fände,  fehlen  würde:  so 
ist  darauf  zu  erwidern,  daß  man  hier  den  Sinn  jener  alt 
überlieferten  Worte  in  unannehmbarer  Weise  deutet.  Sic 
wollen  nichts  anderes  sagen,  als  daß  ein  affirmatives  Urteil 
wahr  genannt  werde,   wenn  das,   wovon  es  sagt,  es  sei,   es 

10* 


—     148     — 

sei  gewesen  oder  werde  sein,  ist,  war  oder  sein  wird,  und 
ein  negatives,  wenn  das,  wovon  es  sagt,  daß  es  nicht  sei. 
nicht  gewesen  sei  oder  nicht  sein  werde,  nicht  ist,  nicht 
war  und  nicht  sein  wird.  Um  eine  positive  Überein- 
stimmung mit  einem  Dinge  handelt  es  sich  dabei  nur  etwa 
im  Falle  der  affirmativen  Urteile  im  Modus  praesens,  wäh- 
rend es  für  das  negative  im  Modus  praesens  genügt,  daß 
keine  Disharmonie  besteht,  wie  sie  z.  B.  für  die  Leugnung 
eines  Zentauren  gegeben  wäre,  wenn  ein  Zentaur  im  eigent- 
lichen Sinne  bestände. 

Die  Analogie  zwischen  Inhalten  und  Objekten,  welche 
darin  liegen  soll,  daß  die  einen  wie  die  anderen  nicht  bloß 
in  uneigentlichem  Sinn  sind,  sondern  auch  im  eigentlichen 
Sinn  teils  sind,  teils  nicht  sind,  besteht  also  nicht  zu  Rechte. 

Wie  die  Inhalte  nicht  im  eigenthchen  Sinne,  so  können 
sie  auch  nicht  in  genau  demselben  uneigentlichen  Sinn 
bestehen,  in  welchem  die  Objekte  sind,  d.  h.  sie  können 
keine  Objekte  werden,  wie  umgekehrt  kein  Objekt  das 
Ganze  eines  Inhalts  ausmachen  kann.  Man  sieht  leicht,  wie 
dieser  Satz  mit  dem  Frühergesagten  zusammenhängt;  denn 
könnte  ein  Inhalt,  z.  B.  das  Sein  Napoleons  oder  dessen 
Nichtsein,  Objekt  werden,  so  müßte  es  auch  von  ihm  gelten, 
daß  es  entweder  ist  oder  nicht  ist.  und  man  müßte  wie  von 
Napoleon  wohl  auch  von  dem  Sem  Napoleons  im  eigent- 
lichen Sinn  sagen  können,  daß  es  bald  sei,  bald  nicht  sei, 
jetzt  anfange  und  jetzt  ende.  Niemals  wird  ein  Inhalt  in 
dem  Sinne  vorgestellt,  daß  er  Objekt  der  Vorstellung  wäre, 
niemals  auch  in  dem  Sinne  anerkannt,  wie  ein  Objekt  an- 
erkannt wird,  auch  von  solchen  nicht,  welche  ihn  so  an- 
zuerkennen glauben :  womit  ich  natürlich  nicht  leugnen  will, 
daß  man  nach  einem  anderen,  sogar  gemeinüblicheren  Ge- 
brauch, statt  zu  sagen,  man  erkenne  ein  Ding  an,  sagen 
kann,  man  erkenne  an.  daß  ein  Ding  sei.  Vielmehr  stellt 
man  immer  nur  einen  das  betreffende  Urteil  Fällenden  vor 
und  urteilt,  daß  man,  indem  man  ihn  \  orstelle,  einen  Richtig- 
urteilenden vorstelle.  Streng  genonnnen  drücken  wir  uns 
darum   auch  nicht  ganz   richtig   aus,   wenn  wir  sagen,   wir 


—     149    — 

leugneten,  daß  der  Inhalt  eines  Urteils  existiere.  Wir  sollten 
vielmehr  sagen,  wir  leugneten,  daß  etwas  existiere,  wof'ü]- 
das  Wort  „Inhalt"  Benennung  sei.  ähnlich  wie  bei  Worten 
wie  „von"  und  „aber",  welche  für  sich  allein  keinen  Sinn 
haben,  kein  Ding  benennen.  „Ein  Von  ist  nicht",  „ein  Aber 
ist  nicht"  hat  so  wenig  Sinn,  wie  „ein  Poturi  Nulongon  ist 
nicht".  Wohl  aber  hat  es  einen  Sinn  zu  sagen:  es  gibt 
kein  Ding,  welches  durch  die  Präposition  „von"  oder  die 
Konjunktion  „aber"  benannt  würde. 

Es  steht  uns  also  fest: 

Man  kann  nicht  wie  einen  Zentauren,  so  das  Sein  oder 
Nichtsein  eines  Zentauren  zum  Objekte  machen,  sondern 
nur  einen  den  Zentauren  Anerkennenden  oder  Leugnenden, 
in  welchem  Falle  der  Zentaur  ebenfalls  zugleich  in  einem 
besonderen  Modus  obliquus  Objekt  wird.  Und  so  gilt 
denn  überhaupt,  daß  nie  etwas  anderes  als  Dinge,  welche 
sämtlich  unter  denselben  Begriff  des  Realen  fallen,  für 
psychische  Beziehungen  ein  Objekt  abgibt.  Weder  Gegen- 
wart, Vergangenheit  und  Zukunft,  oder  auch  Gegenwärtiges, 
Vergangenes  und  Zukünftiges,  noch  auch  Existenz  und 
Nichtexistenz,  oder  auch  Existierendes  und  Nichtexistieren- 
des,  noch  Notwendigkeit  und  Nichtnotwendigkeit,  Möglich- 
keit und  Unmöglichkeit,  oder  auch  Notwendiges  und  Nicht- 
notwendiges, Mögliches  imd  Unmögliches,  noch  Wahrheit 
und  Falschheit,  oder  Wahres  und  Falsches,  noch  Güte  und 
Schlechtigkeit,  noch  eine  sogenannte  Wirklichkeit  (ivs^oYcta. 
IvteXe/öia)  oder  Form  (sioo?.  ao-jOc,  aopcpi^),  von  denen  Aristo- 
teles spricht  und  welchen  in  der  Sprache  die  Abstrakta  wie 
Röte,  Gestalt,  Natur  des  Menschen  u.  dgl.  zum  Ausdruck 
zu  dienen  pflegen,  noch  die  Objekte  als  Objekte,  wie  An- 
erkanntes, Geleugnetes,  Geliebtes,  Gehaßtes,  Vorgestelltes, 
können  jemals,  so  wie  Reales,  das  sein,  worauf  wir  uns  als 
Gegenstand  psychisch  beziehen. 

Es  würde  hier  zu  weit  führen,  dies  in  bezug  auf  jedes 
Einzelne  nachzuweisen.  Und  so  sei  denn  nur  im  allgemeinen 
bemerkt,  daß  jeder,  der  einen  Fall  genau  untersucht,  wo 
man  geneigt  sein  könnte,   das  Gegenteil  anzunehmen,    ent- 


—     150     — 

decken  wird,  daß  man  dann  immer  auch  Dinge  zu  Objekten 
hat,  teils  in  recto,  teils  in  obliquo;  und  weiter  noch,  daß^ 
man  für  jeden  Satz,  der  etwas  von  dem  Erwähnten  zum 
Subjekt  oder  Prädikat  zu  haben  scheint,  einen  äquivalenten 
bilden  kann,  bei  welchem  Subjekt  und  Prädikat  durch  Reales 
ersetzt  sind.  Schon  Leibnitz  hat  dies .  im  besonderen  was 
die  sogenamiten  Nomina  abstracta  betrifft,  erkannt  und  in 
seinen  „Nouveaux  Essais"  Liv.  II,  Chap.  XXIII.  §  1  eine 
Übersetzung,  wie  wir  sie  angedeutet,  erkannt,  mit  welcher 
man  dann  einer  Fülle  von  subtilen  und  abstrusen  Er- 
örterungen, die  Metaphysik  und  Logik  verwirrten,  sich  ent- 
hoben sehen  werde. 

Dies  hindert  aber  nicht,  daß  in  vielen  Fällen  die  Fiktion,, 
als  hätten  wir  noch  anderes  als  Reales  wie  z.  B.  Nicht- 
seiendes  ebenso  wie  Seiendes  zum  Objekt,  sich  bei  logischen 
Operationen  unschädlich  erweist,  ja,  daß  diese  dadurch,  weil 
im  Ausdruck  und  auch  im  Denken  selbst  vereinfacht,  er- 
leichtert werden  können  ;  ähnlich  wie  der  Mathematiker  sich 
mit  Vorteil  der  Fiktionen  von  Zahlen  unter  Null  und  vieler 
anderer  zu  bedienen  pflegt.  Ein  vielfach  kompliziertes  Vor- 
stellen und  Urteilen  läßt  sich  bei  solcher  Methode  be- 
handeln, als  wenn  es  em  einfaches  wäre,  und  man  ist  der 
in  gewissen  Fällen  nutzlosen  Mühe  einer  genaueren  Ver- 
deutlichung eines  konfus  erfaßten  psychischen  Vorganges 
überhoben. 

So  hat  die  gemeine  Logik  von  altersher  vielfach  von 
Urteilen  als  einheitlichen  und  emfachen  gesprochen,  die  es 
eigentlich  nicht  sind.  Sie  glaubte  z.  B.  in  den  vier  Klassen 
kategorischer  Sätze,  die  sie  mit  den  Buchstaben  a,  e,  i,  o 
bezeichnete,  Klassen  einfacher,  einheitlicher  direkter  Urteile 
zu  unterscheiden,  während  tatsächlich  viele  davon,  ja  ge- 
wissermaßen alle,  kompliziert  sind,  und  namentlich  Urteile 
des  Innern  Bewußtseins  mit  einbegreifen. 

Ich  will  es  nicht  unterlassen,  etwas  in  ihre  psycho- 
logische Analyse  einzugehen.  Wenn  man  die  dadurch  sich 
ergebende  Komplikation  mit  der  Einfachheit  des  Verfahrens 
vergleicht,   zu   der  man   durch  Anwendung  gewisser  nahe- 


—     151     — 

liegender  Fiktionen  gelangt,  so  wird  man  dieselben  in  ihrem 
Verdienst  sehr  wohl  zu  würdigen  wissen. 

Von  den  genannten  vier  kategorischen  Formeln  ist  die 
Formel  i  am  leichtesten  zu  analysieren.  „Ein  S  ist  P"  ist 
äquivalent  einem  Existenzialsatz,  welcher  das  Ganze,  zu 
dem  ich,  wenn  ich  S  mit  P  identifiziert  vorstelle,  gelange, 
mit  dem  Modus  praesens  anerkennt.  Und  drückte  der  Satz, 
wie  die  Logik  fingiert,  ein  einfaches  Urteil  aus.  so  wäre  er 
mit  dem  in  diesem  Existenzialsatz  ausgedrückten  Urteil 
geradezu  identisch.  Genau  besehen  bezeichnet  er  aber  ein 
Doppelurteil,  dessen  einer  Teil  das  Subjekt  anerkennt  und 
dessen  anderer,  nachdem  das  Prädikat  vorstellend  mit  dem 
Subjekt  identifiziert  worden  ist,  das  zunächst  für  sich  an- 
erkannte Subjekt  nun  auch  noch  mit  dieser  Zugabe  an- 
erkennt, d.  h.  ihm  das  Prädikat  P  zuspricht. 

Ähnliches  finden  war  bei  der  Formel  o.  Die  Logiker 
nennen  sie  die  partikulär  verneinende,  was  höchst  ungenau 
ist  und  wenn  es  als  genau  gesprochen  betrachtet  würde, 
etwas  geradezu  U^nmögliches  besagte.  Denn  es  kann  nicht 
geschehen,  daß  ein  rem  verneinendes  Urteil  anders  als  uni- 
versell verneint,  wie  es  auch  umgekehi't  unmöglich  ist,  daß, 
wo  es  sich  um  universelle  Begriffe  handelt,  ein  bejahendes 
Urteil  anders  als  partikulär  bejaht.  Wie  der  Satz:  „es  gibt 
nicht  einen  Baum"  universell  verneint,  w^ährend  der  Satz 
„es  gibt  einen  Baum"  partikulär  bejaht,  so  gilt  dasselbe 
ausnahmslos  für  „es  gibt  nicht  ein  A"  und  „es  gibt  ein  A". 
Nur  wo  ein  mit  P  identifiziertes  S  vorher  durch  einen  Zu- 
satz restringiert  worden  ist,  kann  darum  einer,  der  sich 
verneinend  auf  die  Verbindung  eines  S  mit  einem  P  bezieht, 
sie  anders  als  nach  dem  ganzen  LTmfang  von  S  verwerfen. 
Zu  einer  solchen  Restriktion  kommt  es  nun  aber  bei  der 
Formel  o  dadurch,  daß  sie  wie  die  Formel  i,  genau  be- 
sehen, ein  Doppelurteil  ausdrückt.  Das  eine  besteht,  wie 
bei  der  Formel  i,  in  der  Anerkennung  des  Subjektes  S, 
und  dieses  ist  der  Grundbestandteil  des  Doppelurteils,  auf 
welchen  dann  der  zweite  Teil  Bezug  nimmt  und  ihn  in  der 
Art  zur  Voraussetzung-  hat,  daß  or  davon  unabtrennbar  ist- 


-  -     152     — 

Und  dieser  zweite  Teil  ist  negativ ;  er  spricht  dem  S,  welches 
der  erste  Teil  des  Doppelurteils  anerkannt  hat,  nicht  wie  der 
zweite  Teil  bei  der  Formel  i  ein  Merkmal  zu.  sondern  er 
spricht  ihm  eines  ab.  So  leugnet  er  nicht  die  Verbindung  von 
P  mit  S  schlechtweg,  sondern  die  Verbindung  von  P  mit 
einem  S,  welches  ich  anerkenne  und  da  jede  Anerkennung 
partikulär  ist,  durch  diese  Anerkennung  selbst  partikulari- 
siere.  Es  ist  also,  wie  gesagt,  nicht  ein  S  schlechthin, 
dessen  Verbindung  mit  P  geleugnet  wird,  sondern  ein  in 
seinem  Umfang  restringiertes  S,  und  so  scheint  denn  infolge 
des  partikulären  Charakters  des  grundlegenden,  affirmativen 
Teils  des  Doppelm-teils  o  auch  der  darauf  aufgebaute  nega- 
tive Teil  desselben  partikulär,  ohne  es  eigentüch  zu  sein. 
Doch,  wenn  einer  es  vorzieht,  mag  er  auch  sagen,  daß  das 
zweite  Urteil  wahrhaft  partikulär  sei,  aber  nur,  weil  e.s 
nicht  rein  negativ  ist,   sondern   eine  Affu'mation  impliziert. 

Wenn  wir  bei  der  Formel  i  fanden,  daß  das  Doppel- 
urteil „S  ist  P"  dem  einfachen  Existenzialurteil  „es  gibt 
ein  S  P",  d.  i.  „ein  P  seiendes  S"  äquivalent  war,  so  kann 
nach  dem  Gesagten  für  die  Formel  o  in  bezug  auf  die 
existenziale  Formel  „es  gibt  nicht  ein  S  P"  nicht  Ähnliches 
gelten,  denn  hier,  wo  es  an  aller  Bejahung  fehlt,  fehlt  es 
auch  an  jedem  restringierenden  Moment,  das  den  scheinbar 
partikulären  Charakter  des  negativen  Urteils  erklärlich  macht. 

Ich  darf  es  aber  nicht  unterlassen,  auf  eine  sprachliche 
Eigentümlichkeit  der  Formeln  i  und  o,  wie  sie  gewöhnlicli 
ausgesprochen  werden,  aufmerksam  zu  machen.  Man  sagt 
gemeiniglich  nicht  einfach  „ein  S  ist  P",  „ein  S  ist  nicht 
P",  sondern  „irgend  ein  S  ist  P",  „irgend  ein  S  ist  nicht 
P".  Dieses  „irgend"  ist  eigentlich  nur  da  im  Gebrauch,  wo 
es  sich  um  eines  aus  einer  Mehrzahl  handelt.  Man  kann 
darum  z.  B.  nicht  ebenso  gut  sagen  „es  lebt  irgend  ein 
Gott"  als  „es  lebt  ein  Gott". 

Zu  einer  ähnlichen  Bemerkung  gibt  der  gemeinübliche 
Ausdruck  für  die  Formeln  a  und  e  Anlaß.  Man  sagt  „alle 
S  sind  P"  oder  „jedes  S  ist  P".  indem  man  das  eine  Mal 
geradezu    den    Plural    anwendet,     das    andere    Mal    einen 


—    15;^    — 

Singular,  der  aber  auf  eine  Vielheit,  zu  der  das  Einzelne 
gehört,  hinweist.  Etwas  weniger  sichtlich  ist  die  Beziehung 
zum  Plural,  wenn  man  die  Formel  e  durch  „kein  S  ist  P" 
ausdrückt.  Doch  liegt  es  nahe  auch  hier  das  „kein"  im 
Sinne  von  „keines  unter  allen"  zu  fassen. 

Faktisch  werden  aber  die  Formeln  viel  allgemeiner  ver- 
wendet. So  gibt  man  als  Beispiel  von  ihnen  Sätze  wie 
.,Cajus  ist  ein  Mensch",  „kein  schlechthin  vollkommenes 
Wesen  ist  ungerecht",  obwohl  es  sich  in  beiden  Fällen  im 
Subjekt  um  etwas  handelt,  was  nicht  in  der  Mehrzahl  sein 
kann.  Und  ich  kann  auch  sagen  „jedes  runde  Viereck  muß 
rund  und  viereckig  zugleich  sein",  obwohl  es  nicht  einmal 
ein  rundes  Viereck,  geschweige  denn  eine  Vielheit  von 
runden  Vierecken  gibt  und  geben  kann. 

So  sehen  wir  denn,  daß  die  Formeln,  wie  sie  jetzt  ge- 
handhabt werden,  nur  der  Ausdrucksweise  nach,  nicht  aber 
dem  Sinne  nach  etwas  mit  einer  Mehrheit  zu  tun  haben. 
Und  ich  habe  darum  bei  der  eben  gegebenen  Analyse  der 
Formeln  i  und  o  auch  nicht  auf  eine  solche  Rücksicht  ge- 
nommen. Und  auch  bei  den  noch  zu  untersuchenden 
Formeln  a  und  e  will  ich  es  nicht  tun.  Täte  ich  es  aber, 
so  würde  ich  den  Begriff  der  Zahl  fiktiv  so  erweitern  müssen, 
daß  ich  auch  „Eins"  und  „Null"  mit  darunter  begriffe. 
Dann  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  es  für  jegliches  Sub- 
jekt eine  Gesamtzahl  gibt.  Eben  darum  wäre  aber  auch 
nichts  damit  gewonnen,  daß  man  ausdrücklich  dies  geltend 
machte  und  z.  B.  statt  „ein  S  ist  P"  sagte  „in  der  Gesamt- 
zahl von  S  findet  sich  eine  Einheit,  welche  P  ist"  und  statt 
„ein  S  ist  nicht  P"  „in  der  Gesamtheit  von  S  ist  ein  S 
nicht  P".  Auch  in  den  beiden  anderen  Formeln  wird  so 
gut  wie  garnicht  auf  ein  Kollektiv  Bezug  genonnuen.  Es 
macht  ja  nicht  den  geringsten  Unterschied  zu  sagen,  daß 
etwas  sich  nicht  vorfinde  oder  daß  es  in  der  Gesamtheit 
der  Dhige  sich  nicht  vorfinde;  und  wer  sagt,  eine  Gesamt- 
heit sei  etwas,  z.  B.  sie  sei  grün,  unter  den  Gesamtheiten 
aber  „Eins"  und  „Null"  mitbegreift,  von  dem  ist  offenbar, 
daß  er  von  einem  Kollektiv  weder  kollektiv  noch,  wie  die 


—     154     — 

Logiker  meinen,  distributiv  etwas  prädiziere.  da  für  den 
Fall,  daß  die  Gesamtheit  Null  ist,  keine  Einheiten  darin 
gegeben  sind,  von  welchen  das  Prädikat  ..grün"  Stück  für 
Stück  von  der  ersten  bis  zur  letzten  ausgesagt  werden 
könnte.  Fort  also  mit  dem  Ballast,  der  sich  zudem  als 
etwas  darstellt,  was  noch  vieler  w^eiteren  psychologischen 
Analysen  bedürfen  würde ,  um  in  seinem  Inhalt  voll  ver- 
deutlicht zu  werden.  Diese  würden  uns  insbesondere  mehr- 
fach auf  Vorstellungen  von  negativ  Urteilendem  füliren, 
würden  uns  aber  dann  auch  endgültig  vor  dem  neu  auf- 
getauchten Irrtum  behüten,  die  Termini  „Zahl",  „Gesamtheit" 
u.  dgl.  seien  Begriffe,  die  keiner  Anschauung,  weder  einer 
äußeren  noch  inneren  entnonnnen  sind.  Dies  in  Kürze,  um 
einem  Einwand  vorzubeugen ,  welcher  sonst  leicht  sowohl 
dem  schon  ausgeführten,  als  insbesondere  dem  noch  rück- 
ständigen Teil  unserer  Analyse  der  vier  kategorischen 
Formeln  gemacht  werden  könnte. 

Nachdem  wir  die  Formeln  i  und  o  untersucht,  wenden 
wir  uns  jetzt  zur  Formel  e. 

Wie  sich  die  Formel  i  als  ein  Äquivalent  des  Existenzial- 
satzes  „es  gibt  ein  S  P  (d.  i.  ein  P  seiendes  S)  erwies,  so 
ergibt  sich  der  Satz  .,kein  S  ist  P"  deutlich  als  ein  Äqui- 
valent der  existenzialen  Formel  „es  gibt  nicht  ein  SP". 

Ich  sage:  „als  ein  Äquivalent"  und  gebe  dadurch  zu  er- 
kennen, daß  er  psychologisch  betrachtet  nicht  ganz  derselbe 
ist.  Wir  wollen  uns  dies  durch  eingehendere  Analyse  klar 
machen.  Wer  sagt  „kein  S  ist  P"  stellt  einen  „ein  S  ist 
P"  Urteilenden  vor  und  erklärt,  daß  er,  indem  er  ilin  so 
urteilend  vorstelle,  einen  irrig  Urteilenden  vorstelle ;  einen, 
der  dem  Urteil  des  Vorstellenden  selbst  kontradiktorisch 
Entgegengesetztes  behaupte.  Nun  sahen  wir,  daß,  wer 
urteilt  „ein  S  ist  P"  ein  Doppelurteil  fällt,  dessen  erstes 
Partialurteil  S  anerkennt  und  dessen  zweites  dem  S,  welches 
im  ersten  anerkannt  worden,  das  Merkmal  P  als  Prädikat 
beilegt.  Somit  liegt  in  dem  Gesagten,  daß  er  eines  wenig- 
stens der  beiden  Urteile  für  falsch  hält,  jedenfalls  aber  das 
zweite,  da  dieses  das  erste  Partialurteil  impliziert  und  somit^ 


—     155     — 

wenn  dieses  falsch  ist,  ebenfalls  nicht  richtig  sein  kann. 
Und  darum  ist  denn  auch  die  Äquivalenz  des  existenzialen 
Urteils,  welches  die  Vereinigung  der  beiden  Merkmale  ver- 
wirft, ganz  offenbar. 

Analog  wie  die  Formel  e  zur  Formel  i  verhält  sich  die 
Formel  a  zur  Formel  o.  Bestand  die  Bedeutung  von  dieser 
in  dem  Doppelurteil  ,,es  gibt  ein  S  und  dieses  ist  nicht  P'\ 
so  besagt  der  Satz  „jedes  S  ist  P",  daß,  wer  die  beiden 
Urteile  fällt,  falsch  urteilt.  Ich  stelle  einen  als  ein  S  an- 
erkennend und  ihm  P  absprechend  vor  und  erkläre,  daü 
ich,  indem  ich  ihn  so  urteilend  vorstelle,  einen  irrig  Ur- 
teilenden vorstelle ;  einen,  der  meinem  eignen  Urteil  kontra- 
diktorisch Entgegengesetztes  behaupte;  womit  zutage  liegt,, 
daß  ich  infolge  des  von  mir  eingenommenen  Standpunktes 
glaube,  daß  es  einen  P  dem  S  richtig  Absprechenden  über- 
haupt nicht  geben  könne. 

Dies  sind  die  etwas  komplizierten  Ergebnisse  einer 
psychologischen  Analyse  der  vier  logischen  Formeln  kate- 
gorischer Sätze,  die  man  als  a,  e,  i,  o  bezeichnet,  wenn 
man  sie  auf  ihre  allerwesentlichsten  Momente  reduziert. 
Sehen  wir  jetzt,  mit  welchem  höchst  einfachen  Kunstgriff  der 
Logiker  sich  hier  die  Operationen,  die  durch  solche  Kompli- 
kationen erschwert  zu  werden  drohen,  vereinfachen  kann! 

Es  genügt,  wenn  er  fingiert,  daß  es  auch  Negativa  als 
Objekte  gebe.  Die  Fiktion  ist  wie  viele  andere  dem 
Laien  geläufig;  redet  er  doch  wie  von  einem  Klugen  so 
von  einem  Unklugen  und  wie  von  einem  Le])enden  von 
einem  Leblosen.  „Schönes"  und  „Unschönes",  „Rotes"  mid 
„Nichtrotes"  betrachtet  er  gleichmäßig  als  Namen,  d.  i.  als 
Worte,  die  ein  Objekt  nennen  und  auch  Aristoteles,  der 
doch  recht  gut  weiß,  daß  ein  Negativum  kein  Objekt  werden 
kann,  fügt  in  dem  Buch  De  Literpretatione  zu  dem  ..ovoua". 
dem  Worte,  das  etwas  nennt,  das  „ovoaa  äor>ia-ov",  welches 
nichts  anderes  als  j  ene  negativen  Ausdrücke  wie  „Nichtweißes " , 
„Nichtmensch"  u.  dgl.  begreifen  soll.  Der  Ausdruck  „unend- 
liches Urteil",  welchen  Kant  für  eine  dritte  Klasse  von  Urteilen 
gebraucht,  die  er  neben  den  affirmativen  und  negativen   in 


—     15Ü     — 

seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  unterscheidet,  scheint  mit  die- 
sem aristotelischen  Terminus  historisch  zusammenzuhängen. 
Die    Logik   hat   davon    längst   mannigfachen   Gebrauch 
gemacht,   und   sie   hätte   ihn.   wie  ich    in    meiner   Psycho- 
logie,   und    meinen   Spuren    folgend    Hillebrand    in    seiner 
Schrift   über   die   kategorischen   Schlüsse  zeigte,  noch  weit 
geschickter   davon    Gebrauch    machen    können.       Man    ge- 
langt   dann    dazu,    wie    den    kategorischen    Satz    „ein    S 
ist    P"    auf    den    Existenzialsatz    „es  gibt   ein    S   P"    oder 
„es    gibt    ein    P    seiendes   S",    so   den    kategorischen    Satz 
„irgend  ein  S  ist  nicht  P"  auf  den  Existenzialsatz  „es  gibt 
«in  S  non  P",    d.  i.  ..es   gibt   ein   nicht  P  seiendes  S"  und 
ferner  wie   den   kategorischen  Satz  „kein  S  ist  P"  auf  den 
Existenzialsatz  „es  gibt  nicht  ein  SP",   den  kategorischen 
Satz  „alle  S  sind  P"    auf  den   existenzialen    ..es  gibt  nicht 
ein  S  non  P"  zu  reduzieren.     Ich   habe   in  meiner  Psycho- 
logie die  drei  einfachen  syllogistischen  Regeln  ausgesprochen, 
welche,   wenn   man  diesen  Kunstgriff  handhabt,   die   ganze 
Verwicklung,  zu  welcher  die  kategorische  Schlußlehre  durch 
Unterscheidung  von   Figuren   und   Modis    der  Figuren   seit 
Aristoteles   gelangt   ist.    ohne    dadurch   auch    nur    in    allen 
Fällen  genügend  vor  Irrtum  zu  schützen,  überflüssig  machen. 
Zugleich   tritt   bei   solcher  Behandlung  die  wichtige  Wahr- 
heit in  unverkennbarster  Weise  hervor,  daß  die  ganze  Syl- 
logistik  in  nichts  als  in  einer  fortlaufenden  Applikation  das 
Satzes  des  Widerspruches  besteht ;  eine  Wahrheit,  an  welcher 
Alexander   Bain   in   dem   Maß  irr   werden    konnte,   daß  er 
meinte,    wir   hätten   für   die  Richtigkeit  der  syllogistischen 
Regeln  keine  andere  Gewähr  als   ihre  bisherige  ausnahms- 
lose Bestätigung  durch  die  Praxis. 

Ein  ähnlicher  Kunstgrifi:'  vereinfacht  auch  die  hypo- 
thetische und  disjmiktive  Schlußlehre  und  macht,  daß  ihre 
Sätze  auf  den  Existenzialsatz  rückführbar  werden.  Ich 
brauche  hier  nur  zu  der  Fiktion  zu  greifen,  daß  auch  die 
Inhalte  von  Urteilen  Objekte  werden  können,  auf  die  man 
.sich  dann  anerkennend  und  leugnend  bezieht,  sowohl  für 
sich  allein,  als  indem  man  sie  mit  anderen  identifiziert  oder 


-     157     — 

sonstwie  in  Beziehung  setzt.  So  kann  z.  B.  der  Satz  „wenn 
alle  A  B  sind,  ist  irgend  ein  C  nicht  D  '  auf  den  Existenzial- 
satz  „es  ist  nicht  das  Nichtsein  von  A  non  B,  ohne  das  Sein 
von  C  non  D"  gebracht  werden.  Nimmt  man  dazu  den  Satz 
„es  ist  das  Nichtsein  von  A  non  B",  so  folgt  nach  dem  Modus 
ponens  „es  ist  das  Sein  von  C  non  D",  oder  nimmt  man  den 
Satz  hinzu  „es  ist  nicht  das  Sein  von  C  non  D",  so  folgt  nach 
dem  Modus  toUens,  „es  ist  nicht  das  Nichtsein  von  A  non  B". 
Setzt  man  für  den  terminus  „Nichtsein  von  A  non  B"  den 
Buchstaben  o.  und  für  den  Terminus  .,Sein  von  C  non  D"  ß^ 
so  erscheinen  die  Schlüsse  in  der  einfachen  Gestalt: 

„Es  ist  nicht  7.  ohne  [1 

Nun  ist  7.. 

Also  ist  auch  ß." 

„Es  ist  nicht  a  ohne  ß. 

Nun  ist  ß  aber  nicht. 

Also  ist  auch  a  nicht." 

Freilich  ist  die  Anwendung  des  Kunstgriffs  hier  in  dem 
Maß  von  geringerem  Belang,  als  die  Lehre  von  den  kondi- 
tionalen und  disjunktiven  Schlüssen  eine  geringere  Verwick- 
lung als  die  von  den  sogenannten  kategorischen  Schlüssen 
darbietet.  Das  dürfte  auch  der  Grund  sein,  warum  Aristo- 
teles, der  sie  so  gut  wie  wir  kannte,  sie  in  seinen  Analytica 
Priora  ganz  unberücksichtigt  ließ. 

Um  Mißdeutungen  vorzubeugen,  bemerke  ich  aber  aus- 
drücklich ,  daß  ich,  auch  was  die  kategorischen  Schlüsse 
anlangt,  hier  so  wenig  als  in  meiner  Psychologie  alles,  was 
für  sie  in  Betracht  kommt,  berührt  habe.  So  z.  B.  habe 
ich  auf  die  Komplikationen,  zu  welchen  die  Berücksichti- 
gung des  Temporalmodus  sowie  des  apodiktischen  Charak- 
ters führt,  der  Kürze  halber  keinen  Blick  geworfen,  um  zu 
zeigen,  wie  den  besonderen  Schwierigkeiten  und  Gefahren, 
welche  sich  auf  Grund  ihrer  ergeben,  am  leichtesten  zu 
begegnen  ist. 

Der  Umstand,  daß  solche  Fiktionen  in  der  Logik  ge- 
bräuchlich sind,  hat  manche  dazu  geführt  zu  glauben,  daß 
sie   außer   den  Dingen  auch  Nichtdingc   zum   (Objekt   habe 


ior^ 


und  somit  der  Begriff  ihres  Objektes  allgemeiner  als  der 
des  Realen  selbst  sei.  Dies  ist  aber  durchaus  unrichtig, 
ja ,  nach  dem  Gesagten  schon  darum  unmöglich ,  weil  es 
andere  als  reale  Objekte  garnicht  geben  kann,  und  derselbe 
einheitliche  Begriff  des  Realen  als  schlechthin  allgemeinster 
Begriff  alles,  was  wahrhaft  Objekt  ist,  unter  sich  faßt.  Auch 
die  Termini  der  gemeinen  Sprache  sind  in  den  häufigsten 
Fällen  nicht  psychologisch,  sondern  nur  grammatikalisch 
Namen.  Sie  nennen  nicht  Dinge,  aber  darum  bleibt  es  um 
nichts  weniger  wahr,  daß  die  Rede,  in  die  sie  verflochten 
sind,  sich  mit  nichts  anderem  als  mit  Dingen  beschäftigt. 
Vielmehr  ist  das  Objekt  der  Logik  weit  enger  als  der  Be- 
griff des  Dinges.  Sie  ist  eine  technische  Disziplin  und  geht 
darauf  aus,  uns  in  Stand  zu  setzen,  prüfend  und  forschend 
der  Erkenntnis  teilhaft  zu  werden,  Sie  ist  eine  Kunst  des 
Urteils.  Nur  insofern  wir  beim  Urteilen  Dinge  aller  Art 
zum  Objekte  haben,  kommen  auch  diese  s.  z.  s.  indirekt 
in  Betracht,  während  direkt  die  Erkenntnis  (genau  ge- 
sprochen der  Erkennende)  als  ihr  Objekt  zu  bezeichnen  ist. 

X.  Ton  den  Tersuchen,  die  Logik  zu  mathematisieren. 

Ein  Bedürfnis  nach  Reform  der  elementaren  Logik  wurde, 
wie  von  mir,  auch  von  anderen  gefühlt,  und  namentlich  mach- 
ten manche  den  Versuch,  der  Logik  durchwegs  einen  mathe- 
matischen Charakter  zu  geben,  in  der  Hoffnung,  den  sämt- 
lichen Beweisführungen  die  Durchsichtigkeit  der  mathemati- 
schen Beweise  zuteil  werden  zu  lassen.  Die  Allgemeinheit, 
welche  nach  unserer  Darlegung  allen  negativen  Urteilen  als 
solchen  eigen  ist,  faßten  sie  bei  den  kategorischen  Aussagen 
als  eine  Quantifikation  des  Subjektbegriffes,  und  infolge 
davon  drängte  sich  ihnen  der  Gedanke  auf,  daß  es  besser 
wäre,  wenn,  wie  das  Subjekt,  auch  das  Prädikat  quantifiziert 
würde.  Dieser  Gedanke  war  schon  dem  Altertum  nicht 
ganz  fremd  geblieben,  so  zwar,  daß  Aristoteles  ihn  berück- 
sichtigt ;  aber  freilich  nur  polemisch,  indem  er  treffend  sagt, 
wer,  statt  nur  dem  Subjekt  das  Wörtchen  „alle"  oder  ,.jeder" 
beizufügen,    es   vor    dem  Prädikat   wiederhole,   der   komme 


—     159     — 

durchwegs  zu  falschen  Behauptungen.  Denn  nicht  einmal 
Sätze  wie  „alle  Menschen  sind  alle  Menschen  "  und  „jeder 
Mensch  ist  jeder  Mensch"  könnten  als  richtig  zugelassen 
werden.  So  wenig  seien  alle  Menschen  alle  Menschen,  daß 
vielmehr  kein  Mensch  alle  Menschen  sei.  Und  so  ist  denn 
auch  kein  Mensch  jeder  Mensch;  denn  wäre  es  auch  nur 
einer,  z.  B.  Cajus,  so  würde  darin  liegen,  daß  Cajus  nicht 
bloß  Cajus,  sondern  auch  Sempronius  und  Tullius  usw.  wäre. 
Es  liegt  hier  ein  gänzliches  Mißverstehen  der  Sprachform  vor. 

In  jüngster  Zeit  hat  Gomperz  in  seiner  Darstellung  der 
Philosophie  des  Theophrast  bemerkt,  daß  dieser  die  moderne 
Lehi'e  von  der  Quantifikation  des  Prädikats  antizipiert  habe. 
Doch  wenn  man  die  Stelle  genau  besieht,  so  findet  man 
das  Gegenteil.  Er  berührt  den  Gedanken  ganz  so  wie  vor 
ihm  Aristoteles  nur,  um  ihn  zu  verdammen. 

Ein  ähnliches  Mißverständnis  leitete  die,  welche  mehi- 
ten,  daß  jedes  kategorische  Urteil  ein  Gleichheitsverhältnis 
zwischen  Subjekt  und  Prädikat  ausdrücke.  Lotze  scheint 
auf  diese  Weise  zu  der  eigentümlichen  Lehre  geführt  worden 
zu  sein,  daß,  wenn  wir  sagen  „ein  Baum  ist  grün",  unter 
„Baum"  stillschweigend  ein  grüner  Baum,  und  auch  unter 
„grün"  nicht  einfach  grün  für  sich  allein,  sondern  ein  mit 
einem  Baum  identisches  Grünes,  also  ebenfalls  ein  grüner 
Baum  gedacht  werde.  Da  hätten  wir  denn  die  Gleichung: 
„ein  grüner  Baum  =  ein  grüner  Baum".  Allein  was  für 
einen  Wert  würde  es  haben,  wenn  die  kategorischen 
Aussagen  alle  in  Gleichungen  bestünden,  bei  welchen 
dasselbe  sich  selber  gleichgesetzt  würde?  Wenn  alle 
Gleichungen  des  Mathematikers  nichts  anderes  sagten,  als 
2  ist  2  und  10  ist  10  u.  dgl.,  so  würden  sie  zur  Förderung 
der  Wissenschaft  wenig  dienen.  Wenn  wirklich  der  Satz 
„ein  Baum  ist  grün"  in  den  Satz  „ein  gTÜner  Baum  ist  ein 
grüner  Baum"  ohne  wesentliche  Änderung  des  Inhalts  ver- 
wandelt wird,  so  erkennt  man  leicht,  daß  das  Prädikat  „ein 
grüner  Baum"  ohne  Nachteil  ganz  weggelassen  werden  kann, 
und  man  kommt  zu  dem  einfachen  Existcnzialsatz  „ein 
grüner  Baum  ist"  als  Äquivalent  des  Satzes  „ein  Baum  ist 


—    1  (j( »    — 

grün",  ganz  so  wie  wir  es  lehren,  übler  würde  man  fahren, 
wenn  man  Sätze  wie  „alle  Menschen  sind  gut''  daraufhin 
für  gleichbedeutend  mit  „alle  guten  Menschen  sind  gute 
Menschen'"  erklären  wollte.  Ist  doch  dieser  so  gewiß  selbst- 
verständlich, als  jener  der  Erfahrung  widerspricht. 

So  bin  ich  denn,  so  sehr  ich  im  allgemeinen  mit  dem 
Streben,  die  Lehrsätze  der  elementaren  Logik  einleuchten- 
der zu  machen  und  ihre  Operationen  zu  erleichtern,  sym- 
pathisiere, doch  weit  entfernt,  diese  Versuche  der  Mathe- 
raatisierung  der  Logik  billigen  zu  können,  und  ich  verwahre 
mich  dagegen,  daß  mein  Versuch  der  Reduktion  der  kate- 
gorischen Aussagen  auf  Existenzialsätze  mit  ihnen  kon- 
fundiert werde.  Wenn  wir  zuvor  von  solchen  sprachen, 
welche  dem  Objekt  der  Logik  eine  übertriebene  Allgemein- 
heit geben  wollen,  so  müssen  wir  von  denen,  welche  meinen, 
daß  alle  Urteile,  mit  welchen  die  Logik  sich  befaßt,  nur 
von  Gleichungen  und  anderen  Größenverhältnissen  handelten, 
sagen,  daß  sie  in  den  entgegengesetzten  Fehler  verfallen. 
Sie  verengen  die  Aufgabe  der  Logik  zu  sehr  und  möchten 
aus  ihr  einen  Teil  der  Mathematik  machen,  wähi'end  mir 
umgekehrt  die  ganze  Mathematik  ein  Teil  der  Logik  zu 
sein  scheint,  der  uns  lehrt,  wie  man  gewisse  Fragen  der 
Erkenntnis  (nämlich  die  der  Größemnessung)  am  besten 
methodisch  behandelt. 

Es  gibt  unter  den  neueren  Reformversuchen  der  Logik 
auch  solche,  welche  das  Prädikat  nicht  quantifizieren,  und 
die  doch  noch  immer  an  dem  Fehler  einer  verengenden 
MathematisieruDg  der  logischen  Operationen  leiden,  indem 
sie  wenigstens  das  Subjekt  quantifizieren,  was,  wie  ich  ge- 
zeigt zu  haben  glaube,  keineswegs  dazu  erforderlich  ist, 
um  von  allgemeinen  und  partikulären  Urteilen  sprechen  zu 
können.  Hierin,  keineswegs  aber  in  der  Verwendung  von 
Buchstaben  als  allgemeinen  Zeichen  für  Begriffe  und  Be- 
griffskomplexe,  sowie  für  Urteile  und  Urteilskomplexe,  nach 
Art  der  Algebra,  so  wie  auch  von  anderen  Zeichen  analog  dem 
+  und  — ,  =,  >,  <  u.  dgl.  zur  Andeutung  logischer  Operationen 
und  Verhältnisse,  finde  ich  etwas,  was  ich  nicht  zu  billigen 


—      lÜl      — 

vermag.  Doch  halte  ich  es  auch  für  bedenklich,  wenn  sie  sich 
solcher  Zeichen  und  Ausdrücke,  die  schon  beim  Mathe- 
matiker in  Gebrauch  sind,  in  verändertem  Sinne  bedienen ; 
wie  z.  B.  einen  grünen  Baum  als  eine  Multiplikation  von 
..grün"  und  „Baum'  bezeichnen  und  eine  Linie  auf  der 
dritten  Potenz,  nicht  etwa  für  einen  Kubus,  sondern  für 
etwas  der  Linie  selbst  Gleiches  erklären,  weil  „eine  linie- 
seiende linieseiende  Linie"  gleich  „eine  Linie"  ist  und  doch, 
nach  der  eben  angeführten  Weise  zu  sprechen,  eine  wieder- 
holte Multiplikation  der  Linie  mit  sich  selbst  wäre.  Wo 
der  Schutz  vor  Äquivokationen  eines  der  wesentlichsten 
Interessen  ist,  sollte  man  sich  wohl  hüten,  neue  Äqui- 
vokationen, wie  die  eben  erwähnten  zu  schaffen.  Und 
nichts  als  der  ganz  zufällige  Umstand,  daß  die  Algebra  zum 
Ausdruck  der  Multiplikation  zwei  Buchstaben,  wie  der 
schriftliche  Ausdruck  der  Rede  Eigenschaftswort  und  zu- 
gehöriges Hauptwort,  einfach  einander  folgen  läßt,  scheint 
dazu  den  Anlaß  gegeben  zu  haben. 

Ganz  besonders  nachteilig  könnten  diese  werden,  wenn 
man,  wozu  die  Allgemeinheit  der  Logik  drängt,  auch  mathe- 
matische Probleme  nach  der  neuen  Methode  behandeln 
\vollte.  Und  man  ist  tatsächlich  daran  gegangen.  Allein, 
wenn  man  bedenkt,  daß  der  ganze  Versuch  dadurch  ver- 
anlaßt wurde,  daß  die  mathematischen  Operationen  eine 
Durchsichtigkeit  besitzen,  welche  man  auch  den  Argumen- 
tationen auf  anderen  Gebieten  zu  geben  wünschte,  so  muß 
es  doch  sehr  befremdlich  erscheinen,  wenn  man  die  Methode 
der  mathematischen  Operationen  selbst  zu  reformieren  sucht. 
Ich  verspreche  mir  hier  keinen  wahren  Gewinn;  vielmehr 
das  Gegenteil.  Und  wenn  ich  die  Freunde  dieser  neuen 
Logik  in  ihrem  Enthusiasmus  prophezeien  höre,  daß  sie  die 
Wissenschaft  auch  hier  sogar  zu  einem  ungleich  rascheren 
Fortschritt  bringen  werde,  so  erinnert  mich  dies  an  die 
hohen  Erwartungen,  w-elche  Rainmndus  Lullus  an  seine 
,.Ars  magna"  knüpfte.  Sie  ist  völlig  unfmchtbar  geblieben. 
Und  so  finden  wir  denn  auch  jetzt  nicht,  daß  eine  der  be- 
deutenden Entdeckmigen  der  jüngsten  Zeit  der  Anwendung 

Brentano,  Klassifikation  der  psychischen  Phänomene.  11 


—     l()2     — 

des    neuen,    vielfach    so    absonderlichen    Algorithmus    zu 
danken  wäre. 

Daß  diese  mathematisierende  Logik  nicht  genugsam 
für  die  Sicherung  der  logischen  Operationen,  die  doch 
mehr  noch  als  ihre  Kürzung  und  Vereinfachung  von  Inter- 
esse ist,  Sorge  getragen  hat.  dafür  ist  wohl  noch  folgendes 
ein  Zeichen.  Sie  kritisiert  zwar  die  alte  und  macht  ihr. 
ähnlich  wie  ich,  ihre  Unvollständigkeit  zum  Vorwurf;  aber 
nirgend,  so  weit  ich  entnehmen  konnte,  macht  sie  auf  die 
vielen  Fehler  und  Widersprüche  in  den  Regeln  der  alt- 
überlieferten Logik  aufmerksam,  die  ich  bei  meinem  Reform- 
versuch hervorhob.  So  z.  B.  bemerkt  sie  nicht,  daß  es  falsch 
ist,  wenn  man  sagt,  in  der  Behauptung,  alle  S  seien  P,  sei  die 
Behauptung,  irgend  ein  S  sei  P.  eingeschlossen.  Wir  sahen, 
daß  die  Gesamtzahl  auch  eins  und  Null  sein  kann:  im 
letzteren  Falle  aber  wird  es,  obwohl  es  noch  immer  wahr 
ist,  daß  alle  S  P  sind,  doch  nicht  mehr  wahr  sein,  daß  eine 
Einheit  von  S  P  ist,  da  vielmehr  kein  S  P  ist.  Und  somit 
ist  auch  die  Regel  falsch,  daß  die  Wahrheit  von  ..alle  S 
sind  P"  mit  der  von  ..kein  S  ist  P"  inkompatibel  ist,  wie 
auch  die,  daß  von  den  beiden  Sätzen  „irgend  ein  S  ist  P" 
und  „irgend  ein  S  ist  nicht  P"  der  eine  oder  andere  in 
jedem  Falle  wahr  sein  müsse. 

Es  gibt  hier  kein  Mittel,  die  alte  Logik  zu  verteidigen. 
Wollte  man  es  tun,  indem  man  sagte,  sie  setze  bei  allen 
kategorischen  Aussagen  die  Existenz  des  Subjekts  voraus 
und  betrachte  sie  als  bloß  hypothetische  L^rteile,  so  würde 
dies,  wenn  man  es  gelten  ließe,  noch  immer  den  Vorwurf 
des  Selbstwiderspruches  bestehen  lassen ;  denn  von  zwei  Be- 
hauptungen, die  beide  nur  unter  einer  gewissen  Voraus- 
setzung gelten  sollen,  kann  man  nicht  mehr  sagen,  daß  sie 
nicht  zusammen  wahr  sein  könnten.  Vielmehr  kann  man  aus 
der  Wahrheit  beider  dilemmatisch  die  Falschheit  der  Voraus- 
setzung erschließen.  So  folgt  z.  B.  aus  der  Wahrheit  der 
beiden  Sätze  „alle  S  sind  P"  und  ..kein  S  ist  P",  wenn 
beide  hypothetisch  den  Fall  der  Existenz  von  S  ins  Auge 
fassen,    daß  eben  diese  Hypothese  falsch  ist,   d.  h.  daß  es 


—     163    — 

kein  S  gibt.  Sagt  man  dagegen,  die  kategorischen  Urteile 
seien  nicht  stillschweigend  hypothetisch  auf  den  Fall  der 
Existenz  des  Subjekts  beschränkt  zu  denken,  sondern  sie 
schlössen  die  Behauptung  der  Existenz  des  Subjekts  geradezu 
ein,  so  würde  auch  dies  nicht  retten.  Denn  wenn  die  Formel 
a  und  die  Formel  o  beide  die  Behauptung,  S  sei,  ein- 
schließen, so  können  und  müssen  sie  zusammen  falsch  sein, 
sobald  S  nicht  ist.  Sie  sind  also  nicht  mehr  kontradiktorisch. 

Nur  bei  meinem  logischen  Reformversuch  traten  diese 
und  andere  Verirrungen  in  den  elementarsten  logischen 
Regeln,  zu  denen  auch  vier  der  üblichen  kategorischen 
Schlußmodi  gehören,  sofort  klar  hervor.  Und  er  dankt  dies 
dem  energischen  Geltendmachen  des  Satzes,  daß  jeder  ein 
Universale  Leugnende  es  dem  ganzen  Umfang  des  Begriffes 
nach  leugnet,  und  jeder,  der  es  anerkennt,  es  partikulär 
anerkennt ;  während  umgekehrt  jeder,  der  etwas  anerkennt, 
was  mehrere  Merkmale  unterscheiden  läßt,  es  nach  allen 
seinen  Merkmalen,  also  seinem  ganzen  Inhalte  nach,  an- 
erkennt, keiner  aber,  der  es  leugnet,  auch  jeden  Teil,  jedes 
einzelne  darin  begriffene  Merkmal  leugnet.  Man  kann  darum 
sagen,,  daß  das  negative  Urteil,  wenn  der  Begriff  nicht  ganz 
einfach  ist,  ihn  nie  dem  ganzen  Inhalt,  wie  das  affirma- 
tive, wenn  der  Begriff  nicht  ganz  individuell  ist,  ihn  nie 
dem  ganzen  Umfang  nach  beurteilt. 

Die  neue  mathematisierende  Logik  hat  sich  eine  neue 
Sprache  erfunden.  Es  scheint  mir  aber,  daß  es  ein  geringeres 
Verdienst  ist,  uns  eine  neue  Sprache  sprechen,  als  in  der 
allen  Völkern  gemeinsamen  Sprechweise  uns  richtig  be- 
wegen zu  lehren.  Die  Menschen  werden  nicht  aufhören,  die 
Zeichen  dieser  Sprechweise  mit  dem  Gang  der  Gedanken 
zu  verknüpfen.  Und  so  gilt  es  denn  vor  allem,  die  Gefahren, 
die  hieraus  entspringen  können,  auszuschließen ;  was  geschieht, 
indem  man  die  Funktion  eines  jeden  Redeteiles  verständlich 
macht,  wodurch  dann  die  so  häufig  bestehenden  und  in  allen 
Sprachen  analog  wiederkehrenden  und  darum  auch  gewiß 
irgendwelchem  Zwecke  dienlichen  Äquivokationen  nicht  be- 
seitigt,  aber   unschädlich   gemacht   werden.     Daß  der  Satz 

11* 


—     164     — 

„A  ist  A",  wo  er  zum  Ausdruck  eines  a  priori  einleuchtenden 
Urteils  angewandt  wird,  nicht  affirmativ  sei,  hatten  weder 
Descartes,  Spinoza  und  Leibniz,  noch  Kant  bemerkt.  Jenen 
wäre  es  sonst  erspart  worden,  in  den  Paralogismus  des 
ontologischen  Arguments  fürs  Dasein  Gottes  zu  fallen;  dieser 
aber  hätte  sich  nicht  zu  der  falschen  Definition  des  ana- 
lytischen Urteils  verleiten  lassen,  wonach  ein  affirmatives 
Urteil  analytisch  sem  soll,  wenn  sein  Prädikat  im  Subjekt- 
begriff enthalten  ist ;  ein  Irrtum,  mit  welchem  viele  w^eitere 
in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  zusammenhängen,  unter 
anderem  auch  der  verhängnisvolle  Wahn,  daß  bloße  ana- 
lytische Urteile  die  Erkenntnis  nicht  erweitern.  Heute  noch 
lebt  er  in  vielen  fort,  obwohl  er  von  Aristoteles  schon  zum 
voraus  w^iderlegt  worden  ist,  und  Kant  selbst  unvermerkt 
einmal  in  auffälliger  Weise  dagegen  Zeugnis  gibt.  Soll 
doch  die  Logik  nach  ihm  rein  analytisch  und  doch  wahr- 
haft eine  Wissenschaft,  also  eine  Bereicherung  miserer  Er- 
kemitnis  sein.  Albert  Lange,  der  große  Bewunderer  von 
Kant,  bemerkte  den  Widerspruch,  und  um  ihm  abzuhelfen, 
verfiel  er  darauf  auch  die  Logik  auf  synthetischen  Erkennt- 
nissen a  priori  beruhen  zu  lassen.  Da  diese  aber  nur 
phänomenale  Gültigkeit  haben  sollen,  so  erklärte  Lange  die 
Anschauung  des  Raumes  als  Unterlage  aller  logischen 
Operationen  für  wesentlich.  Die  geometrischen  Zeichnungen 
von  ineinander  oder  außereinander  liegenden  oder  sich  schnei- 
denden Kreisen,  welche  manche  logische  Lehrbücher  der 
Darstellung  der  kategorischen  Syllogismen  beifügen,  seien 
nicht  etwas  Nebensächliches,  sondern  es  liege  in  ihnen 
geradezu  der  Nerv  der  Beweisführung. 

Doch  sollte  einer  wirklich  im  Gegensatz  zu  dem,  was 
einst  Cicero  sagte,  glauben  können,  daß  es  im  eigentlichen 
Sinne  runde  oder  viereckige  Begriffe  von  Tugend,  Gerechtig- 
keit und  anderen  Laiiversalien  gebe?  —  Gewiß  nicht.  Sie 
räumlich  ausgedehnt  nennen,  wäre  nur  eine  Metapher.  Aber 
diese  Übertragung,  so  gewüß  sie  aus  dem  Gebiet  der  Raum- 
anschauung hinaus  führte,  würde  eine  nur  durch  sie  be- 
dingte xVnwendbarkeit  von  synthetischen  Erkenntnissen 
a  priori  nicht  weiter  bestehen  lassen. 


—     ]  05     — 

XI.  Tom  Psychologismus. 

Man  hat  meiner  Erkenntnislehre  den  Vorwurf  des 
Psychologismus  gemacht;  ein  neu  aufgekommenes  Wort, 
bei  dem  sich  mancher  fromme  Philosoph,  wie  mancher 
orthodoxe  Katholik  bei  dem  Namen  Modernismus,  als  stecke 
der  Gottseibeiuns  selbst  darin,  bekreuzigt. 

Um  mich  gegenüber  einer  so  schweren  Anklage  zu  ver- 
antworten, muß  ich  aber  vor  allem  fi'agen,  was  denn  eigent- 
lich damit  gemeint  sei ;  denn  man  ist  wieder  und  wieder 
mit  dem  Schrecknamen  bei  der  Hand,  auch  wo  es  sich  um 
sehr  verschiedene  Dinge  handelt.  Als  ich  bei  einer  freund- 
schaftlichen Begegnung  Husserl  und  dann  gelegentlich  auch 
andere,  die  den  von  ihm  neu  eingeführten  Terminus  im  Munde 
führen,  um  eine  Erklärung  ersuchte,  sagte  man  mir,  man 
meine  damit  eine  Lehre,  welche  die  Allgemeingültigkeit  der 
Erkenntnis  bestreitet;  eine  Lehre,  nach  der  andere  Wesen 
als  der  Mensch  Einsichten  haben  könnten,  die  den  unsrigen 
geradezu  entgegengesetzt  sind. 

In  diesem  Sinne  verstanden  bin  ich  nun  nicht  bloß 
kein  Psychologist,  sondern  habe  einen  solchen  absurden 
Subjektivismus  sogai  allezeit  aufs  entschiedenste  verworfen 
und  bekämpft. 

Doch  darauf  höre  ich  erwidern,  ich  sei  dennoch  Psycho- 
logist und  hebe  die  Einheit  der  Wahrheit  für  alle  auf;  denn 
diese  liestehe  nur  darum .  weil  dem  wahren  LTrteil  etwas 
außerhalb  des  Geistes  entspreche,  welches  für  alle  Urteilen- 
den ein  und  dasselbe  sei.  Bei  den  negativen  Urteilen  und 
bei  denen,  die  etwas  als  möglich,  unmöglich,  gewesen  oder 
zukünftig  bezeichnen,  könne  nun  aber  dieses  Etwas  kein 
Ding  sein  und  somit  hebe  ich,  indem  ich  neben  Dingen 
nicht  auch  gewisse  Undinge,  wie  Nichtsein,  Mögliclikeit.  Un- 
möglichkeit, Gewesensein,  Zukünftigsein  u.  dgi.  als  etwas, 
was  sei,  gelten  lasse,  hier  die  Einheit  der  Wahrheit  für 
alle  auf. 

Ich  antworte,  daß,  selbst  wenn  in  der  Konsequenz  jener 
Leugnung  die  Aufhebung  der  Allgemeingültigkeit  der  Er- 
kenntnis   läge,    es    noch    inmier    nicht    anginge,    mich    als 


—     lß(3    — 

Psychologisten  zu  verschreien,  da  ich  selbst  diese  Kon- 
sequenz nicht  ziehe.  Man  dürfte  nur  etwa  sagen,  ich  stelle 
Sätze  auf,  die  in  ihren  Folgerungen  zum  Psychologismus 
führen  müßten. 

Doch  nicht  einmal  dies  ist  richtig;  denn  warum  sollte 
es  nicht  auch  ohne  Voraussetzung  solcher  Undinge  ein- 
leuchten können,  daß  zwei  Urteile,  von  welchen  das  eine 
in  einer  gewissen  Weise  anerkennt,  was  das  andere  in  der- 
selben Weise  vermrft,  ebenso  wenig  beide  richtig  sind, 
wemi  zwei  verschiedene  Personen  die  beiden  Urteile  fällen, 
als  wenn  eine  und  dieselbe  Person  sie  fällen  würde?  Es 
wird  ja  doch  wohl  niemand  behaupten,  daß,  wenn  selbst 
jene  Undinge  beständen,  die  Wahrnehmmig  dieser  Undinge 
und  ihr  Vergleich  mit  den  eigenen  Urteilen  vorausgehen 
müßten,  um  uns  in  der  Übereinstimmung  oder  Nichtüberein- 
stimmung der  einen  mit  den  anderen  die  Walu^heit  oder 
Falschheit  unserer  Urteile  erst  erkennen  zu  lassen.  Immer 
werden  vielmehr  unmittelbar  evidente  Wahrnehmungen  von 
Dingen  und  unmittelbar  evidente  Leugnungen  von  Ver- 
bindungen, in  die  sie  in  unseren  Vorstellungen  eingegangen^ 
es  sein,  welche  uns  bei  der  Kritik,  wie  eigener,  so  fremder 
Gedanken  den  letzten  Anhalt  bieten. 

Dies  zur  Abwehr  eines  verunglimpfenden  Geredes,  von 
dem  ich  kaum  glauben  kann .  daß  man  es  wirklich  jemals 
aus  dem  Munde  irgendeines  meiner  persönlichen  Schüler 
vernommen  habe.  Müßte  ich  es  doch  sonst,  um  Schlimmeres 
auszuschheßen ,  als  Zeichen  äußerster  Gedächtnisschwäche 
deuten  ^. 


^  Wenu  wir  heute  noch  mancheu  die  Eigeutümliclikeit  der  Evi- 
denz verkennend,  die  logische  Gültigkeit  mit  der  geuetischeu  Not- 
wendigkeit eines  Gedankens,  sei  es  für  den  Einzelneu,  sei  es  für  die 
Gesamtheit  des  menschlichen  Geschlechtes,  verwechseln  sehen:  so  habe 
ich  wenigstens,  sowohl  in  meinen  Vorlesungen  als  auch  in  meinen 
Schi'iften,  zwischen  Gesetzmäßigkeit  im  Sinne  der  natürlichen  Not- 
wendigkeit und  im  Sinne  der  Korrektheit  einer  Betätigung  immer  auf» 
Bestimmteste  unterschieden.  Ja,  kein  Früherer  und  (auch  Husserl 
nicht  ausgenommen)  kein  Späterer  hat  sich  hierüber  deutlicher  und  mit 
mehr  Nachdruck  aussprechen  können,  als  ich  es  getan  habe. 


—     107     — 

Doch  nein !  Es  bietet  sich  auch  noch  eine  dritte  Hypo- 
these. Man  kennt  die  Art  der  Menschen,  nnd  daß  sich 
ihnen  unvermerkt  die  Begriffe  verschieben,  wo  sie  dann 
infolge  der  entstandenen  Aquivokationen  selbst  nicht  recht 
wissen,  was  sie  sagen.  So  mag  denn  einem,  der  mich 
Psychologist  nennt,  solches  Menschliche  begegnet  sein. 
Und  in  der  Tat,  nicht  bloß  der  Subjektivist,  auch  der  soll 
des  Psychologismus  geziehen  werden,  der  da  glaubt,  daß 
die  Psychologie  in  der  Erkenntnislehre  und  Logik  irgend 
ein  Wort  mitzusprechen  habe.  So  sehr  ich  aber  den  Sub- 
jektivismus verdamme,  so  wenig  werde  ich  mich  dadurch 
zur  Verkennung  dieser  Wahrheit  verleiten  lassen.  Viehnehr 
steht  sie  mir  so  entschieden  fest,  als  es  mir  paradox,  ja 
absurd  erscheinen  müßte,  wenn  einer  leugnete,  daß  die  Er- 
kenntnis ein  Urteil  und  das  Urteil  dem  psychischen  Gebiete 
zugehörig  ist.  Auch  gilt  darum,  daß,  wenn  andere  Wesen 
als  wir  an  dex*  Erkenntnis  teilhaben,  sie  an  solchem  teilhaben 
müssen,  was  auch  ins  menschlich -psychische  Gebiet  fällt 
und  nur  hier  direkt  unserer  Forschung  zugänglich  ist. 


Alteilburg 

Fierersche  Hofbuchdruckerei 

Stephan  Geibel  &  Co. 


BF  123     B  73     1.911 

University  of  British  Columbia  Library 


DUE 

DATE 

FORM    310 

1 

!^r'nY^f?.?.!77.,f?.^  B.c.    LIBRARY 


3  9424  02944  0317 


r^  f  O  ^r\ 


h'    ^