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Full text of "Vorlesunger ub̈er geschichte der mathematik"

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THE  LIBRARY 

OF 

THE  UNIVERSITY 

OF  CALIFORNIA 

DAVIS 


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VORLESUNGEN 


ÜBER 


GESCHICHTE  DER  MATHEMATIK 


VON 


MOBITZ  CANTOR. 


ERSTER  BAND. 

VON  DEN  ÄLTESTEN  ZEITEN  BIS  ZUM  JAHRK  1200  N.  CHR. 
MIT  114  FIOUREN  IM  TEXT  UND  1  LITHOGR.  TAFEL. 

DRITTE  AUPLAGB. 


LEIPZIG, 
DKUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEÜBNER. 

1907. 


LIBRARY 

UWIVEkSITY  OF  CAUFORNIA 
iXAVJUI 


ALLE  RECHTE,  BINSOHLIESSIiIGH  DES  ÜBKR9ETZÜNGSBECHTS,  VOBBEECALTEN. 


i 


VorTv^ort. 

Als  ich  im  Dezember  1893  der  zweiten  Auflage  dieses  1.  Bandes 
meiner  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Mathematik  ein  Vorwort  zur 
Begleitung  gab,  äußerte  ich  mich  in  einer  Weise,  die  heute  Wieder- 
holung finden  könnte.    Abermals  liegt  ein  Zwischenraum  yon  13  Jahren 
zwischen  dem  Erscheinen  der  vorigen  und  der  neuen  Auflage.    Ab^- 
mals  habe  ich  gesucht^  die  Ergebnisse  zu  verwerten,  welche  neue  Be- 
arbeiter des  geschichtlichen  Bodens,  die  sich  yon  Jahr  zu  Jahr  mehren, 
gewonnen  haben  oder  gewonnen  zu  haben  wähnen.    Abermals  spreche 
ich  die  Überzeugung  aus,  daß  jener  Boden  noch  lange  nicht  erschöpft 
ist,  daß  es  immer  noch  offene  Fragen  gibt,  über  deren  Beantwortung 
man  uneinig  sein  kann,  und  daß  es  die  Pflicht  des  gewissenhaften 
Geschichtschreibers  ist,  seine  Leser  auf  die  Streitpunkte  aufmerksam 
zu  machen.     Ich  hoffe  dieser  Pflicht  genügt  zu  haben. 

Heidelberg,  Dezember  1906. 

Moritz  Cantor. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Einleitung 1—16 

I.  Babylonier 17—62 

1.  Kapitel.    Die  Babylonier 19 

n.  Ägypter 68—114 

2.  Kapitel.     Die  Ägypter.    Arithmetisches 66 

3.  Kapitel.    Die  Ägypter.    Geometrisches 90 

m.  GriecheA 116—618 

4.  Kapitel.    Zahlseichen.    Fingerrechnen.    Rechenbrett   ....  117 
6.  Kapitel.    Thaies  und  die  älteste  griechische  Geometrie  ...  134 

6.  Kapitel.    Pythagoras  und  die  Pythagoräer.    Arithmetik.   .    .  .147 

7.  Kapitel.    Pythagoras  und  die  Pythagoräer.    Geometrie  ...  170 

8.  Kapitel.    Mathematiker  außerhalb  der  pythagoräischen  Schule  188 

9.  Kapitel.    Mathematiker  außerhalb  der  pythagoräischen  Schule. 

(Fortsetzung)  Hippokrates  von  Chios 201 

10.  Kapitel.    Piaton 213 

11.  Kapitel.    Die  Akademie.    Aristoteles 234 

12.  Kapitel.    Die  Elemente  des  Euklid 268 

13.  Kapitel.    Die  übrigen  Schriften  des  Euklid 278 

14.  Kapitel.    Archimedes  und  seine  geometrischen  Leistungen     .  296 
16.  Kapitel.     Die  übrigen  Leistungen  des  Archimedes 310 

16.  Kapitel.    Eratosthenes.    Apollonius  von  Pergä 327 

17.  Kapitel.     Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker 349 

18.  Kapitel.    Heron  von  Alexandria 368 

19.  Kapitel.    Heron  von  Alexandria  (Fortsetzung) 386 

20.  Kapitel.    Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus  .    .  406 

21.  Kapitel.    Neupythagoräische  Arithmetiker.  Nikomachus.  Theon  426 

22.  Kapitel.    Sextus  Julius  Africanus.    Pappus  von  Alexandria  .  488 

23.  Kapitel.     Die  Neuplatoniker.    Diophantus  von  Alexandria.    .  466 

24.  Kapitel.    Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung  .    .  488 
IV.  Römer 619—692 

26.  Kapitel.    Älteste  Rechenkunst  und  Feldmessung 621 

26.  Kapitel.    Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  Agri- 

mensoren 638 

27.  Kapitel.    Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.    .  661 
V.  Inder 698—660 

28.  Kapitel.    Einleitendes.     Elementare  Rechenkunst 696 

29.  Kapitel.    Höhere  Rechenkunst.     Algebra 613 

80.  Kapitel.     Geometrie  und  Trigonometrie 686 


VI  InhalteverzeichnlB. 

Seit« 

VI.  Chinesen 661— 690 

81.  Kapitel.    Die  Mathematik  der  Chinesen 66S 

Vn.  Araber 691—817 

82.  Kapitel.    Einleitendes.     Arabische  Übersetzer 698 

:^3.  Kapitel.    Arabische    Zahlzeichen.     Mahammed    ihn   Müb& 

Alchwarizm! 707 

34.  Kapitel.    Die   Mathematiker    nnter   den    Abbasiden.     Die 

Geometer  unter  den  Bnjiden 738 

35.  Kapitel.    Zahlentheoretiker,   Rechner,   geometrische   Alge- 

braiker  von  960  etwa  bis  1100 761 

36.  Kapitel.    Der  Niedergang   der  ostarabischen  Mathematik. 

Ägyptische  Mathematiker 777 

37.  Kapitel.    Die  Mathematik  der  Westaraber.  798 

Yin.  Klostergelehrsamkeit  des  Mittelalters 819—911 

38.  Kapitel.    Klostergelehrsamkeit  bis  zum  Aasgange  des  X.Jahr- 

hunderts       821 

39.  Kapitel.    Gerbert 847 

40.  Kapitel.    Abacisten  und  Algorithmiker 879 

Ergänzungen  und  Verbesserungen 912 — 918 

Register 914—941 


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i 


Einleitung. 


"OB,  0«soliloht«  der  Mathematik  L  3.  Aufl. 


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Cöl 


^ 


Längst  war  der  Erdball  so  weit  erkaltet,  daß  auf  der  fesi^e- 
wordenen  Oberfläche  Organismen  sich  entwickeln  konnten.  In  Zeit- 
räumen, deren  jeder  weitaus  die  Spanne  übertrifft;  welche  wir  mit 
dem  stolzen  Namen  der  Geschichte  belegen  —  als  ob  nur  durch  den 
Manschen  etwas  geschehen  könnte!  —  hatten  neue  und  neue  Arten 
lebender  Wesen  sich  abgelöst.  Jetzt  erschien  der  Mensch,  ausge- 
zeichnet durch  Entwicklungsföhigkeit  yor  allen  anderen  Geschöpfen, 
hilflos  wie  keines  in  das  Leben  tretend,  mächtig  wie  keines  auf  dem 
Gipfel  seiner  Ausbildung. 

Der  einzelne  Mensch  liefert  nur  das  verkleinerte  Bild  des  Menschen- 
geschlechtes. Die  Entwicklung  des  Menschengeistes  hat  in  den,  Völker 
genannten,  Gesamtheiten  stattgefunden,  und  ihre  aufeinanderfolgenden 
Stufen  zu  vergleichen  ist  von  spannender  Anziehung. 

Eines  dürfen  wir  freilich  bei  Anerkennung  der  Ähnlichkeit  der 
Entwicklung  des  Einzelmenschen  mit  der  des  Menschengeschlechtes 
nicht  außer  Augen  lassen.  Das  Kind  lernt  vom  Tage  seiner  Geburt 
an  durch  Menschen.  Das  Menschengeschlecht  begann  damit,  von 
niedrigeren  Geschöpfen  lernen  zu  müssen.  Werden  doch  wohl  Tiere 
sein  Vorbild  gewesen  sein,  aus  deren  Beispiel  er  entnahm,  wie  man 
den  Durst,  den  Hunger  stille,  wie  man  in  Höhlen  Schutz  suche  vor 
der  Unbill  der  Witterung,  wie  man  zur  Wehr  sich  setze  gegen  feind- 
lichen Angriff.  Aber  der  Mensch  war  schwächeren  Körpers  als  seine 
Lehrmeister.  Ihm  war  nicht  eine  dichtere  Behaarung  während  der 
kälteren  Jahreszeiten  gegeben.  Er  konnte  nicht  mit  Händen  und 
Zähnen  des  Bären  oder  der  Hyäne  Herr  werden,  denen  er,  die  ihm 
den  Aufenthalt  streitig  machten.  Und  seine  Schwäche  wurde  seine 
Stärke.  Er  mußte  denken!  Er  mußte  erfinden,  wenn  er  leben  wollte. 
Er  mußte  von  der  ihm  äußerlich  gebotenen  Erfahrung  weiter  schreiten. 
Das  Tier  führte  ihn  zum  Baume  der  Erkenntnis,  die  Frucht  des- 
selben pflückte  er  selbst. 

Mit  dem  Gedanken  war  das  Bedürfiods  der  Mitteilung  desselben 
erwacht,  die  Sprache  entstand.  Der  Mensch  lernte  den  Menschen 
verstehen,  nicht  nur  in  dem  Sinne  wie  das  Tier  das  Tier  versteht, 
nicht  nur,  wo  es  den  Ausdruck  besonders  starker  Empfindungen  durch 
Tonbildung  galt,  sondern  wo  bestimmte  Ereignisse  oder  gar  Begriffe 


4  Einleitung. 

zur  Eenntnis  des  anderen  gebracht  werden  sollten.  Freilich  begann 
die  Sprachbildung  nicht  erst,  als  die  Begriffsbildong  abgeschlossen 
war.  Ist  doch  erstere  wie  letztere  bis  auf  den  heutigen  T^  noch 
im  Flusse.  Die  beiden  Tätigkeiten  gingen  offenbar  nebeneinander 
einher,  und  selbst  Begriffe,  welche  einer  und  derselben  Gedanken- 
reihe entstammen,  sind  mit  ihrer  lautlichen  Versinnlichung  als  zu 
yerschiedenen  Zeiten  entstanden  zu  denken.  Für  das  Sprachliche  an 
dieser  Behauptung  ist  es  nicht  schwer  den  Beweis  zu  fahren,  auch 
nur  unter  Zuziehung  solcher  Wörter,  die  dem  Mathematiker  von 
ältester  und  hervorragendster  Wichtigkeit  sind;  wir  meinen  die 
Zahlwörter. 

Zählen,  insofern  damit  nur  das  bewußte  Zusammenfassen  be- 
stimmter Einzelwesen  gemeint  ist,  bildet,  wie  scharfsinnig  hervor- 
gehoben worden  ist^),  keine  menschliche  Eigentümlichkeit;  auch  die 
Ente  zählt  ihre  Jungen.  Diesem  niedersten  Standpunkte  ziemlich 
nahe  bleibt  das,  was  von  einem  südafrikanischen  Stamme  berichtet 
wird'),  daß  während  wenige  weiter  zählen  können  als  zehn,  dessen- 
ungeachtet ihre  Vorstellung  von  der  Größe  einer  Herde  Vieh  so 
bestimmt  ist,  daß  nicht  ein  Stück  daran  fehlen  darf,  ohne  daß  sie  es 
sogleich  merkten.  „Wenn  Herden  von  400  bis  500  Rindern  zu  Hause 
getrieben  werden,  sieht  der  Besitzer  sie  hereinkommen  und  weiß  be- 
stimmt ob  einige  fehlen,  wieviel  und  sogar  welche.  Wahrscheinlich 
haben  sie  eine  Art  zu  zählen,  bei  welcher  sie  keine  Worte  brauchen 
und  wovon  sie  nicht  Rechenschaft  zu  geben  wissen,  oder  ihr  Gedächt- 
nis erlangt  fiir  diesen  einzelnen  Gegenstand  durch  die  Übung  eine 
so  ungemeine  Stärke.^  Ohne  nach  so  fernen  Gegenden  unseren  Blick 
zu  richten,  können  wir  ähnliche  Erfahrungen  täglich  an  ganz  kleinen 
Kindern  machen,  welche  sofort  wissen,  wenn  von  Dominosteinen  etwa, 
mit  denen  sie  zu  spielen  gewohnt  sind,  ein  einzelner  fehlt,  während 
sie  sich  und  anderen  über  die  Anzahl  ihrer  Steine  noch  nicht  Rechen- 
schaft zu  geben  wissen.  Sie  kennen  eben  die  Einzel-Individuen  als 
einzelne,   nicht   als  Teile  einer   Gesamtheit,   und   ihr   Gedächtnis    ist 


^)  H.  Hankel,  Zur  Geschichte  der  Mathematik  im  Alterthum  und  Mittel- 
alter. Leipzig  1874.  S.  7.  Wir  zitieren  dieses  Buch  künftig  immer  als  Hankel. 
Einen  ganz  ähnlichen  Gedanken  hat  (nach  Eaestner,  Geschichte  der  Mathe- 
matik I,  242)  anch  schon  Pietro  Bongo  (oder  Bangus)  in  seinem  Werke 
Numerarum  tnysteria  (1699,  11.  Auflage  1618)  ausgesprochen.  ')  Pott,  Die 
quinäre  und  vigesimale  Zählmethode  bei  Völkern  aller  Welttheile,  Halle  1847.  S.  17. 
Dieses  Buch  zitieren  wir  in  der  ganzen  Einleitung  als  Pott  I,  während  Pott  U 
die  Schrift  desselben  Verfassers:  Pott,  Die  Sprachverschiedenheit  in  Europa 
an  den  Zahlwörtern  nachgewiesen,  sowie  die  quinäre  und  yigesimale  Zähl- 
methode.   Halle  1868,   bedeuten  soll. 


Einleitung.  5 

für  die  £rinnerang  au  Angeschautes  um  so  treuer,  je  weniger  andere 
Eindrücke  es  zu  bewahren  hat.  In  der  Sprache  drückt  sich  diese 
Individualisierung  nicht  selten  dadurch  aus^  daß  dieselbe  Anzahl  je  nach 
den  gezählten  Dingen  einen  anderen  Namen  führt,  wie  es  bei  manchen 
ozeanischen  Volkerstämmen,  aber  auch  für  Sammelwörter  im  Deutschen 
vorkommt,  wenn  man  von  einem  Koppel  Hunde  oder,  wenn  deren 
mehrere  sind,  von  einer  Meute  Hunde,  von  einer  Herde  Schafe,  von 
einem  Rudel  Hirsche,  von  einer  Flucht  Tauben,  von  einer  Kette 
Feldhühner,  von  einem  Zug  Schnepfen,  von  einem  Schwärm  Bienen 
zu  reden  pflegt^). 

Das  eigentliche  Zählen,  das  menschliche  Zählen,  wenn  man  so 
sagen  darf,  setzt  voraus,  daß  die  Gegenstände  als  solche  gleichgültig 
geworden  sind,  daß  nur  das  getrennte  Vorhandensein  unterschiedener 
Dinge  begrifflich  erfaßt,  dann  sprachlich  bezeichnet  werden  solL  Es 
liegt  darin  bereits  eine  keineswegs  unbedeutende  Äußerung  der  Fähig- 
keit zu  verallgemeinem,  zugleich  auch  eine  ihrer  frühesten  Äuße- 
rungen, denn  die  Zahlwörter  gehören  zu  den  ältesten  Teilen  des 
menschlichen  Sprachschatzes.  In  ihnen  lassen  sich  oft  noch  Ähnlich- 
keiten, mithin  Beweise  alter  Stammesgemeinschaft  später  getrennter 
Völker  auffinden,  während  kaum  andere  Wörter  auf  die  gleiche  Zeit 
eines  gemeinsamen  Ursprunges  zurückdeuten.  Und  was  war  nun  der 
ursprüngliche  Sinn  dieser  ältesten,  der  Entstehungszeit  wie  dem  Inhalte 
nach  ersten  Zahlwörter?  Die  Annahme  hat  gewiß  viel  für  sich,  daß 
sie  anfänglich  nicht  Zahlen,  sondern  ganz  bestimmte  Gegenstände  be- 
deuteten, sei  es  nun,  daß  man  von  der  eigenen,  von  der  angeredeten, 
von  der  besprochenen  Persönlichkeit,  also  von  den  Wörtern:  ich,  du, 
er  ausging,  um  aus  ihnen  den  Urklang  für:  eins,  zwei,  drei  zu  ge- 
winnen^), sei  es,  daß  man  von  Gliedmaßen  seines  Körpers  deren 
Anzahl  entnahm'):  „Es  war  dem  Menschen  ohne  Zweifel  ein  eben 
so  interessantes  Bewußtsein  fünf  Finger  als  zwei  Hände  oder  zwei 
Augen  zu  haben;  und  das  Interesse  an  dieser  Kenntnis,  welche  ein- 
mal einer  Entdeckung  bedurfte,  war  ihm  dft  Schöpfung  eines  zu  deren 
Zählung  eigens  verwendbaren  Ausdruckes  wohl  wert;  von  hier  aus 
mag  der  Gebrauch  auf  andere  zu  zählende  Dinge  übertragen  worden 
sein,  zunächst  auf  solche,  bei  denen  es  auffallen  mochte,  daß  sie  in 
ebenso  großer  Zahl  vorhanden  waren,  als  die  Hand  Finger  hat."  Wir 
wiederholen  es,  solche  Annahmen  haben  viel  für  sich,  sie  tragen  ihre 
beste  Empfehlung  in  sich  selbst,  aber  leider  auch  ihre  einzige.  Die 
Sprachforschung   hat   nicht   vermocht   deren   Bestätigung  zu   liefern^' 


»)  Pott  I,  S.  126.     -)  Pott  I,  S.  119.     »)  L.  Geiger,  Ursprung  und  Ent- 
Wickelung  der  menschlichen  Sprache  und  Vernunft.     1868.    Bd.  1,  S.  319. 


6  Einleitung. 

oder  vielmehr  jeder,  der  mit  der  Deutung  der  Zahlwörter  sich  be- 
faßte, hat  aus  ihnen  diejenigen  Zusammenhänge  zu  erkennen  gewußt, 
welche  seiner  Annahme  entsprachen,  lauter  vollgelungene  Beweise, 
wenn  man  den  einen  hört,  sich  gegenseitig  vernichtend,  wenn  man 
bei  mehreren  sich  Rat  holt,  und  dieser  mehreren  sind  obendrein 
recht  viele.  Sind  demnach  die  eigentlichen  Fachmänner  über  Ursprung 
der  ältesten  einfachen  Zahlwörter  im  Hader,  so  müssen  wir  um  so 
mehr  darauf  verzichten,  auf  die  noch  keineswegs  erledigten  Fragen 
hier  einzugehen.  Einige  Sicherheit  tritt  erst  bei  Besprechung  der 
abgeleiteten,  also  jüngeren  Zahlwörter  hervor. 

Es  ist  leicht  begreiflich,  daß  auch  die  regste  Einbildungskraft, 
das  stärkste  Gedächtnis  es  nicht  vermochten,  ftir  alle  aufeinander 
folgenden  Zahlen  immer  neue  Wörter  zu  bilden,  zu  behalten.  Man 
mußte  mit  Notwendigkeit  sehr  bald  zu  gewissen  Zusammensetzungen 
schreiten,  welchen  die  Entstehungsweise  einer  Zahl  aus  anderen  zu- 
grunde liegt,  welche  uns  aber  damit  auch  schon  einen  unumstöß- 
lichen Beweis  für  die  hochwichtige  Tatsache  liefern:  daß  zur  Zeit, 
als  die  meisten  Zahlwörter  erfunden  wurden,  der  Mensch  von  dem 
einfachsten  Zahlen  bereits  zum  Rechnen  vorgeschritten  war. 

Das  älteste  Rechnen  dürfte  durch  ein  gewisses  Anordnen  ver- 
mittelt worden  sein,  sei  es  der  Gegenstände  selbst,  denen  zuliebe 
man  die  Rechnung  anstellte,  sei  es  anderer  leichter  zu  handhabender 
Dinge.  Kleine  Steinchen,  kleine  Muscheln  können  die  Vertretung 
übernommen  haben,  wie  sie  es  noch  heute  bei  manchen  Völkerschaften 
tun,  und  diese  Marken,  diese  Rechenpfennige  würde  man  heute  sagen, 
werden  in  kleinere  oder  größere  Häufchen  gebracht,  in  Reihen  ge- 
legt das  Zusammenzählen  ebenso  wie  das  Teilen  einer  gegebenen 
Menge  wesentlich  erleichtert  haben.  So  lange  man  es  nur  mit  kleinen 
Zahlen  zu  tun  hatte,  trug  man  sogar  das  leichteste  Versinnlichungs- 
mittel  stets  bei  sich:  die  Finger  der  Hände,  die  Zehen  der  Füße. 
Man  reichte  freilich  unmittelbar  damit  nicht  weit,  und  Völkerschaften 
des  südlichen  Afrika  zei^n  uns  gegenwärtig  noch,  wie  genossen- 
schaftliches Zusammenwirken  die  Schwierigkeit  besiegt,  mit  nur  zehn 
Fingern  größere  Anzahlen  sich  zu  versinnlichen  ^) :  „Beim  Aufzählen, 
wenn  es  über  Hundert  geht,  müssen  in  der  Regel  immer  drei  Mann 
zusammen  diese  schwere  Arbeit  verrichten.  Einer  zählt  dann  an  den 
Fingern,  welche  er  einen  nach  dem  andern  aufhebt  und  damit  den 
zu  zählenden  Gegenstand  andeutet  oder  womöglich  berührt,  die  Ein- 
heiten.   Der  zweite  hebt  seine  Finger  auf  (immer  mit  dem  kleinen 


*)  Schrumpf  in  der  Zeitschrift  der  deutschen  morgenländischen  Gesell- 
schaft XVI,  463. 


Einleitung.  7 

Finger  der  linken  Hand  beginnend  und  fortlaufend  bis  zum 
kleinen  Finger  der  Rechten)  für  die  Zehner,  so  wie  sie  voll 
werden.     Der  dritte  figuriert  für  die  Hunderte." 

Die  hierbei  festgehaltene  Ordnung  der  Finger  mag  man  nun  er- 
klären wollen,  wie  es  auch  sei^),  sie  findet  statt  und  wird  uns  im  Ver- 
laufe der  Untersuchungen  als  Grundlage  des  sogen.  Fingerrechnens 
noch  mehr  als  einmal  begegnen.  Sie  wird  sogar  abwechselnd  mit 
der  entgegengesetzten  Ordnung  benutzt,  um  einem  einzelnen  zu 
ermöglichen  beliebig  viele  Gegenstande  abzuzählen.  Ist  nämlich  mit 
dem  kleinen  Finger  der  rechten  Hand  die  Zehn  erfüllt  worden,  so 
beginnt  mit  eben  demselben  allein  aufgehoben  die  nächste  Zehnzahl, 
um'  dieses  Mal  nach  links  sich  fortzusetzen,  d.  h.  der  kleine  Finger 
der  linken  Hand  vollendet  die  Zwanzig  und  wird  zugleich  auch 
wieder  Anfang  der  nächsten  Zehnzahl  usf.  Natürlich  muß  bei  dieser 
Zahlenangabe,  wenn  es  nicht  um  ein  allmähliches  Entstehen,  sondern 
um  ein  einmaliges  Ausdrücken  einer  Zahl  sich  handelt,  besonders  an- 
gedeutet werden,  daß  und  wie  oft  Zehn  vollendet  wurde,  was  etwa 
so  geschehen  kann  wie  bei  den  Zulukaffem^),  die  in  solchem  Falle  beide 
Hände  mit  ausgestreckten  Fingern  wiederholt  zusammenschlagen. 

Es  ist  wohl  zu  beachten,  daß  diese  letztere  Methode  der  Ver- 
sinnlichung  einer  Zahl,  einfacher  insoweit  als  sie  nur  die  Hände 
«ines  einzigen  beschäftigt,  begrifflich  weit  unter  jener  anderen 
Methode  steht,  die  unmittelbar  vorher  gekennzeichnet  wurde  und  drei 
oder  gar  noch  mehrere  Darsteller  einer  Zahl  erfordert.  Der  einzelne 
kommt  durch  die  Zehnzahl  der  menschlichen  Finger  allerdings  dazu, 
die  Gruppe  Zehn  als  eine  besonders  hervortretende  zu  erkennen,  aber 
wie  oft  diese  Gruppe  selbst  auch  erzeugt  werde,  jede  Neuerzeugung 
ist  für  ihn  der  anderen  ebenbürtig.  Ganz  anders  bei  der  Methode 
stufenmäßiger  Darstellung  durch  mehrere  Personen.  Wie  der  Erste 
so  hat  der  Zweite,  der  Dritte  nur  je  zehn  Finger,  und  so  erscheint 
die  Gruppierung  von  zehn  Einem  zwar  zunächst,  aber  in  gleicher 
Weise  auch  die  von  zehn  Zehnem,  von  zehn  Hundertern.  Das  schein- 
bar umständlichere  Verfahren  führt  zu  dem  einfacheren  Gedanken, 
zum  Zahlensystem.  Wenn  von  einem  Schriftsteller*)  darauf  hin- 
gewiesen   worden   ist,    daß    die   Wiederholung   der   Zehnzahl   bis   zu 

10  mal    10    sich    bei    Erfüllung    der    nächsten    10    ebensowohl    zu 

11  mal  10  als  zu  10  mal  10  und  10,  in  Worten  ebensowohl  zu 
«Ifzig  als  zu  hundertzehn  fortsetzen  konnte,  und  daß  es  ein  besonders 
glücklicher  Griff  war,  der  fast  allen  Völkern  der  Erde  gelang,  soweit 


>)  Pott  II,  S.  46,  aber  auch  S.  81  und  42.     *)  Pott  II,  S.  47.    ')  Hankel, 
ä.  10—11. 


8  Einleitung. 

ihre  Fassungskraft  überhaupt  bis  zum  Bewußtwerden  bestimmter 
höherer  Zahlen  ausreicht^  gerade  die  Wahl  zu  treffen,  welche  dem 
Zahlensystem  seine  Grundlage  gab,  so  ist  diese  feine  Bemerkung 
yielleicht  dahin  zu  ergänzen,  daß  auf  eine  der  hier  erörterten  nahe- 
stehende Weise  jene  glückliche  Wahl  eingeleitet  worden  sein  mag. 

Über  die  Grundzahlen  solcher  Zahlensysteme  werden  wir  so- 
gleich noch  reden.  Fürs  erste  halten  wir  daran  fest,  daß  Zahlen- 
systeme eine  allgemein  menschliche  Erfindung  darstellen,  in  allen 
bekannt  gewordenen  Sprachen  zu  einer  Grundlage  der  Bildung  von 
bald  mehr  bald  weniger  Zahlwörtern  benutzt,  indem  höhere  Zahlen 
durch  Yerrielfältigung  von  niedrigeren  zusammengesetzt  werden  und 
bei  Benennung  der  Zwischenzahlen  auch  Hinzufügungen  noch  not- 
wendig erscheinen.  Multiplikation  und  Addition  sind  also 
zwei  Rechnungsverfahren  so  alt  wie  die  Bildung  der  Zahl- 
wörter. 

Das  Zahlensystem,  welches  wir  in  seinem  Entstehen  uns  zu  ver- 
gegenwärtigen suchten,  wurde,  sofern  es  auf  der  Grundzahl  Zehn 
fußte,  zum  Dezimalsystem,  heute  wie  unserem  Zifferrechnen  so 
auch  in  unseren  Maßen,  Gewichten,  Münzen  fast  der  ganzen  gebil- 
deten Erdbevölkerung  unentbehrlich.  Wir  haben  als  wahrscheinlich 
erkannt,  daß  es  nach  der  Zahl  der  Finger  sich  bildete,  aber  eben 
vermöge  dieses  Ursprunges  war  es  nicht  das  allein  mögliche.  Wie 
man  sämtliche  Finger  durchzählen  konnte,  um  eine  Einheit  höheren 
Ranges  zu  gewinnen,  so  konnte  man  Halt  machen  nach  den  Fingern 
nur  einer  Hand,  man  konnte  neben  den  Fingern  der  Hände  die  Zehen 
der  Füße  benutzen.  In  dem  einen  Falle  blieb  man  beim  Quinar- 
Systeme,  in  dem  anderen  ging  man  zum  Yigesimalsystem  über. 

Ein  strenges  Quinarsystem  würde,  wie  leicht  ersichtlich,  5  mal 
5  oder  25,  5  mal  5  mal  5  oder  125  usw.  als  Einheiten  höheren 
Ranges  nächst  der  5  selbst  besitzen  müssen,  welche  durch  einfach» 
oder  auch  zusammengesetzte  Namen  bezeichnet  mit  den  Namen  der 
Zahlen  1,  2,  3,  4  sich  vereinigen,  um  so  alle  zwischenliegende  Zahlen 
zu  benennen.  Ein  solches  strenges  Quinarsystem  gibt  es  nicht  ^). 
Dagegen  gibt  es  Quinarsysteme  in  beschränkterem  Sinne  des  Wortes^ 
wenn  zur  Benutzung  dieses  Wortes  schon  der  Umstand  als  genügend 
erachtet  wird,  daß  die  Fünf  bei  allmählicher  Zahlenbildung  einen  Ruhe- 
punkt gewähre,  von  dem  aus  eine  weitere  Zählung  wieder  anhebt. 

Was  dementsprechend  von  einem  strengen  Vigesimalsysteme  zu 
verlangen  ist,  leuchtet  gleichfalls  ein:  ein  solches  muß  die  Grund- 
zahl 20  durchhören  lassen,  muß  die  Einheit  höheren  Ranges  20  mal 

*)  Pott  II,  S.  35  und  46  in  den  Anmerkungen. 


Einleitung.  9 

20  oder  400,  vielleicht  auch  noch  höhere  Einheiten  unter  besonderen 
Namen  besitzen.  Sprachen,  in  welchen  dieses  System  maßgebend 
ist^  hat  man  mehrfach  gefunden.  Die  Mayas  in  Yukatan^)  haben 
eigene  Wörter  für  20,  400,  8000,  160000.  Die  Azteken  in  Mexiko«) 
hatten  wenigstens  besondere  Wörter  für  20,  400,  8000  mit  der  Ur- 
bedeutung: das  Gezahlte,  das  Haar,  der  Beutel,  wobei  auffallend  er- 
scheinen mag,  daß  das  Haar  eine  verhältnismäßig  niedrige  Zahlen- 
bedeutung hat,  während  es  in  karaibischen  Sprachen^)  weit  überein- 
stimmender mit  der  Wirklichkeit  eine  sehr  große  Zahl  auszudrücken 
bestimmt  ist.  Noch  andere  Beispiele  eines  bemerkbaren  mehr  oder 
minder  durchgeführten  Yigesimalsystems  hat  vornehmlich  Pott,  dem 
wir  hier  fast  durchweg  folgen,  in  Fülle  gesammelt.  Wir  erwähnen 
davon  nur  als  den  meisten  unserer  Leser  zweifellos  bekannt  die 
Überreste  eines  keltischen  Yigesimalsystems  in  der  französischen 
Sprache  in  Wörtern  wie  quatrevingtSy  sixvingts^  quinjsevingts^).  Von 
dänischen  Überresten  eines  Systems,  in  welchem  Vielfache  von  20 
eine  Rolle  spielen,  ist  weiter  unten  in  etwas  anderem  Zusammenhange 
die  Rede. 

Den  Ursprung  der  drei  Systeme,  deren  Grundzahlen  5,  10,  20 
heißen,  haben  wir  oben  in  die  Finger  und  Zehen  des  Menschen  ver- 
legt. Auch  dafür  sind  sprachliche  Anklänge  vorhanden.  Zwischen 
den  Wörtern  für  5  und  für  Hand  ist  in  manchen  Sprachen  völlige 
Gleichheit,  in  anderen  nahe  Verwandtschaft^).  Alsdann  darf  man 
aber  wohl  annehmen,  daß  es  früher  wünschenswert  war  die  Glieder 
des  eigenen  Körpers  zu  benennen,  als  Zahlwörter  zu  bilden,  daß  also 
5  von  Hand  abgeleitet  wurde,  nicht  umgekehrt.  Das  Wort  für  10 
heißt  in  der  Eorasprache  ^)  (einem  amerikanischen  Idiome)  so  viel 
wie  Darreichung  der  Hände,  und  daß  ein  und  dasselbe  Wort  20  und 
Mensch  bedeutet  kommt  mehrfach  vor^).  Ob  freilich,  wie  manche 
wollen,  auch  das  deutsche  zehn  mit  den  Zehen,  das  lateinische  decem 
mit  digiti  in  Verbindung  gebracht  werden  darf,  darüber  gehen  die 
Meinungen  weit  auseinander,  und  Pott,  unser  Gewährsmann,  steht 
auf  der  Seite  der  Verneinenden.  Jedenfalls  ist  aber  schon  durch  die 
erwähnten  Beispiele  ein  innerer  Zusammenhang  der  drei  genannten 
Systeme  untereinander  und  mit  den  menschlichen  Extremitäten  hin- 
länglich unterstützt.  Gibt  es  nun  Sprachen,  in  welchen  auch  andere 
Grundzahlen  als  5,  10  oder  20  sich  nachweisen  lassen? 

»)  Pott  I,  S.  98.  *)  Pott  I,  S.  97—98.  »)  Pott  U,  S.  68.  *)  Pott  I,  S.  88. 
^)  Pottl,  S.  27  fLgg.  and  S.  128  flgg.  fuhrt  Beispiele  aus  ozeanischen  Spnvchen, 
aus  dem  Sanskrit  und  dem  Hebi&ischen  an,  wenn  er  auch  den  letzteren  gegen- 
über, die  von  Benary  und  Ewald  herrühren,  sich  ziemlich  skeptisch  verhält. 
«)  Pott  I,  S.  90.     ')  Pott  I,  S.  92. 


10  Einleitung. 

Wenn  man  gesagt  hat^)^  daß  kein  Volk  auf  der  ganzen  £rde 
je  von  einer  anderen  Grundzahl,  als  einer  der  genannten  ans,  sein 
Zahlensystem  mit  einiger  Konsequenz  ausgebildet  habe,  so  ist  dieser 
Ausspruch  entschieden  allzu  verneinend,  selbst  wenn  man  einen  be- 
sonderen Nachdruck  auf  das  Wort  Konsequenz  legt,  dem  gegenüber 
die  Frage  erhoben  werden  möchte,  wo  denn  folgerichtige  Anwendung 
des  Quinarsystems  sich  finde? 

Allerdings  hat  man  einige  Gattungen  von  Zahlensystemen  nur 
mit  Unrecht  nachweisen  zu  können  geglaubt.  Falsch  war  es,  wenn 
Leibniz  bei  den  Chinesen  ein  Binarsystem  annahm*).  Falsch  scheint 
Kohl  den  Osseten  im  Kaukasus  ein  Oktodezimalsystem  zugeschrieben 
zu  haben  ^).  Dagegen  sind  andere  Angaben  doch  zu  wohl  beglaubigt, 
um  sie  ohne  weiteres  leugnen  oder  totschweigen  zu  dürfen.  Die 
Neuseeländer  mit  ihrem  merkwüi'digen  Undezimalsysteme*),  welches 
besondere  Wörter  filr  11,  für  11  mal  11  oder  121,  für  11  mal  11  mal 

11  oder  1331  besitzt,  welches  12  durch  11  mit  1,  13  durch  11  mit  2, 
22  durch  2  mal  11,  33  durch  3  mal  11  usw.  ausdrückt,  lassen 
sich  nicht  vornehm  beiseite  schieben.  Ob  der  Zeitraum  von  110 
Jahren,  nach  welchen,  wie  Horaz  im  21.  und  22.  Verse  seines  Carmen 
saeculare  berichtet,  die  römische  Erinnerungsfeier  wiederkehrte,  der 
man  den  Namen  der  saecularen  beilegte,  mit  einer  Vermengung  dezi- 
maler und  undezimaler  Zählweise  zusammenhängt,  bleibe  dahingestellt. 
Das  Wort  triouech  oder  3  mal  6  für  18  in  der  Sprache  der  Nieder- 
bretagner  ist  neben  dem  deunaw  oder  2  mal  9  der  Welschen^)  für 
eben  dieselbe  Zahl  nun  einmal  vorhanden.  Die  Bolaner  oder  Bura- 
maner  an  der  Westküste  Afrikas*)  lassen,  wenn  sie  6  und  1  für  7, 
wenn  sie  2  mal  6  für  12,  wenn  sie  4  mal  6  für  24  sagen,  die  Grund- 
zahl 6  gleichfalls  durchhören.  Einige  assyrische  Zahlwörter  (7  und  8), 
auf  welche  wir  im  1.  Kapitel  zurückkommen  werden,  zeigen  dieselbe 
Abhängigkeit  von  6.  Und  wenn  der  Altfriese  120  mit  dem  Worte 
iolftich  benannte^),  so  ist  das  sogar  ein  Hinweis  darauf,  daß  auch 
das  vorhin  als  menschlichem  Geiste  im  allgemeinen  fremdverpönte 
elfzig  seine  Analogien  besitzt,  ist  es  zugleich  ein  Beispiel  für  ein 
eigentümlich  gemischtes  System  mit  Dezimal-  und  Duodezimalstufen 
wie  äkandinaven  und  Angelsachsen  es  teilweise  besaßen*),  wie  eine 
verhältnismäßig  spätere  Wissenschaft  es  in  Babylon  einbürgeiie, 
von  wo  es  als  Sexagesimalsystem  das  astronomische  Rechnen  aller 


*)  Hankel,  S.  19.  *)  M.  Cantor,  Mathematische  Beiträge  zum  Kultur- 
leben der  Völker.  Halle  1863.  S.  48  flgg.,  auch  S.  44.  Wir  zitieren  dieses 
Buch  künftig  immer  als:  Math.  Beitr.  Eulturl.  ')  Kohl,  Reisen  in  Südrußland. 
Bd.  n,  S.  216  und  Pott  I,  S.  81.  *)  Pott  I,  S.  76  flgg.  *)  Pott  II,  S.  33, 
«)  Pott  n,  S.  30.     ^  Pott  n,  S.  38.     »)  Math.  Beitr.  Kulturl.  S.  147. 


Einleitung.  1 1 

Völker  durch  Jahrhunderte  beherrscht.  Die  Vermengung  dezimalen 
und  duodezimalen  Zählens  könnte  auch  als  Stütze  der  Möglichkeit 
dienen,  welche  oben  für  dezimale  und  undezimale  Zahlen  beansprucht 
wurde. 

Das  Vorhandensein  von  Zahlensystemen,  deren  Grundzahl  nicht 
5  oder  Vielfaches  von  5  ist,  dürfte  damit  nachgewiesen  sein.  Aber 
allerdings  bilden  dieselben  nur  Ausnahmen  von  seltenem  vereinzeltem 
Vorkommen.  Auch  eine  andere  Gattung  von  Ausnahmen  gegen 
früher  Erwähntes  müssen  wir  kurz  berühren.  Wir  haben  hervor- 
gehoben, daß  die  Zwischenzahlen  zwischen  den  Einheiten  aufein- 
anderfolgenden Ranges  multiplikativ  und  additiv  gebildet  werden-, 
wir  haben  daraus  auf  das  hohe  Alter  dieser  ßechnungsverfahren 
geschlossen.  Es  gibt  nun  Sprachen,  welche  die  Bildung  der  Zahl- 
wörter auf  Subtraktionen  und  Divisionen  stützen,  wodurch  das 
hohe  Alter  auch  dieser  Rechnungsverfahren  wenigstens  bei  den 
Völkern,  denen  jene  Sprachen  angehören,  gleichfalls  zur  Möglichkeit 
gelangt. 

Die  Subtraktion  wird  am  häufigsten  bezüglich  der  Zahlwörter 
eins  und  zwei  geübt  ^).  Dieses  entspricht  z.  B.  in  der  lateinischen 
Sprache  durchweg  dem  Gebrauch  bei  den  Zehnern.  Man  sagt  duode- 
vigintij  d.  h.  2  von  20  für  18,  ebenso  undecentum  1  von  100  für  99  usw. 
Auch  im  Griechischen  werden  1  und  2  bei  den  Zehnem  zuweilen  ab- 
gezogen, wozu  das  Zeitwort  dalv  in  seiner  transitiven  wie  in  seiner 
intransitiven  Bedeutung  als  bedürfen  und  als  fehlen  angewandt 
wird.  So  drückt  man  58  aus  durch  dvotv  öiovzeg  a^7}xovra  =  60 
welche  2  bedürfen,  49  durch  ivbg  deovrog  ^Bvnf^xovza  =»  50  woran 
1  fehlt,  und  ein  vereinzeltes  Vorkommen  von  9700  =  10000,  welche 
300  bedürfen  xQvaxoömv  änoHiovra  ^vgia  wird  aus  den  Schriften  des 
Thukydides  angeführt*).  Auch  im  Gotischen  findet  subtraktive  Bil- 
dung von  Zahlwörtern  statt.  In  der  gemeinsamen  Stammsprache,  im 
Sanskrit,  ist  gleichfalls  eine  Subtraktion  mittels  des  Wortes  una 
(vermindert,  weniger)  im  Gebrauch.  Sei  es  nun,  daß  das  una  selbst 
allein  einem  Zahlwort  vorgesetzt  wird,  und  man  im  Gedanken  eka 
eins  hinzuhören  muß,  z.  B.  unavingscUiy  vermindertes  20  statt  19, 
oder  daß  das  eka  wirklich  ausgesprochen  wird  und  sich  dabei  mit 
ufia  zu  ekona  zusammensetzt,  z.  B.  ekonaschaschta,  um  1  vermindertes 
60  statt  59,  oder  daß  andere  Zahlen  als  1  abgezogen  werden,  z.  B. 
pantschonangsoilamy  um  5  vermindertes  100  statt  95.  Ob  die  baby- 
lonische Benutzung  von  lal  =  weniger  hierher  gehört^)  oder  als 
eigentliche  Subtraktion  aufzufassen  ist,  sei  dahingestellt. 

»)  Math.  Beifer.  Kulturl.  S.  157.  *)  Pott  I,  S.  181,  Anmerkung.  »)  Reisner 
in  Berl,  Akad.  Her.  1896,  S.  426—426  mit  Berufung  auf  Tontafeln  von  ür. 


12  Einleitang. 

Am  seltensten  dient  die  Division  zur  sprachlichen  Bildung  der 
Zahlwörter.  Hier  kommen  neben  den  sofort  verständlichen  Teilungen: 
ein  viertel  Hundert^  ein  halbes  Tausend  usw.^  namentlich  solche 
Wörter  in  Betracht,  welche  eine  nicht  voll  vorhandene  Einheit  zur 
Teilung  bringen.  Anderthalb;  dritthalb,  sechsthalb  besagen,  daß  das 
Andere,  d.  h.  Zweite,  daß  das  Dritte,  daß  das  Sechste  halb  zu 
nehmen  sei,  die  Existenz  des  Ersten,  der  2,  der  5  Vorhergehenden 
als  selbstverstanden  vorausgesetzt.  Verwandte  Bildungen  sind  in  latei- 
nischer und  in  griechischer  Sprache  sesquidlter  «  ijcidsvreQog  —  V/^} 
sesquitertius  =  kitCxQixog  =  IVs;  sesquiodavus  =»  k3t6'y6oog  =  IVg  usw. 
Besonderer  Hervorhebung  scheint  es  wert,  daß  die  dänische  Sprache 
in  Europa  und  im  fernen  Süden  und  Osten  die  Sprache  der  Dajacken 
und  Malaien  auf  den  nächsten  Zwanziger  beziehungsweise  Zehner 
übergreift,  um  ihn  hälftig  vorweg  zu  nehmen  ^).  Ein  altes  Vigesimal- 
system  in  deutlichen  Spuren  verratend  (S.  9)  sagt  die'  dänische 
Sprache  nicht  bloß  tresindstyve  oder  3  mal  20  für  60,  firesindstyve 
oder  4  mal  20  für  80,  sondern  auch  halvtredsindstyve,  halvfirdsindstfjve 
für  50  und  70,  d.  h,  der  dritte,  der  vierte  Zwanziger,  welcher  bei  GO, 
bei  80  voll  vorhanden  ist,  kommt  hier  nur  zur  Hälfte  in  Rechnung. 
Ja  man  hat  sogar  halvfeinsindstyve  oder  fünfthalb  Zwanziger  für  90, 
während  100  nur  durch  hundredc  und  nie  durch  femsifidstyve  aus- 
gedrückt wird.  Bei  den  Malaien  heißt  halb  dreißig,  halb  sechzig  es 
solle  von  dem  letzten,  also  hier  von  dem  dritten,  sechsten  Zehner 
nur  die  HäKte  genommen  werden,  man  meine  also  25,  55.  Im  Alt- 
türkischen  wird  das  Vorgreifen  auf  den  nächsten  Zehner  noch  weiter 
ausgedehnt*).  „Vier  dreißig^'  bedeutet  „vier  von  dem  dritten  Zehner'' 
also  24.  Endlich  im  Äthiopischen  findet  sich  ein  merkwürdiger  Aus- 
nahmefall^). Die  Athiopen  besitzen  besondere  Zeichen  für  die  Einer,  die 
Zehner,  die  Hunderter,  mittels  deren  sie  die  Zwischenzahlen  zusammen- 
setzen. Sie  schreiben  also  z.  B.  59  durch  die  Zeichen  „fiinfzig  neun". 
Einzig  und  allein.  99  wird  anders  geschrieben,  nämlich  nicht  ,pieunzig 
neun*',  sondern  „neunzig  hundert",  d.  h.  also  etwa  „ein  Neunziger 
nahe  bei  Hundert".     Der  Grund  dieser  Ausnahme  ist  unermittelt. 

Alle  diese  Teilungen  in  sich  schließende  Ausdrücke  sind  gewiß 
merkwürdig,  eine  genaue  Einsicht  in  das  Alter  der  Division  ver- 
glichen mit  dem  Alter  der  Sprachbildung  geben  sie  uns  deshalb  doch 
nicht.  Es  sind  eben  Wörter  mit  Zahlenbedeutung,  aber  es  sind  nicht 
die  Zahlwörter!     Neben  ihnen  und  statt  ihrer  sind  auch  andere  mög- 


*)  Pottl,  S.  103  und  II,  S.  88.  *)  J.  Marquart,  Die  Chronologie  der  alt- 
türkischen Inschriften.  Leipzig  1898.  ^  C.  Bezold,  Kebra  Nagast.  München 
1906.    S.  XV,  Note  3. 


Einleitung.  13 

licherweise  viel  ältere  Ausdrücke  in  Gebrauch  und  lassen  die  Ent- 
stehungszeit der  jüngeren  Benennung  im  dichtesten  Dunkel.  Nicht 
anders  verhält  es  sich  mit  den  vorerwähnten  subtraktiven  Bildungen, 
zu  welchen  als  weiteres  Beispiel  bestimmter  Grenzpunkte,  auf  welche 
Vorhergehendes  ebenso  wie  Folgendes  bezogen  wird,  die  Kalender- 
bezeichnung der  Römer  mit  ihren  Calenden,  Nonen  und  Iden  treten 
mag.  Entscheidend  dagegen  sind  die  subtraktiven  Zahlwörter  einiger 
Sprachen,  z.  B.  der  Krähenindianer  in  Nordamerika^).  Bei  ihnen 
heißen  8  und  9  nie  anders  als  nöpape,  amätape,  d.  h.  wörtlich  2  da- 
von, 1  davon,  und  das  Wort  Zehn,  d.  h.  die  Anzahl,  von  welcher  2, 
beziehungsweise  1  weggenommen  werden  sollen,  ist  als  selbstverständ- 
lich weggelassen.  Hier  kann  ein  Zweifel  kaum  walten:  die  Namen 
der  8  und  9  sind  erst  entstanden,  nachdem  der  Begriff  der  10  sich 
gebildet  hatte,  nachdem  das  Rechnungsverfahren  der  Subtraktion  er- 
fanden war.  Mit  dieser  Bemerkung  kehren  wir  zu  unserer  früheren 
Behauptung  zurück  (8.  4),  zu  deren  Begründung  wir  die  ganze  Er- 
örterung über  Zahlwörter  und  über  die  ersten  Anfänge  des  Rechnens 
gleich  hier  anknüpfen  durften.  Die  Sprache  hielt  in  ihrer  Entstehung 
nicht  immer  gleichen  Schritt  mit  der  Entstehung  der  Begriffe.  Das 
aufeinanderfolgende  Zählen  wurde  unterbrochen  durch  das  Bewußt- 
sein notwendiger  Zahlenverknüpfungen,  Sprünge  in  der  Erfindung  der 
Zahlwörter  sind  nahezu  sicher. 

Und  wieder  machte  der  menschliche  Erfindungsgeist  einen  Schritt 
vorwärts,  einen  Schritt,  zu  welchem  er  auch  nicht  die  geringste  An- 
regung von  außen  erhielt,  der  ganz  aus  eigenem  Antriebe  erfolgend 
mindestens  ebenso  sehr  wie  die  künstliche  Entfachung  des  Feuers  als 
wesentlich  menschlich,  als  keinem  anderen  Geschöpfe  möglich  aner- 
kannt werden  muß:  er  erfand  die  Schrift.  Bilderschrift,  so  nimmt 
man  gegenwärtig  wohl  ziemlich  allgemein  an,  war  die  erste,  welche 
dem  Spiegel  der  Rede  (wie  bei  einem  Negervolke  das  Geschriebene 
heißt)  *)  den  Ursprung  gab.  Aber  mit  Bildern  allein  kam  man  nicht 
aus.  Neben  wirklichen  Gegenständen  mußten  Tätigkeiten,  Eigen- 
schaften, Empfindungen  dem  künftigen  Wissen  aufbewahrt  werden. 
Die  Notwendigkeit  symbolischer  oder  willkürlich  eingeführter  Zeichen 
für  diese  nicht  gegenständlichen  Begriffe  zwang  zur  Abhilfe.  So 
müssen  Begriffszeichen  entstanden  sein,  gemeinsam  mit  den  früheren 
Bildern  eine  Wortschrift  herstellend.  Jetzt  erst  —  aber  wer  weiß 
in  wie  langer  Zeit?  —  konnte  man  dahin  gelangen  in  dem  Ge- 
sprochenen nicht  nur  den  ganzen  Klang,  sondern  die  einzelnen  Laute, 
aus  welchen  er  sich  zusammensetzt,  zu  verstehen,  und  diese  Einzel- 


*)  Pott  II,  S.  66.      *)  Pott  I,  S.  18. 


14  Einleitung. 

laute  dem  Auge  zu  versinnlichen.  Die  Silben-  und  Buchstabenschrift 
entstand.  Für  die  Zahlen  behielt  man  allgemein  das  Verfahren  bei^ 
welches  in  anderer  Beziehung  sich  überlebt  hatte.  Inmitten  dor 
Silben-,  der  Buchstabenschrift,  treten  Zahlzeichen,  d.  h.  Wort- 
zeichen auf,  und  wer  ein  Freund  philosophischen  Grübelns  ist,  mag 
darüber  sinnen,  warum  gerade  hier  eine  Ausnahme  sich  aufdrängte. 
Warum  hat  gerade  das  mathematische  Denken  von  jeher  durch  Wort- 
zeichen, sei  es  durch  Zahlzeichen,  sei  es  durch  andere  sogenannte 
mathematische  Zeichen,  Unterstützung,  Erleichterung  und  Förderung 
gefunden?  Wir  stellen  die  Frage,  wir  wagen  nicht  sie  zu  beant- 
worten. Aber  die  Tatsache,  an  welche  wir  die  Frage  knüpften,  steht 
fest,  ebenso  wie  es  feststeht,  daß  ein  Zahlenschreiben  in  älteste 
Eulturzeiten  hinaufreicht,  wo  dessen  Zeichen  inmitten  geschichtlicher 
Inschriften  vorkommen. 

Die  Verschiedenheit  der  Zahlzeichen  ist  eine  gewaltige.  Wir 
werden  in  mannigfachen  Kapiteln  dieses  Bandes  von  solchen  zu  reden 
haben  und  wünschen  nicht  vorzugreifen.  Aber  ein  Prinzip  der  Zahlen- 
schreibung hat  sich  fast  überall  Bahn  gebrochen,  dessen  Entdeckung 
dem  Scharfsinne  Hankels^)  um  so  größere  Ehre  macht,  als  es  trotz 
seiner  großen  Einfachheit  stets  übersehen  worden  war.  Es  ist  das 
Gesetz  der  Größenfolge,  wie  wir,  um  eine  kürzere  Redeweise  zu 
besitzen,  es  künftig  nennen  wollen,  und  besteht  darin,  daß  bei  allen 
additiv  vereinigten  Zahlen  das  Mehr  stets  dem  Weniger 
vorausgeht*).  Natürlich  ist  die  Richtung  der  Schrift  bei  Prüfung 
dieses  Gesetzes  wohl  zu  beachten,  und  wenn  bei  der  von  links  nach 
rechts  gehenden  Schrift  des  Abendlandes  der  Hauptteil  der  Zahl  links 
auftreten  muß,  so  ist  die  Stellung  bei  Zahlendarstellungen  semitischen 
Ursprunges  entgegengesetzt,  und  wieder  eine  andere,  wenn,  wie  bei 
den  Chinesen,  die  Schrift  in  von  oben  nach  unten  gerichteten  Reihen 
verläuft. 

Die  mathematischen  Begriffe,  bei  denen  wir  in  unserer  flüchtigen 
Betrachtung  der  Anfänge  menschlicher  Eulturentwicklung,  Anfänge, 
welche  selbst  Jahrtausende  in  Anspruch  genommen  haben  mögen,  zu 
verweilen  Gelegenheit  nahmen,  gehören  sämtlich  dem  einen  Zweige 
der  Größenlehre  an,  welcher  über  das  Wieviel?  der  nebeneinander 
auftretenden  Dinge  das  Was?  derselben  vernachlässigt.  Es  ist  aber 
wohl  keinem  Zweifel  unterworfen,  daß  neben  Kenntnis  und  einfachster 
Verbindung  der  Zahlen  einfache  astronomische  wie  geometrische  Be- 
griffe wach  geworden  sein  müssen. 


*)  Hankel,  S.  32.        *)  Über   Abweichungen   von   diesem   Gesetze   vergl. 
Kapitel  4. 


Einleitung.  15 

Wir  werden  der  Geschichte  der  Astronomie  grundsätzlich  fem 
bleiben,  um  nicht  den  schon  so  für  uns  fast  unbezwingbar  sich  ge- 
staltenden Gegenstand  unserer  Darstellung  ohne  Not  zu  vergröflem^ 
aber  zwei  Bemerkungen  können  wir  hier  nicht  unterdrücken.  Auf- 
gang und  Untergang  der  Sonne  waren  gewiß  schon  in  den  Zeiten 
nomadischen  Wandems  die  beiden  Marksteine,  die  Zeit  und  Raum 
in  Grenzen  schlössen.  Morgen  und  Abend,  Ost  und  West  waren 
Begriffepaare,  deren  Entstehung  wohl  nicht  früh  genug  angenommen 
werden  können.  Und  als  beim  Ansässigwerden  der  Völker  die  Sonne 
zwar  immer  noch  ihre  Uhr,  aber  nicht  ihren  täglichen  Wegweiser 
bildete,  nach  deren  Stande  sie  sich  zu  richten  pflegten,  war  das 
Orientierungsgefühl  doch  noch  geblieben,  hatte  womöglich  an  Genauig- 
keit noch  zugenommen.  Am  Südende  des  Pf äffiker-Sees  in  der  Schweiz 
sind  Pfahlbauten  beobachtet  worden,  welche  genau  nach  den  Himmels- 
gegenden gerichtet  sind  ^),  und  jene  Bauten  reichen  jenseits  der  soge- 
nannten Bronzezeit  in  eine  Periode  hinauf,  welche  nach  geologischer 
Schätzung  etwa  4000  Jahre  vor  Christi  Geburt  lag.  Wir  stellen  in 
keiner  Weise  in  Abrede,  daß  man  bei  der  Orientierung  der  Wohn- 
häuser an  praktische  Rücksichten,  an  Besonnung,  Wind  und  Wetter 
dachte,  aber  man  dachte  doch,  man  übte  nicht  Zufälliges  und  Un- 
beabsichtigtes. Von  ähnlichen  Orientierungen  werden  wir  verschiedent- 
lich zu  reden  haben.  Die  Richtung  nach  den  Himmelsgegenden 
selbst  wird  uns  niemals  als  Beweis  der  Übertragung  von  Begriffen 
von  einem  Volke  zum  andern  gelten  dürfen.  Nur  die  Ermittlungs- 
weise dieser  Richtung  wird  zum  genannten  Zweck  tauglich  erscheinen. 

Auch  geometrische  Begriffe,  sagten  wir,  müssen  frühzeitig  ent- 
standen sein.  Körper  und  Figuren  mit  geradliniger,  mit  krummliniger 
Begrenzung  müssen  dem  Auge  des  Menschen  aufgefallen  sein,  sobald 
er  anfing  nicht  bloß  zu  sehen,  sondern  um  sich  zu  schauen.  Die 
Zahl  der  Ecken,  in  welchen  jene  Flächen,  jene  Linien  aneinander- 
stoßen, wird  ihm  der  Bemerkung  wert  gewesen  sein,  wird  ihn  heraus- 
gefordert haben  jenen  Gebilden  Namen  zu  geben.  Vielleicht  ist  auch 
in  ältesten  Zeiten  und  in  gegenseitiger  Unabhängigkeit  an  vielen 
Orten  zugleich  beachtet  worden,  daß  der  Arm  beim  Biegen  am  Ellen- 
bogen, das  Bern  beim  Biegen  am  Knie,  daß  die  beiden  Beine  beim 
Ausschreiten  einen  Winkel  bilden,  und  der  Name  jeder  von  zwei 
einen  Winkel  bildenden  Linien  als  öxekog  bei  den  Griechen,  crus  bei 
den  Römern,  Schenkel  bei  den  Deutschen,  leg  bei  den  Engländern^ 
Jambe  bei  den  Franzosen,  &äAu,  d.  h.  Arm  bei  den  Indem,  kou,  d.  h. 

^)  Diese  Beobachtung  rührt  von  Professor  Quincke  her,  der  xms  frexmd- 
liehst  gestattete,  von  dieser  seiner  mündlichen  Mitteilung  Gebrauch  zu  machen. 


16  Einleitung. 

Hüfte  bei  den  Chinesen^  der  Zusammenhang  y&vog  Winkel  mit  yöw 
Knie,  dieses  und  ähnliches  braucht  nicht  in  allen  Fällen  Übertragung 
zu  sein.  Die  genannten  modernen  Namen  werden  allerdings  kaum 
anders  als  durch  Übersetzung  aus  dem  Lateinischen^  wenn  nicht  aus 
dem  Griechischen  entstanden  sein,  aber  die  antiken  Wörter  können 
sehr  wohl  uraltes  Ergebnis  mehrfacher  Selbstbeobachtung  sein,  uraltes 
Wissen. 

Ist  nun  uraltes  Wissen  auch  uralte  Wissenschaft?  Muß  eine 
Geschichte  der  Mathematik  so  weit  zurückgreifen,  als  sie  noch  hoffen 
darf  mathematischen  Begriffen  zu  begegnen? 

Wir  haben  unsere  Auffassung,  unsere  Beantwortung  dieser  Fragen 
darzulegen  geglaubt,  indem  wir  diese  Einleitung  vorausschickten. 
Kein  Erzähler  hat  das  Recht  das  Brechen,  das  Zusammentragen  der 
ersten  Bausteine,  aus  welchen  Jahrhunderte  dann  ein  stolzes  Gebäude 
aufgerichtet  haben,  ganz  unbeachtet  zu  lassen;  aber  die  Bausteine 
sind  noch  nicht  das  Gebäude.  Die  Wissenschaft  beginnt  erzählbar 
erst  dann  zu  werden,  wenn  sie  Wissenschaftslehre  geworden  ist.  Erst 
von  diesem  Zeitpunkte  an  kann  man  hoffen  wirkliche  Überreste  von 
Regeln  und  Vorschriften  zu  finden,  welche  es  erlauben  mit  einiger 
Sicherheit  und  nicht  in  allem  und  jedem  dem  eigenen  Gedankenfluge 
vertrauend  Bericht  zu  erstatten.  Mögen  Schriftsteller  früherer  Jahr- 
hunderte ihre  eigentlichen  historisch-mathematischen  Untersuchungen 
mit  der  Schöpfung  begonnen  haben  den  Worten  der  Schrift  folgend: 
Aber  du  hast  alles  geordnet  mit  Maß,  Zahl  und  Gewicht^).  Uns  be- 
ginnt eine  wirkliche  Geschichte  der  Mathematik  mit  dem  ersten 
Schriftdenkmal,  welches  auf  Rechnung  und  Figurenvergleichung  Be- 
zug hat. 


*)  Weißheit  SalomoB  XI,  22. 


I.  Babylonier. 


Caktob,  Oeeehicht«  der  Mftthemfttik  I.  S.  Aufl. 


1.  Kapitel. 
Die  Babylonier. 

Es  wird  die  älteste  menschliche  Erfahrang  sein^  welche  sich  zur- 
zeit an  das  vorderasiatische  Zweistromland  knüpft^  in  welchem  be- 
stimmte Eönigsnamen  bis  auf  eine  Zeit  zurückweisen ,  die  fünfthalb- 
tausend  Jahre  Yor  dem  Beginne  der  christlichen  Zeitrechnung  liegt  ^). 
Wenn  wir  auch  von  der  politischen  Geschichte  der^  wie  wir  gleich 
sehen  werden^  sich  dort  ablösenden  Reiche  nicht  genauer  berichten 
dürfen^  so  ist  uns  die  Oeschichte  ihrer  £ulturentwicklung  um  so 
wichtiger,  insoweit  sie  Mathematisches  betrifft,  und  diese  wieder  nötigt 
uns  weniges  von  den  mindestens  zwei  Volksstammen  vorauszuschicken^ 
die  dort  in  engste  Verbindung  traten  und  zu  einem  Mischvolke  sich 
vereinigten,  dessen  Bildung  nur  Wahrscheinlichkeitsschlüsse  dafür  ge- 
stattet, welchem  der  Urstamme  wir  diesen  oder  jenen  Bestandteil  des 
später  gemeinsamen  Wissens  gutschreiben  sollen. 

Neuere  Völkerkunde  hat  die  Gegend  der  Hochebene  Pamir*), 
etwa  unter  dem  38.  Ghrade  nördlicher  Breite  und  dem  90.  Grade  öst- 
licher Länge  gelegen,  als  das  in  Wirklichkeit  freilich  nichts  weniger 
als  paradiesische  Paradies  der  orientalischen  Sagen  erkannt.  Vier 
Gewässer  fließen  von  ihr  nach  den  vier  Himmelsrichtungen  ab,  der 
Indus,  der  Heimund,  der  Ozus,  der  Yaxartes.  Von  dort  zunächst, 
mutmaßlich  noch  weiter  von  Nordosten,  von  den  Abhängen  des 
erzreichen  Altaigebirges,  drangen  Skythenvölker  turanischen  Stammes, 
ihrem  Hauptbestandteile  nach  S  um  er  i  er"),  herab,  eine  bereits  ziem- 
lich entwickelte  mathematische  Bildung  mit  sich  bringend,  wie  wir 
nachher  sehen  wollen.  Sie  setzten  sich  fest  auf  dem  Hochlande  von 
Iran,  besonders  in  dem  nördlichsten  Teile,  der  später  Medien  genannt 


^)  G.  Maspero,  Geschichte  der  morgenländischen  Völker  ita.  Alterthmn 
nach  der  2.  Auflage  des  OriginalB  und  nnter  Mitwirkung  des  VezfaBserB  über- 
setzt von  Dr.  Rieh.  Pietschmann.  Leipzig  1877.  C.  Bezold,  Niniteh  und 
Babylon.  Bielefeld  und  Leipzig  1908.  *)  Maspero-Pietschmann  S.  128. 
^  Diesen  Namen  erkannt  zu  haben  gehört  zu  den  zahlreichen  Verdiensten  von 
J.  Oppert.  Über  die  Wanderung  der  Sumerier  vergl.  Maspero-Pietsch- 
mann S.  131. 

9* 


20  1-  Kapitel. 

wurde.  Die  Sumerier  drangen  dann  weiter  südlich  bis  nach  Chaldäa 
vor.  Und  ein  zweites  Volk  kam  ebendahin^).  Es  war,  wie  man 
früher  ann^ahm,  aus  dem  Lande  Kusch  aufgebrochen,  welches  man 
gleichfalls  im  Osten  aber  weiter  südlich,  etwa  in  Baktrien,  suchte. 
Yon  seiner  Heimat  führte  es  den  Namen  der  Kuschiten  und  hatte, 
wie  man  glaubte,  den  eigenen  Namen  bei  seiner  Wanderung  auf  das 
Gebirge  des  Hindukusch  übertragen,  welches  das  Hochland  von  Iran, 
wo  wir  die  Turanier  Niederlassungen  gründend  fanden,  von  den  Ebenen 
der  Bucharei  trennt.  Heute  ist  man  bezüglich  der  Wanderrichtung 
der  Kuschiten  der  entgegengesetzten  Meinung.  Man  nimmt  an,  sie 
seien  von  Westen  gekommen  und  hätten  ihre  Heimat  in  Afrika,  ge- 
nauer gesprochen  in  Ägypten,  gehabt.  Die  Sumerier  sprachen  eine 
jener  sogenannten  agglutinativen  Sprachen,  in  welchen  alle  möglichen 
Beziehungen  vermittels  neuer  Bestandteile  bezeichnet  werden,  die 
sich  mit  den  Wurzeln  nie  verschmelzen,  also  nie  das  hervorbringen, 
was  man  Beugung  zu  nennen  pflegt.  Die  Sprache  der  Kuschiten 
dagegen  war  dem  Hebräischen  und  Arabischen  sehr  nahe  ver^^andt, 
sie  war  eine  semitische  Sprache,  und  die  meisten  nehmen  auch  ge- 
radezu an,  Semiten  und  Kuschiten  seien  nur  zwei  zu  verschiedenen 
Zeiträumen  zur  Gesittung  gelangte  Teile  ein  und  derselben  Rasse. 

Die  erste  Begegnung  von  Sumeriem  und  Kuschiten  auf  chaldäi- 
schem  Boden  gehört  in  die  vorgeschichtliche  Zeit,  ein  Wort,  dessen 
Geltungsgebiet  gegen  früher  weit  zurückverlegt  ist,  seitdem  die  Ent- 
zifferungskunde alter  Denkmäler  gestattet  hat,  selbst  als  mythisch 
geltende  Zustände  und  Ereignisse  näher  zu  beleuchten.  Aber  so  weit 
man  auch  die  Ziele  der  Geschichtswissenschaften  stecken  mag,  sie 
reichen  nicht  weiter  als  schriftliche  Aufzeichnung,  und  solche  sind 
uns  in  Chaldäa  nur  aus  der  Zeit  der  erfolgten  Vereinigung  jener 
Volkselemente  erhalten,  geben  über  die  Vereinigung  selbst  keinen 
Aufschluß.  Dagegen  wissen  wir  aus  einheimischen  und  fremden 
schriftlichen  Denkmälern  mancherlei  über  die  Schicksale  des  Misch- 
volkes. Sein  staatlicher  Verband  blieb  keineswegs  unverändert,  Haupt- 
städte und  Pürstengeschlechter  wechselten.  Auf  Ninive  folgte  Ba- 
bylon, auf  dieses  wieder  Ninive  als  Herrschersitz.  Das  altassyrische, 
das  babylonische,  das  zweite  assyrische  Reich  lösten  einander  in  ge- 
schichtlicher Bedeutung  ab,  in  bald  siegreichen,  bald  ungünstig  ver- 
laufenden Kämpfen  untereinander  und  mit  den  Nachbarvölkern,  den 
Hebräern,  den  Phönikem,  den  Ägyptern,  bis  endlich  das  Perserreich 
alles  verschlang. 

Wir  haben  einheimische  Schriftdenkmäler  erwähnt.    Deren  Schrift 


*)  Maspero-Pietschmann  S.  141  flgg.    Bezold  S.  22—23. 


Die  Babylonier.  21 

war^  wie  man  annimmt,  ursprünglich  eine  Bilderschrifl;,  welche  aber 
vermöge  der  gewählten  Unterlage  eine  eigentümliche  Umbildung  er- 
fuhr. Man  ritzte  die  Schriftzüge  mittels  eines  Griffels  in  eine  gleich- 
viel wie  zur  nachtraglichen  Erhärtung  gebrachte  Tonmasse  ein,  und 
dadurch  entstanden  in  Winkeln  aneinander  stoßende  Eindrücke,  welche 
man  bei  der  Wiederauffindung  nicht  unglücklich  als  keilförmig  be- 
zeichnet hat;  es  entstand  die  Keilschrift.  Die  meisten  Fach- 
gelehrten glauben,  die  Keilschrift  sei  bereits  den  Sumeriem  eigen- 
tümlich gewesen,  doch  mag  sie  entstanden  sein,  wo  sie  wolle,  darüber 
ist  kein  Zweifel,  daß  sie  in  Chaldäa  einer  semitischen  Sprache  dienst- 
bar wurde,  die  somit  wundersam  genug  von  links  nach  rechts,  statt 
wie  in  allen  anderen  Fällen  von  rechts  nach  links  zu  lesen  ist,  eine 
Erscheinung,  auf  welche  wir  gleich  jetzt  bei  Erörterung  der  Zahl- 
zeichen der  Keilschrift  hinweisen  müssen  ^).  Das  Prinzip  der  Größen- 
folge wird  nämlich  ihr  entsprechend,  wo  es  zur  Geltung  kommt,  ver- 
anlassen, daß  wir  die  Zahlzeichen,  welche  den  höheren  Wert  be- 
sitzen, stets  links  von  denen  zu  suchen  haben,  welche  mit  niedrigerem 
Werte  behaftet  durch  Addition  mit  jenen  verbunden  sind. 

Unter  den  vielfältigen  Vereinigungen,  welche  aus  keilförmigen 
Eindrücken  sich  bilden  lassen,  sind  es  vornehmlich  drei,  welche  beim 
Anschreiben  ganzer  Zahlen  benutzt  wurden,  der  Yertikalkeil  y,  der 
Horizontalkeil  »-,  der  aus  zwei  mit  dem  breiten  Ende  verschmolzenen^ 
die  Spitzen  nach  rechts  oben  und  unten  neigenden  Keilen  zusammen- 
gesetzte Winkelhaken  ^.  Der  Yertikalkeil  stellt  die  Einheit,  der 
Winkelhaken  die  Zehnzahl  dar,  and  diese  Elemente  addierten  sich 
durch  Nebeneinanderstellung.  Teils  aus  Gründen  der  Raumersparung, 
teils  aus  solchen  der  besseren  Übersehbarkeit  wurden  oft  mehrere 
Keile  oder  Winkelhaken  übereinander  in  zwei  bis  drei  Reihen  ab- 
gebildet, stets  höchstens  drei  Zeichen  in  einer  Reihe.  Blieb  bei  dieser 
Art  der  Zerlegung  ein  einzelnes  Element  übrig,  so  wurde  dasselbe 
meistens  in  breiterer  Form  unter  den  übrigen  beigefügt.  Vielleicht 
kam  auch  die  Beifügung  eines  solchen  einzelnen  Zeichens  rechts  von 
den  übrigen  vor,  wie  es  durch  das  Gesetz  der  Größenfolge  gestattet 
war,  während  ein  additives  Einzelelement  links  neben  anderen  in 
Reihen   verbundenen   gleichartigen  Elementen  jenem   Gesetze   wider- 


*)  Wir  haben  diesen  Gegenstand  ausführlich  und  mit  Verweisung  auf 
Quellenschriften  schon  früher  behandelt:  Math.  Beitr.  Eulturl.  S.  28flgg.  Unsere 
gegenwärtige  teilweise  wörtlich  übereinstimmende  Darstellung  dürfte  dem 
heutigen  etwas  veränderten  Standpunkte  des  Wissens  über  diese  Dinge  ent- 
sprechen. Mit  den  assyrischen  Zahlwörtern  beschäftigt  sich  George  Bertin^ 
The  Assyrian  Numerais,  abgedruckt  in  den  Transactions  of  the  Society  of 
Biblical  Archaeology  Vol.  VIT,  pag.  370— 389. 


22  1.  Kapitel. 

sprochen  haben  würde.  Mit  diesen  Bemerkungen  erledigt  sich  die 
schrifUiche  Wiedergabe  sämtlicher  ganzer  Zahlen  unter  100,  aber 
von  dieser  Zahl  an,  deren  Zeichen  ein  Yertikalkeil  mit  rechts  folgen- 
dem Horizontalkeile  J^  ist,  tritt  eine  wesentliche  Veränderung  ein. 
Zwar  die  Richtung  der  Zeichen  im  großen  und  ganzen,  also  der 
Hunderter,  Zehner,  Einer,  bleibt  wie  vorher  von  links  nach  rechts 
abnehmend,  aber  neben  der  Juztaposition  der  Zahlteile  Terschiedener 
Ordnung  erscheint  plötzlich  ein  vervielfachendes  Verfahren,  indem 
links  vor  das  Zeichen  von  100  die  kleinere  Zahl  gesetzt  wird,  welche 
andeutet,  wie  viele  Hundert  gemeint  sind.  Die  Vermutung  wird  da- 
durch sehr  nahe  gelegt,  es  sei  infolge  dieses  multiplikativen  Ge- 
dankens, daß  1000  durch  Vereinigung  des  Winkelhakens,  des  Ver- 
tikal- und  Horizontalkeils  ^y^-  als  10  mal  100  dargestellt  werde. 
Aber  dieses  1000  wird  dann  selbst  wieder  als  neue  Einheit  benutzt, 
welche  kleinere  multiplizierende  Koeffizienten  links  vor  sich  nimmt. 
Gemäß  der  Deutung  unserer  Assyriologen  kam  sogar  „ein  mal  tausend^ 
vor,  d.  h.  multiplikatives  Vorsetzen  eines  einzelnen  Vertikalkeils 
links  von  dem  Zeichen  für  1000,  und  jedenfalls  erscheint  10  mal 
1000  als  die  gesicherte  Bedeutung  von  ^^y>^,  welches  man  nicht 
etwa  20  mal  100,  d.  i.  2000  lesen  darf.  Vielfache  von  10000  werden 
als  Tausender  bezeichnet,  mithin  30000  als  30  mal  1000,  100000  als 
100  mal  1000,  indem  30,  beziehungsweise  100  links  von  1000  ge- 
schrieben sind.  Eine  höchst  bedeutsame  Tatsache  tritt  dabei  zutage, 
diejenige  nämlich,  daß  die  Babylonier  das  Bewußtsein  der  Einheiten 
verschiedener  dekadischer  Ordnungen  in  viel  höherem  Maße  hatten, 
als  ihre  Bezeichnungsweise  der  Zehntausender  vermuten  läßt.  Wer  be- 
sondere Zeichen  für  10000,  für  100000  zur  Verfügung  hat,  wird 
natürlich  127000  in  100000  +  2  •  10000  +  7  •  1000  zerlegen,  von 
den  Babyloniem  dagegen,  denen  solche  besondere  Zeichen  fehlten, 
wäre  mit  höherer  Wahrscheinlichkeit  ein  Anschreiben  in  der  Form 
127  •  1000  zu  erwarten.  Nichtsdestoweniger  bedienten  sie  sich  jener 
für  sie  viel  umständlicheren,  aber  mathematisch  durchsichtigeren 
Schreibweise.  Wenigstens  ist  36000  in  der  Form  30  •  1000  +  6  •  1000 
wahrscheinlich  gemacht  und  120000  in  der  Form  100  •  1000  +  20  •  1000 
sichei^estellt.  Bis  zur  Million  scheint  die  Zahlenschreibung  der 
Keilschrift  sich  nicht  erstreckt  zu  haben;  zum  mindesten  sind  keine 
Beispiele  davon  bekannt^). 

Von  Brüchen   ist  eine  Bezeichnung  der  verschiedenen  Sechstel, 


^)  Man  an  t,  Expose  des  eUments  de  la  grammaire  assyrienne.  Paris  1868, 
pag.  81:  Les  inscriptions  ne  naus  ont  pas  donne,  jusqu'id  du  moins,  de  nombre 
superieur  aux  centaines  de  mille;  le  signe  qui  reprisente  un  mülum  naits  est 
encore  inconnu. 


Die  Babjlonier.  23 

^^^  T'  Y'  Y^  T'  T  ^lÄchgewießen  worden,  deren  Entstehung  nicht 
ersichtlich  ist  ^).  Von  den  wichtigen  Sexagesimalbrüchen  müssen  wir 
nachher  in  anderem  Zusammenhange  reden. 

Wir  haben  soeben  gesagt,  die  Million  sei  bisher  noch  nicht  auf- 
gefunden worden.  Müssen  wir  bei  diesem  Ausspruche  das  Wort  „bis- 
her'^ besonders  betonen  oder  dürfen  wir  in  der  Tat  eine  solche  Be- 
schränkung des  Zahlbegriffes  annehmen?  Für  die  große  Menge 
•der  Bevölkerung  scheint  uns  die  letztere  Annahme  nicht  bloß  keine 
Schwierigkeit  zu  haben,  sondern  allgemein  verbreitete  Notwendigkeit 
zu  sein.  Bis  auf  den  heutigen  Tag,  wo  doch  mit  den  Wörtern 
Million  und  sogar  Milliarde  nicht  gerade  haushälterisch  umgegangen 
wird,  ist  der  Begriff,  wie  viele  Einheiten  zu  einer  Million  gehören, 
keineswegs  vielen  Menschen  geläufig.  Mancherlei  Verdeutlichungen 
müssen  diesen  Begriff  erst  klarstellen.  So  hat  z.  B.  am  13.  Juni 
1864  die  Direktion  des  Londoner  Eristallpalastes  den  10jährigen  Be- 
stand jenes  Gebäudes  feierlich  begangen.  Damals  wurde  bekannt  ge- 
macht, daß  in  jenem  ersten  Jahrzehnt  der  Palast  von  15266882 
Menschen  besucht  worden  war,  und  um  eine  Yeranschaulichung  der 
Massenhaftigkeit  der  Zahl  zu  gewähren,  ließ  man  auf  weißes  Baum- 
wollzeug eine  Million  schwarzer  Punkte  drucken.     Jeder  Punkt  war 

Q  1 

TT  Zoll  breit  und  nur  -^  Zoll  von  dem  nächsten  Punkte  entfernt  und 

doch  bedeckten  jene  Punkte  einen  Flächenraum  von  225  Fuß  Länge 
auf  3  Fuß  Breite,  den  Fuß  zu  12  Zoll  gerechnet.  Daß  in  den  jeden- 
falls weit  geringfügigeren  Yerkehrsverhältnissen  einer  um  Jahrtausende 
isurückliegenden  Zeit  die  Höhe  der  Zahlen  noch  viel  früher  zu  einer 
Yergleichungslosigkeit  verschwimmen  mußte,  welche  wir  eine  dunkle 
Ahnung  des  mathematischen  Unendlichgroßen  nennen  würden, 
wenn  wir  nicht  befürchteten  dadurch  die  Meinung  zu  erwecken,  als 
«olle  dadurch  diesem  Unendlichgroßen  selbst  ein  solches  Uralter  ver- 
schafft werden,  ist  nur  selbstverständlich. 

Vielfache  Stellen  biblischer  Schriften,  die  nach  dem  Exile  unter 
•der  Einwirkung  babylonischer  Kultur  entstanden  zu  sein  scheinen, 
geben  der  Vermutung  Raum,  daß  nur  die  beiden  großen  Zahlen 
1000  und  10000,  sowie  deren  Vervielfältigung  zur  Schätzung  aller- 
größter Vielheiten  benutzt  wurden.  Saul  hat  Tausend  geschlagen, 
David  aber  Zehntausend  ^),  heißt  es  in  bewußter  Steigerung.  Tausend 
mal  tausend  dieneten  ihm,  und  Zehntausend  mal  zehntausend  standen 
vor  ihm'),  heißt  es  an  anderer  Stelle,  und  noch  auffallender  bei  dem 


*)  Oppert,  Etalon  des  meaures  asst^ennes.   Pari«  1876,  p.  35.     •)  I.  Samuel 
18,  7.     «)  Daniel  7,  10. 


24  1.  Kapitel. 

Psalmisten:  Der  Wagen  Gottes  ist  Zehntausend  mal  tausend^).  Auch 
steht  nicht  im  Widerspruche,  wenn  der  sterbende  König  David  seine 
Schätze  aufzählend  erklärt:  Siehe  ich  habe  in  meiner  Armut  ver- 
schafFt  zum  Hause  des  Herrn  hunderttausend  Zentner  Goldes  und 
tausend  mal  tausend  Zentner  Silbers  ^),  denn  die  Unmöglichkeit  diese 
konkreten  Zahlen  buchstäblich  zu  nehmen,  zwingt  zur  Auffassung, 
nur  das  unfaßbar  Große  seines  Reichtums  sei  gemeint.  Sollte  eine 
noch  größere  Zahl  bezeichnet  werden,  so  mußten  Vergleichungs- 
wörter dienen.  Ich  will  Deinen  Samen  machen  wie  den  Staub  auf 
Erden;  kann  ein  Mensch  den  Staub  auf  Erden  zählen,  der  wird  auch 
Deinen  Samen  zählen').  Oder:  Wer  kann  zählen  den  Staub  Jakobs?*) 
Und  unter  Anwendung  eines  anderen  Bildes:  Siehe  gen  Himmel  und 
zähle  die  Sterne,  kannst  Du  sie  zählen?  Also  soll  Dein  Same 
werden^).  Ja  es  wird  unter  Anwendung  desselben  Gedankens  die 
Vollführung  der  unmöglichen  Aufgabe  nur  dem  Höchsten  vorbehalten: 
Er  zählet  die  Sterne  und  nennet  sie  alle  mit  Namen*). 

Auch  anderswo  finden  wir,  wenn  wir  Umfrage  halten,  außer- 
gewöhnliche Vielheiten  durch  die  dritte  und  vierte  Einheit  des  deka- 
dischen Zahlensystems  angedeutet.  In  China  wünscht  das  Volk,  wenn 
es  einen  Großen  des  Reiches  leben  läßt,  ihm  1000  Jahre,  während 
der  dem  Kaiser  allein  zukommende  Heilruf  sich  auf  10000  Jahre 
erstreckt^.  Das  altslavische  Wort  tma  bedeutete  sowohl  10000  als 
dunkel,  während  es  im  Russischen  nur  die  letztere  Bedeutung  noch 
beibehalten  hat^). 

Jedenfalls  gehör^i  Zahlzeichen,  mag  ihre  Anwendung  sich  er- 
strecken so  weit  oder  so  wenig  weit  als  sie  will,  zu  Zeichen,  welche^ 
niemals  ganz  entbehrt  werden  konnten,  welche  sicherlich  dem  Volke 
bekannt  gewesen  sein  müssen,  das  die  betreffende  Schrift,  hier  die 
Keilschrift,  überhaupt  erfand.  War  dieses,  wie  man  annimmt,  das 
Volk  der  Sumerier,  so  mußte  demnach  ihm  diejenige  Bezeichnung 
der  Zahlen,  von  der  wir  gesprochen  haben,  und  die,  wie  wir  noch- 
mals hervorheben,  einen  durchaus  dezimalen  Charakter  trägt,  bekannt 
gewesen  sein.  Um  so  auffallender  ist  es,  daß  in  sumerischen  Schrift- 
denkmälern, die  von  eigentlichen  Mathematikern  und  Astronomen 
herzurühren  scheinen,  mit  der  dezimalen  Schreibweise  eine  andere 
wechselt,  beruhend  auf  dem  Sexagesimalsysteme. 

Es  wurde  von  einem  englischen  Assyriologen  Hincks  entdeckt*). 

^)  Psalm  68,  18.  *)  I.  Chronik  23,  14.  «)  I.  Mose  13,  16.  *)  IV.  Mose 
28,  10.  *)  I.  Mose  15,  ö.  «)  Psalm  147,  4.  "*)  De  Paravey,  Essai  sur  Vorigine 
unique  et  hieroglyphique  des  cht  ff  res  et  des  lettres  de  tous  les  peuples.  Paris  1826,. 
pag.  111.  ®)  Mündliche  Mitteilung  von  H.  Schapira.  ^  E.  Hincks  in  den 
Transactions  of  the  B.  Irish  Academy.    Polite  Litterature  XXII  6.  pag.  406  flgg. 


Die  Babylonier.  25 

In  dem  von  ihm  entzifferten  Denkmale  handelt  es  sich  darum  anzn- 
geben,  wieviele  Mondteile  an  jedem  der  15  Monatstage,  die  vom  be- 
ginnenden Mondscheine  bis  zum  Vollmonde  verlaufen^  beleuchtet  seien. 
Es  seien^  heißt  es,  an  diesen  15  Tagen  der  Reihe  nach  sichtbar: 
5  10  20  40         1.20 

1.36  1.52  2.  8  2.24  2.40 
2.56  3.12  3.28  3.44  4 
Hincks  erläuterte  die  rätselhaften  Zahlen  mit  Hilfe  der  Annahme, 
die  Mondscheibe  sei  als  aus  240  Teilen  bestehend  gedacht  worden, 
es  bedeuten  die  weiter  nach  links  gerückten  Zeichen  fQr  1,  2,  3,  4 
je  60  der  Einheiten,  denen  die  rechts  davon  stehenden  Zahlen  ange- 
hören, und  die  Beleuchtungszunahme  folge  nach  Angabe  der  Tabelle 
an  den  fünf  ersten  Tagen  einer  geometrischen,  an  den  folgenden 
Tagen  einer  arithmetischen  Reihe. 

Daß  diese  Erklärung  Licht  über  die  betreffende  Tabelle  ver- 
breitet, ist  unzweifelhaft.  Unzweifelhaft  ist  es  auch,  daß  sie  dem 
Gesetze  der  Größenfolge  Rechnung  trägt,  denn  eine  60  bedeutende 
1  kann  links  von  20,  von  36,  von  52  auftreten,  während  eine  Eins 
gleichen  Ranges  mit  jenen  Zahlen  zu  ihrer  Linken  nicht  geschrieben 
werden  durfte.  Gleichwohl  bedurfte  es  zur  vollen  Bestätigung  der 
Auffindung  neuer  Denkmäler,  und  solche  sind  die  Tafeln  von 
Senkereh.  Ein  Geologe  W.  E.  Loftus  fand  1854  bei  Senkereh 
am  Euphrat,  dem  alten  Larsam,  zwei  kleine  auf  beiden  Seiten  mit 
Keilschriftzeichen  bedeckte  leider  nicht  ganz  vollständige  Täfelchen  ^). 
Solche  Täfelchen  sind,  allerdings  nicht  entfernt  vei^leichbaren  In- 
haltes, vielfach  gesammelt  worden.  Die  eine  konkave  Seite  ist  immer 
als  Vorderseite,  die  andere  konvexe  als  Rückseite  zu  betrachten. 
Läuft  der  Text  auf  beiden  Seiten  fort,  so  muß  zum  Weiterlesen  ein 
Umwenden  über  Kopf  stattfinden.  Die  Täfelchen,  aus  Ton  gebildet, 
wie  fast  überflüssigerweise  bemerkt  sein  soll,  sind  in  der  Mitte  am 
stärksten  und  verdünnen  sich  alsdann  gleichmäßig  gegen  die  Ecken. 
Diese  Eigenschaft,  vereinigt  mit  dem  Umstände,  daß  der  Rand  bei 
der  Zerbrechbarkeit  des  Stoffes  nicht  unter  einen  gewissen  (Jrad  von 
Dünne  abnehmen  durfte,  gestattet  bei  Bruchstücken  von  einiger  Be- 
trächtlichkeit, wie  z.  B.  die  erste  der  beiden  Täfelchen  von  Senkereh 
uns   darstellt,   Schlüsse  auf  die  Größe   des  abgebrochenen  und  ver- 


')  Eine  photographische  Abbildung  des  einen  Täfelchens  ist  der  Abhand- 
lung von  R.  Lepsin 8,  Die  babylonisch-assyrischen  Längenmaße  nach  der  Tafel 
Yon  Senkereh  (Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  für  1877)  beigegeben.  Li 
eben  dieser  Abhandlung  finden  sich  genaue  Zitate  der  verschiedenen  Gelehrten, 
welche  bei  der  Entzifferung  beteiligt  waren.  Ebendort  S.  111—112  Bemerkungen 
von  Fr.  Delitzsch  über  Gestalt  und  Anordnung  solcher  Täfelchen. 


26  1.  Kapitel. 

mntlich   nicht   wieder  aufzufindenden  Teiles  zu   ziehen  ^   welche   zur 
Er^Lnzung  des  Inhaltes  yon  erheblichem  Nutzen  sein  können.    Das 
eine  Täfelchen,  und  zwar  das  zweite  nach  der  Bezeichnung,  welche 
den  Täfelchen  bei  der  Veröffentlichung  beigelegt  wurde,  enthielt  auf 
Vorder-   und   Rückseite   zusammen  60  Zeilen,   die   ein   fortlaufendes 
Ganzes  bilden.     Jede  einzelne  Zeile  enthält  links  und  rechts  Zahlen, 
zwischen  denselben  sumerische  Wörter,  unter  welchen  eines  ibdi  zu 
lesen   ist.     Rawlinson   erkannte   zuerst,   daß  hier   die   Tabelle   der 
ersten  60  Quadratzahlen  vorliegt,  und  daß  ibdi  Quadrat  bedeutet. 
Die  Anordnung  ist  eine  solche,  daß  es  zu  Anfang  heißt: 
1  ist  das  Quadrat  von  1 
4  ist  das  Quadrat  von  2 
9  ist  das  Quadrat  von  3 
16  ist  das  Quadrat  von  4 
25  ist  das  Quadrat  von  5 
36  ist  das  Quadrat  von  6 
49  ist  das  Quadrat  von  7. 
Diese   sieben   Zeilen   waren   vermöge    der   schon   früher  erworbenen 
Kenntnis   der  Zahlzeichen  der  Keilschrift  verhältnismäßig  leicht   zu 
lesen  und  aus  ihnen  der  Inhalt  der  Tabelle  zu  entnehmen.    Nun  war 
selbstverständlich  als  folgende  Zeile  zu  erwarten: 

64  ist  das  Quadrat  von  8. 
Aber  so  fand  es  sich  nicht,  sondern  statt  dessen 

1-4  ist  das  Quadrat  von  8 
und  dann  setzten  sich  die  weiteren  Zeilen  fort 
1  •  21  ist  das  Quadrat  von  9 
1  •  40  ist  das  Quadrat  von  10 


58  •  1  ist  das  Quadrat  von  59 
1  ist  das  Quadrat  von  1. 
Diese  ganze  Fortsetzung  konnte  nur  verstanden  werden,  wenn  man 
den  vereinzelt  links  auftretenden  Zahlen  eine  sexagesimale  Wert- 
steigerung beilegte,  mithin  1-4  als  60  +  4,  1  •  21  als  60  +  21, 
58  .  1  als  58  X  60  +  1  las  und  die  letzte  Zeile  als  1  x  60*  ist  das 
Quadrat  von  1 X  60.  So  war  die  Vermutung  von  Hincks  be- 
stätigt. Zur  vollen  Gewißheit  wurde  sie  bei  Entzifferung  des  ersten 
Täfelchens  von  Senkereh  erhoben.  Dessen  Vorderseite  ist  für  die 
Geschichte  der  Metrologie  von  imschätzbarer  Wichtigkeit,  indem  sie 
eine  freilich  lückenhafte  Vergleichung  zweier  Maßsysteme  enthält, 
deren  eines  jedenfalls  vollständig  nach  dem  Sexagesimalsysteme  ein- 
geteilt ist.  Die  Rückseite  gibt  uns  in  ihrem  erhaltenen  Teile  die 
Kubikzahlen  der  aufeinanderfolgenden  Zahlen  von   1  bis  32,   und 


Die  Babylonier.  27 

es  ist  mit  an  Sicherheit  grenzender  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen, 
daß  auf  dem  seitlich  fehlenden  Stücke  der  Tafel  auch  die  Kuben  der 
Zahlen  33  bis  60  gestanden  haben  werden.  Die  Anordnung  ist  durch- 
aus der  der  Quadratzahlentabelle  nachgebildet.  Auch  hier  treten  regel- 
mäßig wiederkehrende  Wörter  in  jeder  Zeile  auf,  deren  eines  badie 
gelesen  und  Kubus  übersetzt  worden  ist.  Auch  hier  stehen  am  linken 
Anfang  jeder  Zeile  höhere  Werte  als  nach  rechts  zu,  und  zwar  in 
den  drei  ersten  Zeilen  1,  8,  27  links  neben  1,  2,  3  rechts,  von  yom- 
herein  die  Vermutung  erweckend,  daß  man  es  mit  einer  Kubik- 
zahlentabelle  zu  tun  habe.  Auch  hier  ist  die  Schreibweise  eine  sexa- 
gesimale,  indem  gleich  die  vierte  Zeile  64  oder  den  Kubus  von  4  durch 
1  •  4  darstellt.  Von  der  16.  Zeile  an  geht  diese  Tabelle  noch  über 
die  Sechziger  hinaus.  Ist  doch  16«  -  4096  =  1  X  60«  +  8  X  60  + 16, 
und  so  steht  zu  erwarten,  daß  in  dieser  Zeile  1  •  8  •  16  als  Kubus 
Ton  16  angegeben  sein  werde,  eine  Erwartung,  die  sich  vollständig 
erfüllt.  Die  weiteren  Zeilen  liefern  die  Kubikzahlen  der  folgenden 
Zahlen  bis  dahin,  wo  es  heißt:  7  •  30  ist  der  Kubus  von  30,  womit 
gemeint  ist:  7  x  60*  +  30  X  60  —  30«.  Dann  stehen  noch  in  zwei 
aufeinanderfolgenden  Zeilen  rechts  erhalten  31  und  32,  während 
deren  links  zu  suchende  Kuben  und  alles  weitere  fehlt.  Oanz  ähn- 
liche Tafeln  wurden  in  Kujundschik  aufgefunden^).  Die  Schreiber 
der  Tafeln  von  Senkereh  und  Kujundschik  waren  demnach  im  Besitz 
der  an  sich  bedeutsamen  Kenntnis  von  Quadrat-  und  Kubikzahlen, 
waren  zugleich  im  Besitz  eines  folgerichtig  ausgebildeten  Sexagesimal- 
Systems  mit  wahrem  Stellungswerte  der  einzelnen  Rangordnungen, 
da  die  Punkte,  welche  wir  zur  größeren  Deutlichkeit  zwischen  Einem 
und  Sechzigern  anbrachten,  in  der  Urschrift;  nicht  vorhanden  sind. 
Welcher  Stufe  des  Sexagesimalsystems  die  geschriebenen  Zahlen  an- 
gehörten, wurde  in  den  uns  bekannt  gewordenen  Beispielen  dem 
Sinne  entnommen.     Dem  Sinne  nach  verstand  man  offenbar,  daß 

1  ist  das  Quadrat  von  1 
gelesen  werden  wollte:   1x60^  ist  das  Quadrat  von  1x60;  dem 
Sinne  nach,  daß 

7  .  30  ist  der  Kubus  von  30 
heißen  sollte:  7  x  60*  +  30  X  60  ist  der  Kubus  von  30  Einheiten. 
Wir  müssen  hier  einen  Augenblick  verweilen.  Die  Wörter  ibdi 
und  badie  bedeuten,  sagten  wir  mit  Rawlinson,  Quadrat  und  Kubus. 
Damit  ist  die  Beziehung  gemeint,  welche  zwischen  den  rechts  und 
links  von  diesen  Wörtern  stehenden  Zahlen  obwaltet.  An  und  für 
sich  könnte  also 
81  ibdi  9 

»)  Bezold  S.  96. 


28  1.  Kapitel 

ebenso  wie 

81  ist  das  Quadrat  von  9 
auch  bedeuten 

81  die  Quadratwurzel  davon  ist  9^ 
und  vielleicht  wäre  diese  Übersetzung  vorzuziehen.  Die  wörtliche 
Bedeutung  des  Stammes  di,  welcher  sowohl  dem  ibdi  als  dem  badie 
zugrunde  liegt,  ist  unbekannt.  Man  weiß  bis  jetzt  nur,  daß  di  auf 
anderen  Tafeln  in  Verbindung  mit  der  bei  Tieropfem  wichtigen  Unter- 
suchung der  Leber  des  geschlachteten  Tieres  vorkommt^  dort  also 
einer  mathematischen  Bedeutung  entbehrt  ^).  Dort  kann  nur  von  dem 
die  Bede  sein,  was  in  dem  Tiere  steckt,  und  erwägen  wir,  daß  die 
Quadratwurzel  in  der  Zahl  steckt,  so  wäre  damit  ein  Vergleichungs- 
punkt  der  beiden  Arten  des  Vorkommens  gefunden. 

Eine  fernere  Frage  ist  die  nach  dem  Zwecke,  welchen  die  bereits 
in  zwei  Exemplaren  bekannten  Zahlentafeln  erfüllen  sollten.  Man  hat 
sie  Hilfstafeln  bei  der  Vermessung  von  Feldern  und  Grundstücken 
genannt.  Das  mag  ja  zutreffen,  aber  in  welchem  Sinne?  Quadrat- 
zahlen und  Kubikzahlen  eine  unmittelbare  Brauchbarkeit  bei  Ver- 
messungen zuzuweisen,  fällt  schwer.  Felder  in  Gestalt  von  Quadraten 
gab  es  nur  in  den  seltensten  Fällen.  Nicht  der  menschliche  Wille 
allein  gibt  den  Grundstücken  ihre  ümgrenzimg,  die  Bodenbeschaffen- 
heit tut  dazu  das  meiste.  Wir  können  diese  an  sich  schon  einleuch- 
tende Behauptung  noch  näher  belegen.  Pater  Scheil  hat  einen 
Felderplan  veröffentlicht,  welcher  aus  der  Zeit  des  Königs  Ine  Sin 
aus  der  zweiten  Dynastie  von  ür  etwa  2400  v.  Chr.  stammt.  Kein 
einziges  von  den  dort  gezeichneten  Feldern  ist  quadratisch,  und  wenn 
auch  über  die  genaue  Erklärung  der  auf  dem  Plane  vorkommenden 
Zahlenangaben  eine  ziemlich  weitgehende  Meinungsverschiedenheit  ob- 
waltet*), soviel  ist  doch  gesichert,  daß  die  Felder  bald  dreieckig, 
bald  unregelmäßig  viereckig  aussehen,  daß  man  deren  Flächeninhalt 
durch  Vervielfachimg  von  untereinander  verschiedenen  Zahlen  zu  er- 
mitteln suchte. 

Solche  Vervielfachungen  wurden  ebenfalls  um  2400  v.  Chr.  durch 
damals  vorhandene  Tabellen  unterstützt.  Professor  H.  V.  Hilprecht*) 
hat  bei  den  unter  seiner  Leitung  vorgenommenen  Ausgrabungen  in 


')  Mündliche  Mitteilung  von  Herrn  Bezold.  *)  Aug.  Eisenlohr,  Ein 
altbabyloniecher  Felderplan  nach  Mitteilungen  von  F.  V.  Scheil.  Leipzig  1896. 
Jul.  Oppert,  L'administration  des  domaineB,  les  comptes  exacts  et  lea  faux  au 
cinquüme  mülenium  avant  Vere  chretienne.  Paris  1899.  Comptes  Bendm  des 
seances  de  l'Academie  des  inscriptions  et  des  helles-kttres.  ")  Die  Ausgrabungen 
der  Universität  von  Pennsylvania  im  B^ltempel  zu  Nippur.  Ein  Vortrag  von  H. 
V.  Hilprecht.    Leipzig  1903.    Vergl.  besonders  S.  59—60. 


Die  Babjlonier.  29 

Nippur  außer  dem  Stufentempel  des  Bä  (dem  babylonischen  Turm) 
auch  das  damit  verbundene  Schulgebäude  und  die  Bibliothek  der 
Priesterschule  bloßgelegt,  welche  letztere  viele  Tau  sende  von  Tafeln 
enthielt  In  Beziehung  auf  diese  heißt  es:  ^^Besondere  Aufmerksam- 
keit wandte  man  dem  Gebiete  der  Arithmetik,  Mathematik  und  Astro- 
nomie zu.  Zunächst  wurde  der  Schüler  im  Gebrauche  des  Sexagesi- 
malsystems  eingedrillt.  Da  heißt  es  60  +  7  x  10  =-  2  x  60  +  10, 
60  +  8  X  10  —  2  X  60  +  20  usw.  In  geradezu  phänomenaler  Weise 
wurde  das  Einmaleins  geübt.  Wir  haben  eine  ganze  Menge  dieser 
nach  Serien  eingeteilten  Multiplikationstafeln,  darunter  mehrere  Dupli- 
kate. Eine  Tafel  enthält  das  Einmalsechs  (bis  60),  eine  zweite  das 
Einmalneun.  Ich  habe  derartige  Tafeln  bis  1  mal  1350  in  den  Händen 
gehabt.^'  Wenn  solche  umfassende  Rechenknechte,  wie  wir  unter 
Benutzung  eines  unserer  Gegenwart  angehörenden  Wortes  uns  aus- 
drücken wollen,  vorhanden  waren,  dann  muß  eine  nur  Quadratzahlen, 
nur  Kubikzahlen  enthaltende  gleichfalls  in  Duplikaten  vorhandene 
Tafel  ganz  besonderer  Zwecke  wegen  hergestellt  worden  sein,  und 
als  einen  solchen  Zweck  glauben  wir  die  Erkennung  einer  21ahl  als 
Quadratzahl,  als  Eubikzahl  uns  denken  zu  dürfen. 

Man  hatte  beispielsweise  durch  Vervielfachung  9  x  361  »  3249 
gewonnen  und  fand  nun  in  der  Tafel  von  Senkereh,  das  Quadrat  von 
57  sei  gleichfalls  3249.    Damit  wäre  die  vorhin  von  uns  vorgeschlagene 


3249     die  Quadratwurzel  davon  ist    57 
in  zweckentsprechender  Übereinstimmung. 

Jene  gewünschte  Verwandlung  einer  anders  beschaffenen  Figur 
in  ein  Quadrat,  denn  das  ist  doch  am  letzten  Ende  das  hier  vpraus- 
gesetzte  Verfahren,  konnte  möglicherweise  darin  begründet  sein,  daß 
irgend  eine  Besteuerung  von  Feldern  nicht  nach  Maßstab  ihrer  Flache, 
sondern  nach  Maßstab  der  Seite  des  flächengleichen  Quadrates  vor- 
genommen worden  wäre,  eine  Vermutung,  welche  wir  allerdings  vor- 
läufig nicht  zu  stützen  imstande  sind. 

Hatten  die  Zahlentafeln  von  Senkereh  den  hier  als  denkbar  ge- 
schilderten arithmetischen  Zweck,  dann  konnten  sie  auch  zu  einer 
Interpolation  dienen.  Man  sah,  daß  3249  der  Wurzelzahl  57,  daß 
3364  der  Wurzelzahl  58  entsprach,  also  mußte  z.  B.  der  Feldinhalt 
3300  einer  Wurzelzahl  entsprechen,  welche  zwischen  57  und  58 
lag.  Im  Verlaufe  von  Jahrhunderten  konnte  sich  dieses  Wissen 
zu  immer  genauerer  Abschätzung  irrationaler  Quadratwurzeln  ent- 
wickeln. 

Die  andere  Tafel  von  Senkereh  stand  aber,  wir  sind  wohl  oder 
übel    zu    dieser    unausweichlichen    Folgerung    gezwungen,    in    ahn- 


30  1-  Kapitel. 

lieber  Beziehung  zu  der  Lehre  Yon  den  Kubikwurzeln  wie  die  erste 
zu  der  von  den  Quadratwurzeln. 

Wir  kommen  noch  zu  einer  dritten  Frage.    Wir  sagten  oben^ 
man  habe 

7.30    badie    30 

so  gedeutet^  daß  7  x  60^  +  30  x  60^  als  Kubus  von  30  erscheine, 
daß  man  dem  Sinne  nach  verstand,  daß  so  und  nicht  etwa 
7  X  60^  +  30  =  30*  zu  lesen  war.  Grenügte  der  Sinn  auch  zum  Ver- 
ständnis, wenn  Einheiten  irgend  einer  Stufe  zwischen  den  anzuschrei- 
benden fehlten?  Wurde  z.  B.  7248  =  2  x  60«  -h  48  nur  2  •  48  ge- 
schrieben  und  überließ  man  es  dem  Leser  aus  dem  Sinne  zu  ent- 
nehmen, daß  in  der  Tat  7248  und  nicht  168  »  2'X  60  +  48  gemeint 
war?  Die  Tafeln  beantworten  uns  diese  Frage  nicht,  würden  sie 
auch  nicht  beantworten,  wenn  die  ganze  erste  Tafel  unzerbrochen 
auf  uns  gekommen  wäre,  da  unter  sämtlichen  Kubikzahlen  bis  zu 
59«  ■=  57  X  60*  +  2  X  60  +  59  keine  einzige  vorkommt,  welche  sich 
nur  aus  Einheiten  der  ersten  und  der  dritten  Stufe  zusammensetzte. 
Und  doch  leuchtet  die  hohe  geschichtliche  Wichtigkeit  dieser  Frage, 
ob  man  das  Fehlen  von  Einheiten  einer  mittleren  Stufe  besonders 
andeutete,  sofort  ein,  wenn  man  ihr  die  nur  der  Form  nach  ver- 
schiedene Fassung  gibt,  ob,  als  die  Tafeln  von  Senkereh  entstanden, 
die  Babylonier  eine  Null  besaßen?  Eine  Null,  das  ist  ja  ein 
Symbol  fehlender  Einheiten!  Ohne  ein  solches  besaßen  die  Baby- 
lonier eine  immerhin  interessante,  aber  vereinzelte  systemlose  Be* 
nutzung  des  Stellenwertes.  Mit  einem  solchen  war  von  ihnen  schon 
eine  ausgebildete  Stellungsarithmetik  erfunden.  Yon  dem  einen  zu 
dem  «ndem  führt  ein  dem  Anscheine  nach  kleiner,  in  Wahrheit  un- 
ermeßlicher Schritt.  Schon  der  Wunsch  auf  diese  eine  Frage  eine 
Antwort  zu  erhalten,  läßt  die  Veranstaltung  weiterer  Ausgrabungen 
in  Senkereh  zu  einem  wissenschaftlichen  Bedürfhisse  heranwachsen. 
Dort  war  allem  Anscheine  nach  eine  größere  Bibliothek.  Dort  ver- 
muten Assyriologen  wie  A.  H.  Sayce  eine  erhebliche  Menge  von 
Tontafeln  mathematischen  Inhaltes  ^).  Dort  würde  die  Geschichte  der 
Mathematik  möglicherweise  wertvolle  Ausbeute  gewinnen.  Fast  mit 
Sicherheit  läßt  sich  mindestens  das  Eine  erwarten,  daß  Ausgrabungen 
zu  Senkereh  Datierungen  liefern  würden,  welche  es  möglich  machten, 
den  Zeitpunkt,  dem  die  Anfertigung  jener  Täfelchen  entspricht,  an- 
nähernd zu  bestimmen.  Gegenwärtig  ist  nur  aus  den  Wörtern  für 
Quadrat  und  fiir  Kubus  der  Schluß  zu  ziehen,  daß  diese  Werte,  daß 
auch   das    Sexagesimalsystem   den   Sumeriem   bekannt   gewesen   sein 


^)  Briefliche  Mitteilung  des  genannten  Grelehrten. 


Die  Babylonier.  31 

muß  ^).  Es  ist  dann  weiter  vielleicht  die  Folgerung  erlaubt,  daß  jene 
Täfelchen  vor  der  Regierung  des  Königs  Sargon  I.  entstanden,  weil 
damals  das  Sumerische  bereits  außer  Übung  geraten  war.  Sargon 
selbst  ist  ,,Saryukin,  der  mächtige  König  von  Agana^^  nach  inschrift- 
lich erhaltenem  Titel  *).  Auf  ihn  folgte  sein  Sohn  Naramsin,  auf 
diesen  die  Königin  Ellatbau  und  diese  wurde  durch  Ghammuragas, 
König  der  Kassi  im  Lande  Elam,  entthront,  von  welchem  die  Kassiter- 
dynastie  gestiftet  wurde.  Hier  gewinnt  die  Forschung  soweit  festeren 
Boden,  als  es  unter  den  Assyriologen  sicher  scheint,  daß  die  Kassiter- 
dynastie  bis  etwa  zu  dem  Jahre  1700  y.  Chr.  zurückgeht  Sayce 
folgert  auf  diese  Wahrscheinlichkeitsrechnung  gestützt,  daß  die  ISfel- 
chen  von  Senkereh  etwa  zwischea  2S00  und  1600  v.  Chr.  entstanden 
sein  dürften*). 

Für  eine  wesentlich  spätere  Zeit  können  wir  die  Frage,  ob  die 
Babylonier  eine  Null  in  dem  angegebenen  Sinne,  d.  h.  ein  Mittel 
zur  Kenntlichmachung  einer  Lücke  in  einer  sexagesimal  geschriebenen 
Zahl  besaßen,  allerdings  bejahen.  In  astronomischen  Schriften^ 
welche  den  drei  letzten  vorchristlichen  Jahrhunderten  entstammen, 
und  in  welchen  fast  Zeile  für  Zeile  sexagesimal  mit  Stellungswert 
versehene  Zahlenangaben  vorkommen,  findet  man  häufig  Beispiele  wie 

10     ±        iL     i?_. 

60  60»        60* 

Mitunter  wird  die  Tatsache,  daß  der  Bruch,  welcher  60*  im  Nenner 
hätte,  fehlt,  dadurch  angedeutet,  daß,  wie  wir  es  in  unserer  Nachbildung 

nachahmten,  die  Brüche  ^r  und  -^  etwas  weiter  voneinander  entfernt 

abgebildet  sind,  als  es  der  Fall  wäre,  wenn  keine  Lücke  in  den  Sexa- 
gesimalbrüchen  anzudeuten  gewesen  wäre.  Mitunter  ist  aber  ein  die 
Lücke  ausfüllendes  aus  zwei  kleinen  Winkelhaken  bestehendes 
Zeichen  %  vorhanden^),  ein  Zeichen,  welches  auch  in  nicht  mathe- 
matischen Texten  vorkommt  und  dort  mancherlei  Zwecken  dient, 
z.  B.  andeutet,  ein  Wort,  welches  auf  einer  Zeile  nicht  vollständig 
angeschrieben  werden  kann,  setze  sich  auf  der  nachfolgenden  Zeile  fort 
Die  soeben  erwähnten  Beispiele  bestätigen,  daß,  wie  Oppert  schon 
früher  gezeigt  hat,  das  Sexagesimalsystem  auch  nach  abwärts  fOhrte, 
daß  es  Sezagesimalbrüche  eneugte,  deren  Nenner  durch  die  nach 
rechts  vorrückende  Stellung  der  allein  geschriebenen  Zähler  erkenn- 


^)  Delitzsch,  Sobs,  Ner  und  Sar.  ZeitBcbi.  Ägypt.  1878.  *)  Maspero- 
PietBchmann  S.  194.  *)  Briefliche  Mitteilung.  *)  Fr.  Xav.  Kugler,  Die 
Babylonische  Mondrechnnng.  Eeilinschriftliche  Beüagen  Tafel  IV  und  öfter 
(Freibnrg  i.  Br.  1900). 


32  1.  Kapitel. 

bar  sind.  Dahin  gehören  die  Unterabteilungen  des  sexagesimalen 
Maßsystems  auf  der  Vorderseite  des  ersten  Täfelchens  von  Senkereh, 
Yon  welchem  oben  im  Vorbeigehen  die  Bede  war. 

Solchen  Tatsachen  gegenüber  gehörte  ein  gewisser  Mut  dazu, 
die  auf  keinerlei  urkundlicher  Grundlage  beruhende  Meinung  aus- 
zusprechen^), die  Sumerier  hätten  ursprünglich  ein  Siebenersystem 
besessen  und  nachtraglich  das  Sechzigersystem  hinzuerfunden,  weil 
60  vielfach  teilbar,  7  dagegen  teilerlos  war.  Weit  anmutender  ist  die 
Annahme^,  es  habe  von  den  beiden  großen  Volksbestandteilen,  welche 
in  dem  Zweistromlande  ihre  schon  weit  entwickelte  Oeistesbildung 
yermischten,  der  eine  ursprünglich  ein  Zehnersystem,  der  andere  ein 
Sechsersystem  besessen,  und  bei  dem  Zusammenwachsen  beider  Stamme 
habe  sich  das  Sechzigersystem  bilden  können,  welches  ei^e  Bezie- 
hungen zu  beiden  Grundzahlen,  zu  10  und  zu  6,  an  den  Tag  lege.  Manches 
bleibt  allerdings  auch  bei  dieser  Annahme  recht  rätselhaft,  z.  B.  welchem 
Volke  man  die  Erfindung  des  Sechsersystems  zuschreiben  und  wie 
man  diese  Erfindung  sich  denken  soll.  Die  von  dem  Urheber  der 
Vermischimgstheorie  (60  —  10  X  6)  vorgeschlagene  Erklärung,  man 
habe  an  den  Fingern  gezählt  und  nach  Erschöpfung  der  Finger  einer 
Hand  diese  Hand  zum  Zeichen  eines  Ruhepunktes  im  Zählen  ge- 
schlossen, führt  unseres  Ermessens  zum  Fünfersysteme  (S.  8)  und 
nicht  zum  Sechsersyst^me. 

Weitere  Bestätigung  durch  die  Überlieferung  ist  zwar  nicht 
erforderlich,  wo  bestimmte  Inschriften  so  deutlich  reden.  Gleichwohl 
lohnt  es  bei  ihr  Umfrage  zu  halten,  was  sie  bezüglich  babylonischen 
Rechnens  überhaupt,  was  sie  über  das  babylonische  Sexagesimalsystem 
insbesondere  uns  zu  sagen  weiß. 

Strabo  läßt  in  Phönikien  die  Rechenkunst  entstehen');  Josephus 
hat  deren  Erfindusg  den  Chaldäern  zugewiesen^),  von  welchen  sie 
durch  Abraham  den  Weg  nach  Ägypten  gefunden  habe,  und  Cedrenus, 
ein  byzantinischer  Geschichtsschreiber  der  Mitte  des  XI.  S.,  nennt  sogar 
Phönix,  den  Sohn  des  Agenor,  der  selbst  Sohn  des  Neptun  war,  als 
Verfasser  des  ersten  Buches  über  Philosophie  der  Zahlen  (xegl  tijv 
iQid'iirjtix'^v  q>iXo6oq)Cav)  in  phönikischer  Sprache^).  Theon  von 
Smyma  im  II.  S.  n.  Chr.  lebend  sagt:  bei  Untersuchung  der  Planeten- 
bewegung hätten  sich  die  Ägypter  konstruktiver  Methoden  bedient. 


')  H.  von  Jacobs,  Das  Volk  der  Siebener-Z&hler.  Berlin  1896. 
^6.  Eewitsch,  Zweifel  an  der  astronomischen  und  geometrischen  Grundlage 
des  60 -Systems.  Zeitschrift  für  Assyriologie  XYIII,  73—96.  Straßburg  1904. 
«)  Strabon  XVI,  24  und  XVII,  3  (ed.  Meineke  pag.  1066  und  1099). 
^)  Josephus,  Antiquit.  I  cap.  8  §  2.  ^)  Cedrenus,  Compendium  Historiarum 
(ed.  Xylander).     Paris  1647,  pag.  19. 


Die  Babylonier.  33 

hätten  gezeichnet,  während  die  Ghalc^ler  zu  rechnen  vorzogen,  und 
Yon  diesen  beiden  Völkern  hätten  die  griechischen  Astronomen  die 
Anfänge  ihrer  Kenntnisse  geschöpft^).  Porphyrius,  selbst  in  Syrien 
geboren  und  am  Ende  des  III.  S.  schreibend,  erzählt:  von  alters  her 
hätten  die  Ägypter  mit  Geometrie  sich  beschäftigt,  die  Phönikier 
xQit  Zahlen  und  Rechnungen,  die  Chaldäer  mit  den  Lehrsätzen,  die 
sich  auf  den  Himmel  beziehen^). 

Diese  Überlieferungen  bezeugen,  daß  man  Ton  einem  hohen  Alter 
der  Rechenkunst  in  Yorderasien  die  Erinnerung  bewahrt  hatte.  Ein 
Widerspruch  gegen  eine  andere  Sage,  die  neben  der  Geometrie  auch 
die  Rechenkunst  in  Ägypten  entstehen  ließ,  kann  uns  in  der  Bedeutung, 
die  wir  solchen  Überlieferungen  beilegen,  nicht  irre  machen.  War 
doch  in  der  Tat  auch  dort  eine  Rechenkunst  vielleicht  gleich  hohen 
Alters  zu  Hause,  und  steht  doch  der  Sage,  Abraham  habe  Rechen- 
kunst und  Astronomie  aus  Chaldäa  nach  Ägypten  gebracht,  die  andere 
gegenüber,  Belos,  der  Ahne  eines  lydischen  Königsgeschlechtes,  sei 
Führer  ägyptischer  Einwanderer  gewesen^).  Beide  Bildungen,  die  des 
Nillandes,  die  des  Enphratlandea,  waren  uralt;  beide  standen  in  ur- 
alter Berührung;  beide  beeinflußten  das  spätere  Griechentum  sei  es 
unmittelbar,  sei  es  mittelbar,  und  das  Erfinderrecht,  welches  griechische 
Schriftsteller,  je  weiter  wir  aufwärts  gehen,  um  so  ausschließlicher 
den  Ägyptern  zuweisen,  hängt  wohl  damit  zusammen,  daß  Griechen 
in  größerer  Zahl  weit  früher  nach  den  Hauptstädten  von  Ägypten, 
als  nach  denen  von  Yorderasien  gelangten.  Diese  letztere  Gegend 
kann  kaum  vor  dem  Alexanderzuge  als  genügend  bekannt  betrachtet 
werden. 

Spuren  des  babylonischen  Sexagesimalsjstems  in  den  Überliefe- 
rungen aufzufinden,  wird  uns  gleichfalls  gelingen,  wenn  wir  nur  richtig 
suchen.  Wir  werden  nämlich  hier  nicht  auf  Äußerungen  ganz 
bestimmter  Natur  fahnden  dürfen,  die  Babylonier  oder  die  Phönikier 
oder  dieses  oder  jenes  dritte  Nachbarvolk  seien  Erfinder  eines  Zahlen- 
systems gewesen,  welches  nach  der  Grundzahl  60  fortschritt;  wir 
werden  uns  begnügen  müssen,  der  Zahl  60  und  ihren  Yielfachen  als 
Zahlen  unbestimmter  Yielheit  zu  begegnen.  Yon  Sammelwörtem 
zur  Bezeichnung  unbestimmter  Yielheiten  war  in  der  Einleitung  (S.  5), 
Ton  gewissen  Zahlen  als  Yertretem  einer  unübersehbar  großen  Yiel- 
heit in  diesem  Kapitel  (S.  23 — 24)  schon  die  Rede.  Allein  neben 
den  Ausdrücken  unbestimmter  Zusammenfassung,   neben  den   Zahlen 


*)  Theo  Smyrnaeus  (ed.  Ed.  Hiller).  Leipzig  1878,  pag.  177.  ')  Por- 
phyrius,  De  vüa  Pythctgorica  s.  6  (ed.  Kiessliiig,  pag.  12).  ^  Diodor  I, 
28,  29. 

Oahtob,  Oetchichte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  3 


34  ^'  Kapitel. 

außergewöhnlicher  Vielheit  bilden  kleinere  ganz  bestimmte  Zahlen  in 
dem  Sinne  einer  nicht  genan  abgezählten  oder  abzuzahlenden  Menge 
ein  ganz  regelmäßiges  Vorkommen^). 

Die  Zahlen  5^  10,  20  als  in  den  menschlichen  Gliedmaßen  be- 
gründet yertreten  oftmals  solche  nnbestinmite  Vielheiten.  Die  Zahl  3 
ist  unbestimmte  Vielheit  in  tQLöd^liog  sowie  in  ter  fdix  (dreifach 
unglücklich,  dreifach  glücklich).  Eben  dahin  gehört  es,  wenn  der 
Chinese  „die  vier  Meere''  statt  alle  Meere  sagt,  wenn  wir  Ton  „unseren 
sieben  Sachen^'  statt  von  allen  unseren  Sachen  reden,  indem  dort  die 
vier  Weltgegenden  den  Vergleichungspunkt  zeigten^  hier  die  weit 
und  breit  besonders  geachtete  Zahl  7  mutmaßlich  den  7  Tagen  der 
Schöpfungswoche,  die  selbst  mit  den  7  Wandelsternen  der  alten 
Babylonier  zusammenhängen  dürften,  ihre  Heiligkeit  und  ihre  häufige 
Anwendung  verdankt  An  diesen  wenigen  Beispielen  erkennen  wir 
bereits,  daß  nicht  jede  beliebige  Zahl  als  unbestimmte  Vielheit  gewählt 
wird,  sondern,  daß  Gründe,  die  freilich  nicht  immer  am  Ti^e  liegen, 
den  Anlaß  gaben,  bald  dieser  bald  jener  Zahl  die  genannte  Rolle 
zuzuweisen.  So  bildet  40  die  unbestimmte  Vielheit  sämtlicher  Völker 
ural-altaischer  Abkunft^)  bis  auf  den  heutigen  Tag.  So  waren  es 
40  Amazonen,  von  denen  die  skjthische  Sage  berichtet.  So  ist  im 
Märchen  Ali  Baba  mit  40  Bäubem  zusammengetroffen.  So  brachten 
die  Hebräer  40  Jahre  in  der  Wüste,  Mose  40  Tage  und  40  Nächte 
auf  dem  Berge  Sinai  zu.  So  dauerte  der  Regen,  der  die  Sintflut  ein- 
leitete, 40  Tage  und  40  Nächte,  und  so  sind  noch  viele  andere 
biblische  Stellen  des  alten  wie  des  neuen  Bundes,  letztere  wohl  meistens 
bewußte  Nachahmungen  der  ersteren,  durch  die  Annahme  zu  erklären^ 
die  in  ihnen  vorkommende  Zahl  40  sei  eine  unbestimmte  Vielheit. 
Wie  aber  40  zu  dieser  Rolle  kam,  und  zwar  in  ältester  Zeit  kam^ 
denn  es  sind  gerade  die  ältesten  Bibelstellen,  welche  ein  unbestimmtes 
40  benutzen,  das  ist  heute  nicht  bekannt. 

Ähnlicherweise  kommt  nun  60  mit  seinen  Vielfachen  und  einigen 
in  ihm  enthaltenen  kleineren  Zahlen  als  unbestimmte  Vielheit  vor^ 
aber  immer  und  ausschließlich  in  solchen  Verhältnissen,  wo  eine 
Beeinflussung  von  Babylon  aus  nachweisbar  oder  wenigstens  möglich 
ist.  Wir  haben  vor  wenigen  Zeilen  von  ältesten  Bibelstellen  ge- 
sprochen.    Theologische  Kritik  hat  nämlich  aus  Eigentümlichkeiten 


^)  Über  solche  unbestimmte  Vielheiten  vergl.  Math.  Beitr.  Knltorl.  146—148 
imd  861 — 362,  wo  anf  verschiedene  Quellen  hingewiesen  ist.  Zu  diesen  kommt 
noch:  Pott  I,  119;  dann  Himly,  Einige  rätselhafte  Zahlwörter  (Zeitschr.  d. 
morgenl.  Gesellsch.  XYIU,  292  und  381);  Kaempf,  Die  runden  Zahlen  im 
Hohenliede  (ebenda  XXIX,  629—632)  imd  der  Artikel:  Zahlen  von  Kneucker 
in  Schenkels  Bibellexikon.     *)  Briefliche  Mitteilung  von  Herrn  Berth.  Laufer. 


Die  Babylonier.  35 

der  Sprache^  der  Glaubenssätze^  der  Vorschriften  usw.  ein  yerschie- 
denes  Alter  der  in  den  5  Büchern  Mose  vereinigten  Erzählungen 
nachzuweisen  gewußt.  Sie  hat  beispielsweise  festgestellt,  daß  der 
Sintflutsbericht  der  Bibel  ein  doppelter  ist.  Der  älteren  Erzählung 
gehört  der  Torerwähnte  40tägige  Regen  an.  In  dem  jüngeren  Berichte, 
der  erst  nach  535,  d.  h.  nach  der  Rückkehr  aus  der  babylonischen 
Oefangenschaft  niedei^eschrieben  sein  soll,  sind  die  Maße  der  Arche 
angegeben,  300  Ellen  sei  die  Länge,  50  Ellen  die  Weite  und  30 
Ellen  die  Höhe^).  Die  Länge  und  Weite  der  Arche  in  Berichten  der 
Keilschrift  scheinen  auf  600  und  auf  60  zu  lauten^).  Das  goldene  Götter- 
bild, welches  König  Nebukadnezar  errichten  ließ,  war  60  Ellen  hoch 
und  6  Ellen  breit').  Um  das  Bett  Salomos  her  stehen  60  Starke  aus 
den  Starken  in  Israel,  und  60  ist  die  Zahl  der  Königinnen^).  Ander- 
weitige ParallelsteUen  gewährt  die  außerbiblische  hebräische  und 
chaldäische  Literatur,  von  welchen  wir  nur  der  Reimzeile:  „In  des 
einen  Hause  60  Hochzeitbälle,  in  des  andern  Kreise  60  Sterbefälle^^^) 
gedenken.  Auch  die  griechische  Literatur  läßt  uns  keineswegs  im 
Stiche.  Den  ionischen  Truppen  wird  Ton  dem  Perserkönige  der  Befehl 
erteilt,  an  der  Brücke  über  den  Ister  60  Tage  zu  warten;  Xerxes 
läßt  dem  Hellesponte  300  Rutenstreiche  geben;  Kyrus  läßt  den  Fluß 
Gyndes,  in  welchem  eines  seiner  heiligen  Rosse  ertrunken  war,  zur 
Strafe  in  360  Rinsel  abgraben.  So  nach  Herodot*).  Entsprechend 
berichtet  Strabo:  Man  sagt,  es  gebe  ein  persisches  Lied,  in  welchem 
die  360  Nutzanwendungen  der  Palme  besungen  würden^.  Stobäus 
läßt  durch  Oinopides  und  Pythagoras  ein  großes  Jahr  von  60  Jahren 
einrichten^),  und  wir  werden  später  sehen,  daß  diese  Philosophen  als 
Schüler  morgenländischer  Weisheit  betrachtet  wurden.  Vielleicht  ist 
damit  die  freilich  von  unserem  Berichterstatter,  Pausanias,  anders 
begründete  Sitte  in  Zusammenhang  zu  bringen,  daß  das  Fest  der 
großen  Dädala  mit  den  Platäem  auch  von  den  übrigen  Böotem  alle 
60  Jahre  gefeiert  wurde:  denn  so  lange  war  nach  der  Sage  das  Fest 
zur  Zeit  der  Vertreibung  der  Platäer  eingestellt*). 


^)  I.  Mose  6,  5.  *)  Le  po^me  Chaldäen  du  däluge  traduit  de  raBsjrien  par 
Jules  Oppert  (Paris  1885)  pag.  8:  Le  navire  que  tu  bätiras,  xnesurera  un  ner 
d'empans  en  longueur,  un  sass  d'empans  sera  le  compte  de  sa  hauteur  et  de  sa 
largeur.  Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  daß  diese  Angaben  mit  denen  der  Bibel 
zusammentreffen,  sobald  man  annimmt,  die  babylonische  Einheit  sei  die  Hälfte 
der  biblischen  Elle  gewesen.  ')  Daniel  8,  1.  *)  Hohes  Lied  8,  7  und  6,  8. 
')  Dieses  Beispiel  und  mehrere  andere  namentlich  bei  Kaempf  in  dem  oben- 
erwähnten Aufsatze  Zeitschr.  d.  morgenl.  Gesellsch.  XXIX.  ')  Herodot  lY,  98; 
Vn,  86;  I,  189  und  202.  ')  Strabo  XVII,  1,  14.  «)  Stobaeus,  Eclog.  Phys.  I, 
9,  2.     ^)  Pausanias,  IX,  8. 


36  1-  Kapitel. 

Endlich  gehört  sicherlich  eine  Stelle  des  Hesjchios  hierher,  Saros 
sei  eine  Zahl  bei  den  Babyloniem  ^).  Mit  dieser  Stelle  haben  wir  den 
Bückweg  zu  den  Schriftdenkmälern  der  Babylonier  gewonnen,  aus 
welchen  unser  Oewährsmann  unmittelbar  oder  mittelbar  geschöpft  haben 
muß.  Die  Sprache  der  Babylonier  enthielt  nämlich  nicht  bloß  das 
Wort  Sar  mit  einer  Zahlenbedeutung,  welche  allseitig  als  3600  y er- 
standen wird,  sondern  auch  noch  Ner  mit  der  Bedeutung  600  und 
So  SS  mit  der  Bedeutung  60. 

Wir  si^en  ausdrücklich  Soss,  Ner,  Sar  haben  diese  Zahlenbedeu- 
tung, weil  wir  vermeiden  wollen  sie  Zahlwörter  zu  nennen.  Sie 
gehören  eben  zu  den  Wortformen,  deren  es  in  anderen  Sprachen  auch 
gibt,  welche  mit  Zahlenwert  yersehene  Nennwörter  sind,  wie  unser 
Dutzend  »  eine  Anzahl  von  12,  Mandel  =  eine  Anzahl  von  15, 
Schock  =»  eine  Anzahl  von  60,  aber  beim  eigentlichen  Zählen,  ins- 
besondere beim  Bilden  größerer  Zahlen,  nicht  anderen  Zahlwörtern 
gleich  benutzt  werden.  Oanz  in  derselben  Weise  wie  das  wohl  nur 
zufällig  lautverwandte  Schock  bezeichnet  Soss  eine  Anzahl  von  60 
irgendwelcher  als  Einheit  gewählter  Gegenstände.  Das  Ner  ist  so 
viel  wie  10  Soss,  der  Sar  so  viel  wie  60  Soss,  aber  immer  unter 
Voraussetzung  konkreter  Einheiten.  So  stellt  ims  der  Soss,  der  Sar 
die  nächsthöheren  Stufen  des  aufsteigenden  Sexagesimalsystems  vor, 
welche  auf  die  Einheiten  folgen,  und  die  Frage  bleibt  eine  offene, 
ob  es  noch  Namen  über  diese  hinausgab,  ob  es  etwa  ein  Wort  gab 
für  60  Sar,  d.  h.  für  eine  Anzahl  von  216  000.  Was  über  die  den 
Babyloniem  in  ihrer  Allgemeinheit  wohl  anhaftende  Beschrankung  des 
Zahlenbegriffes  S.  23  gesagt  wurde,  genügt  keineswegs  diese  Frage 
beiseite  zu  schieben,  denn  wir  stellen  sie  nicht  mit  Bezug  auf 
bürgerliche,  sondern  auf  wissenschaftliche  Rechenkunst.  Der  Soss 
freilich,  und  wohl  auch  der  Ner,  sind  zum  gemeinsamen  Volkseigen- 
tume  geworden..  Ersterer  in  mathematischen  Schriften,  wie  z.  B.  in 
den  Tafeln  von  Senkereh,  durch  einen  Einheitskeil  bezeichnet,  wel- 
chem die  Stellimg  den  Bang  erteilte,  scheint  auch  sonstigen  Inschriften 
in  der  Weise  sich  eingefügt  zu  haben,  daß  der  Vertikalkeil  links  von 
Winkelhaken  stehend,  zu  welchen  er  dem  Gesetze  der  Größenfolge 
halber  nicht  einfach  addiert  werden  konnte,  und  welche  er  als  Einheit 
vervielfachen  zu  sollen  keine  Veranlassung  besaß,  die  Bedeutung  von 


')  Auf  diese  Stelle  hat  J.  Brandis  in  seinem  yortreff liehen  Werke:  Das 
Münz-,  Maß-  und  Gewichtswesen  in  Yorderasien  bis  auf  Alexander  d.  Großen, 
Berlin  1866,  aufmerksam  gemacht.  Für  den  Mathematiker  von  besonderem 
Interesse  sind  S.  9,  15,  595.  Parallelstellen  zu  Hesychios  bei  Suidas  und  Syn- 
kellos  vergl.  in  dem  Aufsatze  von  Fr.  Delitzsch,  Soss,  Ner,  Sar.  Zeitschr. 
Ägypt.  1878,  S.  56—70. 


Die  Babylonier.  37 

SoBS,  d.  i.  also  von  60  gewann^  wie  in  mathematischen  Schriften  ond 
80  sich  addierte^).  Freilich  ist  auch  diese  Behauptung,  wie  so  manche 
andere,  die  sich  auf  Entzifferung  Ton  Keilschrift  bezieht,  noch 
bestritten,  und  der  einzelne  links  ron  Winkelhaken  befindliche 
Vertikalkeil  wurde  Ton  Oppert  und  Lenormant  als  50  gelesen,  eine 
Auffassung,  an  welcher  aber  Oppert  jedenfalls  nicht  mehr  hartnackig 
festgehalten  hat. 

Wir  haben  oben  (S.  32)  uns  der  Ansicht  angeschlossen,  das 
Sezagesimalsystem  sei  aus  der  Vermischung  eines  Sechsersjstems 
mit  einem  Zehnersystem  entstanden,  welche  beide  dem  Sechziger- 
systeme sich  ein-  und  unterordnen  konnten.  Damit  fallt  die  Annahme, 
der  wir  selbst  früher  huldigten,  die  Grundzahl  60  sei  durch  Sechs- 
teilung der  360  Orade  des  Kreises  entstanden,  und  diese  hatten  den 
360  Tagen  eines  alten  Sonnenjahres  entsprochen.  Man  hat  den  sehr 
richtigen  Einwand  erhoben'),  man  habe  doch  das  Zählen  und  An- 
schreiben der  kleineren  Zahlen  gekannt  und  benutzt,  bevor  man  zu 
360  gelangte,  man  bilde  kein  Zahlensystem  durch  Verkleinerung, 
sondern  allenMls  durch  Vergrößerung  einer  rorhandenen  Ghnmdzahl, 
man  könne  also  nicht  den  Gedankengang  eingeschlagen  haben,  daß 
man  zuerst  360  und  dann  60  als  rechnerischen  Buhepunkt  benutzte. 
Man  hat  den  ferneren  Einwand  erhoben,  die  Mangelhaftigkeit  einer 
Sonnenbahn  ron  nur  360  Tagen  müsse  sehr  frühzeitig  erkannt  worden 
sein  und  müsse  die  Notwendigkeit  von  mindestens  5  Zusatztagen  er- 
zeugt haben;  das  Jahr  yon  360  Ti^en  sei  nur  ein  Rechnungsjahr 
gewesen,  und  zwar  deshalb  gewesen,  weil  man  6  X 10  »  60  als  Grund- 
zahl besaß,  wodurch  ebensowohl  6«  X  10  =  360  als  6  x  10*  =  600 
in  den  Vordergrund  arithmetischen  Denkens  treten  mußten. 

Damit  fallen  auch  die  anderen  Versuche,  welche  gemacht  worden 
sind^)  das  Sexagesimalsystem  astronomisch  herzuleiten.  Aber  nicht 
als  hinfällig  können  wir  betrachten,  was  wir  ein  Eindringen  des 
Sexagesimalsystems  in  die  Astronomie  und  Geometrie  der  Babylonier 
nennen  möchten. 

Das  Sexagesimalsystem  der  Babylonier  hängt,  glauben  wir,  mit 
astronomisch-geometrischen  Dingen  zusammen.  So  ungern  wir  ron 
unserer  Absicht  der  Geschichte  der  Astronomie  in  diesem  Werke  fem 
zu  bleiben  abweichen,  hier  müssen  wir  eine  kleine  Ausnahme  inso- 
weit eintreten  lassen,  als  wir  von  dem  Altertum  babylonischer  Stem- 


')LepBiu8,  Babylonisch-assyrische Längeimiaße  (Abhandl.  Berlin.  Akademie 
1877)  S.  142—148.  *)  Kewitsch  in  der  Zeitechxift  für  Assyriologie  Bd.  XYm. 
Strafibnrg  1904.  ^  F.  Ginzel,  C.  Lehmann,  H.  Zimmern  haben  solche 
Versuche  angestellt. 


38  1.  Kapitel. 

künde  wenigstens  einiges  berichten^).  Mag  man  die  Hunderttausende 
Yon  Jahren,  durch  welche  hindurch  Plinius  anderen  Berichterstattern 
folgend  babylonische  Beobachtungen  ai^estellt  sein  läßt^  belächeln; 
mag  man  zunächst  auch  den  31000  Jahren  ror  Alexander  dem  Großen 
mit  ungläubigster  Abwehr  gegenüberstehen,  aus  welchen  nach  Por- 
phyrius  eine  Beobachtungsreihe  durch  Eallisthenes  an  Aristoteles 
gelangte;  folgende  Dinge  stehen  fest:  Elaudius  Ptolemäus,  der  Verfasser 
des  Almagesty  wußte  von  einer  babylonischen  Liste  von  Mondfinster- 
nissen seit  747.  Die  Sonnenfinsternis  yom  15.  Juni  763  ist  in  den 
assyrischen  Reichsarchiven  angegeben.  Für  König  Saigon,  der  etwa 
3700  y.  Chr.  gelebt  haben  mag,  ist  ein  astrologisches  Werk  yerfaßt, 
welches  der  englische  Assyriologe  Sayce  entziffert  und  übersetzt  hat. 
Für  eine  sehr  bedeutende  Anzahl  yon  Jahrestagen  ist  in  diesem 
Werke,  welches  wir  am  deutlichsten  als  Vorbedeutungskalender  be- 
zeichnen, erörtert,  welche  Folge  eine  gerade  an  diesem  Tage  eintretende 
Verfinsterung  haben  werde.  Man  überlege  nun,  welches  statistische 
Material  an  Verfinsterungen  und  ihnen  folgenden  Ereignissen  nötig 
war,  um  ein  solches  Wahrscheinlichkeitsgesetz,  welches  man  selbst- 
yerständlich  für  unfehlbare  Wahrheit  hielt,  herzustellen;  selbst  wenn 
manche  Ereignisse  nicht  der  Erfahrung  sondern  der  Einbildungskraft 
des  Verfassers  des  Kalenders  entstammten,  so  wird  man  so  yiel 
zuzugeben  geneigt  sein,  daß  wahrscheinlich  mehrere  tausend  Jahre 
yor  Alexander  eine  babylonische  Astronomie  bestand,  daß  es  unter 
allen  Umständen  zur  Zeit  yon  König  Sargon  eine  beobachtende  Stern- 
kunde der  Babylonier  gab,  die  damals  das  Kalenderjahr  längst  besaßen. 
Babylonisch  und  zwar  aus  ähnlich  alter  Zeit  dürfte  auch  die  7tägige 
Woche  sein,  welche,  wie  wir  schon  gelegentlich  bemerkt  haben,  in 
der  biblischen  Schöpf ungswoche  sich  widerspiegelt,  während  sie  der 
Anzahl  der  bekannten  Wandelsterne  ihren  eigentlichen  Ursprung  yer- 
dankt.  Auf  die  babylonische  Heimat  weisen  die  7  Stufen  yerschiedenen 
Materials  hin,  welche  den  Tempel  des  Nebukadnezar  bildeten,  dessen 
Trümmer  in  Birs  Nimrud  begraben  wurden,  und  der,  wie  manche 
glauben,  der  Sprachenturm  der  Bibel  war.  Ebendahin  weisen  uns  die 
7  Wälle  yon  Ekbatana^),  und  die  Macht  der  Planetengötter  über  das 
menschliche  Geschlecht  und  dessen  Schicksale  bildete  einen  Teil  der 
babylonischen  Vorbedeutungswissenschaft*).  Babylonisch  ist  dann 
weiter  die  Einteilung  des  Tages  in  Stunden.    Hier  freilich  ist  eine  ganz 

')  Eine  sehr  übersichtliche  Zusammenstellung  aller  Quellen  bei  A.  H.  Sayce, 
21te  (Mtranomy  and  astrology  of  the  Babylonians  witÄ  translations  of  tlie  tableis 
relating  to  these  suijeets  in  den  Transactions  of  the  society  of  biblical  Ärchaeology, 
VoL  III,  Part.  1.  London  1874.  Vergl.  auch  das  Programm  von  A.  Häbler, 
Astrologie  im  Alterthum,  1879.     *)  Herodot  I,  98.     »)  Diodor  II,  80. 


Die  Babylonier.  39 

bestimmte  Kemituis  des  SachTerkaltes  nicht  yorhanden,  deim  wenn 
Herodot  uns  ausdrücklich  sagt^  die  Babylonier  hatten  den  Tag  in 
,  zwölf  Teile  geteilt^),  so  sprechen  andere  Gründe  für  eine  Teilung 
des  Tages  in  60  Stunden,  und  man  hat  versucht  sich  damit  zu  hei- 
fen,  dafi  man  die  12  büi^rlichen  Stunden,  welche  den  Tag  ohne  die 
Nacht  ausfüllten,  von  einer  wissenschaftlichen  Einteilung  zu  astro- 
nomischen Zwecken  unterschied^).  Die  Vermutung,  man  habe  in 
Babylon  den  Tag  in  60  Stunden  geteilt,  beruht  yomehmlich  auf  zwei 
Oründen.  Erstlich  wendet  Ptolemäus  bei  der  auf  Hipparch  und  auf 
die  Ghaldäer  Bezug  nehmenden  Berechnung  der  Mondumläufe  die 
Sechzigteüung  des  Tages  an^),  und  zweitens  teilten  die  Yedakalender 
•der  alten  Inder  gleichfalls  den  Tag  in  30  muhürta,  deren  jeder  aus 
2  nddikä  bestand,  so  daß  60  Teile  gebildet  wurden^).  Indische 
Astronomie  weist  aber  vielfach  mit  zwingender  Notwendigkeit  auf 
babylonische  Beeinflussung  zurück.     Die  Dauer   des   ^.ngsten  Tages 

-z.  B.  wurde  in   dem  Yedakalender  auf  18  muhüriaf   d.  h.   also   auf 

18 

ÖQ  Tageslängen  oder  14^24°^  angegeben.  Ptolemäus  in  seiner  Geographie 

bezeichnet  sie  zu  14^25"  für  Babylon.  In  chinesischen  Quellen  er- 
scheint dieselbe  Dauer  in  Gestalt  von  60  KliCy  deren  jeder  14"  24* 
betragt^).  Die  Dauer  des  längsten  Tages  ist  aber  selbstverständlich 
als  von  der  Polhöhe  abhängig  nicht  aller  Orten  gleich;  femer  waren 
in  so*  weit  zurückliegenden  Zeiten  die  Beobachtungen  wie  die  daran 
.sich  knüpfenden  Rechnungen  nicht  so  feiner  Natur,  daß  fast  identische 
Ei^ebnisse  an  verschiedenen  Orten  zu  erwarten  wären.  Die  Wahr- 
scheinlichkeit ist  daher  nicht  zu  unterschätzen,  daß  die  Zahlenangabe 
für  den  längsten  Tag  sich  von  einem  der  drei  Pimkte  nach  den 
beiden  anderen  verbreitet  haben  werde  und  zwar  so,  daß  Babylon  als 
Verbreitungsmittelpunkt  zu  gelten  hätte  ^).  In  Indien  haben  übrigens 
Zeitmesser,  welche  auf  der  Einteilung  des  Tages  in  60  Teile  beruhen, 
bis  auf  die  heutige  Zeit  sich  erhalten,  und  der  deutsche  Reisende 
Herm.  Schlagintweit  war  in  der  Lage  der  Münchner  Akademie 
•eine  solche  Uhr  vorzuzeigen.  Sie  besteht  aus  einem  Abschnitte  einer 
Hohlkugel  aus  dünnem  Kupferblech,  welcher  unten  fein  wie  mit  einem 


*)  Herodot  U,  109.  *)  Lepsius,  Chronologie  der  Ägypter  S.  129,  Note  1. 
')  Ptolem&ns,  Almagestnm  lY,  2.  ^)  Lassen,  Indische  Altertumskunde  pag.  823. 
A.  Weber,  Über  den  Yeda-Kalender  genannt  Jyotischam  (Abhandl.  Berlin.  Akad. 
1862),  S.  106.  ^)  Biot,  PrMa  de  Vastranomie  Chinoise.  Paris  1861,  pag.  29. 
*)  A.  Weber  in  den  Monatsber.  Berlin,  Akad.  1862,  S.  222  und  in  der  vorzitier- 
ten Abhandlung  S.  14 — 16  und  29 — 30.  Yergl.  auch  desselben  Verfassers:  Vedische 
Kachrichten  von  den  Nazatra  ü.  Teil  (Abhandl.  Berlin.  Akad.  1862),  S.  362. 
Entgegengesetzter  Meinung  sind  Whitney  und  G.«Thibaut.  Yergl.  des  letz- 
teren: Contr%buti(m8  to  the  explancUion  of  the  Jyotisha-Veddnga,  pag.  13. 


40  1.  Kapitel. 

Nadelstich  durchlöchert  ist.  Setzt  man  diese  Vorrichtung  auf  Wasser, 
80  füllt  sich  die  Kugelschale  allmählich  an  und  sinkt  nach  bestimmter 
Zeity-etwa  nach  anderthalb  mühurta,  unter  hörbarem  Zusammenklappen 
des  Wassers  über  ihr,  unter  ^). 

Aus  dieser  ganzen  Erörterung  geht  soviel  henror,  daß  die 
Astronomen  Babylons  die  Zahl  60  mehrfach  benutzten,  und  daß,  wenn 
ihnen  eine  Einteilung  des  Kreises  in  360  Ghrade  geläufig  war,  diese 
Einteilung  von  Laien  so  gedeutet  werden  konnte,  daß  jeder  Grad  den 
Weg  zu  TersinnHchen  bestimmt  war,  welchen  die  Sonne  bei  ihrem 
vermeintlichen  Umlaufe  um  die  Erde  jeden  Tag  zurücklegte').  Wollte 
man  nun  von  dieser  Kreisteilung,  von  diesen  Graden,  wieder  größere 
Mengen  zusammenfassen,  so  lag  es  nahe,  den  Halbmesser  auf  dem 
Kreisumfang  herumzutrf^en.  Man  erkannte,  wie  wir  fürs  erste  uns 
zu  glauben  bitten,  die  Begründung  uns  bis  zum  Schlüsse  des  Kapitels 
versparend,  wo  wir  uns  mit  baylonischer  Geometrie  beschäftigen 
müssen,  daß  ein  sechsmaliges  Herumtragen  des  Halbmessers  als  Sehne 
den  Kreis  vollständig  bespannte  und  zum  Ausgangspunkte  zurück- 
führend dem  regelmäßigen  Sechsecke  den  Ursprung  gab.  Dann  aber 
enthielt  jeder  dieser  größeren  von  einem  Halbmesser  bespannten 
Bögen  genau  60  Teile  und  faßte  man  sie  besonders  ins  Auge,  so  war 
damit  wieder  die  Sechzigteilung,  war  zugleich  die  Sechsteilung  ge- 
wonnen. Letztere  klingt  in  den  Wörtern  siba  großes  sechs  =  7  und 
samrna  =  6  -f  2  --  8  wieder")  und  könnte  auch  in  den  so  häufig 
wiederkehrenden  Sechsteln  (S.  23)  sich  erhalten  haben.  Der  Ursprung 
der  Sechzigteilung  kann  dabei  sehr  leicht  in  Vergessenheit  geraten 
sein,  so  daß  man  beispielsweise  in  jener  Mondbeleuchtungstheorie  (S.25) 
den  vierten  Teil  der  Mondscheibe  in  60  Teile  zerlegte,  während  man 
den  Graden  entsprechend  90  solcher  Teile  im  Quadranten  ange- 
nommen hätte,  wenn  nicht,  wie  wir  sagten,  der  Ursprung  der  Sech- 
zigteilung bereits  vergesöen  gewesen  wäre. 

Wir  haben  (S.  37)  angedeutet,  das  Ner  von  600  =  6  X  10^  habe 
leicht  in  das  Sexagesimalsystem  der  Babylonier  Eingang  finden  können. 
Wie  mag  man  sich  seiner  bedient  haben?  Wollen  wir  unsere  Ver- 
mutung über  diesen  Gegenstand  erörtern,  so  müssen  wir  über  das 
Rechne  der  Babylonier  einiges  vorausschicken.  Daß  sie  rechneten, 
viel  und  gut  rechneten,  wissen  wir  bereits.    Daß  die  Ergebnisse  ihres 

»)  Sitzungsbericht  der  math.  phys.  Klasse  d.  bair.  Akad.  d.  Wissenschaft, 
in  München  für  1871,  S.  128  ^gg,  *)  Diese  Hypothese  über  den  Ursprung  der 
Eieiseinteilung  in  360  Grade  ist  zuerst  von  Formal eoni,  Saggio  suUa  nantica 
antica  dei  Veneziani  (Venedig  1788)  ausgesprochen  worden,  wie  S.  Günther» 
Handbuch  der  mathematischen  Geographie  (Stuttgart  1890),  S.  178,  Note  1 
berichtet.     *)  Bertin  1.  c.  p.  S83. 


Die  Babylonier.  41 

wissenschaftlichen  Rechnens  im  Sexagesimalsysteme  niedei^eschrieben 
wurden,  wissen  wir  gleichfalls.  Aber  wie  gelangte  man  zu  diesen 
Ergebnissen?  Nach  dem,  was  wir  in  der  Einleitung  (S.  6)  auseinan- 
dergesetzt haben,  werden  unsere  Leser  sich  nicht  erstaunen,  wenn  wir 
für  die  vorderasiatischen  Völker  der  alten  Zeiten  ein  Fingerrechnen 
tmd  ein  instrumentales  Rechnen  in  Anspruch  nehmen,  allerdings  mehr 
auf  allgemeine  Notwendigkeit  als  auf  besondere  Zeugnisse  uns  stützend. 
Für  das  Fingerrechnen  steht  eine  vereinzelte  Notiz  zu  Gebote,  der 
Perser  Orontes  behaupte,  der  kleine  Finger  bedeute  sowohl  eine 
Myriade  als  Eins^),  sowie  die  Erwähnung  dieses  Verfahrens  bei  Schrift- 
stellern, welche  mit  der  Geschichte  jüdischer  Wissenschaft  sich  be- 
schäftigt haben  ^.  Noch  schlimmer  vollends  steht  es  mit  der  äußeren 
Begründung  des  babylonischen  Rechenbrettes,  für  welches  nur 
der  einzige  umstand  geltend  gemacht  werden  kann,  daß  bei  den 
Stämmen  Mittelasiens  bis  nach  China  hinüber  ein  Rechenbrett  mit 
Schnüren  zu  allen  Zeiten  in  Übung  gewesen  zu  sein  scheint,  während 
gerade  in  jener  Gegend  eine  Veränderung  der  Sitten  und  Gebräuche 
wenigstens  in  geschichtlich  genauer  bekannter  Zeit  so  gut  wie  nicht 
vorgekommen  ist,  während  andererseits  für  babylonisch-chinesische 
Beziehungen  ältester  Vergangenheit  neben  dem,  was  vorher  von  der 
Dauer  des  längsten  Tages  gesagt  wurde,  noch  eine  andere  bedeutungs- 
volle Ähnlichkeit  uns  nachher  bescl^ftigen  wird.  Gibt  man  uns  auf 
diese  ziemlich  unsichere  Begründung,  deren  einzige  Unterstützung  wir 
im  4.  Kapitel  in  einem  griechischen  Vasengemälde  erlangen  werden, 
zu,  daß  die  Babylonier  eines  Rechenbrettes  sich  bedient  haben  müssen, 
weil  diese  Annahme  schließlich  immer  noch  naturgemäßer  ist,  als 
wenn  man  voraussetzen  wollte,  es  seien  alle  Rechnungen  von  ihnen 
ohne  dergleichen  Hilfsmittel  vollzogen  worden,  so  schließen  wir 
folgendermaßen  weiter^).  Das  Rechenbrett,  auf  dessen  Schilderung 
wir  im  2.  Kapitel  zurückkommen  werden,  muß  naturgemäß  dem 
herrschenden  Zahlensystem  sich  anschließen,  und  wo  es  zwei  Zahlen- 
systeme gibt,  ein  Dezimal-  und  ein  Sexagesimalsystem,  da  müssen 
auch  zweierlei  Bretter  existiert  haben,  oder  aber  es  muß  die  Möglich- 
keit geboten  worden  sein  auf  demselben  Brette  bald  so,  bald  so  zu 
rechnen.  Die  Veränderung  bestand  im  letzteren  Falle  z.  B.  darin, 
daß  man  bald  mehrerer  bald  weniger  Rechenmarken  sich  bediente. 
So  forderte  das  Rechenbrett  des  Dezimalsystems  für  jede  Rangord- 
nung höchstens  9  Marken,  während  dasjenige  des  Sexagesimalsystems 


*)  Pott  n,  86  nach  Suidaa.  *)  Friedlein  in  der  Zeitßchr.  Mathem.  Phys. 
IX,  329.  ')  Vergl.  uuBere  Rezension  von  Opperts  Etaion  des  mesures  assyriennes 
in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XX,  Histor.  literar.  Abtlg.  161. 


42  1.  Kapitel. 

die  Notwendigkeit  in  sich  schloß  bis  zu  59  Einheiten  jeder  Rang- 
ordnung anlegen  zu  können.  Ebenso.yiele  Marken  auf  dem  Baume, 
welcher  für  je  eine  Rangordnung  bestimmt  war,  unmittelbar  zur  An- 
schauung zu  bringen  ist  geradezu  unmöglich.  Alle  Übersichtlichkeit 
und  mit  ihr  die  Brauchbarkeit  des  Rechenbrettes  ging  verloren,  wenn 
nicht  auf  ihm  in  diesem  Falle  innerhalb  des  Sexagesimalsjstems  das 
Dezimalsystem  zu  Hilfe  gezogen  wurde.  Das  aber  hatte  so  wenig 
Schwierigkeit,  daß  ähnliche  Vorrichtungen,  wie  wir  sie  jetzt  beschrei- 
ben wollen,  nur  in  etwas  veränderter  Anwendung  uns  wiederholt 
begegnen  werden.  Wir  denken  uns  in  jeder  Stufenabteilung  des 
Rechenbrettes  zwei  Unterabteilungen,  eine  obere  und  eine  untere. 
Jene  etwa  sei  für  die  Einer,  diese  für  die  Zehner  der  betreffenden 
Ordnung  bestimmt.  Jene  bedarf  zur  Bezeichnung  aller  vorkommen- 
den Zahlen  9,  diese  5  Marken.  Um  nun  die  obere  Abteilung  der 
ersten  Stufe  von  der  unteren  in  der  Sprache  zu  unterscheiden,  hatte 
man  die  althergebrachten  Namen  Einer  und  Zehner.  In  der  folgen- 
den Stufe  stand  für  die  Marken  der  oberen  Abteilung  der  Naipe  Soss, 
für  die  der  unteren  der  Name  Ner  zur  Verfügung,  beziehungsweise 
diese  Namen  wurden  zum  Zwecke  der  Benennung  der  Abteilungen 
erfunden.  In  der  dritten  Stufe  ist  uns  nur  Sar  als  Name  der  oberen 
Abteilung  bekannt.  Für  die  untere  Abteilung,  deren  Einheit  10  Sar 
oder  36000  betrug,  müßte,  wenn  unsere  Annahmen  richtig  sind, 
gleichfalls  ein  Wort  erfunden  worden  sein.  Freilich  ist  ein  solches 
noch  nicht  bekannt  geworden^  aber  auch  Rechnungen  sind  noch  nicht 
bekannt  geworden,  in  welchen  innerhalb  des  Rahmens  des  Sexagesi- 
malsjstems Zahlen  über  36  000  sich  ergaben  und  schriftlich  aufge- 
zeichnet werden  mußten;  solche  Rechnungen  dürften  überhaupt  zu 
den  Seltenheiten  gehöi*t  haben.  Eine  Zeitdauer  von  36000  Jahren 
scheint  Berosus  allerdings  den  Babyloniern  als  besonders  hervorge- 
hobenen Zeitraum  zuzuschreiben^). 

Wir  haben  die  Besprechung  einer  bedeutungsvollen  Ähnlichkeit 
zugesagt,  welche  auf  babylonisch -chinesische  Beziehungen  deute. 
Eigentlich  ist  es  eine  Ähnlichkeit  zwischen  Zahlenträumereien  der 
Griechen  und  der  Chinesen.  Bei  Plutarch  wird  den  Pythagoräem 
nacherzählt,  die  sogenannte*  Tetraktys  oder  36  sei,  wie  ausgeplaudert 
worden  ist,  ihr  höchster  Schwur  gewesen;  man  habe  dieselbe  auch 
das  Weltall  genannt  als  Vereinigung  der  vier  ersten  Geraden  und 
Ungeraden «),  d.  h.  36  «  2  -h  4  +  6  -|-  8  -f-  1  -f  3  -f  5  +  7.  Diese 
heilige  Vierzahl  läßt  Plutarch  an  einer  zweiten  Stelle  durch  Piaton 


^)  Biandis,  Das  Münz-,  Maß-  und  Gewichtssyetem  in  Yorderasien  S.  11. 
*)  Plutarch,  De  Iside  et  Osiride.  75. 


Die  Babjlonier.  43 

zu  40  er^Lnzt  werden^).  Gewiß  ist  dieses  eine  onfrachtbare  und 
darum  nicht  naturgemäß  sich  wiederholende  Spielerei.  TJm  so  auf- 
fallender  muß  es  erscheinen^  wenn  in  China  das  erstere  System  dem 
Kaiser  Fu  hi,  das  zweite  yoUkommenere  dem  Oü  wang,  dem  Vater 
des  Kaisers  Oü  wäng^  der  um  1200  y.  Chr.  regiert  haben  soll;  als 
Erfinder  zugewiesen  wird  ^).  Chinesische  Bückdatiemngen  sind  zwar, 
wie  wir  seinerzeit  erörtern  müssen,  yon  Zuyerlässigkeit  weit  ent- 
fernt. Wir  legen  den  Jahreszahlen  als  solchen  deshalb  hier  keinen 
sonderlichen  Wert  bei,  aber  um  so  mehr  der  Übereinstimmung  sinn- 
loser Traumereien  in  so  weit  entlegener  Oegend.  Selbst  die  nicht  zu 
yemachlässigende  Tatsache,  daß  die  vervollkommnete  Tetraktjs  mit 
jener  runden  Zahl  40  übereinstimmt  (S.  34),  die  den  ältesten  hebräi- 
schen Si^en  vorzugsweise  anzugehören  schien,  kann  uns  in  der  Ver- 
mutung nicht  irre  machen,  daß  wir  es  hier  mit  einem  Stücke  baby- 
lonischer Zahlensymbolik  zu  tun  haben,  welches  nach  Westen 
und  nach  Osten  sich  fortgepflanzt  hat. 

Babylonische  Zahlensymbolik  selbst  ist  über  allen  Zweifel  ge- 
sichert. Träumereien  über  den  Wert  der  Zahlen  nahmen  unter  den 
religions- philosophischen  Begriffen  der  Chaldäer  einen  bedeutsamen 
Platz  ein.  Jeder  Oott  wurde  durch  eine  der  ganzen  Zahlen 
zwischen  1  und  60  bezeichnet,  welche  seinem  Range  in  der 
himmlischen  Hierarchie  entsprach.  Eine  Tafel  aus  der  Bibliothek 
von  Ninive  hat  uns  die  Liste  der  hauptsächlichsten  Götter  nebst 
ihren  geheimnisvollen  Zahlen  aufbewahrt.  Es  scheint  sogar,  als  sei 
gegenüber  dieser  Stufenleiter  ganzer  Zahlen,  die  den  Göttern  beigelegt 
wurden,  eine  andere  von  Brüchen  vorhanden  gewesen,  welche  sich 
auf  die  Geister  bezogen  und  gleichfalls  ihrem  jeweiligen  Range  ent- 
sprachen *). 

Als  weitere  Stütze  mögen  die  zahlensymbolischen  Träumereien 
im  VU.  und  VIII.  Kapitel  des  Buches  Daniel  angeführt  sein,  eines 
Buches,  das  unter  dem  ersichtlichen  Einflüsse  babylonischer  Denk- 
art geschrieben  ist.  Ähnliches  erhielt  sich  auf  dem  Boden  Palästinas 
Jahrhunderte  lang,  wobei  wir  nur  auf  die  Offenbarung  Johannes 
als  Beispiel  hinweisen  wollen.  Wir  könnten  aber  auch  auf  die  jüdische 
Kabbala  einen  Fingerzeig  uns  gestatten,  die,  so  spät  auch  das  Buch 
Jezirah  und  andere  kabbalistische  Schriften  verfaßt  sein  mögen,  der 
Überlieferung  nach  bis  in  die  Zeit  des  Exils  hinaufzureichen  scheint. 
Kabbalistisch  ist  die  sogenannte   Gematria,   wenn  ein  Wort  durch 

^)  Plutarch,  De  animae  procreatione  in  Timaeo  Piatonis  14.  •)  Mon- 
tucla,  Hiataire  des  matfUmatiques  I,  124,  wo  anch  auf  die  Ähnlichkeit  mit  den 
Stellen  bei  Plutarch  aufinerksam  gemacht  ist.  ')  F.  Lenormant,  La  magie 
chez  les  ChaUeem.    Paris  1874,  pag.  24. 


44  1.  Kapitel. 

das  andere  ersetzt  wurde  unter  der  Voraussetzung^  daß  die  Buchstaben 
des  einen  Wortes  als  Zahlzeichen  betrachtet  dieselbe  Summe  gaben^ 
wie  die  des  anderen  Wortes.  Über  diese  Zahlenbedeutung  hebräischer 
Buchstaben  und  ihr  vermutliches  Alter  werden  wir  zwar  erst  im 
vierten  Kapitel  im  Zusammenhange  mit  ahnlichem  Gebrauche  der 
Syrer,  der  Ghriechen  handehi  und  können  um  einiger  Beispiele  willen 
unseren  Gang  nicht  unterbrechen;  es  sei  trotzdem  gestattet  hier  die 
Kenntnis  jener  Bezeichnungsart  fär  einen  Augenblick  vorauszusetzen. 
Gematrie  ist  es,  wenn  das  jüdische  Jahr  355  Tage  zählte  und  damit 
in  Verbindung  gebracht  wurde,  daß  die  Buchstaben  des  uralten  ursprüng- 
lich eine  Wiederholung  bedeutenden  Wortes  Jahr  JiDID  «=  5  +  50  +  300 
genau  355  ausmachen.  Gematrie  macht  sich  in  den  Bibelkommen- 
taren breit.  Als  nun  Abram  hörte,  heißt  es  in  der  Heiligen  Schrift^ 
daß  sein  Bruder  gefangen  war,  wappnete  er  seine  Knechte,  318  in 
seinem  Hause  geboren  und  jagte  ihnen  nach  bis  gen  Dan^).  Die 
Erklärer  wollen,  der  Überlieferung  folgend,  318  sei  hier  statt  des 
Namens  Elieser  gesetzt,  der  in  der  Tat  ntr^bK  «200+7  +  70+10 
+  30  +  1  =  318  gibt,  wenn  man  von  dem  Gesetze  der  Größenfolge 
Umgang  nimmt  und  nur  den  Zahlenwert  der  einzelnen  Buchstaben, 
wie  sie  auch  durcheinander  gewürfelt  erscheinen  mögen,  beachtet. 
Im  Propheten  Jesaias  verkündet  der  Löwe  den  Fall  Babels*).  Die 
Erklärer  haben  wieder  die  Buchstaben  des  Wortes  Löwe  ST^I»  = 
5  +  10  +  200  +  1  =  216  addiert.  Die  gleiche  Summe  geben  die 
Buchstaben  pipnn  =  100  +  6  +  100  +  2  +  8  =  216  und  somit  sei 
Habakuk  mit  diesem  Löwen  gemeint.  Ja  eine  Spur  solcher  Gematrie 
wiU  man  bereits  in  einer  Stelle  des  Propheten  Sacharja  erkannt 
haben  '),  und  wäre  die  uns  einigeimaßen  gekünstelt  vorkommende  Er- 
klärung richtig,  so  wäre  damit  schon  im  VH.  vorchristlichen  Jahr- 
hundert ein  arithmetisches  Experimentieren,  wäre  zugleich,  was  viel- 
leicht noch  wichtiger  ist,  für  eben  jene  Zeit  die  Benutzung  der  hebräi- 
schen Buchstaben  in  Zahlenbedeutung  nachgewiesen.  Wir  ziehen  zu- 
nächst nur  den  Schluß,  um  dessenwillen  wir  alle  diese  Dinge  vereinigt 
haben,  daß  die  Babylonier  in  ältester  Zeit  Zahlenspielereien  sich  hinzu- 
geben liebten,  die  bei  ihnen  einen  allerdings  ernsten  mi^schen  Cha- 
rakter trugen,  und  daß  von  ihnen  ähnliches  zu  anderen  Völkern 
übergegangen  ist. 

Es  ist  keineswegs  unmöglich,  daß  aus  den  magischen  Anfangen 
sich  die  Beachtung  von  merkwürdigen  Eigenschaften  der  Zahlen  ent- 
wickelte, daß  eine  Vorbedeutungsarithmetik  bei  ihnen  sich  zur  Kennt- 


»)  I.  Mose  14,  14.      *)  Jesaias  21,  8.      »)  Vgl.  Hitzig,  Die  zwölf  kleinen 
Propheten  S.  378  flgg.  zu  Sacharja  12,  10. 


Die  Babylonier.  45 

nis  zahlentheoretißcher  Gesetze  erhob.  Wissen  wir  doch,  woran  wir 
hier  zusammenfassend  erinnern  wollen,  von  dem  Vorkommen  eines 
aasgebildeten  Sexagesimalsystems,  von  der  Benutzung  arithmetischer 
und  geometrischer  Reihen,  Ton  der  Bekanntschaft  mit  Quadrat-  und 
Eubikzahlen  in  alt-babylonischer  Zeit,  und  auch  gewisse  Teile  der 
Proportionenlehre  sollen,  wie  wir  yorgreifend  erwähnen,  griechischer 
Überlieferung  gemäß  aus  Babylon  stammen. 

Mit  der  Lehre  Yon  den  Vorbedeutungen  ist  überhaupt  die  baby- 
lonische Wissenschaft  aufs  engste  rerknüpft  gewesen.  Vorbedeutungen 
zu  suchen  war,  wie  wir  an  jenem  zu  König  Sargons  Zeiten  ver- 
fertigten Kalender  gesehen  haben,  ein  wesentlicher  Zweck  der  Be- 
obachtungen Yon  HimmelsYoi^ngen.  Neben  dem  Aufsuchen  yon 
Vorbedeutungen  widmete  sich  die  Priesterschaft  des  Landes  dem  Her- 
Torbringen  yon  Ereignissen;  sie  trachtete  das  Böse  abzuwenden  und 
teils  durch  Reinigungen,  teils  durch  Opfer  oder  Zauberei  zum  Outen 
zu  verhelfen  ^).  Die  Priesterschaft  des  medischen  Nachbarvolkes  be- 
stand ebenfalls  aus  gewerbmäßigen  Hexenmeistern,  und  sie,  die 
Magusch,  vererbten  ihren  Namen  auf  die  Mi^ie'),  wie  in  Rom  der 
Name  Chaldäer  gleichbedeutend  war  mit  Sterndeuter,  Wahrsager,  ge- 
legentlich auch  mit  Giftmischer.  Schon  im  Jahre  139  v.  Chr.  wurden 
deshalb  nach  der  genauen  Angabe  des  Valerius  Maximus  die  Chal- 
däer aus  Rom  verwiesen').  Die  Wahrsagung  beschränkte  sich  keines- 
wegs auf  die  Beobachtung  der  Gestirne,  deren  Einfluß  auf  das 
menschliche  Geschick  man  zu  kennen  wähnte.  Die  Punktierkunst^) 
der  persischen  Zauberer,  vielfach  erwähnt  in  den  Märchen  der  Tausend 
und  eine  Nacht  und  darin  bestehend^  daß  auf  ein  mit  Sand  über- 
decktes Brett  Punkte  und  Striche  gezeichnet  wurden,  deren  Ver- 
schiebungen und  Veränderungen  infolge  eines  Anstoßes  an  den  Rand 
des  Brettes  beobachtet  wurden,  diese  Kunst,  die  sich  erhalten  hat  in 
dem  Wahrsagen  aus  dem  Kaffeesatze,  die  verwandt  ist  dem  Bleigießen 
in  der  Neujahrsnacht,  welches  da  und  dort  noch  heute  geübt  wird, 
sie  dürfte  selbst  bis  in  die  babylonische  Zeit  hinaufragen.  Wenig- 
stens ist  es  sicher,  daß  es  eine  Vorbedeutungsgeometrie  in  Ba- 
bylon gab.     Wir  besitzen  die  Übersetzung  einer  solchen^),  und  wenn 

*)  Diodor  II,  29,  3.  •)  Maßpero-Pietschmann,  S.  466.  ■)  Fischer, 
Römische  Zeittafeln  (Altona  1846)  S.  134  mit  Beziehung  auf  Yalerius  Maximas 
lib.  I,  cap.  3,  §2.  ^)  Alex,  von  Humboldt  in  seinem  Aufsätze  über  Zahl- 
zeichen nsw.  (Crelles  Journal  lY,  216  Note)  nennt  diese  Kunst  raml  und  ver- 
weist dafür  auf  Richardson  und  Wilkins,  Dictum.  Persian  and  Arahic  1806, 
T.  I,  pag.  482.  Vgl.  über  die  Punktierkunst  auch  Steinschneider,  Zeitschr.  d. 
morgen].  Gesellsch.  XXV,  396  u.  XXXI,  762  flgg.  ^)  Babylonüm  augury  hy  meam 
of  geometricdl  figurea  by  A.  R.  Sajce  in  den  Transaetions  ofthe  soeiety  of  bibliccU 
ar^haeology  IV,  302—314. 


46  1.  Kapitel. 

uns  schon  die  Neigung  bemerkenswert  erscheint  Vorbedeutungen 
aus  allem  zu  entnehmen^  was  in  irgendwie  wechsehiden  Verbindungen 
auftritt^  so  müssen  wir  andererseits  auch  die  vorkommenden  Figuren 
prüfen,  deren  Kenntnis  die  Babylonier  somit  sicherlich  besaßen,  eine 
Kenntnis,  die  als  Anfang  der  Geometrie  gelten  darf,  so  wie  wir  bei 
den  Ägyptern  zu   ähnlichem   Zwecke   alte   Wandzeichnungen    durch- 

mustern  werden.   In  jener  Vorbedeutungsgeometrie 

sind  insbesondere  folgende  Figuren  hervorzuheben. 

Fig.  1.  Ein  Paar  Parallellinien  (Fig.  1),  welche  als  dop- 

pelte Linien  benannt  werden;  ein  Quadrat  (Fig.  2); 


Fig.  2.  Fig.  3.  Fig.  4. 

eine  Figur  mit  einspringendem  Winkel  (Fig.  3);  eine  nicht  ganz  voll- 
standig  vorhandene  Figur,  welche  der  Übersetzer  zu  drei  einander 
umschließenden  Dreiecken  (Fig.  4)  zu  ergänzen  vorschlägt  ^).  Ob 
auch  ein  rechtwinkliges  Dreieck  vorkommt,  ist  nicht  mit  ganzer 
Sicherheit  zu  erkennen,  aber  wahrscheinlich.  Von  Interesse  ist  im 
verbindenden  Texte  das  sumerische  Wort  tim,  welches  Linie,  ursprüng- 
lich aber  Seil  bedeutete,  so  daß  es  nicht  zu  dem  Unmöglichkeiten  gehört, 
es  habe  eine  Art  von  Seilspannung,  vielleicht  freilich  nur  ein  Messen 
mittels  des  Seiles,  wofür  Vermutungsgründe  uns  sogleich  bekannt 
werden  sollen,  in  Babylon  stattgefunden.  Von  hoher  Wichtigkeit  ist 
femer  ein  in  jenem  Texte  benutztes,  aus  drei  sich  symmetrisch  durch- 
kreuzenden Linien  bestehendes  Zeichen  >|<,  welches  der  Herausgeber 
durch  „Winkelgrad"  übersetzt  hat.  Diese  Übersetzung  ist  gerecht- 
fertigt durch  anderweitiges  Vorkommen  und  gestattet  selbst  weit- 
gehende Folgerungen. 

Im  britischen  Museum  befindet  sich  ein  als  K  162  bezeichnetes 
Bruchstück,  welches  einem  babylonischen  Astrolabium  oder  ähn- 
lichem angehört  hat  und  welches  in  vier  Fächern  mit  Inschriften  in 
Keilschrift  bedeckt  ist.  Die  Bedeutung  dieser  Inschriften  kann  nicht 
anders  lauten  ^)  als  daß  in  zwei  Monaten,  deren  Name  angegeben  ist, 
der  Ort  von  vier  Sternen,  zwei  Sterne  in  dem  einen,  zwei  in  dem 
anderen  Monate,  aufgezeichnet  ist,  und  diese  Örter  heißen  140  Grad, 
70  Grad,  120  Grad,  60  Grad  nach  Sayces  Übersetzung.  Der  Grad 
ist  auch  hier  in  allen  vier  Fällen  durch  das  Zeichen  der  drei  ein- 


^)  Privatmitteilung  yon  H.  Sayce  ebenso  wie  die  nachfolgende  Bemerkung 
über  das  rechtwinklige  Dreieck.     •)  Privatmitteilung  von  H.  Sayce. 


Die  Babylonier.  47 

ander  schneidenden  Linien  ausgedrückt  Nehmen  wir  aber  diese  Über- 
setzung einmal  als  richtig  an,  so  ist  in  ihr  eine  Bestätigung  unserer 
Meinung  über  geometrische  Benutzung  des  Sexagesimalsjstems  enthalten. 
Bei  der  Zählung  der  Winkelgrade,  deren  360  auf  der  Kreisperipherie 
zu  unterscheiden  sind,  faßte  man,  meinen  wir,  je  60  in  eine  neue 
Bogeneinheit  zusammen,  welche  m&n  erhielt,  indem  man  den  Halb- 
messer sechsmal  auf  dem  Umkreise  herumtrug.  Für  die  erste  Hälfiie 
unserer  Behauptung  gibt  es  keine  bessere  Stütze  als  jenes  Grad- 
zeichen. Die  drei  symmetrisch  gezeichneten  Linien  teilen  ja  d^n  um 
den  gemeinsamen  Schnittpunkt  befindlichen  Raum  in  sechs  gleiche 
Teile  und  lassen  damit  jeden  dieser  sechs  Teile  als  besonders  wichtig 
hervortreten! 

Auch  an  weiterer  Bestätigung  dafür,  daß  den  Babyloniem  die 
Sechsteilung  des  Kreises  bekannt  war,  fehlt  es  nicht.  Wir  werden 
im  3.  E^apitel  sehen,  daß  auf  ägyptischen  Wandgemälden  es  gerade 
asiatische  Tributpflichtige  sind,  welche  auf  ihren  überbrachten  Ge- 
fäßen Zeichnungen  haben,  bei  welchen  der  Kreis  durch  sechs  Durch- 
messer in  zwölf  Teile  geteilt  ist.  Übereinstimmend  zeigen  niniyi- 
tische  Denkmäler  in  ihren  Abbildungen  des  Königswagens  dessen 
Bäder  mit  sechs  Speichen  versehen  ^)  (Fig.  5).  Endlich  ist  damit  in 
Einklang  die  Dreiteilung  eines  rechten  Winkels, 
welche  auf  einer  assyrischen  Tontafel  geometrischen 
Inhaltes  durch  G.  Smith  entdeckt  worden  ist,  bevor 
er  seine  letzte  Reise,  von  welcher  er  nicht  mehr  heim- 
kehren sollte,  nach  den  Euphratländem  antrat;  eine 
Entdeckung,  aus  welcher  weitere  Folgerungen  zu 
ziehen  nicht  gestattet  ist,  bevor  der  ganze  Text  der  ^^^'  ** 

Öffentlichkeit  übergeben  ist.  Darauf  aber  wird  man,  wie  zu  befürchten 
steht,  noch  lange  warten  müssen,  da  die  betreffende  Tafel  seit  der 
Abreise  ihres  Entdeckers  nicht  wieder  gesehen  worden  ist,  also  ver- 
mutlich durch  ihn  in  irgend  eine  Ecke  für  künftiges  Studium  bei- 
seite gestellt,  eines  Zufalles  harret,  der  gerade  auf  sie  unter  den 
zahllos  vorhandenen  Tafeln  die  Aufmerksamkeit  lenkt. 

Ist  aber  nunmehr  die  Sechsteilung  des  Kreises  als  bewußte  geo- 
metrische Arbeit  der  Babylonier  außer  Zweifel  gesetzt,  so  wird  man 
auch  unsere  Behauptung,  die  Sechsteilung  sei  durch  Herumtragen 
des  Halbmessers  erfolgt,  habe  also  die  Kenntnis  des  Satzes  von  der 
Seite  des  regelmäßigen  Sechsecks   mit    eingeschlossen,  in  den  Kauf 


*)  Niniveh  and  ite  remayns  hy  A.  H.  Layard.  London  1849.  I,  387. 
Weitere  Abbildungen  von  sechsspeichigen  Rädern  bei  Bezold,  Ninive  und  Ba- 
bylon Fig.  17,  46,  62,  98  anf  Seite  22,  Ö8,  66,  128. 


48  1.  Kapitel. 

nehmen  müssen.  Es  ist  nun  einmal,  außer  im  Zusammenhang  mit 
diesem  Satze^  ein  Grund  zur  geometrischen  Sechsteilung  des  Kreises 
nicht  vorhanden.  Außerdem  sind  wir  imstande  eine  Bestätigung  aus 
biblischer  Nachahmung  anzuführen.  Wenn  man,  ohne  mathematische 
Kenntnisse  zu  besitzen,  sah,  daß  der  Halbmesser  6 mal  auf  dem 
Kreisumfange  als  Sehne  herumgetragen  nach  dem  Ausgangspunkte 
zurückftihrty  so  lag  es  sehr  nahe  Sehne  und  Bogen  zu  yerwechseln 
und  zur  Annahme  zu  gelangen,  der  Kreisumfang  selbst  sei  6  mal  der 
Halbmesser,  beziehungsweise  3  mal  der  Durchmesser.  Das  gab  die 
erste,  freilich  sehr  ungenaue  Rektifikation  einer  krummen  Linie, 
mit  sr  »  3. 

Diese  Formel  findet  sich  nun  angewandt  bei  der  Schilderung  des 
großen  Waschgefaßes,  das  unter  dem  Namen  des  ehernen  Meeres 
bekannt  eine  Zierde  des  Tempels  bildete,  welchen  Salomo  von  1014 
bis  1007  erbauen  ließ  ^).  Von  diesem  Gefäße  heißt  es:  Und  er 
machte  ein  Meer,  gegossen,  10  Ellen  weit  yon  einem  Rande  zum 
andern,  rund  umher,  und  5  EUen  hoch,  imd  eine  Schnur  30  Ellen 
lang  war  das  Maß  ringsum  *).  Dabei  ist  oflfenbar  30  =  3  x  10. 
Mögen  nun  die  Bücher  der  Könige  erst  um  das  Jahr  500  y.  Chr.  ab- 
geschlossen worden  sein,  so  ist  doch  unbestritten,  daß  in  dieselben 
ältere  Erinnerungen,  wohl  auch  ältere  Aufzeichnungen  Au&ahme 
fanden,  und  so  kann  insbesondere  die  Erinnerung  an  eine  Schnur,  mit 
deren  Hilfe  Längenmessungen  vorgenommen  wurden,  kann  die  Erinne- 
rung an  die  Maße  des  ehernen  Meeres,  ^n  den  Durchmesser  10  bei 
einem  Kreisumfange  30,  eine  sehr  alte  sein.  Die  letztere  hat  sich 
auch  nach  abwärts  durch  yiele  Jahrhunderte  fortgeerbt,  und  der  Tal- 
mud wendet  in  der  Mischna  die  Regel  an:  Was  im  Umfang  3  Hand- 
breiten hat,  ist  1  Hand  breit  *).  Zugleich  aber  liefert  die  angeführte 
Bibelstelle  den  Beweis,  daß  der  Umfang  von  30  Ellen  wirklich  aus 
3  mal  10  berechnet  und  nicht  etwa  infolge  ungenauer  Messung 
gefunden  worden  ist.  Eine  messende  Schnur  mußte  jedenfalls  um 
den  äußeren  Rand  des  ehernen  Meeres  herumgelegt  werden  und  wäre 
etwa  31  Vj  Ellen  lang  gewesen,  wenn  der  Durchmesser  von  10  Ellen 
sich  gleichfalls  auf  die  Ausdehnung  bis  zur  äußeren  Randgrenze  be- 
zog. War  aber,  was  bei  tatsächlicher  Messung  fast  wahrscheinlicher 
ist,  der  innere  Durchmesser  10  Ellen  lang,  so  konnte  eine  Meßschnur 
ringsherum    leicht   eine   Länge    von    32  Ellen    und   mehr   erfordern. 


')  Die  Datierung  nach  Oppert:  Salomon  et  ses  successeurs  in  den  ÄnnaUs 
de  phäosophie  chritienne  T.  XI  u.  XÜ  1876.  *)  I.  Könige  7,  23  und  ü.  Chronik  4,  2. 
■)  Zuerst  berücksichtigt  in  unserer  Besprechung  von  Oppert,  Etahn  des  mesurea 
assyriennes  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XX,  histor.-literar.  Abtlg.  164. 


Die  Babylonier.  49 

Es  ist  daher  unmöglich,  daß  es  dann  30  Ellen  hieße,  wie  es  der 
FaU  ist. 

Nachdem  wir  för  die  geometrischen  Kenntnisse  der  Babylonier  auf 
Schriftsteller  zweiter  Überlieferung  einmal  eingegangen  sind,  wollen 
wir  noch  einige  ähnlich  yerwertbare  Stellen  auüsuchen.  Eine  solche 
Stelle  fQhren  wir  nur  an,  um  sie  sogleich  zu  rerwerfen.  Bei  der  Be- 
schreibung des  Salomonischen  Tempelbaues  heißt  es  nach  Luthers 
Übersetzung:  Und  am  Eingange  des  Chors  machte  er  zwei  Türen 
Yon  Ölbaumholz  mit  fünfeckigen  Pfosten^).  Danach  wäre  an 
eine  Kenntnis  des  Fünfecks,  mutmaßlich  des  regelmäßigen  Fünfecks 
in  Yorderasien  in  sehr  alter  Zeit  zu  denken.  Da  die  Konstruktion 
des  regelmäßigen  Fünfecks  eine  yerhältnismäßig  bedeutende  Summe 
geometrischer  Sätze  als  Vorbedingung  enthält,  so  wäre  diese  Tatsache 
um  so  überraschender,  als  nirgend  auf  asiatischen  Denkmälern  bei 
eifrigstem  Suchen  in  den  betreffenden  Kupferwerken  ein  Fünfeck  yon 
uns  aufgefmiden  worden  ist.  Die  Stelle  selbst  ist  aber  von  Luther 
falsch  übersetzt,  und  so  dunkel  ihr  Sinn  ist,  die  Bedeutung,  daß  yon 
einem  Fünfecke  irgendwie  die  Bede  sei,  hat  sie  sicherlich  nicht'). 

Um  so  häufiger  ist  yon  yiereckigen  Figuren  in  der  Bibel  die 
Rede  und  zwar  yon  Quadraten  sowie  yon  Rechtecken.  Es  ist  yiel- 
leicht  zum  Vergleiche  mit  noch  zu  erwartenden  Entzifferungen  baby- 
lonischer Texte  nützlich  das  Augenmerk  auf  die  Maßzahlen  dieser 
biblischen  Rechtecke  *)  zu  richten.  Das  Verhältnis  3  zu  4  für  zwei 
senkrecht  zueinander  zu  denkende  Abmessungen,  oder  auch  10  mal  3 
zu  4,  3  zu  5  mal  4  kommt  wiederholt  yor,  und  wenn  wir  nicht  yer- 
schweigen  wollen  noch  dürfen,  daß  ein  Rechteck  yon  3  zu  5  ebenfalls 
an  häufigeren  Stellen  sich  bemerklich  macht,  so  ist  doch  nicht  aus- 
geschlossen, daß  jene  ersterwähnten  Maßzahlen  3  zu  4  dazu  dienten, 
einen  rechten  Winkel  mittels  des  Dreiecks  yon  den  Seiten  3,  4,  5  zu 
sichern.  Wenigstens  wird  die  Kenntnis  dieses  letzteren  Dreiecks  in 
China  yon  uns  nachgewiesen  werden. 

Dafür  aber,  daß  die  Babylonier  den  rechten  Winkel  kannten, 
und  zwar  nicht  bloß  als  in  der  Baukunst  zur  Anwendung  kommend, 
sondern  als  der  Geometrie,  der  Astronomie  dienstbar,  sind  Beweis- 
gründe zur  Genüge  yorhanden.  Wir  erinnern  an  das  wahrscheinlich 
gemachte  Vorkommen  des  rechten  Winkels  in  jener  yon  Sayce  über- 


')  I.  Könige  6,  81.  *)  Wir  berufen  nns  für  diese  Behauptung  auf  münd- 
liche Mitteilungen  von  Prof.  Dr.  A.  Merx.  Allioli  hat  die  Stelle  übersetzt 
,,mit  Pfosten  von  fünf  Ecken"  und  die  Erklärung  beigefügt,  die  Tüipfbsten  bil- 
deten dadurch  fünf  Ecken,  dafl  über  der  viereckigen  Türe  noch  ein  dreieckiger 
Giebel  angebracht  war.  ')  U.  Mose  86,  16  und  21;  37,  10;  39,  9—10.  I.  Könige 
7,  27  und  häufiger. 

Gaktor,  Geschichte  der  Mathematik  I.  S.  Aufl.  4 


50  1-  Kapitel. 

setzten  Yorbedeutungsgeometrie.  Wir  erinnern  an  die  den  rechten 
Winkel  selbst  voraussetzende  Dreiteilung  desselben.  Wir  haben 
femer  den  ausdrücklichen  Bericht  Herodots,  daß  von  Babylon  her 
die  Hellenen  mit  dem  Polos  und  dem  Gnomon  bekannt  geworden 
seien  ^).  Mag  man  auch  nicht  mit  aller  Sicherheit  wissen,  welcherlei 
Vorrichtungen  unter  diesen  Namen  yerstanden  wurden,  soviel  ist 
gewiß,  daß  es  bei  ihnen  um  Zeiteinteilung  mittels  der  Länge  des 
von  der  Sonne  erzeugten  Schattens  sich  handelte,  daß  also  ein  Stab 
senkrecht  zu  einer  Grundfläche  aufgerichtet  werden  mußte.  Der 
Übergang  des  Gnomon  zu  den  Griechen  fand  von  Babylon  aus  statt, 
wann,  ist  zweifelhaft.  Ein  Berichterstatter  nennt  Anaximander  als 
den,  der  um  550  den  Gnomon  einführte');  ein  anderer  nennt  uns 
dafür  Anaximenes^);  ein  dritter  nennt  gar  erst  Berosus  als  Er- 
finder der  Sonnenuhr  ^),  womit  nur  jener  Chaldäer  gemeint  sein  kann, 
welcher  unter  Alexander  dem  Großen  geboren  um  280  v.  Chr.  seine 
Blütezeit  hatte  und  als  Historiker  am  bekanntesten  ist,  wenn  auch 
das  Altertum  ihn  vorzüglich  als  Astrologen  und  um  seiner  auf  der 
Insel  Kos  gegenüber  von  Milet  gegründeten  und  stark  besuchten 
Schule  w^en  rühmte^).  Älterer  Zeit  als  diese  Angaben  gehört  der 
biblische  Bericht  an,  welcher  von  einer  Sonnenuhr  zu  erzählen  weiß. 
Er  geht  hinauf  bis  auf  König  Ahas  von  Juda,  dessen  Regierung  von 
743 — 727  währte  *).  Wenn  in  jenem  Berichte  der  Schatten  am  Zeiger 
Ahas  10  Stufen  (oder  Gh*ade)  hinter  sich  zurückging,  die  er  war 
niederwärts  gegangen,  so  ist  diese  Beschreibung  von  größter  Deut- 
lichkeit, mag  man  über  das  beschriebene  Ereignis  selbst  denken,  wie 
man  will.  Wir  könnten  auf  eben  diese  Stelle  zum  Überflusse  noch 
hinweisen,  um  sie  als  Beleg  altasiatischer  Kreiseinteilung  zu  ];)enutzen, 
wenn  ein  solcher  Beleg  noch  irgend  erwünscht  scheinen  soUte. 

Fassen  wir  wieder  zusammen,  was  auf  geometrischem  Gebiete 
den  Babyloniem  bekannt  gewesen  ist,  so  haben  wir  Gewißheit  für 
die  Teilimg  des  Kreises  in  6  Teile,  dann  in  360  Grade,  Gewißheit 
für  die  Kenntnis  von  Parallellinien,  von  Dreiecken,  Vierecken,  Ge- 
wißheit für  die  Herstellung  rechter  Winkel.  Wahrscheinlich  ist  die 
Kenntnis  der  Gleichheit  zwischen  Halbmesser  und  Seite  des  dem 
Kreise  eingeschriebenen   regelmäßigen  Sechsecks,    wahrscheinlich  die 


')  Herodot  ü,  109.  *)  Suidas  b.  v.  'Avcc^ifiavdQog.  »)  PliniuB  Historta 
naturalia  II,  76.  *)  Vitrnvius  IX,  9.  *)  Die  von  Bailly,  Histoire  de  Vastro- 
namie  ancienne.  Paris  1775,  Livre  IV,  §  35  und  36  ausgehende  Meinung,  als 
seien  zwei  Berosus  zu  unterscheiden,  der  von  Eos  und  der  Historiker,  ist  von 
neueren  Fachgelehrten  entschieden  verworfen.  Vgl.  Häbler,  Astrologie  im 
Alterthum  (1879),  S.  14—16.  ^)  Jesaia  38,  8  und  II.  Könige  20,  11.  Die  Datie- 
rung nach  Oppert,  Salamon  et  aes  succesaeurs. 


Die  Babylonier.  51 

Benntzung  des  Näherangswertes  ;r « 3  bei  Bemessung  des  Kreis- 
timfanges.  Möglich  endlich  ist  die  Prüfung  rechter  Winkel  durch 
die  Seitenlangen  des  ein  für  allemal  bekannten  Dreiecks  3^  4,  5. 

Die  Hoffnung  bleibt  für  Babylon  wie  für  Ägypten  nicht  aus- 
geschlossen, daB  Aufündung  und  Entzifferung  neuer  Denkmäler  es 
noch  gestatten  werden,  die  kaum  erst  seit  wenigen  Jahrzehnten  fester 
gestützte  Geschichte  der  Geistesbildung  jener  Länder  umfassender  zu 
gestalten.  Für  die  Geschichte  der  Mathematik  in  den  Euphratländem 
bergen,  wie  wir  schon  gesagt  haben,  yielleicht  die  Schutthügel  von 
Senkereh  noch  unschätzbares.  Es  muß  wohl  die  Mathematik  dort 
eine  erzählenswerte  Geschichte  erlebt  haben,  wenn  wir  auch  nur 
daraus  schließen,  daß  sie  alten  Schriftstellern  würdig  däuchte  sich 
mit  ihr  zu  beschäftigen.  So  wird  berichtet,  ein  gewisser  Perigenes 
habe  über  die  Mathematiker  Ton  Chaldäa  geschrieben^),  wenn  diese 
Lesart  der  an  sich  viel  weniger  wahrscheinlichen  „über  die  Mathe- 
matiker Ton  Ghalcidien'^  Torzuziehen  ist,  und  Mathematisches  enthielt 
jedenfalls  auch  das  umfassende  Werk  des  Jamblichus  Ton  Chalcis 
über  Chaldäisches,  aus  dessen  28.  Buche  eine  Notiz  sich  erhalten 
hat*).  Nur  um  Mißyerständnissen  vorzubeugen,  welche  auch  bei 
sonst  zuverlässigen  Schriftstellern  sich  Torfinden,  sei  hier  bemerkt, 
daß  mit  diesem  wissenschaftlichen  Werke  des  Jamblichus  Ton  Chalcis 
über  Chaldäisches,  welches  gegen  Ende  des  lY.  S.  n.  Chr.  geschrieben 
«ein  muß,  der  Roman,  welcher  unter  dem  Titel  „Babylonisches^'  in 
der  zweiten  Hälfte  des  II.  S.  n.  Chr.  auch  Ton  einem  Jamblichus') 
verfaßt  worden  ist,  ja  nicht  verwechselt  werden  darf. 


*)  NesBelmann,  Die  Algebra  der  Griechen,  S.  1—2.  •)  Zeller,  Die  Phi- 
losophie der  Oriechen  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung,  in.  Teil,  2.  Abtlg. 
2.  Anfl.  Leipzig  1868,  S.  616.  ')Erw.  Rohde,  Der  griechische  Boman  und 
seine  Vorläufer.    Leipzig  1876,  S.  364  figg. 


4* 


n.  Ägypter. 


2.  Kapitel. 
Die  Ägypter.    Arithmetisches. 

Die  älteste  einigermaßen  ausgiebige  mathematische  Literatur,  über 
welche  man  zurzeit  verfügt,  ist  die  ägyptische.  Mag  man  die  Tor- 
handenen  Schriften  als  Handbücher  oder  als  Schülerhefte  betrachten, 
fQr  den  Nutzen,  den  sie  uns  gewähren,  gilt  das  gleich.  Sie  sind  ein- 
mal vorhanden,  und  wir  haben  uns  mit  ihnen  zu  beschäftigen,  haben 
vorher  weniges  über  ägyptische  Kultur  vorauszuschicken.  Ägypten 
sei  ein  GFeschenk  des  Nils,  sagt  Herodot  ^),  und  derselbe  Schriftsteller 
leitet  an  einer  anderen  Stelle'),  die  uns  noch  beschäftigen  wird,  die 
Erfindung  der  Geometrie  aus  der  Notwendigkeit  her,  die  infolge  der 
Nilüberschwemmungen  verloren  gegangenen  Begrenzungen  wieder  her- 
zustellen. Wirklich  ist  die  Kultur  des  Landes,  wie  das  Land  selbst 
ohne  jenen  Strom,  der  das  Erdreich  herabgeschwemmt  hat  aus  den 
Hochlanden  des  inneren  Afrikas,  nicht  denkbar.  Die  alljährlich  wieder- 
kehrende Wasserfülle  bringt  in  gleicher  Regelmäßigkeit  große  Schlamm- 
massen mit  sich,  die  sie  dort,  wo  der  Absturz  des  Stromes  an  Steil- 
heit abnimmt,  wo  das  Bett  der  Überflutung  offener  ist,  fallen  läßt. 
Die  Wasser  verlaufen  sich,  und  die  Sonne  Afrikas  hilrtet  den  neuen 
Boden.  Auf  das  mögliche  Altertum  des  bewohnten  und  angebauten 
Schwemmlandes  wirft  es  ein  gewisses  Licht,  daß  man  aus  dem  gegen- 
wärtig noch  wahrnehmbaren  und  meßbaren  Schlammabsatze  berechnet 
haty  daß  unter  gleichen  Bedingungen  weit  über  70  Jahrtausende  not- 
wendig wären,  um  die  Entstehung  Ägyptens  in  seiner  jetzigen  Aus- 
dehnung zu  erklären^.  Nehme  man  immerhin  an,  daß  ehemals  eine 
viel  schnellere  Vergrößerung  stattfand,  es  bleibt  unter  allen  Um- 
ständen eine  Zahl  übrig,  welche  nur  mit  der  sagenmäßigen  Ver- 
gangenheit chaldäischer  und  chinesischer  Astronomie  in  Vergleich  zu 
bringen  ist. 

Das  so  alte  Land  gewann  seine  Bevölkerui^  nach  der  durch 
Diodor*)  überlieferten  Meinung  von  Süden  her  aus  Äthiopien,  wäh- 


*)  Herodot  II,  5.     *)  Herodot  H,  109.     *)  Maspero-PietBchmann  S.  7. 
*)  Diodor  m,  8—8. 


56  2.  Kapitel. 

rend  der  biblische  Berichterstatter  Mizraim^)  den  Stammvater  der 
Ägypter  y  einen  Enkel  Noahs,  aus  Chaldäa  einwandern  läßt.  Die 
neuere  Forschung  ^),  welche  ihre  wesentliche  (Grundlage  in  ägyptischen 
Denkmälern  besitzt^  hat  noch  immer  keine  Entscheidung  gebracht, 
ob  die  eine  oder  die  andere  Sage  mehr  Glauben  verdient.  Sicher- 
gestellt ist  nur,  daB  in  ältesten  Zeiten  in  Ägypten  ein  Südland  von 
einem  Nordlande  sich  unterschied.  Vielleicht  kam  dann  von  Süden 
her  der  erste  Eonig,  der  die  beiden  Gebiete  beherrschend  die  weiße 
Krone  des  Südens  mit  der  roten  Erone  des  Nordens  auf  seinem  Haupte 
vereinigte.  Bildung,  Kunst  und  Wissenschaft  dagegen  sind  jedenfalls 
in  nördsüdlicher  Richtung  vorgedrungen.  Die  ägyptische  Sprache 
hält  man  gegenwärtig  für  eine  ältere  Schwester  der  semitischen 
Sprachen.  Freilich  muß  die  Trennung  erfolgt  sein,  als  beide  in  ihrer 
Entwicklung  noch  sehr  zurück  waren,  und  der  semitische  Stamm  muß 
als  der  für  Sprachbildung  befähigtere  angesehen  werden. 

Das  ägyptische  Reich  wurde  durch  XXX  aufeinanderfolgende 
Dynastien  beherrscht.  Der  Gründer  der  I.  Dynastie  Mena,  Menes 
der  Griechen,  wird  auf  das  Jahr  4455  vor  Christi  Gteburt  etwa  ge- 
setzt, wobei  allerdings  nicht  unbemerkt  bleiben  darf,  daß  bei  diesen 
ältesten  Datierungen  eine  Unsicherheit  von  100,  auch  von  200  Jahren 
als  selbstverständlich  gilt  und  als  Abweichung  in  den  Angaben  der 
verschiedenen  Gelehrten,  welche  sich  daran  versucht  haben,  kenntlich 
wird.  Menas  Sohn  Teta  wird  schon  als  Gelehrter,  als  Verfasser  ana- 
tomischer Schriften*),  genannt,  und  Nebka,  griechisch  Tosorthros, 
der  zweite  Eönig  der  III.  Dynastie  um  3800,  trat  in  Tetas  Fußstapfen 
und  verfaßte  medizinische  Abhandlungen,  welche  vier  Jahrtausende 
nach  seiner  Regierung  noch  bekannt  waren  und  ihn  mit  dem  grie- 
chischen Gotte  der  Heilkunst,  mit  Asklepios,  in  eine  Persönlichkeit 
vereinigen  ließen  *).  Die  Eönige  der  IV.  Dynastie,  seit  3686  am  Ruder, 
sind  die  bekannten  Pyramidenbauer  Chufu,  Ghafrä,  Menkarä. 
Schon  in  ihrer  Zeit  muß  es  Baumeister  gegeben  haben,  deren  Aus- 
bilduz^  nicht  zu  unterschätzen  ist.  Wie  in  den  ältesten  monumen- 
talen Grabesräumen  der  Ägypter  stets  nach  Osten  zu  eine  Denksäule 
steht  ^),  so  sind  insbesondere  die  Pyramiden  so  scharf  orientiert,  daß 
man  unter  den  mannigfachen  Vermutungen,  welche  frühere  und 
spätere  Schriftsteller  über  diese  riesigen  EönigsgnLber  auszusprechen 
sich  bemüßigt  fanden,  auch  derjenigen  begegnet,  die  Pyramiden  seien 
in  der  Absicht  erbaut  worden  mittels  ihrer  Grundlinien  die  Himmels- 


^)  I.  Moses  10,  6.  *)  Maspero-Pietschmann  S.  13  und  16.  Stein- 
dorff,  Die  Blüiezeit  des  Pharaonexireichs  S.  7.  •)  Maspero-Pietschmann 
S.  64.      ")  Ebenda  S.  69.       ^)  Ebenda  S.  60. 


Die  Ägypter.    ArithmetiBches.  57 

richtangen  festzuhalten.  Zufall  ist  es  jedenfalls  nicht  gewesen,  wenn 
der  Orientierungsgedanke  damals  bereits  so  genau  zur  Ausführung 
gebracht  wurde.  Zufall  mochten  wir  ebensowenig  in  dem  Umstände 
erkennen,  daß  in  fast  allen  alten  Pyramiden  der  Winkel,  welchen 
die  Seitenwand  der  Pyramide  mit  der  Grundfläche  bildet^  wenig  oder 
gar  nicht  Ton  52^  abweicht^).  Das  setzt,  wie  gesagt,  ausgebildete 
Baumeister,  das  setzt  mathematische  Hilfswissenschaften  der  Baukunst 
Toraus,  sei  es,  daß  die  Regeln  Ton  Mund  zu  Mund  sich  fortpflanzten, 
sei  es  sogar,  daß  man  sie  niederschrieb.  Steht  es  doch  fest,  daß  die 
Aufbewahrung  vererbten  Wissens,  daß  das  Sammeln  von  Bücherrollen 
zu  den  Sitten  der  ältesten  Dynastien  gehört  haben  muß,  wenn  be- 
reits am  Anfange  der  VI.  Dynastie  eigene  Beamten  ernannt  wurden, 
deren  Titel  „Verwalter  des  Bücherhauses''  in  ihren  Grabschriften  sich 
erhalten  hat ').  Ein  Jahrtausend  etwa  überspringend,  nennen  wir  aus 
der  XII.  Dynastie  Amenemhat  III.,  einen  Fürsten,  von  42jähriger 
wohlbeglaubigter  Regierung,  wenn  auch  ihre  Datierung  weniger  ge- 
sichert ist  als  ihre  Dauer*).  Er  war  der  Erbauer  des  großartigen 
Tempelpalastes  unweit  vom  Mörissee,  aus  dessen  Namen  Lope-ro-hunt 
»  Tempel  am  Eingang  zum  See  das  Wort  Labyrinth  entstand.  Man 
hat  für  Amenemhat  IQ.  verschiedene  Beinamen  in  Anspruch  ge- 
nommen ^),  nämlich  Petesuchet  =  Qahe  der  Suchet,  Aasuchet  »  Spröß- 
ling der  Suchet  und  Sasuchet  =  Sohn  der  Suchet.  Wäre  diese  An- 
nahme gesichert,  so  könnte  man  in  ihm  die  Persönlichkeiten  er- 
kennen, welche  unter  verwandten  Namen  bei  mehreren  SchriftsteUem 
auftretend  bei  anderen  Agyptologen  als  unserem  Gewährsmanne  nicht 
verschmolzen  zu  werden  pflegten.-  Amenemhat  UI.  wäre  alsdann  der 
Gesetzgeber  Asychis  des  Herodot*),  der  König  Petesuchis,  der 
das  Labyrinth  erbaute,  des  Plinius  •),  endlich  der  durch  Verstand  her- 
vorragende König  Sasyches,  der  die  Geometrie  erfand,  des  Diodor^). 
Bereits  während  der  XIL  Dynastie  begannen  von  Osten  über  die 
Landenge  von  Suez  her  die  Einfälle  plünderungssüchtiger  Wüsten- 
stämme, welche  sich  selbst  als  Shus,  Shasu  bezeichneten.  Aber  200 
Jahre  und  mehr  waren  nötig  bis  Asses,  ein  Hik-Shus,  d.  h.  ein  Fürst 

*)  Ein  mathematisches  Handbuch  der  alten  Ägypter  (Papyrus  Bhind  des 
British  Museum),  übersetzt  und  erklärt  von  Aug.  Eisen lohr.  Leipzig  1877, 
S.  187.  Wir  zitieren  künftig  diese  Hauptquelle  für  Ägyptische  Mathematik  als 
Eisenlohr,  Papyrus.  •)  Maspero-Pietschmann  S.  74.  ')  Nach  Lepsius 
regierte  Amenemhat  IE.  yon  2221  bis  2179;  nach  Lauth  dagegen  (vgl.  dessen 
Aufsatz  ,,Der  geometrische  Papyrus^^  in  der  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung 
vom  20.  September  1877,  Nr.  263)  von  2425  bis  2388.  Nach  Steindorff  fällte 
die  ganze  XH.  Dynastie  die  Zeit  von  1996  bis  1788.  *)  Vgl.  Lauth  1.  c.  Seine 
Gründe  hängen  mit  seinen  chronologischen  Annahmen  aufs  engste  zusammen. 
»)  Herodotn,  186.     •)  Plinius,  Histor.  natur.  XXXVI,  18.     ^  Diodor  I,  94. 


58  2.  Kapitel. 

jener  Shus  genannten  Wüstensiämme,  die  XY.  ägyptische  Dynastie 
stürzen  und  sich  an  deren  Stelle  setzen  konnte.  Die  zwei  folgenden 
Dynastien  gehören  gewissermaßen  den  Hiksoskonigen  an,  wie  man  in 
Nachbildung  jenes  eben  erläuterten  Titels  zu  sagen  sich  gewöhnt  hat, 
und  erst  mit  Ahmes,  dem  Gründer  der  XVill.  Dynastie  um  1600, 
gelang  es  einem  Sohne  uralter  ägyptischer  Abstammung  die  Ein- 
dringlinge zu  vertreiben,  unter  den  Hiksoskonigen  war  es,  daß  das 
mathematische  Handbuch  niedergeschrieben  wurde,  zu  dessen  ge- 
nauer Inhaltsangabe  wir  uns  nun  wenden  müssen. 

Die  Anfangsworte  lauten^):  „Yorschrifb  zu  gelangen  zur  Kenntnis 
aller  dunklen  Dinge  ....  aller  Geheimnisse,  welche  enthalten  sind  in 
den  Gegenständen.  Verfaßt  wurde  dieses  Buch  im  Jahre  33,  Mesori 
Tag  . .  unter  dem  König  von  Ober-  und  Unterilgypten  Ra-ä-us  Leben 
gebend,  nach  dem  Vorbild  von  alten  Schriften,  die  verfertigt  wurden 
in  den  Zeiten  des  Königs  [Ra-en-m]at'  durch  den  Schreiber  Ahmes 
verfaßt  diese  Schrift." 

Aus  dieser  Angabe,  daß  an  einem  ursprünglich  angegebenen, 
jetzt  durch  einen  Riß  verloren  gegangenen  Tage  des  Monats  Mesori 
des  33.  Regierungsjahres  Königs  Ra-ä-us'  der  Schreiber  Ahmes  das 
Buch  verfaßt  habe,  ist  eine  so  bestimmte  Datierung  möglich,  als  sie 
überhaupt  für  so  weit  zurückliegende  Zeiten  tunlich  ist.  Ra-ä-us  ist 
nämlich,  wie  aus  einem  dem  ägyptischen  Süden,  dem  sogenannten 
Fayum,  entstammenden  Holz&agmente  des  Berliner  ägyptischen  Mu- 
seums erkannt  worden  ist^),  niemand  anders  als  der  Hiksoskönig 
Apepa,  der  Apophis  der  Griechen  Alle  Zweifel,  welche  an  die  Zeit 
und  Dauer  der  Hiksosherrschaft  sich  knüpfen,  in  Rechnung  gebracht 
irrt  man  gewiß  nicht,  wenn  man  Rarä-us  zwischen  die  Jahre  2000 
und  1700  V.  Chr.  setzt,  und  da  überdies  das  Äußere  des  Papyrus, 
die  Schrift  usw.  dieser  Zeit  genau  entspricht,  so  ist  damit  eine  Ver- 
mutung über  dessen  Alter  gewonnen,  in  welcher  die  sonst  nicht 
immer  übereinstimmenden  Kenner  ägyptischer  Sprache  sich  sämtlich 
begegnen.  Wenn  auch  nicht  ganz  das  Gleiche  mit  Bezug  auf  den 
Namen  jenes  Königs  stattfindet,  unter  welchem  die  alten  als  Vorbild 
dienenden  Schriften  verfaßt  worden  waren,  so  ergänzt  man  doch 
meistens  diese  Lücke  durch  Raenmat^),   und  das  ist  kein  anderer 


')  Eisenlohr,  Papyrus  S.  27 — 29.  *)  Die  Entdeckung  stammt  von  Herrn 
Dr.  Ludwig  Stern,  dessen  brieflichen  Mitteilungen  wir  diese  Tatsache  ent- 
nehmen. ')  G.  Ebers  in  einer  Rezension  von  Eisenlohr,  Papyrus  im  Lite- 
rarischen Zentralblatt  vom  12.  Oktober  1878  halt  diese  Ergänzung  für  zweifel- 
haft. Dagegen  stimmt  er  durchaus  damit  überein,  der  Papyrus  könne  nach 
allen  äußeren  Anzeichen  nur  in  der  Zeit  zwischen  der  XVII.  und  der  XVIII. 
Dynastie  geschrieben  sein. 


Die  Ägypter.    ArithmetiBcheB.  59 

als  Konig  Amenemhat  IH  Ist  diese  Er^Lnzang  richtige  und  hat 
man  in  Amenemliat  wirklich  auch  Sasjches  zu  erkennen,  so  könnte 
Diodors  Angabe  über  den  Erfinder  der  Geometrie  in  Beziehung  auf 
unsem  Papyrus  gedeutet  werden.  Das  Original  zu  der  Bearbeitung 
des  Ahmes  würde  dann  viele  Jahrhunderte  hindurch  in  der  Über- 
lieferung fortlebend  sich  mythisch  mit  der  Erfindung  der  Geometrie 
Tereinigt  haben  ^).  Und  wenn  diese  genaue  Beziehung  sich  nicht  fest- 
halten ließe,  so  ist  doch  merkwürdigerweise  die  Zeit  der  XIT.  Dy- 
nastie auch  durch  ein  anderes  Schriftstück  als  Blütezeit  ägyptischer 
Rechenkunst  bestätigt.  In  Eahun,  südlich  von  der  Pyramide  von 
Qlahun,  die  auf  Usertesen  U.  aus  der  XU.  Dynastie  zurückgeht, 
wurden  1889  und  1890  zwei  mathematische  Papyri  aufgefunden^), 
welche,  ohne  mit  dem  Papyrus  des  Ahmes  übereinzustimmen,  hoch- 
bedeutsame Ähnlichkeiten  mit  demselben  aufweisen.     So  ist  dort  eine 

2  111 

Anzahl  Ton  Bruchzerlegungen  vorhanden,  wie  z.  B.  Tg  —  jö  +  yä  +  ttt 

und  ähnliche,  von  denen  wir  gleich  zu  reden  haben  werden.  Auf 
andere  Bestandteile  zurückzugreifen  werden  wir  da  und  dort  in  der 
Lage  sein. 

Ein  weiterer  mathematischer  Papyrus,  von  dessen  Inhalt  leider 
nicht  einmal  Andeutungen  bekannt  sind,  gehört  Herrn  Wladimir 
Oolenischefi  an,  Konservator  der  kaiserlichen  Sammlung  in  der  Eremi- 
tage in  Petersburg.  Unbedeutende  Papyrusteile  mit  Hau-Rechnungen 
—  wir  werden  bald  sehen,  was  das  ist  —  sind  im  Besitze  des  Agyj)- 
tischen  Museums  in  Berlin^). 

Über  einen  in  einem  koptischen  Orabe  aufgefiindenen  Papyrus 
in  griechischer  Sprache  berichten  wir  im  24.  Kapitel.  Von  vollstän- 
digen alten  Schriften  ist  bisher  nur  das  Rechenbuch  des  Ahmes 
der  Öffentlichkeit  übergeben,  und  zu  ihm  kehren  wir  zurück. 

„Vorschrift  zu  gelangen  zur  Kenntnis  aller  dimklen  Dinge'',  so 
lauten  die  Anfangsworte  des  Papyrus.  Später  spricht  Ahmes  von 
einer  „Vorschrift  der  Ergänzung'',  von  einer  „Vorschrift  zu  berechnen 
ein  rundes  Pruchthaus",  von  einer  „Vorschrift  zu  berechnen  Felder", 
von  einer  „Vorschrift  zu  machen  einen  Schmuck"  und  dergleichen 
mehr.  Wer  aber  aus  diesen  Überschriften  den  Schluß  ziehen  wollte, 
es  seien  hier  überall  wirkliche  Vorschriften  gegeben,  Regeln  gelehrt, 


*)  Vgl.  Lauth  1.  c.  «)  W.  M.  Flinders  Petrie,  Illahun,  Kahua  and 
Gnrob.  London  1891,  pag.  486.  Die  Herausgabe  der  Fragmente  erfolgte  1897 
in  London  durch  F.  LI.  Griffith.  Über  einzelne  Stellen  vgl.  Cantor,  Die 
xnathematiBchen  Papyrusfragmente  von  Kahun  in  der  Orientalischen  Literatur- 
zeitung 1898,  Nr.  10.  *)  Alle  Notizen  über  mathematische  Papyri  verdanken 
wir  Herrn  Prof  August  Eisenlohr. 


60  2.  Kapitel. 

wie  man  zu  yerfahren  habe^  der  würde  in  einem  gewaltigen  Irrtume 
befangen  sein.  Einzelne  Vorschriften  in  unserem  heutigen  Sinne  des 
Wortes  kommen  allerdings  Tor,  aber  weitaus  in  einer  überwiegenden 
Zahl  von  Fällen  begnügt  sich  Ahmes  damit  mehrere  Angaben  gleicher 
Gattung  nacheinander  zu  behandebi.  Eine  Induktion  aus  diesen  Auf- 
gaben und  ihrer  Lösung  auf  allgemeine  Regeln  ist  nicht  gerade 
schwierig^  allein  Ahmes  vollzieht  sie  nicht.  Er  überlaßt  diese  Folge- 
rungen dem  Leser  oder  dem  mündlichen  Unterrichte  des  Lehrers, 
ohne  welchen  die  Benutzung  des  Handbuches  kaum  gedacht  werden 
kann.  Das  häufige  Auftreten  des  Wortes  ^yVorschrifb''  entspricht  nur 
der  ägyptischen  Gewohnheit  der  Gedächtnisübung,  wie  sie  geradezu 
als  Ghrundlage  jeder  Unterweisung  beigeblieben  ist^).  Lassen  sich 
doch  regelmäßig  wiederkehrende  Ausdrücke  am  leichtesten  einprägen. 
Gewiß  entstammen  noch  andere  gleichfalls  unaufhörlich  sich  wieder- 
holende Redensarten  bei  Ahmes  derselben  Rücksicht  auf  das  Gedächt- 
nis des  Schülers.  So  heißt  es  bei  ihm:  ,,gesagt  ist  dir^',  oder  ,,wenn 
dir  sagt  der  Schreiber'*,  oder  „wenn  dir  gegeben  ist*'  und  „mache, 
wie  geschieht*',  oder  „mache  es  also%  wo  ein  Schriftsteller  unserer 
Zeit:  Aufgabe  und  Auflösung  sagen  würde. 

Wir  haben  den  sogleich  genauer  zu  besprechenden  Papyrus  das 
Rechenbuch  des  Ahmes  genannt.  Andere')  sind,  wie  wir  in  den 
ersten  Worten  dieses  Kapitels  andeuteten,  der  Meinung,  man  dürfe 
nicht  von  einem  Rechenbuche  reden,  es  sei  nur  das  Heft  eines 
Schülers,  und  zwar  eines  sich  mitunter  recht  ui^eschickt  anstellenden 
Schülers;  welches  sich  erhalten  habe.  Für  unsere  Kenntnis  der  ägyp- 
tischen Mathematik  ist  es  gleichgültig,  ob  die  eine,  ob  die  andere 
Bezeichnung  für  richtig  gehalten  wird,  wir  möchten  jedoch  auf  die 
seinerzeit  Ton  uns  nach  reiflicher  Überlegung  in  Gemeinschaft  mit  dem 
Übersetzer  des  Papyrus  gewählte  Bezeichnung  nicht  verzichten.  Wir 
geben  zu,  daß  in  den  Rechnungen  L-rtümer  vorkommen,  daß  manch- 
mal Verbesserungen  angebracht  sind,  allein  wir  sehen  nicht  ein,  daß 
ein  solches  Vorkommen  den  Papyrus  zu  einem  Schülerhefte  stemple. 
Irrtümer  kommen  vermutlich  in  jedem  Manuskripte  vor  und  gehen 
nicht  selten  als  Druckfehler  in  die  vollendetsten  Werke  der  berühm- 
testen Verfasser  über.  Um  so  weniger  kann  man  Anstoß  daran 
nehmen,  wenn  ein  Abschreiber  sich  einen  Irrtum  zuschulden  kommen 
läßt.  Zudem  sind  keineswegs  alle  Irrtümer  verbessert,  der  Vorwurf 
der  Minderwertigkeit  würde  also  von  dem  Schüler   auf  den  Lehrer 

*)  Herodot  11,  77.  *)  Max  Simon,  ül)er  die  Mathematik  der  Ägypter 
(Yerhimdlungen  des  III.  internationalen  MathematikerkongresBes  in  Heidelberg 
1904,  S.  626— 635)  im  Anschluß  an  eine  früher  von  Eugäne  Bevillout  ausge- 
sprochene Meinung. 


Die  Ägypter.    Arithmetisches.  61 

übergehen.  Ferner  sind  die  Anfangs worte  des  Papyrus ,  welche  wir 
S.  59  zum  Abdruck  gebracht  haben^  weit  ungezwungener  auf  ein  sorg- 
fältig oder  nicht  niedergeschriebenes  oder  abgeschriebenes  Buch  als 
auf  ein  Schülerheffc  zu  deuten.  Endlich  berufen  wir  uns  auf  die  Frag- 
mente von  Eahun^  welche  mit  dem^  was  wir  nicht  aufhören  das 
Rechenbuch  des  Ahmes  zu  nennen^  in  vielen  Beziehungen  so  sehr 
übereinstimmen,  daB  wir  anzunehmen  genötigt  wären,  auch  jene  seien 
die  Überreste  eines  um  Jahrhunderte  älteren  Rechenheftes  eines 
Schülers,  wozu  wir  uns  nicht  entschließen  können. 

Die  Zahlen,  mit  welchen  gerechnet  wird,  sind  teils  ganze  Zahlen, 
teils  und  zwar  größtenteils  Brüche,  woraus  sich  von  selbst  ergibt^ 
daß  der  Leserkreis,  für  welchen  Ahmes  schrieb,  als  ein  in  der  Rechen- 
kunst schon  Yoi^eschrittener  gedacht  werden  muß.  Ein  Handbuch 
für  Anfiinger  müßte  und  mußte  zu  allen  Zeiten  sich  namentlich  am 
Anfange  auf  den  Gebrauch  ganzer  Zahlen  beschränken.  Über  die 
Zeichen,  deren  Ahmes  sich  für  ganze  und  für  gebrochene  Zahlen  be- 
dient, werden  wir  zwar  noch  in  diesem  Kapitel  aber  in  einem  anderen 
Zusammenhange  reden.  Für  jetzt  muß  eine  Bemerkung  über  die  Art 
der  vorkommenden  Brüche  und  über  deren  Bezeichnung  unter  Voraus- 
setzung gegebener  Zeichen  für  ganze  Zahlen  genügen.  Ahmes  benutzt 
nämlich  nicht  Brüche  in  dem  allgemeinsten  Sinne  des  Wortes,  d.  h. 
angedeutete  Teilungen,  wobei  der  Zähler  wie  der  Nenner  von  be- 
liebiger Größe  sein  können,  sondern  nur  Stammbrüche,  d.  h.  solche, 
die  bei  ganzzahligem  Nenner  die  Einheit  als  Zähler  haben  und  die 
er  dadurch  anzeigte,  daß  er  die  Zahl  des  Nenners  hinschrieb 
und  ein  Pünktchen  darüber  setzte.  Brüche  mit  anderem  Zähler 
konnte  er  wohl  denken,  wie  aus  dem  ganzen  Charakter  seiner  Auf- 
gaben zur  Genüge  hervorgeht,  er  konnte  sie  aber  nur  dann  schreiben, 
wenn  mehrere  derselben  mit  gemeinsamem  Nenner  in  Zwischenrech- 
nungen  auftraten.     Er  begnügte  sich  sonst  jeden  beliebigen  Bruch 

als  Summe  von   Stammbrüchen   anzuschreiben,   z.  B.  ~  —  statt  — » 

'  o    lo  o  '^ 

wenn  das  bloße  Nebeneinandersetzen  zweier  Stammbrüche  deren  addi- 
tive Zusammenfassung  bezeichnen  soIL    Eine  einzige  Ausnahme  bildet 

2 

von   dem   hier  Ausgesprochenen   der   Bruch  -^.     Ahmes   weiß   gan^ 

genau,  daß  derselbe  eigentlich  y  y  ist  und  versteht  diese  Zerlegung 

vortrefflich  zu  benutzen,  aber  daneben  hat  er  ein  eigenes  Zeichen 

ftir  y ,  so  daß  auch  dieser  Bruch  in  seinen  Rechnungen  mitten  unter 

Stammbrüchen  vielfältig  vorkommt  und  uneigentlich  zu  denselben 
gezählt  werden  m^. 


62 


2.  Kapitel. 


Nach  dieser  Bemerkung  laßt  sich  sofort  erkennen,  daß  es  eine 
Aufgabe  gab,  welche  Ahmes  unbedingt  an  die  Spitze  stellen  mußte, 
mit  deren  Lösung  der  Schüler  vertraut  sein  mußte,  bevor  er  an  irgend 
eine  andere  Rechnung  ging,  die  Aufgabe:  einen  beliebigen  Bruch 
als  Summe  von  Stammbrüchen  darzustellen.  Das  scheint  xms 
denn  auch  die  Bedeutung  einer  Tabelle  zu  sein,  deren  Entwicklung 
die  ersten  Blätter  des  Papyrus  füllt.  Allerdings  ist  diese  Bedeutung 
nicht  unmittelbar  aus  dem  Wortlaute  zu  erkennen.  Dieser  heißt  viel- 
mehr zuerst^):  „Teile  2  durch  3"  dann  „durch  5*',  später  wieder  z.  B. 
„teile  2  durch  17'',  kurzum  es  handelt  sich  um  die  Darstellung  von 

2 
2n  +  l 

(wo  n  der  Reihe  nach  die  ganzen  Zahlen  von  1  bis  49  bedeutet,  als 
Divisoren  mithin  alle  ungeraden  Zahlen  von  3  bis  99  erscheinen),  als 
Summe  von  2,  3  oder  gar  4  Stammbrüchen.  Tabellarisch  geordnet 
unter  Weglassung  aller  Zwischenrechnungen  gewinnt  Ahmes  folgende 
Zerlegungen*): 


2    2 

2    1 

1 

1    1 

8  ""  3 

29  ™  24 

58 

174   232 

2    1 

1 

2    1 

1 

1 

6  ""  3 

16 

31  ""20 

124 

156 

2    1 

1 

2     1 

1 

7^4 

28 

33   22 

66 

2    1 

1 

2  _  1 

1 

9  ■*"  6 

18" 

36  ""3Ö 

42 

2    1 

1 

2    1 

1 

1 

11  ""  6 

66 

37""  24 

111 

296 

2    1 

1 

1 

2    1 

1 

13  ■"  8 

62 

104 

39  ""26 

78 

2    1 

1 

2    1 

1 

1 

15  ""  10 

:^0 

41  ~24 

246 

328 

2    1 

1 

1 

2     1 

1 

1     1 

17    12 

61 

68 

43  ^  42 

86 

129   801 

2    1 

1 

1 

2     1 

1 

19  ""  12 

76 

114 

46  ~  80 

90 

2    1 

1 

2    1 

1 

1 

21  ~"  14 

42 

47  ""30 

141 

47Ö 

2    1 

1 

2    1 

1 

23  ■"  12 

276 

49  ""28 

r96 

2    1 

1 

2     1 

1 

26  ^  16 

76 

61  "34 

102 

2    1 

1 

2  _  1 

1 

1 

27  ^  18 

64 
,  PapyruB  S.  36—4 

63  ~  3^   318 
6.   •)  Ebenda  S.  4 

795 

^)  Eisenlohi 

t6— 48. 

Die  Ägypter.    Arithmetischea. 


63 


2    1 
55    30 

1 
330 

2    1 

79    60 

1 
287 

1 
316 

1 
790 

2    1 

67    38 

1 
114 

2  _  1 

81    54 

1 
162 

2    1 
69  ""  36 

1 
236 

1 
531 

2  _  1 
83   60 

1 
382 

1 
415 

1 
498 

2    1 

61    40 

1 
244 

1 
448 

1 
610 

2  _  1 
85    51 

1 
255 

2    1 
63  ""42 

1 
126 

2    1 

87  ""  58 

1 
174 

2  ^  1 

65  ^  39 

1 
195 

2  _  1 
89  ^  60 

1 
856 

1 
534 

1 
890 

2    1 
67    40 

1 
335 

1 
586 

2    1 

91  ""tÖ 

1 
130 

2    1 
69  ""4^ 

1 
138 

2  _  1 
98    62 

1 
186 

2    1 
71  ^^40 

1 
568 

1 
710 

2    1 

95   60 

1 
380 

1 
570 

2    1 
73   60 

1 
219 

1 
292 

1 
365 

2  _  1 
97  ""  56 

1 
679 

1 
776 

2^1 

76  '^  50 

1 
150 

2    1 

99  ""66 

1 
198 

2    1 

1 

77        44      808  I 

Es  ist  einleuchtend^  daB  unter  wiederholter  Anwendung  dieser 
Tabelle  ein  Bruch^  dessen  Zähler  auch  die  2  übersteigt,  wenn  er  nur 
seinem  Nenner  nach  in  der  Tabelle  sich  findet^  in  Stammbrüche  zer- 

legt  werden  kann.     Zeigen  wir  versuchsweise  an  ^,   wie   wir  dieses 

Verfahren  uns  denken.     Zunächst  ist  7  =  1+2  +  2  +  2, 

^^^  29   29  '''  \U   68  174  282/  "^  V24  68  174  282/  "^  \24  68  174  282/ 


1 

1 

1 

1 

1 

+fö 

2 

2   2  \ 
174  232/ 

29 

24 

58 

174 

232 

68 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1    1 

29 

24 

58 

174 

282 

12 

29 

87   116 

2 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

29 

24 

58 

174 

232 

12 

87 

116 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1111 

24  58  174  232  24  58  174   232   12   87   116 

A  A  _A  A_  A  A  ^ 

24  68  174  232   12  87  116 

1111111 

12  29  87  116  12  87  116 

2  2    2    1 

''  12  87  116  29 


64  2-  Kapitel. 


1 

1 

1 

1 

6 

68 

174 

58 

29 

2 

1 

1 

58 

T 

174 

29 

1 

1 

1 

29 

T 

174 

29 

2 

1 

29 

T 

174 

1 

1 

1 

1 

1 

24 

68 

174 

282 

6 

174 

2 

1 

1 

1 

1 

174 

24 

58 

232 

6" 

1 

1 

1 

1 

1 

87      24      58      232       6 

oder  besser  geordnet  39  ^  "e"  24  68  87  232 '  Niemand  wird  behaupten 
wollen,  diese  Zerlegongsweise  sei  besonders  elegant,  oder  sie  führe 
besonders  schnell  zum  Ziele.  Aber  sie  führt  doch  dazu,  sie  ist  aus- 
reichend, vorausgesetzt  wenigstens,  daß  im  Verlaufe  der  Rechnung 
kein  mit  dem  Zähler  2  versehener  Bruch  auftrete,  dessen  ungerader 
Nenner  die  Zahl  100  überschreitet,  widrigenfalls  von  einer  größeren 
Ausdehnung  der  Tabelle  nicht  abgesehen  werden  könnte. 

Drei  Bemerkungen  drängen  sich  von  selbst  auf.  Die  eine  geht 
dahin,  daß  es  nicht  bloß  eine  Zerlegung  eines  Bruches  gibt,  sondern 
daß  man  die  Auswahl  zwischen  man  kann  fast  sagen  beliebig  vielen 

7        111 
Zerlegungen  hat.     So  ist  z.  B.  auch  29  ^  y  29  145  ^®^®^   ^®^  ^^®^ 

erhaltenen  Zerlegung.  So  ist  I9  =  Ä  4J5  =  iWl2  iL  ^®^^^  ^^"^  ^ 
der  Tabelle  angegebenen  Werte  usw.  Daran  knüpft  sich  die  zweite 
Bemerkung,  daß  für  die  komplizierteren  FäUe  allmählicher  Zerlegung, 

deren  wir  einen  (^  behandelt  haben,  es  sich  als  zweckdienlich  er- 
weist, wenn  die  Nenner  der  in  der  Tabelle  als  erste  Zerlegungsergeb- 
nisse vorhandenen  Stammbrüche  gerade  Zahlen  sind,  weil  dadurch 
ein  Aufheben  durch  2  vielfach  ermöglicht  wird.  Der  ägyptische 
Rechner  war  nämlich,  und  das  ist  unsere  dritte  Bemerkung,  gewöhnt 
wenn  auch  mutmaßlich  nicht  die  Teilbarkeit  einer  Zahl  durch  irgend 
eine  andere,  doch  jedenfalls  ihre  Teilbarkeit  durch  2  sofort  zu 
erkennen.     Das   geht   ohne    die   Möglichkeit   eines   Zweifels   aus   der 

212       1 
Tabelle  selbst  hervor.    Nur  wenn  die  Verwandlungen  ^«y,  y^y? 

=  —  usw.  von  vornherein  klar  waren,  ist  deren  folgerichtige  Aus- 
0       4 

Schließung  aus  der  Tabelle  erklärlich. 


Die  Ägypter.    ArithmetischeB.  65 

Aber  auch  eine  Frage  drangt  sich  auf:  wie  ist  die  Tabelle 
entstanden*)?  Wie  wäre  ihre  Fortsetzung  zu  beschaffen,  welche  doch, 
wie  wir  sahen,  bei  Zerlegung  von  Brüchen,  deren  Zähler  die  2  über- 
steigen, unter  Umständen  notwendig  wird?  Die  Vermutung  dürfte 
eine  nicht  allzugewagte  sein,  daß  die  Tabelle,  ein  altes  Erbstück 
schon  zur  Zeit  des  Ahmes,  wohl  niemals  auf  einen  Schlag  gebildet 
worden  ist.  Eine  allmähliche  Entstehung,  so  daß  die  Zerlegung  bald 
dieses  bald  jenes  Bruches,  bald  dieser  bald  jener  Ghruppe  von  Brüchen 
gelang,  daß  die  gewonnenen  Erfahrungen  aufbewahrt  und  gesammelt 
wurden,  dürfte  der  Wahrheit  so  nahe  kommen,  daß  man  sich  berech- 
tigt fühlen  möchte,  die  Mathematik  ihrem  geschichtlichen  Ursprünge 
nach  und  ohne  in  die  Streitfragen  nach  der  philosophischen  Begrün- 
dung ihrer  einfachsten  Begriffe  einzutreten  eine  Erfahrungswissen- 
schaft zu  nennen.  Wie  wir  oben  (S.  59)  sagten,  sind  die  Zerlegungen 
des  Ahmes  schon  in  den  Frs^pnenten  Ton  Eahun  vorhanden,  oder, 
um  uns  deutlicher  auszudrücken,  wo  in  den  Fragmenten  von  Kahun 
richtige  Zerlegungen  vorkommen  —  einige  wenige  sind  irrig  oder 
lückenhaft  —  stimmen  sie  Zahl  für  Zahl  mit  Ahmes  überein.  Jeden- 
falls kann  man  auch  mit  Bezug  auf  die  uns  gegenwärtig  beschäfti- 
gende Tabelle  nicht  Vorsicht  genug  gegen  die  Versuchung  üben, 
allgemeine  Methoden  aus  gegebenen  Fällen  herauszudeuten,  damit  man 
sie  nicht  vielmehr  hineindeute. 

Eine  allgemeine  Methode  weist  allerdings  der  Text  des  Papyrus 
selbst  durch  eine  der  seltenen  Stellen,  in  welchen  eine  wirkliche 
Vorschrift  gegeben  ist,  auf  Wir  meinen  die  Aufgabe  61  nach  der 
Numerierung,  mit  welcher  der  Herausgeber  des  Papyrus  die  auf  die 

2 

Tabelle  folgenden  Aufgaben  versehen  hat.     Dort  heißt  es'):   „—  zu 

.  .  2  1 

machen  von  einem  Bruch.     Wenn  dir  gesagt  ist:  was  ist  ^  ^^^  Y^ 

so  mache  du  sein  Doppeltes  und  sein  Sechsfaches,  das  ist  sein  zwei 
Drittel.  Also  ist  es  zu  machen  in  gleicher  Weise  für  jeden  gebro- 
chenen Teil,  welcher  vorkommt." 

Um  diese  Vorschrift  zu  verstehen,  müssen  wir  uns  erinnern,  daß 
zum  Anschreiben  eines  Stammbruches  (S.  61)  der  mit  einem  Pünkt- 
chen versehene  Nenner  genügte.  „Sein  Doppeltes"  von  einem  Bruche 
gesagt  heißt  demnach:  der  doppelte  Nenner,  selbst  mit  einem  Punkte 
darüber,   und  ist  dem  Werte  nach  nicht  ein  Doppeltes  sondern  ein 


*)EiBeiilohr,  Papyrus  S.  30—34  hat  sich  eingehend  mit  dieser  Frage 
beschäftigt.  Unsere  Auseinandersetzung  trifft  in  vielen  Punkten  nut  der  dort 
gegebenen  überein,  weicht  aber  auch  in  einigen  nicht  ganz  nebensächlichen 
Dingen  davon  ab.       *)  Ebenda  S.  150. 

Caxtob,  OMchicht«  der  Mathematik  L   3.  Aufl.      ^  5 


66  2-  Kapitel. 

Halbes.     Die   erwähnte   Yorschrift  zeigt  also  erstlich,    dafi,   wie  wir 

2         11 

früher  vorgreifend  gesagt  haben,  die"  Zerlegung  y^YT  ^®^*""^* 
war,  wenn  sie  auch  in  der  Tabelle  nicht  enthalten  ist  Sie  zeigt 
femer,   daß   man  „für  jeden  gebrochenen  Teil,   welcher  Torkommt^', 

für  jedes  —  in  gleicher  Weise   ,r  X  -    =•  ö    ä     rechnete.     Aber  ein 

2  1 

anderes  ist  immerhin  y  Ton  -  -  zu  nehmen,  ein  anderes  2  durch  3  a 

zu  teilen!   Wir  sind  nicht  berechtigt  ohne  weiteres  Torauszusetzen,  daß 

man  gewußt  habe,  es  sei  -,  X  —  =-  5—,  also  auch  r-  =•  5—  x-.     Die 

®  '  8  a8a'  8a2a6a 

Tabelle  beweist  uns  das  Vorhandensein  dieser  Kenntnis,  denn  sie 
liefert  ausnahmslos  bei  jedem  durch  3  teilbaren  Nenner  gerade  diese 

„    .  2        112        112        11 

Zerlegung  y  ----,-=-  -,  ^^  -  ^-^  —  usw. 

Bezieht   sich   etwa   das   „also   ist   es   zu  machen   für  jeden  ge- 
brochenen Teil,   welcher  vorkommt'*  wie  auf  den  Bruch  —  so  auch 

2 
auf  -',   oder  mit  anderen  Worten  ist  auch,   wenn  p  eine  Ton  3  yer- 

schiedene   Primzahl   bedeutet,    in   der   Tabelle   eine   Verwertung   der 

2  2 

Zerlegung  von   —   bei  der  Zerlegung  von     —    ersichtlich?     Gibt  es 

2  2  11 

femer  eine  Zerlegung  von  --  selbst,  welche  zur  Zerlegung  y  ="  y-g 

eine  geistige  Verwandtschaft  besitzt? 

Die  zweite  dieser  Fragen  laßt  sich  sofort  bejahend  beantworten. 
Wenn  p  eine  Primzahl   ist   (und  zwar  selbstverständlich  eine  von  2 

verschiedene  Primzahl),   so  muß  ^-y—  eine  ganze  Zahl  sein.    Nun 

21                  1 
ist   ~  =      ■   ^  +  -"xi f  ^^^  dieser  Zerlegungsformel,  deren  ge- 

^r-    -  2    x^ 

Bchichtliche  Berechtigung  freilich  erst  im  41.  Kapitel   im  folgenden 

2       11 
Bande  dieses  Werkes  zur  Sprache  kommen  kann,  entspricht  y  =  ~oy 

Ihr  folgen  ebenso  die  Zerlegungen  der  Tabelle  unter  Annahme  von 

*if;7ii9Q-4.2        112        112        112        11 
i>  -  O,  (,  ii,  Zö  mit  y  -  -3  jg,    y  =  y  28'    iT  =  T  66'    23  "^  12  276' 

aber  i> »  13,  17,  19,  29,  13,  37,  41,  43,  47,  53,  59,  61,  67,  71,  73,  79, 
83,  89,  97,  oder  eine  Mehrheit  von  neunzehn  Primzahlen  gegen  fOnf 
beweist,  daß  es  irrig  wäre  anzunehmen,  diese  Zerlegungsart  sei  als 
Gesetz  vorhanden  gewesen.     Noch  weniger  fiigfc  sich  die  Zerlegung 

2     .  211  211 

der  Brüche  —  einem  Gesetze.   Wie  o— =  ^;— «    ,  hätte  maur— =»t— 7^- 
pa  3a2a6a'  5a      da  16a 

ZU  erwarten.     Diese   Erwartung   erfüllt  sich  nur  bei  a  =  5,  13,  17. 


Die  Ägypter.    AritbmetiBcheB.  67 

2  11 

Die  Zerlegang  y- ""  r"  öö-    fii^d«*   ii^r  »*»**   bei   a  =  7,    11.      Die 

2  11 

Zerlegung  if  "=■  ä~  äa~>  sollte  man  vermuten,  könne  nur  bei  a>ll 

eintreten,  also  die  Ausdehnung  der  Tabelle  überschreiten.  Statt  dessen 
gilt  sie  für  a  »  5,  so  daß  55  als  Vielfaches  seines  größeren  Faktors 
11,  nicht  seines  kleineren  Faktors  5  behandelt  ist.    Noch  auffallender 

2  11  2         11 

ist  die  Ausnahmestellung,  welche  ^^  =•  ^^  ^^  ^^^  91 '"'  70  iäö  ö""^^^™®^^ 
Die  erstere  Zerlegung  kümmert  sich,  nach  unserer  bisherigen  Auf- 
fassung betrachtet,  weder  um  den  Faktor  5  noch  um  den  Faktor  7 
von  35,  die  letztere  um  keinen  der  Faktoren  7  oder  13  yon  91.  Und 
doch  lassen  sich  diese  Zerlegungen  in  unter  sich  gleicher  Weise  aus 
jenen  Faktoren  herleiten.    Wenn  p  und  q  zwei  ungerade  Zahlen  sind, 

^"T^   demnach  ganzzahlig  ausfallen  muß,  so  ist = i — 

^        2 

H -T— ,  und  setzt  man  nun  p  =  7,  g  =-  5  beziehungsweise  p  =-  13, 

^         2 
4 » 7,   so   erhält  man  obige   Zerlegungen.    Und    dieses    Zusammen- 
treffen scheint  kein  Zufall  zu  sein.     Wen^^stens  läßt  ^ich  in  byzan- 
tinischer Zeit  die  hier  ausgesprochene  Entstehung  mit  aller  Bestimmt- 
heit nachweisen,  wie  im  24.  Kapitel  sich  zeigen  wird. 

Aber  gerade  das  Yorhandengein  der  beiden  Zerlegungsformeln, 
welche  wir  mit  an  Sicherheit  grenzender  Wahrscheinlichkeit  zu  ent- 
hüllen imstande  waren,  nötigt  uns  die  gleiche  Folgerung  wiederholt 
auszusprechen,  die  Torgreifend  an  die  Spitze  gestellt  ward.  Nur  eine 
allmähliche  Entstehung  der  Tabelle  läßt  sich  denken!  Es  will  nicht 
in  Abrede  gestellt  werden,  daß  an  einem  guten  Teile  der  Zerlegungen 
mehr  oder  weniger  bewußt  gewisse  Regeln  zur  Ausübung  gelangten, 
aber  gerade  deren  ebenmäßiges,  gleichberechtigtes  Vorhandensein 
schließt  wieder  rückwärts  jede  Möglichkeit  eines  einheitlichen  Grund- 
gedankens aus,  und  sei  es  nur  auch  eines  solchen  wie  der,  daß  wenn 
tunlich  Stammbrüche  mit  geradem  Nenner  erscheinen  sollen^). 

Wir  schalten  noch  eine  Bemerkung  ein,  deren  Bedeutung  erst  im 
33.  Kapitel  uns  hervortreten  wird.  Die  Aufgabe  „teile  2  durch  3" 
beziehungsweise  durch  5,  durch  17  usw.  lautet  ägjptsich  nas  2  %eni  3, 


^)  Wenn  Herr  Gino  Loria  in  der  Bibliotheca  mathematica  1892  pag.  97 
bis  109  sich  in  scharfsinnigen  Vermatangen  ergeht,  wie  die  ZerfäUnng  in  2, 
8,  4  Stammbrüche  stattgefunden  haben  möge,  so  bleibt  er  doch  jede  Antwort 
auf  die  Frage  schuldig,  an  welcher  wir  auch  gescheitert  sind,  und  die  wir  für 
die  wichtigste  halten:  warum  im  Einzelfalle  die  Zerlegung  gerade  in  diese  An- 
zahl yon  Stammbruchen  stattfand? 

6* 


68  2-  Kapitel. 

oder  wie  der  Divisor  heißen  mag.  Von  den  beiden  Eunstwörtem  ^) 
nas  und  x^  bedeutet  das  letztere  so  viel  wie  in,  unter,  zwischen. 
Das  erstere  nas  mit  dem  Determinativ  eines  die  Hand  ausstreckenden 
Mannes  bedeutet  anrufen,  beten.  Ahmes  hat  aber  als  Determinativ 
einen  den  Finger  an  den  Mund  legenden  Mann  benutzt  Dadurch 
könnte  die  Bedeutung  „aussprechbar  machen^'  gerechtfertigt  werden 
und  es  hieße  nas  2  x^^  1-^  soviel  wie  „mache  2  aussprechbar  in  17^^ 
Damit  wäre  mittelbar  behauptet,  der  Ägypter  habe  leicht  aussprech- 
bare Formen  nur  ftir  Stammbrüche  besessen,  während  ein  Bruch  wie 

oder  allgemeiner        ihm   Schwierigkeiten  sogar  grammatikalischer 

Natur  bereitete;  eine  Vermutung,  welche  noch  ihrer  Bestätigung 
harret. 

Wir  haben  die  Anwendung  der  Tabelle  zur  Zerlegung  von  Brüchen, 
deren  Zähler  größer  als  2  sind,  deutlich  zu  machen  gesucht,  haben 
erkannt,  daß  diese  Anwendung  begrifflich  leicht  in  der  Ausführung 
mißlich  ist.  Um  so  wünschenswerter  mußte  es  sein,  die  Zerlegung 
von  Brüchen  mit  einem  besonders  oft  vorkommenden  Nenner  ein  für 
allemal  vorrätig  zu  haben.  Ein  solcher  Nenner  war  die  bei  den 
Fruchtmaßen  und  der  Feldereinteilung  der  Ägypter  sehr  beliebte  Zahl 
10,  und  deshalb  wohl  ist  der  großen  Tabelle  eine  zweite  kleinere 
angeschlossen  gewesen,  aus  deren  allerdings  sehr  lückenhaften  Über- 
resten^) man  die  Zerlegung  der  verschiedenen  Zehntel  in  Stammbrüche 
entziffert  hat. 

Wir  kehren  nochmals  zur  großen  Tabelle  zurück.  Wenngleich 
eine  Anleitung  zu  ihrer  Herstellung  von  uns  vermißt  wurde,  so  ist 
doch  ein  Beweis  der  Richtigkeit  der  einzelnen  angegebenen  Zer- 
legungen unter  dem  Namen  Smot,  Ausrechnung,  geführt.    Ist  etwa 

die  Zerlegung  von  -  -  in  die  beiden  Stammbrüche  -       angegeben,  so 

zeigt  die  Ausrechnung,  daß  —.  Ä  +  -    .  Ä  oder  mit  anderen  Worten 

der  «ite  und  der  Ogte  Teil  von  Ä  zusammen  die  2  geben.  Der  Grund- 
gedanke von  dieser  Ausführung  besteht  darin,  daß  zuerst  allmählich 
die  immer  kleineren  aliquoten  Teile  von  Ä  ermittelt  werden,  und 
daß  ein  kleiner  Strich,  im  Drucke  durch  den  Herausgeber  übersicht- 
licher durch  ein  Sternchen  ersetzt,  diejenigen  Zahlen  hervorhebt, 
welche  zusammen  die  2  liefern  sollen. 


*)  Die  hier  ausgesprochene  Vermutung  ist  Eigentum  des  Herrn  Läon 
K  0  d  e  t ,  der  sie  uns  brieflich  unter  dem  10.  Juli  1879  mitteilte  und  deren 
Benutzung  in  diesem  Werke  gütigst  gestattet  hat.  *)  Eisenlohr,  Papyrus 
S.  49—63. 


J 


Die  Ägypter.    Arithmetisches.  69 

So  heißt  z.  B.  bei  y  ""  "r  28  ^^®  Ausrechnung^): 

.    4     28    4-    4    28. 
Der  Sinn  dieser  Ausrechnung  besteht  darin^  daß  man  mit  dem  Um- 
wege über  die  Erkenntnis,  daß  die  EQUfte  von  sieben  Sy  betrat,  zu 

-j-x7=»1y-j-  gelangt.     Nicht  als  ob  der  Ägypter  nicht  imstande 

gewesen  wäre  sofort  den  vierten  Teil  Ton  7  zu  erkennen,  aber 
-die  Absicht  war  offenbar  in  erster  Linie  zu  zeigen,   daß  die  Hälfte 

von    7    mehr    als    2    betragt,     daß    also    der    Stammbruch  —   bei 

2 

-der  Zerlegung  von  y  nicht  vorkommen  kann.  Dagegen  liefert 
—  X  7  nicht  die  ganzen  2,  sondern  nur  1  yv  •    Im  Kopfe  wird  jetzt 

die  Subtraktion  2  —  1  g^-  =  ^  vollzogen  und   erwogen,  daß   dieser 

Best  durch  7  mal  einem  zweiten  Stammbruche  erzeugt  werden  muß, 
dessen  Nenner  folglich  7  mal  4  oder  4  mal  7  sein  muß.  Das  ist 
die  Bedeutung  der  an  zweiter  Stelle  auftretenden  Multiplikation 
1x7  =  7,  2  X  7  ==  14,  4  X  7  =  28. 

Man  könnte  freilich,  namentlich  mit  Beziehung  auf  die  von  uns 

aLb  im  Kopfe  ausgeführt  behauptete  Subtraktion  2  — ly  .-  zweifel- 
haft  sein,   ob  wir   hier  nicht  Dinge  hineinlesen,   an   welche  Ahmes 

2       2       2       2       2 

nicht  dachte,  wenn  nicht  die  Zerlegungen  von  j?  >  tö ;  37  >  tt '  sä  ^^ 
Bestätigungen  unserer  Darstellung  erschienen.  Dort  wo  die  Zer- 
legung der  Tabelle  drei  Stammbn'iche  gibt,  enthält  die  Ausrechnung 
ganz  ähnliche  Subtraktionen  mit  ausdrücklicher  Erwähnung  derselben. 
M  2        111 

überzeugen  wir  uns  bei  T7  =  12  01  68*    ^^^  Ausrechnung  hat  folgende 

Oestalt«): 

1      17  1    ;, 

A     11^  2     ' 

3        ^^  8  34 

1-2  a      1       ^ 

T        ^'3  *    ^     61      3 


')  Eisenlohr,  Papyrus  S.  86.     ")  Ebenda  8.  87. 


70  2.  Kapitel. 

1       2-li-  *   4    -i    -1 

6^28  68      4 

*    12         h     6    ^^^*    3     4' 

WO  die  Worte  ^^Reet  y  ^"  bedeuten,  daß  jö  -^  ^^  ^^^   ^^^  Terlangten 

2  abgezogen  noch  -  -  -j-  zum  Reste  lassen. 

Statt  des  so  beseitigten  Einwurfes  droht  uns  ein  zweiter,  der 
die  Ausrechnung  selbst,  den  auftretenden  Rest,  die  durch  denselben 
erzwungenen  ergänzenden  Stammbrüche  in  Widerspruch  setzen  möchte 
gegen,  unsere  Behauptung,  eine  Ableitungsmethode  der  Tabelle  sei 
nicht  ersichtlich,  und  dennoch  können  wir  diese  Behauptung  auf-- 
recht  erhalten.  Mag  immerhin,  wenn  der  erste  Teilbruoh  der  Zer- 
legung gegeben  war,  auf  den  oder  die  anderen  Teilbrüche  durch 
eine  Restrechnung  geschlossen  worden  sein,  die  Wahl  des  ersten 
Teilbruches  selbst  war  davon  unbeeinflußt,  und  auf  sie  kam  alles  an. 

So  gibt  z.  B.  die  Tabelle  43  =-  42  86  129  äöi  *  Wollte  man  zum  ersten 
Teilbruche  nur  einen  solchen  wählen,  dessen  43faches  unterhalb  der 
2,  aber  nahe  bei  ihr  lag,  so  hinderte  nichts  folgende  Rechnung  an- 
zustellen, der  wir  zum  Vergleiche  mit  den  übrigen  eine  ganz  ägyp- 
tische Anordnung  geben: 

1     43 

3     ^^S 
1     14^ 

6  6 

1  ..  J^    1 

12        ^  2    12 

*   24         1  2   T  24   ^^'*     6-  24 

und  man  hätte  -^3  =  ^g  -gls  lÄl  8^^^^®°"  ^®^  Rechner  muß  doch 
irgend  eine  Veranlassung  gehabt  haben  mit  ^^  statt  etwa,  wie  es  hier 
gezeigt  wurde,  mit  ^-  zu  beginnen,  und  welches  diese  Veranlassung 
war,  wissen  wir  eben  nicht.  Das  heißt  wir  kennen  nicht  die  Ablei- 
tung der  Tabelle. 

•    Man  fasse  übrigens  die  Ausrechnung  auf,  wie  immer  man  wolle,, 
der  umstand  bleibt  jedenfalls  bemerkenswert,   daß  ein  Rest  bei  ihr 


1 

43 

2 

86 

3 

129 

6 

258 

12 

516 

24 

1032 

Die  Ägypter.    ArithmetischeB.  71 

zur  Rede  kommt,  daß  also  eine  gegebene  Zahl  von  einer  ^ anderen 
(hier  von  der  Zahl  2)  abgezogen  wurde,  daß  man  diesem  Rest  ent- 
sprechend eine  Erg^Lnzung  durch  Vervielfachung  wieder  einer  gege- 
benen Zahl    (des    Nenners   des  zu   zerlegenden   Bruches  -^-j    mit  zu 

suchenden  Stammbrüchen  zu  beschaffen  hatte.  So  sehen  wir  die 
Möglichkeit,  wenn  nicht  die  Notwendigkeit  einer  eigentlichen  Er- 
ganzungs-  oder  Vollen dungsrechnung,  und  eine  solche  unter 
dem  ägyptischen  Namen  Seqem  schlie^ßt  sich  mit  17  Beispielen  un- 
mittelbar an  die  große  und  die  auf  letztere  folgende  kleine  Zer- 
legungstabelle an^).  Die  Seqemrechnung  hat  es  mit  multiplikatiTen 
und  additiven  Ergänzungen  zu  tun,  d.  h.  es  wird  in  den  ersten  Bei- 
spielen gelehrt,  womit  eine  bald  aus  Brüchen  allein,  bald  aus  mit 
Brüchen  verbundenen  Ganzen  bestehende  gegebene  Zahl  vervielfacht 
werden  muß,  es  wird  in  späteren  Beispielen  gelehrt,  wieviel  zu  einer 
ähnlichen  gegebenen  Zahl  hinzugefügt  werden  muß,  um  einen  ge- 
gebenen Wert  hervorzubringen.  Wir  könnten  kürzer  sagen:  es  wird 
mit  einer  gegebenen  Zahl  in  eine  andere  dividiert,  oder  aber  sie  wird 
von  einer  anderen  subtrahiert,  wenn  nicht  dadurch  der  Zweck  wie 
die  Verfahrungsweise  des  Ägypters  durchaus  verwischt  würde. 

Das  Verfahren  besteht  wesentlich  in  einer  Zurückführung  der 
gegebenen  Brüche  auf  einen  gemeinsamen  Nenner,  die  als 
Hilfsrechnung  durch  andersfarbige  (rote)  Schriftzüge  sich  hervorhebt^ 
und  wobei  gewissermaßen  über  unsere  moderne  Anwendung  von 
Generalnennern  hinausgegangen  wird,  indem  man  sich  nicht  versagt, 
auch  solche  gemeinsame  Nenner  zu  wählen,  in  welchen  die  Nenner 
der  gegebenen  Stammbrüche  nicht  eine  ganzzahlige  Anzahl  von  Malen 
enthalten  sind.  Maßgebend  ist  nur,  daß  jener  Generalnenner  zur 
Aufgabe  selbst  oder  zu  der  bis  dahin  geführten  Rechnung  in  Be- 
ziehung stehe,  und  nicht  etwa  Scheu  vor  zu  großen  Generalnennern 
bestimmt  die  Wahl  desselben.  Eine  solche  Scheu  kannte  man  tat- 
sächlich nicht,  wie  Aufgabe  No.  33  beweist,  in  welcher  6432  als 
Generalnenner  vorkommt*).  Zwei  von  den  Seqemrechnungen,  No.  23. 
und  No.  13.,  mögen  jene  die  additive,  diese  die  multiplikative  Er- 
gänzung erkennen  lassen. 

In  No.  23.  soll  t  "s"  iö  3Ö  46  '^^^*^^  ^^  ^  ergänzt  werden.  General- 
nenner wird  45,  allerdings  ohne  daß  ein  Wort  davon  verlautete.  Es 
werden   eben    nur    die    genannten    Stammbrüche    durch    die    Zahlen 

11-j^,  öyy;  4y,  lg,  1  ersetzt,  und  damit  ist  fttr  den  Sachkundigen 


»)  Eisenlohr,  Papyrus  S.  63—60..  *)  Ebenda  S.  73. 


72  2.  Kapitel. 

hinlänglich    erkUlrt^    daß    Fünfundyierzigstel    gemeint    sind.     Deren 

8 


111  9 

Summe  23  y  — -g-  Fünfundvierzigstel   bedarf  zur   Ergänzung    auf 


noch  45  "^  45  45  =*  y  40»  ^^^  ^^^^  ^^^^  3  y  Diithin  ist  die  ganze 
Ergänzung -J-|i. 

In  No.  13.  soll  jg  JJ2  multiplikatiT  zu  y  ergänzt  werden.  Wohl 
mit  Rücksicht  darauf^  dafi  112  =  7  x  16,  wird  ein  gerades  Vielfaches 
von    7,    nämlich    28,    zum    Generalnenner    gewählt,    also    --^=   oa^ 

IX  9  1  9LX. 

—  =  ^  und  deren  Summe  «  ^  gesetzt.  Diese  soll  zu  y  =  .^*  ge- 
macht  werden,  und  das  geschieht,  indem  man  die  ^o  selbst,  deren 
Hälfte    g  und    die   Hälfte    dieser   Hälfte    ,jg    vereinigt.     Mit   anderen 

Worten  -r  tj^  wird  durch  Vervielfachung  mit  1  ^    4  zu  y  vollendet. 

Unsere  Darstellung  des  letzten  Beispieles  gibt  uns  nicht  bloß 
einen  Einblick  in  eine  Seqemaufgabe,  sondern  in  das  Dividieren  der 
Ägypter  überhaupt,  wie  es  im  ganzen  Papyrus  an  den  verschieden- 
sten Stellen  wiederkehrt,  stets  den  Weg  mittelbarer  Vervielfältigung 
wählend,  in  verwickeiteren  Fällen  zunächst  mit  einem  angenäherten 
Ergebnisse  sich  begnügend,  welches  dann  selbst  noch  nachträglich 
eine  Er^nzung  notwendig  macht. 

Wenn  es  in  No.  58.  heißt  ^):  „Mache  du  vervielfältigen  die  Zahl 
93y  um  zu  finden  70.    Vervielfältige  die  Zahl  93  J-,  ihre  Hälfte  46y, 

ihr  Viertel  234".  Mache  du  l  j  ",  so  ist  die  Meinung  keine  andere, 
als  die,  daß  jene  Hälfte  mit  46  y  und  jenes  Viertel  mit  23  y  zu- 
sammen die  verlangten  70  geben. 

Wenn  No.  32.  verlangt  1  y  .  zu  2  zu  machen*),  so  vervielfältigt 
Ahmes  die  gegebene  Zahl  zunächst  mit  g-  -3  ^  ^^  (wobei  der  Umweg 
erst  ^  und  dann  noch  l  der  Zahl  statt  dieser  selbst  zu  nehmen  nur 

8  3 

durch   den  Wunsch   erklart   werden   kann,   bei   der  weiteren  Arbeit 
möglich   Tiele   Multiplikationaergebnisse   von    ly  ^  zu  kennen)  und 
bringt  die  Summe  aller  dieser  Teüprodukte  in  die  Form  1  ^  j^  X  1  J  J 
•)  Eieenlohr,  Papyru«  S.  144.     *)  Ebenda  S.  70. 


Die  Ägypter.    ArithmetiBches. .  73 

—  — j.     Er  will  aber  2  =  tjj  erhalten,    zu    deren    Ergänzung    noch 

Sil 

--_  B  --  --  -  erforderlich  sind.     Nun  war  bei  der  Gewinnung  des  an- 

1    1  228 

genäherten  Produktes  1---  ^  in  die  Form  —  gebracht  worden.  Dar- 
aus geht  hervor,  daß  228  ^  ^T  T  ""  144  ®®"^  ^^  ^^^  ni  ^  ^T  4 
=  ^g.    Der  gesamte  gesuchte  Quotient  ist  daher  —-^  =  1  g  jg  114  228' 

Wir  sind  fast  unyerantworÜich  ausführlich  in  der  Darstellung 
dieser  Bechnungsverfahren  und  ihrer  tabellarischen  Hilfsmittel  ge- 
wesen. Möge  es  uns  gelungen  sein  dem  Leser  die  Denkweise  eines 
ägyptischen  Rechners  einigermaßen  zu  yergegenwärtigen.  Das  wäre 
freilich  unmöglich,  wenn  unsere  Auffassung  eine  so  durchaus  irrige 
wäre,  als  behauptet  worden  ist^).  Zunächst  soll  in  den  Seqemrech- 
nungen  von  einem  gemeinschaftlichen  Nenner  keine  Rede  sein.  Das 
ist  Yollständig  wahr,  wenn  man  den  Nachdruck  auf  das  Wort  selbst 
legt.  Ahmes  hat  dem  Nenner,  auf  welchen  die  yorkommenden 
Brüche  zurückgeführt  werden,  keinen  Namen  gegeben.  Die  Operation 
der  Zurückführung  als  solche  ist  auch  nicht  geschildert.  Aber  als 
Mittel  zur  Hauptrechnung,  welche  Seqem  heißt,  wird  sie  fortwährend 
geübt,  wie  wir  an  der  Hand  der  Beispiele  gezeigt  haben. 

Ferner  soll  auch  der  Zweck  der  Seqemrechnungen  nicht  der  von 
uns  angegebene  sein.  Ahmes  beweise  vielmehr  unter  dem  Namen 
Seqem  den  Satz,  daß  wenn  man  verschiedene  Zahlengrößen  dem 
gleichen  Rechnungsverfahren  unterwerfe,  die  Ergebnisse  im  gleichen 
Verhältnisse  sich  ändern,  wie  die  Zahlengrößen,  von  denen  man 
ausging.  Indem  wir  unsere  Leser  auch  mit  dieser  Auffassung  be- 
kannt machen,  verschweigen  wir  allerdings  nicht,  daß  unserer  Mei- 
nung nach  hier  Dinge  in  Ahmes  hineingelesen  werden,  an  die  er  nie 
dachte.  Ein  Wort,  welches  mit  Verhältnis  übersetzt  werden 
könnte,  kommt  überhaupt  nicht  vor.  Richtig  ist  nur  das  eine,  und 
das  war  übersehen  worden,  bis  unser  Herr  Gegner  darauf  aufmerk- 
sam machte,  daß  in  den  Seqemrechnungen  die  zu  erreichende  Zahl 
meistens  das  Siebenviertelfache  der  Ausgangszahl  ist,  so  daß  diese 
ganz,  zur  Hälfte  und  zum  Viertel  genommen  und  so  vereinigt 
werden  muß. 

Wir  sind  sogar  in  der  Lage  ähnliches  aus  weit  älterer  Zeit  an- 
zugeben.    H.  Brugsch   hat    1891    im   Museum   von   Gizeh   zwei  mit 


^)  Lee  pr^tenduB  problämes  d'algebre  du  manuel  da  calculateur  ägjptien 
(Papjras  Bhind)  pai  M.  Läon  Rodet  im  Journal  Asiatique  für  1882.  Die 
122  Seiten  starke  Abhandlong  ist  auch  im  Separatabdruck  erschienen. 


74  2.  Kapitel. 

Gips  überzogene  Tafeln  entdeckt ^)y  welche  znm  Rechnen  benutzt 
wurden  und  noch  mit  Zahlzeichen  bedeckt  sind.  Schriftcharakter  und 
beigef&gte  Namen  wie  Amenemhat,  üsertesen  weisen  auf  die  XII.^ 
wenn  nicht  auf  die  XI.  Dynastie  hin.  Die  vollzogenen  Rechnungen 
bestehen  darin^  daß  Zahlen  angegeben  werden,  deren  erste  das  7  fache, 
lOfache,  11  fache,  13  fache  der  zweiten  sind.  Das  7 fache  ist  beispiels- 
weise durch  die  Zahlenreihe  erläutert 

7  1 

1  1 

4  28 

2  14 

1  •  40     5      1 

320  820  640 

USW.,  WO  allerdings  die  letzte  Angabe  nur  näherungsweise  richtig  ist, 

1       .  91     .  Ol-ä-  1 

da  Y  nicht  -^^  ist,  sondern    -J,  also  etwa  ^^  mindestens  fehlt. 

Sei  aber  bei  dem  Umstände,  daß  Ahmes  nur  das  Wort  Seqem 
gebraucht,  ohne  es  irgend  zu  erklären,  ein  Zweifel  über  Sinn  und 
Absicht  gestattet,  sei  darum  die  eine  oder  die  andere  Deutung  vor- 
zuziehen, oder  gar  eine  dritte,  deren  Enthüllung  die  Zukunft  bringen 
könnte,  die  eine  Wahrheit  wird  wohl  sicherlich  genügend  zutage 
getreten  sein,  daß  Ahmes  dieses  Handbuch  nicht  für  den  ersten 
besten,  sondern  nur  fUr  die  ersten  und  besten  der  Rechnungsver- 
ständigen seiner  Zeit  schrieb.  Sein  Werk  setzt  das  gemeine  Rech- 
nen mit  ganzen  Zahlen  durchaus  voraus.  Es  schließt  nicht  aus, 
daß  die  Zwischenrechnungen  unter  Anwendung  von  Hilfsmittehi  aus- 
geführt wurden,  von  welchen  Ahmes  nicht  redet.  Wenden  wir 
ans  nunmehr  zu  den  eigentlichen  Aufgaben  des  Papyrus,  welchen 
wir  gleichfalls  den  Stempel  eines  verhältnismäßig  höheren  Wissen» 
aufgeprägt  finden. 

An  der  Spitze  dieser  Aufgaben  stehen  die  JETaw-Rechnungen*), 
die  dem  Inhalte  nach  nichts  anderes  sind,  als  was  die  heutige  Algebra 
Gleichungen  ersten  Grades  mit  einer  Unbekannten  nennt. 
Die  unbekannte  Größe  heißt  Hau,  der  Haufen,  und  mit  diesem 
Worte  wird  nicht  bloß  bis  zu  einem  gewissen  Grade  gerechnet,  es- 
kommen  sogar  mathematische  Zeichen  vor,  welche  von  den  gegen- 
wärtig gebräuchlichen  sich  nur  insoweit  unterscheiden,  als  sie  ohne 
Anwendung  von  zugleich  mit  ihnen  auftretenden  Wörtern  nicht  aus- 
reichen einen  nicht  mißzuverstehenden  Sinn  herzustellen.     Als  solche 


')   H.  Brugsch-Pascha,    Ans   dem   Morgenlande    (Beclams    Universal- 
Bibliothek  No.  3161  und  3162)   S.  86—40.     *)  Bieenlohr,  Papyrns  8.  60—88. 


Die  Ägypter.    AxifhinetischeB.  75 

mathematische  Hieroglyphen  dürfen  wir  ausschreitende  Beine  fQr 
Addition  und  Subtraktion  nennen.  Die  Addition  wird  durch  dieselben 
bezeichnet,  wenn  die  Beine  der  Zeichnung  der  Füße  gemäß  eben 
nach  der  Richtung  gehen,  wohin  auch  die  Köpfe  der  Vogel,  der 
Menschen  usw.  in  den  dergleichen  darstellenden  Hieroglyphen  schauen, 
die  Subtraktion  im  entgegengesetzten  Falle.  Wir  nennen  femer  ein 
aus  drei  horizontalen  parallelen  Pfeilen  bestehendes  Zeichen  für 
Differenz.  Wir  nennen  endlich  das  Zeichen  ^  in  der  Bedeutung  „das 
macht  zusammen'^  oder  „gleich'^  Stellen  wir  einige  dieser  Aufgaben 
in  ihrem  Wortlaute  zusammen,  welchen  wir  die  Schreibweise  als 
Gleichungen  folgen  lassen. 

No.   24.    Haufen,    sein-  Siebentel,    sein    Ganzes,    es    macht   19. 
D.  h.  y  +  a;  -  19. 

No.  28.     g-  hinzu,  y  hinweg  bleibt  10  übrig.   D.  h.   (^  +  y  ^) 
2  12 

No.  29.    -z-  hinzu,  -j  hinzu,  --  hinweg  (?)  bleibt  10  flbrig.  D.h. 


10. 


No.  31.  Haufen,  sein  y,  sein  ,  sein  y,  sein  Ganzes,  es  be- 
trägt 33.    D.  h.  |a:  +  y  +  -7  +a:-33. 

Das  Wesen  einer  Gleichung  besteht  nun  allerdings  weit  weniger 
in  dem  Wortlaute  als  in  der  Auflösung,  und  so  müssen  wir,  um  die 
Berechtigung  unseres  Vergleichs  zu  prüfen,  zusehen,  wie  Ahmes  seine 
Haurechnungen  vollzieht.  Er  geht  dabei  ganz  methodisch  zu  Werke, 
indem  er  die  Glieder,  welche,  wie  man  heute  sagen  würde,  links  vom 
Gleichheitszeichen  stehen,  zunächst  in  eins  vereinigt.  Freilich  tut 
er  das  in  doppelter  Weise,  bald  so,  daß  die  Vereinigung  im  Neben- 
einanderschreiben der  betreffenden  Stammbrüche  bestehend   nur  eine 

2    11 

formelle  ist,  z.  B.  No.  31.:  1  ^  --Ya;=»33;  bald  so,  daß  durch 
Zurückführung  auf  einen  Generalnenner  wirkliche  Addition  vorge- 
nommen ist,  z.  B.  No.  24:  y  x  =  10;  No.  28.:  ^  x  =  10;  No.  29.: 

20 

X «  10.  Im  erstgenannten  Falle  wird  sofort  durch  den  Koeffi- 
zienten der  unbekannten  Größe  in  die  gegebene  Zahl  dividiert,  wie 
eben  der  Ägypter  zu  dividieren  pflegt,  d.  h.  bei  No.  31.  man  verviel- 

2    11 

fältigt  1^  o  w    solange    bis    33   herauskommen   und   findet   so   den 


76  8.  Kapitel. 

freilich  nichts  weniger  als  übersichtlichem  Wert  des  Haufens 
^^4"^  öS  679  7^19-4  888'  ^^^  welchem  wir  nur  zu  bemerken  geben, 
daß  —  —  ^^g  der  aus  der  Tabelle  herrührende  Wert  von  ^^  ist.  Der 
zweite  Fall  eröffiiet  wieder  zwei  Möglichkeiten.  Entweder  man  löst 
,  a:  =  C  indem  die  Division   -  yollzogen  und  deren  Quotient  mit  b 

vervielfacht  wird;   so  in  No.  24,   wo   zuerst   8  in  19   als   2     —mal 

enthalten  und  dann  7  mal  2  -  —  als  löy  g  gefunden  wird.   Oder  aber 

man  dividiert  mit  i^  i^i  1  ^md  vervielfacht  diesen  Quotienten  mit  C; 
80  wahrscheinlich  in  den  Aufgaben  No.  28.  und  29.  In  No.  28.  wird 
nämlich  -r  von  10  gesucht  und  von  10  abgezogen  um  den  Haufen  9 

19  1 

ZU  finden;  wir  fassen  das  so  auf,  es  sei  —  =  -    =  1  —  -  -  gewonnen 

9 
und  dann  1  —  £ö  ^^^  ^^  ermittelt  worden.     Bei  No.  29.  wird  ^  oder 

27 
27  11 

-^  im  Werte  von  1  —  .^  berechnet  und  dieses  10 mal  genommen,  so 
daß  13^-  ab  der  Haufen  erscheint. 

2 

Auch  hier  sollen  wir^)  eine  durchaus  irrige  Darstellung  gegeben 
haben.  Nicht  als  Gleichungen  seien  die  Haurechnungen  au&ufassen, 
sondern  als  Anwendungen  der  hier  erstmalig  auftretenden  Methode 
des  falschen  Ansatzes.     Ahmes  wähle,  wenn  eine  Aufgabe  von  der 

Form  -^a:  =  (7  vorgelegt  sei,  für  x  zunächst  den  bequemen,   wenn 

auch  falschen  Wert  6.  Durch  ihn  wird  freilich  -^x  nicht  C,  son- 
dern a,  und  der  richtige  Wert  von  x  wird  sodann  gefunden,  indem 
man  von  b  zu  ihm  dasselbe  Verhältnis  obwalten  läßt,  wie  von  a 
zu  C.  Der  Sache  nach  stimmt  diese  Methode  des  falschen  Ansatzes 
und  die  der  Gleichungsauflösung  offenbar  überein,  und  bei  fehlendem 
Zwischentexte  ist  es  beinahe  Geschmackssache,  ob  man  das  eine,  ob 
man  das  andere  erkennen  will. 

Daß  die  Vorstellung  eines  Hindurchgehens  durch  einen  falschen 
Ansatz  den  Ägyptern  nicht  fremd  war,  haben  wir  immer  behauptet, 
wie  sich  bei  der  Besprechung  der  Aufgabe  No.  40.  zeigen  wird. 


*)  Kodet,  Les  pr^tenduB  probl^mea  d'algäbre  du  manuel  du  calculateur 
£g7ptien. 


Die  Ägypter.    Arithmetisches.  77 

Dafi  aber  die  Ägypter  auch  mit  dem  Gleichnngsbegriffe  vertraut 
waren  ^  und  daß  ihnen  also  Fremdartiges  nicht  untei^eschoben  wird^ 
wenn  man^  wie  wir  es  getan  haben^  die  Haurechnungen  Gleichungs- 
auflösungen nennt  und  als  solche  behandelt,  das  zeigen  vorzugsweise 
andere  Aufgaben,  welche  im  Papyrus  raumlich  Ton  den  Haurech- 
nungen getreimt  von  No.  62.  an  auftreten  ^).  Diese  Au%iben  würden 
in  modernen  Übimgsbüchem,  in  welchen  sich  regelmäßig  verwandte 
Dinge  behandelt  finden,  unter  dem  Namen  der  Oesellschafts- 
rechnungen  erscheinen.  Die  deutlichste  derselben,  No.  63.,  hat 
nach  zweifellos  richtig  hergestelltem  Text  folgenden  WorÜaut:  „Yor- 

2 

Schrift   zu   verteilen   700  Brote   unter   vier  Personen,   -     für   einen, 

—  filr  den  zweiten,   ~  fQr  den  dritten,  —   für    den  vierten**.     Als 

2  111 

Gleichung    geschrieben    wäre    hier    Y^  +  y^  +  y^  +  Y^""  '^^ 

oder  1 Y  T  ^  ■=  '^^0.     Nun   wird   zwar   nicht   in   ägyptischer   Weise 

mit  1 Y  T  ^  ^  dividiert,  aber  doch  das  Ergebnis  y  —  sofort  hin- 
geschrieben, ein  Ergebnis,  welches  der  Seqemaufgabe  No.  9.  ent- 
nommen sein  kann^),  woraus  «zugleich  ein  weiterer  Nutzen  dieser 
Ergänzungsrechnui^en  und  damit  eine  weitere  Begründung  der  Not- 
wendigkeit ihrer  besonderen  frühzeitigen  Einübung  hervorgeht.  Der 
Wortlaut  ist  nämlich  anknüpfend  an  den  der  Aufgabe:  „Addiere  du 

-  YYT'  ^^  ^^*  °^^  ^YT"  ^^^^  ^^  1  durch  1  ^  Y'  ^** 
gibt  nun  y  jg  •  Mache  du  y  jr  ^on  700,  das  ist  400."  Wie  könnte 
man  bei  dieser  Rechnung  von  einem  falschen  Ansätze  reden?  Nein, 
es  ist  vollständige  Gleichungsauflösung.  Von  y  a;  —  C  ist  weiter  ge- 
schlossen auf  X  =»  (l  :  yj  (7,  genau  so  wie  wir  oben  es  auch  für  die 

Aufgaben  No.  28.  und  29.  wahrscheinlich  zu  machen  versuchten. 

Unter  den  Aufgaben  der  letzterwähnten  Gruppe  ist  No.  66.  nicht 
ohne  sachliches  Interesse,  wo  aus  dem  Fettertrage  eines  Jahres  der 
tägliche  Durchschnittsertrag  mit  Hilfe  der  Teilung  durch  365  er- 
mittelt wird.  Die  Länge  des  Jahres  zu  365  Tagen  führt  in  Ägypten 
auf  eine  sagenhafte  Urzeit  noch  vor  König  Mena  zurück ').  Der  Gott 
Thot  soll  der  Mondgöttin  im  Brettspiele  5  Tage  abgewonnen  haben. 


^)  Eisenlohr,  Papyrus  S.  161 — 174;  insbesondere  S.  169  für  die  Aufgabe 
No.  68.  und  S.  166—166  für  die  Aufgabe  No.  66.  *)  Ebenda  S.  66.  ')  Maspero- 
Pietschmann  S.  76 — 77. 


78  2.  Kapitel. 

die  er  den  bis  dahin  in  der  Zahl  von  360  üblichen  Tagen  des  Jahres 
zulegte.  Und  wie  die  Ägypter  mindestens  als  Mitbewerber  zu  anderen 
ältesten  Eulturrolkem  um  den  Vorrang  der  Kenntnis  der  Jahres- 
lange  von  365  Tagen  auftreten,  so  gebührt  ihnen  ganz  gewiß  das 
Erstlingsrecht  in  der  Einführung  des  Schaltjahres  Ton  366  Tagen, 
welches  je  nach  drei  gewöhnlichen  Jahren  eintretend  eine  Ausglei- 
chung der  Jahresdaten  mit  den  wirklichen  Jahreszeiten  zum  Zwecke 
hat.  Das  Edikt  von  Eanopus  vom  7.  März  238  v.  Chr.  führte  diese 
Einrichtung  ein,  wenn  sie  auch  bald  wieder  in  Vergessenheit  geriet^). 
Dem  Inhalte  und  der  Art  des  Auftretens  nach  hochbedeutsam 
sind  die  Aufgaben  No.  40.,  64.,  79.  des  Papyrus.  Ihr  getrenntes  Vor- 
kommen scheint  darauf  hinzuweisen,  daß  der  mathematische  Zusammen- 
hang derselben  für  Ahmes  nicht  deutlich,  oder  nicht  erheblich  genug 
war  um  die  Anordnung  der  Aufgaben  zu  beeinflussen.  Ihr  Gegen- 
stand ist  der  Lehre  Ton  den  arithmetischen  und  den  geometri- 
schen Reihen  entnommen. 

No.  40.     „Brote  100  an  Personen  5;  y  von  3  ersten   das  von 

Personen  2  letzten.  Was  ist  der  Unterschied?^**)  Ahmes  will  eine 
arithmetische  Reihe  von  5  Gliedern  gebildet  haben,  deren  größtes 
Anfangsglied  a,  deren  negative  Differenz  —  d  sei,  und  welche  der  Be- 
dingung entspricht,  daß  ?_+(a~d)^+(a-2(g)  _  (,^  _  3  ^^  ^  ^^  _  4 ^^ 

oder  11  (a  —  4d)  =  2d,  beziehungsweise  rf  =•  5  y  x  (a  —  4d)  sei.  Mit 
anderen   Worten:    der   Unterschied    der   Glieder    muß    das   5  v^  fache 

des  niedersten  Gliedes  betragen,  damit  der  einen  ausgesprochenen 
Bedingung  genügt  werde,  und  Ahmes  kleidet  dieses  ohne  jede  Be- 
gründung in  die  Worte:  „Mache  wie  geschieht,  der  Unterschied  5--**, 
worauf  er  die  Reihe  hinschreibt,  welche  die  1  als  letztes  Glied  be- 
sitzt: 23,  17  —  ,  12,  6.  ,  1.  Allein  die  Summe  8  dieser  Reihe  ist 
nur  60,  während  sie  nach  der  anderen  ausgesprochenen  Bedingung 
100  sein  soll.     Nun  ist  100  das  ly  fache  von  60,  man  braucht  also 

2 

nur  jedes  Reihenglied  l^mal  zu  nehmen  um  beiden  Bedingungen 
zugleich  gerecht  zu  werden.  Bei  Ahmes  heißt  dieses  wieder  ohne 
weitere  Begründung  „mache  du  vervielfältigen  die  Zahl  1— mal",  wo- 


^)  Über  das  im  April  1866  aufgefundene  Edikt  von  Eanopus  vgl.  B.  Lep- 
siuB,  Das  bilingue  Dekret  von  Eanopus.  Berlin  1866.  Bd.  I.  *)  Eisenlohr^ 
Papyrus  S.  90— 92. 


Die  Ägypter.    Arithmetisches.  79 

11  2    12 

durch  er  zu  der  richtigen  Reihe  38y ,  29  g-,  20,  lOy  y,  ly  gelangt. 

Hier  hat  Ahmes  in  der  Tat  zuerst  einen  falschen  Ansatz  versucht, 
um  ihn  nachtraglich  zu  yerbesseni;  und  wir  werden  uns  dieses  Ver- 
fahren ftir  später  zu  merken  haben. 

No.  64.    yyVorschrift  des  Abteilens  Unterschiede.     Wenn  gesagt 
dir  Getreide  Maß  10  an  Personen  10.     Der  Unterschied  von  Person 

jeder  zu  ihrer  zweiten  beträgt  an  Getreide  Maß  y,   ist   er.*'^)      Hier 

ist  aus  der  Summe  8,  der  wieder  negativ  gewählten  Differenz  —,d 
und  der  Gliederzahl  n  das  Anfangsglied  a  der  fallenden  arithmeti- 
schen Reihe  zu  suchen.   Nim  ist  a  +  (a  —  d)  H f-  (»  —  (w  —  l)d)  = 

5  =-  wa  —       Z'    d  und  daraus  a  =»  —  +  (w  —  1)  •  ^  und  genau  nach 

dieser  Formel  läßt  Ahmes  rechnen.  Der  Wortlaut  mag  diese  Be- 
hauptung begründen.    Ahmes  schreibt  vor:  ^^Ich  teile  in  der  Mitte 

jd.  h.  ich  bilde  den  mittleren  Durchschnitt  —1  d.  i.   1  Maß.     Ziehe 

ab   1   von   10   Rest  9   [d.  h.  bilde  n  —  1].     Mache   die   Hälfte   des 

Unterschiedes  fd.  h.  mache  ^1  d.  i.  — .     Nimm  es  mal  9  fd.  i.  nimm 

Y  X  (n  —  1)1,  das  gibt  bei  dir  y  ^g.    Lege  es  hinzu  zur   Teilung 

mittleren  fd.  h.  vollziehe  die  Addition  —  +  y  X  (n  +  1)1 .   Ziehe  ab 

du  Maß  g   für  Person  jede  um  zu  erreichen  das  Ende." 

Eine  höchst  merkwürdige  Parallelstelle  findet  sich  in  den  Frag- 
menten von  Eahun,  nämlich: 

110 

< 

"I 

10-^ 

12 

»,; 

4 


^  Eisenlohr,  Papyrns  S.  169— 162. 


80  2.  Kapitel. 


6|: 


Die  10  letzten  Zahlenangaben  bilden  eine  fallende  arithmetische  Reihe 

mit  der  Differenz  -^  und  der  Summe  100.   Mit  der  als  Überschrift  die- 

nenden  Zahl  110  ist  nichts  anzufangen,  es  sei  denn  daß  man  annähme, 
zwischen  dem  Zeichen  für  10  und  dem  für  100  sei  beim  Schreiben 
irgend  etwas  yergessen  worden.  Man  hätte  alsdann  als  Überschrift 
zu  denken:  100  m  10  Glieder  zu  zerlegen,  und  nach  dieser  Über- 
schrift fände  sich  die  Auflösung  der  Aufgabe. 

In  den  beiden  Aufgaben  No.  40.  und  No.  64.  bedurfte  es  von  uns  der 
Erläuterungen,  um  die  betreffenden  Auflösungsmethoden  zu  rechtfer- 
tigen. Ahmes  setzt  kein  Wort  von  dieser  Art  hinzu.  Das  beweist 
doch  mit  aller  Bestimmtheit,  da£  die  notwendigen  Formeln  aus  einem 
anderen  Lehrbuche  hergenommen  sein  mußten,  oder  aber,  daß  der 
mündliche  Unterricht  für  die  nötige  Erklärung  bei  solchen  Schülern 
sorgte,  die  zur  Fri^^e:  warum  macht  man  das  so?  reif  waren.  Eeinen- 
falls  konnte  der  ägyptische  Mathematiker,  wenn  die  Anwendung  dieses 
Wortes  gestattet  ist,  in  seinem  Wissen  von  arithmetischen  Reihen 
auf  die  unbewiesenen,  ungerechtfertigten  Formeln  beschränkt  gewesen 
sein,  von  denen  in  No.  40.  und  64.  Gebrauch  gemacht  ist.  Dafür 
spricht  noch  weiter  das  Vorhandensein  eines  besonderen  Ausdruckes 
Tunnu,  die  Erhebung,  für  den  Unterschied  zweier  aufeinander 
folgender  Glieder  der  Reihe. 

Wir  haben  uns  auch  noch  auf  die  Aufgabe  No.  79.  für  Kennt- 
nisse in  der  Lehre  von  den  geometrischen  Reihen  bezogen.  Wie 
weit  sich  diese  erstreckten,  ist  freilich  viel  zweifelhafter  als  bei  den 
arithmetischen  Reihen.  In  der  genannten  Aufgabe^)  ist  von  einer 
Leiter,  Sutek,  die  Rede,  welche  aus  den  Gliedern  7,  49,  343,  2401, 
16807  bestehe.  Neben  diesen  Zahlen,  offenbar  neben  den  5  ersten 
Potenzen  von  7,  stehen  Wörter,  die  auf  deutsch  Bild,  Katze,  Maus, 
Gerste,  Maß  heißen.  Der  Sinn  dieser  Aufgabe  war  durch  die  mehr- 
erwähnte Eigentümlichkeit  des  Handbuches,  nirgend  verbindende  oder 
erklärende  Worte  zwischen  die  Zahlenangaben  einzuschieben,  unver- 
ständlich und  mußte  es  bleiben,  bis  es  gelang  bei  einem  Schriftsteller, 
der  fast  3000  Jahre  nach  Ahmes  lebte,  eine  Aufgabe  aufzufinden, 
von  welcher  im  41.  Kapitel  im  folgenden  Bande  die  Rede  sein  wird. 


')  Eisenlohr,  Papyrus  S.  202— 204. 


Die  Ägypter.    Aritbmetischeä.  81 

und  welche  den  Schlüssel  lieferte^).  Der  fehlende  Wortlaut  der 
Aufgabe  No.  79.  ist  demnach  folgendermaßen  herzustellen:  7  Per- 
sonen besitzen  je  7  Katzen;  jede  Katze  vertilgt  7  Mäuse;  jede  Maus 
frißt  7  Ähren  Gerste;  aus  jeder  Ähre  können  7  Maß  Getreidekömer 
entstehen;  wie  heißen  die  Glieder  der  nach  diesen  Angaben  zu  bil- 
denden Zahlenreihe,  und  wie  groß  ist  ihre  Summe?  Ahmes  bildet 
die  Glieder  wirklich.  Er  addiert  sie  zu  19607  und  findet  in  einer 
Nebenrechnung  die  gleiche  Zahl  19607  als  Produkt  von  7  mal  2801. 
Allerdings  ist  nicht  gesagt,  wie  Ahmes  gerade  zu  dem  Faktor  2801 
gelangte,  aber  andererseits  ist  auch  nicht  in  Abrede  zu  stellen,  daß 

2801  =  ~'7ZIT~'  ^^^  ^^^  möglicherweise,  vielleicht  wahrscheinlicher- 
weise hier  die  Kenntnis  der  Summierungsformel  für  die  geometrische 
Reihe    a  +  a*  -f-  •  •  •  +  a"^  =     -_^-  X  a   durchschimmert,   wenn   auch 

von  einer  Gewißheit  keine  Rede  sein  kann. 

Das  wäre  etwa  der  Inhalt  des  Übungsbuches  des  Ahmes,  soweit 
er  für  die  Rechenkunst  von  Wichtigkeit  ist.  Bevor  wir  den  geome- 
trischen Teil  der  Aufgaben  zur  Sprache  bringen  und  des  Metrolo- 
gischen im  Vorbeigehen  gedenken,  schalten  wir  hier  Erörterungen 
ein,  die  sich  auf  die  schriftliche  Bezeichnung  der  Zahlen  bei  den 
Ägyptern  und  auf  das  Rechnen  derselben  beziehen. 

Daß  die  Schrift  der  Ägypter  ihren  ursprünglichen  Charakter  als 
Bilderschrift  in  den  Zeichen,  welche  zur  monumentalen  Anwendung 
kamen,  am  reinsten  bewahrt  hat,  braucht  gewiß  kaum  gesagt  zu 
werden.  Die  Hieroglyphen,  eingehauen  in  die  Obelisken  und  Ge- 
denksteine, aufgemalt  auf  die  Wände  der  Tempel  und  der  Grabes- 
kammem,  lassen  auf  den  ersten  Blick  sich  als  Zeichnungen  von 
Menschen,  von  Tieren,  von  Gliedmaßen,  von  Gegenständen  des  täg- 
lichen Gebrauches  erkennen,  wenn  sie  auch  allmählich  mit  Silben- 
oder Buchstabenaussprache  versehen  wurden,  welche  mit  dem  dar- 
gestellten Bilde  oft  nur  lautlich  zusammenhängen.  Bei  rascherem 
Schreiben  veränderten  sich  selbstverständlich  die  Zeichen.  Absicht- 
lich oder  zufällig  abgerundet  verschwammen  sie  bis  zur  ünerkenn- 
barkeit  ihres  Ursprunges  in  rasch  hinzuwerfende  Züge  der  hiera- 
tischen Schrift.  Endlich  ist  als  letzte  Erscheinungsweise  dieses 
Abhandenkommens  der  ersten  Umrisse  die  demotische  Schrift  zu 
erwähnen,  heute  noch  die  meisten  Schwierigkeiten  bereitend,  bei 
denen  wir  uns  glücklicherweise  nicht  aufzuhalten  brauchen,  da  die- 
jenigen Schriftstücke,  von  denen  allein  die  Rede  sein  muß,  teils  in 


')  Rodet,  Les  pr^tendos  problämes  d'algäbre  du  manael  da  calcalateur 
ßgyptien  pag.  111—113  der  SonderauBgabe. 

Caiitob,  Geschichte  der  Methematik  I.  9.  Aafl.  6 


82  2.  Kapitel. 

Hieroglyphen  an  verschiedenen  noch  zu  nennenden  Tempelwäaden, 
teils  in  hieratischer  Schrift  —  so  besonders  das  bisher  besprochene 
Werk  des  Ahmes  —  erhalten  sind. 

Die  Richtung  der  Schrift  ist  bei  Hieroglyphen  wechselnd. 
Man  pflegte  nämlich  auf  die  Richtung,  in  welcher  der  Lesende  vor- 
überschreitend  gedacht  war,  Rücksicht  zu  nehmen,  und  so  mufite  bei 
Inschriften  auf  zwei  Parallelwänden  notwendigerweise  auf  der  Wand 
zur  Rechten  des  Hindurchgehenden  die  Schrift  Ton  rechts  nach  links 
fortschreiten,  auf  der  anderen  Wand  yon  links  nach  rechts.  Sämt- 
liche Hieroglyphen  kommen  daher  bald  in  einer  Form  Tor,  bald  in 
der  durch  Spiegelimg  aus  jener  entstehenden  zweiten  Form.  Man 
hat  sich  gewöhnt  bei  der  Wiedergabe  der  Hieroglyphen  im  Drucke 
stets  die  Form  anzuwenden,  welche  dem  Lesen  von  links  nach  rechts 
entspricht.  Die  hieratische  Schrift  dagegen  führt  immer  yon  rechts 
nach  links  ^). 

Sollten  in  hieroglyphischen  Inschriften  Zahlen  dargestellt  werden, 
so  standen  dazu  verschiedene  Mittel  zu  Gebote^).  Bald  wiederholte 
man  das  zu  Zählende,  wie  z.  B.  in  einer  Inschrift  von  Kamak,  wo 
„9  Götter"  in  der  Weise  geschrieben  ist,  daß  das  Zeichen  für  Gott 
neunfach  nebeneinander  abgebildet  ist.  Bald  schrieb  man  die  Zahl- 
wörter alphabetisch  aus,  ein  höchst  wichtiges  Vorkommen,  da  hieraus 
die  Kenntnis  des  Wortlautes  wenigstens  in  einigen  Fällen  zu  ge- 
winnen war,  wozu  alsdann  Ergänzungen  teils  aus  der  Benutzung  von 
Zahlzeichen  in  Silbenbedeutung,  teils  aus  der  koptischen  Sprache  usw. 
kamen,  so  daß  man  gegenwärtig  über  eine  ziemliche  Menge  von 
ägyptischen  Zahlwörtern  verfügt^).  Bei  weitem  am  häufigsten  ge- 
brauchten aber  die  Ägypter  bestimmte  Zahlzeichen,  denen  der 
Franzose  Jomard  schon  während  der  ägyptischen  Expedition  1799 
auf  die  Spur  kam,  und  die  er  1812  bekannt  machte.  Sie  stammen 
meistens  aus  dem  sogenannten  „Grabe  der  Zahlen'^,  das  Champollion 
unweit  der  Pyramiden  von  Gizeh  auffand,  und  in  welchem  dem  reichen 
Besitzer  seine  Herden  mit  Angabe  der  einzelnen  Tiergattungen  vor- 
gezahlt werden,  als  834  Ochsen,  220  Kühe,  3234  Ziegen,  760  Esel, 
974  Schafe. 

Die  Zeichen  sind  ihrer  Bedeutung  nach  1  (I),  10  (  H  )>  ^^  (^)> 

1000  C^V  10000  /'h;  auch  eio  Zeichen  für  100000  (^  ),  für 
Million  ( Wy  sogar  ftlr  10  Million  (Q)  ist  bekannt  geworden*).    Was 

^)  Maspero-PietBchmann  S.  590.  *)  Mathem.  Beitr.  KulturL  S.  16. 
*)  Eisenlohr,  Papyrus  S.  18—21.  *)  Hieroglyphißche  Gtammatik  von 
H.  Biugsch.    Leipzig  1872,  S.  33. 


Die  Ägypter.    Arithmetisches.  83 

die  Speichen  darstellen^  ist  nicht  bis  zur  vollen  Sicherheit  klar.  Daß 
1  durch  einen  senkrechten  Stab^  10000  durch  einen  deutenden  Finger, 
100000  durch  eine  Kaulquappe,  Million  durch  einen  sich  yerwundem- 
den  Mann  zu  erklären  sei,  darin  mögen  wohl  alle  einig  sein.  Die 
Tier  übrigen  Zeichen  dagegen  für  10,  100,  1000,  10  Million  sind  bald 
so,  bald  so  gedeutet  worden.  So  hat  man  beispielsweise  in  dem 
Zeichen  für  100  bald  einen  Palmstengel,  bald  einen  Priesterstab,  in 
dem  für  1000  bald  eine  Lotusblume,  bald  eine  Lampe  erkennen 
wollen.  Wir  sehen  von  dieser  Einzeldeutung  als  uns  nicht  berührend 
ab  und  schildern  nur  die  Methode,  nach  welcher  mittels  dieser  Zeichen 
die  Zahlen  geschrieben  wurden. 

Sie  ist  eine  rein  additive  durch  Nebeneinanderstellung  oder 
Juxtaposition,  indem  das  Zeichen  der  Einheit  einer  jeden  Ordnung 
so  oft  wiederholt  wird  als  sie  vorkommen  sollte.  Der  leichteren 
Übersicht  wird  dadurch  Vorschub  geleistet,  daß  Zeichen  derselben 
Art,  wenn  mehr  als  vier  derselben  auftreten  sollten,  in  Gfruppen  zer- 
legt zu  werden  pflegten,  so  daß  nicht  mehr  als  höchstens  vier  Zeichen 
derselben  Art  dicht  nebeneinander  geschrieben  wurden.  Eine  der- 
artige Gruppierung  scheint  übrigens  fast  allerorten  sich  frühzeitig 
eingebürgert  zu  haben,  selbst  bei  solchen  Völkern,  die  in  ihren  mit 
lauter  einfachen  Strichen  versehenen  Kerbhölzern  zu  der  niedrigsten 
Form  eines  schriftlichen  Festhaltens  einer  Zahl  allein  sich  aufzu- 
schwingen vermochten^).  Die  Reihenfolge  der  Zeichen  überhaupt 
und,  bei  Zeichen  derselben  Art,  der  Gruppen  gehorcht  dem  Gesetze 
der  Größenfolge,  welches  wir  in  der  Einleitung  erläutert  haben.  Bei 
den  von  *links  nach  rechts  verlaufenden  Hieroglyphentexten  steht 
demnach  das  Zeichen,  beziehungsweise  die  Gruppe  höchster  Zahlen- 
bedeutung immer  links  von  den  anderen,  und  umgekehrt  verhalt  es 
sich  bei  den  Texten  entgegengesetzten  Verlaufs.  Kamen  neben  den 
Ganzen  auch  Brüche  vor,  so  wurden  diese  selbstverständlich  nach 
den  Ganzen  geschrieben.  Die  Bezeichnung  der  Stammbrüche  findet 
so  statt,  daß  der  Nenner  in  gewöhnlicher  Weise  geschrieben  wird, 
darüber  aber  das  Zeichen  <=>  Platz  findet,  welches  ro  ausgesprochen 

wird.    Nur  statt  y  schreibt  man  / und  statt  des  uneigentlichen 

Stammbruches  y  "^  oder  <ö>  • 

Die  hieratischen  Zahlzeichen  wurden  fast  ebenso  frühzeitig  wie 
die  hieroglyphischen  bekannt,  indem  ChampoUion  zwischen  1824  und 
1826  aus  der  überaus  reichen  ägyptischen  Sammlung  zu  Turin  und 
den  Papyrusrollen  des  Vatikan  die  Grundlage  zu  ihrer  Entzifferung 

»)  Pott  I,  8.8—9;  n,  S.68. 


84  2.  Kapitel. 

gewann.  Daß  auch  hier  das  Gesetz  der  Größenfolge  für  ganze  Zahlen 
wie  für  Brüche  maßgebend  ist,  daß  der  Richtung  der  hieratischen 
Schrift  entsprechend  das  Größere  ausnahmslos  rechts  von  dem  Klei- 
neren steht;  braucht  kaum  gesagt  zu  werden.  Zum  Schreiben  der 
ganzen  Zahlen  benutzt  die  hieratische  Schrift  beträchtlich  mehr 
Zeichen  als  die  hieroglyphische,  weil  sie  von  der  Juxtaposition  unter 
sich  gleicher  Zeichen  Abstand  nimmt,  vielmehr  für  die  neun  mög- 
lichen Einer,  für  die  ebensovielen  Zehner,  Hunderter,  Tausender  sich 
lauter  besonderer  voneinander  leicht  unterscheidbarer  Zeichen  bedient. 
Sie  spart  an  Raum  und  stellt  dafür  höhere  Anforderungen  an  das 
Wissen  des  Schreibenden  oder  Lesenden.  Nicht  als  ob  jene  Zeichen 
insgesamt  voneinander  unabhängig  wären.  Ein  Blick  auf  die  Tafel 
am  Schlüsse  dieses  Bandes  genügt,  um  zu  erkennen,  daß  die  Einer- 
mit  geringen  Ausnahmen  sich  aus  der  Vereinigung  der  betreffenden 
Anzahl  von  Punkten  zu  Strichen  und  aus  der  Verbindung  solcher 
Striche  zusammengesetzt  haben  ^),  daß  die  Hunderter  und  Tausender 
aus  den  Zeichen  für  100  und  1000  mit  den  sie  vervielfachenden 
Einem  entstanden  sind,  daß  jene  Zeichen  für  1000,  für  100,  auch  für 
10  den  Hieroglyphen  entstammen,  unter  Beachtung  des  Gegensatzes 
zwischen  einer  rechtsläufigen  und  einer  linksläufigen  Schrift.  Die 
übrigen  Zehner  fordern  jedoch  den  Scharfsinn  des  Erklärers  so  weit 
heraus,  daß  wir  darauf  verzichten  auch  nur  einen  Versuch  in  dieser 
Beziehung  anzustellen. 

Die  Hieroglyphe  für  10  hat  sich,  wie  man  bemerken  wird,  bei 
der  hieratischen  Schrift  oben  zugespitzt,  und  so  bestätigt  sich  der 
Bericht  eines  wahrscheinlich  in  Ägypten  geborenen  griechiscfien  Schrift- 
stellers aus  dem  Anfange  des  V.  Jahrhunderts  n.  Chr.,  Horapollon, 
welcher  mitteilt^),  die  10  werde  durch  eine  gerade  Linie  dargestellt, 
an  welche  eine  zweite  sich  anlehne.  Derselbe  Schriftsteller  sagt 
auch'),  die  5  werde  durch  einen  Stern  dargestellt,  wie  gleichfalls 
von  der  neueren  Forschung  bestätigt  worden  ist,  wenn  auch  dieses 
Zeichen  weniger  Zahlzeichen  als  eigentliche  Worthieroglyphe  gewesen 
zu  sein  scheint. 

Bei  der  hieratischen  Schreibweise  der  Brüche  hat  das  hierogly- 
phische ro  sich  zu  dem  Punkte  verdichtet,  der,  wie  wir  schon  wissen, 
über  die  ganze  Zahl  des  Nenners  gesetzt  den  Stammbruch  erkennen 

2  1 

ließ.     (S.  61.)     Den  Hieroglyphen  von    -  und    ~  entsprechen  gleich- 
falls aus  ihnen  abgeleitete  Zeichen.     Außerdem   gibt  es  noch  beson- 


')  R.  Lepsius,  Die  altägyptische  Elle  nnd  ihre  Eintheilang  (Abhandlungen 
der  Berliner  Akademie  1866)  S.  42.  *)  Horapollon,  Hieroglyphica  Lih.  II, 
cap.  30.     *)  Horapollon,  Hieroglyphica  Lib.  I,  cap.  13. 


Die  Ägypter.    Arithmetisches.  8Ö 

dere  hieratische  Zeichen  für        und      ,   deren  Ursprung   nicht    wohl 

ersichtlich  ist,  es  müßte  denn  bei  dem  Zeichen  für     -   an    die   Vier- 

teilung  der  Ebene  durch  zwei  sich  kreuzende  Linien  gedacht 
worden  sein? 

Die  hieratische  Schreibweise  der  ganzen  Zahlen  insbesondere  war 
nicht  systemlos.  Sie  konnte  das  Rechnen,  namentlich  das  Multipli- 
zieren bedeutend  unterstützen,  vorausgesetzt,  daß  man  nur  eine  Kennt- 
nis dessen  besaß,  was  als  Ergebnis  der  Vervielfachung  der  Einer 
untereinander  und  der  Einheiten  verschiedener  Ordnung  erscheint. 
Aber  eine  solche  Einmaleinstabelle  haben  die  Ägypter 
mutmaßlich  nie  besessen.  Der  Beweis  dafür  liegt  in  der  Tat- 
sache, daß  sie  Multiplikationen  so  gut  wie  nie  auf  einen  Schlag  voll- 
zogen und  auch  bei  der  Ermittlung  der  Teilprodukte  den  Multipli- 
kator keineswegs  nach  dekadisch  unterschiedenen  Teilen  zu  zerlegen 
pflegten.  Wollte  man  z.  B.  das  ISfache  einer  Zahl  bilden,  so  suchte 
man  nicht  etwa  das  3  fache  und  10  fache,  sondern  das  1  fache,  2  fache, 
4 fache,  8 fache  durch  wiederholte  Verdopplung  und  vereinigte  dann 
das  1  fache,  4  fache,  8  fache  zum  gewünschten  Produkte.  Der  gleiche 
Kunstgriff  reichte  aus,  wenn  Stammbrüche  mit  Stammbrüchen  ver- 
vielfacht werden  sollten,  da  vermöge  der  Schreibart  der  Brüche  hier 
die  Gleichartigkeit  mit  der  Vervielfachung  ganzer  Zahlen  untereinander 
auf  der  Hand  lag,  so  daß  wir  in  dieser  Bezeichnung  der  Brüche 
selbst  entweder  eine  geniale  Erfindung  oder  einen  glücklichen  GriflF, 
wahrscheinlich  das  letztere,  zu  rühmen  haben. 

Wir  haben  an  den  früher  besprochenen  Beispielen  die  Methoden 
allmählicher  Vervielfachung  ganzer  und  gebrochener  Zahlen  sowohl 
zum  Zwecke  eigentlicher  Multiplikation,  als  indirekter  Division  zur 
Genüge  kennen  gelernt.  Wir  haben  (S.  74)  hervorgehoben,  daß  das 
Handbuch  des  Ahmes  nur  für  Geübtere  geschrieben  sein  kann,  und 
mögen  auch  seine  Schlußworte^):  „Fange  Ungeziefer,  Mäuse,  Unkraut 
frisches,  Spinnen  zahlreiche.  Bitte  Ra  um  Wärme,  Wind,  Wasser 
hohes"  sich  an  einen  Landmann  wenden,  mögen  die  Aufgaben  selbst 
vielfach  an  die  Beschäftigungen  eines  Landmannes  erinnern,  niemand 
wird  deshalb  glauben  wollen,  daß  ein  gewöhnlicher  Landmann  Hau- 
und  Tunnurechnungen  zu  bewältigen  imstande  gewesen  sei.  Neben 
dem  höheren,  dem  wissenschaftlichen  Rechnen  kann  daher  und  muß 
vielleicht  an  ein  Elementarrechnen  gedacht  werden,  dessen  Spuren 
wir  anderwärts  als  in  dem  Papyrus  des  Ahmes  aufzusuchen  haben. 
Das  meiste,  was  die  Wissenschaft  erfand,  sickert  im  Laufe  der  Jahre, 

^)  Eisenlohr,  Papyrus  S.  223— 225. 


86  2.  Kapitel. 

wenn  nicht  der  Jahrhunderte  durch  die  verschiedenen  Yolksklassen 
hindurch,  allgemeine  Verbreitung  erst  dann  erlangend,  wenn  höhere 
Bildung  schon  weit  darüber  hinaus  gegangen  ist,  oder  gar  es  als 
falsch  erkannt  hat.  So  muß  es  auch  mit  dem  Bechnen  gegangen 
sein  in  dem  Lande,  wo  es  vielleicht  zuhause  war. 

Auf  die  ägyptische  Herkunft  der  Rechenkunst  weisen 
Volkssagen  hin,  welche  von  griechischen  Schriftstellern  uns  aufbewahrt 
wurden.  „Die  Ägypter'^,  so  sagt  uns  der  eine^),  „erzählen,  sie  hätten 
das  Feldmessen,  die  Sternkunde  und  die  Arithmetik  erfunden.^^  Ein 
anderer  hat  gehört*),  der  Gott  Thot  der  Ägypter  habe  zuerst  die 
Zahl  und  das  Rechnen  und  Geometrie  und  Astronomie  erfunden.  Ein 
dritter ')  führt  die  ganze  Mathematik  auf  Ägypten  zurück,  denn  dort, 
meint  er,  war  es  dem  Priesterstande  vergönnt  Muße  zu  haben.  Und 
wenn  Josephus,  sei  es  seinem  Nationalstolze  eine  Genugtuung  ver- 
schaflfend,  sei  es  zum  Teil  wenigstens  der  Wahrheit  die  Ehre  gebend, 
behauptet,  die  Ägypter  hätten  die  Arithmetik  von  Abraham  erlernt, 
der  sie  gleich  der  Astronomie  aus  Chaldäa  nach  Ägypten  mit- 
brachte, so  fügt  er  doch  hinzu,  die  Ägypter  seien  die  Lehrer  der 
Hellenen  in  dieser  Wissenschaft  gewesen*). 

Die  Frage  ist  nun,  wie  das  älteste  elementare  Bechnen  der  Ägypter 
beschaffen  war,  dasjenige,  welches  nach  unserer  Auffassung  auch  zur 
Zeit  des  Ahmes  und  später  noch  das  allgemein  übliche  war?  Zur 
Beantwortung  dieser  Frage  stehen  uns  teils  Vermutungen,  teils  eine 
bestimmte  Aussage  eines  zuverlässigen  Berichterstatters  zu  Gebote, 
und  bald  auf  die  einen,  bald  auf  die  andere  uns  stützend  glauben 
wir  an  ein  Pingerrechnen,  wissen  wir  von  einem  instrumentalen 
Bechnen  der  Ägypter. 

Das  Bechnen  an  den  Fingern,  nicht  nur  so  wie  es  unwill- 
kürlich das  Kind  schon  ausführt,  welches  zu  addierende  Zahlen  durch 
ebensoviele  ausgestreckte  Finger  sich  versinnlicht,  um  die  Summe  vor 
Augen  zu  haben,  sondern  unter  einigermaßen  künstlicher  Ausbildung 
mit  bestimmtem  Werte  der  einzelnen  Finger  ist  (S.  6 — 7)  bei  Völkern 
nachgewiesen  worden,  für  die  wir  kaum  mehr  als  die  ersten  Anfänge 
von  Bildung  in  Anspruch  nehmen  dürfen.  Wir  wollen  keinerlei  Ge- 
wicht darauf  legen,  daß  die  Völker,  von  denen  an  jener  Stelle  die 
Bede  war,  dem  Lineren  und  dem  Süden  Afrikas  angehören,  daß  so- 
mit bei  der  nordsüdlichen  Bichtung,  welche  auf  jenem  Erdteile  die 
Bildung  eingehalten  zu  haben  scheint,  bei  der  geringen  geistigen  Be- 
gabung der  Negerrassen  hier  ein  solches  Durchsickern  altägyptischer 


*)  Diogenes  Laertius  prooem.  s.  11.     *)  Piaton,  Phaedros  pag.  274ni. 
')  Aristoteles,  Metaphys.  I,  1  in  fine.     *)  Josephos,  Antiquit.  I,  cap.  8,  §2. 


Die  Ägypter.    AxithmetischeB.  87 

Methoden^  wie  wir  es  eben  als  naturgemäß  schilderten^  so  langsam 
YonstatteD  gegangen  sein  könnte,  daß  sie  erst  nach  Jahrtausenden 
in  sehr  yiel  südlicheren  Breiten  ankamen.  Derartige  Vermutungen 
auszusprechen,  ist  nicht  ohne  Beiz,  sie  können  ein  vereinzeltes  Mal 
glücken,  aber  sie  haben  darum  noch  keine  Berechtigung.  Dagegen 
war  in  Ägypten  selbst  in  der  ersten  Hälfte  des  V.  nachchristlichen 
Jahrhunderts  die  Überlieferung  von  einer  Zahlenbedeutung  des 
Ringfingers  noch  yorhanden.  Allein  umgebogen,  während  alle 
anderen  Finger  gestreckt  blieben,  habe  er  den  Wert  6  dargestellt, 
die  erste  vollkommene  Zahl  ^),  sei  darum  auch  selbst  der  Vollkommen- 
heit teilhaftig  worden  und  habe  das  Vorrecht  erhalten,  Ringe  zu 
tragen^).  Zu  dieser  Sage  kommen  noch  alterhaltene  Denkmäler.  In 
einer  Pariser  Sammlung  ägyptischer  Altertümer^)  findet  sich  eine 
rechte  Hand,  an  welcher  die  zwei  letzten  Finger  umgelegt  sind. 
Das  kann  wenigstens  eine  Zahlenbedeutung  gehabt  haben.  Über  die 
Möglichkeit  hinaus  bis  beinahe  zur  Gewißheit  fuhren  aber  Bezeich- 
nungen alt  ägyptischer  Ellen  ^),  welche  in  mehreren  Exemplaren 
vorhanden  sind.  Die  Zahlen  von  1  bis  5  sind  durch  die  fünf  Finger 
der  linken  Hand,  welche  allmählich  vom  kleinen  Finger  anfangend 
ausgestreckt  werden  —  wenigstens  wird  der  Daumen  zuletzt  aus- 
gestreckt —  dargestellt.  Zur  Bezeichnung  der  Zahl  6  dient  alsdann 
die  rechte  Hand  mit  ausgestrecktem  Daumen  bei  im  übrigen  ge- 
schlossenen Fingern,  allerdings  eine  fast  überraschende  Übereinstim- 
mung mit  der  oben  berührten  Sitte  jener  von  links  nach  rechts  an 
den  Fingern  zählenden  Negerstämme.  Dagegen  dürfen  wir  nicht  ver- 
schweigen, daß  nach  diesen  sechs  Bildern,  die  an  Deutlichkeit  nichts 
zu  wünschen  übrig  lassen,  wieder  an  verschiedenen  Exemplaren  sich 
bestätigend  zwei  weitere  Bilder  auftreten,  jedes  4  ausgestreckte  Finger . 
ohne  Daumen  darstellend,  welche  unserer  Deutung  nicht  ferner  zu 
Hilfe  kommen,  wenn  sie  derselben  auch  nicht  geradezu  widersprechen. 
Dieser  letzten  Bilder  wegen  sahen  wir  uns  zu  dem  behutsameren 
„beinahe^^  veranlaßt,  welches  die  Gewißheit  des  Fingerrechnens  als 
durch  die  Fingerzahlen  auf  den  EUen  bezeugt  einschränken  mußte. 
Mit  aller  Gewißheit  ist  uns  von  dem  instrumentalen  Rechnen 
der  Ägypter  Nachricht   zugegangen.     „Die  Ägypter^^,   so  erzählt  uns 


^)  Über  den  Begriff  der  vollkommenen  Zahl  vgl.  im  6.  Kapitel  *)  Macro- 
bius,  Convivia  Saturnalia  Lib.  VII,  cap.  18.  ')  Claude  du  Molinet,  le 
cabinet  de  Ja  bibliotheque  de  St  Genevteve.  Pariß  1692.  Tab.  9  p.  16.  Auf  diese 
sehr  interessante  Andeutung  hat  Heinr.  Stoy,  Zur  Geschichte  des  Bechenunter- 
richtes  1,  Teil,  S.  40,  Note  3  (Jenaer  Habilitationsschrift  von  1876)  zuerst  hin- 
gewiesen. *)  Die  Abbildungen  bei  B.  Lepsius,  Die  altägyptische  Elle  und  ihre 
Eintheilung  (Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  1866). 


88  2.  Kapitel. 

Herodot  ^\  der  Land  und  Leute  aus  eigener  Anschauung  genau  kannte^ 
und  der  stets  unterscheidet,  wenn  er  nur  ihm  selbst  Berichtetes  und 
nicht  Erlebtes  mitteilt,  „schreiben  Schriftzüge  und  rechnen  mit  Steinen, 
indem  sie  die  Hand  Ton  rechts  nach  links  bringen,  während  die  Hel- 
lenen sie  von  links  nach  rechts  führen."  Diese  Erzählung  ist  nicht 
mißzuTerstehen.  Als  richtig  von  uns  erkennbar,  wo  sie  der  hiera- 
tischen Schriftfolge  der  Ägypter  von  rechts  nach  links  gedenkt,  ge- 
währleistet sie  ein  Rechnen  mit  Steinen  mutmaßlich  auf  einem  Rechen- 
brette etwa  für  das  Jahr  460  v.  Chr.  Sie  gewährleistet  es,  was  wir 
in  einem  späteren  Kapitel  in  Erinnerung  bringen  werden,  für  die 
Griechen  mit  derselben  Sicherheit  wie  für  die  Ägypter. 

Der  Begriff  des  Rechenbrettes,  auf  welchem  mit  Steinen  ge- 
rechnet wird,  ist,  wenn  auch  unter  bedeutsamen  Veränderungen,  ein 
räumlich  und  zeitlich  ungemein  verbreiteter.  Man  kann  das  Gemein- 
same desselben  darin  finden,  daß  auf  irgend  eine  Weise  unterschiedene 
Räume  hergestellt  werden,  welche  euf  irgend  eine  Weise  bezeichnet 
werden,  worauf  jedes  Zeichen  einen  Erinnerungswert  erhält,  abhängig 
sowohl  von  dem  Zeichen  selbst  als  von  dem  Orte,  wo  es  sich  findet. 
Es  ist,  kann  man  sagen,  ein  mnemonisches  Benutzen  zweier  Dimen- 
sionen. 

In  dieser  weitesten  Bedeutung  kann  man  schon  die  Quipu  oder 
Knotenschnüre  der  alten  Peruaner^)  dem  Begriffe  unterordnen.  Die 
Schnüre  waren  oft  von  verschiedener  Farbe.  Die  rote  Schnur  be- 
deutete alsdann  Soldaten,  die  weiße  Silber,  die  grüne  Getreide  usw., 
und  die  Knoten  an  den  Schnüren  bedeuteten,  je  nachdem  sie  einfach, 
doppelt,  oder  noch  mehrfach  verschlungen  waren,  10,  100,  1000  usw. 
Mehrere  Knoten  nebeneinander  auf  derselben  Schnur  wurden  addiert. 
.Ähnlicher  Knotenschnüre  bedienten  sich  die  Chinesen,  und  ihre  durch 
Zeichnung  auf  Papier  übertragene  Gestalt  bildete  die  oft  mißverstan- 
denen Kua*s*).  Sollen  wir  alten  Einrichtungen,  in  welchen  das  ge- 
nannte Prinzip  zur  Erscheinung  kam,  ganz  neue  an  die  Seite  stellen, 
so  haben  wohl  manche  unserer  Leser  eigentümlich  zurechtgeschnittene 
Kärtchen  oder  Holztäfelchen  gesehen,  deren  man  besonders  in  Frank- 
reich sich  bedient,  um  bei  gewissen  Spielen,  die  auf  einem  Zählen 
beruhen  und  folglich  voraussetzen,  daß  die  bei  jeder  einzelnen  Tour 
erlangten  Zahlen   aufgeschrieben  (markiert)    werden,  dieses   Geschäft 


1)  Herodot  II,  86.  *)  Pott  II,  S.  54.  »)  Duhalde,  Ausföhrliche  Be- 
Bchreibnng  des  chinesischen  Reiches  und  der  großen  Tartarei;  übersetzt  von 
Mosheim.  Rostock  1747  Bd.  II,  S.  338.  Femer  vgl.  Le  Chouking  un  des  Hvres 
sacres  chinois  traduit  par  le  P.  Gaubil  revu  et  corrtge  par  M.  d£  Chiign^s.  Paris 
1770,  an  sehr  verschiedenen  Stellen,  die  im  Register  s.  v.  Eoua  zu  entnehmen 
sind;  die  Abbildung  S.  352. 


Die  Ägypter.    AhthmetischeB.  89 

durch  Umklappen  betreffender  Abteilungen  zu  besorgen  ^).     Wirkliche 
Rechenbretter  sind  freilich  jene  Schnüre  und  Kartchen  noch  nicht. 

Das  Rechenbrett  im  engeren  Sinne  des  Wortes  setzt  voraus^  daß 
der  Wert;  welchen  eine  einheitliche  Bezeichnung,  sei  es  ein  Strich 
oder  ein  Steinchen  oder  was  auch  immer,  an  unterschiedenen  leicht 
erkennbaren  Stellen  erhält,  sich  nach  den  aufeinanderfolgenden  Stufen 
des  zugrunde  gelegten  Zahlensystems  verändert,  daß  also  im  Dezimal- 
systeme bei  wagrechter  oder  senkrechter  Anordnung  der  Reihen,  in 
welchen  die  Steinchen  gelegt  werden,  jedes  solches  Steinchen  einer 
Yerzehnfachung  unterworfen  wird,  sofern  es  Ton  einer  Horizontalreihe, 
beziehungsweise  von  einer  Yertikalreihe,  in  die  benachbarte  Reihe 
gleicher  Art  verschoben  wird  Nur  bei  Horizontalreihen  kann  ein 
Hinauf-  oder  Herunterrücken,  nur  bei  Vertikalreihen  eine  Verrückung 
nach  rechts  oder  nach  links  diese  Wirkung  üben,  und  diese  auf  der 
Hand  liegende  Notwendigkeit  lehrt  uns  der  erwähnten  Äußerung 
Herodots  den  Beweis  entnehmen,  daß  die  Griechen  wie  die 
Ägypter  sich  Rechenbretter  mit  senkrechten  Reihen  be- 
dienten. Wie  wir  die  Wertfolge  dieser  senkrechten  Reihen  uns  zu 
denken  haben,  ob  in  dem  Ausspruche  Herodots  auch  darüber  nicht 
mißzuverstehende  Andeutungen  enthalten  sind  oder  nicht,  das  ist  eine 
Frage  höchst  untergeordneter  Bedeutung  gegenüber  von  der  gegen 
den  Rechner  senkrechten  Gestalt  der  Reihen,  die  von  geschichtlich 
großer  Tragweite  sich  erweisen  wird.  Es  ist  klar,  daß  bei  einem 
eigentlichen  Rechenbrette  auf  dekadischer  Grundlage  in  jeder  Reihe 
höchstens  9  Steinchen  Platz  finden  können,  da  deren  10  durch 
1  Steinchen  in  der  folgenden  Reihe  ersetzt  werden  mußten.  Danach 
ist  wohl  nicht  ganz  mit  Recht  zur  festeren  Begründung  der  Tatsache, 
daß  die  Ägypter  eines  Rechenbrettes  sich  bedienten,  auf  eine  alte 
Zeichnung  Bezug  genommen  worden.  Auf  einem  bekannten  Papyrus 
hat  sich  eine  Rechnung  aus  der  Zeit  des  Königs  Menephtah  I.') 
erhalten,  bei  welcher  die  nachfolgende  Fig.  6  abgebildet  ist^).  Der 
erste  Anblick  scheint  ja  dafür  zu  sprechen,  daß  ein  Rechenbrett  mit 
seinen  Steinchen  dargestellt  werden  sollte,  wenn  nicht  der  Umstand, 
daß  wiederholt  10  Pünktchen  in  einer  Vertikalreihe  (ebenso  wie  auch 


^)  Auf  die  Analogie  solcher  Zählkärtcben  zu  Rechenbrettern  hat  wohl  zu- 
erst Vincent  in  der  Revue  archeologique  lU,  204  hingewiesen.  *)  Er  gehörte 
der  XIX.  Dynastie  an  und  regierte  Lepsius  zufolge  1341  bis  1321.  Nach  Stein- 
dorff  umfaßte  die  ganze  XIX.  Dynastie  die  Zeit  von  1350  bis  1200.  ^  Die 
Figur  stammt  von  der  Rückseite  des  Papyrus  Sallier  IV.  Aufsätze  über  den 
begleitenden  Text  von  Goodwin  (Zeitschrift  für  ägyptische  Sprache  und  Alter- 
thumskunde,  Jahrgang  1867  S.  67  flgg.)  und  von  De  Rougä  (ebenda  Jahrgang 
1868  S.  129  flgg.)  enthalten  kein  Wort  über  die  Figur. 


90  3.  Kapitel. 

in  einer  Horizontalreihe)  auftreten,  die  bedenklichsten  Zweifel  wach- 
rufen müßte.  Abbildungen  Ton  Rechnern  finden  sich  unter  den  fast 
unzähligen  ägyptischen  Wandgemälden  unseres  Wissens  nicht.  Man 
stößt  wiederholt  auf  Leute,   die  sich  mit  dem  Moraspiele  beschäf- 


oo 

qO    OoOo   ^O 


tigen*)  und  zu  diesem  Zwecke  Finger  beider  Hände  in  die  Höhe 
heben,  aber  weder  das  Fingerrechnen,  noch  das  Tafelrechnen  scheint 
Teröffentlichende  Wiedergabe  gefunden  zu  haben,  dürfte  abo  wohl 
kaum  auf  bisher  entdeckten  Gemälden  erkannt  worden  sein. 


3.  Kapitel. 
Die  Ägypter.     Geometrisclies. 

Wir  kehren  zu  dem  Papyrus  des  Ahmes  zurück.  Er  hat  sich 
als  unschätzbare  Fundgrube  nicht  bloß  für  die  Kenntnis  des  alge- 
braischen Wissens  der  Ägypter  bewährt,  auch  vieles  andere  hat  aus 
ihm  geschöpft  werden  können,  worüber  hier,  wenn  auch  nicht  in 
gleicher  Ausführlichkeit  aller  Berichte,  gesprochen  werden  muß.  Nur 
mit  kurzen  Worten  können  wir  das  Metrologische  berühren.  Die 
vergleichende  Untersuchung  der  Maßsysteme,  welche  den  einzelnen 
Völkern  des  Altertums  gedient  haben,  ist  gewiß  ein  Gegenstand  von 
hoher  Wichtigkeit  und  auch  dem  Mathematiker  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  sympathisch,  allein  wie  wir  Astronomisches  von  unserer  Auf- 
gabe ausgeschlossen  haben,  so  auch  verwahren  wir  uns  gegen  die 
Verpflichtung  Metrologisches  aufzunehmen.  Wir  müssen*  uns  daran 
genügen  lassen  im  Vorübergehen  zu  bemerken,  daß  nicht  bloß  die 
Rechnungsbeispiele  vielfache  Angaben  enthalten,  aus  welchen  das  Ver- 


*)  Wilkinson,  Manners  and  customs  of  tJie  ancient  Egyptians.    London 
1837.  Vol.  I  pag.  44  fig.  3  und  Vol.  11  pag.  417  fig.  292. 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  91 

hältnis  der  ägyptischen  Maße  in  nicht  anzuzweifehider  weil  durch  allzu 
zahlreiche  Beispiele  zu  prüfender  Gewißheit  sich  ergeben  hat,  daß 
sogar  in  zwei  aufeinanderfolgenden  Paragraphen,  Nr.  80  und  81,  die 
Umrechnung  von  einem  Maßsysteme  in  ein  anderes  geradezu  gelehrt 
wird^).  Die  späteren  Nachahmer  des  Ahmes  haben,  wie  wir  sehen 
werden,  ähnliche  Maßvergleichungen  jederzeit  in  ihre  Schriften  auf- 
genommen. 

Unsere  eingehendste  Beachtung  gebührt  dagegen  den  geome- 
trischen Aufgaben  des  Ahmes,  deren  Erörterung  wir  eine  vielleicht 
überflüssige,  jedenfalls  nicht  unwichtige  Bemerkung  vorausschicken. 
Übungsbücher  der  höheren  Rechenkunst  von  der  ältesten  bis  auf  die 
neueste  Zeit  herab  enthalten  fast  ausnahmslos  neben  anderen  mannig- 
fachen Beispielen  auch  solche  aus  der  Geometrie  und  Stereometrie. 
Diese  erheischen  zu  ihrer  Berechnung  gewisse  Formeln,  und  diese 
Formeln  sind  als  gegeben  zu  betrachten.  An  eine  Ableitung  derselben 
zu  denken,  oder  gar  weil  die  Ableitung  nicht  mitgeteilt  ist  zu  arg- 
wöhnen, es  habe  eine  solche  überhaupt  nicht  gegeben,  als  das  Übungs- 
buch verfaßt  wurde,  fällt  niemand  ein.  Wir  dürfen  dem  Handbuche 
des  Ahmes  mit  keiner  Anforderung  gegenübertreten,  die  wir  sonst 
xmbillig  fänden.  Wenn  Ahmes  sich  geometrischer  Regeln  bedient, 
so  müssen  wir  auch  zu  ihm  das  Zutrauen  haben,  er  werde  sie  irgend- 
woher genommen  haben,  wo  auch  seine  Schüler  sich  Rats  erholen 
konnten,  wir  werden  also  an  ein  anderes  geometrisches  Buch  glauben, 
das  uns  unmittelbar  nicht  bekannt  ist,  dessen  einstmaliges  Vorhanden- 
sein aber  gerade  durch  jene  Formeln  mittelbar  erwiesen  ist,  gleichwie 
die  Formeln  für  Summierung  arithmetischer  und  vielleicht  geome- 
trischer Reihen,  deren  Ahmes  sich  bedient,  uns  einen  Rückschluß 
auf  in  seinem  Papyrus  übergangene  Ableitungsverfahren  gestatteten. 

Die  geometrischen  Beispiele  des  Ahmes  lassen  zunächst  den 
Flächenraum  von  Feldstücken  finden,  deren  einschließende  Seiten 
gegeben  sind.  Solcher  Aufgaben  konnte  man  am  ersten  von  einem 
ägyptischen  Schriftsteller  sich  versehen,  da,  wie  wir  weiter  unten  zu 
zeigen  haben,  gerade  die  eigentliche  Feldmessung  in  Ägypten  zu- 
hause gewesen  sein  soll.  Damit  ist  aber  freilich  nicht  gesagt,  daß 
jede  Feldmessung  von  vornherein  eine  geometrische  gewesen  sein  muß. 

Mag  die  Notwendigkeit  die  Gleichwertigkeit  oder  Ungleichwertig- 
keit  von  Feldstücken  zu  schätzen  mit  den  ersten  Streitigkeiten  über 
.das  Mein  und  Dein  des  urbar  gemachten  Bodens,  also  mit  der  Ein- 
führung individuellen  Gnmdbesitzes  sich  ergeben  haben,  diese  Wert- 
vergleichimg  konnte  in   mannigfacher  Weise   erfolgen.     Man   konnte 


*)  Eisenlohr,  Papyrus  S.  204—211. 


92  3.  Kapitel. 

die  Zeit  messen,  welche  zur  Bebauung  eines  Feldstückes  nötig  war, 
das  Getreide  wägen,  welches  auf  demselben  wuchs  oder  zur  Einsaat 
in  dasselbe  zu  verwenden  war,  und  unsere  deutschen  Benennungen 
Morgen^)  und  Scheffel')  als  Feldmaße  sind  Zeugnisse  dafür,  daß 
man  solche  Methoden  nicht  immer  verschmäht  hat.  Dem  Wunsche 
einer  Feldervergleichung  mag  in  anderen  Gegenden  die  Sitte  ent- 
sprungen sein,  den  einzelnen  Ackern  stets  die  gleiche  Form,  die 
gleiche  Größe  zu  geben,  und  ein  weiterer  Schritt  auf  diesem  Wege 
der  Geistesentwicklung  war  es,  wenn  man  der  Gestalt  der  Äcker  ent- 
sprechend Flächenmaße  einführte,  die,  soviel  uns  bekannt  ist,  nirgend 
eine  andere  Figur  darstellten  als  die  eines  Vierecks  mit  vier  rechten 
Winkeln  und  in  einem  einfachen  Zahlenverhältnisse  zueinander  stehen- 
den, wenn  auch  nicht  notwendig  gleichen  Seiten,  wiewohl  an  sich 
ein  dreieckiges  Maß  z.  B.  ebensogut  zu  denken  war.  Auch  aus 
Ägypten  wird  uns  allerdings  aus  der  verhältnismäßig  späten  Zeit 
von  mindestens  drei  Jahrhunderten  nach  Ahmes  ähnliches  gemeldet. 
Herodot  erzählt*),  der  König  Sesostris  habe  die  Äcker  verteilt  und 
jedem  ein  gleich  großes  Viereck  überwiesen,  auch  danach  die  jähr- 
liche Abgabe  bestimmt.  Sesostris  ist  niemand  anders  als  König 
Ramses  II.   aus  der  XIX.  Dynastie,   der  etwa   1324  bis  1258  lebte. 

Aber  eine  irgendwie  gestaltete  Bodenfläche  als  Raumgebilde  zu 
betrachten,  sie  unmittelbar  aus  ihren  Grenzlinien  messen  zu  wollen, 
das  setzte  schon  geradezu  mathematische  Gedanken  voraus,  das  war 
selbst  eine  mathematische  Tat.  In  Ägypten  hat  man  diese  Tat  voll- 
zogen, wenn  nicht  zuerst  vollzogen,  und  im  Gefolge  dieser  Tat  muß 
notwendig  eine  mehr  oder  weniger  entwickelte  Kenntnis  der  Eigen- 
schaften der  verschiedenartigen  Figuren,  gewissermaßen  eine  theore- 
tische Geometrie,  entstanden  sein,  mag  auch  für  lange  Zeit  nur  die 
praktische  Feldmessung  ihr  eigentliches  Endziel  gewesen  sein. 

Die  Feldstücke,  welche  Ahmes  ausmessen  läßt,  sind  geradlinig 
oder  kreisförmig  begrenzt,  und  die  ihrer  Genauigkeit  nach  nicht  ganz 
aus  freier  Hand,  sondern  mit  Benutzung  eines  Lineals  aber 
ohne  Zirkel  angefertigten  Figuren  lassen  deutlich  erkennen,  daß  an 
geradlinigen  Figuren  nur  gleichschenklige  Dreiecke,  Rechtecke  und 
gleichschenklige  Paralleltrapeze  in  Betracht  gezogen  werden  sollen. 

Das  Rechteck  bietet  in  seiner  Ausrechnung  am  wenigsten  Aus- 
beute. Es  ist  mehr  als  nur  wahrscheinlich,  daß,  wie  die  Fläche  des 
Quadrates  von   10  Einheiten  im  Beispiele  No.  44.  zu    100  Flächen-* 


*)  Pott  I,  S.  124.  *)  R.  Lepsius,  Ueber  eine  hieroglyphische  Inschrift 
am  Tempel  von  Edfu  (Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  1855)  S.  77. 
»)  Herodot  11,  109. 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  93 

einheiten  erkannt  war^),  auch  bei  ungleichen  Seiten  des  Rechtecks 
eine  Vervielfältigung  der  beiden  Ausmessungen  stattfinden  muBte^ 
aber  das  Beispiel  No.  49.,  welches  auf  ein  Rechteck  von  10  Ruten  zu 
2  Ruten  Bezug  hat,  läßt  solches  nicht  erkennen,  da  wie  es  scheint 
durch  ein  Versehen  des  Ahmes  zu  dieser  Aufgabe  die  Auflösung  einer 
ganz  anderen  sich  gesellt  hat^). 

Ein  gleichschenkliges  Dreieck  von  10  Ruten  an  seinem 
Merit,  von  4  Ruten  an  seinem  Tepro  bildet  den  Gegenstand  des 
Beispiels  No.  51.  Die  Hälfte  von  4  oder  2  wird  mit  10  vervielfältigt. 
„Sein  Flächeninhalt  ist  es^'^).  Auffallend  ist  hier  die  Lage  des  bei- 
gezeichneten gleichschenkligen  Dreiecks,  auffallend  sind  die  gebrauchten 
Eunstausdrücke,  nicht  am  wenigsten  auffallend  ist  die  Rechnung. 
Während  wir  die  Gewohnheit  haben  die  Figuren  dem  sie  Anschauen- 
den so  symmetrisch  als  möglich  vorzulegen,  also  bei  einem  gleich- 
schenkligen Dreiecke  die  eine  ungleiche  Seite  als  Grundlinie  unten, 
die  beiden  gleichen  Schenkel  nach  aufwärts  gerichtet  zu  zeichnen, 
hat  Ahmes  die  Strecke  4  vertikal  gezeichnet  und  von  deren  End- 
punkten aus  die  beiden  gleichen  Schenkel  in  der  Länge  10  gegen  die 
Richtung  der  Schriftzeilen,  also  mit  der  Spitze  nach  rechts,  zu- 
sammentreffen lassen.  Die  Seite  von  4  Ruten  heißt  ihm,  wie  schon 
angeführt,  Tepro,  die  von  10  Ruten  Merit.  Tepro  oder  der  Mund 
für  die  Weite  der  Entfernung  der  Endpunkte  zweier  an  der  Feder 
des  Schreibenden  vereinigten,  von  da  aus  sich  ö&enden  Geraden  ist 
einleuchtend.  Ob  aber  der  Name  Merit  oder  der  Hafen  auf  die 
Gleichheit  der  beiden  anderen  Schenkel,  ob  er  auf  die  durch  die 
Zeichnung  gegebene  Lage  als  obere  Linie  der  Figur,  als  Scheitel- 
linie sich  beziehen  soll,  kann  als  ausgemacht  hier  wenigstens  nicht 
gelten,  da  weder  die  eine  noch  die  andere  Beziehung  eine  Erklärung 
der  Wahl  gerade  dieses  Wortes  liefert.  Wir  werden  indessen  später 
sehen,  daß  vermutlich  die  Scheitellage  mit  Merit  bezeichnet  werden 
soll.  Rücksichtlich  der  Figur  haben  wir  noch  zu  bemerken,  daß  in 
No.  51.  wie  in  anderen  Aufgaben  die  Zahlen,  welche  die  Längen  der 
auftretenden  Strecken  messen,  an  diese,  der  Inhalt  mitunter  in  die 
Figur  geschrieben  erscheint.  Das  Rechnungsverfahren  besteht  darin, 
daß,  wenn  wir  den  Dreiecksinhalt  A,  die  Dreiecksseiten  a,  a,  b 
nennen  wollen,  hier 

A-Ixa 

gesetzt  ist.     Das  ist  nun  allerdings  nicht  richtig;  es  müßte  vielmehr 


A-|xl/.'-^- 


i)EiBenlohr,  PapjruB  S.  110.     *)  Ebenda  S.  122  bis  123.     ')  Ebenda  S.  125. 


94  3.  Kapitel. 

heißen;  aber  mehrere  Dinge  fordern  unsere  Überlegung  heraus.  Einmal 
hat  man  unter  der  Annahme,  die  Figuren  seien  grundfalsch  gezeichnet, 
und  die  Dreiecke  seien  nicht  als  gleichschenklige,  sondern  als  recht- 
winklige aufzufassen^),  die  bei  Ahmes  geführte  Rechnung  in  Schutz 
genommen;  der  Flächeninhalt  des  rechtwinkligen  Dreiecks  sei  in  der 
Tat  das  halbe  Produkt  der  beiden  Katheten.  Kann  man  sich  mit 
uns  nicht  entschließen,  die  mit  dem  Lineal  gezeichneten  Figuren  für 
so  falsch  zu  halten,  so  ist  erstlich  zu  erwägen,  daß  die  Ausziehung 
einer  Quadratwurzel  bei  Ahmes  nirgend  vorkommt;  zweitens  dann 
auch,  daß  der  Fehler,  welcher  begangen  wird,  sofern  b  gegen  a  nur 
einigermaßen  klein  ist>  kaum  in  Anschlag  kommt.  Im  Beispiele  No.  51. 
ist  die  Dreiecksfläche  mit  20  Quadratruten  angesetzt.  Der  richtige 
Wert  ist  fast  genau  19,6  Quadratruten.  Der  Fehler  beträgt  nicht 
mehr  als  2  Prozent.  Dieses  dürfte,  natürlich  nicht  dem  Ahmes  und 
seiner  Zeit,  aber  einer  späteren  Nachkommenschaft;  wohl  als  genügende 
Entschuldigung  erschienen  sein  an  einem  Verfahren  festzuhalten, 
welches  in  der  Rechnung  so  ungemein  bequem  und  leicht,  im  Er- 
gebnis kaum  als  falsch  zu  bezeichnen  war.  Wenn  der  ägyptische 
Feldmesser,  wie  wir  in  diesem  Kapitel  noch  sehen  werden,  selbst 
anderthalb  Jahrtausende  nach  Ahmes  sich  der  altfiunkische  Flächen- 
formel fortwährend  bediente,  so  konnte  er  der  nicht  ganz  unbegrün- 
deten Meinung  sein  sich  ihrer  bedienen  zu  dürfen. 

Die  Torhin  ausgesprochene  Behauptung,  eine  Quadratwurzel 
komme  bei  Ahmes  nicht  vor,  ist  nicht  in  dem  Sinne  zu  verstehen, 
als  sei  der  Begriff  der  Quadratwurzel  den  Ägyptern  überhaupt 
fremd  gewesen.  Höchstens  kann  man  Zweifel  darein  setzen,  ob  die 
Ägypter  mit  irrationalen  Quadratwurzeln  umzugehen  wußten. 
Die  erste  ägyptische  Quadratwurzel  ist  in  den  in  London  befindlichen 
Fragmenten  von  Kahun  aufgefunden  worden.  Ihr  Zeichen  ist  ein 
rechter  Winkel,  dessen  horizontaler  Schenkel  beträchtlich  länger  als 
der  links  vertikal  nach  unten  sich  erstreckende  Schenkel  ist.  Wie 
das  Zeichen  auszusprechen  ist,  erscheint  fraglich.  Während  einige 
Ägyptologen  die  Aussprache  im  für  richtig  halten,  entscheiden  sich 
andere  für  knb,  beidemal  unter  Verzicht  auf  die  Bestimmung  der  noch 
einzuschaltenden  Selbstlaute.  Für  knh  spricht,  daß  dieses  Wort  durch 
„Winkel^^  oder  „Ecke"  zu  übersetzen  ist,  was  mit  der  Gestalt  des 
Zeichens  im  Einklang  steht').  Benutzen  wir  diese  Lesung,  so  ist 
die  von  der  Zahl  40  ausgehende  und  ihrem  mathematischen  Zwecke 
nach  noch  unverstandene  Rechnung  folgende:  3x40=120, 120:10=»12, 


^)  M.  Simon,  Über  die  Maibematik  der  Ägypter  im  Anschlnsse  an  £.  Be- 
villont.     *)  Briefliebe  Mitteilung  deg  Grafen  H.  Schack-Scbackenburg. 


Die  Ägypter.    GeometriBclies.  95 

1 :    -  « 1  -,  12  X  1-  =»  16;    suche  davon  den  knb,  er  ist  4.     Man 

4  3  «J 

sieht  deutlich,  daß  knb  oder  wie  das  Wort  ausgesprochen  worden  sein 
mag;  nur  Quadratwurzel  bedeuten  kann. 

Eine  willkommene  Bestätigung  lieferte  der  Papyrus  6619  des 
Berliner  Museums^),  welcher  gleichfalls  in  Eahun  gefunden  worden 
ist  und  der  Zeit  nach  dem  mittleren  Reiche  entstammt,  zu  welchem 
auch  die  Regierung  der  Amenemhate  gehört.     In  ihm  ist  der  knb  von 

1—  als  1    ,  der  knb  von  6~  als  2  -  angegeben,  während  1/  ^  =  -- , 

f  Y  =*  Y  ist.     Die   Berliner   Fragmente   haben    vor    den   Londoner 

Fragmenten  den  großen  Vorzug,  daß  man  in  ihnen  deutlich  erkennt, 
was  der  Sinn  der  angestellten  Rechnung  war.  Eine  gegebene  Fläche, 
etwa  von-  der  Größe  von  100  Flächeneinheiten,  soll  als  Summe 
zweier   Quadrate   dargestellt    werden,    deren   Seiten    sich   wie    1    zu 

-^  verhalten.     In  Buchstaben  lautet  also  die  Aufgabe: 

X«  +  y«  «  100 

x:y  ^  1  :  -     oder    y  =  — - a:. 

Die  Auflösung  erfolgt  nach  der  Methode  des  falschen  Ansatzes 
und  bestätigt  mithin  was  wir  (S.  79)  zu  No.  40.  des  Handbuches  des 
Ahmes  über  die  Bekanntschaft  der  Ägypter  mit  dieser  Methode  g&- 

sagt  haben.  Versuchsweise  wird  2;  »  1,  y  =  -r-  gesetzt ,  wodurch 
x^  +  y^^^  entsteht,  und  ]/?^  =  A.  Aber  ^100=- 10  und  10:^ 
»  8.  Die  nicht  mehr  zu  entziffernde  Fortsetzung  wird  vermutlich 
gelautet  haben:  also  ist  richtig  a;«=8xl  —  8,  y«-8x-^  =  6. 

Eine  andere  Au%abe  auf  einem  kleineren  Fragmente  des  Ber- 
liner Papyrus  läßt  mit  Sicherheit  die  Gleichung  y  6—  «  2^  erkennen. 

Aus  anderen  auf  diesem  kleinen  Fragmente  vorkommenden  Zahlen  hat 
man  geschlossen,  hier  sei  die  Aufgabe  gestellt  gewesen,  400  in  zwei 

Quadrate  zu  zerlegen,  deren  Seiten  sich  wie  2  zu  1-^  verhalten.  In 
Buchstaben  lautet  diese  Aufgabe: 

X»  +  y«  =  400 

x:y  — 2:1^- 

*)  H.  Schack-Sohackenbuig,  Der  Berliner  Papyras  6619.  ZeitBchrift 
fOr  ägyptische  Sprache  Bd  XXXVm  (1900)  und  XL  (1902). 


96  3.  Kapitel. 

Danach  wird  a;*  :  j/*  «  4  :  2  ,  und  mittels  des  versuchsweisen  An- 
satzes x^  =  4,  y*  =  2 J-  entsteht  a:«  +  y>  =  6|.  Aber  ]/6  J  =  2^ 
und  yiOO  =-  20  nebst  20  :  2y  =  8 .     Mithin    ist   x  ==  8  x  2  =  16, 

y  =  8  X  1  2  =  12  und  16«  +  12«  =  201 

Sind  alle  diese  Vermutungen  richtig,  worauf  ihr  geistiger  Zu- 
sammenhang schUeBen  läßt,  so  enthüllen  sich  als  den  Ägyptern  des 
mittleren  Reiches  bekannt  die  beiden  Gleichungspaare 

12  +  (iy_(l.J)'    und       8« +  6«  =10« 

22  +  (l  V)' =  (2y)'    und     16«  +  12« -- 20«. 

Es  ist  unverkennbar,  daß  hier 

4«  +  3«  =  5« 

zugrunde  liegt,  wenn  auch  diese  Gleichung  selbst  nicht  vorkommt. 
Es  ist  möglich,  daß  sie  auf  einem  verlorengegangenen  Papyrusfrag- 
roente  stand,  es  ist  auch  möglich,  daß  sie  so  allgemein  bekannt  war, 
daß  man  sich  damit  begnügte,  nur  solche  Fälle  zur  Rede  zu  bringen, 
die  aus  der  als  selbstverständlich  vorausgesetzten  Grundformel  sich 
herleiteten.  Wir  möchten  bitten  diese  ganze  Untersuchung,  welche 
ihrem  algebraischen  Inhalte  nach  schon  in  das  vorige  Kapital  ge- 
hören könnte,  nicht  als  hier  an  unrichtigem  Platze  stehend  bemängeln 
zu  woUen.  Sind  doch  die  behandelten  quadratischen  Gleichungen  aus 
geometrischen  Aufgaben  entsprungen. 

Die   Dreiecksformel    A  =  o-  X  a  einmal  vorausgesetzt  ließ   mit 

mathematischer  Strenge  eine  zweite  Formel  für  die  Fläche  eines 
gleichschenkligen  Paralleltrapezes  folgen,  welche  Figur  aller- 
dings von  anderen  als  rechtwinkliges  Paralleltrapez  gedeutet  wird. 
Waren  dessen  beide  unter  sich  gleiche  nicht  parallele  Seiten  je  a, 
die  parallelen  Seiten  \  und  6j,  so  mußte  die  Fläche 

sein,  und  dies  ist  die  Formel,  nach  welcher  in  No.  52.  die  Rechnung 
geführt  ist^).  Sie  setzt  nur  voraus,  daß  das  Trapez  als  abgeschnittenes 
Dreieck  beziehungsweise  als  Unterschied  zweier  Dreiecke  entstanden 
gedacht  ist,  und  mit  dieser  Entstehungsweise  stimmt  die  Zeichnung 
wie   die   Benennung   der   einzelnen    Strecken    überein.     Wieder   liegt 

»)  Eisenlohr,  Papyrus  8.  127—128. 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  97 

das  Trapez  so,  daß  ein  a  Scheitellinie  ist  und  den  Namen  Merit 
fQhrt;  wieder  heißt  die  größere  links  befindliche  Parallele  Tepro; 
und  die  kleinere  Parallele,  welche  r^hts  vertikal  die  Figur  abschließt, 
führt  den  unsere  Voraussetzung  bestätigenden  Namen  Hak  oder 
Abschnitt. 

Wir  müssen,  um  nicht  mißverstanden  zu  werden,  hier  eine  kleine 
Bemerkung  einschalten.  Wir  sagten,  die  Formel  für  die  Flache  des 
gleichschenkligen  Paralleltrapezes  folge  mit  mathematischer  Strenge 

aus  A  =»  ^  X  a.     Wir  meinen   das  nicht  etwa  so,    daß   wir  Ahmes 

das  Bewußtsein  dieser  Folgerung  zutrauten.  Die  alten  Ägypter 
werden  wohl  eine  vollständige  Lehre  von  der  Ähnlichkeit  der  Figuren, 
welche  zur  Führung  des  Beweises  für  den  Zusammenhang  der  beiden 
Inhaltsformeln  unentbehrlich  ist,  kaum  besessen  haben.  Ihnen  war 
vielleicht  ein  enger  Zusammenhang  der  beiden  Formeln,  welche  sie 
selbständig  für  richtig  hielten,  nie  in  Gedanken  gekommen.  Nur 
den  späten  Nachkommen  soll  mit  jener  Ableitbarkeit  der  Trapez- 
formel aus  der  Dreiecksformel  wieder  eine  Entschuldigung  dafür  ver- 
schafft werden,  daß  sie  im  einen  Falle  so  wenig  als  im  anderen  von 
der  Gewohnheit  der  Väter  abwichen. 

Die  im  Papyrus  sich  nun  anschließenden  Aufgaben^)  No,  53.,  54., 
55.  beziehen  sich  auf  die  Teilung  von  Feldern,  stimmen  aber  mit  der 
einzigen  beigegebenen  Figur  so  absolut  nicht  überein,  daß  wir  ein 
Erraten  der  eigentlichen  Meinung  des  Verfassers  für  ein  sehr  schwie- 
riges Problem  halten,  dessen  Lösung  noch  nicht  gelungen  ist.  Von 
Interesse  dürfte,  falls  die  Enträtselung  überhaupt  möglich  ist,  die 
Richtung  des  in  der  Figur  gezeichneten  Dreiecks  sein,  dessen  Spitze 
nach  links  hin  steht,  während  sie  in  den  früheren  Beispielen  rechts 
war.  Außerdem  werden  sicherlich  die  zwei  vertikal  gezogenen  Paral- 
lelen von  Wichtigkeit  sein,  welche  das  ursprüngliche  Dreieck  in  ein 
Dreieck  und  zwei  Paralleltrapeze  zerlegen. 

Die  Ausmessung  des  Kreises  wird  schon  in  No.  50.  vorge- 
nommen'). Sie  ist  eine  wirkliche  Quadratur  zu  nennen,  indem  sie 
•  lehrt   ein  Quadrat  zu   finden,   welches  dem  Kreise  flächengleich  sei, 

und  zwar  wird  als  Seite  des  Quadrates  der  um  -  seiner  Länge  ver- 
minderte Kreisdurchmesser  gewählt.  Wie  man  zu  dieser  Vorschrift 
gekommen  sein  mag  ist  nicht  entfernt  zu  erraten.  Gesichert  ist  sie 
durch  wiederholtes  Auftreten,  gesichert  ist  auch  ihre  ziemlich  gute 
Anwendbarkeit,  denn  sie  entspricht  einem  Werte 


')  Eisenlohr,  PapyruB  S.  130—133.       *)  Ebenda  S.  124,  vgl.  aber  auch 
die  Aufgaben  No.  41.,  42.,  vielleicht  48.,  endlich  4S.  auf  S.  100—109  und  S.  117. 

Ci^KTom,  0«ichichte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  7 


98  d.  Kapitel. 


^»(y)  =3,1604.... 


fQr  die  Yerhältniszahl  der  Ereisperiplierie  zum  DurchmesBer,  der 
weitaus  nicht  der  schlechteste  ist,  dessen  Mathematiker  sich  bedient 
haben. 

Neben  den  geometrischen  Aufgaben  hat  Ahmes  seinen  Lesern 
auch  stereometrische  Torgelegt.  Es  handelt  sich  dabei  um  den  Raum- 
inhalt von  Fruchtspeichern  und  deren  Fassungsvermögen  fiir 
Getreide^).  Diese  Aufgaben  stehen  noch  vor  den  eben  besprochenen 
geometrischen  und  geben  dadurch  deutlich  zu  erkennen,  was  wir  ein- 
leitend in  diesem  Kapitel  berührt  haben:  daß  das  Geometrische  im 
Übungsbuche  des  Ahmes  niemalä  selbst  Zweck  der  Darstellung, 
sondern  nur  Einkleidungsform  von  Rechenaufgaben  ist,  denn  sonst 
würde  unmöglich  die  Flächenausmessung  des  Kreises  später  erscheinen 
als  die  Berechnung  des  Rauminhaltes  eines  runden  Fruchthauses,  bei 
welcher  jene  bereits  Anwendung  findet.  In  diesen  körperlichen  In- 
haltsaufgaben ist  manches  noch  unklar.  Die  eigentliche  Gestalt  der 
Fruchthäuser,  welche  der  Berechnung  unterworfen  werden,  ist  nichts 
weniger  als  genau  bekannt,  und  wenn  auch  bienenkorbartige  Zeich- 
nungen von  Fruchthäusem  in  ägyptischen  Wandgemälden  etwas  zur 
Verdeutlichung  beitragen,  sie  genügen  keineswegs,  so  lange  eine  geo- 
metrische Interpretation  jener  Zeichnungen  fehlt.  Soll  der  Bienen- 
korb als  Halbkugel  auf  einen  Zylinder  aufgesetzt,  soll  er  als  eine 
Art  von  Umdrehungsparaboloid  gedacht  sein?  Ist  seine  Grundfläche 
überhaupt  kein  Kreis  sondern  eine  Ellipse?  Das  sind  Fragen,  deren 
Beantwortung  aus  den  genannten  Abbildungen  nicht  entnommen 
werden  kann  und  doch  auf  die  Rechnungs weise  einen  entscheidenden 
Einfluß  ausüben  muß.  Hier  ist  also  wieder  zukünftiger  Forschung 
noch  manches  Rätsel  aufbewahrt,  kaum  zu  lösen,  wenn  es  nicht  ge- 
lingt, weiteres  Material  aufzufinden.  Bis  dahin  besteht  der  Vorteil, 
den  wir  aus  diesen  Beispielen  zu  ziehen  vermögen,  nur  in  den  von 
uns  schon  angerufenen  BesiÄtigungen  der  gewonnenen  Ansichten  über 
Inhaltsbestimmung  des  Rechteckes  und  des  Kreises  und  in  der 
Kenntnisnahme  von  Wörtern,  welche  den  Agyptologen  auch  sonst 
mannigfach  begegnet  sind.  Eine  der  Abmessungen,  welche  bei  den 
Fruchthäusem  in  Rechnung  treten,  heißt  nämlich  Qa,  eigentlich  die 
Höhe,  wofür  auch  die  EUeroglyphe  —  ein  den  Arm  hochstreckender 
Mann  —  zeugt,  dann  aber  in  zweiter  abgeleiteter  Bedeutung  die 
Richtung    größter    Ausdehnung^);    die   Breite,    beziehungsweise    die 


*)  Eisenlohr,  Papyrus  S.  101— 116.     *)  Diese  abgeleitete  Bedeutung  hat 
•ßrugsch  erkannt:  Hieroglyphisch-demotisches  Wörterbuch  S.  1435  und  deutlicher 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  99 

kleinere  Abmessung,  heißt  Use^.  Nennen  wir  diese  beiden  Ab- 
messnngen  q  und  Uj  so  erfolgt  in  No.  43.  die  Berechnung  des  Inhaltes 

nach  der  Regel,  daß  erst  ein  ö'i  "=  (l  —  y/S  g6l>ildet  wird  und  dann 

(y  ^i)  "3  ^-    A.uch  hier  ist  wieder  eine  interessante  Übereinstimmung 

mit  den  Fragmenten  von  Eahun  nachzuweisen.  Dort  ist  nämlich 
ausgehend  von  bestimmten  Zahlen  ^i(=  12)  und  ii(»  8)  die  Rechnung 

(4gi)'-|«*=(5  •12)'.|.8-256.5j-«1365|    vollzogen,    und 

letztere  Zahl  steht  im  Inneren  einer  gezeichneten  Rundung,  über 
welcher  die  Zahlen  8  und  12  angebracht  sind.  Wenn  man  rersucht 
hat^),  in  der  Rechnung  des  Eahuner  Fragmentes  die  Inhaltsberech- 
nung einer  Halbkugel  Tom  Durchmesser  8  zu  erkennen  und  dabei 
eine  Anwendung  des  Wertes  n  =  3,2  fand,  so  kann  schon  diese 
letztere  Behauptung  als  Oegengrund  gegen  den  jeder  unmittelbaren 
Stütze  entbehrenden  Versuch  genügen.  Bei  der  soeben  nachgewiesenen 
wenigstens  teilweisen  Übereinstimmung  mit  No.  43.  des  Ahmes  müßte 
auch  von    diesem    einmal    tc  —  3,2   in  Anwendung   gebracht  worden 

sein,  während  alle  anderen  Beispiele  %  =  l-~\  benutzen,  und  das  er- 
scheint durchaus  unglaublich. 

Endlich  bietet  der  Papyrus  noch  eine  Gruppe  von  5  geometrischen 
Aufgaben*),  No.  56.  bis  60.,  welche  dem  heutigen  Leser  am  über- 
raschendsten sein  dürften,  wenn  er  in  ihnen  die  Yergleichung  von 
Liniengrößen  erkennt,  soweit  sie  zu  einem  und  demselben  Winkel 
gehören,  also  eine  Art  von  Ähnlichkeitslehre,  wenn  nicht  ein 
Kapitel  aus  der  Trigonometrie.  Es  handelt  sich  um  Pyramiden,  aber 
keineswegs  um  deren  körperlichen  Inhalt,  sondern  um  den  Quotienten 
der  Hälfte  einer  an  der  Pyramide  vorgenommenen  Abmessung  geteilt 
durch  eine  zweite,  und  dieser  Quotient  heißt  Seqt,  nach  aller  Wahr- 
scheinlichkeit eine  kausative  Ableitung  von  Qet,  Ähnlichkeit,  also 
wohl  Ähnlichmachung.  Was  das  aber  fär  Abmessungen  an  den  Pyra- 
miden waren,  die  so  in  Rechnung  gezogen  wurden,  war  von  vorn- 
herein aus  den  bloßen  Namen  Uchatebt,  Suchen  der  Fußsohle,  und 
Piremus,  Herausgehen  aus  der  Säge,  keineswegs  klar.  Der  Ucha- 
tebt mußte  zwar  offenbar  irgendwo  am  Boden,  der  Piremus  (dessen 
Name  augenscheinlich  in  dem  Munde  der  Griechen  zum  Namen  des 
ganzen  Körpers  wurde)'),  irgendwo  ansteigend  gesucht  werden,  aber 


betont  in  der  Zeitschrift  för  '^fCTV^-  Sp-  u.  Alterth.  (Jahrgang  1870)  Bd.  VIII,  S.  160. 
Vgl.  auch  Eieenlohr,  Papyrus  S.  280.  ')  L.  Borchardt  in  der  Zeitschr.  für 
ägypt.  Sprache  Bd.  XXXV,  S.  160  (1897).  «)  Eisenlohr,  Papyrus  S.  184—149. 
•)  Eigentlich  sollte  man  daher  die  Orthographie  „Piramide"  der  „Pyramide"  vor- 

7* 


100  3.  Kapitel. 

dabei  gab  es  noch  immer  eine  gewisse  Auswahl.  Die  richtige  Wahl 
zu  treffen  gelang  dem  Herausgeber  des  Papyrus,  nachdem  er  den  glück- 
lichen Gedanken  gefaßt  hatte,  den  Umstand  zu  berücksichtigen,  daB 
die  noch  erhaltenen  großen  ägyptischen  Pyramiden  wesentlich  gleiche 
Winkel  besitzen  (S.  57),  und  daß  Ahmes  wohl  auch  ihnen  ähnliche 
Körper  bei  seinen  Rechnungen  gemeint  haben  muß.  Der  von  Ahmes 
errechnete  Seqt  muß  also  einem  Winkel  von  etwa  52^  zwischen  der 
Seitenwand  und  der  Orundfläche  des  Körpers  entsprechen,  und  das 
findet  nur  dann  statt,  wenn  der  Piremus  die  ICante  der  Pyramide,  der 
Uchatebt  die  Diagonale  der  quadratischen  Grundfläche  bedeutet,  wenn 
also  der  Seqt  das  war,  was  wir  gegenwärtig  den  Kosinus  des  Winkels 
nennen,  den  jene  beiden  Linien  miteinander  bUden.  War  die  Größe 
dieses  Verhältnisses  Seqt  bekannt,  so  kannte  man  damit  auch  die 
Winkel,  welche  an  der  Pyramide  sich  zeigen.  Man  kannte  sie  frei- 
lich nur  mittelbar,  aber  mittelbar  ist  auch  jede  andere  Ausmessung 
von  Winkeln,  ist  auch  die  nach  Graden  und  Minuten,  welche  zunächst 
nicht  dem  Winkel  selbst,  sondern  dem  Kreisbogen  gilt,  der  ihn  als 
Mittelpunktswinkel  gedacht  bespannt.  Diese  bisherige  Auseinander- 
setzung gilt  allerdings  nur  für  die  4  ersten  Aufgaben  der  Gruppe. 
In  der  5.  Aufgabe,  No.  60.,  ist  nicht  von  einer  Pyramide,  sondern  von 
einem  Grabmale  die  Rede,  welches  viel  steiler  als  die  Pyramide,  mit 
der  es  die  quadratische  Gestalt  der  Grundfläche  übrigens  teilt,  sich 
zuspitzt.  Die  durcheinander  zu  teilenden  Strecken  heißen  hier  ganz 
anders.  Als  Zähler  ist  Qaienharu,  als  Nenner  die  Hälfte  des  Senti 
angegeben,  und  das  müssen  doch  wohl  andere  Linien  sein  als  die- 
jenigen, welche  die  Namen  Uchatebt  und  Piremus  führten.  Ins- 
besondere die  Verwandtschaft  zwischen  Qaienharu  und  dem  (S.  98) 
erwähnten  Qa  nötigt  dazu,  diesen  Zähler  als  die  senkrechte  Höhe 
der  Pyramide  zu  deuten.  Vielleicht  ist  folgender  Erklärungsversuch 
gestattet. 

Man  weiß,  daß  die  ägyptischen  Pyramiden  zunächst  staffelformig 
mit  parallelepipedischen,  aufeinander  ruhenden,  sich  verjüngenden 
Stockwerken  angelegt  wurden,  und  daß  dann  erst  die  Ausfüllung  der 
Winkelräume  bis  zur  Herstellung  einer  glatten  Oberfläche  erfolgte. 
Dem  Arbeiter  machte  die  Herstellung  dieser  Ausfüllsteine  zuverlässig 
am  meisten  Schwierigkeit,  und  es  wäre  keineswegs  unmöglich,  daß 
der  Baumeister,  um  seinem  Arbeiter  die  Aufgabe  zu  erleichtern,  Mo- 


ziehen,  und  wir  bedienen  uns  in  diesem  Werke  der  landläufigen  Schreibart  nur 
mit  dem  Bewußtsein  ihrer  Mangelhaftigkeit.  Beiläufig  sei  bemerkt,  daß  Piremus 
von  anderen  Ägyptologen,  z.  B.  B  rüg  seh  als  Heraustreten  aus  der  Breite  über- 
setzt worden  ist.  uns  steht  ein  Urteil  über  die  Richtigkeit  der  einen  oder  der 
anderen  Übersetzung  nicht  zu. 


Die  Ägypter.    GeometriBches. 


101 


Fig.  7  a. 


delle  hätte  anfertigen  lassen.  Deren  brauchte  man  aber  zwei,  von 
der  in  Fig.  7  a  und  7  b  gezeichneten  Gestalt.  Das  einfachere  Modell 
(Fig.  7  a)  diente  zur  AusfUlung  der  Breitseiten,  das  andere  (Fig.  7  b), 
an  der  Ebene  DCF  mit  einem  symmetrisch  gleichen  zusammen^ 
treffend,  diente  die  Ecken  zu  bilden,  beide  Modelle  paßten  mit  der  Ebene 
DCE  aneinander.  Das  zweite  Modell  stellt  sich  als  achter  Teil  einer 
der  großen  Pyramide  ähnlichen  Modellpyramide  dar;  dabei  ist  DF 
die  Kante,  DC  die  senkrecht  von  der  Spitze  auf  die  Grundfläche  ge- 
fällte Hohe,  CF  die  halbe  Diagonale  der  Grundfläche,  EF  und  die 
ihr  gleiche  GE  [^  CEF^  90^  ^  CFE^  45^  also  auch  ^  ECF-^  45» 
und  EF  =  CE]  die  halbe  Seite  der  quadratischen  Grundfläche.  Bei 
dem  ersten  Modell  kommt  es 
wesentlich  auf  ^  DEC  an, 
bei  dem  zweiten  auf  eben 
diesen  und  auf  ^  DFG\  folg- 
lich genügte  auch  das  zweite 
Modell  allein,  um  beide 
Arten  von  Ausfüllsteinen  nach 
ihm  behauen  zu  können.  Nennen  wir  nun  die  yier  erwähnten  Längen, 
beziehungsweise  ihre  Verdoppelung,  DF^pir  em  us,  DC  ^  qai  en 
haru,  2CF^u%a  tebt,  2CE  ^  senti,  so  treten  alle  vier  an  einem 
Raumgebilde  auf  und  müssen  naturgemäß  selbständige  Namen 
führen.     Seqt   aber  „die  Yerhältniszahl'^   ist   in   der  einen  Ebene 

1  uva  übt        CF  -p.  ^^    .     j  ,  Tj,v  qai  en  haru       CD 

^-A =  Ti  rt  =  COS  DFC,  in  der  anderen  Ebene  =  -     , — ^.—  ^  ri^ 

ptremtis        DF  '  ^sentt  CE 

^  tng  DEC.  Allerdings  würde  diese  Hypothese  die  zweite  in  sich 
schließen,  daß  das  gleichschenklig -rechtwinklige  Dreieck  CEF  als 
solches  erkannt  gewesen  wäre. 

Auch  hier  hat  man  eine  andere 
Erklärung  vorgeschlagen^)  und  den 
seqt  als  Eotangente  des  Böschungs- 
winkels   DEC   (Fig.  7c),     also    als 

j^vy  aufgefaßt,   indem  die  Höhe  DC 

bald  pir  em  us  bald  qai  en  haru  und 
die  Grundlinie  AB  ^-^  2CE  bald  ucha 
lebt  bald  senti  genannt  worden  sei. 

Haben  wir  nun  die  Geometrie  der  Ägypter,   soweit  sie  aus  den 
Rechnungsbeispielen  des  Ahmes  rückwärts  erschlossen  werden  kann, 


Fig.  7  c. 


*)  Bevillout  in  der  Revue  ^gypt.  II,  808 flgg.  und  G.  Borcliardt,*Wie 
wurden  die  Böschungen  der  Pyramiden  bestimmt?  in  der  Zeitschr.  f.  ägypt. 
Sprache  XXXI,  9—17  (1893). 


102  8.  Kapitel. 

erörtert,  so  beabsichtigen  wir  in  ähnlicher  Weise,  wie  es  för  die 
Rechenkunst  geschehen  ist,  zu  sammeki,  was  die  Überlieferang  ins- 
besondere griechischer  Schriftsteller,  was  auch  sonstige  Denkmäler 
zur  Ergänzung  uns  bieten.  Herodot  erzählt^),  wie  schon  oben  teil- 
weise verwertet  worden  ist,  Sesostris  (also  Ramses  IL)  habe  das  Land 
unter  alle  Ägypter  so  veiieilt,  daß  er  jedem  ein  gleich  großes  Viereck 
gegeben  und  von  diesem  seine  Einkünfte  bezogen  habe,  indem  er 
eine  jährlich  zu  entrichtende  Steuer  auflegte.  Wem  aber  der  Fluß 
Ton  seinem  Teile  etwas  wegriß,  der  mußte  zu  ihm  kommen,  und  das 
Geschehene  anzeigen;  er  schickte  dann  die  Aufseher,  die  auszumessen 
hatten,  um  wieviel  das  Landstück  kleiner  geworden  war,  damit  der 
Lihaber  von  dem  übrigen  nach  Verhältnis  der  angelegten  Abgabe 
steuere.  Hieraus^  meint  Herodot,  scheint  mir  {doxdsi  öd  f&ot)  die 
Geometrie  entstanden  zu  sein,  die  von  da  nach  Hellas  kam.  Iso- 
krates  gibt  an"),  die  Ägypter  hätten  die  älteren  unter  ihren  Priestern 
über  die  wichtigsten  Angelegenheiten  gesetzt,  die  jüngeren  dagegen 
überredeten  sie  mit  Hintansetzung  des  Vergnügens,  sich  mit  Stern- 
kunde, Rechenkunst  und  Geometrie  zu  beschäftigen.  Piaton  hat 
häufig  von  der  Mathematik  der  Ägypter  gesprochen  und  einmal ')  be- 
sonders hervorgehoben,  daß  bei  jenem  Volke  schon  die  £inder  in 
den  Messungen  unterrichtet  würden  zur  Bestimmung  von  Länge, 
Breite  und  Tiefe.  Eine  andere  platonische  Stelle^),  in  welcher  gleich- 
zeitig der  Rechenkunst  gedacht  ist,  und  einen  allgemein  gehaltenen 
Ausspruch  des  Aristoteles  ^)  haben  wir  im  vorigen  E^pitel  unter  den 
Belegen  fUr  das  hohe  Alter  ägyptischer  Rechenkunst  angefahrt.  Heron 
von  Alezandria  läßt,  was  Herodot  als  ihm  eigentümliche  Vermutung 
äußert,  vielleicht  im  Hinblick  auf  eben  diesen  damals  schon  seit  etwa 
vier  Jahrhunderten  verstorbenen  Schriftsteller  zur  alten  Überlieferung 
werden®):  Die  früheste  Geometrie  beschäftigt  sich,  wie  uns  die  alte 
Überlieferung  lehrt,  mit  der  Messung  und  Verteilung  der  Ländereien, 
woher  sie  Feldmessung  genannt  ward.  Der  Gedanke  einer  Messung 
nämlich  ward  den  Ägyptern  an  die  Hand  gegeben  durch  die  Über- 
schwemmung des  Nil.  Denn  viele  Grundstücke,  die  vor  der  Fluß- 
schwelle offen  dalagen,  verschwanden  beim  Steigen  des  Flusses  und 
kamen  erst  nach  dem  Sinken  desselben  wieder  zum  Vorschein,  und 
es  war  nicht  mehr  möglich  über  das  Eigentum  eines  jeden  zu  ent- 
scheiden. Dadurch  kamen  die  Ägypter  auf  den  Gedanken  der  Mes- 
sung des  vom  Nil  bloßgelegten   Landes.     Diodor   stimmt  gleichfalls 


*)  Herodot  11,  109.  »)  Isokrates,  Buairis  cap.  9.  »)  Piaton,  Gesetze 
pag.  819.  *)  Piaton,  Phaedros  pag.  274.  ^)  Aristoteles,  Metaphys.  I,  1 
in  fine.     *)  Heron  Alexandrinus  (ed.  Hultsch).    Berlin  1864,  pag.  138. 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  103 

überein^).  Die  Ägypter,  sagt  er,  behaupten,  von  ihnen  sei  die  Erfindung 
der  Buchstabenschrift  und  die  Beobachtung  der  Gestirne  ausgegangen; 
ebenso  seien  Ton  ihnen  die  Theoreme  der  Geometrie  und  die  meisten 
Wissenschaften  und  Künste  erfunden  worden.  An  einer  etwas  späteren 
ausführlicheren  Stelle  fährt  er  fort:  Die  Priester  lehren  ihre  Söhne 
zweierlei  Schrift,  die  sogenannte  heilige  und  die,  welche  man  ge- 
wöhnlich lemi  Mit  Geometrie  und  Arithmetik  beschäftigen  sie  sich 
eifrig.  Denn  indem  der  Fluß  jährlich  das  Land  vielfach  verändert, 
veranlaßt  er  viele  und  mannigfache  Streitigkeiten  über  die  Grenzen 
zwischen  den  Nachbarn;  diese  können  nun  nicht  leicht  ausgeglichen 
werden,  wenn  nicht  ein  Geometer  den  wahren  Sachverhalt  durch 
direkte  Messung  ermittelt.  Die  Arithmetik  dient  ihnen  in  Haus- 
haltungsangelegenheiten und  bei  den  Lehrsätzen  der  Geometrie;  auch 
ist  sie  denen  von  nicht  geringem  Vorteile,  die  sich  mit  Sternkunde 
beschäftigen.  Denn  wenn  bei  irgend  einem  Volke  die  Stellungen 
und  Bewegungen  der  Gestirne  sorgfältig  beobachtet  worden  sind,  so 
ist  es  bei  den  Ägyptern  geschehen;  sie  verwahren  Au£&eichnungen 
der  einzelnen  Beobachtungen  seit  einer  unglaublich  langen  Reihe  von 
Jahren,  da  bei  ihnen  von  alten  Zeiten  her  die  größte  Sorgfalt  hierauf 
verwendet  worden  ist.  Die  Bewegungen  und  Umlaufszeiten  und  Still- 
stände der  Planeten,  auch  den  Einfluß  eines  jeden  auf  die  Entstehung 
lebender  Wesen  und  alle  ihre  guten  und  schädlichen  Einwirkungen 
haben  sie  sehr  sorgfältig  beachtet.  Die  gleiche  Überlieferung  finden  wir 
bei  Strabon^).  Es  bedurfte  aber  einer  sorgfältigen  und  bis  auf  das 
genaueste  gehenden  Einteilung  der  Ländereien  wegen  der  beständigen 
Verwischung  der  Grenzen,  die  der  Nil  bei  seinen  Überschwemmungen 
veranlaßt,  indem  er  Land  wegnimmt  und  zusetzt  und  die  Gestalt  ver- 
ändert und  die  anderen  Zeichen  unkenntlich  macht,  wodurch  das 
fremde  und  eigene  Besitztum  unterschieden  wird.  Man  muß  daher 
immer  und  immer  wieder  messen.  Hieraus  soll  die  Geometrie  ent- 
standen sein. 

Wir  haben  unsere  Gewährsmänner,  deren  Lebenszeit  etwa  von 
460  V.  Chr.  bis  auf  Christi  Geburt  sich  erstreckt,  chronologisch  ge- 
ordnet, woraus  erschlossen  werden  kann,  wieviel  etwa  die  späteren 
derselben  von  ihren  Vorgängern  entnommen  haben  mögen  ohne  aus 
dem  lebenden  Quell  fortdauernder  volkstümlicher  Sage  zu  schöpfen. 
Anderen  späteren  Schriftstellern  werden  wir  an  anderer  Stelle  das 
Wort  geben,  wo  es  um  die  Übertragung  der  Geometrie  nach  Griechen- 
land sich  handeln  wird.  Nur  einen  der  frühesten  griechischen  Zeugen 
für  das  Alter  und  für  die  Bedeutsamkeit  ägyptischer  Geometrie  müssen 


^)  Diodor  I,  69  und  die  Hauptstelle  I,  81.      *)  Strabon   Lib.  XVn,  cap.  8. 


104  8.  Kapitel. 

wir  jetzt  nooh  nachtrilglich  hören^  den  wir  oben  zwischen  Herodot 
und  Isokrates^  wohin  er  seiner  Lebenszeit  nach  gehörte,  absichtlich 
zurückstellten,  weil  seine  Aussage  von  so  hervorragender  geschicht- 
licher Wichtigkeit  ist,  daß  sie  einer  besonderen  Erörterung  bedarf. 

Demokrit  sagt^)  nämlich  um  das  Jahr  420:  „Im  Konstruieren 
Yon  Linien  nach  Maßgabe  der  aus  den  Voraussetzungen  zu  ziehen- 
den Schlüsse  hat  mich  keiner  je  übertroffen,  selbst  nicht  die  soge- 
nannten Harpedonapten  der  Ägypter/' 

Daß  Harpedonapten  ein  griechisches  Wort  mit  der  Bedeutung 
Seilspanher  oder  wörtlicher  übersetzt  Seilknüpfer  sei,  ist  merkwür- 
digerweise Ton  dem  Verfasser  des  besten  griechischen  Wörterbuches 
übersehen  worden').  Allein  auch  die  richtige  Übersetzung  reicht 
zum  Verstehen  jenes  Satzes  nicht  aus,  wenn  man  nicht  weiß,  wer 
jene  Seilspanner  waren,  denen  Demokrit  in  seinem  ruhmredigen  Ver- 
gleiche ein  hochehrendes  Zeugnis  geometrischer  Gewandtheit  ausstellt, 
und  worin  ihre  Obliegenheiten  bestanden.  Beides  ist  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  aus  ägyptischen  Tempelinschriften  zu  erkennen,  welche 
Ton  geschätzten  Ägyptologen  veröffentlicht  worden  sind').  Die 
Tempel  mußten  in  gleicher  Weise  wie  die  Pyramiden  orientiert  werden, 
und  die  Richtung  nach  Norden,  deutlicher  ausgedrückt  nach  dem 
Eintrittspunkte  des  Siebengestimes  um  eine  gegebene  Zeit  wurde  be- 
obachtungsweise festgestellt.  „Ich  habe  gefaßt  den  Holzpflock  '(nebi) 
und  den  Stiel  des  Schlägels  (semes),  ich  halte  den  Strick  (xa)  ge- 
meinschaftlich mit  der  Göttin  Safech.  Mein  Blick  folgt  dem  Gange 
der  Gestirne.  Wenn  mein  Auge  an  dem  Stembilde  des  großen 
Bären  angekommen  ist  und  erfüllt;  ist  der  mir  bestimmte  Zeitabschnitt 


*)  Clemens  Alexandrinus,  Stromata  ed.  Potter  I,  867:  y^ccfifiimv  evv- 
mitflog  iiexä  ÄnoösL^iog  o'bÖBlg  %m  (is  nagi^lXa^Bv ,  O'bd*  ol  Alyvnxioiv  %oi'k£6{LBVOi 
'AQ%BSovdntai.  *)  C  a  n  t o  r ,  Gräkoindische  Studien  (Zeitschr.  Math.  Phys.  Bd.  XXII . 
Jahrgang  1877.  Histor.-literar.  Abteilung  S.  18  und  Note  68).  ")  Brugsch, 
Ueber  Bau  und  Maasse  des  Tempels,  von  Edfu  (Zeitschr.  f.  ägypt.  Spr.  u.  Alterth. 
Bd.  Vni)  und  hieroglyphisch-demotisches  Wörterbuch  S.  827  und  967.  An  letz- 
terer Stelle  ist  übrigens  nur  bemerkt,  daß  das  ägyptische  hunu  :»  Feldmesser, 
Greometer  sei.  Yon  einem  Seilspannen  oder  gar  von  einer  Erinnerung  an  das 
griechische  agnsdovanxcLi  ist  dabei  keine  Bede.  Femer  vgl.  Dümichen  in  der 
Zeitschr.  f.  ägypt.  Spr.  u.  Alterth.  Bd.  VIII  und  besonders  dessen  umfangreiche 
Schrift:  Baugeschichte  des  Denderatempels  und  Beschreibung  der  einzelnen  Theile 
des  Bauwerkes  nach  den  an  seinen  Mauern  befindlichen  Inschriften.  Straßburg 
1877.  Endlich  vgl.  Brugsch,  Steininschrift  und  Bibelwort  (Berlin  1891),  wo 
ausdrücklich  darauf  hingewiesen  ist,  daß  in  allen  bildlichen  Darstellungen  der 
Grundsteinlegung  eines  Tempels  die  neben  dem  Könige  auftretende  Göttin  stets 
den  Meßstrick  halte  und  durch  eingeschlagene  Pflöcke  die  Endpunkte  des  Heilig- 
tums festlege.  Die  Endpunkte  Brugschs  sind  jedenfalls  als  die  Eckpimkte  zu 
verstehen. 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  105 

der  Zahl  der  Uhr,  so  stelle  ich  auf  die  Eckpunkte  Deines  Gottes- 
hauses/^ Das  sind  die  Worte,  unter  denen  der  König  auf  den  In- 
schriften der  Tempel  die  genannte  Handlung  ToUziehi  Er  schlägt 
mit  der  in  seiner  rechten  Hand  befindlichen  Keule  einen  langen  Pflock 
in  den  Erdboden  und  ein  gleiches  tut  ihm  gegenüber  Sqfech,  die 
Bibliotheksgöttin,  die  Herrin  der  Grundsteinlegung.  Es  ist  klar,  daß 
die  diese  beiden  Pflöcke  verbindende  Gerade  die  Richtung  nach 
Norden,  den  Meridian  des  Tempels,  bezeichnet,  daß  durch  sie  die  ge- 
wünschte Orientierung  des  Grundrisses  zur  Hälfte  vollzogen  ist.  Aller- 
dings nur  zur  Hälfte!  Die  Wandungen  des  Tempels  sollen  senkrecht 
zueinander  stehen^  und  demgemäß  ist  es  nicht  weniger  notwendig  in 
einer  zweiten  Handlung  diese  mehr  geometrische  als  astronomische 
Bestimmung  zu  treffen. 

Man  kann  nun  leicht  mit  der  Antwort  bereit  sein,  die  ägypti- 
schen Zimmerleute  hätten  gleich  ihren  heutigen  Haudwerksgenossen 
massive  rechte  Winkel  besessen.  Ein  solcher  ist  z.  B.  auf  einem 
Wandgemälde  eine  Schreinerwerkstätte  darstellend^)  deutlich  ^ 
abgebildet.  Wohl.  Aber  die  Richtigkeit  dieses  Werkzeuges  ^ 
mußte  doch  selbst  verbürgt,  mußte  ii^end  einmal  irgendwie  ^9*  ^• 
geprüft  sein,  und  das  scheint  immerhin  in  letzter  Linie  eine  geome- 
trische Konstruktion  vorauszusetzen,  die  vermutlich  bei  so  feierlichen 
Gelegenheiten  wie  die  Gründung  eines  Tempels  stets  aufs  neue  voll- 
zogen wurde.  Daß  es  so  geschah  liegt  vielleicht  in  der  Mehrzahl 
„die  Eckpunkte  Deines  Gotteshauses^  angedeutet,  welche  der  König, 
wie  wir  gehört  haben,  aufstellt.  Die  Art  der  Bestimmung  freilich 
verschweigt,  soviel  wir  wissen,  die  Gründungsformel.  Gerade  dazu 
diente  nun,  wenn  uns  ein  Analogieschluß,  dessen  Ausführung  wir 
auf  einige  ziemlich  späte  Kapitel  dieses  Bandes  verschieben  müssen, 
nicht  irre  leitet,  das  Seil,  das  um  die  Pflöcke  gezogen  war,  das  das 
eigentliche  Geschäft  der  Seilspänner  bezeichnend  ihnen  den  Namen 
verlieh  und  an  welches  wir  dachten,  als  wir  im  1.  Kapitel  (S.  4&) 
auf  die  Möglichkeit  einer  Seilspannung  bei  den  Babyloniem  hin- 
wiesen. 

Denken  wir  uns,  gegenwärtig  allerdings  noch  ohne  jede  Be- 
gründung, den  Ägyptern  sei  bekannt  gewesen,  daß  die  drei  Seiten 
von  der  Länge  3,  4,  5,  deren  grundlegende  Eigenschaft  4*  +  3*  =»  5' 
ihnen  (S.  96)  nicht  entgangen  war,  zu  einem  Dreiecke  verbunden  ein 
solches  mit  einem  rechten  Winkel  zwischen  den  beiden  kleineren 
Seiten  bilden,  und  denken  wir  uns  die  Pflöcke  auf  dem  Meridian  um 


*)  Wilkinson,  Manners  and  custams  of  the  ancient  Egyptians.    Vol.  HI, 
pag.  144. 


106  8.  Kapitel. 

4  Längeneinheiten  Toneinander  entfernt.  Denken  wir  uns  femer  das 
Seil  von  der  Länge  12  und  durch  Knoten  in  die  entsprechenden  Ab- 
teilungen 3^  4,  5  geteilt,  so  leuchtet  ein  (Fig.  9),  daß  das  Seil  an 

dem  einen  Knoten  gespannt,  während  die 
beiden  anderen  an  den  Pflöcken  anlagen,  not- 
wendigerweise einen  genauen  rechten  Winkel 
zum  Meridiane  an  dem  einen  Pflocke  hervor- 
bringen mußte. 

War  dieses  die  Hauptaufgabe  der  Harpe- 
donapten,  zu  deren  Amtsgeheimnis  es  gehören 
mochte,  die  Pflöcke  wie  die  Knoten  an  den 
richtigen  Stellen  anzubringen,  wodurch  wenigstens  eine  zweckdien- 
liche Erklärung  für  das  Stillschweigen  der  Inschriften  über  ihre  Ver- 
fahrungsweise  gegeben  wäre,  so  konnte  in  der  Tat  ihnen  der  Ruhm 
„der  Konstruktion  Ton  Linien'^  zugesprochen  werden,  so  waren  sie  im 
Besitz  der  Mysterien  der  Geometrie,  die  nicht  jedem  sich  enthüllten, 
so  wird  es  begreiflich,  wie  ihre  Handlungen  in  den  Wandgemälden 
dem  Könige  selbst  in  Verbindung  mit  einer  Göttin  beigelegt  wurden. 
Die  Operation  des  Seilspannens  ist  eine  ungemein  alte.  Man 
hat  deren  Erwähnung  auf  einer  auf  Leder  geschriebenen  Urkunde 
des  Berliner  Museums  gefunden,  wonach  sie  bereits  unter  Ame- 
nemhat  L  stattfand^).  Vielleicht  ist  es  gestattet,  hier  nochmals 
daran  (S.  58)  zu  erinnern,  daß  Ahmes  in  den  einleitenden  Worten 
seines  Papyrus  sich  darauf  beruft,  er  arbeite  nach  dem  Muster  älterer 
Schriften,  und  daß  es  yieUeicht  König  Amenemhat  lU.  war,  unter 
dessen  Regierung  jene  älteren  Schriften  verfaßt  wurden.  Ist  diese 
Annahme  wirklich  richtig,  so  würden  wir  wenigstens  keinen  Anstand 
nehmen  die  Möglichkeit  solcher  Kenntnisse,  wie  wir  sie  soeben  für 
die  Harpedonapten  in  Anspruch  nahmen,  schon  in  der  XH.  Dynastie, 
welcher  die  Amenemhat  angehörten,  zuzugestehen.  Einer  Zeit,  welche 
die  Winkellehre  so  weit  ausgebildet  hatte,  daß  sie  den  Seqt  be- 
rechnete, können  wir  auch  die  Kenntnis  des  rechtwinkligen  Dreiecks 
Ton  den  Seiten  3,  4,  5  zutrauen,  die  wesentlich  erfahrungsmäßig 
gewonnen  worden  sein  wird,  ohne  daß  irgendwie  an  einen  strengen 
geometrischen  Beweis  in  unserem  heutigen  Sinne  des  Wortes  gedacht 
werden  müßte. 

Überhaupt  zerfällt,  wie  wir  meinen,  gerade  dem  Seqt  gegenüber 
jeder  Versuch,  die  Geometrie  der  Ägypter  auf  eine  bloße  Flächen- 
abschätzung zurückzuführen,  während  Winkeleigenschaften  oder  Ver- 
hältnisse Ton  Strecken  ihr  fremd  gewesen  seien,  von  selbst,  ohne  daß 

*)  Dümichen,  Denderatempel  S.  33. 


Die  Ägypter.    Oeometrisches.  107 

es  mehr  nötig  wäre^  gegen  diese  Zweifbi  eines  überwundenen  Wissens- 
standpunktes  mit  eingehender  Widerlegung  sich  zu  wenden.  Dagegen 
ist  um  so  erklärlicher,  was  ein  später  griechischer  Schriftsteller  Ton 
den  Schülern  des  Pythagoras  sagt^),  was  aber  gewiß  richtig  auch  auf 
seine  Lehrer^  die  Ägypter  gedeutet  worden  ist,  daß  sie  die  Winkel 
als  bestimmten  Göttern  geweiht  ansahen,  und  daß  der  dreiartige  Gott 
die  erste  Ursache  zur  Reihe  der  geradlinigen  Figuren  in  sich  be- 
greife. 

Eine  mindestens  nicht  ganz  zu  rerwerfende  Beseitigung  uralter 
geometrischer  Kenntnisse  bei  den  Ägyptern  können  wir  noch  bei- 
fügen'). Wenn  aus  den  ältesten  Zeiten  auf  WandgemäMen  Figuren 
von  geometrischer  Entstehung  sich  erhalten  haben,  so  spricht  deren 
Vorhandensein  gewiß  daffir,  daß  man  mit  solchen  Zeichnungen  sich 
damals  beschäftigte.  Ja  man  kann  es  wohl  einleuchtend  nennen, 
daß  ein  wirklicher  Mathematiker,  welcher  dieselben,  yielleicht  Jahr- 
hunderte nach  ihrer  Anfertigung,  häufig,  töglich  zu  Gesicht  bekam, 
fast  notwendig  darauf  hingewiesen  werden  mußte,  über  Eigenschaften 
dieser  Figuren,  die  ihm  noch  nicht  bekannt  waren,  nachzudenken. 
Glücklicherweise  besitzen  wir  nun  in  einem  mit  Recht  wegen  seiner 
Treue  und  Zuverlässigkeit  berühmten  Bilderwerke ")  eine  überreiche 
Menge  Ton  Figuren  der  genannten  Art,  von  denen  nur  einige  wenige, 
und  zwar  der  leichteren  Herstellung  wegen  ohne  die  bunten  Farben 
des  Originals  und  in  anderem  Maßstabe,  hier  wiedergegeben  werden 
mögen.  Schon  zur  Zeit  der  Y.  Dynastie,  der  unmittelbaren  Nach- 
folger der  Pyramidenkönige,  wurde  in  der  Totenstadt  von  Memphis 
eine  aus  ineinander  gezeichneten  verschobenen  Quadraten  (Fig.  10) 
gebildete  Verzierung  angewandt.  Das  Quadrat  mit  seinen  zu  Blättern 
ergänzten  Diagonalen  (Fig.  11)  findet  sich  von  der  XII.  bis  zur 
XXVI.  Dynastie  vielfach.  Das  gleichschenklige  Paralleltrapez  kommt 
in  Varianten,  welche  auf  die  Zerlegung  in  anderweitige  Figuren  sich 


')  Proclus  DiadochuB,  Commentar  zum  I.  Buche  der  euklidischen  Ele- 
mente ed.  Friedlein.  Leipzig  187S,  pag.  180  und  156.  Auf  diese  Stellen  hat 
allerdings  in  der  Absicht  sie  gegen  eiae  wissenschaftliche  Geometrie  der 
Ägypter  zu  verwerten  Friedlein  aufmerksam  gemacht:  Beiträge  zur  Geschichte 
der  Mathematik  U.  Hof  1872,  S.  6.  *)  Zur  Anstellung  der  hier  folgenden 
Untersuchung  regten  uns  einige  Bemerkungen  von  G.  J.  All  man  an:  Gretk 
Geometry  from  Thaies  to  JSuclid  im  V.  Bd.  der  Hermathena.  Dublin  1877, 
pag.  169,  Note  20  und  pag.  186,  Note  81.  Diese  Abhandlung  ist  mit  anderen, 
die  gleichfalls  ursprünglich  in  der  Hermathena  erschienen,  1889  zu  einem  Bande 
vereinigt  worden.  Dort  finden  sich  die  betreffenden  Stellen  pag.  12,  Note  16 
und  pag.  29,  Note  47.  «)  Prisse  d'Avennes,  Histoire  de  Vart  Egyptien  d'apres 
les  monuments. 


108 


8.  Kapitel. 


beziehen  (Fig.  12  und  13)^  als  Zeicliniing  von  unteren  Teilen  eines  Standers 
für  Waschgefäße  und  dergleichen  fast  zu  allen  Zeiten  vor.   Ein  höchst 


/ 

/ 

\ 

Fig.  12. 

\ 

Fig.  1^ 


Fig.  U. 


Flg.  18. 


> 


merkwürdiges  Gewebemuster  (Fig.  14)  kann  als  Ver- 
einigung zweier  sich  symmetrisch  durchsetzender 
Quadrate  definiert  werden.  Unterbrechen  wir  hier 
die  Angabe  geometrischer  Figuren  aus  ägyptischen 
Wandgemälden  und  schalten  wir  zunächst  den 
'      ^syy  Bericht   über   eine   für    uns    ungemein    wertvolle 

yjg  14  Entdeckung  ein. 

Die  Ägypter  pflegten  die  Wände,  auf  welchen 
sie  Beliefarbeiten  anbringen  wollten,  in  lauter  einander  gleiche 
Quadrate  zu  zerlegen  und  mit  deren  Hilfe  die  Umrisse  des  Ein- 
zuhauenden zu  zeichnen.  Eine  unvollendet  gebliebene  Kammer  in 
dem  sogenannten  Orabe  Belzoni,  das  ist  in  dem  Gh-abe  Seti  I.,  des 
Vaters  Ramses  IL  aus  der  XIX.  Dynastie,  zeigt  dieses  ganz  deutlich^). 
Es  wäre  töricht  hierin  bewußte  Anfänge  eines  Koordinatensystems 
erkennen  zu  wollen,  aber  ebenso  töricht  wäre  es  zu  verkennen,  daß  in 
dieser  ausgeprägten  Gewohnheit  eine  geometrische  Proportionen- 
lehre so  weit  enthalten  ist,  daß  wir  den  verkleinernden,  unter  Um- 
ständen, wo  es  um  Götterfiguren  sich  handelte,  auch  den  vergrößern- 
den Maßstab  angewandt  finden.  Es  kann  fast  auffallen,  daß  die 
Ägypter  nicht  noch  einen  Schritt  weitergingen  und  die  Perspek- 
tive erfanden.  Bekanntlich  ist  von  dieser  bei  ägyptischen  Gemälden 
keine  Spur  vorhanden,  und  mag  man  religiöse  oder  was  immer  sonst 
für  Gründe  dafür  in  Anspruch  nehmen,  immer  bleibt  geometrisch  aus- 
gedrückt die  Tatsache:  die  Ägypter  übten  nicht  die  Kunstfertigkeit 
die  zu  bemalende  Wand  als  zwischen  dem  sehenden  Auge  und  dem 
abzubildenden  Gegenstande  eingeschaltet  zu  denken  und  deren  Durch- 
schnittspunkte  mit  den  Sehstrahlen  nach  jenem  Gegenstande  durch 
Linien  zu  vereinigen. 

')  Wilkinson,  Manners  and  customs  III,  pag.  318  und  ebendesselben  Thebes 
and  Egypt  pag.  107. 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  109 

Gehen  wir  in  der  Zeit  tief  herunter  bis  zur  Regierung  des  Königs 
Ptolemaeus  IX.  (um  150  y.  Chr.  Q,),  so  finden  wir  auf  dem  großen 
Pylon  vor  dem  auf  der  Insel  Phylae  von  jenem  Könige  errichteten 
Isistempel  eine  erhaltene  in  den  Stein  eingeritzte  Zeichnung,  welche 
allerdings  das  Recht  hat  uns  in  Staunen  zu  versetzen,  und  welche 
wir  am  besten  an  dieser  Stelle  erwähnen.  Es  ist^)  der  Grundriß 
einer  bei  Erbauung  des  Isistempels  zur  Verwendung  gelangten  Säule, 
und  weitere  Nachforschungen  haben  ergeben,  daß  die  hier  entgegen- 
tretende Art  des  Einritzens  Ton  Zeichnungen  in  natürlicher  Größe 
dem  ägyptischen  Baumeister  auf  Phylae  regelmäßige  Gewohnheit  war. 
Er  hat,  wie  die  Ausgrabungen  zeigen,  vor  dem  Beginne  des  Baues 
alle  seine  Grundrisse  in  Naturgröße  auf  dem  Pflaster,  da  wo  die 
Mauer  k;inkommen  sollte,  aufgerissen. 

Wir  kehren  zu  den  Figuren  geometrischer  Art  zurück,  und  zwar 
zu  solchen,  bei  welchen  die  Kreislinie  yorkommt.  Durch  Durchmesser 
in  gleiche  Kreisausschnitte  geteilte  Kreise  kommen  vielfach  vor,  und 
zwar  ist  bei  Zieraten  die  häufigste  Teilung  die  durch  2  oder  4 
Durchmesser  in  4  oder  8  Teile,  während,  wie  wir  im  1.  Kapitel 
(S.  47)  erwähnt  haben,  auf  Gefäßen,  welche  von  asiatischen  Tribut- 
pflichtigen Königen  der  XVIII.  Dynastie,  etwa  den  Zeitgenossen  des 
Schreibers  Ahmes,  überbracht  werden,  die  Teilung  des 
Kreises  durch  6  Durchmesser  in  12  Teile  (Fig.  15) 
ausnahmslose  Regel  ist.  Wagenräder  haben  insbeson-  ^ 
dere  seit  Ramses  11.  aus  der  XIX.  Dynastie  fast  regel- 
mäßig 6  Speichen,  und  Räder  mit  4  Speichen  kommen 
ganz  selten  vor.  Ergänzend  ist  zu  erwähnen,  daß  den 
Ägyptern  des  alten  und  des  mittleren  Reiches  Wagen 
und  Pferde  noch  unbekannt  waren.  Beide  wurden  erst  unter  den 
Hyksoskönigen  von  Syrien  her  eingeführt*).  Damit  ist  aber  zugleich 
wahrscheinlich  gemacht,  daß  den  Ägyptern  vor  der  Zeit  der  Hyksos- 
könige  z.  B.  unter  den  Amenemhats,  unter  welchen  das  Muster  zum 
Handbuche  des  Ahmes  entstand,  die  mit  den  6  speichigen  Rädern  und 
dem  regelmäßigen  Sechsecke  in  enger  Verbindung  stehende  Verhältnis- 
zahl ;r  =»  3  nicht  bekannt  wurde,  und  daß  diese  auch  späterhin  trotz 
anhaltend  enger  Beziehungen   zu   Vorderasien  sich  nicht  einbürgern 

konnte,  weil  die  Ägypter  damals  schon  mit  7t  «  (-  - j  zu  reebnen  ge- 
wohnt waren.  Eine  Teilung  des  Kreises  in  10  gleiche  Teile  durch 
5  Durchmesser  oder  in  5  Teile  durch  5  vom  Mittelpunkte  ausgehende 
Strahlen   ist   unserem   danach  suchenden  Auge  nicht  begegnet.     Der 

^)  L.  Borchardt,  Altägyptische  Werkzeichnungen.  Zeitschr.  f.  ägypt. 
Spr.  XXXIV,  69—76  (1896).     *)  Steindorff,  Die  Blütezeit  der  Pharaonen  S.44. 


110  3.  Kapitel. 

Ton  Horapollon  als  Zeichen  für  5  beschriebene  fOnfstrahlige  Stern 
(S.  84)  kann  kaum  als  Gegenbeispiel  aufgefaßt  werd^n^  so  auf&llend 
er  sein  mag. 

Wollen  wir  über  wirklich  geometrische  Überbleibsel  in  ägypti- 
scher Spruche,  nicht  über  Zeichnungen,  aus  welchen  mehr  oder  minder 
gewagte    Rückschlüsse    auf   geometrisches   Wissen    gezogen    werden 
müssen,  berichten,  so  haben  wir  plötzlich  ungemein  tief  in  die  Zeit- 
folge  hinabzugreifen   bis   zu    den   Inschriften   des   Tempels   des 
Horus  zu  Edfu  in  Oberägypten  ^),  in  welchen  der  Grundbesitz  der 
Priesterschaft    dieses    Tempels    vermessen    und    angegeben    ist.     Die 
Pflocklegung   dieses   Tempels    wurde    nach    altertümlicher   Sitte   am 
23.  August  237  v.  Chr.  vollzogen*).     Die  aufgezeichneten  Grundstücke 
und  deren  Schenkung  beziehen  sich  auf  König  Ptolemäus  XI.,  Ale- 
xander L,  dessen  Regierung  durch  Gewalttätigkeiten  an  Bruder  und 
Mutter  errungen  und  bewahrt  von  107  bis  88  dauerte,  in  welch  letz- 
terem Jahre  er  selbst  durch  den  mit  Waffengewalt  zurückkehrenden 
Bruder  zur  Flucht  genötigt  wurde.    Um  das  Jahr  100  v.  Chr.  wurden 
also  die   betreffenden  Messungen   angestellt,   nicht   weniger   als  200 
Jahre  nachdem  in  Alexandria  auf  ägyptischem  Boden  und  unter  dem 
Schutze  eines  Königs  von  Ägypten  Euklid  gelebt  und  gelehrt  hatte, 
dessen  Name  jedem  Gebildeten  bis  zu  einem  Grade  bekannt  ist,  der 
uns   verstattet    seiner    als   Maßstab    für    das    mathematische   Wissen 
seiner  Zeit  auch  in  diesem  Kapitel  schon  uns  zu  bedienen.     Damals 
gab  es  unzweifelhaft  eine  weit  vorgeschrittene  theoretische  Geometrie, 
aber  die  Praxis  der  Feldmessung  ließ   sich  an  den  altherkömmlichen 
Formeln  genügen.     Wir  haben  dieses  Festhalten  an  gewohnten,  be- 
quemen, eine  Wurzelausziehung  vermeidenden  Methoden  schon  früher 
(S.  94)  angekündigt.     Wir   haben   es   bis   zu    einem    gewissen    Grade 
gerechtfertigt   und   die  Unbedeutendheit   des    begangenen    Fehlers   in 
Betracht  gezogen.     Es  ist  möglich  gewesen  aus  den  sich  aneinander 
anschließenden   Maßen   der  Edfu-Inschrift   eine   sehr   wahrscheinliche 
Zeichnung    der    dort    beschriebenen   Ländereien    anzufertigen*),    und 
dieser  Plan  läßt  erkennen,  wie  wenig  die  durch  Hilfslinien  hergestellten 
viereckigen  Abteilungen  von  Rechtecken   sich  unterscheiden,  bis   zu 
welchem  Grade  der  Genauigkeit  trotz  Anwendung  der  alten  Formeln 
man  gelangte.     In  der  Häufung  jener  Hilfslinien,  in  der  Zerlegung 
des  zu  messenden  Feldes  in  immer  zahlreichere,  immer  kleinere  Teile 
lag  die  Verbesserung,  welche  ein  Festhalten  der  Regeln  der  Urahnen 


*)  R.  Lepeius,  lieber  eine  hieroglyphische  Inschrift  am  Tempel  von  Edfu 
(Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  1855,  S.  6ü— 114).  *)  Dümichen  in  der 
Zeitschr.  f  Sgypt.  Spr.  u.  Alterth.  Bd.  Vm,  S.  7.     ')  R.  Lepsius  1.  c.  Tafel  VI. 


Die  Ägypter.    Geometrisches.  111 

gestattete,  und  diese  Verbesserung  war  selbst  keine  Neuerung,  sie 
hatte  ihr  Vorbild  schon  in  dem  Werke  des  Ahmes.  Wir  können  die 
Ehrenrettung  der  Feldmesser  zur  Zeit  von  Ptolemäus  XI.  gewissermaßen 
vollenden,  indem  wir  an  die  Scheu  vor  Wurzelausziehungen  erinnern, 
welche  heute  noch  untergeordneten  Beamten  des  Eatasterwesens  an- 
zuhaften pflegt  und  sie  wenigstens  für  vorläufige  Flächenschätzung 
die  sogenannten  verglichen  abgenommenen  Maße  anwenden  läßt, 
d.  i.  eben  das  altägyptische  Verfahren  seinem  Haupigedanken  nach. 
Wenn  wir  sagten,  in  den  Edfu-Inschriften  seien  die  Formeln  an- 
gewandt, welche  uns  aus  dem  Übungsbuche  des  Ahmes  bereits  be- 
kannt sind,  so  müssen  wir  diese  Aussage  dahin  ergänzen,  daß  eine 
weitere  theoretisch  noch  mißbräuchlichere  Ausdehnung  jener  Formeln 
hinzugekommen  und  eine  nicht  ganz  unbedeutende  Gedankenverschie- 
bung bei  ihnen  eingetreten  ist. 

Die  Formeln  des  Ahmes  waren  —  X  a  und  --—-  *  X  a    für    die 

Flächeninhalte  des  gleichschenkligen  Dreiecks  und  des  gleichschenk- 
ligen Paralleltrapezes.  Die  erstere  Formel  blieb  in  Geltung,  und 
wenigstens  in  den  im  Drucke  veröffentlichten  Edfu-Inschriften  sind 
andere  als  gleichschenklige  Dreiecke  nicht  genannt.  Bei  den  Vier- 
ecken aber  ist  die  Bedingung,  daß  es  gleichschenklige  Paralleltrapeze 
seien,  deren  Fläche  man  berechnen  wolle,  abhanden  gekommen.  Die 
Anzahl  so  gestalteter  Vierecke  überwiegt  allerdings  auch  in  Edfn, 
aber  neben  ihnen  kommen  ganz  willkürliche  Vierecke  mit  den  Seiten 
a^,  Oj,  fei,  62  ^^h  wo  dJ®  beiden  durch  a  und  desgleichen  die  beiden 
durch  b  benannten  Seiten  einander  gegenüberliegen  sollen,  und  deren 
Fläche  berechnet  sich  auf 

2         ^        2       * 

So  z.  B.  16  zu  15  und  4  zu  3^  macht  58^  ;  45  ]-z\i  33 v  !  und  17  zu 

15  macht  632;  9^-  zn  lO^-  und  244^-^-  zu  22^  l  macht  236^  usw. 

Die  angekündigte  Gedankenverschiebung  besteht  aber  in  folgen- 
dem. Ahmes,  das  suchten  wir  aus  der  mutmaßlichen  Entstehung  der 
Formeln,  aus  dem  beim  Vierecke  gebrauchten  Namen  Hak,  Abschnitt, 
für  die  eine  Seite  zu  begründen,  ging  aus  vom  Dreiecke  und  ließ 
das  Trapez  durch  Abstumpfung  jener  ursprünglichen  Figur  entstehen. 
Jetzt  hat  die  Sache  sich  umgekehrt.  Das  Viereck  ist  die  zugrunde 
liegende  Figur  geworden,  das  Dreieck  entsteht  aus  ihm  als  besonderer 
Fall,  indem  eine  Vierecksseite  verschwindet.  Nicht  von  Dreiecken 
mit  den  Seiten  5,  17,  17  oder  2,  3,  3  ist  in  Edfu  die  Bede,  sondern 
von  Figuren  mit  den  Seiten  0  zu  5  und  17  zu  17,  beziehungsweise 


112  8.  Kapitel 

0  zu  2  und  3  zu  3,  deren  Flächen  alsdann  42^   und  3  sind^).     Das 

Wort  Null  wird,  wie  wir  wohl  zum  Überflusse  bemerken,  nicht  etwa 
durch  ein  besonderes  Zahlzeichen,  sondern  durch  eine  aus  zwei  Bild- 
chen sich  zusammensetzende  hieroglyphische  Gruppe  mit  der  Aus- 
sprache Neu  dargestellt,  welche  gewöhnlich  verneinende  Beziehungen 
ausdrückt,  hier  die  als  Dingwort  ausgesprochene  Verneinung,  das 
Nichts.     An  eine  Zahl  Null  ist  in  keiner  Weise  zu  denken. 

Passen  wir  in  eine  ganz  kurze  Übersicht  den  Hauptinhalt  der 
beiden  von  ägyptischer  Mathematik  handelnden  Kapitel  zusammen. 
Die  Ägypter  besaßen,  wie  wir  quellenmäßig  belegen  konnten,  schon 
im  Jahre  1700  v.  Chr.,  wahrscheinlich  sogar  bereits  ein  halbes  Jahr- 
tausend früher  eine  ausgebildete  Rechenkunst  mit  ganzen  Zahlen  und 
Brüchen,  wobei  letztere  stets  als  Stammbrüche  geschrieben  wurden, 
wenn  auch  der  BegriflF  gewöhnlicher  Brüche,  wie  aus  der  Zurück- 
führung  auf  Generalnenner  herrorgeht,  nicht  fremd  war.  Die  Auf- 
gaben, welche  so  der  Rechnung  unterbreitet  wurden,  gehören  dem 
Gebiete  der  Gleichungen  vom  ersten  Grade  mit  einer  Unbekannten 
an,  wobei  die  Worteinkleidung  eine  yon  einer  Aufgabengruppe  zur 
anderen  wechselnde  ist.  Als  Gipfelpunkte  erscheinen  nach  modemer 
Auffassung  Beispiele  aus  dem  Gebiete  der  arithmetischen,  vielleicht 
der  geometrischen  Reihen.  Beispiele  aus  der  Geometrie  und  Stereo- 
metrie gewählt  lassen  erkennen,  daß  in  jener  frühen  Zeit  die  Ägypter 
einen  nicht  ganz  unglücklichen  Versuch  gemacht  hatten  den  Kreis 
in  ein  Quadrat  za  verwandeln,  daß  ihre  Berechnung  des  Flächeninhalts 
von  gleichschenkligen  Dreiecken  und  von  als  Abschnitte  von  ersteren 
erhaltenen  gleichschenkligen  Paralleltrapezen  von  Näherungsformeln 
Gebrauch  machte,  ohne  daß  wir  freilich  irgend  eine  Auskunft  darüber 
zu  geben  vermochten,  ob  man  beim  Kreise,  ob  man  bei  jenen  gerad- 
linig begrenzten  Figuren  sich  bewußt  war  nur  Angenähertes  zu  er- 
halten, oder  ob  man  an  die  genaue  Richtigkeit  der  Ergebnisse  glaubte, 
und  wie  man  zu  denselben  gelangt  war.  Zur  weiteren  Untersuchung 
dieser  hochwichtigen  Frage  wird  es  imentbehrlich  sein  die  Tatsache 
zu  berücksichtigen,  daß  rationale  Quadratwurzeln  den  Ägyptern  in 
sehr  alter  Zeit  bekannt  waren.  Des  weiteren  haben  wir  gesehen,  daß 
man  es  liebte,  wohl  auch  für  notwendig  hielt,  gegebene  Figuren  zum 
Zwecke  der  Ausmessung  durch  Hilfslinien  in  andere  Figuren  von  ein- 
facherer Begrenzung  zu  zerlegen,  und  diese  Übung  zu  allen  Zeiten 
beibehielt,  gleichwie  es  mit  den  alten  Näherungsformeln  für  die 
Flächen   von   Dreiecken   und  Vierecken    der   Fall   war.     Endlich    ist 

*)  Die  hier  erwähnten  Beiapiele  vgl.  bei  Lepsius  1.  c.  S.  76,  79,  82.  Auf 
-letzterer  Seite  findet  sich  die  Rechtfertigung  der  Null. 


Die  Ägypier.     GeometriBchea.  113 

festgestellt,  daß  in  gleich  granem  Altertume,  bis  zu  welchem  aufwärts 
wir  die  Plachenberechnung  verfolgen  können,  auch  eine  Vergleichung 
von  Strecken  zum  Zwecke  des  Ahnlichmachens,  d.  L  zur  Wieder- 
holung desselben  Winkels  an  verschiedenen  Raumgebilden  stattfand. 
Neben  dieser  quellenmäßig  gesicherten  Wissenschaft  lernten  wir  die 
Überlieferung  kennen,  welche  Geometrie  und  Rechenkunst  heimatlich 
auf  Ägypten  zurückfährt,  welche  das  bürgerliche  Rechnen  der  Ägypter 
uns  mutmaßlich  als  Fingerrechnen,  mit  aller  Bestimmtheit  als  Rechnen 
mit  Steinchen  kennen  lehrt.  Auch  aus  Figuren  des  täglichen  Ge- 
brauches durften  wir  geometrische  Schlüsse  ziehen,  Handlungen  die 
mit  der  Tempelerbauung  verbunden  waren,  durften  wir  erörtern  und 
gelangten  so  zu  der  wahrscheinlichen  Folgerung,  daß  neben  jenen 
geometrischen  Vorschriften,  welche  den  Rechnungen  dienten,  auch 
solche  bestanden,  die  auf  Konstruktionen  sich  bezogen  und  nament- 
lich die  Zeichnung  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  durch  die  gegebenen 
Längen  seiner  drei  Seiten  ermöglichten.  Eine  deutliche  Darlegung 
dieser  von  uns  vermuteten  Vorschriften  ist  ebensowenig  bekannt 
wie  die  vorher  vermißte  Ableitung  der  Flächenformeln,  ebensowenig 
wie  die  Begründung  der  von  Ahmes  angewandten  Formel  für  Auf- 
findung des  Anfangsgliedes  einer  arithmetischen  Reihe  aus  ihrer 
Summe,  ihrer  Gliederzahl  und  ihrer  Differenz.  So  kommt  man  un- 
abweislich  zur  Annahme  eines  noch  nicht  wieder  aufgefundenen  theo- 
retischen Lehi'buches  des  Ägypter  neben  dem  neuerdings  bekannt  ge- 
wordenen tJbungsbuche.  Nicht  als  ob  wir  an  eine  Theorie  im  mo- 
dernen Sinne  dächten.  Beweise  werden  meistens  induktiv,  wohl  auch 
auf  Grund  sehr  ungenügender  Induktion  geführt  worden  sein,  wenn 
man  nicht  gar  den  Augenschein  für  hinreichend  hielt  jeglichen  Be- 
weis zu  ersetzen.  Dagegen  vermuten  wir,  wie  hier  vorgreifend  be- 
merkt werde,  eine  regelmäßig  wiederkehrende  Form  des  Lehrbuches, 
unterschieden  von  der  des  Übungsbuches  und  nur  darin  mit  letzterer 
zusammentreffend,  daß  auch  sie  sich  forterbte,  gleichwie  die  Form 
des  Übungsbuches  so  gut  wie  ohne  jede  Veränderung  in  griechischer 
Nachbildung  sich  erhielt.  Wir  werden  in  späteren  Kapiteln  auf  diese 
Meinung,  auf  diese  Behauptung  zurückkommen  müssen,  um  die  letz- 
tere zu  beweisen  und  dadurch  der  ersteren  eine  Stütze  zu  verleihen. 


Gaxtor,  OMohichte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl. 


m.  Griechen. 


8» 


4.  Kapitel. 
Die  Clrieehen.     ZaUzeichen.     Fingerrechnen.     Rechenbrett. 

Wir  verlassen  die  linder  ältester,  aber  bis  vor  kurzem  und  teilweise 
bis  auf  den  heutigen  Tag  weniger  bekannter  Kulturentwicklui^.  Wir 
gehen  über  zu  dem  Yolke^  von  dessen  Bildung  wir  selbst,  der  Schreiber 
wie  der  Leser,  bewußt  oder  unbewußt;  unmittelbar  oder  mittelbar  die 
merkbarsten  Spuren  in  uns  tragen,  dessen  Schriftsteller  uns  schon 
wiederholt  als  willkommene  Ergänzungen  dienten,  wenn  für  andere 
Lander  die  einheimischen  Quellen  allzu  spärlich  flössen,  und  wir  sind 
geneigt  zu  erwarten,  hier  werde  geschichtliche  Gewißheit  uns  ent- 
gegentreten, jede  bloße  Vermutung  überflüssig  machend  und  darum 
ersparend.  Aber  diese  Erwartung  wird  getäuscht.  Die  Geschichte 
der  griechischen  Mathematik,  allerdings  durch  Schriften  einzelner  her- 
vorragender griechischer  Mathematiker  selbst  unserem  Erkennen  näher 
gerückt,  ist  doch  nichts  weniger  als  durchsichtig,  als  vollständig. 
Bald,  und  nicht  bloß  bei  den  ersten  Anfängen,  stehen  wir  an  Lücken, 
an  unvermittelten  Übergängen,  welche  uns  nötigen,  um  nur  einiger- 
maßen Bescheid  zu  erhalten,  Schriftsteller  zu  befragen,  deren  Glaub- 
würdigkeit uns  selbst  nicht  gegen  jeden  Zweifel  geschützt  ist,  oder 
gar  zu  eigenen  Vermutungen  unsere  Zuflucht  zu  nehmen,  welche  die 
gähnende  Spalte  uns  überbrücken  müssen.  Wir  glauben  unter  der 
Bedingung,  daß  wir  unseren  Lesern  sagen,  was  gewiß,  was  nur  mög- 
lich sei,  eine  solche  hypothetische  Darstellung  nicht  vermeiden  zu 
sollen,  wo  der  Mangel  an  sicherer  Überlieferung  uns  dazu  nötigt. 

Einst  flössen  die  Quellen  ergiebiger.  Es  war  eine  Eigentümlich- 
keit der  durch  Aristoteles  gegründeten  peripatetischen  Schule 
einen  Urheber  für  jeden  Gedanken  ausfindig  machen  zu  wollen.  Dieser 
Hang  verblieb  auch  den  in  Alexandria  heimisch  gewordenen,  dort  mit 
fremdartigen  Elementen  sich  mengenden  Peripatetikern.  Man  suchte 
allerdings  von  hier  aus  mit  einer  gewissen  Vorliebe  die  Lehren  grie- 
chischer Philosophen  auf  einen  nichtgriechischen  Ursprung  zurück- 
zuführen ^),  und  mit  dieser  Neigung  nimmt  die  Zuverlässigkeit  solcher 

*)  NietzBche,  De  Laertii  Biogenis  fontibus  im  Rheinischen  Museum XXIV, 
205.     Frankfurt  a.  M.  1869. 


118  4.  Kapitel. 

Angaben  wesentlicli  ab,  sofern  nicht  andere  Gründe  obwalten,  den 
Glauben  an  jene  Aussagen  wieder  zu  yerstärken.  Wir  rechnen  dazu 
Yomehmlich  zweierlei.  Erstens  erhöht  es  für  uns  die  Bedeutung  eines 
Ursprungszeugnisses  aus  fremdem  Lande,  wenn  wir  selbst  dort  Er- 
zeugnissen begegnet  sind,  die  dem,  was  als  eingeführt  bezeichnet 
wird,  wesentlich  gleichen.  Zweitens  vertrauen  wir  mit  rückhaltloserer 
Hingebung  den  Aussprüchen  eines  Mannes,  der  als  Sachverständiger, 
als  Fachmann  redet;  ja  wir  benutzen  lieber  einen  der  Zeit  nach 
späteren  Mathematiker  als  Gewährsmann  für  fr^er  Erdachtes  als 
einen  dem  Ursprünge  gleichaltrigen  Laien,  der  die  Jahre,  um  welche 
er  den  Ereignissen  näher  lebte,  dadur<;h  unwirksam  macht,  daß  er 
dem  Lihalte  derselben  fem  stand. 

Mit  vollstem  Vertrauen  würden  wir  daher  die  Geschichte  der 
Geometrie,  der  Sternkunde,  der  Arithmetik  als  Quelle  benutzen, 
welche  Theophrastus  von  Lesbos,  der  Schüler  des  Aristoteles, 
verfaßt  haben  soll^),  wenn  dieselben  uns  auch  nur  in  Spuren  erhalten 
wären.  Gern  würden  wir  den  gleichaltrigen  Xenokrates  in  seinen 
Büchern  über  die  Geometer*)  als  Führer  wählen  —  vorausgesetzt, 
daß  dieser  Titel  und  nicht  der  „über  Geometrisches^^  die  richtige 
Lesart  bildet  —  wenn  nicht  auch  sie  durchaus  verschollen  wären. 
Mit  Freuden  bedienen  wir  uns  der  Bruchstücke  historischer  Schriften 
über  (Geometrie  und  Astronomie,  die  ein  dritter  Schriftsteller  aus  der 
Zeit  der  immittelbarsten  aristotelischen  Schule  verfaßt  hat:  Eude- 
mus  von  Rhodos^).  Es  sind,  wie  wir  es  ausgesprochen  haben,  nur 
Bruchstücke  dieser  Bücher  bekannt,  welche  von  anderen  Schriftstellern 
abgeschrieben  imd  gelegentlich,  teils  mit  Nennung  des  Verfassers, 
teils  mit  bloßer  Andeutung  desselben,  ihren  Werken  einverleibt 
wurden,  aber  jedes  einzelne  Stückchen  läßt  den  Wert  des  Verlorenen 
ermessen,  seinen  Verlust  bedauern. 

Neben  diesen  eigentlichen  Geschichtsschreibern  der  Mathematik 
haben  auch  andere  Fachmänner,  Kompilatoren  und  Kommentatoren 
mathematischer  Schriften,  uns  manche  wertvolle  Bemerkung  hinter- 
lassen, die  wir  dankbarst  benutzen  werden.  Geminus  von  Rhodos, 
Theon  von  Smyrna,  Porphyrius,  Jamblichus,Pappus,Proklus, 
Eutokius  sind  die  Namen  solcher  Verfasser,  von  denen  wir  mehr 
als  nur  einmal  zu  reden  haben  werden. 

Die  Überlieferungen  nun  in  dem  Siime  und  Umfange  benutzt, 
wie  wir  es  vorausschickend  erläutert  haben,  und  unter  fernerer  Zu- 
ziehung auch  nichtmathematischer  Schriftsteller,  wenn  keine  andere 

*)  Diogenes  Laertius  V,  48—50.  *)  Diogenes  Laertius  17,  13. 
^  Eudemi  Rhodii  Peripatetici  fragmenta  quae  supersunt  ed.  L.  Spengel.  Berlin 
1870.    Die  mathematischen  Bruchstücke  S.  111—148. 


Die  Griechen.    Zahlzeichen.    Fingerrechnen.    Rechenbrett.  119 

Wahl  uns  bleibt,  belehren  uns  darüber,  daß  in  dem  weiten  Ländei> 
gebiete,  in  welchem  griechisch  gesprochen  und  griechisch  gedacht 
wurde,  und  welches  deshalb  für  die  Kulturgeschichte  Griechenland 
heißt,  wenn  es  auch  keineswegs  geographisch  mit  dem  Königreiche 
Griechenland  unseres  Jahrhunderts  sich  deckt,  die  Mathematik  weder 
gleichzeitig  auftrat  noch  ebenmäßig  sich  entwickelte.  Die  kleinasia- 
tische Küstengegend  südlich  von  Smyma  und  die  davor  liegende 
Inselwelt  waren  der  Schauplatz  der  ältesten  ionischen  Entwicklung. 
Süditalien  und  Sizilien  mit  ihrer  dorischen  Bevölkerung  nahmen  so- 
dann in  weit  stärkerem  Maßstabe  an  der  Fortbildung  Anteil.  Jetzt 
erst  als  dritter  Boden,  auf  welchem  eine  dritte  Stufe  erreicht  ward, 
erscheint  das  eigentlich  griechische  Festland,  erscheint  namentlich 
Athen  in  der  Geschichte  der  Mathematik.  Aber  auch  von  dort  ent- 
fernt sich  die  Schule  der  vorzüglichsten  Mathematiker.  Auf  ägypti- 
schem Boden  entsteht  eine  griechische  Stadt,  Alexandria,  und  dort 
blühen  oder  lernen  doch  wenigstens  die  großen  Geometer  eines  Jahr- 
hunderts, welchem  an  Bedeutsamkeit  für  die  Entwicklung  der  Mathe- 
matik nur  ein  einziges  an  die  Seite  gestellt  werden  kann,  sofern 
unsere  Gegenwart  geschichtlicher  Betrachtung  sich  noch  entzieht: 
das  Jahrhundert  von  der  Mitte  des  XVI.  bis  zur  Mitte  des  XVIL  S., 
das  Jahrhundert  der  beginnenden  Infinitesimalrechnung.  Die  großen 
Geisteshelden  des  euklidischen  Zeitalters  hatten  ihre  Epigonen,  die, 
wenn  sie  teilweise  auch  an  anderen  Orten  aufgesucht  werden  müssen, 
noch  immer  in  Alexandria  wurzeln.  Dort  zeigt  sich  in  verschiedenen 
Jahrhunderten  wiederholt  eine  Nachblüte  unserer  Wissenschaft,  die 
edle  Früchte  hervorzubringen  imstande  ist.  Männer  wie  Heron,  wie 
Klaudius  Ptolemäus,  wie  Pappus  stehen  keinem  Mathematiker  der 
euklidischen  Zeit  an  persönlicher  Geistesgröße  nach,  nur  die  Dichtig- 
keit ihres  Auftretens  in  einander  nahe  liegenden  Zeiträumen  fehlt, 
und  damit  das  eigentlich  kennzeichnende  Merkmal  der  großen  alexan- 
drinischen  Epoche.  Endlich  kehrt  die  griechische  Mathematik  matt 
und  absterbend  nach  Hellas  zurück.  Athen  und  die  im  ehemaligen 
Thrakien  entstandene  Welthauptstadt  Bjzanz  sehen  den  Untergang 
unserer  Wissenschaft,  den  Untergang  derselben  für  die  dortige  Gegend. 
Weiter  westlish  wohnenden  Völkern  geht  sie  zur  gleichen  Zeit  neu 
und  strahlend  auf  ^). 

Wir  haben  mit  wenigen  Strichen  den  Rahmen  uns  entworfen,  in 
welchen  wir  das  Bild  der  griechischen  Mathematik  einzuzeichnen  ge- 
denken.    Wir  müssen  mit  dieser  Einzelarbeit  beginnen.     Wir   sind 


^)  Eine  sehr  umfassende  Zusammenstellnng  gah  6.  Loria,  Le  scienze  esatte 
neir  antica  Grecia.    Modena  1893—1902. 


120  4.  Kapitel. 

bei  Babyloniem  und  Ägyptern  von  den  niedrigBten  Rechnungsver- 
fahren  und  von  der  Bezeichnung  der  Zahlen  ausgegangen  als  von 
Dingen,  welche  kein  Volk  auch  nur  in  den  Anfängen  seiner  geistigen 
Entwicklung  entbehren  kann,  und  welche  die  Vorstufe  zu  jedem 
mathematischen  Denken  bilden.  Ahnlich  werden  wir  hier  verfahren. 
Wir  werden  das  Zahlenschreiben,  wir  werden  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  das  Rechnen  der  Griechen  vorwegnehmen  müssen. 

Ob  wir  es  eine  Zahlenbezeichnung^)  zu  nennen  haben,  wenn 
in  griechischen  Inschriften  die  Zahlwörter  ausgeschrieben  gefunden 
werden,  dürfte  dahingestellt  sein.  Ebenso  kann  die  Auflösung  einer 
Zahl  in  lauter  einzelne  nebeneinander  befindliche  Striche,  wie  sie 
z.  B.  für  die  Zahl  sieben  noch  in  einer  Inschrift  von  Tralles  in  Earien 
aus  dem  IV.  vorchristlichen  Jahrhunderte  nachgewiesen  ist,  wie  sie 
aber  naturgemäß  für  eine  nur  noch  etwas  größere  Zahl  gar  nicht 
denkbar  ist,  kaum  als  Zahlenbezeichnung  gelten.  Die  älteste  wirk- 
•liehe  Bezeichnung  erfolgte  durch  Anfangsbuchstaben  der  Zahl- 
wörter^. Ihre  Spuren  sollen  hinaufrücken  bis  in  die  Zeit  Solons, 
also  etwa  bis  zum  Jahre  600,  während  als  untere  Grenze  das  peri- 
kleische  und  nachperikleische  Jahrhundert  genannt  wird,  ja  während 
Spuren  bis  auf  die  Zeit  Ciceros  hinabführen.  Die  benutzten  Buch- 
staben sind  folgende.  Man  schrieb  Jota  I  für  die  Einheit,  sei  es 
nun,  daß  an  eine  altertümliche  Form  des  Wortes  für  eins  gedacht 
werden  muß,  sei  es,  daß  nur  ein  gerader  Strich  gemacht  wurde,  der 
zufällig  auch  als  Jota  gedeutet  werden  kann.  Für  fünf  wurde  ein 
Pi  n  geschrieben  wegen  Ttsvrs,  für  zehn  ein  Delta  ^  wegen  dexa. 
Hundert,  ixazöv,  bezeichnete  man  durch  Eta  H,  welches  ursprünglich 
kein  e-Laut,  sondern  wie  später  bei  den  Römern  Aspirationszeichen 
war.  Tausend  ;^tAta  und  zehntausend  [ivQia  endlich  schrieb  man  mit 
Chi  X  und  My  M.  Außerdem  waren  ebendieselben  Buchstaben  in- 
und  aneinander  geschrieben  als  Zusammensetzungen,  durch  welche 
die  Produkte  von  fünf  in  Einheiten  verschiedenen  Ranges  dargestellt 
werden  sollten,  in  Gebrauch,  und  auch  ein  als  „zehn  mal  tausend" 
zusammengesetztes  Zehntausend  wird  überliefert.  Daß  das  Gesetz 
der  Größenfolge  stets  gewahrt  blieb,  sei  der  Vollständigkeit  wegen 
bemerkt.  Wir  bemerken  ferner,  daß  diese  Zeichen  von  Herodianus^), 
einem  byzantinischen  Grammatiker,   der  etwa  200  n.  Chr.  lebte,  ge- 


*)  Ausführliches  über  Zahlenbezeichnung  der  Griechen  in  den  Math.  Beitr. 
Kulturl.  111  —  126.  *)  Außer  den  in  den  Math.  Beitr.  Kulturl.  angeführten 
Quellen  vgl.  Koehler  in  den  Monatsberichten  der  Berliner  Akademie  für  1865, 
S.  641  flgg.  und  Friedlein,  Die  Zahlzeichen  und  das  elementare  Rechnen  der 
Griechen  und  Romer  und  des  christlichen  Abendlandes  vom  7.  bis  18.  Jahrhundert. 
Erlangen  1869,  S.  9.     *)  Math.  Beitr.  Kulturl.  113. 


Die  Griechen.     Zahlzeichen.    Fingerrechnen.     Rechenbrett.  121 

schildert  wurden  und  daß  sie  deshalb   nicht  selten  herodianische 
Zeichen  heißen. 

Noch  während  der  Jahrhunderte^  durch  welche  jene  Bezeichnung 
der  Hauptsache  nach  verfolgt  worden  ist,  bildeten  sich  zwei  neue 
Methoden  aus,  beide  zuverlässig  nicht  vor  der  sogenannten  ionischen 
Schrift  auftretend,  deren  sie  sich  bedienen,  somit  nicht  vor  500. 
Näheres  bringen  wir  weiter  unten.  Die  eine  dieser  Methoden  benutzt 
die  24  Buchstaben  des  ionischen  Alphabets  um  die  Zahlen 
1  bis  24  dadurch  auszudrücken.  Nach  ihr  wurden  die  zehn  Phjlai 
der  athenischen  Richter  mit  fortlaufender  Nummer  versehen.  Nach 
ihr  gaben  später  die  Alexandriner  den  Gesängen  des  Homer  ihre 
Ordnungszahlen.  Diese  Methode  so  wenig  wie  die  zweite  Methode, 
welche  wir  dahin  kurz  erklären  können,  daß  den  einzelnen  Buch- 
staben untereinander  verschiedene  aber  in  der  natürlichen  Zahlenreihe 
nicht  immer  unmittelbar  sondern  sprungweise  aufeinanderfolgende 
Werte  beigelegt  werden,  gehört  den  Griechen  allein  an.  Wir  müssen 
ihre  Spuren  auch  anderwärts  verfolgen  und  zu  diesem  Zwecke  ein- 
schaltend von  phönikischer,  syrischer,  hebräischer  Zahlenbezeichnung 
reden. 

Das  eigentliche  Handelsvolk  der  alten  Welt  waren  die  Phönikier, 
vielleicht  die  Fenchu  ägyptischer  Schriften.  Sie  durchfurchten  als 
kühne  Seefahrer  und  Seeräuber  von  ihren  dicht  an  der  Küste  ge- 
gründeten Städten  aus  das  Mittelmeer,  welches  ihnen  Yerkehrsstraße 
und  Jagdgebiet  war,  überall  Beziehungen  unterhaltend ,  für  welche 
Zahlenbekanntschaft  unentbehrlich  war.  Dieselben  Phönikier  werden 
als  Erfinder  der  eigentlichen  reinen  Buchstabenschrift  gerühmt.  Sie 
gingen  mit  dieser  Erfindung  weit  hinaus  über  die  Silben  darstellenden 
Zeichen  der  Keilschrift  wie  auch  über  die  Hieroglyphen,  unter  welchen 
eine  Einheit  der  Bedeutung  nicht  herrschte,  da  unter  ihnen  wirkliche 
Buchstaben  mit  Silbenzeichen,  mit  Wortzeichen,  ja  mit  solchen 
Zeichen  wechselten,  die  selbst  gar  nicht  ausgesprochen  wurden,  son- 
dern als  sogenannte  Determinative  die  Aussprache  anderer  daneben 
geschriebener  Zeichen  regelten.  Die  phönikischen  Buchstaben,  22  an 
der  Zahl,  sind  aus  hieratischen  Zeichen  der  Ägypter,  also  ursprüng- 
lich aus  Hieroglyphenbildern  entstanden  In  dieser  Annahme  sind 
alle  Sachkundige  einig,  höchstens  daß  einer  den  Durchgang  durch 
hieratische  Zeichen  in  Abrede  stellend  die  phönikischen  Buchstaben 
unmittelbar  aus  Hieroglyphen  ableiten  möchte.  War  nun  diese  Be- 
schränkung auf  einfachste  Lautelemente  in  so  geringer  Anzahl  schon 
ein  ganz  gewaltiger  Schritt,  so  war  es  eine  zweite  wissenschaftliche 
Tat,  wie  man  wohl  sagen  darf,  den  Buchstaben  eine  bestimmte 
Reihenfolge  zu  geben,  aus  ihnen  ein  Alphabet  zu  bilden.    Die  Ägypter 


122  4.  Kapitel. 

scheinen  allerdings  auch  hierin  ein  Vorbild  gewesen  zu  sein^).  Mariette 
hat  versucht  aus  Inschriftsanfängen  eine  Reihenfolge  ägyptischer  Buch- 
staben herzustellen,  aber  wenn  seinem  Versuche  mehr  als  bloße  Ver- 
mutung zugrunde  liegt,  so  war  diese  ägyptische  Anordnung  sicherlich 
eine  andere  als  die  der  Phönikier  und  derjenigen  Völker,  die  mit 
ihnen  ein  Alphabet  besaßen.  Phönikische  Buchstaben  in  der  späteren 
Ordnung  scheinen  bereits  auf  Tontafeln  aus  der  Bibliothek  des 
Assurbanipal  (668 — 625)  in  Ninive  Yorzukommen.  Bei  den  He- 
bräern ist  die  Ordnung  für  die  Zeiten,  in  welchen  yerschiedene  Psal- 
men^) gedichtet  wurden,  festgesichert,  denn  wenn  auch  nur  eine  nach 
unseren  Begriffen  zwecklose  Spielerei  mit  Schwierigkeiten,  Zufall 
kann  es  doch  nicht  sein,  daß  die  Verse  dieser  Lieder  der  Reihe  nach 
mit  den  Buchstaben  des  Alphabets  beginnen,  darin  eine  entfernte 
Ähnlichkeit  mit  der  ersten  Verwendung  des  griechischen  Alphabets 
zur  Numerierung  der  homerischen  Gesänge  bietend,  auf  welche  wir 
oben  anspielten.  Noch  eine  andere  Sicherung  der  Reihenfolge  des 
hebräischen  Alphabets  gibt  das  sogenannte  Athbasch,  welches  sicher- 
lich der  babylonischen  Gefangenschaft  angehört').  Es  besteht  darin, 
daß  die  22  Buchstaben  in  zwei  Reihen  geordnet  übereinander  stehen, 
der  letzte  Buchstabe  n  über  dem  ersten  S,  der  vorletzte  TD  über  dem 
zweiten  2  usw.  Diese  vier  Buchstaben  je  zwei  und  zwei  zusammen- 
gelesen lauten  eben  Athbasch.  Der  Zweck  dieser  Anordnung  war 
eine  Geheimschrift  zu  liefern,  indem  jedesmal  statt  eines  eigentlich 
anzuschreibenden  Buchstabens  der  im  Athbasch  über  beziehungsweise 
unter  ihm  stehende  gesetzt  wurde.  Jedenfalls  mußte  also  damals 
auch  schon  die  gewöhnliche  Ordnung  der  nämlichen  Buchstaben  er- 
funden sein.  Wir  sagen  „erfunden",  denn  bei  der  vollendeten  Prinzip- 
losigkeit  der  Anordnung  ist  von  einem  inneren  Gesetze  derselben, 
welches  nur  entdeckt  zu  werden  brauchte,  gewiß  keine  Rede.  Grie- 
chische Grammatiker  haben  sich  zwar  abgequält,  Gründe  dafür  bei- 
zubringen, warum  man  die  Buchstaben  so,  wie  es  geschah,  und  nicht 
anders  ordnete,  aber  nur  einer,  Cheroboskos,  dürfte  das  Richtige  ge- 
troffen haben,  wenn  er  sagt,  niemand  kenne  den  Grund  der  Anord- 
nung*).    War  die  Buchstabenfolge  eine  willkürliche,   eine  vielleicht 


^)  Für  das  Folgende  vgl.  insbesondere  F.  Lenormant,  Essai  sur  la  pro- 
pagation  de  Vdlphahet  phenicien.  Paris  1872.  I,  101  ügg.  *)  Psalm  111,  112, 
119,  auch  die  Klagelieder  des  Jeremias  fangen  in  aufeinanderfolgenden  Versen 
Dut  den  aufeinanderfolgenden  Buchstaben  des  Alphabets  an.  ")  Herzogs 
Bealenzjklopädie  für  protestantische  Theologie  und  Kirche  VII,  206  und  XIV,  17. 
*)  Grammatici  Graeci  III  (Scholia  in  Dionysii  Thracis  Artem  Grammaticam  ed. 
Alfred  Hilgard.  Leipzig  1901)  pag.  485,  2  sqq.  492,  10  sqq.  496,  17  sqq.  Die 
Stelle  des  Cheroboskos  pag.  317,  lö:  Alxiav  9h  xfis  xd^sfos  oidfv  6vde  elg. 


Die  Griechen.    Zahlzeichen.    Fingerrechnen.    Rechenbrett.  123 

erst  nachträglich  eingeführte^  nachdem  die  Buchstaben  als  solche 
bereits  bestanden^  so  ist  yermutlich  wieder  ein  besonderer  Akt  der 
Erfindung  notwendig  gewesen^  um  die  geordneten  Buchstaben  mit 
Zahlenwerten  zu  versehen.  Zwei  Tatsachen  stimmen  namentlich  zu 
dieser  Vermutung.  Die  eine^  daß  auf  keiner  der  zahlreichen  phöni- 
kischen  oder  punischen  Inschriften,  auf  keiner  Papyrushandschrift  sich 
eine  Spur  einer  alphabetischen  Zifferrechnung  gefunden  hat^);  die 
andere^  das  notwendige  Seitenstück  zur  ersten  bildend^  daß  eine  nicht- 
alphabetische Zahlenbezeichnung  der  Phönikier  bekannt  ist. 

Die  Phönikier  schrieben  entweder  die  Zahlwörter  aus,  oder  sie 
bedienten  sich  gewisser  Zeichen,  die  den  Grundgedanken  der  Juxta- 
position,  vielleicht  wechselnd  mit  dem  der  Multiplikation,  zur  An- 
wendung brachten^).  Eins  bis  neun  wurde  nämlich  durch  ebenso- 
viele  senkrechte  Striche  dargestellt.  Zehn  war  meistens  ein  wagrechter 
Strich,  der  aber  auch  in  mehr  oder  weniger  nach  oben  gekrümmter 
oder  einen  Winkel  bildender  Form  vorkommt.  Die  Zahlen  11  bis  19 
wurden  durch  Juxtaposition  eines  Horizontalstriches  mit  Vertikal- 
strichen geschrieben,  von  welchen  gemäß  der  von  rechts  nach  links 
zu  lesenden  phönikischen  Schrift  dem  Gesetze  der  Größenfolge  ge- 
horchend der  Horizontalstrich  am  weitesten  rechts  sich  befindet.  Das 
nun  folgende  20  ist  durch  zwei  Horizontalstriche  darzustellen,  die 
aber  nicht  bloß  parallel  übereinander  gezeichnet  wurden,  sondern 
auch  schrägliegend  und  verbunden  *^,  oder  gar  zu  einer  Gestalt  N 
oder  A  sich  veränderten.  Jedenfalls  trat  es  jetzt  als  einfaches  neues 
Zeichen  in  Gebrauch,  ein  Vigesimalsystem  in  der  Schrift  einleitend. 
Ein  letztes  neues  Zeichen  kam,  soweit  die  Inschriften  bis  jetzt  er- 
geben haben,  durch  100  hinzu  i<|  oder  |}0|,  was  wohl  als  liegende 
Zehn  zwischen  zwei  Einem  zu  denken  ist,  die  in  dieser  Vereinigung 
eine  verzehnfachende  Wirkung  üben,  eine  auffallende  Erscheinung, 
welche  aber  auch  nicht  ganz  vereinzelt  dasteht,  vielmehr  in  der 
römischen  Zahlenbezeichnung  ein  Analogon  besitzt. 

Die  phönikischen  Inschriften,  welchen  diese  Zeichen  entnommen 
sind,  reichen  bis  auf  viele  Jahrhunderte  vor  Christi  Geburt  zurück. 
Die  Zeichen  unterscheiden  sich  aber  nicht  sehr  von  anderen,  welche 
vom  Jahre  2  an  bis  zur  Mitte  des  HI.  S.  in  Palmyra,  dem  heutigen 
Tadmor  mitten   in  der  syrischen  Wüste,  in  Gebrauch  waren*).     Die 

*)  Diese  Tatsache  ist  für  Mathematiker  zuerst  bei  Hankel  S.  34  hervor- 
gehoben und  damit  ein  iangezeit  fortgeschleppter  Irrtum  beseitigt.  *)  Adalb. 
Merx,  Crrammatica  Syriaca.  Heft  1.  Halle  1867.  Tabelle  zu  pag.  17.  *)  Über 
palmyrenische  Zahlzeichen  vgl.  Math.  Beitr.  Eulturl.  S.  254.  Zu  den  dort  ange- 
gebenen Quellen  tritt  hinzu  ein  Aufsatz  aus  dem  Nachlasse  von  E.  F.  F.  Beer 
mit  Erläuterungen  von  M.  A.  Levy  in  der  Zeitschr.  d.  morgenl.  Gesellsch.  XYIU, 
66—117,  besonders  S.  116. 


124  4.  Kapitel. 

Hauptverschiedeuheit,  abgesehen  von  AbweichuDgen  in  den  Formen 
für  10  und  20,  besteht  darin,  daß  ein  Zeichen  für  fünf  in  der  Ge- 
stalt Y  hinzugekommen  ist  und  daß  bei  den  Hunderten  das  multi- 
plikative  Verfahren  durchgeführt  ist.  Das  Zeichen  für  10  wird  nämlich 
hier  zu  100,  indem  nur  einseitig,  und  zwar  rechts  ein  nach  dem  Ge- 
setze der  Größenfolge  sonst  unverständlicher  Einheitsstrich  ihm  bei- 
gegeben ist,  und  gleicherweise  werden  200,  300  usw.  geschrieben, 
indem  die  Zeichen  2,  3  usw.  sich  rechts  von  dem  für  10  befinden. 
Das  eben  beschriebene  Zeichen  von  100  nebst  links  folgendem  10 
heißt  dann  natürlich  110,  wird  aber  zum  Zeichen  von  1000,  wenn 
noch  ein  horizontaler  Deckstrich  darüber  kommt. 

Wieder  als  Varianten  der  palmyrenischen  Zeichen  sind  solche  zu 
betrachten,  welche  in  syrischen  Handschriften  des  VI.  und  VH.  S. 
aufgefunden  worden  sind ').  Eine  kleine  Merkwürdigkeit  bieten  sie 
insofern  dar,  als  hier  eine  Abweichung  vom  Gesetze  der  Größen- 
folge vorkommt.  Während  nämlich  1  durch  einen  Vertikalstrich, 
2  durch  zwei  unten  im  Bogen  zusammenhängende  Vertikalstriche  jn 
dargestellt  wird,  sollte  3  von  rechts  nach  links  so  geschrieben  werden, 
daß  an  die  2  eine  1  sich  anfügte.  Statt  dessen  steht  rechts  die  1 
und  links  davon  die  2,  während  im  übrigen  das  oft  genannte  Gesetz 
befolgt  wird. 

Der  Regel  nach  benutzten  die  Syrer  allerdings  die  (S.  121)  kurz 
erläuterte  Buchstabenbezeichnung*).  In  einer  freilich  verhältnismäßig 
späten,  jedenfalls  so  späten  Zeit,  daß  von  Anfängen  einer  Bezeich- 
nungsweise unter  keiner  Bedingung  die  Rede  sein  kann,  bedienten 
sie  sich  der  22  Buchstaben  ihres  Alphabetes,  um  der  Reihe  nach  die 
neun  Einer  (1  bis  9),  die  neun  Zehner  (10  bis  90)  und  die  vier 
ersten  Hunderter  (100  bis  400)  zu  bezeichnen.  Die  folgenden  Hunderter 
wurden  durch  Juxtaposition  gewonnen:  500  =  400-1-100,  600  = 
400-f  200,  700  ==  400 -f  300,  800  =  400 -f  400,  900  =  400 -F 400 -f  100 
oder  durch  die  Buchstaben,  welche  vorher  schon  50  bis  90  bezeichnet 
hatten  und  über  die  man  zur  Verzehnfachung  ein  Pünktchen  setzte. 
Tausende  schrieb  man  durch  Einer  mit  unten  rechts  angefügtem 
Komma.  Zehntausendfachen  Wert  erteüte  den  Einem  und  Zehnern 
ein  kleiner  darunter  verlaufender  Horizontalstrich.  Vermillionfacht 
endlich  wurde  der  Wert  eines  Buchstaben  durch  doppeltes  Komma, 
d.  h.  also  durch  Vertausendfachung  des  schon  Tausendfachen.  Zur 
größeren  Deutlichkeit  pflegte  man  von  diesen  beiden  Komma  das 
eine  von  links   nach   rechts,    das   andere    von   rechts    nach   links  zu 


*)  Auch  diese  Zeichen  sind  besprochen  Math.  Beitr.  Kulturl.  256.     *)  Merx, 
Grammatica  Syriaca  pag.  14  ügg. 


Die  Griechen.    Zahlzeichen.    Fingerrechnen.    Rechenbrett.  125 

neigen.  Auch  Brüche  kommen  bei  dieser  Bezeichnung  vor  und  zwar, 
wie  es  scheint,  Stammbrüche,  welche  ahnlich  wie  bei  den  Ägyptern 
nur  durch  die  Zahl  des  Nenners  geschrieben  wurden,  während  ein 
Yon  links  nach  rechts  geneigtes  akzentartiges  Strichelchen  darüber 
sie  als  Brüche  kenntlich  machte. 

Der  syrischen  Buchstabenbezeichnung  der  Zahlen  ist  wieder  die 
der  Hebräer  sehr  nahe  verwandt.  Wann  dieselbe  entstand,  ist  eine 
noch  ziemlich  offene  Frage.  Auf  hebräisch  geprägten  Münzen  ist 
nicht  früher  als  137  v.  Chr.  alphabetische  Bezeichnung  der  Zahlen 
nachweisbar^).  Eine  derartige  Zahlendarstellung  findet  sich  ebenso 
wenig  unmittelbar  in  den  Büchern  des  Alten  Testamentes.  Nur  ihre 
Anwendung  zur  Gematria  bezeugt  ihr  Vorhandensein,  und  wenn  diese 
wirklich  bis  zum  VII.  Jahrhundert  hinaufreicht  (S.  44),  so  ist  das 
hebräische  Volk  dasjenige,  bei  welchem  die  älteste  Spur  des  Zahlen- 
alphabetes vorkommt,  während  im  entgegengesetzten  Falle  Griechen 
auf  die  Priorität  die  gerechtesten  Ansprüche  haben  und  man  alsdann 
anzunehmen  hätte,  es  sei  von  den  Griechen  wieder  nach  Osten  die 
Erfindung  zurückgekehrt.  So  sehr  diese  Annahme  der  landläufigen 
vielleicht  aus  dem  Alter  der  biblischen  Schriften  entstandenen  Mei- 
nung widerspricht,  wird  man  sich  doch  zu  ihr  bequemen  müssen*). 
An  jene  durch  Gematria  zu  erklärende  Stelle  bei  Sacharja  zu  glauben, 
haben  wir  schon,  als  wir  sie  im  1.  Kapitel  erwähnten.  Bedenken  ge- 
tragen. Gesicherte  Spuren  von  Gematria  finden  sich  nicht  vor  Philo 
von  Alexandrien  im  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderte.  Das 
Wort  Gematria  ist  kaum  anders  zu  erklären  als  durch  Buchstaben- 
verstellung aus  ygafifiarsia,  und  damit  wäre  der  griechische  Ursprung 
des  Namens  wenigstens  gesichert.  Benutzung  des  griechischen  Zahlen- 
alphabetes auf  Münzen  von  Ptolemaeus  II  Philadelphus  geht  zurück 
bis  266  V.  Chr.,  ist  also  um  130  Jahre  älter  als  das  älteste  hebrä- 
ische Vorkommen.  Diese  Umstände  vereinigt  sprechen  dafür,  die 
Erfindung  des  eigentlichen  Zahlenalphabetes  den  Griechen 
zuzuschreiben.  In  der  Tat  wird  als  Ort  dieser  Erfindung  von 
manchen  Milet  angenommen  und  als  deren  Zeitpunkt  schon  das 
Vin.  vorchristliche  Jahrhundert,  weil  damals  in  Milet  gewisse  nach- 
mals außer  Übimg  gekommene  Buchstaben,  deren  später  nur  die  Zahlen- 
schreibung sich  bediente  (z.  B.  das  Bau)  in  regelmäßigem  Gebrauch 
waren.  Jedenfalls  sind  beide  Schreibweisen  von  Zahlen,  die  alphabe- 
tische und  die  herodianische,  in  einer  Inschrift  von  Halikarnaß  vor- 

*)  Nach  einer  Mitteilung  von  Dr.  Euting  an  Hankel,  die  dieser  S.  34 
seines  GescMclitswerkes  angeführt  hat.  *)  Gow,  A  short  history  of  greek 
mathematics.  Cambridge  1884,  pag.  43—48,  hat  die  Beweisgründe  zusammen- 
gestellt. 


126  4.  Kapitel. 

handen,  welche  um  450  entstanden  sein  soll,  wenn  man  sich  mit 
diesem  Zeitpunkt  als  ältest  gesichertem  befriedigt  erklärt^).  Das 
hebräische  Alphabet  Yon  22  Buchstaben  reichte  gleich  dem  syrischen 
bis  zur  Bezeichnung  von  400.  Für  die  höheren  Hunderte  half  man 
sich  wieder  durch  Zusammensetzungen.  Später  kam  man  auf  eine 
andere  Aushilfe.  Fünf  Buchstaben  des  hebräischen  Alphabetes,  die- 
jenigen nämlich,  welche  den  Zahlenwerten  20,  40,  50,  80,  90  ent- 
sprechen, besitzen  zweierlei  Gestalt,  je  nachdem  sie  am  Anfange  be- 
ziehungsweise in  der  Mitte  eines  Wortes  auftreten,  oder  an  dessen 
Ende,  eine  Eigentümlichkeit,  welche  mehrere  orientalische  Schriftarten 
mit  der  hebräischen  teilen  und  woYon  auch  die  sogenannte  gotische 
Schrift  in  f  und  $  ein  Beispiel  aufweist.  Die  fünf  Finalbuchstaben 
nun  benutzte  man,  um  die  Hunderte  yon  500  bis  900  darzustellen 
und  hatte  nun  die  Möglichkeit  der  Darstellung  sämtlicher  Zahlen 
bis  zu  999.  Bei  einer  Zahl,  bei  15,  benutzte  man  nicht  die  natur- 
gemäße Bezeichnung  10  +  5,  sondern  schrieb  statt  ihrer  9  +  6.  Der 
Grund  dayon  war,  daß  die  Buchstaben  für  10  und  5  H"^  den  Anfang 
des  heiligen  Namen  Jehoya  bilden,  der  nicht  entweiht  werden  darf 
durch  unnötiges  Aussprechen  oder  Schreiben^.  Um  die  Tausende  zu 
bezeichnen  kehrte  man  wieder  zum  Anfange  des  Alphabetes  zurück, 
indem  jeder  Buchstabe  durch  zwei  über  ihn  gesetzte  Punkte  den 
tausendfachen  Wert  erhielt,  und  so  war  es  möglich  alle  Zahlen  unter- 
halb einer  Million  zu  schreiben,  womit  die  Schreibart  in  Zeichen  über- 
haupt abschließen  mochte,  wie  es  unseren  früheren  Bemerkungen 
(S.  23)  entsprechend  auch  mit  dem  genauen  Zahlenbegriff  der  Fall 
war.  Daß  die  Hebräer  yon  rechts  nach  links  schrieben,  daß  ab- 
gesehen yon  dem  Falle  geheimnisyoll  erscheinen  wollender  Gematria^ 
welche  als  Zahlenschreiben  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  kaum 
betrachtet  werden  kann,  das  Gesetz  der  Größenfolge  eingehalten 
wurde,  braucht  kaum  gesagt  zu  werden.  Eben  dieses  Gesetz  ge- 
stattete die  yertausendfachenden  Pünktchen  oft  wegzulassen,  wenn  die 
Reihenfolge  der  Zahlen  die  Bedeutimg  derselben  schon  außer  Zweifel 
stellte.  Der  Buchstabe  für  1  K  z.  B.  konnte  dem  f&r  5  n  in  regel- 
mäßiger Zahlenbezeichnung  nicht  yorhergehen,  wohl  aber  umgekehrt. 
Deshalb  schrieb  man  5001  nur  durch  KT^,  dagegen  1005  durch  nä  oder 
durch  HK.  Da  ferner  ü  =•  40,  q  «=  800  war,  so  konnte  5845  =  JTaqn 
geschrieben  werden.  Die  letztere  Zahl,  die  Anzahl  der  Verse  im 
ganzen  Gesetze,   wurde   yon  den  Masoreten,   deren  Tätigkeit  freilich 

*)  Handbuch  der  klaBsischen  Altertums- Wissenschaft  herausgeg.  t.  Iwan  yon 
Müller.  Bandl:  Griech.  Epigraphik  von  Wilhelm  Larfeld  S.  641— 647  (München 
1891).  *)  Ist  in  dieser  Schreibart  von  16  die  Veranlassung  zur  Gematria  bei 
Alezandrinischen  Juden,  oder  nur  das  einfachste  Beispiel  derselben  eu  erkennen? 


Die  Griechen.    Zahlzeichen.    Fingerrechnen.    Rechenbrett.  127 

erst  im  VIII.  S.  n.  Chr.  abschloß,  sogar  mann  geschrieben*),  indem 
n,  das  Zeichen  für  8,  einen  höheren  Rang  als  das  nachfolgende  )2, 
zugleich  einen  niedrigeren  als  das  yorhorgehende  dnrch  die  Stellung 
selbst  yertausendfachte  n  besitzen  mußte  und  daher  nur  800  bedeuten 
konnte.  Die  Verwechslung  von  Zahlen  mit  Wörtern  war  in  der 
hebräischen  Schrift,  die  fast  regelmäßig  die  Vokale  wegließ  und  deren 
Er^Lnzung  dem  Leser  übertrug,  ungemein  leicht.  Sollte  also  eine 
Zahl  als  solche  sofort  erscheinen,  so  war  ein  ünterscheidimgszeichen 
notwendig.  Dasselbe  bestand  darin,  daß  man  über  den  letzten  Zahl- 
buchstaben zwei  Häkchen  machte,  oder  auch  diese  Häkchen  zwischen 
dem  letzten  und  vorletzten  Zahlbuchstaben  anbrachte.  Bei  vier-  oder 
gar  mehrstelligen  Zahlen  wurden  die  Häkchen  öfter  wiederholt. 

Wir  kehren  nach  diesen  Einschaltungen  nach  Griechenland  zurück, 
bei  dieser  Rückkehr  beiläufig  erwähnend,  daß  die  Gematria,  die  sym- 
bolisierende BuchstabenTerbindung  zu  Wörtern  mit  Zahlenwert,  sich 
auch  bei  späteren  Griechen  einheimisch  machte.  Die  Zahl  666  der 
Apokalypse  z.  B.,  welche,  wie  jetzt  wohl  kein  Fachmann  mehr  be- 
zweifelt, aus  dem  Hebräischen  stammt  und  noß  "(ins  (Nerun  Kesar) 
bedeutet,  wurde  von  Irenäus,  dem  berühmten  Eorchenlehrer  des  H.  S., 
als  AaxBivog  gelesen  und  erklärt. 

Die  Zahlenwerte  der  griechischen  Buchstaben  hier  genauer 
zu  erörtern,  möchte  so  ziemlich  allen  unseren  Lesern  gegenüber  über- 
flüssig sein.  Wir  begnügen  uns  daran  zu  erinnern  (S.  125),  daß  in 
dem  zur  Zahlenschreibung  dienenden  Alphabet  altertümliche  Buch- 
staben, die  sogenannten  Episemen,  noch  einen  Platz  einehmen,  welche 
unter  den  Buchstaben  der  Griechen  als  solchen  abhanden  gekommen 
waren').  Die  Buchstaben  alpha  bis  sanpi  genügten  in  ihrer  Ver- 
bindung zur  Darstellung  der  Zahlen  1  bis  999,  wobei  ein  darüber 
befindlicher  Horizontalstrich  die  Zahlen  als  solche  kennzeichnete  und 
der  Verwechslung  mit  Wörtern  Yorbeugen  sollte.  Die  Tausende  schrieb 
man  mittels  der  9  Einheitsbuchstaben,  a  bis  ^,  denen  man  zur  Linken 
einen  in  Kommagestalt  geneigten  Strich  beifüg^.  Mitunter  wurde, 
ähnlich  wie  der  vertausendfachende  Punkt  der  Hebräer,  das  den 
gleichen  Zweck  erfüllende  Komma  der  Griechen  unter  gleichen  Voraus- 
setzungen weggelassen,  nämlich  wenn  die  Stellung  yor  einem  Buch- 
staben, dem  an  und  für  sich  ein  höherer  Zahlenwert  eigentümlich 
war,  die  Notwendigkeit  ergab  um  des  Gesetzes  der  Größenfolge  willen 
das  betreffende  Zahlzeichen  tausendfach  zu  lesen.  Allerdings  ist  auch 
bei  den  Griechen  ein  Abweichen  yon  dem  Gesetze  der  Größenfolge 

')  NeBselmann,  Die  Algebra  der  Griechen.  Berlin  1842,  S.  494.  *)  Vgl. 
A.  Eirchhoff,  Studien  zur  Geschichte  des  griechischen  Alphabete.  8.  Aufl. 
Berlin  1877. 


128  4.  Kapitel. 

nachgewiesen  worden*).  Nicht  bloß  daß  in  Sizilien  der  Sprach- 
gebrauch die  kleinere  Zahl  der  größeren  yorausgehen  ließ  [z.  B. 
xiööaQa  xBtQaxööva  B^axiöxikia  3Cevraxi6^vQia  rdXavta  =  56404  Ta- 
lente], daß  bei  asiatischen  Griechen  die  gleiche  Übung  herrschte,  daß 
auf  Münzen  von  Seleucidenkönigen  der  Berliner  und  Londoner  Samm- 
lungen, deren  Prägung  innerhalb  210  und  144  v.  Chr.  Geburt  fallt, 
die  Jahreszahlen  TP-  103,  ^5?P=  161,  BSP--  162,  Ö^P«  169 
vorkommen*),  man  hat  sogar  Inschriften  gefunden,  bei  welchen 
Größenfolge  nach  beiden  Richtungen  miteinander  wechselt'),  z.  B. 
exovg  Ivip  vneQßsQBzaiov  va  =  am  15.  des  Monats  Hyperberetaion  im 
seleucidischen  Jahre  557.  Zehntausend  wurde  als  Myriade  durch  Mv, 
oder  durch  M  bezeichnet.  Bei  Vielfachen  von  10000  konnte  der 
vervielfachende  Koeffizient  eine  dreifache  Stellung  einnehmen,  links 
vor,  rechts  nach  oder  über  dem  M  Im  ersten  Falle  wurde  M.  auch 
wohl  durch  einen  einfachen  Punkt  vertreten,  welcher  aber  nicht  weg- 
gelassen werden  durfte,  weil  die  bloße  Stellung,  wie  wir  erst  bemerkt 
haben,  nur  vertausendfachte.  Es  bedeutete  demnach  ßola  stets  2831, 
ß,(oka  dagegen  20831. 

Man  hat  verschiedentlich  die  Behauptung  aufzustellen  versucht, 
den  Griechen  sei,  und  zwar  in  alter  Zeit,  ein  Zahlzeichen  für  Nichts, 
mithin  eine  wirkliche  NuU  zu  eigen  gewesen.  Man  hat  zu  diesem 
Zwecke  auf  astronomische  Werke  des  Ptolemäus  und  des  Theon  von 
Alexandria,  man  hat  auf  eine  Steininschrift  der  Akropolis  zu  Athen, 
man  hat  auf  einen  Palimpsest  im  Vatikan  hingewiesen.  Aber  alle 
diese  Hinweise  sind  durchaus  nichtig;  von  einer  Null  ist  an 
keiner  dieser  Stellen  die  Rede*). 

Brüche  kommen  bei  griechischen  Schriftstellern,  insbesondere 
bei  Mathematikern,  häufig  vor.  Die  Bezeichnung  erfolgt  im  all- 
gemeinen so,  daß  man  zuerst  die  Zähler  hinschrieb  und  dieselben 
mit  einem  Akzente  rechts  oben  versah,  dann  die  Nenner,  denen  ein 
doppelter  Akzent  beigefügt  wurde  und  die  zweimal  geschrieben  wurden. 

17 
Z.  B.  i^  %a'  %a'  =  -  .    Hatte  man  es  mit  Stammbrüchen  zu  tun,  so 

blieb  der  Zähler  a  als  selbstverständlich  weg,  und  die  einmalige 
Schreibung  des  Nenners  genügte.  Ohne  weitere  Bemerkung  neben- 
einander geschriebene  Stammbrüche  sollten  durch  Addition  vereinigt 

*)  J.  Woisin,  De  Graecorum  notis  numeralibus  (Leipziger  Doktordisser- 
tation in  Kiel  1886)  pag.  15— 16.  *)  Briefliche  Mitteilung  des  Herrn  Adolf 
Richter  in  Riga.  *)  Corpus  Inscriptionum  Graecorum  (ed.  Boeckh)  Vol.  III. 
(Berlin  1868)  No.  4516.  Vgl.  auch  No.  4503,  4518,  4519.  *)  Math.  Beitr.  Kulturl. 
S.  121  flgg.  Wichtige  Ergänzungen  zu  unseren  Angaben  über  den  Palimpsest  bei 
Hultsch,  Scriptores  metrologici  Graeci.    Leipzig  1864.    Vorrede  pag.  V— VL 


Die  Griechen.     Zahlzeichen.    Fingeriechnen.     Rechenbrett.  129 

werden.     Z.  B.  d"  «  ^  und  £"  x^"  Qiß'  öxd"  —  ^  +  28  "^  m  "^  224 

4.3  1 

=  ^— .     Zwei  besondere  Bezeichnungen   sind  bemerkenswert:    ^    oder 

Vifivöv    wurde    nicht    durch    ß"    sondern     durch     das    altertümliche 

sigma  c  angedeutet  und   dieses  vereinigt  sich  mit  g"  =>  y  zu  einem 

112 
neuen    dem    omega    ähnlichen    Zeichen    uj"    um    y  +  ^  ^  3    anzu- 
schreiben *). 

Die  Frage^    wie    man  dazu   kam   an   Stelle  einer  anderen  schon 
vorhandenen   Bezeichnungsweise   von  Zahlen    die   neue   alphabetische 
Methode  einzuführen,  verdient  wohl  gestellt  zu  werden  und  ist  auch, 
wenngleich  nicht  häufig,  gestellt  worden').     So    mächtig   wirkt   bei 
den  meisten  Geschichtsschreibern  die   Gewohnheit   das   geschichtlich 
nacheinander  Auftretende  als  Fortschritt  au&ufassen,   daß  man  auch 
hier  einem  Fortschritte  gegenüberzustehen  wähnte,  und  die  Einfuhrung 
eines  solchen  bedarf  keiner  besonderen  Erklärung.     Statt  eines  Port- 
schrittes   haben   wir   es   aber   hier   mit    einem    entschiedenen   Bück- 
schritte   zu    tun,    insbesondere    was    die    Fortbildungsfähigkeit    der 
Ziffernschrift    betrifft.     Vergleichen    wir    die    älteren    herodianischen 
Zahlzeichen  mit  den  späteren,  für  welche  wir  schon  wiederholt  den 
Namen  alphabetischer  Zahlzeichen  gebraucht  haben,  so  erkennen  wir 
bei  letzteren  zwei  Übelstände,  die  den  ersteren    nicht  anhaften.     Es 
mußten  jetzt   mehr   Zeichen   und  deren  Wert  dem  Gedächtnisse  an- 
vertraut werden,  es  mußte  auch  das  Rechnen  eine  viel  angespanntere 
Gedächtnistätigkeit   in  Anspruch  nehmen.     Die   Addition   AA^  + 
AAAA«riAA(30  +  40«70)  konnte  mit  der  HHH  +  HHHH  = 
51 HH  (300 +  400  «700)  in  einen  Gedächtnisakt  zusammenschmelzen, 
sofern  drei  und  vier  Einheiten  derselben  Art  zu  fünf  und  zwei  Ein- 
heiten gleicher  Art   sich    vereinigten.     Dagegen  war  mit  X  +  |i  =*  o 
noch  keineswegs  t  -{-  u  =»  ij;  sofort  mitgegeben!     Nur  einen  einzigen 
Vorzug   bot   die   neue   Schreibweise   der   alten   gegenüber,    der   sich 
zeigt,   wenn   man    die   schriftliche  Darstellung  nach  ihrer  Raumaus- 
dehnung  vergleicht.     Man   beachte   z.  B.  849,   welches   herodianisch 
PHHHAAAAPIIII,  alphabetisch  uJ^e  aussieht.    Jenes  ist  durch- 
sichtiger, gewährt  beim  Rechnen  die  wichtigsten  Vorteile;  dieses  ist 
unverhältnismäßig   viel  kürzer,   und  so  werden  wir   auf  diesem    den 
Vermutungen  allein  preisgegebenen  dunkeln  Gebiete  wohl  kaum  einen 
Fehlgriff  tun,   wenn   wir  die  Meinung   aussprechen,   nicht   Rechner, 

>)  tJhei  Brüche  vgl.  Hultsch,  L  c,  pag.  173—176.  *)  Heinr.  Stoy, 
Zur  Geschichte  des  Bechenontemchtes  I.  Teil.  Jenaer  Inauguraldissertation  1876, 
S.  25. 

Gaktob,  Gesohichte  der  Mathematik  L  3.  Aufl.  9 


130  4.  Kapitel. 

sondern  Schreiber  haben  die  alte  breite  Zahlenbezeichnung  um  der 
neuen  willen  im  Stich  gelassen,  und  weil  es  in  der  großen  Menge 
der  Bevölkerung  mehr  Schreiber  gab  als  Rechner,  die  zugleich  auch 
Schreiber  waren,  hat  die  neue  alphabetische  Methode  so  rasch  und 
allgemein  sich  Eingang  verschafft. 

Wir  sind  mit  diesen  Bemerkungen  bereits  über  die  Besprechung 
des  Zahlenschreibens  bei  den  Griechen  hinausgegangen  und  zu  deren 
Zahlenrechnen  gelangt.  Wieder  begegnen  uns  hier  die  beiden 
Rechnungs verfahren,  denen  wir  allgemein  menschliche  Verbreitung 
zuerkannt  haben:  das  Fingerrechnen  und  das  Rechnen  auf  einem 
Rechenbrette. 

Spuren  des  ersteren  sind  mancherlei  vorhanden^).  Es  mag  ja 
zu  weit  gegangen  sein  für  dasselbe  auf  eine  Stelle  des  Herodot  sich 
zu  beziehen,  wo  einer  an  den  Fingern  die  Monate  abrechnet*).  Auch 
daß  in  homerischer  Sprache  Rechnen  Ttefixä^Biv,  d.  h.  wörtlich  „ab- 
fünfen"  heißt,  mag  von  geringerer  Tragweite  erscheinen.  Aber  eine 
Stelle  der  Wespen  des  Aristophanes')  bezeugt,  daß  man  Überschlags- 
rechnungen an  den  Fingern  auszuführen  pflegte.  Wie  die  Griechen 
alter  Zeit  dabei  verfuhren,  ist  nicht  bekannt.  Die  Wahrscheinlichkeit 
spricht  dafür,  daß  ähnliche  Grundsätze  der  Fingerbedeutung  gegolten 
haben  mögen  wie  in  späterer  Zeit,  aber  eine  Sicherheit  liegt  keines- 
wegs vor.  Wir  wünschen  daher  nicht  durch  Vorgreifen  den  An- 
schein einer  solchen  Sicherheit  hervorzurufen,  und  versparen  uns  die 
Darstellung  spätgriechischer  Fingerrechnung  bis  zum  Schlüsse  dieses 
ganzen  griechischen  Abschnittes,  wo  eine  erhaltene  byzantinische 
Schrift  über  den  Gegenstand  ims  nötigende  Veranlassung  geben  wird 
darauf  einzugehen. 

Das  Rechnen  auf  einem  Rechenbrette  in  Griechenland  bezeugt 
uns  Herodot  durch  dieselbe  Stelle*),  deren  wir  uns  zum  Beweise  des 
gleichen  Verfahrens  in  Ägypten  schon  bedient  haben  (S.  88).  Wir 
hoben  dort  bereits  hervor,  daß  die  Kolumnen  des  Brettes  gegen  den 
Rechner  senkrecht  gezogen  sein  mußten  und  werden  dafür  noch 
anderweitige  Gründe  weiter  unten  angeben.  Die  auf  dem  Rechenbrette 
Verwendung  findenden  Steinchen  hießen  ifYjq)ot.  Sie  wurden,  wie  aus 
der  Stelle  in  den  Wespen  des  Aristophanes  hervorgeht,  auch  in  dessen 
Zeit  zum  genauen  Rechnen  benutzt,  und  die  Verbreitung  dieses  Ver- 
fahrens wird  ersichtlich  aus  dem  Worte  rlfrjq)£i£vVj  mit  Steinchen  han- 
tieren, welches  allgemein  für  das  Rechnen  eintritt.  Auch  das  Brett, 
auf  welchem  gerechnet  wurde,  bekam  einen  besonderen  Namen  &ßal. 


*)  Stoy,  1.  c,  S.  86  Anmerkg.  4,  S.44  Aninerkg.  8.       *)  Herodot  VI,  68 
und  66.     *)  Ariatophaniß  Yespae  666.     *)  Herodot  H,  86. 


Die  Griechen.    Zahlzeichen.    Fingerrechnen.    Rechenbrett.  131 

Allein  gleich  bei  diesem  Namen  Abaz  beginnen  die  Streitfragen, 
welche  sich  mehr  und  mehr  häufen,  je  weiter  die  Geschichte  der 
Entwicklung  des  Rechenbrettes  fortschreitet.  Man  hat  nämlich  das 
Wort  &ßa^  bald  dem  semitischen  p3fe(  Staub  yerglichen  und  Staub- 
brett übersetzt,  bald  hat  man  den  Stamm  ßax  mit  verneinendem  a  zu 
einem  Worte  yereinigt,  dem  die  Bedeutung  des  Nichtgehenkönnens, 
des  FußloBseins  innewohnt^).  Die  letztere  Ableitung  stützt  sich 
vorwiegend  auf  die  nicht  in  Zweifel  zu  stellende  Anwendung  des 
Wortes  äßcci  und  ähnlich  klingender  Wörter  in  Bedeutungen,  welche 
an  Staub  in  keiner  Weise  zu  denken  gestatten.  So  hieß  eine  Art 
von  Würfelbrett,  ein  rundes  Körbchen  ohne  Untergestell,  eine  runde 
Platte  ßßal^  und  dergleichen  mehr.  Noch  eine  dritte  Ableitung  läßt 
&ßa^  durch  verneinendes  a  von  ßd^o  (ich  spreche)  abstammen;  es 
sei  ein  Rechnen,  bei  welchem  nicht  gesprochen  wird').  Die  erste 
Ableitung  dagegen  weiß  nur  einen  Grund  für  sich  anzugeben,  der 
durch  ein  Spiel  sprachlichen  Zufalles  sich  sehr  wohl  erklären  läßt: 
der  griechische  Abax  als  Rechenbrett  war  nämlich,  wenigstens  in 
einer  Form,  ein  wirkliches  Staubbrett').  Wir  wissen  dieses  aus  einer 
Stelle  des  Jamblichus,  in  welcher  dieser  späte  Pyihagoiuer  erzählt, 
daß  der  Gründer  ihrer  Schule  die  Beweise  der  Arithmetik  wie  der 
Geometrie  auf  dem  Abaz  geführt  habe,  was  nur  dann  verständlich 
ist,  wenn  auf  dem  Abax  Zahlzeichen  und  Linien  leicht  gezeichnet, 
leicht  verwischt  werden  konnten;  wir  wissen  es  deutlicher  aus  einer 
zweiten  Stelle  desselben  Jamblichus,  die  uns  ausdrücklich  sagt,  der 
Abax  der  Pythagoräer  sei  ein  mit  Staub  bedecktes  Brett  gewesen^). 
Auch  eine  Stelle  des  Eustathius  ist  damit  in  Übereinstimmung,  welche 
den  Abax  als  den  Philosophen,  die  Figuren  auf  denselben  zeichneten, 
nützlich  rühmt  ^).  Das  letztere  Zeugnis  gehört  freilich  erst  dem  Ende 
des  XIL  S.  an,  aber  bei  der  berühmten  Gelehrsamkeit  des  Bischofs 
von  Thessalonike,  der  sie  niederschrieb  und  dem  sicherlich  noch  Quellen 


^)  Für  die  erste  Ableitung  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  107, 
Anmerkg.  5  und  Vincent  in  Liouyille's  Journal  des  Mfxth^matiques  IV,  275  Note 
mit  Berufung  auf  Etienne  Guichart,  Harmonie  des  lan^ues.  Für  die  letztere 
Th.  H.  Martin,  Les  siffnes  numeraux  et  VarithmStique  chez  lea  peitples  de  Vanti- 
quiU  et  du  moyen-ctge.  Rome  1864,  pag.  S4 — 35  mit  zahlreichen  Quellenangaben. 
*)  E.  Clive  Bayley  im  Journal  of  the  Royal  Asiatic  Society,  new  series,  XIV, 
869  (London  1882).  *)  Als  Beispiel  sprachlicher  Zufälligkeiten  erinnern  wir  an 
das  englische  degree  und  das  arabische  daraga.  Beide  bedeuten  Grad  (Winkel- 
einteilung), sind  aber  nicht  entfernt  verwandten  Stammes  trotz  Gleichlautes  und 
Bedeutungsgleichheit.  *)  Jamblichus,  De  vita  Pythagorica  cap.  V,  §  22  und 
desselben  Exhortatio  ad phtlosophiam  Symbol.  XXXI V.  *)  Eustathius  in  Odys- 
seam  zu  Gesang  I,  vers.  107.  Vgl.  die  römische  Ausgabe  dieses  Kommentators 
pag.  1897  lin.  50. 


132  4.  Kapitel. 

zugänglich  waren^  die  wir  nicht  mehr  kennen^  nehmen  wir  ebenso- 
wenig Anstand  dasselbe  zu  verwerten,  wie  die  oft  angerufenen  Zeug- 
nisse späterer  Lexikographen. 

Sollte  auf  dem  Abax  gerechnet  werden,  so  mußten,  wie  wir 
wissen,  auf  demselben  Abteilungen  gebildet  werden,  deren  jede  zwischen 
zwei  Strichen  verlief,  oder  durch  einen  einzelnen  Strich  sich  darstellte. 
Die  Abteilungen,  Kolumnen  nennt  man  sie  gemeiniglich,  und  auch 
wir  werden  uns  dieses  Ausdruckes  von  jetzt  an  ausschließlich  be- 
dienen, waren  gegen  den  Rechner  senkrecht  gezeichnet.  Das  geht 
nächst  der  Stelle  bei  Herodot,  welche  wir  so  deuteten,  aus  einem 
Vasengemälde  hervor,  das  aus  griechischer  Vorzeit  auf  uns  gekommen 
ist.  Wir  meinen  diejenige  Vase,  welche  den  Altertumsfreunden  als 
die  große  Dariusvase  in  Neapel  wohl  bekannt  ist^).  Auf  dieser 
Vase  ist  ein  Rechner  gut  erkennbar,  der  auf  einer  Tafel  den  Tribut 
zu  buchen  scheint,  welcher  dem  Darius  dargebracht  wird.  Die  Tafel 
ist  in  zu  dem  Rechner  senkrechte  mit  Überschriften  versehene  Ko- 
lumnen eingeteilt,  und  die  Überschriften  bestehen  aus  herodianischen 
Zahlzeichen.  Eben  dieses  Vasengemälde  ist  es,  welches  einen  zuver- 
lässigen Beweis  persischen,  mithin  mutmaßlich  auch  babylonischen 
Kolumnenrechnens  uns  liefern  würde,  wenn  wir  der  Gewißheit  uns 
hingeben  dürften,  daß  der  Künstler  nicht  aus  freier  Phantasie  arbeitend 
griechische  Gewohnheiten  ins  Ausland  übertrug,  ohne  sich  darum  zu 
kümmern,  ob  er  damit  der  Wahrheit  widersprach. 

Die  Kolumnen  hatten  den  Zweck,  den  zum  Rechnen  dienenden 
Marken  einen  in  verschiedenen  Kolumnen  verschiedenen  Stellungswert 
zu  verleihen.  Zwei  Schriftsteller  bezeugen  uns  dieses.  Von  Solon 
wird  uns  der  Vergleich  mitgeteilt,  wer  bei  Tyrannen  Ansehen  besitze, 
sei  wie  der  Stein  bei  der  Rechnung;  bald  bedeute  dieser  mehr,  bald 
weniger,  und  so  achte  der  Tyrann  jenen  bald  hoch,  bald  gar  nicht*). 
Desselben  Vergleiches  bedient  sich  Polybios,  der  arkadische  Geschichts- 
schreiber, welcher  203 — 121  lebte,  und  gebraucht  dabei  einen  nicht 
unwichtigen  Ausdruck.  Er  sagt  nämlich,  die  Marken  auf  dem  Abax 
gelten  nach  dem  Willen  des  Rechnenden  bald  einen  Chalkus,  bald 
ein  Talent»). 

Die  Bedeutsamkeit  gerade  dieser  von  Polybios  genannten  gegen- 
sätzlichen Werte  erkennen  wir  in  ihrer  Übereinstimmung  mit  den 
End werten  niedersten   und  höchsten  Ranges,  welche  auf  einem  grie- 


^)  Vgl.  eine  Abhandlung  von  F.  G.  Welckerin  dessen  Alte  Denkmäler  V, 
Z4t9  ügg.  nebst  Tafel  XXIII.  Der  erste  Abdruck  in  Gerhards  Archäologischer 
Zeitung  1867,  8.  49—55,  Tafel  108.  *)  Diogenes  Laertius  I,  69.  «)  Poly- 
bios V,  26,   13. 


Die  Griechen.    Zahlzeichen.    Fingerrechnen.    Rechenbrett.  133 

chischen  Denkmale,  auf  der  Tafel  yon  Salamis  angegeben  waren. 
Damit  ist  nämlich  entweder  eine  annähernde  Datierung  jener  ihrem 
Alter  nach  bis  jetzt  ganz  unbestimmbaren  Marmortafel,  welche  sich 
gegenwärtig  im  Nationalmuseum  (Ethnikon)  zu  Athen  befindet,  er- 
möglicht oder  man  hat  die  für  langdauernde  Übung  Zeugnis  ablegende 
Erhaltung  genau  derselben  Abteilungszahl  yor  sich.  Die  salaminische 
Tafel  ^)  von  Marmor  1,5  m  lang,  0,75  m  breit  wurde  zu  Anfang  des 
Jahres  1846  auf  der  Insel,  deren  Namen  sie  führt,  au^efanden.  Sie 
war  der  Größe  ihrer  Abmessungen,  dem  Gewichte  des  Materials,  der 
durch  beide  yereinigten  Umstände  erhöhten  Unbeweglichkeit  zufolge, 
sicherlich  keine  gewöhnliche  Rechentafel.  Wir  haben  yielmehr  ent- 
weder an  den  Geschäftstisch  eines  öffentlichen  Wechslers  zu  denken, 
deren  es  in  Griechenland  bereits  gab,  oder  an  eine  Art  yon  Spielbrett 
mit  zur  Verrechnung  yon  Gewinn  und  Verlust  vorgerichteten  Kolumnen. 
Die  Einrichtung  war  nämlich  allem  Anscheine  nach  die,  daß  jedem 
der  beiden  Spieler,  beziehungsweise  Rechner,  fünf  Hauptkolumnen,  je 
zwischen  zwei  Striche  eingeschlossen,  und  yier  Nebenkolumnen  zur 
Verfügung  standen.  Erstere  dienten  yon  links  nach  rechts  im  Werte 
abnehmend  für  Talente  (6000  Drachmen),  1000,  100,  10  und  1  Drachmen, 

letztere  für  die  Bruchteile  der  Drachmen  Obolus  (  -Drachme],  halber 

Obolus,  viertel  Obolus  und  achtel  Obolus  oder  Chalkus*).  Jede  der 
Hauptkolumnen  war  durch  einen  durch  alle  Abteilungen  gemeinschaftr 
lieh  durchlaufenden  Querstrich  in  zwei  Hälften  geteilt,  deren  eine,  sei 
es  die  obere,  sei  es  die  untere,  den  eingelegten  Marken  den  fünffachen 
Wert  gab  wie  die  anderen.  Es  ist  dies  ein  tatsächlich  vorhandenes 
Beispiel  dessen,  was  wir  (S.  42)  bei  den  Babyloniern  vermutungsweise 
annahmen,  um  die  Entstehung  des  Wortes  Ner  uns  zu  verdeutlichen. 
Wir  dürfen  zugleich  hervorheben,  daß  die  5  Hauptkolumnen  ihrer 
Anzahl  nach  mit  den  fünf  einfachen  Grundzahlwörtern  der  Griechen 
von  der  Monas  bis  zur  Myrias  übereinstimmen,  dürfen  zugleich  an  das 
früher  über  Beschränkung  volkstümlicher  Zahlenbegriffe  Gesagte  er- 
innern. Daß  unsere  in  allen  wesentlichen  Punkten  von  Letronne  her- 
stammende Erklärung  der  salaminischen  Tafel  richtig  sein  muß,  be- 
weisen insbesondere  die  auf  der  Tafel  befindlichen  selbst  13  mm  hohen 
Zahlzeichen.     Sie  sind  herodianische  Zeichen,  und  es  ist  eben  so  fein 

^)  Math  Beitr.  Ktdtarl.  S.  182  und  186  flgg.  die  gSDaneren  Quellenangaben. 
Vgl.  femer  A.  Nagl,  Die  Rechenmethoden  auf  dem  griechischen  Abakus  in 
Abhndlgen.  z.  Gesch.  d.  Math.  IX,  837—367.  Kubitschek,  Die  salaminische 
Rechentafel  in  Numismatische  Zeitschrift  (Wien  1900)  XXXI,  893—398.  A.  Nagl, 
Der  griechische  Abakus  in  Numism.  Zeitschr.  (Wien  1908)  XXXV,  131—143.  *)  Der 
attische  Obolus  hatte  8  Chalkus.     Vgl.  Hultsch,   Metrologie  (2.  Aufl.)  S.  133. 


134  5.  Kapitel. 

als  richtig  hervorgehoben  worden,  es  sei  kein  Zufall,  wenn  diese  Be- 
zeichnung, welche  neben  den  einzelnen  Grundzahlen  auch  deren  Fünf- 
fache kürzer  zu  schreiben  gestatte,  auf  einem  nach  demselben  Gbdanken 
abgeteilten  Rechentische  sich  finde  ^).  Ein  Bruchstück  einer  der  sala- 
minischen  vielleicht  ähnlichen  Tafel  ist  dann  später  (1886)  auch  in 
Akamanien  aufgefunden  worden^. 

Dürfen  wir  vielleicht  den  Rückschluß  ziehen,  das  Rechenbrett 
ähnlicher  Art  müsse  bei  den  Griechen  mindestens  so  alt  wie  jene 
Zeichen  gewesen  sein?  Dürfen  wir  das  in  einer  Quelle  berichtete 
Vorkommen  herodianischer  Zeichen  in  solonischer  Zeit  mit  dem  eben 
angeführten  Ausspruche  Solons,  der  für  das  Vorhandensein  eines 
Rechenbrettes  zwingend  wäre,  wenn  er  selbst  als  beglaubigt  betrachtet 
werden  könnte,  in  Verbindung  bringen?  Dürfen  wir  beide  als  gegen- 
seitige Stützen  betrachten  und  somit  um  600  ein  schon  ziemlich  aus- 
gebildetes Rechnen  auf  dem  Rechenbrett  in  Griechenland  annehmen? 

Wir  wollen  uns  nicht  soweit  in  Vermutungen  einlassen,  daß  wir 
alle  diese  Möglichkeiten  als  Wahrheiten  behaupteten.  Nur  eines  sei 
bemerkt,  daß  auf  dem  Sandbrette  sehr  leicht  mittels  eines  Stiftes 
Kolumnen  bildende  Linien  gezogen  werden  konnten,  daß  somit  durch- 
aus kein  Ghrund  vorliegt  einen  Zweifel  zu  hegen,  ob  gleichzeitig  mit 
der  Herstellung  der  salaminischen  Tafel  und  ähnlicher  Tische  auch 
die  pythagoräische  Benutzung  des  Sandbrettes  zum  Rechnen  in  Übung 
gewesen  sei.  Das  Rechnen  selbst  beschränkte  sich  anfangs  gewiß  auf 
die  einfachsten  Grundverfahren  des  Zusammenzählens  und  Abziehens. 
Ein  mathematisches  Rechnen  kam  erst  in  Frage,  als  eine  wirkliche 
Mathematik  in  Griechenland  sich  gebildet  hatte,  und  wird  erst  in  jener 
Zeit  von  uns  behandelt  werden  dürfen. 

Das  mathematische  Denken  war  in  Griechenland  vorzugsweise  ein 
geometrisches.  Der  Geometrie  gehören  auch  die  Anfänge  der  Mathe- 
matik an,  zu  welchen  wir  uns  jetzt  wenden. 


5.  Kapitel. 
Thaies  and  die  älteste  griechische  Cleometrie. 

Ein  gelehrter  Philosoph  des  *^.  S.  Proklus  Diadochus  hat  uns 
ein  ungemein  wertvolles  Bruchstück  eines  älteren  Schriftstellers  auf- 
bewahrt,  welches  uns  ein  Bild  der  ältesten  griechischen  Mathematik 

')  Stoy,  1.  c,  S.  26.  ")  Wo i Bin,  De  Graecorum  notia  numeralibua 
pag.  4  mit  Berufang  auf  Bulletin  de  Correspondence  Hell^nique,  ann^e  X  (1886) 
pag.  179. 


Thaies  und  die  älteste  griechisohe  Geometrie.  135 

in  lonien,  in  Unteritalien  und  in  Athen  den  Umrissen  nach  erkennen 
laßt.  Es  stammt  nach  Proklns'  Anssage  von  denen  her,  ,,die  die  Ge- 
schichte geschriehen  habend  nnd  man  ist  allgemein  darin  einig  hier 
ein  Fragment  desEudemns,  oder  wenigstens  einen  Anszng  aus  dessen 
historisch -geometrischen  Schriften  zu  erkeimen^).  Wir  werden  das- 
selbe häufig  zu  nennen  haben  und  ihm  zu  diesem  Zwecke  den  seinem 
Inhalte  wohl  am  meisten  entsprechenden  Namen  des  alten  Mathe- 
matikeryerzeichnisses  beilegen.  Chronologisch  teilt  es  uns  näm- 
lich nach  kurzer  Einleitung  die  Namen  derjenigen  Männer  mit,  die 
nach  der  Meinung  des  Verfassers  die  Entwicklung  der  Mathematik 
vorzugsweise  gefordert  haben.  Chronologisch,  wie  wir  sie  brauchen, 
werden  wir  die  einzelnen  Sätze  abdrucken.  Sie  bilden  gewissermaßen 
die  Überschrift  einzelner  Paragraphen,  in  welche  wir  unterzubringen 
haben  werden,  was  in  bezug  auf  die  einzelnen  Persönlichkeiten  aus 
anderen  Quellen  bekannt  geworden  ist.  Die  einleitenden  Worte  lauten 
folgendermaßen: 

„Da  es  nun  notwendig  ist,  auch  die  Auffinge  der  Künste  und 
Wissenschaften  in  der  gegenwärtigen  Periode  zu  betrachten,  so  be- 
richten wir,  daß  zuerst  von  den  Ägyptern  der  Angabe  der  meisten 
zufolge  die  Geometrie  erfanden  ward,  welche  ihren  Ursprung  aus  der 
Vermessung  der  Ländereien  nahm.  Denn  letztere  war  ihnen  nötig 
wegen  der  Überschwemmung  des  Nil,  der  die  einem  jeden  zugehörigen 
Ghrenzen  yerwischte.  Es  hat  aber  nichts  Wunderbares,  daß  die  Er- 
findung dieser  sowie  der  anderen  Wissenschaften  Yom  Bedürfnis  aus- 
gegangen ist,  da  doch  alles  im  Entstehen  Begriffene  vom  Unvoll- 
kommenen zum  Vollkommenen  Torwärtsschreitet.  Es  findet  von  der 
sinnlichen  Wahrnehmung  zur  denkenden  Betrachtung,  yon  dieser  zur 
yemünftigen  Erkenntnis  ein  geziemender  Übergang  statt  Sowie  nun 
bei  den  Phönikiem  des  Handels  imd  des  Verkehrs  halber  eine  genaue 
Kenntnis  der  Zahlen  ihren  Anfang  nahm,  so  ward  bei  den  Ägyptern 
aus  dem  erwähnten  Grunde  die  Geometrie  erfunden.^' 

Wir  begnügen  uns  unter  Abdruck  dieser  Sätze  darauf  aufinerk- 
sam  zu  machen,  daß  hier  über  die  Erfindung  der  Geometrie  dasselbe 
behauptet  wird,  was  wir  früher  (S.  102 — 103)  nach  anderen  Quellen  als 


^)  Diese  Stelle  ist  abgedruckt  in  Prodi  Dictdochi  in  primum  Euclidis  ele- 
mentarum  librutn  commentarii  (ed.  Friedlein).  Leipzig  1873,  pag.  64  lin. 
16 — 68  lin.  6.  Der  Urtext  mit*gegenüberstehender  deutscher  Übersetzung  bei 
Bretschneider,  Die  Geometrie  und  die  Geometer  vor  Euklides.  Leipzig  1870, 
S.  27—30.  Wir  zitieren  dieses  Werk  künftig  kurz  als  Bretschneider.  Wir  be- 
dienen uns  der  Hauptsache  nach  der  dort  mitgeteilten  Übersetzung,  yon  der 
wir  nur  in  wenigen  Punkten,  wo  wir  B*s  Auffassung  nicht  teilen  können,  uns 
entfernen. 


136  ö.  Kapitel. 

die  weoigsteDS  in  bezug  auf  den  ägyptischen  Ursprung  wohlbegründete 
Meinung  des  griechischen  Altertums  mitgeteilt  haben.  Die  Geometrie 
kam  aus  Ägypten  nach  Griechenland.  Wie  und  durch  wen,  darüber 
belehrt  uns  das  Mathematikerverzeichnis,  wenn  es  fortfahrt: 

„Thaies,  der  nach  Ägypten  ging,  brachte  zuerst  diese  Wissen- 
Bchafb  nach  Hellas  hinüber  und  vieles  entdeckte  er  selbst,  von  vielem 
aber  überlieferte  er  die  Anfange  seinem  Nachfolger;  das  eine  machte 
er  allgemeiner,  das  andere  sinnlich  faBbarer/' 

Thaies  von  Milet^),  Sohn  des  Ezamios  und  der  Kleobuline, 
aus  einem  ursprünglich  phönikischen  Geschlechte  stammend,  wurde 
um  das  1.  Jahr  der  39.  Olympiade'),  also  um  624,  geboren  und  lebte 
noch  im  1.  Jahre  der  58.  Olympiade,  d.  h.  548.  Er  wurde  also  über 
76  Jahre  alt,  eine  Berechnung,  welche  in  vollem  Einklang  mit  anderen 
Angaben  ist,  die  ohne  genaue  Jahrgänge  festzustellen  ihn  ein  hohes 
Alter  erreichen  lassen.  Eine  ganze  Menge  von  mehr  unterhaltenden 
als  wichtigen  Geschichten  knüpfen  sich  an  seinen  Namen.  Aus  den- 
selben scheint  hervorzugehen,  daß  Thaies  Kaufmann  war,  bald  einen 
Salzhandel  trieb,  bald  in  Ölgeschafke  sich  einließ,  und  daß  er  vermut- 
lich auf  diese  Weise  nach  Ägypten  kam.  Einen  ägyptischen  Aufent- 
halt bezeugt  femer  die  Bemerkung,  niemand  sei  dem  Thaies  Lehrer 
gewesen,  nur  während  seines  Verweilens  in  Ägypten  habe  er  mit  den 
Priestern  verkehrt').  Ein  drittes  Zeugnis  ist  das  der  Pamphile,  einer 
Geschichtsschreiberin  zur  Zeit  Neros,  welche  weiß,  daß  Thaies  in 
Ägypten  Geometrie  erlernte*).  Die  Belege  könnten  noch  weiter  bis 
zu  fast  beliebiger  Anzahl  vermehrt  werden,  so  daß  an  der  Tatsache, 
Thaies  sei  in  Ägypten  gewesen,  und  dort  mit  Geometrie  bekannt  ge- 
worden, nicht  wohl  zu  zweifeln  ist^),  wenn  auch  zugegeben  werden 


')  Bretachneider  S.  86— ö6.  AUman,  Greek  geometry  from  Thaies  to 
Euelid  (1889)  pag.  7—17.  Eine  Monographie  von  Decker,  De  Thalete  Milesio, 
Halle  1865,  ist  nnB  nur  dem  Titel  nach  bekannt.  Haaptquelle  ist  Diogenes 
LaertiuB.  Die  Familie  des  Thaies  I,  1  nach  Herodot,  Duris  und  Demokrit; 
seine  Lebenszeit  I,  10  nach  ApoUodor  und  Sosikrates  und  1,  3,  wo  bezeugt  ist, 
daß  Thaies  beim  Ausbruche  des  Yemichtungskampfes  zwischen  Krösus  und 
Eyrus  (548)  noch  lebte.  *)  Vgl.  Diels  im  Rheinischen  Museum  für  Philologie, 
Neue  Folge  XXXI,  16  (1876).  »)  Diogenes  Laertius  I,  27.  *)  Diogenes 
Laertius  I,  24.  ^)  Eine  vortreffliche  Zusammenstellung  der  Beweisstellen  bei 
Zell  er,  Die  Philosophie  der  Griechen  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  I,  169, 
Anmerkung  1  (3.  Auflage,  Leipzig  1869).  Wenn  in  diesem  Werke  —  wir  werden 
es  künftig  nur  als  Zeller  I  zitieren  —  dessen  scharfe,  mitunter  vielleicht  allzu 
skeptische  Kritik  mit  Recht  anerkannt  ist,  aus  allen  diesen  Stellen  die  Über- 
zeugung gewonnen  wird,  der  ägyptische  Aufenthalt  des  Thaies  sei  möglich,  so- 
gar wahrscheinlich,  aber  allerdings  nicht  vollständig  erwiesen,  so  dürfen  wir 
diesen  Ausspruch  für  unsere  Meinung  deuten. 


Thaies  und  die  älteste  griechische  Geometrie.  137 

muß;  daß  keines  der  Zeugnisse  älter  als  das  Mathematikerrerzeiclinis 
zu  sein  scheint,  und  dieses  eine  höher  liegende  Quelle  außer  für  eine 
einzige  Angabe  überhaupt  nicht  angibt.  Nach  seiner  Heimat  Milet 
kehrte  Thaies  in  vorgeschrittenen  Jahren  zurück.  ^^Er  befaßte  sich 
erst  später  und  gegen  das  Ghreisenalter  hin  mit  Naturkunde^  beobachtete 
den  Himmel;  musterte  die  Sterne  und  sagte  öffentlich  allen  Miletem 
TOraus,  daß  am  Tage  Nacht  eintreten ,  die  Sonne  sich  yerbergen  und 
der  Mond  sich  davor  legen  werde,  so  daß  ihr  Glanz  und  ihre  Licht- 
strahlen aufgefangen  werden  würden/'  So  der  wörtliche  Bericht  eines 
Schriftstellers,  welcher  in  seiner  Einfachheit  sehr  glaubwürdig  er- 
scheint^). Offenbar  ist  in  ihm  von  derselben  Sonnenfinsternis  die 
Rede,  von  der  neben  anderen  auch  Herodot  weiß,  daß  Thaies  sie  den 
loniem  angesagt  hatte  mit  Vorausbestimmung  des  Jahres,  in  welchem 
die  Umwandlung  von  Ti^  in  Nacht  erfolgen  sollte*).  Nur  im  Vor- 
beigehen bemerken  wir,  auf  die  Aussage  eines  unverwerfbaren  Fach- 
gelehrten gestützt  *),  daß  in  so  weiten  Grenzen  wie  die  eines  Jahres 
die  Verkündigung  einer  Sonnenfinsternis  unter  aUen  Umstanden  mög- 
lich war.  Trat  nun  gar  diese  Finsternis  zur  Zeit  einer  Schlacht 
zwischen  Modem  und  Lydem  —  wie  man  jetzt  ziemlich  allgemein 
annimmt  am  28.  Mai  585*)  —  ein  und  erhielt  dadurch  eine  gewisse 
erhöhte  historische  Bedeutung,  so  begreift  man,  wie  damit  zugleich 
der  Ruhm  des  Verkündigers  unter  seinen  Landsleuten  steigen  mußte. 
Um  so  glaublicher  wird  der  von  der  Erzählung  der  Sonnenfinstemis- 
voraussagung  unabhängige  Bericht,  Thaies  habe  unter  dem  Archontat 
des  Damasias  (zwischen  585  und  583)  den  Beinamen  des  „Weisen^' 
erhalten^).  Mit  ihm  zugleich  erhielten  denselben  Beinamen  bekannt- 
lich noch  6  andere  Männer,  die  uns  aber  insgesamt  hier  gleichgültig 
sein  können,  weil  nur  eine  politische  Bedeutung  der  7  Männer,  eine 
Staatsweisheit,  durch  jene  ehrende  Bezeichnung  anerkannt  wurde,  worin 
wir  rückwärts  eine  Bestätigung  dafür  finden  können,  daß  die  Sonnen- 
finsternis von  585  und  deren  Verkündigung  erst  nachträglich  zur 
Bedeutung  wuchs,  als  die  leichtgläubige  Bevölkerung  in  ihr  eine  Vor- 
bedeutung erkennen  mochte.  Wir  übergehen  Einmengungen  in  das 
Staatsleben  Milets,  welche  von  Thaies  berichtet  werden.  Wir  über- 
gehen die  ihm  zugeschriebenen  Ansichten  über  das  Weltall  und  über 
vorzugsweise  astronomische  Dinge.     Es  muß  uns  genügen,  Thaies  als 


^)  Themistios  Orat.  XXVI,  pag.  317.  *)  Herodot  I,  74.  «)  Rud.  Wolf, 
Geschichte  der  Astronomie.  München  1877,  S.  10.  *)  Vgl.  G.  Hof  mann,  Die 
Sonnenfinstemiss  des  Thaies  vom  28.  Mai  585  t.  Chr.  (Triest  1870).  Geizer  im 
Rheinischen  Mnseum  fOr  Philologie,  Neue  Folge  XXX,  264  (1875).  Ed.  Mahl  er 
in  Sita^ongsber.  d.  Wiener  Akad.  d.  Wissensch.  4.  Hl.  1886.  Mathem.-natorw. 
Klasse,  H.  Abtlg.,  Bd.  XCHI,  S.  455—469.     ^)  Diogenes  Laertius  I,  1. 


138  6.  Kapitel. 

der  Zeit  nach  ersten  ionischen  Natorphilosophen  zu  kennzeichnen. 
Wir  gelangen  zu  den  mathematiscl^n  Dingen,  mit  welchen  der  Name 
des  Thaies  in  Verbindung  gebracht  wird. 

Proklns  nennt  Thaies^  abgesehen  Yon  jener  dem  Mathematiker- 
Verzeichnisse  angehörenden  Stelle,  viermal^).  Dem  alten  Thaies  ge- 
bührt, so  lautet  die  erste  Stelle,  wie  für  die  Erfindung  so  vieles  anderen, 
so  auch  für  die  dieses  Theorems  Dank;  er  soll  nämlich  zuerst  gewußt 
und  gesagt  haben,  daß  die  Winkel  an  der  Basis  eines  gleich- 
schenkligen Dreiecks  gleich  seien,  die  gleichen  Winkel  nach 
altertümlicher  Ausdrucksweise  als  ähnliche  benennend 

Die  zweite  Stelle  besagt:  Dieser  Satz  lehrt,  daß,  wenn  zwei 
Gerade  sich  schneiden,  die  am  Scheitel  liegenden  Winkel  gleich 
sind.  Erfunden  ist  dieses  Theorem,  wie  Eudemus  angibt,  zuerst  von 
Thaies.  Eines  wissenschaftlichen  Beweises  aber  achtete  der  Verfasser 
der  Elemente  (Euklid)  es  wert. 

Zum  dritten  sagt  Proklus  bei  Erörterung  des  Bestimmtseins 
eines  Dreiecks  durch  eine  Seite  und  die  beiden  ihr  anliegen- 
den Winkel:  Eudemus  führt  in  seiner  Geschichte  der  Geometrie 
diesen  Lehrsatz  auf  Thaies  zurück.  Denn  bei  der  Art,  auf  welche  er 
die  Entfernung  der  Schiffe  auf  dem  Meere  gefanden  haben  soll,  sagt 
er,  bedürfe  er  dieses  Theorems  ganz  notwendig. 

Die  vierte  Erwähnung  ist  die  Angabe:  daß  die  Kreisfläche 
von  dem  Durchmesser  halbiert  wird,  soll  zuerst  jener  Thaies  be- 
wiesen haben. 

Zu  diesen  vier  Erwähnungen  bei  einem  und  demselben  mathe- 
matischen Schriftsteller  kommen  noch  zwei  andere.  Pamphile  erzählt, 
daß  als  Thaies  bei  den  Ägyptern  Geometrie  erlernte,  er  zuerst  dem 
Kreise  das  rechtwinklige  Dreieck  eingeschrieben  und  des- 
halb einen  Stier  geopfert  habe^).  Endlich  ist  es  die  sogenaimte 
Schattenmessung,  welche  auf  Thaies  zurückgeführt  zu  werden 
pflegt.  Hieronymus  von  Rhodos,  ein  Schüler  des  Aristoteles,  erzählt, 
Thaies  habe  die  Pyramiden  mittels  des  Schattens  gemessen,  indem  er 
zur  Zeit,  wenn  der  unsrige  mit  uns  von  gleicher  Größe  ist,  beobachtete^). 
Entsprechend  berichtet  auch  Plinius:  das  Höhenmaß  der  Pyramiden 
und  aller  ähnlichen  Körper  zu  gewinnen  erfand  Thaies  von  Müet,  in- 
dem er  den  Schatten  maß  zur  Stunde,  wo  er  dem  Körper  gleich  isi^). 
Etwas  darüber  hinausgehend  ist  die  Erzählung  des  Plutarch,  der  in 
seinem  Gastmahle  Thaies  mit  anderen  über  den  König  Amasis  von 


*)  Proklus  (ed.  Priedlein)  260,  299,  362,  167.  *)  Diogenes  Lae^tius  I, 
i4— 26.  8)  Diogenes  Laertius  I,  27.  *)  Plinius,  Histona  naturalis  XXXVI, 
12,  17. 


Thaies  und  die  älteste  griechische  Geometrie.  139 

Ägypten  sich  unterhalten  läßt.  Nilozenus  äußert  sich  bei  dieser 
Gelegenheit:  Obschon  er  auch  um  anderer  Dinge  willen  Dich  be- 
wundert^ so  schätzt  er  doch  über  alles  die  Messung  der  Pyramiden, 
daß  Du  nämlich  ohne  alle  Mühe  und  ohne  eines  Instrumentes  zu 
bedürfen,  sondern  indem  Du  nur  den  Stock  in  den  Endpunkt  des 
Schatten  stellst,  den  die  Pyramide  wirft,  aus  den  durch  die  Berührung 
des  Sonnenstrahls  entstehenden  zwei  Dreiecken  zeigest,  daß  der  eine 
Schatten  zum  andern  dasselbe  Verhältnis  hat  wie  die  Pyramide  zum 
Stock  1). 

Aus  diesen  der  Zahl  und  der  unmittelbaren  Bedeutung  nach  ge- 
ringfügigen Angaben  ein  yollständiges  Bild  von  dem,  was  Thaies  aus 
Ägypten  mitbrachte,  yon  dem,  was  er  selbst  dazu  erfunden  hat,  zu 
gewinnen  ist  schwer,  und  war  doppelt  schwer,  solange  die  ägyptische 
Mathematik  in  tiefes  Dunkel  gehüllt  war.  So  kam  es,  daß  dem  einen 
bewiesen  schien,  die  Ägypter  hätten  yon  Winkeln  nichts  gewußt,  und 
Thaies  sei  der  Erste  gewesen,  der  eine  Winkelgeometrie  ersann;  daß 
ein  zweiter  ein  Verdienst  des  Thaies  darin  fand,  daß  er  eine  Linien- 
geometrie in  dem  Sinne  schuf,  daß  er  das  Verluiltnis  der  Linien  einer 
Figur  ins  Auge  faßte,  während  den  Ägyptern  nur  die  praktische 
Geometrie  der  Flächenausmessung  bekannt  gewesen  sei;  daß  ein  dritter 
nicht  Anstand  nahm  Thaies  und  die  älteren  Griechen  überhaupt  fast 
jeden  Erfinderrechtes  fQr  yerlustig  zu  erklären  und  ihr  ganzes  geome- 
trisches Wissen  für  Ägypten  zurückzufordern;  daß  ein  yierter  an  die 
entgegengesetzte  Grenze  streifend  es  für  gleichgültig  hielt,  ob  Thaies 
überhaupt  Ägypten  besucht  habe  oder  nicht,  weil  er  Geometrisches 
in  nennenswerter  Menge  yon  dort  nicht  habe  mitbringen  können. 
Diese  eine  weite  Kluft  zwischen  den  Streitenden  offen  lassenden  Gegen- 
sätze, welche  wir  hier  erwähnen,  welche  aber  nicht  bei  den  Unter- 
suchungen über  Thaies  allein  sich  zeigten,  sondern  überall,  wo  es  um 
durch  bestimmte  Persönlichkeiten  yermittelte  Übertragung  orienta- 
lischer Wissenschaft  nach  Griechenland  sich  handelte,  müssen  gegen- 
wärtig sich  einander  wesentlich  nähern,  nachdem  das  Übungsbuch  des 
Ahmes  uns  zu^Lnglich  gemacht  ist.  Man  wird  nicht  mehr  leugnen 
wollen,  daß  yieles  yon  dem,  was  die  Anfänge  der  griechischen  Geometrie 
bildet,  ägyptischen  Lehren  yerdankt  sein  kann;  man  wird  yon  der 
anderen  Seite  des  gewaltigen  Unterschiedes  sich  bewußt  bleiben,  der 
zwischen  ägyptischem  und  griechischem  Denken  auch  bei  Gleichheit 
des  Gegenstandes  des  Denkens  obwaltete. 

Wird  z.  B.  irgendwer,  der  an  das  Seqt  genannte  Verhältnis,  an 
das  Ähnlichmachen  der  Ägypter  (S.  99)  sich  erinnert,  der  dieses  selbe 

')  Plutarch  Vol.  2,  m,  pag.  174  ed.  Didot. 


140  6.  Kapitel. 

Yerhäliiiiis  mit  Notwendigkeit  in  gleicher  Größe  entstehen  sieht  ^  ob 
man  von  dem  einen  Endpunkte  der  Grundfläche^  ob  yon  dem  ent- 
gegengesetzten aus  die  betreffenden  Messungen  yomimmt^  wird  ein 
solcher  zweifeln  können,  daß  die  Gleichheit  der  Winkel  an  der  Grund- 
linie des  gleichschenkligen  Dreiecks  den  Schülern  des  Ahmes  bekannt 
sein  konnte,  wenn  nicht  bekannt  sein  mußte?  Thaies  wußte  und 
sagte  es  zuerst,  d.  h.  er  zuerst  sagte  es  seinen  Landsleuten,  und  mutet 
uns  die  altertümliche  Ausdrucksweise  „ähnliche  Winker^  statt  gleicher 
Winkel,  deren  er  sich  dabei  bediente,  nicht  an  wie  eine  Übersetzung 
von  Seqt? 

Wir  fragen  weiter:  £ann  nach  Betrachtung  der  vielfach  ge- 
teilten Kreise  auf  ägyptischen  Wandgemälden  ein  Zweifel  daran  ob- 
walten, daß  auch  die  Wahrheit,  daß  der  Durchmesser  die  Kreisfläche 
zu  Hälften  teile,  in  Ägypten  gelernt  werden  konnte?  Ja  sogar  einen 
Beweis  dieser  Wahrheit,  der,  wie  uns  gerühmt  wird,  von  Thaies  zu- 
erst geführt  worden  sei,  möchten  wir  den  Ägyptern  nicht  gerade  ab- 
sprechen, wenn  auch  die  Art  des  Beweises  dort  eine  andere  gewesen 
sein  mag  als  in  dem  Munde  von  Thaies. 

Wir  stehen  hier  an  dem  Pimkte,  von  welchem  aus  die  Ver- 
schiedenheit ägyptischen  und  griechischen  Denkens,  welche  wir  oben 
betonten,  uns  deutlicher  bemerkbar  wird.  Das  Mathematikerverzeichnis 
sagt  uns  von  Thaies,  das  eine  habe  er  allgemeiner,  das  andere  sinn- 
lich faßbarer  gemacht.  Es  will  uns  scheinen,  als  sei  damit  gerade  die 
griechische  und  zugleich  ägyptisierende  Form  seiner  Leistungen  ge- 
kennzeichnet. Als  Grieche  hat  er  verallgemeinert,  als  Schüler  Ägyptens 
sinnlich  erfaßt,  was  er  dann  den  Griechen  wieder  faßbar  gemacht  hat. 
Es  war  eine  griechische  Stammeseigentümlichkeit  den  Dingen  auf  den 
Grund  zu  gehen,  vom  praktischen  Bedürfnisse  zu  spekulativen  Er- 
örterungen zu  gelangen.  Nicht  so  den  Ägyptern.  Wir  glauben  zwar 
nicht,  daß  die  Ägypter  jegliche  Theorie  entbehrten,  wir  haben  schon 
früher  (S.  113)  das  Gegenteil  dieser  Annahme  ausgesprochen;  aber  wir 
haben  dort  auch  gesagt,  wie  wir  ägyptische  Theorie  uns  denken:  als 
wesentlich  induktive,  während  die  Geometrie  der  Griechen  deduktiver 
Natur  ist.  Der  Ägypter  könnte  einen  Beweis  des  Satzes,  daß  der 
Durchmesser  den  Kreis  halbiere  durch  die  bloße  Figur,  oder  vielleicht 
durch  Berechnung  der  Flächen  beider  Halbkreise  nach  derselben  mög- 
licherweise unverstandenen  Vorschrift  als  vollständig  geführt  erachtet 
haben.  Der  Grieche  würde  sich  allenfalls  mit  der  Figur  begnügt 
haben,  wenn  auch  der  Beweis  des  Thaies  uns  in  keiner  Andeutung 
bekannt  ist  So  zeigt  sich,  auch  in  den  Beweisen,  eine  Abhängigkeit 
der  griechischen  Geometrie  von  der  ägyptischen,  die  sich  lange  erhielt. 
Die  griechische  Deduktion  war  bei  ihrem  Beginne  selbst  induktiv.    Sie 


Thaies  und  die  älteste  griechische  Geometrie.  141 

war  gewohnt  von  dem  Vielen  zum  Einen,  von  der  Unterscheidung  zahl- 
reicher Falle  zum  allgemein  gültigen  Satze  überzugehen.  Sie  blieb 
deduktiv,  sofern  sie  nicht  unterließ  jeden  Einzelfall  aus  sich  heraus 
zu  gestalten,  ihn  nicht  der  Erfahrung,  der  sinnlichen  Anschauung  zu 
entnehmen. 

Fassen  wir  mit  Bezug  auf  Thaies  zusammen,  was  wir  hier  in 
allgemeinerer  Erörterung,  deren  nur  persönliche  Gültigkeit  wir  be- 
haupten, die  also  Andersmeinenden  eine  eigentliche  Beweiskraft  kaum 
besitzen  dürften,  zu  begründen  suchten,  so  gelangen  wir  dahin,  die 
wissenschaftliche  Bedeutung  des  Thaies  nicht  in  der  Anzahl  der  Sätze 
zu  finden,  welche  er  selbst  entdeckte,  sondern  in  dem  Anstoß  zu 
geometrischen  Studien,  den  er  gab,  nebst  den  Anfangen  deduktiver 
Behandlung,  welche  er  lehrte.  Daß  wir  übrigens  von  so  wenigen 
Sätzen  nur  wissen,  deren  Urheberschaft  in  mehr  oder  weniger  be- 
stimmter Weise  auf  Thaies  zurückgeführt  wird,  kann  auf  zwei  ver- 
schiedenen Umständen  beruhen.  Einmal  ist  nur  über  das  erste  Buch 
der  euklidischen  Elemente  ein  fortlaufender  Kommentar  des  Proklus 
auf  uns  gekommen.  Wir  können  also  nur  erwarten  durch  denselben 
über  die  Urheberschaft  von  Sätzen  jenes  ersten  Buches  mit  Bestimmt- 
heit aufgeklärt  zu  werden,  während  Thaies  gar  wohl  Sätze  der  fol- 
genden Bücher  gekannt  haben  könnte,  ohne  daß  wir  berechtigt  wären 
Proklus  das  Stillschweigen  darüber  in  dem  auf  uns  gelangten  Kom- 
mentare zu  verübeln.  Zweitens  aber  msg  in  der  Tat  das,  was  Thaies 
in  Ägypten  sich  anzueignen  imstande  war,  nicht  alles  umfaßt  haben, 
was  die  Ägypter  selbst  wußten,  er,  dem,  wie  die  Berichte  uns  sagten^), 
niemand  Lehrer  war,  bevor  er  mit  den  ägyptischen  Priestern  verkehrte, 
der  sich  erst  später  und  gegen  das  Greisenalter  hin  mit  Naturkunde 
befaßte. 

Man  hat  aus  den  Sätzen,  welche  als  thaletisch  überliefert  sind, 
Schlußfolgerungen  auf  solche,  die  Thaies  bekannt  gewesen  sein  müssen, 
gezogen.  Der  letzte  Forscher  auf  diesem  Gebiete*)  insbesondere  hat 
mit  großem  Aufwände  von  Scharfsinn  entwickelt,  die  Summe  der 
Dreieckswinkel  müsse  dem  Thaies  bekannt  gewesen  sein.  Wenn 
nämlich  Thaies  den  Satz  von  den  Winkeln  eines  gleichschenkligen 
Dreiecks  und  den  vom  rechtwinkligen  Dreiecke  im  Kreise  kannte, 
wenn  ihm,  wie  dieser  selbe  Satz  und  der  von  der  Halbierung  des 
Kreises  durch  den  Durchmesser  bezeugen,  die  Definition  des  Kreises 
bekannt  war,  so  mußte  ihm,  meint  AUman,  etwa  folgende  Betrachtung 
gelingen.     Er  werde  von  dem  Kreismittelpunkt  0  aus  (Fig.  16)  eine 


*)  Diogenes  Laertins  I,  27  und  Themistios,  Orat.  XXVI,  pag.  317. 
^  G.  J.  Allman,  Greek  geometry  from  Thaies  to  Euclid  (1889)  pag.  11. 


142  5.  Kapitel. 

Linie  OC  nach  der  Spitze  des  rechten  Winkele  im  Halbkreise  ge- 
zogen haben.  Aus  den  beiden  gleichschenkligen  Dreiecken  ÄCO  und 
BCO  sei  die  Gleichheit  der  Winkel  CäO^  ACO  und  CBO  -  BCO, 
mithin  auch  der  Summe  CAO  +  CBO -^  ÄCO  +  BCO  -^  ACB  her- 
vorgegangen; er  habe  aber  gewußt^  daß  ACB 
ein  rechter  Winkel  sei  und  demgemäß  die 
Summe  der  Winkel  bei  A,  bei  B  und  bei  C 
als  zwei  Rechten  gleich  gefanden.  Wir  haben 
dem  Scharfsinne  des  Wiederherstellers  unsere 
Anerkennung  gezollt,  wir  sind  auch  geneigt 
von  seinen  Schlüssen  einige  uns  anzueignen, 
allein  wit  möchten  die  umgekehrte  Reihenfolge  ftir  richtiger  halten. 
Wir  nehmen  an  und  wollen  nachher  begründen,  auf  welche  Über- 
lieferung hin  wir  zu  dieser  Annahme  uns  bekennen,  Thaies  habe 
gewußt,  daß  die  Dreieckswinkel  zusammen  zwei  Rechte  betragen,  er 
habe  auch  gewußt,  daß  die  Winkel  an  der  Grrundlinie  des  gleich- 
schenkligen Dreiecks  einander  gleich  sind,  dann  mag  ihn  höchst  wahr- 
scheinlich eine  Zeichnung  wie  Figur  16  zur  Erkenntnis  geführt  haben, 
daß  der  Winkel  bei  C  so  groß  sein  müsse  als  die  Summe  der  Winkel 
bei  A  und  J3,  mithin  so  groß  als  die  halbe  Winkelsumme  des  Dreiecks 
ABCy  oder  gleich  einem  rechten  Winkel. 

unsere  Beweggründe  sind  folgende.  An  und  für  sich  sind  beide 
Sätze,  der  von  der  Winkelsumme  des  Dreiecks,  der  vom  rechten  Winkel 
im  Halbkreise,  schon  ziemlich  künstlicher  Natur,  nicht  auf  den  ersten 
Anblick  einleuchtend.  Der  eine  wie  der  andere  bedurfte  einer  wirk- 
lichen Entdeckung  und  eines  Beweises;  wenn  also  eine  gegenseitige 
Abhängigkeit  beider  Sätze  stattzufinden  scheint,  so  ist  es  von  vorn- 
herein ebensogut  möglich  dem  einen  als  dem  andern  das  höhere  Alter 
zuzuschreiben.  Nun  findet  sich  aber  ein  Beweis  des  Satzes  vom 
rechten  Winkel  im  Halbkreise  bei  Euklid  Buch  IH  Satz  31  vor, 
welcher  dem  von  uns  vermuteten  sehr  ähnlich  ist.  Eine  Zusammen- 
stellung wie  die  euklidischen  Elemente  ist  aber,  so  genial,  so  ge- 
dankenreich ihr  Verfasser  sein  mag,  durch  ihren  Inhalt  selbst  darauf 
hingewiesen  wesentlich  kompilatorisch  zu  sein,  und  so  ist  es  gar  nicht 
unmöglich,  daß  auch  bei  diesem  Satze  Euklid  der  altertümlichen  Be- 
weisführung treu  blieb,  ohne  daß  wir  davon  unterrichtet  sind,  weil 
ein  alter  Kommentar  zum  IH.  Buche  nicht  vorhanden  ist.  Dazu 
kommt  als  weitere  Tatsache,  daß  wir  über  die  älteste  Beweisführung 
des  Satzes  von  der  Winkelsumme  im  Dreiecke  Bescheid  wissen,  und 
daß  diese  auch  nicht  entfernt  den  Schlußfolgerungen  gleicht,  welche 
nach  AUmans  Meinung  Thaies  gezogen  haben  soU. 

öeminus,  ein  Mathematiker  des  letzten  Jahrhunderts  vor  Christus, 


Thaies  und  die  älteste  griecliische  Geometrie.  143 

erzaMt  in  einem  bei  einem  noch  späteren  Schriftsteller^  Eutokins  von 
Askalon^  erhaltenen  Brachstücke^  daß  „von  den  Alten  für  jede  be- 
sondere Form  des  Dreiecks  das  Theorem  der  zwei  Rechten  besonders 
bewiesen  ward,  zuerst  f&r  das  gleichseitige,  sodann  f&r  das  gleich- 
schenklige, nnd  endlich  f£Lr  das  ungleichseitige,  während  die  Späteren 
das  allgemeine  Theorem  bewiesen:  die  drei  Innenwinkel  jedes  Dreiecks 
sind  zweien  Bechten  gleich''^). 

Wir  werden  nun  bald  sehen/  daß  die  Späteren,  von  welchen 
Geminus  redet,  nicht  gar  lange  nach  Thaies  gelebt  haben,  daß  also 
die  Alten  im  Gegensatze  zu  jenen  auf  die  thaletische  Zeit,  wenn  nicht 
gar  auf  die  ägyptischen  Lehrer  des  Thaies  gedeutet  werden  müssen. 
Die'  Andeutungen  des  Geminus  über  diesen  ältesten  Beweis  haben 
dem  Scharfblicke  Hankels  die  Möglichkeit  gegeben,  den  älteren  Beweis 
wiederherzustellen*).  Seine  Gedanken  darüber  sind,  nur  wenig  abge- 
ändert, folgende.  Den  Figuren  gemäß,  welche  wir  bei  den  Ägyptern 
fanden,  war  dort,  vielleicht  aus  asiatischer  Quelle,  seit  dem  XVII.  S. 
y.  Chr.  die  Zerlegung  der  Ej-eisfiäche  in  sechs  gleiche  Ausschnitte  be- 
kannt. An  diese  Figur  dachten  wir  oben,  als  wir  die  Kenntnis  des 
Satzes,  daß  ein  Durchmesser  den  Kreis  halbiere,  für  die  Ägypter  in 
Anspruch  nahmen  und  die  Figur  selbst  als  Beweis  dienen  Ueßen. 
Verband  man  die  Endpunkte  der  Halbmesser  miteinander,  so  entstand 
das  regelmäßige  Sechseck,  oder  vielmehr  sechs  um  den  Mittelpunkt 
geordnete  gleichseitige  Dreiecke,  die  den  ebenen  •  Baum  um  jenen 
Mittelpunkt  herum  vollständig  ausfüllten.  Drei  dieser  Winkel  bildeten 
vereinigt  einen  gestreckten  Winkel,  wie  der  Augenschein  lehrte,  und 
vertraute  man  weiter  dem  Augenscheine  für  die  Tatsache,  daß  jeder 
Winkel  des  gleichseitigen  Dreiecks  dem  anderen  gleich 
war,  so  hatte  man  jetzt  den  ersten  Fall  des  Berichtes 
von  Geminus  erledigt:  die  Winkel  des  gleichseitigen 
Dreiecks  betragen  zusammen  zwei  Bechte.  Demnächst 
mochte  man  (Fig.  17)  die  Zerlegbarkeit  des  gleich- 
schenkligen Dreiecks  in  zwei  Hälften,  welche  zu  einem  ^^-  ^^- 
Bechtecke  sich  ergänzen,  erkennen  und  wieder  lehrte  der  Augen- 
schein, daß  bei  einem  derartigen  Vereinigen  der  zwei  Dreieckshälften 
vier  rechte  Winkel  erschienen,  von  welchen  zwei  aus  den  ursprüng- 
lichen Winkeln  des  gleichschenkligen  Dreiecks,  von  denen  nur  einer 
in  Gestalt  zweier  Hälften  auftrat,  sich  zusammensetzten.  Jetzt  fehlte 
nur  noch  der  dritte  und  letzte  Schritt.  Ein  beliebiges  Dreieck  wurde 
(Fig.  18)    als  Summe   der  Hälften   zweier  Rechtecke  gezeichnet,    so 


*)   Apollonii   Pergaei    Conica    (ed.   Halley),   Oxford    1710,    pag.  9. 
*)  Hankel  S.  96—96. 


144  5.  Kapitel. 

erschienen  drei  den  ursprünglichen  Dreieckswinkeln  gleiche  Winkel 
an  der  Spitze  des  Dreiecks  zu  einem  gestreckten  Winkel  vereinigt. 

Eine  Spur  dieses  ältesten  BeweisyerfahrenS;  wie  es  Geminus  uns 
schildert,  hat  sich  auf  griechischem  Boden  bei  einem  sehr  späten 
Praktiker  erhalten.  Ein  anonymer  Feldmesser  des  X.  S.,  der  nachweis- 
lich sein  Buch  aus  ungefähr  1000  Jahre  alten  Musterwerken  zusam- 
menschrieby  sagt  ausdrücklich:  Daß  aber  jedes  durch  Einbildung  oder 
Wahrnehmung  zugängliche  Dreieck  die  drei  Winkel  in  der  Größe 
von   zwei   Rechten    besitzt,    ist    daher    offenbar,    daß   jedes  Viereck 

seine  Winkel  rier  Rechten  gleich  besitzt  und 
durch  die  Diagonale  in  zwei  Dreiecke  mit 
sechs  Winkeln  geschieden  wird^). 

Eigentliche  Beweisführung  wird  man  solche 
^*"  *^"  Zeichnungen  gewiß  nicht  nennen.  Sie  bewirkten 

nichts,  als  daß  der  Augenschein  induktiv  wirkend  eine  Überzeugung 
herbeiführte.  War  die  Überzeugung  gebildet,  so  begnügte  sich  damit 
die  ältere  Zeit,  die  spätere  suchte  nach  weiterer  Begründung.  Noch 
für  andere  Sätze,  welche  in  Verbindung  mit  dem  Namen  des  Thaies 
auftreten,  möchten  wir  den  Augenschein  als  damals  einzigen  Beweis 
auffassen.  Der  Augenschein  wird  dem  Satze  von  den  Winkeln  an 
der  Grundlinie  des  gleichschenkligen  Dreiecks,  wird  dem  von  den 
Scheitelwinkeln  den  Ursprung  gegeben  haben;  und  eine  Unterstützung 
dieser  Behauptung  dürfte  in  der  Angabe  des  Eudemus  liegen,  daß 
Thaies  den  Satz  von  den  Scheitelwinkeln  erkannt,  Euklid  ihn  eines 
Beweises  wert  geachtet  habe*). 

Wir  gehen  in  der  Durchsprechung  der  Dinge,  welche  aus  den 
Überlieferungen  der  thaletischen  Geometrie  zu  folgern  sind,  weiter. 
Man  hat^)  aus  der  Kenntnis  des  Satzes  vom  rechten  Winkel  im 
Halbkreise  auf  das  damals  schon  vorhandene  Bewußtsein  dessen,  was 
man  später  geometrischen  Ort  nannte,  geschlossen.  Wir  begnügen 
uns  solches  zu  erwähnen,  ohne  es  uns  aneignen  zu  können.  Wir 
verbinden  dagegen  zu  einem  einheitlichen  Gedanken  die  Schatten- 
messung und  die  Bestimmung  eines  Dreiecks  durch  eine  Seite 
und  die  beiden  anliegenden  Winkel.  Beides  waren  praktische 
Ausführungen,  sofern  das  Dreieck,  wie  uns  gesagt  ist,  zur  Bestimmung 
von  Schiffsentfemungen  dient.  Beide  beruhten  auf  der  Anwendung 
eines  rechtwinkligen  Dreiecks.  Das  eine  Mal  wurden  die  Katheten 
jenes  Dreiecks   gebildet   durch   den   Stab    und   seinen   Schatten,   das 


^  Notices  et  extraits  des  manuscrits  de  la  hiblioth^ue  Imp&idU  de  PariSj 
Tom.  XEX,  Partie  2,  pag.  868.  *)  Proklus  (ed.  Friedlein),  pag.  299.  »)  AUman, 
1.  c,  pag.  13->14. 


Thaies  und  die  älteste  griechische  Geometrie.  14Ö 

andere  Mal  (Fig.  19)  durch  die  Warte,  von  welcher  aus  die  Beob- 
achtung angestellt  wurde,  und  die  Entfernung  des  Schiffes  ^).  Trennend 
ist  zwischen  beiden  Aufgaben  der  Umstand,  daß  in  dem  einen  Falle 
die  Schattenlänge  selbst  gemessen,  in  dem  anderen  die  Schififsentfer- 
nung  aus  dem  beobachteten  Winkel  erschlossen  werden  mußte.  Beide 
Aufgaben  waren  einem  Schüler  ägyptischer  Geometrie  zugänglich.  Sie 
sind  nahe  verwandt  dem  Finden  des  Seqt  aus  gegebenen  Seiten,  dem 
Finden  der  einen  Seite  aus  der  anderen  mit  Hilfe  des  Seqt. 

Zu  einer  Früheres  ergänzenden  notwendigen  Bemerkung  gibt 
übrigens  die  Schattenmessung  des  Thaies,  welche  ihm  in  zu  wieder- 
holter Beglaubigung  zugeschrieben  wird,  als  daR  wir  Zweifel  in  sie 
setzen  könnten,  Anlaß.  Mag 
die  Schattenmessung  nach 
der  einfacheren  oder  nach 
der  dem  Gedanken  nach 
zusammengesetzteren  von 
den  beiden  berichteten 
Methoden  erfolgt  sein,  mag 
sie  ein  bloßes  Messen  der  ^*«  ^^• 

der  gesuchten  Höhe  gleichen  Schattenlange  oder  das  Berechnen  eines 
Verhältnisses  gegebener  Zahlen  nötig  gemacht  haben,  eines  setzt  sie 
unter  allen  Umständen  voraus:  die  Übung,  den  von  einem  senkrecht 
aufgestellten  Gegenstande  geworfenen  Schatten  wirklich  abzumessen. 
Damit  vervollständigen  sich  unsere  früheren  Mitteilungen  (S.  50) 
über  den  Gnomon,  seine  Erfindung  und  Übertragung.  Wir  haben  da- 
mals erwähnt,  daß  der  eigentliche  Gnomon  nach  Herodot  in  Babylon 
zu  Hause  war,  daß  gleichfalls  nach  Osten  der  Name  des  Berosus  hin- 
weist, daß  die  Bekanntschaft  der  Hebräer  mit  dem  Stundenzeiger  alt 
verbürgt  ist.  Neu  tritt  jetzt  hinzu,  daß  auch  in  Ägypten  Schatten 
gemessen  wurden,  eine  Überlieferung,  welche  mit  jener  ersteren  keines- 
wegs in  Widerspruch  steht.  Wir  haben  mehrfach  schon  mathematische 
Zeugnisse  alter  Verbindungen  zwischen  Nil-  und  Euphratländern  an- 
führen dürfen;  hier  ist  vielleicht  wieder  ein  solches,  und  überdies  ist 
es  noch  immer  nicht  das  Gleiche,  wenn  an  einem  Orte  der  Schatten 
zu  geometrischen  Zwecken  gemessen  wurde,  am  anderen  zu  Herstellung 
einer  Schattenuhr  diente. 

Wir  haben  auch  schon  den  Mann  genannt,  der  die  Schattenuhr 
den  Griechen  bekannt  machte.  Anaximander  von  Milet  war  es, 
welcher  Favorinus  zufolge^  zuerst  eine  solche  in  Lakedämon  auf- 
stellte; während  wohl  durch  ein  Mißverstöndnis  genau  dasselbe  durch 

*)  Bretschneider  S.  43—46.     *)  Diogenes  Laertius  II,  1. 

Cahtor,  Geschichte  der  Mathematik  I.    3.  Aufl.  10 


146  6-  Kapitel.    Thaies  und  die  älteste  griechische  Geometrie. 

Plinius^)  dem  Anazimenes,  dem  Schüler  des  Anaximander  nachge- 
rühmt wird.  Anaximander  war  611  geboren  und  wnrde  Schüler  des 
Thaies,  als  dieser  in  der  Heimat  sich  niederließ,  wofür  wir  etwa  das 
Jahr  586  anzunehmen  durch  die  vorausgesagte  Sonnenfinsternis  Ver- 
anlassung haben.  Anaximander  starb  kurz  nachdem  er  64  Jahre  alt 
geworden  war,  also  etwa  545.  Ein  Lexikograph  Suidas  berichtet  von 
ihm,  er  habe  nächst  der  Einführung  des  Gnomon  vollständig  eine 
Hypotyposis  der  Geometrie  gezeigt*).  Wir  begnügen  uns  mit 
der  Wiedergabe  des  griechischen  Wortes,  mit  welchem  wir  bei  dem 
Fehlen  jeder  deutlicheren  Angabe  nichts  anzufangen  wissen.  Es  ist 
ja  richtig,  daß  Hypotyposis  durch  „bildliche  Darstellung''  übersetzt 
werden  darf,  ohne  daß  eine  sprachliche  Einrede  erhoben  würde;  es 
ist  auch  möglich,  daß  die  Meinung  sei,  Anaximander  habe  eine  „Reiß- 
kunst'' geschrieben,  d.  h.  eine  Angabe  geometrischer  Konstruktionen 
ohne  Begründung  derselben *);  aber  mehr  als  eine  schwache  Möglich- 
keit liegt  nicht  vor.  Am  wahrscheinlichsten  klingt  die  Übersetzung 
Hypotyposis  -=»  Abriß,  Grundzüge,  in  welcher  Bedeutung  das  Wort 
auch  anderwärts  vorkommt*). 

Jedenfalls  hat  das  alte  Mathematikerverzeichnis  von  dieser  geo- 
metrischen Tätigkeit  des  zweiten  ionischen  Naturphilosophen  nicht 
Notiz  genommen.     Es  fährt  nämlich  fort: 

„Nach  ihm  (Thaies)  wird  Mamerkus,  der  Bruder  des  Dichters 
Stesichorus,  als  ein  eifriger  Geometer  erwähnt;  auch  berichtet  Hippias 
der  Eleer  von  ihm,  daß  er  sich  als  Geometer  Ruhm  erworben  habe.'^ 

Diese  Persönlichkeit  ist  ein  so  untrügliches  Zeugnis  für  die  Ver- 
gänglichkeit irdischen  Ruhmes,  wie  kaum  eine  zweite,  denn  wir  kennen 
heute  von  dem  gerühmten  Geometer  nicht  einmal  mehr  den  Namen 
mit  einiger  Sicherheit.  Wir  haben  hier  Mamerkus  nach  der  Lesart 
der  gegenwärtig  allgemein  benutzten  letzten  Ausgabe  des  Proklus 
geschrieben^).  Andere  nennen  den  Bruder  des  Stesichorus  Mamer- 
tinus,  noch  andere  Ameristus.  Ein  wegen  seiner  Ungenauigkeit 
berüchtigter  mathematischer  Historiker  des  XVH.  S.,  Milliet  Dechales, 
macht  sogar  zwei  berühmte  Geometer  aus  ihm,  einen  Mamertinus 
imd  einen  Amethistus.     Wir  begnügen  uns  mit  dem  Eingeständnisse 

*)  Plinius,  Historia  naturalis  11,  76.  ")  Suidas  s.  v.  Anaximandros: 
yvd}y,ovd  X  slai^Yocys  xal  oXqds  ycm^rpiaff  inotweaaiv  iiti^ev.  ')  Bretschneider 
S.  62  teilweise  nach  Roth,  Geschichte  der  abendländischen  Philosophie  11,  182. 
Friedlein,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Mathematik  II,  Hof  1872,  S.  16,  über- 
setzt :  er  gab  eine  bildliche  Darstellung  der  ganzen  Geometrie  heraus.  *)  W.  S  c  h m i  d  t 
(Bericht  über  griechische  Mathematiker  und  Mechaniker  1890—1901)  yerweist  dafür 
auf  Pro  kl  OS  {vTtoxvnataig  xoiv  ccargovotiixätv  ino^iffsoov  =  Abriß  der  astronomischen 
Voraussetzungen)  und  auf  SextusEmpiricus  {IIvQQmvHoi  (>norv7cmaeig  =  Grund- 
züge des  Pyrro).     *)  Proklus  (ed.  Friedlein)  p.  65,  lin.  12. 


6.  Kapitel.    Pythagoras  und  die  Pythagoräer.   Arithmetik.  147 

gar  nichts  von  ihm  zn  wissen.  Der  Bruder  Stesichorus  ist  eine  be- 
kanntere Persönlichkeit.  Er  starb  um  560  im  Alter  von  85  Jahren 
und  stammte  aus  Himera  in  Sizilien.  Jedenfalls  weist  also  die  geo- 
metrische Tätigkeit  des  Bruders  des  Dichters  uns  darauf  hin^  daß  der 
Oeschmack  an  Wissenschaft,  an  Geometrie  insbesondere,  seit  Thaies 
die  Anfänge  aus  Ägypten  mitgebracht  hatte,  weitere  Verbreitung  ge- 
wann, daß  die  Zeit  jetzt  nahte,  wo  in  Sizilien  und  in  ünteritalien 
eine  schulmäßige  Beschäftigung  mit  unserer  Wissenschaft  ihre  gedeih- 
liche Wirkung  äußern  konnte  unter  der  Leitung  eines  Mannes,  der 
eben  dort  seine  Studien  machte,  wo  auch  Thaies  in  die  Geometrie 
eingeweiht  worden  war. 

Thaies  hat  also  nebst  seinen  nächsten  ionischen  Nachfolgern  für 
uns  die  Bedeutung,  daß  man  durch  ihn  in  Erfahrung  gebracht  hatte, 
wo  Geometrie  zu  Hause  sei;  daß  von  ihm  die  ersten  der  Zahl  nach 
geringen,  der  Anwendung  nach  schon  wertvollen  Sätze  der  Geometrie 
bekannt  gemacht  wurden;  daß  von  ihm  eine  etwas  strengere  Beweis- 
führung ausging;  daß  er  endlich  eine  Schule  gründete,  die  der  Wissen- 
schaft diente  und  nicht  Staatsleben  und  Geldverdienst  allein  als  die 
Dinge  ehrte,  denen  ein  Mann  seine  Kräfte  widmen  konnte.  In  allen 
diesen  Richtungen  können  wir  den  Mann  als  seinen  Nachfolger  be- 
trachten, dem  wir  jetzt  uns  zuwenden:  Pythagoras  von  Samos. 


6.  Kapitel. 
Pythagoras  und  die  Pythagoräer.     Arithmetik. 

„Nach  diesen  yerwandelte  Pythagoras  die  Beschäftigung  mit 
diesem  Wissenszweige  in  eine  wirkliche  Wissenschaft,  indem  er  die 
Grundlage  derselben  von  höherem  Gesichtspunkte  aus  betrachtete  und 
die  Theoreme  derselben  immaterieller  und  intellektueller  erforschte. 
Er  ist  es  auch,  der  die  Theorie  des  Irrationalen  und  die  Konstruktion 
der  kosmischen  Körper  erfand." 

Pythagoras  von  Samos,  über  welchen  wir  soeben  das  alte 
Mathematikerverzeichnis  haben  reden  lassen,  war  Sohn  des  Mnesarchus. 
Er  gründete  in  den  dorisch  bevölkerten  Städten  von  Süditalien,  in 
dem  sogenannten  Großgriechenland,  eine  Schule,  die  zahlreiche  An- 
hänger versammelte  und  so  geschlossen  auftrat,  eine  solche  auch 
politische  Bedeutung  gewann,  daß  sie  die  Feindschaft  der  außerhalb 
der  Schule  Stehenden  auf  sich  zog  und  gewaltsam  zersprengt  wurde. 

Diese  Tatsachen  stehen  nach  den  Aussprüchen  säAtlicher  alten 
Berichterstatter  allzu  fest,  als  daß  sie  auch  nur  von  einem  einzigen 

10* 


148  6.  Kapitel. 

neueren  Geschichtsschreiber  angefochten  würden.  In  jeder  anderen 
Beziehung  aber  herrschen  über  das  Leben  des  Pythagoras,  über  seine 
Lehre,  über  das  was  man  ihm,  was  man  seinen  Schülern  zuzuschreiben 
habe,  die  allergrößten  Meinungsverschiedenheiten.  Greifen  wir  nur 
einige  gewiß  wichtige  Punkte  heraus:  das  Geburtsjahr  des  Pytha- 
goras,  das  Jahr  seiner  Ankunft  in  Italien,  sein  Todesjahr,  die  Zeit, 
zu  welcher  die  Schule  zersprengt  wurde,  das  alles  liegt  im  Wider- 
streite der  Meinungen.  Wenn  ein  Forscher*)  Pythi^oras  569  ge- 
boren, 510  in  Italien  aufgetreten,  470  bei  dem  gegen  die  Schule  ent- 
brannten Aufstande  umgekommen  sein  läßt,  sagt  uns  ein  anderer 
Forscher*),  die  Geburt  habe  um  580,  die  Ankunft  in  Italien  um  540 
stattgefunden,  Pythagoras  sei  um  500  gestorben,  die  Schule  erst  ein 
halbes  Jahrhundert  später  zersprengt  worden.  Ahnliche  Gegensätze 
treten  in  allen  Äußerungen  derselben  Gelehrten  über  Pythagoras  und 
die  Pythagoräer  hervor,  und  wir  können  diese  Gegensätze  so  ziem- 
lich auf  einen  einzigen  grundsätzlichen  zurückführen.  Der  erste  Ge- 
lehrte, dessen  Datierungen  wir  angaben,  ging  von  dem  Bestreben  aus, 
die  überreichen  Mitteilungen,  welche  erst  in  nachchristlichen  Jahr- 
hunderten von  griechischen  Schriftstellern  in  Form  spannender  aber 
romanartiger  mit  Wundergeschichten  reichlich  durchsetzter  Bücher 
zusammengestellt  wurden,  nach  Ausscheidung  dessen,  was  augenschein- 
lich sagenhafte  Erfindung  war,  zu  benutzen.  Der  zweite  verwirft 
jene  Romane  ganz  und  gar,  läßt  höchstens  die  Benutzung  einiger 
weniger  Stellen  derselben  zu,  wo  die  Gewährsmänner  ausdrücklich 
genannt  sind  und  ihre  Nennung  selbst  Vertrauen  verdient.  Beide 
gehen  wohl  in  ihren  polemisch  erprobten  und  dadurch  nur  um  so 
stärker  befestigten  Meinungen  zu  weit,  wenn  wir  auch  heute  gern 
erklären,  daß  wir  uns  in  den  meisten  Punkten  den  Ansichten  des 
Vertreters  derjenigen  Auffassung,  die  man  als  skeptische  bezeichnen 
könnte,  nähern,  wenn  nicht  anschließen.  Für  uns  gibt  es  aber  noch 
einen  Mittelweg,  den  wir  vielfach  an  der  Hand  des  letzten  Bearbeiters*) 
unseres  Gegenstandes  zu  gehen  lieben,  so  weit  überhaupt  die  Ge- 
schichte der  Mathematik  uns  die  Pflicht  auferlegt  über  die  Streit- 
punkte ein  Urteil  auszusprechen. 

Ein  derartiger  Streitpunkt  ist  der  Aufenthalt  des  Pythagoras 
in  Ägypten,  der  von  größter  Bedeutung  für  die  ganze  Entwick- 
lungsgeschichte der  griechischen  Mathematik  ist,  wenn  man  an  ihn 
glaubt,  jene  Geschichte  noch  rätselhafter  macht,  als  sie  vielfach  be- 

*)  Roth,  Geschichte  der  abendländischen  Philosophie.  Bd.  11.  •)  Zell  er  I. 
•)  A.  Ed.  Ghaignet,  Pyihctgore  et  la  phÜosophie  Pythagoricienne  contenant  les 
fragments  de  4PhilolaiM  et  d*Archytas.  Ouvrage  cowronn4  par  VinstütU.  Paris 
1878.     Wir  zitieren  dieses  Werk  kurz  als  Chaignet. 


Pythagorss  und  die  Pythagoräer.    Arithmetik.  149 

reits  erscheint,  wenn  man  ihn  verwirft.  Der  älteste  Bericht  über 
diesen  Aufenthalt,  um  dessen  Glaubwürdigkeit  oder  Unglaubwürdigkeit 
es  sich  begreiflicherweise  in  erster  Linie  handelt,  stammt  von  dem 
Redner  Isokrates,  dessen  schriftstellerische  Tätigkeit  auf  393,  also 
höchstens  etwa  100  Jahre  nach  dem  Tode  des  Pythagoras  und  bevor 
die  Mythenbildung  sich  seiner  Persönlichkeit  bemächtigt  hatte,  fäUt. 
Isokrates  sagt  von  den  ägyptischen  Priestern^):  Man  könnte,  wenn 
man  nicht  eilen  wollte,  viel  Bewunderungswürdiges  von  ihrer  Heilig- 
keit anführen,  welche  ich  weder  allein  noch  zuerst  erkannt  habe, 
sondern  viele  der  jetzt  Lebenden  und  der  Früheren,  unter  denen  auch' 
Pythagoras  der  Samier  ist,  der  nach  Ägypten  kam  und  ihr  Schüler 
wurde  und  die  fremde  Philosophie  zuerst  zu  den  Griechen  verpflanzte. 
Dieser  Stelle  ist  mit  entschiedenem  Zweifel  begegnet  worden*),  der 
auf  den  Inhalt  der  Rede  des  Isokrates  sich  gründet.  Busiris  war 
eine  ägyptische  Stadt  mitten  im  Nildelta,  in  der  große  Isisfeste  ge- 
feiert wurden.  In  Erinnerung  an  die  frühere  Abgeschlossenheit 
Ägyptens  Fremden  gegenüber  hatte  die  griechische  Sage  aber  auch 
einen  König  gleichen  Namens  mit  der  Stadt  erdacht,  der  jeden 
Fremden  schlachten  ließ.  Zur  Zeit  der  Sophisten  liebten  die  griechi- 
schen Rhetoren  sich  mit  Redestückchen  gegenseitig  zu  überbieten, 
Lobreden  auf  Tadelnswerte,  Anklagen  gegen  Vortreffliche  zu  verfassen. 
So  hatte  Polykrates  eine  Apologie  jenes  Busiris  geschrieben,  und  nun 
wollte  Isokrates  dem  Nebenbuhler  zeigen,  wie  er  sein  Thema  eigent- 
lich hätte  behandeln  müssen.  Polykrates,  meint  er,  habe  darin  ge- 
fehlt, daß  er  dem  Busiris  ganz  unglaubliche  Dinge  zugeschrieben 
habe,  einerseits  die  Ableitung  des  Nils,  andererseits  das  Auffressen 
der  Fremden;  dergleichen  werde  man  bei  ihm  nicht  finden.  Wir 
lügen  zwar  beide,  sagt  er  aufrichtig  genug,  aber  ich  mit  Worten, 
welche  einem  Lobenden,  Du  mit  solchen,  welche  einem  Scheltenden 
geziemen.  Aus  diesem  Geständnisse  hat  man  die  Folgerung  gezogen, 
daß  Angäben,  die  sich  selbst  als  rednerische  Erfindung  geben,  nicht 
den  geringsten  Wert  haben.  Diese  Folgerung  ist  aber  nur  da  richtig, 
wo  es  um  rednerische  Erfindung  sich  überhaupt  handeln  kann.  Hätte 
also  Busiris,  dem  Isokrates  lobend  nachlügt,  er  sei  der  Urheber  der 
ganzen  ägyptischen  Kultur  gewesen,  wirklich  gelebt,  wir  würden  doch 
von  jenem  Lobe  nichts  halten.  Sind  wir  deshalb  berechtigt,  auch 
von  der  ägyptischen  Kultur  nichts  zu  halten,  nichts  von  den  ägyp- 
tischen Priestern  als  Trägem  dieser  Kultur?  Das  wünscht  wohl  der 
Zweifelsüchtigste   nicht.      Und  wenn   die    allgemein  anerkannte  Tat- 


*)  Isokrates,  Bueiris  cap.  11.      *)  Die  Zweifel  sind  hier  teilweise  wört- 
lich aus  Zell  er  I,  259  Note  1  entnommen. 


150  6.  Kapitel. 

saehe  ägyptischer  hoher  Bildung  nur  den  unwahren  Zwecken  des 
Isokrates  mittelbar  dienen  soU^  so  hat  es  für  ihn  auch  nur  mittelbare 
Bedeutung^  wenn  er  jener  Tatsache  eine  Stütze  gibt^  wenn  er  sich 
darauf  beruft ,  Pjthagoras  sei  Schüler  dieser  hochgebildeten  Priester 
gewesen.  Der  falsche  Satz:  Busiris  sei  der  Urheber  aller  Bildung^ 
wird  dadurch  in  keiner  Weise  wahr,  wenn  die  Bildung  vorhanden 
war,  wenn  sie  auf  fremde  Persönlichkeiten  sich  übertrug.  Überdies 
bedurfte  Isokrates  zu  diesem  letzteren  Erweise  keiner  Unwahrheit. 
Er  konnte  auf  die  Reisen,  auf  die  Berichte  anderer  Männer  sich  be- 
ziehen, eines  Thaies,  eines  Herodot,  eines  Demokritos.  Wenn  er  es 
vorzog,  statt  ihrer  nur  Pythagoras  zu  nennen,  so  wird  man  das  da- 
durch erklären  müssen,  daß  das  Ansehen,  in  welchem  Pjthagoras 
schon  zur  Zeit  des  Isokrates  stand,  doch  ein  anderes  war,  als  das  der 
eben  genannten  wenn  auch  berühmten  Persönlichkeiten.  Isokrates, 
wir  können  es  nur  immer  stärker  betonen,  log  nicht  um  zu  lügen, 
er  log  nur  in  den  Lobsprüchen,  die  er  seinem  um  jeden  Preis  zu  er- 
hebenden Helden  zollte,  und  die  erfundenen  Verdienste  des  Busiris 
konnten  eine  gewisse  Scheinbarkeity  auf  deren  Erlangung  es  bei  dem 
rednerischen  Kunststücken  allein  ankam,  nur  dann  gewinnen,  wenn 
alles  Beiwerk  der  Wahrheit  entsprach,  wenn  nicht  auch  nebensäch- 
liche Dinge  den  Hörer  sofort  kopfecheu  machten.  Wir  zweifeln  daher 
keinen  Augenblick,  daß  der  Aufenthalt  des  Pythagoras  in  Ägypten, 
daß  der  Unterricht,  welchen  er  bei  den  dortigen  Priestern  genoß,  zu 
den  Dingen  gehört,  die  landläufige  Wahrheit  waren,  als  Isokrates  sie 
aussprach,  die  niemand  neu,  niemand  absonderlich  oder  gar  unwahr- 
scheinlich vorkamen  \). 

Der  Aufenthalt  des  Pythagoras  in  Ägypten,  den  wir  jetzt  schon 
für  durchaus  gesichert  halten,  wird  weiter  durch  eine  Menge  anderer 
SchrStsteller  behauptet.  Freilich  sind  es  Schriftsteller,  die  insgesamt 
später,  teilweise  viel  später  als  Isokrates  gelebt  haben.  Strabon 
meldet  uns  in  nüchternem,  einfachem  und  dadurch  um  so  glaub- 
würdigerem Tone:  Die  Geschichtsschreiber  teilen  mit,  Pythagoras  sei 
aus  Liebe  zur  Wissenschaft  nach  Ägypten  und  Babylon  gegangen^). 
Antiphon,  allerdings  der  Lebenszeit  nach  nicht  genauer  bestimmt,  aber 
von  späteren  Schriftstellern  unter  Namensnennung  mit  großer  Zuver- 
sicht benutzt,  hat  in  seinen  Lebensbeschreibungen  von  durch  Tugend 
sich    auszeichnenden    Männern   Ausführliches   über    den    ägyptischen 

')  Chaignet  pag.  48  hält  die  ägyptische  Beise  auch  für  erwiesen,  läßt 
sich  aber  auf  eine  Verteidigung  des  Ausspruches  des  Isokrates,  wie  wir  sie  ge- 
liefert haben,  nicht  ein.  Dagegen  sind  bei  ihm  die  Zitate  anderer  Schriftsteller, 
welche  über  jene  Reise  berichten,  in  großer  Vollständigkeit  gesammelt 
*)  Strabo,  XIV,  1,  16. 


Pythagoras  und  die  Pjtiiagoräer.    Arithmetik.  151 

Aufenthalt  des  Pythagoras  erzählt^).  Viel  weniger  Gewicht  legen 
wir  —  von  anderen  Zeugnissen  zu  schweigen  —  dem  bei,  was  ägyp- 
tische Priester  ruhmredig  dem  Diodor  erzählten  und  was  er  uns  mit 
folgenden  Worten  wiederholt:  Die  ägyptischen  Priester  nennen  unter 
den  Fremden,  welche  nach  den  Verzeichnissen  in  den  heiligen  Büchern 
vormals  zu  ihnen  gekommen  seien,  den  Orpheus,  Musäus,  Melampus 
und  Dädalus,  nach  diesen  den  Dichter  Homer  und  den  Spartaner 
Lykurg,  ingleichen  den  Athener  Solon  und  den  Philosophen  Piaton. 
Gekommen  sei  zu  ihnen  auch  der  Samier  Pythagoras  und  der  Mathe- 
matiker Eudoxus,  ingleichen  Demokritos  von  Abdera  und  Oinopides 
von  Chios.  Von  allen  diesen  weisen  sie  noch  Spuren  auf*).  Diese 
altagyptischen  Matrikellisten  mitsamt  den  aufgewiesenen  Spuren 
sind  an  sich  recht  sehr  verdächtig,  doppelt  verdächtig  durch  Namen 
wie  Orpheus  und  Homer,  die  dort  eingetragen  sein  sollen.  Wir  haben 
die  Stelle  überhaupt  nur  aus  einem,  wie  uns  scheint,  erheblichen 
Grrunde  mitgeteilt.  Sie  beweist  nämlich,  daß  zu  Diodors  Zeiten  um 
die  dort  genannten  Männer  ein  ziemlich  gleicher  Strahlenkranz  von 
Berühmtheit  sich  gebildet  hatte,  der  von  ihnen  auf  die  Lehrer,  die  sie 
hatten  oder  gehabt  haben  sollten,  zurückstrahlt. 

.  Die  von  uns  angeführte  Stelle  des  Strabon  gibt  auch  Auskunft 
über  eine  Studienreise  des  Pythagoras  nach  Babylon.  OfiEen- 
bar  genoß  diese  zur  Zeit  von  Christi  Geburt,  das  ist  zur  Zeit  Strabons, 
einer  hinreichend  guten  Beglaubigung,  um  als  geschichtliche  Tatsache 
kurz  erwähnt  zu  werden.  Als  sichergestellt  erscheint  uns  damit  so 
viel,  daß  Pythagoras  in  Babylon  hätte  gewesen  sein  können.  Drücken 
wir  uns  deutlicher  aus.  Wir  meinen,  es  müssen  innerhalb  der  pytha- 
gomschen  Schule  Lehren  vorgetragen  worden  sein,  welche  über- 
raschende Ähnlichkeit  mit  solchen  Dingen  besaßen,  denen  das  Griechen- 
tum seit  dem  Alexanderzuge  an  dem  zweiten  Mittelpunkte  ältester 
Kulturverbreitung  neben  Ägypten,  in  Babylon  wiederbegegnete.  Eine 
gegenteilige  Annahme  würde  das  Entstehen  des  Glaubens  an  die  Sage 
von  dem  Aufenthalte  bei  den  Chaldäem  jeder  Grundlage  berauben. 
Wir  nennen  den  Aufenthalt  eine  Sage,  weil  auch  uns  jetzt  ein  erstes 
Zeugnis  Strabons  ohne  Kenntnis  des  Alters  seiner  Quellen  zur  vollen 
geschichtlichen  Wahrheit  nicht  ausreicht.  Immerhin  bleibt  die  Art^ 
wie  babylonische  Elemente,  deren  wir  auf  mathematischem  Gebiete 
einige  erkennen  werden,  in  die  pythagoraische  Lehre  eindrangen,  und 
die  Rolle,  welche  sie  darin  spielten,  in  hohem  Grade  rätselhaft,  wenn 
wir    ganz    verwerfen   wollten,    Pythagoras   selbst    oder    einer    seiner 


')  Als  BrQchßtück  erhalten  bei  Porphyrius,  De  vita  Pythagorae  cap.  7, 
auch  bei  Diogenes  Laertius  VIII,  8.     *)  Diodor  I,  96. 


152  6.  Kapitel. 

nächsten  Schüler  sei  unmittelbar  an  die  Quelle  geraten,  aus  welcher 
dieselben  zu  schöpfen  waren. 

Mit  dem  Ausdrucke  Pythagoras  selbst  oder  einer  seiner  nächsten 
Schüler  haben  wir  eine  unleugbare  Schwierigkeit  bezeichnet,  einen 
Gegenstand  wissenschaftlichen  Zweifels  berührt,  welcher  hier  im  Wege 
liegt  und  zu  dessen  Wegräumung  uns  keine  Mittel  gegeben  sind. 
Die  pythagoräische  Schule  war,  wie  schon  oben  erwähnt  wurde, 
eine  eng  geschlossene.  Mag  es  Wahrheit  oder  Übertreibung  genannt 
werden,  daß  unverbrüchliches  Stillschweigen  überhaupt  den  Pythago- 
räem  zur  Pflicht  gemacht  war,  daß  ihnen  unter  allen  Umständen 
das  verboten  war,  was  wir  sprichwörtlich  aus  der  Schule  schwatzen 
nennen,  sicher  ist,  daß  über  den  oder  die  Urheber  der  meisten  pytha- 
goräischen  Lehren  kaum  irgendwelche  Gewißheit  vorliegt.  'Exslvog 
€q>a  oder  Airbg  iq>a,  ER,  der  Meister,  hat's  gesagt,  war  die  viel- 
benutzte Redensart,  und  welcher  Zeit  dieselbe  auch  angehört,  sie  läßt, 
je  später  sie  aufgekommen  sein  mag,  um  so  deutlicher  die  ganz  un- 
gewöhnliche, durch  viele  Jahrhunderte  in  der  Überliefenmg  sich  er- 
haltende geistige  Überlegenheit  des  Pythagoras,  der  alles,  was  von 
Wert  war,  selbst  gefunden  und  gelehrt  haben  sollte,  läßt  aber  auch 
die  Unmöglichkeit  erkennen  scharf  zu  sondern,  was  wirklich  von 
Pythagoras  selbst,  was  von  seinen  Schülern  herrührte.  Vielleicht  ist 
es  dabei  gestattet  aus  den  erwähnten  inneren  Gründen  anzunehmen, 
daß,  wo  ein  Pyths^oräer  als  Entdecker  bestimmt  genannt  ist,  die 
Richtigkeit  der  Angabe  nicht  leicht  zu  bestreiten  sei,  daß  dagegen, 
wo  Pythagoras  selbst  der  Urheber  gewesen  sein  soll,  sehr  wohl  eine 
Namensverschiebung  stattgefunden  haben  könne. 

Einige  von  den  Dingen,  welche  ganz  besonders  der  Geschichte 
der  Mathematik  angehören,  werden  wir  allerdings  nicht  verzichten 
Pythagoras  selbst  zuzuschreiben.  Dazu  gehört  der  pythagoräische 
Lehrsatz,  den  wir  unter  allen  Umständen  ihm  erhalten  wissen 
wollen.  Sei  es  darum,  daß  man  den  Zeugnissen  des  Vitruvius,  des 
Plutarch,  des  Diogenes  Laertius,  des  Proklus,  so  bestimmt  sie  auch 
lauten  ^),  wegen  ihres  späten  Datums  kein  Gewicht  beilegen  dürfe. 
Schwerer  fallen  doch  die  in  die  Wagschale,  welche  Proklus  als  seine 
Gewährsmänner  anführt:  „Die  welche  Altertümliches  erkunden  wollen"*), 
sei  damit,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  Eudemus  gemeint  oder 
nicht.     Am   überzeugendsten  vollends  ist  uns   die  mittelbare  Bestäti- 

*)  Diese  Zeugniese  zusammengestellt  bei  A  lim  an  1.  c.  pag.  26.  k. 
*)  Proklus  ed.  Friedlein  426  x&v  ftfv  IcxoqeIv  za  &g%aloi  ßovXotiivtav.  Das 
Wort  latoQBtv  besitzt  bei  Proklus  nirgend  eine  spöttische  Nebenbedeutung,  man 
darf  also  nicht,  wie  es  geschehen  ist,  übersetzen  „die  alte  Geschichten  erzählen 
wollen". 


PythagoraB'Und  die  Pythagoräer.    Arithmetik.  153 

gung  in  dem  alten  Mathematikerverzeicknisse.  Pythagoras^  heißt  es 
dort  ansdrücklich,  erfand  die  Theorie  des  Irrationalen.  Eine  solche 
Theorie  war  aber  ganz  unmöglich^  eine  Beschäftigong  mit  dem  Irra- 
tionalen undenkbar^  wenn  nicht  der  Satz  von  den  Quadraten  der  drei 
Seiten  des  rechtwinkligen  Dreiecks  vorher  bekannt  war,  und  man 
würde,  wollte  man  Pythagoras  nicht  als  seinen  Urheber  gelten  lassen, 
in  die  noch  schwierigere  Lage  versetzt,  ihn  älter  als  Pythagoras  an- 
nehmen zu  müssen. 

Auf  Grundlage  des  Mathematikerverzeichnisses  sehen  wir  femer 
in  Pythagoras  selbst  wirklich  den  Erfinder  der  Konstruktion  der  kos- 
mischen Körper,  d.  h.  der  regelmäßigen  Vielflächner  in  einem 
Sinne,  der  nachher  noch  auseinandergesetzt  werden  soll. 

Glaubwürdig  ist  uns  auch,  was  der  bekannte  Musikschriftsteller 
Aristoxenus,  einer  der  zuverlässigsten  Gelehrten  der  peripatetischen 
Schule,  berichtet,  daß  Pythagoras  vor  allen  die  Zahlenlehre^)  in 
Achtung  gehabt  und  dadurch  gefordert  habe,  daß  er  von  dem  Be- 
dürfnisse des  Handels  weiter  schritt  alle  Dinge  den  Zahlen  vergleichend^). 
Wir  glauben  an  die  Berechtigung  der  Verbindung  des  Namens  des 
Pythagoras  mit  der  musikalischen  Zahlenlehre,  mag  das  Mono- 
chord von  ihm  herrühren  oder  nicht,  wir  glauben,  daß  er  hauptsäch- 
lich um  die  arithmetische  Unterabteilung  der  Geometrie  sich 
bemüht  habe^). 

Ja  wir  gehen  noch  weiter  und  schreiben  dem  Pythagoras  den 
Besitz  einer  mathematischen  Erfindungsmethode  zu,  des  mathemati- 
schen Experimentes,  wie  wir  dieses  Verfahren  anderwärts  genannt 
haben*),  womit  freilich  ebensowenig  gesi^t  sein  soll,  daß  das  Be- 
wußtsein ihm  innewohnte  darin  eine  wirkliche  Methode  zu  besitzen, 
als  daß  er  ihr  Erfinder  war,  die  er  aus  den  in  Ägypten  gewonnenen  An- 
schauungen jedenfalls  leicht  abstrahieren  konnte,  wenn  er  sie  nicht 
fertig  von  dort  mitbrachte. 

Auf  die  persönliche  Zuweisung  sonstiger  Dinge  verzichten  wir 
und  werden  im  folgenden  von  der  Mathematik  der  Pythagoräer, 
nicht  des  Pythagoras  reden.  Freilich  vergrößert  sich  dadurch  der 
Zeitraum,  dessen  wissenschaftliches  Bild  wir  zu  gewinnen  trachten, 
erheblich.  Wenn  auch  nicht  bis  zu  den  letzten  eigentlichen  Pytha- 
goräem,  deren  Tätigkeit  auf  366  angesetzt  wird*),  so  doch  bis  vor 
Piaton,  etwa  bis  zum  Jahre  400  erstreckt  sich  unserer  Meinung  nach 
die  mathematische  Tätigkeit  des  Pythagoräismus  als  solchem.     Von 

*)  Diogenes  Laertius  VIII,  14.  *)  Stobaeus,  Ecloga  phye.  I,  1,  6. 
^  Diogenes  Laertius  VIII,  12:  \uxXiaxct  dl  iS%oXdiSai  xhv  JTv^ayö^ttv  nBgl  tb 
6LQi^\Lrixi%bv  sldog  aiftilg  (sc.  YBtonBXQiag)  x6v  xs  xdvovtt  xbv  i%  fu&g  XOQd^g  s^gstv, 
*)  Math.  Beitr.  Kulturl.  92.     *)  Zeller  I,  288,  Note  6. 


154  6.  Kapitel. 

seinen  meistens  namenlosen^  mitunter  an  bestimmte  Persönlichkeiten 
geknüpften  Leistungen  wissen  wir  aus  verschiedenen  teilweise  späten^ 
uns  jedoch  in  den  Dingen,  fttr  welche  wir  sie  gebrauchen  wollen,  als 
zuverlässig  geltenden  Quellen. 

Als  solche  Quelle  betrachten  wir  vor  allen  Dingen  den  „Timäus" 
überschriebenen  Dialog  des  Piaton.  Timäus  von  Lokri  war  ein 
echter  Pythi^oräer,  Piaton  dessen  Schüler.  Soll  man  nun  annehmen, 
Piaton  habe  diesem  seinem  Lehrer  wissenschaftliche  Äußerungen  in 
den  Mund  gelegt,  die  er  nicht  ganz  ähnlich  von  ihm  gehört  hatte, 
er  habe  ihm  insbesondere  Mathematisches  untergeschoben?  Wir 
können  einem  solchen  Gedanken  uns  nicht  hingeben,  können  es  um 
so  weniger,  als  Platons  eigene  Abhängigkeit  von  den  Pythagoräem 
in  vielen  Dingen  durch  einen  so  unverdächtigen  Zeugen  wie  Aristo- 
teles bestätigt  wird.  Die  Philosophie  Platons,  sagt  er^),  kam  nach 
der  pythi^oräischen,  in  vielem  ihr  folgend,  anderes  eigentümlich  be- 
sitzend. Eine  zweite  wichtige  Quelle  liefert  uns  ein  Werk  des  Theon 
von  Smyrna*).  Dieser  Schriftsteller  lebte  zwar  erst  um  130  n.  Chr., 
also  in  einer  Zeit,  wo  die  Mythenbildung,  die  Pythagorsssage,  wie 
man  einigermaßen  schroff  sich  ausgedrückt  hat,  in  dem  Leben  des 
Pythagoras  von  Apollonius  von  Tyana,  in  den  unglaublichen 
Dingen  jenseits  Thule  von  Antonius  Diogenes,  schon  romanhafte 
Gestalt  gewonnen  hatte.  Aber  für  die  Dinge,  für  welche  wir  Theon 
gebrauchen  wollen,  war  in  einem  Roman  blutwenig  zu  schöpfen. 
Man  lese  doch  das  Leben  des  Pythagoras  von  Porphyrius,  das 
ähnliche  teilweise  daran  sich  anlehnende  Buch  von  Jamblichus, 
man  lese  was  Diogenes  Laertius  von  dem  Leben  des  Pythagoras 
aufgespeichert  hat,  und  man  wird  zwar  unterhaltende  Geschichtchen 
genug  finden,  Mathematisches  aber  nur  insoweit  als  Laien  mit  mathe- 
matischen Wörtern  um  sich  zu  werfen  imstande  sind,  es  sei  denn, 
daß  ältere  Fachleute  wie  der  Musiker  Aristoxenus,  der  Rechen- 
meister Apollodorus  als  Gewährsmänner  auftreten,  zu  welchen  als 
Fachmann  Jamblichus  selbst  hinzutritt,  der  uns  in  dieser  Gestalt  im 
23.  Kapitel  begegnen  wird.  Was  also  Theon  von  Smyma  als  pytha- 
goräische  mathematische  Lehren  hervorhebt,  das  muß  aus  ganz 
anderen  nicht  mythischen  Schriften  geschöpft  sein,  von  welchen  Por- 
phyrius, Jamblichus  in  ihren  Biographien  des  Pythagoras  wenigstens 
in  diesem  Sinne  keinen  Gebrauch  gemacht  haben. 

Wer  freilich  solche  Schriften  verfaßte,  und  wie  sie  hießen,  das 
dürfte   ein   unlösbares  Rätsel  bleiben,  wenn  man  auch   versucht  hat 

*)  AriatotelBB  Metaphys.  I,  6.  *)  Theanis  Smymaei phihsophi  Platonid 
expositio  rerum  mathematicarum  ad  legendum  PlaUmem  utilium.  £did.  £d.  Hill  er. 
Leipzig  1878. 


Pythagoras  und  die  Pythagoräer.   Arithmetik.  155 

die  zweite  Frage  zu  beantworten^).  Bei  Jamblichus  findet  sich  fol- 
gendes^): ^yDie  Pythagoräer  erzählen^  die  Geometrie  sei  so  in  die 
Öffentlichkeit  gelangt.  Einer  von  den  Pythagoräern  habe  sein  Ver- 
mögen verloren,  und  da  habe  man  ihm  gestattet^  die  Geometrie  als 
Erwerbszweig  zu  benutzen.'^  Daran  schließt  sich  die  fast  unverständ- 
liche Stelle:  'ExaXslro  dh  fi  ysmiistgCa  ngbg  TIv^ayÖQOv  lörogtOy 
welche  unser  Gewährsmann  übersetzt:  ,^ie  Geometrie  wurde  aber 
Überlieferung  von  Pythagoras  genannt  So  ansprechend  die 
Vermutung  an  sich  klingt,  wobei  an  dem  fehlenden  zu  lötogCa  ge- 
hörenden Artikel  kein  Anstoß  genommen  zu  werden  braucht,  da  Plato 
eine  ganz  ähnliche  Wendung  benutzt  hat^),  so  ist  doch  vielleicht  die 
Übersetzung  löxogCa  »  Forschung  noch  richtiger.  Der  Satz  hieße 
dann  auf  deutsch:  ,,Es  wurde  aber  die  Geometrie  Forschung  von 
Seiten  des  Pythagoras  genaimt^'^). 

Die  Benutzbarkeit  des  Theon  von  Smyma  gründet  sich  wesent- 
lich auf  dem  ausgesprochenen  Zwecke  seines  Werkes.  Er  will  die 
zum  Verständnis  Piatons  und  der  Platoniker  nötigen  Vorkenntnisse 
mitteilen.  Er  will  dabei  der  Reihe  nach  die  Arithmetik  mit  Inbegriff 
der  musikalischen  Zahlenverhältnisse^  die  Geometrie^  die  Stereometrie, 
die  Astronomie,  die  Musik  der  Welten  behandeln.  Hier  finden  wir 
also  hauptsächlich  dasjenige  in  der  Sprache  des  II.  nachchristlichen 
Jahrhunderts  vorgetri^en,  was  von  mathematischen  Kenntnissen  ftlr 
das  Studium  Piatons  notwendig  ist.  Das  können  aber  vermöge  der 
selbstverständlichen  Tatsache,  daß  wissenschaftliche  Anspielungen  eines 
früheren  Jahrhunderts  nicht  mit  Hilfe  der  Errungenschaften  eines 
späteren  Jahrhunderts  sich  erklären,  nur  solche  Kenntnisse  sein,  die 
nach  Theons  bestem  Wissen  den  platonischen  Schriften  selbst  ge- 
schichtlich vorausgingen,  in  ihnen  zur  Verwertung  kommen  konnten. 
Da  femer  Theon  von  Piaton  selbst  sagt,  er  folge  oft  den  Pythago- 
räern^), so  wird  seine  Brauchbarkeit  für  uns  hier  vollends  erhöht. 
Diese  beiden  Werke  sind  also  unsere  Hauptquellen.  Wir  werden  zu 
ihnen  auch  noch  aus  anderen  SchriftsteUem  da  und  dort  einen  ge- 
ringen Zufluß  erhalten,  die  sich,  wie  wir  sehen  wollen^  zu  einem 
ganz  stattlichen  Ganzen  vereinigen. 


'  ^)  La  g^omätrie  Grecque,  comment  son  histoire  nous  est  parvenne  et  ce 
que  nouB  en  savons.  Essai  critique  par  Paul  Tannery  (Paris  1887)  pag.  81. 
*)  De  pithagorica  vita  (ed.  Eiessling)  89  und  Ansse  de  Villoison,  Anecdota 
Graeca  II,  216,  lin.  22 — 26,  sowie  Jamblichus,  De  communi  mathematica  (ed. 
Festa)  78,  1—6.  ■)  Pia  ton,  Ph&don  96»  xfi9  ootplag  ^v  dt}  tiocXovoi  nsgl  tp^ffemg 
latogiav  ohne  Artikel.  *)  So  die  Meinimg  von  W.  Schmidt,  der  auch  auf  die 
Parallelstelle  im  Phädon  hingewiesen  hat.  *)  Theon  Smyrnaeus  (ed.  Hill  er), 
pag.  12. 


156  6.  Kapitel. 

Theon  hat,  sagten  wir,  zuerst  die  Arithmetik  behandelt.  Damit 
ist  uns  Gelegenheit  geboten,  eine  ungemein  wichtige  Zweispaltnng 
der  Lehre  von  den  Zahlen  ins  Auge  zu  fassen.  Die  ganze  Mathematik 
zerfiel,  nach  Gerainus*),  in  zwei  Hauptteile,  deren  Unterschied  er 
darin  erkannte,  daB  der  eine  Teil  sich  mit  dem  geistig  Wahrnehm- 
baren, der  andere  sich  mit  dem  sinnlich  Wahrnehmbaren  beschäftige. 
Geistigen  Ursprungs  ist  ihm  Arithmetik  und  Geometrie,  sinnlichen 
Ursprungs  dagegen  Mechanik,  Astronomie,  Optik,  Geodäsie,  Musik, 
Logistik.  Von  den  übrigen  Teilen  und  dem,  was  Geminus  des 
weiteren  über  sie  bemerkt,  sehen  wir  ab.  Arithmetik  und  Logistik 
erklärt  er  dahin,  daB  die  erstere  die  Gestaltungen  der  Zahl  an  und 
für  sich  betrachte,  die  letztere  aber  mit  Bezug  auf  sinnliche  Gegen- 
stände. Arithmetik  ist  ihm  also  eine  theoretische,  Logistik  eine 
praktische  Wissenschaft.  Arithmetik  ist  ihm,  um  die  heute  gebräuch- 
lichen Wörter  anzuwenden,  das  was  seit  Gauß  höhere  Arithmetik,  seit 
Legendre  Zahlentheorie  genannt  wird.  Logistik  ist  ihm  die  eigent- 
liche Rechenkunst. 

Diese  strenge  Unterscheidung  war  allerdings  in  den  Zeiten  pytha- 
goräischer  Mathematik  noch  nicht  zum  Durchbruch  gelangt.  Die 
Pythagoräer  stellten  die  beiden  Fragen:  Wie  viel?  und  Wie  groß?*) 
In  der  Beantwortung  beider  trennten  sie  aufs  neue.  Das  eine  Mal 
wurde  die  Vielheit  an  sich  in  der  Arithmetik,  die  Vielheit 
bezogen  auf  anderes  in  der  Musik  behandelt.  Das  andere  Mal 
bildete  die  ruhende  Größe  den  Gegenstand  der  Geometrie,  die 
bewegte  Größe  den  Gegenstand  der  Sphärik. 

Bei  manchem  Wechsel  der  sonstigen  Systematik  blieb  die  eigent- 
liche Arithmetik  vom  VL  bis  zum  L  vorchristlichen  Jahrhundert,  von 
den  Pythagoräem  bis  zu  Geminus  fast  mit  gleichem  Inhalte  aus- 
gestattet, und  dieser  gleichartige  Inhalt  wahrte  sich  weiter,  solange 
überhaupt  in  griechischer  Sprache  über  diesen  Teil  der  Mathematik 
geschrieben  wurde.  Einiges  kam  natürlich  im  Laufe  der  zeitlichen 
Entwicklung  hinzu.  In  die  griechische  Arithmetik  drang  ein,  was 
wir  jetzt  Algebra  oder  Lehre  von  den  Gleichungen  nennen,  soviel 
davon  bekannt  war.  Ihr  gehörte  die  Lehre  von  den  nach  bestimmten 
Gesetzen  gebildeten  Reihen  und  deren  Summierung,  ihr  die  Propor- 
tionenlehre an,  wie  sie  nach  und  nach  in  weiterem  und  weiterem 
Umfang  sich  bildeten,  aber  niemals  begriflF  die  Arithmetik  das  eigent- 
liche Rechnen  unter  sich. 

Wir  werden  uns  wohl  der  Wahrheit  nähern,  wenn  wir  annehmen, 


*)  Proklus  ed.  Friedlein,  pag.  88.    Vgl.   auch  Nesselmann,   Algebra 
der  Griechen,  S.  40flgg.     *)  Proklus  ed.  Friedlein,  pag.  35— 36. 


Pythagoras  nnd  die  Pythagoräer.    Arithmetik.  157 

die  Logistik,  die  Rechenkunst,  sei  erst  allmählich  als  Gegenstand 
schriftlicher  Unterweisung  in  Büchern  behandelt  worden.  Sie  ver- 
dankte vorher  ihre  unentbehrliche  Verbreitung  vorwiegend  dem  münd- 
lichen Unterricht.  Sie  war  allgemeines  Bedürfnis,  nicht  Wissenschaft, 
und  es  mag  lange  gedauert  haben,  bevor  es  einem  Rechenmeister  ein- 
fiel, über  den  Inhalt  seines  Unterrichts  sich  schriftlich  auszusprechen. 
Zu  dieser  Annahme  gelangen  wir  von  der  Erwägung  aus,  daß  eine 
Logistik  bestand  und  ims  quellenmäßig  gesichert  ist,  lange  bevor  wir 
von  Büchern  über  dieselbe  hören.  Ihr  Name  kommt  schon  in  einem 
platonischen  Dialoge  vor,  wo  die  Logistik  der  Arithmetik  gegenüber- 
gestellt ist^),  und  in  einem  anderen  Dialoge  des  gleichen  Verfassers 
ist  von  den  Logistikem*)  die  Rede. 

Wenn  wir  bei  der  Betrachtung  der  pythagoräischen  Mathematik 
von  den  arithmetischen  Dingen  ausgehen,  so  folgen  wir  nur  der 
Aussage,  welche  in  dieses  Gebiet  die  wesentlichsten  Leistungen  des 
Pythagoras  verlegt,  und  welche,  selbst  wenn  ihr  kein  Gewährsmann 
von  der  Bedeutung  des  Aristoxenus  Gewicht  verliehe,  in  dem  allge- 
meinen Bewußtsein,  daß  die  der  Arithmetik  nächststehende  Zahlen- 
symbolik so  recht  eigentlich  altpythagoräisch  war,  ihre  Rechtfertigung 
finden  könnte.  Wir  haben  ein  Beispiel  pythagoräischer  Zahlenmystik 
an  früherer  Stelle  (S.  42)  verwertet.  Ein  anderes  mag  hier  Platz 
finden,  welches  gleichfalls  Plutarch  ims  aufbewahrt  hat:  Es  haben 
sich  aber  wohl  die  Ägypter  die  Natur  des  Weltalls  zunächst  unter 
dem  Bilde  des  schönsten  Dreiecks  gedacht;  auch  Piaton  in  der  Schrift 
vom  Staate  scheint  das  Bild  gebraucht  zu  haben,  da  wo  er  ein  Ge- 
mälde des  Ehestandes  entwirft.  Das  Dreieck  enthält  eine  senkrechte 
Seite  von  3,  eine  Basis  von  4  und  eine  Hypotenuse  von  5  Teilen, 
deren  Quadrat  denen  der  Katheten  gleich  ist.  Man  kann  nun  die 
Senkrechte  mit  dem  Männlichen,  die  Basis  mit  dem  Weiblichen,  die 
Hypotenuse  mit  dem  aus  beiden  Geborenen  vergleichen  und  somit 
den  Osiris  als  Ursprung,  die  Isis  als  Empfängnis  und  den  Horus  als 
Erzeugnis  denken^.  Mit  dem  Vorbehalte  auf  diese  nicht  unwichtige 
Stelle  zurückzukommen,  benutzen  wir  sie  hier  nur  als  freilich  spätes 
Beispiel  pythagoräischer  Zahlenspielerei,  dem  eine  übergroße  Menge 
ähnlicher  Dinge,  Vergleichungen  von  Zahlen  mit  einzelnen  Gottheiten 
oder  Vergleichungen  von  Zahlen  mit  gewissen  sittlichen  Eigenschaften 
usw.  aus  älterer  und  ältester  Zeit  zur  Seite  gestellt  werden  könnte*), 
wenn  die  Geschichte  der  Mathematik  neben  dem  allgemeinen  Ver- 
gleiche mit  babylonischen  Gedankenfolgen  einen  besonderen  unmittel- 

*)  Platon,  Gorgias  461,  B.  •)  Piaton,  Euthydemus  290,  B.  »)  Plu- 
tarch, De  Iside  et  Osiride  56.  *)  Eine  reiche  Sammlang  von  Stellen  bei 
Zeller  I,  334 — 346,  namentlich  in  den  Anmerkungen. 


158  6.  Kapitel. 

baren  Nutzen  daraus  zu  ziehen  imstande  wäre.  Allenfalls  könnte 
dieses  für  einen  Satz  zutreflFen,  welcher,  wie  sich  zeigen  wird,  durch 
Jahrhunderte  sich  forterbte,  den  Satz:  daß  die  Einheit  Ursprung 
und  Anfang  aller  Zahlen,  aber  nicht  selbst  Zahl  sei^). 

Wir  werden  bald  sehen,  daß  die  Pythagoräer  es  liebten  auf 
Gegensätze  ihr  Augenmerk  zu  richten,  und  ein  solcher  Gegensatz  war 
der  zwischen  Primzahlen  und  zusammengesetzten  Zahlen.  Ein 
alter  Pythagoräer,  Thymaridas  von  Paros^  war  es  vermutlich, 
der  den  Primzahlen  den  Namen  der  geradlinigen  Zahlen,  aQtd'fwl 
eöd^yQafifiixol^  beilegte'),  jedenfalls  im  Gegensatze  zu  Flächen- 
zahlen, von  welchen  auch  noch  in  diesem  Kapitel  die  Rede  sein 
wird.  Derselbe  Thymaridas  aber  hat  sich  ein  außerordentlich  viel 
größeres  Verdienst  dadurch  erworben,  daß  er  ein  Verfahren  zur  Auf- 
lösung gewisser  Aufgaben  erfand,  welches  von  hoher  Tragweite  ist, 
und  welches  wir  nach  Jamblichus  auseinandersetzen^).  Das  Ver- 
fahren muß  sehr  verbreitet  gewesen  sein.  Dafür  bürgt  außer  Gründen, 
welche  im  29.  Kapitel  auf  indischem  Boden  sich  ergeben  werden,  der 
doppelte  Umstand,  daß  Jamblichus  es  geradezu  als  eine  Methode, 
€q)odog^  bezeichnet  und  es  mit  einem  bestimmten  Namen  nennt, 
welcher  demselben  schon  früher  eigentümlich  gewesen  zu  sein  scheint. 
Das  Epanthem,  d.  h.  die  Nebenblüte  des  Thymaridas,  besteht  in 
folgendem^):  „Wenn  gegebene  {d)Qi0iiava)  und  unbekannte  Größen 
{aÖQiöta)  sich  in  eine  gegebene  teilen  und  eine  von  ihnen  mit  jeder 
anderen  zu  einer  Summe  verbunden  wird,  so  wird  die  Summe  aller 
dieser  Paare  nach  Subtraktion  der  ursprünglichen  Summe  bei  drei 
Zahlen  der  zu  den  übrigen  addierten  ganz  zuerkannt,  bei  vier  deren 
Hälfte,  bei  fünf  deren  Drittel,  bei  sechs  deren  Viertel  und  so  fort.'^ 
Damit  ist  gemeint,  daß,  wenn  n  Unbekannte  o;^,  x^,  x^,  -  -  -jX^  heißen, 
und  wenn  außer  ihrer  Gesamtsumme  x^  +  x^  +  x^  +  -  -  *  +  x^  ^  8 
die  Summe  der  ersten  Unbekannten  x^  mit  jeder  der  folgenden  Unbe- 
kannten einzeln  gegeben  ist,  also  x^  +  x^^ a^,  Xy+x^^a^y  •  •  •  a?!  -f  x^ 

«» a^   ,,  daß  alsdann  x.  =»—  *"   *  "^       "u^-i"^  gein  muß.     Das  ist, 

^)  Vgl.  Aristoteles,  Metaph.  XUI,  8,  femer  Nicomachus,  Eisagoge 
arithmet.  II,  6,  8  (ed.  Ho  che  pag.  84)  und  am  deutlichsten  bei  Theon  Smyr- 
naeus  (ed.  Hiller)  pag.  24:  oi^e  Sb  ii  \LOvag  Agid^fibg,  &Uä  &qxV  ^Qt^^y^^- 
*)  Paul  Tanne ry,  Pour  Thistoire  de  la  science  Hellene  (Paris  1887)  pag.  382 
bis  886  über  die  Persönlichkeit  des  Thymaridas.  *)  Jamblichus  Chalciden- 
sis  in  Nicomachi  Geraseni  arithmeticam  introductionem  (ed.  Tennulius  1668) 
pag.  86,  (ed.  Pistelli  1894)  pag.  27,  4.  *)  Ebenda  (ed.  Tennulius)  pag.  89, 
(ed.  Pistelli)  pag.  62,  19.  Diese  verderbte  und  darum  ungemein  schwierige 
SteUe  hat  zuerst  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  232 flgg.  richtig  erklärt. 
^)  Wir  benutzen  die  Übersetzung  Nesselmanns. 


Pythagoras  und  die  Pjthagoräei.    Arithmetik.  159 

wie  man  sieht^  YoUständig  gesprochene  Algebra,  welcher  nur  Symbole 
fehlen,  um  mit  einer  modernen  Oleichungsauflösung  durchaus  über- 
einzustimmen, und  insbesondere  ist  mit  Recht  auf  die  beiden  Eunst- 
ausdrücke  der' gegebenen  und  unbekannten  Große  aufmerksam 
gemacht  worden. 

Genug  die  Pythagoräer,  seit  Gh-ündung  der  Schule,  beachteten 
die  Zahlen  und  wußten  yerschiedene  Gattungen  derselben,  so  nament- 
lich die  geraden  und  ungeraden  Zahlen,  erstere  als  agrioL^  letztere 
als  TtBQtööolf  zu  unterscheiden^).  Diese  Unterscheidung  war  so  land- 
läufig, daß  zu  Piatons  Zeit  das  Spiel  „Grad  oder  Ungrad"  schon  in 
Übung  war*).  Wir  erinnern  uns,  daß  auch  den  Ägyptern  dieser 
Unterschied  nicht  entgangen  war,  wie  wir  aus  der  Einrichtung  ihrer 
Zerlegungstabelle  für  Brüche  schließen  durften  (S.  64).  Ob  sie  frei- 
lich bestimmte  Namen  für  das  Gerade  und  für  das  Ungerade  hatten, 
was  zum  rollen  Bewußtsein  dieser  Zahlengattungen  gehört,  das  schwebt 
so  lange  im  Dimkel,  als  nicht  ein  ägyptisches  theoretisches  Werk 
entdeckt  ist,  dessen  Notwendigkeit  zur  Ergänzung  des  Übungsbuches 
wir  eingesehen  haben.  Letzteres  enthält  jedenfalls  solche  Namen 
nicht. 

Die  Pythagoräer  sahen  überdies  in  den  geraden  und  ungeraden 
Zahlen  Glieder  von  Reihen,  nannten  solche  Reihen  gl  ieder  Zqoi  und 
besaßen  vermutlich  in  dem  Worte  ixd^söig  auch  einen  Namen  ftlr  den 
Begriff  von  Reihe  selbst*).  Auch  diese  Tatsache  kann  uns  nicht  in 
Erstaunen  setzen,  nachdem  die  Kenntnis  der  arithmetischen  wie  der 
geometrischen  Reihe  bei  Ägyptern  und  Babyloniem,  die  Kenntnis 
der  Summenformel  für  arithmetische  Reihen  mit  Gewißheit,  für  geo- 
metrische Reihen  als  Möglichkeit  bei  den  Ägyptern  festgestellt  werden 
konnte. 

Mit  den  Reihen  der  geraden  und  ungeraden  Zahlen  wurden  bei 
den  Grriechen  —  wir  behaupten  bei  den  Pythagoräem  —  nach  den 
Zeugnissen  des  Theon  von  Smyma  mannigfache  Summierungen  vor- 
genommen. Man  addierte  die  sämtlichen  aufeinanderfolgenden 
Zahlen  der  natürlichen  Zahlenfolge  von  der  1  bis  zu   einem  beliebig 

gewählten  Endgliede   und   fand    l-t-2  +  3H hw  =  ** ^--^  die 

Dreieckszahl^).     Man  addierte  die  ungeraden  Zahlen  für  sich  und 

*)  ^  ye  nav  Agi^fibg  ix^i  Svo  iikv  tSsa  BÜ&ri  nsgiCübv  %al  '&Qttov  heißt  es 
in  einem  Fragmente  des  Philolans.  Vgl.  Zelle i  1,  299,  Anmerkg.  1  und 
Chaignet  I,  228.  *)  Pl'aton,  Lysis  pag.  206.  *)  Vgl.  Bienaym^  in  einer 
Notiz  über  zwei  Stellen  des  Stobäus  in  den  Camptes  renalis  der  Pariser  Aka- 
demie der  Wissenschaften  vom  3.  Oktober  1870.  *)  Theon  Smyrnaeus  (ed. 
Hiller)  31. 


160  6.  Kapitel. 

fand  1  +  3  +  5  H —  •  +  (2w  —  1)  «-  n*  die  Quadratzahl,  zu  deren 
Erklärung  man  eben  diese  Entstehungsweise  benutzte^).    Man  addierte 

die  geraden  Zahlen  für  sich  und  fand  2  +  4  +  6  H h  2w  =  M(n  +  1) 

die  heteromeke  Zahl*),  d.  h.  das  Produkt  zweier  Faktoren,  deren 
einer  um  die  Einheit  größer  ist  als  der  andere,  und  welches  eben 
dieses  Größersein  der  einen  Zahl  in  seinen  Namen  aufnahm. 

Wir  haben  hier  arithmetische  Erklärungen  und  Lehrsatze  den 
Pjthagoraem  überwiesen,  welche  trotz  ihres  Vorkommens  bei  Theon 
von  Smyma,  trotz  der  von  uns  Torausgeschickten  allgemeinen  Recht- 
fertigung der  Benutzbarkeit  seines  Werkes  für  diese  weit  zurückliegende 
Zeit,  einigermaßen  stutzig  machen  könnten.  Da  wir  in  unseren  Fol- 
gerungen noch  weiter  zu  gehen  gedenken,  so  dürfte  es  nicht  unzweck- 
mäßig sein,  andere  Beweisgründe  für  die  Richtigkeit  unserer  Annahme 
hier  einzuschalten,  welche  ein  bedeutend  älterer  Schriftsteller  von  all- 
seitig anerkannter  Zuverlässigkeit,  mit  einem  Worte,  welche  Aristo- 
teles uns  liefert.  In  dessen  Metaphysik^)  finden  wir  die  sogenannte 
pythagoräische  Kategorientafel,  in  welcher  zehn  Paar  ßrund- 
gegensätze  aufgezählt  werden,  die  der  pythagoräischen  Schule  angehört 
haben.  Diese  heißen  1.  Grenze  und  Unbegrenztes;  2.  Ungerades  und 
Gerades;  3.  Eines  und  Vieles;  4.  Rechtes  und  Linkes;  5.  Männliches 
und  Weibliches;  6.  Ruhendes  und  Bewegtes;  7.  Gerades  und  Krummes; 
8.  Licht  und  Finsternis;  9.  Gutes  und  Böses;  10.  Quadrat  und  Hetero- 
mekie.  Wir  dürfen  vielleicht  annehmen,  daß  unter  dem  3.  Paare  die 
Primzahlen  und  zusammengesetzte  Zahlen  inbegriflFen  sind.  Wir  er- 
kennen in  den  beiden  mit  2.  und  10.  bezeichneten  Paaren  die  Zu- 
sammengehörigkeit des  Ungeraden  mit  dem  Quadrat,  des  Geraden  mit 
der  Heteromekie,  und  sollte  diese  Zusammengehörigkeit  nicht  in  der 
Entstehungsweise  der  Quadrate  und  der  Heteromeken  ihre  vollgültige 
B^ründung  finden?  Allerdings  hat  man,  wie  wir  sehen  werden,  eine 
andere  Erklärung  gesucht,  weshalb  das  10.  Paar,  dessen  Vorhanden- 
sein unter  allen  Umständen  einer  Rechtfertigung  bedarf,  weil  seine  Gegen- 
sätze nicht  so  scharf  und  natürlich  sind,  wie  die  der  neun  anderen 
Paare,  Aufiiahme  gefunden  habe.  Wir  sind  nicht  gewiUt,  jene  andere 
Erklärung  schon  jetzt  geradezu  zu  verwerfen,  aber  noch  weniger  auf 
die  unsrige  zu  verzichten.  Konnte  es  doch  in  der  Tafel  der  Grund- 
gegensätze, auf  welche  alle  Erscheinungen  zurückzuführen  sind,  nur 
erwünscht  sein,  durch  ein  Paar  sofort  zwei  wesentlich  verschiedene 
Beziehungen  dargestellt  zu  wissen.  Ist  doch  überdies  mindestens  die 
Entstehung  des  Quadrats  als  Summe  der  mit  der  Einheit  beginnen- 


*)  Theon  Smyrnaeus  (ed.  Hiller)  28.      *)  Ebenda  27  und  31.      *)  Ari- 
stoteles, Metaphys.  I,  6,  6,  vgl.  Zeller,  5.  Aufl.  I,  854,  Anmerkg.  8. 


Pjthagoras  und  die  Pythagoräer.    Arithmetik.  161 

den   ungeraden   Zahlen   wieder    durch  Aristoteles  als  echt  pythago- 
raisch  bezeugt^). 

Aristoteles  bedient  sich  dabei  eines  Wortes,  welches  für  uns 
von  großer  und  vielfacher  Wichtigkeit  ist,  des  Wortes  Gnomon. 
Was  ist  ein  Gnomon?  Wörtlich  genommen  ein  Erkenner^  und 
zwar  bedeutete  es  zunächst  einen  Erkenner  der  Zeit,  dann  der  senk- 
rechten Stellung,  welche  der  Stab,  um  als  Schattenwerfer  und  Stunden- 
zeiger Anwendung  finden  zu  können^  einnehmen  mußte.  So  wurde 
das  Wort  allmählich  aus  einem  Kunstausdrucke  der  praktischen  Astro- 
nomie zu  einem  solchen  der  Geometrie,  und  man  sagte  „die  nach  dem 
Gnomon  gerichtete  Linie*'*),  wenn  man  von  einer  Senkrechten  reden 
wollte.  Der  Sinn  des  Wortes  veränderte  sich  aber  nun  noch  weiter. 
Ein  mechanisch  herzustellender  rechter  Winkel 
(Fig.  20)  wurde  so  genannt  oder  geometrisch  aus- 
gedrückt: Gnomon  war  das,  was  von  einem  Qua- 
drat übrig  blieb,  wenn  aus  dessen  einer  Ecke  ein 
kleineres  Quadrat  herausgeschnitten  wurde.  Diese 
Bedeutung  des  Wortes  war  bei  den  Pythago- 
nlem  gang  und  gebe.     Den    untrüglichen   Beweis 


dafür   liefert   ein   erhaltenes  Bruchstück   des  Phi-  ^*'  ^* 

lolaus^,  eines  Pythagoräers,  dessen  Lebenszeit  so  ziemlich  gleich- 
mäßig von  den  Grenzen  des  Jahrhunderts  zwischen  500  und  400 
abstehen  möchte.  Ebendemselben  Philolaus  dürfte  auch  der  Be- 
griff des  zusammengesetzten  Verhältnisses  schon  bekannt  gewesen 
sein,  welcher  uns  im  12.  Kapitel  begegnen  wird.  In  noch  späterer  Zeit 
verschob  sich  die  Bedeutung  des  Wortes  Gnomon  noch  weiter.  Euklid 
stellte  um  300  die  Definition  auf,  in  einem  Parallelogramme  heiße  ein 
jedes  der  um  die  Diagonale  herumliegenden  Parallelogramme  mit  den 
beiden  Ergänzungen  zusammen  ein  Gnomon^).  Der  Sinn  dieser  im 
Wortlaute  nicht  allzu  deutlichen  Erklärung  ist  folgender.  Werden  in 
einem  Parallelogramme  durch  einen  und  denselben  Punkt  der  Diagonale 
Parallellinien  zu  den  beiden  Seiten  gezogen, 
so  entstehen  (Fig.  21)  zwei  in  unserer  Figur 
wagerecht  schraffierte  Parallelogramme,  und 
zwei  in  unserer  Figur  schräg  schraffierte 
Er^nzungsdreieckchen.     Diese  vier   kleinen  ng  21 


^)  Aristoteles,  Physic.  m,  4.  Vgl.  Zeller  I,  800,  Anmerkung  und 
Chaignet  ü,  61—62.  *)  Proklus  ed.  Friedlein  283,  9.  ')  Philolans,  des 
Pythagoreers  Lehren  nebst  den  Bruchstücken  seines  Werkes  von  Aug.  BOckh. 
Berlin  1819,  Fragment  18,  S.  141.  —  Chaignet  I,  240.  —  Wm.  Romaine 
Newbold,  Philolaus.  Archiv  fOr  Geschichte  der  Philosophie  XTX,  176 — 217 
(Berlin  1906).     *)  Euklid,  Elemente  II,  Definition  2. 

Oaittob,  Oetohlohte  der  Mathematik  L   8.  Aufl.  11 


162 


6.  Kapitel. 


Figuren  zasammeii  bilden  das  euklidische  Gnomon^  eine  Verallgemeine- 
rung  des  älteren  Begriffes  insofern^  als  ein  Stück  aus  einem  Parallelo- 
gramme statt  aus  einem  Quadrate  herausgeschnitten  wird^  um  es  her- 
vorzubringen. Noch  etwas  allgemeiner  wird  die  Erklärung,  welche 
nachmals  Her on  ron  Alexandria  gab:  Alles  was  zu  einer  Zahl  oder 
Figur  hinzugefügt  das  Oanze  dem  ähnlich  macht,  zu  welchem  hinzugefügt 
worden  war,  heißt  Gnomon^).  Doch  auch  diese  letzte  Verallgemei- 
nerung knüpft  wieder  an  alte  Begriffe  an,  indem  schon  Aristoteles 
sagt,  wenn  man  ein  Gnomon  um  ein  Quadrat  herumlege,  werde  zwar 
die  Größe,  aber  nicht  die  Art  der  Figur  verändert^. 

Nachdem  wir  erörtert  haben,  was  ein  Gnomon  in  der  Geometrie 
bedeute,  ist  der  Zusatz  wohl  leicht  yerständlich,  daß  in  alten  Zeiten 
die  ungerade  Zahl  auch  wohl  Gnomonzahl  genannt  wurde.  Denken 
wir  uns  nämlich  ein  Quadrat,  dessen  Seite  n  Längeneinheiten  mißt, 
und  beabsichtigen  wir  dieses  Quadrat  zum  nächstgrößeren  mit  der 
Seite  von  n  +  1  Längeneinheiten  durch  Hinzufügung  eines  Gnomon 
zu  ergänzen,  so  ist  klar,  daß  dieses  Gnomon  bestehen  wird  aus  einem 
Quadratchen  yon  der  Seite  1  und  aus  zwei  Rechtecken  von  den  Seiten  1 
und  n,  daß  es  also  1  +2  xn  Flächeneinheiten  besitzen  wird, 
welche  in  der  Tat  die  vorhandenen  n^  Flächeneinheiten  des  früheren 
Quadrates  zu  den  (n  +  ly  Flächeneinheiten  des  neuen  Quadrates  er- 
gänzen. Das  heißt  in  Zahlen:  die  Quadratzahl  n^  wird  zur  imchsten 
Quadratzahl  (w  +  1)*,  wenn  man  ihr  die  Gnomonzahl  2n  -f  1  bei- 
fügt So  sind  wir  zum  Verständnis  der  vorher  angedeuteten  Stelle 
der  aristotelischen  Physik  gelangt^),  einem  Verständnis,  in  welchem 
wir  uns  mit  allen  alten  und  neuen  Erklärem  zusammenfinden.  Die 
Pythagoräer,  sagt  dort  Aristoteles,  hätten  die  Quadratzahlen  ge- 
bildet, indem  sie  die  Gnomonen  allmäh- 
lich zur  Einheit  hinzufügten.  Das  will 
eben  nichts  anderes  heißen  als  (Fig.  22) 
die  Pythagoräer  haben  die  Summierung 
1  -j-  3  -f-  5  +  •  •  •  +  (2n-- 1) «  w*  vollzogen, 
haben  dieses  Verfahren  mit  klarer  Ein- 
sicht in  den  dann  zutage  tretenden  Ge- 
danken ausgeübt. 

Sehen  wir  einen  Augenblick  von  der 
arithmetischen  Wichtigkeit  des  Satzes,  der 
uns  beschäftigt  hat^  ab,  so  ist  er  uns  auch 
für  die  älteste  Geometrie  ein   später  noch  zu  verwertendes  Zeugnis. 

^)  Heron  Alexandrinus  (ed.  Hultsch)  Definit.  69,  pag.  21.  *)  Aristo- 
teles, Categor.  XIV,  6  und  XI,  4.  Vgl.  Chaignet  11,  62,  Note  2.  •)  Aristo- 
teles, Physic.  m,  4. 


Fig.  22. 


Pythagoras  und  die  Pythagoräer.   Arithmetik.  163 

Er  läßt  uns  erkennen^  daß  die  Pythagoräer  den  Zusammenliang, 
welcher  zwischen  den  Seiten  eines  Quadrates  ^  eines  Rechteckes  und 
deren  Flächeninhalt  stattfindet^  mehr  als  nnr  ahnten^  was  freilich  bei 
Schülern  einer  aus  Ägypten  eingewanderten  Geometrie  nicht  ver- 
wundern kann.  Er  läßt  uns  femer  die  Kenntnis  der  eigentümlichen 
Figur  des  Gnomon  beachten.  Einen  mechanisch  herzustellenden 
rechten  Winkel  nannten  wir  oben  diese  Figur^  und  in  der  Tat  ist 
das  Alter  dieses  Werkzeugs  geradezu  sagenhaft.  In  Ägypten  sind 
wir  ihm  (S.  105)  auf  der  bildlichen  Darstellung  einer  Schreinerwerk- 
stätte begegnet;  und  bei  Plinius  hat  sich  die  Überlieferung  erhalten, 
die  Werkzeuge  der  Architekten,  wie  Axt,  Säge,  Bohrer,  Setzwage 
rührten  von  Dädalus  xmd  dessen  Neffen  Talus  her,  welche  vor  dem 
trojanischen  Kriege  lebten,  der  rechte  Winkel  von  Theodorus  von 
Samos,  einem  der  Erbauer  des  Tempels  von  Ephesus  um  das  Jahr 
600  etwa^). 

Und  noch  etwas  lernen  wir  aus  der  pythagoräischen  Begründimg 
des  Satzes  von  der  Entstehung  der  Quadratzahlen:  die  Neigung 
zur  geometrischen  Versinnlichung  von  Zahlengrößen  und 
deren  Verknüpfungen,  welche  wir  für  griechische  Eigentümlich- 
keit halten,  entsprechend  dem  viel  und  mit  Recht  gerühmten  plasti- 
schen Sinne  der  Hellenen.  Der  erste  Anstoß  könnte  ja,  wenn  man 
für  aUes  eine  äußere  Veranlassung  suchen  wollte,  in  der  ägyptischen 
uns  aus  dem  Übimgsbuche  des  Ahmes  bekannten  Gewohnheit  den 
Figuren  die  Maßzahlen  ihrer  Längen,  ihrer  Flächen  beizuschreiben 
gefunden  werden,  aber  immerhin  läßt  das  griechische  Verfahren  sich 
als  einen  Gegensatz  zu  diesem  ägyptischen  bezeichnen.  Bei  dem 
einen  handelt  es  sich  um  die  Möglichkeit  geometrische  Gebilde  in 
Rechnung  zu  bringen,  bei  dem  anderen  um  die  Möglichkeit  das  Er- 
gebnis rechnender  Überlegung  den  Sinnen  erfaßbar  zu  machen.  Die 
Gnomonzahlen  waren  unter  den  bis  hierher  besprochenen  nicht  die 
einzigen,  deren  Versinnlichung  die  Pythagoräer  sich  angelegen  sein 
ließen.  Die  Quadratzahlen  selbst  bilden  ein  anderes  Beispiel,  ein 
anderes  die  Heteromeken.  Auf  die  Versinnlichung  führen  auch  die 
Namen  Flächen-  und  Körperzahlen  zurück,  zu  deren  pythago- 
räischem  Vorkommen  wir  uns  nunmehr  wenden. 

Im  platonischen  Timäus  findet  sich  eine  Stelle,  welche  etwa 
folgendermaßen  heißt:  Um  mit  zwei  Flächen  eine  geometrische  Pro- 
portion zu  bilden,  deren  äußere  Glieder  sie  sein  sollen,  genüge  es  eine 
dritte  Fläche  als  geometrisches  Mittel  anzusetzen;  sollen  aber  zwei 
Körper  die  äußeren  Glieder  einer  geometrischen  Proportion  sein,  so 


^)  Plinius,  Histor.  natural.  VII,  66. 

11* 


164  6.  Kapitel. 

müsse  man  zwei  Yoneinander  yerschiedene  innere  Glieder  annehmen, 
weil  ein  geometrisches  Mittel  nicht  vorhanden  sei^). 

Flächen  und  Körper  können  hier  nur  als  Zahlen  und  zwar  als  Pro- 
dukte von  zwei  beziehungsweise  von  drei  Faktoren  angesehen  werden. 
Das  heißt  man  wußte  damals ,  daß  im  allgemeinen  das  Maß  einer 
Flache,  eines  Körpers  gefunden  werde,  indem  man  zwei,  drei  Ab- 
messungen miteinander  vervielfältigte.  Die  Erklärung  von  Flächen- 
und  Körperzahlen  als  solcher  Produkte  ist  ausgesprochen  bei  Euklid*), 
sie  ist  ausgesprochen  bei  Theon  von  Smyma*).  Beide  bedienen  sich 
der  Namen  aQtd'fiol  hnlnsSoi  ftlr  die  Flächen-,  ägi^yLol  öxbqboC  för 
die  Körperzahlen,  und  der  pythagoräische  Ursprung  derselben  beweist 
sich  aus  der  eben  hervorgehobenen  Tatsache,  daß  nur  mit  ihrer 
Hilfe  die  Timäusstelle  zur  Klarheit  gelangt.  Denken  wir  uns  PiP^p^ 
QiQi^i  ^  sechs  Primzahlen  und  jedenfalls  keine  von  den  Primzahlen  p 
einer  Primzahl  q  gleich.  Nun  ist  p^p^  eine  Flächenzahl,  q^^q^  eine 
zweite.  Deren  geometrisches  Mittel  läßt  sich  bilden,  d.  h.  j/pift^ift 
ist  rational  ausziehbar,  sofern  p^  =^  P%  ^i^d  zugleich  q^  =&•  Die 
gefundene  Proportion  heißt  unter  Weglassung  der  in  diesem  Falle 
unnötig  gewordenen  Indices  p^ :  pq  ^  pq:  3*  und  es  genügte  wirk- 
lich eine  dritte  Fläche  als  geometrisches  Mittel  anzusetzen,  um  mit 
den  angegebenen  beiden  Flächen  eine  geometrische  Proportion  zu 
bilden,  deren  äußere  Glieder  sie  sein  sollten.  Körperzahlen  werden 
femer  sowohl  Pi  -  p^  -  P^  ^  9i  *  &  '  9s-  Deren  geometrisches  Mittel 
VPiPiPiii^iQz  IS*  Ä^ör  ^i®  rational,  wenn  die  Vorschrift;  kein  p  einem 
q  gleich  werden  zu  lassen  eingeb  alten  wird,  mögen  die  p  und  die  q 
je  unter  sich  gleich  oder  verschieden  sein.  Durch  zwei  Mittelglieder 
dagegen  läßt  sich  die  Proportion  in  mannigfaltiger  Weise  ergänzen 
z.B. fti>,i)8  iPtP^qi  =  &28P8:9i92?8  odeTp^p^pj^:p^p^q^=q^q^p^:q^q^q^ 
usw.  Im  Timäus  heißt  das  so:  Sollten  zwei  Körper  die  äußeren  Glieder 
einer  geometrischen  Proportion  sein,  so  mußte  man  zwei  voneinander 
verschiedene  innere  Glieder  annehmen,  weil  ein  geometrisches  Mittel 
nicht  vorhanden  ist  Werden  hier  die  p  und  die  q  wieder  alle  als 
unter  sich  gleich  betrachtet  und  läßt  man  deshalb  die  Indices  wieder 
weg,  so  entsteht  p^ :  p^q  «=  pq^  :  q^  oder  p'  :  pq^  =  p^q  :  q\  Eine  andere 
Auswahl  von  Mittelgliedern  gibt  es  in  diesem  besonderen  Falle  nicht. 
Gerade  er  hat  sich  auch  anderweitig  erhalten.  Euklid  beweist,  daß 
zwischen  zwei  Quadratzahlen  eine,  zwischen  zwei  Kubikzahlen  zwei 


*)  iJtudes  sur  U  Timee  de  PkUan  par  Th.  H.  Martin  I,  91  und  837—846 
und  Hnltsoh  in  Fleckeisen  und  Masius,  Neue  Jahrbücher  für  Philologie 
und  Pädagogik.  Jahrgang  1878.  Bd.  107,  498—601.  •)  Euklid  VII,  Defini- 
tionen 16  und  17.  *)  Theon  Smjrnaeus  (ed.  Hiller),  pag.  36—37  und 
häufiger. 


Pythagoras  und  die  Pythagorfter.   Arithmetik.  165 

mittlere  Proportionalen  fallen^)  und  Nikomachns  nennt  diese  beiden 
Sätze  ausdrücklich  platonisch')^  ohne  Zweifel  in  Berücksichtigung 
der  damals  allgemein  bekannten  Timäusstelle. 

Eben  diese  Stelle  hat  bei  der  ausführlicheren  Besprechung  noch 
erhöhte  Bedeutsamkeit  für  uns  gewonnen.  Zwei  wichtige  Tatsachen 
gelangten  dadurch  zu  unserem  Bewußtsein^  die  eine  daß  der  Begriff 
des  Irrationalen  der  Schule  des  Pythagoras  angehörte,  die  andere  daß 
dieselbe  Schule  sich  viel  mit  Verhältnissen  beschäftigte.  Auf  den 
ersteren  Gegenstand  kommen  wir  im  nächsten  E^apitel  bei  Gelegenheit 
des  pythagoräischen  Lehrsatzes  zu  reden.  Von  den  Verhältnissen 
handeln  wir  sogleich. 

Schon  die  Beziehung  zwischen  zwei  Zahlen,  welche  wir  heute  als 
einen  Bruch   bezeichnen,   gehört   hierher.     Die  Griechen   hatten  für 

solche  Beziehungen  die  yerschiedensten  Namen.  Jedes  -r{  ^^^ 
z.  B.  ktifiÖQLOv,  und  Archytas  hat  schon  den  Satz  ausgesprochen 
und  bewiesen*),  daß  wenn  ein  Epimorion  ^  auf  seine  kleinste  Be- 
nennung gebracht  werde,  welche  etwa  —  heiße,  immer  v  —  ^  +  1  sei^ 
müsse.  Da  nämlich  a  :  /3  »  fi :  i/,  so  ist  a^  y(i,  ß  '='  yv.  Femer  folgt 
aus  ^  :  V  =»  n  :  (w  +  1),  daß  v  —  ft  +  -  und  bei  -  «=  d,  daß  fi  ==«  nd, 

V  =  (n  +  l)d.     Nun  kann  -  =  ,    ^  ., .  nur  dann  als  auf  die  kleinste 

Benennung  gebracht  erscheinen,  wenn  d « 1,  d. h.  wenn  /iA  =  n,v  —  n+1 
oder  V  =  ft  +  1  ist.  Satz  und  Beweis  haben  sich  in  musikalischen 
Schriften  von  Euklid  {Karatoiiij  Tcavövog)  und  Boethius,  von 
welchen  im  13.  und  im  27.  Kapitel  die  Rede  sein  wird,  erhalten,  doch 
ist  dort  der  Beweis  für  heutige  Leser  vielleicht  nicht  ganz  so  durch- 
sichtig wie  in  unserer  Wiedergabe,  weil  er  nach  griechischer  Gewohn- 
heit an  Strecken  geführt  ist,  welche  bald  durch  einen  einfachen  Buch- 
staben, bald  durch  zwei  Buchstaben  (den  Endpunkten  der  betreffenden 
Strecken  zugehörend)  bezeichnet  sind.  Bei  Boethius  ist  auch  beach- 
tenswert, daß  er,  dem  die  Einheit  keine  Zahl  war,  zwischen  Zahl  und 
Einheit  unterscheidet. 

Wir  sind  nicht  auf  die  Timäusstelle  allein  angewiesen,  um  die 
Analogien  und  Mesotäten,  das  sind  die  griechischen  Namen  für 
Verhältnisse  und   dabei  auftretende   Mittel,   für  die  Pythagoräer   in 


')  Enklid  YIII,  11  und  12.  *)  Nicomachns,  Eisagoge  arithm.  II,  24,  6 
(ed.  Hoche),  pag.  129.  ")  P.  Tannery  in  der  Bibliotheca  Mathematica  8.  Folge, 
Bd.  VI,  225—229  unter  Benxfang  anf  Musici  Scriptores  (ed.  ▼.  Jan  pag.  162) 
und  Boethius,  De  institutione  musica  m,  11  (ed.  Friedlein  pag.  286). 


166  6.  Kapitel. 

Ansprucli  zu  neHmen.  Ein  bei  Nikomachus  aufbewahrtes  Bruchstück 
des  PhilolauB*)  läßt  den  Würfel  die  geometrische  Harmonie 
genannt  werden^  weil  seine  sämtlichen  Abmessungen  yöllig  gleich  unter- 
einander und  somit  in  vollständigem  Einklänge  seien.  Dementsprechend 
habe  man  den  Namen  harmonisches  Verhältnis  wegen  der  Ähn- 
lichkeit mit  der  geometrischen  Harmonie  eingeführt.  In  der  Tat 
spiegle  sich  dieses  Verhältnis  in  jedem  Würfel  mit  seinen  12  Kanten, 
8  Ecken  und  6  Flächen  ab.  Wir  haben  kaum  notwendig  diese  Stelle 
noch  zu  erläutern  und  zu  bemerken,  daß  6,  8,  12  in  stetigem  harmo- 
nischen Verhältnisse  stehen,  weil  -z-  ""  v  ="  y""  12* 

Ein  bei  Porphyrius  erhaltenes  Bruchstück  des  soeben  erwähnten 
Pythagoräers  Archytas^)  spricht  nicht  nur  von  dem  arithmetischen, 
dem  geometrischen  und  dem  harmonischen  Mittel,  er  definiert 
sie  geradezu,  und  zwar  die  beiden  ersten  in  der  heute  noch  gebräuch- 
lichen Weise.  Bei  dem  harmonischen  Verhältnisse,  fährt  er  fort,  über- 
tri£Pt  das  erste  Glied  das  zweite  um  den  gleichen  Teil  seiner  selbst, 
wie  dieses  mittlere  Glied  das  dritte  um  den  Teil  des  dritten.  In 
Buchstaben  geschrieben  heißt  das:  b  ist  harmonisches  Mittel  zwischen 

a  und  c,  wenn  a  ^  b  -\ — -  und  zugleich  6  «  c  +  —  Wirklich 
folgt  aus   diesen   beiden  Gleichungen  ,  "^     =  —  und  daraus ^ 

JL  —  JL 

"6         a' 

Jamblichus')  führt  die  Kenntnis  der  drei  stetigen  Proportionen, 
der  arithmetischen,  geometrischen  und  harmonischen,  auf  Pythagoras 
und  seine  Schule  zurück  und  läßt  die  musikalische  Proportion, 
welche   aus   zwei  Zahlen,   deren   arithmetischem   und   harmonischem 

Mittel   sich   bilde   (a  :  ^^  =  ^^  :  6,   z.  B.  6  :  9  -  8  :  12),   durch 

Pythagoras  aus  Babylon,  wo  sie  erfunden  worden  sei,  zu  den  Hellenen 
bringen. 

Es  fallt  nicht  schwer  das  Auftreten  der  harmonischen  Proportion 
auch  von  ägyptischen  Anfängen  aus  zu  erklären.  War  doch  in  der 
Bezeichnung  der  Stammbrüche  durch  ein  Pünktchen  über  der  den 
Nenner  bildenden  Zahl  die  Zumutung,  möchten  wir  sagen,  mit  ent- 
halten, neben  solchen  Zahlen  a,  b,  c,  welche  eine  arithmetische  Reihe 


^)  Nicomachus,  Eisagoge  arithm.  II,  26,  2  (ed.  Hoche),  pag.  135.  Vgl. 
Boeckh,  Philolaus  fragm.  9,  S.  87.  Chaignet  I,  238.  *)  Porphyrina  ad 
Ptolemaei  Harmonica.  Vgl.  Gruppe,  üeber  die  Fragmente  des  Arohytas  und 
der  aiteien  Pythagoreer.  Berlin  1840,  S.  94.  Chaignet  I,  282^283.  ")  Jam- 
blichuB,  Introductio  in  Nicomachi  arithmeticam  (ed.  Tennulius),  Am- 
heim  1668,  pag.  141—142  und  168  (ed.  Pistelli)  pag.  100  und  118. 


Pjthagoras  und  die  Pjtbagoräer.   Arithmetik.  167 

darstellen y  auch  eben  dieselben  punktiert  zu  betrachten,  und  dann 
hatte  man  die  harmonische  Reihe,  deren  musikalische  Bedeutung  bei 
der  Entstehung  der  Töne  auf  dem  Monochorde  wohl  erst  in  zweiter 
Linie  bemerkt  worden  sein  mag.  Allerdings  ist  andererseits  nicht  zu 
rergessen,  daß  im  alten  Ägypten  eine  Froportionenlehre  noch  nicht 
nachgewiesen  hat  werden  können,  daß  arithmetische  und  geometrische 
Reihen  wie  in  Ägypten  so  auch  in  Babylon  bekannt  waren,  daß  nach 
dem  letzteren  Orte  Quadratzahlen  und  Eubikzahlen  hinweisen.  Wir 
erinnern  femer  daran,  daß  Jamblichus  sich  genauer  mit  Ghaldäischem 
beschäftigte  (S.  51)  und  sind  darum  trotz  der  späten  Zeit,  in  welche 
seine  schriftstellerische  Tätigkeit  fällt,  sehr  geneigt  diesen  seinen 
Worten  soweit  Glauben  zu  schenken,  als  sie  alte  gräkobabylonische 
Beziehungen  betreffen.  Auch  mehr  oder  weniger  auf  Zahlenspielerei 
herauskommende  Zahlenyerknüpfungen,  Yergleichung  von  Zahlen  mit 
einzelnen  Götterfiguren,  das  sind  lauter  Dinge,  die  den  Babyloniem,  die 
den  Pythagoräem  eigen  sind.  DafHr  aber,  daß  wir  alles  in  der  pytha- 
goräischen  Schule  von  solchen  Dingen  Vorgetragene  auch  in  ihr  er- 
funden lassen  sein  sollten  —  der  einzige  Ausweg,  wenn  jede  Verbin- 
dung mit  Babylon  verworfen  wird  —  dafQr  erscheinen  uns  dieselben 
zu  entwickelt.  Solche  arithmetische  Kenntnisse  setzen  eine  ganze 
lange  Vorgeschichte  voraus.  Die  Überzeugung  davon  würde  nun 
ungemein  befestigt,  wenn  es  wahr  sein  sollte,  daß  auch  die  befreun- 
deten und  vollkommenen  Zahlen  bereits  der  pythagoräischen  Schule 
angehörten. 

Befreundete  Zahlen  sind  solche,  wie  220  und  284,  von  welchen 
jede  gleich  der  Summe  der  aliquoten  Teile  der  anderen  ist:  220  »  1 
+  2  -f  4  -f  71  +  142  und  284  -  1  +  2  +  4  +  5  -f  10  +  11  +  20  +  22 
+  44  +  55  +  110.  Jamblichus  führt  deren  Kenntnis  auf  Pythagoras 
selbst  zurück^).  Man  habe  ihn  befragt,  was  ein  Freund  sei,  und  er 
habe  geantwortet:  „Einer  der  ein  anderes  Ich  ist,  wie  220  und  284.^' 
Wir  möchten  freilich  auf  diese  Behauptung  wenig  Gewicht  legen  und 
kein  größeres  darauf,  daß  im  IX.  S.  ein  arabischer  Gelehrter  Täbit 
ihn  Eurra  ftlr  die  Kenntnis  der  befreundeten  Zahlen  auf  die  Pytha- 
goräer  verwies^.  Letzterer  kann  sehr  wohl  seine  Wissenschaft  dieses 
XJmstandes  aus  Jamblichus  geschöpft  haben,  ersterem  kann  vorge- 
schwebt haben,  daß  die  Innigkeit  der  Freundschaften  unter  den  Pytha- 
gorilern  von  jeher  als  kennzeichnend  fOr  diese  Schule  galt'). 

Vollkommene  Zahlen  sind  solche,  welche  wie  6,  28,  496  der 


')  Jamblichus  in  Nicomach,  arithm.  ed.  Tennulias  pag.  47 — 48  ed. 
Pietelli  pag.  86.  *)  Vgl.  Woepke  im  JaumcU  Aßiatique,  lY.  S^rie,  T.  20  (Jahr- 
gang 1862),  pag.420.     *)  Vgl.  Zeller  I,  271,  Anmerkung  8. 


168  6.  Kapitel. 

Summe  ihrer  aliquoten  Teile  gleich  sind:  6=«l  +  2  +  3;  28  =  1 
+  2  +  4  +  7  +  14;  496  «  1  +  2  +  4  +  8  +  16  +  31  +  62  +  124 
+  248.  Daneben  unterscheidet  man  überschießende  und  mangel- 
hafte Zahlen^  wenn  die  aliquoten  Teile  eine  zu  große  beziehungs- 
weise zu  kleine  Summe  liefern,  wie  z.  B.  12  <  1  +  2  +  3  +  4  +  6; 
8  >  1  +  2  +  4.  Euklid  hat  sich  ausführlich  mit  den  vollkommenen 
Zahlen  beschäftigt^).  Theon  yon  Smyma  bat  den  drei  verschiedenen 
Gattungen  seine  AufoLerksamkeit  zugewandt  und  dieselben  als  ägid-fiol 
relatoi^  ixsQtdkaiov^  iXhxstg  benannt').  Man  könnte  demzufolge 
geneigt  sein  diese  Begriffe  als  vorplatonische  anzuerkennen,  wenn  nicht 
ein  kaum  zu  beseitigender  Gegengrund  vorhanden  wäre.  Plato  ver- 
steht nämlich  in  einer  berühmten  Stelle  seines  Staates  den  Ausdruck 
vollkommene  Zahl  ganz  anders")  und  Aristoteles  bezeichnet  mutmaß- 
lich aus  pythagoräischer  Quelle  die  Zehn  als  vollkommene  Zahl^) 
wiederum  notwendig  von  einer  ganz  anderen  Erklärung  ausgehend. 
Diese  beiden  Gegensiände  arithmetischer  Gh-übelei  werden  wir  daher 
am  sichersten  zwar  Fythagoräem  aber  nicht  solchen  der  alten 
Schule  zuschreiben,  sondern  solchen,  die  in  viel  späterer  Zeit 
den  Namen  und  zum  Teil  auch  die  Forschungsweise  derselben  er- 
neuerten. 

Die  Dreieckszahlen,  sagten  wir  (S.  159)  gestützt  auf  Theon 
von  Smyma,  wurden  von  den  Fythagoräem  gebildet,  indem  sie  ver- 
suchsweise die  aufeinanderfolgenden  Zahlen  der  mit  1  beginnenden 
natürlichen  Zahlenreihe  addierten.  In  diesem  Namen  Dreieckszahl 
zeigt  sich  aufs  neue  der  Hang  zur  figürlichen  Yersinnlichung  der 
nach  unserer  heutigen  Auffassung  abstrakten  Zahlenbegriffe.  Die  auf- 
einanderfolgenden Zahlen  nämlich  durch  gleich  weit  voneinander  ent- 
fernte Funkte  reihenweise  unteremander  zur  Darstellung  gebracht 
bildeten  Dreiecke,  und  daß  man  diese  Yersinnlichung  wirklich  vor- 
nahm, mag  man  zu  ihr  gelangt  sein  wie  man  wolle,  dafür  bürgt  eben 
der  Name  Dreieckszahl,  &QL&iibg  tglytovog.  Es  ist  vielleicht  wün- 
schenswert noch  von  anderer  Seite  her  zu  bestätigen,  daß  wir  hier 
wirklich  Altertümliches  vor  uns  haben,  imd  dazu  sind  wir  in  der 
Lage.  Wenig  Gewicht  freilich  legen  wir  filr  diese  Rückdatierung  auf 
den  an  sich  interessanten  von  Flutarch  uns  erhaltenen  Lehrsatz,  daß 
die  mit  8  vervielfachten  und  um  1  vermehrten  Dreieckszahlen  Quadrat- 
zahlen gaben '^)  d.  h.  daß  8  •  !^^!^ii^  +  1  =  (2n  +  1)«.    ErhebUcher 


»)  Euklid  IX,  86.  •)  Theon  Smyrnaeus  (ed.  Hiller)  46.  •)  Plato 
Bepnbl.  YIU,  pag.  546.  Vgl.  einen  Aufsatz  von  Th.  H.  Martin  in  der  Bevue 
Jrehdologique  T.XIU.  *)  AristoteleB,  Metaphys.  I,  5.  ^  Plutarch,  Plato- 
nicae  Quaestion.  V,  2,  4. 


Pythagoras  und  die  Pythagoräer.   Arithmetik.  169 

ist  Bchon  daB;  was  Lucian  uns  erzählt^).  Pythagoras  Habe  einen 
zahlen  lassen.  Dieser  sagte:  „1,  2,  3^  4''^  worauf  Pythagoras  da- 
zwischen fuhr:  Siehst  du?  Was  du  für  4  hältst,  das  ist  10  und  ein 
Yollstandiges  Dreieck  und  unser  Eidschwur!  Hierin  ist  die  Kenntnis 
der  Dreieckszahl  10  mit  echt  pythagoräischen  Dingen  in  Verbindung 
gesetzt.  Weit  älter  und  dadurch  noch  überzeugender  ist  das  Vor- 
kommen des  Begriffes  wenn  nicht  des  Wortes  bei  Aristoteles:  Die 
einen  führen  die  Zahlen  auf  Figuren  wie  das  Dreieck  und  Viereck 
zurück^).  Kommt  nun  endlich  noch  hinzu ,  daß  einem  Schüler  des 
Sokrates  und  des  Platon^  dem  Philippus  Opuntius^  bereits  eine 
Schrift  über  vieleckige  Zahlen  zugeschrieben  wird^  welche  er  nebst 
einer  anderen  über  Arithmetik  bei  Philipp  von  Mazedonien  rerfaßt 
haben  soll^^  so  scheint  uns  damit  der  Beweis  geliefert ,  daß  wie  die 
Quadratzahl  und  ihre  Entstehung  aus  den  ungeraden,  wie  die  hetero- 
meke  Zahl  und  ihre  Entstehung  aus  den  geraden^  so  auch  die  Dreiecks- 
zahl und  ihre  Entstehung  aus  den  unmittelbar  aufeinander  folgenden 
Zahlen  bereits  pythagoräisch  gewesen  sein  müsse. 

Bei  diesen  drei  Summierungen  von  nach  einfachen  Gesetzen  fort- 
schreitenden Zahlen  blieb  man  aber,  wie  uns  berichtet  wird,  nicht 
stehen.  Man  schrieb  die  Reihe  der  Quadratzahlen,  von  der  1  an,  man 
schrieb  darunter  aber  erst  von  der  3  anfangend  die  ungeraden  Zahlen, 
und  wenn  man  nun  jede  solche  ungerade  Zahl  der  zugehörigen  Quadrat- 
zahl als  Gfnomon  zufügte,  so  entstanden  wieder  QuadratzaJilen^).  Für 
uns  heute  fällt  freilich  diese  Entstehungsweise: 
1     4      9....»« 

3  5       7....2n+l 

4  9     16....(n  +  l)« 

mit  der  ersterlauterten  Bildung  der  Quadratzahlen  zusammen,  aber 
den  Alten  war  sie  besonderer  Hervorhebung  wert.  Nikomachus, 
ungefähr  Zeitgenosse  des  Theon  von  Smyma,  und  ihm  geistes- 
verwandt, hat  ein  Beispiel  ähnlichen  Verfahrens  bei  Dreieckszahlen 
uns  bewahrt^).  Jede  Dreieckszahl,  sagt  er,  mit  der  nächstfolgenden 
Dreieckszahl    vereinigt    gibt    eine    Quadratzahl,    und    wirklich    ist 

^    ~Z    — h        g        =  n*.    Hier  wagen  wir  nun,  gestützt  auf  alle  diese 

einander  ähnlichen  Verfahren,  eine  unmittelbar  nicht  auf  Überlieferung 
sich  stützende  Vermutung^).     Wir  nehmen  an,  es  sei  auch  die  Addi- 

*)  Lncian  Bimv  ytg&ais^  4.  Vgl.  AUman,  Greek  Geometry  from  Thalea 
to  Euclid  pag.  28r.  *)  Aristoteles,  Metaphys.  XIV,  4.  ")  Btoyi^tpoC,  vitarum 
»criptares  Oraeci  minores  edit.  West  ermann.  Biannschweig  1846,  pag.  446. 
*)  Theon  SmyrnaeuB  (ed.  Hiller)  82.  ^)  Nicomachus,  Eisagog.  ariüim.  11,12 
(ed.  Ho  che),  pag.  96.     •)  Math.  Beitr.  Kulturl.  106—107. 


170  7.  Kapitel. 

tion  von  je  zwei  aufeinander  folgenden  Qnadratzahlen  Yorgenommen 
worden,  um  wie  in  den  yorher  erwähnten  Beispielen  einmal  zuzu- 
sehen, ob  dabei  etwas  Bemerkenswertes  sich  enthülle.  In  der  Tat 
fand  sich  ein  höchst  auffallendes  Ergebnis:  Die  Quadratzahlen  9 
und  16  lieferten  als  Summe  die  nächste  Quadratzahl  25,  und 
nur  bei  ihnen  zeigte  sich  diese  Erscheinung.  Dem  heutigen  Mathe- 
matiker ist  solches  freilich  nicht  auffallend.  Wir  erkennen  sofort, 
daß  die  Gleichung  {x  —  ly  +  n?*  =  (a?  +  1)*  nur  die  Wurzeln  a:  =  4 
und  5?  «=  0  besitzt,  daß  also  nur  3*  +  4*  —  5*  auftreten  kann,  wenn 
man  (—  1)*  +  0^  =  1*  oder  anders  geschrieben  0  +  1  =  1  nicht  be- 
achten will.  Aber  der  Grieche  jener  alten  Zeit  konnte  diese  Über- 
legung nicht  anstellen,  konnte,  wenn  sie  ihm  möglich  gewesen  wäre, 
die  zweite  Gleichung  nicht  denken.  Wir  kommen  auf  den  Zahlen- 
begriff der  Griechen  noch  zurück.  Gegenwärtig  wissen  wir  nur,  daß 
die  Null,  für  welche  sie  kein  Zeichen  hatten,  ihnen  auch  keine  Zahl 
war.  Wir  sind  darüber  aufs  deutlichste  durch  einen  der  schon  ge- 
nannten Arithmetiker  unterrichtet.  Nikomachus  sagt  uns,  jede  Zahl 
sei  die  halbe  Summe  der  zu  beiden  Seiten  gleich  weit  von  ihr  ab- 
stehenden Zahlen;  nur  die  Einheit  bilde  eine  Ausnahme,  weil  sie  keine 
zwei  Nachbarzahlen  besitze;  sie  sei  darum  die  Hälfte  der  einen  im- 
mittelbar  benachbarten  Zahl^). 

So  mußten  die  Zahlen  9,  16,  25  und  mit  ihnen  die  Zahlen  3,  4, 
5,  deren  Quadrate  sie  waren,  welche  ihre  Ordnimgszahlen  in  der  Reihe 
der  Quadratzahlen  bildeten,  der  Aufinerksamkeit  empfohlen  sein,  um 
so  dringender  empfohlen  sein,  wenn  dieselben  Zahlen  schon  ander- 
weitig als  mit  merkwürdigen  Eigenschaften  rersehen  bekannt  waren. 
Daß  dem  so  war,  darüber  müssen  wir  uns  jetzt  zu  rergewissem 
suchen,  ohne  zu  rergessen,  daß  3'  -f  4^ »  5^  den  Ägyptern  bekannt  war. 


7.  Kapitel. 
Pythagoras  und  die  Pythagoräer.     Geometrie. 

Wir  sind  an  dem  Punkte  angelangt,  wo  wir  die  nur  im  Bilde 
geometrische  Arithmetik  der  Pythagoräer  mit  ihrer  eigentlichen  Geo- 
metrie in  Verbindung  treten  sehen.  Wir  haben  demgemäß  auch  auf 
diesem  Gebiete  abzusuchen,  was  unmittelbare  oder  mittelbare  Über- 
lieferung dem  Pythagoras  und  seiner  Schule  zuweist. 

Zunächst  können  wir  eine  ganze  Gruppe  von  geometrischen 
Kenntnissen  zusammenfassen  unter  dem  gemeinsamen  Namen  der  An- 

^)  Nicomachus,  Eisagog.  arithm.  I,  8  (ed.  Hoche),  pag.  14. 


Pjthagoraa  und  die  Pjthagoräer.    Geometrie.  171 

legung  der  Flächen.  ^^Altertümlicli,  so  sagen  die  Schüler  des 
Eudemus,  und  Erfindungen  der  pythagoreischen  Muse  sind  diese  Sätze, 
die  Anlegung  der  Flächen,  ihr  Überschießen,  ihr  Zurückbleiben,"  ^'  rs 
^agaßoXii  t&v  xcagCmv  xai  ^  v^SQßoXii  xal  i^  iJiXsiil^ig^).  So  lautet 
der  erläuternde  Bericht  des  Proklus  zu  der  euklidischen  Aufgabe  an 
einer  gegebenen  Geraden  unter  gegebenem  Winkel  ein  Parallelogramm 
zu  entwerfen,  welches  einem  gegebenen  Dreieck  gleich  sei.  Desselben 
Wortes  ikXsCxctv  bei  Anlegung  von  Flächen  bedient  sich  Piaton  in 
seinem  Menon^,  und  Plutarch  läßt  an  einer  Stelle  das  Anlegen  Yon 
Flächen,  itaQaßdXkBiv  tov  xaglov^  von  Pythagoras  selbst  herstammen'), 
während  er  an  einer  anderen  Stelle  sich  folgendermaßen  ausdrückt: 
„Eines  der  geometrischsten  Theoreme  oder  vielmehr  Probleme  ist  das, 
zu  zwei  gegebenen  Figuren  eine  dritte  anzulegen  —  nagaßakksiv  — , 
die  der  einen  gleich  und  der  anderen  ähnlich  ist.  Pythagoras  soU, 
als  er  die  Lösung  gefunden,  ein  Opfer  gebracht  haben.  Und  wirk- 
lich ist  es  auch  feiner  und  wissenschaftlicher  als  das,  daß  das  Quadrat 
der  Hypotenuse  denen  der  beiden  Katheten  gleich  isf^*).  Über  die 
genauere  Bedeutung  der  drei  Wörter  Parabel,  Ellipse,  Hyperbel 
bei  Flächenanlegungen  werden  wir  bei  Besprechung  der  euklidischen 
Geometrie  im  13.  Kapitel  zu  reden  haben.  Fürs  erste  genügt  die 
allgemeine  aus  den  angeführten  Stellen  leicht  zu  schöpfende  Über- 
zeugung, daß  es  um  die  Zeichnung  von  Figuren  gegebener  Art  und 
gegebener  Größe  sich  handelt.  Solche  Zeichnung  ist  aber  unmöglich, 
wofern  man  nicht  mit  den  Haupteigenschaften  der  Parallellinien 
und  ihrer  Transversalen,  mit  den  hauptsächlichen  Winkelsätzen 
der  Planimetrie  vertraut  ist,  wofern  man  nicht  die  Auffindung  von 
Flächeninhalten,  deren  Abhängigkeit  von  den  die  betreffende  Figur 
bildenden  Seiten  in  richtiger  Weise  kennt. 

In  der  ersteren  Beziehung  sind  wir  wieder  in  der  günstigen  Lage, 
unsere  Behauptung  bestätigen  zu  können.  Die  Pythagoräer  ver- 
wandten die  Parallellinien  zum  Beweise  des  Satzes  von  der 
Winkelsumme  des  Dreiecks.  Wir  sahen  (S.  143),  daß  die  tha- 
letische  Zeit,  vielleicht  Thaies  selbst,  den  Satz  von  der  Winkelsumme 
in  dreifacher  Abstufung  an  dem  gleichseitigen,  an  dem  gleichschenk- 
ligen, an  dem  unregelmäßigen  Dreiecke  behandelte.  Eudemus  läßt 
durch  die  Pythagoräer  den  Satz  für  jedes  beliebige  Dreieck  so  be- 
wiesen werden,  daß  durch  die  Spitze  des  Dreiecks  die  Parallele  zur 
Grundlinie  gezogen  und  daraus   die   Gleichheit  der  Winkel    an  der 


»)  Proklus  (ed.  Friedlein)  419.  *)  Piaton,  Menon  pag.  87.  »)  Plu- 
tarch, Non  passe  suavüer  vivi  secundum  Epicur.  cap.  11.  *)  Plutarch,  Con- 
vivium  Vin,  cap.  4. 


172  7.  Kapitel. 

Grundlinie  mit  ihren  an  jener  Parallelen  hervortretenden  Wechsel^ 
winkeln  gefolgert  wurde.  Einer  jener  Wechselwinkel  wurde  sodann 
mit  dem  ursprünglichen  Dreieckswinkel  an  der  Spitze  zu  einem  ein- 
zigen Winkel  vereinigt,  welcher  selbst  wieder  den  anderen  Wechsel- 
winkel als  Nebenwinkel  besaß  und  mit  ihm  zusammen  zwei  Rechte 
ergab  *). 

Aus  dieser  Darstellung  zeigt  sich  so  recht  deutlich  an  einem 
besonders  merkwürdigen,  in  der  Stufenfolge  der  Beweisführungen  uns 
glücklich  erhaltenen  Beispiele,  wie  die  Wissenschaft  der  Geometrie 
sich  entwickelte.  Von  dem  Zerlegen  des  Satzes  in  drei  Falle  stieg 
man  auf  zur  Behandlung  des  allgemeinen  Falls,  aber  in  diesem  Auf- 
wärtsstreben  hielt  man  wieder  ein.  Man  erhob  sich  noch  nicht  zu 
dem  Ausspruche,  die  drei  Winkel  ah  der  früheren  Dreiecksspitze  be- 
säßen als  Winkel,  die  je  einen  Schenkel  gemeinsam  für  zweie  haben, 
und  die  einfach  auftretenden  äußersten  Schenkel  zu  eioar  und  der- 
selben Geraden  sich  verlängern  lassen,  die  Winkelsumme  von  zwei 
Rechten.  Man  mußte  vielmehr  erst  zwei  Winkel  zu  einem  neuen, 
diesen  alsdann  mit  dem  dritten  verbinden.  Freilich  ist  der  letzt- 
erwähnte Fortschritt,  den  man  noch  nicht  wagte,  nach  unserem  Ge- 
fühle, auch  wohl  nach  dem  Gefühle  des  Proklus,  welcher  wenigstens 
von  dessen  Urheber  uns  nichts  sagt,  ein  weit  geringerer,  als  der, 
den  man  wirklich  vollzog,  und  wir  erkennen  hier  bewundernd  den 
„höheren  Gesichtspunkt,  von  welchem  aus  Pythagoras,  dem  Mathe- 
matikerverzeichnisse (S.  147)  zufolge,  die  Grundlage  unserer  Wissen- 
schaft betrachtete'^. 

Wir  haben  auch  die  Notwendigkeit  betont,  den  Flächeninhalt 
einer  Figur  aus  den  dieselbe  bildenden  Seiten  in  richtiger  Weise 
finden  zu  können.  Unseren  mathematischen  Lesern  dürfte  diese  Be- 
tonung überflüssig  erscheinen,  aber  sie  ist  es  nicht  so  ganz.  Bei 
einem  Volke  von  überwiegend  geometrischer  Begabung,  wie  es  un- 
streitig das  griechische  war,  konnte  noch  um  das  Jahr  400  v.  Chr., 
also  zur  Zeit  Plsctons,  einer  der  geistreichsten,  tiefsten  Geschichts- 
schreiber aller  Jahrhunderte,  konnte  noch  ein  Thukydides  so  wenig 
Bescheid  wissen,  daß  er  Inhalt  und  Umfang  als  proportional  dachte, 
daß  er  infolgedessen  die  Fläche  der  Insel  nach  der  zum  Umfahren 
nötigen  Zeit  abschätzte^.  Diese  Unkenntnis  auch  hochgebildeter 
Laien  in  einem  theoretisch  so  einfachen,  praktisch  so  wichtigen 
Kapitel  der  Planimetrie  läßt  sich  dann  weiter  und  weiter  verfolgen. 
Um  130  V.  Chr.  erzählt  Polybius,  daß  es  Leute  gebe,  die  nicht  be- 


>)  ProkluB  (ed.  Friedlein)  879.       «)  Thukydides  VI,  1  (ed.  Rothe), 
pag.  96. 


Pjthagoras  und  die  Pjthagoräer.    Geometrie.  173 

greifen  könnten,  daß  Lager  bei  gleicher  Umwallungslänge  yerschie- 
denes  Fassungsvermögen  besitzen^).  Qnintilian,  der  römische  Schrift- 
steller über  Beredsamkeit  in  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  nach- 
christlichen Jahrhunderts,  gibt  als  dem  Laien  leicht  aufzudrängenden 
Trugschluß  den  an,  daß  gleicher  Umfang  auch  gleichen  Inhalt  be- 
weise*). Vielleicht  hatte  Quintilian  bei  diesem  Vorwurfe  seinen  Zeit- 
genossen Plinius  im  Auge^  welcher  die  Größenyerhältnisse  der  Erd- 
teile durch  Addieren  ihrer  Länge  zu  ihrer  Breite  verglich*).  Proklus 
erzählt  mit  offenbarer  Beziehung  auf  Vorkommnisse  seiner  Zeit,  also 
des  V.  S.,  daß  manche  schon  bei  der  Teilung  von  Flächen  ihre  Ge- 
sellschafter übers  Ohr  gehauen  haben,  indem  sie  eine  größere  Fläche 
mit  Bezugnahme  auf  die  Gleichheit  des  Umfanges  ffir  sich  be- 
anspruchten^). Steuerbeamte  in  Palästina  ließen  sich  gleichfalls 
um  das  V.  S.  in  solcher  Weise  täuschen,  indem  sie  einem  Gemeinde- 
vorsteher, welchem  als  Steuer  der  Ertrag  einer  mit  Weizen  zu  be- 
säenden Fläche  von  40  Ellen  im  Quadrat  auferlegt  war,  verwilligten, 
er  könne  in  zwei  Abteilungen  jedesmal  eine  F^rche  von  20  Ellen  im 
Quadrat  besäen,  in  der  Meinung,  dann  sei  er  seiner  Verpflichtung 
nachgekommen^),  und  ganz  Ahnliches  wird  von  einem  Araber  des 
X.  S.  erzählt^).  Wir  haben  diese  fehlerhafte  Auffasstmg  absichtlich 
durch  einen  längeren  Zeitraum  und  durch  Völker  hindurch  verfolgt, 
welche  einer  Stetigkeit  der  Geistesrichtung  als  Beispiel  dienen  können, 
denn  das  mathematische,  insonderheit  das  geometrische  Denken  der 
Römer,  der  späteren  Juden,  der  Araber  war  nicht  anders  als  grie- 
chisch. Wir  haben  sie  verfolgt,  um  uns  über  einen  allgemeinen  ge- 
schichtlichen Lehrsatz  klar  zu  werden,  dem  wir  eine  nicht  geringe 
Tragweite  besonders  bei  geschichtlich  vergleichenden  Forschungen 
beilegen.  Die  Unwissenheit,  so  lautet  unser  Satz,  und  das  noch 
schlimmere  falsche  Wissen  sind  erblich,  es  gibt  eine  konservative 
Kraft  der  Unwissenheit.  Was  an  unrichtigen  Ergebnissen  einmal 
gewonnen  ist,  das  wird  so  leicht  nicht  zerstört,  das  wird  mit  um  so 
größerer  Zähigkeit  festgehalten,  je  mehr  es  unverstanden  ist.  Nur 
die  Menge  der  Unwissenden  und  Halbwissenden  wechselt,  und  in 
ihrer  Beschränkung  liegt  das,  was  man  Fortschritt  der  Durchschnitts- 
bildung nennt. 


>)  Polybins  IX,  21  (ed.  Hnltscb),  pag.  686.  *)  Quintilianus,  Instüutio 
oratoria  I,  10,  89flgg.  (ed.  Halm)  pag.  62.  *)  Detlefsen,  Die  Maasse  der  Erd- 
theile  nach  Plinius.  Programm  des  Glückstädter  Gymnasinms  fOx  1888,  S.  6—7 
mit  Berufting  anf  Plinius,  Histor.  natnr.  VI,  208.  *)  Proklns  (ed.  Fried- 
lein), pag.  237.  ^)  Jerusalem.  Talmud  Sota  20a  nach  Zuckermann,  Das 
Mathematische  im  Talmud.  Breslau  1878,  S.  48,  Note  68.  *)  Dieterici,  Die 
Propädeutik  der  Araber  im  X.  Jahrhundert,  S.  86. 


174  7.  Kapitel. 

Der  Flächenanlegung  nahe  verwandt  und  mit  ihr  den  Pytha- 
goiuem  eigen  ist  die  Lehre  von  den  regelmäßigen  Yielflächnern» 
angedeutet  in  den  Worten  des  Mathematikerverzeichnisses:  „Pytha- 
goras  ist  es  auch,  der  die  Konstruktion  der  kosmischen  Körper  er- 
fand.^' Der  Name  der  kosmischen  Körper  bedarf  der  Erklärung.  Wie 
Aristoteles  uns  berichtet,  war  Empedokles  ron  Agrigent  in 
Sizilien,  ein  Philosoph,  der  um  440,  jedenfalls  später  als  Pythagoras 
lebte,  der  erste,  der  vier  Elemente,  Erde,  Wasser,  Luft  und  Feuer, 
annahm,  aus  denen  alles  zusammengesetzt  sei^).  Vitruyius  und  andere 
Gewährsmänner  wollen,  Pythagoras  habe  schon  vorher  das  Gleiche 
ausgesprochen').  Wir  haben  eine  Wahl  zwischen  beiden  Meinungen 
hier  nicht  zu  treffen.  Jedenfalls  übernahm  Timäus  von  Lokri  aus 
der  einen  oder  anderen  Quelle  die  Lehre,  wie  der  nach  ihm  benannte 
platonische  Dialog  erkennen  läßt.  Timäus  erläutert  die  Entstehung 
der  Welt,  setzt  das  Vorhandensein  der  vier  Grundstoffe  auseinander, 
gibt  denselben  besondere  Gestalten').  Das  Feuer  trete  als  Tetraeder 
auf,  die  Luft  bestehe  aus  Oktaedern,  das  Wasser  aus  Ikosaedem,  die 
Erde  aus  Würfeln,  und  da  noch  eine  fünfte  Gestaltung  möglich  war, 
so  habe  Gott  diese,  das  Pentagondodekaeder  benutzt,  um  als  Umriß 
des  Weltganzen  zu  dienen*).  Diese  fünf  Körper  heißen  dem  ent- 
sprechend kosmische  Körper  als  zum  Kosmos  in  notwendiger  Be- 
ziehung stehend. 

Die  Geschichte  der  Mathematik  entnimmt  den  atomistischen  Ver- 
suchen jener  ältesten  Lehren  dieser  Art  die  wichtige  Wahrheit,  daß 
Timäus  die  fünf  regelmäßigen  Körper  kannte.  Ob  er  ahnte,  daß 
es  wirklich  keinen  sechsten  regelmäßigen  Körper  gebe,  ob  er  ohne 
auch  nur  die  Frage  nach  einem  solchen  zu  erheben  sich  mit  Ver- 
wertung der  nun  einmal  bekannten  Körperformen  begnügte,  wissen 
wir  nicht.  Wahrscheinlicher  deucht  uns  das  letztere,  und  nun  gar 
einen  Beweis  der  Unmöglichkeit  eines  sechsten  regelmäßigen  Körpers 
in  so  früher  Zeit  anzunehmen,  würden  wir  aufs  entschiedenste  ab- 
lehnen müssen.  Dagegen  hat  es  keine  Schwierigkeit  diejenigen  Kennt- 
nisse, welche  wir  als  Timäus  geläufig  bezeichneten,  d.  h.  die  Gestalt 
der  fünf  regelmäßigen  Körper  bis  in  jene  Zeit,  auch  wohl  darüber 
hinaus  zu  verfolgen*). 

Körper  wie  der  Würfel,  das  Tetraeder,  welches  nichts  anderes 


*)  Aristoteles,  Metaphys.  I,  4.  ")  Vgl.  Chaignetn,  164flgg.  »)Vgl. 
Th.  H.  Martin,  Etudes  sur  U  Timee  de  Piaton  I,  llbügg.  und  U,  284—250. 
^)  Zellerl,  360,  Anmerkung  1  nimmt  an,  das  Dodekaeder  sei  nicht  die  Gestalt 
des  Weltganzen,  sondern  des  Ätheratoms,  d.  h.  des  kleinsten  Teiles  der  das 
Weltganze  umgebenden  äußeren  Schichten.  ')  Das  hier  Folgende  wesentlich 
nach  Bretschneider  S.  86  und  88. 


PythagoraB  und  die  Pythagoräer.    Geometaie.  175 

alB  eine  Pyramide  mit  dreieckiger  Grundfläche,  das  Oktaeder,  welches 
eine  Doppelpjramide  mit  quadratischer  Grundfläche  ist,  müssen  noch 
weit  über  das  Zeitalter  des  Pjthagoras  zurück  sich  als  den  Ägyptern 
bekannt  vermuten  lassen.  Wer  bei  ihnen  jahrelang  verweilte,  ja  wer 
nur  kurze  Zeit  die  Baudenkmäler  ihres  Landes  in  Augenschein  nahm, 
dem  ist  die  Kenntnis  auch  jener  Körper  mit  Notwendigkeit  zuzu- 
sprechen, und  daß  die  Pythagoräer  kein  Bedenken  trugen,  was  ihr 
Lehrer  wußte,  als  seine  Erfindung  zu  verehren,  wurde  schon  erwähnt. 
Auch  das  Ikosaeder  und  nicht  minder  das  Dodekaeder  muß  wohl 
oder  übel  den  Pythagoräem  bekannt  gewesen  sein.  Sonst  konnte 
nicht  Philolaus  schon  von  den  fünf  Körpern  in  der  Kugel  reden  ^), 
sonst  würde  nicht  das  alte  Mathematikerverzeichnis  nebst  anderen 
übereinstimmenden  Berichten^  so  deutlich  sämtliche  kosmische  oder 
regelmäßige  Körper  als  pythagoräisch  bezeichnen.  Möglicherweise 
haben  wir  den  Verlauf  der  Entdeckung  jener  Körper  so  zu  denken, 
daß  man  zuerst  nur  von  Würfel,  Tetraeder,  Oktaeder  wußte,  daß  dann 
das  Ikosaeder,  zuletzt  erst,  wenn  auch  jedenfalls  noch  vor  Timäus, 
das  Dodekaeder  hinzutrat.  Mit  dieser  Annahme  würde  die  Schwierig- 
keit sich  lösen,  daß  die  ursprünglich  jedenfalls  in  Yierzahl  angenom- 
menen Grundstoffe  mit  den  fünf  Körpern  nur  sehr  künstlich  in  Ver- 
bindung zu  bringen  sind.  Es  würden  nämlich  zunächst  vier  Körper 
mit  vier  Elementen  durch  einen  naturgemäßen  Gedanken  sich  gepaart 
haben,  und  zu  dem  nachträglich  gefundenen  fünften  Körper  würde 
dann  eine  kosmische  Bedeutung  erst  gesucht  worden  sein. 

Mit  dieser  Annahme  würde  auch  die  Erzählung  des  Jamblichus') 
sich  decken,  daß  Hippasus,  ein  Pythagoräer,  der  das  Pentagon- 
dodekaeder der  Kugel  zuerst  einschrieb  und  veröffentlichte,  wegen 
dieser  Gottlosigkeit  im  Meer  umgekommen  sei.  Er  habe  den  Ruhm 
der  Entdeckung  davongetragen,  „aber  es  sei  das  Eigentum  JENES, 
so  bezeichnen  sie  nämlich  den  Pythagoras  und  nennen  ihn  nicht  bei 
Namen*^ 

Man  würde  vielleicht  eine  größere  Sicherheit  in  der  Beantwortung 
dieser  Fragen  erlangen,  wenn  man  Alter  und  Herkunft  eines  noch 
vorhandenen  Bronzedodekaeders  zu  bestimmen  imstande  wäre^).  Dabei 
sind  zahlreiche  andere  Dodekaeder  zu  vergleichen,  welche  auf  kel- 
tischem Boden  ^),  welche  auch  in  Oberitalien  ^  aufgefunden  worden  sind. 


»)  Boeckh,  PhilolauB  fragm.  21,  8.  160.  Chaignet  I,  248.  *)  Vgl. 
Wyttenbacli,  Ausgabe  von  Platons  Ph&don.  Leiden  1810,  pag.  804—807. 
*)  JamblichuB,  Vita  Fythagoriea  88.  ^)  Vgl.  verschiedene  Notizen  von  Graf 
Leopold  Hugo  in  den  Comptea  rendus  der  Pariser  Akademie  der  Wissen- 
schaften. Bd.  LXXYU.  ^)  Gonze,  Über  ein  Bronzegerät  in  Dodekaederform. 
Westdeutsche  Zeitschrift  für  Geschichte  und  Kunst  (1892)  XI,  204.    ^)  F.  Linde- 


176  7.  Kapitel. 

Man  hat  diese  Funde  für  sehr  alt  nnd  um  Jahrhunderte  über 
Pythagoras  hinausreichend  erklärt,  und,  wenn  diese  Zeitbestimmung 
richtig  sein  sollte,  so  dürfte  auch  gegen  gewisnie  Folgerungen  aus 
denselben^)  wenig  einzuwenden  sein.  Unter  den  Eisenerzen  kommt 
der  Pyrit  (Schwefelkies)  auf  Elba  und  in  den  südlichen  nach  dem 
Piemont  ausmündenden  Alpentalem,  sonst  aber  nirgend,  in  Kristallen 
vor,  welche  von  20  Dreiecken,  und  in  anderen,  welche  von  12  Fünf- 
ecken begrenzt  sind.  Regelmäßige  Ikosaeder  und  Dodekaeder  sind 
das  nicht,  ähneln  denselben  aber,  und  als  in  der  anfangenden  Eisen- 
zeit jenes  Metall  an  Wichtigkeit  gewann,  können  jene  EristaUformen 
Verehrung  und  Nachbildung  gefunden  haben.  Wenn  nun*)  berichtet 
wird,  Pythagoras  habe  auch  von  den  Ghdliem  gelernt,  ein  Bericht, 
den  wir,  weil  wir  ihm  nicht  zu  sehr  trauen,  bei  unseren  Angaben 
über  das  Leben  des  Pythagoras  übergingen,  so  könnte  das  auf  das 
Kennenlernen  jener  Körperformen  von  Norden  her  sich  beziehen. 
Pythagoras  hätte  dann  in  der  Tat  alle  regelmäßigen  Körper  oder 
denselben  einigermaßen  ähnelnde  gekannt,  und  dem  Hippasus  blieb 
als  lohnende  Aufgabe  das  mathematische  Erkennen  des  vor  ihm  nur 
erfahrungsmäßig  Vorhandenen. 

Mit  den  Angaben  über  die  fünf  Körper  im  engsten  Zusammen- 
hange stehen  die  über  die  Kugel,  in  welche  jene  beschrieben  ge- 
dacht sind,  und  welche  demzufolge  nebst  einigen  ihrer  Eigenschaften 
gleichfalls  den  Pythagoräem  bekannt  gewesen  sein  muß. 

In  demselben  Zusammenhange  erscheinen  Angaben,  welche  sich 
auf  die  Grenzflächen  jener  Körper,  auf  die  regelmäßigen  Viel- 
ecke, als  Dreiecke,  Vierecke,  Fünfecke  beziehen,  und  denen  wir  uns 
nunmehr  zuzuwenden  haben.  Wir  kehren  damit  zur  Flächenanlegung 
zurück,  deren  Verwandtschaft  zur  Lehre  von  den  Vielfiächnem  wir 
oben  zunächst  unerwiesen  behauptet  haben.  Piaton  läßt  seinen  Timäus 
über  die  Entstehung  der  regelmäßigen  Dreiec|:e  und  Vier- 
ecke sich  aussprechen.  Er  sagt'),  diese  Figuren  setzten  ihre  Fläche 
immer  aus  rechtwinkligen  Dreiecken  zusammen,  und  zwar  entweder 
aus  solchen,  welche  zugleich  gleichschenklig  sind,  oder  aus  solchen, 
deren  spitze  Winkel,  der  eine  einem  Dritteil,  der  andere  zwei  Dritt- 
teilen des  rechten  Winkels  gleich  sind. 
Das  hat  nun  offenbar  seine  Richtigkeit, 
indem  das  Quadrat  in  zwei  oder  vier 
Dreiecke  der  ersten  Art  (Fig.  23),  das 
^8-  *'•  gleichseitige  Dreieck  in  zwei  oder  sechs 

mann,  Zur  GeBchichte  der  Polyeder  und  der  Zahlzeichen.   Sitzungsberichte  der 

mathem.  physik.  Blasse  der  k.  bayer.  Akad.  der  Wissensch.  (1897)  XXVI,  626—768. 

^)  Lindemann  1.  c.     *)  Zeller  I,  277.     ")  Pia  ton,  Timaens  64  Bund  64  D. 


Pjthagoras  nnd  die  Pythagoriler.    Geometrie.  177 

Dreiecke  der  zweiten  Art  (Fig.  24)  zerlegt  werden  kann.  Überein- 
stimmend damit,  aber  sicherlich  einer  anderen  Quelle  als  dem  plato- 
nischen Timäus^  über  dessen  Angaben  er 
hinausgeht;  folgend  sagt  Proklus,  es  sei 
ein  pythagoräischer  Lehrsatz ^  daß  die 
Ebene  um  einen  Punkt  herum  durch 
sechs    gleichseitige    Dreiecke,    vier  rtg.  «4- 

Quadrate  oder  drei  regelmäßige  Sechsecke  vollständig  er- 
füllt werde,  so  daß  nur  diese  Figurengattungen  zur  gänzlichen 
Zerlegung  einer  Ebene  in  lauter  identische  Stücke  Benutzung  finden^). 
Wir  wollen  daran  anknüpfend  nur  erinnern,  daß  wir  schon  (S.  143) 
die  Kenntnis  solcher  um  einen  Punkt  herumliegenden  sechs  gleich- 
seitigen Dreiecke  wahrscheinlich  zu  machen  suchen  mußten,  und  daß 
folglich  rückwärts  die  Angabe  des  Proklus  unsere  dortigen  Behaup- 
tungen zu  stärken  imstande  ist. 

Wie  verhält  es  sich  abei*  gegenüber  der  Zerf  ällung  der  Gfrenz- 
flächen  der  vier  ersten  Körper  mit  der  Grenzfläche  des  fünften  und 
letzten,  mit  dem  regelmäßigen  Fünfecke?  Das  Fünfeck  ist,  wie 
leicht  ersichtlich,  mittels  der  beiden  rechtwinkligen  Dreieckchen,  die 
wir  nach  der  Vorschrift  des  Timäus  für  die  Herstellung  von  Dreieck 
und  Viereck  benutzten,  nicht  zusammenzusetzen,  eine  Zerlegung  in 
eben  solche  kann  mithin  nie  gelungen  sein.  Wohl  aber  dürfen  wir 
erwarten,  Spuren  verfehlter  Versuche  anzutreffen,  und  diese  fehlen 
nicht.  Plutarch  hat  an  zwei  Stellen  von  der  Zerleg^g  der  das 
Dodekaeder  begrenzenden  Fläche  in  30  Elementardreiecke  gesprochen, 
hat  das  eine  Mal  hervorgehoben,  daß  somit  aUe  12  Flächen  360  Drei- 
eckchen liefern,  gleich  an  Zahl  mit  den  Zeichen  des  Tierkreises'), 
hat  das  andere  Mal  bemerkt,  es  solle,  wie  man  sage,  das  Elementar- 
dreieckchen  des  Dodekaeders  von  dem  des  Tetraeders,  Oktaeders,  Iko- 
saeders  verschieden  sein').  Ein  anderer  Schriftsteller  des  11.  S.,  Alki- 
nous,  hat  in  seiner  Einleitung  zum  Studium  des  Piaton  gleichfalls  von 
den  360  Elementen  gesprochen,  welche 
erzeugt  werden,  indem  jedes  Fünfeck  in 
5  gleichseitige  Dreiecke,  jedes  von  diesen 
in  6  ungleichseitige  zerfalle^).  Nimmt 
man  nun  diese  Zerlegung  wirklich  vor 
(Fig.  25),  so  tritt  aus  dem  Gewirre  der  fi^  25.  Fig.  w. 


*)  Proklns  (ed.  Priedlein)  804—306.  Vgl.  auch  Heron  (ed.  Hnltsch) 
pag.  32  Definitio  74.  *)  Plutarchus,  Qnaeat.  Piaton.  V.  «)  Plutarchue, 
De  siUntio  aracul,  cap.  83.  *)  Alcinons,  De  docPrina  Platanis  (ed.  Lambinua). 
Paris  1667,  cap.  11. 

O^iTTOB,  GMGhlohte  der  Mathematik  L  8.  Aufl.  12 


178  7.  Kapitel. 

Linien  am  deutlichsten  das  Stemfünfeck  heraus,  welches  demnach  für 
sich  schon  ein  Zeugnis  der  versuchten  Zerlegung  des  Fünfecks  in  Ele- 
mentardreiecke ablegt.  Das  Stemfünfeck  (Fig.  26)  soU  aber  den  Pythar 
gonlem  Erkennungszeichen  gewesen  sein.  Lucian  und  der  Scholiast 
zu  den  Wolken  des  Aristophanes  berichten  darüber  gleichmäßig*). 
Briefe  pflegten  mit  irgend  einer  ständigen  Anfangsformel  eingeleitet 
zu  werden.  Die  einen  schrieben:  Freue  Dich,  xaiQELV,  die  anderen 
mit  Piaton:  Sei  glücklich  in  Deinen  Handlungen,  ev  ngdzTeiv,  die 
Pythagoräer:  Sei  gesund,  iyiaCvsiv.  Gesimdheit  heißt  auch  bei  ihnen 
das  dreifache  Dreieck,  das  durch  gegenseitige  Yerschlingung  das 
Fünfeck  erzeugt,  das  sogenannte  Pentagramm,  dessen  sich  die  Glieder 
des  Bundes  als  Erkennungszeichen  bedienen.  Freilich  kommt  das 
Pentagramm  auf  der  sogenannten  Aristonophosvase  aus  Caere,  welche 
dem  7.  vorchristlichen  Jahrhunderte  angehören  soll,  kommen  fünf- 
eckige Ornamente  in  mykenischen  Funden,  kommen  f&nfspeichige 
Räder  auf  oberitalienischen  Fundstücken  vor*),  und  wieder  unter  der 
Annahme  richtiger  Zeitbestimmung  für  die  Entstehung  hätten  wir 
alsdann  das  Fünfeck  als  vorpythagoräisch  anzuerkennen,  und  nur  die 
mathematische  Betrachtung  desselben  gehorte  der  Schule  an. 

Unt«r  allen  Umständen  ist  die  seltsame  Bedeutung,  welche  die 
freilich  auch  seltsame  Figur  des  StemfÜnfecks  bei  den  Pythagoräem 
besaß,  eine  Unterstützung  der  kaum  mehr  bestrittenen  Vermutung, 
daß  das  regelmäßige  Fünfeck  von  den  Pythagoräem  der  Beachtung 
unterzogen,  wenn  nicht  erfunden  worden  sei.  Daß  diejenigen,  welche 
dasselbe  als  Grenzfläche  eines  Körpers  verwerteten,  es  gekannt  haben 
müssen,  bedarf  keines  Beweises,  aber  woher  sollten  sie  es  entnommen 
haben?  Wir  erinnern  daran,  daß  wenigstens  unter  den  Abbildungen 
aus  chaldäischer,  wie  aus  ägyptischer  Vorzeit,  welche  wir  vergleichen 
konnten,  ein  regelmäßiges  Fünf-  oder  Zehneck,  eine  Zerlegung  der 
Kreisfläche  in  Ausschnitte  nach  irgend  einer  durch  fünf  teilbaren  An- 
zahl nicht  vorkommt  (S.  49  und  109).  Wir  machen  femer  darauf 
aufmerksam"),  daß  die  Einzeichnung  des  Fünfecks  in  den  Kreis  geo- 
metrisch genau  erst  dann  erfolgen  konnte^  als  der  Satz  von  den  Qusr 
draten  der  Seiten  des  rechtwinkligen  Dreiecks,  als  zugleich  auch  der 
goldne  Schnitt  bekannt  geworden  war. 

Der  goldne  Schnitt  spielte  in  der  griechischen  Baukunst  der 
perikleischen  Zeit  eine  nicht  zu  verkennende  Bolle.  Das  ästhetisch 
wirksamste  Verhältnis,  und  das  ist  das  stetige,  ist  in  den  athenischen 


^)  Beide  Stellen  sind  vielfach  abgedruckt,  z.  B.  bei  Bretschneider  S.  86 
bie  86.  *)  Lindemann  1.  c.  S.  780—783.  ")  Bretschneider  S.  87  hat  diese 
gewiß  richtige  Bemerknng  mutmaßlich  znerst  gemacht. 


Pythagoras  und  die  Pythagoräer.    Geometrie.  179 

Bauten  aus  den  Jahren  450 — 430  aufs  schönste  verwertet^).  Wir 
können  bei  solcher  Regehnäßigkeit  des  Auftretens  nicht  an  ein  in- 
stinktives Zutreffen  glauben,  am  wenigsten,  wenn  wir  des  eben  be- 
rührten geistigen  Zusammenhangs  zwischen  goldnem  Schnitte,  regel- 
mäßigem Fünfecke  und  pythagoräischem  Lehrsatze  gedenken. 

Bevor  wir  zu  diesem  letzteren  uns  wenden,  müssen  wir*)  noch 
einem  längere  Zeit  viel  verbreiteten  Irrtume  begegnen.  Diogenes 
Laertius  berichtet:  „Unter  den  körperlichen  Gebilden,  sagen  die  Pytha- 
goräer, sei  die  Kugel,  unter  den  ebenen  der  Kreis  am  schönsten^''). 
Man  hat  daraus  entnehmen  wollen,  Pjthagoras  oder  doch  seine  Schule 
hätten  auch  die  Grundlage  zu  der  Lehre  von  den  isoperimetrischen 
Raumgebilden  gelegt.  Man  ist  dabei  gewiß  von  der  richtigen  Deutung 
jenes  Satzes  abgewichen.  Es  sollte  damit  ein  eigentlicher  geome- 
trischer Lehrsatz  überhaupt  nicht  ausgesprochen  werden.  Nur  die 
gleichmäßige  Rundung  erhielt  in  den  gemeldeten  Worten  das  ge- 
bührende Lob. 

Den  gemeinsamen,  für  Arithmetik  und  Geometrie  gleichmäßig 
bedeutsamen  Schlußstein  unserer  Untersuchungen  über  Pythagoras 
und  seine  Schule  bildet  nunmehr  der  nach  dem  Lehrer  selbst  be- 
nannte Satz  vom  rechtwinkligen  Dreiecke.  Nicht  als  ob  wir  in  ihm 
auch  den  Schlußstein  des  von  den  Pjthagoräem  aufgeführten  mathe- 
matischen Gebäudes  vermuteten.  Keineswegs.  Wir  haben  vielmehr 
schon  gesehen  und  werden  noch  weiter  sehen,  daß  unter  den  schon 
besprochenen  geometrischen  Dingen  einige  nicht  gut  anders  als  in- 
folge des  Satzes  vom  rechtwinkligen  Dreieck  aufgetreten  sein  können. 
Die  Beziehung  des  regelmäßigen  Fünfecks  zu  diesem  Satze  ist  erst 
erwähnt.  Die  ElementArdreieckchen  des  Timäus  dienen  als  Beweis, 
daß  die  Pythagoräer  denjenigen  sonderbaren  rechtwinkligen  Dreiecken 
ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten,  welche  in  dieser  physikalisch-geome- 
trischen Eigenschaft  Verwertung  fanden.  Das  war  einmal  dasjenige 
Dreieck,  dessen  beide  Katheten  je  eine  Längeneinheit  als  Maß  be- 
sitzen, das  war  zweitens  dasjenige,  dessen  Hypotenuse  doppelt  so  groß 
ist,  als  die  kleinere  Kathete,  so  daß  also  1  und  2  die  Maße  dieser 
beiden  Seiten  bezeichnen. 

Wir  haben  uns  (S.  152)  schon  darüber  ausgesprochen,  daß  wir 
für  den  Satz  vom  rechtwinkligen  Dreieck  Pythagoras  selbst  als  den 
Entdecker  betrachten,  und  uns  wesentlich  auf  den  Bericht  bezogen, 

^  Vgl.  Zeisings  verschiedene  Schriften,  über  welche  mit  ftbr  den  mathe- 
matischen Leser  genügender  AusfQhrlichkeit  S.  Günther  in  der  Zeitschr.  Math. 
Phys.  XXI,  histor.-literax.  AbÜg.  S.  167—166  berichtet  hat.  >)  Anch  hier  rührt 
die  richtige  Ansicht  von  Bretschneider  S.  89 — 90  her.  ")  Diogenes  Laer- 
tins  Vm,  19. 

12* 


180  7.  Kapitel, 

diejenigen,  welche  Altertümliches  erkunden  wollten,  führten  den  Satz 
auf  Pythagoras  zurück^).  Der  in  Euklids  Elementen  vorgetragene 
Beweis  dagegen,  derselbe  Beweis,  der  auch  heute  noch  der  bekannteste 
ist,  bei  welchem  die  Quadrate  über  die  drei  Dreiecksseiten  nach 
außen  hin  gezeichnet  werden  und  das  Quadrat  der  Hypotenuse  durch 
eine  von  der  Spitze  des  rechten  Dreieckswinkels  auf  die  Hypotenuse 
gefällte  gehörig  verlängerte  Senkrechte  in  zwei  Rechtecke  zerfällt, 
von  denen  jedes  dem  ihm  benachbarten  Kathetenquadrate  flächen- 
gleich ist,  dieser  Beweis  rührt  nach  Proklus'  ausdrQcklicher  Aussage 
von  Euklid  selbst  her.  Dafi  Plutarch^)  den  Satz  vom  rechtwink- 
ligen Dreieck  als  Satz  des  Pythagoras  kennt,  wissen  wir  (S.  171). 
Der  Rechenmeister  Apollodotus  oder  Apollodorus,  wie  Diogenes 
Laertius  denselben  nennt*),  erzählt  in  Versen  von  dem  Stieropfer, 
welches  Pythagoras  gebracht  habe,  als  er  den  Satz  von  den  Quadraten 
der  Hypotenuse  und  der  Katheten  entdeckt  hatte.  Nicht  wenige 
Schriftsteller  sind  in  ihren  Angaben  bezüglich  des  Satzes  in  einer 
wesentlichen  Beziehung  genauer,  indem  sie  den  Namen  des  Pytha- 
goras mit  demjenigen  rechtwinkligen  Dreiecke  in  Verbindung  bringen, 
dessen  Seiten  die  Maßzahlen  3,  4,  5  besitzen.  Am  deutlichsten  ist 
in  dieser  Beziehung  Vitruvius,  in  dessen  im  Jahre  14  n.  Chr.  ver- 
faßter Architektur  ausdrücklich  berichtet  wird,  daß  Pythagoras  einen 
rechten  Winkel  mit  Hilfe  der  drei  Längenmaße  3,  4,  5  zu  kon- 
struieren lehrte,  und  daß  eben  derselbe  erkannte,  daß  die  Quadrate 
von  3  und  von  4  dem  von  5  gleich  seien*).  Eine  Plutarchstelle,  in 
welcher  dasselbe  Dreieck  besprochen  wird*),  ist  uns  (S.  157)  schon 
vorgekommen.  Dasselbe  Dreieck  spielt  in  Piatons  Staate  eine  Rolle. 
Und  wenn  wir  auf  ganz  späte  Zeiten  zu  dem  Zwecke  herabgehen 
dürfen,  um  mindestens  zu  zeigen,  daß  die  Überlieferung  der  Über- 
lieferung sich  erhalten  hat,  so  möchten  wir  als  letzten  Gewährsmann 
einen  Glossator  vom  Anfange  des  XII.  S.  nennen,  der  vom  pythago- 
räischen  Dreiecke  redend  das  mit  den  Seiten  3,  4,  5  unter  diesem 
Namen  versteht*). 

Wir  glauben  nun,  daß  die  Wahrheit,  welche  jener  Überlieferung 
zugrunde  liegt,  darin  besteht,  daß  Pythagoras  an  dem  Dreiecke  3,  4,  5 
seinen  Satz  kennen  lernte.  „Schwerlich  leitete  den  Pythagoras  das 
nach  ihm  benannte  geometrische  Theorem  auf  seine  arithmetischen 
Sätze,  sondern  umgekehrt  mögen  ihn  die  Beispiele  zweier  Quadrat- 

^)  Proklufl  (ed.  Friedlein)  426.  ')  Plutarchua,  Convivium  YIII,  4. 
»)  Diogenes  LaertiuB  VIÜ,  12.  *)  Vitruvius  IX,  2.  *)  Pintarchus,  De 
Iside  et  Osiride  66.  ')  Gantor,  Die  römischen  Agrimensoren  und  ihre  Stellung 
in  der  Geschichte  der  Feldmeßknnst.  Leipzig  1876,  S.  166  und  Note  288.  Wir 
Terweisen  künftig  auf  dieses  Buch  unter  dem  Titel  „Agrimensoren^^ 


Pythagoras  xind  die  Pythagoräer.    Geometrie.  181 

zahlen,  deren  Summe  wieder  eine  Quadratzahl  ist,  auf  die  Relation 
zwischen  den  Quadraten  der  Seiten  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  auf- 
merksam gemacht  haben^'^).  So  drückte  sich  ein  deutscher  Gelehrter 
bereits  1833  aus,  welcher  aber  keineswegs  zuerst  diese,  wie  wir 
glauben,  richtige  Anschauung  von  dem  Entwicklungsgange  sich  an- 
eignete. Die  gleiche  Ansicht  ist  schon  in  der  Euklidausgabe  des 
Clayias  (1574)  ausgesprochen  mit  dem  Zusätze,  es  sei  dieses  die 
Meinung  verschiedener*).  Pythagoras  bemerkte,  meinen  wir,  daß 
Yon  aufeinanderfolgenden  Quadratzahlen  ausschließlich  9  -f  16  »  25 
(S.  170).  Als  er  diese  unter  allen  umständen  interessante  Bemerkung 
machte,  kannte  er  bereits,  gleichviel  aus  welcher  Quelle,  die  Er- 
fahrungstatsache, daß  ein  rechter  Winkel  durch  Annahme  der  Maß- 
zahlen 3,  4,  5  für  die  Längen  der  beiden  Schenkel  und  für  die  Ent- 
fernung der  Endpunkte  derselben  konstruiert  werde.  Wir  haben 
(S.  105)  darauf  hingewiesen,  daß  die  Ägypter,  (S.  49)  daß  die  Baby- 
lonier  vielleicht  die  gleiche  Kenntnis  besaßen,  daß  die  Chinesen  ihrer 
sicherlich  teilhaftig  waren.  Ein  chinesischer  Schriftsteller  hat  näm- 
lich gesagt:  „Zerlegt  man  einen  rechten  Winkel  in  seine  Bestandteile, 
so  ist  eine  die  Endpunkte  seiner  Schenkel  verbindende  Linie  5,  wenn 
die  Grundlinie  3  und  die  Höhe  4  ist"*).  Die  geometrische  und  die 
arithmetische  Wahrheit  vereinigten  sich  nun  in  dem  Bewußtsein  des 
Pythagoras  zu  einem  gemeinschaftlichen  Satze.  Der  Wunsch  lag 
nahe  zu  prüfen,  ob  auch  bei  anderen  rechtwinkligen  Dreiecken  die 
Maße  der  Seiten  zu  Quadratzahlen  erhöht  das  gleiche  Verhalten 
bieten.  Die  einfachste  Voraussetzung  war  die  des  gleichschenklig 
rechtwinkligen  Dreiecks,  wo  Höhe  und  Grundlinie  gleich  der  Längen- 
einheit waren.  Die  Hypotenuse  wurde  gemessen.  Sie  war  größer 
als  eine,  kleiner  als  zwei  Längeneinheiten.  Die  mannigfaltigsten  Ver- 
suche mögen  darauf  angestellt,  andere  und  andere  Zahlenwerte  für 
die  gleichen  Katheten  eingesetzt  worden  sein,  um  eine  Zahl  für  die 
Hypotenuse  zu  erhalten.  Vergebens.  Man  erhielt  wahrscheinlich 
Zahlen,  die  dem  gesuchten  Maße  der  Hypotenuse  nahe  kamen,  Nähe- 
rungswerte von  l/2  würden  wir  heute  sagen,  aber  es  war  noch 
ein  Biesenschritt,  von  der  Fruchtlosigkeit  der  angestellten  Versuche 
auf  die  aller  Versuche  überhaupt  zu  schließen,  und  diesen  Schritt 
vollzog  Pythagoras. 

Er  fand,  daß  die  Hypotenuse  des  gleichschenkligen  rechtwinkligen 

^)  So  Jul.  Fr.  Wurm  schon  1833  in  Jahns  Jahrbüchern  IX,  62.  Meine 
denselben  Grundgedanken  einzeln  durchführende  Darstellnng  in  den  Math.  Beitr. 
Kultnrl.  ist  1868  entstanden,  ohne  daß  ich  Wurms  Aufsatz  oder  die  Stelle  bei 
Clayius  kannte.  *)  nt  nonnalli  volunt.  ')  Vgl.  Biernatzki,  Die  Arithmetik 
der  Chinesen  in  Grelles  Jonmal.    Bd.  62. 


182  7.  Kapitel. 

Dreiecks  mit  meßbaren  Katheten  selbst  unmeßbar  sei,  daß  sie  durch 
keine  Zahl  benennbar,  durch  keine  aussprechbar  sei^);  er  ent- 
deckte das  Irrationale,  worauf  das  alte  Mathematikerverzeichnis 
ein  so  sehr  berechtigtes  Gewicht  legt.  Er  entdeckte  es  gerade  an  der 
Hypotenuse  des  gleichschenkligen  rechtwinkligen  Dreiecks,  wie  aus 
mehr  als  nur  einem  Umstände  wahrscheinlich  gemacht  werden  kann. 
So  erzählt  uns  Piaton,  der  Pythagoraer  Theodorus  von  Kyrene, 
der  ihn  selbst  in  der  Mathematik  unterrichtet  hatte,  habe  bewiesen, 
daß  die  Quadratwurzel  aus  3,  aus  5  und  anderen  Zahlen  bis  zu  17 
irrational  sei^).  Von  der  Irrationalität  der  Quadratwurzel  aus  2  ist 
dabei  keine  Bede;  diese  muß  also  vorher  bekannt  gewesen  sein. 
Aristoteles  weiß  dagegen  an  vielen  Stellen  von  der  Irrationalität  der 
Diagonale  des  Quadrates  von  der  Seite  1  zu  reden,  und  sagt  einmal 
geradezu,  der  Grund  dieser  Irrationalität  liege  darin,  weil  sonst  Ge- 
rades und  Ungerades  gleich  sein  müßte*).  Den  Sinn  dieser  Worte  er- 
läutert aber  Euklid.  Er  gibt  nämlich  folgenden  Beweis,  den  wir  nur 
so  weit  abgeändert  haben,  daß  wir  Euklids  Worte  in  moderne  Zeichen- 
sprache umsetzten*).  Es  sei  AT  zu  JB  (Fig.  27)  kommensurabel 
^  jg  und  verhalte  sich  in  kleinsten  Zahlen  wie  et  zu  /3; 

folglich  muß  wegen  Ar>  AB  auch  a>  ß  und 
sicherlich  >  1  sein.  Weiter  folgt  AT^:  AB^  ^  a^iß- 
und  wegen  ^F*  «  2^ß*  auch  a«  =  2ß\  folglich  a* 
und  mit  dieser  Zahl  zugleich  auch  a  eine  gerade 
r  Zahl.  Die  zu  a  teilerfremde  ß  muß  daher  ungerade 
^*  *^'  sein.    Die  gerade  a  sei  =  2y,  so  folgt  a*  «=  4y*.    Es 

war  a*  =  2/J*,  mithin  ist  2/3*  =  4y*,  /3*  =  2y*  gerad  und  auch  ß  ge- 
rad,  was  mit  dem  eben  bewiesenen  Gegenteil  einen  Widerspruch 
bildet,  der  zur  Aufhebung  der  Annahme  führt,  als  könne  die  Diago- 
nale mit  der  Quadratseite  in  einem  rationalen  Zahlenverhältnisse  stehen. 
Man  sieht,  das  muß  der  Beweis  gewesen  sein,  an  welchen  Aristoteles 
bei  seiner  Äußerung  dachte.  Es  ist  also  ein  Beweis,  dessen  Alter- 
tum über  Aristoteles  hinaufreicht,  imd  der,  nach  der  kurzen  Weise,  in 
welcher  dieser  ihn  andeutet,  zu  schließen,  den  Lesern  des  Aristoteles 
zur  Genüge  bekannt  sein  mußte.  Wir  gehen  deshalb  vielleicht  nicht 
zu  weit,  wenn  wir  gerade  diesen  Beweis  als  einen  hergebrachten  an- 
sehen, als  denjenigen,  der  in  der  alten  pythagoräischen  Schule  ge- 
führt wurde,  mag  ihn  Pythagoras  selbst  oder  einer  seiner  unmittel- 
baren Schüler  und  Nachfolger  ersonnen  haben. 

^)  fritSv  und  &koYOv  Bind  die  griechiBchen  Namen  für  Rational/ahl  und 
Irrationalzahl;  äXoyov  heißt  sowohl  ohne  Verhältnis  als  ohne  Wort  d.  h.  nicht 
aussprechhar.  *)  Piaton,  Theaetet  147,  D.  ^  Aristoteles,  Analytica 
prot.  I,  28,  11.     *)  Euklid  X,  117. 


Pythagoras  und  die  Pythagoräer.    Geometrie.  183 

War  in  der  Tat  die  Diagonale  des  Quadrates  als  irrational^ 
die  Diagonale  des  Rechteckes  mit  den  um  eine  Längeneinheit  ver- 
schiedenen Seiten  3  und  4  als  rational  ^  nämlich  mit  der  Länge  5, 
bekannt,  dann  war  es  möglich,  daß  man  auch  Quadrat  und  Hete- 
romekie  als  diejenigen  Gegensätze  in  die  pythagoräische  Kategorien- 
tafel; welche  uns  durch  Aristoteles  bekannt  geworden  ist,  au&ahm, 
die  den  sonst  dort  fehlenden  Gegensatz  des  Rationalen  und  Lrationalen 
ersetzen  sollten^).  Wir  haben  eine  solche  von  der  unsrigen  zunächst 
abweichende  Erklärung  angekündigt  (S.  160)  und  nicht  ganz  yon 
der  Hand  gewiesen.  Allein  sie  vollkommen  uns  anzueignen,  auch  in 
der  Verbindung  mit  unserer  eigenen  Vermutung,  die  wir  dort  als 
notwendig  betonten,  vermögen  wir  trotz  eines  unterstützenden  Grundes, 
auf  welchen  wir  im  11.  Kapitel  zu  reden  kommen,  doch  nicht.  Es 
könnte  nämlich  gerade  das  Fehlen  des  Gegensatzes  des  Rationalen  und 
des  Irrationalen  in  der  Kategorientafel  als  bezeichnend  betrachtet 
werden  müssen. 

Nach  einem  alten  Scholion  zum  X.  Buche  der  euklidischen  Ele- 
mente, welches  man  in  neuerer  Zeit  dem  Proklus  zuzuschreiben 
pflegt^),  dürfte  diese  Annahme  eine  nicht  ungerechtfertigte  sein. 
„Man  sagt,  daß  derjenige,  welcher  zuerst  die  Betrachtung  des  Lra- 
tionalen aus  dem  Verborgenen  in  die  Öffentlichkeit  brachte,  durch 
einen  Schiffbruch  umgekommen  sei,  und  zwar  weil  das  unaussprech- 
liche und  Bildlose  immer  verborgen  werden  sollte,  und  daß  der, 
welcher  von  ungefähr  dieses  Bild  des  Lebens  berührte  und  aufdeckte, 
an  den  Ort  der  Entstehung')  versetzt  und  dort  von  ewigen  Fluten 
umspült  wurde.  Solche  Ehrfurcht  hatten  diese  Männer  vor  der 
Theorie  des  Lrationalen." 

Das  Mystische  dieser  Erklärungen  stimmt  allerdings  durchaus  zu 
den  übrigen  philosophischen  Floskeln  des  Proklus  und  sie  sind  offen- 
bar pythagoräischer  Überlieferung  entnommen.  Mystisch  war,  das 
ist  wieder  einer  der  allseitig  anerkannten  Punkte,  der  ganze  Pytha- 
goräismus,  und  wir  dürfen  vielleicht  hier  als  an  dem  geeignetsten 
Orte    darauf    hinweisen,    daß    Philolaus    schon    die    Winkel    von 


*)  So  die  Meinung  Hankels  S.  110,  Anmerkung.  *)  Enoche,  Unter- 
suchungen über  die  neu  aufgefundenen  Scholien  des  Proklus  Diadochus  zu 
Euklids  Elementen.  Herford  1865,  8.  17—28,  besonders  S.  23.  »)  Dr.  P. 
Hohlfeld  machte  uns  brieflich  aufmerksam,  die  griechische  Stelle  heiße  £/; 
tbv  tfjg  ysviafmg  t6nov  »>  an  den  Ort  der  Entstehung,  womit  die  Übersetzung 
des  CommandinuB  in  gener atUmis  hoc  est  profundi  locum  übereinstimme;  wenn 
Haukel  übersetze  „in  den  Ort  der  Mütter*',  so  beruhe  dieses  wahrschein- 
lich auf  unbewußter  Erinnerung  an  eine  bekannte  Stelle  in  Goethes  Faust, 
zweiter  Teil. 


184  7.  Kapitel. 

Figuren  bestimmten  Göttern  weihte^);  daß  Piaton  umgekehrt 
die  Gottheit  immer  geometrisch  zu  Werke  gehen  ließ*). 

War  einmal  die  Irrationalität  als  solche ,  und  zwar  an  der  Dia- 
gonale des  Quadrates  erkannt,  war  man  sich  bewußt  geworden,  daß 
die  Diagonale  des  Rechtecks  yon  den  Seiten  3  und  4  genau  in  5 
Einheiten  sich  darstellte,  die  des  Rechtecks  von  gleichen  Seiten 
aber  nicht  angebbar  war,  welche  Länge  man  auch  den  beiden  Seiten 
beilegte,  so  mußte  man  wohl  auch  andere  Rechtecke'  prüfen,  z.  B. 
von  der  Voraussetzung  ausgehen,  daß  die  Diagonale  zur  einen  Seite 
im  einfachsten  Zahlenverhältnisse  von  2  zu  1  stehe,  und  nun  die 
andere  Rechtecksseite  zu  messen  suchen.  Wir  sehen  hier  das  zweite 
Elementardreieckchen  vor  uns,  dessen  Benutzung  neben  dem  gleich- 
schenkligen rechtwinkligen  Dreiecke  zur  Flächenbildung  wir  aus 
Piatons  Timäus  kennen,  und  dessen  somit  nachgewiesener  pytha- 
goräischer  Ursprung  den  hier  ausgesprochenen  Vermutungen  eine 
immer  breitere  Grundlage  gewähren  dürfte. 

Wieder  weiterschließend  war  die  Untersuchung  an  einem  Punkte 
angelangt,  wo  der  Weg  sich  spaltete.  Man  konnte,  wo  die  Zahl  ihren 
Dienst  versagte,  geometrische  Beweise  für  den  Satz  yon  den  Quadraten 
über  den  Seiten  rechtwinkliger  Dreiecke  suchen.  Man  konnte  solche 
Zahlen  suchen,  die  als  Seiten  rechtwinkliger  Dreiecke  auftreten 
konnten.     Man  schlug  beide  W^e  ein.  ^ 

Hier  ist  vielleicht  der  geeignete  Ort,  auf  die  Bedeutung  des 
Wortes  Hypotenuse  (imoxeCvovöa)  einzugehen').  Man  hai  xogäily 
die  Saite,  als  zu  ergänzendes  Hauptwort  vermutet,  also  die  von  unten 
nach  oben  gespannte  Saite.  Die  Meinung  ist  durch  ägyptische  Ab- 
bildungen von  Harfen  dreieckiger  Gestalt  gestützt.  Ob  der  der  Hypo- 
tenuse gegenüberliegende  Winkel  ein  rechter  ist  oder  nicht,  darauf 
kommt  es  nicht  an.  Musikalische  Versuche  werden  Pythagoras  ohne- 
hin nacherzählt,  und  mit  diesen  in  VerbinduDg  könnte  die  Beachtung 
der  dreieckigen  Harfe  an  Wahrscheinlichkeit  gewinnen. 

Wir  haben  oben  gesagt,  daß  der  heute  gebräuchlichste  Beweis  des 
pythagoräischen  Lehrsatzes  von  Euklid  herrühre.  Der  in  der  pytha- 
goräischen   Schule   selbst   geführte  muß  von  diesem  verschieden  ge- 


»)  Böckh,  Phüolaus  S.  165.  Chaignet  I,  246  —  247.  «)  Plutarchus, 
Co  n  vi  via  VUi,  2  II&s  IlXdrtov  ilsye  rbv  ßebv  &il  y  sankst  gslv.  Die  Stelle  bei 
Piaton  selbst  ist  nicht  bekannt.  Wenn  Yossius  in  seiner  Geschichte  der  Mathe- 
matik dafnr  auf  den  Dialog  ,^hilebus^'  verweist,  so  dürfte  dieses  Zitat  auf  einem 
Irrtum  beruhen;  sagt  doch  schon  Plutarch  an  der  angegebenen  Stelle  ausdrück- 
lich, jener  Ausspruch  finde  sich  nicht  in  Piatons  Schriften,  könne  aber  ganz 
wohl  platonisch  sein.  ')  Max  C.  P.  Schmidt,  Philologische  Beiträge,  zweites 
Heft.     Terminologische  Studien.    ^TTtotBivovaa  pag.  9 — 46  (Leipzig  1906). 


Pythagoras  und  die  Pythagoräer.     Geometrie.  185 

wesen  sein.  Er  dürfte  seiner  Altertümlichkeit  entsprechend  viele 
Unterfälle  unterschieden  haben  und  gerade  vermöge  dieser  Weitläufig- 
keit aufs  gründlichste  beseitigt  worden  sein,  wie  wir  daraus  schließen 
dürfen,  daß  Proklus  auch  mit  keiner  Silbe  des  Ganges  des  voreukli- 
dischen Beweises  gedenkt.  Waren  Unterfälle  unterschieden,  so  ist  die 
Wahrscheinlichkeit  vorhanden,  die  Beweisführung 
sei  von  dem  gleichschenkligen  rechtwinkligen  Drei- 
ecke ausgegangen^)  und  habe  die  Zerlegung  des 
Quadrates  durch  seine  Diagonalen  (Fig.  28)  zur 
Grundlage  gehabt'),  wenigstens  hat  sich  in  Piatons 
Menon  dieser  Beweis  des  Sonderfalles  erhalten. 
Wie  der  weitere  Fortschritt  zum  Beweise  des  all- 
gemeinen Satzes  vollzogen  wurde,  darüber  ist  man  ^^'  ^^' 
in  keiner  Art  unterrichtet.  Die  verschiedenen  Wiederherstellungs- 
versuche, so  geistreich  manche  derselben  sind,  schweben  alle  so 
ziemlich  in  der  Luft^). 

Die  arithmetische  Aufgabe  Zahlen  zu  finden,  welche  als 
Seiten  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  gezeichnet  werden 
können,  löste  Pythagoras  gleichfalls,  und  hier  sind  wir  in  der 
günstigen  Lage,  daß  Proklus  uns  seine  Auflösungsmethode  aufbe- 
wahrt hat*).  Er  sei  von  irgend  einer  ungeraden  Zahl  2  a  +  1  aus- 
gegangen, welche  er  als  kleinere  Kathete  betrachtete.  Die  Hälfte 
des  um  1  verminderten  Quadrates  derselben  gab  die  größere  Eiithete 
2a*  +  2a,  diese  wieder  um  1  vermehrt  die  Hypotenuse  2a*  -|-  2a  +  1. 
Wie  kam  Pythagoras  zu  dieser  Auflösung?  Ein  möglicher  Weg  ist 
folgender,  welchen  wir  nur  wenig  gegen  die  Art,  wie  er  zuerst  ver- 
mutungsweise geschildert  worden  ist^),  verändert  der  Prüfung  unter- 
breiten. Ist  a*  =-  6*  4-  c*,  so  ist  c*  =  a*  —  6*  —  (a  -|-  b)  (a  —  b).  Die 
Aufgabe  der  erstgeschriebenen  Gleichung  zu  genügen  läßt  sich  also 
erfüllen,  wenn  nur  a  +  b  und  a  —  b  beide  gerad  oder  beide  ungerad 
und  zudem  solche  Zahlen  sind,  welche  miteinander  vervielfacht  eine 
Quadratzahl  liefern.  Solche  Zahlen  kannte  höchstwahrscheinlich  be- 
reits die  vorplatonische  Zeit,  da  sie  unter  dem  Namen  ähnlicher 
Zahlen  bei  Theon  von  Smyma  erklärt  sind*).     Die  andere  von  uns 


»)  Hankel  S.  98.  *)  Allman  1.  c.  S.  29.  »)  Vgl.  Camerers  Euklid- 
ansgabe I,  444  mit  Bret8chneider82,  sowie  Zeuthen,  Geschichte  der  Mathe- 
matik in  Altertum  und  Mittelalter  (Kopenhagen  1896)  S.  60,  wo  die  Meinung 
ausgesprochen  ist,  der  alte  Beweis  sei  mittels  Ähnlichkeit  von  Dreiecken,  also 
unter  Ziehung  der  Senkrechten  von  der  Spitse  des  rechten  Winkels  auf  die 
Hypotenuse  gefuhrt  worden.  *)  Proklus  (ed.  Friedlein)  428.  *)  Roth,  Ge- 
schichte der  abendländischen  Philosophie  U,  627.  ^  Theon  Smyrnaeus  (ed. 
Hiller)  36. 


186  7.  Kapitel. 

heryorgehobene  Bedingung  beruht  darauf,  daß  a  und  b  ganzzahlig  zu 
erhalten  nur  dann  möglich  ist,  wenn  Summe  und  Differenz  von 
a  -{-b  und  a  —  b  beide  gerad  sind.  Der  einfachste  Fall  ähnlicher 
Zahlen  ist  nun  selbstverständlich  der  der  Einheit  und  einer  Quadratzahl 
(^,  und  weil  1  ungerad  ist,  muß  hier  auch  (^  und  somit  c  selbst  un- 
gerad  sein,  etwa  c  =»  2a  +  1.  So  kam  die  Formel  des  Pythagoras 
darauf  hinaus  (2  a  +  1)*  =»  (2a  +  1)* .  1  zu  setzen,  und  danach  aus 
{2a  +  ly^a  +  b  und  1  -  a  -  6  die  Werte  b  =  (g«+^i)'-i  ^^^ 

Q  B=  ^  "  '  ^^  ~ 1-  1  ZU  ermitteln,  welche  zusammen  mit  c  =«  2a  +  1 

die  gestellte  Aufgabe  lösen.  Die  Formen,  in  welchen  b  und  a  auf- 
treten, entsprechen,  wie  man  sofort  erkennt,  genau  dem  Wortlaute 
der  Angabe  des  Proklus,  was  immer  ein  günstiges  Vorurteil  für  die 
Richtigkeit  eines  Wiederherstellungsversuches  gewährt,  und  da  über- 
dies in  Ägypten,  wie  wir  aus  dem  Übungsbuche  des  Ahmes  wissen, 
Aufgaben  von  algebraischer  Natur  zu  lösen  nicht  ungebräuchlich  war, 
80  scheitert  der  Versuch  auch  nicht  an  der  Frage,  ob  es  für  Pytha- 
goras möglich  gewesen  sei,  schon  derartige  Schlüsse  zu  ziehen,  wie 
sie  hier  verlangt  wurden. 

Fassen  wir  den  Inhalt  dieses  und  des  zunächst  vorhergehenden 
Kapitels  in  Kürze  zusammen.  Pythagoras  hat,  so  suchten  wir  zu 
erweisen,  sicherlich  in  Ägypten,  vielleicht  in  den  Euphratländem 
mathematisches  Wissen  sich  angeeignet.  Ersteres  geht  wie  aus  den 
ausdrücklichen  Überlieferungen,  so  auch  aus  dem  ägyptischen  Gepräge 
mancher  geometrischer  Entwicklungen,  letzteres  aus  den  babylonisch 
anmutenden  Zahlehdifteleien  der  Pythagoräer  hervor.  Die  Summe 
des  geometrischen  Wissens,  welches  von  Pythagoras  und  seiner  Schule 
den  Griechen  vor  dem  Jahre  400  zugänglich  gemacht  wurde,  ist  eine 
nicht  ganz  geringfügige.  Sie  umfaßte  die  Kenntnis  von  den  Parallel- 
linien und  den  durch  dieselben  beweisbaren  Winkelsätzen,  insbesondere 
den  Satz  von  der  Summe  der  Dreieckswinkel,  Sie  umfaßte  Kon- 
gruenzsätze des  Dreiecks  und  Sätze  über  Flächengleichheit,  deren 
Anwendung  die  sogenannte  Anlegung  von  Flächen  bildete.  Sie  ließ 
umgekehrt  Figuren  als  Summe  anderer  Figuren  entstehen,  wobei 
vielleicht  das  Stemfünfeck  entdeckt  wurde,  wenn  wir  auch  für  dieses 
nicht  mit  gleicher  Sicherheit  wie  für  die  anderen  Dinge  die  alten 
Pythagoräer  als  Urheber  behaupten  möchten.  Sie  umfaßte  den  pytha- 
goräischen  Lehrsatz  und  den  goldnen  Schnitt.  Sie  enthielt  endlich 
auch  Anfänge  einer  Stereometrie,  insbesondere  die  Kenntnis  der  fünf 
regelmäßigen  Körper  und  der  Kugel,  welche  dieselben  umfaßt.  Die 
Sätze  waren  mit  Beweisen  versehen.  Allerdings  ließen  die  Beweise 
vermutlich  nicht  gleich  die  Strenge  erkennen,  welche  man  geradezu 


Pjthagoras  und  die  Pythagoräer.    Geometrie.  187 

geometrische  Strenge  zu  nennen  pflegt^  und  legten  erst  nach  und 
nach  den  Charakter  eines  Erfahrungsbeweises  ab,  nahmen  noch  später 
jene  allgemeineren  Fassungen  an^  welche  in  einheitlicher  Betrachtung 
die  Notwendigkeit  der  Unterscheidung  von  Sonderfällen  verbannt. 
Noch  unvergleichbar  mehr  leistete  die  pythagoräische  Schule  in  der 
Arithmetik^  gerade  durch  die  Große  der  Leistungen  die  Wahrschein- 
lichkeit fremden  Ursprunges  auch  für  diesen  Zweig  griechischer 
Mathematik  bezeugend.  Arithmetische^  geometrische,  harmonische 
Verhältnisse  und  Reihen,  unter  den  arithmetischen  Reihen  auch  solche, 
welche  die  Sprache  heutiger  Wissenschaft  arithmetische  Reihen 
höherer  Ordnung  nennt,  sind  Dinge,  die  man  am  Anfange  einer 
Entwicklung  nicht  zu  finden  erwarten  darf,  noch  weniger  die  freilich 
auch  weniger  gut  beglaubigten  befreundeten  und  vollkommenen 
Zahlen.  Die  Überlieferung  läßt  wirklich  einige  dieser  Gegenstände 
aus  Babylon  eingeführt  sein.  Fremdländisch  war  vielleicht  auch  die 
Methode  des  mathematischen  Experimentes  d.  h.  der  Zerlegung  von 
Figuren  in  andersgestaltete,  der  Vereinigung  von  Reihengliedem 
derselben  oder  verschiedener  Reihen  zu  Summen,  zunächst  nur  in  der 
unbestimmten  Absicht  zu  versuchen,  ob  dabei  etwas  geometrisch, 
etwas  arithmetisch  Merkwürdiges  sich  offenbaren  möchte.  Für  grie- 
chisch dagegen  hielten  wir  die  eigentümliche  Verquickung  von  Geo- 
metrie und  Arithmetik,  die  geometrische  Versinnlichung  der  Zahlen- 
lehre, wie  sie  ip  der  Ebenen-  und  Eörperzahl,  in  der  Dreiecks-  und 
Quadratzahl,  in  der  Vielecks-  und  Gnomonzahl  zutage  tritt.  Pytha- 
goräisch  war  nach  unserer  durch  mannigfache  Überlieferung  gestützten 
Darstellung  die  Erfindung  des  Satzes  von  den  Quadraten  der  Seiten 
des  rechtwinkligen  Dreiecks  als  eines  arithmetischen  ausgehend  von 
dem  bestimmten  Zahlenbeispiele  3^  +  4*  =  5*.  Pythagoräisch  war 
endlich  eine  Regel  zur  Ermittelung  anderer  Zahlen  als  3,  4,  5,  welche 
als  Seiten  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  dienen  können,  pythagoräisch 
die  Lehre  vom  Irrationalen.  Vom  Irrationalen  sagen  wir  und  müssen 
wir  sagen,  nicht  von  der  Irrationalzahl,  denn  das  Irrationale  war  den 
Griechen  keine  Zahl.  War  den  Pythagoräem  doch  sogar  die  Einheit 
noch  keine  Zahl,  sondern  erst  eine  Vielheit  von  Einheiten.  Brüche 
mögen  dem  Rechner  vorgekommen  sein,  sei  es  als  wirkliche  Brüche 
mit  Zähler  und  Nenner,  sei  es  als  Unterabteilungen  von  Münzen, 
von  Gewichten,  von  Feldmaßen,  jedenfalls  immer  als  konkrete  Brüche. 
Der  abstrakte  Bruch  war  für  den  Arithmetiker  nicht  vorhanden. 
Er  kannte  Brüche  nur  mittelbar  als  Verhältnis  zweier  Zahlen.  Um 
so  weniger  konnte  ihm  das  Irrationale  eine  Zahl  sein,  welchem  nicht 
einmal  ein  aussprechbares  Verhältnis  den  Eintritt  in  die  Zahlenreihe 
gestattete.     Diese   wichtige  Beschränkung  des  Begriffes  der  Zahl  er- 


188  8.  Kapitel. 

hielt  sich  über  die  Zeit  der  Pythagoräer  weit  hinaus.  Sie  blieb,  was 
den  Ausschluß  der  Irrationalen  betrifiFt,  so  lange,  als  überhaupt  von 
griechischer  Arithmetik  die  Rede  ist. 

8.  Kapitel. 
Mathematiker  außerhalb  der  pythagoräischen  Sehale. 

Die  Mathematik  nahm,  wie  wir  weitläufig  gesehen  hahen,  einen 
mächtigen  Aufschwung  durch  die  pythagoräische  Schule.  Es  war 
wohl  eng  damit  verbunden,  sei  es  als  Ursache,  sei  es  als  Folge,  daß, 
wie  uns  berichtet  wird,  die  Mathematik  den  Pythagoräem  als  erstes 
und  wichtigstes  Lehrelement  diente^).  Damit  ist  aber  nicht  aus- 
geschlossen, daß  auch  andere  Schriftsteller  sich  noch  verdient  machten. 
Hören  wir,  wie  das  alte  Mathematikerverzeichnis  fortfahrt: 

„Nach  ihm  (dem  Pythagoras)  lieferte  der  Elazomenier  Anazagoras 
vieles  über  Geometrie,  ingleichen  Oinopides  von  Chios,  der  etwas 
jünger  ist  als  Anaxagoras.  Beider  gedenkt  Piaton  in  den  Neben- 
buhlern als  berühmter  Geometer." 

Anaxagoras  von  Elazomene^)  wurde  vermutlich  500  geboren 
und  starb  72  Jahre  alt  428.  Er  gehörte  einem  vornehmen  und 
reichen  Hause  an,  achtete  aber  aus  Liebe  zur  Wissenschaft  weder  auf 
die  Verwaltung  seines  Vermögens,  noch  auf  eine  ihm  leicht  en-ing- 
bare  politische  Stellung.  Seinen  verwahrlosten  Besitz  soll  er  schließ- 
lich seinen  Angehörigen  überlassen,  die  Nichteinmengung  in  staat- 
liche Verhältnisse  aber  damit  erklärt  haben,  daß  ihm  der  Himmel 
Vaterland  und  die  Beobachtung  der  Gestirne  seine  Bestimmung  sei. 
Um  464  etwa  dürfte  er  nach  Athen  gekommen  sein,  wenn  anders 
der  Bericht  der  Wahrheit  entspricht,  daß  sein  dortiger  Aufenthalt 
30  Jahre  gedauert  habe.  Er  verließ  nämlich  diese  Stadt  um  434, 
wenige  Jahre  vor  dem  Beginne  des  peloponnesischen  Krieges.  Anaxa- 
goras lehrte  in  Athen  als  einer  der  ersten  Philosophie,  und  unter 
seinen  Schülern  waren  zwei  Männer  von  verschieden  begründetem, 
aber  gleich  hohem  Ruhme:  Euripides  und  Perikles.  Perikles  insbe- 
sondere blieb  zu  seinem  Lehrer  in  fortwährend  freundschaftlichem 
Verhältnisse,  und  als  in  der  angegebenen  Epoche,  wenige  Jahre  vor 
431,  die  Gegner  des  großen  athenischen  Staatsmannes  ihrer  Feind- 
schaft gegen  ihn  in  Gestalt  von  Verfolgung  seiner  Freunde  Luft  zu 
machen   begannen,   war   gerade  Anaxagoras   eine   zur  Eröffiiung   des 

^)  Porphyrins,  De  vita  Pffihagor.  47.  Jamblichns,  De  philosophia 
Pythagor.  lib.  HI,  abgedrackt  bei  Ansse  de  Villoison,  Anecdota  Oraeca. 
Venedig  1781,  pag.  216.  *)  Schaubach,  Fragmenta  Änaxagorae.  Leipzig  1827. 
Zeller  I,  788—791. 


Mathematiker  außerhalb  der  pythagorftischen  Schale.  189 

Angrifies  geeignete  Persönlichkeit.  Lehren  eines  Philosophen  zu  ver- 
dächtigen^ eines  Denkers,  welchen  nicht  jeder  aus  dem  großen  Haufen 
versteht,  ist  hei  einigem  guten  Willen  niemals  unmöglich,  und  das 
mußte  Anaxagoras  erfahren.  Er  wurde  ins  Gefängnis  gebracht  und 
entkam  diesem,  sowie  der  Stadt  Athen,  man  weiß  nicht  genau  wie. 
Die  einen  berichten  von  Flucht  aus  dem  Gefängnisse,  die  anderen 
Ton  Verbannung,  die  dritten  von  Freisprechung  und  darauf  folgendem 
nichterzwungenem  Verlassen  der  ihm  zuwider  gewordenen  Stadt 
Sicher  ist,  daß  Anaxagoras  die  letzte  Zeit  seines  Lebens  in  Lampsa- 
kus  zubrachte.  Wir  haben  über  den  eigenen  Bildungsgang  des 
Anaxagoras  nichts  gesagt.  Die  Nachrichten  aus  dem  Altertume 
schweigen  entweder  über  einen  Lehrer,  dem  er  gefolgt  wäre,  oder 
sie  nennen  ihn  Schüler  des  Anaximenes.  Wieder  andere  wissen  von 
einer  Studienreise  nach  Ägypten  zu  erzählen.  Die  erstere  Angabe 
läßt  sich  mit  dem  gemeiniglich  auf  499  angesetzten  Todesjahr  des 
Anaximenes  nicht  vereinigen.  Die  zweite  ist  an  sich  nicht  unwahr- 
scheinlich, da,  wie  wir  bei  Thaies  und  Pythagoras  gezeigt  haben,  ein 
Handelsverkehr  zwischen  den  ionischen  Städten  und  Ägypten  statt- 
fand und  selbst  Studienreisen  wohl  beglaubigt  sind. 

Von  dem,  was  Anaxagoras  als  Mathematiker  leistete,  sind  wir 
80  ziemlich,  davon,  wie  er  es  leistete,  gar  nicht  unterrichtet.  Daß  es 
etwas  Hervorragendes  gewesen  sein  muß,  läßt  sich  zum  voraus  er- 
warten. Da  in  den  Nebenbuhlern,  einem  Gespräche  in  Piatons  Art, 
wenn  auch  nach  heutiger  Annahme  nicht  von  Piaton  verfaßt,  ein 
Streit  über  astronomische  und  mathematische  Dinge  kurzweg  als  Streit 
über  Anaxagoras  oder  über  Oinopides  bezeichnet  wird^),  so  geht  schon 
aus  dieser  Redeweise  hervor,  daß  zur  Zeit,  als  jenes  Gespräch  ent- 
stand, beide  hochberühmt  in  ihrem  Fache  waren. 

Plutarch  erzählt,  Anaxagoras  habe  im  Gefängnisse,  das  wäre 
also  um  434,  die  Quadratur  des  Kreises  gezeichnet^).  So 
fraglich  dieser  Bericht  früher  erscheinen  mochte,  jetzt  ist  er  sehr 
glaubwürdig  geworden,  nachdem  wir  wissen,  daß  die  Ägypter  mehr 
als  ein  Jahrtausend  vor  Anaxagoras  die  Quadratur  des  Kreises  zeich- 
neten, d.  h.  eine  Figur  konstruierten,  welche  als  Quadrat  die  Fläche 
des  Kreises  mehr  oder  weniger  genau  darstellte.  Daß  Anaxagoras 
der  mangelnden  Genauigkeit  sich  voll  bewußt  gewesen  sein  sollte,  ist 
nicht  anzunehmen.  Er  wird  wohl,  wie  viele  nach  ihm,  die  volle 
Quadratur  zu  erreichen  gesucht  haben.  Aber  auch  darin  liegt  ein 
Verdienst,  eine  Aufgabe  an  die  Tagesordnung  gebracht  zu  haben, 
welche  später  als  fruchtbringend  sich  erwies. 

")  Piaton,  Rivalea  132 A.     «)  Plutarchua,  De  exilio  cap.  17  &XX'  'Avct- 


190  8.  Kapitel. 

Ein  anderes  Verdienst  schreibt  Vitnivius  dem  Anaxagoras  zn. 
Als  Aeschylus  in  Athen  Dramen  aufführen  ließ^  also  um  etwa  470, 
habe  ein  gewisser  A^atharchus  die  Schaubühne  hergerichtet  und 
eine  Abhandlung  darüber  geschrieben.  Daraus  haben  sodann  Anaxa- 
goras und  Demokrit  Veranlassung  genommen  den  gleichen  Gegen- 
stand zu  erörtern,  wie  man  die  gezogenen  Linien  den  aus  den  Augen 
kommenden  Sehstrahlen  bei  Annahme  eines  bestimmten  Mittelpunktes 
entsprechend  ziehe,  so  daß  z.  B.  Gebäude  auf  Dekorationen  dar- 
gestellt werden  konnten,  und  was  in  einer  Ebene  gezeichnet  war  bald 
zurückzutreten,  bald  vorzurücken  schien^).  Das  ist  wenn  auch  in 
ungenügender  so  doch  in  nicht  mißzuverstehender  Weise  beschrieben 
eine  Perspektive.  Deren  Erfindung  oder  Ausbildung  ist  sicherlich 
nicht  ohne  Bedeutung,  namentlich  wenn  die  Reise  des  Anaxagoras 
nach  Ägypten  als  wahr  gelten  darf,  da  er  dort  sein  Auge  nur  an 
unperspektivisch  entworfene  Gemälde  zu  gewöhnen  imstande  war,  und 
die  gewohnte  Darstellung  ihn  ebensowenig  gehindert  haben  wird  als 
Tausende,  die  vor  ihm,  die  nach  ihm  bewundernd  die  bemalten 
Tempelwände  anstaunten. 

Der  andere  durch  die  erwähnte  Stelle  in  den  Nebenbuhlern  als 
allbekannt  erwiesene  Geometer  war  Oinopides  von  Chios.  Er  sei 
etwas  jünger  als  Anaxagoras,  meldet  das  uns  in  jeder  Beziehung 
glaubwürdige  Mathematikerverzeichnis.  Eine  annähernde  Gleichaltrig- 
keit beider  bestätigt  Diogenes  Laertius^.  Oinopides  soll  gleichfalls 
in  Ägypten  gewesen  sein.  Gekommen  sei  zu  ihnen  ingleichen  Demo- 
kritos  von  Abdera  und  Oinopides  von  Chios'),  meldet  Diodor  an 
einer  früher  (S.  151)  von  uns  angeführten  Stelle.  Geometrisches 
wissen  wir  von  Oinopides  nur,  was  Proklus  in  seinem  Kommentare 
zum  ersten  Buche  der  euklidischen  Elemente  ihm  zuschreibt^),  daß 
er  nämlich  die  beiden  Aufgaben  gelöst  habe^),  von  einem  Punkte 
außerhalb  einer  unbegrenzten  Geraden  ein  Lot  auf  letztere  zu 
fällen  und  an  einem  in  einer  Geraden  gegebenen  Punkte  einen 
Winkel  anzulegen,  der  einem  gegebenen  Winkel  gleich  seL  Bei 
ersterer  Aufgabe  bedient  sich  Oinopides  des  „altertümlichen^  Wortes 
(S.  161)  einer  nach  dem  Gnomon  gerichteten  Linie.  Aus  dem  un- 
gemein elementaren  Gegenstande  der  ihm  zugeschriebenen  Aufgaben 
einen  Schluß  auf  die  Verdienste  des  Oinopides  ziehen  zu  wollen, 
hieße  seinen  griechischen  Verehrern  jede  Urteilsfähigkeit  absprechen. 
Er  muß  noch  Anderes  und  Bedeutenderes  geleistet  haben,  was  wir 


*)  Vitruvins  VII,  praefat.  11.  •)  Diogenes  Laertius  EX,  37  und  41. 
<)  Diodor  I,  96.  *)  Proklus  (ed.  Friedlein)  888  und  838.  «)  Euklid  I,  12 
nnd  23. 


Mathematiker  außerhalb  der  pjthagoräischeu  Schnle.  191 

aber  nicht  kennen.  Seine  Beziehung  zu  den  beiden  Aufgaben  des 
Lotes  und  der  Winkelanlegung  ist  gewiß  dahin  richtig  gedeutet 
worden^),  Proklus  wolle  nur  sagen,  die  bei  Euklid  gelehrten  Auf- 
lösungen rührten  von  Oinopides  her^  während  andere  Auflösungen 
derselben  dem  Praktiker  auf  Weg  und  Steg  vorkommenden  Aufgaben 
längst  vorher  in  Ägypten  wie  in  Griechenland  bekannt  gewesen 
sein  müssen. 

Im  Zusammenhang  mit  beiden  Geometem,  mit  Anax^oras  wie 
mit  Oinopides^  haben  wir  einen  dritten  genannt:  Demokritus.  Ab- 
dera^  jenes  thrakische  Krähwinkel  des  Altertums,  von  dessen  Be- 
wohnern die  schnurrigsten  Geschichten  erzählt  werden,  war  die  Heimat 
des  Demokritus,  dessen  Ruhm,  so  bedeutend  er  war,  nicht  hinreichte, 
das  Abderitentum  in  Schutz  zu  nehmen.  Nach  eigener  Aussage 
40  Jahre  jünger  als  Anaxagoras^)  muß  er  um  460  geboren  sein. 
Nach  Diodor  sei  er  dagegen  im  1.  Jahre  der  94.  Olympiade,  das  ist 
404  auf  403,  im  Alter  von  90  Jahren  gestorben*),  was  einen  unlös- 
baren Widerspruch  herstellt.  Beglaubigt  ist,  daß  *  Demokritus  ein 
hohes  Alter  von  mindestens  90  Jahren  erreichte;  manche  Berichte 
lassen  ihn  sein  Leben  sogar  auf  100,  auf  mehr  als  100,  auf  109  Jahre 
bringen^).  Vereinigen  wir  seine  Geburtsangabe  als  mutmaßlich  glaub- 
würdigste mit  dieser  Lebensdauer,  so  wird  der  Irrtum  keinesfalls  sehr 
groß  sein,  wenn  man  sein  Leben  etwa  von  460 — 370  ansetzt,  den 
Mittelpunkt  seiner  Tätigkeit  in  die  Jahre  420 — 400  verlegt.  Demo- 
kritus gehörte^  wie  aus  der  Diodorstelle  hervorgeht,  zu  den  Fremden, 
deren  Namen  in  den  Matrikellisten  der  ägyptischen  Priester  aufge- 
führt wurden.  Nach  einem  weiteren  Berichte  des  Diodor  verweilte 
er  fünf  Jahre  in  Ägypten*),  und  wenn  in  einem  bei  Clemens  von 
Alexandria  erhaltenen  Bruchstücke  des  Demokrit  selbst  von  80jäh- 
rigem  Aufenthalte  die  Rede  ist^),  so  dürfte  die  Erklärung  stichhaltig 
sein,  hier  habe  einfach  eine  Verwechslung  der  älteren  Zahlbezeich- 
nung iJ «  5  mit  der  jüngeren  n  ==  80  stattgefunden.  Auch  Vorder- 
üsien  und  Persien  bereiste  Demokrit,  wie  allgemein  berichtet  und 
geglaubt  wird').  Wir  glauben  diesen  Umstand  betonen  zu  sollen, 
'  da  er  je  nach  den  persönlichen  Ansichten  des  einen  oder  des  andern 
entweder  dazu  führen  kann  ähnlichen  Reisen,  welche  Pythagoras  etwa 
100  Jahre  früher  unternommen  haben  soll,  einen  gewissen  Wahr- 
scheinlichkeitshalt zu  gewähren,  oder  eine  Erklärung  uns  darbietet, 
auf  welche  Weise  ungefähr  durch  andere  Reisende  schon  im  Y.  S. 


^)  Bretschneider  S.  66.  ')  Diogenes  Laertius  IX,  41.  ")  Diodor 
XIV,  11.  *)  Vgl.  Zeller  I,  686.  »)  Diodor  I,  98.  •)  Clemena  Alexandr. 
Stromata  I,  804  A.     ^  Zeller  I,  688. 


192  8.  Kapitel. 

YorchrisÜicher  Zeitrechnung  babylonische  Lehren  in  das  fast  Tollendete 
Gebäude  pythagoraischer  Schulweisheit  Eingang  finden  konnten. 

In  Erinnerung  an  seinen  ägyptischen  Aufenthalt  gebrauchte 
Demokrit  das  stolze  Wort:  ^Jm  Konstruieren  von  Linien  nach  Maß- 
gabe der  aus  den  Voraussetzungen  zu  ziehenden  Schlüsse  hat  mich 
keiner  je  übertrofiPen^  selbst  nicht  die  sogenannten  Harpedonapten  der 
Ägypter*',  dessen  wir  (S.  104)  gedachten;  als  von  jenen  Seilspannern 
die  Rede  war.  Auch  Cicero  rühmt  Demokrit  als  gelehrten,  in  der 
Geometrie  vollkommenen  Mann^).  Mathematische  Schriften  des  Demo- 
krit nennt  uns  Diogenes  Laertius^),  doch  ist  es  leider  nicht  möglich, 
aus  diesen  Büchertiteln  mehr  als  nur  allgemeinste  Kenntnis  ihres 
Inhalts;  und  das  nicht  immer,  zu  gewinnen.  Über  aeometrie;  Zahlen, 
das  sind  Titel  allgemeinster  Art,  und  ob  wir  unter  der  Geometrie 
etwa  Feldmessung  in  unmittelbarer  Beziehung  zur  Tätigkeit  jener 
Harpedonapten  zu  verstehen  haben,  wagen  wir  kaum  in  Gestalt  einer 
Frage  zu  äußern.  Was  mag  aber  der  Titel  xsqI  diaq>0Q7}g  yvAfiovog 
7j  yc€Ql  ipavöiog  xvxXov  tucI  6(pccCQrig  (wörtlich:  über  den  unterschied 
des  Gnomon  oder  über  die  Berührung  des  Kreises  und  der  Kugel) 
bedeuten?  Als  mögliche  Erklärung  ist  vorgeschlagen  worden*),  Demo- 
krit habe  einen  rechten  Winkel  so  mit  dem  Kreise  beziehungsweise 
der  Kugel  in  Verbindung  gesetzt,  daß  der  eine  Schenkel  durch  den 
Mittelpunkt  ging,  die  Spitze  des  Winkels  auf  die  Ejreislinie  (Kugel- 
oberfläche) fiel,  weil  alsdann  der  andere  Schenkel  zur  Berührungs- 
linie wurde.  Besser  sagt  uns  die  Erklärung  zu^),  welche  auf  ältere 
Handschriften  des  Diogenes  Laertius  zurückgreifend  den  Titel  tccqI 
dtatpoQfjg  yvAfirig  x.  r.  X,  liest,  d.  h.  über  einen  Meinungsunterschied 
oder  über  die  Berührung  des  Kreises  und  der  Kugel.  Der  Meinungs- 
unterschied beziehe  sich  auf  den  Winkel,  welchen  die  Berührungs- 
linie  mit  dem  Kreise  bilde,  einen  Winkel,  von  welchem,  wie  wir  im 
12.  Kapitel  sehen  werden,  Euklid  im  HL  Buche  seiner  Elemente 
handelte,  und  bestehe  in  der  Größenvergleichung  dieses  Winkels  mit 
geradlinigen  Winkeln.  Ein  weiterer  durch  Diogenes  Laertius  über- 
lieferter Titel  ist:  tcbqI  iXöymv  yQanfLGiv  xa£  va(ft&v  fi  (zwei  Bücher 
von  irrationalen  Linien  und  den  dichten  Dingen)?^).  Auch  dafür  ist 
eine  Erklärung  versucht  worden®).  Der  Titel  sei  nämlich  verderbt 
aus  ytsql  äköyov  yQccfifi&v  xhxtftcbv  d.  h.  über  irrationale  gebrochene 


^)  Cicero,  De  finibus  hanürum  et  malorum  l,  6,  20.  *)  Diogenes  Laer- 
tius IX,  47.  ')  All  man,  Greek  geometry  from  Thaies  to  £uclid,  pag.  80. 
*)  Briefliche  Mitteilung  von  T.  L.  Heath.  ')  Daß  yffaniuxl  äXoyat  nicht  Asymp- 
toten bedeuten  kann,  wie  in  einer  sonst  brauchbaren  Programmabhandlung  ge- 
sagt ist,  versteht  sich  von  selbst.  *)  Hultsch  in  den  Neuen  Jahrbüchern  för 
Philol.  u.  P&dagog.  (1881)  Bd.  128,  S.  678—679. 


Mathematiker  außerhalb  der  pythagoräischen  Schale.  193 

Linien,  und  unter  dieser  Überschrift  habe  die  Untersuchung  sich 
teils  mit  solchen  Irrationalii»ten  beschäftigen  können,  welche  Summen 
von  rationalen  und  irrationalen  Teilen  waren,  teils  mit  Zerbrechung, 
d.  h.  Teilung  yon  irrationalen  Linien  nach  gegebenen  Verhältnissen. 
Jedenfalls  können  wir,  mag  das  letzte  Wort  des  Titels  geheißen 
haben,  wie  es  will,  seinen  ersten  Worten  die  nicht  unwichtige  Tat- 
sache entnehmen,  daß  Name  und  vermutlich  auch  BegrifiP  des  Irra- 
tionalen trotz  der  mystischen  Scheu  der  Pythagoräer  yerhältnismäßig 
frühzeitig  außerhalb  der  Schule  in  Anwendung  kam.  Wichtig  wäre 
uns  vielleicht  noch  ganz  besonders  eine  Stelle  hei  Plutarch,  Demokrit 
habe  den  Kegel  parallel  zur  Grundfläche  geschnitten^),  wenn  über 
Art  und  Zweck  der  Schnittführung  nur  irgend  Genaues  gesagt  wäre. 
Wir  würden  Einzelangaben  etwa  im  Mathematikerverzeichnisse  oder 
bei  Proklus  mit  Freuden  begrüßen.  Da  wie  dort  kommt  der  Name 
des  Demokrit  nicht  einmal  vor! 

Das  Schweigen  des  Proklus  läßt  allerdings  als  absichtliches  sich 
auffassen.  Proklus  gehörte  zu  den  begeistertsten  Spätplatonikem. 
Piaton  war  Gegner  des  Demokritus,  dessen  Werke  er  vernichtet  wissen 
wollte,  dessen  Namen  er  in  seinen  zahlreichen  Schriften  niemals  nennt  ^. 
Proklus  mochte  nach  Piatons  Beispiel  handeln.  Aber  das  Mathe- 
matikerverzeichnis? Aristoteles,  Theophrastus,  Eudemus  schätzten 
Demokritus  und  beschäftigten  sich  eingehend  mit  ihm.  Daß  das 
Mathematikerverzeichnis  ihn,  den  vielgerühmten  Geometer,  nicht  nennt, 
kann  nur  in  doppelter  Weise  erklärt  werden.  Entweder  ließ  Proklus 
aus  dem  Verzeichnisse  den  ihm  mißliebigen  Namen  weg,  oder  der 
Verfasser  des  Verzeichnisses  hat  ihn  mit  Unrecht  vergessen,  eine 
Vergeßlichkeit,  welche  uns  einen  der  zahlreichen  Belege  für  den  Satz 
liefert,  daß  aus  dem  zufälligen  Schweigen  eines  Schriftstellers  Schlüsse 
nicht  gezogen  werden  dürfen*). 

Der  Vollständigkeit  entbehrt  das  Mathematikerverzeichnis  auch 
in  einer  anderen  Beziehung,  indem  es  über  die  Sophisten,  welche 
der  Mathematik  sich  befleißigten,  insbesondere  über  Hippias  von 
Elis  in  halbes  Schweigen  sich  hüllt.  Wir  nennen  es  ein  halbes 
Schweigen,  weil  der  Name  dieses  Mannes,  wie  wir  uns  erinnern 
(S.  146),  einmal  bereits  vorkam.  Es  handelte  sich  um  den  geometri- 
schen Ruhm  des  Mamerkus,  für  weichen  Hippias  von  Elis  als  Ge- 
währsmann angerufen  wurde,  und  diese  Anrufung  selbst  genügt  zum 
Nachweise,  daß  Hippias  nach  der  Meinung  des  Verfassers  des  Ver- 
zeichnisses wohl  fähig  war  über  geometrische  Tüchtigkeit  ein  Urteil 


*)  Platarchns,   De   commimibus  notitiis  adversus  Stoicos   cap.  39,    §  3. 
*)  Diogenes  Laertius  IX,  40.     ^  Vgl.  Zeller  I,  690. 

Oaittoii,  GMchiohte  der  Mathematik  I.  S.  Aufl.  13 


194  8.  Kapitel. 

zu  fällen.  Allein  der  eigentliche  Ort,  des  Hippias  von  Elis  und  seiner 
Verdienste  um  die  Mathematik  zu  gedenken,  würde  doch  erst  neben 
oder  nach  Anaxagoras  und  Oinopides  gewesen  sein,  und  hier  ver- 
missen wir  seine  Erwähnung. 

Proklus  spricht  dafür  von  ihm  an  zwei  anderen  Stellen^).  Man 
bat  freilich  mehrfach  Zweifel  dagegen  erhoben,  daß  der  bei  Proklus 
genannte  Hippias  wirklich  Hippias  von  Elis  sei^,  aber  sicherlich  mit 
Unrecht.  Proklus  besitzt  nämlich  in  seinem  Kommentare  eine  Ge- 
wohnheit, von  der  er  nie  abgeht.  Er  schildert  einen  Schriftsteller, 
welchen  er  anführt,  sofern  Mißverständnisse  möglich  wären,  mit 
deutUcher  Benennung,  läßt  aber  später  die  Beinamen  weg,  wenn  er 
es  unbeschadet  der  Deutlichkeit  tun  darf.  So  nennt  er  einen  Zenon 
von  Sidon  später  nur  Zenon  den  früher  erwähnten  oder  kurzweg 
Zenon;  Leodamas  heißt  beim  ersten  Vorkommen  von  Thasos,  später 
nur  Leodamas;  Oinopides  von  Chios  wird  später  zum  einfachen  Oino- 
pides, Theätet  von  Athen  zum  Theätet  usw.  Hippokrates  der  Arzt 
wird  an  einer  Stelle,  Hippokrates  von  Chios  an  einer  späteren  ge- 
nannt, und  wo  noch  später  der  letztere  wieder  auftritt,  heißt  er 
wieder  Hippokrates  von  Chios,  weil  eben  vorher  zwei  des  Namens 
genannt  waren,  und  damit  zum  Mißverständnisse  Gelegenheit  geboten 
war.  Wenn  also  Proklus  uns  einen  Hippias  schlechtweg  nennt,  so 
muß  das  Hippias  von  Elis  sein,  der  schon  vorher  einmal  in  dem- 
selben Kommentare  deutlich  bezeichnet  war.  Aber  sehen  wir  sogar 
von  dieser  Gewohnheit  des  Proklus  ab.  Bei  jedem  Schriftsteller,  ins- 
besondere bei  jedem,  der  den  Werken  Piatons  ein  eingehendes  Studium 
gewidmet  hatte,  konnte  Hippias  ohne  jedwede  andere  Bezeichnung 
nur  Hippias  von  Elis  sein,  eine  viele  Jahrhunderte  lang  teils  um 
seiner  Persönlichkeit  willen,  teils  um  seines  mit  zwei  Dialogen  ver- 
knüpften Namens  wegen  weit  und  breit  bekannte  Figur.  Hippias 
von  Elis  war  ein  wegen  seiner  Eitelkeit,  die  selbst  für  einen  Sophisten 
etwas  hochgradig  gewesen  zu  sein  scheint,  berüchtigter  älterer  Zeit- 
genosse des  Sokrates.  Seine  Geburt  dürfte  auf  460  etwa  anzusetzen 
sein*).  Die  Geistesrichtung  und  die  Tätigkeit  der  Sophisten  ist 
bekannt.  Den  eignen  Vorteil  über  alles  stellend  lehrten  sie  *auch 
andere  gegen  mitunter  recht  hohe  Bezahlung  ihres  Vorteils  wahr- 
nehmen und  durch  Künste  der  Beredsamkeit,  durch  Schlüsse,  welche 
Trugschlüsse  sein  durften,  wenn  sie  nur  wirksam  sich  erwiesen,  im 

»)  Proklus  (ed.  Friedlein)  272  und  856.  ^  F.  Blaß  in  den  Neuen  Jahr- 
büchern für  Philologie  und  Pädagogik  Bd.  106  in  einem  Referate  über  Bret- 
Bchneiders  Geometrie  und  Geometer  vor  Euklid.  Hankel  S.  161;  aber  auch 
schon  im  Bulletino  Boncompagni  1872,  pag.  297.  Friedlein,  Beiträge  III,  S.  8 
(Programm  für  1878).     «)  Zeller  1,876. 


Mathematiker  außerhalb  der  pythagoräischen  Schale.  195 

Staatswesen  und  vor  Gericht  Einfluß  und  Geltung  sich  erwerben. 
Sittlichkeit  kann  die  berufsmäßigen  Rechthaber  nicht  ausgezeichnet 
haben  y  aber  Scharfsinn ,  Schlagfertigkeit ^  umfassendes  Wissen  den 
Sophisten  im  allgemeinen  und  dem  Hippias  als  einem  ihrer  Haupt- 
yertreter  insbesondere  abzusprechen  ist  man  in  keiner  Weise  befugt. 
So  darf  es  gewiß  nicht  als  Ironie  aufgefaßt  werden ,  wenn  der  Ver- 
fasser eines  gleichviel  ob  mit  Recht  oder  Unrecht  Piaton  zugeschrie- 
benen Gespräches  sich  zu  den  Worten  veranlaßt  sieht:  Was  du  am 
besten  verstehst,  was  die  Sterne  betri£Ft  und  was  am  Himmel  sich 
zuträgt?  .  .  .  Aber  etwas  über  Geometrie  hören  sie  gem^).  Ironisch 
klingt  es  auch  nicht,  wenn  gesagt  wird:  Hippias  sei  des  Rechnens 
und  der  Rechenkunst  kundig  vor  allen  anderen  und  kundig  auch 
der  Meßkunst  ^).  Am  allerwenigsten  vollends  kann  ein  solcher  Bei- 
schmack  in  der  Rede  gefunden  werden,  welche  Piaton  dem  Protagoras 
in  den  Mund  legt:  Die  anderen  Sophisten  beeinträchtigen  die  Jüng- 
linge. Sie  führen  dieselben,  die  von  den  Künsten  sich  abwendeten, 
den  Künsten  wider  deren  Willen  zu,  indem  sie  Rechenkunst  und 
Sternkunde  und  Meßkunst  und  Musik  sie  lehren  —  und  dabei  warf 
er  einen  Blick  auf  Hippias  —  kommt  er  aber  zu  mir,  wird  er  über 
nichts  anderes  Etwas  lernen,  als  weshalb  er  zu  mir  kam^).  Nach 
allen  diesen  Äußerungen  glauben  wir  uns  berechtigt  anzunehmen, 
daß  Hippias  von  Elis  als  Lehrer  der  Mathematik  mindestens  in 
gleichem  Range  wie  als  eigentlicher  Sophist  gestanden  haben  muß, 
daß  er  in  naturwissenschaftlichem,  mathematischem  und  astrono- 
mischem Wissen  auf  der  Höhe  der  Bildung  seiner  Zeit  sich  befand^). 
Damit  stimmt  nun  vollkommen  überein,  was  von  Hippias  als 
Mathematiker  uns  mitgeteilt  wird.  Proklus  spricht,  wie  erwähnt, 
zweimal  von  ihm.  Die  erste  Stelle  heißt:  Nikomedes  hat  jeden  gerad- 
linigen Winkel  gedritteilt  mittels  der  konchoidischen  Linien,  deren 
eigentümlicher  Natur  Entdecker  er  ist,  und  von  denen  er  Entstehung, 
Konstruktion  und  Eigenschaften  auseinandergesetzt  hat.  Andere  haben 
dieselbe  Aufgabe  mittels  der  Quadratricen  des  Hippias  und  Nikomedes 
gelöst,  indem  sie  sich  der  gemischten  Kurvren  bedienten,  die  eben  den 
Namen  Quadratrix  (rstQayioviiovöa)  führten;  wieder  andere  teilten 
einen  Winkel  nach  gegebenem  Verhältnisse,  indem  sie  von  den  Archi- 
medischen Spirallinien  ausgingen^).  Die  zweite  Stelle  lautet:  Ganz 
auf  die  nämliche  Weise  pflegen  auch  die  übrigen  Mathematiker  die 
Kurven   zu   behandeln,    indem    sie    das   jeder   Eigentümliche   ausein- 


')  Piaton,  Hippias  major  286.  ■)  Hippias  minor  367—368.  ■)  Pia  ton, 
Protagoras  318.  *)  So  Karl  Steinhart  in  seiner  Einleitung  zum  größeren 
Hippias.     *)  Proklus  (ed.  Friedlein)  272. 

13* 


196  d.  Kapitel. 

andersetzen.  So  zeigt  ApoUonius  das  Eigentümliche  jedes  Kegel- 
schnittes, Nikomedes  dasselbe  für  die  Eonchoiden,  Hippias  für  die 
Quadratrix,  Persens  für  die  Spiren^).  Eine  dritte  Stelle  eines  anderen 
mathematischen  Gewährsmannes  allerersten  Banges ,  des  Pappus  von 
Alexandria,  sagt  nns  dagegen:  Zur  Qnadrator  des  Kreises  wurde  von 
DinostratuSy  Nikomedes  und  einigen  anderen  Neueren  eine  Linie  be- 
nutzt, welche  eben  von  dieser  Eigenschaft  den  Namen  erhielt.  Sie 
wird  nämlich  von  ihnen  Quadratrix  genannt^). 

Aus  der  Zusammenfassung  dieser  drei  Stellen')  dürfte  kaum  ein 
anderer  Sinn  zu  entnehmen  sein,  als  der  folgende.  Hippias,  und 
zwar  Hippias  von  Elis,  hat  um  420  etwa  eine  Eurye  er- 
funden, welche  zu  doppeltem  Zwecke  dienen  konnte,  zur 
Dreiteilung  eines  Winkels  und  zur  Quadratur  des  Kreises. 
Von  letzterer  Anwendung  erhielt  sie  ihren  Namen,  Quadratrix,  wie  er 
in  lateinischer  Übersetzung  zu  lauten  pflegt,  aber  dieser  Name  scheint 
nicht  über  Dinostratus  hinau&ureichen,  dessen  Zeitalter  als  Bruder 
des  Menächmus,  eines  Schülers  des  Eudoxus  Yon  Knidos,  etwa 
in  die  zweite  Hälfte  des  lY.  S.  gesetzt  werden  muß.  Ob  die  Kurve 
früher  einen  anderen  Namen  führte,  ob  sie  überhaupt  mit  Namen 
genannt  wurde,  wissen  wir  nicht.  Der  erste  ganz  gesicherte  Name 
einer  von  der  Kreislinie  verschiedenen  krummen  Linie  wird  uns  am 
Anfang  des  zweiten  Drittels  des  IV.  S.,  annähernd  20  bis  30  Jahre 
vor  Dinostratus  begegnen,  wo  Eudoxus  seine  Hippopede  erfand.  Ist 
aber  der  Name  Quadratrix  erst  nachträglich  der  Kurve  des  Hippias 
beigelegt  worden,  so  schwindet  die  Notwendigkeit  anzunehmen,  sie 
sei  zum  Zwecke  der  Kreisquadratur  erfunden  worden,  und  man  darf 
ihren  ursprünglichen  Zweck  in  dem  suchen,  was  nach  Proklus  durch 
sie  zu  verwirklichen  war,  in  der  Dreiteilung  des  Winkels. 

Daß  diese  Aufgabe  selbst  auftauchte,  kann  uns  nicht  in  Ver- 
wunderung setzen.  Wir  haben  im  vorigen  Kapitel  gesehen,  daß  die 
Konstruktion  regelmäßiger  Vielecke  eines  der  geometrischen  Lieb- 
lingsgebiete der  Pythagoräer  bildete.  Die  Teilung  des  ganzen  Kreis- 
umfanges  in  sechs,  in  vier,  in  fünf  gleiche  Teile  wurde  gelehrt,  und 
namentlich  letztere  als  bedeutend  schwieriger  erkannt  als  die  anderen 
längst  bekannten  Teilungen.  Eine  überwundene  Schwierigkeit  reizt 
zur  Besiegung  anderer,  und  so  mag  das  Verlangen  wach  geworden 
sein  nicht  mehr  den  ganzen  Kreis,  sondern  einen  beliebigen  Kreis- 
bogen in  eine  beliebige  Anzahl  gleicher  Teile  zu  teilen.     Schon  bei 


»)  ProkluB  (ed.  Fr i  edlein)  866.  «)  Pappua,  Collectio  Lib.  IV,  cap.  XXX 
(ed.  HultBch).  Berlin  1876-1878,  pag.  250.  ')  Vgl.  Bretschneider  96  und 
168—164. 


Mathematiker  außerhalb  der  pythagoreischen  Schule.  197 

der  Dreiteilung  traten  unbesiegbare  Schwierigkeiten  auf.  Versuche 
diese  Aufgaben  mit  Hilfe  des  Zirkels  und  des  Lineals  zu  lösen 
mögen  angestellt  worden  sein.  Es  ist  uns  nichts  von  ihnen  bekannt 
geworden.  Sie  mußten  erfolglos  bleiben.  Aber  das  zweite  große 
Problem  der  Geometrie  des  Altertums  neben  der  Quadratur  des 
Kreises ;  deren  wir  bei  Anaxagoras  gedenken  mußten,  war  gestellt, 
und  wie  in  der  Geschichte  der  Mathematik  fast  regelmäßig  zu- 
nächst unlösbaren  Aufgaben  zuliebe  neue  Methoden  sich  entwickelten 
und  kräftigten,  so  fQhrte  die  Dreiteilung  des  Winkels,  rgi^xoröfiia 
yorulag,  die  Trisektion,  wie  man  gewöhnlich  sagt,  zur  Erfindung 
der  ersten  von  der  Kreislinie  yerschiedenen,  durch  bestimmte  Eigen- 
schaften gekennzeichneten  und  in  ihrer  Entstehung  verfolgbaren 
krummen  Linie. 

Die   Linie   des   Hippias  entsteht   durch  Verbindung   zweier  Be- 
wegungen, einer  drehenden  und  einer  fort-   j^ y 

schreitenden.  „In  ein  Quadrat  aß  yd 
(Fig.  29)  ist  um  a  als  Mittelpunkt  und  mit 
der  Seite  des  Quadrats  aß  als  Halbmesser 
ein  Kreisquadrant  ßsd  beschrieben.  Die  Ge- 
rade aß  bewegt  sich  dabei  so,  daß  ihr  einer 
Endpunkt  a  fest  bleibt,  der  andere  ß  längs 
des  Bogens  ßsS  fortschreitet.  Andererseits 
soll  die  ßy  immer  der  ad  parallel  bleibend 
mit  dem  Endpunkte  ß  auf  der  ßa  fortrücken,  und  zwar  sollen  die 
beiden  selbst  gleichmäßigen  Bewegungen  der  Zeit  nach  so  erfolgen, 
daß  sie  zugleich  beginnen  und  zugleich  endigen,  daß  also  a/S  in 
seiner  Drehung,  ßy  m  seinem  Fortgleiten  im  selben  Moment  in  der 
Lage  ad  eintreffen.  Die  beiden  bewegten  Geraden  werden  in  jedem 
Augenblicke  einen  Durchschnittspunkt  gemein  haben,  der  selbst  im 
Fortrücken  begriffen  eine  gegen  ßsS  hin  gewölbte  krumme  Linie 
ß%ri  erzeugt,  welche  geeignet  erscheint  ein  der  gegebenen  Kreisfläche 
gleiches  Quadrat  finden  zu  lassen.  Ihre  beherrschende  Eigenschaft 
besteht  jedoch  darin,  daß  eine  beliebige  Gerade  a^s  bis  zum  Kreis- 
quadranten gezogen  das  Verhältnis  dieses  Quadranten  zum  Bogen 
bS  gleich  dem  Verhältnisse  der  beiden  Geraden  ßa  und  ^6  zuein- 
ander macht.  Das  ist  nämlich  klar  aus  der  Entstehung  der  krummen 
Linie.''  So  Pappus,  der  hier  getreuer  Berichterstatter  über  die  alte 
Erfindung  zu  sein  scheint.  Die  Kreisquadratur  mit  Hilfe  der  Quadratrix 
schließt  sich  bei  Pappus  unmittelbar  an.  Wir  werden  diese  Anwendung 
erst  in  Verbindung  mit  dem  Namen  Dinostratus  zur  Rede  bringen^). 


^)  Diese  ganze  Stelle  schließt  sich  eng  an  Bretschneider  1.  c.  an. 


198  8.  Kapitel. 

Noch  von  einer  anderen  Persönlichkeit  müssen  wir  hier  ein- 
schaltend einiges  sagen ^  von  Zenon  von  Elea.  Dieser  Erfinder^) 
der  eigentlichen  Dialektik  dürfte  noch  um  20  Jahre  älter  als  Demo- 
kritns,  um  30  bis  40  Jahre  älter  als  Hippias  gewesen  sein  und  seine 
geistige  Blüte  in  der  Zeit  gefeiert  haben^  als  letzterer  kaum  geboren 
war.  Nach  der  als  Stoa  bezeichneten  Halle  ^  in  welcher  Zenon  in 
Athen  seine  Vorträge  hielt,  nannte  man  seine  Schüler  die  Stoiker. 
Zu  diesen  unmittelbaren  Schülern  gehörte  Posidonius  von  Alexan- 
dria. Würde  Zenon  als  Mathematiker  eine  Bedeutung  haben,  so 
könnte  man  uns  mit  Recht  den  Vorwurf  machen,  seiner  hier  an 
unrichtiger  Stelle  zu  gedenken,  der  weiter  oben  behandelt  werden 
mußte.  Aber  Zenon  war  nicht  Mathematiker.  Man  wäre  fast  ver- 
sucht, ihn  das  Gegenteil  eines  solchen  zu  nennen.  Wenigstens  ver- 
suchte er  mit  philosophischem  Scharfsinne  die  mathematischen  Mei- 
nungen zu  stürzen  statt  sie  zu  stützen.  Die  Zeit  brachte  das  so 
mit  sich.  Die  Atomistiker  hatten  die  Teilbarkeit  der  Körperwelt  in 
Frage  gestellt,  indem  sie  unteilbar  kleine  Urteilchen  annahmen.  Noch 
ungeheuerlicher  war  der  Bruch  mit  dem  Gewohnten  als  die  Pytha- 
goräer  den  Begriff  des  Irrationalen  unter  die  Denker  warfen.  Beab- 
sichtigt oder  nicht,  dieser  Begriff  drang,  wie  wir  bei  Demokritus 
(S.  193)  gesehen  haben,  in  weitere  und  weitere  Kreise.  Das  Unaus- 
sprechliche war  ausgesprochen,  das  Undenkbare  in  Worte  gekleidet, 
das  UnenthüUbare  den  Augen  preisgegeben.  Und  wer  nüchternerer 
Auffassung  diese  pythagoräische  Scheu  nicht  teilte,  dem  war  wenig- 
stens eine  ganz  neue  Schwierigkeit  unterbreitet,  welche  strengen 
Schlüssen  nicht  standhielt.  Zahl  und  Raumgröße,  bisher  als  zur 
gegenseitigen  Messung  oder  Versinnlichung  als  unbedingt  tauglich 
erachtet,  zeigten  plötzlich  einen  Widerspruch.  Jeder  Zahl  entsprach 
noch  immer  eine  Länge,  aber  nicht  jeder  Länge  entsprach  eine  Zahl. 
Stetigkeit  und  Unstetigkeit  waren  damit  entdeckt  und  den  Philo- 
sophen als  neues  Denkobjekt  vorgelegt.  Kann  man  sich  wundem, 
wenn  letztere,  um  des  Widerspruches,  der  in  jenem  Gegensatze  ent- 
halten ist,  sich  zu  erwehren,  zu  weit  gingen,  wenn  sie  dabei  zur 
Leugnung  der  Vielheit,  zur  Leugnung  der  Bewegung  gelangten? 

Man  kennt  ja  die  eigentümlichen  Schlüsse  Zenons^).    Jede  Viel- 


*)  Diogenes  Laertins  XI,  26  q>rial  d*  'AQLfftotilrig  iv  ta  JSocpiöty  evgeTriv 
ai)tbv  ysviod'cci  du(XsyiTi%ijg.  Ebenso  derselbe  VIII,  57.  *)  Vgl.  Zell  er  I,  497 
bis  607,  woher  wir  unsere  Anszüge  meistens  wörtlich  entnehmen.  Ferner  G  er- 
lin g,  Ueber  Zeno  des  Eleaten  Paradoxen  über  die  Bewegung  (Marburg  1846). 
£.  Raab,  Die  Zenonischen  Beweise  (Schweinfurt  1880)  und  P.  Tannerj,  Le 
concept  scientifique  du  continu:  Zänon  d'^ll^e  et  6.  Cantor,  im  Oktoberheft  1885 
der  Revue  philosophique  pag.  385—410. 


Mathematiker  außerhalb  der  pythagoräischen  Schule.  199 

heit  ist  eine  Anzahl  von  Einheiten,  eine  wirkliche  Einheit  aber  nur 
da^s  Unteilbare.  Jedes  von  den  vielen  muß  also  selbst  eine  unteil- 
bare Einheit  sein,  oder  aus  solchen  Einheiten  bestehen.  Was  aber 
unteilbar  ist,  das  kann  keine  Größe  haben,  denn  alles,  was  eine  Größe 
hat,  ist  ins  Unendliche  teilbar.  Die  einzelnen  Teile,  aus  denen  das 
Viele  besteht,  haben  mithin  keine  Größe.  Es  wird  also  auch 
nichts  dadurch  größer  werden,  daß  sie  zu  ihm  hinzutreten,  und 
nichts  dadurch  kleiner,  daß  sie  von  ihm  hinweggenommen  werden. 
Was  aber  zu  anderem  hinzukommend  dieses  nicht  vergrößert,  und 
von  ihm  weggenommen  es  nicht  verkleinert,  das  ist  nichts.  Das 
Viele  ist  mithin  unendlich  klein,  denn  jeder  seiner  Bestandteile  ist  so 
klein,  daß  er  nichts  ist.  Andererseits  aber  müssen  diese  Teile  auch 
unendlich  groß  sein.  Denn  da  dasjenige,  was  keine  Größe  hat,  nicht 
ist,  so  müssen  die  Vielen,  um  zu  sein,  eine  Größe  haben,  ihre  Teile 
müssen  mithin  voneinander  entfernt  sein,  d.  h.  es  müssen  andere  Teile 
zwischen  ihnen  liegen.  Von  diesen  gilt  aber  das  Gleiche:  auch  sie 
müssen  eine  Größe  haben  und  durch  weitere  von  den  anderen  ge- 
trennt sein,  und  so  fort  ins  Unendliche,  so  daß  wir  demnach  unend- 
lich viele  Größen,  oder  eine  unendliche  Größe  erhalten.  Man  kennt 
den  Ausspruch  des  Zenon  gegen  Protagoras,  ein  Scheffel  Frucht  könne 
beim  Ausschütten  ein  Geräusch  nicht  hervorbringen,  wenn  nicht  jedes 
einzelne  Korn  und  jeder  kleinste  Teil  eines  Kornes  ein  Geräusch  her- 
vorbrächte. Man  kennt  seine  Beweise  für  die  Unmöglichkeit  einer 
Bewegung.  Ehe  der  bewegte  Körper  am  Ziele  ankommen  kann,  muß 
er  erst  in  der  Mitte  des  Weges  angekommen  sein,  ehe  er  an  dieser 
ankommt  in  der  Mitte  seiner  ersten  Hälfte,  ehe  er  dahin  kommt  in 
der  Mitte  des  ersten  Viertels,  und  so  fort  ins  Unendliche.  Jeder 
Körper  müßte  daher,  um  von  einem  Punkte  zum  anderen  zu  gelangen, 
unendlich  viele  Räume  durchlaufen.  Es  ist  mithin  unmöglich  von  einem 
Punkte  zu  einem  anderen  zu  gelangen,  die  Bewegung  ist  unmöglich. 
Ebenso  folgt  die  Unmöglichkeit,  daß  die  Schildkröte,  wenn  sie  nur  einen 
Vorsprung  hat,  durch  den  schnellen  Achilleus  eingeholt  werden  könne, 
weil  während  Achilleus  den  ersten  Vorsprung  durchläuft,  die  Schildkröte 
bereits  einen  zweiten  Vorsprung  gewonnen  hat,  und  so  fort  ins  Unendliche. 
Der  mathematisch  sein  sollenden  Form  wegen  ist  ein  letzter  Ein- 
wurf Zenons  gegen  die  Bewegungslehre  erwähnenswert.  Eine  Reihe 
von  Gegenständen  a^,  Oj,  «3,  «^  ist  räumlich  mit  zwei  anderen 
Reihen  von  Gegenständen  ß^,  ß^,  ß^,  ß^  tmd  y^,  y^,  ^g,  y^  in  Be- 
ziehung gesetzt,  so  daß  sie  nachfolgende  gegenseitige  Lage  besitzen: 

«1  «2  «8  «4 
ßi  A  ßi  ßi 


200  8-  Kapitel. 

Die  cc  sind  in  Ruhe,  die  ß  und  die  y  sind  in  entgegengesetzter  Be- 
wegung, jene  von  links  nach  rechts,  diese  von  rechts  nach  links. 
Wenn  ß^  bei  a^  angelangt  ist,  ist  y^  bei  cc^  angelangt,  und  zu  der- 
selben Zeit  ß^  bei  c^,  y^  bei  cc^.  Demgemäß  ist  ß^  sowohl  an  Og 
und  a^  als  an  yj,  y,,  y^,  y^  vorbeigekommen,  hat  in  einer  und  der- 
selben Zeit  an  zwei  und  an  yier  Gegenständen  von  genau  gleicher 
Entfernung  sich  vorbeibewegen  können  und  folglich  zugleich  eine 
einfache  und  eine  doppelte  Geschwindigkeit  besessen,  was  unmög- 
lich ist. 

Wir  haben  dem  Zenon  weiter  oben  die  Eigenschaft;  als  Mathe- 
matiker abgesprochen.  Gerade  dieser  letzte  Trugschluß  rechtfertigt 
uns,  denn  hier  sind  irrigerweise  absolute  und  relative  Bewegungs- 
größen einander  gleichgesetzt,  was  einem  Mathematiker  kaum  be- 
gegnet wäre.  Anders  dagegen  verhält  es  sich  mit  den  vorher  her- 
vorgehobenen Schlüssen  und  ihren  sich  widersprechenden  Ergebnissen. 
Zenon  suchte  darzutun,  daß  ein  Körper  nicht  eine  Summe  von 
Punkten,  ein  Zeitraum  nicht  eine  Summe  von  Augenblicken,  eine 
Bewegung  nicht  eine  Summe  einfacher  Überg^ge  von  einem  Punkte 
des  Raumes  zum  anderen  sei.  Dieser  ganze  in  geistreich  erfundenen 
Widersprüchen  geführte  Streit  richtete  sich  gegen  die  Pythagoräer  *), 
welchen  der  Punkt  eine  fioväg  ixovöa  d'döiv,  eine  Einheit  an  be- 
stimmtem Platze  hieß.  War  diese  Erklärung  richtig,  dann  war  der 
Körper  als  Vielheit  eine  Summe  von  Einheiten,  d.  h.  von  Punkten, 
und  dagegen  erhob  Zenon  seine  Stimme.  Er  sah  hier,  was  vor  ihm 
vielleicht  noch  nicht  gesehen,  jedenfalls  nicht  in  gleich  scharfer  Be- 
tonung bemerklich  gemacht  worden  war:  Schwierigkeiten,  denen  in 
der  Tat  weder  der  Philosoph  noch  der  Mathematiker  in  aller  Strenge 
gerecht  werden  kann,  wenn  auch  der  Mathematiker  dazu  gelangte 
durch  Einführung  bestimmter  Zeichen  die  Stetigkeit  zu  einer  definier- 
baren Eigenschaft  zu  machen,  und  mit  den  Grenzen  zugleich  den 
Übergang  zu  den  Grenzen  der  Untersuchung  zu  unterwerfen.  Zwei 
Jahrtausende  und  mehr  haben  an  dieser  zähen  Speise  gekaut,  und 
es  wäre  unbillig  von  den  Griechen  des  fünften  vorchristlichen  Jahr- 
hunderts zu  verlangen,  daß  sie  in  Klarheit  gewesen  seien  über  Dinge, 
welche,  freilich  anders  ausgesprochen,  noch  Streitfragen  unserer  Gegen- 
wart bilden. 


*)  Die  Gegnerschaft  Zenons  gegen  die  Pythagoräer  ist  von  Tannery  1.  c. 
hervorgehoben  worden. 


Maihem.  außerhalb  d.  pjthagor.  Schule.    Hippokrates  von  Chios.      201 

9.  Kapitel. 

Mathematiker  anfierlialb  der  pythagorälsclien  Sehnle. 
Hippokrates  Ton  Chios. 

Den  Mathematikern  scheint  nächst  dem  Irrationalen  bei  Gelegen- 
heit der  Ereisquadratur  der  erste  Anlaß  geboten  worden  zu  sein, 
Fragen  des  stetigen  Überganges  zu  behandeln,  und  dieses  führt  uns 
zurück  zu  dem  Mathematikerverzeichnisse,  welches  mit  den  Worten 
fortfahrt: 

,,Nach  diesen  wurde  Hippokrates  von  Chios,  der  die  Quadratur 
des  Mondes  fand,  und  Theodorus  von  Kyrene  in  der  Geometrie  be- 
rühmt, unter  den  hier  Genannten  hat  zuerst  Hippokrates  Elemente 
—  ötoixela  —  geschrieben." 

Von  dem  Leben  des  Hippokrates  von  Chios  sind  uns  nur 
wenige  Züge  bekannt^).  Ursprünglich  Kaufmann  kam  er  durch  einen 
unglücklichen  Zufall  um  sein  Vermögen.  Die  einen  erzählen,  die 
Zolleinnehmer  von  Byzanz,  gegen  welche  er  sich  leichtgläubig  er- 
wies, hätten  ihn  darum  geprellt,  die  anderen  lassen  ihn  durch  See- 
räuber geplündert  worden  sein.  Man  hat  beide  Angaben  so  zu  ver- 
einigen gesucht,  daß  man  mutmaßte,  athenische  Seeräuber  hätten  aus 
Veranlassung  eines  Krieges  gegen  Byzanz  das  Schiff  des  Hippokrates 
weggenommen.  Jener  Krieg  sei  der  sogenannte  Samische  Krieg  um 
das  Jahr  440  gewesen,  an  welchem  tatsächlich  die  Byzantiner  gegen 
die  Athener  teilnahmen,  und  um  diese  Zeit  sei  also  Hippokrates  nach 
Athen  gekommen.  Ohne  die  Möglichkeit  in  Abrede  zu  stellen,  daß 
es  sich  so  verhalten  haben  könne,  bedürfen  wir  jedoch  dieser  Ver- 
mutung nicht,  um  die  wichtigste  Folgerung  zu  ziehen,  welche  sie  für 
uns  enthält,  nämlich  den  Aufenthalt  des  Hippokrates  in  Athen  zu 
begründen  und  zeitlich  zu  bestimmen.  Die  ungefähre  Lebenszeit  des 
Hippokrates  geht  schon  aus  seiner  Stellung  innerhalb  des  Mathema- 
tikerverzeichnisses hervor,  sein  Aufenthalt  in  Athen,  der  Stadt,  welche 
gerade  damals  mit  Recht  begann  als  erste  Stadt  Griechenlands  zu 
gelten,  hat  eine  besondere  Veranlassung  nicht  notwendig  gehabt. 
Jedenfalls  war  Hippokrates  von  Chios  in  der  zweiten  Hälfte  des 
V.  S.  in  Athen  und  kam  dort  mit  Pythagoräem,  d.  h.  offenbar  mit 
versprengten  Mitgliedern   der  italischen  Schule  zusammen,  in  deren 


^)  Die  betreffenden  Stellen  des  Aristoteles  (Ethic.  ad  Eudem.  YR,  14)  und 
des  Johannes  Philoponus  {Comment  in  Äristotel  phya.  auscuU,  f.  18)  sind  abge- 
druckt bei  Bretschneider  97,  wo  die  im  Texte  dargestellte  Vereinigung  der 
beiden  Angaben  versucht  ist. 


202  9.  Kapitel. 

Gesellscliaft  er  geometrisches  Wissen  sich  aneignete.  Es  wird  sogar 
erzählt,  er  habe  es  sehr  bald  dahin  gebracht,  selbst  Unterricht  in  der 
Mathematik  erteilen  zu  können  und  habe  dafQr  Bezahlung  ange- 
nommen.    Von  da  an  hätten  die  Pythagoräer  ihn  gemieden^). 

Diese  Geschichte  erscheint,  insbesondere  was  den  durch  Hippo- 
krates  gewohnheitsmäßig  erteilten  mathematischen  Unterricht  betrifft, 
sehr  glaubwürdig.  Damit  stimmt  nämlich  vortreflflich  überein,  was 
das  Mathematikerverzeichnis  uns  meldet,  daß  Hippokrates  das 
erste  Elementarlehrbuch  der  Mathematik  verfaßt  habe. 
Weit  hervorragender  aber  sind  die  eigentlichen  geometrischen  Erfin- 
dungen des  Hippokrates,  welche  auf  zwei  Probleme  sich  beziehen: 
auf  die  Quadratur  des  Kreises  und  auf  die  Verdoppelung  des  Würfels. 

Die  Quadratur  des  Kreises,  von  Anaxagoras  zuerst  versucht,  hat 
auch  unter  den  Sophisten  wenige  Jahrzehnte  vor  Hippokrates  wenn 
nicht  bis  zu  seiner  Zeit  herab  Bearbeiter  gefunden.  Es  ist  kaum 
wahrscheinlich,  daß  die  Wortklauberei  so  alt  sei,  mit  welcher  man 
nach  einer  Quadratzahl  suchte,  die  zugleich  zyklisch  sei*),  d.  h.  mit 
derselben  Endziffer  schließe  wie  ihre  Wurzel  z.  B.  25  =  5*,  36  =  61 
Diese  Spitzfindigkeit  ist  erst  bei  Alexander  von  Aphrodisias  (um  200 
nach  Christus)  nachweisbar').  Aber  die  Versuche  von  Antiphon  und 
Bryson  sind  sehr  bemerkenswert. 

Antiphon,  ein  Zeitgenosse  des  Sokrates,  mit  welchem  er  über 
verschiedene  Dinge  in  Hader  lag*),  schlug  den  Weg  ein,  daß  er  in 
den  Kreis  ein  regelmäßiges  Vieleck,  etwa  ein  Quadrat  oder  ein  regel- 
mäßiges Dreieck,  einzeichnete*).  Von  diesem  ging  er  zu  dem  Viel- 
ecke doppelter  Seitenzahl  über.  So  soll  man  fortschreiten  bis  dem 
Kreise  ein  Vieleck  werde  eingeschrieben  werden,  dessen  Seiten  ihrer 
Kleinheit  halber  mit  dem  Kreise  zusammenfallen  würden.     Nun  könne 


*)  Jamblichus,  De  philosoph.  Pythagor.  lib.  m,  bei  Ansse  de  Villoi- 
Bon,  Anecdota  Graeca^  pag.  216.  *)  So  berichtet  Simplicius  in  einer  unter 
anderen  bei  Bretschn eider  106—107  abgedrackten  Stelle.  *)  Vgl.  über  das 
Alter  der  Stelle  P.  Tannery  in  der  Bibliotheca  Mathematica  1900  (3.  Folge 
1,266).  *) Diogenes  Laertius  II,  46.  '^)  Der  Bericht  des  Simplicius  abgedruckt 
bei  Bretschneider,  der  das  große  Verdienst  sich  erworben  hat,  diese  sämt- 
lichen Untersuchungen  zuerst  für  die  Geschichte  der  Mathematik  nutzbringend 
gemacht  zu  haben.  Bedeutend  vertieft  haben  sich  die  Forschungen  über  das, 
was  Simplicius  berichtet,  seit  der  Ausgabe  von  Simplicii  in  Aristotelis  phjsico- 
mm  libros  quatuor  priores  durch  Herm.  Diels  (Berlin  1882),  in  deren  Vorrede 
auch  Arbeiten  von  üsener  und  P.  Tannery  verwertet  sind.  Noch  neuer  ist 
Tannery,  Le  fragment  d'Eud^me  sur  la  quadrature  des  lunules  (Mämoires  de 
la  Sociät<§  de  sciences  physiques  et  naturelles  de  Bordeaux.  2*  S^rie  T.  V  und 
Heiberg  im  Philologus  XLin,  :SS6— 344.  Abschliefiend  ist  Ferd.  Rudio,  Der 
Bericht  des  Simplicius  über  die  Quadraturen  des  Antiphon  und  des  Hippokrates 
in  der  Bibliotheca  Mathematica  1902  (3.  Folge  III,  7—62). 


Mathem.  außerhalb  d.  pytbagor.  Schule.    Hippokxates  von  Chioe.      208 

man,  wie  man  in  den  Elementen  gelernt  habe,  za  jedem  Vielecke  ein 
gleichflächiges  Quadrat  zeichnen,  folglich  aach  zu  dem  Kreise  mittels 
des  Vielecks,  welches  an  seine  Stelle  getreten  sei.  So  der  Bericht 
des  Simplicius,  eines  Erklärers  des  Aristoteles  aus  dem  VI.  S.,  in 
seinem  Kommentare  zur  Physik  des  Stagiriten  als  Einleitung  in  den 
selbst  aus  Eudemus  geschöpften  Bericht  über  den  Quadrierungsver- 
such  des  Hippokrates,  der  uns  nachher  zu  beschäftigen  hat.  Ein 
anderer  Kommentator  des  Aristoteles,  Themistius  (ungefähr  317 — 387), 
weiß  die  Sache  ganz  ähnlich^).  Die  Übereinstimmung  beider  Berichte 
spricht  für  eine  gleiche  Quelle,  wahrscheinlich  den  Eudemus. 

Ein  anderer  Geometer  der  gleichen  Zeit  etwa  wie  Antiphon  war 
der  Sophist  Bryson  aus  Herakläa,  der  Sohn  des  Herodorus.  Er 
wird  auch  wohl  als  Pythagoräer  bezeichnet.  Er  ging  in  seinem  Ver- 
suche die  Quadratur  des  Kreises  zu  finden,  von  welchem  wir  wieder 
durch  einen  anderen  Erklärer  des  Aristoteles,  durch  Johannes  Philo- 
ponus  unterrichtet  sind*),  um  einen  sehr  bedeutsamen  Schritt  über 
Antiphon  hinaus.  Er  begnügte  sich  nicht  damit  ein  Kleineres  als 
den  Kreis  zu  finden,  welches  sich  nur  wenig  von  ihm  unterschied, 
er  verschaffte  sich  auch  ein  der  gleichen  Forderung  genügendes 
Größeres.  Er  zeichnete  neben  den  eingeschriebenen  Vielecken  auch 
umschriebene  Vielecke  von  immer  größerer  Seitenzahl  und  beging 
bei  Ausführung  dieses  vollständig  richtigen  Gedankens  nur  einen  da- 
mals freilich  verzeihlichen  Fehler,  indem  er  meinte,  die  Kreisfläche 
sei  das  arithmetische  Mittel  zwischen  einem  eingeschriebenen  und 
einem  umschriebenen  Vielecke.  Es  ist  nicht  wahr,  sagte  später  Pro- 
klus  diesen  Versuch  vornehm  zurückweisend,  daß  die  Stücke,  um 
welche  jene  Vielecke  größer  und  kleiner  als  der  Kreis  sind,  sich 
gleichen.  Aber  auch  welche  Entwicklung  der  Geometrie  zwischen 
Bryson  und  Proklus!  Wir  glauben  über  das  Irrige  an  Brysons 
Folgerung  hinweggehen  zu  dürfen,  den  Tadel  irgend  einen  Mittelwert 
mit  dem  arithmetischen  Mittel  verwechselt  zu  haben,  ersticken  zu 
müssen  unter  dem  Lobe  in  der  Erkenntnis  des  Grenzbegriffes  weiter 
gekommen  zu  sein  als  alle  Vorgänger. 

So  weit  freilich  wie  Aristoteles,  wenn  wir  dieses  vorgreifend 
hier  erwähnen  dürfen,  ist  auch  Bryson  nicht  gegangen.  Aristoteles 
wußte  und   sagte  *•)    in  Worten,    deren  wir  heute  uns   noch   vielfach 


*)  Themistii  in  Aristotelia  physica  paraphrasig  (ed.  H.  Schenkl,  Berlin 
1900).  *)  Bretschneider  126.  »)  Aristoteles,  Physic. III,  4.  Die  Zusammen- 
stellung der  auf  den  Grenzbegriff  und  auf  das  Unendliche  bezüglichen  Stellen 
des  Aristoteles  usw.  bildet  eines  der  schönsten  Kapitel  bei  Hankel  115 — 127. 
Vgl.  auch  Görland,  Aristoteles  und  die  Mathematik  (Marburg  1899)  S.  162 
bis  183. 


204  9.  Kapitel. 

bedienen ;  ohne  das  Bewußtsein  zu  haben  seine  Schüler  zu  sein: 
„Stetig  —  6vvB%iq  —  sei  ein  Ding^  wenn  die  Grenze  eines  jeden 
zweier  nächstfolgender  Teile ^  mit  der  dieselben  sich  berühren^  eine 
und  die  nämliche  wird  und,  wie  es  auch  das  Wort  bezeichnet,  zu- 
sammengehalten wird/'  Aristoteles  wußte,  daß  es  ein  anderes  ist 
unendlich  vieles  zu  zählen,  oder  durch  unendlich  viele  nicht  vonein- 
ander zu  scheidende  Punkte  sich  bewegen.  Er  löste  das  Paradoxon 
der  Durchlaufung  dieser  unendlich  vielen  Raumpunkte  in  endlicher 
Zeit  durch  das  neue  Paradoxon,  daß  innerhalb  der  endlichen  Zeit 
unendlich  viele  Zeitteile  von  unendlich  kleiner  Dauer  anzunehmen 
seien.  Es  gibt  für  ihn  kein  reales  Unendliches  in  zusammenhangloser 
ünbeschränktheit  des  Begriffes,  so  daß  Größeres  oder  Kleineres  nicht 
möglich  ist,  sondern  nur  Endliches  von  beliebiger  Größe,  von  be- 
liebiger Kleinheit.  Das  unendliche  bleibt  nicht,  es  wird.^)  Aber 
man  vergesse  nicht,  daß  Aristoteles  schon  um  ein  weiteres  Jahr- 
hundert nach  der  Zeit  lebte,  welche  uns  in  diesem  Augenblicke  be- 
schäftigt, und  daß  er  Aristoteles  war,  einer  jener  Geister,  die  für  alle 
Zeiten  lebend  der  eigenen  Zeit  meist  unverstanden  bleiben. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  darf  man  letzteres  vielleicht  auch 
für  Antiphon  und  Bryson  behaupten.  Die  Mitte  des  V.  S.  konnte 
sich  mit  Schlußfolgerungen,  wie  diese  beiden  Männer  sie  zogen,  nicht 
befreunden.  Sie  konnte  nicht  über  den  Widerspruch  hinaus,  noch 
um  den  Widerspruch  herum  kommen,  der  darin  liegt,  die  krumme 
Kreisfläche  durch  eine  geradlinig  begrenzte  Yielecksfläche  erschöpfen 
zu  lassen.  Eine  mathematische  Begründung  irgendwelcher  Art,  am 
naturgemäßesten  ein  selbst  auf  einen  Widerspruch  gebauter  Beweis 
der  Unmöglichkeit  der  entgegengesetzten  Annahme,  mußte  vorausgehen 
und  das  bilden,  was  man  die  geometrische  Exhaustion  nennt. 

Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  versuchte  Hippokrates  von 
Chi 08  zuerst  oder  als  einer  der  Ersten  eine  solche  Schlußfolgerung 
um  zu  dem  Satze  zu  gelangen,  daß  Kreisflächen  den  Quadraten 
ihrer  Durchmesser  proportional  seien,  ein  Satz,  den  er,  wie 
Eudemus  ausdrücklich  sagt'),  bewiesen  hat. 

Die  Wiederherstellung  dessen,  was  in  der  Tat  Hippokrates  ange- 
hört, ist  allerdings  schwierig.  Der  Bericht  im  ganzen  stammt,  wie 
wir  (S.  202)  sagten,  von  Simplicius  her.  Manches  hat  dieser  von 
Alexander  von  Aphrodisias  entnommen,  anderes  und  zwar  wörtlich 
{xaxa  Xiiiv)  von  Eudemus.  Er  selbst  hat  es  an  erUlutemden  Be- 
merkungen  auch   nicht  fehlen  lassen,  deren  Erkennungszeichen  zum 


>)  Aristo telSB,  Physic.  III,  7  6v(i%  iiivsi rj  insigla  ScXlcc  ylyvetM,     *)  Eudemi 
fragmenta  (ed.  Spengel)  pag.  128,  lin.  29. 


Mathem.  außerhalb  d.  pyÜiagor.  Schule.    Hippokrates  von  Chios.      205 

Teil  ein  plötzlicher  Übergang  der  Redeweise  ans  der  dritten  in  die 
erste  Person  bildet.  Wie  ist  aus  diesem  Gemenge  das  herauszuschälen, 
was  Eudemns  sagte,  wie  daraus  wieder  was  in  der  Abhandlung  des 
Hippokrates  stand?  Wir  folgen  in  unserer  Darstellimg  dem  letzten 
Bearbeiter  der  Frage  ^)  und  Yerweisen  für  die  nähere  Begründung  auf 
dessen  umfangreiche  Studie. 

Zunächst  ist  yon  der  Form  zu  reden.  Es  ist  wohl  nicht  daran 
zu  zweifeln,  daß  Eudemus,  daß  yor  ihm  Hippokrates  Figuren  zeich- 
nete und  an  die  einzelnen  Punkte  derselben  Buchstaben  schrieb.  Wir 
haben  früher  gesehen,  daß  die  Ägypter  ihren  Figuren  teilweise  die 
Längenmaße  beischrieben,  welche  den  Linien  derselben  zukamen.  Wir 
haben  darin  yielleicht  die  Anregung  gefunden,  infolge  deren  Zahlen - 
großen  durch  Linien  zur  Yersinnlichung  gebracht  wurden  (S.  168). 
Die  Ägypter  gingen  über  diese  messende  Bezeichnung  hinaus.  Eine 
gewisse  Allgemeinheit  gab  sich  kund,  wenn  die  Scheitellinie  mit 
merit,  die  Grundlinie  der  Pyramide  mit  uchtxkbt  usw.  bezeichnet  wurde, 
indem  hierdurch  die  yon  Figur  zu  Figur  unyeränderliche  Lage  gegen 
die  jedesmal  wechselnde  Länge  als  das  wichtigere  in  den  Vordergrund 
trat.  Aber  Punkte  nun  gar  durch  Buchstaben  zu  benennen,  welche 
nicht  Zahlenwerte,  nicht  Abkürzungen  yon  Wörtern,  welche  etwa  so 
anfingen,  sein  sollten,  sondern  nur  Buchstaben  als  solche,  damit  die 
Möglichkeit  zu  geben  eine  Figur  auch  ziemlich  yerwickelter  Art  nur 
zu  denken  und  doch  mit  dem  Texte  in  yerständlichen  Einklang  zu 
bringen:  das  ist  eine  Art  yon  allgemeiner  Symbolik,  ist  die  bei  Geo- 
metem  erkennbare  Vorläuferin  der  algebraischen  Bezeichnung  der 
Unbekannten  durch  einen  Buchstaben,  oder  wenigstens  durch  ein 
Wori  Und  innerhalb  dieser  Symbolik  selbst  ist  ein  Fortschritt  nach- 
weisbar: die  älteren  Geometer,  wie  Eudemus,  wie  yor  ihm  yermutlich 
Hippokrates,  sprechen  yon  einer  Linie,  „an  welcher  AB  (steht)'',  yon 
einem  Punkte,  „an  welchem  K  (steht)'',  während  es  bei  den  Späteren, 
bei  Euklid  usw.  kurzweg  heißt  „die  Linie  jiB^  oder  „der  Punkt  iC". 

Ob  Hippokrates  der  erste  war,  welcher  die  geometrischen 
Figuren  mit  zur  Bezeichnung  dienenden  Buchstaben  yersah, 
das  wissen  wir  nicht  Wahrscheinlich  ist  es  uns  nicht,  weil  Eudemus 
sonst  yermutlich  in  seinem  Berichte  auf  diese  Neuerung  hingewiesen 
haben  würde.  Wir  neigen  weit  eher  der  Meinung  zu,  Hippokrates 
werde  die  geometrische  Anwendung  der  Buchstaben  yon  den  Pytha- 
gorilem  gelernt  haben,  denen  er  ja  auch  sein  mathematisches  Wissen 


^)  F.  Rudio  in  der  Bibliotheca  mathematica  1902,  8.  Folge  III,  7—62  und 
in  der  VierteljahrBchrift  der  Naturforachenden  Gesellschaft  in  Zürich,  Jahr- 
gang L  (1906). 


206  d.  Kapitel. 

überhaupt  verdankt  haben  soll.  Dafür  spricht,  daß  das  StemfÜnfeck, 
welches  den  Pythagoräem  als  Erkennungszeichen,  auch  wohl  als  Briet- 
überschrift diente  (S.  178),  an  seinen  Ecken  die  Buchstaben  gefQhrt 
haben  soll,  welche  das  Wort  Gesundheit  bildeten.  So  wird  wenig- 
stens allgemein  die  Stelle  aufgefaßt,  daß  jene  Figur  Gesundheit  ge- 
nannt worden  sei. 

Bei  Hippokrates  bestand  dagegen  eine  Sitte  noch  nicht,  welche 
bei  Euklid  mit  der  Regelmäßigkeit  eines  Gesetzes  herrschend  geworden 
ist:  die  Sitte  nämlich  unter  die  zur  Bezeichnung  von  Figuren  be- 
nutzten Buchstaben  niemals  das  I  zu  begreifen,  sondern  nach  ®  sofort 
zu  K  überzugehen.  Offenbar  wollte  man  dadurch  der  leicht  mög- 
lichen Verwechslung  des  Buchstaben  I  mit  einem  einfachen  Vertikal- 
striche vorbeugen^).  Der  Bericht  des  Eudemus  über  Hippokrates, 
also  wahrscheinlich  auch  Hippokrates  selbst,  übersprang  das  I  noch 
nicht*),  und  auch  bei  der  eben  erwähnten  pythagoräischen  Bezeich- 
nung der  Ecken  des  Pentalpha  spielt  I  eine  Rolle. 

Wir  kommen  nach  diesen  die  Form  betreffenden  Vorbemerkungen 
zu  dem  eigentlichen  Inhalte  der  Abhandlung  des  Hippokrates,  dessen 
Verständnis  wesentlich  davon  beeinflußt  ist,  wie  man  das  in  dem  Be- 
richte vorkommende  Wort  xfifiiia  übersetzt,  welches  jedenfalls  ein 
durch  Schneiden  aus  dem  Kreise  hervorgegangenes  Flächenstück  be- 
deutet. Wie  der  erzeugende  Schnitt  beziehungsweise  die  erzeugenden 
Schnitte  geführt  werden,  ist  nicht  gesagt.  An  und  für  sich  kann 
also  ebensogut  das  gemeint  sein,  was  man  nachmals  einen  Kreis- 
abschnitt, Segment,  als  das,  was  man  nachmals  einen  Kreisausschnitt, 
Sektor,  nannte.  Der  neueste  Herausgeber^)  ist  der  Ansicht^  man  habe 
in  früher  Zeit  bald  das  eine,  bald  das  andere  zfirifia  genannt,  und 
man  müsse  meistens  Segment  als  Übersetzung  gelten  lassen,  was  aber 
nicht  ausschließe,  daß  in  vereinzelten  Fällen  die  Übersetzung  Sektor 
richtig  sei.  Ein  anderes  offenbar  von  Hippokrates  eingeführtes  Wort 
(irjVLöxog  Mondchen  (lateinisch  lunula)  bedarf  kaum  einer  besonderen 
Erklärung;  es  ist  eine  Mondsichel  gebildet  durch  zwei  Kreisbögen, 
welche  verschiedenen  Kreisen  angehörend  nach  der  gleichen  Richtung 
gekrümmt  sind  und  mit  ihren  Endpunkten  zusammentreffen. 

Grundlage  der  ganzen  Untersuchung  ist  der  Satz,  daß  ähnliche 
Segmente  dasselbe  Verhältnis  zueinander  haben  wie  die  Grundlinien 
in  der  Potenz.  Ähnliche  Sektoren  sind  nämlich  solche,  welche  gleiche 
UntervieKache  der  betreffenden  Kreise  sind,  und  wie  die  Kreise  selbst 


*)  Nach  Professor  Studemund.  Vgl.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXI,  ffisto- 
risch-literarische  Abteilung  S.  183.  ')  Rudio  1.  c.  S.  24.  »)  Rudio,  Anmer- 
kung 67  auf  S.  41—46. 


Uathem.  anBerbalb  d.  pytliagor.  Schule.    Hippokratee  von  ChioB.      207 

den  Potenzen  ihrer  Durchmesser  oder  auch  ihrer  Halbmesser  pro- 
portional sind,  so  verhält  es  sich  auch  mit  ähnlichen  Sektoren  der- 
selben. Der  Sektor  besteht  aber  aus  einem  Dreiecke  und  einem  Seg- 
mente. Ähnlichen  Sektoren  entsprechen  ähnliche  Dreiecke,  welche 
ebensogut  den  Potenzen  der  Halbmesser  als  der  Grundlinien  propor- 
tional sein  müssen,  und  die  ähnlichen  Segmente  werden  wieder  in  dem 
gleichen  Verhältnisse  stehen  müssen.  Ähnliche  Segmente  nehmen 
gleiche  Winkel  auf,  und  zwar  sind  die  aller  Halbkreise  Rechte 
und  die  der  größeren  kleiner  als  Rechte  und  die  der  klei- 
neren größer  als  Rechte. 

Wir  halten  einen  Augenblick  ein,  um  festzustellen,  daß  demnach 
Hippokrates  mit  der  Gleichheit  von  auf  demselben  Bogen  aufstehen- 
den Peripheriewinkeln  bekannt  war. 

Allein  auch  das  von  ihm  benutzte  Wort  Svvayug^  Vermögen, 
lateinisch  potentia  gibt  zu  Bemerkungen  Anlaß.  Daß  aus  der  latei- 
nischen Übersetzung  nachmals  unsere  Potenzgrößen  entstanden 
sind,  liegt  auf  der  Hand.  Ursprünglich  war  unter  Svvafits  nur  die 
zweite  Potenz  verstanden  und  das  Vorkommen  des  Wortes  als  Kunst- 
ausdruck bei  Hippokrates,  den  Eudemus  hier  wörtlich  ausgenutzt 
haben  dürfte,  ist  das  erste  nachweisbare.  Später  kommt  das  Wort 
sowohl  in  mathematischem  als  in  nichtmathematischem  Sinne  ungemein 
häufig  vor.  Piaton  hat  es  benutzt^),  Aristoteles  nicht  minder  an  un- 
zähligen Stellen,  wo  auch  von  dem  dynamischen  Auftreten  dieser 
oder  jener  Eigenschaft  —  wir  sagen  gewöhnlich  in  einer  lateinischen 
Wortform  deren  virtuelles  Auftreten  —  die  Rede  ist,  der  Kunstaus- 
druck der  einen  Wissenschaft  zum  Kunstausdrucke  einer  anderen 
wurde.  Es  scheint  fast,  als  läge  in  den  Wörtern  övvaiiig  und  rsTQci- 
yopog  ein  ähnlicher  Gegensatz  wie  in  unseren  Ausdrücken  „zweite 
Potenz"  und  „Quadrat".  Das  eine  Wort  bezieht  sich  auf  die  arithme- 
tische Entstehung  als  Zahl,  das  andere  auf  die  geometrische  Deutung 
als  Fläche,  und  somit  wäre  bei  Hippokrates  von  einer  rechnenden 
Vergleichung  der  Kreisflächen,  wie  sie  aus  ihi-en  Durchmessern  sich 
ermitteln  lassen,  die  Rede.  Damit  soll  freilich,  wie  wir  im  11.  Ka- 
pitel sehen  werden,  keineswegs  gesagt  sein,  Hippokrates  habe  die 
Proportionalität  von  Kreisfläche  und  zweiter  Potenz  des  Durchmessers 
rechnend  erkannt. 

Das  Verfahren  des  Hippokrates  wird  nun  in  der  Weise  geschil- 
dert, daß  dessen  erster  Versuch  dahin  ging,  die  Quadratur  eines 
Mondchen  zustande  zu  bringen,  dessen  äußerer  Bogen  ein  Halbki'eis 
wäre  (Fig.  30).     Zu  diesem  Zweck  beschrieb  er  um  ein  sowohl  recht- 


»)  Piaton,  Theaefcet  pag.  147. 


208  9.  Kapitel. 

winkliges  als  gleichschenkliges  Dreieck  einen  Halbkreis  und  über  der 
Basis   ein   Kreissegment  ähnlich   denen^    die    von   den   Seiten   abge- 
schnitten werden.     Das  Segment  über  der 
Basis  ist  gleich  den  beiden  über  den  ande- 
ren Dreiecksseiten  und  so  wird,  wenn  der 
Teil  des  Dreiecks,  der  außerhalb  des  über 
der   Basis   beschriebenen   Segmentes  liegt, 
beiderseits  hinzugefügt  ist,  das  Mondchen 
gleich  dem  Dreiecke  sein. 
Der  zweite  Versuch  gilt  einem  Mondchen,  dessen  äußerer  Bogen 
größer  als  ein  Halbkreis  ist  (Fig.  31).    Hippokrates  beschreibt  in  das 

durch  den  erwähnten  größeren 
Bogen  und  dessen  Sehne  gebildete 
Segment  ein  Paralleltrapez  mit  drei 
gleichen  Seiten;  er  bestimmt  dabei, 
daß  das  Quadrat  der  Gh-undlinie  so 
groß  sein  solle  wie  die  Summe  der 
Quadrate  der  drei  anderen  Seiten  ^). 
Wird  alsdann  über  der  Grundlinie 

Fig.  81. 

ein  Segment  ähnlich  den  drei  an- 
deren gezeichnet,  so  ist  das  hierdurch  entstehende  Mondchen  quadrier- 
bar'). Daß  der  äußere  Bogen  des  Mondchen  größer  als  ein  Halbkreis 
sei,  wird  von  Eudemus,  vielleicht  schon  von  Hippokrates,  bewiesen 
und  zwar  mit  Hilfe  des  Satzes,  daß  der  Winkel,  welchen  eine  Seite 
des  Trapezes  mit  einer  Diagonale  desselben  bildet,  ein  spitzer  Winkel 
sei.  Diese  Tatsache  folgt  ihm  aber  selbst  wieder  daraus,  daß  das 
Quadrat  der  Grundlinie  des  Trapezes,  dessen  Beziehung  zu  den  anderen 
Seiten  des  Trapezes  bekannt  ist,  kleiner  als  die  Summe  des  Quadrates 
einer  kleinen  Trapezseite  und  des  Quadrates  einer  Trapezdiagonale  ist, 
welches  selbst,  weil  die  Diagonale  einem  von  zwei  kleinen  Trapez- 
seiten gebildeten  stumpfen  Winkel  gegenüberliegt,  größer  als  das 
doppelte  Quadrat  einer  kleinen  Trapezseite  ist. 

Eine  sprachliche  und  eine  sachliche  Bemerkung  sei  hier  einge- 
schaltet. Was  hier  als  Diagonale  übersetzt  wurde,  heißt  bei  Eudemus 
und  auch  sonst  häufig  Diameter.  In  den  beiden  ersten  Quadrierungs- 
versnchen   ist   der   wichtige  Satz  benutzt,   daß  das  Quadrat  einer 


*)  Das  tritt  ein,  wenn  die  kleine  Seite  a  =  rV'a  — ya.  Vgl.  über  die 
Mondchen  des  Hippokrates  einen  Aufsatz  von  C lausen  (Grelles  Journal  XXI, 
376)  und  Hankel  127.  *)  Das  Mondchen  ist,  wie  Simplicius  beweist,  gleich 
dem  Trapeze,  welches  entsteht,  wenn  von  dem  grofien  Segmente  die  drei  kleinen 
Segmente  abgezogen  werden,  während  das  Mondchen  durch  Abziehen  jenes  den 
drei  kleinen  Segmenten  ähnlichen  Segmentes  über  der  Grundlinie  übrig  bleibt. 


Maihem.  außerhalb  i.  pythagor.  Schule,    fiippokrates  von  Chios.      209 


Xlg.  88. 


Dreiecksseite  gleich  der  Summe  der  Quadrate  der  beiden 
anderen  Dreiecksseiten,  größer  als  diese  Summe,  kleiner 
als  diese  Summe  ist,  je  nachdem  ihr  ein  rechter,  ein  stumpfer^ 
ein  spitzer  Winkel  gegenüberliegt. 

Der  dritte  Versuch  beschäftigt  sich  mit  einem  Mondchen,  dessen 
äußerer  Bogen  kleiner  als  ein  Halbkreis  ist  (Fig.  32).  Hippokrates 
verschafft  sich  dasselbe 
folgendermaßen.  UmüC 
als  Mittelpunkt  und  mit 
AB  als  Durchmesser 
wird  ein  Halbkreis  ge- 
zeichnet, femer  die  Ge- 
rade rj,  welche  die 
KB  senkrecht  halbiert 
Von  B  aus  wird  die 
BZE  derartig  gezeichnet,  daß  das  Quadrat  des  zwischen  der  FjI  und 
der  Kreisperipherie  liegenden  Stückes  ZE  anderthalbmal  so  groß 
sei  als  das  Quadrat  von  KA.  Von  E  aus  wird  EH  parallel  zu  AB 
bis  zum  Durchschnitt  mit  der  yerlängerten  KZ  gezogen.  Mittels 
der  an  Länge  einander  gleichen  KE  und  BH  entsteht  das  Trapez 
EKBHy  um  welches  ein  fijreis  beschrieben  wird^),  der  seinen  Mittel- 
punkt in  A  besitzt.  Auch  um  das  Dreieck  EZH  wird  ein  Kreis  be- 
schrieben und  nun  ist  das  Mondchen  gebildet,  dessen  innerer  Bogen 
EZHy  dessen  äußerer  Bogen  EKBH  ist.  Sein  Flächeninhalt  ist 
gleich  dem  der  Summe  der  drei  Dreiecke  BZH,  BZK^  EKZ,  sein 
äußerer  Bogen  ist  kleiner  als  der  Halbkreis.  Letzteres  folgt  aus  der 
Stumpfheit  des  Winkels  EKH,  der  Flächeninhalt  aus  der  Ähnlich- 
keit der  Kreisabschnitte  über  EZ,  ZH,  EK,  KB,  BH  in  Verbindung 
mit  der  Proportion  EZ^ :  EK^  =  3  :  2«). 

Wir  möchten  auf  die  Einzeichnung  des  Stückes  ZE  zwischen 
die  Glerade  FA  und  die  Kreisperipherie  AEB  in  vorgeschnebener 
Länge  besonders  hinweisen.  Sie  konnte  nur  empirisch  erfolgen,  in- 
dem man  um  B  eine  Gerade  BZE  in  Drehung  versetzte  und  mit 
dieser  Drehung  innehielt,  sobald  ZE  die  gewünschte  Länge  besaß. 
Das  ist  das  erste  Beispiel  einer  Bewegungsgeometrie,  die  in 
späteren  Zeiten  geradezu  den  Charakter  einer  Methode  annahm^). 

Wir  gelangen  zu  einem  vierten  Versuche,  bei  welchem  es  auf 
die  Qiiadrierung  eines  Kreises  zusammen  mit  einem  Mondchen  ankam 

^)  SimpliciuB  hat  die  Gleichheit  von  KE  mit  BH  bewiesen  und  ebenso 
anch  die  Möglichkeit  eines  Umkreises  um  das  Trapez  EKBH.  *)  Auch  hier 
hat  Simplicius  die  notwendigen  Beweise  geliefert.  *)  WOpcke,  L'alg^bre 
d'Omar  Alkhayäm!  (Paris  1861)  pag.  120. 

Gaktok,  Oeichiehte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  14 


210 


9.  Kapitel. 


(Fig.  33).  Um  K  als  Mittelpunkt  sind  zwei  Kreise  mit  je  einem 
eingeschriebenen  regelmäßigen  Sechsecke  gezeichnet,  die  als  kleiner 
und  großer  Kreis ,  als  kleines  und  großes  Sechseck  unterschieden 
werden  mögen.  Dabei  sind  die  Halbmesser  so  gewählt,  daß  HK*^ 
6AK\  Augenscheinlich  folgt  daraus  HI^  =  dHK^'^2HK* +  6AK^, 
indem  HI  Kathete  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  ist,  dessen  andere 
Kathete  eine  große  Sechsecksseite  und  dessen  Hypotenuse  der  große 
Durchmesser  ist.  Wird  über  HI  mittels  eines  neugezeichneten  Kreis- 
bogens ein  kleineres  Kreissegment  hergestellt  ähnlich  sowohl  dem  über 
H@  als  dem  über  AB,  so  muß  es  dreimal  so  groß  wie  das  über  H& 
sein,    oder   so   groß  wie  das  über  if@,   das  über  &I  und  die  sechs 

Segmentchen  im  kleinen 
Kreise  über  den  kleinen 
Sechsecksseiten.  Das  Mond- 
chen IG  H  ist  aber  gleich 
dem  Dreiecke  H&I  und 
den  Segmenten  über  H& 
und  @I  weniger  dem  klei- 
neren Kreissegment  über 
HI  Es  ist  leicht  einzu- 
sehen, daß  alsdann  das 
Mondchen  nebst  dem 
kleinen  Kreise  dem  Drei- 
ecke H&I  nebst  dem 
kleinen  Sechsecke  flächen- 
gleich sind,  wodurch  die 
Quadratur  gegeben  ist. 
Dieses  sind  die  vier  von  Hippokrates  gemachten  Versuche  krumm- 
linig begrenzte  Figuren  in  ihnen  flächengleiche  Quadrate  zu  ver- 
wandeln, so  wie  sie  von  Eudemus  berichtet  werden,  aus  welchem 
dann  später  Simplicius  seinen  durch  sachgemäße  Erläuterungen  er- 
^nzten  Auszug  veranstaltete.  Man  muß  sicherlich  zugestehen,  daß 
Hippokrates  bei  der  Auswahl  der  von  ihm  untersuchten  Mondchen 
eine  weit  mehr  als  gewöhnliche  Erfindungsgabe  an  den  Tag  legte, 
und  daß  er  bereits  über  einen  achtungswerten  Vorrat  an  geometrischem 
Wissen  verfügte.  Hat  er,  wie  vermutet  worden  ist*),  beim  Nieder- 
schreiben seiner  ihrem  Hauptinhalte  nach  sicherlich  ganz  neuen  Ab- 
handlung die  Überzeugung  gewonnen,  es  sei  an  der  Zeit  ein  E  lerne n- 
tariehrbuch  zusammenzustellen,  auf  welches  man  für  notwendige 
Hilfssätze  sich  berufen  könne,  oder  aber  hatte  er,  als  er  die  Abband- 


Fig.  83. 


^)  Bretschneider  131. 


Mathem.  außerhalb  d.  pythagor.  Schale.    Hippokratea  von  ChioB.       211 

Inng  schrieb,  sein  Elementarwerk  (S.  201)  schon  veröffentlicht  und 
deswegen  sich  über  manches  weniger  ausf&rlich  verbreitet  als  es 
späteren  Lesern  und  Erklärem  wünschenswert  erschien,  das  ist  eine 
Frage,  auf  die  wir  keine  endgültige  Antwort  zu  geben  vermögen. 

Hippokrates  beschäftigte  sich,  wie  wir  (S.  202)  ankündigend  be- 
merkten, auch  noch  mit  einem  anderen  mathematischen  Probleme, 
mit  der  Würfelverdoppelung.  Das  ist  die  letzte  uns  hier  be- 
gegnende von  den  drei  großen  Aufgaben  der  griechischen  Mathe- 
matiker, welche  ihnen  Gelegenheit  gaben  ihre  Kräfte  zu  üben  und 
das  zu  erfinden,  was  man  die  höhere  Mathematik  jenes  Zeitraumes 
zu  nennen  berechtigt  ist.  Über  die  Geschichte  der  Würfelverdoppe- 
lung sind  wir  durch  namhafte  Überbleibsel  aus  alter  Zeit  ziemlich 
gut  berichtet,  und  selbst  der  sagenhafte  Anstrich  des  Ursprungs  der 
Aufgabe  wird  im  30.  Kapitel  sich  als  erheblich  ausweisen.  Ein 
griechischer  Mathematiker  Eratosthenes  im  IIL  S.  schrieb  an  Pto- 
lemäus  Euergetes  den  ägyptischen  König  einen  Brief  über  diesen 
Gegenstand,  der  sich  bei  Eutokius  von  Askalon,  einem  späten  Kom- 
mentator des  Archimed,  erhalten  hat  und  dessen  Anfang  wir  hier 
beifügen^).  Trotzdem  er  ziemlich  weit  jenseits  der  gegenwärtig  allein 
zu  behandelnden  Zeit  hinabführt,  glaubten  wir  doch  eine  Trennung 
des  zusammengehörigen  Textes  nicht  vornehmen  zu  sollen  und  werden 
lieber  später,  wo  es  nötig  ist,  auf  dieses  Kapitel  hier  zurückverweisen. 

„Dem  Könige  Ptolemäus  wünscht  Eratosthenes  Glück  und  Wohl- 
sein.    Von  den  alten  Tragödiendichtem,   sagt  man,   habe   einer   den 
Minos,  wie  er  dem  Glaukos  ein  Grabmal  errichten  ließ,  und  hörte, 
daß  es  auf  allen  Seiten  100  Fuß  haben  werde,  sagen  lassen: 
Zu  klein  entwarfst  Du  mir  die  königliche  Gb-uft, 
Verdopple  sie;  des  Würfels  doch  verfehle  nicht. 
Man  unter8ucht.e  aber  auch  von  Seiten  der  Geometer,  auf  welche  Weise 
man  einen  gegebenen  Körper,  ohne  daß  er  seine  Gestalt  veränderte, 
verdoppeln  könnte,  und  nannte  die  Aufgabe  der  Art  des  Würfels  Ver- 
doppelung;  denn   einen  Würfel  zugrunde  legend  suchte  man  diesen 
zu    verdoppeln.     Während  nun   langezeit  hindurch  alle  ratlos  waren, 
entdeckte  zuerst  der  Chier  Hippokrates,  daß,  wenn  man  herausbrächte 


*)  Zur  Geschichte  der  Würfelverdoppelung  vgl.  N.  T.  Reimer,  Historia 
probUmatis  de  eubi  duplicatione.  Göttingen  1798.  J.  H.  Dresler,  Eratosthenes 
von  der  Verdoppelung  des  Würfels.  Osterprogramm  1828  für  die  herzogl. 
Nassauischen  Pädagogien  zu  Dillenburg,  Hadamar  und  Wiesbaden.  Ch.  H. 
Biering,  Historia  prohltmatia  cubi  duplicandi,  Kopenhagen  1844.  Teilweise 
Neues  auch  an  Stellenmaterial  in  der  Dissertation  von  C.  Blass,  De  Flatone 
maihematico.  Bonn  1861,  pag.  22—30.  Unsere  Übersetzung  des  Briefes  des 
Eratosthenes  nach  Dresler  1.  c.  S.  8 — 10. 

14* 


212  9.  Kapitel. 

za  zwei  gegebenen  geraden  Linien,  wo  die  größere  der  kleineren 
Doppelte  wäre,  zwei  mittlere  Proportionalen  von  stetigem  Verhältnisse 
zu  ziehen,  der  Würfel  verdoppelt  werden  könnte;  wonach  er  dann 
seine  Ratlosigkeit  in  eine  andere  nicht  geringere  Ratlosigkeit  ver- 
wandelte. Nach  der  Zeit,  erzählt  man,  wären  die  Deiier,  weil  sie  von 
einer  Krankheit  befallen  waren,  einem  Orakel  zufolge  geheißen  worden 
einen  ihrer  Altäre  zu  verdoppeln  und  in  dieselbe  Verlegenheit  ge- 
raten. Sie  hätten  aber  die  bei  Piaton  in  der  Akademie  gebildeten 
Geometer  beschickt  und  gewünscht,  sie  möchten  ihnen  das  Verlangte 
auffinden.  Da  sich  nun  diese  mit  Eifer  der  Sache  unterzogen  und  zu 
zwei  Gegebenen  zwei  Mittlere  suchten,  soll  sie  der  Tarentiner  Archjtas 
vermittelst  der  Halbzylinder  aufgefunden  haben,  Eudoxus  aber  ver- 
mittelst der  sogenannten  Bogenlinien.  Es  widerfuhr  ihnen  aber 
insgesamt,  daß  sie  zwar  ihre  Zeichnungen  mit  geometrischer  Evidenz 
nachgewiesen  hatten,  sie  aber  nicht  leicht  mit  der  Hand  ausführen 
und  zur  Anwendung  bringen  konnten,  außer  etwa  einigermaßen  die 
des  Menächmus,  doch  auch  nur  mühsam.'^ 

Der  alte  Tragiker,  auf  dessen  Verse  Eratosthenes  sich  beruft,  ist 
kein  anderer  als  Euripides,  in  dessen  verloren  gegangenem  Poleidos 
sie  vorkommen,  wie  sehr  wahrscheinlich  gemacht  worden  ist^).  Da 
nun  Euripides  485—406  lebte,  seine  dichterische  Wirksamkeit  also 
etwa  in  die  gleiche  Zeit  fällt,  in  die  wir  die  wissenschaftliche  Tätig- 
keit des  Hippokrates  verlegen,  so  geht  hieraus  hervor,  daß  eben  da- 
mals die  Sage  von  dem  Grabmale  des  Glaukos  bekannt  war.  Ob 
damals  die  Sage  schon  alt  gewesen;  ob  Euripides  ihrer  gedachte, 
weil  die  Gelehrten  des  Tages  sich  bereits  mit  Würfelverdoppelung 
beschäftigten,  die  Anspielung  also  einen  gewissen  Eindruck  auf  die 
feiner  gebildeten  Zuhörer  machen  mußte;  ob  man  den  entgegen- 
gesetzten Tatbestand  annehmen  soll,  daß  die  Volkstümlichkeit  der 
Verse  des  Euripides  die  Mathematiker  auf  die  eigentümlich  gestellte 
Aufgabe  aufmerksam  machte;  ob  wir  daran  erinnern  dürfen,  daß 
Euripides  der  Dichter  selbst  ein  Gelehrter,  daß  er  ein  Schüler  des 
Anaxagoras  war,  das  alles  gehört  in  das  Bereich  gewagtester  Ver- 
mutung, oder  wenigstens  noch  imerledigter  Forschung.  Als  gesichert 
ist  gemäß  dem  Berichte  des  Eratosthenes  nur  so  viel  zu  betrachten, 
daß  nach  fruchtlosen  Versuchen  anderer  über  die  Aufgabe  der  Würfel- 
verdoppelung Herr  zu  werden,  Hippokrates  von  Chios  auf  die  Be- 
merkung fiel,  daß  die  Aufgabe  auch  in  anderer  Gestalt  sich  aus- 
sprechen lasse.     Findet  die  fortlaufende  Proportion  a:x==x:y^y:b 


')  Yalkenarins,  Diatribe  de  fragm.  Eurip.  pag.  208.    Vgl.  Reimer,  De 
cubi  duplicatione  pag.  20. 


Piaton.  213 

statt,  80  ist  x^  =  ay,  y*  ^hx,  mithin  a^  =  a*y*  «  a^bx  und  rc*  «»  a*6 
oder,  wenn  6  =  2a,  wie  es  bei  der  Würfel  Verdoppelung  notwendig 
erscheint,  x^  «»  2a^.  Die  Seite  des  doppelten  Würfels  ist  in  der  Tat 
die  erste  von  zwei  mittleren  Proportionalen,  welche  zwischen  der  ein- 
fachen und  der  doppelten  Seite  des  ursprünglichen  Würfels  einge- 
schaltet werden.  Diese  Erkenntnis,  welche  auch  Proklus*)  dem  Hippo- 
krates  nachrühmt,  war  ein  Schritt  weiter  auf  dem  richtigen  Wege, 
aber  allerdings  ein  Yerhältnismäßig  kleiner  Schritt.  Hippokrates  ver- 
wandelte nur,  wie  Eratosthenes  in  fast  scherzhaftem  Tone  sagt,  seine 
Ratlosigkeit  in  eine  andere  nicht  geringere  Ratlosigkeit.  Wie  sollten 
jene  beiden  mittleren  Proportionalen  gefunden  werden?  Die  Männer, 
welche  der  Lösung  dieser  Aufgabe  sich  gewachsen  fühlten,  sind  es, 
die  uns  im  folgenden  entgegentreten  werden. 

Auf  ihre  Gemeinschaft  führt  auch  das  Mathematikerverzeichnis 
uns  hin,  wenn  es  neben  Hippokrates  von  Ghios  noch  Theodorus 
von  Kyrene  in  der  Geometrie  berühmt  nennt.  Von  diesem  wissen 
wir  an  geometrischen  Tatsachen  nur,  daß  er  die  Irrationalität  der 
Quadratwurzeln  von  Zahlen  zwischen  3  und  17  bewies^  (S.  182). 
Wir  wissen  von  ihm  außerdem,  daß  er  der  Schule  der  Pythagoräer 
angehörte'),  und  daß  er  Lehrer  des  Piaton  in  mathematischen 
Dingen  war*). 

Piaton  und  die  Akademie  nehmen  jetzt,  wie  in  der  Geschichte 
der  griechischen  Philosophie,  so  in  der  Geschichte  der  griechischen 
Mathematik,  die  leitende  Stellung  ein.  Mit  ihnen  müssen  wir  uns 
beschäftigen. 

10.  Kapitel. 

Piaton. 

Zwei  Kriege  von  schwerwiegender  Bedeutung  für  die  Gestaltung 
staatlicher  Verhältnisse,  wie  für  die  Entwicklung  der  Wissenschaften 
wurden  auf  griechischem  Boden  innerhalb  eines  Menschenlebens  ge- 
kämpft. Der  peloponnesische  Krieg,  welcher  die  Macht  Athens  ver- 
nichtete, welcher  den  Staat  des  Perikles  von  seiner  geistigen,  wissen- 
schaftlichen wie  künstlerischen  Höhe  herabstürzte,  begann  431.  Der 
sogenannte  heilige  Krieg,  in  welchem  die  Thebaner  durch  ein  kurzes 
Übergewicht  erschöpft^  König  Philipp  von  Mazedonien  zu  Hilfe 
riefen  und  ihm  so  den  ersten  willkommenen  Anlaß  gaben  in  grie- 
chische Dinge  sich  einzumengen,  endete  346.     Dieselben  Jahreszahlen 

>)  ProkluB  (ed.  Friedlein)  213.  *)  Piaton,  Theaetet  147,  D.  »)  Jam- 
blichua,   Vita  Fythagor   267.     *)  Diogenes  Laertius  II,  103. 


214  10.  Kapitel. 

begrenzen  fast  genau  das  Leben  Piatons.  Seine  Geburt  fallt  in 
das  Jahr  429^  in  das  Schreckensjahr,  in  welchem  die  durch  die 
Schilderung  des  Thukjdides  in  gräßlicher  Wahrheit  bekannte  Pest 
Athen  in  Trauer  hüllte,  in  welchem  Perikles  starb.  Sein  Tod  er- 
folgte 348  an  demselben  Tage,  an  welchem  er  81  Jahre  früher  ge- 
boren war. 

In  Piatons  Lebenszeit  fallen  auch  zwei  Künstler,  deren  die  Ge- 
schichte der  Mathematik  Erwähnung  tun  darf:  Pheidias  und  Poly- 
klet,  die  Verfertiger  des  Olympischen  Zeus,  der  Argi vischen  Here. 
Von  Pheidias  erzahlt  Lucian  in  dem  Dialoge  über  die  philosophischen 
Sekten^),  er  sei  imstande  gewesen  aus  der  Klaue  eines  Löwen  anzu- 
geben, wie  groß  der  gan^e  Löwe  war,  woher  die  griechische  Redens- 
art ii  övv%(av  Xiovta^)y  lateinisch  ex  ungue  leonem  stammt,  welche 
sich  bis  zu  unseren  Tagen  erhalten  hat.  Von  Polyklet  meldet  Galen*), 
er  habe  in  einer  Schrift,  die  Kanon  überschrieben  war,  die  Lehre 
Yon  allen  Verhältnissen  des  Körpers  aufgestellt.  Wer  denkt  dabei 
nicht  an  die  vorgezeichneten  Quadrate  im  Grabmale  Seti  I  (S.  108), 
wer  nicht  an  die  Notwendigkeit  einer  in  weite  Kreise  eingedrungenen 
Lehre  von  der  Ähnlichkeit  der  Figuren? 

Piaton  gehörte  einer  der  angesehensten  athenischen  Familien  an. 
Bis  auf  König  Kodrus  führte  der  Stammbaum  des  Vaters,  bis  auf 
Solon  der  der  Mutter  zurück^).  Piatons  erste  Jugend  fiel,  wie  wir 
wissen,  in  eine  für  Athen  trübe  und  bewegte  Zeit,  aber  bald  lächelte 
das  Glück  der  Stadt,  welche  es  liebgewonnen,  aufs  neue.  Die  Knaben- 
jahre Piatons  fallen  mit  der  Glanzzeit  des  Alkibiades  zusammen,  und 
der  Freund  des  Alkibiades,  Sokrates,  war  Piatons  Lehrer.  Im  Ver- 
kehre mit  den  geistig  bedeutendsten  Männern  seiner  Vaterstadt  ent- 
wickelte der  Knabe  sich  zum  Manne.  Bei  Sokrates  insbesondere  wird 
Piaton  jene  Methode  erlernt  haben,  welche  als  eigentlich  sokratische 
gerühmt  wird,  und  welche  darin  bestand,  durch  fortgesetztes  Fragen 
immer  schärfer  umgrenzte  Definitionen,  aber  auch  das  Eingeständnis 
VQU  Widersprüchen  infolge  ungenügender  Begriffsbestimmungen  her- 
Yorzalocken.  Um  das  Jahr  400  etwa,  nachdem  Sokrates  den  Gift- 
becher hatte  leeren  müssen,  verließ  Piaton  die  Heimat,  in  welcher  es 
für  den  nächsten  Schüler  des  gleichviel  ob  gerechtem  oder  unge- 
rechtem Volkshasse  zum  Opfer  Gefallenen  nicht  mehr  sicher  war, 
und  verwandte  eine  längere  Reihe  von  Jahren  zu  Reisen,  welche 
seine  wissenschaftliche  Ausbildung  vollendeten.  Nach  Kjrene,  wo  an 
der  Nordküste   Afrikas   griechische   Bildung   schon    eine   Pflanzstätte 

^)  Luoian,  *E(f{i6tiiLog  ^  Ttsgl  atgiüBov  cap.  66  pag.  147  ed.  Sommerbiodt. 
*)  Diogenes  Laertius  V,  16.  ')  Galen,  Ilegl  tav  »a^*  Vff^rox^arrjv  %ccl 
nXatmva.     *)  Diogenes  Laertins  III,  1. 


Piaton.  215 

geschaffen  hatte,  lockte  es  ihn.  War  doch  dort  die  Heimat  jenes 
Theodorus,  welcher,  wie  wir  im  Theatet  erfahren,  bei  Lebzeiten  des 
Sokrates  in  Athen  verweilte,  nnd  welchen  wir  am  Schlosse  des  Torigen 
Kapitels  Piatons  Lehrer  in  der  Mathematik  genannt  haben.  Ägypten 
sah  ihn  jedenfalls  zn  längerem  Aufenthalte,  wenn  auch  Strabons  Be- 
richterstatter sehr  übertrieben  haben  dürften.  Bei  der  Beschreibung 
der  alten  Priesterstadt  Heliopolis  in  Ägypten  sagt  nämlich  dieser 
geographische  Schriftsteller:  Hier  nun  zeigt  man  die  Häuser  der 
Priester  und  auch  die  Wohnungen  des  Piaton  und  Eudozus.  Denn 
letzterer  kam  mit  Piaton  hierher,  und  sie  lebten  daselbst  mit  den 
Priestern  dreizehn  Jahre  zusammen,  wie  einige  angeben.^)  Daxm 
wird  ein  großes  Gewicht  auf  einen  Aufenthalt  Piatons  in  Großgriechen- 
land  zu  legen  sein,  wo  er  mit  Archytas  yon  Tarent  und  mit 
Timäus  von  Lokri  im  engsten  Verkehre  stand*).  Weiter  führte 
ihn  sein  Weg  nach  Sizilien,  wo  er  im  40.  Lebensjahre,  also  im 
Jahre  389  eintraf).  Diese  durch  ihn  selbst  bezeugte  Zeitangabe 
nötigt  uns  auf  alle  Reisen  bis  nach  Sizilien  etwa  11  Jahre  zu  ver- 
teilen und  widerlegt  somit  die  13jährige  Dauer  des  Aufenthalts  in 
Ägypten.  Piatons  Freimütigkeit  scheint  bei  dem  Gewaltherm  von 
Syrakus,  bei  Dionysius,  Anstoß  erregt  zu  haben,  so  daß  dieser  ihn 
gefangen  nehmen  ließ  und  ihn  als  Athener  dem  lakedämonischen  Ab- 
gesandten auslieferte,  welcher  ihn  als  Sklaven  nach  Ägina  verkaufte. 
Ein  Eyrenaiker  zahlte  das  erforderliche  Lösegeld,  um  Piaton  wieder 
frei  zu  machen,  und  nun  kehrte  dieser  nach  Athen  zurück,  wo  er  in 
den  schattigen  Spaziergängen  der  durch  Kimon  einst  verschönerten 
Akademie  nordwestlich  vor  der  Stadt  seine  die  Philosophie  umge- 
staltenden Vorträge  hielt,  deren  Bedeutung  auch  für  die  Geschichte 
der  Mathematik  nicht  hoch  genug  angeschlagen  werden  kann^). 

Eigentlich  mathematische  Schriften  hat  Piaton  zwar  nicht  ver- 
faßt, aber  einiges  wird  doch  auf  ihn  als  Entdecker  zurückgeführt, 
und  vielleicht  noch  wichtiger  ist  seine  Vorliebe  für  die  Mathematik 
dadurch  geworden,  daß  er  auf  fähige  Schüler  sie  forterbte.  Piaton 
war  ja  ein  Schüler  der  Pythagoräer  in  vielen  Dingen,  in  so  vielen, . 
daß  Aristoteles  es  ausdrücklich  bezeugt  hat  ^),  daß  Asklepius  zu  dieser 
Stelle  der  aristotelischen  Metaphysik  jedenfalls  übertreibend  hinzu- 
fügte:  nicht  vieles,   alles   habe   Piaton   von   den   Pythagoräem   ent- 

»)  Strabo  XVII,  ed.  Meinicke  pag.  1124.  *)  Cicero,  De  ßntbusY,  19,  60. 
Tusculan.  I,  17,  39.  De  republica  I,  10,  15.  ")  Platons  Briefe:  Episiola  VII, 
324,  a.  *)  Über  Piaton  in  seinen  Beziehungen  znr  Mathematik  vergl.  C.  Blass, 
De  Flatone  mathemaUco.  Bonn  1861,  und  B.  Rothlanf,  Die  Mathematik  zu 
Platons  Zeiten  nnd  seine  Beziehungen  zu  ihr.  München  1878.  ^)  Aristoteles, 
Metaphys.  I,  6. 


216  10.  Kapitel. 

nommen.  Wie  nun  die  PythagoiiLer  Mathematik  als  den  ersten 
Gegenstand  eines  wirklich  wissenschaftlichen  Unterrichts  betrachteten, 
wie  die  Ägypter  ihre  Kinder  zugleich  mit  den  Buchstaben  in  den 
Anfangsgründen  der  Lehre  Yon  den  Zahlen,  von  den  auszumessenden 
Räumen  und  von  dem  Umlaufe  der  Oestime  unterrichteten,  so  wollte 
auch  Piaton  yerfahren  haben  ^).  Kein  Unkundiger  der  Geometrie  trete 
unter  mein  Dach,  fii^delg  iysfofiir^ros  slöircD  (lov  f^v  tfr^yiyv,  war 
die  Ank{indigung,  mit  welcher  der  angehende  Akademiker  empfangen 
wurde  ^),  und  Xenokrates,  der  nächst  Speusippus  als  zweiter  Nach- 
folger Piatons  die  Akademie  leitete'),  blieb  ganz  in  den  Fußstapfen 
seines  Lehrers,  wenn  er  einen  Jüngling,  der  die  verlangten  geometri- 
schen Vorkenntnisse  noch  nicht  besaß,  mit  den  Worten  zurückwies: 
Gehe,  Du  hast  die  Handhaben  noch  nicht  zur  Philosophie,  ^oqsvov 
Xaßäg  yäQ  oix  ixBig  ^iko6ofpCag*). 

Piaton  war  in  dieser  Beziehung  so  sehr  Pythagoiäer  geworden, 
daß  er  den  Gegensatz  nicht  scheute,  in  welchen  er  seinen  ältesten 
und  yerehrtesten  Lehrer  Sokrates  scheinbar  zu  sich  selbst  setzte. 
Sokrates,  wie  Xenophon  in  seinen  Erinnerungen  ihn  schildert^), 
wollte  die  Geometrie  nur  so  weit  getrieben  wissen,  bis  man  Land  mit 
dem  Maßstabe  in  Besitz  nehmen  oder  übergeben  könne.  Der  So- 
krates in  Piatons  Dialogen,  dem  dieser  stets  die  Gesinnungen  in  den 
Mund  zu  legen  liebt,  die  ihn  selbst  erfüllen,  erklärt  dagegen®),  daß 
die  ganze  Wissenschaft  doch  nur  der  Erkenntnis  wegen  betrieben 
werde.  Es  ist  bekanntlich,  sagt  er  auch,  in  bezug  auf  jedes  Lernen, 
um  besser  aufzufassen,  ein  himmelhoher  Unterschied  zwischen  einem, 
der  sich  mit  Geometrie  befaßt  hat,  und  dem,  der  es  nicht  getan  hat. 

Wir  verzichten  darauf  alle  Stellen  zu  sammeln,  an  welchen  Plato 
ähnliche  Gesinnungen  über  die  Mathematik  äußert,  und  zu  welchen 
auch  der  Ausspruch  (S.  184)  gehört,  daß  Gott  allezeit  geometrisch 
verfahre,  nur  eine  Bemerkung  über  das  Wort  Mathematik  wollen 
wir  hier  einschalten.  Von  einer  Wissenschaft  der  Mathematik  wußte 
Piaton  so  wenig  wie  seine  Zeitgenossen^).  Wohl  besaßen  sie  das 
.  Wort  fiadilfiata  (Lehrgegenstände),  aber  es  umfaßte  alles,  was  im 
wissenschaftlichen  Unterrichte  vorkam.  Erst  bei  den  Peripatetikem 
bekam  das  allgemeine  Wort  die  besondere  Bedeutung,  welche  wir 
ihm  gegenwärtig  noch  beilegen  und  umfaßte  fortan  Rechenkunst  und 
Arithmetik,  Geometrie  der  Ebene  und  Stereometrie,  Musik  und  Astro- 


^)  Die  bezüglichen  Stellen  ans  Platons  Staat  vergl.  bei  Rothlauf  1.  c.  S.  12. 
*)  Tzetzes,  Chil.  VUI,  972.  ^  Diogenes  LaertiuB  I,  14.  *)  Diogenes 
LaertiuB  IV,  10.  *)  Xenophon,  Memorabil.  IV,  7  und  ihm  folgend  Dio- 
genes LaertiuB  II,  32.  ')  Die  Stellen  aus  Piatons  Staat  bei  Bothlauf  S.  2 
und  7.    ')  Rothlauf  S.  18—19. 


Piaton. 


217 


nomie,  i^Uurend  zugleich  auch  der  Name  der  Philosophie,  welcher  für 
Piaton  erst  die  wörtliche  Bedeutung  der  Weisheitsliebe  besaß  ^  einer 
besonderen  Wissenschaft  zuerteilt  wurde. 

Die  Vorliebe  Piatons  für  mathematische  Dinge  äußert  sich  neben 
den  schon  berührten  Vorschriften  über  Jugenderziehung  in  seinem 
idealen  Staatswesen ,  wo  ein  Schulzwang  innerhalb  der  einfachsten 
Lehrgegenstande  obwalten,  wo  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  allen 
Mädchen  wie  Sjiaben  beigebracht  werden  soll^),  auch  darin,  daß  er 
in  vielen  seiner  in  Gesprächsform  geschriebenen  Abhandlungen  mathe- 
matische Beispiele  zur  Verdeutlichung  philosophischer  Gedanken  be- 
nutzt. Meistens  sind  diese  Beispiele  für  Laien  berechnet  und  darum 
laienhaft  einfach,  so  daß  dieselben  kaum  ein  Recht  haben  in  einer 
Geschichte  der  Mathematik  aufzutreten.  Wir  machen  eine  Ausnahme 
zugunsten  der  früher  geradezu  berüchtigten  Kapitel  des  Menon'). 
Nicht  als  ob  es  sich  mit  deren  Inhalt  anders  verhielte,  aber  weil  wir 
früher  (S.  185)  auf  diese  Kapitel  uns  berufen  haben.  Sie  blieben  den 
Erklärem  platonischer  Gespräche  solange  unverstanden,  als  man  in 
ihnen  wunder  welche  tiefsinnige  Dinge  suchte.  Sie  wurden  kinderleicht 
und  klar^  sobald  der  Wortlaut  mit  den  Figuren  in  Zusammenhang 
gebracht  wurde,  welche  zwar  in  den  Handschriften  wie  in  den  Druck- 
ausgaben fehlen,  von  welchen  man  aber  dem  Texte  gemäß  annehmen 
muß,  daß  sie  im  Laufe  des  Gespräches  in  den  Sand  gezeichnet  worden 
waren.  Diese  Figuren  dürften  zwei  an  der  Zahl  gewesen  sein,  ein 
einfacher  Kreis  und  eine  einigermaßen  zusammengesetzte  Vereinigung 
mehrerer  geradliniger  Figuren  in  eine  einzige  (Fig.  34),  die  wir  uns 
als  nach  und  nach  entstehend  zu  denken  haben. 
Den  Kreis  zeichnet  Sokrates,  um  als  Beispiel 
des  Runden  zu  dienen,  welches  eine  Figur, 
aber  nicht  die  Figur  überhaupt  sei').  Im 
weiteren  Verlaufe  des  Gespräches^)  zeichnet 
Sokrates,  die  leitende  Persönlichkeit  der  Ab- 
handlung, ein  Quadrat  von  der  Seitenlänge  2 
mit  seinen  Mittellinien,  welche  die  Mittelpunkte 
je    gegenüberstehender   Seiten   verbinden.      Er  ^**-  **• 

erweitert   die  Figur   zur  vierfachen   Größe,   d.  h.   zum   Quadrat   mit 


*)  Piaton,  Gesetze  pag.  806.  *)  Vergl.  Benecke,  Ueber  die  geometrische 
Hypothesis  in  Piatons  Menon.  Elbing  1867  und  unsere  Besprechung  Zeitschr. 
Math.  Phys.  XITT,  Literatnrzeitung  9 — 13.  Friedleins  Programm  von  1878: 
Beiträge  zur  (beschichte  der  Mathematik  m  pflichtet  im  ganzen  denselben  An- 
sichten bei.  Rothlauf  S.  64  huldigt,  trotzdem  er  Beneckes  Programm  kennt, 
einer  künstlichen,  wie  wir  überzeugt  sind,  falschen  Meinung.  *)  Piaton, 
Menon  78  £.     *)  Piaton,  Menon  82  B  bis  86  B. 


218  10.  Kapitel. 

der  Seitenlänge  4,  und  innerhalb  dieses  großen  Quadrates  zum 
Quadrat  mit  der  Seitenlänge  3,  das  aus  neun  Feldern  bestellt; 
endlich  zeichnet  er  das  Quadrat  von  der  Fläche  8,  dessen  Seiten 
die  Diagonalen^  oder,  wie  die  Sophisten  und  mit  ihnen  Piaton 
immer  sagten,  die  Diameter  der  vier  kleineren  Quadrate  sind, 
in  welche  das  größte  Quadrat  von  der  Seitenlänge  4  zerfällt.  Dieses 
schrägliegende  Quadrat  von  der  Fläche  8  ist  doppelt  so  groß,  als 
das  ursprünglich  gegebene  Quadrat  von  der  Fläche  4,  und  es  kam 
Piaton  gerade  darauf  an  zu  zeigen,  daß  ein  solches  Quadrat  von 
doppelter  Größe  als  ein  gegebenes  genau  und  leicht  gezeichnet  werden 
könne.  Es  war,  wie  ganz  richtig  bemerkt  worden  ist^),  der  Beweis 
des  pjthagoräischen  Lehrsatzes  ftlr  den  Fall  des  gleichschenklig  recht- 
winkligen Dreiecks,  der  hier  geliefert  wurde,  möglicherweise,  wie  wir 
(S.  185)  andeuteten,  der  älteste  von  Pythagoras  selbst  herrührende 
Beweis  dieses  ersten  und  einfachsten  Falles,  vorausgesetzt  daß  wirk- 
lich beim  Beweise  des  pythagoräischen  Lehrsatzes  ursprünglich  ver- 
schiedene Fälle  unterschieden  wurden.  Nachdem  mit  dieser  ersten 
und  zweiten  geometrischen  Exemplifikation  vollständig  abgeschlossen 
ist,  kehrt  Sokrates  an  einer  späteren  Stelle^)  wieder  zur  Geometrie 
zurück,  um  ihr  ein  passendes  in  die  Siime  fallendes  Beispiel  für  die 
eben  zvnschen  ihm  und  Menon  erörterte  Frage,  ob  Tugend  lehrbar 
sei  oder  nicht,  zu  entnehmen.  Er  will  erörtern,  daß  das  Tunliche 
im  allgemeinen  sich  selten  behaupten  lasse,  daß  es  Fälle  der  Mög- 
lichkeit wie  der  Unmöglichkeit  gebe.  Er  will  ein  recht  zutreffendes 
Beispiel  dafür  wählen,  und  da  bleibt  sein  ringsum  suchendes  Auge 
an  den  im  Sande  noch  erkennbaren  Figuren  haften.  Ist  es,  fragt  er, 
möglich  dieses  Quadrat  als  gleichschenklig  rechtwinkliges  Dreieck  in 
diesen  Kreis  auf  dem  Durchmesser  als  Grundlinie  genau  einzuzeichnen? 
Unter  diesem  Quadrate  versteht  er  das  von  der  Seitenlänge  2,  dessen 
Verwandlimg  in  ein  gleichschenklig  rechtwinkliges  Dreieck  aus  der 
Figur  gleichfalls  zu  erkennen  war,  wo  das  gewünschte  Dreieck  als 
Hälfte  des  schräggezeichneten  Quadrates  erscheint.  Sokrates  hat  die 
Frage  gestellt,  er  gibt  auch  die  Antwort.  Sie  lautet  ja  und  nein! 
Es  wird  möglich  sein,  das  Verlangte  zu  tun,  wenn  die  Seite  des 
Quadrates  dem  Ereishalbmesser  gleich  ist,  oder,  was  dasselbe  heißt, 
wenn  sie  auf  dem  Durchmesser  aufgetragen  ein  ihr  gleiches  Stück 
übrig  läßt,  sonst  nicht.     Der  Wortlaut  ist  freilich  ein  einigermaßen 


^)  Bothlauf  S.  61.  Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  daß  auch  Leibniz  den 
gleichen  Beweis  verwertet  hat,  um  den  algebraischen  Zusammenhang  zwischen 
der  Seite  und  der  Diagonale  eines  Quadrates  zu  erörtern.  Vgl.  dessen  Nova 
cdgehrae  promotio  in  der  durch  C.  J.  Gerhardt  besorgten  Ausgabe  der  mathe- 
matischen Schriften  von  Leibniz  Tu,  165  (Halle  1863).     ')  Piaton,  Menon  86. 


Piaton.  219 

dunkler,  aber  auch  seine  philologische  Übereinstimmung  mit  diesem 
hier  frei  erläuterten  Sinne  hat  nachgewiesen  werden  können. 

Die  Stelle  des  Menon  ihrer  einstigen  Schwierigkeit  entkleidet 
enthält  ireilich  nicht  mehr  den  Beweis ,  dafi  Piaton  mit  dieser  oder 
jener  feinen  geometrischen  Theorie  bekannt  war^  aber  sie  enthüllt 
uns  noch  immer  einen  ungemein  wichtigen  methodischen  Fortschritt  ^)^ 
der  um  diese  Zeit  sich  vollzog.  Sokrates  leitet  die  letzte  Auseinander- 
setzung durch  die  Worte  ein:  „Unter  der  Untersuchung  von  einer 
Voraussetzung  aus  verstehe  ich  das  Verfahren,  welches  die  Geometer 
oft  im  Auge  haben;  wenn  sie  jemand  fragt,  z.  B.  über  eine  Fläche, 
ob  in  diesen  Kreis  die  Fläche  als  Dreieck  eingezeichnet  werden 
könne  usw.^  Es  war  mithin  damals  schon  oft  von  Geometem  ge- 
schehen, was,  wie  wir  im  vorigen  Kapitel  (S.  208)  sahen,  Hippokrates 
von  Ghios  noch  unterließ.  Es  war  die  Frage  aufgeworfen  worden, 
ob  eine  Konstruktion  möglich  sei  oder  nicht. 

In  der  Akademie  unter  Piatons  Leitung  wurden  sicherlich  diese 
und  ähnliche  Fragen  erörtert^).  Die  Philosophie  der  Mathe- 
matik ist  in  der  Akademie  entstanden,  wenn  ihre  Wurzeln  auch 
schon  aus  den  Lehren  des  Sokrates  Nahrung  sogen.  So  führte  nach 
Berichten  bei  Aristoteles,  aber  auch  nach  bestimmt  nachweisbaren 
platonischen  Stellen  Piaton  geometrische  Definitionen  ein,  welche  in 
dem  von  ihm  gebrauchten  Wortlaut  ein  Alter  von  mehr  als  zwei 
Jahrtausenden  erreicht  haben.  Die  Figur  ist  die  Grenze  des  Körpers, 
heißt  es  im  Menon  ^).  Gerade  ist  doch,  wessen  Mitte  dem  beider- 
seitigen Äußersten  im  Wege  ist,  heißt  es  im  Parmenides  ^),  und  ebenda 
wird  der  Kreis  definiert:  rund  ist  doch  wohl  das,  dessen  äußerste 
Teile  nach  allen  Seiten  hin  gleichweit  von  der  Mitte  abstehen.  Der 
Punkt  sei  die  Grenze  der  Linie,  die  Linie  die  Grrenze  der  Fläche,  die 
Fläche  die  Grenze  des  Körpers  genannt  worden,  sagt  uns  Aristoteles ^ 
der  Körper  sei  das,  was  drei  Ausdehnungen  besitze;  die  Linie  sei 
Länge  ohne  Breite.  Daß  auch  Grundsätze,  wie  der  häufig  bei  Aristo- 
teles erwähnte,  daß  Gleiches  von  Gleichem  abgezogen  Gleiches  übrig 
lasse,  schon  der  Akademie  angehört  haben  werden,  ist  nicht  in 
Zweifel  zu  ziehen.     Wohl  aber  dürfte  es  in  ähnlicher  Weise  wie  bei 


*)  Blas 8  in  seiner  Dissertation  De  Piatone  maihetnatico  pag.  20  scheint 
zuerst  die  große  methodische  Bedeutung  der  Stelle  Menon  86  erkannt  zu  haben. 
*)  Zusammenstellungen  bei  Friedlein,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Mathema- 
tik m,  8.  9  flgg.,  bei  Hankel  S.  1S5— 136,  bei  Bothlauf  8.  61,  von  denen  jede 
irgend  etwas  eigentümlich  hat,  was  in  den  anderen  fehlt.  ^  Piaton,  Menon  76. 
^  Piaton,  Parmenides  137  E.  Wie  diese  Stelle  zu  verstehen  sei,  kann  man 
bei  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  109  lin.  21  bis  pag.  110  lin.  4  nachlesen. 
Vgl.  Majers  Programm  des  Kön.  Gymnasiums  in  Stuttgart  für  1880—81,  S.  14. 


220  10.  Kapitel. 

den  Pythagoräem  scliwer  sein^  innerhalb  der  Akademie  eine  Sonde- 
rung des  geistigen  Besitzes  von  Platon  und  seinen  Schülern  yorzu- 
nehmen^  zu  ermitteln,  was  von  den  Definitionen,  Yon  den  Grundsätzen 
dem  einen,  was  den  anderen  angehört. 

Auf  dem  Gebiete  mathematischer  Methodik  ist  es  noch  eine 
einen  gewaltigen  Fortschritt  eröffiiende  Erfindung,  welche  Platon  zu- 
geschrieben wird:  die  Erfindung  der  analytischen  Methode.  Wir 
haben  darüber  eine  ganz  kurze  Notiz  des  Diogenes  Laertius:  Platon 
führte  zuerst  die  analytische  Methode  der  Untersuchung  für  Leodamas 
von  Tasos  ein^),  und  eine  ausführlichere  des  Proklus:  Es  werden 
auch  Methoden  angeführt,  von  denen  die  beste  die  analytische  ist^ 
die  das  Gesuchte  auf  ein  bereits  zugestandenes  Prinzip  zurückfährt. 
Diese  soll  Platon  dem  Leodamas  mitgeteilt  haben,  der  dadurch  zu 
yielen  geometrischen  Entdeckungen  soll  hingeleitet  worden  sein.  Die 
zweite  Methode  ist  die  trennende,  die,  indem  sie  den  vorgelegten 
Gegenstand  in  seine  einzelnen  Teile  zerlegt,  dem  Beweise  durch  Ent- 
fernung alles  der  Konstruktion  der  Aufgabe  Fremdartigen  einen  festen 
Ausgangspunkt  gewährt;  auch  diese  rühmte  Platon  sehr  als  eine  für 
alle  Wissenschafben  forderliche.  Die  dritte  Methode  ist  die  der  Zu- 
rückführung  auf  das  Unmögliche,  welche  nicht  das  zu  Findende  selbst 
beweist,  sondern  das  Gegenteil  desselben  bestreitet  und  so  die  Wahr- 
heit auf  Seite  des  mit  der  Behauptung  Übereinstimmenden  findet^). 
Endlich  gehören  hierher  die  beiden  bei  Euklid  erhaltenen  Defini- 
tionen: Analysis  ist  die  Annahme  des  Gesuchten  als  zugestanden 
durch  Folgerungen  bis  zu  einem  als  wahr  Zugestandenen.  Synthesis 
ist  die  Annahme  des  Zugestandenen  durch  Folgerungen  bis  zu  dem 
Erschließen  und  Wahrnehmen  des  Gesuchten'^)  und  die  dem  Sinne 
nach  damit  übereinstimmenden  im  Wortlaute  viel  ausführlicheren  Er- 
örterungen des  Pappus^). 

Die  Sache  verhält  sich  folgendermaßen^).  Soll  die  Wahrheit 
eines  Satzes  D  bewiesen  oder  widerlegt  werden  —  beides  kann  man 
verlangen  —  so  sagt  der  Analytiker:  Wenn  D  stattfindet  ist  C  wahr; 
wenn  C  stattfindet  ist  B  wahr;  wenn  B  stattfindet  ist  A  wahr;  aus 
D  folgt  also  endlich  A]  nun  ist  A  wahr  oder  nicht  wahr,  also  ist 


')  Diogenes  Laertius  HI,  24.  *)  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  211, 
lin.  18  — pag.  212,  lin.  4.  A.  Sturm  in  der  Bibliotheca  Mathematica  1903, 
8.  Folge  II,  283.  «)  Euklid  XIII,  1.  Anmerkung.  *)  Pappus,  VE  Praefatio 
(ed.  Hultsch)  pag.  634  flgg.  ^)  Hübsche  Entwicklungen  über  die  analytische 
Methode  der  Alten  bei  Oft  erdinger,  Beiträge  zur  Geschichte  der  griechischen 
Mathematik.  Ulm  1860.  Duhamel,  Des  mithodes  dans  les  aciences  de  ratsonne- 
ment.  Paris  1866 — 1866.  Besonders  T.  I,  chap.  10.  De  Vatwhfse  et  de  la  Syn- 
these chez  les  anciens.    Hankel  137—160. 


Platon.  221 

auch  D  wahr  oder  ist  es  nicht.  Der  Synthetiker  dagegen  beginnt  mit 
der  Behauptung  der  Wahrheit  von  Ay  welche  ihm  auf  irgend  eine 
Weise  bekannt  ist.  Daran  knüpft  er  die  Folgerung,  es  werde  B 
stattfinden,  folglich  sei  auch  G  wahr,  und  folglich  sei  D  wahr  --  oder 
möglicherweise  ein  Satz,  der  das  Gegenteil  von  B  bezeichnet,  und 
den  man  deshalb  Nicht-D  zu  nennen  pflegt.  £s  ist  einleuchtend, 
daß  der  synthetische  Beweis  unter  allen  Umständen  richtig 
ist,  der  analytische  aber  nicht.  Zur  Richtigkeit  desselben  ge- 
hört nämlich,  daß  die  in  dem  analytischen  Beweise  aufgestellten 
gleichzeitigen  Wahrheiten  auch  in  umgekehrter  Reihenfolge  sich 
gegenseitig  bedingen,  mathematisch  ausgedrückt,  daß  man  lauter  um- 
kehrbare Sätze  aussprach.  Von  der  Notwendigkeit  diese  Umkehrbar- 
keit selbst  zu  erweisen  ist  man  nur  in  einem  Falle  befreit,  wenn 
nämlich  das  aus  D  geschlossene  A  nicht  wahr  ist.  Dann  freilich 
kann  D  nun  und  nimmermehr  stattfinden.  Das  heißt:  die  Beweisform 
der  Zurückführung  auf  das  Unmögliche  ist  eine  immer  gestattete 
Unterart  des  analytischen  Beweises;  der  direkte  analytische  Beweis 
dagegen  erfordert  stets  eine  Ergänzung,  welche  rückwärts  gehend  die 
Sätze  synthetisch  auseinander  ableitet,  deren  Behauptungen  die  vor- 
ausgehende analytische  Methode  kennen  lehrte.  Aus  diesen  Betrach- 
tungen gehen  nun  mehrere  Folgerungen  hervor. 

Erstlich  die,  daß  die  analytische  Methode,  vermöge  der  Not- 
wendigkeit ihr,  falls  sie  direkt  zu  Werke  ging,  eine  Synthese  folgen 
zu  lassen,  weniger  für  die  Beweisführung  von  Sätzen,  dagegen  vor* 
trefflich  für  die  Auflösung  von  Aufgaben  sich  eignet,  bei  welchen 
die  analytisch  gefundene  Auflösung  meistens  die  notwendige  Vor- 
aussetzung zur  Entdeckung  ihres  synthetischen  Beweises  bUdet,  und 
in  der  Tat  spielt  die  Analysis  ihre  Hauptrolle  in  dem  sogenannten 
aufgelösten  Orte,  d.  h.  bei  Aufgaben,  die  einen  geometrischen  Ort 
oder  eine  Aufeinanderfolge  von  Punkten  betreffen,  deren  jeder  sich 
einer  gewissen  Eigenschaft  erfreut,  welche  ihrerseits  keinem  anderen 
Punkte  außerhalb  des  Ortes  zukommt. 

Zweitens  scheint  die  indirekte  Methode  der  Zurückführung  auf 
das  Unmögliche,  die  sogenannte  apagogische  Beweisführung^) 
wegen  ihrer  unbedingten  Gültigkeit  vorzuziehen.  In  der  Tat  haben 
die  Alten  sich  derselben  wenn  auch  nicht  gerade  überwiegend  doch 
viel  häufiger  als  die  modernen  Geometer  bedient.  Namentlich  bei 
den  Sätzen,  in  welchen  eine  sogenannte  Exhaustion  vorgenommen 
wird,  wo  also  der  Grenzbegriff  das  unmittelbare  Erreichen  des  Zieles 
ausschließt  und  nur  die  synthetische  Hypothese  des  Unendlichkleinen 

')  änayfoy^  slg  &dvvaxoVy  lateinisch  reducHo  ad  absurdum  oder  demonstratio 
e  contrario. 


222  10.  Kapitel. 

als  Ersatz  zu  dienen  vermag;  wird  man  bei  griechischen  Schrift- 
stellern stets  Beweisen  ans  dem  Gegenteil  begegnen.  Wir  haben  zu- 
gleich angedeutet;  daß  in  neuerer  Zeit  die  indirekten  Beweise  nicht 
beliebt  sind.  Der  Grund  liegt  darin,  daß  bei  aller  zwingenden  Strenge 
für  den  Verstand  der  indirekte  Beweis  der  Einbildungskraft  keine 
YoUständige  Befriedigung  zu  gewähren  pflegt.  Ungezügelt  umher- 
schweifend sucht  sie  noch  immer  dritte  Fälle  ausfindig  zu  machen, 
welche  neben  der  Existenz  Yon  Nicht-D  eine  Koexistenz  von  B  zu- 
lassen, und  nur  schwer  gibt  sie  sich  gefangen,  daß  wirklich  die  Ein- 
teilungsteile des  Einteilungsganzen  vollständig  erschöpft  wurden,  daß 
wirklich  zwei  sich  ausschließende  Tatsachen  vorliegen,  die  nicht  gleich- 
zeitig gesetzt  werden  können. 

Drittens  liegt,  wie  wir  gesehen  haben,  jedem  Beweise,  werde  er 
analytisch  oder  synthetisch,  direkt  oder  indirekt  geführt,  die  Wahr- 
heit eines  gewissen  Satzes  A  zugrunde,  deren  man  sich  versichert 
halten  muß.  In  vielen  Fällen  wird  dieses  A  Ergebnis  früherer  Lehr- 
sätze und  gehörigen  Ortes  streng  erwiesen  sein.  Allein  immer  ist 
dieses  nicht  der  FaU  und  kann  es  nicht  der  Fall  sein,  da  eine  un- 
endliche Kette  von  Rückschlüssen  nicht  denkbar  ist.  Irgend  einmal 
muß  man  stehen  bleiben  und  eine  Grundwahrheit  als  von  selbst  ein- 
leuchtend oder  erfahrungsmäßig  gegeben  zum  Ausgangspunkte  der 
Beweisführung  annehmen.  Wer  also  wie  Piaton  auf  das  Wesen  der 
Beweisführung  selbst  einging,  mußte  auf  dem  Wege  dieser  Unter- 
suchung das  tun,  was  wir  oben  von  Piaton  berichtet  haben.  Er 
mußte  Definitionen  geben,  welche  der  unendlichen  Spaltung  der 
Begriffe  zugunsten  einÜEU^her  Begriffne  ein  Ziel  setzten;  er  mußte  auch 
Axiome,  Grundsätze  und  Annahmen,  anerkennen,  welche  man  nicht 
weiter  beweist,  sei  es  daß  sie  als  von  unmittelbarer  Gewißheit  nicht 
mehr  bewiesen  zu  werden  brauchen,  oder  daß  sie  nicht  bewiesen 
werden  können. 

Wir  kehren  von  dieser  das  Wesen  antiker  geometrischer  Beweis- 
führung berührender  Auseinandersetzung,  zu  welcher  die  mathema- 
tischen Kapitel  im  Menon  uns  fast  mehr  Gelegenheit  als  Veran- 
lassung boten  zu  einer  anderen  Schrift  Platons  und  einer  nicht 
minder  übelberüchtigten  Stelle  derselben  zurück.  Wir  meinen  den 
Anfang  des  YIII.  Buches  Tom  Staate^).  Auch  diese  Stelle  hat 
eine  ganze  Literatur  hervorgerufen^),  welche  jedoch  unserem  Gefühle 

*)  Piaton,  Staat  546  B,  C.  *)  Vgl.  Th.  Henri  Martin,  Le  nombre  nuptial 
et  le  nombre  parfaü  de  Platan  im  XUI.  Bande  der  Revue  archeologique  und  Roth- 
lauf  S.  29  ügg.  Bei  Martin  insbesondere  finden  sich  zahlreiche  Verweisungen 
auf  ältere  Abhandlungen.  Seitdem  sind  noch  zahlreiche  Arbeiten  von  Adam, 
Demme,  Dupuis,  Gow,  Hultsch,  Tannery  veröffentlicht  worden. 


Piaton.  228 

nach  noch  nicht  vermochte,  die  Schwierigkeiten  der  sehr  dunkeln 
Anspielungen,  in  welchen  Piaton  sich  hier  gefallt,  endgültig  zu  lösen. 
Gehen  doch  die  Ansichten  so  weit  auseinander,  daß  nicht  bloß  über 
den  Sinn  der  sogen,  platonischen  Zahl,  sondern  über  ihre  Größe  selbst 
ein  Einverständnis  nicht  herrscht.  Nur  ein  wie  beiläufig  eingeschal- 
teter kleiner  Satz  dieser  Stelle  gibt  uns  Anlaß  zu  einer,  wie  wir 
glauben,  geschichtlich  wichtigen  Bemerkung.  Es  ist  unserer  Meinung 
nach  von  der  Länge  der  Diagonale  des  Quadrates  über  der  Seite  5 
die  Rede,  welche  rational  ausfalle^  wenn  1  fehle,  irrational  wenn  2 
fehlen^),  und  wir  können  das  nicht  anders  verstehen,  als  daß  jene 
Diagonale  oder  y6Ö  in  den  rationalen  Wert  7  übergehe,  wenn  die 
Zahl  50  um  1  verringert  werde,  dagegen  irrational  "j/äS  bleibe,  wenn 
man  2  von  den  50  abziehe.  Wir  haben,  wo  von  der  Entdeckung 
des  Irrationalen  durch  Pythagoras  (S.  181)  die  Rede  war,  hervor- 
gehoben, man  werde  wohl  Versuche  angestellt  haben,  die  Diagonale 
eines  Quadrates  dadurch  aussprechbar,  also  rational,  zu  machen,  daß 
man  andere  und  andere  Seitenlängen  wählte,  man  werde  so  zwar  das 
wirklich  angestrebte  Ziel  natürlich  nicht  erreicht,  aber  doch  Nähe- 
rungswerte von  y2  gefunden  haben.  Die  eben  angeführte  platonische 
Stelle  bringt  uns  diesen  Gegenstand  ins  Gedächtnis  zurück  —  Wir 
möchten  einschalten,  daß  von  Architekten  bei  Nachmessungen  an  den 
Bauwerken  der  Akropolis  das  häufige  Vorkommen  der  Verhältnisse 
1 :  3  sowie  7  :  12  und  7*  :  12*  bemerkt  worden  ist  *).  Uns  scheint 
das  letztere  dem  ersten  als  gleichwertig  gedacht  worden  zu  sein,  so 

12  /"' 

daß       einen  Näherungswert  von  y3   darstellte,  und  Piaton,  meinen 

wir,  hat  auch  gewußt,  daß  l/öO  oder  Sy^  nur  wenig  von  7  sich 
unterscheidet.     Ist  er  so  weit  gegangen  in  der  Praxis  des  Rechnens 

}/2  annähernd  gleich  -.  zu  setzen?  Darüber  fehlt  uns  die  Sicher- 
heit, aber  das  steht  fest,  daß  jenes  Bewußtsein  bei  Piatonikern  und 
deren  Schülern  sich  fortwährend  erhalten  hat  Proklus  sagt  uns  aus- 
drücklich, es  gebe  keine  Quadratzahl,  welche  das  Doppelte  einer  Qua- 
dratzahl anders  als  nahezu  sei;  so  sei  das  Quadrat  von  7  das  Doppelte 
des  Quadrates  von  5,  an  welchem  nur  1  fehle*).     Es  wird  uns  später 

gelingen,  den  Näherungswert  ]/2  =  --  noch  bestimmter  nachzuweisen 

und  damit  die  Wahrscheinlichkeit  zu  erhöhen,  daß  die  Nutzbar- 
machung jener  bei  Platon  nachgewiesenen  Kenntnis  in  der  Tat  statt- 

^)  äicb  Sia^LixQfov  qrix&v  nsiiTtaöog,  BBoyLivtov  kvbg  kxdctmv,  &4(rjt€ov  8h  dvtlv. 
*)  HultBch  in  FleckeiBen  u.  Masius,  Neue  Jahrbücher  für  Philologie  und 
P&dagogik  Bd.  128,  S.  586—687.  »)  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  427, 
lin.  21—24. 


224  10.  Kapitel. 

gefunden  habe.  Daß  nämlich  Piaton  sich  mit  rationalen  und  mit 
irrationalen  Quadratwurzeln  überhaupt  beschäftigt  hat,  geht  aus  einer 
anderen  Nachricht  hervor,  von  der  jetzt  die  Rede  sein  soll. 

Heron  von  Alexandria  ^)  und  ebenso  auch  Proklus')  teilen  uns 
eine  Methode  zur  Auffindung  rationaler  rechtwinkliger  Drei- 
ecke mit,  welche  sie  ausdrücklich  als  Erfindung  des  Piaton  be- 
zeichnen, und  wenn  auch  eine  unter  dem  gefälschten  Namen  des 
BoethiuB  umlaufende  Geometrie  von  dieser  Angabe  abweichend  einen 
Architas  als  Erfinder  nennt'),  so  tragen  wir  doch  kein  Bedenken, 
dem  älteren  griechischen  Berichterstatter  den  Vorzug  der  Glaubwür- 
digkeit vor  dem  jüngeren  Schriftsteller  zu  gewähren.  Schon  Pytha- 
goras  fand,  wie  wir  uns  erinuem  (S.  185),  rationale  rechtwinklige 
Dreiecke,  indem  er  wohl  davon  ausging,  den  Unterschied  zwischen 
der  Hypotenuse  a  und  der  größeren  Kathete  b  der  Einheit  gleich  zu 
setzen,  wodurch  er  genötigt  war  die  Summe  der  Hypotenuse  und  der- 
selben Kathete  in  Form  einer  sonst  beliebigen  ungeraden  Quadratzahl 
zu  wählen.  War  solches  in  der  Tat  der  Weg,  auf  welchem  Pytha- 
goras  zu  seinen  Werten  gelangte,  so  mußte  ein  nächster  Versuch  jene 
DifiTerenz  a  —  b-=2  setzen,  und  die  ihr  ähnliche  Flächenzahl  a  +  6 
mußte  dann  das  Doppelte  einer  Quadratzahl  oder  2  a*  sein,  beziehungs- 

weise  die  Hälffce  einer  geraden  Quadratzahl  ^-y~'     Dann  wurde  von 

selbst  c  =  2a,  6  =  «^  —  1,  a  =  a*  -t-  1,  und  genau  so  verfuhr  Piaton. 
Proklus  sagt  uns  mit  einer  Deutlichkeit,  die  nichts  zu  wünschen  übrig 
läßt:  Piatons  Methode  geht  von  der  geraden  Zahl  aus;  man  nimmt 
nämlich  eine  gerade  Zahl  an  und  setzt  sie  gleich  einer  der  beiden 
Katheten;  wird  diese  halbiert,  die  Hälfte  quadriert  und  zu  diesem 
Quadrate  die  Einheit  addiert,  so  ergibt  sich  die  Hypotenuse;  wird 
aber  die  Einheit  vom  Quadrate  subtrahiert,  so  erhält  man  die  andere 
Kathete. 

So  dienen  beide  Methoden,  die  des  Pythagoras  und  die  des 
Piaton,  einander  zur  Er^nzung  und  rechtfertigen  gegenseitig  die 
Vermutungen,  welche  wir  darüber  aussprachen,  wie  man  dieselben 
gefunden  haben  mag.  Piaton  erscheint  uns  dabei  nicht  sowohl  er- 
findungsreich, als  daß  er  vorher  betretene  Wege  umsichtig  zu  gehen 
wußte.  Er  muß  jedenfalls  auf  der  Höhe  des  mathematischen  Wissens 
seiner  Zeit  gestanden  haben,  mag  ihn  im  mathematischen  Können 
dieser  oder  jener  übertroflFen  haben.  Seine  für  die  damalige  Zeit 
große  mathematische  Gelehrsamkeit  wird  durch  alles,  was  wir  von 
ihm   wissen,   bestätigt.     Wir   erinnern   uns   des  reichen  für   die  Qe- 

^)  Heron  (ed.  Hultsch)  Geometria  pag.  67.  *)  Proklus  (ed.  Friedlein) 
pag.  428.     *)  Boethins  (ed.  Friedlein)  Geometria  pag.  408. 


Piaton.  225 

schichte  der  Mathematik  bei  den  Pythagoräem  Ton  uns  ausgenutzten 
Inhaltes  des  platonischen  Timäus.  Die  Zusammensetzung  regelmäßiger 
ebener  Figuren  aus  rechtwinkligen  Dreiecken ,  die  Bildung  der  fünf 
regelmäßigen  Körper  waren  ihm  bekannt.  Wenn  auch  Pappus  diese 
letzteren  geradezu  als  solche  bezeichnet,  von  denen  bei  Piaton  die 
Rede  sei^),  so  wissen  wir  doch,  daß  Piaton  keineswegs  der  Erfinder 
war.  Die  eigentliche  Stereometrie  scheint  übrigens,  trotz  der  Kennt- 
nis der  regelmäßigen  Körper,  damals  noch  recht  im  argen  gelegen 
zu  haben.  ,,Hinsichtlich  der  Messungen  von  allem,  was  Länge,  Breite 
und  Tiefe  hat,  legen  die  Griechen  eine  in  allen  Menschen  von  Natur 
Yorhandene  ebenso  lächerliche  als  schmähliche  Unwissenheit  an  den 
Tag^',  sagt  Piaton  ^)  und  fährt  in  wenig  gewählter  Ausdrucksweise 
fort,  es  sei  in  dieser  Beziehung  bestellt  „nicht  wie  es  Menschen, 
sondern  wie  es  Schweinen  geziemt,  und  ich  schämte  mich  daher 
nicht  bloß  über  mich  selbst,  sondern  für  alle  Griechen"  Am  wei- 
testen entwickelt  war  die  Arithmetik.  Daß  Piaton  über  die  Propor- 
tionenlehre, über  die  Begriffe  von  Flächenzahlen  und  Körperzahlen 
Herr  war,  wissen  wir  aus  dem  Timäus.  Wir  erinnern  uns  auch,  daß 
(S.  165)  ein  besonderer  Fall  der  pythagoräischen  Sätze  über  geome- 
trische Mittel  zwischen  Flächenzahlen  und  zwischen  Körperzahlen  als 
platonisch  genannt  wird*).  Wir  können  noch  zwei  andere  Stellen 
platonischer  Schriften  anführen,  welche  für  seine  Kenntnisse  in  der 
Arithmetik  von  Wichtigkeit  sind.  Im  Phädon  sagt  Piaton,  die  ganze 
eine  Hälfbe  der  Zahlen  sei  gerad,  die  andere  sei  ungerad^).  In  den 
Gesetzen  weiß  er,  daß  die  Zahl  5040  durch  59  verschiedene  Zahlen 
teilbar  ist,  unter  welchen  sämtliche  Zahlen  von  1  bis  10  sich  be- 
finden^). Das  sind  in  der  Tat  ganz  anständige  Kenntnisse,  wenn  wir 
auch  natürlich  annehmen,  daß  die  Teiler  von  5040  empirisch  gefunden 
und  gezählt  wurden.  Vielleicht  kann  das  Aufsuchen  der  Teiler  doch 
in  Zusammenhang  mit  einer  Bekanntschaft  mit  befreundeten  und  mit 
Yollkommenen  Zahlen  gedeutet  werden  müssen,  wenn  wir  auch  (S.  168) 
uns  sträubten,  diese  in  so  frühe  Zeit  zu  verlegen.  Aber  wie  kam 
man  dazu,  die  Zahl  5040,  das  Produkt  der  aufeinander  folgenden 
Zahlen  von  1  bis  7,  zur  Untersuchung  zu  wählen?  Auf  diese  Frage 
wissen  wir  keine  Antwort. 

Eine  Erfindung  Piatons  wird  uns  berichtet,  welche  ihm  als 
Geometer  alle  Ehre  macht,  und  welche  somit  den  ersten  Teil  dessen, 
was  das  Mathematikerverzeichnis  von  Piaton  zu  sagen  weiß,   ebenso 


^)  Pappus  y,  19  (ed.  Hultsch)  pag.  S52.  ')  Piaton,  Gesetze  pag.  805. 
")  Nicomachus,  Eisagoge  arithm.  11,  24,  6  (ed.^Hoche)  pag.  129.  *)  Fla- 
ton,  Phaedon  pag.  104.     ^)  Piaton,  Gesetze  pag.  737. 

Oaxtob,  Oesohloht«  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  15 


226  10.  Kapitel. 

Yoll  bestätigt,  wie  der  zweite  Teil  jener  Charakteristik  in  unserer 
seitherigen  Darstellung  zur  Geltung  kam.  Wir  müssen  nachholend 
diese  Schilderung  hier  einschalten. 

„Piaton,  der  auf  diese  (Hippokrates  und  Theodorus)  folgte,  ver- 
schaffte sowohl  den  anderen  Wissenschafken  als  auch  der  Geometrie 
einen  sehr  bedeutenden  Zuwachs  durch  den  großen  Fleiß,  den  er 
bekanntlich  auf  sie  verwandte.  Seine  Schriften  füllte  er  stark  mit 
mathematischen  Betrachtungen  und  hob  überall  hervor,  was  von 
der  Geometrie  sich  in  bemerkenswerter  Weise  an  die  Philosophie 
anschließt." 

Vielleicht  ist  unter  dem  bedeutenden  Zuwachse,  der  durch  Pia- 
tons Fleiß  der  Geometrie  verschafft  wurde,  seine  Auflösung  der  Auf- 
gabe von  der  Würfelverdoppelung  verstanden,  welcher  wir  uns 
hiermit  zuwenden.  Freilich  steht  es  schlimm  mit  derselben,  wenn 
die  Meinung  derer  sich  als  richtig  erweisen  sollte,  welche  den  ganzen 
darüber  uns  zugekommenen  Bericht  anzweifeln.  Wir  wollen  die 
schwerwiegenden  Bedenken  derselben  nachtraglich  erörtern  und  fürs 
erste  dem  Berichte  selbst  hier  einen  Platz  einräumen. 

Eutokius  von  Askalon  hat  im  VI.  S.  einen  Kommentar  zu 
des  Archimed  Schrift  über  Kugel  und  Zylinder  verfaßt  und  in  diesen 
Kommentar  sehr  wichtige  Mitteilungen  über  die  Aufgabe  der  Würfel- 
verdoppelung eingeflochten.  Dorther  kennen  wir  den  Brief  des  Era- 
tosthenes  über  jenes  Problem  (S.  211),  dorther  eine  ganze  Anzahl 
von  untereinander  verschiedenen  Auflösungen,  darunter  solche  von 
Piaton,  von  Menächmus,  von  Archytas.  Die  Auflösung  des 
Archytas  hat  Eutokius  dem  Eudemus  entnommen,  und  bei  der  un- 
bedingten Zuverlässigkeit  dieses  Gewährsmannes  ist  an  der  Genauig- 
keit des  Berichtes  nie  der  leiseste  Zweifel  erhoben  worden.  Woher 
stammen  die  übrigen  Auflösungen?  Eutokius  sagt  es  uns  nicht,  aber 
er  leitet  den  ganzen  Bericht  damit  ein,  er  wolle  die  Gedanken  der 
Männer,  welche  auf  uns  gekommen  sind,  ersichtlich  machen.  Sollte 
in  Zusammenhang  mit  dieser  Erklärung  sein  Schweigen  nicht  beredt 
genug  sein?  Sollte  es  nicht  zu  verstehen  geben,  daß,  wo  eine  zweite 
Quelle  nicht  genannt  wurde,  die  Originalschriften  selbst  von  Eutokius 
benutzt  wurden,  oder  doch  solche,  welche  er  für  die  Originalschriften 
hielt?  Sollte  der  Umstand,  daß  die  Auflösungen  als  solche  richtig 
sind  und  somit  die  ünverletztheit  des  Gehaltes  der  Schriften,  von 
welchen  Eutokius  Gebrauch  machte,  verbürgen,  nicht  auch  bei  Prü- 
fung der  Richtigkeit  der  Namen,  unter  welchen  die  Auflösungen 
mitgeteilt  sind,  von  Gewicht  sein?  Unter  den  von  Eutokius  mit- 
geteilten Auflösungen  steht  die  Piatons  an  der  Spitze,  mutmaßlich 
wegen    der   großen  Berühmtheit   des  Verfassers.     Jedenfalls  ist  eine 


Piaton. 


227 


Zeitfolge  der  Auflösungen  aus  der  Anordnung^  in  welcher  sie  bei 
Eutokius  erscheinen,  in  keiner  Weise  zu  entnehmen.  Sie  sind  viel- 
mehr bunt  durcheinander  gewürfelt,  und  um  nur  solche  Männer  zu 
nennen,  deren  Zeitalter  durch  Jahrhunderte  getrennt  liegen,  bei  denen 
also  ein  Zweifel  unmöglich  ist,  kommt  Heron  vor  ApoUonius,  Pappus 
vor  Menächmus  zu  stehen. 

Das  Verfahren  des  Piaton  ^)  beruht  auf  einer  Vorrichtung, 
welche  sich  (Figur  35)  als  Rechteck  A/IEZ  mit  zwei  festen  und 
zwei  in  paralleler  Lage  verschiebbaren 
Seiten  EJ  und  A^  bezeichnen  läßt. 
Mittels  gehöriger  Verschiebung  der  be- 
weglichen Seiten  nebst  entsprechender 
Drehung  der  ganzen  Vorrichtung  soll 
unter  vorheriger  Annahme  der  Länge 
von  zwei  zueinander  senkrechten  Linien 
AB  =  6,  BF  —  a  folgendes  bewirkt 
werden:  A  soll  in  den  Durchschnitt  der 
festen  ZA  mit  der  beweglichen  A^,  F 
auf  die  zweite  feste  Seite  ZE,  zugleich 
der  Eckpunkt  E  des  Rechtecks  auf  die 
Verringerung  von  AB  und  endlich  der  zweite  Durchschnittspunk 
der  beweglichen  A^  mit  der  beweglichen  E^  auf  die  Verlängerung 
von  FB  fallen.  Nennen  wir  nun  BE  =  a;,  BJ^y^  so  ist  im  recht- 
winkligen Dreiecke  F^E  die  BE  senkrecht  aus  der  Spitze  des  rechten 
Winkels  auf  die  Hypotenuse  gefallt,  und  die  gleiche  Rolle  spielt  die 
JBz/  im  rechtwinkligen  Dreiecke  A^E,  Folglich  ist  a:x  =  x:y 
und  X  :y  =  y  :b.  Mithin  sind  x  und  y  die  beiden  mittleren  Pro- 
portionalen,  welche  zwischen  a  und  b  eingeschaltet  werden  mußten. 


Fig.  S6. 


3  /T- 


X  =  a  •  y  —  und  unter  der  Voraussetzung  6  =  2a  endlich  x  =  a  y2. 

Wir  bemerken*),  daß  dieses  Verfahren,  sofern  es  von  Piaton  her- 
rührt, uns  ein  Zeugnis  dafür  ist,  daß  damals  griechische  Geometer 
den  Satz  kannten,  daß  die  Senkrechte  aus  der  Spitze  des  rechten 
Winkels  auf  die  Hypotenuse  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  das  geo- 
metrische Mittel  zwischen  den  Stücken  ist,  in  welche  sie  die  Hypo- 
tenuse zerlegt.  Wir  bemerken  femer,  daß  hier  ein  Beispiel  einer 
Bewegungsgeometrie  vorliegt  (S.  209). 

Wir   stellen   neben   dieses   Verfahren   sofort   dasjenige,    welches 
Eutokius  uns  nach  Eudemus  von  Archytas  berichtet').     Es  stimmt. 


*)  Archimedis   Opera   ed.    Heiberg.    Leipzig    1880—81.    HI,   66   sqq. 
*)  Vgl.  Bretschneider  142.     ')  Archimedes  (ed.  Heiberg)  UI,  98  sqq. 

16* 


228 


10.  Kapitel. 


Fig.  S6. 


wie  wir  sehen  werden,  yoUkommen  zu  den  Worten  im  Briefe  des 
Eratosthenes:  „Der  Tarentiner  Archytas  soll  sie  vermittelst  der  Halb- 
zylinder aufgefunden  haben.'^  Es  seien 
(Fig.  36)  A^-^h  und  ^5  -  a  die 
beiden  Geraden,  zwischen  welche  zwei 
mittlere  Proportionalen  einzuschalten 
sind.  Die  größere  A^  wird  als 
Durchmesser  eines  Halbkreises  be- 
nutzt, in  welchen  die  kleinere  AB 
als  Sehne  eingezeichnet  wird.  Aber 
auch  senkrecht  zu  diesem  ersten  Halb- 
kreise wird  über  A^  ein  zweiter  Halb- 
kreis errichtet,  der  in  A  befestigt 
über  die  Ebene  ABA  weggeschoben 
werden  kann.  Er  bildet  dabei  auf 
dem  über  dem  Halbkreis  ABA  errichteten  Halbzjlinder  eine  krumme 
Linie.  Andererseits  ist  das  Dreieck  AAU  gegeben  durch  die  AA^  die 
AB  und  die  Berührungslinie  All  ^n  den  Halbkreis  in  A,  Dieses 
Dreieck  liefert  um  AA  als  Achse  in  Drehung  versetzt  eine  Kegelober- 
fläche, welche  gleichfalls  den  Halbzjlinder  und  die  vorher  auf  ihm 
erzeugte  Kurve  schneidet,  letztere  in  einem  Punkte  K,  der  als  dem 
Halbzylinder  angehörend  senkrecht  über  einem  Punkte  J  des  Halb- 
kreisbogens ABA  liegen  muß.  Während  Ali  die  Kegeloberfläche 
beschreibt,  beschreibt  endlich  auch  das  Stück  AB  dieser  Geraden 
eine  Fläche  gleicher  Art,  beziehungsweise  der  Punkt  B  einen  Halb- 
kreis BMZ,  der  senkrecht  zur  Horizontalebene  ABAZ  steht.  Da 
zu  dieser  Ebene  auch  AKA'  senkrecht  steht,  so  ist  zu  ihr  auch  M® 
senkrecht,  die  Durchschnittsgerade  der  beiden  genannten  Ebenen,  be- 
ziehungsweise M&A.BZ  als  Durchschnittsgeraden  der  BMZ  mit 
der  ABAZ,  Daraus  folgt  mit  Rücksicht  auf  die  Eigenschaft  von 
BMZ  als  Halbkreis  und  von  BZ  als  dessen  Durchmesser,  daß 
M®^  =  50  X  ®Z.  Aber  B®X&Z^AGx  &I,  weil  BZ  und  AI 
zwei  in  ®  sich  schneidende  Sehnen  desselben  E[reises  sind.  Also 
M®^  =  A&  X  0  J,  also  der  Winkel  AMI  ein  Rechter,  d.  h.  ebenso 
groß  wie  AKA\  welcher  Winkel  im  Halbkreise  ist,  xmd  folglich  Ml 
parallel  zu  KA',  Damit  ist  die  Ähnlichkeit  des  Dreiecks  A'AK  mit 
lAM,  aber  auch  mit  KAI  bewiesen,  und  damit  die  Proportion 
AM lAl-^  AI:  AK ^AK:  ATA.  Setzt  man  endlich  AM  =AB^a, 
AfA  =-  AA  =  6,  AI  =  a;,  AK  =  y,  so  ist  wieder  a:x  =  xiy  '^yib, 
wie  es  verlangt  wurde.  Aus  diesem  Verfahren  geht,  was  wir  zu 
bemerken  nicht  versäumen  wollen,  die  Kenntnis  mehrerer  wichtiger 
Sätze  von  Seiten  des  Erfinders  hervor.     Nicht  bloß  die  beiden  plani- 


Piaton.  229 

metrischen  Lelirsätze,  daß  die  Berührungslinie  an  den  Kreis  senk- 
recht zum  Durchmesser  steht  und  daß  Kreissehnen  einander  in  um- 
gekehrt proportionalen  Stücken  schneiden,  mußten  ihm  geläufig  sein, 
auch  von  der  durch  Piaton  beklagten  allgemeinen  Unwissenheit  auf 
stereometrischem  Gebiete  bildete  er  eine  rühmliche  Ausnahme.  Ar- 
chytas  wußte,  daß  die  Durchschnittsgerade  zweier  zu  einer  dritten 
Ebene  senkrechten  Ebenen  gleichfalls  senkrecht  auf  dieser  und  ins- 
besondere senkrecht  auf  deren  Durchschnittsgeraden  mit  einer  der 
senkrechten  Ebenen  steht.  Er  besaß,  was  wir  noch  weit  höher  an- 
schlagen, über  die  Entstehung  von  Zylindern  und  Kegeln,  über  gegen- 
seitige Durchdringung  von  Körpern  und  dabei  auf  ihrer  Oberfläche 
entstehenden  Kurven  vollständig  klare  Anschauungen.  Sollte  Archytas 
ein  Modell  sich  angefertigt  haben,  an  welchem  er  sein  Verfahren  sich 
ausbildete?  Wir  stellen  die  Frage,  ohne  eine  Antwort  darauf  zu 
wissen  und  finden  eine  solche  auch  nicht  in  den  Worten  des  Diogenes 
Laertius,  der  uns  erzählt:  „Archytas  zuerst  behandelte  die  Mechanik 
methodisch,  indem  er  sich  dabei  geometrischer  Gnmdsätze  bediente; 
auch  führte  er  zuerst  die  organische  Bewegung  in  die  Konstruktion 
geometrischer  Figuren  ein,  indem  er  durch  den  Schnitt  des  Halb- 
zylinders zwei  mittlere  Proportionalen  zur  Verdoppelung  des  Würfels 
zu  erhalten  suchte^^^).  In  dem  durch  Eutokius  überlieferten  Text 
kommt  auch  das  Wort  röjcog  vor*).  Dieses  Wort  hat  in  späterer 
Zeit  den  Sinn  „geometrischer  Ort^'  angenommen.  Hier  bedeutet  es 
aber  nur  die  Stelle').  Man  kann  also  keinerlei  Schlüsse  aus  dem 
Auftreten  des  Wortes  ziehen,  mag  es  selbst  in  dem  Urtexte  des 
Archytas  schon  vorgekommen  sein,  soviel  derselbe  sonst  von  Eude- 
mus  im  übrigen  verändert  worden  zu  sein  scheint.  Selbstverständlich 
nehmen  wir  aber  nur  an,  Eudemus  habe  den  Wortlaut  des  Archytas 
einigermaßen  frei  behandelt.  Den  Sinn  muß  er  getreu  wiedergegeben 
haben,  und  so  bleiben  die  Folgerungen,  welche  wir  auf  stereometrische 
Kenntnisse  des  Archytas  gezogen  haben,  unberührt. 

Wir  lassen  auch  die  Würfelverdoppelungen  des  Menächmus 
gleich  folgen.  Eutokius  teilt  uns  zwei  voneinander  verschiedene  Ver- 
fahren dieses  Schriftstellers  mit*).  Das  eine  Mal  wird  die  Auf- 
gabe durch  eine  Parabel  in  Verbindung  mit  einer  Hyperbel  gelöst, 
das  andere  Mal  werden  zwei  Parabeln  benutzt.  Hier  kann,  wie  wir 
betonen  müssen,  ein  wörtlicher  Auszug  aus  Menächmus  unter  keiner 
Bedingung  vorliegen,  da  diese  Namen  Hyperbel  und  Parabel,  wie  wir 


*)  Diogenes  Laertius  VIII,  88.  •)  Archimedes  (ed.  Heiberg)  DI,  100 
lin.  10.  •)  Gow,  A  short  history  of  Greek  mathematies,  pag.  187,  Note  1. 
*)  Archimedes  (ed.  Heiberg)  IQ,  92  sqq. 


230 


10.  Kapitel. 


noch  sehen  werden^  viel  sp'äteren  Ursprunges  sind.  Der  Bericht  des 
Eutokius  über  die  Würfelyerdoppelungen  des  Menächmus  unter- 
scheidet  sich   in   wesentlicher  Art   yon  dem   über  die  Methode  des 

Archytas.  Während  bei  Archytas  nur  die 
Synthese  mitgeteilt,  die  Analyse  aber  yer- 
schwiegen  ist^),  ist  bei  Menächmus  über  Ana- 
lyse und  Synthese  gleichmäßig  berichtet  und 
uns  dadurch  ein  vortreffliches  Beispiel  zur 
Kenntnis  jener  beiden  Schlußarten  der  Alten 
in  die  Hand  gegeben.  Mögen  a,  x,  y,  b  wieder 
die  Yorige  Bedeutung  haben,  mithin 

a:  X  =  x:y  ^  y  :b 
zu  konstruieren  sein.  Weil  a:  x  =  x:y  wird 
(Fig.  37)  ein  Punkt  ©,  yon  dem  aus  die 
Senkrechte  @Z-^x  auf  eine  Gerade  AH 
gefällt  ist,  auf  der  von  einem  gegebenen  Anfangspunkte  A  aus  die 
Länge  AZ  =  y  genannt  wird,  notwendig  auf  einer  durch  A  hindurch- 
gehenden Parabel  liegen.  Zieht  man  ferner  ÄK+  @Z  und  ®  JT  +  AZ, 
so  ist  das  Rechteck  AK&Z  gemessen  durch  xxy  d.h.  wegen 
a:x  ^y  :b,  gemessen  durch  a  X  6,  oder  gegeben.  Demzufolge  liegt 
0  auch  auf  einer  Hyperbel,  deren  Asymptoten  die  AK  und  AZ  sind. 
Das  ist  die  Analyse.  Sie  geht  aus  von  der  Annahme,  der  Pimkt  @, 
welcher  durch  die  Linien  x,  y  erst  festgelegt  werden  soll,  sei  schon 
vorhanden,  und  zieht  daraus  Folgerungen,  welche  für  die  Lage  von  & 
anderweitige  Merkmale  liefern.     Nun  kommt  die  Synthese,  d.  h.  hier 

die  Konstruktion  der  genannten  Kur- 
ven. In  einem  Punkte  A  läßt  man 
zwei  Senkrechte  zusammentreffen. 
Dann  zeichnet  man  eine  Parabel  mit 
A  als  Scheitelpunkt,  der  einen  der  ge- 
zogenen Geraden  AH  als  Achse  und 
a  als  Parameter.  Femer  zeichnet  man 
zwischen  die  beiden  Geraden  A  H  und 
AK  als  Asymptoten  eine  Hyperbel 
unter  der  Bedingung,  daß  das  Recht- 
eck der  mit  KA,  AH  bis  zum  Durch- 
schnitte mit  diesen  Geraden  in  umgekehrter  Folge  von  jedem  Hyperbel- 
punkte gezogenen  Parallelen  dem  Rechtecke  aus  a  und  6  gleich  sei. 
Dann    schneiden    sich    Parabel   und    Hyperbel    in    dem    Punkte    0, 

*)  Bretschneider  152  bat  versucht,  die  Analyse  des  Archytas  zu  erraten 
und,  wie  uns  scheint,  mit  ziemlichem  Glück.  Vgl.  auch  Flaut i,  Geomeiria  di  sito. 
Neapel  1821,  pag.  173—174. 


Piaton.  231 

dessen  senkrechter  Abstand  Ton  AH  das  gesuchte  x  ist.  Die  zweite 
Methode  des  Menächmus  (Fig.  38)  folgert  wieder  aus  aix^xiyy 
daß  der  gesuchte  Punkt  auf  einer  Parabel  liege^  ebenso  aber  aus 
x:y  =^  y  :b,  daß  er  auf  einer  zweiten  Parabel  liege,  deren  beider- 
seitigä  Achsen  sich  in  dem  beiden  Parabeln  gemeinschaftlichen 
Scheitelpunkte  B  senkrecht  durchschneiden,  was  alsdann  in  der 
Synthese  benutzt  wird.  Eutokius  schließt  den  Bericht  über  die  Auf- 
lösungen des  Menächmus  mit  den  Worten:  ,,Die  Parabel  zeichnet  man 
mittels  eines  Ton  dem  Mechaniker  Isidorus  yon  Milet,  unserem 
Lehrer,  erfandenen  Zirkels,  der  von  ihm  in  seinem  Kommentare  zu 
der  Gewölblehre  des  Heron  beschrieben  worden  ist."  Daß  die  von 
Eutokius  angewandte  Form  nicht  die  des  Menächmus  selbst  gewesen 
sein  kann,  haben  wir  berührt.  Auf  die  Glaubwürdigkeit  des  Inhalts 
fällt  dadurch  kein  Schatten.  Menächmus  muß  also  die  Kurven  ge- 
kannt haben,  welche  eine  spätere  Zeit  Parabel  und  Hyperbel  genannt 
hat;  er  muß  die  Asymptoten  der  Hyperbel  gekannt  haben,  muß  die- 
jenigen Grundeigenschaften  beider  Kurven  gekannt  haben,  welche  die 
analytische  Geometrie  durch  die  Gleichungen  y*  ==  ax  und  xy  ^  c^ 
auszudrücken  weiß. 

Im  Briefe  des  Eratosthenes  ist,  wie  wir  uns  erinnern,  auch  von 
einer  Würfel  Verdoppelung  des  Eudoxus  mittels  der  sogenannten 
Bogenlinien  (S.  212)  die  Rede.  Über  diese  berichtet  Eutokius  ab- 
sichtlich gar  nicht.  Er  setzt  sich  vielmehr  in  strengsten  Gegensatz 
gegen  eine  unter  diesem  Titel  überlieferte  Arbeit^).  Er  habe,  sagt 
er  etwa,  die  dem  Eudoxus  zugeschriebene  Abhandlung  vernachlässigt, 
weil  sie  erstlich  die  Bogenlinien,  von  deren  Benutzung  er  in  der 
Einleitung  rede,  beim  Beweise  gar  nicht  anwende  und  zweitens  eine 
unstetige  Proportion  gleich  einer  stetigen  verwerte,  was  von  jenem 
Schriftsteller  nur  zu  denken  nicht  am  Orte  sei.  Man  hat  hieraus, 
wie  wir  glauben  berechtigterweise,  den  Schluß  gezogen*),  es  werde 
dem  Eutokius  nur  ein  bis  zur  Unverständlichkeit  verstümmelter  Text 
des  Eudoxus  vorgelegen  haben,  da  weder  dem  Eudoxus  so  grobe 
Fehler  zuzutrauen  seien,  noch  auch  Eratosthenes  eine  durchaus  ver- 
fehlte Lösung  der  Erwähnung  würdig  gefunden  haben  würde,  jeden- 
falls nicht  ohne  auf  das  Irrige  derselben  hinzuweisen.  Fügen  wir 
diesen  Schlüssen  noch  hinzu,  daß  das  Verfahren  des  Eutokius  diesem 
einen  Schriftsteller  gegenüber  uns  die  Klarheit  und  Reinheit  der 
Quellen,  welche  ihm  für  die  Würfelverdoppelungen  der  anderen  dienten, 
verbürgt. 

»)  Archimedea  (ed.  Heiberg)  m,  66  lin.  11— 17.  *)  Bretachneider  166 
und  beaondera  Ambr.  Stnrnif  Daa  Deliache  Problem  S.  33  Note  4  (Programm 
dea  k.  k.  Gymnsaiuma  zu  Seitenatetten  1896). 


232  10.  Kapitel. 

Wir  haben  bei  dieser  Aufzählnng  von  Würfelverdoppelungen 
nach  Eutokius  uns  allzusehr  von  unserer  Gewohnheit,  die  Schrift- 
steller, mit  denen  wir  uns  gerade  beschäftigen,  auch  ihrer  Persön- 
lichkeit nach  wenigstens  einigermaßen  zu  schildern,  entfernt,  um 
nicht  schon  hierdurch  zu  zeigen,  daß  wir  mit  Piaton  noch  nicht  ab- 
geschlossen haben.  Diese  Einschaltungen  —  mögen  wir  auch  später 
uns  auf  dieselben  zu  beziehen  haben  —  bezwecken  an  dieser  Stelle 
nur  das  Urteil  bei  Besprechung  der  Streitfrage  zu  leiten,  ob  das, 
was  Eutokius  als  platonische  Würfelverdoppelung  gibt,  wirklich  echt 
sein  kann.  Stellen  wir  dazu  die  Einwendungen,  welche  man  gemacht 
hat,  zusammen. 

Wir  haben  aus  dem  Briefe  des  Eratosthenes  ersehen,  daß,  nach- 
dem jene  Aufgabe  schon  geraume  Zeit  die  Geometer  vergeblich  be- 
schäftigt hatte,  nachdem  eine  Ratlosigkeit  an  die  Stelle  einer  anderen 
getreten  war,  eine  neue  Veranlassung  neue  Bemühungen  hervorrief, 
indem  die  Delier,  welche  einem  Orakelspruche  folgend  um  einer 
Seuche  ein  Ziel  zu  setzen  einen  Altar  verdoppeln  sollten,  sich  an 
Piaton  und  seine  Akademie  um  Rat  wandten.  Theon  von  Sm3rma 
berichtet  nach  einer  uns  unbekannten  Schrift  des  Eratosthenes,  welche 
den  Titel  „Der  Platoniker"  geführt  zu  haben  scheint,  ganz  ähnlich^). 
Piaton  habe  den  Deliem,  welche  der  Seuche  halber  den  Altar  ihres 
Gottes  verdoppeln  sollten  und  die  Ausführung  zu  betreiben  ihn  be- 
fragten, die  Antwort  erteilt:  Nicht  die  Verdoppelung  des  Altars 
wünsche  der  Gott,  er  habe  den  Ausspruch  nur  als  Tadel  gegen  die 
Hellenen  verstanden,  welche  um  die  Wissenschaften  sich  nicht  küm- 
merten und  die  Geometrie  gering  achteten.  Plutarch  ist  ein  dritter 
Schriftsteller,  der  in  seinen  Werken  sogar  zweimal  auf  den  Gegen- 
stand zu  reden  kam^),  ihn  auch  in  einem  Nebenumstande  etwas  ab- 
weichend angibt.  Er  fügt  nämlich  der  Antwort  Piatons,  die  Gottheit 
habe  ihi'e  Mißbilligung  der  allzu  geringen  Beschäftigung  mit  Geo- 
metrie bezeugen  wollen,  noch  bei:  um  einen  Körper  so  zu  verdoppeln, 
daß  er  der  ursprünglichen  Gestalt  durchaus  ähnlich  bleibe,  bedürfe 
man  der  Auffindung  zweier  geometrischer  Mittel,  und  das  werde  ilmen 
EudoxuB  von  Knidos  oder  Helikon  der  Kyzikener  leisten,  der 
letztere  ein  Schüler  des  Eudoxus,  der  in  der  Geschichte  der  Astro- 
nomie genannt  zu  werden  pflegt.  Johannes  Philoponus  endlich  läßt 
diese  Verweisung  auf  andere  in  der  Antwort  des  Piaton  an  die  Delier 
wieder  weg,  während  er  der  Notwendigkeit  zwei  geometrische  Mittel 

*)  Theon  Smyrnaens  (ed.  Hill  er)  pag.  2  'Eeaxoa^ivrig  fikv  yag  iv  xm 
iniYQatponivtp  'nXax(ovi%&  x.  r.  X.  *)  PlutarchuB,  De  genio  Socraiis  csp.  7  und 
De  bI  aptid  Delphos  cap.  6. 


Piaton.  233 

zu  finden  gedenkt^).  Aus  allen  diesen  Angaben  folgt^  daß  über  die 
Frage  der  Würfelverdoppelnng  ein  Meinungsaustausch  zwischen  De- 
liem  und  Piaton  stattgefunden  hat,  und  daher  rührt  der  Name  der 
deli sehen  Aufgabe,  unter  welchem  die  der  Würfelverdoppelung 
vielfach  vorkommt.  Aber  auch  einen  anderen  Umstand  kann  man 
mit  einigem  Erstaunen  bemerken.  Eratosthenes,  der  doch  von  den 
erfolgreichen  Bemühungen  zur  Auffindung  der  Seite  des  verdoppelten 
Würfels  besonders  redet,  erwähnt  den  Namen  Piaton  und  erwähnt 
nicht,  daß  er  das  Vertrauen,  welches  die  Delier  in  seine  Geschick- 
lichkeit setzten,  durch  Lösung  der  Aufgabe  rechtfertigte.  Diesem 
Schweigen  schließt  sich  Theon  von  Smjrma  an,  der  freilich  aus  Era- 
tosthenes  schöpfte,  und  Johannes  Philoponus.  Plutarch  ergänzt  es 
nun  gar  dadurch,  daß  Piaton  von  vornherein  die  Erwartung,  als  könne 
er  die  Frage  lösen,  unter  Verweisung  an  andere  Geometer  von  sich 
abzulenken  wußte.  Man  muß  zugeben,  daß  dieses  Schweigen,  daß 
dieser  Zusatz  sehr  eigentümlich,  sehr  schwer  zu  verstehen  sind,  wenn 
jene  Schriftsteller  das  Verfahren  Piatons  kannten,  daß  es  noch 
staunenswerter  wäre,  wenn  Piaton  den  Würfel  verdoppelt  hätte  und 
jene  Schriftsteller  von  seiner  Abhandlung,  die  doch  zur  Kenntnis  des 
Eutokius  gelangt  sein  muß,  nichts  gewußt  hätten.  Es  wäre  danach 
möglich,  daß  die  Quelle  des  Eutokius  eine  jener  gefälschten  Abhand- 
lungen gewesen  wäre,  wie  sie  zur  Zeit  des  Neuplatonismus  zu 
Dutzenden  erschienen  und  auf  Rechnung  alter  Lehrer  gesetzt  wurden. 
Dazu  kommt  eine  ganz  bedenkliche  Notiz,  welche  Plutarch  zwei- 
mal mitgeteilt  hat^).  Piaton,  sagt  er,  tadelte  den  Eudoxus  und  Ar- 
chytas  und  Menächmus,  welche  die  Verdoppelung  des  Körperraumes 
auf  instrumentale  und  mechanische  Verfahrungsweisen  zurückführen, 
gleich  als  ob  sie  hierdurch  zwei  mittlere  Proportionalen  auf  uner- 
laubte Weise  zu  erhalten  versuchten.  Denn  auf  solche  Art  werde 
der  Vorzug  der  Geometrie  aufgehoben  und  verdorben,  sofern  man  sie 
wieder  auf  den  sinnlichen  Standpunkt  zurückführt,  sie,  die  in  die 
Höhe  gehoben  werden  und  sich  an  ewige  und  körperlose  Gedanken- 
bilder halten  sollte,  wie  dies  bei  Gott  der  Fall  ist,  der  deshalb  immer 
Gott  ist.  So  die  eine  Stelle  Plutarchs.  Wo  er  aber  an  einer  zweiten 
Stelle  die  gleiche  Angabe  wiederholt,  verbindet  er  damit  die  Be- 
merkung, infolge  von  Piatons  Unwillen  über  die  Würfelverdoppelung 
durch  Werkzeuge  sei  die  Mechanik  von  der  Geometrie  vollständig  ge- 
trennt worden  und  dadurch  auf  lange  Zeit  zu  einer  bloßen  Hilfs- 
wissenschaft der  Kriegskunst  herabgesunken.  Konnte,  sagt  man, 
Piaton  einen  derartigen  Tadel  gegen  Eudoxus,  gegen  Archytas,  gegen 

*)  Johannes  Philoponus  ad  Aristotelis  Analyt.  post.  1,7.     ")  Plu- 
tarchus,  Qu€t€8t.  conviv.  VIII,  92,  1  und  Vita  MarcelU  14,  ö. 


234  11.  Kapitel. 

Menächmus  aussprechen,  wenn  er  selbst  ein  mechanisches  Verfahren 
zur  Würfelverdoppelung  erdachte?  Ist  damit  nicht  der  Beweis  ge- 
liefert, daß  der  Bericht  des  Eutokius  soweit  irrig  sein  muß,  als  ihm 
Piaton  für  den  Erfinder  einer  Vorrichtung  gilt,  die  von  irgend  einem 
anderen  herrührte? 

Wir  gestehen  zu,  daß  diese  Einwürfe  sehr  gefährlicher  Natur 
sind,  um  so  mehr  als  nicht  zu  bezweifeln  ist,  daß  die  Piaton  durch 
Plutarch  beigelegte  Meinung  mit  dem  ganzen  philosophischen  Cha- 
rakter dessen,  der  die  Ideen  einführte,  im  vollsten  Einklänge  steht. 
Es  ist  femer  nicht  zu  bezweifeln,  daß  langezeit,  ob  auf  Piatons 
Einfluß  hin,  wie  behauptet  worden  ist^),  lassen  wir  dahingestellt,  nur 
die  Geometrie  des  Zirkels  und  Lineals  als  eigentliche  Geometrie  be- 
trachtet worden  ist.  Die  Nachricht  in  der  Form,  wie  Plutarch  sie 
mitteilt,  lautet  überdies  so  bestimmt,  daß  es  doch  wohl  allzu  gewagt 
wäre,  ein  Mißverständnis  anzunehmen^).  Es  wird  demnach  nur  die 
Wahl  zwischen  folgenden  Möglichkeiten  bleiben.  Entweder,  und  das 
dürfte  dem  Vorwurfe  der  Eünstlichkeit  ausgesetzt  sein,  wird  man  an- 
nehmen, Piaton  habe,  indem  er  jenen  Tadel  gegen  Eudoxus,  Archytas, 
Menächmus  aussprach,  zugleich  beigefügt,  es  sei  ja  keine  Kunst  eine 
Würfelverdoppelung  mechanisch  vorzunehmen,  dazu  genüge  eine  ein- 
fache Vorrichtung,  wie  wir  sie  oben  nach  Eutokius  geschildert  haben, 
aber  das  sei  keine  Geometrie,  denn  diese  öolle  und  müsse  an  ewige 
und  körperlose  Gedankenbilder  sich  halten.  Oder  aber,  und  das  ist 
entschieden  das  Bequemste,  man  hält  sich  nur  an  die  Notiz  des  Plu- 
tarch, an  das  Schweigen  des  Eratosthenes  und  schiebt  die  ganze  Mit- 
teilung des  Eutokius,  wie  oben  bemerkt,  vornehm  beiseite,  soweit 
sie  wenigstens  auf  Piaton  Bezug  hat.  Oder  endlich,  und  das  ist 
wenigstens  das  Ehrlichste,  wenn  kein  anderer  Vorzug  noch  Vorwurf 
an  dieser  Möglichkeit  haftet,  man  gesteht  zu,  daß  hier  ein  Wider- 
spruch vorliege,  den  aus  dem  Wege  zu  räumen  gegenwärtig  keine  ge- 
nügenden Mittel  zur  Hand  sind. 

11.  Kapitel. 
Die  Akademie.     Aristoteles. 

Wir  folgen  weiter  dem  Mathematikerverzeichnisse,  welches  im 
nächsten  Satze  drei  Namen  vereinigt,  indem  es  sagt: 

')  Hankel  S.  156  apricht  mit  apodiktischer  Gewißheit,  aber  durch  kein 
Zitat  unterstützt  den  Satz  aus:  Wir  verdanken  Piaton  die  für  die  Geometrie  so 
wichtige  Beschränkung  der  geometrischen  Instrumente  auf  Zirkel  und  Lineal. 
*)  So  haben  wir  selbst  Zeitschr.  Math.  Phys  XX,  histor.-literar.  Abteilung  183 
den  Widerspruch  zu  beseitigen  gesucht. 


Die  Akademie.    Aristoteles.  235 

,,In  diese  Zeit  gehört  auch  Leodamas  von  Thasos  und  Archytas 
von  Tarent  und  Theätet  von  Athen,  durch  welche  die  Theoreme  ver- 
mehrt wurden  und  zu  einer  strengen  wissenschaftlichen  Darstellung 
gelangten.^'  • 

Von  Leodamas  von  Thasos  haben  wir  im  vorigen  Kapitel  er- 
zählt, was  allein  von  ihm  bekannt  ist,  nicht  vieles  aber  ein  Großes, 
daß  für  ihn  (S.  220)  Piaton  die  analytische  Methode  ersann,  be- 
ziehungsweise sie  ihm  mitteilte.  Nennt,  wie  man  wohl  annehmen 
darf,  das  Mathematikerverzeichnis  die  darin  vorkommenden  Namen 
ihrer  Zeitfolge  nach,  so  war  Leodamas  etwas  älter  als  Archytas, 
mithin  auch  als  Piaton,  was  aber  einer  Beeinflussung  durch  jenen 
keinen  Abbruch  tut^). 

Archytas  von  Tarent')  mag  etwa  430 — 365  gelebt  haben, 
fast  gleichzeitig  mit  Piaton  geboren,  an  welchen  ihn  auch,  wie  wir 
wissen,  während  dessen  Aufenthalt  in  Großgriechenland  (S.  215)  ein 
enges  Freundschaftsverhältnis  band.  Archytas  war  seiner  Heimat 
wie  seinem  Bildungsgange  nach  Pythagoräer.  Er  war  Staatsmann 
und  Feldherr  und  versah  wiederholt  die  höchsten  Amter  in  seiner 
Vaterstadt.  Seinen  Tod  fand  er,  wie  wir  durch  Horaz  wissen*), 
durch  Schiffbruch  am  Vorgebirge  Matinum,  vielleicht  beim  Antritt 
einer  Reise  nach  Griechenland.  Das  Mathematikerverzeichnis  nennt 
ihn,  wie  wir  soeben  gesagt  haben,  vermutlich  aus  Gründen  der  Zeit- 
folge gerade  hier  und  nicht  schon  einige  Zeilen  früher.  Möglicher- 
weise aber  soll  durch  seine  Stellung  mitten  unter  Männern  der  Aka- 
demie der  mittelbare  Einfluß  bezeugt  werden,  den  er  durch  seine 
früheren  nahen  Beziehungen  zu  Piaton  auf  diese  Schule  ausübte. 
Über  die  Echtheit  oder  Unechtheit  von  Bruchstücken  philosophischen, 
ethischen,  musikalischen  Inhaltes,  welche  unter  dem  Namen  des  Ar- 
chytas auf  uns  gekommen  sind,  herrschen  die  entgegengesetztesten 
uns  glücklicherweise  nicht  kümmernden  Meinungen.  Während  die 
einen  jene  Bruchstücke  anerkennen,  gehen  die  andern  so  weit,  sie 
fast  insgesamt  für  Fälschungen  eines  alexandrinischen  Juden  um 
das  Jahr  39  n.  Chr.  zu  halten^).  Fast  insgesamt,  die  mathematischen 
Bruchstücke  nämlich    bleiben   vom  Zweifel  unbehelligt.     Wir   haben 


')  Susemihlin  dem  Rheinisclien  Mnseum  für  Philologie.  Neue  Folge  LIU, 
626  Anmerkung  2  (1898).  ')  Jos.  Nsvarro,  Tentamen  de  Ärchytae  Tarentini 
vüa  atque  operibus  (Kopenhagener  Doktordissertation  1819).  Gruppe,  Ueber  die 
Fragmente  des  Archytas  imd  der  älteren  Pythagoräer  (Preisschrifb  der  Berliner 
Akademie  1840).  L.  Boeckh,  Ueber  den  Zusammenhang  der  Schriften,  welche 
der  Pythagoräer  Archytas  hinterlassen  haben  soll  (Karlsruher  Lyzeumsprogramm 
1841).  Chaignet  I,  266—381.  »)  Horatius,  Lib.  I,  Ode  28.  *)  So  besonders 
Gruppe,  der  diese  These  zuerst  aufstellte. 


236  11.  Kapitel. 

ihrer  übrigens  schon  gedacht.  Die  Würfel  Verdoppelung  des  Ar- 
chjtas  und  die  wichtigen  Folgerungen,  welche  aus  ihr  für  seine 
stereometrischen  Kenntnisse  zu  ziehen  sind,  haben  uns  im  vorigen 
Kapitel,  die  Leistungen  des  Archytas  auf  dem  Gebiete  der  Propor- 
tionenlehre schon  früher  (S.  166)  beschäftigt,  und  auf  letztere 
kommen  wir  gleich  nachher  noch  einmal  bei  Gelegenheit  des  Eudoxus 
zu  reden.  Ein  letztes,  was,  wiewohl  oben  (S.  229)  gesagt,  hier  be- 
sonders betont  werden  mag,  ist,  daß  Archytas  die  Mechanik  zuerst 
methodisch  behandelte,  indem  er  sich  dabei  geometrischer  Grundsätze 
bediente. 

Theätet  von  Athen,  der  Piaton  nahe  genug  stand,  daß  dieser 
ihn  zur  namengebenden  Persönlichkeit  eines  auch  mathematisch  lesens- 
werten Gespräches  macht,  ist  seiner  Lebenszeit  nach  nicht  genauer 
zu  bestimmen,  als  es  durch  diese  eine  Angabe  geschieht.  Seine  Ar- 
beiten müssen  der  Lehre  von  dem  Irrationalen  gewidmet  gewesen 
sein.  Er  teilte  sämtliche  Zahlen  in  zwei  Klassen,  in  die  der  Quadrat- 
zahlen, welche  durch  Vervielfältigung  einer  Zahl  mit  einer  ihr  gleichen 
entstehen,  und  in  die  Rechteckszahlen,  bei  welchen  die  zu  verviel- 
fältigenden Zahlen  ungleich  gewählt  werden  müssen^).  Das  ein- 
teilende Unterscheidungsmerkmal  ist  hier  demnach  Rationalität,  be- 
ziehungsweise Irrationalität  bei  der  Ausziehung  der  Quadratwurzel, 
und  man  kann  hier  eine  früher  (S.  183)  von  uns  angekündigte  Be- 
stätigung derjenigen  Vermutung  finden,  welche  Quadrat  und  Hete- 
romekie  in  der  pjthagoräischen  Kategorientafel  des  Aristoteles  ein- 
fach als  Ersatzwörter  für  Rationalität  und  Irrationalität  erklärt.  Wenn 
Theätet  sodann  fortfährt  „in  betreff  der  festen  Körper  machten  wir 
es  ähnlich",  so  ist  der  Sinn  dieses  Satzes  verschiedener  Deutung 
fähig.  Es  kann  hier  auf  irrationale  Kubikwurzeln  angespielt  sein*), 
möglicherweise  auch  auf  die  Ausziehbarkeit  oder  Nichtausziehbarkeit 
von  Quadratwurzeln  aus  Produkten  aus  je  drei  Faktoren.  Letzteres 
ist  uns  namentlich  um  deswillen  wahrscheinlicher,  als  jede  andere 
Notiz  darüber,  daß  der  Begriff  der  Kubikwurzel  damals  schon  be- 
kannt gewesen  sein  sollte  —  die  Aufgabe  der  Würfelverdoppelung 
schließt  ihn  noch  keineswegs  ein  —  uns  fehlt,  während  von  der  Ein- 
schaltung eines  oder  zweier  geometrischen  Mittel  zwischen  Körper- 
zahlen im  platonischen  Timäus  (S.  163)  die  Rede  war.  Eine  weitere 
Bestätigung  dieser  imserer  Ansicht  liegt  in  einer  mutmaßlich  von 
Proklus  herrührenden  Anmerkung  zum  X.  Buche  des  Euklid.  Der 
9.  Satz  des  X.  Buches  dieses  Schriftstellers  heißt;  Quadrate  kommen- 


»)  Piaton,  Theaetet  pag.  147— 148.    Vgl.  Rothlauf  S.  24flgg.     «)  So  die 
Meinung  Both laufe  1.  c. 


Die  Akademie.    ArisioteleB.  237 

surabler  Linien  verhalten  sich  wie  Quadratzahlen,  inkommensurabler 
Linien  nicht  wie  Quadratzahlen  und  umgekehrt.  Dazu  bemerkt  nun 
der  Scholiast:  ^^Dies  Theorem  ist  eine  Erfindung  des  Theatet,  und 
Piaton  gedenkt  desselben  in  dem  Dialoge  Theätet;  nur  wird  es  dort« 
speziell  auseinandergesetzt,  hier  aber  allgemein''^).  Noch  eine  letzte 
Angabe  über  Theätet  liefert  uns  Suidas,  er  habe  zuerst  über  die 
fünf  Körper  geschrieben^).  Offenbar  ist  hier  an  ein  zusammen- 
hängendes Ganzes  zu  denken,  was  nicht  ausschließt,  daß  schon  vorher 
EUppasos  oder  irgend  ein  anderer  über  das  Dodekaeder  besonders 
geschrieben  haben  könnte.  Ob  auch  diese  Schrift  des  Theätet,  wie 
man  behauptet  hat^),  den  Untersuchungen  über  Lrationales  verwandt 
war,  ob  insbesondere  über  das  Verhältnis  der  Kanten  dieser  Körper 
zum  Halbmesser  der  umschriebenen  Kugel  Betrachtungen  von  der 
Art,  wie  sie  im  XIII.  Buche  des  Euklid  vorkommen,  angestellt  wurden, 
überlassen  wir  einzelnem  Ermessen.  Bestimmtere  Angaben  gibt  es 
darüber  nicht. 

Unser  Verzeichnis  fährt  fort:  „Jünger  als  Leodamas  ist  Neo- 
kleides  und  dessen  Schüler  Leon,  welche  zu  dem,  was  vor  ihnen  ge- 
leistet worden  war^  vieles  hinzufügten;  es  hat  auch  Leon  Elemente 
geschrieben,  die  in  bezug  auf  Umfang  und  das  Bedürfiiis  der  An- 
wendung des  Bewiesenen  sorgfältiger  verfaßt  sind.  Ebenso  erfand 
er  den  Diorismus,  wann  das  vorgelegte  Problem  möglich  ist  und 
wann  unmöglich." 

Diese  Sätze  ergänzen  früher  (S.  208  und  219)  von  uns  Erwähntes. 
In  Piatons  Akademie  entstand  die  Frage,  ob  eine  Aufgabe,  welche 
gestellt  war,  überhaupt  möglich  sei,  ob  man  nicht  zuverlässig  ver- 
gebliche blühe  anwende,  wenn  man  ihre  Lösung  versuche.  Diese 
Frage  mußte  gestellt  werden,  sobald  die  analytische  Me- 
thode entstand,  die,  wie  wir  gleichfalls  sahen,  nicht  an  sich  zu 
jedesmal  richtigen  Ergebnissen  führte,  sondern  erst  einer  Bestätigung 
durch  die  Synthesis  bedurfte.  Piaton  hat  im  Menon  eine  derartige 
Frage  gestellt  und  beantwortet.  Leon  dürfte  die  Notwendigkeit  der 
Fragestellung'  ein  für  allemal  dargetan  und  vielleicht  den  Kunstaus- 
druck Diorismus  eingeführt  haben,  dessen  lateinische  Übersetzung 
determinatio  lautet.  Über  Neokleides  wissen  wir  den  Worten  des 
Mathematikerverzeichnisses  nichts  hinzuzufügen.  Höchstens  können 
wir  den  Umstand  als  besonders  bemerkenswert  erachten,  wonach  er 
Leons  Lehrer  gewesen  sei,  dieser  also  nicht  als  ausschließlicher  Schüler 
Piatons  unmittelbar  betrachtet  werden  darf. 


*)  E noch 6,  Untersuchungen  über  die  neu  aufgefundenen  Schollen  des 
Proklus  DiadochuB  zu  Euklids  Elementen.  Herford  1865,  S.  24—26.  *)  Suidas 
8.  ▼.  Beai^ijtos-     *)  Bretschneider  S.  148. 


238  11.  Kapitel. 

^^Eudoxus  von  Enidos  um  wenig  jünger  als  Leon  und  ein  Ge- 
nosse der  Schule  Piatons  war  der  erste^  welcher  die  Menge  der  Lehr- 
sätze überhaupt  yermehrte  und  zu  den  drei  Proportionen  noch  drei 
hinzufügte;  er  führte  auch  weiter  aus,  was  von  Piaton  über  den 
Schnitt  begonnen  worden  war,  wobei  er  sich  der  Analyse  bediente/' 

Eudoxus^)  lebte  um  390—337.  Man  weiß,  daß  er  in  Knidos 
geboren  ist,  daß  er  Schüler  des  Archytas,  in  seinem  23.  Lebensjahre 
auch  während  zwei  Monaten  Schüler  Piatons  in  Athen  war.  Zur 
Zeit  des  EönigS'  Nectanabis  11  um  358  oder  357  verweilte  Eudoxus 
ein  Jahr  und  vier  Monate  in  Ägypten,  wo  er  mit  Piaton  verkehrte, 
wie  Strabon  nach  ägyptischer  Überlieferung  uns  erzählt.  Wenig 
später  stiftete  Eudoxus  selbst  eine  Schule  in  Kyzikus,  dem  heutigen 
Panorma  am  Marmarameere,  kam  er  mit  zahlreichen  Schülern  nach 
Athen,  wo  er  wieder  mit  Piaton  enge  verkehrte.  Dann  aber  kehrte 
er  nach  Knidos  zurück  und  starb  dort  im  Alter  von  53  Jahren. 
Astronom,  Geometer,  Arzt,  Gesetzgeber  nennt  ihn  Diogenes  Laertius, 
dem  die  wesentlichsten  biographischen  Angaben^)  über  Eudoxus  ent- 
stammen. Wir  haben  es  hier  nur  mit  dem  Geometer  zu  tun  und 
wollen  zunächst  von  den  zwei  bestimmten  Tatsachen  reden,  welche 
das  Mathematikerverzeichnis  hervorhebt. 

Eudoxus  fügte  zu  den  drei  Proportionen  drei  weitere  hinzu. 
Wir  haben  (S.  165 — 166)  die  Analogien  und  Mesotäten  für  die  Pytha- 
goräer  in  Anspruch  genommen,  wir  haben  gesehen,  daß  der  Ursprung 
einer  bestimmten  Proportion  nach  Babylon  verlegt  wird,  von  wo 
Pythagoras  sie  mitgebracht  habe,  woraus  für  uns  mindestens  das  folgt, 
daß  man  zur  Zeit  des  Jamblichus  wie  in  Griechenland,  so  in  den 
Euphratländem  jener  sogenannten  musikalischen  Proportion  Beach- 
tung schenkte.  Wir  wollen  hier  über  den  Unterschied  von  Ana- 
logie und  Mesotät  einiges  einschalten.  Die  Erk^rungen  der  grie- 
chischen Schriftsteller  gehen  freilich  einigermaßen  auseinander,  aber 
faßt  man  die  verschiedenen  Stellen  alle  zusammen,  so  kommt  man  zu 
folgender    Auffassung').     Ursprünglich    hieß   die    geometrische    Pro- 

')  Über  Eudoxus  vgl.  die  bahnbrechende  Abhandlung  von  Ludw.  Ideler 
in  den  Abhandlungen  der»Berliner  Akademie  von  1828  (S.  189—212)  und  1829 
(S.  49 — 88).  Dann  hauptsächlich  Schiaparelli,  Ueber  die  homocentrischen 
Sphären  des  Eudoxus,  des  Eallippus  und  des  Aristoteles  (Abhandig.  des  lombard. 
Instituts  von  1874,  deutsch  von  W.  Hörn  in  dem  Supplementheft  zu  Zeitschr. 
Math.  Phys.  Bd.  XXII).  Zwei  Programmabhsndlungen  der  Realschule  Dinkels- 
buhl  für  1888  und  1890  von  Hans  Eünssberg  geben  eine  erschöpfende  Über- 
sicht Zuletzt  beschäftigte  sich  mit  Eudoxus  Susemihl,  Die  Lebenszeit  des 
Eudoxos  von  Enidos  (Rheinisches  Museum  für  Philologie.  Neue  Folge  Lm^ 
626—628.  1898).  »)  Diogenes  Laertius  VIII,  86—90.  »)  Nesselmann^ 
Algebra  der  Griechen  Seite  210,  Anmerkung  49. 


Die  Akademie.    Aristoteles.  239 

portion  ävakoyCa,  die  Proportion  im  allgemeinen  ^  nämlich  die  arith- 
metische^  die  geometrische,  die  harmonische  und  sämtliche  noch  dazu 
kommende  hießen  fisö&trjxsg.  Der  spätere  Sprachgebrauch  dagegen 
verwischte  diesen  Unterschied  und  ließ  zuletzt  unter  Mesotät  nur 
irgend  etwas  verstehen,  was  zwischen  gegebenen  Äußersten  lag. 
Diese  Darstellung  schließt  zugleich  in  sich,  daß  es  ursprünglich  nur 
drei  solcher  Proportionen  gab,  für  welche  wir  die  von  Archytas  ge- 
gebenen Definitionen  kennen  gelernt  haben.  Es  war  die  arithmetische, 
die  geometrische,  die  entgegengesetzte  Proportion,  welche  diesen  ihren 
Namen,  vitevavtCa^  mit  dem  durch  Archytas  und  Hippasos,  wie  wir 
von  Jamblichus  erfahren,  eingeführten  Namen  der  harmonischen  ver- 
tauschte. Als  selbstverständlich  ist  dabei  zu  bemerken,  daß  nur  Pro- 
portionen, die  aus  drei  Zahlen  gebildet  wurden,  in  Betracht  kamen 
und  mit  jenen  Namen  belegt  wurden,  also  nur  stetige  Propor- 
tionen sind  Mesotäten.  Zu  den  drei  alten  Mesotäten  kamen  drei 
neue.  Das  Mathematikerverzeichnis  sagt  uns  Eudoxus  habe  dieselben 
erfunden.  Jamblichus  berichtet,  Archytas  und  Hippasos  hätten 
sie  eingeführt,  Eudoxus  und  seine  Schüler  nur  die  Namen  verändert^). 
Endlich  traten  noch  vier  Mesotäten  hinzu  und  brachten  die  Gesamt- 
zahl auf  zehn,  welche  Nicomachus  im  IL  S.  n.  Chr.  gekannt  hat. 
Durch  die  Einführung  der  vier  letzten  machten  sich,  wieder  Jambli- 
chus zufolge,  Temnonides  und  Euphranor  verdient,  Persönlich- 
keiten, die  wir  nur  aus  diesem  einzigen  Zitate  kennen.  An  bestimmten 
Zahlenbeispielen  können  wir  am  deutlichsten  mit  dem  Wesen  der 
zehn  Proportionen  uns   bekannt  machen.     Es  bilden  die   drei  Zeilen 


die  1. 

Proport 

ion  a  —  ^  -=  /5  —  y 

wenn  a  =  3/5  =  2y  =  1 

2. 

a:ß  =  ß:Y 

a  =  4/5  =  2y  =  1 

3. 

«  :  y  =  (a  -  /3)  :  (/5  -  y) 

a  =  6/J  =  4y  =  3 

4. 

a  :  y  -=  (/J  -  y)  :  (c  -  ^) 

«=.6/5  =  5y  =  3 

5. 

ß:y^(ß-y):(a-ß) 

a  =  5/i  =  4y  =  2 

6. 

a:ß  =  {ß-Y):{a-ß) 

a  =  6j3  =  4y  =  l 

7. 

a:y~'(tt  —  y):(ß  —  y) 

a  =  9/3  =  8y=.6 

8. 

a  ;  y  =  (a  —  y)  :  (a  —  /3) 

a  =  9/S=7y  =  6 

9. 

ß-y  =  i«-r)-iß  —  r) 

a  =  7/J  =  6y  =  4 

10. 

ß:Y  =  (a-y):(a-ß) 

a  =  8|3-5y  =  3 

Beim  erstell  Anblick  Termißt  man  in  dieser  Liste,  so  umfang- 

reich 

sie  ist, 

zwei  Proportionen,  welche  der 
chtiB  in  Nicomachi  Ariihmeticam  ed 

3.  gegenüber  eine  ähn- 
.  Tennnlins  pag.  lilflgg.. 

'] 

Jambli 

169,  168,  ed.  P 

istelli  pag.  101,  113,  116. 

240  11.  Kapitel. 

liehe  Berechtigung  zu  haben  scheinen^  wie  5.  und  6.  neben  4., 
nämlich 

3a.     ß:y^(a-ß):(ß-Y) 

3b.    a:ß^{u-ß):(ß-r). 

Bei  näherem  Zusehen  ei^ibt  sich  aber,  weshalb  sie  fortblieben.  Sie 
werden  erfüllt,  sofern  ay  =  ß^,  sind  also  in  2.  bereits  mit  einge- 
schlossen, beziehungsweise  werden  durch  die  gleichen  Werte  a^  ß,  y 
erfüllt,  welche  2.  befriedigen. 

Andererseits  erscheint  es  uns  Neueren  gar  verwunderlich,  daß 
die  Griechen  alle  diese  Fälle  unterschieden,  mit  deren  sieben  letzten 
im  großen  und  ganzen  gar  nichts  geleistet  ist,  daß  sie  in  der  Er- 
findung derselben  etwas  hinlänglich  Bedeutendes  erkennen,  um  die 
Namen  derer  aufzubewahren,  von  welchen  jene  Leistung  herrührt. 
Wir  werden  in  die  griechische  Stufenleiter  der  Wertschätzung  uns 
hineinfinden  können,  wenn  wir  zweierlei  erwägen.  Erstens,  daß  eine 
große  Zahlengewandtheit  dazu  gehörte  sämtliche  zehn  Verhältnisse 
ganzzahlig  zu  erfüllen,  zweitens,  daß  die  aus  vier  voneinander  ver- 
schiedenen Zahlen  gebildete  geometrische  Proportion  mit  den  aus  ihr 
abzuleitenden  für  die  Griechen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die 
Gleichungen  und  deren  Umformung  ersetzte.     Die  Folgerung  von 

a:ß^y:d   auf   (a  +  ß)  :  ß  ^  (y  +  ä)  :  d 

z.  B.  spielt  bei  den  Griechen  fortdauernd  die  allerbedeutsamste  Rolle. 
Stetige  Proportionen  hatten  zur  Kenntnis  der  arithmetischen,  der  geo- 
metrischen Reihen,  jene  wieder  zur  Kenntnis  der  vieleckigen  Zahlen 
geführt.  Was  Wunder,  daß  man  weiter  experimentierte,  daß  man 
immer  neue  Verbindungen  gleicher  Verhältnisse  zwischen  Zahlen 
aufsuchte,  welche  selbst  aus  drei  gegebenen  Zahlen  additiv  oder  sub- 
traktiv  zusammengesetzt  waren?  Solche  neue  Proportionen  konnten 
zu  neuen  wichtigen  Entdeckungen  Gelegenheit  geben,  und  taten  sie 
es  nicht,  so  boten  sie  nur  ein  Beispiel,  wie  es  deren  in  der  Geschichte 
aller  Wissenschaften  gibt,  daß  Untersuchungen  mit  hochgespannten 
Hoffnungen  und  Erwartungen  begonnen  sich  allmählich  als  unfrucht- 
bar erwiesen. 

Eudoxus,  sagt  uns  das  Verzeichnis  noch,  führte  weiter  aus,  was 
von  Piaton  über  den  Schnitt  begonnen  worden  war,  wobei  er  sich 
der  analytischen  Methode  bediente.  Der  Schnitt,  ^  ^ofii^',  über 
welchen  Untersuchungen  von  Piaton  begonnen  worden  waren,  muß, 
wie  in  richtigem  Verständnis  dieses  lange  für  ttnerklärbar  dunkel 
gehaltenen  Ausspruches   erkannt  worden  ist^),   ein  ganz   bestimmter 

*)  Bretschneider  S.  167— 168. 


Die  Akademie.    AristoteleB.  241 

gewesen  sein,  ein  solcher^  dem  die  damalige  Zeit  die  größte  Bedeu- 
tung beilegte.  Das  aber  war  der  Fall  mit  dem  Schnitt  der  Geraden 
nach  stetiger  Proportion,  mit  dem  sogenannten  goldenen  Schnitt, 
wie  die  spätere  Zeit  ihn  genannt  hat.  Der  goldene  Schnitt  tritt  nun 
gerade  in  Verbindung  mit  Anwendung  der  analytischen  Methode  in 
den  fünf  ersten  Sätzen  des  XIU.  Buches  der  euklidischen  Elemente 
auf,  nachdem  er  schon  im  11.  Buche  als  Satz  11.  gelehrt  worden  war. 
Die  Annahme,  jene  fünf  Sätze  seien  Eigentum  des  Eudoxus  und  von 
Euklid  in  ihrem  Zusammenhange  pietätsroll  erhalten,  hat  sonach  eine 
große  Wahrscheinlichkeit  fär  sich.  Es  sei  ergänzend  nur  hinzugefügt, 
daß  Eudoxus  bei  Untersuchungen  über  die  Proportionenlehre  fast  mit 
Notwendigkeit  auch  zu  solchen  Verhältnissen  geführt  werden  mußte, 
für  welche  Zahlenbeispiele  nicht  möglich  waren,  und  deren  Behand- 
lung nur  geometrisch  gelang.  Wir  sagen,  er  mußte  dahin  geführt 
werden,  weil,  wie  wir  (S.  163)  im  Vorbeigehen  bemerkt  haben,  der 
Grieche  die  Zahl  vorzugsweise  in  räumlicher  Versinnlichung  zu  be- 
trachten pflegte,  und  hat  Eudoxus  sie  ebenso  betrachtet,  dann  yer- 
stehen  wir,  warum  das  Mathematikerverzeichnis  die  Leistungen  des 
Eudoxus  in  der  Proportionenlehre  und  um  den  goldenen  Schnitt  in 
einem  Atemzuge  ausspricht.  Auch  das  Letztgesagte  läßt  eine  weitere 
Beglaubigung  zu.  Eudoxus  hat  die  Proportionenlehre  geometrisch 
betrachtet,  denn  ihm  gehört  nach  der  Behauptung  eines  yermutlich 
Ton  Proklus  verfaßten  Scholion  das  ganze  V.  Buch  des  Euklid,  das 
ist  eben  das  der  Proportionenlehre  gewidmete,  in  allen  seinen  wesent- 
lichen Teilen  an^). 

Eine  ganz  andere  Gattung  von  Untersuchungen  des  Eudoxus, 
welche  nicht  minder  gut  verbürgt  sind,  hatte  stereometrische  Aus- 
messungen zum  Gegenstande.  Archimed  sagt  uns  mit  ausdrück- 
licher Bestimmtheit  ^),  Eudoxus  habe  gefunden,  daß  jede  Pyramide  der 
dritte  Teil  eines  Prisma  sei,  welches  mit  ihr  die  gleiche  Grundfläche 
und  Höhe  habe,  femer,  daß  jeder  Kegel  der  dritte  Teil  eines  Zylinders 
von  der  Grundfläche  und  Höhe  des  Kegels  sei.  Archimed  deutet 
dabei  den  Weg  an,  welchen  Eudoxus  bei  den  Beweisen  einschlug. 
Die  griechischen  Philosophen  nannten  kfjfiiia,  Einnahme,  den  Vorder- 
satz, von  welchem  der  Dialektiker  bei  seinen  Schlüssen  ausgeht.  Das- 
selbe Wort  bedeutete  dem  Mathematiker  einen  zum  Gebrauche  für 
das  Nächstfolgende  notwendigen,  aber  den  Zusammenhang  einiger- 
maßen unterbrechenden  Lehnsatz.  Von  einem  Lemma,  welches  Eudoxus 


^)  Enoche,  Untersuchungen  über  die  neu  aufgefundenen  Scholien  des 
ProkluB  Diadochus.  Herford  1865,  S.  10— 18.  *)  Archimedes  (ed.  Heiberg) 
I,  4  lin.  11—14  und  II,  296  lin.  9—20. 

Gaxtob,  Oescblehte  der  Mathematik  I.  8.  Aufl.  16 


242  11.  Kapitel. 

hier  anwandte^  sagt  uns  anch  Archimed.  Es  lautet  wie  folgt:  ,,Wenn 
zwei  Flächenräume  ungleich  sind^  so  ist  es  möglich,  den  Unterschied, 
um  welchen  der  kleinere  von, dem  größeren  übertroffen  wird,  so  oft 
zu  sich  selbst  zu  setzen,  daß  dadurch  jeder  gegebene  endliche  Flächen- 
raum übertroffen  wird."  Archimed  setzt  hinzu,  mit  Hilfe  des  gleichen 
Lemma  hätten  auch  die  Alten  die  Proportionalität  des  Kreises  zum 
Quadrat  des  Durchmessers  bewiesen,  so  daß  möglicherweise  der  Be- 
weis des  Hippokrates  von  Chios  schon  dieses  Lemma  voraussetzte. 
Daran  dachten  wir  (S.  207),  als  wir  die  Vermutung  preisgaben,  Hip- 
pokrates könne  von  rechnenden  Betrachtungen  Gebrauch  gemacht 
haben,  als  er  jene  Proportionalität  bewies.  Jedenfalls  war,  wenn 
auch  die  erste  Kenntnis  des  Lemma  als  solchem  dem  Eudoxus  ent- 
rückt werden  zu  müssen  scheint,  seine  Leistung  eine  sachlich  wie 
methodisch  hervorragende,  und  wir  haben  ihn  als  einen  der  ersten 
Bearbeiter  des  Exhaustionsverfahrens  imter  allen  Umständen  zu  nennen. 
Noch  eine  dritte  Gruppe  von  geometrischen  Untersuchungen  des 
Eudoxus  darf  nicht  schweigend  übergangen  werden.  Eudoxus  ist  Er- 
finder einer  Kurve,  welche  zwar  in  der  Astronomie  ihre  wesentliche 
Anwendung  gefunden  hat,  aber  darum  nicht  weniger  der  Geometrie 
angehört^).  Sie  wurde  von  ihm  selbst  Hippopede,  das  heißt  Pferde- 
fessel, genannt,  und  Xenophon  beschreibt  sie  in  seinem  Buche  über 
die  Reitkunst  als  die  Art  des  Laufes,  welche  beide  Seiten  des  Pferdes 
gleichmäßig  ausbilde  und  jegliche  Wendung  zu  machen  gestatte. 
Auch  heutigen  Tages  sucht  man  durch  das  sogenannte  Achterreiten 
die  gleiche  Wirkung  hervorzubringen,  und  so  wird  sehr  wahrschein- 
lich, daß  es  eine  schleifenartige  Kurve  war,  welche  Eudoxus  so  be- 
nannte. Damit  stimmen  Stellen  des  Proklus  überein,  welche  die 
Hippopede  eine  spirische  Linie  nennen,  imd  welche  bezeugen, 
daß  sie  einen  Winkel  bilde,  indem  sie  sich  selbst  schneide^).  Wir 
werden  von  dem  Erfinder  der  spirischen  Linien  noch  später  zu  reden 
haben.  Jetzt  dürfen  wir  aber  schon  bemerken,  daß  man  unter  Spire, 
öTcelQa,  einen  sogenannten  Wulst  versteht,  d.  h.  einen  ringförmigen 
Rotationskörper,  welcher  durch  die  Drehung  eines  Kreises  um  eine 
in  seiner  Ebene  liegende  aber  nicht  durch  den  Mittelpunkt  gehende 
Gerade  erzeugt  wird'),  einen  Körper,  dessen  Hälfte  in  der  Würfel- 


*)  Über  diese  Kurve  vgl.  den  V.  Abschnitt  des  vorher  erwähnten  Aufsatzes 
TonSchiaparelli,  deutsche  Übersetzung  S.  137 — 156  und  KnocheundMaerker 
{Ex  Prodi  successoris  in  Euclidis  elementa  commentariis  definitionis  quartae  ex- 
positionem  quae  de  recta  est  linea  et  sectionilms  spirids  commenUUi  sunt  Knocke 
et  Maerker).  Herford  1866.  *)  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  127,  128,  112. 
")  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  119.  Heron  Alexandrinus  (ed.  Hultsch) 
pag.  27,  Definit.  98. 


Die  Akademie.    Aristoteles.  243 

yerdoppelnng  des  Archytas  (S.  228)  yorkommt^  erzeugt  durch  die 
Yerschiebung  eines  senkrechten  Halbkreises  über  einem  wagrechten. 
Schneidet  man  diesen  Wulst  durch  eine  der  Drehungsachse  parallele 
Ebene,  so  entsteht  eine  spirische  Linie,  deren  Gestalt  je  nach  der 
Entfernung  der  Schnittebene  von  der  Drehungsachse  eine  dreifache 
sein  kann  (Fig.  39).  Ist  die  schneidende 
Ebene  von  der  Drehungsachse  weiter 
entfernt  als  der  Ereismittelpunkt,  so 
entsteht  eine  ovale  in  sich  zurücklaufende 
Linie,  welche  Proklus  als  in  der  Mitte 
am  breitesten  und  gegen  die  Enden  sich 
yerengemd  schildert.  Geht  die  Ebene 
von  der  Achse  aus  gesehen  diesseits  des 
Mittelpunktes  des  erzeugenden  Kreises, 
aber  immer  noch  durch  den  ganzen 
Wulst,  so  ist  die  Kurve  nach  den 
Worten  desselben  Schriftstellers  läng- 
lich, in  der  Mitte  eingedrückt  und  breiter  ^*  ^' 
an  den  beiden  Enden.  Die  Schleifenlinie  entsteht,  wenn  die  Schnitt- 
ebene  der  Achse  noch  näher  rückt,  so  daß  sie  den  Wulst  an  einem 
inneren  Punkte  berührt,  welcher  alsdann  der  Doppelpunkt  der  Kurve 
ist.  Die  genaueren  Eigenschaften  der  Hippopede  des  Eudoxus  aus- 
einanderzusetzen ist  hier  um  so  weniger  der  Ort,  als  dieselben  in  den 
Quellen  nicht  angegeben  sind,  man  also  in  vollständiger  Ungewißheit 
sich  befindet,  wie  viel  oder  wie  wenig  von  dem,  was  man  ausein- 
andersetzt, dem  Eudoxus  selbst  bekannt  gewesen  sein  kann. 

Das  letzte,  worüber  wir  noch  zu  berichten  hätten,  wären  die 
Bogenlinien,  xafinvkuL  ygafiiialy  mittels  deren  Eudoxus  die  Würfel- 
verdoppelung vollzog.  Eudoxus  den  Gottähnlichen  nennt  ihn  Era- 
tosthenes  mit  Rücksicht  auf  diese  Leistung  in  einem  Epigramm,  welches 
den  Schluß  seines  Briefes  an  König  Ptolemäus  über  die  Würfel- 
verdoppelung bildet.  Es*  muß  also  gewiß  eine  hervorragende  Arbeit 
gewesen  sein.  Welcher  Art  aber  jene  Bogenlinien  gewesen  sein 
mögen,  darüber  fehlt  auch  die  dürftigste  Angabe,  so  daß  wir  keinerlei 
Vermutung  Ausdruck  zu  geben  imstande  sind. 

Das  Mathematikerverzeichnis  vereinigt  nun  wieder  drei  Namen, 
von  welchen  zwei  uns  schon  bekannt  geworden  sind:  „Amyklas  von 
Heraklea,  einer  von  Piatons  Gefährten,  und  Menächmus,  der 
Schüler  des  Eudoxus  und  auch  mit  Piaton  zusammenlebend,  und 
sein  Bruder  Dinostratus  machten  die  gesamte  Geometrie  noch  voll- 
kommener." 

Über   Amyklas  und   seine   Verdienste  wissen   wir   gar  nichts. 

16* 


244  11-  Kapitel. 

Menächmus^)  war  jener  Würfelverdoppler,  welcher  Parabel  und 
Hyperbel  bei  der  Lösung  seiner  Aufgabe  benutzte.  Wir  haben  seine 
Auflösungen  durch  £utokius  kennen  gelernt  (S.  230)  und  uns  aus 
denselben  klar  zu  machen  gesucht,  wieviel  Kenntnisse  aus  der  Lehre 
Ton  den  Kegelschnitten  Menächmus  bereits  besessen  haben  muß.  Wir 
erinnern  uns  aus  demselben  Berichte  des  Eutokius,  daß  Isidorus 
von  Milet  einen  Parabelzirkel  erfunden  hat.  Nun  kommt  allerdings 
in  dem  oft  benutzten  Briefe  des  Eratosthenes  der  Satz  vor  (S.  212), 
die  Zeichnungen  der  verschiedenen  Würfelverdoppler  hätten  sich  nicht 
leicht  mit  der  Hand  ausführen  und  in  Anwendung  bringen  lassen 
y^außer  etwa  einigermaßen  die  des  Menächmus,  doch  auch  nur  müh- 
sam'^  Man  hat  daraus  den  Schluß  gezogen,  Menächmus  habe  bereits 
gewisse  Vorrichtungen  zur  Zeichnung  seiner  Kurven  gekannt,  und  un- 
möglich ist  diese  Deutung  nicht.  Einen  eigentlichen  Widerspruch 
gegen  die  bei  Eutokius  vorkommende  Bemerkung  bildet  sie  gewiß 
nicht,  da  erstens  die  Vorrichtungen  des  Menächmus  keine  Zirkel  ge- 
wesen zu  sein  brauchen  und  zweitens  Eutokius  nicht  sagt,  daß  man 
vor  der  Erfindung,  die  er  seinem  Lehrer  nachrühmt,  Parabel  und 
Hyperbel  nicht  mechanisch  habe  zeichnen  können.  Daß  die  Namen 
Parabel  und  Hyperbel  jüngeren  Datums  als  Menächmus  sind,  haben 
wir  betont.  Sie  gehören  dem  ApoUonius  von  Pergä  an.  Die 
Namen,  welche  vorher  in  Übung  waren,  gehen  ebenso  wie  die  Ent- 
stehung jener  Kurven  aus  einer  durch  Eutokius  in  seinem  Kommen- 
tare zu  Apollonius  uns  erhaltenen  Stelle  des  Geminus  hervor*).  Die 
Alten  kannten  nur  gerade  Kreiskegel  und  definierten  dieselben  als 
durch  die  Umdrehung  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  um  die  eine 
seiner  Katheten  entstanden.  Sie  unterschieden  aber  drei  Gattungen 
solcher  Kegel,  je  nachdem  die  Umdrehungsachse  mit  der  Hypotenuse 
des  den  Kegel  erzeugenden  Dreiecks  einen  Winkel  machte,  der  kleiner, 
gleich  oder  größer  als  die  Hälfte  eines  rechten  Winkels  war.  Der 
Winkel  an  der  Spitze  des  Kegels  wurde  natürlich  doppelt  so  groß, 
also  in  den  drei  Fällen  spitz,  recht  oder  stumpf  Nun  schnitt  man 
jeden  Kegel  durch  eine  zur  Kegelseite,  d.  h.  zur  Hypotenuse  des  er- 
zeugenden Dreiecks  senkrechte  Ebene  und  erhielt  so  die  dreierlei 
Kurven,  welche  .ihrer  Hervorbringung  gemäß  Schnitt  des  spitz- 
winkligen, des  rechtwinkligen  und  des  stumpfwinkligen 
Kegels  genannt  wurden.  Schon  Demokritus  von  Abdera  (S.  193) 
scheint  Kegel  durch  dem  Grundkreise  parallele  Ebenen  durchschnitten 


^)  Max  C.  P.  Schmidt,  Die  Fragmente  des  Mathematikers  Menächmus  in 
der  Zeitschrift  „Philologus"  (1882)  Bd.  1,  2,  S.  72—81.  *)  Apollonii  Conica 
(ed.  Heiberg).     Leipzig  1891—1893.     II,  168. 


Die  Akademie.    Aristoteles.  245 

zu  haben.  Die  bei  sonstigen  Schnitten  auf  der  Kegeloberfläche  her- 
Tortretenden  Kurven  hat  er  indessen  wohl  kaum  beobachtet^  da  wieder 
öeminus  in  einer  anderen  durch  Proklus  uns  aufbewahrten  Stelle 
versichert,  Menächmus  habe  die  Kegelschnitte  erfunden^).  Eben  das- 
selbe geht  auch  aus  einer  Bemerkung  des  Eratosthenes  hervor.  In 
jenem  Epigramme  nämlich,  mit  welchem  er  seinen  Brief  über  die 
Würfelverdoppelung  beschließt,  und  in  welchem  er  Eudoxus  den 
Göttlichen  nennt,  wie  wir  oben  sagten,  spricht  er  von  den  aus  dem 
Kegel  geschnittenen  Triaden  des  Menächmus. 

Menächmus,  der  Entdecker  der  Kegelschnitte  und  einiger  ihrer 
Haupteigenschaften,  scheint  aber  nicht  im  Zusammenhange  von  den- 
selben gehandelt  zu  haben.  Wenigstens  sagt  uns  Pappus,  daß  ein 
gewisser  Aristäus  der  Ältere  zuerst  über  die  Elemente  der  Kegel- 
schnitte fünf  Bücher  herausgab.  An  einer  zweiten  Stelle  erzählt  er 
uns,  daß  Euklid  dem  Aristäus  nachgerühmt  habe,  daß  er  sich  durch 
die  Herausgabe  der  Kegelschnitte  verdient  gemacht  habe.  Eine  dritte 
Stelle  des  Pappus  bestätigt  endlich,  was  wir  vorher  nach  Geminus 
über  die  Namen  sagten,  indem  es  dort  heißt,  Aristäus  und  alle 
anderen  Mathematiker  vor  Apollonius  nannten  die  drei  Kegelschnitt- 
linien den  Schnitt  des  spitzwinkligen,  rechtwinkligen  und  stumpf- 
winkligen Kegels*).  Demselben  Aristäus  rühmt  Pappus  an  der  gleichen 
Stelle  auch  noch  nach,  daß  er  die  bis  jetzt  einzig  vorhandenen  fünf 
Bücher  körperlicher  Orter  in  Zusammenhang  mit  den  Kegel- 
schnitten verfaßt  habe,  und  Hypsikles  weiß  im  zweiten  vorchrist- 
lichen Jahrhundert,  daß  er  eine  Vergleichung  der  fünf  regel- 
mäßigen Körper  verfaßte^).  Das  Zeitalter  des  Aristäus  des  Älteren 
läßt  sich  aus  diesen  Angaben  ziemlich  genau  ableiten.  Er  muß  mit 
seinem  Werke  über  die  regelmäßigen  Körper  später  als  Theaetet,  der 
zuerst  über  diesen  Gegenstand  schrieb,  mit  seinem  Werke  über  die 
Kegelschnitte  später  als  Menächmus,  der  diese  Kurven  entdeckte, 
früher  als  Euklid,  der  das  Werk  lobte,  aufgetreten  sein.  Man  wird 
folglich  keinenfaUs  weit  fehlgehen,  wenn  man  die  schriftstellerische 
Tätigkeit  des  Aristäus  auf  die  Jahrzehnte  um  320  bestimmt.  Das 
Mathematikerverzeichnis  schweigt  auffallenderweise  über  diesen  ohne 
allen  Zweifel  hervorragenden  Mann,  und  auch  die  anderen  Quellen 
lassen  uns  im  Stiche,  wenn  wir  die  Frage  aufwerfen,  wer  wohl  der 
Aristäus  der  Jüngere  war,  in  Gegensatz  zu  welchem  Pappus  von  dem 
Älteren  redet? 

Menächmus  muß,  wie  wir  soeben  begründet  haben,  vor  Aristäus 

»)  Proklus  (ed.  Friedlei  n)pag.  111.  »)Alle  drei  Stellen  bei  Pappus,  VII, 
Praefatio  (ed.  Hultsch)  672,  676  und  wieder  672.  »)  Hypsikles,  Buch  von 
den  fClnf  regelmäßigen  Körpern,  Satz  2. 


246 


11.  Kapitel. 


gesetzt  werden.  Der  Zeit  nach  könnte  er  mithin  leicht  Mathematik- 
lehrer Alexanders  des  Gfroßen  gewesen  sein,  wie  in  einem  allerdings 
an  sich  wenig  glaubwürdigen  Geschichtchen  erzählt  wird^). 

Dinostratas'),  der  Bruder  des  Menächmus,  bediente  sich  Pappus 
zufolge  zur  Quadrierung  des  Kreises  jener  krummen  Linie,  deren  Er- 
findung wir  für  Hippias  von  Elis  in  Anspruch  nehmen  mußten,  und 
welche  mutmaßlich  nur  von  ihrer  neuen  Anwendung  den  Namen  der 
Quadratrix  erhielt  (S.  197).  Auch  über  das  dabei  eingeschlagene  Ver- 
fahren gibt  Pappus  uns  erwünschte  Auskunft').  Es  wird  nämlich 
zunächst  die  Länge  des  Ereisquadranten  gesucht  imd  alsdann 
der  Inhalt  des  Kreises  als  Hälfte  des  Rechtecks  berechnet,  welches 
die  Kreisperipherie,  oder  das. Vierfache  des  Quadranten,  zur  Grund- 
linie und  den  Kreishalbmesser  zur  Höhe  hat.  Jene  Länge  des  Qua- 
dranten aber  ist  erstes  Glied  einer  stetigen 
geometrischen  Proportion,  deren  Mittelglied 
der  Halbmesser  und  deren  letztes  Glied  die 
Entfernung  des  Kreismittelpunktes  von  dem 
Endpunkte  der  Quadratrix  ist  (Fig.  40). 
Wäre  nicht,  wie  behauptet  wird,  BEdiFd 
^  rj  :  r®,  so  wäre  etwa  BEJ  :  Fd 
=-r^:rK  und  rK>  TS.  Man  be- 
schreibe mit  r  als  Mittelpunkt  und  FK 
als  Halbmesser  einen  zweiten  Quadranten 
ZHKf  welcher  die  Quadratrix  in  H  schneidet.  Da  die  Proportionalität 
der  Quadranten  und  ihrer  Halbmesser  BEJ  :  ZHK^  Fd :  FK  zur 
Folge  hat,  so  yerbindet  sich  dieses  Verhältnis  mit  dem  yorhergehen- 
den  zu  ZHK  ^  Fzf  ^  BF,  Wegen  der  Grundeigenschaft  der  Qua- 
dratrix ist  auch  Bogen  BE^  :  Bogen  JBz/  =  BF:  HA  und,  weil  die 
konzentrischen  Quadranten  BE^d,  ZHK  durch 
den  Halbmesser  FHE  geschnitten  sind,  ist  femer 
Bögen  BEJ :  Bogen  EzJ  =  Bogen  ZHK:  Bogen 
HK^BFiBogen  HK  Daraus  folgt  wieder 
durch  Verbindung  zweier  Verhältnisse  Bogen 
HK  =  HA,  was  unmöglich  ist.  Die  Annahme, 
daß  der  Punkt  K  zwischen  F  und  G  fiele,  mit- 
hin FK  <  F&  wäre  (Fig  41),  führt  gleichfaUs 
zu  Widersprechendem.  Man  beschreibt  wieder 
mit  F  als  Mittelpunkt  und  FK  als  Halbmesser 
einen  Quadranten,  so  muß  wieder  B EA:Z MK^ B F: FK  sich  verhalten. 
Voraussetzungsmäßig  ist  BEA  :BF^  BF:  FK,  mithin  ZMK^BF, 

')  Vgl.  Bretachneider  162—163.     *)  Hultsch  in  Pauly-Wisowa,  Ency- 
klopädie  IV,  2396-2898.     »)  Pappus  IV,  26  (ed.  Hnltßch)  pag.  266. 


Die  Akademie.    Arifitoteles.  247 

Femer  findet  das  Verhältnis  statt  Bogen  ZMK:  Bogen  MK  »  Bogen 
Bß^  :  Bogen  E^  nnd,  weil  BH0  Quadratrix  ist,  anch  Bogen 
^EJ:  Bogen  E^  ^  BT  :  HK,  folglich  Bogen  Z MK  :  Bogen 
MK^  BF:  HK  In  dieser  Proportion  ist,  wie  oben  gezeigt  wurde, 
das  erste  und  dritte  Glied  übereinstimmend,  also  muß  das  Gleiche 
fiir  das  zweite  und  vierte  Glied  stattfinden,  d.  h.  es  muß  Bogen 
MK  =»  HK  sein,  und  das  ist  nicht  möglich.  Der  Punkt  JT,  dessen 
Entfernung  vom  Mittelpunkte  F  das  Schlußglied  der  Proportion  bildet, 
deren  Anfangsglied  die  Quadrantenlänge  und  deren  Mittelglied  der  Halb- 
messer ist,  kann  also  weder  rechts  noch  links  von  ®  fallen  und  muß 
deshalb  &  selbst  sein.  Warum  arc  MK  =  HK  unmöglich  sei,  verrät 
ims  der  Berichterstatter  Pappus  nicht.  Er  sagt  nur  otcsq  atoxov. 
Vielleicht  ist  der  Beweis  so  zu  denken,  daß  die  Flächen  des  Ejreis- 
ausschnittes  FMK  und  des  größeren  Dreiecks  FHK  sich  wie  arc 
MK :  HK  verhalten.  Diese  Beweisführung  setzt  freilich  voraus,  daß 
Dinostratus  die  Ausmessung  des  Kreises  in  Gestalt  eines  Rechtecks, 
welche,  wie  wir  sagten,  der  Zielpunkt  seiner  Untersuchung  war,  schon 
als  bekannt  annahm. 

Dieser  Beweis  ist  nächst  dem  (S.  182)  angieführten  auf  Pytha- 
goras  zurückgehenden  Beweis  der  Irrationalität  von  |/2  der  erste  in- 
direkte Beweis,  welchem  wir  begegnet  sind,  wenn  wir  auch  keines- 
wegs annehmen,  hier  sei  wirklich  zuerst  die  Zurückführung  auf  Wider- 
sprüche vorgenommen  worden.  Die  analytische  Methode,  das  haben 
wir  ja  gesehen,  mußte  den  Beweis  aus  dem  Gegenteil  bevorzugen,  als 
denjenigen,  der  eine  nachfolgende  Synthese  entbehrlich  machte  (S.  221), 
und  so  wird  auch  wohl  spätestens  mit  dieser  Methode  der  apagogische 
Beweis  entstanden  sein  —  spätestens,  denn  es  ist  keineswegs  unmög- 
lich, daß  er  zum  Zwecke  der  dem  Hippokrates  schon  nicht  fremden 
Exhaustion  erfunden  worden  wäre.  Zu  dem  bewiesenen  Satze  selbst 
wollen  wir  noch  besonders  hervorheben,  was  wir  oben  gelegentlich 
gesagt  haben.  Der  Name  der  Quadratrix  darf  uns  nicht  irren,  als  ob 
es  hier  wirklich  um  eine  Quadratur  sich  handelte.  Diese  folgt  erst 
in  zweiter  Linie.  Eine  Rektifikation  des  Kreisquadranten  ist  viel- 
mehr vorgenommen,  und  zwar  dürfte  es  das  erste  Mal  gewesen  sein, 
daß  diese  Aufgabe  behandelt  wurde,  um  welche  von  jetzt  an  die  Zahl 
der  großen  Probleme  der  Geometrie  vermehrt  ist. 

„Theydius  von  Magnesia  scheint  sowohl  in  der  Mathematik 
als  auch  in  der  übrigen  Philosophie  bedeutend  zu  sein;  er  schrieb 
auch  sehr  gute  Elemente,  wobei  er  vieles  Spezielle  verallgemeinerte. 
Ganz  ebenso  war  Kyzikenus  von  Athen  oder  Athenaeus  von 
Kyzikus,  denn  die  griechische  Form  6  KviiTtrivoq  Hd^vaiog  kann 
beide    Bedeutungen    haben    und    ist    bald    so,    bald    so    übersetzt 


248  11.  Kapitel. 

worden  ^),  um  die  nämliche  Zeit  lebend^  sowohl  in  den  anderen  Wissen- 
schaften als  ganz  besonders  auch  in  der  Geometrie  berühmt.  Alle 
diese  verkehrten  in  der  Akademie  miteinander^  indem  sie  ihre  Unter- 
suchungen gmneinschaftlich  anstellten.  Hermotimns  von  Kolo- 
phon  führte  das  früher  von  Eudoxus  und  Theaetet  Gefundene  weiter 
aus,  entdeckte  vieles  zu  den  Elementen  Gehörige  und  schrieb  einiges 
über  die  Örter.  Philippus  von  Mende,  des  Piaton  Schüler  und 
von  ihm  den  Wissenschafben  zugeführt,  stellte  nach  Piatons  Anleitung 
Untersuchungen  an  und  nahm  sich  das  zur  Bearbeitung,  wovon  er 
glaubte,  daß  es  mit  Piatons  Philosophie  zusammenhänge.  Die  nun 
die  Geschichte  geschrieben  haben,  führten  bis  zu  diesem  Punkte  die 
Entwicklung  der  Wissenschaft  fort." 

So  der  Schluß  des  alten  Mathematikerverzeichnisses.  Von  den 
vier  Männern,  welche  hier  genannt  sind,  ist  einer  uns  schon  bekannt: 
Philippus  von  Mende.  Es  ist  kaum  einem  Zweifel  unterworfen, 
daß  er  derselbe  ist,  wie  Philippus  Opuntius  (von  Opus)*),  daß 
er  ein  bedeutender  Astronom  war,  zuerst  wahrscheinlich  mit  optischen 
Untersuchungen  sich  beschäftigte  und  insbesondere  den  Regenbogen 
als  Brechungserscheinung  erkannte.  Von  den  Arbeiten  über  Vielecks- 
zahlen war  (S.  169)  die  Rede.  Auch  die  Literaturgeschichte  ist  unserem 
Philippus  zu  Dank  verpflichtet,  als  demjenigen,  fler  die  12  Bücher 
Gesetze  des  Piaton  herausgab  und  ein  13.  Buch,  die  sogenannte  Epi- 
nomis,  als  Anhang  verfaßte.  Von  den  drei  übrigen  Persönlichkeiten 
dagegen  wissen  wir  so  gut  wie  nichts.  Es  ist  freilich  mit  hoher 
Wahrscheinlichkeit  vermutet  worden,  die  elementargeometrischen  Sätze, 
welche  bei  voreuklidischen  Schriftstellern,  z.  B.  bei  Aristoteles,  vor- 
kommen, müßten  dem  Elementenwerke  des  Theydius  entnommen  sein*). 
Von  Hermotimus  hieß  es,  er  habe  über  die  Örter  geschrieben.  Ein 
geometrischer  Ort  im  allgemeinen  ist  der  Inbegriff  von  Punkten, 
welche  insgesamt  gewisse  Bedingungen  erfüllen,  die  hinwiederum 
durch  keinen  Punkt  außerhalb  des  geometrischen  Ortes  erfüllt  werden. 
Pappus  sagt  uns  weiter,  daß  man  verschiedene  Arten  von  Örtem 
unterschied*).  Ebene  Örter,  xotcoi.  ItcCtcböoi,  wurden  die  genannt, 
welche  gerade  Linien  oder  Kreislinien  sind;  körperliche  Örter,  x6%oi 
etSQSol,  die,  welche  Kegelschnitte  sind;  lineare  Örter,  TÖ;ro(  yQafLfiixol, 
die  weder  gerade  Linien,  noch  Kreislinien,  noch  Kegelschnitte  sind. 


^)  Bretschneider  hat  die  erste,  Friedlein  die  zweite  tJhersetzung  an- 
genommen. *)  Aug.  Böckh,  lieber  die  vierjährigen  Sonnenkreise  der  Alten 
(Berlin  1868)  S.  84—40.  ')  Heiberg  in  den  Abhandinngen  zur  Geschichte  der 
Mathematik  XVIÜ,  4  (Leipzig  1904).  *)  Pappns  VII,  Praefatio  (ed.Hultsch) 
pag.  662  und  672. 


Die  Akademie.    Aristotelee.  249 

Es  muß  dabei  einigermaßen  auffallen,  daß  nach  einer  Nachricht,  die 
wir  ebendemselben  Pappus  yerdanken,  Aristäus  der  Altere  in  zwei 
Terschiedenen  Schriften  über  Kegelschnitte  und  über  körperliche  Orter 
geschrieben  haben  soll.  Man  muß  wohl  annehmen,  daß  das  eine  Mal 
sein  Zweck  dahin  giug,  Eigenschaften  der  Kegelschnitte  auseinander- 
zusetzen, das  andere  Mal  Aufgaben  zu  lösen,  bei  denen  Kegelschnitte 
als  Mittel  zur  Auflösung  dienten. 

Wenn  von  allen  zugleich  behauptet  wird,  sie  hätten  in  der  Aka- 
demie verkehrt,  so  kann  dieser  Verkehr  auch  stattgefunden  haben, 
nachdem  der  Stifter  dieser  Schule  gestorben  war.  Piatons  unmittel- 
barer Nachfolger  war  Speusippus,  Sohn  der  Potone,  der  Schwester 
Piatons.  Er  schrieb  über  die  pythagoräischen  Zahlen,  und  ein  Bruch- 
stück dieses  artigen  Büchleins  —  ßißkCÖLOV  ykaq>vQ6v  —  hat  sich 
nebst  dieser  lobenden  Benennung  bei  einem  späten  Schriftsteller  er- 
halten^). Es  ist  darin  von  linearen  Zahlen,  von  vieleckigen  Zahlen, 
von  Dreiecken,  von  Pyramiden  die  Rede,  so  daß  dadurch  der  alt- 
pythagoräische  Ursprung  aller  dieser  arithmetischen  Begriffe  immer 
unzweifelhafter  wird.  Zweiter  Nachfolger  Piatons  war  dann  Xeno- 
krates  (geboren  um  397,  gestorben  um  314),  der  wahrscheinlich  339 
V.  Chr.  die  Leitung  der  Akademie  übernahm.  Wir  haben  (S.  216) 
dessen  bekannten  Ausspruch  über  die  Mathematik  als  Handhabe  der 
Philosophie  angeführt.  Wir  haben  (S.  118)  erwähnt,  daß  er  mög- 
licherweise eine  historische  Schrift  über  die  Oeometer  verfaßt  hat, 
welche,  wie  wir  jetzt  nach  Diogenes  Laertius  ergänzen,  aus  fünf 
Büchern  bestand.  Noch  andere  vielleicht  mathematische  Schriften 
von  ihm  werden  uns  durch  den  gleichen  Gewährsmann  genannt^). 
Leider  sind  es  nur  Überschriften,  die  auf  uns  gelangt  sind,  ohne 
selbst  die  leiseste  Andeutung  über  den  Inhalt.  Nur  über  eine  Lei- 
stung des  Xenokrates  ist  uns  eine  kurze  Notiz  erhalten,  welche  be- 
dauern läßt,  daß  sie  so  kurz  ist.  Er  habe  auch  gezeigt,  sagt  Plu- 
tarch,  daß  die  Anzahl  der  aus  allen  Buchstaben  zusammensetzbaren 
Silben  1002000000000  betrage»).  Die  Frage  ist  eine  wesentlich 
kombinatorische.  Kombinatorisch  ist,  wenn  man  will,  bis  zu  einem 
gewissen  Grrade  die  Bemerkung  Piatons  von  den  59  Teilern,  welche 
in  5040  enthalten  seien  (S.  225).  Allein  dort  schien  es  notwendig 
zuzugeben,    daß  eine  empirische  Zählung   zu   diesem  Ergebnisse  ge- 


*)  Theologumena  Arithmeticae  (ed.  Ast)*.  Leipzig  1817,  pag.  61—62.  Eine 
mit  Erläuterungen  versehene  Übersetzung  der  ganzen  Stelle  bei  P.  Tannery, 
Pour  rhistoire  de  la  science  Helläne,  pag.  386—390.  *)  Diogenes  Laertius 
IV,  13.  ■)  Plutarchus,  Quaest.  Conviv.  VIII,  9,  13:  Ssvo^gdtrig  dh  tbv  x&v 
avXXaß&v  ScQid'nbv  hv  roc  otoix^ta  luyvvfisva  ngbg  aXXriXa  itagiiii  \LVQiddaiv  imi- 
qnivsv  Unoödnig  xul  iLVQid%ig  uvgioav. 


250  11.  Kapitel. 

führt  haben  werde.  Bei  der  Aufgabe  des  Xenokxates  schließt  die 
Oröße  der  Zahl  jede  Zählung,  ihre  Abweichung  von  einer  runden 
Zahl  jede  allgemein  hingeworfene  Abschätzung  aus.  Xenokxates  muß 
gerechnet;  nach  einer  kombinatorischen  Formel  gerechnet  haben,  und 
wenn  dieselbe  auch  offenbar  unrichtig  gewesen  sein  muß,  so  wäre 
es  nicht  weniger  wissenswert,  die  Formel  und  ihre  Ableitung  zu 
kennen.  Eine  Wiederherstellung  derselben  aus  jener  Zahl  ist  uns 
nicht  gelungen. 

Suchen  wir  ganz  kurz  zusammenfassend  unserem  Gedächtnisse 
einzuprägen,  welcherlei  Bedeutung  Piaton,  seine  außerhalb  des  Pytha- 
goräismus  stehenden  Yor^nger  und  seine  eigenen  Schüler  für  die 
Entwicklung  der  Mathematik  besaßen.  Die  Mathematik  gewinnt  in 
dieser  Zeit  an  Umfang  in  einem  zweifachen  Sinne  dieses  Ausdrucks. 
Der  Umfang  nimmt  zu  durch  neu  entdeckte  Sätze  und  Methoden. 
Der  Umfang  nimmt  zu  durch  die  Zahl  der  Persönlichkeiten,  die  mit 
Mathematik  sich  beschäftigen.  Die  letztere  Zunahme  begründet  sich 
durch  die  Notwendigkeit,  durch  die  Mathematik  hindurch  zur  Philo- 
sophie zu  gelangen.  Die  Neuentdeckungen  gehören  zu  einem  Teile 
den  Elementen  an,  welche  seit  Hippokrates  in  wiederholter  Aus- 
arbeitung durch  Leon  und  durch  Theydius  sich  wesentlich  vervoll- 
kommnen. Die  philosophisch  begründenden  Kapitel  der  Mathematik 
bilden  sich.  Definitionen  werden  ausgesprochen.  Methoden  werden 
erfunden.  Fragen  nach  der  Möglichkeit  des  Geforderten,  an  die  man 
früher  kaum  dachte,  bilden  jetzt  eine  unbedingte  Voraussetzung.  Aber 
diese  Methoden,  vornehmlich  die  Analyse  und  der  Diorismus,  äußern 
ihre  hauptsächliche  Wichtigkeit  in  der  Lehre  von  den  Örtern,  in  der 
höheren  Mathematik  des  Altertums,  welcher  der  andere  Teil  der  Neu- 
entdeckungen angehört.  Es  sind  der  Hauptsache  nach  drei  Probleme, 
durch  welche  die  höhere  Mathematik,  der  Zirkel  und  Lineal  nicht 
genügen,  hervorgerufen  wird:  die  Quadratur  des  Kreises,  in  der  Form, 
wie  Dinostratus  sie  behandelt,  die  Rektifikation  mit  einschließend,  die 
Dreiteilung  des  Winkels,  die  Verdoppelung  des  Würfels.  Die  beiden 
letzten  Probleme  führen  zur  Erfindung  mannigfacher  Kurven,  unter 
welchen  die  Kegelschnitte  durch  die  später  gewonnene  Ausbildung 
ihrer  Lehre  an  Wichtigkeit  hervorragen.  An  sich  aber  sind  sie  kaum 
merkwürdiger  als  jene  anderen  krummen  Linien,  von  denen  eine, 
durch  Archytas  zum  Zwecke  der  Würfelverdoppelung  ersonnen,  sogar 
eine  Linie  doppelter  Krümmung  ist.  Die  Kreisquadratur  hat  noch 
eine  besondere  Seite,  mittels  deren  die  höhere  Mathematik  des  Alter- 
tums mit  der  der  Neuzeit  sich  berührt.  Sie  erfordert  Lifinitesimal- 
betrachtungen.  Das  Unendlichgroße  wie  das  Unendlichkleine  sind 
dem  Altertume  keineswegs  iremd.     Nur  wagte  man  nicht  —  zunächst 


Die  AJcademie.    Aristoteles.  251 

yielleicht  aus  Scheu  vor  Angriffen^  wie  die  eleatische  Schule  sie  ühte 
—  eine  unmittelbare  Benutzung  des  Unendlichen  sich  zu  gestatten. 
Die  mittelbare  Methode  der  Zurückführung  auf  das  Unmögliche,  später 
f&r  diese  Gattung  von  Aufgaben  unter  dem  Namen  der  Exhaustion 
bekannt,  diente  zum  Ersätze  und  zeigte  sich  als  so  wirksam,  daß  Yon 
nun  an  ein  anderes  Beweisverfahren  gar  nicht  mehr  gestattet  worden 
wäre.  So  bleibt  der  Form  nach  die  gesamte  Mathematik  einheitlich 
gestaltet  als  Geometrie,  ohne  daß  ein  äußerer  Unterschied  der  Be- 
weisführung zwischen  niederer  und  höherer  Geometrie  obwaltete.  Auch 
die  Arithmetik  fugt  sich  diesem  einheitlichen  Zusammenhange,  sie 
nimmt  mehr  und  mehr  ein  geometrisches  Gewand  an,  dessen  sie  auch 
in  dem  nun  folgenden  Jahrhunderte,  in  der  Glanzperiode  griechischer 
Mathematik,  sich  nicht  entkleiden  wird. 

Mit  diesem  Überblicke  könnten  wir  füglich  dieses  Kapitel  schließen. 
Wir  sollten  es  vielleicht.  Ganz  äußerliche  Gründe  bestimmen  uns 
einen  kurzen  Anhang  nachzuschicken  und  in  demselben  Dinge  zur 
Sprache  zu  bringen,  die  zur  Bildung  eines  eigenen  Kapitels  stofflich 
nicht  ausreichend  den  einheitlichen  Charakter  des  folgenden  Kapitels 
nur  noch  viel  mehr  entstellen  würden,  wenn  wir  vorzögen  sie  dort- 
hin zu  verweisen.  Wir  meinen  die  mathematische  Bedeutung  von 
Aristoteles  und  seinen  nächsten  Schülern. 

Aristoteles^)  ist  384  geboren,  322  gestorben.  Seine  Vater- 
stadt Stagira  lag  in  der  thrakischen,  aber  größtenteils  von  Griechen 
bewohnten  Landschaft  Chalkidike;  sein  Vater  war  Leibarzt  des  Königs 
Amyntas  von  Makedonien.  Diese  beiden  Erbüberlieferungen  beein- 
flußten sein  Leben.  Ghriechenland  hat  ihn  gebildet,  durch  Makedo- 
niens Könige  hat  er  einen  wesentlichen  Teil  seiner  großartigen  Kul- 
turmission ausgeübt.  Aristoteles  war  im  18.  Jahre  seines  Lebens  in 
die  platonische  Schule  in  Athen  eingetreten,  wo  er  Mitschüler  des 
Xenokrates  war,  und  verließ  diese  Stadt,  in  welcher  er  übrigens  auch 
selbst  eine  Bednerschule  im  Gegensatze  zur  Akademie  eröffnete,  im 
Jahre  347  nach  Piatons  Tode.  Von  343  bis  340  etwa  war  er  als 
Erzieher  Alexanders  des  Großen  am  makedonischen  Hofe,  verwandte 
dann  die  nächsten  Jahre  zur  Abfassung  von  für  seinen  Zögling  be- 
stimmten Schriften  und  eröffnete  etwa  334  in  Athen  bei  dem  Tempel 
des  Apollo  Lykeios  seine  Vorträge.  Lustwandelnd  in  den  Baum- 
gängen des  anstoßenden  Gartens  wurden  die  Peripatetiker  die 
zahlreichste  Philosophenschule.  Die  Beziehungen  des  Aristoteles  zu 
Alexander  blieben  auch  aus  der  Ferne  die  besten,  bis  328  die  Leiden- 
schaftlichkeit des  aufbrausenden  Fürsten  einen  unheilvollen  Riß  her- 


*)  Vgl.  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen.     Bd.  II,  2,  S.  1  ügg. 


252  11.  Kapitel. 

vorbrachte.  Das  hindeiie  freilich  nicht  ^  daß  die  nach  Alezanders 
Tode  322  sich  aufraffenden  Athener  Aristoteles  mit  ihrem  Hasse  be- 
drohten.    Er  floh  nach  Ghalkis  nnd  starb  dort  innerhalb  Jahresfrist. 

Wir  haben  Yon  den  Leistungen  des  großen  Stagihten  hier  nur 
einen  kleinsten  Bruchteil  zu  besprechen.  Seine  astronomischen,  seine 
physikalischen,  seine  naturbeschreibenden  Schriften  kümmern  uns  als 
solche  nicht.  Seine  eigentlich  philosophischen  Werke  haben  für  uns 
nur  mittelbare  Bedeutung.  So  haben  wir  dessen,  was  er  in  seiner 
Physik  über  das  Unendlichgroße  und  das  ünendlichkleine  sagt,  schon 
früher  (S.  204)  gedacht,  und  mit  Bewunderung  bei  ihm  eine  Auf- 
fassung erkannt,  welche  den  Anschauungen  unserer  eigenen  Zeit  recht 
nahe  kommt. 

Man  könnte  vielleicht  erwarten,  daß  wir  in  den  Schriften  des 
Aristoteles  die  zahlreichen  Beispiele  absuchten,  welche  der  Geometrie 
und  der  Arithmetik  entnommen  sind  ^).  Wir  werden  uns  dieser  Mühe 
nicht  unterziehen,  denn  nur  verhältnismäßig  wenige  dieser  Stellen 
besitzen  eine  geschichtliche  Bedeutsamkeit.  Auf  einiges  durften  wir 
hinweisen,  als  wir  mit  der  Mathematik  der  Pythagoräer  uns  beschäf- 
tigten, so  insbesondere  auf  die  Erklärung  des  Gnomon  (S.  162),  auf 
das  Vorkommen  des  Wortes  Dreieckszahl  (S.  168),  auf  den  Beweis 
der  Irrationalität  von  ]/2  (S.  182),  welche  uns  wertvoll  waren.  Auf 
anderes  wollen  wir  jetzt  die  Aufmerksamkeit  lenken,  an  den  viel 
häufigeren  uns  unwichtig  scheinenden  Stellen  mit  Schweigen  vorüber- 
gehend. Wir  erwähnen  als  aristotelisch  den  Satz,  daß  die  Außen- 
winkel eines  geradlinigen  ebenen  Vielecks  die  Winkelsumme  von  vier 
Rechten  besitzen,  wo  die  Außenwinkel  so  gemeint  sind,  daß  jede 
Vielecksseite  einseitig,  und  an  jedem  Eckpunkte  nur  eine  Vielecks- 
seite verlängert  ist*).  Aus  diesem  Satze  geht  zweifellos  hervor,  daß 
über  die  Winkelsumme  des  Dreiecks  hinaus  jetzt  auch  die  Winkel- 
summe des  nach  außen  konvexen  Vielecks  von  n  Seiten  bekannt  ge- 
wesen sein  muß.  Wir  erwähnen  ferner,  daß,  während  bei  Piaton  der 
Gegensatz  der  Rechenkunst  und  der  Zahlenlehre,  Logistik  und  Arith- 
metik, scharf  und  bestimmt  vorhanden  war,  erst  bei  Aristoteles  ein 
ähnlicher  Gegensatz  zwischen  der  Feldmeßkunst  und  der  wissenschaft- 
lichen Raumlehre,  Qeodäsie  und  Geometrie,  nachweisbar  ist*).    Wir 


*)  Eine  derartige  wenn  auch  nicht  yollständige  ZnaammensteHung  hat  ein 
bologneser,  dem  Jesuitenorden  angehöriger  Professor  der  Mathematik  Bian- 
cani  (Blancanus)  unter  dem  Titel  Aristotelia  loca  mathematica  1616  veröfifent- 
licht.  Neuen  Ursprungs  sind  Görland,  Aristoteles  und  die  Mathematik  (Mar- 
burg 1899),  sowie  Heiberg,  Mathematisches  zu  Aristoteles  (Leipzig  1904  in  den 
Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathematik  XVIII,  1 — 49).  *)  Aristoteles, 
Analyt.  post.  y,  94,  8  und  9,  14,  9.     Vgl.  Blancanus  1.  c.  pag.  61—62.     ')  Ari- 


Die  Akademie.    AristoteleB.  253 

können  anführen,  daß  Aristoteles  weiß,  daß  eine  zylindrische  Rolle, 
welche  durch  eine  Ebene  parallel  oder  geneigt  zur  Endfläche  ge- 
schnitten wird,  im  aufgerollten  Zustande  das  eine  Mal  eine  gerade 
Linie,  das  andere  Mal  eine  Kurve  zeigt ^),  daß  ihm  somit  der  Zylinder- 
schnitt neben  dem  Kegelschnitte  schon  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
merkwürdig  war.  Wir  müssen  wohl  eines  eigentümlichen,  vielleicht 
aus  dem  Elementenwerke  des  Theydius  (S.  247)  stammenden  Beweises 
der  Winkelgleichheii  an  der  Ghrundlinie  eines  gleichschenkligen  Drei- 
ecks gedenken^).  Aus  der  Spitze  K  des  Dreiecks  als  Mittelpunkt 
(Fig.  41a)  wird  der  Kreis  AB^'B'  beschrieben,  der  AA  und  BR 
als  Durchmesser  besitzt.  Nun  sind  alle  Winkel,  welche  ein  Kreis- 
durchmesser mit  der  Peripherie  bildet,  einander  gleich,  also  L.KAE 
«  KBE,  Femer  sind  die  Winkel  F,  d  (oder  BAEy  ABE)  einander 
gleich,  welche  eine  Sehne  mit  dem  von  ihr  bespannten  Bogen  bilden. 
Zieht  man  diese  beiden  Gleichungen  zwischen  je  zwei  gemischtlinigen 
Winkeln  voneinander  ab,  so  bleibt  die 
Gleichung  zwischen  den  beiden  geradlinigen 
Winkeln  A,  B  übrig.  Wir»  können  hinweisen 
auf  Aristoteles  als  vermutlich  den  ersten,  der 
die  so  bedeutsame  Frage  sich  vorlegte,  warum 
wohl  nahezu  alle  Menschen  nach  der  Grund- 
zahl 10  zählen,  und  der  in  der  Fingerzahl 
unserer  Hände  den  Grund  erkannte*).  Wir 
finden  auch  bei  Aristoteles  den  Keim  zu 
einem  Gedanken,  der  der  fruchtbarsten  einer 
für  die  ganze  Mathematik  geworden  ist. 
Aristoteles  bezeichnete  nämlich  unbekannte  Größen,  und  zwar  nicht 
bloß  Längen,  durch  einfache  Buchstaben  des  Alphabetes^).  Eine 
Stelle  lautet  z.  B.:  Wenn  A  das  Bewegende,  B  das  Bewegt  werden  de, 
r  aber  die  Länge,  in  welcher  es  bewegt  worden  ist,  und  J  die  Zeit 
ist,  in  welcher  es  bewegt  worden  ist,  so  wird  die  gleiche  Kraft  wie 
A  in  der  gleichen  Zeit  auch  die  Hälfte  des  B  doppelt  so  weit  als  F 
bewegen,  oder  auch  in  der  Hälfte  der  Zeit  J  gerade  so  weit  als  F. 
Man  hat  in  diesen  und  ähnlichen  Sätzen  der  Physik  des  Aristoteles 
die  Ahnung  des  Prinzipes  der  virtuellen  Geschwindigkeit 
gefunden  ^). 


stoteles,    Metaphys.  II,    2    u^uc  &h  (ybSl  to^to  &Xri^ig,    mg  ij  yBoadaioia  xoiv 
alad"rit&v  icti  iLsys^&v  Kai  (pd'agr&v. 

*)  Aristoteles  Problem.  XVI,  6.  ")  Blancanns  1.  c.  pag.  88.  Hei- 
berg 1.  c.  S.  26—26.  *)  Aristoteles  Problem.  XV.  *)  Aristoteles,  Physic. 
Vn  und  VIII  passim  z.  B.  Bd.  I,  pag.  240  bis  250  der  Aristoteles-Ausgabe  der  Ber- 
liner Akademie.     *)  Poggendorff,  Geschichte  der  Physik.    Leipzig  1879,  S.  242. 


254  11-  Kapitel. 

Andere  mechanische  Betrachtungen  hat  Aristoteles  in  einem  be- 
sonderen Werke  ^)  niedergelegt,  bei  welchem  wir  einen  Augenblick 
yerweilen  müssen.  Die  Echtheit  der  Mechanik  des  Aristoteles  ist 
allerdings  mehrfach  geleugnet  worden ,  und  unter  den  Zweiflern  be- 
finden sich  Männer,  die,  wenn  auch  dem  Inhalte  jenes  Werkes  gegen- 
über Laien,  jedenfalls  mit  der  Ausdrucks  weise  des  vermuteten  Ver- 
fassers aufs  genaueste  bekannt  waren  ^).  Wir  besitzen  selbst  die 
sprachlichen  Kenntnisse  nicht  in  dem  Maße,  welches  erforderlich 
wäre  um  über  die  Berechtigung  oder  Nichtberechtigung  der  Aus- 
scheidung der  Mechanik  zu  entscheiden.  Soviel  dürfte  indessen  zu 
behaupten  sein,  daß  die  Mechanik  im  aristotelischen  Qeiste  verfaßt 
ist,  daß  ein  innerer  Widerspruch  gegen  andere  Schriften  des  großen 
Gelehrten  nicht  nachgewiesen  ist^).  Behaupten  darf  man  auch,  daß 
die  Möglichkeit  einer  aristotelischen  Mechanik  ebensowenig  geleugnet 
werden  kann  als  die  geistige  Bedeutsamkeit  der  unter  diesem  Titel 
auf  uns  gekommenen*  Schrift. 

Eine  Mechanik  konnte  Aristoteles  schreiben.  Es  war  zu  seiner 
Zeit  schon  eine  solche  von  Archytas*  von  Tarent  vorhanden 
(S.  236),  der  sich  bei  dieser  seiner  methodischen  Behandlung  der 
Mechanik  geometrischer  Grundsätze  bediente*).  Es  waren  auch  von 
der  eleatischen  Schule  aus  gegen  die  ganze  Bewegungslehre  An- 
griffe erfolgt  (S.  199),  die  es  nicht  unwahrscheinlich  machen,  daß 
Aristoteles,  der  seine  allgemeinen  Abweisungen  jener  Zenonischen 
Lehren  in  einer  besonderen  Schrift  über  unteilbare  Linien  weitläufiger 
ausführte,  ergänzend  auf  positive  Weise  zeigen  wollte,  wie  die  als 
möglich  und  als  wirklich  behauptete  Bewegung  vor  sich  gehe.  Dazu 
kam  aber  ein  anderer  Zweck,  welcher  den  mechanischen  Problemen 
des  Aristoteles  —  so  lautet  der  eigentliche  Titel  der  Schrift  —  eine 
besondere    dialektische   Bedeutung    gibt    und    damit   deren   Echtheit 


^)  Äristotelis  Quaestiones  tnechanicae  ed.  J.  P.  van  Cap pelle.  Amster- 
dam 1812.  Vgl.  auch  eine  Abhandlung  von  Burja,  Sur  les  connaissances  mathe- 
matiques  d^Aristote  in  den  Memoires  de  Vacademie  de  Berlin  für  1790  und  1791 
und  besonders  Fr.  Th  Poselger:  Ueber  Aristoteles  mechanische  Probleme,  eine 
in  der  Berliner  Akademie  am  9.  April  1829  gelesene  Abhandlung  (Berlin  1831). 
*)  Vgl.  z.  B.  Brandis,  Geschichte  der  Entwicklungen  der  griechischen  Philo- 
sophie tmd  ihrer  Nachwirkungen  im  römischen  Reiche.  Berlin  1862.  I,  896. 
•)  Genau  die  gleiche  Ansicht  auch  bei  P.  Duhem,  Les  origines  de  la  statique  I, 
6—9  (Paris  1906).  Heiberg  1.  c.  S.  81  flg.  bezweifelt  die  Echtheit  des  aristo- 
telischen Ursprunges  aus  sprachlichen  Gründen,  namentlich  wegen  des  Vor- 
kommens des  Wortes  zBXQanXBVQOv  für  Viereck,  welches  erst  Euklid  eingeführt 
habe.  Er  gibt  aber  S.  32  selbst  zu,  daß  diese  S.  16  behauptete  Einführung 
durch  Euklid  „nur  eine  Vermutung,  wenn  auch  eine  sehr  wahrscheinliche^^  sei. 
*)  Diogenes  Laertius  VIII,  83. 


Die  Akademie.    Aristoteles.  255 

gewährleistet.  Es  sollten  Aporien  aufgestellt  werden,  d.  h.  Fragen 
der  Mechanik  gesammelt  werden,  welche  Widersprüche  zu  enthalten 
scheinen,  und  deren  Behandlung  erweisen  sollte,  wie  solche  schein- 
bare Widersprüche  sich  lösen  lassen^). 

Die  sogenannte  Mechanik  des  Aristoteles  würde,  sagen  wir, 
seineö  Namens  nicht  unwürdig  sein.  Ein  Schriftsteller  des  XVHL  S. 
hat  zwar  darüber  so  ziemlich  das  entgegengesetzte  Urteil  gefällt*), 
dürfte  jedoch  damit  vermutlich  allein  stehen.  Ein  Werk,  in  welchem 
die  Zusammensetzung  rechtwinklig  zueinander  wirkender  Kräfte  ge- 
lehrt ist^),  in  welchem  ausdrücklich  die  an  dem  Hebel  anzubringenden 
sich  im  Gleichgewicht  haltenden  Lasten  den  Längen  der  Hebelarme 
umgekehrt  proportional  gefunden  werden^),  in  welchem  als  Orund 
dafür  der  größere  Kreisbogen  genannt  ist,  durch  welchen  die  vom 
Stützpunkte  des  Hebels  weiter  entfernte  Last  sich  bewegen  muß: 
ein  solches  Werk  ist  wahrlich  keines  antiken  Schriftstellers  un- 
würdig, mögen  auch  einige  Fragen  in  demselben  nicht  richtig  beant- 
wortet sein. 

Zu  diesen  nicht  richtig  beantworteten  Fragen  gehört  eine,  welche 
schon  überhaupt  gestellt  zu  haben  einen  feinen  mathematischen  Oeist 
verrät.  Es  seien  (Fig.  42) 
zwei  konzentrische  Kreise 
eßrj  und  *yg.  Rollt  der 
kleinere  Kreis  allein  auf 
der  Geraden  rjd,  so  wird 
r^x  seinem  Quadranten 
gleich;  mithin,  wenn  ß 
nach  X  gekommen  ist, 
wird  die  ßa  senkrecht 
auf  rjd  stehen.  Rollt  der 
größere  Kreis  allein  auf 
der  Geraden  gt,  so  wird 

^L  seinem  Quadranten  gleich;  mithin  steht  die  ya  senkrecht  auf  g^, 
wenn  y  nach  l  gekommen  ist.  Nun  seien  die  beiden  konzentrischen 
Kreise  zu  einem  Rade  verbunden.  Jetzt  stellen  aß  und  ay  eine 
starre  Linie  vor,  die  nicht  getrennt  werden  kann,  und  es  muß  folglich 


t       y " 


*)  Poselger  1.  c.  S.  6.  *)  Montucla,  Histoire  des  tnathSmatiques  (II.  Edi- 
tion) I,  187.  *)  Der  Satz  von  dem  Parallelogramm  der  Kräfte  in  der  hier  an- 
gegebenen Beschränknng  blieb  bekannt.  So  führt  ihn  beispielsweise  Proklus 
(ed.  Friedlein  pag.  106  lin.  8—6)  an.  Vgl.  Major,  Programm  des  Stuttgarter 
Gymnasiums  für  1880—81,  S.  13  und  24.  *)  Quaest,  mechan.  cap.  IV,  pag.  29. 
Burja  hat  1.  c.  diese  Stelle  mißverstanden,  wie  van  Cappelle  in  seinen  An- 
merkungen S.  183  mit  Recht  bemerkte. 


256  11.  Kapitel. 

beim  Rollen  des  inneren  Radkreises  längs  rjO  schon,  wenn  ß  in  x 
angekommen  ist,  y  in  k  angekommen  sein,  also  der  Bogen  gy 
einmal  der  Strecke  gt,  einmal  der  Strecke  gA  gleich  sein.  Dieses  Para- 
doxon wußte  allerdings  Aristoteles  nicht  zu  lösen,  und  er  hatte  darin 
Nachfolger  bis  in  das  XVII.  S.  n.  Chr.  Erst  rationelle  Zerlegung 
der  zusammengesetzten  Kreisbewegung  konnte  zur  richtigen  Erkennt- 
nis führen,  daß  in  der  Tat  das  Wälzen  einer  Kurve  auf  einer  Qeraden 
nicht  immer  die  Gleichheit  des  krummlinigen  und  des  geradlinigen 
Stückes  zur  Folge  haben  müsse,  die  nacheinander  zur  Deckung 
kommen  ^). 

Bei  Aristoteles  sind  wir  auch  wohl  berechtigt  Kenntnisse  jenes  Kapi- 
tels der  allgemeinen  Wissenschaftslehre  yorauszusetzen,  von  welchem 
wir  bei  Xenokrates  die  ersten  uns  zur  Kenntnis  gekommenen  Spuren 
bemerkten.  Wir  meinen  die  Kombinatorik.  Aristoteles  hat  die 
Dialektik  der  Sophisten  zur  eigentlichen  Syllogistik  ausgebildet,  und 
die  verschiedenen  Arten  von  Schlüssen,  welche  er  in  Auseinander- 
setzung dieser  Lehre  unterscheidet,  erschöpfen  in  der  Tat  sämtliche 
Möglichkeiten.  Es  ist  somit  hier  tatsächlich  eine  Aufzählung  der 
Kombinationen  gewisser  Elemente  in  ihrer  Vollständigkeit  gegeben. 
Später  zählte  man  auch  die  Gebilde  logisch  möglicher  Begriffszusam- 
menstellungen. Der  Stoiker  Chrysippus,  welcher  282 — 209  lebte, 
hat  die  Zahl  der  aus  10  Grundannahmen  möglichen  Vereinigungen 
auf  über  eine  Million  veranschlagt.  Allerdings  setzt  Plutarch,  der 
uns  die  Sache  erzählt,  hinzu,  die  Arithmetiker  seien  mit  Chrysippus 
keineswegs  einverstanden,  und  Hipparch,  der  zu  den  Arithmetiken! 
gehöre,  habe  gezeigt,  daß,  wenn  man  die  Axiome  bejahend  ausspreche 
103049,  wenn  man  sie  verneinend  benutze  310952  Verbindungen 
entstehen^).  Wir  stehen  der  Bedeutung  dieser  Zahlen  gerade  so  ver- 
ständnislos gegenüber,  wie  früher  bei  Xenokrates  seiner  Zahl  mög- 
licher Silben.  Wir  ziehen  aber  aus  den  Zahlen  selbst  die  gleiche 
Folgerung,  daß  den  Griechen  kombinatorische  Fragen  nicht  vollständig 
fremdartig  waren,  und  daß  sie  auf  irgend  eine  Weise  Formeln,  mit 
größter  Wahrscheinlichkeit  falsche  Formeln,  zu  deren  Beantwortung 
benutzten. 

Bei  einem  Schüler  des  Aristoteles  begegnen  wir  gleichfalls  prak- 
tischer Kombinatorik  in  der  Gestalt  einer  voUsiändigen  Aufzählung 
aller  Möglichkeiten  der  Vereinigung  gewisser  Elemente.     Wir  denken 


^)  Über  das  Bad  des  Aristoteles  vgl.  anck  Heron,  Mechanik  I,  7 
(Opera  II,  1  S.  16  ed.  Nix).  Femer  s.  Klügel,  Mathematisches  Wörterbuch 
(fortgesetzt  von  Mollweide)  Bd.  IV,  S.  171 — 174  unter:  Rad,  aristotelisches. 
*)  Plutarchus,  Quaestton.  Convivial.  VIII,  9,  11  und  12  sowie  auch  De  Stoi- 
corum  repugnantiia  XXIX,  3  und  5. 


Die  Akademie.    Aristoteles.  257 

dabei  an  Aristoxenus  Yon  Tarent,  den  Erfinder  der  ans  Längen 
nnd  Kürzen  zusammengesetzten  YersfOBe. 

Ein  anderer  Schüler  des  Aristoteles,  Dikaearchus,  hat  sich 
möglicherweise  schon  der  Dioptra  bedient,  einer  feldmesserischen 
Vorrichtung,  von  welcher  im  18.  Kapitel  ausführlich  die  Rede  sein 
wird.  Die  Worte  des  Theon  von  Smyrna*):  „Der  Höhenunterschied 
der  höchsten  Berge  von  den  tiefsten  Orten  der  Erde  betragt  nach 
der  Senkrechten  10  Stadien,  wie  Eratosthenes  und  Dikaearch  ge- 
funden zu  haben  behaupten,  und  so  bedeutende  Größen  werden  durch 
Werkzeuge  untersucht  mit  HiKe  von  Dioptern,  welche  aus  den  Ab- 
ständen die  Größen  messen''^)^  lassen  wenigstens  die  Deutung  zu,  als 
ob  die  Bemerkung  der  zweiten  Hälfte  des  Satzes  auch  schon  auf  die 
Zeit  der  genannten  Geodäten,  und  nicht  erst  auf  die  Gegenwart  des 
Schriftstellers  sich  bezöge. 

Unter  den  anderen  ältesten  Peripatetikem  nennen  wir  Theo- 
phrastus  von  Lesbos  und  Eudemus  von  Rhodos,  deren  ersteren 
Aristoteles  selbst  zu  seinem  Nachfolger  ernannte.  Beide  haben,  wie 
im  4.  Kapitel  erzählt  worden  ist,  historisch-mathematische  Schrifken 
angefertigt,  deren  Inhalt  wir  jetzt  annähernd  schätzen  können,  da  er 
gerade  so  weit  reichen  konnte,  als  wir  in  unseren  bisherigen  auf 
Griechenland  bezüglichen  Auseinandersetzungen  erörtert  haben.  Mit 
der  Schätzung  dieses  Inhaltes  steigert  sich  das  Bedauern  über  den 
Verlust  jener  umfangreichen  Schriften.  Theophrast  und  Eudemus 
waren  für  Jahrhunderte  die  Letzten,  welche  der  Geschichte  der 
Mathematik  eigene  Werke  zuwandten,  oder  es  haben  doch  ihre  Nach- 
folger, wenn  sie  welche  hatten,  nicht  gewagt  weiter  als  sie  in  der 
Zeit  des  Berichteten  hinabzusteigen.  Das  liegt  in  den  Worten,  die 
uns  (S.  248)  den  Schluß  des  Mathematikerverzeichnisses  bildeten: 
„Die  nun  die  Geschichte  geschrieben  haben,  führten  bis  zu  diesem 
Punkte  die  Entwicklung  der  Wissenschaft  fort."  Mag  dieser  Aus- 
spruch dem  Verfasser  jenes  Verzeichnisses  angehören,  mag  er  ein 
Zusatz  des  Proklus  sein,  jedenfalls  nahm  dieser  ihn  unverändert  auf 
und  bezeugt  damit  die  Tatsache  selbst.  Zugleich  hat  man  aber  in 
jenen  Worten  einen  Beweggrund  gefunden  das  Mathematikerverzeich- 
nis als  von  Eudemus  herrührend  anzusehen,  eine  Meinung,  zu  welcher 
auch  wir  uns  bekennen. 


^)  Theo  SmjrnaenB  (ed.  Hiller,  Leipzig  1879)  pag.  124^26.  Ob  die 
Zahlenangabe  ,,10  Stadien'%  welche  auf  einer  Einfügung  von  Hiller  beruht, 
richtig  ist  oder  nicht,  ist  fflr  unsere  Verwendung  des  Satzes  unerheblich.  *)  nal 
6Qyaviii&s  dh  taZg  xa  i^  Scnoüxrifidtoiv  {uyi^  fietgovaaig  didnxQaig  xrili%avta 
^eopsiTori.  Auf  diese  Stelle  und  die  in  ihr  vielleicht  enthaltene  frühe  Datierung 
der  Dioptra  hat  P.  Tannery  aufmerksam  gemacht. 

GAKTom,  Getohiohte  der  Matbematlk  I.  8.  Aufl.  17 


258  12.  KapiteL 

12.  Kapitel. 
Alexandria.     Die  Elemente  des  Euklid. 

Athen  sank  von  seiner  Höhe.  Der  junge  makedonische  Fürst, 
der  mit  18  Jahren  in  der  Schlacht  bei  Chäronea  den  ersten  Sieg 
erfocht,  der  mit  33  Jahren  aus  dem  Leben  schied  den  Beinamen  des 
Großen  hinterlassend,  ein  Bezwinger  der  damals  bekannten  Welt, 
hatte  auch  die  Wissenschaft  genötigt  seinen  Befehlen  zu  gehorchen. 
In  der  eigenen  Heimat  ihr  einen  Wohnsitz  anzuweisen,  daran  dachte 
er  nicht.  Er  mochte  empfinden,  daß  die  rauhe  Natur  des  Landes 
und  der  Menschen  nicht  dazu  angetan  waren  einen  Bildungsmittel- 
punkt abzugeben.  Dafür  erwuchs  ein  solcher  in  der  jungen  Stadt, 
welche  Alexander  auf  der  Landzunge  gründete,  die  zwischen  dem 
Mittelmeere  und  dem  mareotischen  See  bis  zum  Nilkanal  Yon  Eano- 
pus  sich  erstreckt.  Als  große  ägyptische  Hauptstadt  sollte  sie  den 
Besitz  des  eben  unterworfenen  Ägyptens  sichern.  In  Form  eines 
ausgebreiteten  makedonischen  Beitermantels  war  der  Plan  der  Stadt 
entworfen.  Den  Namen  führte  sie  nach  dem,  dessen  Machtgebot  sie 
entstehen  ließ,  Alezandria^). 

Hauptstadt  Ägyptens  hatte  Alexandria  alle  Anlage  das  zu  werden, 
als  was  Alexander  selbst  sie  vielleicht  dachte,  die  Hauptstadt  einer 
Weltmonarchie  von  kulturbringendem  Charakter,  einer  Monarchie, 
welche  die  yerschiedenst  gearteten  Völker  einander  näher  bringen, 
ihre  Gegensätze  ausgleichen,  ihnen  allen  den  Schliff  griechischer  Fein- 
heit gemeinsam  machen  sollte.  Wir  brauchen  gewiß  nicht  ausein- 
anderzusetzen, wieso  gerade  in  Ägypten  der  geeignete  Ort  für  die 
Anlegung  einer  solchen  Hauptstadt  sich  fand.  Haben  wir  doch  in 
der  Wissenschaft;,  auf  deren  Geschichte  es  uns  alleia  ankommt, 
Ägypten  als  ein  Mutterland,  wenn  nicht  als  das  Mutterland,  er- 
kennen dürfen.  Gereift  und  gekräftigt  kehrte  die  Mathematik  nach 
dem  Lande  ihres  Entstehens  zurück,  und  es  war,  als  ob  die  Sage 
Yon  dem  Riesen,  der  die  Muttererde  berührend  aus  ihre  neue  Sförke 
zieht,  zur  Wahrheit  werden  sollte.  Hier  auf  ägyptischem  Boden  er- 
probten sich  Kräfte,  wie  sie  bisher  der  Mathematik  noch  nicht  zu- 
gewandt worden  waren. 


^)  Über  die  alezandrinische  Entwicklung  vgl.  die  Abhandlung  „Alexan- 
driner^* von  B.  Volkmann  in  Pauljs  Bealencjklop&die  der  klassischen  Alter- 
tumswissenschaft (TL  Auflage)  mit  reichen  Quellenangaben  alter  und  neuer  Lite- 
ratur, und  besonders  Fr.  Susemihl,  Geschichte  der  griechischen  Literatur  in 
der  Alezandrinerzeit  (Leipzig  1891 — 92). 


Alezandria.    Die  Elemente  des  £aklid.  259 

Eine  in  der  Weltgescliichte  melir  als  einmal  sich  wiederholende 
Erfahmng  lehrt^  daß  es  in  der  Wissenschaft  eine  Mode  gibt.  Sie 
pflegt  nicht  ohne  Grund  aufzutreten,  sie  entstammt  nicht  gerade  den 
Launen  eines  unberechenbaren  Geschmackes,  aber  sie  ist  Yorhanden, 
und  ihrem  Gesetze  beugen  sich  die  hervorragendsten  Geister  in  dem 
Sinne,  daß  sie  yorzugsweise  der  Modewissenschafb  sich  widmen.  So 
gibt  es  Zeiten,  in  welchen  theologische  Geisteskampfe  die  großen 
Männer  beschäftigen,  und  Zeiten,  in  welchen  der  Eriegsruhm  nur  die 
Wissenschaft  des  Krieges  des  Denkers  würdig  macht;  Zeiten,  in 
welchen  vorzugsweise  die  Rechtsbildung  gelingt,  Zeiten,  die  zur  Ent- 
wicklung des  Schönen  dem  Gedanken  und  der  Ausführung  nach 
führen.  Das  war  in  dem  Athen  des  Perikles  der  Fall  gewesen,  das 
hatte  in  der  Schule  Piatons  nachgelebt.  Aristoteles  und  die  Peripa- 
tetiker  verbreiteten  ein  vielfach  gediegeneres,  vielfach  nüchterneres 
Wissen,  und  Nüchternheit  um  nicht  zu  sagen  Trockenheit  ist  der 
Stempel,  welcher  der  ganzen  alexandrinischen  Literaturperiode  auf- 
gedrückt ist,  einer  Zeit,  welche  man  etwa  von  den  Jahrzehnten  nach 
dem  Tode  Alezanders  des  Großen  bis  kurz  vor  die  Einverleibung 
Alexandrias  in  das  römische  Reich,  etwa  von  300  bis  50  v.  Chr., 
durch  volle  250  Jahre  isu  rechnen  hat. 

Ägypten  war  unter  den  Feldherren,  die  das  Erbe  des  verstorbenen 
Weltbeherrschers  untereinander  teilten,  dem  geistig  hervorragendsten, 
Ptolemäus,  Sohn  des  Lagus,  zugefallen,  und  er,  der  als  Ptolemäus 
Soter  305  den  Königstitel  annahm,  wie  seine  beiden  Nachfolger 
Ptolemäus  Philadelphus  (285 — 247)  und  Ptolemäus  Euergetes 
(247 — 222),  welcher  letztere  durch  die  adulitische  Inschrift  wie  durch 
das  mit  ihr  in  bestimmten  Einzelheiten  übereinstimmende  Edikt  von 
Kanopus  (S.  78)  als  mächtiger  Eroberer  ebenso  wie  als  Freund  der 
Wissenschaften  bezeugt  wird,  begründeten  das  Ptolemäerreich.  Unter 
ihnen  wurde  Alezandria  vollends,  wozu  die  Anlage  schon  gegeben 
war,  zum  Sitze  der  exakten  Wissenschaften  und  der  Grammatik,  zum 
Aufbewahrungsorte  der  großen  alexandrinischen  Bibliothek,  zum  Mittel- 
punkte, wohin  alles  strömte,  wer  nur  in  den  Wissenschaften  lernend 
oder  lehrend,  sich  oder  andere  fördern  wollte.  Fand  er  doch  dazu  in 
Alexandria  das  sogenannte  Museum,  einen  Verein  gelehrter  Männer, 
denen  aus  königlichen  Mitteln  ein  ehrenvoller  Unterhalt  gewährt 
wurde.  Die  drei  ersten  Ptolemäer  gaben,  wie  gesagt,  den  Anstoß  zu 
dieser  wissenschaftlichen  Entwicklung.  Ptolemäus  Euergetes  insbe- 
sondere vermehrte  aufs  bedeutsamste  die  Bibliothek,  zu  welcher  er 
den  ganzen  Bücherschatz  beifligte,  der  einst  Aristoteles  und  Theo- 
phrastuB  angehört  hatte.  Aber  auch  die  späteren  Ptolemäer  ließen 
nicht  von  der  Unterstützung  der  Gelehrten,  welche  in  ihrem  Hause 

17* 


260  12-  Kapitel. 

ebenso  herkömmlich  geworden  war,  wie  Unzucht  und  Verwandten- 
mord. 

Der  erste  der  großen  Mathematiker,  welche  uns  in  dem  mit  der 
ilegierung  des  Ptolemäus  Soter  anhebenden  Jahrhunderte  begegnen, 
und  welche  sämtlich  in  Alexandria  blühten  oder  zu  Alexandria  in 
Beziehung  traten,  war  Euklid^).  Proklus  erzählt  an  das  Mathe- 
matikerverzeichnis  anknüpfend  sein  Auftreten  in  der  Wissenschaft: 

„Nicht  viel  jünger  aber  als  diese  ist  Euklides,  der  die  Elemente 
zusammenstellte,  vieles  von  Eudoxus  Herrührende  zu  einem  Ghmzen 
ordnete  und  vieles  von  Theaetet  Begonnene  zu  Ende  fdhrte,  überdies 
das  von  den  Vorgängern  nur  leichthin  Bewiesene  auf  unwiderlegliche 
Beweise  stützte.  Es  lebte  aber  dieser  Mann  unter  dem  ersten  Ptole- 
mäer.  Archimed  nämlich  gedenkt  beiläufig  auch  in  seinem  ersten 
Buche  des  Euklid,  und  man  sagt  femer,  Ptolemäus  habe  ihn  einmal 
gefragt,  ob  es  nicht  bei  geometrischen  Dingen  einen  abgekürzteren 
Weg  als  durch  die  Elemente  gebe;  er  aber  erteilte  den  Bescheid, 
zur  Geometrie  hin  gebe  es  keinen  geraden  Pfad  flir  Könige.  Er  ist 
somit  jünger  als  die  Schüler  Piatons,  älter  als  Eratosthenes  und 
Archimed;  denn  diese  sind  Zeitgenossen,  wie  Eratosthenes  angibt. 
Seiner  wissenschaftlichen  Stellung  nach  ist  er  Platoniker  und  dieser 
Philosophie  angehörig,  daher  er  denn  auch  als  Endziel  seines  ganzen 
Elementarwerkes  die  Konstruktion  der  sogenannten  platonischen 
Körper  hinstellte*). 

Viel  mehr,  als  in  diesen  Sätzen  ausgesprochen  ist,  wissen  wir 
nicht  über  die  Lebensumstände  des  Schriftstellers,  dessen  Elemente 
unmittelbar  oder  mittelbar  die  Grundlage  der  gesamten  Geometrie 
bis  auf  unsere  Zeit  geworden  sind.  Nicht  einmal  das  Vaterland  des 
Euklid  steht  fest,  wenn  wir  nicht  der  Angabe  eines  syrischen  Be- 
richterstatters, des  Abulpharagius ,  unbedingten  Glauben  schenken 
wollten,  welcher  ihn  einen  Tyrer  nennt;  das  wird  aber  niemand  mehr 
einfallen,  seit  nachgewiesen  worden  ist'),  daß  jene  ganze  Nachricht 
aus  einer  mißverstandenen  Stelle  einer  Schrift  des  Hypsikles  stammt, 


^)  Über  Euklid  vgL  David  Gregorys  Vorrede  zu  seiner  großen  Euklid- 
ausgabe (Oxford  1702).  Fabricius,  Bibliotheca  Graeca  edit.  Harless  (Ham- 
burg 1796)  rV,  44—82.  Gartz,  De  interpretibus  et  explanatoribus  Euclidis 
Arabicis  (Halle  1823).  Der  von  Lacroix  verfaßte  Artikel  Eticlide  in  der  Bio- 
graphie  universelle.  M.  Cantor,  Euklid  und  sein  Jahrhundert  im  Supplement- 
heft zu  Bd.  XII  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  (Leipzig  1867).  Hankel  381—404. 
Heiberg,  Literargeschichtliche  Studien  über  Euklid  (Leipzig  1882).  Zur  Ab- 
kürzung zitieren  wir  die  letztgenannte  Schrift  künftig  als  Heiberg,  Euklid- 
studien. Die  letzte  Ausgabe  in  sieben  Bänden  mit  lateinischer  Übersetzung  von 
J.  L.  Heiberg  und  H.  Menge  (Leipzig  1883—1896).  *)  Proklus  (ed.  Fried- 
lein) 68.     *)  Heiberg,  Euklidstudien  S.  4. 


Alexandria.    Die  Elemente  des  Euklid.  261 

welche,  wie  im  17.  Kapitel  auseinandergesetzt  werden  wird,  irriger- 
weise Eaklid  zugewiesen  wurde.  Andere  wollen  Euklid  in  Ägypten 
geboren  sein  lassen.  Noch  andere,  aber  sicherlich  mit  unrecht,  ver- 
wechseln ihn  mit  Euklides  von  Megara,  dem  Zeitgenossen  Ratons, 
welcher  rund  100  Jahre  früher  lebte.  Auffallend  genug  findet  sich 
dieser  Irrtum  schon  bei  einem  Schriftsteller  aus  dem  Zeitalter  des 
Tiberius,  bei  Yalerius  Maximus.  Auch  Geburts-  und  Todesjahr  des 
Euklid  sind  durchaus  unbekannt,  und  nur  die  Blütezeit^)  um  300 
etwa  wird  durch  den  ersten  Ptolemäer,  unter  welchen  sie,  wie  wir 
durch  Proklus  erfahren  haben,  gefallen  sein  soll,  bezeugt.  Von  seinem 
Charakter  hat  sich  bei  Pappus  eine  höchst  liebenswürdige  Schilderung 
erhalten.  Er  sei  sanft  und  bescheiden,  voll  Wohlwollen  gegen  jeden, 
der  die  Mathematik  ii^end  zu  fordern  imstande  war,  gewesen  und 
habe  absichtlich  an  früheren  Leistungen  so  wenig  als  möglich  ge- 
ändert *).  Pappus  gibt  auch  ausdrücklich  an,  daß  Euklid  in  Alexandria 
gelebt  habe. 

Schriften  des  Euklid  sind  uns  mehrfach  erhalten.  Das  Haupt- 
werk bilden  die  Elemente,  6xoi%Bla.  Wir  müssen  annehmen,  daß 
es  an  Bedeutung  allen  früheren  Elementenwerken  weit  überlegen  war. 
So  schildert  es  uns  Proklus  und  die  Bestätigung  des  Urteils  liegt 
in  der  Tatsache,  daß  alle  Bücher  seiner  Vorgänger  in  dem  Kampfe 
um  das  Dasein  untergegangen  sind,  daß  von  Elementen,  die  durch 
einen  Griechen  nach  Euklid  verfaßt  worden  wären,  nirgends  ein  Wort 
gesagt  ist,  daß  vielmehr  er  ausschließlich  gemeint  zu  sein  scheint, 
wo  griechische  Schriftsteller  später  von  dem  Elementenschreiber 
schlechtweg  reden,  ohne  einen  Namen  zu  nennen'). 

Die  in  13  Bücher  gegliederten  Elemente  des  Euklid  zerfallen  in 
vier  Hauptteile.  Erstens  behandeln  sie  Raumgebilde,  welche  auf 
einer  Ebene  gezeichnet  sind  und  das  Verhältnis  ihrer  gegenseitigen 
Größe,  die  teils  gleich,  teils  ungleich  ist.  Im  ersteren  Falle  genügt 
der  Nachweis  der  Identität,  im  letzteren  verlangt  man  etwas  mehr: 
man  will  die  Ungleichheit  messen.  Dazu  aber  dient  die  Zahl,  das 
Maß  einer  jeden  Größe,  und  folglich  wird  es  Bedürfnis,  Unter- 
suchungen über  die  Zahl  anzustellen.     Damit  ist  der  zweite  Haupt- 


*)  riyovB  heißt  es  bei  Proklns  und  dieses  bedeutet  hier  sicherlich  ,,blühte** 
und  nicht  „ward  geboren^\  Vgl.  £.  Roh  de  „nyops  in  den  Biographica  des 
Snidas''  BheinischeB  Museum  für  Philologie  XXXITT  neuer  Folge,  161—220  (187S). 
*)  Pappus  YH.,  prciefatio  (ed.  Hultsch)  676  ügg,  •)  So  Archimed,  De  sphaera 
et  cylindro  I,  6  (ed.  Heiberg  I,  24)  wahrscheinlich  mit  Beziehung  auf  Euklid 
Xn,  2.  Diese  Stelle  dürfte  Proklus  im  Auge  gehabt  haben,  als  er  zum  Beweis, 
daß  Archimed  später  als  Euklid  lebte,  sagte,  daß  dieser  jenen  in  seinem  ersten 
Buche  erwähne. 


262  12.  Kapitel. 

teil  des  Werkes  erfüllt.  Die  vollstiLndig  bestimmte  Zahl  reicht  in- 
dessen nicht  aus,  um  alle  Gbrößen  zu  messen,  welche  der  geometrischen 
Betrachtung  unterworfen  werden.  Es  gibt  vielmehr  Raumgebilde, 
seien  es  nun  Längen  oder  Flächen,  welche  mit  der  Größeneinheit 
derselben  Art  kein  genau  angebbares  gemeinsames  Maß  besitzen,  ohne 
daß  sie  deshalb  aufhören  selbst  Größen  zu  sein.  Man  nennt  sie  nur 
im  Gegensatze  zu  dem  genau  Meßbaren  mit  der  Einheit  inkommen- 
surabeL  Die  Betrachtung  solcher  Inkommensurabiliiäten  ist  somit 
unerläßlich,  sie  bildet  den  dritten  Hauptteil  des  Ganzen.  Endlich 
im  vierten  Teile  verläßt  die  Betrachtung  das  bisher  eingehaltene 
Feld  der  Zeichnungsebene,  die  Verhältnisse  des  allgemeinen  Raumes 
werden  untersucht,  die  gegenseitige  Lage  und  Größe  von  Flächen  und 
Körpern  werden  besprochen.  Das  ist  freilich  nur  der  ganz  allge- 
meine Inhalt  des  Werkes  ^),  es  dürfte  sich  empfehlen  näher  auf  die 
Einzelheiten  desselben  einzugehen. 

Ln  L  Buche  handelt  Euklid  von  den  Grundbestandteilen  gerad- 
liniger Figuren  in  der  Ebene,  von  geraden  Linien,  welche  sich  ent- 
weder schneiden  und  mit  eiuer  dritten  Linie  ein  Dreieck  bilden,  über 
dessen  Bestimmtheit  durch  gewisse  Stücke  gesprochen  wird  —  Kon- 
gruenz der  Dreiecke  —  oder  welche  sich  nicht  treffen,  so  weit 
man  sie  verlängert  —  Parallel linieu.  Der  32.  Satz  beweist  mittels 
Ziehung  einer  Parallellinie  durch  einen  Dreieckseckpunkt  zu  der  ihm 
gegenüberliegenden  Dreiecksseite  die  Gleichheit  des  Außenwinkels 
eines  Dreiecks  mit  der  Summe  der  beiden  gegenüberliegenden  inneren 
Winkel  und  läßt  so  die  Summe  der  Dreieckswinkel  erkennen.  Von 
der  schon  Aristoteles  (S.  252)  bekannten  Weiterführung  des  Satzes 
ist  keine  Rede.  TJm  mit  Hilfe  der  Parallellinien  eine  Figur  zu  er- 
zielen bedarf  es  zweier  schneidenden  Geraden,  und  so  entsteht  das 
Viereck,  insbesondere  das  Parallelogramm,  sofern  die  Schneidenden 
selbst  unter  sich  parallel  sind.  Die  Eigenschaften  der  Parallelo- 
gramme vereinigt  mit  denen  der  Dreiecke  führen  zum  Begriffe  von 
Figuren,  welche  aus  an  und  für  sich  identischen  Teilen  bestehen, 
aber  nicht  in  identischer  Weise  zur  gegenseitigen  Deckung  gebracht 
werden  können,  Gleichheit  von  nicht  kongruenten  Flächen- 
räumen. Bei  solchen  Flächen  kommt  es  also  darauf  an  die  identi- 
schen Teile  abzusondern,  in  anderer  Weise  zusammenzufügen,  und  so 
lehrt  der  44.  Satz  an  eine  gegebene  gerade  Linie  unter  gegebenem 
Winkel  ein  Parallelogramm  anzulegen,  naQaßdXXciVy  welches  einem 
gegebenen  Dreiecke  gleich  sei;  es  lehrt  der  45.  Satz  die  Verwandlung 


^)  In  diesen  klaren  UmriBsen  hat  ihn  z.  B.  Gregory  in  der  Vorrede  seiner 
Enklidausgabe  entworfen. 


Alexandiia.    Die  Elemente  des  Euklid.  263 

jeder  geradlinigen  Figur  in  ein  Parallelogramm  von  gegebenen  Winkeln, 
bis  im  47.  und  48.  Satze  das  Buch  mit  dem  interessantesten  Falle 
einer  derartigen  Umwandlung ,  mit  dem  pjthagoraischen  Lehrsatze 
und  dessen  ümkehrung  abschließt. 

Das  n.  Buch  ist  gewissermaßen  ein  Zusatz  zu  dem  pjthago- 
raischen Lehrsatze.  In  ihm  wird  die  Herstellung  eines  Quadrates 
aus  Quadraten  und  Rechtecken  in  den  yerschiedensten  Kombinationen  ^ 
teils  als  Summe,  teils  als  Differenz  gelehrt,  bis  auch  wieder  eine 
Zusammenfassung  in  der  Aufgabe  erfolgt,  ein  jeder  gegebenen 
geradlinigen  Figur  gleiches  Quadrat  zu  zeichnen.  Zugleich 
laßt  aber  dieses  Buch  eine  andere  Auffassung  zu,  welche  mit  der 
doppelten  Bedeutung  des  pjthagoraischen  Satzes  in  Verbindung  steht. 
Wir  wissen,  daß  dieser  Satz,  sofern  er  der  Arithmetik  angehört^  be- 
sagt, daß  es  zwei  Zahlen  bestimmter  Art  gebe,  welche  als  Summe 
eine  dritte  Zahl  liefern  von  gleicher  Art  wie  die  beiden  Posten.  Als 
Zusatz  zu  dem  pythi^oraischen  Lehrsatze  in  diesem  Sinne  lehrt  das 
IL  Buch  die  Rechnung  insbesondere  die  Multiplikation  mit  additiv 
und  subtraktiy  zusammengesetzten  Zahlen.  In  modemer  Schreibweise 
heißen  die  10  ersten  Sätze  alsdann: 

1)  ab  +  ac  +  ad  +  ""-=  a  (b  +  c  +  d  +  •••)      2)  ab  +  a(a  —  b)  =  a* 
3)  a6  =-  6  (a  -  6)  +  6*    4)  a>  -  fe«  +  (a  -  6)»  +  26  (a  -  b) 

6)(a-.6)6  +  (|-6y=(|)^      6)(a  +  6)i  +  (|)'«(-;+6)^ 

7)  a«  +  6»  =  2ab  +  (a  -  by     8)  4a6  +  (a  -  6)»  -  (a  +  6)« 

10)  (a  +  6)»  +  6»»2(|)'  +  2(|-  +  6)*. 

Als  11.  Satz  erscheint  die  Aufgabe  des  goldenen  Schnittes.  Ihre 
geometrische  Beziehung  zur  Konstruktion  des  regelmäßigen  Fünfecks 
haben  wir  früher  (S.  178)  besprochen.  Arithmetisch,  oder  vielmehr 
algebraisch  aufgefaßt  ist  die  Tragweite  der  Aufgabe  „eine  gegebene 
Strecke  so  zu  schneiden,  daß  das  aus  dem  Ganzen  und  einem  der 
beiden  Abschnitte  gebildete  Rechteck  dem  Quadrate  des  übrigen  Ab- 
schnittes gleich  sei^^  dahin  zu  bestimmen,  daß  eine  Auflosung  der 
Gleichung  a(a  —  x)  =  a^,  beziehungsweise  der  Gleichung  x^  +  ax^  a^ 

gesucht  wird*).  Euklid  findet  x  =  r  ^' "I"  (t)  """  T  ^^^  beweist 
die  Richtigkeit  dieser  Auflösung  durch  folgende  Schlüsse,  bei  deren  Dar- 

^)  Diese  Auffassang  der  Aufgabe  II,  11  dürfte  zuerst  bei  Arneth,  Ge- 
Bohichte  der  reinen  Mathematik  (Stuttgart  1862)  S.  102  zu  finden  sein. 


264  12.  Kapitel. 

stellang  wir  uns  die  einzige  Ändernng  gestatten,  daß   wir  die  geo- 
metrisch klingenden  Wörter  in  algebraische  Buchstaben  und  Zeichen  nm- 

setan.    Wegen  6)  ist  («  +  (}/«•  +  {})'  -  |))  (j/»'  +  (|)'  - 1.) 

+  (I)'-  (I + (l^^)'  - 1))'-  {V^^^')'-"+ (!)■ 

Man  zieht  auf  beiden  Seiten  (|-j  ab,  so  bleibt  ( a  +  (Va*  +  (— )  "~  f)) 

( Vö*  +  (y)   ~"  Y )  =  ^^  ^^<1  zieht  man  weiter  a  ( 1/a*  +  (|^)   —  |) 
auf  beiden  Seiten  ab,  so  bleibt 

(l/^r^  -?)'-.(»-  (j^^TIiT  -  D). 

Das  III.  Buch  wendet  sich  zu  der  einzigen  krummen  Linie, 
welche  der  Behandlung  unterzogen  wird,  zum  Kreise  und  zu  den 
Sätzen,  welche  auf  Berührung  zweier  Kreise,  oder  eines  Kreises 
und  einer  Geraden  sich  beziehen.  Alsdann  folgen  Betrachtungen  über 
die  Größe  von  Winkeln  und  mit  denselben  irgendwie  in  Verbin- 
dung stehenden  Kreisabschnitten.  Insbesondere  der  16.  Satz  ist  im 
in.  oder  rV.  S.  schon  Gegenstand  beiläufiger  Erörterung,  in  späteren 
Zeiten  Ausgangspunkt  interessanter  Streitigkeiten  zwischen  Gelehrten 
des  XYI.  und  XYU.  S.  geworden  und  dadurch,  aber  auch  durch 
seinen  Inhalt  bemerkenswert.  Er  behauptet  nämlich,  vielleicht  in 
Anschluß  an  Demokrit  (S.  192),  der  Winkel,  welchen  der  Kreisum- 
fang mit  einer  Berührungslinie  bildet,  sei  kleiner  als  irgend  ein  gerad- 
liniger spitzer  Winkel.  Dieser  gemischtlinige  Winkel  heißt  bei 
Proklus*)  homformiger  Winkel,  ycovia  xegaroeLÖiig,  ein  Name,  der 
bei  Euklid  noch  nicht  vorkommt.  In  den  Definitionen,  welche  den 
einzelnen  Büchern  vorausgeschickt  werden,  ist  sogar  von  ihm  keine 
ausdrückliche  Rede.  Im  ersten  Buche  heißen  die  8.  und  9.  Defini- 
tion: „Ein  ebener  Winkel  ist  die  Neigung  zweier  Linien  gegenein- 
ander, wenn  solche  in  einer  Ebene  zusammenlaufen  ohne  in  einer 
geraden  Linie  zu  liegen.  Sind  die  Linien,  die  den  Winkel  ein- 
schließen, gerade,  so  heißt  derselbe  ein  geradliniger  Winkel.'^  Dazu 
ergänzt  die  7.  Definition  des  III.  Buches :  „Der  Winkel  des  Abschnittes 
ist  der  vom  Umkreise  und  der  Grundlinie  eingeschlossene  Winkel^^, 
aber  den  Winkel,  wenn  man  von  einem  solchen  reden  darf,  auf  der 
konvexen  Bogenseite  gegen  die  Berührungslinie  hin  erläutert  der 
Verfasser  nicht.  Endlich  schließt  das  III.  Buch  mit  den  einzeln  be- 
trachteten  Fällen   zweier   Geraden,    die    sich    gegenseitig   und 

^)  PiokluB  (edit.  Friedlein)  pag.  104  und  öfters. 


Alexftndria.    Die  Elemente  dee  Euklid.  265 

ebenso  einen  Kreis  schneiden^  und  aus  deren  Abschnitten  ge- 
wisse Rechtecke  zusammengesetzt  werden,  welche  Flächengleichheit 
besitzen.  Mit  Rücksicht  darauf ,  daß  im  16.  Satze  des  III.  Buches 
das  erste  Vorkommen  des  in  späteren  Zeiten  so  wichtigen  Tangenten- 
problems sich  zeigt,  möge  Euklids  Betrachtung  erörtert  werden.  Ist 
(Fig.  42  a)  EA  senkrecht  zu  BA,  so  liegt  kein  Punkt  derselben  inner- 
halb  des  Kreises.  Wäre  es  nicht  so,  so  müßte  diese  zum  Kreisdurch- 
messer senkrechte  Gerade  einen  zweiten  Punkt  F  mit  der  Kreislinie 
gemein  haben  und  das  Dreieck  jiF^ 
gebildet  werden  können,  in  welchem 
z/-^  —  ^r,  also  auch  die  Winkel  bei  A 
und  r  einander  gleich  sein  müßten, 
während  ein  Dreieck  mit  zwei  rechten 
Winkeln  unmöglich  ist.  Femer  ist  eine 
Gerade  AZ  zwischen  AE  und  dem 
Kreise  unmöglich.  Gäbe  es  eine  solche 
und  z/H  wäre  senkrecht  zu  ihr,  so 
müßte  im  Dreiecke  A^H  der  Winkel 
bei  H  der  größte  sein  und  demnach 
AJ^JS>/dH  sein,  was  unmöglich 
ist.     Ein  spitzer  Winkel  EAH<EA0  Fig.  «•. 

existiert  also  nicht. 

Der  Schüler  wird  nun  im  IV.  Buche  weiter  mit  den  Figuren  be- 
kannt gemacht,  welche  entstehen,  wenn  mehr  als  zwei  Gerade  mit 
dem  Kreise  in  Verbindung  treten.  Er  lernt  die  dem  Kreise  ein- 
und  umschriebenen  Vielecke  insbesondere  die  regelmäßigen  Viel- 
ecke kennen.  Unter  diesen  ist  das  Fünfeck,  und  dessen  Konstruktion 
macht  die  erste  Anwendung  des  im  11.  Buche,  wie  wir  entwickelten, 
zu  anderem  Zwecke  gelehrten  goldenen  Schnittes  notwendig.  Das 
IV.  Buch  kommt  an  den  äußersten  mit  den  bisherigen  Mitteln  er- 
reichbaren Zielpunkten  an.  Die  Gleichheit  von  Strecken  und  Flächen- 
numen  ist  nach  allen  Seiten  erörtert. 

Nun  kommt  die  Ungleichheit  in  Betracht,  insofern  sie  gemessen 
werden  kann,  und  zwar  ist  diese  Messung  eine  zweifache,  eine  geo- 
metrische und  eine  arithmetische.  Beide  beruhen  auf  der  Lehre  von 
den  Proportionen,  welche  deshalb  in  dem  V.  Buche  an  dem  Sinn- 
bilde gerader  Linien  in  vollständiger  Ausführlichkeit  dargelegt  wird. 
Die  im  Verhältnisse  aufgefaßten  Größen  sind  als  Linien  gezeichnet, 
damit  nicht  hier  schon  der  Schwierigkeit  zu  begegnen  sei,  eine 
Unterscheidung  zu  treffen,  je  nachdem  Kommensurables  oder  Inkom- 
mensurables auftritt.  Die  Linien  sind  aber  nur  nebeneinander  ge- 
zeichnet^  ohne  Figuren  zu  bilden,   damit  man  einsehe,  wie  es  sich 


266  12.  Kapitel. 

hier  um  allgemeineres  handle  als  um  die  Vergleichung  geometrischer 
Gebilde. 

Erst  das  VI.  Buch  zieht  die  geometrischen  Folgerungen  aus  dem 
im  V.Buche  Erlernten.  Die  Ähnlichkeit  von  Figuren  geht  aus 
der  Proportionenlehre  hervor  und  dient  selbst  wieder  dazu  Propor- 
tionen an  geometrischen  Figuren  zur  Anschauung  zu  bringen.  Dabei 
kommt  der  Begriff  des  zusammengesetzten  Verhältnisses  vor, 
welcher  vermutlich  schon  Philolaus  (S.  161)  bekannt  war')  und 
welcher  später  (vgl.  20.  Kapitel)  von  großer  Bedeutung  wurde.  Im 
23.  Satze  des  VI.  Buches  ist  von  dem  Verhältnisse  je  zweier  gleich- 
liegenden Seiten  zweier  Parallelogramme  mit  gleichen  Winkeln  die 
Rede,  und  die  Flächen  der  Parallelogramme,  heißt  es  weiter,  stehen 
in  einem  Verhältnisse,  welches  aus  dem  der  Seiten  zusammengesetzt 
ist^).  Auch  Archimed,  wir  wollen  das  gleich  hier  erwähnen,  hat 
mehrfach  mit  zusammengesetzten  Verhältnissen  zu  tun,  wenn  auch  in 
von  der  euklidischen  Redewendung  etwas  abweichendem  Wortlaute'). 
Einen  Satz  und  zwei  Aufgaben  dieses  Buches,  welche  die  Bezeichnung 
als  Satz  27.,  28.,  29.  führen,  müssen  wir  besonders  erwähnen.  Satz  27. 
enthält  das  erste  Maximum,  welches  in  der  Geschichte  der  Mathe- 
matik nachgewiesen  worden  ist,  und  welches  als  Funktion  geschrieben 

besagen  würde:  a;(a  — a:)  erhalte  seinen  größten  Wert  durch  rc=-  y 

In  den  beiden  darauf  folgenden  Aufgaben  hat  man  die  Auflösungen 
der  beiden  Gleichungen  x(a  —  x)  =  b^  und  x(a  +  x)='b*  erkannt. 
Der  27.  Satz  erscheint  bei  der  unmittelbaren  Aufeinanderfolge  von 
27.  und  28.  unzweifelhaft  als  der  Diorismus  des  letzteren.     Es  darf 

eben  b^  nicht  größer  sein  als  ( yj  ,   wenn   die  Au%abe  lösbar   sein 

soll^).  Geometrisch  ausgesprochen  haben  die  beiden  Aufgaben  in 
Satz  28.  und  29.  gleichfalls  einen,  wie  spätere  Erörterungen  uns 
lehren  sollen,  hochwichtigen  Inhalt.  Es  handelt  sich  um  die  An- 
legung eines  einem  gegebenen  Parallelogramme  gleichwinkligen  Paral- 
lelogramms an  eine  gerade  Linie,  welches  um  so  viel  größer  (kleiner) 
an  Fläche  als  eine  gleichfalls  gegebene  Figur  sei,  daß  wenn  so  viel 
abgeschnitten  (zugesetzt)  wird,  als  nötig  ist  um  Flächengleichheit  zu 


^)  Newbold  in  dem  Archiv  für  Geachiohte  der  Philosophie  Bd.  XIX  Heft  2 
(1905).  ^  X6yos  avyxBliuvog  i%  (r&v)  z&v  nUvQ&v  {X&fmv).  Ewilidis  Elementa 
(ed.  Heiberg,  Leipzig  1888—88)  H,  146  lin.  14.  *)  6  Uyog  rfjg  A  71q6s  Tr}v  B 
6wf^(u  %%  ta  toi),  8v  ixti  ij  F  nghg  vriv  d  xcel  ^  E  nghg  riiv  Z.  Archimedes 
(ed.  Heiberg)  I,  212  lin.  19—21  und  häufiger.  ^)  Diese  Aufifaesung  zuerst  ver- 
treten bei  Matthiessen,  Grundzüge  der  antiken  und  modernen  Algebra  der 
litteralen  Gleichungen.    Leipzig  1878,  S.  926—981. 


Alexandria.    Die  Elemente  des  Euklid.  267 

erzielen^  dieses  Stück  selbst  dem  erstgegebenen  Parallelogramme  ähn- 
lich  werde.  Euklid  drückt  diese  Forderung  durch  die  Worte  aus, 
der  Macheninhalt  F  solle  an  der  Linie  jdB  etwas  übrig  lassen,  iXXcinsi^ 
oder  darüber  hinausfallen,  xmeQßdkXBi. 

Das  yU.y  YIU.  und  IX.  Buch  beschäftigen  sich  mit  der  Lehre 
Ton  den  Zahlen.  Der  nächste  Zweck  ist  das  arithmetische  Messen 
der  Ungleichheit,  also  diejenigen  Folgerungen  aus  der  Proportionen- 
lehre zu  ziehen,  welche  an  Zahlengrößen  hervortreten.  Allein  damit 
yerbindet  Euklid,  vielleicht  weil  nirgend  eine  passendere  Gelegenheit 
sich  finden  wird,  eine  Zusammenstellung  aller  ihm  bekannten  Eigen- 
schaften der  ganzen  Zahlen.  Rechnungsoperationen  mit  denselben 
hat  er,  wie  wir  uns  erinnern,  schon  im  U.  Buche  ausfähren  lassen. 
Das  Vn.  Buch  beginnt  mit  Definitionen,  unter  welchen  wir  die  der 
Primzahl,  TtQ&rog  ägid-fiögy  und  der  zusammengesetzten  Zahl, 
övvd-STog  igi^fiögy  hervorheben  wollen.  Daran  knüpft  sich  die  Unter- 
scheidung von  teilerfremden  Zahlen,  xg&toi  xgbg  aXki^Jiovg,  und 
von  solchen,  welche  ein  gemeinsames  Maß  besitzen,  övv^sroi 
jtgbg  iXki^Xovgy  sowie  die  Auffindung  dieses  letzteren.  Euklid  findet 
dasselbe  voUständ^  in  der  heute  noch  üblichen  Weise  durch  fort- 
gesetzte Teilung  des  letztmaligen  Divisors  durch  den  erhaltenen  Rest, 
mithin,  wenn  wir  es  nicht  scheuen  auch  moderne  Namen  zu  ge- 
brauchen, wo  moderne  Verfahren  angewandt  sind,  durch  einen  Ketten- 
bruchalgorithmus.  Dann  ist  von  Zahlen  die  Rede,  welche  dieselben 
Teile  anderer  Zahlen  sind,  wie  wieder  andere  von  vierten,  und  damit 
ist  also  die  Zahlenproportion  eingeführt.  Abgesehen  von  den 
vielen  neuen  Proportionen,  welche  in  der  mannigfaltigsten  Weise  aus 
den  erstgegebenen  abgeleitet  werden,  führt  der  Satz  von  der  Gleich- 
heit der  Produkte  der  inneren  und  der  äußeren  Glieder  einer  Pro- 
portion auf  die  Teilbarkeit  eines  solchen  Produktes  durch  einen  der 
Faktoren  des  anderen  Produktes  und  zur  Teilbarkeit  überhaupt.  Der 
Rückweg  zur  Untersuchung  teilerfremder  Zahlen  ist  damit  gewonnen, 
und  den  Schluß  des  Buches  bildet  die  Auffindung  des  kleinsten  ge- 
meinsamen Dividuums  gegebener  Zahlen. 

Das  YIU.  Buch  setzt  die  Lehre  von  den  Proportionen  fort,  indem 
es  zu  Gliedern  der  Proportion  nur  solche  Zahlen  wählt,  welche  selbst 
Produkte  sind,  und  zwar  zum  Teil  Produkte  aus  gleichen  Faktoren. 
An  die  früheren  geometrischen  Lehren  erinnern  eben  noch  die  Be- 
nennungen, welche  in  diesem  Buche  zur  Anwendung  gelangen: 
Flächenzahlen,  ähnliche  Flächenzahlen,  Quadratzahlen,  Eörperzahlen, 
Kubikzahlen,  lauter  Wörter,  deren  Erklärung  wir  in  früheren  Kapiteln 
zu  geben  Gelegenheit  hatten.  Vieleckszahlen  anderer  Art  als  die 
Quadratzahlen  kommen  bei  Euklid  nicht  vor. 


268  12.  Kapitel. 

Das  IX.  Buch  setzt  gleichfalls  denselben  Gegenstand  fort.  Im 
12.  Satze  findet  sich,  yermutlich  zum  ersten  Male  in  der  mathemati- 
schen Literatur,  eine  besondere  Abart  der  apagogischen  Beweisführung 
(S.  221).  Aus  der  Annahme  der  Unwahrheit  einer  Tatsache 
wird  ihre  Wahrheit  gefolgert.  Der  Satz  selbst  spricht  aus,  daß 
wenn  1,  A,  B,  JT,  z/  eine  geometrische  Reihe  bilden  und  eine  Prim- 
zahl E  m  J  enthalten  ist,  die  gleiche  Primzahl  auch  in  A  enthalten 
sein  muß.  Ist  E  nicht  in  A  enthalten,  so  muß,  weil  E  Primzahl  ist, 
E  gegen  A  teilerfremd  sein.  Nun  ist  J  durch  E  teilbar,  etwa 
^  =  E  •  Z,  andererseits  J  ^  A  •  Fy  mithin  E-  Z^  A  -  F  und  E :  A 
=  JT:  Z.  Danach  muß  Z  ein  Vielfaches  Ton  A  und  F  ein  Yielfeu^hes 
von  E  sein,  etwa  F« E- H.  Daneben  ist  JT« A •  JB,  also  E-H^AB 
und  E:  A  '^  B :  H.  Daraus  folgt  H  als  Vielfaches  von  A,  B  eis 
Vielfaches  von  E,  etwa  B  ^  E  -  &,  Daneben  ist  B  '^  A  -  A,  abo 
E&  ^  A  '  A  und  Ei  A  ^  4\  &.  Daraus  ergibt  sich  &  als  Vielfaches 
von  A  und  A  als  Vielfaches  von  £.  Etwas  später  geht  das  IX.  Buch 
dadurch  zu  anderweitigen  Betrachtungen  über,  daß  es  besoudere  Rück- 
sicht auf  etwa  in  einer  Proportion  vorkommende  Primzahlen  nimmt. 
Bei  dieser  Gelegenheit  wird  nämlich  ziemlich  außer  allem  Zusammen- 
hange als  20.  Satz  bewiesen,  daß  die  Menge  der  Primzahlen 
größer  sei  als  jede  gegebene  Menge  derselben,  wofür  wir 
kürzer  sagen,  daß  es  unendlich  viele  Primzahlen  gibt.  Noch  weniger 
Zusammenhang  ist  von  dem  20.  Satze  zu  den  ihm  nachfolgenden 
Sätzen  wahrnehmbar.  Mancherlei  Eigenschaften  gerader  und  un- 
gerader Zahlen,  von  deren  Summen  und  deren  Produkten  werden  er- 
örtert, bis  der  35.  Satz  die  Summierung  der  geometrischen 
Reihe  lehrt  und  auf  diejenige  geometrische  Reihe  angewendet,  welche 
von  der  Einheit  beginnend  durch  Verdoppelung  der  Glieder  weiter- 
schreitet, endlich  im  36.  Satze  wieder  zu  den  Primzahlen  zurückführt 
imd  so  das  Bewußtsein  erweckt,  wie  Euklid  bei  scheinbarem  Ab- 
springen von  seinem  Thema  es  immer  unverrückt  im  Auge  behält 
Jener  36.  Satz  gibt  nämlich  an,  die  Summe  der  Reihe  1  +  2  -f  4  +  8  •  •  • 
sei  mitunter  eine  Primzahl.  Dieses  tritt  z.  B.  ein,  wenn  die  Reihe 
aus  2,  aus  3,  aus  5  Gliedern  besteht.  Werde  diese  die  Summe  dar 
stellende  Primzahl  mit  dem  letzten  in  Betracht  gezogenen  Gliede  dei 
Reihe  vervielfacht,  so  entstehe  eine  vollkommene  Zahl  (eine  Zahl, 
welche  der  Summe  aller  ihrer  Teiler  gleich  ist). 

Im  X.  Buche  ist  der  dritte  Hauptteil  des  euklidischen  Werkes 
behandelt,  die  Lehre  von  den  Inkommensurablen,  und  auf  die 
große  Bedeutung,  die  dem  Umstände  beizumessen  ist,  daß  diesem 
G^enstande  ein  ganzes  Buch  gewidmet  ist,  kommen  wir  im  folgen- 
den  Kapitel    zurück.     An   der   Spitze    des   Buches    steht    der   Satz, 


Alexandxia.    Die  Elemente  des  Euklid.  269 

welcher  bei  Euklid  die  Grundlage  der  Exhaustionsmethode  bildet^  der 
Satz:  ^ySind  zwei  ungleiche  Größen  gegeben,  und  nimmt  man  von  der 
größeren  mehr  als  die  Hälfte  weg,  von  dem  Reste  wieder  mehr  als 
die  Hälfte  und  so  immer  fort,  so  kommt  man  irgend  einmal  zu 
einem  Reste,  welcher  kleiner  ist  als  die  gegebene  kleinere  Größe/' 
Dieser  Satz,  wesentlich  verschieden  von  dem,  dessen  sich  (S.  242) 
Eudoxus  und  vielleicht  schon  Hippokrates  zu  ähnlichen  Zwecken  b^ 
diente,  ist  in  dieser  Form  vielleicht  Euklids  Eigentum,  vielleicht  auch 
dessen,  von  welchem  das  X.  Buch  der  Hauptsache  nach  herrührt. 
Fürs  erste  freilich  zieht  Euklid  keine  Folgerung  aus  ihm,  nicht  ein- 
mal die,  welche  man  vor  allen  Dingen  erwarten  sollte,  daß  wenn 
zwei  Größen  inkommensurabel  sind,  man  immer  ein  der  ersten  Größe 
Kommensurables  bilden  könne,  welches  von  der  zweiten  Größe  sich 
um  beliebig  Weniges  unterscheide.  Statt  dessen  sind  zwar  geistvolle 
aber  doch  nach  unseren  Begriffen  maßlos  weitläufige  Untersuchungen^) 
darüber  angestellt,  imter  welchen  Voraussetzungen  Größen  sich  wie 
gegebene  Zahlen  verhalten,  also  kommensurabel  sind,  und  unter 
welchen  Voraussetzungen  keine  solche  Zahlen  sich  finden  lassen,  die 
Größen  also  inkommensurabel  sind.  Ein  besonderes  Gewicht  legt 
Euklid  auf  die  Irrationalzahlen,  deren  er  vielfältig  unterschiedene 
Formen  aufzählt.  Dabei  ist  zu  beachten,  daß  das  Inkommensurable, 
a6vfiii€TQ0Vy  des  Euklid  sich  mit  unserem  Begriffe  der  Irrationalzahl 
deckt,  während  sein  Rationales,  Qtixhv,  und  Irrationales,  aXoyoVy  von 
dem,  was  wir  unter  diesen  Wörtern  verstehen,  abweicht.  Rational 
ist  ihm  das  an  sich  und  das  in  der  Potenz  Meßbare,  d.  h.  diejenigen 
Linien  sind  rational,  welche  selbst  durch  die  Längeneinheit  oder 
deren  Quadratfläche  durch  die  Flächeneinheit  genau  ausmeßbar  sind, 
also  a  sowohl  als  Yä,  während  das  Wort  irrational  für  jeglichen 
mit  Wurzelgrößen  behafteten  Ausdruck  außer  der  einfachen  Quadrat- 
wurzel yä  Anwendung  findet.  Demgemäß  ist  das  Produkt  a  mal 
Yb  oder  Yä  mal  Yb  bei  Euklid  irrational,  weil  jedes  dieser  beiden 
Produkte  als  Produkt  schon  eine  Fläche  bedeutet,  also  nicht  mehr  „in 
der  Potenz  meßbar''  sein  kann.     Irrational  ist  um  so  mehr  die  Linie, 


^)  Vgl.  Nesselmann,  Die  Algebra  der  Griechen  S.  165—182.  Diesem 
Werke  entnehmen  wir  auch  die  Übersetzungen  der  Namen  der  verschiedenen 
Formen  TOn  Irrationalzahlen.  Wie  schwer  auch  geistreiche  Mathematiker  sich 
oft  in  diesem  X.  Buche  zurecht  zu  finden  yermochten,  dafür  dient  als  Beispiel 
ein  durch  A.  Favaro  (Gralileo  Galilei  e  lo  studio  di  Fadova  U,  267)  yerö£fent- 
lichter  Brief  von  Benedetto  Castelli.  Unter  dem  1.  April  1607  schrieb 
dieser  an  Galilei,  er  sei  bei  dem  40.  Satze  des  X.  Buches  stecken  geblieben 
suffocato  daJla  molHtudine  de  voc€tfjoU,  profonditä  deUe  case  e  diffieoUä  di  demon- 
stratianL 


270  12.  Kapitel. 

welche  a  -  Yb  oder  "j/ä  •  Yb  als  Quadrat  besitzt,  d.  h.  ya  Yb  und 
Yab  und  diese  Gattung  von  Irrationalitäten  heißt  iidörj,  die  Medial- 
linie. Addition  und  Subtraktion  zweier  Längen,  von  denen  minde- 
stens eine  inkommensurabel  ist,  gibt  die  Irrationalität  von  zwei  Be- 
nennungen, ii  ix  d'öo  dvoiidtmv,  und  die  durch  Abschnitt  Entstandene, 
axotofiil,  d.  h.  die  Binomialen  a  +  Y^  oder  ]/a  +  ]/6^und  die  Apo- 
tomen  a  —  Y^  oder  ya  —  b  oder  "j/a  —  ]/6.  Wir  würden  allzu  weit- 
schweifig werden  müssen,  wenn  wir  alle  Verbindungen  zwischen  diesen 
Medialen,  Binomialen  und  Apotomen  erörtern  wollten,  welche  in  dem 
X.  Buche  vorkommen.  Statt  dessen  nur  die  Bemerkung,  daß  wir 
hier  wieder  ein  Beispiel  praktischer  Kombinatorik  vor  uns  haben, 
indem  alle  Verschiedenheiten  berücksichtigt  sind,  die  überhaupt  ein- 
treten können.  Eines  freilich  ist  vorausgesetzt,  daß  nämlich  nur 
Wiederholungen  von  Quadratwurzelausziehungen  vorkommen,  daß  also 
sämtliche  im  X.  Buche  behandelten  Irrationalitäten  der  Konstruktion 
mit  Hilfe  von  Zirkel  und  Lineal  unterworfen  sind,  und  solche  Irra- 
tionalitäten sollen  uns  von  nun  an  euklidische  Irrationalitäten 
heißen,  wie  sie  tatsächlich  in  späterer  Zeit  genannt  worden  sind. 
Wir  heben  zwei  Sätze  des  X.  Buches  besonders  hervor,  das  erste 
Lemma,  welches  auf  Satz  29.  folgt,  und  welches  zwei  Quadratzahlen 
bilden  lehrt,  deren  Summe  wieder  Quadratzahl  ist,  und  den  letzten 
Satz  des  Buches  von  der  gegenseitigen  Inkommensurabilität  der  Seite 
und  der  Diagonale  eines  Quadrates.  Letzteren  Satz  haben  wir  nebst 
seinem  mutmaßlich  altpjthagoräischen  Beweise  daraus,  daß  sonst 
Gerades  und  Ungerades  einander  gleich  wären,  schon  (S.  182)  be- 
sprochen. Die  Herstellung  rationaler  rechtwinkliger  Dreiecke  ist  uns 
auch  kein  neuer  Gegenstand.  Methoden  des  Pythagoras  (S.  186)  und 
des  Piaton  (S.  224)  sind  uns  bekannt  geworden,  jene  von  ungeraden, 
diese  von  geraden  Zahlen  ausgehend.  War  nämlich  aus  a^^V-\-c^ 
die  Folgerung  c*  =  (a  -f-  b){a  —  b)  gezogen,  und  daraus  die  weitere 
Folgerung,  daß  a  +  b  und  a  —  b  ähnliche  Flächenzahlen  sein  müssen, 
so  nahmen  wir  an,  daß  jene  Männer  die  besonders  einfachen  Ver- 
suche angestellt  hätten,  einmal  a~-b  ^\  und  einmal  a  —  6  «-  2  zu 
setzen.  Das  Verfahren  des  Euklid  kann  als  Bestätigung  unserer  Ver- 
mutungen gelten.  Nach  der  besonderen  Annahme  konnte  und  mußte 
man  dazu  übergehen  fär  a  +  2)  und  a  —  b  irgend  welche  ähnliche 
Flächenzahlen  zu  wählen,  und  dieses  tat  Euklid.  Er  läßt  ähnliche 
Flächenzahlen,  d.  h.  solche,  welche  proportionierte  Seiten  haben  (De- 
finition 21.  des  VU.  Buches),  und  deren  Produkt  eine  Quadratzahl 
geben  muß  (Satz  1.  des  IX.  Buches),  bilden,  etwa  a  •  /S*  und  a  -  y\ 
und  verlangt  dabei,  .  daß  beide  gerade  oder  beide  ungerade  seien, 
damit  ihr  Unterschied  halbierbar  ausfalle.    Unter  dieser  Voraussetzung 


Alezandria.    Die  Elemente  des  Euklid.  271 

wird  sodann  a/J*  •  ay^  +  ("  T^^  j  "^  ("^"2  /  '  ^i*^'^  ^^^^  ^^® 
Seiten  des  rechtwinkligen  Dreiecks  a/Jy,  "    T  "^  ;  "^  T^"^  gefunden. 

Wir  haben  noch  den  Inhalt  des  letzten  Hauptteiles  der  eukli- 
dischen Elemente  anzugeben^  der  in  dem  XL,  XII.  und  XIII.  Buche 
enthaltenen  Stereometrie.  Im  XI.  Buche  beginnt  diese  Lehre  genau 
in  der  Weise,  wie  sie  auch  heute  noch  behandelt  zu  werden  pflegt, 
mit  den  Sätzen,  welche  auf  parallele  und  senkrechte  gerade  Linien 
und  Ebenen  sich  beziehen,  woran  Untersuchungen  über  Ecken  sich 
schließen.  Alsdann  wendet  sich  der  Verfasser  zu  einem  besonderen 
Körper,  dem  Parallelepipedon  und  geht  nur  in  dem  letzten  Satze 
des  Buches  zu  dem  allgemeineren  Begriffe  des  Prisma  über. 

Das  XII.  Buch  enthält  die  Lehre  von  dem  Maße  des  körper- 
lichen Inhaltes  der  Pyramide,  des  Prima,  des  Kegels,  des  Zylin- 
ders und  endlich  der  Kugel.  Eine  wirkliche  Berechnung  findet  sich 
allerdings  bei  Euklid  nie,  weder  wo  von  Flächeninhalten  noch  wo 
Yon  Körpermaßen  die  Rede  ist,  und  namentlich  bei  solchen  Raum- 
gebilden, zu  deren  Erzeugung  Kreise  oder  Kreisstücke  beitragen,  ist 
nirgend  angegeben,  wie  man  eigentlich  zu  rechnen  habe.  Sollte  die 
Ausrechnung  des  Kreisinhaltes  von  den  Ägyptern  bis  zu  Euklid  ver- 
loren gegangen  sein?  Die  Un Wahrscheinlichkeit  dieser  Annahme  der 
mehrfachen  Beschäftigung  mit  der  Quadratur  des  Kreises  bei  Anaxa- 
goras,  bei  Antiphon,  bei  Bryson,  bei  Hippokrates  gegenüber  wird 
vollends  für  einen  in  Alexandria  lebenden  Mathematiker  zur  Unmög- 
lichkeit. Ägypten,  welches  das  Althergebrachte  mit  Zähigkeit  fest- 
hielt, welches  ein  Exemplar  des  Rechenbuches  des  Ahmes  noch  mehr 
als  2000  Jahre  später  als  Euklid  uns  unversehrt  überliefert  hat,  war 
nicht  das  Land,  in  welchem  so  unbedingt  Notwendiges  wie  die  Kreis- 
rechnung vergessen  wurde,  und  ebensowenig  läßt  sich  annehmen,  daß 
die  ägyptische  Geometrie  den  griechischen  Gelehrten,  welche  unter 
dem  Schutze  des  ägyptischen  Königs  sich  dort  aufhielten,  unbekannt 
hätte  bleiben  können.  Wir  stehen  vielmehr  hier  vor  einer  absicht- 
lichen Weglassung,  vor  einem  grundsätzlichen  Widerstreite  zwischen 
Geometrie  und  Geodäsie.  Letztere,  deren  Vorhandensein  zur  Zeit 
de&  Aristoteles  wir  (S.  252)  hervorgehoben  haben,  war  ihrem  Wesen 
nach  eine  rechnende  Geometrie.  In  der  eigentlichen  oder  theore- 
tischen Geometrie  war  Rechnung  als  solche  ausgeschlossen.  Aristo- 
teles hat  ausdrücklich  gesagt:  „Man  kann  nicht  etwas  beweisen,  indem 
man  von  einem  anderen  Genus  ausgeht^  z.  B.  nichts  Geometrisches 
durch  Arithmetik  . . .  Wo  die  Gegenstände  so  verschieden  sind,  wie 
Arithmetik  und  Geometrie,  da  kann  man  nicht  die  arithmetische  Be- 
weisart  auf  das,   was   den   Größen   überhaupt   zukommt,    anwenden, 


272  12.  Kapitel. 

wenn  nicht  die  Größen  Zahlen  sind,  was  nur  in  gewissen  Fällen  vor- 
kommen  kann^^).  Der  Ausdruck^  die  Größen  seien  nnr  in  gewissen 
Fällen  Zahlen,  bezieht  sich  vermutlich  auf  irrationale  Strecken,  welche 
als  Nichtzahlen  galten,  und  dieser  Ausnahme  zuliebe  dürfte  das 
y.  Buch  der  Elemente  entstanden  sein.  Was  aber  von  den  Beweisen 
gesagt  ist,  scheint  auch  auf  Rechnungsoperationen  ausgedehnt  worden 
zu  sein.  So  zeigt  also  Euklid  in  diesem  XU.  Buche  nur,  daß  Kreise 
wie  die  Quadrate  ihrer  Durchmesser  sich  verhalten,  was  Hippokrates 
von  Chios  schon  wußte;  er  zeigt,  daß,  wie  die  Pyramide  der  dritte 
Teil  des  Prisma  von  gleicher  Höhe  und  Grundfläche  ist,  ein  ganz 
gleichlautender  Satz  für  Kegel  und  Zylinder  stattfindet,  was  Eudoxus 
von  Knidos  schon  erkannt  hatte;  er  schließt  mit  dem  Satze,  daß 
Kugeln  im  dreifachen  Verhältnisse  ihrer  Durchmesser  stehen.  Euklid 
benutzt  zum  Beweise  dieser  Sätze  den  an  der  Spitze  des  X.  Buches 
stehenden  Satz  von  der  Möglichkeit  durch  fortgesetzte  Halbierung 
einen  beliebigen  Grad  der  Kleinheit  zu  erreichen.  Geben  wir  als 
Beispiel  seines  Verfahrens  den  Satz  vom  Kreise,  wobei  wir,  wie 
schon  öfter,  zur  bequemeren  Übersicht  uns  modemer  Zeichen  be- 
dienen, im  übrigen  aber  uns  genau  an  Satz  2.  des  XIT.  Buches  an> 
schließen.  Vorausgeschickt  ist  der  Satz,  daß  die  Flächen  ähnlicher 
in  zwei  Kreise  eingeschriebener  Vielecke  sich  wie  die  Quadrate  der 
Durchmesser  der  betreffenden  Kreise  verhalten.  Heißen  nun  K^  und 
K^  die  beiden  Kreisflächen,  deren  Durchmesser  d^  und  S^  sind,  so  sei 
angenommen,  daß  K^iK^  in  kleinerem  Verhältnisse  stehen  wie  8^^ :  d,*. 
Sicherlich  gibt  es  eine  Oberfläche  H,  welche  dem  Verhältnisse 
üTj :  a  =  *i* :  dg*  genügt,  und  weil  K^ :  K^<K^:  Sl,  so  wird  K^>Sl 
sein  müssen.  Dann  ist  es  aber  unmöglich,  daß  dasselbe  Verhältnis 
dj* :  d,*  auch  obwalte  zwischen  einer  Fläche,  die  kleiner  ist  als  Ä, 
und  einer  anderen,  die  größer  ist  als  £1,  und  gleichwohl  läßt  sich 
das  Vorhandensein  eines  solchen  unmöglichen  Verhältnisses  unter 
der  gemachten  Voraussetzung  nachweisen  und  damit  die  Unzulässig- 
keit der  Voraussetzung  selbst.  Denn  beschreibt  man  in  K^  und  JiT, 
einander  ähnliche  Vielecke  O^  und  O^,  so  ist  jedenfalls  O^ :  O, »  d^* :  ä^* 
und  zugleich  O^  <  K^,  Es  genügt  also  noch  zu  zeigen,  daß  es  ein 
0^  gibt,  welches  größer  als  £1  und  kleiner  als  K^  ist,  und  dazu  wird 
die  Exhaustion  angewandt.  Ein  dem  Kreis  umschriebenes  Quadrat 
ist  offenbar  größer  als  der  Kreis  und  zugleich  genau  doppelt  so  groß 
als  das  dem  Kreise  eingeschriebene  Quadrat.  Mithin  ist  letzteres 
größer  als  die  halbe  Kreisfläche,  oder  unterscheidet  sich  von  der 
Kreisfläche   um   weniger  als  deren  Hälfte.     Wird  in  jedem  der  vier 


^)  Aristoteles,  Analyt.  post  1,  7.  76,  a. 


Alexandria.    Die  Elemente  dea  Euklid.  273 

diesen  Unterschied  bildenden  Kreisabschnitte  der  Bog^ti  halbiert  und 
mit  dem  Halbierongspunkte  und  den  Endpunkten  als  Spitzen  ein  Drei- 
eck gebildet,  so  ist  dieses  die  Hälfte  eines  Rechtecks,  innerhalb 
welches  der  Kreisabschnitt  eingeschlossen  liegt,  also  größer  als  die 
Hälfte  des  Abschnittes.  Das  entstandene  Achteck  unterscheidet  sich 
somit  von  dem  Kreise  um  weniger  als  den  vierten  Teil  desselben. 
Ebenso  wird  zu  zeigen  sein,  daß  der  Unterschied  zwischen  dem  regel- 
mäßigen Vielecke  von  16  Seiten  und  seinem  Umkreise  geringer  als 

Y  der  Kreisfläche  ist.     Bei  jedesmaliger  Verdoppelung  der  Seitenzahl 

des  Vielecks  wird  der  Flächenunterschied  desselben  gegen  den  Kreis 
mehr  als  nur  halbiert,  und  schon  immerwährende  Halbierung  genügt 
nach  dem  Satze  der  Exhaustion,  um  jede  beliebige  Grenze  der  Klein- 
heit zu  erreichen.  Es  ist  also  damit  sichergestellt,  daß  endlich  ein 
Vieleck  O^  erscheinen  muß,  dessen  Fläche  sich  von  der  des  Kreises 
um  weniger  als  z/  unterscheidet,  wenn  jd  ^  K^  —  Sl  ist,  und  das  ihm 
ähnliche  dem  Kreise  K^  eingeschriebene  Vieleck  ist  jenes  zugehörige 
0j,  welches  den  ersten  Widerspruch  liefert.  Der  Beweis,  daß  auch 
nicht  Äj :  Äg  >  6^ :  6^  sein  kann,  wird  auf  den  früheren  Fall  zu- 
rückgeführt. Jene  Annahme  setzt  nämlich  zugleich  voraus,  daß 
ÜT,  :  Ülj  <  8^  :  Jj*,  und  die  Unmöglichkeit  dieser  Voraussetzung  zu 
beweisen  hat  man  bereits  gelernt.  Keine  dieser  beiden  Annahmen 
findet  also  statt,  sondern  nur  die  zwischen  ihnen  liegende  K^ :  K^ 
»  8^ :  ^2^  Das  ist  der  von  Euklid  eingeschlagene  Weg,  der  in  jedem 
einzelnen  Falle  mit  aller  Strenge  in  ermüdender  Einförmigkeit  ein- 
gehalten wird,  ohne  daß  jemals  eine  Abkürzung  des  Verfahrens  für 
statthaft;  angesehen  würde. 

Das  Xni.  Buch  endlich  kehrt  zu  einem  Gegenstande  zurück,  dem 
das  IV.  Buch  teilweise  gewidmet  war.  Es  handelt  von  den  regel- 
mäßigen einem  Kreise  eingeschriebenen  Vielecken,  ins- 
besondere von  den  Fünfecken  und  Dreiecken.  Dann  aber  benutzt  es 
diese  Figuren  als  Seitenflächen  von  Körpern,  welche  in  eine  Kugel 
eingeschrieben  werden  und  schließt  mit  der  wichtigen  Bemerkung, 
daß  es  keine  weiteren  regelmäßigen  Körper  geben  könne  als 
die  fünf  zuletzt  erwähnten,  nämlich  das  Tetraeder,  das  Oktaeder,  das 
Ikosaeder,  die  von  Dreiecken  begrenzt  sind,  der  Würfel,  dessen  Seiten- 
flächen Quadrate  sind,  das  Dodekaeder,  welches  von  Fünfecken  ein- 
geschlossen ist. 

Wir  haben  von  diesem  merkwürdigen  Werke  einen  weit  aus- 
führlicheren Auszug  hier  mii^eteUt  als  von  den  meisten  der  bisher 
besprochenen.  Die  Wichtigkeit  des  Werkes  rechtfertigt  unser  Ver- 
fahren.    Sie  rechtfertigt  zugleich  die  Frage  nach  dein  Zwecke,  welchen 

Caxtob,  Oesohlofate  der  MAtheraatik  L  8.  Aufl.  IS 


274  12.  Kapitel. 

Euklid  bei  der  Niederschrift  im  Aage  hatte.  Proklus  si^  uns,  wie 
wir  oben  (S.  260)  erwähnten^  Euklid  habe  als  Endzdel  seines  ganzen 
Elementenwerkes  die  Konstruktion  der  sogenannten  platonischen  Körper 
hingestellt^).  Daß  dieses  unrichtig  ist  bedarf  fQr  den,  der  auch  nur 
unseren  Auszug  mit  einiger  Aufinerksamkeit  gelesen  hat,  keiner  Aus- 
einandersetzung. Die  künstlerisch  vollendete  Gliederung  des  Werkes 
machte  es  möglich,  daß  es  in  dem  einen  Gipfelpunkte  abschloß,  aber 
der  Zweck  des  Werkes  war  nur  durch  dessen  ganzen  Verlauf  gegeben 
und  erfüllt.  Die  13  Bücher  der  Elemente  sind  sich  selbst 
Zweck.  „Elemente  werden  die  Dinge  genannt,  deren  Theorie  hin- 
durchdringt zum  Verstehen  der  anderen,  und  von  welchen  aus  die 
Lösung  ihrer  Schwierigkeiten  uns  gelingt^^^.  So  sagt  derselbe  Proklus 
an  einer  anderen  Stelle  mit  viel  treuerer  Wiedergabe  dessen,  was  be- 
absichtigt war.  Euklid  wollte,  wie  die  übrigen  Elementenschreiber 
Tor  ihm  es  schon  versucht  hatten,  eine  vollständige  Übersicht  aller 
Teile  der  Mathematik  geben,  welche  in  den  folgenden  Teilen  der 
Wissenschaft  zur  Anwendung  kommen,  wollte  zugleich  die  enzyklo- 
pädisch zusammengestellten  und  geordneten  Dinge  auf  strenge  Be- 
weise stützen,  welche  einen  Zweifel  nicht  aufkommen  lassen,  sondern 
vielmehr  gestatten  wie  in  eine  Rüstkammer  blindlings  dorthin  zu 
greifen  mit  der  Gewißheit  stets  eine  tadellose  Waffe  zu  erfassen. 

Wieweit  wir  Euklid  als  selbständigen  Verfasser  seines  Werkes 
zu  bezeichnen  haben,  ist  kaum  zu  sagen.  Jeder  Verfasser  eines 
Handbuches  irgend  eines  Teiles  der  Mathematik  ist  von  seinen  Vor- 
^mgem  abhängig,  und  man  muß  die  Schriften  der  letzteren  kennen, 
um  abzuschätzen,  wieweit  er  von  den  vorgetretenen  Bahnen  sich  ent- 
fernte. Euklid  war  ohne  allen  Zweifel  ein  großer  Mathematiker. 
Dieses  Urteil  werden  die  übrigen  Schriften,  die  er  verfaßt  hat,  recht- 
fertigen. Damit  stimmt  auch  die  Bewunderung,  welche  alle  Zeiten 
seinem  vorzugsweise  bekannt  gewordenen  Elementenwerkc  entgegen- 
brachten, überein,  und  der  von  uns  schon  hervorgehobene  Umstand, 
daß  im  Schatten  dieses  Riesenwerkes  die  früher  vorhandenen  ähn- 
lichen Erzeugnisse  verkümmerten  und  zugrunde  gingen,  spätere  nicht 
entstehen  konnten.  Auch  die  wenigen  Beweise,  deren  Ursprung  mit 
Bestimmtheit  auf  Euklid  sich  zurückführt  —  wir  erinnern  an  den 
Schulbeweis  des  pythagoräischen  Lehrsatzes  —  lassen  in  Euklid  den 
feinen  geometrischen  Kopf  erkennen.  Ein  großer  Mathematiker  wird 
auch  da,   wo   er  anderen   folgt,   seine   Eigentümlichkeit  nicht   ganz 


^)  Proklus  (ed.  Friedlein)  68  tfjg  övpLndörig  croix^^otcsmg  riXog  nQOBC- 
Ti^oato  triv  xSiv  xcdoviiivmv  IlXatovixtiv  6x;riitiit(OP  6v0taöip.  *)  Proklus  (ed. 
Friedlein)  72,  3—6. 


Alexandria.    Die  Elemente  des  Euklid.  276 

yerlengnen,  und  so  war  es  sicherlich  auch  bei  Euklid.  Aber  wo 
haben  wir  dieso  Eigentümlichkeit  zu  suchen?  Das  ist  und  bleibt  wohl 
eine  unbeantwortbare  Frage,  um  so  unbeantwortbarer  als  Pappus^  wie 
wir  gleichfalls  schon  (S.  261)  hervorgehaben  haben^  den  Euklid  ge- 
radezu wegen  seiner  pietätvollen  Anlehnung  an  ältere  Schriftsteller 
lobt,  und  wenn  Pappus  dabei  allerdings  ein  anderes  Werk  des  Euklid 
im  Auge  hat^  so  dürfte  sich  diese  Charaktereigenschaft  auch  in  den 
Elementen  nicht  yerleugnet  haben. 

Wir  sind  sogar  tatsächlich  imstande  einige  und  nicht  unwesent- 
liche Stellen  des  großen  Werkes  anzugeben,  in  welchen,  wie  wir 
schon  früher  sahen,  Euklid  nicht  selbständig  gearbeitet  hat.  Das 
V.  Buch  gehört^  wie  wir  (S.  241)  einem  alten  Scholiasten  nacherzählt 
haben,  dem  Eudoxus  an.  Von  ebendemselben  stammen  nach  aller 
Wahrscheinlichkeit  die  fünf  ersten  Sätze  des  XTTT.  Buches.  Spuren 
von  Vorarbeiten  des  Theaetet  sind  (S.  237)  im  X.  Buche  nicht  zu 
verkennen.  Das  stimmt  gleichfalls  mit  der  Aussage  des  Proklus 
überein,  daß  Euklid  „vieles  von  Eudoxus  Herrührende  zu  einem 
Ganzen  ordnete  und  vieles  von  Theaetet  Begonnene  zu  Ende  führte^^ 
(S.  260).  Eben  diese  alten  Spuren  geben  uns  aber  Veranlassung  zur 
Untersuchung  einer  anderen  Frage. 

•Die  Form  des  V.,  des  X.,  des  XTTT.  Buches  ist  von  der  der 
anderen  Bücher  nicht  im  mindesten  verschieden.  Höchstens  könnte 
man  betonen,  daß,  während  sonst  überall  nur  synthetisch  verfahren 
ist,  die  fünf  ersten  Sätze  des  XIII.  Buches  Analyse  und  Synthese 
verbinden.  Aber  auch  bei  ihnen  ist  die  Form,  welche  man  eukli- 
dische Form  zu  nehnen  pflegt,  gewahrt.  Der  Lehrsatz  ist  aus- 
gesprochen, die  Vorschrift  was  an  der  Figur  vorgenommen  werden 
soll  ist  erteilt,  der  Beweis  schließt  sich  an.  Und  in  anderen  Fällen 
ist  eine  Aufgabe  gestellt.  Ihr  folgt  die  Auflösung,  dieser  die  zum 
Beweise  der  Richtigkeit  der  Auflösung  nötigen  Vorbereitungen  durch 
Ziehen  von  Hilfslinien  usw.  und  endlich  der  Beweis  selbst.  „Was  zu 
beweisen  war'',  onsg  ^dei  äsl^a^  (quod  erat  demonstrandum)  ist  die 
Schlußformel  des  Lehrsatzes  oder  Theorems,  bei  welchem  es  sich 
um  den  Nachweis,  iitödsi^Lv,  des  Behaupteten  handelt.  Die  Aufgabe, 
das  Problem,  bei  welchem  es  auf  die  Ausführung,  xataöTUviiv^  des 
Geforderten  ankommt,  hat  eine  ganz  ähnliche  Schlußformel:  „Was  zu 
machen  war,''  Sxsq  sdei  noifjöai  (quod  erat  faciendum).  Euklid  habe 
diese  Schlußformeln  benutzt^  sagt  uns  Proklus^),  und  der  Augenschein 
bestötigt  es.  Aber  rühren  diese  Schlußworte,  rührt  die  ganze  Form 
von  Euklid  her? 


1)  Proklus  (ed.  Friedlein)  81. 

18* 


276  12.  Kapitel. 

Wir  bezweifeln  es  aufs  allerhöchste.  Wir  haben  in  dem  Übungs- 
buche  des  Ahmes  eine  Sammlung  von  Beispielen  kennen  gelernt, 
deren  griechische  Nachbildung  in  Inhalt  und  Form^  insbesondere  in 
letzterer^  uns  auf  alexandrinischem  Boden  begegnen  wird,  ^ache  es 
so"  heißen  die  regelmäßig  wiederkehrenden  Worte  jener  Übungsbücher. 
Wir  haben  (S.  80  und  113)  davon  gesprochen,  daß  ägyptische  Lehr- 
bücher neben  den  Übungsbüchern  vorhanden  gewesen  sein  müssen. 
Werden  sie  weniger  eine  herkömmliche  unabänderliche  Form  besessen 
haben  als  alles  andere  in  dem  Lande  der  sich  stets  gleichbleibenden 
Überlieferung«!?  Und  sind  jene  euklidischen  Schlußworte  für  Lehr- 
sätze und  Aufgaben  nicht  von  anheimelnder  Ähnlichkeit  zu  dem 
ägyptischen  ,,Mache  es  so"?  Ist  es  femer  nicht  in  hohem  Grade  wahr- 
scheinlich, daß  EudoxuS;  von  dem,  wie  wir  sagten,  das  Y.  Buch,  daß 
Theaetet,  von  dem  Teile  des  X.  und  des  XIII.  Buches  teilweise  wört- 
lich übernommen  wurden,  der  gleichen  Form  sich  schon  bedienten? 
Ist  endlich  wohl  anzunehmen,  Euklid  habe  eine  für  den  Unterricht, 
soweit  er  Gedächtnissache  ist,  ungemein  zweckmäßige  Form  neu  er- 
funden, und  diese  Form  sei  nur  der  Geometrie,  keiner  anderen  Wissen- 
schaft zugute  gekommen?  Diese  Gründe  werden  zwar  noch  nicht  Ge- 
wißheit hervorbringen;  noch  immer  wird  von  manchen  behauptet 
werden,  der  Name  euklidische  Form  sei  durchaus  gerechtfertigt,  denn 
Euklid  sei  der  selbständige  Erfinder  derselben;  aber  andere  werden 
ebenso  sicher  mit  uns  der  Überzeugung  gewonnen  sein,  die  ägyptische 
Form  eines  Lehrbuches  der  Geometrie,  in  Griechenland  eingedrungen, 
seit  überhaupt  Geometrie  dort  gelehrt  wurde,  in  Alexandria  durch 
die  neuerdings  ermöglichte  Kenntnisnahme  ägyptischer  Originalwerke 
aufgefrischt,  habe  bei  Euklid  nur  ihre  vollendete  Abrundung  erlangt. 

Eines  haben  wir  bei  Besprechung  dieser  Ursprungsfrage  still- 
schweigend vorausgesetzt:  daß  nämlich  dasjenige,  was  uns  hand- 
schriftlich als  die  Elemente  des  Euklid  überliefert  wurde,  in  der  Tat 
jenes  Werk  ist,  wie  es  unter  dem  Griffel  des  Verfassers  entstand. 
Zweifel  daran  wären,  trotz  der  ungemeinen  Verbreitung,  deren  die 
euklidischen  Elemente  im  Altertum  sich  erfreuten,  oder  vielleicht 
eben  wegen  dieser  Verbreitung  nicht  unmöglich,  denn  gerade  häufig 
abgeschriebene  Schriftstücke  verderben  leicht  durch  sich  forterbende 
und  durch  bei  jeder  Abschrift  neu  hinzutretende  Fehler,  wenn  nicht 
gar  durch  allmähliche  Einschaltung  von  Randglossen,  welche  nach 
und  nach  in  den  Text  eindrangen,  dem  sie  als  Fremdlinge  nur  ange- 
hören. Euklids  Elemente  sind  in  antiken  Schriften  nicht  gar  oft  er- 
wähnt^), aber  die  Übereinstimmung  der  genannten  Buchemummer  mit 


*)  Untersuchungen  darüber  von  Ssvilius  abgedruckt  in  Gregorys  Vor- 


Alexftndria.    Die  Elemente  des  Enklid.  277 

der  Ziffer^  welche  sie  in  den  Handschriften  führt,  ist  meistenteils  vor- 
handen. Uns  wenigstens  ist  nur  ein  Beispiel  des  Gegenteils  bekannt 
welches  auf  römischem  Boden  im  27.  Kapitel  zu  besprechen  sein  wird. 
Fremde  spätere  Zusätze  sind  in  dem,  was  man  die  Elemente  des 
Euklid  nennt,  allerdings  vorhanden.  Eines  solchen  machte  Theon 
von  Alexandria  in  seiner  Ausgabe,  exSoöig,  der  euklidischen  Ele- 
mente am  Ende  des  VI.  Buches  sich  schuldig,  wie  er  selbst  in  seinem 
Kommentare  zum  I.  Buche  des  ptolemäischen  Almagestes  erzählt^). 
Aus  dieser  ungemein  wichtigen  Stelle  im  Zusammenhange  mit  dem 
Umstände,  daß  jener  Zusatz  des  Theon  seinem  Inhalte  nach  sich  voll- 
ständig mit  dem  Zusätze  zu  Satz  33.  des  VI.  Buches  deckt,  geht  so- 
mit hervor,  daß  es  eine  theonische  Textausgabe  der  euklidi- 
schen Elemente  ist,  deren  wir  uns  bedienen,  und  daß  wenn  auch 
nicht  gerade  zahlreiche,  doch  einige  Änderungen  durch  jenen  Schrift- 
steller vom  Ende  des  lY.  S.  stattgefunden  haben  mögen. 

Theon  kann  es  vielleicht  gewesen  sein,  welcher  den  berüchtigten 
11.  Grundsatz  des  I.  Buches:  „Zwei  Gerade,  die  von  einer  dritten  ge- 
schnitten werden,  so  daß  die  beiden  inneren  an  einerlei  Seite  liegen- 
den Winkel  zusammen  kleiner  als  zwei  Rechte  sind,  treffen  genugsam 
verlängert  an  eben  der  Seite  zusammen'^  an  diese  unpassende  Stelle 
brachte,  während  es  gar  kein  Grundsatz,  sondern  die  Umkehrung  des 
Satzes  17.  des  I.  Buches  ist^),  und  dort  als  Folgerung  ohne  Beweis 
ausgesprochen  immer  noch  frühzeitig  genug  stehen  würde,  um  bei 
Satz  29.  des  I.  Buches  benutzt  zu  werden,  wie  es  der  Fall  ist. 

Theon  mag  auch  die  Schuld  einiger  Definitionen  des  Y.  und 
VI.  Buches  treffen,  welche  häufig  angegriffen  worden  sind^). 

Eine  Definition  des  V.  Buches,  nämlich  die  5.,  hat  freilich  un- 
schuldigerweise solche  Angriffe  erlitten,  veranlaßt,  wie  im  folgenden 
Bande  besprochen  werden  muß,  durch  Übersetzungsirrtümer  zweier 
Sprachen.  Diese  Definition  geht  offenbar  ursprünglich  auf  Zeiten 
zurück,  die  vor  Euklid  liegen.  Sie  will  erklären,  was  es  heiße, 
wenn  man  von  vier  Größen  sage,  daß  sie  in  Proportion  stehen.  Da 
von  Größen  die  Rede  ist  und  nicht  von  Zahlen,  so  mußte  die  Defi- 
nition so  weit  gefaßt  werden,  daß  auch  Inkommensurables  hinein- 
paßte, und  dieses  erreichte  der  Verfasser,  sei  es  Endoxus  oder  wer 
sonst  gewesen,  indem  er  außer  den  Ghrößen  A,  B,  F,  ^  noch 
irgend  zwei  ganze  Zahlen  ft  und  v  sich  dachte  und  behauptete,   es 


rede  zn  Beinei  EnklidauBgabe.    Die  gleichen  ünteranchimgen  mit  einigen  neuen 
Zntaten  bei  Hankel  886—888. 

^)  Cammentaire  de  Theon  mtr  la  eomposiUan  maiMmatique  de  Ptolemee  ^dit. 
Halms  I,  201.  Paris  1821.  *)  Das  erkannte  schon  Savilins.  ')  Ausfahrliches 
hierüber  bei  Hankel  889—401. 


278  13.  Kapitel. 

sei  AiB  ^  r-,  d,  wofern  immer  wemi  fiA~ivB  zugleich  auch 
fiF^v^.     Der  Wortlaut  ist  folgender:  ,^  einerlei  Verhältnis  sind 

Größen  A,  B,  F,  ^,  die  erste  zur  zweiten  und  die  dritte  zur  vierten, 
wenn  von  beliebigen  Gleichvielfachen  der  ersten  und  dritten  A,  F 
und  beliebigen  Gleichvielfachen  der  zweiten  und  vierten  B,  ^  die 
Vielfachen  der  ersten  und  dritten  zugleich  entweder  kleiner  oder  eben 
so  groß  oder  größer  sind  als  die  Vielfachen  der  zweiten  und  vierten 
nach  der  Ordnung  miteinander  verglichen." 

13.  Kapitel. 
Die  ttbrigen  Schriften  des  Euklid. 

Euklid  hat  neben  und  außer  den  Elementen  noch  mehrfache 
andere  Schriften  verfaßt,  die  uns  leider  nicht  sämtlich  vollständig 
erhalten  sind.  So  ist  uns  von  einem  Werke,  welches  gewiß  höchst 
interessant  war,  nur  die  fast  mehr  als  notdürftige  Schilderung  übrig 
geblieben,  die  Proklus  davon  mit  folgenden  Worten  gibt:  Auch  über- 
lieferte er  Methoden  des  durchdringenden  Verstandes  mit  deren  Hilfe 
wir  den  Anfänger  in  dieser  Lehre  in  der  Aufsuchung  der  Fehlschlüsse 
üben  und  selbst  unbetrogen  bleiben  können.  Die  Schrift,  durch 
welche  er  uns  diese  Ausrüstung  verschafR;,  betitelt  er  Trugschlüsse, 
tlf^vädQia.  Er  zählt  die  verschiedenen  Arten  derselben  der  Reihe 
nach  auf  und  übt  bezüglich  jeder  unseren  Verstand  in  allerlei  Lehr- 
sätzen, indem  er  dem  Falschen  das  Wahre  gegenüberstellt  und  den 
Beweis  des  Truges  mit  der  Erfahrung  zusammenhält^). 

Verloren  sind  auch  die  drei  Bücher  der  Porismen,  welche 
Euklid  verfaßte,  deren  Inhalt  jedoch  aus  Spuren  in  genügender  Weise 
erkannt  werden  konnte,  um  eine  vermutlich  in  der  Hauptsache 
richtige  Wiederherstellung  zu  gestatten^).  Mit  den  genannten  Spuren 
hat  es  folgendes  Bewandtnis.  Pappus  hat  in  seiner  Mathematischen 
Sammlung,  von  welcher  schon  wiederholt  die  Bede  war,  neben  eigenen 
Untersuchungen  auch  vielfach  Auszüge  aus  fremden  Schriften  gegeben, 
welche  gleichzeitig  bis   zu  einem  gewissen  Grade  erläutert   werden. 


*)  ProkluB  (ed.  Friedlein)  70.  *)  Les  trois  livres  de  Porismes  d'Euclide 
retablia  pour  Ja  premüre  fais  d'apr^  Ja  notiee  et  Jes  Jemmes  de  Pappus  et  can- 
formSment  au  sentiment  de  B,  Simson  sur  Ja  forme  des  enoncis  de  ces  propositians 
par  M.  ChasleB.  Paris  1860.  Heiberg,  Euklidstndien  S.  66—79  sacht  aller- 
dings die  Behauptung  zn  begründen,  die  OhasleBsche  Wiederherstellung  der 
Porismen  sei  noch  keineswegs  als  endgültig  anzusehen. 


Die  übrigen  Schriften  des  Euklid.  279 

Unter  diesen  fremden  Schriften  befinden  sich  denn  auch  die  eukli- 
dischen Porismen^  von  welchen  im  YII.  Buche  der  Sammlung  die 
Rede  ist,  und  zu  deren  Verständnis  Pappus  eine  Anzahl  von  Lemmen 
mitteilt*).  Freilich  wäre  der  Gebrauch,  welchen  man  von  diesen  Hilfs- 
sätzen allein  machen  könnte,  um  aus  ihnen  den  Inhalt  des  Werkes, 
zu  welchem  sie  erfunden  sind,  zu  erschließen,  kein  unbedingter.  Wir 
besitzen  nämlich  auch  noch  Lemmen  des  Pappus  zu  Werken,  deren 
Urschrift  nicht  verloren  gegangen  ist,  und  an  diesen  zeigt  sich,  daß 
der  geometrische  Scharfsinn  des  Verfassers  ihn  nicht  selten  weit  ab- 
seits führte,  und  daß  er  sich  wohl  gerade  dadurch  verleiten  ließ  etwas 
verschwenderisch  mit  der  Benennung  Lemma  umzugehen.  Es  kommen 
Sätze  bei  Pappus  vor,  welche  so  gut  wie  in  gar  keiner  Beziehung 
zu  den  Schriften  stehen,  als  deren  Hilfssätze  sie  bezeichnet  werden, 
und  wir  haben  zum  voraus  keinerlei  Gewähr  daf^Lr,  daß  es  sich  mit 
den  Hilfssätzen  zu  den  euklidischen  Porismen  nicht  ebenso  verhalte. 
Nachträglich  scheint  freilich  die  gelungene  Wiederherstellung,  von 
der  wir  sprachen,  und  welche  für  das  tiefe  Eindringen  ihres  Ver- 
fassers in  den  geometrischen  Geist  der  Alten  ein  glänzendes  Zeugnis 
ablegt,  jene  Gewähr  zu  liefern.  Es  ist  schwer  an  einen  ZuSeJI  zu 
denken,  wo  die  Ergebnisse  vollste  Übereinstimmung  mit  den  38  Lemmen 
des  Pappus,  mit  der  Inhaltsangabe  der  drei  Bücher  Porismen,  wie  sie 
bei  ebendemselben  sich  findet,  mit  der  Erklärung  des  Wortes  Porisma 
bei  Pappus  und  mit  einer  solchen  bei  Proklus^)  zutage  fördert. 

Der  sprachliche  Zusammenhang  des  Wortes  Porisma,  ytögi^öfiaj 
mit  nslQtOy  mit  Pore,  mit  parare,  mit  forschen,  mit  dem  Sanskrit- 
Worte  pri  TJ"  läßt  einen  GrundbegriflF  des  Vorwärtsbringens  wohl  er- 
kennen, doch  ist  damit  nur  die  eine  Bedeutung  von  Porisma  als 
Zusatz,  corollarium,  gegeben,  welche  gleichfalls  durch  das  Vor- 
kommen in  geometrischen  Schriften  bestätigt  wird.  Porisma  als 
Eunstname  einer  besonderen  für  sich  bestehenden  Gkittung  von  Sätzen 
wird  dadurch  um  nichts  klarer.  Von  diesen  sind  dagegen  ausdrück- 
liche Definitionen  vorhanden.  Pappus  in  der  Einleitung  zu  seinem 
VII.  Buche  sagt,  Porisma  sei  ein  Ausspruch,  bei  welchem  es  sich 
um  die  Porismierung  des  Ausgesprochenen  handle,  und  fügt  dieser 
Erklärung  durch  ein  fast  gleiches  Wort  die  Er^uterung  bei:  „Diese 
Definition  des  Porisma  wurde  von  den  Neueren  verändert,  welche 
nicht  alles  finden  können,  sondern  auf  die  Elemente  gestützt  nur 
zeigen,  daß  das,  was  gesucht  wird,  vorhanden  ist,  nicht  aber  dieses 
selbst  finden.  So  schrieben  sie,  obschon  durch  die  Definition  selbst 
und  das  Erlernte  widerlegt,  mit  bezug  auf  einen  Nebenumstand,  ein 


^)  PappuB  (ed.  Hultflch)  648  sqq.     ')  Proklus  (ed.  Fiiedlein)  801  sqq. 


280  18.  Kapitel. 

Porisma  sei  das,  was  zur  Hypothese  eines  Ortstheorems  fehle/'  Eine 
weitere  Definition,  sagten  wir  oben,  gebe  Proklus.  Sie  enthalt  gleich- 
falls zweierlei^  wenn  auch  nicht  dieselben  beiden  Unterscheidungen 
wie  Pappus  sie  trennt.  „Einmal  nennt  man  es  ein  Porisma,  wenn 
ein  Satz  aus  dem  Beweise  eines  anderen  Satzes  mit  erhalten  wird,  als 
Fund  oder  gerade  vorhandener  Gewinn  bei  dem  Gresuchten,  zweitens 
aber  auch,  wenn  etwas  zwar  gesucht  wird,  aber  um  von  der  Er- 
findung Gebrauch  zu  machen  und  nicht  von  der  Entstehung  oder  der 
einfachen  Anschauung ....  Man  hat  es  nicht  mit  der  Entstehung 
des  Gesuchten  zu  tun,  sondern  mit  dessen  Erfindung,  und  auch  eine 
bloße  Anschauung  genügt  nicht.  Man  mu6  das  Gesuchte  in  das  Ge- 
sichtsfeld bringen  und  vor  den  Augen  ausfQhren.  Von  dieser  Art 
sind  auch  die  Porismen,  welche  Euklid  schrieb,  als  er  seine  Bücher 
der  Porismen  verfaßte.''  Diese  Erklärungen  haben  gewiß  keinen  An- 
spruch auf  den  Ruhm  unbedingter  Deutlichkeit,  aber  eines  lassen  sie 
erkennen:  daß  das  Wort  Porisma  allmählich  einen  anderen  Sinn  an- 
nahm, als  es  ursprünglich  besaß.  Man  versteht  diese  Begriffsver- 
schiebung jetzt  gewöhnlich  so,  daß  die  verhältnismäßig  jüngeren 
Schriftsteller  —  jünger  im  Sinne  des  Pappus  gesagt  für  diejenigen, 
welche  auftraten,  seit  es  Elemente  gab  —  dabei  an  einen  Neben- 
umstand sich  hielten,  der  von  den  Alten  nicht  berücksichtigt  wurde, 
daß  aber  jedenfalls  zu  allen  Zeiten  das  Merkmal  untrüglich  hervor- 
trat, daß  ein  Porisma  gewissermaßen  eine  Verbindung  von  Theorem 
und  Problem  war,  ein  Theorem,  welches  ein  Problem  anregte 
und  einschloß.  Ein  sehr  allgemeines  Beispiel  davon  bildet  auf 
einem  der  Mathematik  durchaus  fremden  Gebiete  die  ärztliche  Dia- 
gnose. Sie  ist  ein  wahres  Porisma.  Sie  erhärtet  als  Theorem  den 
gegenwärtigen  Zustand  des  Ii[ranken,  wobei  sie  ebensowohl  die  bei 
allen  Individuen  gemeinsamen  Erscheinungen  der  bestimmten  Krank- 
heitsform, als  die  von  einem  Menschen  zum  anderen  veränderlichen 
Naturkundgebungen  berücksichtigt.  Sie  schließt  aber  auch  ein  Problem 
in  sich:  die  weitere  Entwicklung  des  Krankheitsprozesses  voraus- 
zusehen und  womöglich  zu  leiten.  Sie  zeigt  sich  als  unvollständig, 
so  lange  nicht  eben  dieses  Problem  seiner  Lösung  entgegengefahrt 
wird.  Übersetzen  wir  nun  eben  diese  Gedankenfolge  in  die  Sprache 
der  Mathematik,  so  können  wir  sagen:  Ein  Porisma  ist  jeder  un- 
vollständige Satz,  welcher  Zusammenhänge  zwischen  nach 
bestimmten  Gesetzen  veränderlichen  Dingen  so  ausspricht, 
daß  eine  nähere  Erörterung  und  Auffindung  sich  noch 
daran  knüpfen.  Ein  schon  von  Proklus  angegebenes  Beispiel  liefert 
etwa  der  Satz,  daß,  wenn  ein  Kreis  gegeben  ist,  der  Mittelpunkt  des- 
selben immer  gefunden  werden  könne,  denn  an  ihn  knüpft  sich  die 


Die  übrigen  Schriften  des  Euklid.  281 

Aufgabe,  die  Konstruktion  zu  ermitteln ,  durcli  welche  man  den 
Mittelpunkt  wirklich  erhält,  mit  Notwendigkeit  an.  Oder  um  ein 
zweites  den  Ghiechen  noch  durchaus  unverständliches  Beispiel  zu 
wählen,  so  ist  es  ein  Porisma,  wenn  man  sagt:  Jede  rationale  ganze 
algebraische  Funktion  einer  Veränderlichen  könne  immer  in  einfachste 
reelle  Faktoren  zerlegt  werden,  denn  an  diesen  Satz  knüpft  sich  un- 
mittelbar die  weitere  Frage,  von  welchem  Grade  jene  einfachsten 
Faktoren  sein  werden,  sowie  die  mit  den  Mitteln  gegenwärtiger  Al- 
gebra nicht  lösbare  Aufgabe  in  jedem  einzelnen  FaUe  die  betreffen- 
den einfachsten  Faktoren  selbst  aufzufinden.  Wenn  durch  diese  Aus- 
einandersetzung der  Begriff  des  Porisma  im  älteren  Sinne  des  Wortes 
zu  einiger  Klarheit  gelangt  sein  dürfte,  so  können  wir  jetzt  auch  die 
spätere  Bedeutung  des  Wortes  ins  Auge  fassen. 

Nachdem  man  nämlich  bemerkt  hatte,  daß  die  Veränderlichkeit 
mitunter  in  der  Ortsveränderung  von  Punkten  bestehe,  so  klammerte 
man  sich  an  diesen  Nebenumstand  fest  und  setzte  als  Regel,  daß  das 
Veränderliche  ausschließlich  von  der  Art  sein  sollte,  daß 
man  es  mit  einem  mangelhaften  Ortstheoreme  zu  tun  habe. 
Eines  der  berühmtesten  Porismen  in  diesem  Sinne,  welches  bei  Pappus 
sich  erhalten  hat^),  lautet  in  der  Sprache  heutiger  Geometrie  etwa 
so:  Schneiden  die  Linien  eines  vollständigen  Vierseits  sich  in  sechs 
Punkten,  von  denen  drei  in  einer  Geraden  liegende  gegeben  sind, 
und  sind  von  den  drei  übrigen  Punkten  zwei  der  Bedingung  unter- 
worfen je  auf  einer  gegebenen  Geraden  zu  bleiben,  so  wird  auch  der 
letzte  Punkt  eine  Gerade  zum  geometrischen  Orte  haben,  welche  aus 
den  vorhandenen  Angaben  bestimmt  werden  kann.  Man  sieht  augen- 
blicklich, erstens  daß  es  sich  hier  um  einen  geometrischen  Ort 
handelt,  zweitens  daß  in  der  Hypothese  die  Lage  der  von  zwei 
Punkten  beschriebenen  Geraden  nicht  näher  bezeichnet  ist,  daß  also 
an  der  Hypothese  etwas  fehlt,  drittens  daß  demgemäß  auch  die  Fol- 
gerung an  Bestimmtheit  zu  wünschen  übrig  läßt,  daß  aber  viertens 
die  Folgerung  zu  vollständiger  Bestimmtheit  ergänzt  werden  kann, 
indem  man  die  Lage  der  dritten  Geraden  zu  den  gegebenen  Raum- 
gebilden in  Beziehung  setzt,  sie  als  eine  darzustellende  Funktion  der- 
selben betrachtet.  Mit  anderen  Worten:  die  Ortsveränderung  eines 
Punktes  ist  in  Abhängigkeit  gebracht  zu  den  Ortsveränderungen 
zweier  Punkte,  so  daß  sie  der  Art  nach  bestimmt  ist^  der  Lage  nach 
aber  erst  bestimmt  wird,  wenn  jene  Ortsveränderungen  der  beiden 
anderen  Punkte,  sowie  drei  feste  Punkte  wirklich  gegeben  sind. 

Dieses  vollständiger   als   die   übrigen   erhaltene  Porisma  wurde, 


')  Pappus  yn,  piaefatio  (ed.  Hultsch)  662  sqq. 


282  13.  Kapitel. 

wie  wir  gleichfalls  durch  Pappus  wissen,  in  zehn  einzelnen  Fallen 
behandelt,  je  nach  der  Verschiedenheit  der  Lage  der  einzelnen  Punkte 
und  Geraden.  Man  erkennt  an  diesem  einen  Beispiele,  welche  ge- 
waltige Ausdehnung  eine  Sammlung  von  Porismen  gewinnen  konnte, 
wenn  die  teils  als  Bedingungen,  teils  als  Ergebnisse  in  jedem  Porisma 
vorkommenden  geometrischen  Orter  jeder  beliebigen  Gattung  von 
Raumgebilden  angehören  durften.  Euklid  legte  sich  die  freiwillige 
Beschrankung  auf,  nur  solche  Orter  zu  benutzen,  deren  Lehre  aus 
seinen  Elementen  zur  Genüge  bekannt  war.  In  den  beiden  ersten 
Büchern  seiner  Porismen  treten  nur  Gerade  auf,  in  dem  dritten  Buche 
außer  solchen  auch  Ereise.  Trotz  dieser  engen  Beschrankung  waren 
171  Sätze  in  dem  Werke  enthalten,  welche  Pappus  je  nach  den  Er- 
gebnissen, also*  abseits  der  Bedingungen,  in  29  Gattungen  abgeteilt 
hat.  Eine  Gattung  war  es  z.  B.,  wenn  sich  herausstellte,  daß  ein 
Punkt  auf  einer  der  Lage  nach  .bekannten  Geraden  liegen  müsse;  eine 
zweite,  wenn  man  erfuhr,  daß  eine  gewisse  Gerade  in  allen  ihren 
Lagen  durch  einen  bestimmten  Punkt  gehen  müsse;  eine  dritte,  wenn 
wieder  eine  bewegliche  Gerade  auf  zwei  gegebenen  Geraden  Abschnitte 
von  bestimmten  Produkten  bildete,  während  man  bei  der  Aufstellung 
jener  Gattungen  als  solcher  zunächst  davon  absah,  welcherlei  Be- 
dingungen in  jener  ersten  Gattung  die  Bewegung  des  Punktes,  in  den 
beiden  anderen  die  Bewegung  der  Geraden  regeln.  Von  dieser  Auf- 
fassung ist  wenigstens  die  von  uns  schon  gerühmte  Wiederherstellung 
der  euklidischen  Porismen  ausgegangen,  auf  welche  fär  die  genauere 
Kenntnis  des  Gegenstandes  verwiesen  werden  muß.  Er  ist  trotz  des 
Scharfsinnes,  welchen  der  neue  Bearbeiter  als  Geometer  wie  als  Histo- 
riker an  den  Tag  legte,  nicht  so  weit  über  allen  und  jeden  Zweifel 
erhaben,  daß  wir  es  verantworten  könnten  über  die  Ergebnisse  der 
Wiederherstellung  unter  dem  Yerfassemamen  des  Euklid  zu  berichten. 
Nur  Eines  entnehmen  wir  ihr  noch:  die  Verwandtschaft,  welche  Euklids 
Porismen  nach  zwei  Seiten  hin  besaßen.  Im  Hinblicke  auf  ihren  In- 
halt, auf  die  Lehre  von  der  veränderlichen  Lage  grenzten  sie  an  die 
sogenannten  geometrischen  Örter;  in  ihrer  Form  näherten  sie  sich 
einem  anderen  euklidischen  Werke,  den  Daten. 

Die  Daten^),  dsdögiBvay  des  Euklid  sind  vollständig  auf  uns  ge- 
kommen, versehen  mit  einer  Vorrede  des  Marinus  von  Neapolis 
in  Palästina,  eines  Schülers  des  Proklus,   in   ihrer  Echtheit  bestätigt 


')  Eine  deatsche  Übersetzung  hat  J.  F.Wurm  (Berlin  1826)  herauBgegeben, 
den  griechischen  Text  der  ersten  24  Sätze  nach  einem  münchner  Kodex 
Fr.  Buchbinder  in  dem  Programm  der  Landesschule  Pforta  fOr  1866:  Euklids 
Porismen  und  Data.  Die  letzte  Ausgabe  ist  die  von  H.  Menge  als  6.  Band  der 
Euklidausgabe  (1896). 


Die  übrigfen  Schriften  des  Euklid.  283 

durch  eine  Beschreibung  des  Pappus^  welche  wenn  auch  nicht  in 
allen  Punkten,  doch  der  Hauptsache  nach  mit  unserem  Texte  über- 
einstimmt^). Was  man  unter  einem  Gegebenen,  dsdöfievov,  zu  ver- 
stehen habe,  sagt  Euklid  in  einer  Reihe  yon  Definitionen,  welche  an 
der  Spitze  dieser  Schrift  stehen.  Der  Grröße  nach  gegeben  heißen 
Räume,  Linien  und  Winkel,  wenn  man  solche,  die  ihnen  gleich  sind, 
finden  kann.  Ein  Verhältnis  heißt  gegeben,  wenn  man  ein  Verhältnis, 
welches  mit  jenem  einerlei  ist,  finden  kann.  Der  Lage  nach  gegeben 
heißen  Punkt^  Linien  und  Winkel,  wenn  sie  immer  an  demselben 
Orte  sind  usw.  Nach  diesen  Definitionen  folgen  95  (Pappus  zufolge 
nur  90)  Sätze,  in  welchen  nachgewiesen  wird,  daß,  wenn  gewisse 
Dinge  gegeben  sind,  andere  Dinge  gleichzeitig  mitgegeben  sind.  Zur 
besseren  Einsicht  in  den  Gegenstand  heben  wir  einige  Sätze  aus  den 
verschiedensten  Teilen  der  Schrift  hervor. 

Satz  1.  Gegebene  Gh*ößen  haben  zueinander  ein  gegebenes  Ver- 
hältnis. 

Satz  3.  Wenn  gegebene  Ghrößen,  wie  viele  ihrer  sein  mögen, 
zusammengesetzt  werden,  so  ist  ihre  Summe  gegeben. 

Satz  25.  Wenn  zwei  der  Lage  nach  gegebene  Linien  einander 
schneiden,  so  ist  ihr  Durchschnittspunkt  gegeben. 

Satz  40.  Wenn  in  einem  Dreiecke  jeder  Winkel  der  Größe 
nach  gegeben  ist,  so  ist  das  Dreieck  der  Art  nach  gegeben. 

Satz  41.  Wenn  in  einem  Dreiecke  ein  Winkel  gegeben  ist  und 
die  um  diesen  Winkel  liegenden  Seiten  ein  gegebenes  Verhältnis  zu- 
einander haben,  so  ist  das  Dreieck  der  Art  nach  gegeben. 

Satz  54.  Wenn  zwei  der  Art  nach  gegebene  Figuren  ein  ge- 
gebenes Verhältnis  zueinander  haben,  so  haben  auch  ihre  Seiten  zu- 
einander ein  gegebenes  Verhältnis. 

Satz  58  imd  59.  Wenn  ein  gegebener  Raum  einer  gegebenen 
geraden  Linie  angefügt,  aber  um  eine  der  Art  nach  gegebene  Figur 
zu  klein,  skkHütov  (zu  groß,  imiQßakXov)  ist,  so  sind  die  Seiten  der 
Ergänzung  (des  Überschusses)  gegeben. 

Satz  84  und  85.  Wenn  zwei  Grerade  einen  gegebenen  Raum 
unter  einem  gegebenen  Winkel  einschließen  und  ihr  Unterschied  (ihre 
Summe)  gegeben  ist,  so  ist  jede  derselben  gegeben. 

Satz  89.  Wenn  in  einem  der  Größe  nach  gegebenen  Kreise  eine 
der  Ghröße  nach  gegebene  Gerade  gegeben  ist,  so  begrenzt  sie  einen 
Abschnitt,  welcher  einen  gegebenen  Winkel  faßt. 

Die  Vergleichung  dieser  Proben  mit  dem,  was  über  Porismen 
gesagt  wurde,  läßt  augenblicklich   die   angekündigte  Formverwandt- 


*)  PappuB  VII  (ed.  Hnltach)  pag.  638—640. 


284  13.  Kapitel. 

schaffc  erkennen.  Auch  hier  scUießt  das  Theorem,  in  dessen  Grewande 
die  Sätze  aufzutreten  pflegen,  ein  künftiges  Problem  ein,  und  die 
Beweisführung  erfolgt  fEUst  regelmäßig  so,  daß  jenes  Problem  gelöst 
wird.  So  ist  in  dem  oben  angeführten  Satz  3.  die  Aufgabe  mit  ein- 
geschlossen, die  Summe  der  gegebenen  Grrößen  auch  wirklich  zu 
finden,  und  in  der  Tat  wird  der  Satz  dadurch  als  richtig  erwiesen, 
daß  man  zwar  nicht  die  Summe  selbst,  denn  dieses  würde  nicht  in 
dem  Charakter  des  Buches  der  Gegebenen  liegen,  aber  eine  der  Summe 
gleiche  Größe  darstellt.  Aber  auch  dafür  ist  umgekehrt  gesorgt, 
daß  man  nicht  Daten  und  Porismen  ganz  verwechseln  könne.  Da- 
gegen schützt  der  gewaltige  Unterschied  des  Inhaltes,  der  sich  kurz 
dahin  bezeichnen  läßt,  daß  bei  den  Daten  die  Bedingung  der  ver- 
änderlichen Größe  wegfällt,  welche  zum  eigentlichen  Wesen  des 
Porisma  gehört  und  dessen  wissenschaftliche  Stellung  nach  unseren 
heutigen  Begriffen  zu  einer  weit  höheren  macht  als  die  der  Daten,  deren 
eigentliche  Berechtigung  uns  fast  zweifelhaft  erscheint,  weil  in  ihnen 
im  Gnmde  nichts  steht,  was  nicht  schon  in  anderer  Form  und  anderer 
Reihenfolge  in  den  Elementen  steht  oder  wenigstens  stehen  könnte. 

Die  Data,  kann  man  sagen,  sind  Übungssätze  zur  Wiederauf- 
frischung der  Elemente;  die  Porismen  sind  Anwendungen  derselben 
von  selbständigem  Werte.  Der  Stoff,  welcher  dem,  der  die  Daten 
auswendig  weiß,  zu  Gebote  steht,  führt  ihn  doch  nicht  über  die 
Elemente  hinaus;  der  Stoff,  welcher  in  den  Porismen  dem  Gedächt- 
nisse sich  einprägt,  kommt  in  der  Lehre  von  den  Örtem,  in  der 
höheren  Mathematik  der  Griechen,  zur  Geltung.  Daten  kann  es  in 
frühester  Zeit  gegeben  haben,  Porismen  im  euklidischen  Sinne  erst 
seitdem  der  Ortsbegriff  entstand. 

Die  nahen  Beziehungen  der  Daten  zu  den  Elementen  lassen  sich 
auch  auf  jenem  Gebiete  verfolgen,  welches  ein  gemischtes  ist,  insofern 
dort  Arithmetisches  und  Algebraisches  geometrisch  eingekleidet  er- 
scheinen. Vergleichen  wir  z.  B.  Satz  58.  und  59.  mit  den  Aufgaben 
in  Satz  28.  und  29.  des  VI.  Buches  (S.  266),  so  liegt  die  Wechsel- 
verbindung auf  der  Hand  ^).  Satz  84.  und  85.  lehren  aus  xy  «  b* 
und  x^  y  ^  a  die  Wurzeln  der  beiden  Gleichungen,  oder,  was  auf 
dasselbe  hinausläuft,  die  Wurzel  der  quadratischen  Gleichung  x*  T-  6* 
»  ax  zu  finden^).    Wir  erinnern  dabei  an  den  11.  Satz  des  IL  Buches 


^)  Matthiessen,  Gnindzüge  der  antiken  nnd  modernen  Algebra  der 
litteralen  Gleichungen  S.  928—929  bat  darauf  hingewiesen.  *)  Darauf  dürfte 
Chasles,  Apercu  historique  sur  Vorigine  et  U  developpement  des  mähodes  en 
g^ometrie,  2.  Edition.  Paris  1876,  pag.  11,  Note  2  oder  deutf»che  Übersetzung 
von  Sohncke.  Halle  1839,  S.  9,  Anmerkung  11  zuerst  aufmerksam  gemacht 
haben.    Dieses  Werk  heißt  bei  uns  künftig  Ghasles,  Apercu  hist. 


Die  übrigen  Schriften  des  Eaklid.  285 

der  Elemente  (S.  263),  in  welchem  die  Gleichung  x*  +  ax  ^  a^  er- 
kannt wurde,  ein  besonderer  Fall  der  Gleichung  x*  +  ax  =»  fc*  des 
29.  Satzes  des  VI.  Buches.  Wir  erinnern  an  die  Gleichung  x*  +  6* 
»  ax  des  28.  Satzes  des  VI.  Buches,  und  haben  jetzt  hier  in  den 
Daten  den  einzigen  noch  übrigen  Fall  x'  ^  ax  +  h^  der  quadratischen 
Oleichung  mit  lauter  positiven  Gliedern  vor  uns.  Die  Daten  sind 
hier  die  notwendige  Ergänzung  der  Elemente.  Der  Schriftsteller,  der 
heide  verfaßte,  war  im  Besitz  der  Mittel  eine  Wurzel  jeder  quadrati- 
schen Gleichung,  welche  überhaupt  eine  reelle  Lösung  zuläßt,  zu 
tinden.  Darf  aber  das  Bewußtsein  hier  eine  große  Gruppe  von  Pro- 
blemen vor  sich  zu  haben,  deren  Bedeutung  nicht  nur  eine  geometrische 
ist,  bei  Euklid  vorausgesetzt  werden?  Die  geometrische  Form,  in 
welcher  jene  Aufgaben  bei  Euklid  erscheinen  und  welche  man  nicht 
unpassend  eine  geometrische  Algebra^)  genannt  hat,  würde  nicht 
genügen,  jedes  algebraische  Bewußtsein  zu  leugnen,  denn  jene  Form 
werden  wir,  als  Überbleibsel  alter  Übung,  bei  Schriftstellern  und  in 
Zeiten  noch  vorwalten  sehen,  denen  man  wohl  eher  umgekehrt  das 
geometrische  Bewußtsein  absprechen  darf.  Ist  aber  diese  kleine 
Schwierigkeit  aus  dem  Wege  geräumt,  so  nehmen  wir  keinen  Anstand 
die  gestallte  Frage  voll  zu  bejahen.  Euklid  muß  mit  numerischen 
<][uadratischen  Gleichungen  zu  tun  gehabt  haben,  denn  nur  daraus 
läßt  sich  das  Entstehen  des  X.  Buches  seiner  Elemente  erklären^), 
und  das  ist  die  große  Bedeutung,  welche  wir  (S.  268)  eben  diesem 
Buche  zum  voraus  beigelegt  haben. 

Wie  verhält  es  sich  aber  mit  der  Fähigkeit  des  Euklid  auch 
solche  Gleichungen  zu  lösen,  welche  in  durchaus  anderem  Gewände 
erscheinen?  In  einer  Sammlung  griechischer  Epigramme,  von  welcher 
im  23.  Kapitel  die  Rede  sein  wird,  kommt  als  euklidisches  Problem 
«ines  vor,  welches  in  deutscher  Übersetzung  folgendermaßen  lautet'): 

Esel  und  Maultier  schritten  einher  beladen  mit  Säcken. 

Unter  dem  Drucke  der  Last  schwer  stöhnt*  und  seufzte  der  Esel. 

Jenes  bemerkt  es  und  sprach  zu  dem  kummerbeladnen  Gefährten: 

^, Alterchen,  sprich,  was  weinst  Du  und  jammerst  schier  wie  ein  Mägdlein? 

Doppelt  so  viel  als  Du  grad*  trüg'  ich,  gäbst  Du  ein  Maß  mir; 

Nähmst  Du  mir  eines,  so  trügen  wir  dann  erst  beide  dasselbe.'' 

Greometer,  Du  Kundiger,  sprich,  wieriel.sie  getragen. 


')  Den  Namen  der  geometrischen  Algebra  hat  H.  Zeuthei^  eingeführt. 
^  Dieser  feine  und  wichtige  Gedanke  ist  zuerst  ausgesprochen  bei  Zeuthen, 
Die  Lehre  von  den  Kegelschnitten  im  Alterthume  (deutsche  Ausgabe  von  ß.  von 
Pischer-Benzon.  Kopenhagen  1886),  S.  24—26.  S.  A.  Christensen,  Ueber 
Gleichungen  vierten  Grades  im  X.  Buch  der  Elemente  Euklids.  Zeitschr.  Math. 
Phjs.  XXXIV,  Hi8t.-liter.  Abtlg.  S.  201—207  geht  uns  allerdings  etwas  zu  weit. 
-*)  Tgl.  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  480. 


286  13.  Kapitel. 

Wie  verhält  es  sich  mit  der  Berechtigung  dieser  Aufgabe^  den  ihr 
beigelegten  Namen  zu  fuhren?  Die  meisten  Schriftsteller  leugnen 
diese  Berechtigung  vollständig.  Jedenfalls  muß  man  zwei  Dinge  hier 
unterscheiden,  ob  Euklid  eine  derartige  Aufgabe  lösen  konnte  und  ob 
er  sie  so,  wie  sie  überliefert  ist,  löste  oder  gar  stellte.  An  der  Mög- 
lichkeit der  Lösung  wird  man  nicht  zweifeln.  Schon  Thymaridas 
hatte  (S.  158)  Gleichungen  ersten  Grades  mit  mehreren  Unbekannten 
von  einer  gewissen  Form  lösen  gelehrt,  und  Euklid  dürfte,  seiner 
Gewohnheit  nach  alles  an  Linien  versinnlichend,  gesagt  haben,  wenn 
man  die  Last  des  Maulesels  durch  eine  Linie  Ä  darstellt,  so  wird, 
wenn  die  Längeneinheit  abgeschnitten  ist,  Ä—  l  als  übrige  Last  der 
bereits  um  die  Einheit  vergrößerten  Last  des  Esels  gleich  sein;  die 
ursprüngliche  Last  des  Esels  war  also  A  —  2,  oder  um  2  geringer 
als  die  des  Maultiers.  Nimmt  man  zu  A  noch  eine  Längeneinheit 
hinzu,  so  ist  ^  +  1  doppelt  so  groß  wie  das  um  die  Einheit  ver- 
minderte ^  —  2,  oder  wie  -4  —  3,  d.  h.  A+  l  und  2-4  —  6  sind 
gleiche  Längen;  daraus  folgt  A  +  7  ^  A  +  A  und  A  ^  7  nebst 
^  —  2  =  5.  Solche  Schlüsse,  sagen  wir,  waren  Euklid  vollständig 
angemessen,  und  die  Durchführung  von  Satz  11.  des  U.  Buches  der 
Elemente,  die  wir  (S.  264)  als  Probe  vorgenommen  haben,  dürfte 
jedem  Zweifel  in  dieser  Beziehung  begegnen.  Ein  ganz  andres  ist  es, 
ob  die  epigrammatische  Form  der  Bätselfrage  von  Euklid  herstamme. 
Ähnliche  Fragen  werden  uns  wiederholt  begegnen,  teilweise  auch  auf 
alte  Quellen  zurückgeführt.  Jedenfalls  dient  die  eine  Aufgabe  der 
anderen  zur  Bestätigung,  oder  zur  vernichtenden  Kritik.  Ist  die  eine 
echt,  dann  kann  auch  die  andere  echt  sein;  ist  die  eine  verhältnis- 
mäßig späte  Unterschiebung  unter  den  Namen  eines  Verfassers,  der 
weniger  als  Verfasser,  denn  als  Vertreter  mathematischer  Wissenschaft 
gemeint  ist,  so  daß  euklidisches  Problem  nur  heißen  soll:  Problem, 
wie  es  Euklid  zu  lösen  imstande  war,  dann  dürfte  das  gleiche  auch 
für  die  andere  Aufgabe  gelten.  Wir  müssen  uns  enthalten  eine  Ent- 
scheidung zu  treffen,  zu  welcher  dem  Mathematiker  so  gut  wie  keine 
bestimmenden  Gründe  vorliegen.  Nur  die  vollständige  Verschiedenheit 
des  Epigrammes  von  allen  sonstigen  euklidischen  Schriften  lassen  wir 
als  Gegengrund  gegen  die  Echtheit  nicht  gelten.  Ein  Gedichtchen 
ist  nun  einmal  keine  Abhandlung.  Beide  müssen  voneinander  ab- 
weichen, und  daß  es  dem  Ernste  des  Mathematikers  nicht  widerspricht, 
auch  einmal  an  die  Scherzform  der  Poesie  sich  zu  wagen,  haben  Bei- 
spiele aller  Zeiten  bewiesen.  Zudem  würde  dieser  Gegengrund  vollends 
schwinden,  wenn  man  zu  der  eben  durch  ein  Wort  angedeuteten  Auf- 
fassung sich  bekennen  wollte,  Euklid  habe  die  Aufgabe  nicht  gestellt, 
sondern  gelöst,  und  sie  sei  deshalb  unter  seinem  Namen  bekannt  geblieben. 


Die  übrigen  Schriften  des  Euklid.  287 

Proklus  berichtet*)  noch  von  einer  weiteren  geometrischen  Auf- 
gabensammlung; welche  Euklid  yerfaßte  und  welche  den  Namen  des 
Buches  von  der  Teilung  der  Figuren,  tcbqI  SiaiQBöearif  ßcßkCov, 
führte^).  Bis  in  die  zweite  Hälfte  des  XVI.  S.  war  diese  Schrift, 
abgesehen  von  den  Auszügen  aus  derselben,  von  denen  man  nicht 
wußte,  daß  sie  daher  stammten,  für  das  Abendland  verschollen.  Da 
fand  John  Dee  um  1563  eine  arabische  Schrift  gleichen  Titels,  welche 
er,  wiewohl  Mohammed  Bagdadinus  (so  lautet  der  Name  in  der 
uns  allein  bekannten  latinisierten  Form)  als  Verfasser  genannt  war, 
far  euklidisch  hielt,  und  deren  lateinische  Übersetzung  er  anfertigte, 
die  zuerst  1570  durch  Dee  in  Gemeinschaft  mit  Commandino  heraus- 
gegeben wurde,  und  die  alsdann  in  die  Oregorysche  Euklidausgabe 
von  1702  Aufiiahme  fand.  Dees  Vermutung  hat  an  Wahrscheinlich- 
keit gewonnen,  seit  Woepcke  in  Paris  ein  zweites  arabisches  Bruch- 
stück auffand,  welches  mit  dem  Deeschen  Manuskripte  wenn  auch 
nicht  wörtlich  doch  dem  Wesen  nach  übereinstimmend,  namentlich 
eine  Lücke  jenes  ersten  Textes  ergänzte.  Proklus  erwähnt  nämlich 
ausdrücklich  Sätze  über  die  Teilung  des  Kreises,  und  diese  fehlten  in 
dem  Deeschen,  fanden  sich  in  dem  Woepckeschen  Bruchstücke.  Nimmt 
man  hinzu,  daß  in  letzterem  Euklid  als  Verfasser  geradezu  genannt 
ist,  so  wird  es  fast  zur  Gewißheit,  daß  hier  eine  Bearbeitung  des 
euklidischen  Textes  vorliegt  Eine  wörtliche  Übersetzung  anzunehmen 
hindern  einige  vorkommende  mathematische  Unrichtigkeiten,  die  einem 
Euklid  nicht  wohl  entstammen  können').  Einige  Beispiele  der  uns 
erhaltenen  Aufgaben  sind  folgende.  Das  Dreieck  wie  das  Viereck 
werden  durch  eine  einer  gegebenen  Geraden  parallele  Linie  nach  ge- 
gebenem Verhältnisse  geteilt.  Für  das  Fünfeck  ist  die  Aufgabe  nicht 
ganz  so  allgemein  gestellt,  aber  immerhin  wird  die  Teilung  desselben 
nach  gegebenem  Verhältnisse  verlangt,  sei  es  von  einem  Punkte 
einer  Fünfecksseite  aus,  sei  es  durch  eine  zu  einer  Fünfecksseite  unter 
gewissen  Voraussetzungen  parallele  Gerade.  Endlich  schließt  die 
pariser  Handschrift,  wie  bemerkt,  die  Aufgaben  ein,  eine  von  einem 
Kreisbogen  und  zwei  einen  Winkel  bildenden  Geraden  gebildete  Figur 
durch  eine  Gerade  in  zwei  gleiche  Teile  zu  teilen,  und  von  einem 
gegebenen  Kreise  einen  bestimmten  Teil  abzuschneiden,  Aufgaben, 
zu    deren    Lösung    ein    ziemlicher   Grad    geometrischer   Gewandtheit 


*)  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  69  und  144.  •)  Vgl.  Gregory  in  der 
Vorrede  zu  Beinez  Euklidauagabe.  Woepcke  im  Journal  Asiatique  far  Sep- 
tember und  Oktober  1851  und  ganz  besonders  Ofterdinger,  Beiträge  zur  Wie- 
derherstellung der  Schrift  des  Euklid  über  die  Theilung  der  Figuren.  Ulm  1868. 
")  Das  bemerkte  bereits  Savilius,  PraelecHones  tresdeeim  in  principium  EU- 
mentorum  Euclidis.    Oxford  1621,  pag.  17. 


288  18-  Kapitel. 

erforderlich   ist,   wenn   auch   die   Grundlage   derselben  durchaus  ele- 
mentarer Natur  bleibt.    Die  Figur  A  B  rd  z.  B.  (Fig.  43)  wird,  wenn 

E  die  Mitte  der  Sehne  B-J  be- 
zeichnet, offenbar  durch  die  ge- 
brochene Linie  AEF  halbiert. 
Wird  alsdann  j^Z  parallel  zxx  AF 
gezogen,  so  haben  die  Dreiecke 
AZr  und  AET  gleichen  Inhalt, 
und  mithin  halbiert  auch  die  Ge- 
rade rZ  unsere  Figur. 

Einige  andere  Schriften  des 
Euklid  können  als  die  geistige  Fort- 
setzung seiner  Porismen  betrachtet 
werden,  indem  sie  sich  zur  höheren 
Mathematik  ihrer  Zeit  ordnen  lassen:  Vier  Bücher  über  die  Kegel- 
schnitte und  zwei  Bücher  über  die  Örter  auf  der  Oberfläche. 
Das  letztgenannte  Werk,  die  rönoi  Ttgbg  iiCKpdvetav,  hat  als  Spur 
außer  seinem  Titel  nur  vier  Lemmen  bei  Pappus  hinterlassen^).  Wenn 
man  daher  gemeint  hat,  Euklid  habe  in  diesen  Örtem  auf  der  Ober- 
fläche Umdrehungsflächen  zweiten  Ghrades  behandelt  *),  so  ist  diese 
Vermutung  nur  mit  äußerster  Vorsicht  zu  wiederholen.  Größere 
Wahrscheinlichkeit  hat  für  uns  die  Auffassung'),  jene  Örter  beträfen 
Kurven  auf  Zylinderflächen,  vielleicht  auch  auf  Kegelflächen. 

Das  Werk  über  die  Kegelschnitte  ist  gleichfalls  bei  Pappus  er- 
wähnt, welcher  sogar  behauptet,  die  vier  ersten  Bücher  des  ApoUonius 
stützten  sich  wesentlich  auf  diese  Vorarbeit  des  Euklid*).  Man  wird 
dadurch  leicht  verleitet  den  Inhalt  der  Kegelschnitte  des  Euklid 
einigermaßen  zu  überschätzen  und  insbesondere  einen  Zusammenhang 
mit  dem  44.  Satze  des  I.  Buches,  dem  28.  und  29.  Satze  des  VI.  Buches 
der  Elemente  zu  vermuten,  der  doch  wohl  nicht  stattfindet.  Wir 
haben  diese  Sätze  (S.  262  und  266)  schon  erwähnt,  wir  haben  vorher 
(S.  171)  angekündigt,  wir  würden  bei  Gelegenheit  der  euklidischen 
Geometrie  auf  die  Wörter  Parabel,  Ellipse,  Hyperbel  und  deren 
Bedeutung  eingehen,  wir  müssen  jetzt  diese  Zusage  einlösen.  Wir 
nehmen  dabei  zur  größeren  Einfachheit  der  Betrachtung  an,  daß  die 
Parallelogramme,  von  welchen  in  jenen  drei  Sätzen  der  Elemente  die 
Bede  ist,  immer  Rechtecke  seien;  bei  schiefwinkligen  Parallelogrammen 
wird  die  Behandlung  jener  Aufgaben  langwieriger,  aber  keineswegs 
wesentlich  schwieriger. 

')  PappTiB  YR propos.  286  sqq.  (ed.  Hultach)  pag.  1004  sqq.  *)  Chasles, 
Äpergu  JUst,  278.     (Deutsch:  272.)  *)  Heiberg,  Euklidstadien  S.  81—83. 

^  PappaB  VU  Prooemium  (ed.  Hnltsch)  pag.  672. 


Die  übrigen  Schriften  des  Euklid. 


289 


rsy 


\ 


^ 
^ 


B  ^ 


Vig.  44. 


Es  sei  (Fig.  44)  AE^p  eine  gegebene  Länge  senkrecht  zu  AS 
aufgetragen;  ist  nun  femer  AT  gegeben,  so  gibt  es  immer  einen  ein- 
zigen Punkt  ^y  welcher  zur  Bildung  des  RecljLteckB  ABZ^  führt, 
das  einen  bekannten  Flächenraum,  näm- 
lich den  des  Quadrates  über  AT,  oder 
über  der  der  AT  gleichen  ^E,  besitzt. 
Wählt  man  umgekehrt  bei  bekanntem 
AB'^p  auf  der  Geraden  A  S  einen  be- 
liebigen Punkt  ^,  so  gibt  es  senkrecht 
über  und  unter  ^  die  Punkte  E,  E\ 
welche  das  Quadrat  von  z/£  {/^E') 
dem  Rechtecke  aus  p  und  Ad  gleich 
werden  lassen.  Werden  verschiedene  Punkte  J  gewählt,  so  nimmt 
auch  E  verschiedene  Lagen  an,  aber  immer  ist  das  an  ^^  angelegte, 
naQccßaXX6(i€vov ,  Rechteck  dem  Quadrate  über  ^fE  genau  gleich. 
Nennen  wir  nach  heutigem  Brauche  Ad  ^  x,  dE  =  y,  so  spricht 
sich  die  letzte  Bemerkung  symbolisch  y^=^px  aus,  d.  h.  der  geome- 
trische Ort  von  Ey  wenn  wir  einen  solchen  durch  das  Fortrücken 
von  J  auf  AS  erzeugt  denken,  ist  eine  Parabel.  Da  bei  einer 
solcheli  Anlegung  (Tcagafiokif)  das  Produkt  zweier  Faktoren  dem  zweier 
anderer  gleichgesetzt  ist,  so  kann  man  dieselbe  auch  zur  Division 
(fiBQKJiiög)  einer  Zahl  durch  eine  andere  verwenden,  und  in  der  Tat 
definiert  sie  ein  alter  Scholiast  zum  VI.  Buche  der  Euklidischen 
Elemente  geradezu  in  dieser  Weise  ^). 

Außer  dem  AB  ^^p  sei 
(Fig.  46)  auf  der  dazu  senk-  | 
rechtend S ein  Stück  AA^a 
bekannt,  so  ist  ABKA  ein 
durchaus  gegebenes  Rechteck, 
welchem  jedes  andere  Recht- 
eck ähnlich  ist,  dessen  B  gegen- 
überliegende Winkelspitze  H 
auf  der  Diagonale  BA  des 
erstgenannten  Rechtecks  sich 
befindet.  Ist  nun  wieder  ein 
Flächenraum  —  das  Quadrat  über  AF  oder  JE  —  gegeben,  so  wird 
es  einen  einzigen  Punkt  H  der  BA  geben,  mit  dessen  Hilfe  das  Recht- 
eck   AJH&   gleich   jenem    Flächenraum    wird,    oder    mit    anderen 

*)  Heibergs  Euklidsusgabe  Bd.  Y,  347  lin.  20  TeagaßoXi}  nagä  tolg  na^ri- 
luttmolg  Xiyerai  {>  iiSQiaiiog'  naQußaXstv  yccQ  ägid'nbv  nagcc  Scgi^iiov  iaxi  th 
lugiöai  xbv  \Liilova  hg  xbv  ilaxtova  i]roi  dd^ai,  nocdnig  6  iXatTcav  nsQiix^^^ 
vnb  Tov  luiiovog. 

Cautob,  Geftchichte  Abt  Mathematik  I.    3.  Aufl.  19 


Flg.  4B. 


290 


13.  Kapitel. 


Worten,  welcher  es  möglicli  macht,  daß  das  an  AB  angelegte  Recht- 
eck außer  dem  Teile  A0  von  AB^  welchen  es  mit  dem  dem  Qua- 
drate von  AT  gleichen  Flächenraume  in  Anspruch  nimmt,  noch  ein 
Stückchen  0B  übrig  läßt,  ikkslTCBi,  über  welchem  das  dem  Rechtecke 
ABKA  ähnliche  kleine  Rechteck  &BZH  steht.  Denken  wir  uns 
auch  hier  die  Aufgabe  umgekehrt,  so  wird  zu  jedem  Punkte  A  ein 
Punkt  E  senkrecht  über  ihm,  ein  Punkt  E'  senkrecht  unter  ihm  ge- 
funden werden  können,  so  daß  das  Quadrat  von  AE  dem  jetzt  be- 
kannten Rechtecke  AAHQ,  dessen  Eckpunkt  H  auf  der  Diagonale 
BA  des  vollständig  gegebenen  Rechtecks  ABKA  sich  befindet,  gleich 
sei.  Auch  hier  ist  der  symbolische  Ausdruck  übersichtlicher.  Ist 
nämlich  0B^  a  - Py  wo  a  eine  Zahl   bedeutet,  so  muß   QH^a-a 

sein,  und  die  Fläche  ®BZH  ist 
==  a'  •  ap.  Mit  Hilfe  von  AA  =  x, 
AE  =  y  werden  wir  also  schi-ei- 
.ben  y^  =-  px  —  a^ '  ap,  d.  h.  der 
geometrische  Ort  von  JS,  wenn 
wir  einen  solchen  durch  das 
Wechseln  der  Lage  von  A  er- 
zeugt denken,  ist  eine  Ellipse. 
Entsprechen  (Fig.  46)  die 
griechischen  sowohl  als  die  latei- 
nischen Buchstaben  denen  des 
vorigen  Falles  mit  dem  unter- 
schiede, daß  AA^a  jetzt  auf 
der  jenseitigen  Verlängerung  von 
AS  aufgetragen,  im  übrigen  aber  der  Punkt  H  wieder  so  gewählt 
wird,  daß  er  auf  der  verlängerten  Diagonale  AB  des  Rechtecks  ABKA 
aus  den  Seiten  a  und  p  liegt,  daß  also  die  Rechtecke  ABKA  und 
0BZH  einander  ähnlich  sind,  und  das  Rechteck  AAH&  denselben 
Flächenraum  besitzt,  wie  das  Quadrat  über  AT  oder  AEy  so  ist  dabei 
die  Forderung  erfüllt,  daß  das  vji  AB  angelegte  Rechteck,  um  den 
ihm  zugewiesenen  Flächenraum  zu  erlangen,  über  AB  hinausreicht, 
{)naQßikkeiy  und  zwar  mit  einem  dem  gegebenen  Rechtecke  ABKA 
ähnlichen  Rechtecke.  Es  ist  fast  überflüssig  aufs  neue  hervorzuheben, 
daß  man  auch  diese  Aufgabe  so  umzukehren  imstande  ist,  daß  nicht 
mehr  H  sondern  E,  beziehungsweise  £',  gesucht  werden  und  die 
Gleichung  y*  =«  jpa;  -j-  a*  •  ap  sich  erfüllen  soll.  Der  geometrische  Ort 
von  Ej  wenn  wir  einen  solchen  durch  Wechsel  der  Lage  von  A  er- 
zeugt denken,  ist  eine  Hyperbel. 

Die  Dinge,  welche  wir  hier  auseinandergesetzt  haben,  lassen  sich 
in  größter  Kürze  in  die  jetzt  verständliche  Ausdrucksweise  zusammen- 


^ ^[ ^  ^ 

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Vig.  46. 


Die  übrigen  Schriften  des  Euklid.  291 

fassen,  ,dafi  es  drei  geometrische  Aufgaben  der  Flächenanlegung  gebe, 
sämtlich  pythagoräischen  Ursprunges,  sämtlich  in  Euklids  Elementen 
aufbewahrt,  bei  deren  Ausspruch  die  drei  Zeitworter  Yorkommen, 
welche  den  Kamen  der  Parabel,  Ellipse,  Hyperbel  zugrunde  liegen. 
Bei  ümkehrung  dieser  Aufgaben,  eine  ümkehrung  aber,  welche  in 
den  euklidischen  Elementen  nicht  vorkommt,  würden  als  geometrische 
Örter  eben  jene  Kurven  entstehen  müssen. 

Jetzt  sind  wir  imstande  die  Fragen  genauer  zu  stellen,  um  deren 
Beantwortung  willen  wir  gerade  hier  auf  die  Aufgaben  pjthagoräischer 
Flächenanlegung  näher  einzugehen  veranlaßt  waren.  Hat  Euklid,  von 
dem  wir  wissen,  daß  er  über  Kegelschnitte  schrieb,  die  ümkehrung 
jener  Aufgaben,  für  die  der  Natur  der  in  ihnen  vorkommenden  Kurven 
nach  in  den  Elementen  kein  Platz  war,  überhaupt  gekannt?  Haben 
schon  vor  Euklid  die  Pythagoräer  das  Auftreten  dieser  Kurven  und 
ihre  Eigenschaften  bemerkt,  die  freilich  nicht  in  Form  der  drei 
Gleichungen,  deren  wir  uns  bedienten,  um  kürzer  sein  zu  dürfen,  aber 
in  einem  geometrischen  Wortlaute  sehr  wohl  von  einem  Griechen  ver- 
standen werden  konnten?  Hat  EukUd  erkannt,  daß  diese  in  der 
Ebene  erzeugten  Kurven  dieselben  seien,  welche  auf  dem  Mantel 
geschnittener  Kegel  entstehen? 

Man  hat  diese  Fragen  verschiedentlich  beantwortet^).  Uns 
scheinen  sie  insgesamt  verneint  werden  zu  müssen.  Um  mit  der 
letzten  anzufangen,  so  hat  Euklid  die  Identifikation  der  Kurven  von 
den  genannten  Eigenschafben,  die  sich  auf  Flächenanlegung  bezogen, 
mit  Kegelschnitten  keinesfalls  gekannt,  weil  nach  des  Pappus  aus- 
drücklichem Zeugnisse  Apollonius  erst  diese  doppelte  Entstehungs- 
weise entdeckte').  Die  Bekanntschaft  der  Pjthagoiäer  mit  jenen 
Kurven  werden  wir  gleichfalls  leugnen  dürfen,  wenn  wir  nur  zu  be- 
gründen vermögen,  daß  auch  die  erste  Frage  nicht  zu  bejahen  ist, 
daß  vielmehr  Euklid,  als  er  die  Elemente  schrieb,  von  jener  Umkehr, 
von  den  dabei  entstehenden  krummen  Linien,  ganz  abgesehen  von 
ihrer  Übereinstimmung  mit  Kegelschnitten,  nichts  wußte.  Das  scheint 
uns  daraus  zu  schließen  gestattet,  weil  er  sonst  in  den  Elementen 
die  drei  Aufgaben,  welche  schon  um  ihres  gemeinsamen  Ursprungs 
bei  den  Pythagoräem  willen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zusammen- 
gehörten, wenn  sie  eine  weitere  Zusammengehörigkeit  dadurch  an  den 
Tag  gelegt  hätten,  daß  sie  alle  drei  zu  eigentümlichen  Kurven  führten, 
mutmaßlich  nicht  getrennt  hätte. 

^)  Ffir  die  Bejahung  Arneth,  Geschiclite  der  reinen  Mathematik  (Stutt- 
gart 1852)  S.  92—93,  an  dessen  Darstellung  wir  uns  hier  vielfach  anlehnten 
ohne  seine  Folgerungen  zu  teilen  und  ganz  besonders  Zeuthen,  Die  Lehre  von 
den  Kegelschnitten  im  Alterthum.    *)  Pappus',  VII  Prooemium  (ed.  Hultsch)  67i. 

19* 


292  18.  Kapitel. 

Es  ist  wohl  richtig,  daß  die  Sätze  28.  und  29.  des  VI.  Buches 
erst  behandelt  werden  konnten,  wo  der  Begriff  der  Ähnlichkeit  be- 
kannt war;  es  ist  eben  so  richtig,  daB  Satz  44.  des  I.  Buches  schon 
vor  dem  VI.  Buche  Verwertung  fand;  aber  Euklid  war  nicht  der 
Mann,  dem  eine  kleine  Umformung  dieses  44.  Satzes  des  I.  Buches 
sonderliche  Mühe  verursacht  hätte,  so  daß  er  den  Sinn  desselben  in 
anderem  Wortlaute  im  VI.  Buche  neuerdings  neben  den  verwandten 
Aufgaben  wiederholen  konnte,  wie  er  es  mit  dem  goldenen  Schnitte 
gemacht  hat,  von  dem  bei  der  Übersicht  der  Elemente  die  Rede  war. 
Euklid  lehrte  ihn  als  11.  Satz  des  IL  Buches;  er  wandte  ihn  im 
10.  Satze  des  IV.  Buches  an;  er  brachte  ihn  um  des  Zusammen- 
hanges willen  im  1.  Satze  des  XIII.  Buches  in  anderer  Form  noch 
einmal.  Das  Gleiche  wäre  für  Satz  44.  des  I.  Buches  zu  erwarten, 
wenn  der  Verfasser  der  Elemente  die  Parabel,  die  Ellipse,  die  Hyperbel 
als  Kurven  in  der  Ebene  gekannt  hätte.  Daß  sie  als  solche  auch  in 
den  euklidischen  Büchern  von  den  Kegelschnitten  nicht  vorkommen 
konnten,  ist  durch  den  Titel  jener  Bücher  festgestellt,  und  so  scheint 
unser  nach  allen  Seiten  verneinendes  Urteil  auf  ziemlich  sicheren 
Füßen  zu  ruhen. 

Wenn  wir  so  ausgeschlossen  haben,  was  in  den  vier  BQchem  der 
Kegelschnitte  nach  unserem  Dafürhalten  nicht  gestanden  haben  kann, 
so  wissen  wir  doch  von  mancherlei  Dingen,  die  dort  ihren  Platz 
finden  mußten.  Vor  allem  werden  dort  diejenigen  Dinge  gestanden 
haben,  welche  Menächmus  schon  kannte,  insbesondere  werden  die 
Asymptoten  vorgekommen  sein,  mit  deren  Eigenschaften  Menächmus 
vertraut  war.  Vorgekommen  wird  auch  sein,  was  in  einer  Stelle 
der  Phaenomena  wiederholt  ist,  daß  der  Schnitt,  welcher  einen  Kegel 
oder  einen  Zylinder  nicht  parallel  zur  Basis  (/ti)  staga  tijv  ßaöiv) 
treffe,  der  Schnitt  eines  spitzwinkligen  Kegels  (vergl.  S.  244)  sei, 
welcher  einem  länglichen  Schilde,  Thyreos  gleiche.  Offenbar  ist 
dieser  Satz  richtig  für  den  Zylinderschnitt,  nur  bedingt  richtig  für 
den  des  Kegels,  wenn  nämlich  der  Schnitt  beide  Kegelseitön  triff!;. 
Die  Veimutung,  Thyreos  sei  der  älteste  Name  der  Ellipse  gewesen, 
wiederholen  wir  mit  allem  Vorbehalte^).  Dafür  spricht  allerdings  die 
wiederholte  Anwendung  des  Namens  bei  Proklos  ^).  Ob  Anwendungen 
der  Kegelschnitte  auf  die  Verdoppelung  des  Würfels  bei  Euklid  ge- 
lehrt wurden,  ist  fraglich.     Es  wäre  auffallend,  wenn  er  an  so  wich- 


*)  Sie  rührt  von  Heiberg  her,  welcher  auch  auf  die  wichtige  Stelle  der 
Phaenomena  zuerst  aufmerksam  machte.  Vgl.  Heiberg,  Euklidstudien  S.  88. 
■)  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  103  lin.  6,  pag.  111  lin.  6  und  besonders 
pag.  126  lin.  19  sqq.  Vgl.  L.  Majer,  Proklos  über  die  Definitionen  bei  Euklid. 
Stuttgart  1881.     S.  12,  Note  1. 


Die  übrigen  Schriften  des  Euklid.  293 

tigen  älteren  Dingen  vorübergegangen  wäre;  es  wäre  aufMlender,  wenn 
er  sich  dabei  aufhielt  nnd  weder  Eratosthenes  noch  Eutokius  in  ihrem 
historischen  Berichte  über  das  delische  Problem  den  Namen  des  Euklid 
genannt  hatten;  von  der  auffallendsten  Erscheinung  zu  schweigen,  die 
darin  wieder  bestände,  wenn  Euklid  sich  keiner  einzigen  der  antiken 
höheren  Aufgaben  zugewandt  hätte,  er  der  mitten  in  seiner  Zeit  lebend 
wie  kaum  je  ein  anderer  ihre  Gesamtergebnisse  in  sich  vereinigte. 

Wir  haben  eine  einzelne  Stelle  der  Phaenomena^),  einer  astro- 
nomischen Schrift  Euklids,  angeführt  Wichtiger  ist  diese  Schrift 
noch  dadurch,  daß  in  ihr  Sätze  über  die  Eugellehre,  die  sogenannte 
Sphärik,  gesammelt  sind,  welche  zeigen,  welchen  Grad  der  Ent- 
wicklung dieser  Teil  der  Stereometrie  damals  schon  erreicht  hatte. 
Euklid  weiß,  daß  jede  Ebene  die  Kugel  in  einem  Kreise  schneidet. 
Er  weiß,  was  allerdings  auch  ein  kurz  vor  ihm  lebender  Astronom, 
Autolykus  von  Pitane'),  schon  ähnlich  aussprach,  daß  Kugelkreise, 
die  sich  halbieren,  größte  Kreise  sind.  Er  kennt  Eigenschaften  von 
Kreisen,  welche  durch  die  Pole  von  anderen  hindurchgehen.  Er 
weiß,  daß,  wenn  ein  größter  Kngelkreis  zwei  gleiche  Parallelkreise 
schief  schneidet,  die  Abschnitte  der  letzteren  in  umgekehrter  Ordnung 
einander  gleich  sind  usw.  Die  Frage  ist  von  großem  Belang,  woher 
diese  Kenntnisse  des  Autolykus,  des  Euklid  stammen  mögen?  Man 
hat  die  Vermutung  gewagt'),  bedeutende  Anfäil)ge  einer  Sphärik 
gingen  bis  auf  Eudoxus  zurück.  Wir  wollen  keinen  Widerspruch 
erheben,  bemerken  aber,  daß  eigentliche  Beweisgründe  ftir  diese  Ver- 
mutung nicht  vorhanden  sind. 

Von  dem  Gegensatze,  welcher  für  die  Griechen  zwischen  Geo- 
metrie und  Geodäsie  obwaltet,  war  (S.  252  und  271)  die  Rede.  In 
Dikaearch  haben  wir  (S.  257),  mag  er  von  der  Dioptra  Gebrauch 
gemacht  haben  oder  nicht,  einen  wirklichen  Geodäten  kennen  gelernt. 
Auch  von  Euklid  ist  uns  Feldmesserisches  in  einer  sogenannten 
Optik*)  erhalten,  und  über  die  vier  Kapitel  19,  20,  21,  22,  welche 


')  Die  Phaenomena  sind  griechisch  herausgegeben  von  Gregory  in  seiner 
Euklidausgabe,  deutsch  von  A.  Nokk  in  einer  Freiburger  Programmbeilage  von 
1850.  Über  die  Echtheit  der  Phaenomena  vgl.  insbesondere  A.  Nokk  in  seiner 
Bruchsaler  Programmbeilage  von  1847  üeber  die  Sphärik  des  Theodosius  S.  17  flg. 
Neueste  Untersuchungen  in  Heibergs  Euklidstudien.  *)  Die  erhaltenen  Schriften 
des  Autolykus  hat  Fr.  Hultsch  herausgegeben.  Leipzig  1886.  ")  Hultsch  in 
der  Vorrede  zu  Autolykus  pag.  XII  mit  Berufung  auf  Heiberg  und  P.  Tannery. 
*)  Der  griechische  Text  abgedruckt  in  Heibergs  Euklidstudien  S.  100—102, 
eine  deutsche  Überarbeitung  bei  H.  Weissenborn,  Gerbert.  Berlin  1888.  S.  96 
bis  98.  Eine  vollständige  Ausgabe  mit  alter  lateinischer  Übersetzung,  die  sicher- 
lich schon  im  XIV.  Jahrh.  vorhanden  war,  hat  Heiberg  im  7.  Bande  von  Euklids 
Werken  (Leipzig  1895)  besorgt. 


294 


13.  Kapitel. 


dadurch  von  hohem  Interesse  geworden  sind^  müssen  wir  berichten. 
Im  19.  Kapitel  ist  die  Höhemessung  mittels  des  Schattens  gelehrt, 
welche  wir  (S.  144)  als  die  des  Thaies  beschrieben  haben.  Im 
20.  Kapitel  wird   (Fig.  47)  zur  Messung  der  Höhe  -^5  ein  Spiegel 


z     ö 


Flg.  47. 


Fig.  48. 


Flg.  49. 


jdZ  benutzt,  der  auf  der  Erde  liegt.  Der  Messende  sieht,  wenn  F 
sein  Auge  ist,  den  Höhepimkt  -^  in  JEf ;  wird  sodann  ^JEf,  5JEf,  ÖF 
gemessen,  so  läBt  AB  vermöge  der  Ähnlichkeit  der  Dreiecke  ABH 
und  FBH  sich  leicht  berechnen.  Ähnlichkeit  von  Dreiecken  führt 
im  21.  Kapitel  zur  Messung  einer  Tiefe  AA^  indem  (Fig.  48)  der 
Messende  so  weit  sich  entfernt,  daß  sein  Auge 
E  den  Tiei^unkt  A  an  dem  Rande  B  des 
Brunnens,  oder  was  es  nun  sein  mag,  vorüber 
erblickt  Endlich  wird  wieder  mittels  Dreiecks- 
ähnlichkeit im  22.  Kapitel  eine  entfernte  Länge 
gemessen  (Fig.  49).  Die  AE  wird  der  zu 
messenden  AB  parallel  gezogen  (vielleicht  auch 
vor  die  Augen  gehalten?),  so  daß  FAA  und 
FEB  Sehstrahlen  sind,  welche  in  A  und  B  eintreffen.  Alsdann  ist 
FAiFA^AE:  AB, 

Damit  sind  die  hier  genauer  zu  behandelnden  Schriften  des 
Euklid  erschöpft.  Ihm  zugeschriebene  Bücher  über  Musik  nennen 
wir  nur  im  vorübergehen;  wir  haben  S.  165  ein  Bruchstück  der- 
selben erwähnt,  welches  von  einem  arithmetischen  Satze  des  Archytas 
handelte.  Überdies  sind  verschiedene  Bruchstücke  mechanischen 
Inhaltes^)  teils  in  arabischer  Sprache,  teils  in  mittelalterlicher  latei- 
nischer Übersetzung  erhalten,  für  deren  Echtheit  oder  ünechtheit  wir 
uns  nicht  zu  entscheiden  brauchen,  da  sie  dem  Gegenstande  unserer 
Untersuchungen  doch  nur  sehr  entfernt  verwandt  sind.  So  viel  scheint 
gesichert,  daß  die  Stücke  in  letzter  Linie  dem  Griechischen  ent- 
stammen, und  daß  sie  einen  tüchtigen  Geometer  der  klassischen  Zeit 
zum  Verfasser  hatten,  der  die  Lehre  vom  Hebel  beherrschte. 


*)  P.  Dnhem,  Las  Origines  de  la  Statique  I,  62—79. 


Archimedes  und  dessen  geometrische  Leistungen.  295 

14.  Kapitel. 
Arehimedes  und  dessen  geometrische  Leistungen. 

Wir  stehen  an  der  Schilderang  des  Schriftstellers,  welcher  der 
Zeit  nach  unmittelbar  auf  Euklid  folgt,  dem  Gehalte  nach  dagegen 
allen  den  Vorrang  abgewann,  die  im  Altertum  mit  Mathematik  sich 
beschäftigt  haben.  Wir  brauchen  nach  dieser  in  wenigen  Worten 
enthaltenen  Würdigung  wohl  kaum  zu  sagen,  wen  wir  meinen.  Archi- 
med  es  ist  einer  der  wenigen  Mathematiker  des  Altertums,  welchen 
die  Nachwelt  zu  allen  Zeiten  nach  Gebühr  ihre  dankbare  Erinnerung 
zuwandte.  Er  hat  sogar  einen  eigenen  Biographen  in  Heraklides 
gefunden,  einem  Schriftsteller  Yon  nicht  näher  zu  bestimmender 
Lebenszeit,  als  daB  er  jedenfalls  vor  das  VI.  S.  zu  setzen  ist,  da 
Eutokios  aus  ihm  geschöpft  hat^),  es  sei  denn,  man  wolle  in  Hera- 
klides einen  Freund  des  Archimedes  wiedererkennen,  der  diesen  Namen 
führte,  und  von  welchem  in  dem  Buche  über  Schneckenlinien  wieder- 
holt die  Rede  ist*).  Sei  dem,  wie  es  wolle;  das  vermutlich  wichtige 
Quellen  werk  über  das  Leben  des  Archimedes  ist  uns  verloren,  und 
so  muß,  was  über  seine  persönlichen  Verhältnisse  zu  sagen  ist,  aus 
den  verschiedensten  SchriftsteUem  zusammengesucht  werden*).  Archi- 
med  wurde  in  Syrakus  wahrscheinlich  287  v.  Chr.  geboren.  Eine 
Stelle  aus  einer  Schrift  des  Archimedes  Oeidia  dh  xov  '  AxowtarQos% 
der  man  keinen  guten  Sinn  abgewinnen  konnte,  und  die  man  deshalb 
für  verderbt  hält,  hat  zur  Vermutung*)  geführt,  es  habe  ursprünglich 
06idLa  tov  &ILOV  TcatQÖs  geheißen,  und  der  Name  von  Archimedes' 
Vater  sei  demnach  Pheidias  gewesen,  derselbe  habe  sich  überdies 
als  Astronom  verdient  gemacht.  Allerdings  ist  damit  der  Zweifel 
nicht  gehoben,  ob  Archimed,  wie  eine  Nachricht  meldet,  dem  Könige 
Hieron  verwandt,  ob  er,  nach  einer  anderen  Nachricht,  von  niederer 
Geburt  war.  Sein  nahes  fast  freundschaftliches  Verhältnis  zu  dem 
Könige  steht  jedenfalls  außer  Zweifel.  Wer  die  Lehrer  des  Archimed 
gewesen  sind,  ist  nicht  bekannt.     So  viel  gibt  Diodor  an*),  und  ein 


^)  Archimedes  (ed.  Heiberg)  111,  266  zitiert  Entokius:  'HgaxXddrig  iv 
TW  'Aqx'M^ovs  ßl^.  *)  Archimedes  (ed.  Heiberg)  ü,  2  und  6.  ')  Die  Hanpt- 
(juellen  sind  Plutarch  (vita  Marcelli),  Livius  XXV,  Cicero  (Tuscnlan. 
und  Verrin.),  Diodor,  Silius  Italicus,  Valerius  Maximus,  Tzetzes. 
Die  neuesten  Zusammenstellungen  in  Bunte,  Ueber  Archimedes  (Programm  der 
Realschule  zu  Leer,  Ostern  1877)  und  in  der  Eopenhagner  Doktordissertation 
von  1879:  J.  L.  Heiberg,  Quaestiones  Archimedeae.  *)  Archimedes 
(ed.  Heiberg)  H,  248  lin.  8.  '^)  F.  Blas s  in  den  Astronomischen  Nachrichten 
CIV,  256.     •)  Diodor  V,  87. 


296  14.  Kapitel. 

unbekannter  arabischer  Schriftsteller  bestätigt  es,  daß  er  in  Ägypten 
war,  er  wird  daher  jedenfalls  zu  den  Alexandrinern  in  Beziehung  ge- 
treten sein.  Auch  von  einem  Aufenthalte  Archimeds  in  Spanien  wird 
erzählt.  Nach  Syrakus  zurückgekehrt  lebte  er  dort  der  Wissenschaft, 
deren  praktische  Anwendung  er  jedoch  so  wenig  verschmähte,  daß 
gerade  seine  Leistungen  in  der  Mechanik  zu  denen  gehören,  welche 
ihn  am  berühmtesten  gemacht  haben.  Vor  allem  waren  die  Dienste, 
die  er  seiner  Vaterstadt  Syrakus  im  Kriege  gegen  Rom  leistete,  ge- 
eignet, seinem  Namen  Glanz  zu  verleihen.  Die  Bemühungen  des 
Archimed  waren  es  ganz  allein,  so  erzählt  Livius,  welche  die  Angriffe 
des  Marcellus  auf  die  belagerte  Stadt  durch  zwei  Jahre  vereitelten. 
Nur  durch  eine  Überrumpelung  von  der  Landseite  aus  gelang  es 
212  V.  Chr.  Syrakus  zu  nehmen,  und  bei  dieser  Gelegenheit  starb 
Archimed  im  Alter  von  75  Jahren^),  ein  Opfer  der  Roheit  eines 
römischen  Soldaten,  welcher  ihn  niedermachte,  während  er  des  Tumultes 
nicht  achtend  seine  geometrischen  Figuren  in  den  Sand  zeichnete. 
Ob  er  dabei  die  Worte  aussprach:  stagä  x€q)alav  xal  ^ij  xagä  yga^- 
(läv,  jener  möge  lieber  den  Kopf  als  die  Linien  ihm  verletzen,  oder 
nur  um  Schonung  seiner  Figuren  bat,  axötJrrj^i,  &  ävd'QCDTCs^  rov 
äiayQd^fucTÖg  fiov,  wie  ein  anderer  Berichterstatter  in  jedenfalls  un- 
richtigem Dialekte  ihn  ausrufen  läßt'),  ist  ziemlich  gleichgültig.  Mar- 
cellus, der  römische  Feldherr,  empfand  große  Trauer  über  den  Tod 
des  berühmten  Gegners  und  ließ  ihm  ein  Grabmal  setzen  mit  einer 
mathematischen  Figur  als  Inschrift,  wie  jener  es  einst  selbst  ange- 
ordnet hatte.  Das  Grabmal  scheint  indessen  von  Archimeds  Lands^ 
leuten  schmählich  vernachlässigt  worden  zu  sein,  da  Cicero,  der  es  bei 
seinem  Aufenthalte  in  Syrakus,  wo  er  75  v.  Chr.  als  Quästor  von 
Sizilien  verweilte,  aufsuchte,  es  nur  mit  Mühe  unter  dem  über- 
wuchernden Gestrüppe  entdeckte  und  an  der  Inschrift  erkannte.  Er 
ließ  es  darauf  aufs  neue  instand  setzen. 

Die  Schriften  Archimeds^)  sind  nur  zum  Teil  auf  uns  gekommen 
und  zudem  nicht  alle  im  reinen  unverderbten  griechischen  Grund- 
texte. Die  besterhalteneu  tragen  als  besonderes  Kennzeichen  noch 
an  sich,  daß  sie  im  dorischen  Dialekte  abgefaßt  sind,  wodurch  sie 
auch  sprachliche  Wichtigkeit  besitzen.  Durch  Vergleichung  der 
Persönlichkeiten,   welche   in    den   einzelnen   Schriften   des    Archimed 


^)  Nach  Tzetzes.  Auf  dieser  Angabe  beraht  die  Berechnung  seines  Ge- 
burtsjahres. ^  Die  erste  Redensart  nach  Zonaras,  die  zweite  nach  Tzetzes. 
")  Die  beste  ältere  Ausgabe  des  Textes  und  des  Kommentars  von  Eutokius  von 
Askalon,  so  viel  davon  vorhanden  ist,  war  die  von  Tor  eil  i.  Oxford  1792.  Sie 
wurde  weit  überholt  durch  die  Ausgabe  von  Heiberg  in  8  Duodezbänden. 
Leipzig  1880 — 81.    Die  beste  deutsche  Übersetzung  von  Nizze.    Stralsund  1824. 


Archimedes  und  dessen  geometrische  Leistungen.  297 

genannt  sind^  nämlich  des  Eonon,  des  Zeuxippns,  des  Dositheus, 
des  Königs  Gelon,  durch  fernere  Yergleichung  der  nicht  allznseltenen 
Benutzung  in  späteren  Schriften  von  Sätzen,  welche  in  früheren  be- 
wiesen worden  waren,  ist  es  gelungen  folgende  wahrscheinlich  zu- 
treffende Anordnung  der  vorhandenen  archimedischen  Schriften  nach 
ihrer  Entstehungszeit  zu  erhalten:  1.  Zwei  Bücher  vom  Gleichgewichte 
der  £benen,  zwischen  welche  eine  Abhandlung  über  die  Quadratur 
der  Parabel  mitten  eingeschoben  ist  2.  Zwei  Bücher  von  der  Kugel 
und  Yon  dem  Zylinder.  3.  Die  Kreismessung.  4.  Die  Schnecken- 
linien oder  Spiralen.  5.  Das  Buch  von  den  Konoiden  oder  Sphäroiden. 
6.  Die  Sandeszahl.  7.  Zwei  Bücher  von  den  schwimmenden  Körpern. 
8.  Wahlsätze. 

Es  will  nicht  gut  angehen  wieder,  wie  wir  es  bei  Euklid  getan 
haben,  den  Inhalt  dieser  Schriften  einzeln  und  der  Reihe  nach  durch- 
zusprechen. Daß  einer  solchen  Darstellung  notwendigerweise  die 
Übersichtlichkeit  abgeht,  wird  der  Leser  gerade  in  den  Euklid  ge- 
widmeten Kapiteln  bemerkt  haben.  Dort  mußten  wir  aber  diese 
sonst  wesentliche  Bedingung  opfern,  weil  es  darauf  ankam  zu  zeigen, 
was  alles  unter  dem  Namen  Elemente  der  Geometrie  einbegriffen 
wurde.  Eine  ähnliche  Notwendigkeit  wird  uns  im  18.  und  19.  Kapitel 
noch  zwingen,  die  für  uns  vielfach  unzusammenhängenden  Gegen- 
stände, die  Herons  großes  feldmesserisches  Werk  behandelte,  einzeln 
zu  nennen.  Archimed  aber  hat  kein  uns  erhaltenes  Sammelwerk  ge- 
schrieben. Er  verfaßte  vorwiegend  einzelne  Abhandlungen,  in  denen 
er  zumeist  Neues,  von  ihm  selbst  Erdachtes  mitteilte,  und  da  wird  es 
für  die  Würdigung  der  Größe  der  Entdeckungen  sich  als  zweck- 
mäßiger empfehlen,  die  Gegenstände  aus  den  einzelnen  Abhandlungen 
herauszureißen  und  nach  ihrem  Inhalte  zu  neuen  Gruppen  zu  ver- 
einigen. Wir  werden  zu  reden  haben  von  den  Entdeckungen  Archi- 
meds  in  der  Geometrie  der  Ebene  und  des  Raumes,  in  der  Algebra 
und  Arithmetik,  endlich  im  Zahlenrechnen,  wobei  wir  des  griechischen 
Zahlenrechnens  überhaupt  gedenken  müssen,  wir  werden  auch  nicht 
umhin   können,  seine   mechanischen  Leistungen  ins  Auge  zu  fassen. 

Vielleicht  beginnen  wir  am  besten  mit  einem  geometrischen 
Spielwerke.  Ein  Metriker  aus  dem  Jahre  500  etwa,  Atilius  Fortu- 
natianus, erzählt^)  von  dem  loculus  Archimedius.  Ein  elfen- 
beinernes Quadrat  war  in  14  Stücke  von  verschiedener  vieleckiger 
Gestalt  zerschnitten,  und  es  handelte  sich  darum  aus  diesen  Stücken 
das  ursprüngliche  Quadrat,  aber  auch  sonst  beliebige  Figuren  zu- 
sammenzulegen.    Es  bleibe  dahingestellt,  ob  Archimed  wirklich  selbst 


*)  Veteres  Qrammatici  (ed.  PtitBcliius)  pag.  2684. 


298  14.  Kapitel. 

dieses  Spiel  erdachte^  oder  ob  man  nur  als  archimedisch,  d.  h.  als 
sehr  schwierig  bezeichnen  wollte,  die  einzelnen  Gestaltungen  her- 
zustellen. 

Als  archimedisch  wird  auch  häufig  die  Definition  genannt,  die 
Gerade  sei  die  kürzeste  Entfernung  zweier  Punkte.  Diese 
Behauptung  ist  richtig  und  unrichtig,  je  nachdem  man  den  Nach- 
druck auf  den  Wortlaut  des  Satzes  oder  auf  seine  Eigenschaft  als 
Definition  legt.  Archimed  benutzt  den  Satz  allerdings  in  seinen 
Büchern  über  Kugel  und  Zylinder,  aber  er  beabsichtigt  keineswegs 
durch  ihn  die  Gerade  zu  erklären.  Er  nehme  an,  sagt  er  vielmehr 
ausdrücklich^),  von  den  Linien,  welche  einerlei  Endpunkte  haben,  sei 
die  gerade  Linie  die  kürzeste;  er  nehme  femer  an,  von  Linien  in 
einer  Ebene,  die  mit  einerlei  Endpunkten  versehen  nach  einer  Seite 
hin  hohl  seien,  müsse  die  umschlossene  die  kürzere  sein. 

Als  geometrisch  interessant  bieten  sich  uns  ferner  einige  Wahl- 
sätze. Das  unter  diesem  Titel  bekannte,  aus  15  Sätzen  der  ebenen 
Geometrie  bestehende  Buch  ist  aus  dem  Arabischen  ins  Lateinische 
übertragen  worden*).  Daß  es  in  der  Form,  wie  wir  es  besitzen, 
keinenfalls  von  Archimed  selbst  herrühren  kann,  dessen  Name  im 
4.  und  14.  Satze  genannt  ist,  während  in  anderen  Sätzen  andere 
Unzuträglichkeiten  nicht  zu  verkennen  sind,  ist  mit  Recht  bemerkt 
worden').  Einige  Sätze  scheinen  uns  gleichwohl  archimedischen  Ur- 
sprunges zu  sein,  unter  welchen  namentlich  der  4.,  5.,  6.,  der  11., 
der  14.,  der  8.  hier  genannt  seien.     Satz  4. — 6.  beschäftigen  sich  mit 

dem  Arbelos  (Fig.  50),  einer 
in  Gestalt  eines  Schusterkneifes 
gekrümmten  Figur,  bestehend 
aus  einem  Halbkreise,  über  dessen 
Durchmesser  in  zwei  aneinander- 
stoßenden Abteilungen  kleinere 
Halbkreise  in  das  Linere  des 
pj^  gQ  umschließenden  Halbkreises  sich 

erstrecken.  Daß  Archimed  sich 
mit  dieöer  Figur  beschäftigt  habe,  ist  einer  Stelle  des  Pappus*)  zu  ent- 
nehmen, in  welcher  wenigstens  von  alten  Untersuchungen  über  sie  die 
Rede  ist.  Im  5.  und  im  6.  Satze  ist  von  dem  gemeinsamen  Durchschnitts- 
punkte der  drei  Höhen  eines  Dreiecks  die  Rede^).     Der  11.  Satz  besagt. 


')  Archimed  (ed.  Heiberg)  I,  8—10,  (ed.  Nizze)  44.  *)  Liber  assump- 
torum.  Archimed  (ed.  Heiberg)  II,  428—446,  (ed.  Nizze)  254—^62.  »)  Hei- 
berg, Quaestiones  Archimedeae,  24.  *)  Pappus  Buch  IV,  19  (ed.  Hultsch) 
Bd.  I,  pag.  208.     ^)  Archimed  (ed.  Heiberg)  II,  484  und  436. 


Archimedea  und  dessen  geometrische  Leistongen. 


299 


daß  wenn  in  einem  Kreise  zwei  Sehnen  sich  senkrecht  durchschneiden^ 
die  Quadrate  der  vier  so  gebildeten  Abschnitte  zusammen  dem  Quadrate 
des  Durchmessers  gleich  sein  müssen.  Der  14.  Satz  lehrt  den  Flächen- 
inhalt des  Salinen  messen,  der  Wogen- 
gestalt, wie  mau  den  ausdrücklich  als  von 
Archimed  herstammend  bezeugten  Namen 
vielleicht  übersetzen  darf^).  Diese  Figur 
entsteht  (Fig.  51),  wenn  über  und  unter 
derselben  Geraden  als  Richtung  des  Durch- 
messers Von  demselben  Mittelpunkte  aus 
aber  mit  verschiedenen  in  beliebigem 
Verhältnisse  zueinander  stehenden  Halb- 
messern Halbkreise  beschrieben  werden, 
zu  welchen  noch  zwei  Halbkreischen  nach  der  Seite  des  großen  Halb- 
kreises hin  gerichtet  über  dem  durch  den  nach  der  Jenseite  sich 
wölbenden  kleineren  Halbkreis  freigelassenen  Stückchen  des  Durch- 
messers treten.  Wird  durch  den  Mittelpunkt  der  beiden  erstgezeich- 
neten Halbkreise  und  senkrecht  zu  deren 
Durchmesser  die  Strecke  AB  gezeichnet, 
so  ist  der  um  dieselbe  als  Durchmesser 
beschriebene  Kreis  dem  Salinon  flächen- 
gleich. Der  8,  Satz  hat  folgenden  In- 
halt. Wenn  (Fig.  52)  eine  willkürliche 
Sehne  AB  eines  Kreises  verlängert  und 
die  Verlängerung  BF  dem  Halbmesser 
des  Kreises  gleich  gemacht  wird,  wenn 
hiemächst  F  mit  dem  Mittelpunkte  z/  des  Kreises  verbunden  und 
diese  Verbindungslinie  bis  zum  abermaligen  Durchschnitte  des  Kreises 
nach  E  verlängert   wird,   so   ist  der  Bogen  AE  das  Dreifache  des 

*)  Von  adlog  =  das  Schwanken  des  hohen  Meeres?  Heiberg  in  seiner 
Archimedausgabe  II,  448  gibt  die  Ableitung  aiXivov  =*  Eppich,  mit  dessen  Blatt 
er  in  der  Figur  eine  Ähnlichkeit  erkennen  will.  Für  diese  Meinung  fCLhrt 
P.  Tanneiy  (Bibliotheca  Mathematica  ä  Folge  I,  266.  1900)  an,  daß  auf  den 
Münzen  von  Selinunt  Eppichblätter  abgebildet  seien,  welche  der  archimedischen 
Figur  ähneln.  T.  L.  Heath  (The  works  of  Archimedes.  Cambridge  1897.  In- 
troduction  pag.  XXXIU)  nimmt  an,  das  Wort  caXtvov  sei  erst  in  nacharchime- 
discher Zeit  entstanden,  als  durch  die  römische  Herrschaft  lateinische  Wörter  in 
die  Sprache  Siziliens  Eingang  fanden,  wie  z.  B.  lihra  zu  XixQa  wurde,  mutuum  zu 
pLOttov,  carcer  zu  xa^xorpoi',  arvina  zu  &Qßivri,  patina  zu  ntctdvi\.  Entsprechend 
sei  cdUvov  aus  sdUnum^  das  Salzfäßchen,  entstanden.  Silberne  Salzfößchen  waren 
als  Familienerbstück  schon  zur  Zeit  der  römischen  Republik  in  jedem  Haushalt 
Torhanden  (Horaz  Carmina  ü,  16^  18  und  Livius  XXYI,  86);  die  Salzfäßchen 
hatten  aber  einen  der  archimedischen  Figur  ähnlichen  Durchschnitt,  wenn  man 
nach  einem  im  British  Museum  Yorhandenen  Exemplare  urteilen  darf. 


Pig.  58. 


300  14.  Kapitel. 

Bogens  BZ.  Man  ziehe  EH  parallel  zu  AB  und  die  Halbmesser 
^B  und  JH,  Der  Parallelismus  von  AB  und  EH  bringt  <^  r=  £ 
hervor;  Gleichschenkligkeit  von  Dreiecken  zeigt,  daß  ^  F^  BAT 
und  ^E^H  Ferner  <^  r^H- 2^;  =  2r  =  25^r  und  ^BJH 
«  35-^ r,  also  arc.  BH^AE^  35 Z. 

Die  beiden  letzterwähnten  Sätze  haben,  wie  uns  scheint,  eine  be- 
sondere Tragweite  durch  die  Ziele,  auf  welche  Archimed  mit  ihrer 
Hilfe  hinsteuerte.  Bei  dem  8.  Satze,  glauben  wir,  dachte  er  an  die 
zu  vollziehende  Dreiteilung  des  Bogens  AE.  Sie  war  vermöge 
seines  Satzes  gelungen,  sobald  man  eine  Sehne  AB  versuchsweise 
mittels  Bewegungsgeometrie  fand,  deren  Verlängerung  bis  zur  Ver- 
bindungsgeraden  von  E  mit  dem  Kreismittelpunkte  ^  die  Länge  des 
Kreishalbmessers  besaB.  Die  vorerwähnte  Quadratur  des  Salinen  im 
14.  Satze  wird  wohl  nicht  minder  richtig  dahin  aufzufassen  sein,  daß 
Archimed  im  Anschlüsse  an  die  Arbeiten  des  Hippokrates  von  Chios 
geometrisch  versuchte,  den  Flächeninhalt  des  Ejreises  mit  dem  anderer 
Figuren  in  Gleichheit  zu  setzen.  Nur  war  vielleicht  die  Absicht 
beider  die  entgegengesetzte.  Hippokrates  wollte  zuverlässig  aus  den 
dem  Kreise  gleichen  Figuren  die  Fläche  des  Kreises  ermitteln.  Ar- 
chimed beabsichtigte  möglicherweise  anderweitige  krummlinig  be- 
grenzte Figuren  auf  den  als  bekannt  vorausgesetzten  Kreis  zurückzu- 
führen. 

Bekannt  war  ihm  nämlich  allerdings  der  Kreis  durch  seine 
Kreismessung.  Diese  merkwürdige  Abhandlung  ist  nach  ihrem 
geometrischen  Gehalte  wie  mit  Hinsicht  auf  die  Geschichte  des  Zahlen- 
rechnens der  höchsten  Beachtung  wert.  Wir  haben  es  fürs  erste  nur 
mit  dem  Geometrischen  zu  tun.  Archimed  geht  davon  aus,  daß  er 
beweist,  der  Kreis  sei  einem  rechtwinkligen  Dreiecke  gleich,  dessen 
eine  Kathete  die  Länge  des  Halbmessers,  die  andere  die  des  Kreis- 
umfangs  besitzt.  Wäre  dieses  Dreieck  kleiner  als  der  Kreis,  so  müßte 
irgend  ein  angebbarer  Unterschied  vorhanden  sein,  und  es  wäre  mög- 
lich durch  £inzeichnung  eines  Quadrates  in  den  Kreis  und  fortgesetzte 
Halbierung  der  Bogen  ein  Vieleck  zu  erlangen,  welches  den  Kreis 
bis  auf  gewisse  kleine  Abschnitte  erfüllte,  deren  Summe  endlich 
kleiner  als  jener  Überschuß  des  Kreises  über  das  Dreieck  wäre. 
Nennt  man  etwa  -BT,  F,  D  die  Inhalte  des  Kreises,  des  Vielecks,  des 
Dreiecks,  so  wäre  mithin  Ä'>r>Z),  zugleich  aber  U<P  sofern 
U  den  Umfang  des  Vielecks,  P  die  Kreisperipherie  bedeutet,  und  zwar 
begründet  sich  diese  letztere  Ungleichung  aus  jener  Annahme  über 
die  Gerade  als  kürzeste  Entfernung  zweier  Punkte,  von  der  oben  die 
Rede  war.  Nun  ist  V  gleich  einem  rechtwinkligen  Dreiecke,  welches 
als  größere  Kathete   [7,  als  kleinere  die  Senkrechte  h  besitzt,  die  vom 


Arcliimedes  und  dessen  geometrische  Leistungen.  301 

Ereismittelpnnkte  aus  auf  irgend  eise  Seite  des  Vielecks  gefällt  war, 
und   die   selbst   kleiner   als   der   Kreishalbmesser  r   sein   muß.     Mit 

anderen  Worten  V'=~y~'  -^  ™  ~2~  "^^  wegen  V>D  auch 
U '  h>  P  •  r,  während  jeder  Faktor  des  größeren  Produktes  kleiner 
ist  als  ein  ihm  entsprechender  Faktor  des  kleineren  Produktes,  und 
darin  liegt  ein  Widerspruch.  Zu  einem  ferneren  Widerspruch  fahrt 
auch  die  Annahme  £*  <  D.  Ausgehend  von  dem  dem  Kreise  um- 
schriebenen Quadrate  wird  durch  fortgesetzte  Verdoppelung  der 
Seitenzahl  ein  umschriebenes  Vieleck  gefunden  werden  können,  dessen 
Inhalt  V  der  Ungleichung  JE"  <  F'  <  D  genügen  muß,  während  sein 
Umfang  U'  >  P  ist,  und  die  Senkrechte  h'  vom  Kreismittelpunkte 
auf  die  Seiten  dieses  Vielecks  notwendig  Ji  ^  r  sein  muß.    Trotzdem 

müßte  hier  —^  -  <  —  —   sein   oder    U'  <C  P  und  doch  auch    U'  >  P. 

r  •  P 
Es  bleibt  also  nur  die  Annahme  K^D^  -—   übrig.     Freilich  hat 

man  die  an  die  Spitze  gestellte  Voraussetzung,  es  gebe  eine  Gerade 
von  der  Länge  P,  welche  als  Seite  eines  rechtwinkligen  Dreiecks 
auftreten  könne,  bemängelt.  Wir  erinnern  daran,  daß  Dinostratus  die 
gleiche  Annahme  schon  sich  gestattet  hatte  (S.  247).  Auch  Eutokius 
nimmt  Archimed  gegen  den  angeführten  Vorwui'f,  welcher  ihm  damals 
schon  gemacht  worden  war,  in  Schutz.  Er  habe  nichts  Unziemliches 
ausgesprochen.  Die  Kreislinie  sei  eine  (xröße  von  bestimmter  Ab- 
messung, der  irgend  eine  Gerade  gleich  sein  müsse  und  es  sei  keines- 
wegs unstatthaft;  das  Vorhandensein  jener  Geraden  in  einem  Satze 
vorweg  zu  benutzen,  noch  bevor  man  sie  finden  gelehrt  habe.  Aller- 
dings ist  nun  diese  Auffindung  das  nächste  Problem  und  ihm  geht 
jetzt  Archimed  rechnend  zuleibe,  nach  einer  Methode  also,  welche 
Euklid,  wie  wir  (S.  271)  besprochen  haben,  sich  wahrscheinlich  unter- 
sagt hätte,  nicht  geometrisch,  sondern  geodätisch.  Archimed  sucht 
zwei  Grenzen,  zwischen  welche  er  das  Verhältnis  der  Kreisperi- 
pherie P  zum  Durchmesser  d  einschließen  will  und  findet 

P:d<3-J-:1    und    P:rf>3}J:l. 

Wir    bemerken,    daß    Archimed    bei    seinem    früheren    Beweise 

K  =«  —^  von  den  Quadraten  ausging,  welche   dem  Kreise  ein-  und 

umgeschrieben  werden  können,  wie  es  (S.  272)  Euklid  im  12.  Buche 
der  Elemente  getan  hat  um  die  Proportionalität  von  Kreisinhalt  und 
Durchmesserquadrat  festzustellen,  wie  es  (S.  202)  schon  viel  früher 
Antiphon  getan  hatte.  Bei  der  Aufsuchung  der  Zahlengrenzen  für 
das  Verhältnis   des  Kreisumfanges  zum  Durchmesser  ging  Archimed 


302 


14.  Eftpitel. 


dagegen  von  einem  ganz  anderen  Versuche  aus,  welcher  die  gröBere 
Grenze  ihm  verschaffen  sollte.  Er  benutzte  dasjenige  gleichseitige 
Dreieck;  welches  seine  Spitze  im  Ereismittelpunkte  besitzt,  während 
die  dritte  dieser  Spitze  gegenüberliegende  Seite  Berührungslinie  an 
den   Kreis   ist.     Heißt   die   Seite   dieses   Dreiecks  a,   der  Ereishalb- 


messer  r. 


2r 


so   ist  leicht  ersichtlich  a  =  -=  und  r 

/3 


•7 
a 


=  1/3:1.     Ar- 
chimed  behauptet  ohne  weitere  Begründung,  es  sei  ^  ^  y  >  265  :  153 


und  wirklich  ist  r 


266\»       70225 


266\»^ 
168/  "^ 


23409 


=  3 


2 

^3409^ 


also  1/3  >|?^-     Femer 


Fig.  63. 


ist  a  :  -^  =  306  :  153.  Die  beiden  Verhältnisse  vereinigt  geben  folg- 
lieh  (r  +  a) :  -  >  571 :  153.     Nun  kommt  eine  kleine  geometrische 

Betrachtung.     Wenn   (Fig.  53)   die   j4^  den  Winkel  BAT  halbiert, 
so  ist  JBiAF'^BJi^r,  {AB  +  AF):  Ar 

^  (BJ  +  ^r)  :  z/r  oder  {a  +  r):r^^i  JF. 

Aus    dieser   Proportion    folgt    weiter    ri/JF^ 

(^  +  ») :  Y  >  571  :  153.      Dieses    Ergebnis     zu 

nachheriger  Benutzung  aufsparend  folgert  Archi- 
med  weiter  r«:-^r«>  571«:  153*  und  (f  +  AF^) 
:  AF^  >  (57P  +  163«) :  153»  oder  AA^:AF^> 

349450  :  153«  und  AA:AF>  591  ^  :  153.  Auch  diese  Zahlen  sind 
richtig  gewählt,  denn  (591y)*  =  349428JJ  <  349450.     Der   Winkel 

/lAF  wird  durch,  die  AE  halbiert.  Dadurch  gewinnt  man  neue 
Proportionen  A  J  :  AT  =-  J E  :  ET,  dann  {A^  +  AF)  :  AT  =■ 
(AE  +  Er)  :  Er  und  (AA  +  AF) :  (AE  +  ET)  =  AT:  ET,  d.  h. 
(r  +  AA) :  AT  —  r  :  ET.     Nun  erinnern  wir  uns  an 

r:^r>  571:  153 
nebst 

^zf:z/r>  591^:153. 

Die  Vereinigung  beider  Verhältnisse  gibt  (r  +  AA) :  ^/r>  1162-g-:  158 
oder  auch 

r:j;r>1162y:153. 

Die  gewonnenen  Ergebnisse  stellen  wir  übersichtlicher  zusammen: 

r:Br>  265: 153 
r  :  Ar>  571  :  153 

r  :  Er>  1162-^  :  153. 


Archimedes  und  deasen  geometriBche  Leistungen.  303 

BF  ist  die  halbe  Sechsecksseite,  z/JT  die  halbe  Zwölfecksseite,  ET 
die  halbe  Vierandzwanzigecksseite^  wenn  immer  die  regelmäßigen  dem 
Kreise  umschriebenen  Vielecke  gemeint  sind.  Die  Umfange  U^,  U^^ 
U^^  dieser  Vielecke  sind 

u;^i2Br,    ü[^^2ABr,    cr;^=485r 

und  somit 

r:U^  >  265  :  1836 

r  :  U;^  >  571 :  3672 

r:  tV4>1162|:7344. 

Archimed  setzt  nun  das  Verfahren  mit  Winkelhalbierung,  Verbindung 
Yon  Verhältnissen,  Einsetzen  von  nahezu  richtigen,  aber  immer  etwas 
zu  kleinen  Quadratwurzelwerten  fort  bis  zu 

r:  [7,;  >  4673^:  29376 

und  schließt  daraus  umgekehrt 

U;^  :  d  <  14688  :  4673^  <  3  }-  :  1, 

da  aber  P<  U^  ist,  so  muß  um  so  sicherer 

P:d<3~:r 
sein. 

Nun  kommt  die  entgegengesetzte  Aufgabe,  eine  untere  Grenze 
für  das  Verhältnis  des  Kreisumfanges  zum  Durchmesser  zu  finden  an 
die  Reihe,  und  hierzu  nimmt  Archimed  die  dem  Kreise  eingeschriebenen 
Vielecke  zu  Hilfe,  indem  er,  wie  Antiphon  bei  einem  seiner  Versuche, 
das  eingeschriebene  gleichseitige  Dreieck  zum  Ausgange  wählt,  dessen 
Seite  sich  zum  Halbmesser  verhält  wie  1/3:1,  d.  h.  <  1351  :  780. 
Winkelhalbierungen  usw.  fiihren  hier  zu 

U;^ :  d  >  6336  :  2017^  >  3^5  :  1 

und  um  so  gewisser  zu 

P:rf>3^J:l. 

Nächst  dem  Kreise  beschäftigte  sich  Archimed  bei  seinen  geo- 
metrischen Untersuchungen  mit  den  Kegelschnitten.  Man  hat  wohl 
angenommen,  Archimed  habe  eine  uns  verloren  gegangene  Schrift 
Elemente  der  Kegelschnitte,  6xoi%Bla  xovtxa,  verfaßt.  Man  hat 
sich  dabei  auf  zwei  Stellen  gestützt,  die  eine  in  der  Abhandlung  über 
die  Quadratur  der  Parabel  Satz  3.*),    die   andere   in   dem  Buch  von 


*)  Archimed  (ed.  Heiberg)  ü,  800,  (ed.  Nizze)  IS. 


304  U.  Kapitel. 

den  Konoiden  und  Sphäroiden  Satz  4.^),  in  welchen  Archimed  auf  ein 
solches  Werk  verweist,  ohne  einen  Verfasser  zu  nennen.  Das  tat, 
sagt  man,  Archimed  nur,  wo  er  auf  eigene  Arbeiten  zurückgriff.  So 
richtig  diese  Behauptung  im  allgemeinen  ist,  so  erinnern  wir  uns  doch 
einer  Ausnahme.  Archimed  beruft  sich,  wie  wir  (S.  261)  hervorge- 
hoben haben,  im  6.  Satze  des  ersten  Buches  über  Kugel  und  Zylinder^) 
auf  die  Elemente  und  meint  damit  den  Elementenschriftsteller,  der 
vorzugsweise  diesen  Namen  geführt  hat,  Euklid.  Möglich,  daß  er 
denselben  im  Sinne  hatte,  als  er  von  Elementen  der  Kegelschnitte 
sprach,  da  Euklid  bekanntlich  auch  über  diesen  Gegenstand  ein  Werk 
verfaßt  hat').  Vielleicht  ist  eine  kleine  Bestätigung  dieser  Vermutung 
folgendem  Umstände  zu  entnehmen.  Pappus  gibt  nämlich  an,  die 
vier  ersten  Bücher  der  Kegelschnitte  des  ApoUonius,  mit  wjbl^hen 
wir  uns  bald  zu  beschäftigen  haben,  stützten  sich  wesentlich  auf  die 
Vorarbeiten  Euklids.  Bei  ApoUonius  finden  wir  aber  I,  20,  35,  46; 
II,  5;  III,  17,  18,  die  Lehrsätze,  welche  Archimed  als  in  den  Elementen 
der  Kegelschnitte  enthalten  benutzt. 

Mag  dem  sein,  wie  da  wolle,  jedenfalls  rühren  wertvolle  Einzel- 
untersuchungen über  Kegelschnitte  von  Archimed  her.  Wir  legen 
nicht  gerade  großes  Gewicht  darauf,  daß  Archimed  dem  früher  er- 
wähnten Satz  von  der  Entstehung  des  Schnittes  des  spitzwinkligen 
Kegels  den  dort  fehlenden  Zusatz  gab*),  die  gleiche  Kurve  könne  auf 
dem  Mantel  eines  jeden  Kegels  erzeugt  werden,  aber  um  so  höher 
steht  seine  Quadratur  der  Parabel.  Wir  haben  schon  gesagt,  daß 
diese  Abhandlung  zwischen  die  beiden  Bücher  vom  Schwerpunkte 
und  dem  Gleichgewichte  der  Ebene  eingeschaltet  erscheint.  Die  Me- 
thode, deren  Archimed  sich  bedient,  um  zu  seinem  Ziele  zu  gelangen, 
ist  ihren  Hauptzügen  nach  folgende*).  Wird  ein  Parabelabschnitt 
durch  eine  durch  die  Mitte  der  denselben  bildenden  Sehne  der  Achse 
parallel  gezogene  Gerade  geschnitten,  so  ist  die  Berühruugslinie  an 
die  Parabel  in  dem  Schnittpunkte  der  Sehne  selbst  parallel.  Somit 
ist  die  Senkrechte  aus  diesem  Schnittpimkte  auf  die  Sehne  die  größte 
Senkrechte,  welche  überhaupt  aus  einem  Punkte  innerhalb  des  ge- 
gebenen Parabelbogens  auf  die  Sehne  gefällt  werden  kann,  oder  dieser 
Punkt  ist  als  höchster  Punkt  des  Parabelabschnittes  über  seiner  Sehne 
zu  bezeichnen.     Daraus  folgt  weiter,  daß  der  Parabelabschnitt  durch- 


')  Archimed  (ed.  Heiberg)  I,  802,  (ed. Nizze)  168.  *)  Archimed  (ed. 
Heiberg)  I,  24,  (ed.  Nizze)  48.  *)  Diese  Ansicht  ist  auch  durch  Heiberg, 
Die  Kenntnisse  des  Archimedes  über  Kegelschnitte  (Zeitschr  Math.  Phys.  XXV, 
Histor.-literar.  Abtlg.  S.  42)  ausgesprochen  und  teilweise  anders  begmndet  worden. 
*)  Archimed  (ed.  Heiberg)  I,  288,  (ed.  Nizze)  164.  *)  Archimed  (ed.  Hei- 
berg) IT,  294—858,  (ed.  Nizze)  22—26. 


Aichimedes  und  dessen  geometrische  Leistungen.  305 

ans  eingesclilossen  ist  in  dem  Rechtecke,  welches  jene  Senkrechte  als 
Höhe,  die  Sehne  nebst  der  ihr  parallelen  Berühmngslinie  als  Grund- 
linie besitzt.  Bildet  man  nun  das  Dreieck,  welches  die  Sehne  zur 
Grundlinie,  den  genannten  Höhepunkt  als  Spitze  besitzt,  und  welches 
folglich  Yon  dem  ersten  Parabelabschnitte  um  zwei  neue  kleinere 
Abschnitte  sich  unterscheidet,  so  muß  dasselbe  als  Hälfte  des  Recht- 
ecks und  als  eingeschrieben  in  den  Parabelabschnitt  größer  sein  als 
die  Hälfte  des  Abschnittes,  kleiner  als  sein  Ganzes.  Man  kann  aber 
auch  die  umgekehrte  Folgerung  ziehen  und  die  Flache  des  Abschnittes 
größer  als  das  betreffende  Dreieck,  kleiner  als  das  Doppelte  desselben 
nennen.  In  jeden  der  beiden  neuen  kleineren  Abschnitte  wird  nach 
ähnlicher  Regel  wieder  ein  Dreieck  beschrieben,  deren  jedes  mehr  als 
die  Hälfte  des  ihn  enthaltenden  Abschnittes  einnimmt  und  genau  den 
achten  Teil  des  ersten  Dreiecks  als  Flächeninhalt  besitzt.  Es  ist  das 
ein  Verfahren,  bei  welchem  dasjenige  als  Muster  gedient  haben  mag, 
dessen  Euklid  sich  bediente  (S.  272),  um  zu  beweisen,  daß  Kreis- 
flächen  sich    wie   die    Quadrate    ihrer   Durchmesser   verhalten.      Der 

Parabelabschnitt  wird  dadurch  in  zweiter  Annäherung  größer  als  1  -  , 

kleiner  als  1  ^  des  ersten  Dreiecks,  welches  ihm  eingezeichnet  worden 

war.  Nun  werden  in  die  neuen  immer  kleineren  Parabelabschnitte 
wieder  neue  Dreiecke  beschrieben  und  dem  eben  Behaupteten  ähn- 
liche Folgerungen  gezogen.  Nach  heutiger  Schreibweise  kommt  die 
Reihenfolge   der   so   zu  gewinnenden  Sätze  auf  die  Summierung   der 

unendlichen  Reihe  1  +  4  +  (  r )  +  (  4  )  +  ' '  '  hinaus,  deren  An- 
fangsglied 1  den  Flächeninhalt  des  ersten  Dreiecks,  deren  Summe  den 
Flächeninhalt  des  ganzen  Parabelabschnittes  darstellt.  Archimed,  frei- 
lich das  Unendliche  nur  mittelbar  in  seine  Betrachtungen  einbegreifend, 
begnügt  sich  mit  der  Summierung  der  endlichen  geometrischen  Reihe, 

deren  letztes  Glied  wir  (A    nennen  wollen.     Deren  Summe  sei,  sagt 

4 

er,  nur  um  den  dritten  Teil  des  niedersten  Gliedes  kleiner  als  -^  , 
d.  h.  also  =     —  3~  '  (4)  *     Daran  schließt  sich  der  apagogische  Teil 

des  Beweises,  welchen  wir  wiederholt  als  Ersatz  für  Unendlichkeits- 
betrachtungen   haben    eintreten    sehen.      Aus    der    Möglichkeit    den 

Unterschied  zwischen  dem  Parabelabschnitte  und  des  ersteingezeich- 
neten Dreiecks  kleiner  als  irgend  eine  angegebene  Größe  werden  zu 
lassen,  folgt  die  doppelte  Unmöglichkeit,  daß  der  eine  oder  der  andere 
Flächenraum  der  größere  sei. 

Was    die   beiden   anderen   Kegelschnitte,    die   Hyperbel   und  die 

Gaktob,  Geschichte  der  Mathematik  L   3.  Aufl.  20 


306  14.  Kapitel. 

Ellipse  betrifft^  so  scheint  Archimed  der  ersteren  besondere  Aufmerk- 
samkeit nicht  zugewandt  zu  haben.  Dagegen  hat  er  die  Quadratur 
der  Ellipse  gefunden  und  zwischen  den  Untersuchungen  über  Ko- 
noide und  Sphäroide  als  Satz  5.  und  6.  eingeschaltet^). 

Die  merkwürdigste  uns  erhaltene  Schrift  des  Archimed  über  einen 
Gegenstand  der  ebenen  Geometrie  ist  das  Buch  von  den  Schnecken- 
linie n,  nsgl  iXCxcjv.  Die  Schneckenlinie  ist  die  erste  krumme  Linie, 
welche  durch  eine  doppelte  Gattung  ron  Bewegungen  und  von  be- 
wegten Elementen  zugleich  erzengt  worden  ist.  Die  Quadratrix  des 
Hippias  benutzte  freilich  auch  eine  drehende  und  eine  fortschreitende 
Bewegung  zu  ihrer  Entstehung;  aber  die  bewegten  Elemente  sind 
doch  zwei  gerade  Linien ,  deren  Durchschnittspunkt  die  genannte 
Kui-ve  zum  Orte  hat.  Wir  halten  es  durchaus  nicht  für  unmöglich, 
daß  Archimed,  der  bei  seinen  Studien  mit  der  Quadratrix  und  deren 
Anwendungen  bekannt  geworden  sein  muß,  gerade  durch  die  Ab- 
handlungen des  Hippias  und  des  Dinostratus  über  ihre  Kurve  mehr- 
fache Anregung  gewann,  die  bei  einem  Archimed  zu  einem  Fort- 
schritte för  die  Wissenschaft  werden  mußte.  Ein  Fortschritt  war  es, 
wenn  Archimed  nicht  mehr  wie  Dinostratus  einfach  annahm,  daß  die 
Kreisfläche  einem  rechtwinkligen  Dreiecke  von  den  Katheten  r  und  P 
gleich  sei,  sondern  diese  Gleichheit  streng  bewies.  Eine  nicht  ge- 
ringere Bereicherung  der  Wissenschaft  war  es,  als  er,  anstatt  die  fort- 
schreitende Bewegung  einer  Geraden  mit  der  Drehung  einer  zweiten 
Geraden  zu  verbinden,  wie  Hippias  es  getan  hatte,  darauf  verfiel  jene 
fortschreitende  Bewegung  einem  Punkte  beizulegen.  Die  archime- 
dische Definition  sagt  ausdrücklich*):  „Wenn  eine  gerade  Linie  in 
einer  Ebene  um  einen  ihrer  Endpunkte,  welcher  unbeweglich  bleibt, 
mit  gleichförmiger  Geschwindigkeit  sich  bewegt,  bis  sie  wieder  dahin 
gelangt,  von  wo  die  Bewegung  ausging,  und  wenn  zugleich  in  der 
bewegten  Linie  ein  Punkt  mit  gleichförmiger  Geschwindigkeit  von 
dem  unbewegten  Endpunkte  anfangend  sich  bewegt,  so  beschreibt 
dieser  Punkt  eine  Schneckenlinie  in  der  Ebene.'' 

Gehort  diese  Schneckenlinie,  die  archimedische  Spirale,  wie  man 
sie  gegenwärtig  zu  nennen  pflegt^  wirklich  Archimed  als  Erfinder 
an?  Man  hat  mit  sich  forterbendem  Irrtume  lange  behauptet,  nicht 
Archimed,  sondern  sein  Freund  Konon  habe  die  Spirale  erfunden 
und  die  sich  auf  dieselben  beziehenden  Sätze  entdeckt.  Letzteres  ist 
durchaus  unrichtig^)  und  folglich  ersteres  nicht  hinlänglich  begründet. 


>)  Archimed  (ed.  Heiberg)  I,  312-316,  (ed.  Nizza)  160—161.  *)  Ar- 
chimed (ed.  Heiberg)  ü,  10,  (ed.  Nizze)  118.  *)  Das  hat  Nizze  S.  281  in 
seinen  kritischen  Anmerkungen  nachgewiesen. 


Archimedes  und  dessen  geometrische  Leistungen.  307 

Archimed  hatte  yielmehr  jene  Sätze  an  Eonon  zum  Beweise  geschickt^ 
eine  Sitte,  welche  in  den  aUerverschiedensten  Jahrhunderten;  aber 
stets  in  Zeiten  reger  mathematischer  Arbeit  uns  wieder  begegnen 
wird,  und  hatte,  auch  nach  Eonons  Tode  noch  viele  Jahre  gewartet 
,,ohne  daß  irgend  jemand  sich  mit  einer  dieser  Aufgaben  beschäftigt 
hätte^^).  Alsdann  erst  setzte  er  die  Beweise  in  der  Schrift  über  die 
Schneckenlinien  auseinander.  Wir  können  die  Oedrungenheit  der  Be- 
weise in  keinem  wiederholt  abkürzenden  Berichte  deutlich  machen. 
Wir  verweisen  auf  die  Abhandlung  selbst,  in  welcher  gerade  der 
moderne  Leser,  der  gewohnt  ist  Eurven  von  der  Natur  der  Spiral- 
linien nur  mit  Hilfe  der  Infinitesimalrechnung  zu  untersuchen,  wäh- 
rend er  in  der  Lehre  von  den  Eegelschnitten  noch  heute  häufiger 
von  synthetisch  geometrischen  Anscfaauungsbe weisen  Gebrauch  macht, 
die  beyirunderungswürdige  Gewandtheit  des  Archimed  in  der  Hand- 
habung einfachster  Hilfsmittel  staunend  erkennen  wird.  Einige  wenige 
leicht  abzuleitende  Proportionen  und  Ungleichheiten,  letztere  wieder 
unerläßlich  für  das  apagogische  Verfahren  der  altertümlichen  Ex- 
haustion,  die  Zerlegung  des  Raumes  der  Schneckenlinie  in  Ausschnitte, 
deren  jeder  kleiner  als  ein  äußerer,  größer  als  ein  innerer  Ereisaus- 
schnitt  ist,  das  ist  der  ganze  wissenschaftliche  Vorrat,  mittels  dessen 
die  Quadratur  der  Schneckenlinie  gefunden,  die  Berührungslinie  an 
irgend  einen  Punkt  derselben  gezogen  wird. 

Manche  andere  Schriften  des  Archimed  würden  au  dieser  Stelle 
noch  zu  besprechen  sein,  wenn  sie  nicht  verloren  gegangen  wären. 
Eaum  daß  die  Überschriften  uns  durch  arabische  Berichterstatter  er- 
halten blieben^.  Ihnen  zufolge  verfaßte  Archimed  ein  Buch  über 
das  Siebeneck  im  Ereise;  ein  anderes  beschäftigte  sich  mit  der 
gegenseitigen  Berührung  von  Ereisen;  ein  drittes  war  den 
Parallellinien,  ein  viertes  den  Dreiecken  gewidmet,  letzteres 
möglicherweise  auch  unter  anderem  Titel  noch  genannt.  Auch  Daten 
und  Definitionen  soll  Archimed  in  einem  Buche  vereinigt  haben. 

Unter  dem,  was  der  Verfasser  für  die  Geometrie  des  Raumes 
leistete,  ist  zunächst  eine  Untersuchung  zu  erwähnen,  von  der  wir 
nicht  einmal  wissen,  bei  welcher  Gelegenheit  und  in  welchem  Zu- 
sammenhange er  sie  angestellt  hat.  Die  Untersuchung  selbst  da- 
gegen ist  von  Pappus,  dem  einzigen  Schriftsteller,  der  von  ihr  spricht, 
mit  genügender  Deutlichkeit  geschildert'),  daß  man  nach  ihm  darüber 
berichten  kann.  Euklid  hatte  die  Lehre  von  den  fünf  einzigen  regel- 
mäßigen Eörpem  erschöpfend  behandelt.     Archimed  erfand  zu  ihnen 


')  Archimed  (ed.  Heiberg)  II,  2,  (ed.  Nizze)  116.     *)  Heiberg,  Quae- 
stianes  Arehimedeae  29—80.     *)  Pappus  V  (ed.  Hui t ach)  860 sqq.  ' 

20  • 


308  14.  Kapitel. 

13  halbregel mäßige  Körper^  welche  durch  regelmäßige  Vielecke 
von  mehr  als  nur  einer  Gattung  begrenzt  werden.  Der  Anzahl  nach 
können  8,  14,  26,  32,  38,  62  oder  92  Grenzflächen  vorhanden  sein. 
Der  Art  nach  sind  es  Dreiecke,  Vierecke,  Fünfecke,  Sechsecke,  Acht- 
ecke, Zehnecke  und  Zwölf  ecke,  welche  auftreten.  Bei  zehn  von  den 
archimedischen  Körpern  sind  nur  Flächen  zweierlei  Art,  bei  den  drei 
übrigen  dreierlei  Flächen  vorhanden.  Kein  geringerer  Mathematiker 
als  Kepler^)  hat  zuerst  nach  Archimed  seine  Aufmerksamkeit  diesem 
Gegenstande  wieder  zugewandt,  worauf  aufs  neue  eine  zweihundert- 
jährige Pause  eintrat,  bis  seit  Anfang  des  XIX.  S.  die  halbregelmäßigen 
Vielflächner  Eigentum  der  elementaren   Stereometrie  geworden  sind. 

Archimed  selbst  stellte  von  allen  seinen  Entdeckungen  diejenigen 
am  höchsten,  welche  er  in  den  zwei  Büchern  von  der  Kugel  und 
dem  Zylinder  niedergelegt  hat.  Es  handelt  sich  darin  um  den 
Beweis  von  drei  neuen  Sätzen-):  1.  daß  die  Oberfläche  einer  Kugel 
dem  Vierfachen  ihres  größten  Kreises  gleich  sei;  2.  daß  die  Ober- 
fläche eines  Kugelabschnittes  (die  Kugelkalotte)  so  groß  sei  als  ein 
Kreis,  dessen  Hallmiesser  einer  geraden  Linie  vom  Scheitel  des  Ab- 
schnittes bis  an  den  Umfang  des  Grundkreises  gleich  sei;  3.  daß  der 
Zylinder,  welcher  zur  Grundfläche  einen  größten  Kreis  der  Kugel 
habe,  zur  Höhe  aber  den  Durchmesser  der  Kugel,  mit  anderen  Worten 
der  der  Kugel  umschriebene  Zylinder,  andertbalbmal  so  groß  sei  als 
die  Kugel,  und  daß  auch  seine  Oberfläche  das  Anderthalbfache  der 
Kugeloberfläche  sei.  Ein  gewisser  Nikon  hat  in  Pergamum  eine 
Inschrift,  welche  diesen  Sätzen  galt,  in  Stein  hauen  lassen*).  Daß 
Archimed  gerade  auf  diese  Sätze  einen  wohlberechtigten  Stolz  emp- 
fand, geht  daraus  hervor,  daß  er  die  Kugel  mit  dem  sie  umgebenden 
Zylinder  auf  seinen  Grabstein  eingemeißelt  wünschte,  und  daß  es  ge- 
rade diese  Figur  war,  an  welcher  Cicero  die  Begräbnisstätte  des  großen 
Mannes  erkannte*). 

Archimed  hat  in  demselben  Werke  über  Kugel  und  Zylinder,  im 
4.  und  5.  Satze  des  IL  Buches^),  noch  zwei  andere  die  Kugel  be- 
treffende Aufgaben  gestellt,  welche  ihn  geraume  Zeit  ^  beschäftigten. 
Eine    Kugel    soll     durch     eine     Ebene     derart    geschnitten 


*)  In  der  Harmonice  mundi.  *)  Archimed  (ed.  Heiberg)  I,  2—4,  (ed. 
Nizze)  42.  ')  Vgl.  Ideler  in  v.  Zache  Monatlicher  Correspondenz  zur  Be- 
förderung der  Erd-  und  Himmel skunde  XXIII,  267  und  Buzengeiger  ebenda 
XXIV,  672.  *)  Wir  haben  früher  (wir  wissen  nicht  mehr  nach  welchem  Gewfthrs- 
manne)  hier  eingeschaltet,  die  Figur  habe  sich  auf  Münzen  der  Stadt  Syrakus 
erhalten.  H.  Junge  teilt  uns  mit,  daß  nach  Erkundigungen,  welche  er  im  Münz- 
kabinette des  Berliner  Museums  einzog,  solche  Münzen  nicht  bekannt  sind. 
*)  Archimed  (ed.  Heiberg)  I,  210  sqq.,  (ed.  Nizze)  91  flgg. 


Archimedes  und  dessen  geometrische  Leistungen.  309 

werden^  daß  Oberflächen  und  Eörperinhalte  der  beiden 
so  gebildeten  Kugelabschnitte  in  gegebenem  Verhältnisse 
stehen.  Die  erstere  Aufgabe  hat^  sofern  die  Berechnung  der  Eugel- 
kalotte  vorher  bekannt  ist,  wie  es  der  Fall  war,  keine  Schwierigkeit; 
sie  führt  alsdann  auf  eine  rein  quadratische  Gleichung.  Anders  ver- 
hält es  sich  mit  der  zweiten  Aufgabe.  Sie  ist  nur  dann  lösbar, 
wenn,  wie  Archimed  ausdrücklich  sagt,  eine  Länge  gefunden  werden 
kann,  welche  in  die  Proportion  sich  einfügt,  die  in  Buchstaben 
(a  —  rc):  6  =  e' :  a;*  lauten  würde,  wenn  also  eine  Lösung  der  kubi- 
schen Gleichung  a?  —  nx^  +  'bc^  ^0  gefunden  werden  kann.  Archi- 
med geht  nun  noch  einen  großen  Schritt  weiter,  er  gibt  den  Dio- 
rismus  der  Aufgabe.  Sie  sei,  sagt  er,  nicht  allgemein  möglich, 
sondern  unter  der  Voraussetzung  c  =  2(a  —  c)  nur  bei  Anwendung 
eines  a  —  c,  welches  selbst  größer  als  6  ist.  Mit  anderen  Worten: 
er  nennt  die  Gleichung  x^  —  ax^  +    -  a^h  «  0  lösbar,  d.  h.  mit  einer 

positiven  Wurzel  versehen,  so  lange  &  <  «  •  Beides,  so  fährt  Archi- 
med fort,  d.  h.  die  Notwendigkeit  des  Diorismus  und  zugleich  die 
Konstruktion  der  Aufgabe  unter  der  Annahme,  daß  jene  Bedingung 
erfüllt  sei,  solle  am  Ende  seine  Analyse  und  Synthese  finden.  Es 
ist  undenkbar,  daß  Archimed  eine  so  bestimmte  Zusage  gegeben 
haben  sollte,  wenn  er  nicht  -der  gestellten  Aufgabe  in  jeder  Be- 
ziehung Herr  gewesen  wäre.  Aber  wo  sind  die  versprochenen  Er- 
gänzungen? Schon  sehr  bald  nach  Archimed  zur  Zeit  des  Diokles 
waren  sie  verloren,  wie  wir  im  17.  Kapitel  sehen  werden.  Ob  eine 
von  Eutokius  im  VI  S.  aufgefundene  alte  Handschrift  in  dorischer 
Mundart  wirklieh,  wie  er  vermutete,  der  Originalarbeit  des  Archimed 
nachgebildet  war,  ist  mit  Bestimmtheit  nicht  zu  behaupten  noch  zu 
leugnen.  An  Wahrscheinlichkeit  fehlt  es  übrigens  der  Vermutung  des 
Eutokius  um  so  weniger,  als  jene  Auflösung  sich  zur  Konstruktion 
nur  einer  Parabel  und  einer  Hyperbel  bedient,  mithin  Kurven  be- 
nutzt, welche  zur  Auflösung  einer  anderen  räumlichen  Aufgabe,  der 
Würfelverdoppelung,  ziemlich  lange  vor  Archimed,  wie  wir  wissen, 
bereits  in  Anwendung  waren. 

Mit  der  Geometrie  des  Raumes  hat  es  femer  das  Buch  von 
den  Konoiden  und  Sphäroiden  zu  tun.  Archimed  kennt  unter 
diesen  Namen  die  Körper,  welche  durch  die  Umdrehung  einer  Parabel, 
einer  Ellipse,  einer  Hyperbel  entstehen.  Er  teilt  diese  ümdrehungs- 
körper  durch  einander  parallele  gleich  weit  voneinander  entfernte  ebene 
Schnittflächen  und  erhält  so  zwischen  je  zwei  Schnittebenen  ein 
Körperelement,  das  von  einem  Zylinder  eingeschlossen  einen  anderen 
Zylinder  in  sich   enthält.     Die  Summierung  sämtlicher  größerer  Zy- 


310  16.  Kapitel. 

linder  nebst  der  der  sämtlichen  kleineren  Zylinder  wird  somit  zwei 
Grenzen  bilden^  zwischen  welchen  der  Eörperinhalt  des  gegebenen 
ümdrehnngskörpers  enthalten  ist^  und  welche  bei  gegenseitiger  An- 
näherung der  Schnittflächen  selbst  beliebig  wenig  yoneinander  unter- 
schieden sind.  Einige  auf  Widersprüche  führende  Yergleichungen 
vollenden  wieder  die  Exhaustion,  und  so  wird  die  Kubatur  der  ge- 
nannten Körper  gefunden. 

Gelegentlich  zeigt  dabei  Archimed  im  8.,  9.  und  10.  Satze  ^),  wie 
zu  jeder  Ellipse  unendlich  viele  Kegel  und  Zylinder  gefunden  werden 
können,  auf  deren  Mantel  sie  sich  befindet ,  offenbar  ein  Anfang 
dessen,  was  man  perspektivische  Eigenschaften  krummer  Linien  zu 
nennen  pflegt.  Wir  bemerken  femer,  daß,  wo  von  den  Asymptoten 
der  Hyperbel  die  Rede  ist,  diese  den  Namen  der  engstanschließenden 
Geraden,  &i  Syyiöta  evd-siai^  führen^). 

Wir  können  die  Entdeckungen  Archimeds  im  Gebiete  der  Raum- 
geometrie nicht  verlassen  ohne  zweier  falscher  Sätze  zu  gedenken, 
welche  er  absichtlich,  wie  er  ausdrücklich  sagt*),  seinerzeit  beweislos 
in  die  Öffentlichkeit  gab  „um  eben  solche  Leute,  die  da  alles  zu 
finden  behaupten,  und  doch  nie  einen  Beweis  vorbringen,  zu  über- 
führen, daß  sie  auch  einmal  etwas  Unmögliches  zu  finden  verheißen 
hätten'^  Es  waren  Sätze,  die  sich  auf  den  Körperinhalt  von  Kugel- 
abschnitten bezogen  und  damit  unsere  Bemerkung  bestätigen,  daß  Ar- 
chimed sich  geraume  Zeit  mit  Fragen,  welche  auf  die  Durchschneidung 
einer  Kugel  durch  eine  Ebene  sich  bezogen,  beschäftigte. 


15.  Kapitel. 
Die  übrigen  Leistungen  des  Arehimedes. 

Wir  gehen  zu  Dingen  über,  welche  einen  algebraischen  Charakter 
tragen.  In  erster  Linie  haben  wir  einer  Gesellschaftsrechnung  zu 
gedenken,  welche  Archimed  anstellte,  und  welche  nicht  etwa  der 
Methode  des  Rechnens  halber,  die  schon  den  alten  Ägyptern  (S.  77) 
geläufig  war,  aber  wegen  des  Verfahrens,  durch  welches  Archimed 
die  zur  Rechnung  notwendigen  Zahlen  sich  verschaffte,  zu  großer 
Berühmtheit  gelangt  ist.  Wir  meinen  die  sogenannte  Kronenrech- 
nung.    Richtiger  wäre  vielleicht  die  Übersetzung  Kranzrechnung, 


*)  Archimed  (ed.  Heiberg)  I,  .S 18— 338  unter  Bezeichnting  der  betreflFen- 
den  Sätze  als  7.  8.  9.,  (ed.  Nizze)  162—168.  *)  Archimed  (ed.  Heiberg)  I, 
278  lin.  1—2  und  I,  436  lin.  1.  »)  Archimed  (ed.  Heiberg)  H,  2—4,  (ed. 
Nizze)  116. 


Die  übrigen  LeiBtungen  dea  Archimedes.  311 

da  Corona  dem  (Stdfpavog  entspricht^  einem  aus  Zweigen  gewundenen 
Kranze,  während  die  Fürstenkrone  erst  späteren  Ursprunges  ist^). 
Yitrnyius,  der  Schriftsteller  über  Architektur  im  augusteischen  Zeit- 
alter, erzählt  die  Sache  folgendermaßen^).  König  Hiero  habe  von 
einem  Goldarbeiter  eine  Krone  aus  Gold  anfertigen  lassen  und  die- 
selbe alsdann  dem  Archimed  übergeben,  um  zu  ermitteln,  ob  nicht^ 
wie  man  zu  vermuten  Grund  hatte,  der  Künstler  nur  Gold  in  Rech- 
nung gebracht,  in  Wirklichkeit  aber  teilweise  Silber  zur  Masse  hinzu- 
getan hatte.  Zufällig  sei  nun  Archimed  in  ein  Badhaus  getreten  und 
habe  beim  Einsteigen  in  eine  mit  Wasser  ganz  angefällte  Wanne  be- 
merkt, daß  ebensoviel  Wasser  auslief,  als  sein  Körper  verdrängte. 
Nun  schloß  Archimed  so:  die  Menge  des  verdrängten  Wassers  hängt 
nur  von  der  Ausdehnung,  nicht  von  dem  Gewichte  des  eingetauchten 
Körpers  ab,  das  Gewicht  dagegen  verändert  sich  bei  gleicher  Aus- 
dehnung nach  der  Natur  des  Stoffes.  Andere  Stoffe  werden  bei 
gleicher  Ausdehnung  verschiedenes  Gewicht,  bei  gleichem  Gewichte 
verschiedene  Ausdehnungen  haben.  Bildet  man  sonach  eine  reine 
Goldmasse  und  eine  reine  Silbermasse,  beide  von  genau  gleichem  Ge- 
wichte mit  der  Krone,  so  wird  das  Silber  am  meisten  Flüssigkeit  aus 
einem  bis  zum  Rande  gefüllten  Gefäße  verdrängen,  nächstdem  die  aus 
beiden  Metallen  gemischte  Krone,  das  Gold  endlich  am  wenigsten. 
Die  Schlüsse,  wenn  auch  noch  nicht  in  der  hier  ausgeführten  Deut- 
lichkeit, scheinen  dem  Geiste  Archimeds  sich  plötzlich  dargeboten  zu 
haben.  Die  drei  Wassermengen  6,  x,  y,  welche  durch  das  Silber,  die 
Krone,  das  Gold  verdrängt  wurden,  boten  das  Mittel  die  Mischungs- 
verhältnisse der  Krone  zu  berechnen.  Wog  nämlich  die  Krone  k  Ge- 
wichtsteile, worunter  s  Gewichtsteile  Silber  und  g  Gewichtsteile  Gold, 
so   mußte   erstlich   5  -f  ^ » i   sein.     Zweitens    verdrängte    aber    das 

Silber  nur  -^  X  6  Raumteile  Wasser  und  das  Gold  ?  Xy  Raum  teile 

derselben  Flüssigkeit,  die  ganze  Krone  also  ^^X^^   Raumteile,   oder 

X  Raumteile,  demnach  war  auch  S6  +  gy  ^  hx.    Die  beiden  Angaben 

führten  dann  vereint  in  Betracht  gezogen  zu  s  =  *  ^-  X  k.    In  der 

Freude  über  diese  Entdeckung  sei  Archimed  unbekleidet  ins  Freie 
und  nach  seiner  Wohnung  gelaufen  mit  dem  Rufe:  ich  habe  es  ge- 
funden, BVQrjxa  svgrixa.  Eine  zweite  Auffassung  findet  sich  in  einem 
Lehrgedichte  „Ueber  die  Gewichte  und  Maasse",  welches  man  wohl 
dem  Grammatikei»  Priscianus  zuschrieb,  eine  Meinung,  von  welcher 
man  aber  allgemein  zurückgekommen  ist,  um  die  Entstehung  des  Ge- 


*)  Briefliche  Mitteilung  von  H.  Junge.     ■)VitruviuBlX,  3. 


312  15.  Kapitel. 

dichtes  etwa  auf  das  Jahr  500  zu  yerlegen^).  Dort  ist  nämlich  die 
Auffindung  des  spezifischen  Gewichtes  eines  Stoffes^  auf  welche  allein 
es  ankommt,  an  eine  doppelte  Abwägung  geknüpft.  Wird  die  zu 
prüfende  Substanz  einmal  im  Freien  und  das  zweite  Mal  in  Wasser 
eingetaucht  gewogen ,  so  wird  sie  das  zweite  Mal  so  viel  von  ihrer 
Gewichtswirkung  auf  den  Wagebalken,  an  welchem  sie  hängt,  ein- 
büßen, als  das  Gewicht  der  durch  sie  verdrängten  Flüssigkeitsmenge 
beträgt.  Man  wird  folglich  in  dem  Verhältnisse  des  ursprünglichen 
Gewichtes  zu  dem  Gewichtsverluste  das  spezifische  Gewicht  des  Stoffes 

besitzen,  und  man  findet  s  =  .  _  -,  x  Ä:,  wenn  s',  k',  g'  die  Gewichts- 
verluste im  Wasser  der  an  Gewicht  außerhalb  des  Wassers  gleichen 
Mengen  Silber,  Kronenmetall  und  Gold  bedeuten.  Welche  von  den 
beiden  Methoden  also  Archimed  auch  anwandte,  und  die  Wahrschein- 
lichkeit für  die  eine  wie  für  die  andere  zu  erörtern  gehört  der  Ge- 
schichte der  Physik  an,  die  Rechnung  als  solche  war  immer  die 
gleiche,  war,  wie  wir  zum  voraus  bemerkten,  eine  Gesellschaftsrech- 
nung, dergleichen  ähnliche  wenn  auch  nicht  völlig  übereinstimmende 
im  Übungsbuche  des  Ahmes  erledigt  sind. 

Dem  Archimed  wird  femer  eine  unbestimmte  Aufgabe  zuge- 
schrieben, welche  in  Distichen  abgefaßt  unter  dem  Namen  des  Rinder- 
problems bekannt  ist^).  Es  handelt  sich  um  die  Auffindung  von  vier 
Unbekannten  in  ganzen  Zahlen  mittels  dreier  zwischen  ihnen  gegebenen 
Gleichungen  vom  ersten  Grade.  Zu  dieser  ursprünglichen  Form  des 
Problems  sind  alsdann  in  späterer  Überarbeitung,  wie  es  scheint,  noch 
anderweitige  Zusätze  getreten,  welche  zu  ihrer  Berücksichtigung 
Kenntnisse  in  der  Lehre  von  den  Quadratzahlen  und  von  den  Drei> 
eckszahlen  voraussetzen,  welche  wir  wohl  berechtigt  sind,  einem  Ar- 
chimed als  zugänglich  anzunehmen,  wenn  schon  Philippus  Opuntius 
(S.  169)  über  vieleckige  Zahlen  schreiben  konnte.  Bezüglich  der 
Echtheit  dieses  Problems  sind  die  Ansichten  geteilt.  Der  letzte 
Schriftsteller,  der  in  eingehender  Weise  mathematisch  wie  philologisch 
mit  Archimed  sich  beschäftigt  hat,  steht  nicht  an,  das  Gedicht,  wie 

*)  Scriptores  metrölogici  Bomani  (ed.  Hultsch)  pag.  88  sqq.  Die  auf  die 
Kronenrechnung  beziigliche  Stelle  v.  124  —  208.  Über  die  Datierung  vgl. 
Hultschs  Proleg^mena  §  118.  *)  Ältere  Ansichten  über  das  Rinderproblem  bei 
Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  8.  481 — 491  wissen  einen  nur  halbwegs 
erträglichen  Sinn  nicht  herauszubringen.  Dieses  gelang  Vincent  in  dem  als 
Anhang  zu  den  Nouvelles  annales  de  mathematiques  T.  XV  (Paris  1856)  erschie- 
nenen Bulletin  de  bibliographie  etc.  I,  39  ügg.  Einen  anderen  Sinn  haben  die 
Verfasser  der  neuesten  Abhandlung  Krumbiegel  und  Amthor  „das  BröbUma 
bovinum  des  Archimed"  ermittelt.  Vgl.  Zeitschr.  Math.  Phys.  Bd.  XXV.  Histor.> 
literar.  Abteilung  (1880). 


Die  übrigen  Leistungen  des  Archimedes.  313 

es  erhalten  ist,  als  arcliimediscli  anzuerkennen^).  Wir  selbst  ent- 
halten uns  eines  bestimmten  Urteils,  wie  wir  (S.  286)  uns  entschieden, 
die  Frage  nach  der  Echtheit  des  sogenannten  euklidischen  Problems 
als  eine  offene  zu  betrachten.  Zu  einem  Ergebnisse  kommen  wir 
allerdings  auch  hier:  daß  nämlich  ein  Grund  das  Rinderproblem  darum 
für  untergeschoben  zu  erklären,  weil  Archimed  es  nicht  habe  lösen 
können,  in  keiner  Weise  vorliegt. 

Eine  Beschäftigung  mit  Quadratzahlen  ist  Archimed  jedenfalls 
nachzurühmen.  Er  hat  jedenfalls  in  dem  Buche  von  den  Schnecken- 
linien die  Summierung  der  aufeinander  folgenden  Quadrat- 
zahlen von  1  anfangend  gelehrt  und  bewiesen.  Er  kleidet  die 
Summenformel  in  folgenden  Satz:  „Wenn  man  eine  willkürliche  An- 
zahl von  Linien  annimmt,  die  nacheinander  gleiche  Unterschiede 
haben,  so  daß  die  kleinste  dem  Unterschiede  selbst  gleich  ist,  und 
wenn  eine  eben  so  große  Anzahl  anderer  Linien  angenommen  wird, 
welche  einzeln  der  größten  von  jenen  gleich  sind,  so  wird  die 
Summe  aller  Quadrate  von  denen,  welche  der  größten  gleich  sind, 
nebst  dem  Quadrate  der  größten  selbst  und  dem  Rechtecke  unter 
der  kleinsten  und  einer  Linie,  welche  so  groß  ist  als  die  Summe 
aller  um  gleiche  Unterschiede  verschiedener,  dreimal  so  viel  betragen 
als  die  Summe  aller  Quadrate  der  um  gleiche  Unterschiede  verschie- 
denen Linien*'*).     In  Zeichen  geschrieben  heißt   das   3[a*  +  (2a)*  + 

(3a)*  H h  (wa)*]  ^  (n  +  l)(na)*  +  a{a  +  2a  +  3a  +  -  -  +  na). 

Da  Archimed,  wie  aus  dem  Beweise  sich  ergeben  wird,  die  Summeu- 
formel  der  arithmetischen  Reihe  anzuwenden  wußte,  so  ist  es 
einigermaßen   auffallend,    daß   er   nicht   a-f2o-f3a-f-+wa   zu 

-^-+  ^-^  vereinigte,  um  schließlich  a*  +  (2ay  -f  (3a)*  +  •  -  •  -f  (nay 

=  - — ^^^— ^ —  zu  erhalten.     Wir  erkennen   daraus,  daß  ein  so 

o 

lautender  Satz  bei  Archimed  nicht  vorkommt,  wie  sehr  man  sich 
hüten  muß  den  Schluß,  dieser  oder  jener  Schriftsteller  konnte  so 
oder  so  schließen,  hat  es  also  getan,  anzuwenden,  wenn  nicht  be- 
sondere anderweitige  Gründe  für  jenen  Schluß  vorhanden  sind.  Noch 
eine  Bemerkung  drangt  sich  auf.  Wir  sagten  Archimed  habe  die 
Summierung  der  Quadratzahlen  vollzogen,  und  in  dem  Wortlaute 
seines  Satzes,  wie  seines  Beweises,  kommen  nur  Linien  vor.  Allein 
es  sind  unzusammenhängende  Linien,  wie  sie  im  V.  Buche  der  eukli- 
dischen Elemente  zur  Versinnlichung  von  Zahlen  dienen,  und  haben 
hier  gleichfalls  keine  andere  Bedeutung.  Wir  lassen  nun  den  Be- 
weis folgen,  an  welchem  wir  keine  andere  Veränderung  vornehmen, 

*)  Heiberg,  Quaestiones  Ärchimedtae  26.  *)  Archimed  (ed.  Heiberg) 
n,  84—40,  (ed.  Nizze)  126—128 


314  15.  Kapitel. 

als    daß    wir    Archimeds    Worte    in    Zeichen    übersetzen.      Es    ist 

na^(n-  l)a  +  lo  =  (n  —  2)a  +  2a  «  (n  —  3)a  +  3a  ^ «  la 

-f  (n  — l)a.  Quadriert  man  alle  diese  nnter  sich  gleichwertigen  Formen 
von  nüj  so  erhält  man  ebenso  viele  verschiedene  Formen  von  {nay, 
nämL'ch  {nay  «  ((n  ~  l)a)»  +  (la)*  +  2  •  (w  —  l)a  •  la  -  «n  -  2)a)» 
+  (2a)«  +  2  (n  -  2)a  .  2a  «  ((n  -  3)a)»  +  (3a)«  +  2  .  (n  -  3)  a  •  3a 

(la)»  +  ((«  -  l)a)«  +  2  .  1  a  .  (n  —  i) a.     Jede   solche  Form 

besteht  aus  zwei  quadratischen  Gliedern  und  einem  doppelten  Pro- 
dukte. Addiert  man  die  sämtlichen  Formen  nebst  2(na)« » (na)« 
-f  (nay  und  ordnet  die  quadratischen  Glieder  erst  fallend  dann  steigend, 
und  die  doppelten  Produkte  nach  fallendem  erstem  Faktor^  so  entsteht 
(n  +  l){nay  -  (na)«  +  ((n-  l)a)«  +  ((n~2)a)«  +  •  -  •  +  (la)«+  (la)« 
+  . . .  +  ((w  -  2)a)«  +  ((n- l)a)«  +  (wa)«  +  2[(n  -  l)a  •  la  +  (n-2)a 
•  2a  +  •  •  •  +  lö(w  —  l)a].     Addiert    man    femer    auf   beiden   Seiten 

a(a  +  2a  -I —  •  +  na),  so  erhält  man  (w  +  l)(na)«  +  a(a  +  2a  H 

+  na)  =  2[a«  +  (2a)«+  •••  +  (wa)«]  + 2[(n  -  l)a  •  la  +  (n  -  2)a.2a 
H —  •  +  1»  •  (w  —  l)a]  +  a[a  +  2a  +  -  -  -  +  na].  Damit  der  zu  An- 
fang ausgesprochene  Satz  bewiesen  sei,  bedarf  es  also  nur  noch  Eines: 

es  muß  gezeigt  werden,  daß  a«  +  (2a)«  H h  (na)*^2[(n  —  l)a •  la 

+  (n  — 2)a  •  2a  H +  1«  •  (n  -  l)a]  +  a[a  +  2a  +  - -- +  na]   sei. 

Die  beiden  Ausdrücke  rechts  vom  Gleichheitszeichen  sind  aber  a  •  A 
und  a '  B  oder  vereinigt  a{A  +  B\  wobei 

^  -  2(w  -  l)a  +  4(w  -  2)a  +  .  • .  +  (2»  --  2)  •  la 

J?  =  na  +  («  -  l)a  +  (w  -  2)a  +' .  •  •  +  la 
^  +  J?  «  1  .  na  +  3  .  (n  -  l)a  +  o  •  (n  -  2)a  +  •  •  •  +  (2n  —  1)  •  1  a 
(^+-B)-a='a[l-wa+3.(n-l)a+5.(n-2)a+...  +  (2n— l).la]  =  jR. 
Von  den  n  Quadraten,  als  deren  Summe  R  zu  beweisen  ist,  wird  nun 
das  höchste  {nay  umgeformt  in  a(l  •  na  +  (n  —  l)na).  Aber  die 
arithmetische  Reihe  (n  —  l)a  +  (n  —  2)a  +  •••  +  !»  hat  als  Summe 

-^^'  -^  ,  eine  Formel,  welche  demnach,  wie  oben  angekündigt, 
von  Archimed  benutzt  wird.  Demnach  ist  (n  —  l)na  =  2[(n  —  l)a 
-h(n~2)a  +  -"  +  la]  imd  (na)«=»a[l  •na  +  2(n- l)a  +  2(n-2)a 
+  •  •  •  +  2  •  la].  Ziehen  wir  diesen  Wert  von  B  ab,  so  bleibt  ein 
Rest  B^  ähnlicher  Form  wie  U,  nämlich  a[l  •  (n  —  l)a  +  3(n  —  2)a 

+ |-(2n  —  3)  •  la]  =»  iZj.    Nun  könnte  ((n  —  l)a)«  umgeformt  und 

von  B^  abgezogen  werden,  wodurch  ein  Rest  B^  entstünde,  dem 
gegenüber  das  Verfahren  fortzusetzen  ist.  Schließlich  bleibt  nichts 
übrig,  es  ist  also  a«  +  (2  a)«  +  •  •  •  +  (wa)«  =  B,  wie  zu  beweisen  war. 
Wir  haben  vorher  bei  der  archimedischen  Aufgabe  von  der  durch 
eine  Ebene  geschnittenen  Kugel  die  kubische  Gleichung  x^  —  ax^ 
+  -   a«6  =  0  angeschrieben  (S.  309),  zu  welcher  diese  Aufgabe  führt. 


Die  übrigen  LeiBtungen  des  Archimedes.  315 

Wir  haben  dieses  zur  deutlicheren  Einsicht  in  die  Frage  für  unsere 
an  die  Gleichungsform  gewohnten  Leser  getan.  Man  muß  sich 
jedoch  wohl  hüten  das,  was  wir  dort  taten,  als  den  gleichen  Ge- 
sichtspunkten entsprechend  zu  betrachten,  wie  das,  was  uns  bei 
unserer  letzten  Darstellung  der  Summierung  aufeinanderfolgender 
Quadratzahlen  leitete.  Wir  haben  hier  nur  Zeichen  statt  der  Worte 
gesetzt,  den  archimedischen  Gedanken  in  keiner  Weise  yerändemd. 
Wir  haben  dort  eine  Gleichung  aus  einer  -Proportion  entwickelt. 
Archimed  hätte  eine  solche  Entwicklung  dem  ganzen  Zustande  der 
damaligen  Wissenschaft  gemäß,  welche  Körperzahlen  kannte,  vor- 
nehmen  können,  aber   er   hat   es   nicht  getan.     Er   blieb   bei   der 

Proportion    (a  —  a:)  :  6  =»  y  a*  :  a;'   stehen,   und   wir    würden    in    ihn 

hineinlesen,  was  er  nicht  gewußt  zu  haben  scheint,  wenn  wir  auch 
nur  annahmen,  Archimed  habe  eine  wesentliche  Ähnlichkeit  zwischen 
seiner  Aufgabe  und  der  Aufgabe  der  Würfelrerdoppelung,  geschweige 
denn  zwischen  ihr  und  der  Aufgabe  der  Winkeldreiteilung  bemerkt. 
Die  Würfelverdoppelung  verlangte  die  Einschaltung  zweier  geome- 
trischer Mittelglieder  zwischen  gegebenen  Ghrößen;  von  einer  der- 
artigen Einschaltung  ist  bei  der  archimedischen  Eugelteilung  nicht 
die  Rede,  mag  man  auch,  um  die  Unbekannte  nach  innen  zu  bringen, 

4a' 
die  Proportion  in  der  Form  6  :  (a  —  a;)  =  x* :  -r-  oder  in  der  Form 

ft  :  a;^  ==  (a  —  a;)  :  -g-  schreiben. 

Wir  müssen  hier  vielleicht  einem  Vorwurfe  begegnen,  den  man 
uns  darüber  machen  könnte,  daß  wir,  als  wir  es  mit  Euklid  und 
dessen  durch  quadratische  Gleichungen  darstellbaren  Aufgaben  zu 
tun  hatten,  nicht  auch  so  streng  an  den  Wortlaut  des  griechischen 
Schriftstellers  uns  halten  zu  müssen  glaubten.  Wahr  ist  es,  es  wäre 
vorsichtiger  gewesen  auch  dort  nicht  als  Gleichung  zu  schreiben, 
was  nur  eine  Proportion  war,  allein  wir  können  doch  einiges  hervor- 
heben, welches  einen  grundsätzlichen  Unterschied  zwischen  der  eukli- 
dischen und  der  archimedischen  Aufgabe  bedingt  und  dadurch  auch 
eine  formelle  Verschiedenheit  der  Darstellung  gestattet,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  wir  wenigstens  nicht  versäumt  haben  (S.  285),  unsern 
Zweifel  darüber  zu  äußern,  ob  Euklid  eine  Ahnung  von  dem  alge- 
braischen Inhalte  seiner  Aufgaben  gehabt  habe.  Quadratische  und 
kubische  Aufgaben  —  man  gestatte  uns  diese  leicht  verständ- 
lichen, wenn  auch  sonst  nicht  gerade  üblichen  Benennungen  —  sind 
geometrisch  gewaltig  verschieden.  Die  quadratische  Aufgabe  gehört 
den  Elementen  in  dem  geometrischen  Sinne  des  Wortes  an.  Sie 
läßt  sich,  sofern  Nichtbeachtung  des  Diorismus  nicht  Größen  als  ge- 


316  16.  Kapitel. 

geben  wählen  ließ;  welche  jede  reelle  positive  Lösung  ausschließen^ 
jedesmal  durch  Zirkel  und  Lineal  bewältigen.  Die  kubische  Aufgabe 
ist  durch  die  Elemente  nicht  lösbar.  Sie  bedarf  besonderer  Kurren, 
deren  Eigenschaften  in  besonderen  Schriften  erörtert  zur  Zeit^  als 
Archimed  lebte^  überhaupt  erst  anfingen^  genau  studiert  zu  werden 
und  die  höhere  Geometrie  bildeten.  Man  darf  daher  wohl  einen 
Unterschied  machen  zwischen  der  Tiefe,  bis  zu  welcher  Euklid  und 
Archimed  in  das  eigentliche  Wesen  quadratischer  und  kubischer  Auf- 
gaben einzudringen  vermochten.  Daneben  ist  auch  für  rechnendes 
Verfahren  ein  nicht  minder  gewaltiger  Unterschied  zwischen  quadra- 
tischen und  kubischen  Aufgaben ;  die  einem  Griechen  gestellt  waren. 
Die  Ausziehung  der  Kubikwurzel  durch  Umkehrung  des  Verfahrens, 
welches  zur  Erhebung  auf  die  dritte  Potenz  führt,  also  von  der 
Formel  (a  +  ßY  «  «•  +  3a^ß  +  3a/J'  +  ß^  ausgehend,  hat,  wie  wir 
vorgreifend  bemerken  dürfen,  kein  griechischer  Schriftsteller  des  Alter- 
tums oder  des  Mittelalters  jemals  gelehrt;  ob  ein  anderes  Rechnungs- 
verfahren zu  dem  gleichen  Zwecke  angewandt  wurde,  müssen  wir 
hier  noch  dahingestellt  sein  lassen.  Eine  Ausziehung  von  Quadrat- 
wurzeln dagegen  durch  Rechnung,  und  zwar  auch  bei  solchen  Zahlen, 
welche  nur  eine  Annäherung  an  den  wahren  Wert  gestatten,  hat  die 
griechische  Mathematik  vielleicht,  wie  wir  (S.  223)  sahen,  schon  seit 
Piaton  besessen,  jedenfalls  hat  Archimed  in  seiner  Kreismessung  den 
Beweis  geliefert,  daß  er  im  Besitze  sehr  vollkommener  Methoden 
zur  Auffindung  solcher  Wurzelwerte  gewesen  sein  muß.  Damit  ist 
aber,  wie  zum  Schlüsse  dieser  Ausführungen  hingeworfen  werden 
mag,  zugleich  auch  die  (S.  285)  schon  begründete  Behauptung 
vollends  gesichert,  daß  man  in  sehr  früher  Zeit  bei  den  Griechen 
quadratische  Aufgaben  rechnend  löste,  d.  h.  tatsächlich  mit  quadra- 
tischen Gleichungen  sich  beschäftigte,  denn  wie  wäre  man  sonst  zu 
Methoden  der  Quadratwurzelausziehung  gelangt,  die  das  leisteten,  was 
z.  B.  von  Archimed,  zu  dessen  Arbeiten  wir  so  zurückkehren,  geleistet 
worden  ist? 

Archimed  hat  in  seiner  Kreismessung  eine  ganze  Anzahl  von 
angenäherten  Quadratwurzeln  berechnen  müssen.  Er  hat  da- 
bei   erkannt,    daß    ^^g^o^  >  V^  >  ^ J^ ,    daß    ]/34y450  >  591  g- ,     daß 


]/l  373  943g J  >  1172  g  ,  daß  ")/5472132^^  >  2339  J.     Wie  hat  er 

diese   Zahlen   gefunden?     Die   Frage    ist   vielfach   aufgeworfen,   ver- 
schiedentlich  beantwortet   worden^).      Man    kann    wohl    sagen,    daß 

^)  Zasammenstellungen  der  auf  diesem  Gebiete  ansgesprochenen  Meinungen 
bei  S.  Günther,  Antike  Nähemngsmethoden  im   Lichte  modemer  Mathematik 


Die  übrigen  Leistungen  des  Archimedes.  317 

Bämtliche  Versuche  in  einem  Punkte  zusammentreffen,  nämlicli  in  dem 
Bestreben,  ein  mehr  oder  weniger  bewußtes  Zusammentreffen  der 
Methode  des  Archimedes  mit  dem  modernen  Eettenbruchyerfahren 
nachzuweisen,  d.  h.  mit  den  Formeln 


i/«*+^=«  +  Ä+6 


2a  +_5_ 

2a  + 


und 


Yii^~b^a^  ^ 


2a  —  ft 

2a  —  h^ 

2a  — 


Nun  ist  von  vornherein  zuzugeben,  daß  der  Näherungswert 

2  +  1 

bei  griechischen  Schriftstellern  mit  aller  Bestimmtheit  auftritt,  wie 
wir  bei  der  näheren  Betrachtung  des  Werkes  des  Theon  von  Smyrna 
im  21.  Kapitel  erkennen  werden.  Es  ist  ferner  (S.  267)  darauf  hin- 
gewiesen worden,  daß  die  Art  und  Weise,  in  welcher  Euklid  den 
größten  gemeinschaftlichen  Teiler  zweier  ganzer  Zahlen  aufsucht, 
einen  vollständigen  Kettenbruchalgorithmus  darstellt,  und  dennoch 
können  wir  die  Frage,  wie  eigentlich  Archimed  verfuhr,  noch  nicht 
als  vollständig  beantwortet  erachten.  Die  Werte,  welche  Archimed 
als  angenäherte  Quadratwurzeln  benutzt,  andere  Werte,  die  bei 
späteren  griechischen  Schriftstellern  auftreten,  entstehen  nämlich, 
mit  Ausnahme  der  von  uns  schon  betonten  }/2  und  einer  weiteren 
Ausnahme,  nicht  aus  den  obigen  Kettenbruchformeln,  es  sei  denn, 
daß  man  sie  auf  ein  Prokrustesbett  spannte,  wie  wir  es  nicht  ver- 

(in  den  Abhandlungen  der  k.  böhmischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 
VI.  Folge,  9.  Band,  Prag  1878)  und  bei  Heiberg,  Quaestiones  Ärchimedeae  60 
bis  66.  Bei  letzterem  auch  das  bei  dem  ersteren  fehlende  Referat  über  Ab- 
handlungen von  Mollweide  (1808)  und  Oppermann  (1876).  Über  die  Ab- 
handlung Mollweides  vgl.  auch  einen  Bericht  von  Gauß  in  den  Göttinger  Ge- 
lehrten Anzeigen  vom  9.  Januar  1808.  Spätere  Arbeiten  von  Hunrath,  Die 
Berechnung  irrationaler  Quadratwurzeln  vor  der  Herrschaft  der  Dezimalbrüche 
(Kiel  1884)  unter  anderen  haben  unserer  Ansicht  nach  die  Frage  immer  noch 
nicht  geklärt.  Auch  Hultsch,  Über  Archimeds  Quadratwurzeln  (Göttinger  Ge- 
lehrte Anzeigen  1893)  und  Ebenderselbe,  Zur  Kreismessung  des  Archimedes 
(Zeitschrift  für  Mathematik  und  Physik  XXXIX,  Historisch-literarische  Abteiig. 
1894)  lassen  noch  zu  manchem  Zweifel  Raum. 


318  16.  Kapitel. 

antworten  zu  können  glauben.  Die  erwähnten  archimedischen  Werte 
von  )/3  z.  B.  entstehen  nicht  aus  1/4—  1  *"  2  —  —  __  ,  son- 

dem  die  aufeinanderfolgenden  Näherungsbrüche  dieses  Kettenbruches 

.     ,  '  7       26      97      862  .  ,  ,  -7  j    26    , 

Sind  2,  -^  ,  -^,  gg,  -^Q  •  •  •,  unter  welchen  wir  ~  und  ^^  hervor- 
heben als  die  weitere  Ausnahm« ,  von  welcher  soeben  die  Rede  war^ 
da  diese  Werte  fUr  YS  in  der  Tat  geschichtlich  nachweisbar  bei 
Griechen  vorkommen;  wie  das  18.  und  19.  Kapitel  uns  lehren  werden. 
Wir  lassen  also  die  Frage  nach  der  Art  und  Weise,  in  welcher  Ar- 
chimed  seine  Quadratwurzeln  fand,  offen,  soviel  zugestehend,  daB  be- 
stimmte Beispiele  auf  Anwendung  von  Kettenbruchformeln  bei  anderen 
Schriftstellern  hinweisen,  die  somit  jener  Formeln  sich  bedient  haben 
werden,  wenn  auch  natürlich  nicht  als  Kettenbrüche,  an  deren  Vor- 
handensein nicht  zu  denken  ist,  bevor  eine  Schreibweise  der  Brüche 
durch  räumlich  unterscheidbare  Zähler  und  Nenner  sich  verbreitet 
hatte. 

Es  ist  nur  ein  unglücklicher  Zufall,  daß  wir  über  die  Wurzel- 
ausziehungsmethoden  Archimeds  im  dunkeln  tappen.  Eutokins,  der 
einen  Kommentar  zur  archimedischen  Kreismessung  geschrieben  hat, 
sagt,  wo  er  an  die  Quadrat \\'urzelwerte  kommt:  „Wie  man  aber  die 
Quadratwurzel,  die  einer  gegebenen  Zahl  sehr  nahe  kommt,  finden 
könne,  ist  von  Heron  in  seinem  metrischen  Werke  gezeigt  worden, 
ebenso  von  Pappus,  Theon  und  mehreren  anderen  Exegeten  der 
großen  Zusammenstellung  des  Klaudius  Ptolemäus.  Es  ist  daher 
nicht  nötig  Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand  anzustellen,  da 
Freunde  der  Mathematik  bei  jenen  darüber  nachlesen  können''^). 
Was  wir  diesen  Schriftstellern,  soweit  sie  erhalten  sind,  entnehmen, 
müssen  wir  später  im  Zusammenhang  mit  ihren  sonstigen  Leistungen 
besprechen. 

Versagt  uns  der  Kommentar  des  Eutokius  den  Dienst,  wo  wir 
seiner  am  dringendsten  bedürfen,  so  läßt  er  uns  doch  nicht  ganz 
ohne  Ausbeute.  Er  vollzieht  aufs  ausführlichste  mehrere  Multi- 
plikationen, und  diese  Stellen  gehören  zu  den  bedeutsamsten  für 
die  Kenntnis  griechischer  Rechenkunst.  Der  Gebrauch  der  Stamm- 
brüche (S.  128)  beim  wirklichen  Rechnen  geht  daraus  aufs  unzwei- 
deutigste hervor,  dann  aber  auch,  daß  die  Griechen  bei  ihren  Multi- 
plikationen im  wesentlichen  der  gleichen  Methode  sich  bedienten, 
der   wir  noch   heute  folgen,  nur  daß   sie   bezüglich  der  Anordnung 


>)  Archimed  (ed.  Heiberg)  IH,  270. 


Die  übngen  LeiBtnngon  des  Archimedes  319 

der  Teilmultiplikationen  den  entgegengesetzten  Weg  einschlagen.  Sie 
fingen  nämlich  mit  dem^  was  wir  die  Ziffer  höchsten  Ranges  im 
Multiplikator  neimen,  an  und  stiegen  dann  zu  den  niedrigeren  Stellen 
herab  y  sie  beobachteten  die  gleiche  Reihenfolge  innerhalb  der  Teile 

des  Multiplikandus.     So  wird  z.  B.  2016-^-  folgendermaßen  quadriert. 

Es  ist  2000.2000  =  4000000,  2000.10  =  20000,  2000.6  =  12000, 


2000  y- 333  J-;  10-2000-20000,  10  •  10  =  100,  10 

■6-60, 

10  .  -J  =.  1*  -J  ;  6  •  2000  -  12000,  6-10-60,  6  • 

6  -  36, 

6.|-l;|.2000-333j-,  ;.10-li|,;-.6-l,-J 

1   1 

6"  °"  36 

und  alle  diese  Teilprodukte  vereinigt  geben  4064928     • 

Man  könnte  bei  diesem  Fortschreiten  von  den  größeren  Teilen 
der  Zahlen  zu  immer  kleineren  an  die  mehrerwähnte  Stelle  des 
Herodot^)  denken,  daß  die  Hellenen  beim  Rechnen  die  Hand  von 
links  nach  rechts  bewegen.  Links  befand  sich  (S.  133)  auf  der 
Rechentafel  mit  gegen  den  Rechner  senkrechten  Kolumnen  die  höchste 
Rangstelle.  Man  dürfte  auch  die  Vermutung  aussprechen,  die  Ver- 
einigung der  Teilprodukte,  welche  als  vollzogen  gedacht  wird,  ohne 
zu  erklären,  wie  man  dabei  verfuhr,  sei  auf  der  Rechentafel  erfolgt, 
deren  Gebrauch  zur  Zeit  des  Polybius,  mithin  nur  ein  halbes  Jahr- 
hundert nach  Archimed  (S.  132)  wir  uns  ins  Gedächtnis  zurück- 
rufen. Jedenfalls  ist  dieses  griechische  Rechnen  innerhalb  und  mit 
Benutzung  des  Zehnerzahlensystems  ein  ungeheurer  Fortschritt  gegen- 
über dem  ägyptischen  Verfahren  der  Multiplikation  und  Division, 
welches  fast  nur  fortgesetzte  Verdoppelungen  und  Halbierungen  nebst 
additiver  Vereinigung  so  gewonnener  Ergebnisse  benutzte.  In  Griechen- 
land selbst  wurden  übrigens  nach  Aussage  eines  Scholiasten  zum 
Charmides  des  Piaton  beide  Methoden  gelehrt,  denn  anders  sind 
die  Ausdrücke  hellenische  und  ägyptische  Methoden  der  Multiplikation 
und  Division  nicht  zu  verstehen*).  Ihr  Nebeneinanderbestehen  läßt 
vermuten,  daß  bereits  die  Griechen  die  Erfahrung  machten,  die  ägyp- 
tische Methode  lasse  sich  im  Handelsverkehre  leichter  als  die  helle- 
nische anwenden,  eine  Erfahrung,  welche  italienische  Kaufleute  um 
Jahrhunderte  später  erneuerten. 

Wir  nannten  die  hier  erwähnten  Stellen  des  Eutokius  als  zu  den 
bedeutsamsten  für  die  Kenntnis  griechischer  Rechenkunst  gehörend. 
Vieles    ist    leider    verloren    gegangen.      Unter    den    Schriften    des 


')  Herodot  II,  86.       *)  P.  Tannery,  La  g^om^trie  grecque  etc.  pag.  49 
hat  zuerst  auf  diese  wichtige  Stelle  hingewiesen. 


320  16-  Kapitel. 

Xenokrates,  welche  wir  nur  dem  Titel  nach  kennen^)  (S.  249),  soll 
eine  Logistik  gewesen  sein.  Ein  Rechenmeister  Apollodorus  wird 
uns  genannt  (S.  180).  Von  der  Logistik  des  Magnus  erwähnt 
Eutokius  Rühmendes  am  Schlüsse  seines  Kommentars  zur  archi- 
medischen Kreismessung*).  Eine  Schrift,  welche  in  griechischer 
Sprache  von  dem  Rechnen  auf  dem  Rechenbrette  handelte,  war  im 
XVIIL  Jahrh.  noch  in  der  S.  Marcusbibliothek  in  Venedig  vorhanden, 
ist  aber  inzwischen  abhanden  gekommen  oder  verlegt,  so  daß  sie  in 
den  Handschriftenverzeichnissen  der  genannten  Bibliothek  nicht  mehr 
vorkommt').  Aber  was  läßt  mit  so  dürftigen  Angaben  sich  machen? 
Sogar  die  Lebenszeit  dieser  Schriftsteller  mit  Ausnahme  des  Xeno- 
krates ist  in  tiefstes  Dunkel  gehüllt.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich, 
daß  Archimed  selbst  ein  Buch  verfaßt  hat,  welches  mit  der  Rechen- 
kunst sich  beschäftigte.  Zu  dieser  Vermutung  geben  wenigstens  einige 
Bruchstücke  und  deren  Titel  Veranlassung.  Die  Schrift  hieß  die 
Grundzüge,  &QxaCj  und  war  dem  Zeuxippus  zugeeignet*).  Archimed 
lehrte  darin  unter  anderen  das  dekadische  Zahlensystem  in  übersicht- 
licher Gliederung  weit  über  die  Grenzen  derjenigen  Zahlen  aus- 
dehnen, mit  welchen  man  insgemein  zu  tun  hat.  Archimed  faßt 
nämlich  acht  aufeinander  folgende  Rangordnungen  in  eine  Oktade 
zusammen^).  Die  erste  Oktade  geht  also  von  der  Einheit  bis  zur 
Myriade  der  Myriaden,  d.  h.  bis  zu  100000000,  welche  Zahl  die  Ein- 
heit der  zweiten  Oktade  bildet.  Die  Einheit  der  dritten  Oktade  ist 
ihm  folglich  die  Zahl,  welche  wir  durch  Eins  mit  2  mal  8  oder  mit  16 
Nullen  schreiben.  Die  Einheit  der  26.  Oktade  ist  in  unserer  Schreib- 
weise 1  mit  25  mal  8,  d.  h.  mit  200  Nullen.  Diese  Oktaden  setzt 
Archimed  fort  bis  zur  10000  mal  lOOOOsten  und  sämtliche  Zahlen 
bis  zur  höchsten  dieser  letzten  Oktade  bilden  die  erste  Periode. 
An  sie  schließt  sich  aber  eine  neue  zweite  Periode,  deren  Einheit 
folglich  nach  unserer  Zahlenschreibweise  eine  1  mit  800  Millionen 
Nullen  ist!  Es  schwindelt  einem  bei  dem  Gedanken,  auch  mit  dieser 
zweiten  Periode  von  10000  mal  10000  Oktaden  die  Zahlenreihe  nicht 
abgeschlossen  zu  finden,  sondern  vielmehr  die  Möglichkeit  zugeben 
zu  müssen,  noch  höhere  Perioden  oder  gar  höhere  Gruppenordnungen 
als  die  Perioden  selbst  zu  bilden. 

Für  die  Richtigkeit  dieses  Auszuges  bürgt,  daß  er  von  Archimed 


*)  Diogenes  Laertius  VIII,  12.  •)  Archimed  (ed.  Heiberg)  m,  302. 
*)  PrivatmitteiluDg  des  Grafen  Soranzo  in  Venedig  auf  die  Anfrage  des  Ver- 
fassers nach  dem  Äbacus  in  Graeco^  von  welchem  Bern,  de  Montfaucon, 
Bibliotheca  bibliothecarom  manuscriptarum  I,  468  D  spricht.  *)  Archimed 
(ed.  Heiberg)  11,  242,  246,  (ed.  Nizze)  209,  212.  •)  Archimed  (ed.  Heiberg) 
n,  266  sqq.,  (ed.  Nizze)  217. 


Die  übrigen  Leistungen  des  Archimedes.  321 

in  eigener  Person  herrührt.  Er  gibt  ihn  uns  in  einer  yoUständig 
erhaltenen  Abhandlung,  der  Sandrechniing,  tl;afifLLti]g  (lateinisch: 
arenarius).  In  ihr  ist  die  Aufgabe  gestellt  eine  Zahl  anzugeben, 
welche  größer  sei  als  die  Zahl  der  Sandkörner,  die  eine  Kugel  fassen 
würde,  deren  Halbmesser  die  Entfernung  des  Erdmittelpunktes  von 
dem  Fixsternhimmel  wäre.  Vorausgesetzt  nun,  daß  10000  Sandkörner 
hinreichen  ein  Kömchen  von  der  Größe  eines  Mohnkornes  zu  liefern, 
und  daß  der  Durchmesser  eines  Mohnkornes  nicht  kleiner  als  der 
40.  Teil  einer  Fingerbreite  sei,  vorausgesetzt  ferner,  daß  der  Welt- 
durchmesser kleiner  als  10000  Erddurchmesser,  der  Erddurchmesser 
endlich  kleiner  als  eine  Million  Stadien  sei,  findet  Archimed  eine 
Zahl,  welche  die  Sandkömerzahl  einer  der  Weltkugel  gleich  ge- 
dachten Sandkugel  überschreitet  in  1000  Einheiten  der  7.  Oktade 
der  1.  Periode.  Ja  Archimed  geht  noch  weiter.  Er  nimmt  nach 
astronomischen  Anschauungen  des  Aristarchus  von  Samos^)  die 
Weltkugel,  die  er  alsdann  Fixstemkugel  nennt,  noch  größer  an  und 
erkennt,  daß  Sandkörner  1000  Myriaden  der  8.  Oktade  an  Zahl 
mehr  als  nur  ausreichen  würden,  selbst  diese  Fixsternkugel  zu 
bilden^). 

Was  ist  die  Bedeutung  dieser  eigentümlichen  Aufgabe?  Mannig- 
fache Vermutungen  sind  darüber  ausgesprochen  worden.  Man  hat 
vielleicht  nicht  ganz  unglücklich  versucht  den  Zweck  der  Schrift  in 
jenem  Bruchstücke  der  Grundzüge  zu  finden.  Mit  anderen  Worten: 
man  hat  es  als  einzigen  Zweck  der  Sandrechnung  bezeichnet,  ein 
Beispiel  davon  zu  liefern,  wie  man  die  Aussprache  der  Zahlen  von 
einer  gewissen  Höhe  an  bedeutend  vereinfachen  und  dabei  eine  Ein- 
sicht in  die  Art  ihres  Wachstums  gewähren  könne.  Neben  diesem 
Zwecke  hat  man  einen  anderen  wichtigeren  zu  erkennen  geglaubt, 
die  Sandrechnung  sei  dazu  bestimmt,  die  arithmetische  Ergänzung 
der  geometrischen  Exhaustionsmethode  zu  bilden.  Dem  Unendlich- 
kleinen gegenüber  ist  das  ünendlichgroße  der  zweite  Pol  des  Un- 
endlichkeitsbegriffes, wenn  wir  so  sagen  dürfen;  um  beide  dreht  sich 
die  ganze  Infinitesimalrechnung.  Will  man  aber  beide  Gegensätze 
deutlicher  hervortreten  lassen,  so  eignen  sich  geometrische  Betrach- 
tungen nahezu  zusammenfallender  Raumgebilde  vorzugsweise  dazu, 
das  Unendlichkleine  zu  versinnlichen,  während  das  Unendlichgroße 
unmöglich  an  Figuren  zu  begreifen  ist,  welche  dem  Auge  innerhalb 
des  Raumes  begrenzt  erscheinen.  Nur  durch  die  Zahl  wird  es  dem 
Verständnisse  näher  gebracht.     Man  kann  zeigen,  daß  jede  noch  so 


*)  Vgl.  über  diesen  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie  36—37.     *)  Archi- 
med (ed.  Heiberg)  II,  290,  (ed.  Nizze)  228. 

C AKTOR,  OescMchte  der  Mathematik  L  3.  Aufl.  21 


322  16.  Kapitel. 

große,  aber  gegebene  Zahl  durch  eine  im  übrigen  nicht  näher  be- 
stimmte Zahl  überstiegen  werden  kann,  man  kann  über  jede  noch  so 
ferne  Grenze  dabei  als  zu  nahe  gelegen  hinausgehen.  Das  gerade  hat 
Archimed  in  seiner  Sandrechnung  geleistet. 

Ist  die  Frage  nach  dem  Zwecke  der  Sandrechnung  schon  eine 
schwierige^  so  ist  die  Frage  nach  ihrer  Heimat  womöglich  noch 
weniger  sicher  zu  beantworten.  Auf  der  einen  Seite  ist  unzweifelhaft 
die  philosophische  wie  die  mathematische  Erkenntnis  des  Unend- 
lichen ein  Gegenstand  griechischer  Forschung  schon  in  einer  Zeit 
gewesen,  die  um  reichlich  ein  Jahrhundert  vor  Archimed  liegt.  Auf 
der  anderen  Seite  ist  die  griechische  Denkart  im  ganzen  so  über- 
trieben großer  Zahlen  nicht  gewohnt.  Nicht  vor,  nicht  nach  Archi- 
med finden  wir  ähnliches  in  griechischer  Sprache.  Man  könnte 
erwidern,  nicht  vor,  nicht  nach  Archimed  finde  man  unter  den  grie- 
chischen SchriftsteUem  einen  Archimed!  Allein  auch  eine  andere  Aus- 
kunft ist  nicht  unmöglich.  Es  könnte  hier  ein  auswärtiges  Problem 
vorliegen,  welches  Archimed  irgendwie,  irgendwo  einmal  zu  Ohren 
gekommen  wäre,  welches  er  mit  seinem  allumfassenden  Geiste  auf- 
nahm und  im  Sinne  seiner  Absicht,  die  vielleicht  von  der  des  ur- 
sprünglichen Stellers  der  Aufgabe  himmelweit  verschieden  war,  be- 
handelte. Man  möchte  fast  für  diese  Auffassung  auf  die  einleitenden 
Sätze  der  Sandrechnung  verweisen:  „Manche  Leute  glauben,  König 
Gelon,  die  Zahl  des  Sandes  sei  von  unbegrenzter  Größe.  Ich  meine 
nicht  des  um  Syrakus  und  sonst  noch  in  Sizilien  befindlichen,  son- 
dern auch  dessen  auf  dem  ganzen  festen  Lande,  dem  bewohnten  und 
unbewohnten.  Andere  gibt  es  wieder,  welche  diese  Zahl  zwar  nicht 
für  unbegrenzt  annehmen;  sondern  nur  daß  noch  keine  so  große 
Zahl  jemals  genannt  sei,  welche  seine  Menge  übertrifft.  Wenn  sich 
nun  eben  diese  einen  so  großen  Sandhaufen  dächten,  wie  die  Masse 
der  ganzen  Erde;  dabei  sämtliche  Meere  ausgefüllt  und  alle  Ver- 
tiefungen der  Erde  so  hoch  wie  die  höchsten  Berge,  so  würden  sie 
gewiß  um  so  mehr  glauben,  daß  keine  Zahl  zur  Hand  sei,  die  Menge 
derselben  noch  zu  überbieten.  Ich  aber  will  mittels  geometrischer 
Beweise,  denen  Du  beipflichten  wirst,  zu  zeigen  versuchen,  daß  unter 
den  von  mir  benannten  Zahlen,  welche  sich  in  meiner  Schrift  an  den 
Zeuxippus  befinden,  einige  nicht  nur  die  Zahl  eines  Sandhaufens 
übertreffen,  dessen  Größe  der  Erde  gleichkommt,  wenn  sie  nach  meiner 
Erklärung  ausgefüllt  ist,  sondern  auch  die  eines  solchen,  dessen  Größe 
dem  Weltalle  gleich  ist.''  So  der  Anfang  der  Abhandlung,  und  man 
wird  zugeben  müssen,  daß  Archimed  in  ihm  die  eigentümliche  Grup- 
pierung und  Benennung  der  großen  Zahlen  für  sich  in  Anspruch 
nimmt,  aber  keineswegs   den   Gedanken  eines   der  Erdkugel  gleichen 


Die  übrigen  Leistungen  des  Archimedes.  323 

Sandhaufens  selbst  als  einen  neuen  bezeichnet^  welchen  noch  niemand 
vor  ihm  geäußert  habe. 

Wir  haben  (S.  297)  zugesagt^  auch  die  Kenntnisse  Archimeds 
im  Gebiete  der  Mechanik  in  das  Bereich  unserer  Darstellung  zu 
begreifen.  Bei  Archimed  war  mehr  als  bei  irgend  früheren  Schrift- 
stellern die  Mechanik  der  Geometrie  eng  verschwistert.  Geometrische 
Betrachtungen  feinster  Art  standen  ihm  im  Dienste  der  Mechanik, 
mechanische  Lehren  wurden  aber  auch  zur  Beweisführung  geome- 
trischer Sätze  Ton  ihm  angewandt.  Wir  haben  wiederholt  yon  der 
Stellung  der  Abhandlung  über  die  Quadratur  der  Parabel  mitten 
zwischen  den  beiden  Büchern  yom  Gleichgewicht  der  Ebenen 
gesprochen,  und  diese  Stellung  ist  kennzeichnend  nach  beiden  Seiten 
hin.  Eine  Stetigkeit  des  Inhaltes  vom  I.  Buche  zur  Zwischenabhand- 
lung, yon  dieser  zum  IL  Buche  ist  imyerkennbar,  so  unverkennbar, 
daß  es  schwer  wird  zu  sagen,  welcher  einzelne  Satz  für  Archimed 
mit  der  Geltung  eines  mechanischen,  welcher  mit  der  eines  geome- 
trischen Satzes  versehen  ist.  Es  handelt  sich  in  der  ganzen  Schrift 
um  Schwerpunktsbestimmungen,  welche  auf  Grund  des  Satzes^) 
gefunden  werden,  daß  der  Schwerpunkt  einer  aus  zwei  gleich  schweren 
nicht  denselben  Schwerpunkt  besitzenden  Größen  zusammengesetzten 
Größe  in  der  Mitte  derjenigen  geraden  Linie  liegen  muß,  welche  die 
Schwerpunkte  der  beiden  Teile  verbindet,  zu  welchem  der  andere 
bereits  in  der  aristotelischen  Mechanik  (S.  255)  enthaltene  Satz*) 
kommt,  daß  kommensurable  wie  inkommensurable  Größen  im  Gleich- 
gewicht stehen,  sobald  sie  ihren  Entfernungen  von  dem  Stützpunkte 
des  Hebels,  an  welchem  sie  wirkend  ge- 
dacht sind,  umgekehrt  proportioniert 
sind.  So  findet  Archimed  den  Schwer- 
punkt eines  Parallelogrammes ,  eines 
Dreiecks,  eines  Paralleltrapezes  und  hat 
damit  das  nötige  Material,  um  nun  end-  _ 
lieh  bis  zum  17.  Satze  der  Zwischen-  ^-^ 
abhandlung  mechanisch  die  Quadratur 
der  Parabel  abzuleiten'^),  von  deren  sich 
alsdann  noch  anknüpfender  geometri- 
schen Begründung  wir  im  vorigen  Kapitel  gesprochen  haben.  Der 
Gang  ist  in  aller  Kürze  folgender.  Zuerst  (Fig.  54)  wird  an  dem 
gleicharmigen    in  B   gestützten  Hebel  ABT  ein  Dreieck   F^H  mit 


*)  Gleichgewicht  der  Ebenen  Buch  I,  Satz  4  (ed.  Heiberg)  II,  146,  (ed. 
Nizze)  2.  *)  Gleichgewicht  der  Ebenen  Buch  I,  Satz  6  und  7  (ed.  Heiberg) 
n,  162—160,  (ed.  Nizze)  8—6.  »)  Archimed  (ed.  Heiberg)  H,  308—386,  (ed. 
Nizzej  12—22. 

21' 


324 


16.  Kapitel. 


den  Befestigungspunkten  B  und  F  an  dem  Wagbalken  B  F  aufgehängt 
gedacht.  Es  wird  gezeigt,  daß  dieses  Dreieck  mit  einer  in  ^  auf- 
gehängten Figur  Z  in  Gleichgewicht  ist,  wenn  Z  der  dritte  Teil  des 

Dreiecks    F^H   ist.      Des    weiteren 
A  s  JE  IT  JT      wird  (Fig.  55)  ein  Paralleltrapez  auf- 

jrjx^        gehängt  gedacht,  dessen  nicht  parallele 
/-^Z  Seiten  sich  in  F  schneiden,   während 

/     /  die  parallelen  Seiten  senkrecht  gegen 

/  den  Wagbalken  sind.    Für  die  diesem 

/  Trapeze    ^KPT  bei   A    das    Gleich- 

gewicht haltende   Figur'  Z   wird  be- 
wiesen, daß  sie  zwischen  zwei  Grenzen, 
BH 


Fig.  55. 


dem    -^-^. 


und    dem     --fachen    des 

n  L 


Trapezes  enthalten  ist.  Jetzt  geht  Archimed  (Fig.  56)  zur  Aufhängung 
eines  Parabelabschnittes  über.  Er  hat  schon  im  Eingange  der  Ab- 
handlung einige  Eigenschaften  dieser  Kurve  erwähnt.  Er  zeigt  nun, 
daß  wenn  die  den  Abschnitt  bildende  Sehne  BF  m  beliebig  viele 
gleiche  Teile  geteilt  wird,  wenn  aus  jedem  Teilpunkte  eine  Parallele 

zu  Äz/  und  aus  den  Schnittpunkten 
dieser  Parallelen  mit  der  Parabel  Ver- 
bindungslinien nach  F  gezogen  werden, 
welche  man  noch  jenseits  des  Parabel- 
punktes bis  zur  nächsten  Parallelen 
verlängert,  der  Parabelabschnitt  als- 
dann als  zwischen  zwei  Summen  von 
trapezartigen  Stücken  enthalten  sich 
kundgibt.  Durch  Aufsuchen  der  jedem 
Trapezchen  in  A  das  Gleichgewicht 
haltenden  Figur,  sowie  durch  Ver- 
bindung der  beiden  genannten  Gleich- 
gewichtssätze für  das  Dreieck  und  das 
Trapez  ergibt  sich  endlich  der  Parabel- 
abschnitt als  Drittel  des  großen  Dreiecks  BFJ.  Andrerseits  ist  unter 
der  Voraussetzung,  es  sei  EM&  die  der  BF  parallele  Berührungs- 
linie an  die  Parabel,  M  die  Mitte  von  HA,  H  die  Mitte  von  BF  und 

A  die  Mitte  von  FA,  folglich  HM^  ~,  Daraus  ergibt  sich,  daß 
der  Parabelabschnitt  -  -  des  kleinen  Dreiecks  BMF  ist,  wie   erwiesen 

werden  sollte.  Im  IL  Buche  des  Gleichgewichts  der  Ebenen  geht 
dann  Archimed  dazu  über,  den  Schwerpunkt  des  parabolischen 
Abschnittes  zu  finden. 


Die  übrigen  Leistmigeii  des  Archimedes.  325 

Noch  gewaltiger  förderte  Archimed  die  Erkenntnis  der  Gesetze 
gegenseitigen  Druckes  flüssiger  und  fester  Körper.  Er  entdeckte  das 
nach  ihm  benannte  hydrostatische  Prinzip^),  welches  als  Lehr> 
satz  gekleidet  von  ihm  folgendermaßen  ausgesprochen  wurde:  Jeder 
feste  Körper,  welcher,  leichter  als  eine  Flüssigkeit,  in  diese  eingetaucht 
wird,  sinkt  so  tief,  daß  die  Masse  der  Flüssigkeit,  welche  so  groß 
ist  als  der  eingesunkene  Teil,  ebensoviel  wiegt,  wie  der  ganze 
Körper*).  Daraus  folgt  ein  weiterer  Satz:  Wenn  ein  Körper,  leichter 
als  eine  Flüssigkeit,  in  diese  getaucht  wird,  so  verhält  sich  sein  Ge- 
wicht zu  dem  einer  gleich  großen  Masse  Flüssigkeit,  wie  der  einge- 
sunkene Teil  des  Körpers  zum  ganzen  Körper^).  Dieser  Satz  bildet 
selbst  die  wissenschaftliche  Definition  des  spezifischen  Gewichtes  für 
solche  Stoße,  die  leichter  als  die  zur  Dichtigkeitseinheit  gewählte 
Flüssigkeit  sind. 

Das  spezifische  Gewicht  dichterer  Körper  hatte  Archimed, 
wie  wir  (S.  310 — 312)  besprochen  haben,  bei  seiner  Kronenrechnung 
zu  benutzen  verstanden.  Wir  lehnten  es  dort  ab,  zu  entscheiden, 
welcher  von  den  beiden  berichteten  Methoden  Archimed  sich  tat- 
sächlich bediente.  Auch  jetzt,  wo  der  Zusammenhang  mit  den  Büchern 
von  den  schwimmenden  Körpern  uns  nahe  legen  würde,  von  jener 
unparteiischen  Zwischenstellung  uns  zu  entfernen,  sprechen  wir  nur 
mit  besonderem  Vorbehalte  unsere  persönliche  Meinung  über  jene 
Frage  aus.  Die  Methode  mehrfacher  Abwägungen  ließ  jedenfalls  ein 
genaueres  Ergebnis  finden  als  die  Methode  der  Abmessung  der  aus- 
laufenden Flüssigkeit,  und  gerade  deshalb  scheint  uns,  da  nun  einmal 
beide  Methoden  berichtet  werden,  beide  also  mindestens  zur  Zeit,  als 
der  Berichterstatter  lebte,  wahrscheinlich  aber  viel  früher,  bekannt 
gewesen  sein  müssen,  die  letztgenannte  Methode  die  ersterfundene 
gewesen  zu  sein*).  Der  Gedankengang  ist  doch  wohl  der  natür- 
lichere, daß  dem  Archimed  zuerst  unmittelbare  Messung  des  ver- 
drängten Wassers  vorschwebte,  und  daß  erst  später,  sei  es  durch  ihn 
selbst,  sei  es  durch  Nachfolger,  das  mittelbare  Verfahren  erfunden 
wurde,  nachdem  die  praktische  ünausführbarkeit  erkannt  war,  das 
verdrängte  Wasser  vollständig  und  genau  aufzufangen  und  zu  messen. 
Sei  dem  nun,  wie  da  wolle,  jedenfalls  hat,  wie  wir  schon  andeuteten, 


')  Über  das  hydrostatische  Prinzip  vgl  Ch.  Thurot,  Eecherches  historiqu^s 
8Ur  1e  principe  cVArvhimede  in  der  Revue  Ärcheolotjique  1H69.  *)  Archimed, 
Von  schwimmenden  Körpern  Buch  1,  Satz  5  (etl.  Heiberg)  IV,  867,  (ed.  Nizze) 
227.  ^).  Archimed,  Von  schwimmenden  Körpern  Buch  II,  Satz  1  (ed.  Hei- 
berg)  II,  375,  (ed.  Nizze)  232.  *)  Montucla,  Histoire  des  Mathematiques  I, 
229  vertritt  die  entgegengesetzte  Ansicht  und  Thnrot  scheint  ihm  zu  t'oJgen, 
wenn  er  sich  auch  nicht  so  bestimmt  ausspricht. 


326  16.  Kapitel. 

die  Kronenreclinung  frühzeitig  ein  verdientes  und  ungewöhnliches  Auf- 
sehen verursacht.  Yitruvius  nennt  sie  nehen  der  Inkommensurabilität 
der  Diagonale  eines  Quadrates  und  neben  dem  pythagoräischen  Drei- 
ecke aus  den  Seiten  3,  4,  5  in  gleicher  Linie.  Sie  stellen  ihm  ge- 
meinschaftlich die  drei  größten  mathematischen  Entdeckungen  dar^). 
ProkluB  erzählt,  König  Gelon  habe  im  Hinblick  auf  die  Kronen- 
rechnung gesagt,  er  werde  hinfort  nichts  bezweifeln,  was  Archimed 
behaupte^). 

Dasselbe  geflügelte  Wort,  erzählt  Proklus  weiter,  werde  auch  auf 
König  Hiero  zurückgeführt,  und  knüpfe  sich  an  eine  andere  mecha- 
nische Leistung,  welche  dem  Laien  noch  wunderbarer  vorkommen 
mußte,  weil  ihm  selbst  eine  unbegreifliche  Handlung  ermöglicht 
wurde.  Archimed  habe  nämlich  mit  Hilfe  von  eigentümlich  zusammen- 
gesetzten Herrichtungen  es  fertig  gebracht,  daß  König  Hiero  ganz  allein 
ein  schweres  Schifl'  von  Stapel  lassen  konnte.  Ob  die  Herrichtung 
der  Hauptsache  nach  ein  Flaschenzug ^),  rQLöJcdörog,  war,  ob  eine 
Spirale^),  skL^^  sie  darstellte,  ist  ziemlich  gleichgültig.  Jedenfalls 
ist  der  Name  des  Archimed  für  alle  Zeiten  mit  dem  einer  dritten 
Gattung  von  Vorrichtungen,  mit  der  Schraube^),  xoxUaj  verbunden 
geblieben,  welche  er  als  Wasserhebewerk  benutzte,  und  das  ihm  inne- 
wohnende Bewußtsein  der  großen  Leistimgsfähigkeit  seiner  Maschinen 
spiegelt  sich  in  dem  stolzen  Worte:  Gib  mir  wohin  ich  gehen  kann, 
und  ich  setze  die  ganze  Erde  in  Bewegung*),  sta  ß&  xal  xa^iörtovi 
räv  yäv  xlvii}6(o  Ttäöav,  oder  gib  mir  wo  ich  stehe  ^d  ich  bewege 
die  Erde^)  dög  fiol  %ov  öra  xal  xivcb  ri^v  yrjv. 

Wir  übergehen  das,  was  von  einem  vielleicht  durch  eine  Art 
Gebläse  oder  durch  Wasserkraft  in  Bewegung  gesetzten  Himmels- 
globus^) des  Archiqied  erzählt  wird,  was  sich  auf  ein  fQr  König 
Hiero  erbautes  großes  Schiff  mit  20  Ruderbänken^),  was  sich  auf  die 
Brennspiegel  bezieht,  mittels  deren  Archimed  bei  der  Römer- 
belagerung die  feindlichen  Schiffe  in  Brand  gesetzt  haben  soll^°). 
Das  sind  Gegensiände,  die  noch  weniger  als  die  zuletzt  besprochenen 
der  Geschichte  der  Mathematik  angehören,  und  die,  mag  an  ihnen 
wahr  sein,  was  da  wolle,  die  Verdienste  Archimeds  für  unsere  Zwecke 
weder  erhöhen,  noch  beeinträchtigen. 

»)  Vitruvius  IX,  1—8.  *)  Proklus  (ed.  Priedlein)  68.  ^  Tzetzes  II, 
85.  *)  Athenaeus  V,  p.  217.  ^)  Diodor  I,  34  und  V,  37.  •)  Tzetzes  II, 
130.  0  Pappus  Vm,  11  (ed.  Hultsch)  1060.  »)  Bunte,  Leerer  Gymnasial- 
programm von  1877,  S.  15—18  und  Hultsch,  Ueber  den  Himmelsglobus  des 
Archimedes.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXII,  Histor.-literar.  Abteilung  106  (1877). 
^  Athenaeus  V,  pag.  207.     *^)  Heiberg,  Quaestionea  Archimedeae  89—41. 


Eratosthenes.    Apollonins  von  Pergä.  327 

16.  Kapitel. 
Eratosthenes.     ÄpoUoBius  yon  Pergä. 

Etwa  11  Jahre  nach  der  Geburt  des  Archimedes^  im  Jahre  276 
oder  275  wurde  in  Kyrene,  der  therischen  Kolonie  an  der  Nordküste 
Afrikas,  Eratosthenes,  Sohn  des  Eglaos  geboren^).  Er  yerbrachte 
den  größten  Teil  seines  Lebens  in  Alexandria.  Dort  ward  er  er- 
zogen unter  der  Leitung  seines  Landsmannes  Kallimachus,  des 
gelehrten  Vorstehers  der  großen  Bibliothek,  sowie  eines  anderen  sonst 
unbekannten  Philosophen  Lysanias.  Dann  wandte  er  sieh  nach  Athen, 
wo  er  der  Schule  der  Platoniker  sich  näherte,  so  daß  er  selbst  als 
Platoniker  bezeichnet  wird,  und  wo  er  wahrscheinlich  auch  zuerst  in 
das  Studium  der  Mathematik  eindrang.  Ptolemaeus  Euergetes  —  der 
dritte  Ptolemäer,  wie  Suidas  erzählt^  dem  die  Notizen  für  das  Leben 
des  Eratosthenes  fast  ausschließlich  zu  verdanken  sind  —  berief  Era- 
tosthenes wieder  nach  Alexandria  zurück  als  Nachfolger  seines  Lehrers 
KaUimachus  in  der  Vorstandsstellung  bei  der  Bibliothek,  und  von  da 
an  scheint  sein  Verhältnis  zu  diesem  Fürsten  wie  zur  Fürstin  Arsinoe 
ein  besonders  freundschaftliches  geworden  zu  sein.  Es  ist  folglich 
keinerlei  Grund  vorhanden  anzunehmen,  Eratosthenes  sei  in  späteren 
Jahren  von  der  Bibliothek  entfernt  ins  Elend  geraten,  wenn  auch 
andrerseits  die  Nachrichten  aUzu  übereinstimmend  sind  um  sie  zu 
verwerfen,  daß  Eratosthenes  augenleidend,  vielleicht  sogar  erblindet, 
seinem  Leben  ungefähr  194  v.  Chr.  durch  freiwilligen  Hungertod  ein 
Ende  machte. 

Die  wissenschaftliche  Bedeutung  des  Eratosthenes  war  eine 
mannigfaltige.  Das  Hauptgewicht  scheint  er  selbst  auf  seine  litera- 
rische und  grammatische  Tätigkeit  gelegt  zu  haben,  wenigstens  gab 
er  sich  den  Beinamen  des  Philologen.  Allein  auch  in  den  meisten 
anderen  Lehrgegenständen  trat  Eratosthenes  als  Schriftsteller  auf,  wie 
die  erhaltenen  Überschriften  seiner  Werke  bezeugen,  und  sicherlich 
nicht  mit  Unrecht  nannten  ihn  deshalb  die  Schüler  des  Museums 
Pentathlon,  den  Kämpfer  in  allen  fünf  Fechtweisen,  welche  bei  den 
Kampfspielen  in  Gebrauch  waren.  Um  diese  Vielseitigkeit  zu  kenn- 
zeichnen mag  nur  der  Schrift  über  das  Gute  und  Böse  neben  der 
Erdmessung,    des   Werkes    über    die  Komödie    neben   der   Geo- 

*)  Vgl.  FabriciuB,  Bibliotheca  Graeca  (ed.  Harless)  IV,  120—127.  Era- 
tosthenis  geographicorum  fragmenta  (ed.  Seidel)  Göttingen  1789.  G.  Bern- 
hardy,  Eratosthenica.  Berlin  1822  und  desselben  Verfassers  Artikel  Eratos- 
thenes in  Ersch  und  Grubers  Encyklopädie.  Eratosihenis  Carminum  reltquiae 
(ed.  Hiller)  Leipzig  1872. 


328  16.  Kapitel. 

graphie,  der  Chronologie  neben  dem  Buche  über  die  Würfel- 
verdoppelung gedacht  sein. 

In  der  Erdmessung,  mit  welcher  eine  besondere  Schrift  üagl 
tfjg  ävafiszQT^ascog  rfig  yfig  sich  beschäftigte,  war  zum  ersten  Male 
von  einem  Griechen  der  Versuch  gemacht  die  Größe  der  Erde  genau 
zu  bestimmen.  Er  fand  den  Grad  zu  126000  Meter,  während  die 
wahre  Länge  des  Breitengrades  in  Ägypten  110802,6  Meter  beträgt, 
so  daß  also  Eratosthenes  bei  seiner  Schätzung  um  fast  137^  Prozent 
irrte,  ein  Irrtum,  den  man  aber  nicht  so  beträchtlich  finden  wird, 
wenn  man  erwägt,  daß  dem  Eratosthenes  dabei  höchstens  bis  zur 
zweiten  Katarakte  wirkliche  Landesvermessungsergebnisse  zu  Gebote 
standen,  während  er  für  das  obere  Land  bis  zu  den  Nilkrümmungen 
und  nach  Meroe  von  den  ganz  unbestimmten  Angaben  der  wenigen 
Reisenden  abhängig  war,  welche  die  Hauptstationen  und  ihre  Ent- 
fernungen in  Tagesmärschen  aufgezeichnet  hatten^). 

Den  erhaltenen  Bruchstücken  der  Geographie  hat  man  ent- 
nommen, daß  Eratosthenes  nicht  nur  eine  klare  Beschreibung  des 
Vorhandenen  lieferte,  sondern  auch  allgemeine  Betrachtungen  über 
das  Werden  und  die  Ursachen  der  Veränderungen  der  Erdoberfläche 
mit  Glftck  gewagt  hat*). 

Für  die  Chronologie  ist  seit  Auffindung  des  Ediktes  von 
Kanopus  ein  Inhalt  bekannt  geworden,  an  welchen  niemand  früher 
dachte,  niemand  denken  konnte.  Wir  haben  gelegentlich  (S.  78)  von 
dieser  Verordnung  gesprochen.  Die  in  Kanopus,  nur  wenige  Weg- 
stunden von  Alexandria  entfernt,  versammelte  Priesterschaft  verkündete 
imter  dem  Datum  des  19.  Tybi  des  9.  Regierungsjahres  Ptolemaeus  III., 
Euergetes  I.  d.  i.  am  7.  März  238  v.  Chr.  den  BefehP),  daß  „damit 
auch  die  Jahreszeiten  fortwährend  nach  der  jetzigen  Ordnung  der 
Welt  ihre  Schuldigkeit  tun  und  es  nicht  vorkomme,  daß  einige  der 
öflfentlichen  Feste,  welche  im  Winter  gefeiert  werden,  einstens  im 
Sommer  gefeiert  werden,  indem  der  Stern  um  einen  Tag  alle  vier 
Jahre  weiterschreitet,  andere  aber,  die  im  Sommer  gefeiert  werden, 
in  späterer  Zeit  im  Winter  gefeiert  werden,  wie  das  sowohl  früher 
geschah,  als  auch  jetzt  wieder  geschehen  würde,  wenn  die  Zusammen- 
setzung des  Jahres  aus  den  360  Tagen  und  den  5  Tagen,  welche 
später    noch   hinzuzufügen    gebräuchlich  wurde,    so    fortdauert,    von 


^)  Lepsius,  Das  Stadium  und  die  Gradmessung  des  Eratostlienes  auf 
Grundlage  der  ägyptischen  Maße  (in  der  Zeitschr.  f.  ägypt.  Sprache  und  Alter- 
thumskunde  lö77,  1.  Heft).  *)  Alex.  v.  Humboldt,  Kosmos  H,  208  und  zuge- 
hörige Anmerkung  S.  435.  Berger,  Die  geographischen  Fragmente  des  Eratos- 
thenes neu  gesammelt,  geordnet  und  besprochen.  Leipzig  1880.  ^}  Lepsius, 
Das  bilingue  Dekret  von  Kanopus.     Berlin  186G.  Bd.  J. 


Eratoatheoes.     ApoUonius  von  Perga.  329 

jetzt  an  1  Tag  als  Fest  der  Götter  Euerget^u  alle  4  Jahre  gefeiert 
werde  hinter  den  5  Epagomenen  und  vor  dem  Neuen  Jahre,  damit 
jedermann  wisse,  daB  das,  was  früher  in  bezug  auf  die  Einrichtung 
der  Jahreszeiten  und  des  Jahres  und  das  hinsichtlich  der  ganzen 
Himraelsordnung  Augenommene  fehlte,  durch  die  Götter  Euergeten 
glücklich  berichtigt  und  ergänzt  worden  ist."  Ob  Eratosthenes  selbst 
diese  wichtige  chronologische  Neuerung  veranlaßte,  ist  unsicher.  Kalli- 
machus  soll  nämlich  um  die  CXXXV.  oder  CXXXVI.  Olympiade  ge- 
storben sein.  Der  Anfang  der  ersteren  war  240,  der  der  zweiten  236. 
Zwischen  beide  Anfänge  fällt  das  Edikt  von  Kanopus.  Da  nun 
Eratosthenes  erst  nach  dem  Tode  des  Kallimachus  wieder  nach 
Alexandria  zurückkehrte,  so  hängt  es  wesentlich  von  der  genauen 
Bestimmung  dieses  Todesjahres  ab,  ob  Eratosthenes  bei  Erlaß  des 
Ediktes  zur  Stelle  war  oder  nicht.  Aber  sei  dem,  wie  da  wolle, 
irgend  eine  Beziehung  zwischen  der  Schaltjahreinrichtung  und  der 
Chronologie  des  Eratosthenes  wird  nicht  wohl  von  der  Hand  zu 
weisen  sein.  Wir  machen  zugleich  darauf  aufmerksam,  daß  von 
dieser,  merkwürdigen  Tatsache  des  Vorhandenseins  eines  ägyptischen 
Schaltjahres  in  der  frühen  Ptolemäerzeit  der  Altertumsforschung  vor 
Auffindung  des  Ediktes  selbst  nicht  eine  Silbe  bekannt  war.  Nicht 
die  leiseste  Anspielung  auf  diese  jetzt  durchaus  feststehende  bedeut- 
same Reform  kommt  in  uns  erhaltenen  alexandrinischen  Schriften  vor, 
ein  Wink,  nicht  gar  ^u  viel  auf  das  negative  Zeugnis  fehlender  Be- 
lege für  eine  an  sich  wahrscheinliche  Vermutung  zu  vertrauen. 

Über  alle  diese  Schriften  müssen  kurze  Andeutungen  hier  ge- 
nügen. Bevo?  wir  zum  Briefe  über  die  Würfelverdoppelung  und 
damit  zur  mathematischen  Seite  der  Tätigkeit  des  Eratosthenes  über- 
gehen, wollen  wir  nur  eines  weiteren  Beinamens  noch  gedenken,, 
unter  welchem  er  mitunter  vorkommt.  Man  nannte  ihn  nämlich 
Beta.  Die  Bedeutung  dieses  Beinamens  ist  sehr  zweifelhaft.  Die 
einen  wollen,  er  habe  ihn  deshalb  erhalten,  weil  er  der  zweite  Vor- 
steher der  großen  Bibliothek  gewesen  sei.  Allein  dieses  ist  eines- 
teils unrichtig,  wenn,  wie  sonst  angenommen  wird,  Zenodotus  der 
erste,  Kallimachus  der  zweite,  Eratosthenes  also  erst  der  dritte  Vor- 
steher war,  andemteils  ist  nirgends  eine  Spur  zu  finden,  daß  Zeno- 
dotus oder  auch  Kallimachus  etwa  Alpha,  oder  einer  der  Nachfolger 
des  Eratosthenes  Gamma  oder  Delta  genannt  worden  wäre.  Wahr- 
scheinlicher ist  die  andere  Ableitung,  wonach  das  Wort  Beta  ihn  als 
zweiten  Piaton  kennzeichnen  sollte,  oder  allgemeiner  als  denjenigen^ 
der  überall  den  zweiten  Rang  wenigstens  sich  zu  erobern  wußte, 
wenn  der  erste  Rang  auch  ehrfurchtsvoll  den  Altvordern  eingeräumt 
werden  muß.     Endlich  kommt  noch  in  Betracht,  daß  Buchstaben  als 


330 


16.  Kapitel. 


Beinamen,  und  zwar  unter  den  seltsamsten  Begründungen^  auch  ander- 
weitig bei  den  Griechen  um  das  Jahr  200  v.  Chr.  vorkommen.  So 
wird  ein  Astronom  ApoUonius,  der  zur  Zeit  des  Königs  Ptolemaeus 
Philopator  sich  mit  Untersuchungen  über  den  Mond  beschäftigte  und 
dadurch  sich  weithin  bekannt  machte,  als  Epsilon  bezeichnet;  denn 
der  Buchstabe  €  sehe  der  Gestalt  des  Mondes  gleich^). 

Der  Brief  über  die  Würfelverdoppelung  ist  von  uns  be- 
reits mehrfach  benutzt  worden.  Dem  Anfange  desselben  entnahmen 
wir  (S.  211)  die  Geschichte  der  Entstehung  jenes  Problems.  Als 
wir  von  Eudoxus  und  Menächmus  und  ihren  Würfelverdoppelungen 
redeten  (S.  231  und  229),  bezogen  wir  uns  auf  ein  Epigramm^), 
welches  den  Schluß  des  Briefes  bildet.  Der  Hauptteil  des  Briefes 
lehrt  selbst  eine  Verdoppelung  des  Würfels  unter  Anwendung  eines 
eigens  dazu  erfundenen  Apparates,  des  Mesolabium,  wie  es  genannt 
wurde,  weil  es  dabei  auf  die  Auffindung  zweier  geometrischer  Mittel 
zwischen  zwei  gegebenen  Größen  und  zwar  durch  Bewegungsgeo- 
metrie  (S.  209)  ankam  ^).  Das  Mesolabium  bestand  aus  drei  einander 
gleichen  rechtwinkligen  Täfelchen  von  Holz,  Elfenbein  oder  Metall, 
welche  zwischen  zwei  mit  je  drei  Rinnen  versehenen  Linealen  ein- 
geklemmt   in    diesen   Rinnen    übereinander   weg   verschoben   werden 

konnten.  Die  Anfangslage  ist  in 
der  Figur,  welche  Eutokius  in  seinem 
Kommentare  zu  Archimeds  Büchern 
von  der  Kugel  und  dem  Zylinder, 
wo  der  ganze  Brief  des  Eratosthenes 
eingeschaltet  sich  finÄet,  beigibt,  mit 
den  Buchstaben  (Fig.  57)  AEZA, 
AZHI,  IH0^  versehen,  wobei, 
wie  wir  im  vorübergehen  bemerken,  der  Buchstabe  I  auffallen  mag. 
Auch  in  der  in  dem  gleichen  Kommentare  erhaltenen  Figur  zur 
Würfelverdoppelung  des  Archytas  (S.  228  Fig.  36)  kommt  ein  I  vor, 
während  Euklid  diesen  Buchstaben  grundsätzlich  vermieden  hat,  viel- 

*)  Ptolemaeus  Hephaestio  bei  Photius  cod.  CXC.  *)  Hiller  in 
seiner  Ausgabe  der  poetischen  Fragmente  des  Eratosthenes  hält  aus  sprach- 
lichen Gründen  das  Schlußepigramm  sowie  vielleicht  den  ganzen  Brief  für  un- 
echt. Die  sprachliche  Form  geben  wir  deshalb  preis,  da  wir  uns  nicht  be- 
rechtigt glauben  auf  diesem  Gebiete  zu  widersprechen,  den  Inhalt  aber  halten 
wir  der  wesentlichen  Übereinstimmung  wegen  mit  allem,  was  wir  wissen,  nach 
wie  vor  für  echt.  *)  Den  Namen  des  M*esolabium  kennen  wir  aus  Vitruvius 
IX,  3  und  aus  Pappus  III,  4  (ed.  Hultsch)  64.  Die  Beschreibung  des  Appa- 
rates bei  Pappus  III,  5  (ed.  Hultsch)  56  sq.  weicht  in  Einzelheiten,  aber  nicht 
in  dem  Hauptgedanken  von  dem  eratosthenischen  Briefe  ab  und  bestätigt  so 
unsere  in  der  vorigen  Anmerkung  ausgesprochene  Meinung. 


Eratosthenes.    ApoUonius  von  Pergä.  331 

mehr  nach  6^  sofort  zu  K  überging.  Offenbar  wollte  man  dadurch 
der  leicht  möglichen  VerwechBlung  des  Buchstaben  I  mit  einem  ein- 
fachen Yertikalstriche  vorbeugen.  Aristoteles  freilich  und  wohl  aUe 
ihm  vorhergehenden  Schriftsteller  vermieden  das  I  noch  nicht  bei 
Figurenbezeichnungen  ^).  Wohl  möglich,  daß  diese  Sitte  auch  zur 
Zeit  des  Eudemus,  dessen  Au&eichnungen  Eutokius  das  Verfahren 
des  Archytas  entnimmt;  noch  nicht  aufgekommen  war.  Für  das  Vor- 
kommen des  I  in  einer  Figur  des  Eratosthenes  wissen  wir  keine 
andere  Erklärung,  als  daß  an  dem  ursprünglichen  Texte  mancherlei, 
wenn  auch  den  Inhalt  wenig  berührende  Änderungen  vorgenommen 
worden  sein  müssen,  von  denen  unter  anderen  die  Buchstaben  der 
einen  Figur  betroffen  wurden.  War  nun  AE  die  größere,  J6  die 
kleinere  Linie,  zwischen  welche  die 
beiden  mittleren  Proportionalen  ein- 
zuschalten waren,  so  mußte  man 
(Fig.  58)  die  Rechteckchen  so  ver- 
schieben, daß  das  erste  einen  Teil  des 
zweiten,  dieses  einen  Teil  des  dritten 
verbarg  und  zwar  derart,  daß  die 
von  A  nach  A  gezogene  Grade  durch 
die  Punkte  B,  F  hindurchging,  von  welchen  an  die  Diagonalen  des 
zweiten  und  dritten  Rechteckchens  sichtbar  waren;  die  BZ  und  FH 
sind  alsdann,  wie  leicht  zu  beweisen  ist,  die  beiden  gesuchten  mitt- 
leren Proportionallinien.  Eratosthenes  schlug  diese  seine  Erfindung 
so  hoch  an,  daß  er  zum  ewigen  Gedächtnisse  derselben  ein  Exemplar 
als  Weihgeschenk  in  einem  Tempel  aufhängen  ließ.  Die  von  ihm 
selbst  entworfene  Inschrift,  welche  die  Gebrauchsanweisung  enthielt, 
soll  das  mehrgenannte  Schlußepigramm  des  eratosthenischen  Briefes  sein. 

Ob  ein  vonPappus  an  zwei  Stellen*)  erwähntes  Werk  des  Eratos- 
thenes über  Mittelgrößen,  Jisgl  ^66ori]r(ov  oder  rÖTtot  Ttgbg  fiBöö- 
xritagj  sich  gleichfalls  auf  die  Würfelverdoppelung  bezog,  ist  ungewiß. 
Wäre  dem  so,  so  würde  daselbst  möglicherweise  eine  geometrische 
Lösung  gelehrt  worden  sein,  da  Pappus  das  eine  Mal  bemerkt,  diese 
Schrift  stehe  mit  den  linearen  Örtern  ihrer  ganzen  Voraussetzung 
nach  in  Zusammenhang. 

Noch  geringfügiger  sind  die  Spuren  eines  weiteren  Werkes  des 
Eratosthenes,  welche  auf  wenige  unbedeutende  Zitate  bei  Theon  von 
Smyma*)  sich  beschränken.     Wenn  auch  der  Schluß  gerechtfertigt 


^)  Heibergin  den  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathematik  XYIU,  18. 
*)  PappuB  VII,  Prooemium  (ed.  Hultsch)  686  und  662.  »)  Theon  Smyr- 
naeus  (ed.  Hiller)  82,  107,  111. 


332  16.  Kapitel. 

sein  mag,  in  jenem  Werke  sei  yon  den  Proportionen  und  sonstigen 
arithmetischen  Fragen  die  Rede  gewesen,  so  schwebt  doch  die  Be- 
hauptung^) ganz  in  der  Luft,  sie  habe  den  Titel  Arithmetik  geführt. 

Vielleicht  gehört  ebendahin  ein  Bruchstück,  welches  bei  Niko- 
machus  von  Gerasa  und  in  dem  Kommentare  zu  dessen  Arithmetik 
von  Jamblichus  sich  vorfindet^).  Vielleicht  aber  bildet  auch  dieses 
Bruchstück  einen  Teil  einer  besonderen  Schrift,  welche  den  Titel 
des  Siebes  führte.  Das  Sieb,  xööxivov  (lateinisch:  crihrum  Eratos- 
thenis)  ist  eine  Methode  zur  Entdeckung  sämtlicher  Primzahlen.  Man 
schreibt,  so  lautet  die  Regel,  alle  ungeraden  Zahlen  von  der  3  an  der 
Reihe  nach  auf.  Man  streicht  nun  jede  dritte  Zahl  hinter  der  3 
durch,  so  sind  die  Vielfachen  der  3  entfernt.  Dann  geht  man  zur 
nächsten  Zahl  5  über  und  streicht  jede  fünfte  Zahl  hinter  ihr  durch 
ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  schon  durch  einen  früheren  Strich 
vernichtet  ist  oder  nicht,  so  sind  die  Vielfachen  der  5  entfernt.  Fährt 
man  weiter  so  fort,  indem  man  beim  Abzählen  und  Durchstreichen 
die  bereits  durchstrichenen  Zahlen  den  unberührten  gleichachtet  und 
nur  den  Unterschied  macht,  daß  man  keine  durchstrichene  Zahl  als 
Ausgangspunkt  einer  neuen  Aussiebung  benutzt,  so  bleiben  schließlich 
nur  die  Primzahlen  übrig.  Sämtliche  zusammengesetzte  Zahlen  da- 
gegen sind  vernichtet,  und  am  Anfange  fehlt  auch  noch  die  Prim- 
zahl 2,  welche  Jamblichus,  weil  sie  gerad  sei,  nicht  unter  die  Prim- 
zahlen gerechnet  wissen  will,  trotzdem  Euklid  sie  fehlerhafterweise 
dorthin  verwiesen  habe*). 

Die  Siebmethode  des  Eratosthenes  ist  gerade  keine  solche,  zu 
deren  Ersinnung  ein  übermäßiger  Scharfsinn  gehörte.  Trotz  dessen 
glauben  wir  sie  ihrer  geschichtlichen  Stellung  wegen  für  einen  ziem- 
lich bedeutenden  Fortschritt  in  der  Zahlentheorie  halten  zu  müssen. 
Man  erwäge  nur,  wie  die  Sache  der  Zeitfolge  nach  liegt.  Zuerst 
unterschied  man  Primzahlen  von  zusammengesetzten  Zahlen  und  leitete 
wohl  manche  Eigenschaften  der  letzteren  aus  den  ersteren  ab.  Der 
zweite  Schritt  war  der,  daß  Euklid  zeigte,  wie  die  Anzahl  der  Prim- 
zahlen unendlich  sei,  wie  es  folglich  nicht  möglich  sei,  alle  Prim- 
zahlen zu  untersuchen.  Jetzt  erst  gewinnt  es  als  dritter  Schritt 
Bedeutung,  wenn  Eratosthenes  zeigt,  wie  man  wenigstens  imstande 
sei,  die  Primzahlen,  soweit  man  in  der  Zahlenreihe  gehen  will,  zu 
entdecken,  und  somit  der  Unausführbarkeit  der  Darstellung  sämtlicher 
Primzahlen   eine   von   der  Willkür  des   Rechners  abhängende  untere 

^)  Fabricius,  Bihliotheca  graeca  (ed.  Harless)  IV,  121.  *)  Nicomachus 
(ed.  Ho  che)  29  ügg.  Jamblichus  in  Nicomachi  ariihmeticam  (ed.  Tennulius) 
41,  42,  (ed.  Pia  teil  i)  29  sqq.  *)  Jamblichus  in  Nicomachi  ariihmeticam  (ed. 
Tennulius)  42,  (ed.  Pistelli)  30,  31. 


Eratosthenes.     ApoUoniuB  von  Pergä.  333 

Grenze  zu  setzen.  An  und  für  sich  hätte  die  Erfindung  des  Eratos- 
thenes ebensogut  vor  als  nach  Euklid  gemacht  werden  können;  nur, 
meinen  wir,  wäre  ihr  wissenschaftlicher  Wert  geringfügiger  gewesen, 
wenn  sie  älter  war.  Damals  hätte  das  Sieb  ein  yerunglückter  Ver- 
such sein  können  die  genaue  Anzahl  der  Primzahlen  zu  ermitteln. 
Jetzt  dagegen,  nach  Euklid,  konnte  es  nur  eine  Methode  sein,  bei 
deren  Aussinnung  man  von  Anfang  an  gerade  das  beabsichtigte,  was 
sie  zu  leisten  imstande  ist.  Darin  aber  schon  liegt  ein  Zeugnis  höherer 
Vollkommenheit,  wenn  Methoden  zu  bestimmten  Zwecken  gesucht  und 
auch  wirklich  gefunden  werden. 

Das  Jahrhundert  von  300  bis  200  v.  Chr.,  welches,  weil  am 
Anfang  desselben  Euklid  blühte,  das  Jahrhundert  des  Euklid  genannt 
werden  kann,  schloß  würdig  ab  mit  ApoUonius  von  Pergä^).  Den 
Beinamen,  der  ihn  von  außerordentlich  vielen  bekannten  Männern, 
welche  gleichfalls  ApoUonius  heißen,  unterscheiden  soll,  führt  er  nach 
seinem  Heimatsorte,  einer  Stadt  in  Pamphilien.  Ob  er  mit  dem 
früher  erwähnten  Astronomen,  dem  der  Beiname  Epsilon  beigelegt 
wurde,  zusammenfällt  oder  nicht,  steht  in  Zweifel.  Die  Lebenszeit 
der  beiden  ist  allerdings  übereinstimmend.  ApoUonius  von  Pergä 
wurde  während  der  Regierung  des  Ptolemaeus  Euergetes  geboren  und 
hatte  seine  Blütezeit,  gleich  jenem  Astronomen,  während  der  bis  205 
dauernden  Regierung  des  Ptolemaeus  Philopator.  Eine  fernere  Über- 
einstimmung könnte  man  darin  finden,  daß  auch  von  ApoUonius  von 
Pergä  bekannt  ist,  daß  er  mit  Sternkunde  sich  beschäftigte.  Wenig- 
stens geht  die  beste  Lesart  einer  SteUe  des  1.  Kapitels  des  XIL  Buches 
des  ptolemäischen  Almagestes  dahin,  daß  ApoUonius  von  Pergä  über 
den  Stillstand  und  die  rückläufige  Bewegung  der  Planeten  geschrieben 
habe,  und  sie  mit  Hilfe  der  Epizyklen  zu  erklären  suchte.  Ein 
freUich  nur  negativer  Gegengrund  liegt  darin,  daß  Ptolemäus  von 
den  Untersuchungen  über  den  Mond  gar  nichts  sagt,  welche  doch 
gerade  die  vorzüglichste  Leistimg  des  ApoUonius  Epsilon  gebildet 
haben  müssen. 


^)  Das  Material  für  die  Biographie  des  ApoUonius  von  Pergä  ist  zusammen- 
gestellt  in  der  Vorrede  von  Halleys  Ausgabe  der  Kegelschnitte  des  ApoUonius 
{Oxford  1710).  Vgl  auch  Fabricius,  Bihlioth.  Graeca  (ed.  Harless)  IV,  192 
bis  203.  Montucla,  Histoire  des  mathematiques  I,  246 — 253.  Terquem,  Kotice 
bibliographique  siir  ApoUonius  in  den  Nouvelles  annales  des  mathematiques  (1844) 
in,  360-362  und  474—488,  endlich  die  Vorrede  von  H.  Balsam  zu  seiner 
deutschen  Bearbeitung  (nicht  Obersetzung)  der  Kegelschnitte  des  ApoUonius  von 
Pergä.  Berlin  1861.  Die  neueste  Ausgabe  der  vier  ersten  griechisch  erhaltenen 
Bücher  der  Kegelschnitte  des  ApoUonius  nebst  ihren  Kommentatoren  ist  die  von 
Heiberg  in  2  Duodezbänden.  Leipzig  1891 — 93.  W.  Crönert  (Sitzungsber.  der 
Berliner  Akad.  1900,  S.  942—950)  gibt  das  Jahr  170  als  Todesjahr  des  ApoUonius. 


334  16.  Kapitel. 

Von  den  LebensyerhältnisBen  des  ApoUonins  von  Perga  ist  nichts 
weiter  bekannt,  als  daß  er  schon  als  Jüngling  nach  Alexandria  kam, 
wo  er  seine  mathematische  Bildung  von  den  Nachfolgern  des  Euklid 
erhielt.  Ein  bestimmter  Lehrer  wird  nicht  genannt.  Später  ist  ein 
Aufenthalt  in  Pergamum  gesichert ,  wo  ApoUonius  einem  gewissen 
Eudemus  befreundet  war,  welchem  er  mit  Wachrufung  der  Erinne- 
rung an  jenes  Zusammenleben  sein  Hauptwerk,  die  acht  Bücher 
der  Kegelschnitte,  xtovixä,  widmete. 

Zeitgenossen  und  Nachkommen  bewunderten  dieses  Werk  und 
ehrten  dessen  Verfasser  durch  den  Beinamen  des  großen  Mathe- 
matikers. So  erzählt  ausdrücklich  Geminus,  dessen  Bericht  Eutokius 
in  seinem  Kommentare  zu  den  vier  ersten  Büchern  der  Kegelschnitte 
des  ApoUonius  uns  aufbewahrt  hat^).  Eutokius  will  damit  den  Un- 
grund  des  Vorwurfes  darlegen,  welchen  Heraklides,  der  Biograph  de» 
Archimed  (S.  295)  gegen  ApoUonius  ausspricht,  als  habe  derselbe 
nur  einen  Uterarischen  Raub  an  noch  unyeröffentlicht  gebliebenen 
Schriften  des  Archimed'  begangen.  Mit  gleichem  Rechte  läßt  der 
Bericht  des  Geminus  sich  gegen  die  früher  (S.  288)  erwähnte  Be- 
hauptung des  Pappus  verwerten,  als  stützten  sich  die  vier  ersten 
Bücher  des  ApoUonius  wesentlich  auf  die  Kegelschnitte  des  Euklid^). 
ApoUonius  wird  gewiß  so  wenig  wie  ein  SchriftsteUer  irgend  einer 
Zeit  und  irgend  eines  Volksstammes  versäumt  haben  die  Vorarbeiten 
auf  dem  Gebiete,  welches  er  zu  behandeln  wünschte,  kennen  zu  lernen. 
Er  wird  sicherUch  von  den  Vorarbeiten,  insbesondere  wenn  sie  von 
einem  EukUd,  einem  Archimed  heirührten,  Vorteü  gezogen  haben; 
er  sagt  auch  nirgends  in  seinen  Schriften,  daß  das  Ganze  seiner  Kegel- 
schnitte sein  ausschließUches  Eigentum  sei.  Aber  von  der  Benutzung 
fremder  Vorarbeiten  als  Grundlage,  als  untere  Voraussetzung  eines 
Werkes  zu  unrechtmäßiger  Aneignung  fremder  Entdeckungen  ist  doch 
eine  unermeßUche  Kluft,  und  es  fäUt  schwer  einem  Manne  von  der 
sonst  allseitig  anerkannten  Bedeutung  des  ApoUonius  letztere  Hand- 
lung zuzutrauen.  Zwei  ganz  grundlegende  Neuerungen  haben  wir 
überdies  unter  aUen  Umständen  dem  ApoUonius  zuzuschreiben. 

Geminus  sagt  ausdrückUch,  wie  uns  Eutokius  an  der  oben  er- 
wähnten SteUe  berichtet,  die  Alten  hätten  nur  gerade  Kegel  ge- 
schnitten und  die  Schnitte  stets  senkrecht  zur  Seite  des  Kegels 
geführt,  worauf  sie  je  nach  dem  Winkel  an  der  Spitze  des  Kegels 
den  Schnitt  des  spitzwinkUgen,  des  rechtwinkligen,  des  stumpfwink- 
ligen Kegels  unterschieden  (S.  244).     ApoUonius   dagegen   habe  ge- 

*)  ApoUonius,  Conica  (ed.  Heiberg)  II,  170.  •)  Pappus,  VU  Pro- 
oemium  (ed.  Hultscfa)  672. 


Eratosthenes.    Apollonias  von  Pergä.  335 

zeigt,  daß  alle  diese  Schnitte  an  einem  einzigen  Kegel  hervor- 
gebracht werden  können,  und  daß  man  zu  diesem  Schnitte  ebenso 
wie  den  geraden  Kegel  auch  den  schiefstehenden  verwenden 
könne.  Wir  sehen  also,  daß  ApoUonius  das  vervollständigte,  was 
Euklid  (S.  292),  was  Archimed  (S.  304)  nur  von  der  Ellipse  wußten^ 
daß  sie  auf  jedem  —  jetzt  nachdem  wir  den  Bericht  des  Geminus 
kennen,  müssen  wir  mit  einer  weiteren  Einschränkung  sagen:  auf 
jedem  geraden  —  Kegel  herausgeschnitten  werden  kann.  Gegen 
Geminus  anzunehmen,  daß  auch  jene  schon  alle  Kegelschnitte  auf 
jedem  Kegel  hervorzubringen  imstande  gewesen  seien,  ist  eine  Be- 
hauptung, welche  auf  keinerlei  alten  Bericht  sich  stützt. 

Von  der  anderen  Neuerung  wissen  wir  durch  Pappus^),  der 
gleichzeitig  auch  das  von  Geminus  Mitgeteilte  bestätigt.  ApoUonius 
habe,  wie  er  die  Herstellbarkeit  jedes  Kegelschnittes  auf  der  Ober- 
fläche eines  jeden  Kegels  erkannte,  für  dieselben  neue  Namen  ein- 
geführt, und  zwar  die  Namen  Ellipse,  Parabel,  Hyperbel  mit 
Rücksicht  auf  gewisse  Eigenschaften  der  Flächenanlegung. 

Wir  haben  auf  diese  mit  äußerster  Bestimmtheit  ausgesprochene 
Angabe  uns  gestützt,  um  (S.  291)  Euklid  die  Kenntnis  abzusprechen,, 
daß  die  pythagoräischen  Sätze  von  Flächenanlegungen  zu  Kegel- 
schnitten als  geometrischen  Örtem  führen  konnten.  Mit  Rücksicht 
auf  die  gleiche  Stelle  hat  man  gewiß  mit  Recht  die  Zuverlässigkeit 
einiger  archimedischen  Handschriften  in  Zweifel  gezogen'),  in  welchen 
die  Wörter  Parabel  und  Ellipse  statt  des  Schnittes  des  rechtwinkligen 
und  spitzwinkligen  Kegels  vorkommen.  Der  Name  der  Parabel  ins- 
besondere erscheint  nur  in  der  Überschrift  der  Abhandlung  über  die 
Quadratur  dieser  Kurven,  und  auch  wo  der  Name  der  Ellipse  im 
fortlaufenden  Texte  der  Abhandlung  von  den  Konoiden  und  Sphäroiden 
dreimal  sich  vorfindet,  dürfte  eine  späte  Einschiebung  durch  Ab- 
schreiber, welche  den  Wortlaut  ganz  unbeschadet  des  Sinnes  abkürzen 
zu  dürfen  meinten,  anzunehmen  sein. 

Hat  aber  ApoUonius  zuerst  die  Entstehung  aller  Kegelschnitte 
an  jedem  Kegel,  zuerst  die  Eigenschaften  derselben  erkannt,  die  wir 
heutigentages  aus  den  Scheitelgleichungen  der  drei  Kegelschnitte 
herauszulesen  gewohnt  sind,  dann  ist  seine  Bearbeitung  der  Kegel- 
schnitte unzweifelhaft  ein  Originalwerk,  mögen  auch  noch  so  viele 
Lehrsätze  in  den  vier  ersten  Büchern  vorkommen,  die  von  Euklid,, 
wenn   nicht   schon   von   Menächmus   und  Aristäus    dem  Alteren   ge- 


*)  Pappufl   VU,   Prooemium  (ed.    Hultsch)   674.  ")  Archimed    (ed. 

Nizze)   285.    Die  entgegengesetzte  Meinung  bei  ChasleB,  Apergu  hisL  17  in. 
der  Anmerkung  (Deutsch  16). 


336  16.  Kapitel. 

kannt  waren.  Zwei  andere  Vorgänger  nennt  übrigens  ApoUonins 
selbst  in  der  Vorrede  zum  IV.  Buche ^):  Konon  von  Samos  und 
Nikoteles  von  Kyrene,  deren  ersterer  uns  schon  als  geistreicher 
Freund  des  Archimed  bekannt  geworden  ist,  wenn  auch  der  Umstand, 
daß  seine  Schriften  uns  sämtlich  verloren  sind,  uns  abhielt,  ihm  eine 
besondere  Stelle  ausführlicher  Beachtung  zu  gewähren.  Hätten  wir 
doch  nur  berichten  können,  daß  er  in  Samos  geboren,  in  Alexandrien 
lebte,  aber  auch  in  Italien  und  Sizilien  astronomische  Beobachtungen 
anstellte,  daß  er  um  246  das  Haupthaar  der  Berenike,  der  Gemahlin 
des  Ptolemaeus  Euergetes,  unter  die  Sterne  versetzte^. 

Gehen  wir  nun  mit  raschen  Schritten  an  dem  Inhalte  der  Kegel- 
schnitte des  ApoUonius  vorüber^).  Im  I.  Buche  wird  nach  der  all- 
gemeinen Definition  des  Kegels  als  der  Oberfläche,  die  durch  eine 
Gerade  sich  erzeugt,  welche  um  eine  Kreisperipherie  herumgeführt 
wird,  während  sie  zugleich  durch  einen  festen,  außerhalb  der  Ebene 
der  Kreisperipherie  liegenden  Punkt  geht,  die  so  erhaltene  Fläche 
durch  Ebenen  geschnitten.  Jeder  Schnitt  durch  den  festen  Punkt, 
d.  h.  durch  die  Spitze  des  Kegels,  erzeugt  ein  Dreieck,  und  liegt  in 
dieser  Schnittebene  auch  die  Achse  des  Kegels,  die  Verbindungsgerade 
der  Spitze  zum  Mittelpunkte  des  bei  der  Erzeugung  des  Kegels  mit- 
wirkenden Kreises,  so  entsteht  das  Achsendreieck.  Nun  wird  vor- 
geschrieben, neue  Schnittebenen  zu  fahren,  deren  Spuren  in  der  Grund- 
fläche senkrecht  auf  der  Spur  des  Achsendreiecks  stehen,  und  Apol- 
lonius  zeigt,  wie  je  nach  der  Richtung  dieser  Schnitte  zur  Seite  des 
Achsendreiecks  die  verschiedenen  Kegelschnittskurven  auf  der  Kegel- 
oberfläche erscheinen.  Die  Durchschnittslinie  der  Schnittebene  mit 
dem  Achsendreiecke  ist  jedesmal  ein  Durchmesser  des  Kegelschnittes, 
d.  h.  sie  halbiert  alle  Sehnen  des  Kegelschnittes,  welche  unter  sich 
und  einer  jedesmal  bestimmten  Geraden  parallel  gezogen  werden.  Der 
Punkt,  in  welchem  der  Durchmesser  die  Oberfläche  des  Kegels  triffl, 
ist  der  Scheitel  des  Kegelschnittes.  Durch  diesen  Scheitel  wird  nun 
in  der  Schnittebene,  also  senkrecht  zum  Achsendreiecke  und  parallel 
zu  dem  durch  den  Durchmesser  halbierten  Sehnensysteme  eine  Gerade 
«rrichtet,  deren  Länge  durch  gewisse  Methoden  geometrisch  bestimmt 
wird,  und  welche  jenes  p  darstellt,  jene  Länge,  an  welche  nach  unseren 
früheren  Auseinandersetzungen  (S.  289)  ein  gewisser  Flächenraum  in 
Gestalt  eines  Parallelogrammes  angelegt  werden  soll.  Diese  Linie, 
welche  man  in  modemer  Sprache  den  Parameter  des  Kegelschnittes 

*)  ApoUonius,  Conica  (ed.  Heiberg)  IT,  2.  *)  A.  Böckh,  üeber  die 
Yierj ährigen  Sonnenkreise  der  Alten  S.  28—29.  *)  Eine  sehr  hübsche  Zusammen- 
stellung von  Housel  in  Liouvilles  Journal  des  Maihematiqxies  (1858)  XXTIT, 
153—192. 


Eratosthenea.     ApoUonius  von  Pergä.  337 

nennt,  heißt  bei  ApoUonius  schlechtweg  die  Errichtete,  öQ^ia^  ein 
Name,  der  alsdann  in  den  lateinischen  Übersetzungen  zum  latus  rectum 
geworden  ist.  Man  sieht  leicht  ein,  daß  ApoUonius  mittels  dieser 
Vorschriften  genau  die  gleichen  Linien  ziehen  läßt,  deren  man  noch 
heute  bei  Anwendung  der  Methoden  der  analytischen  Geometrie  sich 
bedient.  Es  ist  ein  formliches  Koordinatensystem  gezeichnet,  dessen 
Anfangspunkt  auf  dem  Kegelschnitte  selbst  liegt,  dessen  Abszissen- 
achse ein  Durchmesser  des  Kegelschnittes,  und  dessen  Ordinatenachse 
die  jenem  Durchmesser  konjugierte  Berührungslinie  im  Koordinaten- 
anfangspunkte ist.  Die  dabei  gebrauchten  Benennungen  lauten  TBxa- 
y(iiv(og  xarrjy^dvat  d.  h.  geordnet  gezogen^)  und  aTtote^vö^evai^ 
d.  h.  abgeschnitten*).  Von  wirklichen  Koordinaten  sind  diese  Ge- 
raden dadurch  wesentlich  verschieden,  daß  sie  nicht  ein  Liniensystem 
für  sich  bilden,  sondern  nur  gleich  anderen  geometrischen  Hilfslinien 
in  Verbindung  mit  dem  Kegelschnitte  und  hervorgerufen  durch  den 
jeweil  zu  beweisenden  Lehrsatz  auftreten.  Diese  gegebenen  Elemente 
handhabt  nun  ApoUonius  in  griechischer  Weise.  Er  rechnet  natürlich 
nicht  mit  Formeln  und  Gleichungen,  wie  wir  es  tun,  aber  er  ver- 
knüpft und  verbindet  Proportionen  von  Längen  und  von  Flachen- 
räumen, welche  nur  einen  anderen  Ausdruck  des  in  den  Gleichungen 
der  Kegelschnitte  enthaltenen  Gedankens  darstellen,  um  zu  den  gleichen 
Folgerungen  zu  gelangen.  Läuft  der  Schnitt  der  Seite  des  Kegels 
parallel,  so  kann  nur  von  einem  Scheitel  der  »Parabel  die  Bede  sein. 
Im  entgegengesetzten  Falle  wird  außer  dem  einen  Schenkel  des  Achsen- 
dreiecks auch  der  zweite  entweder  selbst  oder  in  seiner  Verlängerung 
über  die  Spitze  des  Kegels  hinaus  durch  den  Schnitt  getroffen,  und 
so  entsteht  ein  zweiter  Scheitel  der  Kurve  bei  der  Ellipse,  ein  Scheitel 
der  Gegenkurve  bei  der  Hyperbel.  Die  Entfernung  der  beiden  Scheitel 
1)egrenzt  die  Länge  des  Durchmessers.  In  der  Mitte  zwischen 
beiden  ist  der  Mittelpunkt  der  Kurve,  d.h.  ein  Punkt,  in  welchem 
aUe  durch  ihn  gezogenen  Sehnen  halbiert  sind.  Mit  dem  Mittelpunkte 
tritt  auch  der  Begriff  des  dem  ersten  Durchmesser  konjugierten  Durch- 
messers auf,  der  eine  gleichfalls  begrenzte  Länge  besitzt,  wenn  auch 
bei  der  Hyperbel  die  Begrenzung  nicht  äußerlich  sichtbar  ist.  Zwei 
zueinander  senkrechte  konjugierte  Durchmesser  werden  Achsen  ge- 
nannt. ApoUonius  knüpft  daran  femer  Betrachtungen  über  die  Be- 
rührungslinie an  irgend  einen  Punkt  eines  Kegelschnittes  und 
über  die  Vielheit  von  Paaren  konjugierter  Durchmesser,  welche  mög- 
lich sind. 

In  dem  IL  Buche  sind  zunächst  Eigenschaften  der  Asymptoten 


>)  ApoUonius  (ed.  Heiberg)  I,  70  lin.  15.     *)  Ebenda  I,  72  lin.  10—11. 

Cahtob,  Oeschiclito  der  M»thematik  L  S.  Aufl.  22 


338  16.  Kapitel. 

der  Hyperbel  auseinandergesetzt,  d.  h.  der  Linien^  welche  den 
Hyperbelarmen  sieb  mehr  und  mehr  nähern,  ohne  mit  denselben  zu- 
sammenzutreffen. Die  geometrische  Definition  ist  folgende:  Man  ziehe 
an  einen  Hyperbelpunkt  eine  Berührungslinie,  trage  auf  derselben  die 
Länge  des  ihr  parallelen  Durchmessers  auf  und  verbinde  den  so  ge- 
fundenen Punkt  mit  dem  Mittelpunkt  der  Hyperbel  geradlinig,  diese 
Gerade  wird  eine  Asymptote  sein^).  Aus  den  übrigen  Sätzen  des 
IL  Buches  mag  noch  hervorgehoben  werden,  daß  die  Gerade,  welche 
den  Durchschnittspunkt  zweier  Berührungslinien  mit  der  Mitte  der 
Berührungssehne  verbindet,  ein  Durchmesser  des  Kegelschnittes  ist, 
sowie  der  andere,  daß  in  jedem  Kegelschnitte  nur  ein  einziges  senk- 
rechtes Achsenpaar  existiert. 

In  dem  IIL  Buche  bilden  die  ersten  44  Sätze  einen  besonderen 
Abschnitt,  dessen  Charakter  schon  in  dem  1.  Satze  sich  dahin  aus- 
weist, daß  hier  Verhältnisse  von  Produkten  aus  Tangenten 
und  Sekanten  der  Kegelschnitte  auftreten.  Jener  erste  Satz 
heißt  etwa  folgendermaßen:  Es  seien  M^  und  M^  zwei  Punkte  eines 
Kegelschnittes,  dessen  Mittelpunkt  in  0  liegt  (bei  der  Parabel  wäre 
0  unendlich  entfernt,  und  somit  die  OM^  mit  OM^  und  mit  der 
Achse  der  Parabel  parallel);  die  Berührungslinien  in  beiden  Punkten 
seien  M^T^  und  M^T^,  indem  T^  den  Durchschnitt  der  Berührungs- 
linie an  M^  mit  der  OM^  bezeichnet,  und  eine  ähnliche  Definition 
für  Tg  gilt;  die  M^T^  und  die  M^T^  schneiden  einander  in  R.  Als- 
dann sind  die  Dreiecke  M^T^R  und  M^T^R  flächengleich.  Die  fol- 
genden Sätze  stützen  sich  auf  diesen  ersten,  und  lassen  sich,  in  so 
vielfältiger  Teilung  sie  auch  im  Originale  ausgesprochen  sind,  in  zwei 
Hauptsätze  zusammenfassen.  Der  eine  Satz,  daß,  wenn  von  einem 
Punkte  zwei  Sekanten  gezogen  werden,  das  Produkt  der  Entfernungen 
des  Ausgangspunktes  nach  den  beiden  Schnittpunkten  der  einen 
Sekante  dividiert  durch  dasselbe  Produkt  in  bezug  auf  die  zweite 
Sekante  einen  Quotienten  gibt,  der  sich  nicht  verändert,  wenn  man 
von  irgend  einem  anderen  Ausgangspunkte  ein  den  ersten  Sekanten 
paralleles  Sekantenpaar  konstruiert.  Der  zweite  Satz,  daß  eine  Sekante^ 
aus  deren  einem  Punkte  man  zwei  Berührungslinien  zieht,  durch 
diesen  Ausgangspunkt,  den  Durchschnitt  mit  der  Berührungssehne 
und  die  beiden  Durchschnittspunkte  mit  dem  Kegelschnitte  eine  har- 
monische Teilung  darbietet*).  Noch  einige  auf  Flächen  bezügliche 
Wahrheiten  schließen  sich  ziemlich  naturgemäß  an,  wie  z.  B.  daß  die 
Dreiecke,  welche  durch  die  Asymptoten  und  irgend  eine  Berühnmgs- 

*)  ApolloniuB  (ed.  Heiberg)  I,  194  lin.  16  das  erste  Vorkommen  des 
Namens  äev^Lnxtxixai.  ^  ApoUonius  benutzt  dabei  allerdings  noch  nicht  das 
Wort:  harmonische  Teilung,  sondern  schreibt  den  Satz  als  Proportion. 


Eratosthenes.    Apollonius  von  Pergä.  339 

linie  der  Hyperbel  gebildet  werden^  einen  konstanten  Flächeninbalt 
haben,  da  derselbe  Satz,  anders  aasgesprochen;  dahin  gehen  würde, 
daß  jede  Berührungslinie  der  Hyperbel  auf  den  Asymptoten  Stücke 
von  konstantem  Produkte  abschneide.  Alsdann  kommt  der  Verfasser 
in  dem  45.  Satze  zu  den  Punkten,  welche  er  örifisla  ix  t'^g  nagaßokf^g 
nennt,  eine  Bezeichnung,  welche  schwierig  zu  verdeutschen  ist,  da 
Punkte,  die  bei  der  Anlegung  entstehen,  kaum  den  Anspruch 
erheben  können,  nur  einigermaßen  einen  Begriff  davon  zu  gewähren, 
welche  Punkte  gemeint  sind;  es  sind  aber  die  Brennpunkte  der  Ellipse 
und  Hyperbel,  während  der  Brennpunkt  der  Parabel  in  dieser  Zeit- 
periode noch  nicht  vorkommt.  Die  Definition  der  Brennpunkte  bei 
ApoUonius  und  die  Eigenschaften,  welche  er  besonders  hervorhebt, 
sind  folgende:  ein  Brennpunkt  ist  ein  Punkt,  der  die  große  Achse  in 
zwei  Teile  teilt,  deren  Rechteck  einem  Viertel  der  Figur  gleich  ist; 
unter  Figur  aber  ist  das  Rechteck  des  Parameters  mit  der  großen 
Achse  zu  verstehen,  oder,  was  dem  Werte  nach  gleichbedeutend  ist, 
das  Quadrat  der  kleinen  Achse.  Wenn  man  das  Stück  einer  Berüh- 
rungslinie, welches  zwischen  den  beiden  Senkrechten  zur  großen  Achse 
in  den  Endpunkten  derselben  abgegrenzt  ist,  zum  Durchmesser  eines 
Kreises  nimmt,  so  schneidet  dieser  Kreis  die  große  Achse  in 
den  Brennpunkten.  Die  4  Punkte,  welche  derart  bestimmt  sind, 
nämlich  2  Brennpunkte  und  2  Punkte  einer  Berührungslinie  werden 
paarweise  verbunden,  je  ein  Punkt  der  Berührungslinie  mit  dem 
einen,  der  andere  mit  dem  anderen  Brennpunkte.  Diese  Verbindungs- 
geraden nennt  man  konjugierte  Linien.  Sie  schneiden  einander 
auf  der  Normallinie,  d.  h.  auf  der  Senkrechten,  welche  zur  Berüh- 
rungslinie im  Berührungspunkte  errichtet  ist.  Nun  folgt  der  Satz 
über  Winkelgleichheit  für  die  Winkel,  welche  die  Normallinie 
mit  den  beiden  Brennstrahlen  des  Berührungspunktes  bildet;  femer 
der  Satz,  daß  die  Fußpunkte  der  Senkrechten  von  den  Brennpunkten 
auf  Berührungslinien  sämtlich  in  einer  um  die  große  Achse  als  Durch- 
messer beschriebenen- Kreisperipherie  liegen;  endlich  der  Satz  von  der 
konstanten  Summe,  beziehungsweise  Differenz  der  Brenn- 
strahlen. Alle  diese  Wahrheiten  entwickelt  ApoUonius  der  Reihe 
nach  in  dem  HI.  Buche,  welches  dadurch  fast  für  sich  allein  den 
Charakter  einer  elementaren  Kegelschnittslehre  gewinnt.  Man  ist  aller- 
dings in  der  Wertschätzung  dieses  HI.  Buches  viel  weiter  gegangen, 
als  wir  es  taten.  ApoUonius  sagt  in  der  Vorrede  zum  I.  Buche  seiner 
Kegelschnitte,  von  Euklid  sei  die  Synthesis  des  Ortes  zu  drei  und 
vier  Geraden  nicht  gegeben,  sondern  nur  ein  Teil  derselben,  und  dieser 
überdies  nicht  glücklich;  es  sei  auch  nicht  möglich  gewesen,  diese 
Synthesis  richtig  zu  vollenden  ohne  das,  was  er,  ApoUonius,  eben  in 

22» 


340  16.  Kapitel. 

dem  ni.  Buche  neu  gefunden  habe^).  Pappuß  tadelt  diese  Ruhm- 
redigkeit, indem  er  gleichzeitig  hervorhebt,  daß  ApoUonius  seinen 
Vorgängern  hätte  dankbar  sein  müssen,  ohne  deren  Vorarbeiten  es 
ihm  unmöglich  gewesen  wäre,  das  Neue  hinzuzuentdecken.  Der  Ort 
zu  drei  oder  vier  Geraden  sei  aber  folgender:  Sind  drei  (vier)  Gerade 
der  Lage  nach  gegeben,  und  zieht  man  nach  ihnen  hin  von  einem 
gegebenen  Punkte  aus  Gerade  unter  gegebenen  Winkeln,  ist  alsdann 
das  Verhältnis  zwischen  dem  Rechtecke  aus  zwei  der  Verbindungs- 
geraden zu  dem  Quadrate  der  dritten  (dem  Rechtecke  aus  den  beiden 
anderen)  ein  für  allemal  dasselbe,  so  liegt  der  Ausgangspunkt  der 
Verbindungsgeraden  auf  einem  Kegelschnitte*).  Das  ist  alles,  was 
aus  alten  Quellen  bekannt  ist.  Wenn  man  nun  versucht  hat^),  jenes 
Ortsproblem  unter  Zugrundelegung  des  III.  Buches  des  ApoUonius 
vollständig  zu  erledigen,  so  kann  man  in  diesem  Wiederherstellungs- 
versuche die  ganze  geometrische  Begabung  seines  Verfassers  bewun- 
dern, aber  ein  geschichtliches  Ergebnis  ist  es  darum  keineswegs. 

Waren  die  drei  ersten  Bücher  dem  Eudemus  gewidmet,  so  be- 
ginnt das  IV.  Buch  mit  einem  Sendschreiben  an  Attalus,  in  wel- 
chem der  Tod  jenes  Freundes  beklagt,  nebenbei  aber  auch  der  Inhalt 
des  beigefügten  Buches  kurz  dahin  bezeichnet  wird,  es  beschäftige 
sich  mit  der  Frage,  wieviele  Punkte  Kegelschnitte  mit  Kreis- 
peripherien und  mit  anderen  Kegelschnitten  gemein  haben 
können,  ohne  ganz  und  gar  zusammenzufallen.  ApoUonius  weiß 
dabei  sehr  wohl  eine  Berührung  von  einer  Durchschneidung  zu  unter- 
scheiden. Er  hebt  z.  B.  hervor,  daß  2  Kegelschnitte  4  Durchschnitts- 
punkte haben  können,  oder  2  Durchschnittspunkte  und  1  Berührungs- 
punkt oder  2  Berührungspunkte;  ferner  daß  2  Parabeln  nur  1  Be- 
rührungspunkt haben  können,  ebenso  Parabel  und  Hyperbel,  wenn 
die  Parabel  die  äußere  Kurve  ist,  ebenso  Parabel  und  Ellipse,  wenn 
die  EUipse  die  äußere  Kurve  ist  usw. 

Es  ist  einleuchtend,  daß  die  Sätze  dieses  IV.  Buches  für  die 
Griechen  eine  viel  höhere  Bedeutung  hatten  als  für  neuere  Mathe- 
matiker. Waren  es  doch  gerade  die  Durchschnittspunkte  der  Kurven, 
deren  zum  Zwecke  der  Würfelverdoppelung  notwendige  Ermittelung 
die  Kurven  selbst  hatten  untersuchen  oder  gar  erfinden  lassen.  Die 
Methode,  nach  welcher  ApoUonius  die  Punkte  bestimmt,  welche  zwei 
Kurven  gemeinsam  sind,  kommt  auf  eine  apagogische  Beweisführung 
hinaus,   die  sich  großenteils  auf  das  Lemma  des  III.  Buches  bezüg- 


*)  ApoUonius  (ed.  Heiberg)  I,  4  lin.  18—17.  ")  Pappus  (ed.  Hultßch) 
n,  676 — 678.  *)  Zeuthen,  Die  Lehre  von  den  Kegelschnitten  im  Alterthume, 
siebenter  und  achter  Abschnitt. 


EratoBthenes.     ApoUonius  von  Pergil.  341 

licli  der  harmonischen  Teilung  stützt.  So  maßte  das  IV.  Buch  der 
Form  und  dem  ganzen  Inhalte  nach  gleichmäßig  Verbreitung  mit 
den  3  ersten  Büchern  gewinnen,  deren  Abschluß  es  gewissermaßen 
für  solche  Mathematikstudierende  bildete,  welche  von  der  damaligen 
höheren  Mathematik  gerade  das  in  sich  aufnehmen  wollten,  was  bis 
zur  Lösung  der  delischen  Aufgabe,  diese  mit  inbegriffen,  notwendig 
war.  Ja  diese  innere  Zusammengehörigkeit  engerer  Art  der  4  ersten 
Bücher  bewährte  sich  geschichtlich  auch  dadurch,  daß  nur  sie  im 
griechischen  Texte  sich  erhielten,  während  das  V.,  VI.  und  VII.  Buch 
erst  in  der  Mitte  des  XVII.  S.  aus  einer  arabischen  Übersetzung  be- 
kannt wurden,  das  VIII.  Buch  sogar  als  ganz  verloren  wird  betrachtet 
werden  müssen. 

Das  V.  Buch  läßt  die  vorhergehenden  weit  hinter  sich.  ApoUo- 
nius erhebt  sich  bewußtermaßen  hoch  über  seine  Zeit,  indem  er  Sätze 
über  die  längsten  und  kürzesten  Linien,  die  von  einem  Punkte 
an  den  Umfang  eines  Kegelschnittes  gezogen  werden  können,  hier 
vereinigt.  Es  hätten,  so  erklärt  ApoUonius  in  einleiteiiden  an  Attalus 
gerichteten  Worten,  Mathematiker,  welche  vor  ihm  und  zu  seiner  Zeit 
lebten,  die  Lehre  von  den  kürzesten  Linien  gleichfalls  behandelt,  aber 
ihre  Behandlungsweise  muß  nach  Inhalt  und  Zweck  eine  andere  als 
die  des  V.  Buches  der  Kegelschnitte  gewesen  sein.  Dem  Inhalte  nach 
begnügten  sie  sich  mit  einer  geringeren  Anzahl  von  Sätzen,  und  ihren 
Zweck  fanden  sie  in  dem  Diorismus  zu  gesteUten  Aufgaben.  Wir 
haben  bei  Euklid,  bei  Archimed  Beispiele  solcher  Maximal-  und  Mini- 
malwerte auftreten  sehen,  und  die  geringste  Überlegung  führt  zum 
Bewußtsein,  daß  fast  jeder  Diorismus  neben  die  Bedingung,  unter 
welcher  eine  Aufgabe  gelöst  werden  kann,  den  Grenzwert  stellen  wird, 
bis  zu  welchem  eine  in  der  Aufgabe  vorkommende  Größe  wachsen 
oder  abnehmen  idarf,  ohne  die  Ausführbarkeit  zu  gefährden.  Auf- 
gaben größter  und  kleinster  Werte  mußten  also  vorkommen  und 
wurden  gelöst,  ohne  daß  man  darüber  sich  klar  gewesen  wäre,  daß 
man  hier  eine  eigenartige,  auch  außer  ihrer  zum  Diorismus  führenden 
Wirkung  bedeutsame  Gattung  von  Fragen  behandelte.  ApoUonius 
dagegen  schließt  jene  Einleitung  zum  V.  Buche  mit  den  Worten: 
„Das  so  Behandelte  ist  für  die  dieser  Wissenschaft  Beflissenen  be- 
sonders notwendig,  sowohl  zur  Einteüung  und  zum  Diorismus,  als  zur 
Konstruktion  der  Aufgaben,  abgesehen  davon,  daß  dieser  Gegen- 
stand zu  den  Dingen  gehört,  welche  würdig  sind,  um  ihrer 
selbst  willen  betrachtet  zu  werden."  Die  Art  voUends,  in 
welcher  ApoUonius  Einzelfälle  dieses  Gebietes  unterscheidet  und  durch 
deren  Zusammenfassung  die  Gesamtheit  der  Möglichkeiten  erschöpft, 
die  merkwürdige  Verschlungenheit,  man  kann  fast  sagen  Unnatürlich- 


342  16.  Kapitel. 

keit  der  Beweise  sind  bewnnderangswürdig  nicht  minder  als  wunder- 
licli.  Man  kann  kaum  umhin  zu  argwohnen  ^  was  zu  glauben  man 
doch  nicht  wagen  darf;  daß  ApoUonius  irgend  geheime  Methoden 
besaß,  um  diejenigen  Sätze  zu  entdecken,  deren  künstliche  Beweise 
er  erst  nachträglich  aufsuchte.  Was  Apollonius  aus  der  Lehre  vom 
Größten  und  Kleinsten  kennt,  das  sind,  wie  gesagt,  insbesondere  die 
längsten  und  kürzesten  Linien,  welche  aus  irgend  einem  Punkte  der 
Ebene  nach  einem  Kegelschnitte  gezogen  werden  können,  Linien, 
welche  Apollonius  zuerst  für  die  Fälle  bestimmt,  in  denen  der  ge- 
gebene Punkt  auf  der  Achse  liegt,  und  die  Konstruktion  durch  Ab- 
schnitte erfolgen  kann,  die  selbst  auf  der  Achse  des  Kegelschnittes 
auftreten.  Dann  folgt  eine  Reihe  von  Sätzen,  die  etwa  mit  dem 
modernen  Begriffe  der  Subnormalen  sich  beschäftigen.  Die  Konstanz 
dieser  Strecke  bei  der  Parabel  wird  bewiesen.  Später  gelangt  Apol- 
lonius zu  dem  Nachweise,  daß  die  am  Anfange  des  Buches  be- 
sprochenen größten  und  kleinsten  Linien  Normallinien  zum  Kegel- 
schnitte sind,  daß  also  auch  die  Aufgabe  im  Früheren  zur  Lösung 
vorbereitet  ist:  von  irgend  einem  Punkte  einer  Ebene  Normalen  zu 
einem  in  der  Ebene  befindlichen  Kegelschnitte  zu  zeichnen.  Er  geht 
an  die  Aufgabe  selbst  heran  und  findet  eine  Konstruktion,  bei  welcher 
von  Durchschnitten  mit  Hyperbeln  Gebrauch  gemacht  ist.  Indem  er 
nun  sich  bewußt  wird,  daß  in  der  Zahl  der  Senkrechten,  welche  von 
einem  Punkte  aus  nach  einem  Kegelschnitte  gezogen  werden  können, 
keine  Willkür  herrscht,  daß  dieselbe  vielmehr  einesteils  von  der  Art 
des  Kegelschnittes,  andemteils  von  der  Lage  des  gegebenen  Aus- 
gangspunktes abhängt,  findet  er,  daß  in  dieser  Beziehimg  gewisse 
Punkte  eine  Ausnahmestellung  einnehmen.  Diese  Punkte,  aus  welchen 
man  nach  dem  gegenüberliegenden  Teil  des  Kegelschnittes  nur  eine 
Normale  ziehen  kann,  sind  die  Krümmungsmittelpunkte,  deren  Vor- 
handensein somit  Apollonius  bekannt  war,  so  fremd  ihm  der  Begriff 
der  Krümmung  geblieben  ist.  Möglicherweise  ist  es  sogar  nicht  zu 
weit  gegangen,  wenn  man  annimmt,  Apollonius  habe  die  stetige  Auf- 
einanderfolge der  Krümmungsmittelpunkte  geahnt,  d.  h.  jene  Kurve 
geahnt,  wenn  auch  nicht  untersucht,|  welche  wegen  anderer  Eigen- 
schaften den  Namen  der  Evolute  erhalten  hat. 

Das   VI  Buch  handelt  von  gleichen  und  ähnlichen  Kegel- 
schnitten, sofei*n  dieselben   auf  geraden  einander  ähnlichen  Kegeln 
auftreten.     Am   Schlüsse    wird   sogar   die  Aufgabe   behandelt,    durch 
einen  gegebenen  Kegel  eine  Schnittfläche  zu  legen,  welche  eine  gleich-  , 
falls  gegebene  Ellipse  erzeugen  soll. 

Zwischen    dem    VII.   und  dem   VIII.   Buche    scheint   wieder   ein 
engerer  Zusamntenhang  stattgefunden  zu  haben,  wie  uns  Apollonius 


EratoBthenes.    Apollonins  von  Pergä.  343 

selbst  versichert.  In  seiner  Zuschrift  sagt  er,  das  VII.  Buch  be- 
schäftige sich  mit  Sätzen,  welche  zu  Bestimmungen  führen,  das 
VIII.  Buch  enthalte  wirklich  bestimmte  Aufgaben  über  Kegelschnitte. 
Auch  aus  Pappus  läßt  sich  eine  solche  Zusammengehörigkeit  der 
beiden  Bücher  folgern.  Derselbe  teilt  nämlich  eine  ziemlich  beträcht- 
liche Zahl  von  Lemmen  zu  den  Kegelschnitten  des  Apollonins  mit. 
Die  Lemmen  zu  allen  übrigen  Büchern  sind  nach  den  Büchern  ge- 
sondert; nur  die  Lemmen  zum  VII.  und  VUI.  Buche  sind  yereinigt^). 
Auf  diese  Grundlage  hin  hat  man  sogar  eine  Wiederherstellung  des 
verlorenen  VIII.  Buches  versucht^),  welche  indessen  doch  zu  unsicher 
scheint,  um  näher  besprochen  zu  werden.  Wir  begnügen  uns  mit 
der  Bezeichnung  einiger  interessanten  Theorien  aus  dem  erhaltenen 
VII.  Buche.  In  ihm  finden  sich  die  Sätze  über  komplementäre 
Sehnen,  welche  konjugierten  Durchmessern  parallel  laufen,  in  ihm 
die  Sätze  über  die  konstante  Summe  der  Quadrate  konjugierter 
Durchmesser,  in  ihm  die  Entwicklung  des  Flächenraumes  jener 
Parallelogramme,  deren  zwei  aneinanderstoßende  Seiten  die  Hälften 
zweier  konjugierter  Durchmesser  sind.  Auch  diese  Sätze,  begreif- 
licherweise geometrisch  und  nicht  durch  Rechnung  abgeleitet,  er- 
fordern bei  Apollonins  die  Unterscheidung  zahlreicher  Einzelfälle,  bei 
welcher  er  wiederholt  die  Gewandtheit  an  den  Tag  legt,  welche  man 
schon  in  den  früheren  Büchern  bewunderte. 

Dieses  in  Kürze  der  Inhalt  des  merkwürdigen  Werkes,  wobei 
wir  uns  gegen  die  verlockende  Versuchung,  noch  mehr  hineinzulesen 
als  Apollonins  gesagt  hat,  zu  wappnen  gesucht  haben.  Auch  der  von 
uns  angegebene  nackte  Inhalt  ist  sehr  wohl  geeignet,  unsere  Neugier 
anzuregen,  inwieweit  derselbe  Mathematiker  seinen  erfinderischen  Geist 
auch  noch  anderen  Gebieten  unserer  Wissenschaft  zuwandte.  Leider 
können  wir  diese  Neugier  nicht  vollauf  befriedigen.  Wir  wissen  von 
solchen  anderen  Arbeiten  nur  eben  genug,  um  die  Vielseitigkeit  des 
Apollonins  zu  ahnen,  aber  bei  weitem  nicht  so  viel,  um  den  Wert 
der  Untersuchungen  abschätzen  zu  können,  deren  Titel  nur  bei  Pappus  *) 
mehrenteils  sich  erhalten  haben,  und  die  Vermutung  zu  einer  wahr- 
scheinlichen machen,  daß  Anwendungen  der  Kegelschnitte  auf  be- 
stimmte geometrische  Aufgaben  in  denselben  behandelt  wurden.  Die 
Titel  dieser  verloren  gegangenen  Schriften  sind:  Berührungen,  äc^I 
ina(pa)v  (de  tactionibus)]  ebene  Örter,  inCnsdoi  tötcol  (loci  plani)'^ 
Neigungen,  tcbqX  vsvöecov  (de  indinationibus) -^  Raumschnitt,  tcbqI 


^)  Pappus  VII,  298—811,  (ed.  Hultsch)  990—1004.  *)  Halley  S.  187 
bis  169  der  zweiten,  mit  dem  Y.  Buche  anfangenden,  Abteilang  seiner  Ausgabe 
der  Kegelschnitte.     •)  Pappus  VII,  Prooemium, 


344  16.  Kapitel. 

XOQtov  &n:oToiirig  (sectio  spatii)]  bestimmter  Schnitt,  tcsqI  dLmQig- 
[idvrjg  rofifjg  (sectio  determinata),  Hypsikles  führt  außerdem,  wie  wir 
im  nächsten  Kapitel  zu  besprechen  haben,  eine  Schrift  des  Apollonius 
über  die  in  dieselbe  Kugel  eingeschriebenen  Dodekaeder 
und  Ikosaeder  an,  Proklus  eine  %£qi  rov  xox^Cov^)  von  gänzlich 
unbekanntem  Inhalte  und  ein  Schriftsteller,  den  wir  im  24.  Kapitel 
als  Verfasser  einer  Schrift  über  Brennspiegel  kennen  lernen  werden, 
nennt  eine  Abhandlung  des  Apollonius  gleichen  Titels^):  Über 
Brennspiegel,  stegl  xvqvcov.  Die  Bedeutung  einer  solchen  Schrift 
für  die  Geschichte  der  Geometrie  ist  nicht  zu  unterschätzen.  Wir 
sahen  (S.  339),  daß  Apollonius  nur  von  den  Brennpunkten  derjenigen 
Kursen  handelte,  welche  solche  paarweise  besitzen.  Daß  auch  die 
Parabel  einen  Brennpunkt  habe,  konnte  nicht  wohl  früher  bemerkt 
werden,  als  bis  man  einer  halben  Ellipse,  einer  halben  Hyperbel  mit 
ihrem  Brennpunkte  ein  gewisses  Interesse  abgewonnen  hatte,  und  das 
war  vielleicht  bei  Gelegenheit  optischer  Untersuchungen,  d.  h.  eben 
in  Abhandlungen  über  Brennspiegel.  Damit  soll  freilich  weder  aus- 
gesprochen, noch  schlechtweg  geleugnet  werden,  daß  Apollonius  be- 
reits diesen  Fortschritt  vollzog.  Gewiß  ist  vielmehr  fürs  erste  nur, 
daß  Pappus*)  gegen  Ende  des  III.  nachchristlichen  Jahrhunderts  den 
Brennpunkt  der  Parabel  kannte. 

Nur  eine  einzige  Schrift,  die  zwei  Bücher  vom  Verhältnis- 
schnitt, x€qI  Xöyov  inoTOfiijg  (de  sedimie  rationis)  ist  in  arabischer 
Sprache  der  Neuzeit  überblieben  und  aus  dieser  übersetzt  worden*). 
Die  Aufgabe  des  Verhältnisschnittes  ist  folgende:  Es  sind  zwei  un- 
begrenzte Gerade  in  derselben  Ebene  der  Lage  nach  gegeben,  ent- 
weder gegenseitig  parallel  oder  einander  schneidend,  und  in  jeder 
derselben  ist  ein  Punkt  gegeben,  auch  ist  ein  Verhältnis  und  über- 
dies ein  Punkt  außerhalb  der  Linien  gegeben;  man  soll  durch  den 
gegebenen  Punkt  eine  Gerade  ziehen,  welche  von  den  der  Lage  nach 
gegebenen  Geraden  Stücke  abschneide,  deren  Verhältnis  dem  gegebenen 
gleich  sei.  Man  erkennt  leicht,  daß  diese  Aufgabe  durch  einen  großen 
Reichtum  an  Fällen  sich  auszeichnet,  je  nach  der  Lage  des  Punktes 
außerhalb   der  beiden   Geraden  zu  diesen  Geraden  selbst  und  zu  der 


»)  ProkluB  (ed.  Friedlein)  105.  «)  Vgl.  die  Zeitschrift  Hermes,  Bd.  XVI, 
S.  271—72.  «)  Pappus  Vn,  818  (ed.Hultsch  pag.  1012,  lin.  24 sqq.).  *)  Edw. 
Bernard  fand  die  ziemlich  verderbte  Handschrift  am  Ende  des  XVII.  S.  und 
begann  dieselbe  ins  Lateinische  zu  übersetzen.  Als  er  kaum  den  zehnten  Teil 
bewältigt  hatte,  gab  er  die  Arbeit  auf.  Nun  vollendete  der  des  Arabischen 
vorher  unkundige  Halley  die  Übersetzung,  des  von  Bernard  hinterlassenen 
Bruchstückes  als  Grammatik  und  Wörterbuch  sich  bedienend.  Halleys  Aus- 
gabe von  1706;  eine  deutsche  Ausgabe  von  Aug.  Richter.    Elbing  1886. 


Eratosthenes.    ApoUonius  von  Pergä.  345 

durch  die  beiden  auf  den  Geraden  gegebenen  Punkten  gezogenen 
Transversalen,  und  femer  je  nach  der  Richtung,  in  welcher  jene  in 
Verhältnis  tretenden  Stücke  von  den  gegebenen  Punkten  aus  liegen 
sollen.  Das  ist  dem  geometrischen  Charakter  des  ApoUonius  so  recht 
angemessen. 

Wir  nannten  oben  eine  ganze  Reihe  von  Schriften  als  verloren, 
ohne  daß  man  erheblich  mehr  als  deren  Titel  kenne.  Bei  dem  Raum- 
schnitte war  die  Aufgabe  dahin  gestellt,  daß  während  eben  dieselben 
Geraden  und  derselbe  Punkt  wie  beim  Verhältnisschnitte  gegeben 
waren,  die  zu  ziehende  Gerade  Stücke  absehneiden  mußte,  welche  ein 
der  Fläche  nach  gegebenes  Rechteck  bildeten^).  Die  allgemeinste 
Aufgabe  der  Neigungen^),  von  welcher  ApoUonius  die  leichteren 
FäUe  behandelte,  bestand  darin:  zwischen  zwei  der  Art  und  der  Lage 
nach  gegebenen  Linien  eine  gegebene  Strecke  so  einzuzeichnen,  daß 
sie  verlängert  durch  einen  gegebenen  Punkt  ging.  Eine  geometrische 
Auflösung  dieser  Aufgabe  ist  mittels  Anwendung  von  Kegelschnitten 
mögUch.  Ihr  Vorkommen  bei  Aristoteles,  dem  die  Kegelschnittlehre 
sicherlich  noch  fremd  war,  führt  zur  Vermutung,  man  habe  die  Auf- 
gabe ursprünglich  versuchsweise  durch  Bewegungsgeometrie  gelöst"). 
Li  den  Berührungen  war  die  sogenannte  Berührungsaufgabe 
des  ApoUonius  behandelt,  d.  h.  die  Aufgabe,  einen  Kreis  zu  zeichnen, 
der  drei  Bedingungen  genüge,  deren  jede  darin  bestehen  kann,  durch 
einen  gegebenen  Punkt  zu  gehen,  oder  eine  gegebene  Gerade,  oder 
einen  gegebenen  Kreis  zu  berühren*).  Aus  der  Schrift  von  den  Be- 
rührungen kennen  wir  ferner  mögUcherweise  eine  Tatsache,  welche 
interessant  genug  ist,  da  sie  das,  was  wir  früher  (S.  249  und  256) 
von  Spuren  kombinatorischer  Betrachtungen  bei  griechischen  Schrift- 
steUem  anmerken  durften,  zu  ergänzen  geeignet  ist.  Bei  der  über 
den  eigentlichen  Urheber  herrschenden  Unsicherheit  ziehen  wir  in- 
dessen vor,  den  Gegenstand  im  22.  Kapitel  bei  Pappus  zur  Rede  zu 
bringen. 

Auch  dem  rechnenden  Teile  der  Mathematik  hat  ApoUonius,  wie 
wir  durch  Eutokius  wissen,  seine  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Euto- 
kius  sagt  uns  nämlich  in  dem  mehrfach  bereits  benutzten  Kommen- 
tare zur  archimedischen  Kreismessung:  Soviel  in  meinen  Kräften 
stand,  habe  ich  nun  die  von  Archimedes  angegebenen  Zahlen  einiger- 
maßen erläutert.  Wissenswert  ist  aber  noch,  daß  auch  ApoUonius 
von  Pergä  in  seinem  Okytokion   dasselbe   durch  andere  Zahlen  be- 


»)  PappuB  Vn  ed.  Hultsch  p.  640.  *)  Ebenda  p.  670.  »)  So  die  Bcharl- 
sinnige  Vermutang  von  Opperznann.  Vgl.  Zeathen,  Die  Lehre  von  den  Kegel- 
schnitten im  Alterthum  S.  262  Note  1  und  Heiberg  in  den  Abhandlungen  zur 
Geachichte  der  Mathematik  XVIII,  16.     *)  Pappna  VE  ed.  Hultsch  p.  611. 


346  16.  Kapitel. 

wiesen  hat,  wodurch  er  sich  der  Sache  noch  mehr  näherte"*).  Wir 
haben  hier  die  Lesart  cjxvt^xlov  aufgenommen,  welche  durch  zwei 
Pariser  Handschriften  verbürgt  auffallend  genug  lange  Zeit  durch 
das  sprachlich  ganz  rätselhafte  Wort  axvrößoov  verdrängt  war.  Voll- 
ständigen Einblick  in  die  Art,  wie  Apollonius  seine  Ereismessung 
vollzog,  die  noch  genauer  als  die  des  Archimed  gewesen  sein  muß, 
•erhalten  wir  freilich  auch  durch  den  Namen  Okytokion  keineswegs. 
Dem  Wortlaute  nach  übersetzt  sich  dieser  Titel  als  Mittel  zur 
Schnellgeburt,  es  handelte  sich  also  höchst  wahrscheinlich  um 
raschere  Rechnungsverfahren,  aber  wie  dieselben  zu  dem  oben  ge-- 
nannten  Ziele  führten,  darüber  sind  wir  doch  nicht  besser  aufgeklärt. 
Die  Mutmaßung*),  Apollonius  habe  den  Näherungswert  sc  «  3,1416 
herausgerechnet,  der,  wie  wir  im  30.  Kapitel  sehen  werden,  in  Indien 
bekannt  war,  schwebt  ziemlich  in  der  Luft. 

Eine  dem  gewöhnlichen  griechischen  Verfahren  gegenüber  ein- 
fachere und  dadurch  abgekürzte  Multiplikation  des  Apollonius, 
welche  daher  möglicherweise  einen  Abschnitt  des  Okytokion  bildete, 
kennen  wir  aus  Pappus.  In  dem  auf  uns  gekommenen  Bruchstücke 
des  zweiten  Buches  seiner  Sammlung*)  berichtet  Pappus  von  zwei  zu- 
sammenhängenden, aber  doch  begrifflich  zu  trennenden  Gegenständen. 

Erstens  entnehmen  wir  seinem  Berichte,  daß  Apollonius  in  ähn- 
licher Weise  wie  Archimed  die  Zahlen  in  Gruppen  zu  teilen  wußte, 
welche  eine  leichtere  Aussprache  und  zugleich  eine  größere  Über- 
sichtlichkeit gewährten,  als  sie  ohne  Gruppierung  zu  erreichen  ge- 
wesen wäre.  Es  ist  derselbe  Gedanke,  der  beiden  Schriftstellern 
gleichmäßig  vorschwebte,  ja  es  ist  eigentlich  dieselbe  Gruppierung, 
welche  wir  von  beiden  gelehrt  finden.  Denn  wenn  auch  Archimed 
(S.  320)  Oktaden  bildete,  während  Apollonius  sich  mit  Tetraden 
begnügte,  so  ist  doch  die  Gleichheit  des  Prinzips  dadurch  hergestellt, 
daß  zwei  Tetraden  des  Apollonius  nebeneinander  geschrieben  nach 
moderner  Bezeichnung  der  Zahlen  einer  Oktade  des  Archimed  gleich- 
kommen, daß  Archimed  also  nur  eine  höhere  Gruppeneinheit  annahm 
als  Apollonius,  aber  eine  Einheit,  aus  welcher  die  des  Apollonius,  als 
in  jener  enthalten,  sich  leicht  ableiten  ließ,  ebenso  wie  es  denkbar 
ist,     daß    beide    Gruppierungen    unabhängig    voneinander    aus    dem 

*)  Archimedea  (ed.  Torelli)  216  und  452,  die  Varianten  der  Pariser 
Handschriften.  Torelli  benutzte  sie  in  seiner  Übersetzung.  Neuerdings  wurde 
dann  durch  Enoche  und  Maerker  im  Herforder  Gyninasialprogramm  für  1864 
auf  diese  Lesart  hingewiesen,  sowie  von  M.  Schmidt  in  Mützelid  Zeitschrift 
für  die  Gymnasialwissensch.  1865,  S.  805.  Vgl.  auch  Archimedes  (ed.  Hei- 
berg) in,  300.  *)  Recherches  sur  Thistoire  de  Tastronomie  ancienne  par  Paul* 
Tannery.    Paris  1893,  pag.  67—68.     «)  Pappus  II  (ed.  Hultsch)  2— 2U. 


Eiatosthenes.    Apollonins  von  Pergä.  347 

griechischen  Sprachgebrauche  hervorgehen  konnten,  welchem  die 
Myriade  das  letzte  unzusammengesetzte  Zahlwort,  die  Myriade  der 
Myriaden  das  letzte  einfach  zusammengesetzte  Zahlwort  war.  Die 
Nameu,  welche  Apollonius  für  seine  Tetraden  benutzt,  sind  für  die 
«rste  Tetrade,  welche  von  1  bis  9999  sich  erstreckt,  der  Name  der 
Einheiten;  dann  folgt  die  Tetrade  der  Myriaden;  auf  diese  die  der 
doppelten  Myriaden,  der  dreifachen,  vierfachen  usw.  Myriaden,  bis  zur 
xten  Myriade  als  allgemeine  Bezeichnung  einer  beliebigen 
Höhe^),  wobei  wir  freilich  dahingestellt  sein  lassen  müssen,  ob  diese 
an  sich  hochbedeutsame  Allgemeinheit  Apollonius  oder  dem  Berichte 
des  Pappus  eigentümlich  ist. 

Mit  diesen  Zahlen  werden  nun  zweitens  Multiplikationen  aus- 
geführt, und  dabei  ist  die  Vorschrift  gegeben,  die  Multiplikation 
irgend  welcher  Zahlen  auf  die  ihrer  Wurzelzahlen,  Tcvd^fiavsg,  zurück- 
zuführen. Das  Wort  Pythmen  findet  sich  in  einer  arithmetischen 
Bedeutung  schon  bei  Piaton'),  ob  aber  genau  in  derselben  wie  bei 
Apollonius,  ist  bei  dem  vielbestrittenen  Sinne  der  platonischen  Stelle 
nicht  zu  erhärten.  Bei  Pappus*)  bedeuten  Pythmenes  die  kleinsten 
Zahlen,  in  welchen  ein  Verhältnis  angegeben  ist.  Apollonius  ver- 
stand unter  der  Wurzelzahl  die  Anzahl  der  Zehner  oder  der  Hun- 
derter, die  in  einer  nur  aus  Zehnem,  beziehungsweise  nur  aus  Hun- 
dertern bestehenden  Zahl  enthalten  sind.  So  ist  5  der  Pythmen  von 
ÖO  wie  von  500,  7  der  Pythmen  von  70  wie  von  700  usw.  Wurzel- 
zahlen von  Tausendern,  Zelmtausendem  usw.  kommen  wenigstens 
unter  den  miteinander  zu  vervielfachenden  Zahlen  nicht  vor.  Der 
Grund  dafür,  wie  für  das  Hervorheben  der  anderen  Pythmenes  liegt 
in  der  uns  bekannten  griechischen  alphabetischen  Bezeichnung  der 
Zahlen  (S.  127).  Die  moderne  Ziflfemschrift  läßt  sofort  3  als 
die  Wurzelzahl  von  30,  von  300,  von  3000  erkennen.  Ebenso  war 
dem  Griechen  ein  leicht  ersichtlicher  Zusammenhang  zwischen  y  und 
^y,  nicht  aber  zwischen  y  und  X,  zwischen  y  und  t  geboten,  letzterer 
mußte  erst  gezeigt  werden.  Vielleicht  haben  wir  unseren  Lesern 
durch  die  Wahl  des  Wortes  zeigen  einen  Hinweis  gegeben,  wie  der 
Gedanke  an  die  Pythmenes  bei  einem  Griechen  entstehen  konnte: 
nicht  wenn  er  die  schriftliche  Aufzeichnung  der  Zahlen  vor  sich  sah, 
wohl  aber  wenn  er  ihren  Wortlaut  hörte.  Der  Ahnlichklang  von 
TQsls,  rQtäxovra,  xQiaxoöioi  sagte  ihm,  was  an  p^,  A,  t  erst  gezeigt 
werden  mußte,  und  so  glauben  wir  nicht  irre  zu  gehen,    wenn  wir 

*)  Pappus  (ed.  Hultsch)  4.  9inlf^  (ivglag;  6.  tQinXfj  pivgLccs;  20.  ivvanXfj 
(ivglag;  18.  {ivgiddeg  6iiwvviloi  tö>  x,  far  die  x fache  (nicht  die  20 fache)  My- 
riade oder  für  10  000  auf  die  xte  Potenz.  •)  Piaton,  Staat  Vm,  646  C  &v  ixi- 
TpiTOff  nvd'fi/i^v.      •)  PappuB  lU  (ed.  Hui t ach)  pag.  80. 


348  16.  Kapitel. 

in  den  Pythmenes  eine  Frucht  des  mündliehen  Rechenunterrichtes, 
nicht  schriftlicher  Erörterung  erblicken.  Sei  dem,  wie  da  wolle, 
jedenfalls  vollzog  Apollonius  die  Multiplikation  nunmehr  an  den 
Pythmenes,  und  die  Ordnung  des  jedesmaligen  Produktes  wird  aus 
der  Anzahl  der  Faktoren  unter  besonderer  Berücksichtigung,  wie  viele 
derselben  Zehner,  wie  viele  Hunderter  waren,  abgeleitet.  Eine  Unter- 
scheidung ton  zahlreichen  Einzelfällen,  die  dabei  vorkommen,  kann 
uns  bei  Apollonius  am  wenigsten  überraschen;  wir  bemerken  sie  auch 
nur  mit  der  ausgesprochenen  Absicht  gelegentlich  wieder  daran  zu 
erinnern. 

Endlich  müssen  wir  noch  einer  Arbeit  des  Apollonius  über 
Irrationalgrößen  gedenken,  von  welcher  schwache  Spuren  in 
einer  arabischen  Handschrift  entdeckt  worden  sind*).  Wir  haben 
(S.  268—270)  über  das  X.  Buch  der  euklidischen  Elemente  und 
über  die  dort  unterschiedenen  Irrationalitäten,  die  Medialen,  die 
Binomialen  und  die  Apotomen  berichtet.  Zu  diesem  X.  Buche  hat 
ein  griechischer  Schriftsteller  Erläuterungen  geschrieben,  deren  Über- 
setzung in  das  Arabische  aufgefunden  worden  ist.  Wer  der  Ver- 
fasser war,  darüber  ist  volle  Bestimmtheit  nicht  vorhanden,  wenn- 
gleich die  Wahrscheinlichkeit  dafür  spricht,  man  habe  es  hier  mit 
dem  überliefertermaßen  gleich  dieser  Übersetzung  aus  zwei  Büchern 
bestehenden  Kommentare  zum  X.  Buche  der  Elemente  von  Vettius 
Valens,  einem  byzantinischen  Astronomen  aus  dem  II.  S.  n.  Chr., 
zu  tun.  Dieser  Kommentator  erzählt,  die  Irrationalgrößen  hätten 
ihren  Ursprung  in  der  Schule  des  Pythagoras  gehabt.  Theaetet  habe, 
nach  den  Mitteilungen  des  Eudemus,  die  Lehre  vervollkommnet,  in- 
dem er  Irrationalgrößen  unterschied,  die  durch  Multiplikation,  durch 
Addition  und  durch  Subtraktion  untereinander  verbunden  eine  ver- 
wickeitere Form  besaßen.  Euklid  habe  vollends  Ordnung  in  den 
Gegenstand  gebracht  durch  genaue  Bestimmung  und  Scheidung  der 
verschiedenen  Gattungen  der  Irrationalitäten.  Dieser  Bericht  stimmt 
soweit  durchaus  mit  unseren  aus  anderen  Quellen  geschöpften  Mit- 
teilungen überein  und  bestätigt  dieselben,  wie  andererseits  ihm  selbst 
dadurch  eine  um  so  größere  Glaubwürdigkeit  erwächst.  Der  Kommen- 
tator fährt  fort:  „Apollonius  war  es,  welcher  neben  den  geordneten 
{rerayusvos  des  Proklus)  Irrationalgrößen  das  Vorhandensein  der 
ungeordneten    (araxrog)    nachwies    und    durch    genaue    Methoden 


*)  Woepcke,  Essai  d'une  restüution  de  travaux  perdus  d'ApdUonius  sur 
les  quantites  irrationelles  d'apris  les  indications  tirees  d'tm  manuscrit  arabe  in 
den  Memoires  presentes  ä  racademie  des  sciences  XIV,  658 — 720.  Paris  1866. 
Vgl.  auch  den  Bericht  von  Ghasles  über  diese  Abhandlung  in  den  Compt. 
Rend.  XXXVII,  653—568  (17.  Oktober  1858). 


Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker.  349 

eine  große  Anzahl  derselben  herstellte/*  Jetzt  folgt  der  eigentliche 
Kommentar,  dem  freilich  die  Klarheit,  welche  man  von  einem  der- 
artigen Werke  zu  fordern  berechtigt  ist,  gar  sehr  abgeht.  Selbst  der 
Versuch  aus  ihm  herauszulesen,  worin  die  bedeutende  Erweiterung 
bestand,  welche  ApoUonius  zu  verdanken  ist,  mit  anderen  Worten, 
was  man  unter  ungeordneten  Irrationalgrößen  zu  verstehen  habe,  ist 
trotz  allen  aufgewandten  Scharfsinnes  nur  Versuch  geblieben  und 
hat  eine  bloße  Vermutung  zutage  gefördert.  Eine  Erweiterung  meint 
man  demgemäß,  könne  nach  zwei  Richtungen  hin  stattgefunden 
haben;  es  könne  statt  der  aus  zwei  Teilen  bestehenden  Binomialen 
oder  Apotomen  eine  additive,  beziehungsweise  subtraktive  Verbindung 
von  mehr  als  zwei  Quadratwurzeln  in  Untersuchung  genommen 
worden  sein;  es  könne  auch  um  Ausziehimg  von  Wurzeln  mit  höheren 
Wurzelexponenten  als  2  sich  gehandelt  haben,  oder  anders  ausge- 
sprochen, um  die  Einschaltung  von  2,  3,  ...  n  mittleren  geometrischen 
Proportionalen  zwischen  zwei  gegebenen  Größen,  d.  h.  um  Aufgaben, 
von  welchen  das  delische  Problem  den  einfachsten  Fall  darstellt. 


17.  Kapitel. 

Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker. 

In  den  fünf  letzten  Kapiteln  haben  wir  uns  mit  den  großen 
Mathematikern,  welche  das  Jahrhundert  von  300  bis  200  etwa  durch 
ihre  Tätigkeit  erfüllten,  bekannt  zu  machen  gesucht.  Zusammen- 
fassende Übersichten,  wie  wir  sie  anderen  Kapiteln  wohl  als  Schluß 
dienen  ließen,  waren  hier  nicht  zu  geben  Haben  wir  doch  überhaupt 
auf  das  Notwendigste  und  Wichtigste  uns  beschränken  müssen,  so 
daß  unsere  ganze  Darstellung  gewissermaßen  als  die  vielleicht  ver- 
mißte Zusammenfassung  zu  gelten  hat.  Nur  das  sei  noch  besonders 
hervorgehoben,  daß  Euklid,  Archimed,  Eratosthenes  und  Apol- 
lonius  die  Mathematik  auf  eine  Stufe  förderten,  von  welcher  aus 
mit  den  alten  Hilfsmitteln,  insbesondere  ohne  Erweiterung  der  In- 
finitesimalbetrachtungen zu  einer  allgemeinen  Methode,  was  die  Ex- 
haustion  nicht  war,  wenn  sie  es  auch  hätte  sein  können,  ein  Höher- 
steigen  nicht  möglich  war.  Zur  Infinitesimalmethode,  wie  zur  mathe- 
matischen Allgemeinheit  überhaupt  war  der*  griechische  Geist  mit 
vereinzelten  Ausnahmen,  zu  welchen  vermutlich  ApoUonius  gerechnet 
werden  darf,  nicht  angetan.  Das  ist  ein  Erfahrungssatz,  welcher 
wesentlich  auf  dem  Fehlen  allgemeiner  Methoden  beruht.  War  aber 
ohne    sie    ein   weiteres  Steigen  nicht  möglich,    so  war  der  erreichte 


350  17.  Kapitel. 

Gipfel  nach  allen  Richtungen  hin  gar  bald  durchforscht.  Es  blieb 
nur  ein  Abwärtsgehen  und  bei  dem  Abwärtsgehen  ein  Anhalten  d& 
und  dort;  ein  Umsichschauen  nach  Einzelheiten  übrig,  an  welchen 
man  beim  jähen  Aufwärtsklimmen  vorher  vorübergeeilt  war.  Damit 
ist  die  Zeit  gekennzeichnet,  zu  deren  Betrachtung  wir  in  diesem 
Kapitel  übergehen. 

Die  Elemente  der  Planimetrie  waren  erschöpft.  Sie  blieben,  was 
Euklid  aus  ihnen  gemacht  hatte,  abgesehen  von  Zutaten,  die  der 
Lehre  von  den  größten  und  kleinsten  Werten  entstammten.  Auch 
die  Lehre  von  den  Kegelschnitten  konnte  nach  Apollonius  eine  wesent- 
liche Ergänzung  nicht  finden.  In  der  Stereometrie  blieb  dagegen  nach 
Euklid  und  selbst  nach  Archimed  noch  manches  zu  tun.  Am  meisten 
war  von  theoretisch  Neuem  in  der  Lehre  von  den  von  Kegelschnitten 
verschiedenen  Kurven  zu  finden,  einem  Gebiete,  zu  dessen  Bearbeitung 
Archimeds  Spiralen  entschieden  aneifem  mußten.  Und  endlich  war 
die  rechnende  Geometrie  ein  Gegenstand,  an  welchem  Archimeds 
Kreisrechnung  auch  verwöhnten  Geistern  Geschmack  beigebracht 
haben  mochte.  Das  sind  die  Felder,  auf  denen  die  Epigonen  sich 
tummelten,  deren  Bewegungen  wir  uns  zu  vergegenwärtigen  haben. 

Die  meisten  Schriftsteller  freilich,  die  wir  hier  nennen  werden^ 
sind  ihrer  Lebenszeit  nach  höchst  unbestimmt.  Von  einigen  ist  es^ 
wie  wir  selbst  erklären,  zweifelhaft,  ob  sie  mit  Recht  gerade  in  diesem 
Kapitel  zur  Rede  kommen.  Am  sichersten  ist  dieses  wohl  fiir  Niko- 
medes  und  Diokles  anzunehmen,  die  Erfinder  der  Konchoide  und 
der  Cissoide,  mithin  zweier  Kurven,  deren  Namen  Geminus  um  das 
Jahr  70  v.  Chr.  kannte*),  die  also  zu  dieser  Zeit  jedenfalls  vorhanden 
waren,  während  andererseits  Nikomedes  nach  dem  Berichte  des  Euto- 
kius*)  sich  im  Vergleiche  zu  Eratosthenes  mit  seiner  Erfindung 
brüstete,  also  sicherlich  auch  nicht  früher  als  um  das  Jahr  200  etwa 
gelebt  haben  kann. 

Die  Konchoide  oder  Muschellinie  des  Nikomedes  ist  der 
geometrische  Ort  eines  Punktes,  dessen  geradlinige  Verbindung  mit 
einem  gegebenen  Punkte  durch  eine  gleichfalls  gegebene  Gerade  so 
geschnitten  wird,  daß  das  Stück  zwischen  der  Schneidenden  und  dem 
Orte  eine  gegebene  Länge  besitzt.  Je  nach  dem  Größenverhältnisse 
des  Abstandes  des  gegebenen  Punktes  von  der  gegebenen  Geraden 
und  der  Konchoide  besitzt  letztere  drei  verschiedene  Formen,  doch  ist 
kaum  anzunehmen,  daß  die  Griechen  diese  Formen  kannten,  deren 
wesentlichste  Verschiedenheit  auf  dem  Zweige  der  Kurve  beruht, 
welcher  von  der  festen  Schneidenden  aus  gesehen  auf  derselben  Seite 


»)  ProkluB  (ed.  Friedlein)  177.     *)  Archimedes  (ed.  Heiberg)  III,  114. 


Die  EpigODen  der  großen  Mathematiker. 


351 


Fig.  69. 


wie  der  feste  Punkt  liegt,  und  von  diesem  Zweige  ist  überhaupt  nicht 
die  Rede.  Allerdings  wird,  falls  diese  Meinung  als  richtig  gilt^ 
vollends  unverständlich,  was  Pappus  in  seinem  IV.  Buche  die  zweite,, 
dritte  und  vierte  Konchoide  genannt  haben  mag,  die  zu  anderen 
Zwecken  als  die  erste  benutzt  worden  seien*).  Nikomedes  nannte^ 
wie  wir  durch  Eutokius  und  Pappus 
wissen,  den  festen  Punkt  Pol,  7t6kov. 
Er  erfand  auch,  wie  beide  Bericht- 
erstatter uns  melden,  eine  Vorrichtung 
zur  Zeichnung  der  Konchoide,  die  aus 
der  Figur  sofort  verständlich  ist  (Fig.  59). 
Sie  bestand  aus  drei  miteinander  ver- 
bundenen Linealen.  Zwei  derselben 
waren  senkrecht  zueinander  fest  ver- 
einigt, und  während  das  eine  fast  seiner 
ganzen  Länge  nach  durch  eine  Ritze 
durchbrochen  war,  trug  das  andere  ein  kleines  rundes  Zäpfchen.  Das 
durchbrochene  Lineal  stellte  die  feste  Gerade,  das  Zäpfchen  auf  dem 
anderen  stellte  den  Pol  der  Muschellinie  vor.  Das  dritte  Lineal  trug 
unweit  des  spitzen  Endes  ein  Zäpfchen  ähnlich  dem  Pole,  etwas 
weiter  davon  entfernt  eine  Ritze  ähnlich  der  auf  der  festen  Geraden^ 
die  Entfernung  des  Zäpfchens  von  der  Spitze  stellte  den  gleichbleiben- 
den Abstand  vor.  Offenbar  mußte  nun  die  Spitze  dieses  dritten 
Lineals  eine  Muschellinie  beschreiben,  wenn  das  Lineal  selbst  alle 
möglichen  Lagen  annahm,  deren  es  fähig  war,  während  sein  Zäpf- 
chen in  der  Ritze  der  festen  Geraden  sich  befand  und  seine  Ritze  da& 
als  Pol  dienende  Zäpfchen  einschloß. 

Nikomedes  hat  gezeigt:  1.  daß  die  Muschellinie  der  festen  Ge- 
raden sich  mehr  und  mehr  nähert  *j;  2.  daß  jede  zwischen  der  festen 
Geraden  und  der  Muschellinie  gezogene  Gerade  die  Muschellinie 
schneiden  muß;  3.  daß  mittels  der  Muschellinie  die  Aufgabe  der  Würfel- 
verdoppelung gelöst  werden  kann. 

Den  Ideengang  seiner  Auflösung  und  seines  Beweises  lassen  wir 
hier  folgen,  wobei  wir  nur  diejenigen  geringfügigen  Abänderungen, 
vornehmen,  welche  notwendig  sind,  um  statt  eines  Rechnens  mit 
Proportionen  das  uns  geläufigere  Rechnen  mit  Gleichungen  einzuführen. 
Aus  den  Strecken  «A  ==  2a  und  ccß  ^2b  wird  (Fig.  60)  das  Rechteck 
aßyX  gebildet  und  ßy  um  weitere  2a  nach  ri  verlängert.  Außerdem 
wird    in  der  Mitte  €  von  ßy  die   cg   genkrecht  za  ßy  errichtet  und 


^)  Pappus  (ed.  Hultsch)   244.  x.    pjo^^^®  ^^^'  ^i^iedlein)    177    ist 

geradezu  von  der  Asymptote  der  Eoncbo*  -  "QaAö. 


'"H^  dve  ^''- 


352 


17.  Kapitel. 


deren  Endpunkt  g  durch  yi='  ßd  =  b  bestimmt.  Somit  ist  auch  rjt 
gegeben,  und  ihr  parallel  wird  durch  y  die  yö  gezogen  Diese  letztere 
wird  als  feste  Gerade,  g  als  Pol,  b  als  Abstand  benutzt  und  die  Muschel- 
linie konstruiert,  welche  die  Ver- 
längerung von  ßy  inx  schneidet, 
d.  h.  welche  öx  ==»  6  werden  läßt. 
Verbindet  man  nun  endlich  x 
mit  l  und  verlängert  xA  bis  zum 
Durchschnitte  ft  mit  der  ver- 
längerten aß,  setzt  man  dabei 

a^  «a?,  yx  =  y, 
so  ist 

2a:x  ^  X  :y  ^y:2b, 
und  die  Aufgabe,  zwischen  2  a  und 
2b  zwei  mittlere  Proportionalen 
einzuschalten,  ist  gelöst.  Aus  den 
Dreiecken  a>L/i,  yxX  folgt  näm- 

Daraus  erkennt  man  ^d^x  und 


Fig.  60. 

lieh  jr-  =  —  uiid  ^ 
2a 


4a  •  6        riy   0% 
y  y     ^     7^    ' 

folglich  gx  =  a?  +  6.  Nun  ist  et,  Kathete  zweier  rechtwinkliger  Drei- 
ecke y^B  und  x%B.  Das  erstere  hat  yl^b  als  Hypotenuse,  y£  =  a 
als  zweite  Kathete.  Das  zweite  hat  xg»x-|-&  als  Hypotenuse, 
xe^y  +  a  als  zweite  Kathete.    Mithin  ist  6*— a*  =  (a?  +  by  —  (y  +  a)* 

—  =  ^t  Jt '   Man  kennt  ferner  den- 
y       x  +  2b 

^    wegen  der  Ähnlichkeit  der  Drei- 


oder x(x  +  2b)  =-  y(y  +  2a)  und 
selben  Bruch  ^^4?  =  p    ==  ^  = 


2b 


ecke  ßxfi  und  yxX.     Man  weiß   also  auch  —  =  ^^;  2bX'- 


Diese 


Gleichung  abgezogen  von  dem  vorher  gefundenen  x(x  +  2b)  ^  y{y  +  2a) 
läßt  x^ » 2ay  zum  Reste,  und  die  Umstellung  der  beiden  Glei- 
chungen x^  «  2ay,  y^  ^  2bx  in  Proportionen  liefert  das  verlangte 
2a  :  X  ^  X  :  y  ^  y  :  2b.  Auflösung  und  Beweis  sind  gleichmäßige 
Zeugnisse  für  den  Scharfsinn  des  Erfinders,  der  schon  um  des  oben 
beschriebenen  Konchoidenzeichners  willen  einen  rühmlichen  Platz  in 
der  Geschichte  der  Mathematik  verdient. 

Der  Zirkel,  als  Hilfsmittel  geometrischen  Zeichnens  wurde  von 
den  Alten  auf  den  Neffen  des  Dädalus  zurückgeführt^),  wohl 
denselben  Talus,  auf  welchen  schon  (S.  163)  für  andere  Erfindungen 
verwiesen   worden   ist,   d.  h.    auf   einen    mythischen   Ursprung.     Die 


*)  Ovid,  Metam.  Vni,  247— 49:  Primuß  et  ex  uno  duo  ferrea  brachia  nodo 

Yinxit,  ut,   aeqnali  epatio  distantibus  illis, 
Altera  pars  staret,  pars  altera  duceret  orbem. 


Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker.  353 

Vorrichtungen  des  Piaton  und  des  Eratosthenes  zur  Würfelver- 
doppelung  beruhen  auf  Geschicklichkeit  des  Benutzers,  der  versuchs- 
weise gewisse  Lagenverhältnisse  der  Teile  der  Apparate  hervorbringen 
mußte.  Etwaige  Mittel  die  Kegelschnitte  zu  zeichnen  sind,  wenn 
Menächmus  wirklich  dergleichen  besaß  (S.  244),  nicht  zu  unserer 
Kenntnis  gelangt.  Die  Quadratrix,  die  Hippopede,  die  Spirale  mecha- 
nisch zu  zeichnen  gab  es  kein  Mittel.  So  ist  die  MuscheUinie  des 
J^ikomedes  neben  der  Geraden  und  dem  Kreise  die  älteste  Linie,  von 
deren  mechanischer  Konstruktion  in  einem  fortlaufenden  Zuge  wir 
genügenden  Bericht  besitzen. 

-  Dieselbe  Muschellinie  hat  auch  zur  Auflösung  einer  anderen  Auf- 
gabe, nämlich  zur  Dreiteilung  des  Winkels  Anwendung  gefunden. 
Soll  man  den  Worten  des  Pappus  Glauben  schenken,  so  hätte  dieser 
sich  jene  Anwendung  zuzuschreiben^).  Dagegen  sagt  Proklus  aus- 
drücklich, Nikomedes  habe  mit  Hilfe  der  Muschellinie  jeden  Winkel 
in  drei  gleiche  Teile  zerlegt*),  und  so  glauben  wir  es  gerechtfertigt 
hier  von  dieser  Anwendung  zu  reden. 

Wir  wissen,  daß  Archimed  (S.  300)  die  Dreiteilung  des  Winkels 
auf  die  Zeichnung  einer  Geraden  von  einem  gegebenen  Punkte  aus 
zurückführte,  welche  einen  Kreis  und  eine  Gerade  so  schneiden  sollte, 
daß  die  zwischen  beiden  Schnittpunkten  liegende  Strecke  einer  ge- 
gebenen gleich  werde.  Konnte  man  hier  den  Kreis  durch  noch  eine 
Gerade  ersetzen,  so  war  die  Aufgabe  nur  noch:  von  einem  Punkte 
aus  durch  eine  gegebene  Gerade  hindurch  bis  zum  Durchschnitte  mit 
einer  zweiten  gegebenen  Geraden  eine  Gerade  zu  zeichnen,  welche 
zwischen  beiden  Durchschnittspunkten  einen  bekannten  Abstand  zeige, 
und  das  gelingt  mit  Hilfe  der  Muschellinie,  deren  Pol  der  gegebene 
Punkt,  deren  feste  Gerade  die  erste  gegebene  Gerade,  deren  gleich- 
bleibender   Abstand    die 

gegebene     Strecke     ist.      C\ ^ 

Pappus  hat  uns  eine  der- 
artige Umformung  über- 
liefert«). Essei(Fig61) 
aßy  der  in  drei  gleiche 
Teile  zu  teilende  spitze  Winkel.  Von  a  aus  wird  ay  senkrecht  zu 
ßy  gezogen  und  das  Rechteck  ayß^  vollendet.  Die  ßs  dritteilt  nun 
den  gegebenen  Winkel,  wenn  die  Strecke  äe  zwischen  ihren  Durch- 
schnitten mit  der  ay  und  der  Verlängerung  der  ga  doppelt  so  groß 
ist  wie  aß.     Weil  nämlich  aäa  ein  reehtwinkliges  Dreieck,  so  wird. 


Flg.  61. 


^)  Pappus  IV,  27,  (ed.HuItflch)  24^^       ^  yto^^^a  (ed.  ftiedlein)  '2 
«)  Pappus  IV,  38,  (ed.  Hultsch)  274.        ^^       ' 

Caktob,  0«8chiohte  der  Mathematik  I.  S.  Auq  "IZ 


272. 


354  17.  Kapitel. 

wenn  rj  der  Mittelpunkt  der  Hypotenuse  Ss  ist,  =-  diy  =  iy£  =  lya 
sein.  Polglich  sind  zwei  gleichschenklige  Dreiecke  aßrj  und  ccrjs  in 
der  Figur  vorhanden.  Da  überdies  ^arjß  Außenwinkel  des  Dreiecks 
ai]s  ist,  und  ßs  als  Transversale  mit  den  Parallelen  g«,  ßy  gleiche 
Wechselwinkel    bildet,    so    ist    ^ccßs  '^  ai]ß  ^  rjea  +  rjas  =^  2r}ea 

Ist  die  Annahme  wirklich  gerechtfertigt,  daß  diese  Auflösung, 
oder  eine  ihr  alsdann  jedenfalls  sehr  ähnliche,  bereits  dem  Nikomedes 
zuzuschreiben  sei,  so  bietet  es  ein  eigentümliches  Interesse,  daß  hier 
die  Aufgabe  der  Würfelverdoppelung  und  die  der  Dreiteilung  des 
Winkels  mit  Hilfe  derselben  Kurve  bewältigt  werden,  wie  sie,  modern 
ausgedrückt,  beide  auf  Gleichungen  dritten  Grades  sich  zurückführen 
lassen.  Sollte  ein  dunkles  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  beider 
Probleme  bei  den  griechischen  Mathematikern  nach  Archimed  zu  den 
Möglichkeiten  gehören?  Müssen  wir  doch  auch  eine  ideeUe  Zusammen- 
gehörigkeit zwischen  der  allgemeinen  Teilung  des  Kreisbogens  und 
seiner  Rektifikation  zugestehen,  welche  beide,  wie  wir  wissen,  mittels 
der  Quadratrix  vollzogen  wurden. 

Der  Zeit  nach  nur  wenig  von  Nikomedes  entfernt  dürfen  wir 
Diokles  setzen,  den  gleichfalls  oben  genannten  Erfinder  der  Cissoide 
oder  Efeulinie.  Er  muß  früher  gelebt  haben  als  Geminus,  der 
diese  seine  Kurve  neben  der  Muschellinie  nennt;  er  muß  aber  auch 
später  als  Archimed  angesetzt  werden,  mit  dessen  Aufgabe  von  der 
Durchschneidung  einer  Kugel  durch  eine  Ebene  zu  gegebenem  Ver- 
hältnisse der  beiden  Kugelabschnitte  er  sich  beschäftigte  in  der  An- 
nahme, Archimed  selbst  habe  sein  auf  diese  Aufgabe  bezügliches 
Versprechen  nicht  eingelöst^)  (S.  309).  Er  hat  die  Aufgabe  mit  Hilfe 
zweier  Kegelschnitte  in  seinem  Werke  ^sqI  nvQBiiQv  gelöst,  aus 
welchem  Eutokius  sie  entnahm^)  und  aus  demselben  Werke  teilt  der 
gleiche  Berichterstatter  die  Definition  der  Cissoide  und  deren  An- 
wendung zur  Würfel  Verdoppelung  uns  mit^).  Der  Name  jenes 
Werkes  läßt  den  Inhalt  erkennen.  Das  Wort  %vqiov  bedeutet,  wie 
wir  (S.  344)  gesehen  haben,  Brennspiegel,  und  in  einem  Buche  über 
Brennspiegel  konnte  es  auf  die  Größe  sphärischer  Abschnitte,  sowie 
auf  deren  Vergrößerung  unter  Beibehaltung  der  Gestalt  ankommen. 
Was  über  eine  arabische  Übersetzung  des  Werkes  des  Diokles  in 
einer  Handschrift  des  Escorial  angegeben  ist*),  dürfte  auf  den  Bericht 
des  Eutokius  sich  beschränken*). 

*)  Archimed  (ed.  Heiberg)  lU,  162.  *)  Ebenda  III,  188.  «)  Ebenda 
III,  78—80.  *)  W anrieh,  De  auctorum  Gi'aecorum  veisionihus  et  commentariis 
Syriacis,  Ärahicis,  Amienicis,  Fersicisque.   Leipzig  1842,  pag.  197.     *)  Heiberg 


Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker. 


355 


Diokles  läßt  seine  Gissoide  in  durchaus  anderer  Weise  entstehen, 
als  es  gegenwärtig  gebrauchlich  ist.  Man  soll  (Fig.  62)  in  einem 
Kreise  zwei  zueinander  senk- 
rechte Durchmesser  ccß  und  yS 
ziehen.  Werden  symmetrisch  zu 
aß  zwei  Gerade  r^t,  xc  senk- 
recht auf  yd  errichtet  und  i 
mit  dem  Endpunkte  e  der  einen 
Senkrechten  verbunden,  so  liegt 
der  Durchschnittspunkt  0  dieser 
Verbindungslinie  mit  der  anderen 
Senkrechten,  gleichwie  der  ähn- 
lich ermittelte  Punkt  o  usw. 
auf  der  Gissoide.  Zugleich 
findet  die  fortlaufende  Propor- 
tion statt  yri :  rji^  rj^irjd  ^ 
rjd  :r]d. 

Der  erste  Teil  dieser  Proportion  ist  augenscheinlich  richtig,  weil 
lyg  als  Senkrechte  von  einem  Peripheriepunkt  auf  den  Durchmesser 
.das  geometrische  Mittel  der  Teile,  in  welche  sie  den  Durchmesser 
teilt,  ist.  Weil  auch  xe  eine  solche  Senkrechte  ist,  muß  ebenso 
yxixs  ^xe  :xd  sein.  Femer  sind  die  Dreiecke  xsd,  rjdS  ähnlich 
und  darum  xs  :  xd  =  rjO  irjdf  folglich  auch  yxixe  ^  rid  :rjd  und 
nicht  minder  xsixy  ^  rjS  :  rjd.  Berücksichtigt  man  endlich  xe  ^  rjtf 
yx^'Tid,  so  nimmt  die  letztgeschriebene  Proportion  die  Form 
rj^irjS  ^  rjd  :  Tjd  an,  und  die  zu  Anfang  behauptete  fortlaufende  Pro- 
portion ist  nachgewiesen,  d.  h.  zwischen  yiy  und  lyd,  die  in  der  Figur 
senkrecht  zueinander  gezogen  erscheinen,  sind  die  rj^  und  97  d  als  die 
beiden  mittleren  Proportionalen  eingeschaltet. 

Nun  kann  man  auch  zwischen  irgend  zwei  Strecken  a,  b  zwei 
mittlere  Proportionalen  einschalten.  Man  zeichnet  einen  beliebigen 
Kreis  mit  zugehöriger  Gissoide.  Man  sucht  auf  dem  vertikalen  Durch- 
messer aß  den  Punkt  7t  nach  Maßgabe  der  Proportion  yl:Xn=^a:b 
und  zieht  die  y«,  welche  bis  zum  Durchschnitte  0  mit  der  Gissoide 
verlängert  wird.  Sofort  zeigt  sich,  daß  auch  yrj :  rjO  =>  a  :b  iBt  Es 
brauchen  daher  nur  die  Strecken  rj^  und  ijd,  welche  zwischen  yiy, 
lyö  als  mittlere  Proportionalen  bekannt  geworden  sind,  in  dem  Ver- 
hältnisse yrj :  a  verändert  zu  werden,  um  üe  Lösung  der  Aufgabe  zu 
erhalten. 


in   Zeitschrift   Math.    Phya.   XX Vm,   Hi^*.  ,    \iiwan8che   Abteilung   S.  128, 

Note,  '^>^V^^^ 

23* 


^ 


356  17.  Kapitel. 

Ein  dritter  Geometer  der  gleichen  Zeit  etwa  dürfte  Perseus 
gewesen  sein.  Wir  werden  ihn  nicht  leicht  für  älter  als  die  alexan- 
drinische  Schule  halten,  weil  Proklus,  der  seiner  gedenkt,  dieses  wohl 
irgend  bemerkt  haben  würde,  um  die  Lücke  in  dem  alten  Mathe- 
matikerverzeichnisse, in  welchem  sein  Name  nicht  vorkommt,  aus- 
zufüllen. Später  als  zwischen  200  und  100  kann  er  aber  auch  nicht 
gelebt  haben,  wie  wir  aus  folgendem  Umstände  entnehmen.  Eine 
Spire  war,  wie  wir  (S.  242)  besprochen  haben,  eine  wulstartige 
Oberfläche.  Heron  von  Alexandria  definiert  sie,  wie  wir  damals  sahen, 
als  Umdrehungsfläche  erzeugt  durch  Drehung  eines  Kreises  um  eine 
nicht  durch  seinen  Mittelpunkt  hindurchgehende  Achse  ^)  und  setzt 
hinzu:  „Aus  den  Schnitten  derselben  entstehen  gewisse  eigentümliche 
Kurven."  Daraus  geht  hervor,  daß  zu  Herons  Zeit  Schnitte  jener 
Oberflächen  bereits  vorgenommen  worden  waren,  und  Geminus  er- 
gänzt diese  Mitteilung  zur  Brauchbarkeit  für  unseren  gegenwärtigen 
Zweck  durch  die  Angabe*),  die  spirischen  Schnitte  seien  von 
Perseus  erdacht.  Es  ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wahrschein- 
lich, daß  damit  jene  Schnitte  gemeint  sind,  die  wir  an  der  oben  an- 
geführten Stelle  im  Zusammenhange  mit  der  Hippopede  des  Eudoxus 
beschrieben  haben.  Schnitte  also,  welche  auf  dem  Wulste  durch  eine, 
der  Durchgangsachse  parallele  Ebene  hervorgebracht  wurden,  wobei 
die  Entfernungen  des  Schnittes  und  des  Mittelpunktes  des  die  Spire 
erzeugenden  Kreises  von  der  Drehungsachse  die  unterscheidenden 
Merkmale  für  die  einzelnen  spirischen  Kurven  lieferten.  Bemerken 
wir  noch,  daß  eine  Untersuchung  solcher  Kurven  der  Zeit,  in  welche 
wir  Perseus  setzen,  angemessen  erscheint,  so  ist  damit  das  Wenige 
erschöpft,  was  wir  über  diesen  Schriftsteller  sagen  können,  dessen 
Heimat  und  sonstige  persönliche  Verhältnisse  uns  genau  ebenso  un- 
bekannt sind,  wie  die  des  Nikomedes,  des  Diokles. 

Ebenso  verhält  es  sich  mit  Zenodorus'),  dem  Verfasser  eines 
höchst  interessanten  Buches  über  Figuren  gleichen  Umfanges. 
Die  Grenzen,  in  welche  sein  Leben  eingeschlossen  werden  kann,  sind 
als  feststehende   obere  Grenze  die  Zeit  des  Archimed,   dessen  Name 


^)  Heron,  Definit.  98  (ed.  Hultach)  27,  bestätigt  durch  Proklus  (ed. 
Friedlein)  119.  *)  Proklus  (ed.  Friedlein)  111—112.  »)  Vgl.  Nokk,  Pro- 
gramm des  Freiburger  Lyceums  von  1860  und  unsere  Besprechung  des  11.  Bandes 
des  Pappus  (ed.  flultsch)  in  der  Zeitschr.  Math.  Phya.  XXII  (lö77),  Histor.- 
literar.  Abtlg.  173  — 174.  Eine  Verwechslung  des  Zenodorus  mit  einem  bei 
Proklus  genannten  Zenodotus,  welche,  so  lange  die  Fr  ie dl  einsehe  Proklus- 
ausgabe  noch  nicht  vorhanden  war,  zu  entschuldigen  gewesen  sein  dürfte,  ver- 
anlaßte  uns  früher  zu  gegenwärtig  ganz  unhaltbaren  Zeitbestimmungen  für 
Zenodorus. 


Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker.  357 

bei  ihm  vorkommt,  als  mit  an  Sicherheit  grenzender  Wahrscheinlich- 
keit anzugebende  untere  Grenze  die  Zeit  des  Qpintilian,  der  von  den 
Dingen  redet,  welche  in  der  Abhandlung  des  Zenodorus  vorkommen, 
wenn  auch  ohne  ihn  selbst  zu  nennen.  QuintiUan,  mit  welchem  wir 
es  im  26.  Kapitel  zu  tun  haben  werden,  lebte  35 — 95  n.  Chr.  Dem- 
gemäß würde  die  Tätigkeit  des  Zenodorus  etwa  zwischen  200  v.*  Chr. 
und  90  n.  Chr.  fallen.  Man  hat  aber  wohl  mit  Recht  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  seine  etwas  breite  Schreibart  ihn  als  nicht 
allzuweit  nach  Euklid  lebend  betrachten  lasse  ^),  und  demzufolge 
nehmen  wir  keinen  Anstand  ihn  hier  zu  behandeln.  Die  Abhandlung 
des  Zenodorus  ist  uns  in  mehrfacher  Überlieferung  erhalten.  Ein- 
mal finden  sich  die  Sätze  über  Figuren  gleichen  Umfanges  ohne  An- 
gabe ihres  Erfinders  bei  Pappus  im  V.  Buche  seiner  mathematischen 
Sammlung*),  zweitens  stehen  dieselben  in  dem  Kommentare  des  Theon 
von  Alexandria ^  zum  I.  Buche  des  ptolemäischen  Almagestes.  Bei 
Theon  ist  ausdrücklich  Zenodorus  als  Verfasser  der  auszugsweise  mit- 
geteilten Abhandlung  genannt,  und  Proklus  bestätigt  mittelbar  diese 
Namensnennung.  Er  sagt  uns  nämlich,  das  Viereck  mit  einspringen- 
dem Winkel  heiße  hohlwinklig,  xoikoyaviovy  nach  Zenodorus*),  und 
dieses  Wort  in  der  angegebenen  Bedeutung  kommt  wirklich  in  Theons 
Auszuge  vor.  Wir  können  drittens  auf  eine  Abhandlung  in  grie- 
chischer Sprache  über  die  Figuren  gleichen  Umfanges  hinweisen, 
welche  den  Namen  keines  Verfassers  als  Überschrift  trägt  und  in 
wesentlicher  Übereinstimmung  mit,  wahrscheinlich  in  einem  Ab- 
hängigkeitsverhältnisse zu  Zenodorus  steht  ^),  von  Nachbildungen  in 
anderen  Sprachen  zu  schweigen.  Von  den  vierzehn  Sätzen  des  Zeno- 
dorus, welche  fast  gleichlautend  bei  Pappus  und  bei  Theon  sich  er- 
halten haben,  mögen  der  1.,  2.,  6.,  7.  und  14.  hier  einen  Platz  finden: 
1.  Unter  regelmäßigen  Vielecken  von  gleichem  Umfange  hat  das- 
jenige den  größeren  Inhalt,  welches  mehr  Winkel  hat.  2.  Der  Kreis 
hat  einen  größeren  Inhalt  als  jedes  ihm  isoperimetrische  regelmäßige 
Vieleck,  6.  Zwei  ähnliche  gleichschenklige  Dreiecke  auf  ungleichen 
Grundlinien  sind  zusammen  größer  als  zwei  auf  den  nämlichen  Grund- 
linien gleichschenklige  Dreiecke  zusammen,  welche  unter  sich  unähn- 
lich sind,  aber  mit  jenen  ähnlichen  gleichen  Gesamtumfang  haben. 
7.  Unter  den  isoperimetrischen  n- Ecken  hat  das  regelmäßige  den 
größten  Inhalt.     14.  Unter  den  Kreisabschnitten,  welche  gleich  große 


*)  Pappus  (ed.  Hultach)  1190.  *)  Pappus  V,  pars  1  (ed.  Hultsch), 
308  sqq.  *)  Theon  d'Älexandrie  (ed.  Halma.  PaiislöSl)  33  sqq.  Zum  besseren 
Vergleich  mit  der  Wiedergabe  durch  Pappxj^  ^^Yi  abgedruckt  bei  Pappus  (ed. 
Hultsch)  1190—1211.  *)  Proklus  (ecl.  v,  «edU^^^  ^^^'  *)  ^apP^a  (ed. 
Hultsch)  1188—1166.  ^  ^^ 


358  17.  Kapitel. 

Bogen  haben,  ist  der  Halbkreis  der  größte.  Im  Räume  hat  die  Kugel 
bei  gleicher  Oberfläche  den  größten  Inhalt.  Die  theoretische  Bedeut- 
samkeit dieser  Sätze,  welche  einen  durchaus  neuen  geometrischen 
Gegenstand  behandeln,  der  nach  rückwärts  nur  an  die  Vielecke  wach- 
sender Seitenzahl  in  der  Ereisrechnung  des  Archimed  und  an  die 
Lehre  von  den  größten  und  kleinsten  Werten  bei  ApoUonius  an- 
knüpft, liegt  auf  der  Hand,  und  es  ist  nur  um  so  mehr  zu  bedauern, 
daß  unser  Wissen  von  ihrem  Erfinder  so  dürftig  ist. 

Wir  nennen  weiter  immer  noch  auf  bloße  Wahrscheinlichkeits- 
gründe uns  stützend  im  Jahrhunderte  zwischen  200  und  100:  Hy- 
psikles  von  Alexandria^).  Seine  Leistungen  liegen  auf  verschie- 
denen Gebieten.  Die  Handschriften  des  Euklid  enthalten  mehrfach 
nach  den  13  Büchern  der  Elemente  noch  zwei  Bücher  stereometrischen 
Inhaltes,  welche  als  XIV.  und  XV.  Buch  der  Elemente,  oder  als  die 
beiden  Bücher  des  Hypsikles  von  den  regelmäßigen  Körpern  be- 
nannt zu  werden  pflegen.  Neuere  Untersuchungen^)  haben  einen 
solchen  Gegensatz  im  Wert  und  Inhalt  der  beiden  Bücher  aufgedeckt, 
daß  sie  notwendig  verschiedenen  Verfassern  überwiesen  werden  müssen, 
und  zwar  das  erste  dem  Hypsikles,  das  zweite  einem  mehrere 
Jahrhunderte  n.  Chr.  lebenden  Schriftsteller.  Wir  haben  es  dem- 
gemäß hier  mit  dem  ersten  Buch  allein  zu  tun,  welches  aus  folgen- 
den sechs  Sätzen  über  die  regelmäßigen  Körper^)  besteht:  1.  Die 
vom  Mittelpunkt  eines  Kreises  auf  die  Seite  des  eingeschriebenen 
regelmäßigen  Fünfecks  gefällte  Senkrechte  ist  die  halbe  Summe 
des  Halbmessers  und  der  Seite  des  eingeschriebenen  regelmäßigen 
Zehnecks.  2.  Einerlei  Kreis  faßt  des  in  einerlei  Kugel  beschrie- 
benen Dodekaeders  fünfseitige  und  Ikosaeders  dreiseitige .  Grenz- 
fläche. 3.  Die  Oberfläche  des  Dodekaeders  sowie  des  Ikosaeders  sind 
beide  dem  30 fachen  Rechtecke  gleich,  welches  aus  der  Seite  des 
Körpers  und  der  aus  dem  Mittelpunkte  einer  Grenzfläche  auf  die 
Seite  gefällten  Senkrechten  gebildet  wird.  4.  Die  Oberfläche  des 
Dodekaeders  verhält  sich  zur  Oberfläche  des  Ikosaeders,  wie  die  Seite 
des  Würfels  zur  Seite  des  Ikosaeders.  5.  Die  Seite  des  Würfels  ver- 
hält sich  zur  Seite  des  Ikosaeders,  wie  sich  die  Hypotenusen  zweier 

>)  W.  Crönert  (Sitzungsber.  der  Berliner  Akad.  1900  S.  942—950)  setzt 
die  Lebenszeit  des  Hypsikles  auf  150  bis  120.  *)  Der  Erste,  welcher  die  Ver- 
schiedenheit beider  Bücher  erörternd  sie  zwei  verschiedenen  Autoren  beilegte, 
war  Friedlein  im  Bulletino  Boncompagni  1878,  493—629.  Ihm  folgte  Th.  H. 
Martin  ebenda  1874,  268 — 266.  *)  Gewöhnlich  werden  7  Sätze  angenommen, 
aber  der  7.  Satz  (Zwei  nach  stetiger  Proportion  geschnittene  Gerade  verhalten 
sich  wie  ihre  größeren  Abschnitte)  ist  offenbar  kein  Satz  für  sich,  sondern  nur 
Teil  des  Beweises  des  6.  Satzes. 


Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker.  359 

rechtwinkligen  Dreiecke  verhalten,  welche  eine  Kathete  gemeinschaft- 
lich und  als  andere  Kathete  den  größeren  beziehungsweise  den 
kleineren  Abschnitt  besitzen,  der  entsteht,  indem  die  gemeinschaft- 
liche Kathete  nach  stetiger  Proportion  geschnitten  ist.  6.  Der  Körper 
des  Dodekaeders  verhält  sich  zum  Körper  des  Ikosaeders  wie  die 
Seite  des  Würfels  zur  Seite  des  Ikosaeders.  Diese  Sätze,  deren  Wort- 
laut wir  bei  dem  1.,  3.,  5.  Satze  etwas  mundgerechter  sm  fassen  uns 
erlaubt  haben  als  in  den  gewöhnlichen  Übersetzungen,  bilden  ein  ein- 
heitliches Ganzes,  welches  seinem  Verfasser  wohl  Ehre  macht,  und 
lassen  nicht  zu,  daß  man  jenes  andere  früher  gleichfalls  Hypsikles  zu- 
geschriebene Buch  damit  in  Verbindung  setze,  welches  aus  sieben 
Aufgaben  besteht,  die  Konstruktion  eines  Tetraeders  in  einen  Würfel, 
eines  Oktaeders  in  ein  Tetraeder,  eines  Oktaeders  in  einen  Würfel, 
eines  Würfels  in  ein  Oktaeder,  eines  Dodekaeders  in  ein  Ikosaeder 
zu  vollziehen,  die  Zahl  der  Ecken  und  der  Seiten,  endlich  die  gegen- 
seitigen Neigungen  der  Grenzflächen  in  den  fünf  regelmäßigen  Körpern 
zu  finden.  Über  den  Verfasser  des  ersten  Buches  gibt  dessen  Ein- 
leitung einige  Auskunft.     Ihr  Wortlaut  ist^): 

Basylides  von  Tyrus,  mein  lieber  Protarch,  kam  einst  nach  Ale- 
xandria, war  an  meinen  Vater  wegen  beider  gemeinschaftlicher  Liebe 
zur  Mathematik  empfohlen,  und  brachte  die  meiste  Zeit  seines  Auf- 
enthaltes in  dem  Umgange  mit  ihm  zu.  Als  sie  eines  Tages  des 
Apollonius  Schrift  über  Vergleichung  des  in  eiuerlei  Kugel  be- 
schriebenen Dodekaeders  und  Ikosaeders  und  deren  Verhältnisse  zuein- 
ander durchgingen,  so  schien  ihnen  der  Vortrag  des  Apollonius  nicht 
ganz  richtig  zu  sein,  und  sie  schrieben,  wie  mir  mein  Vater  gesagt 
hat,  ihre  Verbesserungen  nieder.  Nach  der  Zeit  fiel  mir  jedoch  eine 
andere  von  Apollonius  herausgegebene  Schrift  in  die  Hände,  welche 
eine  richtige  Auflösung  der  erwähnten  Aufgabe  enthält,  deren  Unter- 
suchung mir  ein  ausnehmendes  Vergnügen  gewährt  hat.  Das  von 
Apollonius  herausgegebene  Werk  kann  jeder  selbst  nachsehen,  da  es 
überall  zu  haben  ist,  weil  man  es  für  eine  sorgsame  Arbeit  hielt. 
Dasjenige  aber,  was  ich  nachher  aufgesetzt  habe,  glaube  ich  Dir 
wegen  Deiner  vorzüglichen  Einsicht  in  allen  Wissenschaften,  beson- 
ders aber  in  der  Geometrie,  als  einem  kundigen  Beurteiler  meines 
Voi*trags  zuerst  vorlegen  zu  müssen:  in  der  gewissen  Erwartung,  daß 
Du  sowohl  aus  Freundschaft  für  meinen  Vater,  als  aus  Wohlwollen 
gegen  mich,  geneigt  sein  wirst  meinem  Versuche  Deine  Aufmerksam- 
keit zu  schenken.  Doch  es  ist  Zeit,  daß  ich  meine  Vorrede  schließe 
und  zur  Sache  sey)st  komme. 

')  Vgl.  z.  B.  Euklid«  Elemente  fünfzehn  Bücher  aus  dem  GriechiBchen  über- 
setzt von  Jobann  Friedrich  Lorenz.    Halle.     S.  426 — 426. 


360  17.  Kapitel. 

Es  war  oflFenbar  eine  Jugendarbeit,  welche  Hypsikles  mit  diesen 
Worten  dem  noch  lebenden  Freunde  seines  Vaters  widmete.  Seine 
Mitteilungen  geben  uns  Auskunft  über  eine  sonst  unbekannte  Schrift 
des  Apollonius  und  wurden  in  diesem  Sinne  von  uns  (S.  344)  be- 
nutzt. Araber  haben,  so  lange  das  Buch  noch  als  von  Euklid  her- 
rührend betrachtet  wurde,  aus  den  Anfangsworten  herausgelesen, 
Euklid  stamme  aus  Tyrus  (S.  260).  Man  hat  aber  aus  derselben  Vor- 
rede auch,  wie  uns  scheint,  richtige  Folgerungen  auf  die  Lebenszeit 
des  Hypsikles  gezogen*).  Der  Vater  des  Hypsikles,  welcher  eine 
Abhandlung  des  Apollonius  noch  nicht  kannte,  welche  dem  Sohne 
nachher  bekannt  war  und  zu  dessen  Lebzeiten  „überall  zu  haben^^ 
war,  muß  ein  älterer  Zeitgenosse  des  Apollonius  gewesen  und  ge- 
storben sein,  bevor  dessen  verbesserte  zweite  Abhandlung  zur  Ver- 
öffentlichung gelangte.  Da  nun  Apollonius  etwa  170  gestorben  ist, 
so  mag  Hypsikles  nicht  vor  dieser  Zeit  seine  Abhandlung  geschrieben 
haben,  eine  Zeitbestimmung,  zu  welcher  uns  gleich  nachher  noch  eine 
kleine  Bestätigung  zugut  kommen  wird. 

Eine  zweite  Abhandlung  des  Hypsikles,  welche  sich  erhalten  hat^ 
ist  das  Buch  von  den  Aufgängen  der  Gestirne,  dvatpoQixög^). 
Auf  den  astronomischen  Inhalt  dieses  äußerst  dürftigen  Werkchens 
von  nur  sechs  Sätzen,  auf  dessen  etwaige  Verschlimmbesserung  durch 
einen  Astrologen  haben  wir  nicht  einzugehen,  es  sei  denn  um  zu  be- 
merken, daß  die  Methode  desselben  Berechtigung  nur  zu  einer  Zeit 
hatte,  zu  welcher  trigonometrische  Betrachtungsweisen  noch  nicht  er- 
dacht waren,  und  daß  andererseits  als  wichtige  Neuerung  in  den 
Aufgängen  des  Hypsikles  die  Einteilung  des  Kreisumfanges 
in  360  Grade  benutzt  ist.  Autolykus,  ein  astronomischer  Schrift- 
steller kurz  vor  Euklid  (S.  293),  hat  diese  Gradeinteilung  noch 
nicht.  Ebensowenig  scheint  sie  Eratosthenes  gekannt  zu  haben, 
wenn  es  richtig  ist'),  daß  er  sich  eines  so  unbequemen  Ausdruckes 

wie  „  des  Kreisumfanges"  bediente,  während  andererseits  die  Tat- 
sache seiner  vollzogenen  Gradmessung  (S.  328)  uns  wieder  stutzig 
machen  kann.  Starb  nun  Eratosthenes  um  194  und  ist  seine  Be- 
nutzung jener  unbequemen  ^   richtig   auf  das  Jahr  220   bestimmt, 


*)  Vossiuß,  De  scientiis  mathematicis  pag.  828  (Amsterdam  1660).  Bret- 
schneider  182.  Falsche  Ansichten  hei  Fahricins,  Bibliotheca  Graeca  (edit. 
Harless)  IV,  20,  bei  Montucla,  Histoire  de  math^matiqaes  I,  315,  bei  Neseel- 
mann,  Algebra  der  Griechen  246  flgg.  *)  Des  Hypsikles  Schrift  Anaphorikos 
ist  im  Osterprogramm  1888  des  Gymnasiums  zum  heiliges  Kreuz  in  Dresden 
von  K.  Manitius  herausgegeben  worden.  *)  Montucla,  Histoire  de  mathe- 
nuitiques  I,  304.     Wolf,  Geschichte  der  Astronomie  S.  130. 


Die  Epigonen  der  großen  Mathematiker.  361 

schrieb  dann  Hypsiklea  um  170,  so  ist  die  Zeit  der  Einführung  der 
Gradeinteilung  des  Kreises^  also  mutmaßlich  auch  des  davon  untrenn- 
baren babylonischen  Sexagesimalsjstems  in  Alexandria  in  sehr  enge 
Grenzen  gebracht.  Von  den  sechs  Sätzen  des  Anaphorikos  sind  die 
drei  ersten  arithmetischen  Inhalts  und  rechtfertigen  unser  auch  nur 
beiläufiges  Verweilen  bei  dem  Schriftchen.  In  moderner  Aussprache 
sagen  sie,  daß  in  einer  arithmetischen  Reihe  Ton  gerader  Glieder- 
zahl die  Summe  der  zweiten  Hälfte  der  Glieder  die  der  ersten  Hälfte 
um  ein  Vielfaches  des  Quadrates  der  halben  Gliederzahl  übertreffe*), 
daß  die  Summe  einer  arithmetischen  Reihe  bei  ungerader  Gliederzahl 
gleich  dem  Produkte  der  Gliederzahl  in  das  mittlere  Glied,  bei  ge- 
rader Gliederzahl  gleich  dem  Produkte  der  halben  Gliederzahl  in  die 
Summe  der  beiden  mittleren  Glieder  sei. 

Bei  so  elementaren  Kenntnissen  blieb  aber  Hypsikles  nicht 
stehen.  Vielmehr  war  ihm  die  allgemeine  Definition  der  Vielecks- 
zahlen bekannt,  welche  er  in  die  Worte  kleidete:  „Wenn  beliebig 
viele  Zahlen  von  der  Einheit  an  von  gleichem  Unterschiede  sind,  und 
dieser  Unterschied  1  ist,  so  ist  die  Summe  eine  dreieckige  Zahl;  ist 
der  Unterschied  2,  so  ist  die  Summe  eine  viereckige  Zahl,  für  3  eine 
fünfeckige;  die  Anzahl  ihrer  Winkel  ist  um  2  größer  als  der  Unter- 
schied, und  ihre  Seiten  sind  der  Anzahl  der  vorgelegten  Zahlea 
gleich."  So  berichtet  Diophant  im  8.  Satze  seiner  Schrift  über  die 
Polygonalzahlen,  von  welcher  im  23.  Kapitel  die  Rede  sein  wird. 
Diophant  nennt  als  seine  Quelle:  Hypsikles  iv  oQp.  Die  Übersetzer 
dürften  mit  Recht  diesen  Ausdruck  deutsch  durch  „in  einer  Definition'* 
übertragen  haben,  da  oQog  neben  der  Bedeutung  Grenze  (lateinisch: 
terminus  oder  limes)  oder  Reihenglied  unzweifelhaft  auch  die  Be- 
deutung der  Begrenzung  eines  Begriffes,  d.  h.  einer  Definition  besitzt; 
so  bei  Euklid  z.  B.  und  schon  vor  diesem  bei  Piaton  heißen  die  Defini- 
tionen regelmäßig  oqol,  wobei  vielleicht,  wie  bemerkt,  an  eine  „Be- 
grenzung der  Begriffe"  zu  denken  ist.  Bei  welcher  Gelegenheit 
Hypsikles  sich  jener  Definition  der  Vieleckszahlen  bedient  haben  mag^ 
wissen  wir  durchaus  nicht. 

Wir  schließen  dieses  Kapitel  mit  der  Nennung  des  einzigen  Schrift- 
stellers, für  dessen  Leben  etwas  genauere  Angaben  bekannt  sind. 
Wir  meinen  Hipparch,  der  zwischen  161  und  126  v.  Chr.  astro- 
nomische Beobachtungen  anstellte*).     Er  ist   in  Nicäa  in  Bithynien 


*)  Ist  a  das  erste  Glied,  d  die  Differenz,  2n  die  Gliederzahl,  so  sind  die 
beiden  Summen  na-^-  — --  —  und  na -{-  ~-  - — ,  deren  Unterschied 
dn*  ist.     *)  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie  S.  45,  Anmerkung  1.    Das  Werk 


362  17.  Kapitel. 

geboren.  Er  beobachtete  auf  der  losel  Rhodos,  vielleicht  auch  in 
Alexandria.  Seine  hervorragendsten  Verdienste  rühmt  die  Geschichte 
der  Astronomie,  welcher  er  al»  Schöpfer  einer  wissenschaftlichen 
Sternkunde  gilt.  Er  war  aber  auch  der  Urheber  eines  Teiles  der 
Wissenschaft,  welche  das  Grenzgebiet  zwischen  Astronomie  und  Geo- 
metrie bildet,  der  Trigonometrie,  und  berechnete  eine  Sehnen- 
tafel ^).  Leider  wissen  wir  von  dieser  Leistung  nur  durch  Zitate  des 
Heron  von  Alexandria,  in  welchen  das  Werk  tcsqI  tav  iv  xihckm 
E'öd'aL&i/j  über  die  Geraden  im  Kreise,  nicht  aber  dessen  Verfasser  ge- 
nannt ist,  und  durch  ein  berichtigendes  Wort  eines  späten  Schrift- 
stellers, des  Theon  von  Alexandria,  der  um  365  schrieb,  und  können 
also  dieses  Kapitel  griechischer  Mathematik  nicht  in  seinen  Ursprüngen 
verfolgen.  Wenn  Hipparch  in  seinen  erhaltenen  Erläuterungen  zu 
den  Stembeschreibungen  des  Eudoxus  und  Aratus  erklärt,  er  habe 
sich  graphischer  Methoden  bedient  —  diä  töv  yQa^ii&v  —  so 
bot  dieser  Ausdruck  zwar  Anlaß  zu  geistreichen  Vermutungen  über 
die  betrefiPenden  Methoden^,  welche  aber  gesicherter  Stützen  ent- 
behrend später  Vorhandenes  zurückdatieren.  Was  dagegen  Hipparch 
mittels  seiner  Sehnentafel  leistete,  ist  besser  verbürgt,  da  uns  von 
einer  Art  von  Triangulation  berichtet  wird,  die  er  zur  Berechnung 
der  Oberfläche  der  bewohnten  Erde  anwandte,  und  da  Polybius  (203 
bis  121),  ein  Zeitgenosse  des  Hipparch,  die  Möglichkeit  erwähnt,  die 
Höhe  einer  Mauer  aus  der  Feme  zu  messen').  Jedenfalls  stimmt 
die  Erfindung  trigonometrischer  Betrachtungen  etwa  150  v.  Chr.  mit 
der  Notwendigkeit  überein,  zu  welcher  wir  weiter  oben  aus  anderen 
Gründen  gelangt  waren,  dem  Anaphorikos  des  Hjpsikles  kein  späteres 
Datum  als  das  von  180  beilegen  zu  dürfen.  Von  Hipparchs  Ver- 
diensten um  Einführung  der  geographischen  Länge  und  Breite*) 
reden  wir  im  nächsten  Kapitel^). 

Wir  sind  einem  Hipparch  „der  zu  den  Arithmetikern  gehörte*' 
begegnet  (S.  256),  von  welchem  kombinatorische  Berechnungen 
uns  mitgeteilt  wurden.  Wir  haben  keinen  Grund  in  diesem  Schrift- 
steller, der  nach  Chrysippus  (282—209)  lebte,  einen  anderen  als  den 
Astronomen  zu  vermuten.  Wir  glauben  ebenso  auch  an  die  Richtig- 
keit  arabischer  Angaben,   denen   zufolge   Hipparch   als   Schriftsteller 


des  Hipparch:  In  Arati  Phaenomena  Commentaria  hat  K.  Manitius  mit  deut- 
scher Übersetzung  herausgegeben  (Leipzig  1894). 

*)  Wolf,  Geschichte  der  Astrononiiie  S.  111.  *)  Ad.  v.  Braun mühl,  Vor- 
lesungen über  Geschichte  der  Trigonometrie  I,  10—14  (1900).  *)  G.  Berger, 
Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde  der  Griechen  8.  Abteiig.  S.  186  flgg. 
und  4.  Abteiig.  S.  29—81.  *)  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie  S.  168. 
^)  G.  Berg  er,  Die  geographischen  Fragmente  des  Hipparch.    Leipzig  1870. 


Heron  Ton  Alezandria.  363 

über  quadratische  Gleichungen  aufgetreten  wäre  ^).  Eine 
Sehnentafel  setzt  zu  ihrer  Berechnung  arithmetische  wie  algebraische 
Gewandtheit  geradezu  voraus. 

Wir  haben  dieses  Kapitel  mit  Nennung  der  Gebiete  begonnen^ 
auf  welchen  wir  die  Tätigkeit  der  Schriftsteller  im  Jahrhunderte  von 
200  bis  100  ungefähr  entfaltet  sehen  würden.  Unsere  Darstellung 
ist  mit  unserer  Ankündigung  in  Einklang  geblieben.  Nikomedes, 
DiokleS;  Ferseus  waren  für  uns  die  Männer,  welche  der  Kurvenlehre 
sich  widmeten.  Zenodorus  widmete  den  planimotrischen  Lehren  vom 
Größten  und  Kleinsten  seine  Kräfte.  Hypsikles  vervollkommnete 
die  Stereometrie  und  führte  durch  das,  was  wir  aus  der  Arithmetik 
von  ihm  wissen,  den  Beweis,  daB  auch  dieser  Teil  der  Mathematik 
in  dem  Jahrhunderte,  welches  auf  das  des  Euklid  folgte,  nicht  ver- 
nachlässigt wurde.  Hipparch  bestätigte  uns  in  dieser  letzten  Über- 
zeugung, ^er  rechnende  Astronom,  welcher  den  naturgemäßen  Über- 
gang zu  dem  rechnenden  Feldmesser  bildet,  der  nunmehr  unsere  Auf- 
merksamkeit auf  sich  zieht. 


18.  Kapitel. 
Heron  von  Alexandria. 

In  das  erste  vorchristliche  Jahrhundert  setzen  wir  Heron  von 
Alexandria*).  Die  Form  unserer  Aussage  läßt  erkennen,  daß  wir 
in   ihr  keine   allgemein  als  wahr  angenommene  Tatsache  behaupten. 


*)  Vgl.  L'dlgibre  d'Omar  Älkhayydmi  (ed.  Woepcke)Pari8  1851,  PrefaceXl 
und  Journal  Asiatique  serie  5,  T.  V,  pag.  261 — 263.  Suter  in  den  Abhand- 
lungen zur  Geschichte  der  Mathematik  VI,  64  (1892)  und  X,  71  und  213  An- 
merkung 36  (1900)  hält  allerdings  das  Zitat  für  unrichtig  und  durch  falsche 
Lesung  entstanden.  •)  Über  Heron  vgl.  Venturi,  Commentari  sopra  1a  storia 
e  le  teoi'ie  delV  ottica,  tomo  I.  Bologna  1814.  Th.  H.  Martin,  Eecherches  sur 
la  vie  et  les  ouvrages  d* Heran  d'Älexandrie  etc.  im  IV.  Bande  der  Memoires 
presentes  par  divers  savants  ä  VAcademie  des  inscriptions  et  helles -lettres. 
S^rie  I.  Sujets  divers  d'eruditian.  Paris  1854.  W.  Schmidt,  Heron  von  Ale- 
xandria (in  den  Neuen  Jahrbüchern  f.  d.  klass.  Altertum,  Geschichte  und  deutsche 
Literatur.  Leipzig  1899).  K.  Tittel,  Heron  und  seine  Fachgenossen  (in  Rhein. 
Museum  für  Philologie.  Bd.  LVI  S.  404—416).  Edm.  Hoppe,  Ein  Beitrag  zur 
Zeitbestimmung  Herons  von  Alexandiien.  Programmbeilage  Nr.  816.  Hamburg 
1902.  Rudolf  Meier,  De  Heranis  aetate,  Leipzig  1906.  Die  geometrischen 
griechischen  Texte  herausgegeben  von  Hultsch  (Berlin  1864),  teilweise  auch  von 
Vincent  in  den  Natices  et  extraits  des  mantiscrits  de  la  Bibliothiqiie  imperiale. 
Tome  XIX.  Partie  2.  (Paris  1868).  Gesamtausgabe  der  Werke  des  Heron  von 
W.  Schmidt,  L.  Nix,  Herm.  Schöne  in  der  Bibliotheca  Teubneriana  seit 
1899  mit  deutschen  Übersetzungen. 


364  18.  Kapitel. 

Die  Meinungen  weichen  vielmehr  sehr  erheblich  voneinander  ab,  und 
man  müßte,  um  allen  gerecht  zu  werden,  sich  damit  begnügen  als 
mögliche  Grenzen  von  Herons  Wirksamkeit  die  Jahre  200  vor  und 
200  nach  dem  Beginne  der  christlichen  Zeitrechnung  anzugeben.  Die 
Heimat  des  berühmten  Mathematikers  und  Physikers  wird  von  nie- 
mand angezweifelt.  Sie  geht  aus  der  Überschrift  mehrerer  seiner  xms 
erhaltenen  Abhandlungen  hervor,  wird  auch  durch  Pappus  und  durch 
einen  Anonymus,  der  um  das  Jahr  938  in  Byzanz  lebte,  bestätigt,, 
welche  beide  von  einem  Heron  von  Alexandria  zu  reden  wissen. 
Herons  Lehrer  war  nach  dem  Berichte  jenes  Anonymus  von  Byzanz 
Ktesibius.  Man  hat  eine  Stütze  dieses  Berichtes  darin  gefunden,, 
daB  Proklus  den  Heron  zugleich  mit  Ktesibius  als  Erfinder  wunder- 
barer auf  Luftdruck  beruhender  Vorrichtungen  rühmt  und  auch  darin^ 
daß  die  beste  Pariser  Handschrift  eines  Buches  des  Heron  die  Über- 
schrift führt  „Über  Anfertigung  von  Geschützen  des  HeroJ;^  des  Kte- 
sibius" ('HQtovog  Kxrjötßt'ov  BsloxoLVxd).  Aber  hier  setzen  schon 
Zweifel  ein,  ob  bei  fehlendem  Artikel  rov  vor  Kxri6ißCov  die  Über- 
setzung „Schüler  des  Ktesibius"  berechtigt  sei,  ob  der  Vermutung,, 
jenes  rot)  sei  bei  Herstellung  der  Handschrift  weggefallen,  nicht  dag 
Bedenken  im  Wege  stehe,  dann  könne  irgend  ein  anderes  Wort 
z.  B.  -^  =  oder  weggefallen  sein,  wofür  man  sich  auf  eine  jüngere 
Wiener  Handschrift  beruft,  welche  diesen  Wortlaut  aufzeigt.  End- 
lich behauptet  man,  selbst  wenn  man  Heron  Schüler  des  Ktesibius 
nenne,  sei  damit  nicht  viel  geholfen,  weil  das  Zeitalter  jenes  Ktesi- 
bius keineswegs  feststehe.  Mit  Gewißheit  steht  nur  fest,  daß  Heron 
in  einer  seiner  Schriften  sich  auf  Philon  von  Byzanz  beruft,  wäh- 
rend dieser  Ktesibius  nennt,  so  daß  die  Zeitfolge:  Ktesibius,  Philon, 
Heron  gesichert  ist,  ohne  damit  den  Zeitraum  festzulegen,  der  zwischen 
den  Trägem  dieser  Namen  liegt  ^).  Man  hat  also  andere  bei  Heron 
auftretende  Zitate  zu  suchen,  welche  seine  Lebenszeit  zu  bestimmen 
sich  eignen,  und  wir  glauben  dazu  vorzugsweise  eine  mathematische 
Schrift  „Die  Vermessungslehre"  {MexQiTia)  benutzen  zu  sollen").  In 
ihr  kommt  Archimed  vor,  in  ihr  der  Verfasser  des  Raumschnittes,  in 
ihr  der  Verfasser  der  Geraden  im  Kreise,  beide  letztere  ohne  Namens- 
nennung, mithin  als  durch  diese  Bezeichnung  für  den  Leser  hinläng- 
lich deutlich  gemacht.  Der  Raumschnitt  rührt  (S.  345)  von  Apollo- 
nius  her,  die  Geraden  im  Kreise  (S.  362)  von  Hipparch;  folglich 
muß  Heron  nach  der  Mitte  des  H.  vorchristlichen  Jahrhunderts  gelebt 


*)  Wilh.  Schmidt  in  der  Einleitung  zum  I.  Bande  der  Gesamtausgabe 
des  Heron  (Leipzig  1899).  *)  Herm.  Schöne,  Herons  von  Alezandria  Yer- 
messungslehre  und  Dioptra.    HL  Band  der  Gesamtausgabe  (Leipzig  1903). 


Heron  von  Alexandria.  365 

haben.  Nun  werden  wir  aber  im  20.  Kapitel  erfahren,  daß  auch 
Menelaus  von  Alexandria  um  das  Jahr  100  nachchristlicher  Zeit 
Bücher  unter  dem  Titel  die  Geraden  im  Kreise  verfaßt  hat.  Wäre 
dieses  vor  Heron  gewesen,  so  hätte  die  Nennung  des  Titels  allein 
Mißverständnis  erzeugen  können,  und  darauf  gestützt  halten  wir  zu- 
nächst für  erwiesen,  daß  Heron  zwischen  Hipparch  und  Menelaus 
fällt.  Zur  näheren  Einschränkung  der  Zeitgrenzen  führt  ein  anderes 
Werk  des  Heron,  seine  Mechanik,  welche  in  arabischer  Übersetzung 
des  Kustä  ihn  Lüka  (um  900)  auf  uns  gekommen  ist').  In  dieser 
Mechanik  kommt  ein  Posidonius  vor,  welchem  eine  physikalische 
Definition  entnommen  ist.  Derselbe  gehöre  der  Stoa  an.  Es  ist 
nicht  anzunehmen,  daß  Posidonius  von  Alexandria  (S.  198)  ein  Werk 
verfaßt  habe,  in  welchem  jene  Definition  vorkommen  konnte,  dagegen 
ist  dieses  wohl  möglich,  wenn  Heron  den  Stoiker  Posidonius  von 
Hhodos  meinte^  den  Lehrer  Ciceros,  den  Freund  des  Pompejus,  der 
frühestens  um  das  Jahr  90  als  Schriftsteller  auftrat.  Zu  noch  wei- 
terer Einschränkung  der  Grenzen,  welche  jetzt  90  vor  und  100  nach 
€hristus  heißen,  hat  man  sich  einer  anderen  Stelle  der  Mechanik  be- 
dient*). Gegen  Schluß  des  dritten  Buches  der  Mechanik  steht  die 
Beschreibung  einer  kleinen  einschraubigen  Olivenpresse,  und  eben 
diese  soll  nach  Plinius  seit  dem  Jahre  55  n.  Chr.  die  früher  ge- 
bräuchlichen großen  Pressen  mit  langen  Hebeln  verdrängt  haben. 
Damit  im  Einklänge  stehe*),  daß  bei  römischen  Schriftstellern,  ins- 
besondere bei  Vitruvius  im  Jahre  14  v.  Chr.,  keine  Einwirkung 
Herons  nachweisbar  sei.  Heron  müßte  demzufolge  zwischen  50  und 
100  nachchristlicher  Zeitrechnung  angesetzt  werden.  Das  wäre  nun 
«ehr  schön,  wenn  es  sich  so,  wie  angegeben,  verhielte.  Aber  der 
entgegengesetzte  Nachweis  ist  geliefert  worden*).  Die  von  dem  an 
und  für  sich  durch  vielfach  mangelnde  Sachkenntnis  unzuverlässigen 
Plinius  geschilderte  kleine  Olivenpresse  ist  keineswegs  die  von  Heron 
beschriebene,  dagegen  hat  Vitruvius  Heron  benutzt,  wie  aus  zwei 
fehlerhaften  Angaben  hervorgeht,  die  jener  von  diesem,  natürlich  ohne 
ihn  zu  nennen,  entlehnt.  Wir  werden  im  26.  Kapitel  hierauf  zurück- 
zukommen haben. 

Jetzt  sehen  wir  Heron,  wie  wir  am  Anfange  des  Kapitels  sagten. 


*)  Curia  de  Vaux,  Les  mecaniques  de  Heron  d'Älexandrie.  Paris  1894 
und  L.  Nix,  Herons  von  Alexandxia  Mechanik.  11.  Band  der  Gesamtausgabe 
(Leipzig  lüOl).  *)  Wilh.  Schmidt  pag.  XIX— XX  der  Einleitung  zu  Bd.  I  der 
Gesamtausgabe  (Leipzig  18U9).  ')  Wilh.  Schmidt,  Haben  Vitruv  und  die 
römischen  Feldmesser  aus  Heron  geschöpft?  Bibliotheca  Mathematica  S.Folge, 
I,  2y7-— 818  (1900).  *)  Edm.  Hoppe,  Ein  Beitrag  zur  Zeitbestimmung  Herons 
Ton  Alexandrien  (Hamburg  1902). 


366  18.  Kapitel. 

auf  das  erste  yorchristliche  Jahrhundert  beschränkt^  und  nun  gewinnt 
eine  vereinzelt  dastehende  späte  Angabe  erhöhten  Wert.  Wir  werden 
im  26.  Kapitel  von  einer  Vermessung  des  Römischen  Reiches  er- 
fahren^  welche  wahrscheinlich  in  den  Jahren  37 — 20  v.  Chr.  statt- 
fand. Um  das  Jahr  500  n.  Chr.  erzählt  Cassiodorius  von  dieser 
Vermessung  und  sagt  dabei ^),  ein  Schriftsteller  Heron  metricus 
habe  sich  an  ihrer  Redaktion  beteiligt.  Nun  ist  allerdings  richtige 
daß  die  Handschriften  nicht  Heron,  sondern  Iron  oder  Yron  über- 
liefem,  es  ist  auch  richtig,  daß  Heron  nirgend  als  metricus  bezeichnet 
wird,  wenn  er  auch,  wie  wir  oben  (S.  364)  sagten,  ein  Werk  nsrgixd 
verfaßt  hat,  aber  auffallend  und,  was  wir  besonders  zu  bedenken 
geben,  zu  der  von  uns  vorher  erschlossenen  Lebenszeit  Herons  nicht 
in  Widerspruch  stehend  bleibt  jene  Stelle  immerhin.  Auf  eine  letzte 
Stelle  möchten  wir  noch  hinweisen,  welche  zur  Festlegung  von  Herons 
Lebenszeit  benutzt  worden  ist^).  Sie  steht  in  der  Schrift  über  die 
Dioptra').  Dort  sind  Beobachtungen  an  zwei  weit  voneinander  ent- 
legenen ihrer  geographischen  Länge  nach  sehr  verschiedenen  Stand- 
orten zu  einem  geodätischen  Beispiele  vereinigt,  und  als  diese  Stand- 
orte sind  nicht  etwa  Alezandria  und  Athen,  sondern  Alexandria  und 
Rom  gewählt.  Nun  war  aber  Ptolemaeus  XHI.  Neos  Dionysius  der 
erste  ägyptische  König,  welcher  im  Jahre  81  v.  Chr.  durch  die  Römer 
eingesetzt  wurde.  Von  da  an  waren  alle  Augen  in  Alexandria  nach 
Rom  weit  mehr  als  nach  Athen  gerichtet,  und  man  darf  die  Ent- 
stehung der  Abhandlung  auf  später  als  das  Jahr  81  ansetzen.  Dann 
werden  auch  die  zahlreichen  Latinismen  erklärlich,  welche  das  Grie- 
chisch des  Heron  entstellen.  Wir  wiederholen  also,  wir  setzen  Heron 
von  Alexandria  in  das  erste  vorchristliche  Jahrhundert,  vielleicht 
sogar,  wenn  die  Stelle  des  Cassiodorius  für  beweiskräftig  gehalten 
werden  sollte,  in  dessen  letztes  Drittel.  Ein  Grund  läßt  sich  freilich 
für  eine  frühere  Lebenszeit  Herons  beibringen,  daß  er  nämlich,  wenn 
von  der  Größe  von  Winkeln  die  Rede  ist,  sich  niemals  der  Gradein- 
teilung (S.  360)  bedient,  sondern  stets  ausschließlich  von  Bruchteilen 
eines  rechten  Winkels  spricht.  Möglicherweise  ist  diesem  Einwände 
damit  zu  begegnen,  daß  die  Sexagesimalbrüche  bei  den  Griechen  dem 
gewöhnlichen  Leben  fremd  blieben,  daß  sie  von  Anfang  an  waren, 
als  was  man  sie  später  noch  benannte,  astronomische  Brüche, 
daß  überhaupt  die  Trigonometrie  zunächst  ein  Kapitel  der  Astronomie 
bildete  und  keineswegs  dazu  diente,  auch  auf  der  Erde  Dreiecke  oder 

*)  Wilh.  Schmidt  paj?.  XVII— XVIII  der  Einleitung  zu  Bd.  I  der  Gesamt- 
ausgabe (Leipzig  1899).  ^Martin,  Becherches  sur  la  vie  etc.  pag.  91.  •)  Herm. 
Schöne,  Herons  von  Alexandria  Vermessungslehre  und  Dioptra.  III.  Band  der 
Gesamtausgabe  (Leipzig  1903). 


Heron  von  Alexandria.  367 

aus  Dreiecken  zusammengesetzte  Figuren  einer  Bereclinung  zu  unter- 
werfen. Wir  wollen  schließlich  nicht  unterlassen  zu  bemerken,  daß 
der  Verfasser  der  letzten  über  Herons  Zeitalter  geführten  Untersuchung^) 
nahezu  zu  der  gleichen  Zeitbestimmung  des  ersten  vorchristlichen  Jahr- 
hunderts wie  wir  gelangt  ist.  Er  teilt  unsere  Überzeugung,  die  in 
den  Metrica  erwähnte  Sehnentafel  sei  die  des  Hipparch,  und  die  ähn- 
liche Tafel  des  Menelaus  sei  damals  noch  nicht  vorhanden  gewesen. 

Femer  behauptet  er  Vürnvius  habe  später  als  Heron  gelebt  und 
stützt  diese  Behauptung  darauf,  daß  die  von  Yitruyius  beschriebene 
Wasserorgel  wesentlich  vollkommener  als  eine  von  Heron  geschilderte 
sei;  den  von  uns  betonten  Stellen  der  Mechanik  legt  er  dagegen  kein 
Gewicht  bei.  Ein  weiter  bei  ihm  verwerteter  Umstand  ist  der,  daß 
eine  bei  Froklus  vorkommende  Stelle,  in  welcher  Archimed,  Ktesi- 
bius,  Heron  als  drei  große  Mechaniker  genannt  werden,  für  einen  Aus- 
zug aus  Geminus  gilt,  der,  wie  wir  im  20.  E^apiiel  sehen  werden,  etwa 
im  Jahre  70  vorchristlicher  Zeitrechnung  lebte.  Beiläufig  erwähnen 
wir  noch,  daß  die  sogenannte  Definitionen  Heröns,  von  welchen  weiter 
unten  die  Rede  sein  wird,  in  der  von  uns  hier  erwähnten  Abhandlung 
für  unecht  gehalten  werden^),  ebenso  wie  zahlreiche  andere  Fragmente. 

Dieser  Heron  war  allem  Anscheine  nach  der  einzige  seines 
Namens,  welcher  in  der  Geschichte  der  Mathematik  einen  Platz  ver- 
dient Pappus,  der  an  verschiedenen  Stellen  von  Heron  redet,  nennt 
ihn  Heron  schlechtweg  oder  Heron  von  Alexandria.  Proklus,  pedan- 
tisch genau  in  Vermeidung  der  Verwechslungen  von  Schriftstellern, 
wo  dieselben  möglich  wären,  wie  wir  (S.  194)  gesehen  haben,  redet 
zweimal  von  dem  Mechaniker  Heron,  viermal  vorher  und  nachher 
von  Heron  schlechtweg,  und  unter  diesen  vier  Stellen  ist  gerade  die- 
jenige, in  welcher  Heron  mit  Etesibius  zusammen  genannt  ist,  so 
daß  Heron  ohne  Beinamen  bei  Proklus  jedenfalls  derselbe  ist  wie 
Heron  der  Mechaniker  oder  der  dessen  Leistungen  sich  mit  Etesibius 
begegnen.  Eutokius  in  seinen  Erläuterungen  zur  archimedischen 
Ereismessung  (S.  318)  redet  gleichfalls  nur  von  Heron,  als  wenn 
es  eben  nur  einen  solchen  allbekannten  mathematischen  Schrift- 
steller gäbe. 

Dazu  kommt  die  Unmöglichkeit  einen  anderweitigen  Mathematiker 
oder  Mechaniker  Heron  irgendwie  geschichtlich  unterzubringen.  Der 
Schriftsteller,  welchen  man  ehedem  als  Heron  den  Jüngeren  zu 
bezeichnen  pflegte,  ist  der  vorerwähnte  Byzantiner  des  X.  S.,  welcher 
selbst  Heron   von  Alexandria  zitiert,  und  dem   den  gleichen  Namen 

*)  Rudolf  Meier,  De  Heronis  aeiate.  Leipzig  1906.  *)  Rud.  Meier, 
De  PseudO'Heronianis,    Rhein.  Mus.  f.  Philol.     Neue  Folge  LXI,  178—184. 


368  18.  Kapitel. 

beizalegen  aach  nicht  der  geringste  Grund  vorliegt.  Heron,  der 
Lehrer  des  Proklus,  welcher  in  dem  zweiten  Viertel  des  V.  S. 
lebte,  hat  überhaupt  keine  bekannt  gewordene  mathematische  Schrift 
verfaßt;  ihn  hat  Proklus  insbesondere  sicherlich  bei  keiner  seiner 
Anführungen  im  Sinne  gehabt,  sonst  würde  der  überaus  pietätvolle 
Schüler  für  ihn  eine  andere  Bezeichnung  als  das  einfache  Heron, 
oder  Heron  der  Mechaniker  gewählt  haben.  Heronas,  der,  wie 
Eutokius  erzählt,  einen  Kommentar  zu  Nikomachus  schrieb,  mithin 
zwischen  den  von  ihm  erläuterten  Schriftsteller  und  den,  der  seiner 
erwähnt,  zwischen  das  11.  und  VI.  S.,  fällt,  ist  eine  im  übrigen 
durchaus  unbekannte  Persönlichkeit,  so  daß  es  eine  leichtfertige  Ver- 
mutung wäre  in  ihm  den  Verfasser  solcher  Schriften  erkennen  zu 
wollen,  welche  als  von  Heron  verfaßt  bezeichnet  sind. 

So  einfach  sich  demnach  die  sogenannte  heronische  Frage, 
d.  h.  die  Frage  nach  dem  Verfasser  der  mathematischen  und  physi- 
kalischen Schriften,  welche  einem  Heron  beigelegt  werden,  zu  lösen 
scheint,  so  sind  doch  noch  Schwierigkeiten  vorhanden,  wie  nicht 
anders  zu  vermuten,  da  ja  sonst  wundernehmen  dürfte,  daß  über- 
haupt jemals  eine  heronische  Fri^e  entstand.  Die  Handschriften  der 
als  heronisch  bekannten  Bücher  sind  ziemlich  späten  Ursprungs  und 
yerschiedenen  Inhaltes.  Kaum  eine  ist  mit  einer  anderen  zur  vollen 
Deckung  zu  bringen.  Bald  fehlt  eine,  bald  eine  andere  Abhandlung, 
und  zum  Ersätze  findet  sich  wieder  in  der  zweiten  Handschrift,  was 
man  in  der  ersten  vergeblich  suchte.  Schon  dadurch  ist  vollgültige 
Gewißheit  über  die  Echtheit  aller  Stücke  erheblich  erschwert.  Dazu 
kommt  die  sichere  Unechtheit  mancher  Stücke.  Ein  alle  Spuren  des 
Verfalles  der  Literatur  an  sich  tragendes  Griechisch,  Maße  eines 
späten  Zeitalters,  Erwähnungen  von  Schriftstellern,  die  wie  Modestus 
und  Patrikius  am  Ende  des  IV.  S.  n.  Chr.  gelebt  haben,  können 
unmöglich  dem  Heron  von  Alexandria  aus  dem  ersten  yorchristlichen 
Jahrhunderte  angehören. 

Wir  möchten  trotz  mehrfachen  Widerspruchs  die  Lösung  der 
Schwierigkeit  darin  finden,  daß  wir  die  Schriften  des  Heron  im 
großen  und  ganzen  als  echt  in  unserm  Sinne,  d.  h.  als  dem  früher 
aogenannten  älteren  Heron  aus  dem  ersten  vorchristlichen  Jahr- 
hunderte angehörig  erkennen,  daß  wir  aber  annehmen,  diese  Schriften 
seien  wesentlich  verderbt  worden.  Sie  seien,  behaupten  wir,  unge- 
mein verbreitet,  in  zahllosen  Abschriften  und  Auszügen  vorhanden 
gewesen.  Nun  habe  bald  dieser,  bald  jener  Anfertiger  später  Exem- 
plare Randbemerkungen  der  mannigfachsten  Art,  wie  sie  seiner  Lebens- 
zeit angemessen  schienen,  beigefügt  und  noch  spätere  unwissende 
Abschreiber  haben  bald   solche  Randbemerkungen  in   den   Text  her- 


Heron  yon  Alexandria.  369 

übergezogen,  bald  ihnen  unverständlich  gewordene  Stellen  weggelassen. 
So  sei  die  gegenwärtige  Gestalt  der  Schriften  Herons  entstanden.  Man 
sei  berechtigt  alle  als  echt,  wie  alle  als  unecht  zu  bezeichnen,  als 
echt  dem  Ursprünge  nach,  als  unecht  yermöge  ihrer  keineswegs  un- 
bedeutenden Yerschlimmbesserungen. 

Die  Schriften  Herons  sind  teils  physikalischen,  teils  mathemati- 
schen Inhaltes.  Wenn  wir  uns  auch  bei  Erörterung  jener  ersten 
Gruppe,  soweit  nicht  Mathematisches  in  ihnen  zur  Bede  kommt, 
hier  grundsätzlich  enthalten,  so  können  wir  doch  nicht  umhin  auf 
eine  schriftstellerische  Eigentümlichkeit  Herons  hinzuweisen,  welche 
in  ihnen  vorzüglich  zutage  tritt,  und  auch  in  den  Schriften,  welche 
unsere  Auseinandersetzung  fordern,  sich  nicht  verleugnet  Heron  be- 
gnügt sich  niemals  mit  bloß  theoretischen  Erörterungen.  Er  schreitet 
von  der  wissenschaftlichen  Grundlage  aus  zur  Anwendung,  und  zwar 
meistens  zu  einer  doppelten  Anwendung:  neben  dem  Nutzen  für  die 
menschliche  Gesellschaft  erscheint  auch  das  Vergnügen  des  einzelnen 
ihm  wert  die  Fürsorge  des  Gelehrten  in  Anspruch  zu  nehmen. 

An  der  Grenze  zwischen  Physik  und  Mathematik  liegen  die  drei 
mechanischen  Bücher,  welche  Heron  verfaßt  hat,  und  welche,  wie  wir 
(S.  365)  sahen,  in  arabischer  Übersetzung  erhalten  sind.  Pappus 
nennt  in  umfangreichen  Auszügen,  welche  er  davon  gibt,  jene  Bücher 
bald  Mechanik,  bald  Gewichtezieher,  doch  kann  jetzt  kein  Zweifel 
mehr  darüber  herrschen,  daß  beide  Namen  nur  das  eine  aus  drei 
Büchern  bestehende  Werk  bezeichnen.  Das  erste  Buch  ist  vorzugs- 
weise allgemein  mechanischen  Lehren  gewidmet,  und  in  ihm  findet  sich 
eine  geometrische  Aufgabe  mit  ihrer  Lösung^).  Ebendieselbe  Auf- 
gabe mit  der  gleichen  Lösung  hat  aber  Heron  noch  an  einer  anderen 
Stelle  mitgeteilt,  in  einem  Buche  über  angewandte  Mechanik,  welches 
den  Titel  führt:  Von  der  Anfertigung  von  Geschützen*).  Er 
lehrt,  daß,  wenn  eine  dreifach  stärkere  Kraft  erzielt  werden  will,  die 
den  Geschossen  ihre  Bewegung  erteilende  Sehne  dreifach  stärkere 
Spannung  erleiden  muß.  Diese  ihr  zu  verschaffen,  während  die  ganze 
Gestalt  des  Geschützes  sich  ähnlich  bleibt,  muß  ein  gewisser  zylin- 
drischer Teil  desselben  unter  der  gleichen  geometrischen  Bedingung, 
die  für  das  Ganze  gilt,  dreimal  größer  werden.  Nun  verhalten  sich 
ähnliche  Zylinder  wie  die  Kuben  einer  Abmessung,  z.  B.  des  Durch- 
messers, also  muß  sich  hier  verhalten  dj* :  dj'  =»  1  :  3  (allgemeiner  wie 
1  :  w).  Das  ist  die  delische  Aufgabe  der  Würfelverdoppelung  in  ver- 
allgemeinerter Form.     Heron  löst  deshalb  hier  in  einem  Buche  prak- 

^)  L.  Nix,  Herons  von  Alexandria  Mechanik  im  11.  Bande  der  Gesamtaus- 
gabe S.  24.  *)  "Hgiovog  KTfjßißiov  ßsXoytouxot  abgedruckt  in  dem  von  Thevenot 
herausgegebenen  Bande:  Veteres  mathematici.    Paris  1693. 

Caxtob,  Geiohichie  der  Mathematik  I.  8.  Anfl.  24 


370 


18.  Kapitel. 


tischen  Inhaltes  die  theoretische  Aufgabe,  zwischen  zwei  gegebene 
Längen  zwei  mittlere  geometrische  Proportionalen  einzuschalten.  Seine 
Auflösung  ist  eine  ToUkommen  gesicherte,  indem  sie  ausdrücklich  als 
heronisch  benannt  und  dessen  Mechanik,  wie  wir  jetzt  wissen,  ent- 
nommen, auch  von  Pappus  aufbewahrt  worden  ist  und  an  beiden 
Orten  so  genau  zusammentrifft,  daß  sogar  die  Figur  bei  Pappus  durch- 
aus mit  der  in  der  heronischen  Mechanik  übereinstimmt,  während 
unsere  Zeichnung  (Fig.  63)  der  Anfertigung  von  Geschützen  ent- 
nommen ist^).  Der  einzige  Unterschied  besteht  darin,  daß  bei  Pappus 
die  Gerade  di]  fehlt  und  demzufolge  der  Punkt  rj  gar  nicht  und 
Herons  Punkt  0  durch  i]  als  den  im  Alphabete  auf  i  folgenden  Buch- 
staben bezeichnet  ist.  In  der  Mechanik 
fehlt  gleichfalls  die  Gerade  Orj,  nur 
sind  andere  Buchstaben  vorhanden, 
vielleicht  infolge  des  Durchgangs  durch 
eine  arabische  Übersetzung.  Die  zwei 
mittleren  geometrischen  Proportionalen 
sollen  zwischen  die  beiden  Strecken  aß, 
ßy  eingeschaltet  werden.  Man  bildet 
aus  den  gegebenen  Strecken  das  Becht- 
eck  ccßyä,  dessen  beide  gleichen  ein- 
ander in  6  halbierenden  Diagonalen 
gezogen  werden.  Ein  um  die  Ecke  ß 
sich  drehendes  Lineal  wird  alsdann 
empirisch  in  die  Lage  gebracht,  daß 
seine  Durchschnitte  mit  den  Verlänge- 
rungen von  Sa  und  Sy,  nämlich  g  und  £, 
gleichweit  von  6  abstehen,  so  ist  aß  :  a^^^  a^iye  ^  ye  :yß.  Die 
Zeichnung  der  Hilfslinien  de,  $i,  dri  (letztere  senkrecht  auf  ad)  läßt 
erkennen  ög«  =-  Öi?«  +  (i?a  +  aiy  «  Öiy«  +  ria^  +  ag(2??a  -j-  ag)  -=  6«» 
+  ag  •  dg.  Entsprechend  dieser  ersten  Gleichung  ög*«öa*  +  ag'dg 
muß  zweitens  Ö6*  =  öy*  +  yß-d€  sein.  Nun  ist  ög  =  öc  vorausge- 
setzt, es  ist  femer  6a  —  6y,  folglich  muß  auch  ag  •  dg  «  y«  •  Sa  sein 
und  a  g  :  yß  —  da  :  dg.  Nun  ist  weiter  a/3  :  ag  =»  da  :  dg  und  Ss  :  dg 
—  ys  :  ßy,  also  endlich  a/S  :  ag  =  ag  :  y«  =  yeißy,  was  zu  beweisen  war. 
Wir  gehen  zu  den  eigentlich  mathematischen  Schriften  des  Heron 
über.  An  ihrer  Spitze  steht  die  Vermessungslehre,  (istQixd,  in 
3  Büchern,  welche  Jahrhunderte  lang  verschollen  waren,  bis  man  eine 
dem  XI.  Jahrhunderte   entstammende    sehr   schöne   Handschrift   des 


Fig.  68. 


0  Vgl.    Veteres  mathematici  pag.  142  mit  Nix  pag.  24  und  mit  Pappus 
(ed.  Hultsch)  63. 


Heron  von  Alexandria.  371 

Werkes  in  Konstantinopel  entdeckte;  und  nach  ihr  den  Abdruck  voll- 
zogt). An  der  wir  mochten  sagen  fleckenlosen  Reinheit  der  Über- 
lieferung kann  kein  Zweifel  sein.  Die  unendlich  klare  Ausdrucksweise 
Herons,  welche  jeden  Leser  seiner  physikalischen  Schriften  entzückt^ 
verleugnet  sich  keinen  Augenblick^  und  selbst  die  Überschrift^  (iBtQtTcd, 
ist  durch  Eutokius')  beglaubigt.  Bei  der  großen  Wichtigkeit  der 
Yermessungslehre  fühlen  wir  uns  gedrungen  ^  deren  Inhalt  etwas  ge- 
nauer anzugeben. 

Die  Yermessungslehre  gibt  in  ihrem  1.  Buche  Anweisungen^  wie 
man  ebene  aber  auch  wie  man  gekrümmte  Oberflächen  ausmessen 
solle.  Das  2.  Buch  lehrt  die  Ausmessung  von  Eörpem^  das  3.  Buch 
Teilung  von  Flächen  und  Körpern.  Das  Maß  der  Fläche  ist  ein 
Quadrat;  dessen  Seite  die  Längeneinheit  ist;  im  gleichen  Sinne  ist 
das  Körpermaß  ein  Würfel,  dessen  Kante  die  Längeneinheit  ist;  mag 
man  als  solche  eine  Elle  oder  einen  Fuß  wählen. 

Zuerst  wird  im  1.  Buche  ein  Rechteck  ausgemesseu;  dann  ein 
rechtwinkliges  Dreieck  als  Hälfte  eines  RechteckS;  und  bei  dieser 
Gelegenheit  wird  der  Pjthagoräische  Lehrsatz  an  dem  Zahlenbeispiele 
3^  ^  4s  »  52  erläutert.  Das  gleichschenklige  Dreieck  mit  den  Seiten 
10;  10;  12  wird  gleichfalls  als  Hälfte  eines  Rechtecks  behandelt;  dessen 

Höhe  8  aus   10^  —  (yj  =  8*  gefolgert  ist.     Das  sich  anschließende 

un  gleichschenklige  Dreieck  gibt  Gelegenheit  den  Satz  zu  benutzen, 
daß    ein   Winkel   bei   j4   spitZ;   recht   oder   stumpf  sei;  je   nachdem 

Bn^j4B^  +  Ar*  (S.  209);  und  nun  folgt  die  Berechnung  der  Höhe 

aus  den  Seiten  bald  unter  Benutzung  der  Abschnitte,  welche  sie  auf 
der  Grundlinie  hervorbringt,  bald  unter  Benutzung  der  Verlängerung; 
welche  die  Grundlinie  bis  zum  Eintreffen  der  Höhe  erleidet.  Aber 
auch  ohne  die  Höhe  läßt  die  Dreiecksfläche  sich  unmittelbar  aus  den 
Seiten  herleiten;  und  nun  folgt  die  heute  als  heronische  Dreiecks- 
formel bekannte  Rechnung 

y  0+6  +  0  ^«  +  6_t_c  _  „)  p +1 +i  _  j)  («  +  6  +  c  _  ^y 

Da  hierbei  Quadratwurzelausziehungen  vorkommen;  z.  B.  f[ir  das  Drei- 
eck 7;  8,  9  die  Quadratwurzel  ]/l2  •  5  •  4  •  3  -  1/720-  26^,  so  lehrt 
Heron  einschaltungsweise  die  Ausziehung  angenäherter  Quadrat- 


^)  Herrn.  Schöne,  Herons  von  Alexandria  YennesBangslehre  und  Dioptra. 
Bd.  III  der  GesamtauBgabe  (Leipzig  1903).  *)  Archimed  (ed.  Heiberg)  m, 
270  lin.  2 — 3 :  stgrivai  ii^v  ^Hgoavi  tv  tots  futgixolg. 

24  • 


372  18.  Kapitel. 

wurzeln^);  und  das  ist  die  Stelle,  auf  welche  Eutokins  (S.  318) 
hingewiesen  hat.  Das  durch  Heron  gelehrte  Verfahren  besteht  in 
folgendem.  Sei  a  eine  schon  nahe  Quadratwurzel  der  Zahl  a'  ±  6, 
so  ist  näherungsweise 

Man  sieht  sofort,  daß  dieser  Wert  der  gleiche  ist,  welchen  wir 

schreiben,  und  daß,  wenn  a  ±  g-  =  Oj  mithin  a*  ±  6  =  a^*  ±  6^  ge- 
setzt wird,  eine  bessere  Annäherung  erzielt  werden  kann,  was  Heron 
auch   ausdrücklich   sagt.      In  seinem   Beispiele   ist   720  =  27*  —  9, 

rf=»  m- ~  i  (27  +  !J)  - 1(27  +  26 1)  -  26  i  i  mit  (26  i  i)' 

»  720—,  und  will  man,  sagt  Heron,  daß  der  Unterschied  noch  kleiner 

werde,  so  ersetze  man  das  vorige  729  =  27*  durch  720^ r  —  (262-  -A  . 
Man  erhielte  alsdann,  was  Heron  allerdings  nicht  ausrechnet: 


y^-k{^^\^^Y^ 


1982 


Wir  bemerken  beiläufig,  daß  die  io  Arcbimeds  ExeismeBBong  vor- 
kommenden  angenäherten  Quadratwurzeln  eni^gen  dem,  was  Euto- 
kins zu  Tersteben  gibt,  nicht  alle  nach  Herons  Vorschrift  gefunden 

werden.  Es  gelingt  z.  B.  nicht  die  Grenzwerte  j-^  <  )/3  <  -^^  (S.  316) 

zu  finden.  Da  ist  nun  ein  sehr  geistreicher  Versuch  gemacht  worden, 
auf  yS  eine  Methode  anzuwenden,  welche  allerdings  in  viel  späterer 
Zeit  den  Namen  der  Methode  des  doppelten  falschen  Ansatzes 
erhalten  hat^).  Wir  werden  im  33.  E[apitel  das  Auftreten  der  Methode 
bei  solchen  Aufgaben  kennen  lernen,  welche  zu  Gleichungen  ersten 
Grades  führen.  Hier  handelt  es  sich  um  eine  quadratische  Aufgabe, 
und  Zweifel  daran,  ob  bereits  Archimed  dieses  Verfahren  ersonnen 
haben  kann,  sind  vollauf  gerechtfertigt.  Eine  Stütze  findet  die  Ver- 
mutung lediglich  in  der  Tatsache,  daß  nur  mit  ihrer  Hilfe  die  archi- 
medischen Näherungswerte  für  ^3  erhalten  werden. 

Sei  ya  =  Xy  und  seien  x^  und  x^  zwei  Näherungswerte  von  der 
Art,  daß  x^<,x  <,  x^.    Sei  ferner  x^  —  x^  =  d^,  x^  —  rc*  —  dg.    Augen- 

0  Heron  lU,  18—20.  Vgl.  P.  Tannery,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXTX, 
flist-liter.  Abtlg.  pag.  18—16  und  Cnrtza,  Zeitschr.  Math.  Phye.  XLII,  Hiat.- 
liter.  Abtlg.  pag.  113—120.  *)  G.  Wertheim  in  Zeitschr.  Math.  Phye.  XLIV, 
Hi8t.-liter.  Abtlg.  pag.  1—8. 


Heron  von  Alexandria.  373 

scheinlich  ist  (7^  +  d^  =»  a;,*  —  iCi*  =  (x^  —  ^i)(^»  +  ^i)  ^^^  d^a^ 
+  d^x^  =«  x^oi^  —  x^^x^  +  x^x^^  --  x^x^  =  (^  —  ^i)(^*  +  ^i^j)-  Daraus 
folgt       j*  "V  1-—  =  ^-^^'— ,  ein  Ausdruck,  der  sich  wegen  a;i*<a:* 

<  iFj*  als  >  x^  und  <  a:,  erweist,  welcher  also  als  neuer  Näherungs- 
wert für  Y^  benutzt  werden  kann. 

Beispielsweise   ist   bei   a  =  3   leicht   ersichtlich  aj^  =»  1,  d^  =  2; 

a^a  =  2,  dj  =■  1  und  der  daraus  folgende  neue  Näherungswert:  ^-^'ir  ^*— 
^  2^2  +  r^  ^  6       Zweitens  sei  a^i  =  g-,  d^  -  -^5    a:,  =  2,    (^  =  1. 

J-.2  +  i.| 
Der  neue  Näherungswert  wird 0 «  ^  .  Drittens  sei  ^1  ™  ;7 , 

"9  +^ 

2  19 

2  121         "^       11 

dj  =  r^;  a;,  «  2,  (?,  =  !.     Der  neue  Näherungswert  ist 

—  4-1 
121^ 

71  71  2 

=  41  •     Viertens  endlich  führt  ^1  ™  ^j  >  ^  —  ^egj  5  ^s  =  2,  d,  =  1  zu 

2  71 

—=-2+1. 

dem  archimedischen  Näherungswerte 5 -=  —  • 


—  X 


1681   ' 
Ist  dagegen  ]/a  =  x  <  a?!  <  a^,  so  kann  unter  der  Annahme  x^ 

*  =  dj,  a?,*  —  0?  ^  i^  ein  neuer  Näherungswert  für  "[/a  als   ^  ^  j*^ 

«a      "T^^  ^  ^     ,   ^  *  d.  h.  <  a:.  <  a;«  ermittelt  werden,  von  welchem 

man  auch  noch  behaupten  kann,  er  sei  > x.    Es  ist  nämlich       »"^i^ 

>  a;  insofern  a^^a^  —  {x<^  +  x^x  -f-  a:*  =  (iFj  —  a:)(a:,  —  a;)  >  0,  wovon 

die  Wahrheit  einleuchtet.     Ist  neuerdings  a  =»  3,  a:,  =  2,  aber  Xy^  =  -^, 

so  berechnen  sich  die  vier  aufeinanderfolgenden  Näherungswerte  folgen- 
dermaßen: 

^x-  iy    ^i'^ie'      ^2-2,  d,-l; 


26       j    _    1 
^1-^16^     «1-226' 


97       ^  1 


56'     ^1        8136' 


d,a?i-diÄ, 
d.-di 

- 

^ '  4    16  '  ^   26 

1__A       lö 
16 

= 

1.??_.J_.2 

15   225      97 

1       56 

225 

d,-d. 

SS 

1.^^    ^  .2 

56   3186     862 

1      209 

3136 


374  18.  Kapitel. 


862 


^  ^^^1  d  ^-!—'T  -2  /i  -1.  ««laJi-e^o:,  _209__43681_  1861 
^1       209'^l       43681' ^«~''^'"»~"^'  "d,"^^  1  """780 

^       48681 

Der  obere  archimedische  Näherungswert  ist  damit  gleichfalls 
gefunden. 

Nun  wird  aber  eine  ähnliche  Benutzung  zweier  falschen*  Ansätze  an- 
gewandt;  um  eine  angenäherte  Kubikwurzel  zu  finden.  Sei  Yä ^  x 
und  seien  x^  und  x^  zwei  Näherungswerte  von  der  Eigenschaft  x^ 
<x  <x^.     Hier  nennen  wir  x^  —  x^^  =  d^,  a:,*  —  a?'  =  dg.     Alsdann 

ist    *  ^T^^  ^  öiii  neuer  Näherungswert.    Soll  f^lOO  ermittelt  werden, 

so  ist  a:i  —  4,  ;r,  —  5,  weil  64  <  100  <  125  und  zugleich  ist  100 
-  64  =  36  -  («i,  125  -  100  -  25  -  rfj.  Da  hier  ic,  =  a^i  +  1  ange- 
nommen ist,  so  wird  der  Näherungswert  in  die  Gestalt  x^  H ^^j/    a 

gebracht  werden  können,  in  Zahlen  also  4  +  ^   ,^^  '    ^   ^^  ■=  4  +  r^ 

»-'  O  •  OD  -|-  4  •  20  5soü 

9 

==  4  +  -^  und  das  Merkwürdige  ist  nun,  daß  genau  dieser  Wert  genau 
nach  der  angegebenen  Formel  4  +         ,         auagerechnet  im  3.  Buche 

der  Metrika  vorkommt^).  Da  kann  kaum  mehr  gezweifelt  werden, 
Heron  habe  sich  die  gleichen  Zahlen  auch  als  Übersetzung  der  gleichen 
Buchstabenformel,  welche  hier  vermutet  worden  ist,  verschafit. 

Wir  kehren  nach  dieser  Zwischenbemerkung,  welche  dadurch 
veranlaßt  wurde,  daß  wir  die  Ausziehung  der  Kubikwurzel  bei  Heron 
von  der  der  Quadratwurzel  nicht  trennen  wollten,  zum  1.  Buche  der 
Yermessungslehre,  und  zwar  zur  heronischen  Dreiecksformel  zurücL 
Heron,  sagten  wir,  wendet  sie  auf  das  Dreieck  mit  den  Seiten  7,  8,  9 
an.  Er  läßt  dem  Zahlenbeispiele  den  Beweis  der  Formel  folgen'). 
Das  Dreieck  ccßy  erweist  sich  (Fig.  64)  bei  Einbeschreibung  des 
Kreises  mit  dem  Halbmesser  rje  als  gleich  dem  Doppelten  eines  Drei- 
ecks mit  diesem  Halbmesser  als  Höhe  und  dem  halben  Umfang  von 
aßy  oder  mit  yO  als  Grundlinie  (sofern  ßO  =>  aS  genommen  ist). 
Nun  wird  die  Hilfskonstruktion  i^A  senkrecht  zu  rjy,  ßk  senkrecht  zu 
ßy  und  yk  von  dem  Durchschnittspunkte  k  jener  beiden  Senkrechten 
nach  y  vollzogen,  nebst  den  Halbmessern  17 d,  fj«,  i]l  des  eingeschrie- 
benen Kreises  und  den  Yerbindungsgeraden  170;,  r^ßj  r^y  seines  Mittel- 
punktes mit  den  Endpunkten  des  Dreiecks.  Weil  <:yrik^yßk^90% 
muß  yk  der  Durchmesser  des  umschriebenen  Kreises  für  die  beiden 
Dreiecke  yrjk  und  yßk  sein,  d.  h.  yrjßk  ist  ein  Sehnen viereck  und 
<  rnß  +  Y^ß  =  180«.     Aber  <  ynß  =  yris  +  sriß  =  ^-  +  'J-  und 

»)  Heron  lU,  178.     «)  Ebenda  m,  20—26. 


Heron  yon  Alexandria. 


375 


addiert   man   dann   noch   arjd  =«  ^-    und   berücksichtigt   ^tjs  +  erji 

+  drii  =  360^,   so    zeigt   sich   auch   <  yrjß  +  ar^d  =-  180^,    folglich 
^  ylß  =  ai^d;  ferner  ist 

folglich  sind  die  Dreiecke 
ßy^,  dari  ähnlich  und  ßy :  ßX 
^daidrj  oder,  was  dasselbe 
ist,  ^  ßd  :ij€,  somit 

ße      i2< 
Aus  der  leicht  ersichtlichen 
Ähnlichkeit  der  Dreiecke  ßkx, 
B7IX  folgt  auch 


ßX 

IJfi 


*ß 


mithin   Jl  = 


7ß  _xß 


Durch  Addition  der  Einheit 
auf  beiden  Seiten  des  Qleich- 
heitszeichens  entsteht 

ße 


Fig.  64. 


und  daraus  folgt     ^  ^n  =*  ^^        oder  — — 


und 


daraus  (yO  » tjey  ^  ys  -  eß  -  ßO  -  yO,     Nun  war  der  Flächeninhalt  des 

Dreiecks  aßy  (als  des  Doppelten  des  Dreiecks  yiyö)  =  2  •  ^  ^^^^  =»  y ö  •  i^£, 

und  somit  ist^  wenn  man  die  Fläche  des  Dreiecks  aßy  durch  ^  be- 
zeichnet, ^  =  ]/y«  •  £ß  '  ßO  •  yö.  Setzt  man  endlich  aß  =  c,  ay  =  6, 
ßy  =^  a,  so  lassen  die  Faktoren  unter  dem  Wurzelzeichen  sich  leicht 
anders  ordnen  und  schreiben,  so  daß 


zf  =  |/l±|±£  (?-+!+-« -a)(' 


a  +  h  +  c 
2 


»)(-±-r--«) 


entsteht,  eben  die  Formel,  die  Herons  Namen  führt.  Nach  geliefertem 
Beweise  erprobt  Heron  die  Formel  nochmals  an  dem  Dreiecke  mit 
den  Seiten  13,  14,  15  und  erhält  ^  -  ]/2lT8  •  7  •  6  =«  84  Noch 
ein  weiteres  Dreieck  ist  das  aus  den  Seiten  8,  10,  12.  Um  dessen 
Fläche  zu  erhalten*)  wird  die  Höhe  auf  die  Seite  /Jy  =  10  von  a  aus 
gezogen  und  der  an  die  kleinere  Seite  a/3  »  8  angrenzende  Abschnitt 
ßd  der  Grundlinie  dadurch  gefanden,  daß  man  von  2ßy*  ßä  =  20  aus- 
geht. Es  ist  nämlich  ay^  +  2ßy  ßd  ^  aß^  +  ßy\  also  2ßy  -  ßÖ 
«  a/J*  +  /Jy«  -  ay>  -  64  +  100  -  144  «  20,  was  allerdings  nicht  be- 
sonders ausgerechnet  ist.    Vermöge  /Jy  =  10  zeigt  sich  ßd^l,  /3d*==  1 


^)  Heron  m,  26. 


376  18.  Kapitel. 

und  a*««a/3»-/3d«=»64-l-63,  «d  = -)/63  «  7y~Yi^7  ^as 
offenbar  mittels  y64  —  1  =  8  —  t^  gefunden  ist.     Die  Fläche  ist  aber 

^^-^-  =  5  )/63  ==  39y  -g-  jg ,    Wir  können  unseren  Bericht  unmöglich 

in  gleicher  Ausführlichkeit  fortsetzen.  Nach  dem  Dreiecke  kommt 
das  Viereck  an  die  Reihe  und  zwar,  da  das  Rechteck  gleich  am  An- 
fange des  Buches  besprochen  war,  das  rechtwinklige  Paralleltrapez, 
dann  das  gleichschenklige,  das  spitzwinklige  und  das  stumpfwinklige. 
Unter  den  letzteren  beiden  Namen  wird  verstanden,  daß,  wenn  eine 
der  beiden  parallelen  Seiten  als  Ghnindlinie  dient,  beide  Winkel  an 
der  Grundlinie  spitz,  oder  einer  spitz  und  einer  stumpf  sein  sollen. 
Als  Rhombus  wird  das  gleichseitige,  als  Rhomboid  das  ungleichseitige 
Parallelogramm  bezeichnet  Zu  ihrer  Berechnung  ist  die  Kenntnis  der 
Diagonale  erforderlich,  welche  aber  hier  als  Diameter  benannt  ist 
(S.  218),  während  nur  wenig  später  das  Wort  Diagonale  gebraucht 
ist^).  Zuletzt  erscheinen  Vierecke,  in  welchen  keine  Seite  einer  anderen 
parallel  läuft.  Der  nächste  Gegenstand  der  Untersuchung  ist  der 
Flächeninhalt  regelmäßiger  Vielecke  vom  Dreieck  bis  zum  Zwölfeck, 
welches  letztere  sich  dem  Kreise  nähert').  Heißt  a^  die  Seite,  F^ 
die  Fläche  des  regelmäßigen  Vielecks  und  c^  eine  von  einem  Vieleck 
zum  anderen  sich  ändernde  Zahl,  so  findet  Heron  F^  »  c^a^  und  ins- 
besondere: 

Der  Fünfecksinhalt  stammt,  wie  Heron  sagt,  daher,  daß 

gesetzt  wurde.  Ein  genauerer  Wert  sei  auffindbar,  wenn  ein  genauerer 
Wert  von  "j/ö  in  Rechnung  gezogen  werde. 

weil  das  Sechseck  das  Sechsfache  eines  über  a^  beschriebenen  gleich- 
seitigen Dreiecks  ist. 

Zur  Auffindung  der  Siebeneoksseite  führt  der  ausgesprochene  aber 
unbewiesene  Hilfssatz,  sie  sei  nahezu  gleich  der  Senkrechten  vom  Kreis- 
mittelpunkt auf  die  Sechsecksseite.  Das  entspricht  rechnungsmäßig 
der  Gleichung  o^*  =  r*  —  ^  >  ^  "^  T  V^-    ^*^  könnte  auch  r  ys  =  Oj 

*)  Vgl.  Heron  EI,  86  lin.  12  mit  46  lin.  10.  «)  Heron  HI,  46  hif^g  9h 
ywvoVf  iTtsi^i}  toüTO  evveyylSsi  fi&llov  t^  xoij  nvxXov  yttQupiQBi^. 


Heron  yon  Alexandria.  377 

benutzen  und  ^  »  y  ^s  schreiben,  eine,  wie  wir  im  34.  Kapitel  sehen 
werden,  den  Arabern  geläufige  Ausdrucksweise,  deren  sich  Heron 
jedoch  nicht  bedient.     Da   Heron  die   Naherungsformel   Ö7  =  y  V^ 

nicht  begründet,  so  muß  sie  vor  ihm  zur  Oenüge  bekannt  gewesen 
sein.  Wir  weisen  nur  mit  einiger  Schüchternheit  auf  Archimeds 
Siebeneck  im  Kreise  (S.  307)  als  mögliche  Quelle  hin.  Rechnungs- 
mäßig kleidet  sich  der  Satz,  die  o^  sei  die  Senkrechte  aus  dem  Kreis- 
mittelpunkte auf  ttg,  wie  wir  schon  sagten,  in  die  Gleichung  a^  «  y^S« 
Heron   schreibt   dafür   anj  ^^^r,  und  dieses  entspricht  der  Annahme 

)/3~2--|- =-~«]/|^.  Dann  wird  weiter  1/207  =  14 J  ange- 
nommen und  daraus  schließlich  gefolgert 

^7  =  12^ 

Zur  Auffindung  von  Fg  bedient  sich  Heron  der  Fig.  64  a.     £  ist 

der  Mittelpunkt  des  Umkreises,  KA  ist  senkrecht  zu  /JE  gezogen 
und  jdM  büdet  mit  jdK  einen  Winkel  von 

der  Gfröße  -7-  Rechter.     Ebenso   groß   ist 

A^^KA  und  mithin  JLMAA  =  —  Rechter 

nebst  Z.MJd'-'l Rechter,  woraus  L.dMA 
-  MdA  und  JA  -  AM,  JM*  -  2MA', 

JM^MA  y2  folgt,  wofür  g  M^  ge- 
setzt wird.    Wegen  der  ßleichschenkligkeit 

TT  Tl/T 

des   Dreiecks    ^MK   hat    man    also    ^rr- 

MA 
17     KM+MA        KA  _KA        17  +  12        29  .    jr  j       29     .    .       29 

"  12'  MÄ         ^  MA'~'Ja i2~~  "  12    ™^  -'^^  ="  12  ^^  '^  24 

VA  .  A  _E         29 

^E.     Femer  sieht  man ^ =  ~  z^£?  als  Fläche  des  Dreiecks 

dEKy  welches  -~  ist     Somit  zeigt  sich 

Die  Berechnung  von  Fg  geht  von  der  der  Schrift  über  die  Ge- 
raden im  Kreise,  also  EUpparch,  entnommenen  Formel  aus,  3ag  sei 
annähernd  der  Durchmesser  des  Umkreises.     Daraus  folgt  unter  aber- 

maliger  Anwendung  TOn  y2  ~  -^,  daB 

i^»  -  -5-  Oj». 


378 


18.  Kapitel. 


17 
12 


ist  offenbar  gewonnen,  indem  zuerst 


~  ^ —  rö  gesetzt  wurde. 


Der  Näherungswert  y2 

1/2-1+4,  dann  t/2    -  ^       ^^ 

Ausgehend  von  bei  Berechnung  von  F^  gewonnenen  Werten  ge- 
langt Heron  zu 

TP  ^*.,    « 

Sei  (Fig.  64b)  ZH^a^^,  ZS  Durchmesser,  NH  Halbmesser  des 
Umkreises.     Die  Dreiecke   ZHN,  SHN  haben   bei  gleichen  Grund- 
linien  ZN,    SN  die   gemeinschaftliche 
Spitze  in  H,  sind  also  einander  gleich, 
und  ihre  Summe  ZHS  ist  das  Doppelte 

des  Dreiecks  ZiVif,   welches  selbst  --*- 

ist.  Heron  führt  diesen  Beweis  nicht, 
zieht  nicht  einmal  die  Hilfslinie  NH^ 
sondern  setzt  sofort  das  Dreieck  ZHS 

=«  jY  -^11  ^^^  bemerkt,  es  sei  rechtwink- 
lig, weil  jLZHS  ein  Winkel  im  Halb- 
kreise sei.  Nun  entnimmt  er  wieder  der 
Schrift    über    die    Geraden    im    Kreise 


Fig.  64  b. 


ÄZ^yOn-      Ist    dieses    richtig,    so   ist   ÄH=]/(yöru.)   ^  cl^ 


/676        24 


12 


— ö"  =»  Y  a^j  und  das  Dreieck  ZHS  ist  —  a^^  sowie 


•11 


OD         , 

y  (hl- 


Bei  dem  Nachweise  von 


2^«  = 


45 


*n 


ist  wieder  geometrisch  verfahren  ohne  auf  Hipparch  zurückzugreifen. 
Die  dabei  auftretende  ys  ist  ebenso  wie  bei  der  Aufsuchung  von  F^ 

7 

durch  Y  ^i^etzt.  Wir  erkennen  also  in  dieser  Gruppe  von  Sätzen 
die  wiederholte  Anwendung  von 

Auf  die  geradlinig  begrenzten  Figuren  folgen  die  mit  gekrümmter 
Begrenzung,  bei  welchen  Heron  ausdrücklich  erklärt,  er  bediene  sich 

.  .  22 

von  Archimed  herrührender  Sätze;  insbesondere  wird  ä  =  --  fort- 
während benutzt.  Den  Kreisabschnitt,  welcher  kleiner  als  ein  Halb- 
kreis ist,  und  welcher  die  Sehne  s  als  Grundlinie  und  Höhe  h  besitzt. 


Heron  von  Alexandria.  379 

maßen  die  Alten  ziemlich  ungenau^);  indem  sie  seinen  Inhalt  als    "^    -  s 

angaben.  Heron  fägt  hinzu,  diese  Formel  sei  richtig  beim  Halbkreise^ 
sofern  n  =«3,  und  davon  hätten  die  Alten  Grebrauch  gemacht  und  die 
Formel   auch   noch   yerallgemeinert.     In   der   Tat  ist  bei  ^ » 3  die 

Flache   des   Halbkreises  —  =  — ~-  -  r,   wahrend  2r  ^  Sy  r  ^h  ist. 

Ein  etwas  genaueres  Ergebnis  fand  man^  fährt  Heron  fort,  mittels  der 

Formel  ^—  • «  +  jj  (y)  ,    ^uid   diese   passe   auf  den   Halbkreis   bei 

z—r* 

1  .  .  7 

jt  =  3-  .     In   der   Tat    ist   dann   die   Fläche   des   Halbkreises  - 


«  —Y—  "  ^  +  14  (y)  •     ^^  dritte  genauere  Methode  lehrt  Heron  ein 

der  archimedischen  Farabelquadratur  (S.  304)  nachgebildetes  Ver- 
fahren; welches  dahin  mündet  ^  daß  man  dem  Kreisabschnitte  ein 
gleichschenkliges  Dreieck  einzeichnet,  welches  sich  dann  zu  dem  Ab- 
schnitte nahezu  wie  3 : 4  verhält.  Bei  dieser  Gelegenheit  nennt  Heron 
die  Abhandlung  Archimeds  unter  dem  sonst  nicht  überlieferten  Namen 
Ephodikon^.  Ist  der  zu  messende  Kreisabschnitt  größer  als  der 
Halbkreis,  so  wird  er  zum  ganzen  Kreise  durch  einen  anderen  Kreis- 
abschnitt ergänzt,  der  als  kleiner  als  der  Halbkreis  nach  dem  soeben 
gelehrten  Verfahren  berechnet  wird;  die  ganze  Kreisfläche  kennt  man 
auch;  man  hat  also  das  Gesuchte  als  Unterschied  zweier  bekannter 
Größen.  Heron  lehrt  weiter  unter  fortwährender  Nennung  des  Archi- 
med,  als  desjenigen,  dem  er  folge,  die  Messung  der  Ellipse,  der 
Parabel,  der  Oberfläche  des  Zylinders,  des  Kegels,  der  Kugel,  des 
Kugelabschnittes.  Er  schließt  das  Buch  mit  der  Vorschrift,  eine  un- 
regelmäßig begrenzte  ebene  Figur  durch  eine  nahezu  ihr  gleiche  gerad- 
linig begrenzte  Figur  zu  ersetzen,  deren  Fläche  man  berechnen  könne, 
eine  unregelmäßig  gekrümmte  Oberfläche  aber,  wie  z.  B.  die  einer 
Statue,  mit  dünnem  Papyrus  zu  belegen,  welchen  man  loszulösen  und 
eben  auszustrecken  vermöge,  worauf  er  als  unregelmäßig  begrenzte 
ebene  Figur  gemessen  werde. 

Das  2.  Buch  wendet  sich  dem  Rauminhalte  der  Körper  zu.  Die 
in  Anwendung  tretenden  Formeln  sind  zumeist  als  von  Archimed 
herrührend  bezeichnet.  Es  handelt  sich  um  gerade  Zylinder,  um 
Kegel,  um  schiefe  Zylinder,  um  parallelepipedische  Körper,  um  Prismen, 
um  Pyramiden,  um  Pyramidenstumpfe,  um  Kegelstumpfe,  um  Kugeln, 

^)  Heron  in,  72  %h  9h  TufjfLa  toD  x6xXov  to  iXatrov  inimvxXlov  ol  fikv 
äi^Xaloi  ä^UetBQOv  iy^ixQovv.  *)  Heron  lU,  80  lin.  12.  Vgl.  auch  W.  Schmidt, 
Archimedes'  Ephodikon  in  der  Bibliotheca  Mathematica  3.  Folge  Bd.  I,  13 
bis  li  (1900). 


380  IB.  Kapitel. 

nm  Kugelabschnitte,  um  spirische  Körper  (S.  242),  um  Zylinderhufe, 
um  die  fünf  regelmäßigen  Körper  Flatons.  Bei  Gelegenheit  der  spi- 
rischen  Körper  ist  von  einer  Schrift  des  Dionysodor^)  über  die 
Spiren  die  Rede.  Dieser  aber  ist,  wie  wir  vermuten,  Herons  Zeit- 
genosse und  wird  uns  im  20.  Kapitel  wieder  begegnen.  Den  Schluß 
des  2.  Buches  bildet  die  Ausmessung  des  Körperinhaltes  unregelmäßig 
begrenzter  Gebilde  nach  einer  Methode,  welche,  wie  einige  erzählen, 
von  Archimed  herrühre*).  Bewegliche  Körper  werden  in  ein  bis  zum 
Rande  mit  Wasser  gefülltes  Gefäß  geworfen,  um  Wasser  zum  Aus- 
laufen zu  bringen,  dessen  Menge  man  an  dem  Höhenunterschied  der 
nach  Herausziehung  des  Körpers  noch  übrigen  Flüssigkeit  erkennt. 
Unbewegliches  wird  durch  einen  Überzug  von  Wachs  oder  Lehm  in 
ausmeßbare  parallelepipedische  Gestalt  gebracht,  und  ebenso  verfährt 
man  mit  dem  abgekratzten  Überzug,  um  den  Unterschied  zweier  be- 
kannter Körperinhalte  als  Antwort  auf  die  gestellte  Frage  bilden  zu 
können. 

Das  3.  Buch  ist  das  von  den  Teilungen.  Wir  wissen  von  einer 
fast  genau  ebenso  betitelten  Schrift  des  Euklid  (S.  287),  von  welcher 
aber  die  Bearbeitung  Herons  wesentlich  abweicht.  Die  Aufgaben 
sind  zwar  vielfach  die  gleichen,  z.  B.  ein  gegebenes  Dreieck  durch 
eine  der  Grundlinie  parallele  Gerade  in  einem  gegebenen  Verhältnisse 
zu  teilen,  aber  während  Euklid  sich  mit  allgemeinen  Konstruktions- 
vorschriften begnügte,  ist  Heron  bestrebt,  mit  den  zahlenmäßig  ge- 
gebenen Längen  der  einzelnen  Dreiecksseiten  zu  rechnen.  Er  sucht 
sogar  wie  weit  von  der  Dreiecksspitze  entfernt  die  gesuchten  Durch- 
schnittspunkte der  verlangten  Parallelen  mit  beiden  Dreiecksseiten 
sind,  weil,  wie  er  ausdrücklich  hervorhebt^),  es  auf  dem  Felde  wegen 
der  Unregelmäßigkeiten  des  Bodens  schwierig  sei  eine  Parallele  zu 
ziehen.  Nur  wo  eine  Rechnung  anzustellen  ihm  nicht  gelingt,  begnügt 
er  sich  mit  der  Angabe  von  Konstruktionen  teilweise  auf  andere 
Schriftsteller  verweisend.  In  diesem  Zusammenhange  erscheint  die 
oben  (S.  364)  von  uns  erwähnte  Berufung  auf  den  Raumschnitt*). 
Femer  geht  Heron  auch  in  der  Beziehung  über  Euklid  hinaus,  daß 
er  nach  den  Teilungen  ebener  Figuren  auch  solche  von  gekrümmten 
Oberflächen  und  solche  von  Körpern  behandelt.  So  soll  z.  B.  eine 
Pyramide  durch  eine  der  Grundfläche  parallele  Ebene  geteilt  werden, 
so  daß  zwischen  der  an  der  Spitze  losgetrennten  kleineren  Pyramide 
und  der  ursprünglichen  ein  gegebenes  Zahlenverhältnis  obwalte.  Diese 
Aufgabe  führt  ^)  zur  näherungs weisen  Ausziehung  der  >^100,  von  welcher 


*)  Heron  m,  128  lin.  8.      *)  Ebenda  IE,  138.     »)  Ebenda  III,  144  lin.  16 
bis  16.     «)  Ebenda  m,  162  lin.  2  und  166  lin.  14.     ^)  Ebenda  in,  178  lin.  8—16. 


Heron  von  Alexandria.  381 

wir  oben  (S.  374)  geredet  haben.  Den  Schluß  des  Baches  bildet  die 
archimedische  Aufgabe  der  Teilong  einer  Engel  bei  gegebenem  Ver- 
hältnisse der  beiden  durch  den  Schnitt  gebildeten  Kugelabschnitte. 
Wollen  wir  nach  dieser  Inhaltsangabe  der  Vermessungslehre  noch 
in  Kürze  eine  Kennzeichnung  des  Werkes  geben^  so  dürfen  wir  sagen^ 
es  seien  Elemente  der  rechnenden  Geometrie  dort  gelehrt.  Ver- 
fasser der  ersten  derartigen  Schrift  war  Heron  wohl  kaum,  so  wenig 
als  Euklid  der  Verfasser  der  ersten  Elemente  der  konstruierenden 
Geometrie  war.  Nur  hat  Euklid  einen  Proklus  gefunden,  welcher 
uns  über  die  Vorgeschichte  seines  Werkes  belehrt,  während  wir  von 
einem  Kommentare  zu  Heron  nichts  wissen.  Dagegen  sagt  uns  die 
übereinstimmende  Überlieferung  aller  Völker,  daß  die  praktische  Feld- 
messung der  eigentlichen  wissenschaftlichen  Geometrie,  der  theoreti- 
schen Raumlehre,  vorausging  und  diese  erfinden  ließ.  Mag  auch  in 
den  griechischen  Staaten  im  engeren  Sinne  des  Wortes  die  Geometrie 
häufiger  ihrer  theoretischen  als  ihrer  praktischen  Richtung  nach  be- 
handelt worden  sein,  wie  schon  daraus  hervorgeht,  daß  das  Wort 
Geodäsie  überhaupt  erst  seit  der  Zeit  des  Aristoteles  (S.  252)  in  der 
griechischen  Literatur  nachgewiesen  werden  kann,  Herons  Tätigkeit 
verweist  nach  Alexandria,  auf  ägyptischen  Boden,  wo  seit  Jahrtausenden 
die  Kunst  der  Feldmessung  blühte,  wo  die  Harpedonapten,  Seil- 
spanner, wie  der  alte  Grieche  sie  nannte  (S.  104),  ihr  Handwerk  übten, 
an  welches  wir  uns  bald  erinnern  müssen.  Auch  Euklids  Aufenthalt 
in  Ägypten  ist  verbürgt,  und  eine  Spur  feldmesserischer  Vorschriften 
fanden  wir  in  seiner  Optik  (S.  294).  Die  ägyptischen  Feldmesser 
müssen  dem  erhaltenden  Wesen  ägyptischer  Bildung  entsprechend 
gewisse  Vorschriften,  wie  man  zu  verfahren  habe,  mündlich  oder 
wahrscheinlicher  schriftlich  unter  sich  vererbt  haben.  Ihr  Erbe  muß 
auf  Heron  gelangt  sein.  Ohne  Zweifel  hat  er  es  verstanden  dieses 
Erbe  wuchern  zu  lassen.  Ihm,  wenn  er  nicht  in  Dikaearch  und  Era- 
tosthenes  Vorgänger  hatte  (S.  257),  ist  vielleicht  die  Erfindung  der 
Dioptra  zuzuschreiben,  während  man  früher  mit  mangelhafteren  Vor- 
richtungen sich  begnügte,  aber  Vorrichtungen  hatte  man,  z.  B.  den 
sogenannten  Stern,  und  deren  Gebrauch  muß,  wir  wiederholen  es,  eine 
ältere  mündlich  oder  schriftlich  überlieferte  Feldmeßkunst  gelehrt 
haben.  Der  letzte  geodätische  Schriftsteller  blieb  Heron  allerdings 
für  lange  Zeit.  Euklid  und  Heron  waren  nachgerade  ihrer  Persön- 
lichkeit beinahe  entkleidet  worden.  Sie  waren  Titel  von  Schulbüchern 
geworden,  welche  auch  zu  Völkern  drangen,  die  in  anderen  Sprachen 
als  in  der  griechischen  dachten  und  redeten.  Mochten  in  diesen  „Euklid'^ 
der  Theoretiker,  in  diesen  „Heron'*  der  Praktiker  Dinge  eingedrungen  sein, 
an  welche  der  lebende  Euklid,  der  lebende  Heron  nie  gedacht  hatte, 


382  18.  Kapitel. 

für  die  Nachkommen  blieb  es  der  „Euklid'',  der  „Heron".  Ja,  es  ist 
gar  nicht  unmöglich,  daß  bei  derartigem  nebeneinander  hergehendem 
Gebrauche  aus  dem  „Euklid''  dieses  oder  jenes,  z.  B.  Definitionen,  in 
den  „Heron"  überging;  auch  das  Entgegengesetzte  wäre  möglich,  wenn 
es  gleich  an  Beispielen  dafür  uns  fehlt,  aber  die  heronische  Dreiecks- 
formel etwa  hätte  samt  ihrem  Beweise  ganz  gut  in  eine  Handschrift 
des  Euklid  eindringen  können. 

Gehen  wir  nun  zur  Feldmeßkunst  des  Heron  über,  wie  sie 
in  der  Abhandlung  über  die  Dioptra^)  beschrieben  ist,  und  beginnen 
wir  mit  der  Schilderung  der  Dioptra  selbst.  Sie  bestand  aus  einem 
4  Ellen  langen  Lineal,  welches  an  beiden  Enden  Plättchen  zum  Hin- 
durchvisieren, oder,  wie  man  heute  sagt,  Dioptervorrichtungen  trug. 
Sie  ruhte  auf  einer  kreisrunden  Scheibe,  auf  welcher  sie  in  Drehung 
versetzt  werden  konnte,  und  eine  vertikale  Drehung  war  mit  der 
Scheibe  auf  einem  die  ganze  Vorrichtung  tragenden  Fuße  ermöglicht. 
Wir  dürfen  in  der  Dioptra  den  Keim  des  Theodoliths  der  neueren 
Feldmeßkunst  erkennen.  Sie  diente  zum  Abstecken  von  Geraden  in 
den  mannigfachsten  Richtungen,  wenn  auch  eine  Winkelmessung  auf 
dem  Felde  nicht  stattfand.  Um  eine  Senkrechte  zu  einer  gegebenen 
Richtung  sich  zu  verschaffen,  dienten  senkrecht  zueinander  eingeritzte 
Gerade  auf  der  Dioptrascheibe,  von  deren  ersten  bis  zur  zweiten  die 
Dioptra  gedreht  werden  mußte,  um  einen  rechten  Winkel  zu 
erhalten.  Den  oben  erwähnten  vorheronischen  Stern  bildeten  zwei 
in  horizontaler  Ebene  sich  rechtwinklig  schneidende  Lineale,  also 
eine  Art  von  Winkelkreuz.  Die  Vorrichtung  zum  Hindurchvisieren 
aber  fehlte,  und  ebenso  fehlten  verschiedene  Hilfsapparate,  die  mit 
der  Dioptra  in  Verbindung  standen.  Bei  ihr  war  die  vertikale  Stellung 
des  Fußes  verbürgt  durch  einen  herabhängenden  Bleisenkel,  welcher 
längs  einer  auf  dem  Fuße  eingeritzten  Geraden  seinen  Verlauf  nehmen 
mußte.  Die  Horizontalität  der  Scheibe  entnahm  man  einer  Wasser- 
wage. Statt  beider  mußten  bei  dem  Sterne  Bleisenkel  dienen,  welche 
an  den  4  Enden  des  Winkelkreuzes  hingen,  welche  aber,  wie  Heron 
tadelnd  hervorhebt,  namentlich  bei  einigermaßen  stark  gehendem 
Winde,  nicht  leicht  zur  Ruhe  kamen  und  somit  die  Brauchbarkeit 
des  Apparates,  welche  von  der  gesicherten  richtigen  Aufstellung  un- 
trennbar ist,  wesentlich  verringerten.  Mit  Hilfe  der  Dioptra  und  ab- 
geteilter selbst  mit  Bleisenkel  versehener  Signalstangen  wurden 
die  wichtigsten  Aufgaben  auf  dem  Felde  gelöst.    Nivellierungen;  Ab- 

')  "^Hgoivos  UXs^dv^gsajg  tcbqI  ^tOTCtgag  abgedruckt  mit  firanzÖBischer  Über- 
setzung von  Vincent,  mit  den  Anmerkungen  von  Venturi  und  Vincent  in 
den  Notices  et  extraits  des  manuscrits  de  la  hihHoth^ae  imperiale  XIX,  2  (Paris 
1868)  und  mit  deutscher  Übersetzimg  von  Herm.  Schöne  in  Heron  III,  187  sqq. 


Heron  von  Alexandria.  383 

steckung  einer  Geraden  zwischen  zwei  Punkten,  deren  keiner  von  dem 
anderen  aus  gesehen  werden  kann;  Bestimmung  der  Entfernung  eines 
sichtbaren  aber  unzugänglichen  Punktes;  Au£^dung  der  Breite  eines 
Flusses,  ohne  ihn  zu  überschreiten;  Auffindung  der  Entfernung  zweier 
Punkte,  die  beide  sichtbar,  beide  unzu^nglich  sind;  Absteckung  einer 
Senkrechten  zu  einer  unzu^mglichen  Geraden  in  einem  unzugäng- 
lichen Punkte  derselben;  Bestimmung  der  Höhe  eines  entfernten 
Punktes  über  dem  Standorte  des  Beobachters;  Aufnahme  eines  Feldes; 
Wiederherstellung  der  mit  Ausnahme  von  2  oder  3  durch  Grenz- 
steine gesicherten  Punkten  verloren  gegangenen  Umfriedigung  eines 
Feldstückes  unter  Anwendimg  des  vorhandenen  Planes:  das  dürften 
etwa  die  interessantesten  Aufgaben  sein,  welche  Heron  in  seiner 
Schrift  von  der  Dioptra  behandelt  hat,  bei  späteren  Aufgaben  stets 
früher  gelehrte  Operationen  benutzend,  wodurch  das  Einheitliche  dieser 
Abhandlung  sich  erweist. 

Es  würde  zu  weit  führen,  wollten  wir  genau  schildern,  in  welcher 
Weise  Heron  jedesmal  verfährt.  Nur  die  beiden  letztgenannten  Auf- 
gaben müssen  aus  besonderen  Gründen  hier  zur  Rede  kommen.  Die 
Aufnahme  eines  Feldes  erfolgt  durch  Absteckung  eines  Rechtecks, 
welches  3  seiner  Eckpunkte  auf  der  Umgrenzung  selbst  besitzt.  Die 
Seiten  dieses  Rechtecks  werden  nun  freilich  mit  den  Grenzen  des 
Feldes  nicht  zusammentreffen,  aber  die  zwischenliegenden  Grenz- 
strecken bestimmen  sich  durch  die  senkrechten  Entfernungen  ein- 
zelner Punkte  derselben  von  den  Rechtecksseiten  unter  genauer  Be- 
merkung derjenigen  Punkte  der  Rechtecksseiten,  in  welche  jene  meist 
kleinen  Senkrechten  eintreffen.  Der  geschickte  Feldmesser  wird,  nach 
Herons  ausdrücklicher  Vorschrift,  es  so  einzurichten  wissen,  daß  die 
Grenze  zwischen  zwei  zur  Bestimmung  ihrer  Endpunkte  dienenden 
Senkrechten  leidlich  geradlinig  aussieht.  Wenn  wir  noch  so  vorsichtig 
ans  davor  hüten  wollen,  neue  Gedanken  in  alte  Methoden  hineinzu- 
lesen,  hier  müssen  wir  ein  bewußtes  Verfahren  mit  rechtwinkligen 
Koordinaten  erkennen.  Nicht  als  ob  wir  behaupten  wollten,  Heron 
habe  nach  einem  gemeinsamen  Gesetze  gesucht,  welchem  die  verti- 
kalen und  horizontalen  Entfernungen  zu  bestimmender  Punkte  von 
gegebenen  Linien  gehorchen,  das  tut  nicht  einmal  die  moderne  Feld- 
meßkunst, welche  sehr  wohl  empirische  Linien  von  geometrischen 
Kurven  zu  unterscheiden  weiß.  Aber  denken  wir  daran,  daß  Hipparch 
(S.  362)  die  Erde  mit  Koordinaten  überzog,  welche  die  Lage  jedes 
Punktes  derselben  bestimmen  sollten,  daß  dieser  die  Breite  von  dem 
Äquator,  die  Länge  von  dem  Meridiane  von  Rhodos,  mithin  von  ganz 
genau  definierten  Anfangslagen  beginnen  und  messen  ließ,  so  werden 
wir  in  Herons  Verfahren  die  Wiederholung  auf  kleinerem  Felde  finden 


384  18,  Kapitel. 

von  dem,  was  sein  etwas  alterer  Zeitgenosse  für  die  Erde  in  ihrer 
Gesamtoberfläche  gelehrt  hat,  beide  yielleicht  abhängig  von  uralten 
Vorbildern,  aber  über  jene  hinausgehend.  Wir  erinnern  daran,  daß 
um  1400  die  ägyptischen  Bildhauer  unter  König  Seti  I.  die  mit  Bild- 
werk zu  versehenden  Wände  zunächst  mit  einem  Netze  kleiner  Quadrate 
überzogen  (S.  108).  Das  waren  auch  Koordinaten.  Aber  ob  und  wie 
Linien  der  beabsichtigten  Figuren  in  diese  Quadratchen  hineinfielen, 
dürfte  an  sich  unerheblich  gewesen  sein.  Vermutlich  sollten  nur  bei 
der  Ausführung  im  großen  dieselben  Verhältnisse  beibehalten  werden, 
welche  der  Künstler  in  seiner  Handskizze  dem  Augenmaße  oder  der 
Übung  nach  sich  vorgezeichnet  hatte.  Jetzt  entwarf  Heron  kleinere 
rechtwinklige  Figuren  zu  bestimmtem  Zwecke  und  wählte  Zahl  und 
Entfernung  der  Senkrechten  in  bewußter  Beliebigkeit  Früher  war 
es  eine  zufällige,  jetzt  eine  absichtliche  Bestimmung  einzelner  Punkte 
mittels  senkrecht  zueinander  gezeichneter  Strecken. 

Nicht  minder  lehrreich  ist  fär  uns  die  Rückübertragung  des 
gezeichneten  Planes  auf  das  Feld,  wenn  nur  einige  Punkte  desselben 
gegeben  sind.     Erhalten  seien  (Fig.  65)  die  Grenzsteine  a,  /J,  deren 

Inschriften  gestatten,  sie  auf  dem  Plane 
zu  identifizieren;  gesucht  werden  die 
beiden  Hauptrichtungen  auf  dem  Felde, 
welche  zueinander  senkrecht  dem  ganzen 
Plane  als  Grundlage  dienen,  so  daß 
wenn  z.  B.  ay  einer  dieser  Hauptlich- 
tungen  gleichlaufend  und  ßS  zu  ihr 
senkrecht  wäre,  die  Längen  ad,  ßd  mit 
den  Inschriften  der  beiden  Grenzsteine 
in  Einklang  stehen.  Jedenfalls  kann  man  auf  dem  Felde  aß  ab- 
stecken und  auf  dieser  Strecke  einen  Punkt  b  ziemlich  nahe  bei  a 
sich  genau  bemerken.  Nun  ist  auf  dem  Plane  das  Dreieck  a/Sd  be- 
kannt und  vermöge  der  erfolgten  Abmessung  von  aß  auch  das  Ver- 
hältnis der  Längen  auf  dem  Plane  zu  denen  auf  dem  Felde.  Das 
Dreieckchen  ae^  muß  dem  aßd  ähnlich  sein,  aus  der  gemessenen 
Länge  as  folgen  daher  durch  Rechnung  die  Längen  von  a^  und  ^£, 
welche  auf  einem  Seile  Q6r  durch  Strichelchen  angemerkt  werden. 
Nun  befestigt  man  dieses  Seil  mit  q  in  a,  mit  r  in  £  und  spannt  es 
in  6  an,  so  wird  bei  6  ein  rechter  Winkel  entstehen  und  f  gefunden 
sein  und  damit  zugleich  die  Richtung  a^dy.  Das  geschichtlich 
Bedeutsame  bei  diesem  Verfahren  besteht  darin,  daß  der  rechte 
Winkel  durch  Anspannung  eines  Seiles  gewonnen  wird,  welches  mit 
zwei  durch  Striche  oder  Knoten  bezeichneten  Stellen  an  zwei  Pfiöcken 
im  Boden  befestigt  wurde.     Das  ist  ja  nichts  anderes  als  die  ägjp- 


^   t 


Heron  von  Alezandria.  385 

tische  Seilspannnng  (S.  104 — 106)  bei  der  Qrandsteinlegung  der 
Tempel,  ein  Verfahren,  welches,  wie  wir  wissen,  vielleicht  schon  zur 
Zeit  des  Königs  Amenemhat  I.  um  das  Jahr  2300  nicht  wesentlich 
anders  geübt  worden  war  ab  237  bei  der  Gründung  des  Tempels 
von  Edfu.  Damit  gewinnt  aber  auch  die  Vermutung  einigen  Halt: 
im  Jahre  237  werde  man  etwa  so  verfahren  sein,  wie  im  ersten  vor- 
christlichen Jahrhunderte,  und  das  letztere  uns  genau  bekannte  Ver- 
fahren sei  mit  einigen  Abänderungen,  wie  wir  früher  auszusprechen 
wagten,  in  ältester  Zeit  bereits  zur  Erlangung  rechter  Winkel  benutzt 
worden.  Natürlich  können  die  damals  angenommenen  Zahlen  fßr  die 
gegenseitigen  Entfernungen  der  drei  Knoten  hier,  wo  es  sich  um 
Herstellung  eines  einem  bestimmten  rechtwinkligen  Dreiecke  ähnlichen 
Dreiecks  handelt,  nicht  zur  Bestätigung  kommen.  Noch  eine  Ver- 
änderung ergab  sich,  wie  wir  finden,  im  Laufe  der  Jahrhunderte. 
Demokritus  nannte  die  Seilspanner  Harpedonapten,  das  Seil  selbst 
also  Harpedon  mit  einem  Worte,  dessen  Klang  schon  den  ägypti- 
schen Ursprung  verrat.  Zu  Herons  Zeit  führte  das  aus  Binsen  ge- 
flochtene Seil  den  griechischen  Namen  Schoinion  und  wurde,  wie 
es  in  einer  Heron  zugeschriebenen  Schhfk  heifit  ^),  abwechselnd  mit 
dem  Rohre,  Kalamos,  zu  Messungen  benutzt.  Wir  bemerken  hierzu 
beiläufig,  daß  Tcdkafiog  und  das  dem  6%oivCov  nahe  verwandte  6%olvog 
neben  der  allgemeinen  Bedeutung  Meßstab  und  Mefischnur  auch  die 
besonderer  und  zwar  untereinander  verschiedener  Maße  besitzen. 

Wir  haben  noch  bei  einem  Paragraphen  der  Schrift  über  die 
Dioptra  zu  verweilen,  der  den  Beweis  für  die  sogenannte  heronische 
Dreiecksformel  liefert  und  ganz  genau  mit  der  entsprechenden  Stelle 
der  Vermessungslehre*)  übereinstimmt.  Wir  stehen  hier  einer  ganz 
ähnlichen  Erscheinung  gegenüber  wie  bei  der  Einschaltung  zweier 
mittleren  geometrischen  Proportionalen  zwischen  zwei  gegebene 
Strecken.  Heron  hat  sein  Verfahren  sowohl  der  Mechanik  als  der 
Vorschrift  zur  Anfertigung  von  Geschützen  einverleibt,  und  Pappus 
hat  uns  sein  Erfinderrecht  ausdrücklich  bestätigt.  Für  unser  Gefiihl, 
das  betonen  wir  jetzt  nachträglich,  war  jene  Bestätigung  überflüssig. 
Man  kann  wohl  einen  wichtigen  Satz  in  zwei  verschiedenen  Werken 
zur  Anwendung  bringen,  aber  man  verbindet  nicht  an  beiden  Stellen 
mit  dem  Satze  auch  seinen  Beweis,  wenn  nicht  ein  gewisses  Selbst- 
gefühl uns  dazu  treibt.  Ebenso  beurteilen  wir,  wo  uns  zufällig  keine 
Bestätigung  durch  einen  Dritten  vorliegt,  die  wiederholte  Mitteilung 
der  Formel  für  den  Dreiecksinhalt  samt  ihrem  Beweise.  Sie  ist  und 
bleibt  für  uns  die  heronische  Dreiecksformel,  benannt  nach  ihrem 
geistvollen  Erfinder. 

>)  Heron  (ed.  Hultsch)  n,  43.     ")  Vgl.  Heron  HI,  280  sqq.  mit  20  sqq. 

Cavtob,  Gasohloht«  der  Mathematik  L  S.  Aufl.  26 


386  19.  Kapitel. 

19.  Kapitel. 
Heron  von  Alexandria.    (Fortsetzang.) 

Von  der  Abhandlung  über  die  Dioptra  wenden  wir  uns  zu  einem 
raschen  Überblick  über  anderes,  was  von  Zeugen ,  deren  Zuverlässig- 
ieit  unbestritten  ist,  unserem  Heron  zugeschrieben  wird.  Der  erste 
Zeuge  ist  Proklus,  der  in  seinen  Erläuterungen  zu  Euklids  Ele- 
menten zwei  Beweise  als  von  Heron  stammend  anführt^),  einen  Be- 
weis des  Satzes,  daß  in  jedem  Dreiecke  die  Summe  zweier  Seiten 
größer  als  die  dritte  Seite  ist  und  einen  solchen  des  Satzes,  daß  wenn 
zwei  Dreiecke  in  zwei  Seiten  stückweise  übereinstimmen,  in  der 
dritten  aber  nicht,  der  der  dritten  Seite  gegenüberliegende  Winkel  in 
dem  Dreiecke  der  größere  sein  wird,  in  welchem  die  genannte  Seite 
die  größere  ist.  Der  zweite  Zeuge  ist  AI  Nairizi^,  der  gleichfalls 
Erläuterungen  zu  Euklids  Elementen  verfaßte  und  darin  vielfach  auf 
Heron  sich  beruft.  Diese  Berufung  findet  allerdings  für  die  beiden 
durch  Proklus  tiberlieferten  Beweise  nicht  statt*),  deren  ersten  AI 
Nairizi  ohne  Urhebemamen  wiedergibt  und  den  zweiten  mit  der  Be- 
merkung, er  wisse  nicht,  von  wem  der  Beweis  herrühre,  aber  dadurch 
verlieren  die  anderen  Zitate  nicht  an  Wert.  Es  geht  aus  dem  Mangel 
an  Übereinstimmung,  der  sich  vielfach  auch  darin  äußert,  daß  Proklus 
keinen  Urheber  nennt,  wo  der  Araber  sich  auf  Heron  beruft,  nur 
hervor,  daß  beide  nicht  nach  der  gleichen  Vorlage  arbeiteten.  Wir 
heben  nur  weniges  hervor.  Nach  dem  Berichte  des  AI  Nairizi*)  er- 
kannte Heron,  daß  bei  dem  Euklidischen  Beweise  des  Pythagoräischen 
Lehrsatzes  die  Senkrechte  aus  der  Spitze  des  rechten  Winkels  auf  die 
Hypotenuse  und  die  Verbindungsgeraden  der  beiden  anderen  Dreiecks- 
spitzen mit  den  gegenüberliegenden  Eckpunkten  der  über  den  beiden 
Katheten  nach  außen  gezeichneten  Quadrate  einen  gemeinsamen 
Durchschnittspunkt  besitzen.  Heron  bewies^),  daß  von  jedem  außer- 
halb eines  Kreises  gelegenen  Punkte  zwei  gleiche  Berührungslinien 
an  den  Kreis  gezogen  werden  können.  Heron  dehnte  den  Satz,  daß 
der  Peripheriewinkel  die  Hälfte  des  Zentriwinkels  auf  gleichem  Bogen 
sei,  auf  stumpfe  Peripherie winkel  aus*)  und  bewies  mit  dessen  Hilfe 
den  Satz,  daß  im  Sehnenviereck  je  zwei  einander  gegenüberliegende 
Winkel   sich  zu  zwei  Rechten   ergänzen.     Heron  hat  den  Satz  aus- 


^)  Proklus  ed.  Friedlein  pag.  323  und  346.  *)  Anaritii  in  deeem  libros 
priores  Elementorum  Euclidis  ed.  Max  Curtze.  Leipzig  1899.  ^  Anaritius 
pag.  58  und  62.  *)  Ebenda  pag.  78.  ^)  Ebenda  pag.  130.  *)  Ebenda  pag.  130 
bis  188. 


Heron  von  Aleza&dria.    (Fortsetzung.)  387 

gesprochen^);  jedes  regelmäßige  Vieleck  besitze  einen  von  allen  Eck- 
punkten gleich  weit  entfernten  Mittelpunkt^  der  zugleich  Mittelpunkt 
des  Umkreises  und  des  Innenkreises  des  Vielecks  sei.  Heron  be- 
hauptet ^);  die  Halbierende  eines  Winkels  eines  regelmäßigen  Vielecks 
halbiere  zugleich  auch  den  gegenüberliegenden  Winkel,  und  alle  diese 
Winkelhalbierenden  schnitten  sich  im  gleichen  Punkte.  Die  damit 
ausgesprochene  Abpaarung  der  Winkel  zeigt,  daß  Heron  ausschließ- 
lich Yom  2n-Eck  redete,  und  diese  Einschränkung  bestätigt  sich 
mittelbar  dadurch,  daß  gleich  darauf)  der  Satz  Euklids  erwähnt  ist, 
im  regelmäßigen  2n  4-  1  Eck^)  ständen  die  Winkelhalbierenden  auf 
den  gegenüberliegenden  Seiten  senkrecht,  und  auch  diese  Winkel- 
halbierenden besäßen  einen  gemeinschaftlichen  Durchschnittspunkt. 
Wo  freilich  dieser  Euklidische  Satz  sich  vorfand  ist  heute  unbekannt. 
Ebensowenig  weiß  man,  wo  Euklid,  wo  Archimed  eine  Definition 
von  homogenen  Größen  gegeben  haben  mögen»  welche  Heron 
dahin  erläuterte^),  homogene  Größen  seien  Größen  derselben  Gattung, 
von  denen  die  eine  durch  Vervielfachung  über  die  andere  hinaus- 
wachsen könne,  während  z.  B.  eine  Strecke  selbst  ins  Unendliche  ver- 
vielfacht niemals  größer  als  eine  Fläche  werden  könne.  Ganz  be- 
sonders möchten  wir  aber  hervorheben,  daß  Heron  die  Verfahren 
kannte,  welche  in  lateinischer  Übersetzung  dissolutio  und  compositio 
heißen^),  und  welche  wir  Klammerauflösung  und  Absonderung 
nennen,  d.  h.  daß  er  wußte,  man  sei  berechtigt  6(2  + 3-f  5)  =«  6  •  10 
=  60  und  umgekehrt  10  •  10  =  10  •  3  +  10  •  7  =  30  +  70  zu  setzen. 

Nächst  diesen  Sätzen  erwähnen  wir  Definitionen,  welche  ein 
zusammenhängendes  Ganzes  darstellend  als  heronisch  überliefert  sind, 
allerdings  aber  von  manchen  Schriftstellern^)  für  ganz  unecht,  von 
anderen,  darunter  von  uns  selbst,  für  überarbeitet  und  mehrfach  ent- 
stellt gehalten  werden.  Deren  Kern  aber  sehen  wir  keinen  Grund 
Heron  als  Sammler,  wenn  nicht  als  Urheber,  abzusprechen. 

Eine  hochwichtige  Frage  geht  nun  dahin,  ob  ursprünglich  die 
hier  erwähnten  Sätze  und  Definitionen  vereinigt  oder  getrennt  vor- 
handen waren,  und  wenn  vereinigt,  in  welcher  Gestalt?  Es  dürfte 
wohl  am  meisten  für  sich  haben  die  Vermutung  auszusprechen, 
Heron  habe  einen  Kommentar  zu  Euklids  Elementen  verfaßt, 
und  in  diesem  seien  auch  diejenigen  geometrischen  Definitionen 
enthalten  gewesen,  welche  Heron  statt  der  von  Euklid  gegebenen  an 
die  Spitze  der  Geometrie  gestellt  wünschte.  Wir  wollen  nicht  ver- 
hehlen, daß  dieser  Vermutung  Bedenken  im  Wege  stehen,  daß  man 

')  AnaritiuB  pag.  162.  *)  Ebenda  pag.  164.  »)  Ebenda  pag.  166.  *)  Fi- 
gurarum  quarum  laterum  numerus  impar.  ^)  Anaritius  pag.  162.  ^  Ebenda 
pag.  89.     ')  Priedlein  im  Buüetino  Boncompagni  IV,  98—121  (1871). 

2b* 


388  19.  Kapitel. 

Zweifel  hegen  kann^  ob  schon  im  ersten  yorchristlichen  Jahrhunderte, 
an  welchem  wir,  wie  im  vorigen  Kapitel  ausführlich  begründet  wurde, 
als  Herons  Lebenszeit  festhalten,  eine  kommentierende  Tätigkeit  unter 
den  Mathematikern  Platz  gegriffen  hatte,  daß  man  bei  Proklus  bei 
Erklärung  der  euklidischen  Definitionen  nirgend  einer  Erwähnung 
Herons  begegnet,  die  doch,  da  sich  Proklus  für  einige  wenige  Be- 
weise auf  unseren  Schriftsteller  bezieht,  mit  einiger  Wahrscheinlich- 
keit  zu  erwarten  gewesen  wäre,  aber  wir  ziehen  trotz  dieser  Schwierig- 
keiten die  ausgesprochene  Vermutung  einer  anderen  vor,  zu  welcher 
der  Keim  in  Herons  Definitionen  selbst  enthalten  liegt.  In  einer 
Art  von  Widmung  an  Dionysius,  welche  der  Verfasser  der  Defini- 
tionen diesen  vorausschickt,  heißt  es  nämlich,  er  wolle  eine  wissen- 
schaftliche Darstellung  der  geometrischen  Elemente^)  geben,  und 
später  ist  in  ganz  ähnlichen  Worten  von  einer  Einleitung  in  die 
arithmetischen  Elemente  *)  die  Bede.  Man  wäre  dadurch  versucht, 
an  zwei  mehr  oder  weniger  selbständige  Schriften  mit  diesen  Titeln 
zu  denken.  Allein  diese  Ausdrücke  lassen  sich  auch  auf  Kommen- 
tare zu  den  geometrischen  und  zu  den  arithmetischen  Büchern  Euklids 
deuten,  so  daß  wir  diese  letztere  Auffassung  der  gebrauchten  Worte 
vorziehen. 

Unter  den  Definitionen  wollen  wir  eine  besonders  hervorheben, 
die  der  Parallellinien^),  in  welcher  es  heißt,  sie  besäßen  alle  Senk- 
rechten, welche  von  irgend  einem  Punkte  der  einen  Parallelen  auf 
die  andere  gefällt  werden,  von  gleicher  Länge.  Eben  diese  Definition 
in  die  Worte  gekleidet,  Parallellinien  hätten  gleichen  Abstand  von- 
einander, erscheint  nämlich  auch  in  einer  als  Geometrie  Herons  be- 
zeichneten Schrift*),  von  der  wir  gleich  zu  reden  haben  werden,  er- 
scheint femer  bei  Proklus^),  wo  sie  dem  Posidonius,  also  jedenfalls 
dem  Posidonius  von  Rhodos,  zugeschrieben  wird,  der  ja  auch  in 
Herons  Mechanik  vorkommt  (S.  365),  lauter  Umstände,  die  einander 
gegenseitig  als  Stütze  zu  dienen  geeignet  sind. 

Wir  gelangen  weiter  zu  den  Schriften,  welche  vor  der  Auffindung 
der  Vermessungslehre  als  Hauptquellen  für  die  Kenntnis  heronischer 
Mathematik  galten,  und  von  welchen  wir  (S.  368)  erörterten,  in 
welchem  Sinne  wir  sie  alle  als  echt,  alle  zugleich  ab  unecht  be- 
zeichnen möchten.  Wir  werden  für  sie  mitunter  den  Ausdruck:  hero- 
nische  Sammlungen  gebrauchen. 

')  Heron  (ed.  Hultsch)  pag.  7  lin.  1:  r^g  yBwiiBVQtxfjs  etoixsuhaBas  rsxvo- 
Xo^lieva.  ')  Ebenda  pag.  34  lin.  12—13  und  pag.  38  lin  1—2:  iv  tolg  tcqo  ti)g 
&QiS'ii8TL%^g  öToix^uaasfog.  ')  Ebenda  pag.  22  lin.  15 — 17.  *)  Ebenda  pag.  44 
lin.  12—14.  ■)  ProkluB  ed.  Friedlein  pag.  176  lin.  6— 10.  Vgl.  auchL.  Majer, 
Proklos  über  die  Petita  und  Axiomata  bei  Euklid  S.  18  Note  3.   Tübingen  1875. 


Heron  von  Alezandria.    (ForUetzang.)  389 

Die  erste  ist  das  Buch  der  Geometrie.  Geometrische  Defini- 
tionen, zwischen  welche  eine  historische  Notiz  über  den  Ursprung 
der  Geometrie  mit  Hinblick  auf  den  jährlichen  Austritt  des  Nils  ein- 
geschaltet ist,  und  eine  Maßtabelle  eröffiien  dasselbe.  Nach  diesen 
kommt  die  Berechnung  von  Quadraten  und  Rechtecken,  deren  Fläche 
und  deren  Diagonale  gesucht  wird.  Das  rechtwinklige  Dreieck  folgt, 
auf  dieses  die  aneinanderhängenden  Dreiecke,  das  gleichseitige,  das 
gleichschenklige,  das  beliebige  Dreieck.  Beim  rechtwinkligen  Drei- 
ecke werden  die  Methoden  des  Pythagoras  und  des  Piaton  zur  Auf- 
findung rationaler  Seitenlängen  gelehrt;  beim  beliebigen  Dreiecke 
wird  die  Senkrechte  von  der  Spitze  auf  die  Grundlinie  gefällt  und 
unterschieden,  ob  diese  Senkrechte  die  Basis  selbst  trifiPt  und  Ab- 
schnitte auf  ihr  erzeugt,  oder  ob  sie  jenseits  der  Basis  eintrefiPend 
eine  Überragung  her v^or bringt;  es  wird  aber  auch  die  heronische 
Formel  unmittelbar  angewandt,  welche  ohne  Durchgang  durch  die 
Berechnung  des  Abschnittes,  beziehungsweise  der  Überragung  und  der 
Höhe  die  Dreiecksfläche  sofort  aus  den  drei  Seiten  ableitet.  Nun 
folgt  die  Rückkehr  zum  Vierecke  und  zu  den  mannigfaltigsten  Zer- 
legungen einer  Figur  durch  Hilfslinien.  Quadrate  in  gleichschenklige 
Dreiecke  eingezeichnet,  Rhomben  oder  verschobene  Quadrate,  Recht- 
ecke, Parallelogramme,  rechtwinklige  Trapeze,  gleichschenklige  Tra- 
peze, beliebige  Vierecke  werden  so  der  Berechnung  unterzogen.  Nach 
den  geradlinig  begrenzten  Figuren  wendet  Heron  sich  zum  Kreise 
und  zu  dessen  Teilen.  Durchmesser,  Umfang,  Inhalt  des  Kreises 
werden  gegenseitig  auseinander  abgeleitet.  Die  Fläche  eines  Kreis- 
abschnittes und  die  Länge  seines  Bogens  werden  aus  der  Sehne  und 
Höhe  des  Abschnittes  ermittelt,  und  auch  der  Ring  zwischen  zwei 
konzentrischen  Kreisen  wird  berechnet.  Vom  Kreise  kehrt  der  Ver- 
fasser zu  den  regelmäßigen  Vielecken  zurück,  indem  er  Formeln  gibt, 
welche  die  Flächen  dieser  Vielecke  vom  Fünfecke  bis  zum  Zwölf  ecke 
aus  der  Seitenlänge  finden  lehren.  Damit  dürfte  der  richtige  Text 
im  ganzen  abschließen,  indem  das  noch  folgende  Stück  (fünf  Seiten 
der  Druckausgabe  füllend)  ziemlich  unzweifelhaft  als  unecht  sich  er- 
weist. Dort  ist  nämlich  eine  dem  Patrikius,  also  einem  sehr  späten 
Schriftsteller,  angehörende  Vorschrift,  dort  die  Wiederholung  der 
Vorschriften  für  die  Vielecksberechnung,  die  Wiederholung  der  ge- 
schichtlichen Bemerkung  über  den  Ursprung  der  Geometrie  mit  kaum 
erwähnenswerten  Varianten,  dort  am  Schlüsse  wieder  eine  Maßtabelle 
zu  finden. 

Eine  andere  Schrift  heißt  Geodäsie.  Auch  sie  beginnt  mit 
Definitionen,  mit  einer  historischen  Notiz,  mit  Maßvergleichungen; 
auch  sie  berechnet  den  Flächeninhalt  von  Quadraten  und  Rechtecken, 


390  19.  Kapitel. 

bevor  sie  zum  Dreiecke  sich  wendet,  und  zwar  wieder  zum  recht- 
winkligen Dreiecke,  welches  nach  Pythagoras  und  Piaton  aus  ganz- 
zahligen Seiten  bestehen  kann,  zu  den  aneinanderhängenden  Drei- 
ecken, zu  dem  gleichseitigen,  zu  dem  beliebigen  Dreiecke,  bei  welchem 
die  heronische  Formel  den  Schluß  bildet. 

Die  sogenannte  Stereometrie  ist  begreiflicherweise  wesentlich 
anderen  Inhaltes.  Hier  sind  es  Rauminhalte  von  Körpern  und  Körper- 
oberflächen, welche  den  Gegenstand  der  Berechnungen  bilden.  Die 
Kugel,  der  Kegel,  der  abgestumpfte  Kegel,  der  in  langgestreckter 
Form  bald  Obelisk,  bald  Säule  heißt,  der  Zylinder  geben  Beispiele, 
bevor  zu  den  allseitig  eben  abgegrenzten  Körpern:  Würfel,  Parallel- 
epipedon,  Keil  übergegangen  wird,  als  dessen  nicht  ganz  deutlich  be- 
schriebene Sonderfälle  wohl  der  Huf,  der  Mäuseschwanz,  der  Ziegel 
zu  betrachten  sind.  Fast  eben  diese,  aber  auch  andere  eben  begrenzte 
Körper  erscheinen  sofort  noch  einmal  als  Pyramiden  mit  quadra- 
tischer, mit  rechteckiger,  gleichseitig  dreieckiger,  mit  rechtwinklig 
dreieckiger  Grundfläche,  jede  derselben  sowohl  ganz  als  abgestumpft 
der  Untersuchung  unterworfen.  Dann  kommen  mancherlei  der  Praxis, 
aber  nicht  der  eigentlichen  Stereometrie  angehörige  Körperformen 
an  die  Reihe.  Von  dem  Inhalt  einer  Muschel,  einer  Schale,  von  dem 
Umfange  eines  Amphitheaters  und  von  der  Menschenmenge,  welche 
ein  Zuschauerraum  fassen  kann  unter  der  Annahme,  daß  die  Bänke 
sich  nach  dem  Gesetz  einer  arithmetischen  Reihe  verjüngen,  von 
Speisesälen  und  Badezimmern,  von  Brunnen,  von  Kufen  und  Butten, 
von  TransportschiflFen  ist  die  Rede,  und  wo  man  bei  der  Berechnung 
über  die  aus  den  Namen  nicht  mit  genügender  Klarheit  hervorgehende 
Gestalt  sich  Rats  erholen  will,  läßt  jene  uns  meistenteils  erst  recht 
im  Stiche. 

Eine  zweite  Sammlung  mit  der  Überschrift  als  Stereometrie 
und  dem  Yerfassernamen  Herons  gibt  auch  nur  meist  zweifelhafte 
Ergebnisse,  bald  mit  denen  der  ersten  Sammlung  übereinstimmend, 
bald  ihnen  widersprechend.  Die  Reihenfolge  ist  dahin  verändert,  daß 
hier  rätselhafte  Körperformen,  die  selbst  nicht  durchweg  die  gleichen 
wie  die  der  ersten  Sammlung  sind,  die  Reihe  eröflFnen.  Zwischen- 
drein  ist  die  Messung  der  Höhe  einer  Säule  mittels  ihres  Schattens 
angegeben,  das  erstmalige  Auftreten  dieser  von  Thaies  (S.  138)  her- 
rührenden Methode  in  einem  geometrischen  Werke.  Die  Schatten 
der  Säule  sowie  eines  seiner  Länge  nach  bekannten  Stabes  werden 
gemessen,  und  dann  wird  die  Proportion  Stabschatten :  Säulenschatten 
=  Stab :  Säule  in  Anwendung  gebracht.  Nun  folgen  erst  Pyramiden, 
und  zwar  solche  auf  rechtwinklig  dreieckiger  oder  gleichseitig  drei- 
eckiger Grundlage  und  solche,  deren  Grundflächen  regelmäßige  Fünf- 


Heron  von  Alexandria.    (Fortsetzung.)  391 

ecke^  Sechsecke  und  Achtecke  sind.  Nach  einer  unYerständlichen 
StnfeDpyramide  kommt  der  Satz^  daß  jede  Pyramide  der  dritte  Teil 
des  Prisma  von  gleicher  Grundfläche  und  Höhe  ist^  worauf  mit  der 
Berechnung  einer  abgestumpften  Pyramide  auf  rechteckiger  Grundfläche 
unter  dem  Namen  Altarstufe  und  mit  der  gegenseitigen  Multipli- 
kation von  Langenmaßen  zu  Flächenmaßen  diese  Stereometrie  ab- 
schließt. 

Ausmessungen  haben  wir  den  Titel  (lergrlöBig  einer  weiteren 
Schrift  heronischen  Namens  übersetzt^  welche  ungleich  den  vorigen, 
denen  doch  annähernd  gleichartige  Probleme  zum  Gegenstande  dienen, 
bald  Flächen,  bald  Körperinhalte  durcheinander  gewürfelt  in  zwei- 
maliger Abwechslung  darbietet.  Zuerst  erscheinen  nämlich  Körper, 
dann  Flächen,  dann  wieder  Körper,  zuletzt  Flächen.  Wir  heben  aus 
der  wirren  Sammlung  nur  hervor,  daß  auch  hier  wieder  Körper 
eigener  Art  auftreten,  zu  deren  Verständnis  noch  gar  manches  fehlt, 
und  daß  zwischen  die  Inhaltsberechnungen  auch  Brunnenaufgaben  ein- 
geschaltet sind,  d.  h.  Aufgaben,  in  welchen  die  Zeit  gesucht  wird, 
binnen  welcher  eine  Zisterne  durch  mehrere  Röhren  gefUlt  werden 
kann,  wenn  man  weiß,  wie  lange  die  Füllung  durch  jede  einzelne 
Eöhre  dauern  würde. 

Die  letzte  heronische  Sammlung,  das  Buch  des  Landbaues, 
yarjxovixbv  ßißklov,  geht  aus  von  Definitionen.  Ihnen  folgen  Flächen- 
ausmessungen mancherlei  Vierecke  und  Dreiecke,  wobei  die  Vierecke 
den  Dreiecken  vorangehen,  sowie  rechnende  Auflösung  von  Aufgaben, 
in  welchen  Kreise  vorkommen.  Nach  Ausrechnung  der  Pyramiden 
auf  quadratischer  Grundfläche  kehrt  die  Sammlung  zu  ebenen  Auf- 
gaben, zu  den  Durchmessern  der  dem  regelmäßigen  Fünfecke  und 
Sechsecke  umschriebenen  Kreise  zurück.  Wieder  erscheinen  Auf- 
gaben, welche,  dem  Gegenstande  nach  unerwartet,  Einschaltungen 
sein  könnten,  und  die  sich  auf  die  Auffindung  von  Rechtecken  be- 
ziehen, deren  Umfange  sowie  deren  Inhalt  in  gegebenem  Zahlenver- 
hältnisse stehen  sollen,  Aufgaben,  welche  also  eigentlich  zahlen- 
theoretischer Natur  freilich  in  planimetrischer  Einkleidung  sind,  so 
daß  die  Unterbrechung  des  Gedankenganges  nicht  allzu  auffällig  und 
die  Rückkehr  zu  wirklich  geometrischen  Aufgaben  vom  Rhombus, 
vom  Rechtecke,  von  regelmäßigen  Vielecken,  von  Kreisen  eine  leichte 
ist.  Nur  einmal  gegen  das  Ende  der  Sammlung  kehren  stereome- 
trische Aufgaben  wieder,  welche  aber  auf  Fässer  und  Fruchtmaße 
eigentümlicher  Gestalt  bezüglich  dem  Buche  des  Landbaues  nicht 
ganz  unangemessen  erscheinen.  Den  Schluß  bilden  Vergleichungen 
zwischen  Kubikfußen  und  Fruchtmaßen. 

Das  ist  in  dürftiger,  keineswegs  erschöpfender,  aber  eben  deshalb 


392  19.  Kapitel. 

vielleicbt  übersichtlicher  Zusammenstellung  die  Reihenfolge  der  Gegen- 
stände^ welche  in  den  verschiedenen  heronischen  Sammlungen  be- 
handelt sind.  Die  Geometrie  und  die  Geodäsie  lehnen  sich^  insbeson- 
dere die  Geometrie,  eng  an  den  Stoff  des  ersten  Buches  der  Ver-- 
messungslehre,  die  beiden  Bücher  der  Stereometrie  an  den  von  dessen 
zweitem  Buch^  die  Ausmessungen  und  das  Buch  des  Landbaues  an 
den  der  beiden  ersten  Bücher.  Von  dem  dritten  Buche  der  Ver- 
messungslehre ist  nirgend  eine  Spur  zu  finden.  Wenn  wir  eine  An- 
lehnung an  den  Stoff  der  beiden  ersten  Bücher  der  Vermessungslehre 
behaupten,  so  will  dieses  keineswegs  sagen,  nur  das  dort  Gelehrte 
und  alles  dort  Gelehrte  kehre  wieder,  vielmehr  sind  auch  Dinge  be- 
handelt, deren  wir  in  unserer  bisherigen  Darstellung  keine  Erwähnung 
zu  tun  hatten  weder  als  wir  von  der  Vermessimgslehre,  noch  als  wir 
von  der  Abhandlung  über  die  Dioptra  sprachen. 

Sollen  wir  aus  diesen  Ähnlichkeiten  und  Unähnlichkeiten  die 
Folgerung  ziehen,  sämtliche  soeben  unter  besonderen  Titeln  genannten 
Sammlungen  seien  nur  späte  byzantinische  Überarbeitungen  der  Ver- 
messungslehre ^)?  Überarbeitungen  müssen  uns  allerdings  vorliegen, 
denn  die  Ähnlichkeit  mit  dem  Stoffe  der  Vermessungslehre  ist  zu 
groß,  um  von  ihr  durchaus  unabhängige  Schriften  anzunehmen,  und 
die  Unähnlichkeit  wieder  zu  groß,  um  an  bei  einer  bloßen  Abschrift 
mögliche  Veränderungen  zu  denken.  Aber  die  folgerichtige  Dar- 
stellung, das  ungezwungene  Sicheinordnen  des  Neuen  in  das  Alte 
nötigen  uns  nach  unsefem  persönlichen  Gefühle  an  einen  älteren  und 
ebenbürtigeren  Bearbeiter  Herons  zu  denken  als  die  byzantinische  Zeit 
erzeugt  hat.  Jedenfalls  möchten  wir  aus  der  erwähnten  Vollwertig- 
keit der  Einschaltungen  den  Schluß  ziehen,  der  Bearbeiter  habe  Hero- 
nisches  in  Heronisches  eingeschaltet. 

Woher  dieses  stammte?  Wir  wissen  es  vorläufig  noch  nicht. 
Wir  wissen  nur,  daß  an  zwei  nicht  allzuweit  voneinander  entfernten 
Stellen  der  Geometrie*)  von  einem  anderen  Buche  Herons  —  iv 
äkkcD  ßißUm  "Hgcivog  —  die  Bede  ist,  und  dieses  andere  Buch,  mög- 
licherweise die  Vermessungslehre,  wird  der  Bearbeiter  vor  sich  ge- 
habt haben  neben  seiner  Hauptvorlage,  die  vielleicht,  wie  wir  schüch- 
tern und  zweifelnd  hinzusetzen,  aus  einer  neben  der  Vermessungs- 
lehre zu  gebrauchenden  Aufgabensammlung  bestand.  Für  die  anderen 
heronischen  Sammlungen  hat  man  wahrscheinlich  andere  Bearbeiter 
anzunehmen  von  geringerer  mathematischer  Befähigung,  denen  aber 


>}  Heiberg,  Mathematik,  Mechanik  und  Astronomie  (in  Eroll,  Die  Alter- 
tumswissenschaft) S.  131  unten.  ')  Heron  (ed.  Hui t seh)  pag.  131  lin.  14  und 
pag.  134  lin.  8  und  15. 


Heron  von  Alexandria.    (Fortsetzting.)  393 

doch  alte  Vorlagen  zu  Gebote  standen^  vielleicht  noch  solche^  welche 
älter  als  Heron  waren. 

Wir  müssen  rechtfertigen^  warum  wir  in  der  Yermessungslehre 
ifiöglicherweise  das  andere  Buch  Herons  vermuten.  Wir  berufen  uns 
auf  unseren  Auszug  aus  der  Yermessungslehre  (S.  376).     Dort  sagten 

wir,  Heron  lehre  Fr^^-^a^  mit  der  Zusatzbemerktmg,  dieser  Wert 

hänge  von  "j/ö  =  —  ab;  werde  ein  genauerer  Wert  von  Yb  in  Rechnung 

gezogen,  so  könne  man  auch  einen  genaueren  Wert  von  JPg  ermitteln. 

Für  JPg  aber  ist  in  der  Vermessungslehre  JPg  =  6  •  ^  a^*  angegeben, 

weil  das  Sechseck  das  Sechsfache  des  über  a^  beschriebenen  gleich- 

seit^en  Dreiecks  sei.   In  der  Geometrie  wird  in  erster  Linie  F^  =  -  -  a^ 

gesetzt,  während  das  andere  Buch  JPg  =  --  a^^  vorschreibe,    und    für 

13 

das  Sechseck  lehrt  die  Geometrie  jPg»-7-^6^'    während    das    andere 

-ö  +  tk)  rechnen^).  Dieser  letztere 

Wert  ist  ja  an  und  für  sich  genau  der  gleiche  wie  der  erste,  aber 
er  läßt  die  Versechsfachung  deutlich  hervortreten,  die  im  ersten  Werte 
verhüllt  ist.  Die  andere  Stelle,  wo  von  dem  anderen  Buche  Herons 
die  Rede  ist^),  ist  weniger  beweiskräftig,  denn  sie  benutzt  zur  Kreis- 

22 

messung  ^  =  -=-,  während  der  gleiche  Wert  auch  an  solchen  Stellen 

der  Geometrie  in  Anwendung  tritt,  welche  sich  nicht  auf  das  andere 
Buch  berufen. 

Für  beweiskräftig  halten  wir  dagegen  die  Verschiedenheiten  der 
Geometrie  von  der  Vermessungslehre.  Die  Geometrie  beginnt  mit 
Definitionen,  welche  beiläufig  bemerkt  der  Einführung  in  die  Geo- 
metrie') entnommen  sein  wollen  und  mit  dem  Buche  der  Definitionen, 
von  welchem  am  Anfange  dieses  Kapitels  die  Rede  war,  nicht  überein- 
stimmen. Daim  folgen  Maßtabellen*).  Von  beidem  ist  in  der  Ver- 
messungslehre keine  Spur  zu  finden.  Die  Vermessungslehre  gibt  Be- 
weise für  die  anzuwendenden  Formeln,  die  Geometrie  begnügt  sich 
mit  deutlich  vollzogenen  Rechnungen,  aus  welchen  der  Leser  sich 
erst  die  benutzte,  aber  nicht  bewiesene  Formel  herausschälen  muß. 
Die  Geometrie  beginnt  die  Anweisung,  wie  man  rechnen  solle,  mit 
den  Worten^):   noCsi  ovrag,   mache  es  so,  in  der  Vermessungslehre 

^)  Heron  (ed.  Hultsch)  pag.  184.  *)  Ebenda  pag.  131  ggog  nv^Xov  ivgs- 
&bIs  iv  &lX<p  ßißUß)  ro'D  '^JfpcDvoff.  ')  Ebenda  pag.  44  slgaytoyal  t&v  yBtoitstQov^ 
tiivcDv.  *)  Ebenda  pag.  47—49.  ')  Ebenda  pag.  61  Un.  28—52  lin.  1  und  an 
vielen  anderen  Stellen. 


394  Id.  Kapitel. 

sind  für  den  gleichen  Zweck  zwei  Redensarten  in  Gebrauch:  fi  dh 
(isdodög  iöXLV  axrcq^  folgendes  ist  die  Methode,  und  övvxeBif^östM 
iaiokovdmg  tf}  ävalvöei  omag,  der  Analyse  gemäß  wird  so  gerechnet, 
uns  will  scheinen^  daß  diese  Verschiedenheiten  ausreichen,  um  die 
Behauptung  zu  begründen^  daß  wer  die  Geometrie  zusammenstellte; 
die  VermessuDgslehre  unmöglich  als  Hauptvorlage^  sondern  nur  ge- 
legentlich als  ErgänzungSYorlage  benutzt  haben  kann^  und  das  war 
eben  mit  dem  sogenannten  ^^anderen  Buche  Herons^  der  Fall,  war  der 
Fall  in  besonders  nachweisbaren  Stellen^  und  mithin  glauben  wir 
jetzt  den  Beweis  geradezu  geliefert^  daß  die  Yermessungslehre  das 
andere  Buch  war. 

Und  die  Hauptquelle  der  Geometrie?  Wir  werden  jetzt  wohl 
etwas  weniger  schüchtern  annehmen  dürfen  ^  ös  sei  eine  Aufgaben- 
sammlung gewesen^  werden  jedenfalls  behaupten  können,  die  Haupt- 
vorläge  habe  eine  täuschende  Ähnlichkeit  mit  dem  Rechenbuche  des 
Ahm  es  besessen,  das  konservative  Ägypten  habe  die  alte  Form  auf- 
bewahrt;  wenn  es  derselben  auch  zum  Teil  einen  neuen  Inhalt  gab. 
Wir  haben  soeben  das  xout  ovrcog  der  Geometrie  erwähnt,  Ahmes 
sagte:  mache  wie  geschieht  (S.  60).  Wir  haben  die  dem  Leser  auf- 
erlegte Pflicht  die  Rechnungsvorschrift  den  Rechnungen  zu  entnehmen 
bei  der  Geometrie  kennen  gelernt,  Ahmes  nötigte  seine  Leser  zu  der 
gleichen  Gedankenarbeit. 

Merit  heißt  bei  Ahmes  die  obere  Linie  einer  gezeichneten  Figur 
(S.  93);  Scheitellinie,  xogvfprly  nennt  sie  Heron  und  definiert  geradezu, 
Scheitellinie  sei  die  oberhalb  der  Grundlinie  hingelegte  Gerade^). 
Das  gleichschenklige  Paralleltrapez  war  seit  Ahmes  bis  zu  den  Edfu- 
Inschriften  eine  von  den  Ägyptern  bevorzugte  Figur  (S.  96  und  108); 
Heron  widmete  derselben  Figur  in  der  Geometrie  neun  aufeinander- 
folgende EapiteP).  Ahmes  zerlegte  Figuren  durch  Hilfslinien  in 
Figuren  einfacherer  Natur,  wie  es  scheint,  wenn  auch  die  genaue 
Übersetzung  der  betreffenden  Aufgaben  noch  nicht  möglich  ist;  die 
Tempelvorsteher  von  Edfu  übten  dieselbe  Zerlegung  bei  Berechnung 
ihrer  Felder;  Heron  bedient  sich  der  Zerlegung  durch  Hilfslinien  zur 
Messung  von  unregelmäßig  begrenzten  Grundstücken  in  der  Abband- 
lung  von  der  Dioptra,  löst  gleicherweise  verschiedentliche  planimetrische 
Aufgaben  in  der  Geometrie.  Bei  den  Ägyptern  heißt  das  Wort  Qa, 
dessen  Hieroglyphe  ein  die  Arme  in  die  Höhe  streckendes  Männchen 
ist,  sowohl  Höhe  als  allgemeiner  die  größte  Ausdehnung  eines  Raum- 


')  Heron,  Oeometria  8  (ed.  HnltBch)  pag.  44  xoifvtpi}  Si  ictiv  ij  inl  rfi 
ßdiSH  i7tixi»ByAv7i  tiy^Bla,  *)  Heron,  Geoineiria  72—80  (ed.  Hultsch)  pag.  103 
bis  108. 


Heron  von  Alexandria,    (Fortsetzung.)  395 

gebildes  (8.  98);  genau  dasselbe  gilt  für  das  Wort  lifjxog  der  Ale- 
xandriner^); bei  Heron  steht  sodann  der  größeren  Höhenabmessung 
die  Breite,  jcXdrogy  als  geringfügigere  Ausdehnung  gegenüber,  wie  be- 
sonders deutlich  aus  einer  Stelle  seiner  Geometrie  hervorgeht,  wo 
nach  Einzeichnung  zerlegender  Hilfslinien  in  eine  Figur,  ohne  daß 
eine  Drehung  vorgenommen  wäre,  plötzlich  Höhe  heißt,  was  in  der 
ungeteilten  Figur  Breite  war^),  oflFenbar  nur  deswegen,  weil  durch  die 
Teilung  die  wirkliche  Höhe  abnahm,  so  daß  sie  geringer  als  die  un- 
verändert gebliebene  Breite  wurde.  Bei  Ahmes  war  von  Flächen  zu- 
erst das  Quadrat,  dann  das  Dreieck,  dann  das  aus  dem  Dreiecke 
durch  Abstumpfung  gewonnene  Trapez  zur  Ausmessung  gebracht 
(S.  96);  in  den  Edfuinschriften  ergab  sich  eine  Veränderung  dahin, 
daß  das  Dreieck  als  Trapez  mit  einer  verschwindenden  Seite  aufgefaßt 
wurde  (S.  111);  Heron  bleibt  dem  Beispiele  des  Ahmes  getreuer  als 
selbst  die  priesterlichen  Landsleute:  bei  ihm  geht,  wie  wir  bei  flüch- 
tiger Schilderung  der  Reihenfolge  der  in  seinen  Schriften  behandelten 
Gegenstände  wiederholt  bemerken  mußten,  die  Flächenausmessung  des 
Quadrats,  denmächst  auch  des  Rechteckes  voraus;  ihnen  folgt  das 
Dreieck  in  seinen  verschiedenen  Formen,  und  nach  diesem  kehrt  die 
Betrachtung  zum  Trapeze  und  zu  anderen  Vierecken  zurück,  dieselben 
zwar  nicht  als  abgestumpfte  Dreiecke  untersuchend,  aber  Verwand- 
lungen und  Teilungen  durch  Hilfslinien  mannigfach  vornehmend,  wie 
wir  schon  betont  haben.  Ahmes  hat,  worauf  wir  wiederholt  gleich- 
falls aufmerksam  machen,  Maßvergleichungen  (S.  90),  Heron  des- 
gleichen.    Ahmes  bedient  sich  ausschließlich   der   Stammbrüche,  zu 

2 
welchen  auch  y  gezählt  wird  (S.  61);  Heron   verfährt   vorzugsweise 

ebenso,  wenn  er  auch  imstande  ist,  Brüche  mit  beliebigem  Zähler 
und  Nenner  in  Rechnung  zu  bringen,  ohne  sie  vorher  in  eine  Summe 
von  Stammbrüchen  zu  zerlegen.     Die  Hauaufgabe  Nr.  28.  des  Ahmes 

2  1 

(S.  75)  hat  den  Wortlaut  „y  hinzu,    -  hinweg  bleibt  10  übrig'*;  wir 

erklärten  sie  durch  (x  +  y^)  "~  "a  (^  +  y^)  "^  1^5  ^*^  vergleiche 
damit  etwa  die  Art,  wie  in  den  Ausmessungen  ein  Kreisbogen  aus 
Sehne  imd  Höhe  desselben  berechnet  wird^):  „Es  sei  ein  Abschnitt, 
und  er  habe  die  Grundlinie  von  40  Fuß,  die  Höhe  von  10  Fuß; 
seinen  umfang  zu  finden.     Mache  es  so.     Füge  immer  Durchmesser^) 

')  In  der  Geographie  des  Ptolemäus  I,  6  (ed.  Halma)  pag.  17  heißt  es 
ausdrücklich  xad'6Xov  ^kv  rf  iitl^ovi  r&v  dirccatdesav  Ttgoadntopbsv  rh  n^xog. 
*)  Heron,  Geometria  47,  4S  (ed.  Hnltsch)  pag.  8S.  ')  Heron,  Mensimie  33 
lidtgriö^s  krigov  ttiriiucTos  (ed.  Hultsch)  pag.  199 — 200.  *)  Soll  heißen: 
Grandlinie. 


396  Id.  Kapitel. 

und  Höhe  zusammen.  Es  entstehen  50  Faß.  Nimm  allgemein  davon 
~  weg.    Es  ist  ISy.     Rest  STy.      Zu    diesen    füge    allgemein   -j- 

hinzu.     Es  ist  9-r--^.     Setze  zusammen.     Es   sind  Fuße   46— -p-^. 

So  viel  mißt  der  Umfang  des  Abschnittes.  Wir  haben  aber  ein 
Viertel  weggenommen  und  ein  Viertel  hinzugefügt,  weil  ein  Viertel 
der  Teil  ist  der  Höhe  von  der  Grundlinie.^'  Als  Gleichung  übersieht 
sich  diese  Vorschrift  noch  deutlicher  in  ihrer  Ähnlichkeit  zu  der 
Ausdrucksweise  des  Ahmes.     Sie  lautet 

JB=[(s  +  Ä)-A(s  +  Ä)]  +  A[(s  +  Ä)-A(s  +  A)], 

wenn  $  die  Sehne,  h  die  Höhe,  B  die  Bogenlänge  des  betreffenden 
Abschnittes  bedeutet.     An  und  für  sich  ist  die  Formel  bis  zur  ün- 

brauchbarkeit  ungenau.     Sie  geht  bei  s  =  2r,  Ä  =  r  in  B^  ~  über, 

welches,  da  der  Halbkreis  die  Länge  nr  besitzt,  die  Annahme  jc  =  3,25 
in  sich  schließt,  aber  es  kam  uns  bei  Hervorhebung  dieser  Stelle  nur 
darauf  an,  die  Formverwandtschaft  der  heronischen  Sammlungen,  hier 
der  „Ausmessungen^^,  mit  dem  Rechenbuche  des  Ahmes  recht  deut- 
lich hervortreten  zu  lassen. 

Alle  diese  Ähnlichkeiten  vereinigt  dürften  jeglichen  Zweifel  an 
einer  unmittelbaren  Abhängigkeit  Herons  von  altägyptischen  Form- 
gewohnheiten vernichten.  Was  wir  früher  (S.  276)  schon  ankündigten, 
hat  sich  bestätigt:  die  Form  der  arithmetisch-geometrischen  Beispiels- 
sammlung, eine  in  sich  abgeschlossene  von  der  anderer  Werke  sich 
wesentlich  unterscheidende  Form  ist  durch  und  durch  ungriechisch, 
ist  altägyptisch,  und  damit  gewinnt  die  andere  Vermutung  erneuerte 
Wahrscheinlichkeit,  es  dürfte  mit  der  Form  des  theoretisch-geometri- 
schen Lehrbuches,  mit  der  Form  der  Elemente,  sich  ganz  ebenso 
verhalten. 

Ein  anderes  freilich  gilt  für  den  Inhalt  der  heronischen  Samm- 
lungen, welcher  näher  in  Erwägung  gezogen  neben  mancher  über- 
raschenden Ähnlichkeit  auch  manche  bei  den  Fortschritten,  welche 
die  Geometrie  gemacht  hatte,  ziemlich  selbstverständliche  Abweichungen 
von  dem  ägyptischen  Verfahren  offenbart.  Von  überraschender  Ähn- 
lichkeit   ist    die   Anwendung   der   beiden   Formeln    -*-J-^  X  ^   ^^^ 

^'^•X^^^   (S.  111)   zur  Auffindung  der  Fläche   eines  Dreiecks 

oder  Vierecks,  welche  wir  in  den  Ausmessungen  und  in  dem  Buche 
des  Landbaues  wiederfinden^).     Daß  Heron  sie  gelehrt  haben  sollte, 

*)  Die  Dreiecksformel .  in  den  Metisurae  (ed.  Hultßch)  pag.  207  lin.  1 — 6; 


Heron  von  Alexandria.    (Fortsetzung.)  397 

war  uns  früher  so  unglaublich^  daß  wir  dieselben  für  Einschiebungen 
eines  Eompilators  hielten.  Man  hat  uns  entgegnet  ^)^  es  sei  für 
Heron  umgekehrt  geradezu  unmöglich  gewesen ,  in  Ägypten  in  einer 
vollständigen  Sammlung  von  geometrischen  Bechnungsverfahren  jene 
Formeln  wegzulassen,  und  wir  gestehen  zu^  daß  diese  Umkehrung 
der  geschichtlichen  Wahrheit  wohl  näher  kommen  dürfte  als  unsere 
erste  Meinung.  Wir  neigen  nunmehr  selbst  der  Auffassung  zu,  auch 
diese  theoretisch  zwar  unhaltbaren,  praktisch  aber  mitunter  ganz  er- 
traglichen Naherungsverfahren  habe  Heron  jieben  den  theoretisch 
richtigen  Formeln  gelehrt,  die  meistens  nicht  unmittelbar  zum  Ziele, 
d.  h.  zur  Kenntnis  der  verlangten  Flachenräume  führten,  sondern 
vorher  die  Berechnung  von  Hilfsstrecken,  als  Höhen  und  dergleichen 
nötig  machten.  Vielleicht  mag  sogar  die  vorzugsweise  sogenannte 
heronische  Dreiecksformel  ihre  Entdeckung  dem  Bedürfhisse  verdankt 
haben  aus   den   drei   Dreiecksseiten   unmittelbar,   aber   richtiger   als 

mittels    ^  1"  *  X   -  die  Dreiecksfläche  zu  gewinnen. 

Einen  wesentlichen  Nachteil  besaß  freilich  in  den  Augen  des 
handwerksmäßigen  Feldmessers  die  heronische  Formel  gegenüber 
der  der  Ägypter:  sie  verlangte  eine  Wurzelausziehung.  Die  Aus- 
führung dieser  Operation  überschritt,  wie  wir  wissen,  die  Höhe  des 
gemeinen  Rechnens.  Schriftstellerische  Arbeiten  wurden  ihr  gewidmet, 
von  deren  einstigem  Vorhandensein  wir  Kenntnis  erlangt  haben, 
wenn  sie  auch  selbst  uns  verloren  sind.  Um  eine  solche  vielen  Miß- 
behagen erzeugende  Rechnungsaufgabe  herumzukommen  war  fast  Not- 
wendigkeit, wenn  Praktiker  mit  der  Ausführung  betraut  gewesen 
wären,  und  so  blieben  Näherungswerte  für  häufig  auftretende  ein 
für  allemal  berechnete  Quadratwurzeln  in  Gebrauch.     Wir  haben  in 

■j/2  =  y  ein  Beispiel  kennen  gelernt,  welches  (S.  223)  vielleicht  schon 
zu    Piatons    Zeit    in    Übung    war,    wir    haben    auch   )/3  =  -r-    und 

/ —       26 

yS  ^j=  hervorgehoben,  auf  dessen  Entstehung  wir  (S.  373)  vielleicht 
einiges  Licht  werfen  durften,  wenn  wir  auch  jetzt  andere  Entstehungs- 
weisen der  Werte  von  >/3  wahrscheinlicher  machen  können.     "j/S  =   . 

ist  mittels  der  heronischen  Methode  zu  gewinnen  als  "(/S  ==  2  -j-  -^ 


die  Viereckflformel  in  dem  Lxber  Geeponicw  (ed.  Hultsch)  pag.  212  lin.   15 
bis  21. 

')  Agrimensoren  43  und  dagegen  S.  Günther  in  der  Beilage   zur  Allge- 
meinen Zeitung  Nr.  81,  vom  21.  März  1876. 


398  19.  Kapiiel. 

=  2  —  -  =  -T-  und  yo  =  ^^  mittels  des  doppelten  falschen  Ansatzes. 

7  /  7  \^  1 

Wenn  nämlich  x^ «  -r^f  ^2  —  ^7  ^^  i^*  ^1  "^  ("4")  ~"  ^  ^  i6>    ^  "^  (^)* 

J. 1-2.1     !? 

-  3  =  1  und  5L^t^:L^  =  i 1!  =  -S-  -  S-   AUe  dieseNähe- 

d^  —  a,  1  16         16 

""  16  16 

rangswerte  hat  Heron  anzuwenden  nicht  verschmäht,  er,  der  doch 
unter  die  Schriftsteller  zählt,  die  üher  Ausziehung  der  Quadratwurzeln 
schrieben. 

Den  Näherungswert  7/2  =  -  glauben  wir  im  Buche  des  Land- 
baues an  zwei  verschiedenen  Stellen  zu  erkennen^).  Die  erstere  Stelle 
behandelt  das  rechtwinklige  Dreieck  von  den  Seiten  30,  40,  50,  bei 
welchem  50  «=  l/30*  +  40^   sei;    aber,   heißt   es    weiter,    es    ist   auch 

50  =  (30  +  40)  •  5  •  Y'    ^^  ™*^  diese  Ausrechnung  nicht  für  baren 

Unsinn  nehmen,  so  kann  man  ihre  Entstehung  nur  folgendermaßen 
erklären.     Im  gleichschenklig  rechtwinkligen  Dreiecke  von  den  Seiten 

c,  c,  A  ist  Ä  =  c  •  "|/2  «— i=:  =  ^"J"^  =  (c  +  c)  •5'Y.     Daraus   wurde 

5 

nun  weiter  geschlossen,  daß  auch  bei  ungleichen  Katheten  q  und  c^ 
gerechnet  werden  dürfe  Ä  =»  (c^  +  Cg)  •  5  •  y  7  ®^  Schluß,  der  uns  bei 

Leuten,  die  gewohnt  waren,  in  ungerechtfertigter  Weise  arithmetische 
Mittel  ungleicher  Seiten  einer  Figur  in  Rechnung  zu  ziehen,  nicht 
sonderlich  auffallen  kann.  Die  andere  Stelle  werden  wir  weiter  unten 
besprechen. 

Die  Anwendung,  welche  Heron  von  )/3  —  -  macht,  tritt  bei  den 
auf  das  gleichseitige  Dreieck  bezüglichen  Aufgaben  hervor.  Die  Höhe 
desselben   ist   offenbar  gleich  dem  Produkte  der  Seite  in  ^V^  ^^^ 

dafür  setzt  Heron  — ,  sei  es  nun,  daß  er  dafür  —  —  .  sei  es,  daß 
er  1 "~  TÄ  ~"  8Ö  ^^^^  schreibt.  Die  Höhe  des  gleichseitigen  Drei- 
ecks, sagt  er  ausdrücklich^),  sei  1  —  ^^  —  äö™^  ^®^  Seite,  und  die 

andere  Wertform  ist  in  der  wiederholt  auftretenden  Angabe  enthalten, 
die  Fläche  des  gleichseitigen  Dreiecks,  mithin  das  Produkt  der  Seite 


*)  Heron,  lAber  Geeponicus  60  und  162—153  (ed.  Hultsch)  pag.  212, 
lin.  28—80  und  pag.  226,  lin.  9—16.  *)  Heron,  Oeometria  16  (ed.  Hultsch) 
pag.  68,  lin.  26—28. 


Heron  von  Alexandria.    (Fortsetzung.)  399 

in  die  halbe  Höhe,  sei  —--^  vom  Quadrat  der  Seite  ^).     Namentlich 

o  lU 

die  Form  der  letzteren  Vorschrift  kehrt  bei  Nachahmern  Herons  fort- 
während wieder. 

Für  spätere  Vergleichungen  müssen  wir  auch  die  bei  Heron  vor- 
kommenden aneinanderhängenden  rechtwinkligen  Dreiecke'), 
xQCyava  6Q0oy6via  'fiv(0(ieva^)y  uns  merken,  worunter  mutmaßlich 
zwei  rechtwinklige  Dreiecke  mit  rationalen  Seiten  gemeint  sind,  welche 
eine  Kathete  gleich  haben,  und  an  dieser  zusammenstoßen,  so  daß 
die  beiden  anderen  Katheten  als  gegenseitige  geradlinige  Fortsetzungen 
voneinander  erscheinen. 

Bei  der  Dreiecksberechnung  finden  der  Abschnitt,  ibroro/ii^, 
und  die  Überragung,  ixßXrjOslöay  häufige  Anwendung.  Bedeuten 
b  die  Grundlinie,  a,  c  die  beiden  anderen  Seiten  des  Dreiecks  und 
a,  B  den  Abschnitt,   die  Überragung  von  der  einen  oder  der  anderen 

J«_L  flt ^1 

Richtung   her   an   a   anstoßend,   so   rechnet   Heron   « «  "2b ' 

'- 26 

Die  Formeln  für  den  Flächeninhalt  regelmäßiger  Vielecke  sind 
der  Vermessungslehre  und  den  heronischen  Sammlungen*)  gemeinsam, 
wie  wir  (S.  393)  genauer  zu  erörtern  genötigt  waren,  und  wir  wissen, 
daß  wenigstens  für  das  Neuneck  und  das  Elfeck  das  Buch  von  den 
Geraden  im  Kreise  benutzt  wurde,  daß  wir  die  ältesten  auf  uns  ge- 
kommenen trigonometrischen  Formeln  vor  uns  haben. 

Außer  dem  Flächeninhalt  des  regelmäßigen  necks  war  unter 
allen  Umständen  der  Halbmesser  r,  der  Durchmesser  d  des  um- 
schriebenen Kreises  von  Wichtigkeit.    Offenbar  lehrte  die  Sehnentafel 

durch  einfaches  Nachschlagen  a^  «  -^  und  so  wird  der  heronische 
Ursprung  der  im  Buch  des  Landbaues  sich  vorfindenden^)  Formeln 
a^^'—  und  d  =  — ^- ,  noch  dazu  durch  einen  Mangel  an  Folge- 
richtigkeit bei  n  =  8  entstellt,  indem  es  a^  »  —  heißt,  ungemein  ver- 

dächtig.  Nur  bei  n  =»  6  ist  «e  ^  ^  ^  "^  ?  *^®^  ^^®  Ausdehnung  dieses 
einen    zufälligen   Ergebnisses    zur   allgemeinen   Formel   kann    Heron 


*)  Heron,  Geametria  14  und  Geodaesia  13  (ed.  Hultsch)  pag.  68  und  147. 
*)  Heron,  Geometria  13,  4  und  Geodaesia  12,  4  (ed.  Hultsch)  pag.  68  und  147. 
>)  Das  selten  yorkommende  i^vaiiivov  ist  von  iv6to  abzuleiten,  welches  selbst  von 
iv  (eins)  abstammt  und  vereinigen  heißt.  *)  Heron,  Geometria  102,  Mensurae 
61—63,  Liber  Geeponicw  76^77  und  172—179  (ed.  Hultsch)  pag.  134,  206, 
218,  229.     »)  Heron,  Liber  Geeponicus  146—164  (ed.  Hultsch)  pag.  226-228. 


400  Id.  Kapitel. 

unmöglicli  verschuldet  haben.  Wir  können  die  Überzeugung  dieser 
Unmöglichkeit  selbst  durch  Erinnerung  an  zwei  andere  Angaben 
Herons  über  das  regelmäßige  Achteck  stützen^  welche  ohnehin  der 
Erörterung  unterzogen  werden  müssen. 

In  demselben  Buche  des  Landbaues^  in  welchem  die  falschen 
Formeln  sich  breit  machen^  ist  nur  wenige  Seiten  später  die  Regel 
gegeben  ^)^  man  solle  zur  Konstruktion  eines  regelmäßigen  Achtecks 
sich  eines  Quadrates  mit  seinen  Diagonalen  bedienen.  Die  Hälfte 
der  Diagonale  von  jedem  Endpunkte  des  Quadrates  aus  auf  den 
beiden  in  ihm  zusammentreffenden  Seiten  des  Quadrates  aufgetragen 
liefere  8  Punkte,  welche  miteinander  verbunden  das  regelmäßige 
Achteck  geben. 

Eine  zweite  Angabe  über  das  regelmäßige  Achteck  findet  sich 
in  der  zweiten  stereometrischen  Sammlung  ^^  wo  bei  Gelegenheit  der 
Ausmessung  des  Eörperinhaltes  der  Pyramide  auf  achteckiger  Grund- 
fläche  von   der  Formel   (jj  -  (]/2  fj)'  +  ^)'  +  (^J  Gebrauch 

gemacht  wird. 

Bevor  wir  den  Zusammenhang  dieser  beiden  richtigen  Behaup- 
tungen nachweisen,  wollen  wir  zeigen,  daß  die  letztere  mittels  eines 

Rechenfehlers  zu  der  einen  abweichenden  Achtecksformel  Og  =»  j-  im 
Buche    des  Landbaues   Anlaß   gab.      Setzen   wir   nämlich    ^ 2  »  .- , 

^\^)  "^  vT  ^y  ^^^  ^*  dieser  Wert  das  Quadrat  von  y  sein 
soll,  so  ist  ag  =  -  J.  Daraus  kann  aber  sehr  leicht  irrtümlich 
ag^^jzd  entstanden  sein.     Gibt  man  uns  dieses  zu,  so  ist  hier  die 

zweite  Anwendung  von  )/2  =  —  bei  Heron  nachgewiesen,  welche  wir 

(S.  398)  angekündigt  hatten. 

Man  könnte  freilich  einen  Einwand  erheben,  indem  man  sagte 

d  =  — ttg    führe    zu    -Fg«    -ag*,    während    doch    Heron    Fg  =  ---ag^ 

rechne.  Allein  dieser  Widerspruch  scheint  uns  geduldet  werden  zu 
müssen.  Wir  geben  nämlich  zu  bedenken,  daß  weder  d  noch  ^g 
genau  richtig,  sondern  nur  angenähert  berechnet  sind,  und  daß  die 


^)  Heron,  lAber  Geepanicua  199  lUtgriaig  dxtaymvov  (ed.  Hultsch)  pag.  231. 
^  Heron,  Stereometrica  H,  87  ^vqaiUda  inl  6xtaymvov  ßdösrng  ßsßrixvtav  it^tQ^öai 
(ed.  Hultsch)  pag.  l84  lin.  10—17. 


Heron  von  Alezandria.    (Fortsetzung.)  401 

Einsetzung  eines  Näherungswertes  in  eine  zweite  Näherungsformel 
nicht  immer  zu  den  gleichen  Ergebnissen  führt  ^  wenn  sie  in  einem 
früheren    oder    in    einem    späteren   Augenblicke    erfolgt.     Jedenfalls 

weicht   (?8  =  ^  =  4,833333   von    dem   wahren   Werte   Cg«  4,828427 

24 

weniger  ab  als  Cg  =  y  =  4,800000. 

Die  erwähnte  Konstruktion  des  Achtecks  läßt  sich  mit  Hilfe 
einer  Figur  rechtfertigen,  welche  ein  Einwohner  Ägyptens  oft  zu 
sehen  in  der  Lage  war,  und  deren  Anblick  einen  Mathematiker  um- 
gekehrt auf  die  Erfindung  jener  beiden  Sätze  bringen  konnte.  Die 
Figur,  welche  wir  meinen,  ist  die  (Fig.  14)  zweier  einander  symmetrisch 
durchsetzender  Quadrate,  ein,  wie  wir  uns  erinnern 
(S.  108),  häufiges  Gewebemuster.  Daß  die  Schnitt- 
punkte dieser  Quadratseiten  ein  regelmäßiges  Acht- 
eck in  der  Figur  erscheinen  lassen,  ist  augen- 
scheinlich. Eines  Beweises  bedarf  (Fig.  66)  nur 
die  Behauptung  aß  ^  ßy.    Der  Achteckwinkel  bei 

y  ist  135®,  dessen  Hälfte  ayß,  mithin  67y®.    Femer  Fig.  ee. 

ist  der  Winkel  aßy  die  Hälfte  einös  rechten  Winkels  oder  46®,  und 
demnach  yaß  -  180®  -  67y®  -  45®  =  67^®  -  ayß,  folglich  aß  =  ßy. 
Wir  werden  im  26.  Kapitel  noch  deutlicher  erkennen,  daß  in  der 
Tat  ein  dem  hier  gegebenen  Beweise  sehr  ähnlicher  von  unserer 
Figur  ausgehender  Gedankengang  zu  dem  heronischen  Satze  vom  Acht- 
ecke geführt  haben  muß.  Wenn  wir  heronischen  Satz  sagen,  so 
meinen  wir  begreiflicherweise  einen  solchen,  der  uns  am  frühesten 
bei  Heron  begegnet,  ohne  Herons  Erfindung  für  die  möglicherweise 
noch  ältere  Wahrheit  ausdrücklich  in  Anspruch  zu  nehmen. 

Haben  wir  hier  eine,  wie  sich  herausstellte,  wichtige  Zwischen- 
bemerkung aus  der  zweiten  stereometrischen  Sammlung  in  Betracht  < 
ziehen  dürfen,  so  liefern  uns  die  eigentlich  stereometrischen  Angaben 
als  solche  im  allgemeinen  wenig  Ausbeute.  Es  mag  ja  immerhin 
sein,  daß  eine  Vorschrift,  welche  in  der  Vermessungslehre  (S.  379), 
welche  aber  auch  in  den  Ausmessungen  sich  findet^),  eine  nicht 
regelmäßige  Oberfläche,  etwa  die  einer  Bildsäule  zu  messen,  indem 
man  Leinwand  oder  Papier  herumwickle,  welches  dann  ausgebreitet 
als  Maß  diene,  uralten  Ursprung  verrate,  viel  wird  mit  diesem  Be- 
wußtsein nicht  gewonnen  sein.  Daß  wir  aber  den  stereometrischen 
Aufgaben  so  wenig  abgewinnen  können,  hat  einen  zweifachen  Grund. 
Bald   steht   ungenügendes  Verständnis,  welche  Körper  eigentlich   ge- 

*)  Heron,  Mensurae  46  (ed.  Hnltsch)  pag.  204. 

Casttob,  Oetohichte  der  Mathematik  I.  S.  Aufl.  26 


402  Id.  Kapitel. 

meint  seien^  hindernd  im  Weg,  bald  die  Tatsache,  daß  recht  viele 
Bechnnngsergebnisse,  auch  wo  sie  verständlich  sind,  sich  als  falsch 
erweisen.  Der  Diorismus,  ob  eine  Aufgabe  wie  die  gestellte  über- 
haupt möglich  sei,  ist  nicht  selten  versäumt.  So  ist  z.  B.  eine  ab- 
gestumpfte Pyramide  mit  rechteckiger  Grundfläche  zur  Ausrechnung 
vorgelegt^),  deren  untere  Fläche  aus  den  Seiten  14  und  20,  die  obere 
aus  den  Seiten  2  und  4  gebildet  wird,  während  dieser  Körper  bei 
mangelnder  Ähnlichkeit  der  beiden  Flächen  gar  nicht  als  Pyramiden- 
stumpf aufgefaßt  werden  kann;  der  Körper  gehört  vielmehr  zu  den- 
jenigen, welche  deutsche  Stereometer  Obelisken  zu  nennen  pflegen. 
Die  räumliche  Ausmessung  der  Obelisken  findet  allerdings  nach  der 
gleichen  Formel  statt,  als  hätte  man  es  mit  einem  Pyramidenstumpf 
zu  tun,  doch  glauben  wir  kaum,  daß  Heron  dieses  schon  wußte  und 
die  Worte  TtVQafilg  TcökovQog  ehovv  iuiireXiig  (abgestumpfte  oder  halb- 
fertige Pyramide)  in  der  Meinung  gebrauchte,  es  sei  hier  von  zweierlei 
die  Rede.  Wer  so  weit  zu  gehen  geneigt  wäre,  müßte  jene  Worte 
übersetzen:  von  Pyramidenstumpfen  und  ihnen  nur  verwandten  Ge- 
staltungen. 

Unmittelbar  vor  dieser  Stelle  ist  eine  andere^),  bei  welcher  der 
mangelnde  Diorismus  zum  erstmaligen  Erscheinen  einer  Quadrat- 
wurzel aus  einer  negativen  Zahl  geführt  hat,'  welches  in  der 
Geschichte  der  Mathematik  hat  nachgewiesen  werden  können.  Der 
Körperinhalt  /  einer  abgestumpften  Pyramide  von  quadratischer  Grund- 
fläche wird  gesucht.  Nennt  man  nun  a^  die  Seite  des  unteren 
größeren,  o^  die  Seite  des  oberen  kleineren  Quadrates,  k  die  Kante 
des  Pyramidenstumpfes,  H  dessen  senkrechte  Höhe,  h  die  Höhe  einer 
der  parallelotrapezischen  Seitenflächen,  so  ist  ofiFenbar 

oder  auch 
und  endlich 

Eine  Ableitung  dieser  Formel  findet  so  wenig  statt  wie  die  irgend 
einer  anderen  (mit  Ausnahme  der  in  der  Abhandlung  über  die  Dioptra 
bewiesenen  heronischen  Dreiecksformel),  aber  sie  wird  in  einem  ersten 
Beispiele,  in  welchem  a^  =  10,  0^  —  2,  Je  ^9  gewählt  ist,  mit  gutem 
Erfolge  angewandt.     Es  erscheint  nämlich 


*)  Heron,  Stereometrica  I,  36  (ed.  Hultsch)  pag.  163.     *)  Heron,  Stereo- 
metrica  I,  33  und  34  (ed.  Hultsch)  pag.  162—163. 


Heron  Yon  Alexandria.    (Fortsetznng.)  405 


JT=  "I/9«  -  1  (10  -  2)»  -  7 
nnd  daraus 

Der  Ghmnd  der  Braachbarkeit  liegt  darin,  daß,  wie  es  aus  der  Formel 
für  H  hervorgeht,  Ä*  >  y  (a^  —  a,)*  sein  muß  und  bei  den  an- 
gewandten Zahlenwerten  auch  ist.  Geometrisch  heißt  das:  ein 
Pyramidenstumpf  mit  quadratischen  Grundflächen  existiert  nur  dann, 
wenn  bei  senkrechter  Projizierung  der  oberen  Flache  auf  die  untere 
zwischen  zwei  benachbarten  Eckpunkten  der  ursprünglich  unteren 
Fläche  und  der  Projektion  eine  Entfernung  obwaltet,  die  kleiner  ist 
als  die  Kante  des  verlangten  Stumpfes.  In  einem  zweiten  Beispiele 
mit  a^  =  28,   a,  =  4,   ifc  =  15   findet   dieses  aber  nicht  statt;  es  ist 

vielmehr  15^  <  —  (28  —  4)1    Der  Rechner,  der  an  der  Formel,  welche 

^unmittelbar  aus  a^,  c^,h  liefert,  diese  Schwierigkeit  bemerkt  haben 
mag  und  sich  ihr  nicht  gewachssen  fühlte,  suchte  sich  durch  einen 

Umweg  über  h  zu  helfen.     Er  rechnete  A  =  1/ 15^  —  i — ~ — j  =  9 , 

worauf  er  JT-  l/p^T^^  "  '^*  ^  ^^^  ^  ^  vreniger  ^  setzte.  Mit 
anderen  Worten:  die  von  Rechtswegen  negative  Diflferenz  81  —  144 
unter  dem  Quadratwurzelzeichen  wird  zur  absoluten  DiflTerenz  der 
beiden  Zahlen  81  und  144;  es  wird  Y  —  1  =  1  gesetzt.  Ob  dieser 
Rechner  Heron  war,  ob  damals  die  Stereometrie  noch  immer  ein 
weniger  übliches  Kapitel  mathematischer  Untersuchungen  bildete  und 
insofern  einem  so  hervorragenden  Manne  der  Fehler  den  Diorismus 
vernachlässigt  zu  haben  begegnen  konnte,  oder  ob  hier  Unwissenheit 
der  Abschreiber  sündigte,  dürfte  nicht  zur  Entscheidung  gebracht 
werden  können.  Welche  von  beiden  Annahmen  aber  auch  der  Wahr- 
heit entsprechen  mag,  unter  allen  Umständen  haben  wir  hier  das 
älteste  Auftreten  des  sogenannten  Imaginären  vor  uns. 

Wenden  wir  uns  zu  den  Beispielen,  in  welchen  der  Kreis  vor- 
kommt, 80  tritt  die  Yerhältniszahl  ^,  welche  fast  bei  allen  solchen 
Kreisaufgaben  eine  Rolle  spielt,  in  zweifachem  Werte  auf.     Weitaus 

22 
am   häufigsten   ist   ?r » y   angenommen,   aber   im   Buche   der  Aus- 
messungen^) ist  regelmäßig  ;t  =  3.    Wir  wissen  aus  unserem  Auszuge 
aus  der  Yermessungslehre,  daß  dort  gesagt  wird,  die  Alten')  6^  iQxaioi, 


^)  Heron,  Mensurae  (ed.  Hultsch)  pag.  188 sqq.      *)  Heron  EI,  pag.  72 
lin.  29. 

26  • 


404  19.  Kapitel. 

hätten  mit  :r  =  3  gerechnet.  Wir  haben  (S.  48)  den  babylonischen 
Ursprung  dieses  Wertes  zu  begründen  gesucht,  der  aber  bei  dem 
regen  Verkehre  zwischen  Babylon  und  Ägypten  auch  in  dieses  letztere 
Land  eingedrungen  sein  mag.     Und  der  ägyptische  Wert^  kann  man 

fragen,  ^^(y)  ^  welchen  Ahmes  angewandt  hat  (S.  98),  kommt  er 

nirgend  vor?  Nein,  und  wenn  es  auch  insgemein  mißlich  ist,  nega- 
tive Erscheinungen  erklären  zu  wollen,  hier  wären  wir  am  wenigsten 
in  Verlegenheit,  einen  einleuchtenden  Grund  anzugeben.   Die  Neuerung 

5t  =  -  -  statt  %  =  ( -Q  j  war  durch  die  größere  Genauigkeit  der  Er- 
gebnisse bedeutsam,  aber  was  die  Rechnungsausfuhrung  betrifft,  kaum 
redenswert.  Ob  der  Praktiker  mit  dieser  oder  mit  jener  gebrochenen 
Zahl  vervielfachte,  das  konnte  ihm  gleich  sein.  Er  mußte  aus  Be- 
quemlichkeit alte  und  neue  angenäherte  Dreiecks-  und  Vierecksformeln 
ohne  Wurzelausziehung  festzuhalten  suchen,  um  jener  für  ihn  schwie- 
rigen Rechnungsoperation  zu   entgehen.     Er  mußte  ;r  »  3  als  ganz- 

2fi6 

zahligen   Multiplikator   vorziehen.     Aber   daß   er   nicht   auf  %  =  — 

22 

zugunsten  von  ä  =»  y  verzichten  sollte,  dafür  gab  es  gar  keinen 
Grund, 

Eine  Stelle,  welche  auf  den  Ereis  sich  bezieht,  verdient  aus 
mehrfachen  Gründen  eine  nähere  Besprechung.  Es  ist  dieselbe  Stelle, 
welcher  wir  (S.  393)  im  voraus  unsere  Aufmerksamkeit  zusicherten, 
als  wir  von  dem  anderen  Buche  Herons  sprachen^).  Es  handelt  sich 
um  Berechnung  des  Ereisdurchmessers  d  aus  der  Summe  S  der  in 
einer  Zahl  vereinigten  Ereisfläche  Kj  Peripherie  P  und  Durchmesser  d 
selbst.  Die  Tatsache  der  durch  S  angedeuteten  Summenbildung  ist 
an  sich  eine  höchst  merkwürdige.  Eine  Flächengröße  und  zwei 
Längenausdehnungen  zu  vereinigen  widerspricht  dem  geometrischen 
Bewußtsein  und  ist  nur  denkbar,  wenn  wir  zugeben,  daß  Heron  hier 
auf  durchaus  algebraischem  Boden  stand,  daß  ihm  die  Zahlenwerte 
als  solche  und  ohne  Rücksicht  auf  ihren  geometrischen  Ursprung 
dienten.  Unter  dieser  Voraussetzung  gestattet  aber  Herons  Rech- 
nungsergebnis  sein   Verfahren   rückwärts    zu   ergänzen.     Er  rechnet 


rf  _  V}^l±^^Lr:^ ,    Bekanntlich  ist  ÜT  ==  -J  d\   P  ^  jtd,   folglich 
ist  S  ^  K  +  P  +  d  ^^  - d^  +  (st  +  l)d,   und   ersetzt   man    7t    hierin 

22 

7 


22 

durch   -  ;  so  ist  die  nach  d  quadratische  Gleichung 


*)  Heron,  Geometria  101,  7—9  (ed.  Hultsch)  pag.  133  lin.  10—28.  Das 
ganze  Kapitel  101  trägt  in  der  ältesten  und  besten  Handschrift  den  Titel: 
8Qog  xvxZov  S'bged'sig  iv  &Xlo}  ßißXltp  roü  '^Hgcovog. 


Heron  von  Alexandria.    (Fortsetzung.)  405 

der  Auflösung  unterbreitet  Nun  sind  von  vornherein  zwei  Wege  zur 
Auflösung  vorhanden.     Entweder  man  dividiert  die  Gleichung  durch 

—  um  eine  neue  Gleichung  zu  erhalten,  in  welcher  das  quadratische 

Glied  den  Koeffizienten  1  besitzt,  oder  man  vervielfacht  die  Gleichung 
mit  einer  derartigen  ganzen  Zahl,  daß  im  Produkte  das  quadratische 
Glied  einen  ganzzahligen  quadratischen  Koeffizienten  besitze,  während 
auch  im  übrigen  nur  ganzzahlige  Koeffizienten  auftreten.  Den  letz- 
teren Weg  wird  vorziehen,  wer  das  Rechnen  mit  Brüchen  so  lange 
als  möglich  hinausschiebt.  Befolgen  wir  ihn,  so  haben  wir  mit  14 
mal  11  zu  vervielfachen  und  erhalten  121  d*  +  638  rf  =  154S,  daraus 
femer  121d«  +  638rf  +  841  =  154S  +  841  oder  (lld  +  29)^  «  154g 
+  841.     Daraus  entsteht  der  Reihe  nach  lld  +  29  -  yi54S  +  841, 

llrf  =  V154S  +  841  ~  29,  endHch  mit  Heron  d  =  Y^EE±^^:z^ . 

Damit  ist  also  der  Beweis  geliefert,  daß  jedenfalls  Heron  die  un- 
reine quadratische  Gleichung  ax^  +  bx  ^  c  bereits  als  Rech- 
nungsaufgabe betrachtete,  wenn  man  Euklid  (S.  285)  und  Ar- 
chimed  (S.  316)  diese  Kenntnis  zuzugestehen  sich  nicht  entschließen 
wollte.  Von  Heron  steht  es  jetzt  fest,  daß  er  die  unreine  quadra- 
tische Gleichung  ax^  +  lx  =^  c  zu  lösen  verstand,  und  daß  die  Er- 
^mzung  zu  einem  vollständigen  Quadrate  auf  beiden  Seiten  des  Gleich- 
heitszeichens so  erfolgte,  daß  (ax  +  y)  ""  ^^  +  (  o  )  K®^®*^*  wurde, 
woraus 

X^  }_^ 

a 

gefolgert  wurde,  nachdem  schon  am  Anfange,  wenn  nötig,  solche 
Multiplikationen  vorgenommen  waren,  welche  a,  &,  c  zu  ganzen  Zahlen 
zu  machen  sich  eigneten. 

Allerdings  setzen  diese  Schlüsse,  deren  große  Tragweite  niemand 
verkennen  wird.  Eines  voraus:  daß  Heron  wirklich  der  Urheber  der 
besprochenen  Aufgabe  samt  ihrer  Auflösung  war.  Wir  sehen  jedoch 
keine  Veranlassung  dieser  Voraussetzung  zu  widersprechen.  Wir 
haben  zu  zeigen  gesucht,  daß  schon  Euklid  unreine  quadratische 
Gleichungen,  allerdings  in  vollständig  geometrischem  Gewände,  nicht 
fremd  waren.  Die  Aufgabe,  an  welche  wir  gegenwärtig  unsere  Folge- 
rungen knüpften,  steht  in  derjenigen  Sammlung  heronischer  Schriften, 
welche  nächst  der  Vermessungslehre  die  verhältnismäßig  größte  Zu- 
verlässigkeit besitzt.     Sie  steht  mitten  unter  anderen  Aufgaben  voll- 


406  20.  Kapitel. 

kommen  heronischen  Gepräges.  Sie  ist  so  gefaßt^  daB  erst  eine  kleine 
Überlegung  die  Überzeugung  beibringen  kann^  daß  die  Stelle  über- 
haupt richtig  ist  und  auf  einer  quadratischen  Gleichung  beruht,  ein 
in  unseren  Augen  sehr  schwer  wiegender  Grund  spätere  Einschiebung 
auszuschließen.  Und  zu  allen  diesen  die  bestimmte  Aufgabe  betreffen- 
den Erwägungen  kommt  eine  allgemeine  Erscheinung  hinzu,  deren 
wiederholter  Erwähnung  wir  uns  nicht  enthalten  können:  die  Ent- 
wicklungen Herons  sind  in  den  verschiedensten  Kapiteln  so  aneinander 
gereiht,  daß  man  sich  dem  Gedanken  nicht  verschließen  kann,  jener 
Mathematiker  habe  eine  Formel  aus  der  anderen  gleichungsmäßig 
hergeleitet,  nicht  eine  jede  für  sich  geometrisch  ermittelt,  und  diese 
Überzeugung  bricht  sich  insbesondere  bei  den  Aufgaben  Bahn,  in 
welchen  der  Ereis  in  Betracht  kommt. 

So  haben  wir  mit  steigender  Achtung  die  Leistungen  Herons 
von  Alexandria  durchmustert,  des  Mannes,  der  es  reichlich  verdiente, 
daß  seine  Schriften  als  Lehrgebäude  der  Geodäsie  durch  viele,  viele 
Jahrhunderte  unmittelbar  oder  mittelbar  ihre  Wirksamkeit  behielten. 
Er  ist  und  bleibt  uns  der  vorzugsweise  Vertreter  antiker  Feldmeß- 
kunst und  Feldmeß  Wissenschaft,  wenn  ersteres  Wort  uns  die 
Lehre  von  den  eigentlichen  feldmesserischen  Operationen,  letzteres 
die  von  den  anzuwendenden  Formeln  bedeuten  soll.  Er  ist  uns  aber 
auch  der  Vertreter  einer  entwickelten  Bechenkimst  bis  zur  Aus- 
ziehung von  Quadratwurzeln  und  Kubikwurzeln,  der  Vertreter  einer 
eigentlichen  Algebra,  soweit  von  einer  solchen  ohne  Anwendung  sym- 
bolischer Zeichen  die  Bede  sein  kann,  bis  zur  Auflösung  unreiner 
quadratischen  Gleichungen  einschließlich. 


20.  Kapitel. 
Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus. 

Kurze  Zeit  nach  der  Blüte  des  hervorragenden  Geodäten,  mit 
welchem  wir  uns  in  zwei  Kapiteln  beschäftigt  haben,  lebte  wahr- 
scheinlich Geminus  von  Rhodos.  Er  schrieb  eine  Einleitung  in 
die  Astronomie,  elgaycayii  elg  rä  (paLvöfisvay  welche  zwar  erhalten 
ist^),  aber  um  ihres  eigentlichen  Inhaltes  willen  uns  nicht  weiter  be- 


')  Dieses  Werk  ist  mehrfach  gedruckt,  z.  B.  mit  französischer  Übersetzung 
von  Halma  in  dessen  Ausgabe  des  Ptolemäus  hinter  dem  Kanon  desselben. 
Paris  1819.  Die  letzte  Ausgabe  mit  deutscher  Übersetzung  von  Karl  Manitius. 
Leipzig  1898.  Über  das  mathematische  Werk  des  Geminus  ist  ziemlich  ab- 
schließend GarlTittel,  De  Gemini  Stoici  stndiis  mathematicis.    Leipzig  1895. 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus.  407 

ßcliaftigen  darf ^  als  daß  wir  bemerken,  daß  darin  eine  gute  Dar- 
stellung der  Sonnentheorie  des  Hipparch  sich  findet^),  allerdings  ohne 
daß  der  Name  ihres  Urhebers  dabei  genannt  wäre.  Außerdem  ver- 
faßte er  ein  leider  verlorenes  mathematisches  Werk  von  fast  unbe- 
kanntem Titel  und  Inhalte.  Unser  Bedauern  über  den  Verlust  gründet 
sich  auf  etwa  16  Stellen,  in  welchen  Proklus  in  seinem  Kommentare 
zu  den  euklidischen  Elementen  aus  Geminus  geschöpft  hat,  auf  andere, 
die  bei  Eutokius  sich  erhalten  haben,  und  deren  zum  Teil  geschicht- 
lich wertvollen  Inhalt  wir  verschiedentlich  zu  benutzen  Gelegenheit 
fanden.  Ein  eigentlich  mathematisch -historisches  Werk  hat  freilich 
Geminus  gewiß  nicht  geschrieben,  wenn  man  auch  früher  dieser  An- 
nahme zuneigte').  Das  ist  aus  dem  Mathematikerverzeichnisse  bei 
Proklus  gefolgert  worden*).  Wenn  Proklus  dort  erklart,  die  Schrift- 
steller über  Geschichte  der  Mathematik  hätten  die  Entwicklung  bis 
dahin,  d.  h.  bis  kurz  vor  Euklid  geschildert,  wenn  er  dann  in  dem- 
selben Kommentare  aus  Geminus  Auszüge  gibt,  welche  für  die  Zeit- 
bestimmung des  Nikomedes,  des  Diokles,  des  Perseus  verwertbar 
waren,  so  ist  eben  das  Werk  des  Geminus  eine  Geschichte  nicht 
gewesen.  Auch  die  nähere  Prüfung  der  Notizen  aus  Geminus  selbst 
würde  zu  der  gleichen  Schlußfolgerung  führen.  Sie  sind  gewiß 
nicht  von  der  Art,  wie  man  sie  in  einem  Geschichtswerke  suchen 
würde,  sie  haben  ihre  Bedeutsamkeit  für  historische  Zwecke  nur 
dadurch  erlangt,  daß  in  ihnen  Namen  vorkommen,  daß  also  die 
Träger  dieser  Namen,  beziehungsweise  die  Erfinder  krummer  Linien, 
welche  Geminus  nennt,  früher  als  er  gelebt  haben  müssen,  daß 
seine  genau  ermittelte  Lebenszeit  daher  eine  untere  Grenze  für  die 
anderer  bildet. 

Um  so  notwendiger  ist  es  in  dieser  Ermittlung  jeden  Zweifel 
auszuschließen.  Man  hat  die  Zeit,  zu  welcher  Geminus  schrieb, 
regelmäßig  dem  6.  Kapitel  seiner  Einleitung  in  die  Astronomie  ent- 
nommen. Dort  heißt  es*):  Die  Griechen  nehmen  auf  die  Ägypter 
und  Eudoxus  sich  stützend  an,  das  Isisfest  treffe  mit  dem  kürzesten 
Tage  überein.  Das  ist  vor  120  Jahren  einmal  so  gewesen,  aber  aUe 
vier  Jahre  verschiebt  sich  die  Übereinstimmung  um  einen  Tag  und 
beträgt  jetzt  einen  Monat. 

Der  Nutzen,  welcher  aus  dieser  Angabe  zu  ziehen  sein  kann,  ist 
augenscheinlich.  Weiß  man,  wann  das  Fest  der  Isis  nach  ägyptischem 
Kalender  stattfand,  weiß  man  ferner,  wann  das  betreffende  ägyptische 

')  Wolf,  Geschichte  der  Afitronomie  S.  201.  *)  Montucla,  Histoire  des 
MaiMmatiques  1,  266.  ^  NesBelmann,  Algebra  der  Griechen  6.  ^)  Unsere 
Übersetzung  ist  nicht  wörtlich,  kürzt  vielmehr  die  Stelle  wesentlich  ohne  jedoch 
den  Sinn  zu  verändern.    Vgl.  ed.  Halma  pag.  48. 


408  20.  Kapitel. 

Datum  genau  auf  das  Wintersolstitium  fiel;  so  hat  man  von  dem  so 
gewonnenen  Jahre  nur  120  Jahre  weiter  zu  zahlen,  um  zu  der  Zeit 
zu  gelangen,  zu  welcher  Geminus  seine  Einleitung  in  die  Astronomie 
verfaßte.  Diese  Rechnung  hat  man  angestellt  und  ist  zu  zwei  sehr 
voneinander  abweichenden  Ergebnissen  gekommen.  Ein  gelehrter 
Chronologe,  Mitglied  des  Jesuitenordens  am  Anfange  des  XVII.  S., 
Denis  Petau^),  hat  in  dem  Isisfeste  die  Feier  der  Auffindung  des 
Osiris  erkannt,  welche  in  Ägypten  vom  17.  bis  zum  20.  Athyr  be- 
gangen wurde.  Diese  Feier,  d.  h.  der  17.  Athyr,  fiel  197  auf  das 
Wintersolstitium  und  die  Abfassung  der  Einleitung  in  die  Astronomie 
120  Jahre  später  auf  77  v.  Chr.  Dagegen  hat  am  Ende  des  XVII.  S. 
ein  anderer  Gelehrter,  Bonjour,  folgende  Ansicht  begründet*).  Nach 
römischer  Überlieferung  ist  ein  Isisfest  vom  1.  bis  zum  5.  Athyr 
gefeiert  worden;  der  1.  Athyr  fiel  257  auf  das  Wintersolstitium,  und 
somit  geben  120  Jahre  weiter  die  Jahreszahl  137,  in  welcher  Geminus 
geschrieben  haben  muß.  Mit  davon  verschiedenen  Gründen  ist  ein 
späterer  Forscher  gleichfalls  zu  dem  Jahre  140  gekommen,  auf  welches 
die  Blüte  des  Geminus  zu  setzen  sei^).  Zwischen  diesen  beiden 
Möglichkeiten  hat  man  sich  zu  entscheiden,  und  wir  tragen  Bedenken 
Geminus,  welcher  nach  Hipparch  gelebt  haben  muß,  um  dessen 
Sonnentheorie,  wie  wir  zu  Anfang  bemerkten,  deutlich  darzustellen, 
der  auch  Hipparch  in  seiner  Einleitung  iu  die  Astronomie  einmal 
mit  Namen  nennt*),  wahrend  die  Beobachtungen  Hipparchs  von  161 
bis  126  fallen,  früher  als  77  als  Schriftsteller  anzunehmen^).  Das 
zweite  Datum,  dem  wir  in  unserer  Anordnung  des  Stoflfes  folgten, 
indem  wir  sonst  Geminus  vor  Heron  hätten  nennen  müssen,  steht 
auch  im  Einklang  mit  anderen  Umständen,  die  für  sich  allein  nicht 
entscheidend  gewesen  wären.     Geminus  nennt  in  seiner  Einleitung  in 


')  Petavius,  De  doctrina  temporum  (Paris  1627),  Lib.  II,  cap.  6,  §  4  und 
desselben  Verfassers  üranologion  sive  systema  variorum  autorum  qui  de  sphaera 
ac  sideribus  eorum  motibua  graece  commentati  sunt  (Paris  16S0)  in  den  An- 
merkungen zu  der  dort  abgedruckten  Schrift  des  Geminus  an  dem  betreffenden 
Orte.  *)  Bonjour,  De  nomine  Josephi  a  Pharaone  imposito.  Rom  1696.  Vgl. 
eine  Besprechung  dieses  Buches  von  Heinr.  Pipping  in  den  Acta  Eruditorum 
für  1697,  pag.  6  sqq.  ")  H.  Brandes,  Ueber  das  Zeitalter  des  Astronomen 
Geminus  und  des  Geographen  Eudoxus  in  den  Jahnschen  Jahrbüchern  XIII, 
Supplement  S.  199—230,  besonders  219.  ^)  Elgaytayri  x.  t.  X.  (ed.  Halma) 
pag.  19.  ^  Auch  Aug.  Böckh,  Ueber  die  vierjährigen  Sonnenkreise  der  Alten. 
Berlin  1863,  S.  8  fLgg.  und  S.  200  flgg.  hat  sich  in  ausführlicher  Begründung 
für  diese  Meinung  entschieden.  Dagegen  vermutet  F.  Blaß,  Dissertatio  de 
Getnino  et  Posidonio  (Kiel  1888)  eine  noch  spätere  Lebenszeit  dea  Geminus,  nur 
durch  das  II.  nachchristliche  Jahrhundert  als  terminus  ad  quem  begrenzt,  weil 
Geminus  bei  Alexander  Aphrodisiacus  genannt  ist. 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  PtolemäuB.  409 

die  Astronomie  Eratoßthenes^),  der  etwa  194  starb,  den  Geschichts- 
schreiber Polybius*),  dessen  Universalgeschichte,  tötogia  xaOokix.% 
bis  146  herabreicht,  Erates  den  Grammatiker^),  wahrscheinlich  den- 
jenigen dieses  Namens,  der  aus  Mallns  167  nach  Rom  kam,  wo  er 
etwa  144  starb,  den  Philosophen  Boethus,  welcher  einen  Kommentar 
zu  Aratus  geschrieben  haben  muß^),  den  man  aber  nicht  bestimmt 
zu  identifizieren  vermag;  sie  alle  können  im  Jahre  137  ebenso  gut 
wie  im  Jahre  77  genannt  worden  sein.  Auch  darauf  wird  man  kein 
zu  großes  Gewicht  legen  dürfen,  daß  die  Beobachtungen,  von  welchen 
Geminus  Gebrauch  macht,  auf  Rhodos,  Alexandria  und  Rom  Bezug 
nehmea  Ein  Alexandriner,  das  haben  wir  (S.  366)  erörtert,  würde 
kaum  schon  137  Rom  seine  Aufmerksamkeit  in  so  hohem  Grade 
gewidmet  haben,  anders  ein  Rhodier,  nachdem  seine  Landsleute  die 
Bundesgenossen  der  Römer  seit  dem  syrischen  Kriege  im  Jahre 
190  V.  Chr.  waren.  Aber  folgendes  gibt  endgültig  den  Ausschlag. 
Nach  einer  Angabe  des  Simplicius  im  Kommentare  zum  II.  Buche 
der  aristotelischen  Physik  fertigte  Geminus  einen  Kommentar  zu  den 
yLBXBCiQol.oyLxd  des  Posidonius^).  Nun  gab  es  allerdings  einen 
Posidonius  von  Alexandria  (S.  198),  Schüler  des  259  verstorbenen 
Zenon,  aber  ihn  würde  Simplicius  nicht  ohne  sonstige  Bezeichnung 
nur  Posidonius  genannt  haben.  Dazu  mußte  die  Persönlichkeit  eine 
allgemein  bekannte  sein,  und  von  einer  solchoi  haben  wir  Kenntnis: 
Posidonius  von  Rhodos*),  der  Lehrer  Ciceros,  der  Freund  des  Pom- 
pejus,  der  auf  der  Insel  Rhodos  gestorben  ist,  auf  welcher  Geminus 
allem  Anscheine  nach  lebte.  Dieser  Posidonius,  der  wiederholt  durch 
Heron  erwähnt  worden  ist,  dem  man  eine  Definition  der  Parallellinien 
verdankt  (S.  388),  wird  frühestens  um  das  Jahr  90  als  Schriftsteller 
aufgetreten  sein,  und  wer  aus  seinem  Werke  einen  Auszug  machte, 
kann  nur  77,  nicht  137  eine  Einleitung  in  die  Astronomie  verfaßt 
haben.  Damit  stimmt  aber  endlich  noch  eine  Tatsache  überein.  Die 
120  Jahre  rückwärts  von  Geminus  fallen  entweder  auf  257  oder 
auf  197.  Nach  der  ersteren  Annahme  würde  das  Edikt  von  Kanopus 
vom  7.  März  238  die  120  Jahre  unterbrochen  und  vermöge  der  in 
ihm  angeordneten  Einrichtung  des  Schaltjahres,  so  lange  oder  so  kurz 
es  in  Gültigkeit  war,  die  30tägige  Verschiebung  des  Isisfestes  binnen 
120  Jahren  zu  einer  Unwahrheit  gemacht  haben.  Rechnet  man  da- 
gegen jene  120  Jahre  von  197  an,  so  ist  dem  nicht  so.  Man  hat 
vielmehr   alsdann  eine  Grenze  gewonnen,   wie  lange  das  Edikt  von 


')  Ed.  Halma  pag.  44.  *)  Ebenda  pag.  67.  ^  Ebenda  pag.  30,  31,  32,  66. 
*)  Ebenda  pag.  76.  *)  Aug.  Böckh  1.  c.  S.  13.  ^  Wolf,  Geschichte,  der  Astro- 
nomie S.  167. 


410  20.  Kapitel. 

Eianopus,  von  welchem  man  ohnedies  weiß^  daß  es  in  Vergessenheit 
geriet y  wirksam  gewesen  sein  kann:  von  238  an  höchstens  dnrch 
40  Jahre  hindurch. 

Eine  Voraussetzung  liegt  allerdings  unserer  bisherigen  Darstel- 
lung zugrunde:  daß  es  nur  einen  Geminus  gab  und  nicht  deren 
zwei;  einen  Mathematiker  und  einen  Astronomen^).  Wer  dieser 
Meinung  sich  anschließt,  verzichtet  auf  die  Ausnutzung  der  Isagoge 
zur  Bestimmung  der  Lebenszeit  des  Mathematikers  Geminus  und  kann 
daher  unseren  Entwicklungen  nicht  den  geringsten  Wert  beilegen. 
Wir  vermögen  uns  von  dem  erhobenen  Zweifel  nicht  beirren  zu 
lassen  und  glauben  nach  wie  vor  an  die  Übereinstimmung  des  Mathe- 
matikers mit  dem  Astronomen.  Wer  Geminus  war^  ist  nicht  bekannt. 
Der  Name  besitzt  einen  entschieden  römischen  Klang,  und  wenn  auch 
die  Rechtschreibung  rs^ilvog,  deren  Proklus  wie  Pappus  sich  bedient, 
der  römischen  Aussprache  widerspricht,  so  kann  eine  Ausgleichung 
darin  gefunden  werden,  daß  Simplicius  den  Ton  auf  die  erste  Silbe, 
re'iiLvog,  legt.  Man  hat  demzufolge  in  Geminus  wohl  den  Freigelassenen 
eines  edlen  Römers  erkennen  wollen. 

Das  mathematische  Hauptwerk  des  Geminus  kann  vielleicht  den 
Titel:  Über  die  gesetzmäßige  Gliederung  der  Mathematik  gefuhrt 
haben  ^.  Von  dessen  Inhalt  haben  wir  in  negativer  Weise  behauptet, 
er  sei  nicht  wesentlich  geschichtlich  gewesen.  Es  war  auch  jeden- 
falls kein  eigentliches  Lehrbuch  der  Mathematik.  Geminus  wollte 
vielmehr  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  die  Anfeindungen,  welche 
Zenon  von  Elea  und  dessen  Nachfolger  gegen  den  logischen  Aufbau 
der  Mathematik  sich  gestattet  hatten,  widerlegen.  Man  erkennt  diesen 
Zweck  aus  der  Art,  wie  das  Werk  des  Geminus  benutzt  worden  ist. 
Proklus  entnimmt  ihm  gern  die  Entscheidung,  wo  es  sich  um  Streit- 
fragen mehr  allgemein  logischer  als  mathematischer  Natur  handelt, 
um  geometrische  Erklärungen,  Grundsätze  und  dergleichen.  Eine 
einzige  geometrische  Entdeckung  des  Geminus  kennen  wir  aus  Proklus, 
wenn  sie  wirklich  ihm  zuzuschreiben  ist,  woran  eine  spätere  Stelle 
bei  Proklus  wieder  zweifeln  läßt.    Dieser  sagt  iwmlich'):  „Unter  den 


')  Vgl.  £.  ManitiuB,  Des  Geminos  Isagoge,  Sonderabdruck  aus  den  Com- 
mentationes  Fleckeisenianae  (Leipzig  1890)  mit  der  Besprechung  der  Abhand- 
lung in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI.  Histor.-literar.  Abtlg.  S.  96—97.  In 
seiner  Ausgabe  der  Isagoge  von  1898  hat  Manitius  die  1890  ausgesprochenen 
Ansichten  wesentlich  abgeändert  und  sieht  seitdem  in  dem  erhaltenen  Texte 
einen  späten  in  Eonstantinopel  angefertigten  Auszug  aus  der  ursprünglichen 
Isagoge  des  Geminus  von  Rhodos.  •)  Pappus  Vm,  3  (ed.  Hultsch)  1026  heißt 
es:  Feitlvos  6  lucd'riiuctixog  iv  t&  tcbqI  tfjg  t&v  na&rnidtmv  rd^Btog.  ")  Proklus 
(ed.  Friedlein)  112—113  und  251  lin.  2—11.     Bretschneider  177. 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus.  411 

auf  Körpern  konstrnierten  Linien  sind  die  einen  in  ihren  Teilen  gleich 
und  ähnlich  wie  die  zylindrischen  Schraubenlinien^  andere  dagegen 
nicht^  nämlich  alle  übrigen.  Es  ergibt  sich  nun  aus  diesen  Unter- 
schieden ^  daß  es  nur  drei  Linien  gibt^  welche  in  allen  ihren  Teilen 
gleich  und  ähnlich  sind^  die  Gerade^  der  Kreis  und  die  zylindrische 
Schraubenlinie^  Yon  denen  zwei  ganz  in  der  Ebene  liegende  einfache 
sind^  eine  aber  eine  gemischte  ist  und  auf  einem  Körper  liegt.  Auch 
dies  beweist  ganz  klar  Geminus,  nachdem  er  Yorher  gezeigt  hat^  daß 
wenn  an  eine  solche  in  allen  Teilen  gleich  und  ähnliche  Linie  Ton 
einem  Punkte  aus  zwei  Gerade  gezogen  werden^  die  mit  ihr  gleiche 
Winkel  bilden,  diese  Geraden  einander  gleich  sind/' 

Vielleicht  darf  als  mit  Geminus  annähernd  gleichaltrig  Theo- 
dos ins  ^)  genannt  werden.  Wenigstens  kommt  der  Name  dieses  von 
Ptolemäus  benutzten  Mathematikers  und  Astronomen  bei  Strabon  und 
YitruTius  Tor,  so  daß  er  Tor  Christi  Geburt  gelebt  haben  muß,  und 
dem  Gegenstande  seiner  Untersuchungen  nach  etwa  im  letzten  Jahr- 
hunderte dieser  Zeit.  Als  Heimat  des  Theodosius  gilt  alsdann  Tripolis 
an  der  phönikischen  Küste.  Seine  Sphärik  in  drei  Büchern  ist  eine 
ziemlich  ToUständige  Geometrie  der  Kugeloberfläche  mit  Ausschluß 
des  messenden,  also  trigonometrischen  Teiles.  Er  stützt  sich,  ohne 
seine  Vor^nger  zu  nennen,  vielfach  auf  dieselben,  wie  es  bei  dem 
Verfasser  eines  Lehrbuches  Sitte  war,  auch  wohl  noch  ist.  Ins- 
besondere hat  die  Abhängigkeit  yon  den  Phaenomena  Euklids  (S.  293) 
nachgewiesen  werden  können*).  Wir  bemerken,  daß  die  Vermutung 
gleichfalls  ausgesprochen  worden  ist'),  der  Mathematiker  Theodosius 
sei  von  Theodosius  von  Tripolis  verschieden.  Er  stamme  vielmehr 
aus  Bithynien  und  sei  Landsmann  sowohl  als  Zeitgenosse  des  Hipparch 
(S.  361)  gewesen. 

Dionysodorus   wird   von  Heron  (S.  380),   von  Strabon*)  und 


*)  Vgl.  Fabricius,  Bibliotheca  Graeca  (ed.  Harless)  IV,  21.  Die  Sphärik 
ist  griechisch  mit  lateinischer  Übersetzung  von  Pena  (Paris  1558)  herausgegeben. 
Eine  deutsche  Übersetzung  von  Ernst  Nizze,  Stralsund  1826.  Von  ebendem- 
selben eine  griechische  Textausgabe  mit  lateinischer  Übersetzung,  Berlin  1852. 
Wertvolle  Untersuchungen  bei  Nokk,  Ueber  die  Sphärik  des  Theodosius,  Pro- 
gramm des  Bruchsaler  Gymnasiums  1847.  Hultsch  hat  im  X.  Bande  der  Ab- 
handlungen der  philol.-hist.  Klasse  der  Eönigl.  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissensch. 
zu  Leipzig  (1887)  Scholien  zur  Sphärik  des  Theodosius  herausgegeben,  welche 
teils  dem  zehnten  nachchristlichen  Jahrhundert  angehören,  teils  mindestens  bis 
zum  dritten  Jahrhundert  zurückgehen.  *)  Nokk  1.  c.  und  Heiberg,  Euklid- 
studien S.  43 — 46.  *)  JRecherches  sur  Vhistoire  de  Vastronomie  ancienne  par  Paul 
Tannery.  Paris  1893,  pag.  36 — 37  und  Axel  Anthon  Björnbo  in  den  Ab- 
handlungen zur  Geschichte  der  mathemat.  Wissenschaften,  XIY,  S.  64  —  65. 
Leipzig  1902.     *)  Strabo  Xu,  3. 


412  20.  Kapitel. 

von  Plinius')  genannt^  muß  also  Tor  Christus  gelebt  haben.  Strabon 
berichtet,  Amisus  im  Pontus  am  asiatischen  Südufer  des  Schwarzen 
Meeres  sei  seine  Heimat  gewesen.  Plinius  nennt  ihn  von  Melos,  so 
daß  möglicherweise  zwei  verschiedene  Persönlichkeiten  gemeint  sein 
können,  und  weiß  eine  Wundergeschichte  zu  erzählen,  in  welcher  er 
eine  Rolle  spielt.  Dem  Mathematiker  dürfte  außer  der  von  Heron 
erwähnten  Schrift  über  die  Spiren  die  Lösung  der  archimedischen 
Aufgabe  der  Eugelteilung  nach  gegebenem  Verhältnisse  der  Abschnitte 
interessant  sein,  zu  welcher  Dionysodorus,  nach  den  Mitteilungen  des 
Eutokius*),  den  Durchschnitt  einer  Parabel  mit  einer  Hyperbel  be- 
nutzte. Man  hat  freilich  Dionysodor  auch  weiter  rückwärts  zwischen 
Archimed  und  Apollonius  einzuschieben  Veranlassung  genommen, 
wodurch  die  Lebenszeit  des  Perseus  als  Erfinder  der  Spiren  ebenfalls 
um  einige  Jahrzehnte  zurückdatiert  werden  müßte'). 

Festen  chronologischen  Boden  unter  den  Füßen  gewinnen  wir 
mit  Menelaus  von  Alexandria.  Zwei  in  Rom  angestellte  Beob- 
achtungen dieses  Astronomen  aus  dem  ersten  Regierungsjahre  Trajans, 
d.  h.  aus  dem  Jahre  98  n.  Chr.,  sind  im  Almageste  erhalten^),  und 
so  kann  über  die  Zeit  der  wissenschaftlichen  Tätigkeit  des  Menelaus 
kein  Zweifel  stattfinden. 

Er  verfaßte  sechs  Bücher  über  die  Berechnung  der  Sehnen, 
welche  aber  gleich  dem  ähnlichen  Werke  seines  Vor^ngers  Hipparch 
verloren  gegangen  sind.  Seine  drei  Bücher  der  Sphärik  sind  im 
griechischen  Originaltexte  gleichfalls  nicht  bekannt,  doch  sind  ein- 
ander gegenseitig  bestätigende  arabische  und  hebräische  Übersetzungen 
aufgefunden  worden,  nach  welchen  seit  dem  XIL  Jahrhunderte  weitere 
lateinische  Übersetzungen  sich  herstellen  ließen,  welche  mehrfach  her- 
ausgegeben sind^).  Die  Sphärik  des  Menelaus  ist  im  Gegensatze  zu  der 
des  Theodosius  eine  Art  von  sphärischer  Trigonometrie.  'Wir  meinen 
damit,  daß  Menelaus  der  Erste  war,  welcher  die  Lehre  vom  sphäri- 
schen Dreieck  sowie  die  sphärische  Trigonometrie  aus  der  früheren 
ganz  stereometrisch  gehaltenen  Sphärik  aber  auch  aus  der  Astronomie 
ausgeschieden   hat     Sein  L  Buch  ist  dabei  durchaus  dem  I.  Buche 

*)  Plinins,  Histoi-ia  naturalis  II,  109.  *)  Archimed  (ed.  Heiberg)  HI, 
180 sqq.  ')  Wilhelm  Schmidt,  Über  den  griechischen  Mathematiker  Dionyso- 
dorus. Bibliotheca  Mathemaiica  8.  Folge,  Bd.  IV,  821—326  (1904).  *)  PtoJemaei 
Almagestutn  YII,  3  (ed.  Halma)  T.  H,  pag.  25  mid  27.  ^)  Die  noch  immer  beste 
Übersetzung  von  Halley.  Oxford  1768.  Die  neuesten  Untersuchungen  über  Me- 
nelaus bei  Ad.  v.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Trigonometrie  I, 
14 — 18  (1900)  und  besonders  bei  Axel  Anthon  Björnbo,  Studien  über  Mene- 
laos*  Sphärik.  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  mathematischen  Wissenschaften 
XIV,  1 — 164  (1902),  an  welche  wir  uns  wesentlich  anschließen,  mit  Ausnahme 
der  Zurückdatierung  des  sogenannten  Satzes  des  Menelaus  bis  auf  Hipparch. 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus.  413 

der  Euklidischen  Elemente  nachgebildet^  dessen  Dreieckssatze  Menelaus 
aus  der  Ebene  auf  die  Kugel  übertrug.  Dazu  bedurfte  es  einer  Defi- 
nition des  sphärischen  aus  Bögen  größter  Kreise  bestehenden  Drei- 
ecks^ und  Menelaus  gab  sie,  gab  zugleich  dem  gebildeten  Dreiecke 
den  Namen  tgCnlevQov  im  Gegensatze  zu  xQiymvov  als  dem  Namen 
des  ebenen  Dreiecks.  Dann  finden  wir  die  Sätze,  daß  im  sphärischen 
Dreiecke  gleichen  Seiten  gleiche  Winkel  gegenüberliegen,  daß  der 
größeren  Seite  der  größere  Winkel  gegenüberliegt,  nebst  der  Um- 
kehrung der  beiden  Sätze.  Die  Summe  zweier  Seiten  wird  als  größer 
als  die  dritte  Seite  erkannt,  die  Summe  der  drei  Winkel  als  größer 
als  2  Rechte,  während  der  die  Winkelsumme  nach  oben  begrenzende 
Satz,  sie  sei  kleiner  als  6  Rechte,  nicht  vorkommt.  Menelaus  ver- 
sucht niemals  einen  Deckungsbeweis  für  stückweise  einander  gleiche 
Dreiecke  zu  führen,  wird  also  vermutlich  des  Unterschiedes  zwischen 
Kongruenz  und  Symmetrie  auf  der  Kugel  bewußt  gewesen  sein.  Das 
IL  Buch  ist  nur  mittelbar  der  Sphärik  gewidmet  und  hauptsächlich 
astronomischen  Inhaltes,  so  daß  wir  bei  unserer  Ausschaltung  der 
Astronomie  berechtigt,  wenn  nicht  verpfiichtet  sind,  darüber  hinweg- 
zugehen. Das  ni.  Buch  enthält  die  eigentliche  Trigonometrie  und 
gründet  sie  auf  den  ersten  Satz  des  Buches  d.  i.  auf  den  sogenannten 
Satz  des  Menelaus,  der  zwar  unmittelbar  als  sphärischer  Satz  aus- 
gesprochen ist,  bei  dessen  Beweis  aber  der  planimetrische  Satz  des 
Menelaus  in  Anwendung  tritt.  Der  planimetrische  Satz  spricht  sich 
dahin  aus,  daß  bei  Durchschneidung  der  drei  Seiten  eines  ebenen 
geradlinigen  Dreiecks  durch  eine  Gerade  Abschnitte  erscheinen,  welche 
das  gleiche  Produkt  aus  je  drei  Abschnitten,  die  keinen  Endpunkt 
gemein  haben,  hervorbringen;  der  sphärische  Satz  verändert  diesen 
Ausspruch  nur  dahin,  daß  die  Abschnitte  der  Bögen  durch  die  Sehnen 
der  verdoppelten  Abschnitte  ersetzt  werden.  Menelaus  selbst  hat  frei- 
lich so  wenig  wie  seine  Nachfolger  bis  in  das  XVI.  S.  seine  Sätze  in 
dieser  Weise  ausgesprochen.  Es  heißt  niemals  a^  •  a^  •  ag  »  6^  •  &2  •  b^ 
oder  das  Parallelepipedon  der  betreffenden  Abschnitte  habe  gleichen 
Inhalt,  sondern  das  Verhältnis  a^ib^^^b^  -b^:  a^-  a^  ist  gebildet  und 
so  ausgesprochen,  daß  gesagt  wird,  a^  stehe  zu  b^  in  dem  zusammen- 
gesetzten Verhältnisse  von  ft,  zu  Oj  und  von  63  zu  a^  Der  Name, 
unter  welchem  der  Satz  bekannt  blieb,  ist  der  des  Satzes  von  den 
sechs  Größen,  regüla  sex  quantitatum.  Das  Vorkommen  zusammen- 
gesetzter Verhältnisse  bei  Euklid  und  Archimed  ist  uns  (S.  266)  be- 
kannt geworden.  Wenn  der  planimetrische  Satz  in  der  Sphärik  nicht 
bewiesen  ist,  so  muß  daraus  gefolgert  werden,  er  sei  schon  bekannt 
gewesen,  mag  man,  wozu  wir  uns  nicht  leicht  entschließen  können, 
annehmen,  Hipparch  habe  ihn  bereits  besessen  und  benutzt,  oder  mi^ 


414  20.  Kapitel. 

man  der  Ansicht  sein^  Menelans  habe  auch  eine  Schrift  über  ebene 
Dreiecke  verfaßt^  in  welcher  der  planimetrische  Satz  vorkam.  Als 
Stütze  dieser  letzteren  Ansicht  dient  ein  bei  Proklus  erhaltener  Be- 
weis des  Menelans  zn  einem  Dreieckssatze  nnd  die  Tatsache,  daß  ein 
Araber  Menelans  als  Verfasser  von  Elementen  der  Geometrie  genannt 
hat.  Von  anderen  im  HI.  Buche  der  Sphärik  vorkommenden  Sätzen 
sei  noch  der  5.  Satz  erwähnt,  der  die  Projektivität  der  Doppel- 
verhältnisse enthält  und  zwar  ohne  jeden  Beweis,  mithin  als  alt* 
bekannt,  der  9.  Satz,  daß  die  drei  Halbierongsbogen  der  Winkel,  der 
10.  Satz,  daß  die  drei  Höhenbogen  eines  sphärischen  Dreiecks  je  einen 
gemeinsamen  Dnrchschnittspunkt  besitzen.  Die  entsprechenden  plani- 
metrischen  Sätze  waren  längst,  der  zweite  vermutlich  seit  Archimed 
(S.  298)  vorhanden. 

Menelaus  hat  auch  in  der  Eurvenlehre  sich  Verdienste  erworben. 
Er  hat,  wie  Pappns  ungemein  kurz  sich  fassend  und  deshalb  für  uns 
sehr  fruchtlos  erzählt^),  einer  krummen  Linie,  mit  welcher  vorher 
zwei  uns  gänzlich  unbekannte  Geometer  Demetrius  von  Alexan- 
dria und  Philo  vonTjana  sich  beschäftigten,  seine  besondere  Auf- 
merksamkeit zugewandt  und  derselben  den  Namen  der  außergewöhn- 
lichen oder  seltsamen,  Ttagädo^og  ygafifiTJ,  beigelegt. 

Klaudius  Ptolemäus  führte  zu  Ende,  was  Hipparch  und 
Menelaus  vor  ihm  begonnen  hatten.  Er  schuf  für  den  astronomischen 
Gebrauch  eine  Trigonometrie  von  so  vollendeter  Form,  daß  sie  weit 
über  ein  Jahrtausend  nicht  überboten  wurde  und  nicht  weniger  als 
die  unter  dem  Namen  des  ptolemäischen  Weltsystems  bekannte  Lehre 
von  den  Bewegungen  der  Gestirne  aber  mit  besserem  Erfolge  die 
Wissenschaft  beherrschte.  Beides,  das  astronomische  und  das  trigono- 
metrische Lehrgebäude,  ist  vereinigt  in  den  13  Büchern  der  großen 
Zusammenstellung,  (leydkri  ötivtaiig^.  Als  dieses  Werk  später, 
wie  wir  im  32.  Kapitel  zu  schildern  haben  werden,  aus  dem  Griechi- 
schen ins  Arabische,  aus  dieser  Sprache  noch  später  ins  Lateinische 
übersetzt  wurde,  erhielt  es  den  durch  Zusammenschweißung  des 
arabischen  Artikels  al  mit  dem  griechischen  Superlativ  ^iyiözog 
gebildeten  Bastardnamen  Almagest,  unter  welchem  es  meistens  be- 
kannt ist,  und  dessen  auch  wir  uns  bedienen,  einigemal  weiter  oben 
schon  vorgreifend  bedient  haben. 


*)  PappuB  IV,  30,  (ed.  Hultsch)  pag.  270.  *)  Die  bequemste  AuBgabe  ist 
die  von  Halma  unter  Beigabe  einer  französischen  Übersetzung  in  zwei  Quart- 
bänden veranstaltete.  Paris  1813 — 16.  Eine  neue  Textausgabe  aber  leider  ohne 
Übersetzung  veranstaltete  Heiberg  1899 — 1903.  Wichtige  Untersuchungen  über 
den  Almagest  namentlich  nach  seiner  astronomischen  Bedeutung  in  Bethert^ies 
mr  VhistoWe  de  rasPronomie  par  Paul  Tannerj.    Paris  1893. 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäng.  415 

Im  Almageste  sind  viele  astronomische  Beobachtungen  verwertet, 
teils  dem  Ptolemäus  eigentümliche,  teils  von  anderen  herrührend.  Die 
späteste  der  so  aufgenommenen  Datierungen  ist  die  einer  Venus- 
beobachtung  aus  dem  14.  Regierungsjahre  des  Antoninus^),  also  aus 
dem  Jahre  löl,  und  die  Abfassung  des  Almagestes  muß  somit  später 
fallen.  Andererseits  ist  die  früheste  eigene  Beobachtung  des  Ptolemäus, 
von  der  wir  wissen,  im  Jahre  125  angestellt  und  damit  erreichen  wir 
als  engste  Grenzen  seiner  Wirksamkeit  die  Jahre  125  bis  141  oder 
151.  Das  ist  aber  neben  einem  Aufenthalte  in  Alexandria  auch  alles, 
was  wir  von  den  persönlichen  YerhältniBsen  des  Ptolemäus  mit  Ge- 
wißheit aussagen  können.  Nach  später  aus  arabischer  Quelle  ge- 
flossener Angabe^)  wäre  Ptolemäus  in  Alexandria  geboren  und  auf- 
gewachsen; er  sei,  heißt  es  dort,  78  Jahre  alt  geworden;  auch  weiß 
der  Bericht  von  seiner  hellen  Farbe,  seinen  kleinen  Füßen,  einem 
roten  Muttermale  an  der  rechten  Kinnlade,  dem  schwarzen,  dichten 
Barte,  seinen  Lebensgewohnheiten  und  Charaktereigenschaften  so  viel 
zu  erzählen,  daß  man  sehr  in  Zweifel  gerät,  soll  man  der  Genauigkeit 
trauen  oder  der  Übergenauigkeit  mißtrauen.  Eine  gründliche  Unter- 
suchung') des  arabischen  Berichtes  hat  ergeben,  daß  derselbe  aus 
einer  1053  geschriebenen  Spruchsammlung  eines  Emir  Abü'l  Wafä 
Mubaschschir  ben  Fatik  stammt  und  auf  ein  ähnliches  im  IX.  Jahr- 
hundert entstandenes  Werk  des  Hunain  ibnishäk  zurückgeht  Der 
78jährigen  Lebensdauer  des  Ptolemäus,  den  man  danach  etwa  yon 
100  bis  178  anzusetzen  hätte,  dürfte  am  ersten  zu  trauen  sein.  Die 
genaue  Personalbeschreibung  wird  damit  in  Zusammenhang  gebracht, 
daß  gerade  im  U.  Jahrhundert  physiogno  mische  Studien  bei  den 
Griechen  in  Blüte  standen,  und  wie  man  aus  den  Gesichtszügen  gei- 
stige Eigenschaften  herauslas,  mag  man  aus  bekannten  schriftstelle- 
rischen Leistungen  auf  ihnen  entsprechende  Gesichtszüge  geschlossen 
haben.  Daß  Ptolemäus  in  Alexandria  geboren  sei,  steht  nicht  bei 
Emir  Abül  Wafä,  sondern  ist  Zusatz  des  Gerhard  von  Cremona. 
Glaubwürdiger  ist  eine  Angabe  des  byzantinischen  Gelehrten  Theo- 
dorus  Meliteniota  (um  1361),  Ptolemäus  stamme  aus  der  Stadt 
Ptolemais  Hermeiu. 

Wir  haben   es   hier  zunächst  mit  dem  9.  Kapitel  des  L  Buches 


^  Da  die  anderen  unter  der  Regierang  des  Antoninus  gemachten  Beobach- 
tongen  den  allerersten  Jahren  jener  Regierung  angehören,  so  mutmaßt  Franz 
BoU,  Studien  über  Elaudius  Ftolemaeus  (XXI.  Supplementband  von  Fleckeisen 
und  MasiuB  Jahrb.  f.  class.  Fhilol.)  jene  letzte  Beobachtung  gehöre  nicht  dem 
ft^s=14.  sondern  dem  ^s=:4.  Jahre  an,  sei  also  vom  Jahre  141.  *)  B.  Bon- 
compagni,  DeUa  vita  e  deUe  opere  di  Gherardo  Crenumese  etc,  Roma  1851, 
pag.  16—17.     •)  Boll  1.  c.  S.68— 68. 


416  20.  Kapitel. 

des  Almagestes  zu  tun,  dem  wir  die  Berechnung  einer  Sehnentafel 
zu  entnehmen  haben  ^).  Ptolemäus  teilt  den  Kreisumfang  in  360  Teile, 
Tftijftara,  und  jeden  dieser  Teile  halbiert  er  zimächst  nochmals.  Femer 
teilt  er  den  Durchmesser  des  Kreises  gleichfalls  und  zwar  in  120  Teile, 
tpitlfiura,  setzt  aber  hier  die  Teilung  sogleich  sexagesimal  fort.  Die 
Unterabteilungen  bringen  60  erste,  60  zweite  Teile  hervor,  welche  in 
den  lateinischen  Übersetzungen  zu  partes  minutae  primae  und  partes 
minutae  secundas  wurden,  woraus  andere  Sprachen  ihre  Minuten 
und  Sekunden  hernahmen.  Ein  Neues  hat  Ptolemäus  mit  diesen 
Teilungen  gewiß  nicht  gegeben.  Wie  die  Gradeinteilung  des  Kreises 
über  Geminus,  über  Hipparch  bis  auf  Hypsikles  in  Alexandria  ver- 
folgbar nach  Babylon  als  Mutterland  hinweist,  so  dürfte  ähnliches 
für  die  Teilung  des  Kreishalbmessers  nach  sexagesimaler  Grundzahl 
gelten  müssen,  die  jedenfalls  seinen  alexandrinischen  Vorgängern  be- 
kannt gewesen  sein  wird.  Das  Verdienst  des  Ptolemäus  liegt  dagegen 
in  seiner  Sehnenberechnung  selbst  Theon  von  Alexandria,  der  Kom- 
mentator des  Almagestes,  sagt  uns  ausdrücklich^),  Hipparch  habe  die 
Lehre  von  den  Sehnen  in  12  Büchern  und  Menelaus  in  sechs  Büchern 
abgehandelt,  man  müsse  aber  erstaunen,  wie  bequem  Ptolemäus  mit 
Hilfe  weniger  und  leichter  Sätze  ihre  Werte  gefunden  habe.  -  Den 
Ausgangspunkt  bildet  der  sogenannte  ptolemäische  Lehrsatz  vom 
Sehnenviereck^),  daß  das  Produkt  der  Diagonalen  der  Summe  der 
Produkte  je  zweier  einander  gegenüberliegender  Seiten  gleich  sei,  und 
neben  diesem  Satze  die  Kenntnis  einiger  ganz  bestimmter  Sehnen, 
nämlich  der  Seiten  der  regelmäßigen  dem  Kreise  eingeschriebenen 
Dreiecke,  Vierecke,  Fünfecke,  Sechsecke,  Zehnecke  als  der  Sehnen  von 
Bögen  von  120,  von  90,  von  72,  von  60,  von  36  Bogengraden  jedes- 
mal in  Teilen  des  Durchmessers,  beziehungsweise  des  Halbmessers 
des  Kreises  dargestellt. 

Nun  folgt  aber  aus  den  Sehnen  zweier  Bögen  die  Sehne  ihres 
Unterschiedes,  aus  der  Sehne  eines  Bogens  die  Sehne  des  halb  so 
großen  Bogens,  aus  den  Sehnen  zweier  Bögen  die  Sehne  ihrer 
Summe. 

Die  Beweise  der  betrefiPenden  Sätze  bestehen  dem  Sinne  nach  in 
folgendem.  Aus  (Fig.  67)  aß  und  ay  soll  ßy  gefunden  werden. 
Man  zieht  von  a  aus  den  Durchmesser  ad,  der  also  120  Teile  ent- 
hält und  vollendet  das  Sehnenviereck  aßyS  nebst  seinen  Diagonalen. 
Nun  ist  y8  -  yi20«^^^,   ßö  -  1/120^-  aß^ ,    ay  -  ßS  «^  a8  -  ßy 

*)  Ein  vortrefflicher  Auszug  von  L.  Ideler  unter  dem  Titel:  „üeber  die 
Trigonometrie  der  Alten'*  in  Zache  Monatlicher  Correspondenz  zur  Beförderung 
der  Erd-  und  Himmelskunde  (Juli  1812).  Bd.  XXVI,  3—38.  *)  Theon  Ale- 
xandrinus  (ed.  Halma)  I,  pag.  110.     ")  Almagest  (ed.  Halma)  I,  pag.  ^. 


Groometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus. 


417 


Fig.  67. 


+  a/J-y*oder  ay  V^l^O»  -  a/3««  120./Jy +  a/3  Vl20« -«V,  woraus 
ßy  gefdnden  werden  kann. 

Soll  ferner  (Fig.  68)  aus  ^y  die  Sehne  yd  des  halb  so  großen 
Bogens  ermittelt  werden,  so  zieht  man  den  Durchmesser  ay,  außer- 
dem aß,  ad,  ßd,  schneidet  auf  dem  Durch- 
messer ay  das  Stück  as  ^  aß  ab,  zieht  de 
und  endlich  d^  senkrecht  zum  Durchmesser 
ay.  Die  Dreiecke  ßad,  saS  sind  nun  kon- 
gruent, weil  die  beiden  gleichen  in  a  ihre 
gemeinschaftliche  Spitze  besitzenden  Winkel 
von  gleichen  Seiten  gebildet  werden.  Dem- 
gemäß sind  auch  die  dritten  Seiten  gleich 
ßd  =- 8b,  und  da  überdies  ßS'^Sy  als 
Sehnen  gleicher  Bögen,  so  ist  das  Dreieck 
ÖBy  gleichschenklig,  und  die  Senkrechte 
d%  auf  dessen  Grundlinie   halbiert   dieselbe, 

d.h.    es    ist^-,^-=— ^    ^        ^-'      ^ ^^ 

«  60  —  2  1/V2O'  —  /3  j^.      Ferner    sind    die  ^*«- ««• 

beiden  rechtwinkligen,  einen  spitzen  Winkel  gemeinschaftlich  enthalten- 
den Dreiecke  yöi,  yaä  ähnlich,  also  Iy:y8^y8:ay  und  yd^^ayly 

=  120  [60  —  y  yi2ü»^^7*l  woraus  endlich  yS  sich  ergibt. 

Die  letzte  Aufgabe  ist  die,  (Fig.  69)  aus 
den  Sehnen  aß  und  ßy  die  Sehne  a^^  zu 
finden.  Zu  diesem  Zwecke  werden  die  Durch- 
messer ad  und  ßB,  außerdem  ß8,  8y,  yB 
und  8b  gezogen,  welche  letztere  wegen  der 
Kongruenz  der  Dreiecke  a/3g,  Sb^  der  aß 
gleich  sein  muß.  Der  auf  das  Sehnenviereck 
ßy8B  angewandte  ptolemäische  Lehrsatz 
liefert  nunmehr  ßS  -  ys  ^  ßy  -  8b  +  ßB  -  y8 
oder    

1/120»  -  aß^  •  /12Ö^  -Häy  ^ßy^aß  +  120  •  ^120«  -  ay\ 
wodurch  ay  bestimmt  ist. 

Zu  den  als  bekannt  vorausgesetzten  Sehnen  zurückkehrend  erhält 

demnach  Ptolemäus  aus  den  Sehnen  von  72®  und  von  60®  die  von 

72® — 60®  oder  von  12®.     Wiederholte   Halbierung  des   Bogens   lehrt 

10  30 

,  von  —    kennen.     Ptole- 


Fig.  69. 


alsdann  die  Sehne  von  6®,  von  3®,  von  1 


maus   beabsichtigt   aber    die  Sehnen   der  um  je 

Cantob,  Oeichichte  der  MathemAtik  L  8.  Aufl. 


Ghrad   steigenden 


27 


418  20.  Kapitel. 

Bögen  in  eine  Tabelle  zu  Tereinigen,  er  bedarf  also  dazu  in  erster 
Linie  der  Kenntnis  der  Sehne  von  1®,  und  dazu  verhilft  ihm  ein  Ver- 
gleichungssatz von  höchster  Eleganz.  Es  seien  (Fig.  70)  zwei  Bögen 
aß,  ßy  desselben  Kreises  gegeben,  deren  letzterer  größer  als  der 
erstere^  und  es  seien  die  Sehnen  der  einzelnen  Bögen  sowie  der  Summe 
der  beiden  gezogen,  wobei  wir  zur  Unterscheidung  der  Bögen  und 
Sehnen  jene   z.  B.   als    arcus   aßj   diese  als  chorda  aß  oder  als  a/) 

schlechtweg  bezeichnen  wollen.  Der  Winkel 
bei  ß  werde  durch  die  ^d  halbiert;  da  und 
dy  werden  gezogen,  auch  dg  senkrecht  zu  ay, 
und  mit  8s  d.  h.  mit  der  Entfernung  des 
Punktes  d  vom  Durchschnitte  der  ßd  mit  der 
a;^  als  Halbmesser  und  mit  ö  als  Mittelpunkt 
wird  ein  Kreisbogen  beschrieben,  der  einesteils 
die  da  andemteils  die  dg,  selbst  oder  in  ihrer 
Verlängerung,  in  rj  und  0  schneidet.  Nach 
dem  bekannten  Satze  von  der  Halbierung 
eines  Dreiecks  winkeis  ist  aß  :  ßy  ^  ae  :  sy,  aber  aß  <ßy,  also  auch 
as  <^By  d.  h.  ae  ist  weniger  als  die  Hälfte  von  ay^  e  fällt  zwischen 
a  und  t  ^"id  ©s  ist  demzufolge  da>  de  >  di,  woraus  weiter  folgt, 
daß  fj  auf  8a  selbst,  0  auf  der  Verlängerung  von  dg  liegen  muB. 
Dann  ist  aber  der  Kreissektor  Sei]  kleiner  als  das  Dreieck  dea,  und 
der  Kreissektor  dsO  größer  als  das  Dreieck  dag.  Aus  diesen  Ver- 
gleichungen  folgen  die  beiden  anderen: 

Preieck  def       Sektor  deO         ,   Dreieck  dsj;       Dreieck  ^«f 
Sektor  dcij        Sektor  deij  Sektor  deij        Dreieck  dea' 

aus  deren  Verbindung  hervorgeht,  daß 

Dreieck  de^        Sektor  deß 
Dreieck  äsa       Sektor  deij 

.,        Dreieck  9s^       ej;  ,    Sektor  d«Ö       arcus  b6         -p..         , 

Aber  p,    .    .   ^      —        und   ^  v^ — 5 —  == Die    gewonnene 

Dreieck  Ssa       sa  Sektor  deri       arcus  bti  ^ 

Ungleichung   heißt   also    auch    *    <  ^^5Li   .      V7ird   beiderseits    die 
od  Ba       arcus  sri 

Einheit  hinzugefügt  und  alsdann  verdoppelt,  so  entsteht 

ay       2  arcus  riß 
sa  arcus  bti 

Nun  vermindert  man  wieder  beiderseits  um  die  Einheit  und  gewinnt 

damit  ^^  <  — ^?-  —t?:^??? — 5.     Da  aber  weiter  ^  = '-^  und 
ac  arcus  t^b  üb       aß 

arcus  öe  +  arcus  0rj  __  <^  ßdy        arcus  ßy 
arcus  riB  <^ßäa       arcus  aß^ 

so  ist  endlich 

chorda  ßy  ^  arcus  ßy 
chorda  aß       arcus  aß 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus.  419 

d.  h.  der  Quotient  der  größeren  Sehne  durch  die  kleinere 
Sehne  ist  kleiner  als  der  Quotient  der  von  den  Sehnen  be- 
spannten Bögen ^).  Man  hat  erkannt ^)^  daS  Aristarchus  von 
SamoS;  ein  Astronom^  welcher  um  das  Jahr  270  lebte  und  von 
Archimed  erwähnt  wird  (S.  321),  sich  schon  dieses  Satzes  bediente, 
wenn  auch  ohne  ihn  zu  beweisen.  Aus  diesem  letzteren  Grunde  haben 
wir  darauf  verzichtet,  dort  davon  zu  reden,  wo  es  im  14.  Kapitel  der 
Zeitfolge   nach   hätte   geschehen   können.     Werden   nun   Sehne   und 

Bogen   von    1®   mit   denen   von    ly    und  von         verglichen,  so  er* 

gibt  sich 

duttda  1*       arcas  1*         ,   chorda  1^*       arcus  1\^ 
Chorda ~j«  ^  arcas  |«   ^         chorda  1«  "^  ATCufl^  ' 

«r       arcus  1**        4      arcus  14*        3  ,  -i    i  .  i  . 

-"-  chorda  1—  <  chorda  1®  <  -3-  chorda  —  • 

9  2  O  4 

Die  beiden  äußeren  Werte  heißen  nun  bis  in  den  Sekunden  überein- 
stimmend 1  •  2'  •  50",  und  somit  wird  mit  einer  Genauigkeit,  welche 
die  Sekunden  noch  zuverlässig  erscheinen  läßt,  auch  der  dazwischen 
liegende   Wert   chorda    1®  =  1  •  2'  •  50"   sein   müssen.     Jetzt  ist   die 

Sehne  von  1°  und  die  von  1   -  y  folglich  auch  die  Sehne  von    ^     be- 

1 0 
kannt,  und  die  Sehnen  aller  um  je  ^    wachsenden  Bögen  von  0  bis 

180®  einschließlich  können  gefunden  werden. 

Sie  alle  hat  Ptolemäus  in  seiner  Sehnentafel  vereinigt,  größere 
Bögen  ausschließend.  Er  tut  dieses  nicht  etwa,  weil  die  Sehne,  die 
einen  Bogen  bespannt,  der  größer  als  der  Halbkreis  ist,  zugleich  auch 
zu  einem  anderen  kleineren  Bogen  gehört,  der  den  ersten  zu  einem 
ganzen  Kreise  ergänzt,  sondern  weil  Bögen,  die  größer  als  der  Halb- 
kreis sind,  bei  ihm  überhaupt  nicht  vorkommen.  Wenigstens  führt 
er  diesen  letzten  Grund  ausdrücklich  an^),  während  wir  den  erst- 
genannten nicht  bei  ihm  finden.  Für  die  Auffindung  der  Sehnen 
von  Bögen,  welche  zwischen  zwei  in  der  Tabelle  befindlichen  ent- 
halten sind,  sorgt  eine  weitere  Kolumne  der  Proportionalteile   oder. 


^)  Dem  GtedächtnisBe  kann  man  diesen  Satz  des  Ptolemäus  besser  in  der 
fast  in  die  Sinne  fallenden,  bei  Ptolemäus  jedoch  nicht  vorkommenden  Form 
einprägen,  daß  der  Quotient  des  größeren  Bogens  durch  seine  Sehne  größer  sei 
als  der  Quotient  des  kleineren  Bogens  durch  seine  Sehne.  *)  y.  Braunmühl, 
Vorlesungen  über  Geschichte  der  Trigonometrie  I,  8,  Note  1.  ')AlmagestI, 
11  (ed.  Halma)  1,  pag.  51:  %al  i«l  t&v  i|f}ff  dh  Xa[tßavo\Uvo>v  7iBgi(psQBi&v  th 
oitowv  ^Ttaxoviö^m  (sc.  iXdööova  slvtu  iffiixvxUov). 

27* 


420  20.  Kapitel. 

wie  Ptolemäus  sagt,  der  Sechzigstel,  iiipcoöT&v,  indem  angenommen 
wird,  daß  die  Veränderung  der  Seimen  der  Bögen  innerhalb  der 
tabellarischen  Angabe  von  y  zu  y  oder  von  30'  zu  30'  der  Ver- 
änderung der  Bögen  proportional  sei.  So  steht  beispielsweise  neben 
dem  Bogen  20»  O'  die  Chorde  20 .  50  .  16,  neben  dem  Bogen  20«  30' 
die  Chorde  21  .  21  .  12.  Der  Zunahme  des  Bogens  um  30'  entspricht 
eine  Zunahme  der  Chorde  um  0  .  30  .  56,  und  findet  diese  im  Ver- 
hältnisse der  Bogenzunahme  statt,  so  ist  der  mittlere  Zuwachs  der 
Chorde  0 .  1  .  1  .  52  für  jede  Minute,  um  welche  der  Bogen  zwischen 
2(fi  und  20«  30'  zunimmt.  Diese  Zahl  0  .  1  .  1  .  52  steht  denn  auch 
in  der  dritten  Kolumne  neben  den  Zahlen  20  .  0  der  ersten,  20.50. 16 
der  zweiten  Kolumne.  Ein  Beweis  für  diese  angenommene  Propor- 
tionalität in  engem  Bereiche  ist  dagegen  nicht  vorhanden^). 

War  das  9.  Kapitel  der  Entwerfung  der  Sehnentafel  gewidmet, 
80  ist  im  11.  K!apitel  die  Trigonometrie,  und  zwar  hauptsächlich 
die  sphärische  Trigonometrie  enthalten,  sich  aufbauend  auf  den  Sätzen 
des  Menelaus,  die  hier  ohne  Quellenangabe  vorkommen^),  so  daß  man 
sie  lange  für  Erfindungen  des  Ptolemäus  hielt,  bis  im  XVII.  S.  Pater 
Mersenne  sie  ihrem  Urheber  zurückerstattete').  Der  Hauptsatz  der 
ebenen  Trigonometrie,  daß  im  Dreiecke  zwei  Seiten  sich  ver- 
halten wie  die  Sehnen  der  doppelten  Bögen,  welche  die  den  Seiten 
gegenüberliegenden  Winkel  messen,  ist  allerdings  nicht  deutlich  aus- 
gesprochen, sondern  nur  iu  anderen  Sätzen  inhaltlich  mit  enthalten. 
Vollständiger  sind  die  Sätze  der  sphärischen  Trigonometrie  an- 
gegeben. Dem  Wortlaute,  aber  nicht  dem  Gedanken  nach  moderni- 
siert lautet  seine  Darstellung  etwa  folgendermaßen*).  Wenn  Ptole- 
21'  ^     ^,  maus  (Fig.  71)  das  bei  H  rechtwinklige  Drei- 

eck AHB  berechnen  will,  so  konstruiert  er 
den  Pol  P  von  AH,  dann  den  zu  A  als  Pol 
gehörigen  Äquator  PB'H\  der  in  B\  H'  die 
verlängerten  Seiten  yfjB,  ^  H  schneidet.  Somit 
wird  B'H'  =^  cc  und  alle  in  der  Figur  vor- 
kommenden Bögen  lassen  sich  durch  a,  h,  h,  a 
und  deren  Komplemente  ausdrücken.  Nun 
Fig.  71.  kann  der  Satz  des  Menelaus  viermal  angewandt 


\1  Ideler  1.  c.  23  hat  die  Richtigkeit  der  ptolemäischen  Zahlen  geprüft 
und  hat  gefunden,  daß  sie  auf  fünf  Dezimalstellen  genau  sind.  *)  Almagest 
(ed.  Halma)  I,  pag.  50  der  Satz  für  das  ebene  Dreieck,  pag.  65  der  Satz  für 
das  sphärische  Dreieck.  ')  Vgl.  Chasles,  A))erQu  hist  298,  Deutsch  289. 
Chasles  selbst  ist  geneigt,  die  Sätze  auch  dem  Menelaus  wieder  abzusprechen 
und  hält  Euklid  für  den  Erfinder,  in  dessen  Porismen  sie  vorgekommen  seien. 
^  Wir  entnehmen  diese  Zusammenfassung  fast  wörtlich  aus  Hankel  S.  286—286, 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus.  421 

werden,  nämlich  auf  die  Dreiecke  ^BH,  PBB\  PHH\  AB'H\ 
Die  zugehörigen  Transversalen  sind  in  gleicher  Ordnung  PB'H',  AHH\ 
B'BA,  PBHj  und  die  Anwendung  des  Satzes  von  den  sechs  Größen 
liefert  die  vier  Gleichungen: 

1.  cos  h  =  cos  a  '  cos  b  oder  cos  h  «  cos  a  •  cos  b 

2.  sin  a  =  sin  a  •  sin  A  oder  sin  a  =  sin  h  •  sin  a 

3.  cos a  '  siab  '  sina^  cos  a  •  sin a      oder  tng a  =  sin  6  •  tng a 

4.  sin  6  •  cos  A  =»  cos  ft  •  cos'a  •  sin  h      oder  tng  ft  =«  cos  «  •  tng  A. 

Die  Beweise  hat  Ptolemäus  nicht  immer  gegeben  und  die  Kommen- 
•  tatoren  haben  nicht  unterlassen,   hier  die  sehr  nötigen  Ergänzungen 
eintreten  zu  lassen^). 

Die  Trigonometrie  als  Kapitel  des  I.  Buches  des  Almagestes  be- 
handelt, entspricht  vollständig  dem,  was  wir  (S.  412)  schon  andeuteten. 
Die  Trigonometrie  ist  wesentlich  zu  astronomischen  Zwecken  ent- 
standen, so  daß  die  sphärische  Trigonometrie  notwendiger  und  dem- 
zufolge auch  früher  ausgebildet  war  als  die  ebene  Trigonometrie. 
Eine  ebene  Trigonometrie  im  Dienste  der  theoretischen  Planimetrie 
ist  dem  Altertume  ebenso  fremd  wie  eine  solche  im  Dienste  feld- 
messerischer Untersuchungen,  wenn  man  von  der  einzigen  Ausnahme 
der  Zahlenformeln  Herons  für  den  Flächeninhalt  regelmäßiger  Viel- 
ecke absieht.  Die  Tatsache  mag  uns  beim  ersten  Anblicke  auffallen, 
eine  Erklärung  derselben  scheint  nicht  schwer  zu  sein.  Trigono- 
metrische Ausdrücke  als  Durchgangspunkte,  von  welchen  man  wieder 
zu  anderen  Gh-ößengattungen  gelangen  will,  sind  nicht  denkbar,  so 
lange  noch  keine  ausgebildete  Zeichensprache  der  Mathematik  vor- 
handen ist.  Bis  dahin  liefern  trigonometrische  Ausdrücke  mit  Hilfe 
von  Sehnentafeln  in  Zahlen  umgesetzt  nur  näherungsweise  richtige 
Ergebnisse.  Der  wissenschaftliche  Geometer  war  aber  abgeneigt,  sich 
mit  einer  bloßen  Annähening,  und  sei  sie  noch  so  nahe,  zufrieden 
zu  geben.  Der  unwissenschaftliche  Feldmesser  war  abgeneigt,  das 
Wissen  sich  zu  erwerben,  welches  zur  Erlernung  des  trigonometrischen 
Rechnens  unerläßlich  war.  So  überließen  beide  die  mißachteten  oder 
gescheuten  Verfahrungsweisen  der  Trigonometrie  dem  Astronomen, 
der  weniger  heikel  als  der  eine,  weniger  denkfaul  als  der  andere  der 
guten  Ergebnisse  dieser  Nährungsmethoden  sich  freute  und  bediente. 
Gehören  die  übrigen  Bücher  des  Almagestes  der  Geschichte  der 
Astronomie   an*),   und    ist    für   uns   höchstens   noch   ein   Wert  von 

Anmerkung,  da  wir  es  kaum  für  möglich  halten,  eine  bündigere  und  übersicht- 
lichere Darstellung  zu  liefern. 

*)  Theon  Alexandrinus  (ed.  Halma)  I,  pag.  248 sqq.     *)  Wolf,  Geschichte 
d.  Astronomie  S.  61—68,  eine  sehr  hübsche  Übersicht  über  den  Inhalt  des  Almagestes. 


422  w.  Ki^iteL 

3r«3.8.30Ah.-  ^^  ==  3^^^^  =-  3,141  666  ...  bemerkenswert*), 

80  liat  die  Entwicklungsgeschichte  der  Mathematik  den  Namen  des 
Ptolemäns  noch  wegen  anderer  Werke  aufzubewahren,  die  teilweise 
wieder  fftr  sie  und  f&r  andere  Disziplinen  ein  gemeinsames  Interesse 
besitzen,  teilweise  rein  mathematisch  sind. 

Wir  reden  hier  zuerst  Ton  der  mathematischen  Geographie 
des  Ptolemaus*).  Wir  erinnern  uns,  daß  Hipparch  (S.  362)  die 
Punkte  der  Erde  durch  Koordinaten  der 'Länge  und  Breite  bestimmte. 
Er  ging  von  dem  Meridiane  von  Rhodos  als  Anfang  frlr  die  Längen 
aus.  Marinus  Ton  Tyrus  im  ersten  Jahrhundert  n.  Chr.  dürfte 
den  Anfangsmeridian  nach  den  kanarischen  Inseln  Terlegt  haben,  dem 
damals  äußersten  nach  Westen  gelegenen  bekannten  Punkte').  Ptole- 
mäns folgte  auf  Marinus  und  faßt  in  vielen  Dingen  auf  dessen  Unter- 
suchungen, in  andern  ihn  tadelnd  und  verbessernd.  Auch  ihm  heißen 
die  Ausdehnungen  von  Ost  nach  West  und  von  Nord  nach  Süd 
lAnge,  fifixogy  und  Breite,  xJidrog,  weil  die  Erde,  wie  jedermann  zu- 
gestehe, mehr  Ausdehnung  in  der  ersten  als  in  der  zweiten  Abmessung 
besitze,  und  Länge  eben  die  größere  Abmessung  (S.  395)  bezeichne^). 
So  hat  sich  also  das  Eoordinatenbewußtsein  in  seiner  geographischen 
Anwendung  fortwährend  erhalten. 

Ptolemäus  ging  aber  vielleicht  in  dem  Bewußtsein,  daß  man  auf 
gewisse  Gbiindrichtungen  sich  beziehen  müsse,  noch  weiter.  Wir 
denken  dabei  an  eine  Notiz,  welche  wir  Simplicius,  dem  bekannten 
Erklärer  des  Aristoteles,  schulden.  In  den  Erläuterungen  zum 
I.  Buche  vom  Himmel  berichtet  er,  Ptolemäus  habe  Qber  die  Aus- 
dehnungen, xsqI  diaötdöemv,  geschrieben  und  dort  gezeigt,  daß 
nur  drei  Ausdehnungen  eines  Körpers  möglich  seien.  Bei  der  Un* 
bestimmtheit  dieser  Angabe  müssen  wir  allerdings  dahingestellt  sein 
lassen,  ob  man  glauben  will,  es  seien  in  jener  Schrift  Gedanken  ent- 
halten gewesen,  welche  dem  Begriflfe  von  Raumkoordinaten  nahe 
kommen. 

Wieder   an   Hipparch   sich   anlehnend,   lehrt    Ptolemäus   in   der 


»)  Almageet  VI,   7  (ed.  Halma).     Ptolemäus   sagt   ausdracklich,   dieser 
Wert  liege  nahezu  in  der  Mitte  —  (uta^v   icriv  Ifyusta  —  zwischen  8  ^    und 

8^      In    der   Tat    ist    sexagesimal    ausgedrückt   8      =^  8«  8' 34,28"    und    8 
71  •* 

«80  8' 27,04",  und  deren  arithmetisches  Mittel  ist  8<>8'80,66",  wÄhrend  8^ 
wie  in  unserem  Texte  angegeben  ist  8*8'  30"  betragt.  «)  Troite  de  G^graphie 
de  Gatide  FtoUmie  d'Alexandrie  (ed.  Halma).  P*ns  1828  »)  Wolf,  Geschichte 
der  Astronomie  S.  168.     *)  PtoUmee,  Giographte  (ed.  Halma)  pag.  17. 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus.  423 

Geographie  die  Anfertigung  Ton  Landkarten,  und  das  24.  Kapitel 
des  I.  Buches^)  ist  wohl  das  älteste  erhaltene  Schriftstück^  welches 
in  seiner  Überschrift  als  der  Abbildung  der  bewohnten  Erde  auf 
einer  Ebene  gewidmet  bezeichnet  ist,  so  daß  die  Maße  der  Lagen- 
Terhaltnisse  auf  der  Kugel  beibehalten  werden  sollen.  Verschiedene 
Projektionsmethoden  werden  hier  gelehrt,  mit  welchen  Ptolemäus  sich 
auch  in  einer  anderen  Schrift,  dem  Planisphaerium,  beschäftigt 
hat').  Ptolemäus  benutzt  yorzüglich  die  Projektion,  bei  welcher  das 
Auge  als  im  Pole  befindlich  gedacht  wird  und  die  Äquatorialebene 
die  Zeichnungsebene  bildet,  die  Projektion  also,  welcher  Aiguillon 
1613  den  Namen  der  stereographischen  beigelegt  hat.  Wieder 
eine  andere  Abhandlung  ist  das  Analemma,  das  griechisch  in  nicht 
unbedeutenden  Bruchstücken  und  lateinisch  in  einer  im  XITT.  Jahr- 
hunderte angefeitigten  Übersetzung  Tollstandig  erhalten  ist').  Es 
handelt  sich  darum,  den  Ort  der  Sonne  zu  einer  bestimmten  Tages- 
zeit zu  ermitteln,  und  diese  Aufgabe  wird  graphisch  gelöst.  Was 
nun  die  praktische  Benutzung  der  durch  Zeichnung  erhaltenen  Figur 
betrifft,  so  geht  aus  dem  Wortlaute  des  Ptolemäus  hervor,  daß  er  die 
beiden  Möglichkeiten  unmittelbarer  und  mittelbarer  Winkelmessung 
kannte  und  ausübte.  Zu  der  ersten  diente  ein  in  90  Grade  geteilter 
Kreisquadrant,  zu  der  zweiten  die  Sehnentafel.  Man  hat  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  die  Figur  selbst  die  Hälfte  der  Sehne  des 
doppelten  Winkels  als  meßbare  Strecke  darbot,  daß  also  die  Be- 
nutzung der  Sehnentafel  erst  eine  Verdoppelung  einer  Strecke,  dann 
eine  Halbierung  eines  Winkels  verlangte,  während  diese  Hilfsrech- 
nungen inWegfall  kamen,  wenn  man  das  kannte,  was  in  späterer  Zeit 
und  auf  anderem  Boden  Sinustafeln  genannt  wurde. 

Schriften  des  Ptolemäus  über  die  Harmonielehre,  d.  h.  über  die 
Verhältnisse,  welche,  wie  man  heute  sagen  würde,  zwischen  den 
Schwingungszahlen  der  einzelnen  Töne  stattfinden,  und  über  Optik  ^) 
begnügen  wir  uns  zu  nennen,  da  sie  der  Geschichte  der  Mathematik 
nicht  angehören.  Von  Arbeiten  über  Mechanik  wissen  wir  nur  über- 
haupt,  daß   sie   vorhanden  waren;  Pappus   erwähnt  ihrer  in  seinem 

*)  Ptoleniü,  Geographie  (ed.  Halma)  pag.  69.  ';  Diese  Abhandlung  hat 
Oommandinns  1668  übersetzt  und  herausgegeben.  *)  Heiberg,  Ptolemaetu 
de  anaiemmate  in  den  Abhandlungen  z.  (^esch.  d.  Mathem.  VU,  1—30  (1896) 
hat  die  griechischen  Bruchstücke  und  die  alte  Obersetzung  herausgegeben.  Über 
den  Inhalt  vgl.  A.  v.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  G^sch.  der  Trigonometrie  I, 
11 — 14  (1900)  und  die  wenig  spätere  Abhandlung  von  Zeuthen,  Note  sur  la 
triganometrie  de  VantiquüS  in  der  Bibliotheca  Mathematica,  S.  Folge,  I,  20—27 
(1900).  *)  Vgl.  Poudra,  Histoire  de  la  perspective,  Paris  1864,  pag.  28—32. 
Eine  firüher  als  Ptolemäus,  Dt  speeulis  bezeichnete  Eatoptrik  ist  nicht  von 
Ptolemäus,  sondern  von  Heron.    S.  Agrimensoren  18 — 19. 


424 


20.  Kapitel. 


VIII.  Buche  y  EntokiuB  in  seinen  Erläuterungen  zu  der  archimedi- 
schen Schrift  über  das  Gleichgewicht.  Vielleicht  hatte  Ptolemäu» 
auch  einen  Sohn,  der  ein  mechanisches  Werk  verfaßte,  in  welchem 
die  ungleicharmige  Wage  mit  Laufgewicht  beschrieben  war.  Jener 
Sohn,  so  vermutet  man^),  hieß  Charistion  und  gab  der  von  ihm 
erläuterten  Wage  seinen  Namen. 

Dagegen  hat  uns  Proklus  Auszüge  aus  einem  reingeometrischen 
Buche  des  Ptolemäus  überliefert'),  welche  verdienen,  daß  wir  bei 
ihnen  verweilen.  Aus  diesen  Auszügen  geht  hervor,  daß  Ptolemäus 
jedenfalls  der  erste  Mathematiker  war,  von  welchem  bekannt  ge- 
worden ist,  daß  er  das  sogenannte  11.  Axiom  des  Euklid  nicht 
als  selbstverständlich  betrachtet  wissen  wollte,  daß  er  die  zahllose 
Reihe  derer  eröffnet  hat,  welche  durch  Versuche  die  Parallelentheorie 
zu  beweisen  vergeblich  sich  abmühten,  bis  im  XIX.  S.  der  imendlich 
viel  kühnere  Versuch  auftauchte,  die  Parallelentheorie  als  anfechtbar 
zu  erklären  und  eine  Geometrie  zu  schaffen,  welche  von  ihr  absehend 
als  nicht- euklidische  oder  absolute  Geometrie  Geltung  beansprucht. 
Ptolemäus  beweist  zunächst,  daß  Gerade,  welche  durch  eine  Trans- 
versale so  geschnitten  werden,  daß  die  Winkel  auf  derselben  Seite 
der  Transversalen  und  auf  entgegengesetzten  Seiten  der  Geschnittenen 
sich  zu  zwei  Rechten  ergänzen,  parallel  sein  müssen,  d.  h.  sich  nicht 
treffen  (Fig.  72).     Gesetzt  aß  und   yd  schnitten  sich  in  x,  während 

die  Winkel  ß^rj  und  drj^  sich  zu 
^^  zwei    Rechten    ergänzen.     Wegen 

,  des  Satzes  über  Nebenwinkel  werden 

— /^  auch    die    Winkel    a^rj   und   yrj^ 

^<  /  ^^-^^    ®^^^    ^^    ^^^^   Rechten    ergänzen, 

"^  und   folglich   wird   auch    auf    der 

Seite,  wo  a  und  y  steht,  ein  Durch- 
schnitt der  beiden  Geraden  in  l 
stattfinden.  Die  Geraden  aß  und 
yd  schneiden  sich  also  zweimal 
in  X  und  A,  ohne  zusammenzufallen,  d.  h.  sie  schließen  einen  Raum 
ein,  was  nicht  möglich  ist.  So  wenig  gegen  diesen  Beweis  sich 
einwenden  läßt,  so  wenig  zutreffend  ist  der  Beweis,  den  Ptolemäus 
von  dem  umgekehrten  Satze  liefert,  daß  bei  wirklich  vorausgesetztem 
Parallelismus  die  entsprechenden  Winkel  auf  derselben  Seite  der 
Transversalen  sich    zu   zwei  Rechten   ergänzen  müssen.     Die  beiden 


Plg.  72. 


^)  P.  Duhem,  Les  origines  de  la  statique  I,  86—87.  *)  Proklus  (ed. 
Friedlein)  362—368.  Vgl.  L.  Majer,  Proklos  über  die  Petita  und  Axiomata 
bei  Euklid.     Tübingen,  Gjmnasialprogramm  1876. 


Geometrie  und  Trigonometrie  bis  zu  Ptolemäus  425 

a^  und  yrj,  sagt  er  nämlich,  sind  nicht  weniger  parallel  als  die  ^ß 
und  i]d.  Wäre  also  die  Summe  der  Winkel  /Sgiy  und  diyg  mehr  oder 
weniger  als  zwei  Rechte,  so  müßte  genau  das  Gleiche  für  die  Summe 
der  Winkel  cc^rj  und  yrj^  gelten.  Die  vier  Winkel  zusammen  müßten 
also,  sei  es  nun  mehr,  sei  es  weniger  als  Tier  Rechte  betragen, 
während  sie  als  zwei  Paar  Nebenwinkel  genau  vier  Rechten  gleich  sind. 

Wie  Ptolemäus  die  euklidischen  Elemente  in  der  Theorie  der 
Parallellinien  für  er^nzungsbedürftig  hielt,  so  scheint  es  damals  auch 
mit  anderen  Büchern  des  darum  nicht  minder  bewunderten  Werkes 
gegangen  zu  sein.  Wir  bringen  in  Erinnerung  (S.  348),  daß  im 
U.  S.  der  byzantinische  Astronom  Vettius  Valens  einen  aus 
2  Büchern  bestehenden  Kommentar  zum  X.  Buche  der  euklidischen 
Elemente  verfaßte,  dessen  arabische  Übersetzung  sich  möglicherweise 
erhalten  hat. 

Die  Schriftsteller,  mit  welchen  wir  in  diesem  Kapitel  bekannt 
geworden  sind,  zeigen  uns  eine  gewisse  Gleichartigkeit  unter  sich 
und  mit  denjenigen,  welche  in  dem  17.  Kapitel  besprochen  wurden. 
Wieder  haben  wir  es  mit  Geometern  zu  tun,  welche  der  Kurven- 
lehre ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten,  welche  die  Stereometrie  aus- 
bildeten, von  allen  Körpern  hauptsächlich  die  Kugel  beachtend,  welche 
der  rechnenden  Geometrie  die  Vollendung  zur  Trigonometrie  gaben, 
indem  sie  gewisse  Linien  berechneten  und  tabellarisch  zusammen- 
stellten, welche  zu  gewissen  Winkeln  gehörten.  Die  Sehnentabelle 
ist  —  wir  können  uns  nicht  versagen,  unsere  Augen  so  weit  nach 
rückwärts  zu  werfen  —  die  für  lange  Zeit  letzte  Entwicklung  eines 
alten  Keimes.  Das  Seqt  genannte  Verhältnis  des  Ahmes  wuchs  dazu 
heran,  und  es  scheint  fast,  als  ob  die  ganze  Entwicklung  auf  ägyp- 
tischem Boden  vor  sich  ging. 

Ist  aber  eine  Art  von  Gemeinsamkeit  der  Mathematiker  von 
Nikomedes  und  Diokles  bis  auf  Menelaus  und  Ptolemäus,  von  200 
V.  Chr.  bis  150  n.  Chr.  nicht  zu  verkennen,  so  ist  es  nicht  minder 
notwendig,  auf  allgemeine  kulturhistorische  Veränderungen  hinzu- 
weisen, welche  innerhalb  dieser  Zeit  eintraten,  und  welche  nunmehr 
beginnen  werden  auf  dem  Gebiete,  welches  wir  zu  unserem  Arbeits- 
felde ausgewählt  haben,  sich  deutlich  bemerkbar  zu  machen.  In  der 
Einleitung  zum  12.  Kapitel  haben  wir  (S.  259)  die  alczandrinische 
Literaturperiode  ihrem  allgemeinen  Charakter  nach  kurz  umrissen. 
Wir  haben  als  untere  Grenze  derselben  die  Einverleibung  Alexandrias 
in  das  römische  Reich  bezeichnet  in  der  Mitte  des  ersten  vorchrist- 
lichen Jahrhunderts.  Über  diese  Grenze  hat  uns  das  hier  ab- 
schließende Kapitel  hinübergeführt  und  noch  über  eine  andere  von 
weltgeschichtlich  größter  Bedeutung.    Geminus  77  v.  Chr.,  Ptolemäus- 


426  21.  Kapitel. 

150  n.  Chr.  bilden  An&ng  and  Schluß  unseres  Kapitels.  Müssen 
wir  erst  sagen,  was  zwischen  beiden  Jahreszahlen  liegt?  Und  dennoch 
war  die  Entstehung  des  Christentums  für  die  Geschichte  unserer 
Wissenschaft  ein  zunächst  fast  nebensächliches  Ereignis,  weit  gering- 
fügiger in  seinen  unmittelbaren  Einwirkungen  als  jene  Machtrer- 
schiebung,  die  wir  schon  andeuteten.  Rom  kommt  in  den  feld- 
messerischen Beispielen  des  Heron,  in  den  astronomischen  Beobach- 
tungen des  Geminus  Tor.  Auch  Menelaus  beobachtete  in  Rom. 
Ptolemäus  entnahm  seine  Datierungen  den  Regierungsjahren  römischer 
Kaiser.  Daran  erkennen  wir  äußerlich,  daß  neue  staatliche  Kombina- 
tionen innerhalb  des  Lebens  gerade  der  Männer  sich  gebildet  haben, 
welche  wir  in  diesem  Kapitel  friedlich  nacheinander  betrachteten. 
Solche  weltgeschichtliche  Tatsachen  dürfen  auch  in  der  historischen 
Darstellung  einer  Wissenschaft  nicht  mit  Schweigen  übei^ngen 
werden.  Die  Entwicklung  der  Wissenschaft  knüpfk  sich  an  die  Träger 
der  Wissenschaft;  die  Träger  der  Wissenschaft  gehören  als  Menschen 
ihrer  Zeit  an.  Deutlicher  oder  in  verwischteren  Spuren  wird  die 
Zeit  auch  in  der  Wissenschaft  zu  erkennen  sein.  Überblicken  wir 
darum  in  raschestem  Fluge  die  allgemeinen  Verhältnisse.  Wir 
gelangen  damit  zugleich  zu  denjenigen  mathematischen  Dingen,  deren 
Erörterung  uns  der  Zeit  nach  etwas  zurückgreifend  nunmehr  obliegt. 


21.  Kapitel. 
Nenpythagoräische  Arithmetiker.     Nikomachns.     Theon. 

Rom  hatte  nach  und  nach  in  Italien  das  unbestrittene  Über- 
gewicht über  die  Mitbewohner  des  Landes  südlich  Ton  den  Alpen 
errungen.  Der  Tod  des  Archimed  knüpft  sich  für  uns  an  die  Er- 
oberung von  Syrakus,  das  Todesjahr  des  Apollonius  war  es  ungefähr, 
in  welchem  Rom  mit  Mazedonien  handgemein  wurde  und  den  Sieg 
bei  Kynoskephalä  erfocht.  Zehn  Jahre  später  und  der  syrische  Krieg 
gegen  Antiochus  den  Großen  war  geschlagen.  Die  seegeübten  Be- 
wohner der  Insel  Rhodos  wie  die  Krieger  von  Pergamum  waren  den 
Römern  zur  Seite  gestanden  und  fühlten  von  jetzt  an  den  Einfluß 
der  mächtigen  Weltbe&eier,  wie  man  die  Römer  noch  nannte.  Deut- 
licher wurde  das  Streben  des  die  Stellung  als  Weltmacht  sich  er- 
obernden Staates,  als  um  150  die  Nebenbuhlerschaft  Karthagos  ver- 
nichtet ward,  und  mehr  und  mehr  drängte  sich  in  dem  nun  folgenden 
Jahrhunderte  römischer  Wille  den  orientalischen  Ländern  mit  Ein- 
schluß Ägyptens  auf.    Gegen  Ägypten  selbst  ftlhrte  Cäsar  im  Jahre  47 


KeupythagorSigche  Arithmetiker.    Kikomachus.    Theon.  427 

seine  Trappen  zum  aiexandrinischen  Kriege,  und  der  Erobeining 
der  Stadt  leuchtete  mit  bildungsfeindlicher  Flamme  der  Brand  des 
Brucheion. 

Wir  haben  von  dem  großartigen  Sammeleifer  der  ersten  Ptole- 
mäer  gesprochen.  Ihnen  fast  voraus  war  die  Gier,  mit  welcher  König 
Attalus  von  Pergamum  Bücher  sich  zu  y erschaffen  suchte,  und  diese 
Wettbewerbung  soll  die  Ursache  nachweisbar  Torgekommener  KLl- 
schungen  gewesen  sein.  Im  11.  vorchristlichen  Jahrhunderte  tauchten 
plötzlich  Schriften  auf,  von  welchen  der  sein  sollende  alte  Verfasser 
nie  eine  Ahnung  gehabt  hatte,  und  welche  wissenschaftlich  nur  so 
weit  Verwertung  finden  können,  als  sie  den  Beweis  liefern,  daß 
man  im  II.  S.  mit  den  Dingen  bekannt  war,  die  den  Inhalt  derselben 
bilden.  Durch  Ankäufe  echter  und  unterschobener  Schriften  "Wuchs 
die  alexandrinische  Bibliothek  so,  daß  sie  in  einem  Gebäude  nicht 
mehr  Platz  fand.  Nachdem  das  Brucheion.  in  der  Nabe  des  Hafens 
angefüllt  war,  legte  man  eine  zweite  Sammlung  im  Tempel  des 
Serapis  an.  Jene  erste  Hauptsammlung  war  es,  die  der  Feuersbrunst 
zum  Opfer  fiel,  die  mit  mehr  als  400000  Bänden  das  vernichtende 
Element  nährte. 

Das  war  ein  harter  Schlag  f&r  die  Wissenschaft  und  deren 
alexandrinische  Vertreter.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  wurde  zwar 
Ersatz  geboten.  Der  römerfreundliche  König  von  Pergamum,  Atta- 
lus in.,  hatte  sterbend  im  Jahre  133  v.  Chr.  den  römischen  Senat 
zum  Erben  seiner  Schätze  eingesetzt,  und  Antonius  überließ  die  per- 
gamenische  Büchersammlung  der  Stadt,  welche  durch  die  Reize  Eüeo- 
patras  an  ihm  einen  Gönner  gewonnen  hatte.  So  war  aufs  neue 
eine  großartige  Bibliothek,  jetzt  im  Serapeion,  vereinigt.  War  die 
grammatische  Tätigkeit,  welche  wir  bei  unserem  früheren  Berühren 
der  aiexandrinischen  Wissenschaft  als  im  Museum  vorzugsweise  neben 
und  wohl  vor  der  Mathematik  gepflegt  nannten,  eine  solche,  die  als 
Stoff  ihrer  Untersuchung  ältere  Schriften  verwerten  mußte,  so  mag 
jetzt,  nachdem  man  gesehen,  wie  ein  Unglücksfall  unschätzbar  vieles 
zerstört  hatte,  mehr  noch  als  zuvor  eine  Neigung  erwacht  sein,  durch 
Erläuterungen  und  Zusammenstellungen  die  alte  Wissenschaft  in 
Sicherheit  zu  bringen.  Andere  Momente  waren  gleichfalls  vorhanden, 
anderen  Beweggründen  entstammend,  aber  für  unsere  Zwecke  mit  der 
kommentierenden  Tätigkeit  zusammenfallend. 

Alexandria  war  der  Ort,  wo  Hellenen  tum,  wo  Ägyptisches,  wo 
aber  auch  Asiatisches  sich  begegneten.  Assjrer,  Inder,  Hebräer 
trafen  dort  ein,  ihre  ältere  oder  jüngere  Bildung  mit  sich  bringend, 
austauschend,  ergänzend.  Was  bei  einem  solchen  Zusammenströmen 
Weitgereister  einzutreffen  pflegt,  fehlte  auch  hier  nicht.    Der  Wissens- 


428  21.  Kapitel. 

durst  schöpfte  mit  notw^endigem  Eklektisdsmus  bald  da,  bald  dort; 
das  Wunderbarste  übte  die  größte  Anziehung;  man  fühlte  sich  Ter^* 
sucht;  selbst  nach  jenen  Gegenden^  dem  Schauplatze  märchenhafter 
Erzählungen ;  aufzubrechen;  man  gewann  aber  auch  neues  Interesse 
an  solchen^  die  ehedem  gleiche  Reisen  ausgeführt  hatten,  denen  man 
zu  den  wirklich  erlebten  Abenteuern  neue  hinzudichtete.  Die  Phan- 
tasie gewann  das  Übergewicht  über  den  nüchtern  denkenden  Ver- 
stand. Die  Dialektik  des  Aristoteles  entsprach  den  Neigungen  nicht 
mehr  in  dem  Maße  wie  Piatons  die  Einbildungskraft  anregende  und 
voraussetzende  Schriften.  Piaton  als  Schriftsteller,  Pjthagoras  als 
Persönlichkeit  zu  verehren  wurde  allgemeiner  und  allgemeiner.  Ein 
gewisser  mystischer  Pythagoräismus,  von  Wissenschaft  freilich  weit 
entfernt,  war  nie  ^Inzlich  verschollen.  Er  erholte  sich  zu  neuem, 
kräftigem  Leben.  Die  neue  Akademie  bildete  sich  heran,  die  Neu- 
pythagoräer  entstanden.  Sie  studierten,  sie  erläuterten  Piaton  im 
pythagoräischen  Sinne,  soweit  derselbe  zu  ermitteln  war. 

So  kamen  selbstverständlich  auch  diejenigen  mathematischen 
Forschungen  wieder  in  eifrigere  Übung,  welche  schon  vorher  vor- 
handen gegen  die  Geometrie  zurückgetreten  waren,  wenn  auch  ein 
Verschwinden  derselben  nicht  behauptet  werden  kann.  Die  pytha- 
goräische  Arithmetik  wurde  jetzt  Mode  in  dem  Sinne,  wie  wir  dieses 
Wort  schon  einmal  (S.  259)  gebraucht  haben.  Männer  wie  Niko- 
machus,  wie  Theon  standen  auf. 

Nikomachus  war  in  Gerasa  zu  Hause,  einem  Orte,  der  wahr- 
scheinlich in  Arabien  zu  suchen  ist^).  Er  nennt  in  einer  musika- 
lischen Abhandlung  Thrasyllus,  womit  jedenfalls  der  unter  der 
Regierung  des  Tiberius  lebende  Platoniker  aus  Mende  gemeint  ist, 
er  kann  also  nicht  früher  als  etwa  30  n.  Chr.  geschrieben  haben. 
Ihn  übersetzte  Appuleius  von  Madaura  unter  den  Antoninen  ins 
Lateinische^),  und  damit  ist  als  untere  Grenze  das  Jahr  150  etwa 
gewonneo.  Gemeiniglich  setzt  man  Nikomachus  von  Gerasa  auf 
einen  mittleren  Zeitpunkt  zwischen  diese.  Grenzen,  um  das  Jahr 
lOO  n.  Chr.,  denkt  ihn  also  etwa  als  Zeitgenossen  des  Menelaus  von 
Alexandria. 

Nikomachus  war  als  Pythagoräer  bekannt^),  als  Arithmetiker 
berühmt.  Neben  der  Tatsache  einer  Übersetzung  so  kurz  nach  dem 
Erscheinen  des  Werkes,  wie  die  des  Appuleius,  ist  der  Ausspruch  des 
Lucian  dafür  bemerkenswert,  der  um  160  etwa  einen  Rechner  nicht 

*)  Die  Stellen,  welche  diese  Annahme  unterstützen,  Tgl.  bei  Nesselmaun, 
Die  Algebra  der  Griechen  S.  189,  Note  33.  *)  So  berichtet  Cassiodorius.  Die 
Übersetzung  selbst  ist  verloren.  ')  Pappus  111,18  (ed.  Hultsch)  pag.  81  Nix6- 
(laxog  6  nvd'ayoQix6g. 


Neupythagoräische  Arithmetiker.    Nikomachus.    Theon.  429 

besser  zu  kennzeichnen  wußte  als  mit  den  Worten,  er  rechne  wie  Niko- 
machus von  6erasa^),  und  auch  von  Kommentaren  zu  den  Büchern 
des  Nikomachus,  welche  deren  große  Berühmtheit  verbürgen,  werden 
wir  weiter  unten  zu  reden  haben. 

Die  musikalischen  Schriften  des  Nikomachus  werden  wir  nicht 
zu  betrachten  haben  ^  so  wenig  wir  andere  Musiker  in  das  Bereich 
unserer  Besprechung  ziehen.  Uns  kümmert  in  erster  Linie  nur  die 
y^inleitung  in  die  Arithmetik  in  zwei  Büchern"*),  eigayayii 
äQiOfirjxixi^j  eben  jenes  von  Appuleius  bald  übersetzte  Werk,  dessen 
geschichtliche  Stellung  wir  zu  erörtern  haben.  Ein  Schriftsteller 
aus  dem  Anfange  des  YU.  S.,  Isidorus  von  Sevilla,  hat  behauptet, 
Nikomachus  habe  weitläufiger  auseinandergesetzt,  was  Pythagoras 
über  die  Zahlenlehre  schrieb*).  Wir  sind  weit  entfernt,  an  die  über- 
treibungslose Wahrheit  dieser  Aussage  zu  glauben,  allein  eben  so  ge- 
wiß scheint  uns,  daß  von  dem  Inhalte  der  Einleitung  in  die  Arith- 
metik vieles  auf  ältere  und  älteste  Quellen  zurückzuführen  sein  wird. 
Nikomachus  ist  uns  auf  arithmetischem  Gebiete  das,  was  uns  Euklid, 
was  uns  Heron  für  die  Elemente  der  theoretischen,  der  praktischen 
Geometrie  gewesen  ist.  Er  ist  der  erste  Schriftsteller,  von  dem  wir 
wissen,  daß  er  die  arithmetischen  Lehren  als  solche  zu  einem  Lehr- 
körper zusammenstellte.  Euklid  hatte  auch  Arithmetisches  behandelt, 
aber  als  Einschaltung  zwischen  geometrische  Untersuchungen  und  in 
geometrischer  Einkleidung.  Was  Herons  Einleitung  in  die  arithme- 
tischen Elemente  war,  wissen  wir  nicht.  Alle  Zweifel  schwinden  bei 
Nikomachus.  Er  hat  die  Zahlenlehre  für  sich  behandelt,  und  wenn 
er  auch  schon  vorhandenen  Stoff  sicherlich  nicht  verschmähte,  wenn 
er  ebenso  auch  die  Gewohnheit  griechischer  Mathematiker  nicht  so 
weit  abzustreifen  vermochte,  daß  er  geometrische  Begriffe  gänzlich 
aus  seiner  Darstellung  verbannte,  er  hat  doch  nicht  fortwährend  mit 
Linien  oder  höchstens  beiläufig  mit  Zahlen  zu  tun.  Er  ist,  wenn 
wir  so  sagen  dürfen,  der  Elementenschreiber  griechischer  Arithmetik. 
Er  hat  eine  Liebhaberei,  von  welcher  wir  unsere  Leser  in  Kenntnis 
setzen  müssen.  Er  sucht  so  viel  als  möglich  nach  Dreiteilungen, 
auch  wo  dieselben  nur  mit  einem  gewissen  Zwange  erlangt  werden 
können.    Die  an  sich  gerechte  Bemängelung,  die  manchen  seiner  Ein- 

*)  &Qi9iJieBis  «s  Nix6itMxog  6  reQa6riv6g.  *)  Schon  1588  in  Paris  gedruckt, 
ist  sie  1817  zugleich  mit  dem  anonymen  Buche  d'soXoyovfisva  tfjs  Segkd'iiTitixijg 
durch  Ast  herausgegeben,  dann  1866  durch  Ho  che.  Wir  zitieren  nach  letzterer 
Ausgabe.  *)  Isidorus  Hispaliensis,  Origints  III,  2:  Numeri  discipUnam  apud 
Graecos  Pythagoram  autumant  conscripsisse  ac  deinde  a  Nieomacho  diffueiuB 
esse  dispositam^  quam  apud  Latinos  primus  Appuleius  deinde  Boethius  trans» 
ttUerunt. 


430  21.  Kapitel. 

teiluQgen  geworden  ist,  mußte  stets  an  diese  Tatsache  anknüpfen^), 
eine  Tatsache  freilich,  deren  nähere  Besprechung  durchaus  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  und  der  Theologie  angehört,  welche  mit  dem 
Ursprünge  und  der  Entwicklung  des  Trinitätsbegriffes  sich  abzufinden 
haben.  Nach  dieser  Vorbemerkung  berichten  wir  in  aller  Kürze  über 
die  Einleitung  in  die  Arithmetik^).  Unsere  Leser  werden,  auch  ohne 
daß  wir  sie  besonders  aufmerksam  machen,  ohne  Zweifel  vieles  er- 
kennen, was  wir  in  früheren  Kapiteln  dem  Werke  des  Nikomachus 
entlehnten,  um  es  für  Pythagoras  und  seine  Schule  bis  auf  Piaton 
und  dessen  nächste  Nachfolger  in  Anspruch  zu  nehmen. 

Die  Zahlen  sind  nach  Nikomachus  gerade  und  ungerade,  jede 
selbst  yon  drei  verschiedenen  Gattungen.  Die  geraden  Zahlen  sind 
nämlich  1.  gerademalgerad,  agriäxig  ägrioL,  d.  h.  führen  durch  fort- 
währende Halbierung  auf  die  Einheit  zurück;  oder  sie  sind  2.  gerade- 
ungerad,  äQxi,o7taQLttoi,y  d.  h.  führen  durch  einmalige  Halbierung  auf 
eine  ungerade  Zahl;  oder  sie  sind  3.  ungeradegerad,  XEgLöödgrioL,  d.  h. 
führen  durch  mehrmals  fortgesetzte  Halbierung  auf  eine  ungerade  Zahl. 
Die  ungeraden  Zahlen  sind  1.  unzusammengesetzte  Primzahlen, 
2.  zusammengesetzte  Sekundärzahlen,  3.  unter  sich  teilerfremde  Zahlen. 
Unter  den  geraden  Zahlen  wird  eine  neue  (Jruppierung  in  1.  voll- 
kommene, 2.  überschießende,  3.  mangelhafte  Zahlen  vorgenommen. 
Die  vier  ersten  vollkommenen  Zahlen  sind  6, 28, 496, 8128,  jedesmal  eine 
unter  den  Einem,  Zehnem,  Hundertern,  Tausendern,  abwechselnd  mit 
6  und  8  schließend").  Die  euklidische  Entstehung  der  vollkommenen 
Zahlen  wird  dann  erörtert,  welche  ins  Unendliche  fortgesetzt  werden 
könne^),  oder  soweit  man  mit  den  Ausrechnungen  zu  folgen  imstande 
sei^).  Von  zwei  gemeinsam  betrachteten  Zahlen  ist  die  größere 
entweder  ein  Vielfaches  der  kleineren,  die  alsdann  selbst  Unterviel- 
faches der  größeren  ist,  oder  nicht.  Im  letzteren  Falle  werden  die 
Namen  angegeben,  welche  jedesmal  der  größeren,  beziehungsweise 
der  kleineren  gegenüber  von  der  anderen  beigelegt  werden,  Namen, 
die  jedes  beliebige  Verhältnis  ausdrücken  können,  die  aber  ganz  be- 
sondere, später  auch  in  die  lateinische  Sprache  übergegangene  Formen 

erhalten,   wenn   das  Verhältnis   wie   1   zu  n -{ r-  -  oder   wie   1  zu 

n  -\ ,  —  ist,  wo  n  sowohl  als  m  ganze  Zahlen  bedeuten,   die  min- 

')So  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  196:  , Nikomachus  hätte 
sicherlich  diesen  Fehler  nicht  begangen,  wenn  er  nicht  der  Analogie  wegen 
durchaus  drei  Teile  hätte  herausbringen  wollen.'*  *)  Ein  ausführlicher  Auszug 
bei  Nesselmann  1.  c.  S.  191 — 216.  •)  Nicomachi  Introdtictio  etc.  (ed.  Hoche) 
pag.  40.  *)  Ebenda  pag.  41  lin.  18  iiixQts  äxelgov,  ')  Ebenda  pag.  48  lin.  18 
bis  19  &bI  8vtoDg,  y^xQi'S  ctv  B^ftovfj  tig  TcaQintcQ'at, 


Neupythagoräische  Aritbrnetiker.    Nikomachns.    TheoD.  431 

destens  der  Einheit  gleich  sind.  Um  die  Sache  recht  klar  zu  machen, 
bedient  sich  Nikomachns  einer  schachbrettartig  ans  100  Feldern  be- 
stehenden TafeP).  Die  erste  Horizontalzeile  enthält  einfach  die 
Zahlen  1  bis  10^  die  zweite  die  Doppelten  derselben,  2,  4  bis  20, 
die  dritte  die  Dreifachen,  3,  6  bis  30  und  so  fort;  endlich  die  zehnte 
Horizontalzeile  enthält  die  Zehnfachen  jener  Zahlen  oder  10,  20  bis  100. 
Sieht  man  die  Tafel  als  aus  zehn  Yertikalkolumnen  bestehend  an,  so 
gleicht  jede  Vertikalkolumne  ganz  genau  und  Zahl  für  Zahl  der  ent- 
sprechend bezifferten  Horizontalzeile,  die  erste  der  ersten,  die  zweite 
der  zweiten,  die  zehnte  der  zehnten.  Wir  halten  uns  bei  dieser  Be- 
schreibung etwas  länger  auf,  weil  die  Benutzbarkeit  der  Tafel  als 
Einmaleinstabelle  einleuchtet.  Das  Produkt  zweier  einziffriger 
Zahlen  steht  an  der  Kreuzungsstelle  der  durch  die  beiden  Faktoren 
bezifferten  Zeile  und  Kolumne.  Außerdem  stehen  zwei  Zahlen  der- 
selben Kolumne  je  in  dem  gleichen  Verhältnisse  wie  die  ihre  Zeile 
eröffiienden  Zahlen.  Alle  diese  verschiedenen  Verhältnisse  lassen  sich 
aber  aus  einer  Teme  von  Einheiten  durch  eine  gewisse  Reihenfolge 
Ton  Verbindungen  hervorbringen,  welche  symbolisch  geschrieben 
darauf  hinauslaufen,  daß  aus  den  drei  Zahlen  a,  b,  c  die  drei  neuen 
Zahlen  a,a  +  b,a  +  2b  +  c  gebildet  werden  sollen,  ein  Bildungsgesetz, 
welches  der  moderne  Mathematiker  mit  einigem  Staunen  als  das 
gleiche  erkennen  wird,  das  anderthalb  Jahrtausende  später  zu  den 
Größen  x,  x  +  ^Xj  x  +  2^x  +  /:l^x  führte.  Der  Reihe  nach  er- 
hält man: 

1, 1,  1 

1,  2,     4  oder  die  Verdoppelungen, 

1,  3,     9  oder  die  Verdreifachungen, 

1,  4,  16  oder  die  Vervierfachungen,  usw. 

Schreibt  man  eine  dieser  Reihen  z.  B.  die  der  Verdoppelungen 
rückläufig  4,  2,  1,  d.  h.  benutzt  man   bei  gleichem  Bildungsgesetze 
wie  oben  a  «  4,  6  «=  2,  c  «  1,  so  entsteht  als  neue  Reihe 
4,  6,  9  oder  die  Veranderthalbfachungen  usw. 

Im  zweiten  Buche  ist  die  Lehre  von  den  figurierten  Zahlen  und 
daran  sich  anschließend  die  von  den  Proportionen  enthalten.  Die 
figurierten  Zahlen  erscheinen  als  vieleckige  und  als  körperliche 
Zahlen.  Die  vieleckigen  Zahlen  sind  solche,  welche  durch  einzelne 
Punkte  dargestellt  ein  regelmäßiges  Vieleck  zu  bilden  imstande 
sind.  Vielecke  aufeinander  gehäuft  bilden  einen  Körper,  und  so 
wird  der  Sinn  der  körperlichen  Zahl  erkennbar,  die  freilich  zunächst 


^)  Nicomacbi  Introdtictio  etc.  (ed.  Ho  che)  pag.  61. 


432  21.  Kapitel. 

nichts  mit  dem  Produkte  dreier  Faktoren  gemein  hat,  welches  Piaton 
als  Korperzahl  bezeichnet,  wenn  auch  Nikomachus  in  zweiter  Linie 
auf  diese  Begriffsbestimmung  zurückkommt.  Ahnlich  geht  es  schon 
Yorher  mit  der  Flächenzahl,  welche  für  Nikomachus  nicht  wie  für 
Piaton  ein  Produkt  zweier  Faktoren  bedeutet,  während  nachträglich 
diese  Bedeutung  doch  eingeführt  wird.  Jede  vieleckige  Zahl  ist  bei 
Nikomachus,  wie  bei  Hypsikles,  Summe  einer  mit  1  beginnenden 
arithmetischen  Reihe,  deren  Differenz  stets  um  2  kleiner  ist  als  die 
Eckenzahl,  und  diese  erzeugende  arithmetische  Reihe  heißt  auch  die 
Reihe  der  Gnomonen  der  betreffenden  Vieleckszahlen,  weil  jede  neu 
hinzutretende  GFnomonzahl  die  Yieleckszahl  nur  in  die  nächsthöhere 
ähnlicher  Art  verwandelt.  Eine  beliebige  neckszahl  mit  der  an  Rang 
um  1  niedrigeren  Dreieckszahl  vereinigt  gibt  stets  die  n  +  1  ecks- 
zahl  gleichen  Ranges.  So  ist  z.  B.  die  vierte  Sechseckszahl  28,  die 
dritte  Dreieckszahl  6,  deren  Summe  28  +  6  =  34  wird  die  vierte 
Siebeneckszahl  sein.  —  Die  Summe  aufeinander  folgender  ungerader 
Zahlen  von  der  1  an  bildet,  der  vorher  angegebenen  Regel  für  Viel- 
eckszahlen gemäß,  eine  Quadratzahl.  Die  Summe  aufeinander  fol- 
gender gerader  Zahlen  von  der  2  an  bildet  eine  heteromeke  Zahl.  — 
Die  Kubikzahlen  erscheinen  als  Summen  aufeinander  fol- 
gender ungerader  Zahlen^),  und  zwar  ist  die  erste  Eubikzahl  der 
ersten  Ungeraden  gleich:  1^=»1;  die  zweite  Eubikzahl  entsteht  als 
Summe  der  zwei  folgenden  Ungeraden:  2*  =«  3  +  5;  die  dritte  Kubik- 
zahl  als  Summe  der  drei  nachfolgenden  Ungeraden:  3*  =  7  +  9  +  11  usw.'). 
Dieser  durch  seine  Verwendung  zur  Summierung  der  Kubikzahlen 
selbst,  wie  wir  im  26.  Kapitel  sehen  werden,  ungemeüi  interessante 
Satz  dürfte  wohl  von  Nikomachus  herrühren*).  —  Die  Proportionen- 
lehre zählt  alsdann  als  die  drei  wichtigsten  Proportionen  die  arith- 
metische, geometrische,  harmonische  auf,  an  welche  die  sieben  andern 
sich  anschließen,  über  die  wir  (S.  239)  uns  verbreitet  haben.  Den 
Schluß  des  Ganzen  bildet  die  vollkommenste  Medietät,  iieöörrjg  tsXeio- 
rdrr^,  die  nichts  anderes  ist  als  die  musikalische,  welche  Jamblichus 
zufolge  Pjthagoras  aus  Babylon  mitbrachte  (S.  166). 

Außer  der  Einleitung  in  die  Arithmetik  muß  Nikomachus  auch 
eine  solche  in  die  Geometrie  geschrieben  haben,  von  welcher  uns 
aber  nur  eine  Erwähnung  bei  Nikomachus  bekannt  ist*).     Vielleicht 


*)  Nicomachi  Introductio  etc.  (ed.  Hoche)  pag.  119,  lin.  12—18.     *)  Die 
allgemeine  Formel,   welche  Nikomachus  nicht  gekannt   zu  haben  scheint,   ist 

n»=(n«  — n+ 1)  +  (n*  —  n -1-3)  H 1- (n*  +  n  —  1).         »)    So    nimmt    auch 

Nesselmann  S.  210  an.     *)  Nicomachi  Introductio  etc.  (ed.  Hoche)  pag.  83, 
lin.  4:  iv  rfi  yecoficrpix^  ^agadlöotai  g/ffaywyj. 


NeupythagorftiBche  Arithmetiker.     Nikomachus.    Theon.  433 

ist  eine  Vermutung  über  deren  Inhalt  statthaft,  zu  welcher  wir  im 
27.  Kapitel  gelangen  werden. 

Ein  aus  arabischen  Quellen  schöpfender  Schriftsteller  des  XII.  S.^ 
Ocreatus,  spricht  von  einer  regula  Nicomachi,  welche  die  Quadriemng 
einziffriger  Zahlen  vollziehen  lafit.  Soll  man  a'  finden,  so  zieht  man 
a  7on  10  und  die  -Bifferenz  df  —  10  —  a  wieder  von  a  ab.  Weil  nun 
Ca  —  d)  •  (a  +  rf)  —  a*  —  cP,  so  ist  auch  a*  —  (a  —  rf)  •  (a  +  rf)  +  <? 
oder  wegen  a  +  d  -*  10  in  diesem  Falle  a*  «-  10.  (a  —  d)  +  rf*  und 
das  ist  die  Regel  des  Nikomachus.  Bei  Nikomachus  selbst  ist  sie 
als  sehr  schöne  und  von  den  meisten  übersehene  Eigenschaft  der 
stetigen  arithmetischen  Proportion  dahin  ausgesprochen ,  das  Quadrat 
des  Mitte^liedes  werde,  wenn  man  das  Produkt  der  äußeren  Glieder 
davon  abziehe,  gleich  dem  Quadrate  der  konstanten  Differenz^). 

Nikomachus  scheint  femer  eine  Schrift  über  mystische  Bedeutung 
der  Zahlen,  über  Zahlentheologie  mag  der  Titel  gewesen  sein, 
verfaßt  zu  haben,  und  sie  dürfte  auszugsweise  oder  erweitert  einem 
gleichnamigen  Buche  zugrunde  liegen,  welches  im  23.  Kapitel  ge- 
nannt werden  wird;  der  Geschichte  der  Mathematik  gehören  diese 
Dinge  kaum  an. 

Theon  von  Smyrna  ist  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  der- 
selbe, welchen  Ptolemäus  als  den  Mathematiker  Theon  bezeichnet'), 
indem  er  vier  durch  denselben  in  den  Jahren  128  und  132  vorge- 
nommene Beobachtungen  des  Merkur  und  der  Venus  benutzt.  Der  Kom- 
mentator des  Almagestes,  Theon  von  Alexandria,  erklärt  nämlich 
jttien  Mathematiker  Theon  als  den  alten  Theon,  rov  naXaiov  Siaiva^ 
als  ob  ein  Mißverständnis  nicht  möglich  wäre').  Unser  Theon 
selbst  erwähnt  als  jüngsten  Schriftsteller  noch  den  ThrasyUus,  der, 
wie  wir  bei  Bestimmung  der  Lebenszeit  des  Nikomachus  bemerkten, 
in  die  Regierung  des  Tiberius  fällt,  und  den  Adrastus,  der  wohl  noch 
etwas  später  gelebt  hat^). 

Wir  haben  (S.  155)  schon  zu  schildern  gehabt,  welcherlei  Inhalt 
Theon  von  Smyrna  seinem  Werke  ausgesprochenermaßen  geben  wollte. 
Er  beabsichtigte  vorzutn^en,  was  von  mathematischen   Kenntnissen 

^)  Nicomachi  Introdikdio  etc.  (ed.  Hoche)  pag.  125,  lin.  18 — 21:  Ui  xh 
yhttpvQinavov ^%al  xoh^  noXXoh^  XBXrfi6g^  xh  vnh  xmv  &xQmv  yiv6\LBvov  6VY%iftv6' 
fuvov  tq>  &nh  roO  iiiöov  iXccvxov  aifvoü  Bbglaxerai  x^  'bnb  x&v  diatpoq&v,  *)  Al- 
magest  IX,  9;  X,  1  und  X,  2.  ')  Die  betreffende  Stelle  ist  abgedruckt  bei 
Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  224,  Note  58.  *)  Vgl.  Th.  H.  Martin 
in  der  Abhandlung,  welche  seiner  Ausgabe  der  astronomischen  Abteilung  von 
Theons  Werke  (Paris  1849)  als  Einleitung  dient  pag.  6—12.  Martin  bezweifelt 
die  Identit&t  des  Theon  von  Smyrna  mit  dem  von  Ptolemäus  genannten  Mathe- 
matiker, setzt  ihn  aber  in  die  gleiche  Zeit,  worauf  es  uns  schließlich  allein  an- 
kommt. 

Caxtob,  0«ichiohi«  der  MatheinAtlk  L  S.  Aafl.  28 


434  21.  Kapitel. 

für  das  Studium  Piatons  notwendig  sei.  Er  ging  dabei  ans  von  der 
Arithmetik  mit  Inbegriff  der  musikalischen  Zahlenverhaltnisse,  darauf 
sollte  die  Behandlung  der  Geometrie,  der  Stereometrie,  der  Astro- 
nomie, der  Musik  der  Welten  folgen.  Man  hat  daraus  lange  Zeit 
die  Vermutung  geschöpfb,  es  seien  fünf  Bücher  ziemlich  gleichen  Um- 
£Euiges  gewesen,  welche  das  Werk  des  Theon  von  Smyma  bildeten, 
und  diese  Vermutung  fand  eine  Art  Fon  Begründung  in  dem  Um- 
stände, daß  zwei  verschiedene  umfangreiche  Bruchstücke  sich  vor- 
fanden, das  eine  vorzugsweise  arithmetischen,  das  andere  vorzugsweise 
astronomischen  Inhaltes.  Beide  wurden  getrennt  herausgegeben*). 
In  dem  einen  glaubte  man  das  erste,  in  dem  zweiten  das  vierte  Buch 
zu  erkennen.  Man  vermißte  drei  ganze  Bücher  von  ähnlichem^  Cha- 
rakter: der  Geometrie,  der  Stereometrie,  der  Musik  der  Welten  ge- 
widmet. Wir  sind  nicht  dieser  Meinung  und  stehen  in  unserer 
durchaus  abweichenden  Ansicht  auch  nicht  vereinzelt*).  Wir  er- 
kennen vielmehr  in  jenen  beiden  Fragmenten  das  ganze  Werk  Theons. 
Nach  einer  philosophischen  Einleitung  erscheinen  Einteilungen  der 
Zahlen  in  Gattungen  ähnlicher  Art,  wie  sie  bei  Nikomachus  uns  be- 
kannt wurden.  Da  ist  von  der  Entstehung  der  Quadratzahl  als 
Summe  ungerader  Zahlen,  aber  auch  als  Summe  von  je  zwei  Dreiecks- 
zahlen, von  Viereckszahlen  und  Pyramidalzahlen,  von  vollkommenen 
Zahlen  und  Verwandtem  die  Rede,  darunter  von  zwei  Gegenständen, 
denen  wir  nachher  besondere  Aufinerksamkeit  schenken  wollen.  Daran 
knüpfen  sich  Eapitel  über  die  Tonzahlen  untermischt  mit  weitläufig 
ausgesponnenen  zahlensymbolischen  Tüfteleien,  die  auch  schon  in  der 
ersten  Abteilung  spukten,  untermischt  mit  Erörterungen  über  die 
verschiedenen  Proportionen.  In  kurzen  kaum  mehr  als  einige  Wort- 
erklärungen bietenden  Abschnitten  ist  von  Geometrie  und  von  Stereo- 
metrie die  Rede').  Weitaus  am  ausführlichsten  ist  alsdann  die  Astro- 
nomie behandelt,  vielleicht  in  diesem  mangelnden  Ebenmaße  der  An- 
sicht förderlich,  daß  Theon  von  Smyma  vorzugsweise  Astronom, 
mithin  der  von  Ptolemäus  genannte  Beobachter  war.  Die  Schluß- 
worte heißen:  „Das  sind  die  notwendigsten  Dinge  und  vorzugsweise 

')  Die  sogenannte  Arithmetik  von  Bullialdus.  Paris  1644  und  von  De 
Gelder.  Leiden  1827,  die  sogenannte  Astronomie  von  Martin.  Paris  1849. 
*)  Prof.  E.  Hiller,  welchem  wir  unsere  Ansicht  brieflich  darlegten,  teilte  un» 
mit,  daß  er  die  genau  gleiche  in  seiner  Bonner  Habilitationsschrift  (1869),  welche 
ungedruckt  geblieben  ist,  ausgesprochen  und  begründet  habe.  Diese  Auffassung 
liegt  auch  der  durch  ihn  besorgten  Ausgabe  des  Theon  yon  Smyma  (Leipzig 
1878),  nach  welcher  wir  zitieren,  zugrunde.  •)  Theon  Smyrnaeus  (ed.  Hiller) 
pag.  111,  lin.  14  bis  pag.  118,  lin.  8  und  pag.  117,  lin.  12  bis  pag.  118,  lin.  3. 
Die  erstere  Stelle  enthält  planimetrische  und  stereometrische  Definitionen,  die 
letztere  die  geometrische  Konstruktion  eines  geometrischen  Mittels. 


Nenpythagor&ische  Arithmeiiker.    Nikomachus.    Theon.  435 

aus  der  Astronomie  zur  Eenntnisnahme  platonischer  Schriften.  Da 
wir  aber  sagten,  die  Musik  und  Harmonie  sei  teils  an  Instrumenten, 
teils  an  Zahlen,  teils  am  Weltall,  und  daß  wir  über  die  Musik  der 
Welten  das  Notwendige  nach  der  Astronomie  angeben  würden  —  denn 
auch  Piaton  sagt,  sie  sei  die  fünfte  Wissenschaft  nach  Arithmetik, 
Geometrie,  Stereometrie,  Astronomie  —  so  ist  auch  darüber  mitzu- 
teilen, was  hauptsächlich  Thrasyllus  zeigte  zugleich  mit  dem,  was  wir 
früher  selbst  ausgearbeitet  haben.'^  Diese  Sätze  machen  auf  uns  den 
Eindruck,  als  wenn  sie  einem  Werke,  nicht  bloß  einem  Abschnitte 
als  Schluß  gedient  hätten,  als  ob  Theon  die  zuletzt  yersprochene  welt- 
harmonische Erörterung  sich  vorbehalten  hätte.  Mag  dem  nun  sein 
wie  da  wolle,  wesentliche  Lücken  zwischen  dem  Erhaltenen  können 
wir  uns  unter  keinen  Umständen  entschließen  anzunehmen;  höchstens 
könnten  wir  uns  dazu  yerstehen,  an  eine  Umstellung  mancher  Kapitel 
zu  glauben,  da  es  eigentümlich  sich  ausnimmt,  wie  Theon  verschiedent- 
lich auf  früher  Besprochenes  zurückkommt,  ohne  daß  eine  künstle- 
rische Anordnung  des  Werkes  die  Wiederholung  erforderte.  Viel- 
leicht sind  solche  Mängel  auch  der  geringeren  Befähigung  Theons  an- 
zurechnen. Theon  war  bei  weitem  kein  Nikomachus!  Seiner  Zu- 
sammenstellung fehlt  nach  Form  und  Inhalt  die  Folgerichtigkeit.  Er- 
wähnen wir  ein  Beispiel,  welches  geschichtlichen  Wert  besitzt. 

„Die  Einheit  ist  nicht  Zahl,  sondern  Anfang  der  Zahl'',  sagt 
Theon  ^),  den  pythagoräischen  Gedanken  deutlicher  als  irgend  ein 
anderer  Grieche  aussprechend;  das  hindert  ihn  aber  nicht  1  neben 
3,  5  . . .  als  ungerade  Zahl^)  oder  mit  nachfolgenden  2,  3,  4  ...  in 
der  natürlichen  Zahlenreihe  auftreten  zu  lassen'). 

Es  fällt  uns  nach  dieser  nicht  sehr  hohen  Meinung,  welche  wir 
von  Theon  besitzen,  schwer  in  ihm  den  Erfinder  bedeutsamer  arith- 
metischer Neuerungen  zu  sehen,  und  damit  wächst  umgekehrt  die 
historische  Benutzbarkeit  seiner  Angaben  für  alte  Zeiten.  Älteren 
Datums  dürften  daher  auch  die  Dinge  sein,  auf  welche  zurückzukommen 
wir  oben  zugesagt  haben.  Jede  Quadratzahl,  sagt  uns  Theon ^),  ist 
entweder  selbst  oder  nach  Verminderung  um  eine  Einheit  durch  3 
wie  auch  durch  4  teilbar,  und  so  entstehen  vier  i!rten  von  Quadrat- 
zahlen durch  Vereinigung  jener  beiden  selbständigen  je  zwei  Unter- 
arten bedingenden  Unterscheidungen.  Es  ist  ziemlich  gleichgültig, 
wann  man  diesen  Satz  entdeckte,  der  freilich  der  Lehre  von  den 
quadratischen  Resten  angehört,  aber  eine  große  praktische  Bedeutung 
nicht  besitzt. 


*)  Theon  (ed.  Hiller)  pag.  24,  lin.  23.     *)  Theon  pag.  28,  5  und  32,  11. 
")  Ebenda  pag.  33,  4.     *)  Ebenda  pag.  85,  17  etc. 

28  • 


436  2i-  Kapitel. 

Ganz  anders  yerhalt  es  sich  mit  den  Seiten-  und  Diametral- 
zahlen,  nksvgA  und  didfiSTQogy  mit  welchen  Theon  sich  beschäftigt^). 
Die  Entstehung  dieser  Zahlen  ist  folgende.  Ausgehend  von  zwei 
Einheiten  bildet  Theon  neue  Zahlen,  indem  er  einmal  die  beiden  ge- 
gebenen Zahlen  addiert  1  +  1^2  nnd  das  andere  Mal  das  Doppelte 
der  einen  Zahl  zur  anderen  fügt  2  •  1  +  1  *"  3.  Es  soll  hier  nicht 
Tersaumt  werden,  auf  Ähnliches  bei  Nikomachus  (S.  431)  erinnernd 
zurückzuverweisen.  Von  den  beiden  so  gewonnenen  Zahlen  heißt 
ihm  die  kleinere  2  die  Seite,  die  größere  3  die  Diametralzahl.  Diese 
Bildungsweise  wird  alsdann  fortgesetzt,  indem  die  Summe  einer  Seite 
und  ihrer  Diametralzahl  die  folgende  Seite,  die  Summe  der  doppelten 
Seite  und  der  Diametralzahl  die  folgende  Diametralzahl  liefert.  Heißen 
etwa  alle  Seiten  a,  alle  Diametralzahlen  8  mit  jedesmal  beizufügen- 
der Ordnungszahl,  so  ist  das  Bildungsgesetz  a„«i  +  *„«i  ■- «„  und 
2a^_i  +  d^_i  =  d^.  Das  Quadrat  einer  jeden  Diametralzahl,  be- 
hauptet nun  Theon,  imterscheidet  sich  von  dem  doppelten  Quadrate 
der  zugehörigen  Seite  nur  um  eine  Einheit,  um  welche  bald  die  eine, 
bald  die  andere  Zahl  abwechselnd  größer  ist.  Einen  Beweis  für 
diesen  Lehrsatz: 

wird  man  bei  Theon  vergeblich  suchen,  richtig  aber  ist  er,  wie  die 
Werte  «1  =  1,  di  «  1;  «i  =- 2,  d,  —  3;  «,«5,  ds  =- 7;  «4-12, 
ö^  »  17  usw.  zeigen.  Allgemein  folgt  aus  den  Definitionsgleichungen 
fttr  «^  und  d^,  daß 

2<-9f.  —  (2«ii_i -*;_,) 

und  durch  Fortsetzung  der  gleichen  Schlußart: 

2«;  -  d»  -  (-  l)-»(2«f  -  d?)  =  (-  l)->(2  -  1)  -  (-  1)-' 
und 

dj  =  2«;  +  (- 1)«. 

Jedenfalls  kann  man  aus  dem  als  wahr  angenommeuen  Satze  die 
Folgerung  ziehen,  daß  —  sich  nur  wenig  von    y  2   unterscheide,  daß 

n 
1  4         ft        1 7 

also   i7>  yy  yi  7ö    ^^^'    aufeinander   folgende    Näherungswerte    von 

*)  Theon  pag.  43,  6  etc.  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  228—881 
bat  eine  von  unserer  Auffassung  yerschiedene  Erklärung  dieser  Stelle.  Mit  uns 
stimmt  dagegen  überein  Unger  in  einem  Erfurter  G^jmnasialprogramm  von  1848: 
Euner  Abriß  der  Geschichte  der  Zahlenlehre  von  Pythagoras  bis  auf  Diophant 
8.  17—19. 


Neapythagoiäische  Arithmetdker.    Nikomachus.    Theon.  437 

y2  sein  müssen.  JedenMls  deuten  femer  die  Namen  Seiten-  und 
Diametralzahl  mit  ihren  Beziehungen  zur  Seite  und  Diagonale 
eines  Quadrates  darauf  hin,  daß  Theon  sich  dieser  Anwendung  be- 
wußt war.  Um  so  wahrscheinlicher  wird  die  Vermutung^  man  werde 
bei  Erfindung  seines  Satzes  von  einem  wesentlich  geometrischen  Ge- 
dankengange geleitet  worden  sein.  Man  hat  an 
folgende  Entwicklung  gedacht*).  Es  sei  (Fig.  73) 
^Br  ein  gleichschenklig  rechtwinkliges  Dreieck 
mit  den  Seiten  a^_i,  a«_i;  *«_!•  Werden  nun 
die  beiden  Katheten  jede  um  ^^.^  verlängert^ 
so  entsteht  das  neue  gleichschenklig  rechtwink- 
lige Dreieck  AJE  mit  den  Seiten  «„,  a^,  8^. 
YorauBsetzungsmäßig  ist  «„  =  a„_i  +  tf,_i,  aber 
aus  der  Figur  sieht  man  dann  sofort^  daß 
tf^  =  2a^_i  +  tf^_i  sein  muß.  Natürlich  ist  die  hier  gezeigte  Kon- 
struktion falsch^  indem  die  Diagonale  des  Quadrates  von  rationaler 
Seitenlange  irrational  ist;  aber  um  immer  nähere  Werte  zu  erhalten, 
mußte  man  geometrisch  yon  der  falschen  Hypothese  einer  rationalen 

7 

Diagonale  ausgehen.  Wir  haben  -  •  mehrfach  als  mutmaßlich  seit 
Piaton  bekannten  Näherungswert  von  ^2  auftreten  sehen.  Der  darauf 

17       .        . 

folgende  Bruch  ^  ^  wird  im  30.  Kapitel  uns  erinnerlich  werden  müssen. 
Dadurch  wächst  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  man  der  erwähnten  Fol- 
gerung von  dem  Zusammenhange  zwischen  }/2  und  — "    sich    bewußt 

war,  wenn  die  Folgerung  selbst  bei  Theon  auch  nicht  gezogen  ist. 
Berücksichtigt  man  weiter,  daß  die  Bildungsgesetze  der  Seiten-  und 
der  Diametralzahlen  genau  dieselben  sind,  welche  die  Nenner  und 
Zähler  der  aufeinanderfolgenden  Näherungsbrüche  fQr  den  Kettenbruch 

1+1 

2  +  1 

2>J_ 

2  +  ... 

entstehen  lassen,  so  wird  man  wohl  zu  der  (S.  317)  ausgesprochenen 
Behauptung  genötigt,  die  Griechen  seien  natürlich  nicht  der  Form 
nach,  aber  der  Sache  nach  mit  der  Kettenbruchentwicklung  von  y2 
und  mit  dem  Gesetze  der  Näherungsbrüche  dieses  Kettenbruches  be- 
kannt gewesen.  Wir  brauchen  nun  nicht  mehr  zu  sagen,  wie  wichtig 
es  wäre,  darüber  unterrichtet  zu  sein,  ob  auch  die  Bildung  der  Seiten- 


»)  P.  Bergh  in  Zeitechr.  Math.  Phys.  XXXI,   HiBtor.-literar.  Abtlg.  S.  185. 


438  22.  Kapitel. 

und  der  Diametralzahlen,  wie  sie  bei  Theon  sich  Torfindet,  vorplato- 
nischen  Ursprunges  war? 

Eine  Stelle^  auf  welche  wir  noch  aufinerksam  zu  machen  haben^ 
ist  diejenige^  wo  erörtert  wird,  die  Zahl  5  sei  arithmetisches  Mittel 
zwischen  l  und  9,  zwischen  2  und  8,  zwischen  3  und  7.  Diese  Tat- 
sache ist  nämlich  durch  das  Zahlenquadrat 


1 

4 

7 

2 

5 

8 

8 

6 

9 

erläutert^)  und  zeigt  dadurch  einen  ersten  Anfang  wenn  auch  nur  un- 
vollkommener magischer  Quadrate. 


22.  Kapitel. 
Sextus  Julius  Africanus.     Pappns  von  Alexandria. 

Wir  gelangen  zum  III.  S.  nach  Christi  Geburt.  Um  die  Zeit 
<ies  Kaisers  Alexander  Severus,  welcher  220 — 230  regierte,  schrieb 
Sextus  Julius«  Africanus  seine  Kesten.  Der  römische  Name 
des  Schriftstellers  würde  ihm  in  einem  anderen  Kapitel  seinen  Platz 
anweisen^  wenn  nicht  die  griechische  Sprache,  deren  er  sich  bediente, 
uns  yeranlaßte,  seiner  hier  zu  gedenken.  Kesten  bedeutet  wörtlich 
,,mit  der  Nadel  Durchstochenes^'  und  als  Titel  eines  Werkes  soll  das 
wohl  so  yiel  sagen  als  „Aneinandergeheftetes'^  Aneinandergeheftete 
Bemerkungen  der  verschiedensten  Art  sind  es  auch,  die  Sextus  Julius 
Africanus  dort  vereinigt  hat,  und  fast  zufällig  befinden  sich  darunter 
auch  zwei  Stellen,  von  welchen  die  Geschichte  der  Mathematik  Nutzen 
2U  ziehen  hat. 

Das  XXXI.  Kapitel  der  Kesten')  beschäftigt  sich  mit  praktischer 
Kriegsgeometrie,  insbesondere  mit  der  Auffindung  der  Breite  eines 
Flusses,  dessen  jenseitiges  Ufer  vom  Feinde  besetzt  ist,  und  mit 
der  Auffindung  der  Höhe  der  Mauern  einer  belagerten  Stadt,  um 
<lanach  im  voraus  die  Größe  der  herzustellenden  Kriegsmaschinen, 
Türme  usw.  ermessen  zu  können.  Grundlage  des  ganzen  Verfahrens 
ist  ein  geometrischer  Satz,  dessen  Beweis,  wie  der  Verfasser  sagt, 
nur  von  dem  I.  Buche  der  euklidischen  Elemente  abhängt,  der  Satz 
nämlich,  daß  sämtliche  Seiten  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  halbiert 

^)  Theon  pag.  102.  *)  Notices  et  extraits  de^  manuscrits  de  la  ßibliotheque 
imperiale.  Tome  XIX,  Partie  2.  Paris  1S58,  pag.  407—415  ist  der  Text 
nebst  französischer  Übersetzung  von  Vincent  abgedruckt.  Vgl.  Agrimensoren 
8.  110  figg. 


Sextas  Julias  Africanu«.    Pappns  Yon  Alezandria. 


439 


Flg.  74. 


erBcheinen,  wenn  aus  der  Mitte  einer  Kathete  parallel  zur  anderen 
eine  Oerade  nach  der  Hypotenuse^  und  aus  deren  Durchschnittspunkte 
wieder  eine  neue  Parallele  zur  ersten  Kathete  bis  zum  Durchschnitte 
mit  der  zweiten  gezogen  wird  (Fig.  74).  Sei  aß  die  erste  Kathete 
und  außer  den  Torgeschriebenen 
de,  e^  noch  die  Hilfslinie  8^  ge- 
zogen, aä  «»  äßf  dß  ==^  st  als 
Parallele  zwischen  Parallelen^  folg- 
lich auch  ad  ^  s^,  und  somit 
treten  in  der  Figur  zwei  Parallelo- 
gramme auf  ysdt,  dß^l,  vermöge 
deren  df  —  yj  -*  /Jg  und  81  ==  «y, 
während  (aus  dem  in  dem  Beweise 
nicht  genannten  Parallelogramme 
a^{;e  folgend)  auch  dl=^aB  ist. 
Yon  diesem  Satze  aus  wird  die  Breite  eines  Flusses  gemessen.  Liegt 
a  am  feindlichen  Ufer  (Fig.  75)^  während  ££  die  diesseitige  üferlinie 
bezeichnet^  so  stellt  man  die  Dioptra  in  i  auf,  weiter  vom  Flusse 
entfernt  als  der  Fluß  breit  ist  und  visiert  sowohl  (senkrecht  zur  Fluß- 
linie BB,  was  aber  nicht  ausdrücklich  gesagt,  sondern  nur  aus  der 
Figur  zu  entnehmen  ist)  nach  a,  als  rechtwinklig  zu  dieser  ersten 
Linie  nach  v,  so  daß  dabei  der  Punkt  x  in  der  Mitte  von  ^t;  ge- 
wonnen wird.  Steckt  man  nun  von  v  aus  die  Richtung  va,  Ton  x 
aus  xd  it*  la  und  endlich  Bq  1t  iv  ab,  so  ist  ai  doppelt  so  groß,  ap 
genau  gleich  groß  mit  vq  und  läßt  nach  Abziehung  yon  qp(»  die  ge- 
suchte afp  übrig.  Man  kann  als  wesentlich  bei  dieser  Methode 
auffassen,  daß  die  gesuchte  Breite,  beziehungsweise  eine  ihr  gleiche 
Breite,  wirklich  auf  dem  Felde  dargestellt  wird.  Man  kann  bei  dem 
uns  erhaltenen  Berichte  auf  die  von  allen  geometrischen  Gewohn- 
heiten abweichende  Buchstabengebung  für  die  einzelnen  Punkte  hin- 
weisen. Nicht  nur,  daß  i  nicht  yermieden  ist,  das  hörte  überhaupt 
um  die  Zeit,  in  welcher  wir  uns  befinden,  auf,  und  noch  spätere 
Oeometer  ersten  Ranges  benutzen  unterschiedlos  i  wie  andere  Buch- 
staben, es  ist  überhaupt  kein  System 
zu  erkennen,  nach  welchem  a,  £,  % 
0,  ij  X,  p,  v,  q>  als  Buchstaben  an 
eine  Figur  gewählt  worden  sein 
mögen.  Das  war  anders  in  der  yor- 
hergehenden  Figur,  anders  in  der 
folgenden  (Fig.  76),  an  welcher  un- 
mittelbar anschließend  eine  yon  Dreiecksähnlichkeiten  ausgehende 
Methode   die   Flußbreite   zu   messen   gelehrt    wird.     Man   soll   längs 


Flg.  76. 


440  22.  Kapitel. 

dem  Flusse  in  der  gemessenen  Linie  ßy  einhergehen  und  dabei  einen 
massiven  rechten  Winkel  von  augenscheinlich  ziemlich  bedeuten- 
der Größe,  der  das  Kennzeichnende  des  Verfahrens  bildet,  und  uns 
wiederholt  begegnen  wird,  mitnehmen.  Auf  dem  einen  Schenkel 
dieses  rechten  Winkels  in  £  ist  überdies  eine  Signalstange  senkrecht 
zur  Ebene  des  rechten  Winkels  befestigt.  Wird  nun  y  so  gewählt, 
dafi  jene  Signalstange  bei  s  mit  dem  den  Punkt  a  bezeichnenden 
Gegenstande  und  dem  Standpunkt  y  in  einer  Geraden  liegt,  so  ist  aus 
der  Ähnlichkeit  der  Dreiecke  ßy  :yd  =  aß  :  ed,  mithin  aß  gefunden. 
Dieselbe  Figur,  so  beschließt  der  Verfasser  dieses  interessante  Kapitel, 
dient  die  Höhe  einer  Mauer  von  weitem  zu  messen.  Die  Dioptra  wird 
dazu  in  ^  als  d£  aufgestellt  und  ihr  Lineal  in  die  Neigung  ea  ge- 
bracht, wo  a  einen  Punkt  des  oberen  Mauerrandes  bedeutet.  Die 
rückwärtsige  Verlängerung  dieser  Richtung  sa  nach  y  lehrt  yd  neben 
dem  bekannten  ds  und  neben  dem  nach  der  vorigen  Aufgabe  er- 
mittelten yß  finden  und  nun  ist  yd  :  de  ^  yß:  ßa.  Der  Schüler 
Herons  ist  hier  unverkennbar,  und  die  Paragraphe  von  dessen  Ab- 
handlung über  die  Dioptra,  an  welche  das  angegebene  Verfahren  sich 
anlehnt,  haben  nachgewiesen  werden  können,  wenn  auch  der  massive 
rechte  Winkel  bei  Heron  nicht  vorzukommen  scheint. 

Das  LXXVL  Kapitel  der  Kesten^)  lehrt  eine  Art  von  Feuer- 
telegraphie  kennen.  Die  Römer  hätten,  so  erzählt  der  Sammler, 
an  leicht  sichtbaren  Plätzen  drei  Signalstangen  aufgerichtet,  je  eine 
links,  eine  rechts,  eine  in  der  Mitte.  An  jeder  Stange  konnten  bis 
zu  neun  Fackeln  befestigt  werden,  und  zwar  bedeuteten  dieselben 
Einer,  wenn  sie  an  der  Stange  links,  Zehner,  wenn  sie  an  der  mitt- 
leren Stange,  Hunderter,  wenn  sie  an  der  Stange  rechts  befestigt 
wurden.  Sie  sollten  nämlich  von  weitem  gesehen  werden,  und  für 
den  gegenüberliegenden  Beobachter  kehrt  sich  natürlich  rechts  in 
links,  links  in  rechts,  so  daß  die  Ordnung  der  Zahlen  werte  ihm  von 
rechts  nach  links  zunehmend  erscheint,  wie  es  z.  B.  auch  bei  der  sala- 
minischen  Tafel  (S.  133)  der  Fall  war.  Zahlen  als  solche  sollten 
freilich  nicht  mitgeteilt  werden.  Man  machte  von  den  Zahlen  Ge- 
brauch, um  Buchstaben  des  griechischen  Alphabetes  zu  erkennen  zu 
geben,  deren  jeder  je  einen  der  Werte  1  bis  9,  10  bis  90  oder  100 
bis  900  besitzt,  und  so  konnten  an  der  richtigen  Stange  sichtbar 
gemachte  Fackeln  die  Buchstaben  eines  Wortes,  eines  Satzes  nach 
und  nach  dem  entfernten  Freunde  bekannt  machen. 


')  Vgl.  Vincent  in  den  Comptes  Bendiis  de  Vacaddmie  des  seiences  vom 
S.  Januar  1842,  XIV,  48,  nnd  Friedlein  im  Bullettino  Boncompagni  1868, 
pag.  49—60. 


SextuB  JqIIqs  AfricaniiB.    Pappns  von  Alezandria.  441 

Eine  Sammlung  ganz  anderen  wissenschaftlichen  Wertes  ist  die 
des  Pappus  von  Alexandria,  eines  SchriftstelierSy  der  mutmaßlich 
dem  Ende  des  III.  S.  angehört  hat^).  Wir  besitzen  über  seine  Lebens- 
zeit überhaupt  nur  zwei,  beide  aber  bestimmt  lautende  und  einander 
geradezu  widersprechende  Angaben,  beide  selbst  aus  der  gleichen  Zeit, 
nämlich  aus  dem  X.  S.  Die  Leidener  Bibliothek  besitzt  eine  in  den 
Jahren  913—920  angefertigte  Handschrift  der  theonischen  Handtafeln, 
welche  am  Rande  der  Regentenliste  yerschiedene  literärgeschichtliche 
Glossen  aus  der  Zeit  der  ersten  Niederschrift  besitzt.  So  steht  neben 
der  Regierung  des  Diokletian  die  Bemerkung:  ixl  toikov  6  Ilobtog 
tyquifBVj  unter  diesem  schrieb  Pappus.  Daß  der  Name  hier  nur  mit 
einem  n  geschrieben  auftritt,  kann  uns  nicht  beirren.  In  der  Mitte 
des  Namens  bricht  nämlich  die  Zeile  ab  und  macht  eine  Spaltung 
in  nd  und  noq  notwendig,  wobei  leicht  ein  n  verloren  gegangen  sein 
kann,  für  welches  in  der  ersten  Zeile  etwa  kein  Platz  mehr  vor- 
handen war.  Außerdem  ist,  wenn  der  Mathematiker  Pappus  nicht 
gemeint  sein  wollte,  kein  Schriftsteller  gleichen  oder  nur  wenig  ab- 
weichenden Namens  aus  der  Zeit  des  Diokletian  bekannt.  Dieser 
regierte  284  bis  305,  folglich  wäre  Pappus  in  dieselbe  Zeit  zu  setzen. 
Dem  gegenüber  steht  unvermittelt,  was  Suidas,  der  bekannte  Lexiko- 
graph, an  zwei  sachlich  übereinstimmenden  Stellen  sagt,  unter  Theon 
heißt  es  bei  ihm,  er  sei  Zeitgenosse  des  Pappus,  der  wie  er  in  Alexan- 
dria zu  Hause  gewesen  sei,  und  beide  hätten  unter  der  Regierung 
des  älteren  Theodosius  gelebt,  unter  Pappus  heißt  es,  er  habe  unter 
der  Regierung  des  älteren  Theodosius  gelebt,  zur  Zeit,  als  auch  der 
Philosoph  Theon  in  seiner  Blüte  stand,  welcher  über  den  Kanon  des 
Ptolemäus  schrieb.  Die  Werke  des  Pappus  seien  eine  Erdbeschrei- 
bung, ein  Kommentar  zu  den  vier  Büchern  der  großen  Zusammen- 
stellung des  Ptolemäus,  femer  über  die  libyschen  Flüsse  und  über 
Traumdeutung.  Auch  diese  Angabe  ist  von  bestimmtester  Klarheit. 
Theon  hat,  wie  wir  aus  seinem  chronologischen  Werke  selbst  ent- 
nehmen, jedenfalls  372  noch  gelebt;  Theodosius  I.  regierte  379  bis 
395;  diese  Zahlen  stimmen  zueinander,  und  folglich  wäre  Pappus 
wie  Theon  an  das  Ende  des  IV.  S.  zu  setzen,  was  auch  alle  Oe- 
Schichtswerke  der  Mathematik  ohne  Anstand  getan  haben.  Wenn 
wir  gleichwohl  der  Meinung  folgen,  welche  den  älteren  Zeitpunkt  für 
Pappus  als  zutreffend  erachtet,  so  leitet  uns  folgender  Gedanke.  Bei 
zwei   einen  Widerspruch  enthaltenden  gleichzeitigen  Angaben  müssen 


»)  Vgl.  Zeitflchr.  Math.  Phys.  XXI,  Hifltor.-liter.  Abtlg.  S.  70  flgg.  (1876) 
über  die  Lebenszeit  und  die  HandBchriften  des  Pappus.  In  bezug  auf  letztere 
diente  die  Einleitung  zu  Hultschs  Pappusausgabe  als  Quelle. 


442  22.  Kapitel. 

wir  einesteils  ans  fragen,  ob  und  wie  ein  Irrtum  des  einen,  beziehungs- 
weise  des   anderen    Gewährsmannes  Erklärung  finden   kann,  müssen 
wir  andemteils  Überlegen,  ob  innere  Gründe  die  eine  oder  die  andere 
Meinung  unterstützen.     Die  Behauptung  des  Schreibers  des  Leidener 
Kodex  ist  nun,  wenn  falsch,  auf  keine  Weise  zu  verstehen.     Suidas 
könnte   dagegen   dadurch  zu  seinem  Irrtume  gelangt  sein^),   daß  in 
seiner  Quelle  die  beiden  Schriftsteller  Pappus  und  Theon  Ton  Alezan- 
dria  ihrer  Heimat,  ihrer  verwandten  literarischen  Tätigkeit  wegen  un- 
mittelbar hintereinander  aufgeführt  waren,  oder  aber  dadurch,  daß  er 
einen   aus   den  Erläuterungen   des  Pappus   und  des  Theon  gemischt 
zusammengesetzten  Kommentar  zum  Almageste  vor  Augen  hatte,  eine 
Möglichkeit,  die   im  24.  Kapitel  sich  uns  ergeben  wird,  und  daß  er 
nun  auf  eine  gar  nicht  angegebene,  weil  überhaupt  nicht  vorhandene 
Gleichzeitigkeit  der  beiden  Erklärer  schloß.     Als  unterstützend  dienen 
folgende  Gesichtspunkte.     Suidas  war  mit  des  Pappus  Werken  nicht 
aufs  beste  bekannt.     Er  nennt  unter  denselben  gar  nicht  dasjenige, 
welches  allein  in  einiger  Vollständigkeit  sich  erhalten  hat,  und  welches 
genügt,  um  unsere  Bewunderung  des  Verfassers  zu  rechtfertigen.     Der 
andere  Berichterstatter  ist  in  seinem  Schweigen  entschuldigt,  weil  er 
gar  kein  Werk  des  Pappus  mit  Namen  anführt.     Femer  wäre  es  sehr 
auffallend,  wenn  Pappus  und  Theon  an  dem  gleichen  Orte  lebend  zur 
selben  Zeit  einen  Kommentar  zu  demselben  Werke,  dem  Alm^este 
des  Ptolemäus,  geschrieben  hätten.     Weit  wahrscheinlicher  wird  diese 
Tatsache,   wenn   Pappus   hundert  Jahre   vor  Theon   von   Alexandria 
schrieb.     Fraglich  erscheint  dabei,  ob  Pappus  den  ganzen  Abnagest 
erklärt  haben  mag,  oder  nur  vier  Bücher.     Die  Vermutung,  es  habe 
bei  Suidas   ursprünglich   IT  =  13  Bücher   geheißen,   der   wirklichen 
Bücherzahl  des  Almagestes  entsprechend,  und  daraus  sei  ^  =>  4  Bücher 
verschrieben   worden  *),    ist   ausgesprochen   worden   und   hat   manche 
Wahrscheinlichkeit,  nachdem  es  sich  erwiesen  hat,  daß  Pappus  jeden- 
falls zum  ersten,  zum  fünften  und  zum  sechsten  Buche  des  Almagestes 
einen  Kommentar  verfaßte,  daß  der  zum  fünften  und  sechsten  Buch 
gehörende  Teil   sich   noch  erhalten  hat').     Wahr  ist  es,   daß  Theon 
seinen  Vor^Lnger  niemals  genannt  hat  außer  in  Überschriften,  deren 
Ursprung  ja  immer  zweifelhaft  ist.     Mc^  aber  Theon  100  oder  ein 
paar  Jahre  nach  Pappus  gelebt  haben,  so  ist  dieses  Schweigen  gleich 
auffallend,  zu  derselben  Zeit  auch  gleich  einfach  damit  zu  erklären, 
daß  Theon   den  Pappus   recht  fleißig  benutzte.     Es  bildet,  wie  uns 

*)  Diese  Hypothese  rührt  von  üsener  her.  Neues  Rheinisches  Museum 
1878,  Bd.  XXYin,  S.  408.  *)  So  glaubt  Hultsch  pag.  YUI,  Anmerkung  3  der 
Praefatio,  welche  den  dritten  Band  seiner  Pappusansgabe  eröffnet.    ")  Hultsch 

1.  c.  pag.  xrv. 


SeztuB  Julius  Africanus.    Pappus  von  Alexandria.  443 

Ton  philologischer  Seite  versichert  wird,  geradezu  eine  Eigentümlich- 
keit der  Kommentatoren  des  IV.  S.  etwa  ein  wahres  Plündenings- 
system  an  alteren  Schriftstellern  auszuüben ^  welche  niemals  genannt 
werden^  so  daß  nur  in  einzelnen  Fällen  ein  glückliches  Ohngefahr  es 
möglich  gemacht  hat;  diesen  unrechtmäßigen  Aneignungen  auf  die 
Spur  zu  kommen.  So  nehmen  wir  also  an^  Pappus  habe  an  der 
Schwelle  vom  III.  zum  lY.  S.  gelebt  imd  geschrieben. 

Ob  ein  Zitat  bei  Proklus^)  dahin  zu  deuten  ist,  daß  Pappus 
gleich  Heron  an  der  Spitze  einer  Schule  stand,  mag  dahingestellt 
bleiben.  Nach  griechischem  Sprachgebrauche  kann  oC  nsgl  '^Hgawa 
xal  Ilcbtnov  unzweifelhaft  diese  Bedeutung  einschließen,  die  Worte 
können  aber  auch  Heron  und  Pappus  allein  bezeichnen  sollen,  und 
letzteres  wohl  noch  häufiger  als  ersteres.  unter  den  Schriften,  welche 
Pappus  verfaßte,  fanden  seine  Bemerkungen  zum  Almageste  mehr- 
fache Erwähnung.  Wir  erinnern  daran,  daß  (S.  318)  Eutokius  auch 
sie  unter  den  Schriften  genannt  hat,  welche  über  die  Ausziehung  von 
Quadratwurzeln  zu  Rate  gezogen  werden  können.  Pappus  selbst 
spricht  von  einem  Kommentare,  welchen  er  zu  dem  Analemma  des 
Diodorus  angefertigt  habe*).  Von  jenem  Schriftsteller  ist  zwar  auch 
bei  anderen  wiederholt  die  Rede*),  jedoch  ohne  daß  dadurch  sein  Zeit- 
alter oder  der  Inhalt  seiner  Schrift  genauer  bekannt  würde;  deren 
Titel  stimmt  allerdings  mit  demjenigen  eines  Buches  des  Ptolemäus 
überein,  von  welchem  (S.  423)  die  Rede  war.  Eine  weitere  schrift- 
stellerische Leistung  des  Pappus  bildete  ein  Kommentar  zu  den  eukli- 
dischen Elementen,  von  welchem  Bruchstücke,  insbesondere  eine  von 
Eutokius*)  erwähnte  Bemerkung,  in  einem  Vatikankodex  aufgefunden 
worden  sind*).  Diesem  Kommentare  dürfte  eine  Anzahl  von  Be- 
merkungen entnommen  sein,  welche  bei  Proklus  sich  erhalten  haben, 
und  deren  eine  verdient,  daß  wir  ihrer  erwähnen. 

Pappus  habe,  berichtet  Proklus*),  Ein- 
spruch gegen  den  Satz  erhoben,  daß  der 
Winkel,  der  einem  Rechten  gleich  sei,  immer 
selbst  ein  Rechter  sein  müsse.  Er  stellte  näm- 
lich (Fig.  77)  zwei  gleichlange  Gerade  aß,  ßy 
senkrecht  zueinander  und  beschrieb   über  jede  Fig.  77. 


')  Proklufl  (ed.  Friedlein)  429,  18.  «)  Pappus  IV,  27  (ed.  Hultsch) 
pag.  246.  *)  Vgl.  Hultschs  Praefatio  zum  III.  Bande  seiner  Pappusaus- 
gabe  IX— XI.  *)  Archimed  (ed.  Heiberg)  III,  34  in  dem  Kommentare  des 
Eutokius  heifit  es:  Btgritai  xal  Han'jtm  Big  tb  'b7e6iivriiia  r&v  isroix^loiv.  *)  Hei- 
berg,  Om  seholieme  tu  Euklids  Elementer  in  den  Yidensk.  Selsk.  Skr.  6.  Baekke, 
historisk.  og  philosophisk.  Afd.  ü,  3.  Kjöbnhavn  1888,  pag.  297.  •)  Proklus 
(ed.  Friedlein)  190. 


444  22.  Kapitel. 

derselben  einen  Halbkreis.  Da  diese  Halbkreise  sich  decken^  müssen 
die  Winkel  aßs^  yßi  yoUkommen  gleich  sein.  Wird  sodann  Ton 
dem  rechten  Winkel  aßy  der  eine  jener  identischen  Winkel  weg- 
genommen^ der  andere  beigefügt ,  so  muß  also  ein  Etwas  entstehen, 
welches  einem  rechten  Winkel  wieder  gleich  ist,  ohne  daß  man  doch 
sagen  könnte,  dieser  Winkel  £/9g  sei  ein  rechter  Winkel.  Diese  Be- 
trachtung über  nicht  geradlinige  Winkel  ist  das  Vorbild  späterer 
Spitzfindigkeiten  ähnlichen  Inhaltes  geworden  (S.  264). 

Das  mathematische  Werk  des  Pappus,  welches  auf  uns  gekommen 
ist,  und  welches  merkwürdigerweise  durch  keine  bekannt  gewordene  Er- 
wähnung von  Seiten  irgend  eines  Mathematikers  oder  sonstigen  Schrift- 
stellers in  seinem  Vorhandensein  bestätigt  wird,  fahrte  den  Namen  der 
Sammlung,  övvayayij,  und  bestand  aus  acht  Büchern').  TiUA  und 
Einteilung  verbürgt  uns  eine  vatikanische  Pappus-Handschrift  aus  dem 
XU.  S.,  welche  selbst  sämtlichen  übrigen ,  keineswegs  seltenen  Ab- 
schriften unmittelbar  oder  mittelbar  zugrunde  liegt.  Der  Charakter 
dieser  Sammlung  besteht  darin,  daß  Pappus  den  Inhalt  von  zu  seiner 
Zeit  hochgeschätzten  mathematischen  Schriften  kurz  angibt  und  zu 
denselben  erklärende,  aber  auch  erweiternde,  oftmals  nur  den  aller - 
losesten  Zusammenhang  mit  dem  gerade  in  Rede  Stehenden  wahrende 
Sätze  hinzufügt.  Diese  Beziehung,  oder  fast  besser  diese  Beziehungs- 
losigkeit  lassen  uns  die  Sätze  erkennen,  von  denen  Pappus  uns  sagt, 
daß  sie  zu  Werken  gehören,  welche,  wie  die  Kegelschnitte  des  Apol- 
lonius  von  Pergä,  auf  uns  gekommen  sind  und  den  Vergleich  ge- 
statten. Die  Freiheit,  welche  Pappus  sich  demgemäß  bei  seinen  Zu- 
sätzen gestattet  hat,  die  Genauigkeit,  deren  er  daneben  bei  übersicht- 
lichen Inhaltsangaben  sich  befleißigte,  machen  den  doppelten  Wert 
seiner  Sammlung  aus.  Jene  Gewissenhaftigkeit,  welche  wir  als  zweite 
Tugend  des  Pappus  erwähnten,  macht,  daß  seine  Sammlung  als  Er- 
satz für  wertvolle  im  Urtexte  verloren  gegangene  Abhandlungen  dienen 
kann,  so  daß  wir  nach  dem  Vorgange  aller  Schriftsteller  über  Ge- 
schichte der  Mathematik  keinen  Anstand  nahmen,  sie  im  Verlauf 
dieses  Bandes  wiederholt  zu  solchem  Zwecke  zu  benutzen.  Jene 
Selbständigkeit,  die  wir  zuerst  rühmend  betonten,  hat  uns  Dinge  ge- 
liefert, die,  teils  nicht  anderweitig  rückwärts  verfolgbar,  teils  von 
Pappus  ausdrücklich  für  sich  in  Anspruch  genommen,  den  zuver- 
lässigen Beweis  für  die  hohe  Meisterschaft  des  Verfassers  insbesondere 


*)  Eine  lateinische  Übersetzung  durch  Commandinus  erschien  1688,  dann 
in  mehrfachen  neuen  Abdrücken  bis  1602.  C.  J.  Gerhardt  gab  1871  das  YII. 
und  Vin.  Buch  im  Urtexte  mit  nicht  tadelloser  deutscher  Übersetzung  heraus. 
Eine  vortreffliche  Textausgabe  mit  lateinischer  Übersetzung  und  reichhaltigen 
Anmerkungen  veranstaltete  Fr.  Hultsch  in  3  Bänden.    Berlin  1876,  1877,  1878. 


Sextus  Julius  Africanua.     Pappus  von  Alexandria.  445 

in  solchen  geometrischen  Untersuchnngen  liefern^  welche  unser  Jahr- 
hundert  unter  dem  Namen  der  neueren  oder  der  höheren  synthetischen 
Geometrie  kennt. 

Welchen  G-ang  Pappus  bei  Ausarbeitung  seiner  Sammlung  ein- 
schlug,  ob  er  überhaupt  einen  bestimmten  Gedanken  planmäßiger 
Reihenfolge  zugrunde  legte,  ist  mit  Sicherheit  nicht  zu  ermitteln, 
weil  das  erste  Buch  und  die  mutmaßlich  größere  Hälfte  des  zweiten 
Buches  verloren  gegangen  ist,  die  Darstellung  sich  mithin  auf  die 
übrigen  Bücher  beschränken  muß.  Dabei  ist  überdies  vorausgesetzt, 
daß  alle  vorhandenen  Bücher  Pappus  angehören.  Allerdings  nimmt 
man  dieses  gegenwärtig  an,  und  ein  vereinzelter  Versuch^)  nur  das 
ni.  und  lY.  Buch,  welche  ursprünglich  ein  einziges  gebildet  hätten, 
dann  das  VII,  und  das  VIII.  Buch  Pappus  zuzuschreiben,  alles  übrige 
als  unechte  spätere  Einschaltung  auszuscheiden,  ist,  soviel  wir  wissen, 
ohne  jegliche  Beistimmung  geblieben. 

Der  vorhandene  Überrest  des  II.  Buches  enthält  die  Multiplika- 
tionsmethode des  Apollonius  von  Per^. 

Im  III.  Buche  sind  vier  verschiedene  Abhandlungen  vereinigt. 
Die  erste  beschäftigt  sich  mit  der  Aufgabe  zwischen  zwei  gegebenen 
Längen  zwei  mittlere  geometrische  Proportionalen  einzuschalten  nach 
Methoden  des  Eratosthenes,  des  Nikomedes,  des  Heron,  des  Pappus 
selbst.  Die  zweite  Abhandlung  lehrt  die  drei  verschiedenen  Mittel, 
welche  zwischen  zwei  Strecken  bestehen,  das  arithmetische,  das  geo- 
metrische und  das  harmonische  Mittel,  von  welchen  übrigens  auch  in 
den  einleitenden  Kapiteln  der  ersten  Abhandlung  des  lU.  Buches 
schon  die  Rede  war,  an  einer  und  derselben  Figur  zur  Erscheinung 
bringen.  Aber  dieses  geometrische  Problem  dient  nur  zum  An- 
knüpfungspunkte fßr  eine  ganz  Lehre  von  den  Medietäten,  welche 
mit  einer  Tabelle  von  ganzzahligen  Beispielen  für  sämtliche  zehn 
Formen  von  Medietäten  abschließt.  Die  dritte  Abhandlung  beschäftigt 
sich  wieder  mit  einer  ganz  anderen  Untersuchung.  Der  21.  Satz  des 
L  Buches  der  euklidischen  Elemente  behauptet,  daß,  wenn  innerhalb 
eines  Dreiecks  ein  Punkt  gewählt  und  mit  den  Endpunkten  der 
Grundlinie  geradlinig  verbunden  wird,  die  Summe  dieser  Geraden 
kleiner  ausfalle  als  die  Summe  der  sie  umfassenden  Dreiecksseiten. 
Gknz  anders,  wenn  die  inneren  Geraden  nicht  nach  den  Eckpunkten, 
sondern  nach  zwischen  denselben  liegenden  Punkten  der  Dreiecks- 
grundlinie  gezogen   werden.     Alsdann   kann   die  Summe  der  inneren 


')  C.  J.  Gerhardt,  Die  Sammlung  des  Pappus  von  Alexandria.  Programm 
des  Gymnasiums  in  Eisleben  für  1876.  Vgl.  dazu  die  Besprechung  in  der 
Zeitachr.  Math.  Phy«,  XXI,  Histor-literar.  Abteilung  37—42  (1876). 


446  22.  Kapitel 

Geraden  unter  Umstanden  ebenso  groß  sein,  sie  kann  auch  melir  be- 
tragen als  die  der  umfassenden  Seiten  und  zwar  in  mannigfachen 
Abstufungen,  und  diese  sämtlichen  Fälle  werden  ausführlich  durch* 
genommen.  Die  vierte  Abhandlung  geht  zur  Einbeschreibung  der 
fünf  regelmäßigen  Vielflächner  in  die  Kugel  über,  bei  welcher  G» 
legenheit  die  Sphärik  des  Theodosius  yon  Tripolis  mehrfach  benutzt 
aber  auch  ergänzt  wird.  Es  ist  mit  großem  Rechte  bemerkt  worden^), 
daß  die  Auffassung  der  Aufgabe  eine  wesentlich  andere  ist  als  die, 
Ton  welcher  Euklid  im  XIII.  Buche  seiner  Elemente  ausgeht ,  und 
daß  dadurch  die  erneute  Behandlung  um  so  höheren  Wert  erhalte. 
Euklid  konunt  es  auf  die  metrischen  Zusammenhänge  zwischen  Po- 
lyederseite und  Kugeldurchmesser  an;  er  bildet  sich  zuerst  die  Polyeder 
und  beweist  hinterdrein  ihre  Einbeschreibbarkeit.  Pappus  will  die 
Polyeder  selbst  erhalten-,  er  geht  aus  von  der  Kugel  und  verschafft 
sich  die  Parallelkreise  auf  der  Kugeloberfläche,  welche  je  eine  Polyeder- 
fläche als  eingeschriebenes  Vieleck  besitzen. 

Das  IV.  Buch  zerfällt  gleichfalls  in  mehrere  Abteilungen,  wenn 
schon  die  Sonderung  derselben  nicht  auf  den  ersten  Blick  in  die 
Augen  fällt.  Es  beginnt  mit  der  Lehre  von  den  Kreistransversalen, 
an  welche  sich  die  Aufgabe  knüpft,  den  drei  einander  äußerlich  be- 
rührende Kreise  umschließenden  Kreis  zu  konstruieren.  Noch  andere 
Berührungsaufgaben  vollenden  das,  was  wir  die  erste  Abhandlung  des 
rV.  Buches  nennen  möchten.  Auf  sie  folgen  eine  Anzahl  von  Sätzen 
aus  der  Lehre  von  der  archimedischen  Spirale  sowie  von  der  niko- 
medischen  Konchoide  und  darauf  eine  ziemlich  ausgedehnte  Abhand- 
lung über  die  Quadratrix,  in  welche  verschiedene  andere  Unter- 
suchungen sich  ziemlich  natui^emäß  einfügen.  Wir  nennen  die  Rek- 
tifikation des  Kreises;  wir  nennen  Beziehungen  zwischen  Quadratrix 
und  Spirale;  wir  nennen  die  Trisektion  des  Winkels  und  die  allge- 
meinere Aufgabe  der  Teilung  des  Kreises  in  beliebigem  Verhältnisse 
der  Bögen  mittels  der  Quadratrix,  aber  auch  mittels  der  Spirale;  wir 
nennen  endlich  die  Benutzung  der  Quadratrix  zur  Lösung  der  drei 
Probleme:  ein  regelmäßiges  Vieleck  von  beliebiger  Seitenzahl  in  einen 
Kreis  zu  beschreiben,  zu  einer  gegebenen  Sehne  einen  Kreisbogen  zu 
finden,  welcher  ein  bestimmtes  Längenverhältnis  zur  Sehne  besitze, 
zueinander  inkommensurable  Winkel  zu  zeichnen. 

Das  V.  Buch  beginnt  mit  dem  Auszuge  aus  der  Abhandlung  des 
Zenodorus  über  Figuren  gleichen  ümfanges,  so  weit  ebene  Figuren 
in  Frage  stehen.     Dann  geht  Pappus  zu  dem  Räume  über,  lehrt  die 

*)  Woepcke  im  Journal  ÄncUique  s^rie  6,  T.  V  (F^vrier-Mare  1866) 
pag.  288—240. 


Sextus  Julius  Africanus.    Pappus  von  Alexandria.  447 

archimedischen  Körper  keimen  und  zeigt,  daß  bei  gleicher  Oberfläche 
Kegel  sowohl  als  Zylinder  kleineren  Rauminhaltes  als  Kugeln  sind. 
Damit  ist  der  Rückweg  zur  Abhandlung  des  Zenodorus,  soweit  sie 
auf  Raumkörper  sich  bezieht,  gewonnen,  imd  der  Beweis  wird  ihr 
nachgebildet,  daß  von  den  fünf  platonischen  regelmäßigen  Körpern 
bei  gleicher  Oberfläche  stets  der  mehreckige  den  größeren  Inhalt 
einschließe. 

Das  VI.  Buch  stellt  sich  in  seiner  Überschrift  die  Aufgabe  Auf- 
lösmngen  zu  den  Schwierigkeiten  zu  finden,  welche  in  dem  söge- 
nannten  kleinen  Astronomen,  iivxQog  aöt QovofiovfievoQj  enthalten 
sind.  Der  Gegenstand,  der~  damit  gemeint  ist,  ist  uns  keineswegs 
neu,  nur  der  Name  begegnet  uns  hier  zuerst,  und  deshalb  haben  wir 
bis  hierher  es  aufgespart  uns  desselben  zu  bedienen.  Der  kleine 
Astronom  ist  nämlich  eine  Sammlung  von  Schriften,  deren  Studium 
nach  dem  der  Elemente  des  Euklid  und  vor  dem  des  Almagestes  des 
PtolemäuB  eingeschoben  werden  mußte,  wenn  letzteres  vollen  Erfolg 
haben  sollte.  Ob  der  kleine  Astronom  eine  endgültig  begrenzte  Samm- 
lung war,  ob  nicht  vielmehr  der  an  sich  lose  Zusammenhang  ge- 
stattete, bald  diese  bald  jene  kleinere  Schrift  aufzunehmen  oder  aus- 
zuschließen, dürfte  zweifelhaft  sein.  Der  Kommentar  des  Pappus 
verbreitet  sich  über  nachfolgende  Bücher,  welche  demgemäß  zum 
kleinen  Astronomen  gehörten:  Die  Sphärik  des  Theodosius,  die  Ab- 
handlung des  Autolykus  über  die  sich  drehende  Kugel,  die  des  Theo- 
dosius über  Tag  und  Nacht,  die  des  Aristarchus  über  Ghröße  und 
Entfernung  von  Sonne  und  Mond,  die  Optik  des  Euklid,  die  Phaeno- 
mena  desselben  Verfassers.  Ein  Kommentar  des  Menelaus  zu  dem 
letztgenannten  Werke  hatte  zwar  nach  einer  durch  Pappus  gegebenen 
Zusage^)  auch  noch  erläutert  werden  sollen,  doch  findet  sich  davon 
in  dem  auf  uns  gekommenen  Texte  keine  weitere  Spur.  Wir  be- 
merken, daß  die  beiden  Astronomen  Autolykus  und  besonder  Ari- 
starchus von  Samos  in  der  Geschichte  ihrer  Wissenschaft  hoch- 
bedeutsame  Persönlichkeiten  sind.  Autolykus')  lebte  kurz  vor  Euklid 
um  330  etwa,  Aristarch"),  wie  wir  schon  (S.  419)  bemerkten,  ein 
gutes  halbes  Jahrhundert  später  um  270.  Wir  bemerken  femer,  daß 
die  Erläuterungen  des  VI.  Buches,  aueh  wo  sie  auf  astronomische 
Werke  sich  beziehen,  ihrer  größten  Mehrzahl  nach  geometrischer 
Natur  sind.  Wir  bemerken  endlich,  daß  Pappus  durch  seine  Namens- 
nennung selbst  den  Oeometem,  welche  er  nur  unter  den  Ersten  des 
Faches  auswählt,  ein  hohes  Lob  erteilt,  daß  man  also  beispielsweise 

')  Pappaa  (ed.  Hultsoh)  pag.  602,  lin.  1.  *)  Halts ch  in  der  Yoirede  zu 
seiner  Ausgabe  des  Autolykus.  Leipzig  1886.  *)  Wolf,  Geschichte  der  Astro- 
nomie.    S.  85—37. 


448  88.  Kapitel. 

aus  diesem  VI.  Buche  sich  eine  Meinung  Ton  dem  Ansehen  bilden 
kann^  in  welchem  damals  yerdientermaBen  die  Schrifken  des  Theodosius 
und  des  Menelaos  standen. 

Wer  die  Elemente  des  Euklid  inne  hat  und  von  ihnen  aus  der 
Astronomie  sich  zuwenden  will,  bedarf,  wie  vorher  bemerkt,  des 
Studiums  des  kleinen  Astronomen,  bei  welchem  das  VI.  Buch  ihn  zu 
unterstützen  bestimmt  ist.  Wer,  mit  den  allgemeinen  Elementen 
vertraut,  erlernen  will,  wie  man  durch  Konstruktion  mannigfacher 
Linien  die  Auflösung  gestellter  Aufgaben  vollende,  bedarf  dazu  eines 
anderweitigen  eignen  Übungsstoffes,  der  unter  dem  Namen  Sammel- 
werke analytischer  Natur^)  von  Euklid,  von  ApoUonius  von  Peif^a, 
von  Aristäus  dem  Älteren  behandelt  worden  ist.  Die  hierzu  not- 
wendigen Hilfssätze  und  Erläuterungen  hat  Pappus  in  seinem  VII.  Buche 
vereinigt.  G-leichwie  im  vorhergehenden  Buche  sind  Unterabteilungen 
gebildet,  welchen  die  Namen  der  einzelnen  Werke  als  Überschriften 
dienen,  welche  Pappus  zu  empfehlen  wQnscht.  Er  nennt  die  Daten 
des  Euklid,  den  Yerhältnisschnitt,  den  Raumschnitt,  den  bestimmten 
Schnitt,  die  Berührungen  des  ApoUonius,  die  Porismen  des  Euklid, 
dann  wieder  von  ApoUonius  die  Neigungen,  die  ebenen  Örter,  die 
Kegelschnitte,  endUch  die  körperlichen  Örter  des  Aristäus,  die  örter 
auf  der  Oberfläche  des  Euklid,  die  Mittelgrößen  des  Eratosthenes. 
Es  sind  dies,  sagt  Pappus,  33  Bücher,  deren  Inhalt  bis  zu  den  Kegel- 
schnitten des  ApoUonius  ich  Dir  übersichtlich  herausgesteUt  habe^), 
und  in  der  Tat  entspricht  dieser  Angabe  eine  Einleitung  von  ziem- 
lichem Umfange.  An  sie  knüpft  sich  eine  große  Anzahl  von  Hilfe- 
Sätzen  zu  den  Büchern  des  ApoUonius  über  den  Yerlmltnisschnitt 
und  den  Raumschnitt,  über  den  bestimmten  Schnitt,  über  die 
Neigungen,  über  die  Berührungen,  über  die  ebenen  Örter.  Weitere 
Hilfssätze  zu  den  Porismen  des  Euklid  folgen.  Die  zu  den  Kegel- 
schnitten des  ApoUonius  und  endlich  zu  Euklids  Örtem  auf  der  Ober- 
filbhe  bilden  den  Beschluß  des  Buches.  Der  8.  Satz  zu  dem  Yer- 
hältnisschnitt des  ApoUonius^)   würde  unter  Benutzung  von  Brüchen 

statt  der  Yerhältnisse  aussprechen,  daß  ^^  ^  immer  zwischen  ~  und 
^  liege.     In  der  Tat  ist 

ß  +  d^J^  ß  +  d  \d  ~  j) 
ß  +  d      d  "^  ß  +  d\ß       d) 


^)  So  die  richtige  Übersetzung  von  x6no£  &vaXv6\uvoq,  wie  Gow,  A  shart 
history  of  greek  mathemaiics  pag.  211  Note  1  gezeigt  hat.  *)  Pappas  (ed. 
Hultsch)  pag.  636,  lin.  25.     *)  Ebenda  pag.  688,  lin.  81. 


Sextns  Julius  Africanns.    Pappns  von  Alexandria.  449 

woraus  die  Verschiedenartigkeit  der  Vorzeichen  beider  Differenzen 
einleuchtet.  Der  22.  Satz  zu  den  Berührungen  des  Apollonius^)  stellt 
die  Aufgabe,  von  drei  auf  einer  gegebenen  Geraden  gegebenen  Punkten 
aus  nach  einem  gleichfalls  gegebenen  Kreise  Gerade  zu  ziehen,  welche 
ein  diesem  Kreise  eingeschriebenes  Dreieck  bilden.  Es  ist  das  die 
Aufgabe,  welche  im  XVIIL  S.  die  Erweiterung  erfuhr,  daß  die  drei 
gegebenen  Punkte  beliebige  Lage  in  der  Kreisebene  erhielten,  und 
welche  unter  anderen  von  Annibale  Giordano  aus  Ottajano  gelöst 
wurde*). 

Das  VIII.  Buch  kündigt  sich  als  solches  an,  welches  verschiedene 
interessante  mechanische  Aufgaben  zur  Sprache  bringe.  Ich  habe 
für  gut  gehalten,  erklart  Pappus,  die  mit  Hilfe  der  Geometrie  ge- 
wonnenen, notwendigsten  Theoreme  über  die  Bewegung  der  schweren 
Körper,  die  in  den  Schriften  der  Alten  vorhanden  und  die  von  uns 
selbst  geschickt  aufgefunden  sind,  kürzer  und  deutlicher  niederzu- 
schreiben und  auf  eine  bessere  Weise,  als  es  früher  geschehen,  zu- 
sammenzustellen^). Zu  diesen  geometrisch  begründeten  mechanischen 
Lehren  gehören  die  Theorie  des  Schwerpunktes,  der  schiefen  Ebene, 
gehört  die  Aufgabe  mit  Hilfe  von  Zahnrädern,  die  in  gewissem  gegen- 
seitigen Verhältnisse  der  Durchmesser  stehen,  eine  gegebene  Last 
durch  gegebene  Kraft  zu  bewegen.  Hierher  gehört  aufs  neue  die 
Angabe  der  Einschiebung  zweier  geometrischen  Mittel,  welche  schon 
im  III.  Buche  in  anderem  Zusammenhange  aufgetreten  war,  und 
welche  jetzt  wiederkehrt,  weil  auf  ihr  die  Vergrößerung  eines  durch 
mechanische  Vorrichtungen  irgendwie  in  Bewegung  zu  bringenden 
Körpers  unter  Festhaltung  seiner  Gestalt  beruht  Weiter  läßt  Pappus 
die  Aufgabe  folgen  den  Kreisumfang  eines  geraden  Zjlinders  zu 
finden,  aus  welchem  überall  Stücke  herausgebrochen  sind,  so  daß 
eine  unmittelbare  Messung  an  keiner  Stelle  stattfinden  kann.  Ohne 
bemerkbaren  Zusammenhang,  wie  wir  es  bei  Pappus  nicht  selten 
gewohnt  wurden,  treffen  wir  alsdann  auf  Fragen,  bei  denen  es  sich 
um  Auffindung  gewisser  Punkte  auf  einer  Kugel  handelt,  z.  B.  des 
Punktes,  der  einer  gegenüberliegenden  Ebene  am  nächsten  liegt,  und 
der  Punkte,  in  welchen  eine  gegebene  Gerade  die  Kugel  durchdringt 
Daran  schließt  sich  die  Einbeschreibung  von  sie.ben  einander  gleichen 
regelmäßigen  Sechsecken  in  einen  gegebenen  Kreis,  so  daß  das  eine 
denselben  Mittelpimkt  mit  dem  Kreise  hat,  die  übrigen  sechs  auf  je 
einer  Seite  des   mittleren  aufstehen  und  die  dieser  gegenüberliegende 


*)  Pappus  (ed.  Hultsch)  pag.  848.  *)  Vgl.  Chaales,  Apergu  hist  328 
(deutsch  841)  mit  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVn,  Histor.-literar.  Abtlg.  S.  216—217. 
*)  Pappus  (ed.  Hultsch)  pag.  1028. 

Oaktok,  OMohiohte  der  Mathematik  I.    3.  Aufl.  29 


450  28.  Kapitel. 

Seite  jedesmal  als  Ereissehne  besitzen.  Diese  Aufgabe  dient  zur  Hef- 
Stellung  von  Zahnrädern^  und  nun  bilden  Auszüge  aus  dem  Grewichte- 
zieher  und  aus  der  Mechanik  des  Heron  (S.  369)  den  Schluß;  der 
vielleicht  von  fremder  Hand  dem  ursprünglichen  VIIL  Buche  bei- 
gefügt sein  dürfte. 

Mag  man  aus  dieser  schematischen  Zeichnung  des  Gerippes  der 
Sammlung  des  Pappus,  so  wie  dieselbe  auf  uns  glommen  ist^  den 
Eindruck  eines  Ganzen  oder  lose  und  fast  zufallig  aneinander  ge- 
reihter Einzelheiten  erhalten ,  mag  ein  leitender  Gedanke  dem  einen 
auffindbar,  dem  anderen  unentdeckbar  erscheinen,  jedenfalls  wird,  trotz 
stylistischer  Schönheiten,  die  an  manchen  Stellen  eine  geradezu  dich- 
terische Yeranl^ung  des  Schreibers  enthüllen^),  die  Achtung  vor 
Pappus  dem  Mathematiker  eine  höhere  sein  als  die  vor  Pappus  dem 
Schriftsteller,  und  diese  relative  Wertschätzung  wird  noch  festeren 
Boden  fassen,  wenn  wir  Einzelheiten  herausgreifen,  deren  Entdeckung 
nicht  wohl  einem  anderen  als  Pappus  selbst  anzugehören  scheint. 

An  die  Spitze  stellen  wir  einen  Satz  des  VU.  Buches,  der  den 
Körperinhalt  eines  Umdrehungskörpers  als  dem  Produkte  der  ge- 
drehten Figur  in  den  Weg  des  Schwerpunktes  proportional  erkennt*), 
einen  Satz,  der  als  Guldinsche  Regel  seit  dem  XVII.  S.  wieder  in 
der  Geschichte  auftritt. 

Wir  fügen  aus  dem  YIU.  Buche  einen  Satz  bei  dahin  gehend^ 
daß  der  Schwerpunkt  eines  Dreiecks  zugleich  Schwerpunkt  eines 
zweiten  sei,  dessen  Eckpunkte  auf  den  drei  Seiten  des  ersten  Drei- 
ecks so  liegen,  daß  dadurch  jene  Seiten  sämtlich  in  gleichem  Ver- 
hältnisse geteilt  erscheinen'). 

Wir  heben  jenen  Abschnitt  des  IV.  Buches  hervor,  der  mit  der 
Quadratrix  sich  beschäftigt^).  Die  Quadratrix  wird  diesem  Abschnitte 
zufolge  außer  nach  dem  Gesetze,  welches  wir  bei  der  ersten  Nennung 
der  Kurve  schon  kennen  gelernt  haben,  auch  noch  durch  zwei  viel 
verwickeitere  Entstehungsarten  erzeugt,  welche  man  in  folgende  Worte 
fassen  kann:  Es  sei  eine  Schraubenlinie  auf  einem  geraden  Kreis- 
zylinder beschrieben,  dann  bilden  die  Perpendikel,  welche  von  den 
einzelnen    Punkten    derselben   auf  die   Achse    des   Zylinders    gefällt 

^  Z.  B.  die  Einleitung  in  das  V.  Buch  (ed.  Hultsch)  pag.  304,  welche  der 
Heiausgebei  mit  Recht  als  kennzeichnend  für  die  Schreibweise  des  Pappus  er- 
klärt hat.  *)  Pappus  (ed.  Hultsch)  pag.  682.  *)  Ebenda  pag.  1084  sqq. 
*)  Dieser  Abschnitt  (ed.  Hultsch)  pag.  268  —  264  hat  in  dem  Eislebener  Pro- 
gramm von  1876  durch  Gerhardt  eine  deutsche  Übersetzung  erhalten.  Der 
Text  Gerhardts  weicht  indessen  in  wesentlichen  Dingen  von  dem  Hultschs 
ab.  Letzterer  befindet  sich  in  vollem  Einklang  mit  Chasles,  ÄperQu  hüt.  31, 
deutsch  28,  dem  wir  hier  vorzugsweise  folgen. 


Sextas  Julius  Africanns.    Pappns  von  Alezandria.  451 

werden ;  eine  Schranbenfläche.  Legt  man  durch  eines  dieser  Perpen- 
dikel unter  passender  Neigung  gegen  die  Grundfläche  des  Zylinders 
eine  Ebene,  so  schneidet  diese  Ebene  die  Schraubenfiache  in  einer 
Kurve,  deren  senkrechte  Projektion  auf  die  Grundfläche  des  Zylinders 
die  Quadratrix  ist.  Und  zweitens:  wählt  man  eine  archimedische 
Spirale  zur  Basis  eines  geraden  Zylinders  und  denkt  man  sich  einen 
Umdrehungskegel,  dessen  Achse  diejenige  Seitenlinie  des  Zylinders  ist, 
welche  durch  den  Anfangspunkt  der  Spirale  geht,  so  schneidet  dieser 
Kegel  die  Zylinderfläche  in  einer  Kuire  doppelter  Krümmung.  Die 
Perpendikel,  welche  von  den  verschiedenen  Punkten  dieser  Kurve  auf 
die  erwähnte  Seitenlinie  des  Zylinders  gefällt  werden,  bilden  die 
Schraubenfläche,  weiche  Pappus  an  dieser  Stelle  plektoidische 
Oberfläche  nennt.  Legt  man  nun  durch  eine  dieser  Linien  unter 
passender  Neigung  eine  Ebene,  so  schneidet  diese  die  Oberfläche  in 
einer  Kurve,  deren  senkrechte  Projektion  auf  die  Ebene  der  Spirale 
die  verlangte  Quadratrix  sein  wird.  Welche  tiefe  Kenntnis  krummer 
Oberflächen  mußte  nicht  vorausgehen,  damit  diese  Erzeugungsarten 
der  Quadratrix  erfunden  werden  konnten!  Welchen  Weg  hat  auch 
in  dieser  Beziehung  die  griechische  Geometrie  von  Archytas,  der,  wie 
wir  uns  erinnern  (S.  229),  gekrümmte  Oberflächen  zur  Würfelver- 
doppelung benutzte,  bis  auf  Pappus  zurückgelegt I  Um  so  bedauer- 
licher ist  es,  daß  uns  die  euklidischen  Orter  auf  der  Oberfläche  fehlen, 
aus  denen  wir  ermessen  könnten,  in  welcher  Periode  der  größere 
Teil  jenes  Weges  zurückgelegt  worden  ist. 

Pappus  geht  hier  in  seiner  Betrachtung  von  Oberflächen  und  auf 
denselben  hervortretenden  Kurven  doppelter  Krümmung  noch  weiter. 
Er  läßt  eine  sphärische  Spirale  entstehen,  indem  ein  größter  Kugel- 
kreis um  seinen  Durchmesser  mit  gleichmäßiger  Geschwindigkeit 
sich  dreht,  während  zugleich  ein  Punkt  mit  ebenfalls  gleichmäßiger 
Geschwindigkeit  die  Peripherie  des  gedrehten  Kreises  durchläuft^), 
and  er  findet  die  Fläche  eines  durch  diese  sphärische  Spirale  be- 
grenzten Stückes  der  Kugeloberfläche,  eine  Komplanation,  welche 
unsere  Bewunderung  um  so  lebhafter  in  Anspruch  nimmt,  wenn  wir 
daran  denken,  daß  die  gesamte  Kugelfläche  zwar  seit  Archimed 
bekannt  war,  Stücke  der  Kugeloberfläche  aber  zu  messen,  wie  z.  B. 
sphärische  Dreiecke,  damals  und  noch  lange  später  eine  ungelöste 
Aufgabe  darstellte. 

Sätze  aus  der  Geometrie  der  Ebene,  welche  bei  Pappus  den  Leser 
überraschen,  finden  sich  namentlich  in  dem  VII.  Buche,  dessen  Inhalt 

^)  Pappus  (ed.  HultBch)  pag.  264  sqq.  Vgl.  Elügels  MatfaematischeB 
Wörterbuch  Bd.  IV,  S.  449  flgg. 

29* 


452  22.  Kapitel. 

von  selbst  einlade  Erweiterung  za  jenen  feinen  Analysen  Yorzunehmen, 
die  in  den  meisten  verlorenen  Schriften  eines  Euklid  und  ApoUonius 
enthalten  gewesen  sein  müssen^).  Hier  findet  sich  in  den  Lemmen 
zum  bestimmten  Schnitte  des  ApoUonius  die  Lehre  von  der  Invo- 
lution von  Punkten,  in  den  Lemmen  zu  den  Berührungen  des  Apol- 
lonius  die  Aufgabe,  durch  drei  in  einer  Geraden  gelegenen  Punkte 
ebenso  viele  Gerade  zu  ziehen,  welche  ein  Sehnendreieck  in  einem  ge- 
gebenen Kreise  bilden  (S.  448).  Hier  enthält  ein  Lemma  zu  den 
Porismen  des  Euklid  die  Lehre  von  der  Konstanz  des  anharmonischen 
Verhältnisses  und  ein  Lemma  zu  den  Örtem  auf  der  Oberfläche  eben- 
desselben den  Satz,  daß  die  Entfernungen  eines  jeden  Punktes  irgend 
eines  Kegelschnittes  vom  Brennpunkte  und  der  zu  demselben  ge- 
hörigen Leitlinie  in  konstantem  Verhältnisse  stehen,  was  ApoUonius 
vieUeicht  noch  nicht  gewußt  zu  haben  scheint  (S.  339).  Hier  ist  in 
den  Lemmen  zu  den  Berührungen  des  ApoUonius  der  Lehre  von  den 
Ähnlichkeitspunkten  zweier  Kreise  soweit  vorgearbeitet,  als  wenigstens 
bekannt  ist,  daß  die  Verbindungsgerade  der  entgegengesetzten  End- 
punkte paralleler  Halbmesser  zweier  sich  äußerUch  berührender  Kreise 
durch  den  Berührungspunkt  geht  und  auch  der  äußere  Ähnlichkeits- 
punkt einer  Figur  entnommen  werden  kann*). 

Hier  endlich  spricht  Pappus  zu  den  Kegelschnitten  des  ApoUonius 
die  Aufgabe  aus,  welcher,  seit  Descartes  die  Aufmerksamkeit  der 
Mathematiker  aufs  neue  auf  sie  gelenkt,  der  Name  der  Aufgabe 
des  Pappus  vorzugsweise  geblieben  ist').  Wenn  mehrere  gerade 
Linien  der  Lage  nach  in  einer  Ebene  gegeben  sind,  den  geometrischen 
Ort  eines  solchen  Punktes  zu  finden,  daß,  wenn  man  von  ihm  Per- 
pendikel, oder  aUgemein  Linien  unter  gegebenen  Winkeln,  nach  den 
gegebenen  Geraden  zieht,  das  Produkt  gewisser  unter  ihnen  zu  dem 
Produkt  aller  übrigen  in  einem  konstanten  Verhältnisse  stehe. 

Aber  nicht  die  Geschichte  der  Mechanik  und  der  Geometrie  aUein 
kann  aus  der  Sammlung  des  Pappus  ihre  merkwürdigen  Ergebnisse 
schöpfen.  Auch  anderen  mathematischen  Lehren  ist  sie  eine  wenn 
auch  nicht  ganz  ebenso  ergiebige  Fundgrube.  Betrachten  wir  z.  B. 
eines  der  Lemmen  zum  Verhältnisschnitte  und  Raumschnitte  des 
ApoUonius*).  Wir  haben  (S.  266)  im  27.  Satze  des  VI.  Buches  der 
euklidischen  Elemente  die  Wahrheit  erkannt,  das  Produkt  zweier  Teile, 
in  welche  man  eine  gegebene  Größe  teUe,  werde  ein  Maximum,  wenn 
die  Teüe  einander  gleich  sind.  So  fest  wir  an  dieser  Auffassung  des 
betreffenden  Satzes  halten,  so  ist  immerhin  eine  Auffassung  dazu  er- 

*)  Für  das  Folgende  vgl.  namentlich  Chasles,  Äpergu  hist.  88—44,  deutsch 
31—41.  *)  Pappus  (ed.  Hultsch)  pag.  840  und  862.  »)  Ebenda  pag.  678. 
^)  Ebenda  pag.  694. 


SextuB  Julias  Africanus.    Pappas  von  Alexandria.  453 

forderlich.  Der  WorÜant  des  Satzes  sagt  nicht  ausdrücklich,  was  wir 
in  demselben  gefunden  haben.  Pappus  dagegen  spricht  an  der  ge- 
nannten Stelle  jene  Wahrheit  klar  und  durchsichtig  aus.  Sein  Beweis 
lautet   in  Buchstaben   übertragen   folgendermaßen.     Wird  a  in  zwei 

Teile  zerlegt,  so  ist  der  eine  x  kleiner  als  -^  und  zwar  um  y.     Der 

andere  Teil  ist,  wie  man  erkennt,  x  +  2y  und  das  Produkt  x*  +  2xy 

stets  kleiner  als  x^  +  2xy  +  y*  —  (rr  +  y)*,  oder  kleiner  als  ^ ,  so  lange 

y  von  Null  verschieden  ist. 

Pappus,  wissen  wir,  hat  der  Ausziehung  der  Quadratwurzeln  seine 
Aufmerksamkeit  zugewandt.  Er  hat  auch  die  Aufgabe  der  Ein- 
schiebung  zweier  mittleren  Proportionalen  zwischen  gegebene  Großen, 
die  analytisch  zur  Eubikwurzelausziehung  führt,  aber  von  den  Griechen 
stets  geometrisch  bearbeitet  wurde,  an  zwei  verschiedenen  Orten  im 
III.  und  im  YIII.  Buche  verschiedenen  Schriftstellern  nachbehandelt. 
Eine  solche  von  ihm  durchgesprochene  Lösung  ist  besonders  merk- 
würdig, weil  sie  falsch  ist,  und  Pappus  den  Irrtum  durch  Rechnung 
nachweist,  also  den  geometrischen  Gang  zugunsten  einer  arithmeti- 
schen Prüfung  unterbricht.  Man  hat  gezeigt^),  daß  jene  tatsächlich 
unrichtige  Methode,  wenn  fortgesetzt  angewandt,  eine  wirkliche  nähe- 
rungsweise  richtige  Kubikwurzelausziehung  liefert,  und  damit  wäre 
ein  ungemein  wichtiger  Fortschritt  griechischer  Wissenschaft  enthüllt, 
wenn  wahrscheinlich  gemacht  werden  könnte,  daß  der  Erfinder  jenes 
Verfahrens  wirklich  beabsichtigte,  was  nachträglich  aus  seinem  Ver- 
suche gemacht  worden  ist.  Wir  können  für  jetzt  nicht  daran 
glauben,  weil  ein  Mann  wie  Pappus,  gelehrt  und  geometrisch  gewandt 
wie  kein  zweiter  seiner  griechischen  Zeitgenossen,  sonst  wohl  kaum 
mit  einer  gewissen  Geringschätzung  von  jenem  Versuche  gesprochen 
haben  würde. 

Zu  den  Berührungen  des  ApoUonius  macht  Pappus  zwei  Be- 
merkungen, von  welchen  wir  (S.  345)  andeutungsweise  redeten,  ihre 
eigentliche  Erwähnung  bis  hierher  aufsparend,  da  es  mindestens 
zweifelhaft  ist,  ob  wir  hier  dem  Apollonius  bereits  Bekanntes,  ob 
einen  Zusatz  des  Pappus  vor  uns  haben.  Pappus  sagt  nämlich,  aus 
drei  Elementen,  deren  jedes  beliebig  oft  gesetzt  werden  darf,  lassen 

')  PappnB  (ed.  Hultsch)  pag.  82  sqq.  Vgl.  Pendlebnry,  On  a  method 
of  finding  two  mean  proportionaU  im  Messetiger  of  the  maihematica  Ser.  8,  Tom.  II, 
pag.  166  sqq.,  dann  Glaisher  in  dem  Jahrbuch  über  die  Fortschritte  der 
Mathematik  V,  244  und  beide  ergänzend  S.  Günther,  Antike  Nähemngs- 
methoden  im  Lichte  modemer  Mathematik  (aus  den  Abhandlangen  der  E.  bOhm. 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  VI.  Folge,  9.  Band.  Prag  1S78)  S.  82—41  des 
Sonderabdruckes. 


454  22.  Kapitel. 

sich  zehn  Temen  und  nur  sechs  Amben  bilden^).  Das  sind  wahre 
kombinatorische  Lehrsätze  von  einem  Mathematiker  verwertet.  Neben 
der  Ursprungsfrage  bleibt  noch  eine  zweite  zu  stellen,  die  wir  nicht 
zu  entscheiden  wagen ,  ob  die  beiden  Sätze  als  spezielle  Fälle ,  ob 
als  in  einer  allgemeinen  Hauptwahrheit  enthalten  bekannt  waren. 
Wir  neigen  der  Meinung  zu,  es  sei  nur  ersteres  der  Fall  gewesen, 
und  Pappus,  oder  wer  nun  die  Sätze  fand,  habe  durch  tatsächliches 
Bilden  der  Kombinationsformen  sich  von  ihrer  Anzahl  überzeugt. 

Die  drei  hauptsächlichen  Mittelgrößen  sind  schon  mehrfach  von 
uns  besprochen.  Wir  wissen,  daß  Nikomachus  von  Gerasa,  daß 
Theon  von  Smyma  sich  mit  ihnen  beschäftigte,  aber  keiner  von 
beiden  leitete  so,  wie  Pappus  in  seinem  III.  Buche  es  tut*),  alle 
drei  durch  eine  gleichmäßige  Erzeugungsweise  ab.  Zwischen  a  und  c 
ist  Pappus  zufolge  eine  dritte  Größe  h  arithmetisches,  geometrisches 
oder  harmonisches  Mittel,  je  nachdem  die  beiden  Differenzen  a  —  b 
und  h  —  c  in  dem  Verhältnisse  a  :  a  oder  a  :  h  oder  a  :  c  stehen. 

Wir  möchten  femer  die  Aufmerksamkeit  unserer  Leser  auf  die 
dem  in.  Buche  angehörige  Aufgabe  lenken:  zu  einem  gegebenen 
Parallelogramme  ein  zweites  zu  finden,  so  daß  die  Seiten  des  zweiten 
zu  denen  des  ersten  in  einem  gegebenen  Längenverhältnisse  stehen^ 
während  die  Flächenräume  in  einem  anderen  gleichfalls  gegebenen 
Verhältnisse  stehen  sollen  *).  Die  Aufgabe  ist  an  sich  leicht  und 
eine  vollständig  bestimmte,  aber  sie  gewinnt  an  geschichtlicher  Trag- 
weite, wenn  wir  sie  mit  jener  unbestimmten  Aufgabe  im  Buche  des 
Landbaues  vergleichen  (S.  391):  zwei  Rechtecke  zu  finden,  bei  welchen 
die  Summe  der  Seiten  in  einem,  die  Flächeninhalte  in  einem  anderen 
gegebenen  Verhältnisse  stehen  sollen,  eine  Aufgabe,  welche  uns  noch 
wiederholt  begegnen  wird,  und  deren  Ursprung  durch  das  bloße  Vor- 
kommen im  heronischen  Buche  des  Landbaues  noch  keineswegs  ge- 
sichert ist,  da  gerade  dieses  Buch  spätere  Einschiebungen  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  vermuten  läßt. 

Endlich  kommen  wir  auf  die  Multiplikationsmethode  des  Apol- 
lonius  im  U.  Buche  des  Pappus  zurück  und  auf  eine  Bemerkung, 
welche  wir  bei  unserer  ersten  Erörterung  dieses  Verfahrens  (S.  346) 
dazu  machten.  Jene  Bemerkung  bezog  sich  auf  das  Auftreten  xter 
Myriaden.  Die  Allgemeinheit  der  Darstellung  beschränkt  sich  nicht 
auf  sie.  Bei  den  Zahlenbeispielen,  an  welchen  die  Multiplikation 
mit  Hilfe  der  Wurzelzahlen  gelehrt  wird,  kommen  natürlich  grie- 
chischer  Gewohnheit    gemäß   Buchstaben    als   Vertreter   von   Zahlen 


*)  PappuB  (ed.  HultBch)  pag.  646  und  648.      *)  Ebenda  pag.  70  und  72. 

ATiHfi.  nfl.Gr    19(i  ann 


^  Ebenda  pag.  126  sqq 


Sextas  Julius  Africanus.    Pappus  Yon  Alexandria.  455 

vor.  Aber  neben  den  zu  diesem  Zwecke  verwandten  Buchstaben  des 
Alphabetes  erscheinen  auch  große  Buchstaben  in  der  Bedeutung 
allgemeiner  Zahlen.  So  ist  a  —  1,  /J  «=  2,  y  «  3,  i  =«  4,  «  «  5,  und 
von  den  entsprechenden  großen  Buchstaben  wird  angenommen,  es 
sei*)  v^  «  20,  J5  =  3,  T-  4,  ^^^5,  E^6  und  Z  sei  die  Wurzel- 
zahl von  A  oder  2.  Offenbar  ist  hier  ein  ungemeiner  Fortschritt 
enthalten.  Es  ist  nicht  bloß  von  einer  gesuchten  Gh'öße,  einem  Hau 
der  Ägypter  die  Rede;  es  werden  nicht  bloß,  wie  in  dem  Epantheme 
des  Thymaridas,  zwei  Gattungen  von  Größen,  gegebene  und  unbe- 
kannte unterschieden;  es  liegt  die  Möglichkeit  vor,  so  viele  allgemeine 
Größen  als  es  nur  große  Buchstaben  gibt  zu  unterscheiden,  Opera- 
tionen an  ihnen  anzudeuten  und  damit  Regeln  selbst  in  ihrer  All- 
gemeinheit auszusprechen,  ohne  den  Leser  zu  nötigen  die  Regel  erst 
aus  dem  besonderen  Beispiele  zu  abstrahieren.  Es  ist  in  der  Tat 
eine  Buchstabenrechnung.  Schon  Aristoteles  hat  (S.  253)  eine  Kraft, 
eine  Zeit  durch  einen  einfachen  Buchstaben  bezeichnet.  Bezeichnungen 
durch  einfache  Buchstaben  hat  man  auch  aus  Ciceros  Briefen  nach- 
zuweisen vermocht *).  Aber  eine  so  freie  Bewegung  mit  den  Symbolen 
allgemeiner  Größen  wie  im  II.  Buche  des  Pappus  ist  doch  neu.  Dem 
Vorgange  des  Aristoteles  gegenüber  ist  es  nicht  erlaubt  ohne  weiteres 
zu  leugnen,  daß  ApoUonius  schon  diesen  gewaltigen  Fortschritt  voll- 
zog. Es  ist  noch  weniger  gestattet  solches  geradezu  zu  behaupten 
und  anzunehmen  weder  ein  Geometer  noch  ein  Arithmetiker,  kein 
Heron,  kein  Nikomachus  seien  in  die  Fußtapfen  des  ApoUonius  ge- 
treten. Vielleicht  ist  der  Fortschritt  in  zwei  Bewegungen  erfolgt, 
wenn  man  uns  diese  Ausdrucks  weise  gestatten  will.  ApoUonius,  das 
wissen  wir  aus  Pappus,  hat  sein  Verfahren  geometrisch  dargestellt'), 
d.  h.  er  sprach  offenbar,  gleich  Euklid  an  manchen  Stellen  der 
Elemente,  von  Linien  und  Flächen,  wo  wir  von  Zahlen  und  ihren 
Produkten  zu  reden  gewohnt  sind.  Auch  Euklid  bezeichnete  solche 
Zahlenlinien  regelmäßig  durch  einfache  Buchstaben.  Dieselbe  Ge- 
wohnheit, sollten  wir  meinen,  habe  ApoUonius  gehabt;  er  habe  seine 
Zahlenlinien  durchgängig  mit  je  einem  großen  Buchstaben  benannt. 
Pappus,  vermuten  wir  dann,  habe  die  Buchstaben  beibehalten,  die 
lineare  Versinnlichnng  faUen  lassen.  So  war  der  Fortschritt  vieUeicht 
ein  halb  unbewußter,  aber  er  war  darum  doch  gemacht,  und  die  Algebra 
der  Zeitgenossen  wie  der  Nachkommen  konnte  Nutzen  davon  ziehen. 

*)  Pappus  (ed.  Hultsch)  pag.  8.  *)  Epistolcte  ad  Atticum  Lib.  II  epiatola  3. 
Wenn  dagegen  römische  Juristen  vielfach  die  Gewohnheit  hatten,  statt  einer  un- 
bestimmt gelassenen  Zahl  deeem  (X)  zu  schreiben^  z.  B.  dabo  X  assea,  so  ist  diese 
Gewohnheit  kaum  als  eine  Spur  allgemeiner  GrOfienbezeichnung  aufzufassen. 
*)  th  ik  YQaitiunhv  'bnh  tov  lAicolXmvlov  diieintai,  bei  Pappus  (ed.  Hultsch)  pag.  8. 


456  2S.  Kapitel. 

23.  Kapitel. 
Die  Nenplatoniker.     Diophantas  von  Alexandria. 

Wir  sehen  in  diesem  Kapitel  Männer  auftreten^  deren  richtige 
Würdigung  kaum  möglich  ist,  ohne  daß  wir  ein  Anlehen  bei  der 
Geschichte  der  Philosophie  uns  gestatten^).  Nicht  als  ob  wir  ge- 
sonnen wären  die  Unterschiede  deutlich  zu  machen,  welche  zwischen 
dem  Neupythagoräismus,  von  welchem  wir  in  der  Einleitung  zum 
21.  Kapitel  (S.  428)  gesprochen  haben,  und  dem  Neuplatonismus, 
zu  welchem  wir  uns  jetzt  wenden,  obwalten;  so  tief  dürfen  wir  in 
das  uns  fremde  Gebiet  nicht  eindringen;  aber  die  Persönlichkeiten 
müssen  wir  wenigstens  kennen  lernen,  welche  im  Neuplatonismus 
tonangebend  waren,  und  die  vielleicht  ein  Recht  in  der  Geschichte 
der  Mathematik  mit  Ehren  genannt  zu  werden  nur  dadurch  ein- 
büßten, daß  ihre  mathematischen  Schriften  verloren  gingen,  Schriften, 
deren  arithmetischer  Inhalt,  sofern  wir  nach  dem  Erhaltenen  auf  das 
Verlorene  schließen  dürfen,  eine  Fortsetzung  dessen  darstellen  würde, 
was  die  Neupjthagoräer  Nikomachus  und  Theon  uns  zu  entwickeln 
nötigten.  Noch  in  einem  anderen  Berührungspunkte  treffen  die  Nen- 
platoniker, von  denen  wir  besondere  mathematische  Erinnerung  be- 
sitzen, mit  den  genannten  neupythagoräischen  Arithmetikem  überein. 
Wie  Gerasa  und  Smyma,  so  gehört  die  Heimat  des  Porphyrius,  des 
Jamblichus  dem  asiatischen  Weltteile  an,  und  gehen  wir  von  dem 
Satze  aus,  daß  sich  häufende  Zufälligkeiten  wahrscheinlich  ähnlichen 
Gründen  entstammen  und  damit  aufhören  Zufälligkeiten  zu  sein,  so 
werden  wir  die  Tatsache  uns  zu  bemerken  haben,  daß  vorderasiatische 
Philosophen,  welche  der  Mathematik  sich  zuwandten,  vorzugsweise 
Arithmetiker  wurden.  Eine  Begründung  dieser  Tatsache  aber  zu 
geben  reichen  die  heutigen  Mittel  nicht  aus.  Kaum  anzudeuten  wagen 
wir,  daß  es  heimatliche  Einflüsse  gewesen  sein  dürften,  die  diese  be- 
stimmte Geistesrichtung  hervorbrachten,  heimatliche  Einflüsse,  die  aber 
jedenfalls  nach  Zeit  und  Ort  weiter  verfolgbar  sein  müssen,  in  eine 
vielleicht  graue  Vergangenheit,   in  weiter  östlich  liegende  Gegenden. 

Der  Verkehr  mit  diesem  Osten,  selbst  mit  dem  äußersten  Osten, 
war  wenn  auch  kein  lebhafter  doch  immer  vorhanden.  Alexandri- 
nische  Handels karawanen  wagten  sich  nach  Indien;  aber  auch  indische 
und    chinesische    Gesandtschaften    erschienen   bei   römischen  Kaisem. 


*)  Unsere  Hauptqnelle :  Zell  er,  Die  PkiloBophie  der  Griechen  in  ihrer  ge- 
schichtlichen Entwicklung  m.  Theil,  2.  Abtheilnng  (2.  Auflage)  1868,  zitieren 
wir  als  Zell  er  III,  2. 


Die  Neaplatoniker.    Diopbantus  yon  Alexandria.  467 

Der  Hof  des  Augustus,  des  Claudius^  des  Trajan,  des  Constantin  des 
Großen,  des  f  Julianns  hat  solche  Botschafter  fremdartigster  Gestalt 
gesehen^).  Im  II.  S.  n.  Chr.  soll  Scythianus  magische  Schriften 
aus  Indien  nach  Alexandria  gebracht  haben,  die  dort  gierig  ver- 
schlungen wurden.  In  das  III.  S.  fällt  die  Gründung  der  neuplato- 
nischen Schule  in  Alexandria  durch  Ammonius  Sakkas.  Ammonius 
aber  war  von  232 — 242  der  Lehrer  des  Plotinus,  eines  Ägypters, 
in  dem  nunmehr  die  Neigung  aus  den  orientalischen  Quellen  selbst 
zu  schöpfen  so  lebhaft  erwachte,  dafi  er  39  Jahre  alt  dem  Heere  sich 
anschloß,  welches  unter  Gordian  gegen  die  Perser  zu  Felde  zog.  Die 
selbständige  Wirksamkeit  des  Plotinus  entMtete  sich  in  Rom,  wo  er 
etwa  244  als  Lehrer  auftrat  und  eines  großen  Zulaufs  sich  erfreute, 
bis  er  270  in  Campanien  einer  lange  dauernden  Krankheit  erlag. 

Der  Lieblingsschüler  Plotins  erhielt  den  Auffcn^  die  Schriften 
des  Lehrers  zu  sammeln  und  herauszugeben.  Es  war  der  Tyrier 
Malchus,  der  etwa  232^  auf  asiatischem  Boden  geboren  zuerst  in 
Athen  unter  einem  Philosophen  Longinus,  der  für  uns  kein  weiteres 
Interesse  besitzt,  studierte,  dann  nach  Rom  zu  Plotinus  gelangte  und 
dort  den  Namen  Porphyrius  erhielt,  unter  welchem  er  uns  schon 
wiederholt  vorgekommen  ist.  Porphyrius  erreichte  jedenfalls  ein 
hohes  Alter,  da  er  selbst  von  einem  Vorfalle  aus  seinem  68.  Lebens- 
jahre erzählt  hat,  und  somit  sicherlich  erst  nach  300  gestorben  ist. 
Er  war  außer  in  Rom,  wohin  er  am  Ende  seiner  Laufbahn  nochmals 
zurückkehrte,  auch  in  Sizilien  schriftstellerisch  und  als  Lehrer  tätig. 
Von  seinen  Schriften  haben  wir  das  Leben  des  Pythagoras  sowie  den 
Kommentar  zu  der  Musik  des  Ptolemäus  als  Quelle  mancher  wert- 
vollen geschichtlichen  Angaben  kennen  gelernt.  Die  letztere  Schrift 
ihrem  eigentlichen  wissenschaftlichen  Inhalte  nach  zu  besprechen 
haben  wir  keine  Veranlassung.  Wichtiger  wären  vielleicht  für  die 
Geschichte  der  Sternkunde  und  ihrer  Ausartungen  die  astrologischen 
Anklänge,  welche  bei  Porphyrius  vorhanden  sind,  welche  von  da  an 
unter  den  Neuplatonikem  nicht  verhaUen,  von  welchen  aber  auch 
schon  Ptolemäus,  der  strenge  Forscher,  nicht  frei  war;  ihrem  Ur- 
sprünge nachgehend  könnte  man  möglicherweise  zu  auch  anderwärts 
verwertbaren  Ergebnissen  gelangen.  Porphyrius  verfaßte  femer  Ein- 
leitungen zu  aristotelischen  Schriften.  Von  Geometrischem,  was 
Porphyrius  geschrieben,  ist  uns  nur  weniges  in  des  Proklus  Kommen- 


')  Vgl.  Bein  au  d,  BeUxtions  poliHques  et  commercuües  de  Vempire  Bomain 
avec  VAste  centrale  im  Journal  Anatique,  6.  sdrie,  T.  1  (1863)  und  eine  Notiz 
Ton  Woepoke  in  demselben  Bande  pag.  458  mit  Berafong  anf  Wilson,  Vishnu 
Purana.    London  1840  in  4^  pag.  VIÜ  und  IX. 


458  28.  Kapitel. 

tare  zu  dem  ersten  Buche  der  euklidischen  Elemente  erhalten')  und 
dieses  Wenige  ist  nicht  von  solcher  Bedeutung^  daß  wir  dabei  zu  ver- 
weilen hätten. 

Zwei  Schüler  des  Porphjrius  werden  als  bedeutendste  genannt. 
Der  ältere,  ein  gewisser  Anatolius,  war  seit  270  Bischof  von 
Laodicea.  Von  ihm  haben  sich  mancherlei  mystisch -arithmetische 
Bruchstücke  erhalten^.  Sein  Schüler  und  erst  später  Schüler  des 
ihnen  somit  gemeinsamen  Lehrers  Porphjrius  war  der  zweite,  den 
wir  zu  nennen  haben:  Jamblichus. 

Jamblichus  ist  aus  reicher  und  angesehener  Familie  zu  Chalcis 
in  Cölesyrien  geboren,  also  Vorderasiate,  wie  wir  oben  bemerkten. 
Er  folgte  wahrscheinlich  in  Rom  dem  Unterrichte  des  Anatolius  und 
des  Porphyrius,  als  dieser  aus  Sizilien  wieder  zurückgekehrt  war. 
Später  verlegte  Jamblichus  seinen  Aufenthalt  in  seine  syrische  Heimat, 
wo  er  selbst  schulebildend  auftrat.  So  sehr  seine  Anhänger  ihn  ver- 
ehrten, —  den  Göttlichen  nannte  ihn  die  Schule  —  so  sind  doch 
die  Angaben  über  seine  Lebenszeit  von  Widersprüchen  behaftet*). 
An  und  für  sich  könnte  es  ja  richtig  sein,  daß  er  am  Ende  des 
HL  S.  in  Rom  zu  den  Füßen  des  Porphyrius  saß,  daß  er  während 
der  Regierung  Constantin  des  Großen  (306 — 337)  wirkte,  daß  noch 
Kaiser  Julianus  Apostata  (361 — 363)  in  Briefwechsel  mit  dem  greisen 
Philosophen  stand.  Wie  aber  will  man  dann  begreiflich  machen, 
daß  Kaiser  Constantin  den  Sopater,  einen  Schüler  des  Jamblichus, 
der  erst  nach  des  Lehrers  Tode  an  den  Kaiserhof  kam,  hinrichten 
ließ,  wie  damit  wieder  in  Einklang  bringen,  daß  Kaiser  Julianus  in 
einem  seiner  Briefe  von  Sopater  als  einem  damals  noch  lebenden 
Schüler  des  Jamblichus  redet?  Soll  man  wirklich  den  Tod  des 
Jamblichus  etwa  auf  330  setzen,  die  Briefe  des  Julian  an  Jamblichus 
für  untergeschoben  erklären?  Wir  verzichten  auf  die  Entscheidung 
dieser  Fragen,  welche  eine  große  Wichtigkeit  für  uns  nicht  besitzen. 
Daß  Jamblichus  unzweifelhaft  am  Anfange  des  lY.  S.  lebte ,  genügt 
uns.  Wie  lange  Jamblichus  im  IV.  S.  seine  Tätigkeit  fortsetzte,  ist 
uns  ziemlich  gleichgültig. 


^)  Die  betreffenden  Stellen  sind  mit  Hilfe  des  NamensverzeichnisBes  der 
Friedlein  sehen  Proklusansgabe  leicht  aufzufinden.  *)  In  einer  Münchener 
Handschrift  sind  solche  Stücke  als  von  Anatolius  herrührend  gesammelt.  Hei«^ 
borg  hat  sie  in  den  Veröffentlichungen  des  Congrh  d'Histoire  des  scienees 
(Paris  1900)  abdrucken  lassen  und  P.  Tanne ry  hat  eine  französische  Über- 
setzung sowie  Schlußbemerkungen  folgen  lassen,  in  welcher  mit  der  älteren 
Ansicht  gebrochen  ist,  als  wäre  der  Lehrer  des  Jamblichus  gar  nicht  Christ  ge- 
wesen, also  von  dem  Bischof  Yon  Laodicea  zu  unterscheiden.  Vgl.  auch  Borg- 
horst,  De  Änatolii  fontibus  (Berlin  1904).     ")  Zeller  III,  2,  618,  Anmerkung  2. 


Die  Neuplaioniker.    Diophantus  von  Alexandria.  459 

Von  den  Werken  des  Jamblichus^)  kümmern  uns  vorzugsweise 
einige  Bücher^  welche  zwar  getrennt  voneinander  herausgegeben 
worden  sind,  aber  ursprünglich  ein  einziges  Werk  von  zehn  Büchern 
bildeten  und  den  Gesamttitel:  Sammlung  der  pjthagoräischen 
Lehren,  övvaymy^  x0v  nvdayoQix&v  doyiuHrav^  führten.  Das 
I.  Buch  enthielt  das  Leben  des  Pythagoras,  das  U.  eine  Einleitung 
in  die  Philosophie,  das  III.  eine  solche  in  die  Mathematik,  das 
IV.  Erläuterungen  zu  Nikomachus,  das  V.  Physikalisches,  das  VI. 
Ethisches,  das  VU.  theologisch -arithmetische  Auseinandersetzungen, 
das  VIII.  eine  Musik,  das  IX.  eine  Geometrie,  das  X.  eine  Sphärik. 
Die  kleinere  Hälfte  des  Werkes,  das  L,  II.,  III,  IV.  Buch  haben  sich 
erhalten^),  die  andere  Hälfbe  ist  verloren  gegangen.  Der  wesentliche 
Inhalt  des  VII.  Buches  mag  allerdings  von  einem  späteren  unbe- 
kannten Verfasser  in  die  erhaltene  Schrift  Theologumena  Arithmeticae 
hineingearbeitet  worden  sein*).  Verloren  ist  auch  ein  Werk  über 
Chaldäisches,  aus  dessen  28.  Buche  eine  Notiz  sich  erhalten  hat, 
woraus  auf  den  großen  Umfang  des  Werkes  ein  Schluß  gezogen 
werden  kann.  An  ihm  dürfte  die  Geschichte  der  Wissenschaften 
überhaupt,  der  Mathematik  insbesondere,  viel  eingebüßt  haben,  und 
jedenfalls  reicht  dessen  einstmaliges  Vorhandensein  aus,  die  Glaub- 
würdigkeit dessen,  was  Jamblichus,  der  sich  somit  erwiesenermaßen 
mit  den  chaldäischen  Überlieferungen  beschäftigt  hatte,  über  den 
Ursprung  mancher  mathematischen  Sätze  in  Babylon  berichtet,  wesent- 
lich zu  erhohen.  Die  sonstigen  vielen  Schriften,  welche  Jamblichus 
mit  Recht  oder  Unrecht  beigelegt  werden,  welche  teils  ganz  ver- 
loren, teils  in  Bruchstücken  vorhanden  sind,  haben  für  uns  keine 
weitere  Bedeutung. 

Von  den  zehn  Büchern  pythagoräischer  Lehren  haben  wir  das  IV., 
welches  schon  mehrfach  von  uns  ausgebeutet  worden  ist,  dem  wir 
z.  B.  das  Epanthem  des  Thymaridas  entnahmen,  noch  nach  der 
Richtung  hin  zu  prüfen,  was  wohl  in  den  Erläuterungen  zur  Arith- 
metik des  Nikomachus,  die  übrigens  nichts  weniger  sind  als  ein  fort- 
laufender Kommentar  zum  Texte  des  zu  erklärenden  Werkes,  erwähnens- 
wert sein   möchte,   und  als   älteren   Schriftsteller   nicht  überweisbar 


')  Zeller  III,  2,  616,  Anmerkung  2.  •)  Buch  I  ist  am  besten  von  Kieß- 
ling,  Leipzig  1B16,  Buch  II  Yon  ebendemselben,  Leipzig  1818,  herausgegeben, 
Buch  in  ist  bei  Ansse  de  Villoison,  Aneedata  Graeca  Bd.  II.  Venedig  1781 
abgedruckt,  in  unserer  Zeit  Ton  Feata  neu  herausgegeben.  Buch  IV  gab  Ten- 
nuliuB  heraus.  Amheim  1668,  sowie  Pistelli  (Leipzig  1894).  ^  SBoXayo^- 
luva  tfjg  &QtBiirivixfjs  ed.  Fr.  Ast.  Leipzig  1817.  C.  Ton  lan,  Musici  seriptores 
Graeci  pag.  212  (Leipzig  1895)  neigt  sich  der  Ansicht  zu,  die  Theologumena 
seien  Ton  Jamblichus  zusammengestellt. 


460  23.  Kapitel. 

dem  Jamblichus  angehören  konnte.  Da  ist  freilich  das  Auszu- 
zeichnende ungemein  dürftig.  Der  Satz,  daß  jede  Dreieckszahl  mit 
8  vervielfacht  und  alsdann  noch  um  die  Einheit  vermehrt  zur  Quadrat- 
zahl werde,  ist  keinesfalls  des  Jamblichus  Eigentum ,  da  derselbe 
mindestens  schon  bei  Plutarch  im  I.  S.  n.  jDhr.  vorkommt  (S.  168). 
Auch  was  Jamblichus  von  Seiten-  und  Diametralzahlen  weiß,  kennen 
wir  schon  von  Theon  von  Smyma  her.  Ihm  dagegen  gehört  viel- 
leicht der  Satz  an,  daß  jede  Zahl  mit  einer  der  beiden  ihr  zunächst 
liegenden  gleichartigen  (d.  h.  gerade  mit  geraden,  ungerade  mit  ungeraden) 
vervielfacht  unter  HinzufQgung  der  Einheit  zu  dem  Produkte  ein 
Quadrat  gibt,  und  zwar  ein  gerades  Quadrat  wenn  man  von  ungeraden, 
ein  ungerades  wenn  man  von  geraden  Faktoren  ausgingt),  ein  Satz,  der 
freilich  keines  weiteren  Beweises  bedarf,  als  der  sich  aus  der  Identität 
a(a  -f  2)  -f  1  =  (a  -f  1)*  ergibt.  Über  die  vollkommenen  Zahlen  sagt 
Jamblichus,  nach  den  vier  ersten  6,  28,  496,  8128  folgten  auch  in 
der  ersten  imd  zweiten  Stufe  der  Myriaden  je  eine  usw.  ins  unend- 
liche immer  abwechselnd  mit  6  und  8  endigend.*) 

Jamblichus  darf  sich  wohl  auch  die  Erfindung  zuschreiben,  welche 
jede  Quadratzahl  in  ihrer  Entstehung  als  Summe  zweier  aufeinander 
folgenden  Dreieckszahlen  mit  dem  Bilde  einer  Rennbahn  vergleicht^). 
Von  der  Einheit  als  Schranke  durchläuft  man  alle  Zahlen  bis  zu  einem 
Wendepunkte  a,  von  wo  aus  auf  der  anderen  Seite  wieder  durch 
die  sämtlichen  Zahlen  die  Rückkehr  zur  Einheit  als  Ziel  erfolgt;  d.  h. 
l+2  +  '-  +  (a-l)  +  a+(a~l)+--  +  2  +  l-a*.  Daneben 
weiß  Jamblichus  auch,  daß  1  +  2  +  •  •  +  (a  -  1)  -f  a  -f  (a  -  2)  +  •  •  -f  2 
=  (a  —  1)  •  a  eine  heteromeke  Zahl  wird,  und  stellt  auch  diese  Vor- 
wärts- und  Rückwärtssummierung,  bei  der  freilich  beim  Zurückgehen 
ein  Sprung  von  a  nach  a  —  2  erfolgt,  und  außerdem  das  Ziel  bei  2 
und  nicht  bei  1  ist,  an  dem  Bilde  einer  Rennbahn  dar.  Ja  er  hetzt 
das  Bild  einer  Rennbahn  zu  Tode,  indem  er  von  l+2-f3-f--«  +  9 
+  10  +  9-f-..-f-3-t-2  +  l«100  durch  Vervielfachung  jeder  Zahl 
mit  10,  mit  100  usw.  zu  1000,  zu  10000  usw.  gelangt  und  die 
Zahlen  1,  10,  100,  1000  die  Einheiten  des  ersten,  des  zweiten,  des 
dritten,  des  vierten  Ganges  mit  den  Pythagoräern  nennt,  woraus 
hervorgeht,  daß  den  Pythagoräern  ein  genaues  Bewußtsein  des  deka- 
dischen Zahlensystems  innewohnte,  wie  es  auch  aus  dem  Begriff  der 


1)  Jamblichus  in  Nkomachum  (ed.  TeDDulius)  pag.  127,  (ed.  Pistelli) 
pag.  90.  Vgl.  NeBselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  236,  Anmerkung  70. 
*)  Jamblichus  in  Nicomachum  (ed.  Tennulius)  pag.  46,  (ed.  Pistelli)  pag.  38. 
Vgl.  Fr.  Hultsch  in  den  Nachrichten  der  k.  Gesellschaft  d.  Wissensch.  zu 
Göttingen.  1895,  Heft  8.  ^  Für  diese  und  die  folgenden  Bemerkungen  zu 
Jamblichus  vgl.  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  237—242. 


Die  Neuplatoniker.    Diophantus  von  Alexandria.  461 

Wurzelzahlen  bei  Apollonius  deutlich  hervorgeht.  Die  Wurzelzahlen 
selbst,  aber  nicht  Pythmenes,  sondern  Einheit,  fiovdg^  genannt,  spielen 
in  einem  letzten  Satze  des  Jamblichus  eine  Rolle.  Addiert  man  drei 
in  der  natürlichen  Zahlenreihe  unmittelbar  aufeinander  folgende  Zahlen, 
deren  größte  durch  3  teilbar  ist,  nimmt  die  Ziffemsumme  der  Summe 
(d.  h.  bei  Jamblichus  die  Summe  der  Monaden),  von  dieser  Ziffem- 
summe abermak  die  Ziffemsumme  usf.,  so  gelangt  man  endlich  zu 
der  letzten  Ziffemsumme  6.  So  erweist  sich  uns  Jamblichus  immer- 
hin als  erträglicher,  wenn  auch  nicht  als  bedeutender  Arithmetiker. 
Bedürfte  der  negative  Teil  dieses  Ausspruches  einer  Bestätigung,  so 
könnten  wir  sie  in  dem  Tadel  finden,  den  Jamblichus  gegen  Euklid 
sich  erlaubt,  weil  derselbe  die  Zahl  2  eine  Primzahl  nenne,  während 
es  nach  Nikomachus  nur  ungerade  Primzahlen  gebe. 

Das  Wort  Pythmen,  welches  bei  Jamblichus  vermißt  wird,  findet 
sich  dagegen  bei  einem  anderen  christlichen  Schriftsteller  des  III.  Jahr- 
hunderts, bei  dem  Heiligen  Hippolytos*),  der  die  Pythmenen  zur 
Neunerprobe  und  ebenso  zur  Siebenerprobe  benutzt,  d.  h.  die 
Frage  aufwirft,  welcher  Rest  übrig  bleibe,  wenn  man  die  Summe  von 
Pythmenen  durch  9  oder  auch  durch  7  teile.  Eine  rechnerische  Ver- 
wertung dieses  Verfahrens  ist  allerdings  nicht  beabsichtigt,  sondern 
es  handelt  sich  um  eine  Art  Vorbedeutungsarithmetik,  die  möglicher- 
weise in  Griechenland  noch  weit  vor  die  Zeit  des  Hippolytos  hinaufreicht. 

Der  Zeit  des  Jamblichus  gehören  möglicherweise  die  arith- 
metischen Epigramme  der  griechischen  Anthologie  an'). 
Sammlungen  kleiner  griechischer  Gedichte  wurden  seit  dem  letzten 
Jahrhundert  vor  Christi  Geburt  vielfach  zusammengestellt.  Aber  was 
damals,  was  später  während  der  Regierungen  Trajans,  Hadrians  ge- 
sammelt wurde,  ist  verloren  gegangen.  Nur  die  Erinnemng  daran 
ist  geblieben,  nur  was  teilweise  mit  Anlehnung  an  diese  Vorgänger 
am  byzantinischen  Hofe  zuerst  im  X.  S.  von  Constantin  Kephalas, 
dann  wiederholt  in  den  ersten  Jahren  des  XIV.  S.  von  Maximus 
Planudes,  einem  Vielschreiber,  welcher  uns  noch  mehrmals  als  Ver- 
fasser mathematischer  Schriften  begegnen  wird,  zu  einer  Blumenlese 
vereinigt  worden  ist.  Einige  dieser  Gedichte  gehören  der  Geschichte 
der    Mathematik     insofern    an,     als    man    in     ihnen    Isopsephien 


^)  F.  Tannerj,  Notice  sur  des  fragments  d'Onomatomancie  arithmetique 
(NoHces  et  extraits  des  Manuscrits  de  la  Bibliotheqiie  NaHancUe  1885,  Tome  XXXI, 
8.  Partie).  *)  Die  besten  Ausgaben  der  Anthologie  von  Fried r.  Jacobs  in 
8  Bänden  (Leipzig  1818 — 17)  und  von  Brunck.  Die  47  arithmetiscben  Epi- 
gramme bat  Zirkel  in  einem  Bonner  Gjmnasialprogramme  vom  Herbst  1858 
mit  deutscher  Übersetzung  und  einigen  Erläuterungen  herausgegeben.  Vgl.  auch 
Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  477flgg. 


462  23.  Kapitel. 

erkannt  hat,  d.  h.  sie  bestehen  aus  zwei  Distichen,  nnd  die  Buch- 
staben aller  in  je  einem  Distichon  vorkommenden  Wörter  nach 
ihrem  Zahlen  werte  additiv  vereinigt  geben  die  gleiche  Summe,  eine 
Spielerei,  welche  an  die  im  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderte 
in  Alexandria  geübte  öematrie  (S.  125)  täuschend  erinnert.  Wirk- 
lich ist  auch  einer  der  Dichter,  welche  an  Isopsephien  sich  versuchten, 
ein  gewisser  Leonidas  von  Alexandria,  der,  wie  mun  aus  in  seinen 
Gedichten  vorkommenden  Persönlichkeiten  zu  ermitteln  gewußt  hat, 
in  der  Zeit  von  Kaiser  Nero  etwa  gelebt  haben  muß  ^).  Dann  finden  sich 
in  der  Anthologie  auch  eine  große  Anzahl  algebraischer  Rätselfragen. 
Wir  haben  (S.  285)  das  sogenannte  euklidische  Epigramm  von  den 
beladenen  Tieren  kennen  gelernt;  es  steht  in  der  Anthologie.  Das 
Rinderproblem  des  Archimed  (S.  312)  steht  nicht  ii^  derselben,  gehört 
aber  seinem  Inhalte  wie  der  dichterischen  Einkleidung  nach  gleich- 
falls hierher,  imd  man  wird  vielleicht  nicht  irre  gehen,  wenn  man 
Inhalt  und  Form  der  Epigramme  voneinander  trennt,  letztere  erheb- 
lich später  als  ersteren  entstehen  läßt.  Für  mehrere  von  den  alge- 
braischen Epigrammen  gilt  Metrodorus  als  Verfasser  und  da  dieser 
nach  den  einen  unter  Constantin  dem  Großen,  nach  anderen  im 
VI.  Jahrhundert  gelebt  haben  soU*),  so  wählten  wir  diese  Stelle,  um 
von  den  Epigrammen  zu  reden.  Wir  wollen  freilich  nur  zwei  der- 
selben hervorheben,  welche  eine  gewisse  Bedeutung  zu  besitzen  scheinen. 
Wir  meinen  erstens  eine  Brunnenaufgabe,  wenn  dieses  Wort  den 
Sinn  behalten  soll,  imter  welchem  wir  es  (S.  391)  bei  Besprechung 
der  Ausmessungen  des  Heron  eingeführt  haben: 

Vier  Springbrunnen  es  gibt.  Die  Zisterne  anfallet  der  erste 
Täglich;  der  andere  brapcht  zwei  Tage  dazu,  und  der  dritte 
Drei,  und  der  vierte  gar  vier.     Welche  Zeit  nun  brauchen  zugleich  sie? 

Wir  meinen  zweitens  ein  Epigramm,  welches  seinem  Gegenstande 
nach  an  die  Kronenrechnung  des  Archimed  erinnert,  durch  die  Art 
aber,  wie  die  gegebenen  Größen  in  ihm  mit  den  Unbekannten 
verbunden  sind,  die  Anwendung  des  Epanthems  des  Thymaridas  er- 
heischt: 


')  H.  Stadtmüller,  Zur  griechischen  Anthologie  in  der  Festschrift  zur 
Einweihung  des  neuen  Gebäudes  für  das  Großherz.  Gymnasium  in  Heidelberg 
1894  besonders  S.  40— 4S.  Für  die  Lebenszeit  des  Leonidas  von  Alexandria 
standen  uns  mündliche  Mitteilungen  Stadtmüllers  zu  Gebote.  *)  Jacobs,  Comment, 
in  Anthologiam  Graecam  T.  Xm,  pag.  917.  Allerdings  heruht  nach  Tannery 
(Prolegomena  zum  U.  Bd.  seiner  Diophantausgabe  (1895)  pag.  XII — XIII)  die 
Angabe  von  Jacobs  auf  einer  Verwechslung  yon  Persönlichkeiten  gleichen 
Namens,  und  der  Zusammensteller  der  algebraischen  Epigramme  lebte  erst  im 
VIS. 


Die  Neuplatoniker.    Diopbantas  von  Alexandria.  463 

Schmied'  mir  die  Krone  und  menge  das  Grold  mit  dem  Kupfer  zusammen. 

Füg'  auch  Zinn  noch  hinzu  samt  sorglich  bereitetem  Eisen. 

Sechzig  der  Minen  sie  hab'  an  Gewicht.  Zwei  Drittel  der  Krone 

Wiege  das  Gold  mit  dem  Kupfer  gemengt;  drei  Viertel  dagegen 

Gold  mit  dem  Zinn  im  Gemisch;  drei  Fünftel  betrage  das  Gold  noch, 

Wenn  du  es  fügst  zu  dem  Eisen.     Wohlan!  nun  sage  mir  pünktlich, 

Was  du  an  Gold  mußt  nehmen  und  Kupfer,  zu  treffen  die  Mischung; 

Wie  yiel  Minen  an  Zinn;  auch  nenne  die  Masse  des  Eisens, 

Daß  du  zu  schmieden  vermagst  von  sechzig  der  Minen  die  Krone. 

Mag  nun  Metrodorus  unter  Constantia  dem  Großen  im  ersten 
Drittel  des  IV.  S.  oder  erst  im  VI.  S.  gelebt  haben,  mag  im  ersteren 
jetzt  allerdings  so  gut  wie  ausgeschlossenen  Falle  ein  Mann,  dessen 
Persönlichkeit  einem  sogleich  von  uns  zu  erwähnenden  Epigramme 
den  Inhalt  gab,  vor  Jamblichus  gelebt  haben,  so  konnte  die  strenge 
Zeitfolge  für  unsere  Darstellung  nicht  maßgebend  sein.  Jamblichus 
ist  Yon  den  Neuplatonikern  nicht  zu  trennen.  Er  ist  in  seinen 
Schriften  durch  die  Leistungen  Diophants  —  denn  dieser  ist  der 
Mann,  den  wir  im  Auge  haben  —  nicht  im  geringsten  beeinflußt. 
Er  konnte  daher  ohne  Rücksicht  auf  die  Lebenszeit  des  anderen 
selbständig  behandelt  werden.  In  gleicher  Weise  ist  umgekehrt  eine 
Einwirkung  des  Jamblichus  auf  Diophantus  von  Alexandria^) 
nicht  zu  bemerken. 

Der  Name  dieses  Schriftstellers  war  selbst  dem  Zweifel  unter- 
worfen, so  lange'  man  in  griechischer  Sprache  nur  die  Genitivform 
kannte,  welche  ebensowohl  Yon  einer  Endung  rjg  als  og  sich  herleiten 
konnte.  Man  berief  sich  aber  auf  die  arabische  Form  des  Namens, 
welche  mit  der  hier  benutzten  übereinstimmt  und  fand  alsdann  volle 
Bestätigung  in  einer  Stelle  des  Kommentars  Theons  von  Alexandria 
zum  ersten  Buche  des  Almagestes,  wo  unzweideutig  zft6q>avTog  steht 
und  unser  Algebraiker  gemeint  sein  muß,  weil  es  sich  bei  Theon^) 
um  einen  Satz  handelt,  der  bei  Diophant  wirklich  in  dem  dort  an- 
gegebenen Wortlaute  vorkommt.  Der  gleichen  Form  ^lötpavtog  hat 
sich  auch  Johannes  von  Jerusalem  bedient^).    Am  Ende  des  Vül.  S. 


*)  VJhei  Diophant  hat  Cossali,  Origine,  trtisporto  in  ItcUia,  primi  pro- 
gressi  in  essa  delV  cdgebra  1,  56—95.  Parma  1797,  gehandelt;  dann  Otto  Schulz 
in  der  Einleitung  und  den  Anmerkungen  zu  seiner  deutschen  Übersetzung  des 
Diophant.  Berlin  1822;  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  248  —  476. 
Hankel  157—171.  T.  L.  Heath,  Diophantoa  of  Alexandria.  Cambridge  1885. 
P.  Tannery  in  der  Bibliotheca  mathematica  1887  pag.  87—43,  81—88,  108—108 
nnd  1888  pag.  3—6.  *)  Thion  d'Alexandrie  (ed.  Halma)  I,  111.  ')  Yossius, 
De  scientiis  maihematieis  (Amsterdam  1650)  pag.  482  hat  die  betreffenden  Worte 
abgedruckt  und  zitiert  dafür  „pag.  688  edit.  Basil.*'  Tannery  hat  sie  in  seine 
Diophantausgabe  II,  86  in  der  Form  aufgenommen,  welche  sich  im  Pariser 
Kodex  1559  erhalten  hat. 


464  28.  Kapitel. 

lebte  nämlich  Johannes  von  Damaskus  ^  der  gleich  seinem  Vater 
Sergius  als  Christ  Schatzmeister  des  Kalifen  ^AbdAlmelik  war.  Er 
zog  sich  jedoch  bald  in  das  Kloster  Saba  zurück^  wo  er,  wie  die 
einen  sagen,  780,  nach  anderer  Meinung  7B0  gestorben  ist^).  Das 
Leben  dieses  Johannes  von  Damaskus  hat  nun  sein  jerusalemitischer 
Namensgenosse  beschrieben  und  ihm  dabei  nachgerOhmt,  er  sei  in 
der  Geometrie  so  bewandert  gewesen  wie  Euklid,  in  der  Arithmetik 
wie  Pythagoras  und  Diophantus. 

Für  das  Leben  des  Diophantus  sind  uns  zwei  weit  getrennte 
Grenzen  gegeben.  Damit  Theon  seiner  erwähnen  konnte,  müssen 
seine  Schriften  spätestens  um  370  vorhanden  gewesen  sein.  Damit 
er  Hjpsikles  nennen  konnte,  dessen  Definition  der  Vieleckszahlen  er 
uns  aufbewahrt  hat  (S.  361),  muß  er  später  als  180  v.  Chr.  gelebt 
haben.  So  ist  ein  Zwischenraum  von  ganzen  550  Jahren  gewonnen, 
in  welchem  Diophant  unterzubringen  ist:  Die  Gründe,  weshalb  man 
früher  vermutete,  Diophant  müsse  ganz  am  Ende  der  überhaupt  mög- 
lichen Zeit  gelebt  haben,  sind  teils  negative,  teils  ein  positiver. 
Negativ  ließ  man  sich  dadurch  bestimmen,  daß  weder  bei  Niko- 
machus,  noch  bei  Theon  von  Smyma,  noch  bei  Jamblichus  eine  Er- 
wähnung des  Diophant  oder  seiner  Lehren  aufgefunden  worden  ist, 
so  nahe  dieselbe  gerade  diesen  Schriftstellern  gelegen  hätte,  daß  über- 
haupt eine  Einwirkung  des  Diophant  auf  griechische  Arithmetik  nicht 
nachzuweisen  ist,  was  nur  dann  begreiflich  erscheine,  wenn  man  an- 
nehme, er  habe  erst  nach  den  Männern  gelebt,  welche  ihn  einigermaßen, 
wenn  auch  nicht  vollkommen  zu  verstehen  imstande  waren.  Dazu 
kommt  dann  das  positive  Zeugnis  des  Abulpharagius,  eines  syrischen 
Geschichtsschreibers  aus  dem  XIU.  S.,  Diophant  sei  Zeitgenosse  des 
Julianus  Apostata  gewesen,  welcher  361 — 363  regierte.  Der 
einzige,  aber  für  uns  den  Ausschlag  gebende  Gegengrund  ist  der, 
daß  Michael  Psellus  in  einem  Briefe  sagt^),  Anatolius  habe  eine 
Schrift  über  das  ägyptische  Rechnen  dem  Diophant  gewidmet,  und 
Anatolius  war  (S.  458)  seit  270  Bischof  von  Laodicea.  Diophant 
würde  danach  etwa  in  die  Mitte  des  III.  S.  zu  setzen  sein,  und  die 
mangelnde  Einwirkung  auf  Jamblichus  wäre  daraus  zu  erklären, 
daß  dieser,  wenn  er  Diophants  Schriften  kannte,  sie  nicht  ver- 
stand. 

Das  mehrerwähnte  Epigramm  enthält  alles,  was  wir  von  den 
persönlichen  Verhältnissen  des  Diophantus  wissen. 


')  A.  von  Eremex,  Kulturgeschichte  des  Orientes  U,  402^408  (Wien 
1877).  *)  Tanne rj 8  Diophantausgabe  11,  87—42,  insbesondere  pag.  88  lin.  22 
bis  26. 


Die  Nenplatoniker.    Diophantas  von  Alexandria.  465 

Hier  dies  Grabmal  deckt  Diophantas.    Schauet  das  Wunder! 

Durch  des  Entschlafcinen  Kunst  lehret  sein  Alter  der  Stein. 

Knabe  zu  sein  gewährte  ihm  Gott  ein  Sechstel  des  Lebens; 

Noch  ein  Zwölftel  dazu,  sproßt*  auf  der  Wange  der  Bart; 

Dazu  ein  Siebentel  noch,  da  schloß  er  das  Bündnis  der  Ehe, 

Nach  fanf  Jahren  entsprang  aus  der  Verbindung  ein  Sohn. 

Wehe  das  Kind,  das  vielgeliebte,  die  Hälfte  der  Jahre 

Hatt'  es  des  Vaters  erreicht,  als  es  dem  Schicksal  erlag. 

Drauf  vier  Jahre  hindurch  durch  der  Größen  Betrachtung  den  Kummer 

Von  sich  scheuohend,  auch  er  kam  an  das  irdische  Ziel. 

Wnrde  Diophant  x  Jahre  alt  und  starb  der  Sohn,  als  er  die 
Hälfte  der  damaligen  Jahre  des  Vaters  erreicht  hatte  ^);  so  entspricht 

das  Epigramm  det  Gleichung:  (|-  +  ^  +  -J  +  5)  +  (f  +  ^  +  y  +  ö) 
+  4  =  3?  oder  Sx  =-  196  mit  a;  —  65  ^  .     Auf  die  Kindheit  fielen  als- 

dann  10  -  Jahre.   Nach  weiteren  5^  Jahren  (mit  16     Jahren]  sproßte 

1  /  '*  \ 

der  Bart.    Nach  weiteren  9y  Jahren   (mit  25"   Jahren]   folgte  die 

Verheiratung  und  5  Jal^re  später  (mit  30^  Jahren]    die   Geburt   des 

Sohnes^  der  selbst  30-^   Jahre  alt  war  als  er  starb  und  der  Vater  mit 

61 Y  Jahren  doppelt  so  alt  war.     Endlich  überlebte   der  Vater  den 

Sohn  um  4  Jahre  und  wurde  65y  Jahre  alt. 

Wer  aber  Diophantus  von  Alexandria  war,  darüber  sagt  uns  auch 
das  kleine  niedlich  erfundene  Rätselgedicht  nicht  das  mindeste.  Es 
fällt  in  das  Gebiet  der  durchaus  ungestützten  Vermutungen,  wenn  man 
hat  behaupten  wollen,  Diophant  von  Alexandria  habe  in  dieser  Stadt 
nur  seinen  Wohnsitz  gehabt  und  sei  selbst  gar  nicht  Grieche  gewesen, 
so  wenig  wie  seine  Wissenschaffc  griechischen  Ursprunges  sei.  Die  Mög- 
lichkeit dieser  Annahme  ist  nicht  ausgeschlossen;  man  kann  ihr  bei- 
pflichten ohne  in  bestimmter  Weise  Widerlegung  zu  finden ;  aber  sie  ist 
nicht  notwendig.  Erinnern  wir  uns  der  algebraischen  Begriffe,  welche 
wachsend  und  an  Gewicht  zunehmend  bei  Euklid,  bei  Archimed,  bei 
Heron,  bei  den  Neupjthagoräem,  bei  Pappus  uns  begegneten,  und 
wir  haben  nicht  nötig  die  Brücke  abzubrechen,  welche  auf  dem  Boden 


*)  So  die  Deutung,  welche  Heinrich  Weber  uns  brieflich  vorschlug,  und 
welche  vor  der  früheren,  nach  welcher  der  Sohn  halb  so  alt  geworden  sein 
sollte  als  der  Vater  im  ganzen  war,  wodurch  man  Diophants  Alter  auf  84  Jahre 
ausrechnete,  den  Vorzug  besitzt,  daß  die  auftretenden  Zahlen  den  gemeldeten 
Ereignissen  besser  entsprechen,  als  wenn  z.  B.  14  Jahre  auf  die  Kindheit  fallen, 
mit  26  Jahren  erst  der  Bart  sproßt  usw. 

Gartob,  Q«tchichte  der  Mathematik  I.   3.  Aafl.  80 


466  23.  Kapitel. 

Alexandrias^  den  jedenfalls  Euklid,  Heron  und  Pappus  bewohnten,  in 
fast  unmerklicher  Steigung,  wenn  man  die  Weite  der  Jahreskluft  er- 
wägt, von  den  Hauaufgaben  des  Ahmes  zu  den  Gleichungen  des 
Diophantus  hinaufführt.  Uns  ist  Diophant  mit  seinem  in  Griechen- 
land mehrfach  vorkommenden  Namen  wirklicher  Grieche,  Schüler 
griechischer  Wissenschaft,  wenn  auch  ein  solcher,  der  weit  über  seine 
Zeitgenossen  hervorragt,  Grieche  in  dem,  was  er  leistet,  wie  in  dem, 
was  er  zu  leisten  nicht  vermag.  Eines  wollen  wir  dabei  keineswegs 
ausgeschlossen  haben,  was  wir  übrigens  zu  AnfBLUg  dieses  Kapitels 
anzudeuten  schon  Gelegenheit  nahmen:  daß  nämlich  die  griechische 
Wissenschaft,  wie  sie  von  Alexandria  aus  nach  Westen  und  nach 
Osten  erobernd  vordrang,  wovon  folgende  Abschnitte  unseres  Bandes 
Zeugnis  ablegen,  von  den  gleichen  Eroberungszügen  auch  neuen  Wert 
an  Ideen  mit  nach  Hause  brachte,  daß  die  griechische  Mathematik 
als  solche  nie  aufgehört  hat  sich  anzueignen,  was  sie  da  oder  dort 
Aneignenswertes  fand. 

Diophant  hat  ein  Werk  unter  dem  Namen  Arithmetisches^), 
aQid^firjTLxd,  verfaßt,  über  dessen  Einteilung  er  sich  in  der  Vorrede 
folgendermaßen  äußert:  „Da  aber  bei  der  großen  Masse  der  Zahlen 
der  Anfänger  nur  langsam  fortschreitet,  und  überdies  das  Erlernte 
leicht  vergißt,  so  habe  ich  es  für  zweckmäßig  gehalten,  diejenigen 
Aufgaben,  welche  sich  zu  einer  näheren  Entwicklung  eignen  und 
vorzüglich  die  ersten  Elementaraufgaben  gehörig  zu  erklären  und 
dabei  von  den  einfachsten  zu  den  verwickeiteren  fortzuschreiten.  Denn 
so  wird  es  dem  Anfänger  faßlich  werden,  und  das  Verfahren  wird 
sich  in  seinem  Gedächtnisse  einprägen,  da  die  ganze  Behandlung  der 
Aufgaben  13  Bücher  umfaßt"«). 

Dreizehn  Bücher  waren  es  also,  und  nur  von  einem  Werke  des 
Diophant  ist  bei  zwei  arabischen  Schriftstellern,  die  seiner  erwähnen, 
die  Rede').  Dem  gegenüber  enthalten  die  griechischen  Handschriften, 
welche  sich  erhalten  haben^),  nur  sechs  Bücher  (eine  einzige  enthält 
den  gleichen  Text  in  sieben  Bücher  abgeteilt),  enthalten  sie  eine 
besondere  Schrift  des  Diophant  .über  Polygonalzahlen,  verweisen 


^)  Die  beste  ältere  Textausgabe  ist  die  von  Bachet  de  M^ziriac  von 
1521.  Dagegen  ist  ihr  Wiederabdruck  mit  den  Anmerkungen  von  Fermat, 
Toulouse  1670,  vielfach  durch  Druckfehler  entstellt.  Eine  neue  kritische  Text- 
ausgabe hat  P.  Tanne  ry  besorgt,  Leipzig  1893.  Eine  deutsche  Obersetzung 
von  0.  Schulz  erschien  Berlin  1822,  eine  abermalige  von  6.  Wertheim, 
Leipzig  1890.  Wir  zitieren  nach  den  Ausgaben  von  Tannery  und  Wertheim. 
*)  Diophant  (Tannerj)  pag.  14,  (Wertheim)  S.  8.  ^  Nesselmann,  Algebra 
der  Grriechen  S.  274,  Note  37.  *)  Die  Handschriften  sind  einzeln  aufgezählt  bei 
Nesselmann  S.  266,  Note  28. 


Die  Neuplatoniker.    Diopbantas  von  Alexandria.  467 

sie  an  einzelnen  Stellen  auf  eine  Schrift  des  Diophant,  welche  den 
Namen  der  Porismen  geführt  habe.  Außerdem  berichtet  ein  unbe- 
kannter griechischer  Scholiast^)  in  einer  in  Florenz  befindlichen 
Handschrift  von  einer  Schrift  Moriastica,  d.  h.  Teilungsgrößen  des 
Diophant.  Ob  darunter  eine  Bruchrechnung  verstanden  sein  soU^ 
oder  was  sonst  damit  gemeint  ist^  ist  nicht  zu  ermitteln. 

.Man  hat  aus  der  stylistischen  Verschiedenheit  zwischen  der 
wesentlich  synthetischen  Abhandlung  über  die  Polygonalzahlen  imd 
den  wesentlich  analytischen  arithmetischen  Büchern  geschlossen,  es 
müssen  hier  zwei  getrennte  Werke  vorliegen;  man  hat  vermutlich 
daraus,  daß  in  den  arithmetischen  Büchern  die  Porismen  ausdrücklich 
genannt  werden,  gefolgert,  auch  sie  müßten  eine  besondere  Schrift 
gebildet  haben.  Man  hat  von  anderer  Seite  weniger  auf  die  Ungleich- 
artigkeit  der  Form,  als  auf  den  stets  arithmetischen  Inhalt  Gewicht 
gelegt,  und  vermutet,  es  seien  die  Polygonalzahlen  wie  die  Porismen 
ursprünglich  Bestandteile  der  13  Bücher  des  Diophant  gewesen^). 
Wir  neigen  uns  der  ersten  Meinung  zu,  deren  wirkliche  Gründe  nicht 
vornehm  beseitigt  oder  unberücksichtigt  gelassen  werden  können. 
Glücklicherweise  stimmen  die  Vertreter  beider  sich  schroff  ausschließen- 
den Ansichten  in  einer  Meinung  überein,  der  wir  uns  gleichfalls 
durchaus  anschließen,  und  welche  weitaus  Wichtigeres  betrifft  als  die 
Frage  der  Zusammengehörigkeit  oder  NichtZusammengehörigkeit  der 
genannten  Stücke.  Man  hält  nämlich  allgemein  dafür'):  1.  daß  uns 
von  Diophant  viel  weniger  fehlt,  als  man  gewöhnlich  glaubt,  wenn 
man  sich  an  das  Zahlenverhältnis  von  6 :  13  hält;  2.  daß  der  Defekt 
nicht  am  Ende,  sondern  in  der  Mitte  des  Werkes,  und  zwar  haupt- 
sächlich zwischen  dem  L  und  II.  Buche  zu  suchen  ist;  endlich  3.  daß 
diese  Verstümmelung  des  Werkes  ziemlich  frühe,  gewiß  aber  vor  dem 
XIII.  oder  XTV.  S.  und  bereits  in  Griechenland  stattgefunden  hat. 

Der  dritte  Satz  ist  dadurch  zur  Gewißheit  erhoben,  daß  die 
älteste  der  vorhandenen  Handschriften,  ein  Madrider  Kodex  vom 
Xin.  S.,  den  gleichen  Text  wie  die  übrigen  besitzt,  daß  ein  Kommentar 
zu  den  beiden  ersten  Büchern,  welcher  etwa  um  1300  entstand,  ebenfalls 
für  diese  zwei  Bücher  wenigstens  den  heutigen  Wortlaut  bestätigt, 
daß  ein  deutscher  Astronom,  der  berühmte  Regiomontanus,  in  einem 
Briefe  an  seinen  Fachgenossen  Bianchini  in  Ferrara  vom  Monate 
Februar  1464  erzählt,  er  habe  in  Venedig  einen  griechischen  Arith- 

*)  Jamblichus  in  Nicomachum  (ed.  Pistelli)  pag.  127  lin.  11  —  18. 
*)  Vertreter  der  ersten  Meinung  sind  Reimer  und  Hankel,  der  zweiten  Cole- 
brooke  und  Nesselmann.  *)  Nesselmann  1.  c.  S.  266  hat  die  drei  Thesen 
am  deutlichsten  und  zwar  in  dem  Wortlaute  ausgesprochen,  den  wir  uns  hier 
aneignen. 

30* 


468  2S.  Kapitel. 

metiker  Diophant  entdeckt,  der  aber  leider  nur  aus  seclis  Büchern 
bestehe,  während  deren  13  in  der  Einleitung  versprochen  seien  ^). 
Die  beiden  anderen  Sätze  folgen  allerdings  nicht  mit  der  gleichen 
objektiven  Gewißheit,  sondern  mehr  für  die  Überzeugung  dessen,  der 
sich  genau  mit  dem  Studium  der  vorhandenen  Teile  beschäftigt  hat, 
aus  diesen  selbst.  Man  gewinnt  das  Gefühl,  Diophant  sei  über  das, 
was  in  den  erhaltenen  sechs  Büchern  steht,  nicht  hinausgekommen, 
es  seien  nur  gewisse  der  Zahl  nach  beschränkte  Kunstgriffe  gewesen, 
über  welche  er  verfügte,  und  mittels  deren  nicht  viel  mehr  zu  leisten 
war,  als  wir  tatsächlich  geleistet  sehen.  Man  kommt  so  zu  der 
Wahrscheinlichkeit,  um  nicht  zu  sagen  zu  der  Gewißheit,  daß  am 
Schlüsse  unmöglich  so  viel  fehlen  kann,  daß  man  von  einer  Erhal- 
tung nur  der  sechs  oder  sieben  ersten  Bücher  zu  reden  berechtigt 
wäre.  Dazu  kommt  die  vorher  angegebene  Verschiedenheit,  daß  eine 
Handschrift  in  sieben  Bücher  teilt,  was  den  anderen  zufolge  sechs 
Bücher  waren.  Dazu  kommt  der  gelungene  Nachweis,  daß  innerhalb 
der  ersten  drei  Bücher  Verschiebungen  stattgefunden  haben  müssen, 
daß  insbesondere  eine  Ablösung  der  beiden  letzten  Aufgaben  des 
IL  Buches  von  dem  Vorhergehenden  ebenso  vrie  eine  Vereinigung 
derselben  mit  den  ersten  Aufgaben  des  IIL  Buches  durch  den  Sinn 
als  notwendig  erzwungen  ist.  Dazu  kommt  endlich  eine  unbedingt 
vorhandene  Lücke,  über  deren  Ausfüllung  ein  Zweifel  nicht  besteben 
kann.  In  der  Einleitung  ist  nämlich,  wie  wir  noch  sehen  werden, 
die  Auflösung  der  gemischten  quadratischen  Gleichung  mit  einer 
Unbekannten  zugesagt.  In  den  späteren  Büchern  ist  dieselbe  als  be- 
kannt vorausgesetzt.  Gelehrt  muß  sie  also  worden  sein,  aber  die 
Vorschrift  dazu  fehlt.  Diese  bildete  jedenfalls  einen  Teil  und  einen 
nicht  unbeträchtlichen  Teil  des  Verlorenen,  da  wir  annehmen  dürfen 
und  müssen,  die  Lösung  der  gemischten  quadratischen  Aufgaben  sei 
in  drei  Sonderfällen  vorgetragen  worden,  deren  jeder  an  zahlreichen 
Beispielen  erläutert  vielleicht  ein  ganzes  Buch  füllen  mochte.  Der 
Platz  für  diese  Lösungen  war  am  naturgemäßesten  zwischen  dem 
I.  und  II.  Buche,  also  dort,  wo  die  große  Lücke  angenommen  zu 
werden  pflegt. 

Die  Aufgaben,    welche  Diophant  behandelt  hat,   sind   von   zwei 


*)  Ch.  Th.  V.  Murr,  Memorabilia  Bibliothecarum  pt^licarum  Norimbergen- 
sium  et  univeraitatis  ÄUdorfinae  I,  186  (Nürnberg  1786)  ist  der  Wortlaut  des 
Briefes  abgedruckt,  die  einzehie  auf  Diophant  bezügliche  Stelle  schon  bei 
Doppelmayr,  Historische  Nachricht  von  den  Nümbergischen  Mathematicis  und 
Künstlern  S.  5,  Anmerkung  y  (Nürnberg  1730).  Die  letzte  Ausgabe  von  Regio- 
montans  Briefen  gab  Curtze  in 'den  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathe- 
matik XII;  die  betreffende  Briefstelle  s.  S.  256—257.  • 


Die  Neuplatoniker.    Diophantas  von  Alexandria.  469 

wesentlich  yerschiedenen  Gattungen.  Es  sind  algebraisch  bestimmte 
und  algebraisch  unbestimmte  Gleichungen^  mit  denen  er  sich  be- 
schäftigte. Auf  dem  einen  Gebiete  besteht  seine  große  Bedeutung 
darin  ^  daß  er  Bekanntes  in  |ieuer  Form  vortragend  ein  organisches 
Ganzes  schuf,  wo  früher,  mindestens  bei  den  Schriftstellern,  die  wir 
besitzen,  nur  zersplitterte  Teile  vorlagen.  Auf  dem  anderen  Gebiete 
stellt  er  uns  den  Pfadfinder  vor,  der  abgesehen  von  einzelnen  Vor- 
gangem,  die  nur  die  Vorhalle  des  Gebäudes  betraten,  zuerst  unter 
den  Griechen,  soviel  wir  wissen,  durch  das  Labyrinth  der  verwickeltsten 
Zahlenbedingungen  und  Beziehungen  sich  hindurchzuwinden  weiß,  sei 
es,  daß  er  dabei  nur  dem  eigenen  Genius  vertraute,  sei  es,  daß  ihm 
hier  wirklich  aus  der  Fremde  der  Faden  der  Ariadne  gereicht  war, 
der  ihn  vor  Irrgängen  sicherte. 

Wir  reden  zuerst  von  Diophants  Leistungen  in  der  bestimmten 
Algebra.  Diophant  selbst  lehrt  uns  die  Reihenfolge  einhalten,  da  er 
in  der  schon  erwähnten  Vorrede  gerade  über  die  bestimmten  Auf- 
gaben sich  ausläßt  und  die  unbestimmten  Aufgaben  kaum  andeutet. 
Diophant  beginnt  mit  den  Worten:  „Ich  sehe,  mein  teuerster  Diony- 
sius,  mit  welchem  Eifer  Du  die  Auflösung  arithmetischer  Aufgaben 
zu  erlernen  wünschest;  ich  habe  daher  versucht,  das  Verfahren  wissen- 
schaftlich  darzustellen,  indem  ich  mit  der  eigentlichen  Grundlage  des- 
selben anfange,  nämlich  mit  einer  Entwicklung  der  eigentümlichen 
Natur  und  Beschaffenheit  der  Zahlen.  Die  Sache  scheint  vielleicht 
etwas  schwierig,  da  sie  noch  gar  nicht  bekannt  ist,  und  Anfänger 
haben  immer  wenig  Hoffiiung  eines  glücklichen  Fortganges;  aber 
Dein  Eifer  und  meine  Darstellung  wird  Dir  alles  recht  faßlich  machen, 
denn  man  lernt  schnell,  wenn  Eifer  und  Unterweisung  zusammen- 
kommt"^). 

Die  Worte  „da  sie  noch  gar  nicht  bekannt  ist",  ijtBidij 
lii}XG)  yvaQiiiöv  iöxiy  wurden  mitunter  so  verstanden,  als  behaupte 
Diophant  damit,  er  trage  ganz  Neues,  in  Griechenland  nicht  Be- 
kanntes vor.  Die  neueren  Bearbeiter  sind  übereinstimmend  der  Mei- 
nung, der  Sinn  sei  gerade  umgekehrt  der,  daß  Diophant  die  Un- 
bekanntschaft  des  Dionysius  allein  mit  den  Auflösungen  der  arith- 
metischen Aufgaben  betone.  Ihm  zuliebe  will  er  das  Verfahren 
wissenschaftlich  darstellen  von  den  Anfängen  zu  dem  Gipfel 
aufsteigend. 

Die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  wird  durch  die  weitere  Ein- 
leitung bestätigt,  in  welcher  algebraische  Begriffe  der  Reihe  nach 
entwickelt  sind,  welche  uns  einzeln  genommen  schon  hier  und  dort 


»)  Diophant  (Tannery)  pag.  2,  (Wertheim)  S.  1. 


470  28-  Kapitel. 

bei  griechischen  Schriftstellern  begegnet  sind,  und  welche  auch  wohl 
in  ihrer  Fortbildung  zu  Diophants  Zeiten  schon  wesentliche  Fort- 
schritte gemacht  haben  müssen,  sonst  wäre  die  Kürze  der  Darstellung 
bei  ihrer  Einführung  unbegreiflich.  Quadratzahlen  und  Kubikzahlen 
z.  B.  mit  ihren  griechischen  Namen  dvvafiig  und  xvßog  sind  uns 
längst  bekannt.  Diophant  geht  darüber  hinaus  und  nennt  Quadrato- 
quadrat  (Svvaiiod'öva^tg),  Quadratokubus  {dvva(i6xvßog) ,  Kubokubus 
(xvßöxvßog)  das  was  durch  stets  wiederholte  Vervielfachung  mit  der 
Grundzahl  entsteht.  Eigentlich  versteht  er  unter  diesen  Namen  auch 
das  nicht,  was  wir  ihm  folgend  ausgesprochen  haben.  Nicht  die 
zweite  bis  zur  sechsten  Potenz  irgend  einer  Zahl,  sondern  nur  diese 
Potenzen  der  unbekannten  Zahl,  um  deren  Auffindung  es  sich 
in  der  betreffenden  Aufgabe  handelt,  hat  Diophant  im  Sinne.  Für 
sie  gelten  die  abgekürzten  Bezeichnungen,  welche  er  weiter  er- 
örtert, und  welche  aus  den  Anfangsbuchstaben  d  und  x  bestehen, 
denen  noch  rechts  oben  ein  v,  der  zweite  Buchstabe  sowohl  von 
dvvafii^g  als  von  xvßog,  augehängt  wird.  Was  also  die  moderne  Al- 
gebra durch  x\  x^,  ar*,  ar^,  x^  bezeichnet,  schreibt  Diophant: 

*^  x^  dd%  dx^,  xx^ 

gewissermaßen  unter  Ersetzung  der  Potenzen  durch  ihre  Exponenten 
und  dem  entsprechend  unter  Addition  der  Exponenten,  wo  es  sich 
um  die  Multiplikation  der  Potenzen  handelt.  Die  gesuchte  Zahl 
selbst,  welche  eine  unbekannte  Menge  von  Einheiten  enthält,  heifit 
schlechtweg  die  Zahl,  igid^fiög,  Diophant  bedient  sich  für  sie  des 
Zeichens  5^),  welches  man  früher  für  ein  finales  Sigma  hielt;  es  ist 
aber  wahrscheinlicher  gemacht  worden"),  daß  man  es  mit  einem  auch 
sonst  vorkommenden  sogenannten  Kompendium  für  aQ,  als  Anfangs- 
buchstaben von  aQid-fiög  zu  tun  hat.  Dabei  ist  zu  bemerken,  daß  die 
unbekannte  Einheitsmenge  in  Diophants  Definition  Ttkrid-og  fiovccdtov 
aÖQvörov  heißt,  also  unter  Anwendung  des  Wortes  des  Thymaridas*) 
(S.  158).  Endlich  gibt  es  noch  ein  ständiges  Zeichen  fiir  bestimmte 
Zahlen,  welche  Einheit  (lövag  heißen  und  ^^'  geschrieben  werden. 
Diophant  begnügt  sich  nicht  mit  den  bisher  genannten  Zahlen- 
arten. Er  bedarf  zu  seinen  Aufgäben  auch  noch  der  Brüche,  welche 
jene  Benennungen  im  Nenner  führen,  algebraische  Stammbrüche,  wie 
man  sie  insgesamt  nennen  möchte,  um  nicht  von  Potenzen  mit  nega- 
tiven Exponenten  reden  zu  müssen.  Diophant  nennt  den  Stammbruch 
der  Zahl  ägid'^oötövj  den  der  zweiten  Potenz  dwafioöröv  und  so  fort 
bis   zu   dem  Stammbruche  der   sechsten  Potenz  xvßoxvßo6x6v.     Man 

*)  Diophant    (Tannery)    pag.  6   lin.  6.        *)  Heath    1.  c.    pag.  57—67. 
')  Nesselmann  1.  c.  S.  291,  AnmerkuDg  64  hat  die  Stellen  geBammelt. 


Die  Neaplatoniker.    Diophantus  von  Alexandria.  471 

hat  diese  Wörter  ganz  zweckmäßig  mit  einfachem  Bruche,  quadrati- 
schem Bruche^  endlich  kubokubischem  Bruche  übersetzt^).  Diophant 
lehrt  hierauf  die  Multiplikation  solcher  Potenzen  und  algebraischer 
Stammbrüche  unter  sich  in  den  yielfachsten  Veränderungen.  Natürlich 
gibt  er  dafür  lauter  einzelne  Regeln,  z.  B.  ein  quadratoquadratischer 
Bruch  multipliziert  mit  der  Eubokubikzahl  gibt  das  Quadrat.  Wir 
würden  schreiben  ^4  *  ^*  ™  ^*  ^^^  der  Fall  wird  allgemein  voraus- 
geschickt, daß  eine  dieser  Potenzgrößen  mit  dem  gleichnamigen  Stamm- 
brache vervielfacht  die  bestimmte  Zahl  als  Produkt  liefere,  d.  h. 
af  —  =  1,   und   daß,   da   bestimmte   Zahlen   bei   allen   Rechnungen 

wieder  bestimmte  Zahlen  geben,  das  Produkt  einer  bestimmten  Zahl 
und  eines  allgemeinen  Ausdruckes  wieder  ein  Aasdruck  derselben  Art 
sein  werde. 

Diophant  unterscheidet  hinzuzufügende  und  abzügliche 
Zahlen.  Die  Addition  nennt  er  v^rap^tg,  die  Subtraktion  iBH^iq 
und  besitzt  für  erstere  zwar  nicht,  wohl  aber  für  letztere  ein  eigenes 
Abkürzungszeichen,  nämlich,  wie  er  selbst  sagt,  ein  verstümmeltes 
umgekehrtes  ^  in  der  Gestalt  ^.  In  den  Handschriften  sieht  das 
Zeichen  meistens  so  aus:  A?  und  ist  dahin  gedeutet  worden^),  es  sei 
ein  aus  A  und  I  gebildetes  Kompendium  für  den  Anfang  des  Wortes 
letifLs.  Diophant  rechnet  dann  mit  Differenzen,  vervielfacht  sie  und 
spricht  dabei  ohne  weiteres  die  Regel  aus:  Eine  abzügliche  Zahl  mit 
einer  abzüglichen  vervielfacht  gibt  eine  hinzuzufügende,  eine  abzüg- 
liche mal  einer  hinzuzufügenden  gibt  eine  abzügliche  ^).  Daß  dabei 
von  positiven  und  negativen  Zahlen  als  Maße  entgegengesetzter  Größen 
keine  Rede  ist,  bedarf  wohl  kaum  besonderer  Erwähnung.  Nur  mit 
Differenzen  weiß  Diophant  umzugehen,  mit  solchen  Differenzen,  die 
einen  wirklichen  Zahlenwert  besitzen,  d.  h.  deren  Subtrahend  kleiner 
ist  als  der  Minuend.  Mit  solchen  aber  rechnet  er  in  vollster  Ge- 
wandtheit und  sehlägt  seinem  Dionysius  vor  sich  die  gleiche  Gewandt- 
heit zu  erwerben:  „Es  ist  aber  sehr  zweckmäßig,  ehe  man  sich  an 
die  Auflösung  von  Aufgaben  macht,  sich  in  der  Addition,  Subtraktion 
und  Multiplikation  dieser  Ausdrücke  zu  üben;  besonders  wie  man  eine 
Reihe  hinzuzufügender  und  abzüglicher  Ausdrücke  mit  ungleichen 
Zahlenfaktoren  zu  anderen  allgemeinen  Ausdrücken  addiert,  die  ent- 
weder bloß  hinzuzufügende  sind  oder  aus  hinzuzufügenden  und  ab- 
züglichen Gliedern  bestehen;  femer  wie  man  von  einer  Reihe  hinzu- 
zufügender und  abzüglicher  Zahlen  andere  subtrahiert,  die  entweder 

')  Diophant  (Tannery)  pag.  6,  (Wertheim)  S.  3.  *)  Heath  1.  c.  pag.  71 
bis  78.         ")  XslTjjig   iitl   Xslifjiv  noXlccnXaaioca^elacc  noist  ynag^iv,  Xstijjig  dh  int 


472  23.  Kapitel. 

bloß  hinzuzufügende  sind^  oder  auch  aus  hinzuzufügeuden  und  ab- 
züglichen Gliedern  bestehen''^).  Die  Subtraktion  der  größeren  Zahl 
Yon  der  kleineren  ist  aber  für  Diophant  unmöglich,  gibt  ihm  keine 
Zahl,  kann  daher  als  Auflösung  irgend  einer  Aufgabe  nicht  yor^ 
kommen.  Dem  entspricht  die  Tatsache ,  daß  negative  Gleichungs- 
wurzeln bei  Diophant  nirgends  erscheinen,  wenn  auch  die  hier  er- 
örterte Begründung  nicht  ausgesprochen  ist. 

Abgesehen  Yon  dem  Nichtvorhandensein  negativer  Zahlen  als 
solcher  ist  es  aber  eine  hoch  entwickelte  Buchstabenrechnung,  welcher 
wir  uns  bei  Diophant  gegenüber  befinden.  Es  fehlt  ihr  nicht  einmal 
ein  Gleichheitszeichen,  indem  der  Buchstabe  i  als  Abkürzung  des 
Wortes  töoL  (gleich)  benutzt  wird.  Das  hat  sich  aus  erneuter  Ver^ 
gleicbung  der  Pariser  Handschrift,  nach  welcher  Bachet  de  Meziriac 
1621  einen  Abdruck  ausführen  ließ,  ergeben^).  Nur  in  einer  aller- 
dings nicht  unbedeutenden  Verschiedenheit  kann  man  einen  gewissen 
Gegensatz  der  diophantischen  Schreibweise  gegen  diejenige,  welche 
seit  dem  XVI.  S.  sich  allmählich  einbürgerte,  erkennen.  Die  moderne 
Buchstabenrechnung  hat  es  durchgehend  mit  Symbolen  zu  tun,  welche 
sich  selbst  zur  Aussprache  einer  Wahrheit  genügen.  Diophant  rechnet 
und  schreibt  mit  Abkürzungen,  welche  mit  ausgeschriebenen  Wörtern 
abwechseln  und  gleich  diesen  grammatischer  Beugung  unterworfen 
sind,  wie  sie  auch  unbedenklich  durch  Partikeln  und  dergleichen  von- 
einander getrennt  werden.  Man  vergleiche  z.  B.  10a;  -|-  30  =  IIa;  +  15 
mit  dem  diophantischen  SS'''^  &qcc  l  fi^  l  töoi  eCölv  55^*^  la  (lovdöc  ii 
und  man  wird  sich  des  Gegensatzes  sofort  bewußt  werden'). 

Wie  Gleichungen  aufgelöst  werden,  ist  in  Diophants  Einleitung 
überaus  klar  und  bestimmt  gelehrt:  „Wenn  man  nun  bei  einer  Auf- 
gabe auf  eine  Gleichung  kommt,  die  zwar  aus  den  nämlichen  allge- 
meinen Ausdrücken  besteht,  jedoch  so  daß  die  Koeffizienten  an  beiden 
Seiten  ungleich  sind,  so  muß  man  Gleichartiges  von  Gleichartigem 
abziehen,  bis  ein  Glied  einem  Gliede  gleich  wird^).  Wenn  aber  auf 
einer  oder  auf  beiden  Seiten  abzügliche  Größen  vorkommen,  so  muß 
man  diese  abzüglichen  Größen  auf  beiden  Seiten  hinzufügen,  bis  auf 
beiden  Seiten  nur  Hinzuzufügendes  entsteht.  Dann  muß  man  wiederum 
Gleichartiges  von  Gleichartigem  abziehen,  bis  auf  jeder  Seite  nur  ein 
Glied  übrig  bleibt.*' 

Die  Zurückbringung  einer  Gleichung  durch  Additionen  und  Sub- 
traktionen  auf  die  Form   ax^  =  baf*,   wo    m  und    n    ganze    vonein- 


^)  Diophant  (Tannery)  pag.  14,  (Wertheim)  S.  7.  *)  Vgl.  Rodet  im 
Jow-nal  Asiatique,  lihme  a^rie,  T.  XI  (Janvier  1878)  pag.  42.  »)  Vgl.  Nessel- 
mann  1.  c.  S.  300—301.     *)  img  a  tv  tlSoe  ivl  efdei  taov  yivr(tat. 


Die  Neuplatoniker.    Diophantus  von  Alexandria.  473 

ander  yerschiedene  Zahlen  bedeuten^  deren  eine  anch  Nnll  sein  kann, 
ist  damit  in  eine  Regel  gebracht,  so  unzweideutig;  wie  wir  nur  selten 
im  Altertum  Regeln  ausgesprochen  finden  Bemerkenswert  ist  das 
Wort  üläog  fdr  Glied,  welches  später  in  lateinischer  Übersetzung  durch 
species  wiedergegeben  den  Ursprung  des  Namens  driihmeticcL  speciosa 
für  Buchstabenrechnung  gebildet  hat. 

„In  der  Folge",  si^  Diophant  noch  weiter,  „will  ich  Dir  zeigen, 
wie  man  die  Aufgabe  löset,  wenn  zuletzt  ein  zweigliedriger  Ausdruck 
einem  eingliedrigen  gleich  wird." 

Damit  beabsichtigte  Diophant  aber  sicherlich  nicht  in  gleicher 
Allgemeinheit  wie  bei  dem  yorigen  Falle  die  Auflösung  der  Gleichung 
ax^  +  bx*^  =  cx^  zu  versprechen,  sondern  es  kann  sich  nur  um  die 
gemischten  quadratischen  Gleichungen  handeln.  Allerdings  treten  dabei 
drei  Möglichkeiten  auf,  indem  nach  Ausführung  der  Yorbereitenden 
Operationen,  die  im  obigen  mitgeteilt  wurden,  entweder  ax^  +  bx  ^  c 
oder  ftar  +  c  =  ax^  oder  ax^  -{•  c  '==bx  als  Gleichheit  eines  zweiglied- 
rigen Ausdruckes  mit  einem  eingliedrigen  erhalten  wird,  a,  b,  c  selbst- 
verständlich als  positiv  gedacht.  Das  ist  die  früher  erwähnte  Zusage 
der  Auflösung  gemischtquadratischer  Gleichungen,  welche  im  vor- 
handenen Texte  nirgend  erfüllt  vielfach  als  erfüllt  vorausgesetzt  wird, 
und  daher  den  Beweis  des  Verlustes  jener  Auflösung  liefert. 

Über  den  von  Diophant  bei  der  Auflösung  einer  gemischten 
quadratischen  Gleichung  eingeschlagenen  Weg  gibt  die  24.  Aufgabe 
des  VI.  Buches^)  wohl  die  deutlichste  Auskunft.  Die  dort  erhaltene 
Gleichung  heißt  in  modernen  Zeichen  geschrieben 

\  +  196a;«  -  336a:  -  ?*  +  172  ==  196a;«  +  \  • 

Diophant  sagt  nun  wörtlich  wie  folgt,  wobei  nur  wieder  moderne 
Zeichen  statt  der  griechischen  Abkürzungen  gebraucht  sind:  „Man 
addiere  auf  beiden  Seiten  die  abzüglichen  Größen,  ziehe  Gleichartiges 
von  Gleichartigem  ab  und  vervielfache  alles  mit  a:,  so  erhält  man 
336  a;«  +  24  «  172  a;.  Diese  Gleichung  aber  läßt  sich  nicht  auflösen, 
wenn  nicht  das  Quadrat  des  halben  Koeffizienten  von  x,  nachdem 
man  das  Produkt  der  24  Einheiten  in  den  Koeffizienten  von  a;«  davon 
abgezogen  hat,  ein  Quadrat  wird.'' 

Was  uns  zuerst  auffallend  erscheinen  mag,  ist  die  Abhängigkeit 
der  Auflösbarkeit  der  Gleichung  von  einer  Bedingung,  welche  nicht 
etwa  besagt,  es  müsse  die  unter  dem  Quadratwurzelzeichen  erschei- 
nende Zahl  ein  Hinzuzufügendes  sein,  was  gleich  bei  dieser  Aufgabe, 

in  welcher  x  ^  ss« ^^^'  nicht  eintreffen  würde,  sondern  welche, 


^)  Diophant  (Tannery)  pag.  444,  (Wertheim)  S.  288—290. 


474  23.  Kapitel. 

wie  einige  Überlegimg  uns  zeigt^  darauf  hinauslänfb,  daß  die  Wurzel 
der  Gleichung  rational  werde.  Ersetzen  wir  nämlich  die  bestimmten 
Zahlen  durch  allgemeine  Buchstaben^  so  ist  in  der  angefahrten  Auf- 
gabe  von    der   dritten    Gleichungsform   ax*  +  c  =  hx  die   Rede  und 

als  Kennzeichen  der  Auflösbarkeit  ausgesprochen,  es  müsse  ^  -j   —  ac 

ein  Quadrat  sein.  Wird  aber  die  Gleichung  mit  dem  Koeffizienten 
a    von    x^    vervielfacht    und    durch    beiderseitige    Subtraktion    von 

abx  +  ac  —  (A  in  die  Form  a^x^  —  abx  +  (^  j  ^  (^j  —  ac  oder 
(ax  ^  y)   =»  (y)    —  öc  übergeführt,  so  entsteht 

und  Diophant  knüpft,  wie  wir  vorhin  sagten,  die  Auflösbarkeit  der 
Gleichung  an  die  Rationalität  der  Quadratwurzel.  Jene  andere  Be- 
dingung, deren  wir  gewärtig  sein  durften,  daß  nur  Hinzuzufügendes 
unter  dem  Wurzelzeichen  nach  vollzogener  Zusammenziehung  der  dort 
auftretenden  Werte  stehen  dürfe  —  abzügliche  Zahlen  als  solche  sind, 
wie  wir  oben  sahen,  bei  Diophant  überhaupt  nicht  gestattet,  also 
auch  nicht  unter  einem  Wurzelzeichen  —  steckt  wohl  in  der  diophan- 
tischen  Bedingung  enthalten,  aber  letztere  geht  noch  bedeutend  weiter 
und  schränkt  die  Anzahl  der  auflösbaren  Gleichungen  beträchtlich 
mehr  ein.  Woher  diese  Beschränkung  stammt,  ist,  wenn  man  weiter 
nachdenkt,  unschwer  zu  erkennen.  Die  eigentliche  Algebra  sieht  ab 
von  der  geometrischen  Bedeutung  der  vorkommenden  Glieder.  Sie 
vereinigt  z.  B.  wie  in  jener  heronischen  Aufgabe  (S.  404)  FEchen 
und  Längen,  beide  nur  als  Maßzahlen  aufgefaßt,  in  eine  Summe. 
Dieser  allgemeinere  Standpunkt  gestattet  geometrisch  undenkbare 
Fragestellungen,  schließt  aber  zugleich  nur  geometrisch  denkbare 
Antworten  aus.  Jede  Quadratwurzel  aus  positiven  Werten  läßt  mit 
Zirkel  und  Lineal  sich  geometrisch  herstellen,  so  gut  wie  die  Diago- 
nale des  Quadrates  eine  geometrisch  genau  bestimmte  Länge  besitzt, 
abei^  in  Zahlen  ist  eine  Quadratwurzel  nur  möglich,  wenn  sie  rational 
ist.  Man  halte  uns  nicht  die  heronische  Aufgabe  entgegen,  auf  welche 
wir  eben  uns  bezogen  haben,  nicht  die  geodätischen  Beispiele  Herons, 
in  welchen  Näherungswerte  von  Quadratwurzeln  vielfach  benutzt  sind, 
nicht  Archimeds  Rechnungen  in  seiner  Kreismessung.  Heron  blieb 
Feldmesser,  auch  wo  er  der  algebraischen  Anschauung  sich  nähert, 
und  die  Feldmeßwissenschaft  begnügt  sich  mit  dem  Maße  geometri- 
scher Gebilde,  so  genau  es  in  Zahlen  hergestellt  werden  kann,  während 
die  Gebilde  selbst  geometrische  Größen  sind  und  bleiben.  Archimed 
aber,    gleichfalls    von   geodätischen  Zwecken   ausgehend,   blieb   noch 


Die  Neaplatoniker.    Diophantus  von  Alexandria.  475 

strenger  den  Gesetzen  geometrischer  Behandlung  auch  bei  seinen 
Zahlengrößen  getreu:  er  bediente  sich  niemals  angenäherter  Gleichungen, 
sondern  sprach  Ungleichungen  aus,  welche  er  nur  immer  naher  an- 
einander brachte.  Die  griechische  Algebra,  welche  für  Diophant  einen 
Teil  der  Arithmetik  bildet,  kennt  dagegen  nur  Zahlen  als  solche, 
Zahlen,  die  ausgesprochen  werden  können.  Wir  haben  schon  früher 
(S.  187)  hervorgehoben,  daß  die  Beschränkung  sogar  auf  positive 
ganze  Zahlen  der  griechischen  Arithmetik  lange  eigentümlich  war. 
Nikomachus,  Theon  von  Smyrna,  Jamblichus  haben  uns  keine  Ver- 
anlassung gegeben,  diese  Ansicht  zu  widerrufen.  Brüche  kommen 
bei  ihnen  nur  in  der  Gestalt  von  Verhältnissen  ganzer  Zahlen  vor. 
Auch  die  Seiten-  und  Diametralzahlen  bei  Theon  (S.  436)  waren 
wesentlich  ganze  Zahlen,  deren  Verhältnis  nur  nach  unserem  Dafür- 
halten statt  des  Verhältnisses  1  :  '^2  näherungsweise  eintreten  konnte. 
Diophant  hielt  sich  an  die  Ganzzahligkeit  nicht  mehr  ge- 
bunden, und  das  ist  ein  zwar  allmählich  vorbereiteter,  aber  darum 
nicht  minder  wichtiger  Fortschritt.  Dagegen  ist  ihm  das  Irrationale 
immer  noch  keine  Zahl. 

Kehren  wir  mit  diesem  Bewußtsein  zu  dem  diophantischen  Ver- 
fahren bei  der  Auflösung  gemischter  quadratbcher  Gleichungen  zurück, 
so  ist  uns  höchst  bemerkenswert  die  Art,  in  welcher  er  die  Auf- 
lösung vorbereitet.  Genau  so,  wie  wir  es  bei  Heron  kennen  gelernt 
haben,  vervielfacht  er  die  Gleichung  mit  dem  Koeffizienten  des 
Quadrates  der  Unbekannten,  statt  durch  diesen  Koeffizienten  zu 
dividieren.  Darauf  wies  uns  die  bereits  besprochene  24.  Aufgabe  des 
VI.  Buches.  Eine  Bestätigung  besitzen  wir  in  der  45.  Aufgabe  des 
IV.  Buches*):  „Man  findet,  daß  2a;*  größer  als  ^x -\-  18  sein  muß. 
Um  nun  hier  eine  Vergl&ichung  anzustellen,  so  erhebe  ich  den  halben 
Koeffizienten  von  x  ins  Quadrat  und  erhalte  9.  Nun  multiplizieren 
wir  den  Koeffizienten  von  x^  mit  der  bestimmten  Zahl  18,  gibt  36. 
Dazu  addieren  wir  9,  gibt  45,  und  davon  ist  die  Wurzel  nicht  kleiner 
als  7.  Dazu  addieren  wir  den  halben  Koeffizienten  von  x  und  dividieren 
durch  den  Koeffizienten  von  x*,  so  finden  wir,  daß  x  nicht  kleiner 
sein  darf  als  5.'^ 

Hier  ist  freilich  eine  Ungleichung,  keine  Gleichung  zu  behandeln, 
allein  das  verändert  das  anzuwendende  Verfahren  nur  so  weit,  als 
hier  eine  Grenze  der  betreffenden  irrationalen  Quadratwurzel  ein- 
gesetzt werden  darf,  weil  unter  Annahme  der  richtigen  Zahl  statt  18, 
die  Ungleichung  2a:»  >  6a:  +  18  in  die  Gleichung  2a:»  =  6a:  -f  18  +  t 
d.   h.    in   eine    Gleichung   der   zweiten   Form    übei^ehen   würde,   bei 

>)  Diophant  (Tannery)  pag  304,  (Wertheim)  S.  187. 


476  23.  Kapitel. 

welcher  z.  6.  durch  k  =^  2  die  Irrationalität  verschwände.  Diophant 
geht  nun  folgendermaßen  zu  Werke.     Aus  aa^  ^^bx  +  c  +  k  erhält 

oder  endlich  x> 

a 

Noch  eine  andere  Eigentümlichkeit^  welche  freilich  bei  der  eben 
betrachteten  Ungleichung  nicht  zu  Tage  treten  kann^  weil  negative 
Zahlen  als  solche  für  Diophant  nicht  existieren,  besteht  darin,  daß 
nirgends  zwei  Auflösungen  einer  quadratischen  Gleichung 
vorkommen,  indem  die  Wurzelgröße  sowohl  hinzufügend  als  ab- 
züglich mit  einer  anderen  Zahl  höheren  Wertes  verbunden  ist.  Man 
hat  allerdings  die  Bemerkung  gemacht,  unter  den  Beispielen,  welche  bei 
Diophant  sich  vorfinden,  sei  kein  solches,  bei  welchem  eine  zweifache 
Möglichkeit  positiver  Wurzeln  auftrete,  weil  immer  noch  gewisse 
zahlentheoretische  Nebenbedingungen  zu  erfüllen  seien,  welche  sich 
der  Annahme  der  Wurzel  mit  negativer  Quadratwurzel  widersetzen, 
es  sei  also  ein  Zufall,  der  diese  Lücke  schuf,  und  man  sei  nicht  be- 
rechtigt anzunehmen,  Diophant  habe  wirklich  nicht  gewußt,  daß  es 
Aufgaben  mit  zwei  voneinander  verschiedenen  Auflösungen  gebe^). 
Es  scheint  indessen  doch,  daß  man  die  Behauptung  des  Nichtwissens 
rechtfertigen  kann.  Kommt  auch  außer  der  (S.  473)  erwähnten  nicht 
auflösbaren  Gleichung  336  a?^  +  24  =  112  x  keine  andere  von  der 
Gestalt  ax^  +  c=^hx  bei  Diophant,  so  weit  er  uns  erhalten  ist, 
vor,  so  trifft  man  doch  bei  ihm  auf  Ungleichungen  von  der  Gestalt 
ax^  +  c  <ibx  und  ax^  +  c>  &a;,  welche  je  zwei  positive  Grenz- 
werte für  X  liefern,  mag  man  eine  in  ihnen  auftretende  Quadrat- 
wurzel positiv  oder  negativ  wählen.     Im  V.  Buche  begegnen  wir  den 

doppelten  Ungleichungen*)    ^^  <  ^r^n:  ^12  ^^   ^^  <  ^  2^  "  <  ^2- 

ßß  ß7 

Diophant  folgert  aus  ihnen  -_  <x  <  ,  beziehungsweise  19  <  ic  <  21. 
Werte,  welche  der  Möglichkeit  der  negativen  neben  der  positiven 
Quadratwurzel  Rechnung  trügen,  wären  »«±f  ^  <  «.<  «'±^^""\ 

beziehungsweise  11  ±  )/61  <  a;  <  12  ±  ^84.  Man  erkennt  an  beiden 
Beispielen  die  Wahrheit  der  Tatsache,  daß  Diophant  die  Lösungen 
mit   negativer  Quadratwurzel  nicht   berücksichtigte,   auch  wo  sie  be- 

*)  So  L.  Rodet  im  Journal  Äsiatiquet  Tifeme  s^rie,  T.  XI  (Janvier  1878) 
pag.  89—90.  *)  Diophant  (Tannery)  pag.  340  und  888,  (Wertheim)  S.  211 
und  251. 


Die  Neuplatoniker.    Diophantus  von  Alexandria.  477 

rücksichtigungsfähig  waren,  daß  er  sie  also  wahrscheinlich  nicht 
kannte  ^). 

In  diesem  Zusammenhange  müssen  wir  auch  von  solchen  quadra- 
tischen Gleichungen  reden ,  welche  gewöhnlich  mit  Hilfe  zweier  Un- 
bekannten gelöst  bei  Diophant  nur  das  Aufsuchen  einer  einzigen 
freilich  mit  besonderem  Geschick  ausgesuchten  Größe  yerlangen.  Wenn 
Diophant  in  der  30.  Aufgabe  des  I.  Buches*)  zwei  Zahlen  aus  ihrer 
Summe  und  ihrem  Produkte  finden  will,  so  nimmt  er  die  halbe 
Differenz  der  beiden  Zahlen  zur  Unbekannten  und  erhält  beide  Zahlen 
je  nachdem  er  die  Unbekannte  zur  halben  Summe  addiert  oder  von 
ihr  abzieht;  das  gegebene  Produkt  ist  daher  gleich  dem  Quadrat  der 
halben  Summe  verringert  um  das  Quadrat  der  Unbekannten,  die  somit 
durch  einfache  Quadratwurzelausziehung  sich  ergibt.  Derselben  Un- 
bekannten bedient  er  sich  in  der  31.  Aufgabe'),  wenn  zwei  Zahlen  aus 
ihrer  Summe  und  aus  der  Summe  ihrer  Quadrate  gefunden  werden 
sollen.  Wieder  erhält  er  beide  Zahlen,  je  nachdem  er  die  Unbekannte 
zur  halben  Summe  addiert,  oder  Ton  ihr  abzieht,  und  die  Summe  der 
Quadrate  wird  gleich  dem  Doppelten  des  Quadrates  der  halben  Summe 
und  des  Quadrates  der  Unbekannten,  die  wieder  durch  einfache 
Quadratwurzelausziehung  sich  ergibt.  Nicht  anders  werden  in  der 
32.  Aufgabe*)  zwei  Zahlen  aus  ihrer  Summe  und  dem  Unterschiede 
ihrer  Quadrate  gewonnen,  welche  letztere  sich  als  doppeltes  Produkt 
der  Unbekannten  in  die  gegebene  Summe  erweist,  so  daß  einfache 
Division  hinreicht  die  Unbekannte  zu  finden.  Sind  in  der  33.  Auf- 
gabe^) Differenz  und  Produkt  zweier  Zahlen  gegeben,  so  wird  die 
halbe  Summe  als  Unbekannte  gewählt,  welche  die  beiden  Zahlen 
in  der  Gestalt  erscheinen  läßt,  daß  die  halbe  Differenz  zur  Un- 
bekannten addiert,  beziehungsweise  von  ihr  subtrahiert  wird.  Das 
gegebene  Produkt  ist  also  das  Quadrat  der  Unbekannten  vermindert 
um  das  Quadrat  der  halben  Differenz,  und  die  Unbekannte  wird 
wiederholt  durch  eine  Quadratwurzelausziehung  geftmden.  Ahnlich 
verfährt  Diophant  noch  in  anderen  Fällen,  die  wir  nicht  alle  einzeln 
vorführen  dürfen,  um  uns  nicht  zu  lange  bei  dem  Gegenstande  zu 
verweilen. 

Eine  kubische  Gleichung  kommt  in  der  19.  Aufgabe  des  VI.  Buches*) 
vor,  aus  welcher  aber  keinerlei  gesicherte  Schlußfolgerung  sich  ziehen 

^)  Auf  diese  Ungleichungen  und  die  ans  ihnen  zu  ziehende  Folgerung  hat 
uns  Herr  C.  Büchel  brieflich  aufmerksam  gemacht.  *)  Diophant  (Tannery) 
pag.  60—62,  (Wertheim)  S.  36.  »)  Ebenda  (Tannery)  pag.  62—64,  (Wert- 
heim) S.  86—87.  *)  Ebenda  (Tannery)  pag.  64,  (Wertheim)  S.  87.  *)  Ebenda 
(Tannery)  pag.  66,  (Wertheim)  S.  88.  «)  Ebenda  (Tannery)  pag.  434,  (Wert- 
heim)  S.  282. 


478  23.  Kapitel. 

läßt.  Es  heißt  bei  Diophant  nur:  „Es  ist  x^  —  3a:*  +  3x  —  1  «  a:* 
+  2a;  +  3,  hieraus  findet  man  x  =  4"  ohne  die  leiseste  Andeutung, 
wie  „man^^  diesen  Wurzelwert  finde.  Ob  man  die  Gleichung  zunächst 
in  die  Form  ä^  +  a;  =  4x*  +  4  brachte  und  dann  daraus  durch  Division 
mit  a;^  +  1  den  Wert  a;  =  4  erhielt?^)  Es  ist  wohl  möglich,  vielleicht 
wahrscheinlich,  denn  an  einer  nur  wenig  späteren  Stelle  des  VI.  Buches*) 
heißt  es  von  dem  Ausdrucke  4a?*  +  6a?  +  2,  er  sei  zusammen- 
gesetzt (6vvd'6T0s)y  und  zwar  aus  4a;  +  2  und  a?  +  1,  und  wenn  man 
ihn  durch  x  +  1  teile,  so  entstehe  4a:  +  2.  Diophant  mußte  also 
mit  Zerlegungen  in  Faktoren  vertraut  sein  und  wissen,  daß  man 
mittels  Division  einer  Gleichung  durch  einen  ihren  beiden  Gleichungs- 
seiten gemeinschaftlichen  Faktor  deren  Grad  erniedrigen  kann'). 

Bis  hierhin  haben  wir  mit  Diophant  in  der  ersten  Bedeutung, 
die  wir  ihm  beilegten,  uns  beschäftigt.  Wir  wenden  uns  zu  dem 
Gebiete  der  unbestimmten  Aufgaben,  auf  welchem  wir  Diophant  als 
Bahnbrecher,  als  Pfadfinder  zu  erkennen  haben.  Er  setzt  sich 
dabei  die  gleichen  Schranken,  welche  auch  seiner  be- 
stimmten Algebra  anhaften,  keine  anderen.  Die  Wurzelwerte, 
welche  er  den  vorgelegten  Gleichungen  zu  geben  sich  bemüht,  dürfen 
keine  abzüglichen,  keine  irrationalen  sein,  denn  sonst  wären  es  keine 
Zahlen,  aber  weiter  gehen  seine  Anforderungen  nicht.  Insbesondere 
verlangt  Diophant  nicht  ganzzahlige  Auflösungen,  und  nur  in  ein- 
zelnen Fällen,  wo  etwa  das  Weglassen  eines  denjenigen  Zahlen,  die 
gemeinschaftlich  die  gestellte  Aufgabe  erfüllen,  insgesamt  anhaftenden 
Nenners  den  Übergang  zu  ganzzahligen  Auflösungen  allzunahe  legt^ 
gibt  er  solche  an.  In  einer  ganzen  Anzahl  von  Aufgaben  (11,  36. 
m,  13.  IV,  23,  43,  45.  V,  12)  kommen  sogar  Brüche  mit  gemischt- 
zahligen  Zählern  vor,  wie  die  Ägypter  sie  einst  benutzten  (S.  71). 
Was  also  heute  Diophantische  Analytik  genannt  zu  werden  pflegt, 
was  man  als  Diophantische  Gleichungen  dem  Schulunterrichte  ein- 
verleibt hat,  das  darf  man  bei  Diophant  nicht  suchen.  Diophant, 
sagen  wir,  löst  unbestimmte  Aufgaben  in  rationalen  Zahlen,  und 
daraus  folgt,  daß  für  ihn  eine  unbestimmte  Aufgabe  mit  aufsuchungs- 
bedürftigen Wurzeln  nur  dann  vorhanden  sein  kann,  wenn  der  Grad 
sich  auf  den  zweiten  erhebt,  ja  in  nicht  wenigen  Fällen  weiß  er  noch 
Aufgaben  vom  dritten  und  vierten  Grade  zu  bewältigen. 

Unsere  Leser  werden  nun  vielleicht  nach  den  Methoden  fragen, 
deren   Diophant  sich  bei   Auflösung   dieser  unbestimmten  Aufgaben 


*)  So  meint  Schulz  S.  689  in  seinen  Anmerkungen  zu  der  betreffenden 
Aufgabe.  *)  Diophant  (Tannery)  pag.  438,  (Wertheim)  S.  286.  «)  Auf  diese 
Verwandtschaft  hat  uns  Herr  C.  Büchel  brieflich  hingewiesen. 


Die  Nenplatoniker.    Diophantna  von  Alexandiia.  479 

bedient^  sie  werden  diese  Frage  um  so  sicherer  stellen  ^  wenn  sie 
wissen,  daß  der  Geschichtsschreiber  neuerer  Zeit,  der  am  eingehendsten 
mit  Diophant  sich  beschäftigt  hat,  einem  umfangreichen  Kapitel  geradezu 
die  Überschrift  „Diophants  Auflösungsmethoden''  gegeben  hat*).  Aber 
neben  dem  Umfange  jenes  Kapitels  selbst  sind  dessen  erste  Worte 
geeignet  die  durch  die  Überschrift  geweckten  Erwartungen  zurück- 
zudrängeo:  ,,Diophants  Methoden  in  ihrer  ganzen  Mannigfaltigkeit 
vollständig  darstellen  hieße  nichts  anderes,  als  sein  Buch  abschreiben.'' 
Darin  liegt  das  Zugeständnis,  daß  Diophant  keine  einheitliche  Me~ 
thode  besaß,  ja  nicht  einmal  eine  Anzahl  von  Methoden,  deren  jede 
für  sich  zur  Bewältigung  einer  umgrenzten  Gruppe  von  Aufgaben 
diente.  „Diophant  war",  wie  ein  anderer  genauer  Kenner  seiner 
Werke  sich  sehr  bezeichnend  ausgedrückt  hat*),  „ein  glänzender 
Virtuos  in  der  von  ihm  erfundenen  Kunst  der  unbestimmten  Ana- 
lytik, die  Wissenschaft  hat  jedoch,  wenigstens  unmittelbar,  diesem 
glänzenden  Talente  wenig  Methoden  zu  verdanken,  weil  es  ihm  an 
dem  spekulativen  Sinne  fehlte,  der  in  dem  Wahren  mehr  als  das 
Richtige  sieht."  Seine  Virtuosität  zeigt  er  vornehmlich  in  der  Wahl 
der  unbekannten  Größe.  Was  wir  oben  bei  Gelegenheit  bestimmter 
Aufgaben  mit  zwei  Unbekannten,  die  er  auf  die  Auffindung  einer 
einzigen  Unbekannten  zurückzuführen  wußte,  rühmen  durften,  gilt 
auch  für  Diophants  unbestimmte  Aufgaben.  Er  greift  die  zu  suchende 
Größe  so  geschickt  heraus,  daß  verhältnismäßig  geringe  Mühe  noch 
erforderlich  ist,  die  Aufgabe  vollends  zu  bewältigen,  während  andrer- 
seits die  Willkürlichkeit  der  Voraussetzungen,  welche  er  sich  gestattet, 
in  keiner  Weise  zu  rechtfertigen  gesucht  wird,  eine  Rechtfertigung 
auch  nicht  gestattet. 

Wenn  Diophant  z.  B.  in  der  7.  Aufgabe  des  UL  Buches^)  drei 
Zahlen  von  der  Beschaffenheit  sucht,  daß  sowohl  die  Summe  von  allen 
dreien  als  die  Summe  von  je  zweien  ein  Quadrat  sei,  und  die  Ge- 
samtsumme x^  +  2x  +  l  setzt,  so  kann  dagegen  keinerlei  Einwand 
erhoben  werden.  Wer  aber  berechtigt  ihn  die  Summe  der  ersten  und 
zweiten  Zahl  als  x^  anzunehmen,  so  daß  die  dritte  Zahl  für  sich 
2:i;  -I-  1  wird?  Wer  berechtigt  ihn  vollends  die  Summe  der  zweiten 
und  dritten  Zahl  als  ic*  —  2x  -|-  1  zu  setzen,  wie  er  es  tut?  Unter 
dieser  Annahme  wird  allerdings  eine  Lösung  gefunden.  Die  erste 
Zahl  allein  muß  nämlich  erhalten  werden,  wenn  die  Summe  der 
zweiten  und  dritten  von  der  Gesamtsumme,  d.  h.  wenn  a^  —  2x  +  1 
von  a;*  -h  2a:  +  1  abgezogen  wird,  sie  muß  4x  sein,  und  die  zweite 


1)  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  866— 436.       *)  Hankel  S.  166. 
»)  Diophant  (Tannery)  pag.  146—148,  (Wertheim)  S.  89. 


480  23.  Kapitel. 

Zahl  allein  ist  die  um  die  erste  Zahl  4:X  Yerringerte  Summe  x^  der 
ersten  und  zweiten  Zahl  oder  x*  —  4x.  Es  bleibt  jetzt  nur  noch  zu 
erfallen,  daß  die  Summe  der  ersten  4x  und  der  dritten  2x  +  1,  d.  h. 
daß  6x4-1  ein  Quadrat  werde,  und  dazu  setzt  Diophant  6j?+  1  =  121, 
mithin  a:  ==  20  und  die  drei  Zahlen  sind  80,  320,  41.  Diophant  rer- 
schweigt  uns  sogar,  warum  er  6rr  +  1  "^  121  setzt  und  nicht  eine 
kleinere  Quadratzahl  ähnlicher  Form  wählt,  wenn  auch  der  Grund 
hiervon  nachträglich  zu  erkennen  ist.  Die  Annahme  6a?  +  1  »»  25 
gibt  nämlich  die  drei  Zahlen  16,  0,  9,  unter  welchen  die  0  vorkommt, 
die  ihm  keine  Zahl  ist;  und  die  Annahme  6x+ 1=^49  gibt  die 
Zahlen  32,  32^  17,  welche  er  wohl  deshalb  vermeidet,  weil  die  beiden 
ersten  unter  sich  gleich  sind,  also  streng  genommen  keine  drei  Zahlen 
darbieten. 

Man  hat  in  der  17.  Aufgabe  des  IL  Buches  und  in  der  9.  Auf- 
gabe des  III.  Buches  wirkliche  Methoden  zu  erkennen  geglaubt,  die 
auch  bei  anderen  Aufgaben  benutzt  seien  und  auf  den  beiden  Sätzen 
beruhen,  daß  YAu^  +  Bx  +  C  rationale  Zahl  werden  könne,  wenn  C 
oder  wenn  A  eine  positive  Quadratzahl  sei*),  allein  wenn  wir  auch 
unseren  Lesern  diese  Vermutung  nicht  vorenthalten  möchten,  können 
wir  uns  doch  nicht  entschließen  dieselbe  als  berechtigt  anzuerkennen 
oder  gar  der  Meinung  beizustimmen,  die  erwähnteif  beiden  allgemeinen 
Sätze  seien  von  Diophant  in  seinen  Porismen  (S.  467)  ausgesprochen, 
wenn  nicht  bewiesen  worden. 

Virtuosität  legt  Diophant  auch  darin  an  den  Tag,  daß  er  die  zu 
lösende  Aufgabe  teilt,  daß  er  gewisse  Bedingungen  derselben  zunächst 
willkürlich  durch  irgend  Zahlenannahmen  erftlllt,  daß  er  dann  diese 
Annahmen  als  falsch  erkennt  und  vermöge  anderer  Bedingungen  der 
Aufgabe  in  die  richtige  umwandelt,  ein  Weg,  der  uns  unwillkürlich 
an  den  falschen  Ansatz  erinnert,  dessen  Ahmes  in  seiner  schwie- 
rigsten Aufgabe  von  der  arithmetischen  Reihe  (S.  78)  sich  bedient 
hat,  ein  Weg,  den  vielleicht,  wie  wir  im  18.  Kapitel  bei  Besprechung 
von  Herons  Vermessungslehre  auseinandersetzten,  die  Griechen  zur 
Aufsuchung  von  Quadrat-  und  Kubikwurzeln  in  kunstvoller  Weise 
gangbar  zu  machen  wußten,  der  künftig  unseren  forschenden  Blicken 
wiederholt  erkennbar  sein  wird,  von  vielen  Fußspuren  durchkreuzt, 
die  den  mannigfachsten  Betretem  angehören. 

Als  einfachste  Aufgabe  dieser  Art  wird  die  22.  des  IV.  Buches*) 


')  Paul  von  Schaewen,  Zur  Lösung  der  Gleichung  £f«=y^a;*  +  Bx  -f  C  * 
Osterprogramm  1906  des  Eyangelischen  Gymnasiums  zu  Glogau  [1906  Programm 
Nr.  236].  Die  genannten  Aufgaben  stehen  (Tannerj)  pag.  109  und  161,  (Wert- 
heim) S.  68  und  90.  *)  Diophant  (Tannery)  pag.  284—236,  (Wertheim) 
S.  146—147. 


Die  Neuplatoniker.    Diophantus  von  Alexandria.  481 

genannt  Drei  proporidonale  Zahlen  von  der  Beschaffenheit  zu  suchen^ 
daß  der  Unterschied  von  je  zweien  ein  Quadrat  werde.  Ist  die  erste 
Zahl  X,  so  setzt  Diophant  die  zweite  x  +  4t,  die  dritte  x  +  IS,  damit 
der  Unterschied  der  ersten  und  zweiten^  sowie  der  zweiten  und  dritten 
ein  Quadrat  werde.  Die  angegebenen  Zahlen  lassen  aber  den  Unter- 
schied der  ersten  und  dritten  nicht .  zu  einem  Quadrat  werden.  Die 
als  Summe  der  Quadrate  4  +  9  entstandene  Zahl  1 3  muß  also  so 
umgewandelt  werden,  daß  sie  die  selbst  quadratische  Summe  zweier 
Quadrate  werde.  Man  wählt  z.  B.  25  »  9  +  16  und  setzt  x,  x  +  9, 
^  +  25  für  die  drei  Zahlen.  Jetzt  endlich  ist  die  Hauptbedingung 
x:(x  +  9)  ^{x  +  9):{x  +  25)   oder   x^  +  18a;  +  81  =-  a?*  +  25a:   zu 

81  81  ' 

erfüllen,  was  durch  x^        geschieht,  und  die  drei  Zahlen  sind    -, 

-y  ,      -•     Es  kann  auffallen,   daß  Diophant  hier  versäumt  sämtliche 

Brüche  mit  49  (dem  Quadrate  ihres  Nenners)  zu  vervielfachen,  um 
die  ganzzahlige  Auflösung  567,  1008,  1792  sich  zu  verschaffen;  viel- 
leicht schienen  diese  Zahlen  ihm  zu  groß.  Noch  mehr  drangt  sich 
die  Frage  auf,  warum  gerade  9  und  25  als  die  Unterschiede  der  ersten 
Zahl  von  der  zweiten  und  dritten  gewählt  wurden,  warum  nicht  min- 
destens gesagt  ist  9  -{-  16  =  25  sei  die  kleinste  ganzzahlige  Auf- 
lösung der  vorauszulösenden  Gleichung  a*  -f  6'  =»  c*,  so  daß  man 
daraus  entnähme,  auch  andere  die  gleiche  Bedingung  erfüllende  Zahlen 
hätten  benutzt  werden  dürfen. 

Auf  alle  solche  Fragen,  die  wir  zu  stellen  geneigt  sind,  läßt  sich 
stets  nur  dieselbe  Antwort  erteilen,  die  nämlich,  daß  für  Diophant 
diese  Fragen  nicht  so  nahe  lagen,  wie  wir  zu  meinen  geneigt  sind. 
Diophant  suchte  meistens  eine  Lösung,  nicht  die  Lösung.  Er  be- 
antwortete ßätselfragen,  er  hatte  es  nur  in  seltenen  Ausnahmsfällen 
mit  folgerungsreichen  Theorien  zu  tun.  Er  stand  damit  innerhalb 
seiner  Zeit,  innerhalb  seines  Volkes.  Seine  Genialität  in  Erreichung 
der  vorgesteckten  Ziele  gehört  ihm  persönlich  zu,  die  Beschränkung 
dessen,  was  er  zu  erreichen  suchte,  verschuldet  mit  ihm  die  gesamte 
griechische  Arithmetik,  wenn  von  einer  Schuld  gesprochen  werden 
kann,  wo  auch  das  entfernteste  Bewußtsein  fehlt,  man  hätte  anders 
handeln  können. 

Statt  daher  bei  Diophant  Methoden  zur  Auflösung  unbestimmter 
Gleichungen  vom  ersten  oder  von  höherem  Grade  zu  suchen,  werden 
wir  uns  begnügen  müssen  zuzusehen,  ob  ihm  unterwegs  bei  seinen 
künstlichen  Windungen  einzelne  zahlentheoretische  Wahrheiten  be- 
kannt geworden  sind,  welche  der  späteren  Zeit  zugute  kamen. 

Solche  Wahrheiten  finden  wir  nun  z.  B.  in  der  22.  Aufgabe  des 

Oahtob,  Oeiohiohte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  31 


482  23.  KapiteL 

111.  Buches*),  wo  es  zuerst  heißt,  daß  in  jedem  rechtwinkligen  Drei- 
ecke das  Quadrat  der  Hypotenuse  auch  dann  noch  ein  Quadrat  bleibt, 
.  wenn  man  das  doppelte  Produkt  der  Katheten  davon  abzieht  oder 
hinzufügt;  und  später  daß  die  Zahl  65  sich  von  selbst  auf  zweierlei 
Art  in  zwei  Quadrate,  nämlich  zuerst  in  16  und  49  und  dann  wieder 
in  64  und  1  zerlegen  lasse,  welches  seinen  Grund  darin  habe,  daß  65 
aus  der  Multiplikation  der  Faktoren  5  und  13  entstanden  sei,  deren 
jeder  die  Summe  von  zwei  Quadraten  sei.  Das  heißt  erstlich,  daß 
a*  +  fe*  ±  2ab  ein  Quadrat  gebe  und  zweitens,  daß  (a*  +  6*)  (c*  +  (P) 
auf  zwei  Arten  als  Summe  zweier  Quadrate  dargestellt  werden 
könne.  Wenn  auch  Diophant  nicht  sagt,  daß  ihm  die  Zerlegungen 
selbst  (ac  -  bdy  +  {ad  +  6c)'  und  {ac  +  bd)^  +  (ad  —  bcy  bekannt 
seien,  so  ist  doch  wohl  nicht  daran  zu  zweifeln,  da  andernfalls  die 
zweifache  Möglichkeit  der  Zerlegung  ihm  nicht  so  einleuchtend  hätte 
sein  können. 

Daß  jedes  Quadrat  auf  beliebig  viele  Arten  als  Summe 
zweier  Quadrate  aufgefaßt  werden  könne,  lehrt  Diophant  in 
der  8.  und  9.  Aufgabe  des  IL  Buches')  wie  folgt.  Ist  a'  die  zu 
zerlegende  Quadratzahl,  so  denke  man  x^  als  den  einen,  {mx  —  a)' 
als   den  anderen  Teil,   wo   m   ganz  beliebig  gewählt  werden  kann. 

Demnach     muß     a'  -=  j;'  +  m^x^  —  2amx  +  a',     also     x  =  -V-rv 
und     mx  —  a  =  ~^t~Ti      ^^^    oder    man    hat    a'  =  (   i  7  r  '  ^) 
+  (   « x^  •  ö^)     unter  ganz  willkürlicher  Annahme  von  m.     Das  ist 

einer  von  den  seltenen  Ausnahmefällen,  in  welchem  Diophant  sich 
zur  vollen  Allgemeinheit  erhebt  und  wie  wir  von  dem  m  fachen,  von 
„irgend  einem  Vielfachen*^  und  von  „einem  beliebigen  Vielfechen" 
spricht. 

Wir  nennen  femer  die  Wahrheit,  daß  keine  Zahl  von  der 
Form  4n  +  3  die  Summe  zweier  Quadrate  sein  könne,  welche 
in  der  12.  Aufgabe  des  V.  Buches^)  gelegentlich  ausgesprochen  ist. 
Ob  Diophant  auch  wußte,  daß  jede  Primzahl  von  der  Form  4«  +  1 
als  Summe  zweier  Quadrate  aufgefaßt  werden  kann?  Schwerlich!  und 
noch  weniger  wird  man  annehmen  dürfen,  falls  er  wirklich  diese 
oder  eine  ähnliche  Umkehrung  sich  gestattet  hätte,  er  habe  einen 
vollgültigen  Beweis  dafür  besessen. 

Diophant  geht  vielmehr  in  ümkehrungen  nicht  mit  der  nötigen 

*)  Diophant  (Tannef y)  pag.  182—184,  (Wertheim)  S.  110—111.  «)  Ebenda 
(Tannery)  pag.  90—92,  (Wertheim)  S.  51—63.  «)  Ebenda  (Tannery)  pag.  832 
bis  834,  (Wertheim)  S.  206  und  in  der  Übersetzung  von  Schulz  die  An- 
merkung S.  618— 520. 


Die  Nenplatoniker.    Diophantas  von  Alexandria.  483 

Vorsicht  zu  Werke ,  wie  aas  einem  seiner  Porismen  sich  ergibt. 
Wir  haben  (S.  467)  gesagt^  daß  Diophant  an  verschiedenen  Stellen 
anf  seine  Porismen  yerweise.  Drei  Porismen  sind  ausdrücklich  an- 
geführt in  der  3.^  5.  nnd  19.  Aufgabe  des  Y.  Buches. 

Das  erste  derselben  lautet^):  „Wenn  man  zwei  Zahlen  hat  und 
nicht  nur  jede  dieser  Zahlen  fdr  sich^  sondern  auch  das  Produkt  ein 
Quadrat  wird^  wenn  man  die  nämliche  Torgeschriebene  Zahl  dazu 
addiert^  so  sind  sie  von  zwei  unmittelbar  aufeinanderfolgenden  Qua- 
draten entstanden",  d.  h.  wenn  x  +  a  ^  m%  y  +  a  =  »^,  xy  +  a  ^  p^ 
sein  soll,  so  müssen  m,  n  aufeinanderfolgende  ganze  Zahlen  sein. 
Hier  hat  man  zeigen  können'),  daß  Diophant  eine  falsche  Umkehrung 
vornahm.  Wenn  m  und  n  aufeinanderfolgende  ganze  Zahlen  sind, 
findet  allerdings  der  ausgesprochene  Satz  statt,  aber  derselbe  kann 
auch  stattfinden,  ohne  daß  diese  Bedingung  erfüllt  werde. 

Das  zweite  Porisma  lautet'),  „daß  wenn  man  zu  zwei  aufein- 
anderfolgenden Quadratzahlen  noch  eine  dritte  Zahl  suche,  welche 
um  2  größer  ist  als  die  doppelte  Summe  jener  beiden,  man  dann 
drei  Zahlen  von  der  Beschaffenheit  habe,  daß  das  Produkt  von  je 
zweien,  sowohl  wenn  die  Summe  der  zwei  multiplizierten,  als  auch 
wenn  die  dritte  Zahl  dazu  addiert  wird,  ein  Quadrat  werde".  Die 
drei  Zahlen  sind  a',  (a  +  1)*,  4a*  -f-  4a  +  4  und  daß  diese  in  der 
Tat  die  ausgesprochenen  Eigenschaften  besitzen,  ist  leicht  erkennbar. 

Endlich  das  dritte  Porisma  heißt^),  „daß  der  unterschied  zweier 
Kubikzahlen  auch  allemal  Summe  von  zwei  Eubikzahlen  sei".  Der 
Satz  ist  wahr,  aber  einen  Beweis  gibt  Diophant  an  der  Stelle,  wo  er 
das  Porisma  anwendet,  nicht.  Das  würde  auch  niemand  erwarten 
dürfen,  denn  Verweisungen  haben  ja  gerade  den  Zweck  Beweise  zu 
ersparen.  Dagegen  ist  es  allerdings  einigermaßen  auffallend,  daß 
auch  die  praktische  Ausführung  jenes  als  möglich  Erklarten  fehlt. 
Der  Satz  selbst  wird  uns  erst  im  XVII.  S.  wieder  begegnen,  wo  er 
den  Ausgangspunkt  interessanter  Untersuchungen  bildete. 

Neben  den  drei  besonders  genannten  Porismen  hat  man  auch 
wohl  die  vorher  von  uns  hervorgehobenen  Wahrheiten  als  Porismen 
des  Diophant  aufgefaßt,  was  wenigstens  mit  dem  Charakter  der  Sätze 
nicht  in  Widerspruch  steht. 

Bei  den  erhaltenen  sechs  arithmetischen  Büchern  noch  einen 
Augenblick  verweilend  müssen  wir  eins  betonen,  welches  von  ge- 
schichtlicher Bedeutung  sein  dürfte.     Wir  haben  arithmetische  Unter- 


*)  Diophant  (Tannery)  pag.  816,  (Wertheim)  S.  196.  ■)  Nessel- 
mann,  Algebra  der  Griechen  S.  441—442.  ^  Diophant  (Tannery)  pag.  820, 
(Wertheim)  S.  198.     *)  Ebenda  (Tannery)  pag.  868,  (Wertheim)  S.  226. 

81* 


L 


484  83.  Kapitel. 

suchungen  griechischer  Schriftsteller  durch  Jahrhunderte  verfolgen 
können  und  haben  deren  enge  Verbindung  mit  der  Theorie  des 
rechtwinkligen  Dreiecks  in  den  yerschiedensten  Perioden  hervor- 
treten sehen.  Auch  Diophant  beschäftigt  sich  mit  solchen  Zahlen, 
welche  die  Längenmaße  der  Seiten  eines  rechtwinkligen  Dreiecks 
sind,  und  zwar  treten  diese  Aufgaben,  abgesehen  von  einigen  wenigen^), 
die  wohl  bei  der  Zerstörung,  welche  der  ursprüngliche  Text  unter 
allen  Umständen  erlitt,  an  eine  unrechte  Stelle  gekommen  sein  mögen, 
durchaus  im  VI.  Buche  auf.  Man  gewinnt  dadurch  die  Empfindung, 
es  seien  zuerst  arithmetische,  dann  geometrisch-arithmetische  Fri^en 
behandelt  worden.  Wir  haben  uns  (S.  467)  der  Meinung  angeschlossen, 
es  sei  nicht  wahrscheinlich,  daß  am  Ende  der  auf  uns  gekommenen 
sechs  Bücher  vieles  fehle.  Wir  sind  nicht  gewillt  solches  gegen- 
wärtig zu  widerrufen,  aber  wenn  auch  nicht  vieles,  so  könnte  ein 
Gegenstand  hier  verloren  gegangen  sein,  den  wir  nennen  möchten. 
Die  geometrisch-arithmetischen  Fragen  des  VI.  Buches  beziehen  sich 
insgesamt  auf  das  rechtwinklige  Dreieck.  Die  Möglichkeit  geometrisch- 
arithmetischer Fragen  vom  Rechtecke  ist  nicht  ausgeschlossen. 
Solche  Aufgaben  kennen  wir  bereits.  Sie  stehen  in  dem  Buche  des 
Landbaues  (S.  391),  wir  mußten  bei  Gelegenheit  einer  Stelle  aus  dem 
in.  Buche  der  Sammlung  des  Pappus  (S.  454)  daran  erinnern.  Die 
Aufgaben  verlangen:  1.  zwei  Rechtecke  zu  finden,  deren  Umfange 
wie  deren  Flächeninhalte  im  Verhältnisse  wie  1  :  3  stehen;  2.  zwei 
Rechtecke  zu  finden,  deren  Umfange  einander  gleich  seien,  deren 
Flächen  aber  im  Verhältnisse  von  1  : 4  stehen.  Die  Auflösung  der 
ersten  Aufgabe  bilden  die  Rechtecke  aus  den  Seiten  54,  53  und 
318,3,  die  der  zweiten  die  Rechtecke  aus  den  Seiten  3,60  und  15,48. 
Eine  wenn  auch  nur  geringe  Familienähnlichkeit  dazu  besitzt  die 
achte  Aufgabe  des  V.  Buches*)  bei  Diophant:  „Man  soll  drei  recht- 
winklige Dreiecke  suchen,  deren  Flächen  einander  gleich  sind.'^  Hat 
Diophant,  was  wir  nicht  für  unmöglich  halten,  Aufgaben  behandelt, 
welche  näher  mit  denen  im  Buche  des  Landbaues  übereinstimmen, 
so  wird  er  es  schwerlich  in  dem  gleichen  Buche  getan  haben,  in 
welchem  von  den  rechtwinkligen  Dreiecken  die  Rede  war.  Jedes 
rechtwinklige  Dreieck  ist  zwar  für  die  arithmetische  Betrachtung 
nicht  minder  wie  für  die  geometrische  die  Hälfte  eines  Rechtecks, 
d.  h.  die  Katheten  eines  rationalen  rechtwinkligen  Dreiecks  können 
auch  als  Seiten  eines  rationalen  Rechtecks  betrachtet  werden;  aber 
das   gilt   nicht   umgekehrt.     Die   Seiten   vieler  Rechtecke   z.  B.   alle 


^)  NeBselmann,  Algebra  der  Griechen  -  S.  436  hat  dieselben  gesammelt. 
*)  Diophant  (Tannery)  pag.  324,  (Wertheim)  S.  200. 


Die  Nenplatoniker.    Diophantos  von  Alexandria.  485 

obigen  Paare  54,  53  wie  318,3  wie  3,60  wie  15,48  können  nicht  als 
Katheten  eines  rationalen  rechtwinkligen  Dreiecks  benutzt  werden« 
Dieser  Gegensatz  erscheint  auch  in  der  Natur  der  gestellten  Fragen 
wieder.  Jene  Aufgaben  Yon  den  Rechtecken  verlangten  sowohl  den 
Inhalt  als  den  umfang  gewissen  Zahlenbedingnngen  zu  unterwerfen. 
Die  angeführte  diophantische  Aufgabe  von  Dreiecken  schrieb  nur  für 
den  Inhalt  eine  Bedingung  vor,  weil  die  Rechtwinkligkeit  der  Drei- 
ecke den  Seitenlängen  von  selbst  gewisse  Bedingungen  auferlegt,  die 
nicht  erst  ausgesprochen  zu  werden  brauchen. 

Wie  es  nun  damit  sei,  ob  Diophant  in  einem  Schlußbuche  seines 
Werkes  Aufgaben  über  Rechtecke  behandelte  oder  nicht,  unter  allen 
Umständen  ist  die  Form  der  meisten  geometrisch-arithmetischen  Auf- 
gaben des  VI.  Buches  zu  beachten,  bei  welchen,  wie  in  jener  Auf- 
gabe Herons  vom  Kreise  (S.  404),  Flächen  und  Linien  so  sehr  als 
Zahlen  behandelt  werden,  daß  man  Summen  und  Differenzen  aus 
ihnen  bildet.  Wir  führen  als  einfaches  Beispiel  die  neunte  Aufgabe 
des  VI.  Buches^)  an:  „Man  soll  ein  rechtwinkliges  Dreieck  von  der 
Beschaffenheit  suchen,  daß  die  Fläche  desselben  einer  gegebenen  Zahl 
gleich  wird,  wenn  man  die  beiden  Katheten  davon  abzieht''   oder  in 

Zeichen  geschrieben  ^^  —  a:  —  y  =  c. 

Wir  wenden  uns  zu  der  kleinen  10  Sätze  umfassenden  Abhand- 
lung über  Poljgonalzahlen,  welche  in  den  Handschriften  mit  den 
arithmetischen  Büchern  vereinigt  ist.  Um  den  Inhalt')  der  Abhand- 
lung richtig  zu  verstehen  müssen  wir  uns  des  Satzes  von  den  Drei- 
eckszahlen erinnern,  die  8  fach  genommen  und  um  1  vermehrt  stets 
zu  Quadraten  werden.  Wir  haben  diesen  Satz  bei  Plntarch,  später 
bei  Jamblichus  (S.  460)  gefunden.  Ihn  verallgemeinert  Diophant  und 
behauptet,  jede  Poljgonalzahl  werde  zu  einem  Quadrate,  wenn  man 
sie  mit  einem  Zahlenkoef&zienten  vervielfache,  der  von  der  Anzahl 
der  Ecken  der  Polygonalzahl  abhänge,  und  das  Quadrat  einer  gleich- 
falls aus  dieser  Eckenzahl  sich  ergebenden  Zahl  hinzuaddiere.  Er 
spricht  ihn  später  dahin  aus,  daß  wenn  etwa  p!^  das  Symbol  der  r*®" 
m- Eckszahl,  und  p^  allgemeiner  das  Symbol  irgend  einer  m-Eckszahl 
darstellt,  stets  8(w  — -  2)/?^  +  (w  —  4)'  eine  Quadratzahl  werde.  Er 
findet  sodann  diese  Quadratzahl,  welche  nicht  bloß  von  m,  sondern 
auch  von  dem  jedesmaligen  r  abhängt,  als  [(m  —  2)(2r  —  1)  +  2]^ 
Damit  ist  zugleich  eine  Doppelformel  gegeben,  welche  zeigt,  wie  die 
r*"  m- Eckszahl  gefunden  werden  kann,  sobald  m  und  r  bekannt  sind, 


*)  Diophant  (Tannery)  pag.  409,  (Wertheim)  S.  266.  •)  Eine  sehr  klare 
Übereicht  bei  Nessel  mann,  Algebra  der  Griechen  8.  463—469.  Die  Abhand- 
lang selbst  in  Diophant  (Tannery)  pag.  450— 4S0,  (Wertheim)  S.  297—813. 


486  ^3.  Kapitel. 

wie  aber  auch  die  Seite  r  einer  bekannten  m- Eckszahl  p!;^  sich  be- 
rechnen läßt.     Denn  einmal  ist 

_  [(fit-2)(2r-l)  +  2]«-^(m^4)« 
^»»  8(»i  — 2)  ' 

was  bei  Diophant  im  9.  Satze  folgendermaßen  lautet:  ^^Wir  nehmen 
die  Seite  (r)  der  Polygonalziähl  doppelt,  ziehen  davon  die  Einheit  ab; 
den  Rest  vervielfältigen  wir  durch  die  um  2  verkürzte  Zahl  der 
Ecken  (m);  zu  dem  Produkte  wird  2  gezählt  und  die  Summe  qua- 
driert; von  dem  Quadrate  ziehen  wir  ab  das  Quadrat  der  um  4  ver- 
kleinerten Anzahl  der  Ecken;  den  Rest  teilen  wir  durch  das  8 fache 
der  um  2  verkürzten  Anzahl  der  Ecken,  so  werden  wir  die  Poljgonal- 
zahl  finden/^  Zweitens'  findet  sich  aus  dieser  Formel  durch  Rück- 
wärtsentwicklung 


i[ 


T/8(m-2)fi;.  +  (w-4)'-2    .    j 
tfi  —  2 


und  Diophant  fährt  auch  wirklich  fort:  „Ist  diese  (i.  e.  die  Poljgonal- 
zahl)  gegeben,  so  finden  wir  deren  Seite  auf  folgende  Art.  Wir  ver- 
vielfältigen sie  durch  das  8  fache  der  um  2  verkürzten  Anzahl  der 
Ecken;  zum  Produkte  zählen  wir  das  Quadrat  der  um  4  verkürzten 
Anzahl  der  Ecken,  so  werden  wir  eine  Quadratzahl  erhalten,  wenn 
die  gegebene  wirklich  eine  Polygoualzahl  war.  Von  der  Seite  dieses 
Quadrates  ziehen  wir  2  ab;  den  Rest  teilen  wir  durch  die  um  2  ver- 
kleinerte Anzahl  der  Winkel,  setzen  die  Einheit  hinzu  und  nehmen 
von  der  Summe  die  Hälfte:  so  werden  wir  die  Seite  der  gesuchten 
Quadratzahl  erhalten.^'  Als  Satz  10.  schließt  sich  noch  die  Aufgabe 
an,  zu  erforschen,  auf  wieviele  Arten  eine  gegebene  Zahl 
Polygonalzahl  sein  könne?  Der  Sinn  dieser  Frage  ist  klar.  Die 
Zahl  36  z.  B.  ist  die  achte  Dreieckszahl,  die  sechste  Yiereckszahl, 
die  dritte  Dreizehneckszahl  und  die  zweite  Sechsunddreißigeckszahl, 
kann  also  auf  vier  Arten  Polygonalzahl  sein,  und  diese  Anzahl  4 
wird  eben  gesucht.  Leider  ist  die  Antwort  auf  diese  Frage  nicht  so 
verständlich  wie  die  Frage  selbst.  Sie  bricht  in  der  Mitte  ab,  ohne 
daß  es  bisher  gelungen  wäre,  das  Bruchstück  dem  Sinne  entsprechend 
zu  ergänzen. 

Wir  haben  schon  früher  (S.  467)  bemerken  müssen,  daß  die  Ab- 
handlung über  die  Polygonalzahlen  ein  ganz  anderes  Gepräge  trage 
als  die  arithmetischen  Bücher.  Die  arithmetischen  Bücher,  sagten 
wir,  seien  wesentlich  analytisch,  die  Schrift  über  die  Polygonalzahlen 
wesentlich  synthetisch.  Letztere  lehnt  sich,  wie  wir  jetzt  ergänzend 
sagen  möchten,  vornehmlich  an  die  arithmetischen  Bücher  des  Euklid 
an.     Wie  dort  sind  die  Sätze  erst  behauptungsweise  ausgesprochen. 


Die  Neaplatonikei.    Diophantas  Ton  Alexandria.  487 

dann  bewiesen.  Wie  dort  schließt  der  Beweis  häufig  mit  den  Worten: 
^^welches  zu  zeigen  war'^  Wie  dort  sind  die  Beweise  an  Linien  ge- 
fuhrty  welche  aber  nichts  anderes  sind  noch  sein  wollen  als  Versinn- 
lichangen.  von  Zahlen,  und  geometrische  Vorkenntnisse  werden  nicht 
beansprucht^).  Das  alles  sind  nur  erschwerende  Einzelheiten,  ge- 
eignet die  Übersichtlichkeit  der  Sätze  für  den  Leser,  aber  auch  für 
den  Erfinder  bedeutend  zu  yerringem.  Man  vergleiche  doch  die 
beiden  Hauptformeln  mit  der  Einkleidung  derselben  in  Worte  bei 
Diophant,  welche  wir  ihnen  zur  Seite  gestellt  haben,  und  man  wird 
ein  Gef&hl  davon  erhalten,  wie  schwer  es  bei  solcher  Fassung  war 
auch  nur  die  zweite  Formel  aus  der  ersten  herzuleiten. 

Was  in  dieser  Abhandlung  über  die  Polygonalzahlen  dem  Dio- 
phant  eigentümlich  ist,  was  er  von  Vorgängern  entlehnte,  ist  zweifel- 
haft. Fehlen  uns  auch  die  Schriften  des  Philippus  Opuntius  (S.  169), 
des  Speusippus  (S.  249),  des  Hypsikles  (S.  361)  über  diesen  Gegen- 
stand, so  wissen  wir  doch,  daB  die  ersteren  die  Namen  der  Vielecks- 
zahlen überhaupt,  letzterer  eine  sachgemäße  Definition  derselben 
kannte,  auf  welche  gerade  Diophant,  bei  dem  allein  sie  sich  erhalten 
hat,  Rücksicht  nimmt.  Es  ist  also  jedenfalls  unrichtig,  daB  Diophant 
zuerst  von  Vieleckszahlen  im  allgemeinen  gehandelt  habe,  wie  wohl 
gesagt  worden  ist.  Möglich  ist  es  dagegen,  daß  die  Doppelformel, 
in  welcher  Diophants  Abhandlung  gipfelt,  von  ihm  herrühre,  möglich 
auch,  wie  im  26.  Kapitel  verständlich  werden  wird,  daß  in  dem  ver- 
loren gegangenen  Schlüsse  der  Abhandlung  noch  Sätze  über  Pyra- 
midalzahlen und  deren  Beziehung  zu  den  Polygonalzahlen  enthalten 
waren.  Ja  es  ist  selbst  nicht  ausgeschlossen,  daß  Hypsikles  bereits 
sich  mit  Untersuchungen  über  diesen  letzteren  Gegenstand  beschäftigte. 

Lassen  wir  die  weniger  bedeutenden  Schriftsteller,  denen  die  zu- 
fällige Zeit  ihres  Lebens  einen  Platz  in. den  beiden  letzten  Kapiteln 
anwies,  beiseite,  so  bleiben  die  beiden  Alexandriner:  Pappus,  Dio- 
phant us  als  reicher  Inhalt.  Beide  hervorragende  Geister,  Mathe- 
matiker, welche  jedem  Volke,  jedem  Jahrhunderte  zur  Zierde  gereicht 
hätten,  welche  aber  da,  wo  ihnen  zu  wirken  das  Geschick  verlieh, 
einer  unmittelbaren  Wirkung  entbehrten,  entbehren  mußten.  Pappus 
stand,  wie  wir  gesehen  haben,  vielleicht  an  der  Spitze  einer  Schule 
(S.  443),  und  von  seiner  geometrischen  Sammlung  ist  bei  keinem 
Griechen  die  Rede!  Diophantus'  Name  war,  wie  wir  aus  den  Äuße- 
rungen von  Theon  von  Alexandria,  von  Johannes  von  Jerusalem 
(S.  464)  wissen,  von  dem  Strahlenglanze  algebraischen  Ruhmes  um- 


*)  Ganz  Yereinselt  ist  auch  die  Aa%abe  V,  13  der  arithmetischeii  Bücher 
an  einer  Linie  yersinnlicht.    Diophant  (Tannery)  pag.  336,  (Wert heim)  S.  209. 


488  24.  Kapitel. 

sclilossen^  und  doch  ist  kein  griechischer  Algebraiker  nach  ihm  auf- 
getreten^  der  seine  Geisteslichtung  verfolgte!  Vereinzelte  Zutaten,  Ein- 
Schiebungen  von  nicht  immer  zweifellosem  Werte  in  die  Sammlung 
des  Pappus,  dürftige  Kommentare  zu  alten  Arithmetikem;  zu  Dio- 
phantus  selbst,  das  war  alles,  wozu  griechische  Schriftsteller  sich 
noch  zu  erheben  vermochten.  Pappus  und  Diophantus  muten  uns 
an,  wie  riesige  erratische  Blöcke  in  einer  weiten  Ebene.  Sie  bilden 
weit  sichtbare  Punkte,  an  denen  das  Auge  des  Beschauers  haften  muß, 
aber  sie  durchbrechen  nur,  sie  verändern  nicht  die  allgemeine  Flach- 
heit. Die  Griechen  am  Ende  des  IV.  S.  waren  ^ngst  nicht  mehr 
das  Volk,  dem  Leben  gleichbedeutend  war  mit  Fortschreiten  in  Kunst 
imd  Wissenschaft.  Die  kommentierende  Tätigkeit,  welche,  wie  wir 
erörtert  haben,  eine  Hauptbeschäftigung  der  philosophischen  Sekten 
jener  Zeit  bildete,  schloß  den  Geist  in  die  engeren  Schranken  des 
bereits  Vollendeten,  statt  ihm  Flügel  zum  Ausschweifen  in  unent- 
deckte  Femen  zu  verleihen.  Immer  tiefer  sinkt  griechische  Mathe- 
matik herab,  und  gälte  es  nicht  das  Gebot  der  Vollständigkeit  zu 
erfüllen,  wäre  es  nicht  historisch  notwendig  zu  sehen,  wie  eine 
Wissenschaft  abstirbt,  man  schlösse  am  liebsten  mit  Diophant  die 
Besprechung  der  in  griechischer  Sprache  geschriebenen  mathema- 
tischen Werke. 


24.  Kapitel. 

Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartang. 

Wir  haben  in  den  Schlußsätzen  des  vorigen  Kapitels  wohl  hin- 
länglich entschuldigt,  weshalb  wir  mit  Diophant  wenigstens  ein  Ka- 
pitel abzuschließen  für  nötig  fanden.  Es  widerstrebte  uns  auf  ihn 
noch  Schriftsteller  folgen  zu  lassen,  die  zwar  auch  noch  dem  lY.  S. 
angehören,  deren  einer  sogar  nicht  unbedeutender  Berühmtheit  sich 
erfreut,  die  aber  doch  einen  gar  zu  grellen  Abstich  gegen  Diophant 
bieten  würden. 

Wir  meinen  zunächst  Patrikius*),  einen  Schriftsteller,  von 
welchem  nur  in  zwei  heronische  Bücher,  in  die  Geometrie  und  in 
die  erste  stereometrische  Sammlung,  unbedeutende  Überreste  sich 
eingeschlichen  haben.  Die  erste  Stelle  lehrt  bei  größerer  Länge 
eines  Grundstückes  dessen  Breite  an  verschiedenen  Stellen  zu  messen, 


^)  Th.  H.  Martin  in  dem  IV.  Bande  der  Mimoirea  prSsenUs  par  divers 
savants  ä  Vacadhnie  des  inscriptions  et  beUes-lettres.  S4rie  L  Sujets  divers 
d'erudition  (Paris  1854)  pag.  220.    AgrimenBoren  S.  112. 


Die  griechische  Mathemaidk  in  ihrei  Entartung.  489 

daraus  eine  Durchschnittsbreite  zu  berechnen  und  die  Fläche  als 
Rechteck  zwischen  dieser  Durchschnittsbrßite  und  der  Länge  zu  be- 
trachten*). Die  zweite  Stelle  gibt  eine  ähnliche  Vorschrift  für  Körper- 
räume:  eine  nach  oben  sich  yerjüngende  kreisrunde  Säule  soll  als 
Zylinder  von  gleicher  Höhe  betrachtet  werden,  für  dessen  Grund- 
fläche ein  Mittelkreis  gilt^  dessen  Durchmesser  die  halbe  Summe  des 
obersten  und  untersten  Säulendurchmessers  ist').  So  Patrikius,  wenn 
die  Sätze  wirklich  in  der  Einschiebung  in  heronische  Schriften,  aus 
der  wir  sie  kennen,  auf  den  richtigen  Urheber  zurückgeführt  sind, 
da  sie  ihrem  Charakter  nach  ebenso  gut,  ja  fast  noch  besser,  uralt 
sein  könnten.  Wer  aber  dieser  Patrikius  selbst  war,  ist  zweifelhaft. 
Man  kennt  zwei  Männer  des  Namens,  einen  der  aus  Lydien  stammend 
374  hingerichtet  wurde,  also  in  der  Tat  noch  dem  Ende  des  IV.  S. 
angehört,  einen  zweiten  aus  Lykien,  der  schon  in  das  V.  S.  hinüber- 
reicht und  am  bekanntesten  ist  durch  seinen  Sohn  Proklus,  von  wel- 
chem wir  weiter  unten  zu  reden  haben. 

Serenus  hat  sich  einige  Berühmtheit  zu  erwerben  gewußt.  Wann 
er  lebte,  ist  weder  aus  seinen  uns  bekannten  Schriften  noch  aus  Er- 
wähnungen bei  anderen  Schriftstellern  genau  zu  ermitteln.  Er  nennt 
einen  Kyros  und  einen  Peithon  als  seine  Freunde,  die  im  übrigen 
gänzlich  unbekannt  sind.  Er  sagt  im  16.  Satze  seines  Zylinder- 
schnittes, er  habe  Erklärungen  zu  den  Kegelschnitten  des  ApoUonius 
verfaßt,  was  aber  auch  nicht  weiterhilft,  als  daß  Serenus  später  als 
zu  Anfang  des  IL  yorchristlichen  Jahrhunderts  schrieb.  Er  selbst 
wird  in  der  Vorrede  zu  den  euklidischen  Daten  von  Marinus,  dem 
Herausgeber  jenes  Werkes,  genannt^),  und  dieser  Marinus  war  Nach- 
folger des  Proklus  am  Ende  des  V.  oder  Anfang  des  VI.  nachchrist- 
lichen Jahrhunderts.  Das  sind  so  weit  voneinander  abliegende  Grenzen, 
daß  ilmen  nichts  zu  entnehmen  ist.  Wir  kommen  dagegen  weiter 
durch  die  Kenntnis  der  Heimat  des  Serenus.  In  der  ältesten  Hand- 
schrift seiner  Werke,  einem  Vatikankodex  des  XH.  bis  XIU.  Jahr- 
hunderts, heißt  er  avttvöamg,  welches  man  lange  Zeit  durch  von  An- 
tissa  übersetzte,  so  sehr  dem  Worte  damit  Gewalt  angetan  war. 
Statt  dessen  wurde  die  sehr  einfache  Verbesserung  ivtivoBos  vor- 
geschlagen^) und  sofort  allgemein  angenommen.  ÄnÜnoeia^  welches 
danach  die  Heimat  des  Serenus  wäre,  ist  im  Jahre  122  durch  Kaiser 
Hadrian,  der  von  117 — 138  regierte,  gegründet,  und  Serenus  muß  also 
frühestens  im  IL  nachchristlichen  Jahrhunderte  gelebt  haben.    Sprach- 


^)  Heron  (ed.  Hnltsch)  pag.  136.  Vgl.  ebenda  pag.  207,  lin.  16—20. 
*)  Ebenda  pag.  169.  *)  Euklid  (ed.  Gregory)  pag.  467.  *)  Heiberg  in  der 
Biblioiheca  maihematica  1894  pag.  97. 


490 


24t.  Kapitel. 


liehe  Ghiinde  föhrteD^  nachdem  Serenus  jetzt  zwischen  das  II.  und 
das  VI.  Jahrhundert  eingeschlossen  war,  zu  der  Vermutung,  er  werde 
etwa  in  der  Mitte  der  überhaupt  möglichen  Zeit  im  IV.  Jahrhundert, 
nach  Pappus  (der  Serenus  nirgend  erwähnt)  und  vor  dem  bald  von 
uns  zu  nennenden  Theon  von  Alexandria  gelebt  haben  ^). 

Die  beiden  Abhandlungen  des  Serenus^)  haben  zum  Inhalte  den 
Schnitt  des  Zylinders  und  den  Schnitt  des  Kegels.  Der  Schnitt 
des  Kegels  ist  die  unbedeutendere  von  beiden  Schriften.  Serenus 
beschäftigt  sich  darin  mit  solchen  Schnittebenen,  welche  durch  die 
Spitze  des  Kegels  gelegt  ein  Dreieck  auf  dem  Kegelmantel  erzeugen, 
weil  keiner  seiner  Vorgänger  sich  um  diese  Dreiecke  gekümmert  habe. 
Von  einigem  Interesse  ist  höchstens,  daß  dabei  die  Frage  nach  dem 
größtmöglichen  Inhalte  der  so  entstehenden  Dreiecke  auftaucht.  Der 
Schnitt  des  Zylinders  lehrt  zunächst,  daß  die  den  Zylinder 
schneidende  Ebene  auf  dessen  Mantel  eine  Ellipse  hervorbringe  und 
löst  alsdann  Aufgaben,  wie  die  in  Satz  22.  und  23.  Zu  einem  ge- 
gebenen Kegel  (Zylinder)  einen  Zylinder  (Kegel)  zu  finden  und  beide 
durch  eine  und  dieselbe  Ebene  so  zu  schneiden,  daß  der  Schnitt  ähn- 
liche Ellipsen  bilde.  Von  Sätzen,  die  bewiesen  werden,  heben  wir 
hervor:  Satz  31.  Gerade  Linien,  welche  aus  demselben  Punkte  aus- 
gehend eine  zylindrische  Oberfläche  berühren,  haben  sämtlich  die  Be- 
rührungspunkte in  den  Seiten  eines  einzigen  Parallelogramms,  und 
Satz  34.  Alle  Geraden,  welche  aus  demselben  Punkte  als  Berührungs- 
linien an  einen  Kegelmantel  gezogen  werden,  haben  ihre  Berührungs- 
punkte in  den 
Seiten  eines  ein- 
zigen Dreiecks. 
Endlich  sei  be- 
merkt, daß  im 
Satz  33.  ganz 
gelegentlich  die 
Grundlage  zu  dem 
mitgeteilt  ist,  was 

mit  modernem  Namen  die  Lehre  von  den  Harmonikaien  genannt 
zu  werden  pflegt.     Es   wird   nämlich   behauptet,    daß  wenn  (Fig.  78) 

^)  Heiberg  in  seiner  Ausgabe  des  Serenns  Ton  Antinoeia  mit  lateinischer 
Übersetzung.  Leipzig  1896.  Vorrede  pag.  XVII  in  Übereinstimmung  mit  Chasles, 
Apergu  hist.  47  (deutsch  44)  und  Tannery  im  BuUetin  des  sciences  mathe- 
matiques  et  astranomiques  1883.  *)  Der  griechische  Text  ist  als  Anhting  zur 
Halley sehen  Ausgabe  der  Kegelschnitte  des  Apollonius  gedruckt.  Deutsche 
Übersetzungen  hat  E.  Nizze  als  Prog^mmbeilagen  des  Stralsunder  Gymnasiums 
TerOffentlicht:  üeber  den  Schnitt  des  Cylinders  1860.  lieber  den  Schnitt  des 
Kegels  1861.    Die  neueste  Ausgabe  von  Heiberg  1896. 


Flg.  78. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  491 

Yon  d  aus  die  dsri^  zum  Schnitte  eines  Dreiecks  aßy  gezeichnet  und 
^  so  auf  ihr  gewählt  wird,  daß  d^idg  —  «lyrijg  und  die  Gerade  aij 
gezogen  wird,  alsdann  jede  neue  von  d  ausgehende  Transyersale  dxlfi 
das  entsprechende  Verhältnis  dx  :  d/i  »  xA  :  Xfi  bieten  werde.  Eigen- 
tum des  Serenus  ist  der  Satz  keinenfalls,  da  er,  wie  wir  (S.  414) 
sahen,  schon  zur  Zeit,  als  Menelaus  das  III.  Buch  seiner  Sphärik 
niederschrieb,  bekannt  gewesen  sein  muß. 

Außer  diesen  beiden  Abhandlungen  hat  Serenus  noch  Hilfssätze 
verfaß^  aus  welchen  ein  geometrischer  Satz  über  Winkel  im  Kreise 
mit  exzentrischem  Scheitelpunkte  aber  auf  gleichen  Bögen  aufstehend 
in  einer  Handschrift  des  astronomischen  Teiles  des  Werkes  Theons 
Yon  Smjrna  aufgefunden  worden  ist^).  Könnte  man  annehmen, 
Theon  habe  selbst  den  Serenus  benutzt,  so  würde  durch  die  bekannte 
Lebenszeit  dieses  Schriftstellers  eine  untere  Zeitgrenze  mit  dem  Jahre 
130  etwa  angegeben  sein;  doch  wäre  jene  Annahme  durchaus  will- 
kürlich. Man  hat  Tielmehr,  wie  bemerkt  worden  ist,  wohl  nur  an 
eine  Vereinigung  ähnlicher  Dinge  in  einer  Handschrift  zu  denken, 
ohne  daß  festgestellt  wäre,  wer  es  gewesen  sein  mag,  der  von  jenem 
Satze  aus  den  Lemmen  des  Serenus  eine  astronomische  Anwendung 
machte. 

Der  dritte  Schriftsteller,  an  welchen  wir  vorher  dachten,  ist 
Theon  von  Alexandria ^).  Er  lebte,  wie  wir  schon  bei  Gelegenheit 
der  Zeitbestimmung  des  Pappus  (S.  441)  angeben  mußten,  während 
der  Regierung  Theodosius  des  Großen  und  zwar  in  Alexandria,  wo 
er,  nach  der  Angabe  des  Suidas,  am  Museum  lehrte.  Wir  wissen 
durch  ihn  selbst,  daß  er  in  Alexandria  im  Jahre  365  eine  Sonnen- 
finsternis beobachtete.  Seine  Bemerkungen  zu  den  chronologischen 
Handtafeln  des  Ptolemäus  erstrecken  sich  bis  auf  das  Jahr  372.  Das 
Todesjahr  seiner  nachher  zu  erwähnenden  Tochter  ist  415.  Das  sind 
lauter  zusammenstimmende  Jahreszahlen,  welche  an  seiner  Lebenszeit 
einen  Zweifel  nicht  aufkommen  lassen. 

Den  Mathematiker  interessieren  vorzugsweise  zwei  Reihen  von 
Arbeiten,  welchen  Theon  sich  unterzog.  Zuerst  gab  er  die  Ele- 
mente des  Euklid  heraus,  wie  wir  bei  Besprechung  dieses  Werkes 
selbst  (S.  277)  anführten  und  vermehrte  —  bereicherte  dürfen  wir 
kaum  sagen  —  dieselben  durch  Zusätze  von  geringfügigem  Werte. 
Später  verfaßte  er  einen  Kommentar,  zu  dem  ptole maischen 
Almageste,  in  welchem  von  der  Euklidausgabe  die  Rede  ist'),  wo- 

*)  Theonis  Smyrnaei  Über  de  astranomia  ed.  Th.  H.  Martin.  Paris  1849, 
pag.  840  und  Martins  Bemerkungen  pag.  79—81.  *)  Fabricius,  Btbliotheea 
Graeca  (ed.  Harleß)  IX,  176,  178—179.  ')  Cammentaire  de  Theon  sur  la  com- 
posiUon  mathimatique  de  FtolenUe  (ed.  Halma,  Paris  1821)  I,  201. 


492  24.  Kapitel. 

durch  die  Reihenfolge  dieser  Arbeiten  sich  feststellt.  Der  Kommentar 
erstreckte  sich,  wenigstens  soweit  er  im  Drucke  und  auch  hand- 
schriftlich bekannt  ist,  nicht  auf  sämtliche  13  Bücher  des  Almagestes. 
Der  Kommentar  zu  einem  Teile  des  V.,  zum  XI.  und  XII.  Buche 
fehlt.  Als  Anfang  der  Erläuterungen  zum  V.  Buche  enthalten  die 
Handschriften  ein  Bruchstück  des  Pappusschen  Kommen  tars^  an  diese 
knüpft  sich  als  Fortsetzung  bezeichnet  eine  Ergänzung  Theons^),  daran 
wieder  ein  Stück  aus  dem  Kommentare  des  Pappus*).  Man  wird 
darin  eine  Bestätigung  unserer  früher  (S.  442)  ausgesprochenen  Mei- 
nung, Theon  habe  Pappus  fleißig  benutzt,  erblicken.  Jedenfalls  aber 
muß  als  Ergebnis  dieser  Art  der  Vereinigung  der  beiden  Kommentare 
angesehen  werden,  daß  Theon  später  als  Pappus  lebte,  wie  groß 
oder  wie  klein  auch  der  Zwischenraum  zwischen  beiden  gewesen 
sein  mag. 

Theons  Kommentar  zum  I.  Buche  des  Almagestes  ist  für 
uns  weitaus  am  wichtigsten.  Nicht  als  ob  Dinge  darin  enthalten 
wären,  geeignet  unser  ziemlich  geringschätziges  Urteil  über  den  Ver- 
fasser zu  entkräften,  aber  weil  er  als  Quelle  mancher  geschichtlicher 
Angaben  dient,  die  wir  durch  andere  zu  ersetzen  nicht  imstande  sind. 
Dort  steht  jenes  Zitat  des  Diophantus,  welches  die  untere  Grenze 
seiner  Lebenszeit  bildet,  dort  der  Beweis  dafür,  daß  Theon  eine  sxdoöcg, 
eine  Herausgabe,  des  Euklid  vollzogen  hatte,  dort  eine  Darstellung 
des  Rechnens  mit  Sexagesimalbrüchen. 

Über  das  sexagesimale  Rechnen  gibt  es  eine  besondere  Abhand- 
lung, welclie  durch  die  Handschriften,  in  welchen  sie  sich  erhalten 
hat,  dem  Pappus  oder  gar  dem  Diophantus  zugeschrieben  wird'). 
Wir  beabsichtigen  keineswegs  die  Möglichkeit  anzuzweifeln,  daß 
namentlich  Pappus  bei  der  Kommentierung  des  I.  Buches  des  Alma- 
gestes, wo  er  über  Quadratwurzelausziehungeu  sich  verbreitete,  vom 
Rechnen  mit  sechzigteiligen  Brüchen  überhaupt  geschrieben  haben 
mag.  Nur  ist  alsdann,  falls  die  jetzt  bekannte  Abhandlung  ein 
Bruchstück  jenes  Kommentars  bildete,  der  interessantere  Teil  immer 
noch  verloren,  und  wir  glaubten  der  Wertschätzung,  die  man  Pappus 
und  Diophantus  schuldet,  nur  Rechnung  zu  tragen,  wenn  wir  bei 
Erörterung   ihrer  Werke  jene   elementaren  Betrachtungen   unberück- 


*)  ToÜ  BifQvog  sig  rh  UItcov  toI)  Ildxnov.  ")  Fabricius,  Bibliotheca 
Grraeca  (ed.  Harleß)  IX,  176.  ^  Vgl.  Hnltsch  in  der  Praefatio,  welche  er  dem 
in.  Bande  seiner  Pappnaansgabe  Torangeschickt  hat,  pag.  XII  und  XVI.  Dann 
die  durch  C.  Henry  besorgte  Ausgabe  des  OpusaUum  de  tnuUiplicatione  et  divi- 
sione  sexagesimalibus  Diophanto  vel  Pappo  attribuendum.  Halle  1879,  und  die 
kritischen  Bemerkungen  dazu  von  Hultschin  der  Zeitechr.  Math.  Phjs.  XXIY. 
Histor.-literar.  Abtlg.  S.  199—208. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  493 

sichtigt  ließen^  von  wem  dieselben  aach  herrühren  mögen  —  ein 
Löwe  ist  aus  dieser  Klaue  keinesfalls  zu  erkennen^  und  deshalb  tragen 
wir  auch  Scheu  das  Bruchstück  zu  den  Moriastica  des  Diophantus 
(S.  467)  in  Beziehung  zu  setzen. 

Theons  Darstellung  ist  um&ngreicher  und  vollständiger^).  Die 
Multiplikation  beginnt  mit  dem  größten  Teile  des  Multiplikators, 
genau  so  wie  wir  (S.  319)  nach  Eutokius  das  Verfahren  des  Archimed 
bei  nicht  sexagesimal  fortschreitenden  Zahlen  geschildert  haben.  Um 
z.  B.  37*^  4^  55^  mit  sich  selbst  zu  vervielfachen  wird  zuerst  das 
Produkt  von  37<>  in  die  vorgelegte  Zahl  als  1369®  148^  2035"  an- 
geschrieben, wobei  allerdings  das  Zeichen  für  Grad  ebenso  wie  für 
die  kleineren  Teile  nur  in  dem  Sinne  von  Einheiten  und  Brachteilen 
der  Einheit  aufzufassen  nötig  ist,  und  nicht  etwa  an  eine  von  Theon 
nicht  beabsichtigte  Multiplikation  beziehungsweise  später  an  eine 
Division  oder  Radizierung  benannter  Zahlen  gedacht  werden  darf. 
Dann  folgt  das  durch  4^  hervorgebrachte  Produkt  148^  16"  220'"-, 
endlich  das  Produkt  mittels  der  65"  oder  2035"  220"^  3025^^,  indem 
die  Benennung  der  einzelnen  Teilprodukte  den  Gesetzen  diophantischer 
Multiplikation  allgemeiner  Größen  folgt.  Bei  dieser  Gelegenheit  er- 
scheint eben  das  Zitat  des  Diophantus.  Theon  glaubt  eine  Unter- 
stützung durch  geometrische  Beweisführung  geben  zu  müssen,  f&r 
seine  Landsleute  und  Zeitgenossen  eine  vermutlich  nicht  überflüssige 
Zugabe,  bei  der  wir  uns  jedoch  nicht  aufhalten  wollen.  Nun  faßt 
Theon  erst  sämtliche  Teilprodukte  zusammen  und  vollzieht  dabei 
durch  wiederholte  Teilung  durch  60  die  zur  Übersichtlichkeit  not- 
wendigen Reduktionen:  3025^^  sind  50™  25^^;  nunmehr  sind  490"^ 
vorhanden  oder  8"  10™;  ferner  erscheinen  4094"  oder  68^  14";  des 
weiteren  364^  oder  6^  4^;  und  da  endlich  1375®  sich  ergeben,  so  ist 
das  ganze  Produkt  1375<>  4^  14"  10™  25^^,  oder  unter  Vernach- 
lässigung der  beiden  kleinsten  Bruchgattungen  nahezu  1375®  4^  14". 

Die  Division  läßt  alle  bei  der  Multiplikation  getanen  Schritte 
rückwärts  ausführen.  So  vollzieht  Theon  die  Division  von  25®  12^ 
10"  in  1515®  20^  15"  folgendermaßen.  Zunächst  ist  25  in  1515 
mehr  als  60,  weniger  als  61  mal  enthalten;  der  erste  Teilquotient 
ist  demnach  60®.  Zieht  man  60  mal  25  von  1515  ab  und  verwandelt 
den  Best  15  in  Minuten,  mit  welchen  die  vorhandenen  20^  vereinigt 
werden  müssen,  so  hat  man  deren  920.    Von  ibnen  sind  60  mal  12^ 


*)  CommerUaire  de  Thion  (ed.  Halma)  I,  110—119  und  185—186.  Durch 
falsche  Paginierung  folgt  auf  pag.  120  nicht  121,  sondern  181,  der  Zwischen- 
raum zwischen  beiden  Stellen,  an  welchen  von  unserem  Gegenstande  die  Rede 
ist,  beträgt  also  nur  etwa  fanf  Seiten.  Vgl.  eine  Übersicht  bei  Nesselmann, 
Algebra  der  Griechen  S.  188— 147. 


494 


24.  Kapitel. 


abzuziehen,  wobei  200^  und,  unter  Berücksichtigung  der  vorhandenen 
15°,  im  ganzen  200^  15°  als  Rest  bleiben.  Davon  ist  wieder  60  mal 
10°  oder  10^  abzuziehen,  und  so  entsteht  190^  15^^  als  Gesamtrest 
nach  Abziehung  des  vollen  ersten  Teilproduktes.  Nun  sucht  Theon 
den  zweiten  Teilquotienten  mittels  der  Division  von  25®  in  190^  und 
erhält  ihn  als  7^.  Wieder  wird  7^  mal  25  von  190^  15°  abgezogen; 
von  dem  Reste  15^  15°  oder  915°  werden  7^  mal  12^,  von  dem  Reste 
831°  endlich  7^  mal  10°  oder  1°  10°^  abgezogen,  so  daß  als  Ge- 
sjimtrest  829°  50°^  übrig  bleibt.  Der  letzte  Teilquotient  durch  die 
Division  von  25*^  in  829°  erhalten  ist  ungefähr  33°,  und  hier  gibt 
die  Subtraktion  der  einzelnen  Stücke  des  Teilproduktes  zuerst  den 
Rest  4°  50^°  oder  290°^,  wovon  das  etwas  zu  große  396°^  abgezogen 
werden  mußte.  Es  ist  also  1515»  20^  15°  geteilt  durch  25«  12^  10° 
gleich  60*^  7^  33°. nahezu,  eyytaxa. 

Die  Ausziehung  der  Quadratwurzel  aus  4500  Einheiten 
lehrt  endlich  Theon  nach  einer  Methode,  welche  wir  wohl  genugsam 
kennzeichnen,  wenn  wir  sie  der  heute  üblichen  genau  gleich  nennen 
abgesehen  von  dem  Gebrauche  von  Sexagesimalbrüchen  statt  der 
heute  üblicheren  Dezimalbrüche.  Das  nächste  rationale  Quadrat  unter- 
halb 4500  ist  4489,  dessen  Wurzel  67  heißt.  Zieht  man  (Fig.  79) 
4489  von  4500  ab,  so  bleiben  die  11  Einheiten  oder  660^  in  Gestalt 

eines  Gnomon,  welcher  selbst  zunächst 
aus  zwei  Rechtecken  und  einem  Quadrate 
besteht,  dessen  Seite  gesucht  werden 
muß.  Man  dividiert  mit  dem  Doppelten 
der  67  Einheiten  oder  mit  134  Ein- 
heiten in  660^.  Das  gibt  4^  als  Quo- 
tient. Die  beiden  neuen  Rechtecke 
sind  also  jedes  67  mal  4^  oder  268^, 
zusammen  536^,  und  das  neue  Quadrat 
ist  4^  mal  41  d.  h.  16°.  Als  Rest 
bleibt  zunächst  660^  -  536^  =  124^ 
=  7440°,  dann  7440°  -  16°  =  7424°, 
welches  wieder  in  Gestalt  eines  Gnomon  zu  denken  ist.  Um  die 
neue  Zerlegung  in  zwei  Rechtecke  und  ein  Quadrat  zu  finden,  nimmt 
man  das  Doppelte  von  6V  4^  d.  h.  134«  8^  und  dividiert  damit  in 
7424°,  wodurch  man  den  Quotienten  55°  etwa  erhält,  dessen  Quadi-at 
alsdann  außer  den  beiden  Rechtecken  noch  wegzunehmen  sein  wird. 
Die  erste  Subtraktion  gibt  als  Rest  7424°  -  134«  8^  X  55°  -  46° 
40°^,  und  dieses  ist,  sagt  Theon,  nahezu  das  Quadrat  von  55°. 
Tatsächlich  würde  als  Rest  45°  49°^  35^^  übrig  bleiben,  welcher 
als    Gnomon    gedacht    eine   noch   bessere   Annäherung    als   diejenige 


Fig.  79. 


Die  gpriechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  495 

y4500^  =  67®  4^  55^  gestatten  würde,  mit  welcher  Ptolemäus  sich 
begnügte. 

Die  letztere  Tatsache  ist  insofern  von  geschichtlicher  Tragweite, 
als  sie  beweist,  daß  auch  Ptolemäus  von  dem  durch  Theon  gelehrten 
Näherungsverfahren  Gebrauch  machte  gleichwie  Heron  es  häufig 
stufenweise  anwandte.  Es  mag  immerhin  sein,  daß  je  nach  dem 
Umstände,  ob  man  mit  Sexagesimalbrüchen  rechnete  oder  nicht,  mit- 
unter ein  Wechsel  des  Verfahrens  eintrat,  ein  Wechsel,  der  seine 
leichte  Begründung  darin  findet,  daß  bei  Sexagesimalbrüchen  sofort 
und  ein  für  allemal  eine  Grenze  —  etwa  die  des  zweiten  Sechzigstels 
—  festgesetzt  werden  konnte,  bis  zu  welcher  man  die  Annäherung 
treiben  wollte,  während  in  gewöhnlichen  Brüchen  eine  solche  Grenze 
sich  weder  von  selbst  darbot,  noch  auch  ihre  Erreichung  im  Augen- 
blicke bekannt  werden  konnte,  mithin  eine  andere  Methode  leicht  als 
Yorzuziehende  sich  erwies. 

Theons  Tochter  Hypatia^)  war,  wie  Suidas  angibt,  selbst  eine 
Gelehrte  von  umfassendem  Wissen.  Die  Angabe  ebendesselben,  sie 
sei  die  Gattin  des  Philosophen  Isidorus  gewesen,  ist  vermutlich 
irrtümliche  Einschiebung  eines  späten  Glossators.  Hypatia  war  viel- 
mehr stets  unverheiratet.  Richtig  ist  wieder  die  Zeitbestimmung  des 
Suidas,  sie  habe  ihre  Blütezeit  unter  der  Regierung  des  Arkadius 
gehabt.  Ihr  Tod  erfolgte  xmter  des  Arkadius  Nachfolger  im  März  415 
in  tragischster  Weise.  Die  Phüosophenschulen  hatten  sich,  auch 
nachdem  das  Christentum  die  Religion  der  römischen  Kaiser  geworden 
war,  der  neuen  Lehre  keineswegs  in  dem  Maße  angeschlossen,  wie 
die  sonstige  Bevölkerung.  Der  Schutz,  den  Kaiser  Julianus  Apostata 
insbesondere  ihnen  gewährt  hatte,  wirkte  noch  Jahrzehnte  nach  seinem 
Tode  fort  und  ließ  die  Heidin  Hypatia  in  Ansehen  selbst  bei  einem 
christlichen  Bischöfe  von  Ptolemais,  wie  Synesius,  imd  bei  dem 
kaiserlichen  Präfekten  Orestes  in  Alexandria  stehen,  ohne  daß  eine 
besonders  auffallende  Erscheinung  darin  zu  suchen  wäre.  Aber  gerade 
das  Ansehen,  in  welchem  sie  bei  Orestes  stand,  wurde  ihr  Verderben. 
Der  Präfekt  wies  hierarchische  Ansprüche  des  Bischofs  Cyrillus 
zurück.  Hypatias  Einfluß  wurde  als  Ursache  verdächtigt,  und  der 
fanatische  Pöbel  der  Stadt  zerriß  die  Unglückliche.  War  es  doch 
derselbe  Pöbel,  der  392  schon  in  dem  Zerstörungstaumel  religiöser 
Wut  ein  Verbrechen  begangen  hatte,  welches  die  Wissenschaft  noch 
heute  schwer  empfindet.  Theodosius  der  Große  erließ  in  dem  genannten 
Jahre  den  Befehl  zur  Vernichtung  der  heidnischen  Tempel,  und  dieser 


^)  B.  Ho  che,  Hypatia,  die  Tochter  Theona,  in  der  ZeitBchrift:  Philologus 
(1860)  XV,  436—474. 


496  24.  Kapitel. 

Befehl  wurde  von  der  planderungssüchtigeu  Horde  so  genau  aus- 
geführt, daß  auch  der  Serapistempel,  die  zweite  alexandrinische  Biblio- 
thek, wie  wir  uns  erinnern  (S.  427),  von  Grund  auf  mit  zerstört 
wurde.  Von  da  an  gibt  es  eine  Universalbibliothek  des  Altertums 
nicht  mehr.  Von  da  an  beginnt  die  Seltenheit  alter  Originalwerke 
zur  Unmöglichkeit  solche  zu  beschaffen  auszuarten. 

Wenn  wir  der  Hypatia  hier  zu  gedenken  hatten,  so  liegt  der 
Ghrund  darin,  daß  ihr  auch  mathematische  Schriften  von  Suidas  nach- 
gerühmt werden^),  Werke  freilich,  deren  Überschriften  ebenso  zweifel- 
haft sind  wie  ihr  Inhalt.  Die  einen  machen  daraus  einen  Kommentar 
zum  Diophant,  eine  astronomische  Tafel,  einen  Kommentar  zu  den 
Kegelschnitten  des  ApoUonius.  Die  anderen  übersetzen^):  „Sie  schrieb 
einen  Kommentar  zu  der  astronomischen  Tafel  des  Diophant  und 
einen  Kommentar' zu  den  Kegelschnitten  des  ApoUonius.''  Gesichert 
ist  keine  der  beiden  Auffassungen.  Gibt  man  der  zweiten  den  Vor- 
zug, so  ist  Zweifel  darüber,  ob  Diophant,  der  Verfasser  einer  astro- 
nomischen Tafel,  und  Diophant,  der  Algebraiker,  ein  und  dieselbe 
Persönlichkeit  gewesen  sein  mögen.  Das  Beispiel  Hipparchs  zeigt 
uns,  daß  die  Möglichkeit  der  Verbindung  beider  schriftstellerischen 
Richtungen  mindestens  nicht  auszuschließen  ist.  Der  letzte  Heraus- 
geber des  Diophant  ist  wieder  der  Überzeugung^),  Hypatia  habe  die 
Arithmetik  des  Diophant  erläutert  und  Teile  dieser  Erläuterung  seien 
als  Schollen  erhalten. 

Hypatia  war  für  geraume  Zeit  eine  der  letzten,  wenn  nicht  die 
letzte  durch  die  Abfassung  mathematischer  Schriften  bekannte  Per- 
sönlichkeit in  Alexandria.  Früher  bildete  die  Lokalisation  an  diesem 
Mittelpunkte  mathematischer  Bildung  die  wenn  auch  nicht  ausnahms- 
lose Begel.  Von  Archimed  bis  Jamblichus  verband  doch  immer  ein 
oder  der  andere  Faden  geistiger  Zusammengehörigkeit  die  Schrift- 
steller, die  nicht  in  Alexandria  lebten,  mit  jenem  Zentrum.  Allmäh- 
lich wurde  umgekehrt  die  Lostrennung  von  jenem  Boden,  der  den 
Erzeugnissen  schriftstellerischer  Tätigkeit  wie  den  SchriftsteUem  als 
gleich  geföhrlich  sich  erwiesen  hatte,  zur  Regel.  Der  Neupiatonis- 
mus  setzte  sich  fort,  aber  hauptsächlich  an  jenem  Orte,  wo  die 
Grundlegung  der  alten  Schule  stattgefunden  hatte,  in  Athen,  wo 
eine  Universität  entstand,  an  Einrichtungen,  Sitten  und  Unsitten,  Ge- 
bräuchen und  Mißbrauchen  deutschen  Universitäten  vergleichbar^). 

^)  iyQaipev  {>7c6(iVTifuc  slg  Ji6(pavrov  tov  AötQovoiiLiKhv  %av6va  slg  tä  icoavticoc 
'AnoXXmvlov  {>n6iivrnia.  *)  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  248,  dessen 
Auseinandersetzungen  Ho  che  in  seiner  Abhandlung  nicht  gekannt  zu  haben  scheint. 
■)  Tannery  in  seiner  Diophantausgabe  II,  pag. VII— Vm  und  IX.  *)  Zeller  III, 2, 
675flgg.  und  Hertzberg,  Gesch.  Griechenlands  unt.  d.  Bömem  Bd.  HL    Halle  1876. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  497 

Der  Keim  zur  neuen  atheniBchen  Schule  wurde  vermutlich  nicht 
von  Alexandria  aus,  sondern  von  dem  syrischen  Ableger  der  Alexan- 
driner, von  den  Nachfolgern  des  Jamblichus  gepflanzt.  Mit  der  ört- 
lichen Bückkehr  aus  dem  Oriente  nach  Hellas  streifte  der  Neuplato- 
nismus  einen  Teil  seiner  Überschwenglichkeit,  seiner  Mystik  ab.  Das 
Studium  der  aristotelischen  Schriften  und  damit  verbunden  dialektische 
Geistesübimgen  kamen  wieder  zu  ihrem  Recht,  und  neben  und  nach 
Erklären!  platonischer  Schriften  wurden  die  Jünger  der  athenischen 
Schule  die  emsigsten  Scholiasten  des  Aristoteles.  Für  uns  haben 
indessen  die  ersten  Schulvorstände  in  Athen  und  selbst  der  berühmte 
Syrianus  kaum  soviel  Bedeutung,  daß  wir  4eren  Namen  anführen 
dürften. 

Erst  Proklus*),  der  Schüler  Syrians,  verlangt  wieder  unsere 
Aufinerksamkeit.  Als  Sohn  des  byzantinischen  Anwaltes  Patrikius  von 
Lykien,  den  wir  (S.  488 — 489)  vielleicht  als  Urheber  zweier  geodäti- 
scher Näherungsvorschriften  kennen  gelernt  haben,  ist  Proklus  410 
geboren.  Sein  Tod  erfolgte  am  17.  April  485.  Marinus,  sein 
Schüler  und  Nachfolger,  der  eine  Biographie  des  Proklus  verfaßt  hat, 
erzählt  von  ihm,  er  habe  als  Knabe  in  der  Heimat  seiner  Eltern, 
wohin  er  denselben  bald  nach  seiner  Geburt  folgte,  die  Schule  eines 
Grammatikers  besucht,  worauf  ihn  ein  Rhetor  Leona^  mit  sich  nach 
Alexandria  nahm,  wo  er  Grammatik  und  Rhetorik  studierte.  Nach 
kurzer  Heimkehr  in  seine  Vaterstadt  Byzanz  lag  er  neuerdings  in 
Alexandria  philosophischen  und  mathematischen  Studien  ob,  letzteren 
unter  der  Leitung  eines  gewissen  Heron,  von  welchem  aber  ab- 
gesehen von  dieser  einen  Notiz  durchaus  nichts  bekannt  ist.  Der 
Unterricht  der  alexandrinischen  Lehrer  genügte  bald  dem  strebsamen 
Jünglinge  nicht.  Sein  Wissensdurst  führte  ihn  nach  Athen,  wo  er 
von  Syrian  an  die  eigentlichen  Quellen  menschlichen  Denkens  hin- 
geleitet wurde.  So  ward  Proklus  der  naturgemäße  Erbe  Syrians  als 
Schulvorstand  in  Athen  und  erhielt  als  solcher  den  Beinamen  des 
Nachfolgers,  dcddoxos^  Diadochus,  unter  welchem  er  vielfach  be- 
kannt ist.  Von  den  Schriften  des  Proklus  Diadochus  kümmern  uns 
weder  die  philosophischen  Originalabhandlungen,  noch  die  zahlreichen 
Kommentare  zu  platonischen  Schriften.  Auch  seine  Sphärik,  <sq)atQa^ 
ein  bloßer  Auszug  aus  dem  astronomischen  Werke  des  Geminus,  ist 
für  uns  ohne  jede  Bedeutung.  Wir  haben  es  nur  mit  dem  Kommen- 
tare des  Proklus  zu  den  euklidischen  Elementen  zu  tun,  welcher  uns 
im  Verlaufe  unserer  bisherigen  Untersuchungen  so  vielfach  als  Quelle 


*)  Zeller  1.  c.  700flgg.    Hertzberg  1.  c.  5l6flgg.    J.  G.  van  Pesch,  De 
Prodi  fontibus,    Leiden  1900. 

Cahtob,  Geschichte  der  Mathematik  L  3.  Aufl.  32 


498  24.  Kapitel. 

dienen  mußte,  daß  die  Besprechung  sich  als  notwendig  erweisen 
würde,  selbst  wenn  wir  gar  nichts  mathematisch  Neues  daraus  mit- 
zuteilen hätten. 

Der  Kommentar  des  Proklus  zum  I.  Buche  der  eukli- 
dischen Elemente  ist  mehrfach  herausgegeben^),  und  schon  dem 
Übersetzer  desselben  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVI.  S.  legte  sich  die 
Frage  vor,  ob  Proklus  nur  zum  L  Buche  der  Elemente  einen 
Kommentar  verfaßt  habe,  verfassen  wollte?  Die  letztere  Frage  war 
sofort  zu  verneinen,  da  Proklus  selbst  am  Ende  des  Kommentars  zum 
I.  Buche  einen  solchen  zu  den  gesamten  Elementen  in  Aussicht 
stellt')  und  auch  an  ..sonstigen  Stellen  vödäufig  ankündigt,  was  er 
in  dem  Kommentare  zum  11.,  zum  VI.  Buche  auseinandersetzen  werde. 
Ob  aber  dieser  Plan  in  Erfüllung  ging,  ob  nicht  etwa  Proklus  vor- 
hatte, was  er  nicht  ausführte,  darüber  haben  erst  Entdeckungen 
neuer  Scholien  in  griechischen  Handschriften  Aufschluß  gegeben, 
welche  mit  einer  an  Sicherheit  grenzenden  Wahrscheinlichkeit  dem 
Proklus  zugeschrieben  werden').  Proklus  hat  also  wirklich  zu  allen 
Büchern  der  euklidischen  Elemente,  wenige  ausgenommen, 
einen  Kommentar  verfaßt.  Darüber  freilich  wird  immer  einiger 
Zweifel  übrig  bleiben,  ob  auch  zu  den  späteren  Büchern  ein  so  um- 
fassender Kommentar  des  Proklus  existiert  haben  müsse  wie  zu  dem  L, 
ob  die  geringen  Bruchstücke,  welche  uns  davon  erhalten  sind,  nur 
Splitter  eines  großen  Ganzen,  ob  sie  etwa  die  Hauptsache  des  einst 
Vorhandenen  darstellen.  Wie  man  sich  zu  dieser  Frage  stellt,  hängt 
wesentlich  von  der  Meinung  ab,  welche  man  von  dem  Zwecke  des 
Proklus  sich  bildet.  Wer  da  glaubt*),  Proklus  wollte  nicht  Geo- 
metrie lehren,  sondern  die  geometrische  Genauigkeit  für  die  philo- 
sophische Dialektik  nutzbar  machen,   und  nur  philosophisches  Inter- 


^)  Den  ersten  griechischen  Abdruck  besorgte  Grynaens  in  der  Basler 
Enklidausgabe  von  1688.  Eine  lateinische  Übersetzung  gab  Barocius  1560.. 
Auch  Commandinus  gab  die  Scholien  zum  I.  Buche  und  zu  den  späteren 
lateinisch  in  seiner  Euklidausgabe  von  1572.  Friedleins  Textausgabe  der 
Scholien  zum  I.  Buche  (Leipzig  1873)  ist  jetzt  allgemein  verbreitet.  *)  Proklua 
(ed.  Friedlein)  482,  9  sqq.  ')  Die  Scholien  des  Proklus  zu  späteren  Büchern 
hat  C.  Wachsmuth  entdeckt.  Vgl.  dessen  Aufsatz:  ^^Handschriftliche  Notizen 
über  den  Commentar  des  Proklus  zu  den  Elementen  des  Euklides**  im  Rhein. 
Museum  für  Philologie  (1863).  Neue  Folge  XYIU,  132—135.  Ebenda  (1864) 
XIX,  462  einen  Aufsatz  von  Hultsch.  Programme  von  Knoche,  Herford  1862 
und  1865  und  von  L.  Majer,  Tubingen  1875.  *)  Dieser  Meinung  ist  Enoche 
in  seinen  beiden  Programmen.  Vgl.  Untersuchungen  über  des  Proklus  Dia- 
dochus  Commentar  zu  Euklids  Elementen  1862,  S.  14  und  21.  Untersuchungen 
über  die  neu  aufgefundenen  Scholien  des  Proklus  Diadochus  zu  Euklids  Ele- 
menten 1865,  S.  36  und  45. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  499 

esse  habe  seinem  ganzen  Kommentare  als  Richtschnur  gedient,  der 
kommt  natürlich  zur  Vermutung,  das  yomehmliche  Interesse  des 
Proklus  müsse  erschöpft  gewesen  sein,  als  es  sich  in  dem  erläuterten 
Werke  um  wirklich  geometrische  Sätze  und  nicht  mehr  um  Er- 
klärungen, um  Forderungen,  um  Grundsätze  und  Grundwahrheiten 
handelte.  Wer  dagegen^)  Proklus  als  Mathematiker  anerkennt^  dem 
es  auf  einen  Versuch  der  Verbesserung  des  großen  Meisters  ankam, 
einen  Versuch,  zu  welchem  er  Vorarbeiten  älterer  Exegeten  und  selbst- 
ständiger  Geometer,  eines  Heron,  eines  Geminus,  eines  Ptolemäus, 
eines  Pappus,  eines  Theon  verwerten  konnte,  ohne  darum  die  pietäts- 
Yolle  Bewunderung  dessen  aus  den  Augen  zu  verlieren,  den  er  mit 
dem  ganzen  Altertume  vorzugsweise  den  Elementenschreiber  nennt, 
wer  dieser  Meinung  huldigt,  kann  nicht  anders  als  auch  für  die  auf 
das  I.  Buch  folgenden  Bücher  einen  gleich  vollständigen  Kommentar 
anzunehmen,  muß  den  Verlust  schmerzlich  bedauern,  mit  welchem 
ihm  zugleich  die  reichste  Quelle  für  die  Geschichte  griechischer  Mathe- 
matik verloren  ging.  Nicht  viel  anders  wird  die  Meinung  dessen  sein, 
der  in  dem  Werke  des  Proklus  ein  Stück  des  Vorlesungsheftes  sieht, 
nach  welchem  derselbe  in  engstem  Anschlüsse  an  die  von  ihm  aufs 
höchste  bewunderten  Elemente  des  Euklid  seinen  Schülern  Mathematik 
vortrug*).  Wir  selbst  möchten  in  dieser  persönlichem  Dafürhalten 
weiten  Spielraum  lassenden  Frage  nicht  Partei  ergreifen,  wenn  wir 
auch  mit  der  als  zweite  dargelegten  Meinung  uns  besser  als  mit  der 
ersten  oder  der  letzten  befreunden  können.  Wir  besitzen  aber  neben 
dem  fortlaufenden  Kommentare  des  Proklus  zum  I.  Buche  der  Ele- 
mente nur  kürzere,  teilweise  allerdings  geschichtlich  wertvolle  Scholien 
zu  einzelnen  Sätzen  späterer  Bücher  und  müssen  wohl  oder  Übel  uns 
damit  begnügen. 

Was  von  eigenen  Leistungen  des  Proklus  hervorgehoben  werden 
kann,  ist  teilweise  ziemlich  dürftig^),  teilweise  läßt  sich  nicht  mit 
Bestimmtheit  ermessen,  ob  Proklus  der  Erfinder  oder  nur  der  Be- 
richterstatter ist.  Ersteres  dürfte  höchst  wahrscheinlich  für  ver- 
schiedene Einwürfe  gegen  die  euklidische  aber  auch  gegen  die  ptole- 
mäische  Parallelenlehre  der  Fall  sein*),  so  wie  für  die  Entstehung  der 

')  So  L.  Majer,  Ptoklus  über  die  Fetita  und  Aziomata  hei  Euklid  1875, 
S.  29.  Heiberg,  Euklidstadien  S.  166  Anmerkung  1  spricht  sich  dahin  aus, 
daß  Proklus,  wenn  er  den  Kommentar  fortgesetzt  hat,  die  übrigen 
Bücher  eben  so  ausführlich  wie  das  erste  erläutert  haben  muß.  Über  die  in 
dem  Zwischensätze  als  fraglich  hingestellte  Tatsache  äußert  Heiberg  keinerlei 
bestimmte  Meinung,  neigt  aber  jedenfalls  mehr  der  Ansicht  zu,  Proklus  habe 
den  Kommentar  nicht  fortgesetzt  Vgl.  Heiberg  1.  c.  S.  166—167.  •)  6.  van 
Posch,  Be  Prodi  fontibus.  »)  Knoche,  Programm  von  1862,  8. 16  flgg.  *)  Vgl. 
Majers  Programm. 

82» 


500  24.  Kapitel., 

Ellipse  als  geometrischer  Ort  eines  bestimmten  Punktes  einer  ge- 
gebenen Strecke  von  beständiger  Länge,  welche  alle  Lagen  annimmt^ 
bei  denen  die  beiden  Endpunkte  die  Schenkel  eines  rechten  Winkels 
durchlaufen^). 

Zu  den  Zeitgenossen  des  Proklus  gehörte  Domninos  aus  Larissa, 
ein  Schriftsteller  über  Arithmetik,  der  ohne  wesentlich  Neues  zu 
bringen  sich  guter  älterer  Quellenschriften  bediente^). 

Nach  dem  Tode  des  Proklus  ging  es  auch  mit  der  Universität 
Athen  entschieden  abwärts.  Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe  diesen  Satz 
allgemein  zu  begründen;  aber  eine  bloße  Nennung  der  Namen  derer^ 
die  als  Schulvorstände  auf  Proklus  folgten ,  und  der  mathematischen 
Leistungen,  welche  von  ihnen  berichtet  werden,  genügt,  die  Wahrheit 
desselben  für  unsere  Wissenschaft  festzustellen.  Da  erscheint  zuerst 
Marinus  von  Neapolis,  einer  Stadt,  die  man  sich  wohl  hüten  muß 
mit  Neapel  zu  verwechseln.  Die  Heimat  des  Marinus  war  vielmehr 
Flavia  Neapolis  iil  Palästina,  das  alte  Sichem.  Von  Marinus  ist  uns 
als  Mathematisches  nur  eine  Vorrede  zu  den  euklidischen  Daten  be- 
kannt. Noch  bei  Lebzeiten  des  Marinus  und  auf  dessen  eigenen 
Wunsch  ließ  Isidorus  von  Alexandria  sich  bestimmen  an  seine 
SteUe  zu  treten.  Isidorus  erfreute  sich  allerdings  verhältnismäßig 
großer  Berühmtheit.  Ihm  ward  ein  Beiname  zuteil,  welcher  über- 
haupt nur  zweimal,  und,  soviel '  bekannt  ist,  nur  von  zwei  Schrift- 
stellern einem  griechischen  Philosophen  beigelegt  worden  ist'),  der 
Beiname  des  Großen.  Der  Verfasser  des  Sophisten,  sei  es,  daß  dieser 
Dialog  von  Piaton  oder  von  einem  anderen  herrühre,  spricht  von 
Parmenides  dem  Großen,  und  Damascius,  von  dem  wir  gleich  noch 
zu  reden  haben,  gleichfalls  von  Parmenides  dem  Großen,  aber  auch 
von  Isidorus  dem  Großen.  Den  Grund  oder  Ungrund  dieser  Aus- 
zeichnung zu  prüfen  haben  vrir  nicht  Veranlassung.  Mathematische 
Schriften  des  Isidorus  kennen  wir  nicht,  wenn  auch  dem  Geiste  der 
neuplatonischen  Schule  nach  nicht  zu  zweifeln  ist,  daß  er  gleich  allen 
anderen  Schulhäuptem  solche  von  höherem  oder  vermutlich  von  ge- 
ringerem Werte  verfaßt  haben  wird. 

Neben  der  Athener  Schule  bestand  auch  eine  solche  in  Alexan- 
dria. Zu  ihren  Lehrern  gehörte  Ammonius,  Sohn  des  Hermeias 
und  der  Andesia,  und  unter  seinen  Schülern  befanden  sich  so  hervor- 
ragende Gelehrte  wie  Simplicius,  wie  Johannes  Philoponus.  Ammo- 
nius (natürlich   nicht   mit  Ammonius  Sakkus  zu   verwechseln)    übte 

*)  Proklus  (ed.  Friedlein)  pag.  106  lin.  12—15.  ")  Die  Schrift  des 
Domninos  hat  J.  F.  Boissonade  herausgegeben.  Anecdota  Graeca  lY,  418  bis 
429.  ')  Th.  H.  Martin,  Sur  Vepoque  et  Vauieur  du  prdtendu  XV.  Hvre  des 
elementa  d'Euclide  im  BtUkttino  Boncampagni  1874,  pag.  263—266. 


Die  griecluBche  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  501 

eine  reiche  schriftstellerische  Tätigkeit  aus.  Er  verfaßte  z.  B.  einen 
Kommentar^)  zu  der  Einleitung  des  Porphyrius  zu  Aristoteles  (S.  457). 
In  diesem  ist  der  Satz  ausgesprochen^  die  Zahl  der  Kombinationen  zu 
je  zweien  aus  beliebig  vielen  Elementen  werde  gefunden^  wenn  man 
die  Hälfte  des  Produktes  der  Elementenzahl  in  ihre  um  1  verminderte 
Anzahl  nehme. 

Der  Schüler  und,  wie  wir  schon  sahen,  der  jedenfalls  dankbar 
begeisterte  Schüler  des  Isidorus  war  Damascius  von  Damaskus, 
der  etwa  um  das  Jahr  510  die  Schulvorstandschaft  in  Athen  über- 
nahm, nachdem  Isidorus,  mißmutig  und  verstimmt  darüber  seine  Kräfte 
einer  verlorenen  Sache  zu  widmen,  sich  nach  Alexandria  zurück- 
gezogen hatte.  Damascius  soll,  nach  einer  scharfsinnigen  Vermutung, 
der  Verfasser  des  sogenannten  XV.  Buches  der  euklidischen  Elemente 
sein,  welches  man  sonst  auch  als  II.  Buch  des  Hypsikles  über  die 
regelmäßigen  Körper  zu  bezeichnen  pflegte.  Wir  haben  (S.  358) 
dieses  Buch  mit  dem  I.  Buche  des  Hypsikles  verglichen  und  sind  zu 
dem  Ergebnisse  gekommen,  das  U.  Buch  sei  viel  unbedeutender  als 
das  I.,  mit  welchem  es  nicht  zusammenhänge.  Im  7.  Satze  dieses 
Buches  spricht  nun  der  Verfasser  von  seinem  großen  Lehrer  Isi- 
dorus^ und  dieser  Ausdruck  gab  eben  die  Veranlassung,  die  ihrer 
Sprache  nach  unbedingt  ziemlich  spät  verfaßte  Abhandlung  dem 
Damascius  zuzuschreiben.  Ein  scharfer  Beweis  dürfte  allerdings  in 
dem  einen  Worte  nicht  zu  finden  sein,  und  ^be  es,  wie  es  den  An- 
schein hat,  Scholien  zu  diesem  sogenannten  XV.  Buche  des  Euklid, 
die  den  gleichen  Ursprung  mit  den  sonstigen  Scholien  zu  Euklid  ver- 
raten, die  also  auch  von  Proklus  herrühren  müßten,  so  wäre  umge- 
kehrt der  Gegenbeweis  gegen  das  Verfasserrecht  des  Damascius  ge- 
liefert, und  die  Abhandlung  müßte  von  dem  Schüler  irgend  eines 
anderen  Isidorus  herrühren,  welcher  zwischen  dem  IV.  und  VI.  S., 
weder  viel  früher  noch  keinenfalls  später,  gelebt  haben  möchte.  Der 
Name  Isidorus  ist  ohnedies  nichts  weniger  als  selten,  und  aus  dem 
VI.  S.  selbst  ist  ein  Baumeister  Isidorus  von  Milet  berühmt,  der 
in  Gemeinschaft  mit  Anthemius  von  Tralles  im  Auftrage  des 
Kaisers  Justinian  den  Prachtbau  der  Sophienkirche  in  Konstantinopel 
herstellte.  Isidor  von  Milet  wird  von  dem  Verfasser*)  der  neuesten 
Untersuchungen  über  das  sogenannte  XV.  Buch  des  Euklid  für  den 
im  7.  Satze  desselben  genannten  Lehrer  gehalten.  Das  Buch  selbst 
will  er  mit  schwerwiegenden,  aus  der  Verschiedenheit  der  Sprache 

^)  Diesen  Kommentar  hat  A.  Busse  herausgegeben.  Comment.  in  Aristot. 
Gr.  IV,  1.  Berlin  1861  und  IV,  3.  Berlin  1891.  »)  'lalSrngog  6  iiiUtBQog  lUyag 
MdenaXog,  *)  G.  Kluge,  De  Euclidis  elementarum  libris  qui  fenmtwr  XIV 
et  XV.    Leipzig  1891. 


502  24.  Kapitel. 

und  des  Inhalts  hergenommenen  Gründen  in  drei  Abteilungen  (Satz 
1 — 5,  Satz  6,  Satz  7)  von  ebenso  vielen  Verfassern  gespaltet  wissen. 

Von  Anthemius  von  Tralles  ist  ein  Bruchstück  erhalten*),  welches 
sich  mit  der  Herstellung  von  Brennspiegeln  beschäftigt,  sowohl  mit 
solchen,  die  aus  einem  Systeme  ebener  Spiegel  zusammengesetzt  sind, 
als  mit  parabolisch  gekrümmten.  Ein  weiteres  Fragment  dieser 
Schrift  des  Anthemius  dürfte  1881  entdeckt  worden  sein*).  Ihm 
entstammt  die  Angabe  (S.  344),  daß  ApoUonius  bereits  über  Brenn- 
spiegel geschrieben  habe. 

Schüler  des  Isidorus  von  Milet  war  Eutokius  von  Askalon, 
der  mithin  etwa  in  der  zweiten  Hälfte  des  VI.  S.  die  Kommentare 
zu  verschiedenen  Schriften  des  Archimed  und  zu  den  Kegelschnitten 
des  Apollonius  verfaßte,  eine  Fundgrube  für  den  Geschichtsforscher, 
aus  der  wir  gleich  unseren  Vorgängern  zahlreiche  Aufschlüsse  ge- 
wonnen haben,  aber  mathematisch  unbedeutend.  Wir  haben  ins- 
besondere (S.  318)  von  einer  Stelle  über  die  Methoden  der  Quadrat- 
wurzelausziehung bei  den  ältesten  Mathematikern  Gebrauch  gemacht. 
Ihr  hätten  wir  auch  den  Satz  entnehmen  können,  daß  das  Quadrat 
einer  ganzen  Zahl  selbst  ganzzahlig,  das  Quadrat  eines  Bruches  selbst 
ein  Bruch  sei,  woraus  die  Irrationalität  der  Quadratwurzel  aus  jeder 
ganzen  Zahl  folgt,  die  nicht  Quadratzahl  ist^). 

Wir  kehren  zu  Damascius  von  Damaskus  zurück.  In  ihm  war*) 
„noch  einmal  ein  Mann  des  schroffsten  antiken  Heidentuuis'^  an  die 
Spitze  der  Schule  getreten.  Die  Rückwirkung  blieb  nicht  aus.  Ge- 
sinnungsgenossen eilten  noch  einmal  herbei,  unter  ihnen  Simplicius, 
der  Erklärer  aristotelischer  Schriften  sowie  der  euklidischen  Elemente 
(S.  409),  der  neben  Damascius  lehrte  und  ein  keineswegs  gering  zu 
schätzender  Mathematiker  war,  wie  insbesondere  aus  seinem  mit  wert- 
vollen eigenen  Bemerkungen  durchsetzten  Berichte  über  frühe 
Quadraturversuche  (S.  202)  hervorgeht.  Aber  auch  die  Feindschaft  des 
gekrönten  Theologen,   der  als  Kaiser  Justiuian  527   den  Thron  be- 


*)  Abgedruckt  in  den  von  Westeimann  herausgegebenen  naQaioi6yQa(fiOi 
(Scriptores  rerum  mirdbüium  Graeci),  Braunscbweig  1889,  pag.  149 — 168.  Em 
älterer  Abdruck  mit  Erläuterungen  und  französischer  Übersetzung  von  Dupuy 
in  HisUnre  de  VAcadimie  des  InscripHons  et  des  Beües-lettres  T.  42  pag.  892  bis 
461  der  Mimoirea  und  pag.  72—76  der  Histoire.  Paris  1786.  *)  Chr.  Beiger 
in  der  Zeitschrift  Hermes  Bd.  XVI,  S.  261—284.  M.  Cantor  und  C.  Wachs- 
muth  ebenda  S.  637—642.  Heiberg  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXVHI. 
Histor.-literar.  Abtlg.  S.  121—129.  »)  Archimed  (ed.  Heiberg)  HI,  268  lin. 
22—26.  Vgl.  Hultsch  in  den  Nachrichten  von  der  königl.  Gesellschaft  der 
Wissensch.  und  der  Georg-Augusts-Üniversität  zu  Göttingen  vom  28.  Juni  1893. 
S.  370  Note  1.  *)  Hertzberg,  Die  Geschichte  Griechenlands  unter  der  Herr- 
schaft der  Römer  UI,  636—646  über  die  letzte  Zeit  der  Universität  Athen. 


Die  griecliisclie  Mathematik  in  ihier  Entartung.  503 

stiegen  hatte^  war  mit  den  Lehrern  der  Schule  erworben.  Schärfere 
nnd  schärfere  Verordnungen  gegen  die  Bekenner  jeder  Gattung  von 
Irrlehren  folgten  einander.  Im  Jahre  529  erging  endlich  ein  all- 
gemeines Verbot  dagegen^  daß  in  Athen  noch  irgend  jemand  Philo- 
sophie lehrte.  Noch  einige  Jahre  fristeten  die  letzten  Lehrer  der 
geschlossenen  Hochschule  auf  dem  Boden  von  Hellas  ein  kümmer- 
liches Dasein^  dann  vollzogen  sie  eine  freiwillige  Selbstverbannung 
nach  dem  Hofe  des  Perserkönigs  Chosrau  Anöscharwän. 

Der  Ruhm  des  ,^gerechten^^  Sassaniden  hatte  freilich  die  Wahr- 
heit übertroffen.  Damascius  und  seine  Freunde  fanden  eine  weit  ge- 
ringere Bildung  der  Hof  kreise^  gröbere  Unsitte  des  Volkes  als  sie 
Termutet  hatten,  und  als  Chosrau  533  mit  Justinian  einen  Frieden 
abschloß^  der  vorangegangenem  dreißigjährigem  Kriege  ein  Ziel  setzte, 
und  in  den  Vertrag  die  ungehinderte  Bückkehr  der  athenischen  Ge- 
lehrten mit  aufnahm^  war  niemand  froher  als  diese  die  Heimat  wieder 
zu  sehen. 

Die  athenische  Schule  aber  war  und  blieb  dahin.  Da  und  dort 
tauchen  noch  Schüler  derselben  auf^  welche  selbst  neue  Schüler 
bilden,  Philosophen  und  Mathematiker,  in  letzterer  Beziehung  von 
herzlich  geringer  Bedeutung.  Dahin  gehört  vielleicht  der  von  Eutokius 
erwähnte  Heronas,  welcher  einen  Kommentar  zum  Nikomachus  ge- 
schrieben haben  soll  (S.  368);  dahin  mit  Kommentaren  zu  eben  dem- 
selben Schriftsteller  die  beiden  alexandrinischen  Gelehrten  Asklepius 
von  Tralles  und  dessen  als  Gh*ammatiker  vorzugsweise  berühmter 
Schüler  Johannes  Philoponus,  der,  wie  wir  wissen  (S.  500),  neben 
Simplicius  auch  zu  den  Füßen  des  Ammonius  von  Alexandria  ge- 
sessen hatte.  Der  Kommentar  des  ersteren  ist  nur  handschriftlich, 
der  des  zweiten  auch  im  Drucke  vorhanden  ^\  entMlt  aber  kaum  irgend 
bemerkenswerte  Stellen. 

Johannes  Philoponus  ist  vielfach  durch  die  von  Abulpharagius 
berichtete  Geschichte  bekannt,  er  sei  es  gewesen,  der  640  bei  der 
Einnahme  Alexandrias  durch  die  Araber  für  den  Bestand  der  dortigen 
Bibliothek  sich  verwandt  habe.  'Omar  aber  habe  deren  Vernichtung 
befoI\^en,  denn  „entweder  enthalten  die  Bücher  das,  was  im  Koran 
steht,  dann  brauchen  wir  sie  nicht  zu  lesen,  oder  sie  enthalten  das 
Gegenteil  dessen,  was  im  Koran  steht,  dann  dürfen  wir  sie  nicht 
lesen'^,  und  nun  sei  während  sechs  Monaten  die  Feuerung  der  Bäder 
Alexandrias  mit  den  Bücherrollen  der  Bibliothek  vollzogen  worden. 
Die  zweimalige  Zerstörung  der  Bibliotheken  im  Brucheion  und  im 


^)  Joannes  Philoponus  in  Nicomachi  introducHonem  arühm.  (ed.  B.  Ho  che) 
Heft  1.    Leipzig  1864.    Heft  2.    Berlin  1867. 


604  24.  Kapitel. 

Serapistempel  hat  aber  gewiß  nicht  eine  dritte  großartige  Bibliothek 
in  Alexandria  entstehen  lassen ,  am  wenigsten  eine  so  umfangreichoy 
wie  Abnlpharagins  in  der  von  ihm  behaupteten  Verwendung  der 
Bücher  bezeugt,  und  so  wird  der  ganze  Bericht  dieses  auch  unter 
dem  Namen  Barhebräus  bekannten  den  Arabern  keineswegs  günstig 
gesinnten  syrischen  Christen  des  XIII.  S.  einigermaßen  yerdachtig, 
wenn  auch  andererseits  nicht  verkannt  werden  soll,  daß  Antwort 
und  Handlungsweise  mit  dem  Charakter  des  zweiten  Nachfolgers 
Mohammeds  wohl  vertraglich  sind,  der  in  der  Tat  nach  Unterwerfung 
der  Hauptstadt  der  Sassaniden  die  dort  vorhandenen  Bücher  in  den 
Tigris  werfen  ließ  und  auch  sonst  sich  bildungsfeindlich  erwies^).  Die 
Erwähnung  des  Johann  Philoponus  gleichzeitig  mit  'Omar  ist  aber 
jedenfalls  irrig,  indem  jener  im  Jahre  517  einen  Kommentar  zur 
Physik  des  Aristoteles  verfaßte,  mithin  keinenfalls  640  noch  am 
Leben  gewesen  sein  kann. 

Hier  ist  wohl  die  passendste  Stelle,  von  dem  Rechenbuche 
von  Ach  mim  (S.  59)  zu  reden,  einem  in  Achmim,  in  einem  kop- 
tischen Grabe,  aufgefundenen  griechischen  Papyrus,  welcher  nach  der 
Meinung  des  Herausgebers^)  innerhalb  der  Zeit  zwischen  dem  VL 
und  IX.  Jahrhunderte  von  einem  Christen  geschrieben  wurde.  Die 
Angabe  läßt  möglicherweise  die  Ergänzung  zu,  der  Schreiber  be- 
ziehungsweise Verfasser  sei  ein  griechisch  schreibender  Römer  ge- 
wesen. Jedenfalls  war  er  in  altagyptischer  Rechenkunst  erfahren  und 
zerlegte  Brüche  in  Summen  von  Stammbrüchen,  wie  Ahmes  es  dritt- 
halbtausend  Jahre  früher  getan  hatte.  Der  wesentliche  und  nicht 
hoch  genug  zu  schätzende  Unterschied  besteht  darin,  daß  der  Ver- 
fasser des  Rechenbuches  zu  Achmim  die  Vorschriften  angibt,  nach 
welchen  jene  Zerlegungen  vorgenommen  wurden.  Darunter  ist  die 
Methode  der  durch  Summenteile  multiplizierten  Faktoren 
des   Nenners    besonders   bemerkenswert.     Als   Formel    geschrieben 

heißt  sie  —  = ,  — | j —  und  geht  bei  £f  =  2  in  die  Formel 


^-   -.         P'     z 


2 


des  Ahmes  —  — ^  -\ V-  über  (S.  67).     Bei  der  oft  auf- 

^2  ^2 

tretenden    Möglichkeit    verschiedenai*tiger  Zerlegung    ließ   man   sich, 
wie  der  Herausgeber  des  Papyrus  erkannt  hat,   von   dem  Gesichts- 


')  Schöll-Pinder,  Griechische  Literaturgeschichte  m,  8.  *)  J.  Baillet 
in  den  M^moires  publies  par  les  Membres  de  Ja  misaion  ardteologique  fran^aise 
au  Caire  T.  EX,  Fascicnle  1,  pag.  1—88  und  8  Tafehi.  Paris  1892.  Vgl  auch 
Zeitechr.  Math.  Phys.  XXXVm.  ffistor.-literar.  A.btlg.  S.  81-87  und  Tannery 
in  der  Bevue  des  J^tudes  Grecques. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartang.  505 

punkte  leiten,  Stammbrüche  mit  solchen  Nennern  zu  wählen,  die 
nicht  durch  gar  zu  große  Unterschiede  voneinander  abwichen.     Von 

289 

den  verschiedenen  möglichen  Zerlegungen  von   -.-     zog   man   z.  B. 

289  111 

gjg^  "^  85  "*"  96  "^  68  *^^^  anderen  vor,  weil  68,  85,  95  ziemlich  nahe 
beieinander  liegen.  Die  eigentlichen  Rechenaufgaben,  bei  deren  Auf- 
lösung die  Stammbrüche  in  Anwendung  treten,  gehören  meistens  der 
Regeldetri  an,  welche  uns  hier  erstmalig  bei  einem  in  griechischer 
Sprache  schreibenden  Verfasser  begegnet.  Bruchteile  sind  häufig  auf 
den  Nenner  6000  zurückgeführt,  was  unzweifelhaft  von  der  Münzein- 
teilung herrührt,  welche  ein  Goldstück  {v6iii6(ia)  6000  Kupfermünzen 
{Ismo)  gleichsetzte^).  Dieselbe  Zurückführung  auf  Sechstausendstel 
hat  auch  bei  einem  spätestens  dem  X.  Jahrhunderte  angehörenden 
byzantinischen  Scholiasten  nachgewiesen  werden  können«  und  neben 
ihr  eine  gleichfalls  auf  Münzeinteilung  sich  gründende  Benutzung  von 
Brüchen  mit  dem  Nenner  288;  der  Goldsolidus  zerfiel  nämlich  in 
288  Billonmünzen  mit  dem  Namev  tpöXki^g^, 

Nach  Eonstantinopel,  wie  seit  330  das  alte  Byzanz  hieß, 
noch  bevor  es  die  Hauptstadt  des  besonderen  Reiches  wurde,  welches 
man  nach  dem  älteren  Namen  des  Kaisersitzes  das  byzantinische  zu 
nennen  pflegt,  hatte  Justinian  ganz  besonders  Rechtsgelehrte,  der 
Zahl  wie  der  Bedeutung  nach  überwiegend,  berufen,  aus  deren  Ver- 
einigung eine  Rechtsschule  als  Mittelpunkt  einer  dort  ansässigen  Ge- 
lehrsamkeit entstand.  Auch  Mathematiker  werden  uns  hier  begegnen, 
welche  aber  nur  den  Eindruck  zu  verstärken  geeignet  sind,  den  wir 
schon  erhalten  haben,  daß  es  in  immer  rascheren  Sprüngen  bergab 
ging  mit  der  einstmals  so  hoch  emporgedrungenen  griechischen 
Wissenschaft,  daß  dann  später  für  die  Mathematik  wie  für  benach- 
barte Kenntnisreihen  eine  Pause  im  Niedergange  wieder  eintrat,  daß 
aber  auch  für  jene  späte  Zeit  —  es  handelt  sich  um  das  XIV.  S.  — 
den  Byzantinern  nicht  mehr  nachgerühmt  werden  kann,  als  ein  neuerer 
Verteidiger  ihrer  Bildung  für  sie  in  Anspruch  nimmt'),  nämlich  eine 
erhaltende  Tätigkeit  ausgeübt  zu  haben.  Man  möchte,  insbesondere 
für  die  Zeit  vom  IX.  bis  zum  XI.  S.,  meinen,  es  seien  die  geistig 
bedeutenderen  Leute  gewesen,  die  in  der  Fremde  ihre  Kenntnis  der 
griechischen  Sprache  und  anderer  Idiome  dazu  benutzten,  Über- 
setzungen der  großen  griechischen  Matheinatiker  anzufertigen,  die 
man  zu  Hause  nicht  mehr  studierte,  jedenfalls  in  meist  uniruchtbarer 
Weise  studierte. 


*)  HultBch,  Metrologie  S.  888  (Berlin  1882).  *)  Ebenda  S.  346.  »)  Deme- 
trins  Bik^las,  Die  Griechen  des  Mittelalters  und  ihr  Einflnss  auf  die  enro- 
ptlische  Cultnr  (deutsch  von  W.  Wagner),  Gütersloh  1878. 


506  24.  Kapitel. 

Wir  verweilen  einen  Augenblick  bei  einer  geodätischen  Abhand- 
lung, welche,  seit  sie  1572  in  lateinischer  Übersetzung  des  Barocius 
bekannt  wurde,  für  das  Werk  eines  Heron  des  Jüngeren  galt,  den 
man  wohl  in  das  YII.  auch  in  das  VÜI.  S.  zu  setzen  liebte.  Gegen- 
wärtig ist  der  griechische  Text  nebst  einer  französischen  Übersetzung 
leicht  zugänglich^),  und  über  Ort  und  Zeit  der  Entstehung  ist  kaum 
ein  Zweifel  geblieben*).  Die  Örtlichkeit,  auf  welche  die  in  der  Ab- 
handlung vorgenommenen  Messungen  sich  beziehen,  ist  als  die  Renn- 
bahn von  Eonstantinopel  erkannt  worden,  jene  berühmte  Rennbahn, 
welche  so  oftmals  zu  großen  politischen  Versammlungen  diente,  von 
wo  aus  meuterische  Yolkshaufen  sich  in  die  Straßen  der  Hauptstadt 
ergossen,  Umwälzungen  einleitend  und  vollendend.  Vorkommende 
Beobachtungen  von  Stemdistanzen  haben  femer  zur  Zeitbestimmung 
führen  könnten  und  haben  ergeben,  daß  jene  Geodäsie  in  Eonstan- 
tinopel ziemlich  genau  im  Jahre  938  gescbrieben  worden  sein  muß. 
Wie  aber  der  Verfasser  hieß,  ob  Heron,  wie  man  sonst  zu  sagen 
pflegte,  ob  anders,  darüber  ist  nicht  das  Geringste  bekannt,  und  viel- 
leicht befreundet  man  sich  am  ersten  dai&it,  ihn  mit  uns  als  den 
ungenannten  Feldmesser  von  Byzanz  zu  bezeichnen.  Wir  haben 
seiner  Abhandlung  (S.  164)  ganz  im  Vorübergehen  gedenken  dürfen, 
als  in  welcher  ein  sehr  spätes  Zeugnis  für  den  Beweis  der  Winkel- 
summe des  Dreiecks  von  der  Winkelsumme  des  Vierecks  aus  vorlag. 
Wir  möchten  jetzt  an  eben  diesen  Beweis  in  dem  Sinne  erinnern,  als 
er  für  das  Musterwerk  des  ungenannten  Verfassers  zur  Vermutung 
führt,  dasselbe  habe  die  Betrachtung  des  Vierecks  überhaupt  der  des 
Dreiecks  vorangehen  lassen.  Welches  Musterwerk  aber  ihm  diente, 
ist  auf  den  ersten  Anblick  klar:  kein  anderes  als  das  feldmesserische 
Werk  des  Heron  von  Alexandria,  der  übrigens  selbst  genannt  ist'), 
und  dessen  Abhandlung  über  die  Dioptra  insbesondere  man  in  der 
Nachbildung  nicht  verkennen  kann.  Damit  ist  zugleich  gesagt,  daß 
die  Schrift  des  Ungenannten  nicht  schlecht  ist.  Wer  so  wenig  wie 
er  von  einem  trefflichen  Muster  sich  entfernte,  konnte  Unbrauchbares 
nicht  liefern. 

Das  gelang  viel  besser  einem  Michael  Psellus.  Dessen  letzte 
Schrift  ist  von  1092  datiert,  er  lebte  also  bis  zum  Ende  des  XI.  S. 
Er  hatte  den  Beinamen  Erster  der  Philosophen,  ein  Beiname,  der 
ihn  nicht  zu   schmücken  vermag,  sondern  nur  den  Zeitgenossen  zur 

*)  Giodesie  de  Heron  de  Byzanct  ed.  Vincent.  Notices  et  ext/raiU  des 
manuscrits  de  la  bibliotf^que  imperiale.  Paris  1868.  T.  XIX,  2.  partie.  *)  Die 
abBohließenden  Untersiichungen  von  Th.  H.  Martin  in  seiner  häufig  angefahrten 
Abhandlung:  Bedierches  sur  la  vie  et  les  ouvragea  d' Heron  d* Alexandrie.  •)  Geo- 
däsie de  Heron  de  Byzance  (ed.  Vincent)  pag.  868. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  507 

Unehre  gereicht.  Eine  auf  des  Psellus  Namen  im  XVI.  S.  gedruckte 
Schrift  aber  die  vier  mathematischen  Disziplinen  rührt  keinen- 
falls  im  ganzen  von  ihm  her,  da  die  Astronomie  sich  selbst  vom 
Jahre  1008  datiert^  in  welchem  Psellus,  wenn  geboren,  jedenfalls  im 
zartesten  Kindesalter  stand  ^).  Ob  die  auch  einzeln  herausgegebene 
Arithmetik*)  wirklich  von  Psellus  herstammt,  bedürfte  noch  be- 
sonderer Untersuchung,  aber  man  kann  nicht  behaupten,  daß  diese 
Mühe  sich  lohnte.  Die  Einheit  ist  keine  Zahl,  sondern  Wurzel  und 
Quelle  der  Zahlen.  Einmal  eine  Zahl  ist  von  der  Zahl  nicht  ver- 
schieden, wohl  aber  zweimal  und  dreimal  die  ZahL  Zwei  mal  zwei 
ist  mit  zwei  und  zwei  gleichwertig,  was  bei  anderen  Zahlen  nicht 
vorkommt.  Die  Zahlen  sind  bald  gerad,  bald  ungerad,  bald  zusammen- 
gesetzt, bald  einfach.  *  Die  Primzahlen  können  mittels  einer  Sieb- 
methode erkannt  werden.  Es  gibt  vollkommene,  mangelhafte  und 
überschießende  Zahlen.  Zwischen  den  Zahlen  gibt  es  Verhältnisse. 
Zehn  Analogien  sind  zu  unterscheiden.  Es  gibt  vieleckige  Zahlen 
und  körperliche  Zahlen.  Das  ist  die  ganze  arithmetische  Weisheit 
des  Psellus  oder  wer  der  Verfasser  gewesen  sein  mag.  Er  wird  sie 
aus  irgend  einem  NeupythagoriLer  oder  Neuplatoniker  geschöpft  haben. 
Vermehrt  hat  er  sie  keinesfalls,  auch  nicht  um  den  Schatten  eines 
eigenen  Gedankens. 

In  der  geometrischen  Abteilung,  wenn  diese  echt  sein  sollte,  sagt 
uns  Psellus'*),  es  gebe  unterschiedene  Meinungen,  wie  des  Kreises  In- 
halt zu  finden  sei.  Am  meisten  Beifall  habe  die  Gleichsetzung  des 
Kreises  mit  dem  geometrischen  Mittel  zwischen  dem  eingeschriebenen 
und  dem  umschriebenen  Quadrate,  d.  h.  zwischen  2r*  und  4r*,  ge- 
funden. Hier  ist  also  n  =  ]/8  =  2,8284271  . . .  gesetzt,  und  der  Bei- 
fall des  Zustimmenden  kennzeichnet  seine  Unwissenheit.  Hätte  er 
wenigstens  von  dem  arithmetischen  Mittel  jener  beiden  Quadrate  ge- 
sprochen, so  wäre  darin  eine  Erinnerung  an  das  uralte  ?r  »  3  ent- 
halten! 

Von  großer  geschichtlicher  Bedeutung,  welche  allerdings  erst 
in  unserem  II.  Bande  im  57.  Kapitel  hervortreten  wird,  ist  ein  Bruch- 
stück des  Psellus*),  worin  den  Namen,  deren  sich  Diophant  (S.  470) 
für  die  aufeinander  folgenden  Potenzen  der  Gleichungsunbekannten 
bediente,  andere  gegenüber  gestellt  sind.  In  dieser  zweiten  Reihe 
von  Ausdrücken  heißt  die  5.  und  die  7.  Potenz  der  unbekannten 
Größe  akoyoQ  itQcbrog  und  äXoyog  deiirsgog,  irrational  weil,   wie  aus- 

/)  Tannery  in  Zeitachr.  Math.  Phys.  XXXVII,  ffistor.-literar.  Abtlg.  S.  41. 
")  WiXXov  x&v  «€pi  &Qi»^rtti%i^9  c^vn^ii-  Paris  1538,  4^  lag  uns  vor.  *)  Kästner, 
Geschichte  der  Mathematik  I,  281—282.  *)  P.  Tannery,  Psellus  sur  Diophant^ 
in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVH.  Histor.-literar.  Abtlg.  S.  41—46. 


508  24.  Kapitel. 

drücklich  hinzugesetzt  ist,  eine  solche  Potenz  weder  Quadrat  noch 
Kubus  ist. 

Es  trat  eine  geistige  Versumpfung  ein,  die  als  natürliche  Be- 
gleiterin der  steten  Palastrevolutionen  zu  betrachten  ist,  von  welchen 
die  Geschichte  des  byzantinischen  Reiches  wimmelt.  Auch  die  Kreuz- 
Züge,  um  1100  beginnend,  brachten  diesen  inneren  Unruhen  keinen 
Stillstand,  brachten  ebensowenig  neue  Bildungselemente,  und  als  1204 
die  Unordnung  aufs  höchste  gestiegen  war,  rückte  das  lateinische 
Kreuzheer,  Franzosen  und  Venetianer,  vor  Konstantinopel,  eroberte 
am  12.  April  die  Stadt  und  hauste  fdrchterlich,  mit  Raub  und  Brand 
ganze  Viertel  zerstörend.  Es  entstand  unter  Teilung  des  Reiches  in 
Konstautinopel  ein  lateinisches  Kaisertum,  welches  bis  1261  dauerte. 
Dann  kehrte  ein  eingeborener  Fürst  Michael  Palaeologos,  mit  genue- 
sischer Hilfe  zurück,  bemächtigte  sich  der  Herrschaft,  und  unter  den 
Palaeo  logen  kam  im  ersten  Viertel  des  XIV.  S.  für  unsere  Wissen- 
schaft eine  neue  Anregung  zustande^). 

Georgios  Pachymeres  (1242  bis  um  1310)  verfaßte  ein  Werk 
über  das  Quadrivium,  dessen  zweites  Buch  (Musik)  und  Bruchstücke 
des  vierten  Buches  (Astronomie)  veröffentlicht  sind*). 

Nikephoros  Gregoras  (1295  bis  kurz  nach  1359)  besaß  das 
Vertrauen  des  Kaisers  Andronikos  II.  Palaeologos  (1282 — 1328),  dem 
er  eine  Kalenderreform  vorschlug,  die  der  Kaiser  jedoch  wegen  der 
Schwierigkeit,  die  anderen  Völker  zur  Annahme  zu  bewegen,  ablehnen 
zu  müssen  glaubte. 

Im  Jahre  1322  wurde  von  unbekanntem  Übersetzer  eine  grie- 
chische Bearbeitung  eines  persischen  astronomischen  Werkes  angefertigt, 
als  dessen  Verfasser  Zafiil;  (lütovxaQrjg  genannt  ist,  eine  Verketzerung, 
in  welcher  «man  Schamsaldin  von  Bukhara  wiedererkannt  hat, 
wahrscheinlich  denselben  Astronomen,  der  unter  dem  Namen 
Schamsaldin  von  Samarkand  vermutlich  im  Jahre  1276  ein 
Büchlein  über  die  Fixsterne  in  persischer  Sprache  geschrieben  hat, 
und  der  seinen  Aufenthalt  wechselnd  in  Samarkand  und  Bukhara 
gehabt  haben  mag. 

Nun  folgten  sich  ziemlich  rasch  weitere  byzantinische  Bearbei- 
tungen persischer  Schriften,  mittelbare  Abflüsse  des  im  griechischen 
Texte   nahezu    vergessenen  Almagestes,    welcher  selbst    die    vorzüg- 


*)  Vgl.  üsener,  Äd  historiam  astranomiae  symhoJa,  Bonner  üniverBitÄts- 
programm  zur  Geburtstagsfeier  Kaiser  Wilhelm  I.  am  22.  MSxz  1876.  Krum- 
b ach  er,  Geschichte  der  Byzantinischen  Litteraturgeschichte  (2.  Aufl.,  München 
1897)  S.  289,  294.  •)  Vincent  in  den  Notices  et  extraits  XVI«  (Paris  1847). 
Martin,  Theonis  Stnymaei  Über  de  astronomia  (Paris  1849). 


Die  griechiBche  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  509 

liebste  Quelle  persischer  Gelehrsamkeit  bildet.  Chioniades  tob 
Konstantinopel,  welcher  jedenfalls  vor  1346  lebte,  Georg  Chry- 
sococces  im  Jahre  1346  selbst,  Theodorus  Meliteniota,  wie  es 
scheint  unter  der  Regierung  des  Kaisers  Johannes  Palaeologos  1361 
lebend,  der  Mönch  Isaak  Argyrus  vor  1368,  das  sind  die  Haupt- 
vertreter persisch-griechischer  Astronomie.  Der  letztgenannte  schrieb^) 
auch  eine  handschriftlich  gebliebene  Geodäsie  und  Scholien  zu  den 
ersten  sechs  Büchern  der  euklidischen  Elemente.  Und  nun  tritt  in 
der  zweiten  Hälfte  des  XIY.  S.  ein  neuer  Umschlag  ein.  Mit  Niko- 
laus Cabasilas  begiimt  ein  Geschlecht  von  Gelehrten,  welche  auf 
Ptolemäns  selbst  zurückgreifen  und  so  die  Wiedergeburt  klassischer 
Wissenschaft  in  Europa  vorbereiten.  Während  auf  astronomischem 
Gebiete  die  hier  kurz  geschilderte  Bewegung  sich  vollzog,  war  es 
kaum  möglich,  daß  die  Mathematik  unberührt  geblieben  wäre,  und 
wirklich  haben  wir  Isaak  Argyrus  als  mathematischen  Schriftsteller 
nennen  müssen.  Neben  ihm  treten  im  XIY.  S.  noch  andere  auf,  zu 
welchen  wir  uns  jetzt  wenden.  Der  Hauptsache  nach  ist  ihre  Tätig- 
keit fi'eilich  als  bloße  Kompilation  aufzufassen.  Höchstens  Einer 
könnte  eine  Ausnahme  bilden,  für  welchen  die  Urquelle  seines  Wissens 
wenigstens  nicht  nachzuweisen  ist.  Ein  Vorzug,  der  ümen  insgesamt 
zukommt,  besteht  darin,  daß  sie  nicht  mit  breitgetretenen  Stoffen 
sich  abmühen,  wie  es  die  früheren  Byzantiner  taten,  sondern  solche 
Gegenstände  wählten,  die  hier  in  griechischer  Sprache  zum  ersten 
Male  erscheinen. 

Barlaam"),  ein  in  Calabrien  geborener  Mönch,  der  längere  Zeit 
als  Abt  in  Konstantinopel  lebte,  dann  als  Bischof  von  Geraci  im 
neapolitanischen  Gebiete  nach  Italien  zurückkehrte  und  dort  1348 
starb,  ist  hauptsächlich  durch  die  wechselvolle  Stellung  bekannt,  welche 
er  in  dem  Streite  zwischen  der  abendländischen  und  der  morgen- 
ländischen Kirche  einnahm.  Von  mathematischen  Schriften  verfaßte 
er  in  griechischer  Sprache  arithmetische  Erläuterungen  zum  zweiten 
Buche  des  Euklid,  welche  mit  lateinischer  Übersetzung  1564  in  Straß- 
burg gedruckt  sind,  und  6  Bücher  Logistik,  denen  zweimal,  1592  in 
Straßburg  und  1600  in  Paris,  die  Ehre  des  Druckes  widerfuhr.  In 
dieser    Schrift    wurde    in    mühseliger   Weise     die    Rechenkunst   an 


')  Nach  Montucla,  Histoire  des  mathimatiquea  l,  845.  ')  Montucla, 
Histoire  des  mathematiques  I,  844  und  v.  Jan  in  Wisowas  Enzyklopädie  8. 
V.  Barlaam.  Nach  Wolfs  Mathematischem  Lezicon  (Auflage  1716  S.  177,  Auf- 
lage 1784  S.  1141)  hat  Jo.  (?)  Chambers  auf  Anraten  des  Savilius  Barlaams 
Logistik  ins  Lateinische  übersetzt  und  1609  mit  Anmerkungen  herausgegeben. 
Unsere  Bemerkung  über  den  Inhalt  der  Logistik  stammt  aus  Montucla.  Uns  ist 
das  Werk  noch  nie  zu  Augen  gekommen. 


510  24.  Kapitel. 

ganzen  Zahlen,  an  gewöhnliclien  Brüchen  nnd  an  Sexagesimalhrüchen 
gelehrt. 

Johannes  Pediasimus,  auch  Galenns,  yaXrjvög  =  der  Heitere, 
genannt,  war  Siegelbewahrer  des  Patriarchen  von  Eonstantinopel  wah- 
rend der  Begierungszeit  von  Andronikos  III.  Palaeologos  1328 — 1341. 
Von  ihm  sollen  handschriftlich,  außer  literär-kritischen  Schriften, 
Bemerkungen  zu  einigen  dunkeln  Stellen  der  Arithmetik  und  eine 
Abhandlung  über  Würfelverdoppelung  vorhanden  sein.  Seine  Geo- 
metrie ist  im  Druck  erschienen^).  Man  kann  das  Urteil  über  die- 
selbe kurz  dahin  fassen,  daß  Pediasimus  sich  ganz  ähnlich  wie  jener 
unbekannte  Byzantiner  des  X.  S.  eng  an  Heron  von  Alexandria  an- 
schließt. Nur  daß  jener,  wie  wir  gesagt  haben,  die  praktisch-feld- 
messerische Abhandlung  über  die  Dioptra  als  Vorbild  benutzte, 
während  Pediasimus  sich  an  die  rechnende  Geometrie  des  Heron  hält, 
wie  sie  in  den  als  Geometrie  und  als  Geodäsie  betitelten  heronischen 
Schriften  vertreten  ist.  Die  Anlehnung  ist  eine  so  enge,  daß  mit- 
unter Pediasimus  dazu  dienen  kann  Stellen  des  Heron  zu  erläutern. 

Maximus  Planudes')  gehört  einer  etwas  früheren  Zeit  an.  Er 
lebte  etwa  1260 — 1310,  wurde  jedenfalls  ÖO  Jahre  alt.  Ein  aus  Ni- 
komedien  stammender  Mönch  und  besonders  durch  seine  Kenntnisse 
in  lateinischer  Sprache  und  Literatur  berühmt,  vertrat  er  1296  den 
Kaiser  Andronikos  H.  als  Gesandter  in  Venedig.  Maximus  Planudes 
hat  einen  Kommentar  zu  den  ersten  Büchern  des  Diophant  verfaßt, 
der  uns  erhalten  ist'),  und  als  Beweis  (S.  467)  benutzt  wurde,  daß 
die  Gestalt,  in  welcher  ihm  diese  Bücher  vorlagen,  in  keiner  Weise 
von  der  heutigen  Gestalt  abwich.  Maximus  Planudes  ist  in  diesem 
Kommentar  mit  weiser  Vorsicht  allem  aus  dem  Wege  gegangen,  was 
der  Erläuterung  wirklich  bedurft  hätte,  und  hat  sich  nur  bei  Selbst- 
verständlichem aufgehalten.  Wir  haben  femer  (S.  461)  der  griechi- 
schen Anthologie  gedacht,  welche  Maximus  Planudes  aus  früheren 
Sammlungen  auszog,  und  in  welcher  auch  algebraische  Epigramme 
sich  vorfanden.  Wir  haben  es  jetzt  mit  einer  Schrift  zu  tun,  die  den 
widerspruchsvollen  Namen  Markenlegung  nach  Art  der  Inder, 
jl>Yiq)otpoQCa  xat^  ^Ivdovg^  führt  und  gemeiniglich  das  Rechenbuch 
des   Maximus   Planudes*)   genannt  wird.     Der  Verfasser  beginnt 


')  Die  Geometrie  des  Pediasimus  (griechischer  Text)  herausgegeben  von 
G.  Fried  lein  als  Herbstprogramm  der  Studienanstalt  Ansbach  fnr  1866.  Die 
allgemeinen  Notizen  über  den  Verfasser  entnehmen  wir  der  Friedleinschen  Ein- 
leitung, in  welcher  die  wünschenswerten  Verweisungen  sich  finden.  *)  Erum- 
b  ach  er,  Gesch.  der  Byzant.  Litteraturgeschiohte  S.  548  flg.  ")  Er  ist  lateinisch 
abgedruckt  in  Xylanders  gleichsprachiger  Diophantübersetzung.  Basel  1571, 
griechisch   in  Tannerys   Diophantausgabe  II,    125 — 255.      ^)  Eine  griechische 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  511 

mit  den  Worten:  ;,Da  die  Zahl  das  Unendliche  umschließt,  aber  eine 
Erkenntnis  des  Unendlichen  nicht  möglich  ist,  so  haben  hervorragende 
Denker  unter  den  Astronomen  eine  Methode  gefunden,  wie  man  Zahlen 
beim  Gebrauch  übersichtlicher  und  genauer  darstellen  kann.  Solcher 
Zeichen  gibt  es  nur  neun  und  zwar  folgende  ^)  12345678  9. 
Man  fQgt  auch  ein  andres  Zeichen  hinzu,  was  Tziphra  genannt  wird 
und  bei  den  Indem  das  Nichts  darstellt.  Auch  jene'  neun  Zeichen 
stammen  yon  den  Indem.  Die  Tziphra  wird  folgendermaßen  ge- 
schrieben 0.'^  Hier  ist  also  zum  ersten  Male  im  XIV.  S.  das  indische 
Zifferrechnen  nach  Byzanz  gedrungen,  wie  wir  später  sehen  werden 
mindestens  200  Jahre  nachdem  es  auf  anderem  Wege  bereits  zur 
Kenntnis  des  westlichen  Europas  gekommen  war,  wo  die  sogenannten 
Algorithmiker  in  Spanien,  in  England,  in  Deutschland,  in  Frankreich 
mit  den  Abacisten  ringen,  um  sie  seit  Anfang  des  XIIL  S.  siegreich 
zu  yerdnmgen.  Wir  könnten  in  der  uns  hier  gegenübertretenden 
fremdländischen  Kunst  eine  Hindeutung  finden,  daß  wir  mit  Unrecht 
auch  diese  späte  Zeit  in  dem  der  griechischen  Mathematik  gewid- 
meten Abschnitte  behandeln,  wenn  uns  nicht  umgekehrt  gerade  das 
so  späte  Auftreten,  welches  wir  soeben  betonten,  darin  bestärkte,  daß 
wenigstens  verhältnismäßige  Abgeschlossenheit  der  griechisch  schrei- 
benden Mathematiker  gegen  im  beginnenden  Mittelalter  allerwärts 
sich  verbreitende  Einflüsse  stattfand,  und  daß  sie  somit  hinter  ihrer 
Zeit  stehend  und  darum  ohne  Ei|iwirkung  auf  dieselbe  nur  als  Ver- 
treter einer  selbst  sich  verspätenden  Nationalität  erscheinen.  Der  In- 
halt des  Rechenbuches  des  Maximus  Planudes  bedarf  dagegen  hier 
keiner  auf  das  eigentlich  indische  Verfahren  eingehenden  Erörterung. 
Die  Bemerkung  muß  uns  genügen,  daß  Addieren  und  Subtrahieren, 
Multiplizieren  und  Dividieren  an  ganzen  Zahlen,  dann  an  Sezagesimal- 
brüchen  gelehrt  wird  nach  Methoden  und  unter  Anwendung  von 
Proben,  von  welchen  wir  an  anderem  Orte  zu  reden  Gelegenheit 
nehmen.  Es  folgt  alsdann  noch  die  Quadratwurzelausziehung  und 
zwar  auf  folgende  Weise:  „Nimm  die  Quadratwurzel  der  nächst- 
niedrigen wirklichen  Quadratzahl  und  verdoppele  dieselbe;  dann 
nimm  von  der  Zahl,  deren  Wurzel  du  suchst,  das  gefundene  nächst- 
niedrige Quadrat  weg,   und   dem  Reste  gib  als  Nenner  die  aus  der 


Textausgabe  hat  C.  J.  Gerhardt  veranstaltet.  Halle  1865.  Eine  deutsche  Über- 
setzung TOD  H.  Waescbke  erschien  Halle  1878.  Die  allgeineinen  Notizen  über 
Maximus  Planudes  entnehmen  wir  der  Gerhardtschen  Einleitung.  Die  deutsche 
Fassung  einzelner  Sätze  ist  bis  auf  geringe  Änderungen,  die  wir  für  nötig  hielten, 
der  Wae 8 chk eschen  Übersetzung  entlehnt. 

^  Die  von  Maximus  Planudes  gebrauchten  Zeichen  vgl.  auf  der  hinten  an- 
gehefteten Tafel. 


512  24.  Kapitel. 

Verdoppelung  der  Wurzel  gefundene  Zahl.  Z.  B.  wenn  8  das  Doppelte 
der  Wurzel  wäre,  so  nenne  den  Best  Achtel,  wenn  10  Zehntel  usw. 
Willst  du  z.  B.  18  als  Quadrat  darstellen  und  die  Wurzel  suchen,  so 
nimm  die  Wurzel  der  nächstniedrigen  Quadratzahl  also  von  16.  Sie 
ist  4.  Verdopple  dieselbe,  ist  8.  Nimm  16  Ton  18,  bleibt  2.  Diese 
nenne  (nach  8)  Achtel  und  sage  so:  die  Seite  des  Quadrates  18  ist  4 
und  2  Achtel,  2  Achtel  ist  aber  gleich  einem  Viertel,  also  ist  die 
Seite    auch    4    und    ein    Viertel.''     Nun    zeigt    der    Verfasser,     daß 

4-^  •  4y  =  ISjß  ist,  wobei,  wie  durch  den  Wortlaut  unserer  Über- 
setzung angedeutet  worden  ist,  Brüche  nicht  in  Zeichen,  sondern  nur 
mit  Worten  geschrieben  werden.  Die  Methode  sei  daher  nicht  ganz 
richtig.  „Welche  Methode  aber  die  genauere  und  der  Wahrheit 
nähere  fst,  die  ich  zugleich  als  meine  mit  Gottes  Hilfe  gemachte  Er- 
findung in  Anspruch  nehme,  das.  wird  in  der  Folge  gesagt  werden.*' 
Die  vorher  gelehrte  Methode  muß  jedenfalls  nach  des  Verfassers 
Meinung  die  indische  sein,  denn  er  spricht  nachher  von  der  indischen 
Methode,  wie  von  einer  bereits  vorgetragenen^),  während  nur  diese 
Auseinandersetzung  und  die  geometrische  Begründung  ihrer  nicht 
genau  zutreffenden  Richtigkeit  vorausgegangen  ist,  bevor  er  an  die 
eigene  Methode  gelangt,  welche  er  nochmals  mit  wahren  Posaunen- 
stößen ankündigt:  „Es  ist  nun  an  der  Zeit,  daß  wir  die  Methode, 
die  wir  selbst  erfunden  haben,  und  die  nur  weniges  vom  wahren 
Werte  abweicht,  vorlegen."  * 

Worin  besteht  diese  eigene  Methode?  Darin,  daß  die  Zahl, 
aus  welcher  die  Wurzel  gezogen  werden  soll,  vorher  durch  Multipli- 
kation mit  3600  in  Sekunden  verwandelt  wird,  worauf  die  Wurzel 
in  der  Gestalt  von  Minuten  sich  zeigt!  Damit  brüstet  sich  ein  Leser 
von  Theons  Kommentar  zum  Almagest,  der  als  solcher  sich  ausdrück* 
lieh  zu  erkennen  gibt,  indem  er  zugesteht,  seine  Methode  sei  doch 
umständlich,  wenn  es  um  recht  große  Zahlen  sich  handle,  wie  um 
die  Zahl  4500,  aus  welcher  Theon  die  Wurzel  zu  ziehen  habe.  Als- 
dann könne  man  aus  der  indischen  Methode,  aus  der  des  Theon  und 
aus  seiner  eigenen  folgende  Mischmethode  bilden.  Zunächst  sucht 
er  jetzt  die  nächste  ganzzahlige  Wurzel  67  und  verschafft  sich  den 
Rest  4500  —  67*  =-11.  Diese  11  Ganze  werden  als  Minuten  zu  660, 
und  durch  2  •  67  =  134  geteilt  entstehen  4'  als  Quotient.  Der  neue 
Rest  660  —  4  •  134  =  124'  wird  in  Sekunden  verwandelt  und  da- 
durch zu  7440,  wovon  16"  d.  h.  das  Quadrat  von  4'  abgezogen 
wird.     Der  neue  Rest  besteht  aus  7424".     In  ihn  dividiert  man  mit 


^)  ^Etiga  (id^odog  (tiyiux  olca  tfjg  tB  'Iväixfig  xal  tov  Binvog  xal  tf^g  i^ftc- 
zigag  (ed.  Gerhardt)  pag.  45  lin.  3. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  513 

dem  Doppelten  von  67«  4'  d.  h.  mit  60  •  134  +  2  •  4  =  8048',  nach- 
dem man  ihn  selbst  in  60  •  7424  »  445  440'"  verwandelt  hat.  So 
erscheint  der  Quotient  55",  und  mit  ihm  ist  die  Wurzel  zu  67®  4'  55" 
ergänzt,  und  zwar,  wie,  der  Vergleich  mit  dem  (S.  494)  von  uns  ge- 
gebenen Auszuge  aus  Theon  zeigt,  genau  in  der  von  diesem  gelehrten 
Weise,  nur  mit  dem  Umwege  über  die  Eselsbrücke  eingeschalteter 
Multiplikationen  mit  60  vor  Ausführung  der  die  Teikiffem  der 
Wurzel  liefernden  Divisionen,  die  einzige  Beimischung,  deren  Maximus 
Planudes  sich  rühmen  kann. 

Sind  aber  das  die  großen  Gedanken  eines  Schriftstellers,  der 
,,sich  vorgenommen  hat  über  das  zu  handeln,  was  zur  astronomischen 
Rechnung  gehört'^  ^),  so  ist  kaum  anzunehmen,  daß  ebendemselben 
zwei  Aufgaben  eigentümlich  sein  sollten,  mit  welchen  unmittelbar 
nach  Auseinandersetzung  der  letzterwähnten  Methode  zur  Quadrat- 
wurzelausziehung das  Rechenbuch  abschließt.  Die  zweite  Aufgabe 
ist  die  uns  schon  bekannte,  ein  Rechteck  zu  finden,  das  einem  anderen 
Rechtecke  am  Umfange  gleich,  an  Inhalt  ein  Vielfaches  desselben 
sei.  Die  Auflösung  wird  in  Worten  gelehrt,  welche  in  eine  Formel 
umgesetzt  w  —  1  und  v?  —  n  als  die  Seiten  des  einen,  v?  —  \  und 
n^  —  n^  ab  die  Seiten  des  nmal  so  großen  Rechtecks  bezeichnen. 
Bei  n  =  4  entstehen  die  Seiten  3  und  60,  beziehungsweise  15  und 
48,  welche  wir  auch  im  Buche  des  Landbaues  (S.  484)  fanden.  Die 
erste  Aufgabe  ist  eine  heute  gleichfalls  sehr  bekannte,  da  sie  in 
ziemlich  allen  Aufgabensammlungen  Platz  gefunden  hat.  Eine  Summe 
Geldes  soll  dadurch  in  lauter  gleiche  Teile  zerlegt  werden,  daß  der 
erste  Teilhaber  1  Stück  und  den  nten  Teil  des  Restes,  der  zweite 
alsdann  2  Stück  und  den  nten  Teil  des  Restes,  der  dritte  hierauf 
3  Stück  und  den  nten  Teil  des  Restes  erhalte,  und  dieses  Gesetz 
der  Bildung  der  Teile  bis  zum  letzten  festgehalten  bleibe.  Als 
Auflösung  wird  (n  —  1)'  als  die  zu  teilende  Summe,  w  —  1  als  die 
Zahl  der  Teilhaber  erklärt.  Zunächst  ist  freilich  n  =  7  gesetzt, 
doch  ist  ausdrücklich  die  Allgemeinheit  der  Auflösung  hervorgehoben, 
und  als  Andeutung  wie  die  Auflösung  gefunden  werde,  der  Satz  be- 
merklich gemacht,  daß  immer  a*  —  1  =  (a  —  1)  •  (a  +  1)  sei.  Es 
würde  wohl  einer  besonderen  Untersuchung  wert  sein,  Spuren  auch 
dieser  Aufgabe  zu  verfolgen. 

Später  als  Maximus  Planudes  lebte  Nikolaus  Rhabda  von 
Smyrna  mit  dem  Beinamen  Artabasdes*).  Er  schrieb  1341  (wie 
man   aus   einer   auf  dieses  Jahr   sich   beziehenden  Osterrechnung  zu 


^}  'En%l  dh  mg  iv  eUdsi,  ytsgl  t&v  6viißocXlo(idvaiv  slg  tov  äetigav  i^T}qpov  äuld- 
ßofuv  (ed.  Gerhardt)  pag.  29,  letzte  Zeile.     *)  Schöll-Pinder,  Geschichte  der 

Caktob,  G«8ohlohte  der  Mathemstik  I.  S.  Aufl.  88 


514  24.  Kapitel. 

entnehmen  imstande  ist)  an  einen  Theodor  Tschabuchen  von 
Klazomenä  einen  Brief  über  Arithmetik^),  welcher  aus  einer  Hand- 
schrift der  Pariser  Bibliothek  herausgegeben  ist^.  Fast  das  Be- 
merkenswerteste an  ihm  besteht  darin,  daß  an  dessen  Schlüsse  eine 
Sammlung  yon  Beispielen  das  erste  uns  bekannte  Vorkommen  der 
Wortverbindung  politische  Arithmetik')  bietet.  Es  sind  Auf- 
gaben, welche  mittels  Regeldetri  gelöst  sind.  Außerdem  kann  noch 
hervorgehoben  werden,  daß  für  die  Ausziehung  von  Quadratwurzeln 

die   Näherungsregel    )/a*  +  6  =  öt  +    -    ausdrücklich    ausgesprochen 

ist.  Wir  haben  es  hier  mit  einer  andern  Schrift  des  Bhabda  zu  tun, 
mit  der  mehrfach,  zuletzt  in  Gemeinschaft  mit  dem  eben  erwähnten 
Briefe  gedruckten  Abhandlung  über  das  Fingerrechnen^),  exfpQaöi^g 
tov  öaxtvkLxov  iiivQov.  Wir  haben  gesehen  (S.  130),  daß  bei  den 
griechischen  Zeitgenossen  des  Lustspieldichters  Aristophaues  etwa  um 
420  y.  Chr.  das  Fingerrechnen  in  Übung  war.  Wir  haben  keinerlei 
Grund  anzunehmen,  es  sei  jemals  ganz  in  Vergessenheit  geraten, 
aber  doch  ist  die  Darstellung  des  Rhabda  die  einzige  in  griechischer 
Sprache,  in  welcher  formlich  gelehrt  wird,  was  meistens  durch  münd- 
liche Überlieferung  sich  fortgesetzt  haben  mag.  Bhabda  schildert 
aufs  ausführlichste,  wie  man  durch  Beugung  der  Finger  die  einzelnen 
Zahlen  darstellen  solle.  Die  Finger  der  linken  Hand  dienen  zur  Be- 
zeichnung der  Einer  und  Zehner,  die  der  rechten  zur  Bezeichnung 
der  Hunderter  und  Tausender,  und  zwar  ist  die  Aufeinanderfolge  des 
Stellenwertes,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  von  links  nach  rechts  der- 
art festgehalten,  daß  der  kleine  Finger,  der  Ringfiuger  und  der 
Mittelfinger  der  linken  Hand  für  die  Einer,  Zeigefinger  und  Daumen 
der  Linken  für  die  Zehner  in  Bewegung  gesetzt  werden,  Daumen 
und  Zeigefinger  der  Rechten  für  die  Hunderter,  und  endlich  die  drei 
letzten  Finger  der  Rechten  für  die  Tausender.     Wir  brauchen  viel- 


griechischen Literatur  lU,  845  stellt  die  ungeheuerliche  Vermutung  auf,  Arta- 
basdes  sei  vielleicht  aus  abcunsta  entstanden. 

^)  Gerhardts  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  des  Kechenbuchs  des  Mazi- 
mus  Planudes  S.  XU,  Anmerkung.  *)  Notice  8ur  les  deux  lettres  arMmSUques 
de  NicöUu  Ehäbdas  (texte  grec  et  traductian)  par  M.  Paul  Tannery.  Extrait 
des  Notices  et  extraits  des  manuscrits  de  la  Bibliothique  nationdk  etc.  Tome 
XXXII,  1»  Partie.  Paris  1886.  ^  iti^odog  TCoUtixAv  XoyaQtaciiSbv.  *)  Ein 
Abdruck  z.  B.  in  Nicolai  Caussini  de  eloquentia  Sitcra  et  humana  libri  XVI. 
Lib.  IX,  cap.  Vni,  pag.  666  sq.  Cöln  1681.  Vgl.  auch  Rödiger,  Ueber  die 
im  Orient  gebräuchliche  Fingersprache  für  den  Ausdruck  der  Zahlen,  im  Jahres- 
bericht der  deutsch,  morgenländ.  Gesellsch.  für  1846—46  und  H.  Stoy,  Zur 
Geschichte  des  Rechenunterrichtes  l.  Theil  (Jenaer  Inaugural- Dissertation  von 
1876}  S.  86  flgg. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  515 

leicht  nicht  einmal  hervorzuheben ,  wie  sich  in  dieser  Reihenfolge 
eine  Übereinstimmung  mit  früheren  Bemerkungen  unserer  Einleitung 
(S.  6 — 7)  zu  erkennen  gibt.  Es  können  also  mittels  beider  Hände 
sämtliche  Zahlen  von  1  bis  9999  bezeichnet  werden,  vollauf  aus- 
reichend für  den  gewöhnlichen  Gebrauch  und  in  Übereinstimmung 
mit  der  Sprachgewohnheit  der  Griechen,  für  welche  10000  das 
äußerste  einfache  Zahlwort  darstellt. 

Manuel  Moschopulus  ist  wegen  einer  Anleitung  zur  Bil- 
dung von  Quadratzahlen^)  zu  nennen.  Dieser  ungemein  vielseitig 
gebildete  Gelehrte  war  Schüler  und  Freund  des  Maximus  Planudes 
und  stand  in  schriftlichem  Verkehr  mit  Kaiser  Andronikos  11.  Palae- 
ologos  (1282 — 1328),  wodurch  seine  Lebenszeit  ziemlich  genau  be- 
stimmt ist.  Manuel  Moschopulus  hat,  Bitten  wir,  die  Bildung  von 
Quadratzahlen  gelehrt,  d.  h.  er  hat  gezeigt,  wie  man  magische 
Quadrate  herstelle,  wie  man  die  Zahlen  von  1  bis  zu  irgend  einer 
Quadratzahl  n?  in  ebensoviele  schachbrettartig  geordnete  Felder  ver- 
teile, so  daß  die  Summe  der  Zahlen  in  jeder  Längsreihe,  wie  in  jeder 
Querreihe  und  auch  in  den  beiden  Diagonalreihen  stets  dieselbe  werde, 
natürlich  ^^-y— ,  da  die  Zahlen 

1  +  2  +  3  +  ...+«»==  (nMil)n^ 

in  n  gleichsummige  Reihen  geordnet  sind.  Wenn  wir  sagten,  Moscho- 
pulus habe  die  Herstellung  des  magischen  Quadrates  für  irgend  eine 
Quadratzahl  n^  gelehrt,  so  müssen  wir  von  dieser  Behauptung  einen 
Teil  wieder  zurücknehmen.  Nur  zwei  HauptiUlle  sind  erhalten,  der 
eines  ungeraden  n  und  der  eines  geradgeraden  n,  d.  h.  wenn  n  von  der 
Form  Am  ist.  Der  dritte  noch  übrige  Fall  eines  geradungeraden  n, 
d.  h.  wenn  n  von  der  Form  4m  +  2  ist,  fehlt  in  der  uns  erhaltenen 
Handschrift,  es  ist  aber  kaum  zweifelhaft,  daß  Moschopulus  auch  ihn 
in  einer  verlorenen  Schlußbetrachtung  behandelt  haben  wird,  wie  er 
es  zum  voraus  angekündigt  hat»).  Er  hat  dabei  einen  Gedanken  und 
ein  Wort  benutzt,  welche  in  der  modernen  Mathematik  eine  bedeut- 
same Rolle  spielen,  bei  Moschopulus  aber  zuerst  aufgefunden  worden 
sind.      Wir    meinen    den    Ausdruck    „Herumzählung    im    Kreise"'), 

^)  S.  Günther,  Vermischte  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  mathe- 
matischen Wissenschaften.  Leipzig  1876,  Cap  IV,  Historische  Studien  über  die 
magischen  Quadrate.  Der  Abdruck  des  griechischen  Textes  des  Moschopulus 
nach  einer  Münchener  Handschrift  des  XV.  S.  findet  sich  S.  195—208,  dessen 
Diskussion  S.  208—212.  Vielfache  kritische  Bemerkungen  zum  Texte  von 
A.  Eberhard  in  der  Zeitschrift  Hermes  XI,  484  ^gg,  Erumbacher  S.  546—548. 
•)  Günther  1.  c.  pag.  197  lin.2— -5.  •)  Günther  pag.  198,  wo  auch  in  einer 
Note  auf  die  Wichtigkeit  der  in  diesem  Ausdrucke  enthaltenen  Anschauung  auf- 
merksam gemacht  ist. 

38* 


516  24.  Kapitel. 

&gjt€Q  ivaxvxXovvrsg,  wo  ein  Kreis  eigentlich  gar  nicht  vorhanden 
ist,  sondern  an  das  gedacht  werden  maß,  was  man  gegenwartig  zyk- 
lische Anordnung,  zyklische  Yertauschung  und  dergleichen  zu  nennen 
pflegt.  Es  will  uns  recht  zweifelhaft  erscheinen,  ob  wirklich  Moscho* 
I^ulus  selbst  der  Erfinder  der  Methoden  zur  Auflösung  der  nichts 
weniger  als  leichten  zahlentheoretischen  Aufgabe  war.  Wenn  er  auf 
Andringen  des  Rhabda  die  Niederschrift  vollzog,  so  ist  damit  keines- 
wegs gesagt,  daß  er  Eigenes  niederschrieb,  und  die  Gesellschaft,  in 
welcher  wir  Moschopulus  zu  nennen  hatten,  gibt  keinenfalls  der  Ver- 
mutung Unterstützung,  einen  besonders  geistreichen  Erfinder  mathe- 
matischer Dinge  hier  anzutreffen.  Dazu  kommt,  daß  uns  ein  Anfang 
fast  magischer  Quadrate  bei  Nikomachus  (S.  438)  begegnet  ist,  daß 
jedenfalls  im  X.  S.  magische  Quadrate  eine  geheimnisvolle  Bolle 
innerhalb  der  arabischen  Philosophensekte  der  sogenannten  laute- 
ren Brüder  spielten^),  daß  insbesondere  die  Quadrate  mit  9,  16,  25, 
36,  64  und  81  Feldern  denselben  bekannt  waren,  daß  also  sicherlich 
damals  schon  eine  Methode  vorhanden  gewesen  sein  muß  solche  zu 
bilden. 

Die  Zeit  griechischer  Mathematik,  wir  wiederholen  es  zum 
letzten  Male,  und  man  wird  uns  am  Schlüsse  dieses  Kapitels  gern 
glauben,  war  vorbei.  Wenn  im  XV.  S.  die  vor  dem  Osmanentum 
fliehenden  letzten  Byzantiner  Handschriften  altklassischen  Wertes  mit 
sich  fahrten,  deren  Kenntnis  im  Abendlande  zündend  auf  die  Geister 
wirkte  und  jene  glanzende  Flamme  entfachte,  bei  deren  Scheine  die 
Meisterwerke  der  Renaissance  entstanden,  so  haben  die  Byzantiner 
selbst  daran  nicht  mehr  noch  weniger  teil  als  Insekten,  welche  wert- 
vollen Blütenstaub  mit  sich  führen,  während  sie  an  dem  Orte  der 
Befruchtung  sich  verkriechen.  Wie  es  aber  kam,  daß  die  Griechen 
ihre  durch  Jahrhunderte  bewährte  mathematische  Kraft  verloren,  das 
ist  eine  Frage,  zu  deren  Erörterung  weitläufigere  Auseinandersetzungen 
nötig  wären,  als  sie  hier  im  Vorübergehen  möglich  und  gestattet 
sind.  Eine  Einwirkung  politischer  Verhältnisse  wird  ebensosehr  an- 
genommen werden  müssen,  wie  eine  weiter  und  weiter  abseits 
führende  Verschiebung  des  wissenschaftlichen  Interesses.  Theologie 
und  Jurisprudenz  hatten  in  den  Zeiten  des  Verfalles  unserer  Wissen- 
schaft sich  vorgedrängt.  Die  letztere  insbesondere  war  die  bevorzugte 
Wissenschaft  der  nüchtern  Denkenden  geworden,  und  daß  dem  so 
war,  dazu  waren  wieder  politische  Verhältnisse  die  Veranlassung. 
Die  philosophischen  Griechen   waren   die   Untertanen   eines   fremden 


^)  Dieterici,  Die  Propädeutik  der  Araber  im  X.  Jahrhundert  S.  42  flgg. 
Berlin  1865  und  Günther  1.  c.  S.  192 flgg. 


Die  griechische  Mathematik  in  ihrer  Entartung.  517 

Reiches  gewordeii,  dessen  Gepräge  sich  auch  ihnen  um  so  deutlicher 
aufdrückte,  je  näher  ihnen  der  Mittelpunkt  des  Reiches  rückte.  Die 
geistige  Aufgabe  dieses  Reiches  war  eine  andere.  Ihm  war  es  be- 
schieden;  die  Rechtswissenschaft  zu  begründen.  Seine  leitenden  Ge- 
danken gab  aber  ein  anderes  Volk  als  die  Griechen  an^  ein  Volk, 
welches  der  Mathematik  gegenüber  gerade  den  höchstens  erhaltenden 
Charakter  an  den  Tag  legte,  den  wir  seit  den  Neuplatonikem 
deutlicher  und  deutlicher  sich  offenbaren  sahen:  das  Volk  der  Römer. 


IV.  Römer. 


25.  Kapitel. 

Älteste  Rechenkunst  nnd  Feldmessung. 

Wenn  wir  die  beschichte  der  Mathematik;  wie  sie  auf  italieni- 
schem Boden  geworden  ist,  zum  Gegenstande  unserer  Untersuchung 
machen;  so  müssen  wir  fast  mehr  als  bei  anderen  Schauplätzen 
menschlicher  Gesittung  uns  hüten  Verschiedenartiges  durcheinander 
zu  mengen.  Der  Süden  Italiens  ist  es  gewesen,  wo  die  hellenische 
Bildung  des  Pythagoräismus  ihre  Blüte  hatte.  Das  geographisch 
von  Italien  nicht  zu  trennende  Sizilien  hat  die  mächtige  Eüstenstadt 
Sjrakus  entstehen  sehen^  und  es  ist  ein  halbwegs  berechtigter  Na- 
tionalstolz  italienischer  Gelehrter^  wenn  sie  Pjthagoras  und  Archi- 
medes  ihre  Landsleute  nennen.  Aber  freilich  mehr  als  nur  halb- 
berechtigt können  wir  diese  Ansprüche  auf  den  Ruhm  der  größten 
Mathematiker  des  Altertums  für  die  eigene  Vergangenheit  nicht 
nennen^  weil  unserer  Auffassung  gemäß  das  Volk  und  die  Sprache 
vor  dem  Lande  die  Zugehörigkeit  bestimmt^  und  deshalb  waren  uns 
jene  Männer  Griechen.  Zwischen  den  von  Norden  kommenden 
Kriegern ;  unter  deren  Streichen  Archimedes  verblutete ,  nachdem  er 
seine  Vaterstadt  gegen  sie  lange  verteidigt  hatte,  und  denen,  die  im 
gleichen  Dialekte  mit  Archimed  sprachen  und  schrieben ,  muß  die 
Kulturgeschichte  einen  Gegensatz  erkennen  lassen.  Wir  denken  diesen 
Gegensatz  recht  laut  zu  betonen ,  wenn  wir  in  diesem  Abschnitte 
unseres  Bandes  überhaupt  nicht  von  italischer,  sondern  von  römi- 
scher Mathematik  reden.  Mag  ja  auf  italischem  Boden  mancherlei 
an  mathematischem  Wissen  vorhanden  gewesen  sein  noch  bevor  Rom 
entstand.  Wir  leugnen  es  so  wenig,  daß  wir  den  Spuren  nachzugehen 
bemüht  sein  werden.  Immer  aber  soll,  was  wir  finden,  unter  dem 
römischen  Sammelnamen  vereinigt  werden. 

Über  die  älteste  Geschichte  der  Bevölkerung  des  Landes  von 
Nordosten  her  sind  die  Akten  noch  keineswegs  abgeschlossen,  wenn 
man  auch  gegenwärtig  der  Annahme  zuneigt,  eine  altitalische  Nation 
habe  sich  gebildet  in  der  Ebene   des  Po,   nachdem  sie  vorher  von 


522  26.  Kapitel. 

den  Hellenen^  dann  von  den  Kelten  sich  getrennt  hatte  ^).  Yon  dort 
ging  der  Zug  nach  Süden  und  trieb  ältere  Bewohner  vor  sich  her, 
vielleicht  verwandt  mit  den  Sikulem,  den  Einwohnern  von  Sizilien, 
deren  Name  in  alten  ägyptischen  Urkunden  zu  den  bekanntesten  ge- 
hört. Wann  diese  Ereignisse  stattfanden,  ob  mehr  als  1000  Jahre 
vor  unserer  Zeitrechnung,  wie  aus  der  Zusammenstellung  mit  Per- 
sönlichkeiten des  trojanischen  Krieges,  die  vielleicht  mehr  als  eine 
Sage  ist,  hervorgehen  könnte,  darüber  schwebt  wieder  tiefes  Dunkel, 
kaum  erhellt  seit  Auffindung  jener  alten  Totenstadt  am  Albaner- 
see*), deren  Gtrabumen  unter  einer  Aschendecke  vulkanischen  Ur- 
sprungs sich  erhalten  haben,  über  welche  Jahrhunderte  einen  Pflanzen- 
wuchs hervorriefen,  der  selbst  wieder  in  einer  einen  halben  Meter 
mächtigen  Peperinschicht  eine  zerstörende  und  zugleich  schützende 
Decke  fand.  Welche  Rolle  bei  den  Wanderungen  und  Niederlassungen 
auf  der  apenninischen  Halbinsel  die  Etrusker  spielten,  welchem 
Völkerstamme  überhaupt  diese  angehörten,  ist  ein  weiterer  Gegen- 
stand wissenschaftlichen  Zweifels,  und  dieser  Zweifel  erstreckt  sich 
so  weit,  daß  man  nicht  einmal  darüber  einig  ist,  ob  diejenigen 
Sitten  und  Gebräuche  tatsächlich  als  etruskisch  gelten  dürfen, 
welche  römisch -priesterliche  Überlieferung  uns  als  etruskisch  be- 
zeichnet hat. 

Wir  können  und  müssen  uns  genügen  lassen,  auf  das  Vorhanden- 
sein dieser  vielen  Rätselfragen  von  ausgesuchter  Schwierigkeit  hin- 
zuweisen, so  wichtig  deren  Lösung  gerade  für  die  Geschichte  der 
Mathematik  wäre.  Den  Etruskern  nämlich  gehören  mutmaßlich  die 
Zeichen  an,  welche  als  Zahlzeichen  den  Römern  dienten,  ihnen 
wird  zugeschrieben,  was  als  praktische  Feldmessung  der  Römer 
sich  erhalten  hat. 

Wir  wollen  mit  den  Zahlzeichen  unsere  Erörterungen  be- 
ginnen. Zahlenbezeichnung,  wenn  auch  nicht  durch  Zahlzeichen,  war 
es,  wenn  die  Etrusker,  wenn  ihnen  folgend  die  Römer  in  dem  Heilig- 
tume  der  Minerva  alljährlich  einen  Nagel  einschlugen,  um  die  Zahl 
der   Jahre    vorzustellen^).     Zahlzeichen    sind    diejenigen   Charaktere, 


')  H.  Nissen,  Das  Templnm,  antiquarische  Untersuchungen.  Berlin  1869. 
Vgl.  besonders  Kapitel  IV.  Italische  Stammsagen.  *)  De  Rossi  in  den  ÄnncU, 
delV  Instit.  1867,  pag.  36  sqq.  »)  Livius  VII,  8.  Vgl.  fttr  andere  Stellen 
Friedlein,  Die  Zahlzeichen  und  das  elementare  Rechnen  der  Griechen  und 
Römer  und  des  christlichen  Abendlandes  vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.  Erlangen 
1869,  S.  19.  Noch  andere  Analoga  wie  z.  B.  einzelne  Striche,  farbige  Steinchen 
als  Zahlenbezeichnung  sind  mit  Beispielen  belegt  bei  Rocco  Bombelli,  Sttidi 
archeologicO'Crüici  circa  Vantica  nutneraeione  itaiica  Parte  L  Roma  1876, 
pag.  31. 


Älteste  BechenkunBt  und  Feldmessung.  523 

welche  allmählich  zu  Buchstabenform  sich  abändernd  das  bilden^  was 
gegenwärtig  als  römische  Zahlzeichen  bekannt  ist^).  Wie  die  ganze 
Schrift  der  Bomer  und  der  Etrusker  bei  hervorragender  Ähnlichkeit 
es  doch  auch  an  wesentlichen  Unterschieden  nicht  fehlen  läßt^  die 
eine  unmittelbare  Ableitung  der  einen  aus  der  anderen  zur  Unmög- 
lichkeit machen,  ist  seit  einem  halben  Jahrhundert  festgestellt.  Schon 
die  linksläufige  Schrift  der  Etrusker  gegenüber  von  der  rechtsläufigen 
der  Römer  deutet  darauf  hin,  daß  der  Ursprung  jener  in  eine  Zeit  zu 
setzen  ist,  während  deren  die  Griechen  noch  nicht  durch  die  Über- 
gangsperiode einer  in  der  Richtung  von  Zeile  zu  Zeile  wechselnden 
Schrift  hindurchgegangen  waren,  wogegen  die  römische  Schrift  diese 
Veränderung  bereits  voraussetzt.  Die  Annahme  nicht  T\nmittelbarer 
Ableitung  auseinander  findet  noch  Bestätigung  darin,  daß  im  römi- 
schen Alphabete  das  altgriechische  Eoppa  als  Q  erhalten  ist,  welches 
die  Etrusker  nicht  kennen,  während  umgekehrt  manche  Buchstaben 
dem  tuskischen  Alphabet  angehören,  die  dem  römischen  fehlen. 
Wann  das  etruskische  Alphabet,  welches  nach  Tacitus^)  durch  den 
Eorinther  Demaratus  nach  Italien  kam,  daselbst  zur  Einführung  ge* 
langte,  wissen  wir  ungefähr.  Es  wird  zwischen  650  und  600  v.  Chr. 
gewesen  sein*).  Die  Trennung  des  römischen  Alphabetes  von  dem 
gräkoitalischen  Mutterstamme  ist  nicht  zeitlich  so  bestimmt,  doch 
muß  sie  jedenfalls  eingetreten  sein,  bevor  die  Benutzung  der  Buch- 
staben als  Zahlzeichen  den  Griechen  bekannt  war,  also  (S.  121)  vor 
500  V.  Chr.,  denn  bei  den  Römern  sind  niemals  nach  griechischem 
Muster  die  aufeinanderfolgenden  Buchstaben  des  Alphabetes  als  Zahl- 
zeichen verwertet  worden*).  Und  dennoch  sehen  die  ältesten  Zahl- 
zeichen der  Römer,  sehen  die  der  Etrusker  Buchstaben  ungemein 
gleich  und  ähneln  sich  untereinander  so  sehr  (vgl.  die  hinten  an- 
geheftete Tafel),  daß  die  vorhandenen  Übereinstimmungen  unmöglich 
als  Zufälligkeiten  erklärt  werden  können.  Zufällig  erscheint  vielmehr 
die  Verwandtschaft  mit  den  späteren  römischen  Zeichen  I  V  X  L  C  M, 
welche  aus  der  Ähnlichkeit  mit  Buchstaben  durch  Volksetymologie 
sich  in  diese  Buchstabenformen  selbst  verwandelten,  noch  ein  Zeichen 
D  für  500  zwischen  C  und  M  und  ein  Zeichen  q  vielleicht  aus  VI 
entstanden,  für  die  6  sich  aneignend  und  C  und  M  mit  den  Anfangs- 


»)  Ottfried  Müller,  Die  Etrusker  Bd.  H,  S.  S12— 320.  Breslau  1828. 
Th.  Mommsen,  Die  unteritaliscben  Dialekte  (besonders  S.  19  —  34).  Leipzig 
1850.  Math.  Beitr.  Kulturl.  S.  161  flgg.  Friedlein  1.  c.  S.  27  flgg.  R.  Bom- 
belli  1.  c.  pag.  33.  '}  Tacitus,  Annales  XI,  14.  ^  A.  Riese,  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  Etrusker.  Rhein.  Museum  für  Philologie  (1865)  XX,  295—298. 
^  Ober  andere  Benutzung  von  Buchstaben  als  Zahlzeichen  bei  Römern  in  ver- 
mutlich recht  später  Zeit  vgl.  Friedlein  1.  c.  S.  20—21. 


524  25.  Kapitel. 

buchstaben  der  Wörter  centum  und  mille  vergleichend.  Der  Ursprung 
der  Zeichen  für  5,  50^  500  ist,  wie  ziemlich  allgemein  zugestanden 
wird,  in  der  Halbierung  der  Zeichen  für  10,  100,  1000  zu  finden, 
und  nur  die  Entstehung  dieser  letzteren  bleibt  strittig.  Am  glaub- 
haftesten dürfte  die  mit  Belegung  durch  reiches  inschriftliches 
Material  wahrscheinlich  gemachte  Vermutung  sein^),  daß  die  Decussatio, 
Yerzehnfachung,  jeweils  durch  Hinzutreten  einer  neuen  Kreuzung  des 
vorhandenen  Zeichens  mittels  eines  hinzutretenden  geraden  oder  ge- 
krümmten Striches  hervorgebracht  worden  sei. 

Neben  der  alphabetischen  Reihenfolge  ist  auch  die  Benutzung 
der  Anfangsbuchstaben  von  Zahlwörtern  als  Zeichen  für  die  Zahlen 
begreiflich  nächstliegend,  und  so  erscheint  die  Frage  nicht  müßig, 
ob  vielleicht  die  Buchstabenähnlichkeit  der  tuskischen  Zahlzeichen 
so  erklärt  werden  könne?  Es  ist  bisher  den  Gelehrten,  welche  mit 
etruskischen  Studien  sich  beschäftigt  haben,  nicht  möglich  gewesen 
diese  Frage  vollgültig  zu  beantworten,  doch  neigen  sie  zur  Verneinung 
derselben.  Wie  schwierig  übrigens  die  Beantwortung  ist,  geht  schon 
daraus  hervor,  daß  der  Wortlaut  der  etruskischen  Zahlwörter  keines- 
wegs feststeht.  Man  hat  im  Jahre  1848  alte  etruskische  Würfel  ge- 
funden, deren  sechs  Flächen  mit  Wörtern  beschrieben  sind,  welche 
mau  mach,  thu,  zal,  huth,  ki,  sa  liest^).  Man  hat  allseitig  diese 
Wörter  für  die  Namen  der  sechs  ersten  Zahlen  gehalten,  aber  man 
ist  uneinig  darüber,  welche  Zahl  jedes  einzelne  Wort  bedeute*). 

Sei  nun  der  Ursprung  der  tuskisch- römischen  Zeichen  welcher 
er  wolle,  eines  tritt  bei  beiden  Völkern  hervor,  was  als  hochbedeutsam 
hervorgehoben  werden  muß:  die  subtraktive  Bedeutung  eines 
Zeichens  kleineren  Wertes,  sofern  es  vor  einem  Zeichen  höheren 
Wertes,  also  bei  den  Etruskem  rechts,  bei  den  Römern  links  von 
demselben  auftritt,  wie  IV  «  4,  IIX  =  8,  IX  =  9,  XL  =  40,  XC  =  90, 
CD  =  400,  wovon  das  Zeichen  für  8  schon  zu  den  Seltenheiten  ge- 
hört*).    Die  subtraktive  Schreibung  kann  sehr  wohl  den  Zweck  der 


*)  Zangemeister  in  den  Monatsberichten  der  Berliner  Akademie  vom 
10.  November  1887.  *)  Buüettino  delV  InstitiUo  di  correspondenza  archeologica. 
Roma  1848,  pag.  60,  74.  »)  Vgl.  Zeitschr.  Mathem.  Phys.  XXII,  Histor.-literar. 
Abtlg.  S.  55,  wo  die  Ansichten  von  Isaac  Taylor  denen  der  italienischen  Ge- 
lehrten gegenübergestellt  sind.  Vgl.  auch  C.  Pauli,  Die  etruskischen  Zahl- 
wörter in  den  Etruskischen  Forschungen  und  Studien  von  Deecke  und  Pauli, 
3.  Heft  (Stuttgart  1882),  wo  die  zehn  ersten  Zahlwörter  heißen:  i  =s  sa,  2  s=  zal, 
3  =  thu,  4  =  huth,  5  =  mach,  6  =  ki,  7  ==  men,  8  =  cezp,  9  =  semp,  10  =  nurth. 
*)  Die  Bubtraktiyen  Ziffern  sollen  bei  den  Etruskem  häufiger  als  bei  den  Römern 
zur  Anwendung  gekommen  sein.  Corssen,  üeber  die  Sprachen  der  Etrusker  I, 
39—41  (Leipzig  1874)  gibt  XIIIXXr=27,  ^111  =  47,  auch  das  zweimal  subtra- 
hierende I XII  =  50  —  10  —  2  =  88  als  etruskisch  an. 


Älteste  RechenkuiiBt  und  FeldmeBsung.  525 

Kaumerspaniiig  gehabt  haben.  Darum  ist  UX  statt  VIU  möglich, 
IHK  statt  YU  unmöglich^).  Ein  sprachliches  Subtrahieren  haben 
wir  (S.  11)  auch  bei  der  Bildung  der  Zahlwörter  anderer  Völker  in 
Erwägung  ziehen  dürfen,  nirgend  aber  als  bei  den  Etruskem  und 
Römern  findet  sich  die  Subtraktion  in  den  Zeichen  versinnlicht,  und 
es  gehört  zu  den  weiteren  Eigentümlichkeiten,  dafi  Zeichen  und 
Sprache  bei  den  Römern  sich  nicht  decken.  Schriftlich  ist  die  Sub- 
traktion nur  bis  X,  nicht  bei  den  späteren  Zehnern  in  Gebrauch,  wie 
sich  auch  leicht  verstehen  läßt^  weil  z.  B.  IXXX  dem  Zweifel  Raum 
pLbe,  ob  29  (XXX  weniger  I)  oder  11  (XX  weniger  IX)  gemeint  sei. 
Deutlichkeitsgründe  waren  es  auch,  welche  dafür  den  Ausschlag  gaben, 
daß  auf  Schwertklingen  Villi  statt  IX  geschrieben  wurde,  weil  dieses,  je 
nach  der  Seite,  von  welcher  man  die  Klinge  betrachtete,  mit  XI  ver- 
wechselt werden  konnte*).  Dagegen  wird  sprachlich  die  Eins  wie 
die  Zwei  nie  von  Zehn,  sondern  nur  von  den  Zehnem:  Zwanzig  bis 
100  abgezogen.  Wir  fügen  hinzu,  daß  die  Römer  gleichfalls  allein 
unter  allen  Völkern  subtraktiver  Ausdrücke  auch  bei  Datierungen 
ihrer  Monatstage  sich  bedienten. 

Was  die  schriftliche  Darstellung  von  Zahlen  über  Tausend  be- 
trifft, so  ist  zu  verschiedenen  Zeiten  wahrscheinlich  verschiedentlich 
verfahren  worden.  Eine  Übereinstimmung  in  der  Auffassung  der 
einzelnen  Stellen  ist  indessen  nicht  vorhanden^),  nur  die  vertausend- 
fachende Wirkung  eines  über  Zahlzeichen  hinweggezogenen  Hori- 
zontelstriches  z.B.  XXX  =»30000,  C  =  100000,  M-=  1000000 
scheint  außer  Zweifel. 

Wenden  wir  uns  zu  den  Zahlen  unterhalb  der  Einheit,  zu  den 
Brüchen,  so  stehen  wir  hier  vor  einem  ausgesprochenen  Duo- 
dezimalsystem.  Wir  haben  es  mit  einem  ähnlichen  Gedanken  zu 
tun,  wie  bei  dem  Sexagesimalsystem  der  Babjlonier  und  der  grie- 
chischen Astronomen.  Nur  daß  dort  der  jedesmalige  Zähler  seiner- 
seits angeschrieben  wurde,  als  wenn  er  als  ganze  Zahl  vorhanden 
wäre,  und  der  Nenner  durch  Stellung  oder  durch  ein  eigentümliches 
dem  Zähler  anhaftendes  Zeichen,  Strichelchen  oder  dergleichen  sich 

kund  gab;  bei  den  Römern  sind  dagegen  für  alle  Zwölftel  von  -r  bis 

zu  -g    besondere    Bruchzeichen    und    Bruchnamen    vorhanden.      Die 

Ähnlichkeit  beider  Systeme   zeigt  sich  beispielsweise  in  Ausdrücken 


^)  Th.  Mommsen,  Zahl-  und  Bruchzeichen.  Hermes  XXII,  596—614,  ins- 
besondere S.  603 — 606  über  die  subtraktive  Bezeichnung.  *)  Th.  Mommsen  I.e. 
")  Math.  Beitr.  Eultarl.  S.  162—165.  Th.  H.  Martin  in  den  Ännali  dt  mate- 
matiea  ^1868)  V,  295—297.     Friedlein  1.  c.  S.  28—81. 


526  25.  Kapitel 

wie  anderthalb  Zwölftel.  Unseren  Begriffen  nach  ist  das  weit  um- 
ständlicher gesprochen y  als  wenn  wir  ein  Achtel  sagen;  dem  Römer 
ist   offenbar   dieses   Umständlichere   das   Einfachere   und    Faßlichere^ 

weil  er  eben  ein  Zeichen  für  -,  sowie  für  die  Hälfte  von  -.^  besitzt, 
ein  solches  für   g-  dagegen   nicht   hat^).     Auch   der   krieche   würde 

nur  Yon  sieben  Sechzigsteln  nnd  von  30  zweiten  Sechzigsteln  reden, 
wenn  er  nicht  neben  und  vor  den  Sexagesimalbrüchen  die  Stamm- 
brüche besäße,  die  dem  Römer  fehlen.  Eine  weitere  Ähnlichkeit 
zwischen  den  Sexagesimalbrüchen  und  den  römischen  Duodezimal- 
brüchen dürfte  darin  gefunden  werden,  daß  beide  von  einer  ganz 
bestimmten  Teilung  hergenommen  sind,  also  ursprünglich  benannte 
Zahlen  waren,  bis  allmählich  der  Bruchgedanke  über  den  des  kleinen 
Bogenteiles  der  Babylonier,  des  kleinen  Gewichtsteiles  der  Römer 
die  Oberhand  gewann.  Wie  alt  freilich  die  Bruchzeichen  bei  den 
Römern  gewesen  sein  mögen,  ist  nicht  genau  zu  ermitteln.  Etrus- 
kische  Inschriften^)    von    mutmaßlich    hohem   Alter    enthalten    das 

Zeichen  f)  =  -ö"  *     Andererseits   läßt    ein   Ausspruch    von  Varro    die 

Deutung  zu,  als  sei  die  kleinste  Brucheinheit  von  ~  ^  As  in  der  Zeit 

vor  den  punischen  Kriegen  entstanden*).  Die  Frage,  wie  man  zu 
dem  Systeme  fortgesetzter  Zwölfteilung  gekommen  sei,  läßt  sich, 
gleich  vielen  ähnlichen  Fragen,  leichter  stellen  als  beantworten. 
Möglicherweise  ist  an  die  von  der  Natur  gegebene,  auf  den  gegen- 
seit^en  Stellungen  von  Sonne  und  Mond  am  EUmmel  beruhende 
Zwölfteilung  des  Jahres  in  Monate  als  Ursprung  zu  denken.  Wenn 
auch  Romulus  in  erster  Linie  ein  Jahr  von  zehn  Monaten  einsetzte, 
so  sind  doch  zwölf  Monate  von  der  Sagengeschichte  mit  dem  Namen 
des  Königs  Numa  oder  des  älteren  Tarquinius  in  Verbindung  gebracht, 
also  vielleicht  älter  als  die  römischen  Gewichte. 

Es  erscheint  zweckmäßig  hier  anzuknüpfen,  was  man  über 
das  gewöhnliche  Rechnen  der  Römer  weiß  mit' Ausschluß  eines 
denselben  vielleicht  bekannten  wissenschaftlichen  Rechnens, 
von  welchem  unter  Boethiüs  die  Rede  sein  muß.  Das  gewöhnliche 
Rechnen  wird  wohl  auf  dreierlei  Art  geübt  worden  sein:  als  Finger- 

^)  Anch  noch  Volusius  Maecianus,  der  in  der  Mitte  des  U.  S.  n.  Chr. 
lebte  (vgl.  Mommsen  in  den  Abhandlungen  der  Sächsischen  Gesellschaft  der 

■    4 

Wissensch.  HI,  281—285.     1868),  setzt  in  seinen  Zeichen   -—  =  -.--.      •)  Vgl. 

o  1a 

Corssen  1.  c.  ')  Varro,  De  re  rustica  I,  10:  Hcibet  iugerum  scriptula 
CCLXXXVIII  quantum  as  antiquus  noster  ante  hellum  Punicum  pendebat 


Älteste  Bechenkimst  und  FeldmesBung.    .  527 

rechnen,  als  Rechnen  auf  einem  Rechenbrett,  als  Rechnen  unter  Be- 
nutzung Torhandener  Tabellen. 

Das  Fingerrechnen  hat  die  älteste  Überlieferung  für  sich, 
indem  nach  Plinius^)  schon  König  Numa  Zahlendarstellung  mittels 
der  Finger  kannte.  Er  ließ  nämlich  ein  Standbild  des  doppelt- 
beantlitzten  Janus  errichten,  dessen  Finger  die  Zahl  355  als  Zahl 
der  Jahrestage  andeuteten.  Ein  spaterer  romischer  Schriftsteller, 
Macrobius^),  weiß  von  derselben  Sitte  den  Janus  mit  gekrümmten 
Fingern  abzubilden,  nur  nennt  er  nicht  König  Numa  als  Urheber 
und  gibt  die  dargestellte  Zahl  der  Jahrestage  zu  365  an,  offenbar 
dem  späteren  römischen  Jahre  diese  Zahl  entnehmend,  ohne  daß  ein 
altes  Bildwerk  ihm  vor  Augen  geweseu  wäre.  Martianus  Capella') 
läßt  die  als  Göttin  auftretende  Arithmetik  die  Zahl  717  mittels  der 
Finger  darstellen.  Neben  diesen  Angaben  ganz  bestimmter  durch 
Fingerbeugung  angedeuteter  Zahlen  kann  man  noch  viele  Stellen 
römischer  Schriftsteller  aus  den  verschiedensten  Zeiten  anführen, 
welche  das  Fingerrechnen  im  allgemeinen  bestätigen.  Die  rechte 
Hand,  sagt  Plautus^),  bringt  die  Rechnung  zusammen.  Mit  Wort 
und  Fingern  läßt  Suetonius^)  die  Goldstücke  abzählen.  Bei  Quin- 
tilian*)  ist  von  einer  Abweichung  von  der  Rechnung  durch  unsichere 
oder  unschickliche  Bewegung  der  Finger  die  Rede,  Firmicus  Mater- 
nus^  erinnert  daran,  daß  Anfänger  im  Rechnen  die  Finger  zu  Hilfe 
nehmen  und  ähnlich  bei  anderen®).  Wir  führen  nur  eine  Stelle  noch 
besonders  an,  weil  sie  die  fortschreitende  Reihenfolge  von  links  nach 
rechts  bestätigt,  welche  wir  zuletzt  noch  bei  Nikolaus  Rhabda  (S.  514) 
als  Regel  kennen  gelernt  haben.  Juvenal^)  läßt  nämlich  den  mehr 
als  Hundertjährigen  die  Zahl  seiner  Jahre  schon  an  der  rechten  Hand 
zur  Darstellung  bringen.  Eine  ausführliche  Beschreibung,  wie  man 
Zahlen  durch  Fingerbewegongen  kenntlich  mache,  von  Beda  Venera- 
bilis,  dem  schottischen  Mönche  aus  dem  YH.  und  YHI.  S.,  gehört 
bereits  der  Literatur  des  Mittelalters  an,  und  wird  uns  im  38.  Kapitel 
beschäftigen. 

Vielleicht    mit  jener    mittelalterlichen   Verbreitung   des  Finger- 


*)  Plinins,  Histor,  natur.  XXXIV,  16.  •)  MacrobiuB,  Conviv.  Saturn, 
I,  9.  *)  Martianus  Capella,  Satura  VII  init.  *)  Plantns,  Miles  gloriostAS 
Act.  II  sc.  3:  Dextera  digitis  rationetn  computat.  ^)  Suetonins,  Claudius 
XXI  .  .  .  ut  obUxtos  aureas  voce  digitisque  numeraret.  ^  Quintilian  I:  si  digi- 
torum  solum  incerto  aut  indecoro  gestu  a  computcUüme  dissentit.  ^)  Firmicus 
Maternus  I,  5,  14  Vides  itt  primos  discentes  computos  digitos  tarda  agitatiane 
deflectant?  ^)  Eine  Zusammenstellung,  bei  welcher  auch  die  Kirchenväter  be- 
rücksichtigt sind,  bei  Bocco  Bombelli  1.  c.  pag.  101 — 107.  ^  Jnvenalis, 
Sat.  X,  y.  248  mos  jam  dextra  computat  annos. 


528  26.  Kapitel. 

rechnens,  vielleicht  aber  auch  schon  mit  römischen  (rewohnheiten 
sind  Sparen  in  Verbindung  zu  setzen^  welche  bis  auf  den  heutigen 
Tag  sich  erhalten  haben.  In  der  Walachei^)  bedient  man  sich  der 
Finger,  um  das  Produkt  zweier  einziffriger  Zahlen,  die  größer  als 
5  sind,  zu  finden.  Die  Finger  jeder  der  beiden  Hände  erhalten  vom 
Daumen  zum  Eleinenfinger  aufsteigend  die  Werte  6  bis  10.  Hat 
man  nun  zwei  Zahlen,  z.  B.  8  mal  9  zu  multiplizieren,  so  streckt  man 
den  Achterfinger  (Mittelfinger)  der  einen  und  den  Neunerfinger 
(Ringfinger)  der  anderen  £[and  vor.  Die  nach  dem  Eleinenfinger 
hin  übrigen  Finger  beider  Hände  (2  Finger  und  1  Finger)  multipli- 
ziert man  miteinander  und  hat  damit  die  Einer  (2  •  1  =»  2)  des  Pro- 
duktes. Die  von  den  Daumen  aus  vorhandenen  Finger  mit  Ein- 
schluß der  ausgestreckten  Finger  (3  Finger  und  4  Finger)  addiert 
man  und  hat  damit  die  Zehner  (3  +  4  =  7)  des  Produktes 
(8  •  9  =»  72).  Die  Richtigkeit  dieser  komplementären  Multipli- 
kation ist  einleuchtend.  Heißen  a  und  b  die  zu  vervielfältigenden 
Zahlen,  so  sind  10  —  a  und  10  —  6  die  noch  übrigen  Finger  zum 
Eleinenfinger  hin,  a  —  5  und  b  —  6  die  Finger  vom  Daumen  an. 
Die  Regel  läßt  also  (10  -  a)  •  (10  -  6)  +  10  (a  -  5  +  6  -  5) 
«  100  -  10a  —  106  +  ab  +  10a  +  106  -  100  =  ab  büden.  Der 
Zweck,  der  erreicht  wird,  besteht  darin,  daß  hauptsächlich  nur  der 
Anfang  des  Einmaleins  bis  zu  4  mal  4  auswendig  behalten  werden 
muß  und  die  Erlernung  der  Abteilung,  die  mit  6  mal  6  beginnt, 
erspart  bleibt. 

Wenn  wir  nun  die  Mutmaßung  wagen,  es  sei  hier  römisches 
Fingerrechnen  zu  verfolgen,  so  veranlassen  uns  dazu  die  eigentüm- 
lichen Tatsachen,  daß  die  römischen  Zahlzeichen  VI,  VH,  VIII, 
oder  nX,  YJIJI  oder  IX  sehr  leicht  zur  Beachtung  der  Erpinzungs- 
zahlen,  die  hier  benutzt  sind,  führen  konnten;  daß  ein  ganz  ahn* 
liches  Verfahren  auch  bei  französischen  Bauern  gefunden  worden 
ist;  daß  wir  im  Mittelalter  ähnlichen  Regeln  begegnen  werden,  die 
im  40.  Eapitel  zu  besprechen  sind;  daß  auch  ein  komplementäres 
Divisionsverfahren  unsere  Aufmerksamkeit  mehrfach  in  Anspruch 
nehmen  wird,  für  welches  ein  anderer  Ursprung  als  ein  römischer 
zunächst  nicht  zu  Gebote  steht.  Wir  sagen  zunächst,  denn  es  wäre 
immerhin  möglich,  daß  auch  die  komplementören  Rechnungsverfahren 
bis  nach  Grriechenland  verfolgt  werden  müßten,  wenn  die  nötigen 
Voraussetzungen,  wir  meinen  griechische  Lehrbücher  der  Rechen- 
kunst,  vorhanden  wären.    Wir  erinnern  an  jenes  dem  Nikomachus 


^)  D.  Pick  in  Hofimanns  Zeitechi.  fOr  math.  and  naturw.  Unterricht  Y, 
67  (1874). 


Älteste  Rechenkunst  und  Feldmessung.  529 

zugeschriebene  Verfahren  die  Quadrate  von  Zahlen  zu  finden 
(S.  433)^  welches  zwar  mit  der  komplementären  Multiplikation  sich 
nicht  deckt;  aber  eine  entschiedene  Familienähnlichkeit  zu  derselben 
nicht  verkennen  läßt. 

Nächst  dem  Fingerrechnea  war  bei  den  Bömern  das  Rechnen 
auf  dem  Rechenbrett  üblich  und  bildete  einen  Gegenstand  des 
elementaren  Unterrichtes.  Auch  dafür  ist  eine  ganze  Anzahl  von 
Stellen  gesammelt  worden^),  welche  meistens  auf  einen  mit  Staub 
überdeckten  Abacus  Bezug  nehmen,  auf  welchem  man  alsdann  geo- 
metrische Figuren  aller  Art  entwerfen  konnte,  welche  man  aber  auch 
imstande  war  durch  Ziehen  gerader  Striche  in  Kolumnen  abzu- 
teilen, welche  mit  Steinchen,  calculi,  belegt  zum  Rechnen  dienten. 
Die  sogenannte  Pariser  Gemme,  wahrscheinlich  etruskische  Arbeit, 
zeigt  einen  Rechner,  der  in  der  Linken  eine  mit  Zahlzeichen  ko- 
lumnenformig  (allerdings  ohne  abteilenden  Strich)  bedeckte  Tafel 
hält^,  während  er  mit  der  Rechten  Steinchen  auf  einen  Tisch  legt. 
Neben  diesem  somit  far  römische  Übung  gesicherten  Kolumnen- 
abacus  gab  es  aber  auch  einen  Abacus  mit  Einschnitten  und  in  diesen 
Einschnitten  verschiebbaren  Knöpfchen.  Vier  solcher  Vorrichtungen  *) 
haben  sich  bis  in  die  neuere  Zeit  erhalten,  darunter  wenigstens  eine, 
deren  altertümlicher  Ursprung  von  dem  Beschreiber  ganz  besonders 
hervorgehoben  worden  ist*). 

Eine  solche  römische  Rechentafel,  eigens  zum  Rechnen,  nicht 
zu  mehrfachem  Gebrauche  hergerichtet,  war  von  Metall  und  hatte 
acht  längere  und  acht  kürzere  Einschnitte,  je  einen  von  jenen  mit 
einem  von  diesen  in  gerader  Linie.  Li  den  Einschnitten  waren  be- 
wegliche Stifte  mit  Knöpfen,  in  einem  der  längeren  fünf  Stück,  in 
den  übrigen  vier,  in  den  kürzeren  je  einer.  Jeder  längere  Einschnitt 
war  oben,  also  nach  der  Seite,  wo  der  kürzere  Einschnitt  ihn  fort- 
setzte, mit  einer  Überschrift  versehen.  Der  Gebrauch  der  Rechen- 
tafel ergibt  sich  von  selbst.  Sie  wurde  mit  zu  dem  Rechner  senk- 
rechten Einschnitten  auf  eine  beliebige  Unterlage  aufgestellt,  zu 
welchem  Zwecke  unten  an  der  Tafel  Füßchen  angebracht  waren. 
Dem  Rechner  am  nächsten  waren,  wie  wir  schon  andeuteten,  die 
längeren  Einschnitte;  die  kürzeren  waren  weiter  von  ihm  entfernt. 
Die  Marken  in  den  längeren  Einschnitten  bedeuteten  einzelne  Ein- 
heiten ihrer  Klasse;   die  in   den  kürzeren  Einschnitten   galten   fünf 


*)  Rocco  Bombelli  1.  c.  pag.  116  sqq.  *)  Zangemeiater,  Monats- 
berichte der  Berliner  Akademie  vom  10.  November  1887.  Die  Tafel  ist  auf 
S.  11  des  Sonderabzuges  abgedruckt.  ')  Deren  Beschreibung  bei  Becker- 
Marquart,  Handbuch  der  römischen  Alterthümer  V,  100.  *)  Claude  du  Mo- 
linet, Le  cctbinet  de  la  biblioth^ue  de  Ste.  Qtnevüve.    Paris  1692,  pag.  25. 

Caittob,  Oetohioht«  der  Mathematik  I.  S.  Aufl.  34 


530  25.  Kapitel. 

solcher  Einheiten.  Nur  der  erste  kürzere  Einschnitt  von  rechts 
bildete  dabei  eine  Ausnahme^  indem  dessen  einzelne  Marke  sechs  Ein- 
heiten bedeut.ete.  Dieser  äußerste  Einschnitt  (sofern  man  die  beiden 
Einschnitte,  den  längeren  und  den  kürzeren,  nur  als  Abteilungen 
eines  einzigen  in  der  Mitte  unterbrochenen  Einschnittes  betrachtet) 
war  nämlich  mit  6  bezeichnet  und  enthielt  die  Unzen,  deren  12  auf 
eine  Aß  gingen.  Die  übrigen  für  die  Asse  bestimmten  Einschnitte 
trugen  in  nach  links  dekadisch  aufsteigender  Reihenfolge  die  Bezeich- 
nungen I,  X,  C  usf.  bis  zu  IX I  oder  einer  Million.  Der  erste 
Einschnitt  von  rechts  aus  konnte  danach  zur  Angabe  von  11  Unzen 
noch  dienen,  wenn  man  die  ursprünglich  so  weit  als  möglich  von- 
einander getrennten  Enöpfchen  der  beiden  Abteilungen  sämtlich 
gegen  die  Mitte  des  Brettes  vorschob,  wo  die  schriftlichen  Bezeich- 
nungen standen,  und  so  einander  näherte.  An  diesem  Orte  erhielten 
sie  den  Zählwert  von  fünf  einzelnen  Unzen  und  einer  Sechsunzen- 
marke. Kamen  dann  noch  weitere  Unzen  hinzu,  so  ersetzte  man  ihrer 
12  durch  eine  gegen  die  Mitte  vorgeschobene  Marke  der  nächsten  Linie, 
d.  h.  der  Einheiten  der  Asse.  In  den  folgenden  sieben  Einschnitten 
konnte  man  durch  ähnliches  Verfahren  bis  zu  je  neun  Einheiten  in 
jeder  Klasse  von  den  Einem  bis  zu  Millionen  von  Assen  darstellen. 
So  zeigten  drei  verschobene  Knöpfe  in  einem  längeren  Einschnitte 
und  der  einzelne  in  dem  zugehörigen  kürzeren  Einschnitte  gleichfalls 
nach  der  Mitte  des  Abacus  fortgerückt  die  Zahl  8  in  der  entsprechen- 
den Klasse  an.  Neben  den  Einschnitten  der  Unzen  waren  noch  drei 
kleinere  Einschnitte,  die  beiden  oberen  mit  je  einer  Marke,  die 
unterste  mit  zwei  Marken  versehen.  Die  Bedeutung  dieser  Ein- 
schnitte war  den  beigeschriebenen  Zeichen  zufolge  von  oben  nach 
unten  die  halbe  Unze  semuncia,  die  viertel  Unze  siciliquus,  die  drittel 
Unze  duella.  Das  alles  ergibt  sich  aus  der  Betrachtung  der  Rechen- 
tafel selbst  mit  Ausnahme  dessen,  was  wir  über  die  nötige  Ver- 
schiebung der  Knöpf chen  bemerkt  haben,  und  wofür  wir  eine  alter- 
tümliche Quelle  anzugeben  allerdings  nicht  imstande  sind.  Es  muß 
eben  der  Natur  der  Sache  nach  so  oder  umgekehrt  verfahren 
worden  sein,  und  da  scheint  uns,  daß  die  Übersicht  wesentlich  er- 
leichtert ist,  wenn  die  wirklich  zu  zählenden  Knöpfchen  in  der  Mitte 
des  Brettes  vereinigt  waren,  dicht  bei  den  Zeichen,  die  den  Wert 
des  einzelnen  Knöpf chens  angaben,  daß  also,  wo  die  Nützlichkeit 
den  Ausschlag  geben  durfte,  nicht  leicht  eine  andere  Wahl  getroffen 
worden  sein  wird,  als  die  wir  andeuteten. 

Auf  diesem  Rechenbrette  konnten,  wie  auf  jedem  ähnlichen 
Apparate  mit  festen  Marken,  Additionen  und  Subtraktionen  leicht 
vollzogen  werden.    Wollte  man  multiplizieren  oder  dividieren,  so  war 


Älteste  RechenknuBt  und  Feldmesanng.  531 

es  nötig  die  Zahlen,  an  welchen  jene  Operationen  yorgenommen 
werden  sollten,  besonders,  etwa  schriftlich,  anzumerken,  nnd  der  Abacns 
vermittelte  nur  die  Vereinigung  der  Teilprodukte,  beziehungsweise  die 
Subtraktionen  der  aus  den  Teüquotienten  entstandenen  Zahlen. 

Dabei  war  ein  Kopfrechnen  mit  Benutzung  des  Einmaleins 
nicht  zu  umgehen,  und  bei  diesem  konnte  vielleicht  die  beschriebene 
Fingermultiplikation  Anwendung  finden.  Wir  wissen,  daß  römische 
Knaben  in  ihren  Schulen  im  Kopfrechnen  geübt  wurden,  daB  dem 
Vorübergehenden  die  einförmigen  Töne  des  2  mal  2  sind  4,  bis  bina 
quatuor,  welches  die  Knaben  gemeinsam  herzusingen  (decantare) 
hatten,  entgegenzudringen  pflegten,  daß  damit  noch  andere  Mißtöne 
sich  häufig  genug  vereinigten,  das  Klatschen  der  Rute  oder  der 
Peitsche  und  das  Heulen  der  in  solcher  Weise  Unterrichteten. 

Kamen  freilich  Multiplikationen  hoher  Zahlen,  oder  gar  solche 
von  Brächen  vor,  so  nutzte  dem  ungeübten  Rechner  nicht  Rechen- 
brett noch  gewöhnliches  Einmaleins,  er  mußte  die  Produkte  von 
einem  tabellarisch  geordneten  Rechenknechte  hernehmen,  und 
das  ist  es,  was  wir  weiter  oben  ein  Rechnen  unter  Benutzung  vor- 
handener Tabellen  genannt  haben.  Ein  solcher  Rechenknecht  hat 
sich  erhalten,  dessen  freilich  sehr  später  Verfasser  überdies  nicht  auf 
italischem  Boden  lebte.  Gleichwohl  wird  ein  Zweifel  darein  nicht 
gesetzt  werden  können,  daß  es  Römisches  und  nur  Römisches  ist, 
was  hier  vorliegt,  mag  auch  darüber  gestritten  werden  können,  ob 
ältere  Musterwerke  bloß  benutzt  oder  geradezu  abgeschrieben  sind. 

Wir  meinen  den  Calculus  des  Victorius^),  eines  Schrift- 
stellers, der  mitunter  aber  wahrscheinlich  unrichtig  auch  Victorinus 
genannt  wird.  Seine  Persönlichkeit  bestimmt  sich  dahin,  daß  er  aus 
Aquitanien  stammte  und  im  Jahre  467  n.  Chr.  eine  sogenannte  Oster- 
rechnung, d.  h.  eine  Anleitung  zur  Auffindung  des  richtigen  Oster- 
datums  verfaßte.  Vor  oder  nach  diesem  canon  paschalis,  das  eine 
ist  ebensogut  möglich  als  das  andere,  richtete  der  als  eifriger  und 
gewissenhafter  Rechner  von  seinen  Kommentatoren  gerühmte  Victorius 
diese  Tabellen  her,  aus  welchen  Vervielfältigungen  sowohl  ganzer  als 
gebrochener  Zahlen  in  großer  Ausdehnung  entnommen  werden  können. 
Mathematischer  Wert  ist  den  Tabellen  selbstverständlich  nicht  bei- 
zulegen. Wir  müssen  nur  «bemerken,  daß  auf  ihnen  eigentümliche 
Bruchzeichen  sich  befinden,  verschieden  von  denen  der  älteren  Schrifb- 
steller,  dagegen  sich  forterbend  durch  das  ganze  Mittelalter. 

^)  Vgl.  Christ  in  den  Sitzungsberichten  der  Münchener  Akademie  1868, 
S.  100—162.  Dann  Friedlein  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XVI,  42—79  (1871) 
und  im  BülleUino  Boncompagni  1871,  pag.  443—468,  wo  der,  wie  es  scheint,  zu- 
verlässigste Text  aus  einer  Vatikanhandschriffc  abgedruckt  ist. 

84» 


532  25.  Kapitel. 

Bevor  wir  das  Rechnen  der  Römer  verlassen;  fordert  die  eigen- 
tümliche Anwendung  eines  gewissen  Zahlwortes  bei  ihnen  ein  Wort 
der  Besprechung :  sexcenti  »  sechshundert;  welches  in  der  Bedeutung 
unendlich  viele  bei  Schriftstellern  fast  jedes  Zeitalters,  soweit  sie 
sich  erhalten  haben^  erstmalig  aber  bei  Plautus  um  200  v.  Chr.  vor- 
kommt. Wir  nehmen  keinen  Anstand  bei  einer  vor  langer  Zeit  ge- 
äuBerten  Vermutung^)  zu  verharren,  dieses  sexcenti  sei  das  chal- 
däische  ner.  Wenn  (S.  45)  Chaldäer  139  v.  Chr.  aus  Rom  vertrieben 
wurden,  so  darf  man  ihren  damals  erworbenen  schädlichen  Einfluß 
für  alt  genug  halten,  daß  etwa  sechzig  Jahre  früher  ein  von  ihnen 
oftmals  unbestimmt  gebrauchtes  Zahlwort  sich  in  weiteren  Kreisen 
einbürgerte. 

Wir  leiteten  diese  Erörterungen,  welche  uns,  wie  man  sieht, 
chronologisch  aber  nicht  mathematisch  sehr  weit  geführt  haben,  mit 
der  Behauptung  ein,  wie  die  Zahlzeichen  der  Römer,  so  werde  auch 
deren  praktische  Feldmessung  auf  etruskische  Ursprünge  zurück- 
geführt, sei  nun  die  Überlieferung  eine  berechtigte  oder  nicht.  Wir 
wenden  uns  zu  diesem  zweiten  Gegenstande,  welcher  ebenfalls  eine 
weitläufigere  Erörterung  fordert. 

Der  älteste  uns  bekannte  römische  Schriftsteller,  welcher  mit 
nicht  mißzu verstehenden  Worten  es  ausspricht,  die  Art,  wie  die  Be- 
grenzungen festgestellt  werden,  rühre  von  den  Etruskem  her^),  ist 
Varro  etwa  50  bis  80  Jahre  vor  dem  Anfange  der  christlichen  Zeit- 
rechnung, und  von  ihm  aus  begegnen  wir  dieser  Überlieferung  durch 
Jahrhunderte. 

Die  Begrenzungen,  von  denen  die  Rede  ist,  sind  sehr  allgemeiner 
Natur.  Demselben  Grundgedanken  gehorchend  finden  sie  sich  überall, 
wo  es  um  gesetzliche  räumliche  Absonderung  sich  handeln  kann,  bei 
der  Anlage  der  Stadt  wie  des  Lagers,  bei  der  Vermessung  des  an- 
gebauten Landes,  bei  dem  Giiindrisse  des  bürgerlichen  Hauses  wie  des 
Hauses,  als  dessen  Eigentümer  eine  Gottheit  gilt.  Diese  letztere,  der 
Tempel,  führt  sogar  den  Namen  nach  dem  Abschneiden  {rsfivsLv) 
aus  dem  umgebenden  Grund  und  Boden,  und  ein  templum  ist  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  jedes  Grundeigentum')..  Wenn  auch  der  Be- 
griff des  Templum  in  der  römischen  Religion  und  allen  mit  ihr  zu- 
sammenhängenden Verrichtungen  eine  maßgebende  Rolle  spielt,  er 
hat  sich  gleichwohl  so  wenig  aus  dem  des  Heiligen,   Gottgeweihten 

*)  Mathem.  Beiträge  Kolturl.  S.  362.  *)  Limitum  prima  origo,  siaU  Varro 
deseripsit,  a  diseiplina  Etrusca.  Römische  Feldmesser  I,  27.  [Unter  dem  Zitate 
„Römische  Feldmesser^*  verstehen  wir  die  Schriften  der  Römischen  Feldmesser 
herausgegeben  und  erläutert  von  F.  Blume,  E.  Lachmann  und  A.  Rudorff. 
Berlin  1848  und  1852.]     *)  Nissen,  Das  Templum  S.  7,  8,  10,  56  und  häufiger. 


Älteste  BechenkuBBt  und  FeldmessHiig.  533 

entwickelt,  daß  er  sich  mit  diesem  nicht  einmal  deckt.  Eines  der 
höchsten  Heiligtümer  in  Rom,  das  der  Vesta,  war  sogar  kein  Tem- 
plum.  Die  städtische  Anlage  dagegen  gehört  unter  den  genannten 
Begriff.  Die  italische  Stadt  nämlich  entsteht  nicht  gleich  der  mo- 
dernen und  mittelalterlichen  im  langsamen  Verlaufe  der  Zeiten  von 
einzelnen  Häusern  zum  Dorf,  vom  Dorfe  zur  Stadt  anwachsend.  Sie 
wird  auf  einmal  geschaffen  durch  eine  einzige  politisch-religiöse  Hand- 
lung. Sie  weiß  ihren  Gründer,  ihr  Gründungsjahr,  oftmals  ihren 
Gründungstag  zu  nennen,  den  man  dann  alljährlich  als  städtisches 
Pest  feiert. 

Die  Bedingung,  welche  nun  solcher  Absteckung  von  Grenzen 
die  Gesetzmäßigkeit  verleiht,  besteht  darin*),  daß  der  Gesichtskreis 
durch  zwei  senkrecht  zueinander  stehende  Gerade  in  vier  Teile  ge- 
schnitten werde,  und  daß  die  Geraden  ein  für  allemal  die  Richtungen 
für  die  Seiten  der  rechteckigen  Einzelgebilde  abgeben,  mögen  Häuser 
oder  Feldstücke,  Zimmer  oder  Tempelräume  diese  Einzelgebilde  sein. 
Die  beiden  Richtungen  werden  überdies  nicht  willkürlich  angenommen, 
sondern  sollen  mit  den  Verbindunglinien  der  einander  gegenüber- 
liegenden Haupthimmelsgegenden  übereinstimmen. 

Wir  erinnern  uns,  daß  eine  derartige  Orientierung  religiösen 
Zwecken  dienender  Baulichkeiten  uns  auch  an  anderen  Orten  be- 
merklich wurde,  daß  wir  (S.  15)  zum  voraus  ankündigten,  wir  würden 
in  der  häufig  vorkommenden  Tatsache  selbst  keinen  Grund  erkennen, 
eine  Übertragung  von  einem  Volke  zum  anderen  mit  ^Notwendigkeit 
annehmen  zu  müssen.  Wir  finden  es  angemessen  zusätzlich  hier  zu 
bemerken,  daß  eine  solche  Übertragung  für  die  altitalischen  Orien- 
tierungen weniger  als  irgend  sonstwo  anzunehmen  sein  wird.  Jeden- 
falls hat  hier  und  nur  hier  der  Orientierungsgedanke  eine  Ent- 
wicklung genommen  wie  sonst  nirgend,  hat  er  die  Errichtung  fast 
jedes  Gebäudes,  fast  jeder  Verbindung  von  Gebäuden  in  so  folge- 
richtiger Weise,  wie  wir  es  schon  andeuteten,  beeinflußt.  Nicht 
bloß  ein  einzelner  Tempel,  die  römischen  Gesetzen  unterworfene 
Welt  war  nach  einem  einzigen  rechtwinkligen  Koordinatensysteme 
geordnet*),  und  wir  werden  auf  diesen  Gedanken  noch  zurückzu- 
greifen haben. 

Die  Abszissenachse  des  gemeinsamen  Systems  war  die  Ostwest- 
linie, dessen  Ordinatenachse  die  Südnordlinie  oder  Mittagslinie. 

')  Agrimensoien  S.  6ö  flgg.  ')  Nissen,  Das  Templtun  S.  165:  „Seit 
Augustas  war  der  Culturkreis  des  Mittelmeeres  zu  einem  einzigen  politischen 
Ganzen  geschlossen  worden;  das  Templnm,  welches  einst  auf  den  palatinischen 
Hügel  beschränkt  gewesen  war,  hatte  sich  ausgedehnt  in  immer  weiteren  Kreisen 
und  anjetzt  war  das  letzte  und  grösste  Templnm  constituirt  worden/* 


534  25.  Kapitel. 

Allerdings  zeigen  die  Trümmer  von  Tempeln,  von  Stadteanlagen  nnd 
dergleichen,  welche  man  genauer  auf  ihre  Lage  zu  prüfen  noch  nicht 
gar  lange  begonnen  hat,  nicht  ganz  unerhebliche  Abweichungen  von 
der  wahren  astronomischen  Mittagslinie.  Es  ist  für  unsere  Zwecke 
durchaus  gleichgültig,  ob  diese  Verschiedenheiten  unabsichtlich,  ob  sie 
absichtlich  entstanden  sind;  ob  sie,  wie  man  früher  annahm,  aus  einem 
ungeschickten  Verfahren  derer  hervorgingen,  welche  die  Richtungen 
bestimmten,  oder  ob,  wie  eine  jedeufalls  geistreiche  und  genaue 
Prüfung  verdienende  Vermutung  es  will^),  die  Richtung  nach  dem 
Punkte  des  Sonnenaufgangs  am  Gründungstage  des  betreffenden 
Tempels  in  der  Abszissenachse  festgehalten  werden  sollte,  einem  Tage, 
der  selbst  keineswegs  willkürlich  angenommen  wurde,  sondern  der 
jedesmalige  Hauptfeiertag  derjenigen  Gottheit  sein  mußte,  welcher 
das  Heiligtum  geweiht  werden  sollte. 

Wir  haben  für  die  Grundrichtungen  uns  der  ganz  modernen 
Namen  der  Koordinatenachsen  bedient.  Den  Römern  hießen  dieselben 
Decimanus  und  Cardo,  offenbar  sehr  altertümliche  Namen,  wie  man 
gewiß  mit  Recht  schon  daraus  gefolgert  hat,  daß  als  Abkürzung  für 
Cardo  stets  ein  E  benutzt  worden  ist,  ein  Buchstabe,  der  der  römischen 
Schrift  im  übrigen  schon  frühzeitig  abhanden  kam.  Die  Bedeutung 
von  Decimanus  dürfen  wir  heute  wohl  nur  als  unbekannt  be- 
zeichnen*). Wie  die  antike  Ableitung  des  Wortes  Decimanus  von 
einem  selbst  mehr  als  zweifelhaften  duocere,  zweiteilen,  weil  der 
Raum  überhaupt  in  zwei  Abteilungen  zerfällt  worden  sei,  sprachlich 
ganz  und  gar  unhaltbar  ist,  so  ruht  eine  moderne  Ableitung,  welche 
Decimanus  einfach  aus  decem  entstanden  wissen  will,  sachlich  auf 
gar  schwachen  Füßen.  Die  Italiker,  sagt  man,  bedienten  sich  von 
uralters  her  eines  Dezimalsystems.  Der  Zehnte  macht  daher  die 
Reihe  voll,  und  die  Linie,  welche  eine  Flächeneinheit  begrenzt,  er- 
hielt passend  von  ihm  den  Namen,  gerade  wie  diejenige,  welche  die 
Flächeneinheit  halbiert,  die  fünfte  heißt.  Wir  vermögen  diese 
Schlüsse  als  genügend  nicht  anzuerkennen.  Zuerst  würde  man  uns 
nachweisen  müssen,  daß  die  begrenzte  Flächeneinheit  wenigstens 
nach  einer  Richtung  die  Seitenlänge  10  hatte,  und  dann  müßte  man 
uns  noch  erklären,  wie  neben  dem  Worte  via  quintana  für  eine 
Querstraße  auch  die  Wortverbindung  decimana  quintaria  entstehen 
konnte,  bevor  wir  jene  Deutung  als  gesichert  anerkennen.  Um  so 
zweifelloser  ist  Cardo,  die  Angel,  um  welche  das  Weltall  sich  dreht, 
die  Weltachse. 


^)  Diese  Theorie  ist  von  Nissen  in  seinem  mehrerwähnten  Werke  über 
das  Templum  aufgestellt.  *)  Vgl.  Agrimensoren  S.  66  mit  Nissen,  Das  Tem- 
plum  S  12  und  27. 


Älteste  Rechenknnst  und  Feldmessnng.  535 

Jedenfalls  zog  bei  irgend  einer  Gründung  der  Augur^)  zuerst 
einen  Decimanus,  dann  senkrecht  zu  ihm  einen  Cardo^  und  somit 
sind  es  zwei  praktische  Tätigkeiten ,  welche  er  von  Anfang  an  aus- 
zuüben verpflichtet  und  folglich  auch  befähigt  sein  mußte:  die  Ost- 
westlinie zu  bestimmen  und  zu  einer  gegebenen  Geraden  auf  dem 
Felde  eine  Senkrechte  zu  ziehen. 

Für  die  Bestimmung  der  Ostwestlinie  sind  drei  verschiedene 
Methoden  durch  Hjginus,  einen  Feldmesser  etwa  aus  dem  Jahre 
100  n.  Chr.,  beschrieben.  Die  erste  Methode*)  richtete  ein  zum  Visieren 
geeignetes  Instrument,  von  welchem  wir  noch  zu  reden  haben,  nach 
dem  Punkte  des  Horizontes,  wo  wirklich  die  Sonne  aufging.  Diese 
Richtung  wurde  als  Ostwestlinie,  die  zu  ihr  senkrechte  als  Gardo 
bestimmt,  und,  fügte  der  Beschreiber  im  stolzen  Gefühle  seiner  Über- 
legenheit hinzu,  um  Mittag  stimmte  diese  Mittagslinie  nicht  mit  der 
Wirklichkeit  überein.  Die  zweite  Methode*)  befestigte  auf  geebneter 
Grundlage  einen  senkrechten  Stifb  als  Schattennehmer,  sciotherum, 
und  beschrieb  um  denselben  als  Mittelpunkt  einen  Kreis,  dessen 
Halbmesser  kleiner  als  die  größte  Schattenlänge  des  Stiftes  gewählt 
werden  mußte.  Sowohl  des  Morgens  als  des  Nachmittags  mußte  der 
Schatten  einmal  so  lang  werden,  daß  sein  Endpunkt  genau  in  diesen 
Ereisumfang  eintraf,  und  die  beiden  Punkte,  in  welchen  solches  statt- 
fand, hatte  man  zu  beobachten  und  anzumerken,  endlich  zu  verbinden. 
Die  Yerbindungsgerade  war  der  gewünschte  Decimanus.  Die  dritte 
Methode*)  machte  von  drei  ungleichen  Schattenlängen  Gebrauch, 
welche  in  kurz  aufeinander  folgenden  Zeitpunkten,  aber  sämtlich 
vormittags,  auf  der  Grundebene  des  Sciotherums  verzeichnet  worden 
waren. 

Die  letzte  Methode^  unter  deren  Vorzügen  wir  nur  den  einen 
hervorheben  wollen,  daß  sie  unabhängig  davon  war,  ob  die  Sonne 
in  einem  gewissen  Momente  unbewölkt  am  Himmel  stand  und  die 
vorausbestimmte  Schattenlänge  wirklich  liefern  konnte  oder  nicht, 
setzt  Kenntnisse  der  Stereometrie  in  einem  Maße  voraus,  daß  wir 
ihre  Entstehung  nur  bei  einem  Schriftsteller  vermuten  dürfen,  dessen 

*)  Der  Name  Augur  wird  (nach  Nissen  1.  c.  S.  5,  Anmerkung  1)  von 
J.  Schmidt  mit  aio,  auctar,  autumari,  e^xeö^ai  in  Verbindung  gebracht. 
*)  Hygini  gromatici  de  Umitibus  constituendis  in  Römische  Feldmesser  I,  170. 
»)  Hyginus,  Römische  Feldmesser  I,  188—189.  *)  Ebenda  189—191.  Vgl. 
Agrimensoren  S.  68 — 69.  Über  diese  Methode  hat  schon  Cristini  geschrieben, 
von  welchem  1605  in  Turin  ein  Druckwerk  herauskam:  Methadus  inveniendae 
mertdianae  lineae  ex  trihtu  umbris,  simul  cum  paraphrasi  in  simtlem  methodum 
conseriptum  ab  Hygino  Äugusto  Liberto.  Vgl.  Carteggio  itiedito  dt  Ticone  Brake, 
Giovanni  Keplero  etc.  con  Oiavanni  Antonio  Magini  pubbVcato  ed  ülustrato  da 
Antonio  Favaro.     Bologna  1886,  pag.  296,  802  und  304,  Note  1. 


536  25.  Kapitel. 

wisseDSchaftliche  Bildung  eine  weit  höhere  war^  als  Römer  sie  unserer 
persönlichen  Überzeugung  nach  je  besaßen.  Wir  meinen,  es  mQsse 
eine  griechische  Methode  aus  der  Zeit  entwickelter  Stereometrie  sein, 
welm  es  auch  nicht  möglich  gewesen  ist,  sie  bei  irgend  einem  der 
uns  erhaltenen  griechischen  Astronomen  aufzufinden« 

Die  von  uns  als  zweite  bezeichnete  Methode  dürfte,  wenn  auch 
nicht  der  ältesten  Zeit,  doch  einem  erheblich  früheren  Zeitalter  als 
dem  des  Hyginus  angehören.  Ebendieselbe  beschreibt  nämlich  auch 
Vitruvius^)  um  das  Jahr  15  v.  Chr.  Andererseits  kann  sie  in  Rom 
nicht  früher  als  frühestens  250  v.  Chr.  etwa  bekannt  gewesen  sein, 
wie  daraus  hervorgeht,  daß  sie  den  Gebrauch  einer  Art  von  Sonnen- 
uhr als  bekannt  annimmt,  während  eine  solche  nach  einer  Angabe 
im  Jahre  293,  nach  einer  anderen  gar  erst  263  erstmalig  in  Rom 
aufgerichtet  wurde*). 

So  bleibt  uns  als  ältestes  italisches  Verfahren  kein  anderes  übrig 
als  jenes  dem  Gedanken  nach  einfachste  Hinschauen  nach  der  Gegend, 
wo  die  Sonne  zuerst  sichtbar  wurde,  ein  Verfahren  welches  bei  aller 
UnZuverlässigkeit  doch  eine  erträgliche  Orientierung  Uefem  kann, 
wenn  es  zu  einer  Jahreszeit  vorgenommen  wurde,  welche  nicht  gar 
zu  entfernt  von  der  Tagundnachtgleiche  lag'). 

Ihm  war  nur  ein  Apparat  unentbehrlich,  der  womöglich  zwei 
Zwecken  zu  dienen  hatte:  eine  Richtung  einzu visieren,  eine  andere 
Richtung  senkrecht  zur  ersteren  auf  dem  Felde  zu  bestimmen;  von 
einem  solchen  altitalischen  Instrumente  sprechen  uns  aber  die  Be- 
richterstatter unter  dem  Namen  Groma.  Auch  dieses  Wort  ist  nach 
Ursprung  und  Bedeutung  keineswegs  über  jeden  Zweifel  erhaben^). 
Die  alte  Annahme,  groma  komme  von  dem  griechischen  yvfhficDV  her, 
ist  unhaltbar,  weil  nicht  bloß  die  beiden  unter  diesen  Namen  be- 
kannten Dinge  verschieden  sind,  sondern  auch  der  griechische 
Gnomon,  die  Sonnenuhr,  mit  dem  Namen  in  römische  Schriftsteller 
Eingang  fand.  Dagegen  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  beiden  Wörtern 
ein  und  dasselbe  Stammwort  zugrunde  liege,  ein  Stammwort,  welches 
italisch  geschrieben  vielleicht  gnorma  hieß,  und  ein  Senkrechtes  im 
allgemeinen  bedeutet  haben  mag,  wie  früher  yvtbiiov.  Diese  gnorma 
konnte  sowohl  in  normä  als  in  groma  übergehen.  Als  aber  die 
Römer  viel  später  den  Gnomon  der  Griechen  herübemahmen,  mochte 
die  Ableitung  der  Groma  längst  aus  dem  Bewußtsein  geschwunden  ge- 
wesen  sein,   so    daß   es   möglich   wurde,   daß   beide   Bezeichnungen, 

*)  Vitruviua  Lib.  I,  Kap.  6,  §  6.  *)  Agrimensoren  S.  71.  «)  Roms  Ge- 
burtstag wurde  durch  das  Parilienfest  am  21.  April  begangen.  Nissen,  Das 
Templum  S.  166.  *)  Vgl.  Agrimensoren  S.  72flgg.  mit  Hultschs  Rezension  in 
Fleckeisen  und  Maeius,  Jahrbücher  der  Philol. 


Älteste  Rechenkunst  and  Feldmessung. 


537 


ursprünglich  verwandt;  jetzt  unbedenklich  zur  Benennung  zweier  ver- 
schiedener Vorrichtungen  gebraucht  wurden^  nachdem  der  Heimats- 
schein des  älteren  Wortes,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  verloren  ge- 
gangen war.  Gegen  diese  im  allgemeinen  sehr  annehmbare  Auf- 
fassung läßt  sich,  soviel  wir  sehen,  nur  der  eine  nicht  unbedenkliche 
Einwand  erheben,  daß  alsdann  der  Name,  welchen  die  Groma  (oder 
auch  cruma,  wie  es  sich  wohl  findet)  bei  den  Etruskern,  welche  eines 
gleichen  Instrumentes  sich  bedienten,  besaß,  besessen  haben  muß,  spurlos 
verloren  gegangen  wäre,  ein  etwas  mißlicher  Umstand  gegenüber  von 
den  verschiedenen  älteren  und  jüngeren  Namen,  die  sich  erhalten  haben. 
Solche  jüngere  Namen  sind  machinula  und  Stella,  und  wenn  von 
groma  der  Name  der  Feldmesser,  gromatici,  sich  hergeleitet  hat, 
eine  Art  amtlicher  Personen,  die  in  ältester  wie  in  jüngster  Zeit  eine 
festgegliederte  Genossenschaft,  fast  eine  Zunft,  bildeten,  wenn  Groma 
selbst  auch  den  Platz  in  der  Mitte  der  Hauptstraße  *  eines  Lagers 
oder  einer  Stadt  bezeichnete,  wo  bei  der  Gründung  das  Instrument 
aufgestellt  worden  war,  so  läßt  die  Variante  Stella  uns  erkennen, 
welcherlei  Gestalt  jenes  Instrument  gehabt 
haben  muß.  Es  war  der  Stern,  welcher  zu 
Herons  Zeiten  bereits  durch  die  Dioptra  über- 
holt noch  immer  bei  einzelnen  in  Gebrauch 
war  (S.  382).  Was  aber  aus  diesem  Namen 
geschlossen  werden  konnte,  erhielt  zuerst 
Bestätigung  in  der  Abbildung  einer  Groma 
(Fig.  80),  die  bei  Ivrea  auf  dem  Grabsteine  eines 
römischen  Feldmessers  aufgefunden  worden 
ist  *),  und  wurde  vollends  sichergestellt,  als  eine 
wirkliche  Groma  an  den  Tag  kam  *).  Die  Groma 
war  ein  Winkelkreuz,  gebildet  durch  zwei  in 
horizontaler  Ebene  sich  schneidende  Lineale 
und  aufgestellt  auf  einem  mit  Eisen  beschlagenen  Fußgestelle,  dem 
ferramentum.  An  den  Enden  der  Lineale  herabhängende  Bleisenkel,  vier 
an  der  Zahl,  wenn  auch  die  Abbildung  auf  dem  Grabsteine  nur  noch 
deren  zwei  erkennen  läßt,  verbürgten  die  wagrechte  Aufstellung. 

1)  Gazzera  hat  die  betreffende  Grabschrift  1854  mit  38  anderen  im 
XIV.  Bande  der  11.  Serie  der  Abhandlungen  der  Turiner  Akademie  veröffent- 
licht. Cavedoni  lenkte  dann  im  BüUettino  archeologico  napoktano,  nuova  9eria, 
anno  1^,  die  Aufinerksamkeit  auf  den  11.  Stein  mit  der  Abbildung  der  Groma. 
Vgl.  Giov.  Rossi,  Chrama  e  sqtMdro  1877,  pag.  48  und  Figwra  3.  »)  Eine 
Lichtdruckabbildung  der  bei  Limesgrabungen  in  Bayern  ans  Licht  gebrachten  Groma 
findet  sich  in  einem  Aufsatze  von  H.  Schöne  (Jahrbuch  des  archäolog.  Listituts 
XVI,  1901)  und  daraus  abgedruckt  bei  Wilh.  Schmidt,  Über  die  Gestalt  der  Groma 
der  römischen  Feldmesser.    Bibliotheca  Mathematica  3.  Folge  IV,  234—237  (1908). 


538  26.  Kapitel. 

Mittels  dieses  Kreuzes  ließen  in  der  Tat  die  beiden  Handlangen 
sich  vollziehen,  die  wir  den  Auguren  bei  Absteckung  des  Templum 
zuweisen  mußten:  es  ließ  sich  das  eine  Lineal  in  die  Richtung  nach 
.  dem  Aufgange  der  Sonne  bringen,  und  das  andere  Lineal  zeigte  dann 
Yon  selbst  die  dazu  senkrechte  Richtung  an.  Decimanus  und  Cardo 
konnten  abgesteckt  werden.  Noch  eine  weitere  feldmesserische  Ver- 
richtung haben  wir  uns  als  uralt  auf  italischem  Boden  zu  denken:  die 
Abmessung  von  bestimmten  Strecken  in  gegebener  Richtung,  denn 
die  Ländereien  waren  in  lauter  gleiche  Rechtecke  abgeteilt,  deren 
Seiten  ursprünglich  wohl  von  gleicher  Länge  gewesen  sein  werden, 
in  späterer  Zeit  im  Verhältnisse  von  1  zu  2  standen^). 

Die  Vereinigung  der  Groma  mit  der  Meßstange  genügte  als- 
dann bereits  zur  Auflösung  praktisch  nicht  unwichtiger  Aufgaben, 
z.  B.  der  Aufgabe:  die  Breite  eines  Flusses  von  einem  Ufer 
aus  zu  messen  ohne  den  Fluß  zu  überschreiten,  eine  Aufgabe,  für 
welche  ein  bestimmter  Name,  fluminis  varatio,  bekannt  ist.  Bei 
einem  allerdings  vermutlich  ziemlich  späten  Schriftsteller  hat  sich 
eine  Methode  zur  Lösung  dieser  Aufgabe  erhalten*),  die  wohl  mit 
Recht  eine  altitalische  genannt  und  in  Vergleich  zu  ganz  ähnlichen 
Verfahrungsweisen  gebracht  worden  ist,  zu  welchen  nordamerika- 
nische Naturvölker  unbeeinflußt  von  eui-opäischer  Wissenschaft  sich 
aufzuschwingen  vermocht  haben.  Das  Verfahren  ist  nämlich,  wenn 
auch  zutreffend,  über  die  Maßen  schwerföUig.  Es  zeichnet  die  nicht 
unmittelbar  zugängliche  Länge  selbst  auf  das  Feld  mittels  kon- 
gruenter Dreiecke  und  läßt  sie  in  dieser  getreuen  Wiederholung 
messen,  statt  daß  Berechnung  einträte  aus  Verhältnissen  von  Seiten 
ähnlicher  Dreiecke. 

Mit  diesen  Bemerkungen  haben  wir  aber  keinenfalls  zu  wenig 
der  altitalischen  Geometrie  zugewiesen,  welche  somit  als  eine  nur 
dem  täglischen  Bedür&isse  gewidmete  eines  wissenschaftlichen  An- 
striches entbehrende  sich  kennzeichnet. 

26.  Kapitel. 
Die  Blfite^eit  der  rfimisehen  Geometrie.     Die  Agrimensoren. 

Was  ist  bei  den  Römern  im  Laufe  der  Jahrhunderte  aus  alt- 
italischer Rechenkunst,  aus  altitalischer  Feldmessung  geworden?    Er- 

*)  Stellen  dafür  vgl.  Agrimensoren  Anmerkung  260.  •)  Römische  Feld- 
messer I,  285—286.  Vgl.  Agrimensoren  S.  108,  Günthers  Rezension  dieses 
Buches  in  der  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung,  21.  März  1876  und  Karrative 
of  the  travels  and  adventures  of  Monsieur  Violet  etc.  by  Capt.  Marryat. 
Cbapter  IX  (Tauchnitz-Edition,  pag.  64—65). 


Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  Agrimensoren.  539 

scheint  es  doch  unmöglich^  daß  eine  Stadt,  die  als  weltbeherrschender 
Mittelpunkt  bedeutende  Männer  aus  allen  Provinzen  des  großen 
Reiches  anzuziehen  wußte,  nicht  auch  von  solchen  zum  Wohnort 
gewählt  worden  sein  soll,  welche  der  Mathematik  sich  befleißigten. 
Wenn  wir  nur  in  Erinnerung  bringen,  was  uns  beiläufig  begeguete: 
in  Rom  hat  im  Jahre  98  n.  Chr.  Menelaus  Beobachtungen  angestellt 
(S.  412),  in  Rom  hat  um  244  Plotinus  seine  vielbesuchte  Schule  er- 
öffiiet  (S.  457),  in  welcher  gewiß  auch  nach  damaligem  Geschmacke 
modernisierte  altgriechische  Arithmetik  einen  Gegenstand  der  Lehre 
bildete.  So  mögen  zu  verschiedenen  Zeitpunkten  in  Rom  Persönlich- 
keiten gelebt  und  gewirkt  haben,  die  um  Mathematik  sich  kümmerten 
—  Spuren  davon  werden  sich  deutlich  erkennen  lassen  —  aber  sie 
waren  beinahe  verstohlenerweise  Mathematiker.  Was  wir  (S.  517) 
schoD  angedeutet  haben,  ist  jetzt  nur  stärker  zu  betonen.  Die  ganze 
geistige  Anlage  des  römischen  Volkes  war  nach  anderen  Gebieten 
gerichtet  als  der  Mathematik,  und  das  Wort  Ciceros,  die  Geometrie 
sei  bei  den  Griechen  in  höchsten  Ehren  gestanden,  deshalb  sei  nichts 
glänzender  als  ihre  Mathematiker,  bei  den  Römern  aber  sei  das  Maß 
jener  Kunst  durch  den  Nutzen  des  Rechnens  und  Ausmessens  be- 
grenzt^), hat  fast  für  alle  Zeiten  Gültigkeit.  Nur  eine  kurze  Spanne 
bildet  vielleicht  eine  Ausnahme  und  gab  Anlaß  zu  Anfängen  einer 
eigenen  mathematischen  Literatur,  die  aber  bald  ausartete,  so  daß 
nur  Übersetzungen  oder  handwerksmäßige  Vorschriften  neben  bei- 
läufigen Andeutungen  das  Material  liefern,  aus  welchem  wir  Be- 
lehrung ziehen. 

Jene  Ausnahmsperiode  eröfihete  sich,  während  ein  Mann  an  der 
Spitze  des  römischen  Staates  sich  befand,  der  selbst  mathematischen 
Sinn  besaß  und  als  Schriftsteller  in  unserem  Fache  aufgetreten  ist: 
Julius  Cäsar.  Er  hat  ein  Buch  de  astris  verfaßt*),  welches  in  der 
Mitte  des  I.  S.  n.  Chr.  dem  älteren  Plinius  vielfach  als  Quelle  für 
das  XVIII.  Buch  seiner  Naturgeschichte  gedient  hat,  und  welchem  um 
das  Jahr  400  Macrobius  das  Beiwort  eines  nicht  ohne  Gelehrsamkeit 
verfaßten  Werkes  beilegte.  Dasselbe  hängt,  wie  man  anzunehmen 
berechtigt  ist,  mit  einer  Aufgabe  zusammen,  welche  Cäsar  sich  als 
seiner  würdig  gestellt  hatte,  mit  der  Aufgabe  der  Kalenderver- 
besserung. 

Das  römische  Jahr'),  der  Sage  nach  von  König  Romulus  zu 
304  Tagen  angenommen,  wurde  durch  Numa  auf  355  Tage  verlängert. 


*)  Cicero,  Tu8cul  Quaest.  Lib.  I,  Cap.  2,  §  6.  *)  AgrimenBoren  S.  78 flgg. 
*)  Ludw.  Ideler,  Handbuch  der  mathematiflchen  und  technischen  Chronologie. 
Berlin  1826,  Bd.  IT,  S.  67  ügg.,  119—124  und  130—132. 


540  2Ö.  Kapitel. 

womit  jenes  Janusdenkmal  zusammenhängt^  dessen  gekrümmte  Finger 
eben  diese  Zahl  darstellten.  Der  noch  immer  mangelhaften  Jahres- 
länge wurde  im  Jahre  304  der  Stadt  durch  die  Decemvirn,  wie  es 
scheint,  mittels  eines  Schaltmonates  nachgeholfen^  der  alle  zwei  Jahre 
abwechselnd  mit  22  und  mit  23  Tagen  eingeschoben  wurde.  Jetzt 
war  das  Jahr  wieder  zu  lang;  und  zwar  nahezu  um  einen  Tag,  denn 

4  •  355  +  22  +  23  =  1465  =  4  •  366-^  •     Es  mußte  also  von  Zeit  zu 

Zeit  ein  Schaltmonat  weggelassen  werden,  erst  regellos,  dann  im 
24jährigen  Schaltzyklus.  So  trat  allmählich  eine  heillose  Unordnung 
ein,  so  zwar,  daß  die  Chronologie  hinter  dem  wirklichen  Jahre  um 
volle  85  Tage  zurückblieb.  Cäsar  war  eben  siegreich  aus  dem  alexan- 
drinischen  Feldzuge  zurückgekehrt,  welcher  die  Jabre  48  und  47  in 
Anspruch  nahm,  als  er  beraten  von  Sosigenes  die  chronologische 
Frage  ins  reine  brachte,  so  daß  die  Vermutung  nahe  liegt,  Sosi- 
genes, der  von  Simplicius  ein  Ägypter,  von  Plinius  ein  Peripatetiker 
genannt  wird^),  sei  selbst  Alexandriner  gewesen,  und  habe  noch  aus 
den  Schätzen  der  alexandrinischen  Gelehrsamkeit  schöpfend  von  der 
Kalenderverbesserung  aus  dem  Jahre  238  unter  König  Ptolemäus 
Euergetes  I.  gewußt,  deren  wir  (S.  329)  gedacht  haben.  Jedenfalls 
war  Cäsars  Einrichtung  die  gleiche,  welche  damals  in  Alexandria 
getroflfen  worden  war.  Das  Jahr  46  war  das  letzte  Jahr  der  Kon- 
fusion, ein  Name,  welcher-  ihm  geblieben  ist.  Die  85  fehlenden  Tage 
wurden  in  ihm  eingeschaltet,  und  nun  sollte  jedes  Jahr  aus  365  Tagen 
bestehen,  und  zur  Ergänzung  alle  vier  Jahre  zwischen  dem  23.  und 
24.  Februar  oder  römisch  gesprochen  zwischen  dem  dies  septimus 
und  sextus  ante  Calendas  Martis  ein  Tag  als  bissextus  eingeschaltet 
werden,  woraus  der  Name  des  bissextilen  Jahres  für  das  Schaltjahr 
entstand. 

Noch  ein  zweiter  großer  Gedanke  war  in  Cäsars  Geiste  erwacht 
oder  erweckt  worden,  der  einer  Vermessung  des  ganzen  römi- 
schen Reiches,  wie  sie  unserer  früheren  Bemerkung  (S.  533)  ge- 
mäß schon  insofern  nötig  war,  als  das  ganze  Reich  ein  Templum  sein 
mußte,  ein  wohlorientiertes  Eigentum  mit  gleichmäßig  gerichteten, 
gleichmäßig  abgesteckten  Grenzen.  Auch  für  diesen  Gedanken  war 
Cäsar  schriftstellerisch  tätig,  wenn  man  einer  Aussage  trauen  darf, 
welche  den  Ursprung  römischer  Feldmeßkunst  mit  einem  Briefe 
Cäsars  in  Verbindung  setzt*).  Doch  leider  ist  von  diesem  Briefe  so 
wenig  wie  von  der  astronomischen  Schrift  ein  eigentlicher  Überrest 

*)  Üj>er  Sosigenes  vgl.  den  von  Baehr  verfaßten  Artikel  in  Paolys  Real- 
enzyklopädie. *)  Nunc  ad  epistolam  JuUi  Caesaris  veniamas  quod  ad  huiua  artis 
originem  pertin^t.    Römische  Feldmesser  I,  395. 


Die  Blütezeit  der  rOmii»cben  Greometrie.    Die  Agrimensoren.  541 

auf  uns  gekoTDmen.  War  der  Gedanke  der  Reichsvermessung  durch 
andere  in  Cäsar  angeregt  worden,  so  müssen  offenbar  auch  hier 
Alexandriner  mit  im  Spiele  gewesen  sein.  Wenigstens  waren  es 
Männer  mit  durchaus  griechisch  klingenden  Namen,  welchen  ver- 
schiedenen Quellen  nach  Cäsar  die  Ausführung  seines  Gedankens  an- 
zuvertrauen gedachte  oder  schon  übertragen  hatte,  als  er  am  15.  März 
44  V.  Chr.  unter  Mörderhand  verblutete. 

August  US  ließ  das  Werk  nicht  unerfüllt^).  Keinen  Geringeren 
als  M.  Vipsanius  Agrippa  betraute  er  mit  der  Leitung  des  ganzen 
Unternehmens,  und  unter  diesem  scheint  ein  Oberwegemeister  Baibus 
tätig  gewesen  zu  sein,  der  eine  wie  der  andere  vielleicht  nur  mit 
ihrem  Namen  bei  der  Angelegenheit  beteiligt,  um  dem  Unternehmen 
wenigstens  einen  römischen  Anstrich  zu  verleihen,  wenn  es  von 
Römern  nicht  ins  Werk  gesetzt  werden  konnte.  Fühlte  man  auch, 
daß  Griechen  allein  fähig  waren  das  Gewünschte  zu  leisten,  so  trug 
man  doch  wohl  eine  gewisse  Scheu  sie  den  Ruhm  ihrer  Leistung 
davontragen  zu  lassen,  und  so  ist  von  der  Reichsvermessung  bald  des 
Augustus,  bald  des  Agrippa,  bald  des  Baibus  die  Rede,  welche  die 
Zeit  von  37  bis  20  v.  Chr.  im  ganzen  in  Anspruch  genommen  haben 
dürfte.  Gehörte,  wie  wir  (S.  366)  sahen,  ein  Heron  Metricus  zu 
den  tatsächlich  an  der  Arbeit  Beschäftigten,  was  nicht  ganz  zweifel- 
los ist,  und  haben  wir,  was  ebensowenig  zweifellos  ist,  in  Heron 
Metricus  unseren  fieron  von  Alexandria  zu  erkennen,  so  muß 
man  zugestehen,  daß  der  richtige  Mann  an  den  richtigen  Platz  ge- 
stellt war.  Ergebnis  der  Reichsvermessung  war  die  verbürgtermaßen 
einst  vorhandene  große  Landkarte,  welche  den  Namen  des  Agrippa 
führte,  und  welche  in  einer  besonders  dazu  aufgebauten  Säulenhalle 
„der  Welt  die  Welt  als  Schauspiel  darbot*^*);  Ergebnis  die  geographi- 
schen Kommentarien  des  Agrippa,  auf  welche  ganze  Bücher  aus  der 
Naturgeschichte  des  Plinius  sich  stützen. 

Die  gleiche  Zeit  ungefähr  dürfen  wir  zuversichtlich  als  diejenige 
betrachten,  während  welcher  die  mathematischen  Schriften  den 
Römern  einigermaßen  bekannt  wurden,  deren  die  griechischen  Feld- 
messer sich  bei  ihren  Arbeiten  bedienten,  und  deren  Wert  auch  für 
den  Nichtsachverständigen  aus  der  Trefflichkeit  dieser  Arbeiten  sich 
erschließen  ließ.  Was  das  aber  fär  Schriften  waren,  ist  keinem 
Zweifel  unterworfen.     Es  war  vor  allen  der  „Heron",  das  feldraesse- 


')  Die  letzte  Schrift  über  die  große  BeichsyermeBBung  ist  die  Breslauer 
HabilitationsBchriffc  von  J.  Partsch,  Die  Darstellang  EuropaB  in  dem  geogra- 
phischen Werke  des  Agrippa,  1875.  Ältere  Literatur  vgl.  Agrimensoren 
S.  82—84.  ")  PliniuB,  Histor.  natural.  lH,  2:  Orbem  terrarum  orhi  apectandum 
proposüimM  erat 


542  26.  Kapitel. 

rische  Handbach  des  Alexandriners^  welches  so  auf  italischem  Boden 
Eingang  fand.  Es  war  ans  ihm  ebensowohl  die  Feldmeßknnst  als 
die  Feldmeß  Wissenschaft  zu  erlernen^  wenn  wir  diese  beiden  unter- 
scheideiylen  Namen  weiter  gebrauchen ,  um  durch  den  ersteren  die 
eigentlichen  praktischen  Arbeiten  auf  dem  Felde,  durch  den  zweiten 
die  daran  anknüpfenden  Rechnungen  zu  bezeichnen ,  welche  letztere 
wir  auch  wohl  rechnende  Geometrie  nennen  (S.  406).  Jetzt  ver- 
drängte die  vollkommenere  Dioptra  die  altertümliche  Groma,  jetzt 
bürgerten  sich  Regeln  zur  Ausrechnung  der  Felder  ein,  während  man 
bisher  vielleicht  jede  derartige  Regel  entbehrte,  ohne  sie  zu  vermissen, 
weil  das  ausgemessene  Land  in  gleichmäßigen  Rechtecken  von  be- 
kannter Größe  bestehend  einer  Flächenberechnung  nicht  bedurfte,  nicht 
ausgemessenes  Land  aber  seinen  Besitzer  nicht  leicht  änderte;  wenig- 
stens wurden  nur  über  Besitzstücke  mit  geradlinigen,  zueinander  senk- 
rechten Grrenzen  Flurkarten  öffentlichen  Glaubens  angefertigt. 

Um  die  Zeit,  zu  welcher  unter  dem  Einflüsse  des  Machthabers 
die  Veränderung  römischen  Gbschmackes  stattfand,  welche  nur  zu 
wenig  nachhaltig  sich  erwies,  als  daß  sie  der  Mathematik  zu  Fort- 
schritten hätte  verhelfen  können,  schrieb  Marcus  Terentius  Varro, 
der  Freund  des  Cicero,  des  Pompejus,  in  späterer  Zeit  des  Cäsar, 
dessen  Leben  nach  der  wahrscheinlichsten  Annahme  die  Jahre  116 
bis  27  V.  Chr.  erfüllte.  In  politischen  Kreisen  spielte  er  trotz  seiner 
Beziehungen  eine  nur  selten  und  wenig  hervorragende  Rolle.  Desto 
bedeutender  war  die  literarische  Tätigkeit,  der  er  sich  hingab.  Er 
gebot  über  fast  unerschöpfliches  Arbeitsmaterial,  da  er  nicht  nur  Be- 
sitzer der  großartigsten  Privatbibliothek  war,  sondern  auch  von  Cäsar 
einer  öffentlichen  Büchersammlung  vorgesetzt  wurde.  Wie  er  aber 
dieses  Material  zu  benutzen  verstand,  beweist  seine  eigene  Äußerung  \), 
nach  welcher  er  am  Ende  seiner  siebziger  Jahre  490  Bücher  ge- 
schrieben hatte,  und  so  kann  man  wohl  dem  Urteile  des  Terentianus 
Maurus,  eines  Grammatikers  aus  den  Zeiten  der  Kaiser  Nerva  und 
Trajan,  beistimmen,  der  Varro  den  Gelehrtesten  aller  Gegenden  nannte. 
Die  erhaltenen  Schriften  des  Varro  beziehen  sich  auf  Landwirtschaft 
und  auf  Grammatik  und  nehmen  unter  den  Arbeiten  auf  diesen 
beiden  Gebieten  einen  ehrenvollen  Rang  ein.  Um  so  mehr  bedauern 
wir  den  Verlust  gerade  der  Werke,  welche  ims  wichtig  sein  würden^. 


*)  Aul.  GelliuB,  Noctes  Atticae  III,  10,  17:  M.  Varro  ibi  (in  primo  libro- 
rum  qni  insoribuntur  Hebdomades  vel  De  imaginibus)  addit  se  qiAoque  jam  duo- 
decimam  annorum  hebdomadem  ingressum  esse  et  ad  eum  diem  septuaginta  hebdo- 
madas  Ubrorum  conscripsisse.  ^  Gast.  Boissier,  iJtude  sur  la  vie  et  Us 
ouvrages  de  M.  T.  Varron,  Paris  1861.  Über  die  wissenschaftlichen  Schriften, 
welche  zu  dem  letzten  zu  gehören  scheinen,  was  Varro  schrieb,  vgl.  pag.  827 


Die  Blütezeit  der  römiflchen  Geometrie.    Die  Agrimensoren.  543 

Verloren  ist  eine  Schrift  über  Vermessangen,  mensuralia;  verloren 
ist  ein  Buch  Geometrie,  in  welchem,  nach  dem  Bericht  des  Gassiodor, 
die  Gestalt  der  Erde  als  eirund  angegeben  war,  ein  insoweit  ver- 
dienstlicher Gedanke,  als  damit  in  origineller  Weise  unter  Beibehal- 
tung der  runden  Körpergestalt  der  Erde  ihre  Abweichung  von  der 
Eugelform  gemutmaßt  wurde;  verloren  ist  allem  Anscheine  nach  ein 
arithmetisches  Werk  Varros,  Atticus  sive  de  numeris,  welches  Ver- 
tranius  Maurus,  der  eine  Biographie  des  Yarro  geschrieben  hat,  noch 
im  Jahre  1564  in  Rom  gesehen  haben  wiU^);  verloren  ist  auch  ein 
Werk  aus  neun  Büchern  bestehend,  de  disciplinis,  in  welchem,  wie 
man  annimmt,  enzyklopädisch  über  die  einzelnen  Wissenschaften  ge- 
handelt war,  und  welches  somit  das  Urbild  für  viele  ähnliche  Sammel- 
werke abgab,  die  uns  noch  begegnen  werden,  aber  selten  mehr  liefern 
als  einzelne  fast  nur  zufällig  verwertbare  Notizen.  Die  Reihenfolge 
der  neun  Wissenschaften  bei  Yarro  war:  1.  Grammatik,  2.  Dialektik, 
3.  Rhetorik,  4.  Geometrie,  5.  Arithmetik,  6.  Astrologie,  7.  Musik, 
8.  Medizin,  9.  Architektur,  und  es  ist  zweifelhaft,  ob  nicht  die  oben 
erwähnte  Geometrie  als  das  hier  genannte  4.  Buch  zu  betrachten  ist. 
Würde  sich  eine  bei  Plinius  vorkommende  Notiz*)  auf  das  8.  Buch 
beziehen,  so  hätte  Yarro  dieses  Werk  in  seinem  83.  Lebensjahre  ver- 
faßt. Als  ganz  originell  ist  übrigens  auch  bei  ihm  die  Zusammen- 
stellung nicht  anzusehen,  da  die  griechische  Wissenschaft  schon  den 
Begriff  der  freien  Künste  ausgebildet  hatte,  der  jetzt  in  wechselnder 
Zahl  (meistens  7  artes  liberales  anführend)  und  in  wechselnder  Wahl 
der  Gegenstände  die  ganze  Folgezeit  bis  durch  das  Mittelalter  hin- 
durch beherrscht.  Ob  freilich  Yarro,  der  römisch  gesinnte  Römer, 
seine  Abhängigkeit  von  griechischen  Mustern  nicht  teilweise  zu  ver- 
bergen suchte,  wird  schwerlich  mehr  zu  ermitteln  sein.  Wir  kamen 
zu  dem  Gedanken  an  diese  Möglichkeit  von  der  Erwägung  ausgehend, 
daß  es  Yarro  vorzugsweise  ist,  der  die  Feldmeßkunde  der  Rönjer  auf 
etruskische  Anfänge  zurückgeführt  hat. 

Der  nächste  römische  Schriftsteller,  welchem  tiefer  gehende  mathe- 
matische Kenntnisse  nicht  bloß  in  allgemeiner  Weise  zuzutrauen  sind, 
sondern  aus  dessen  Schriften  wir  Belege  dafür  zu  schöpfen  vermögen, 
ist  Yitruvius,  der  Verfasser  von  10  Büchern  über  Architektur,  die 
vermutlich  im  Jahre  14  v.  Chr.  vollendet  wurden  und  dem  Augustus 
zugeeignet  sind.  Das  ist  alles,  was  über  die  Persönlichkeit  des  Yitru- 
vius mit  Sicherheit  gesagt  werden  kann.     Sogar  sein  Beiname  Yitru- 

bifl  881.  Siehe  auch  Teuf  fei,  Geschichte  der  römischen  Literatur  (III.  Auf- 
lage) S.  288. 

^)  YossiuB,  De  scientiis  matheniaticis  pag.  39  (Amsterdam  1650).     *)  Plinius^ 
Histar.  natwral  XXIX,  18,  65. 


544  26.  Kapitel. 

vius  Pollio  schwebt  einigermaßen  in  der  Luft,  indem  der  Verfasser 
eines  Auszuges  aus  der  vitruvischen  Architektur,  welcher  uns  den- 
selben überliefert  hat,  eine  selbst  rätselhafte  Persönlichkeit  von  ganz 
unbekanntem  Zeitalter  ist,  der  nur  aus  sprachlichen  Gründen  meistens 
für  dem  Zeitalter  des  Vitrurius  ziemlich  nahestehend  und  dem  ent- 
sprechend glaubwürdig  gehalten  wird.  In  den  Schriften  des  Yitru- 
yius,  sagten  wir,  stecken  mancherlei  Belege  jenes  mathematischen 
Wissens.  In  einem  Werke  über  Architektur  findet  sich  an  und  fQr 
sich  an  den  verschiedensten  Stellen  Veranlassung  ein  solches  Wissen 
an  den  Tag  zu  legen,  um  wieviel  mehr  bei  Vitruvius,  dessen  schrift- 
stellerische Eigentümlichkeit  es  genannt  werden  kann,  daß  er  mit 
fast  possierlicher  Geschwätzigkeit  Bemerkungen  beizufügen  und  Ge- 
schieh tchen  zu  erzählen  liebt,  die  zu  dem  behandelten  Gegenstande 
nur  in  entferntester  Beziehung  stehen,  oft  aber  uns  erwünschte  Mit- 
teilungen enthalten.  Überall  verrät  sich  dabei  Yitruvius  als  das,  als  was 
wir  ihn  zu  finden  erwarten  mußten,  als  Schüler  der  Griechen,  wenn 
auch  als  einen  solchen,  der  es  mitunter  wagt  von  der  Ansicht  des 
Lehrers  sich  zu  entfernen.  Wir  nennen  als  der  Mathematik  an- 
gehörig ^)  eine  Auseinandersetzung  über  die  Größenverhältnisse  der 
einzelnen  Körperteile  des  Menschen;  einen  Abriß  der  arithmetischen 
Harmonielehre  nach  Aristoxenus;  eine  Schilderung  dessen,  was  nach 
Yitruvs  Geschmack  die  drei  größten  mathematischen  Entdeckungen 
waren:  die  Irrationalität  der  Diagonale  eines  Quadrates,  das  pythago- 
raische  Dreieck  aus  den  Seiten  3,  4,  5  und  die  archimedische  Eronen- 
rechnung.  Wir  nennen  Beschreibungen  von  feldmesserischen  Appa- 
raten verschiedener  Art  und  Anweisungen  sich  derselben  zu  bedienen. 
Da  ist  der  Gnomon  mit  der  Bestimmung  der  Mittagslinie  aus  zwei 
Beobachtungen  gleicher  Schattenlängen  am  Vor-  und  Nachmittage. 
Da  sind  Nivellierungen  mittels  der  Dioptra  und  ein  Wegemesser.  Bei 
der  Beschreibung   des   letzteren    ist   gelegentlich    der   Umfang   eines 

Rades  von  4—  Fuß  Durchmesser  zu  12  -    Fuß    angegeben,    was    ein 

Verhältnis  der  Peripherie  zum  Durchmesser  von  3  :  1  bezeugt*).  Wir 
nennen  Berechnungen  des  Kalibers  von  Wurfmaschinen  aus  dem  Ge- 
wichte der  Massen,  welche  sie  zu  schleudern  bestimmt  waren,  wobei 

>)  Vitruvius  lU,  1;  V,  4;  VIII,  6;  IX,  1,  2,  3,  8;  X,  14,  16,  17,  21.    Vgl. 
Agrimensoren  S.  157  und  86^89.     *)  In  älteren  Ausgaben  des  Vitnivius  war  der 

Durchmesser   des   Rades   zu  4  Fuß  angegeben,    was  einem  »»=  12  -  :4a:8-^ 

entspräche.    Die  letzte  von  V.  Böse  veranstaltete  Ausgabe  hat  die  in  unserem 

Texte  angegebene  Zahl  4-—  als  beglaubigte  Lesart. 
6 


Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  AgrimenBoren.  545 

Brüche  in  Menge  vorkommen,  allerdings  nur  ziemlich  angenäherte 
Werte  hervorbringend,  so  daß  von  der  Rechenkunst  des  Vitruvius 
auch  hierdurch  uns  keine  übermäßig  hohe  Meinung  erweckt  wird^). 
Wir  haben  endlich  zu  dem  (S.  367)  zugesagten  Nachweise  der  Ab- 
hängigkeit des  Vitruvius  von  Heron  überzugehen,  eine  Abhängigkeit, 
welche  auch  die  Nivellierungsmethoden  in  hohem  Grade  wahrschein- 
lich machten.  Wir  glauben  es  dem  Auffinder  der  betreffenden  Be- 
weisstellen schuldig  zu  sein,  seine  Schlußfolgerungen  im  Wortlaute^) 
zu  wiederholen,  indem  wir  nur  zur  Bequemlichkeit  unserer  Leser  die 
Steilen  aus  Vitruvius  in  deutscher  Übersetzung  geben  und  voraus- 
schicken, daß  Vitruvius  sich  meistens  nur  auf  die  Griechen,  Crraeci, 
als  seine  Gewährsmänner  bezieht,  ohne  Aristoteles  und  Archimedes 
bestimmt  zu  nennen,  wo  sie  sicherlich  als  Quelle  dienten: 

„Vitruv*)  schreibt:  Ist  das  kurze  Ende  (linffida)  eines  eisernen 
Hebels  unter  eine  Last  gebracht,  und  drückt  man  dessen  langes  Ende 
{captd)  nicht  nach  abwärts,  sondern  hebt  es  vielmehr  aufwärts,  so  be- 
sitzt das  auf  den  Boden  der  Erde  sich  stützende  kurze  Ende  diese 
als  Last,  die  Ecke  der  Last  aber  dient  dem  Drucke.  So  wird  zwar 
nicht  so  leicht  wie  beim  Abwärtsdrücken,  sondern  ihm  entgegen- 
gesetzt immerhin  das  Gewicht  der  Last  in  die  Höhe  geschafft. 

Die  entsprechende  Stelle  bei  Heron ^)  lautet:  Nehmen  wir  zuerst 
an,   er  (der  Hebel)   sei   dem  Erdboden  parallel.     Der  Hebel  sei  die 
Linie  aß  imd  die  durch  ihn  zu  bewegende  Last,  nämlich  y,  bei  dem 
Punkte  a,  die  bewegende  Kraft 
bei  dem  Punkte  ß  (Fig.  81) . . . 
Wenn  wir  nun  das  bei  ß  befind- 
liche Hebelende  heben...,  dann 


beschreibt   der   Punkt  ß   einen  ^  ^^^ 

Kreis    um    den    Mittelpunkt   Ö  Fig.  8i. 

(d  ist  die  Kante  des  Körpers  y, 

gegen  welche  der  Hebel  drückt^)),  und  der  Punkt  a  um  denselben 
Mittelpunkt  einen  kleinen  Kreis.  Wenn  sich  nun  die  Linie  ßd  zxx  äa 
verhält  wie  die  Last  y  zur  Kraft  bei  ß,  so  hält  die  Last  y  der 
Kraft  ß  das  Gleichgewicht.  Ist  das  Verhältnis  ßd  :da  größer  als 
das  der  Last  zur  Kraft,  so  hat  die  Kraft  das  Übergewicht  über  die 
Last,  weil  zwei  Kreise  um  denselben  Mittelpunkt  vorhanden  sind  und 


^)  Hultsch,  Die  Brachzeichen  des  Vitra vius  in  Fleckeisen  und  Masius, 
Jahrbücher  der  Philol.  *)  Edm.  Hoppe,  Ein  Beitrag  zur  Zeitbestimmung  Herons 
von  Alexandria  S.  4—5  (Hamburg  1902).  ')  Vitruvius  (ed.  V.  Rose)  X,  8,  3 
pag.  260.  *)  Heron  (ed.  L.  Nix)  II,  114  Z.  80  flgg.  *)  Bei  Hoppe  steht  irriger- 
weise s  statt  d;  übrigens  ist  der  ganze  eingeklammerte  Satz  eine  Erläuterung 
Hoppes  und  bei  Heron  nicht  vorhanden. 

Caktob,  Oesohichte  der  Mathematik  I.  8.  Aufl.  35 


546  26.  Kapitel. 

die   Last   sich   am  Bogen  des  kleineren  Kreises  und  die  bewegende 
Kraft  sich  am  Bogen  des  größeren  Kreises  befindet  usw. 

Zunächst  ist  zu  bemerken  ^  daß  beide  denselben  Fehler  machen^ 
nämlich  diesen  einarmigen  Hebel  als  zweiarmigen  zu  behandeln.  Sollte 
die  Heronsche  Darstellung  richtig  werden^  müssen  die  Radien  der 
beiden  Kreise  aß  und  ad  sein^  a  der  gemeinsame  Mittelpunkt.  Wäh- 
rend man  aber  bei  Heron  sehr  wohl  den  Grund  des  Fehlers  einsieht, 
ist  bei  Vitruv  gar  nicht  abzusehen,  wie  er  auf  die  Verwechslung  ge- 
kommen sein  sollte,  wenn  er  sie  nicht  eben  aus  den  auch  an  dieser 
Stelle  angerufenen  ,,Graeci^',  d.  h.  Heron,  abgeschrieben  hat.  Heron 
hat  nämlich  vorher  die  Wellräder  beschrieben  und  da  die  Gesetze 
mit  Hilfe  der  Kreisbogen  abgeleitet,  so  führt  er  auch  beim  Hebel  die 
Erklärung  auf  die  Welle  zurück.  Nun  hat  er  die  Beobachtung  ge- 
macht, daß,  wenn  unter  dem  zu  hebenden  Steine  y  das  Erdreich 
weich  ist,  das  Ende  a  unter  dem  Steine  in  dem  sandigen  Erdboden 
einen  Kreisbogen  zu  beschreiben  scheint,  während  an  der  Kante  d 
scheinbar  der  Ruhepunkt  ist.  Diese  Beobachtung  ist  irrig,  denn  der 
Stein  y  wird  nur  gehoben,  wenn  das  Ende  a  schließlich  in  dem  Erd- 
reich doch  einen  Stützpunkt  findet;  bis  dies  geschieht,  ist  in  der  Tat 
das  Zusammendrücken  der  Erde  durch  a  die  Wirkung  eines  zwei- 
armigen Hebels,  dagegen  sobald  die  Last  y  gehoben  wird,  arbeitet 
der  Hebel  als  ein  einarmiger.  Der  Fehler  bei  Heron  ist  also  yer- 
ständlich,  der  bei  Vitruv  ist  unerklärlich. 

Noch  an  einer  anderen  Stelle^)  drückt  sich  Vitruv  sehr  zwei- 
deutig aus,  so  daß  es  mir  zweifelhaft  ist,  ob  er  Heron  verstanden 
hat.  Vitruv  beschreibt  nach  Heron  den  Windebaum,  vergißt  zu  er- 
wähnen, was  bei  Heron*)  ausführlich  beschrieben  ist,  daß  der  Baum 
in  seinem  Unterstützungslager  drehbar  sein  muß,  dann  sagt  er  am 
Schlüsse:  eine  einzige  Aufstellung  des  Windebaums  gewährt  den 
Nutzen,  daß  er  durch  Neigung  die  Last  soweit  man  will  nach  vom 
oder  nach  rechts  oder  links  zur  Seite  niederlassen  kann.  Wenn  diese 
„Neigung''  (proclinare)  erfolgt,  ehe  die  Last  an  den  Kopf  des  Winde- 
baums gezogen  ist,  so  ist  die  Vitruvsche  Vorrichtung  unmöglich, 
denn  beim  Heben  der  Last  würde  diese  sofort  nach  der  Seite  hin- 
pendeln, wohin  der  Balken  geneigt  ist,  und  gegen  die  Mauer  oder 
den  Wagen,  auf  welchen  sie  gehoben  werden  soll,  schlagen.  Heron 
hat  das  natürlich  gewußt,  er  schreibt*):  Hierauf  ziehen  wir  die  Seile 
(der  Winden)  an,  entweder  mit  den  Händen,  oder  mit  sonst  einem 
Werkzeug,   und  die  Last  hebt  sich  alsdann.     Wenn  man  nun  einen 


*)  Vitruvius  (ed.  V.  Rose)  X,  2  pag.  246.     »)  Heron  (ed.  L.  Nix)  II,  202. 
«)  Ebenda  II,  204. 


Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  Agrimensoren.  547 

Stein  auf  eine  Mauer  oder  an  einen  beliebigen  Ort  bringen  will^  so 
löst  man  das  Seil^)  an  einem  der  festen  Stützpunkte^  welche  den 
Stützbalken^  an  dem  die  Rollen  befestigt  sind^  halten  und  zwar  auf 
der  entgegengesetzten  Seite  als  die^  nach  welcher  man  den  Stein 
bringen  will,  und  der  Balken  neigt  sich  nach  jener  Seite^  dann  laßt 
man  das  Seil  mit  der  Rolle  langsam  herab  bis  zu  dem  Orte,  wo 
man  den  Stein  einsetzen  will.  Wenn  man  aber  den  Stützbalken^  an 
welchem  die  Rolle  befestigt  ist,  nicht  soviel  neigen  kann^  um  die 
gehobene  Last  an  den  beabsichtigten  Ort  gelangen  zu  lassen ,  so 
bringen  wir  Walzen  darunter  an,  auf  denen  wir  sie  laufen  lassen^ 
oder  treiben  sie  mittels  Hebels  so  weit,  bis  wir  sie  an  die  beabsich- 
tigte Stelle  bringen. 

Ich  habe  die  Heronsche  Beschreibung  so  ausführlich  hier  ange- 
geben,  damit  sich  jeder  überzeugen  kann,  daß  wir  es  mit  der  Arbeit 
eines  jJErfinders"  oder  doch  jemandes,  der  die  Werkzeuge  genau  be- 
obachtet hat,  zu  tun  haben.  Es  mag  sein,  daß  Vitruy  auch  meint, 
man  solle  erst  die  Last  heben  und  dann  den  Balken  neigen,  gesagt 
hat  er  es  aber  nicht,  und  seine  Leser  konnten  sehr  wohl  die  umge- 
kehrte Ordnung  herauslesen.  Die  ungenaue  Beschreibung  macht  den 
Eindruck,  als  ob  Yitruv  die  Maschine  nicht  gesehen  hätte,  sondern 
nach  einer  literarischen  (unverstandenen)  Vorlage  gearbeitet  habe. 
Das  ist  typisch  für  das  Verhältnis  Vitruvs  zu  den  von  ihm  genannten 
Graeci,  d.  h.  Heron.  Und  es  kann  meiner  Meinung  nach  kein  Zweifel 
bestehen,  wie  das  Abhängigkeitsverhältnis  zu  denken  ist/^ 

Wir  wissen  dieser  Auseinandersetzung  nichts  hinzuzufügen.  Höch- 
stens möchten  wir  deren  letzte  Worte  dahin  ergänzen,  daß  wer  die 
Verwandtschaft  zwischen  Vitruvius  und  Herons  Mechanik  zugibt,  nur 
annehmen  kann,  Vitruvius  habe  die  Mechanik  benutzt  und  deren  An- 
gaben abgekürzt.  Daß  Heron  die  undeutliche  Schilderung  des  Vitru- 
vius zu  jener  klaren  Darstellung  in  der  Mechanik  erweitert  haben 
könnte,  ist  uns  wenigstens  undenkbar,  und  somit  scheint  uns  die  zeit- 
liche Reihenfolge:  Heron  früher  als  Vitruvius  gesichert.  Wer  da- 
gegen die  erwähnte  Verwandtschaft  leugnet  oder  auf  gemeinsame 
Abhängigkeit  von  einem  unbekannten  älteren  Schriftsteller  deutet, 
wird  zunächst  als  untere  Lebensgrenze  Herons  festzuhalten  haben, 
daß  er  vor  Menelaus  von  Alexandria  gesetzt  werden  muß. 

L.  Junius  Moderatus  Columella*)  aus  Gades  (Cadix)  war 
Militärtribun  der  VI.  gepanzerten  Legion  und  lebte  als  solcher  längere 
Zeit  in  Syrien.  Von  dort  heimgekehrt  widmete  er  sich  mit  begeisterter 


^)  Der  Windebaum   wurde   durch    drei   oder  vier   Seile   aufrechtgestellt. 
•)  Agrimensoren  S.  89—98. 

35* 


548  26.  Kapitel. 

Anhänglichkeit  der  Landwirtschaft^  welche  er  in  zwei  Werken  nach- 
einander verherrlichte.  Von  der  ersteren  kürzeren  Ausarbeitung  ist 
nur  ein  Bruchstück  erhalten,  die  zweite  ausführliche  Schrift  ist  da- 
gegen vollständig  auf  uns  gekommen.  Die  XII  Bücher  De  re  rustica, 
wahrscheinlich  62  n.  Chr.  geschrieben,  sind  eine  fast  unerschöpfliche 
Fundgrube  reichster  Art  für  alle  Gebiete,  welche  zur  Landwirtschaft 
irgendwie  in  Beziehung  gesetzt  werden  können,  da  der  begabte  und 
gelehrte  Verfasser  seinen  Gegenstand  in  weitestem  Umfange  behan- 
delt. Freilich  ist  damit  für  ihn  die  Unbequemlichkeit  entstanden, 
daß  man,  wie  er  selbst  klagt,  über  alle  möglichen  Dinge  Auskunft 
von  ihm  begehre.  Er  hilft  sich  so  gut  er  kann.  Er  zieht  be- 
freundete Fachmänner  verschiedener  Gattung  zu  Rate,  und  so  gesteht 
er  auch  zu,  daß  das  2.  Kapitel  des  V.  Buches,  in  welchem  er  Feld- 
messung lehrt,  kein  Erzeugnis  seines  eigenen  Geistes  sei^).  Für  Voll- 
ständigkeit oder  UnVollständigkeit,  sowie  für  die  Richtigkeit  der  ge- 
gebenen Vorschriften  sind  diejenigen  verantwortlich,  welche  ihm  hier 
mit  ihrer  Erfahrung  beigestanden  haben. 

Zuerst  macht  Columella  seinen  Leser  mit  den  unentbehrlichsten 
Ackermaßen  bekannt,  dann  löst  er  neun  geometrische  Aufgaben  je 
an  einem  bestimmten  Zahlenbeispiele.  Allgemeine  Vorschriften,  wie 
bei  anderen  Zahlenangaben  zu  verfahren  sei,  gibt  er  nicht;  diese  soll 
der  Leser  sich  selbst  aus  der  Musterrechnung  entnehmen^).  Schon 
an  dieser  Eigentümlichkeit  wird  man  den  Schüler  des  Heron  von 
Alexandria  vermuten,  und  die  Vermutung  wird  zur  Gewißheit,  wenn 
man  die  Aufgaben  des  ColumeUa  selbst  ansieht.  Es  sind  sämtlich 
Aufgaben,  welche  mit  solchen  in  Herons  Vermessungslehre  oder 
in  den  Heronischen  Sammlungen  oder  in  beiden  übereinstimmen, 
wenn  wir  von  der  einzigen  Verschiedenheit  absehen,  daß  Columellas 
Zahlenwerte  für  die  Länge  einzelner  Strecken  dort  nicht  auftreten. 
Wir  erinnern  uns,  daß  Heron  in  der  Sammlung,  welche  die  Über- 
schrift Geometrie  fährt,  die  Fläche  des  Sechsecks  nach  zwei  Methoden 
berechnet.  Zuerst  läßt  er  das  Quadrat  der  Sechsecksseite  13  mal 
nehmen  und  dann  durch  5  teilen;  anders,  heißt  es  hierauf,  in  einem 

anderen  Buche,  wo  die  Vorschrift  gegeben  sei  „-  und  ^  des  Seiten- 
quadrats 6 fach  anzusetzen;  als  Beispiel  dient  das  Sechseck  von  der 
Seite  30.  Vergleichen  wir  damit  Columellas  9.  Aufgabe,  so  erkennen 
wir  in  der  Rechnung  der  Fläche  des  Sechsecks  von  der  Seite  30 
durch  die  Zahlen  900,  300,  90  und  der  Summe  390  dieser  beiden 


^)  Ne  dubites  id  opus  geometrorum  magis  esse  quam  rusticorum,  desque 
veniam,  st  quid  in  eo  fuerit  erratum,  cuius  scientiam  mihi  non  vindioo.  *)  Cuius- 
que  generis  species  subiciemus,  quibus  qtuisi  formulis  utemur. 


Die  Blütezeit  dei  lömischen  Geometrie.    Die  Agrimensoren.  549 

letzten  hindurch  zum  6  fachen  derselben  Summe  mit  2340  genau  den 
Gang  und  die  Zahlen  Herons.  Heronische  Formfeln  bieten  nun  auch 
die  anderen  Aufgaben  Columellas,  so'  die  4.  Aufgabe,  welche  das 
gleichseitige  Dreieck  als  ^  und  -^  des  Seitenquadrats  berechnet,  die 
8.  Aufgabe,  welche  die  fißche  eines  Kreisabschnittes,  der  kleiner  ist 
als  der  Halbkreis,  aus  der  Sehne  s  und  der  Höhe  h  des  Abschnittes 

il)' 

nach  der  Formel  ^"T  -h  +  -  ^ .  -  findet  usw.  Auch  die  von  uns  al» 
nicht  anzuzweifelnd  gegebene  Zeitbestimmung,  Heron  müsse  vor 
Menelaus  gesetzt  werden,  erleidet  höchstens  eine  Verschiebung  um 
wenige  Jahrzehnte,  wenn  wir  Heron  gegenwärtig  vor  das  Jahr 
62  n.  Chr.  hinaufzurücken  Veranlassung  finden. 

Etwa  gleichaltrig  mit  ColumeUa  war  M.  Fabius  Quintilianus, 
dessen  Lebenszeit  ungefähr  von  35 — 95  angesetzt  wird.  Er  ver- 
faßte XII  Bücher  Vorschriften  für  Redner,  und  es  ist  ein  glücklicher 
Zufall  zu  nennen,  daß  im  I.  Buche  dieses  Werkes  eine  Stelle  von 
mathematischer  Wichtigkeit  sich  vorfindet,  welche  wir  um  ihrer  nach 
verschiedenen  Seiten  wirkenden  Bedeutung  willen  in  wörtlicher 
Übersetzung  folgen  lassen^):  „Wer  wird  einem  Rechner  nicht  ver- 
trauen, wenn  er  vorbringt,  der  Raum,  der  innerhalb  gewisser  Linien 
enthalten  sei,  müsse  der  gleiche  sein,  sofern  jene  Umfassungslinien 
dasselbe  Maß  besitzen?  Doch  ist  dieses  falsch,  denn  es  kommt 
sehr  viel  darauf  an,  von  welcher  Gestalt  jene  Umfassung  ist,  und 
von  den  Geometern  ist  Tadel  gegen  solche  Geschichtsschreiber  er- 
hoben worden,  welche  da  glaubten,  die  Größe  von  Inseln  werde  zur 
Genüge  durch  die  Dauer  der  Umschiffung  gekennzeichnet.  Je  voll- 
kommener eine  Gestalt  ist,  um  so  mehr  Raum  schließt  sie  ein. 
Stellt  daher  jene  ümfassungslinie  einen  Kreis  dar,  welches  die  voll- 
kommenste der  Gestalten  der  Ebene  ist,  so  schließt  sie  mehr  Raum 
ein,  als  wenn  sie  bei  gleicher  Küstenstrecke  ein  Quadrat  bildete. 
Das  Quadrat  hinwiederum  schließt  mehr  Raum  ein  als  das  Dreieck, 
das  gleichseitige  Dreieck  mehr  als  das  ungleichseitige.  Doch  dieses 
andere  mag  vielleicht  zu  dunkel  sich  erweisen;  verfolgen  wir  dagegen 
einen  auch  dem  Ungeübten  sehr  leichten  Versuch.  Es  wird  nicht 
wohl  irgend  jemandem  unbekannt  sein,  daß  das  Maß  des  Jucharts^) 
240  Fuß  in  die  Länge  beträgt,  während  es  nach  der  Breite  um  die 
Hälfte  sich  öffnet;  was  also  der  Umfang  ist,  und  wieviel  Feld  er 
in  sich  schließt  ist  bequem  zusammenzubringen.     Aber  180  Fuß  an 


*)  Qnintilianns,  Institutianea  oratoriae  (ed.  Halm,  Leipzig  1868)  I,  10, 
39 — 45  (pag.  62).  *)  jugerum  ist  das  römische  Doppelfeldmaß,  welches  z.  B. 
Varro  definiert  hat:  Jugerwm  dictum  iunctis  duobus  octt&K«  quadraiis. 


550  26.  Kapitel. 

jeder  Seite  bilden  dieselbe  Ausdehnung  der  Grenzen,  dagegen  weit 
mehr  von  den  vier  Linien  eingeschlossenen  Flächenraum.  Wer  wider- 
willig ist  das  auszurechnen,  kann  dasselbe  an  kleineren  Zahlen  lernen. 
Je  10  Fuß  ins  Quadrat  sind  40  Fuß  ringsum,  inwendig  100  Fuß. 
Sind  je  15  Fuß  seitlich,  je  5  in  der  Fronte,  so  wird  man  bei  gleichem 
Umfange  von  dem,  was  eingeschlossen  ist,  den  vierten  Teil  ab- 
ziehen müssen.  Wenn  aber  19füßige  Seiten  nur  um  je  1  Fuß  von- 
einander abstehen,  so  werden  sie  nicht  mehr  Quadratfuße  in  sich 
fassen,  als  die  Zahl,  nach  welcher  die  Länge  wird  gezogen  worden 
sein.  Die  ümfassimgslinie  aber  wird  von  derselben  Ausdehnung  sein 
wie  die,  welche  100  Quadratfuß  enthält.  Was  man  also  von  der 
Quadratgestalt  abzieht,  das  geht  auch  von  der  Menge  zugrunde.  Es 
kann  folglich  auch  das  erreicht  werden,  daß  mit  einem  größeren 
Umfange  eine  geringere  Menge  Feldes  eingeschlossen  sei.  So  in  der 
Ebene,  denn  daß  bei  Hügeln  und  Tälern  die  Bodenfläche  eine 
größere  ist  als  die  der  darüber  befindlichen  Himmelsdecke,  liegt  auch 
für  den  Unerfahrenen  zutage."  Wir  haben  diese  Stelle  wiederholt 
früher  beigezogen.  Wir  haben  (S.  173)  mit  ihr  belegt,  daß  irrige 
Meinungen  fast  zäher  festgehalten  werden  als  richtige.  Wir  möchten 
beinahe  entschuldigend  er^nzen,  daß  Römer,  deren  Felder,  wie  wir 
gesehen  haben,  tatsächlich  gleiche  Gestalten  besaßen,  leichter  dem 
gerügten  Irrglauben  verfallen  konnten.  Durfken  sie  doch  beinahe 
dem  Beispiele,  durch  welches  Quintilian  sie  eines  Besseren  belehren 
wollte,  entgegenhalten,  solche  Felder  von  180  Fuß  ins  Quadrat  kämen 
nicht  vor.  Zweitens  ist,  wie  uns  scheint,  durch  die  Sätze  über  den 
Flächenraum  der  verschiedenen,  weniger  vollkommnen  und  voU- 
kommneren,  Figuren  der  Beweis  geliefert  (S.  357),  daß  Zenodorus, 
welchen  man  für  den  Erfinder  jener  Sätze  hält,  vor  Quintilian  gelebt 
haben  muß,  wodurch  mindestens  eine  untere  Lebensgrenze  für  den- 
selben gewonnen  wird,  die  weit  höher  hinaufreicht  als  das  Zeitalter 
des  Pappus.  Drittens  endlich  ist  uns  Quintilian  ein  Beispiel  fast 
heimlicher  Beschäftigung  mit  mathematischen  Dingen,  wie  wir  sie 
oben  (S.  539)  angekündigt  haben,  er  weiß,  daß  er  von  seinen  Lesern 
nicht  verstanden  werden  wird,  daß  er  mit  seinem  Wissen  vereinzelt 
dasteht,  aber  er  kann  es  doch  nicht  unterlassen  wenigstens  nebenbei 
Sätze  zu  erwähnen,  die  für  ihn  Interesse  besitzen. 

Dem  Geburts-  wie  dem  Todesjahre  nach  wieder  nahe  bei  Quin- 
tilian wird  Sextus  Julius  Frontinus*)  von  40 — 103  angesetzt. 
Er  gehörte  dem  Staatsdienste  an,  während  Yespasianus,  Titus,  Do- 
mitianus,  Nerva  und  Trajanus  als  Kaiser  aufeinander  folgten.    Unter 


^)  Agrimensoren  S.  93  flgg. 


Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  Agrimensoxen.  551 

Domitianns'  Regierung  scheint  er  mit  YorBchnften  über  die  Feld- 
meßknnst  erstmalig  als  Schriftsteller  aufgetreten  zu  sein.  Eüriegs- 
wissensehaftliche  Schriften  folgten  rasch.  Ein  uns  einzig  vollständig 
und  unverfälscht  durch  fremde  Zutaten  erhaltenes  Werk  in  zwei 
Büchern  über  Wasserleitungen^),  unter  Nerva  begonnen,  unter  Trajan 
etwa  im  Jahre  98  beendigt,  bildet  den  Schluß  seiner  schriftstelle- 
riseheu  Tätigkeit.  Für  die  Geschichte  der  Mathematik  bietet  es 
kaum  etwas  mit  Ausnahme  von  ziemlich  zahlreichen  Berechnungen 
von   Umfangen   von  Wasserleitungsröhren   aus   ihren   Durchmessern, 

bei    welchen    die   Yerhältniszahl   tt  =  3y    benutzt    ist,     soweit    die 

römischen  Duodezimalbrüche,  mit  denen  allein  operiert  ist,  es  gestatten 
die  Verhältniszahl  zu  erkennen.  Wenn  Frontinus  in  der  Vorrede 
zu  dieser  Schrift  sagt:  nachdem  Kaiser  Nerva  ihn  dem  sämtlichen 
Wasserwesen  vorgesetzt  habe,  schreibe  er  dies  Büchlein  um  sich 
selbst  über  seine  Pflichten  klar  zu  werden,  es  könne  dann  möglicher- 
weise auch  seinen  Nachfolgern  im  Amte  sich  nützlich  erweisen;  was 
er  dagegen  früher  geschrieben,  habe  sich  stets  auf  Dinge  bezogen, 
mit  welchen  er  durch  lange  Übung  vei-traut  war,  und  sei  daher  der 
Hauptsache  nach  mit  Rücksicht  auf  die  Belehrung  seiner  Nachfolger 
entstanden,  so  sind  diese  Bemerkungen  reichlich  dazu  angetan  uns 
den  Verlust  des  feldmesserischen  Werkes  bedauern  zu  lassen.  Wir 
wissen  nur  aus  einer  Randbemerkung*)  eines  Schreibers  vermutlich 
zu  Anfang  des  XII.  S.,  daß  dieser  ein  Buch  des  Frontinus  gekannt 
hat,  in  welchem  Flächeninhalte  von  Vierecken  berechnet  wurden. 
Wir  wissen  femer  von  einzelnen  Stellen  aus  jenem  feldmesserischen 
Werke  und  von  der  fast  wörtlichen  Wiederkehr  solcher  Stellen  in 
einem  berühmten  Buche  aus  dem  Anfange  des  XIU.  S.'),  welche  die 
Vermutung  erweckt,  gewisse  dort  beschriebene  und,  wie  der  Ver- 
fasser sich  ausdrückt,  alten  Weisen  zu  verdankende  feldmesserische 
Operationen  möchten,  wiewohl  in  den  Fragmenten  des  Frontinus  selbst 
fehlend,  ursprünglich  von  ihm  beschrieben  worden  sein. 

Die  uns  erhaltenen  Bruchstücke  des  Frontinus  finden  sich  ver- 
einigt mit  anderen  für  die  Geschichte  der  Mathematik  hochwichtigen 
Fragmenten  in  einer  Sammelhandschrift,  welche  von  1566 — 1604  im 
Besitze  von  Johannes  Arcerius   in  Groningen  war  und   deshalb   von 

*)  Vgl.  über  dieses  Werk  eine  kleine  Druckschrift  des  New  Yorker  Wasser- 
bauingenieurs Clemens  Herschel,  Frontinus  and  his  two  booka  on  the  water 
supply  of  the  city  of  Borne,  die  den  Inhalt  einer  von  ihrem  Verfasser  am  2.  Fe- 
bniar  1894  in  der  Comell-Üniversitat  gehaltenen  Vorlesung  wiedergibt.  *)  Agri- 
mensoren  S.  94  und  Anmerkung  186.  ')  Agrimensoren  S.  179  9Lgg.  über  Frontinus 
und  Leonardo  von  Pisa. 


552  26.  Kapitel. 

dem  nachfolgenden  Eigentümer  Petrus  Scriverius  in  einer  Beschrei- 
bnng  aus  dem  Jahre  1607  den  Namen  der  arcerianischen  Hand- 
schrift erhielt,  als  welche  sie  heute  noch  bekannt  ist^).  Sie  ist 
eine  der  ältesten  größeren  Handschriften,  welche  man  überhaupt 
besitzt,  und  nach  dem  urteile  der  Fachgelehrten  nicht  später  als 
im  Vn.,  vielleicht  schon  im  VI.  S.  niedergeschrieben.  Alan  nimmt 
an,  es  seien  um  das  Jahr  450  aus  alteren  Schriften,  sämtlich  auf 
Gebietseinteilung,  Agrargesetzgebung  imd  dergleichen  bezüglich,  amt- 
liche Auszüge  veranstaltet  worden  als  rechtswissenschafüich-statisti- 
sches  Nachschlagebuch  für  Yerwaltungsbeamte  des  römischen  Kaiser- 
reichs, und  eine  wieder  um  ein  oder  anderthalb  Jahrhundert  jüngere 
Abschrift  dieser  Sammlung  sei  als  Codex  Arcerianus  auf  uns  ge- 
kommen, die  sauber  und  schön  geschriebene  Arbeit  eines  vielleicht  als 
Beamter  sehr  brauchbaren  Mannes,  der  aber  von  Feldmessung  wenig 
oder  gar  nichts  verstand  und  daher  zu  den  Fehlem,  welche  bereits 
in  seiner  Vorlage  vorhanden  gewesen  sein  mögen,  noch  weitere  nicht 
seltene  eigene  Versehen  und  Schreibfehler  hinzufügte.  Man  sieht,  daß 
es  insofern  keine  sehr  reine  Quelle  ist,  aus  welcher  wir  genötigt  sind 
unser  Wissen  zu  schöpfen.  Es  steht  keineswegs  fest,  daß  die  ver- 
schiedenen Bruchstücke  gerade  von  den  Schriftstellern  herrühren, 
welchen  sie  zugeschrieben  sind;  es  steht  keineswegs  fest^  wie  die 
Namen,  welche  mitunter  in  mehrfachen  Schreibformen  vorkommen, 
wirklich  gelautet  haben;  es  steht  keineswegs  fest,  wann  die  Träger 
dieser  Namen  gelebt  haben,  ob,  wie  man  aus  ihrer  Vereinigimg  und 
aus  manchen  anderen  Umständen  schließen  möchte,  sie  alle  etwa  der 
Zeit  von  50  bis  150  angehören,  d.  h.  dem  Jahrhunderte,  in  dessen 
Mitte  Kaiser  Trajan  lebte,  imter  welchem,  wie  wir  uns  wiederholt 
erinnern  wollen,  Menelaus  von  Alexandria  in  Rom  seinen  Aufenthalt 
aufgeschlagen  hatte,  oder  ob  man  für  sie  zum  Teil  wesentlich  späterer 
Datierungen  bis  um  das  Jahr  400  sich  bedienen  muß. 

Inmitten  dieser  Zweifel  begnügen  wir  uns  die  Namen  der  Feld- 
messer Frontinus,  Hyginus,  Baibus,  Nipsus,  Epaphroditus, 
Vitruvius  Rufus,  die  als  Verfasser  kleinerer  oder  größerer  Bruch- 
stücke*) genannt  sind,  anzugeben,  femer  kurz  zu  berichten,  was  man 


*)  Über  den  Codex  Arcerianus  der  Wolfenbüttler  Bibliothek  vgl.  Agrimen- 
Boien  S.  95.  *)  Die  Bruchstücke  des  Epaphroditus  und  YitruviuB  Bufus  vgl. 
Agrimensoren  und  Un  nouveau  texte  des  traitis  d'arpentage  et  de  giomärie  d'EpcL- 
phroditxts  et  de  Vitruvius  Bufus  publie  d'apris  le  Ms.  Latin  13084  de  la  Biblio- 
theque  Boyale  de  Munich  par  Victor  Mortet  avec  une  introduction  de  Paul 
Tannery.  Notices  et  Extraits  etc.  T.  XXXV,  2«  Partie  (Paris  1896);  alle  übrigen 
B.  Römische  Feldmesser  I.  Übersetzungen  wichtiger  Teile  bei  E.  Stoeber, 
Die  römischen  Grund  Vermessungen.     München  1877. 


Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  Agrimensoren.  553 

von  den  Persönlichkeiten  des  Hyginus  und  des  Baibus  weiß^  und 
schließlich  ein  Gesamtbild  der  in  jenen  Bruchstücken  enthaltenen 
mathematischen  Kenntnisse  zu  geben,  ohne  eine  genauere  Zeitbestim- 
mung daran  zu  knüpfen  als  diejenige,  daß  alles  yorhanden  war,  als 
der  Schreiber  des  Codex  Arcerianus  es  zu  Papier  brachte. 

Der  Name  Hyginus  tritt  mehrfach  in  der  römischen  Literatur 
auf.  Hyginus,  ein  Zeitgenosse  des  Augustus,  hat  ein  astronomisches 
Werk  verfaßt.  Ein  Militarschriftsteller  Hyginus  hat  über  die  Anlage 
von  Lagern  mutmaßlich  zwischen  240  und  267  gehandelt^).  Von 
beiden  verschieden  ist  der  Feldmesser  Hyginus,  der  unter  Trajan 
lebte  und  ein  größeres  feldmesserisches  Werk  wahrscheinlich  im 
Jahre  103,  im  Zwischenräume  zwischen  den  beiden  dacischen  Kriegen 
verfaßte*). 

Auch  der  Name  Baibus  tritt  mehrfach  auf.  Wir  haben  einen 
Oberwegemeister  Baibus  aus  der  Zeit  des  Augustus  zu  nennen  ge- 
habt, dem  die  Aufsicht  über  die  große  Beichsvermessung  übertragen 
war.  Der  Baibus,  von  welchem  uns  Bruchstücke  überliefert  sind,  ge- 
hört der  trajanischen  Zeit  an').  Er  begleitete  den  Kaiser  auf  seinem 
dacischen  Feldzuge,  und  nach  errungenem  Siege,  mithin  103  oder 
wenn  der  zweite  Feldzug  gemeint  war  spätestens  117,  nach  Hause 
zurückkehrend,  richtete  er  eine  feldmesserische  Schrift  an  einen 
Celsus,  welcher  nicht  genau  bekannt  ist,  aber  den  Worten  des 
Baibus  gemäß  eine  erste  Autorität  des  Ligenieurfaches  gewesen 
sein  muß. 

Die  anderen  Namen  Marcus  Junius  Nipsus,  Epaphroditus, 
Vitruvius  Rufus  sind  außer  in  Verbindung  mit  den  ihnen  zuge- 
schriebenen Bruchstücken  nicht  näher  bekannt  Den  erstgenannten, 
wahrscheinlich  einen  griechischen  Freigelassenen  eines  Römers  aus 
dem  Hause  der  Junier,  hat  man  gewichtige  Gründe  nicht  später  als 
in  das  H.  S.  zu  setzen.  Um  jene  Zeit  dürfte  nämlich  das  Geschlecht 
der  Junier  erloschen  sein,  um  jene  Zeit  wurde  es  auch  Sitte  vier, 
fünf,  sogar  sechs  Namen  nacheinander  zu  führen,  während  Marcus 
Junius  Nipsus  wie  in  guter  alter  Zeit  nur  Pränomen,  Nomen  und 
Cognomen  erkennen  läßt. 

Fassen  wir  sämtliche  Schriftsteller  des  Codex  Arcerianus  zu- 
sammen, so  läßt  sich  unschwer  bestätigen,  was  wir  schon  vorher 
behaupten  durften:  auch  diese  Feldmesser  sind  als  Schiller  des  Heron 
von    Alexandria    anzusehen,    daneben   vielleicht    noch    anderer    grie- 

^)  H.  Droysen  im  Rhein.  Museum  für  PhiJoIogie  (1875)  XXX,  469. 
*)  Lachmann  in  Römische  Feldmesser  11,  139  nnd  Hultsch,  Scriptares  metro- 
logici  n,  JP^olegomena  pag.  6.  *)  Römische  Feldmesser  I,  91,  98  und  II,  146flgg. 
(Mommsen). 


554  26.  Kapitel. 

chischer  Schriftsteller;  auch  sie  bedienten  sich  des  andern  Buches 
von  Herons  Geometrie,  sei  es  im  Originale,  sei  es  in  einer  latei- 
nischen Übersetzung,  deren  Vorhandensein  freilich  nur  daraus  er- 
schlossen ist,  daß  es  unwahrscheinlich  gefunden  wird,  daß  Feldmesser 
untergeordneten  Geistes  imstande  gewesen  sein  sollten  den  Urtext  zu 
verstehen.  Andrerseits  könnte  freilich  die  Art,  wie  der  Text  dieser 
Feldmesser  mit  dem  Herons  in  Übereinstimmung  tritt,  eine  Überein- 
stimmung, die  mitunter  einem  Gegensatz  ähnelt,  zur  Vermutung 
führen,  sie  hätten  ein  in  fremder  Sprache  geschriebenes  Buch  miß- 
verstanden, oder  aber,  wenn  sie  selbst  griechischen  Stammes  waren, 
sie  hätten  sich  in  der  ihnen  fremden  lateinischen  Sprache  nur  mangel- 
haft auszudrücken  gewußt. 

Es  lassen  sich  bei  ihnen  allen  ähnlich  wie  bei  Heron  gewisse 
Hauptabschnitte  erkennen,  von  welchen  freilich  bei  dem  einen  Schrift- 
steller der  eine,  bei  dem  anderen  der  andere  bevorzugt  wird:  sie 
werden  gebildet  durch  Maßbestimmungen,  durch  geometrische  De- 
finitionen, durch  praktisch  feldmesserische  Vorschriften,  durch  rech- 
nende Geometrie,  wozu  noch  bei  Epaphroditus  und  Vitruvius  Rufus, 
für  welche  gemeinschaftlich  ein  größeres  Bruchstück  durch  den 
Schreiber  des  Codex  Arcerianus  beansprucht  ist,  ein  Abschnitt  über 
Vieleckszahlen  und  Pyramidalzahlen  kommt,  wohl  einen  anderen  Ur- 
sprung verratend  als  Heron,  in  dessen  Schriften,  wenigstens  soweit 
die  uns  erhaltenen  Sammlungen  Aufschluß  geben,  derartiges  nicht 
vorkam. 

Maßbestimmungen  und  Definitionen  waren  für  jeden  notwendig, 
der  ohne  Geometer  zu  sein  Geometrisches  lesen  wollte  oder  mußte. 
Sie  hier  zu  treffen  kann  uns  daher  nicht  in  Erstaunen  setzen,  und 
wir  bemerken  nur,  weil  gerade  die  Gelegenheit  sich  bietet,  daß  Pa- 
rallellinien durch  lineae  ordinatae  übersetzt  sind^),  das  Wort,  welches 
viele  Jahrhunderte  später  für  die  einer  bestimmten  Richtung  parallelen 
Geraden  (Ordinaten)  in  Anwendung  blieb  und  uns  als  einem  schon 
bei  den  Griechen  insbesondere  bei  Apollonius  (S.  337)  vorkommenden 
Ausdrucke  nachgebildet  erscheint.  Dem  Charakter  des  Verwaltimgs- 
handbuches  gemäß,  welchem  es  nicht  auf  die  Auffindung  von  Ent- 
fernungen, nicht  einmal  auf  die  Ausmessung  von  Grundstücken, 
sondern  auf  die  Rechtsverhältnisse  schon  ausgemessener  Felder  und 
etwa  auf  die  Berechnung  ihres  Rauminhaltes  aus  gegebenen  Aus- 
dehnungen zum  Zwecke  von  Versteuerung  und  dergleichen  ankam, 
sind  die  Stücke  über  das,  was  wir  Feldmeßkunst  nennen,  am  kärg- 
lichsten vertreten,  und  wir  wissen  aus  dem  Vorhandenen  kaum  mehr, 

*)  AgrimensorSD  S.  98. 


Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  AgrimeDsoien.  555 

als  daB  Entsprechendes  aus  der  Feder  eines  Frontinus,  eines  BalbuS; 
eines  Celsus  einstmals  vorhanden  gewesen  sein  muß.  Schon  um 
dieser  wichtigen  Gemeinsamkeit  des  Inhaltes  willen  und  wegen  des  * 
vereinigten  Vorkommens  der  Bruchstücke  in  dem  mehrgenannten 
Codex  Arcerianus  wollen  wir  für  die  Verfasser  derselben  uns  eines 
häufig  benutzten  Sammelnamens  bedienen  und  sie  die  Agriinen- 
soren  nennen. 

Die  Schüler  des  Heron  erkennen  wir  in  ihnen  ferner  an  einer 
ziemlichen  Anzahl  von  Wörtern,  die  als  genaue  Übersetzungen  er- 
scheinen^). Die  Scheitellinie  insbesondere  heißt,  wie  wir  uns  erinnern, 
bei  Heron  xoQvq)fly  bei  den  Agrimensoren* Vertex  oder  coraustus,  letz- 
teres eine  o£fenbare  Verstümmelung  von  xogvörbg  (sc.  yQa[i(nil)^). 
Wird  in  einem  Dreiecke  eine  Senkrechte  aus  der  Spitze  auf  die 
Grundlinie  gefällt,  und  trifft  sie  dieselbe  zwischen  ihren  Endpunkten, 
so  bildet  sie  einen  Abschnitt,  der  bei  Heron  anoro[i7],  bei  den  Agri- 
mensoren  praecisura  heißt.  Trifft  die  Senkrechte  jenseits  des  End- 
punktes auf  die  Grundlinie,  so  entsteht  eine  Überragung,  bei  Heron 
ixßkrjOetöa,  bei  den  Agrimensoren  eiectura.  Wenn  die  Aufgabe  ge- 
stellt ist,  leitet  Heron  die  Auflösung  mitunter  durch  die  Worte  noict 
ovTog,  die  Agrimensoren  durch  sie  quaeres  ein,  häufig  abgekürzt  in 
S.  Q.,  wiewohl  man  auch  versucht  hat  S.  Q.  als  Abkürzung  von  se- 
quitur  zu  deuten^  und  sich  darauf  stützt,  daß  in  einem  dem  IX.  oder 
X.  S.  angehörenden  Münchner  Manuskripte  dieses  Wort  an  Stelle  des 
S.  Q.  mannigfach  abgekürzt  erscheint.  Wenn  Heron  das  rechtwinklige 
Dreieck  öQ0oy6vvov,  die  dem  rechten  Winkel  gegenüberliegende  Seite 
iyKoxBlvovöa,  einen  Schenkel  des  rechten  Winkels  xdOerogj  den  Flächen- 
inhalt ifißadovy  die  Ausmessung  nach  Fußen  ^oÖLöfiög  nennt,  so  schreibt 
ein  Agrimensor  fast  die  gleichen  Wörter  nur  mit  lateinischen  Buch- 
staben, so  daß  sie  bei  ihm  hortogojtium,  hypotenusa,  chatefus,  embadum, 
podismus  lauten. 

Gleichwie  bei  Heron  findet  sich  die  Berechnung  der  Fläche  des 
Dreiecks  aus  seinen  drei  Seiten.  Aufgaben  über  Dreiecke,  in  welchen 
eine  Höhe  gezogen  ist,  sind  geradezu  wörtlich  aus  Herons  Geometrie 
übersetzt.  Wie  bei  Heron  sind  rationale  rechtwinklige  Dreiecke  an- 
gegeben, ausgehend  von  ungeraden  sowie  von  geraden  Zahlen.  Die 
heronische  Berechnung  des  gleichseitigen  Dreiecks  findet  sich  zwar 
,  nicht   vollständig,   aber   doch   ist   dessen   Einwirkung   unverkennbar. 

')  Genauere  Beweisführung  des  hier  Behaupteten  in  unseren  „Agrimen- 
soren". *)  Diese  Ableitung  wurde  1840  durch  Gottfried  Hermann  gegeben. 
Vgl.  Zeitechr.  Math.  Phys.  XX.  Histor.-liter.  Abtlg  S.  68.  »)  Tannery  in  einer 
Fußnote  zu  Un  nauveau  texte  d*arpenUige  etc.  Notices  et  extraits  XXXV,  2«  Partie, 
pag.  632  (pag.  26  des  Sonderabdrucks). 


556  26.  Kapitel. 

Das  gleichseitige  Dreieck  von  der  Seite  30  habe,  heißt  es  nämlich^ 

als   Quadrat   der   Seite  900 ,   als  Quadrat   der  halben   Seite  225^   als 

'Höhe  26  und  darin  liegt  eingeschlossen^   daß  nach  der  Ansicht  des 

Verfassers   26  -  1/900^^25  =  ]/675  =  15  YS   sei,    also  ]/3  =  J? 

wie  bei  Heron.  Wir  bedürfen  wohl  nicht  einer  noch  genaueren  Be- 
weisführung für  die  Abhängigkeit  der  Agrimensoren  von  Heron  von 
Alexandria  und  wollen  vielmehr  auf  einige  Dinge  aufmerksam  machen^ 
welche  in  unserem  Heron  nicht  ermittelbar,  doch  ohne  Zweifel  griechi- 
schen Ursprungs  gewesen  sein  müssen. 

Unter  dem  Namen  Nipsus  ist  die  Aufgabe  überliefert,  aus  der 
Fläche  A  und  der  Hypotenuse  h  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  die 
Katheten  c^  und  c^  zu  finden.  Die  Auflösung  wendet  die  Formeln 
^1+^2=  VA*  +  4  A  ,  Ci  —  Cg  =  Yh^  —  4A  an.  Dabei  ist  dem 
Schreiber  das  Versehen  begegnet  bei  dem  Satze  „der  Podismus  der 
Hypotenuse  beträgt  25  Fuß"  das  wichtigere  Wort  Hypotenuse  zu  ver- 
gessen und  nur  zu  schreiben  „der  Podismus  beträgt  25  Fuß".  Wir 
werden  uns  diesen  interessanten  Schreibfehler  zu  merken  haben,  welcher 
uns  im  39.  Kapitel  dienen  wird,  im  Codex  Arcerianus  die  Quelle  eines 
Werkes  aus  dem  X.  S.  zu  erkenneip. 

In  dem  als  von  Epaphroditus  und  Vitruvius  Rufus  herrührend 
bezeichneten  Bruchstücke  ist  der  Durchmesser  des  in  ein  recht- 
winkliges Dreieck  beschriebenen  Kreises  als  der  Rest  berechnet, 
welcher  bei  Abziehung  der  Hypotenuse  von  der  Summe  der  beiden 
Katheten  übrig  bleibt. 

Ebenda  wird  die  Oberfläche  von  Bergen  nach  einer  Näherungs- 
methode berechnet,  welche  derjenigen  nahe  verwandt  ist,  von  der 
(S.  489)  imter  dem  Namen  des  Patrikius  die  Rede  war,  welche  aber, 
da  sie,  wie  wir  dort  bemerkten,  fast  wahrscheinlicher  uralt  ist,  zur 
Datierung  des  Epaphroditus  nichts  beitragen  kann,  auch  wenn  wir 
genau  wüßten,  welcher  Patrikius  in  der  betreffenden  Stelle  gemeint 
ist.  Die  Berechnung  erfolgt,  indem  das  arithmetische  Mittel  von  drei, 
ein  andermal  von  zwei  Kreisperipherien  als  durchschnittlicher  Umfang 
des  Berges  das  eine  Mal  mit  dessen  Höhe,  das  andere  Mal  mit  der 
halben  Summe  zweier  an  Abhängen  von  verschiedener  Steilheit  zu 
messenden  Höhen  vervielfacht  wird. 

Wieder  in  einer  anderen  Aufgabe  ist  mit  Hilfe  eines  massiven 
gleichschenkligen  rechtwinkligen  Dreiecks,  längs  dessen  Hypotenuse 
man  bei  horizontaler  Lage  der  einen  Kathete  den  Gipfel  eines  Baumes 
einvisiert,  eine  der  vertikalen  Höhe  des  Baumes  gleiche  Entfernung 
von   seinem    Fuße   bestimmt,    die   alsdann   abgemessen   werden   kann 


Die  Blütezeit  der  römischen  Geometrie.    Die  Agrimensoren.  557 

und  somit  eine  HöhenmesBung  liefert^),  welche  von  der  Benutzung 
des  Schattens  absieht;  eine  Methode ^  welche  sowohl  an  sich  be- 
merkenswert ist,  als  auch  dadurch ,  daß  sie  durch  die  in  einem 
Zwischensatze  hervorgehobene  Ausschließung  der  Schattenbeobachtung 
bestätigt,  daß  die  Höhenmessung  aus  dem  Schatten,  das  Verfahren 
also,  welches  man  bis  auf  Thaies  zurückzufahren  liebt,  die  Regel 
bildete. 

Am  merkwürdigsten  sind  einige  Paragraphe  des  gleichen  Frag- 
mentes, welche  mit  arithmetischen  Sätzen  sich  beschäftigen,  und  zwar 
merkwürdig  nach  zwei  Richtungen:  erstlich  dadurch,  daß  sie  er- 
kennen lassen,  was  einzelne  in  Rom  aus  offenbar  griechischer  Quelle 
einmal  gewußt  haben,  zweitens  dadurch,  daß  sie  bezeugen,  wie 
spätesteas  zur  Zeit  der  Abfassung  der  Sammlung,  welche  uns  als 
Quelle  dient,  die  Dinge  bereits  mißverstanden  wurden.  Wir  haben 
(S.  361)  bei  Hypsikles  um  180  v.  Chr.  die  Definition  der  rten  wecks- 
zahl  kennen  gelernt  als  j)^,  ==  1  +  (w  —  1)  +  (2  m  —  3)  +  •  •  • 
+  (1  +  (r  —  1)  (m  —  2)).  Wir  haben  (S.  486)  bei  Diophant  um 
300  n.  Chr.  vielleicht  allerdings  aus  früherer  Quelle  die  beiden 
Gleichungen  auftreten   sehen  p^„^  =  U^  —  "".    _  g.    —  (w  —    ; 

1   rVs  (»n  —  2)  pI^  +  {m  -  4)»  — 1>  1 

und  r  «  2  I m"—2 '"  ^J*     I^i^s®    beiden    Formeln 

nun,  welche  bei  bekannter  Ordnung  m  einmal  die  Vieleckszahl  aus 
ihrem  oberen  Index  r,  das  andere  Mal  jenen  Index  r  aus  der  rten 
Vieleckszahl  ableitet,  kommen  in  unserem  Fragmente  vor,  zwar  nicht 
wie  bei  Diophant  als  in  Worte  gekleidete  allgemeine  Formeln,  aber 
in  ihrer  Anwendung  auf  die  Vieleckszahlen  aufeinanderfolgender 
Ordnung  von  der  Dreieckszahl  bis  zur  Zwölfeckszahl,  mit  zwei 
Rechenfehlem,  wo   es   um   Fünf-   und   Sechseckszahlen  sich  handelt. 

Dort  wäre  nämlich  richtig  pl  =  — —   ,  pl  =  — « —  >    während    die 

irrigerweise    statt    der    Subtraktionen    in    den    betreffenden    Zählern 

vorgenommenen    Additionen     die     falschen    Formeln   pl  «=  -^2~~f 

jjg  = ^- —  hervorbrachten,   nach  welchen   gerechnet   ist.     Es   ist 

gewiß  berechtigt,  daraus  den  Schluß  zu  ziehen^),  daß  dabei  die 
allgemeinen  Wortformeln  den  Ausgangspunkt  bildeten,  denn  es  ist 
unendlich  viel  wahrscheinlicher,  daß  zwei  Fehler  mangelhafter  Sub- 
stitution vorkommen,  als  daß  bei  der  Einzelbetrachtung  der  aufein- 
ander   folgenden    Vieleckszahlen    zwei    in    Rechenfehler    ausartende 


*)  ut  sine  umbras  solis  et  lunae  tnensuris  (Agrimensoren  S.  215,  lin.  8—9). 
*)  Agrimensoren  S.  126. 


558  26.  Kapitel. 

Schreibfehler  just  bei  niedrigem  Werte  von  m  sich  hätten  ein- 
schleichen sollen.  In  der  Tat  sind  in  der  Münchner  Handschrift  die 
richtigen  Formeln  an  dieser  Stelle  benutzt.^) 

Auch  eine  merkwürdige  Formel  für  Pyramidalzahlen  läßt  aus 
den  Einzelfällen  sich  erkennen^  deren  Ableitung  freilich  nirgend  ge- 
geben ist 9  aber  nachträglich  sich  leicht  erraten  läßt,  ohne  irgend 
Kenntnisse  in  Anspruch  zu  nehmen,  welche  nicht  bei  den  Griechen 
sich  nachweisen  ließen.  Nennt  man  die  Summe  der  r  ersten  tnecks- 
zahlen  die  rte  m  eckige  Pyramidalzahl  und  schreibt  dafür  F^,  so  ist 
die  Definitionsgleichung  P^  =  jp,«  +pl^  +  -  -  -  +  Pm-  Nun  nehmen 
wir  an,  es  sei  ausgehend  Yon  dem  bekannten  Satze 

a'-ß»^(a  +  ß).{a-ß) 
die  Umformung  vorgenommen  worden: 

[(,H^_  2)  (2r  —  l)_+_2]  •  —  (m  —  4)« 
8'(wt—  2) 
[{m  —  2)  (2r  —  1)  +  2  +  (m  —  4)]  -  [{m  —  2)  (2r  —  1)  +  2  —  (»t  --  4)] 


8  (w  —  2) 
(w  —  2)  2r[(i»  —  2)  2r  +  8  —  2m]  _  w  — 


r'  —  — ^ —  •  r . 


8  (w  —  2)  2  2 

Setzt  man  die  entsprechenden  Werte   in  alle  Yieleckszahlen  von  p]n 
bis  pm  ein,  so  erhält  man 

pr„  =  «  -  2  (1«  +  2«  +  . .  +  O  -  '^  (1  +  2  +  . .  +  r) . 

Aber  spätestens  zu  Archimeds  Zeiten  (S.  313 — 314)  war  bekannt 

1 +  2  +  --  +  r-='--(r  +  ^)  und  1^  +  2»+ ••  +  r»  =  '-('-  +  Y'"^'-> 

wenn  auch  letzteres  noch  nicht  in  der  kurzen  Form,  deren   wir  uns 
bedienen.     Diese  Werte  liefern 

pr  ^m-J^    r{r  +  1)  (2jJ-_l)  _  m-4     rjr  +  1) 
"*  2        *  6  2*2 

beziehungsweise 

^r  +  lr2(w  — 2)    .        2(m-4)  ,   »»  -  2  m  — *      1 

6L2  ^  2  ■'^■^"•2  2'^J 

und  dieser  letzteren  Formel  bedient  sich  der  römische  Schriftsteller. 
Ja  er  kennt  sogar  die  Summierung   der  r  ersten   Kubik- 


*)  Un  nouveau  texte  d'arpentage  etc.    Notices  et  Extraits  XXXV,  2«  Partie, 
pag.  640 — 541  (pag.  34 — 85  des  Sonderabdrucks). 


Die  Blütezeit  der  lömiBchen  Geometrie.    Die  Agrimensoren.  559 

zahlen:  1»  +  2»  +  •  •  +  r»  =  f"^''^ -^^)'.  Auch  hier  ist  die  Auf- 
findung  des  Weges,  auf  welchem  ein  Grieche  zu  dieser  Formel  ge- 
langen konnte,  mag  er  nun  geheißen  und  gelebt  haben  wie  imd  wann 
er  wolle,  nicht  allzuschwierig.  Nikomachus,  sagten  wir  (S.  432),  habe 
um  100  n.  Chr.  die  Beziehung  zwischen  den  Kubikzahlen  und  auf- 
einanderfolgenden ungeraden  Zahlen  erkannt,  welche  dahin  sich  aus- 
spricht, die  erste  Eubikzahl  sei  gleich  der  ersten  ungeraden  Zahl, 
die  zweite  gleich  der  Summe  der  zwei  darauf  folgenden  ungeraden 
Zahlen,  die  dritte  gleich  der  Summe  der  darauf  wieder  folgenden 
drei  ungeraden  Zahlen  usw.  Über  sämtliche  r  erste  Kubikzahlen 
ausgedehnt  liefert  das  als  deren  Gesamtsumme  die  Summe  der 
1  +  2  -f  •  •  4-  r  d.  h.  der  ^^J"  aufeinanderfolgenden  ungeraden 
Zahlen  von  der  1  anfangend.  Die  alten  Pythagoräer  wußten  aber 
schon  (S.  160),  daß  diese  das  Quadrat  ihrer  Anzahl  bilden.  Die 
Gesamtsumme  ist  mithin  1*  -f  2*  +  •  •  -f  r^  =  (  J"  J  ,  und  genau 
so  rechnet  unser  Schriftsteller^). 

Diese  arithmetischen  Kenntnisse:  eine  Darstellung  der  Vielecks- 
zahl aus  ihrer  Seite,  der  Seite  aus  der  Vieleckszahl,  der  Pyramidal- 
zahl aus  Vieleckszahl  und  Seite,  eijdlich  die  Summierung  der  aufein- 
anderfolgenden Kubikzahlen  einem  griechischen  Schriftsteller  auch 
ohne  Beweis  entnommen  zu  haben,  würde  schon  ein  gewisses  mathe- 
matisches Verdienst  der  Männer  voraussetzen,  welche  es  yerständnis- 
YoU  unternahmen  die  interessanten  Formeln  aufzubewahren.  Ob  wir 
aber  dem  Epaphroditus  und  Vitruvius  Rufus  das  Beiwort  des  Ver- 
ständnisses zuerkennen  dürfen?  Eine  Figur,  welche  in  den  Text  hinein- 
geraten ist,  läßt  daran  gerechte  Zweifel  entstehen. 

Figuren  finden  sich  auch  bei  griechischen  Arithmetikern,  wie 
wir  wissen,  zur  Versinnlichung  der  Vieleckszahlen,  ja  diese  Zahlen 
selbst  haben  von  Anfang  an  ihre  Namen  von  dieser  Versinnlichung 
her  bekommen,  und  so  wird  die  Quelle  unserer  Römer  mit  an  Ge- 
wißheit streifender  Wahrscheinlichkeit  die  Figuren  des  regelmäßigen 
Fünfecks,  Sechsecks,  .  .  .  Zwölfecks  enthalten  haben,  welche  neben 
den  Formeln  übernommen  werden  durften,  wenn  nicht  mußten.  Aber 
bei   der   Ausrechnung   der    Achteckszahl    ist    nicht    bloß    das    regel- 


*)  Herr  P.  Tannery  hat  bemerkt,  daß  diese  Formel,  von  der  es  lange- 
zeit  unbeachtet  geblieben  war,  dafi  sie  den  Alten  bekannt  gewesen,  doch  im 
XVn.  S.  der  Aufmerksamkeit  Pasc  als  nicht  entging,  sonst  könnte  er  zu  Anfang 
seines  Aufsatzes  PoUstatum  numericarum  summa  nicht  gesagt  haben:  Datis  ab 
unitate  quotcumque  numeris  continuis  invenire  summam  quadratorum  eorum  tra- 
diderunt  veteres;  imo  etiam  et  summam  cuboriim  eommdem.  Oeuvres  de  Pascal. 
Paris  1872.    Vol.  UI,  pag.  303. 


560  26.  Kapitel. 

mäßige  Achteck,  es  ist  auch  in  einen  Kreis  eingezeichnet  die  Figur 
zweier  sich  symmetrisch  durchsetzender  Quadrate  vorhanden,  die  wir 
früher  um  einige  vom  Kreismittelpunkte  gezogene  Hilfslinien  ver- 
mehrt und  mit  einer  Buchstabenbezeichnung  einiger  Punkte  ver- 
sehen kennen  gelernt  haben  (Fig.  66).  Diese  Figur  ist  unter  keinen 
Umstanden  arithmetischen  Charakters.  Sie  kann  sich  nur  auf  die 
geometrische  Entstehimg  des  regelmäßigen  Achtecks  aus  dem  Qua- 
drate beziehen,  und  ihr  Vorkomüien  bei  Epaphroditus  gewährt  unseren 
früher  (S.  401)  ausgesprochenen  Vermutungen  über  die  Anwendung 
jener  Figur  eine  nicht  geringfügige  Unterstützung.  Wer  aber  die 
beiden  Figuren,  das  arithmetische  und  das  geometrische  Achteck, 
wenn  wir  so  sagen  dürfen,  um  unsere  Meinung  in  recht  scharfe 
sprachliche  Gegensätze  zu  kleiden,  nebeneinander  abbildete,  der  be- 
wies damit,  daß  er  die  arithmetische  Figur  nicht  verstand,  daß  er 
glaubt«  beidemal  mit  geometrischen  Dingen  zu  tun  zu  haben.  Wir 
fürchten,  es  waren  jene  Römer,  welche  dem  Mißverständnisse  unter- 
lagen, und  sollten  Epaphroditus  und  Vitruvius,  oder  wenigstens  einer 
derselben,  an  der  Vermengung  dieser  Dinge  unschuldig  sein  —  die  Ver- 
mutung liegt  ja  nahe,  daß  von  jenen  beiden  Männern  der  eine  eine 
geometrische,  der  andere  eine  arithmetische  Schrift  verfaßte,  aus 
welchen  nur  ein  Auszug  vorliegt,  dessen  Blätter  einigermaßen  durch- 
einandergekommen sind  —  so  hat  jedenfalls  der  Schreiber  des 
Codex  Arcerianus  unter  dem  Banne  der  vermengenden  Verwechslung 
gestanden.  Läßt  sich  doch  schon  zum  voraus,  und  ohne  des  uns 
triftig  erscheinenden  Beweisgrundes  der  beiden  Achtecke  sich  zu  be- 
dienen, die  Behauptung  aussprechen.  Arithmetisches  als  solches  habe 
in  der  Sammlung  eines  Verwaltungsbeamten  keinen  Platz  gefunden. 
Es  konnte  sich  dort  überhaupt  nur  einschleichen,  wenn  man  wähnte, 
es  handle  sich  um  Geometrisches,  also  nicht  um  Vieleckszahlen, 
sondern  um  den  Flächeninhalt  regelmäßiger  Vielecke,  und  bei  den 
Pyramidalzahlen,  bei  den  Kubikzahlen,  welche  dort  vorkommen,  mag 
der  Schreiber  sich  wohl  gar  nichts  gedacht  haben.  Diese  Behaup- 
tungen finden  auch  ihre  Bestätigung  in  den  vielen  bei  den  arithme- 
tischen Sätzen  auftretenden  Schreibfehlern. 

Fassen  wir  also  das  bisher  Gewonnene  zusammen,  so  wird  das 
Ergebnis  sich  gestalten  wie  folgt:  Die  Römer  sind,  wenn  sie  auch  eine 
uralte  Feldmeßkunst  besaßen  und  des  Rechnens  zum  täglichen  Ge- 
brauche nicht  entbehren  konnten,  zur  Mathematik  schlecht  genug 
veranlagt  gewesen.  Ein  bis  anderthalb  Jahrhunderte  lang,  von  Cäsar 
bis  nach  Trajan  etwa,  war  eine  verhältnismäßige  Blütezeit  römischer 
Geometrie  und  vielleicht  auch  römischer  Arithmetik,  beide  auf  grie- 
chische Quellen  zurückgehend,  unter  welchen  sich  jedenfalls  Schriften 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  561 

des  Heron  von  Alexandria  befanden.     Allmählich  jedoch  verschwand 
sogar  das  Yerständnis  des  damals  ins  Lateinische  Übersetzten. 


27.  Kapitel. 
Die  spätere  mathematisehe  Literatur  der  Römer. 

Die  Behauptung,  daß  die  Römer  in  den  Zeiten  Cäsars  bis  Tra- 
jans  auch  arithmetischer  und  damit  bei  den  Griechen  schon  enge  ver- 
bundener algebraischer  Leistungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  fähig 
waren,  ist  außer  aus  dem  Bruchstücke  des  Codex  Arcerianus,  welches 
wir  zu  diesem  Zwecke  verwandt  haben,  auch  aus  den  Rechtsquellen 
zu  bestätigen. 

Zinszahlungen,  also  auch  Zinsberechnungen  sind  bei  den 
Römern  ungemein  alt'),  so  daß  von  anderen  Erleichterungen  über- 
bürdeter Schuldner  abgesehen  schon  im  Jahre  342  v.  Chr.  die  freilich 
nicht  eingehaltene  Lex  Genucia  gegen  jede  Zinsverleihung  Gesetzes- 
kraft gewann.  Noch  zu  Ciceros  Zeit  war  48  Prozent  nichts  un- 
erhörtes, wenn  auch  eigentlich  nicht  gestattet  Li  der  Kaiserzeit  galt 
ein  Zinsfuß  von  12,  später  von  6  Prozent  als  gesetzlich.  Dichter- 
steilen,  besonders  bei  Horaz,  beweisen,  daß  das  Zinsrechnen  zu  den 
täglich  notwendigen  und  darum  immer  geübten  Kenntnissen  gehörte'). 
Auch  eine  entsprechende  Verminderung  für  vorzeitigen  Genuß  eines 
erst  später  zu  erlangenden  Besitzes,  das  sogenannte  Interusurium 
oder  die  Repräsentation,  wie  der  Römer  ssLgte,  ist  alt,  wenn  auch 
die  Größe  der  Verminderung  und  die  Regeln,  nach  welchen  sie  ab- 
geschätzt wurde,  weit  entfernt  davon  sind,  im  klaren  zu  sein. 
Ulpian,  der  am  Ende  des  ü.  und  Anfang  des  lU.  S.  n.  Chr.  lebte, 
stellte  bereits  Berechnungen  ähnlicher  Art  unter  Voraussetzung 
einer  wahrscheinlichen  Lebensdauer  an'),  allerdings  wieder  ohne  daß 
wir  eine  Ahnung  haben,  wie  jene  wahrscheinliche  Lebensdauer  ge- 
wonnen wurde. 

Zu  anderen  Rechnungsaufgaben  gab  das  Erbrecht  der  Römer, 
gaben  die  vielfach  ungemein  verzwickten  letztwilligen  Verfügungen 
Anlaß,  die  geradezu  Regel  bei  ihnen  waren.  Im  Jahre  40  v.  Chr. 
stellte  die  Lex  Falcidia  fest,  daß  dem  eigentlichen  Erben  mindestens 
ein  Viertel  des  hinterlassenen  Vermögens  verbleiben  mußte.  Waren 
also  Vermächtnisse   im   Gesamtbetrage   von   mehr  als  Dreiviertel  des 


')  Gastav  Billeter,  Geschichte  des  Zinsfnfies  im  griechisch-römischen 
Altertom  bis  auf  Justinian.  Leipzig  1898.  *)  Hnltsch  im  Jahrbuch  för  klas- 
sische Philologie  1889.    S.  886^843.      *)  Äd  kgem  Fdlcidiam  XXXV,  2,  68 

Cavtob,  OeMhloht«  der  Mathmnatlk  I.  S.  Aufl.  86 


662  27.  Kapitel 

Yermögeiis  testamentariscli  verheißen ,  so  maßten  diese  mittels  einer 
Gesellschaftsrechnong  herabgemindert  werden,  so  daß  die  sogenannte 
falcidische  Quart  nicht  angegriffen  wurde. 

Ein  für  die.  Geschichte  der  Mathematik  in  seiner  Eigentümlich- 
keit, welche  eine  Übertragung  von  einem  Werke  zum  andern  sichert, 
höchst  bedeutsamer  Fall  ist  der  eines  Erblassers,  der  seine  Witwe 
in  schwangerem  Zustande  hinterläßt  und  Bestimmungen  für  die  beiden 
Möglichkeiten  getroffen  hat,  daß  sie  einem  Knaben  oder  einem  Mäd- 
chen das  Leben  schenkt,  während  der  tatsächlich  eintretende  Fall, 
daß  Zwillinge,  und  zwar  Zwillinge  von  verschiedenem  Geschlechte, 
geboren  werden,  nicht  vorgesehen  war.  Ein  daran  sich  knüpfender 
Rechtsstreit  ist  durch  Salvianus  Julianua^),  einen  Juristen,  der 
unter  den  Kaisern  Hadrian  und  Antoninus  Pius  wirkte,  berichtet;  ein 
zweiter  verwandter  Fall  kommt  bei  Cäcilius  'Africanus'),  ein 
dritter  bei  Julius  Paulus'),  einem  glänzenden  Juristen  des  lU.  S., 
vor,  der  unter  Kaiser  Alexander  Severus  der  römischen  Rechtswissen- 
schaft zur  Zierde  gereichte.  Die  älteste  Entscheidung  des  Julianus 
lautet  folgendermaßen:   „Wenn  der  Erblasser  so  schrieb:  Wenn  mir 

ein  Sohn   geboren  wird,   so   soll   dieser   auf  -x-  meines    Vermögens, 

meine  Frau    aber   auf  die   übrigen  Teile  Erbe  sein;  wird   mir  aber 

eine  Tochter  geboren   werden,  so  soll  diese  auf  y,   auf  das  Übrige 

aber  meine  Frau  Erbe  sein,  und  ihm  nun  ein  Sohn  und  eine  Tochter 
geboren  wurden,  so  muß  man  das  Ganze  in  7  Teile  teilen,  so  daß 
von  diesen  der  Sohn  4,  die  Frau  2  und  die  Tochter  1  Teil  erhält. 
Denn  auf  diese  Weise  wird  nach  dem  Willen  des  Erblassers  der 
Sohn  noch  einmal  soviel  erhalten  als  die  Frau,  und  die  Frau  noch 
einmal  soviel  als  die  Tochter.  Denn  obgleich  nach  den  Bestim- 
mungen des  Rechtes  ein  solches  Testament  umgestoßen  werden 
sollte ;  so  verfiel  man  doch  aus  rein  vernünftigen  Gründen  auf  die 
genannte  Entscheidung,  da  ja  nach  dem  Willen  des  Erblassers  immer 
die  Frau  etwas  erhalten  soll^),  mag  ihm  ein  Sohn  oder  eine  Tochter 
geboren  werden.  Auch  Juventius  Celsus  stimmt  hiermit  vollkommen 
überein.''  Dieser  letztere  Jurist,  auf  welchen  Julianus  sich  bezieht, 
der  die  Aufgabe  also  jedenfalls  kannte,  lebte  unter  Trajan  um  das 
Jahr  100  n.  Chr.,  war  also  sicherlich  ein  Zeitgenosse  jenes  Celsus, 


>)  Lex  13  principio.  Digestorum  lib.  XXVm,  tit.  2.  «)  Lex  47,  §  1. 
Digestarum  lib.  XXVIII,  tit.  6.  •)  Lex  81  principio.  Digestorum  lib.  XXVIII, 
tit.  6.  *)  W&re  nämlich  das  Testament  umgestoßen  und  somit  als  nicht  vor- 
handen zu  betrachten,  so  würden  nach  römischem  Rechte  die  Kinder  allein  ge- 
erbt haben,  die  Witwe  aber  leer  ausgegangen  sein. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  563 

an  welchen,  wie  wir  uns  erinnern^  Baibus  sein  feldmesserisches  Werk 
gerichtet  hatte,  unmöglich  erscheint  es  daher  nicht,  daß  diese  beiden 
Persönlichkeiten  mit  Namen  Celsus  in  eine  yerschwimmen  müßten, 
daß  der  gelehrte  Jurist  Celsus  auch  Ingenieur  gewesen,  auch  in  der 
Geometrie  als  Schriftsteller  aufgetreten  wäre,  daß  von  ihm  auch  jene 
Erbteilungsaufgabe  herrührte,  welche  ebensogut  in  einem  mathe- 
matischen Buche  als  in  einer  Sammlung  von  Rechtsfällen  einen  Platz 
einnehmen  konnte. 

Zeitgenosse  des  Julianus  um  die  Mitte  des  11.  S.  war  ein  Schrift- 
steller, der  uns  gleichfalls  für  das  unter  den  Antoninen  noch  yor- 
hi^dene  Literesse  an  arithmetischen  Dingen  Bürge  ist.  Appuleius, 
geboren  zu  Madaura,  einer  blühenden  Kolonie  an  der  Grenze  Numi- 
diens  gegen  Gätulien  hin,  machte  seine  Studien  vornehmlich  zu 
Athen,  begab  sich  aber  alsdann  zu  weiterer  Ausbildung  auf  größere 
Reisen.  Von  schönschriftstellerischer  Seite  ist  er  als  Verfasser  eines 
witzigen  Romans  bekannt.  Aber  auch  als  mathematischer  Schrift- 
steller ist  er  aufgetreten.  Cassiodor*)  im  zweiten  Drittel  des  VL, 
Isidor  Yon  Sevilla^)  am  Anfang  des  VIL  S.  bezeugen  ausdrücklich, 
die  Arithmetik  des  Nikomachus  sei  erstmalig  durch  Appuleius,  dann 
zum  zweiten  Male  durch  Boethius  ins  Lateinische  übertragen  worden. 
Unmittelbare  Überreste  der  Bearbeitung  durch  Appuleius  sind  nicht 
erhalten,  so  daß  ein  Urteil  darüber  nicht  gefällt  werden  kann,  in- 
wieweit die  Behauptung,  Appuleius  habe  auch  Rechenbeispiele  in 
größerer  Anzahl  gelehrt,  nur  auf  einem  Mißverständnisse  beruht, 
indem  die  betreffenden  Gewährsmänner  seine  Arithmetik  gleichfedls 
nur  vom  Hörensagen  kannten  und  aus  dem  Titel  ihre  falschen 
Schlüsse  zogen,  oder  aber  Wahrheit  ist.  Im  XV.  und  XVI.  S.  wurde 
mit  Sicherheit  an  die  Wahrheit  geglaubt.  Ein  Rechenbuch,  algo- 
rithmus  linealis  genannt,  aus  jener  Zeit,  der  Erlanger  Universitäts- 
bibliothek angehörig,  beginnt  ausdrücklich  mit  den  Worten:  „Um  die 
vielen  Irrtümer  der  Eaufleute  und  die  Schwierigkeiten  des  andern 
Teiles  der  Arithmetik  zu  vermeiden,  ist  bei  Appuleius,  dem  in  allen 
Wissenschaften  hocherfahrenen  Manne,  eine  andere  Anschauung  dieser 
Kunst  erfunden,  welche  ebenso  viel  berühmter  als  leichter  und  den 
Geisteskräften  eines  jeden  angepaßter  ist  als  die  erste;  bei  uns  heißt 
sie  Rechnung  auf  den  Linien"').  Ein  1540  in  Paris  anonym  er- 
schienenes Rechenlehrbuch  sagt:  „Die  ganze  Ej*aft  dieser  Disziplin 
ruht  in  den  Beispielen  der  Addition  und  Subtraktion-,  wer  das  ganze 


*)  CasBiodor,  Opera  (ed.  Garet).  Venedig  1729,  Bd.  II,  pag.  666,  col.  2, 
lin.  14  ▼.  n.  ")  Isidor  Hispalensis,  Origines  Lib.  HI,  Cap.  2.  •)  Fried- 
lein, Zahlzeichen  und  elementares  Rechnen  usw.  S.  48. 

86  • 


564  27.  Kapitel. 

Kapitel  vollauf  keimen  lernen  will,  der  lese  den  Appuleius^  welcher 
zuerst  den  Römern  diese  Dinge  beleuchtete''^).  Es  hält  so  be- 
stimmten Äußerungen  gegenüber  schwer,  des  Glaubens  sich  zu  er- 
wehren^ daß,  wer  so  sprach,  die  Schrift  des  Appuleius  selbst  yor 
Augen  gehabt  habe.  Nicht  minder  schwer  freilich  fällt  die  Annahme^ 
Appuleius  habe  die  Arithmetik  des  Nikomachus,  die  wir  im  Originale 
wie  in  der  Bearbeitung  des  Boethius  zur  Genüge  kennen,  so  selbst- 
ständig oder  unter  Zuziehung  anderer  Quellenschriften  behandelt,  daß 
er  Rechenbeispiele  einfügen  konnte.  Oder  sollen  wir  annehmen, 
Nikomachus  habe  neben  der  Arithmetik  ein  ganz  verschollenes 
Rechenbuch  verfaßt?  Auf  dieses  beziehe  sich  der  Ausspruch  Lucia^s: 
Du  rechnest  wie  Nikomachus?  Dieses  habe  Appuleius  übersetzt,  und 
das  Mißverständnis  rühre  von  Cassiodor  und  dem  ihn  ausschreiben- 
den Isidor  her,  welche  die  Übersetzungen  zweier  verschiedener  Werke 
des  Nikomachus  ins  Lateinische  vermengten?  Wir  fühlen  wohl,  wie 
viele  Gründe  sich  auch  dieser  Annahme  entgegentürmen,  wollten  aber 
keinesfalls  versäumen,  jede  der  verschiedenen  Möglichkeiten  jene 
Äußerungen  später  Zeit  zu  erklären  anzuführen.  Unterstützend  für 
unsere  Annahme  ist  jene  Berufung  des  Nikomachus  auf  eine  von  ihm 
verfaßte  Einleitung  in  die  Geometrie  (S.  432).  Es  ist  uns  wenig- 
stens gar  nicht  undenkbar,  daß  diese  einen  wesentlich  rechnenden 
Charakter  hatte.  War  doch  seit  Herons  rechnender  Geometrie  gerade 
eine  diese  Vorkenntnisse  umfassende  Einleitung  Bedürfnis  geworden, 
während  zu  einer  wahrhaft  geometrischen  Einleitung  in  die  Geometrie 
Anlaß  kaum  vorhanden  war. 

Auch  auf  geometrischem  Gebiete  ist  die  wenn  nicht  selbst- 
schöpferische doch  an  Übertragungen  griechischer  Schriftsteller  sich 
übende  Tätigkeit  der  Römer  keineswegs  mit  den  Zeiten  Trajans  ab- 
geschlossen. Neben  den  im  Codex  Arcerianus  vereinigten,  wie  wir 
sahen,  um  die  Mitte  des  Y.  S.  schon  zusammengestellten  vielleicht 
zum  Teil  später  als  Trajan,  sogar  später  als  Diophant  zu  datierenden 
Stücken  ist  uns  ein  sehr  bedeutsames  Fragment  aus  dem  lY.  S.  er- 
halten, welches  zeigt,  daß  nicht  bloß  der  „Heron"  der  Praktiker, 
sondern  auch  der  „Euklid**  der  Theoretiker  der  römischen  Sprache 
mächtige  Liebhaber  besaß.  Dieses  Fragment^,  auf  welches  zuerst 
1820  hingewiesen  worden  ist,  und  welches  seitdem  unausgesetzt  die 


»)  Math.  Beitr.  Kulturl.  Anmerkung  361.  *)  Vgl.  die  von  Niebuhr  1820 
in  Rom  herausgegebenen  Bruchstücke  der  Beden  Ciceros  für  Fonteius  und  Ba- 
birius  pag.  20.  Blume,  Iter  Itaiicum  I,  263.  Keil  auf  pag.  XI  der  Vorrede  zu 
seiner  Ausgabe  des  Probus.  Beifferscheid,  Sitzungsber.  d.  philol.  Abtlg.  der 
Wiener  Akademie  XLIX,  69.  Mommsen,  Abhdlg.  der  Berliner  Akademie  1868, 
S.  168,  166,  168. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Bömer.  .  565 

Aufmerksamkeit  philologischer  Forscher  in  Spannung  erhielt,  gehört 
der  unteren  Schrift  eines  Palimpsestes  an,  der  in  der  Eapitelbibliothek 
zu  Verona  früher  unter  der  Nummer  38,  jetzt  unter  der  Nummer  40 
aufbewahrt  wird.  Die  jüngere  dem  IX.  S.  angehörende  Schrift  enthält 
einen  Teil  der  „Moralischen  Betrachtungen  zum  Buch  Hiob*'  vom 
Papst  Ghregor  dem  Großen  (f  604).  Die  darunter  erkennbare  ältere 
Schrift  stammt  nach  dem  Dafürhalten  aller  neueren  Sachkundigen 
unter  Beachtung  aller  Merkmale  der  Schrift  wie  der  Sprache,  welche 
zur  Entscheidung  beitragen  können^  aus  dem  lY.  S.  Kaum  mit 
bloßem  Auge  erkennbar,  gab  sie  mühevollster  Entzifferung  ihren 
Inhalt  kund.  Es  sind  Bruchstücke  des  Yergilius,  des  Livius  und 
Geometrisches,  welche  im  IX.  S.  würdig  schienen  theologisch-mora- 
lischen Betrachtungen  den  Platz  zu  räumen.  Da»  geometrische  Frag- 
ment^) gibt  sich  selbst  als  dem  XIV.  und  XY.  Buche  des  Euklid 
entstammend  an.  Seine  Numerierung  ist  aber  keineswegs  mit  der 
gebräuchlichen  gleichlaufend.  Als  XIY. ,  als  XY.  Buch  der  eukli- 
dischen Elemente  bezeichnet  man  bekanntlich  (S.  358  und  501)  jene 
von  mindestens  zwei  verschiedenen  Schriftstellern  herrührenden  stereo- 
metrischen Abhandlungen,  welche,  man  weiß  nicht  recht  wie  und 
wann,  an  die  dreizehn  Bücher  der  Elemente  angehängt  worden  sind. 
Diesen  Abhandlungen  gleicht  das  lateinische  Bruchstück  nicht  im 
geringsten.  Ohne  Satz  für  Satz  und  Figur  für  Figur  mit  dem  grie- 
chischen Euklidtexte  zur  Deckung  gebracht  werden  zu  können,  ist 
es  doch  unter  allen  umständen  den  echt  euklidischen  mit  Stereo- 
metrie sich  beschäftigenden  Büchern,  dem  Xü.  und  XIII.  Buche 
unserer  griechischen  Texte  entnommen.  Es  ist  entweder  Auszug, 
oder  Übersetzung  eines  Auszuges,  jedenfalls  Arbeitsexemplar  des  Un- 
bekannten, von  welchem  es  herrührt,  wie  der  Entzifferer  mit  großem 
Scharfsinne  aus  der  Tatsache  geschlossen  hat,  daß  einzelne  Wörter 
durchstrichen  und  durch  anders  lautende  Synonyma  ersetzt  sind.  Das 
kann  selbstversi^dUch  nur  auf  den  Schriftsteller,  beziehungsweise 
den  Übersetzer  selbst  zurückgeführt  werden,  und  zwar  in  einer  Zeit, 
in  welcher  seine  Arbeit  noch  in  Yorbereitung,  noch  nicht  abge- 
schlossen war. 

Die  andere  Seite  unserer  zum  Schlüsse  des  vorigen  Kapitels  aus- 
gesprochenen Behauptung,  daß  das  Yerständnis  der  aus  Griechenland 
überkommenen    mathematischen    Kenntnisse    der    Römer    mehr    und 


^)  Der  Entzifferer,  Prof.  W.  Studemnnd,  hat  längst  eine  Herausgabe  zu- 
gesagt. Er  ist  leider  gestorben,  ohne  seine  Zusage  erfallt  zn  haben.  Unser 
Bericht  entstammt  den  mündlichen  Mitteilungen,  welche  er  so  freundlich  war, 
unter  Vorzeigung  seines  vorbereiteten  Materials  uns  zu  machen,  und  deren  Ver- 
öffentlichung er  uns  gestattet  hat. 


566  27.  Kapitel. 

mehr  schwand,  findet  gleichfalls  Bestätigung^  wenn  wir  die  Magerkeit 
uns  betrachten,  zu  welcher  im  Laufe  der  Jahrhunderte  die  römische 
Mathematik  zusammenschrumpfte. 

Theodosius  Macrobius,  ein  yielleicht  aus  Afrika  stammender 
Schriftsteller,  von  welchem  uns  Kommentare  erhalten  sind*),  die  um 
400  entstanden  sein  dürften,  und  in  welchen  hier  und  da  zerstreut 
auch  einige  mathematische  Erläuterungen  vorkommen,  ist  noch  bei 
weitem  der  dürftigste  nicht.  Wir  denken  auch  nicht  an  den  kurz 
vor  oder  nach  457  entstandenen  Calculus  des  Victorius,  dessen 
Notwendigkeit  wir  oben  (S.  531)  eingesehen  haben,  begründet  in  der 
Schwierigkeit  mit  den  römischen  Duodeziraalbrüchen  Rechnungen 
auszuführen.  Wir  denken  zunächst  an  Martianus  Mineus  Felix 
Capella.  Er  war  in  der  ersten  Hälfte  des  Y.  S.  in  Karthago  ge- 
boren und  stieg  bis  zur  Würde  eines  römischen  Prokonsuls  empor. 
Er  hat  uns  ein  aus  neun  Büchern  bestehendes  enzyklopädisches  Werk, 
welches  den  Gesamtnamen  Satira  führt,  hinterlassen^,  dessen  Ent- 
stehung etwa  auf  das  Jahr  470  fällt.  Die  beiden  ersten  Bücher 
führen  den  besonderen  Titel  der  Yermählungsfeier  der  Philologie  mit 
Merkur  und  stellen  ein  kleines  Ganzes  dar,  eine  Art  von  philoso- 
phischem und  allegorischem  Romane,  der  als  Einleitung  dient.  Zur 
Vermählung  erscheinen  alsdaun  die  sieben  Jungfrauen,  welche  Merkur 
zu  Gesellschafterinnen  seiner  jungen  Frau  bestimmt,  nämlich  die 
sieben  Wissenschaften,  welche,  um  den  Ausspruch  Quintilianus'  zu 
benutzen,  den  Kreis  der  freien  Lehre  ausmachen').  Es  sind  dieselben 
freien  Künste,  in  derselben  Reihenfolge,  wie  wir  sie  durch  Varros 
Werk  kennen,  dessen  Einteilung  uns  wenigstens  erhalten  blieb  (S.  543). 
Jede  Wissenschaft  bringt  ihr  Symbol  mit:  Nach  der  Grammatik,  der 
Dialektik  und  der  Rhetorik  tritt  die  Geometrie  auf.  Sie  hat  den  mit 
blauem  Sande  bestreuten  Abacus  in  Händen^),  auf  welchen  also  dies- 
mal die  Figuren  gezeichnet  werden  sollen,  mit  welchen  die  Geometrie 
sich  abgibt.  Freilich  eine  sonderbare  Geometrie,  deren  räumlicher 
Hauptbestandteil  in  geographischen  Begriffen,  in  einer  Aufzählung 
historisch  interessanter  Orte,  deren  Gründer  zugleich  genannt  werden, 
aufgeht.  Dann  kommen  Definitionen  von  Linien,  Figuren,  Körpern, 
dann  die  notwendigsten  Forderungen,  alles  nach  Euklid  und  unter 
Benutzung  der  griechischen  Benennungen.  Sind  aber  die  Vorberei- 
tungen erst  soweit  getroffen,  daß  die  Göttin  auf  dem  Abacus  eine 
gerade  Linie  zieht  und  die  Frage  stellt:  Wie  läßt  sich  über  einer  ge- 

*)  Macrobius,  Opera  (ed.  y.  Jan),  Quedlinburg  and  Leipzig  1848 — 62. 
■)  MarHani  Capdlae  De  nuptiis  philologicte  et  Mercurii  de  Septem  aHibus  lihera- 
Ubu8  Itbri  IX  (ed.  Ulr.  Kopp).  Frankfdrt  a.  M.  1886.  ")  Quintilianns  I, 
10,  1.     *)  Hyalini  pulveris  respersione  coloratam  mennUam. 


Die  spätere  mathematiBche  Literatar  der  Römer.  567 

gebenen  Strecke  ein  gleichseitiges  Dreieck  errichten^  da  erkennen 
sofort  die  in  dichtem  Haufen  sie  umstehenden  Philosophen,  sie  wolle 
den  ersten  Satz  der  euklidischen  Elemente  bilden,  brechen  in  lautes 
Klatschen  und  Hochrufen  auf  Euklid  aus  .  .  .^)  und  das  VI.  Buch 
und  mit  ihm  die  Geometrie  ist  zu  Ende.  Yod  Feldmessung,  Yon 
rechnender  Geometrie,  mit  einem  Worte  von  Heronischem  ist  in 
keiner  Weise  die  Rede.  Im  YU.  Buche  macht  die  Arithmetik  ihre 
Aufwartung  mit  ihren  Fingern  die  Zahl  717  darstellend,  durch  welche 
sie  den  Gott  der  Götter  begrüßt.  Wir  haben  dieses  Zeugnis  für  die 
auch  damals  bekannte  Fingerrechnung  (S.  527)  anrufen  dürfen.  Wir 
fügen  hinzu,  daß  Pallas  auf  die  Frage  der  Philosophie,  was  jene  Zahl 
zu  bedeuten  habe?  erwidert:  die  Arithmetik  grüße  Jupiter  mit  seinem 
eigenen  Namen.  Diese  Stelle  ist  jedenfalls  richtig  dahin  erklärt 
worden,  Jupiter  sei  der  Anfang  der  Dinge  und  ^  uqxu  stelle  durch 
den  Zahlen  wert  der  Buchstaben  8  +  1  +  100  +  600  +  8  die  Zahl  717 
vor.  Auch  Pjthagoras  ist  bei  den  der  Vermählung  wegen  ver- 
sammelten Gästen  und  tritt  nun  näher  hinzu,  er,  der  bisher  bei  den 
Zeichnungen  auf  dem  Abacus  als  Zuschauer  gestanden  hatte.  Der 
kundige  Leser  ist  durch  die  symbolische  Begrüßung,  durch  das  per- 
sönliche Auftreten  des  Pjthagoras  zur  Genüge  auf  das  vorbereitet, 
was  er  im  YII.  Buche  nun  entwickelt  finden  wird:  eine  wesentlich 
pythagoräische  Arithmetik  nach  dem  Muster  des  Nikomachus,  wie 
sie  den  Römern,  wenn  nicht  schon  seit  Appuleius,  jedenfalls  seit 
Plotinus  unter  ihnen  gelebt  hatte,  geläufiger  geworden  war,  wie  sie 
jetzt  in  einer  Zeit,  während  welcher  mancher  von  den  tonangebenden 
vornehmsten  Römern  zu  den  Füßen  des  Proklus  in  den  Yorlesungs- 
räumen  von  Athen  gesessen  hatte,  gewiß  auf  Yerständnis  zählen 
durfte.  Wir  sind  mit  der  Bemerkung,  daß  diese  Erwartung  nicht 
getäuscht  wird,  einer  genaueren  Berichterstattung  über  das  YH.  Buch 
überhoben.  Wir  machen  nur  auf  die  negativ  eigentümliche  Er- 
scheinung aufmerksam,  daß  der  vieleckigen  Zahlen,  die  bei  Niko- 
machus eine  so  wichtige  Rolle  spielen,  kaum  gedacht  ist.  Wohl 
heißt  es,  die  £<bene  habe  verschiedene  Gestaltungen,  nach  welchen 
die  Zahlen  geordnet  werden  können'),  aber  nach  einer  arithmetisch 
vernünftigen  Ausführung  dieses  Gedankens  fahndet  man  vergeblich. 
Es  kann  unsere  Aufgabe  nicht  sein  zu  erörtern,  wie  viel  oder  wie 
wenig  im  YIU.  Buche  der  Astronomie,  im  IX.  Buche  der  Musik  in 
den  Mund  gelegrt  wird.    Wir  sind  von  der  Mühe  befreit  die  Geschichte 

')  Quo  dicto  cum  plures  phihsophi,  qui  undiqueseeus  constipaio  tigmine  can- 
sistebant,  primum  Euelidia  theorema  formare  tarn  veüe  cognascerent ,  conftstim 
acclamare  EucUdi  plaudereque  coeperunt  *)  Ipsa  autem  planities  varias  formas 
hdbei,  numeris  ad  simüitudinem  figurarum  ordituUü. 


568  27.  Kapitel. 

aucli  dieser  Wissenschaften  zu  verfolgen  ^  and  ohne  irgendwelchen 
Zwang  der  Durchforschung  wird  man  die  schwülstigen  und  zugleich 
langweiligen  Auseinandersetzungen  des  Mai*tianus  Capella  sich  lieber 
schenken. 

In  die  Blütezeit  des  eben  besprochenen  Schriftstellers  etwa  auf 
475  fällt  die  Geburt  eines  anderen  Mannes,  zu  welchem  wir  uns  nun 
zu  wenden  haben,  Magnus  Aurelius  Cassiodorius  Senator^). 
Er  war  im  südlichen  Italien  in  Bruttien  geboren,  unweit  von  Scyl- 
lacium,  an  einer  von  Naturschönheiten  so  reich  erfüllten  Stelle,  daß 
er  sie  später  von  allen  aussuchte,  sein  Leben  dort  zu  beschließen. 
Noch  in  sehr  jugendlichem  Alter  von  kaum  20  Jahren  trat  er  in 
den  Staatsdienst,  frühestens  im  Herbst  500^),  zu  einer  Zeit,  wo  Theo- 
dorich eben  den  gotischen  Staat  in  Italien  gegründet  hatte,  und  zu 
diesem  Fürsten  trat  Cassiodorius  in  die  Stellung  eines  Qeheim- 
schreibers,  äußerlich  genommen  Theodorichs  Dolmetscher,  in  Wirk- 
lichkeit sein  einflußreicher  Ratgeber.  Die  vielseitigen,  wenn  auch 
nicht  überall  tiefen  Kenntnisse  des  Ministers  —  als  solchen  dürfen 
wir  ihn  vielleicht  bezeichnen  —  machten  ihn  dem  Könige  unent- 
behrlich, sowohl  in  den  Geschäften  der  Regierung,  als  in  den  ver> 
schiedensten  Privatbeziehungen,  und  erst  der  Tod  Theodorichs  526 
löste  das  Band,  welches  Gewohnheit  und  gegenseitige  Zuneigung  um 
beide  Männer  geschlungen  hatte.  Auch  unter  den  Nachfolgern  Theo- 
dorichs blieb  Cassiodorius,  so  verhaßt  ihm  Persönlichkeiten  und 
einzelne  Handlungen  oft  sein  mochten,  der  gotischen  Sache  getreu, 
um  von  dem  Staatsbaue  seines  königlichen  Freundes  zu  retten,  was 
noch  zu  retten  war.  Man  besitzt  Staatsschriften  von  538,  die  Cassio- 
dorius unterzeichnet  hat.  Am  Hofe  erlebte  er  noch  den  Ausbruch 
des  Krieges  gegen  die  Byzantiner,  und  erst  540  etwa,  nachdem  Ra- 
venna  schon  in  Belisars  Händen  war,  zog  Cassiodorius  sich  in  das 
von  ihm  selbst  gestiftete  Kloster  in  seiner  Heimat  zurück,  dort  eine 
reiche  literarische  Tätigkeit  zu  entfalten.  Cassiodorius  war  einer 
der  ersten,  welche  dem  Beispiele  folgend,  das  Benedikt  von  Nursia 
in  seinem  529  zu  Monte  Casino   bei   Neapel  gestifteten  Kloster  so 


^)  A.  Thorbecke,  Ccissiodorus  Senator,  (Heidelberger  Lyceumsprogramm 
von  1867.)  y.  M ortet,  Notes  sur  le  texte  des  Institutiones  de  Cassiodore  in  der 
Bernde  de  Philologie,  de  LitUrature  et  d'Histoire  andenne  XXIV  (1900)  pag.  103 
bia  118  und  272  —  281,  XXVIl  (1903)  pag.  67  —  78  und  139  —  160.  Die  Lesart 
CaasiodoriuB  hat  Usener,  Änecdoton  Holden  (Festschrift  zur  82.  Philologen- 
versammlung.  Wiesbaden  1877),  S.  16,  wie  wir  glauben,  sichergestellt.  *)  Nach 
Usener  1.  c.  S.  70  datiert  sich  der  erste  bekannte  Brief  des  Cassiodorius  von 
601.  Dafür,  daß  Cassiodorius  damals  noch  am  Anfange  der  zwanziger  Jahre  ge- 
standen haben  muß,  vgl.  Thorbeck e  S.  7 — 10,  Usener  S.  4. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  569 

segensreich  aufstellte ,  dem  klösterlichen  Leben  einen  anderen  Inhalt 
als  den  der  bloßen  Zurückgezogenheit  und  Beschaulichkeit  gaben. 
Eine  Bibliothek  entstand,  lernende  und  forschende  Tätigkeit  entfaltete 
sich.  Ein  stärkerer  Gegensatz  als  der  gegen  die  Eulturentwicklung 
im  byzantinischen  Reiche  ist  kaum  denkbar.  Dort  befinden  Religion 
und  Wissenschaft  sich  in  fast  fortwährendem  Kampfe,  bei  welchem 
die  weltliche  Macht  meist  auf  Seite  der  Kirche  steht  (S.  503).  Hier 
ist  das  Kloster,  also  eine  Gründung  religiösen,  wenn  nicht  kirch- 
lichen Ursprunges,  Stätte  der  Wissenschaft  und  bleibt  es,  so  lange 
die  Regel  des  heüigen  Benedikt  allein  die  Ordensbrüder  beherrscht. 
Das  Theologische  stand  naturgemäß  obenan,  aber  auch  die  weltlichen 
Wissenschaften,  als  nützliche  Vorbereitungsschule  zu  Höherem,  wurden 
keineswegs  yemachlässigrt.  Tag  und  Nacht  wurden  von  emsigen 
Händen  in  schönen  Zügen  Schriften  von  mitunter  zweifelhaftem  mit- 
unter wirklichem  Werte  zu  Pergament  gebracht  Preist  doch  Cas- 
siodor  im  30.  Kapitel  seines  Buches  De  institutione  dimnarum  Uterarum 
das  Bücherabschreiben  als  die  yerdienstlichste  körperliche  Arbeit  in 
begeisterten  Worten,  hat  er  doch  Lampen  eigener  Art  für  die  Nacht- 
arbeit erfunden,  Sonnen-  und  Wasseruhren  aufgestellt,  um  Zeit  und 
Tätigkeit  zu  ordnen.  Daß  er  aber  im  Fleiße  sich  von  keinem  seiner 
Untergeordneten  übertreffen  ließ,  beweist  neben  anderen  Schriften 
eine  Abhandlung  über  Orthographie,  welche  er  bereits  93  Jahre  alt 
noch  verfaßt  hat.  Es  ist  anzunehmen,  daß  dies  seine  letzte  Arbeit 
war  und  daß  er  um  570  gestorben  ist.  Cassiodorius  hat  12  Bücher 
Briefe^)  hinterlassen,  aus  welchen  auch  för  die  Geschichte  der  Mathe- 
matik unterschiedliche  Notizen  gewonnen  worden  sind.  Teils  sind 
es  unveränderte  Abschriften  früherer  staatlicher  oder  privater 
Schreiben,  welche  Cassiodor  für  Theodorich  zu  fertigen  hatte,  teils 
neue  Redaktionen  solcher  Schreiben,  in  wenig  angenehmer  Weise 
durch  Schwulst  und  Überladung  ausgezeichnet,  welche  dem  VI.  S.  im 
allgemeinen,  welche  aber  vorzugsweise  unserem  Schriftsteller  eigen- 
tümlich sind. 

Von  seinen  übrigen  Werken  nennen  wir  eine  kurzgefaßte  Enzy- 
klopädie, De  artibus  ac  disciplinis  liberalium  Uterarum,  welche  in  ähn- 
lichen 7  Abteilungen,  wie  wir  sie  bei  Martianus  Capella  teilweise 
zu  schildern  hatten,  die  Wissenschaften  behandelt.  Die  Einteilung 
in  7  Wissenschaften  war  für  Cassiodorius  geradezu  verführerisch. 
Er  besaß  eine  im  letzten  Grunde  mutmaßlich  den  Ausläufern  des 
Neuplatonismus  entstammende  Verehrung  fQr  heilige  Zahlen').  Er 
hatte  die  Zwölfzahl  der  Bücher  seiner  Briefe  nur  um  der  zahlreichen 


*)  Variarum  (epistolarum)  Ubri  XIL     *)  Thorbecke  1.  c.  S.  62. 


570  27.  Kapitel. 

Vergleichspuukte  willen  gewählt;  er  witterte,  wie  sein  Psalmenkom- 
mentar beweist,  hinter  der  Ordnungszahl  eines  jeden  Psalmen  tiefere 
Beziehungen;  so  war  ihm  die  Zahl  der  7  Wissenschaften  Symbol 
der  Ewigkeit.  Die  Reihenfolge  hat  Cassiodorius  gegen  Yarro  und 
Martianus  Gapella  geändert.  Ihm  folgen  jetzt  Gh'ammatik,  Rhetorik, 
Dialektik,  Arithmetik,  Musik,  Geometrie,  Astronomie  aufeinander. 
Ein  weiterer  einigermaßen  wesentlicher  Unterschied  gegen  Martianus 
Capella  besteht  darin,  daß  bei  diesem  die  griechischen  Wortformen 
teilweise  sogar  in  griechischen  Schriftzügen  vorherrschen,  während 
Cassiodorius  hier  mit  mitunter  recht  ungeschickten  Übersetzungen  als 
lateinischer  Sprachreiniger  auftritt.  Er  beabsichtigt  nicht  das  Aus- 
führliche dieser  Wissenschaften  zu  lehren.  Er  will  vielmehr  die 
Schriftsteller  der  Griechen  und  Römer  bezeichnen,  bei  welchen  man 
sich  mit  den  einleitenden  Kenntnissen  versehen  ausführlicher  unter- 
richten könne  ^).  So  ist  es  gewissermaßen  entschuldigt,  wenn  Arith- 
metik und  Geometrie,  auf  die  wir  wieder  allein  unser  Augenmerk 
richten,  noch  mehr  zu  einer  bloßen  Sammlung  von  Definitionen  ge- 
worden sind.  Eine  solche  Definition  wollen  wir  besonders  hervor- 
heben: Magnitudines  rationales  et  irrationales  sunt,  rationales  quarum 
mensuram  scire  possumus;  irrationales  verOy  quarum  mensurae  quanUias 
cognita  non  habetur,  d.  h.  Größen  sind  rational  oder  irrational,  rational 
wenn  ihr  Maß  erkannt  werden  kann,  irrational  wenn  ihre  Messungs- 
größe nicht  erkannt  werden  kann.  Es  will  scheinen,  als  ob  hier  zum 
ersten  Male  die  Kunstausdrücke  rational  und  irrational  im  Gegen- 
sätze zueinander  gebraucht  worden  wären,  deren  Erfinder  mithin 
Cassiodorius  gewesen  sein  dürfte*).  Seinem  Versprechen  getreu  emp- 
fiehlt er«  Pythagoras,  Nikomachus  und  die  Übersetzer  des  letzteren 
Appuleius  und  Boethius,  aus  deren  Schriften,  wie  man  sage  —  ut 
aiu7tt  —  man  sich  mit  den  klarsten  Anschauungen  durchdringen 
könne,  eine  Ausdrucksweise,  welche  in  Zweifel  setzt,  ob  er  selbst 
diese  Schriften  kannte  und  somit  dem,  was  wir  über  eine  mögliche 
Vermengung  verschiedener  durch  Appuleius  und  Boethius  übersetzten 
Schriften  (S.  564)  andeuteten,  nicht  im  Wege  steht.  Dem  Abschnitte 
über  Geometrie  fügt  er  bei,  in  dieser  Wissenschaft  seien  bei  den 
Griechen  Euklid,  Apollonius,  Archimed  und  andere  annehmbare  Schrift- 
steller aufgetreten,  von  welchen  Euklid  durch  denselben  großartigen 
Mann  Boethius  in  die  römische  Sprache  übertragen  worden  sei,  ex 
quibus  Euclidem  translatum  in  Romanam  linguam  idem  vir  magnißcus 

^  Nee  illud  quoque  tacebimus  quibus  auctaribus  tarn  Graecis  quam  Laiinia, 
quM  dicimus,  exposita  claruenmt:  ut  qui  studiose  legere  voluerit,  quibusdam  com- 
pendiis  introductus,  lucidius  Majorum  dicta  perdpiat,  *)  V.  Mortet  in  der 
Bevue  de  Philologie  etc.  XXIV,  280. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  571 

Boethius  dedit  Allerdings  haben  einige  gute  Handschriften  nicht 
translatum  sondern  ddlaiumj  wonach  Boethius  weniger  eine  Über- 
setzung als  eine  Bearbeitung  des  Euklid  geliefert  haben  würde,  aber 
dem  steht  wieder  gegenüber,  daß  in  einem  Briefe^)  an  Boethius  die 
Worte  vorkommen:  Translationibus  tuis  —  geometricus  Euclides  audi- 
ufUur  AusaniiSf  dem  steht  besonders  der  in  der  Enzyklopädie  un- 
mittelbar nachfolgende  Schlußsatz  des  Gassiodorius  gegenüber:  Qui  si 
diligenii  cura  relegatur  etc.,  d.  h.  man  solle  die  Euklidübersetzung 
wieder  und  wieder  lesen.  Für  die  Musik  wird  auf  die  Griechen 
Euklid,  Ptolemäus  und  so  weiter,  in  lateinischer  Sprache  auf  Appu- 
leius  von  Madaura  yerwiesen.  Aus  dem  astronomischen  Abschnitt 
endlich  erwähnen  wir  der  Empfehlung  der  Schriften  von  Ptolemäus. 
Der  Name  des  Boethius  kommt  in  diesen  beiden  letzten  Abschnitten 
nicht  vor,  einer  lateinischen  Übersetzung  des  Ptolemäus  ist  überhaupt 
nicht  gedacht. 

Wir  verweilen  etwas  länger,  als  der  Gegenstand  und  die  enzy- 
klopädische Behandlung  desselben  es  eigentlich  verdienen,  bei  Gassio- 
dorius und  seiner  Wissenschaftslehre,  um  zugleich  ein  Bild  mönchi- 
schen gelehrten  Treibens  zu  entwerfen,  wie  es  von  diesem  Zeitpunkte 
an  uns  jeden  Augenblick  wieder  begegnen  wird.  Diesem  Bilde  würde 
ein  nicht  unwesentlicher  Strich  fehlen,  und  uns  zugleich  die  Gelegen- 
heit entgehen,  hier  schon  eines  regelmäßigen  Arbeitsstoffes  mittel- 
alterlicher Gelehrten  zu  gedenken,  wenn  wir  nicht  noch  über  einen 
ganz  kurzen  Aufsatz  redeten,  der  unter  den  Werken  des  Gassiodorius 
abgedruckt  worden  ist.  Wir  meinen  einen  Computus  paschaiis  vom 
Jahre  562. 

Man  hat  Einsprache  dagegen  erhoben,  daß  diese  Osterrechnung 
von  Gassiodor  herrühren  könne.  In  der  Vorrede  zur  Abhandlung 
über  Orthographie,  welche  Gassiodorius,  wie  wir  schon  sagten,  mit 
93  Jahren  schrieb,  sind  die  Schriften  desselben  aufgezählt,  und  unter 
diesen  ist  kein  Computus  enthalten.  Sollte  derselbe  daher  später 
geschrieben  sein,  etwa  im  94.  Lebensjahre,  so  müßte  durch  Rück- 
wärtsrechnung Gassiodor  im  Jahre  500  bei  seiner  ersten  Anstellung 
mindestens  32  Jahre  alt  gewesen  sein  im  Widerspruch  gegen  die 
früher  angeführte  wohlbegründete  Annahme,  er  habe  damals  am  An- 
fange der  zwanziger  Jahre  gestanden.  Diesen  Widerspruch  zu  heben 
und  zugleich  den  Gomputus  für  Gassiodor  zu  retten  hat  man  die 
Vermutung  ausgesprochen,  dieses  Schriftstück  sei  bereits  mehrere 
Jahre  vor  der  Abhandlung  über  Orthographie  entstanden  und  um 
seiner  geringfügigen  Ausdehnung  willen  in  dem  genannten  Verzeich- 


^)  CaBsiodoriuB,  Varia  I,  45. 


572  27.  Kapitel. 

nisse  eigener  Schriften  ausgelassen  worden.  Sei  dem  nun^  wie  da 
wolle,  sicher  ist,  daß  im  Jahre  562  ein  Computus  paschalis  mög- 
licherweise durch  Cassiodor  verfaßt  wurde,  wie  wir  auch  schon  (S.  531) 
gelegentlich  gesehen  haben,  daß  Yictorius  von  Aquitanien  457  eine 
solche  Anleitung  zur  Auffindung  des  richtigen  Ostertages  schrieb^). 
Solche  theologisch -chronologische  Abhandlungen  waren  wesent- 
lich durch  das  auf  dem  Concilium  von  Nicäa,  325,  ergangene 
Verbot  der  mit  den  Juden  gleichzeitigen  f'eier  des  Osterfestes  her- 
vorgerufen worden.  Das  Passahfest,  d.  h.  das  Fest  der  Verschonung, 
womit  die  Verschonung  von  den  Plagen  in  Ägypten  gemeint  war, 
fand  bei  den  Juden  stets  vom  14.  bis  zum  21.  des  Monats  Nisan 
statt,  und  zwar  wurde  dieser  Monat  dem  Mondjahre  der  jüdischen 
Zeitrechnung  gemäß  immer  so  durch  periodisch  eingeschobene  Schalt- 
monate bestimmt,  daß  der  14.  auf  die  Frühlingstagundnachtgleiche 
fieL  Das  christliche  Osterfest  mit  seiner  ganz  anderen  Bedeutung 
war  zunächst  auf  dem  althergebrachten  Datum  des  14.  Nisan  ver- 
blieben. Erst  das  nicäanische  Konzil  faßte,  wie  gesagt,  diese  Zeit- 
bestimmung als  ketzerisch  auf,  und  man  verfolgte  die,  welche  bei 
den  alten  Ostertagen  blieben,  als  Quatuordecimani  oder  Tessareskai- 
dekasiten.  Ostern  solle  von  den  strenggläubigen  Bekennern  der  christ- 
lichen Religion  stets  am  Sonntage  nach  dem  ersten  Vollmonde  seit 
der  Frühlingstagundnachtgleiche  gefeiert  werden,  niemals  an  diesem 
Tage  selbst,  auch  nicht  wenn  der  Vollmond  auf  die  Frühlingstag- 
undnachtgleiche und  diese  auf  einen  Sonntag  fiel;  dann  mußte  der 
folgende  Sonntag  als  Ostersonntag  gewählt  werden,  damit  das  Zu- 
sammentreffen mit  dem  Passahfest  unter  allen  umständen  vermieden 
blieb.  Es  kam  also  darauf  an,  den  Tag  der  Frühlingstagundnacht- 
gleiche im  Sonnenjahre,  den  des  nächsten  Vollmondes  im  Mondjahre 
genau  zu  kennen,  beziehungsweise  eine  Ausgleichung  zwischen  dem 
Sonnen-  und  Mondjahre  zu  treffen,  welche  auf  gewissen  Zyklen  be- 
ruhte, in  welchen  beide  Jahresgattungen  genau  enthalten  waren.  Das 
nicäanische  Konzil  nahm  an:  19  Sonnenjahre  seien  genau  235  Monds- 
monate. Damit  war  ein  Irrtum  verbunden,  da  nach  strenger  Rech- 
nung zu  den  235  Mondsmonaten  noch  etwa  1—  Stunden  hinzuzufügen 

sind.  Die  Notwendigkeit  anderer  genauerer  Zyklen  wurde  eingesehen, 
und  nach  Auffindung  solcher  Gleichungen  zwischen  Sonnen-  und 
Mondzeit  die  Berechnung  des  Ostertages  für  jedes  Jahr  vorzunehmen, 
die  sogenannte  goldene  Zahl,  die  Epakte  zu  finden^),  zu  finden  ob 


^)  Über  den  Campuiue  des  Yictorius  vgl.  L.  Ideler,  Handbuch  der  mathe- 
matischen und  technischen  Chronologie  II,  275—284.        *)  Ebenda  U,  289  und 


Die  spätere  mathemAtische  Literatur  der  Bömer.  573 

das  Jahr  Schaltjahr  sei  oder  nicht  und  dergleichen^  das  ist  der  alge- 
braisch ziemlich  dürftige  Inhalt  derjenigen  Schriften,  welche  sämtlich 
den  gleichen  Titel  des  Comptäus  paschcUis  führen. 

Unter  den  von  Gassiodorins  zum  genaueren  Studium  empfohlenen 
Schriftstellern  ist  uns  wiederholt  der  Name  des  Boethius  erschienen. 
Anicius  Manlius  Severinus  Boethius^)  stammte  aus  einer  der 
reichsten  und  berühmtesten  Patrizierfamilien  Roms^  deren  Mitglieder 
langst  gewohnt  waren,  hohe  Staatsstellen  zu  bekleiden,  aber  auch 
den  Wechsel  der  Schicksale  durch  fürstliche  Ungnade  zu  empfinden. 
Er  war  zwischen  480  und  482  etwa  geboren*)  und  verlor  kurz  da- 
rauf seinen  Vater,  so  daß  seine  Erziehung  von  Fremden  geleitet 
werden  mußte.  Wahrscheinlich  und  zum  Glück  für  die  geistige 
Ausbildung  des  begabten  Jünglings  wurde  er  der  Sorge  des  Patriziers 
Symmachus*)  anvertraut,  der  vollständig  geeignet  war  Vaterstelle 
an  ihm  zu  vertreten.  Später  wurden  aus  den  Beziehungen  beider 
enge  Familienbande,  indem  Boethius  die  Tochter  des  Symmachus 
heiratete.  Boethius  war  schon  Lehrer  in  dem  Alter,  wo  andere  zu 
lernen  pflegen*).  König  Theodorich  forderte  in  einem  selbstverständ- 
lich durch  Gassiodor  geschriebenen  und  in  dessen  Briefsammlung  uns 
aufbewahrten  Briefe  ihn  auf,  auch  für  den  Burgunderkönig  Gundobad 
eine  Wasser-  und  Sonnenuhr  zu  besorgen.  Im  Jahre  507  entbrannte 
Krieg  zwischen  Theodorich  und  Gnndobad.  Jener  ein  freundliches 
Verhältnis  beider  voraussetzende  Brief  kann  demnach  nur  vor  oder  kurz 
nach  diesem  Kriege  geschrieben  sein^),  vor  507  oder  etwa  um  510, 
wahrscheinlicher  in  der  zuletzt  genannten  Zeit.  Wir  werden  aus 
jenem  Briefe,  den  wir  schon  (S.  571)  anführten,  nachher  noch  ent- 
nehmen, welche  schriftstellerische  Tätigkeit  als  Übersetzer  aus  dem 
Griechischen  Boethius  damals  schon  entfaltet  hatte.  Fürs  erste  ist 
er  uns  ein  Zeugnis  für  das  Ansehen,  in  welchem  Boethius  bei  dem 
Könige  stand,  und  dieses  ebenso  wie  das  des  Symmachus  wuchs  be- 
ständig. Allein  mit  der  steigenden  Bedeutung  des  Boethius  stieg 
auch  sein  eifriges  Bemühen  die  Freiheit  und  das  Ansehen  des  römischen 
Senates   wieder   herzustellen,   wodurch  er  den  Höflingen,   die    schon 


häufiger.   F.  J.  Brockmann,  System  der  Chronologie  (Stuttgart  1883),  Kap.  lY. 
Die  christliche  Osterrechnung. 

^)  Usener,  Änecdoton  Holderi  pag.  87 — 66.  Ältere  Quellen  sind  benutzt 
in  Math.  Beitr.  Kultuil.  S.  176->230.  Samuel  Brandt,  Entstehungszeit  und 
zeitliche  Folge  der  Werke  von  Boethius  im  Fhilologus  LXII,  141 — 154  und  234 
bis  276.  ")  üsener  pag.  40.  •)  Über  Symmachus  vgl.  Usener  pag.  17—87. 
^  Ennodins  sagt  von  ihm:  Boethius pcOricitts,  in  quo  vix  discendi  annos  respicis 
et  inteüigis  peritiam  sufficere  iam  docendi.  ^)  Usener  pag.  89.  Brandt  1.  c. 
146 — 147  mit  Berufung  auf  Mommsens  Ausgabe  des  Gassiodor. 


574  27.  Kapitel. 

lange  neidisch  auf  ilin  waren  ^  Gelegenheit  gab  ihn  beim  Könige  zu 
verdächtigen.  Untergeschobene  Briefe  mnßten  die  Ansicht  begründen 
helfen,  als  habe  Boethius  ans  Ehrgeiz  sich  znm  Verrate  verleiten 
lassen.  Schuldig  befunden,  weil  man  ihn  schuldig  wollte,  wurde  er 
seines  Vermögens  beraubt,  seiner  Würden  entsetzt  und  wahrschein- 
lich nach  Pavia,  dem  damaligen  Ticinum,  verwiesen.  Dort  wurde  er 
wenigstens  nach  längerer  Gefangenschaft  enthauptet,  vermutlich  524, 
der  Eirchensage  nach  am  23.  Oktober,  welcher  zu  Pavia,  Brescia  und 
an  anderen  Orten  wohl  schon  seit  .dem  VIIL  S.  als  Tag  des  heiligen 
Boethius  gefeiert  wurde.  Symmachus  konnte  seinem  Schmerze  über 
den  gewaltsamen  Tod  seines  Schwiegersohnes  nicht  gebieten.  Seine 
Äußerungen  darüber,  denen  es  an  berechtigter  Schärfe  nicht  gefehlt 
haben  mag,  wurden  dem  Könige  hinterbracht,  der  sie  ebenso  ahndete 
wie  das  angenommene  Verbrechen  dessen,  dem  die  Klagen  des  Sym- 
machus galten.  Symmachus  wurde  in  Fesseln  nach  Ravenna  gebracht 
und  im  Gefängnisse  getötet.  Auch  dafür  gibt  die  Sage  einen  be- 
stimmten Tag,  den  8.  Mai.  Theodorich  folgte  seinen  Opfern,  deren 
Geister  sein  zerrüttetes  Nervensystem  ihm  unaufhörlich  vor  die  Augen 
zauberte,  noch  526  nach.  Wie  viel  theologische  Streitigkeiten  zwischen 
dem  formell  rechtgläubigen  Boethius  und  dem  arianischen  Hofe  Theo- 
dorichs zu  der  Entwicklung  beigetragen  haben  mögen,  ist  unklar. 
Daß  Boethius  die  ihm  eine  Zeitlang  abgesprochenen  theologischen 
Schriften  wirklich  verfaßt  hat,  dürfte  nach  Auffindung  eines  Zeug- 
nisses des  Cassiodor  nicht  länger  zweifelhaft  erscheinen^).  Ein  Wider- 
spruch gegen  das  Werk  „über  die  Tröstungen  der  Philosophie",  welches 
Boethius  im  Gefängnisse  zu  seiner  eigenen  Geistesberuhigung  ver- 
faßte, ist  nur  scheinbar,  keinesfalls  so  groß,  um  Boethius  nicht  als 
möglichen  Verfasser  auch  der  theologischen  Abhandlungen  erkennen 
zu  lassen.  Die  Geistesrichtung  des  Boethius,  der  an  *  griechischen 
Schriftstellern  sich  durchweg  gebildet  hatte,  war,  trotz  formaler 
Strenggläubigkeit  im  Christentum,  eine  dem  Heidnischen  nicht  ab- 
geneigte, und  überdies  lehnt  sich  jenes  Werk  der  Tröstungen  an 
griechische  Vorbilder  an,  an  Schriften  von  Aristoteles  verquickt  mit 
spätplatonischen  Kommentatoren.  War  doch  fast  die  ganze  schrift- 
stellerische Tätigkeit  des  Boethius  gerade  diesen  Männern  gewidmet. 
Sind  es  doch  wesentlich  Übersetzungen  von  und  Erläuterungen  zu 
aristotelischen  Schriften  und  deren  Kommentatoren,  welche  Boethius 
zum  großen  Manne  machten,  während  daneben   auch  seine  Lebens- 


^)  Usener  pag.  48 — 69  über  die  theologischen  Schriften  des  Boeihins, 
namentlich  auch  über  deren  scheinbaren  Widerspruch  gegen  die  Bücher  De 
cansolatiane. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  575 

Schicksale  ihm  den  Strahlenkranz  des  unschuldig  Verfolgten  yer- 
liehen.  Man  muß  sich  ganz  im  allgemeinen  wohl  davor  hüten  bei 
Boethius  viele  eigene  Gedanken  zu  suchen^  oder  aus  der  Hochschätzung 
der  Zeitgenossen  und  der  Nachkommen  eine  zu  große  Meinung  von 
der  Bedeutung  des  Mannes  sich  zu  machen,  dessen  Ubersetzungs- 
arbeiten  selbst  nicht  auf  die  Höhe  ihrer  Aufgabe  gelanget  sind,  und 
der  darum  noch  lange  kein  Riese  war^  wenn  er  Zwerge  überragte. 
Die  Regel  der  Kombinationen  zu  je  zweien  aus  beliebig  vielen  Ele- 
menten, man  soll  die  Hälfte  des  Produktes  der  Elementenzahl  in 
ihre  um  1  verminderte  Anzahl  nehmen,  wird  Boethius  vermutlich, 
wie  vieles  sonst,  aus  Ammonius  (S.  501)  entlehnt  haben.  Er  hat  sie 
im  fünften  Buche  seiner  Commentaria  in  Porphyrium  sowie  in  seinem 
Eategorienkommentare  ausgesprochen  ^). 

Uns  interessieren  namentlich  diejenigen  Übersetzungen,  welche 
Boethius,  wie  wir  gesehen  haben,  in  seinem  28.  Lebensjahre  etwa 
schon  vollendet  haben  muß.  In  jenem  Briefe  des  Theodorich  an 
Boethius^)  heißt  es:  „In  Deinen  Übertragungen  wird  die  Musik  des 
Pythagoras,  die  Astronomie  des  Ptolemäus  lateinisch  gelesen.  Niko- 
machus  der  Arithmetiker,  der  Geometer  Euklid  werden  von  den  Auso- 
niem  gehört.  Plato  der  Forscher  göttlicher  Dinge,  Aristoteles  der 
Logiker  streiten  in  der  Sprache  des  Quirinals.  Auch  Archimed  den 
Mechaniker  hast  Du  lateinisch  den  Sikulem  zurückgegeben,  und 
welche  Wissenschaften  und  Künste  auch  das  fruchtbare  Griechenland 
durch  ii^endwelche  Männer  erzeugte,  Rom  empfing  sie  in  vater- 
ländischer Sprache  durch  Deine  einzige  Vermittlung.**  Vorzugsweise 
Wichtigkeit  besitzen  für  uns  von  diesen  Übersetzungen  die  der  Arith- 
metik und  Geometrie;  daneben  kann  die  der  Musik,  der  Astronomie, 
der  Mechanik  uns  gelegentliche  Notizen  liefern,  die  sich  vielleicht 
wertvoll  erweisen.  . 

Der  Musik  haben  wir  uns  (S.  165)   als  Quelle  bedienen  dürfen. 

Von  den  mechanischen  Schriften  nach  Archimed  ist  uns  freilich 
außerhalb  der  hier  angeführten  Briefstelle  keinerlei  Erwähnung  be- 
kannt. 

Was  die  Astronomie  und  Musik  betrifft,  die  Boethius  lateinisch 
schrieb,  so  erinnern  wir  daran,  daß  von  ihnen  in  der  Enzyklopädie 
des  Cassiodorius  keine  Rede  ist.  Doch  ist  für  die  Astronomie  wenig- 
stens mehr  als  ein  späteres  Zeugnis  vorhanden.  Wir  werden  später 
sehen,  daß  Gerbert  in  einem  vermutlich  im  Sommer  983  in  Bobbio 

»)  fleiberg  im  Philologua  XLIU,  476—476.  Brandt  1.  c.  148  und  pri- 
vate Mitteilungen  über  die  Benutzung  des  Ammonius  durch  Boethius.  Die  Stelle 
findet  sich  in  der  Baseler  Folioausgabe  der  Werke  des  Boethius  von  1670  auf 
pag.  104  und  106.     *)  Cassiodorius,  Varia  I,  46. 


576  27.  Kapitel. 

geschriebenen  Briefe  seine  Freude  darüber  kundgibt,  daß  er  acbt 
Bücher  gefunden  habe:  Boethius  über  Astronomie,  über  Geometrie 
und  anderes  nicht  weniger  Bewundernswertes*).  In  mittelalterlichen 
Handschriftenverzeichnissen  wird  gleichfalls  die  Astronomie  des  Boethius 
genannt'),  und  noch  1515  war  die  Astronomie  nach  aller  Wahr- 
scheinlichkeit vorhanden,  wenigstens  beruft  sich  ein  in  jenem  Jahre 
zu  Augsburg  gedrucktes  Buch  auf  deren  Benutzung^.  Möglicher- 
weise ist  bei  jener  Berufung  ein  1503  in  Paris  gedruckter  von  Faber 
Stapulensis  herausgegebener  Band  gemeint,  der  den  ausführlichen  Titel ^) 
fährt:  „Boetius  Sev.  Epitome  compendiosaque  introductio  in  libros 
arithmeticos  Sev.  Boetij:  adjecto  familiari  commentaria  dilucidata. 
Praxis  numerandi.  Introductio  in  Geometriam.  Liber  de  quadratura 
circuli.  Liber  de  cubicatione  sphere.  Perspectiva  introductio.  In- 
super  Astronomicon."  Wenn  dem  aber  so  wäre,  so  stünde  die  Mei- 
nung auch  das  Astronomicon  müsse  von  Boethius  verfaßt  gewesen 
sein,  freilich  auf  recht  schwachen  Füßen. 

Dafür  daß  Boethius  eine  Arithmetik  und  eine  Geometrie  schrieb, 
ist  das  unabwendbarste  Zeichen  vor  allen  Diagen  die  Enzyklopädie 
des  Cassiodorius.  Dieser  konnte  m'cht  auf  beide  Werke  und  am  be- 
stimmtesten auf  die  Geometrie  verweisen,  wenn  sie  nicht  vorhanden 
waren.  Die  Ausflucht,  mit  welcher  man  wohl  gegen  die  ältere  Brief- 
stelle Mißtrauen  zu  erregen  gesucht  hat,  Cassiodorius  habe  Schriften, 
die  schon  verfaßt  waren,  aber  auch  solche  genannt,  welche  noch  zu 
erwarten  waren,  hat  keine  Wirksamkeit  für  die  Zeit,  als  Cassiodorius 
ins  Kloster  zurückgezogen  seine  Enzyklopädie  schrieb.  Boethius  war 
damals  längst  tot.  Von  ihm  ließ  sich  nichts  mehr  erwarten.  Von 
einem  „vermeintlichen"  Faktum^)  kann  aber  bei  so  ausdrücklicher 
Verweisung  desjenigen,  der  sich  genauer  unterrichten  wollte,  auf  die 
genannten  Bücher  unmöglich  die  Rede  sein.  Ein  gewissenhafter, 
pünktlicher  Lehrer  —  und  pünktlich  war  Cassiodorius  durchaus  — 
verweist  nicht  auf  Schriften,  die  er  nur  von  Hörensagen  kennt,  ge- 
schweige denn  von  deren  Vorhandensein  er  kaum  weiß,  ohne  ein- 
schränkende Bemerkung.  Wir  würden  daher  allenfalls  begreifen 
können,  wenn  man  nach  den  Worten  Cassiodors  bezweifeln  wollte, 
daß  Boethius  wirklich  die  Arithmetik  des  Nikomachus  übersetzt  habe; 


^)  Beperimus  octo  volumina  Boethii  de  astrologia  praedarissima  quoque 
figurarum  geometriae  aliaqut  non  minus  cUlmiranda.  *)  Brandt  1.  c.  236  Note  8 
unter  Berufiing  auf  Schepss  (Festschrift  für  W.  v.  Christ  S.  118).  ")  M.  Curtze 
in  dem  Builettino  Boncompagni  1868,  pag.  140.  *)  Wir  verdanken  die  Kenntnis 
des  Titels  H.  Karl  Bopp,  welcher  ihn  einem  antiquarischen  Kataloge  entnahm. 
*)  Weißenborn,  Die  Boetiusfrage  im  Snpplementheft  zur  Histor.-literar.  Abtlg. 
der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIY,  S.  190. 


Die  spätere  mathematiache  Literatur  der  Römer.  577 

an  das  Vorhandensein  der  Übersetzung  der  euklidischen  Geometrie 
ist  ihm  gegenüber  jeder  Zweifel  anstatthaft.  Andere  Zeugnisse 
kommen  dazu.  Für  die  Arithmetik  gilt  als  sicherstes  Zeugnis,  daß 
nach  Briefen,  welche  zwischen  Gerbert  und  Otto  III.  gegen  994  ge- 
wechselt wurden,  ersterer  dem  letzteren  ein  Exemplar  der  Arithmetik 
des  Boethius  zugeschickt  hat.  Für  die  Geometrie  wird  der  vor- 
erwähnte Brief  Gerberts  von  983  angerufen,  während  andere  die  Be- 
rechtigung in  Abrede  stellen,  den  Namen  des  Boethius,  der  als  Ver- 
fasser der  Astronomie  bezeichnet  ist,  auch  auf  die  Geometrie  zu  be- 
ziehen. Femer  beruft  man  sich  auch  für  beide  Werke  noch  auf  ein 
der  Zeit  nach  früheres  Zeugnis.  Der  Bibliothekar  Regimbertus  auf 
Reichenau  hat  nämlich  821  einen  Katalog  der  damals  unter  seiner 
Obhut  Torhandenen  Handschriften  hinterlassen,  und  darin  ist  von 
Boethius  die  Arithmetik  in  zwei  Büchern,  die  Geometrie  in  drei 
Büchern  genannt^),  wogegen  freilich  abermals  der  Einwand  erhoben 
worden  ist,  nur  für  die  Arithmetik  sei  Boethius  als  Verfasser  gemeint, 
nicht  auch  für  die  Geometrie.  Man  findet  endlich  in  einem  um  1025 
geschriebenen  Briefe  die  Worte'):  Boethius  sagt  in  seinem  geome- 
trischen Werke,  in  Geometrico  dicit  Boethius,  um  welche  man  sich 
nicht  herumdeuten  kann. 

Zu  diesen  verschiedenen  mittelbaren  Zeugnissen  kommt  noch, 
daß  eine  ganze  Anzahl  von  Handschriften  sich  bis  auf  den  heutigen 
Tag  erhalten  hat,  in  welchen  den  Titeln  nach  die  Arithmetik,  die 
Musik,  die  Geometrie  des  Boethius  aufgezeichnet  sind.  Die  älteste 
Handschrift  der  Arithmetik  soll  dem  IX.  bis  X.  S.  entstammen'),  die 
älteste  Handschrift  der  Musik  dem  IX.  S.^),  endlich  die  älteste  Hand- 
schrift der  Geometrie  dem  IX.  S.^). 

Diese  Tatsachen  fassen  sich  also  dahin  zusammen,  daß  jedenfalls 
Boethius  über  die  vier  genannten  Wissensgebiete  nach  griechischen 
Mustern  sich  verbreitet  hat,  und  daß  noch  erhaltene  Handschriften 
der   drei   ersten   Werke   mit   Ausschluß    der    den   Schluß    bildenden 


^)  Agrimensoren,  Anmerknng  246.  *)  Une  Correspondance  d'ecoldires  du 
XI.  Siicle  in  den  Notices  et  Extraits  XXXVI,  626  lin.  2  (pag.  43  des  Sonder- 
abdmcks).  ")  Boetius  (ed.  Friedlein)  Leipzig  1867,  pag.  2:  codex  r. 
*)  Boetius  (ed.  Friedlein)  pag.  176:  codex  g.  *)  Q.  Schepss,  Zu  Boethius 
(in  den  CommervUitiones  Woelfflinianae.  Leipzig  1891)  pag.  279  nennt  drei  Pariser 
(3odices,  deren  ältester  dem  IX.  S.  angehört,  während  die  beiden  anderen  im 
X.  S.  entstanden  sein  müssen.  In  ihnen  wird  ansdrücklich  das  Ganze  als  Eigen- 
tum des  Boethius  in  Ansprach  genommen.  Dem  XI.  8.  entstammt  die  Erlanger 
Handschrift.  Boetias  (ed.  Friedlein)  pag.  872:  codex  e.  Friedlein  gibt 
femer  dem  codex  n  ss  cod.  Vatican.  3 123  ein  höheres  Alter,  indem  er  ihn  in  das 
X.  8.  setzt,  aber  üsener  (pag.  47)  rückt  nach  eigener  Anschauung  diesen  Kodex 
herunter  in  das  XL— XII.  8. 

Cahtob,  Oetohiohte  der  M»theniMik  I.  S.  Aufl.  87 


578  27.  Kapitel. 

Astronomie  um  das  Jahr  900  vorhanden  gewesen   sind  nnd  damals 
für  Ton  Boethins  verfaßt  galten. 

In  der  Einleitung  zur  Arithmetik  bestätigt  Boethius  gleichfalls^ 
was  wir  aus  anderen  Quellen  erfahren  haben  ^  daß  er  über  die  vier 
verwandten  Gegenstande  schreiben  wolle.  Er  bezieht  sich  in  dem 
Widmungsschreiben  an  Sjmmachus  darauf,  daß  er  von  den  vier 
mathematischen  Wissenschaften  die  Arithmetik,  welche  die  erste  sei, 
vollendet  habe*),  und  wenn  auch  die  Stelle,  in  welcher  die  Reihen- 
folge, Arithmetik,  Musik,  Geometrie,  Astronomie  angedeutet  ist,  weil 
die  Menge  an  und  für  sich  betrachtet  in  der  Arithmetik,  die  Menge 
bezogen  auf  andere  in  der  Musik,  die  unbewegte  Größe  in  der  Geo- 
metrie, die  bewegte  in  der  Astronomie  behandelt  werde,  sowie  eine 
andere,  in  welcher  noch  naher  erklärt  wird,  weshalb  von  der  Arith- 
metik ausgegangen  werden  solle,  nur  freie  Übersetzungen  aus  dem 
Nikomachus  sind^),  so  kann  auch  darauf  für  die  Absicht  des  Boethius 
Bezug  genommen  werden.  Er  hätte  jene  Stellen  der  Einleitung, 
wenn  sie  nicht  seine  eigenen  Pläne  ausdrückten,  unzweifelhaft  bei- 
seite gelassen,  denn  gerade  hier  hat  sich  Boethius  mit  größter  Un- 
abhängigkeit seines  Stoffes  bedient.  Bei  dieser  Gelegenheit  findet 
sich  z.  B.  zum  ersten  Male  das  Wort  quadruvium  benutzt,  um  den 
Kreuzweg  der  viergeteilten  mathematischen  Wissenschaften  zu  be- 
zeichnen, welche  von  Cassiodorius  mit  anderem  Bilde  die  vier  Pforten 
der  Wissenschaft  genannt  wurden*).  Wir  bemerken,  daß  das  von 
Boethius  gewählte  Wort  als  Gemeingut  sich  forterbte,  daß  dem 
Quadruvium  noch  das  Trivium  zugesellt  wurde,  um  die  Gesamt- 
heit der  sieben  freien  Künste  in  ihren  beiden  großen  Gruppen  zu 
benennen.  In  der  Musik  hat  alsdann  Boethius  den  einmal  einge- 
schlagenen Weg  weiter  für  den  richtigen  erklärt.  Er  gibt  nämlich 
wiederholt  den  Unterschied  der  vier  Wissenschaften  und  ihre  Reihen- 
folge in  gleicher  Weise  an,  wie  er  es  nach  Nikomachus  getan 
hatte*).  Eine  Widmung  ist  der  Musik  nicht  vorausgeschickt.  Die 
Geometrie  dagegen  beginnt  mit  der  Anrede  „mein  Patricius'%  mi 
Patrici,  was  ohne  jede  Schwierigkeit  auf  den  Rhetor  Patricius  ge- 
deutet werden  kann,  welchem  Boethius  auch  ein  anderes  Werk,  seinen 
Kommentar  zu  Giceros  Topik,  mit  derselben  am  Anfang  des  zweiten 


^)  Cum  igitur  quattuor  matheseos  discipUnarum  de  arithmetica,  quae  est 
prima,  perseriberem,  tu  tantum  dignus  eo  munere  videhare.  *)  Darauf  hat  Th.  H. 
Martin  aufmerksam  gemacht:  Les  signea  numeraux  et  Variihmdtique  ckex  les 
peuples  de  Vantiquite  et  du  moyen-age.  Annali  de  mcUematiche  Y.  Roma  1864, 
Cap.  XIII,  pag.  44  der  Separatausgabe.  ')  Cassiodorius,  Varia  I,  45:  Tu 
artem  praedictam  ex  disciplinis  nobüibus  ncUam  per  quadrifarias  Mathesis  ianuas 
introisti.      *)  Boetius  (ed.  Friedlein)  Musica  Lib.  II,  Cap.  8,  pag.  228—229. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  579 

Buches  vorkommenden  Anrede  mi  Pa4rici  gewidmet  hat*).  In  der 
Geometrie  ist  sodann  von  der  Arithmetik  des  gleichen  Verfassers 
die  Rede^.  Wieder  in  der  Geometrie  ist  von  der  Arithmetik  und 
der  Musik  gesagt,  daß  dort  gewisse  Dinge  zur  Genüge  besprochen 
seien.*).  Auf  die  Arithmetik  wird  für  den  Satz  verwiesen,  daß  die 
Einheit  keine  Zahl  sei,  sondern  Quelle  und  Ursprung  der  Zahlen.^) 
Das  sind  lauter  Kennzeichen,  daß  die  Geometrie  von  Boethius  her- 
rührt, oder  daß  wer  sie   verfaßte  für  Boethius  gehalten  sein  wollta 

Dieser  Satz  mag  mit  Recht  dem  Leser  auffallen.  Wir  bemerken 
deshalb  einschaltend,  auch  um  die  Tragweite  der  folgenden  Unter- 
suchusg  zum  voraus  erkennen  zu  lassen,  daß  gegen  die  Echtheit  der 
Arithmetik  und  Musik,  wie  sie  uns  handschriftlich  als  von  Boethius 
herrührend  überliefert  sind,  ein  Zweifel  nie  erhoben  worden  ist,  daß 
dagegen  die  Geometrie,  deren  Echtheit  oder  Unechtheit  eine  geschicht- 
liche Bedeutung  ersten  Ranges  besitzt,  von  weitaus  den  meisten  für 
untergeschoben  gehalten  wird^). 

Wir  müssen  nun  den  Inhalt  sowohl  der  Arithmetik  als  der  Geo- 
metrie prüfen,  welcher  uns  erst  die  Berechtigung  geben  soll,  die  Frage 
zu  einigem  Abschlüsse  zu  bringen.  Die  Arithmetik  ist  das,  was 
sie  nach  der  Erklärung  des  Cassiodorius,  was  sie  aber  auch  nach  den 
eigenen  Worten  des  Boethius^)  sein  soll,  eine  Bearbeitung  der  Arith- 
metik des  Nikomachus,  wobei  bald  Weitläufigeres  zusammengezogen, 
bald  Dinge,  die  rascher  durchlaufen  dem  Verständnis  einen  allzuengen 
Zugang  boten,  einigermaßen  erweitert  wurden.  Man  wird  daher  bei 
Boethius  die  auffälligsten  Dinge  wiederfinden,  welche  aus  dem 
griechischen  Texte  uns  schon  bekannt  sind,  Sätze  dagegen,  die 
mathematisch  von  Wichtigkeit  sind,  nicht  selten  vermissen.  Die 
Einmaleinstabelle  fehlt  so  wenig '^,  wie  die  figurierten  Zahlen,  deren 
hier  ausgesprochener  Name  numeri  figurati^),  die  wörtliche  Über- 
setzung von  aQLd'^ol  öxrjiiatoyQaffd'evregy  seit  Boethius  immer  allge- 
meiner in  Gebrauch  gekommen  ist.  Wir  bemerken  fast  überflüssiger- 
weise,   daß   sich   Boethius   auch    der   Ausdrücke   numeri  pnmi   und 


*)  Diese  Lösung  der  früher  vorhandenen  Schwierigkeit,  die  Widmung  der 
Geometrie  zu  verstehen,  rührt  von  S.  Brandt  1.  c.  234  Note  1  her.  *)  Boe- 
tiuB  (ed.  Friedlein)  pag.  890,  3—6.  *)  Ebenda  pag.  896,  8—6.  *)  Ebenda 
pag.  397,  20 — 898,  1.  •)  So  namentlich  von  Friedlein,  von  Weißenborn: 
Die  Boetiusfrage  in  dem  Supplementheft  zur  Histor.-literar.  Abtlg.  der  Zeitachr. 
Math.  Phys.  XXIV  (1879)  and:  Zur  Boetiusfrage,  Osterprogramm  1880  des 
Eisenacher  Realgymnasiums.  Am  kräftigsten  und  vollständigsten  hatHeiberg 
die  Gründe  gegen  die  Echtheit  der  Geometrie  zusammengestellt  in  der  Zeit- 
schrift Philologus  XLIII,  507—619.  «)  Boetius  (ed.  Friedlein)  pag.  4,  80 
bis  5,  4.  ^  Ebenda  pag.  58.  ^  Ebenda  pag.  101  in  der  Überschrift  von  Arüh^ 
metica  11,  17. 

87» 


580  27.  Kapitel. 

numeri  compositi  bedient.  Die  Proportionenlehre  ist  ausführlich  ge- 
lehrt, und  damit  ist  vielleicht  die  Sage  in  Verbindung  zu  bringen, 
welche  übrigens  wohl  auch  auf  Wahrheit  beruhen  kann,  Boethius 
habe  im  Gefängnisse  zu  seiner  Unterhaltung  ein  Zahlenkampf  ge> 
nanntes  Spiel  ausgedacht,  welches  wesentlich  auf  Anwendung  von 
Zahlenverhältnissen  beruht^).  Bemerkenswert  erscheint  dem  gegen- 
über, daß  unter  den  weggebliebenen  Dingen  jener  Satz  des  Niko- 
machus  enthalten  ist,  der  von  der  Entstehung  der  Eubikzahlen  aus 
der  Summe  ungerader  Zahlen  handelt,  und  ebenso  der  Satz,  daß  die 
neckszahl  von  der  Seite  r  und  die  Dreieckszahl  von  der  Seite  r—  1 
zusammen  die  n  +  leckszahl  von  der  Seite  r  bilden  (S.  432).  Wir 
sehen  an  solchen  Dingen  bewahrheitet,  was  wir  ankündigten,  sehen 
bestätigt,  was  wir  weiter  oben  (S.  575)  behauptet  hatten.  Es  ist 
kein  ebenbürtiger  Bearbeiter,  der  sich  an  den  griechischen  Zahlen- 
theoretiker gewagt  hat.  Gerade  den  feinsten  arithmetischen  Dingen 
ist  er  aus  dem  Wege  gegangen.  Sein  Griechisch  reichte  aus  zur 
Übersetzung,  seine  Mathematik  nicht,  und  wenn  den  Namen  Boethius 
bis  in  das  späte  Mittelalter  hin  ein  gewisser  Nimbus  umgibt,  so  ist 
dieser  Glanz  zum  Teil  der  allgemeinen  Dunkelheit  zuzuschreiben,  zum 
Teil  Wiederstrahl  der  Märtyrerkrone,  mit  welcher,  wie  wir  schon 
sahen,  die  Kirche  ihn  bedacht  hat. 

Wir  wenden  uns  zur  Geometrie  des  Boethius,  wie  sie  von  den 
Handschriften  uns  überliefert  ist.  Zwar  sind  und  waren  die  Hand- 
schriften weder  in  bezug  auf  die  Anzahl  der  Bücher  noch  auf  den 
Text  durchweg  übereinstimmend.  Es  gibt  und  gab  Geometrien  des 
Boethius  in  fünf  Büchern*),  in  vier  Büchern'),  in  drei  Büchern*),  in 
zwei  Büchern. 

Indessen  sind  diese  verschiedenen  Gestaltungen  wesentlich  auf 
deren  zwei  zurückzuführen,  von  denen  sich  eine  aus  5^  eine  aus 
2  Büchern  zusammensetzt.  Jene  längere  wird  kaum  von  irgend  jemand 
fdr  die  echte  Geometrie  des  Boethius  gehalten  werden  können.  Ihre 
beiden  ersten  Bücher  sind  zwar  in  alte  Druckausgaben  des  Boethius 
zu  einem  Buche  vereinigt  als  Geometrie  aufgenommen,  aber  sie  ent- 
halten ein  buntes  Allerlei,  worunter  nicht  zum  wenigsten  Auszüge  aus 
der  Arithmetik  des  Boethius,  die  noch  obendrein  in  Unordnung  ge- 
raten sind;  Die  beiden  folgenden  Bücher  enthalten  eine  Boethius  zu- 
geschriebene Übersetzung  aus  den  4  ersten  Büchern  des  Euklid.  Im 
fünften  Buche,  welches  im  Drucke  noch  nicht  herausgegeben  ist,  zeigt 

^)  B.  Peiper  in  den  Abhandlangen  zur  Geschichte  der  Mathematik  m, 
167—227  (1880).  *)  Math.  Beitr.  Kulturl.,  Anmerkung  899.  »)  Friedleins 
Münchner  Kodex  m  aus  dem  XI. — XII.  S.  ^)  Z.  B.  das  alte  Exemplar,  welches 
im  Reichenauer  Bibliothekskatalog  von  821  beschrieben  ist. 


Die  Bpätere  mathematiache  Literatur  der  Römer.  581 

sich  neuerdings  ein  Allerlei,  aus  welchem  sich  ein  sehr  interessantes, 
den  Begleitstücken  in  keiner  Weise  ähnelndes  Fragment  Altercatio 
duorum  geometricomm  hervorhebt,  ein  katechetisches  Zwiegespräch, 
dessen  Ursprung  in  tiefstes  Dunkel  gehüllt  ist.  Das  Ganze  —  wir 
meinen  die  f&nf  hier  geschilderten  Bücher  —  hat  die  Benennung  als 
Pseudoboethius*)  erhalten,  um  sie  von  den  zwei  Büchern  zu 
unterscheiden,  und  von  dieser  Geometrie  in  zwei  Büchern  allein  ist 
die  Bede,  wenn  Untersuchungen  über  Echtheit  oder  Gefälschtsein  der 
Geometrie  des  Boethius  angestellt  werden.  Die  älteste  Handschrift 
dieser  Geometrie  ist  die  Erlanger  aus  dem  XL  S. 

Wir  wollen  jetzt  an  die  Schilderung  dieser  Geometrie  herantreten 
und  in  die  Schilderung  verweben,  was  für  die  Echtheit  angeführt 
worden  ist,  damit  unseren  Lesern  die  Möglichkeit  einer  Meinungs- 
verschiedenheit begreiflich  werde.  Die  zwei  Bücher  der  Geometrie 
leiden  nun  allerdings  auch  an  einer  Buntheit,  welche  auffallen  muß, 
und  welche  keineswegs  mit  dem  übereinstimmt,  was  ein  modemer 
Bearbeiter  des  Euklid  liefern  würde.  Sind  wir  aber  berechtigt,  dem 
Ähnliches  zu  erwarten?  Wir  glauben  nicht.  Griechische  Arithmetik 
war,  wie  wir  gesehen  haben,  den  Römern  nicht  gerade  neu.  Griechi- 
scher Geometrie  in  irgend  gegliederter  Aufeinanderfolge,  euklidischer 
Strenge  der  Beweise  sind  wir  noch  nicht  begegnet.  Auch  jene  Be- 
arbeitung der  Stereometrie  in  dem  Veroneser  Palimpseste  (S.  565) 
schließt  sich  vermutlich  nur  an  ein  Exzerpt  des  Euklid,  nicht  an 
den  wirklichen  Euklid  an,  und  ein  Exzerpt  muß  Boethius  vor  sich 
gehabt  haben,  denn  wie  wollte  er  sonst  die  gesamten  Elemente  in 
zwei,  drei,  vier,  fünf  Bücher  fassen,  wenn  wir  die  Gliederung  zulassen 
wollen,  welche  die  meisten  Bücher  der  Geometrie  des  Boethius  an- 
gibt? Es  kann  also  die  Geometrie  des  Boethius  zu  der  des  Euklid 
gewiß  nicht  in  dem  gleichen  Verhältnisse  gestanden  haben,  wie  die 
Arithmetik  desselben  zu  der  des  Nikomachus.  Auch  Boethius  selbst 
in  der  Einleitung  zur  Geometrie  gestattet  uns  keineswegs  solche 
Ansprüche  zu  erheben:  „Da  ich,  mein  Patricius,  auf  Dein  Ansuchen, 
da  Du  von  den  Geometem  wohl  die  meiste  Übung  besitzest,  auf 
mich  genommen  habe,  das,  was  von  Euklid  über  die  Figuren  der 
geometrischen  Kunst  dunkel  vorgetragen  wurde,  auseinanderzusetzen 
und  für  einen  leichteren  Eingang  zuzubereiten,  so  glaube  ich  zuerst 
den  Begriff  des  Messens  erläutern  zu  müssen^^).  Die  Figuren  geo- 
metrischer Kunst,  das  ist  es,  was  Boethius  auseinandersetzen  will, 


*)  Tannery,  Notes  8ur  la  F!setuU>-Geomdtrie  de  Bo^  in  der  Bibliotheca 
Mathematica.  8.  Folge  I,  39^50  (1900).  ^  Boetius  (ed.  Friedlein)  pag.  373, 
21—24. 


582  27.  Kapitel. 

und  über  die  Figuren  der  Geometrie  handelte,  was  Öerbert  ge- 
meinschaftlich mit  der  Astronomie  des  Boethius  in  Bobbio  fand 
(S.  575),  und  was  gerade  durch  diese  Benennung  die  Urheberschaft 
des  Boethius  näher  legt.  Wenn  dann  Gassiodorius,  der  noch  weniger 
Mathematiker  war  als  Boethius,  daraus  entnimmt,  es  sei  eine  Über- 
setzung des  Euklid  gewesen,  die  jener  verfaßte,  wenn  ein  Abschreiber 
in  der  Überschrift  sagt:  „Es  beginnt  die  Geometrie  des  Euklid  von 
Boethius  einleuchtender  ins  Lateinische  übersetzt*'*),  eine  Überschrift, 
die  schon  ihrem  Wortlaute  nach  nicht  von  Boethius  herrührt,  wie 
überhaupt  auf  eine  Überschrift  niemals  ein  größeres  Gewicht  zu 
legen  ist  als  nach  der  Richtung,  daß  sie  die  Ansicht  der  Zeit  der 
Abschrift  uns  kundgibt;  so  ist  Boethius  uns  an  beidem  unschuldig. 
Er  wollte  nur  die  Figuren  geometrischer  Kunst  auseinandersetzen. 
Er  tat  es,  indem  er  nach  Definitionen  den  Inhalt  des  I.  Buches  der 
Elemente  und  weniges  aus  dem  III.  und  IV.  Buche  aussprach*),  ohne 
daß  der  geringste  Beweis  die  Wahrheit  des  Ausgesprochenen  be- 
stätigte. Dann  sagt  er^),  er  wolle  das  bisher  wörtlich  aus  Euklid 
Übersetzte  teilweise  wiederholen,  um  in  der  Beleuchtung  einzelner 
Beispiele  dem  Leser  Freude  zu  bereiten.  Wesentlich  aus  dieser  Stelle 
ist  der  Schluß  gezogen  worden^),  die  Vorlage  des  Boethius  sei  selbst 
schon  ein  recht  dürftiger  griechischer  Auszug  aus  den  Elementen  ge- 
wesen, und  dieser  Meinung  schließen  wir  uns  an.  Was  alsdann 
Boethius  als  seine  Zusätze  liefert,  ist  freilich  eigentümlicher  Art. 
Es  ist  die  Auflösung  der  drei  Aufgaben:  über  einer  gegebenen  Strecke 
ein  gleichseitiges  Dreieck  zu  beschreiben;  von  einem  gegebenen 
Punkte  aus  eine  Gerade  von  gegebener  Länge  zu  ziehen;  von  einer 
größeren  Strecke  eine  kleinere  abzuschneiden.  Das  sind  die  drei 
ersten  Sätze  des « I.  Buches  der  Elemente,  und  der  Text  stimmt  fast 
wörtlich  mit  dem  Euklidischen  überein.  Welcher  wirklichen  Euklid- 
ausgabe Boethius  diese  Stücke  entnahm,  das  können  wir  nicht  ent- 
scheiden. Die  Annahme^),  es  sei  die  Theonsche  Ausgabe  gewesen, 
und  Boethius  habe  den  Euklid  nur  für  den  Erfinder  der  Sätze, 
Theon  dagegen  für  den  der  Beweise  gehalten,  die  um  so  unbedenk- 
licher zu  entnehmen  seien,  hat  jedoch  viel  für  sich.  Jedenfalls  hat 
er  ohne  weiteres  sein  genannt,  was  nur  aus  einer  anderen  Quelle 
stammte,  als  das  unmittelbar  vorher  Übersetzte,  eine  Unbefangenheit, 
welche  bei  Boethius  fast  als  schriftstellerische  Eigentümlichkeit 
gelten   kann,   wie   sein    Werk   über   die  Tröstungen    beweist^).     An 

')  Incipit  geometria  Euclidis  a  Boetio  in  latinum  lucidius  transkUa  (ed. 
Friedlein,  pag.  378).  *)  Eine  genauere  Yergleichung  bei  Weißenborn  1.  c. 
S.  196  und  204.  »)  BoetiuB  (ed.  Friedlein)  pag.  389,  18  —  23.  *)  Von 
H.  Th.  Martin.      •)  Weißenborn  1.  c.  S.  206flgg.     •)  ÜBener  1.  c.  pag.  61—62. 


Die  spätere  mathematigche  Literatur  der  Römer.  583 

die  drei  Aufgaben  schließt  sich  nun  die  merkwürdige  Stelle  an^): 
^,Doch  es  ist  Zeit  zur  Mitteilung  der  geometrischen  Tafel  über- 
zugehen^ welche  von  Architas^  einem  nicht  gemeinen  Schriftsteller 
dieser  Wissenschaft  für  Latium  zurecht  gemacht  wurde,  wenn  ich 
zuerst  wieviele  Gattungen  von  Winkeln  und  Linien  es  gebe  voraus- 
geschickt und  weniges  über  Flächen  und  Grenzen  gesagt  haben 
werde."  Er  erfüllt  letzteres  Versprechen  wieder  durch  einige  De- 
finitionen und  kommt  dann  zu  der  berühmt  gewordenen  Stelle  vom 
Abacus. 

Fingerzahlen,  digiti,  wurden  nach  ihm  von  den  Alten  alle 
Zahlen  unterhalb  der  ersten  Grenze,  limes,  d.  h.  bis  9  genannt'). 
Gelenkzahlen,  articuli,  heißen  die  Zahlen,  welche  in  der  Ordnung 
der  Zehner  und  so  fort  ins  Unendliche  sich  befinden.  Zusammen- 
gesetzte Zahlen  sind  alle  zwischen  der  ersten  Grenzzahl  10  und 
der  zweiten  Grenzzahl  20  gelegenen  und  die  übrigen  der  Reihe  nach 
mit  Ausnahme  der  Grenzzahlen  selbst.  Diese  nebst  den  Fingerzahlen 
heißen  nichtzusammengesetzt,  incompositi^). 

Er  fahrt  dann  fort:  „Männer  von  alter  Einsicht,  welche  der 
pythagoräischen  Schule  angehören,  und  als  Forscher  über  platonische 
Weisheit  mit  merkwürdigen  Spekulationen  sich  beschäftigen,  haben 
den  Gipfelpunkt  der  ganzen  Philosophie  in  die  Eigenschaften  der 
Zahlen  gesetzt.  In  der  Tat,  wer  wird  die  Masse  des  musikalischen 
Einklangs  verstehen,  wenn  er  glaubt,  sie  hingen  nicht  mit  Zahlen 
zusammen?  Wer  wird  unbekannt  mit  der  Natur  der  Zahlen  die  aus 
Sternen  zusammengesetzten  Sternbilder  der  Himmelsfeste  erkennen 
oder  den  Aufgang  und  Untergang  der  Thierzeichen  erfassen?  Was 
endlich  soll  ich  von  der  Arithmetik  und  Geometrie  sagen,  die  selbst 
nicht  in  nichtnennenswerter  Gestalt  erscheinen,  so  wie  die  Eigen- 
schaften der  Zahlen  verloren  gehen?  Doch  davon  ist  in  der  Arith- 
methik  und  in  der  Musik  zur  Genüge  die  Bede  gewesen,  kehren  wir 
daher  zu  dem  zurück,  was  jetzt  zur  Sprache  kommen  soll.  Die 
Pythagoräer  haben  sich,  um  bei  Multiplikationen,  Divisionen  und 
Messungen  nicht  in  Irrtümer  zu  verfallen  (wie  sie  in  allen  Dingen 
voller  Feinheiten  und  Einfälle  waren)  einer  gewissen  gezeichneten 
Figur  bedient,  welche  sie  ihrem  Lehrer  zu  Ehren  die  pythagoräische 
Tafel,  mensa  Pythagorea,  nannten,  weil  die  ersten  Lehren  in  den  so 
dargestellten  Dingen  von  jenem  Meister  ausgegangen  waren.  Von 
den  Späteren  warde   die  Figur  Abacus  genannt.     Sie  beabsichtigten 


*)  Boetius  (ed.  Friedlein)  pag.  393,  6—10.  *)  Die  Engländer  nennen 
in  ihren  Lehrbüchern  der  Rechenkunst  heute  noch  die  Einer  digits.  ')  Boetius 
(ed.  Friedlein)  pag.  395,  3—16. 


584  27.  Kapitel. 

damit  das,  was  tiefsinnig  erdacht  worden  war^  leichter  znr  all- 
gemeinen Kenntnis  zu  bringen,  wenn  man  es  gewissermaßen  vor 
Augen  sähe  und  gaben  der  Figur  die  hier  folgende  merkwürdige 
Gestalt"!). 

Wir  haben  diese  ganze  Stelle  wörtlich  aufgenommeu,  um  jeden 
Zweifel  verschwinden  zu  lassen,  wie  Boethius,  der  sich  hier  wieder- 
holt auf  seine  früheren  Schriften  bezieht,  über  den  Ursprung  der 
von  ihm  gezeichneten  Figur  denkt:  es  ist  eine  pythagoraische  Erfin- 
dung, aber  freilich  keine  altpythagoräische,  denn  sonst  würde  nicht 
der  Forschungen  über  platonische  Weisheit  jener  Angehörigen  der 
pythagoräischen  Schule  gedacht  sein  können.  Also  Neuplatoniker 
oder  vielleicht  Neupythagoraer  haben  nach  der  Ansicht  unseres 
Schriftstellers  die  Figur  gebildet,  welche  zuerst  Tafel  des  Pythagoras, 
dann  Abacus  genaimt  wurde.  Sie  wurde  Abacus  genannt,  unter- 
schied sich  mithin  von  dem  früher  als  solcher  vorhandenen  Rechen- 
brette, und  der  Unterschied  liegt  in  der  Art  der  Benutzung. 

Kolumnen,  feste  oder  gezeichnete,  hatten  zwar  auch  die  alten 
und  ältesten  Rechenbretter,  aber  deren  Ausfüllung  beim  Rechnen 
erfolgte  mittels  Marken,  deren  jede  die  Einheit  der  betreflFenden  der 
Kolumne  oder  der  Kolumnenabteilung  angehörenden  Rangordnung 
bezeichnete.  Jetzt  war  eine  wesentliche  Änderung  eingetreten. 
„Man  hatte  Apices  (Kegelchen?)  oder  Charaktere  von  verschiedener 
Gestalt"«). 

Jede  dieser  Marken  war  mit  einer  Bezeichnung  versehen,  welche 
ihr  den  Wert  einer  der  neun  Fingerzahlen  beilegte,  und  diese  Be- 
zeichnung wird  nun  im  fortlaufenden  Texte  genau  so  abgebildet  wie 
es  auf  dem  vorher  gezeichneten  Abacus  der  Fall  war.  Damit  ist 
also  widerspruchslos  bewiesen,  daß  die  Zeichen  gleichen  Alters  und 
gleichen  Ursprunges  wie  der  sie  umgebende  Text  sind,  und  nicht 
erst  nachträglich  auf  die  vorher  von  derartigen  Zeichen  freigewesene 
Tafel  eingeschmuggelt  werden  konnten.  Wohl  aber  wäre  es  mög- 
lich, daß  es  sich  so  mit  gewissen  eigentümlichen  Wörtern  ver- 
hielte, die  nicht  im  Texte,  sondern  einzig  und  allein  auf  der  Figur 
sich  finden. 

Wir  würden  der  ganzen  Untersuchung  einen  selbst  für  die 
Wichtigkeit,  welche  ihr  innewohnt,  unverhältnismäßig  großen  Raum 
widmen  müssen,  wenn  wir  fortführen  wörtlich  zu  übersetzen  oder 
gar  zu  erläutern.  Wir  wollen  nur  kurz  berichten,  daß  Regeln  der 
Multiplikation  und    der  Division  nachfolgen,  jene  breiter  und  deut- 


*)  Boetiufl  (ed.  Friedlein)  pag.  396,  26—896,  16.        *)  Ebenda  pag.  897, 
2  —  3. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  585 

lieber  angelegt,  diese  dankler,  wie  der  Verfasser  selbst  fablt,  wenn 
er  sagt:  ,,Ist  es  irgendwie  dunkel  gebalten,  so  müssen  wir  dem 
fleißigen  Leser  die  Einübung  überlassen^' ^).  Bei  der  Multiplikation 
kommen  die  Einzelfalle  zur  Spracbe,  welcbes  Produkt  also  entstebe, 
wenn  Zebner  mit  Hunderten,  mit  Tausenden  usw.  vervielfacbt  werden. 
Bei  der  Division  erscbeint  die  komplementäre  Divisionsmetbode, 
von  der  ankündigend  (S.  528)  die  Rede  war.  Das  Komplement,  die 
Differentia  des  Boetbius,  ist  die  Zabl,  um  welcbe  ein  Divisor 
kleiner  ist  als  die  näcbste  nicbtzusammengesetzte  Zabl,  letzteres  Wort 
in  dem  oben  definierten  Sinne  genommen.  Der  Divisor  16  z.  B.  bat 
bis  zu  20  die  DiflFerenz  4,  der  Divisor  78  bis  zu  80  die  Diflferenz  2, 
der  Divisor  623  bätte  bis  zur  näcbsten  nicbtzusammengesetzten  Zabl 
700  die  Differenz  77.  Nun  wird  mit  dem  vergrößerten  Divisor  divi- 
diert, und  jedesmal  dem  Reste  das  Produkt  des  Quotienten  in  die 
Differenz  ergänzend  wieder  beigefügt,  bis  man  fertig  ist.  Man  wird 
leicbt  erkennen,  daß  diese  Metbode,  wenn  aucb  mebr  Teildivisionen 
als  die  gewöbnlicbe  erfordernd,  weit  zuverlässiger  ist,  weil  bier,  wo 
mit  einer  einfacben  Zabl  die  Teildivision  vorgenommen  wird,  niemals 
der  Fall  eintreten  kann,  daß  irrtümlicb  ein  zu  großer  Quotient  an- 
gesetzt würde.  Eine  etwas  abgeänderte  Anordnung  der  komplemen- 
tären Division  tritt  ein,  wenn  der  Divisor  aus  Hundertern  und 
Einern  bestebt.  Man  soll  alsdann  die  Einer  des  Divisors  zunäcbst 
unberücksicbtigt  lassen,  dagegen  aucb  vom  Dividenden  eine  Einbeit 
böcbster  Ordnung  beiseite  lassen,  damit  nacbtzüglicb  das  Produkt  des 
Quotienten  in  die  Einer  des  Divisors  bis  zu  jener  Einbeit  ergänzt 
und  die  Ergänzung  dem  erstgewonnenen  Divisionsreste  beigefügt 
werde. 

Fragen  wir  nun  wiederbolt,  wober  diese  Dinge  stammen  mögen, 
so  sollte  man  vermuten,  wir  würden  in  erster  Linie  die  auf  den 
Apices  befindlicben  Zablzeicben  über  ibren  Ursprung  befragen.  Wir 
werden  diese  Frage  jedocb  erst  im  33.  Kapitel  stellen.  Jetzt  be- 
merken wir,  daß  die  Apices  selbst  ungemein  an  die  Pytbmenes  oder 
Stammzablen  des  ApoUonius  erinnern,  und  das  Multiplizieren  der  ver- 
scbiedenen  Rangordnungen  an  die  von  jenem  gegebenen  Einzelvor- 
Bcbriften  (S.  347 — 348).  Ein  Fortscbritt  ist  ja  in  der  Benutzung  der 
Apices  unbedingt  entbalten,  aber  docb  ein  solcber,  den  wir  späteren 
Alexandrinern  zutrauen  dürfen.  Ob  das  Divisionsverfabren  Erfindung 
eines  Römers  war?  Wir  wissen  es  nicbt,  wenn  aucb  unser  ßefübl 
sieb  dagegen  sträubt,  einen  römiscben  Geist  als  so  erfinderiscb  in 
matbematiscben  Dingen  annebmen  zu  sollen.    Wir  können  nur  wieder- 


*)  Boetius  (ed.  Friedlein)  pag.  400,  28—30. 


586  27.  Kapitel. 

holt  auf  die  Dinge  hinweisen,  welche  wir  zur  komplementären  Multi- 
plikation (S.  528)  in  Beziehung  gesetzt  haben,  daß  subtraktive 
Zeichen  entschieden  römisch  sind,  daß  von  Nikomachus  mutmaßlicli 
RechnungSYorteüe  gelehrt  wurden,  welche  dem  komplementären  Ver- 
fahren ähneln.  Boethius  selbst,  beziehungsweise  der  unter  dem  Namen 
des  Boethius  Schreibende,  scheint  alles  einer  und  derselben  Vorlage 
entnommen  zu  haben,  einem  lateinisch  schreibenden  Architas. 
Auch  von  diesem  soll  erst  weiter  unten  die  Rede  sein,  wenn  wir  die 
Geometrie  des  Boethius  zu  Ende  besprochen  haben. 

Jetzt  nämlich,  nachdem  das  Rechnen  d.  h.  Multiplizieren  und 
Dividieren  gelehrt  worden,  kommt  der  Verfasser  zum  zweiten  Buche 
und  in  ihm  zur  rechnenden  Geometrie,  zu  welcher  der  Abschnitt 
vom  Abacus  eine  Einleitung  bildete,  vielleicht  nach  dem  entfernten 
Muster  des  Nikomachus  (S.  564).  Wir  finden  uns  auf  völlig  be- 
kanntem Boden.  Wir  haben  die  Geometrie  der  römischen  Feld- 
messer vor  uns,  in  einigen  Dingen  wieder  etwas  tiefer  gesunken  und 
von  den  wenigst  genauen  heronischen  Vorschriften  Gebrauch  machend. 
So  z.  B.  finden   wir   die  Flächenberechnung   des  gleichseitigen  Drei- 

17 
ecks^)   durch  die  nicht  verstandene  Formel  öt*  — äö^*-      ^^^  finden 

Gebrauch  gemacht  von  der  schlechten  Annäherung  zur  Fläche  eines 
unregelmäßigen  Vierecks^)  durch  Bildung  des  Produktes  der  arith- 
metischen Mittel  von  je  zwei  einander  gegenüberliegenden  Seiten. 
Auch  die  Vieleckszahlen  als  Vielecksfiächenräume  kommen  hier  vor. 
Bei  dem  Achtecke  ist  nur  die  aus  zwei  Quadraten  verschränkte 
Figur  gezeichnet.  Bei  dem  Fünfeck  und  Sechseck  sind  falsche 
Formeln  angewandt.  Dagegen  ist  hier  die  deutliche  Spur  der  all- 
gemeinen Formel  für  die  rte  weckszahl  vorhanden,  welche  wir  bei 
Epaphroditus  (S.  557)  nur  mutmaßten  •).  Die  Vorlage  für  dieses 
zweite  Buch  scheint  im  allgemeinen  Frontinus  verfaßt  zu  haben*). 
Als  Ausnahme  wohl  ist  der  Satz  vom  Durchmesser  des  Innenkreises 
des  rechtwinkligen  Dreiecks  (S.  556)  dem  Architas  zugeschrieben, 
nachdem  er  vorher  durch  Euklid  hiazuerfunden  worden  sei^). 

Auf  eben  diesen  Architas  bezieht  sich  Boethius  noch  einmal 
zum  Schlüsse  des  zweiten  Buches,  um  nach  den  Regeln  der  rechnen- 
den Geometrie  die  Bruchrechnung  zu  erörtern.  Die  ganze  Stelle 
gehört  samt  der  Tabelle,  welche  ihr  beigefügt  ist,  noch  immer  zu 
dem  Dunkelsten,  was  man  besitzt.  Nur  eins  ist  einleuchtend:  warum 
nämlich  gerade  am  Schlüsse  der  Geometrie  diese  Lehre  vorgetragen 

»)  BoetiuB  (ed.  Friedlein)  pag.  404,  14—405,  10.  «)  Ebenda  pag.  417, 
16—28.  ")  Ebenda  pag.  428,  1—7.  *)  Ebenda  pag.  402,  27—403,  2  und  428, 
16—19.     «)  Ebenda  pag.  412,  20—413,  9. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  587 

wird*).  Das  geschieht  und  muß  geschehen,  weil  nunmehr  die  Astro- 
nomie folgte,  in  welcher  Bruchrechnungen  in  größter  Menge  not- 
wendig wurden.  Wie  der  Abacus  zwischen  den  beiden  Büchern  der 
Geometrie  den  Übergang  von  der  eigentlichen  theoretischen  Geo- 
metrie zur  Feldmeß  Wissenschaft  bildete,  so  bildet  jetzt  die  Bruch- 
rechnung den  weiteren  Übergang  zu  den  uns  verloren  gegangenen 
Büchern  der  Astronomie.  Es  zeigt  sich  somit,  daß  die  Geometrie 
des  Boethius  nach  vorwärts  und  rückwärts  Beziehungen  zu  den  drei 
anderen  mathematischen  Schriften  desselben  Verfassers  darbietet. 

Es  ist  daher  nur  eine  einzige  Wahl  gestellt:  entweder  die  ganze 
Geometrie  des  Boethius  mit  dem  Inhalte,  über  welchen  wir  berichtet 
haben,  ist  echt  oder  aber  sie  ist  das  Werk  eines  Fälschers,  der 
mit  vollbewußter  Absicht  den  Anschein  sich  gab,  als  sei  er 
Boethius.  Man  hat  diese  letztere  Meinung  zu  verteidigen  gewußt^ 
und  sich  dabei  auf  Einzelheiten  gestützt.  Man  hat  nämlich  zu  zeigen 
gesucht,  daß  die  Redeweise  der  Arithmetik  zu  der  der  Geometrie 
in  Widerspruch  stehe,  daß  somit  wenn  erstere  von  Boethius  herrühre, 
letztere  nur  untergeschoben  sein  könne.  Solche  Widersprüche  sind, 
wir  geben  es  zu,  vorhanden,  aber  sie  sind  ganz  von  der  gleichen 
Natur  wie  derjenige,  welchen  wir  (S.  435)  bei  Theon  von  Smyma 
nachzuweisen  imstande  waren,  der  sich  in  einem  und  demselben 
Werke  nicht  scheut  die  Einheit  keine  Zahl  zu  nennen  und  als  Zahl 
zu  benutzen.  Will  man  Boethius  dessen  t^r  unfähig  halten,  so  muß 
man  seine  geistige  Bedeutung  zu  einer  Höhe  hinaufschrauben,  auf 
welche  er  nach  unserer  wiederholt  ausgesprochenen  Überzeugung 
nie  gelangte.  Wir  geben  femer  zu  bedenken,  daß  man  zur  Möglich- 
keit einer  Fälschung,  die  spätestens  im  XL  S.  vollzogen  worden  sein 
mußte  —  denn  aus  dieser  Zeit  rühren  unsere  ältesten  Handschriften, 
welche  die  Stelle  vom  Abacus  enthalten,  her  —  anzimehmen  ge- 
zwungen ist,  daß  damals  bereits  die  echte  Geometrie  des  Boethius 
verloren  gegangen  war,  trotz  der  übertriebenen  Wertschätzung,  die 
man  dem  Manne  zu  zollen  nie  aufgehört  hatte,  oder  daß  man  falls 
solches  nicht  stattfand  Wahrscheinlichkeitsgründe  dafür  geltend  zu 
machen  hätte,  warum  nur  Abschriften  der  gefälschten  Geometrie  und 
daneben  keine  der  echten  sich  erhielten. 

Wir  denken  nicht  daran,  femer  unserer  früher  lange  festgehal- 
tenen Meinung  von  der  Echtheit  der  Geometrie  des  Boethius  anzu- 
haften,  nachdem    die  gewiegtesten  Kenner   des  Mittelalters,   die   am 


')  Math.  Beitr.  Kultorl.  S.  228—229.  *)  Zuletzt  und  am  scharfsinnigsten 
Weifienborn  in  der  schon  wiederholt  angeführten  Abhandlung  „Die  Boetius- 
frage'\ 


588  27.  Kapitel. 

meisten  damit  vertraut  sein  müssen^  was  man  jener  Zeit  an 
Fälschungen  zumuten  darf,  die  entgegengesetzte  Meinung  als  einzig 
mögliche  hingestellt  haben ^)y  aber  eines  dürfen  wir  betonen:  das 
Schlußergebnis  ist  und  bleibt,  daß  der  Verfasser  der  sogenannten 
Geometrie  des  Boethius,  der  Fälscher,  wie  man  ihn  unter  dieser 
Voraussetzung  zu  nennen  hat,  wesentlich  feldmesserische  Quellen  be- 
nutzt haben  muß,  daß  er  auf  dem  Boden  griechischer  Bildung  steht, 
und  somit,  wenn  auch  unter  Herabrückung  der  Zeit,  in  welcher  seine 
Schrift  entstanden  ist,  für  die  Geschichte  späterer  römischer  Mathe- 
matik Verwendung  finden  darf. 

Gehen  wir  nach  dieser  Zwischenbemerkung  noch  einmal  und  mit 
vermehrter  Sicherheit  zum  I.  Buche  der  Geometrie  des  Boethius 
zurück,  und  zwar  zu  der  Stelle,  wo  die  Übersetzung  des  Auszuges 
aus  den  Elementen  des  Euklid  aufhört.  Die  letzten  Sätze,  die  aus- 
gesprochen sind,  lauten*):  „Um  einen  gegebenen  Kreis  ein  gleich- 
seitiges und  gleichwinkliges  Fünfeck  zu  zeichnen  lehren  die  Geo- 
meter.  In  einen  gegebenen  Kreis  ein  Fünfeck  zu  zeichnen,  welches 
gleichseitig  und  gleichwinklig  sei,  ist  nicht  unpassend."  Die  Fort- 
setzung wagen  wir  nicht  zu  übersetzen.  Sie  begründet  die  unmittel- 
bar hervorgehende  Behauptung  mittels  gewisser  auf  das  Verhältnis 
von  Zahlen  herauskommenden  Rücksichten,  aus  denen  wir  einen 
guten  Sinn  nicht  mit  Sicherheit  zu  entnehmen  vermögen.  Gleichwohl 
ist  an  der  Echtheit  der  floskelhaften  Begründung  nicht  zu  zweifeln, 
da  sie  sich  wortgetreu  in  28  darauf  hin  untersuchten  Handschriften, 
die  in  anderen  Punkten  Unterschiede  gegeneinander  zeigen,  wieder- 
findet'). Dagegen  hat  keine  dieser  Handschriften  eine  Figur  damit 
verbunden,  während  die  älteren  Druckausgaben  der  Geometrie  des 
Boethius,  wir  wissen  nicht  aus  welcher  Quelle*),  ein  in  den  Kreis 
eingezeichnetes  regelmäßiges  Fünfeck  mit  seinen  sämtlichen  fünf 
Diagonalen  beigegeben  haben.  Zumeist  aus  dieser  nichts  weniger 
als  authentischen  Figur  hat  man  einen  Sinn  jener  dunkeln  Worte 
abgeleitet,  als  wenn  neben  dem  gewöhnlichen  Fünfeck  das  Stern- 
fünfeck  beschrieben  werden   sollte*),   welches  Boethius   danach   ge- 

*)  Wir  Yerweisen  für  ihre  Begründung  wiederholt  auf  Heiberg  im  Phüo- 
logus  XLIU,  607— ;619.  *)  BoetiuB  (ed.  Friedlein)  pag.  389,  8—16:  Circum 
datum  drculum  quinquangulum  aequilaterum  et  aequiangulum  designare  geometres 
praecipitmt  Intra  datum  drculum  quinquangulum,  quod  est  aequilaterum  atque 
aequiangulum  designare  non  disconvenit.  Nam  omnia,  quaecunque  ennt,  nume- 
rorum  ratione  sua  constant  et  proportianahUiter  alii  ex  aliis  constituuntur  circum- 
ferentiae  aequalitate  muüiplicationibus  suis  quidem  excedentes  atque  altematim 
poriionibus  suis  terminum  facientes,  ')  Boncompagni  im  BuÜettino  Boncom- 
pagni  1873,  841  —  856.  *)  Etwa  aus  einem  griechischen  Euklid  lY,  11? 
*)  ChasleB,  Apergu  hist.  477,  deutsch  645—646. 


Die  spätere  mathematische  Literatur  der  Römer.  589 

kannt  haben  würde.  Wir  sind  gegenwärtig  nicht  geneigt  diese  Mei- 
nung aufrecht  zu  halten.  Nicht  als  ob  es  uns  unmöglich  schiene^  daß 
Boethius  das  schon  alte  Stemfünfeck  gekannt  hätte^  aber  wir  trauen 
ihm  so  wenig  Geometrie  zu,  daß  er  wohl  nicht  aus  eigenen  Gedanken 
das  Pentagramm  mit  dem  regelmäßigen  Sehnenfönfeck  in  Verbindung 
brachte  und  bei  Euklid  konnte  er  entschieden  keine  Anregung  dazu 
erhalten,  weder  in  dem  Auszuge  noch  in  dem  vermeintlichen  Kom- 
mentare des  Theon.  Dort  fand  er  höchstens,  daß  die  Winkel  eines 
aus  zwei  Diagonalen  und  einer  Fünfecksseite  gebildeten  Dreiecks  sich 
wie  1:2:2  rerhalten,  und  das  soll  möglicherweise  in  den  dunkeln 
Worten  ausgesprochen  sein. 

Wir  kommen  ferner  auf  ein  Anderes  zurück,  wovon  erst  an- 
deutungsweise die  Rede  war.  Architas,  ein  nicht  gemeiner  Schrift- 
steller dieser  Wissenschaft,  hat  nach  dem  sogenannten  Boethius  die 
geometrische  Tafel,  d.  h.  den  Kolumnenabacus  mit  seinen  Kegelchen, 
für  Latium  zurecht  gemacht.  Wer  war  dieser  Architas,  welcher  in 
dem  Zwischenstücke  zwischen  dem  I.  und  IT.  Buche  und  in  dem 
IL  Buche  der  Geometrie,  im  ganzen  an  fünf  Stellen^)  genannt  ist: 
füt  die  geometrische  Tafel  und  für  die  Bruchrechnung;  für  den  Satz 
vom  Durchmesser  des  Innenkreises  des  rechtwinkligen  Dreiecks  und 
für  die  Bildung  rationaler  Seiten  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  von 
der  geraden  Zahl  ausgehend,  also  für  die  Methode,  welche  sonst 
Haton  zugeschrieben  wird;  endlich  für  eine  falsche  Berechnung  der 
Fläche  eines  Dreiecks  als  doppeltes  Quadrat  seiner  Höhe?  Auch  hier 
stehen  zwei  Meinungen  einander  gegenüber.  Die  einen  halten  Archi- 
tas für  den  alten  tarentiner  Pythagoräer,  auf  welchen  die  Überliefe- 
rung gar  vieles  mit  Recht  und  mit  Unrecht  zurückgeführt  habe,  und 
welcher  auch  in  der  Arithmetik  und  in  der  Musik  des  Boethius  mehr- 
fach vorkam,  so  daß  Boethius  oder  der  sein  wollende  Boethius  ihn 
anzuführen  Gründe  hatte.  Die  anderen  meinen  Architas,  der  lateinisch 
schrieb,  der  nach  der  Stelle  vom  Kreisdurchmesser  später  als  Euklid 
gelebt  habe,  könne  nicht  der  Tarentiner  sein.  Es  sei  vielmehr  ein 
römischer  Schriftsteller,  ein  Feldmesser  oder  dergleichen  gewesen,  der 
alsdann  sicherlich  vor  Verfassung  der  Geometrie,  in  welcher  er  ge- 
nannt ist,  aber  unbestimmt  wann  gelebt  haben  muß.  Mit  dieser 
Annahme  ist  die  Geschichte  der  Mathematik  bei  den  Römern  um 
einen  Namen  reicher,  um  den  Architas  Latinus,  aber  die  Schriften 
des  Mannes  bleiben  auch  denen,  die  an  ihn  glauben,  unbekannt. 

Wir  selbst  zählten  früher  zu  den  letzteren,  sind  aber  durch  eine 
neuere  Entdeckung   zur  entgegengesetzten  Meinung  bekehrt  worden. 


1)  BoetinB  (ed.  Friedlein)  pag.393,7;  408,14;  412,  20;  413,22;  425,23. 


590  27.  Kapitel. 

Man  hat  nämlich  bemerkt  ^)^  daß  der  so  auffallende  Ausdrack  non 
sordidus  auctor,  der  von  Architas  gebraucht  wird,  von  Horatius  in 
seiner  Ode  auf  Archytas  von  Tarent  angewandt  wurde*),  daß  mithin 
nur  eine  Erinnerung  an  diesen  bekannten  Vers  in  jenem  Ausdrucke 
zu  finden  ist,  und  diese  ist  undenkbar,  wenn  nicht  die  Persönlichkeit^ 
von  der  die  Bede  ist,  die  gleiche  wäre.  Die  Schwierigkeit,  daß  Architas 
nach  Euklid  gesetzt  wird,  löst  sich  durch  die  seit  der  Zeit  des 
Kaisers  Tiberius  (S.  261)  übliche  Verwechslung  des  Mathematikers 
Euklid  mit  Euklides  von  Megara,  der  ein  älterer  Zeitgenosse  des 
Archytas  von  Tarent  wirklich  war.  Ob  endlich  die  platonische  Formel 
für  rationale  rechtwinklige  Dreiecke  nicht  wirklich  ursprünglich  dem 
Archytas  angehörte,  ist  eine  Frage,  deren  Verneinung  nicht  durch 
zwingende  Gründe  gefordert  wird.  Wenn  wir  also  gegenwärtig  an- 
nehmen, ein  Architas  Latinus  als  Persönlichkeit  sei  aus  der  Geschichte 
zu  streichen,  wenn  die  Meinung,  Boethius  habe  lateinisch  zugestutzte 
Schriften  des  Tarentiners  vor  sich  gehabt,  als  er  die  Worte  Lotio 
accommodaiam^)  gebrauchte,  daran  strandet,  daß  nie  und  nirgend  die 
leiseste  Spur  einer  solchen  Bearbeitung  nachzuweisen  ist,  so  bleibt 
die  fortgesetzte  Berufung  auf  Architas  für  uns  diejenige  Klippe,  von 
der  aus  wir  am  leichtesten  zur  Fälschungstheorie  gelangen. 

Wir  haben  nun  von  einigen  bekannten  Schriften  völlig  unbe- 
kannter Verfasser  zu  reden.  Der  älteste  von  ihnen  wird  vermutlich 
derjenige  sein,  den  vrir  anderwärts  den  Anonymus  yon  Chartres 
genannt  haben  ^),  den  man  auch  wohl  für  Julius  Frontinus  gehalten 
hat.  Bei  ihm  tritt  die  Dreiecksberechnung  aus  den  drei  Seiten  nach 
der  sogenannten  heronischen  Formel  auf,  bei  ihm  die  Formel  für 
rationale  Seiten  rechtwinkliger  Dreiecke,  bei  ihm  der  Satz  vom  Innen- 
kreise des  rechtwinkligen  Dreiecks,  bei  ihm  die  Berechnung  der 
Kugeloberfläche  gleich  der  vierfachen  Fläche  des  größten  Kreises,  bei 
ihm  das  Verhältnis  22 : 7  des  Kreisumfangs  zum  Durchmesser,  kurzum 
richtige  Dinge,  welche  den  Verfasser  wohl  noch  mehr  als  die  bei 
ihm  gerühmte  Latinität  in  die  Blütezeit  römischer  Feldmeßwissen- 
schaft hinaufrücken,  während  der  Römer  an  den  als  Flächenformeln 
benutzten  Formeln  für  Vieleckszahlen  mitten  zwischen  geometrischen 
Betrachtungen  kenntlich  bleibt. 

Ein  anderes  Stück,  in  demselben  Sammelbande  in  Chartres  ent- 
halten,  aber   wohl    nicht   von   dem   Anonymus    verfaßt*),    hat    eine 


*)  AUman,  Greek  Geometry  from  Thaies  to  Euclid  pag.  110.  •)  Horatius» 
Lib.  I,  Ode  28:  iudice  te  non  sordidus  auctor  naturae  verique.  *)  Boetius 
(ed.  Friedlein)  pag.  393,  8,  *)  Agrimensoren  8.  132.  Vgl.  Chasles,  Äpergu 
hist.  457 — 469,  deutsch  617  ügg.  *)  Das  hat  Weißenborn  1.  c.  S.  223  gegen  uns» 
mit  Berufung  auf  Chasles,  den  wir  hierin  mißverstanden  hatten,  mit  Recht  betont. 


Die  spätere  mathematiBche  Literatur  der  Römer.  591 

Abhandlung  über  das  Abacnsrecbnen  zum  Inhalte,  welche  der  des 
Boethius  sehr  ähnlich  ist,  aber  noch  weniger  als  die  Geometrie  des 
Anonymus  sich  datierungsfähig  erweist. 

Eine  andere  geometrische  des  Namens  ihres  Verfassers  ent- 
behrende Schrift  ist  diejenige,  welche  die  Überschrift  führt:  Von  der 
Ausmessung  der  Jucharte,  de  iugeribus  metiundis.  Sie  ist  in 
der  sogenannten  Qudianischen  Handschrift  der  Wolfenbüttler  Biblio- 
thek enthalten,  mithin  im  IX.  bis  X.  S.  jedenfalls  vorhanden  ge- 
wesen^). Mehr  wissen  wir  nicht  zu  sagen.  Der  Verfasser,  zu  seiner 
Zeit  vielleicht  als  großer  Mathematiker  anerkannt,  hat  unverstandene 
Bruchstücke  aus  den  verschiedensten  Vorlagen  vereinigt,  alte  Mängel 
getreu  übernehmend,  neue  hinzufügend.  Wir  haben  nicht  nötig  auf 
dieses  bunte  Allerlei  einzugehen,  nur  das  wollen  wir  uns  bemerken, 
daß  die  Vierecksfläche  als  Produkt  der  arithmetischen  Mittel  gegen- 
überstehender Seiten  erhalten  wird,  daß  sogar  der  Ereis  quadratisch 
gedacht  ist,  indem  dessen  Fläche  sich  aus  der  Vervielfältigung  des 
vierten  Teiles  des  Umfanges  mit  sich  selbst  bildet.  Es  ist  ja  nicht 
schwer,  in  den  laienhaften  Gedanken  sich  zurückzuversetzen,  welcher 
den  Kreis  als  krummliniges  Viereck  mit  den  vier  Quadranten  als 
Seiten  auffaßte  und  weiter  annahm,  die  Fläche  verändere  sich  nicht, 
wenn  nur  die  Seitenlängen  dieselben  bleiben  (S.  549),  man  habe  also 
nur  eben  jene  Kreisquadranten  als  Gerade  rechtwinklig  aneinander 
zu  setzen,  um  die  Quadratur  des  Kreises  zu  vollziehen.    Mathematisch 

gesprochen  lief  dieses  Verfahren  vermöge    \—t-)    =•  ^r*    auf   ;r  =  4 

hinaus,  oder  darauf  den  Kreisdurchmesser  dem  vierten  Teile  des  Kreis- 
umfanges  gleich  zu  setzen.  Gerade  dieses  so  «ungenaue  Verhältnis 
zwischen  Kreisumfang  und  Durchmesser  wird  uns  nötigen  der  das- 
selbe enthaltenden  Schrift  noch  einmal  zu  gedenken,  wenn  wir  mit 
den  mittelalterlichen  Schriftstellern  uns  beschäftigen,  zu  welchen  dieser 
weise  Anonymus  jedenfalls  hinüberführt,  vielleicht  gehört. 

Für  jetzt  verlassen  wir  den  europäischen  Boden.  Wir  müssen 
unter  allen  Umständen  zusehen,  was  in  der  Heimat  älterer  Kultur, 
in  Asien,  aus  der  Mathematik  geworden  ist,  und  daß  wir  gerade  diesen 
Augenblick  dazu  wählen,  jene  Umschau  zu  halten,  hat  seinen  voll- 
wichtigen Grund.  Wir  haben  in  diesem  Kapitel  immer  deutlicher 
den  Untergang  geometrischen  Verständnisses  bei  römischen  Schrift- 
stellern verfolgt.  Wir  haben  zu  unserem  Erstaunen  daneben  die 
Überbleibsel  einer  entwickelteren  Rechenkunst  erscheinen  sehen,  ver- 
bunden mit  Zahlzeichen,  aus  welchen,  wie  wir  jetzt  verraten  wollen, 
die   gegenwärtig  in  Europa  gebräuchlichen  als  bloße  Umformungen 

^)  AgrimenBoren  S.  136—138. 


592  27.  Kapitel. 

sich  herleiten  lassen.  Wir  haben  die  Vermutung  durchblicken  lassen, 
jene  Rechnungsweisen  könnten  yielleicht  griechischen  Ursprunges  sein. 
Nach  Griechenland,  nach  dem  geistigen  Mittelpunkte  griechischer 
Mathematik  in  Alexandria  würden  wir  daher  versuchen  müssen  auch 
jene  Zeichen  rückwärts  zu  verfolgen,  wenn  nicht  laute  Einsprache  zu 
gewärtigen  wäre. 

Die  Anfechter  der  Echtheit  der  Geometrie  des  Boethius  sind  zu 
diesem  von  beiden  Seiten  hartnäckig,  geführten  Streite  eigentlich  nur 
durch  die  Abacusstelle  vermocht.  Sie  können  und  wollen,  von  ihrer 
Fälschungstheorie  aus,  derselben  kein  höheres  Alter  als  etwa  bis  in 
das  X.,  frühestens  IX.  8.  verstatten.  Sie  leiten  alsdann  die  Zahlzeichen 
und  deren  Benutzung  auf  dem  Eolumnenabacus  aus  dem  Oriente  her: 
von  den  Indem  erdacht,  durch  Araber  verbreitet  sollen  die  Zeichen 
in  Europa  sich  eingebürgert  haben. 

Dieser  Möglichkeit  gegenüber  müssen  wir  die  Heimat  der  Null, 
durch  deren  Vorhandensein  das  Ziffemrechnen  sich  wesentlich  vom 
Eolumnenrechnen,  auch  von  dem  mit  Apices,  unterscheidet,  aufsuchen. 
Wir  begeben  uns  zu  diesem  Zwecke  nach  Indien. 


V.  Inder. 


Caittob,  Oeiohichte  der  Mathematik  I.    8.  Aufl.  88 


28.  Kapitel. 
Einleitendes.     Elementare  Reehenknnst. 

Zu  einer  selbst  möglicherweise  aus  zweierlei  Völkern,  deren 
eines  die  krausen  Haare  der  Australneger  besaß,  gemischten  Urein- 
wohnerschaft  des  heutigen  Dekkans  wanderte  vielleicht  1400  Jahre 
V.  Chr.  der  Stamm  der  Arier  ein,  die  niedriger  stehenden  Besitzer 
des  Landes  teils  yertreibend,  teils  unterjochend^).  In  der  späteren 
Easteneinteilung  des  indischen  Volkes  sind  die  Nachkommen  der 
alten  Besiegten  als  die  dienende,  verachtete  Kaste  der  ^üdras  übrig 
geblieben,  deren  Berührung  schon  befleckte,  und  die  streng  ausge- 
schlossen waren  von  den  Segnungen  einer  Bildung,  deren  Träger 
freilich  zumeist  in  den  beiden  oberen  Kasten  der  Brahmanas  und 
Kshattriyas,  der  Priester  und  Krieger,  zu  suchen  sind,  während  sie 
kaum  noch  auf  die  Vai9yas,  den  bürgerlichen  Kern  des  Volkes  sich 
erstreckte.  Die  Sprache  der  Arier,  der  TrefiFlichen  nach  der  späteren 
Bedeutung  des  Namens,  ist  dieselbe,  welche  man  Sanskrit  zu  nennen 
pflegt.  Sie  wurde  die  herrschende  Sprache  von  ganz  Vorderindien, 
vermochte  aber  in  dieser  Ausdehnung  sich  nicht  zu  erhalten.  Das 
Sanskrit  verblieb  nur  als  Gelehrtensprache  in  den  Priesterschulen  der 
Brahmanen,  während  es  als  Volkssprache  ausstarb,  beziehungsweise 
durch  Töchtersprachen  verdrängt  wurde. 

Zwei  Momente  mögen  bei  dieser  Verdrängung  wirksam  gewesen 
sein.  Einmal  die  Seltenheit  schriftlicher  Überlieferung,  welche  soweit 
ging,  daß  Fremde,  welche  nur  kurze  Zeit  im  Lande  verweilten,  an 
den  Mangel  jeder  schriftlichen  Aufzeichnung  glauben  durften,  zweitens 
die  jene  Seltenheit  selbst  wohl  verschuldende  mehr  und  mehr  hervor- 
tretende Zentralisation  der  Gelehrsamkeit  bei  den  Brahmanen. 


^)  Für  die  allgemeinen  Verhältnisse  waren  unsere  Quellen  der  Artikel 
„Indien"  von  Benfey  in  Ersch  und  Grubers  Encjklopädie  1840.  Reinaud, 
Memoire  sur  VInde  in  den  Memoires  de  VAcademie  des  Inscriptions  et  Beiles- 
lettres  XVIII,  2.  Paris  1849.  Albr.  Weber,  Vorlesungen  über  indische  Lite- 
raturgeschichte. 2.  Auflage.  Berlin  1876.  Herr  E.  Wind isch  unterstützte  uns 
bei  der  Drucklegung  der  ersten  Auflage  wesentlich .  durch  Ratschläge  f^  die 
Rechtschreibung  indischer  Namen  und  Wörter. 

38* 


596  28.  Kapitel. 

Das  Volk  lebte  unter  einem  heftigen  Drucke,  welchem  die  Ein- 
führung einer  neuen  Religion  entsprang,  des  Buddhismus,  etwa 
seit  der  Mitte  des  VI.  S.  y.  Chr.  Rasch  um  sich  greifend  nach  müh- 
seligen Anfängen  wurde  der  Buddhismus  durch  den  König  Afoka 
am  Beginn  des  III.  S.  zur  Staatsreligion  erhoben,  und  diese  herr- 
schende Stellung  besaß  er  auch  noch  zur  Zeit  des  Königs  Kanishka 
um  50  V.  Chr.,  eines  zweiten  indischen  Fürsten  von  in  der  Erinne- 
rung der  Nachkommen  sich  fast  sagenhaft  mehrendem  Ruhme.  Um 
die  Zeit  yon  Christi  Geburt  etwa  gelang  es  dem  Brahmanismus  in 
den  Ländern  westlich  vom  Ganges  wieder  die  Oberhand  zu  gewinnen, 
während  der  Buddhismus  weiter  nach  Osten  siegreich  fortschritt,  be- 
ziehungsweise sich  dort  erhielt. 

Der  Buddhismus  war  ebenso  schreibselig  wie  der  alte  Brahmanis- 
mus der  schriftlichen  Arbeit  abgeneigt.  Eine  reiche  buddhistische 
Literatur  hatte  sich  erzeugt,  aber  der  neu  erwachende  Brahmanismus 
vertilgte  schonungslos,  wessen  er  nur  habhaft  werden  konnte,  und 
das  bot  eine  neue  Veranlassung,  die  Sanskritsprache  in  Indien  selbst 
zur  Unverständlichkeit  zu  bringen.  Sie  behielt  nur  noch  das  Wesen 
und  den  Charakter  einer  heiligen  Sprache,  als  solche  allen  höheren 
Zwecken  dienstbar.  Religion  und  Wissenschaft  waren  an  sie  geknüpft, 
und  auch  was  wir  von  der  Mathematik  der  Inder  wissen,  ist  wesent- 
lich aus  Sanskrittexten  geschöpft,  wenn  nicht  aus  Schriftstellern 
anderer  Volker  erschlossen. 

Ein  Verkehr  Indiens  mit  dem  Westen  wie  mit  dem  Osten  ist 
nämlich  für  fast  alle  Zeiten  von  den  ältesten  an  gesichert.  Sind  es 
insbesondere  sprachliche  Gründe,  welche  für  die  aUerilltesten  Zeiten 
den  Ausschlag  geben  müssen,  so  treten  bestimmte  Überlieferungen 
seit  dem  IV.  S.  v.  Chr.  bestätigend  hinzu.  Nach  dem  Alezanderzuge 
entstanden  dicht  an  den  Grenzen  Indiens  griechische  Königreiche, 
welche  Verbindungen  mit  dem  Mutterlande  ununterbrochen  aufrecht 
erhielten,  und  mittels  deren  herüber  und  hinüber  auch  Wissenschaft 
und  wissenschaftliche  Berufstätigkeit  in  Austausch  treten  mußten. 
Kanishka,  den  wir  vorher  erwähnten,  schloß  ein  Bündnis  mit  dem 
Triumvim  Marcus  Antonius,  und  von  seinen  Truppen  befanden  sich 
unter  den  Geschlagenen  bei  Aktium.  Indische  Gesandtschaften  er- 
schienen, wie  wir  in  dem  griechischer  Entwicklung  gewidmeten  Ab- 
schnitte (S.  456)  zu  erwägen  gaben,  an  dem  Kaiserhofe  in  Rom  wie 
später  in  Bjzanz.  Augustus,  Claudius  und  Trajan,  Constantinus  und 
Julian  durften  die  aas  dem  fernen  Osten  kommenden  Botschafter 
begrüßen.  Und  keineswegs  weniger  gesichert  ist  der  Verkehr  zwischen 
Indien  und  der  Ostküste  Ägyptens  über  das  indische  Meer  hin.  In 
den   beiden  Jahrhunderten,   welche  zwischen   der  Regierung  Trajans 


EinleitendeB.    Elementare  Rechenknnst.  597 

und  dem  Jahre  300  liegen^  scheint  insbesondere  der  Handel  auf  dieser 
dnrch  Passatwinde  begünstigten  Wasserstraße  stetig  an  Ausdehnung 
gewonnen  zu  haben ,  so  daß  eine  Schwierigkeit  die  Art  und  Weise 
der  Übertragung  zu  erklaren  keineswegs  besteht  für  den  Fall,  daß 
indische  Bildungselemente  in  griechischen,  griechische  in  indischen 
Werken  sich  nachweisen  ließen.     Beides  ist  aber  der  Fall. 

Philosophie  und  Theologie  der  alexandrinischen  Neuplatoniker 
und  Gnostiker  haben  indische  Gedanken  sich  angeeignet.  Daß  auch 
umgekehrt  indiscbe  Literatur  vielfach  von  griechischen  Quellen  zeuge^ 
ist  eine  Tatsache,  welche  gegenwärtig  wohl  von  keinem  Sanskrito- 
logen  mehr  in  schroffe  Abrede  gestellt  wird.  Nur  über  den  Grad 
der  Beeinflussung,  stellenweise  über  die  Richtung  derselben  findet 
ein  Zwiespalt  statt,  da  ja  an  und  für  sich  betrachtet  Dinge,  die  an 
zwei  Orten  gefunden  werden,  falls  man  an  ein  selbständiges  doppeltes 
Auftreten  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  zu  glauben  nicht  geneigt 
ist,  eben  so  leicht  von  dem  östlichen  Fundorte  nach  dem  westlichen 
gelangt  sein  können  als  umgekehrt. 

Wir  werden  nunmehr  prüfen  müssen,  welcherlei  mathematisches 
Wissen  bei  den  Indern  sich  nachweisen  laßt,  und  wie  sich  dasselbe 
zur  griechischen  Wissenschaft  verhält. 

Eins  schicken  wir  voraus:  die  Form  indischer  Wissenschaft  darf 
uns,  wenn  sie  von  der  griechischen  noch  soweit  abweicht,  nicht  als 
Beweis  der  Selbständigkeit  derer  gelten,  die  sich  ihrer  bedienten.  Ein 
arabischer  Schriftsteller,  Albirüni,  hat  am  Anfange  des  XI.  S.  die 
Erfahrung  gemacht,  daß  Auszüge  aus  Euklid  und  Ptolemäus,  welche 
er  indischen  Gelehrten  mitteilte,  von  diesen  sofort  in  Verse  so  dunkeln 
Verständnisses  umgesetzt  wurden,  daß  er  kaum  mehr  wiedererkannte, 
was  er  selbst  sie  gelehrt  hatte  ^).  Nicht  viel  anders  scheint  das  Ver- 
hältnis der  indischen  Heilkünstler  des  Mittelalters  zu  Hippokrates 
aufzufassen^). 

Wir  haben  von  dunkeln  Versen  gesprochen.  Es  ist  das  eine 
besondere  Eigentümlichkeit  indischer  Gelehrten,  daß  sie  wissenschaft- 
liche Werke  in  Versen  zu  verfassen  liebten.  Es  hängt  das  offenbar 
mit  der  brahmanischen  Neigung  zusammen  dem  Gedächtnisse  zu  ver- 
trauen und  Aufzeichnungen  zu  vermeiden.  Nicht  unwichtige  Folgen 
ergeben  sich  aber  daraus.  Einmal  ist  die  indische  Prosodie  eine  auf 
sehr  feste  Regeln  gegründete,  so  daß  Irrtümer  in  einem  alten  Texte 
unter  Umständen  außer  aus  dem  Sinne  auch  aus  holperndem  Vers- 
maße  erkannt  werden   können.     Zweitens   aber   hat,    wie   wir   schon 


')  Rein  and,  Mimoire  swr  VInde  pag.  834,  Amnerkxing  2.     *)  E.  Haas  in 
der  Zeit  sehr,  der  dentschen  morgenländischen  GesellBch.  XXXI,  647 — 666. 


598  2B.  Kapitel. 

sagten,  die  Versform  häufig  Dunkelheit  erzeugt  und  so  die  Nötigung 
zu  ausföhrlichen  Erklärungen  der  für  die  Schüler  fast  unverständ- 
lichen Schriften  mit  sich  getragen,  Erklärungen,  die  selbst  dazu  dienen 
den  älteren  Text  in  unzweifelhafter  Reinheit  zu  bewahren,  weil  sie 
fortlaufende  Kommentare  bilden,  Wort  für  Wort  des  Textes  wieder- 
holen, zur  Sache  selbst  aber  meistens  recht  wenig  bieten,  indem  sie 
sich  mit  bloßen  Umschreibungen  zu  begnügen  pflegen. 

Die  indische  Prosodie,  sagten  wir,  sei  auf  sehr  feste  Regeln  ge- 
gründet. In  der  Tat  besitzt  sie  Versmaße  sehr  verschiedener  Natur, 
von  denen  wir  zwei  nennen  müssen,  das  Sloka-  und  das  Arja- 
Metrum.  Letzteres  diente  den  Mathematikern  seit  Aryabhatia,  dessen 
Zeitalter  wir  gleich  angeben  werden,  ausschließlich.  Früher  soll  man 
des  Sloka-Metrums  sich  bedient  haben,  und  dieser  Umstand  ist  zur 
Datieinmg  eines  arithmetischen  Bruchstückes  benutzt  worden,  welches 
im  Mai  1881  in  Bakhshäli,  in  dem  nordwestlichsten  Indien,  in  der 
Erde  vergraben  aufgefunden  worden  ist.  Es  wird  angenommen,  das 
Rechenbuch  von  Bakhshäli^),  wie  wir  es  nennen  wollen,  sei  im 
dritten  oder  vierten  nachchristlichen  Jahrhundert  verfaßt,  wenn  auch 
die  aufgefundene  Niederschrift  auf  Birkenrinde  erst  zwischen  den 
Jahren  700  und  900  entstanden  sein  dürfte.  Von  dem  Inhalte  des 
Rechenbuches  von  Bakhshäli  reden  wir  am  Anfange  des  29.  Kapitels. 

Eigentlich  mathematische  Schriftsteller  scheint  es  nach  der  gegen- 
wärtigen Kenntnis,  die  wir  von  der  Sanskritliteratur  besitzen,  in  Indien 
nicht  gegeben  zu  haben.  Astronomie  und  Astrologie  fanden  dagegen 
ihre  berufsmäßigen  Vertreter,  und  da  diese  genötigt  waren  mathe- 
matische Vorkenntnisse  vorauszusetzen,  so  entwickelten  sie  das,  was 
ihnen  unentbehrlich  war,  in  Einleitungskapiteln  oder  in  gelegentlichen 
Abschweifungen.  So  hielten  es  wenigstens  die  drei  vorwiegend  mathe- 
matischen Astronomen,  deren  Werke  wir  besitzen. 

Aryabhatta  geboren  476  n.  Chr.  in  Pätaliputra  am  oberen 
Gangeslaufe  schrieb  ein  Werk  Arjabhättiyam  betitelt,  dessen  dritter 
Abschnitt  der  Mathematik  gewidmet  ist*). 

Brahmagupta  geboren  598  schrieb  „das  verbesserte  System 
des  Brahma'*,  Brahma- sphuta-siddhänta,  aus  welchem  das  12.  und 
18.  Kapitel  der  Mathematik  angehören. 

Bhäskara  Acärya,  d.  h.  Bhäskara  der  Gelehrte,  schrieb 
„die  Krönung  des  Systems'*  Siddhäntagiromani,  dessen  zwei  für  uns 
wichtige  Kapitel  mit   besonderer  Überschrift  LilävaU   (die  Reizende) 


^)  The  Bakshali  Manuscript  von  Rudolf  Hoernle  im  Indian  Änttqwiry 
XVII,  83—48  und  276-279  (Bombay  1888).  *)  Eine  Übersetzung  von  L.  Rodet 
im  Journal  Asiatiqu^  von  1879.    (S^rie  7,  T.  XIII.) 


Einleitendes.    Elementare  Rechenkunst.  599 

und  Vijaganita  (Wurzelrechnung)  genannt  sind^).  Bhäskara  ist  1114 
geboren. 

Die  Geburtsdaten  dieser  drei  Schriftsteller  sind  vollständig  sicher, 
da  sie  aus  eigenen  Angaben  der  betreffenden  Männer,  welche  in  ihren 
Werken  aufgefunden  worden  sind,  beigestellt  werden  konnten').  Wir 
fügen  dem  hinzu,  daß  andere  Astronomen  oder  Mathematiker,  welche 
wir  noch  nennen  werden,  insgesamt  viel  jüngeren  Datums  als  Ary- 
abhatta  sind,  daß  ein  astronomisches  Werk,  von  dem  wir  sogleich 
reden  wollen,  auch  nicht  älter  als  frühestens  aus  dem  lY.  oder  Y.  S. 
nachchristlicher  Zeitrechnung  ist. 

Wir  meinen  den  Sürya  Siddhänta  oder  das  Wissen  der 
Sonne"),  indem  Sürya  (die  Sonne)  ihre  Siddhänta  (Erkenntnis, 
Wissenschaft,  System)  dem  Asura  Maya  d.  h.  dem  Dämon  Maya 
offenbart,  der  es  niederschreibt.  Wer  dieser  dämonische  Schriftsteller 
selbst  sei,  wann  er  gelebt  hat,  ist  nur  durch  eine  ziemlich  kühne 
Yermutung  erschließbar.  In  dem  Werke  selbst  kommen  nämlich 
unzweifelhaft  griechische  Ausdrücke  vor,  welche  in  der  indischen  Yer- 
kleidung  leicht  erkannt  worden  sind.  Wenn  Kendra  die  Entfernung 
eines  Planeten  von  einem  Störungsmittelpunkte  bedeutet,  so  ist  das 
eben  das  griechische  r^  ix  xivxQov^  wenn  liptä  oder  lipüM  die  Winkel- 
minute heißt,  so  ist  das  keottöv  das  Geschabte,  der  Bruchteil,  Ab- 
leitungen, die  trotz  der  Stammverwandtschaft  indischer  und  griechi- 
scher Sprache  angenommen  werden  müssen,  indem  für  iendra  und 
liptä  eine  unmittelbar  indische  Herkunft  nicht  zu  ermitteln  ist.  Dazu 
kommt,  daß  einzelne  Lehren  des  Sürya  Siddhänta  griechisches  Ge- 
präge tragen.  Die  Ostwestlinie  fUr  einen  Punkt  wird  mittels  der 
zwei  Schattenbeobachtungen  gleicher  Länge  am  Yormittage  und  am 
Nachmittage  gewonnen,  welche  wir  bei  Yitruvius  und  Hyginus 
(S.  535 — 536)  kennzeichnen  mußten.  Anderes  scheint  auf  den  ptole- 
mäischen  Abnagest  hinzuweisen.  Gerade  diese  Annahme  vereinigt  sich 
sodann  mit  einer  höchst  merkwürdigen  Tatsache:  daß  nämlich  ägyptische 
Könige  aus  der  Ptolemäerfamilie  in  indischen  Inschriften  als  Tura- 
maya  vorkommen  mit  eigentümlicher  Yerketzerung  des  Namens.    Man 


^)  Die  mathematischen  Kapitel  von  Brahmagupta  und  von  Bhäskara  sind 
in  einer  englischen  Übersetzung  vorhanden,  welche  wir  als  Colebrooke  zitieren: 
Algebra  with  arithtnetic  and  mensuration  from  ihe  Sanscrit  of  Brahmegupta  and 
Bhaseara  translated  hy  H.  Th.  Colebrooke.  London  1817.  *)  Bhaü  Dajf, 
On  ihe  age  and  authenticity  of  the  works  of  Vardfiamihira,  Brahmegupta,  Bhat- 
totpala  and  Bhaskardchdrya  in  dem  Journal  of  tfie  Äsiatic  society  1866  (New 
SerieB  I,  pag.  292 — 418).  ")  Herausgegeben  mit  englischer  Übersetzung  von 
Burg  es 8  und  Anmerkungen  von  Whitney  in  dem  Journal  of  the  American 
Orienial  Society  Vol.  VI  (New  Haven  1860). 


600  2B.  Kapitel. 

hat  deshalb  verinutet^),  auch  der  Astronom  Ptolemäus  sei  zu  eiBem 
Turamaya  geworden^  der  volkstümlich  sich  weiter  in  einen  Asura 
Maya  verketzerte.  Zu  einer  solchen  sagenhaften  Personenveränderung 
bedarf  es  einiger  Zeit  und  so  kann  der  Sürya  Siddhänta  nicht  allzu- 
rasch nach  Ptolemäus'  Leben  d.  h.  nach  dem  IL  S.  n.  Chr.  verÜEißt 
sein.  Andererseits  hat  Varähamihira  von  dem  Sürya  Siddhänta 
Gebrauch  gemacht  und  dessen  Blütezeit  fallt  nach  der  Aussage  eines 
noch  späteren  Astronomen  Bhatta  Utpala  nach  505^  dessen  Tod 
einem  anderen  Berichterstatter  Amaräja  zufolge  auf  587.  Beide 
Daten  vereint  lassen  uns  im  Varähamihira  einen  jüngeren  Zeitgenossen 
von  Aryabhatta  finden^  und  der  Sürya  Siddhänta  muß  dem  entsprechend 
zwischen  Ptolemäus  und  Varahamihiras  Lebzeiten  d.  i.  etwa  im  IV. 
oder  V.  S.  entstanden  sein. 

Varähamihira^)  gibt  übrigens  den  Ursprung  mancher  seiner 
Kenntnisse  mit  ehrlicherer  Gewissenhaftigkeit  an,  als  es  sonst  bei 
Indem  der  Fall  zu  sein  pflegt  Er  bezieht  sich  für  die  Namen  der 
Sternbilder,  welche  er  benutzt,  geradezu  auf  den  Yavane^varäcärya, 
d.  h.  auf  den  ionischen  oder  griechischen  Meister,  indem  die  Yavana 
sicherlich  Griechen  bedeuten.  Bei  ihm  und  anderen  Astronomen  und 
Astrologen  ist  sodann  von  Romaka  Pura,  d.  h.  von  Rom  und  von 
Tavana  Pura,  d.  h.  der  Stadt  der  lonier  nämlich  von  Alexandria 
die  Rede,  lauter  Momente,  welche  den  alexandrinisch-indischen  Be- 
ziehungen entstammen  und  die  Abhängigkeit  indischer  Astronomie 
auch  von  alexandrinischem  Wissen  besiÄtigen,  wie  andemteiU  ein  Zu- 
sammenhang ältester  indischer  Sternkunde  mit  Babylon  (S.  39)  nicht 
abzuweisen  sein  dürfte. 

Wir  haben  außerordentlich  wenig  für  uns  Brauchbares  dem 
Sürya  Siddhänta  entnehmen  können,  eigentlich  nichts  weiter,  als  daß 
ein  griechischer  Einfluß  auf  indische  Wissenschaft  damals  schon, 
mithin  vor  Aryabhatta  feststeht.  Wir  haben  daneben  einige  weitere 
Namen  indischer  Astronomen  kennen  gelernt.  Wir  lassen  hier  andere 
folgen.  Von  einiger  Bedeutung  dürften  Qridhara  und  Padmanäbha 
gewesen  sein.  Beide  sind  bei  Bhaskara  erwähnt,  bei  Brahmagupta 
noch  nicht,  haben  daher  vermutlich  in  der  Zwischenzeit  zwischen 
diesen  beiden  gelebt.  Es  kommt  dazu  Paramädi^vara,  der  Kom- 
mentator Aryabhattas,  welcher  später  als  Bhaskara  gelebt  hat,  welchen 
er  kennt.  Ferner  kommen  Bhäskaras  Kommentatoren  hinzu,  wie 
Gangädhara,  der  1420  lebte,  Süryadäsa  um  1540,   Gane9a   um 


')  Alb r.  Weber,  Zur  Geschichte  der  indischen  Astrologie  in  den  Indischen 
Studien  11,  248.  *)  The  Panchasiddhdntikd  of  Vardha  MMra  ed.  by  G.  Thi- 
baut  and  Mahämahop&dhyäja  Sudhäkara  Dvived!.    Benares  1889. 


EinleitendeB.    Elementare  Rechenkunst.  601 

1545,  Ranganätha  um  lß40,  Räma  Erishna  vielleicht  um  dieselbe 
Zeit,  jedenfalls  nicht  yiel  älter,  und  andere.  Sie  alle  lassen  uns  rat- 
los in  der  wichtigsten  Frage,  welche  wir  ihnen  so  gern  vorlegen 
würden,  in  der  Frage:   Und  was  war  vor  Aryabhatta? 

Sollen  die  Inder  mit  mathematischen  Kenntnissen  erst  zu  einer 
Zeit  vertraut  geworden  sein,  welche  spater  liegt  als  diejenige,  in 
welcher  die  Nachbltfte  alexandrinischer  Wissenschaft  unter  Pappus 
und  Diophant  bereits  zu  Ghrabe  getragen  war?  Es  genügt,  die  ge- 
stellte Frage  von  der  Höhe  der  allgemeinen  Bildungsstufe  aus,  welche 
das  Volk  der  Inder  erreicht  hat,  sich  wiederholt  zu  vergegenwärtigen, 
um  zur  Verneinung  zu  gelangen.  Aber  worin  die  älteren  Kenntnisse 
bestanden  haben,  davon  wissen  wir  ungemein  wenig.  Sogar  wo  uns 
in  nicht-mathematischen  Schriften  Aufgaben  berichtet  werden,  deren 
Altertum  kaum  bezweifelbar  ist,  zwingt  die  Jugend  des  Berichtes 
zum  Eingeständnis,  daß  die  Methoden  der  Auflösung  jener  Aufgaben 
möglicherweise  um  viele  Jahrhunderte  später  entstanden  oder  ein- 
geführt sein  können  als  die  Aufgaben  selbst.  Wir  haben  in  Rom 
es  gesehen,  daß  die  Festlegung  der  Ostwestlinie,  eine  altertümliche 
Aufgabe,  ein  geradezu  priesterliches  Oeschäft,  bald  so,  bald  so  vor- 
genommen wurde;  wir  haben  durch  einen  günstigen  Zufall,  das  Be- 
streben eines  Schriftstellers  Hyginus  nach  Vollständigkeit,  von  drei 
Methoden  offenbar  aus  verschiedenen  Zeiten  stammend  Kenntnis  ge- 
wonnen; wir  haben  eine  Datierung  der  drei  Methoden  versucht,  ver- 
suchen können.  Wie  aber,  wenn  Hjginus  uns  nur  das  jüngste  Ver- 
fahren mitgeteilt  hätte,  wenn  Vitruvius  ganz  darüber  schwiege, 
würden  wir  die  berichtete  Methode  als  die  der  ältesten  Zeiten  aner- 
kennen müssen?  Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  noch  die  schon  be- 
rührte Fähigkeit  der  Inder,  Fremdländisches  rasch  in  die  einheimische 
Form  zu  gießen,  so  kommen  wir  notgedrungen  zu  der  Überzeugung, 
es  werde  in  vielen  Fällen  nur  spät  Eingeführtes  oder  mindestens 
durch  Einführungen  wesentlich  Verändertes  sein,  wovon  uns  berichtet 
wird,  soweit  wir  auch  in  Aufsuchung  mathematischen  Stoffes  zu 
greifen  geneigt  sind. 

Daraus  folgt  aber  die  Unmöglichkeit  eine  chronologische  Über- 
sicht der  indischen  Mathematik  zu  geben,  und  wir  werden  in  jeder 
Beziehung  uns  besser  stehen,  wenn  wir  versuchen  eine  Gruppenein- 
teilung des  indischen  mathematischen  Wissens  nach  dem  Inhalte  vor- 
zunehmen. Es  wird  dabei  in  ein  helleres  Licht  treten,  was  als  Leit- 
faden durch  diesen  ganzen  Abschnitt  benutzt  werden  kann:  ein  ge- 
wisser Gegensatz  zwischen  griechischer  und  indischer  Denkungsart 
und  schöpferischer  Kraft. 

Die    Griechen    waren  das  vorzugsweise   geometrische  Volk, 


602  28.  Kapitel. 

sie  waren  es  in  solchem  Maße^  daß  wir  den  einengenden  Zusatz:  des 
Altertums  uns  füglich  erlassen  dürfen.  An  den  Indern  werden  wir 
die  vorzugsweise  rechnerische  Begabung  zu  bewundem  haben.  Bei 
ihnen  ist  dem  entsprechend  mutmaßlich  die  Heimat  einer  staunen- 
erregenden Entwicklung  der  Rechenkunst  zu  suchen.  Und  umge- 
kehrt tritt  uns  mit  der  einzigen  Ausnahme  einer  selbst  auf  Rechnung 
gegründeten  Trigonometrie  wenige  vorläufig  rätselhafte  indische  Geo- 
metrie gegenüber,  deren  Spuren  wir  nicht  mit  Leichtigkeit  nach 
Alezandria  zurückverfolgen  könnten.  Mit  der  Algebra  endlich  wird 
sich  uns  ein  Gebiet  eröffnen ,  das  beiden  Begabungen  zugänglich 
war.  Die  Griechen  gingen  von  einer  geometrisch  eingekleideten 
Algebra  aus^  welche  sie  bis  zur  Auflösung  unreiner  quadratischer 
Gleichungen  fortführten,  nur  allmählich  des  geometrischen  Gewandes 
sich  entäußernd.  Spuren  griechischer  Algebra  müssen  mit  griechi- 
scher Geometrie  nach  Indien  gedrungen  sein  und  werden  sich  dort 
nachweisen  lassen.  Aber  entweder  stieß  die  griechische  Algebra  in 
Indien  auf  eine  einheimische  oder  vielleicht  aus  Babylon  frühzeitig 
eingedrungene  Schwesterwissenschaft,  mit  der  sie  sich  vereinigte,  oder 
sie  entwickelte  sich  dort  rechnerisch,  also  recht  eigentlich  algebraisch 
bis  zu  einer  Höhe,  die  sie  in  Griechenland  niemals  zu  erreichen 
vermocht  hat. 

Bei  der  nunmehr  zu  beginnenden  Besprechung  indischer  Rechen- 
kunst tritt  uns  vor  allem  das  Zifferrechnen  gegenüber,  welches 
nach  vielfach  verbreiteter  Überlieferung  indischen  Ursprungs  ist.  Ein 
arabischer  Schriftsteller  des  X.  S.,  Mas'üdi,  erzählt^),  unter  Brahmas, 
des  ersten  indischen  Königs,  Regierung  habe  die  Wissenschaft  ihre 
größten  Fortschritte  gemacht.  Man  habe  damals  in  den  Tempeln 
Himmelskugeln  abgebildet;  die  Regeln  der  Astrologie,  des  Einflusses 
der  Sterne  auf  Menschen  und  Tiere  seien  festgestellt  worden;  die 
vereinigten  Gelehrten  verfaßten  den  Sindhind  (d.  h.  den  Siddhänta), 
das  Buch  der  Zeit  der  Zeiten;  astronomische  Tafeln  wurden  zusammen- 
gestellt; endlich  erfand  man  die  neun  Zeichen,  mit  welchen  die  Inder 
rechnen.  In  diesem  Berichte  spukt  offenbar  indischer  Nationalstolz, 
welcher  den  Sürya  Siddhänta  wie  alles  was  mit  Sternkunde  in  engerer 
oder  weiterer  Verbindung  steht  als  einheimisch  betrachtet  wissen  und 
darum  in  ein  graues  Altertum  hinaufrücken  will.  Noch  deutlicher 
zeigt  sich  die  gleiche  Eigenschaft  in  der  Fortsetzung  des  Berichtes, 
der  Massud!  von  indischer  Seite  zugetragen  wurde,  so  daß  er  nur 
als  Sprachrohr  uns  erscheint.  Die  Inder,  heißt  es  nämlich  weiter, 
hätten  nach  Aryabhatta  einen  Almagest  verfaßt,  aus  welchem  Ptole- 


')  Rein  and,  Memoire  sur  VInde  pag.  324. 


Einleitendes.    Elementare  Rechenkunst.  603 

maus  sein  Werk  gleichen  Titels  entnommen  habe,  eine  Umkehning 
der  Tatsachen,  die  ihresgleichen  sucht.  Gegenwärtig  haben  wir  es 
indessen  mit  den  Ziffern  zu  tun,  und  da  scheint  gegen  das,  was  man 
Mas^üdi  erzählt  hat,  kein  Widerspruch  sich  zu  erheben.  Ähnlich 
lauten  auch  andere  Berichte.  So  heißt  es  in  einer  um  950  an  der 
Nordküste  von  Afrika  entstandenen  rabbinischen  Abhandlung^):  die 
Inder  haben  neun  Zeichen  erfanden  um  die  Einheiten  anzuschreiben. 
Weitere  Bestätigung  finden  wir  bei  dem  Byzantiner  Maximus  Pla- 
nudes,  dessen  bezügliche  Äußerungen  (S.  511)  mitgeteilt  worden  sind, 
in  welchen  auch  der  Erfindung  der  Null  besonders  gedacht  ist. 

Ob  freilich  die  Null  gleichen  Alters  ist  mit  den  anderen  Zahl- 
zeichen, diese  Frage  möchte  eher  zu  verneinen  als  zu  bejahen  sein. 
Es  scheint  fast  nachweisbar,  daß  die  ältere  indische  Zahlenschreibung 
der  Null  noch  entbehrte,  welche  erst  später  hinzuerfunden  wurde. 
Das  erste  bekannte  Vorkommen  der  Null  in  einer  Urkunde  ist  erst 
aus  dem  Jahre  738  bekannt*).  Wir  wollen  nicht  versäumen  hier  in 
Erinnerung  zu  bringen,  daß  in  Babylon  ein  Stellungswert  von  Zahl- 
zeichen bestand,  und  daß  in  einer  verhältnismäßig  späten  Zeit  (S.  31), 
welche  aber  immer  noch  ein  Jahrtausend  vor  der  urkundlich  nach- 
gewiesenen indischen  Null  liegt,  dort  ein  Zeichen  vorhanden  war, 
welches  eine  Lücke  ausfüllen  sollte. 

Die  Insel  Ceylon  hat  ihre  Kultur  von  Indien  her  erhalten,  sei 
es  schon  im  V.  S.  v.  Chr.,  sei  es  im  III.  S.,  als  König  Ayoka  den 
Buddhismus  auch  dorthin  über  das  Meer  trug.  Auf  Ceylon  wurde 
aber  im  Gegensatze  zum  Festlande,  wo  ein  Fortschritt  wenigstens 
in  manchen  Jahrhunderten  mit  größter  Deutlichkeit  hervortritt,  die 
Bildung  vollständig  stationär,  und  eine  am  Anfange  des  XIX.  Jahr- 
hunderts noch  auf  Ceylon  bei  den  Gelehi'ten  übliche  Zahlenschreibart 
kann  sehr  wohl  ältesten  indischen  Ursprungs  sein  *).  Während  das 
Volk  sich  der  gewöhnlichen  europäischen  Ziffern  bedient,  welche  mit 
den  Kolonisten  der  letzten  Jahrhunderte  eingewandert  in  der  ver- 
änderten Gestalt,  welche  sie  durch  diese  erhalten  hatten,  sich  unweit 
der  alten  Heimat  wie  fremd  neu   einbürgerten,  haben  die  Gelehrten 


*)  Es  ist  ein  Kommentar  von  Abu  Sahl  ben  Tamim  in  hebräischer 
Sprache  zu  der  bekannten  kabbalistischen  Schrift  Sepher  Tecira  und  handschrift- 
lich in  Paris  vorhanden.  Bein  au  d,  Memoire  sur  VInde  pag.  566.  *)  £.  Clive 
Baylej,  On  the  geneälogy  of  modern  numerals  in  dem  Journal  of  the  royal 
asiatic  society.  New  series  XIV,  835—376  (1882)  und  XV,  1—72  (1883).  Über 
die  Urkunde  von  738  vgl.  XV,  27.  *)  Die  Untersuchungen  des  dänischen  Ge- 
lehrten Bask  über  diesen  Gegenstand  stammen  aus  dem  Jahre  1821.  Vgl. 
Brockhaus,  Zur  Geschichte  des  indischen  Zahlensystems  in  der  Zeitschrift  für 
die  Kunde  des  Morgenlandes  IV,  74—83. 


604  23.  Kapitel. 

folgendes  Yerfabren  aufbewahrt.  Sie  besitzen  neun  Zeichen  für  die 
verschiedenen  Einer,  ebensoviele  für  die  Zehner,  ein  Zeichen  für 
Hundert,  eins  für  Tausend  und  schreiben  mittels  dieser  20  Zeichen 
sämtliche  Zahlen  von  1  bis  9999,  indem  die  Hunderter  und  Tausender 
dadurch  ausgedrückt  werden,  daß  man  die  Anzahl  derselben  rerriel- 
fachend  den  Zeichen  für  100  und  1000  vorsetzt  So  schreibt  man 
z.  B.  7248  mit  sechs  Zeichen,  nämlich  7,  1000,  2,  100,  40,  8.  *  Vier 
Zeichen  nämlich  7000,  200,  40,  8  würden  genügen,  wenn  man  auch 
für  die  einzelnen  Hunderter  und  für  die  einzelnen  Tausender  wie  für 
die  Zehner  besondere  Zeichen,  im  ganzen  demnach  36  Zeichen  be- 
säße, und  das  wird  auch  den  allergelehrtesten  Einwohnern  nach- 
gerühmt. Das  ist  freilich  ein  Verfahren,  welches  dem,  was  man 
indische  Rechenkunst  zu  nennen  pflegt,  weit  weniger  gleicht,  als 
z.  B.  altägyptischer  hieratischer  Zahlenbezeichnung. 

Eine  Ähnlichkeit  gibt  sich  nur  darin  zu  erkennen,  daß  jene  sin- 
ghalesischen  Zeichen  nichts  anderes  sein  sollen  als  abgekürzte  Zahl- 
wörter. Auch  die  alten  indischen  Ziffern,  d.  h.  die  Zeichen  von  eins 
bis  neim,  wie  sie  ursprünglich  aussahen  und  nicht  wie  sie  in  der 
späteren  indischen  Schrift  sich  verändert  haben,  sollen  nichts  anderes 
gewesen  sein  als  die  Anfangsbuchstaben  der  betreffenden  neun  Zahl- 
wörter, wobei  wohl  zu  beachten  ist,  daß  im  Sanskrit  eine  Ver- 
schiedenheit der  neun  Anfänge  obwaltet,  wie  sie  in  anderen  indo- 
germanischen Sprachen  nicht  stattfindet,  so  daß  in  diesen  ein  einfacher 
Anfangsbuchstabe  nicht  genügen  würde,  das  Zahlwort  unzweideutig 
zu  bestimmen.  Man  denke  nur  an  die  deutschen  Zahlwörter  sechs 
und  sieben;  an  die  lateinischen  sex  und  Septem,  aber  auch  an  quaiuar 
und  quinque'j  an  die  griechischen  £|  und  iTttä.  Allerdings  wechselten 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  auch  die  Buchstaben  ihre  Formen,  und 
es  scheint^),  als  ob  Buchstaben  des  H.  S.  n.  Chr.  vorzüglich  zur 
Ziffembildung  gedient  hätten.  Aus  ihnen  leiten  sich  am  unge- 
zwungensten die  Zeichen  ab,  welche  far  uns  (S.  584)  Apices  heißen^ 
welche  auch  bei  den  Westarabem  uns  noch  begegnen  werden.  (Siehe 
die  lithographierte  Tafel  am  Ende  des  Bandes.)  Freilich  ist  diese 
Meinung  nicht  die  allgemeine,  und  wir  dürfen  nicht  verschweigen^ 
daß  andere  Forscher  von  hoher  Glaubwürdigkeit^)  nicht  viel  von  jener 
Buchstabenableitung  halten.  Die  Apices  seien  allerdings  indischen 
Ursprungs,  stammten  aber  von  nichtalphabetischen  Zahlzeichen  aus 
Höhleninschriften   des  U.  S.  n.  Chr.     Für  uns   geht  mithin  als  ge- 


^)  So  hat  Woepcke  im  Journal  Asiatique  von  1863,  pag.  76  bemerkt. 
*)  Burnell,  Elements  of  SotUh-Indian  Pälaeography,  Mangalore  1874,  pag.  47 
bis  48. 


Einleitendes.    Elementare  Rechenkunst.  605 

sichert  hervor^  was  beiden  widersprechenden  Annahmen  gemein- 
schaftlich ist:  daß  im  ü.  S.  Zahlzeichen,  gleichviel  welcher  ursprüng- 
lichen Entstehung,  in  Indien  vorhanden  waren,  und  von  da  nach 
Alexandria  gekommen  sein  können,  welche  zur  Ableitung  der  Apices 
vollkommen  genügeu. 

Die  Inder  bedienten  sich  sehr  verschiedener  Bezeichnungsarten 
der  Zahlen,  von  denen  wir  reden  müssen.  Eine  solche  wird  von 
Aryabhatta  berichtet,  der  sich  ihrer  im  ersten  Kapitel,  und  nur  im 
ersten  Kapitel  des  Aryabhattiyam  bediente^).  Zu  deren  Verständnis, 
wie  überhaupt  für  das  Folgende  sind  wir  genötigt,  weniges  über  das 
Alphabet  der  Sanskritgrammatik  einzuschalten. 

Es  besteht  aus  25  Konsonanten  in  fünf  Abteilungen,  deren  jede 
als  ein  Yarga  bezeichnet  zu  werden  pflegt.  Es  sind  das  die  Kehl- 
laute, die  Gaumenlaute,  die  Zungenlaute,  die  Zahnlaute,  die  Lippen- 
laute. Die  fünf  Buchstaben,  aus  welchen  jeder  Yarga  besteht,  sind 
der  harte  und  der  weiche,  jeder  von  beiden  ohne  und  mit  Aspiration 
sich  unmittelbar  folgend,  imd  der  Nasenlaut,  Unterschiede,  die  dem 
europäischen  Ohre  fast  unmerklich  sind,  insbesondere  was  die  Nasen- 
laute betrifft,  da  wir  den  Lippennasenlaut  allerdings  als  m  zu  unter- 
scheiden wissen,  die  Nasenlaute  der  vier  ersten  Yargas  dagegen  samt- 
lich als  n  hören.  Nach  den  25  Konsonanten  kommen  vier  Halb- 
vokale y,  r,  l,  V,  Als  30.  bis  32.  Buchstabe  erscheinen  drei  Zischlaute, 
das  Gaumen-^,  das  Zungen-^A,  das  Zahn-5.  Als  33.  Buchstabe  wird 
das  h  gezahlt.  Dazu  treten  14  Yokale  und  Diphthongen  gleichfalls 
von  unseren  europäischen  Gewohnheiten  weit  abweichend.  Yokale 
sind  nämlich  a,  i,  u,  ri,  liy  ein  jeder  in  kurzer  und  in  gedehnter  Aus- 
sprache vorhanden.  Diphthonge  sind  e,  ai,  o,  au,  Yon  diesen  Buch- 
staben werden  die  Yokale  und  Diphthongen  nur  dann  durch  den 
anderen  Lauten  gleichberechtigte  Zeichen  geschrieben,  wenn  sie  für 
sich  allein  eine  Silbe  ausmachen,  also  in  der  Regel  nur  am  Anfange 
eines  Wortes  oder  gar  einer  Zeile.  Folgt  hingegen  der  Yokal  auf 
einen  Konsonanten,  so  wird  er  durch  kleinere  Nebenzeichen  aus- 
gedrückt, welche  über  oder  unter  dem  Konsonanten  angebracht  werden, 
etwa  wie  in  den  semitischen  Sprachen.  Das  kurze  a  bedarf  jedoch 
keines  Zeichens,  indem  es  ein  für  allemal  inhäriert,  d.  h.  indem  jeder 
der  Buchstaben  von  h  bis  h,  wenn  kein  anderer  Yokal  ihm  folgt,  er 
aber  der  letzte  Konsonant  einer  Silbe  ist,  als  mit  kurzem  a  behaftet 
ausgesprochen  wird.  Stehen  zwischen  zwei  Yokalen,  die  einem  oder 
auch  zwei  Wörtern  angehören  können,  mehrere  Konsonanten,  so  werden 


0  Lassen  in  der  Zeits^hr.  f.  d.  Kunde  des  Morgenlandes  U,  419—427. 
Rodet,  Legons  de  calcul  d'Aryabhatta  (Journal  Asiatique  1879)  pag.  8. 


606  2B.  Kapitel. 

diese  in  zusammengesetzter  Form  geschrieben,  indem  Teile  eines  jeden 
einzelnen  Konsonanten  zu  einem  oft  sehr  fremdartig  aussehenden 
Buchstaben  vereinigt  werden. 

Aryabhatta  gibt  nun  den  Konsonanten  durch  ihre  fünf  Yargas 
hindurch   die   Zahlenwerte    1  bis  25.     Ihm   ist   also   k-=^l,  kh  ^  2, 

^ »  3, m^  25,    Die   Halbvokale,   die   Zischlaute   und   das  h 

bedeuten  die  hier  sich  anschließenden  Zehner,  also  y  =  30,  r  =  40, 
.  .  .  A  =  100.  Diese  Bedeutungen  finden  statt,  wenn  der  betreffende 
Buchstabe  mit  nachfolgendem  kurzen  oder  langen  a  verbunden  aus- 
gesprochen wird.  Die  weiteren  Vokale  des  Alphabets,  ohne  Rücksicht 
auf  Länge  und  Kürze,  und  dann  noch  die  viel-  Diphthonge  verviel- 
fachen den  Konsonanten,  welchem  sie  angehängt  sind,  mit  aufeinander- 
folgenden Potenzen  von  100.  So  ist  also  ^a  =«  3,  gi  ^  300, 
gu  =  30000,  ge  ist  eine  3  mit  10  Nullen,  gati  eine  3  mit  16  Nullen. 
Zwei  verbundene  Konsonanten  sind  als  mit  demselben  Vokale  begabt 
anzusehen,  und  ihr  Wert  ist  zu  addieren.  So  ist  kvi  z.  B.  aufzulösen 
in  ki  + vi  =^1'  100  4-  60  •  100  =  6100. 

Die  Ähnlichkeit  mit  dem  Systeme  der  singhalesischen  Gelehrten 
ist  nicht  zu  verkennen.  Die  Vokale  und  Diphthonge  stellen  hier  die 
Zeichen  für  Einheiten  höheren  Ranges  vor,  welche  durch  voraus- 
gehende Konsonanten  gewissermaßen  als  Koeffizienten  vervielfacht 
werden.  Positionsarithmetik  dagegen  ist  diese  Bezeichnung  nicht, 
und  wenn  wir  bei  unserer  Schilderung  von  Nullen  sprachen,  so  ge- 
schah dieses,  um  uns  unseren  Lesern  in  kürzester  Form  verständlich 
zu  machen,  nicht  aber  weil  die  Methode  selbst  es  verlangte.  Es  wäre 
übrigens  falsch,  wenn  man  die  Folgerung  ziehen  wollte,  Aryabhatta 
habe  überhaupt  die  Positionsarithmetik  nicht  gekannt.  Das  Gegenteil 
geht  vielmehr,  wie  wir  sehen  werden,  aus  seinen  im  zweiten  Kapitel 
des  Aryabhattiyam  enthaltenen  Vorschriften  für  die  Ausziehung  der 
Quadrat-  und  Kubikwurzeln  hervor^). 

Positionsarithmetik  ist  auch  die  Grundlage  zweier  anderer  Systeme. 
Das  eine  soll  den  Mathematikern  des  südlichen  Indiens  an- 
gehören, ein  Erfinder  wird  jedoch  nicht  angegeben*).  Die  einzelnen 
Ziffern  werden  hier  durch  Buchstaben  ausgedrückt,  und  zwar  jede 
einzelne  nach  Belieben  durch  verschiedene  Buchstaben.  Die  Ziffern 
1  bis  9  entsprechen  nämlich  der  Reihe  nach  erstens  den  neun  ersten 
Konsonanten,  also  dem  Varga  der  Kehllaute  und  den  vier  ersten 
Gaumenlauten;  zweitens  dem  11.  bis  19.  Konsonanten,  also  dem  Varga 
der  Zungenlaute  und  den  vier  ersten  Zahnlauten;  drittens  den  vier 
Halbvokalen,   den   drei  Zischlauten,   dem  h  und   einem   in  Südindien 


*)  Rodet  1.  c.  pag.  19.     *)  Math.  Beitr.  Kulturl.  S.  6S. 


Einleitendes.    Elementare  Rechenkunst.  607 

noch  vorkommenden  konsonantischen  Ir,  Der  Varga  der  Lippenlaute 
bedeutet  die  Ziffern  1  bis  5.  Endlich  die  noch  übrigen  Buchstaben^ 
nämlich  der  Nasenton  der  Gaumenlaute  und  der  Zahnlaute,  sowie 
alle  initiale  Vokale  und  Diphthonge  sind  Nullen.  Völlig  bedeutungs- 
los dagegen  sind  durch  Nebenzeichen  geschriebene  oder  inhärierende 
Vokale  und  Diphthonge,  ebenso  wie  die  zuerst  auszusprechenden 
Teile  zusammengesetzter  Konsonanten,  deren  letzter  allein  als  wert- 
gebend in  Geltung  tritt.  Die  so  geschriebenen  Zahlen  werden  alsdann 
gemäß  der  hier  wirklich  vorkommenden  Nullen  nach  den  Regeln  des 
Stellungswertes  gelesen.  Die  Möglichkeit,  eine  und  dieselbe  Zahl  nach 
dieser  Methode  auf  verschiedene  Weise  darzustellen,  ist  eine  fast  un- 
begrenzte und  gewährt  durch  den  Sinn  der  jedesmal  gewählten  Worte 
nicht  bloß  eine  wahre  Gedächtnishilfe,  sondern  auch  die  Benutzbar* 
keit  im  fortlaufenden  Versmaß  unter  Einhaltung  der  strengen  Regeln 
indischer  Prosodie. 

Noch  geeigneter  zu  solcher  Benutzung  in  Versen  erscheint  die 
zweite  hier  zu  erwähnende  Methode  einer  symbolischen  Positions- 
arithmetik^),  die  ziemlich  weite  Verbreitung  erlangt  hat,  da  sie 
bei  den  Indern,  wie  in  Tibet,  wie  bei  den  Eingeborenen  der  Insel 
Java  vorkommt.  Es  werden  dabei  für  die  Einer  und  auch  für  manche 
zweiziffirige  Zahlen  gewisse  symbolische  Wörter  gewählt,  welche  als* 
dann  mit  Positionswert  zusammengesetzt  werden.  Die  Reihenfolge 
ist  die  der  Sprache  in  den  Zahlen  unter  Hundert,  nicht  die  der  Schrift. 
Das  Zahlenschreiben  befolgt,  wie  wir  wissen,  das  Gesetz  der  Größen- 
folge. Die  Sprache  ist  nicht  immer  so  folgerichtig,  und  so  läßt  sie 
im  Sanskrit  wie  im  Deutschen,  wie  im  Arabischen,  in  dem  Gebiete 
unterhalb  von  Hundert  das  kleinere  Element  dem  größeren  voraus« 
gehen  z.  B.  dreiundsiebzig,  trisaptati.  Ebenso  macht  es  diese  sym- 
bolische Bezeichnung,  welche  wir  um  dieser  Eigentümlichkeit  willen 
lieber  eine  Aussprache  der  Zahlen  mit  Stellungswert,  als  eine  Schreib- 
weise nennen  möchten.  So  heißt  abdhi  (der  Ozean,  deren  es  vier 
gibt)  die  Zahl  4,  sürya  (die  Sonne  mit  ihren  zwölf  Wohnungen)  die 
Zahl  12,  agvin  (die  beiden  Söhne  des  Sürya)  die  Zahl  2  und 
abdhisüryägvinas  in  seiner  Zusammensetzung  2124.  Da  mehr  als  ein 
Wort  für  jede  einzelne  Zahl  zur  VerfQgung  steht,  für  4  z.  B.  auch 
krita  (die  erste  der  vier  Weltperioden),  außerdem  die  mehrziffrigen 
Zahlen  auch  nach  verschiedenen  Gruppen  geteilt  werden  können 
(z.  B.  2124  =  2  .  12  .  4  -  2  . 1  .  24  «  2  .  1  .  2  .  4)  so  ist  hier  die 
Kombinationsfahigkeit  eine  gleichfalls  außerordentliche,  und  die  Ein- 


^)  Nouveau  Journal  Asicstique  XVI,   12,   26  und  84—40,  sowie  Journal 
Asiatique  6.  särie,  I,  284—290  und  446. 


608  28.  Kapitel. 

ffigung  in  das  Yersmaß  ist  damit  so  erleichtert^  daß  man  es  begreif- 
lich findet^  daß  Astronomen  wie  Brahmagapta  mit  Vorliebe  gerade 
der  symbolischen  Zahlenbenennnng  in  ihren  didaktischen  Gedichten 
sich  bedienten. 

Ein  derartiges  bewußtes  Spielen  mit  den  Begriffen  der  Stellnngs* 
arithmetik  mit  Einschluß  der  Null  erklart  sich  am  leichtesten  in  der 
Heimat  dieser  Begriffe,  für  welche  uns  Indien  gilt  und  gelten  darf, 
selbst  wenn  es  sich  um  eine  zweite  Heimat  handelt,  wir  meinen, 
wenn  beide  Begriffe,  was  große  Wahrscheinlichkeit  besitzt,  in  Babylon 
geboren  waren  und  noch  wenig  ausgebildet  nach  Indien  einwanderten. 
Als  mit  der  Stellungsarithmetik  in  offenbarem  Zusammenhange  stoßen 
wir  in  Indien  auf  eine  Reihe  eigentümlicher  Zahlennamen,  wie  keine 
andere  Sprache  der  Erde  sie  besitzt,  die  westlicher  als  Indien  sich 
entwickelte.  Bei  den  Griechen  waren  Namen  für  1,  10,  100,  1000, 
10000  vorhanden,  aus  denen  die  der  höheren  Einheiten  sich  zu* 
sammensetzten.  Bei  den  Römern  war  die  Anzahl  selbständiger  Namen 
noch  beschrankter,  da  10000  bereits  zur  Zusammensetzung  nötigte. 
Das  Gleiche  findet,  wie  wir  vorausschickend  bemerken,  im  Arabischen 
statt.  Das  Sanskrit  besitzt  dagegen  von  100  Millionen  an  die  Ge- 
wohnheit durch  Beifügung  des  Wortes  mahd  (groß)  eine  Verzehn- 
fachung vorzunehmen,  z.  B.  arhuda  »  100  Millionen,  mfüiärhvida 
=  1000  Millionen;  padma  =  10000  Millionen,  mahdpadma  «100000 
Millionen  usw.,  aber  sonstige  wirkliche  multiplikative  Zusammen- 
setzungen wie  decem  müUay  axatovTaxig^vQioi  kommen  nicht  vor, 
und  die  eigentümlich  gebildeten  Wörter  erstrecken  sich^)  bis  zur 
Bezeichnung  der  1  mit  20  Nullen  akshatihim  und  der  1  mit  21  Nullen 
mahaksfiauhiiiL  Es  ist  mit  Recht  bemerkt  worden,  daß  diese  Aus- 
sprechbarkeit jeder  einzelnen  Rangordnung  deren  Gleichberechtigung 
ganz  anders  zu  Bewußtsein  bringe,  als  die  griechischen  und  römi- 
schen Zusammenfassungen  in  Tetraden  und  Triaden  es  gestatten,  daß 
hier  eine  Wurzel  der  Stellungsarithmetik  zutage  trete  ^).  Aber  freilich 
müßte  man,  um  ein  vollgültiges  Urteil  föUen  zu  können,  genau  wissen, 
wie  alt  jene  Sanskritwörter  sind,  wie  alt  dann  wiederum  die  Kenntnis 
der  Null,  und  beides  wissen  wir  nicht.  Was  die  Wörter  betrifft,  so 
erstreckt  sich  Zweifel  über  ihre  Anzahl  wie  über  ihren  Klang,  da 
Bhäskara  z.  B.  in  der  Lilävati  ganz  andere  Zahlwörter  als  die  obigen 
angibt,  die  sich  bis  zur  1  mit  17  Nullen  erstrecken,  und  auch  andere 
Formen  noch  berichtet  werden").     Noch  zweifelhafter  stehen  wir  der 


*)  Pihan,  Exposd  des  eignes  de  numeration  usites  ch^z  lespeuples  orientaux 
anciens  et  modernes.  Paris  1860,  pag.  69.  *)  Woepcke  im  Journal  Asiatique 
fOr  1863,  pag.  443,  Anmerkung  1.      ^  Colebrooke  pag.  4,  Note  4  und  Albr. 


Einleitendes.    Elementare  Bechenkunst.  609 

zweiten  Frage  gegenüber  ^  wann  die  Null  erfanden  worden  sei.  In 
Indien  selbst  haben  wir  keinen  Beleg  für  das  Vorhandensein  der  Null, 
der  höher  hinaufreichte  als  der  Sürya  Siddhanta.  Fremde  Quellen 
reichen  gleichüedls  nicht  sehr  viel  hoher  hinauf^  da  eine  babylonische 
Null  nicht  vor  dem  dritten  yorchrisüichen  Jahrhundert  bekannt  ist 
(S.  31)  und  die  Zeit  ihres  Eindringens  in  Indien^  Torausgesetzt  daß 
wir  nicht  an  selbständige  Nacherfindung  zu  denken  hätten,  nun  gar 
in  tiefstem  Dunkel  lieg^.  Eine  negative  Erscheinung  läßt*  uns  an 
viel  älterem  Yorkommen  überhaupt  zweifeln.  Wenn  die  indischen 
Zahlzeichen  es  waren,  wie  wir  annehmen,  die  um  das  11.  S.  n.  Chr. 
durch  indisch -alexandrinischen  Verkehr  nach  Westen  drangen,  um 
dort  zu  Apices  zu  werden,  so  ist  undenkbar,  daß  die  Null  und  mit 
ihr  die  Positionsarithmetik  nicht  auch  zugleich  herübergekommen 
wären,  falls  sie  vorhanden  waren.  Das  Eolumnenrechnen  mit  den 
Apices  setzt  alsdann  notwendig  voraus,  daß  in  Indien  selbst  die  Null 
erst  nach  dem  U.  S.  landläufiger  Besitz  war.  Ist  aber  dieser  Schluß 
richtig,  dann  ist  es  auch  wahr,  daß  die  der  frühesten  religiösen 
Literatur,  den  sogenannten  vedischen  Schriften  bereits  angehörenden 
hohen  Zahlwörter  älter  als  Null  und  Stellungswert  sind  und  vielleicht 
wenn  nicht  zu  deren  Erfindung  so  doch  zu  deren  leichter  Einbürge- 
rung hinüberleiteten.  Gesichert  freilich,  und  damit  schließen  wir  diese 
Bemerkungen,  ist  nur  das  Vorkommen  der  Null  etwa  seit  400  n.  Chr. 
Eine  äthiopische  Inschrift  aus  dem  11.  oder  III.  S.  n.  Chr.,  in  welcher 
man  die  Zahlen  6383  und  11103  erkannt  haben  will^),  ist  zu  un- 
deutlich, um  als  sicheres  Beweismittel  für  ein  so  altes  Vorkommen 
der  Null  gelten  zu  können. 

Wie  die  Inder  rechneten,  bevor  das  Stellensystem 
ihnen  bekannt  war,  würde  in  mancher  Beziehung  sich  als  von 
geschichtlicher  Bedeutung  erweisen  können.  Leider  befinden  wir  uns 
hier  im  dichtesten  Dunkel.  Nicht  die  leiseste  Andeutung  ist  zu 
unserer  Kenntnis  gelangt,  daß  bei  den  Indem  vor  Zeiten  ein  Finger* 
rechnen  oder  ein  instrumentales  Rechnen  stattgefunden  hätte.  Sollen 
wir  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß  ähnliche  Hilfsmittel  dem  Inder 
fremd  waren?  daß  die  Inder  vielmehr,  unterstützt  durch  die  bequemen 
Zahlennamen,  und  ihrer  Natur  nach  zu  in  sich  gekehrtem,  von  der 
Außenwelt  abgewandtem  Grübeln  geneigt,  wesentlich  Kopfrechnen 
übten,  welches  naturgemäß  sich  nicht  zu  verändern  brauchte,  als  die 
dem   gesprochenen  Worte   abgelauschte  Positionsarithmetik   erfanden 


Weber,  Yedische  Angaben  über  Zeittheilnng  und  hohe  Zahlen  in  der  Zeitschr. 
der  deutsch,  morgenländ.  GesellBch.  XV,  ia2— 140. 
^)  Chrpm  Inscriptionum  Gtaecarum  III,  6108. 

Caxtob,  OeMhlcht«  der  Mathematik  L   S.  Aufl.  89 


610  28.  Kapitel. 

ward?  Das  ist  nicht  unmöglich  nnd  findet  yieUeicht  Unterstützung 
in  gewissen  Verfahren,  von  welchen  wir  noch  zu  reden  haben,  und 
welche  an  das  Zahlengedächtnis  ziemlich  hohe  Anforderungen  stellen. 
Es  ist  aber  auch  ein  Anderes  möglich,  worauf  wir  weiter  oben  be- 
reits einmal  hingewiesen  haben.  Unyollkommeneres  kann  bis  zur 
Vergessenheit  durch  Vollkommeneres  verdrängt  werden,  und  bei  den 
Indem  fand  vielleicht  diese  Verdrängung  bezüglich  der  Rechnungs- 
verfahren statt,  so  zähe  die  Überlieferung  auch  die  Aufgaben  fest- 
gehalten haben  mag,  deren  Ausführung  verlangt  wurde. 

Das  Rechnen  der  Inder  seit  Einführung  des  Stellen- 
wertes ist  teils  aus  indischen  Werken  selbst  bekannt,  teils  und  zwar 
hauptsachlich  aus  dem  Rechenbuche  des  Maximus  Planudes,  welches 
ausdrücklicher  Angabe  des  Verfassers  gemäß  nach  indischen  Quellen 
bearbeitet  ist.  Wir  kommen  jetzt  auf  die  Dinge  zu  reden,  an  welchen 
wir  bei  unserer  ersten  Besprechung  jenes  Werkes  (S.  511)  rascher 
vorübergehen  durften.  Wir  heben  in  erster  Linie  die  Ausführung 
der  Subtraktion  hervor,  welche  unter  der  Voraussetzung,  daß  eine 
Stelle  des  Subtrahenden  einen  höheren  Wert  als  die  entsprechende 
Stelle  des  Minuenden  besitzt,  nach  zwei  Regeln  gelehrt  wird.  Man 
borgt  entweder  die  zur  Er^nzung  des  Minuenden  notwendigen 
10  Einheiten  des  betreffenden  Ranges  von  der  nächsthöheren  Stelle, 
oder  man  gleicht  die  Vergrößerung  des  Minuenden  dadurch  aus,  daß 
man  auch  den  Subtrahenden,  und  zwar  in  der  nächsthöheren  Stelle 
um  1  vergrößert.  Um  also  821  —  348  zu  finden  sagt  man  entweder: 
8  von  11  läßt  3,  4  von  11  läßt  7,  3  von  7  läßt  4,  also  Rest  473 
oder  aber:  '8  von  11  läßt  3,  5  von  12  läßt  7,  4  von  8  läßt  4  mit 
demselben  Ergebnis  wie  vorher. 

Die  Multiplikation  wird  in  sehr  unterschiedenen  Verfahren 
gelehrt.  Wir  erwähnen  nur  beiläufig  der  Zerlegimg  des  Multipli- 
kators in  Faktoren,  mit  welchen  nacheinander  multipliziert  wird,  der 
Auffassung  des  Multiplikators  als  Summe  aber  auch  als  Differenz 
von  Zahlen,  die  eine  im  Verhältnisse  leichtere  Vervielfältigung  zu- 
lassen, Methoden  also,  welche  dem  Kopfrechnen  vorzugsweise  dienen. 
Beim  schriftlichen  Rechnen  ist  darauf  Rücksicht  genommen,  daß  der 
Inder  vielfach  mit  einem  (Jriffel  auf  einer  mit  Sand  bestreuten  Tafel 
rechnete  und  rechnet,  daß  also  das  Weglöschen  einer  Zahl  und  ihr 
Ersetzen  durch  eine  andere  nicht  dem  ganzen  Exempel  ein  unrein- 
liches, häßliches  Aussehen  verschafft.  Die  einzelnen  Teilprodukte 
können  demzufolge  beginnend  mit  der  höchsten  Stelle  des  Multipli- 
kandus,  über  welche  das  erste  und  hauptsächlichste  Teilprodukt  ge- 
schrieben wird,  gebildet  werden.  Jedes  hinzutretende  folgende  Teil- 
produkt vereinigt  sich  mit  dem  schon  dastehenden  Ergebnis  zu  einem 


Einleitendes.    Elementare  Rechenkunst.  611 

neuen^  dessen  Ziffern  an  die  Stelle  der  rasch  yerwischten  früheren 
Ziffern  treten^  bis  schließlich  das  Produkt  über  dem  Multiplikandus^ 
oder  gar  statt  dessen  erscheint^  da  man  auch  wohl  so  weit  geht^  die 
Ziffern  des  Multiplikandus  selbst  wegzulöschen^  sobald  jede  derselben 
so  weit  in  Betracht  gezogen  wurde^  als  es  für  das  Gesamtergebnis 
notwendig  ist.  Eine  die  nachträgliche  Kontrolle  nicht  zur  Unmög- 
lichkeit machende  Multiplikation  wurde  wahrscheinlich  gerade  so 
ausgeführt,  wie  wir  noch  heute  in  Europa  verfahren.  Meistens  jedoch 
wurden  dabei  alle  Zwischenoperationen  dem  Gedächtnisse  überlassen. 
Das  gab  dasjenige  Verfahren ,  welches  Tat  st  ha  (es  bleibt  stehen) 
oder  Vajräbhyäsa  (blitzbildend  d.  h.  zickzackformig)  genannt  wurde*). 
An  einem  Beispiele  mit  allgemeinen  Buchstabensymbolen  erläutert 
sich  dieses  Verfahren  wie  folgt.     Es  ist 

(ao  +  10  .  öi  +  100  •  a, .  ■)  X  (^  +  10  •  *!  +  100  .  6,  +  •  •  •) 
«  «0*0  +  10(^0^  +  «i^o)  +  100(0062  +  a,h,  +  aM  +  •  • .. 
Nach  dem  so  zutage  tretenden  Gesetze  verschaffte  man  sich  jede 
Rangziffer  sogleich  vollständig  genau  und  mit  Zurechnung  dessen, 
was  von  früheren  Ziffern  hinzutreten  mußte,  also  ohne  irgend  weitere 
Verbesserung  nötig  zu  machen.  Eine  andere  Methode  möchten  wir 
das  gerade  Gegenteil  der  eben  geschilderten  nennen,  insofern  sie  dem 
Gedächtnisse  auch  gar  nichts  außer  dem  gewöhnlichen  Einmaleins 
zumutet.  Die  Vorbereitung  besteht  in  der  Herstellung  einer  schach- 
brettartigen Figur*),  deren  einzelne  Felder  durch  gleichlaufende  von 
rechts  oben  nach  links  unten  geneigte  Diagonalen  nochmals  in  je 
zwei  Dreiecke  abgeteilt  sind,  in  welche  dann  die  Einer  beziehungs- 
weise Zehner  jedes  Einzelproduktes  zu  stehen  kommen.  Die  Addi- 
tionen erfolgen  nach  den  durch  jene  Diagonalen  gebildeten  schräg- 
liegenden Kolumnen.  Die  Multiplikation  12  X  735  ==  8820  sieht  mit- 
hin folgendermaßen  aus: 


7 

8 

6 

1 

X 

/ 
/8 

A 

2 

1/'  / 

A  1/6 

1 

/O 

8      8        2        0 

Bei  der  Addition,  der  Subtraktion  und  der  Multiplikation  findet 
die  sogenannte  Neunerprobe  statt,  welche  in  dem  zahlentheore- 
tischen Satze  begründet  ist,  daß  die  Ziffernsumme  einer  Zahl  durch 
9  geteilt  den  gleichen  Rest  wie  die  Zahl  selbst  liefert.  Wir  sind 
ihr    neben    der   Siebenerprobe    bei    einem    Griechen    des   III.   S.   be- 


*)  Colebrooke  pag.  6,  Note  1  und  pag.  171,  Kote  5.      •)  Ebenda  pag.  7, 
Note  1. 

39* 


612  28.  Kapitel. 

gegnei  (S.  461),  wir  kommen  im  35.  und  im  37.  Kapitel  aaf  beide 
zurück. 

Die  Division  ist  wenigstens  in  den  uns  überkommenen  Quellen 
sehr  stiefmütterlich  behandelt.  Bei  dem  Abziehen  der  den  einzelnen 
Qnotientenziffem  entsprechenden  Teilprodukte  wird  yom  Wegwischen 
vorhandener  Ziffern,  vom  Ersetzen  derselben  durch  andere  Gebrauch 
gemacht.  Am  wichtigsten  erscheint  die  freilich  nur  negative  also 
nicht  unzweifelhaft  feststehende  durch  neue  Entdeckungen  mSglichei^ 
weise  umzuwerfende  Tatsache,  daß  noch  keine  Spur  eines  Ver&hrens 
angetroffen  worden  ist,  welches  den  komplementären  Operationen  der 
Römer  zu  vergleichen  wäre. 

Ist  schon  an  und  für  sich  zu  vermuten,  daß  das  Rechnen  mit 
ganzen  Zahlen  historisch  weit  hinaufreiche,  so  ist  es  sagenmäBig, 
und  zwar  an  sehr  großen  Zahlen  geübt,  bis  in  die  Jugendzeit  des 
Reformators  der  indischen  Religion  zurückzuverfolgen.  Der  Lalita- 
vistara,  dessen  Abfassungszeit  freilich  durchaus  unbekannt  ist,  be- 
schäftigt sich  mit  der  Jugend  des  Bodhisattva.  Er  bewirbt  sich  bei 
Dandapäni  um  dessen  Tochter  Gopä,  deren  Hand  ihm  aber  nur  unter 
der  Bedingung  zugesagt  wird,  daß  er  einer  Prüfung  in  den  wich- 
tigsten Künsten  sich  unterziehe.  Die  Schrift,  der  Ringkampf,  das 
Bogenschießen,  der  Sprung,  die  Schwimmkunst,  der  Wettlauf,  vor 
allem  aber  die  Rechenkunst  liefert  den  Inhalt  dieser  von  dem  Jüng- 
linge mit  glänzendem  Erfolge  bestandenen  Prüfung.  In  der  Arith- 
metik erweist  er  sich  sogar  geschickter  als  der  weise  Arjuna  und 
gibt  Zahlennamen  an  bis  zu  tallakshana  d.  i.  eine  1  mit  53  Nullen. 
Das  sei  aber  nur  ein  System,  und  über  dieses  System  gehen  noch 
fünf  oder  sechs  andere  hinaus,  deren  Namen  er  gleichfalls  angibt. 
Jetzt  fragt  man  ihn,  ob  er  die  Zahl  der  ersten  Elementar- 
teilchen berechnen  könne,  welche  aneinandergelegt  die  Länge 
eines  Yöjana  erfüllen,  und  er  berechnet  die  Zahl  mittels  folgender 
Verhältniszahlen:  7  Elementarteilchen  geben  ein  sehr  feines  Stäub- 
chen,  7  davon  ein  feines  Stäubchen,  7  davon  ein  vom  Winde  auf- 
gewirbeltes Stäubchen,  7  davon  ein  Stäubchen  von  der  Fußspur  des 
Hasen,  7  davon  ein  Stäubchen  von  der  Fußspur  des  Widders, 
7  davon  ein  Stäubchen  von  der  Fußspur  des  Stieres,  deren  7  auf 
einen  Mohnsamen  gehen;  7  Mohnsamen  geben  einen  Senfsamen, 
7  Senfsamen  ein  Gerstenkorn,  7  Gerstenkörner  ein  Fingergelenk; 
12  von  diesen  bilden  eine  Spanne,  2  Spannen  eine  EUe,  4  Ellen 
einen  Bogen,  1000  Bögen  einen  Ero^a,  deren  endlich  4  auf  einen 
Yöjana  gehen.  Letzterer  besteht  also  in  unserer  modernen 
Schreibweise  aus  7^®  •  32  •  12000  Elementarteilchen,  d.  h.  aus 
108470495616000  solchen  Teilchen.     Wenn  nun  auch  die  im  Laiita- 


Höhere  Rechenkunst.    Algebra.  613 

vistara  angegebene  Zahl  Yon  dieser  richtigen  abweicht^  so  hat  doch 
nachgewiesen  werden  können  ^)^  daß  eine  Entstehung  der  falschen 
Zahl  aus  der  richtigen  wahrscheinlich  sei;  und  es  ist  auch  die  stoff- 
liche Verwandtschaft  der  Aufgabe  zur  Sandrechnung  des  Archimed 
gebührend  hervorgehoben  worden.  Wäre  also  gesichert,  was  freilich 
nicht  der  Fall  ist,  daß  der  Lalitavistara  vor  300  y.  Chr.  entstand^ 
so  bekäme  damit  die  (S.  322)  angedeutete  weitere  Annahme  Wahr- 
scheinlichkeit;  Archimed  sei  mit  seiner  Aufgabe  als  einer  schon 
älteren  bekannt  geworden ,  die  er  dann  aber  immerhin  nicht  un- 
wesentlich veränderte. 

Nächst  den  ganzen  Zahlen  kommen  Brüche  in  den  Rechnungen 
vor.  Wir  begegnen  bei  den  Indem  Brüchen  mit  beliebigen  ganz- 
zahligen Zählern  und  Nennern.  Die  Schreibweise  besteht  darin,  daß 
der  Zähler  über  dem  Nenner  steht;  ohne  daß  sich  ein  horizontaler 
Bruchstrich  dazwischen  befände.  Bei  dem  Rechnen  mit  Brüchen 
kommt  es  hauptsächlich  auf  die  Einführung  eines  gemeinsamen  Nenners 
an;  bei  dessen  Auffindung  mancherlei  Vorteile  zur  Übung  kommen. 
Natürlich  f äUt  die  Notwendigkeit  der  Zurückführung  auf  gemeinsamen 
Nenner  bei  den  Sexagesimalbrüchen  weg,  welche  vorzugsweise  den 
indischen  Astronomen  gedient  haben  und  ihnen  wohl  nicht  minder 
als  den  Griechen  unmittelbar  aus  der  babylonischen  Heimat  zugeflossen 
sein  dürften,  so  daß  ein  gräko-indischer  Einfluß  hier  nicht  notwendig 
anzunehmen  ist. 


29.  Kapitel. 
HShere  Reehenknnst     Algebra. 

Wir  haben  im  vorigen  Kapitel  uns  mit  dem  Inhalte  des  gewöhn- 
lichsten; allgemeinst  bekannten  Rechnens  der  Inder  beschäftigt.  Wenn 
wir  zu  ihren  höheren  Kenntnissen  uns  wenden,  haben  wir  zuerst  das 
(S.  598)  gegebene  Versprechen  einzulösen  und  von  dem  Rechen- 
buche von  Bakhshäli  zu  reden.  Leider  ist  es  in  jeder  Beziehung 
Bruchstück.  Es  fehlen,  man  weiß  nicht  wieviele;  aber  vermutlich 
zahlreiche  Rindentafeln  am  Anfang  wie  am  EndC;  auch  einige  solche 
in  der  Mitte;  und  die  vorhandenen  Tafeln  sind  auch  nichts  weniger 
als  wohlerhalten ;  so  daß  nur  Mangelhaftes  mitzuteilen  ist;  ein  so 
glänzendes  Zeugnis  es  auch  für  den  Ordner  des  Fundes  bildet,  daß 
es  ihm  überhaupt  gelang,  einen  gewissen  Zusammenhang  herzu- 
stellen.    Der  Name  des  Verfassers  fehlt.     Die  Aufgaben  sind  Text- 

')  Woepcke  im  Journal  Äsiatique  für  1868,  pag.  260—266. 


614  2d.  Kapitel. 

aufgaben.  Das  Zahlenrechnen  ist  bei  ihrer  Behandlung  als  bekannt 
vorausgesetzt.  Brüche  werden  so  geschrieben,  daß  der  Zahler  über 
dem  Nenner  ohne  trennenden  Bruchstrich  steht,  wie  es  auch  bei 
anderen,  späteren  Schriftstellern  (s.  oben)  der  Fall  blieb.  Ganze 
Zahlen  werden  als  Brüche  mit  dem  Nenner  1  geschrieben.  Bei  ge- 
mischten Zahlen  tritt  die  ganze  Zahl  als  solche  über  den  Bruch,  also 

i^ly.  Die  Zahlen,  welche  zu  einer  Operation  vereinigt  werden^ 
3 

sind  meistens  durch  gerade  Linien  eingerahmt ;  dann  folgt  das  unserem 

Gleichheitszeichen   entsprechende  Wort  phalain   oder   abgekürzt  pha 

und  dann  das  Ergebnis. 

Beim  Addieren  steht  yutay  abgekürzt  yu^  hinter  den  Summanden 


z.B. 


1      i^^ 


pha  12    heißt  Y  +  y- 12, 


Beim  Subtrahieren  steht  das  Subtraktionszeichen  hinter  dem 
Subtrahenden,  und  zwar  in  Gestalt  eines  Kreuzes  + .  Es  ist  als  alte 
Form  von  ka  gedeutet  worden,  der  Abkürzung  von  kanita  =•  ver- 
mindert. 

Multiplikation  wird  nicht  bezeichnet.  Das  Nebeneinanderstehen 
von  Zahlen  zeigt  an,  daß  ihr  Produkt  gemeint  ist;  z.  B. 


5    32 

8      1 


pha  20    heißt    3  X  Y  =  20, 


1 

1 

1 

1 

1 

1 

3+ 

3  + 

»  + 

1  2 

Ferner  heißt     i        i        i       ,  die  Zahl  1  —  y  oder     -  solle  dreimal 

als  Faktor  auftreten  und  —  hervorbringen. 

Die  Division  fordert  das  dem  Divisor  nachgesetzte  Wort  hhdga 
=  Teil  abgekürzt  hM. 

Die  Einheit  heißt  immer  rüpa,  die  unbekannte  Zahl  sunya,  und 
letztere  wird  durch  einen  ziemlich  starken  Punkt  •  bezeichnet.  Das 
gehört  zum  Merkwürdigsten  im  ganzen  Rechenbuche.  Sunya  bedeutet 
nämlich  wörtlich  leer  und  wird  auch  für  die  gleichfalls  durch  einen 
Punkt  dargestellte  Null  gesagt.  Der  der  doppelten  Anwendung  von 
Wort  und  Zeichen  zugrunde  liegende  Gedanke  ist  offenbar  richtig  in 
folgendem  erkannt  worden^):  Eine  Stelle  muß  ein  für  allemal  leer 
bleiben,  wenn  ihre  Ausfüllung  nicht  vorhanden  ist;  sie  muß  also 
auch  zunächst  leer  bleiben,  wenn  und  so  lange  ihre  Ausfüllung  noch 
unbekannt   ist,  so  lange  es  sich  noch  um  eine  Lücke  handelt.     Wir 


*)  Ho  er  nie  im  Indian  ÄntiqtMry  XVTI,  pag.  35. 


Höhere  Rechenkunst.    Algebra.  615 

gebrauchen  dieses  Wort  absichtlich  um  auch  hier  an  die  Lücken- 
zeiger der  Babylonier  zu  erinnern. 

Die  Auflösungen  der  gestellten  Aufgaben  erfolgen  mitunter  durch 
Zurückführung  auf  die  Einheit.  Wir  führen  ein  Beispiel  an^). 
B  gibt  2  mal  so  viel  dia  A,  C  S  mal  so  viel  als  By  D  4  mal  so 
viel  als  C;  sie  geben  zusammen  132;  was  gab  Ä?  Man  setze  1 
(rüpa)  für  die  Unbekannte  (sunya).  Nun  ist  -4  =  1,  5=-  2,  C—  6, 
D  =  24,  ihre  Summe  »  33.  Durch  diese  angenommene  Summe  33 
wird  die  wirkliche  Summe  132  dividiert;  der  Quotient  4  läßt  er- 
kennen,  was  Ä  gab.  Man  könnte  die  Behandlung  auch  als  durch 
falschen  Ansatz  vermittelt  bezeichnen,  ebenso  den  falschen  Ansatz 
im  Rechenbuche  des  Ahmes  (S.  79)  eine  Zurückführung  auf  die 
Einheit  nennen.  Ein  Einfluß  altagjptischer  Methoden  ist  in  Indien 
nicht  viel  weniger  möglich  als  der  babylonische,  wenn  er  auch  nicht 
mit  gleicher  Sicherheit  behauptet  werden  will. 

Arithmetische  Reihen  und  deren  Summierung  sind  bekannt.  Ein 
Reisender ')  legt  am  ersten  Tage  2  Wegeinheiten  zurück,  jeden  folgen- 
den Tag  3  mehr.  Ein  zweiter  Reisender  legt  am  ersten  Tage  3  Weg- 
einheiten zurück,  jeden  folgenden  Tag  2  mehr.  Wann  treffen  sie  zu- 
gleich an  einem  Punkte  ein?  Seien  a^,  d,  für  den  ersten,  a,,  d^  für 
den  zweiten  Reisenden  Anfangsgeschwindigkeit  und  tägliche  Vermeh- 
rung derselben,  x  die  Zahl  der  Tage  bis  zur  Begegnung.  Die  Forde- 
rung der  Aufgabe  lautet: 

«1  +  («1  +  dl)  -h  •  •  •  -I-  (%  +(a:~  DdJ 

«  a,  -I-  (a^  +  rfg)  H h  (a,  +  {x—  Dd^) 

oder 

[2a,  +  (X  -  l)dj  J  -  [2a,  +  ix-l)d,]^, 

woraus  sofort  x  ==  ^  pZ-d  "^  ^  f^^8*>  ^^^  so  scheint  auch  die  ohne 
vorhergegangene  Herleitung  ausgesprochene  Regel  des  Rechenbuches 
es  vorzuschreiben. 

Neben  bestimmten  Aufgaben  sind  unbestimmte  vorhanden. 
Wir  führen  wieder  ein  Beispiel  an").  Man  sucht  eine  Zahl,  welche 
um  5  vermehrt  oder  um  7  vermindert  jeweils  ein  Quadrat  gebe. 
Aus  X  +  0  ^y^  und  x—l^z^  folgt  12  =  y*  —  ^r*  =  (y  —  z)(y  +  z). 
Für  y  —  z  und  y  +  z   werden   nun   irgend   zwei   Faktoren   des   Pro- 

12 

duktes  12  gesetzt,  z.  B.  y  —  jer  ==  2  und  y  +  ^  =*  «  =-  6-  Daraus 
folgt  y  =  4,  z  -^2j  a:=ll,  wie  es  im  Rechenbuche  unter  Andeutung 
del"  vollzogenen  Rechnung  auch  herauskommt. 

^)Hoernle  im  Indian  Äntiquary  XVU,  pag.  45.  ')  Ebenda  pag.  42. 
*)  Ebenda  pag.  44. 


616  29.  Kapitel. 

Wir  wenden  uns  nnü  zu  dem  höheren  arithmetischen  Wissen 
derjenigen  Schriftsteller^  deren  Namen  und  Zeitalter  wir  genau  zu 
bestimmen  imstande  waren.  Etwas  höher  steht  schon  das  Erheben 
einer  Zahl  zur  zweiten  und  dritten  Potenz,  sowie  die  Ausziehung  von 
Quadrat-  und  Kubikwurzeln.  Den  Indem  gehörte  freilich  Potenz- 
erhebung und  Wurzelausziehung  noch  zu  den  elementaren  Opera- 
tionen, deren  sie  demzufolge  6  zahlten,  shadvidham  die  sechs  Rech- 
nungsverfiahren*).  Die  zugrunde  liegenden  Formeln  waren,  wie  nicht 
anders  zu  erwarten  steht,  die  der  Binomialentwicklungen 

(a  +  by  =  a«  +  2ab  +  6«,  (a  +  6)»  =  a»  +  Sa'b  +  3a6*  +  6», 
Aryabhatta  weiß  schon  von  den  zwei-,  beziehungsweise  dreistelligen 
Abschnitten  zu  reden,  in  welche  man  die  Zahlen  zum  Zwecke  der 
beiden  Wurzelausziehungen  zu  teilen  habe^,  was  uAs  gestattete  zu 
behaupten  (S.  606),  er  müsse  die  eigentliche  Stellungsarithmetik  ge- 
kannt haben.  Wurzel  überhaupt,  auch  in  der  Bedeutung  der  Wurzel 
einer  l^flanze,  heißt  müla  oder  pada^  varga  bedeutet  eine  Reihe 
gleicher  Gegenstande,  dann  ein  Quadrat  im  geometrischen  wie  im 
arithmetischen  Sinne  des  Wortes;  ghana  ist  ein  Körper;  und  durch 
Zusammensetzung  dieser  Ausdrücke  gewann  man  die  Namen  Quadrat- 
wurzel, varga  müla,  und  Kubikwurzel,  ghafia  müla^). 

Ist  nach  unserem  Dafürhalten  die  Erfindung  der  Null  eine  baby- 
lonische, die  Vertiefung  des  Begriffes  eine  indische,  so  ist  das 
Rechnen  mit  der  Null  schon  zu  Brahmaguptas  Zeit  Gegenstand 
besonderer  Vorschriften  gewesen*).  Null  geteilt  durch  Null  ist  nichts. 
Zahlen  geteilt  durch  Null  geben  Brüche  mit  Null  als  Nenner.  Das 
sind  freilich  dürftige  Bestimmungen,  mit  welchen  nicht  viel  zu 
machen  ist.  Ghmz  anders  weiß  Bhaskara  Bescheid,  wenn  er  sagt: 
Diese  Größe,  nämlich  der  Bruch,  dessen  Nenner  Null  ist,  läßt  keine 
Änderung  zu,  mag  auch  vieles  hinzugesetzt  oder  weggenommen  werden. 
Findet  doch  gleichermaßen  in  der  unendlichen  und  unveränderlichen 
Gottheit  kein  Wechsel  statt  zur  Zeit  wo  Welten  zerstört  oder  ge- 
schaffen werden,  wenn  auch  zahlreiche  Ordnungen  von  Wesen  auf- 
genommen oder  hervorgebracht  werden^).  Der  Kommentator  Bjrishna 
erläutert  den  Gegenstand  mit  den  Worten:  Je  mehr  der  Divisor  ver- 
mindert wird,  um  so  mehr  wird  der  Quotient  vergrößert.  Wird  der 
Divisor   aufs   äußerste  vermindert,   so   vergrößert   sich   der  Quotient 


*)  Vgl.  L.  Rodet  in  der  Abhandlung:  L'algebre  d'Äl'Ehdriemi  et  Jes 
meihodes  tndienne  et  grhcque,  Journal  Asiatique.  lihme  s^rie  XI,  21  (1878). 
*)  L.  Bodet,  Legona  de  calcul  d'Aryabhaia  pag.  9  und  18  flgg.  *}  Cole- 
brooke  pag.  9,  Note  3  und  pag.  12,  Note  1.  *)  Ebenda  pag.  339—840. 
^)  Ebenda  pag.  188. 


Höhere  Rechenkunst.    Algebra.  617 

aufis  äußerste.  Aber  so  lange  er  noch  angegeben  werden  kann,  er 
sei  so  und  so  groß^  ist  er  nicht  aufs  äußerste  vergrößert;  denn  man 
kann  alsdann  eine  noch  größere  Zahl  angeben.  Der  Quotient  ist 
also  von  unbestimmbarer  Größe  und  wird  mit  Recht  unendlich  ge- 
nannt^). Ss  ist  auffallend  genug,  daß  bei  so  verständiger  Auffassung 
Bhaskara  an  anderer  Stelle^  das  Rechnen  mit  der  Null  in  haar- 
sträubender Weise  mißbraucht  und  daß  auch  seine  Erklärer  nichts 
dabei  zu  erinnern  wissen.  Eine  Zahl  soll  nämlich  aus  folgenden  An- 
gaben gefunden  werden:  Ihr  Quotient  durch  Null  vermehrt  um  die 
Zahl  selbst  und  vermindert  um  9  wird  zum  Quadrat  erhoben,  alsdann 
die  Wurzel  dieses  Quadrates  hinzugefclgt  und  die  Summe  mit  Null 
vervielfacht,  so  soll  90  herauskommen.     Die  Rechnung  ist  folgende: 

«c  .  sc  SC^  X 

'^  +  X  —  9  ist  immer  noch  — ,  das  Quadrat  .  Dazu  y  addiert 
gibt    ^  +  Y  "^^  ^^ch  Vervielfältigung   mit  der  Null  x^  +  x  =^90, 

woraus  j;  =  9  folgt! 

Wir  sind  mit  diesem  Beispiele  schon  zur  Algebra  der  Inder 
übergegangen,  welche  trotz  des  wenig  bestechenden  Einganges,  den 
wir  gewählt  haben,  sich  uns  in  überraschender  Entfaltung  vorstellen 
wird.  Doch  bevor  wir  uns  mit  ihr  beschäftigen,  haben  wir  zu  be- 
merken, daß  die  Inder  Rechnungsaufgaben  mitunter  auch  in  nicht 
algebraischer  Weise  lösten,  und  daß  für  einzelne  Regeln  besondere 
Namen  üblich  waren,  teils  auf  das  Verfahren,  teils  aber  auch  weit 
weniger  folgerichtig  auf  den  Inhalt  der  Aufgaben  sich  beziehend. 

Unter  den  ersteren  nennen  wir  die  Umkehrung,  viloma  kriyä, 
bei  welcher  die  Reihenfolge  der  Operationen,  welche  vorzunehmen 
waren  um  zur  gegebenen  Zahl  zu  gelangen,  geradezu  umgekehrt  wird. 
Aryabhatta  gibt  in  der  28.  Strophe  seines  mathematischen  Kapitels') 
die  Regel  in  seiner  lakonischen  Weise:  „Multiplikationen  werden 
Divisionen,  Divisionen  werden  Multiplikationen;  was  Gewinn  war 
wird  Verlust,  was  Verlust  Gewinn;  Umkehrung.*'  Um  dieser  Kürze 
die  poetisch  anmutende  Form  gegenüberzustellen,  welche  Bhaskara 
namentlich  in  dem  Lilavati  überschriebenen  Kapitel  anzuwenden  liebt, 
lassen  wir  ein  Beispiel  aus  diesem  Kapitel  folgen*):  „Schönes  Mäd- 
chen mit  den  glitzernden  Augen  sage  mir,  so  du  die  richtige  Methode 
der  Umkehrung  verstehst,    welches    ist    die    Zahl,    die    mit    3    ver- 

vielfacht,  sodann  um  -j-  des  Produktes  vermehrt,  durch  7  geteilt,  um 
-   des  Quotienten  vermindert,  mit  sich  selbst  vervielfacht,  um  52  ver- 


*)  Colebrooke  pag.  137,  Note  2.       *)  Ebenda  pag.  213.      »)  L.  Rodet, 
LeQons  de  aücül  d'Aryahhaia  pag.  14  und  87—88.        *)  Colebrooke  pag.  21. 


618  29.  Eftpitel. 

mindert;  darch  Aasziehung  der  Quadratwurzel,  Addition  von  8  und 
Dirision  durch  10  die  Zahl  2  hervorhringt/'  Die  Rechnung  nimmt 
hier  den  Gang 

(2  .  10  ~  8)«  +  52  «  196,   yi96  «  14  und  14  •  ly  •  7  •  y  :  3  «  28 
als  Anfangszahl. 

Eine  zweite  Regel  ist  das  Verfahren  mit  der  angenommenen 
Zahl,  ishia  karman-^  es  ist  genau  dasselbe  Verfahren,  welches  wir 
(S.  76  und  79)  als  Methode  des  falschen  Ansatzes  bei  den  Ägyptern 
kennen  gelernt  haben,  mit  dem  einzigen  Unterschiede,  daß  jetzt  als 
bewußte  Methode  auftritt,  was  ehedem  fast  instinktiv  geübt  wurde. 
So  sollen^)  68  erhalten  werden,   indem  man  eine  Zahl  verftinffacht, 

Y  des  Produktes  abzieht,  den  Rest  durch  10  dividiert  und  y,  —  und 

—  der  ursprünglichen  Zahl  addiert.     Im  Rechenbuche  von  Bakhshäli 

wäre  versuchsweise  1  für  die  ursprüngliche  Zahl  gesetzt  worden, 
Bhäskara  wählt  versuchsweise  3  und  erhält  so  15,  10,  1  und 

^^3^2^4  4 

17    . 

Man  muß  also  mit  —  in  68  dividieren  und  den  Quotient  16  mit  3 

4 

multiplizieren  um  die  Zahl  48  zu  finden.  Der  Kommentator  Ganefa 
bemerkt  dazu  ganz  richtig,  daß  bei  dieser  Methode  nur  Multiplika- 
tionen, Divisionen  und  Additionen  oder  Subtraktionen  von  Bruch- 
teilen der  Ergebnisse  vorkommen  dürfen. 

Die  Regeldetri  kommt  bei  Aryabhatta  vor^),  dann  in  mehreren 
Regeln  direkten  und  indirekten  Ansatzes  zerspaltet  und  zur  Regel 
mit  mehreren  Verhältnissen  erweitert  bei  Brahmagupta,  bei  ^i'idhara, 
bei  Bhäskara.  Wir  geben  wieder  einige  Beispiele.  „Eine  weiße 
Ameise  bewegt  sich  in  einem  Tage  um  die  Länge  von  8  Gersten- 
körnern weniger  -  -  eines  solchen  vorwärts;  sie  kriecht  in  3  Tagen 
um  .^  Finger   zurück;   in  welcher  Zeit   wird   sie  unter   diesen  Ver- 

hältnissen  ein  Yojana  weit  vorrücken"*)?  Die  Verhältniszahlen  sind 
8  Gerstenkörner  =  1  Finger,  24  Finger  =  1  Elle,  4  Ellen  =  1  Stab, 
8000  Stab  «  1  Yojana  und  so  findet  man  98042553  Tage.  Die 
Aufgabe:  „Eine  16jährige  Sklavin  kostet  32  Nishkas,  was  wird  eine 
20jährige  kosten"*)?  wird  nach  umgekehrter  Proportion  behandelt, 
weil  „der  Wert  lebender  Geschöpfe  (Sklaven  und  Vieh)  sich  nach 
deren  Alter  regelt".     Das  ältere  ist  das  billigere. 


^  Colebrooke  pag.  23.        *)  L.  Bodet,   Legons  de  calcul  d*Aryabhata 
pag.  14  und  37.     ^  Colebrooke  pag.  283,  Note  2.    ^)  Ebenda  pag.  84. 


Höhere  Rechenkunst.    Algebra.  619 

Von  den  Regeln ,  deren  Name  an  die  bebandelten  Gegenstände 
erinnert,  nennen  wir  die  Zinsrechnung,  bei  welcher  ebensowohl 
die  Anrechnung  von  Zinseszinsen  ^)  als  der  Zinsfaß  von  5  Prozent 
monatlich^)  auffallen  mag. 

Wir  nennen  femer  die  Mischungsrechnung  von  Eßwaren'), 
wo  um  eine  gegebene  Summe  etwa  Reis  und  Bohnen  im  Verhältnisse 
von  2  zu  1  Maßteilen  gekauft  werden  will,  während  der  Preis  dieser 
Gegenstände  einzeln  bekannt  ist.  Dem  Gedanken  nach  können  wir 
eben  dazu  auch  die  Aufgaben  rechnen,  welche  wir  Brunnenauf- 
gaben genannt  haben  (S.  391),  die  aber  bei  den  Indem  keinen  ähn- 
lichen Namen  führen*). 

Hierher  sind  auch  die  Aufgaben  über  Reihen  zu  zählen^). 
Aryabhatta,  Brahmagupta  und  Bhäskara  lehren  die  Summiemng  der 
arithmetischen  Reihe  sowie  auch  der  von  1  an  aufeinander  folgenden 
Quadratzahlen  und  Eubikzahlen.  Mit  geometrischen  Progressionen 
hat  Bhäskara,  hat  auch  Prithüdaka,  ein  Erklärer  des  Brahmagupta, 
sich  beschäftigt®).  Die  Ergebnisse  gehen  in  keiner  Beziehung  über 
diejenigen  hinaus,  welche  wir  bei  den  Ghriechen  teils  genau  nach- 
weisen konnten,  teils  voraussetzen  mußten,  weil  wir  sie  bei  Epa- 
phroditus  in  offenbar  erst  nachgeahmter  Form  wiederfanden,  während 
kein  Zweifel  obwalten  kann,  daß  schon  Epaphroditus  mehr  als  ein 
Jahrhundert  früher  als  Aryabhatta  gelebt  haben  muß. 

Eine  besondere  Gmppe  von  Aufgaben  bilden  endlich  die  Ver- 
i9etzungen.  Wenn  man  nicht  als  älteste  Spur  derselben  bei  den 
Indern  die  24  Namen  gelten  lassen  will,  welche  den  Abbildungen  des 
Visehnu  je  nach  der  Ordnung,  gemäß  welcher  er  in  seinen  vier  Händen 
die  Keule,  die  Scheibe,  die  Lotosblume  und  die  Muschel  hält,  bei- 
gelegt wurden^),  so  muß  man  jedenfalls  jene  Kapitel  der  indischen 
Prosodie  hierher  rechnen®),  in  welchen  die  verschiedenen  Möglich- 
keiten gezählt  werden,  welche  bei  Versen  von  gegebener  Silbenmenge 
in  bezug  auf  Länge  und  E,ürze  der  einzelnen  Silben  auftreten,  eine 
Aufgabe,  welche  auf  Versetzungen  teilweise  untereinander  gleicher 
Elemente  führt.  Formeln  der  Kombinatorik  ohne  Beweise  zusammen- 
gestellt finden  eich  bei  Bhäskara^).  Dort  ist  die  Zahl  der  Kombi- 
nationen ohne  Wiederholung  zu  bestimmter  Erlasse  angegeben,  dort 


*)  L.  Rodet,  Legons  de  calcul  d'Äryabhata  pag.  14  und  36— S7.  *)  Cole- 
brooke  pag.  89.  *)  Ebenda  pag.  43.  ^)  Ebenda  pag.  42  und  282,  Note  1. 
*)  L.  Rodet,  LeQons  de  calcul  d'Äryabhata  pag.  12—13  und  82—36.  Cole- 
brooke  pag.  290  flgg.  und  61  flgg.  •)  Ebenda  pag.  66  und  291,  Note. 
')  Ebenda  pag.  124,  Note  1.  •)  Albr.  Weber,  Ueber  die  Metrik  der  Inder. 
Indische  Studien  VIII,  besonders  S.  826—328  und  426  flgg.  ^  Colebrooke 
pag.  49  und  123—127. 


620  29.  Kapitel. 

die  Zahl  der  Permutationen  mit  lauter  ungleichen  oder  teilweise 
gleichen  Elementen^  dort  die  Summe ^  welche  entsteht,  wenn  man 
alle  Permutationsformen  als  dekadisch  geschriebene  Zahlen  betrachtet 
und  zueinander  addiert,  lauter  Dinge,  welche  in  dieser  Yollkommen-' 
heit  gewiß  keinem  Griechen  jemals  bekannt  waren,  wenn  auch,  wie 
wir  gezeigt  haben,  die  Meinung  aufzugeben  ist,  als  sei  den  Griechen 
die  Kombinatorik  überhaupt  durchaus  fremd  gewesen. 

Gehen  wir  nun  zu  der  eigentlichen  Algebra  der  Inder  über,  so 
haben  wir  erstens  yon  ihren  Bezeichnungen  und  Benennungen,  zwei- 
tens von  ihrer  Auflösung  bestimmter  Gleichungen,  drittens  von  ihren 
zahlentheoretischen  Kenntnissen  zu  reden. 

In  den  Bezeichnungen  und  Benennungen  ist  bei  den  Indern 
selbst  ein  Fortschritt  zu  erkennen,  welcher  sie  von  unvollkommenen 
Anfängen  zu  einer  Höhe  führt,  welche  die  Entwicklung,  zu  welcher 
Diophant  diese  Dinge  brachte,  ziemlich  tief  unter  sich  laßt.  Aryab- 
hatta^)  nennt  die  unbekannte  Größe  einer  Aufgabe:  Kügelchen,  gtdäcd^ 
die  bekannte  Größe:  mit  Zeichen  versehene  Münzen,  rupdkä.  Das 
letztere  Wort  ist  ohne  die  Anhängsilbe  M,  welche  im  Sanskrit  sehr 
häufig  wiederkehrt,  als  rüpa  geblieben,  das  gleiche  Wort,  welches  im 
Rechenbuche  von  Bakhshali  die  Einheit  bedeutete;  für  die  Unbekannte 
tritt  bei  Brahmagupta  schon  das  allgemeinere  Wort:  so  viel  als 
{quatUum  tantum),  yävaUävat  ein.  Einen  Vergleich  mit  dem  ägyp- 
tischen hau,  dem  Diophantischen  igidpiög  unterlassen  wir,  als  zu  un- 
bestimmter Natur.  Die  Inder  besaßen  für  beide  Gattungen  von 
Größen,  für  die  bekannte  wie  für  die  unbekannte,  Zeichen,  die  in 
den  Anfangssilben  jener  Wörter  ru  und  yä  bestanden,  mithin  erst 
eingeführt  worden  sein  dürften,  als  gulikä  zugunsten  von  yävaMävai 
ab^ngig  geworden  war.  Sollten  derartige  Größen  addiert  werden, 
so  wurden  die  zu  vereinigenden  Ausdrücke  ohne  weiteres  einander 
nachgesetzt,  wie  es  von  Diophant  auch  geschah.  Bei  der  Subtraktion 
ist  ein  Unterschied  zwischen  der  griechischen  und  der  indischen 
Bezeichnung,  welcher  zugunsten  der  letzteren  ausschl^en  möchte. 
Wir  wissen,  daß  Diophant  das  Subtraktionszeichen  (fi  dem  Abzu- 
ziehenden vorsetzte,  daß  bei  ihm  nur  von  Differenzen,  von  abzüg- 
lichen aber  keineswegs  von  negativen  Größen  die  Rede  war  (S.  471). 
Anders  die  Inder.  Bei  der  Subtraktion  wird  über  den  Zahlenkoeffi- 
zient des  Abzuziehenden,  seien  es  ru  oder  yä  um  die  es  sich  handelt, 
ein  Pünktchen  gemacht.  Das  ist  ein  so  wesentlicher  Fortschritt 
gegen  das  Kreuz  der  Subtraktion,  von  welchem  (S.  614)  die  Rede 
war,   daß   er  nicht  genug  hervorgehoben  werden  kann.     Das  jüngere 


')  L.  Rodet,  Legons  de  cälcid  d'Aryabhata  pag.  15  und  39 — 40. 


Höhere  Rechenkunst.    Algebia.  621 

Pünktchen  ist  kein  Zeichen  der  Operation^  sondern  der  Eahlenart. 
Es  verwandelt  die  Subtraktion  in  eine  Addition  anders  gearteter, 
entgegengesetzter  Ghrößen.  Es  sind  wirklich  positive  und  negative 
Zahlen,  mit  denen  man  operiert.  Die  positiven  Zahlen  heißen  dhana 
oder  svUy  die  negativen  rina  oder  kshaya,  erstere  mit  der  Bedeutung 
Vermögen,  letztere  Schulden  bedeutend^).  Ja  die  Erläuterung 
des  Gegensatzes  positiver  und  negativer  Zahlen  durch  den  Gegen- 
satz der  Richtung  einer  Strecke  ist  dem  Inder  nicht  fremd^j. 
Diophant  blieb  bei  der  Bezeichnung  der  ersten  Potenz  der  Unbe- 
kannten nicht  stehen.  Ebensowenig  tut  es  der  Inder.  Allein  auch 
hier  ist  eine  sehr  wesentliche  Verschiedenheit  zwischen  beiden  Be- 
zeichnungen. Diophant  addiert  (S.  470)  seine  Exponenten;  die  Inder 
multiplizieren  sie,  wenn  nicht  das  Wort  ghafd  besonders  anzeigt, 
daß  eine  Addition  vorgenommen  werden  soll.  Die  zweite  Potenz 
wird  durch  varga  abgekürzt  in  va,  die  dritte  durch  gJuma  abgekürzt 
zu  gha  bezeichnet,  Wörter,  die  uns  oben  bei  der  Wurzelausziehung 
schon  bekannt  geworden  sind.  Dann  heißt  der  angedeuteten  Regel 
gemäß  va  va,  va  gha,  va  va  va,  gha  gha  die  2  •  2  «  4te,  2  •  3  =  6te. 
2. 2-2  =  8 te,  3-3=«9te  Potenz,  und  die  zwischenliegenden  5.  und 
7.  Potenz  der  Unbekannten  führen  die  Namen  und  Zeichen  va  gha 
ghaia,  va  va  gha  ghata.  Über  diese  Potenzbezeichnung  hinaus  hat 
sich  aber  der  Inder  auch  noch  zu  einer  Bezeichnung  der  irratio- 
nalen Quadratwurzel  einer  Zahl  mit  Hilfe  des  Wortes  karana, 
geschrieben  Äa,  emporzuschwingen  gewußt.  Die  Bedeutung  dieses 
Wortes,  welches  mit  dem  Zeitwort  machen  in  Verbindung  steht, 
deutet  allerdings  darauf  hin,  daß  hier  das  indische  Zeichen  einem 
griechischen  Begriffe  nachgebildet  sei,  daß  man  die  Länge  sucht, 
welche  eine  gewisse  Oberfläche  als  ihr  Quadrat  macht;  denn  wenn 
der  Grieche  hier  auch  können  zu  sagen  liebt,  so  steht  dem  doch 
der  Ausdruck  6  inb  r^g  aß  d.  h.  das  von  der  Strecke  aß  gemachte 
Quadrat  zur  Seite*).  Der  Inder  hat  femer  ein  Zeichen  der  Multipli- 
kation in  dem  den  Faktoren  nachzusetzenden  Worte  hhävita,  das  Her- 
vorgebrachte, geschrieben  hhä.  Dieselbe  Silbe  war  (S.  614),  als  An- 
fang eines  anderen  Wortes,  Divisionszeichen.  Er  hat  endlich  eine 
unterscheidende  Bezeichnung  för  mehrere  Unbekannte,  indem  nur  die 
erste,  häufig  alleinige  Unbekannte  yävattdvat  heißt,  während  die 
übrigen  nach  Farben  unterschieden  werden*):  die  schwarze  Mlaka, 
die  blaue  ntlaka,  die  gelbe  pttaka,  die  rote  hhitaka,  die  grüne  hari- 
taka  regelmäßig  durch  die  Anfangssilbe  bezeichnet,  eine  Bezeichnungs- 


^)  Colebrooke  pag.  181,  Note  1.     *)  Ebenda  pag.  71,  §  166.    ")  L.  Rodet, 
Legons  de  calcul  d'Äryabhata  pag.  31.      ^)  Colebrooke  pag.  139  und  348flgg. 


622  29.  Kapitel. 

weise^  deren  ganz  allgemeine  Übung  zu  dem  Rückschlüsse  geführt 
hat,  es  müßten  auch  die  indischen  Zahlzeichen  ursprünglich  Anfangs- 
silben der  betreffenden  Zahlwörter  gewesen  sein.  Als  Beispiel  der 
eben  erwähnten  mehrere  unbekannte,  umfassenden  Schreibweise  mag 
yä  Ted  bhd  gelten  d.  h.  die  Unbekannte  mit  der  Schwarzen  in  Ver- 
yielfachung  oder  a;  mal  t/.  Die  Gleichsetzung  zweier  Zahlen  vollzog 
Diophant  durch  das  Wort  töot,  mitunter  zu  l  abgekürzt.  Auch  dem 
Inder  fehlt  nicht  ein  Wort  dieser  Bedeutung;  in  Gleichgewicht, 
tulyau,  heißen  die  beiden  Glieder,  pakshau^),  aber  sie  bedürfen  dessen 
beim  Schreiben  nicht.  Sie  setzen  die  einander  gleichen  Ausdrücke 
unmittelbar  untereinander  ohne  jedes  vermittelnde  Wort,  allerdings 
auch  ohne  Gleichheitszeichen.  Sie  scheuen  es  dabei  nicht  eine  nega- 
tive Zahl  allein  die  eine  Seite  einer  Gleichung  bilden  zu  sehen,  wenn 
sie  auch  freilich  rein  sinnlich  genommen  dieselbe  selten  allein  sehen, 
indem  meistens  die  nicht  vorkommenden  Glieder  mit  dem  Koeffi- 
zienten 0  behaftet  angeschrieben  werden.  Soll  also  bei  Brahmagupta 
aus  10a?  —  8  =  a:*  +  1  die  Folgerung  —  9  ==*  a:*  —  10a?  gezogen 
werden*),  so  schreibt  er  Oa;*  -f  lOa?  —  8=«la:*  +  0a?+l  und  dann 
erst  —  9  =«  a:*  ■—  10  a:  oder  in  indischer  Weise 

yä  va  0  yä  10  rü  8  und  dann  rü  9 

yä  va  1  yä    0  rü  1  yä  va  1  yä  10. 

Negative  Wurzeln  einer  Gleichung  waren,  wenn  auch  nicht 
streng  verpönt,  doch  auch  nicht  gestattet;  man  darf  vielleicht  sagen, 
sie  wurden  mit  Bewußtsein  ihres  Vorkommens  beseitigt:  „Absolute 
negative  Zahlen  werden  von  den  Leuten  nicht  gebilligt'*'). 

Damit  sind  wir  aber  schon  bei  der  Auflösung  bestimmter 
Gleichungen  angelangt.  Die  Inder  behandelten  solche  von  ver- 
schiedenen Graden.  Eine  Grundoperation  ging  immer  voraus.  Nach- 
dem nämlich  der  Ansatz  vollzogen  war,  zog  man  entsprechende  Teile 
voneinander  ab;  Vielfache  des  Quadrats  der  Unbekannten,  Vielfache 
der  Unbekannten,  Bekanntes  wurden  bei  der  dafür  ungemein  be- 
quemen indischen  Anordnung  voneinander  subtrahiert,  und  man 
nannte  dieses  säma  gödhanam  d.  h.  Abziehung  des  Ahnlichen.  Mit 
Fug  und  Recht  hat  man  diesen  Ausdruck  neben  das  diophantische 
„Gleichartiges  von  Gleichartigem"  (S.  472)  gestellt*).  Es  ist  gewiß 
nicht  zu  weit  gegangen,  wenn  man  behauptet  von  den  Wörtern  sänia 
gödhanam  und  äxb  b^oCwv  o/iota  sei  das  eine  die  Übersetzung  des 
andern,    und    warum   wir   geneigt   sind   Diophant    als    selbständigen 


*)  L.  Rodet,  L'alghhre  d' Al-Khdrizmi  pag.  17.  *)  Colebrooke  pag.  346 
bis  847,  §  49.  »)  Ebenda  pag.  217,  §  140.  *)  L.  Rodet,  L'alghbre  d'Al'Khdnzmi 
pag.  49. 


Höhere  Bechenkimst.    Algebra.  623 

Schriftsteller  zu  betrachten,  haben  wir  früher  (S.  465)  erörtert.  Hier 
wäre  somit  schon  eine  Ton  den  verheißenen  Spuren  griechischer 
Algebra  auf  indischem  Boden^  hier  eine  Spur  indischen  Fortsehrittes 
in  Gestalt  ihrer  Anordnung.  Aryabhatta  hat  in  seiner  31.  Strophe 
ein  merkwürdiges  Beispiel  aufgestellt^):  „Teile  bei  entgegengesetzter 
Bewegung  die  Entfernung  durch  die  Summe  der  Geschwindigkeiten, 
bei  übereinstimmender  Bewegung  teile  die  Entfernung  durch  die 
Differenz  der  Geschwindigkeiten;  die  zwei  Quotienten  sind  die  Be- 
gegnungszeiten der  beiden  in  der  Vergangenheit  oder  Zukunft'',  das 
ist  die  allgemein  gestellte  Aufgabe  der  beiden  Kuriere,  wie 
richtig  erkannt  worden  ist.  Hat  aber  Aryabhatta  diese  Aufgabe 
gleichungsweise  gelöst  in  der  Weise,  wie  wir  soeben  zu  erörtern  an- 
gefangen haben,  oder  hat  er  nur  eine  von  auswärts  erhaltene  Regel 
wiederholt?  Eine  bestimmte  Antwort  läßt  sich  noch  nicht  geben. 
Jedenfalls  ist  bei  Brahmagupta  die  Gleichung  als  solche  vorhanden. 
Viermal  der  zwölfte  Teil  einer  um  1  vermehrten  Zahl  wird 
um  8  vergrößert,  um  die  um  1  vermehrte  Zahl  zu  finden^).  Die 
Zahl  yä    wird    um    1    vermehrt   zu   yä    1   rü  1,     Dann    teilt    man 

durch  12  und  vervielfacht  mit  4  zu  ^^  J^  ,  vermehrt  um  8  zu 
« .     Das  soll  aber  dem  yä  1  rü  1  gleich  sein,  mithin  ist: 

yä  1  rti  25 
yä  3  n^  3. 

Der  Ansatz  ist  soweit  vollendet  und  nun  heißt  es  weiter:  Der  Unter- 
schied der  Unbekannten  ist  yä  2;  hierdurch  der  Unterschied  der  be- 
kannten Zahlen  nämlich  22  geteilt  gibt  die  Zahl  11.  Bhäskara  hat 
mit  Vorliebe  Textaufgaben  behandelt,  deren  Form  dem  poetischen 
Gewände,  in  welchem  das  Ganze  erscheint,  sich  trefflich  anpaßt.  Wie 
er  das  Kapitel  der  Rechenkunst  Lilävati,  die  Reizende,  genannt  hat, 
und  von  den  glitzernden  Augen  der  Schönen  (S.  617)  im  Zusammen- 
hang mit  dem  Umkehrungsverfahren  zu  reden  wußte,  so  stellt  er 
auch  folgende   auf  eine  Gleichung   ersten  Grades   führende   Frage'): 

„Von  einem  Schwärm  Bienen  läßt  -l    sich   auf  einer   Kadambablüte, 

Y   auf  der   Silindhablume   nieder.      Der    dreifache   Unterschied    der 

beiden  Zahlen  flog  nach  den  Blüten  eines  Kutaja,  eine  Biene  blieb 
übrig,  welche  in  der  Luft  hin  und  herschwebte  gleichzeitig  angezogen 
durch  den  lieblichen  Duft  einer  Jasmine  und  eines  Pandamus.    Sage 

^)  L.  Bodet,  Legons  de  calcul  d'Aryahhata  pag.  16  und  41 — 42.     *)  Cole- 
brooke  pag.  344,  §  45.     ')  Ebenda  pag.  24^25,  §  64. 


624  29.  Kapitel. 

mir,  reizendes  Weib,  die  Anzahl  der  Bienen."  Er  ahmt  übrigens 
selbst  nur  Qridhara  darin  nach,  auf  welchen  folgende  Aufgabe 
ihrer  wesentlichen  Form  nach  zurückzufahren  ist*):  „Bei  ver- 
liebtem Ringen  brach  eine  Perlenschnur;  -^  der  Perlen  fiel  zu  Boden, 

Y  blieb   auf  dem  Lager  liegen,  y  rettete  die  Dirne,   -^   nahm  der 

Buhle  an  sich,  6  Perlen  blieben  aufgereiht;  sage,  wie  Viele  Perlen  hat 
die  Schnur  enthalten?" 

Bisher  trat  nur  eine  Unbekannte  auf  Eine  Aufgabe,  welche 
mehrere  Unbekannte  bestimmt  wissen  will,  ist  diejenige,  welche 
Aryabhatta  in  seiner  29.  Strophe  uns  erhalten  hat^):  „Die  Summe 
einer  gewissen  Anzahl  von  Größen  je  um  eine  derselben  vermindert, 
alle  vereinigt,  man  teilt  durch  die  um  1  verringerte  Anzahl  der 
Großen,  man  hat  die  Summe."  Wir  fürchten  keinen  Widerspruch, 
wenn  wir  in  dieser  Aufgabe  und  in  dem  Epantheme  des  Thjmaridas 
(S.  158)  so  nahe  Verwandte  erkennen,  daß  an  einen  Zufall  nicht  zu 
denken  ist.  Vollkommen  ist  zwar  die  Übereinstimmung  nicht. 
Nennen  wir  s  wieder  die  Summe  der  n  Unbekannten  x^,  x^,  '*x^ 
und   die   Differenzen   s  —  Xi^^d^,    s  —  x^^d^,    -'-s  —  x^^d^y    so 

behauptet   Aryabhatta,   es  sei  s  «=    ^   '     *  _  .  "  und  fügt  hinzu, 

daß  durch  einzigweise  Subtraktion  von  J^,  {^^^  ' '  '  ^n  ^^^  ^^™  ^^ 
gefundenen  s  die  Unbekannten  Xi,  x^y  •  •  •  x^  erhalten  werden  können; 
aber  nur  um  so  wahrscheinlicher  wird  dadurch,  was  auch  durch  die 
selbst  nur  mangelhaft  bekannte,  jedenfalls  aber  sehr  frühe  (S.  158) 
anzusetzende  Lebenszeit  des  Thjmaridas  an  die  Hand  gegeben  wird, 
daß  dieser  Pythagoräer  der  Erfinder  war,  als  welchen  Jamblichus 
ihn  ausdrücklich  nannte,  daß  Aryabhatta  in  echt  indischer  Weise, 
genau  so  wie  Albirüni  es  uns  schildert  (S.  597),  das  Erlernte  un- 
kenntlich zu  machen  wußte.  Ist  aber  diese  Folgerung  gerecht- 
fertigt, so  ist  eine  neue  Spur  griechischer  Algebra  in  Indien  auf- 
gedeckt, und  damit  immer  größere  Sicherheit  gewonnen,  daß  wirk- 
lich auf  diesem  Gebiete  die  Inder  von  den  Griechen  lernten,  keines- 
wegs aber  umgekehrt,  und  daß  die  Inder  alsdann  nur,  wie  wir 
wiederholt  erklären,  in  dem  ihrer  Geistesrichtung  besonders  zusagen- 
den Gedankenkreise  überraschende  Fortschritte  auf  eigenen  Füßen 
machten. 

So    glauben  wir   auch   deutlich   die   griechische   Auflösung   der 
quadratischen    Gleichung,    wie   Heron    (S.    405),    wie   Diophant 


^)  Colebrooke  pag.  25,  Note  ö.     *)  L.  Rodet,  Legons  de  cdl^:ul  d'AryaJh 
hata  pag.  14—16  und  38—39. 


Höhere  Bechenkunst.    Algebra.  625 

(S.  474)  sie  übte,  in  der  mit  ihr  nicht  bloß  zufallig  übereinstimmen- 
den Regel  des  Brahmagupta  zu  erkennen^):  ^^Zu  der  mit  dem  Koeffi- 
zienten des  Quadrates  vervielfachten  absoluten  Zahl  füge  das  Quadrat 
des  halben  Koeffizienten  der  Unbekannten.  Die  Quadratwurzel  dieser 
Summe  weniger  dem  halben  Koeffizienten  der  Unbekannten  ge- 
teilt durch  den  Koeffizienten  des  Quadrates  ist  die  Unbekannte.^ 
D.  h.  aus 

ox»  +  bx  =  e  folgt  X  =  - ^ -■ 

* 

Bei  Aryabhatta  ist  die  gleiche  Auflösungsmethode  wenigstens 
vorausgesetzt^)^  da  die  in  seiner  20.  Strophe  gelehrte  Auffindung  der 
Gliederzahl  einer  arithmetischen  Reihe  aus  Summe,  Differenz  und  An- 
fangsglied die  vorhergehende  Möglichkeit  eine  unreine  quadratische 
Gleichung  auflösen  zu  können  in  sich  schließt. 

Qridhara  hat  Brahmaguptas  Regel  verbessert'),  indem  er  die  ge- 
gebene Gleichung  statt  mit  a  sogleich  mit  4  a  vervielfachen  laßt,  wo- 
durch die  Möglichkeit  Brüche  unter  dem  Wurzelzeichen  zu  erhalten 
verschwindet;  aus  ax^  +  bx  ^  c  erhält  er  nämlich 

4a^x^  +  4alx  =  4ac  oder  (2axy  +  26  •  (2ax)  «  4ac, 

also  auch  (2ax  +  by  =  4ac  +  6»  und  a;  =  V^^<^+J^'-b      jj.^  ^^ 

gänzung  des  quadratischen  Teiles,  welche  in  Wirklichkeit  dahin  führt 
statt  eines  quadratischen  Gliedes  und  eines  Gliedes  mit  der  ersten 
Potenz  der  Unbekannten  nur  das  Quadrat  eines  Binoms  ersten  Grades 
als  unbekannt  aber  bestimmungsfähig  zu  erhalten,  wird  seit  Brahma- 
gupta „Wegschaffung  des  mittleren  Gliedes",  madhyama  harch 
mm,  genannt*). 

Der  wichtigste  Fortschritt,  welchen  die  Lehre  von  den  unreinen 
quadratischen  Gleichungen  schon  bei  Brahmagupta  vollzogen  hat,  be- 
steht aber  darin,  daß  die  drei  verschiedenen  Formen  (S.  473) 

ax^  +  bx  =-  Cy    bx  +  c^  ax^,    aa?  +  c^bx 
verschwimden  sind,  wie   es   vermöge  der  Gewohnheit  mit  negativen 
Zahlen  zu  rechnen  gestattet  war. 

Nun  ist  Bhäskara  noch  wesentlich  über  Brahmagupta  hinaus- 
gegangen. Er  kennt  die  bei  den  Quadratwurzeln  sich  ergebenden 
Doppelsinnigkeiten  und  Unmöglichkeiten.  Er  faßt  sie  in  die 
RegeP):   „Das  Quadrat  einer  positiven  wie  einer  negativen  Zahl  ist 


*)  Colebrooke  pag.  346,  §  48.  *)  L.  Rodet,  Le^ons  de  calcul  d'Ärya- 
hhaia  pag.  13  und  33.  ')  L.  Rodet,  L'algibre  d^Al-EJidriemi  pag.  71.  *)  Ebenda 
pag.  76.     *)  Colebrooke  pag.  135. 

Cavtob,  Geschichte  der  Mathematik  I.  8.  Aufl.  40 


626  29.  Ki4»iftd. 

pontiy,  und  die  Quadratwurzel  aus  einer  positiven  Zahl  ist  zwie&cli, 
positiv  und  negativ.  Es  gibt  keine  Quadratwurzel  aus  einer  negativen 
Zahl,  denn  diese  ist  kein  Quadrat^  Dementsprechend  kennt  er  die 
paarweise  auftretenden  Wurzeln  einer  quadratischen  Gleichung,  gibt 
sie  aber  aus  dem  oben  angegebenen  Grund,  dafi  „absolute  negative 
Zahlen  von  den  Leuten  nicht  gebilligt  werden^  nur  dann  an,  wenn 
beide  Wurzelwerte  positiv  aus&Ueil  iind  keinen  Durchgang  durch 
ein  Negatives  voraussetzen;  er  folge  dabei  PadmanälSha^).  Folgende 
Beispiele  mögen  die  Meinung  der  einschränkenden  Elaasel  erläutern*). 
„Der  8.  Teil  einer  Herde  Affen  ins  Quadrat  erhoben  hüpfte  in  einem 
Haine  herum  und  erfreute  sich  an  dem  Spiele,  die  12  übrigen  sah 
man  auf  einem  Hügel  miteinander  schwatzen  Wie  stark  war  die 
Herde ?^  Hier  gibt  es  zwei  Auflösungen:  48  und  16.  „Das  Quadrat 
des  um  3  verminderten  5.  Teiles  einer  Herde  Affen  war  in  einer 
Crrotte  verborgen,  1  Affe  war  sichtbar,  der  auf  einen  Baum  geklettert 
war.  Wieviele  waren  es  im  ganzen?''  Bhaskara  sagt  ÖO  oder  5, 
aber  der  zweite  Wurzelwert  dürfe  nicht  genommen  werden.  Ein 
Kommentar  erklart  uns,  wie  das  gemeint  sei.  Man  könne  den 
5.  Teil  von  5,  oder  1,  nicht  um  3  vermindern,  ohne  daß,  wenn 
auch  nur  vorübergehenderweise,  die  absolute  negative  Zahl  —  2 
auftrete. 

Bhaskara  hat  auch   an  anderer  SteUe^  gezeigt,  wie  mit   Hilfe 
der  Formel 

Quadratwurzeln  aus  Summen  rationaler  und  irrationaler  Zahlen  ge- 
zogen werden  können,  und  hat  die  Wurzelausziehung  auf  noch  ver- 
wickelter zusammengesetzte  Größen  wie 


VlO  +  }/24  -1-^40  +  yeO  «  }/2  +  V3  +  1/5 
ausgedehnt.  Er  erklart  diese  Darstellung  ausdrücklich  för  seine  Er- 
findung, welche  aber  einer  sehr  behutsamen  Benutzung  bedürfe, 
widrigenfalls  man  zu  falschen  Ergebnissen  geführt  werde;  die  Ei^ 
zielung  eines  solchen  beweise  alsdann,  daß  eine  Wurzelausziehung 
eben  nicht  gelinge,  und  alsdann  müsse  man  sich  damit  begnügen 
statt  der  einzelnen  vorkommenden  Irrationalitäten  deren  Näherungs- 
werte in  Rechnung  zu  haben. 

Das  Rechnen  mit  Irrationalgrößeu  führt  Bhaskara  femer  zu  der 
Aufgabe,  Brüche  rational  zu  machen^).    Man  soll  Zähler  und  Nenner 

>)  Coleb rooke  pag.  218,  §  142.  *)  Ebenda  pag.  216—217.  *)  Ebenda 
pag.  149—166.  Die  Bemeikong  über  falsclie  ErgebniBse  pag.  165,  §  61.  *)  Ebenda 
pag.  147,  §  34—36. 


Höhere  Bechenkunst.    Algebra.  627 

mit  einem  dem  Nenner  ähnlichen  Ansdrucke  vervielfachen,  bei  welchem 
nur  das  Vorzeichen  einer  Irrationalzahl  entgegengesetzt  gewählt  wird, 
und  soll  dieses  Verfahren  so  lange  fortsetzen,  bis  man  wirklich  im- 
stande sei  die  noch  geforderte  Division  zu  vollziehen. 

Endlich  ist  bei  Bhäskara  noch  ein  letzter  großer  Fortschritt  vor- 
handen. Er  hat  auch  Gleichungen  von  höherem  als  dem  zweiten 
Grade  in  AngriflF  genommen^).  So  z.  B.  af*  +  12a;  =  6o(?  +  35.  Er 
zieht  6a;^  +  8  auf  beiden  Seiten  ab  und  gewinnt  so 

a:«- 6a:« -M2a;~  8  =  27, 

wo  beiderseits  vollständige  dritte  Potenzen  erscheinen,  nämlich 
{x  —  2)^  =  3'.  Die  Kubikwurzelausziehung  gibt  ihm  a:  —  2  =  3, 
woraus  endlich  a;  =  5  folgt.     Ähnlich  behandelt  er 

a^-2(a;«  + 200a;)  =  9999. 

Er  addiert  auf  beiden  Seiten  4  a;*  +  400a;  -\-  1  und  gewinnt  dadurch 
nach  vollzogener  Umformung  (a;*  +  1)«  =  (2  a;  -{-  100)*.  Quadrat- 
wurzelausziehung führt  zu  der  selbst  noch  quadratischen  Gleichung 
a;*  +  1  =  2a;  +  100,  aus  welcher  a;  =  11  folgt.  „In  diesem  Falle 
bedarf  es  des  Scharfsinnes'^  sagt  Bhäskara,  und  man  kann  ihm  diese 
kleine  Ruhmredigkeit  nicht  verargen.  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß 
Diophant^  welcher  gleichfalls  eine  kubische  Aufgabe  gelöst  hat 
(S.  478),  den  Anstoß  auch  zu  diesen  Untersuchungen  gab,  aber 
wieder  ist  ein  ungeheures  Mehr  auf  seiten  Bhäskaras  zu  verzeichnen. 
Er  hat  einen  Kunstgriff  erdacht,  den  er  uns  ausdrücklich  kennen 
lehrt,  und  der  richtig  gehandhabt  zu  einer  Methode  der  Gleichungs- 
auflösung werden  konnte. 

So  ist  wohl  nach  beiden  Seiten  hin  gerechtfertigt,  was  wir  über 
die  Algebra  bestimmter  Gleichungen  angekündigt  haben:  daß  manches 
davon  griechischer  Herkunft  zu  sein  scheint,  daß  die  Inder  mit  dem 
ihnen  fremd  Zugetragenen  staunenswerte  eigene  Leistungen  zu  ver- 
binden wußten. 

Noch  bedeutender  ist  es,  was  die  Inder  in  der  Zahlentheorie 
leisteten,  in  welcher  sie  uns  zum  ersten  Male  Gelegenheit  geben 
werden,  wirkliche  allgemeine  Methoden  kennen  zu  lernen.  Zwei  Be- 
merkungen müssen  wir  vorausschicken.  In  den  indischen  Schriften, 
welche  uns  bekannt  sind,  kommen  die  altpythagoräischen  Zahlen- 
betrachtungen nicht  vor.  Den  vermutlich  späteren  Begriff  vollkom- 
mener oder  befreundeter  Zahlen  aufzustellen,  ist,  soviel  wir  wissen, 
keinem  Inder  in  den  Sinn  gekommen.   Auch  figurierte  Zahlen  kommen 


*)  Colebrooke  pag.  214—215. 

40* 


628  89.  Kapitel. 

sla  solche  kaum  vor^  jedenfalls  nicht  in  der  Ausdehnung,  in  welcher 
Diophant  sich  mit  ihnen  beschäftigte.     Nur  die  Summierung 

1  +  3  +  6  +  .  .  .  +  '*^''+^^  «  n(ft  +  l)(n  +  2)  ^  (n  +  l)»-(n  +  l) 
2  6  6 

als  Anzahl  der  Kugeln  in  einem  dreieckigen  Haufen  ist  seit  Arja- 
bhattas  21.  Strophe^)  bekannt,  aber  von  Fünfeckszahlen  oder  gar 
meckszahlen  ist  nirgend  die  Rede.  Einen  Griechen  und  Indem  ge- 
meinschaftlichen Gegenstand  der  Untersuchung  bildet  nur  die  Auf- 
findung rationaler  rechtwinkliger  Dreiecke^.  Das  ist  das  eine,  was 
wir  uns  merken  wollten.  Zweitens  aber  ist  ein  noch  viel  grundsätz- 
licherer Widerstreit  zwischen  indischer  und  griechischer  Zahlentheorie 
vorhanden.  Für  die  unbestimmte  Analytik  ist  nämlich  die  Bedingung 
ganzzahliger  Auflösungen  maßgebend,  eine  Forderung,  welche 
Diophant  (S.  478)  niemals  stellt  und  nur  ausnahmsweise  erftQlt. 
Das  sind  so  wesentliche  Gegensätze,  daß  wir  auf  diesem  Gebiete 
fast  nur  selbständige  Leistimgen  im  Westen  wie  im  Osten  zu  erwarten 
haben. 

Gehen  wir  jetzt  darauf  aus,  einen  Überblick  über  die  indischen 
Leistungen  in  der  unbestimmten  Analytik  zu  gewinnen,  und  beginnen 
wir  mit  den  unbestimmten  Gleichungen  ersten  Grades.  Schon 
Äryabhatta  hat  sich  in  der  32.  und  33.  Strophe  seines  mathema- 
tischen Kapitels  mit  solchen  Gleichungen  beschäftigt')  und  dabei 
eine  Methode  in  Anwendung  gebracht,  der  Brahmagupta  wahrschein- 
lich den  Namen  Zerstäubung,  kuttfakay  beigelegt  hat,  unter  welchem 
sie  sich  auch  bei  Bhäskara  auseinandergesetzt  findet^).  Bhäskara 
beginnt  ihre  Darstellung  mit  der  Aufgabe,  das  gemeinschaftliche  Maß 
zweier  Zahlen  zu  finden.  Diese  löst  er,  wie  sie  eben  gelöst  werden 
muß,  wie  Euklid  verfuhr,  wie  auch  Bhäskara  sehr  wohl  selbständig 
erdacht  haben  oder  von  selbständigen  indischen  Vormännem  über- 
nommen haben  kann.  Er  vollzieht  fortlaufende  Divisionen  des  früheren 
Divisors  durch  den  bei  Teilung  mittels  desselben  verbliebenen  Rest, 
und  der  letzte  dieser  Reste  ist  der  gesuchte  größte  gemeinsame 
Divisor  der  beiden  gegebenen  Zahlen.  Durch  ihn  verkleinert  werden 
sie  feste  Zahlen,  dridha^  oder  teilerfremd,  ein  Begriff,  den  Brahma- 
gupta durch  die  Namen  niccheda  oder  nirapc^varta  dem  deutschen 
Worte  entsprechender  bezeichnet*).  SoU  nun  eine  Zerstäubungsauf- 
gabe gelöst  werden,  so  muß  vor  allen  Dingen  Dividend,  Divisor 


*)  L.  Rodet,  LeQons  de  calcul  d'Aryabhata  pag.  13  und  36.  ')  Cole- 
brooke  pag.  806,  §  35  und  pag.  340,  §  38.  *)  L.  Rodet,  Legam  de  calcul 
d'Aryabhata  pag.  15  und  42—46.  *)  Colebrooke  pag.  112figg.  ")  Ebenda 
pag.  330,  Note  3. 


Höhere  Bechenkunst.    Algebra.  629 

and  Additive  durch  dieselbe  Zahl  yerkleinert  werden  können.  ^^Mißt 
die  Zahl,  welche  für  Dividend  und  Divisor  das  Maß  ist,  die  Additive 
nicht^  so  ist  die  Aufgabe  schlecht  gestellt/^  Die  Meinung  dieses 
Satzes,  von  welchem  übrigens  so  wenig  wie  von  der  eigentlichen 
Methode  ein  Beweis  gegeben  ist,  besteht  darin,  daß  wenn  ax  +  l=^Cff 
in  ganzen  Zahlen  lösbar  sein  soll,  jeder  Teiler  des  Dividenden  a  und 
des  Divisors  c  auch  in  der  Additiven  b  enthalten  sein  muß,  daß  es 
also  möglich  sein  muß,  durch  Verkleinerung  der  voi^elegten  Glei- 
chung mittels  des  größten  gemeinsamen  Teilers  von  a  und  c  diese 
beiden  Koeffizienten  teilerfremd  zu  machen.  Denkt  man  sich  diese 
Vorbereitung  getroffen,  so  muß  bei  der  nunmehr  erfolgenden  Auf- 
suchung des  größten  gemeinsamen  Teilers  der  neuen  a  und  c  nach 
dem  euklidischen  Eettenbruchverfahren  schließlich  der  Rest  1  auf- 
treten. Die  einzelnen  Quotienten  der  aufeinanderfolgenden  Divisionen 
seien  g^,  q^,  •  -  -Qnf  ^®  entsprechenden  Reste  r^,  r,,  .  . .  ^„,  wo  also 
r^  »  1  sein  muß.  Man  schreibt  die  Quotienten  in  ihrer  Reihenfolge 
in  eine  Zeile  und  fügt  am  Schlüsse  noch  die  Additive  b  und  eine 
Null  bei,  so  daß  diese  letztere  eingeschlossen  n  +  2  Zahlengrößen  in 
einer  Zeile  nebeneinander  stehen.  Nun  vervielfacht  man  das  dritt- 
letzte Glied  mit  dem  vorletzten  und  addiert  das  letzte,  streicht  das 
letzte  ganz  und  ersetzt  das  dritÜetzte  durch  die  eben  gefundene 
Zahl  Man  hat  mithin  jetzt  eine  Zeile  von  n  -f  1  Zahlengrößen 
vor  sich,  an  welcher  man  das  eben  erläuterte  Verfahren,  welches 
die  Anzahl  wieder  um  eins  verringert,  wiederholt.  Das  setzt 
man  so  fort  bis  schließlich  nur  zwei  Zahlen  in  der  Zeile  sich  be- 
finden, und  nun  hat  man  zwei  Falle  zu  unterscheiden.  War  n 
gerad,  so  ist  von  beiden  Zahlen  die  erste  y,  die  zweite  x.  War 
n  ungerad,  so  muß  man  die  erhaltenen  Werte  von  a  und  von  c 
abzählen,  um  die  richtigen  y  und  x  zu  finden.  Eine  Verminderung 
des  gefundenen  y  um  den  Betrag  eines  Vielfachen  von  a,  während 
von  X  das  Gleichvielfache  von  c  abgezogen  wird,  ist  in  beiden  Fällen 
gestattet. 

Ein  Beispiel,  welches  zu  einem  geraden  n  führt,  ist^) 
IOOä:  -f-  90  =  63y. 

Die  Division  100 :  63  gibt  den  Quotienten  g'i  =  1  und  den  Rest 
rj  =  37.  Die  folgenden  Quotienten  und  Reste  sind  q^  =  1,  r,  =  26; 
ff8""l.  ^8-^11;  «4  =-2,  r4«4;  tfß  =  2,  rg  =  3;  q^^l,  r^  -  1, 
mithin  n  =-  Q,     Die  zu  bildenden  Zahlenreihen  sind: 


^)  Colebrooke  pag.  115,  §  265. 


630 


29.  Kapitel. 

1,       2,       2,     1,90,0. 

1-     90+      0-      90 

1,      2,      2,  90,  90. 

2-      90+90-270 

1,      2,  270,  90. 

2.    270+    90-   630 

1,  630,  270. 

1-    630  +  270-    900 

900,  630. 

1-    900  +  630-1530 

1,  1530, 

900. 

1  •  1530  +  900  -  2430 

0,  1530. 

X  =  1530        V  -  2430. 

■16+   0-    16 

16  +  16=    32 

■32  +  16=    48 

■  48  +  32=    80 

80  +  48  =  368 

Nun  zieht  man  24  •  100  yon  y^  24  •  63  von  x  ab  und  erhält  die 
kleineren  Werte  a:  —  18,  y  =»  30. 

Zu  einem  ungeraden  n  führt  ^):  60a;+16  =  13y.  Hier  ist 
nämlich  ^i  =  4,  r^  =  8;  ft  =  1,  r,  =  5;  ft  ="  1>  ^j  =  3;  ?4-l, 
r^  «  2;  &  «  1,  ^5  «  1  und  n  =  5.  Die  Rechnung  stellt  sich  daher 
folgendermaßen : 

4,     1,    1,    1,     1,  16,  0. 

4,     1,     1,     1,  16,16. 

4,     1,     1,  32,  16. 

4,     1,  48,  32. 

4,  80,  48. 
368,  80.  13  -  80  «  -  67  -  a;    60  -  368  ^ 308  =  y 

Diesmal  addiert  man  6  •  60  zu  j^,  6  •  13  zu  :r  und  erhält  die  Werte 
x^  11,  y  =  52. 

Die  Zerstäubungsmethode  stimmt,  wie  vielfach  bemerkt  worden 
ist,  in  ihrem  ganzen  Gange  mit  der  Methode  der  Auflösung  unbe- 
stimmter Gleichungen  ersten  Grades  durch  Eettenbrüche  überein, 
wie  sie  in  jedem  Lehrbuche  der  Zahlentheorie  erörtert  ist;  wir  können 
den  Nachweis  ihrer  Richtigkeit  füglich  übergehen.  Wir  übergehen 
auch  die  unbestimmten  Gleichungen  ersten  Grades  mit  mehr  als  zwei 
Unbekannten,  welche  Aryabhatta  wie  Brahmagupta  schon  kannten^) 
und  in  wesentlich  der  gleichen  Art  behandelten,  wie  die  Zerstäubungs- 
methode es  für  zwei  Unbekannte  vorschreibt 

Wir  gehen  zu  den  unbestimmten  Gleichungen  zweiten 
Grades  über.  Brahmagupta  behandelt  hier  zuerst  solche  Gleichungen, 
welche  nur  das  Produkt  der  beiden  Unbekannten  unter  sich  als  qua- 
dratisches Glied  enthalten  und  dann  erst  solche,  in  welchen  die 
Quadrate  der  Unbekannten  vorkommen').     Bhäskara  schlägt  den  ent- 


*)  Colebrooke  pag.'  116,  §  257.  *)  L.  Rodet,  Legons  de  ccdcul  d'Asrya- 
bhata  pag.  15  und  48.  Colebrooke  pag.  348—360:  Equutian  of  severäl  cohurs. 
")  Ebenda  pag.  361—362 :  Equation  involving  a  factum  und  363—872 :  Square 
affected  hy  coefficient 


I 


Höhere  Rechenkunst.    Algebra.  631 

gegengeBetzten  Weg  ein,  indem  er  zuerst  mit  Aufgaben  von  der 
Form  ao?  +  6  =  cy*,  dann  erst  mit  solchen  wie  a-y  «  aa;  +  6y  +  c 
sich  beschäftigt^).  Bei  der  Auflösung  dieser  letzteren  bedient  er  sich 
entweder  des  Verfahrens  die  eine  Unbekannte,  etwa  y,  ganz  willkür- 
lich  anzunehmen   und   alsdann   x  =  ^-^—  zu   setzen,   wobei   freilich 

ganzzahlige  Lösungen  nur  infolge  gün-  jf 

stigen  Zufalles  auftreten,  oder   aber  er - 

geht  von   einer  auffälligen  Verbindung 
geometrischer     und     algebraischer    An- 
schauungen aus,   die  zugleich  Methode       _  ^ 
und  Beweis  derselben  enthalten  (Fig.  81).                      ^ 
In    dem    Rechtecke    ABCD     sei    die 

Basis  AB^Xj  die  Höhe  BC^^y^  so  ist  die  Fläche  xy.  Ist  nun 
DE^a,  AG  -  6,  so  ist  CDEF^ax,  AG  HD  -  by  und  ax  +  by 
=  Gnomon  CFIGADC  +  DEIH,  oder  da  DEIH^ab,  so  ist 
Gnomon  CFIGADC '^  ax +  by  —  ab.  Zieht  man  diesen  Gnomon 
von  dem  ursprünglichen  Rechtecke  ABCD  « xy  ab,  so  bleibt  das 
Rechteck  BFIG  =^  xy  —  ax  —  by  +  ab,  welches  als  aus  den  Seiten 
x  —  b  und  y  —  a  bestehend  auch  die  Fläche  (a?  —  6)  •  (y  —  a)  besitzt. 
Nach  dem  Wortlaute  der  Aufgabe  ist  aber  xy  —  ax  —  by  +  ab  '^  c 
-h  aby  mithin  ist  auch  (x  —  b)  •  (y  —  a\^  c  +  ab.    Man  hat  also  nur 

nötig  c  +  ab  in  zwei  Faktoren,  etwa  m  und  ^  *"/*     zu  zerlegen  und 

den  einen  mit  a:  —  6,  den  anderen  mit  y  —  a  zu   identifizieren.     So 

entsteht  entweder  a;  ■—  6  =     '  ^   ,    y  —  a  ==  m    oder   y  ^a  ^  ?-±-fL 

X  —  b  =  m'^  beziehungsweise  entweder  x  =  ~'^ — ^^-i^y  ^  y  ^  a  +  m 
oder 

X  ^b  +  m,    y  =    -1-    \  -r    j 

und  die  Lösungen  werden  ganzzahlig,  wenn  m  ein  ganzzahliger  Faktor 
von  c  +  ab  ist 

Wir  haben  bei  dieser  Auseinandersetzung  des  griechischen  Wortes 
Gnomon  uns  bedient.  Bei  Bhäskara  entspricht  demselben  kein  eigen- 
tümlicher indischer  Ausdruck.  Er  spricht  vielmehr  nur  von  dem 
Unterschiede  der  Rechtecke  ABCD  und  BFIG.  Wir  haben  die 
nicht  unbedeutende  Abweichung  von  dem  Urtexte  uns  gestattet,  um 
damit  unsere  Auffassung  kund  zu  geben,  daß  wir  nicht  umhin  können, 


*)  Colebrooke   pag.  170—184:   Affected  Square,   245—267:    Vaneties  of 
quadratics,  268 — 274 :  Equatian  involving  a  factum  of  unknaton  quantities. 


632  2d.  Kapitel. 

in  diesem  nichts  weniger  als  indischen  Verfahren  griechische  Erinne- 
rungen zu  vermuten. 

Die  indische  Auflösung  der  Gleichungen  von  der  Form 
ax^  +  6  =  cy*  hier  ausführlich  mitzuteilen,  würde  uns  viel  zu  weit 
führen.  Wir  begnügen  uns  mit  wenigen  Andeutungen.  Bhäskara 
kennt  das,  was  wir  quadratische  Reste^)  und  das,  was  wir  ku- 
bische Reste*)  nennen,  insofern  als  er  weiß,  daß  es  Zahlen  von 
gewissen  Formen  gibt,  die  Quadrate  und  Euben  sein  können,  und 
andere,  bei  welchen  das  Entgegengesetzte  stattfindet.  Er  lehrt  in 
der  zyklischen  Methode'),  wie  die  Gleichung  arc*  +  1  =  y'  ge- 
löst werde,  ausgehend  von  einer  beliebigen  empirisch  gegebenen 
Gleichung  a  J.*  +  B «  C*,  welche  nur  so  gewählt  worden  ist,  daß 
die  keinen  quadratischen  Faktor  enthaltende  Zahl  jß  so  klein  als 
möglich  ausfällt,  ein  Verlangen,  zu  dessen  Erfüllung  es  genügte  V^ 

G 
näherungsweise  in  Bruchgestalt  etwa  als  -j  zu   suchen,   und  Zähler 

und  Nenner  dieses  Bruches  in  der  versuchsweise  aufzustellenden  Glei- 
chung ihren  Platz  anzuweisen.  Aus  der  für  B  ausgesprochenen  Be- 
dingung folgt  von  selbst  ihre  Teilerfremdheit  gegen  A,  Besäßen 
nämlich  A  und  3  einen  gemeinsamen  Teiler  d,  so  müßte  derselbe 
wegen  aA^  -{-  JB  =  C  auch  in  G  enthalten  sein.  In  A}  wäre  d*, 
ebendasselbe  auch  in  G^  und^ schließlich  auch  in  B  enthalten.     Nun 

setzt  man  — —^  -  =  A^^  wobei  durch  Zerstäubung  z^  nebst  A^  ganz- 

zahlig  gefunden  werden,  und  zwar  wählt  man  von  den  unendlich 
vielen  möglichen  Werten   von  z^   einen    solchen,   der  z^  —  a  kleinst- 

möglich   macht.     Setzt   man   hierauf     *-g —  ^  B^,    so    ist   B^    eine 

ganze  Zahl.  Der  indische  Schriftsteller  gibt  allerdings  dafür  so 
wenig  wie  für  die  vorhergehende  Teilerfremdheit  zwischen  A  und  B 

A  z     \    C 

einen  Beweis,  aber  die  Sache  ist  richtig.  Aus  — ^-~  -  ^  A^  folgt 
nämlich 

_  B^A\  —  2.BC^t  +  B        /BAI  —  2C^^i  +  1\     t> 
T'  ^l  A''  ~)'^' 

Nun  ist  ZI  —  a  eine  ganze  Zahl,  also  muß  das  Gleiche  für  den  zu- 
letzt erhaltenen  Ausdruck  gelten,  und  das  kann,  weil,  wie  wir  sahen, 


*)  Colebrooke  pag.  262—263,  §  202—204.  «)  Ebenda  pag.  265,  §  206. 
•)  Ebenda  pag.  176  flgg.  H.  Konen,  Geschichte  der  Gleichung  *•-— 2)tt'  =  l 
(Leipzig  1901). 


Höhere  BechenknnBi    Algebia.  633 

JB  gegen  A  teilerfremd   ist^   nur   dann   der   Fall   sein,   wenn   A*   in 
JSAl  —  2CAi  +  1  ganzzahlig  enthalten  ist.     D.  h. 
gf  —  g       ^  _  BAl'-2CÄi  +  1 

ist  eine,  ganze  Zahl.  Ersetzt  man  rechts  B  wieder  durch  C  —  aA*^ 
80  zeigt  sich 

B,  =  ^'-^f-^^'^f-^^A  +  i  _  /cA-iy  _  ^^j 

oder 

Auch  Ci  =  — ^^ —    muß    als    rationale    Quadratwurzel    der    ganzen 

Zahl  aA]  +  B^  selbst  ganzzahlig  sein.  Somit  ist  aus  der  lauter 
ganze  Zahlen  enthaltenden  Gleichung  a^*  +  JB  =-  (7  eine  neue  Glei- 
chung a^J  +  -Bi  =  CJ  hervorgegangen ;  in  der  wieder  nur  ganze 
Zahlen  vorkommen.  Man  kann  nun  in  gleicher  Weise  andere  und 
andere  ähnlich  geformte  Gleichungen  ableiten^  man  kann  aber  auch 
gewonnene  Gleichungen  nach  einem  anderen  Satz  vereinigen.  Dieser 
Satz  lautet*),  daß  au\  +  6,  =  v*  und  aul  +  ftg  =  v|  die  Folge- 
rung auf  +  63  =  tTj  gestatten,  wo  u^  =^  u^v^  +  ^^u  &«  =  ^hf 
Vj  =  au^u^  +  v^^i-  Durch  solche  Veranderungen  und  Divisionen, 
wo  immer  sie  möglich  sind,  kann  man  bis  auf  eine  Gleichung 
ax^  +  1  =  y*  geführt  werden  und  hat  alsdann  die  Aufgabe  gelöst. 
Allerdings  wird  dieses  indische  Verfahren  nicht  stets  zum  Ziele 
fähren,  namentlich  nicht  nach  ganz  vorschriftsmäßigen  Regeln  die 
Wurzeln  der  Gleichung  ax^  +  1  « y*  finden  lassen.  Vieles  bleibt 
dem  Takte  des  Auflösenden  überlassen.  Mit  Recht  sagt  auch  Bhäs- 
kara  an  einer  anderen  Stelle*):  „Die  Regeldetri  ist  Arithmetik,  die 
Algebra  aber  ist  makelloser  Verstand.  Was  wäre  dem  Scharfsinnigen 
unbekannt?"  Wird  übrigens  bei  der  Gleichung  ax^  +  1  =»  y*  kein 
Gewicht  auf  die  Ganzzahligkeit  der  Lösungen  gelegt,  so  kann  immer 
ohne  weiteres  ein  genügendes  Wurzelpaar  angeschrieben  werden'). 
Aus  aA^  +  B=  CP  in  Verbindung  mit  der  noch  einmal  gesetzten 
unveränderten  Gleichung  ergibt  sich  nämlich  nach  der  erwähnten 
Vereinigungsregel:  a  -  {2ACy  +  B^  ===  (aA^  +  CPy  und  daraus 

Überblicken  wir  alle  diese  Untersuchungen,  welche  natürlich,  so 
algebraisch  begabt  wir  die  Inder  uns  denken  mögen,  die  Kraft  der 
bedeutendsten  Geister  in  um  Jahrhunderte  weit  auseinander  liegenden 

*)  Colebrooke  pag.  171,  §  77—78.  »)  Ebenda  pag.  276.  »)  Ebenda 
pag.  172,  §  80—81. 


634  29.  Kapitel. 

Zeiten  in  Anspruch  genommen  haben  können,  so  ist  ein  nicht  un- 
bedeutendes Interesse  mit  der  Frage  yerknüpft,  wo  denn  die  Wurzel 
aller  zahlentheoretischen  Untersuchungen  für  die  Inder  lag^)?  Die 
unbestimmten  Gleichungen  zweiten  uud  höheren  Grades  sind  wohl 
nichts  weiteres  gewesen  als  siegreiche  Erfolge  einer  Spekulation, 
welche  wachgerufen  war  durch  Aufgaben,  die  nur  auf  unbestimmte 
Gleichungen  vom  ersten  Grade  geführt  hatten.  Diese  aber  waren 
vermutlich  astrologisch -chronologischer  Natur. 

Die  Astronomen,  welche,  wie  wir  uns  erinnern,  alle  diese  Gegen- 
stände in  eingeschalteten  Kapiteln  ihrer  Astronomien  zu  behandeln 
pflegten,  haben  wenigstens,  je  weiter  wir  im  Datum  zurückgehen 
können,  um  so  ausschließlicher  die  Zerstaubungsrechnung  auf  um- 
gekehrte Kalenderaufgaben  angewandt,  auf  die  Frage,  wann  gewisse 
Konstellationen  am  Himmel  eintreten,  wann  also  bedeutungsvolle 
Übereinstimmung  verschiedener  Zyklen  erreicht  wird?  Das  sind,  wie 
man  leicht  einsieht,  Fragen,  bei  denen  es  darauf  ankommt,  aus  ge- 
gebenen Besten,  welche  eine  unbekannte  ganze  Zahl  bei  Division 
durch  bekannte  ganze  Zahlen  gibt,  jene  Zahl  selbst  zu  erkennen. 

Ist  aber  diese  ganze  Klasse  von  Aufgaben  indisch?  Wir  können 
die  Frage  weder  bejahen  noch  verneinen.  Zu  beidem  fehlt  die  nötige 
Reichhaltigkeit  gesicherter  altertümlicher  Quellen.  Wir  können  nur 
darauf  hinweisen,  daß  die  Beantwortung  dieser  Frage  nicht  früher 
wird  gegeben  werden  können,  als  bis  man  entschieden  haben  wird, 
ob  die  altindische  Sternkunde  lange  bevor  griechische  Einflüsse  sich 
geltend  machen  konnten  landesursprünglich  oder  fremden  Ursprunges, 
ob'  sie,  wenn  letzteres  der  Wahrheit  entsprechen  sollte,  chinesischer 
oder  babylonischer  Herkunft  war.  Wir  fühlen  uns  nicht  befugt  in 
dieser  hochwichtigen  Streitfrage  das  ürteilsrecht  uns  anzumaßen. 
Nur  auf  einige  wenige  Punkte  sei  aufmerksam  gemacht,  die  unter 
den  Entscheidungsgründen  keinenfalls  fehlen  dürfen.  Fehlen  darf  nicht 
die  Berücksichtigung  der  Sexagesimalbrüche,  welche  mit  Wahr- 
scheinlichkeit unmittelbar  aus  Babylon  nach  Indien  herüberkamen 
(S.  613).  Verschwiegen  darf  nicht  werden,  daß  astrologische  Deu- 
tungen, daß  Amulette  und  Talismane  gerade  in  Babylon  zu  Hause 
waren,  daß  andererseits  Zahlenspielereien  den  Babylon  iem  ebenso  an- 
gehörten. Und  dieser  letzte  Gedanke  wird  auch  nicht  in  den  Hinter- 
grund gedrangt  werden  dürfen,  wenn  wir  anknüpfend  an  diese  Be- 
merkungen jetzt  noch  einige  Worte  über  eine  Spielerei  zu  sagen  ge- 
denken, welcher  immerhin  einiger  mathematische  Wert  innewohnt. 


^)  Mit  dieser  Frage  hat  sich  Hankel  S.  197  beschäftigt,  wenn  auch  nicht 
unter  Ziehung  aller  Folgerungen,  die  sich  ergeben  können. 


Geometrie  und  Trigonometrie.  635 

Wir  meinen  die  magischen  Quadrate,  bhadra  ganita.  Über 
diesen  Gegenstand^)  schrieb  Närajana,  ein  von  Oane^a  zitierter 
Schriftsteller;  Grane^a  selbst  yerfaßte  1545  seinen  Kommentar  zu 
Bhäskara.  Das  sind  freilich  recht  späte  Daten,  aus  welchen  auch 
nur  Vermutungen  auf  eine  ältere  Zeit  sich  nicht  stützen  lassen. 
Solchen  liegt  nur  die  Tatsache  zugrunde,  daß  in  Indien  das  Schach- 
spiel erfunden  worden  ist^),  während  die  Zerlegung  in  schachbrett- 
artige Felder  der  Bildung  magischer  Quadrate,  deren  Wesen  wir 
(S.  515)  erörtert  haben,  notwendig  vorausgehen  mußte.  Die  einzige 
ausführliche  Mitteilung  ist  um  anderthalb  Jahrhunderte  jünger  als 
selbst  Ganefa.  Sie  findet  sich  in  einem  1691  gedruckten  Berichte 
über  das  Königreich  Siam').  Allerdings  ist  sie  in  ihrer  Ausführlich- 
keit von  großer  Zuverlässigkeit,  indem  sie  die  Methode  kennen  lehrt, 
nach  welcher  die  Inder  ein  magisches  Quadrat  von  ungerader  Felder- 
zahl anzufertigen  wußten.  Daß  sie  auch  mimische  Quadrate  von  ge- 
rader Zellenzahl  zu  bilden  verstanden,  behauptet  Laloub^re,  der  Ver- 
fasser jenes  Reiseberichtes,  ebenfalls,  gibt  aber  die  betreffende  Methode 
nicht  an^).  Bei  der  mathematisch  nicht  gar  hoch  anzuschlagenden 
Tragweite  des  Gegenstandes  verzichten  wir,  wie  schon  früher,  auf 
nähere  Darlegung. 


30.  Kapitel. 
Geometrie  nnd  Trigonometrie. 

Als  Quellen  für  indische  Geometrie  dienen  nicht  bloß  die  wieder- 
holt von  uns  benutzten  Zwischenkapitel  der  astronomischen  Schriften 
des  Aryabhatta,  des  Brahmagupta  und  Bhäskara,  sondern  auch  Schriften 
von  geometrisch -theologischem  Charakter,  wie  sie,  abgesehen  von 
einigen  ägyptischen  Inschriften,  in  keiner  Literatur  sich  wiederfinden. 
Wir  meinen  die  ^^l^asütras.  Der  indische  Gottesdienst,  peinlich 
genauen  Vorschriften  folgend,  kann  der  geometrischen  Regeln  nicht 
entbehren.  Wenn  der  Altar  nicht  genau  in  der  anbefohlenen  Gestalt 
erbaut  ist,  wenn  eine  Kante  nicht  rechtwinklig  zur  anderen  steht, 
wenn  in  der  Orientierung  nach  den  Himmelsgegenden  ein  Fehler  statt- 
fand, so  nimmt  die  Gottheit  das  ihr  dargebrachte  Opfer  nicht  an, 
ein  dem  Inder  schrecklicher  Gedanke,   da   für   ihn  jedes  Opfer  ein 


^)  Colebrooke  pag.  113,  Note  *.  *)  Lassen,  Indische  Alterthumskunde 
IV,  906.  Bonn  1862.  »)  La  Lonbfere,  Du  royaume  de  Siam,  Tom.  11,  pag.  237, 
266 sqq.,  273.  Amsterdam  1691.  ^  S.  Günther,  Vermischte  Untersuchungen 
z.  Geschichte  d.  mathemat.  Wissenschafben  Kap.  IV,  S.  188 — 191.    Leipzig  1876. 


636  30.  Kapitel 

förmlicher  Vertr^  mit  der  betreffenden  Gottheit,  eine  Art  von 
Tauschgeschäft  ist,  und  er  somit  auf  Erfüllung  seines  bei  dem  Opfer 
gehegten  Wunsches  sich  nicht  die  geringste  Rechnung  machen  kann, 
sofern  seine  Gabe  verschmäht  würde.  Die  rituellen  Vorschriften, 
soweit  sie  auf  die  Opfer  überhaupt  sich  beziehen,  sind  in  den  soge- 
nannten Ealpasütras  enthalten,  und  zu  jedem  Elalpasütra  scheint  als 
Unterabteilung  ein  ^^^^^^^  gehört  zu  haben,  welches  eben  jene 
geometrischen  Vorschriften  lehrte,  imd  deren  zwei  in  auszugs weiser, 
eines  in  vollständiger  Übersetzung  zugänglich  gemacht  sind^). 

Die  Verfasser  derselben  heißen  Baudhäyana,  Apastamba  und 
Eätyäyana.  Leider  ist  deren  Lebenszeit  noch  ziemlich  im  Dunkein. 
Es  scheint  zwar,  daß  die  Reihenfolge,  in  welcher  wir  sie  nannten, 
der  Zeitfolge  ihres  Lebens  entspricht,  aber  ob  z.  B.  Baudhäyana  zwei 
Jahrhunderte  früher  als  Apastamba  zu  setzen  ist,  ob  die  Zeit- 
bestimmung des  IV.  oder  V.  S.  v.  Chr.  auf  Apastamba  zu  deuten 
ist  oder  auf  die  Niederschrift  des  ältesten  ^ulvasütra,  darüber  suchen 
wir  vergebens  nach  einer  unzweideutig  ausgesprochenen  Meinung. 
Nur  einer  bestimmten  Behauptung^)  begegnen  wir:  daß  der  Satz 
vom  Quadrate  der  Hypotenuse  spätestens  im  VIII.  S.  vor  Chr. 
in  Indien  bekannt  gewesen  sein  müsse,  eine  Behauptung,  welche  die- 
jenigen zu  vertreten  haben,  die  sich  berufsmäßig  mit  indischer  Sprache 
und  Geschichte  beschäftigen ,  und  welche  wir  zum  Ausgangspunkte 
unserer  weiteren  Untersuchungen  machen  müssen. 

Unter  den  auf  die  Errichtung  von  Altären  bezüglichen  Aufgaben 
handelt  es  sich,  wie  wir  schon  andeuteten,  zunächst  um  deren  Orien- 
tierung und  deren  genau  rechtwinklige  Herstellung.  Die  ostwestliche 
Linie,  welche  dabei  abgesteckt  werden  muß*),  führt  den  Namen 
präct,  und  wir  haben  (S.  599)  schon  berührt,  daß  deren  Richtung 
im  Sürya  Siddhänta^)  genau  nach  der  Methode  gefanden  wird,  welche 
wohl   aus   griechischer   Quelle   zu  Vitruvius   imd   zu    den   römischen 


*)  The  Siulvasüiras  by  G.  Thibaut  BeprinUd  from  the  Journal  of  the 
Äsiatic  Society  of  Bengal,  Part  I  for  1875.  Calcutta  1876.  Außer  auf  diese 
(als  Thibaut  zu  zitierende  Schrift)  verweisen  wir  auf  unsere  daran  anknüpfende 
Abhandlung:  Gräkoindische  Studien,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXII,  Histor.-literar. 
Abteilung  (1877).  Femer  vgl.  L.  v.  Schroeder,  Pythagoras  und  die  Inder 
(Leipzig  1884),  Albert  Bürk,  Das  Apastamba  —  Sulba  —  Sütra  herausgegeben^ 
übersetzt  und  mit  einer  Einleitung  versehen.  Zeitschr.  d.  Deutsch.  Morgenl. 
Gesellsch.  LV,  548—591  (Einleitung  und  Urtext)  und  LVI,  327—391  (deutsche 
Übersetzung  1901),  unsere  Abhandlung:  Über  die  älteste  indische  Mathematik. 
Archiv  d.  Math.  u.  Phys.  3.  Reihe,  VIII,  68—72  (1904),  Zeuthen,  TlUorhme  de 
Pythagore,  Comptes  Bendus  du  II.  Congrks  intemat  de  Philosophie  ä  Genhve, 
Septemhre  1904,  pag.  833—854  (1905).  H.  Vogt,  Biblioth.  Maihem.  3.  Folge  YII, 
6—28(1906).    «)Bürkl.c.LV,ö56.    ») Thibaut S. 9— 10.    *)  Sürya Siddh&ntaS. 239. 


Geometrie  und  Trigonometrie.  637 

Feldmessern  gelangte.  Selbstverständlich  ist  diese  späte  Angabe  ohne 
jede  überzeugende  Kraft  für  die  Zeit  der  ersten  Vorschriften  zur 
Herstellung  richtig  orientierter  Altäre.  Wie  damals  die  Praci  abge^ 
steckt  wurde  ist  uns  unbekannt  Die  ^^Ivasütras  schweigen  darüber. 
Ist  die  Praci  gefunden,  so  werden  rechte  Winkel  abgesteckt,  und 
zwar  mit  Hilfe  eines  Seiles.  Die  Länge  dieser  ostwestlich  gezogenen 
Strecke  sei  36  Padas.  An  ihren  beiden  Endpunkten  wird  je  ein 
Pflock  in  den  Boden  eingeschlagen^).  An  diese  Pflöcke  befestigt  man 
die  Enden  eines  Seiles  von  54  Padas  Länge,  in  welches  zuvor, 
15  Padas  von  einem  Ende  entfernt,  ein  Knoten  geschlungen  wurde. 
Spannt  man  nun  (Fig.  82)  das  Seil  auf 
dem  Erdboden,  indem  man  den  Knoten 
festhält,  so  entsteht  ein  rechter  Winkel 
am  Ende  der  Praci.  Daß  das  Verfahren 
richtig  ist,  und  auf  dem  rechtwinkligen 
Dreiecke   von   den    Seiten    15,   36,   39,  y.    g, 

oder    in    kleinsten   Zahlen    ausgedrückt 

5,  12,  13  beruht,  ist  einleuchtend.  Einleuchtend  ist  aber  auch, 
daß  es  in  der  Kenntnis  des  pythagoräischen  Lehrsatzes  wurzelt,  daß 
es  die  Seilspannung  genau  in  der  gleichen  Weise  anwendet,  wie  Heron 
dieselbe  benutzte  (S.  384  Fig.  64),  wie  wahrscheinlich  die  altägyptischen 
Harpedonapten  bei  Lösimg  der  gleichen  Aufgaben  verfuhren  (S.  106). 

Nächst  der  richtigen  Orientierung  und  Scharfkantigkeit  des  Altars 
hat  seine  Gestalt  eine  hohe  Wichtigkeit.  Sie  hat  allerdii^  im  Laufe 
der  Zeiten  gewechselt.  Formen  annehmend,  welche  für  jeden  nicht- 
indischen Oeist  an  das  Lächerliche  streifen.  Welcher  Europäer  kann 
sich  hineindenken,  einen  Altar  in  der  Figur  eines  Falken  oder  irgend 
eines  anderen  Vogels,  eines  Wagenrades  usw.  zu  errichten?  Dabei 
treten  jedoch  zwei  mathematische  Gesetze  auf'),  jedes  eine  besondere 
Gruppe  von  Aufgaben  erzeugend. 

Wird  ein  Altar  von  gegebener  Gestalt  vergrößert,  so  muß  die 
Gestalt  selbst  in  allen  ihren  Verhältnissen  dieselbe  bleiben.  Man 
muß  also  erstens  verstehen  eine  geometrische  Figur  zu  bilden, 
einer  gegebenen  ähnlich  und  zu  derselben  in  gegebenem  Größen- 
Verhältnisse  stehend. 

Die  Fläche  des  Altars  von  normaler  Größe  ist  femer  ohne  Bück- 
sicht auf  seine  Gestalt  stets  dieselbe.  Man  muß  also  zweitens  ver- 
stehen eine  geometrische  Figur  in  eine  andere  ihr  flächengleiche  zu 
verwandeln. 


>)  Albr.  Weber,  Indische  Studien  X,  864  und  Xm,  288  flgg.  und  Apa- 
stamba  Kap.  I,  82,  vgl.  Bürk  1.  c.  LVI,  327.     «)  Thibaut  S.  5. 


638  80.  Kapitel. 

Gleich  das  erste  Gesetz  mahnt  uns  mit  Entschiedenheit  an  die 
Würfelgestalt,  welche  das  Grabmal  für  Glaukos  besitzen  sollte,  wäh- 
rend es  auf  Geheiß  des  Königs  Minos  in  doppelter  Größe  aufzuführen 
war  (S.  211).  Euripides  hat,  wie  wir  uns  erinnern,  das  vielleicht 
sagenhafte  Geheiß  in  einer  Tragödie  verwertet,  und  Euripides  lebte 
485 — 406,  mehr  als  70  Jahre  bevor  der  Alexanderzug  geregeltere 
indisch -griechische  Beziehungen  hervorrief.  Wir  fügen  hinzu,  daß 
eine  indische  astronomische  Handschrift  den  Ursprung  ihrer  Wissen- 
schaft nicht  bloß  auf  einen  ionischen  Meister  Yavanejvaracärya  zu- 
rückführt (S.  600),  sondern  neben  diesem  eine  Persönlichkeit  des 
Namens  Minaräja  anführt^)  ein  Name,  der  täuschend  an  den  EöDig 
Minos  zu  erinnern  geeignet  ist. 

Ein  wesentlicher  Unterschied  besteht  allerdings  zwischen  der 
Aufgabe,  welche  König  Minos  seinem  Architekten  stellte,  und  der 
Aufgabe,  welche  bei  der  Inhaltsveränderung  indischer  Altare  vor- 
kommt. Jener  sollte  den  Kubikraum  verdoppeln,  hier  kommt  es  nur 
auf  die  Oberfläche  an,  soweit  die  ^^^^^^^^  ^^^  Auskunft  geben. 
Es  galt  also  nur  eine  Vervielfachung  einer  ebenen  Figur  zu  voll- 
ziehen, oder  mit  anderen  Worten  eine  Quadratwurzel  zu  finden,  was 
bei  Griechen  wie  bei  Indem  ebensowohl  geometrisch  als  arithmetisch 
geschah.  Die  Würfelvervielfältigung  hätten  die  Inder  arithmetisch 
gleichfalls  vollziehen  können,  da,  wie  wir  gesehen  haben,  Aryabhatta 
Kubikwurzeln  auszuziehen  wußte;  geometrisch  dagegen  überstieg  diese 
Aufgabe  indische  Kräfte  bei  weitem,  indem  die  Kurven,  mittels  welcher 
die  Würfelvervielfachung  geleistet  werden  kann,  die  Kegelschnitte,  die 
Konchoide  und  wie  sie  alle  heißen,  den  Indem  durchaus  unbekannt 
geblieben  zu  sein  scheinen. 

Für  die  geometrische  Ausziehung  der  Quadratwurzel  gibt  Baudh- 
äjana  folgende  Regeln^):  Das  Seil,  quer  über  das  gleichseitige  Recht* 
eck  gespannt,  bringt  ein  Quadrat  von  doppelter  Fläche  hervor.  Das 
Seil,  quer  über  ein  längliches  Rechteck  gespannt,  bringt  beide  Flächen 
hervor,  welche  die  Seile  längs  der  größeren  und  kleineren  Seite  ge- 
spannt hervorbringen.  Diesen  zweiten  Fall  erkenne  man  an  den 
Rechtecken,  deren  Seiten  aus  3  und  4,  aus  12  und  5,  aus  15  und  8, 
aus  7  und  24,  aus  12  und  35,  aus  15  und  36  Längeneinheiten  be- 
stehen. 

Das  ist  nun  offenbar  der  pythagoräische  Lehrsatz,  erläutert  an 
Zahlenbeispielen.  Das  zuletzt  genannte  Dreieck  mit  den  Katheten  15 
und  36   ist  vorher  schon  einmal  in   den  kleineren  Zahlen  12  und  5 


^)  BrockbauB  in  den  Verhandlungen  der  königl.  sächs.  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  zu  Leipzig.  Philolog.-histor.  Klasse  IV,  18—19  (18ö2).  ';  Thi- 
baut  S.  7,  8,  9.    Bürk  LVI,  340—841. 


Geometrie  und  Trigonometde.  639 

genannt,  offenbar  ohne  daß  Baudhäyana  dieser  Wiederholung  sich 
bewnßt  war,  ein  Zeugnis  dafür,  daß  er  den  Gegenstand  seiner  Dar- 
stellung nicht  durchaus  beherrschte,  sondern  mindestens  teilweise  Her- 
gebrachtes vortrug,  welches  er  nicht  yerstand.  Der  pjthagoräische 
Lehrsatz  ist  aber  nicht  als  einheitlicher  Satz  vorgetragen,  sondern  in 
zwei  ünterfallen,  je  nachdem  die  beiden  Katheten  gleicher  Länge  sind 
oder  nicht  Es  ist  wahrscheinlich  (S.  185),  daß  Pythagoras  bei  dem 
Beweise  seines  Satzes  ebenso  verfuhr. 

Die  Anwendung  dieser  Sätze  in  den  Qulvasütras  ist  der  doppelten 
Gattung  von  Aufgaben  entsprechend,  welche  bei  Herstellung  eines 
Altars  sich  darbieten,  eine  doppelte.  Es  kann  eine  Strecke  verändert 
werden  sollen,  so  daß  ihr  Quadrat  sich  im  Verhältnisse  1  :  n  ver- 
größert, es  kann  auch  eine  Figur  in  eine  andere  gleichen  Inhaltes 
umgewandelt  werden  sollen.  Die  Auffindung  der  Seite  eines  2,  3, 
10,  40  mal  so  großen  Quadrates,  als  ein  gegebenes  ist,  geschieht 
durch  allmähliche,  sich  wiederholende  Anwendung  des  pjthagoräischen 
Lehrsatzes,  indem  von  dem  gleichschenklig  rechtwinkligen  Dreiecke 
ausgegangen  und  die  Hypotenuse  eines  Dreiecks  immer  als  die  eine 
Kathete  eines  folgenden  Dreiecks  benutzt  wird,  dessen  andere  Kathete 
der  des  zuerst  betrachteten  Dreiecks  gleich  ist.  Dabei  erscheinen 
Namen  für  )/2,  yS  usw.,  gebildet  durch  Zusammensetzung  der 
Zahlwörter  mit  dem  von  uns  früher  (S.  621)  erörterten  Worte 
Jcarana^\  also  dvikaram^y2,  tril'orani  ^YS,  dagaJcaram  ^  YlÖ  ^ 
catvarin^atJcarani  ==  y4iO  usw. 

Bei  den  Verwandlungen  von  Figuren  ineinander  ist  die  Auf- 
findung des  einem  Rechtecke  gleichen  Quadrates^  sehr  interessant, 
weil  sie  nur  des  pythagoräischen  Lehrsatzes  sich  bedient,  dagegen 
von  Anwendung  des  Hilfsmittels,  welches  im  14.  Satze 
des  U.  Buches  der  euklidischen  Elemente  geboten 
ist,    d.  h.   von   der  Fällung   einer  Senkrechten  aus 

einem  Punkte  einer  Kreisperipherie  auf  den  Durch-    ^[       |^ ^ 

messer,  absieht  (Fig.  83).  Von  dem  Rechtecke 
äBCD  wird  zunächst  vermittels  ÄE  ^  AD  ein 
Quadrat  ADFE  abgeschnitten.  Der  Rest  EFCB 
wird  durch  GH  halbiert  und  die  obere  Hälfte 
GHCB  unten  rechts  als  DFIK  angesetzt.  So  ist  ^  ^ 
ABÜD  in  einen  Gnomon  AGEFIKA  verwandelt,  ^*  ^'• 

oder,  wie  Baudhäyana  sagt,  der  des  Wortes  Gnomon  sich  so  wenig 
bedient  wie  Bhäskara,   bei   welchem  wir  (S.  631J   die  gleiche  Figur 


C 

F 


')  Thibaut  S.  16.        *)  Ebenda  S.  19.    Apastamba  Kap.  II,   §  7,  vgl. 
Bürk  LVI,  833. 


640  80.  Kapitel. 

nachwiesen^  in  den  Unterschied  der  beiden  Quadrate  AKLG  und 
FILH,  und  dieser  Unterschied  ist  mit  Hilfe  des  pythagowlischen 
Lehrsatzes  leicht  in  die  Gestalt  eines  Quadrates  zu  bringen. 

Die  Quadratwurzelausziehung,  welche  geometrisch  genau  erfolgt, 
muß  arithmetisch  sich  mit  einer  Annäherung  begnügen,  und  zwar 
wird,  wenn  die  Quadratwurzel  zum  Zwecke  praktischer  Ausmessungen 
gezogen  worden  ist,  eine  solche  Annäherung  genügen,  welche  auf 
dem  Felde  keinen  bemerklichen  Unterschied  gegen  die  strenge  Wahr- 
heit mehr  hervorbringt.     So   benutzten  Baudhäyana  und  Apastamba 

y2  «=  1  +  -  +  ö — j  —  Q  j,  oÄ  •  Erinnern  *wir  uns  hier  an  die  bei 
Theon  Ton  Smyma   (S.  436)  angegebenen  Näherungswerte  für  ^2. 

13        7       17  — ^^ 

Sie  heißen  der  Reihe  nach  ,  y>  ~k'  12'  ^^^  dieser  letztere  Wert 
kommt  uns  hier  in  der  Form  1  +  o  +  z — 7  ^^^  durch  eine  Summe 

o  9*4 

Ton  Stammbrüchen  dargestellt  wieder  zu  Gesicht.  Wir  sagten  damals, 
er  habe  auf  außergriechischem  Boden  eine  Rolle  gespielt,  und  wir 
erkennen  diese  Rolle  nunmehr  darin,  daß  er  Veranlassung  gab,  eine 
Yon   ihm   als  Voraussetzung  ausgehende   größere  Annäherung  zu   er- 

(17\^  1  17 

12)  "^  ^üi  ^^^  nämlich  erkennen,  daß    r- 

zu  groß  ist.     Soll  aber  das  Quadrat  um  —  kleiner  werden,  so  muß 
1  17 

~  das  doppelte  Produkt  des  gefundenen  Teiles  .^  der  Quadrat- 
wurzel aus  2  in  die  negative  Er^nzung  sein,  falls  man  von  dem 
Quadrate  jener  Ergänzung  absehen  zu  können  glaubt,  und  nun  ist  -rjT 

17  1 

geteilt  durch  2  mal  —  nichts  anderes  als  ^r~öÄ}  welches  Baudh- 
äyana wirklich  abzieht,  so  daß  hiermit  die  Entstehung  des  Wertes 
]/2  «  1  +  3+3^-37^34  hinlänglich  erklärt  sein  dürfte^). 

Arithmetisch  und  zugleich  geometrisch  interessant  sind  die  Auf- 
lösungsversuche der  Qulvasütras  für  die  Aufgabe,  Flächengleichheit 
zwischen  quadratischen  und  kreisrunden  Figuren  hervorzubringen*), 
eine  Aufgabe^  die  noch  mehr  als  andere  geeignet  erscheint,  geschicht- 
liche Zusammenhänge  nachweisen  zu  lassen,  weil  eben  hier  vermöge 
der  Natur  der  Aufgabe  von  vornherein  auf  volle  Genauigkeit  ver- 
zichtet werden  muß,  und  bei  bloßen  Annäherungen  —  mögen  die  Er- 


^)  Dem  Gmndgedanken  nach  stimmt  diese  Darstellung  ziemlich  genau 
mit  der  von  Thibaut  zuerst  versuchten  Wiederherstellung  überein.  Thibaut 
S.  13—16.     «)  Ebenda  S.  26—28. 


Geometrie  und  Trigonometrie. 


641 


Fig.  84. 


finder  sie  als  Annäherangen  oder  als  genau  richtige  Werte  betrachtet 
haben  —  eine  Notwendigkeit  gerade  dieses  oder  jenes  bestimmte  Er- 
gebnis zu  erhalten  nicht  Torhanden  ist.  In  den  ^^vas^tras  ist  eben- 
sowohl die  Quadratur  des  Kreises  gelehrt  als  auch  unmittelbar  vorher 
umgekehrt  die  Aufgabe  gestellt,  ein  gegebenes  Quadrat  in  einen  Kreis 
zu  verwandeln,  eine  Aufgabe,  welche 
man  füglich  Zirkulatur  des  Qua- 
drates wird  nennen  können.  Die  Lösung 
ist  folgende^)  (Fig.  84).  Die  Diagonalen 
AC,  BD  des  Quadrates  AB  CD  werden 
gezogen  und  durch  ihren  Durchschnitts- 
punkt E  die  Gerade  KI  parallel  zu 
den  Seiten  AD  und  BC  des  Quadrates. 
Von  E  als  Mittelpunkt  aus  wird  mit  der 
halben  Diagonale  EA  als  Halbmesser 
ein  Bogen  beschrieben,  der  die  über  I 
hinaus  verlängerte  KI  in  F  schneidet. 
Nun  wird  das  Stück  IF  in  G  und  H 
in  )irei  gleiche  Teile  zerlegt  und  EH  als  Halbmesser  des  gesuchten 
Kreises  betrachtet.  Es  lohnt  sich  zuzusehen,  ob  es  nicht  möglich 
wäre,  diese  Konstruktion  in  ein  Rechnungsresultat  umzusetzen. 

Wir  gehen  davon  aus,  daß,  indem  FI  in  drei  gleiche  Teile  zer- 
legt wird,  dadurch  die  Wahrscheinlichkeit  entsteht,  es  sei  FI^^ 
angenommen  worden,  oder  es  sei  EA  =  EI  -f-  3  gesetzt,  d.  h. 
JB/.y2  =  i;i  +  3   und   daraus   EP-QEI=Q,  iJ/ =  3 -f- )/l8. 

Das    ist   annähernd   EI  =  7    und   EA  «  10    oder  l/2  =■  ^  ,   ein   in 

der  Tat  gar  nicht  übler  Wert,  wenn  es  auch  noch  nicht  gelungen 
ist,  ihn  bei  irgend  einer  anderen  Gelegenheit,  sei  es  bei  Indem,  sei 
es  bei  Griechen,  nachweisen  oder  auch  nur  mutmaßen  zu  können. 
Ist  aber  diese  Meinung  richtig,  dann  ist  die  Seite  des  Quadrates  14, 
seine  Diagonale  20,  der  Durchmesser  des  gleichfiächigen  Kreises  16, 

und   die  Kreisfläche   demnach   14*  =  (16  —  2)*  =»  (16  —  -A  .     Darin 

ist  aber   eine   doppelte   Regel   enthalten.     Erstens:   Die   Zirkulatur 

Q 

des  Quadrates  benutzt  als  EJreisdurchmesser  .^  der  Diagonale  des 
Quadrates*).     Zweitens:    Die    Quadratur   des    EJreises   benutzt   als 

7 

Quadratseite  — 

o 


des  Kreisdurchmessers.     Freilich  stehen  diese  aus  der 


*)  Thibant  S.  26—28.  Apastamba  Kap.  III,  §  2  und  8  vgl.  Bürk 
LVI,  335.  ')  Genau  diese  Regel  wird  uns  bei  Alb  recht  Dürer  wieder  be- 
gegnen. 

Caxtob,  Geschichte  der  Mathematik  I.  S.  Aufl  41 


642  90.  Kapitel 

Zirkulatur  des  Quadrates  hergeleiteten  Werte,  wie  wir  uns  sehr  bald 
überzeugen  werden,  nicht  im  Einklang  mit  dem,  was  bezüglich  der 
Quadratur  des  Kreises  gelehrt  wird,  doch  zunächst  verweilen  wir  noch 
einen  Augenblick  bei  unseren  gegenwärtigen  Folgerungen.   Deren  erste 

8  2 

heißt  zur  Ausrechnung  von  st  benutzt:  ^^  ^  ^q  Diagonale,  ^  =  -r 
Diagonale,  r*  «  -  v  Diagonalenquadrat  «  -  Quadrat,  Quadrat  ^  -g^' 
mithin  :r=  3^-.  Die  zweite  heißt:  Kreis  "^  (-0^)  ™(tw  '^ie'^' 
mithin   ^r^S^g,  also  im  Widerspruch  zu  der  eben  gezogenen  ersten 

Folgerung,  ein  Widerspruch,  der  darauf  beruht,  daß  wir  bei  unserer 
Rechnung  vermeiden  konnten,  mit  dem  nur  mlherungsweise  bekannten 
y2  uns  abfinden  zu  müssen. 

Wir  erinnern  daran,  daß  schon  das  altägyptische  Handbuch  des 
Ahm  es  eine  ähnliche  Vorschrift,  allerdings,  was  man  gewiß  nicht 
außer  Augen  lassen  darf,  mit   anderen  Zahlen   enthält,  indem    dort 

8 

als  Seite  des  dem  Kreise  flächengleichen  Quadrates  —  des  Kreisdurch* 
messers  gilt.  Wir  erinnern  uns  um  so  mehr  daran,  als  der  Versuch 
nahe  liegt  durch  andere  Annahme  des  Näherungswertes  für  )/2  die 
indische  Konstruktion  mit  der  ägyptischen  Zahl  in  Einklang  zu 
bringen.       Diese    Übereinstimmung     läßt     sich     aber    nur    mittels 

y2  «  Y  erzielen,  eine  uns  sehr  unwahrscheinliche  Annahme.    Unsere 

Hypothese,  die  Quadratseite  sei  bei  den  Indern  -^  ^^  Kreisdurch- 
messers gewesen,  gewinnt  aber  selbst  eine  Bestätigung  in  einer  arith- 
metischen Kreisquadratur,  welche  Baudhäyana  lehrt,   allerdings   mit 

der  Zahl  -g-  sich  nicht  begnügend,  sondern  ihr  eine  Korrektur  bei- 
fügend. 

Baudhäyana   schreibt    nämlich    vor,    den   Kreisdurchmesser   mit 

y  + 8729^^^:6 +  8-2^:^  ^u  vervielfachen,  um  die  Seite  des 
dem  Kreise  gleichflächigen  Quadrates  zu  erhalten.  Die  Korrektur 
8^29  ""8. 29 -6  +  8. 29 -68  ^**°^™*  daher,  daß  Baudhäyana  offenbar 
nicht  von  i/2«y==1-|-—  +  «tj  +  3  .  „  seinen  Ausgangspunkt 
zur  Umsetzung  der  Konstruktion  in  eine  Formel  nahm,  sondern  von 
dem    oben   erörterten   Werte   VS  «  1  +  y  +  ^^  -  —  ^^^-g  =  ^^^  • 

Es   war  EÄ^EI'Y2,   FI^EI  (y2^1),   HI  ^  EI -^^7'^, 


Geometrie  und  Trigonometrie.  643 

EH^EI+IH==EI'^^,  EI^—^'  EH,    und    für    die 
doppelten  Strecken  d.  h.  Qnadratseite  und  Ereisdurcfamesser  gilt  der- 

selbe  Zahlenfaktor  — .     Mit  Hilfe  von  1/2  =  -^^   ffeht  derselbe 

aber  über  in 

1224         7.1  ^         4.  ^  *^ 

I      ( 


1393         8     '^829        8- 29- 6^8- 29 -6. 8        8- 29 -6. 8- 1398  ' 

dessen  letzter  Teil  als  nahezu     -  des  ihm  vorangehenden  selbst  schon 

sehr  kleinen  Bruches  vernachlässigt  ist^). 

Eine  andere  Zahlenregel  für  die  Quadratur  des  Kreises  findet 
sich  übereinstimmend  bei  Baudhäyana,  Apastamba  und  Eätyäjana: 
^yTeile  [den  Durchmesser]  in  15  Teile  und  nimm  2  weg,  das  [was 
übrig  bleibt]  ist  ungefähr  die  Seite  des  Quadrates''^  oder  mit  Apastamba 
zu  reden  „ist  genau  die  Seite  des  Quadrates^'.  Setzen  wir  diese  Vor- 
schrift in  Zahlen   um.      Sei    wieder   d   der   Ereisdurchmesser,   r  der 

Kreishalbraesser,  so  ist  i^dj  =  (j^n  ^^226^*  ^^®  Quadratur  deg 
Kreises.  Darin  liegt  die  Annahme  tc  =  3-—,  welche  nahezu  mit  tu  =  3 
übereinstimmt  und  genau  damit  übereinstimmen  würde,  wenn  —  «  "j/S 
gesetzt  werden  müßte.  Beide  hier  hervorgehobenen  Werte  sind  uns 
aber  keineswegs  unbekannt.     l/3  »   -  ist  uns  auf  griechischem   und 

auf  römischem  Boden  begegnet,  tt  =  3  ist  in  Indien  selbst  aus  sehr 
altertümlichen  Schriften  bestätigt  worden*),  gehört  überdies  allen  von 
uns  der  Besprechung  unterzogenen  Kulturstätten  an  mit  Ausnahme 
des  alten  Ägypten,  wo  wir  ihm  nicht  begegnet  sind.  Wir  haben 
wahrscheinlich  zu  machen  gesucht,  n  ^  3  habe  ursprünglich  den 
Babyloniem  angehört. 

Mit  diesen  Werten  haben  wir  eine  neue  Frage  angeschnitten,  die 
Frage  nach  dem  Ursprünge  der  in  den  ^^^^^^^^^tis  aufbewahrten 
ältesten  indischen  Geometrie.  Die  Meinimg,  welche  wir  selbst  ehedem 
für  die  wahrscheinlichste  hielten,  Heronisches  sei  seit  dem  ersten  vor- 
christlichen Jahrhunderte  den  oftbetretenen  Pfaden  des  Handels- 
verkehrs folgend  von  Alexandria  aus  nach  Indien  vorgedrungen,  ist 
natürlich  von  dem  Augenblicke  an  unhaltbar  geworden,  in  welchem 
das    einstimmige    Urteil    der    Indologen    den    ^^^^^''^^^     ^^^     ^^ 


^)  Der  Gedanke,  die  Eonstruktionsregel  mit  der  Zahlenformel  in  Einklang 
zu  bringen,  rührt  von  Thibant  her.  *)  Thibant,  On  the  S'uryaprajtlapti. 
Journal  of  the  Asiatic  Society  of  Bengale  Vol.  XLIX,  Part.  I,  pag.  120  Note  • 
(1880). 

41* 


644  30.  Kapitel. 

hohes  Alter  beilegte  als  wir  (S.  636)  berichtet  haben.  Nicht  halt- 
barer scheint  nns,  beiläufig  bemerkt,  die  Meinung  Pythagoras  sei 
Schüler  altindischer  Weisheit,  und  insbesondere  der  Satz  Tom  Quadrate 
der  Hypotenuse,  die  Lehre  von  den  rationalen  rechtwinkligen  Drei- 
ecken, die  Lehre  vom  Irrationalen  usw.  sei  ihm  aus  Indien  bekannt 
geworden.  Es  ist  wahr,  daß  manche  Bestandteile  der  pythagoraischen 
Lehren,  die  Seelenwanderung,  das  Verbot  des  Bohnenessens,  sich  nach 
der  Aussage  von  Indologen  leicht  aus  indischen,  schwer  oder  gar 
nicht  aus  ägyptischen  Einflüssen  erklären  lassen.  Es  ist  nicht  minder 
wahr,  daß  ein  Bericht^)  über  die  Wanderungen  des  Pythagoras  zu 
erzählen  weiß,  er  habe  von  den  Brahmanen  gelernt,  ein  Bericht, 
welchen  wir  im  6.  Kapitel  gleich  demjenigen,  der  Pythagoras  zu  den 
Galliem  führte  (S.  176)  vernachlässigten,  weil  wir  seiner  zum  Nach- 
weis eines  einheitlichen  Ursprunges  des  mathematischen  Wissens  des 
Pythagoras  —  und  zu  einem  Urteile  über  seine  sonstigen  Lehren 
fehlt  uns  jede  persönliche  Berechtigung  —  nicht  bedurften  noch  be- 
dürfen. Der  Aufenthalt  des  Pythagoras  in  Ägypten  kann  keinem 
Zweifel  unterworfen  sein,  und  er  genügt,  um  die  Entstehung  der 
pythagoraischen  Mathematik  zu  verstehen,  deren  Grundbestandteile 
(wir  erinnern  nur  an  das  Dreieck  aus  den  Seiten  3,  4,  5)  sich  in 
Ägypten  um  viele  Jahrhunderte  früher  nachweisen  lassen  als  die  Zeit 
ist,  welche  als  weitest  entlegene  Ursprungszeit  der  in  den  ^^l^^ütras 
vorgetragenen  Lehren  in  Anspruch  genommen  wird.  Aber  verhalte 
es  sich  mit  dem  indischen  Einflüsse  auf  Pythagoras  wie  es  wolle,  so 
lohnt  es  sich  an  und  für  sich  über  die  Kenntnisse  der  ^ulvasütras 
von  rationalen  rechtwinkligen  Dreiecken  zu  berichten. 

Äpastamba  sagt^):  „Es  folgt  nun  eine  allgemeine  Regel  für  die 
Vergrößerung  eines  gegebenen  Quadrates.  Man  fügt  das,  welches 
man  mit  der  jedesmaligen  Verlängerung  umzieht,  an  zwei  Seiten  hinzu 
und  an  der  Ecke  das  Quadrat,  welches  durch  die  betreffende  Ver- 
längerung hervorgebracht  wird".  Unter  Beiziehung  von  späten  Kom- 
mentaren ist  es  gelungen,  die  an  und  für  sich  recht  dunkle  Vorschrift 
zu  verstehen.  Sie  will  ein  Quadrat  a*  zu  einem  größeren  Quadrate 
(a  -|-  by  werden  lassen,  indem  man  an  zwei  aneinanderstoßenden 
Quadratseiten  je  ein  Rechteck  ab  und  an  der  Ecke  das  Quadrat  b* 
hinzufügt,  wieder  ein  Gnomon,  wie  es  (S.  639  Fig.  83)  schon  aufge- 
treten war. 

Es  ist  nun  ganz  richtig,  daß,  wenn  2ab  +  b^  ^^  c^  eine  Quadrat- 
zahl ist,  die  Gleichung  a*  -|-  c*  =  (a  +  6)*  entsteht  und  zur  AuJ^dung 

^)  Alexander  Polyhistor  in  seiner  Schrift  über  die  Pythagoraeischen 
Symbole.  Vgl.  L.  v.  Schroeder,  Pythagoras  und  die  Inder  S.  24  Note  1. 
«)  Äpastamba  Kap.  III,  39.     Bürk  LVI,  336. 


Geometrie  nnd  Trigonometxie.  645 

der  Seiten  eines  rationalen  rechtwinkligen  Dreiecks  führen  kann.  Man 
könnte  mit  modernem  Denken  aas  2oft  +  6*=  c*  zu  a  «  — -.  ge- 
langen, von  da  zn  (— J^  )  +c*=^y  ^bJ  '  ^^^^  ^^  dachten,  so 
rechneten  weder  die  uralten  Inder  noch  Pythagoras,  wenn  auch  von 
dem  letzteren  ebenso  wie  von  Plato  Formeln  für  ganzzahlige  recht- 
winklige Dreiecke  berichtet  werden,  die  uns  (S.  186  und  224)  be- 
kannt geworden  sind,  und  an  die  wir  noch  in  diesem  S^pitel  zu  er- 
innern haben  werden. 

Aber  wenn  man  sogar,  was  wir  nicht  mittun,  zugibt,  Pythagoras 
sei  Schüler  der  Inder,  wessen  Schüler  waren  die  Inder?  Haben  sie 
alles  selbst  erdacht?  Wir  hegen  daran  den  größten  Zweifel.  Er- 
innern wir  uns,  wie  vieles  an  Babylon  mahnt!  Babylon  als  mutmaB- 
liche  Heimat  der  Null,  als  mutmaßliche  Heimat  der  Quadrat-  und 
Kubikwurzeln  aus  Zahlen,  welche  zwischen  ganzen  Quadrat-  und 
Kubikzahlen  liegen,  als  bekannt  mit  dem  zu  Messungszwecken  be- 
nutzten Seil  tim,  als  Ort,  an  welchem  der  längste  Tag  die  Dauer 
wirklich  besaß,  welche  die  Inder  ihm  zuschrieben,  als  wahrscheinliche 
Heimat  von  ;r  =^  3,  das  alles  drängt  dazu  mit  doppelter  Wachsam- 
keit auf  künftige  Entdeckungen  zu  warten,  welche  das  Zweistromland 
uns  noch  bieten  kann.  Einige  Punkte  möchten  wir  überdies  noch 
hervortreten  lassen.  Qulva  bedeutet  Seil,  kommt  aber  in  den  (^ul- 
vasütras  nicht  vor.  Dort  ist  für  das  Seil  ein  anderes  Wort  im  Ge- 
brauch rajju^  gleichsam  als  wenn  in  einer  Seilvorschrift  nur  von 
einem  Strick  die  Rede  wäre.  Das  mutet  fast  an,  als  wenn  Titel  und 
Text  nicht  gleichzeitig  entstanden  wären,  als  wenn  der  Text  eine 
spätere  Umarbeitung  erlitten  hätte.  Femer  kommen  in  den  Vor- 
schriften für  rechnerische  Ausziehung  von  y2  und  für  die  Kreis- 
quadratur Stammbrüche  vor,  wie  sie  in  anderen  indischen  Schriften 
allerdings  wesentlich  jüngeren  Ursprunges  uns  nicht  bekannt  ge- 
worden sind.  Endlich  zeugt  die  spätere  indische  Geometrie,  mit  Aus- 
nahme der  Trigonometrie,  keineswegs  für  besondere  geometrische  Be- 
gabung. 

Sehen  wir  uns  doch  Aryabhattas  geometrisches  Wissen  an.  Der 
Körper  mit  sechs  Kanten,  d.  h.  die  dreieckige  Pyramide,  ist  bei  ihm 
das  halbe  Produkt  aus  der  Grundfläche  in  die  Höhe*).  Wir  vermuten 
als  Ursprung  dieser  grundfalschen  Formel,  der  Verfasser  habe  das 
arithmetische  Mittel  zwischen  der  Grundfläche  und  der  als  Nulldreieck 
betrachteten  Spitze  als  ein  Mitteldreieck  betrachtet,  über  welchem 
ein  Prisma  gleicher  Höhe  mit  der  Pyramide  gebildet  den  gewünschten 

')  L.  Rodet,  Leifons  de  calcul  d'Aryahhata  pag.  10  und  20. 


646  30.  Kapitel. 

Eorperinhalt  darstellte^  eine  Anschauung,  welche  der  ägyptischen 
Dreiecksflächenberechnung  ähnelt.  Der  Eugelinhalt  ist  bei  ihm  Pro- 
dukt der  Fläche  des  größten  Kreises  in  die  Quadratwurzel  derselben^), 
wieder  ein  Unsinn,  welcher  in  der  kaum  halbgeometrischen  Auffassung 
wurzelt,  der  Würfel  derselben  Seite,  welche  als  Quadrat  die  Kreis- 
Säche  darstellt,  müsse  den  Inhalt  der  körperlichen  gleichmäßigen 
lElundung,  das  ist  eben  der  Engel  liefern.  Daneben  weiß  aber 
Aryabhatta,  daß  62832:20000  das  Verhältnis  des  Ereisumfanges 
zum  Durchmesser  ist'),  oder  er  kennt  tt  »  3,1416.  Ist  es  denkbar, 
daß  derartige  Anschauungen  mit  einem  Näherungswerte,  der  den 
archimedischen  an  Genauigkeit  übertrifft,  zugleich  yorkommen  "nind 
sämtlich  einheimisch  sein  sollen?  Die  Berechnung  des  Parallel- 
trapezes wird  gelehrt,  dessen  parallele  Seiten  genau  so  wie  im  Hand- 
buche des  Ahmes  (S.  97)  zur  Rechten  und  Linken,  nicht  oben  und 
unten  gezeichnet  sind^),  und  unmittelbar  anschließend  wird  in  aller- 
dings etwas  dunklem  von  dem  indischen  Eommentator  mißyerstan- 
denem*)  Wortlaute  verlangt,  jede  auszumessende  Figur  der  Ebene 
solle  in  Trapeze  zerlegt  werden,  ein  Verfahren,  welches  Ahmes, 
welches  die  Tempelpriester  von  Edfu  übten  (S.  110).  Wir  denken, 
das  sind  wieder  einige  Bausteine  zur  Herstellung  dessen,  was  von  aus- 
wärtiger Geometrie  nach  Indien  gelangt  war,  Bausteine,  deuen  ihr 
ürsprung  deutlich  anzusehen  ist. 

Wir  kommen  zur  weit  umfangreicheren  Geometrie  Brahmaguptas*). 
Sie  ist  eine  rechnende  Geometrie,  eine  Sammlung  von  Vorschriften, 
Raumgebilde  zu  berechnen  wie  bei  Heron  von  Alexandria.  Zu  Anfang 
heißt  es,  die  Fläche  des  Dreiecks  und  Vierecks  werde  in  rohem 
Überschlag  gewonnen  als  Produkt  der  Hälften  von  je  zwei  Gegen- 
seiten. Das  ist  die  alte  ägyptisch-heronische  Formel,  ist  zugleich  die 
Auffassung  des  Dreiecks  als  Viereck  mit  einer  verschwundenen  Seite 
und  geht  nur  in  einer  allerdings  wesentlichen  Beziehung  weiter 
darin,  daß  die  üngenauigkeit  des  Verfahrens  ausdrücklich  betont 
wird,  welche  Heron  ohne  allen  Zweifel  auch  erkannte,  aber  in  dem 
uns  erhaltenen  Texte  nicht  hervorgehoben  hat.  Damit  man  ja  an 
dem  Ursprung  nicht  zweifle,  gibt  der  gleiche  Paragraph  die  genaue 
Fläche  des  Dreiecks  aus  den  drei  Seiten  nach  der  heronischen  Formel. 
Als  genau  gilt  auch  die  Formel  für  das  Viereck,  wenn  von  den  Fak- 
toren imter  dem  Wurzelzeichen  jeder  die  um  eine  Seite  verminderte 
halbe  Seitensumme  darstellt,  wenn  also  "[/(s  —  a)  •  (s  —  6)  •  (s  —  c)  •  (5  —  d) 

*)  L.  Rodet,  Legons  de  calcul  d'Äryabhata  pag.  10  und  20—21.  •)  Ebenda 
pag.  11  und  28.  »)  Ebenda  pag.  10  und  21.  *)  Ebenda  pag.  22.  *)  Cole- 
brooke  pag.  296—818. 


Geometrie  and  Trigonometrie,  647 

gebildet  wird,  wo  s  =  —- — 7"^  bedeutet  und  o,  6,  c,  d  die  Vier- 
ecksseiten sind.  Im  folgenden  Paragraphen  lehrt  Brahmagupta  ans 
den  Seiten  eines  Dreiecks  die  Abschnitte  finden,  welche  eine  ge- 
zogene Höhe  auf  der  Gruudlinie  bildet.  Genau  so  lehrt  Heron  das- 
selbe. Wir  können  unmöglich  so  fortfahrend  alle  einzelnen  Para- 
graphe  der  Reihe  nach  durchgehen.  Wir  begnügen  uns  mit  einzelnen 
Bemerkungen. 

.  Eine  Bechtecksseite  wird  Seite,  die  andere  Aufrechtstehende  ge- 
nannt, die  Diagonale  vollendet  mit  beiden  ein  rechtwinkliges  Dreieck, 
auf  welches  der  pythagoräische  Lehrsatz  Anwendung  findet;  das  ist 
heronisch.  Die  obere  Seite  eines  Vierecks  wird  ei»  Scheitellinie  mit 
besonderem  Namen  belegt^);  das  ist  wieder  ägyptisch-heronisch.  Der 
Name  selbst  mukha  oder  vadana  bedeutet  Öflfhung,  Mund.  Der 
Durchmesser  des  Umkreises  eines  Dreiecks  ist  der  Quotient  des  Pro- 
duktes zweier  Seiten  geteilt  durch  die  auf  der  dritten  Seite  errichtete 
Höhe;  das  stimmt  wieder  mit  Heron  ^.  Die  Figuren  sind  nicht  an 
den  Ecken  mit  Buchstaben  bezeichnet,  sondern  mit  den  die  Längen 
angebenden  Zahlen  an  den  Seiten  selbst.  Ahnliches  finden  wir  zwar 
nicht  in  Herons  Vermessungslehre,  aber  in  den  sogenannten  Hero- 
nischen Sammlungen  im  Gegensatze  zu  allen  anderen  griechischen 
Geometrien.  Der  Kreisdurchmesser  beziehungsweise  das  Quadrat  des 
Halbmessers  mit  3  yervielfacht  sind  für  die  Praxis  Umfang  und  In- 
halt des  Kreises;  die  genauen  Werte  werden  durch  die  Quadratwurzel 
aus  den  10 fachen  zweiten  Potenzen  jener  Zahlen  gefunden *).  Das 
will  sagen,  in  roher  Weise  ist  ;r  =»  3  und  genau  st  =*  YlÖ . 

Den  ersteren  Wert  haben  wir  oben  (S.  643)  besprochen.  Der 
zweite  kommt  uns  hier  zum  ersten  Male  yor.  Es  ist  der  Versuch 
gemacht  worden,  zu  ermitteln,  wie  man  auf  diesen  Näherungswert 
gekommen  sein  mag^).  Die  Seite  des  regelmäßigen  Sechsecks  in 
dem  Kreise  von  dem  Durchmesser  10  war  von  alters  her  als  5,  der 
ganze  Umfang  somit  als  80  bekannt.  Nun  wird  behauptet,  der  Um- 
fang des  demselben  Kreise  einbeschriebenen  Zwölfecks  sei  als  1/905, 
der  des  24ecks  als  VOSl,  der  des  48-,  des  96ecks  als  "/ÖSÖ,  als 
y987  gefunden  worden,  und  so  habe  man  sich  veranlaßt  gefühlt,  die 
Grenze  ^1000  =  10  •  yiO  als  nach  unendlich  oft  wiederholter  Ver- 
doppelung der  Seitenzahl  erreichbar  anzusehen.  Diese  Wiederher- 
stellung wäre  eine  ungemein  glückliche  zu  nennen,  wenn  es  gelänge 
ebenso,  wie  in  den  Kommentaren  zu  Brahmagupta  an  dieser  Stelle 

^)  Colebrooke  pag.  72,  Note  4  und  pag.  307,  §  86.  *)  Ebenda  pag.  229, 
§  27  =s  Heron  Liber  Geopanicus  cap.  6S  (ed.  Haltach)  pag.  214.  *)  Ebenda 
pag.  308,  §  40.     *)  Hankel  S.  216—217. 


648  so.  Kapitel. 

der  Kreisdurchmesser  mehrfacli  als  10  angenommen  ist;  auch  jene 
Wurzelgrößen,  von  denen  behauptet  wird,  sie  seien  für  die  Umfange 
der  Vielecke  von  immer  verdoppelter  Seitenzahl  gesetzt  worden,  in 
indischen  Schriften  nachzuweisen.  Solange  aber  dieses  nicht  ge- 
schieht, bleibt  jener  Wert  %  =  j^lO  so  rätselhaft  wie  er  allen  Ge- 
schichtsforschern zu  erscheinen  pflegte,  und  wir  teilen  zur  Bestäti- 
gung dieser  Behauptung  noch  drei  Erklärungsversuche  mit.  Da  ist 
behauptet  worden^),  entsprechend  dem  Näherungswerte 

j/ä*  +"ft  -  o  +  2^i  sei  yiO  =  3| , 

bei  Archimed  aber  sei  ä  =-  3—  ,  und  so  sei  n  =  |/iÖ  zustande  ge- 
kommen. Das  heißt  doch:  man  ersetzte  3  -  durch  l/IÖ,  einen  ratio- 
nalen Wert  durch  einen  irrationalen,  und  das  kommt  in  der  ganzen 
Geschichte  der  Mathematik  nii^ends  vor.  Die  zweite  Erklärung*) 
geht  davon  aus,  daß  Brahmagupta  wußte*),  daß  der  Pfeil  Ä„,  welcher 
zwischen    der   Seite   s^   und   dem    Kreisumfang   sich   befindet,    durch 

die  Formel  Ä^  =  rd— Vd*— 5|1  gegeben  ist.  Im  Sechsecke  ins- 
besondere ist 

und  hätte  man  das  Recht,  —  als  Näherungswort  für  l/3  anzunehmen, 
so  wäre  '^e^^Tö-  ^*  f®"^®*"  allgemein  5|„  ==  AJ -{-  .  5j,  so  wäre 
auch  5jg  =  Ä|  +  {  5|  =  -\^*    und    {I2s^;f  =  \OcP,     Aber    \2s^^  =  u^^ 

ist  der  Umfang  des  Sehnenzwölfecks,  und  so  hätte  man  erhalten 
i^j  =  d]/lÖ,  d.  h.  jr  =  yiO  bedeutet,  man  habe  den  Kreis  als  mit 
dem    Sehnenzwölfeck    zusammenfallend    angesehen.      Sehr    sinnreich, 

wenn  nur  l/3  =^  -^  irgendwo  Beglaubigung  fände.  Die  dritte  Ver- 
mutung ist  folgende*).  Bei  Heron  kommt  der  Näherungswert 
]/54  »    -  vor.     Da  nun  bei  Archimed  ä  =  -  ,  so  kann 


3      22         8      /;r7         t/ 


486 
49 


*)  L.  Rodet,  Sur  les  mÜhodea  d'approximation  chez  les  anciens  in  dem 
Bulletin  de  la  Societe  maüiematique  de  France  T.  VE  (1879).  *)  Hunrath,  Über 
das  Ausziehen  der  Quadratwurzel  bei  Griechen  und  Indem.  Hadersleben  1883, 
S.  26.  «)  Colebrooke  pag.  810,  §  42.  *)  Briefliche  Mitteilung  von  Max 
Curtze. 


Geometrie  und  Trigonometrie.  649 

486 

gesetzt  worden  sein  und,  weil      -  nur  wenig  von  10  abweicht,  auch 

n=^yiO.  Diese  Vermutung  ähnelt  in  ihrem  Grundgedanken  der  Er- 
setzung eines  rationalen  Wertes  durch  eine  Irrationalzahl  der  ersten 
der  drei  hier  geschilderten  Vermutungen,  dürfte  also  von  der  gleichen 
Einwendung  wie  jene  bedroht  sein. 

Heronisch  ist  es  wieder,  wenn  unter  Anwendung  von  Propor- 
tionen Höhen  mit  Hilfe  von  Schattenlängen  gemessen  werden^).  Von 
Interesse  ist  uns  dann  noch  die  stereometrische  Aufgabe,  den  Raum- 
inhalt einer  abgestumpften  quadratischen  Pyramide  zu  finden,  für 
welche  Brahmagupta  drei  Lösungen  angibt,  eine  für  Praktiker,  eine 
für  annähernde,  eine  für  genaue  Rechnung').  Der  Praktiker  begnüge 
sich  mit  dem  Produkte  der  Höhe  in  das  Quadrat  des  Mittels  zwischen 
den  Seiten  an  der  unteren  und  oberen  Fläche  des  Stumpfes.  An- 
nähernd richtig,  fährt  Brahmagupta  fort,  sei  das  Produkt  der  Höhe 
in  das  Mittel  der  Grundflächen.  Wir  gehen  wohl  nicht  fehl,  wenn 
wir  darin  eine  Bestätigung  unserer  oben  ausgesprochenen  Vermutung 
über  die  Entstehung  der  falschen  Formel  für  den  Rauminhalt  der 
dreieckigen  Pyramide  bei  Aryabhatta  erkennen.  Richtig  sei,  wenn 
man  den  Inhalt  des  Praktikers  um  den  dritten  Teil  des  Unter- 
schiedes der  Inhalte  des  Praktikers  und  des  annähernd  Rechnenden 
vergrößere.  Dieser  letzte  Ausspruch  ist  vollkommen  wahr.  Heißen 
a^  und  a,  die  Seiten  der  beiden  quadratischen  Grundflächen  und 
ist  h  die  Höhe  des  Pyramidenstumpfes,  so  ist  richtig  dessen  In- 
halt =  h  •  ^*  '  "' ^  »"  ^g  .  Der  Praktiker  rechnet  aber  nach  Brahma- 
gupta h  •  (--  ~^    M  ;  annähernd  richtig  sei  h  -  —-^—^  und  nun  ist 

,, .  f!+ A«». +«! = Ä .  {^^y  + 1  [h .  ^+^^  -  h .  (^^Yl  • 

Wir  sind  oben  mit  sehr  kurzen  Worten  über  die  Flächenformel 
Brahmaguptas  für  das  Viereck  hinweggegangen,  welche  als  beson- 
deren Fall  die  heronische  Dreiecksformel  einschließt.  Daß  die  Vier- 
ecksformel als  eine  allgemeiue  nicht  gelten  kann,  ist  ersichtlich. 
Gleichwohl  hat  Brahmagupta  in  jenem  ersten  Paragraphen  seiner 
geometrischen  Lehren  in  keiner  Weise  ausgesprochen,  daß  er  der 
Formel  nur  bedingte  Zulässigkeit  für  gewisse  Vierecke,  caiura^ay 
zuschreibe.  Man  hat  in  verschiedener  Weise  sich  dieser  Schwierig- 
keit gegenüber  einen  Ausweg  zu  bahnen  gesucht.  Man  hat  ange- 
nommen, Brahmagupta,   ein   hervorragend    geometrischer  Geist,   habe 

*)  Colebrooke  pag.  817.  Section  IX,  Measure  hy  ahadow.  *)  Ebenda 
pag.  312—318,  §  46—46. 


650  80.  Kapitel 

eigentlich  nar  vom  SehnenTiereck  reden  wollen;  anf  dieses  bezögen 
sich  auch  einige  andere  Sätze^  deren  wir  hier  Erwähnung  zu  tun 
unterlassen,  und  Brahmagupta  sei  nur  aus  Kürze  dunkel  geblieben^). 
Man  hat  im  schroffen  Gegensatze  dazu  und  an  dem  Wortlaute  der 
Regel  bei  Brahmagupta  festhaltend  ihn  beschuldigt,  er  habe  die 
Regel,  die  er  an  einem  besonderen  Vierecke  entdeckt  habe,  wirklich 
auf  aUe  bezogen^).  Man  hat  dagegen  wieder  von  anderer  Seite  in 
Brahmaguptas  Text  alles  finden  wollen,  was  zum  Verständnis  nötig 
sei.  Im  26.  Paragraphen  lehre  nämlich  Brahmagupta  die  Berechnung 
des  Durchmessers  des  Umkreises,  und  darin  liege  ausgesprochen, 
daß  die  gemeinten  Vierecke  einen  Umkreis  besäßen;  im  38.  Para- 
graphen definiere  er  „die  Aufgerichteten  und  die  Seiten  zweier  recht- 
winkliger Dreiecke  wechselweise  mit  der  Diagonale  vervielfacht  sind 
vier  unähnliche  Seiten  eines  Trapezes;  die  größte  ist  die  Grundlinie, 
die  kleinste  die  Scheitellinie,  die  beiden  anderen  sind  die  Seiten^,  und 
diese  Definition,  der  man  trotz  ihrer  Dunkelheit  einen  guten  Sinn 
abzugewinnen  wußte,  bilde  einen  zweiten  Kern  der  ganzen  Unter- 
suchung, welche  aber  nur  für  Vierecke  von  den  Gattungen  stichhaltig 
sei,  wie  sie  hier  näher  bestimmt  wurden^.  Auch  dieser  Meinung 
ist  man  entgegengetreten:  Brahmagupta  werde  doch  nicht  in  §  38 
erst  definieren,  was  er  seit  §  21  benutze;  er  werde  den  Gang  seiner 
Untersuchung  doch  nicht  so  eingerichtet  haben,  daß  man  besser 
daran  tue,  sie  von  hinten  nach  vom  als  in  der  Folge  zu  lesen,  wie 
er  sie  niederschrieb;  er  werde  doch  endlich  nicht  als  Formel  für  das 
Tetragon,  das  Viereck  also,  aussprechen,  was  er  vom  Trapeze  meinte; 
und  nach  diesen  freilich  nicht  ungewichtigen  Einwürfen  hat  man  ver- 
sucht zu  zeigen,  wie  Brahmagupta  rechnend  und  durch  Induktion  von 
der  ihm  bekannten  Dreiecksformel  aus  zu  der  entsprechenden  Vier- 
ecksformel gelangte,  deren  bedingte  Gültigkeit  ihm  nur  nach  und 
nach  klar  wurde  ^).  Diese  sehr  verschiedenen  Auffassungen  können 
uns  nur  bestimmen,  die  Dunkelheit  des  ganzen  Kapitels  bei  Brahma- 
gupta von  §  21  bis  §  38  als  eine  bisher  noch  nicht  vollständig  ver- 
nichtete zu  erklären.  Wir  glauben  dabei  noch  immer  an  die  Richtig- 
keit einiger  aus  der  Formel  von  §  26  und  der  Definition  von  §  38 
gezogenen  Schlüsse,  möchten  aber  doch  nicht  so  zuverlässig  be- 
haupten, jede  Schwierigkeit  sei  damit  verschwunden. 

Wir  meinen  freilich,  ein  Teil  der  Schwierigkeiten  sei  durch  un- 
glückliche Übersetzung  entstanden,  welche  das  Wort  Trapez  anwandte, 

*)  Chaeles,  Apergu  hist.  pag.  420  sqq.,  deutsch  466flgg.  *)  Arneth, 
Gfescfaichte  der  reinen  Mathematik  8.  146  ügg.  (Stuttgart  1852).  *)  Hankel 
3.  210—216.  *)  Weißenborn,  Daa  Trapez  bei  Euklid,  Heron  und  Brahmagupta 
in  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathematik  U,  169-~184  (1879). 


Geometrie  nnd  Trigonometrie.  651 

wo  es  nach  dem  Sinne^  welchen  man  diesem  Worte  beizulegen  ge* 
wohnt  ist,  nicht  angewandt  werden  durfte.  Caturveda  Prithüdakas- 
yämin,  ein  Scholiast  des  Brahmagupta^  der  selbst  vor  Bhäskara  lebte, 
der  ihn  anfährt^),  gibt  zu  dem  die  Flächenformel  enthaltenden  §  21 
eine  wichtige  zu  wenig  berücksichtigte  Erläuterung*):  Dreierlei  Drei- 
seite gebe  es,  fünferlei  Vierecke  und  als  neunte  ebene  Figur  den 
Kreis;  die  Dreiseite  seien  gleichseitig,  gleich  für  zwei  Seiten  und 
ungleichseitig;  die  Vierecke  seien  gleiche,  paarweis  gleiche,  mit  zweien 
gleiche,  mit  dreien  gleiche  und  ungleiche  Vierecke.  Man  sieht  wohl: 
von  Parallelismus,  von  Trapez  und  dergleichen  ist  dabei  ausdrück- 
lich wenigstens  nicht  die  Bede,  und  wenn  man  die  fünf  (Gattungen 
von  Vierecken  aus  den  Beispielen,  die  derselbe  Prithüdakasyämin 
beifügt,  zu  bestimmen  sucht,  so  findet  man,  daß  das  gleiche  Viereck 
das  Quadrat,  das  paarweise  gleiche  das  Rechteck  ist;  daß  unter  dem 
mit  zweien  gleichen  und  mit  dreien  gleichen  gleichschenklige  Parallel- 
trapeze zu  verstehen  sind,  deren  kleinere  Parallelseite  in  dem  zweiten 
Falle  auch  noch  den  beiden  gleichen  Schenkeln  gleich  sein  soll.  Die 
fOnfte  Gattung  von  Vierecken,  nämlich  die  unter  gewissen  anderen 
zu  erfüllenden  Bedingungen  ungleichen  Vierecke  sind  im  §  38  definiert. 
Nun  sieht  man,  welche  heillose  Verwirrung  entstehen  mußte,  sobald 
man  die  Vierecke  letzter  Gattung  Trapeze  nannte,  statt  irgend  ein 
anderes  Wort,  z.  B.  unser  ungleiches  Viereck  zu  wählen.  Man  sieht 
aber  noch  mehr.  Man  sieht,  daß  die  fünf  Gattungen  von  Vierecken 
keineswegs  richtig  gewählt  sind.  Sie  erschöpfen  den  Begriff  des 
Vierecks  durchaus  nicht.  Aber  darin  sehen  wir  nur  einen  weiteren 
Beweis  für  den  ausländischen  Ursprung  der  indischen  Geometrie.  Die 
Fünfzahl  der  Vierecke  ist  yielleicht  selbst  auf  griechische  Erinnerung 
zurückzuführen,  da  Euklid  in  der  30.  bis  34.  Definition  des  I.  Buches 
seiner  Elemente  ebensoviele  Gattungen  unterscheidet:  Quadrat,  Recht- 
eck, Rhombus  und  Rhomboid,  unregelmäßiges  Viereck,  in  seinen 
Gattungen  freiUch  jeder  Möglichkeit  einen  Platz  zuweisend.  Nun 
waren  den  Indern  nur  Sätze  über  die  fünf  unberechtigten  Vierecks- 
arten, welche  Prithüdakasyämin  uns  nennt,  bekannt  geworden;  nur 
mit  ihnen  also  hatte  man  sich  zu  beschäftigen.  Es  waren 
das  in  den  vier  ersten  Gattungen  gerade  die  Vierecke,  welche  Heron 
mit  Vorliebe  behandelt  hat,  das  Quadrat  und  das  Rechteck  und  das 
gleichschenklige  Trapez,  die  Lieblingsfigur  schon  der  alten  Ägypter. 
Was  die  Zerfällung  der  Trapeze  in  solche  mit  zwei  imd  mit  drei 
gleichen  Seiten  betrifft,  so  kann  man  verschiedener  Meinung  sein. 
Man  kann  meinen,  da  bei  Heron  yerschiedene  Gattungen  von  Parallel- 


*)  Colebrooke  pag.  245,  §  174  und  Note  6.    *)  Ebenda  pag.  295,  Note  1. 


652 


so.  Kapitel. 


trapezen  gefuDden  worden  waren^  deren  ünterscheidungsgrundU^e 
man  nicht  verstand^  so  habe  man  auf  eigene  Faust  neue  Gruppen  ge- 
bildet; man  kann  aber  auch  an  einen  griechischen  Ursprung  denken, 
da  beispielsweise  Hippokrates  von  Chios  (S.  208)  sich  mit  Parallel- 
trapezen mit  drei  gleichen  Seiten  vielfach  abquälte  und  es  daher 
wohl  möglich  ist,  daß  Spätere  auch  noch  um  diese  Figur  sich  küm- 
merten, ohne  daß  wir  unmittelbar  davon  wissen.  Kehren  wir  jetzt 
zu  §  26  Brahmaguptas  zurück.  Wenn  darin  von  dem  Halbmesser 
des  Umkreises  zuerst  jedes  Vierecks  mit  ausdrücklicher  Aus- 
nahme des  ungleichen  Vierecks  die  Rede  ist,  so  sind  eben  nur 
die  vier  ersten  Gattungen  gemeint,  und  diese  vier  sind  zweifellos 
Sehnen  Vierecke,  und  wenn  in  demselben  Paragraphen  fortfahrend  auch 
die  Berechnung  des  Halbmessers  des  Umkreises  der  fünften 
Vierecksgattung  gelehrt  wird,  so  ist  wieder  zweifellos  auch  für 
diese  Gattung  die  Eigenschaft  als  Sehnenviereck  damit  in  Anspruch 
genommen. 

Jene  ungleichen  Vierecke  der  fünften  Gattung  entstehen  aber 
gemäß  §  38  auf  folgende  Weise.  Man  denke  (Fig.  85)  zwei  rationale 
rechtwinklige  Dreiecke  aus  den  Seiten  c^,  c^,  h  und  6\,  C^,  H  ge- 
bildet Man  vervielfache  die  Seiten  des 
ersteren  zuerst  mit  C^,  dann  mit  C,,  so 
sind  auch  CjC^,  c^Cj,  hC^  und  qQ,  r^Cg, 
hC^  Seiten  zweier  rechtwinkliger  Dreiecke. 
Diese  beiden  setzt  man  mit  den  rechten 
Winkeln  als  Scheitelwinkeln  aneinander, 
so  daß  c^Oj  als  Fortsetzung  von  c^C^  und 
CjCg  als  Fortsetzung  von  c^C^  erscheint, 
beziehungsweise  daß  c^  Cj  +  Cj  C^  und 
q  Cj  +  Cg  Cj  zwei  sich  senkrecht  durch- 
kreuzende Gerade  bilden,  welche  als  Diago- 
nalen eines  leicht  zu  vollendenden  Vierecks  auftreten.  Gegenseiten 
dieses  Vierecks  sind,  wie  wir  schon  wissen,  hC^  und  AQ;  das  andere 
Paar  Gegenseiten  heißt  leicht  ersichtlich  Hc^  und  Hc^,  Alle  vier 
Vierecksseiten  sind  voneinander  verschieden,  sind  ungleich;  das  Vier- 
eck  ist  aber  aus  vier  rationalen  rechtwinkligen  Dreiecken  zusammen- 
gesetzt, und  je  zwei  Scheiteldreiecke  sind  einander  ähnlich.  Diese 
ungleichen  Vierecke  sind  unter  denen  der  fünften  Gattung  verstanden, 
und  die  Gleichheit  der  Summe  je  zwei  gegenüberstehender  Winkel 
kennzeichnet  sie  als  Sehnenvierecke.  Zu  ihrer  Bildung  sind  also  Zu- 
sammensetzungen rechtwinkliger  Dreiecke  notwendig,  welche  Heron 
gekannt  hat  (S.  399),  und  für  welche  er  in  seiner  Geometrie  des 
eigenen  Kunstausdruckes  zusammenhängender  rechtwinkliger  Dreiecke, 


f^y^^ 

M 

h 

X                ^ 

M 

l 

^\ 

r 

Fig.  85. 


Geometrie  und  Trigonometrie.  653 

TQiyava  dQOoymvia  iivfondva^  sich- bediente.  Durch  ähnliche  Zusammen- 
setzung ist  aus  den  beiden  rechtwinkligen  Dreiecken  5,  12,  13  und 
9,  12,  lö  an  der  Kathete  12  das  in  allen  Beziehungen  rationale  be- 
rühmte Dreieck  13,  14,  15  entstanden,  welches  Heron  kannte,  welches 
auch  den  Indem  vielfach  als  Beispiel  diente. 

Vor  der  Zusammensetzung  rationaler  rechtwinkliger  Dreiecke 
müssen  wir  aber  auch  die  Kenntnis  rationaler  rechtwinkliger  Drei- 
ecke selbst  als  vorausgehend  vertreten  finden.  Heron  hat  sich  mit 
solchen  beschäftigt;  auch  bei  Brahmagupta  fehlen  sie  nicht,  der,  wie 
wir  schon  (S.  628)  andeuteten,  zweimal  darauf  zurückkommt,  zuerst 
in  seinem  geometrischen  Kapitel  und  dann  eingeschaltet  zwischen 
dem    Rechnen   mit    irrationalen   Quadratwurzeln,    wo    die   Regel   am 

deutlichsten    ausgesprochen    ist^).      Man    solle    c,     0(5""^)     ^°^ 

-    (y  +  *)  ^^  Seiten   wählen,   wobei  c  und  b  ganz  beliebige  Werte 

haben.  Diese  Formel,  welche  die  unter  dem  Namen  des  Pythagoras 
und  des  Piaton  bekannten  Sonderfälle  durch  & »  1  und  6  »  2  in 
sich  schließt,  ist  genau  so  bei  keinem  Griechen  uns  begegnet,  stimmt 
aber  zu  der  (S.  645)  erörterten  Entstehungsweise  rationaler  recht- 
winkliger Dreiecke.  Dieser  Umstand  ebenso  wie  die  Stelle,  wo  die 
Regel  sich  ausgesprochen  findet,  geben  ihr  ein,  wenn  auch  nicht  alt- 
indisches, immerhin  indisches  Gepräge,  aber  die  Aufgabe,  welche 
durch  sie  ihre  Lösung  fand,  dürfte  griechisch  sein,  dürfte,  wenn  man 
den  Ausdruck  gestatten  will,  in  Indien  nur  noch  mehr  algebraisiert 
worden  sein,  als  sie  es  schon  war. 

Wir  denken  nicht,  daß  alle  diese  kleineren  und  größeren  Über- 
einstimmungen zwischen  Heron  und  Brahmagupta  der  Aimahme  unseres 
Grundgedankens  entgegenwirken  können,  und  fragen  nun,  was  aus 
einer  so  aus  der  Fremde  eingeführten  Lehre  im  Lauf  der  Zeiten 
werden  mußte?  Wesentliche  Fortschritte  dürfen  und  können  wir  bei 
einem  nicht  geometrisch  angelegten  Volksgeiste  nicht  erwarten.  Im 
Gegenteil,  manches  anfänglich  Verstandene  muß  verloren  gegangen 
sein.  Nur  Aufgaben  einer  algebraischen  Geometrie  werden  den  indi- 
schen Geist  ansprechend  weitere  Pflege  erfahren  und  sich  vielleicht 
in  einem  Umfange  erhalten  haben,  der  das  bei  Brahmagupta  Vor- 
handene überragt.  Die  Geometrie  des  Bhäskara^)  erfüllt  diese  unsere 
Erwartung. 

Bis  zu  Bhäskara  ist  vor  allen  Dingen  der  Rest  des  Verständ- 
nisses der  Formel  für  die  Vierecksfläche  verloren  gegangen.  In  einem 
Vierecke  mit  denselben  Seiten,  sagt  er,  gibt  es  verschiedene  Diago- 


*)  Colebrooke  pag.  340,  §  38.     «)  Ebenda  pag.  68—111. 


654  80.  Kapitel. 

naien.  ^yWie  kann  jemand,  der  weder  eine  Senkrechte  noch  eine  der 
Diagonalen  angibt ,  nach  dem  Übrigen  fragen?  oder  wie  kann  er 
nach  der  bestimmten  Fläche  fragen ,  wenn  jene  unbestimmt  sind? 
Ein  solcher  Fn^esteller  ist  ein  tölpelhafter  böser  Geist.  Noch  mehr 
Mst  es  aber  der,  welcher  die  Frage  beantwortet,  denn  er  berücksichtigt 
nicht  die  unbestimmte  Natur  der  Linien  in  einer  vierseitigen  Figur*' ^). 

22 

Hinzugekommen  ist  die  Ereisverhältniszahl  sr  =  y,    welche    als    für 

3927 

Praktiker  genügend  erklärt  wird,  während  der  feinere  Umfang  j^  mal 

dem  Durchmesser  sei').  Hier  ist-  allerdings  etwas  rätselhaft.  Das 
erste  Verhältnis  ist  das  archimedische,  das  zweite  das  von  Aryabhatta 

62  832 

in  der  Form  ^qqqq  benutzte,  während  diesem  die  archimedische  Zahl 

nicht  bekannt  oder,  was  noch  aufifallender  wäre,  nicht  mitteilens- 
wert  gewesen  zu  sein  scheint,  und  doch  soll  es  die  Methode  Archi- 
meds  gewesen  sein,  welche  zu  dem  genaueren  Werte  geführt  hat. 
Archimed,  erinnern  wir  uns,  ließ  vom  Sechsecke  ausgehend  die 
Seitenzahl  des  eingeschriebenen  Vielecks  sich  immer  verdoppeln,  bis 
er  zum  96  eck  gelangte  (S.  303).  6ane9a,  der  Kommentator  Bhäskaras, 
berichtet  uns,  man  sei  vom  Sechsecke  durch  stete  Verdoppelung  der 

3927 

Seitenzahl   bis    zum    384eck    vorgeschritten    und    habe   so   sr  ==  j— ^ 

gefunden.     Bhäskara  bedient  sich  übrigens  auch  noch  einer  anderen 

Annäherung  •''),  nämlich  ^  =^  itrn'^  3,141666  . . .   Hinzugekommen  sind 

femer  einige  Aufgaben  über  rechtwinklige  Dreiecke,  welche  unsere 
Aufmerksamkeit  verdienen.  Sie  finden  sich  nicht,  wie  die  bisher 
angeführten  Dinge,  in  der  Lilävati,  sondern  in  dem  Vija  Ganita  ge- 
nannten algebraischen  Kapitel.  Es  wird  verlangt,  die  Seiten  eines 
rechtwinkligen  Dreiecks  zu  finden,  wenn  neben  der  Summe  derselben 
erstens  das  Produkt  der  beiden  Katheten  oder  zweitens  das  Produkt 
der  drei  Seiten  gegeben  ist^).  Die  erstere  Aufgabe  ähnelt  nämlich 
ebensowohl  der  heronischen  Aufgabe  vom  Kreise,  bei  welcher  Summen 
von  Stücken  verschiedener  Dimensionen  gegeben  sind  (S.  404),  als 
der  des  Nipsus  aus  Hypotenuse  und  Fläche,  d.  h.  also  halbem  Pro- 
dukte der  Katheten  die  Dreiecksseiten  selbst  zu  finden  (S.  556). 
Bhäskara  löst  die  erste  Aufgabe  wie  folgt.     Ist  c^c^  ^p,  so  ist 

2p=2ciC,«(ci+C8)*-(cf+c|)=»(Ci+e^)«~Ä*-(q+Cg+/0(Ci  +  (^-/^ 
Da  nun  c^  +  c^  +  ä  =  s  gegeben  ist,  so  folgt  q  +  c^  —  A  =  -  -  und 


*) 


*)  Colebrooke  pag.  78.       *)  Ebenda  pag.  87.      «)  Ebeada  pag.  96,  §  214. 
Ebenda  pag.  225—226,  §  151—152. 


Geometrie  und  Trigonometrie.  655 

Die  Katheten  findet  man  noch  einzeln,  indem  von  (q  +  c^y  =  i    2      ) 
der  Wert  ACiC^==  4tp  abgezogen  wird;  so  entsteht  nämlich 

und  daraus  Cj  —  c,,  welches  in  Gemeinschaft  mit  c^  +  Cg  die  Katheten 
liefert.  In  der  zweiten  Aufgabe  ist  c^  -  c^'h  =^p  und  q  +  c^  +  ä  =  s 
gegeben.     Aus  s  —  h  =  0^  +  c^  erhält  man 

s»  -  2sÄ  +  Ä^  =  cj  +  c|  +  2c^c^  «  A«  +  ^, 
mithin  ist  s*  —  2sh  =  -^    und    2sh^  —  s^h  ^  —  2p.      Daraus    findet 

man  h,  daraus  s  —  ä  =  q  +  ^  ^uid  -^  =-  4ciCj,  und  nun  ist  es  wieder 

leicht  c^  —  c^  und  endlich  die  Katheten  zu  finden.  Das  sind  Methoden, 
welche  der  von  Nipsus  angewandten  entschieden  ähneln,  so  wenig  in 
Abrede  gestellt  werden  soll,  daß  Bhäskaras  Aufgaben  die  bei  weitem 
verwickelteren  sind.  Hinzugekommen  sind  endlich  einige  Beweise 
geometrischer  Sätze  durch  Rechnung,  und  einige  auf  Anschauung 
beruhende,  wenn  man  letztere  als  Beweise  gelten  lassen  darf.  Ein 
Beispiel  beider  Auffassungen  bildet  der  Beweis  des  pythagoräischen 
Lehrsatzes,  der  sich  in  dem  Vija  Gaaita  vor- 
findet^). Das  eine  Mal  wählt  man  die  Hypo- 
tenuse zur  Grimdlinie,  auf  welche  (Fig.  86) 
von  der  Spitze  des  rechten  Winkels  aus  eine 
Senkrechte   gefällt  wird,  und   weist   auf  die  ^^  ^ 

Eigenschaft  der  zwei  so  entstehenden  recht- 
winkligen Dreiecke  hin,  mit  dem  ursprünglichen  Proportionalitäten 
zu  bilden.  So  kommen,  wenn  \  und  A,  die  Stücke  der  Hypotenuse 
h  heiBen,  die  je  an  q  und  c^  anstoßen,  die  Verhältnisse  heraus 


c,        Ä, 

und     %=?5*^ 

h           C. 

Ä        e^ 

und  daraus  folgt 

Ä(A,  +  Ä,)  =  A«-c2  +  c|, 

Bei  Euklid  (VI,  8  der  Elemente)  findet  sich  zwar  nicht  dieser 
rechnende  Beweis  selbst,  aber  doch  dessen  Grundlage,  daß  die  Senk- 
rechte aus  der  Spitze  des  rechten  Winkels  auf  die  Hypotenuse  zwei 
dem  ganzen  Dreiecke  ähnliche  Teildreiecke  hervorbringt. 


*)  Colebrooke  pag.  220—222,  §  146. 


656 


30.  Kapitel. 


Der  andere  Beweis ,  welcher^  wie  im  34.  Kapitel  sich  zeigen 
wird,  mehr  als  200  Jahre  vor  Bhäskara  schon  bekannt  war^  kon- 
struiert (Fig.  87)  über  jede  Seite  des  Quadrates  der  Hypotenuse  nach 
innen  zu  das  rechtwinklige  Dreieck.  „Sehet!"  Da- 
mit begnügt  sich  Bhäskara  und  erwähnt  nicht  ein- 
mal^ daß  die  Anschauung 


A«. 


4x^  +  (., 


c,Y  =  cj  +  4 


«g.  87. 


liefere.  Ganz  ähnlicher  Natur  sind  Beweise,  welche 
der  Kommentator  6ane9a  zu  Sätzen  Bhaskaras 
beigebracht  hat^).  Die  Dreiecksfläche  wird  er- 
halten als  Rechteck  der  halben  Höhe  und  der  Gh-undlinie  (Fig.  88). 
Sehet!  Die  Kreisfläche  wird  erhalten  als  Rechteck  des  halben 
Durchmessers  in  den  halben  Kreisumfang  (Fig.  89).     Sehet! 


Pig.  88. 

Diese  Beweisform^  welche  bei  Brahmagupta  nirgend  auftritt,  muß 
wohl  als  indisch  betrachtet  werden.  Sie  ist  mit  der  algebraischen 
Beweisform  verbunden  ungemein  charakteristisch  für  die  Darstellungs- 
weise jener  Oeometer.  Rechnen  in  nahezu  imbegrenzter  Möglichkeit 
oder  Anschauen,  darüber  kommen  sie  nicht  hinaus.  Das  eine  wie 
das  andere  ist  zum  Beweise  schon  bekannter  Sätze  gleich  gut  anzu- 
wenden, die  Rechnung  ist  strenger,  die  Berufung  auf  unmittelbare 
Anschauung  vielfach  überzeugender.  Aber  kann  letztere  zur  Erfindung 
neuer  Sätze  führen?  Kann  es  erstere,  wenn  nicht  eine  gewisse 
Summe  geometrischer  Sätze  als  Ausgangspunkt  vorhanden  ist,  unter 
welchen  der  pythagoreische  Lehrsatz  einer  der  wichtigsten  ist?  Kann 
der  pythagoreische  Lehreatz  gefunden  worden  sein  von  einem  Beweise 
ausgehend,  wie  die  beiden  durch  Bhäskara  uns  überlieferten?  Wir 
wissen,  daß  diese  Fragen  bald  verneinend  bald  bejahend  beantwortet 
worden  sind,  daß  man  gerade  den  auf  Fig.  87  beruhenden  Beweis 
des  Satzes  von  dem  Quadrete  der  Hypotenuse  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  für  die  Entstehung  des  Satzes  in  Anspruch  genommen  hat 
Wir  persönlich  können  diese  Ansicht  nicht  teilen.  Wir  kommen, 
wie   wir   es   in  unserer  seitherigen  Schilderung  indischer  Geometrie 


^)  Colebrooke  pag.  70,  Note  4  und  pag  88,  Note  3. 


Geometrie  und  Trigonometrie.  657 

überall  haben  darchklingeB  lassen,  immer  wieder  zur  Überzeugung, 
es  sei  für  die  Inder  nach  einer  frühen  Periode  geometrischer  Beein- 
flussung von  Norden  her  eine  solche  eingetreten,  in  welcher  von  Süd- 
westen her  Fremdes  eindrang,  Fremdes,  welches  der  indischen  Denk- 
weise entsprach,  also  weniger  der  „Euklid"  mit  seinen  streng  geome- 
trischen Folgerungen,  als  der  „Heron"  mit  seinen  Rechnungen.  Eine 
solche  tFbertragung  schließt  keineswegs  aus,  daß  indische  Mathematiker 
des  überkommenen  Stoffes  sich  in  ihrer  Weise  bemächtigten,  ihn 
mißhandelten  oder  behandelten,  wie  sie  es  eben  verstanden,  bald  einen 
Rückgang,  bald  einen  Fortschritt  zuwege  bringend. 

Am  unzweifelhaftesten  sind  die  Fortschritte,  welche  der  der 
Rechnung  am  meisten  bedürftige  Teil  der  alten  Geometrie  bei  den 
Indem   gemacht   hat,   die   Trigonometrie^).     Hier  ist  zwar   von 

Griechenland   aus   sicherlich   die   archimedische  Yerhältniszahl  —    der 

Kreisperipherie  zum   Durchmesser  nach  Indien   gedrungen  (S.  654). 

Vielleicht  mag  auch   griechischen  Ursprunges 

sein,  wie  die  Höhe  h  eines  Kreisabschnittes,  sein 

utkramajyd   nach    indischem    Sprach  gebrauche, 

mit  der  Sehne  s  und  dem  Kreishalbmesser  r  in 

Verbindung  steht,    wir    meinen    (Fig.  90)    die 

leicht  abzuleitende  Gleichung 

2hr  -  A*  -  ^l     oder     s  «  2  VT(2r  - 77)  . 

Aber  ihre    ganze   weitere  Rechnungsweise   be-  "Fi^TgoT 

ginnend  von  dem  Maße  der  Linien  im  Kreise 
ist  so  ungriechisch  wie  möglich,  also  vermutlich  indischen  Ursprunges. 
Allerdings  zerlegt  der  Inder,  wie  wir  schon  früher  betont  haben, 
gleich  dem  Griechen  und  wahrscheinlich  babylonischer  Sitte  folgend 
den  ganzen  Kreisumfang  in  360  Grade  oder  in  21600  Minuten,  da 
jeder  Grad  gleich  60  Minuten  ist;  aber  wenn  dann  der  Grieche  den 
Halbmesser  gleichfalls  in  60  Teile  mit  sexagesimal  fortschreitenden 
Unterabteilungen  zerlegt,  so  fragt  der  Inder,  wie  groß  der  Kreis- 
bogen in  Minuten  sei,  zu  welchem  der  Halbmesser  sich  zusammen- 
biegen läßt.  Er  vollzieht  eine  Arkufikation  der  geraden  Linie  und 
muß  dazu  des  schon  bei  Aryabhatta  vorkommenden  Wertes  n  =  3,1416 
sich  bedient  haben,  denn  nur  dann  folgt  aus  2 »r  =  21600  Minuten, 

^)  Vgl.  außer  Golebrooke  den  Sürya  Siddhanta  und  das  von  Rodet 
übersetzte  Kapitel  des  Aryabhatta.  Femer  Asiatic  researcfies  (Calcutta)  II,  225; 
daraus  Arneth,  Geschichte  der  reinen  Mathematik  S.  171 — 174.  Woepcke, 
Sur  le  nwt  kardaga  et  mr  une  methode  indienne  pour  caiculer  Us  sinus  in  den 
N.  ann.  maih,  (1864)  Xm,  386—394.  A.  v.  ßraunmühl,  Vorlesungen  über  Ge- 
schichte der  Trigonometrie  I,  31 — 42. 

Cantob,  Gesoldchte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  42 


658 


30.  Kapitel. 


21  600 
r  =  g  gggg  »=  3437,7  ...  in  ganzen  Zahlen  am  nächsten  r  »=  3438  Mi- 
nuten, wie  der  Inder  rechnet.  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  der  Ge- 
danke der  Arkufikation  darin  wurzelt,  daß  die  Trigonometrie  der 
Inder  wie  der  Griechen  in  astronomischen  Aufgaben  ihren  Ursprung 
hat,  also  zunächst  eine  sphärische  Trigonometrie  war,  in  welcher  nur 
Bogen  vorkommen,  wenn  auch  im  übrigen,  wie  wir  noch  bemerken 
werden,  von  sphärisch-trigonometrischen  Aufgaben  keine  Rede  ist. 

Von  r  =^  3438  Minuten  als  erster  Tatsache  ausgehend  wurde  nun 
die  ähnlicherweise  in  Minuten  umgebogene  Länge  anderer  Geraden 
im  Kreise  gesucht.  Die  Sehne,  welche  einen  Bogen  bespannt,  wurde 
jyä  oder  ßva  genannt,  welche  Wörter  auch  die  Sehne  eines  zum 
Schießen  bestimmten  Bogens  bezeichnen.  Die  halbe  Sehne  hieß  dann 
jyärdha  oder  ardhajyä  und  wurde  unter  letzterem  Xamen  auch  zum 
halben  Bogen  in  Beziehung. gesetzt.  Sie  war  nichts  anderes  als  was 
die  spätere  Trigonometrie  den  Sinus  jenes  Bogens  genannt  hat. 
Auch  den  Sinus  versus  unterschied  man,  wie  schon  bemerkt,  als 
iUkramajyd,  sowie  den  Kosinus  als  kotijyä.  Man  wußte  zugleich  aus 
dem  aus  Sinus,  Kosinus  und  Halbmesser  bestehenden  rechtwinkligen 
Dreiecke,  daß  (sin  a)»  -f  (cos  «)«  =  r*  =  (3438)«.  Da 
nun  die  Sehne  von  60®  dem  Halbmesser  oder  3438 
Minuten  gleich  ist,  so  mußte  ihre  Hälfte  oder  in 
modemer  Schreibweise  sin  30®  =  -  =  1719  Minuten 
sein.  Man  war  nun  imstande,  aus  dem  Sinus  eines 
Bogens  den  des  halb  so  großen  Bogens  zu  finden, 
da  (Fig.  91)  2  sin  y  ^^  Hypotenuse  eines  recht- 
winkligen Dreiecks  bildet,  dessen  beide  Katheten 
sin  tt  und  sin  vers  a  sind.    Folglich  mußte 

(2  sin  2 )  ^  (^^  ^y + (^^  ^^^  ^y 

sein.  Aber  sin  vers  a  =  r  —  cos  a  und  sin  a*  -f  cos  a*  =  r*  in  Be- 
rücksichtigung gezogen,  wird  auch  ^2  sin yj   =>  2r*  —  2r  •  cos  a    und 

sin  I  =  ]/^(^  -  cos a)  =  1/1719(3438^^^^"^ . 

So  verschaflfte  man  sich  vielleicht  die  Zahlen,  welche  im,  Sürya 
Siddhänta  unter  anderen  angegeben  sind :  sin  15^  =  890  Minuten, 
sin  7«  30'  =  449  Minuten,  sin  3«  45'  =  225  Minuten.  Aber  3^  45'  sind 
selbst  225  Minuten,  also  bei  soweit  fortgesetzter  Bogenhalbierung 
fiel  der  Sinus  mit  dem  Bogen  zusammen,  war  ihm  an  Länge 
gleich,  sofern  man  es  bei  der  Genauigkeit  von  einer  Minute  bewenden 
ließ,    und    um    so   mehr   mußte   diese    Gleichheit   für   noch    kleinere 


Fig.  »1. 


Geometrie  und  Trigonometrie.  659 

Bögen  und  deren  Sinns  stattfinden  d.  li.  es  mnßte  sin  a »  a  sein;, 
wofern  a  ^  225'  war.  Damit  war  dem  Bogen  von  225'  oder,  wie 
wir  anch  sagen  können,  dem  96.  Teile  des  Ereisumfanges  eine  be- 
sondere Wichtigkeit  beigelegt,  welche  ihn  würdig  machte  dnrch  einen 
besonderen  Namen  ausgezeichnet  zu  werden.  Man  nannte  seinen  Sinus 
und  ihn  selbst  den  geraden  Sinus,  kramajyä, 

Weim  wir  uns  ausdrückten,  man  habe  yielleicht  von  sin  30^  aus- 
gehend durch  Bogenhalbierung  sin  225'^  225'  gefunden,  so  gebrauchten 
wir  dieses  einschränkende  Wort,  weil  möglicherweise  auch  der  vm- 
gekehrte  Weg  eingeschlagen  wurde.     Die   archimedische  Verhaltnis- 

22 

zahl  Y  ^^^  gefanden  worden,   indem  man  das  96 eck  als  mit  dem 

umschriebenen  Kreise   nahezu   zusammenfallend   sich   dachte;   daraus 

könnte  man  Veranlassung  genommen  haben,   auch  sin  -^  =  -gg-    zu 

setzen  imd  zum  voraus  diese  Annäherung  als  genügend  zu  be- 
trachten. 

Sei  dem  nun,  wie  da  woUe,  jedenfalls  spielte  von  nun  an  der 
Bogen  von  225'  wie  dessen  Vielfache  und  die  Sinus  derselben  in  der 
indischen  Trigonometrie  eine  Rolle,  deren  Wichtigkeit  zur  Genüge 
hervortreten  wird,  wenn  wir  sagen,  dieser  Bogen  bildete  die  Bogen- 
einheit  einer  Sinustabelle,  die  sich  von  3®  45'  bis  90®  in  24 
Werten  erstreckte.  Die  Auffindung  der  Sinusse  der  durch  Zusammen- 
setzung von  Bögen  gebildeten  größeren  Bögen  erfolgte  nach  ähnlichen 
Methoden,  wie  Ptolemäus  sie  im  Almageste  gelehrt  hat.  Nachdem 
die  Tabelle  gebildet  war,  erkannte  man  vermutlich  empirisch  das 
Zahlengesetz,  daß 

sin  ((n  +  1)  225')  -  sin  (n  •  225')  =-  sin  (n  •  225')  -  sin  ((n  ~  1)  225') 

__  Bin  (n- 2260 
226 

war,  und  benutzte  nunmehr  diese  Interpolationsformel,  um  die  Tabelle 
selbst  jeden  Augenblick  herstellen  zu  können.  Bhäskara  ist  sogar 
bei  dieser  Tabelle  nicht  stehen  geblieben.  Er  hat  die  Sinusse  und 
Kosinusse  in  Bruchteilen  des  Halbmessers  des  Kreises  angegeben: 

•     oo-'         löö  c^o-'        466  .     ^0         10  -0        6668 

sin  220  =  j^^g ,       cos  22o  =  ^ ;         sm  1  <>  =  -3 ,       cos  1 »  =  ^-^- , 

WO  jedesmal  die  betreflFenden  Teile  des  Halbmessers  gemeint  sind; 
er  hat  die  Berechnung  einer  Sinustabelle  gelehrt,  deren  Bögen  von 
Grad  zu  Grad  fortschreiten.  Damit  steht  vielleicht  eine  in  der  Lilä- 
vaü^)    mitgeteilte   Formel    in  Verbindung,   welche   die    Sehne  s   aus 


*)  Colebrooke  pag.  94,  §  213. 

42* 


660  30.  Kapitel. 

dem  Ereisumfange  F,  dem  Durchmesser  d  und  dem  Bogen  B  finden 
lehrt:   s  «  — — ,  eine  Formel,  deren  Ableitung  noch  nicht 

4 

enträtselt  ist^  welche  aber  eine  ziemlich  genügende  Annäherung 
liefert  1). 

Trigonometrie  als  Berechnung  von  Dreiecksstücken  eines  be- 
liebigen Dreiecks  mit  Hilfe  von  Winkelfunktionen  scheinen  die  Inder 
nicht  gekannt  zu  haben.  Sie  führen  yielmehr  fast  alle  Aufgaben  auf 
ebene  und  zwar  auf  rechtwinklige  Dreiecke  zurück  und  konnten  so 
mit  ihren  planimetrischen  Kenntnissen  ausreichend  die  verschiedenen 
vorkommenden  Fragen  beantworten. 

Als  wesentlicher  Fortschritt^  den  die  Trigonometrie  in  Indien 
machte,  bleibt  danach  das  übrig,  was  wir  oben  besprachen:  die 
Sinustabelle.  Die  Sehnen  waren  verdrangt  durch  ihre  Hälfben.  Was 
im  Analemma  des  Ptolemaeus  angedeutet  war  (S.  423),  aber  bei  dem 
Griechen  nicht  seine  in  Zahlen  umgesetzte  Ausbildung  fand,  dessen 
Wichtigkeit  ahnte  wenigstens  der  rechnungsgeübte  Inder.  In  dem 
Sürya  Siddhänta  findet  sich  bereits  eine  Sinustabelle.  Die  ganze 
Tragweite  der  damit  vollzogenen  Abänderung  ergab  sich  allerdings 
auch  den  Indem  noch  nicht,  sondern  erst  ihren  Nachfolgern,  den 
Arabern. 

^  Ein  HerleituDgBTerBuch  der  Foimel  von  Suter  in  den  Yeihandlungen 
des  m.  internationalen  Mathematikerkongresses  in  Heidelberg  1904  S.  566 — 658 
scheint  uns  zu  kühn,  um  ihn  aufzunehmen. 


VI.  Chinesen. 


31.  Kapitel. 
Die  Mathematik  der  Chinesen. 

,y Wissen^  daß  man  es  weiß,  von  dem  was  man  weiß,  und 
wissen ,  daß  man  es  nicht  weiß,  von  dem  was  man  nicht  weiß, 
das  ist  wahre  Wissenschaft/^  So  soll  Confacius,  der  chinesische 
Weise,  dessen  Lebensdauer  von  551  bis  479  angesetzt  wird,  zu  seinen 
Schülern  gesagt  haben  ^).  Von  China  selbst  dürfte  nach  dieser 
Definition  kaum  eine  Wissenschaft  möglich  sein,  denn  weder  was 
wir  über  dieses  Reich  wissen,  noch  was  wir  nicht  wissen,  ist  von 
Zweifel  befreit. 

Europäischer  Nachforschung  hat  man  mit  geringen  Ausnahmen, 
welche  sich  auf  Männer  bezogen,  die  keineswegs  mit  der  kritischen 
Vorbereitung  eines  Gelehrten  von  Fach  ausgerüstet  waren,  zu  allen 
Zeiten  Hindemisse  in  den  Weg  zu  legen  gewußt.  Was  uns  über 
Chinas  Vergangenheit  erzählt  wird,  stanlmt  ausschließlich  von  der 
Benutzung  chinesischer  Quellen  durch  Chinesen  her.  Der  Chinese 
aber  liebt  das  Alte.  Seine  Anhänglichkeit  an  dasselbe  geht  so  weit, 
daß  er  Neuerungen,  wo  möglich,  als  Rückkehr  zu  Altem  und 
Ältestem  darstellt,  und  wenn  ein  anderer  Ausspruch  des  Confucius, 
er  habe  neue  Schriften  nicht  verfaßt,  er  habe  nur  die  alten  geliebt, 
erläutert  und  verbreitet*),  vielleicht  der  persönlichen  Bescheidenheit 
des  Redners  entstammt,  so  ist  jedenfalls  von  anderen  diese  Auf- 
fassung dahin  überboten  worden,  daß  sie  für  alt  ausgaben,  was 
durchaus  neuen  und  neuesten  Datums  war. 

So  gibt  es  kaum  eine  Erfindung,  welche  nicht  mit  dankbarer, 
vielleicht  häufig  ganz  unbegründeter  Erinnerung  an  bestimmte  Per- 
sönlichkeiten eines  längst  entschwundenen  Altertums  geknüpft  wird. 
Die  Schrift,  nach  der  Ansicht  einer  Gelehrtenschule  in  namenlose 
Vorzeit  hinaufreichend,  soll  nach  der  Ansicht  einer  zweiten  Schule 
von  Kaiser  Pu  hi  um   2852  v.   Chr.  herrühren,   und  ein  fürstlicher 


*)  Paul  Perny,  Gramtnaire  de  la  langtie  chinoise  orale  et  ecrite.  Paris. 
T.  I,  1873.  T.  II.  1876.  Der  hier  zitierte  Ausspruch  II,  248,  Note  I.  *)  Perny 
II,  26S. 


664  31.  Kapitel. 

Gelehrter  Prinz  Huäy  nän  tsfe  gibt  (189  v.  Chr.)  gar  an,  die  Schrift 
sei  durch  Tsäng  kig,  den  Minister  des  Kaisers  Huäng  ü  2637  v.  Chr. 
auf  Befehl  des  Kaisers  erfunden  worden^).  Auf  Fü  hi  wird  auch 
das  dekadische  Zahlensystem  zurückgeführt^),  welches  er  abgebildet 
auf  dem  Rücken  eines  aus  den  Fluten  des  Gelben  Stromes  auf- 
tauchenden Drachenpferdes  sah  und  dessen  Bedeutung  erkannt«.  Die 
chinesische  Tusche  soll  unter  Kaiser  Oü  wäng  1120  v.  Chr.  schon 
bereitet  worden  sein*).  Confiicius  soll  sich  zum  Schreiben  damit 
eines  Pinsels  aus  Antilopenhaar  bedient  haben,  während  Pinsel  aus 
Hasenhaar  durch  Mong  tien  246  v.  Chr.  erfonden  wurden,  einen 
General,  welcher  auch  eine  Art  von  Papierbereitung  lehrte  und  zu- 
gleich die  Aufsicht  über  die  Erbauung  der  chinesischen  Mauer  führte, 
eine  Vereinigung  von  Tatsachen,  in  welcher  wir  fast  eine  Ironie 
der  Geschichte  zu  erkennen  geneigt  sind.  Wir  würden  noch  anderen 
eben  so  glaubhaften  oder  unglaubwürdigen  Nachrichten  begegnen, 
wenn  wir  weiter  griflfen.  Wir  wollen  lieber  an  der  Hand  chinesischer 
Quellen  einen  Blick  auf  die  Geschichte  des  Reiches  der  Mitte  werfen*). 
Wilde  Jäger  waren  die  Ureinwohner  Chinas.  Zu  ihnen  wanderte 
zwischen  dem  XXX.  und  XXVH.  S.  von  Nordwesten  her  das  „Volk 
mit  schwarzen  Haaren"  ein,  Hirten,  die  sich  bald  dem  Landbau  wid- 
meten und  eine  gewisse  Kultur  schon  mit  sich  brachten,  Sie  hatten 
ein  Wahlkaisertum,  welches  bis  um  2200  währte.  Nun  folgten  in 
meistens  lang  am  Ruder  bleibenden  Erbfolgen  verschiedene  Dynastien. 
Die  Dynastie  Hin  regierte  500  Jahre.  Sie  wurde  von  der  Dynastie 
Chang  gestürzt,  diese  um  1122  durch  die  Dynastie  der  alten  Tcheou 
entthront.  Die  Tcheou  waren  ein  Stamm,  der  unter  den  Chang  von 
der  alten  Gemeinschaft  sich  trennte  und  westlich  sich  ansiedelte. 
Dort  erstarkten  sie  so  weit,  daß  seit  1200  Kämpfe  zwischen  ihnen 
und  den  Untertanen  der  Chang  begannen,  die  in  dem  genannten 
Jahre  1122  mit  der  Ersetzung  des  letzten  Chang-Kaisers  Cheou  sin 
durch  Oü  wäng  endigten.  So  wurde  dieser  letztere  Kaiser  aller 
wieder  vereinigten  Stämme  und  gab  ihnen  ein  neues  Gesetzbuch,  den 
Tcheou  ly,  welchen  sein  Bruder  Tcheou  kong  verfaßt  haben  soll, 
während  eine  andere  Sage  den  Tcheou  ly  wenige  Jahre  später  (1109) 
im  sechsten  Regierungsjahre  von  Then  wäng  entstanden  sein  läßt*). 
Die  Dynastie  der  Tcheou  blieb  im  Besitze  der  kaiserlichen  Macht 
bis  221  also  voUe  900  Jahre. 


*)  Perny  II,  2—4,  7,  9.  •)  Biernatzki,  Die  Arithmetik  der  Chinesen 
in  Grelles  Jonmal  für  reine  nnd  angewandte  Mathematik  (1856).  LII,  69 — 94. 
Die  hier  angezogene  Stelle  anf  S.  92.  ')  Perny  II,  92.  *)  Unsere  Quelle  war 
namentlich  die  Einleitung  des  zweibändigen  Werkes:  Le  Tcheou  IJf  ou  rites  de 
Tcheou  iraduit  par  Ed.  Biot.     Paris  1861.       *)  Perny  11,  803. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  665 

In  diese  lange  Periode  fallt  eine  Einwanderung  von  vielleicht 
hochwichtigem  Einflüsse  auf  die  chinesische  Kultur.  Eine  jüdische 
Kolonie  ließ  sich  jedenfalls  im  VI.  S.  in  China  nieder^);  also  etwa 
zur  Zeit,  die  kurz  vor  die  Geburt  des  Confucius  fallt^  die  etwa  die 
Blütezeit  eines  andern  chinesischen  Weisen  Lao  tse  war,  welcher 
604 — 523  gelebt  hat.  Bei  Lao  tse,  von  welchem  übrigens  auch  weite 
Reisen  nach  Westen,  vielleicht  bis  Assyrien,  erzählt  werden,  findet 
sich  mutmaßlich  eine  Spur  der  Berührung  mit  diesen  Einwanderern 
in  dem  dreieinigen  Namen  Y  hy  wy,  welche  er  dem  Taö,  d.  h.  dem 
höchsten  Wesen,  beilegt  und  in  welchem  man  Jehova,  den  der  war, 
ist  und  sein  wird,  hat  erkennen  wollen. 

Auf  die  Tcheöu  folgt  Tsin  sehe  huang  ty,,  der  sich  durch  eine 
Anordnung  aus  dem  Jahre  213  v.  Chr.  den  Beinamen  des  Bücher- 
verbrenners  verdiente*).  Ob  er  nur  eine  neue  Schrift  allgemein 
einführen  wollte,  um  der  wachsenden  Verwirrung  ein  Ende  zu  machen, 
die  darin  ihren  Ursprung  hatte,  daß  allmählich  die  allerverschiedensten 
Verschnörkelungen  der  Schriftzeichen  Eingang  gewonnen  hatten,  ob 
er,  was  dem,  der  der  Gründer  eines  neuen  Herrschergeschlechtes  zu 
werden  beabsichtigt,  weit  ähnlicher  sieht,  alles  vernichtet  wissen 
wollte,  was  auf  die  frühere  Greschichte  sich  bezog,  damit  nicht  der 
Geschmack  der  Alten  über  die  neueren  Einrichtungen  ein  Yerdam- 
mungsurteil  spreche  oder  gar  die  Staatskunst  des  Kaisers  tadle,  jeden- 
falls wurde  der  Befehl  des  Kaisers  vollzogen,  so  genau  es  möglich 
war,  und  Stöße  von  zusammengehefteten  Bambusbrettchen  mit  einge- 
ritzten Sehriftzeichen,  die  Bücher  der  alten  Chinesen,  wurden  den 
Flammen  überantwortet. 

Der  Kaiser  starb  211.  Seinem  Geschlecht  verblieb  die  Regierung 
nicht.  Die  Dynastie  der  Han  folgte  197,  und  der  ihr  angehörige 
Hoei  ti  hob  191  das  Verbrennungsedikt  wieder  auf.  Ja  unter  einem 
der  nächsten  Regenten  dieses  Hauses  Hiao  wen  ti  170 — 156  suchte 
man  nach  Werken,  welche  der  Vernichtung  entgangen  waren,  und 
fand  solche  in  ziemlicher  Menge.  Bruchstücke  des  Tcheöu  ly  sollen 
damals  entdeckt  und  der  kaiserlichen  Büchersammlung  einverleibt 
worden  sein,  welche  sodann  zwischen  32  und  6  v.  Chr.  durch  den 
gelehrten  Minister  Lieou  hin  noch  interpoliert  wurden,  um,  wie  es 
heißt,  gewissen  damals  zu  treffenden  Einrichtungen  den  Stempel 
hohen  Alters  aufzudrücken.  Die  Dynastie  der  Han  ging  223  n.  Chr. 
zu  Ende. 

Wieder  haben  wir  ein  für  chinesische  Kulturverhältni'sse  ungemein 


>)  Perny  II,  266,  806,   312.         »)  Vgl.  Tcheöu  ly  I,  pag.  XIII  flgg.  mit 
Perny  11,  84—36. 


666  31.  Kapitel. 

bedeutsames  Ereignis  aus  dieser  Zeit  zu  erwähnen.  Im  Jahre  61 
n.  Chr.  fand  der  in  Indien  verfolgte  Buddhismus  in  China  Eingangs 
wo  er  insbesondere  unter  der  niederen  Bevölkerung  sich  unaufhalt- 
sam und  mit  so  dauemdepi  Erfolge  verbreitete  ^  daß  noch  jetzt  die 
große  Masse  der  etwa  500  Millionen  Menschen ,  welche  chinesisch 
reden^  ihm  anhängt. 

Es  kann  unsere  Aufgabe  nicht  sein  auch  nur  skizzenhaft  der 
nun  folgenden  Dynastien  zu  gedenken.  Höchstens,  daß  wir  erwähnen 
wollen,  wie  unter  den  Sung  im  Jahre  1070  ein  politisch-literarischer 
Streit  an  eine  Auslegung  sich  knüpfte;  welche  Wang  ngan  chi,  der 
Minister  des  Kaisers  Chin  tsong,  einigen  Stellen  des  Tcheou  ly  gab. 
Damals  ging  man  so  weit  die  ITrsprünglichkeit  jenes  Werkes  völlig 
zu  leugnen  und  es  für  eine  Fälschung  des  Lieou  hin,  also  etwa  aus 
den  drei  letzten  Jahrzehnten  vor  dem  Beginne  der  christlichen  Zeit- 
rechnung;  zu  erklären.  Daß  man  nicht  einen  noch  späteren  Zeit- 
punkt für  das  unterschobene  Werk  annahm,  war  wohl  vorzugsweise 
in  der  Lebenszeit  der  Kommentatoren  des  Tcheöu  ly  begründet  Man 
kannte  damals  hauptsächlich  drei  solcher  Kommentatoren:  Tching  tong 
dem  I.  S.  n.  Chr.,  Tchin  khang  tching  dem  IL  S.,  Kiu  kong  yen  dem 
VIII.  S.  angehörig,  von  welchen  insbesondere  der  zweite  zur  Siche- 
rung des  Originals  seit  seinem  Leben  dienen  konnte,  weil  sein  Kom- 
mentar über  das  ganze  Werk  fortläuft  und  stete  Vergleichungen  mit 
den  Sitten  und  Regeln,  mit  den  Würden  und  Obliegenheiten  seiner 
Zeit  anstellt^).  Hundert  Jahre  nach  jenem  Streite  trat  ein  vierter 
Kommentator  Wang  tchao  yu  hinzu,  und  nun  am  Ende  des  XII.  S. 
verfocht  auch  der  gelehrte  Tchu  hi  wieder  die  volle  Echtheit  des 
Tcheöu  ly. 

Auf  die  Sung  folgte  ein  fremdes  Herrschergeschlecht.  Mongolen 
drangen  in  China  ein  und  gaben  dem  Reiche  eine  Dynastie,  welche 
1275 — 1368  den  Kaiserthron  besetzt  hielt,  bis  sie,  die  sogenannte 
Dynastie  Yuen,  verdrängt  wurde  durch  die  einheimische  Dynastie 
Ming  1368 — 1644.  Im  Gefolge  der  Mongolen  kamen,  wie  mit  Be- 
stimmtheit bekannt  ist,  arabische  Gelehrte  an  den  Kaiserhof  von 
China,  ihre  wieder  ganz  anders  geartete  Wissenschaft  mit  sich  führend, 
freilich  nicht  die  ersten  Araber,  welche  in  China  erschienen,  denn 
schon  615  n.  Chr.,  713,  726,  756,  798  waren  ai-abische  Gesandt- 
schaften dorthin  gelangt,  das  heißt  Handeltreibende,  deren  Anführer, 
um  mehr  beachtet  und  geachtet  zu  sein,  sich  als  Abgeordnete  des 
Herrschers  der  Araber  aufspielten.  Der  Name,  unter  welchem  die 
Araber  erwähnt  werden,  ist  Ta  schi,  das  ist  Täzy,  der  persische  Name 

*)  Tcheöu  Ij  I,  pag.  LX— LXI. 


Die  Mathematik  der  ChineseiL  667 

derselben^).  In  die  Mongolenzeit  fallen  auch  die  Reisen  des  Yene- 
tianers  Marco  Polo^  dessen  Berichte  bei  der  1295  erfolgten  Heim- 
kehr auf  unverdienten  Unglauben  stießen.  Erst  unter  der  Ming- 
dynastie  suchten  andere  Europäer  dem  Beispiele  des  Wundermannes^ 
der  Ton  seinem  XJmsichwerfen  mit  großen  Zahlen  oder  ron  seinen 
Beichtümem  den  Beinamen  Messer  Millione  erhalten  hatte,  zu  folgen 
und  in  das  schwer  zu^ngliche  Reich  einzudringen. 

Dem  Jesuitenmissionar  Matthias  Ricci  gelang  es  1583  zuerst 
Zugang  zu  finden  und  in  seinem  Unternehmen^  das  Christentum  zu 
predigen,  nennenswerte  Erfolge  zu  erreichen.  Er  machte  sich  zu- 
gleich auch  als  tüchtiger  Astronom  am  Eaiserhofe  geltend,  so  daß 
ihm,  bis  er  1620  China  wieder  yerließ,  die  Leitung  des  Kalender- 
Wesens  übertragen  wurde,  eine  früher  in  China  erbliche  Würde,  und 
Ton  nun  an  blieb  China  ein  der  katholischen  Mission  geöffiietes  Land, 
so  daß  dieselbe  mehr  und  mehr  erstarkte,  so  daß  Missionsprediger 
Kenntnisse  genug  von  Land  und  Leuten,  von  Sprache  und  Schrift 
sich  erwarben,  um  in  umfangreichen  Werken  davon  handeln  zu  können, 
um  auch  ihrerseits  den  Chinesen  europäische  Wissenschaft  mitzu- 
teilen. Wissen  wir  doch,  daß  Julius  Aleni,  der  von  1613  bis 
zu  seinem  1649  eintretenden  Tode  in  China  verweilte,  in  der  Landes- 
sprache einen  Auszug  aus  den  Elementen  des  Euklid  und  eine  prak- 
tische Geometrie  verfaßte').  Jean  Fran^ois  Grerbillon  löste  ihn 
ab  1686  —  1707,  in  welchem  Jahre  er  in  Peking  starb.  Es  verfaßte 
eine  Geometrie  nach  Euklid  und  Archimed  in  chinesischer  und  in 
tartarischer  Sprache^).  Das  änderte  sich  auch  nicht  als  die  Mandschu, 
erst  mit  den  Chinesen  in  Krieg  verwickelt  und  zurückgeschlagen, 
von  einer  der  in  China  nicht  seltenen  Gegenregierungen,  die  in  China 
gegen  den  Kaiser  sich  erhob,  zu  Hilfe  gerufen  wurden,  und  ein 
Mandschu  Schun  tchi  nach  mehrjährigen  Kämpfen  1647  die  noch 
jetzt  vorhandene  Dynastie  der  Tsing  gründete.  Unter  dieser  Dynastie, 
insbesondere  unter  Kaiser  Kang  hi,  wurde  vielmehr  das  Verhältnis 
zwischen  dem  Kaiserhofe  und  den  Missionären  ein  immer  engeres. 
Schon  unter  Kang  hi*s  Vorgänger  war  Adam  Schaal  aus  Köln, 
gleich  Ricci,  Aleni  und  Gerbillon*  Mitglied  des  Jesuitenordens,  gleich 
ihnen  Astronom  und  Missionär,  in  China  ansässig  geworden.  Nun 
folgte  ein  fünfter  Jesuit,  der  Holländer   Ferdinand  Verbiest,   den 


')  Bretschneider,  On  the  knowledge  possessed  hy  the  Chinese  of  Üie  Ärabs 
and  Ardbian  Colonies.  London  1871,  und  A.  v.  Krem  er,  Colturgeschichte  des 
Orients  U,  280.  Wien  1877.  *)  Carteggio  inedito  dt  Ticone  Brake,  Giovanni 
Keplero  etc.  con  Giovanni  Antonio  Magini  pubblicato  ed  illustrato  da  Antonio 
Favaro.  Bologna  1886,  pag.  108  Note  4.  *)  Poggendorff,  Biographisch- 
literarischea  Handwörterbnch  zur  Geschichte  der  exacten  Wissenschaften  I,  877. 


668  ^1-  Kapitel. 

Kang  bi  zum  Präsidenten  des  Kollegiums  für  Astronomie  ernannte^ 
derselbe  Kang  hi,  der  in  mannigfachster  Weise  seine  Liebe  für  Wissen- 
schaft betätigte  und  z.  B.  ein  Wörterbuch  der  damals  vorhandenen 
Schriftzeichen  anfertigen  ließ,  welches  in  32  Bänden  42000  Zeichen 
enthält^).  Es  folgten  im  XVIIL  S.  Männer  wie  Pater  Premare^ 
Pater  Gaubil,  deren  Werke  für  die  Kenntnis  Chinas  unentbehrlich 
geworden  sind,  wenn  ihnen  auch  anhaftet,  was  wir  zu  Anfang  dieses 
Kapitels  angedeutet  haben,  daß  sie  den  Erzählungen  chinesischer  Be- 
richterstatter und  chinesischer  Bücher  ein  allzubereites  Ohr  zu  leihen 
liebten.  Am  Anfange  des  XIX.  S.  erfolgte  ein  Umschlag,  als  1805 
die  katholische  Mission  eine  Landkarte  einer  chinesischen  Provinz 
nach  Rom  zu  schicken  wagte.  Das  alte  Mißtrauen,  die  alte  Feind- 
schaft gegen  die  Fremden  erwachte,  welche  kaum  durch  die  Waffen 
Europas  um  die  Wende  des  XIX.  zum  XX.  Jahrhundert  gebändigt^ 
sicherlich  nicht  vernichtet  worden  ist. 

Der  Überblick,  welchen  wir,  selbstverständlich  auf  Qu  eilen  werke 
zweiter  Hand  allein  uns  stützend,  hier  gegeben  haben,  soll  uns  mehr- 
fache Zwecke  erfüllen.  Er  soll  uns  gestatten  im  Verlaufe  dieses 
Kapitels  der  Dynastien  als  Zeitbestimmungen  uns  zu  bedienen.  Er 
soll  zweitens  in  ein  helles  Licht  setzen,  daß  die  Kultur  des  Reiches, 
mit  welchem  wir  uns  zu  beschäftigen  haben,  doch  nicht  so  sehr 
gegen  auswärtige  Einflüsse  abgeschlossen  war,  als  man  in  gebildeten 
Kreisen  Europas  zu  wähnen  pflegt,  daß  vielmehr  in  dem  Zeitraum^ 
welcher  mit  dem  VL  vorchristlichen  Jahrhundert  beginnt,  der  Reihe 
nach  jüdisch-babylonische,  dann  indische,  dann  arabische,  dann  euro- 
päische Wissenschaft  die  Gelegenheit  hatte  in  China  einzudringen, 
eine  Gelegenheit,  welche  kaum  jemals  unbenutzt  verlaufen  sein  mag. 
Er  soll  drittens  uns  bemerklich  machen,  daß  den  chinesischen  Zeit- 
angaben für  schriftstellerische  Überreste  nicht  immer  Glaube  beizu- 
messen ist,  daß  es  häufig  absichtliche  Rückverlegungen  sind,  von 
Chinesen  selbst  wenigstens  im  Eifer  gelehrter  Streitigkeiten  als  solche 
verunglimpft  und  ihres  Ansehens  für  unwürdig  erklärt. 

Steht  es  doch  um  die  Glaubwürdigkeit  chinesischer  Berichte 
überhaupt  nicht  sonderlich,  und  t>Ime  auf  Gründe  psychologischer 
Art  uns  einzulassen,  die  man  weder  behaupten  noch  verwerfen  sollte, 
ohne  sich  auf  eigne  Kenntnis  des  betreffenden  Volkscharakters  stützen 
zu  können,  wollen  wir  nur  ein  Moment  hervorheben:  das  ist  die 
buddhistische  Neigung  zur  Anwendung  großer  Zahlen,  welche  in 
China   ihren   Gipfelpunkt   erreichte  imd   in   dem  Namen    Sand    des 


^)  Stanisl.  Julien  in  dem  Journal  Äsiatique  vom  Mai  1841.    Sieme  s^rie 
XI,  402. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  669 

Oanges,  heng  ho  cha,  welclier  dem  10^*  beigelegt  wurde^),  ihren 
Ursprung  deutlich  an  den  Tag  legt. 

Man  könnte  femer  aus  dem  Umfange  vorhandener  chinesischer 
Enzyklopädien  den  Rückschluß  ziehen,  daß  viel  Unwahres  in  den- 
selben mit  in  Kauf  genommen  werden  muß.  Wenn  uns  gesagt  wird, 
daß  eine  solche  Enzyklopädie,  welche  den  Namen  Yün  lö  ta  tien 
führt,  aus  beinahe  15000  Bänden  bestehe^),  so  kann  uns  das  schon 
ein  Eopfschütteln  entlocken.  Wenn  nun  aber  gar  eine  neue  Enzy- 
klopädie, zu  deren  Herstellung  Kaiser  E[ieu  long  den  Befehl  gab,  auf 
160000  Bände  veranschlagt  worden  ist,  von  welchen  über  100000 
bereits  vollendet  seien'),  so  ru£fc  diese  Mitteilung  in  uns  persönlich 
keineswegs  das  Gefühl  demütiger  Bewunderung  hervor,  welches  den 
Berichterstatter  offenbar  durchdringt.  Wir  kommen  vielmehr  selbst 
unter  Beschränkung  der  Stärke  der  Bände  auf  das  Geringfügigste 
und  unter  Ausdehnung  der  durch  Blumenreichtum  der  Sprache  trotz 
der  ungemein  raumsparenden  Wortschrift  erzielten  Raumverschwen- 
<lung  auf  das  Unerträglichste  nur  zu  dem  einen  Gedanken:  Wie  viel 
muß  in  einer  solchen  Enzyklopädie  unwahr  seiu,  da  für  ein  Volk, 
welches  seinen  Stolz  darein  setzt  um  das  Ausland  sich  nicht  zu 
kümmern,  so  viel  Wahres  gar  nicht  vorhanden  sein  kann. 

Wir  werden  freilich,  trotz  dieser  Bekenntnis  unserer  ungläubigen 
Voreingenommenheit,  getreulich  wieder  berichten,  was  aus  ver- 
schiedenen chinesischen  Werken  für  die  Geschichte  der  Mathematik 
bei  jenem  Volke  ermittelt  worden  ist,  überall  soweit  als  möglich 
der  Zeitangabe  folgend,  welche  die  Chinesen  selbst  liefern,  aber  wir 
verargen  es  keinem  unserer  Leser,  wenn  ihn  die  erheblichsten  Zweifel 
an  unsere  Gewährsmänner  erfüllen  sollten.  Man  wird  es  um  so  be- 
greiflicher finden,  daß  wir  europäischer  Übertreibungen,  die  chine- 
sischer als  die  Chinesen  selbst  der  Sternkunde  jenes  Volkes  ein  Alter 
von  18500  Jahren  beilegen  woUen,  nur  mit  diesem  einen  Worte 
gedenken''). 

Einem  Minister  des  Kaisers  Huäng  ti,  welcher  2637  v.  Chr.  re- 
gierte, wurde,  wie  wir  (S.  664)  gesehen  haben,  nach  einem  Berichte 
die  Erfindung  der  Schrift  beigelegt.  Ein  anderer  Minister  desselben 
Kaisers,   Cheöu  ly,   wird  als  Erfinder  des  Rechenbrettes,  swdn  pän, 

*)  Ed.  Biot,  Table  generale  d'un  ouvrage  chinois  intitule  Souan-fa-tang-tson 
ou  Collection  des  regles  du  calcul  im  Journal  Äsiatique  vom  März  1839.  Sifeme 
i^rie,  Vn,  196.  «)  Perny  I,  10.  »)  Ebenda  II,  7.  *)  G.  Schlegel,  Urano- 
graphie  ehinoise.  Wir  selbst  kennen  das  Werk  nur  aus  den  'dessen  Tendenz 
ablehnenden  Rezensionen  von  Jos.  Bertrand  {Journal  des  Savans  1875)  und 
von  S.  Günther  (Vierteljahrsschrift  der  Astronomischen  Gesellschaft,  Xu.  Jahr- 
gang, Heft  1). 


670  31.  Kapitel. 

genannt^),  und  unter  ebendemselben  eoU  das  erste  arithmetische  Werk^ 
die  neun  arithmetischen  Abschnitte,  Kieoti  tscha/ng,  verfaßt 
worden  sein^),  welches  in  fast  allen  nachfolgenden  arithmetischen 
Werken  als  die  erste  Grundlage  der  Wissenschaft  des  Rechnens  ge- 
nannt wird,  und  welches  schon  Tcheöu  kong,  von  welchem  noch 
nachher  die  Rede  sein  wird,  um  1100  v.  Chr.  im  Auge  gehabt  haben 
soll  bei  einer  Vorschritt*):  die  Söhne  der  Fürsten  und  des  hohen 
Adels  in  den  sechs  Künsten  zu  unterweisen,  nämlich  in  den  fünf 
Klassen  gottesdienstlicher  Gebräuche,  in  den  sechs  verschiedenen  Arten 
der  Musik,  in  den  fünf  Regeln  für  Bogenschützen,  in  den  fünf  Vor- 
schriften für  Wagenlenker,  in  den  sechs  Anweisungen  zum  Schreiben 
und  endlich  den  neun  Methoden  mit  Zahlen  zu  rechnen.  Wieder 
Huäng  tl  ist  es,  dem  die  Einführung  eines  60jährigen  Zyklus  nach- 
gerühmt wird*). 

Zum  besseren  Verständnis  dieser  Berichte  müssen  wir  einiges 
hier  einschalten.  Die  Chinesen  teilen  ihre  Zeit  nach  den  Grund- 
zahlen 12  und  10  ein.  Zwölf  Stunden  bilden  ihnen  den  Tag,  und 
der  Zehn  bedienen  sie  sich  zur  höheren  Zeiteinteilung^),  nachdem 
eine  in  den  heiligen  Schriften  vorkommende  siebentägige  Zeitgruppe 
wieder  verloren  gegangen  ist*).  Aus  den  beiden  Grundzahlen  12  und 
10  vereinigt  soll  nun  die  Zahl  60  jener  Jahreszyklen  entstanden  sein. 
Jedes  der  60  Jahre  hat  seinen  besonderen  Nameu,  das  erste  kiä,  das 
zweite  tse  usw.,  weshalb  der  ganze  Zyklus  kiä  tse  genannt  wird.  Die 
aufeinander  folgenden  Namen  dieser  Jahre  weiß  jeder  Chinese  aus- 
wendig, und  er  sagt  daher  über  sein  Alter  befragt  ohne  weiteres:  ich 
bin  in  dem  so  und  so  genannten  Jahre  des  gegenwärtigen  oder  des 
vergangenen,  des  vorvergangenen  Zyklus  geboren.  Eine  anderweitige 
Anwendung  dieser  Namen  bietet  die  Geometrie,  indem  die  einzelnen 
Punkte  einer  Figur  durch  sie  unterschieden  werden,  in  derselben 
Weise  wie  Griechen  und  Römer  es  durch  die  Buchstaben  ihres  Alpha- 
betes zu  erreichen  wußten. 

Wir  haben  femer  vom  Rechenbrette  swän  pän  gesprochen^. 
Von  demselben  handelt  der  swän  fa  töng  tsöng  in  6  Bänden  von  je 
2  Büchern.  Der  Swän  pän  besteht  aus  in  einen  Rahmen  einge- 
spannten Drähten,  welche  insgesamt  durch  einen  Querdraht  in  zwei 
Abteilungen  zerfallen,  deren  kleinere  2,  deren  größere  5  Kugeln  trägt, 
also  abgesehen  von  einer  sehr  überflüssigen  Kugel  in  jeder  einzelnen 

1)  Perny  I,  108.  *)  Biernatzki  1.  c.  S.  62.  ')  Ebenda  S.  67.  *)  Ebenda 
S.  62.  *)  Perfty  I,  104.  *)  Ebenda  I,  107.  0  Abbildungen  deaselben  bei 
Duhalde,  Ausführliche  Beschreibung  des  chinesischen  Reiches  und  der  großen 
Tartarei,  übersetzt  von  Moshe  im.  Rostock  1747,  Bd.  III,  S.  850,  und  bei 
Perny  I,  108. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  671 

Abteilung  genau  in  der  Weise  hergerichtet  sind,  wie  wir  den  Abacus 
der  Römer  (S.  529)  beschrieben  haben.  Die  meisten  Swän  paus  be- 
sitzen 10  Drahte.  Es  soll  auch  solche  von  15  und  mehr  Drähten 
geben.  Einem  Zeichnungsfehler  dürfen  wir  es  vielleicht  zuschreiben, 
wenn  eine  Abbildung  nur  9  Drähte  aufweist^),  während  wir  aller- 
dings selbst  der  Ausnahmsbildung  eines  echt  chinesischen  Swan  pän 
mit  11  Drähten  begegnet  sind').  Wie  ausnahmslos  die  Chinesen  sich 
ihres  Swän  pän  bedienten,  ist  schon  daraus  zu  entnehmen,  daß  in 
den  Lehrbüchern  der  eigentlichen  Rechenkunst  über  Addition  und 
Subtraktion  gar  keine  Vorschriften  gegeben  sind^),  doch  wohl  nur, 
weil  man  diese  Rechnungsarten  mit  der  Hand  und  nicht  im  Kopfe 
auszuführen  gewohnt  war.  Für  das  Multiplizieren  und  Dividieren 
sind  dagegen  Regeln  vorhanden.  Ersteres  beginnt  bei  der  Verviel- 
fachung der  größten  Zahlenteile,  letztere  wird  durch  wiederholte  Sub- 
traktion ausgeführt. 

Da  auch  unter  Huäng  ti  die  Anwendung  der  Schrift  auf  arith- 
metische Dinge  uns  erwähnt  wird,  so  müssen  wir  hier  von  der 
Zahlenschreibung  bei  den  Chinesen  reden.  Wir  dürfen  dabei 
wohl  zweierlei  als  bekannt  voraussetzen:  erstens  daß  die  chinesische 
Sprache  der  Beugungsformen  durchaus  entbehrt,  so  daß  alle  syn- 
taktischen Beziehungen  der  Wörter  eines  Satzes  zueinander  nur 
durch  die  gegenseitige  Stellung  sowie  durch  eigens  dazu  vorhandene 
Partikeln  ausgedrückt  werden  müssen,  zweitens  daß  die  Schrift  der 
Chinesen  keine  Lautschrift  oder  Silbenschrift,  sondern  eine  ursprüng- 
lich bildliche  Begriffsschrift  ist,  deren  Zeichen  kursiv  geworden  und 
ihrer  ursprünglichen  Gestalt  entfremdet  nunmehr  aus  214  Schlüsseln*) 
durch  das  reichhaltigste  Verbindungsverfahren  hergestellt  werden 
können.  So  wuchs  die  Anzahl  chinesischer  Zeichen  bis  auf  die 
42000  des  Wörterbuches  Kaisers  Kang  hi,  während  freilich  die  vier 
sogenannten  klassischen  Bücher  der  Chinesen  nicht  mehr  als  die 
Kenntnis  von  2400  Zeichen  von  ihrem  Leser  verlangen*).  Das  sind 
immer  noch  viel  mehr  als  eigentliche  chinesische  Stammwörter  vor- 
handen sind,  deren  man  neuerdings  304  zählt,  welche  sich  durch 
verschiedenartige  Betonung  auf  1289  erheben^),  aber  naturgemäß 
weitaus  nicht  hinreichen  jedem  Begriffe  ein  eigenes  Wort  zuzuwenden, 
so  daß  20,  ja  30  chinesische  Schriftzeichen  durch  dasselbe  Wort  aus- 
gesprochen werden,  beziehungsweise  daß  man  dasselbe  Wort,  weil  es 


*)  Perny  I,  109  und  110.  *)  Das  11  drähtige  Exemplar  gehört  der  ethno- 
graphischen Sammlung  des  Missionshauses  in  Basel  an.  *)  Biernatzki  S.  72. 
*)  Perny  11,  108.  *)  Stanisl.  Julien  im  Joiumal  Asiatique  vom  Mai  1841, 
pag.  402.     «)  Perny  I,  34—86. 


672  31.  Kapitel. 

20  bis  30  Bedeutungen  besitzt  ^  bald  so  bald  so  zu  schreiben  über- 
eingekommen ist. 

Diese  Armut  der  Sprache  nötigte  nun  bei  den  Zahlwörtern  Ver- 
bindungen weniger  Elemente  eintreten  zu  lassen ^  und  die  Elemente 
wurden  nicht  anders  als  wie  bei  den  übrigen  Völkern  gewählt,  denen 
wir  bisher  unsere  Aufmerksamkeit  zuwandten:  das  Zehnersystem  der 
Zahlbildung  ist  auf  das  folgerichtigste  festgehalten.  Der  Mangel  an 
jeglicher  Beugung  ließ  ja  nicht  einmal  Wortverschmelzungen  wie 
z.  B.  unser  dreißig  zu;  die  Wortelemente  drei  und  zehn  mußten 
unverändert  sich  zusammensetzen.  Eben  dieselben  Wortelemente 
mußten  zu  der  Bildung  des  Zahlwortes  dreizehn  ausreichen,  und  so 
ergab  sich  für  die  Chinesen  als  sprachnotwendig,  was  überall  sonst 
mehr  oder  weniger  Willkür  war:  man  mußte  je  nachdem  der  Name 
einer  kleineren  Zahl  dem  einer  größeren  voranging  oder  folgte  bald 
multiplikativ  bald  additiv  verfahren,  und  vermöge  des  Gesetzes  der 
Grrößenfolge,  welches  dem  des  Zehnersystems  im  allgemeinen  noch 
vorgeht,  ei^ab  sich  die  Regel  von  selbst  aus  sän  »  3  und  che  »  10 
additiv  che  sän  =  10  +  3  =  13,  multiplikativ  sän  chS  =-  3  x  10  «  30 
zu  bilden.  Die  Schrift  hat  nun  bei  den  Chinesen  dieselbe  Methode 
festgehalten.  Sie  unterscheidet  sich  freilich  von  der  dem  Europäer 
geläufigen  Reihenfolge  insofern  als  der  Chinese  seine  Wörter  von 
oben  nach  unten  zu  Zeilen,  die  Zeilen  von  rechts  nach  links  zu  Seiten 
vereinigt^),  aber  diese  Anordnung  als  bekannt  vorausgesetzt  schreiben 
sich  die  Zahlwörter  in  der  Tat  so,  wie  es  eben  angedeutet  wurde 
(die  Zahlzeichen  und  Beispiele  vergleiche  auf  der  am  Schlüsse  des 
Bandes  beigefügten  Tafel).  Es  gibt  allerdings  Wörter  und  Zeichen, 
welche  noch  weit  über  10000,  ja  über  das  multiplikativ  herstellbare 
10000  mal  10000  sich  erheben  —  wir  haben  vorher  in  10^*  ein 
überzeugendes  Beispiel  davon  kennen  gelernt  —  aber  eben  jenes  Bei- 
spiel mit  seinem  Ursprungszeugnisse  an  der  Stirn  läßt  vermuten,  was 
berichtet  wird,  daß  die  altchinesische  Gewohnheit  nicht  über  10000 
als  höchste  einfache  Rangordnung  sich  erhob.  Eine  Bestätigung 
liefert  die  früher  von  uns  (S.  24)  erwähnte  Unterdcheidung  des  Heil- 
rufes, der  einem  Großen  des  Reiches  noch  1000,  dem  Kaiser  noch 
10000  Jahre  wünscht. 

Außer  den  Zahlzeichen,  von  deren  Benutzung  wir  bisher  ge- 
sprochen haben,  und  welche  die  altchinesischen  heißen  mögen, 
gibt  es  merkwürdigerweise  noch  mehrere  andere  Schreibarten.  Wir 
meinen  nicht  eine  offizielle  verschnörkelte  Form,  welche  zur  Ver- 
hinderung von  Fälschungen  in  öfi^entlichen  Aktenstücken  mit  Vorliebe 

^)  Abel  Remueat,  Eleniens  de  la  grammaire  chinoise  (Paris  1822)  pag.  28. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  673 

angewandt  wird^  noch  eine  kursive  flüchtigere  Form^  in  welcher  die 
Gestaltung  der  einzelnen  Zeichen  sich  mehr  und  mehr  verwischt  hat; 
diese  Zeichen  sind  beide  nur  als  das  aufzufassen^  als  was  wir  sie  be- 
nannten^ als  Formverschiedenheiten.  Wir  meinen  dagegen  Zahlen- 
anschreibungen^  welche  einem  ganz  anderen  Grrundgedanken  folgen, 
und  zwar  unter  Benutzung  von  selbst  zweierlei  Zeichen,  welche  wir 
Kauf mannszif fern  und  wissenschaftliche  Ziffern  nennen  wollen, 
und  deren  Form  gleichfalls  auf  der  Tafel  am  Schlüsse  des  Bandes 
zu  vergleichen  ist.  Die  Eaufmannsziffem  wie  die  wissenschaftlichen 
Ziffern  werden  horizontal  nebeneinander  geschrieben  in  derselben 
Richtung  wie  die  indischen  Ziffern,  also  so  daß  die  höchste  Ordnung 
am  weitesten  links  erscheint.  Die  Eaufmannsziffem  an  Form  den 
altchinesischen  nahe  verwandt  sollen  nie  gedruckt  erscheinen^),  son- 
dern nur  im  taglichen  Gebrauche  des  Lebens  ihre  Anwendung  finden. 
Die  multiplikative  Ziffer,  welche  also  angibt,  wieviele  Zehner,  wie- 
viele Hunderter  usw.  gemeint  sind,  tritt  nur  äußerst  selten  links  von 
dem  Zeichen  der  betreffenden  Einheit  auf,  dann  nämlich  wenn  keine 
Einheiten  von  anderer  Ordnung  vorkommen,  also  z.  B.  wenn  3000 
oder  400  geschrieben  werden  soll.  Sonst  werden  die  Rangziffem 
und  Wertziffern  in  zwei  Zeilen  übereinander  geschrieben,  jene  in  der 
unteren,  diese  in  der  oberen  Zeile,  bis  auf  die  Einer,  welche  wegen 
nicht  vorhandenen  Bangzeichens  in  die  untere  Zeile  hinabrücken. 
Eine  zweite  und  noch  wichtigere  Eigentümlichkeit  dieser  Eauf- 
mannsziffem besteht  in  dem  Zeichen  der  Null,  für  welche  ein 
kleiner  Ereis  in  Anwendung  tritt  um  anzudeuten,  daß  Einheiten 
einer  gewissen  Ordnung,  welche  aber  selbst  nicht  weiter  ange- 
deutet wird,  sondern  aus  den  Nachbarziffern  einleuchtet,  nicht  vor- 
handen sind. 

Gewichtige  Gründe  sprechen  dafür,  daß  hier  erst  spät  von  aus- 
wärts Eingeführtes,  nicht  ursprünglich  Vorhandenes  vorliegt.  Das 
geht  eben  aus  dem  gegenseitigen  Verhältnisse  von  Sprache  und  Schrift 
bei  den  Chinesen  hervor.  Die  Schrift  konnte  verschiedene  Zeichen 
für  gleichlautende  Wörter  besitzen  um  den  verschiedenen  Sinn  der- 
selben zu  erkennen  zu  geben,  aber  sie  fügte  kein  durch  die  Nachbar- 
werte überflüssiges  Null  hinzu. 

Noch  weniger  kann  in  China  eine  vollständige  Stellungsarith- 
metik erfunden  worden  sein.  Wenn  die  Zahl  36  z.  B.  chinesisch 
durch  die  drei  Wörter  drei-zehn-sechs  ausgesprochen  wurde,  so  konnte 
der  Chinese  von  sich  aus  unmöglich  auf  den  Gedanken  kommen,  beim 


^)  Ed.  Biot,  Swr  la  connaissance  que  les  Chinois  ont  eu  de  la  väUur  de 
Position  des  chiffres  im  Journal  Asiatique  vom  Dezember  1889,  pag.  497 — 602. 

Caittob,  Gesohiehta  der  Mathematik  I.  8.  Aufl.  43 


674  31.  Kapitel. 

Schreiben  das  Wort  zehn  aus  der  Mitte  heraus  fortzulassen  ^  welches 
er  noch  immer  lesen  sollte.  Er  konnte  nicht  auf  diesen  Gedanken 
kommen^  weil  bei  ihm  nicht;  wie  bei  anderen  Völkern,  das  An- 
schreiben der  Zahlen  ohnedies  ein  aus  dem  Rahmen  der  gewöhn- 
lichen Lautschrift  heraustretendes  war,  weil  alle  Schrift  vielmehr^ 
wie  wir  schon  sagten,  ftir  ihn  Begriffsschrift  war,  mochten  es  Wörter 
einer  oder  einer  anderen  Bedeutung  sein,  die  aufgezeichnet  werden 
sollten. 

Nichtsdestoweniger  hat,  wie  die  Zeichen,  welche  wir  wissen- 
schaftliche Ziffern  nennen,  beweisen,  die  Stellungsarithmetik  mit 
einem  eigenen  System  ron  Zeichen,  welches  yiel  durchsichtiger  ist 
als  die  bisher  besprochenen,  in  China  Eingang  gefunden.  Man  be- 
zeichnet nämlich  die  Eins  durch  einen  senkrechten  oder  wagrechten, 
die  Fünf  entsprechend  durch  einen  wagrechten  oder  senkrechten 
Strich  und  verbindet  diese  beiden  Elemente  zur  Bezeichnung  Ton 
6  bis  9,  während  1  bis  5  durch  Wiederholung  der  Eins,  Null  durch 
einen  kleinen  Kreis  geschrieben  werden.  Wenn  wir  zum  voraus  schon 
diese  Bezeichnungsweise  als  eine  jedenfalls  spät  eingeführte  schildern 
durften,  so  entspricht  dem  die  Tatsache,  daß  dieselbe  nicht  früher 
als  in  einem  Werke  des  Jahres  1240  etwa  erscheint^),  in  dem  Su 
schu  kieou  tschang  (neun  Abschnitte  der  Zahlenkunst)  des  Tsin  kiu 
tschau,  der  unter  der  Djrnastie  Sung  gegen  Ausgang  derselben  lebte. 
Andere  Beispiele  gehören  gar  der  Zeit  der  Mongolen  (1275 — ^^1368) 
erst  an^),  so  daß  wir  von  den  neun  Abschnitten  der  Rechenkunst 
unter  der  Sungdynastie  bis  zu  dem  Werke  gleichen  Namens  des 
Huäng  iä  den  weiten  Weg  von  fast  4000  Jahren  zuräckverfolgen 
müssen,  um  uns  wieder  an  der  Stelle  zu  befinden,  von  welcher  aus 
wir  diese  Abschweifung  begannen. 

Und  selbst  jener  Ausgangspunkt  war  ein  zu  später,  denn  noch 
vor  Erfindung  des  Bechenbrettes,  vor  Verfassuiig  des  ersten  arith- 
metischen Lehrbuches  muß  ja  ein  Rechnen,  muß  der  Begriff  der 
Zahlen  festgestanden  haben.  Die  chinesische  Überlieferung  läßt  uns 
auch  für  jene  allerältesten  Zeiten  nicht  im  Stich.  Mit  Knötchen 
versehene  Schnüre  in  Verschlingungen  gezeichnet  bilden  die  beiden 
Tafeln  ho  tu  und  lö  schu*).  Auf  der  ersteren  (Fig.  92)  sind  durch 
die  je  einer  Schnur  angehörigen  Knoten  die  Zahlen  1  bis  10,  auf  der 
zweiten  (Fig.  93)  die  1  bis  9  dargestellt.  Weiß  sind  die  ungeraden 
Zahlen  gezeichnet,  denn  das  Ungerade  ist  das  Vollkommene  wie  der 
Tag,  die  Hitze,  die  Sonne,  das  Feuer.     Die  geraden  Zahlen  dagegen 


*)  Biernatzki  S.  72  und  69.      *)  Ed.  Biot  im  Journal  Äsiatique  für  D^ 
zember  1839.     »)  Perny  II,  6—7. 


Die  Mathematik  der  ChineBen. 


675 


sind  schwarz,  denn  das  Gerade  ist  das  Unvollkommene^  wie  die  Nacht, 
die  Kälte,  das  Wasser,  die  Erde.  Man  hat  neuester  Zeit  darauf  auf- 
merksam  gemacht^),   daß   die   Anordnung   der   Zahlen    1   bis  9   auf 


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Pig.  »2. 


Flg.  98. 


Fig.  93  das  magische  Quadrat  ebenderselben  Zahlen  darstelle.  Diese 
Tafeln  sollen  nun  —  wie?  ist  uns  wenigstens  ganz  unersichtlich  — 
in  der  Urzeit  Chinas  dazu  gedient  haben  in  der  Verwaltung  der 
öffentlichen  Angelegenheiten  benutzt  zu  werden,  und  Kaiser  Fü  hi 
um  2852  soll  sie  erst  durch  seine  8  aufgehängten  Zeichen  pä  kuä 
ersetzt  haben,  gewöhnlich  kurzweg  die  Kuas  genannt.  Sie  bestehen 
aus  bald  ganzen,  bald  gebrochenen  Linien,  jene  das  Vollkommene 
diese  das  Unvollkommene  bezeichnend,  in  dieser  Bezeichnung  also, 
mit  dem  ho  tu  und  lö  schu  übereinstimmend,  wie  auch  darin  mit 
ihnen  übereinstimmend,  daß  wir  uns  unter  Zuhilfenahme  der  vor- 
handenen Berichte  auch  nicht  die  geringste  Anschauung  von  der 
Anwendungsart  der  Kuas  zu  bilden  vermögen*).  Nur  schwach  ver- 
mutend möchten  wir  darauf  hinweisen,  daß  der  Swan  pän  aus  den 
Knotenschnüren  vielleicht  seine  Entstehimg  genommen  oder  zu  der 
einen  Ursprung  suchenden  Bückerfindung  jener  Urbilder  geführt 
haben  kann,  daß  femer  in  den  gezeichneten  Tafeln  ho  tu  und  lö 
schu  wie  in  den  kuä  eine  Art  von  Zahlensymbolik  auftritt,  welche 
uns  daran  erinnert,  daß  wir  schon  früher  (S.  43)  auf  Überein- 
stimmungen    zahlenträumerischer     Gedankenverbindungen     zwischen 

^)  Dr.  Gram  hat  dieses  bemerkt.  Vgl.  Zenthen,  Forelaesning  over  mathe- 
matikens  Historie.  Oldtid  og  Middelalder.  Kopenhagen  1893.  S.  274.  *)  Über 
die  Kuas  vgl.  Le  Ckou  hing  un  des  livres  sacrSs  chinois  traduit  par  le  P.  Ganbil 
revu  et  corrigi  par  M.  de  Guignes.  Paris  1770,  an  sehr  verschiedenen  Stellen^ 
die  im  Begister  s.  v.  hma  zu  entnehmen  sind.  Daß  man  in  den  Kuas  einmal 
ein  chinesisches  Binärsystem  erkannt  haben  wollte,  führen  wir  beiläufig  an.  Vgl. 
Math.  Beitr.  Eoltorl.  S.  48—49. 

48* 


676  31.  Kapitel. 

chinesischen  und  pjthagoräischen  Lehren  aufmerksam  machen  mußten^ 
welche  wohl  einen  geistigen  wie  örtlichen  Mittelpunkt  ihres  Daseins 
in  Babylon  besaßen. 

Wir  gehen  weiter  zum  Tcheöu  ly  über,  jenem  Gesetzbuche, 
welches  auf  Oü  wang  oder  dessen  nächste  Nachfolger  zwischen  1122 
und  1109  zurückgeführt  wird.  In  ihm  sind  alle  jene  zahlreichen 
Würdenträger  des  chinesischen  Hofstaates  mit  ihren  Obliegenheiten 
genannt,  welche  sicherlich  in  späterer  Zeit  vorhanden  waren,  wenn 
auch  vielleicht  nicht  in  früher,  da,  wie  wir  uns  erinnern,  der  Tcheöu 
1^  von  Chinesen  selbst  als  eine  Fälschung  aus  den  letzten  30  Jahren 
V.  Chr.  angesehen  worden  ist.  Unter  diesen  Würdenträgern  er- 
scheinen mehrere^),  welche  in  der  Geschichte  der  Mathematik  Er- 
wähnung finden  müssen.  Da  sind  erbliche  Würden  eines  Hofastro- 
nomen, fong  siang  schi,  und  Hofastrologen,  pao  tschang  schi.  Da 
ist  ein  Obermesser,  liang  jin,  betraut  mit  der  Tracierung  der  Mauern 
der  Paläste  wie  der  Städte.  Da  ist  ein  eigener  Beamter  des  Meß- 
apparates, tu  fang  schi,  der  mit  dem  tu  kuei'  genannten  Instrumente, 
das  ist  mit  einem  Schattenzeiger,  den  Schatten  der  Sonne  und  der- 
gleichen bestimmen  muß.  Die  bedeutsamste  Stelle,  welche  wir  des- 
halb der  französischen  Übersetzung  entnehmen,  lautet:  „Wird  eine 
Hauptstadt  angelegt,  so  ebnen  die  Erbauer,  tsiang  jin,  den  Boden 
nach  dem  Wasser,  indem  sie  sich  des  hängenden  Seils  bedienen.  Sie 
stellen  den  Pfosten  mit  dem  hängenden  Seile  auf.  Sie  beobachten 
mit  Hilfe  des  Schattens.  Sie  machen  einen  Ejreis  und  beobachten 
den  Schatten  der  aufgehenden  Sonne  und  den  Schatten  der  unter- 
gehenden Sonne.'^  Das  hängende  Seil  aber  wird  uns  dahin  erläutert, 
es  befänden  sich  8  Seilstücke  am  oberen  Teile  des  Pfahles  befestigt, 
4  längs  der  Kanten,  4  in  der  Mitte  der  Seitenflächen,  und  wenn  diese 
8  Seilstücke  sämtlich  dicht  am  Pfahle  herunterhängen,  so  sei  seine 
senkrechte  Aufstellung  •  gewährleistet. 

Für  jeden  Leser  dieses  Bandes  muß  hier  mancherlei  auffallen: 
die  Nivellierung  nach  der  Wasserfläche,  die  Bestätigung  des  Senkrecht- 
stehens eines  Pfahles  durch  hängende  Seilstücke,  die  Benutzung  eines 
Schattenzeigers,  die  Beobachtung  des  Schattens  der  auf-  und  der  unter- 
gehenden Sonne  zur  Orientierung  nach  den  Himmelsgegenden,  das  sind 
alles  Dinge,  die  uns  in  Alexandria  oder  aus  Alexandria  stammend  in  Rom 
begegnet  sind,  die  mindestens  im  ersten  vorchristlichen  Jahrhunderte  im 
Westen  bekannt  waren  und  uns  nun  im  fernsten  Osten  zu  Gesicht 


»)  Tcheöu  1^  Buch  XXVI,  Nr.  16  und  18;  Buch  XXX,  Nr.  6  —  10; 
Buch  XXXIU,  Nr.  60;  Buch  XLIII,  Nr.  19  flgg.  Letztere  Stelle  T.  U,  pag.  563 
der  ÜbersetzuDg. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  677 

kommen.  Es  dürfte  kaum  einen  anderen  Ausweg  geben^  als  entweder 
mit  den  heißspomigsten  Sinologen  anzunehmen ,  die  ganze  Mathe- 
matik imd  Astronomie  sei  altchinesische  Erfindung  und  sei  von  dort 
zu  den  Völkern  des  Westens  gelangt,  oder  aber  mit  den  Zweiflern 
unter  den  Chinesen  selbst  die  Entstehung  des  TcheOu  ly  in  eine  Zeit 
kurz  vor  Christi  Geburt  herabzulegen  und  zu  schließen,  es  müsse 
damals  schon  aus  Alexandria  über  Indien,  wo  wir  auch  ein  sehr  ein- 
faches Wassernivellement  hätten  nachweisen  können^),  oder  wieder 
aus  Babylon,  dessen  mathematische  Vergangenheit  uns  von  Abschnitt 
zu  Abschnitt  merkwürdiger  und  erforschungsbedürftiger  wird,  der- 
gleichen nach  China  gedrungen  sein.  Diese  Zwangswahl  wird  unseren 
Lesern  noch  mehr  als  einmal  im  Laufe  dieses  Kapitels  sich  auf- 
drängen, auch  wenn  wir  nicht  darauf  aufmerksam  machen,  hat  sich 
ihnen  vielleicht  schon  geboten,  als  wir  vom  60  jährigen  Zyklus  des 
Huäng  ti  sprachen.  Wir  haben  in  der  letztangefiihrten  Stelle  des 
Tcheöu  ly:  „Sie  machen  einen  Kreis  und  beobachten  den  Schatten 
der  aufgehenden  Sonne  und  den  Schatten  der  untergehenden  Sonne" 
das  uns  wohlbekannte  Orientierungsverfahren  erkannt  Daß  wir  in 
dem  vielleicht  auch  anderer  Deutung  fähigen  Wortlaut  nicht  mehr 
hinein  als  heraus  lesen,  beweist  eine  Stelle  eines  mathematischen 
Werkes,  mit  welchem  wir  uns  jetzt  beschäftigen  müssen. 

„Wenn  die  Sonne  zu  erscheinen  beginnt,  errichte  eine  Beobach- 
tungsstange und  beobachte  den  Schatten.  Beobachte  den  Schatten 
aufs  neue,  weiln  die  Sonne  untergeht.  Die  beiden  Hauptschatten- 
punkte, welche  sich  entsprechen,  bezeichnen  Ost  und  West.  Teile 
dereu  Entfernung  hälftig  und  ziehe  eine  Linie  nach  der  Beobachtungs- 
stange hin,  so  wirst  Du  Süd  und  Nord  bestimmt  haben."  So  un- 
zweideutig spricht  sich  der  Tcheou  pei  aus*). 

Der  Tcheou  pei  oder  tcheou  pei  swan  king,  d.  h.  heiliges  Buch 
(king)  der  Rechnung  (swan),  welches  genannt  ist  Beobachtungsstange 
(pei)  im  Kreise  (tcheou),  besteht  aus  zwei  Teilen,  welche  sich  scharf 
unterscheiden  lassen.  Im  ersten  wie  im  zweiten  Teile  wird  zwischen 
zwei  Männern,  von  denen  der  eine  den  Lehrer,  der  andere  den  Schüler 
darstellt,  ein  wissenschaftliches  Gespräch  geführt,  welches  auf  den 
Schattenzeiger  sich  bezieht.  Aber  die  beiden  Redner  wechseln.  Im 
ersten  Teile  sind  es  Tcheöu  kong  und  der  Gelehrte  Schang  kao, 
und  sie  beziehen   sich  auf  die  Kenntnisse,  welche  Kaiser  Fü  hl  und 

*)  L.  Rodet,  Legons  de  calcul  d'Aryabhata  pag.  27—28.  *)  Ed.  Biot, 
Traductian  et  examen  d'un  aneien  ouvrage  chinois  intitule  Tcheou  pei,  litterale' 
ment:  Style  au  aignal  dang  une  circonference  im  Journal  Asiaii^ie  vom  Juni  1841, 
pag.  69S  — 689.  Die  hier  angeführte  Stelle  der  künftig  als  Tcheou  pei  zu 
zitierenden  Übentetzung  auf  pag.  624. 


678  81.  Kapitel. 

der  nicht  minder  sagenberühmte  Kaiser  Yu  besessen  haben.  Im 
zweiten  Teile  wird  ein  Yung  fang  von  einem  Tchin  tsoe  unter- 
richtet. Die  Redner  des  I.  Teils  sind  Persönlichkeiten  ans  dem 
Anfange  der  Tcheöu-Dynastie,  welche  um  1100  v.  Chr.  gelebt  haben 
sollen.  Die  Eedner  des  IL  Teils  kennt  man  nicht^  doch  ist  hier 
ein  Zitat  aus  lu  schi  tschun  tsieou  des  Lu  pu  oei  vorhanden^), 
welcher  letztere  bekannt  ist  als  Minister  des  Kaisers  Tsin  sch^  huäng 
ty  des  Bücherverbrenners,  also  um  213  v.  Chr.  lebte.  Drei  ältere 
Kommentatoren  werden  für  beide  Teile  genannt,  deren  ältester  Tchao 
Iran  hiang  von  den  einen  in  die  Dynastie  der  östlichen  Han  etwa 
auf  200  n.  Chr.,  von  den  anderen  erst  in  die  Dynastie  der  Tsin  im 
lY.  S.  gesetzt  wird.  Was  man  von  den  Kommentatoren  und  von 
dem  auf  die  Tcheöu- Dynastie  zurückgeführten  Alter  des  I.  Teiles 
weiß  —  von  dem  IL  Teile  wird  ohne  genau  bestimmte  Zeitangabe 
nur  gesagt,  er  sei  jünger  als  der  I.  —  stammt  aus  einer  Vorrede, 
welche  1213  n.  Chr.  unter  der  Dynastie  Sung  verfaßt  worden  ist.  In 
einem  anderen  Werke  wird  ferner  noch  berichtet*),  der  Tcheöu  pei 
sei  unter  der  Dynastie  Thang,  dann  wieder  unter  der  Dynastie  Sung 
„einer  Durchsicht"  unterworfen  worden.  Was  man  aber  unter  Durch- 
sicht zu  verstehen  habe,  geht  daraus  hervor,  daß  zugestanden  wird, 
man  habe  bei  der  letzten  120  Zeichen,  mithin  Wörter,  verändert  und 
60  weggelassen. 

Fassen  wir  diese  Angaben  zusammen,  so  steht  freilich  die  heutige 
Gestalt  des  Werkes  nur  in  einem  Alter  von  noch  nicht  sieben  Jahr- 
hunderten fest.  Nimmt  man  an,  es  seien  damals  und  früher  unter 
den  Thang  wirklich  nur  unwesentliche  Verbesserungen  getroffen 
worden  und  die  Kommentatoren  seien  richtig  datiert,  so  kommt  man 
auf  die  Zeit  zwischen  213  v.  Chr.  und  etwa  300  n.  Chr.,  innerhalb 
welcher  der  IL  Teil  entstanden  sein  müßte,  ohne  daß  ii^end  eine 
Nötigung  vorläge,  sich  der  früheren  Grenze  mehr  zu  nähern  als  der 
späteren.  Man  könnte  also  z.  B.  eine  Gleichzeitigkeit  des  IL  Teiles 
mit  jenem  Lieou  hin  annehmen,  welcher  den  Tcheöu  ly  gefälscht 
haben  soll.  Was  endlich  den  I.  Teil  betrifft,  so  müssen  wir  es  unseren 
Lesern  überlassen,  ob  sie  der  Überlieferung,  welche  ihn  von  Tcheöu 
kong  selbst  herrühren  läßt,  Glauben  schenken  wollen.  Uns  scheint 
ein  Beweis,  gestützt  darauf,  daß  Tcheöu  kong  redend  eingeführt  ist, 
gestützt  femer  auf  eine  Vorrede,  die  mehr  als  zwei  Jahrtausende 
nach  Tcheöu  kong  geschrieben  ist,  nicht  unumstößlich  festzustehen, 
und  man  gestattet  uns  vielleicht  trotz  unserer  vollständigen  Unbe- 
kanntschaft mit  der  chinesischen  Sprache  den  Hinweis,  daß  bei  der 


*)  Tcheöu  pei  pag.  616.     *)  Ebenda  pag. 


697. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  679 

eigentümlichen  Doppelbedeutung  von  tcheou  als  Kreis  und  als  Name 
einer  Dynastie  es  nicht  so  gar  weit  entfernt  lag,  ein  Werk  von  der 
Beobachtungsstange  im  Kreise  dem  Tcheöu  zuzuschreiben.  Dann 
freilich  rückt  auch  das  Datum  des  I.  Teiles  so  weit  herab,  daß  er 
nur  Yor  der  Lebenszeit  des  ersten  Kommentators  entstanden  sein 
muß,  möglicherweise  auch  nicht  weit  von  der  Zeit  um  Christi  Geburt 
entstand. 

Der  I.  Teil  ist  kurz  genug,  um  die  wichtigsten  Lehren  des 
Schang  kao  in  Übersetzung  hier  anzufügen.     Schang  kao  spricht: 

„Die  Wissenschaft  der  Zahlen  stammt  vom  Kreise  und  vom 
rechtwinkligen  Vierecke. 

Der  Kreis  stammt  von.  dem  rechtwinkligen  Viereck,  und  das 
rechtwinklige  Viereck  stammt  vom  Kreise. 

Der  kuu  d.  h.  das  Winkellineal  stammt  von  9  mal  9,  welches 
81  gibt. 

Teile  den  kuu. 

Mache  die  Breite  keou  d.  h.  den   gekrümmten  Haken  gleich  3. 

Mache  die  Länge  kou  d.  h.  die  Hälfte  gleich  4. 

Der  king  yu  d.  h.  der  Weg,  der  die  Winkel  vereinigt,  die  Dia- 
gonale, ist  5. 

Nimm  die  Hälfte  des  rechtwinkligen  Vierecks  außen  herum,  es 
wird  ein  kuu  sein. 

Vereinige  sie  und  behandle  sie  gemeinschaftlich  mit  dem  Rechen- 
brette, so  wirst  Du  genau  3,  4,  5  erhalten. 

Die  zwei  kuu  bilden  zusammen  die  Größe  25.  Das  ist  was  man 
die  Vereinigung  der  kuu  nennt. 

Die  Wissenschaft,  deren  Yu  sich  einst  bediente,  um  was  unter 
dem  Himmel  sich  befindet  zu  regeln,  beruht  auf  diesen  Zahlen.'^ 

Hier  folgen  im  Originale  drei  Figuren,  welche  in  der  Über- 
setzung, deren  wir  uns  bedienen,  nicht  abgebildet,  sondern  nur  be- 
schrieben sind^).  Sie  sollen  die  Theorie  des  rechtwinkligen  Dreiecks 
klar  machen.  Die  erste  Figur  heißt  „Figur  des  Seiles"  und  wird 
folgendermaßen  geschildert.  In  einem  in  49  Teile  geteilten  großen 
Quadrate  befindet  sich  eingezeichnet  ein  aus  25  Teilen  bestehendes 
zweites  Quadrat.  Dieses  zweite  Quadrat  ist  selbst  in  vier  recht- 
winklige Dreiecke  und  ein  inneres  Quadrat  zerlegt.  Man  kann  nicht 
sagen,  daß  die  Klarheit  dieser  Schilderung  nichts  zu  wünschen  übrig 
lasse.     Wir  entnehmen  ihr,  die  Figur  des  Seiles  habe  so  ausgesehen: 


^)  Tcheou  pei  pag.  601,  Note  1.  Biernatzki  S.  64 — 66  hat  eine  deutsche 
Übenetzung  nach  englischer  Vorlage,  von  welcher  die  unsrige  sehr  abweicht. 
Von  den  hier  erwähnten  Figuren  sagt  er  kein  Wort. 


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680  81.  Kapitel. 

(Fig.  94).  Da  die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  durch  einen  1682 
gedruckten  chinesischen  Kommentar  zum  Tcheou  pei,  in  welchem  die 
Erläuterungen  stets  den  neuerdings  abgedruckten  Textesworten  folgen, 
nachträgliche  volle  Bestätigung  gefunden  hat^),  so 
stellt  das  zweite  Quadrat  mit  seiner  Zerlegung  die 
Figur  dar  (Fig.  87),  deren  Bhäskara  um  1150  sich 
bediente  (S.  656),  etwa  60  Jahre  vor  der  Durchsicht 
des  Tcheou  pei  in  der  Simg-Dynastie. 
pj    g^  Da  wir  den  Lauf  unserer  wörtlichen  Wiedergabe 

doch  einmal  unterbrochen  haben,  so  sei  auf  einiges 
aus  dem  bisherigen  Texte  hingewiesen:  auf  den  pythagoräischen  Lehr- 
satz an  dem  Dreiecke  von  den  Seiten  3,  4,  5;  auf  den  Namen  der 
Diagonale  für  die  Hypotenuse,  welcher  zeigt,  daß  der  Satz  am  Recht- 
ecke und  nicht  am  Dreiecke  bekannt  geworden  war;  auf  den 
weiteren  Namen  Seil  für  Hypotenuse,  welcher  täuschend  an  die  Seil- 
spannung der  Inder  erinnert,  wenn  wir  keine  andere  Verwandtschaft 
suchen  wollen. 

Nach  jenen  Figuren  folgen  nun  weitere  Lehren,  wie  man  den 
kuu,  also  das  Winkellineal,  benutzen  soll.  Eben  hingelegt  diene  es 
zum  Gradmachen,  umgekehrt  zur  Höhenmessung,  verkehrt  zur  Tiefen- 
messung, ruhend  zur  Messung  der  Entfernung.  Der  hau  für  den 
Kreis,  d.  h.  der  Zirkel,  diene  zur  HersteUung  des  Kreises,  der  Doppel- 
kuu  zur  Herstellung  rechtwinkliger  Vierecke.  Die  rechtwinklige 
Figur  entspreche  der  Erde,  die  runde  dem  Himmel.  Der  Himmel  sei 
der  Kreis,  die  Erde  sei  das  Quadrat. 

Dieser  letztere  Satz  bedarf  gar  sehr  der  Erläuterung.  Vielleicht 
ist  es  richtig,  was  ein  Missionär,  welcher  lange  in  China  war,  zur 
Erklärung  gesagt  hat*),  Himmel  und  Erde  seien  symbolisch  für  die 
Zahlen  3  und  4;  andererseits  gehöre  die  Zahl  3  zum  Kreise,  dessen 
Umfang  als  dreifacher  Durchmesser  galt,  4  naturgemäß  zum  Quadrate, 
und  SP  sei  die  weitere  Vergleichung  des  Himmels  mit  dem  Kreise, 
der  Erde  mit  dem  Quadrate  zustande  gekommen. 

Es  folgen  noch  einige  philosophische  uns  unverständliche  Redens- 
arten, und  nun  schließt  Schang  kao:  „Das  Wissen  stammt  vom  ge- 
krümmten  Haken,    der    gekrümmte    Haken    vom   Winkellineal,    das 


^)  Giov.  Vacca,  Sulla  MaUmatica  degli  antichi  Oinesi  in  dem  BoUettino 
di  hibliografia  e  storia  deUe  acienze  matetnatiche  (Oktober,  November  und  Dezem- 
ber 1906).  Da  H.  Vacca  zurzeit  (Winter  1905—1906)  unter  der  Leitung  von 
H.  Carlo  Puini  in  Florenz  chinesiBchen  Studien  obliegt,  so  dürfte  in  Bälde 
Genaueres  über  chinesische  Mathematik  bekannt  werden.  *)  Tcheou  pei 
pag.  602,  Note  1  mit  Beziehung  auf  eine  Bemerkung  des  Pater  Gaubil. 


Die  Mathematik  dei  Chinesen.  681 

Winkellineal  mit  Zahlen  vereinigt  regelt  und  leitet  alle  Dinge." 
Tcheöu  kong  sprach:  „Das  ist  wundervoll!" 

Hiermit  schließt  der  I.  und,  wie  man  behaupten  will,  ältere 
Teil  des  Tcheou  pei.  Es  folgt  der  ü.  viel  ausführlichere  Teil. 
Wir  brauchen  ihm  eine  weit  weniger  eingehende  Aufmerksamkeit  zu- 
zuwenden, teils  wegen  des  allgemein  anerkannten  verhältnismäßig 
späten  Datums  seiner  Entstehung,  teils  weil  es  sich  in  ihn  mehr 
um  astronomische  Verwertung  der  Qeobachtungsstange  handelt.  Nur 
zwei  Bemerkungen  scheinen  uns  von  Wichtigkeit. 

Erstlich,  daß  die  Yerhältniszahl  des  Ereisumfangs  zum  Durch- 
messer stets  als  3  gerechnet  wird^).  Das  bestätigt  jene  Bemerkung, 
warum  3  die  Zahl  des  Kreises  sei,  erinnert  zugleich  an  die  nach 
unserer  Vermutung  altbabylonische  Umfangsformel.  Aus  den  Durch- 
messern 238000,  317333y,  357000,  3966663,   436333  J,  476000, 

810000  sind  die  Umfange  714000,  9520(X),  1071000, 1190000, 1309000, 
1428000,   2430000  gefolgert,   und  in  einem  Beispiele  heißt  es  aus- 

drücklich:  ,yNimm  einen  Durchmesser  von  121t^  Fußen,  verviel- 
fache mit  3,  Du  erhältst  365  [  Fuß." 

Dieses  letztere  Beispiel')  führt  uns  zu  unserer  zweiten  Bemer- 
kong.     Der  Kreisumfang  wird  bei  den  Chinesen  nicht  in^360  Grade, 

sondern  in  365—   Grade   eingeteilt,    und   die   Chinesen   kennen   die 

Jahreslänge   des   Sonnenjahres    von   365-     Tagen.     „Unter  4  Jahren 

sind,  wie  man  weiß,  drei  von  365  Tagen  und  eines  von  366  Tagen; 

daraus  weiß  man,  daß  das  Jahr  im  Mittel  aus  365 -j-  Tagen  besteht" 

Eine  deutlichere  Bestätigung  unserer  Ansicht,  daß  die  Kreiseinteilung 
in  360  Grade  niclits  anderes  bezwecke  als  die  von  der  Sonne  am 
Himmel  scheinbar  durchlaufenen  Wege  sichtbar  zu  machen  (S.  40), 
dürfte  sich  kaum  finden  lassen.  Wenn  die  Chinesen  diese  Bedeutung 
der  Gradeinteilung  überliefert  bekamen  und  nachträglich  die  mit  der 

Wahrheit  besser  übereinstimmende  Jahreslänge  von  365—  Tagen  er- 
fuhren oder  erkannten,  dann,  aber  auch  nur  dann,  konnten  sie  dem 
allem  Zahlengefühle  Hohn  sprechenden  Gedanken  verfallen,  den  Kreis 


^)  Tcheon  pei  pag.  613,  614,  626.    Auf  pag.  614  ist  zwar  zu  dem  Durch- 
2 
messei    267666—-  der  Umfang  888000  statt  803000  angegeben,  doch  dürfte  diese 

o 

einzige    Ausnahme    auf    einem    Druckfehler    im    Journal    Äsiatique    beruhen. 
*)  Ebenda  pag.  625.    Vgl.  auch  pag.  688—639. 


682  31.  Kapitel. 

nunmehr  selbst  in  365-j-  Grade  zu  zerlegen,  damit  wieder  jeder  Grad 

einen  Tagesweg  darstelle.  Außerdem  sprechen  mittelbare  Spuren 
dafür,  daß  den  Chinesen  die  Ereisteilung  in  360  Grade  gleichfalls 
einmal  bekannt  war,  denn  nur  von  ihr  aus  erklärt  sich  die  Anwen- 
dung der  Zahl  60  in  dem  sechzigjährigen  Zyklus,  nur  von  ihr  aus 
die  30  Speichen  in  dem  Rade  des  Kaiserwagens  in  der  Tcheou-Dy- 
nastie,  wie  eine  Abbildung  sie  zeigt  ^).  Bei  den  Unterabteilungen  des 
Grades  bedienten  sich  dagegen  cQe  Chinesen  nach  einem  Berichte  des 
Paters  Yerbiest  seit  undenklichen  Zeiten  der  Zerlegung  in  100  Teile, 
welche  man  Minuten  nennen  könnte^). 

Leider  ist  der  Tcheou  pei  die  einzige  mathematische  Abhand- 
lung der  Chinesen,  welche  durchaus  übersetzt  uns  vorliegt.  Für  alle 
übrigen  Schriften  sind  wir  gezwungen,  uns  auf  notdürftige  Auszüge 
zu  beziehen,  von  welchen  nur  einer  eine  halbwegs  genügende  Inhalts- 
anzeige des  Werkes  liefert,  aus  welchem  er  stammt  und  zugleich  das 
Alter  dieses  Werkes  zweifellos  angibt.  Die  anderen  Berichte  leiden 
meistens  an  Unklarheit  und  lassen  es  selbst  fraglich  erscheinen, 
welches  Werk  von  verschiedenen,  die  den  gleichen  Namen  führen, 
eigentlich  gemeint  sei? 

Kieoja  tschang  oder  die  neun  Abschnitte  war  (S.  670)  der 
Titel  des  ältesten  arithmetischen  Werkes.  Kieou  tschang  swan  su 
d.  h.  Arithmetische  Regeln  zu  den  neun  Abschnitten  schrieb  alsdann 
etwa  ein  Jahrhundert  vor  der  christlichen  Zeitrechnung  ein  gewisser 
Tschang  tsang.  Dieses  Werk  behauptet  „die  von  den  kaiserlichen 
Hofmeistern  unter  der  Dynastie  Tcheou  befolgten  arithmetischen 
Grundsätze  zu  enthalten.  Jedoch  gibt  es  sich  nicht  für  ein  neues 
Original  werk  aus,  sondern  nur  für  eine  revidierte  und  verbesserte 
Auflage  eines  viel  älteren  Buches,  dessen  Verfasser  unbekannt  ist. 
Das  Werk  hat  bis  heute  mehrere  neue  Auf  lagen .  erlebt,  ist  jedoch 
jetzt  sehr  selten  geworden;  es  hat  aber  viele  Kommentatoren  uüter 
namhaften  chinesischen  Gelehrten  gefunden^' ^).  Gegen  Ende  der 
Dynastie  Sung  um  1240  schrieb  Tsin  kiu  tschau,  welchen  wir 
(S.  674)  als  den  Schriftsteller  nannten,  bei  welchem  die  sogenannten 
wissenschaftlichen  Ziffern  zuerst  erwähnt  werden,  sein  su  schu  kieou 
tschang  oder  die  neun  Abschnitte  der  Zahlenkunst.  Werke  ähn- 
lichen Titels  von  noch  anderen  Verfassern  folgten  vielfach.  Wenn 
wir  uns  nun  der  chinesischen  Rückverlegungen  erinnern,  welche  dem 


^)  Tcheou  If  II,  488.  *)  Henii  Bosmans  S.  J.  in  den  Ännales  de  la 
socieU  scientifique  de  Bruxelks.  T.  XXVU  Nr.  8  (April  1908).  »)  Wörtlich  aus 
Biernatzki  S.  67. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  683 

Götzen  des  nationalen  Eigendünkels  mit  persönlicher  Bescheidenheit 
das  Opfer  der  eigenen  Erfinderfreude  zu  bringen  verlangten  und  in 
diesem  Verlangen  offenbar  nirgend  auf  Widerstand  stießen;  wenn 
uns  dann  ein  Auszug  aus  den  neun  Abschnitten  gegeben  ^)^  aber  mit 
keiner  Silbe  gesagt  wird,  welches  von  den  vielen  Werken,  die  diese 
Überschrift  tragen,  zugrunde  gelegt  sei,  welchen  geschichtlichen 
Wert  kann  das  für  uns  haben?  Doch  wohl  keinen  anderen,  als  daß 
wir  dem  Auszuge  das  alte  vielleicht  auf  Tschang  tsang,  vielleicht 
noch  weiter  hinauf  zurückzuverfolgende  Vorhandensein  von  neun 
Abschnitten  glauben,  ohne  jedoch  annehmen  zu  dürfen,  diese  Ab- 
schnitte hätten  von  jeher  dieselben  246  Aufgaben  enthalten,  oder  es 
sei  auch  nur  sicher,  daß  die  Namen  der  Abschnitte  sich  nicht  ver- 
ändert hätten. 

Die  Namen  der  Abschnitte*):  1.  Viereckige  Felder,  2.  Reis  und 
Geld,  3.  Verschiedene  Teilungen,  4.  Eng  und  weit,  5.  Körpermessung 
(wörtlich:  überlegen  und  beendigen),  6.  Gerechte  Verteilung,  7.  Über- 
schuß und  Mangel,  8.  Vergleichen  und  recht  machen  (d.  h.  Gleichungen), 
9.  Dreieckslehre  erinnern  ungemein  an  Namen  indischer  Abschnitte, 
gebildet  nach  irgend  einer  Hauptaufgabe,  an  welche  die  anderen  an- 
knüpfen, wenn  auch  nicht  immer  im  Inhalt  ihr  gleichend.  Gleich 
im  ersten  Abschnitte  findet  sich  die  Regel  für  die  Dreiecksfläche  als 
Produkt  der  Grundlinie  in  die  halbe  Höhe.  Die  Kreisfläche  zu  be- 
rechnen wird  nach  sechs  der  Form  nach  verschiedenen  Arten  ge- 
lehrt: „Man  multipliziere  den  halben  Durchmesser  mit  dem  Radius, 
oder  nehme  ein  Dritteil  vom  Quadrat  des  halben  Umkreises,  oder 
ein  Zwölftel  vom  Quadrate  des  Umkreises,  oder  ein  Viertel  vom  drei- 
fachen Quadrate  des  Durchmessers,  oder  ein  Viertel  vom  Produkte 
aus  Durchmesser  und  Umkreis,  oder  endlich  das  dreifache  Quadrat 
des  Radius."  Man  sieht  sofort,  daß  die  fünf  letzten  Regeln  sämt- 
lich auf  ;r  =  3  herauskommen.  Die  erste  allein  ist  mit  7t  =  l 
gleichbedeutend  und  höchst  auffallend  dadurch,  daß  sie  in  einem 
Atem  von  dem  halben  Durchmesser  und  dem  Radius  spricht.  Wir 
möchten  daher  hier  einen  Druck-  oder  Übersetzungsfehler  annehmen 
und  lesen  „man  multipliziere  den  halben  Umkreis  mit  dem  Radius", 
eine  Vorschrift,  welche  sonst  fehlen  würde,  und  welche  nicht  mit 
;r  =  3  in  Widerspruch  steht. 

Das  genauere  Verhältnis  des  Kreisumfanges  zum  Durchmesser 
war  einem  Schriftsteller  Tsu  tschung  tsche,   der  dem  Ende  des 


*)  Biernatzki  S.  73—76.  •)  Die  drei  ersten  Namen  nach  Biernatzki, 
die  sechs  folgenden  nach  L.  Nix.  Vgl.  W.  Schmidt  im  Bericht  über  grie- 
chische Mathematiker  nnd  Mechaniker  1890—1901  S.  63. 


684  31.  Kapitel. 

22 

VI.  S.    angehören    soll,    als   ä  =  ^    bekannt   und  Liu   hwuy*)  be- 

.   ,  167 

nutzte  3r  =  -TTT . 

Der  9.  der  neun  Abschnitte  beschäftigt  sich  mit  24  geometri- 
schen Aufgaben,  welche  mittels  des  rechtwinkligen  Dreiecks  gelöst 
werden.  Über  die  Methode  läßt  uns  der  Auszug  im  unklaren,  doch 
dürfte  wohl  der  pythagoräische  Lehrsatz  angewandt  sein,  der  im  Tcheou 
pei  uns  gleichfalls  begegnet  ist.  Yon  den  Körpermessungen  im  5.  Ab- 
schnitte ist  uns  nur  ganz  allgemein  berichtet,  die  angewandten 
Formeln  scheinen  mithin  zu  besonderen  Anmerkungen  eine  dringende 
Veranlassung  nicht  geboten  zu  haben.  Aus  den  übrigen  Abschnitten 
erwähnen  wir  Gesellschafts-  und  Vermischungsrechnungen  im  3.  und 
6.  Abschnitte,  Ausziehung  von  Quadrat-  und  Kubikwurzeln  im  5.  Ab- 
schnitte, Gleichungen  im  8.  Abschnitte. 

Die  Geometrie  dürfte  wohl  den  schwächsten  Teil  chinesischer 
Mathematik  gebildet  haben,  kaum  über  die  niedrigsten  Anwendungen 
des  Satzes  vom  rechtwinkligen  Dreiecke  sich  erhebend*  denn  wenn 
Ko  schau  king  um  1300  unter  den  Mongolen  die  sphärische 
Trigonometrie  erfunden  haben  soll,  welche  in  einem  Werke  aus 
der  Dynastie  Ming  wiederholt  dargestellt  sei^),  so  klingt  das  doch 
sehr  nach  arabischen  ins  Chinesische  nur  übersetzten  Schriften. 

In  der  Lehre  von  den  Gleichungen  dagegen  müssen  wir  den 
Chinesen  selbsttätiges  Vorgehen  nachrühmen,  denn  hier  finden  wir  in 
der  Tat  Fortschritte,  welche  weder  auf  indischem  Boden  uns  bekannt 
geworden  sind,  noch  überhaupt  anderswo  so  frühzeitig  gemacht 
wurden.  Hauptquelle  für  die  Lehre  von  den  bestimmten  wie  von 
den  unbestimmten  Gleichungen  sind  Schriften  desselben  Tsin  kiu 
tschau  aus  der  Mitte  des  XIII.  S.,  welchen  wir  auch  unter  den 
Verfassern  von  Neun  Abschnitten  der  Rechenkunst  nannten.  Die 
Lehre  von  den  bestimmten  Gleichungen  findet  sich  in  dessen  Auf- 
stellung der  himmlischen  Monade,  leih  tien  yueti  yih^\  und  ist  erläutert 
durch  Le  yay  jin  king,  welcher  während  der  Mongolenzeit  gelebt 
hat*).  Die  Monade,  yuen,  ist  das  durch  ein  besonderes  Schriftzeichen 
dargestellte  Symbol  der  ersten  Potenz  der  unbekannten  Größe,  also 
das  yävattävat  der  Inder.  Auch  die  Zahl,  welche  als  ein  Gegebenes 
in  der  Gleichung  auftritt,  die  rüpa  der  Inder,  hat  einen  Namen  täe. 
Die  Zeichen  für  yuen   und  täe  werden  rechts  von  den  betrefiFenden 

^)  DesBen  Lebenszeit  anzugeben  sind  wir  nicht  imstande.  Bieinatzki 
sagt  nämlich  S.  63—64,  er  habe  früher  als  Tsu  tachung  tsche  gelebt,  und  S.  68, 
er  habe  im  YU.  S.  gelebt,  und  sein  Werk  sei  im  YIU.  S.  neu  aufgelegt 
worden!  *)  Biernatzki  S.  70.  »)  Ebenda  S.  84flgg.  *)  Ebenda  S.  70 
und  84. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  685 

Zahlenkoeffizienten  geschrieben.  Die  Gleichungen  sind  vor  dem  An- 
schreiben geordnet  und  zwar  so,  daß  die  unbekannten  Dinge  den 
bekannten  gleich  gesetzt  sind.  Ein  Gleichheitszeichen  tritt  dabei 
nicht  auf,  ist  vielmehr  aus  der  bloßen  Stellung  ersichtlich.  Die 
unterste  Reihe  mit  rechts  stehendem  tae  enthält  die  bekannte  Zahl, 
die  darüber  befindliche  mit  rechts  stehendem  juen  die  Unbekannte, 
die  nächsthöhere  ohne  weiteren  Zusatz  enthält  die  zweite  Potenz  der 
Unbekannten  usf.  Eine  fehlende  Potenz  der  Unbekannten  muß,  da 
die  Höhe  der  Potenzen  nach  dem  Stellungswerte  zu  entnehmen  ist, 
durch  Null  angedeutet  werden.  Von  den  beiden  Wörtern  täe  und 
juen  kann  eines,  beliebig  welches  fehlen,  da  die  Verständlichkeit 
dadurch  noch  nicht  aufgehoben  ist.  Positive  und  negative  Zahlen 
werden  durch  die  Farbe  des  Druckes  unterschieden.  Erstere  druckt 
man  rot,  letztere  schwarz.  So  heißt  z.  B.  unser  14a:*  — 27x«  17 
auf  chinesisch,  wenn  wir  die  Benutzung  imserer  Ziffern  beibehalten 
und  die  Farben  durch  die  links  beigesetzten  Anfangsbuchstaben  ^  (rot) 
und  ,  (schwarz)  unterscheiden: 

M  ,14  ,14 

,00  ,00  ,00 

oder  oder 

,27  yuen  ,27  ,27  yuen 

,17  täe  ,17  täe  ,17 

Es  scheint  dabei  eine  Annäherungsmethode  für  Gleichungen  höherer 
Grade  bestanden  zu  haben,  in  welcher  man  eine  Ähnlichkeit  mit  der 
sogenannten  Homerschen  Näherungsmethode  entdecken  will^),  die 
aber  wenigstens  in  unserer  Vorlage  zu  dürftig  behandelt  ist,  als  daß 
wir  es  wagten,  diese  Meinung  zu  stützen  oder  zu  widerlegen. 

Die  Lehre  von  den  unbestimmten  Gleichungen  scheint  unter  dem 
Namen  große  Erweiterung,  Ta  yen,  zuerst  von  Sun  tse  in 
dunkeln  Versen  beschrieben  worden  zu  sein^),  und  dieser  Verfasser 
wird  gegenwärtig  in  die  Dynastie  Han  im  III.  S.  n.  Chr.  gesetzt.  Be- 
sondere Anwendung  fand  die  Regel  Ta  yen  durch  Yih  hing,  einen 
Geistlichen  unter  der  Dynastie«  Thang,  welcher  717  das  Werk  Ta  yen 
lei  schu  darüber  verfaßte,  und  dieses  Werk  hat  wieder  unser  Tsin 
kiu   tschau  neu  bearbeitet.     Das  Hauptbeispiel  heißt  in  wörtlicher 

^)  MatthicBsen,  Qnmdzüge  der  antiken  und  modernen  Algebra  der 
litteralen  Gleichungen.  Leipzig  1878,  S.  964—966.  *)  Biernatzki  S.  77flgg. 
Vgl.  besonders  L.  Matthiessen,  Yergleichiing  der  indischen  Cuttaca-  nnd  der 
chinesischen  Ta  yen-Regel  in  der  Zeitschr.  f.  math.  und  naturw.  Unterricht  (1876) 
VU,  78—81.  Ebenderselbe  hatte  schon  1874  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XIX, 
270 — 271  die  Ta  jen-Regel  erklärt,  dl^  yor  ihm  nie  verstanden  worden  war. 


686  81.  Kapitel. 

Übersetzung:  „Dividiert  durch  3  gibt  Rest  2;  schreibe  140.  Dividiert 
durch  5  gibt  Rest  3;  schreibe  63.  Dividiert  durch  7  gibt  Rest  2; 
schreibe  30.  Diese  Zahlen  addiert  geben  233,  davon  subtrahiert  210 
gibt  23  die  gesuchte  Zahl.  Für  1  durch  3  gewonnen  setze  70.  Für 
1  duirch  5  gewonnen  setze  21.  Für  1  durch  7  gewonnen  setze  15. 
Ist  die  Summe  106  oder  mehr,  subtrahiere  hiervon  105  und  der  Rest 
ist  die  gesuchte  Zahl.'' 

Man  hat  nun  vollständig  zutreffend  darauf  aufmerksam  ge- 
macht^), daß  dieselben  Divisoren  3,  5,  7  und  dieselben  gewonnenen 
Zahlen  70,  21,  15  mit  deren  Anwendung  zur  Auffindung  von  23  auch 
in  einor  griechischen  Aufgabe  vorkommen,  deren  Text  in  einer  Hand- 
schrift aus  dem  Ende  des  XIV.  oder  Anfang  des  XV.  S.  sich  erhalten 
hat,  während  ein  Verfasser  nicht  genannt  ist.  Es  ist  nicht  unmöglich, 
daß  die  chinesische  Aufgabe  und  ihre  Auflösung  etwa  durch  arabische 
Vermittlung  irgend  einem  Byzantiner  bekannt  geworden  sein  kann, 
der  sie  sich  aufnotierte.  Ein  umgekehrter  Gang,  daß  also  hier  wie 
so  vielfach  im  Westen  Bekanntes  nach  China  drang,  ist  kaum  anzu- 
nehmen, weil  nur  im  chinesischen  Texte  die  Begründung  des  Ver- 
fahrens angedeutet  ist,  freilich  schwer  zu  verstehen,  aber  doch  zu 
verstehen,  wie  die  Erfahrung  gezeigt  hat. 

Der  Sinn  ist  nämlich  folgender.  Soll  eine  Zahl  x  gefunden 
werden,  welche  durch  m^,  Wg,  m^  geteilt  die  Reste  r^,  r,,  r,  liefere, 
so  sucht  man  drei  Hilfszahlen  Tc^,  i,,  ig,  welche  Multiplikatoren, 
tsching  su^  genannt  werden,  und  deren  jede  vervielfacht  mit  ihrer 
Erweiterungszahl,  yen  suy  d.  h.  mit  dem  Produkte  derjenigen  w, 
welche  einen  andern  Index  als  das  betreffende  k  führen,  und  dann 
geteilt  durch  ihre  bestimmte  Stammzahl,  ting  mu,  d.*  h.  das  dritte 
m  den  Rest  1  liefern.  So  gibt  unsere  Aufgabe  unter  Anwendung 
von  Kongruenzen:  5  •  7  •  J^  ^  1  (niod  3);  3  •  7  •  Ä j  =  1  (mod  5); 
3  •  5  •  ÄTj  =  1  (mod  7).  Daraus  werden  nun  gewonnen:  aus  3  die 
Zahl  *!  =  2  oder  5  •  7  •  2  =  70;  aus  5  die  Zahl  Ä«,  =  1  oder  3-71 
=  21;  aus  7  die  Zahl  k^  =  1  oder  3  •  5  •  1  =15.  Wie  diese  Zahlen 
gewonnen  wurden,  ist  auch  nicht  andeutungsweise  gesagt,  die  Ver- 
mutung liegt  daher  am  nächsten,  man  werde  sich  durch  Probieren 
geholfen  haben.  Nun  wird  jede  der  gewonnenen  Zahlen  m^m^ki  =  70, 
m^m^k^^  21,  WiWgÄ-j  =  15  mit  dem  entsprechenden  Reste  r^  =  2, 
rj  =  3,  r j  =  2  vervielfacht  und  ihre  Summe  140  +  63  +  30  =  233 
gebildet,  von  welcher  man  die  Stammerweiterung,  yen  mu,   d.  h. 


')  Matthiessen  in  der  Zeitschr.  f.  math.  und  natnrw.  Unterricht.  Vgl. 
NikomachuB  (ed.  Hoche)  pag.  162—153  und  Friedleina  Anzeige  dieser  Aus- 
gabe in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  (1866)  Bd.  XI,  Literaturzeitnng  S.  71 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  387 

das  Produkt  der  drei  m,  3  •  5  •  7  =»  105,  so  oft  als  möglich  abzieht 
und  hat  damit 

gefanden,  wie  z.  B. 

a;  =  2  .  70  +  3  .  21  +  2  .  15  -  2  .  105  =  23. 

Es  steht  ebenso  fest,  daß  dieses  Verfahren  von  der  indischen  Zer- 
stäubung, mit  welchem  man  es  zu  vergleichen  liebte,  bevor  man  es 
verstand,  durchaus  verschieden  ist,  als  daß  es  eine  wahre  Methode 
genannt  zu  werden  verdient,  deren  Erfinder  mit  dem  glücklichsten 
Scharfsinne  ihrer  Aufgabe  zu  Leibe  zu  gehen  wußten^). 

Etwas  später  als  Tsin  kiu  tschau  lebte  Tschu  schi  kih,  welcher 
1303  den  kostbaren  Spiegel  der  vier  Elemente,  See  yuen  yuh  kihn, 
veröffentlichte.  Hier  finden  sich  die  lihn  bei  Berechnung  Ton  Zahlen 
bis  zur  achten  Potenz  als  eine  alte  Methode.  In  unseren  Ziffern 
sehen  dieselben  folgendermaßen  aus: 

1 

1      1 

1      2      1 

13      3      1 

14      6      4      1 

1      5     10     10     5      1 

l      6     15     20     15     6      1 

1      7     21     35    35    21     7      1 

1      8     28    56     70    56    28     8      1 

Es  sind^  die  den  Arabern  freilich  seit  dem  Ende  des  XL  S. 
bekannten  Binomialkoeffizienten  zu  der  ßestalt  geordnet,  welche 
man  in  Europa  seit  dem  Ende  des  XVII.  S.  das  arithmetische 
Dreieck  genannt  hat.  Das  hier  auftretende  Wort  lihn  wird  auch 
bei  der  früher  erwähnten  Annäherungsmethode  zur  Auflösung  von 
Gleichungen  höherer  Grade  mehrfach  benutzt  und  hat  dadurch 
Anlaß  zu  dem  gleichfalls  erwähnten  Deutungsversuche  dieser  Methode 
gegeben. 

Das  arithmetische  Dreieck  ist  auch  in  einem  letzten  Werke 
wiedergefunden  worden,  von  welchem  wir  einigermaßen  eingehender 
unterrichtet    sind,    da    wenigstens    die    Inhaltsangabe    desselben    in 


^)  Matthiessen  hat  1.  c.  mit  Recht  hervorgehoben,  daß  die  Methode  ta 
yen  mit  derjenigen,  welche  Gauß  in  den  Disquisüianes  artthmeticae  §  32 — 86- 
gelehrt  hat,  übereinstimme.  Vgl.  Biriehlet,  Zahlentheorie  §  26  (III.  Auflage. 
1879,  S.  66—67).     *)  Biernatzki  S.  87-^89. 


688  Sl.  Kapitel. 

Übersetzung  vorhanden  iet^).  Wir  meinen  die  Grundlagen  der 
Rechenkunst,  swan  fa  tong  tsong,  welche  unter  Wan  ly  aus  der 
Dynastie  Ming  1593  dem  Drucke  übergeben  worden  sind.  Es  heißt 
in  demselben,  jene  Zahlenanordnung  finde  sich  schon  in  einem  älteren 
Werke  des  U  schi,  aber  unser  europäischer  Gewährsmann  fQgt  aus- 
drücklich hinzu,  dieser  Name  sei  ein  so  gewöhnlicher,  daß  Folge- 
rungen aus  demselben  nicht  zu  ziehen  seien,  und  so  wissen  wir  nicht 
einmal,  ob  dieser  U  schi  früher  oder  später  als  Tschu  schi  kih  ge- 
lebt hat.    Im   Sto<m  fa  Umg  tsong   werden   noch   mancherlei  andere 

22 

Dinge  gerühmt,  so   die  Anwendung  der  Yerhältniszahl  sr  »    - ,  das 

Vorkommen  von  Dreieckszahlen  und  Pyramidalzahlen,  magische  Qua- 
drate, Multiplikationen  unter  Anwendung  von  dreieckigen  Feldern, 
also  vielleicht  so,  wie  wir  sie  (S.  611)  bei  den  Indem  in  Übung 
fanden.  Wir  berichten  genauer  nur  über  eine  Messungsaufgabe, 
welche  Verwandtschaft  mit  in  Europa  vorkommenden  Verfahren 
(S.  556)  an  den  Tag  legt.  Die  Höhe  eines  zu^nglichen  Baumes  wird 
zu  kennen  verlangt^).  Man  entfernt  sich  von  dessen  Fuße  um  eine 
gemessene  Strecke,  stellt  eine  Signalstange  auf  und  entfernt  sich 
dann  noch  weiter,  bis  man  mittels  eines  hohlen  Rohres  die  Spitze 
der  Stange  und  «des  Baumes  in  einer  geraden  Linie  sieht.  Die  Höhe 
des  Auges  über  dem  Boden  wird  nun  zu  4  Fuß  geschätzt  und  als- 
dann die  Höhe  des  Baumes  mit  Hilfe  ähnlicher  rechtwinkliger  Drei- 
ecke berechnet. 

Wir  sind  der  Zeit  schon  sehr  nahe,  in  welcher  die  europäischen 
Missionäre  an  dem  Hofe  des  den  Wissenschaften  ergebenen  Kaisers 
Eang  hi  freundliche  Au&ahme  fanden.  Er  schätzte  in  ihnen  die 
höhere  Bildung,  welche  er,  sich  darin  als  kein  Nationalchinese  ver- 
ratend, wohl  anerkannte.  Aber  einen  chinesischen  Gelehrten  Mei 
wuh  gan,  einen  Anhänger  der  verjagten  Ming-Dynastie  und  trotz- 
dem wegen  seines  Wissens  bei  dem  fremden  Kaiser  wohlgelitten, 
wurmte  das  Übergewicht  dieser  Europäer.  Er  behauptete'),  von  den 
durch  sie  eingeführten  Theorien  sei  die  bei  weitem  größte  Mehrzahl 
den  Chinesen  schon  Jahrhunderte  früher  bekannt  gewesen,  und  dieses 
nur  aus  ünkunde  mit  der  heimischen  Literatur  übersehen  worden. 
Ja  aus  China  stamme  alle  Wissenschaft,  übersetzt  sei  sie  zu  den  Be- 
wohnei-n  anderer  Länder  gedrungen  und  habe  dort  weiter  gelebt, 
während  sie  in  China  selbst  seit  der  großen  Bücherverbrennung  auf- 


>)  Ed.  Biot  im  Jawmal  des  Savanta  1839  pag.  270—273  und  besonders  im 
Journal  Asiatique  für  März  1889  png.  193^217.  Die  Bemerkung  über  U  schi 
pag.  194.  ^.Journal  Asiatique  f&r  März  1839,  pag.  212.  ^  Biernatzki 
8.  60—62. 


Die  Mathematik  der  Chinesen.  689 

gehört  habe  sich  zu  entwickeln,  wie  sie  begonnen  hatte.  Jetzt  suchte 
man  wieder  eifriger  und  allgemeiner  nach  den  alten  Schriften  und 
fand  sie. 

Wieviele  deren  echt,  wieviele  unecht  waren,  wer  könnte  diese 
Frage  ohne  die  eingehendsten  Kenntnisse  der  verschiedensten  Art 
beantworten?  Für  die  mathematischen  Schriften  muß  notwendiger- 
weise neben  den  sprachlichen  Merkmalen  höheren  oder  niedrigeren 
Alters,  vielleicht  noch  vor  diesen  der  Inhalt  zur  Beantwortung  bei- 
tragen, und  diesem  Inhalte,  soviel  uns  davon  bekannt  geworden  ist, 
entnehmen  wir  die  gleiche  Folgerung,  welche  (S.  669)  als  vor- 
läufige Ansicht  schon  von  uns  geltend  gemacht  worden  ist,  als  wir 
die  Ursprungs-  und  Echtheitsfrage  zuerst  aussprachen.  Wir  glauben 
nicht  an  eine  hohe  Entwicklung  der  ursprünglichen  chinesischen 
Mathematik.  Wir  glauben  vielmehr,  daß  das  meiste  aus  verschiedenen 
Quellen,  unter  welchen  die  babylonische  wohl  nicht  die  mindest  er- 
giebige gewesen  ist,  dorthin  zusammenfloß.  Wir  gehen  aber  anderer- 
seits auch  nicht  so  weit,  daß  wir  den  Chinesen  jede  einzelne  Leistung 
auf  mathematischem  Gebiete  absprechen.  Die  Algebra  scheint  wie 
den  Indem  so  auch  den  Chinesen  das  ihrem  Geiste  angemessene 
Arbeitsfeld  geboten  zu  haben,  und  auf  diesem  Felde  wuchsen  Früchte, 
denen  wir  bis  auf  weiteres  die  chinesische  Heimat  abzuerkennen  in 
keiner  Weise  gerechtfertigt  sind.  Die  Methode  der  großen  Erweite- 
rung zur  Auflösung  gleichzeitig  bestehender  unbestimmter  Gleichungen 
ersten  Grades  dürfte  die  edelste  dieser  Früchte  sein. 

Für  die  verhältnismäßig  geringe  Meinung,  welche  wir  von  der 
altchinesischen  Mathematik  hegen,  können  wir  eine  mittelbare  Be- 
stätigung in  den  entsprechend  geringen  Kenntnissen  finden,  die  fast 
zweifellos  von  China  aus  weiter  nach  Osten  vordrangen.  Wir  be- 
rufen uns  in  diesem  Sinne  auf  die  Mathematik  der  Japaner. 

Was  wir  von  derselben  wissen,  stammt  unmittelbar  oder  mittel- 
bar aus  neueren  geschichtlichen  Untersuchungen  dort  einheimischer 
Gelehrten,  welche  das  Ergebnis  ihrer  Forschungen  teils  in  japanischer 
teils  in  englischer  Sprache  zum  Drucke  gegeben  haben.  Insbesondere 
sind  es  die  Herren  Endo,  Eikuchi,  Fujisawa,  Hayashi,  welche 
sich  um  den  Gegenstand  verdient  gemacht  haben.  Sie  unterscheiden 
eine  Anzahl  von  ZeitnLumen  in  der  Geschichte  der  japanischen  Mathe- 
matik und  zwar: 

1.  Die  Zeit  bis  553  nachchristlicher  Zeitrechnung,  in  welcher  sie 
eine  von  außen  unbeeinflußte  Bildung  vermuten,  welche  aber  nicht 
über  das  Zählen  und  das  elementarste  Rechnen  hinausging.  Von  der 
Art,  wie  das  letztere  geübt  wurde,  ist  nicht  der  geringste  Bericht 
vorhanden.     Beim   Zählen    scheixxen   Gruppen   von  je   10^  Einheiten 

Cavtor,  Gesohlchte  der  Mathematik  ^  3.  a    ^  ^ 


690  31.  Kapitel. 

eine  wesentliche  Rolle  gespielt  zu  haben.  Wir  erkennen  darin  die 
griechischen  Myriaden  wieder,  natürlich  ohne  ans  dieser  Ähnlichkeit 
eine  Beeinflussung  Japans  von  Griechenland  oder  gar  Griechenlands 
von  Japan  folgern  zu  wollen.  Sprachliche  Gründe  —  wir  meinen 
das  Vorhandensein  eines  einÜEichen  Wortes  für  den  Begriff  zehn- 
tausend —  können  an  mehreren  Orten  zugleich  und  unabhängig  von- 
einander solche  Gruppierungen  zur  Folge  gehabt  haben.  An  diese 
älteste  Zeit  schloß  sich 

2.  die  Zeit  von  554 — 1591,  während  welcher  chinesische  Mathe- 
matik, zuerst  auf  dem  Umwege  über  Korea,  dann  bei  sich  steigern- 
dem Verkehre  unmittelbar,  in  Japan  eindrang.  So  kam  das  Kieou 
tschang^  die  neun  Abschnitte  (S.  670),  nach  Japan,  ohne  jedoch  dort 
weiter  ausgebildet  zu  werden.  Im  Gegenteil  geriet  das  anfänglich 
freudig  aufgenommene  fremde  Wissen  allmählich  in  Mißachtung  und 
Vergessenheit. 

Erst  in  dem  als  weitere  Periode  unterschiedenen  Zeiträume  von 
1592  an  scheint  sich,  zum  Teil  unter  hoUändischem  Einflüsse,  eine 
japanische  Mathematik  gebildet  zu  haben,  welche  wirklich  er- 
zählenswert ist,  und  von  ihr  soll  im  III.  Bande  dieses  Werkes  im 
110.  Kapitel  die  Rede  sein,  wo  die  Ähnlichkeiten  und  Unähnlich- 
keiten,  welche  zwischen  europäischer  und  japanischer  Mathematik  her- 
vorzuheben sind,  deutlicher  betont  werden  können. 

Hier  kam  es  uns  ja  nur  darauf  an,  den  nach  unserer  Meinung 
geringen  Wert  altchinesischen  mathematischen  Wissens  durch  dessen 
geringe  Einwirkung  auf  ein  Volk  zu  belegen,  dessen  Begabung  in 
späterer  Zeit  einen  Zweifel  nicht  aufkommen  läßt. 


VII.  Araber. 


44« 


32.  Kapitel. 
Einleitendes.     Arabiselie  Übersetzer. 

Wenn  in  den  beiden  vorigen  Abschnitten  der  Ursprung  der 
Kenntnisse,  welche  bei  den  Indem  und  Chinesen  nachweislich  waren, 
nnsere  Kritik  herausforderte  und  uns  die  Hofihung  kaum  gestattet 
ist,  daß  bei  den  einander  schnurstracks  entgegenstehenden  Schul- 
meinungen in  dieser  Beziehung  unsere  Auffassung  von  allen  Lesern 
geteilt  des  Charakters  einer  wenn  auch  durch  Gründe  gestützten  doch 
wesentlich  persönlichen  Meinung  entkleidet  werde,  so  verhält  es  sich 
ganz  anders  mit  der  arabischen  Mathematik^). 

Daß  ein  Volk  Jahrhunderte  lang  jedem  Kultureinflusse  von 
Seiten  seiner  Nachbarvölker  unzugänglich  war,  daß  es  selbst  in  jener 
ganzen  Zeit  keinen  Einfluß  üben  konnte,  daß  es  dann  plötzlich  seinen 
Glauben,  seine  Gesetze  und  mit  diesen  seine  Sprache  weiten  Ländern 
aufzwang,  welche  an  Ausdehnung  kaum  von  dem  Machtbereiche 
anderer  Eroberer  erreicht  worden  sind,  ist  für  sich  eine  so  regel- 
widrige Erscheinung,  daß  es  wohl  der  Mühe  lohnt,  ihren  Ursachen 
nachzuforschen,  daß  aber  zugleich  mit  ihr  die  Gewißheit  gegeben  ist, 
die  plötzlich  auftretende  anderen  Entwicklungen  ebenbürtige  Geistes- 
reife könne  aus  sich  selbst  unmöglich  zustande  gekommen  sein. 

')  Wir  folgen  in  diesem  Abachnitte  in  der  Anordnung  des  Stoffes  wesent- 
lich Hankela  arabischen  Kapiteln  S.  223—293.  Von  Büchern  allgemeinen  In- 
haltes, deren  wir  nns  außer  den  auch  von  Hankel  benutzten  bedient  haben, 
seien  besonders  erwähnt:  G.  Weil,  Geschichte  der  islamitischen  Völker  von 
Mohammed  bis  zur  Zeit  des  Sultan  Selim  übersichtlich  dargestellt.  Stattgart 
1866,  und  Alfr.  v.  Krem  er,  Kulturgeschichte  des  Oriente  unter  den  Chalifen. 
Wien  1877.  Suter,  Das  Mathematikerverzeichnis  im  Fihrist  des  Ibn  Abt 
Ja*küb  an-Nad!m.  Übersetzung  mit  Anmerkungen  in  Abhandlungen  zur  Ge- 
schichte der  Mathematik  VI,  1—87,  1892.  Suter,  Die  Mathematiker  und  Astro- 
nomen der  Araber  und  ihre  Werke  in  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathe- 
matik X,  1 — 278,  1900  nebst  Nachtr&gen  in  Abhandlungen  zur  Geschichte  der 
Mathematik  XIY,  166  —  186,  1902.  Wir  zitieren  diese  Werke  als  Kremer, 
Weil,  Fihrist,  Suter,  die  Nachtrage  an  den  wenigen  Stellen,  wo  wir  uns 
ihrer  bedienen,  in  ausführlicher  Bezeichnung.  Bei  der  ersten  Auflage  hat  uns 
auch  ein  inzwischen  allzufrühe  aus  dem  Leben  geschiedener  Orientalist,  Hein- 
rich Thorbecke,  in  ausgiebigster  \VeiBe  unterstützt. 


694  82.  Kapitel. 

Mnhammed  floh  im  September  622  aus  Mekka.  £r  starb  im 
Juni  632.  Zehn  Jahre  hatten  ausgereicht^  ihn  auf  der  Flucht  aus 
seiner  Vaterstadt,  ihn  kämpfend  mit  wechselndem  Erfolge,  ihn  endlich 
auf  dem  Gipfel  seiner  Macht  zu  sehen,  und,  was  nur  wenigen  gleich 
ihm  beschieden  war,  er  starb  auf  einem  Höhepunkt  angelangt.  Seine 
Nachfolger  —  Chalifen  —  setzten  das  von  ihm  begonnene  Werk  fort, 
die  Glaubenssätze,  welche  Muhammed  als  ihm  offenbart  verkündigt 
hatte,  mit  dem  Schwerte  in  der  Hand  zu  verbreiten.  Nicht  eigent- 
liche Eroberung  war  der  nächste  Zweck  der  Kriege.  Die  Annahme 
der  neuen  Religion  durch  die  Bekriegten  genügte  den  Siegern  in 
erster  Linie,  und  auch  wo  der  Glaubensfeldzug  mit  Ländererwerb 
endigte,  blieb  der  erste  Beweggrund  an  manchen  Erscheinungen 
sichtbar.  Der  Fremde  war  nicht  länger  der  Unterworfene,  als  er 
selbst  wollte.  Mit  dem  Übertritte  zum  Islam  erlangte  er  das  Bürger- 
recht, trat  er  in  die  Rechte  der  herrschenden  Nation  ein^),  nur 
Eines  fehlte  ihm:  Stammesgemeinschaft,  da  der  Muselmann  auf  die 
alte  Nationalität  verzichten  mußte,  der  neuen  nicht  von  selbst  an- 
gehörte. Aber  auch  diesem  Mangel  konnte  er  abhelfen.  Er  trat 
meistens  zu  dem  herrschenden  Stamme,  zu  dessen  Anführer  oder  zur 
regierenden  Dynastie  in  das  Elientelverhältnis.  In  der  nächsten 
Generation  waren  seine  Nachkommen  schon  vollständig  den  neu  ge- 
wonnenen Freunden  gleichartig  und  galten  bald  als  echte  Araber, 
denen  sie  in  Sprache  und  Sitte  so  schnell  als  möglich  sich  anzu- 
schließen bedacht  waren.  Diesen  durch  den  Übertritt  zu  erwerbenden 
Vorteilen  vereinigt  mit  der  geschichtlichen  Tatsache,  daß  in  vielen 
Ländern,  gegen  welche  die  ersten  Züge  der  Mohammedaner  sich 
wandten,  religiöse  Gleichgültigkeit,  in  anderen  Verkommenheit  und 
Widerstandslosigkeit  ihnen  gegenübertrat,  vereinigt  mit  der  weiteren 
Tatsache,  daß  nationalarabische  Volksteile  an  den  verschiedensten 
Orten  des  Ostens  längst  vor  dem  Auftreten  des  Propheten  verbreitet 
waren,  welche  auch  den  Stammesgegensatz  zwischen  Siegern  und  Be- 
siegten zu  lindem  sich  eigneten,  mag  eine  wesentliche  Rolle  bei  der 
raschen  Ausbreitung  des  Islam  zugefallen  sein.  Eben  diese  Art  der 
Ausbreitung  erklärt  es  aber,  daß  die  arabische  Sprache  in  fast  un- 
glaublich kurzer  Zeit  als  herrschende  Sprache  sich  aufdrängen,  daß 
z.  B.  noch  nicht  volle  200  Jahre  nach  Muhammed  unter  dem  Cha- 
lifen Almamün,  welcher  uns  noch  ofk  beschäftigen  wird,  ein  Statt- 
halter in  Persien  seinen  Wohnsitz  haben  konnte,  der  nicht  ein  Wort 
persisch  verstand*). 

Den  geistig  kräftigeren  Elementen,  welche  an  der  Religion  ihrer 


')  Krem  er  ü,  147.      *)  Ebenda  160,  Anmerkung  1. 


Einleitondea.     Arabische  Übersetzer.  695 

Väter  hingen  und  nicht  zum  Übertritte  zu  bewegen  waren,  sondern 
das  blieben  als  was  sie  erzogen  worden  waren,  meistens  nestorianische 
Christen  und  Juden,  wurde  freilich  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  nach 
mit  Bedrückung  mannigfacher  Art  gedroht.  Schon  Ghalife  Omar 
634 — 644,  derselbe,  welcher  das  Jahr  622  der  Flucht  Muhammeds 
als  Hidschra  zum  Anfang  einer  neuen  Zeitrechnung  schuf,  erließ 
das  Verbot,  daß  kein  Jude  oder  Christ  in  Staatskanzleien  angestellt 
werde  ^).  Härün  Arraschid  786 — 809  befahl,  alle  Kirchen  in  dem 
Grenzgebiete  niederzureißen  und  verordnete,  daß  die  Nicht -Musel- 
männer sich  einer  besonderen  Kleidung  zu  bedienen  hätten').  Aber 
viele  dieser  Gesetze  standen  nur  auf  dem  Papiere  und  wurden  massen- 
haft umgangen.  Wenn  wir  hören,  daß  Härün  Arraschid  selbst  einen 
nestorianischen  Christen  Dschibril  ihn  Bachtischtf  zum  Leibarzt 
hatte,  der  sich  bei  ihm  jährlich  auf  280000  Dirham  (das  sind  über 
M.  200000)  stand»),  wenn  Chalife  Almuktadir  869—870  da4i  Verbot 
Andersgläubige  anzustellen  mit  der  Klausel  versah:  es  sei  denn  als 
Arzte  oder  Geldwechsler,  so  wird  uns  der  Grund  nicht  lange  ver- 
borgen bleiben,  warum  mau  so  schonend  in  mancher  Beziehung 
verfuhr. 

unter  den  echten  Arabern  war  die  Schreibkunst  noch  wenig 
verbreite!  Es  ist  zweifelhaft,  ob  Muhammed  selbst  in  späteren 
Jahren  sie  sich  aneignete^).  Gewandtheit  mit  dem  Schreibrohre  um- 
zugehen besaßen  noch  lange  Zeit  nur  Christen  und  Juden,  und  so 
mußte  man  wohl  oder  übel  sich  ihrer  bedienen.  Namentlich  die 
nestorianischen  Christen  waren  es,  die  das  staatliche  Rechnungswesen 
fast  allein  besorgten  und  ebenso  als  Ärzte  unentbehrlich  waren. 
Auch  Juden,  Perser,  Inder  betrieben  die  praktische  Medizin,  aber 
das  christliche  Element  war  entschieden  vorherrschend.  Erst  der 
große  Räzi,  dessen  Todesjahr  auf  932  fällt,  eröfiEnet  den  Reigen  der 
mohammedanischen  Ärzte **).  Dagegen  war  schon  unter  den  persi- 
schen Sassanidenkönigen  im  V.  S.  ungefähr  in  der  Stadt  Dschundai- 
säbür  in  der  Provinz  Chuzistan  eine  von  Nestorianem  geleitete  und 
besuchte  medizinische  Schule  gegründet  worden.  Diese  Schule  wurde 
durch  die  Eroberung  in  ihrer  Blüte  keineswegs  gehemmt,  aus  ihr 
gingen  die  besten  und  berühmtesten  Ärzte  ihrer  Zeit  hervor,  aus 
ihr  insbesondere  die  Leibärzte  der  Chalifen,  und  wir  haben  an  einem 
Beispiele  gesehen,  wie  dieselben  bezahlt  wurden.  Die  ungeheuren 
Geldsummen,  welche  rasch  ihren  Besitzer  zu  wechseln  pflegten,  bilden 
überhaupt  ein  kennzeichnendes  Merkmal  der  damaligen  Verhältnisse, 


»)  Weil  S.  20.        *)  Kremer  II,  167.        ^  Ebenda  179.        *)  Weil  S.  3. 
*)  Kremer  II,  183. 


696  32.  Kapitel 

and  man  hat  gewiß  mit  Recht  auf  diesen  Umstand  hingewiesen^), 
am  die  Baschheit  der  Entwicklang,  die  eben  so  große  Jähe  des 
Verfalls  der  orientalisch -arabischen  Bildang  za  erklaren.  Wo  nicht 
bloß  der  Beherrscher  der  Gläubigen  über  angezahlte  Schätze  yer- 
fOgte,  wo  nnr  als  ein  Beispiel  anter  vielen  von  einem  Kanfmanne  in 
Al-Basra  anter  AI-Mahd!  775 — 785  uns  berichteii  wird,  der  ein  täg- 
liches Einkommen  von  100000  Dirham  (beinahe  30  Millionen  Mark 
jährlich!)  besaß ,  so  begreifen  wir,  welche  Treibhaustemperatar  durch 
solche  Mittel  den  Fleiß  anzufeuern  geschaffen  wurde. 

Eine  ungemein  fruchtbare  übersetzende  Tätigkeit  begann, 
sobald  das  Arabische  die  allgemeine  Literatursprache  geworden  war'). 
Aus  dem  Syrischen,  aus  dem  Persischen,  aus  dem  Griechischen,  aus 
dem  Indischen  wurden  durch  eingeborene  Andersgläubige  wertrolle 
Werke  in  das  Arabische  übertragen.  Die  Regierungen  der  Chalifen 
Almansür  754—775,  Härün  Arraschid  786  —  809,  Almamün 
813 — 833  sind  für  solche  Tätigkeit  ganz  besonders  günstig  gewesen, 
und  hier  beginnt  auch  die  Geschichte  der  Mathematik  bei  den  Arabern. 

Vielleicht  sollte  man  zugunsten  einer  Persönlichkeit  noch  um 
einige  Ghalifate  weiter  hinaufgreifen  bis  zu  dem  Omaijaden  ^Abd 
Almelik  684 — 705,  während  die  drei  obengenannten  dem  Geschlechte 
der  Abbasiden  angehörten.  Unter  *Abd  Almelik,  welcher  gleich  den 
anderen  Omaijaden  in  Damaskus  residierte,  war  ein  Christ  von  echt- 
griechischer Herkunft,  Sergius,  Schatzmeister,  und  dessen  Sohn  Jo- 
hannes von  Damaskus  folgte  in  noch  jugendlichem  Alter  wahr- 
scheinlich dem  Vater  bei  dessen  Tode  in  dieser  Stellung  nach.  Bald 
aber  zog  er  sich  nach  dem  Kloster  Saba  zurück,  wo  er  nach  den 
einen  760,  nach  den  andern  gar  erst  780  starb').  Wir  haben 
früher  (S.  464)  gesehen,  daß  ihm,  dessen  schriftstellerische  Tätig- 
keit allerdings  auf  theologischem  Gebiete  liegt,  nachgerühmt  wird, 
er  sei  in  der  Geometrie  so  bewandert  gewesen  wie  Euklid,  in  der 
Arithmetik  wie  Pythagoras  und  Diophantus,  aber  das  ist  auch  alles, 
was  wir  von  ihm  als  Mathematiker  wissen. 

Die  Abbasiden  folgten  im  Chalifate  auf  die  Omaijaden  im 
Jahre  750  in  der  Person  des  grausamen,  undankbaren,  rachsüchtigen 
und  meineidigen  Abül  ^Abbäs,  dessen  blutgetränkte  Regierung  nur 
yier  Jahre  dauerte^).  Wir  erwähnen  aus  dieser  Zeit  nur  eine  Neuerung. 
Die  Heiligkeit  des  Nachfolgers  des  Propheten  gestattete  nicht  mehr 
einen  unmittelbaren  Verkehr  zwischen  ihm  und  dem  Volke.  Ein  Träger 
seiner  Befehle  mußte  die  Vermittelung  hinfort  übernehmen,  und  ein 
solcher    Träger,    arabisch   Wezir,    wurde    demgemäß    ernannt.     Wir 


»)  Kremer  TI,  190.       «)  Ebenda  169.      »)  Ebenda  402.      *)  Weil  S.  181. 


Einleitendea.    Arabische  Übersetzer.  697 

stehen  jetzt  wieder  an  dem  Regierungsantritt  Almanfjürs,  der  nach 
den  verschiedensten  Richtungen  eine  neue  Zeit  einleitete  und  wie 
zum  äußeren  Zeichen  derselben  seinen  Wohnsitz  von  Damaskus  nach 
Bagdad  an  den  Tigris  verlegte  ^  an  die  Stelle ,  wo  im  Umkreise  nur 
weniger  Meilen  einst  Babylon  und  Ktesiphon  mächtigen  Königen 
zum  Mittelpunkt  ihrer  Herrschaft  gedient  hatten.  Der  Handel  be- 
lebte sich  sichtlich.  Die  Schiffahrt  im  persischen  Meerbusen  und 
darüber  hinaus  brachte  den  Kaufleuten  namentlich  von  Al-Ba^ra  an 
der  Mündung  des  mit  dem  Euphrat  vereinigten  Tigris  jene  Reich- 
tümer^  von  denen  vorübergehend  die  Rede  war,  brachte  ihnen 
Menschenkenntnis  und  Welterfahrung  und  Wissen  der  mannig- 
fachsten Art. 

Al-Basra  wurde  jetzt  der  Ort,  von  wo  auch  geistige  Güter  der 
Reichshauptstadt  zugeführt  wurden^).  *Amr  ihn  ^übaid  lebte  in 
Al-Basra,  ein  Philosoph  von  sittlicher  Reinheit  und  geistiger  Ghröße, 
der  sich  tief  erbittert  über  die  schmachvolle  Regierungsweise  der 
letzten  Omaijaden  lebhaft  mit  politischen  Umtrieben  beschäftigte  und 
für  Reinen  Teil  an  dem  Sturze  wenigstens  eines  Tyrannen  aus  jenem 
Oepchlechte  emsig  mitwirkte.  Als  die  Dynastie  vollends  beseitigt 
war^  trat  er  zu  dem  Abbasiden  Almansür  in  nahe  Beziehungen,  und 
dieser  verehrte  ihn  wie  einen  väterlichen  Freund.  Wahrscheinlicher- 
weise waren  es  die  Lehren  des  *Amr  ihn  *Ubaid,  welche  die  kultur- 
freundlichen Anwandlungen  Almansürs  in  Taten  überführten.  Auf 
Almansürs  Befehl  entstanden  Übersetzungen,  von  denen  wir  an- 
deutungsweise gesprochen  haben.  Aus  dem  Griechischen,  vielleicht 
freilich  erst  mittelbar  aus  syrischen  Bearbeitungen,  übertrug  man 
medizinische  Schriften');  aus  dem  Pehlewl  die  ursprünglich  indischen 
Tierfabeln  des  Bidpai,  welche  in  der  zweiten  Hälfte  des  VI.  S.  der 
Leibarzt  des  persischen  Königs  Chosrau  Anoscharwän,  desselben,  der 
den  flüchtigen  Lehrern  der  Athener  Hochschule  eine  Heimat  geboten 
hatte  (S.  503),  in  jene  Sprache  übersetzt  hatte  ^);  aus  dem  Sanskrit 
lernte  man  den  Sindhind  kennen,  welchen  Al-Fazäri  arabisch 
herausgab^),  und  sobald  einmal,  sagt  der  arabische  Geschichtsschreiber, 
der  uns  dieses  erzählt,  diese  Werke  in  die  Öffentlichkeit  gedrungen 
waren,  las  man  sie  und  studierte  mit  Eifer  die  darin  behandelten 
Gegenstände. 


*)  Kremer  II,  410—412.  *)  Wen  rieh,  De  auetorum  Graecorum  ver- 
sionibiis  et  commentariis  Syriacis,  Ärabicia,  Armeniacia  Persicisque.  Leipzig  1842, 
pag.  13 — 14.  ^  WüBtenfeld,  Geschichte  der  arabischen  Aerzte  und  Natur- 
forscher. Göttingen  1840,  S.  6,  Nr.  7  uud  S.  11,  Nr.  21.  *)  Kiemer  11,  442. 
Suter  4—6,  Nr.  6. 


32.  Kapitel. 

Wir  sind  namentlich  über  das,  was  den  Sindhind  betrifft  ^)y  aufs 
beste  unterrichtet  durch  eine  in  der  Einleitung  zu  einem  astrono- 
mischen Werke  enthaltene  Erzählung.  Aus  dieser  berichtet  nämlicli 
ein  anderer  Araber  wie  folgt:  ^^Alhusain  ihn  Muhammed  ihn  Hamid, 
bekannt  unter  dem  Namen  Ibn  Aladami,  erzählt  in  seinem  Tafel- 
werke;  bekannt  unter  dem  Namen  der  Perlenschnur'),  daß  im 
156.  Jahre  der  Hidschra  vor  dem  Chalifen  Almansür  ein  Mann  aus 
Indien  erschien,  welcher  in  der  unter  dem  Namen  Sindhind  bekannten 
Rechnungs weise,  die  sich  auf  die  Bewegungen  der  Sterne  bezieht, 
sehr  geübt  war,  und  zur  Auflösung  der  Gleichungen  Methoden,  die 
sich  auf  die  ron  einem  halben  Grade  zu  einem  halben  Grade  be- 
rechneten Kardagas  stützten,  und  außerdem  mannigfache  astronomische 
Verfahren  zur  Bestimmung  der  Sonnen-  und  Mondfinstemisse,  der 
Eoaszendenten  der  Zeichen  der  Ekliptik  und  anderer  ähnlicher  Dinge, 
insgesamt  in  einem  aus  einer  gewissen  Zahl  von  Kapiteln  bestehen- 
den Buche  besaß.  Das  Buch  wollte  er  ausgezogen  haben  aus  den 
Kardagas,  welche  den  Namen  eines  indischen  Königs  Figar  tragen, 
und  welche  auf  eine  Minute  genau  berechnet  waren.  Almansür 
ordnete  an,  daß  man  dieses  Buch  ins  Arabische  übersetze  und  da- 
nach ein  Werk  verfasse,  welches  die  Araber  den  Planetenbewegungen 
zugrunde  legen  könnten.  Diese  Arbeit  wurde  dem  Muhammed  ibn 
Ibrahim  Alfazäri  anvertraut,  welcher  danach  ein  Werk  verfaßte, 
das  bei  den  Astronomen  der  große  Sindhind  heißt.  Das  Wort 
Sindhind  bedeutet  nämlich  in  der  Sprache  der  Inder  ewige  Dauer. 
Insbesondere  die  Gelehrten  jener  Zeit  bis  zur  Regierung  des  Chalifen 
Almamün  richteten  sich  danach.  Für  diese  wurde  ein  Auszug  davon 
durch  Abu  Dscha'far  Muhammed  ibn  Müsä  Alchwarizmi  angefertigt, 
welcher  sich  dessen  auch  zur  Herstellung  seiner  in  den  Ländern  des 
Islam  berühmten  Tabellen  bediente.  In  diesen  Tafeln  stützte  er  sich 
für  die  mittleren  Bewegungen  auf  den  Sindhind  und  wich  für  die 
Gleichungen  und  Deklinationen  davon  ab.  Er  stellte  seine  Gleichungen 
nach  der  Methode  der  Perser  und  die  Deklinationen  der  Sonne  nach 
der  Weise  des  Ptolemäus  auf.  Er  schlug  auch  in  diesem  Werke 
schöne  von  ihm  erfundene  Näherungsmethoden  vor,  welche  aber 
wegen  gewisser  augenscheinlicher  Irrtümer,  die  das  Werk  enthält, 
und  die  des  Verfassers  Schwäche  in  der  Geometrie  zeigen,  unzuläng- 


')  Vgl.  Woepcke  im  Journal  Äsiatique  vom  1.  Halbjahr  1868,  pag. 474 flgg. 
Auch  die  von  une  nachher  zu  gebenden  Erläuterungen  finden  sich  bei  Woepcke, 
welcher  sich  hier  zum  Teil  auf  Colebrooke  stützt.  *)  Ibn  Aladam!  lebte 
um  900.  Sein  Tafelwerk  wurde  920  nach  seinem  Tode  von  einem  Schüler 
herausgegeben.  Notices  et  extraits  de  manitscrits  de  la  bibUoth,  YII,  126,  An- 
merkung 3.     Suter  44,  Nr.  82. 


Einleitendes.    Arabische  Übersetzer.  699 

lieh  sind.  Diejenigen  Astronomen  der  genannten  Zeit,  welche  der 
Methoden  des  Sindhind  sich  bedienten,  schätzten  das  Werk  sehr  and 
verbreiteten  es  rasch  weiter.  Noch  heute  ist  es  sehr  gesucht  von 
denjenigen,  welche  sich  mit  der  Berechnung  der  Grleichnngen  der 
Planeten  beschäftigen.^ 

Wir  müssen  diesem  Berichte  mannigfache  ErUluterungen  bei- 
fügen. Der  Name  Sindhind  ist  nichts  anderes  als  eine  offenkundige 
Verketzerung  von  Siddhänta,  und  es  ist  also  nur  die  Frage,  welches 
von  den  diesen  Namen  führenden  astronomischen  Werken  der  Inder 
gemeint  sei.  Da  es  im  Jahre  156  der  Hidschra,  welches  mit  dem 
Jahre  773  n.  Chr.  übereinstimmt,  nach  Bagdad  gekommen  ist,  so 
stehen  später  verfaßte  Siddhäntas  natürlich  außer  Frage.  Genauere 
Antwort  gestattet  sodann  die  Nennung  des  Königs  Figar.  Es  ist 
sehr  wahrscheinlich,  daß  Figar  aus  Yyäghra  entstand,  daß  aber 
Vyäghra  selbst  eine  Abkürzung  aus  Vyäghramuka  ist,,  dem  Namen 
des  Königs,  während  dessen  Regierungszeit  Brahmagupta  628  seinen 
Brahma -sphuta-siddhänta  (S.  598)  verfaßte.  Berücksichtigt  man  end- 
lich die  gleichfalls  allgemein  zugestandene  Verketzerung  Kardaga 
aus  kramajyä,  so  dürfte  folgende  Vermutung  zur  fest  sicheren 
Tatsache  sich  gestalten:  Im  Jahre  773  kam  durch  einen  Inder  ein 
Auszug  aus  dem  astronomischen  Lehrgebäude  des  Brahmagupta  nach 
Bagdad,  und  dieser  Inder  nannte  seine  Quelle  nicht  mit  dem  wahren 
Named  des  Verfassers,  sondern  nach  dem  Könige,  unter  welchem  das 
Werk  verfaßt  war,  darin  vielleicht  nur  die  Fragen  des  Chalifen  be- 
antwortend, welcher  die  fürstliche  Macht  so  verstand,  daß  alles  nach 
dem  benannt  werden  müsse,  unter  dem  es  geleistet  wurde. 

Die  arabischen  Personennamen,  welche  in  dem  Berichte 
und  auch  sonst  uns  bereits  vorgekommen  sind,  erheischen  gleichfalls 
eine  erläuternde  Bemerkung*).  Die  Araber  bedienten  sich  verhältnis- 
mäßig sehr  wenig  zahlreicher  Namen.  Um  so  sicherer  trat  es  ein, 
daß  viele  gleichnamig  waren,  und  zur  Unterscheidung  wurde  alsdann, 
verbunden  durch  das  Wort  ihn  «  Sohn,  auch  der  Vatersname  genannt, 
Muhammed  ihn  ^Abdallah  (der  Sohn  des  'Abdallah)  war  ein  anderer 
als  Muhammed  ihn  *Omar  (der  Sohn  des  'Omar).  Waren  auch  die 
Väter  gleichnamig,  so  konnte  wiederholt  durch  ihn  eingeführt  auf 
den  Vater  des  Vaters  zurückgegangen  werden  usw.  War  eine  Ver- 
wechslung nicht  möglich,  so  ließ  man  nicht  selten  dem  Namen  des 
Vaters  gegenüber  den  des  Sohnes  weg  und  sprach  nur  von  dem 
Sohne  'OmiEirs   oder   von   dem   Sohne  'Abdallahs.     Auch   umgekehrt 


*)  Wüstenfeld,    Geschichte    der   arabiBchen   Aerzte   und   Naturforscher, 

s.  X— xni. 


700  32.  Kapitel. 

hat  man  durch  den  Sohn  auch  wohl  den  Vater  näher  bezeichnet,  der 
nun  abü  =»  Vater  des  nachfolgend  Genannten  hieB.  Ein  Muhammed 
also,  der  einen  'Omar  zum  Vater^  einen  'Abdallah  zum  Sohne  hatte, 
vereinigte  die  Namen  beider  Blutsverwandten  mit  dem  eignen  und 
hieß  dementsprechend  Abü  'Abdallah  Muhammed  ihn  'Omar.  Man 
findet  dabei  die  eigentümlichsten  Verbindungen  und  Weglassungen. 
So  konnte  von  dem  Vater  eines  bekannten  Mannes,  von  dem  Sohne 
des  Vatera  eines  Dritten  die  Bede  sein,  ohne  daß  der  Name  des 
eigentlich  Gemeinten  überhaupt  ausgesprochen  wurde.  Abü  Marwan 
war  Marwäns  Vater,  gleichgültig  wie  er  hieß;  Ihn  Abü  Marwan  war 
der  Sohn  von  Marwans  Vater,  d.  h.  Marwäns  Bruder.  Der  Araber 
hat  nun  femer  die  Gewohnheit  auch  Eigennamen  den  Artikel  al  vor- 
zusetzen, welcher  mit  Abü  sich  zu  Abü'l  vereinigt  und  auch  andere 
Veränderungen  erleidet,  z.  B.  vor  einem  anfangenden  R  sich  in  ar 
verwandelt.  .  Daß  dieser  Artikel  um  so  weniger  bei  Beinamen  fehlen 
durfte  ist  einleuchtend.  Wir  erinnern  als  Beispiele  an  die  Chalifen- 
namen  al  Mansür  =  der  Siegreiche,  ar  Raschid  »  der  auf  richtigen 
Weg  Geleitete,  al  Mamün  «  der  durch  Vertrauen  Beglückte.  Die 
Beinamen,  vielfach  zur  genaueren  Bestimmung  der  gemeinten  Persön- 
lichkeit beitragend,  sind  verschiedener  Gattung.  Sie  können  sich  auf 
geistige  oder  körperliche  Vorzüge  oder  Mängel  dessen  beziehen,  dem 
sie  beigelegt  wurden;  sie  können  von  dem  Geburtsorte  oder  Wohn- 
orte des  Betreffenden  herrühren;  sie  können  eine  religiöse  Sekte  be- 
zeichnen, welcher  er  angehörte;  sie  können  den  Stand  oder  die  Be- 
schäftigungsweise der  Persönlichkeit  selbst  oder  des  Vaters  angeben. 
Wir  werden  durch  diese  Erläuterung  darauf  vorbereitet,  arabische 
Schriftsteller  mit  einem  für  unsere  Gewohnheiten  übermäßig  langen 
Namen  auftreten  zu  sehen,  aber  auch  darauf,  daß  man,  um  die 
Länge  zu  vermeiden,  sich  gern  nur  der  Beinamen  bediente.  So  ist 
in  obigem  Bruchstücke  schon  von  Alhusain  ihn  Muhammed  ihn  Ha- 
mid die  Rede  und  dabei  erwähnt,  man  nenne  ihn  gemeiniglich  Ibn 
Aladami.  So  kommt  ebendort  Abü  Dscha'far  Muhammed  ibn  Müsa 
Alchwarizmi  vor,  d.  h.  Muhammed,  der  Vater  des  Dscha'far,  der  Sohn 
des  Müsä  aus  der  Provinz  Chwarizm,  und  wir  werden  sehen,  daß 
Alchwarizmi  der  Name  blieb,  imter  welchem  dieser  Schriftsteller  in 
weiteren  Kreisen  bekannt  wurde. 

Wir  kehren  nach  dieser  Abschweifung  zu  der  unmittelbar  vor- 
her ausgesprochenen  Behauptung  zurück,  daß  773  ein  Auszug  aus 
dem  uns  bekannten  Werke  des  Brahmagupta  nach  Bagdad  kam.  Die 
arabische  Überarbeitung  durch  Alchwarizmi  muß  um  820  etwa 
stattgefunden  haben.  Aber  schon  vorher  wurde  jener  Auszug  von 
Arabern  benutzt.     Ja'küb  ibn  Tärik  schrieb  schon  777  Tafeln  ge- 


Einleitendes.    Arabische  Übersetzer.  701 

zogen  ans  dem  Sindhind^).  Ähnliche  Tafeln  fertigte  Hafs  ihn 
'Abdallah  aus  Bagdad,  und  Ahmed  ihn  ^Abdallah  Habasch 
genannt  al  Häsib  =»  der  Rechner  ans  Merw  stellte  nm  830  drei  ver- 
schiedene astronomische  Tafeln  her,  eine  nach  arabischen  Beobachtungen, 
eine  nach  den  Lehren  der  Perser,  eine  nach  den  Methoden  der  Inder*). 
Auf  ein  noch  späteres  Datum  weisen  nach  indischer  Methode  berechnete 
Tafeln  des  Abü'l  'Abbäs  Fadl  ihn  Hätim  aus  Nairiz  in  Persien') 
um  900  und  die  Perlenschnur  des  Ihn  Aladami  aus  der  gleichen 
Zeit.  Ob  jedoch  alle  diese  Anwendungen  indischer  Methoden  auf 
der  einmaligen  Einführung  im  Jahre  773  beruhten,  ob  spätere  Ver- 
bindungen zwischen  arabischen  und  indischen  Gelehrten  vorhanden 
waren,  wenn  wir  von  den  Reisen  absehen,  welche  Massud!  (f  966) 
und  Albirüni  (f  1038)  in  Indien  machten  und  ausführlich  beschrieben 
haben,  ob  schon  vor  773,  damals  als  Muhammed  ihn  Easim  unter 
dem  Omaijaden  Welid  L,  705  bis  715,  bis  an  den  Indus  vordrang*), 
indische  Wissenschaft  in  mündlicher  Übertragung  zu  den  Arabern 
gelangt  war,  das  sind  Fragen,  zu  deren  Bejahung  wir  freilich  keinen 
überlieferten  Anhaltspunkt  haben,  deren  vollständige  Verneinung  aber 
uns  fast  noch  kühner  erscheinen  möchte. 

Ungleich  gesicherter  ist  jedenfalls  die  Art  und  Weise,  in  welcher 
griechische  Wissenschaft  in  sich  wiederholenden  Wellen  den  arabischen 
Boden  durchtränkte.  Ganz  Syrien  in  den  gebildeten  vorzugsweise 
christlichen  Kreisen  ist  fast  als  griechische  Kolonie  zu  denken.  Aus 
der  Schule  von  Antiochia  ging  jener  Nestorius  hervor,  welcher  428 
bis  431  Patriarch  von  Konstantinopel  war,  und  dessen  Anhänger  seine 
Heimatsgenossen  waren  und  bis  auf  den  heutigen  Tag  geblieben 
sind.  In  Emesa  und  Edessa  waren  nestorianische  Schulen,  in  welchen 
man  nicht  aufgehört  hatte,  Hippokrates  und  Aristoteles  zu  studieren. 
Als  dann  bei  der  Amtsentsetzung  des  Nestorius  wegen  seiner  als 
ketzerisch  verurteilten  Ansichten  diese  Anstalten  in  eine  Art  von 
Verruf  kamen  und  die  zu  Edessa  489  ganz  aufhörte,  da  verschwand 
das  Studium  griechischer  Medizin  nicht  etwa  ganz,  es  zog  sich  nur 
weiter  zurück  nach  Dschundaisäbür  in  der  Provinz  Ghuzistan,  wie 
wir  (S.  695)  gelegentlich  gesagt  haben.  Die  spätere  Omaijadenresidenz 
selbst,  Damaskus,  besaß  unter  ihren  Einwohnern  Männer  von  grie- 


»)  Hankel  S.  280—281.  Fihrist  38.  Suter  4,  Nr.  4.  •)  Abulpha- 
ragiuB,  Historia  dynast.  ed.  Pococke.  Oxford  1663,  pag.  161  der  lateiniBchen 
Übersetzung.  Vgl.  auch  Gauss  in  in  den  Anmerkungen  zu  den  H&kimitiBchen 
Tafeln  des  Ihn  Junis.  Notices  et  extraits  de  manttscrits  de  la  BtbliaÜUque 
nationale  VII,  98,  Anmerkung  2.  «)  Notices  et  extraits  etc.  VII,  118,  An- 
merkung 2.  Suter  45,  Nr.  88.  *)  'Weil  S.  97.  Woepcke  im  Journal  Asia- 
tique  vom  1.  Halbjahr  1863,  pag.  472. 


702  32.  Kapitel. 

ohischer  Herkunft  und  griechischer  Bildung.  Damascius  von  Damaskus 
(S.  501)  stand  um  510  an  der  Spitze  der  athenischen  Hochschule, 
entsprechend  wie  Johannes  von  Damaskus  in  der  zweiten  Hälfte 
des  VIIL  S.  Vertreter  griechischer  Denkungsart  in  der  Heimat  war. 
Auch  in  Persien  fehlte  es  keineswegs  neben  alten  an.  neueren  Be- 
ziehungen zu  Griechenland.  Der  Hof  jenes  Sasaniden,  Ghosrau  I. 
Anöscharwän  war,  woran  wir  eben  (S.  697)  erinnert  haben,  von  531 
bis  533  etwa  die  Zufluchtsstätte  der  ans  Athen  vertriebenen  letzten 
Peripatetiker  gewesen,  und  wenn  dieselben  auch  der  Heimat  sich 
wieder  zuwandten,  sobald  der  Friedensvertrag  von  533  es  ihnen  ge- 
stattete, die  Samen,  welche  sie  einmal  ausgestreut  hatten,  gingen 
doch  nicht  alle  in  der  fremden  Erde  zugrunde.  So  war  also,  als 
djarch  Verhältnisse,  auf  die  wir  aufmerksam  gemacht  haben,  eine 
Neigung  der  Chalifen  erwachte,  Schriftsteller  anderer  Völker  in 
arabischer  Sprache  kennen  zu  lernen,  an  Männern  kein  Mangel, 
welche  Griechisches  aus  schon  vorhandenen  syrischen  und  persischen 
Übersetzungen,  aber  auch  aus  der  Ursprache  zu  übertragen  im- 
stande waren. 

Die  ersten  griechischen  Mathematiker,  welche  den  Arabern  mund- 
gerecht gemacht  wurden,  waren  Ptolemäus  und  Euklid^). 

Für  beide  werden  wir  auf  die  Regierungszeit  Arraschids  ver- 
wiesen, dessen  Wezir  Jahjä  ihn  Ghälid  der  Barmekide  die  große  Zu- 
sammenstellung übersetzen  ließ.  Der  erste  Versuch  scheint  jedoch 
nicht  von  sonderlichem  Erfolge  begleitet  gewesen  zu  sein.  Vielleicht 
entstammt  ihm  die  sprachwidrige  Verbindung  des  arabischen  Artikels 
al  mit  dem  griechischen  Superlativ  fieyiörrj,  welche  in  dem  Worte 
Al-Midschisti  (A  Image  st)  ein  höchst  ungerechtfertigtes,  aber  durch 
die  lange  Dauer  des  Besitzes  unantastbar  gewordenes  Bürgerrecht 
erlangte.  Erneuerte  Durchsicht  und  Verbesserung  dieser  Übersetzung 
erfolgte  noch  unter  desselben  Chalifen  Regierung  durch  Abu  Hasan 
und  Salmän,  dann  durch  Haddschädsch  ihn  Jüsuf  ibn  Matar, 
welcher  letztere  auch  als  erster  Übersetzer  der  euklidischen  Elemente 
genannt  wird.  Euklid  scheint  er  sogar  zweimal,  zuerst  unter  Arra- 
schid,  dann  unter  Almamün,  vorgenommen  zu  haben,  da  von  den 
beiden  Bearbeitungen  unter  dem  Namen  jener  Chalifen  die  Rede  ist 
als  von  einer  harünischen  und  einer  mamünischen'). 

Wir   stellen  uns  keineswegs  die  Aufgabe,  alle  arabischen  Über- 


^)  Gartz,  De  interpretibua  et  explanatoribus  Eftdidis  arabida.  Halle  1823, 
pag.  7,  und  Wenrich,  De  auctarum  Graecorum  versionibua  etc.  pag.  177  und  227. 
*)  Über  diese  und  andere  Euklidübersetzungen  vgl.  Klamroth,  Ueber  den  ara- 
bischen Euklid  (Zeitschr.  der  morgenländ.  GeseUschaft  XXXV,  271—326,  Leipzig 
1881).     Über  Haddsch&dsch  s.  Suter  9,  Nr.  16. 


Einleitendes.    Arabische  Übersetzer.  703 

Setzer  za  nennen^  oder  die  griechischen  Schriftsteller  über  Mathematik 
sämtlich  anzugeben ,  welche  von  jenen  übersetzt  worden  sind.  Die 
einen  wie  die  anderen  dürften  nicht  einmal  alle  bekannt  sein,  selbst 
für  solche,  welche  mit  dem  gediegensten  Einzelwissen  an  die  Unter- 
suchung dieses  Gegenstandes  herangetreten  sind.  Die  Anzahl  der 
noch  nicht  katalogisierten  oder  ungenügend  beschriebenen,  jedenfalls 
von  Mathematikern  von  Fach  noch  nicht  durchgesehenen  arabischen 
Handschriften,  welche  auf  unsere  Wissenschaft  sich  beziehen,  in 
Bibliotheken  des  Ostens  wie  des  Westens  —  wir  nennen  insbesondere 
die  reichhaltigen  spanischen  Sammlui^en  —  ist  eine  ungemein  große 
und  verbietet  dadurch  jedes  abschließende  Wort,  mag  es  um  Über- 
setzer oder  um  Originalschriffcsteller  sich  handeln.  Nur  einige  wenige 
Übersetzer  sind  unter  allen  Umständen  zu  erwähnen. 

Hunain  ihn  Ishäk  mit  dem  ausführlichen  Namen  Abu  Zaid 
Hunain  ihn  Ishäk  ihn  Sulaimän  al  'Jbädi^)  gehörte  dem  christlichen 
arabischen  Stamme  der  'Jbäd  an.  Er  kam  schon  mit  guter  Vorbildung 
nach  Bagdad,  machte  dann  Reisen  in  die  griechischen  Städte,  wo  er 
deren  Sprache  sich  aneignete  und  kehrte  über  Al-Basra,  wo  er  sich 
noch  im  Arabischen  vervollkommnete,  nach  Bagdad  zurück.  Jetzt 
begab  er  sich  an  die  Übersetzung  einer  ganzen  Reihe  griechischer 
Naturforscher  und  Philosophen,  auch  des  Ptolemäus,  dessen  Almagest 
er  bearbeitete.  Andere  Schriftsteller,  wie  die  meisten  Werke  des 
Euklid,  die  Schrift  des  Archimed  von  der  Kugel  und  dem  Zylinder, 
den  Autolykus  ließ  er  unter  seiner  Aufsicht  durch  seinen  Sohn  Abu 
Ja^küb  Ishäk  ihn  Hunain^  übersetzen.  Der  Vater  starb,  durch 
den  Bischof  Theodosius  wegen  Gotteslästerung  aus  der  Gemeinde 
ausgestoßen,  873,  der  Sohn  910  oder  911.  Beiden  fehlten  bei  aller 
philologischen  Gewandtheit,  deren  sie  sich  rühmen  durften,  die  sach- 
lichen Kenntnisse,  ohne  welche  es  nun  einmal  nicht  möglich  ist,  ein 
mathematisches  Buch  zu  übersetzen,  und  so  bedurften  ihre  Arbeiten 
gar  sehr  der  fachkundigen  Verbesserung. 

Diese  wurde  ihnen  durch  Täbit  ihn  Kurrah').  Abül  Hasan 
Täbit  ihn  KuiTah  ihn  Marwän  al  Harrani  wurde  836  zu  Harran  in 
Mesopotamien  geboren.  Er  war  zuerst  Geldwechsler,  wandte  sich 
aber  dann  der  Wissenschaft   zu   und  erwarb  sich  in  Bagdad  ausge- 


^)  Wüsten feld,  Geschichte  der  arabischen  Aeizte  und  Naturforscher  S.  26, 
Nr.  69.  Suter  21—28,  Nr.  44.  Wenrich  1.  c.  pag.  228  glaubte  fälschlich  die 
Almagestübersetzung  dem  hier  gleich  folgenden  Ishäk  ibn  Hunain  zuschreiben 
zu  müssen.  Vgl.  Steinschneider  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  X,  469,  An- 
merkung 2.  *)  Wüsten  feld,  Geschichte  der  arabischen  Aerzte  und  Natur- 
forscher S.  29,  Nr.  71.  »)  Ebenda  1.  c.  S.  84,  Nr.  81.  Fihrist  2ö— 26.  Suter 
34—38,  Nr.  66. 


704  32.  Kapitel. 

zeichnete  Kenntnisse,  sowohl  als  Mathematiker  und  Astronom,  als 
auch  in  der  griechischen  Sprache ,  welcher  er  wie  der  syrischen  und 
arabischen  mächtig  war.  Ein  erneuerter  Aufenthalt  in  seiner  Vater- 
stadt war  für  Täbit  mit  Mißhelligkeiten  verknüpft.  Er  gehörte 
nämlich  der  Sekte  der  Sabier  an,  teilte  aber  deren  Ansichten  nicht 
in  der  geforderten  Strenge  und  wurde  deshalb  ausgestoßen.  Nun 
kehrte  er  abermals  nach  Bagdad  zurück ^  welches  er  nicht  wieder 
verließ.  Dort  starb  er  901  in  höchstem  Ansehen  bei  dem  Chalifen 
AlmuHadid^),  892 — 902,  der  ihn  seines  nächsten  Umganges  würdigte. 
Wir  werden  es  im  34.  Kapitel  mit  Täbit  als  Originalschriftsteller  zu 
tun  haben.  Unter  seinen  Übersetzungen  nennen  wir  Schriften  des 
Apollonius  von  Pergä,  des  Archimed,  des  Euklid,  des  Ptolemäus,  des 
Theodosius.  Den  Übersetzungen  können  wir  auch  als  nahe  verwandten 
Inhaltes  einen  Kommentar  Täbits')  zu  dem  (S.  424)  von  uns  er- 
wähnten Buche  des  Gharistion  über  die  Wage  anschließen.  Es  ist  in 
einer  viel  verbreiteten  alten  lateinischen  Übersetzung  erhalten  und 
den  Forschem  über  die  Geschichte  der  Mechanik  als  Liber  Charastonis 
bekannt. 

Etwa  gleichzeitig  mit  Täbit  zwischen  864  und  923  ist  Kusta 
ihn  Lükä  zu  nennen'),  ein  christlicher  Philosoph  und  Arzt,  der  von 
seinen  Reisen  durch  die  griechischen  Städte  eine  Menge  Bücher  mit 
nach  Hause  brachte  ^  deren  Übersetzung  er  sich  angelegen  sein  ließ. 
In  seinen  eigenen  Schriften  soll  Reichtum  an  (redanken  neben  Kürze 
der  Ausdrucksweise  zu  bewundem  sein.  Er  übersetzte  die  Sphärik 
des  Theodosius  y  astronomisch -geometrische  Schriften  des  Aristarch 
von  Samos,  des  Autolykus,  des  Hypsikles^  den  Gewichtezieher  des 
Heron  von  Alexandria  ^  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  auch  den 
Diophant. 

Die  ganze  zweite  Hälfte  des  X.  S.  erfüllt  Abü'l  Wafä  Muhammed 
ihn  Muhammed  Al-Büzdschäni  940—998  aus  Büzdschän^),  der  als 
Übersetzer  des  Diophant  zu  nennen  ist.  Er  verließ  schon  mit 
20  Jahren  seine  Heimat^  um  nach  'Irak  überzusiedeln ,  wo  er  speku- 
lative und  praktische  Arithmetik  vermutlich  bei  zwei  Oheimen,  Geo- 
metrie bei  zwei  anderen  Lehrern  studierte.  Unter  der  spekulativen 
Arithmetik  ist  das  zu  verstehen,  was  die  Griechen  Arithmetik 
nannten,  also  Zahlentheorie  und  Algebra,  unter  der  praktischen 
Arithmetik  die  eigentliche  Rechenkunst,  die  Logistik  der  Griechen, 


')  Weil  S.  194—198.  •)  P.  Duhem,  Les  angines  de  la  statique  I,  79—98. 
•)  Wüetenfeld  1.  c.  S.  49,  Nr.  100.  Wenrich  1.  c.  S.  178.  Steinschneider 
in  der  Zeitschr.  Math.  Phya.  X,  499.  Suter  40—42,  Nr.  77.  *)  Bilhard 
Wiedemann,  Zur  Geschichte  Abal  Wefas.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  histor.- 
literar.  Abtlg.  S.  121—122  (1879).     Pihrist  39—40. 


Einleitendes.    Arabische  Übersetzer.  705 

wobei  jedoch  keineswegs  jetzt  schon  mit  Bestimmtheit  ausgesprochen 
werden  will,  daß  er  beide  nach  griechischen  Mustern  erlernt  habe. 

Die  griechischen  Schriftsteller,  deren  Werke  wir  als  von  Arabern 
übersetzt  namhaft  zu  machen  hatten,  sind  neben  den  großen  Meistern 
Euklid,  Archimed,  ApoUonius,  Heron,  Diophant  hauptsächlich  solche, 
welche  den  sogenannten  kleinen  Astronomen  (S.  447)  der  Ghiechen 
ausmachten.  Die  Araber  hatten  für  diese  Schriften,  deren  Studium 
zwischen  die  Elemente  des  Euklid  und  den  Almagest  einzuschalten 
ist,  gleichfalls  einen  besonderen  Sammelnamen,  sie  nannten  sie  die 
mittleren  Bücher*). 

Man  muß  nicht  glauben,  daß  damit  die  Reihe  griechischer 
Mathematiker,  von  denen  man  weiß,  daß  ihre  Schriften  arabische 
Übersetzer  fanden,  abgeschlossen  sei,  und  ebensowenig,  daß  es  eine 
einfache  Sache  sei,  aus  arabischen  Zitaten  klug  zu  werden.  Wenn  es 
natürlich  ist,  daß  Eigennamen,  bei  welchen  man  sich,  auch  wenn 
man  die  Sprache  des  Volkes,  dem  ihre  Träger  angehörten,  kennt,  gar 
häufig  nichts  denken  kann  oder  Falsches  sich  zu  denken  versucht  ist, 
beim  Übergang  in  fremde  Literaturen  verdorben  werden,  so  haben 
arabische  Abschreiber,  welche  sogenannte  diakritische  Punkte  bald 
wegließen,  bald  unzutreffend  hinschrieben,  ein  besonderes  Geschick  an 
den  Tag  gelegt,  Namen  unkenntlich  zu  machen.  Sind  nun  vollends 
die  arabischen  Schriften  nicht  im  Urtexte  bekannt,  sondern  selbst 
wieder  in  Gestalt  von  Übersetzungen  ins  Lateinische,  welche  seit  dem 
XU.  S.  angefertigt  wurden  imd  zum  Teil  von  Männern  angefertigt 
wurden,  denen  die  wirklichen  griechischen  Eigennamen  unbekannt 
waren,  so  ist  das  Unmögliche  an  Verketzerui^en  fast  das  Gewöhn- 
liche. Aus  Heron  ist  Iran  und  Yrinius  geworden^,  aus  Menelaus 
Milleius,  aus  Archimed  bald  Arsamites,  bald  Arsanides,  bald 
Archimenides  usw.'). 

Einen  Vorteil  bilden  diese  Umgestaltungen,  sobald  sie  einmal 
erkannt  sind;  sie  geben  die  Möglichkeit,  lateinischen  Übersetzungen 
oder  Bearbeitungen  griechischer  Schriftsteller,  welche  dieselben  ent- 
halten, auf  den  ersten  Blick  anzusehen,  daß  nicht  der  griechische 
Grundtext,  sondern  die  Zwischenbehandlung  eines  Arabers  die  Vor- 
lage des  letzten  Übersetzers  bildete,  daß  also  notwendigerweise  der 
betreffende  griechische  Schriftsteller  als  einer  von  denen  betrachtet 
werden  muß,   deren  Werke  auf  arabische  Mathematik  Einfluß   üben 


^)  Steinschneider,  Die  mittleren  Bücher  der  Araber  und  ihre  Bearbeiter. 
Zeitschr.  Math.  Phys.  X,  466—498  (1866).  *)  Zeitschr.  Math.  Phys.  X,  489,  An- 
merknng  60.  Suter  in  der  Bibliotheca  MathemaHca,  3.  Folge  II,  408—409  (1902). 
*)  Steinschneider  in  der  Hebi^ischen  Bibliographie  Juli-August  1864  (Bd.  VH, 
Nr.  40)  S.  92—93,  Anmerkung  20. 

Cahtob,  GMohlohte  der  Mathematik  I.  S.  Aafl.  46 


706  32.  Kapitel. 

konnten.  So  müssen  beispielsweise  die  Arbeiten  des  Zenodorus 
den  Arabern  bekannt  gewesen  sein,  weil  in  einer  lateinischen  Ab- 
handlung über  die  isoperimetrische  Aufgabe,  welche  handschriftlich 
in  Basel  vorhanden  ist^),  der  Name  Archimenides  vorkommt. 

Von  anderen  Schriftstellern,  welche  den  Arabern  bekannt  waren, 
nennen  wir  neben  Jamblichus  und  Porphyrius,  deren  Studium  bei 
den  Syrern  niemals  aufgehört  hat,  insbesondere  Nikomachus*),  dessen 
arabische  Quellen  selbst  gedenken.  Ebenso  dürfen  wir  eine  Bekannt- 
schaft mit  Pappus  vermuten,  da  Pappus  der  Rumäer  doch  wohl  nur 
irrtümlich  statt  der  Alexandriner  gesagt  ist. 

Die  Übersetzungstätigkeit  war  auch  von  einer  vielfach  kommen- 
tierenden begleitet,  auf  die  wir  aber,  da  sie  immerhin  einige  An- 
sprüche an  das  Selbstdenken  des  Kommentators  erhebt,  bei  den 
Originalarbeiten  zu  reden  kommen.  Wir  haben,  bevor  wir  diesen  uns 
zuwenden,  nur  eine  Bemerkung  noch  zu  machen. 

Die  Schriftsteller,  von  welchen  als  Übersetzern  seither  die  Rede 
war,  gehörten  sämtlich  dem  Morgenlande  an.  Das  Morgenland  war 
es  aber  nicht  allein,  welches  der  Islam  sich  unterwarf,  in  welchem 
arabisch  gesprochen  und  arabisch  gelehrt  wurde,  und  wenn  wir  gelten 
lassen,  was  für  die  früheren  Abschnitte  unsere  Richtschnur  bildete, 
daß  es  wesentlich  auf  die  Sprache  ankommt,  nicht  auf  das  örtliche 
Beisammen  wohnen,  um  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Kulturverbande 
zustande  zu  bringen,  so  werden  wir  neben  den  Ostarabern  auch 
Westaraber  berücksichtigen  müssen,  welcher  letztere  Name  für  die 
arabisch  redenden  Bewohner  der  afrikanischen  NordküstQ,  Spaniens 
und  Siziliens  in  Anspruch  genommen  wird. 

Längs  der  afrikanischen  Küste*)  verbreitete  sich  der  Islam  unter 
der  Regierung  Welid  I.,  705 — 717,  vornehmlich  durch  die  Tapferkeit 
zweier  Feldherren,  des  Müsä  und  des  Tärik.  Letzterer  war  es  auch, 
der  sein  Waffenglück  über  das  Mittelmeer  hinübertrug  und  im  Mai 
711  auf  spanischem  Boden  jene  steile  Höhe  besetzte,  die  nach  ihm 
Täriks  Höhe,  Dschebel  Tärik,  Gibraltar  genannt  ist.  Von  diesem 
festen  Punkte  aus  wurde  Spanien  bald  zum  größten  Teile  unter- 
worfen. Aber  die  große  Entfernung  von  der  Chalifenhauptstadt  gab 
dem  Emir,  d.  h.  dem  Befehlshaber  von  Spanien,  die  Gelegenheit  sich 
selbständiger  zu  gehaben,  als  Statthalter  der  näher  gelegenen  Pro- 
vinzen es  wagen  durften.  Nachdem  die  Abbasiden  zur  Macht  gelangt 
waren,  kam  es  zur  vollständigen   staatlichen  Trennung,  indem  Emir 


^)  In  dem  Sammelbande  F.  11,  38  der  Baslei  Stadtbibliothek.  *)  Zeitschr. 
Math.  Phys.  X,  463,  Anmerkung  24  über  Nikomacbus  und  auf  derselben  Seite 
im  Texte:  Pappufl  der  Rumäer.       »)  Weil  S.  97 flgg. 


Arabische  Zahlzeichen.    Mnhammed  ihn  Müb&  Alchwarizmi.  "707 

*Abd  Arrahmän  ein  Omaijade  747  eine  eigene  spanische  Omaijaden- 
dynastie  gründete^),  welche  Versuche  des  Chalifen  Al-Mahdi  776 — 777 
Spanien  wieder  zn  unterwerfen,  mit  Glück  zurückwies').  Auch  das 
afrikanische  Küstengebiet  trennte  sich  vom  Mutterlande.  Seit  dem 
Anfang  des  IX.  S.  entstand *)  dort  ein  Reich  mit  der  Hauptstadt  Fez, 
und  dieses  war,  kaum  gegründet,  kraftig  genug  selbst  wieder  erfolg- 
reiche Kolonisten  nach  Sizilien  auszusenden/  wo  auch  wieder  eine 
selbständige  moslimische  Dynastie  ihren  Herrschersitz  aufschlug. 
Wir  haben  zum  Glück  uns  nicht  mit  den  Kämpfen  und  Feindselig- 
keiten zu  beschäftigen,  welche  zwischen  den  einzelnen  Dynastien 
herrschten.  Gift  und  Dolch  ebenso  wie  offene  Empörungen  ließen 
bald  einzelne  Persönlichkeiten,  bald  ganze  Geschlechter  in  der  Herr- 
schaft wechseln  und  auch  den  Sitz  der  Herrschaft  mehrfach  verlegen. 
Uns  genügt  die  Tatsache  der  fast  unaufhörlichen  Kämpfe  zur 
Stütze  der  weiteren  Tatsache,  daß  auch  wissenschaftlicher  Neid 
zwischen  den  Arabern  des  Ostens  und  des  Westens  eine  Scheidewand 
errichtete,  welche  es  verhinderte,  daß  manches,  welches  den  einen 
eigentümlich  geworden  war,  iu  derselben  Form  von  den  anderen  über- 
nommen wurde,  und  was  wir  .damit  meinen,  wird  wohl  klar,  wenn 
wir  die  Jahreszahl  773,  welche  das  Auftreten  indischer  Astronomie 
in  Bagdad  bezeichnet,  mit  der  Zahl  715  der  Eroberung  des  West- 
reiches, oder  auch  nur  mit  der  747  des  Beginnes  des  spanischen 
Omaijadenreiches  vergleichen.  Wir  werden  sofort  an  diese  Datenver- 
gleichung  erinnern  müssen,  wenn  wir  nunmehr  an  die  Ausbreitung 
des  Zahlenrechnens  als  ersten  Teil  arabisch-mathematischen  Original- 
schriftsteUertums  gelangen  und  dabei  wieder  zuerst  von  den  Zahl- 
zeichen der  Araber  reden. 


33.  Kapitel. 
Arabische  Zahlzeichen.     Mnhammed  ibn  Mftsä  Alchwarizmi. 

Die  Schreibkunst  der  Araber^)  in  der  Zeit,  zu  welcher  sie  für 
die  Geschichte  der  Mathematik  unsere  Aufmerksamkeit  beanspruchen 
dürfen,  war  nicht  weit  her  (S.  695).  Von  einer  alten  Schrift  mit 
groben  starken  geradaufstehenden  Zeichen,  welche  von  späteren  ara- 


^)  Weil  S.  140flgg.  *)  Ebenda  S.  150  *)  Ebenda  S.  297—336  die  mos- 
limischen  Dynastien  in  Afrika  und  Sicilien.  *)  Vgl.  Silvestre  de  Sacy, 
Grammair e  aräbe.  Paris  1810  und  die  von  Gesenius  verfaßten  Artikel  Ara- 
bische Schrift  S.  68 — 66  und  Arabische  Literatur  S.  66—69  im  V.  Bande  von 
Ersch  und  Grubers  Enzyklopädie. 

45  • 


708  88.  Kapitel. 

bischen  Gelehrten  selbst  diesem  Aussehen  nach  den  Namen  einer  ge- 
stützten säulenartigen  Schrift  erhalten  hat^  sind  nur  geringe  Über- 
reste vorhanden.  Ob  Zahlzeichen  darunter  vorkommen^  ist  uns  nicht 
bekannt.  Eine  neue  Schrift,  welche  zunächst  dazu  angewandt  wurde, 
den  Koran  zu  schreiben ,  entwickelte  sich  um  die  Mitte  des  YIL  S. 
Die  Schreibkunst  gelangte  bei  diesem  heiligen  Zwecke  bald  zu 
höherem  Range,  geweft-bsmäBige  Abschreiber  bildeten  sich  aus,  und 
da  diese  besonders  zahlreich  und  geschickt  in  dem  639  am  Euphrat 
erbauten  Al-Küfa  auftraten,  so  erhielt  die  Schrift  den  Namen  der 
ku fischen.  Am  Anfange  des  X.  S.  veränderte  sich  diese  doch  immer 
noch  grobe  und  rohe  Schrift,  welche  man  mit  einem  Stifte  oder  einer 
ungespaltenen  Röhre  zu  schreiben  pflegte,  besonders  unter  dem  Ein- 
flüsse des  940  verstorbenen  Wezirs  Ibn  Mukla  zu  jener  flüchtigen, 
abgerundeten  Kurrentschrift,  welche  heute  noch  im  Oriente  dient  und 
in  Druckwerken  nachgeahmt  wird.  Sie  fuhrt  den  Namen  Nes-chi- 
Schrift  oder  Schrift  der  Abschreiber,  und  wurde,  seit  man  sich  ge- 
spaltener Rohrfedem  zu  ihrer  Darstellung  bediente,  immer  feiner  und 
eleganter.  Schreibkünstler  wie  Ibn  Bauwäb  (f  1032),  wie  der  be- 
rühmte Jäküt  (f  1221)  glänzten.  Spanien  bewahrte  seinen  eigenen 
Schriftzug,  der  sich  bis  jetzt  in  Westafrika,  in  dem  sogenannten 
Magrib,  erhalten  hat;  er  ist  von  einer  altertümlichen  Steifheit  und 
üngefälligkeit^). 

Die  Buchstaben  des  arabischen  Alphabetes  waren  ursprünglich 
nach  Reihenfolge  und  Aussprache  wohl  übereinstimmend  mit  den 
22  Lauten,  welche  auch  anderen  semitischen  Alphabeten  angehören, 
und  diese  ältere  Anordnung  führt  den  Namen  Abudsched  durch 
Verbindung  der  drei  ersten  Laute,  wie  man  Abece  und  Alphabet  sagt 
Als  die  Nes-chicharaktere  sich  bildeten,  verließ  man  die  alte  Reihen- 
folge, um  die  Buchstaben  nach  ihrem  Aussehen  zu  ordnen,  d.  h.  so, 
daß  die  einander  ähnlichen  Schrifbzeichen  nebeneinander  gestellt 
wurden. 

Daß  die  Schreibart  der  Zahlen  bei  den  vielfachen  Verände- 
rungen der  ganzen  Schrift  sich  nicht  gleich  bleiben  konnte,  ist  nicht 
mehr  als  natürlich.  Vor  allem  liebten  es  die  Araber,  die  Zahlwörter 
selbst  vollständig  zu  schreiben,  eine  Methode,  wenn  man  das  Methode 
nennen  darf,  welche  selbst  in  einem  Lehrbuche  der  Rechenkunst 
noch  beibehalten  ist,  das  zwischen  1010  und  1016  in  Bagdad  verfaßt 
wurde  *). 

Aus  ihr  wohl  entstanden  die  einem  arabisch-persischen  Wörter- 


^)  Kremer  n,  814.         *)  Käf!  fil  His&b  des  Abu   Bekr  Mohammed  ben 
AlhuBein  Alkarkh!,  deutsch  von  Ad.  Hochheim.    Halle  1878. 


Arabische  Zahlzeichen.    Mnhammed  ihn  Mügft  Alchwarizmi.  709 

buche  entnommenen  sogenannten  Diwaniziffern;  welche  nur  abge- 
kürzte Zahlwörter  sein  sollen^).  Am  klarsten  stelle  sich  dieses  durch 
den  umstand  heraus,  daß  in  Zahlen,  die  aus  Hundertern,  Zehnem  und 
Einem  bestehen ,  die  Einer  zwischen  den  Hundertern  und  Zehnem 
ihren  Platz  finden,  wie  es  in  der  Aussprache  auch  sei  (S.  607). 

Außerdem  bedienten  sich  die  Araber  ihrer  in  der  Reihenfolge 
Abudsched  geordneten  Buchstaben  in  derselben  Weise  wie  die 
übrigen  Semiten,  um  die  Zahlen  von  1  bis  400  darzustellen.  Freilich 
ist  die  genannte  Reihenfolge  nicht  allerorten  ganz  streng  festgehalten 
worden.  Der  gleiche  Buchstabe ,  der  in  Bagdad  90  bedeutete,  hatte 
im  nordlichen  Afrika  den  Wert  60,  300  wechselte  an  eben  diesen 
Orten  mit  1000  usw.^),  und  man  hat  daraus  den  Schluß  gezogen, 
diese  von  den  Arabern  als  wesentlich  arabisch  bezeichnete  Darstel- 
lungsweise der  hurüf  aldschummal,  d.  h.  der  Zahlenwerte  der  Buch- 
staben nach  ihrer  alten  Reihenfolge,  könne  erst  entstanden  sein, 
nachdem  Afrika  islamisiert  war,  also  nach  715.  Damit  stimmt  auch 
eine  Notiz  überein*),  welche  dem  Ghalifen  Welid  L,  unter  dessen 
Regierung  jene  Ausbreitung  nach  Westen  erfolgte,  das  Verbot  nach- 
erzählt, in  die  öffentlichen,  wie  wir  uns  erinnern  meist  von  Christen 
geführten  Bücher  griechische  Eintrage  zu  machen  mit  Ausnahme  der 
Zahlen,  weil  arabisch  eins,  oder  zwei,  oder  drei,  oder  achteinhalb 
nicht  geschrieben  werden  könne.  Eine  Ausnahme,  welche  natürlich 
nur  so  gedeutet  werden  kann,  daß  damals  um  700  die  Bezeichnung 
der  Zahlen  in  abgekürzter  Buchstabennotation  anders  als  mit  grie- 
chischen Buchstaben  noch  nicht  stattfand.  Die  Schwierigkeit  Hunderte 
von  500  an  zu  bezeichnen,  scheint  man  anfänglich  ähnlich  über- 
wunden zu  haben,  wie  zum  Teil  bei  den  Hebräern  (S.  126)  durch 
gleichzeitige  additive  Benutzung  von  zwei  oder  gar  drei  Buchstaben. 
Später,  vielleicht  erst  vom  XL  S.  an*),  ersann  man  ein  neues  Mittel. 
Wie  nämlich  im  Hebräischen  gewisse  Buchstaben  existieren,  welche 
in  zweierlei  Aussprache  mit  und  ohne  Aspiration  vorhanden  sind,  so 
gibt  es  auch  im  Arabischen  sechs  Charaktere  von  doppelter  Laut- 
bedeutung. Mau  unterscheidet  dieselbe  durch  Punkte,  welche  des- 
halb diakritische  Punkte  genannt  werden.  Diese  sechs  neuen  punk- 
tierten arabischen  Buchstaben  wurden  nun  den  22  schon  vorhandenen 
beigefügt  und  lieferten  in  dieser  Weise  *  nicht  nur  Zeichen  fOr  die 
Hunderte  500  bis  900,  sondern,  da  jetzt  ein  Zeichen  überschüssig 
war,  auch  noch  für  1000.     Die  Vereinigung  mehrerer  Buchstaben  zu 

>)8ilv.  de  Sacy,  Grammaire  arahe  I,  76,  Note  a  und  Tabelle  VIII. 
*)  Woepcke  im  Journal  Äsiatique  vom  1.  Halbjahr  1863  pag.  468,  Note  1 
und  464.  *)  Theophanes,  Chranographia  (ed.  Franc.  Combefis).  PariB  1666, 
pag.  314.     ^  Silv.  de  Sacy,  Grammaire  ardbe  I,  74,  Note  b. 


710  88.  Kapitel. 

Zahlen  geschah  nach  dem  Gesetze  der  Reihenfolge  linksläufig;  wie  es 
die  Schrift  morgenländischer  Völker  mit  sich  brachte. 

So  war  für  das  Volksbedür&is,  fftr  das  Schreiben  und  Lesen 
von  Zahlen  im  fortlaufenden  Texte  ausreichend  gesorgt,  insbesondere 
da  den  Arabern  bei  ihrer  allmählichen  Ausbreitung  auch  noch  eine 
Möglichkeit  offen  stand,  die  Möglichkeit  sich  der  in  dem  eroberten 
Lande  schon  vorhandenen,  dort  volkstümlich  gewordenen  2iahlzeichen 
zu  bedienen,  von  der  sie  wirklich  da  und  dort  Gebrauch  machten^). 

Das  Rechnen,  dessen  Kenntnis  am  langsamsten  unter  den  eigent- 
lichen Arabern  sich  entwickelte,  stellt  andere  Anforderungen.  Teils 
war  es  ein  schwieriges  nur  Geübten  mögliches  Kopfrechnen,  bei 
welchem  vielleicht  die  Darstellung  der  Zahlen  an  Fingern  als  Hilfs- 
mittel diente.  Sind  wir  auch  über  die  Zeit  durchaus  im  unklaren, 
wann  ein  solches  Fingerrechnen  stattfand,  so  wissen  wir  aus  einem 
kleinen  Lehrgedichte  eines  Yerwaltungsbeamten  Schams  addin  al 
Mausili'),  daB  es  bei  Arabern  in  Übung  war.  Genau  nach  der 
gleichen  Folge,  wie  Nikolaus  Rhabda  es  seine  Landsleute  lehrte 
(S.  514 — 515),  wurden  die  Einer  und  Zehner  an  der  linken,  die 
Hunderter  und  Tausender  an  der  rechten  Hand  dargestellt. 

Teils  aber  lernten  die  Araber  beim  Rechnen  den  indischen 
Stellungswert  der  Ziffern  kennen.  Darüber  kann  bei  der  über- 
einstimmenden Aussage  aller  arabischen  Quellen  Zweifel  nicht  be- 
stehen. Am  deutlichsten  spricht  sich  Albirüni  darüber  aus.  Dieser 
Schriftsteller^)  ist  in  Iran  geboren.  Er  brachte  lange  Jahre  in  Indien' 
zu, 'studierte  im  Sanskrit  geschriebene  Werke,  stellte  astronomisch- 
geographische Beobachtungen  an,  denen  namentlich  auffallend  genaue 
Breitenangaben  für  die  von  ihm  bestimmten  Orte  verdankt  werden, 
und  schrieb  ein  großes  Werk  über  Indien,  welches  in  jeder  Beziehung 
zu  den  bedeutendsten  Erscheinungen  der  arabischen  Literatur  ge- 
hört. Albirüni  starb  im  Jahre  1038  oder  1039.  Er  sagt  uns^),  die 
Inder  hätten  nicht  die  Gewohnheit  ihren  Buchstaben  eine  Bedeu- 
tung für  das  Rechnungswesen  zu  geben,  wie  die  Araber  es  täten, 
welche  ihre  Buchstaben  nach  dem  Zahlenwerte  anordneten.  Die 
Inder  bedienten  sich  vielmehr  gewisser  Zahlzeichen,  die  aber  ver- 
schiedener Art  seien,  wie  denn  auch  die  Gestalt  der  Buchstaben  bei 
den  Indem  von   einer  Landesgegend   zur  andern  wechsle.     Die  von 


')  Woepcke  im  Journal  AMatique  vom  1.  Halbjahr  1868  pag.  286—287. 
")  Überaetzt  von  Aristide  Marre  im  Bullettino  Bancompagni  (1868)  I,  810—812. 
Suier  in  den  Abhandlangen  znr  Geschichte  der  Mathematik  XTV,  181  (1902). 
*)  Snter  98—100  Nr.  218  and  in  der  BibUotheca  Maiktmatiea  8.  Folge  ÜI,  128, 
Note  2  (1903).  *)  Woepcke  im  Journal  Asiatique  vom  1.  Halbjahr  1868 
pag.  276  flgg. 


Arabische  Zahlzeichen.    Mahammed  ibn  Müsä  Alchwarizmt.  711 

den  Arabern  angewandten  Zahlzeichen  seien  eine  Auswahl  der  ge- 
eignetsten bei  den  Indem  vorhandenen.  Auf  die  Form  komme  es 
nicht  an,  wenn  man  nur  die  innenwohnende  Bedeutung  kenne.  Femer 
sagt  uns  Muhammed  ibn  Müsä  Alchwarizmi^),  derselbe,  welcher  für 
Almamün  die  indische  Astronomie  bearbeitet  hat  (S.  698)  und  dessen 
schriftstellerische  Leistungen  uns  noch  in  diesem  Kapitel  ausführlich 
beschäftigen  müssen,  es  herrsche  in  bezug  auf  die  Zeichen  Ver- 
schiedenheit unter  den  Menschen,  eine  Verschiedenheit,  welche  zumal 
bei  der  5,  der  6,  der  7  und  der  8  hervortrete,  doch  liege  darin  kein 
Hindernis. 

Sieht  man  sich  so  vorbereitet  die  arabischen  Handschriften  an, 
so  findet  man  wesentliche  Abweichungen  zwischen  den  Zahlzeichen 
der  Ostaraber  und  der  Westaraber.  Der  Vergleich  der  auf 
der  Tafel  am  Ende  unseres  Bandes  ausgeführten  Zeichen  lehrt,  daß 
die  hauptsächlichsten  Abweichungen  in  den  Zeichen  für  5,  6,  7  und 
8  stattfinden,  während  1,  4,  9  ziemlich  gleich  aussehen,  2  und  3  nur 
aus  horizontaler  Lage  in  vertikale  übergingen.  Das  kann  uns  nicht 
gerade  überraschen.  Wohl  aber  überrascht  es  uns,  daß  die  arabischen 
Zahlzeichen  so  ungemein  abweichen  von  den  Devanagariziffem  und 
daß  sie  viel  eher  den  Vergleich  aushalten  mit  den  Apices,  beziehungs- 
weise mit  indischen  Zeichen  des  H.  bis  lU.  S.  Das  gibt  zu  denken! 
Als  immer  wahrscheinlicher  drängt  sich  die  Vermutung  auf,  es 
könne  der  ganze  historisch  so  dunkle  als  merkwürdige  Vorgang 
folgender  gewesen  sein^): 

Um  das  H.  S.  n.  Chr.  kamen  indische  Zahlzeichen  nach  Alexan- 
dria, von  wo  sie  sich  in  ihrer  Anwendung  bei^  Kolumnenrechnen 
vielleicht  nach  Rom,  jedenfalls  aber  nach  dem  Westen  Afrikas  ver- 
breiteten. Die  Erinnemng  an  die  indische  Herkunft  mag  wach  ge- 
blieben sein.  Im  VIII.  S.  lernten  die  Araber  des  Ostens  die  indischen 
Zahlzeichen  in  bereits  wesentlich  veränderter  Gestalt  mit  der  inzwischen 
dazugetretenen  Null  kennen.    Die  Null  nannten  sie  a^-^ifr,  das  Leere, 


*)  Trattati  d'aritmetica  pubblicati  da  Bald.  Boncompagni  I,  pag.  1 — 2. 
')  Diese  Theorie  rührt  von  Woepcke  her.  Journal  Asiatique  vom  1.  Halbjahr 
1863  pag.  69—79  und  514—629.  Gundermann,  Die  Zahlzeichen  (Gießen  1899), 
hat  dagegen  folgende  Theorie  zu  begründen  gesucht:  Ein  älteres  einfaches 
System,  die  Zahlen  durch  Striche  zu  bezeichnen,  ist  allmählich  aber  nie  ganz 
durch  ein  neues  System,  das  von  allen  Kulturvölkern  der  antiken  Welt  ange- 
nommen wurde,  zurückgedrängt  worden.  Die  Buchstaben  eines  Alphabetes 
fanden  in  ihm  ihrer  Reihenfolge  nach  Verwendung.  Aus  diesem  Systeme  ent- 
wickelte sich  schrittweise  ein  neues,  das  nur  einzelne  Grundzeichen  festhielt, 
die  übrigen  abstieß.  Das  vollständige  System  lebte  aber  verborgen  weiter  und 
kam  nochmals  zu  großer  Blüte.  Endlich  wurden  durch  das  Ziffern  System,  den 
Abkömmling  eines  vollständigen  Systems,  alle  früheren  Systeme  verdrängt. 


712  88.  Kapitel 

als  Übersetzung  von  sunya,  wie  die  Null  bei  den  Indem  heißt  (S.  614). 
Im  Westen  nahm  man  zwar  die  Null  auf^  blieb  aber,  und  wäre  es 
nur  im  bewußten  Gegensatze  zu  den  Ostarabem,  den  alten  Zeichen 
treuy  deren  indischen  Ursprungs  man  sich  ebensowohl  als  ihres 
alezandrinischen  Stempels  noch  lange  erinnerte*^  und  die  man  jetzt 
Gubärziffern  nannte,  d.  h.  StaubzifiFem^)  im  Gedächtnisse  der 
indischen  TV  eise  auf  mit  Staub  bedeckten  Tafeln  zu  rechnen. 

Wenn  wir  behaupten  dürfen,  jene  doppelte  Erinnerung  sei  lange 
nicht  verloren  gegangen,  so  beziehen  wir  uns  dafür  auf  drei  Stellen 
ziemlich  später  arabischer  Rechenbücher^.  In  allen  dreien  ist  die 
Form  der  Gubärziffern  neben  der  der  ostarabischen,  welche  letztere 
den  Namen  der  indischen  führen,  aufgezeichnet;  in  zweien  sind  die 
Gubärziffern  beschrieben,  d.  h.  ihre  Ähnlichkeit  mit  arabischen  Buch- 
staben und  Buchstabenyereinigungen  ist  herrorgehoben,  so  daß  man 
sie  deutlich  erkennen  kann;  in  allen  dreien  sind  dann  auch  die  Gu- 
bärziffern als  indische  Formen  bezeichnet.  Das  eine  Rechenbuch  er- 
zählt in  dieser  Beziehung:  „Ihr  Ursprung  bestand  darin,  daß  ein 
Mann  aus  dem  Volke  der  Inder  feinen  Staub  nahm,  welchen  er  auf 
eine  Tafel  von  Holz  oder  anderem  Stoff  oder  auf  irgend  eine  ebene 
Fläche  ausbreitete,  und  daß  er  darauf  yerzeichnete  was  ihm  beliebte 
an  Multiplikationen,  Divisionen  oder  sonstigen  Operationen,  und  hatte 
er  die  Aufgabe  vollendet,  so  schloß  er  die  Tafel  wieder  fort  bis 
zum  Gebrauche.''  Eben  dieses  Rechenbuch  leitet  aber,  und  das  ist 
beweisend  auch  für  die  andere  Erinnerung,  die  ganze  Erörterung 
durch  die  Bemerkung  ein,  die  Pythagoräer  seien  die  Männer  der 
Zahlen  gewesen. 

Mögen  die  Vermutungen,  mit  deren  Hilfe  hier  ein  einheitlicher 
Überblick  zu  gewinnen  gesucht  wurde,  richtig  sein  oder  nicht,  das 
Vorhandensein  der  ostarabischen  wie  der  Gubärziffern  wird  dadurch 
nicht  beeinträchtigt,  und  wir  müssen  nun  Schriftsteller  verschiedener 
Zeiten  und  verschiedener  Heimat  kennen  lernen  und  von  ihnen 
erfahren,  was  sie  in  der  Mathematik  geleistet  haben,  auch  wie  sie 
rechneten. 

Der  erste  arabische  Schriftsteller,  mit  welchem  wir  es  zu  tun 
haben,  ist  Muhammed  ibn  Müsä  Alchwarizmi.  Er  hat,  wie 
wir  wissen,  im  ersten  Viertel  des  IX.  S.  gelebt.  Er  war  einer  der 
Gelehrten,  welche  der  Chab'f  Almamün  so  sachgemäß  zu  beschäftigen 
wußte,  indem  er  einen  Auszug  aus  dem  sogenannten  Sindhind  an- 
fertigen, eine  Revision  der  Tafeln  des  Ptolemaeus  vornehmen,  Beob- 


')  Journal  Äsiatique  vom  1.  Halbjahr  1863  pag.  243.       *)  Ebenda  pag.  68 
big  68. 


Arabische  Zahlzeichen.    Mnhammed  ihn  Mü8&  Alchwarizmi.  713 

achtungen  zn  diesem  Zwecke  in  Bagdad  und  in  Damaskus  anstellen^ 
endlich  die  Messung  eines  Grades  des  Erdmeridians  ausf&hren  ließ^). 
Die  astronomischen  Tafehi  Alchwarizmis  gehen  uns  nicht  weiter  an^ 
als  daß  wir  faervorhebei>  müssen^  daß  sie  von  Atelhart  von  Bath^ 
einem  englischen  Mönche^  welcher  um  1120  die  erste  Übersetzung 
des  Euklid  aus  dem  Arabischen  in  das  Lateinische  anfertigte  (yergL 
Kapitel  40) ,  gleichfalls  in  lateinischer  Sprache  bearbeitet  worden 
sind^),  und  daß  sich  in  ihnen  zweifellos  eine  Sinustafel  befand'). 
Eingehend  müssen  wir  uns  dagegen  mit  zwei  Schriften  Alchwarizmis 
beschäftigen,  in  welchen  er  zuerst  die  Algebra^  dann  die  Rechen- 
kunst behandelt  hat,  deren  Reihenfolge  wir  in  unserer  Besprechung 
aber  umkehren. 

Beide  wurden  hoch  geschätzt  und,  wie  wir  sehen  werden,  nicht 
ohne  Grund.  Beide  sind,  oder  waren  in  verhältnismäßig  neuer  Zeit 
im  arabischen  Texte  Torhanden.  Die  Algebra  freilich  ist  allein  in 
diesem  Urtexte  yeröffentlicht,  während  für  die  Rechenkunst  man  lange 
auf  das  Nachsprechen  eines  selbst  arabischer  Quelle  entstammenden 
Lobes  beschränkt  war:  das  Buch  übertreffe  alle  anderen  an  Kürze 
und  Leichtigkeit  und  beweise  den  Geist  und  Scharfsinn  der  Inder  in 
den  herrlichsten  Erfindungen^).  Ein  lateinisches  Manuskript,  1857 
in  der  Bibliothek  zu  Cambridge  entdeckt  und  im  Drucke  heraus- 
gegeben^), erwies  sich  aber  als  Übersetzung  des  vermißten  Werkes, 
und  der  Umstand,  daß  trotz  nachträglichen  eifrigen  Suchens  kein 
zweites  Exemplar  dieser  Übersetzung  außer  dem  Kodex  von  Cam- 
bridge hat  aufgefunden  werden  können,  vereinigt  mit  der  Tatsache 
der  Übersetzung  der  astronomischen  Tafeln  desselben  Verfassers 
durch  Atelhart  von  Bath,  haben  die  Vermutung  entstehen  lassen*), 
der  gleiche  Übersetzer  habe  auch  die  Arithmetik  lateinisch  be- 
arbeitet, eine  Vermutung,  welche  wenigstens  soweit  große  Wahr- 
scheinlichkeit für  sich  hat,  als  man  auf  einen  Landsmann  und  Zeit- 
genossen des  Atelhart,  wenn  nicht  auf  ihn  selbst  als  Übersetzer 
wird  schließen  dürfen. 


•)  Kremer  II,  442—448.  Suter  10—11,  Nr.  19,  aber  auch  Abhandlungen 
zur  Geschichte  der  Mathematik  XIY,  158—160  (1902).  *)  Math.  Beitr.  Kulturl. 
S.  268—269.  Wüsten feld,  Die  Uebersetzungen  arabischer  Werke  in  das  Latei- 
nische. Abhandlungen  der  königl.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  zu  Göttingen. 
Bd.  yyn  (1877)  S.  20—28.  ^  A.  v.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  Geschichte 
der  Trigonometrie  I,  49  Note  1  und  2.  *)  Casiri,  Btbliotheca  arabico-hispana 
Escurialensis  I,  427  (Madrid  1760).  *)  Die  Schrift  bildet  das  I.  Heft  der  von 
dem  Fürsten  Bald.  Boncompagni  herausgegebenen  Trattati  d'aritmetica. 
')  Vgl.  einen  Aufsatz  von  Chasles  in  den  Gompies  Bendus  dt  Vacad^mie  des 
Sciences  XLYIII,  1058  vom  6.  Juni  1859. 


714  33.  Kapitel. 

Die  Schrift  beginnt  mit  den  Worten:  ^^Oesprochen  bat  Algo- 
.ritmi.  Laßt  uns  Gott  verdientes  Lob  sagen,  unserem  Führer  und 
Verteidiger."  Der  Name  des  Verfassers  Alchwarizmi  ist  also  hier 
in  Algoritmi  übergegangen ,  und  fast  in  dieser  letzteren  Form  nur 
noch  etwas  weniger  der  Urform  gleichend,  nämlich  als  Algorithmus 
hat  das  Wort  Jahrhunderte  überdauert^)  und  bezeichnet  jetzt  jedes 
wiederkehrende  zur  Regel  gewordene  Rechnungsverfahren.  Das  Be- 
wußtsein der  eigentlichen  Bedeutung  des  Wortes  ist  in  diesem 
modernen  Algorithmus  gänzlich  verloren  gegangen,  aber  das  Oleiche 
gilt  bereits  für  das  XIII.  S.,  wo  man  schon  durch  allerlei  sprachliche 
Taschenspielerkünste  sich  bemühte  ein  Verständnis  des  Wortes  zu 
gewinnen^).  Da  sagt  einer,  das  Wort  kommt  von  aUeos  fremd  und 
goros  Betrachtung,  weil  es  eine  fremde  Betrachtungsweise  ist.  Nein, 
sagt  der  zweite,  es  kommt  von  argis  griechisch  und  mos  Sitte,  es 
ist  eine  griechische  Sitte.  Der  dritte  kommt  zu  ares  die  Kraft  und 
riimos  die  Zahl.  Ein  vierter  sieht  in  algos  ein  griechisches  Wort, 
welches  weißen  Sand  bedeute,  und  daher  der  Name,  denn  die  Rech- 
nung rUtnos  wurde  auf  weißem  Sande  geführt.  Wieder  ein  anderer 
legt  sich  das  Wort  auseinander  in  algos  die  Kunst  und  rodos  die 
Zahl.  Manchen  war  durch  Überlieferung  vielleicht  das  Bewußtsein 
geblieben,  es  handle  sich  um  den  Namen  eines  Mannes,  aber  dieser 
hieß  ihnen  bald  Algorus  von  Indien,  bald  König  Algor  von  Kastilien, 
bald  Algus  der  Philosoph.  Allerdings  ist  auch  ein  Zeugnis  dafür 
vorhanden,  daß  man  in  Deutschland  im  letzten  Drittel  des  XIIL  S. 
Algorismus  als  Namen  eines  Mannes  kannte.  Im  jüngeren  Titurel 
findet  sich  eine  Strophe^: 

Nu  ist  auch  hi  gesundert 

Lot  Yuxste  von  Norwege 

lehn  weyz,  mit  we  vil  hundert, 

Ob  Algorismus  noch  lebens  plege 

Unde  Abaknc  de  geometrien  künde, 

De  heten  vil  tzo  scaffen 

Solten  se  ir  aller  tzal  da  haben  fanden. 

Am  auffallendsten  erscheint,  daß  hier  nicht  bloß  ÄlgorisrntiSf 
sondern  auch  AhaJouc  als  eine  Persönlichkeit  vorkommt.  Neuere  Ge- 
lehrsamkeit hat  sich,  ehe  die  richtige  Ableitung  bekannt  war,   mit 


^)  In  dem  Algorithmus  den  Namen  Alchwarizmi  erkannt  zu  haben, 
ist  das  große  Verdienst  von  Bein  au  d  {Memoire  sur  VInde  pag.  SOSsq.),  der 
schon  1845  diesen  Gedanken  aussprach,  also  lange  bevor  die  Entdeckung  des 
Cambridger  Kodex  die  Vermutung  in  Gewißheit  verwandelte.  *}  Math.  Beitr. 
Eulturl.  267.  *)  Wir  verdanken  die  Kenntnis  dieser  Strophe  Herrn  Armin 
Tille.  Vgl.  Zeitschr.  für  deutsche  Philologie  Bd.  XXX.  Ein  Xantener  Bruch- 
stück des  jOngeren  Titurel  (insbesondere  S.  175  die  obige  Strophe  2009). 


Arabische  Zahlzeichen.    Mahammed  ibn  Mü8&  Alchwarizmi.  715 

scheinbarem  Rechte  &8t  am  weitesten  von  der  Wahrheit  entfernt, 
indem  sie  in  ähnlicher  Weise  wie  bei  Almagest  eine  Zusammensetzung 
des  arabischen  Artikels  al  mit  dem  griechischen  aQiO^ioqy  die  Zahl,  ver- 
mutete und  das  dazwischengetretene  g  als  sprachliche  Absonderlichkeit 
betrachtete,  die  einer  Erklärung  nicht  fähig  sei,  auch  nicht  bedürfe, 
da  man  bei  dem  Übei^ange  aus  dem  Griechischen  durch  das  Arabische 
in  das  Lateinische  auf  alles  gefaßt  sein  müsse.  Es  können  einen 
solche  Yerirrungen  nicht  erstaunen,  wenn  [man  berücksichtigt,  daß 
durch  neckischen  Zufall  alle  anderen  Formen  des  Namens  unseres  arabi- 
schen Gelehrten,  die  bekannt  geworden  sind,  dem  Algorithmus  lange 
nicht  so  verwandt  klingen  wie  das  zuletzt  veröffentlichte  Algorümi, 
Als  solche  Formen  erwähnen  wir  Alchoarismus^),  Alkauresmus,  ja 
sogar  Alchocharithmus^), 

Eine  Frage  könnte  noch  erhoben  werden  dahin  gehend,  welche 
den  Namen  Alchwarizmi  führende  Persönlichkeit  den  Urtext  zu  jener 
lateinischen  Übersetzung  geliefert  habe?  Wir  nahmen  an,  es  sei 
Muhammed  ibn  Müsä  Alchwarizmi  gewesen,  aber  eine  zweite  Per- 
sönlichkeit konnte  gleichfalls  als  Verfasser  gelten.  Albirüni,  nach 
unserer  früheren  Darstellung  (S.  710)  dem  Nordwesten  Indiens  ent- 
stammend, hatte  nach  anderer  Meinung  seine  Heimat  in  einem 
kleinen  Orte  Birün  der  Landschaft  Chwarizm,  und  diese  Meinung, 
wenn  auch  mutmaßlich  irrig,  war  verbreitet  genug  ihm  den  Namen 
Alchwarizmi  bei  manchen  zuzuziehen').  Außerdem  weiß  man  von 
ihm,  daß  er  ein  Rechenbuch  verfaßt  hat^),  einiger  Zweifel  konnte 
daher  entstehen,  ob  der  erste,  ob  der  zweite  Alchwarizmi  sich  in 
jener  Schrift  redend  einführe.  Die  Sicherung  in  dem  Sinne  beruht 
auf  dem  Umstände,  daß  nur  von  dem  ersten,  nicht  von  dem  zweiten 
Alchwarizmi  eine  Algebra  geschrieben  worden  ist,  und  daß  der  Ver- 
fasser des  Rechenbuches  nach  jenem  Anrufen  und  Preisen  des  Lenkers 
der  Dinge,  welches  er  echt  arabisch  noch  weiter  fortsetzt  als  wir  es 
oben  mitteilten,  nach  Erörterung  der  Verschiedenheit  der  Zahl- 
zeichen unter  den  Menschen,  auf  welche  wir  ebenfalls  (S.  711)  xms 
schon  bezogen  haben,  fortfährt  wie  folgt ^):  „Und  ich  habe  schon  in 
dem  Buche  Aldschebr  und  Almukabala,  d.  h.  der  Wiederherstellung 
und  Gegenüberstellung  eröffnet,  daß  jede  Zahl  zusammengesetzt  sei, 
und  daß  jede  Zahl  sich  über  eins  zusammensetze.  Die  Einheit  also 
wird  in  jeder  Zahl  gefunden,  und  das  ist  es,  was  in  einem  anderen 
Buche  der  Arithmetik  ausgesprochen   ist     Weil  die  Einheit  Wurzel 

')  Libri,  Histoire  des  sciencea  maihematiquea  en  Italic  1,  298.  *)  Reinaud, 
Memoire  aur  VInde  pag.  376.  ')  Wüsten feld,  Geschichte  der  arabischen 
Aeizte  und  Naturforscher  S.  76,  Nr.  129.  *)  Reinaud,  Mimoire  8wr  VInde 
pag.  .308.         *)  Trattati  d'ariimetica  I,  2. 


716  88.  Kapitel. 

jeder  Zahl  und  außerhalb  der  Zahl  ist/'  Der  Anfang  dieses  Satzes 
bis  zu  der  „einem  anderen  Buche  der  Arithmetik*',  in  cdio  libro  ariffi- 
metico,  entnommenen  Bemerkung  über  die  Ausnahmestellung  der  Ein- 
heit findet  sich  aber  nahezu  wörtlich  in  der  Algebra  des  Muhammed 
ihn  Müsä^).  Wir  sind  also  in  der  Tat  berechtigt,  hier  unter  dem 
Namen  des  Muhammed  ibn  Müsä  Alchwarizm!  über  jenes  Rechen- 
buch weiter  zu  berichten,  für  ihn  in  Anspruch  zu  nehmen,  was  aus 
dem  letzten  Teile  der  hier  mitgeteilten  Stelle  unzweifelhaft  her- 
vorgeht, daß  wer  so  schrieb,  in  der  Zahlenlehre  der  Neupythagoräer 
wohl  geschult  sein  mußte,  welche  er  nicht  aus  indischen  Quellen 
kennen  lernen  konnte,  daß  unter  jenem  anderen  Buche  der  Arith- 
metik die  spätere  sogenannte  spekulative  Arithmetik  im  Gegensätze 
zur  praktischen  Arithmetik  (S.  704)  gemeint  ist,  daß  dem  Verfasser 
darüber  Kenntnisse  zu  Gebote  standen,  welche  unmittelbar  oder 
mittelbar  auf  Nikomachus,  vielleicht  auch  auf  Theon  von  Smyrna, 
der  am  deutlichsten  betont  hat,  die  Einheit  sei  keine  Zahl  (S.  435), 
zurückgehen. 

Nun  wird  das  eigentliche  Rechnen  gelehrt,  das  Zahlenschreiben, 
das  Addieren,  bei  welchem  ein  besonderes  Gewicht  auf  den  Fall  ge- 
legt ist,  daß  die  Summe  der  Ziffern  an  einer  Stelle  9  übersteigt;  die 
Zehner  sollen  alsdann  der  folgenden  Stelle  zugerechnet  und  an  der 
ursprünglichen  Stelle  nur  das  geschrieben  werden,  was  unterhalb  10 
noch  übrig  bleibt.  „Bleibt  nichts  übrig,  so  setze  den  Kreis,  damit 
die  Stelle  nicht  leer  sei;  sondern  der  Kreis  muß  sie  einnehmen,  da- 
mit nicht  durch  ihre  Leerheit  die  Stellen  vermindert  werden  und  die 
zweite  für  die  erste  gehalten  wird*'*).  Bei 'der  Subtraktion  wie  bei 
der  Addition  soll  man  bei  der  höchsten  Stelle,  also  links  anfangen, 
dann  zur  nächstfolgenden  übergehen,  weil  dadurch  die  Arbeit,  so 
Gott  will,  nützlicher  und  leichter  werde.  Die  eigentliche  Schwierig- 
keit der  Subtraktion  für  Anfanger,  die  Behandlung  des  Falles,  daß 
eine  Stelle  des  Subtrahenden  durch  eine  höhere  Zahl  als  die  ent- 
sprechende Stelle  des  Minuenden  erfüllt  ist,  wird  zwar  erwähnt'), 
aber  ohne  daß  ein  Beispiel  dafür  angegeben  wäre,  trotzdem  vorher 
tres  modi  d.  h.  drei  Beispiele  in  Aussicht  gestellt  sind.  Da  zwei  der- 
selben (nämlich  3211   von  6422  und  144  von  1144)  angegeben  sind, 

')  The  algehra  of  Mohammed  ben  Musa  (ed.  Rosen).  London  183t,  pag.  5, 
§  8 :  /  also  observed  that  every  number  is  composed  of  units  and  that  any  nuttiber 
may  be  divided  into  units.  *)  Si  nifiil  remanaerü  pones  circulum,  ut  non  sU 
differeniia  vacua:  sed  sit  in  ea  circulus  qui  occupet  eam,  ne  forte  cum  vacxia  fuerit, 
minuantur  differentiae,  et  putetur  secunda  esse  prima.  Trattati  d'aritmetiea  I,  8. 
*)  Hierauf  hat  H.  Eneström  in  der  Bibliotheca  Maihemutica  3.  Folge,  Bd.  VI, 
307  hingewiesen. 


Arabische  Zahlzeichen.     Mohammed  ihn  Müsfi.  Alchwarizmi.  717 

80  entsteht  die  Frage,  ob  hier  an  einen  Mangel  des  arabischen  Originals 
oder  an  eine  durch  den  Übersetzer  verschuldete  Auslassung  zu  denken 
sei.  Die  dritte  Operation  ist  das  Halbieren,  welches  in  der  um- 
gekehrten Ordnung  bei  der  niedersten  Stelle  zu  beginnen  hat.  Das 
Verdoppeln  hingegen,  die  vierte  Operation,  beginnt  wieder  von  oben. 
Die  Hervorhebung  von  Halbierung  und  Verdoppelung  als  be- 
sonderen Rechnungsarten  ist  sehr  bemerkenswert.  Indisch  ist  sie 
nicht,  wenigstens  finden  wir  sie  weder  bei  indischen  Originalschrift- 
steilem,  noch  bei  dem  nach  indischem  Muster  arbeitenden  Maximus 
Planudes.  Nach  dem  heutigen  Stande  des  Wissens  können  wir  nur 
an  unmittelbaren  oder  durch  Griechen  vermittelten  ägyptischen  Ein- 
fluß denken.  Die  Multiplikation  wird  nach  der  Weise  ausgeführt, 
welche  wir  (S.  610 — 611)  bei  den  Indern  kennen  gelernt  haben;  das 
Produkt  wird  jeweil  über  die  betreffende  Ziffer  des  Multiplikandus  ge- 
schrieben und  verbessert,  wenn  eine  nach  rückwärts  folgende  Stelle 
des  Multiplikandus  mit  der  Multiplikatorziffer  vervielfacht  eine  Ver- 
besserang nötig  macht.  Von  der  Richtigkeit  der  genannten  Ope- 
rationen überzeugt  man  sich  durch  die  Neunerprobe.  Die  Division 
wird  nach  dem  gleichen  Gedanken  wie  die  Multiplikation  ausgefdhrt, 
nur  natürlich  in  umgekehrtem  Gange.  Die  Schreibweise  ist  die,  daß 
der  Dividend  unter  sich  den  Divisor,  über  sich  den  Quotienten  erhält 
und  erst  über  dem  Quotienten  die  aufeinanderfolgenden  Veränderungen 
erscheinen,  welche  mit  dem  Dividenden  durch  Abziehung  der  Teil- 
produkte vorgenommen  werden.  Der  Divisor  bleibt  übrigens  an 
seiner  Stelle  unter  dem  Dividenden  nicht  stehen,  sondern  rückt 
fortwährend  von  links  nach  rechts  zurück.  So  liefert  die  Division 
46468:324  den  Quotient  143  und  den  Best  136.  Faßt  man  die 
umständliche  Beschreibung^)  in  eine  kurze,  vielleicht  durch  den  Ver- 
fasser, vielleicht  durch  den  Übersetzer  weggelassene  Musterrechnung 
zusammen,  so  würde  sie  folgendermaßen  ausgesehen  haben: 

136 
24 
110 
22 

140 

143 

46468 

324 
324 
324. 


»)  TraUaÜ  d'antmetica  I,  14—16. 


718  33.  Kapitel. 

Von  einer  komplementären  Division  ist  keine  Spur  zu  finden.  Im 
Anschlüsse  an  die  Division  kommt  der  Verfasser  zu  den  Brüchen 
und  bemerkt^  die  Inder  hätten  sich  der  Beteiligen  Brüche  bedient, 
welche  er  dann  schließlich  ausführlich  erklärt  und  das  Rechnen  an 
und  mit  denselben  erläutert. 

Wir  schalten  hier  eine  Bemerkung  über  arabische  Brüche  ein, 
von  welcher  wir  zwar  nicht  die  volle  Überzeugux^  besitzen,  daß 
sie  bereits  für  die  Zeit  des  Muhammed  ihn  Müsä  Geltung  habe,  aber 
auch  für  das  Gegenteil  keinerlei  Gründe  kennen,  indem  es  mehr  um 
etwas  Sprachliches  als  der  Rechenkunst  Angehöriges  sich  handelt. 
Die  Araber  unterschieden  nämlich  stumme  Brüche  von  aus- 
sprechbaren^). Aussprechbar  sind  die  Brüche  mit  den  Nennern 
2  bis  9  oder  anders  gesagt:  es  gibt  arabische  Wörter  für  Halbe, 
Drittel,  .  .  ,  Neuntel.  Stumm  sind  Brüche  mit  Nennern,  welche 
nicht  2  bis  9  sind  oder  aus  diesen  multiplikativ  zusammengesetzt 
werden   können,    wie    etwa   Sechstel   des   Fünftels   statt   Dreißigstel. 

Ein  stummer  Bruch   ist  also  z.  B.  ^^  ^^^  ^^^  umschreibend  durch 

ein  Teil  von  13  Teilen  ausgedrückt  werden.  Man  hat  die  Ähn- 
lichkeit mit  dem  Aussprechbarmachen  der  Brüche  durch  Verwandlung 
in  eine  Summe  von  Stammbrüchen  bei  den  Ägyptern  (S.  68)  her- 
vorgehoben^), imd  wenn  wir  uns  kein  bestimmtes  Urteil  über  die 
Triftigkeit  dieser  unter  allen  Umständen  höchst  scharfsinnigen  Ver^ 
gleichung  zutrauen,  so  unterlassen  wir  doch  nicht  sie  zu  wiederholen 
und  im  voraus  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  uns  noch  eine 
weitere  Vergleichung,  möglicherweise  eine  ägyptische  Erinnerung 
durch  mündliche  Überlieferung  von  Jahrtausenden  in  diesem  Kapitel 
aufstoßen  wird. 

Von  einem  Rechenbrette  oder  etwas,  was  demselben  irgendwie 
gleicht,  ist  bei  Alchwarizmi  keine  Rede,  und  ebenso  erfolglos  wird 
unser  Suchen  danach  bei  älteren  arabischen  Schriftstellern  bleiben. 
Von  Alkindi,  der  seinä  wissenschaftliche  Tätigkeit  um  850  ent- 
faltete, wird  zwar  eine  Schrift  erwähnt,  deren  Titel  in  richtiger 
Übersetzung  über  die  Linien  und  das  Multiplizieren  mit  der  Zahl 
der  Gerstenkörner')  lautet,  aber  daraus  ein  Rechnen  auf  Linien  oder 
zwischen  Linien  mit  Hilfe  von  Gerstenkörnern  entnehmen  zu  wollen, 
dürfte  allzukühn  sein. 

Die  zweite  Schrift  des  Alchwarizmi,  welcher  wir  uns  jetzt  zu- 
wenden, ist  die,  wie  wir  schon  gesagt  haben,  vor  der  Arithmetik  des- 

^)  Käfi  fil  Hisäb  (deutsch  von  Hochheim)  Heft  I,  S.  11,  Anmerkung  4, 
und  Behaeddins  Essenz  der  Rechenkunst  (deutsch  von  Nesselmann)  S.  4. 
*)  Herr  L.  Rodet  in  einem  Privatbriefe.     »)  Fihrist  11.    Suter  28—26,  Nr.  46. 


Arabische  Zahlzeichen.    Mohammed  ibn  Müsä  Alchwarizmi.  719 

selben  Verfassers  entstandene  Algebra ^)y  das  erste  Werk,  soviel  man 
weiß,  in  welchem  dieses  Wort  selbst  als  Titel  erscheint.  Ja,  wenn 
man  arabischen  Notizen,  die  teils  in  einem  Werke  des  XII.  S., 
teils  in  Randbemerkungen  zu  einer  Handschrift  von  Alchwarizmis 
Algebra  niedergelegt  sind^),  Glauben  beimessen  darf,  so  ist  es  das 
erste  Werk,  in  welchem  jenes  Wort  vorkommen  kann,  denn  vor 
Alchwarizmi  habe  keüi  Araber  je  über  den  dadurch  bezeichneten 
Gegenstand  geschrieben.  Wir  müssen  demnach  sicherlich  an  dieser 
Stelle  von  dem  Worte  Algebra  reden'). 

Eigentlich  sind  es  zwei  Wörter  Aldschebr  walmukäbala, 
welche  Alchwarizmi  vereint  als  Titel  benutzt  hat.  Dschebr  ist  re- 
stauratio,  die  Wiederherstellung,  mukäbala  ist  oppositio,  die  Gegen- 
überstellung. Allein  mit  diesen  Wortübersetzungen  ist  gewiß  für 
niemand,  der  den  Sinn  der  Wörter  in  der  Mathematik  noch  nicht 
gekannt  hat,  etwas  verdeutlicht.  Trotzdem  fand  es  Alchwarizmi 
nicht  für  notwendig,  die  Wörter,  die  ihm  als  Überschrift  dienten, 
zu  erklären,  und,  was  noch  mehr  sagen  will,  in  dem  eigentlich  theo- 
retischen Teile  seines  Buches  kommen  diejenigen  Operationen,  welche 
dschebr  und  mukäbala  genannt  werden,  gar  nicht  vor.  Wir  werden 
noch  Folgerungen  aus  diesem  höchst  merkwürdigen  Tatbestande 
ziehen.  Einstweilen  erläutern  wir  auf  die  Erklärungen  späterer  ara- 
bischer Schriftsteller   uns    stützend   die  Meinung   unseres  Verfassers. 

Wiederherstellung  ist  genannt,  wenn  eine  Gleichung  derart 
geordnet  wird,  daß  auf  beiden  Seiten  des  Gleichheitszeichens  nur 
positive  Glieder  sich  finden;  Gegenüberstellung  sodann,  wenn  Glieder 
gleicher  Natur  auf  beiden  Seiten  weggelassen  werden,  so  daß 
Glieder  dieser  Art  nach  vollzogener  Gegenüberstellung  nur  noch  auf 
der  einen  Seite  vorkommen,  wo  sie  eben  im  Überschusse  vor- 
handen waren. 

Alchwarizmi  nimmt,  wie  gesagt,  in  seinem  theoretischen  Teile, 
wo  er  zuerst  die  Auflösung  der  Gleichungen  lehrt,  stillschweigend 
an,  die  betreffenden  beiden  Vorbereitungsoperationen  seien  bereits 
vollzogen,  und  er  unterscheidet  danach  6  Arten  von  Gleichungen, 
welche  wir  schreiben  würden: 

ax^  «=  hx,      as?  =  c,      bx  ^  Cy      x^  +  bx  =>  c,      x^  +  c  =  bx, 

x^  =  bx  +  c. 


^)  Eine  alte  lateinische  Übersetzung  ist  abgedruckt  bei  Libri,  Histoire 
des  sciences  maOiematiques  en  Italie  I,  263 — 297.  Wir  verstehen  anter  Mohammed 
ben  Musa,  Algebra  immer  die  von  Fried r.  Rosen  besorgte  mit  englischer 
Übersetzung  begleitete  Ausgabe.  London  1831.  *)  Mohammed  ben  Musa, 
Algebra  pag.  YII.  ")  Ebenda  pag.  177 — 188  und  Nessel  mann,  Die  Algebra 
der  Griechen  S.  46—63. 


720  33.  Kapitel. 

Er  gibt  sodann  für  jede  dieser  Gleichungen  Regeln,  welche  er  zu- 
gleich an  Zahlenbeispielen  erläutert. 

Wir  wollen  die  Auflösung  von  x^  +  c  =  bx  hier  beispielsweise 
übersetzen,  weil  sie  in  mehreren  Beziehungen  die  wichtigste  ist^). 
,,Quadrate  und  Zahlen  sind  gleich  Wurzeln;  z.  B.  1  Quadrat  und 
21  an  Zahlen  sind  gleich  10  Wurzeln  desselben  Quadrates,  d.  h.  was 
muß  der  Betn^  eines  Quadrates  sein,  welches  nach  Addition  von 
21  Dirham  gleichwertig  wird  mit  10  Wurzeln  jenes  Quadrates? 
Auflösung:  Halbiere  die  Zahl  der  Wurzeln;  ihre  Hälfte  ist  5.  Ver- 
vielfache dieses  mit  sich  selbst;  das  Produkt  ist  25.  Ziehe  davon 
die  mit  dem  Quadrate  vereinigten  21  ab;  der  Best  ist  4.  Ziehe 
die  Wurzel;  sie  ist  2.  Ziehe  dieselbe  von  der  halben  Anzahl  der 
Wurzeln,  welche  5  war,  ab;  der  Rest  ist  3.  Das  ist  die  Wurzel  des 
gesuchten  Quadrates  und  das  Quadrat  selbst  ist  9.  Oder  Du  kannst 
jene  Wurzel  zu  der  halben  Anzahl  der  Wurzeln  addieren;  die  Summe 
ist  7.  Das  ist  die  Wurzel  des  gesuchten  Quadrates,  und  das  Quadrat 
selbst  ist  49.  Wenn  Du  auf  ein  Beispiel  dieses  Falles  stoßest,  ver- 
suche  die  Lösung  durch  Addition,  und  wenn  diese  nicht  den  Zweck 
erfüllt,  dann  wird  Subtraktion  es  sicherlich  tun.  Denn  in  diesem 
Falle  können  beide  —  Addition  und  Subtraktion  —  angewandt 
werden,  was  in  keinem  anderen  der  drei  Fälle,  in  welchen  die  Anzahl 
der  Wurzeln  halbiert  werden  muß,  gestattet  ist.  Wisse  auch,  daß, 
wenn  in  einer  Aufgabe  dieses  Falles  das  Produkt  der  Vervielfachung 
der  halben  Anzahl  der  Wurzeln  in  sich  selbst  kleiner  ausfällt  als 
die  Zahl  der  Dirham,  welche  mit  dem  Quadrate  verbunden  ist,  die 
Aufgabe  unmöglich  ist;  ist  aber  jenes  Produkt  den  Dirham  selbst 
gleich,  dann  ist  die  Wurzel  des  Quadrates  gleich  der  Hälfte  der  An- 
zahl der  Wurzeln  allein  ohne  jede  Addition  oder  Subtraktion.'^  In 
Zeichen  würden  wir  das  so  schreiben,  daß  aus  x^  +  c^bx  sich 


ergebe,  also  mit  zwei  möglichen  Werten,  vorausgesetzt,  daß  (yj  >c; 
bei  c  >  fyj  sei  die  Aufgabe  unmöglich;  bei  c  =  (~\  gebe  es  nur 
einen  Wert  ^  =  y  • 

Nachdem  die  verschiedenen  Gleichungsformen  aufgelöst  sind, 
wendet  sich  Alchwarizmi  zum  geometrischen  Nachweise  der  Richtig- 
keit des  betreffenden  Verfahrens.  Auch  hier  wollen  wir  nur  einen 
Fall,  etwa  a^  +  bx  ^  c  hervorheben*),  um  zu  zeigen,    wie  die  Sache 

*)  Mohammed  ben  Musa,  Algebra  pag.  11—18.     *)  Ebenda  pag.  13— 16. 


Arabische  Zahlzeichen.    Moliammed  ihn  Müb&  Alchwarizmi. 


721 


gemeint  sei.     Das  Zahlenbeispiel  lautet  x^  +  10:r  »  39.    Man  zeichne 
(Fig.  95)  ein  Quadrat  aß  und  an  jede  Seite  desselben  ein  Rechteck, 
so   entsteht,   wenn   man   noch   4  kleine  Quadratchen  an  den  Ecken 
beifÖgt,  ein  größeres  Quadrat   ds.     Soll  die   erste    ^ 
Figur   aß  das  Quadrat  x\  sollen  die  4  Rechtecke 
y,  fl,  X,  6   die    10a;  vorstellen,  so   ist   die  Breite 

jedes   solchen   Rechteckes  -r-  =  y 

quadratchen    betragen     zusammen    4  •  fyj    =  25. 

Das  größere  Quadrat  de  ist  also  x*  +  10;r  +  25 
oder  64,  weil  x^  +  10a;  =»  39  ist.  Die  Seite  des 
größeren  Quadrates  ist  mithin  yöi  =  8.     Eben  diese  Seite  ist  aber 

auch  X  +  ~,   folglich  a;  ==  8  —  5  =  3   oder   als   Formel   geschrieben 


und   die  4  Eck- 


V 

y 

a 
ß 

X 

6 

Ifig.  96. 


r 

V 

i 

Fig.  96. 


X  =  1/4  •  \-~\   +  c  —  Y  ,     beziehungsweise     ^  =  1/(2)    +^""Y' 

Alchwarizmi  erklärt  dann  ebendenselben  Fall  mit  Hilfe  eines  Gno- 
mons.  Er  legt  nämlich  (Fig.  96)  an  aß  =  x^  das  10a;  in  Gestalt 
nur  zweier  Rechtecke  y,  d  sn  2  Seiten  an,  so  daß 
ein  aus  aß,  y  und  i  bestehender  Gnomon  gebildet 
ist,  welchem  zur  Vollendung  des  Quadrates  et,  nur 
ein  Eckquadrat  von  der  Seite  y  =  5,  mithin  von 
der  Fläche  25  fehlt.  Das  größere  Quadrat  ist  nun- 
mehr wieder  x^  +  10a?  +  25  -  39  +  25  =  64  und 
seine  Seite  |/64  =»  8.  Ebendiese  ist  aber  auch  a;  +  5 
und  80  wieder  a;  =  8  —  5  =  3. 

Wir  bleiben  in  unserem  Berichte  hier  zuvörderst  stehen,  um  an 
das  Bisherige  die  erforderlichen  Bemerkungen  zu  knüpfen.  Wir 
haben  gesehen,  daß  Alchwarizmi  seine  Schrift  Aldschebr  walmukä- 
bala  nannte.  Als  im  Mittelalter  lateinische  Übersetzungen  ange- 
fertigt wurden,  übernahm  man  erst  einfach  die  beiden  Wörter,  welche 
man  nur  mit  lateinischen  Buchstaben  schrieb^),  imd  welchen  man 
allenfalls  die  Übersetzung  restauratio  et  oppositio  beifügte,  die  dabei 
mitunter  in  der  Reihenfolge  wechselten,  so  daß  sie  oppositio  et  re- 
Stattratio  hießen.  Allmählich  ging  von  den  beiden  arabischen  Wörtern 
das  zweite  verloren,  das  erste  blieb  allein  in  der  Form  aigebra  übrig, 
imd  nun  geschah  das  Entgegengesetzte  wie  bei  algorühmus.  Dort 
vergaß  man,  daß  es  ein  Mann  war,  der  so  hieß,  und  suchte  das 
Wort    zu    übersetzen,    hier    vergaß    man,    daß   es    ein   übersetzungs- 


^)  Libri,  Histoire  des  sciences  mathem<Uique8  en  Itälie  l,  258. 

Cantob,  Oetehichte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  ^^ 


722  38.  Kapitel. 

föhigee  Wort  war,  welches  man  vor  sich  hatte  und  hielt  algd>ra  f&r 
den  Namen  eines  Mannes.  Von  einem  Araher  Geber  sollte  die 
Kunst  herrühren,  behauptete  im  XIV.  S.  ein  Florentiner,  Rafaele 
Ganacci^),  und  andere  schrieben  das  glaubig  ab,  nicht  selten  den 
Erfinder  in  jenem  Astronomen  Dschäbir  ihn  Aflah  aus  Sevilla  ver- 
mutend, der  gemeiniglich  Geber  genannt  wird  und  mehrere  Jahr- 
hunderte nach  Alchwarizmi  erst  lebte  ^).  Im  Spanischen  ist  die  Be- 
deutung und  das  Wort  selbst  annähernd  erhalten  in  Algd>rista,  der 
Chirurg"). 

Wir  haben  femer  gesehen,  daß  Alchwarizmi  jene  Wörter  dschebr 
und  muMbala  zwar  in  der  Überschrift  gebraucht  aber  nirgend  er- 
klärt hat,  wiewohl  der  bloße  Wortlaut  ganz  gewiß  nicht  ausreicht, 
um  die  technische  Bedeutung  zu  verstehen.  Die  Folgerung  ist  da- 
durch geradezu  aufgezwungen,  daß  Alchwarizmi,  mag  er  auch  der 
erste  arabische  Schriftsteller  über  seinen  Gegenstand  gewesen  sein, 
doch  keinesfalls  einen  für  seine  Landsleute  neuen  Gegenstand  be- 
handelte, daß  vielmehr  durch  mündliche  Lehre,  entnommen  aus  per- 
sönlichen Übertragungen  fremdländischen  Wissens  oder  aus  Schriften, 
die  in  nicht-arabischer  Sprache  verfaßt  waren,  schon  bekannt  gewesen 
sein  muß,  was  Herstellung  und  was  Gegenüberstellung  sei. 

So  sind  wir  zu  der  Frage  gelangt,  aus  welcher  Sprache  die  ara- 
bische Lehre  von  den  Gleichungen  sich  abgeleitet  hat  und  wann 
diese  Ableitung  erfolgte.  Die  letztere  Frage  zu  beantworten  reicht 
das  bekannte  Quellenmaterial  nicht  aus.  Wir  können  nur  behaupten, 
die  Einführung  der  Algebra  müsse  hinlänglich  lange  Zeit  vor  Alchwa- 
rizmi stattgefunden  haben,  um  die  Möglichkeit  zu  gewähren,  daß 
jene  Begriffe  und  die  für  dieselben  erfundenen  Kunstausdrücke  unter 
den  Fachleuten  —  denn  für  solche  schrieb  Alchwarizmi  —  schon 
landläufig  geworden  sein  konnten.  Aber  woher  war  damals  die 
Algebra  gekommen?  Zwei  Quellen  stehen  uns,  soweit  wir  sehen,  zu 
Gebot.  Was  Alchwarizmi  gibt  kann  griechischen,  kann  indischen 
Urspi-ungs  sein,  kann  vielleicht  einer  aus  beiden  Quellen  gemischten 
Strömung  sein  Dasein  verdanken,  wie  wir  ja  auch  in  seinem  Rechen- 

^)  Co 8 Bali,  Origine,  trasporto  in  Italia,  primi  progressi  in  essa  deW  algebra, 
Parma  1797.  I,  36.  *)  Hanke l  S.  248,  Note  **.  Dieser  Geber  darf  ja  nicht 
verwechselt  werden  mit  dem  Alchimisten  Abu  Müsä  Dschäbir,  der  gleichfalls 
als  Geber  in  der  Literargeschichte  genannt  wird  und  ein  Schüler  des  Dscha*far 
as  S&dik  (699 — 766)  war,  mithin  vor  Muhammed  ihn  Müsä  Alchwarizmi  gelebt 
hat.  Vgl.  Wüsten feld,  Geschichte  der  arabischen  Aerzte  und  Naturforscher 
S.  12,  Nr.  25.  ')  LUgäron  ä  un  pueblo,  donde  ftU  Ventura  haUär  ä  un  Algehrista 
con  quiin  se  curö  el  Sanson  desgrciciado.  Don  Quixote,  Parte  III,  L.  V,  c.  16 
am  Ende.  Hier  ist  augenscheinlich  Algehrista  der  Chirurg,  der  Zerbrochenes 
wieder  einrichtet. 


Arabische  Zahlzeichen.    Muhammed  ihn  Müb&  Alchwarizmi.  723 

buche  überwiegend  Indisches  und  daneben  einzehie  griechische  Spuren 
vorfanden.  Wir  wollen  zu  zeigen  yersuchen,  daß^  wenn  die  Algebra 
überhaupt  als  eine  Mischung  zu  betrachten  ist,  jedenfalls  griechische 
Elemente  in  ihr  weitaus  vorherrschen. 

Schon  die  beiden  Verfahren  der  Herstellung  und  Gegenüber- 
stellung, welche  voraussetzen ,  daß  auf  beiden  Seiten  der  Gleichung 
nur  Positives  stehe,  wenn  der  Ansatz  vollendet  ist,  können  nicht 
indisch  sein,,  weil  die  Inder  von  dieser  Bedingung  nichts  wissen.  Es 
kann  hier  nur  auf  Griechisches  gemutmaßt  werden,  und  vergleichen 
wir  unsere  Auszüge  aus  Diophant  (S.  472),  so  finden  wir  ganz 
genau  die  Vorschrift  der  Herstellung  uad  Gegenüberstellung,  in 
welcher  nur  keine  Namen  für  jenes  Verfahren  angegeben  sind,  Namen 
die  mithin  jünger  und  mutmaßlich  arabischer  Herkunft  sein  werden. 
Bei  Diophant  finden  wir  ferner  gerade  die  drei  Formen  unreiner 
quadratischer  Gleichungen,  welche  unser  Araber  kennen  lehrt,  wieder 
mit  einem  kleinen  unterschied,  auf  den  wir  noch  zu  reden  kommen. 
Vergleichen  wir  weiter. 

Alchwarizmi  hat  für  die  in  den  Gleichungen  auftretenden  Größen 
verschiedene  Namen.  Die  Unbekannte  heißt  schai,  die  Sache,  oder 
dschidr,  die  Wurzel.  Das  Quadrat  der  Unbekannten  heißt  mal,  Ver- 
mögen, Besitz.  Die  bekannte  Größe  wird  als  die  Zahl  benannt.  Der 
Name  des  Quadrats  kann  nun  sehr  wohl  aus  dem  griechischen 
dvvufiig,  Möglichkeit,  Vermögen  übersetzt  sein,  während  es  aus  dem 
indischen  varga,  die  Reihe,  unter  keinen  Umständen  abgeleitet  werden 
kann^).  Das  Wort  schai  für  die  Unbekannte  entspricht  weder  dem 
indischen  yavattävat,  noch  dem  iQiOnög  des  Diophant.  Letzteres  war 
freilich  nicht  mehr  zu  verwenden,  wenn  man  ihm  schon  eine  andere 
Bedeutung  gegeben  hatte,  wenn  man  ganz  zweckmäßig  die  bekannte 
Größe  der  Gleichung,  die  fiovdg  des  Diophant,  die  rüpa  der  Inder 
Zahl  genannt  hatte.  Der  Name  schai,  Sache,  für  die  Unbekannte  er- 
innert, wenn  man  ihn  nicht  als  in  der  Natur  der  Fragen  begründet 
einheimisch  entstanden  lassen  sein  will,  nur  an  das  ägyptische  hau, 
welches  gleichfalls  Sache  heißt  und  für  die  Unbekannte  gebraucht 
wird,  eine  Ähnlichkeit,  auf  welche  wir  oben  (S.  718)  vorbereitet 
haben*).  Nun  bleibt  noch  dschidr,  die  Wurzel,  für  die  Unbekannte 
erklärungsbedürftig.  Man  hat  darin  eine  Übersetzung  des  indischen 
müla  erkannt.     Das  ist   ganz   gewiß  richtig  für  die  Bedeutung  von 

*)  tJber  alle  diese  Namen  vgl.  Hankel  S.  264,  Note  *,  wo  freilich  weder 
alles  angegeben  int,  was  wir  hier  mitteilen,  noch  die  gleichen  Folgerungen  ge- 
zogen sind.  *)  Die  Vergleichung  zwischen*  schai  und  hau  haben  wir  in  dem 
Aufsatze:  „Wie  man  vor  vierthalbtausend  Jahren  rechnete"  in  der  Beilage  zur 
Allgemeinen  Zeitung  vom  6.  September  1877  ausgesprochen. 

46* 


724  33.  Kapitel. 

dschidr  als  Quadratwurzel  einer  Zahl,  welche  bei  den  Griechen  stets 
nXevQoi,  die  Seite,  hieß.  Aber  ob  nicht  zugleich  an  das  ^CJ^y^  des  Ni- 
komachus,  welches  in  der  Arithmetik  des  Boethius  sich  mit  er- 
weiterter Bedeutung  als  radix  wiederfindet^),  erinnert  werden  darf, 
ist  eine  doch  wohl  aufzuwerfende  Frage.  Es  könnte  ^lJ^t]  selbst  eine 
Übersetzung  von  müla  sein,  wenn  wir  an  die  indische  Beeinflussung 
Alexandrias  im  11.  S.  uns  erinnern;  es  könnte  müla  aus  gC^ri  über- 
setzt worden  sein,  wenn  wir  an  die  alexandrinische  Beeinflussung 
Indiens  denken;  es  könnte  dschidr  dem  einen  wie  dem  andern  Worte 
sein  Dasein  verdanken !  Soviel  scheint  daraus  hervorzugehen,  in 
diesen  Wortvergleichungen  werden  wir  den  Schlüssel  zu  dem  uns  be- 
schäftigenden Geheimnisse  nicht  finden. 

Täuschen  wir  uns  nicht,  so  liegt  dieser  Schlüssel  in  den  Figuren^ 
welche  Alchwarizmi  zur  Begründung  seiner  Auflösungen  der  xmreinen 
quadratischen  Gleichungen  gezeichnet  hat,  oder  vielmehr  in  den 
Buchstaben,  welche  er  zur  Bezeichnung  dieser  Figuren  verwendet*). 
Alchwarizmi  beweist  Algebraisches  geometrisch;  das  ist  von  vorn- 
herein griechisch,  nicht  indisch,  da  dem  Inder  gerade  das  entgegen- 
gesetzte Verfahren  Gewohnheit  ist.  Geometrisches  algebraisch  zu  be- 
handeln, und  nur  eine  unbestimmte  quadratische  Gleichung 

xy  =  ax  +  by  +  c 

(S.  631)  geometrische  Erörterung  fand,  welche  uns  an  einen  griechi- 
schen Ursprung  gerade  dieser  Gleichungsauflösung  denken  ließ.  Alch- 
warizmi bezeichnet  femer  seine  Figuren  mit  Buchstaben;  das  ist 
wieder  griechisch,  nicht  indisch.  (Jnd  nun  vollends  mit  welchen 
Buchstaben  bezeichnet  er  sie?  Allerdings  mit  arabischen  Buchstaben, 
aber  mit  solchen,  welche  eine  bunte  Reihenfolge  in  dem  späteren 
arabischen  Alphabete  darstellen  und  auch  durch  die  Reihenfolge 
Abudsched  nicht  ganz  erklärt  sind,  während  sie  durch  griechische 
Buchstaben  nach  dem  Gesetze  gleichen  Zahlwertes,  sofern  man  die 
Buchstaben  als  Zahlen  betrachtet,  ausgedrückt  die  vollständig  richtige 
griechische  Reihenfolge  zeigen,  und  auch  darin  griechisch  sich  geben, 
daß  sie  das  g  und  ^  ausschließen.  Welchen  Grund  könnte  ein 
Araber  gehabt  haben,  seinen  beiden  Zeichen,  welche  die  Zahlenbedeu- 


*)  Bctdices  autem  proportionum  voco  numeros  in  superiore  disposüione  descrip- 
to8,  quasi  quibus  omnis  summa  supradictae  comparationis  innitatur  (BoetiuB 
ed.  Friedlein  pag.  60  1.  1 — 3).  •)  Der  den  Charakter  einer  Methode  an  sich 
tragende  Gedanke  auf  die  Buchstaben  einer  Figur  und  deren  Reihenfolge  zu 
achten,  um  die  Herstammung  einer  Lehre  zn  erkennen,  rührt  von  Hultsch  her, 
der  ihn  in  seiner  Abhandlung  über  den  heronischen  Lehrsatz,  Zeitechr.  Math. 
Phys.  IX,  247  zuerst  in  Anwendung  gebracht  hat. 


Arabische  Zahlzeichen.    Muhammed  ihn  Müaä  Alchwarizm!.  725 

tung  6  und  10  haben  nnd  so  den  als  ausgeschlossen  von  uns  ge- 
nannten entsprechen,  also  den  ii;-Laut  und  den  ^'-Laut,  nicht  zu  be- 
nutzen? Keinen,  so  viel  wir  sehen.  Der  Grieche  hatte  solche  Gründe. 
Das  ^  war  ihm  im  Gewöhnlichen  überhaupt  kein  Buchstabe  mehr, 
und  das  Vy  wie  wir  uns  erinnern,  dem  einfachen  Striche  allzuähnlich. 
Der  ein  griechisches  Muster  benutzende  Araber  folgte  ihm,  aber  auch 
nur  dieser. 

Wir  behaupten  auf  diese  Begründung  gestützt:  Zum  mindesten 
die  geometrischen  Nachweisungen  für  die  Auflosimg  unreiner  qua- 
dratischer Gleichungen  bei  Muhammed  ihn  Müsä  Alchwarizm!  sind 
griechisch,  und  damit  gewinnen  auch  frühere  Behauptungen  erneute, 
für  manchen  Leser  vielleicht  erhöhte  Wahrscheinlichkeit,  die  Be- 
hauptung jene  Auflösung  der  Gleichung  xy  ^  ax  +  hy  +  c  bei 
Bhäskara  sei  griechischen  Ursprungs,  die  Behauptung,  die  griechische 
Algebra  habe  von  Euklid  zu  Heron,  vielleicht  zu  Diophant  in  voll- 
kommen selbständiger  Entwicklung  sich  ausgebildet. 

Wie  Alchwarizmi  zu  griechischer  Algebra  gekommen  sein  kann, 
darüber  vollends  ist  nach  der  allgemeinen  kulturgeschichtlichen  Über- 
sicht, welche  wir  im  vorigen  Kapitel  zu  geben  uns  gedrungen  fühlten, 
kein  Zweifel.  Die  griechischen  Gelehrten,  die  am  persischen  Hofe 
erschienen  waren,  gehörten  einer  Zeit  an,  welche  wohl  anderthalb 
Jahrhunderte  nach  Diophant  fällt,  und  durch  sie  kann  und  wird 
manches  aus  Diophant,  beziehungsweise  aus  Kenntnissen,  wie  sie  in 
griechischer  Sprache  ans  nur  bei  Diophant  erhalten  sind,  mitgeführt 
worden  sein.  Wir  erinnern  femer  daran,  daß  Johannes  von  Da- 
maskus im  YIII.  S.  zum  arabischen  Hofe  in  Beziehung  stand,  jener 
Mann  (S.  696),  der  mit  Pythagoras  und  Diophant  verglichen  worden 
ist,  vielleicht  doch  mehr  als  eine  Floskel  seines  Lobredners,  vielleicht 
ein  Hinweis  darauf,  daß  die  Gegenstände  pythagoräischer  wie  dio- 
phantischer  Arithmetik  und  Algebra  ihm  geläufig  waren. 

Es  fehlt  freilich  bei  Alchwarizm!  neben  Dingen,  in  welchen  er 
als  Schüler  griechischer  Algebraisten  sich  erweist,  auch  nicht  an 
Dingen,  in  welchen  er  sich  wie  von  den  Indem,  so  auch  von  ihnen 
zu  unterscheiden  scheint,  nicht  an  solchen,  in  welchen  er  über  sie 
hinausgeht.  Die  Griechen,  und  wie  die  Griechen  so  auch  die  Inder 
(S.  625),  bereiteten  eine  unreine  quadratische  Gleichung,  etwa 

aa?  +  hx  =  c) 

zur  Auflösung  dadurch  vor,  daß  sie  dieselbe  mit  dem  Koeffizienten  a 
des  quadratischen  Gliedes,  unter  Umständen  auch  mit  dem  Vierfachen 
desselben  4  a  vervielfachten.  Alchwarizmi  schlägt  den  entgegen- 
gesetzten  Weg   ein,    er    läßt    seine    Gleichimg   durch  jenen   Koeffi- 


726 


83.  Kapitel. 


zienten  dividieren^)  und  bringt  sie  so  in  die  in  seinen  Lösungen  vor- 
gesehene Form  x^  +  h^x  =  c^.  Wir  erinnern  uns  femer,  daß  es  min- 
destens sehr  wahrscheinlich  gemacht  werden  konnte,  Diophant  habe 
nicht  gewußt,  daß  manche  unreine  quadratische  (rleichuugen  zwei  von- 
einander verschiedene  positive  Wurzelwerte  besitzen  (S.  476).  Alch- 
warizmi  spricht  ausdrücklich  von  den  beiden  Wurzeln  der  Gleichungen 
x^  +  c^bx  (S.  720).  Das  dürfte  doch  wohl  auf  indischen  Einfluß 
zurückzuführen  sein,  so  daß  damit  das  Wort  Mischung,  dessen 
Möglichkeit  [wir  für  die  arabische  Algebra  in  sehr  einschränkende 
Klauseln  einschlössen,  sich  filr  dieses  eine  indische  Element  recht- 
fertigen könnte. 

Indisch  ist  auch  wohl  die  nur  uneigentlich  der  Algebra  zuge- 
teilte Regeldetri,  welche  in  der  Portsetzung  von  Alchwarizmis 
Werke  auftritt^)  und  ähnlich  bei  griechischen  Schriftstellern  uns 
nicht  bekannt  ist. 

Gehen  wir  in  unserem  Berichte  weiter,  so  kommen  wir  zu  einem 
unzweifelhaft  wieder  griechischen  Quellen  entstammenden  Kapitel  mit 
der   Überschrift   die  Messungen,    misdliät^).      Einzelheiten    mögen 

unsere  Behauptungen  bestätigen.  Alchwa- 
rizmi  spricht  den  pythagoräischen  Lehrsatz 
aus  und  will  ihn  beweisen.  Zum  Beweise 
dient  ihm  (Fig.  97)  das  in  acht  gleichschenk- 
/iX [^ \|  lige  rechtwinklige  Dreiecke  zerlegte  Qua- 
drat, die  Figur,  deren  wir  als  Fig.  34  zum 
Verständnis  der  berüchtigten  platonischen 
Menonstelle  (S.  217)  bedurften,  welche  auch 
von  Pjthagoras  mutmaßlich  zum  Beweise 
seines  Satzes  in  dem  ersten  Falle,  daß  das 
vorgelegte  rechtwinklige  Dreieck  die  Hälfte 
eines  Quadrates  war,  benutzt  wurde,  eine  Mutmaßung,  die  selbst 
wieder  zu  gesteigerter  Wahrscheinlichkeit  gelangt,  wenn  wir  die  dazu 
dienende  Figur  als  eine  griechische  wirklich  nachweisen  können.  Das 
können  wir  aber  trotz  des  arabischen  Fundortes  wieder  mit  Hilfe  der 


Fig.  97. 


*)  TÄ«  soltUion  is  the  same  tchen  two  Squares  or  three,  or  more  or  less  he 
specified;  you  reduce  them  to  one  Single  sqtMre  and  m  tJie  same  proportion  yau 
redace  also  the  roots  and  simple  numbers,  which  are  connected  iherewith  (Mo- 
hammed ben  Muaa,  Algebra  pag.  9).  *)  Mohammed  ben  Musa,  Algebra 
pag.  68—70.  ")  Ebenda  pag.  70—86.  Eine  franzÖBische  Übersetzung  dieses 
einen  Kapitels  hat  Aristide  Marre  nach  Rosens  englischer  Übersetzung  in 
den  N.  ann.  math.  Y,  557 — 670  gegeben.  Später  hat  er  sie  nach  dem  arabischen 
Gnmdtexte  verbessert  zum  erneuerten  Abdruck  bringen  lassen  in  Änndli  di 
matematica  pura  ed  applicata  T.  YII.    Boma  1866. 


Arabieche  Zahlzeichen.    Muhammed  ihn  Müsä  Alchwarizmi.  727 

Buchstaben.  Unter  den  12  Figaren,  welche  überhaupt  in  dem  Kapitel 
der  Messungen  yorkommen^  ist  eine  (ein  durch  einen  vertikalen  Durch- 
messer geteilter  Bj-eis)  ohne  jede  Bezeichnung.  Zehn  Figuren  sind 
durch  an  die  Seiten  beigeschriebene  Längenmaße  bezeichnet.  Die 
einzige  zum  pythagoiilischen  Lehrsatze  gehörige  Figur  trägt  Buch- 
staben an  den  Ecken  und  zwar  solche^  die  nach  unserer  vorerwähnten 
Methode  ins  Griechische  übertragen  eine  richtige  Reihenfolge  der  ge- 
wählten Buchstaben  geben  ^).  Vierecke,  heißt  es  alsdann  weiter,  sind 
von  fünf  Arten:  Quadrate,  Rechtecke,  Rhomben,  Rhomboide,  un- 
regelmäßige Vierecke.  Das  sind  ganz  genau  die  fünf  euklidischen 
Vierecke  im  Gegensätze  zu  den  indischen  (S.  651).  Alchwarizmi 
unterscheidet  dabei  Länge  und  Breite  der  Figuren,  unter  ersterer  die 
größere,  unter  letzterer  die  kleinere  Abmessung  verstehend.  Das  ist 
wieder  alexandrinisch  und  von  ägyptischer  Zeit  her  in  Gebrauch  (S.394). 
Die  Aufgabe  wird  gestellt:  in  ein  gleichschenkliges  Dreieck,  dessen 
beide  gleiche  Schenkel  10  und  dessen  Grundlinie  12  zur  Länge  hat, 
ein  Quadrat  einzuzeichnen.     Die  Höhe   des  Dreiecks  ergibt  sich  ihm 

als  8,  die  Quadratseite  als  4y.  Genau  dieselbe  Aufgabe  mit  den- 
selben Maßzahlen  findet  sich  bei  Heron^),  denn  darin  wird  man  doch 
wohl  eine  Verschiedenheit  nicht  erkennen  wollen,  daß  Heron  von 
seinem  gleichschenkligen  Dreiecke  nur  die  Grundlinie  mit  12,  die  Höhe 
mit  8  bekannt  gibt,  woraus  man  die  beiden  gleichen  Seiten  mit  je  10 
berechnen  könnte,  wenn  Heron  es  auch  unterläßt.  Eine  gewisse  Ver- 
schiedenheit bietet  nur  die  Art  der  Berechnung  der  Quadratseite,  die 
in  dem  arabischen  Texte  deutlicher  ist  als  in  unserem  griechischen 
Wortlaute.  Heron  nämlich  verschafft  sich  ohne  weitere  Begründung 
die  Quadratseite,  indem  er  das  Produkt  von  Höhe  und  Grundlinie  durch 
die  Summe  von  Höhe  und  Grundlinie  dividiert;  Alchwarizmi  dagegen 
rechnet  —  ob  nach  griechischer  Vorlage  lassen  wir  dahingestellt  — 
dieselbe  Formel  erst  algebraisch  aus,  indem  er  die  Quadratseite  als 
Unbekannte  wählt  und  die  vier  Stücke,  in  welche  die  Einzeichnung 
des  Quadrates  das  ursprüngliche  Dreieck  zerlegt,  ihrer  Fläche  nach 
einzeln  berechnet,  welche  alsdann  zusammen  der  bekannten  Gesamt- 
iiäche  gleich  gesetzt  werden.  Allerdings  fehlen  auch  in  dem  Kapitel 
der  Messungen  gewisse  Dinge,  welche  wir  sonst  bei  Schriftstellern, 
die  unmittelbar  an  Heron  sich  anlehnen,  zu  finden  gewohnt  sind. 
Die    näherungsweise   Berechnung    des    gleichseitigen   Dreiecks    unter 


^)  Rosen  hat  zwar  R  wo  wir  ^  haben,  doch  ist  dieses  offenbar  Wirkung 
eines  Schreibfehlers,  indem  die  beiden  entsprechenden  arabischen  Bachstaben 
sich  nur  durch 'ein  kleines  Pünktchen  unterscheiden.  *)  Heron  (ed.  Hultsch) 
pag.  74—76. 


728  38.  Kapitel. 


26 


Benutzung  von  )/3  =  tv  ,  die  heronische  Dreiecksformel  aus  den  drei 

Seiten^  jene  altagyptischen  Annäherungswerte  ftir  Yierecksfiächen 
als  Produkte  der  arithmetischen  Mittel  von  je  zwei  Gegenseiten  lehrt 
Alchwanzmi  nicht  Yon  Stereometrischem  hat  nur  der  Inhalt  einer 
abgestumpften  quadratischen  Pyramide,  deren  Ghnndfläche  die  Seite  4, 
die  Abstumpfungsfiäche  die  Seite  2  besitzt,  während  die  Höhe  10  ist, 
Beachtung  gefunden.  Die  Berechnung  selbst  kann  nach  griechischem 
Muster  geführt  sein,  wiewohl  gerade  diese  Zahlen  in  keinem  der  be- 
kannten heronischen  Beispiele  vorkommen.  Auch  ein  indisches  Ele- 
ment ist  übrigens  mit  Bestimmtheit  in  diesem  Kapitel  nachzuweisen. 
Die  Yerhältniszahl   n   wird   nämlich  in   dreierlei   Größen  angegeben. 

22 

Davon  werde  --  „im  praktischen  Leben  angewandt,  wiewohl  es  nicht 
ganz  genau  sei;  die  Geometer  besitzen  zwei  andere  Methoden'',  und 

62882 

diese  sind  die  indischen  tc  =  ylO  und  «  =  ööqöö ' 

Nun  kommt  ein  letzter  wieder  ganz  verschieden  gearteter  Ab- 
schnitt, an  Länge  ziemlich  genau  die  Hälfte  des  ganzen  Buches  aus- 
machend^) und  dadurch  den  Beweis  liefernd,  daß  in  den  Augen  des 
Verfassers  hier  wohl  der  Schwerpunkt  seiner  Aufgabe  liegen  mochte. 
Es  handelt  sich  um  die  ungemein  verwickelten,  um  nicht  zu  sagen 
verworrenen  Bestimmungen  über  Erbrecht,  über  Freimachung  von 
Sklaven  und  dergleichen,  welche  in  dem  Koran,  dem  bürgerlichen 
nicht  minder  als  religiösen  Gesetzbuche  der  Araber,  enthalten  waren, 
und  welche  mit  ihren  sich  oft  widersprechenden  Forderungen  nicht 
selten  eine  Entscheidung  nötig  machten,  die  von  dem  Rechte  und 
der  Rechnung  gleichmäßig  abwich,  weil  es  untunlich  schien,  nur 
das  eine  zugunsten  des  anderen  zu  verletzen.  Aufgaben  wie  jene 
römische  Erbschaftsfrage  von  der  Witwe,  die  nach  dem  Tode  des 
Mannes  Zwillinge  zur  Welt  bringt,  sind  in  diesem  Abschnitte  nicht 
enthalten,  was  ja  zum  voraus  keineswegs  sicher  war,  da  möglicher- 
weise auch  diese  Doktor&age  einem  arabischen  Rechenkünstler  hätte 
bekannt  werden  können  und  dann  gewiß  seine  Sammlung  kitzlicher 
Fälle  zu  bereichem  beigetragen  haben  würde.  Aber  wenn  auch 
Ähnlichkeiten  und  Übereinstimmungen  mit  dem  römischen  Rechte 
bei  den  Arabern  nachzuweisen  sind,  ableitbar  aus  der  langen  Geltung 
römischen  Rechtes  in  Palästina  und  Syrien,  im  Erbrecht  finden  sich 
keine  Yergleichungspunkte.  Es  ist  ganz  unabhängig  von  fremden 
Einflüssen  auf  ausschließlich  semitischem  Boden  entstanden,  und  nur 
die  hebräische  Gesetzgebung,  die  ebenso  wie  die  arabische  auf  eine 


^)  Mohammed  ben  Muea,  Algebra  pag.  86—174. 


Arabische  Zahlzeichen.     Mnhammed  ihn  Mügä  Alchwarizm!.  729 

altsemitische  gemeinsame  Bechtsauffassnng  zurückreicht;  hat  hierbei 
mitgewirkt;^).  Dieser  Abschnitt  der  Algebra  ist  also  arabisch  durch 
und  durch  und  ist  als  Grundlage  zahlreicher  späterer  besonderer 
Schriften  zu  betrachten,  welche  geradezu  von  den  Erbteilnngen 
und  den  dabei  vorkommenden  Rechnungen  ausschließlich 
handeln.  Ihn  Chaldün,  ein  arabischer  Gelehrter,  der  von  1332  bis 
1406  im  Okzidente  lebte,  hat  diesen  Teil  der  mathematischen  Wissen- 
schaften unter  dem  Namen  al  farä'id,  d.  h.  gesetzlich  festgestellte 
Bedingung,  ausführlich  geschildert  und  Schriftsteller  genannt,  welche 
sich  mit  demselben  besonders  beschäftigten^).  Gleiches  findet  sich 
bei  Hadschi  Chalfa'),  einem  Bibliographen  des  XVII.  S. 

Wir  haben  die  beiden  Lehrbücher  Alchwarizmis,  sein  Lehrbuch 
der  Rechenkunst  und  das  der  Zeit  nach  ältere  der  Algebra,  verhält- 
nismäßig sehr  ausführlich  besprochen.  Die  ganz  außergewöhnliche 
Wichtigkeit,  welche  beide  Schriften  für  die  Entwicklung  der  abend- 
ländischen Mathematik  gewonnen  haben,  wird  noch  nachträglich 
dieses  längere  Verweilen  rechtfertigen.  Schon  jetzt  dürfte  aber  unsere 
Rechtfertigung  von  dem  Gesichtspunkte  aus  geliefert  sein,  daß  uns 
nunmehr  die  Grundlage  genau  bekannt  ist,  welche  durch  den  ersten 
arabischen  Schriftsteller  über  Mathematik  natürlich  aus  fremdem 
Sto£Fe  geschaffen  war,  eine  Grundlage,  auf  welcher  seine  Landsleute 
nun  fortbauen  konnten  und  mußten,  mochten  sie  gleich  ihm  die  schon 
zubehauenen  Steine  den  Trümmern  einer  &emdländischen  Bildung  ent- 
nehmen, oder  mochten  sie  selbst  ganz  Neues  schaffend  ihre  Be- 
fähigung mehr  als  bloße  Aufbewahrer  angeeigneten  Gutes  zu  sein 
glänzend  bewähren. 

Was  das  Verhältnis  betrifft,  in  welchem  gemischt  Griechisches 
und  Indisches  von  Alchwarizmi  aufgenommen  und  verarbeitet  wurde, 
so  läßt  sich  dasselbe  kurz  dahin  angeben,  daß  als  indisch  vornehm- 
lich die  Rechenkunst,  als  griechisch  dagegen,  wenn  auch  nicht  unter 
Ausschließung  jeglicher  aus  Indien  stammender  Veränderung,  die 
Algebra  sowie  die  Geometrie,  mit  anderen  Worten  die  eigentliche 
wissenschaftliche  Mathematik  sich  erweist. 

Diese  fast  gegensätzliche  Scheidung  der  beiden  Richtungen, 
welche  bei  Muhammed  ihn  Müsa  Alchwarizmi  sich .  einigermaßen 
verwischte,  scheint  auch  fast  zwei  Jahrhunderte  nach  ihm  im  all- 
gemeinen noch  bemerklich  gewesen  zu  sein.     Erzählt  doch  der  be- 


*)  Eremer  I,  627 — 632.  •)  Ibn  Ehaldonn,  PröUgomines  in  den  Notices 
et  extraits  des  manuserita  de  la  Bibliothique  imperiale  T.  XXI,  Partie  1,  pag.  21 
bis  26  und  188—140.  Über  Ibn  Khaldoun  aelbfit  vgl.  Suter  169—170,  Nr.  420. 
•)  H&^gi  Halifa,  Bd.  IV,  S.  893flgg. 


730  83.  Kapitel. 

rühmteste  unter  allen  arabischen  Ärzten  Abu  *Ali  Husain  ibn 
^Abdallah  ibn  Husain  ibn  ^Ali  as-Schaich  ar-Ra'is  Ibn  Sinä  oder 
Avicenna^  wie  man  ihn  gewöhnlich  .nennt ^  er  habe^)  in  seinem 
zehnten  Lebensjahre  —  das  war  zwischen  990  und  995  n.  Chr.  —  in 
Buchära  von  einem  Lehrer  Unterricht  im  Lesen  des  Koran  und  in 
den  Wissenschaften  erhalten  und  habe  bald  den  Gegenstand  allgemeiner 
Bewunderung  gebildet;  dann  habe  der  Vater  ihn  zu  einem  Manne 
geschickt;  der  mit  Kohl  handelte^  und  der  in  der  indischen  Rechen- 
kunst wohl  erfahren  war,  damit  er  von  fiesem  lerne. 

Selbst  Muhammed  ibn  Müsa  hat  neben  seiner  Algebra  noch  eine 
Schrift  verfaßt,  in  welcher  er  nach  höchster  Wahrscheinlichkeit 
Gegenstände  sehr  ähnlicher  Natur  nach  einer  weniger  wissenschaft- 
lichen als  praktischen  Methode,  die  auch  bei  den  Indem,  wenn  auch 
etwas  abweichend  (S.  618)  uns  begegnet  ist,  behandelte*).  Wir  kenneu 
freilich  nur  die  Überschrift  des  uns  verlorenen  Buches  Über  die 
Vermehrung  und  Verminderung,  fil  dscham^  wattafrik,  und  aus 
diesem  Titel  selbst  ließe  sich  gar  nichts  entnehmen,  wenn  er  nicht 
häufiger  vorkäme,  eitamal  begleitet  von  der  Abhandlung,  der  er  als 
Überschrift  dient,  und  aus  deren  Inhalt  man  auf  den  der  gleich- 
betitelten aber  nicht  mehr  vorhandenen  Arbeiten  schließen  zu  dürfen 
glaubt.  So  er^nzt  man  sich  die  Schrift  über  die  Vermehrung  und 
Verminderung  des  Alchwarizmi,  so  die  des  Sind  ibn  ^Ali,  des  Sinän 
ibn  Alfath.  Von  diesen  beiden  war  der  erstere  einer  der  Astro- 
nomen, welche  Chalif  Almamün  zugleich  mit  Alchwarizmi  in  Diensten 
hatte,  und  ebenso  wie  von  diesem,  ebenso  wie  von  dem  vielleicht 
nicht  viel  späteren  Sinän  ibn  Alfath  ist  auch  von  ihm  eine  Schrift 
über  indische  Rechenkunst  ausgegangen").  Die  zur  Ergänzung  dienende 
Schrift  ist  in  einem  dem  Mittelalter  entstammenden  lateinischen  Texte 
vorhanden*)  und  ist  betitelt:  Liber  augmenti  dimimäionis  vocatus 
numeratio  divinationis  ex  eo  quod  sapientes  Indi  postierunt,  quen% 
Abraham  compilavit  et  secundum  librum  qui  Indorum  dictus  est  com- 
posuit  Ob  dieser  Abraham,  wie  man  vermutet  hat,  der  sonst  unter 
dem  Namen  Ibn  Esra  bekannte  gelehrte  Jude  ist,  der  1093  bis 
1168  lebte,  ob  ein  Araber  Ibrahim  sich  darunter  verbirgt,  wie  man 
früher  als  einzige  Möglichkeiten  in  Wahl  stellte,  ist  keineswegs  aus- 
gemacht.   Gewichtige  Gründe  werden  vielmehr  dafür  beigebracht,  der 


*)  Wüstenfeld,  Axabißche  Aerzte  und  Naturforscher  S.  64—76,  Nr.  128 
Abul  Fharagius  Eistoria  Dynast,  (ed.  Pocock)  pag.  229  der  lateinischen  Über- 
setzung. Suter  86 — 90,  Nr.  198.  *)  Woepcke  in  dem  Journal  Asiatique 
1.  Halbjahr  1868,  pag.  614.  *)  Ebenda  490.  *)  Libri,  Histoire  des  sciences 
maihSmatiques  en  Italie  I,  804—871.  Über  einige  dunkle  Stellen  vgl.  Schnitzler, 
Zeitschr.  Math.  Phys.  IV,  383—889. 


Arabische  Zahlzeichen.    Muhammed  ihn  Mü8&  Alchwarizint.  731 

rätselhafbe  Verfasser  sei  ein  gelehrter  Ägypter  Sodscha  ihn  Aslam^) 
gewesen;  von  dem  man  weiß,  daß  er  ein  Buch  über  die  Vermehrung 
und  über  die  Verminderung  geschrieben  hat.  Die  Namensverschieden- 
heit soll  dabei  kaum  ins  Gewicht  fallen^  da  der  ohnedies  sehr,  seltene 
Name  Aslam  in  arabischen  Schriftzügen  verhältnismäßig  leicht  mit 
Ibrahim  verwechselt  werden  könne*).  Unzweifelhaft  dagegen  ist  es, 
daß  das  gelehrte  Verfahren  den  Indern  zugeschriehen  ist,  da  ihrer 
nicht  bloß  in  der  Überschrift  gedacht  wird,  sondern  auch  im  Texte, 
wo  der  Verfasser  wiederholt,  er  habe  dieses  Buch  nach  denjenigen 
Erfindungen  zusammengestellt,  welche  die  Weisen  der  Inder  über  die 
Rechnung  der  Annahme  gemacht  haben;  es  sei  nützlich  für  den, 
welcher  es  beachte  und  sich  bemühe  und  beharre  und  dessen 
Meinung  verstehe. 

Die  eigentliche  Methode  zu  erläutern,  wollen  wir  die  erste  Auf- 
gabe hier  mitteilen:  „Ein  gewisser  Besitz  (census),  von  welchem  man 
dessen  Drittel  und  dessen  Viertel  weggenommen  hat,  ließ  8  als  Rest. 
Wie  groß  war  der  Besitz?  Die  Methode  der  Rechnung  desselben  ist, 
daß  Du  aus  12  eine  Wagschale  (lancem)  bildest.  Der  dritte  und 
der  vierte  Teil  entstehen  daraus.  Du  nimmst  den  dritten  und  vierten 
Teil  weg,  welche  7  betragen  und  5  bleibt  übrig.  Stelle  8  gegenüber, 
nämlich  den  Rest  des  Besitzes,  und  es  wird  klar,  daß  Du  um  3  in 
der  Verminderung  geirrt  hast.  Diese  bewahre.  Sodann  nimm  Dir 
eine  zweite  Wagschale,  welche  durch  die  erste  teilbar  sei,  etwa  24; 
nimm  ihren  dritten  und  vierten  Teil,  also  14  weg,  10  bleibt  übrig. 
Stelle  8  gegenüber,  den  Rest  des  Besitzes.  Es  wird  klar,  daß  Du 
um  2  in  der  Vermehrung  geirrt  hast.  Vervielfache  jetzt  den  Irr- 
tum 2  der  zweiten  Wagschale  •  mit  der  ersten  Wagschale  12  zu  24, 
sodann  vervielfache  den  Irrtum  3  der  ersten  Wagschale  mit  der 
zweiten  Wagschale  24  zu  72.  Addiere  nun  24  und  72,  weil  der  eine 
Irrtum  in  der  Verminderung,  der  andere  in  der  Vermehrung  war; 
wären  dagegen  beide  in  der  Verminderung  oder  in  der  Vermehrung 
gewesen,  so  müßtest  Du  die  kleinere  Zahl  von  der  größeren  abziehen. 
Nachdem  Du  die  24  und  72  addiert  hast,  deren  Summe  96  ist,  addiere 
auch  die  zwei  Fehler  2  und  3;  sie  geben  5.  Nun  teile  96  durch  5, 
um    zu    erfahren,    welche    Zahl    es    sei,    aus    welcher    die    Aufgabe 

stammt,  und  es  kommt  10  -    heraus.^' 


6 


^)  Suter  43,  Nr.  81  und  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathematik  XTV, 
164  zu  Nr.  81.  »)  Steinschneider  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  Xu,  42  und 
Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathematik  UI,  118—123  (1880).  Suter  in 
der  Bibliotheca  Mathematica  3.  Folge  lU,  350 — 864  (1902)  und  zuletzt  in  den 
Verhandlungen  des  3.  internationalen  Mathematiker-Kongresses  1904  in  Heidel- 
berg.    S.  568—661. 


732  88.  Kapitel 

Unmittelbar  anschließend  fährt  der  Verfasser  fort  als  Regel, 
offenbar  aber  im  Gegensatze  zn  dem  erst  gelehrten  Verfahren,  Tor- 
zoschreiben:  ,,Man  nehme  12  als  die  unbekannte  Zahl,  ans  welcher 
die  Wegnahme  des  dritten  und  vierten  Teiles  5  hervorbringt  und 
frage  nun,  womit  wird  5  vervielfacht,  um  12  hervorzubringen?    Das 

2  2  .  1 

gibt  2      :   vervielfache  also  die  2  -r  mit  8  und  es  entsteht  19      " 

Das  ist  genau  die  ishta  karman  der  Inder,  das  Verfahren  mit  der 
angenommenen  Zahl  (ä.  618),  Von  welchem  die  Hauptregel  als  eine 
Abart  sich  erweist,  auf  welche  wir  gleich  zurückkommen. 

Die  Methode  der  Vermehrung  und  Verminderung  wird  noch  an 
vielen  anderen  Beispielen  gelehrt  und  das  Ergebnis  häufig  mittels 
noch  anderer  Rechnungsweisen  gefunden.  Darunter  ist  auch  das 
Umkehrungsverfahren ^)  unter  dem  sonderbaren  Namen  der  Wort- 
rechnung,  regtUa  sermonis.  Auch  dieses  haben  wir  bei  den  Indem 
kennen  gelernt,  und  es  kann  uns  als  Bestätigung  dienen,  daß  Abraham 
mit  Recht  auch  die  Methode  der  Vermehrung  und  Verminderung  eben- 
denselben zuschreibt. 

Die  Abweichung  der  letzteren  von  dem  Verfahren  mit  der  an- 
genommenen Zahl  besteht,  wie  wir  sahen,  darin,  daß  dort  nur  ein 
einmaliger  Versuch  genügt,  während  hier  zwei  falsche  Ansätze  ge- 
bildet werden,  wodurch  sich  auch  der  Name  reguia  dchatayn,  Regel 
der  zwei  Fehler,  rechtfertigt^,  welchen  die  Methode  bei  späteren 
abendländischen  Schriftstellern  führt.  Daß  sie  auch  Methode  der 
Wagschalen  heißt  und  in  eigentümlicher  Schreibweise  auftritt, 
werden  wir  noch  im  37.  Kapitel  zu  besprechen  haben.  Ihre  alge- 
braische   Begründung    ist    sehr    einfach.      Es    sei    ax » &,    folglich 

a;  =  —  •     Nun   setzt   man   einmal  a:  =  w^ ,  das  andremal  x  =  n^  und 

erhält  ani  =  6  — c^,  awg  =  6 -f  c^,  wo  e^  und  c^  die  beiden  Fehler 
sind,  der  erstere  in  der  Verminderung,  der  zweite  in  der  Vermehrung. 

Jetzt  soll  X  ==  *^-*-T  *--*   ßein,  und  das  ist  auch  der  Fall,  indem 

ist.     Der  Fall,  daß  beide  Fehler  in  der  Verminderung,  oder  beide  in 

der  Vermehrung  ausfallen,  kann  entsprechend  bewahrheitet  werden. 

Wir  dürfen  allerdings,  wenn  wir  den  doppelten  falschen  Ansatz  als 

indisch  beanspruchen,  nicht  außer  Augen  lassen,  daß  wir  (S.  372)  in 

*)  Libri  1.  c.  813.  *)  Diese  richtige  Übersetzung  bei  Hankel  S.  2ö9, 
Anmerkung. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbasiden.   Die  Geometer  unter  den  Bnjiden.    733 

einem  doppelten  falschen  Ansätze  das  Rechnungsverfahren  vermuteten, 
welches  Heron  in  seiner  Yermessungslehre  anwandte,  nm  zu  dort  vor- 
kommenden angenäherten  Quadrat-  und  Kubikwurzeln  zu  gelangen. 
Hier  liegt  unter  allen  Umständen  eine  geschichtliche  Schwierigkeit  vor, 
auf  die  wir  uns  verpflichtet  fühlen  hinzuweisen,  wenn  wir  sie  auch 
nicht  zu  lösen  imstande  sind.  Jedenfalls  gehört  auch  diese  Methode 
zu  dem  Grundstocke  mathematischer  Wahrheiten,  welcher  in  der  Zeit 
des  Muhammed  ihn  Müsä  Alchwanzmi,  also  im  ersten  Drittel  des 
IX.  S.,  Eigentum  der  Araber  war.  Wir  werden  nun  bei  einzelnen 
Schriftstellern,  von  denen  wir  zu  reden  haben,  sehen,  welche  Ver- 
mehrungen teils  als  neuerdings  erworbenes  fremdes  Wissen,  teils  als 
eigene  Erfindung  hinzutreten. 


34.  Kapitel. 

Die  Mathematiker  unter  den  Abbasiden.     Die  Geometer  anter 

den  Bnjiden. 

Als  der  Zeit  nach  Nächste  fordern  die  sogenannten  drei  Brüder 
unsere  Aufmerksamkeit^).  Müsä  ibn  Schäkir  soll  in  seiner  Jugend 
Räuber  gewesen  sein,  d.  h.  hatte  wohl  zu  einer  der  räuberischen 
Horden  gehört,  welche  damals  wie  noch  jetzt  Unsicherheit  der  Wüsten- 
gegend hervorbrachten,  ohne  daß  die  persönliche  Ehrenhaftigkeit  der 
einzelnen  Mitglieder  in  arabischer  Auffassung  dadurch  beeinträchtigt 
erschiene.  Dementsprechend  nahm  Müsä  später  am  Hofe  des  Ghalifen 
Almamün  eine  hohe  Stellung  ein  und  erwarb  sich  die  Gunst  des 
Herrschers  in  solchem  Maße,  daß  dieser  nach  Müsas  Tode  sich  die 
Erziehung  der  drei  hinterlassenen  Söhne  Muhammed,  Ahmed  und 
Alhasan  angelegen  sein  ließ.  Deren  Wohlhabenheit  wird  dadurch 
bezeugt,  daß  sie  drei  Übersetzer  aus  dem  Griechischen,  darunter 
Täbit  ibn  Kurrah  (S.  703)  mit  je  500  Dinaren  monatlich  unterstützten*). 
Der  Name  des  ältesten:  Muhammed  ibn  Müsä  ibn  Schäkir  kanu,  wenn 
der  Vatersname  nicht  von  dem  des  Großvaters  begleitet  ist,  leicht 
zur  Verwechslung  mit  Alchwarizmi  führen,  um  so  leichter,  als  alle 
drei  Brüder  tüchtige  Astronomen  und  Mathematiker  wurden.  Von 
ihnen  stammt  die  sogenannte  Gärtnerkonstruktion  der  Ellipse  mittels 
eines  an  zwei  Punkten  festgehaltenen  und  durch  einen  Stift  gespannten 
Fadens  gemäß  dem  Berichte  eines  Arabers  Alsidschzi,  welcher  zu 
Ende  des  X.  S.  lebte  und,  selbst  Mathematiker  von  Bedeutung,  am 

^)  Vgl.  Mohammed  ben  Mnaa  Algebra.  Vorrede  pag.  XI,  Anmerkung. 
Fihrist  24—26.     Suter  20—21,  Kr.  48.         *)  Suter  22. 


734  S4.  Kapitel. 

Schlüsse  dieses  Kapitels  uns  beschäftigen  wird.  Eine  geometrische 
Schrift  ist  in  mittelalterlicher  lateinischer  Übersetzung  auf  uns  ge- 
kommen^). Sie  führt  den  Titel  Liber  trium  fratrum  de  geometria  und 
beginnt  mit  den  Worten:  „Verba  filiorum  Moysi,  filii  Schiae,  id  est 
Mahumeti  Hameti  et  Hason'^  oder  nach  anderer  Lesart  in  einem  zweiten 
Kodex  „Verba  filiorum  Moysi,  filii  Schaker,  Mahumeti  Hameti  Hasen'' 
und  danach  ist  die  Bezeichnung  der  drei  Brüder,  beziehungsweise 
der  drei  Söhne  des  Müsä  ihn  Schäkir  geworden,  unter  welcher  die 
Verfasser  genannt  zu  werden  pflegen.  Manches  Interessante  findet 
sich  dort,  wenn  auch  wenig  Neues,  da  fast  alles,  um  nicht  zu  sagen 
alles,  auf  griechische  Vorlagen  zurückgeführt  werden  kann.  Auch 
eine  durch  Bewegungsgeometrie  erzielte  Dreiteilung  des  Winkels 
dürfte  griechischen  Ursprungs  sein.  Vorzugsweise  die  heronische 
Formel  für  die  Dreiecksfläche  aus  den  drei  Seiten  hat  die  Aufmerksam- 
keit eines  Forschers  auf  sich  gezogen,  der  den  Beweis  obwohl  einiger- 
maßen von  dem  heronischen  verschieden  doch  als  abhängig  von  dem- 
selben erkannte  und  insbesondere  aus  den  Buchstaben,  mit  welchen 
die  Eckpunkte  der  Figur  bezeichnet  sind,  den  Nachweis  führte,  daß 
diese  Figur  einem  griechischen  Muster  nachgebildet  sein  müsse,  so 
eine  vielfach  mit  Erfolg  anwendbare  (S.  724)  neue  kritische  Methode 
zur  Ermittelung  des  Ursprungs  mathematischer  Untersuchungen  er- 
findend. Vielleicht  war  es  Muhammed,  der  älteste  der  drei  Brüder, 
welcher  die  Kenntnis  des  heronischen  Satzes  nach  Bagdad  brachte, 
während  allerdings  andere  heronische  Schriften  schon  zu  Alchwarizmis 
Zeiten,  wie  wir  aus  manchen  bei  diesem  auftretenden  Dingen  schließen 
durften,  bekannt  gewesen  sein  mögen.  Jedenfalls  weiß  man  von 
einer  Reise  nach  den  griechischen  Gebieten,  welche  jener  machte, 
und  daß  es  auf  der  Rückkehr  von  dieser  Reise  war,  daß  er  Täbit 
ihn  Kurrah  kennen  lernte,  welchen  er  aufforderte  ihn  nach  Bagdad 
tu  begleiten,  und  so  kam  auch  dieser  letztere  an  den  Chalifenhof, 
und  wurde  in  das  Astronomenkollegium  Almu'tadids  aufgenommen. 
Von  dem  Leben  (826 — 901)  und  der  reichen  Übersetzungstätigkeit 
des  gelehrten  Täbit  ihn  Kurrah  haben  wir  (S.  703 — 704)  gesprochen. 
Wir  haben  es  jetzt  mit  ihm  als  Originalschriftsteller  zu  tun,  und 
da  finden  wir  eine  Abhandlung  von  ihm,  welche  unsere  Aufmerksam- 
keit zu  fesseln  ein  entschiedenes  Anrecht  besitzt^).  Der  Gegenstand 
ist  ein  zahlentheoretischer  und  zwar  ein  solcher,  der  nur  der  grie- 

»)  Vgl.  Hultsch  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  IX,  241—242  und  247  in 
dem  Aufsätze  ,,Der  heronische  Lehrsatz  über  die  Fläche  des  Dreiecks  als  Funk- 
tion der  drei  Seiten'^  und  Jahresbericht  über  Mathematik  im  Alterthum  für 
1878—79  Yon  Max  Curtze.  Ein  von  ebendiesem  besorgter  Abdruck  des  Buches 
in  den  Nova  Acta  der  Leop.-Car.  Akademie.    Halle  1886.        *)  Notice  sur  une 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbaaiden.    Die  Geometer  unter  den  Bigiden.    735 

einsehen,  nieht  ebenso  der  indischen  Zahlentheorie  angehört.  Täbit 
sagt  auch  in  den  Einleitungssätzen,  daß  es  Betrachtungen  seien, 
welche  der  pythagoraischen  Lehre  angehörten,  daß  einiges  über  das 
zu  Behandelnde  bei  Nikomachus  und  Euklid  sich  finde;  er  geht 
endlich,  wieder  nach  seinen  eigenen  Worten,  über  diese  beiden  hinaus 
und  liefert  somit  für  uns  das  erste  Beispiel  einer  wirklich  arabischen 
Leistung  auf  mathematischem  Boden.  Es  handelt  sich  um  yi»llkommene 
und  um  befreundete  Zahlen.  Für  die  Bildung  der  ersteren  hat  Euklid 
die  Regel  angegeben  (S.  268),  Nikomachus  sie  wiederholt.  Die 
zweiten  hat  nach  Jamblichus  schon  Pjthagoras  gekannt  und  die 
Zahlen  220  und  284  ab  Beispiele  aufgestellt,  wie  Freunde  sein 
sollen,  ein  jeder  dem  andern  ein  zweites  Ich  (S.  167).  Aber  wie  man 
solche  befreundete  Zahlen  finde,  darüber  äußert  sich  auch  Jam- 
blichus nicht.  Täbit  ihn  Kurrah  hat  eine  solche  Vorschrift  gegeben, 
welche  mit  der  Euklids  zur  Bildung  der  vollkommenen  Zahlen  in 
Zusammenhang  steht  und  dadurch  sich  als  den  Kern  der  Aufgabe 
enthüllend  kennzeichnet.     Sind 

^==3.2«-l,        g-3.2"-i-l,        r^9'  2««-  ^  -  1 

insgesamt  Primzahlen,  so  sind  Ä==2"  -p  -  q  und  j?  =  2"  •  r  be- 
freundete Zahlen.  Bei  n  =  2  ist  p  -^  11,  }  =  5,  r  =  71  und  A  =  220, 
JB=284. 

Die  befreundeten  Zahlen  haben  übrigens  von  da  an  nicht  auf- 
gehört den  Arabern  bekannt  zu  sein.  In  einer  mystischen  Schrift 
über  die  Zwecke  des  Weisen  hat  El  Madschriti,  der  Madrider 
(t  1007),  die  Vorschrift,  man  solle  die  Zahlen  220  und  284  auf- 
schreiben und  die  kleinere  wem  man  will  zu  essen  geben  und  selbst 
die  größere  essen;  der  Verfasser  habe  die  erotische  Wirkung  davon 
in  eigener  Person  erprobt^),  und  Ibn  Chaldün  weiß  gleichfalls  von 
den  wunderbaren  Kräften  eben  dieser  Zahlen,  als  Talismane  gebraucht, 
zu  erzählen*). 

Alsidschzi  berichtet  auch  kurz  über  eine  Dreiteilung  des  Winkels 
durch  Täbit  ibn  Kurrah.  Figur  und  Wortlaut  stimmen  so  nahe  mit 
einem  Satze  aus  dem  IV.  Buche  des  Pappus  überein*),  daß  an  einer 
genauen  Benutzung  dieses  Schriftstellers  nicht  zu  zweifeln  ist,  auch 
scheint  Täbit  kein  Hehl  daraus  gemacht  zu  haben,  daß  er  nicht  der 


theorie  ajoutee  par  Thdbit  ben  Korrah  ä  Varithmetique  speculative  des  Grecs  von 
Woepcke  im  Journal  Asiatique  fOr  Oktober  und  Novembei  1862  pag.  420 — 429. 
^)  Steinschneider,  Zur  pseudoepigraphischen  Literatur  insbesondere  der 
geheimen  Wissenschaften  des  Mittelalteis  S.  87  (Berlin  1862).  *)  Notices  et 
extraits  des  manuscrits  de  la  biblioiMqiAe  imperiale  T.  XXI,  Partie  1,  pag.  178—17» 
(Paris  186ö).         ^  Pappus  IV,  32.     Die  Figur  vgl.  (ed.  Hultsch)  pag.  276. 


736  34.  Kapitel. 

Erfinder  sei;  da  Alsidsclizi  ausdrücklich  sagt,  er  wolle  in  seinem 
Berichte  über  Winkeldreiteilung  von  den  Sätzen  der  Alten  -  aus- 
gehen,  worunter   sehr   wohl  die  Griechen  verstanden  sein  können^). 

Wir  haben  des  weiteren  auf  eine  Schrift  Täbits  über  den  Satz 
des  Menelaus  hinzuweisen,  welche  Gerhard  von  Gremona  (1114 — 1187) 
unter  dem  Titel  Liber  thebit  de  figura  alkata  tradaius  I  ins  Lateinische 
übersetzte  ^nd  so  das  Wort  cdkaia  (»  sector  d.  h.  die  Transversale) 
mit  lateinischem  Bürgerrechte  versah.  Ob  Täbit  aus  der  Figur  alle 
trigonometrischen  Folgerungen  zog,  deren  sie  fähig  ist,  bleibt  so  lange 
ungewiß,   als  seine  Abhandlung   nur  bruchstückweise   bekannt   ist'). 

Wieder  zu  Almu^tadid  stand  ein  uns  als  Verfertiger  astronomischer 
Tafeln  (S.701)  schon  bekannter  geometrischer  Schriftsteller  Alnairizi') 
in  Beziehung,  den  wir  also  hier  zu  nennen  haben.  Er  verfaßte  einen 
Kommentar  zu  den  euklidischen  Elementen,  als  dessen  größtes  Ver- 
dienst zu  loben  ist,  daß  dort  wertvolle  Bruchstücke  der  in  der  Ur- 
sprache verlorenen  Erläuterungen  von  Heron  und  Simplicus  (S.  386) 
erhalten  sind*). 

Die  Zeitfolge  führt  uns  zu  einem  Manne,  welcher  in  ganz  anderer 
Richtung  arbeitete,  und  dessen  Name  untrennbar  verbunden  ist  mit 
der  Geschichte  der  Einführung  der  trigonometrischen  Funktionen  im 
Abendlande,  zuAlbategnius,  wie  die  Übersetzer  ihn  genannt  haben ^). 
Muhammed  ibn  Dschabir  ihn  Sinän  Abu  ^Abdallah  al  Battani  führt 
seinen  Beinamen  nach  Battan  in  Syrien,  wo  er  geboren  ist,  und 
welchem  er  zur  Berühmtheit  verholfen  hat.  Er  stellte  878 — 918  in 
Ar-Rakka  astronomische  Beobachtungen  an,  welche  von  seinen  Lands- 
leuten als  die  genauesten  gefeiert  worden  sind,  die  irgend  jemand  ge- 
lungen seien,  der  unter  dem  Islam  gelebt  hatte,  und  mit  nicht  ge- 
ringerem Lobe  haben  sie  seine  Schrift  über  die  Bewegung  der  Sterne 
bedacht,  welche  im  XII.  S.  durch  einen  Übersetzer  Plato  von  Ti- 
voli, der  uns  seinerzeit  noch  beschäftigen  wird,  unter  der  Über- 
schrift De  motu  oder  De  scientia  stellarum  in  lateinischer  Sprache 
bearbeitet  wurde.  Aus  dieser  Übersetzung  soll  das  Wort  sinus  als 
Name    einer   trigonometrischen    Funktion    in    die   Mathematik    aller 

*)  L'aigebre  d*Omar  Älkhayami  (ed.  Woepcke),  Paris  1861,  pag.  118.  Die 
Übereinstimmung  Täbits  mit  Pappus  hat  Woepcke  hervorgehoben  ibid. 
pag.  117,  Anmerkung  **.  *)  A.  v.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  Geschichte 
der  Trigonometrie  I,  46—47.  «)  Fihrist  36.  Suter  46,  Nr.  88.  *)  Alnai- 
rizis  Kommentar  wurde  1898 — 1906  von  Besthorn  und  Heiberg  herausgegeben. 
Über  die  Eukliderklärungen  von  Heron  und  von  Simplicius  vgl.  auch  Fihrist 
22  und  21.  Die  von  Gerhard  von  Cremona  herrührende  lateinische  Übersetzung 
des  Kommentars  des  Alnairtzi  hat  Curtze  als  Supplementband  zu  den  Werken 
Euklids  (Leipzig  1899)  herausgegeben.  ')  Hankel  S.  241  und  281.  Suter  46 
bis  47,  Nr.  89. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbasiden.   Die  Geometer  unter  den  Bujiden.    737 

Völker  eingedrungen  sein.  Der  Ursprung  des  Wortes  wäre  dann 
nach  aller  Wahrscheinlichkeit  folgender^).  Die  Benennung  der  Sehne 
war  im  Sanskrit  jya  oder  jiya;  die  der  halben  Sehne  ardhajya  (S.  658). 
Allmählich  wurde,  da  man  nur  die  halbe  Sehne  trigonometrisch  ver- 
wertete, das  kürzere  jiya  auch  f&r  diese  benutzt  und  drang  so  zu 
den  Arabern,  welche  es  in  seinem  Wortlaute,  wie  sie  ihn  verstanden, 
übernahmen  und  dschiba  schriebexL  Genau  dieselben  Konsonanten, 
welche  arabisch  dschiba  zu  lesen  sind,  lassen  aber  auch  die  Lesung 
dschaib  zu,  welches  ein  wirkliches  arabisches  Wort  ist  und  den  Ein- 
schnitt oder  Busen  bedeutet.  Nun  wird  angenommen,  die  Überlieferung, 
daß  man,  für  den  Araber  sinnlos,  dschiba  lesen  müsse,  sei  verhältnis- 
mäßig frühzeitig  abhanden  gekommen,  und  die  Lesart  dschaib  sei  dafür 
die  regelmäßige  geworden.  Jedenfalls  übersetzte  zwar  nicht  Plato  von 
Tivoli,  wie  man  früher  fälschlich  annahm,  aber  Gerhard  von  Gremona  bei 
der  Bearbeitung  anderer  arabischer  Astronomen  das  arabische  dschaib 
durch  das  ganz  richtige  Wort  sinus,  welches  von  nun  an  sich  fort- 
erbte'). Daß  übrigens  die  Araber  das  indische  kramajyä  in  der  Form 
kardaga  übernommen  haben,  welches  ihnen  den  96.  Teil  des  Kreis- 
umfanges  bedeutete,  ist  schon  (S.  699)  erwähnt  worden.  Bei  anderen 
arabischen  Mathematikern,  insbesondere  bei  solchen,  deren  Schriften 
im  christlichen  Mittelalter  übersetzt  wurden,  bedeutet  kardaga  den 
24.  Teil  des  Kreisumfanges.  Wieder  bei  anderen  scheint  kardaga  zur 
Benennung  des  Sinus  eines  gewissen  Bogens  gedient  zu  haben'). 

Den  Sinus  wendet  nun  Albattani  im  IIL  Kapitel  seiner  Stern- 
kunde, welches  eine  Trigonometrie  enthält,  regelmäßig  an  und  zwar, 
was  einen  nicht  hoch  genug  anzuerkennenden  Fortschritt  gegen  die 
Lider  bezeichnet,  im  Yollbewußtsein  des  Gegensatzes  gegen  die  im 
Almageste  benutzten  ganzen  Sehnen  mit  dem  ausdrücklichen  Zu- 
sätze, daß  man  so  in  der  Rechnung  das  fortwährende  Verdoppeln 
erspare. 

In  einer  anderen  Beziehung  ist  aber  Albattani  noch  immer 
Schüler  des  Ptolemaeus  und  ebenso  Schüler  der  Inder.  Er  weiß  noch 
nichts  von  trigonometrischen  Gleichungen,  nichts  von  deren  algebrai- 


^)  Die  hier  folgende  Hypothese  stammt  von  dem  Pariser  Orientalisten 
Munk  her.  Vgl.  Woepcke  in  dem  JottmcU  ÄsiatiqiM  1863 ,  1.  Halbjahr, 
pag.  478,  Anmerkung.  *)  Max  Koppe,  Die  Behandlung  der  Logarithmen  und 
der  Sinus  im  Unterricht.  Osterprogramm  1893  des  Andreas-Bealgymnasiams  zu 
Berlin.  S.  32 — 34,  hat  nachgewiesen,  daß  bei  Plato  von  Tivoli  die  sinngetreuere 
Übersetzung  chorda  vorkonmit.  Über  die  dem  Wortlaut  nach  richtige  Über- 
setzung Sintis  bei  Gerhard  von  Gremona  vgl.  Jul.  Euska  in  der  Zeitschr.  Math. 
Phys.  XL,  Histor.-liter.  Abtlg.  128—128.  »)  Eneström  in  der  BibUoikeca 
Maihematica  8.  Folge  IV,  284. 

Gamtob,  Oeichlohte  der  BCathematUc  I.  3.  Aufl.  47 


738  S4.  Kapitel. 

sehen  Umformung;  er  kennt  nur  an  Figuren  zu  beweisende  geo- 
metrische Sätze ^).  In  diesem  Sinne  spricht  er  von  dem  Schatten 
und  versteht  darunter  die  Schattenlänge  ly  welche  ein  von  der  Sonne 
unter  dem  Winkel  q>  beschienener  Schattenmesser  h  wirft.  Je  nachdem 
der   Schattenmesser   auf  einer  Horizontalebene   oder  auf  einer  Yer- 

tikalebene    aufsteht,   ist    .     die   Eotangente    oder    die    Tangente    des 

Winkels  (p.  Albattani  hat  eine  kleine  von  Grad  zu  Grad  fort- 
schreitende Eotangententafel  hergestellt.  Femer  kennt  er  Be- 
ziehungen zwischen  einem  Winkel  und  den  drei  Seiten  eines  sphäri- 
schen Dreiecks^  welche  auf 

cos  a  =  cos  h  •  cos  c  +  sin  6  •  sin  c  •  cos  A 
hinauslaufen,   aber   diese  Gleichung   selbst   darf  man  bei  ihm  nicht 
suchen. 

Dem  Anfange  des  X.  S.  gehört  Ahmed  ihn  Jussuf^)  an,  der 
in  Ägypten  lebte.  Unter  seinen  zahlreichen  Schriften  hat  diejenige, 
welche  über  die  Verhältnisse  handelt,  einen  geschichtlichen  Einfluß 
geübt,  von  welchem  im  41.  Kapitel  im  folgenden  Bande  die  Rede 
sein  wird. 

Von  Al-Basra  war,  wie  wir  uns  erinnern  (S.  697),  der  Anstoft 
ausgegangen,  der  den  Chalifen  Almamün  zu  einem  Beförderer  der 
Philosophie  und  der  Mathematik  machte.  In  derselben  an  Bildungs- 
elementen der  verschiedensten  Länder  reichen  Handelsstadt  scheint 
in  der  zweiten  Hälfte  des  X.  S.  eine  Art  von  wissenschaftlichem  Ge- 
heimbund entstanden  zu  sein'),  dessen  Mitglieder  in  Gemeinschaft 
arbeiteten,  wenigstens  in  Gemeinschaft  veröffentlichten,  was  sie  für 
notwendig  zur  Bildung  des  Geistes  und  des  Charakters  hielten. 
Diese  Abhandlungen  der  lauteren  Brüder  müssen  wir  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  der  Besprechung  unterziehen.  Von  den,  wie 
gesagt,  anonymen  Verfassern  ist  es  doch  gelungen,  einige  zii  ent- 
rätseln^), und  unter  diesen  dürfte  Almukaddasi  der  bekannteste 
sein,  ein  anderer  hieß  Zaid  ihn  Rifä^a.  Die  Abhandlungen  selbst 
verbreiteten  sich  rasch  sehr  weit,  ja  sogar  bis  zu  den  Westarabem 
Spaniens  drangen  sie  durch  El  Madschriti  oder  durch  dessen 
Schüler  El  Karmäni,  von  welchem  letzteren,  der  1066  über  90  Jahre 


^)  A.  V.  Brannmühl,  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Trigonometrie  I^ 
50—64.  *)  Steinschneider  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  X,  492  (1866)  und 
Bibliotheca  mnthematica  1888,  111—112.  Suter  42— 4S,  Nr.  78.  »)  Vgl.  Die- 
terici,  Die  Propädeutik  der  Araber  im  X.  Jahrhundert.  Berlin  1866.  Flügel, 
Ueber  die  Abhandlungen  der  aufrichtigen  Brüder  und  treuen  Freunde  in  der 
Zeitschr.  der  morgenl.  Gesellschaft  XIII,  1  —  38  (Leipzig  1869),  Sprenger 
ebenda  XXX,  330—386  (Leipzig  1876).     *)  Flügel  1.  c.  S.  21. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbagiden.   Die  Geometer  nnter  den  Bnjiden.    739 

alt  in  Cordova  starb  ^  eine  Studienreise  nach  dem  Oriente  bekannt 
ist^^.  Und  trotz  dieser  Tatsache^  welche  eine  packende  Bedeutung 
der  Schriften  zu  erweisen  scheint,  hat  die  arabische  Kritik  selbst 
wenig  Gutes  ihnen  nachzurühmen  gewußt.  Zaid  sei  ein  unwissender 
Schwindler,  sagte  ein  Zeitgenosse*),  und  das  urteil  eines  gelehrten 
Schaich,  der  die  Abhandlungen  einer  genauen  Durchsicht  unterworfen 
hatte,  lautet:  Sie  ermüden,  aber  be&iedigen  nicht;  sie  schweifen  herum, 
aber  gelangen  nicht  an;  sie  singen,  aber  sie  erheitern  nicht;  sie  weben, 
aber  in  dünnen  Fäden;  sie  kämmen,  aber  machen  kraus;  sie  wähnen 
was  nicht  ist  und  nicht  sein  kann'). 

Was  den  mathematischen  Inhalt  der  Abhandlungen  betrifft,  so 
können  wir  dieses  harte  Urteil  kaum  ein  allzustrenges  nennen,  und 
wenn  wir  trotz  dieses  geringen  Wertes  ihrer  erwähnen,  so  geschieht 
dieses,  weil  in  dem  Mancherlei,  in  den  zusammengestoppelten  und 
gekoppelten  Dingen,  wie  ein  anderer  Araber  rügend  sagt,  doch  ge- 
schichtlich verwertbare  Kömer  haben  aufgefunden  werden  können. 
Von  den  voUkoramenen  Zahlen  heißt  es*),  sie  kämen  in  jeder  Zahlen- 
stufe nur  einmal  vor,  6  unter  den  Einern,  28  unter  den  Zehnem, 
496  unter  den  Hundertern  und  8128  unter  den  Tausendern.  Das 
stimmt  genau  mit  einer  Bemerkung  des  Jamblichus  überein  ^)  und 
stellt  zusammengehalten  mit  dem,  was  wir  aus  der  Einleitung  zu 
Täbits  Abhandlung  über  befreundete  Zahlen  beibrachten,  außer 
Zweifel,  daß  die  Schriften  des  Jamblichus,  welche  in  Syrien  «nie  auf- 
gehört hatten  gelesen  zu  werden  (S.  706),  um  900  auch  den  Arabern 
überhaupt  gut  bekannt  waren.  Um  so  auffallender  ist  eine  Bemer- 
kung, welche  durch  keine  andere  Überlieferung  gestützt  ist:  die 
meisten  Völker  hätten  nur  4  Zahlstufen,  aber  die  Pythagoräer,  die 
Männer  der  Zahlen,  kannten  16  Stufen  derselben  tausend  tausend 
tausend  tausend  tausend^).  Wir  können  das  nur  dahin  verstehen, 
daß  während  im  Arabischen  die  selbständigen  Zahlwörter  sich  nicht 
auf  andere  Rangeinheiten  als  auf  1,  10,  100,  1000  erstrecken,  die 
Pythagoräer  solche  Namen  bis  10^^  besaßen.  Wenn  diese  Auffassung 
richtig  und  die  Aussage  wahrheitsgetreu,  so  ist  der  Zusammenhang 
zwischen  Indem  und  Neupythagoräern  in  Dingen,  die  auf  das  Zahlen- 
system Bezug  haben,  um  einen  neuen  Beleg  reicher  und  die  Hypothese 


*)  Flügel  1.  c.  S.  26.  Wüßtenfeld,  Arabische  Aerzte  und  Naturforscher 
S.  81,  Nr.  122  und  S.  80,  Nr.  137.  Suter  105,  Nr.  288.  *)  Sprenger  L  c. 
S.  333.  »)  Flügel  1.  c.  S.  26.  *)  Propädeutik  der  Araber  S.  12.  Daß  dort 
statt  8128  fälschlich  7128  steht,  ist  wohl  nur  Druckfehler?  *)  Jamblichus 
in  Nikomachum  (ed.  Tennulius)  pag.  46,  (ed.  Pistelli)  pag.  38.  ^  Propä- 
deutik der  Araber  S.  6. 

47* 


740  34.  Kapitel. 

des  Eindringens  indischer  ZaMzeichen  in  jene  griechische  Schule  wird 
immer  wahrscheinlicher. 

Wir  haben  (S.  706)  gesehen,  daß  die  Araber  jedenfalls  mit  den 
Arbeiten  des  Zenodorus  bekannt  waren.  Auch  dafür  haben  wir  hier 
eine  Bestätigung  in  der  Bemerkung,  die  Ereisfigur  habe  eine  weitere 
Umfassung  als  alle  vielwinkligen  Figuren  mit  gleich  langer  ümfassungs- 
linie^),  und  wir  können  jetzt  noch  einen  Schritt  weiter  gehend  ver- 
muten, aus  Pappus  habe  man  die  Kenntnis  gerade  dieser  Unter- 
suchungen geschöpft.  Im  Y.  Buche  des  Pappus  hat,  wie  wir  uns 
erinnern  (S.  446),  die  Abhandlung  des  Zenodorus  Platz  gefunden,  und 
an  die  Einleitung  eben  des  Y.  Buches  erinnern  aufs  lebhafteste  fol- 
gende Sätze*):  „Yiele  Tiere  schaflFen  von  Natur  schon  Werke.  Das 
ist  ihnen  ohne  Unterricht  eingegeben.  So  die  Bienen,  die  sich  Häuser 
schaffen.  Sie  bauen  Häuser  in  Stockwerken  von  runder  Gestalt  wie 
Schilde,  eins  über  das  andere.  Die  Öfihungen  der  Häuser  machen  sie 
alle  mit  sechs  Seiten  und  Winkeln.  Dies  tun  sie  mit  sicherer  Weis- 
heit, denn  es  ist  die  Eigentümlichkeit  dieser  Figur,  daß  sie  weiter 
ist  als  das  Yiereck  und  das  Fünfeck.'^ 

Eine  Stelle,  welche  auf  falsche  Flächenberechnung  sich  bezieht, 
haben  wir  schon  früher  (S.  173)  erwähnt.  Sie  heißt  folgendermaßen'): 
„In  einem  jeden  Gewerk  erfaßt  den  Zweifel,  der  dasselbe  ohne 
Mathematik  zu  verstehen  unternimmt,  oder  nur  mangelhafte  Kenntnisse 
davon  hat  und  sich  darum  nicht  kümmert.  Man  erzählt,  jemand  hätte 
von  einem  Manne  ein  Stück  Landes  für  1000  Dirham  gekauft,  das 
100  Ellen  lang  und  ebensoviel  breit  sei.  Darauf  sprach  der  Yerkäufer: 
Nimm  statt  dessen  zwei  Stück,  ein  jedes  50  Ellen  lang  und  breit, 
und  meinte,  damit  geschehe  jenem  sein  Recht.  Sie  stritten  nun  vor 
einem  Richter,  der  nicht  Mathematik  verstand,  und  dieser  war  irriger- 
weise derselben  Ansieht,  dann  aber  stritten  sie  vor  einem  anderen 
Richter,  der  der  Mathematik  kundig  war,  und  der  entschied,  daß  diea 
nur  die  Hälfte  seines  Anrechts  wäre.'^  Wir  machen  mit  wenigen 
Worten  auf  einen  verhältnismäßig  weitläufig  behandelten  Gegenstand*) 
auftnerksam,  auf  Yerhältnisse  der  Abmessungen,  welche  zwischen  den 
einzelnen  Strichen  stattfinden  sollen,  aus  welchen  die  Buchstaben- 
zeichen gebildet  werden,  und  derjenigen,  welche  die  Natur  bei  den 
einzelnen  Teilen  des  menschlichen  Körpers  uns  zum  sinnlichen  Be- 
wußtsein bringt,  letzteres  ein  Gegenstand,  mit  welchem  auch  Yitru- 
vius  (S.  544)  sich  beschäftigt  hat.  Wir  erwähnen  endlich  noch  eines, 
welches  nicht  ohne  Interesse  ist,  magische  Quadrate^).    Die  magischen 


1)  Propädeutik  der  Araber  S.  42.      *)  Ebenda  S.  32.      ^  Ebenda  S.  84—86. 
*)  Ebenda  S.  133—187.      »)  Ebenda  S.  43—44. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbaaiden.   Die  Geometer  unter  den  Bcgiden.    741 

Quadrate  aus  9,  16,  25,  36  sind  hergestellt;  daB  es  auch  Quadrate 
Yon  49,  64,  81  gebe,  wird  gesagt;  das  Quadrat  9,  heifit  es,  erleichtere 
die  Nativitat  (?).  Wir  können  hier  so  wenig  als  es  uns  früher  (S.  635) 
gelang,  dem  Ursprünge  dieser  eigentümlichen  Amulette  auf  die  Spur 
kommen.  Wir  bemerken  nur,  daß  sie  bei  den  Arabern  unter  dem 
Namen  tvafk  in  der  Zauber-  und  Vorbedeutungskunde  eine  nicht  un- 
bedeutende Rolle  gespielt  haben  ^),  und  daß  unserem  Gewährsmanne 
zufolge  jeder  der  sieben  Planeten  einen  ihm  eigentümlichen  wafk  be- 
saß, vielleicht  eben  jece  sieben  den  lauteren  Brüdern  bekannte  Qua- 
drate von  9  bis  81?  Am  ausführlichsten  soll  darüber  der  unier  dem 
Namen  El  Büni^)  berühmte  arabische  Mystiker  geschrieben  haben, 
welcher  in  Bona  geboren  dieser  Stadt  unter  den  Arabern  die  gleiche 
Verherrlichung  gab,  welche  sie  als  Heimat  des  heiligen  Augustinus 
bei  den  Christen  besaß.     El  Büni  starb  1228. 

Die  Schriftsteller  Alchwarizmi,  die  drei  Brüder,  Täbit  ihn  Eurrah, 
AI  Battäni  waren  an  dem  Hofe  der  Abbasiden  ihren  gelehrten  Be- 
schäftigungen nachgegangen,  unter  demselben  Chalifengescblechte 
war  die  Verbindung  der  lauteren  Brüder  entstanden.  Aber  wenn  auch 
Abbasiden  fortfuhren,  die  Chalifen  zu  heißen,  von  einer  Regierung 
derselben,  ja  auch  nur  von  einem  Einflüsse  auf  die  Wissenschaft  durch 
Gelehrte,  in  deren  Kreise  sie  weilten,  die  Zügel  des  Reiches  den 
stärkeren  Händen  ihrer  Heerführer,  der  sogenannten  Emir  Alumara 
überlassend,  war  nachgerade  keine  Rede  mehr*).  Und  die  Emire 
selbst  schienen  allmählich  die  Schlaffheit  ihrer  Drahtpuppen,  welche 
Gebieter  hießen  und  Sklaven  waren,  ererbt  zu  haben.  Das  Chalifat 
schrumpfte  nach  und  nach  bis  auf  das  Weichbild  von  Bagdad  zu- 
sammen. Eine  kriegerische  Horde  unter  dem  Befehle  eines  Bujiden 
d.  h.  eines  Nachkommen  von  Abu  Schudschä^  Büjeh,  welcher  selbst 
seine  Abstammung  von  den  alten  Perserkönigen  herleitete,  zog  gegen 
Bagdad  heran  und  bemächtigte  sich  der  Stadt.  Der  Chalif  mußte 
945  dem  Bujiden  MuUzz  Eddaula  den  Sultanstitel  verleihen  und  ihm 
alle  weltliche  Macht  abtreten.  Dieses  neue  Geschlecht  wußte  zunächst 
mit  neuer  Kraft  die  Herrschaft  wieder  aufzurichten  und  auszudehnen, 
doch  dauerte  es  nicht  lange,  so  entbrannten  unter  den  Bujiden  Fami- 
lienkämpfe um  die  Gewalt,  wie  sie  unter  den  Omaijaden,  wie  sie  unter 
den  Abbasiden  stattgefunden  hatten,  und  nach  einem  Jahrhimderte, 
im  Jahre  1050,  hatten  die  Bujiden  ihrer  Unfähigkeit  den  Sturz  zu 
verdanken.     Die  Seldschukensultane  lösten  sie  ab. 


0  Notices  et  extraiU  des  manuscrits  de  la  hibliotheque  imperiale  T.  XXI, 
1.  Partie,  pag.  180,  Note  4  (Paris  1868).  *)  Hammer-Purgstall,  Literatar- 
geßchichte  der  Araber  2.  Abteilung,  Bd.  VII,  S.  402,  Nr.  7944.     «)  Weil  S.  219—226 


742  34.  Kapitel. 

Die  Wissenschaft  ist  in  diesem  Jahrhundert,  von  der  Mitte  des 
X.  bis  zur  Mitte  des  XL  S.^  keineswegs  zurückgegangen.  Im  Oegen- 
teil  sind  es  einige  der  hervorragendsten  Mathematiker^  welche  wir  in 
jener  Zeit  aufzuzeichnen  haben.  Der  Bujide  *Adud  ed  Daula  978—983 
rühmte  sich  selbst  astronomische  Studien  gemacht  zu  haben.  Sein 
Sohn  Scharaf  ed  Daula,  derselbe,  unter  welchem  die  Familienzwistig- 
keiten  zuerst  entbrannten,  errichtete  in  dem  Oarten  seines  Palastes 
zu  Bagdad  eine  neue  Sternwarte  und  berief  dorthin  um  988  eine 
ganze  Vereinigung  von  Fachmännern*).  Unter  ihnen  ware;i  Abü'l 
Wafä,  Alkühi  und  As-Sägäni. 

Abü'l  Wafä  Muhammed  ibn  Muhammed  ihn  Jahjä  ibn  Isma^il 
ihn  Al-^Abbäs  Albüzdschäni^)  wurde,  wie  wir  (S.  704)  schon 
sagten,  940  in  Büzdschän,  einem  kleinen  Orte  des  persischen  Gebirgs- 
landes  Chorasan,  geboren,  derselben  Oegend,  welche  so  viele  arabische 
Mathematiker  hervorgebracht  hat.  Er  erfreute  sich,  bald  Abü'l 
Wafä,  bald  Albüzdschäni  genannt,  unter  den  Arabern  des  größten 
Ruhmes  und  drei  Jahrhunderte  später  sagt  von  ihm  Ibn  Challikän, 
der  über  berühmte  Männer  im  allgemeinen,  nicht  bloß  über  berühmte 
Gelehrte  schrieb,  er  sei  ein  weitbekannter  Rechner,  eine  der  glänzenden 
Leuchten  der  Geometrie  gewesen,  es  seien  ihm  in  dieser  Wissenschaft 
wunderbare  Entdeckungen  gelungen.  Er  starb  998.  Seine  Schriften 
sind  ungemein  zahlreich.  Eine,  welcher  er  den  Titel  Alme^est  bei- 
legte, dadurch  selbst  kundgebend,  nach  wessen  Muster  er  gearbeitet 
habe,  enthält  die  in  der  Geschichte  der  Astronomie  berühmt  gewordene 
Stelle,  über  welche  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  Meinungen  gespalten 
sind,  ob  darin  die  Entdeckung  der  sogenannten  Variation  enthalten 
sei  oder  nicht*).  Uns  kümmert  nur  der  Mathematiker,  und  auch  als 
solcher  hat  Abül  Wafä  große  Verdienste.  Er  war  einer  der  letzten 
arabischen  Übersetzer  und  Kommentatoren  griechischer  Schriftsteller, 
und  wir  müssen  aufs  lebhafteste  bedauern,  daß  gerade  von  dieser 
Tätigkeit  gar  keine  immittelbare  Spur  sich  erhalten  hat.  Der  Ge- 
lehrte,  welcher  mit  Diophant  sich  so  eingehend  beschäftigte,  daß  er 
nicht  bloß  ihn  übersetzte,  ibn  erläuterte,  sondern  ein  besonderes 
Schriftchen  mit  den  Beweisen  der  bei  Diophant  und  in  seinen  Er- 
läuterungen zu  demselben  enthaltenen  Lehrsätze  füllte,  muß  viel 
Wissenswertes  für  uns  auf  diesem  Gebiete  vereinigt  haben.  Sein 
Kommentar  zur  Algebra  des  Muhammed  ibn  Müsä  Alchwarizmi  würde 
uns   wohl   der   Mühe   überhoben    haben,    vermutungsweise   dem   Ur- 

*)  Hankel  S.  242  nach  Ahulpliaragius  Histor.  dynast.  (ed.  Pocock)  pag.  216 
der  Übersetzung.  *)  Woepcke  in  dem  Journal  AMatigue  für  Februar  und  März 
1866  pag.  243  flgg.  Suter  71  —  72,  Nr.  167  und  213  Note  36.  »)  R.  Wolf, 
Oesohichte  der  Astronomie  S.  63  und  204. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbasiden.   Die  Geometer  unter  den  Bujiden.   743 

Sprunge  der  dort  enthaltenen  Lehren  nachzuspüren.  Sein  Kommentar 
zur  Algebra  des  Hipparch^  vorausgesetzt  daß  der  Name  richtig  über- 
liefert ist,  ist  ein  eben  so  gerechter  Gegenstand  unserer  Neugier,  da 
wir  hier  ja  nicht  einmal  die  unzweifelhaft  wichtige  Abhandlung 
kennen,  zu  «reicher  er  gehört.  Aber  leider  sind  yon  diesen  algebrai- 
schen Kommentaren  nur  die  Überschriften  uns  bewahrt.  Eine  Zu- 
sammenstellung  dessen,  was  Rechnungsbeamten  notwendig  ist,  hat 
sich  wenigstens  teilweise  erhalten,  ist  aber  nur  in  einem  dürftigen 
Auszuge  bekannt  gemacht^),  was  Bedauern  erregen  kann,  da  aus- 
drücklich bemerkt  ist,  in  jenem  ganzen  Werke  seien  wesentliche 
Unterschiede  gegen  andere  arabische  Rechenbücher  auffallend,  es  sei 
z.  B.  nicht  eine  einzige  Ziffer  darin  angewandt. 

Dagegen  ist  ein  genügend  ausführlicher  Bericht  über  geometrische 
Leistungen  veröffentlicht^),  zu  welchem  wir  uns  jetzt  wenden.  Von 
Abül  Wafä  selbst  rührt  das  aus  zwölf  Kapiteln  bestehende  Buch 
der  geometrischen  Konstruktionen  freilich  nicht  her.  Es  ist 
yielmehr  die  persische  Übersetzung  eines  Vorlesungsheftes,  welches, 
wie  es  scheint,  auf  Grund  von  öffentlichen  Vortragen  Abül  Wafas 
durch  einen  begabten  aber  doch  nicht  alles  verstehenden  Schüler  an- 
gefertigt worden  ist,  und  somit  kann  Abül  Wafä  unmöglich  für  die 
Mängel  verantwortlich  gemacht  werden,  welche  bei  der  mehrfachen 
Überarbeitung  nur  allzuleicht  sich  einschleichen  konnten.  Man  hat 
mit  Recht  drei  Gruppen  von  Aufgaben  aus  diesem  Buche  hervor- 
gehoben. Welche  geschichtlich  und  sachlich  unsere  Aufmerksamkeit 
verdienen.  Eine  erste  Gruppe  beschäftigt  sich  mit  der  Auflösung 
von  Aufgaben  unter  Anwendung  nur  einer  Zirkelöfl&iung.  Abü'l 
Wafä  hat  die  Bedingung  teils  aussprechend,  teils  sie  stillschweigend 
verstehend  nicht  weniger  als  18  Paragraphe  mit  solchen  Aufgaben 
gefüllt^).  In  einer  zweiten  Gruppe  handelt  es  sich  um  Zusammen- 
legung von  Quadraten  zu  einem  neuen  Quadrate,  so  daß  die  Methode 
auch  Praktiker  befriedigen  könne,  welche  die  geometrische  Anschau- 
ung der  Rechnung  vorziehen.  Man  wird  aus  einigen  wenigen  Bei- 
spielen am  deutlichsten  erkenneu,  wie  das  gemeint  ist.  Ein  Quadrat 
soll  gezeichnet  werden  von  der  dreifachen  Größe  eines  gegebenen 
Quadrates^).  Man  findet  die  Seite  als  Hypotenuse  eines  rechtwinkligen 
Dreiecks,  welches  die  Seite  und  die  Diagonale  des  gegebenen  Qua- 
drates als  Katheten  besitzt.  Dagegen  lehnen  sich  aber  die  Praktiker 
auf;  mit  einer  solchen  Auflösung,  welche  ihre  Sinne  nicht  überzeuge. 


*)  Woepcke  in  dem  Joumcd  Asiatique  für  Februar  und  März  1865 
pag.  246—261.  *)  Ebeuda  pag.  318—359.  ')  Ebenda  pag.  226.  ^  Ebenda 
pag.  349—350. 


744 


34.  Kapitel. 


Fig.  98. 


könnten  sie  nichts  anfangen.  Abül  Wafä  befriedigt  sie  nunmehr 
durch  folgende  Konstruktion  (Fig.  98).  Er  zeichnet  die  drei  ein- 
ander gleichen  Quadrate  hin  und  halbiert  zwei  davon  durch  Diago- 
nalen. Die  vier  so  entstehenden  gleichschenklig  rechtwinkligen  Drei- 
ecke legt  er  nun  um  das  dritte  Quadrat  herum^  so  daß  die  Hypote- 
nusen Verlängerungen  der  vier  Quadratseiten  in  der  Art  bilden,  daß 

an  jeder  Ecke  eine  und  nur 
eine  Seite  verlängert  ist. 
Endlich  verbindet  er  die 
rechtwinkligen  Spitzen  die- 
ser Dreiecke  untereinander 
und  hat  so  das  gewünschte 
Quadrat  fertig.  Man  möchte 
fast  erwarten,  als  Beweis 
jene  Aufforderung  „Sieh!" 
zu  lesen,  welche  indische 
Geometer  ähnlichen  Konstruktionen  nachzuschicken  für  genügend 
hielten.  Ja,  eine  Konstruktion,  welche  wir  (S.  656)  als  in  Bhäs- 
karas  Schriften  vorhanden  erörtert  haben,  welche  mit  gleicher 
Sicherheit  (S.  680)  in  China  aufgefunden  worden  ist,  kommt  bei 
Abü'l  Wafa  vor*).  Zwei  Quadrate  sollen  zu  einem  dritten  vereinigt 
werden.  Man  zeichnet  sie  (Fig.  99)  aufeinander,  so  daß  eine  Ecke 
und  die  Richtung  zweier  Seiten  beiden  gemeinsam  ist. 
Verlängert  man  darauf  die  beiden  freiliegenden  Seiten 
des  kleinen  Quadrates  bis  zum  Durchschnitte  mit  den 
Seiten  des  größeren  Quadrates,  so  ist  die  Summe  der 
gegebenen  Quadrate  zerlegt  in  ein  Quadratchen,  dessen 
Seiten  gleich  dem  unterschiede  der  Seiten  der  ur- 
sprünglich gegebenen  Quadrate  sind,  und  in  zwei 
Rechtecke,  auf  der  Figur  einander  zum  Teil  überdeckend,  deren  jedea 
durch  eine  Diagonale  in  zwei  rechtwinklige  Dreiecke  zerfällt.  Die 
vier  rechtwinkligen  Dreiecke  um  das  Quadratchen  herumgelegt  bilden 
(Fig.  87)  das  verlangte  große  Quadrat.  Es  ist  unmöglich,  bei  so> 
übereinstimmenden  Figuren  so  eigenartigen  Gedankens  nicht  einen 
tatsächlichen  Zusammenhang  anzunehmen.  Wir  stehen  nicht  an,  der 
Meinung  uns  anzuschließen^),  daß  wiewohl  Abül  Wafä  fast  zwei 
Jahrhunderte  vor  Bhäskara  lehrte,  und  wiewohl  es  leicht  möglich 
war,  daß  Arabisches  von  den  islamisierten  Indusländem  aus  sich 
weiter   verbreiten   konnte,   dennoch  hier  nicht  daran  zu   denken  ist^ 


Plg.  99. 


^)  Woepcke   in   dem   Journal  Asiatique   fÜi   Februar    und    März    1866 
pag.  346  und  860—361.       *)  Ebenda  pag.  236—238. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbasiden.   Die  Geometer  unter  den  Bujiden.   74& 

Bhaskara  habe  die  Konstruktion  ans  arabischer  Quelle.  Nur  da& 
persönliche  Anrecht  Bhäskaras  an  die  Figur  und  ihre  Benutzung 
geht  verloren,  wie  wir  von  vornherein  bemerklich  machten,  aber  ihr 
indischer  Stempel  dürfte  ihr  erhalten  bleiben,  erhalten  mit  so  viel 
alterer  Datierung,  daß  sie  schon  den  Praktikern,  d.  h.  mutmaßlich 
indischen  Handwerkern,  Baumeistern,  mit  welchen  Abül  Wafä  ver- 
kehrte, bekannt  war.  Die  dritte  Gruppe  von  Aufgaben  hat  die  Be- 
schreibung regelmäßiger  Vielflächner  zum  Zwecke.  Wir  wissen,  daß- 
Euklid  (S.  273)  und  Pappus  (S.  447)  jeder  in  seiner  Weise  sich  eben- 
falls damit  beschäftigt  haben.  Abül  Wafa  schließt  sich  so  ziemlich  an 
Pappus  an*),  und  bestrebt  sich  nur  auf  der  Kugeloberfläche  die  Eck- 
punkte des  gedachten  nicht  formlich  einbeschriebenen  Yi^^^^^^o^s 
zu  bestimmen.  Mit  anderen  Worten:  er  teilt  die  Eugeloberfläche  in 
regelmäßige,  einander  gleiche  sphärische  Vielecke.  Diese  drei  Haupt- 
gruppen von  Aufgaben  erschöpfen  indessen  nicht  sämtliche  zwölf 
Kapitel.     Das  Ende  des  6.,  das  ganze  7.,  der  Anfang  des  8.  Kapitels 


sind  verloren,  und  der  erhaltene  Rest  schließt  außer  dem  von  uns 
bisher  Hervorgehobenen  noch  manche  wissenswürdige  Einzelheit  ein. 
Wir  erwähnen  nur  zwei  Sätze.  Im  2.  E^apitel  im  6.  Paragraphen  und 
wiederkehrend  im  3.  Kapitel  im  13.  Paragraphen  ist  die  Aufgabe,  ein 
regelmäßiges  Siebeneck  zu  konstruieren*),  näherungsweise  so  gelöst^ 
daß  die  Hälfte  der  Seite  des  einem  Kreise  einbescbriebenen  gleich- 
seitigen Dreiecks  als  Seite  des  demselben  Kreise  einbeschriebenen 
regelmäßigen  Siebenecks  gilt,  ein  Verfahren,  welches  durch  Jahr- 
hunderte durch  sich  fortgeerbt  hat.  Im  1.  Kapitel  im  21.  und  22.  Pa- 
ragraphen sind  punktweise  Konstruktionen  der  Parabel  gelehrt'),  denen 
wir  uns  nicht  erinnern  bei  früheren  Schriftstellern  begegnet  zu  sein. 
Von  einem  Punkte  C  der  Parabelachse  aus  (Fig.  100),  der  um   die 

')Woepcke    in   dem   Jofwmal   Äsiatique    für   Februar    nnd    März    1866 
pag.  241  und  S62— 368.       *)  Ebenda  pag.  S29  und  332.       ")  Ebenda  pag.  326. 


746  84.  Kapitel. 

doppelte  Brennweite  2AF=«  AC  vom  Scheitelpunkte  entfernt  ist,  als 
Mittelpunkt  und  mit  der  CA  als  Halbmesser  wird  ein  Kreis  be- 
schrieben und  in  einem  Punkte  P  der  Achse  die  Senkrechte  PL  er- 
richtet. Auf  ihr  nimmt  man  PM=^AL  ab,  so  ist  M  ein  Punkt 
der  Parabel.  In  der  zweiten  Konstruktion  verlängert  man  (Fig.  101) 
die  Parabelachse  über  den  Scheitel  hinaus  um  den  Parameter  4c^AG, 
Mit  der  Entfernung  von  G  bis  zu  einem  beliebigen  Punkte  P  der 
Achse  als  Durchmesser  beschreibt  man  einen  Kreis,  an  P  dessen  Be- 
rührungslinie und  ihr  parallel  durch  A  die  L^L^.  Senkrechte  von 
L^  und  Lg  auf  jene  Berührungslinie  treffen  sie  in  den  Parabelpunkten 
M^  und  Jfj. 

Andere  Verdienste  hat  sich  Abü'l  Wafä  in  der  Trigonometrie 
erworben^).     Er  kennt  Formeln,  welche  unseren  Gleichungen 

2(sm  -  I  =  1  —  cos  a,     sin  a  =  2  sm      •  cos  -^ 

entsprechen.     Er  weiß  sin  (a  +  ß)  herzustellen  und  schreibt  dafür 

•     /      ,    a\       1  /  •       9        Bin  «•  ■  Bin  ß*    ,    -1  /T~  ^«        sin  a'  •  sin  ß* 
sm{a±ß)^  |/sma* ^,-  -^  ±  [/sm/J* ^ — ^-, 

wo  die  Nenner  r*  daher  stammen,  daß  die  Sinusse  wirkliche  Strecken 
bedeuten.  Er  leitet  mittels  geometrischer  Konstruktionen,  welche  wir 
durch  Rechnung  an  B'ormeln  ersetzen,  eine  Methode  zur  Berechnung 

von  Sinustafeln  her^),  welche  den  Sinus  des  Winkels  von  y  örad 

mit  einer  Genauigkeit  liefert,  welche  sich  bis  zur  Einheit  der  9.  Dezi- 
male erstreckt.     Er  geht  aus  von  der  Vergleichung 

sin (a  +  /3)  —  sin  a  <  sin  a  —  sin  (a  —  /3). 

Er  beweist  dieselbe  nicht,  aber  es  ist  einleuchtend,  daß  sie  Gültig- 
keit hat,  sofern  die  Winkel  a  —  /J,  a,  a  +  ß  sämtlich  dem  ersten 
Kreisquadranten  angehören,  weil,  sofern 

0  <  cos  /3  <  1     aus     sin  (a  -f-  /3)  -I-  sin  (a  —  /J)  =  2  •  sin  a  •  cos  ß 

sofort  sin  {a  +  ß)  +  sin  (a  —  /3)  <  2  sin  ä  und  daraus  jene  Vergleichung 
hervorgeht.  Setzt  man  die  Vergleichung  nach  rechts  wie  nach  links 
fort,  so  erhält  man: 

sin(a  +  3/3)  —  sin(a  +  2/3)  <  sin(a  +  2/3)  -  sin(a  -|-  ß) 

<  8in(a-f /3)  —  sina<sina  —  sin(a  —  /3)  <  8in(a  —  /3)  —  sin(a  —  2/3) 

<  sin  (a  -  2/3)  -  sin  (a  -  3/3) 

*)  A.  V.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Trigonometrie  I, 
56 — 69.  *)Woepcke  in  dem  Journal  AsioHque  für  April  und  Mai  1860 
pasr  298—299. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbasiden.   Die  Geometer  unter  den  Bujiden.   747 

und  daraus: 

sin(a  +  3/3)  —  8iii(a  +  2/3)  <  8iii(a  +  /3)  —  sin«  <  eina  —  sin(a  —  /3) 
sin(a  +  2/3)  -  8in(a  +  ß)    <  Bin(a+  ß)  -sina<Bin(a-/3)-8in(a  -  2/3) 
8in(a  +  /3)    —sin«  =sin(a+/3)— 8ina<8in(a  — 2/3j  — sin(a— 3/3). 

Addiert  man  die  drei  Formeln^  so  entsteht: 

sin  {cc  +  3/3)  —  sin  a  <  3[sin  («  +  /<)  —  sin  «]  <  sin  a  —  sin  (a  —  3/3) 
oder  endlich 
--[sin(a  +  3/3)  — 8ina]<8in(a-f /3)  — 8ina<  ^  [sin«  —  sin (a  —  3/3)]. 

Nun  kann  man  sin  36^  und  sin  60"  durch  Quadratwurzelausziehuug  in 
heliebiger  Genauigkeit  finden  und  durch  Quadratwurzelausziehung^ 
die  weiter  jeden  beliebigen  Grad  von  Genauigkeit  gestattet,  auch  zu 
den  Sinussen  der  stets  halbierten  Winkel  gelangen.     So  kommt  man 

zu  den  Smussen  von  -^  und  von  j^g  oder  zu  sm-^-  und  sm  g^-f 
zwischen  denen  sin  .  -  =>  sin  30'  enthalten  sein  muß.  Nun  setzt  man 
^  =  --j  /3  = --^  80  ninjmt  die  letzterhaltene  Vergleichung  die  Ge- 
stalt an: 

1  r  .     18®  .     16®-]  ^    .     QA'  .     16®         1  r  .     16®  .     12®! 

-3-L''''T2^  -  sm— J<8in30  -  sm-^  <y[8m-3-  -  Bin^J. 

12® 

Außer  sin 30'  ist  darin  nur  noch  sin-—    unbekannt,    welches    aber 
auch   mit   beliebiger   Genauigkeit   berechnet    werden    kann   vermöge 
—  ==  4  •  (gg  ""  32/   ^^^  somit  ist  eine  neue  fortlaufende  Ungleichung 
.     16®  ,    1  r  .     18®        .    iö®n  ^    .    QA' 
'"^  32-  +  Y  l^'''  82"  "  '^^  -32  ]  <  «^°  ^Ö 
^    .     16®    ,     1  r  .      16®  .      12®! 

herstellbar,   in  welcher   der   größere   wie  der  kleinere  Wert  bekannt 

ist,   in   welcher  außerdem   beide   nicht   weit  voneinander   abweichen, 

also    auch   beide    dem   zwischenliegenden  Werte   nahezu   gleich  sind. 

Um  so  genauer  wird  daher  dieser  Zwischenwert  als  arithmetisches  Mittel 

der  beiden  äußeren  Werte  gelten  dürfen,  und  diese  Annahme  macht 

-dem  entsprechend  Abül  Wafä,  d.  h.  er  setzt 

.    QA'       •    lö®  ,    1  r  .    18®        .    12®-] 
sm  30  ==  sm  -32-  +  y  [sm  3-^  -  sm  -^  J  • 

Noch  wichtiger  in  ihren  Folgen  war  eine  Neuerung,  welche 
Abü'l  Wafa  in  die  Gnomonik  einführte.  Wir  haben  bei  AI  Battani 
(S.  738)  das  Auftreten  der  Schatten  auf  Horizontalebenen  (Eotangenten) 
oder  Vertikalebenen   (Tangenten)  erwähnt.     Abül  Wafa  widmete  be- 


748  34.  Kapitel. 

sonders  den  letzteren  seine  Anfinerksamkeit.  Er  nahm  h  zu  60  Teilen 
an  und  berechnete  die  Schatten,  umbra  versa  in  den  lateinischen 
Bearbeitungen,  d.  h.  also  die  trigonometrischen  Tangenten  der  Winkel 
9?,  welche  er  in  einer  Tafel  vereinigte;  von  welcher  er  auch  bei 
anderen  Aufgaben  als  der  gnomonischen,  bei  der  sie  entstanden  war,. 
Gebranch  machte.  Denn  ihm  ist  nachträglich^)  ,,die  umbra  einea 
Bogens  eine  Linie,  welche  von  dem  Anfangspunkte  des  Bogena 
parallel  dem  Sinus  geführt  wird  in  dem  Intervalle  zwischen  diesem 
Anfange  des  Bogens  und  einer  von  dem  Mittelpunkte  des  Kreises 
nach  dem  Ende  des  Bogens  gezogenen  Linie  ...  So  ist  die  umbra 
die  Hälfte  der  Tangente  des  doppelten  Bogens,  welche  enthalten  ist 
zwischen  den  zwei  Geraden,  welche  vom  Mittelpunkte  des  Ej-eises 
nach  den  Endpunkten  des  doppelten  Bogens  geführt  werden''.  Da 
ist,  wie  wir  sehen,  der  allgemeine  Begriff  der  Tangente  ganz  fertige 
da  ist  der  Name  dieser  Funktion  vorbereitet.  Und  Abü*l  Wafa  geht 
noch  einen  groBen  Schritt  weiter.  Er  erfindet  die  Sekanten  und 
Kosekanten  unter  dem  Namen  der  Durchmesser  des  ersten  und 
des  zweiten  Schattens.  Er  kennt  bereits  die  Proportionen  und 
Gleichungen: 

tg  a  :  r  =  sin  a  :  cos  a 

cotg  a  :  r  ==  cos  a  :  sin  a 
tg  a  :  sec  a  =  sin  a  :  r 
tg  a  :  r  =  r  :  cotg  a 
sec  a  =  Yr*  +  ig  «* 


cosec  a  =  Vr*  +  cotg  a*. 
Er  wagt  es  endlich  r  =  1  zu  setzen,  indem  er  sagt:  Also  ist  es  klar,, 
daß,  wenn  man  den  Radius  gleich  1  setzt,  das  Verhältnis  des  Sinus 
eines  Bogens  zu  dem  Sinus  seines  Komplementes  der  erste  Schatten 
imd  das  Verhältnis  des  Sinus  des  Komplementes  zu  dem  Sinus  des 
Bogens  der  zweite  Schatten  ist. 

Endlich  berichtet  ein  Schriftsteller  des  XIII.  S.,  Nasir  Eddin,, 
der  uns  im  36.  Kapitel  begegnen  wird,  über  verschiedene  Beweise  des 
Sinussatzes  im  sphärischen  Dreieck,  welche  von  Abü'l  Wafä, 
von  Abu  Nasr*)  und  von  AI  Chodschandi  herrühren.  Wem  der 
drei  ziemlich  gleichzeitigen  Gelehrten  die  Erfindung  des  Satzes  an- 
gehört, ist  unbekannt. 

Der  zweite  Astronom,  den  wir,  als  an  die  Sternwarte  im  Palast- 
garten des  Bujiden  berufen,  genannt  haben,   war  Alkühi®).     Waid- 

»)  Hankel  S.  284—286.  •)  Suter  81,  Nr.  186.  »)  M.  Steinachneider^ 
Lettere  intorno  ad  alcuni  matematici  del  media  evo  a  D.  Bald.  Bancompagni, 
Rom  1868,  pag.  81  sqq.    Pihrißt  40.     Suter  76—76,  Nr.  176. 


Die  Mathematiker  unter  den  Abbanden.  Die  Geometer  unter  den  Bujiden.   749 

schan  ibn  Rustam  Abu  Sahl  Alkühi  fiihrt  den  Beinamen^  unter 
welchem  er  vorzugsweise  bekannt  ist,  nach  dem  Bergland  Al-Küh 
in  Tabaristan.  Von  ihm  rühren  astronomische  Beobachtungen  des 
Jahres  988  her,  welche  er  aber  in  ziemlich  hohem  Alter  angestellt 
haben  muß.  Eine  Jugendschrift  Alkühis  hat  nämlich  auf  seinen 
Wunsch  der  Sohn  des  Täbit  ibn  Kurrah  durchgesehen  und  verbessert 
und  dieser,  welcher  den  Namen  Sinän*)  führte,  auch  selbst  für  einen 
in  der  Wissenschaft  des  Euklid  sehr  bewanderten  Gelehrten  galt, 
starb  schon  943,  mithin  45  Jahre  vor  jenen  Bagdader  Beobachtungen. 
Beiläufig  sei  hier  bemerkt,  daß  auch  Sinäns  Sohn  Ibrahim  ibn 
Sinan  ibn  Tabit  ibn  Kurrah*)  (908—946)  ein  geschickter  Mathe- 
matiker war  und  einen  Kommentar  zum  I.  Buche  der  Kegelschnitte 
'Sowie  selbständige  Abhandlungen  über  Berührungsaufgaben  schrieb. 
Alkühis  wichtigste  geometrische  Leistungen,  welche  bekannt  sind, 
liegen  auf  einem  Gebiete,  welches  durch  Griechen,  besonders  durch 
Archimed  und  durch  ApoUonius  von  Pergä  bereits  urbar  gemacht, 
•doch  erst  von  den  Arabern  gründlich  imd  erfolgreich  bebaut  worden 
ist:  auf  dem  Gebiete  der  Lösung  solcher  geometrischen  Aufgaben, 
ciie  analytisch  behandelt  zu  Gleichungen  von  höherem  als  dem 
zweiten  Grade  führen. 

So  kennen  wir  von  Alkühi  einen  Satz,  der  sich  auf  die  Drei- 
teilung des  Winkels  bezieht^).  So  kennen  wir  von  ihm  eine  Auf 
lösung  dreier  zusammengehöriger  Aufgaben*):  1.  einen  Kugelabschnitt 
zu  finden,  der  einem  gegebenen  Kugelabschnitte  inhaltsgleich,  einem 
anderen  ähnlich  sei;  2.  einen  Kugelabschnitt  zu  finden,  der  mit  einem 
gegebenen  Kugelabschnitte  gleiche  gekrümmte  Oberfläche  besitze  und 
einem  anderen  gegebenen  Kugelabschnitte  ähnlich  sei;  3.  einen  Kugel- 
abschnitt zu  finden,  der  zu  zwei  gegebenen  Kugelabschnitten  in  dem 
Zusammenhang  stehe,  daß  er  denselben  Inhalt  wie  der  eine,  eine 
gleich  große  gekrümmte  Oberfläche  wie  der  andere  besitze.  Von 
diesen  Aufgaben  kommen  die  beiden  ersten  im  IL  Buche  von  Archi- 
meds  Schrift  über  Kugel  und  Zylinder  im  Satze  6  und  7  vor,  wäh- 
rend die  dritte  und  schwierigste  von  Alkühis  eigener  Erfindung  ist. 
Er  löst  sie  mit  Hilfe  einer  gleichseitigen  Hyperbel  und  einer  Parabel, 
deren  Durchschnittspunkte  die  Unbekannte  ausmessen  lassen.  Er 
fügt  auch  eine  strenge  Eröi*terung  der  Bedingungen  bei,  unter  welchen 
allein  die  Aufgabe  lösbar  ist,  also  das,  was  die  Griechen  den  Dioris- 
mos  nannten,  und  was  die  Nachahmer  der  Griechen  im  allgemeinen 
—  die  Araber  nicht  ausgeschlossen  —  keineswegs  mit  gleicher  Regel- 


*)  Suter  61—62,  Nr.  108.        *)  Ebenda  53—54,  Nr.  118.        »)  L'alg^bre 
d'Omar  AWiayami  (ed.  Woepcke)  pag.  118.        *)  Ebenda  pag.  103—114. 


750  34.  Kapitel 

mäßigkeit  zu  beachten  pflegten.  Diesen  Leistungen  Alkühis  gegen- 
über wissen  wir  endlich^),  daß  es  ihm  nicht  gelang  eine  Aufgabe  zu 
bewältigen^  welche  auf  die  Gleichung 

führte. 

Der  dritte  Name,  welchen  wir  nannten,  war  As-Sägäni,  der 
aus  Sägän  in  Chorasan  Herstammende').  Ahmed  ihn  Muhammed 
As-Sägäni  Abu  Hamid  al  Usturlabi  d.  h.  auch  der  Verfertiger  von 
Astrolabien  genannt,  starb  990.  Er  war,  wie  der  zweite  Beiname 
zu  folgern  gestattet,  besonders  geschickt  in  der  Anfertigung  jener 
astronomischen  Winkelmessungsvorrichtungen,  welche  den  Übergang 
von  der  Dioptra  des  Heron  zu  dem  modernen  Theodolit  bilden.  Von 
mathematischen  Leistungen  ist  uns  nur  ein  Satz  über  Kreissegmente 
bekannt"),  welcher  mit  der  Dreiteilung  des  Winkels  in  einigem  Zu- 
sammenhange steht. 

Die  Sätze  des  Täbit  ihn  Kurrah,  des  Alkühi,  des  As-Sägäni, 
welche  auf  Winkeldreiteilung  sich  beziehen,  stehen  insgesamt  in  einer 
größeren  Abhandlung  über  den  gleichen  Gegenstand^),  welche  Abu 
Sa*id  Ahmed  ibn  Muhammed  ihn  *Abd  Al-Dschälib  As-Sidschzi  ver- 
faßt hat,  ein  Schriftsteller,  der  gewöhnlich  unter  seinem .  Heimats- 
namen Alsidschzi,  mitunter  aber  auch  statt  dessen  als  Aisin- 
dschäri  genannt  zu  werden  pflegt*),  und  welcher  etwa  30  Jahre 
vor  der  Abfassung  jener  Abhandlung  in  Schiräs  eine  mathematische 
Handschrift   niederschrieb,   die   das  Datum   972  tragend  der  Pariser 

Bibliothek  angehört.     Die  Aufgabe  der 

Winkeldreiteilung  wird  durch  Alsidschzi 

zunächst  auf  einen  Satz  zurückgeführt, 

der  mit  den  anderen,  welche  er  der  Reihe 

nach   unter  den   Namen  ihrer   Erfinder 

herzählt,  zwar  nicht  übereinstimmt,  aber 

doch  zu  ihrer  aller  Beweisen  ausreicht. 

Der  Peripheriewinkel  M  (Fig.  102)   sei 

nämlich  der  dritte  Teil  des  Zentriwinkels 

^■^J^T^  DCK,  wenn  DExEC  +  EC^^  CD\ 

Weil   nämlich   CD  =  CA,  so   sei  CD^ 

^Cä*=CE^+äExEK^CE^+DExEM,    Nun  war  E  so 

gewählt,    daß    CD^^CE^  +  DExEC,    folglich   muß   EM^EC 

sein.     In    dem    gleichschenkligen   Dreiecke    CEM  sind    demnach  je 


*)  L'alg^hre  d'Omar  ÄVchayami  (ed.  Woepcke)  pag.  54.  «)  Hankel 
8.  248.  Suter  65,  Nr.  148.  »)  L'alghhre  d'Omar  Alkhayami  pag.  119.  *)  Ebenda 
pag.  117— 125.       *)  Hankel  S.  246,  Anmerkung  *•.    Suter  80—81,  Nr.  186. 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometnsche  Algebiaiker  Ton  960  etwa  bis  1100.    7Ö1 

zwei  Winkel  =  a,  und  der  Außenwinkel  DEC  dieses  Dreiecks  ist 
»=2«.  Der  Winkel  bei  D  ist  wegen  der  Gleichschenkligkeit  von 
DCM  wieder  «a  und  der  Winkel  DCK^^a  als  Außenwinkel 
des  Dreiecks  CDE.  Die  erste  Aufgabe  der  Winkeldreiteilung  ist 
daher  auf  die  zweite  zurückgeführt,  einen  Punkt  E  von  der  ge- 
wünschten Eigenschaft  zu  finden.  Die  Alten,  sagt  Alsidschzi,  lösten 
diese  mittels  Bewegungsgeometrie  ^);  er  selbst  tut  es,  indem  er  mit 
dem  der  Figur  schon  angehörenden  Kreis  eine  gleichseitige  Hyperbel 
in  Verbindung  setzt,  welche  dui'ch  C  hindurchgeht  und  den  Kreis- 
halbmesser als  Halbachse  besitzt.  Er  beruft  sich  dabei  ausdrücklich 
auf  eiuen  Satz  (den  öSsten)  des  I.  Buches  der  Kegelschnitte  des 
Apollonius.  Eine  in  Leiden  befindliche  Handschrift  enthält  femer 
eine  Abhandlung  Alsidschzis,  welche  mit  der  Zeichnung  Yon  Kegel- 
schnitten sich  beschäftigt  *).  Andere  geometrische  Abhandlungen 
Alsidschzis  beziehen  sich  endlich  der  Hauptsache  nach  auf  Durch- 
schnitte Yon  Kreisen  mit  Kegelschnitten'),  welche  letztere  demnach 
ein  Lieblingsgegenstand  der  Untersuchungen  des  Verfassers  gewesen 
sein  müssen. 


35.  Kapitel. 

Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker 
von  950  etwa  bis  1100. 

Ganz  anderer  Richtung  gehören  die  Arbeiten  eiuiger  Gelehrten 
der  gleichen,  wohl  auch  noch  etwas  früherer  Zeit  an,  von  welchen 
wir  jetzt  reden  wollen.  An  deren  Spitze  steht  der  anonyme  Ver- 
fasser einer  Abhandlung,  welche,  wie  wir  am  Schlüsse  des  vorigen 
Kapitels  gesagt  haben,  Alsidschzi  972  abschrieb.  Die  Abhandlung 
ist  durchaus  zahlentheoretischen  Inhaltes  und  hat  es  hauptsächlich 
mit  der  Bildung  rationaler  rechtwinkliger  Dreiecke  zu  tun*). 
Primitive  Dreiecke,  deren  Seiten  teilerfremd  zueinander  sind,  werden 

*)  L'algibre  d'Omar  ÄUchayami  pag.  120.  Aus  dieser  Stelle  stammt  die 
Kenntnis  des  Wortes  Bewegungsgeometrie.  *)  Journal  Asiatique  für  Februai 
und  März  1855  pag.  222.  Woepcke  hat  diese  Abhandlung  Alsidschzis,  sowie 
z^~  mdere  ähnlichen  Inhalts,  d.  h.  gleichfalls  über  Kegelschnittzirkel,  von  Al- 
kühi  und  von  Muhammed  ihn  Hosein  in  den  yotices  et  extraiU  des  manuscritg 
de  la  Biblioihkque  nationale  XYIL  zur  Veröffentlichung  gebracht.  Vgl.  A.  von 
Braun mühl,  Historische  Studie  über  die  organische  Erzeugung  ebener  Curven 
in  dem  Katalog  der  Mathematischen  Ausstellung  zu  Nürnberg  1892.  •)  Notices 
et  extraits  des  manuscrits  de  la  BibUoiMque  du  roi  XTTT,  136—146.  *)  Woepcke, 
Becherehes  sur  plusieurs  ouvrages  de  Leonard  de  Pise  in  den  Atti  deW  Äccademia 
Pontificia  de  mwvi  Lincei  1861,  T.  XTV,  pag.  211—227  und  241—269. 


752  86.  Kapitel. 

^abei  von  abgeleiteten  unterschieden.  Im  primitiven  Dreiecke  müsse, 
80  wird  behauptet,  die  Hypotenuse  immer  ungerad  und  Summe  zweier 
Quadrate  sein.  Die  Ungeradheit  wird  noch  näher  dahin  bezeichnet, 
-daß  die  Hypotenuse  stets  von  der  Form  12m  +  1  oder  12i»  +  5  sei. 
Die  Formen,  denen  Quadratzahlen  und  Summen  von  Quadratzahlen 
angehören  können,  mit  anderen  Worten  ein  Teil  der  Lehre  von  den 
quadratischen  Resten,  werden  erörtert.  Die  Aufgabe,  welche  von 
nun  an  der  Greschichte  der  Arithmetik  erhalten  bleibt:  ein  Quadrat 
zu  finden,  welches  um  eine  gegebene  Zahl  vergrößert  oder 
Terkleinert  wieder  Quadratzahlen  gibt,  wird  gestellt  und  gelöst. 
Das  dürften  die  wichtigsten  Sätze  dieses  Bruchstückes  sein,  dessen 
Anfang  leider  verloren  gegangen  ist  und  mit  ihm  der  Name  des 
tkrabischen  Verfassers.  Ein  Araber  war  er  unzweifelhaft,  wie  aus 
einer  Stelle  hervorgeht,  in  welcher  er  sich  selbst  als  den  Erfinder 
preist,  aber  nicht  ohne  hinzuzufügen:  der  Ruhm  davon  gehört  Gott 
allein,  ein  geradezu  kennzeichnender  Ausdruck,  dessen  nur  Araber  sich 
zu  bedienen  pflegten.  Vielleicht  kann  man,  wenn  auch  nicht  mit 
gleicher  Bestimmtheit  behaupten,  der  Verfasser  habe  am  Studium 
des  Diophant  sich  gebildet.  Bei  diesem  Schriftsteller  nämlich  ist, 
wie  mit  Recht  betont  worden  ist^),  die  erste  Quelle  jener  Aufgabe 
von  den  drei  in  arithmetischer  Progression  stehenden  Quadratzahlen, 
ist  zugleich  eine  Auflösung  mit  Hilfe  rationaler  rechtwinkliger  Drei- 
ecke zu  finden'). 

Abu  Mahmud  Alchodschandi  aus  der  Stadt  Cbodschanda 
in  Chorasan,  der  uns  (S.  748)  als  Trigonometer  bekannt  geworden  ist, 
war  im  Jahre  992  noch  am  Leben,  da  uns  eine  von  ihm  herrührende 
astronomische  Beobachtung  aus  diesem  Jahre  bekannt  ist^).  Von  ihm 
rührt  ein  Beweis  des  merkwürdigen  zahlentheoretischen  Satzes  her, 
daß  die  Summe  zweier  Würfelzahlen  nicht  wieder  eine  Würfelzahl 
sein  könne,  daß  x*  +  y'  ==  e^  rational  unlösbar  sei.  Leider  kennen 
wir  den  Beweis  nicht.  Es  wird  uns  nur  gesagt,  daß  derselbe  mangel- 
haft gewesen  sei,  ebenso  wie  Untersuchungen  des  gleichen  Verfassers 
über  rationale  rechtwinklige  Dreiecke. 

Der  Berichterstatter  ist  der  Schaich  Abu  Dscha^far  Muhammed 
ihn  Alhusain,  welcher  nach  dem  Tode  Alchodschandis  —  denn  es 
ist  von  ihm  mit  dem  Zusätze  „Gott  sei  ihm  barmherzig"  die  Rede  — 
«eine  eigene  Abhandlung  über  rationale  rechtwinklige  Dreiecke  ver- 


»)  Woepcke  1.  c.  S.  262.  *)  Diophaot  (Tannery)  III,  19,  S.  182  und 
V,  8,  S.  3.S0.  5)  Woepake,  Beeherches  sur  plusieurs  ouvragea  de  Leonard  de 
JPise  in  den  Atti  delV  Accademia  Pantifida  de  nuovi  lAncei  1861,  XIV,  801—302. 
Suter  74,  Nr.  178. 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  960  etwa  bi«  1100.     753 

öffentliclit  hat^);  in  welcher  er  übrigens  nicht  sehr  weit  über  den 
anonymen  Arithmetiker,  mit  welchem  wir  es  eben  erst  zu  ton  hatten^ 
hinausgeht,  in  mancher  Beziehung  sogar  hinter  ihm  zurückbleibt 
Auch  diese  Abhandlung  ist  vermutlich  von  Asidschzis  Hand  abge- 
schrieben^),  doch  müßte ;  wenn  die  verschiedenen  Jahreszahlen ,  die 
uns  berichtet  sind,  namentlich  die  der  astronomischen  Beobachtung 
Alchodschandis,  welche  doch  seinem  Tode  beziehungsweise  der  Ab- 
fassung der  erst  nach  seinem  Tode  vollendeten  Abhandlung  des  Ibn 
Alhusain  vorangegangen  sein  müßte ,  auf  Richtigkeit  Ansprach  er- 
heben, ein  weiter  Zwischenraum  von  mehr  als  20  Jahren  die  in 
einem  Bande  vereinigten  Abschriften  aus  derselben  Feder  trennen, 
deren  eine  972  datiert  ist,  die  andere  erst  später  als  992  entstanden 
sein  könnte.  Wenn  wir  sagten,  daß  Ibn  Alhusain  nicht  selten  hinter 
dem  Anonymus  zurückbleibt,  so  bezieht  sich  dieses  auf  einige  offen- 
kundige Fehler,  die  bemerkt  worden  sind,  wo  er  höchst  wahrschein- 
lich eine  Vorlage,  nach  welcher  er  arbeitete,  nicht  verstanden  hatte'). 
Sollte,  fügen  wir  fragend  bei,  diese  Vorlage  die  uns  unbekannte 
Schrift  Alchodschandis  über  rationale  rechtwinklige  Dreiecke  gewesen 
sein,  an  welcher  das  nach  Ihn  Alhusains  Meinung  Mangelhafte  eben 
darin  zu  suchen  wäre,  daß  der  Tadler  es  nicht  richtig  auffaßte? 
Sollte  gerade  die  Schrift  des  Alchodschandi  nach  Verlust  der  Anfangs- 
paragraphe  als  anonymer  Traktat  übrig  geblieben  sein?  Mehr  als 
diese  Fragen  können  wir  nicht  äußern,  doch  scheinen  sie  nicht 
schlechterdings  verneint  werden  zu  können.  Ibn  Alhusain  unter- 
scheidet, wie  der  Anonymus,  primitive  und  abgeleitete  Dreiecke,  be- 
nutzt aber  andere  Wörter,  um  diese  Unterscheidung  auszusprechen. 
Bei  dem  Anonymus  heißt  das  primitive  Dreieck  asl,  bei  Ibn  Alhusain 
awwali;  das  abgeleitete  Dreieck  heißt  dort  far^  oder  mafrü',  hier 
tabi'*).  Ibn  Alhusain  gibt  ausdrücklich  als  Zweck  der  ganzen  Unter- 
suchung die  Lösung  der  Aufgabe  an:  ein  Quadrat  zu  finden,  welches 
um  die  gegebene  Zahl  vergrößert  oder  verkleinert  wieder  ein  Quadrat 
werde  ^).  Es  ist  bemerkenswert,  daß  eine  geometrische  Erläuterung 
der  gegebenen  Auflösung  von  ähnlichen  Grundgedanken  Gebrauch 
macht,  wie  wir  sie  bei  Mohammed  ibn  Müsa  Alchwarizmi  verfolgen 
konnten,  da  wo  es  um  die  Auflösung  der  unreinen  quadratischen 
Gleichung  mit  einer  Unbekannten  sich  handelte.  Es  ist  weiter  be- 
merkenswert, daß  Ibn  Alhusain  bei  dieser  Auseinandersetzung  sich 
ausdrücklich  auf  den   7.  Satz   des  II.  Buches  der  euklidischen  Ele- 


*)  Woepcke  1.  c.  301—824  und  343—866.  Suter  80,  Nr.  183  und  Ab- 
handlungen zur  Geschichte  der  Mathematik  XIV,  168.  •)  Woepcke  1.  c.  324. 
*)  Woepckes  Bemerkungen  pag.  307,  817,  823.  *)  Woepcke,  Becherches  etc. 
pag.  320.       '^)  Ebenda  pag.  350  flgg. 

Caivtor,  Geschichte  der  Mathematik  L    3.  Aufl.  48 


754 


35.  Kapitel. 


M 


-^D 


mente  bezieht.  Bei  der  den  Arabern  am  Schlüsse  des  X.  S.  ganz 
allgemeinen  Verehrung  des  Werkes  ist  freilich  mit  einer  gelegent* 
liehen  Anführung  desselben  nichts  weniger  als  ein  Ursprungszeugnis 
für  dasjenige;  um  dessenwillen  Euklid  beigezogen  ist,  verbunden;  aber 
wenn  wir  die  Beweisführung  selbst  ansehen,  so  kann  die  mehrfach 
benutzte  Figur  des  Gnomon  uns  mindestens  zweifelhaft  lassen,  ob  wir 
für  den  Ursprung  nach  Indien,  ob  wir  nach  Griechenland  zurück- 
schauen, ob  wir  an  Abü'l  Wafas  dem  Augenschein  genügende  Kon- 
struktionen denken  soUen,  um  so  mehr  als,  wie  wir  schon  bemerkten, 
ähnliche  Aufgaben  bei  Diophant,  bisher  aber  nicht  in  indischen 
Schriften  aufgefunden  worden  sind  und  Abu'l  Wafä  (S.  742)  der 
Erläuterung  der  diophantischen  Schriften  seine  beste  Kraft  zugewandt 

zu  haben  scheint.  Die  Katheten 
AB^c^  und  BC  =  c^  eines  rationalen 
rechtwinkligen  Dreiecks  (Fig.  103), 
dessen  Hypotenuse  h  heißen  soll, 
werden  aneinander  gesetzt  und  über 
ihrer  Summe,  aber  auch  über  der 
größeren  (\  wird  ein  Quadrat  be- 
schrieben. Die  beiden  freiliegenden 
Seiten  BEy  DE  des  letzteren  Qua- 
drates werden  bis  zum  Durchschnitte 
mit  den  Seiten  des  Quadrates  über 
der  Summe  AC  ^  c^-\-  c^  verlängert. 
Aus  dieser  Konstruktion  geht  die 
Zerfällung  des  großen  Quadrates  in  folgende  4  Teile  hervor:  AE 
(das  Quadrat  von  c^^  EH  (das  Quadrat  von  c^  und  CE  sowie  ZE 
(die  beiden  Rechtecke  zwischen  q  und  c^.  Ist  nun  2c^c^=^  k,  so  folgt 
wegen  c^^  +  Ci'  ==  A*,  daß  (c^  +  c^Y  =  h^  +  Jo  sei.  Aber  auch  Ä'  —  k 
ist  ein  Quadrat.  Schneidet  man  nämlich  von  B  gegen  A  hin  und 
von  D  ebenfalls  gegen  A  hin  Stücke  BT  =  DK=  c^  ab,  so  ist  das 
Quadrat  AE  zerlegt  in  das  Quadrat  KT  und  die  beiden  Rechtecke 
DMy  BL,  von  welchen  das  Quadrat  LM  abzuziehen  ist.  Mit 
anderen  Worten,  es  zeigt  sich 

AE  +  LM-2BL 


JT 


B  y 

Plg.  108. 


KT 


oder 


oder 


c^^-c^  —  2c^c^  =  (Cj  -«  Ca)' 

(q  -  c,)^  =  (q*  +  c^)  -  2c,c,  ^h^-k 
und   man  findet  also  Zahlen,    welche  die   verlangte  Eigenschaft   be- 
sitzen  in  den  Quadraten  der  Summe  der  beiden  Katheten,  der  Hypo- 
tenuse  und   der  DiflTerenz    der  beiden  Katheten  eines  rechtwinkligen 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  950  etwa  bis  1100.     755 

Dreiecks,  während  das  doppelte  Produkt  der  beiden  Katheten  die 
Zahl  ist,  um  welche  das  erstere  Quadrat  größer,  das  letztere  kleiner 
als  das  mittlere  ist.  Entsprechend  heißt  es  bei  Diophant:  „In  jedem 
rechtwinkligen  Dreieck  bleibt  aber  das  Quadrat  der  Hypotenuse  auch 
dann  noch  ein  Quadrat,  wenn  man  das  doppelte  Produkt  der  Katheten 
davon  abzieht  oder  dazu  addiert'^  ^).  Nun  gibt  es  Methoden  aus  zwei 
beliebigen  Zahlen  a  und  b  ein  rationales  rechtwinkliges  Dreieck  ent- 
stehen zu  lassen,  und  solche  Methoden  werden  in  der  anonymen  Ab- 
handlung, werden  von  Ibn  Alhusain  gelehrt;  z.  B. 

Setzt  man  diese  Werte  ein,  so  wird  h  =  2c.c^  =  ^_"  '_^"_  xmA 

\     2      ^a-b)         l2(a  -  6)J    ^     a  —  b 

oder  indem  alle  Seiten  mit  2{a  —  b)  veryielfacht  werden 

c,  =  a^-b^,     c^^2ab,    A  =  a«  +  6* 

und  die  beiden  ganzzahligen  Endgleichungen 

(a»  _  6«  +  2aby  =  (a^  +  b^Y  +  iab{a^  -  6«) 
nebst 

(a2  ^  ft«  -  2aby  =  (a^  +  by  -  4ab{a^  -  6^. 

Beide  Abhandlungen  stimmen  noch  in  einer  weiteren  Beziehung  über- 
ein. Sie  enthalten  Zahlentabellen,  gebildet  infolge  von  Versuchen 
—  freilich  von  auf  eine  theoretische  Betrachtung  gestützten  Ver- 
suchen —  welche  der  zunächst  in  Behandlung  tretenden  Aufgabe 
rationale  rechtwinklige  Dreiecke  zu  finden  genügen.  In  keinem  der 
.bisherigen  Abschnitte  dieses  Bandes  haben  wir  das  Vorhandensein 
genau  solcher  Tabellen  erwähnen  können,  wenn  wir  auch  auf  manche 
eine  Vergleichung  gestattende  Dinge  stießen.  Vergleichen  läßt  sich 
schon  die  altägyptische  Zerlegungstabelle  der  Brüche  mit  ungeradem 
Nenner  und  dem  Zähler  2  als  Summe  von  Stammbrüchen;  vergleichen 
lassen  sich  die  Tabellen  der  Quadrat-  und  Kubikwurzeln  in  Senkereh, 
vergleichen  die  Einmaleinstafel  bei  Nikomachus,  die  kleine  Liste 
der  Diametralzahlen  bei  Theon  von  Smyrna;  und  auch  bei  den  Indern 
fehlt  es  nicht  an  nächstverwandten  Vergleichungsstücken,  denn  die 
den  ^iilvasütras  entlehnten  Beispiele  rechtwinkliger  Dreiecke  (S.  638) 
sind  vielleicht  ein  Auszug  aus  einer  solchen  Tabelle,  von  deren  Vor- 
handensein wir  sonst  nichts  wissen.    Das  sind  Anhaltspunkte,  welche 


^)  Diophant  (Tannery)    pag.  182,  (Wertheim)   8.  110  und   fast  gleich- 
lautend (Tannery)  pag.  326,  (Wertheim)  8.  203. 

48* 


756  35.  Kapitel. 

man^  wenn  es  einst  gelingen  soll  auf  Grundlage  reichhaltiger  Quellen* 
künde  die  Frage  nach  dem  ersten  Ursprünge  dieser  arabischen  Unter- 
suchungen zur  Entscheidung  zu  bringen,  nicht  wird  übersehen  dürfen. 
Endlich  gehört  ebendahin  das^  was  wir  eine  Art  von  Kenntnis  qua- 
dratischer Reste  genannt  haben^  und  was  uns  (S.  632)  bei  Indem 
schon  bekannt  geworden  ist,  was  von  einem  Araber  ausdrücklich  als 
indisch  benannt  worden  ist. 

Wir  meinen  den  berühmten  Arzt  und  Naturforscher  Ihn  Sina, 
gewöhnlicher  in  abendländischer  Umformung  Avicenna  genannt. 
Wir  haben  (S.  730)  über  die  Erziehung  dieses  merkwürdigen  Mannes 
gesprochen  und  über  den  Rechenunterricht,  welchen  er  zwischen  990 
und  995  von  einem  Gemüsehändler  erhielt.  Unter  den  zahllosen 
bändereichen  Schriften,  welche  Avicenna  trotz  seines  häufig  wechseln- 
den Aufenthaltes,  trotz  der  Staatsgeschäfbe,  welche  er  als  Wezir  des 
Emirs  Scbams  ed  Daula  zu  Hamadän  auszuüben  hatte,  trotz  seiner 
großartigen  ärztlichen  Tätigkeit  verfaßt  hat,  befindet  sich  eine  hand- 
schriftlich in  Leiden  aufbewahrte  spekulative  Arithmetik^),  d.  h.  also 
nach  unserer  früheren  Erläuterung  dieses  Wortes  eine  Art  Zahlen- 
theorie nach  griechischem  Muster.  Zwei  Stellen  derselben  sind  allein 
in  Übersetzung  veröffentlicht,  beide  dem  lU.  Buche  angehörend. 
„Will  man  nach  der  indischen  Methode^',  besagt  die  eine  Stelle, 
„Quadratzahlen  auf  ihre  Richtigkeit  untersuchen,  so  ist  unvermeidlich 
1,  4,  7  oder  9.  Dem  1  entspricht  1  oder  8;  dem  4  entspricht  2 
oder  7;  dem  7  entspricht  4  oder  5;  dem  9  entspricht  3,  6  oder  9.' 
Die  andere  Stelle  fügt  dann  hinzu:  „Eine  Eigenschaft  der  Kubik- 
zahlen  besteht  darin,  daß  ihre  Untersuchung  nach  der  indischen 
Rechenkunst,  ich  meine  die  Probe,  von  welcher  diese  Rechenkunst 
Gebrauch  macht,  immer  1,  8  oder  9  ist.  Ist  sie  1,  so  sind  die  Ein-  . 
heiten  der  zum  Kubus  erhobenen  Zahl  1,  4  oder  7;  ist  sie  8,  so  sind 
sie  8,  2  oder  5;  ist  sie  9,  so  sind  sie  3,  6  oder  9.'^  Beide  an  sich 
nicht  ganz  leicht  verständliche  Stellen  sind  gewiß  richtig  dahin  er- 
klärt worden,  es  handle  sich  in  ihnen  um  die  Neunerprobe  bei 
Potenzerhebungen,  und  man  hat  sie  dementsprechend  verwertet, 
um  in  Übereinstimmung  mit  der  Aussage  des  Maximus  Planudes 
(S.  611)  aber  ohne  unmittelbare  Bestätigung  durch  einen  der  indi- 
fichen  Schriftsteller,  welche  uns  bekannt  sind,  eben  diese  Probe  als 


^)  Woepcke  im  JoumcU  Äsiatique  für  1868,  1.  Halbjahr  pag.  601—604. 
H.  Eneström  {Bihlioih,  Mathem.  3.  Folge  YII,  81)  macht  daranf  aufmerkBam, 
daß  Avicenna  auch  als  Verfasser  eines  zweiten  arithmetischen  Traktates  be- 
zeichnet wird,  dessen  Anfang  in  französischer  Sprache  im  Dictlonnaire  des 
Sciences  matheniatigues  von  A.  S.  de  Montferrier  I,  141 — 143  (Paris  1836)  ab- 
gedmckt  ist. 


Zahlentheoretiker,  Reebner,  geometrische  Algebraiker  yon  960  etwa  bis  1100.     757 

indisch  zu  erweisen.  Man  kann  auch  anf  eben  diese  Stellen  sich  be- 
ziehen^ um  die  Kenntnis  quadratischer  und  kubischer  Reste  bei  den 
Indem  zu  bestätigen.  Offenbar  sagt  nämlich  Avicenna  zuerst  nichts 
anderes,  als  was  wir  in  modernen  Zeichen 

(9n±  1)^-^1,    (9n±2)«^4, 
(9w±3)«  =  (9n  +  9)«  =  9,    (9n±4)«  =  7 

immer  fOr  den  Modulus  9  schreiben  würden;  und  in  der  zweiten 
Stelle  sind  nach  dem  gleichen  Modulus  9  die  Kongruenzen  enthalten 

(9n  +  1)»  =  (9«  +  4)»  =  (9n  +  7)»  -  1, 
(9n  +  8)»  =  (9n  +  2)»  -  (9n  +  5)'  =  8, 
(9n  +  3)»  -  (9w  +  6)»  =  (9n  +  9)»  =  9. 

Zurückverweisung  nach  Indien  wird  uns  auch  bei  Albirüni  ge- 
wiß nicht  in  Erstaunen  setzen^  der  ein  Zeitgenosse  des  Avicenna 
lange  Reisen  in  Indien,  wie  wir  wissen  (S.  710),  gemacht  hat. 
Albirüni  nimmt  gegen  die  bisher  besprochenen  Persönlichkeiten  ins- 
gesamt eine  Ausnahmestellung  ein.  Er  gehörte  nämlich  nicht  zu 
den  gelehrten  Hofkreisen  von  Bagdad,  sondern  ruhte  in  Gazna  von 
seinen  Reisen,  am  Hofe  des  kunstsinnigen  Fürsten  Mahmud  des 
Gaznawiden,  der  an  Machtfülle  wie  an  Fürsorge  für  die  Wissenschaften 
mit  den  Herrschern  von  Bagdad  wetteiferte.  Albirüni  hat  in  seiner 
Chronologie  ganz  gelegentlich  die  Summe  der  geometrischen  Schach- 
felderprogression,  die  mit  1  beginnend  auf  jedem  folgenden  Felde 
Verdopplung  vorschreibt,  angegeben^)  als  Beispiel,  wie  man  eine  und 
dieselbe  Zahl,  um  jeden  Irrtum  unmöglich  zu  machen,  in  drei  ver- 
schiedenen Arten  niederschreiben  könne:  mit  indischen  Ziffern,  um- 
gerechnet in  das  Sexagesimalsystem  und  durch  die  hurüf  aldschum- 
mal  oder  (S.  709)  Buchstaben  mit  Zahlenwert.  Jene  Zahl  sei 
(((16^^)V  -  1  iMid  betr^e  18  446  744  073  709  551  619.  Man 
finde  sie  nach  folgenden  beiden  Regeln.  Erstens:  Das  Quadrat  der 
Zahl  eines  von  den  64  Feldern  ist  gleich  der  Zahl  des  Feldes, 
welches  von  dem  vorgenannten  eben  so  weit  entfernt  ist  als  jenes 
von  dem  ersten.  Ist  also  16  die  Zahl  des  5.  Feldes,  so  muß 
16^  =  256  die  Zahl  des  9.  Feldes  sein  wegen  9  —  5  =  5  —  1. 
Zweitens:  Die  um  1  verringerte  Zahl  eines  Feldes  ist  die  Summe 
der  Zahlen  der  vorhergehenden  Felder.  Wenn  32  die  Zahl  des 
.  6.  Feldes  ist,  so  muß  31  die  Summe  der  Zahlen  der  5  früheren 
Felder   sein,   oder   31  =  1  +  2  +  4  +  8  +  16.     In    einem    anderen 


')  Ed.  Sachaa,  Algebraisches  über  das  Schach  bei  Birani.    Zeitschr.  der 
deutsch,  morgenl.  üesellBch.  (1876)  XXIX,  148—156. 


758  35.  Kapitel. 

Werke,  dem  Buche  der  Ziffern,  kommt  Albirüni  auf  den  gleichen 
Oegenstand  zu  reden  und  lehrt  die  Berechnung  nach  einem  Kunst- 
griffe, der  sich  an  die  obigen  beiden  Regeln  anschließt,  welche  auf 
den  Fall  des  ganzen  Schachbrettes  angewandt  nichts  anderes  besagen 
als  man  solle  die  Zahl  eines  gedachten  65.  Feldes  berechnen  und 
von  ihr  1  abziehen.  Wenn  Glieder  einer  geometrischen  Reihe  a,  ae, 
ae*,  . .  .  ae"  vorliegen,  so  kann  die  Gliederzahl  gerad  oder  ungerad 
sein,  je  nachdem  n  ungerad  oder  gerad  ist.  Im  ersteren  Falle  ist  das 
Produkt  der  äußersten  Glieder  axae*"*"*"^  gleich  dem  Produkte 
zweier  mittleren  Glieder  ae^xae"*"^^;  im  zweiten  Falle  ist  jenes 
Produkt  der  äußersten  Glieder  axae^"^  gleich  dem  Produkte  eines 
Mittelgliedes  in  sich  selbst  (ae'^y.  Nennen  wir  nun  die  Zahlen, 
welche  jedem  Schachbrettfelde  entsprechen,  durch  die  das  Feld  be- 
zeichnende in  römischen  Ziffern  dargestellte  Zahl,  so  liefern  uns  die 
Felderzahlen  I,  II,  III,  . . .  LXV  eine  Reihe  von  ungerader  Gliederzahl 
und  demgemäß  I  X  LXV  =  (XXXIII)*.  Aber  die  Zahl  I  ist  1,  ver- 
vielfacht also  nicht,  und  somit  ist  LXV  =  (XXXIIIj*  und  XXXIII 
heißt  das  erste  Mittel.  Ebenso  findet  man  XXXIII  =  (XVII)*  und 
XVII  heißt  das  zweite  Mittel.  Femer  ist  XVH  «  (IX)^  IX  =  (Vy 
und  IX  und  V  heißen  drittes  und  viertes  Mittel.  Auch  ein  fünftes 
Mittel  III,  ein  sechstes  II  wird  durch  V  =  (III)^  III  «  (liy  gefunden 
und  nun  gerechnet.  Das  sechste  Mittel  U  ist  2,  das  fünfte  III  ist 
2^  =  4;  das  vierte  V  wird  4^  =  16,  das  dritte  IX  demnach  16*  =  256; 
weiter  wird  das  zweite  Mittel  XVII  notwendig  256*  =  65  536  und 
XXXm  oder  das  erste  Mittel  65  536*  =  4  294  967  296.  Diese  Zahl 
endlich  quadriert  gibt  LXV,  wovon  1  abgezogen  die  früher  erwähnte 
Summe  liefert.  Ohne  diesem  Kunstgriff  jeden  Wert  absprechen  zu 
wollen,  sind  wir  doch  nicht  imstande  Folgerungen  daraus  zu  ziehen, 
denn  eine  genaue  Bekanntschaft  mit  den  Gesetzen  der  geometrischen 
Reihe  wird  niemand  den  Griechen  so  wenig  wie  den  Indem  ab- 
sprechen können^).  Ob  das  Buch  der  Ziffern,  in  welchem  Albirüni 
den  Kunstgriff  gelehrt  hat,  jenes  Lehrbuch  der  Rechenkunst  ist, 
welches  wir  als  von  ihm  yerfiißt  gelegentlich  (S.  715)  erwähnten, 
können  wir  nur  vermutungsweise  aussprechen. 

Auch  in  der  Geometrie  war  Albirüni  tätig  und  zwar  auf  dem 
Gebiete,  welches,  wie  wir  an  mehreren  Beispielen  schon  gesehen 
haben,  die  Araber  um  das  Jahr  1000  so  vielfach  beschäftigt  hat, 
auf  dem  ebensowohl    algebraisch  als  geometrisch  zu  nennenden   Ge-* 


*)  S.  Günther,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXI.  Historigch-literar.  Abteilung 
S.  67—61  findet  in  der  Analogie  zwischen  Albirünis  Knnstgriflf  und  dem  Ver- 
fahren in  Archimeds  Sandrechnung  eine  bedeutsame  Hinweisung. 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  960  etwa  bis  1100.     759 

biete  der  Auflösung  solcher  Aufgaben,  für  welche  der  Kreis  und  die 
Gerade  nicht  ausreichen,  mit  Hilfe  von  Kegelschnitten.  Ob  freilich 
Albirüni  die  Auflösungen  der  durch  ihn  gestellten  Aufgaben  selbst 
kannte,  ist  uns  unmittelbar  nicht  berichtet;  die  Tatsache  der  Auf- 
gabenstellung aber,  eine  Sitte,  welche  jedem  Leser  des  Archimed, 
der  sie  auch  ausübte,  wohl  bekannt  sein  mußte,  läßt  darauf 
schließen.  Albirünis  Aufgaben  haben  die  Dreiteilung  des  Winkels 
zum  Gegenstände^). 

Abü*l  Dschüd,  mit  seinem  ganzen  Namen  Abü'l  Dschüd 
Muhammed  ihn  Allait,  ein  tüchtiger  Geometer  aus  derselben  Zeit, 
hat  sich  erfolgreich  mit  der  Auflösung  der  Albirünischen  Auf- 
gaben beschäftigt.  Durch  den  Durchschnitt  einer  Parabel  mit  einer 
gleichseitigen  Hyperbel  hat  er  die  Aufgabe  gelöst^)  von  einem 
Punkte  A  außerhalb  einer  Strecke  BG  eine  Verbindungslinie  AD 
nach  einem  derartigen  Punkte  D  dieser  Strecke  zu  ziehen,  daß 
AB  X  BC  +  Biy^  =  jB(7  werde.  Ein  anderes  Mal  löste  er  die  Auf- 
gabe^, an  welcher  Alkühi   (S.  750)   sich   vergebens   versucht   hatte, 

und    welche    als    Gleichung     geschrieben    a^  -\-  \^—x  -{-  b  =^  10  a? 

heißt.  Wieder  eine  andere  Leistung  Abü'l  Dschüds  bezieht  sich  auf 
die  Einzeichnung  des  regelmäßigen 
Neunecks  in  einen  Kreis*).  Albi- 
rüni hatte  im  7.  Satze  des  7.  Ka- 
pitels des  IV.  Buches  seiner  Geo- 
metrie, wie  uns  berichtet  wird,  den 
Satz  ausgesprochen,  die  Konstruk- 
tion des  Neunecks  beruhe  auf  einer 
Gleichung  zwischen  einer  Unbe- 
kannten einerseits  und  deren  Würfel 
und  einer  Zahl  andrerseits  und  hatte 
den  Nachweis  dieses  Satzes  verlangt. 
Abü'l  Dschüd  lieferte  denselben  wie 
folgt.  Es  sei  (Fig.  104)  AB  die 
gesuchte  Neunecksseite  und  das 
Dreieck  gleichschenklig  über  ihr  mit  der  Spitze  auf  dem  Kreisumfang 
beschrieben.      Dann    sei    AB  «  AD  =?  DE  =  EZ   aufgetragen    und 

SAH  '^ 

AT ±BC,  ZKJLAC  gezogen.     Der  Winkel  bei  C  ist  ^JjJ    =20% 
die  Winkel  bei  B  und  A  je  =  80®.     Daraus  folgt 
<^  DAE  =  80«  -  20«  =  60«, 

^)  L'algihre  d'Omar  Alkhayami  pag.  tl4  und  119.  *)  Ebenda  pag.  114—116. 
Snter  97,  Nr.  215.     »)  Ebenda  pag.  64—57.     *)  Ebenda  pag.  126—126. 


760  35.  Kapitel. 

^DEA  ebenso  groß,  also  auch  ^  ADE  ^60^  und  das  Dreieck 
ADE  ist  gleichseitig.  In  dem  ferneren  gleichschenkligen  Dreiecke 
DEZ  ist  ^  EDZ  -  180«  -  60«  -  80«  -  40«,  ^  EZD  ebenso  groß 
und  ^  Di?Z  =  180«  -  2  •  40«  =  100«.     Folglich 

^ZEC  =  180«  -  100«  -  60«  =  20«  =  <^  ZCE, 
und  somit  auch  Dreieck  CZE  gleichschenklig,  d.  h. 

CZ^ZE^ED^  DA  ^AB^  AE. 
Aus  der  Ähnlichkeit  der  Dreiecke  CZK  und  CAT  folgt 

CZ:CK=CA:CT, 
daraus    CZ:2CK^CA:  2CT    oder    ABiCE^CA:  (CD  +  CB) 
und  auch  AB :  (AB  +CE)^CA:  [^CA  +CD  +  CB)  oder 

AB  rAC ^  AC :  (CD  +  2 AC). 
Nun  setzt  Abül  Dschüd  AC  =  BC  als  Einheit,  AB  als  Unbekannte, 
wofür  wir  x  schreiben  und  somit  folgt  aus  dem  letztgeschriebenen 
Verhältnisse  1  =  ir(2  +  CD).  Aus  der  Ähnlichkeit  der  Dreiecke 
ABC  und  BDA  weiß  man  aber  ferner  ACiAB^AB.BD  oder 
BD^x\  Folglich  ist  CD  ^  BC  -  BD  ^  1  -  x^,  und  die  Glei- 
chung, aus  welcher  x  zu  ermitteln  bleibt,  nimmt  die  Gestalt 

1  =a;(3-rc^ 
beziehungsweise  schließlich  x^  +  1  ^  Sx  an,  wie  Albirüni  behauptet 
hatte.  Diese  Gewandtheit  eine  geometrische  Aufgabe  in  eine  Glei- 
chung umzusetzen  verleiht  endlich  einer  Angabe  volle  Glaubwürdig- 
keit, es  habe  Abü'l  Dschüd  „eine  besondere  Abhandlung  über  die 
Aufzählung  von  Gleichungsformen  verfaßt  und  über  die  Art 
und  Weise  die  meisten  derselben  auf  Kegelschnitte  zurückzuführen, 
freilich  ohne  vollständige  Erörterung  ihrer  Fälle  und  ohne  Scheidung 
der  möglichen  Aufgaben  von  den  unmöglichen,  sondern  nur  so,  daß 
er  die  Entwicklungen  gab,  zu  welchen  er  durch  Betrachtung  be- 
sonderer zu  jenen  Formen  gehörender  Aufgaben  geführt  wurde"  ^). 

Wir  werden  sehen,  wie  es  einem  Nachfolger  Abül  Dschüds  um 
1080  gelang  das  Kapitel  einer  geometrischen  Algebra  zum  Abschlüsse 
zu  bringen,  müssen  aber  vorher  wieder  zum  Beginne  des  XI.  S.  zu- 
rückkehren, um  zweier  Schriftsteller  zu  gedenken,  welche  dem 
rechnenden  und  dem  rein  algebraischen  Teile  der  Mathematik  vor- 
zugsweise ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten,  Alnasawi  und  Al- 
karchi. 

Abül  Hasan  *Ali  ihn  Ahmed  Alnasawi  war  aus  Nasa  in  der 
Landschaft  Chorasan.     Wir  sind  in  die  Lage  versetzt  seine  Lebens- 


')  L'algibre  d'Oma/r  Älkhayami  pag.  82. 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  960  etwa  bis  1100.     761 

%eit  ziemlich  genau  angeben  zu  können,  indem  wir  wissen^),  daß  er 
fiir  die  Finanzbeamten  des  Bujiden  Madschd  Addaulab,  welcher 
997 — 1029  regierte,  ein  Rechenbuch  in  persischer  Sprache  heraus- 
gab, und  daß  er  auf  Wunsch  von  dessen  Nachfolger,  also  wohl  kurz 
nach  1030,  eine  zweite  neue  Bearbeitung  in  arabischer  Sprache  voll- 
endete, welche  letztere  er  mutmaßlich  aus  dem  Grunde,  weil  er  den 
Fürsten  damit  zufrieden  stellen  wollte,  den  befriedigenden  Trak- 
tat nannte.  Wir  erinnern  uns,  daß  um  820  das  erste  arabische 
Lehrbuch  der  Rechenkunst,  von  welchem  wir  Kenntnis  haben,  durch 
Muhammed  ihn  Müsä  Alchwarizmi  verfaßt  worden  ist,  daß  dasselbe 
sich  ungemein  folgewichtig  erwies.  Andere  Schriften  ähnlicher  Natur 
werden  uns  da  und  dort  genannt,  zum  Teil  auch  in  Alnasawis  Vorrede. 

Alkindi*),  der  philosophischste  Kopf  seiner  Zeit,  gleich  be- 
rühmt als  Mediziner  wie  als  Astronom  und  Mathematiker,  ein  Günst- 
ling der  Chalifen  Almamün  und  Almü^tasim,  der  bis  in  das  letzte 
Viertel  des  IX.  S.  gelebt  haben  muß,  weil  er  eine  Übersetzung  des 
Kusta  ihn  Lükä  aus  dem  Griechischen  des  Hypsikles  zu  verbessern 
den  Auftrag  hatte,  hat,  wie  Alnasawi  uns  erzählt,  ein  Rechenbuch 
verfaßt,  welches  diesem  jedoch  einen  konfusen  und  übermäßig  breiten 
Eindruck  machte.  Dasselbe  urteil  fällt  er  über  ein  Rechenbuch 
Alantäkis^),  des  Antiochiers,  welcher  987  gestorben  ist.  Alkal- 
wadäni*)  am  Ende  des  X.  S.  wird  als  zu  schwierig  bezeichnet;  er 
gebe  Regeln,  welche  nur  für  solche  Personen  notwendig  seien,  welche 
mit  den  feinsten  Aufgaben  sich  beschäftigen,  und  aus  der  gleichen 
Zeit  nennt  Alnasawi  noch  verschiedene  andere  Verfasser  von  Lehr- 
büchern der  Rechenkunst,  einen  Abu  Hanifa*),  einen  Küschjär*), 
welchen  er  bei  allem  Lobe  doch  diesen  oder  jenen  kleinen  Tadel 
nicht  erspart.  Die  Schriften  dieser  Vorgänger  sind,  wenn  überhaupt 
noch  vorhanden,  jedenfalls  nicht  in  Übersetzungen  veröffentlicht,  und 
nur  den  befriedigenden  Traktat  Alnasawis  kennen  wir  aus  einem  kurzen 
Auszuge,  der  kaum  mehr  als  Überschriften  der  einzelnen  Kapitel  enthält^). 

Wir  entnehmen  ihm,  daß  Verdoppelung  und  Halbierung  als  be- 
sondere Rechnungsarten  gelehrt  wurden.  Wir  entnehmen  ihm  die 
Multiplikation   und  Division   „nach    indischer  Weise",    worunter   die 


')  Woepcke  im  Journal  Äsiatique  für  1863,  I.Halbjahr,  pag.  492.  Suter 
96—97,  Nr.  214.  ■)  Wüstenfeld,  Arabische  Aerzte  und  Naturforscher  S.  21 
bis  22,  Nr.  67,  und  Flügel  in  den  Abhandlungen  for  die  Kunde  des  Morgen- 
landes Bd.  I,  Abhandlung  2.  Leipzig  1859.  Suter  23—26,  Nr.  45.  ^  Suter 
68—64,  Nr.  140.  *)  Ebenda  74,  Nr.  171.  »)  Ebenda  31-32,  Nr.  60.  «)  Ebenda 
83 — 84,  Nr.  192  und  Steinschneider  in  Abhandlungen  zur  Greschichte  der 
Mathematik  UI,  109.  ')  Woepcke  im  Journal  Äsiatique  für  1863,  1.  Halbjahr, 
pag.  496—500. 


762  86.  Kapitel. 

Methoden  yerstanden  sind,  die  wir  aucli  durch  Maximus  Planudes  als 
indische  kennen.  Der  Multiplikator,  beziehungsweise  der  Divisor 
rückt  unter  dem  Multiplikandus  oder  dem  Dividendus  weg  von  der 
Linken  zur  Rechten.  Beide  Operationen  beginnen  dort,  d.  h.  an  der 
höchsten  Stelle,  die  Teilprodukte  werden  nach  und  nach  addiert  oder 
subtrahiert  und  die  nötigen  Verbesserungen  und  Veränderungen  ent- 
sprechend angebracht,  beim  wirklichen  Rechnen  vermutlich  so,  daB 
man  die  unrichtige  Zahl  wegwischte  und  die  richtige  dafür  hinschrieb, 
in  den  Beispielen  des  Lehrbuches  so,  daß  die  richtigen  Zahlen  über 
die  unrichtigen  gesetzt  sind,  welche  dadurch  selbst  für  vernichtet 
gelten.  Die  Zahlzeichen  sind  die  ostarabischen.  Auf  diese,  sagt 
Alnasawi,  hätten  die  meisten  Personen,  welche  mit  der  Rechenkunst 
sich  beschäftigten,  sich  geeinigt,  doch  sei  volle  Übereinstimmung 
nicht  vorhanden.  Mit  Bruchteilen  verbundene  Zahlen  werden  in  drei 
Zeilen  untereinander  geschrieben;  in  der  obersten  Zeile  stehen  die 
Ganzen,  in  der  zweiten  der  Zähler,  in  der  dritten  der  Nenner  des 
Bruches;  sind  keine  Ganzen  vorhanden,  so  wird,  um  Mißverständ- 
nissen vorzubeugen,  eine  Null  in  die  oberste  Zeile  gesetzt.  So 
heißt  also 

0       j        o       j        r  1        lo  7 

Die  Rechnungsaufgaben  erstrecken  sich  in  den  drei  ersten  Büchern 
bis  zur  Ausziehung  der  Kubikwurzeln  aus  mit  Brüchen  vereinigten 
ganzen  Zahlen.  Das  vierte  Buch  ist  dem  Rechnen  im  Sexa- 
gesimalsysteme  gewidmet.  Von  komplementären  Rechnungsverfahren 
keine  Spur! 

Abu  Bekr  Muhammed  ihn  Alhusain  Alkarchi^)  ist  ein  Schrift- 
steller ganz  anderen  Charakters.  Von  ihm  besitzt  man  zwei  Schriften, 
welche  einander  fortsetzen,  nämlich  als  ersten  Teil  ein  Rechenbuch: 
Al-Käfi  fil  hisäb.  Das  Genügende  über  das  Rechnen,  und  als  zweiten 
Teil  eine  Algebra:  Al-Fachri*).  Der  Name  dieses  zweiten  Teils  ist 
mutmaßlich  dem  einer  Persönlichkeit  nachgebildet,  zu  welcher  Alkarchi 
in  naher  Beziehung  gestanden  zu  haben  scheint.  Abu  Gälib  war  es, 
welcher  den  Beinamen  Fachr  al  mulk,  Ruhm  des  Reiches,  führt  und 
welcher  Wezir  der  Wezire  gewesen  sein  muß  zur  Zeit  als  die  beiden 
Schriften  verfaßt  wurden,   die   zweite  nach   ihm  den  Titel  Al-Fachri 


^)  Suter  84—85,  Nr.  193.  *)  Der  Käfi  fil  hisäb  des  Alkarchi  ist  deutlich 
von  Ad.  Hochheim  (Halle  1878—80)  herausgegeben,  der  Pachri  auszugsweise 
französisch  von  Woepcke  (Paris  1853).  Unsere  biographischen  Notizen  gründen 
eich  vorzugsweise  auf  Hochheims  einleitende  Notizen  zum  I.  Heft  des  Eftfi 
f!l  his&b. 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  960  etwa  bis  1100/   763 

erhielt.  Dadurch  ist  aber  die  Zeit,  in  welcher  Alkarchi  schrieb,  ganz 
genau  bestimmt.  Abu  Gälib  nahm  als  Statthalter  von  Bagdad,  wo 
Alkarchi  lebte,  die  höchste  Rangstufe  seit  1010  oder  1011  ein.  Eben- 
derselbe wurde,  ein  Beispiel  orientalischen  Schicksalswechsels,  1015 
oder  1016  auf  Befehl  des  Sultans  hingerichtet.  So  bleiben  nur  die 
fünf  dazwischenliegenden  Jahre,  in  welchen  Alkarchi  ihm  Schriften 
als  Wezir  der  Wezire  zugeeignet  haben  kann.  Das  hervorragend 
Wichtige  an  den  Werken  Alkarchis  besteht  darin,  daß  er  teils  einge- 
standenermaßen, teils  mittelbar  aus  dem  Inhalte  zu  erschließen  der 
Hauptsache  nach  auch  in  der  Rechenkunst  nicht  aus  indischen,  son- 
dern aus  griechischen  Quellen  geschöpft  hat,  so  einen  Gegensatz  bil- 
dend gegen  die  Alnasawi  usw.,  welche  indische  Rechenkunst  lehrten 
nnd  lehren  wollten.  Wir  müssen  um  so  mehr  hier  einen  be- 
wußten Gegensatz  zweier  Schulen,  nicht  bloß  ein  Abweichen 
des  vereinzelten  Alkarchi  von  der  allgemeinen  Gewohnheit  erkennen, 
als,  wie  wir  uns  erinnern  (S.  743),  Abü*l  Wafä  in  der  zweiten  Hälfte 
des  X,  S.  ein  Rechenbuch  verfaßt  hat,  in  welchem  die  indischen  Ziffern 
keine  Anwendung  fanden  und  Alkarchi  selbst  sich  Scbüler  des  uns 
im  übrigen  unbekannten  Albusti  nennt  ^).  Freilich  ist  die  von  uns 
ausgesprochene  Behauptung  selbst  nicht  in  aller  Schärfe,  sondeni  nur 
in  der  Beschränkung  anzunehmen,  welche  wir  ihr  gegeben  haben. 
Abül  Wafä,  den  wir  zur  griechischen  Richtung  beizuzählen  die 
mannigfachsten  Gründe  haben,  war,  wie  wir  annahmen,  in  seiner  An- 
schauungsgeometrie durch  und  durch  indisch.  Muhammed  ihn  Müsä 
Alchwarizmi  rechnete  nach  indischen  Vorschriften,  und  in  seinem 
Lehrbuche  der  Rechenkunst  vernahmen  wir  griechische  Anklänge 
(S.  717).  Vollständig  den  gegenseitigen  Einfluß  auszuschließen,  ge- 
lang es  weder  der  einen  noch  der  anderen  Schule,  wenn  *sie  es  über- 
haupt beabsichtigte.  So  wird  uns  trotz  der  vorwiegend  griechischen 
Schulung  Alkarchis  Indisches  in  seinen  Schriften  nicht  in  Erstaunen 
setzen  dürfen,  vorausgesetzt,  daß  es  in  homöopathisch  kleinen  Mengen 
auftritt,  und  diese  Voraussetzung  trifft  ein.  Indisch  müssen  wir 
vielleicht  die  Neunerprobe  nennen*),  indisch  das  was  von  quadratischen 
Resten,  wir  meinen  von  den  Endziffern,  welche  eine  Quadratzahl  be- 
sitzen kann,  gesagt;  ist^),  indisch  ist  uns  die  Lehre  von  der  Regel- 
<letri*).    Aber  damit  schließt  die  Summe  nachweisbaren  indischen  Ein- 

>)  Käfi  ff]  hia&b  Heft  I,  S.  4.  Suter  57,  Nr.  122  nennt  zwar  einen  be- 
deutenden Gebrten  Muhammed  ibn  Ahmed  ibn  Hibbän  Abu  H^ltim  Albnsti.  Da 
•aber  dieser  965  starb  und  Alkarchi  vor  1015  seinen  Al-Fachri  verfaßte,  so  lägen 
•etwa  50  Jahre  zwischen  Alkarchis  Lehrzeit  nnd  seiner  schriffcstelleriBchen  Tätig- 
keit; möglicherweise  war  also  sein  Lehrer  ein  anderer  Albusti.  ")  Käfi  fil 
his&b  I,  8.        »)  Ebenda  II,  18.        *)  Ebenda  U,  16. 


764  »5.  Kapitel. 

flusses  ab,  wenn  wir  nicht  etwa  den  Ursprung  von  Multiplikations- 
methoden^),  welche  auf  Zerlegung  eines  Faktors  in  Unterfaktoren  oder 
auf  Betrachtung  derselben  als  Summe  oder  Differenz  von  Zahlen^ 
welche  eine  leichte  Multiplikation  zulassen,  hinauslaufen  und  welche 
allerdings  bei  den  indischen  Schriftstellern  uns  ebenso  begegneten, 
aber  einem  Griechen  nicht  minder  einfallen  konnten,  ausschließlich 
nach  Indien  verlegen  wollen.  So  bedeutsam  diese  Dinge  sind,  so  stellen 
sie  doch  nur  einen  geringfügigen  Teil  des  Inhaltes  des  Käfi  M  hisäb 
uns  dar,  geringfügig  namentlich  gegen  das,  was  mit  größter  Zuver- 
sicht auf  griechische  Quellen  zurückgeführt  werden  muß.  Da  finden 
wir  Multiplikationsmethoden,  welche  an  die  des  Apollonius,  des  Ar- 
chimed,  wie  sie  von  Pappus,  von  Eutokius  uns  berichtet  werden^ 
welche  an  die  des  Heron  vielfach  erinnern*).  Da  finden  wir  die  De- 
finition der  Multiplikation  selbst  fast  wörtlich  wie  bei  Euklid').  Da 
finden  wir  wieder  genau  nach  Euklid  die  Aufsuchung  des  größten 
gemeinschaftlichen  Divisors*),  genau  nach  ihm  eine  ausführliche  Pro- 
portionenlehre ^),  welche  gewissermaßen  als  theoretische  Grundlage  der 
nachher  vom  Standpunkte  praktischen  Geschäftsbedürfnisses  erörterten 
Regeldetri  vorausgeschickt  ist.  Da  finden  wir  Stammbrüche  und 
Brüche  von  Brüchen,  wie  sie  bei  Heron  nicht  zu  den  Seltenheiten 
gehören^),  und  wobei,  beiläufig  bemerkt,  zwischen  jenen  stummen 
und  aussprechbaren  Brüchen  unterschieden  wird,  deren  Bedeutung  wir 
bereits  (S.  718)  erörtert  haben.  Da  ist  die  Rechnung  mit  Sexa- 
gesimalbrüchen,  insbesondere  die  Ausziehung  von  Quadratwurzeln 
aus  solchen,  wie  sie  bei  Ptolemäus  und  bei  Theon  von  Alexandria 
in  Übung  war').  Da  finden  wir  in  dem  geometrischen  Kapitel  auf 
Schritt  und  Tritt  griechische  Definitionen  und  Sätze ^),  den  ptolemäi- 
schen  Satz  vom  Sehnenviereck  ^),  die  heronische  Dreiecksformel  aus 
den  drei  Seiten^®)  usw.  Da  finden  wir  einzelne  Wörter,  welche  geradezu 
Übersetzungen  griechischer  Ausdrücke  sind,  wie  die  aussprechbaren 
und  nicht- aussprechbaren  Quadratwurzeln  (firjtöv  und  äAoyov)^^),  wie 
die  Grenze  {ögog,  lateinisch  limes,  auch  terminusy^)  um  bei  Sexa- 
gesimalbrüchen  die  Ordnung  zu  bezeichnen,  oder  sagen  wir  vielleicht 
entsprechender  um  das  Reihenglied  anzugeben,  bei  welchem  man 
stehen  zu  bleiben  wünscht. 

In  diesem  Lehrbuche  nun,  dessen  Reichhaltigkeit  aus  unseren 
nur  besonders  für  den  Ursprung  zeugende  Dinge  berücksichtigenden 
Notizen   zur  Genüge   erhellt,   ist   von  Verdoppelung  xmd  Halbierung 

1)  Käfi  fil  hißäb  I,  6  flgg.  *)  Ebenda  I,  6,  6;  ü,  7.  »)  Ebenda  I,  4. 
*)  Ebenda  I,  10—11.  *)  Ebenda  II,  15—16.  ^  Ebenda  I,  7,  14  und  hanfiger. 
»)  Ebenda  U,  10  und  16.  »)  Ebenda  H,  18  figg.  «)  Ebenda  II,  26.  >^)  Ebenda. 
II,  23.       ")  Ebenda  II,  12.       ")  Ebenda  U,  4. 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  960  etwa  bis  1100.     765 

als  besonderen  Rechnungsarten  nirgend  die  Rede  nnd  wird^  was  noch 
weit  merkwürdiger  ist^  nicht  ein  einziges  I^Ial  von  Ziffern  irgend- 
welcher Art  gesprochen.  Alle  und  jede  Zahlen,  welche  in  dem  Texte 
vorkommen,  sind  vielmehr  in  ganzen  ausgeschriebenen  Worten  ange- 
geben. Selbst  die  umständlichsten  Rechnungen  führt  Alkarchi  nur 
in  dieser  Weise  aus,  so  daß  eine  rasche  Übersicht  ganz  und  gar 
nicht  möglich  ist,  man  sich  vielmehr  immer  in  die  Lage  eines  durch 
das  Ohr  allein  Lernenden  versetzt  fühlt.  Die  Frage,  wie  Alkarchi, 
ein  Mann  von  glänzendem  Scharfsinne,  wie  uns  insbesondere  sein 
zweites  Werk  beweisen  wird,  die  indischen  Rechenmethoden,  deren 
Unkenntnis  bei  ihm,  dem  Zeitgenossen  und  Ortsgenossen  des  Alna- 
sawi,  zur  Unmöglichkeit  sich  gestaltet,  so  sehr  unterschätzen  konnte, 
daß  er  nicht  mit  einem  Worte  ihrer  erwähnte,  enthält  eine  so 
schwere  Anklage,  daß  uns  eben  die  Notwendigkeit  ihr  zu  begegnen, 
auf  die  oben  ausgesprochene  Vermutung  führte.  Wir  glauben  nicht 
Unkenntnis  oder  Unterschätzung  der  indischen  Methoden  bei  einem 
Alkarchi  annehmen  zu  dürfen.  Wir  sehen  hier  bewußten,  grund- 
sätzlichen Schulgegensatz,  der  aus  Verbissenheit  •selbst  das  Vortreff- 
lichste sich  entgehen  läßt,  wenn  es  seinen  Ursprungsstempel  so 
deutlich  auf  der  Stime  trägt,  wie  dieses  bei  den  indischen  Zahl- 
zeichen der  Fall  war. 

Ist  es  die  Heimatszugehörigkeit  gewesen,  welche  den  einen  in 
diese,  den  anderen  in  jene  Schulrichtung  bannte?  Wir  wissen  es 
nicht.  Vielleicht  müssen  wir  an  eine  unerwartete  Rückwirkung  theo- 
logischer Streitigkeiten  denken,  an  den  Gegensatz  von  Sunniten  und 
Schiften,  von  Orthodoxen  und  MuHazeliten,  der  die  ganze  arabische 
Geschichte  beeinflußt  hat  und  zwischen  1020  und  1030  öffentliche 
Disputationen  veranlaßte,  die  so  regelmäßig  in  große  Raufereien 
ausarteten,  daß  sie  gänzlich  verboten  wurden^). 

Wir  würden  uns  nicht  übermäßig  erstaunen  dürfen  und  es  keines- 
wegs als  Beweis  gegen  den  von  uns  vermuteten  alexandrinisch- 
römischen  Ursprung  gelten  lassen,  wenn  die  komplementären  Rech- 
nungsverfahren der  Multiplikation  und  der  Division  Alkarchi  bekannt 
geworden  wären  in  einer  Zeit,  zu  welcher,  wie  wir  sehen  werden, 
diese  Methoden  auch  im  christlichen  'Abendlande  an  Verbreitung  ge- 
wannen. Dem  ist  indessen  nicht  so,  und  nur  zwei  leise  Spuren, 
welche  zwar  nicht  an  jene  Verfahren  selbst,  aber  an  den  W^eg,  der 
zu  ihnen  führt,  etwas  erinnern,  sind  uns  aufgestoßen.  Wir  führen 
die  Stellen,  weil  Gegner  unserer  Meinungen  sie  vielleicht  in  ihrem 
Sinne  verwerten  möchten,  wörtlich  an. 

0  Weil  S.  226. 


766  3ö.  Kapitel. 

,, Wisse  nun^  daß  man  die  Zahlen  in  zwei  Klassen  teilt;  nämlich, 
in  einfache  und  zusammengesetzte.  Die  einfachen  Zahlen  sind  solche, 
die  nur  einer  Ordnung  angehören,  und  die  zusammengesetzten  solche, 
die  zwei  oder  mehreren  Ordnungen  angehören"*). 

Das  klingt  ungemein  nach  dem  Fälscher  der  Geometrie  des 
Boethius  und  ganz  und  gar  nicht  nach  der  13.  und  14.  Definition 
des  VII.  Buches  der  Euklidischen  Elemente,  wo  die  Primzahlen  ein- 
fach heißen,  und  zusammengesetzt  solche  Zahlen,  die  in  Faktoren  sich 
zerlegen  lassen.  Die  zweite  Stelle  ist  um  ein  Blatt  früher  in  der 
Handschrift  des  Käfi  fil  hisäb  zu  finden.     Dort  heißt  es: 

„Was  die  Ordnungen  anlangt,  so  sind  diese  drei:  Einer,  Zehner 
und  Handerter.  Das  aber,  was  über  diese  hinausgeht,  ist  auf  sie 
aufgebaut  wie  die  Eintausender,  die  Zehntaijsender,  die  Hundert- 
tausender, [die  Eintausendtausender],  die  Zehntausend tausender,  die 
Hunderttausendtausender.  AUe  diese  ruhen  auf  dem  Fundamente  der 
drei  ersten,  indem  mit  der  Eins  der  Ausdruck  Tausend  entweder  ein- 
mal oder  zweimal  oder  dreimal  verbunden  ist,  indem  dann  zweitens  mit 
der  Zehn  der  Ausdruck  Tausend  entweder  einmal  oder  zweimal  oder 
mehrmal  verbunden  ist.  Und  so  ist  jede  Zahl,  welche  einer  anderen 
als  diesen  drei  Ordnungen  angehört,  wenn  Du  den  Ausdruck  Tausend 
von   ihr  wegnimmst,  entweder  ein  Einer,  Zehner  oder  Hunderter*^*). 

Das  sind  ofiTenbar  Triaden,  wie  der  Bömer  sie  besaß,  wie  das 
christliche  Abendland  sie  nachahmen  wird,  und  nicht  griechische 
Tetraden.  Man  darf  aber  nicht  vergessen,  daß  diese  zweite  Ähn- 
lichkeit auf  sprachlichem  Boden  beruht,  daß  die  Araber  gleich  dem 
Kömer,  gleich  dem  Deutschen  Zehntausend  zusammensetzen  mußten, 
während  die  Griechen  noch  ihre  einfache  Myrias  gebrauchten,  und 
daß  so  Triaden  gar  wohl  an  den  verschiedenen  Orten  und  unab- 
hängig voneinander  sich  ausbilden  konnten,  Tetraden  nur  in 
Ghiechenland. 

Alkarchi  hat  auch  mancherlei,  was  bei  ihm  zuerst  unseren  Blicken 
sich  darbietet  und  vielleicht  seiner  eigenen  Erfindung  angehört.  Er 
benutzt  neben  der  Neunerprobe  eine  Elferprobe*).  Er  nimmt  als 
angenäherte  Quadratwurzel  für  j/ö^  +  ^j  wo  der  Rest  r  übrig  bleibt, 
nachdem  die  nächste  Quadratzahl  abgezogen  wurde,  mithin  jeden- 
falls   r<2a  +  l    ist,    den    Wert    a -{- - — j—-     Er    hat    unter   den 

geometrischen  Rechenbeispielen  Formeln*),  welche  zwar  an  heronische 
Beispiele  etwas  erinnern,  aber  doch  nicht  mit  denselben  zur  Deckung 
zu  bringen  sind,  oder  sich   aus   ihnen  ableiten  lassen^).     Der  Grund 

»)  Käfi  fil  hisäb  I,  ö.  *)  Ebenda  I,  A.  ^  Ebenda  I,  9.  *)  Ebenda  II,  14. 
^)  Ebenda  IT,  24,  25,  26,  28  die  Formeln  für  Kreissegmente,  für  Kreisbögen,  für 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  950  etwa  bis  1100.     767 

der    Nähenmgsformel    ]/a*  +  r  =  a  +  -  j-j    dürfte,    wie    allerdings 

erst  im  41.  Kapitel  im  nächsten  Bande  genauer  ery^iesen  werden 
kann,  folgender  sein.  Wenn  a  und  die  nächste  ganze  Zahl  a  +  1 
beide  quadriert  werden,  so  ist  die  Differenz  der  Quadrate 

(a  +  1)*  ~  a^  =  2a  +  1. 
Wächst  also  die  Quadratzahl  um  2a  +  1,  so  wächst  die  Wurzel  um 
1,  und  Anwendung  einer  Proportion  läßt  weiter  folgern,  daß  einem 
Wachstum    der   Quadratzahl   um   r   ein   Wachstum    der  Wurzel   um 

2  ,  entsprechen  müsse.  Neueste  Forschungen*)  haben  es  in 
hohem  Grrade  wahrscheinlich  gemacht,  daß  schon  Archimed  von  geo- 
metrischer Grundlage  ans  den  Näherungswert  a  +  ©""jri  ebensowohl 
als  den  a  +  ,,     kannte,  ja  daß  er  sogar  der  fortlaufenden  Ungleichung 

sich  bediente,  um  die  in  der  Ereismessung  vorkommenden  Qoadrat- 
wurzelwerte  zu  erhalten. 

Die  ganze  Bedeutsamkeit  des  Mannes,  mit  welchem  wir  uns  be- 
schäftigen,  tritt  in  seinem  zweiten  Werke,  im  Al-Fachr£,  hervor,  in 
welchem  er  andrerseits  auch  wieder  als  unbedingten  bewundernden 
Schüler  der  Griechen,  insbesondere  des  Diophant  sich  erweist,  welch 
letzterer  an  häufigen  Stellen  mit  Namen  erwähnt  ist.  Al-Fachri 
besteht  selbst  aus  zwei  Abteilungen,  einer  ersten,  welche  die  Theorie, 
wenn  man  so  sagen  darf,  enthält,  nämlich  die  Lehre  vom  algebraischen 
Rechnen  und  die  Auflösungen  sowohl  bestimmter  als  unbestimmter 
Gleichungen,  und  einer  zweiten,  welche  eine  Aufgabensammlung  dar- 
stellt. In  beiden  Abteilungen  finden  wir,  wie  gesagt,  Diophant  in 
umfassendster  Weise  benutzt,  aber  in  beiden  Abteilungen  auch 
Dinge,  welche  über  Diophant  hinausgehen.  Indische  Methoden  zur 
Auflösung  der  unbestimmten  Gleichungen  ersten  wie  zweiten  Grades 
wird  man  dagegen  vergebens  suchen. 

Diophant  hat  z.  B.  Namen  der  2.  bis  zur  6.  Potenz  der  Unbe- 
kannten additiv  aus  dvvafiLg  und  xiißag  zusammengesetzt.  Ganz 
ähnlich  verfährt  Alkarchi,  dem  mal  das  Quadrat  der  Unbekannten  — 
mitunter  auch  allerdings  irgend  eine  Größe*)  —  bezeichnet,  ka^b  den 


die  Dorchmeaser  des  Um-  und  des  Innenkreises  regelmäßiger  Vielecke,  för  den 
Körperinhalt  der  Kugel. 

^)  Hultsch^  Die  Näherungsweithe  irrationaler  Quadratwurzeln  bei  Arcbi- 
medes.  Nachrichten  von  der  königl.  Gesellsch.  der  Wissensch.  und  der  Georg- 
AuguBts-üniver8itö,t  zu  Göttingen  vom  28.  Juni  1893,  besonders  S. 899.   *)  F  ak h r i  48. 


768  35.  Kapitel. 

Würfel  und  dann  weiter  durch  sich  regelmäßig  wiederholende  Addition 
mal  mal,  mal  ka%  ka'b  Jca%  mal  mal  ka%  mal  Jca^b  Jca'b,  ka^b  ka%  ka^b 
usw.  ins  unendliche  die  folgenden  Potenzen  der  Unbekannten. 

Wir  bemerken  hier  beiläufig,  daß  wenn  in  arabischen  Schriften 
mal  bald  das  Quadrat  der  unbekannten  Oröße,  bald  eine  erste  Potenz 
bezeichnet,  diese  Zweideutigkeit  auch  dem  lateinischen  Worte  census 
in  mittelalterlichen  Übersetzungen  aus  dem  Arabischen  beigeblieben  ist^). 

Alkarchi  lehrt  das  Rechnen  mit  solchen  allgemeinen  Größen,  zu 
welchen  genau  so  wie  bei  Diophant  auch  die  Brüche  mit  der  2.,  3.,  usw. 
Potenz  der  unbekannten  als  Nenner  treten,  in  ausführlicher  und  klarster 
Weise.  Diophant  hat  solches  Rechnen  mehr  vorausgesetzt  als  gelehrt 
Alkarchi  behandelt  nach  den  Rechnirngsverfahren  an  den  Potenzen 
der  Unbekannten  oder  den  ihnen  inversen  Ausdrücken  auch  Irratio- 
nalitäten'). Freilich  bleibt  er  hier  bei  den  einfachsten  Fällen  stehen 
und  nähert  sich  nicht  von  weitem  den  von  den  Indem  auf  diesem 
Felde  erzielten  Ergebnissen,  so  daß  man  nicht  nötig  hat,  an  einen 
fremden  Einfluß  zu  denken,  um  das  Vorkommen  von  Gleichungen 
wie  >/8  +  yr8-y5Ö  oder  Vöi  -  ^2  =  1/16  zu  erklären.  Ein 
weiterer  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  Reihensummierungen').  Die 
hier  auftretenden  Sätze  sind  Alkarchi  ofl^enbar  von  anderer  Seite  zu- 
gegangen, und  er  hat  nur  für  manche  derselben  Beweise  geliefert, 
sei  es  algebraische,  sei  es  geometrische,  für  manche  künftige  Beweise 
Tersprochen,  ein  Versprechen,  welches  er  in  einem  Kommentare  zum 
Al-Fachri  zu  lösen  gedachte,  den  er  selbst  zu  schreiben  beabsichtigte*). 
Der  fremde  Ursprung  der  Summenformeln  geht  z.  B.  unzweifelhaft 
AUS  der  Summierung  der  Quadratzahlen 

1«  +  2'  +  3»  +  •  •  •  +  r«  =  (1  +  2  +  3  +  •  •  •  +  r)(|  r  +  J) 

hervor,  welche  Alkarchi  mitteilt,  aber  nicht  beweisen  zu  können  ein- 
gesteht. Als  Anhaltspunkt  zur  Beantwortung  der  Frage  nach  der 
Heimat  dieser  Formel  weisen  wir  darauf  hin,  daß  es  genügt, 

1  +  2 -f  3  +  •  •  •  +  r  =  ?^^ 
ZU  setzen,  um  sofort 

1»  +  2«  +  3»  +  .  •  .  +  r«  =  (;-  +  |)(r  +  l)r 

ZU  erhalten,  eine  Form,  welche  Archimed  nicht,  wohl  aber  Epaphro- 
ditus  benutzt  hat^).     Für  die  Summierung  der  Kubikzahlen 

13  +  2»  +  3»  +  . .  •  +  r«  =  (1  +  2  +  3  +  •  . .  +  r)« 


*)  Vgl.  solche  Übersetzungen  bei  Libri,  Histoire  des  mathematiques  en 
JRaliel,  276—277  und  I,  306.  *)  Fakhri  57—59.  »)  Ebenda  59—62.  *)  Ebenda 
6—7.     *)  Agrimensoren  S.  128. 


Zahlentheoretikei,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  960  etwa  bis  1100.     769 

gibt  Alkarchi  einen  geometrischen  Beweis,  dessen  Gedankengang 
folgender  ist^).     Im  Quairate  ÄC  (Fig.  105)  sei  die  Seite 

^5=1  +  2  +  3  +  . .•  +  r, 

und  nun  schneidet  man  von  diesem  Quadrate  einen  Gnomen 
BBCDD'CB  ab,  dessen  Breite  BB  «  r  ist.  Die  Fläche  desselben 
ist  offenbar 

2r'AB-r^^2r    *öi)  ^^^  r\r  +  1  -  1)  -  r». 

Es  ist  einleuchtend,  daß,  wenn  BB'^r  —  1 
gewählt  wird,  ein  zweiter  Gnomon  losgetrennt 
werden  kann,  dessen  Fläche  (r  —  1)'  sein  muß, 


und  daß  in  dem  ganzen  Quadrate  r  —  1   der-    ^[^ 


c 

c 

^ 

Fig.  lOA. 


artige  immer  kleiner  werdende  Gnomone 
entstehen,  deren  letzter  von  der  Fläche  2' 
ist,  und  weggenommen  noch  ein  Quadrat- 
chen 1*  übrig  läßt.  Da  aber  1*  =«  1*,  so  ist 
auch 

1»  +  2»  +  3»  -h  •  •  •  +  r»  «  (1  +  2  -h  3  H-  . . .  -h  r)». 

Jetzt  kommt  Alkarchi  zu  den  sechs  Gleichungsformen,  welche  wir 
(S.  719)  bei  Muhammed  ihn  Müsä  Alchwarizmi  besprechen  mußten, 
und  setzt  bei  dieser  Gelegenheit  auseinander,  was  dschebr  und  mukä- 
hala  sei*).  Er  versteht  dabei  das  Wegheben  gleichartiger  Größen  auf 
beiden  Seiten  der  Gleichung,  welches  wir  im  Einverständnisse  mit 
späteren  Schriftstellern  mukäbala  genannt  haben,  bereits  unter  dschebr. 
Ihm  ist  mukäbala  vielmehr  nur  die  endgültig  zur  Auflösung  vorbe- 
reitete Gleichung  in  einer  der  sechs  Formen.  Unter  den  Beispielen, 
welche  Alkarchi  behandelt,  ist  auch  a?*  +  lOa?  =  39  und  a?*  +  21  =  10a;, 
deren  beider,  wie  wir  uns  erinnern,  Alchwarizmi  sich  bedient  hat. 
Alkarchi  hat  für  sie  eine  doppelte  Auflösung,  die  eine  geometrisch, 
die  andere  nach  Diophant,  wie  er  sich  ausdrückt,  und  diese  letztere 
besteht  in  der  Ergänzung  zum  Quadrate.  Die  Gleichung  a?*  -f-  10a?  ==  39 
wird  also  aufgelöst  durch  die  Umwandlung  in 

a;«  +  10a?  +  5«  =  39  +  5«,     oder    (a;  +  5)«  -  8S 

woraus  a?-f5  =  8,  a?=»3  gefolgert  wird.  Bei  der  Gleichung 
^*  +  21  ==  10a;  ist  das  Verfahren  folgendes: 

a;«  +  21  +  (a;«  -  10a;  +  25)  -  10a;  +  {x^  -  10a;  +  25), 

(a:«  -  10a;  +  25)  -  10a;  +  (a;«  -  10a;  +  25)  —{f  +  21)  -  4  =  2«. 


^)  Fakhri  61.    Vgl.  Hankel  S.  192  Anmerkung,  der  in  dem  Beweise  ein 
durchaus  indisches  Gepräge  erkennen  will.       *)  Ebenda  68 — 64. 

Caktor,  Oesohiohte  der  Mathematik  L   3.  Aufl.  49 


770  35.  Kapitel. 

Aber  a:^  —  10  +  25  ist  ebensowohl  {x  —  5)*  als  (5  —  xfy  also  ist 
a;  —  5  =  2  tmd  5  ^  o?  =  2  eine  Auflösung  und  entsprechend  x  =  7 
und  a:  =  3. 

Das  Auffallende  bei  der  Behandlung  dieser  letzteren  Gleichung 
ist,  daß  Alkarchi  auch  von  ihr  des  Ausdrucks  „nach  Diophants  Art^' 
sich  bedient.  Wenn  wir  (S.  476)  wahrscheinlich  machen,  um  nicht 
zu  sagen  zur  Gewißheit  erheben  konnten,  daß  Diophant  nicht  wußte, 
daß  die  Gleichung  ax^  +  c^^bx  zwei  voneinander  verschiedene  Wurzel- 
werte besitzt,  so  ist  jener  Ausdruck  ganz  unverständlich.  Nicht 
griechisch  war  unter  allen  Umständen  die  eine  geometrische  Dar- 
stellung Alkarchis  für  die  Auflösung  der  Gleichung  x^  +  lOo;  =  39. 
Alkarchi  gibt  zwei  geometrische  Darstellungen  unmittelbar  ein-' 
ander  folgend.     Zuerst  läßt  er  (Fig.  106)  die  Strecken  x  und  10  ge- 

^  radlinig    aneinander    setzen    und    den 

^  ^  ^  Mittelpunkt  der  letzteren  Strecke  an- 

Fig.  106.  geben.     Unter  Berufung  auf  einen  „be- 

kannten Satz  des  Euklid"^),  worunter 
der  6.  Satz  des  IL  Buches  der  Elemente  verstanden  ist  (S.  263), 
folgert  er  sodann 

Nun  sei  aber  (10  -j-  a:)fl?  «=  39,  also 

"  64  =  (y  -H  a:)*,    8  =  5  +  3;,    x^3. 

Diese  Beweisführung  kann  sehr  wohl  alter  griechischer  Überlieferung 
sein,  kann  bis  auf  Euklids  nächste  Nachfolger,  wenn  nicht  auf  ihn 

selbst,  zurückgehen.  Nun 
läßt  aber  Alkarchi  eine 
zweite  geometrische  Dar- 
stellung folgen.  Die 
Strecken  (Fig.  107) 
":?  1^  i      CD  =  x^,      DE  -  lOrc, 

deren  Summe  39  sein 
muß,  werden  geradlinig  aneinander  gesetzt.  Über  DE  wird  das 
Quadrat  ABED  errichtet,  dessen  Fläche  folglich  100a;*  ist.  Nun 
bildet  man  über  CD  ein  Rechteck  CDTZ^  100a?*,  d.h.  man  macht 
CZ«  100,  das  Rechteck  CZIE  ist  folglich 

100(a:«  +  lOx)  =  100  •  39  =  3900 
und  ebenso  groß  ist  das  Rechteck  ABIT,    Ist  jetzt  8  die  Mitte  von 
lEy  so  ist  ähnlich  wie  im  vorigen  Beweise 

*)  Fakhri  65. 


Z. .C 

T ^ 


Zaiileniheoretiker,  Bfechner,  geomeiriache  Algebraiker  von  960  etwa  bis  1100.     771 

IBxEB  +  ES'^BS'    oder    3900  +  50«  =  (lOrc  +  50)^ 

woraus 

10a:  +  50  =  80,     lOa;  -  30,    a:«  =  39  -  10a;  -  9 

folgt.  Dieser  Beweis,  das  können  wir  zuyersichtlicli  aussprechen, 
rührt  von  keinem  Gh-iechen  her.  Niemals  hätte  ein  solcher  eine 
Strecke  als  a:',  eine  andere  als  10  a;  bezeichnet  und  aneinander  gesetzt, 
niemals  die  weiteren  Folgerungen  gezogen.  Auch  die  Buchstaben  der 
Figur,  wenn  wir  die  Transkription,  in  welcher  sie  allein  uns  be- 
kannt geworden  sind,  für  zuverlässig  halten  dürfen,  bestätigen  durch 
das  unter  ihnen  vorkommende  2,  daß  sie  mindestens  von  keinem 
Griechen  aus  der  klassischen  Zeit  ihrer  Geometrie  herrühren  können. 
Hier  ist  uns  vermutlich  arabische  Zutat  gehoten,  wahrscheinlich  eine 
Erfindung  von  Alkarchi  selbst  Die  Gleichung  x*  +  ax  =  b  kann 
aber  auch  so  behandelt  werden,  daß  x^  unmittelbar  hervortritt,  ohne 
durch  Quadrierung  des  zunächst  'gesuchten  x  gefunden  zu  werden^). 
Nachdem 

x^  +  ax  +  ~=-b  +  ^     und    a;  +  -|-  =  yb  + 
gefolgert  sind,  sieht  man  sofort,  daß 


a* 


«^+v-«i/&+^'=l/«''*+(';T 


2 


Andererseits  ist 

o^  +  ax  +  ~=^b  +  ^, 

und  zieht  man  davon  den  Wert  von  ax  +       ab,  so  bleibt 


Alkarchi   gehört  ferner  wohl   die   Auflösung   der   dreigliedrigen 
Gleichungen  von  den  Formen 

ax^^  +  b3^  ^  Cj      ax^^  +  c^bx^  y      bx^  +  c-^ax^^, 

welche  als  auf  quadratische  Gleichungen  zurückführbar  dargestellt 
werden,  an^).  Die  theoretische  Abteilung  schließt  sodann  mit  noch 
zwei  Aufgaben.  Deren  erste  bildet  der  istikra,  d.  h.  wörtlich  das 
Weitergehen  von  Stelle  zu  Stelle.  Gewöhnlich  versteht  der  Araber 
darunter  ein  auf  Kenntnis  aller  besonderen  Fälle  beruhendes  induk- 
tives Urteil^),  hier  aber  ist  etwas  anderes  gemeint:  die  Aufgabe  ein 
Monom,  Binom  oder  Trinom,  welches  formell  keine  Quadratzahl  ist. 


*)  Pakhri   66.         •)  Ebenda    71  —  72.        »)  L'dLg^hre  d'Otnar  ÄWiayami 
pag.  10,  Anmerkung. 

49* 


772  36.  Kapitel. 

durch  Annahme  eines  beetimmten  Wertes  der  Unbekannten  zum  Qua- 
drate zu  machen,  also  die  unbestimmte  Gleichung 

ma?  +  nx  +  p  ^  ^ 

zu  lösen.  Alkarchi  setzt  als  Bedingung  Yoraus,  es  müsse  m  oder  p 
eine  Quadratzahl  sein,  dann  wählt  er  y  als  Binom,  dessen  einer  Teil 
entweder  Ymö^  oder  y p  ist,  so  daß  die  ausgeführte  Quadriemng 
Yon  y  gestattet,  ein  Glied  auf  beiden  Seiten  zu  streichen,  entweder 
das  nach  x  quadratische  oder  das  konstante.  Die  zweite  der  beiden 
Schlußaufgaben  des  theoretischen  Teiles  fordert  die  Auf&ndung  eines 
Faktors,  welcher  mit  a  +  ^6  vervielfacht  die  Einheit  hervorbringe. 
Die  Aufgabensammlung,  welche  in  fünf  Abschnitte  zerfallend  die 
zweite  praktische  Abteilung  bildet,  ist  nach  der  Schwierigkeit  der 
Aufgaben  als  einzigem  Einteilungsgrunde  geordnet.  Man  trifft  also 
in  ihr  in  bunter  Mannigfaltigkeit  bestimmte  und  unbestimmte  Auf- 
gaben von  den  verschiedensten  Gra'den.  Alkarchi  benutzt,  wie  sich 
erwarten  läßt,  bei  seinen  Auflösungen  nur  positive  Zahlen.  Nega- 
tive Gleichungswurzeln  sind  ihm  ein  Beweis  der  Unmöglichkeit  der 
betreffenden  Aufgaben,  und,  was  einigermaßen  auffallen  darf,  auch 
der  Wurzelwert  0  wird  von  ihm  ausgeschlossen^).  Die  bestimmten 
Aufgaben  höherer  Gb'ade  gehören  sämtlich  jenen  dreigliedrigen  auf 
quadratische  Gleichungen  zurückführbaren  Formen  an.  Die  unbe- 
stimmten Aufgaben  sind  teilweise  dem  Diophant  entlehnt,  und  ein 
Kommentator  Ibn  Alsirädsch  hat  am  Schlüsse  des  4.  Abschnittes 
der  Aufgaben  ausdrücklich  bemerkt:  ,Jch  sage,  die  Aufgaben  dieses 
Abschnittes  und  ein  Teil  derer  des  vorhergehenden  Abschnittes  sind 
ihrer  Reihenfolge  nach  den  Büchern  Diophants  entnommen.  So  ge- 
schrieben durch  Ahmed  ibn  Abu  Bekr  ibn  'AK  ibn  Alsirädsch 
Alkalänisi.  Schluß'^').  Andere  Aufgaben  rühren  dagegen,  wie  es 
scheint,  von  Alkarchi  selbst  her,  und  unter  diesen  mögen  späterer 
Rückbeziehungen  wegen  zwei  besonders  angeführt  werden,  die  in 
modemer  Schreibart  ic*  +  5  =«  y*  und  ar*  —  10  =«  y*  heißen^).  Zur 
Auflösung  der  ersteren  setzt  Alkarchi  y  =  x  +  1,  zur  Auflösung 
der  zweiten  y  ^  x  —1   und   erhält   so   für  jene  a?'  =«  4,  y*  =  9,   für 

diese  a:*  =  30— ,  y*  =»  20  .  Man  sieht,  daß  Alkarchi  die  ge- 
brochenen Auflösungen  unbestimmter  Aufgaben  keineswegs  scheut, 
sondern  gleich  Diophant  nur  irrationale  Werte  verpönt.  An  sich 
interessant  ist  es,  daß  Alkarchi  die  Auflösbarkeit  von 

±_  (ax  —  b)  —  x^  =  y^ 

1)  Fakhri  pag.  78  und  11.         *)  Ebenda  22—28.        *)  Ebenda  84  (Auf- 
gaben n,  22  und  23). 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometrische  Algebraiker  von  950  etwa  bis  1100.    773 

behandelt   und   ihre  Bedingung   in    der  Zerlegbarkeit   von   (|j   =F  6 

in  die  Summe  zweier  Quadrate  erkannt  hat^).     Die  Auflösung  von 

±  {ax  —  6)  —  rc*  =  y' 
nach  X  liefert  nämlich 


WO  die  oberen^  beziehungsweise  die  unteren  Vorzeichen  in  der  Auf- 
gabe   und    in    der   Auflösung   zusammengehören.     Kann    man    nun 

-^  =f  &  in  zwei  Quadrate  zerlegen^  so  setze  man  diese  y^  +  e^   und 

bekommt  dadurch 

In  zwei  Aufgaben  bedient  sich  Alkarchi  zweier  Unbekannten,  welchen 
er  besondere  Namen  beilegt^.  Das  eine  Mal  heißt  ihm  die  erste 
Unbekannte  Sache^  die  zweite  Maß;  das  andere  Mal  benutzt  er 
neben  Sache  noch  Teil.  Ganz  Ahnliches  findet  sich  auch  in  einem 
anonymen  mutmaßlich  gleichfalls  dem  XI.  S.  entstammenden  arabi- 
schen Aufsatze  über  Winkeldreiteilung  ^).  Daß  hierin  ein  Hinaus- 
gehen über  Diophant  enthalten  ist^  leuchtet  ein,  da  dieser,  wenn  er 
auch  unter  Umständen  Hilfsimbekannte  eingeführt  hat,  für  dieselben 
stets  nur  die  gleiche  Benennung  und  Bezeichnung  wählte  wie  für  die 
Hauptunbekannte  und  durch  den  verbindenden  Text  dafür  sorgte,  daß 
eine  Verwechslung  nicht  eintrete.  Den  Buchstaben  gegenüber,  welche 
die  Inder  für  voneinander  zu  imterscheidende  Unbekannte  in  fast  be- 
liebiger Anzahl  zu  setzen  gewohnt  waren^  ist  Alkarchis  Verfahren  ein 
untergeordnetes. 

Ob  auch  hier  ein  absichtliches  Vernachlässigen  dessen,  was  die 
Inder  über  die  Ghiechen  hinaus  geleistet  haben,  ob  ein  wirkliches 
Nichtwissen  anztmehmen  sei,  dürfte  schwerlich  ermittelt  werden  können. 
Wahrscheinlicher  ist  uns  jedoch  das  letztere,  weil  auch  in  solchen 
arabischen  Schriften,  die  ausgesprochenermaßen  indischen  Schriften 
nachgebildet  sind,  die  Methoden  der  Inder,  Gleichimgen  mit  mehreren 
Unbekannten  aufzulösen,  mag  es  um  bestimmte  oder  um  unbestimmte 
Aufgaben  sich  handeln,  regelmäßig  fehlen. 

Wir  haben  gesagt,  daß  die  bestimmten  Gleichimgen,  welche 
Alkarchi  löst,  sofern  sie  den  2.  Grad  übersteigen,  stets  solche  sind^ 
welche  auf  Gleichungen  des  2.  Grades  sich  zurückführen  lassen. 
Bestimmte  kubische  Gleichungen  hat  er  nicht  behandelt,  und  eben- 


^)  Fakhri  HS  (Aufgabe  lY,  82).        *)  Ebenda  189—143  (Aufgaben  HI,  5 
und  6).         ^  Journal  Äsiatique  für  Oktober  und  November  1864  pag.  881—388. 


774  36.  Kapitel. 

sowenig  läßt  sich  eine  Spur  finden^  daß  irgend  ein  anderer  Araber  dieser 
Zeit  sich  in  algebraischer  Weise  erfolgreich  mit  denselben  beschäftigt 
hätte.     Nnr  geometrisch  treten  sie  mit  Glück  an  diese  Aufgabe  heran. 

Wir  haben  an  der  Wende  des  X.  zum  XI.  S.  Männer  wie  Abül 
Dschüd  mit  kubischen  Gleichungen  sich  abarbeiten  sehen^  bald  in 
einzelnen  Fällen  ein  Ergebnis  erzielend^  bald  der  Schwierigkeiten,  die 
sich  ihnen  entgegenstellten,  nicht  Meister  werdend.  Auch  andere 
etwas  frühere  Schriftsteller  wie  Almähani^)  am  Ende  des  IX.  S.  und 
Abu  Dscha'far  Alchäzin^)  am  Ende  des  X.  S.  haben  sich  im 
Chalifenreiche  ähnliche  Aufgaben  gestellt  und  wurden  für  ihre  Be- 
mühungen von  einem,  wie  wir  gleich  sehen  wollen,  sehr  befugten 
Berichterstatter  gelobt.  Ersterer  versuchte  yergebens  die  archimedische 
Aufgabe,  eine  Kugel  in  Abschnitte  von  gegebenem  gegenseitigem  Raum- 
Verhältnisse  zu  teilen,  welche  er  in  eine  Kuben,  Quadrate  und  Zahlen 
enthaltende  Gleichung  umgesetzt  hatte,  durch  Auffindung  der  Gleichungs- 
wurzeln zu  lösen  ^).  Letzterer  fand,  daß  Kegelschnitte  genügten  das 
zu  zeichnen,  was  zu  errechnen  nachgerade  als  Unmöglichkeit  galt*). 
Unser  Berichterstatter  ist  Alchaijämi  d.  h.  der  Nachkomme  des 
Zeltenverfertigers,  und  er  wußte  endlich  die  Lehre  zum  Abschlüsse 
zu  bringen.  Er  gehört  schon  einer  Zeit  an,  die  jenseits  der  Periode 
liegt,  bis  zu  welcher  wir  (S.  741)  der  Schicksale  des  Chalifates  in 
flüchtigen  Umrissen  gedacht  haben. 

Die  Dynastie  der  Abbasiden  dauerte  unter  dem  Namen  und  dem 
Scheine  des  Chalifates  noch  fort,  aber  die  Bujiden,  die  eigentlichen 
Machthaber,  waren  seit  der  Mitte  des  XI.  S.  gestürzt,  und  an  ihre 
Stelle  traten  Männer  aus  dem  Geschlechte  Seldschuks,  die  aus  der 
Steppe  der  Kirgisen  gekommen  neue  frische  Kräfte  mitbrachten,  noch 
unverbraucht  in  der  Verfeinerung  und  Verweichlichung  städtischen 
und  höfischen  Lebens*).  Togrulbeg  der  Enkel  Seldschuks  zog  1050 
halb  gerufen  von  dem  Chalifen  Alkä^m  und  achtlos  des  Widerspruchs 
des  Bujidensultans  Al-Melik  Ar-Kahim  in  Bagdad  ein.  Mehrjährige 
Kämpfe  endeten  zu  seinem  Gunsten,  und  der  ihm  verliehene  Ehren- 
titel „König  des  Ostens  und  des  Westens"  gewann  wenigstens  für  die 
Umgegend  der  Hauptstadt  einige  Wahrheit.  Auf  Togrulbeg  folgte 
1063  sein  kriegerischer  NeflFe  Alp  Arslan,  auf  diesen  1073 — 1092 
dessen  Sohn  Melikschah.  Den  beiden  letztgenannten  Sultanen  stand 
als  Wezir  Nizäm  Almulk  zur  Seite,  und  dieser  war  der  Jugendfreund 
unseres  Omar  Alchaijämi  •).  Noch  ein  dritter  Jüngling,  AI-Hasan  ihn 
As-Sabbäh,  war  mit  beiden  zusammen  aufgewachsen. 

*)  Suter  26—27,  Nr.  47.  «)  Ebenda  58,  Nr.  124.  »)  Ualghhre  d'Omar 
Alkhayami  pag.  2.  *)  Ebenda  pag.  3.  ^)  Weil  S.  226  fLgg.  ^)  Ualgkhre 
d'Omar  Alkhayami  Pr/face  pag.  IV— VI. 


Zahlentheoretiker,  Rechner,  geometriache  Algebraiker  yon  960  etwa  bis  1100.     775 

Die  jungen  Männer  hatten  sich  gegenseitige  Unterstützang  zu- 
geschworen,  wenn  einer  von  ihnen  zu  Ehren  und  Ansehen  käme. 
Nizäm  Almulk  war  in  der  Lage^  sein  Versprechen  einzulösen,  und  es 
lag  nicht  an  ihm,  wenn  es  anders  kam,  als  die  Phantasie  der  Freunde 
es  sich  ausgemalt  hatte.  AI-Hasan  ihn  Af-Sabbäh,  der  eine  Stelle 
als  Kämmerer  erhalten  hatte,  suchte  seinen  beginnenden  Einfluß  zum 
Schaden  Nizam  Almulks  selbst  zu  yerwenden,  wurde  durch  diesen 
wieder  yom  Hofe  yerdnlngt,  begab  sich  nach  Ägypten  und  kehrte 
Yon  dort  später  als  schi^itischer  Parteiführer  nach  Persien  zurück, 
woher  er  stammte.  In  der  Burg  Alamüt,  deren  er  sich  1090  be- 
mächtigte, gründete  er  den  Orden  der  Haschischesser  (Haschischin), 
welche  unter  dem  berückenden  Einflüsse  jenes  gefahrlichen  Reizmittels 
zu  allen  Verbrechen  bereit  waren,  die  ihr  Führer  ihnen  anbefahl,  den 
Märtyrern  ewige  paradiesische  Genüsse  versprechend,  und  welche  so 
den  Namen  ihres  Ordens  gleichbedeutend  mit  Meuchelmördern  machte, 
eine  Bedeutung,  die  der  abendländischen  Verketzerung  ihres  Namens 
Assassini  beigeblieben  ist. 

Alchaijämis^)  Leben  war  weniger  stürmisch.  Eine  eigentliche 
Hofstellung  scheint  er  ausgeschlagen  zu  haben  und  nur  als  Astronom 
für  Melikschäh  tätig  gewesen  zu  sein,  in  welcher  Eigenschaft  er  1079 
eine  Eidenderreform  zuwege  brachte.  Sie  bestand  darin,  daß  man 
zum  persischen  Sonnenjahre  yon  365  Tagen  zurückkehrte  und  alle 
yier  Jahre  ein  Schaltjahr  von  366  Tagen  eintreten  ließ,  zum  8.  Schalt- 
jahre aber  nicht  das  4.,  sondern  das  5.  Jahr  nach  dem  letzten 
Schaltjahre  wählte.  So  bekam  man  für  33  Jahre  die  Dauer  yon 
25  X  365  +  8  X  366  Tagen  und  mithin  1  Jahr  =  365**  5*  49"»  5',  45 
in  einer  Übereinstimmung  mit  der  Wirklichkeit,  welche  größer  ist  als 
bei  allen  sonstigen  Kalendereinrichtungen  ^).  Auch  Alchaijämi  scheint 
in  die  religiösen  Zwiespalte  zwischen  Schiften  und  Sunniten  etwas 
yerwickelt  gewesen  zu  sein.  Wenigstens  berichtet  eine  ihm  freilich 
nicht  freundliche  Feder,  er  habe,  nicht  aus  Frömmigkeit,  sondern  durch 
ein  fast  zufälliges  Zusammentreffen,  die  jedem  Moslim  gebotene  große 
Pilgerfahrt  gemacht,  sich  aber  bei  der  Wiederkehr  nach  Bagdad  gegen 
allen  wissenschaftlichen  Verkehr  abgeschlossen  und  habe  dann  in  die 
Heimat  nach  Chorasan  sich  zurückgezogen. 

Sein  Ruhm  als  großer  Mathematiker  blieb  unbeeintiilchtigt,  und 
noch  in  der  Mitte  des  XVU.  S.  hat  Hadschi  Chalfa,  welcher  sich  sonst 
begnügt,  den  Titel  der  Bücher  nur  anzugeben,  welche  er  in  seinem 


*)  Suter  112  —  118,  Nr.  266.  «)  R.  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie 
S.  831,  wo  der  Name  AlchaijfimiB  als  Omar-Cheian  angegeben  ist,  eine  ältere 
Lesart,  deren  wir  uns  in  Anschluß  an  Woepcke  nicht  bedienen. 


776  S6.  Kapitel. 

umfassenden  bibliographischen  Werke  aufzählt^  ein  nicht  unbedeuten- 
des Stück  der  Algebra  Alchaijämis  zum  Abdrucke  gebracht. 

'Omar  Alchaijämi  rechtfertigt  durch  seine  Algebra  yollständig 
den  Ruhm,  welcher  bei  seinen  Laudsleuten  ihm  nachblieb.  Er  war 
der  erste,  welcher  die  Unterscheidung  der  Fälle,  die  dadurch, 
daß  nur  positive  Glieder  in  den  Gleichungen  yorkommen  dürfen,  sich 
ergeben,  auch  für  die  kubische  Gleichung  durchführte,  und  sodann, 
nicht,  wie  es  die  Griechen  schon  mehrfach  getan  hatten,  diese  oder 
jene  geometrische  Aufgabe  löste,  sondern  mit  diesen  Gleichungen 
als  solchen  sich  yollbewußt  beschäftigte.  Es  ist  wahr,  er  blieb 
hinter  dem  Erreichbaren  in  manchen  Beziehungen  zurück.  Er  sah 
nicht,  daß  es  kubische  Gleichungen  yon  der  Form  x^  +  bx  ^  aoi?  +  c 
gibt,  welche  durch  drei  positive  Wurzeln  erfüllt,  eine  Ähnlichkeit  mit 
jenem  Falle  aa?  -{-  c^hx  der  quadratischen  Gleichung  an  den  Tag 
legen,  welcher  zwei  positiye  Wurzeln  zulaßt*).  Er  glaubte,  die  kubi- 
schen Gleichungen  könnten  überhaupt  nicht  durch  Rechnung  gelöst 
werden,  sondern  man  müsse  mit  der  Konstruktion  yon  einander  durch- 
schneidenden Kegelschnitten  sich  begnügen^).  Ihm  entgingen  manche 
Wurzelwerte,  welche  durch  Zeichnung  sich  eigentlich  hätten  kund- 
geben müssen,  dadurch,  daß  er  von  den  Kegelschnitten,  die  er  zur 
Konstruktion  verwandte,  immer  nur  einen  Arm  zu  zeichnen  pflegte^). 
Er  nahm  es  auch  nicht  sehr  genau  mit  dem  Diorismus  der  einzelnen 
Fälle  ^),  d.  h.  mit  der  Untersuchung  der  Zahlenwerte,  welche  die  ein- 
zelnen in  den  Gleichungen  yorkommenden  Koeffizienten  annehmen 
müssen,  um  die  Möglichkeit  einer  Konstruktion,  wir  würden  sagen 
um  eine  positive  Gleichimgswurzel  hervorzubringen.  Er  hielt  bi- 
quadratische Gleichungen  auf  geometrischem  Wege  für  unlösbar^). 
Aber  diese  Mängel  sind  doch  nur  geringfügige  gegen  den  ungemein 
großen  Fortschritt,  überhaupt  Gleichungen  von  höherem  als  dem 
zweiten  Grade  systematisch  bearbeitet  und  in  Gruppen  zerlegt  zu 
haben.  Fragen  wir,  welcher  Mathematiker  irgend  eines  Volkes  noch 
vor  dem  Jahre  1100  trinome  kubische  Gleichungen  von  quadrinomen 
unterschied,  unter  jeden  wieder  zwei  Gruppen  bildend,  je  nachdem 
dort  das  Glied  2.  oder  1.  Grades  fehlte,  hier  die  Summe  von  drei 
Gliedern  einem,  oder  die  Summe  von  zwei  Gliedern  der  der  beiden 
anderen  gleichgesetzt  war,  so  wird  man  uns  sicherlich  nur  den 
einzigen  Namen  *Omar  Alchaijämi  als  Antwort  zu  nennen  wissen, 
und  das  genügt,  dem  Manne  seine  hervorragende  Stellung  in  der  Ge- 
schichte der  Algebra  zuzuweisen. 


^)  L'alghhre  d'Omar   ÄWiayami  XVI    nnd  66,    Anmerkung.       *)  Ebenda 
pag.  11  tmd  12.     »)  Ebenda  pag.  68.    *)  Ebenda  XVII—XVm.     »)  Ebenda  pag.  79. 


Dei  Niedergang  der  oBtarabischen  Mathematik.  Ägyptische  Mathematiker.    777 

Es  scheint,  als  sei  noch  ein  anderes  Verdienst  ihm  zuzuschreiben, 
die  Kenntnis  der  Binomialentwicklnng  fQr  den  Fall  ganzzahliger 
positiver  Exponenten.  Er  sagt  nämlich:  „Ich  habe  gelehrt^  die  Seiten 
des  Quadratoquadratsy  des  Quadratokubus,  des  Euboknbus  etc.  bis  zu 
beliebiger  Ausdehnung  zu  finden^  was  man  vorher  noch  nie  getan 
hatte.  Die  Beweise,  welche  ich  bei  dieser  Gelegenheit  gab,  sind 
einzig  arithmetischer  Natur  und  gründen  sich  auf  die  arithmetischen 
Abschnitte  der  euklidischen  Elemente^' ^).  Diese  Behauptung  kann 
kaum  anders  verstanden  werden,  als  daß  die  Ausziehung  der  Quadrat- 
wurzel sich  stütze  auf  die  Entwicklung  von  (a  +  6)*,  die  der  Kubik- 
wurzel auf  die  Entwicklung  von  (a  +  6)*,  die  der  mten  Wurzel  auf 
die  Entwicklung  von  (a  +  hj^y  eine  Auffassung,  zu  deren  Bestätigung 
es  dienen  kann,  daß  Alchaijämi  unmittelbar  vor  der  angeführten 
Stelle  von  den  Methoden  der  Inder  die  Quadrat-  und  Kubikwurzel 
zu  finden  geredet  hat  und  nur  deren  Art  vermehrt  zu  haben  sich 
rühmt. 

Wir  reihen  diesen  Bemerkungen  noch  eine  geometrische  Aufgabe 
an,  welche  von  einem  Ungenannten  bearbeitet  worden  ist,  der  nach 
der  ganzen  Behandlungsweise  jedenfaUs  der  Zeit  und  der  Schule  an- 
gehört, deren  Hauptvertreter  wir  soeben  kennen  gelernt  haben.  Es 
handelt  sich  um  die  Konstruktion^  eines  Paralleltrapezes  von  drei  ein- 
ander gleichen  gegebenen  Seiten  und  von  zugleich  gegebenem  Flächen- 
inhalte. Diese  an  griechische  wie  an  indische  Vorbilder  (S.  651 — 652) 
erinnernde  Aufgabe  führt  zu  einer  Gleichung  des  4.  Grades  von  der 
Form  ar*  -f  ftrc  =  ax^  +  c  und  wird  mittels  des  Durchschnittes  eines 
Kreises  und  einer  Hyperbel  gelöst. 


36.  Kapitel, 

Der  Niedergang  der  ostarabischen  Mathematik. 
Ägyptische  Mathematiker. 

Wieder  verlangen  die  politischen  Ereignisse,  daß  wir  einen 
Augenblick  bei  ihnen  verweilen.  Wir  stehen  an  dem  Zeitpunkte, 
von  welchem  an  durch  zwei  Jahrhunderte,  in  runden  Zahlen  von 
1100  bis  1300,  jene  Kämpfe  wüteten,  welche  in  ihrer  Gesamtheit 
die  Kreuzzüge  genannt  worden  sind,  welche  aber  mehr  als  einmal 
durch  Zeiten  unterbrochen  waren,  in  welchen  friedlichster  Verkehr 
zwischen  den  Feinden  stattfand.     Das  waren   die  Zeiten,   in  welchen 

^)  L'algebre  d'Omar  Älkhayami  pag.  13.        *)  Ebenda  pag.  115. 


778  36.  Kapitel. 

die  europäische  Christenheit  in  dauernde  unmittelbare  Beziehung  zur 
ostarabischen  Bildung  trat^  eine  Beziehung,  welche  ?on  größter 
Wichtigkeit  werden  mußte.  Nicht  fär  die  Kultur  der  Araber  tritt 
uns  die  ganze  Bedeutung  der  Kreuzzüge  hervor.  Wenigstens  in  den 
Wissenschaften,  um  deren  Geschichte  wir  uns  zu  kümmern  haben, 
sind  die  Araber  von  1100  den  Gelehrtesten  des  christlichen  Abend- 
landes so  ungemein  überlegen,  daß  sie  nichts,  wir  würden  noch 
scharfer  betonen  gar  nichts,  von  jenen  lernen  konnten,  wenn  nicht 
vielleicht  eine  an  sich  unbedeutende  E[leinigkeit  uns  nachher  noch 
die  Vermutung  erwecken  dürfte,  es  habe  auch  hier  sich  bewährt,  daß 
keine  Wirkung  ohne  GFegenwirkung  zu  denken  ist.  Jedenfalls  aber 
werden  wir  an  den  Einfluß  der  Kreuzzüge  vorwiegend  in  Europa  zu 
erinnern  haben. 

Die  Kriege  gegen  die  Andersgläubigen,  vornehmlich  in  Palästina 
und  Ägypten  ausgefochten,  waren  nicht  die  einzigen,  welche  das 
arabische  Ostreich  in  diesem  Zeiträume  beschäftigten.  Daneben 
dauerten  wie  unter  allen  Dynastien  unaufhörliche  Kämpfe  gegen  die 
Provinzen  fort,  die  unter  kühnen  Feldherren  und  Gegenfürsten  bald 
sich  losrissen,  bald  zu  Paaren  getrieben  wurden.  Daneben  hatte  man 
des  Andranges  der  Mongolen  sich  zu  erwehren^),  die  im  ersten  Viertel 
des  Xm.  S.  unter  Dschingiz-chan  die  östlichen  Grenzen  des  Reiches 
überfluteten.  Wieder  war  es  der  Hilferuf  eines  ohnmächtigen  Chalifen, 
der  dem  Eroberer  den  kaum  mehr  notwendigen  Vorwand  gab,  sich 
in  dieser  Richtung  weiter  auszudehnen.  Schon  1220  wurde  Ghorasan^ 
jene  Geburtsstätte  zahlreicher  Mathematiker,  von  den  Mongolen  be- 
setzt. Wieder  36  Jahre  später,  1256  drangen  die  Mongolen  unter 
Hülagü  abermals  weiter  vor,  und  1258  fiel  Bagdad.  Der  Chalife 
Almusta'sim  wurde  mit  vielen  Prinzen  seines  Hauses  getötet,  das 
Ghalifat  hörte  auch  dem  Namen  nach  auf,  wie  es  seit  lange  schon 
der  Tat  nach  so  gut  wie  nicht  bestand. 

In  diesen  Zeitraum  fällt  Kemäl  Eddin'),  einer  der  größten  Ge- 
lehrten tmter  den  Arabern.  Er  ist  1156  in  Mosul  geboren  und  hat 
ebenda  das  nach  ihm  benannte  Kemälische  Kollegium  gegründet.  Er 
war  es,  der  nach  einem  arabischen  Berichterstatter  die  mathemati- 
schen Fragen  zu  beantworten  wußte,  um  deren  Erledigung  willen 
der  Frankenkönig  Imbarür  —  eine  Verketzerung  von  Imperator, 
unter  welcher  Friedrich  IL  verborgen  ist  —  eine  besondere  Gesandt- 
schaft nach  Mosul  geschickt  hatte. 

Unter  Hülagüs  Begleitern  war  ein  Mann,  der  einst  vom  Chalifen 
schwer  beleidigt  vielleicht  zu   den  Anstiftern  jenes  Kriegszuges    ge- 


')  Weil  S.  249— 266.         •)  Suter  140,  Nr.  364. 


Der  Niedergang  der  osiarabiachen  Mathematik.  Ägyptische  Mathematiker.     779 

hörte,  jedenfaÜB  anter  die  Qünstlinge  des  mongolischen  Führers  zählte 
und  auch  für  uns  Yon  hervorragender  Bedeutung  ist:  Na^ir  Eddin^). 
Der  Name  Nasir  Eddin  d.  h.  Verteidiger  der  Religion  ist  nur  Bei- 
name. Eigentlich  hiefi  er  Abu  Dscha^far  Muhammed  ihn  Hasan  al 
Tüsi  aus  Tüs,  wo  er  1201  geboren  wurde.  Er  starb  1274.  Seine 
Oelehrsamkeit  umfaßt  die  aller?erschiedensten  Gegenstande.  Philo- 
sophie und  Arzneikunde^  Naturgeschichte  und  Geographie  haben  ihm 
Sto£f  zu  Abhandlungen  gegeben^  neben  welchen  ein  Gesetzbuch  der 
Perser  sich  kaum  sonderbarer  ausnimmt  als  ein  Werk  über  die 
Punktierkunst.  Die  Ilchänischen  Tafeln,  welche  den  Titel  yon  den 
Fürsten  erhalten  haben,  unter  welchen  Nasir  Eddin  die  12jährigen 
in  den  Tafeln  verwerteten  Beobachtungen  anstellte,  von  den  soge- 
nannten Großchänen,  sind  das  Werk,  um  dessen  willen  Nasir  Eddin 
in  seiner  Heimat  den  größten  Ruhm  genoß.  Die  Beobachtungen  sind 
auf  der  Sternwarte  in  Maraga  angestellt,  deren  Gründung  1259  un- 
mittelbar nach  der  Einnahme  von  Bagdad  auf  Nasir  Eddins  Rat  voll- 
zogen wurde.  Die  dort  erbeuteten  Schätze  des  letzten  Chalifen  fanden 
zum  Teil  ihre  Verwendung  bei  der  Erbauung  der  großartigen  Anstalt, 
deren  Kostspieligkeit  nahezu  imstande  gewesen  wäre,  noch  im  letzten 
Augenblick  die  Inangriffnahme  zu  verhindern,  wenn  nicht  Nasir  Eddin 
es  verstanden  hätte,  Hülägü  zu  bereden.  Nach  Fertigstellung  der 
Sternwarte  diente  sie  als  Sammelplatz  zahlreicher  Astronomen,  welche 
Hülägü  herbeirief,  und  soll  mit  einer  Bibliothek  von  über  400000 
Bänden  ausgerüstet  gewesen  sein,  Beutestücke  aus  Ründerungen  in 
Bagdad,  Syrien  und  Mesopotamien.  Von  mathematischen  Schriften 
Nasir  Eddios  werden  solche  über  Algebra,  über  Arithmetik  und  über 
Oeometrie  genannt.  Yon  großer  Bedeutung  ist  die  Abhandlung  Nasir 
Eddins  über  die  Figur  der  Schneidenden'),  d.  h.  über  den 
Satz  des  Menelaos.  Er  hat  auf  denselben  eine  ganz  vollständige  ebene 
und  sphärische  Trigonometrie  aufgebaut,  welche  hier  zum  ersten  Male 
als  Teile  der  reinen  Geometrie  erscheinen,  d.  h.  nicht  mehr 
bloß  als  Einleitung  zur  Astronomie  dienen.  In  der  ebenen  Trigono- 
metrie kennt  er  den  Sinussatz,  in  der  sphärischen  sind  ihm  die  sechs 
Hauptformeln  des  rechtwinkligen  Dreiecks  vertraut,  er  löst  aber  auch 


')  Über  Nasii  Eddfn  vgl.  einen  Aufsatz  von  Wnrm  in  v.  Zach 8  Monat- 
licher Correspondenz  zur  Beförderung  der  Erd-  und  Himmelskunde  (1811) 
Bd.  XXm,  S.  64  —  78  und  841  —  861.  Suter  146-153,  Nr.  368.  ")  Naair 
Eddins  Schakl  al  kattd,  wie  der  arabische  Name  lautet,  ist  1892  durch  Ale- 
xander Pascha  Earatheodorj  herausgegeben  worden.  Suter  gab  einBfeferat 
in  der  Bibliotheca  maihemcUica  1893,  1 — 8,  an  welches  wir  uns  teilweise  wörtlich 
anschließen.  Vgl.  ganz  besonders  A.  v.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  Ge- 
schichte der  Trigonometrie  I,  66—71. 


780  36.  Kapitel. 

alle  sechs  Falle  des  schiefwinkligen  Dreiecks ,  sofern  man  nicht  ge- 
schmeidige Formeln  verlangt,  sondern  sich  damit  zufrieden  gibt,  daß 
gezeigt  wird,  man  könne,  wenn  diese  oder  jene  Stücke  gegeben  sind^ 
diese  oder  jene'  andere  Stücke  finden.  In  diesem  Sinne  führt  Nasir 
Eddin  auch  den  Fall  der  drei  Winkel  auf  den  der  drei  Seiten  zurück. 
Er  bildet  nämlich  zu  dem  gegebenen  Dreiecke  dasjenige  neue  Dreieck^ 
welches  erst  drei  Jahrhunderte  später  in  Europa  einer  abermaligen 
Erfindung  bedurfte,  um  von  da  an  als  Polardreieck  ein  geschätztes 
Hilfsmittel  der  sphärischen  Trigonometrie  zu  bleiben.  Über  die 
wichtige  Frage,  welche  Verbreitung  diese  Trigonometrie  fimd,  und 
ob  sie  im  Oriente  den  ganzen  Einfluß  übte,  den  sie  zu  üben  im- 
stande war,  fehlen  noch  Untersuchungen.  Sicher  ist,  daß  etwa  ein 
Jahrhundert  uach  Nasir  Eddin  Levi  ben  Gerson  als  Fortsetzer 
seiner  Lehren  auftrat,  der  selbst  wieder  abermals  ein  Jahrhundert 
später  einen  neuen  Fortsetzer  in  Regiomontanus  fand.  Zu  den 
grundsätzlich  weniger  wichtigen  aber  immerhin  der  Erwähnung  wür- 
digen Stellen  bei  Nasir  Eddin  gehört  diejenige,  an  welcher  er  be- 
weisty  daß  wenn  ein  Kreis  einen  anderen  Yon  doppelt  so  großem 
Halbmesser  innerlich  berührt,  und  wenn  beiden  Kreisen  drehende  be- 
ziehungsweise rollende  Bewegung  erteilt  wird,  die  entgegengesetzt  ge- 
richtet und  für  den  kleinen  Kreis  doppelt  so  groß  als  für  den  großen 
Kreis  ist,  der  anfangliche  Berührungspimkt  alsdann  eine  gerade  Linie^ 
imd  zwar  den  Durchmesser  des  großen  Kreises  beschreibt*).  Weit 
bekannter  als  Nasir  Eddins  Trigonometrie  war  jedenfalls  seine  Be- 
arbeitung der  Euklidischen  Elemente.  Er  hat  an  seiner  Vorlage 
mancherlei  zu  ändern  gewagt,  und  insbesondere  findet  sich  bei  ihm 
ein  Versuch,  die  Parallelentheorie  yon  den  ihr  innewohnenden 
Schwächen  zu  befreien*). 

Erläuterungen  zu  Euklid  wurden  dagegen  auch  später  noch  ge- 
schrieben, und  als  Verfasser  von  solchen  wird  der  Perser  K&diza- 
deh  Ar-Rümi  genannt^),  der  auch  den  Namen  Mauläna  Salaheddin 
Müsä  ibn  Muhammed  führte,  und  von  welchem  ein  Leben  des  Euklid 
nach  griechischen  Quellen  herrührt,  welches  handschriftlich  noch  vor- 
handen sein  soll.  Kadizadeh  Ar-Rümi  starb  1412  oder  1413.  Er  ge- 
hörte zu  den  Astronomen,  welche  wieder  ein  neuerer  Eroberer  an 
einen  neuen  Mittelpunkt  zusammenrief. 

Timür^j,  gewöhnlich  Tamerlan  genannt,  ein  Häuptling  des  Tar- 
tarenstammes  Berlas,  schuf  sich  am  Schlüsse  des  XIV.  S.  ein  neues 

^)  Curtze  in  der  Bibliotheca  Maihematica  1896,  S.  33—34.  *)  Wallis, 
Opeia  U,  669—678.  Kästner,  Geschichte  der  Mathematik  I,  374—381.  *)  Gartz, 
De  interpretibus  et  explanataribus  Euelidis  Artibicia  etc.  pag.  30—81.  Suter 
174—176,  Nr.  430.       *)  Weil  S.  421  Ügg, 


Der  Niedergang  der  ostaiabischen  Mathematik.  Ägyptiacbe  Mathematiker.     781 

Beich.  Wenn  er  auch  1393  in  Bagdad  einzog,  seine  Hauptstadt  hatte 
er  in  Samarkand,  welche  rasch  emporblühte  und  Sammelplatz  filr 
Handel  und  Gewerbe,  fQr  Künste  und  Wissenschaften  wurde.  Timür 
selbst,  noch  mehr  sein  Sohn  Schähruch  bemühten  sich,  dieses  Er- 
gebnis herrorzubringen,  und  nun  gar  der  Enkel  Muhammed  ihn 
Schähruch  ülüg  Beg,  geboren  1393,  ermordet  1449,  war  selbst  ein 
heryorn^ender  Astronom  und  verfertigte  in  Gemeinschaft  mit  anderen 
astronomische  Tafeln  von  hohem  Werte  ^).  Zu  seinen  Hilfsarbeitern 
gehörte  vorzugsweise  Ar-Bümi,  der  auch  als  Lehrer  des  Ulüg  Beg 
angeführt  wird.  Der  Enkel  Ar-Bümis  Mahmud  ihn  Muhammed  ihn 
Eadizadeh  Ar-Rümi  genannt  Miram  Tschelebi  schrieb  1498  Er- 
läuterungen zu  jenen  Tafeln'). 

Zu  dem  Ulüg-Begschen  Gelehrtenkreise  ist  auch  Dschamschid  ibn 
Massud  ibn  Mahmud  der  Arzt  mit  dem  Beinamen  Gijät  eddin  Al- 
Käschi  zu  zählen,  welcher  eine  Abhandlung  „Schlüssel  der  Rechen- 
kunst^ verfertigte,  welche  handschriftlich  vorhanden  ist,  und  deren 
Vorrede  auch  übersetzt  worden  ist').  Der  Verfasser  kündigt  in  der 
Vorrede  einige  der  Sätze  an,  welche  er  mitteilen  wird.  Dazu  gehört 
die  Summenformel  der  aufeinander  folgenden  Kubikzahlen  von  1  an, 
wie  sie  unter  den  Arabern  uns  bei  Alkarchi  bekannt  geworden  ist 
(S.  769),  aber  auch  die  Summenformel  für  die  mit  der  1  beginnenden 
aufeinander  folgenden  Biquadratzahlen,  welche  hier  überhaupt  zum 
ersten  Male  auftreten  dürfte.     Gijät  eddin  Al-Eäschi  setzt 

lH2*+3*+...  +  /^-p— 'tl+?-t_l-.L+.'') 

X[l"  +  2«  +  3«  +  ...  +  r»], 

eine  allerdings  sehr  umständliche  Form,  deren  Zurückführung  in  die 
einfachere  Gestalt 

30 
er  nicht  zu  vollziehen  imstande  gewesen  zu  sein  scheint,  jedenfedls 
nicht  vollzogen  hat.  In  jener  Vorrede  rühmt  sich  der  Verfasser  auch 
eine  Methode  erfunden  zu  haben,  um  die  Sehne,  die  zu  dem  Bogen 
von  1®  gehört,  in  beliebiger  Annäherung  zu  erhalten,  weil  es  doch 
nicht  möglich  sei,  in  genauer  Weise  die  Sehne  eines  Bogens  aus  der 
Sehne  des  dreifachen  Bogens  abzuleiten.  Die  Unmöglichkeit  der 
algebraischen  Auflösung  kubischer  Gleichungen  galt  also 
damals  auch  bei  den  Arabern  noch  für  ausgemacht. 

^)  Sädillot  hat  1863  die  Einleitung  zu  diesen  Tafeln  in  französischer 
Übersetzung  herausgegeben.  *)  Journal  Asiatiqae  für  1868,  s^rie  5,  T.  ü,  833 
bis  856.  Suter  188,  Nr.  457.  «)  Woepcke,  Paasages  relatifs  ä  des  somnuUions 
de  series  de  cubes.    Roma  1864,  pag.  22—25. 


782  36.  Kapitel. 

Die  Näherungsmethode  Al-Käschis  ist  uns  höchst  wahrscheinlich 
bekannt;  denn  sein  Name  dürfte  in  der  wohl  durch  falsche  Stellung* 
der  sogenannten  diakritischen  Punkte  veränderten  Lesart  Atabeddin 
Dschamschid  zu  erkennen  sein^  Yon  welchem  Miram  Tschelebi  in 
dem  obengenannten  Kommentare  zu  den  Ulüg  Begschen  Tafeln  uns 
eine  solche  Methode  mitteilt^).  In  modernen  Zeichen  stellt  die  Me- 
thode sich  etwa  folgendermaßen  dar.  Es  sei  x^  -\-  Q  ^  Px  au&u- 
lösen,  wo  P  und  Q  positive  Zahlen  und  P  gegen  Q  sehr  groß  sein 
soll;  woraus  alsdann  folgt,  daß  x  entsprechend  klein,  also  auch  a^ 
gegen  Q  sehr  klein  gewählt,  die  Gleichung  zu  erfüllen  vermag.  Dem 
entsprechend  wird,  indem  wir  das  Ahnlichkeitszeichen  oo  benutzen, 
um  angenäherte  Gleichheit  auszudrücken,  neben 

X  ==  -p—     auch    xLn^ 

sein.  Liefert  jene  Division  einen  Quotienten  a  und  den  Rest  i2,  so 
ist  Q^  a-  P  +  B.  Der  genaue  Wert  von  x  wird  jedenfalls  >a 
sein,  etwa  =  a  +  j3.     Alsdann  ist 

Die  Division — ^^-  möge  den  Quotienten  6,  den  Rest  S  liefern,  so  daß 
ü  =  6P  +  S  —  a".     Weiter  setzen  wir  x  ^  a  +  b  +  y.    Daraus  folgt 

Die  letztere  Division  -  J±]^T  ~~ —  ^jj-d  ß^u  abermals  vollzogen. 
Sie  liefere  den  Quotienten  c  mit  dem  Reste  T  oder 

T^S  +  {a  +  by-a^-cP, 
Ein    weiterer    Annäherungsversuch    x  =  a-\-b  +  c  +  ö    führt    dem- 
nach zu 


^)  Journal  Äsiatique  voq  1853,  a^rie  5,  T.  11,  pag.  347.  Die  Veimutung 
Atabeddin»  Grijät  Eddin  hat  gestützt  anf  die  Ansicht  mehrerer  Orienta- 
listen Hankel  S.  292,  Anmerkung  *  ausgesprochen.  Die  Näherungsmethode 
selbst  hat  er  S.  291  an  einem  Beispiele  durchgeführt.     Suter  173—174,  Nr.  429. 


Der  Niedergang  der  ostarabischen  Mathematik.  Ägyptiscbe  Mathematiker.     783 

Die  Brauchbarkeit  dieser  Methode,  hei  welcher  es  nur  auf  Divi- 
sionen durch  einen  und  denselben  Divisor  P  und  auf  Berechnung  der 
dritten  Potenzen  von  a,  von  a  +  b,  von  a  -\-b  +  c  usw.,  also  von 
den  aufeinander  folgenden  Näherungswerten  von  x,  ankommt ,  ist 
eine  ziemlich  bedeutende  und  hat  nur,  wie  man,  um  allzuhoch- 
gespannten Meinungen  entgegenzutreten,  hervorheben  muß,  den  einen 
Mangel,  daß  ein  einzig  auf  die  gegebene  Oleichungsform  unter  der 
Bedingung  eines  gegen  Q  sehr  großen  P  beschränktes  Verfahren 
damit  gelehrt  ist.  Ist  letztere  Bedingung  nicht  erfüllt,  oder  ist  die 
Form  der  Gleichung  nicht  x^  +  Q  ^  Px,  so  läßt  die  Methode  sich 
nicht  anwenden.  Es  muß  vielmehr  alsdann  wesentlich  anders  ver- 
fahren werden,  und  ob  ein  Araber,  der,  wie  wir  wissen,  nur  mit  posi- 
tiven Zahlen  rechnete  und  deshalb  so  viele  verschiedene  Gleichungs- 
formen unterscheiden  mußte,  auch  in  jenen  abweichenden  Fällen 
sich  zu  helfen  wußte,  ist  uns  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich, 
da  nicht  einmal  andeutungsweise  von  solchen  anderen  Fällen  die 
Rede  ist.  Der  Ursprung  der  hier  behandelten  besonderen  Gleichung 
dritten  Grades  war,  wie  wir  (S.  781)  gesagt  haben,  ein  trigonome- 
trischer. Man  sollte  aus  dem  bekannten  Sinus  von  3®  den  von  P 
ermitteln.  Hieß  letzterer  x  und  der  Kreishalbmesser  r,  so  fand  sich 
an  einer  Figur 

x^  +    -  smZ^  =  —X 

und  das  war  die  zu  lösende  Gleichung.  Man  hat  nun  die  Meinung 
ausgesprochen^),  die  Herstellung  dieser  Gleichtmg  werde  schon  Abül 
Dschüd  gelungen  sein,  welcher  ähnliche  Aufgaben  behandelte  (S.  759). 
Alsdann  habe  es  sich  um  die  Auflösung  einer  einmal  bekannten  Glei- 
chung gehandelt,  die  vermutlich  nicht  so  lange  auf  sich  habe  warten 
lassen.  Man  habe  also  nur  einen  späten  Bericht  über  eine  wahr- 
scheinlich ältere  Leistung.  Das  ist  eine  vollkommen  in  der  Luft 
schwebende  rein  persönliche  Meinung,  der  wir  uns  um  so  weniger 
anschließen  können,  als  ja  AI  Käschi  sich  ausdrücklich  der  Erfindung 
der  Methode  rühmt. 

So  tief  wir  schon  herabgerückt  sind,  bis  zu  einer  Zeit,  welche 
schon  später  als  die  Einnahme  von  Byzanz  durch  die  Türken  liegt 
und  eigentlich  erst  im  folgenden  Bande  dieses  Werkes  besprochen 
werden  dürfte,  so  wollen  wir  doch  in  ähnlicher  Weise,  wie  wir  dieses 
fQr  die  Mathematik  der  Chinesen  uns  gestattet  haben,  lieber  jetzt 
eine  zeitliche  als  später  eine  räumliche  Abweichung  von  einem  ein- 


*)  A,  V.  Braunmühl,  Yorlesimgen  über  Geschichte  der  Trigonometrie  I,  72, 
Note  2. 


784  36.  Kapitel. 

heitlich  angelegten  Plane  uns  gestatten.  Man  muß  nun  einmal  die 
Entwicklung  der  Mathematik  auf  asiatischem  Boden  unter  die  zu 
betrachtenden  Dinge  vollwertig  einrechnen^  wird  aber  entschieden 
besser  daran  tun,  sie  ein  für  allemal  yon  Anfang  bis  zu  Ende  zu 
Yerfolgen,  als  sie  der  Entwicklung  auf  europäischem  Boden  je  und  je 
einzureihen. 

Jahrhunderte  hindurch  haben  die  Araber  des  Ostens  einen 
mächtigen  Vorsprung  Yor  den  Europäern,  die  teilweise  bei  ihnen  in 
die  Schule  gehen.  Mit  den  Männern,  welche  wir  zuletzt  genannt 
haben,  hört  jeder  Fortschritt  bei  den  einen  auf,  während  er  bei  den 
anderen  zu  immer  rascherer  Gangart  sich  gestaltet.  Und  auch  die 
Empfänglichkeit  der  Araber  auf  mathematischem  Gebiete  war  dahin. 
Das  zeigt  uns  der  letzte  orientalische  Schriftsteller,  von  dem  wir 
nunmehr  zu  reden  haben,  Behä  Eddin^).  Dieser  Mathematiker  lebte, 
wie  ein  in  arabischer  Sprache  yerfaßtes  biographisches  Wörterbuch 
berichtet,  1547 — 1622.  Er  war,  was  %U8  einzelnen  Stellen  seines 
Rechenbuches  mit  Bestimmtheit  heryorgeht,  Schi'ite  und  demnach 
wahrscheinlich  geborener  Perser  oder  doch  in  Persien  ansässig,  was 
mit  der  Angabe,  er  sei  in  Ispahan  gestorben,  im  Einklang  steht.  Der 
Titel  des  von  ihm  herrührenden  Werkes  lautet  Essenz  der  Rechen- 
kunst, Chuläsat  al  hisäb,  weil  es  die  Essenz  der  Bücher  älterer  Schrift- 
steller sei,  die  er  vereinigt  habe.  Den  Inhalt  büdet  ein  Gemenge 
Yon  arithmetischen,  algebraischen,  geometrischen  Dingen  in  bunter 
Reihenfolge,  und  nicht  minder  bunt  ist  das  (Gemenge,  wenn  wir  die 
einzelnen  Dinge  auf  ihren  Ursprung  uns  ansehen  und  Griechisch- 
abendländisches mit  Indischem,  mit  Arabischem  regellos  wechselnd 
erkennen.  Nur  eines  muß  man  nicht  erwarten:  daß  Behä  Eddins 
Sammelgeist  es  verstanden  hätte,  jeder  Heimat  die  edelste  Frucht  zu 
entnehmen,  welche  sie  zeitigte.  Griechisch  erscheint  die  Behauptung, 
•die  Einheit  sei  keine  Zahl,  erscheint  das  ganze  Kapitel  der  Messungen 
mit  einer  Ausnahme.  Griechisch  ist  die  Auffindung  der  vollkommenen 
Zahlen,  der  Summe  von  Quadrat-  und  Kubikzahlen.  Ebendahin  weist 
uns  wohl  die  komplementäre  Multiplikationsmethode  (S.  528),  welche 
Beha  Eddin  kennt  und  folgendermaßen  lehrt:  „Addiere  die  beiden 
Faktoren  und  nimm  den  Überschuß  über  10  zehnfach  und  dazu  das 
Produkt  der  Überschüsse  der  10  über  jeden  Faktor*^*).  Er  dehnt  die 
Regel,  welche,  wie  er  ausdrücklich  hervorhebt,  nur  für  zwei  Faktoren 
zwischen  5  und  10  Geltung  hat,  auch  mit  einigen  geringfügigen  Ab- 

*)  Beha  Eddins  Ebbciiz  der  Rechenkunst,  arahisch  und  deutsch  heraus- 
gegeben von  Nesselmann.  Berlin  1843.  Biographisches  in  den  Anmerkungen 
Auf  S.  74—76.     Suter  194,  Nr.  480.        •)  Beha  Eddin  S.  9. 


Der  Niedergang  der  OBtarabischen  Mathematik.  Ägyptische  Mathematiker.     785 

ändernngen  auf  andere  Faktoren  aas.  Die  komplementäre  Diyision 
ist  dagegen  aach  in  Behä  Eddins  Essenz  nicht  eingedrungen^  und  an 
abendlandische  Zatat  erinnert  bei  der  Division  nur  das  Ziehen  von 
Yertikallinien,  welches  freilich  zur  Vermeidung  von  Irrtümern  jeder- 
mann erfinden  konnte^  welches  aber  auch  ein  Überbleibsel  von 
Kolumnen  sein  kann^  welche  in  Europa  benutzt  wurden.  An  Heron 
werden  wir  in  dieser  spät  entstandenen  Sammlung  durch  Höhen- 
messungen aus  Schattenlängen  und  mit  Hilfe  von  Beobachtungsvor- 
richtungen ^)  erinnert,  an  ihn  durch  die  Au%abe  die  Breite  eines 
Flusses  zu  messen.  Die  Ausführung  dieser  Messung  selbst  erfolgt 
in  einer  uns  noch  unbekannten  Art:  ,,Stelle  Dich  an  das  Ufer  des 
Flusses  und  beobachte  sein  anderes  Ufer  durch  das  Diopterlineal; 
dann  kehre  Dich  um,  so  daß  Du  durch  dasselbe  eine  Stelle  des 
Bodens  siehst,  während  das  Astrolabium  an  seinem  Platze  bleibt; 
nun  ist  der  Abstand  zwischen  Deinem  Standpunkte  und  jener  Stelle 
gleich  der  Breite  des  Flusses"*).  An  Indien  erinnert  uns  das  Zifi^er- 
rechnen,  die  Neunerprobe,  die  Regeldetri,  die  Rechnung  des  doppelten 
falschen  Ansatzes,  die  Rechnung  durch  Umkehrung  der  Reihenfolge 
und  Ausführung  der  zu  vollziehenden  Operationen,  die  Netzmulti- 
plikation'), welche  letztere  besonders  deutlich  gelehrt  wird,  während 
zwei  andere  Multiplikationsmethoden  nur  genannt,  aber  nicht  erläutert 
werden,  so  daß  der  Sinn,  der  mit  der  Multiplikation  des  Umgürtens 
und  des  Gegenübersteilens  zu  verbinden  ist,  ratselhaft  bleibt. 
Wenn  wir  diese  Dinge  griechisch -abendländisch,  beziehungsweise 
indisch  nannten,  so  ist  unsere  Meinung  keineswegs  die,  als  habe 
Behä  Eddin  aus  jenen  entfernten  Quellen  selbst  geschöpft.  Er  hat 
zuver^ssig  nur  Schriften  seiner  Heimat  benutzt.  Aber  in  jene  sind 
früher  oder  später  die  Einschiebungen  schon  erfolgt  und  zwar,  wie 
es  uns  wenigstens  vorkommt,  die  der  Kolumnenüberbleibsel,  mög- 
licherweise der  komplementären  Multiplikation,  vielleicht  auch  der 
praktisch-feldmesserischen  Aufgaben  erst  nach  den  Ereuzzügen.  Ara- 
bische Originalquellen  lieferten  daneben  die  Unmöglichkeit,  der  Glei- 
chung a;*  +  y*  =  ^  zu  genügen*)  oder  eine  Quadratzahl  zu  finden, 
welche  um  10  vermehrt  oder  vermindert  wieder  eine  Quadratzahl 
liefere.     Einheimisch  war,  soweit  wir  wissen, 


*)  Beha  Eddin  S.  36—86.  «)  Ebenda  S.  86  —  37.  «)  Ebenda  S.  12. 
^)  Ebenda  S.  56,  Nr.  4.  Diese  Nummer  bezieht  sich  auf  sieben  von  Beh& 
Eddin  in  seinen  Schlußworten' S.  65— 66  zusammengestellte  Aufgaben,  welche 
ei  als  solche  bezeichnet,  die  „seit  alter  Zeit  als  unauflösbar  übrig  blieben,  sich 
empörend  gegen  alle  Genies  bis  zu  dieser  Frist^^    Mit  der  Beleuchtung  jener 

Gaktob,  OMohiohte  der  Mathematik  I.  8.  Aufl.  50 


786  36. 'Kapitel. 

Einheimiscli  kann  auch  die  Vorschrift  sein^  den  Ereisumfang^ 
durch  einen  Faden  zu  messen  ^)^  sowie  wir  die  falsche  Regel  den 
Raum  einer  Engel  vom  Durchmesser  d  durch 

■'l('-Ä)-ä(i-a-n[('-ä)-i('-Ä)]| 

zu  berechnen^  einheimischem  Mißverständnisse  später  Zeit  zur  Last 
legen  möchten.    Augenscheinlich  ist  nämlich  der  für  den  Eugelinhalt 

angegebene   Ausdruck   gleichbedeutend    mit   [jgdj  =  (— j    d.  h.  mit 

dem  Eubus  des  vierten  Teils  des  Ereisumfanges^  und  bei  aller  Ver- 
wandtschaft mit  der  falschen  Berechnung  des  EugeUnhaltes  durch 
Arjabhatta  (S.  646)  ist  doch  die  Verschiedenheit  wieder  zu  bedeutend^ 
um  ein  Abhängigkeitsverhältnis  anzunehmen.  Weit  eher  möchten 
wir  an  die  spätrömische  Ereisflächenausmessung  (S.  591)  uns  erinnert 
fühlen.  Einige  geometrische  Namen  sind  sowohl  nach  Bedeutung  als 
Ursprung  zweifelhaft^  einige  wenigstens  in  letzterer  Beziehung.  Einer 
Art  von  Trapez,  welche  Gurke  genannt  wird,  stehen  wir  ebenso  rat- 
los gegenüber  wie  der  Eommentator,  der  da  sagt:  ,^Eine  Beschreibung 
dieser  Art  von  Trapezen  ist  in  keinem  Buche  zu  finden,  die  es  er- 
läuterte; vielleicht  wird  Gott  nach  dieser  Zeit  es  lehren"*).  Woher 
stammt  die  Spitzenfigur,  das  ist  ein  Stemzehneck,  dessen  Seiten 
nur  bis  zu  ihrem  gegenseitigen  Durchschnitt,  nicht  darüber  hinaus 
gezeichnet  sind,  so  daß  das  Innere  der  Figur  leer  bleibt?  Hängt 
der  Name  Figur  der  Braut,  welcher  dem  pythagoräischen  Dreiecke 
beigelegt  wird^),  etwa  mit  talismanischer  Verwendung  desselben  zu- 
sammen, ähnlich  wie  wir  solche  von  magischen  Quadraten  berichtet 
bekommen?  Das  sind  Fragen,  die  ihrer  Beantwortung  noch  harren. 
Im  ganzen  aber  dürften  unsere  Leser  von  Behä  Eddins  Essenz  der 
Rechenkunst  den  Eindruck  erhalten  haben,  daß  hier  ein  Rückschritt,, 
oder  jedenfalls  mindestens  ein  Stehenbleiben  der  Wissenschaft  zu  be- 
merken ist,  welche  vorher  ruckweise  vorgeschritten  war. 

Man  hat  mit  Fug  und  Recht  als  ein  kennzeichnendes  Merkmal 
der  arabischen  Mathematik  den  Umstand  hervortreten  lassen^),  daß 
sie  durchaus  von  Fürstengunst  abhängig  war,  daß  es  einzelne 
Herrscher  waren,  die  zur  Astronomie  eine  Vorliebe  an  den  Ti^ 
legten,  und  daß  unter  ihnen  Astronomen  und  Mathematiker  erstanden^ 
sonst  nicht.  Es  ist  vielleicht  nicht  minder  kennzeichnend,  daß  keine 
einzige    Herrscherfamilie    ohne    solche   der  Wissenschaft    huldigende 


Aufgaben  bat  sieb  gelegentlich  Genocchi  besobäftigt  in  Tortolini,   Ännali 
di  scienze  matematiche  e  fisiche  VI,  297—304  (1866). 

>)  Beba  Eddin  S.  31.       *)  Ebenda  S.  33«      ')  Ebenda  S.  29  und  66,  An^ 
merkung  17.       ^  Ebenda  S.  71,  Anmerkung  88.       ^)  Hankel  S.  252. 


Der  Niedergang  der  OBtarabischen  Mathematik.  Igyptisclie  Mathematiker.    787 

and  dienende  Vertreter  war.  Die  ersten  Abbasiden  wie  die  Bnjiden, 
seldschokische  wie  mongolisclie  Fürsten^  wie  endlich  jenen  Enkel 
Tamerlans  haben  wir  rühmend  zn  nennen  gehabt.  Es  war,  als  wenn 
der  auch  nur  Yorübergehende  Besitz  von  Bagdad  die  Geister  mit 
Wissensdrang  erfüllte  und  Bagdad  so  wirklich  die  Stadt  des  Heils 
war^  als  welche  ihr  Name  sie  bezeichnete.  Und  in  anderer  Beziehung 
war  es^  als  wenn  derselbe  Besitz,  jenem  Kleinode  der  nordischen 
Sage  vergleichbar,  für  den,  der  sich  desselben  bemächtigte,  den  Keim 
des  Unheils  in  sich  getragen  hätte,  so  rasch  yerfielen  die  aufeinander 
folgenden  HerrscherfEunilien  dem  Fluche  der  Zwietracht  und  des  Yer- 
wändtenmordes. 

Folgende  Zeitpunkte  traten  uns  in  unserer  ausführlichen  Dar- 
stellung vor  Augen,  deren  wir  nur  noch  einmal  unter  Erwähnung 
der  wichtigsten  Namen  uns  erinnern  wollen.  Unter  den  Abbasiden 
in  dem  etwa  150  Jahre  dauernden  Zeitraum  vom  letzten  Viertel  des 
VIII.  bis  zum  ersten  Viertel  des  X.  S.  ist  es  der  Hauptsache  nach 
Aneignung  indischer  und  mehr  noch  griechischer  Mathematik,  letztere 
in  zahlreichen  Übersetzungsarbeiten  sich  äußernd,  welche  wir  einem 
Muhammed  ihn  Müsä  Alchwarizmi,  einem  Täbit  ibn  Kurrah,  einem 
Albattani  nachzurühmen  haben.  Bei  ihnen  beginnt  daneben  eine 
zahlentheoretische  und  eine  trigonometrische  SelbsttÄtigkeit,  welche 
indessen  gegen  den  Übersetzungseifer  zurücktritt.  Ihm  sind  wir  zu 
besonderem,  zu  um  so  größerem  Danke  verpflichtet,  als,  wie  wir 
noch  sehen  werden,  die  griechische  Mathematik  höherer  Natur  dem 
Abendlande  wesentlich  durch  arabische  Kanäle  zugeführt  wurde,  jeden- 
falls von  da  aus  weit  früher  bekannt  wurde,  als  die  Neuentdeckung 
der  Originaltexte  es  ermöglichte.  Ja  in  einzelnen  Fällen  sehen  wir 
uns  heute  noch  auf  arabische  Übersetzungen  zum  alleinigen  Ersätze 
für  die  verloren  gegangenen  Originalien  angewiesen.  Um  das  Jahr 
1000  herum  gruppieren  sich  sodann  unter  bujidischem  Schutze  die 
großen  Schriftsteller,  welche  wieder  durch  zahlentheoretische,  aber 
auch  durch  geometrische  und  vorzugsweise  durch  algebraisch -geo- 
metrische Forschungen  die  Wissenschaft  vermehrten,  ein  Abül  Wafä, 
welcher  daneben  noch  eine  gewisse  Stetigkeit  nach  rückwärts  her- 
stellend zu  den  Übersetzern  gehört,  ein  Alkühi,  ein  Assidschzi,  ein. 
Alchodschandi,  ein  Abül  Dschüd,  ein  Alkarchi.  Ihnen  gleichzeitig 
vertrat  Albirüni  uns  die  Blüte  des  gaznawidischen  Hofes.  Im  letzten 
Viertel  des  XI.  S.  begünstigen  seldschukische  Sultane  'Omar  Alchai- 
jämi,  den  systematischen  Algebraiker,  dem  zuerst  mit  vollem  Bewußt- 
sein die  Schwierigkeit  der  kubischen  Gleichung  entgegentrat^  und  dem 
die  Geometrie  nur  dienendes  Werkzeug  für  seine  Zwecke  wurde.  Die 
Schule  Nasir  Eddins  knüpfte   in   der  Mitte  des  XIII.  S.  an  die  von 

50* 


788  36.  Kapitel. 

mongolischen  Fürsten  errichtete  Sternwarte  zu  Maraga  ihr  Bestehen, 
nnd  eine  Schule  des  XV.  S.  hatte  zu  Samarkand  in  dem  tartarischen 
Fürsten  Ulüg  Beg  Gönner  und  Mitglied  zugleich.  Die  beiden  letzten 
Schulen  gehörten  mehr  der  Geschichte  der  Astronomie  als  der  der 
Mathematik  an,  und  nur  Gijät  eddin  Al-Eäschi  verdiente  für  uns  be- 
sondere Berücksichtigung  wegen  einer  sinnreichen  Näherungsrech- 
nung zur  Auflösung  kubischer  Gleichungen  von  einer  gewissen  ge- 
gebenen Form. 

Der  Höhepunkt  der  Mathematik  war  für  die  Araber  des  Ostens 
etwa  auf  1050  zwischen  die  Namen  Alkarchi^  Alchaijämi  anzusetzen. 
Von  da  an  ging  es  bergab,  erst  mit  teilweise  neuen  kleinen  Er- 
hebungen^  dann  in  trostlose  Öde  sich  verflachend,  als  deren  Sohn 
allein  Behä  Eddin  am  Ende  des  XVI.  und  Anfang  des  XVII.  S.  uns 
noch  beschäftigen  durfte. 

Die  äußersten  Grenzen  des  ostarabischen  und  des  westarabischen 
Eulturbereiches  sind  durch  ungeheure  Entfernungen  voneinander  ge- 
schieden und  gewähren  dadurch  und  durch  die  politische  Trennung, 
mitunter  verstärkt  durch  religiöse  Gegensätze,  die  Möglichkeit  und 
die  Notwendigkeit  gesonderter  Betrachtung  der  beiderseitigen  Ent- 
wicklungen. Minder  streng  läßt  sich  aber  die  Sonderung  für  die  an- 
einander stoßenden  Bezirke  beider  Reiche  durchführen^  und  insbe- 
sondere hätte  von  den  beiden  Persönlichkeiten,  welche  jetzt  noch  die 
ägyptische  Mathematik  uns  vertreten  sollen^  mindestens  die  zweite 
als  im  Osten  geboren  und  herangebildet  mit  gleichem  Rechte  wie 
hier  im  vorigen  Kapitel  behandelt  werden  können.  Das  macht,  daß 
die  ägyptischen  Fürsten  Schielten  waren  und  darum  den  sunnitischen 
Abbasiden  viel  schroffer,  den  gleichfalls  schi^itischen  Bujiden  dagegen 
kaum  feindlich  gegenüberstanden,  so  daß  imter  diesen  allmählich  Be- 
ziehungen vorkommen^  welche  noch  unter  den  ersten  Bujiden  zu  den 
Unmöglichkeiten  gehören. 

Ibn  Jünus  von  Kairo,  seinem  ausführlichen  Namen  nach  Abü*l 
Hasan  *Ali  ibn  Abi  Sa'id  ^Abderrahmän,  starb  1008,  war  also  in  der 
Blütezeit  seines  Wirkens  Zeitgenosse  des  Abü'l  Wafö,  ähnelte  in 
seinen  astronomisch- trigonometrischen  Leistungen  ebendemselben  und 
scheint  doch  von  dessen  Arbeiten  in  keiner  Weise  Notiz  genommen 
zu  haben,  sei  es,  daß  er  sie  wirklich  nicht  kannte ^  sei  es^  daß  er 
sie  nicht  kennen  wollte.  Die  ägyptischen  Herrscher  Al-*Am, 
975—996,  und  Al-Häkim,  996—1021,  waren  für  Ibn  Jünus  frei- 
gebige Gönner.  Sie  sorgten  für  seine  wissenschaftlichen  Bedürfnisse 
durch  Erbauung  und  Ausstattung  einer  Sternwarte,  durch  Anlage 
einer  Büchersammlung  usw.  Er  arbeitete  auf  ihr  Geheiß  seine 
astronomischen  Tafeln  aus,  welche  Al-Hakim  zu  Ehren  die  hakimi- 


Der  Niedergang  der  ostarabiBchen  Mathematik.  Ägyptische  Mathematiker.     789 

tischen  Tafeln  genannt  worden^)  und  in  der  Geschichte  der  Astro- 
nomie eine  rühmliche  Stellong  einnehmen.  Für  die  Geschichte  der 
Mathematik  ist  weniger  darans  zu  entnehmen,  höchstens  die  Auf- 
lösung einiger  Aufgaben  der  spMrischen  Trigonometrie  unter  Ein- 
führung Yon  gewissen  Hilfswinkeln  und  die  unbewiesene  Näherungs- 
formel 

.    .0        1      ö       •    /ö\®   ,    2     16   .    /16\0 
8ml»=3-.-.8m(-g-)   +-3-.-Bmy  . 

Die  erstere  Neuerung  hätte  wichtig  werden  können^  fand  aber  keine 
Nachahmung.  Ob  Ibn  Jünus  bei  Benutzung  des  Wortes  Schatten 
um  den  Quotienten  des  Sinus  eines  Winkels  durch  den  Kosinus  des- 
selben Winkels  zu  benennen  wirklich  vollständig  unab)iängig  yon 
Abü'l  Wa£l  verfuhr;  mag  dahingestellt  sein.  Gewiß  ist^  daß  er  in- 
sofern unter  jenem  blieb;  als  er  seine  Schattentafel  nie  zur  Berechnung 
anderer  Winkel  als  wirklicher  Sonnenhöhen  verwertete,  während  Abü'l 
WafI;  dessen  Tod  fast  10  Jahre  früher  als  die  letzte  von  Ibn  Jünus 
angestellte  Beobachtung  eintrat;  die  Yeral^emeinerung  des  Schatten- 
begriffeS;  wie  wir  wissen  (S.  748),  vollzogen  hat. 

Der  zweite  Schriftsteller;  welchen  wir  hier  der  Besprechung 
unterziehen;  ist  in  Al-Basra  geboren  und  nur  im  Mannesalter  in 
Ägypten  eingewandert.  Sein  vollständiger  Name  lautet  Abu  *Ali  al 
Hasan  ibn  al  Hasan  ibn  Alhaitam;  kürzer  als  Ibn  Alhaitam  be- 
zeichnet; mit  an  Sicherheit  grenzender  Wahrscheinlichkeit  derselbe 
große  Gelehrte;  dessen  Optik  von  lateinischen  Übersetzern  mit  dem 
Yei-fassemamen  Alhazen  überschrieben  ist^).  Dürfen  wir  diese 
Identität  festhalten;  so  bleibt  allerdings  aus  der  Optik;  so  bedeutend 
ihr  Wert  für  die  Geschichte  der  angewandten  Mathematik  ist;  für 
uns  nur  eine  Aufgabe  merkwürdig;  nämlich  die  den  Spiegelungs- 
punkt eines  kugelförmig  gekrümmten  Spiegels  zu  finden;  von  welchem 
aus  das  Bild  eines  an  einem  gegebenen  Orte  befindlichen  Gegen- 
standes in  ein  gleichfalls  an  einem  gegebenen  Orte  befindliches  Auge 
geworfen  wird;  eine  Aufgabe;  welche  analytisch  behandelt  zu  einer 
Gleichung  des  4.  Grades  führt ^).     Den  aus  Al-Basra  gebürtigen  Ibn 

*)  Der  Anfang  ist  von  Gaues  in  übersetzt  und  erläutert  in  den  Noticea  et 
eodraiU  de  la  hibltothique  nationale  T.  VIT,  pag.  16  —  240.  Die  ungedruckte 
Übersetzung  der  späteren  Kapitel  durch  S^dillot  hat  Delambre  für  seine 
Histoire  de  rastronomie  du  nxoyen-dge  benutzt.  Vgl.  Hankel  S.  244,  282,  2B8. 
Suter  77—78,  Nr.  178.  *)  Wüstenfeld,  Arabische  Aerzte  und  Naturforscher 
S.  76—77,  Nr.  180.  L'alg^bre  d'Omar  Alkayami  pag.  73—76,  Anmerkung  ***, 
und  Narducci,  Intorno  ad  una  traduzione  italiana  fatta  nel  secolo  decimo^ 
qiMrto  del  trattato  d'ottica  d'Älhaeen,  matemaiico  del  secolo  undecimo  ed  ad  aUri 
lavori  di  questo  sciemiato  im  Büllettino  Boncotnpagni  lY,  1—48  (1871).  Suter 
91  —  95,  Nr.  204.       »)  Chasles,  Äpergu  hist,  pag.  498,  deutsch  S.  576. 


790  36.  KapiteL 

Alhaitam  haben  wir  jeden&llBy  und  zwar  noch  zur  Zeit  als  er  im 
Osten  lebte,  als  Verfasser  einer  in  einem  Vatikankodex  noch  vor- 
handenen Abhandlung  über  die  Quadratur  des  Kreises  anzuer- 
kennen^). Sie  ist  allerdings  herzlich  unbedeutend  und  zeigt  nur  die 
Quadratur  der  gewöhnlichen  Mondchen  des  Hippokrates,  in  deren 
eines  ein  kleiner  Kreis  einbeschrieben  ist,  welcher  zu  dem  Mondchen, 
also  auch  zu  dem  ihm  flächengleichen  Dreiecke,  in  einem  gewissen 
Verhältnis  stehe.  Ein  Hinausgehen  über  Archimed  in  dem  Sinne, 
daß  eine  nähere  Bestimmung-  der  Zahl  n  versucht  ^re,  ist  nicht 
vorhanden. 

Ebenderselbe  Ibn  Alhaitam  hat  auch  ungemein  zahlreiche 
sonstige  'Sohrifben  zustande  gebracht,  von  welchen  wenigstens  eine 
geometrische  zur  Übersetzung  gelangt  ist,  die  zwei  Bücher  der 
gegebenen  Dinge').  Der  Verfasser  sagt  darüber  in  der  Ein- 
leitung: „Das  L  Buch  enthält  vollkommen  neue  Dinge,  deren  Gattung 
nicht  einmal  von  den  alten  Geometem  gekannt  war,  und  das  11. 
enthält  eine  Reihe  von  Sätzen,  welche  denen  ähneln,  die  in  dem 
I.  Buche  von  den  gegebenen  Dingen  des  Euklid  zu  finden  sind,  ohne 
jedoch  selbst  in  jenem  Werke  vorzukommen.^^  Was  hier  von  dem 
n.  Buche  gerühmt  ist,  entspricht  allerdings  der  Wahrheit,  nicht  so 
was  Ibn  Alhaitam  als  den  Wert  des  L  Buches  ausmachend  schildert. 
Allerdings  sind  solche  Sätze,  wie  sie  im  I.  Buche  enthalten  sind,  und 
welche  kurzweg  als  Ortstheoreme,  wenn  nicht  gar  als  Porismen  im 
euklidischen  Sinne  des  Wortes  bezeichnet  werden  müssen,  den  Alten, 
d.  h.  den  Griechen  bekannt  gewesen.  Die  euklidischen  Porismen 
sind  aber  den  Arabern  bekannt  gewesen,  wenn  sie  auch  von  ihnen 
für  unecht,  d.  h.  nicht  von  Euklid  verfaßt,  gehalten  wurden*).  Wir 
wissen  nicht,  ob  das  Gleiche  von  den  kleineren  Schriften  des  Apol- 
lonius  von  Per^  gilt,  welche  sonst  auch  der  Ruhmredigkeit  Ibn 
Alhaitams  ihr  Verbot  entgegenzustellen  berechtigt  gewesen  wären, 
jedenfalls  aber  ist  seine  Überhebung  keine  minder  unerlaubte  an- 
gesichts der  Sammlung  des  Pappus,  von  der  wir  wiederholt  gesehen 
haben,  daß  sie  Arabern  des  X.  S.  bekannt  war.  Wir  müssen  daher, 
wollen  wir  einen  so  tüchtigen  Gelehrten,  wie  Ibn  Alhaitam  es  jeden- 
falls war,  nicht  der  absichtlichen  Unwahrheit  verbunden  mit  großer 

')  Buüettino  Boncompagni  IV,  41  sqq.  Sater  hat  die  Abhandlung  in  der 
ZeitBchr.  Math.  Phys.  XLIV,  Hiator.-literar.  Abtlg.  S.  83—47  (1899)  im  Urtext 
mit  deutscher  Übersetzung  herausgegeben.  *)  Nouveau  Journal  AsicUique  XITT, 
435  flgg.  (1834).  Sedillot,  Materiaux  paur  servir  ä  Vhistoire  comparee  des  seiences 
maihematiqxiea  ehez  les  Grecs  et  les  Orientaux  pag.  879—400.  Chasles,  Äper^ 
hist.  pag.  498  —  601,  deutsch  S.  677  — 681.  ")  Fihrist  17  unter  Yergleichung 
von  Snters  Anmerkung 49  (Fihrist  49). 


Der  Niedergang  der  oatarabiBchen  Mathematik.  Igyptische  Mathematiker.    791 

XTnvorsichtigkeit  bezichtigen,  zu  der  Annahme  uns  bequemen,  die 
Sammlung  des  Pappus  sei  för  die  große  Mehrzahl  auch  der  arabi- 
schen Gelehrten  doch  zu  hoch  gewesen  und  sei  darum  wenig  bekannt 
geworden,  beziehungsweise  bald  wieder  in  Vergessenheit  geraten. 
Die  Örter,  von  welchen  Ihn  Alhaitam  handelt,  sind  übrigens  aus- 
schließlich Kreise  und  gerade  Linien,  gehören  mithin  zu  den  ein- 
fachsten, welche  überhaupt  vorkommen.  Wir  nennen  einige  von  den 
Sätzen  des  I.  Buches:  6.  Zieht  man  von  zwei  gegebenen  Punkten 
aus  Gerade,  die  beim  Durchschnitte  einen  gegebenen  Winkel  bilden, 
80  liegt  der  Durchschnittspunkt  auf  einer  gegebenen  Sjreislinie.  — 
7.  Zieht  man  von  zwei  gegebenen  Punkten  aus  Gerade,  die  bei  ihrem 
Durchschnitt  einen  gegebenen  Winkel  bilden,  verlängert  man  darauf 
die  eine  Gerade  so,  daß  das  Verhältnis  der  Strecke  vom  Anfangs- 
punkte bis  zum  Durchschnitte  zu  ihrer  Verlängerung  ein  gegebenes 
sei,  so  liegt  der  Endpunkt  auf  einer  der  Lage  nach- gegebenen  Kreis- 
linie. —  8.  Zieht  man  von  zwei  gegebenen  Punkten  gleichlange 
sich  in  ihrem  Endpunkte  treffende  Strecken,  so  liegt  äer  Durch- 
schnittspunkt auf  einer  der  Lage  nach  gegebenen  Geraden.  —  9.  Zieht 
man  von  zwei  gegebenen  Punkten  aus  Gerade,  deren  Längen  bis  zum 
Durchschnittspunkte  in  gegebenem  Verhältnisse  stehen,  so  befindet 
sich  der  Durchschnittspunkt  auf  einer  der  Lage  nach  gegebenen 
Kreislinie.  —  19.  Zieht  man  an  einen  Punkt  der  kleineren  von  zwei 
sich  innerlich  berührenden  Kreislinien  eine  Berührungslinie  bis  zum 
Durchschnitt  mit  der  umgebenden  Kreislinie  und  verbindet  man 
diesen  Durchschnittspunkt  geradlinig  mit  dem  Berührungspunkte  der 
beiden  Kreise,  so  ist  das  Verhältnis  der  beiden  Strecken  gegeben. 
Mit  dem  IL  Buche  mögen  folgende  Muster  uns  bekannt  machen: 
2.  Die  Gerade,  welche  von  einem  gegebenen  Punkte  aus  gezogen  von 
einem  gegebenen  Kreise  ein  der  Größe  nach  gegebenes  Stück  ab- 
schneidet, ist  der  Lage  nach  gegeben.  —  5.  Zieht  man  von  einem 
gegebenen  Punkte  eine  Gerade  zum  Durchschnitt  mit  einer  gegebenen 
Strecke,  so  daß  das  begrenzte  Stück  der  Geraden  mit  dem  einen  Ab- 
schnitte der  Strecke  eine  gegebene  Summe  bilde,  so  ist  die  Gerade 
der  Lage  nach  gegeben.  —  12.  Zieht  man  an  einen  gegebenen  Kreis 
eine  Berührungslinie  bis  zum  Durchschnitte  mit  einer  gegebenen 
Geraden,  und  ist  die  so  begrenzte  Berühnmgslinie  der  Länge  nach 
gegeben,  so  ist  sie  es  auch  der  Lage  nach. 

Ibn  Alhaitam  wurde  nicht  wegen  seiner  theoretisch- wissenschaft- 
lichen Leistungen,  sondern  um  praktischer  Dinge  willen  nach  Kairo 
berufen.  Er  hatte  sich  nämlich  geäußert,  er  halte  es  für  leicht,  am 
Nil  solche  Einrichtungen  zu  treffen,  daß  der  Fluß  jedes  Jahr  gleich- 
mäßig austrete,  ohne  daß  Witterungsverhältnisse  einen  Einfluß  üben 


792  S7.  Kapitel. 

könnten.  Diese  Zusage  zu  erfüllen,  ließ  Al-Häkim  ihn  kommen,  ging 
ihm  bis  zur  Vorstadt  von  Kairo  entgegen  und  empfing  ihn  überhaupt 
mit  den  größten  Ehren.  Ihn  Alhaitam  zog  hierauf  guten  Mutes  mit 
zahlreichen  Gefährten  nilaufwärts,  bis  er  zu  den  ersten  Nilfällen  bei 
Sjene  gelangte,  wo  er  erkannte,  daß  er  zu  voreilig  Sicherheit  an  den 
Tag  gelegt  hatte,  und  daß  die  Verwirklichung  seines  Planes  unmöglich 
war.  So  mußte  er  sich  zu  entschuldigen  suchen,  so  gut  es  eben  ging,, 
und  als  er,  nunmehr  in  anderen  Staatsarbeiten  beschäftigt,  sich  auch 
hier  Fehler  zuschulden  kommen  ließ,  mußte  er  sich  verbergen,  um 
Al-Häkims  Zorne  zu  entgehen.  Erst  nach  dessen  Tode  kam  er 
wieder  zum  Vorschein  und  führte  ein  wesentlich  schriftstellerisches 
Leben.     Er  starb  1038. 

Das  sind  die  beiden  Männer,  welche  die  ägyptische  Mathematik 
für  uns  kennzeichnen  sollten.  Wir  gehen  zu  der  Entwicklung  unserer 
Wissenschaft  in  Spanien  und  in  dem  gegenüberliegenden  westUchen 
Teile  der  ajGrikanischen  Nordküste,  in  Marokko,  über. 


37.  Kapitel. 
Die  Mathematik  der  Westaraber. 

Von  der  Entstehung  eines  selbständigen  arabischen  Reiches  in 
Spanien  im  Jahre  747  unter  dem  Omaijaden  ^Abd  Arrahmän  haben 
wir  gelegentlich  (S.  707)  gesprochen.  In  unaufhörlichen  Kämpfen 
gegen  die  westgotischen  Christen  sowie  gegen  afrikanische  Araber 
erhob  sich  seine  Dynastie  bei  SOOjährigem  Bestände  zu  unsterblichem 
Ruhme,  rieb  sich  aber  auch  vollständig  auf  ^).  In  die  Zeit  der  Omai- 
jaden fällt  die  Entstehung  aller  jener  glänzenden  Überreste  maurischer 
Baukunst,  die  noch  heute  den  Anschauer  mit  Bewunderung  erfüllen 
soUen,  und  die  nach  den  Berichten  solcher  Schriftsteller,  welche  sie 
in  ihrer  ganzen  Pracht  sahen,  die  Wundermärchen  der  Tausend  und 
eine  Nacht  zur  Wahrheit  stempelten.  Besonders  ^Abd  Arrahmän  HI. 
und  sein  Sohn  Al-Hakam  II.,  welche  von  912  bis  976  regierten^ 
spielten  eine  glänzende  Rolle  in  der  Geschichte  der  Entwicklung  west- 
arabischer Kultur.  Von  allgemein  kulturgeschichtlichem  Interesse  ist 
es  vielleicht,  daß  der  letztgenannte  Herrscher  eine  Oeheimschreiberin 
Lubnä^)  beschäftigte,  welche  als  sehr  bewandert  in  Grammatik, 
Metrik,  Dichtkunst  und  Rechenkunst  gerühmt  wird  und  eine  sehr 
schöne  Schrift  hatte.     Eine  Bibliothek  von  600000  Bänden  entsteht 


^)  Aschbach,  GeBchichte  der  Omaijaden  in  Spanien  Bd.  IL    Frankfurt  a.  M. 
1830.       «)  Snter  61,  Nr.  186. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  793 

in  dem  Palaste  in  Cordova.  Ein  Bibliotheksyerzeichnis  in  44  Bänden 
unterstützt  die  Benutzung.  Gelehrte  sammeln  sich^  aber,  wie  wir 
niclit  für  überflüssig  halten,  besonders  zu  betonen,  ausschließlich 
Moslims,  denn  *Abd  Arrahmän,  der  Verteidiger  des  Glaubens,  wie  er 
sich  nennen  ließ,  würde  so  wenig  wie  sein  Sohn  fremde  christliche 
Schüler  geduldet  haben.  Dieselben  beiden  Fürsten  fanden  ihre  Freude 
in  der  Herstellung  baulicher  Denkmale  ihres  Glanzes  und  der  hohen 
Vollkommenheit,  bis  zu  welcher  arabische  Kunstfertigkeit  gelangt  war 
Mag  manches  nach  früheren  praktisch  gewordenen  und  ihres  geo- 
metrischen Grundes  verlustig  gegangenen  Regeln  hergestellt  worden 
sein,  so  ist  doch  schlechterdings  nicht  möglich,  daß  eine  solche 
Architektur  sich  nur  empirisch  entwickelte.  Die  Baumeister,  und 
wenn  nicht  sie  selbst,  so  doch  diejenigen,  bei  welchen  sie  sich  in.  ge- 
gebenen Fällen  Rats  erholten,  mußten  Mathematiker  sein. 

Freilich  steht  uns  mehr  als  dieser  zwii^ende  Schluß  nicht  zu 
Gebote.  Von  westarabischen  mathematischen  Schriften  bis  zum  XI.  S. 
ist  nichts  veröffentlicht.  Von  Namen  sogar  steht  uns  kein  älterer 
als  Abü'l  Easim  Maslama  ihn  Ahmed  Almadschriti^)  zu  Gebote, 
der  uns  schon  zweimal  gelegentlich  vorgekommen  ist.  Er  wollte 
(S.  73Ö)  die  befreundeten  Zahlen  in  ihrer  Wirkung  kennen  gelernt 
haben.  Er  oder  sein  Schüler  Alkarmäni,  von  welchem  letzteren 
Reisen  in  den  Orient  bekannt  sind,  sollen  die  Abhandlungen  der 
lauteren  Brüder  in  Spanien  eingeführt  haben  (S.  738).  Alkarmäni 
war  übrigens  vorzugsweise  Chirurg.  Die  mathematische  Lehrtätigkeit 
Almadschritis  in  Cordova,  der  Residenz  der  Emire,  fällt  in  die  Re- 
gierung Al-Hakam  IL  und  dessen  Nachfolgers.  Er  starb  1007.  Von 
seinen  Schülern  haben  Ibn  as-Saffär  und  Ibn  as  Samh  el  Muhandis 
Al-Garnäti,  der  erste  in  Cordova  dann  in  Dänia,  der  zweite  in 
Granada  eigene  Schulen  eröffnet,  in  welchen  Mathematiker  und  Astro- 
nomen gebildet  wurden^).  Der  Geometer  von  Granada  starb  1035 
in  einem  Alter  von  56  Jahren,  hatte  aber  schon  vieles  geschrieben, 
worunter  eine  Einleitung  in  die  Geometrie  zur  Erklärung  Euklids, 
das  große  Buch  über  die  Geometrie,  die  er  nach  geradlinigen  und  nach 
krummlinigen  Gebilden  einteilte,  ein  Buch  über  das  Geschäftsrechnen, 
ein  solches  über  das  Luftrechnen  d.  h.  Kopfrechnen  lobend  erwähnt 
werden. 

Die  Tatsache,  daß  die  letztgenannten  außerhalb  Cordova  sich 
niederließen,  beruht  gewiß  zum  Teil  auf  den  Unruhen,  welche  seit 

*)  Wüstenfeld,  Arabische  Aerzte  und  Naturforscher  S.  61,  Nr.  122.  Stein- 
schneider, Pseudoepigraphische  Literatur  usw.  S.  28  flgg.  und  7  8  flgg.  S  u  t e  r 
76—77,  Nr.  176.  *)  Wüstenfeld,  Arabische  Aerzte  und  Naturforscher  S.  62, 
Nr.  123  und  S.  64,  Nr.  127.     Suter  86,  Nr.  194  und  86,  Nr.  196. 


794  37.  Kapitel. 

1008  in  Gordova  an  der  Tagesordnung  waren  und  mit  wechselndem 
Glücke  der  Parteien  bis  1036  dauerten^  um  mit  dem  Tode  Hischams 
des  letzten  Omaijaden  zu  endigen.  Ein  einheitliches  spanisch-ara- 
bisches Reich  hat  es  seit  dieser  Zeit  nicht  mehr  gegeben^).  Kleine 
Gebiete,  teils  als  Freisfödte,  teils  unter  besonderen  Fürsten,  bildeten 
sich  und  gingen  zugrunde,  sich  gegenseitig  befehdend  und  dabei 
die  christlichen  Nachbarn  wechselweise  zu  Hilfe  rufend,  welche  bei 
solcher  Gelegenheit  nicht  ermangelten,  eine  Stadt,  eine  Provinz  nach 
der  anderen  den  Moslimen  abzunehmen  und  für  sich  zu  behalten. 
Seit  der  Mitte  des  Xm.  S.  war  nur  noch  das  Königreich  Granada 
dem  Islam  unterworfen.  Später  als  um  diese  Zeit  wird  uns  aber  auch 
kein  westarabischer  Mathematiker  in  Spanien  begegnen.  Nur  von  Be- 
wohnern der  afrikanischen  Küstengegenden  werden  wir  in  jener  späten 
Zeit  zu  reden  haben  und  brauchen  uns  deshalb  um  die  langjährigen 
Kämpfe  nicht  zu  kümmern,  welche  erst  kurz  vor  dem  Jahre  1500  mit  dem 
gänzlichen  Sturze  arabischer  Herrschaft  auf  spanischem  Boden,  mit 
der  Einnahme  von  Granada  am  2.  Januar  1492  durch  Ferdinand  den 
Katholischen  endigten,  denselben  Fürsten,  für  welchen  Christoph 
Columbus  Amerika  entdeckte.  An  diesem  Tage  entstand,  wenn  man 
so  sagen  darf,  das  Sultanat  von  Marokko  als  Ersatz  für  das  west- 
arabisch-spanische Reich. 

Der  erste  Schriftsteller,  von  welchem  wir  seit  dem  Beginne  der 
Zersplitterung  zu  reden  haben,  lebte  im  XI.  S.  in  Sevilla.  Es  war 
Abu  Muhammed  Dschäbir  ihn  Aflah^),  gewöhnlich  Geber  genannt, 
von  dessen  Namen  man,  wie  wir  uns  .erinnern  (S.  722),  eine  Zeitlang 
das  Wort  Algebra  herzuleiten  sich  gewöhnt  hatte.  Die  Araber 
nannten  ihn  auch  wohl  Alischbili  d.  h.  den  von  Sevilla.  Er  gehörte 
zu  den  hervorragendsten  Astronomen  seiner  Zeit,  verfaßte  aber,  wie 
80  viele  seiner  Zeitgenossen,  auch  mystische  Schriften,  an  deren  In- 
halt er  nicht  minder  fest  glaubte  als  seine  Leser.  Seine  Lebenszeit 
ist  dadurch  festgestellt,  daß  sein  Sohn  in  Spanien  mit  dem  berühmten 
Moses  Maimonides  persönlich  verkehrte,  was  nur  um  das  Jahr  1100 
herum  möglich  war.  Ibn  Aflah  selbst  muß  also  in  der  zweiten  Hälfte 
des  XL  S.  am  Leben  gewesen  sein.  Sein  Hauptwerk,  eine  Astronomie 
in  9  Büchern,  wurde  im  XH.  S.  durch  Gerhard  von  Cremona  ins 
Lateinische  übertragen ''^),  und  diese  lateinische  Bearbeitung  erschien 
1534  im  Drucke.  Das  erste  Buch^)  enthält  eine  vollständige  Tri- 
gonometrie, welche  mit  Vorbedacht  an  die  Spitze  gestellt  wird,  um 

^)  Weil  S.  284—296.  *)  Steinschneider,  Psendoepigraphischc  Lite- 
ratur uaw.  S.  16  flgg.  und  TOflgg.  Suter  119—120,  Nr.  284.  ^)  B.  Boncom- 
pagni,  DeUa  vita  e  delle  opere  dt  Gherardo  Cremonese,  Borna  1861,  pag.  13. 
^)  Delambre,  Histaire  de  Veutranomie  du  müyen-dge  pag.  179—186.    Hankel 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  795 

Wiederholungen  zu  vermeiden.  Der  Verfasser^  der  fast  200  Jahre 
vor  Nasir  Eddin  (S.  779)  lebend  yon  ihm  nicht  beeinflußt  gewesen 
sein  kann;  aber  auch  aus  (S.  788)  angeführten  Gründen  ohne  Einfluß 
auf  diesen  blieb^  legte  eine  Probe  geistiger  Selbständigkeit  ab,  indem 
«r  es  wagte,  in  dieser  Trigonometrie  von  dem  althergebrachten  Gai^e 
4es  Ptolemäus,  von  der  Regel  der  6  Größen  (S.  413  und  420)  ab- 
zuweichen und  sogar  polemisch  gegen  den  alten  Meister  der  Stern- 
kunde an  den  verschiedensten  Stellen  vorzugehen, .  was  die  Albattani, 
die  Abü'l  Wafä,  die  Ibn  Jünus,  welche  in  ihrer  Lebenszeit  Ibn  Aflah 
vorangehen,  niemals  auch  nur  versuchten.  Ibn  Aflah  stützt  sich  bei 
seinen  Beweisen  —  und  daß  er  solche  gibt,  ist  eine  weitere  rühm- 
liche Eigentümlichkeit,  durch  welche  er  von  den  übrigen  arabischen 
Astronomen  sich  unterscheidet  —  auf  eine  Regel  der  vier  Größen, 
welche  in  folgendem  Satze  besteht  und  von  welcher  eine  Vorahnung 
sich  in  der  Schrift  des  Täbit  ibn  Eurrah  über  den  Satz  des  Menelaus 
{S.  736)  vorfand.  Diese  arabische  Schrift  dürfte  aber  Ibn  Aflah  ge- 
kannt haben,  wie  daraus  geschlossen  worden  ist,  daß  hebräische  Über- 
49etzimgen  des  Täbit  imd  des  Ibn  Aflah  in  einer  und  derselben  Hand- 


schrift vereinigt  vorkommen.  Es  seien  (Fig.  108)  PiP»  sowie  QiQ^ 
zwei  Bögen  größter  Kreise,  welche  in  Ä  sich  schneiden.  Von  P^ 
und  Pj  werden  die  Bögen  größter  Kreise  PiQi  und  P^Q^  senkrecht 
3U  Ä  Qi  Q^  gezogen,  so  verhält  sich  sin  Ä  P^ :  sin  P^  Q^  «=  sin  A  P, :  sin P,  Q^ . 
Nun  sei  (Fig.  109)  das  bei  BT  rechtwinklige  sphärische  Dreieck  ABH 
voi^elegt,  in  welchem  -^BAH^  a^  BH^a,  AB^h  heiße.  Man 
verlängert  AB  und  AH  bis  zur  Länge  von  90®  nach  C  und  -B,  so 
ist  A  der  Pol  von  C-E,  also  der  Bogen  CE  das  Maß  des  Winkels  a 
nnd  der  Bogen  AE  senkrecht  auf  EC,  Die  Regel  der  vier  Größen 
liefert  jetzt  als  13.  Satz  das  Verhältnis  sin^(7  :  sin  C-B=' sin  JB 
:  sin  BH  oder  sin  90®  :  sin  a  =  sin  A  :  sin  a,  mithin  sin  a  =  sin  Ä  •  sin  «. 
An  einer  anderen  Figur  (Fig.  110),  bei  welcher  wieder  ABH  ein  bei 

S.  286  —  287.  A.  v.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Trigono- 
metrie I,  81—83. 


796  d7.  Kapitel. 

H  rechtwinkliges  sphärisches  Dreieck  darstellt  und  AH  ^  h  und 
-^  ABH^  ß  genannt  ist,  werden  BA  und  BH  bis  nach  E  und  F 
verlängert,  so  daß 

BE^  BF  ^90^,    EF^ß    und    ^BFE^BEF^^QP 

werden.     FE  und  HA  trefiFen  sich  verlängert  in  D,  so  ist  wegen 

^  BHD  =  BFD  «  90« 

jener  Punkt  D  der  Pol  von  FH,  also  DH=9QP.  Die  Regel  der 
vier  Größen  liefert,  weil  jetzt  AE  und  HF  senkrecht  zu  EF  sind,, 
das  Verhältnis:  sin  DJ. :  Hin  AE  =  sinD-BT:  sin  HF  oder 

sin  (90«  -  6)  :  sin  (90«  -  Ä)  =  sin  90<> :  sin  (90<^  -  a), 

also  cos  h^  eosa '  cos  b  der  Inhalt  des  15.  Satzes.  In  derselben 
Figur  ist  aber  das  Dreieck  DEA  bei  E  rechtwinklig,  die  Anwendung 
des  13.  Satzes  ergibt  deshalb  sin  2) -E  =  sin  DJ.  •  sin  DJ.  JE?  d.  h. 

sin  (90®  —  /8)  =  sin  (90®  —  6)  •  sin  a     oder     cos  ß  «  cos  6  •  sin  a 

als  Inhalt  des  14.  Satzes.  Letzterer  Satz  ist  weder  bei  Ptolemäu» 
noch  bei  einem  arabischen  Vorgänger  des  Ibn  Aflah  zu  finden  und 
wird  deshalb  häufig  unter  Anwendung  des  Namens,  unter  welchem 
dieser  Gelehrte,  wie  wir  sagten,  bekannt  zu  sein  pflegt,  der  Geber- 
sehe  Lehrsatz  genannt.  Daß  wir  vorzogen,  hier  regelmäßig  von 
Ibn  Aflah  zu  reden,  hat  seinen  Grund  darin,  daß  es  mehrere  nach 
Zeit,  Ort  und  wissenschaftlicher  Tätigkeit  ungemein  verschiedene 
Persönlichkeiten  gegeben  hat  oder  gegeben  haben  soll,  welche  alle 
Geber  genannt  werden,  so  daß  Verwechslungen  sehr  leicht  sind.  Es 
ist  mit  großem  Rechte  als  überraschend  bezeichnet  worden,  daß  Ibn 
Aflah,  in  der  sphärischen  Trigonometrie  ein  geradezu  kühner  Neuerer^ 
in  der  ebenen  Trigonometrie  um  keinen  Schritt  weiter  gegangen  ist 
als  Ptolemäus,  daß  er  sogar  Sinus  und  Kosinus  anzuwenden  hier  ver- 
meidet und  noch  in  griechischer  Weise  mit  den  Sehnen  der  doppelten 
Winkel  sich  begnügt.  So  war  noch  für  Ibn  Aflah  offenbar  die 
sphärische  Trigonometrie  weitaus  die  Hauptsache  und  eine  eigentliche 
ebene  Trigonometrie  nur  zur  Vollständigkeit  der  Betrachtungen  vor- 
handen, aber  nicht  der  wichtige  Teil  der  Mathematik,  zu  welchem 
sie  erst  durch  Nasir  Eddin  werden  sollte. 

Wir  haben  gesagt,  daß  Gerhard  von  Cremona  die  Astronomie* 
des  Ibn  Aflah  etwa  in  der  zweiten  Hälfte  des  XU  S.  übersetzte.  Er 
hat  die  dazu  nötigen  Kenntnisse  in  dem  den  Arabern  bereits  ab- 
gerungenen Toledo  sich  erworben,  wo  um  jene  Zeit  eine  wahre  Über- 
setzungsschule vorhanden  war.  Raimund,  Erzbischof  von  Toledo 
zwischen   1130  und  1150,  stand  geistig  an  ihrer  Spitze.    Nicht  als 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  797 

ob  er  selbst  dabei  tatig  gewesen  wäre^  aber  er  veranlaBte  Dominicus 
Gondisalvi  in  Gemeinschaft  mit  einem  jüdischen  Schriftgelehrten^ 
Johannes  von  Lnna  oder  Johannes  von  Sevilla  (Johannes  His- 
palensis)  genannt^);  arabische  Bücher  nnd  zwar  hauptsächlich  solche, 
die  sich  anf  aristotelische  Philosophie  bezogen,  zu  bearbeiten.  Die 
Bearbeitung  erfolgte  auf  einem  Umwege,  der  nicht  ohne  Folgen  blieb. 
Man  mußte  den  arabischen  Text  durch  einen  der  kastilianischen  wie 
der  arabischen  Sprache  kundigen  Mittelsmann  verdolmetschen  lassen, 
bevor  ein  anderer  oder  auch  mehrere  dem  Gelehrtenstande  angehörende 
Männer  nun  wieder  einen  lateinischen  Wortlaut  herstellten,  der  nach- 
mals irgend  einem  unter  den  Mitwirkenden  zugeschrieben  wurde'). 
Überlegt  man  nun,  daß  der  arabische  Text  durch  nicht  über  alle 
Zweifel  erhabene  Übersetzungskxmst  dem  Griechischen  entnommen 
war,  so  läßt  sich  denken,  welcherlei  aristotelische  Philosophie  aus 
solchen  dreifacher  Yerpfuschung  ausgesetzt  gewesenen  lateinischen 
Darstellungen  dem  Mittelalter  zur  Kenntnis  kam.  Weniger  schlimm 
waren  die  VeiSnderungen,  welche  solche  Schriften  erlitten,  die  wenig- 
stens von  Ursprung  her  arabisch  waren  und  ihrem  Inhalte  nach  nicht 
so  dunkel  wie  philosophische  Gegenstände,  selbst  in  der  Sprache  eines 
Aristoteles,  es  einem  Laien  gegenüber  immer  sein  mußten.  Gar  keinen 
sinnentstellenden  Veränderungen  waren  solche  Schriften  unterworfen, 
bei  deren  Übertragung  in  die  lateinische  Sprache  der  Verfasser  selbst 
mitwirken  konnte. 

Wie  unsere  Leser  sofort  bemerken,  haben  wir  bei  dem  zuletzt 
Ausgesprochenen  ein  ganz  bestimmtes  Werk  eines  bestimmten  Ver- 
fassers im  Auge.  Abraham  bar  Chijja  ha  Nasi'),  d.  h.  Abraham 
Sohn  des  Chijja  der  Fürst,  war  ein  gelehrter  Jude  in  Barcelona,  von 
wo  er  zu  gelegentlichem  Aufenthalte  wohl  auch  nach  der  Provence 
kam.  Er  stand  bei  Königen  und  Fürsten  in  hohem  Ansehen,  welches 
«r  vermutlich  astrologischer  Tätigkeit  verdankte.  Er  unterstützte 
einen  Übersetzer  Plato  von  Tivoli  bei  dessen  Übersetzungen  aus 
dem  Arabischen,  und  da  ebenderselbe  auch  ein  Werk  Abrahams  über- 
setzte, so  ist  es  mindestens  wahrscheinlich,  daß  auch  hierbei  der  Ver- 

*)  Nouvelle  Biographie  universelle  XXVI,  666  (Paris  1858).  Jourdain, 
Becherches  critiques  sur  Vage  et  Vorigine  des  traductions  latines  d'Äristote. 
2.  (Edition.  Paris  1848,  pag.  115  flgg.  hält  den  Namen  Johannes  Hispalensis  für 
entstellt  aus  Johannes  Hispanensis  de  Luna  d.  h.  Johannes  der  Spanier  aus 
Lnna.  Ebenda  pag.  117,  Anmerkung  1  ist  eine  Stelle  aus  einer  Widmung  des 
Johannes  an  Raimund  abgedruckt,  durch  welche  seine  Lebenszeit  gesichert  ist. 
*)  Darin  hat  man  den  Grund  erkannt,  warum  die  gleiche  in  mehreren  Hand- 
«chriften  erhaltene  Übersetzung  bald  einem,  bald  einem  anderen  Übersetzer  zu- 
geschrieben ist.  YgL  H.  Bosmans,  Revite  des  Qtiesiions  scientifiques,  Octobre 
1904.       *)  Steinschneider  in  der  Biblioiheea  Maihematica  1896,  S.  84—88. 


798  37.  Kapitel. 

fasser  Dienste  geleistet  haben  wird.  Abraham  bar  Ghijja  ist  übrigens 
bekannter  unter  dem  Namen  Abraham  Savasorda^  und  darunter 
verbirgt  sich  der  Ehrentitel  Sa^hib  al  Scharta  d.  h.  Oberst  der  Leib- 
wache. Das  von  Plato  von  Tivoli  übersetzte  ursprünglich  in  hebräi- 
scher  Sprache  verfaßte  Werk  führte  die  Überschrift  Chibburta  Me- 
schika  we  ha  Tischboret  und  ist  übersetzt  als  Liber  embadorum  a 
Savasorda  in  hebraico  compositus  et  a  Plabme  Tiburtino  in  latinum 
sermonem  translaius  anno  Arabum  DX  mense  saphar,  wodurch  die 
Datierung  auf  Juni  1116  gesichert  erscheint.  Das  ^^Werk  der  Baum- 
ausmessungen", wie  man  den  Titel  etwa  verdeutschen  könnte,  besteht 
aus  vier  Kapiteln^). 

Das  1.  Kapitel  enthält  die  Erklärungen,  Forderungen  und  Gh-und- 
Sätze  Euklids,  soweit  sie  geometrischer  Natur  sind,  aber  auch  die  in 
Euklids  arithmetischen  Büchern  vorkommenden  Erklärungen  der  ver- 
schiedenen Zahlenarten  bis  zu  den  vollkommenen  Zahlen,  diese  mit 
eingeschlossen,  sind  aufgenommen.  Femer  enthält  das  1.  Kapitel 
einige  der  geometrischen  Lehrsätze  Euklids  über  Gleichflächigkeit  von 
Dreiecken  und  Parallelogrammen  und  die  Erklärung  der  Ähnlichkeit 
zweier  Dreiecke.  Das  2.  Kapitel  zerfällt  in  fünf  Teile,  deren  erster 
in  geometrischem  Gewände  und  mit  Anwendung  von  Sätzen  aus  dem 
zweiten  Buche  Euklids,  der  ausdrücklich  genannt  ist,  die  drei  ver- 
schiedenen Formen  der  unreinen  quadratischen  Gleichung  behandelt. 
Hier  ist  gezeigt,  daß  a^  +  b  >=  ax  zwei  Wurzelwerte  besitzt,  und 
Piatos  Übersetzung  von  1116  ist  demnach  das  älteste  lateinisch 
geschriebene  Buch,  von  welchem  wir  Kenntnis  haben,  aus 
welchem  das  Abendland  die  Lösung  der  quadratischen 
Gleichungen  mit  Einschluß  des  doppeldeutigen  Falles  zu 
erlernen  imstande  war.  Fragen  wir  aber  rückwärts  woher  Sava- 
sordas  Wissen  stammte,  so  verweist  uns  eine  Aufgabe'),  bei  deren 
Behandlung  die  Summe  von  vier  Strecken  als  Rechteck  gezeichnet 
wird,  auf  AI  Karchi,  welcher  (S.  770)  einer  ähnlichen  ganz  un- 
griechischen Yersinnlichung  sich  bediente.  AI  Karchi  lebte  aber 
etwa  ein  Jahrhundert  vor  Savasorda,  so  daß  inzwischen  trotz  des 
Gegensatzes  zwischen  Ost  und  West  seine  Lehren  irgendwie  bis  nach 
Spanien  gedrungen  sein  können;  werden  doch  die  spanischen  Biblio- 
theken nicht  alles  ausgeschlossen  haben,  was  im  Osten  entstand,  wo- 
für die  in  Spanien  entstandenen  Übersetzungen  ostarabischer  Werke 

')  Das  lAher  embcidorum  ist  durch  Curtze  mit  deutschei  Übersetzong  und 
unter  Vorausschickung  einer  Einleitung,  deren  wir  uns  zum  Teile  wörtlich  be- 
dienen, in  den  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  mathematisohen  Wissenschaften 
mit  Einschluß  ihrer  Anwendungen  XII,  S — 1S3  (Leipzig  1902)  herausgegeben. 
Wir  zitieren  Savasorda.       *)  Savasorda  pag.  40. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  799 

ein  deutliches  Zeugnis  ablegen.  Der  zweite  Teil  des  2.  Kapitels  be* 
handelt  die  Ausmessung   der  Dreiecke.     Wir  machen   hier   nur   auf 

|/3  =  Yg  aufmerksam,  welches  bei  der  Fläche  des  gleichseitigen  Drei- 
ecks benutzt  wird^),  und  auf  die  Formel  zur  Auffindung  der  Drei- 
ecksfläche aus  den  drei  Seiten,  für  welche  kein  Urheber  genannt  ist, 
und  von  deren  Beweis  gesagt  ist*),  er  sei  sehr  verwickelt  und  könne 
deshalb  nicht  leicht  auseinandergesetzt  werden.  Hier  kann  das  Buch 
der  drei  Brüder  (S.  734)  Savasordas  Quelle  gewesen  sein.  Der  dritte 
Teil  des  2.  Kapitels  ist  den  verschiedenen  Vierecken,  der  vierte  Teil 

dem  Kreise  gewidmet.     In  diesem  TeUe  ist  bald  mit  ^»3^,  bald 

17 
mit  n:  «  3  -—  gerechnet,  die  Gewährsmänner  Archimed  und  Ptolemaeus 

finden  keine  Erwähnung.  Die  Ellipsenfläche  wird  als  Kreis,  dessen 
Durchmesser  das  arithmetische  Mittel  der  beiden  Achsen  ist,  berechnet'). 
Außerdem  findet  sich  hier  eine  Sehnentafel  von  gerii^er  Ausdehnung^), 
die  älteste,  welche  in  einem  lateinisch  geschriebenen  Buche 
hat  nachgewiesen  werden  können.  Der  fünfte  Teil  des  2.  Ka- 
pitels mißt  Vielecke,  welche  zu  diesem  Zwecke  in  Dreiecke  zerlegt 
werden,  und  dann  noch  Felder,  welche  an  Bergabhängen  gelegen  sind, 
wobei  mittels  einer  Nivellierungs-Vorrichtung  die  senkrechte  Höhe 
des  Berges  gemessen  wird^).  Im  3.  Kapitel,  der  Darlegung  der  Felder- 
teilung, sehen  wir  die  geometrische  Abteilung  der  oft  erwähnten 
arabischen  Erbteilungsaufgaben  vor  uns,  welche  in  dem  euklidischen 
Buche  von  der  Teilung  der  Figuren  ihr  Vorbild  besitzt.  Das  4.  Ka- 
pitel endlich  ist  überschrieben  als  Ausmessung  der  Körper  nach  Länge, 
Breite  und  Höhe.  Unter  den  dort  befindlichen  Sätzen  heben  wir  den 
hervor*),  der  die  Diagonale  eines  rechtwinkligen  Parallelepipedon  von 
den  Abmessungen  a,  &,  c  als  ]/a*  +  6*  +  c^  finden  lehrt.  Den  Schluß 
bilden  einige  sehr  einfache  Aufgaben  praktischer  Feldmessung. 

Der  hier  gegebene  Überblick  über  das  Werk  der  Raumaus- 
messungen zeigt  uns  Savasorda  als  einen  nicht  gerade  gelehrten,  aber 
gewandten  Lehrer,  der  ohne  eigne  Zutaten  aus  den  ihm  in  arabischen 
Übersetzungen  bekannt  gewordenen  Schriften  des  Euklid,  des  Archimed^ 
des  Ptolemaeus,  aber  auch  aus  arabischen  Originalwerken  Wissens- 
wertes auszuziehen  verstand.  Um  so  auiTallender  erscheint  es,  daß 
an  einer  Stelle^  eine  Berufung  auf  die  Arithmetik  des  Boethius  sich 
vorfindet.  Man  hat,  wie  uns  scheint  mit  Recht,  die  Vermutung  aus- 
gesprochen,  diese  Stelle  habe  gar  nicht  im  hebräischen  Urtexte  ge- 

*)  Savasorda  pag.  62.  *)  Ebenda pag.  74.  *}  Ebenda pag.  108.  *)  Ebenda 
pag.  108.  ^  Ebenda  pag.  122.  ^)  Ebenda  pag.  162.  ^  Ebenda  pag.  16,  letzte 
Zeile  und  Curtzes  Anmerkang  1  auf  pag.  18. 


800  87.  Kapitel 

Btanden,  sondern  sei  die  einzige  Zutat  Piatos  von  Tivoli,  der  sein 
Licht  auch  einmal  leuchten  lassen  wollte.  Eine  sichere  Entscheidung 
wäre  allerdings  nur  dann  möglich;  wenn  es  gelänge  den  Urtext  Sava- 
sordas  aufzufinden.  Die  geschichtliche  Bedeutung  des  Werkes  der 
Raumausmessungen  kann  erst  in  unserem  IL  Bande  im  42.  Kapitel 
erkannt  werden,  wo  es  sich  zeigen  wird,  wie  sehr  Savasorda  einem 
viel  höher  stehenden  Nachfolger  als  Vorlage  gedient  hat. 

Oehört  Savasorda  und  seine  in  hebräischer  Sprache  verfaßte 
Raumausmessungslehre  nur  uneigentlich  in  dieses  der  Mathematik 
der  Westaraber  gewidmete  Kapitel,  so  verhält  es  sich  nur  wenig 
anders  mit  einigen  Schriften,  welche  durch  Johannes  von  Sevilla, 
welche  etwas  später  durch  Gerhard  von  Cremona  aus  dem  Arabi- 
schen in  das  Lateinische  übertri^en  wurden. 

Von  wem  die  Originalien  herrühren,  wissen  wir  nicht.  Wo  sie 
verfaßt  wurden,  ob  im  Westen  ob  im  Osten,  ist  uns  gleichfalls  un- 
bekannt. Ebensowenig  wissen  wir,  ob  wir  gut  daran  txm  gerade  in 
diesem  Zeitpunkte,  also  gegen  die  Mitte  des  XIL  S.,  von  ihnen  zu 
reden.  Unsere  Berechtigung  entnehmen  wir  einzig  dem  Umstände, 
daß  sie  damals  in  Toledo  vorhanden  gewesen  sein  müssen  und  jeden- 
falls zu  den  geschätzten  Schriften  gehörten,  weil  sonst  doch  wohl 
Glicht  sie  übersetzt  worden  wären,  wenn  eine  Auswahl  auch  berühm- 
terer Werke  zu  Gebote  gestanden  hätte.  Die  übersetzten  Schriften 
«ind  ein  Lehrbuch  der  Rechenkunst  und  eine  Algebra. 

Jenes  wird  in  scheinbarem  Widerspruche  zu  unseren  eben  ge- 
äußerten Bemerkungen  von  dem  Übersetzer  Johannes  von  Sevilla 
dem  Alchwarizmi  zugewiesen.  Incipit  prohgus  in  libro  alghoarismi 
de  practica  arismeirice  a  magistro  JoJuinne  yspalensi  lautet  der  Anfangt). 
Ist  aber,  woran  wir  zu  zweifeln  keinen  Grund  haben,  die  Schrift, 
welche  wir  früher  als  Rechenbuch  des  Muhammed  ihn  Müsa  Alch- 
warizmi geschildert  haben,  echt,  so  kann  es  diese  nicht  sein.  Der 
gleiche  Schluß  gilt  freilich  auch  in  umgekehrter  Reihenfolge,  allein 
wir  glauben  jene  schon  besprochene  als  die  ältere,  die  von  Johannes 
von  Sevilla  bearbeitete  als  die  jüngere  betrachten  zu  müssen,  weil 
jene  einfacher  und  kürzer,  diese  mehr  als  dreimal  umfangreicher, 
weitschweifiger,  ausführlicher  ist,  und  somit  eher  den  Charakter  einer 
späteren  Bearbeitung  einer  älteren  Vorlage  aufweist,  während  jene 
nicht  wohl  als  Auszug  aus  dem  größeren  Buche  gedacht  werden  kann, 
weil  sie  einzelne  die  unmittelbare  Abhängigkeit  ausschließende  Ab- 
weichungen von   demselben  wahrnehmen  läßt.     So  heißt  es  z.  B.  in 

^)  Trattati  d'aritmetica  pubblicati  da  Bald.  Boncompagni  U  (und  letztes 
Heft)  pag.  26  (der  durch  beide  Hefte  durchlaufenden  Pftgination). 


Die  Mathematik  dei:  Westaraber.  801 

der  kürzeren  Fassung  die  Zahlzeichen  für  5,  6,  1,  8  würden  ver- 
schiedentlich gebildet;  in  der  längeren  wird  dasselbe  yon  7  und  4 
behauptet.  In  der  kürzeren  Fassung  ist  die  Algebra  des  Verfassers 
erwähnt;  und  dieses  Zitat,  auf  welches  wir  uns  (S.  715)  stützen 
durften,  um  die  Persönlichkeit  des  Verfassers  festzustellen,  fehlt  in 
der  längeren  Fassung  usw.  Das  Bechenbuch  des  Johannes  Ton  Se- 
villa, wie  wir  es  von  jetzt  an  mit'  dem  Namen  des  Übersetzers  be- 
nennen wollen,  da  der  eigentliche  Verfasser  nicht  zu  ermitteln  zu 
sein  scheint,  enthält  nun  sehr  mannigfache  interessante  Dinge,  teils 
solche,  welche  schon  gegenwärtig  für  uns  von  Interesse  sind,  teils 
solche,  welche  ihre  Bedeutung  für  uns  erst  gewinnen,  wenn  es  sich 
um  die  Entwicklung  der  Wissenschaft  im  christlichen  Abendlande 
handelt.  Wir  werden  alsdann,  im  40.  Kapitel,  auf  die  Schrift  des 
Johann  von  Sevilla  zurückverweisen,  schildern  sie  aber  gegenwärtig 
schon,  um  nicht  eine  Zersplitterung  eintreten  zu  lassen. 

Der  Verfasser  lehnt  sich  durchweg  so  viel  als  möglich  an  die 
Inder  an,  welchen  er  z.  B.  die  Erfindung  der  Sexagesimalbrüche  zu- 
schreibt^). Von  ihnen  hat  er  wohl  auch  die  näherungs weise  Aus- 
ziehung der  Quadratwurzel  mit  Hilfe  von  Dezimalbrüchen'),  natürlich 
nicht  in  einer  Schreibart,  wie  sie  den  modernen  Dezimalbrüchen  zur 
erhöhten  Bequemlichkeit  ihres  Gebrauches  anhaftet,  aber  dem  Ge- 
danken nach  damit  übereinstimmend.  Es  werden  der  Zahl,  aus 
welcher  die  Wurzel  gezogen  werden  soll,  2n  Nullen  angehängt^  und 
die  sodann  gefundene  Wurzel  gilt  als  Zähler  eines  Bruches,  dessen 
Nenner  aus  einer  mit  n  Nullen  versehenen  Einheit  besteht.  Die 
Auflösung  quadratischer  Gleichungen')  wird  an  drei  Beispielen  ge- 
lehrt, den  drei  bekannten  Fällen  entsprechend.  Das  erste  Beispiel 
ist  wieder  das  althergebrachte  x^  +  10a?  «=  39.  Für  den  zweiten  Fall 
ist  dagegen  ^'  -f-  9  »  6a;  als  Beispiel  aufgestellt,  eine  merkwürdige 
Wahl  insofern  als  bei  dieser  Gleichung  wegen 

9==0 


(t)' 


nur  eine  einzige  Wurzel  a:  =«  3  auftritt,  so  daß  man  wohl  fragen 
möchte,  ob  die  Wahl  eine  absichtliche,  ob  eine  durch  eigentümlichen 
Zufall  dieses  Ergebnis  liefernde  war?  Am  Schlüsse  der  Schrift*)  ist 
das  magische  Quadrat 

4-9-2 

I  \    /    I 
3-5-7 

I  /    \    I 
8^1-6 

^)  Trattati    d'aritmetica  pubhlicati    da    Bald.    Boncompagni  U,    pag.  49. 
*)  Ebenda  pag.  87—90.       »)  Ebenda  pag-  ^^^-       *)  Ebenda  pag.  136. 

C^HTOB,  Gesohiohto  der  MMhemfttilr  X.  ^   ^uft.  ^^ 


802  87-.  Kapitel. 

mit  die  einzelnen  Zahlen  in  Beziehung  zueinander  setzenden  Strichen 
hergestellt,  aber  ohne  jeden  erklärenden  Text.  Negativ  heben  wir 
hervor,  daß  komplementäre  Rechnnngsverfahren,  wie  wir  sie  schon 
mehrfach  vergeblich  gesucht  haben,  nicht  vorkommen.  Einige  latei- 
nische Ausdrücke  scheinen  zwar  an  jene  Bechnungsverfahren  zu  er- 
innern, aber  es  ist  nur  Schein. 

Da  kommt  das  Wort  differenüa  mehrfach  vor,  auch  bei  der 
Division,  aber  es  bedeutet  nur  die  Stelle,  bis  zu  welcher  man  vor- 
beziehungsweise  zurückrückt.  Das  gleiche  Wort  im  gleichen  Sinne 
hat  auch  der  Übersetzer  der  kleinen  Abhandlung,  welche  wir  als 
die  des  Alchwarizmi  selbst  anerkennen,  angewandt.  Da  braucht 
Johannes  von  Sevilla  die  Wörter  digüus  und  articulus,  Finger-  und 
Gelenkzahl,  genau  in  dem  gleichen  Sinne,  in  welchem  diese  Wörter 
in  der  gefälschten  Geometrie  des  Boethius  zur  Anwendung  kamen 
(S.  583).  Wir  könnten  als  Ergänzung  darauf  hinweisen,  daß  auch 
in  einer  mittelalterlichen  Übersetzung  der  Algebra  Alchwarizmis  das 
Wort  articultis  für  Gelenkzahl  im  antiken  Sinne,  aber  ohne  das  Wort 
digitus  vorkommt^).  Aber  es  wären  Trugschlüsse,  aus  diesen  Über- 
setzungen, von  deren  Entstehungsweise  wir  gesprochen  haben,  den 
Wortlaut  des  Urtextes  wiederherstellen  zu  wollen  und  dabei  an  jeden 
einzelnen  Ausdruck  sich  festzuklammern.  Jene  Übersetzer  des  XTT.  S.^ 
die  anderen  so  gut  wie  Johannes  von  Sevilla,  benutzten  eben  die 
Wörter,  welche  in  ihrer  Zeit  die  weiteste  Verbreitung  hatten,  sofern 
sie  mit  dem  Sinne  des  Arabischen,  hier  z.  B.  mit  Einem  und  Zehnern^ 
sich  deckten.  Sie  wollten  ja  nicht  historische  Untersuchungen  an- 
stellen und  darum  den  Wortlaut  des  Gegebenen  so  genau  als  möglich 
festhalten.  Sie  beabsichtigten  vielmehr  den  verbreitungswerten  Inhalt 
zur  Kenntnis  ihrer  des  Arabischen  nicht  mächtigen  Landsleute  zu 
bringen  und  mußten  darum  danach  streben,  bereits  bekannter  leicht 
verstandener  Ausdrücke  sich  zu  bedienen.  Nur  wo  etwas  dem  Be- 
griffe nach  ganz  Neues  vorkam,  wurde  mit  mehr  oder  weniger  Geschick 
dem  Wortlaute  nach  übersetzt.  So  nennt  Johannes  von  Sevilla  bei 
den  quadratischen  Gleichungen  das  Quadrat  der  Unbekannten  res,  die 
Unbekannte  selbst  radix^),  ersteres  eine  schlechte  Übersetzung  von 
maly  letzteres  eine  gute  von  dschidr. 

Wir  könnten  schließlich  noch  rätselhafter  Buchstabenfolgen  ge- 
denken, welche  nur  dadurch  zu  lesbaren  Wörtern  werden,  daß  man 
annimmt,   es  sei  jeder  Vokal  durch  den  ihm  nachfolgenden   Eonso- 


*)  Libri,  Histoire  des  sciences  maih^matiques  en  Itdlie  I,  266.  Die  Stelle 
eutepricht  in  Rosens  englischer  Übersetzung  pag.  21.  ')  Trattati  d'arümeHca  U.^ 
pag.  112. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  803 

nanten  ersetzt  worden,  und  man  müsse  die  entsprechende  Bück- 
verwandlong  z.  B.  von  xnxm  in  unum,  von  dxp  in  dtio  vor- 
nehmen ^). 

Gerhard  von  Cremona  hat  sicherlich  die  Algebra  des  Alch- 
warizmi  übersetzt,  allein  es  ist  fast  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  die 
Bearbeitnng,  welche  als  jene  Übersetzung  gedruckt  worden  ist^,  nicht 
von  Gerhard  herrührt  und  nicht  die  Algebra  des  Alchwarizmi  ist*), 
daß  man  dagegen  als  die  genannte  Übersetzung  jene  anzuerkennen 
hat,  welche  als  anonyme  Übersetzung^)  zur  Veröffentlichung  gelangte 
(vgl.  S.  719  Anmerkung  1),  und  welche  auch  in  einer  Madrider  Hand- 
schrift als  von  Gerhard  von  Cremona  herrührend  bezeichnet  ist. 

Die  andere  nach  dieser  Auffassung  nicht  von  Gerhard  von  Cre- 
mona sondern  von  irgend  einem  uns  Unbekannten  übersetzte  Ab- 
handlung kündigt  sich  selbst  an  als  das  Buch,  welches  nach  dem 
Gebrauche  der  Araber  algtbra  und  aimucabala  und  „bei  uns''  (apud 
nos)  Buch  der  Wiederherstellung  (liber  resianracionis)  genannt  wird, 
zu  Toledo  aus  dem  Arabischen  in  das  Lateinische  übersetzt  durch 
Magister  Gerhard  von  Cremona.  Das  Original  muß  als  eine  andere 
Bearbeitung  des  von  Alchwarizmi  in  seiner  ähnlich  betitelten  Schrift 
behandelten  Stoffes  angesehen  werden.     Die  Beispiele 

a?«  +  10a;  -  39,  x^  +  21  ^  lOrc, 
letzteres  mit  seinen  beiden  Wurzelwerten  a:  =  7  und  a; «  3  treten 
auf.  Geometrische  Beweise  der  drei  Fälle  der  quadratischen  Glei- 
chungen fehlen  nicht.  Sonstige  bedeutsame  Verschiedenheiten  nötigen 
aber  an  einen  anderen  Verfasser  des  arabischen  Textes  als  an  Alch- 
warizmi zu  denken.  Sehr  wichtig  erscheint  z.  B.  der  umstand,  daß 
die  Auflösungen  der  drei  Formen  quadratischer  Gleichungen  in  Ge- 
stalt von  Gedächtnisversen  gelehrt  sind^).  Das  ist  durchaus  indische 
Sitte,  während  sie  den  Arabern,  so  viele  uns  deren  bisher  zur  Rede 
kamen,  fremd  ist.  Und  doch  können  gerade  diese  Verse  nicht  aus 
indischen  Mustern  übersetzt  sein,  denn  die  Inder  —  wir  wiederholen 
hier  früher  Gesagtes  —  wußten  gar  nichts  von  drei  Formen  quadrati- 
scher Gleichungen,  weil  sie  vermöge  ihrer  Fähigkeit  mit  negativen 
Zahlen  zu  rechnen  nur  eine  quadratische  Gleichung 

ax^  +  bx  ^  c 
mit    bald    positiven,    bald    n^ativen    Koeffizienten    in    Behandlung 


*)  Trattati  d'aritmetica  U,  pag.  126.  *)  B.  Boncompagni,  DeUa  vita  e 
deUe  opere  di  Gherardo  Cremoneae  pag- ^^ — ^1-  ')  Axel  Anthon  BjOrnbo 
in  der  Bibliotheca  Maihematica  3.  J^Q^ge,  "VI,  239—241.  *)  Libri,  Histoire  des 
sciences  matMma^iques  en  ItaHe  J^  ^-ü— 297.  *)  B.  Boncompagni,  DeUa  vita 
e  delle  opere  di  Gherardo  Cremo^u,        aJl  Ä^»  ^^^  ^^• 


804  37.  Kapitel. 

nahmeD.  Dieser  Widerspruch  scheint  za  der  Annahme  zu  nötigen, 
der  Verfasser  des  hier  übersetzten  Buches  sei  ein  Gelehrter  gewesen, 
welcher  selbständig  vorgehend  die  indische  Sitte  auf  arabische,  um 
nicht  geradezu  zu  sagen  auf  griechisch -arabische  Oegenstände  an- 
wandte. Er  muß  mit  indischen  Werken  bekannt  gewesen  sein,  muß 
ihnen  das  entnommen  haben,  was  er  fQr  besonders  brauchbar  hielt, 
während  er  gleichzeitig  Ton  den  unter  den  Arabern  längst  einge- 
bürgerten drei  Fällen  nicht  ließ,  sei  es,  daß  er  sie  wirklich  für  not- 
wendig hielt,  sei  es,  daß  er  als  echter  Araber  anhängend  an  dem 
durch  Alter  der  Überlieferung  Geheiligten  doch  nicht  allzu  große 
Neuerungen  wagte.  Waren  es  doch  neben  den  Gedächtnisversen  noch 
andere  ungemein  überraschende  Dinge,  welche  er  seinen  Landsleuten 
bot:  eine  algebraische  Schrift  durch  Abkürzungen  und  übereinkomm- 
liche  Zeichen,  wie  die  Inder  sie  benutzten. 

Fast  ganz  indisch  ist  die  Bezeichnung  abzuziehender  Größen 
durch  einen  unter  die  Benennung  angebrachten  Punkt  ^),  indisch  da- 
rum wahrscheinlich  auch  die  Darstellung  der  Benennung  selbst  durch 
den  Anfangsbuchstaben  des  Benannten,  sei  es,  daß  es  um  die  Un- 
bekannte, oder  um  ihr  Quadrat,  oder  um  die  absolute  Zahl  der  Auf- 
gabe sich  handelte^).  Welcher  Buchstaben  das  Original  sich  bediente, 
ist  nicht  mit  voller  Sicherheit  zu  behaupten,  indem  der  Übersetzer 
einen  Beweis  scharfsinnigen  Verständnisses  ablegend,  oder  aber  irgend- 
wie und  irgendwo  über  den  abkürzenden  Ursprung  der  im  Urtexte 
gebrauchten  Buchstaben  richtig  belehrt,  die  Anfangsbuchstaben  der 
lateinischen  Wörter  gewählt  hat,  deren  er  selbst  sich  bedient,  der 
Wörter:  radix  für  die  Unbekannte,  census  für  das  Quadrat  der- 
selben, dragma  für  die  absolute  Zahl,  doch  ist  die  Wahrscheinlich- 
keit eine  bedeutende,  es  seien  diese  Wörter  die  Übersetzungen  von 
dschidr,  mal,  dirham,  deren  Abkürzungen  uns  noch  im  Laufe 
dieses  Kapitels  in  westarabischen  Werken  begegnen  werden«  In  dem 
Gebrauche  von  census  für  mal  hat  der  Übersetzer  richtiger  über- 
setzt als  Johannes  von  Sevilla,  welcher  res  dafür  sagte,  während 
eine  Übereinstimmung  beider  in  den  Wörtern  digitus  und  articulus 
herrscht*). 

Wer  der  arabische  Gelehrte  war,  welcher  Gedächtm'sverse,  welcher 
Abkürzungen  und  fast  algebraische  Zeichen  zuerst  anwandte,  ist  uns, 
wir  wiederholen  es,  nicht  bekannt,  denn  die  Vermutung,  er  habe 
Sa'id  geheißen*),  steht  auf  nicht  so  festen  Füßen,  daß  wir  ihr  Ver- 
trauen  schenken   möchten.     Dagegen   kennen   wir   die  Namen   west- 


^)  B.  Boncompagni,   BeUa  vita  e   deUe  opere   di   Gherardo   Cremonese 
pag.  38—89.      *)  Ebenda  pag.  86  sqq.      ")  Ebenda  pag.  88.      *)  Ebenda  pag.  56. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  ^  805 

arabischer  Schriftsteller,  welche  vor  dem  Ende  des  XIII.  S.  —  ob 
vor  oder  nach  dem  Aufenthalte  Gerhards  von  Cremona  in  Toledo 
wissen  wir  nicht  —  lebten  und  welche  ähnlich  verfuhren.  Der  Be- 
richterstatter über  die  Namen  ist  Ibn  Chaldün,  jener  Schriftsteller 
des  XIV.  S.,  von  dem  wir  eine  Stelle  über  befreundete  Zahlen  schon 
(S.  735)  benutzt  haben.  Er  erwähnt*)  ein  algebraisches  Werk, 
welches  unter  dem  Titel:  Der  kleine  Sattel  im  Magrib,  also  im 
ajErikanischen  Nordwesten  geschrieben  worden  sei,  und  aus  welchem 
Ibn  Albannä  einen  Auszug  verfertigte  habe.  Yon  diesem  Auszuge 
von  der  Hand  des  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIH.  S.  wirkenden  Ge- 
lehrten haben  wir  nachher  zu  reden.  YorJ&ufig  bleiben  wir  bei  dem 
Berichte  Ibn  Chaldüns,  welcher  fortfahrend  erzählt,  Ibn  Albannä  habe 
auch  einen  Kommentar:  Die  Aufhebung  des  Schleiers  zu  dem 
kleinen  Sattel  geschrieben.  Dieses  Werk  sei  ungemein  wertvoll, 
aber  schwierig  für  Anfänger.  Ibn  Albannä  habe  sich  dabei  an  zwei 
Vorgänger  angelehnt:  an  „die  Wissenschaft  des  Rechnens"  von  Ibn 
Almun^im  und  an  „den  Vollkommenen^'  von  Alahdab.  Er  habe 
die  Beweisführungen  dieser  beiden  Werke  zusammengefaßt  und  noch 
anderes,  nämlich  die  technische  Anwendung  von  Symbolen  bei  diesen 
Beweisen,  welche  zu  gleicher  Zeit  einen  doppelten  Zweck  erfüllen, 
die  abstrakte  Schlußfolge  und  die  sichtbare  Darstellung,  worin  eben 
das  Geheimnis  und  die  Wahrheit  der  Erklärung  von  Lehrsätzen  der 
Rechenkunst  durch  Zeichen  bestehe.  Es  kann  nicht  wohl  ein  Zweifel 
obwalten,  daß  diese  an  sich  etwas  dunklen  Worte  richtig  auf  Dinge 
bezogen  worden  sind,  wie  sie  etwa  in  der  Vorlage  des  Gerhard  von 
Cremona  vorkamen,  und  daß  diese  in  mindestens  mittelbarer  Ab- 
hängigkeit von  Ibn  Almim^im  oder  Alahdab  stehen  müßte,  wenn  der 
Beweis  erbracht  werden  köimte,  daß  diese  Schriftsteller  bis  auf 
das  XU.  S.  also  bis  reichlich  hundert  Jahre  vor  Ibn  Albannä  zu- 
rückgreifen. 

Ibn  Albannä,  d.  h.  der  Sohn  des  Baumeisters^),  ist  1252  oder 
1257  in  Marokko  geboren.  Der  Vater  stammte,  wie  es  scheint,  aus 
Granada.  Der  vollständige  Name  unseres  Gelehrten  war  Abül  Abbäs 
Ahmed  ibn  Muhammed  ibn  ^Otmän  Al-Azdi  Al-Marräkuschi  ibn 
Albannä  Algamäti.  Er  hat  eine  große  Zahl  von  mathematischen  und 
anderen  Schriften  verfaßt,  welche  in  seiner  Lebensbeschreibung  auf- 
gezeichnet sind.    Auffallenderweise  fehlt  in  diesem  von  einem  Lands- 


*)  Journal  Asiatique  för  Oktober  und  November  1854,  pag.  371—372. 
*)  Aristide  Marre,  Biographie  d'lhn  Albannä  in  den  Atti  delVÄccademia  pon- 
tificia  de'  Nwmi  Lincei  unter  ^^^^  Datum  des  3.  Dezember  1865  (Bd.  XIX). 
Steinschneider,  Bectification  ^  tiel^ues erreurs  etc.  Bullettino  Boncompagni X, 
813—314  (1877).     Suter  162-^x^   'jjj.  399. 


806 


87.  Kapitel. 


manne  Ibn  Albannäs  herrührenden  Verzeichnisse  die  darch  Ihn  Ghaldün 
80  hoch  gestellte  Aufhebung  des  Schleiers^  fehlt  in  ihm  auch  der 
Auszug  aus  dem  kleinen  Sattel.  Gerade  dieser  letztere  Auszug,  talchis 
nennt  ihn  Ibn  Chaldün,  dürfte  uns  aber  erhalten  sein.  Ein  arith- 
metisch-algebraisches Werk  unter  dem  Titel  ^^Talchis  des  Ibn  Albanna^ 
ist  nämlich  in  der  Bodlejanischen  Bibliothek  aufgefunden  und  in 
jEranzösischer  Übersetzung  des  arabischen  Textes  dem  Drucke  über- 
geben worden^).  Da  Name  und  Inhalt  mit  der  Ton  Ibn  Ghaldün  er- 
wähnten Schrift  in  vollem  Einklänge  stehen,  so  ist  an  der  tatsäch- 
lichen Übereinstimmung  kaum  zu  zweifeln,  eine  Zweifellosigkeit,  welche 
sich  nur  noch  steigert,  wenn  dem  Leser  von  Zeile  zu  Zeile  zwingen- 
der die  Notwendigkeit  erläuternder  Zusätze  sich  aufdrängt,  so  daß 
er  begreift,  daß  Ibn  Albannä  selbst  die  Aufhebung  des  Schleiers 
unternahm. 

Spätere  Gelehrte  folgten  seinem  Beispiele,  erläuterten  aber  nicht 
das  ursprüngliche  Hauptwerk  des  kleinen  Sattels,  sondern  den  Aus- 
zug, den  Talchis,  wie  wir  von  nun  an  mit  dem  jetzt  gebräuchlich 
gewordenen  Fremdnamen  sagen  wollen.  Es  gibt  mehrere  Kommen- 
tare zum  Talchis,  es  gibt  auch  Werke,  welche  ohne  sich  als  Kom- 
mentare zu  geben  als  solche  benutzt  werden  können,  weil  sie  dessen 
Auseinandersetzungen  weiter  ausführen,  und  von  diesen  ist  eines, 
dem  XY.  S.  angehörend,  durch  eine  gedruckte  Übersetzung  zugäng- 
lich. Wir  werden  über  manches  Dunkle  im  Talchis  besser  ans  jenem 
späten  Werke  uns  unterrichten,  vorher  aber  wenigstens  einige  Stellen 
des  Talchis  selbst  reden  lassen. 

Ibn  Albannä  unterscheidet  Rangordnungen  der  Zahlen  unter  dem 
Namen  mukarrar  und  takarrur').  Der  Sinn  ist  der,  daß  Gruppen, 
von  je  3  Ziffern  von  rechts  nach  links  abgeteilt  werden,  die  Gruppe 
der  Einlieiten,  der  Tausender,  der  Tausendtausender  usw.  Bildet  man 
lauter  einzelne  Kolumnen  für  jede  Ziffemordnung  und  begrenzt  die- 
selben oben  durch  einen  kleinen  Bogen 


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Ein 

^ 

*)  Le  Idüchya  d'lbn  Älbannd  publik  et  traduit  par  Äristide  Marre. 
1866.       •)  Talkhys  pag.  8  und  9. 


Rome 


Die  Mathematik  dei  Weataraber.  807 

(ein  kleines  Gewölbe  oder  Dach),  so  sind  größere  Dächer  über  drei 
Kolamnen  za  spannen  und  damit  jene  Gruppeneinteilung  yersinnlicht. 
Jede  vollständige  Gruppe  Ton  drei  Kolumnen  bildet  einen  takarrur; 
mukarrar  dagegen  ist  die  Gesamtzahl  der  Kolumnen ,  in  welche  eine 
gegebene  Zahl  sich  einträgt.  Der  mukarrar  ist  der  dreifache  takarrur 
«iner  Zahl  nebst  der  Zahl  der  links  überschießenden  Kolumnen,  welche 
nur  2,  1  oder  0  betragen  kann.  So  ist  der  mukarrar  von  5000000, 
welches  2  takarrur  und  noch  1  Kolumne  braucht  =3x2  +  1  =  7. 
Der  mukarrar  von  30000  ist  =3x1  +  2  =  5,  der  mukarrar  von 
400000000  ist  3  X  3  +  0  =  9. 

Wir  sehen  hier  aufs  deutlichste  Kolumnenrechnen  und  Ziffer- 
rechnen   vereint,    aber    wir   sehen   es   erst   hier   gegen  Ende   des 
XTTL  S.,  und  es  ist  uns  persönlich  kaum  fraglich,  daß  wir  statt  von 
«iner  Vereinigung  der  beiden  Verfahren  von  einem  Übergreifen  des 
Kolumnenrechnens  in   das   Zifferrechnen   zu   reden   haben,   daß   hier 
abendländischer  Einfluß  erhärtet  ist,  der  gerade  an  der  afrikanischen 
Küste  unabweisbar  war.     Hatten   doch   z.  B.  in   Bugia   die   großen 
italienischen  Kaufleute  schon  vor  dem  Jahre  1200  eigene  Handels- 
komptoire,  eigene  Zollbeamte,  und  war  doch  damit  die  Anwesenheit 
von  im  Rechnungswesen  geübten  Persönlichkeiten  mit  Notwendigkeit 
verbunden.    Was  aber  dasselbe  Bugia  den  Arabern  war,  schildert  ein 
«panischer  Araber  aus  Valencia,  welcher  1289  jene  Gegend  bereiste, 
mit  beredten  Worten^):  „Bugia  ist  ein  großer  Seehafen  und  eine  be- 
festigte Stadt,  deren  Name  in  der  Geschichte  berühmt  ist.     Sie  ist 
auf  steilen  Höhen  und  in  einer  Schlucht  angelegt,  die  Mauern  ziehen 
«ich  bis  ans  Meer..   Die  Festigkeit  der  Häuser  kommt  der  Zierlich- 
keit ihrer  Formen  gleich.     Vorwerke  schützen  sie,  so  daß  der  Feind 
vergebens  einen  Angriff  versuchen  würde.    Die  Wut  der  kriegerischen 
Horden   würde   an    diesen  Mauern  zerschellen.     In  Bugia  steht  eine 
Moschee,   deren  Pracht   alle   bekannten  Gotteshäuser  übertrifft,   und 
deren  Minaret  sowohl  von  dem  Meere  als  von  dem  Land  aus  gesehen 
wird.      Gleichsam   Mittelpunkt    der   Stadt   erfreut   dieses   entzückend 
schöne  Bauwerk  ebensosehr  den  Blick,  wie  es  die  Seele  mit  einem 
Gefühle  unsäglicher  Glückseligkeit  erfüllt.    Die  Einwohner  versäumen 
nie   ihren   fünf  durch  das  Gesetz  vorgeschriebenen  Gebeten  dort  zu 
genügen,  und  sie  unterhalten  die  Moschee  mit  größter  Sorgfalt,  weil 
sie  ihnen  gewissermaßen  als  Versammlungsort  dient,  und  selbst  gleich 
einem  belebten  Wesen  den  Menschen  Gesellschaft  leistet.     Bugia  ist 


^)  Einen  Auszug  ans  dem  Beiaebericbt  des  AI' A.bderl  hat  Cherbonnean 
in  dem  Journal  Asiatique  for  1854,  Q.  Halbjabr,  pag.  144 — 176  herausgegeben. 
Die  Beschreibung  von  Bugia  S.  15^, 


808  37.  Kapitel. 

eine  der  ältesten  Hauptstädte  des  Islams  und  ist  bevölkert  mit  be- 
rühmten Gelehrten." 

Wir  kehren  zum  Talchis  zurück.  Bei  Gelegenheit  der  Addition 
werden  die  Summenformeln  für  die  Reihen  der  Quadrat-  und  der 
Eubikzahlen  angegeben^).  Bei  Gelegenheit  der  Subtraktion  kommt 
der  Rest  zur  Rede,  welcher  entsteht ^  wenn  Ton  irgend  einer  Zahl  9^ 
8  oder  7  so  oft  als  möglich  abgezogen  wird*).  Die  Auffindung  dieser 
Reste,  welche  alsdann  als  Proben  bei  Rechnungen  angewandt  werden, 
wie  wir  es  von  der  Neunerprobe  schon  wissen,  beruht  bei  der  9  auf 
dem  Satze  10"  =  1  (mod.  9),  bei  der  8  auf  den  drei  Sätzen  10^  =  2, 
10^  =  4,  10^  =  0  (mod.  8).  Somit  ist  der  Rest  einer  Zahl  nach  9 
ihrer  Ziffemsumme  gleich,  der  Riest  nach  8  der  Einerzififer  nebst  dem 
Doppelten  der  ZehnerzifiFer  noch  vermehrt  durch  das  Vierfache  der 
HunderterziflFer.  Umständlicher  ist  das  Verfahren  den  Rest  nach  7 
zu  finden.  Ibn  Albannä  begründet  es  mit  den  Sätzeu,  welche  nach 
modemer  Schreibweise 

10^  =  3,    10»  =  2,    10»  =  6,    10*  =  4,    10*  =  5,    10«  =  1  (mod.  7) 

heißen  und  setzt  hinzu  „von  da  an  beginnt  die  Reihenfolge  aufs 
neue^.  Man  hat  also  von  der  Rechten  zur  Linken  fortschreitend 
unter  die  einzelnen  Ziffern  der  zu  prüfenden  Zahl  der  Reihe  nach 
1,  3,  2y  6,  4,  5  sich  stets  wiederholend  niederzuschreiben,  die  be- 
treffenden Ziffern  mit  diesen  Werten  zu  multiplizieren  und  die  Summe 
dieser  Produkte  zu  bilden,  welche  dann  selbst  wieder  nach  7  zu  prüfen 
ist.  Die  Zahlen  1,  3,  2,  6,  4,  5  besser  zu  behalten  ersetzt  man  sie 
durch  die  gleichwertigen  Buchstaben  des  älteren  arabischen  Alphabetes, 
welche  durch  Einschiebung  von  Vokalen  zu  zwei  nicht  ganz  richtig 
geschriebenen  Wörtern  sich  verbinden  lassen,  deren  Bedeutung  etwa 
die  eines  ein  Aufzubewahrendes  bergenden  Grabens  ist. 

Bei  der  Quadratwurzelausziehung  unterscheidet  Ibn  Albannä  zwei 
Fälle®),  ob  nämlich,  nachdem  ]/a*  +  r  c/o  a  gefunden  ist,  der  Rest 
sich  als  kleiner  beziehungsweise  als  gleich,  oder  aber  als  größer  als 
der    schon    gefundene    Wurzelteil    erweist.     Ist  r  ^a    so   soll   man 

Ya^  ^  f  ^  a  +  z-  f  dagegen  bei  r>  a  lieber 

setzen.  Wir  erinnern  daran,  daß  Alkarchi  (S.  766)  der  letzteren  Formel 
sich  bedient  hat,  ohne  auf  das  Größen  Verhältnis  zwischen  a  und  r 
Rücksicht  zu  nehmen.  Die  Methode  des  doppelten  falschen  Ansatzes 
lehrt  Ibn  Albannä  als  das  Verfahren  mit  Hilfe  der  Wagschalen 


»)  Talkhys  pag.  5—6.      *)  Ebenda  pag.  9.      »)  Ebenda  pag.  68. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  809 

und  sagt,  es  beruhe  auf  Geometrie^).    Er  zeichnet  eine  Figur  (Fig.  111), 

welche  bei  einem  Kommentator  die  etwas  abweichende  Gestalt  Fig.  112 

besitzt,  und  welche  die  eigentümliche  Schreibweise  gestattet,  auf  welche 

wir  (S.  732)  .zum   voraus   hingewiesen  haben.     Seine  Vorschrift  ist, 

wenn  wir  uns  unserer  früheren  Buchstaben  bedienen,  folgende.    Die 

Zahl  &,  welche  der  Gleichung  ax^h 

zufolge  herauskommen  muß,  schreibt 

man  in  die  obere  Einbiegung.    Die 

Zahlen    n^     und    n^,     welche     die  ^"  ^^^' 

beiden  Ansätze  für  die  Unbekannte  i 

sind,    schreibt    man    zwischen    die      I ^ 

Parallelen  rechts  und  links,  oder,  T^e 
Ihn    Albannä    sagt,    man    legt   sie 


X 


auf    die    beiden    Wagschalen.      Die         ,  ^ 

Fehler  e^  und  e^  werden  auf  derselben  ^^  ^^2 

Seite,  wo  schon  n^,  beziehungsweise 

n^  steht,  über  oder  unter  die  beiden  die  Wagschale  darstellenden 
Parallelen  geschrieben,  je  nachdem  sie  positiv  oder  negativ  sind. 
Dann  wird  der  Fehler  rechts  mit  der  Annahme  links,  die  Annahme 
rechts  mit  dem  Fehler  links  vervielfacht  und  beide  Produkte  addiert, 
wenn  die  Fehler  von  entgegengesetzter  Natur  waren,  das  kleinere 
vom  größeren  subtrahiert,  wenn  die  Fehler  gleichartig  waren.  Wie 
man  mit  den  Produkten  verfuhr,  verfährt  man  femer  mit  den  Fehlem, 
man  addiert  ungleichartige,  man  bildet  die  Differenz  von  gleichartigen. 
Man  dividiert  endlich  die  aus  Fehlern  und  Annahmen  gebildete  Zahl 
durch  die  aus  den  Fehlem  allein  erhaltene,  so  ist  der  Quotient  die 
Unbekannte.  Der  Ausspruch,  daß  die  Methode  des  doppelten  falschen 
Ansatzes  auf  Geometrie  beruhe,  ist  einigermaßen  auffallend.  Man 
hat  versucht,  denselben  zu  erklären  und  hat  zwei  sehr  voneinander 
abweichende  Auswege  ermittelt.  Entweder  erklärt  man  die  Sache  mit 
der  Klangverwandtschaft  des  Wortes  handasay  welches  Geometrie  heißt, 
und  hindi  indisch  ^j;  beide  hießen  ursprünglich  „indische  EunsV',  wie 
denn  auch  in  der  Tat  die  Methode  des  doppelten  falschen  Ansatzes 
indischen  Ursprunges  sei.  Oder  aber  man  scheut  den  gewichtigen 
Einwurf,  daß  sodann  übrig  bleibe  die  unleugbar  vorhandene  Bedeutung 
von  Geometrie  für  handasa  zu  rechtfertigen,  und  zwar  aus  derselben 
Elangverwandtschaft  zu  rechtfertigen,  während  die  arabische  Geometrie 
nichts  weniger  als  indischen  Ursprunges  ist,  und  man  gerät  alsdann 
auf  den  Versuch,   die  Methode  graphisch,    also  geometrisch  zu  ver- 


*)  Talkhys  pag.  26—27.         i)  Woepcke  in  dem  Jowrnal  A^iaUqw  für 
1863,  I.  Halbjahr,  pag.  505  flgg. 


810 


37.  Kapitel. 


Flg.  118. 


ainnlichen*).  Von  A  aus  trage  man  (Fig.  113)  nach  Pj  und  nach 
P,  die  falschen  Annahmen  AP^^n^  und  AP^^^n^  auf.  Ist  nnn 
der  Sinn  der  heiden  Fehler  e^  und  e^  derselbe,  so  errichtet  man 
P^Q^  =-  Ci  und  Pjft  —  c^  senkrecht  zu  AP^P^  nach  derselben  Seite; 
sind  e^   und  e^   ungleichartig,   so  zieht  man  jene  Senkrechten   nach 

entgegengesetzten  Seiten  der  Geraden 
AP^P^,  Jedenfalls  verbindet  man 
QiQ^  geradlinig  und  bestimmt  den 
Durchschnittspunkt  B  mit  der  AP^ P,. 
Alsdann  ist  AB  der  richtige  Wert 
der  Unbekannten.  Das  ist  gewiß 
ungemein  scharfsinnig  und  im  Er- 
gebnisse auch  richtig,  auch  in  eine 
Formel  umgesetzt  übereinstimmend 
mit  der  gegebenen  Vorschrift.  Ob 
aber  in  der  Figur  wirklich  eine  zwin- 
gende Ähnlichkeit  mit  der  von  Ibn 
Albanna  gezeichneten  Wi^e  zu  finden  ist,  ob,  wenn  Ibn  Albanna  oder 
einem  seiner  Vorganger  eine  solche  geometrische  Begründung  zu  eigen 
gewesen  wäre,  sie  sich  nicht  bei  einem  Kommentator  hatte  erhalten 
müssen,  das  sind  Fragen,  deren  erste  ebensowenig  unbedingt  bejaht, 
wie  die  zweite  unbedingt  verneint  werden  dürfte.  Wir  selbst  sehen 
daher  keinen  der  beiden  Auswege  als  den  richtigen  und  begnügen 
uns  mit  dem  Eingeständnisse,  keine  Erklärung  für  Ibn  Albannäs  Aus- 
spruch, das  Verfahren  mit  Hilfe  der  Wagschalen  beruhe  auf  Geometrie, 
zu  wissen. 

Es  ist  kennzeichnend  für  den  Talchis,  dafi  für  alle  in  ihm  ent- 
haltene Regeln  keinerlei  Zahlenbeispiele  gegeben  sind,  daß  vielmehr 
nur  in  ganz  allgemeinen  Worten  die  Vorschriften  ausgesprochen 
werden,  ein  wissenschaftlicher  Vorzug  dieses  Werkes,  welchen  in 
solcher  Ausschließlichkeit  kein  anderes  von  denen,  welche  uns  bisher 
zur  Kenntnis-  gekommen  sind,  teilt.  Um  so  nötiger  aber,  wir  wieder- 
holen es  jetzt,  war  für  die  gleichzeitigen  Leser,  und  noch  für  Leser 
späterer  Jahrhunderte  ein  Kommentar  zum  Talchis  oder  eine  schein- 
bar selbständige  weitere  Ausführung  des  gleichen  Gegenstandes. 

Zu  einer  solchen  gehen  wir  jetzt  über.  Sie  ist  verfekßt  von 
Alkalasädi^),  geboren  in  Baza,  ansässig  in  Granada,  von  wo  er  aus- 
wanderte, als  die  Ghristengefahr  immer  drohender  herannahte.     Fem 

')  Matthiessen,  (rrandzüge  der  antiken  und  modernen  Algebra  der  lit- 
teralen  Gleichungen  S.  924—926.  *)  Woepcke  im  Journal  Asiatique  for  Ok- 
tober und  November  1864  pag.  868 — 360.  H&dsch!  Chalfa  nennt  ihn  überall 
Alkaleftwi.    Suter  180—182,  Nr.  144. 


i 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  811 

von  der  Heimat  starb  er  1486.  Ebenderselbe  hat  anch  einen  Kom- 
mentar zum  Talcids  verfaßt,  ans  welchem  aber  nur  eine  Stelle  ver- 
öffentlicht ist^),  auf  welche  wir  uns  (S.  712)  bezogen  haben,  um  zu 
beweisen^  daß  bei  Arabern  die  Erinnerung  stets  wach  blieb,  daß  die 
Pythagoräer  die  Männer  der  Zahl  gewesen  seien.  Der  Titel  des 
Werkes,  mit  welchem  wir  es  gegenwärtig  zu  tun  haben,  ist  in  ver- 
schiedenen Angaben  bekannt.  In  der  einen  Handschrift  heißt  es 
,,Aufhebung  der  Schleier  der  Wissenschaft  des  Gubar'',  in  einer 
anderen  „Enthüllung  der  Geheimnisse  der  Anwendung  der  Zeichen 
des  öubär*',  in  einem  Verzeichnisse  von  Handschriften  „Enthüllung 
der  Geheimnisse  der  Wissenschaft  von  den  Zeichen  des  Ghibar^^ 
Gubär,  ursprünglich  Staub,  wie  wir  uns  eriimem  (S.  712),  heißt  hier 
so  viel  wie  Tafelrechnen  mit  Ziffern  im  Gegensatze  zum  Kopfrechnen. 
Ob  dabei  die  Gubarziffem  des  Westens  oder  ob  die  ostarabischen 
Ziffern  in  Anwendung  kommen,  ist  sehr  gleichgültig,  wenigstens  gibt 
es  in  der  Pariser  Bibliothek  eine  Abschrift  des  Alkalasädi,  in  welcher 
nur  ostarabische  Ziffern  vorkommen,  und  die  gleichwohl  das  Wort 
Oubär  in  ihrem  Titel  an  der  Spitze  trägt.  Das  Werk,  oder  vielmehr 
der  Auszug  aus  dem  Werke  von  Alkalasädi  selbst  angefertigt,  welchen 
wir  allein  besitzen,  besteht  aus  vier  Büchern,  deren  erstes  die  Arith- 
metik der  ganzen  Zahlen  enthält,  das  zweite  die  Brüche,  das  dritte 
die  Wurzeln,  das  vierte  die  Auffindung  der  Unbekannten.  Es  ist  in 
französischer  Übersetzung  gedruckt*). 

Gleich  das  erste  Buch  ist  ungemein  lehrreich  fElr  jeden,  welcher 
«ich  mit  der  Form  des  arabischen  Rechnens  bekannt  machen  will, 
die  vielfach  von  dem  heute  gebräuchlichen  abweicht,  z.  B.  darin, 
daß  die  Rechnungsergebnisse  bei  der  Addition,  der  Subtraktion  und 
der  Multiplikation  nach  oben  angeschrieben  werden,  der  neueren 
Gewohnheit  geradezu  entgegengesetzt  und  ein  unbefangenes  Weiter- 
Bchreiben  an  einem  Blatte,  wenn  der  Text  durch  eine  Rechnung 
unterbrochen  wird,  verhindernd,  weil  der  Araber  vor  Beginn  der 
Rechnung  erst  im  Kopfe  überschlagen  muß,  wieviel  Raum  er  etwa 
gebrauchen  werde,  wie  weit  unten  auf  der  Seite  also  er  die  Rechnung 
werde  beginnen  müssen.  Folgende  Beispiele  dürften  nunmehr  leicht 
verstanden  werden,  wenn  wir  noch  bemerken,  daß  bei  der  Addition 
das  Überschießende  unter  die  Ziffer  nächsthöheren  Ranges  ange- 
schrieben, nicht  im  Kopf  behalten  wird,  und  daß  ähnlicherweise  bei 
der  Subtraktion  ein  ftir  den  Minuenden  zu  borgendes  10  dem  Sub- 

')  Woepcke  im  Journal  Asiatiqu^  für  1863,  I.  Halbjahr,  pag.  68—62. 
*)Woepcke,  Traductian  du  traitS  ^'Q^fiihmäique  d'AbtU  Hasan  Ali  ben  Moham- 
med Alkdlsadi  in  den  Ätti  deW  4^^g^niu»  ixmtt/icta  cfc'  Nwm  Lineei  1869, 
Bd.  Xn,  pag.  230—276  und  399-^n 


812  87.  Kapitel. 

trahendeu  als  Einheit  der  nächsten  Ordnung  wieder  zugesetzt  wird^) 
(S.  610). 

Die  Addition  48  +  97  =  145  schreibt  sich  demnach: 

145 

48 

97 

1 

Die  Subtraktion  725  —  386  =  339  schreibt  sich: 

339 

725 

386 

11 
Die  Subtraktion  heißt  tarh,  einem  von  taraha « wegwerfen  abge- 
leiteten Stammwortes  also  gleichen  Stammes  mit  Tara,  welches  aU 
Verpackung,  die  bei  der  Berechnung  des  Wertes  oder  des  zu  ver- 
zollenden Gewichtes  einer  Ware  usw.  nicht  mit  eingerechnet,  sondern 
abgezogen  wird,  in  Gebrauch  geblieben  ist.  Die  Multiplikation 
73  X  52—3796  erfolgt  „in  geneigter  Weise*',  wenn  zunächst  70x50 
+  3  X  50  dann  unter  Weiterrückung  des  Multiplikators  73  auch 
70  X  2  +  3  X  2  gebildet  imd  alles  addiert  wird.  Das  Exempel  sieht 
dann  so  aus: 

3796 

"6 
14 
15 
35^ 
52 
'     73 
73 
Es  werden  noch  mancherlei   andere  Multiplikationsverfahren  ge- 
lehrt.   Ohne  auf  alle  eingehen  zu  wollen,  erwähnen  wir  nur,  daß  die 
sogenannte   netzförmige   Multiplikation   als   Multiplikation  dschadwal 
vorkommt^  und  daß  bei  einem  Verfahren  der  Stellenzeiger  der  mit- 
einander  zu   vervielfachenden    Einzelziffem,   ihr   ass    oder   Exponent 
berücksichtigt  wird').    Die  komplementäre  Multiplikation,  welche  wir 
bei  Behä  Eddin  nachweisen  konnten,  findet  sich  dagegen  bei  Alkalasädi 
nicht.    Ebensowenig  findet  sich  bei  ihm  die  komplementäre  Division. 
Die  Division   ist   überhaupt   gegen    die  Multiplikation  etwas  dürftig 
behandelt  und  nur  nach  der  einen  uns  von  früher  bekannten  Weise 


')  Additionen  vgl.  1.  c.  pag.  288,  Subtraktionen  pag.  235,  Multiplikationen 
pag.  287.       *)  Alkalasädi  pag.  244.       ")  Ebenda  pag.  289. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  813 

gelehrt^),  daß  der  fortrückende  Divisor  unter,  die  Teilreste  über  den 
Dividend  geschrieben  werden,  der  Quotient  wieder  unter  den  Divisor, 
nachdem  ein  Strich,  dazwischen  gezogen  wurde.    Das  Beispiel  924 :  6 

«=  154  sieht  also  so  aus: 

32 

924 

666 

154 
Ob   man  dabei   den  Divisor   auf  einmal  oder  in  Faktoren   nachein- 
ander berücksichtigt,  ob  man  also  gleich  durch  15  dividiert,  oder  erst 
durch  5  und  dann   nochmals  durch  3,  übt  auf  das  eigentliche  Ver- 
fahren eine  Wirkung  nicht  aus. 

Aus  dem  DL  Buche  von  den  Brüchen  sind  die  voneinander 
abhängigen  Brüche  besonders  bemerkenswert,  eine  Art  von  Zahlen- 
verbindung, welche  die  neuere  Mathematik  aufsteigende  Eettenbrüche 
zu  nennen  pflegt.  Auch  frühere  Schriftsteller  haben  dieselben  Formen^ 
aber  Alkalasädi  setzt  ihre  Entstehung  durch  wiederholte  Division  mit 
Hilfe    der    Faktoren    eines    Divisors    am    deutlichsten   auseinander^. 

258 

Soll  etwa  öÖQ  iii  eine  solche  abhängige  Bruchform  gebracht  werden, 
80  zerlegt  man  zunächst  280  in  5  X  7  x  8  und  dividiert  mit  8  in  253. 
Das  geht  31  mal  und  läßt  5  als  Rest.  Man  schreibt  den  Rest  als 
Zähler,  den  Divisor  8  als  Nenner.  In  den  fi-üheren  Quotient  31  wird 
wiederholt  mit  7  dividiert  und  der  Quotient  4  nebst  dem  Reste  3  er- 
halten. Dieser  neue  Rest  nebst  dem  eben  gebrauchten  Divisor  kommen 
über  und  unter  dem  schon  gezogenen  Bruchstriche  rechts,  aber  durch 
einen  kleinen  Zwischenraum  getrennt  neben  die  von  vorhin  vorhan- 
denen Zahlen  zu  stehen.  Nun  dividiert  man  mit  5  in  den  Quotient  4, 
das  geht  Omal  und  4  bleibt  Rest,  worauf  man  mit  diesem  Reste 
und  dem  Divisor  5  nach  der  schon  einmal  befolgten  Regel  verfährt. 
Es  ist  also  —  =  g — = — -  oder,  wie  man  gegenwärtig  schreibt, 

,     3  +  g- 

6 
Vermutlich  dürfen  wir  hier,  wie  bei  den  Brüchen  des  Diophant  mit 
gemischtzahligen  Zählern  (S.  478)  eine  späte  Nachwirkung  altägypti- 
scher Gewohnheit  (S.  71)  erkennen.     Bruchbrüche')    sind   solche 

wie  y  von  y  von  y,  desBen  Wert  ^  ist  und  welcher  g  yy 
geschrieben  wird. 

*)  Alkalasädi  pag.  249--^^  i\  Ebenda  pag.  ^66  De  la  dinomination 

und  pag.  266  Fraetians  relatives       H?.     vjet^da  pag  266  Practton  divisie  en  partiea. 

0^ 


814  37.  Kapitel. 

Im  ni.  Buclie  von  den  WurzelauBziehangen  begegnen  wir  inter- 
essanten Nähemngsyerfaliren^).  Auch  Alkalasädi  unterscheidet,  ob  bei 
Ausziehung  der  Quadratwurzel  |/a*  +  r  der  erste  Rest  r  ^a  oder 
r>  a.     Im   ersteren  Falle   setzt  auch  er  wie  Ibn  Albanna  (S.  808) 

aber  im  zweiten  Falle  nicht  wie  jener 


sondern 


V«'  +  '-  =  «  +  ^' 


Als  noch  genaueren  Näherungswert  gibt  er^  ohne  Fälle  zu  unter- 
scheiden^ 

y-c^rr^a  +  f--^— 

an.  Alkalasädi  weiß  auch,  daß  p  +  Yq  mit  p  —  Yq  sich  zu  einem 
rationalen  Produkte  vervielfacht  und  benutzt  diese  Kenntnis  zur  Um- 
wandlung*) von 

_^ ^       n^(p  —  VD 

p  +  Vi  ^^^ 

Weitaus  das  Wichtigste  in  diesem  Buche  ist  aber  für  uns  das  Auf- 
treten eines  Wurzelzeichens,  insbesondere  wenn  man  es  mit  den 
Zeichen  des  lY.  Buches  zusammenhält,  und  an  die  früher  begründete 
Annahme  denkt,  daß  diese  symbolischen  Bezeichnungen  bis  jenseits 
Ibn  Albannä  hinaufreichen.  Wurzel,  insbesoudere  Quadratwurzel  heißt 
bei  den  Arabern  dschidr  (S.  723)  und  dieses  Wort  wurde  vor  den 
betreffenden  Zahlen,  aus  welchen  die  Quadratwurzel  zu  ziehen  war, 
ausgeschrieben.  Jetzt  tritt  statt  des  ganzen  Wortes  der  Anfangsbuch- 
stabe dschim  desselben  auf,  Das  würde  freilich  allein  eine  eigent- 
liche Zeichenschrift  nicht  begründen,  sondern  eine  Abkürzung  sein 
können.  Aber  der  Buchstabe  -^  steht  nicht  vor  —  d.  h.  also,  da  wir 
es  mit  arabischen  Texten,  zu  tun  haben,  zur  Rechten  —  der  be- 
treffenden Zahl,  sondern  über  derselben  und  durch  einen  Horizontal- 
strich von  derselben  getrennt').  Die  Horizontalstriche  fehlen  auch 
mitunter,  wenn  nicht  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  und  insbesondere 
die  beiden  Beispiele  y204  und  3)/ 6  entbehren  denselben  im  Origi- 
nale.   Ein  die  Wurzelgröße  allenfalls  vervielfachender  Zahlenkoeffizient 


>)  Alkalasädi  pag.402— 406.       *)  Ebenda  pag.  418.      ")  Ebenda  pag.  407 
bis  414  und  J<mmal  Asiatique  für  Oktober  und  November  1864,  pag.  362^364. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  815 

steht  noch  über  dem  Wurzelzeichen.  Mit  Anwendung  unserer  Ziffern 
sieht  also  ein  derartiger  Ausdruck  so  ans: 

3 

^  _      "^  _      •=^ 

1/48  =  48  T/204  =  y  20  3>/6  -  6  . 

Symbole  finden  sich,  sagten  wir,  noch  häufiger  im  lY.  Buche^ 
welches  dem  Aufsuchen  der  unbekannten  gewidmet  ist  Schon  bei 
der  Begeldetri^)  werden  drei  ein  Dreieckchen  bildende  Punkte  .*. 
zwischen  je  zwei  Zahlen  der  Proportion  gesetzt  und  die  unbekannte 
Größe  durch  ein  dschim  bezeichnet.  Man  vermutet,  es  sei  dieses 
dschim  nicht  als  Anfangsbuchstabe  von  dschidr  gedacht,  sondern  als 
Anfangsbuchstabe  des  Zeitwortes  dschahala  =  nicht  kennen,  des 
Stammwortes  für  madschhül,  welches  gewöhnlich  in  dem  Sinne  „un- 
bekannte Grröße''  gebraucht  wird.    So  ist  7  :  12  ==  84  :  x  geschrieben: 

^  /.  84  .-.  12  /.  7 . 

In  der  eigentlichen  Algebra  kommen  folgende  Symbole  vor*):  Die 
Unbekannte  selbst,  schai  oder  dschidr  genannt,  wird  durch  ein  schin  gd, 
das  Quadrat  der  Unbekannten  mal  durch  ein  mim  ^,  der  Kubus  der 
Unbekannten  ka'b  durch  ein  käf  S  geschrieben,  welche  über  den 
zugehörigen  Zahlenkoeffizienten  stehen.  Ein  Zeichen  der  Addition 
ist  nicht  vorhanden,  unvermittelte  Aufeinanderfolge  genügt,  um  die 
additive  Vereinigung  der  so  geschriebenen  Glieder  zu  veranlassen. 
Die  Subtraktion  bedient  sich  des  Wortes  iUä  (außer)  ^y  links  von 
welchem  der  Richtung  der  Schrift  gemäß  das  Abzuziehende  ge- 
schrieben wird.  Das  Merkwürdigste  endlich  ist  ein  Gleichheitszeichen. 
Wir  erinnern  uns,  daß  in  manchen  Handschriften  des  Diophant  der 
Anfangsbuchstabe  i  von  l6oi  gleich  hieß  (S.  472).  Gleichsein  heißt 
auf  Arabisch  ^adala,  wird  aber  nicht  etwa  durch  seinen  Anfangs- 
buchstaben, sondern  durch  ein  finales  läm  J,  mit  welchem  das  Wort 
abschließt,  ersetzt,  eine  Bezeichnung,  welche  noch  mehr  als  die 
übrigen  das  Wesen  bloßer  Abkürzung  abgestreift  und  das  eines  Sym- 
bols angenommen  hat.  So  schreibt  also  Alkalasädi  Zo?  ==  12a;  +  63 
in  folgender  Weise: 

6  3  JA   (-• 
12'^3 

und  -^x^  -\-  x^l—  in  folgender  Weise : 

A 

2**'  IT' 

>)  AlkalftBadi  pag.  416.  J^w-^1  Jisiotf^He  1.  c.  pag.  864.  •)  Ebenda 
pag.  420 — 189.    Jowtnal  AxwlHqyi^  V^    pg^.  866—867. 


816  37.  Kapitel. 

endlich  den  Ausdruck  2x  +  80^  ^(5  +  6x^)  durch 

6b^8  2 

In  einzelnen  Handschriften  ist  auch  das  illa  (außer)  ähnlich  wie  das 
^adala  (gleich  sein)  durch  eine  auffallende  Abkürzung;  durch  die  End- 
silbe lä  ^  ersetzt,  wodurch  das  algebraische  Aussehen  der  Formeln 
noch  erhöht  wird.  Wir  haben  schon  des  Stellenzeigers  oder  des 
Exponenten  ass  erwähnt;  der  bei  Alkalasädi  vielfach  yorkommt.  Er 
tritt  auch  bei  der  Multiplikation  von  Potenzen  der  Unbekannten  in 
Gebrauch;  und  zwar  immer  in  der  Einzahl  des  Wortes,  nicht  in  der 
Mehrzahl  isäs.  Es  heißt  also  nicht  ;;der  ka^b  hat  3  isäs^^,  sondern 
„der  ass  des  kä*b  ist  3'*  und  ähnlich  auch  bei  höheren  Potenzen. 

Einer  nicht  genau  bestimmbaren  Zeit  gehört  noch  ein  kleines 
Rechenbuch  an,  dessen  Übersetzung  ebenfalls  veröffentlicht  ist^). 
Jedenfalls  ist  es  später  als  die  Lebenszeit  des  darin  zitierten^  Ibn 
Albannä  entstanden,  und  vor  Ende  des  XYI.  S.,  da  die  Handschrift, 
aus  welcher  es  übersetzt  ist,  am  26.  Januar  1573  vollendet  wurde'). 
Das  Schriftchen  heißt  Einleitung  zum  Staub-  (gubäri)  und  Luft- 
(hawä'i)  Rechnen.  Letzterer  Ausdruck  ist  uns  früher  (S.  793)  schon 
begegnet  und  als  Kopfrechnen  im  Gegensatze  zum  Zifferrechnen  ver- 
fltanden  worden,  wenn  auch  sonderliche  Eopfrechnungsmethoden  nicht 
beschrieben  werden.  Abgesehen  von  der  sehr  geringfügigen  Abände- 
rung, daß  bei  der  Addition  wie  bei  der  Multiplikation  nicht  nur  ein 
Horizontalstrich  über  den  untereinandergestellten  Zahlen  sich  findet, 
sondern  auch  ein  zweiter  Horizontalstrich  unter  jenen  Zahlen,  während 
das  Rechnungsergebnis  doch  wieder  oben  hingeschrieben  wird,  ist  nur 
eine  kleine  Neuerung  bei  der  Subtraktion  zu  bemerken*).  Soll  nämlich 
eine  Ziffer  höheren  Wertes  g  im  Subtrahenden  von  der  im  Range  ent- 
sprechenden Ziffer  niedrigeren  Wertes  k  im  Minuenden  abgezogen  werden, 
wo  man  also  10  borgen  muß,  so  sei  es  gleichgültig,  ob  man  g  von 
10  4-  *  abziehe,  oder  aber  k  von  g  und  den  Rest  von  10.  Mit  anderen 
Worten  der  Verfasser  weiß,  daß 

(lO  +  k)^g^lO-{g-k). 

Fassen  wir  wieder  in  Kürze  zusammen,  was  wir  von  westarabi- 
scher Mathematik  kennen  gelernt  haben,  so  ist  ein  Unterschied  gegen 
die  ostärabische  Mathematik  namentlich  in  dreifacher  Beziehung  wahr- 
nehmbar.   Sie  ist  erstens  einseitiger.    Sie  hat  zweitens  erst  in  späterer 

^)  Introduction  au  calcul  gobdri  et  hawdi  traduit  par  F.  Woepcke.  Ätti 
4eW  Äccademia  pantificia  de'  Nwm  lAncei  (1866)  XIX.  ■)  pag.  6  des  Sonder- 
abzugs.      ^  pag.  18  des  Sonderabzugs.       *)  pag.  3  des  Sonderabzngs. 


Die  Mathematik  der  Westaraber.  817 

Zeit  Schriftstücke  geliefert,  welche  auf  uns  gekommen  sind.  Sie 
wurde  drittens  mindestens  seit  dem  XII.  S.  dem  christlichen  Europa 
durch  in  Spanien  angefertigte  Übersetzungen  bekannt.  Ihre  einseitige 
arithmetisch -algebraische  Entwicklung,  welche  hauptsächlich  unser 
Augenmerk  fesselte,  ließ  sie  auf  diesem  Gebiete  Fortschritte  machen, 
von  welchen  bei  den  Ostarabem  nichts  zu  bemerken  ist.  Es  bildete 
sich  allmählich  eine  förmliche  algebraische  Schreibweise  aus,  welche 
auch  den  Übersetzungen  in  die  lateinische  Sprache  sich  mitteilte, 
und  welche  somit  den  Europäern  gestattete,  schon  im  XII.  S.  die 
Lehre  von  den  Gleichungen  in  größerer  Vollkommenheit  kennen  zu 
lernen,  als  wenn  sie  deren  Entwicklung  einzig  im  Oriente  bei  dem 
durch  die  Ereuzzüge  hervorgerufenen  Zusammentreffen  mit  arabischer 
Kultur  verfolgt  hätten.  Was  die  Rechenkunst,  den  elementareren 
aber  weitest  verbreiteten  Teil  der  Mathematik  betrifft,  so  sehen  wir, 
wie  sie  im  Westen  immerhin  einige  äußere  Verschiedenheiten  von 
Zeit  zu  Zeit  sich  aneignete,  wie  wahrscheinlich  durch  italienische 
Kaufleute  Elemente  nichtarabischer  Methoden,  Spuren  des  Kolumnen- 
rechnens oder  mit  anderen  Worten  eines  gezeichneten  Abacus,  sich 
eingemischt  zu  haben  scheinen,  Spuren,  welche  wir  aber  freilich  erst 
vom  XIII.  S.  an  bemerken  konnten.  Eines  nur  finden  wir  in  keiner 
Weise,  und  dieses  negative  Ergebnis  ist  zu  wichtig,  um  nicht  fort 
und  fort  darauf  aufmerksam  zu  machen:  wir  finden  kein  komple- 
mentäres Rechnen,  nicht  die  komplementäre  Division,  nicht  einmal 
die  komplementäre  Multiplikation,  während  doch  gerade  die  Multipli- 
kation emsig  gepflegt  und  nach  verschiedenartigeren  Verfahrungsweisen 
gelehrt  wurde,  als  sie  es  eigentlich  verdient. 


<3AiiTOBf  0««ohiohte  der  MAthem^.  '  .    x,Qfi.  62 


Vni.  Klostergelehrsamkeit  des 
Mittelalters. 


68* 


X 


38.  Kapitel. 
Klostergelelirsamkeit  bis  zum  Ansgange  des  X.  Jahrhunderts. 

Wir  müssen  den  Faden  wieder  anknüpfen  da,  wo  wir  ihn  abge- 
brochen haben,  um  aus  Europa  hinüberzuschweifen  nach  dem  Osten 
und  die  Summe  zu  ziehen  aus  dem,  was  asiatische  Völkerschaften  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  aus  dem  mathematischen  Wissen  zu  machen 
wußten,  von  welchem  ihnen,  wie  wir  in  yerschiedenen  Kapiteln  nach- 
zuweisen gesucht  haben,  wenigstens  was  die  geometrischen  Teile 
und  nicht  unwesentliche  Bruchstücke  der  algebraischen  Teile  be- 
trifft, mancherlei  von  Griechenland  aus  überkam.  Die  Araber,  das 
haben  wir  insbesondere  gesehen,  mit  ihrer  frischen  Wüstenkraft,  sie^ 
die  sich,  zum  Unheile  ihres  Reiches,  zum  Heile  für  die  Wissenschaft^ 
in  den  verschiedensten  Zeiträumen  mit  nicht  minder  empfänglichen^ 
nicht  minder  geistig  unverbrauchten  Elementen  vermischten  und 
ihnen  sich  unterwerfen  mußten,  waren  die  treuesten  Erben.  Sie 
haben  das  ihnen  anvertraute  Gut  nicht  nur  zu  bewahren,  auch 
zu  vermehren  gewußt.  Wohin  die  Araber,  solange  ihr  Reich  im 
Wachsen  begriff'en  war,  der  Eroberungspfad  führte,  dahin  nahmen 
sie  ihre  Wissenschaft  mit,  Kjieger  und  Lehrer  zugleich.  Wo  die 
Araber  sich  eindringenden  Herrschern  beugten,  gaben  sie  diesen  als 
ersten  Tribut  ihre  Bildung.  Wo  die  Araber  aber  nicht  unterjocht^ 
sondern  verdrängt  wurden,  da  nahmen  sie  auf  der  Flucht  ihre  Kennt- 
nisse wieder  mit  fort,  welche  rasch  sich  anzueignen  die  Sieger  noch 
nicht  fähig  waren.  Das  deutlichste  Beispiel  zeigt  uns  Spanien,  wo 
mathematische  Wissenschaft  verkümmerte,  nachdem  die  letzten  Araber 
vom  spanischen  Boden  verdrängt  waren. 

Jenen  mittelasiatischen  Steppenvölkem,  die  dem  Dschingizchän 
und  Tamerlan  gehorchten,  fehlte  es  an  Bildungsfähigkeit  keineswegs, 
und  die  Möglichkeit  war  einmal  vorhanden,  daß  Stamm-  oder  Sitten- 
verwandte derselben  verhältnismäßig  frühe  in  Griechenland  selbst  mit 
altgriechischer  Bildung  bekannt  geworden  wären.  Eine  andere  Mög- 
lichkeit war  die,  daß  der  fränkische  Stamm  von  griechisch-arabischer 
Bildung  durchdrungen  worden  wäre.  Beide  Möglichkeiten  haben  sich 
nicht  erfüllt.     Theodosius  (Jer  Große  wehrte  am  Schlüsse  des  IV.  S. 


822  38.  Kapitel. 

den  Strom  der  Völkerwanderung  von  den  Balkanlandern  ab,  so  daß 
er  erst  bei  der  apenninisclien  Halbinsel  den  westlichen  Lauf  in  äineu 
südlichen  yerwandeln  konnte.  Die  Scharen  Attilas^  Dschingizch&ns 
Mongolen  am  nächsten  verwandt^  blieben  gleichfalls  nördlich  in  ihrer 
Überflutung  Europas^  die  im  Y.  S.  kurz  aber  gefahrdrohend  sich  ergoß. 
Und  als  732  ein  westarabisches  Heer  die  Pyrenäen  überschritten  hatte 
und  eine  Schlacht  darüber  zu  entscheiden  hatte,  ob  Christentum  ob 
Islam  siegen  sollte,  da  gelang  es  Karl  Martel  bei  Poitiers  seine  Fahnen 
aufrecht  zu  erhalten. 

Wir  haben  keineswegs  die  zwecklose  Absicht,  Yermutungs- 
geschichte  zu  schreiben  und  darüber  in  Ausführungen  uns  zu  er- 
gehen, welche  Wendung  die  Entwicklung  der  Wissenschaften,  in 
erster  Linie  der  Mathematik,  genommen  hätte,  wenn  nur  eines  jener 
Ereignisse  anders  ausgefallen  wäre,  genug,  es  war  so,  wie  wir  sagten. 
Griechischer  Einfluß,  immittelbarer  wie  durch  Araber  vermittelter, 
blieb  den  in  Europa  außerhalb  Griechenland  und  Italien  angesiedelten 
Stämmen  fremd,  wenn  wir  von  Spanien  absehen,  dessen  Ausnahme- 
stellung wir  oben  einige  Worte  gewidmet  haben.  Nur  was  durch 
römische  Zwischenträger  eingeführt  werden  konnte,  kam  der  nordi- 
schen Mathematik,  um  uns  dieses  wenn  auch  im  einzelnen  nicht 
immer  zutreffenden  Sammelnamens  zu  bedienen,  zugut.  Wir  wissen 
aus  den  Kapiteln,  in  welchen  wir  mit  den  Römern  uns  besonders  be- 
schäfkigten,  wie  blutwenig  das  war,  wenn  auch  immerhin  mehr,  als 
man  lange  Zeit  meinte.  Wir  müssen  jetzt  verfolgen,  wie  jenes  Wenige 
in  fast  noch  absteigender  Reihenfolge  da  und  dort  zu  erkennen  ist, 
bis  seit  den  Ereuzzügen,  also  seit  dem  XH.  S.,  die  europäische  Wiß- 
begier sich  hungrig  ab  wandte  von  den  stets  leereren  Säcken  römisch- 
klösterlicher Speisekammern,  um  an  den  vollen  Speichern  arabischer 
Gelehrten  sich  so  zu  sättigen,  daß  die  Überladung  merklich  wird,  daß 
nicht  alles  verdaut  werden  konnte. 

Vorläufig  befinden  wir  uns  noch  in  der  Zeit,  welche  an  unseren 
römischen  Abschnitt  sich  anschließt,  am  Ende  des  VI.  S.  Damals 
wurde  570  in  Carthagena  Isidorus  geboren^).  Seine  Mutter  war 
die  Tochter  eines  gotischen  Königs,  eine  seiner  Schwestern  soll  den 
Thron  des  Königs  Levigild  geteilt  haben.  Seine  übrigen  Geschwister 
waren  sämtlich  hohe  kirchliche  Würdenträger.  Bei  solchen  Ver- 
bindungen kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  daß  Isidorus  schon  nach 
kaum  zurückgelegtem  30.  Lebensjahre  im  Jahre  601  Bischof  von 
Sevilla  wurde,  eine  Stellung,  die  er  bis  zu  seinem  Tode  636  bekleidete. 
Aber  Isidorus  Hispalensis,  wie  er  von  seinem  Wohnsitze  heißt,  recht- 

»)  Math.  Beitr.  Kultnrl.  8.  277—279. 


Klostergelehisamkeit  bis  zum  Aasgange  des  X.  JahrhunderiB.  823 

fertigte  nachträglich  die  Wahl;  die  ihn  getroffen  hatte.  Seine  Bered- 
samkeit machte,  nm  das  Wort  eines  Schülers  über  ihn  zu  gebrauchen, 
seine  Zuhörer  erstarren.  Beinamen  wie  ,^ierde  der  katholischen 
Kirche",  wie  „der  hervorragende  Gelehrte'*  wurden  ihm  beigelegt, 
und  zweimal  619  und  633  wurde  ihm  die  Ehre  zuteil^  bei  einem 
Konzil  den  Vorsitz  zu  führen.  Seine  Schriften  waren  zahlreich,  doch 
haben  wir  es  nur  mit  einem  Werke  zu  tun,  einer  Art  von  Enzyklo- 
pädie in  20  Büchern,  welche  er  verfaßte,  und  in  welcher  er  sich 
wenn  nicht  der  Form  so  doch  dem  Inhalte  nach  streng  an  die  schon 
vorhandenen  römischen  Enzyklopädien  eines  Martianus  Capella,  eines 
Oassiodorius  Senator  anschloß,  welche  er  von  nun  an  ersetzte,  fast 
verdrangte. 

Die  Ursprünge,  Origines,  oder  auch  die  Etymologien  ist  der 
Titel  des  Werkes.  Isidorus  liebt  es  nämlich,  die  Erklärung  des  Sinnes 
«ines  Ausdruckes  aus  dessen  sprachlichem  Ursprünge  zu  entnehmen, 
und  so  bilden  Wortableitungen  einen  großen  Teil  des  umfassenden 
Werkes.  Gleich  zu  Anfang  ist  die  Wissenschaft  als  aus  7  Teilen 
bestehend  angegeben.  Es  sind  dieselben  Teile,  dieselbe  Reihenfolge, 
welche  wir  bereits  kennen.  Es  ist  das  Trivium:  Grammatik,  Rhe- 
torik, Dialektik  und  das  Quadrivium  der  mathematischen  Wissen- 
schaften: Arithmetik,  Musik,  Geometrie,  Astronomie.  Die  Kapitel  21 
bis  24  des  I.  Buches  handeln  von  den  Abkürzungszeichen  der  Alten, 
doch  würde  man  fehl  gehen,  wenn  man  hier  die  Apices  suchen 
wollte.  Sie  sind  ebensowenig  behandelt  wie  gewisse  musikalische 
Zeichen,  deren  die  Römer  sich  doch  unzweifelhaft  bedienten.  Nur 
im  XV.  Buche,  Kapitel  15  und  16  von  den  Ackermaßen  und  von 
den  Reisemärschen  und  im  XVI.  Buche,  Kapitel  24,  25,  26  von  den 
Gewichten,  von  den  Maßen,  von  den  Zeichen  der  Gewichte*;  finden 
sich  Maßvergleichungen  und  in  dem  letztgenannten  Zeichen  von 
Oewichtsteilen.  Es  sind  das  dieselben  von  den  altrömischen  sich 
unterscheidenden  Namen  und  Zeichen,  deren  auch  Victorius  sich  be- 
dient hatte  (S.  531),  die  auf  dem  Abacus  in  der  gefälschten  Geo- 
metrie des  Boethius  vorkommen,  dem  man  also  um  dieser  besonderen 
Zeichen  wegen  nicht  ein  späteres  Datum  als  die  Lebenszeit  des  Isi- 
dorus zuschreiben  müßte  ^),  sondern  nur  als  die  des  Victorius,  eine 
Notwendigkeit,  welche  durch  die  Lebenszeit  des  Boethius  selbst 
reichlich  erfüllt  wäre.  Jene  vorerwähnten  Kapitel  des  L  Buches  der 
Origines   enthalten   dagegen   Erklärungen   von   mancherlei  grammati- 

')  Diese  6  Kapitel  sind  abgedruckt  bei  Hu  lisch,  Metrologicorum  Scripta- 
rtm  Beliquiae  II,  106  - 123.  Auf  pag.  114  lin.  6—12  findet  sich  eine  Ableitung 
von  siclus  aus  dem  hebräischen  sic^l,  ^)  ^i^ie<llein,  Zahlzeichen  und  elemen- 
tares Rechnen  usw.  S.  69. 


824  S8.  Kapitel. 

sehen  Zeichen,  von  Sternchen,  Ton  besonderen  Anführungszeichen  fär 
biblische  Stellen  und  dergleichen  mehr.  Das  III.  Buch  handelt  von 
den  vier  mathematischen  Wissenschaften,  unter  welchen,  wie  Isidorus 
sagt,  die  weltlichen  Schriftsteller  alle  mit  Recht  die  Arithmetik  vor- 
angestellt haben;  denn  sie  bedürfe  zu  ihrer  Darlegung  keiner  ander- 
weitigen Vorkenntnisse,  wie  es  bei  der  Musik,  der  Geometrie,  der 
Astronomie  der  FaU  sei.  Diesem  Beispiele  folgend  schickt  auch  Isi- 
dorus die  Arithmetik  voraus,  deren  Ursprung  und  Übergang  zu  den 
Römern  er  in  den  vielfach  angeführten  Worten  schildert:  „Man  hält 
dafür,  daß  Pythagoras  bei  den  Griechen  die  Wissenschaft  der  Zahl 
zuerst  aufgeschrieben  habe,  daß  sie  alsdann  von  Nikomachus  weit- 
läufiger behandelt  wurde;  den  Römern  wurde  sie  durch  Appuleius 
und  Boethius  bekannt.^'  Im  3.  Kapitel  erklärt  Isidorus  die  lateinischen 
Zahlennamen  in  einer  Weise,  welche  dem  Leser  mitunter  als  Spott 
erscheinen  müßte,  könnte  man  nicht  die  feste  Überzeugung  von  dem 
ernstesten  wissenschaftlichen  Streben  des  Isidorus  haben.  Da  soll 
decem,  zehn,  von  dem  griechischen  dsöfieveiv^  zusammenbinden,  her- 
kommen, weil  die  Zehn  alle  niedrigeren  Zahlen  erst  vereinige.  Da^ 
stammt  centum,  hundert,  von  xavOög,  das  Rad,  warum,  wird  nicht 
gesagt.  Da  wird  mille,  tausend,  aus  multitudo,  die  Menge,  erklärt. 
Glücklicherweise  wird  der  undankbare  Gegenstand  bald  wieder  ver- 
lassen, und  die  folgenden  Kapitel  bringen  die  bekannten  Unterschei- 
dungen der  Zahlen  in  gerade  und  ungerade,  in  vollkommene  und 
überschießende,  in  nach  gegebenen  Verhältnissen  proportionale,  in 
lineare  Zahlen,  Flächenzahlen  und  Körperzahlen  usw.  Die  Zahl  hat 
für  Isidorus  eine  solche  Würde,  daß  er  einem  anderen  kirchlichen 
Schriftsteller  folgend  in  die  Worte  ausbricht*),  welche  von  ihm  aus 
sich  durch  die  verschiedensten  Schriftsteller  weiter  vererbt  haben: 
„Nimm  die  Zahl  aus  allen  Dingen  weg,  und  aUes  geht  zugrunde. 
Raube  dem  Jahrhundert  die  Rechnung  und  die  Gesamtheit  wird  von 
blinder  Unwissenheit  ergriffen,  und  nicht  kann  von  den  übrigen 
Tieren  unterschieden  werden,  wer  die  Verfahren  des  Kalküls  nicht 
kennt."  Wir  haben  hier  computm  mit  Rechnung  übersetzt.  Sollte 
es  nötig  sein  zu  beweisen,  daß  das  Wort  diese  allgemeine  Bedeutung 
besitzt,  so  könnten  wir  auf  den  Astrologen  Julius  Firmicus  Ma- 
ter nus  verweisen,  wenn  er  sagt:  Siehst  Du,  wie  die  welche  die  ersten 
Rechnungsverfahren  (computos)  lernen  in  langsamer  Bewegung  ihre 
Finger  biegen*)? 

^)  Origines  Lib.  m,  cap.  4,  §  4:  Tolle  numerum  rebus  omnibus  et  omnia 
pereunt.  Adime  seculo  computum  et  cuncta  ignorantia  caeca  campleetitur,  nee 
differri  potest  a  ceteris  animalibus  gut  calculi  nescit  rationem.  *)  FirmicuB 
Maternns,  Mathesis  Liber  I,  cap.  Y,  §  14  (ed.  Sittl,  Leipzig  1894,  pag.  IS 


EloBtergelehrsamkeit  bis  zum  Ausgange  des  X.  Jahrhunderts.  825 

Aber  wie  hat  man  denn  gerechnet?  wird  im  stillen  jeder  Leser 
fragen.  Darüber  gibt  Isidoras  keinerlei  Auskunft.  Nur  an  einer 
Stelle  sagt  er  uns,  wie  uns  scheint,  wie  zu  seiner  Zeit  nicht  mehr 
gerechnet  wurde.  Im  X.  Buche,  welches  nicht  weiter  in  Kapitel  ab- 
geteilt bestimmt  ist,  Wörter  zu  erklären,  welche  selbst  in  ziemlich 
alphabetischer  Ordnung  aufeinander  folgen,  heißt  es  in  der  43.  Nummer 
unter  ccUctdator:  a  ccHculis  i,  e.  lapillis  mimäis,  quos  antiqui  in  manu 
ienentes  componebant  numerum,  also  Rechnen  von  Rechenpfennigen 
d.  h.  kleinen  Steinchen,  welche  die  Alten  in  der  Hand  zu  halten 
und  die  Zahlen  daraus  zusammenzulegen  pflegten. 

Was  in  dem  III.  Buche  yon  Geometrie,  Musik  und  Astronomie 
vorkommt,  ist  noch  dürftiger  als  das  Arithmetische,  auch  in  dieser 
Beziehung  an  die  Vorgänger  des  Isidoras  erinnernd.  Die  große 
Menge,  auch  der  berühmten  Gelehrten,  wußte  von  diesen  Teilen 
der  Mathematik  wenig  mehr  als  einige  Wort-  und  Sacherklärungen 
und  mußte  es  dabei  bewenden  lassen.  Auch  Isidorus  macht  hierin 
keinerlei  Ausnahme. 

Das  war,  wie  wir  schon  gesagt  haben,  das  Werk,  welches  für 
lange  Zeit  die  eine  Hauptquelle  des  Dissens  bildete,  aus  welcher  die 
Nachkommen  schöpften,  während  die  Werke  des  Martianus  Capella, 
des  Cassiodorius  Senator  in  den  Hintergrund  traten  und  nur  Macro- 
bius  und  Boethius  einer  Gunst  sich  erfreuten,  welche  dem  einen  für 
seine  größere  Selbständigkeit,  dem  anderen  für  seine  größere  Aus- 
führlichkeit in  der  Tat  gebührte. 

Mehr  vielleicht  als  durch  seine  Schriften  machte  sich  Isidorus 
durch  seine  Fürsorge  für  den  Unterricht  verdient.  Die  Regel  des 
heiligen  Benedikt  von  Nursia  hatte  die  Au&ahme  von  Kindern  als 
Klosterzöglingen  vorgesehen  und  Klosterschulen  zum  Bedürfnisse  ge- 
macht. Isidorus  stiftete  seit  seiner  Erhebung  zum  Bischöfe  gleich- 
falls eine  Art  von  Schule,  in  welcher  die  notwendigsten  Lehrgegen- 
stände eingeübt  wurden. 

Etwa  ein  Jahrhundert  nach  der  Geburt  von  Isidorus  von  Sevilla 
erblickte  der  Mann  das  Licht  der  Welt,  zu  welchem  wir  uns  jetzt  zu 
wenden  haben,  und  der  uns  nach  dem  fernsten  Norden  von  Europa 
führen  wird:  Beda,  genannt  der  Ehrwürdige,  venerabilis*).     Die  Ge- 


lin. 30 — 31)  Vides  ut  primos  discentes  computos  digitos  tarda  agitatione  deflectant? 
Die  Mathesis  ist,  wie  Mommsen  (Hermes  XXIX,  468—472.  Berlin  1894)  ge- 
zeigt hat,  zwischen  dem  80.  Dezemher  335  und  dem  22.  Mai  387  verfaßt. 

*)  Karl  Werner,  Beda  der  Ehrwürdige  und  seine  Zeit.  Wien  1875.  Vgl. 
daneben  auch  die  Vorreden  von  Giles  zu  dem  I.  und  VI.  Bande  seiner  Ausgabe 
von  Bedas  Werken :  Venerabüis  Bedae  opera  quae  supersuTU  omnia.  London  1843. 
12  Bände  8^ 


826  88.  Kapitel. 

schichte  dieses  Mannes  und  seiner  folgereichen  Leistungen  ist  so  un- 
trennbar mit  der  Geschichte  der  Bekehrung  der  britischen  Insebi  ver- 
bunden^ daß  wir  notwendig  etwas  weiter  ausholen  und  bei  dieser 
einen  Augenblick  verweilen  müssen. 

Irland  war  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  Y.  S.  von  Gallien  aus 
bekehrt  worden.  Klöster  entstanden  dort,  in  welchen,  getreu  den 
Überlieferungen  des  heiligen  Benedikt  und  des  Cassiodorius  (S.  569), 
geistliche  und  weltliche  Schriftsteller,  lateinische  sowohl  als  grie- 
chische,  zum  Gegenstande  des  Studiums  gemacht  wurden.  Dazu  ge- 
hörte besonders  das  Kloster  Bangor,  von  welchem  in  der  zweiten 
Hälfte  des  VI.  S.  der  heilige  Kolumban  auszog,  neue  Klöster  an  ver- 
schiedenen Orten  gründend,  so  das  Kloster  Luxeuil  in  Burgund,  so 
Bobbio  in  Oberitalien,  wo  er  selbst  615  starb.  Andere  irische  Mönche 
zogen  dieselbe  Heerstraße  des  Glaubens  durch  Jahrhunderte  hindurch. 
Die  Klöster,  welche  von  Kolumban,  von  seinen  Landsleuten  Gallus, 
Pirmin  und  anderen  in  Deutschland,  in  der  Schweiz,  in  Norditalien 
eingerichtet  worden  waren,  erhielten  so  immer  frischen  Zuzug,  und 
in  zierlichen  irischen  Buchstaben  entstanden  an  den  verschiedensten 
Orten  saubere  Abschriften  des  gemischtesten  Inhaltes.  Die  Klöster 
irischen  Ursprungs  wetteiferten  so  in  ihren  bildungsfreundlichen  Be- 
strebungen mit  denen  der  Benediktiner,  da  und  dort  mit  ihnen  ver- 
schmolzen. 

Gleichfalls  von  Irland  aus  ging  ein  früher  Zug  von  Missionären 
hinüber  nach  der  nahe  gelegenen  größeren  Insel,  nach  Schottland 
und  England.  Allerdings  war  ihr  Wirken  dort  nicht  von  nachhaltigem 
Erfolge.  Nachdem  am  Anfange  des  Y.  S.  bereits  Ninian  im  südlichen 
Schottland  das  Christentum  verbreitet  hatte,  wurde  es  nach  der 
erobernden  Einwanderung  der  Angeln  und  Sachsen  um  450  teils 
wieder  vernichtet,  teils  in  die  Gebirge  zurückgedrängt.  Unter  Papst 
Gregor  dem  Großen  begann  von  Rom  aus  596  der  wiederholte  Ver- 
such, jene  Lande  zu  bekehren,  und  bald  war  Canterburj  der  Sitz 
eines  Erzbischofs,  und  der  König  von  Kent  nahm  den  neuen  Glauben 
an.  So  gab  es  auf  der  britischen  Hauptinsel  zwei  Kirchen,  die 
ältere  und  die  jüngere,  örtlich  voneinander  getrennt,  in  Gewohnheiten 
und  Emrichtungen  mehrfach  voneinander  abweichend,  namentlich  in 
einem  Punkte,  der  von  Wichtigkeit  wurde,  so  geringfügig  der  Streit- 
punkt an  sich  uns  erscheinen  mag. 

Die  südliche,  römische  Festordnung  verlangte,  daß  die  Feier  des 

Osterfestes  als  des  Festes  der  Auferstehung  frühestens  am  Abend  des 

14.  Nisan,  spätestens  am  Abend  des  20.  Nisan  jüdischer  Rechnung 

beginne.     Die  nordische,  britische  Ordnung  wollte  das  Fest  zwischen 

^  einen  Tag  früher  gelegenen  äußersten  Grenzen  feiern. 


Elostergelehrsamkeit  bis  zum  Auggange  des  X.  JahrhiindertB.  827 

Es  kam  im  Jahre  664  zu  einer  öffentlichen  Disputation  über 
diesen  Gegenstand  unter  dem  Vorsitze  Königs  Oswin,  und  dieser  ent- 
schied zugunsten  der  römischen  Auffassung.  Es  läßt  sich  denken, 
daß  solche  Yor^nge  ein  reges  Interesse  für  den  Gegenstand  erwecken 
mußten,  über  den  man  öffentlich  gestritten  hatte,  ein  Interesse,  das 
in  letzter  Linie  dem  Rechner  und  seiner  Kunst  zugute  kommen 
mußte.  Der  nun  geeinigten  Kirche  festeren  Zusammenhalt  zu  geben 
schickte  Papst  Yitalian,  nachdem  der  Bischofssitz  in  Canterbury  669 
erledigt  war,  zwei  neue  hochbegabte  Männer,  Theodor  als  Bischof, 
Hadrian  als  seinen  Ratgeber.  Theodors  persönliche  wissenschaftliche 
Neigungen  begegneten  sich  mit  dem  eben  hervorgehobenen  Interesse, 
sei  es,  daß  wir  darin  eine  Gunst  des  Zufalles  zu  erblicken  haben, 
sei  es,  daß  bei  seiner  Wahl  Rücksicht  darauf  genommen  worden 
war.  Er  achtete  streng  darauf,  daß  für  den  ihm  untergebenen  angel- 
sächsischen Klerus  neben  der  heiligen  Schrift  und  den  mit  dem  Stu- 
dium derselben  zusammenhängenden  sachlichen  und  sprachlichen  Unter- 
weisungen auch  Metrik,  Astronomie  und  kirchliche  Festrechnung 
Gegenstände  des  klösterlichen  Unterrichts  wurden.  Sprachstudien 
waren  nicht  weniger  gefordert.  Es  gab  zu  Bedas  Zeiten,  also  wenige 
Jahrzehnte  nach  Theodors  um  690  erfolgtem  Tode,  Männer  in  Eng- 
land, welche  des  Griechischen  und  Lateinischen  eben  so  gut  wie 
ihrer  eigenen  Muttersprache  kundig  waren.  Leider  waren  die  grie- 
chischen Werke,  welche  sie  lasen,  nicht  solche,  wie  wir  sie  zum 
Besten  der  mathematischen  Wissenschaften  wünschen  müßten. 

Wie  wir  früher  gesagt  haben,  alles,  auch  das  Griechische,  kam 
von  Rom,  und  griechische  Mathematik  war  in  Originalwerken  darunter 
offenbar  gar  nicht  vertreten.  Es  war  schon  verhältnismäßig  sehr 
viel,  daß  überhaupt  eine  gewisse  Neigung  zur  Erledigung  kirchlich- 
mathematischer Fragen  anders  als  auf  von  auswärts  eingetroffene 
Anordnung  hin  in  den  damals  an  der  schottisch -englischen  Grenze 
gegründeten  Klöstern  großgezogen  wurde,  eine  Neigung,  die  von  da 
AUS,  wie  wir  sehen  werden,  durch  Schüler  jener  Klöster  über  Frank- 
reich und  Deutschland  sich  fortsetzte,  während  in  den  älteren  irischen 
Klöstern  z.  B.  an  solche  Fragen  kaum  gedacht  wurde. 

Um  jene  Zeit  674  und  682  war  es,  daß  durch  Biscop,  einen 
«dein  Than,  der  als  Mönch  und  Abt  den  Namen  Benedikt  erhielt, 
dicht  an  der  Grenze  Schottlands,  wo  Tyne  und  Were  unweit  von- 
einander in  das  Meer  sich  ergießen,  zwei  Klöster  erbaut  und 
St.  Peter  und  Paul  geweiht  wurden.  Der  Einrichtung  der  Klöster 
war  durch  Biscop,  der  vielfach  Reisen  nach  Rom  machte  und  stets 
neue  Bücherschätze,  Reliquien,  Gemälde  zur  Ausschmückung  der  Kirche 
von  dort  mitbrachte,  die  Regel  des  Benediktinerordens  zugrunde  ge- 


828  38.  Kapitel. 

legt.  In  dieser  Gegend  ist  Beda  672  geboren,  in  diesen  Klöstern 
wnrde  er  erzogen,  hier  verbrachte  er  den  Verlauf  seines  ganzen 
Lebens  in  ruhiger  Emsigkeit,  hier  starb  er  am  26.  Mai  735,  am  Feste 
Christi  Himmelfahrt. 

Beda  hat  als  ein  Hauptwerk  eine  Eirchengeschichte  hinterlassen^ 
welche  bis  zum  Jahre  731  hinabreicht,  und  an  deren  Ende  er  das 
Verzeichnis  derjenigen  Schriften  gibt,  welche  er  bis  dahin  —  bis  zu 
seinem  59.  Lebensjahre,  wie  er  sagt  —  verfaßt  hat.  Dadurch  ist  einer- 
seits die  Zeit  seiner  Geburt  genau  bestimmbar  geworden^),  anderer- 
seits auch  möglich  geworden,  viele  ihm  früher  wohl  beigelegte  und 
unter  seine  Werke  aufgenommene  Schriften  als  unecht  wieder  zu  ent- 
fernen, da  er  unmöglich  neben  den  Pflichten  eines  Messepriesters,  die 
er  zu  erflillen  hatte,  neben  dem  Unterrichte  der  zahlreichen  Schüler, 
welche  er  heranbildete,  in  den  vier  Jahren,  um  welche  er  nur  die 
Anfertigung  jenes  Verzeichnisses  überlebte,  vieles  schriftstellerisch 
geleistet  haben  kann.  Zwei  Werke  sind  in  dem  Verzeichnisse  als 
von  Beda  herrührend  anerkannt,  die  in  einem  gewissen  geistigen  Zu- 
sammenhange stehen.  Das  eine,  eine  physische  Weltbeschreibung, 
führt  den  Namen  De  natura  rerum,  über  die  Natur  der  Dinge.  Es 
ist  nach  Plinius  bearbeitet,  wie  Beda  selbst  an  einzelnen  Stellen  er- 
klärt. An  die  Weltkunde  schließt  sich  sodann  die  Zeitkunde  an,, 
der  die  Abhandlung  De  temporibus,  über  die  Zeiten,  gewidmet  ist. 
Diese  Schrift  gibt  im  14.  Kapitel  selbst  ihr  Datum  an,  sie  ist  703 
verfaßt. 

Eine  ausführlichere  Bearbeitung  führt  den  Titel:  De  temporum 
roitione,  über  Zeitrechnung.  Sie  ist  mindestens  14  Jahre  später  als 
die  kürzere  Fassung  vollendet,  da  sie  dem  Abte  Huaetberct  zugeeignet 
ist,  welcher  erst  716  in  diese  Stellung  eintrat.  In  der  Vorrede  beruft 
sich  Beda  ausdrücklich  auf  die  beiden  genannten  Schriften  von  der 
Natur  der  Dinge  und  von  den  Zeiten.  Sie  seien  nach  dem  Urteile 
derjenigen,  welche  sie  zu  benutzen  Gelegenheit  hatten,  allzugedrängter 
Schreibweise  gewesen,  als  daß  sie  den  Nutzen  hätten  stiften  können,, 
den  er  beabsichtigte.  Namentlich  die  Osterrechnung  scheine  einer 
weitläufigeren  Auseinandersetzung  zu  bedürfen,  und  so  habe  er  sich 
denn  entschlossen,  ein  derartiges  Lehrbuch  der  Zeitrechnung  seinen 
Schülern  zu  übergeben.  Als  Quellen,  welche  Beda  dabei  benutzte,, 
hat  man  Macrobius  und  Isidorus  nachweisen  können^).  Für  anderes 
sind  uns  seine  Quellen  unbekannt,  wo  er  der  älteste  Schriftsteller  ist,, 
von  welchem  eine  ausführlichere  Darstellung  des  Gegenstandes  sich 
erhalten  hat.     Wir  meinen  damit  gleich  das  1.  Kapitel  der  Zeitrech- 


*)  Werner,  Beda  S.  81.         *)  Ebenda  S.  122  und  126. 


EloBtergelehisamkeit  bis  zum  Ausgange  des  X.  Jahrhnnderta.  829 

Bung,  von  welchem  wir  schon  (S.  527)  ankündigend  gesprochen  haben. 
Es  galt  sonst  auch  wohl  für  eine  selbständige  Abhandlung  unter  dem 
Titel  „Über  die  Fingerrechnung",  bis  es  auf  Grund  einiger  Hand- 
schriften des  britischen  Museums  an  diesen  seinen  rechtmäßigen 
Platz  gebracht  wurde.  Das  gleiche  Schicksal  teilte  das  4  Kapitel, 
welches  für  eine  Abhandlung  „Über  die  Rechnung  mit  Unzen"  galt*). 
Das  erste  Kapitel  beziehungsweise  die  ganze  Schrift  über  Zeitrechnung 
leitet  Beda  mit  den  Worten  ein:  „Wir  hielten  es  für  nötig,  erst  in 
Kürze  die  überaus  nützliche  und  stets  bereite  Geschicklichkeit  der 
Fingerbeugungen  zu  zeigen,  um  dadurch  eine  möglich  größte  Leichtig- 
keit des  Rechnens  zu  geben;  dann,  wenn  der  Geist  des  Lesers  vor- 
bereitet ist,  woUen  wir  zur  Untersuchung  und  Aufhellung  der  Reihe 
der  Zeiten  mittels  Rechnung  kommen."  Und  einige  Seiten  später 
heißt  es:  „Bezüglich  der  oben  bemerkten  Rechnung  kann  auch  eine 
gewisse  Fingersprache  gebildet  werden  teils  zur  Übung  des  Geistes, 
teils  als  Spieleroi "  Man  sieht  hier  einen  scharfen  Gegensatz^).  Die 
Fingersprache  ist,  wenn  auch  Geistesübung  mit  ihr  verbunden  ist, 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  wie  Spielerei.  Das  Fingerrechnen  ist 
«ine  Notwendigkeit.  Man  hat  gewiß  mit  Recht  mehrfach  aus  diesen 
Stellen  gefolgert,  daß  zu  Bedas  Zeiten  ein  Fingerrechnen,  man  würde 
wohl  besser  sagen  ein  Kopfrechnen  mit  Unterstützung  durch  die  zur 
besseren  Erinnerung  an  die  allmählich  sich  ergebenden  und  im  Gedächt- 
nisse festzuhaltenden  Zahlen  vorgenommenen  Fingerbeugungen,  all- 
gemein in  Übung  war.  Beda  lehrt  in  ausführlicherer  Darstellung, 
wie  man  von  der  linken  Hand  beginnend  und  zur  Rechten  fort- 
schreitend die  einzelnen  Zahlen  darstellen  solle.  Er  lehrt  es  im 
großen  und  ganzen  in  Übereinstimmung  mit  Nikolaus  von  Smyfna 
(S.  514 — 515),  in  Einzelheiten  von  ihm  abweichend,  so  daß  eine  un- 
mittelbare Abhängigkeit  dieses  letzteren  Schriftstellers  von  Beda,  an 
und  für  sich  nicht  recht  wahrscheinlich,  nur  um  so  weniger  anzunehmen 
sein  dürfte').  Allein  wenn  nun  der  Schüler  so  vorbereitet  ist,  wenn 
er  seinem  Gedächtnisse  überall,  wo  er  geht  und  steht,  mit  den 
Fingern  zu  Hilfe  kommen  kann  —  denn  das  ist  ja  die  Bedeutung  der 
solertia  promptissima,  der  stets  bereiten  Geschicklichkeit  —  wie  ver- 
fuhr man  dann  eigentlich? 

Wir    sind    nicht    imstande,    aus    Bedas    Schriften    diese    gewiß 


*)  Beda  (ed.  Giles)  VI,  139—342  das  Werk  De  temporum  ratüme.  Dessen 
€aput  1.  De.  computo  vel  loquela  digitorum  pag.  141 — 144  und  Caput  4.  De 
ratione  tmciarum  pag.  147—149.  *)  Stoy,  Zur  Geschichte  des  Bechenunter- 
richtes  I,  38  (Jena  1878)  hat  wohl  zuerst  durch  Nebeneinanderstellung  der  beiden 
Ausdrucke  darauf  aufmerksam  gemacht.  ^)  Auch  diese  Bemerkung  hat  Stoy 
1.  c.  S.^6— 87  gemacht. 


830  38.  Kapitel. 

wichtigste  Frage  zu  beantworteiL  Beda  sagt  nicht  eine  Silbe  über 
die  Rechnungsverfahren  selbst.  Nur  zweierlei  können  wir  als  Schluß- 
folgerung ziehen.  Erstens  ^  daß  Beda  bei  seinem  Schweigen  nur  an 
die  Terhältnismäßig  sehr  einfachen  Rechnungen  (hauptsächlich  Addi- 
tionen,  Subtraktionen,  Multiplikationen  und  Divisionen  durch  4)  dachte, 
welche  bei  der  kirchlichen  Zeit-  und  Festrechnung  vorkamen,  und 
welche  in  der  Tat  leicht  im  Kopfe  auszuführen  waren.  Zweitens 
können  wir  ihm  unmittelbar  entnehmen,  daß  es  eine  weitverbreitete 
Sitte  war,  die  er  schilderte.  Er  sagt  nämlich,  der  heilige  Hieronymus 
müsse  schon  das  Verfahren  des  Fingerrechnens  gekannt  haben,  da 
gewisse  Anspielungen  desselben  nicht  anders  zu  verstehen  seien. 
Beda  hat  demgemäß  bei  Hieronymus  das  Fingerrechnen  wieder- 
erkannt, mit  welchem  er  vertraut  war  und  seine  Schüler  vertraut  zu 
machen  beabsichtigte.  Eine  Quelle  muß  also  vor  dem  Tode  des 
Hieronymus  d.  h.  vor  420  vorhanden  und  wahrscheinlich  in  latei- 
nischer Sprache  vorhanden  gewesen  sein.  Eine  anderer  Frage  ist  die, 
ob  die  Lehren  sich  an  eine  geschriebene  Quelle  anknüpften.  Uns 
scheint  es  fast  natürlicher,  an  eine  durch  Jahrhunderte  sich  fort- 
setzende mündliche  Überlieferung  der  Fingerbeugungen  zu  glauben, 
wie  das  Rechnen  unter  Anwendung  der  Finger  sich  unzweifelhaft  nur 
durch  mündliche  Lehre  fortpflanzte.  Diese  unsere  letztere  Behauptung 
ist  in  der  Natur  der  Dinge  begründet,  hat  aber  außerdem  eine 
wesentliche  Unterstützung  in  der  Tatsache,  daß  wie  Beda  und  Nikolaus 
von  Smyrna  so  auch  jener  Araber,  der  in  Versen  die  Fingerstellungen 
lehrte  (S.  710),  über  das  wirkliche  Rechnen  keine  Silbe  verliert. 

Ist  diese  Lücke  schon  für  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  vor- 
handen, so  kann  man  zum  voraus  versichert  sein,  daß  ein  umfassendes 
Bruchrechnen  erst  recht  nicht  gelehrt  wird.  In  der  Tat  findet  sich 
in  dem  4.  Kapitel  über  die  Rechnung  mit  Unzen  kaum  mehr  als  die 
Einteilung  des  aus  12  Unzen  bestehenden  Asses  und  der  Unze  selbst, 
ein  Beleg,  wenn  ein  solcher  verlangt  würde,  für  den  unmittelbar 
römischen  Ursprung  des  Ganzen.  Beda  bemerkt,  der  Begriff  als  Ge- 
wicht habe  den  Ausgangspunkt  gebildet,  dann  aber  sei  abgeleitet 
davon  nur  der  Begriff  des  Ganzen  und  seiner  Teile  übrig  geblieben. 
Wenn  man  von  einem  Ganzen  sein  Sechstel  wegnehme,  so  neune 
man  den  Rest  dextans  usw.  Auch  die  Zeichen  für  die  Brüche  fehlen 
nicht.  Solche  waren,  wie  wir  wiederholt  zu  bemerken  hatten,  seit  Jahr- 
hunderten in  Gebrauch.  Es  hat  wohl  die  Bedeutung  des  einen  oder 
des  anderen  Bruchnamens  sich  verändert;  es  haben  neue  Namen  sich 
eingeschoben;  die  Zeichen  haben  sich  abgerundet,  sind  neuen  Namen 
entsprechend  neu  hinzugetreten,  aber  begrifflich  Neues  tritt  uns 
nicht  entgegen. 


EloBtergelehrsamkeit  bis  zum  Ausgange  des  X.  Jahrhunderts.  831 

Die  Osterrechnung,  der  eigentliche  Mittelpunkt  der  Zeitreclinniig, 
gründet  sich  bei  Beda  wie  bei  CassiodoriuS;  wie  bei  anderen  (S.  573) 
anf  die  19  jährige  Wiederkehr  des  Zusammenfallens  von  Sonnen-  und 
Mondzeiten  und  stellt,  wie  wir  oben  andeuteten,  an  die  Rechenkunst 
des  Schülers,  der  nur  diese  Aufgabe  zu  lösen  beabsichtigte,  keine 
übermäßige  Anforderung,  so  daß  die  Erfüllung  der  auf  einem  Aus- 
spruche des  heiligen  Augustinus  beruhenden  Vorschrift^),  es  müsse  in 
jedem  Mönchs-  und  Nonnenkloster  wenigstens  eine  Person  vorhanden 
sein,  welche  es  verstehe,  die  Ordnung  der  kirchlichen  Feste  und 
damit  den  Kalender  für  das  laufende  Jahr  festzustellen,  nicht  gerade 
schwer  war. 

Dasselbe  Jahr  735,  in  welchem  Beda  starb,  war  das  Geburtsjahr 
Alcuins^.  Er  war  ein  vornehmer  Angelsachse  und  hieß  mit 
heimatlichem  Namen  Alh-win,  d.  h.  Freund  des  Tempels,  woraus 
eben  Alcuin  entstanden  ist.  Fast  noch  häufiger  nannte  er  sich  selbst 
Albin  US.  Sein  Lehrer  war  Egbert  von  York,  ein  naher  Freund 
Bedas,  wie  aus  einem  vertrauten  Briefe  Bedas  an  ihn  über  kirchliche 
Verhältnisse  hervorgeht.  Egbei-t  legte  an  der  mit  einer  reichen  Bi- 
bliothek ausgestatteten  Schule  seines  Bischofssitzes  das  neue  Testa- 
ment aus,  die  übrigen  Fächer  waren  seinem  Verwandten  Aelbehrt 
anvertraut,  zu  welchem  Alcuin  in  enge  Beziehungen  trat.  Er  be- 
gleitete ihn  noch  als  Jüngling  auf  einer  wissenschaftlichen  Reise 
nach  Rom,  dem  Hauptmarkte  für  die  Erwerbung  von  Handschriften, 
er  wurde  sein  Nachfolger  in  der  Leitung  der  Yorker  Schule,  als  Ael- 
behrt 766  nach  Egberts  Tode  den  erzbischöflichen  Stuhl  bestieg. 

Alcuin  erzählt  uns  selbst,  worin  der  Unterricht  an  der  Schule 
bestand.  Die  Geheimnisse  der  heiligen  Schrift  wurden  erläutert. 
Daneben  wurden  Grammatik,  Rhetorik,  Dialektik,  Musik  und  Poesie 
gelehrt.  Auch  die  exakten  Wissenschaften  kamen  nicht  zu  kurz. 
Astronomie  und  eigentliche  Naturgeschichte,  die  Osterrechnung  bil- 
deten besondere  Lehrgegenstände,  die  in  gleichem  Inhalte  uns  auch 
bei  Beda  begegnet  sind,  und  die  von  Alcuin  mutmaßlich  nicht  viel 
anders  gelehrt  wurden  als  es  bei  seinen  Vorgängern  aufwärts  bis  zu 
Isidorus,  zu  Cassiodorius,  zu  Victorius  der  Fall  gewesen  war. 

Er  wurde  durch  die  gleichen  Werke  römischer  Gelehrsamkeit 
unterstützt,  welche  in  der  Büchersammlung   von  York  sämtlich  vor- 


')  Histoire  UtUraWe  de  Ja  France  par  des  religieux  Benedictina  VT,  70,  und 
Sickel,  Die  Lunarbuchstaben  in  den  Kaiendarien  des  Mittelalters.  Sitznngsber. 
d.  Wiener  Akademie.  Philoßoph.-histor.  Klasse  XXXVIII,  168  (1876).  ")  Karl 
Werner,  Alcuin  und  sein  Jahrhundert.  Paderborn  1876.  Kurz,  aber  übersicht- 
lich istDümmlers  Artikel  „Alkuin^^  \^  dei  Allgemeinen  deutschen  Biographie  I, 
843—348  (1876). 


832  S8.  Kapitel. 

nltig  waren.  Hat  doch  Alcuin  in  dem  Gedichte^),  in  welchem  er 
der  Unterrichtszweige  gedenkt,  auch  ein  Verzeichnis  von  solchen 
Schriften  gegeben,  die  in  York  zu  finden  waren: 

Finden  wirst  dort  du  die  Spur  der  alten  Väter  der  Kirche, 
Finden  was  für  sich  der  Römer  im  Erdkreis  besessen 
und  was  Griechenlands  Weisheit  lateinischen  Völkern  gesandt  hat. 
Auch  was  das  Volk  der  Hebräer  aus  himmlischem  Regen  getrunken, 
Oder  was  Afrika  hat  hellfließenden  Lichtes  verbreitet. 

Natürlich  ist  bei  dem  letzten  Verse  vorwiegend  an  Augustinus  zu 
denken;  bei  dem  auf  Griechenland  bezüglichen  an  ihn  selbst  den 
scharfsinnigen  Aristoteles  —  ipse  acer  Aristoteles  —  welche  beide  im 
weiteren  Verlaufe  ausdrücklich  genannt  sind.  Kaum  festzustellen 
dürfte  freilich  sein,  ob  aristotelische  Originalschriften,  ob,  worauf 
die  Bemerkung  Griechenlands  Weisheit  sei  den  Lateinern  zugesandt 
eher  zu  deuten  scheint,  nur  die  lateinischen  Bearbeitungen  durch 
Boethius  vorhanden  waren.  Von  römischen  Schriftstellern  waren 
nach  Alcuins  Aussage  unter  vielen  anderen  Victorinus,  wahrscheinlich 
der  Grammatiker  dieses  Namens  aus  dem  IV.  S.,  vielleicht  aber  auch 
der  Schriftsteller,  den  wir  als  Victorius  kennen  gelernt  haben, 
Boethius,  Plinius  vertreten.  Beda  wird  neben  diesen  als  ebenbürtiger 
Schriftsteller  genannt. 

Erzbischof  Aelbehrt  starb  780,  und  nun  wurde  Alcuin  nach  Rom 
gesandt,  um  für  dessen  Nachfolger  die  päpstliche  Bestätigung  einzu- 
holen. Auf  dieser  Reise  traf  er  in  Parma  mit  Karl  dem  Großen 
zusammen,  welcher  ihn  schon  vorher  sei  es  persönlich,  sei  es  durch 
den  Ruf  der  Gelehrsamkeit,  der  um  den  Yorker  Schulvorsteher  sich 
weiter  und  weiter  verbreitete,  kennen  gelernt  hatte.  Karl  wüuschte 
ihn  bei  sich  zu  haben,  um  den  Stand  des  Wissens  in  Deutschland 
auf  eine  bessere  Stufe  zu  bringen,  und  nach  Einholung  der  Erlaub- 
nis seiner  Vorgesetzten  folgte  Alcuin  der  kaiserlichen  Einladung  782. 
Nach  achtjährigem  Aufenthalte  an  dem  Kaiserhofe,  der  übrigens  nicht 
an  einem  und  demselben  Orte  sich  aufhielt,  sondern  bald  da,  bald 
dort  seinen  Sitz  hatte,  kehrte  Alcuin  nach  der  Heimat  zurück,  dann 
wieder  zu  Karl,  der  ihn  nicht  missen  woUte,  und  als  Alcuin  ge- 
brechlich und  von  häufigen  Krankheiten  heimgesucht  das  beschwer- 
liche Leben  eines  wandernden  Hofstaates  nicht  länger  mitmachen 
konnte,  wurde  ihm  die  ersehnte  Zurückgezogenheit  in  einer  Art,  wie 


')  Poema  de  Pontificibus  et  Sanctis  eccUaiae  Ehoracensis  (d.  h.  von  York) 
in  den  Monumenta  Alcuiniana  (ed.  Wattenbach  et  Dümmler).  Berlin  1873 
als  VI.  Band  der  Biblioiheca  rerutn  Germanicarum.  Der  Studienplan  ist  ge- 
schildert V.  V.  1431  sqq.  (S.  124  —  125),  das  Bücherverzeichnis  v.  v.  1634  sqq. 
<S.  128). 


ElostergelehrBamkeit  bis  zum  AuBgange  des  X.  Jahrhunderts.  833 

«r  sich  dieselbe  keineswegs  gedacht  hatte.  Karl  der  Gbroße  schickte 
ihn  796  als  Abt  nach  dem  Kloster  St.  Martin  in  Tours ,  dessen 
Mönche  einer  strengeren  Zucht  als  unter  dem  gerade  verstorbenen 
Abte  in  hohem  Grade  bedürftig  waren.  Alcuin  bat  hier  eine  be- 
rühmte Elosterschule  gegründet^  aus  welcher  zahlreiche  Lehrer  her- 
Torgingen^  die  alsdann  in  gleichem  Sinne,  wie  sie  erzogen  und 
unterrichtet  worden  waren,  an  anderen  Orten  wirkten.  Alcuin  hat 
auch  die  großartige  Büchersammlung  in  Tours  ins  Leben  gerufen. 
So  waren  seine  letzten  Lebensjahre  reich  erfüllt.  Er  starb  den 
19.  Mai  804. 

Die  Bedeutung,  welche  Alcuin  für  die  Geschichte  der  Mathematik 
besitzt,  liegt  auf  zweifachem  Gebiete.  Sie  ist  zu  suchen  in  seinen 
Verdiensten  um  das  ünterrichtswesen  und  in  seiner  schriftstellerischen 
Tätigkeit. 

Wir  haben  Alcuin  am  Morgen  seines  Lebens  als  Lehrer  in  York 
wirken  sehen.  Wir  haben  von  den  nachhaltigen  Erfolgen  andeutungs- 
weise gesprochen,  die  seine  Lehrtätigkeit  in  Tours  am  Abende  seines 
Lebens  gehabt  hat.  Lehrer  war  er  auch  am  Hofe  Karls  des  Großen. 
War  doch  der  Kaiser  selbst,  der  an  Wissenslust  es  allen  zuvortat, 
kaum  des  Schreibens  kundig,  und  so  der  Schule  nur  dem  Alter  nach 
entwachsen.  Die  Roheit  der  Zeit  brachte  das  nun  einmal  mit  sich, 
und  ihr  müssen  wir  es  auch  zuschreiben,  wenn  wir  dem  Gelehrtesten 
der  Gelehrten,  wenn  wir  Alcuin  selbst  fast  nichts  nachrühmen  können 
als  eine  Aneignung  fremden  Stoffes.  Der  Verkehr  Alcuins  mit  den 
hochgestellten  Schülern  und  Schülerinnen  mußte  selbstverständlich 
ein  anderer  sein  als  er  in  der  Klosterschule  gebräuchlich  war,  ein 
anderer  auch  als  er  zwischen  denselben  Persönlichkeiten  und  sonstigen 
Hofbeamten  herrschte.  Damit  größere  Zwanglosigkeit  gestattet  war, 
legte  Alcuin  allen  Mitgliedern  der  Schule,  den  Kaiser  und  sich  selbst 
nicht  ausgenommen,  Beinamen  bei,  die  der  Bibel  oder  dem  Alter- 
tum entnommen  waren.  Der  Kaiser  war  König  David  oder  König 
Salomo,  Alcuin  war  Flaccus,  die  geistreiche  Guntrada,  Karls  Ge- 
schwisterkind, war  Eulalia  genannt  usw.  Damit  aber  der  mitunter 
trockene  Lehrgegenstand  den  Schülern  nicht  zuwider  würde,  kleidete 
der  Lehrer  die  an  sich  ernsthaft  gemeinten  Fragen  nicht  selten  in 
das  Gewand  scherzhafter  Rätsel,  mitunter  sogar  dem  derben,  unfeinen 
Ton  huldigend,  welcher  am  Karolingerhofe  zu  Hause  war.  Der  von 
Alcuin  auf  solche  Weise  erteUte  Unterricht  fand  begeisterten  Anklang. 
Um  so  dringender  wurde  Karls  Wunsch  ähnlich  gebildete  Lehrer 
seinem  Volke  zu  geben.  Ein  Kapitulare  von  789  aus  Aachen  datiert 
bestimmt,  die  Domstifte  und  Klöster  sollen  öffentliche  Knabenschulen 
unterhalten,  in  welchen  der  Unterricht  in  den  Psalmen,  in  Noten,  im 

GA.NTOB,  Geschichte  der  Mathematik  I.  3  ja  68 


834  38.  Kapitel. 

Gesang,  im  Computus,  in  der  Grammatik  erteilt  werden  solle  ^).  Wir 
haben  absichtlich  das  Fremdwort  Computus  hier  beibehalten,  um  es 
zweifelhaft  zu  lassen,  ob  nur  der  vorzugsweise  so  genannte  camputuSy 
d.  h.  die  von  uns  mehrfach  besprochene  Osterrechnung  gemeint  sein 
mag,  oder,  wie  es  uns  viel  wahrscheinlicher  däucht,  da  von  einem 
Lehrgegenstande  fQr  irgend  welche  Ejiaben,  nicht  für  angehende 
Mönche  die  Bede  ist,  das  Rechnen  überhaupt.  Wenige  Jahre  später 
beruft  Karl  Theodulf  als  Bischof  von  Mainz  (794)  aus  Italien,  ihn 
an  die  Spitze  einer  Domschule  zu  stellen.  Für  den  Unterricht  darf 
nichts  genommen  werden,  als  was  von  den  Eltern  freiwillig  gegeben 
wird.  Daß  die  Kinder  aber  zur  Schule  geschickt  werden,  bleibt 
nicht  dem  freien  Willen  der  Eltern  überlassen.  Mit  Strafen  werden 
diese  zur  Erfüllung  ihrer  Pflicht  angehalten.  Mit  der  Volksschule 
tritt  der  Schulzwang  ins  Leben*). 

Wir  haben  von  Alcuins  schriftstellerischer  Tätigkeit  zu  reden 
und  bringen  unter  diesem  Titel  Aufgaben  zur  Sprache,  von  denen  es 
allerdings  nicht  sicher  ist,  ob  sie  Alcuin  angehören.  Daß  sie  ein 
altes  Gepräge  tragen,  mag  schon  daraus  entnommen  werden,  daß  sie 
früher  in  den  Druckausgaben  nicht  bloß  von  Alcuins,  sondern  auch 
von  Bedas  Werken  Aufnahme  fanden,  während  sie  diesem  letzt- 
genannten wohl  unter  keinen  Umständen  angehören*).  Die  Zuweisung 
an  Alcuin  beruht  auf  mehreren  Gründen,  deren  jeder  einzeln  für  sich 
nicht  sonderlich  schwerwiegend  ist,  die  jedoch  in  ihrer  Gesamtheit 
vielleicht  genügen,  den  Ausschlag  zu  geben.  Wir  haben  erst  davon 
gesprochen,  daß  Alcuin  es  liebte,  bei  seinem  Unterrichte  eine  gefällige, 
oft  scherzhafte  Form  der  Fragestellung  oder  der  Beantwortung  zu 
wählen,  letztere  Form  insbesondere  nach  griechischem  Muster  des 
Atheners  Secundus  aus  dem  I.  und  U.  S.  n.  Chr.,  von  welchem  einige 
Alcuinische  Fragen  und  Antworten  ethischer  und  kosmographischer 
Art  wörtlich  entlehnt  erscheinen*).  Die  Rätselform  ist  aber  auch  die 
der  Aufgaben  zur  Verstandesschärfung,  propos^itiones  ad  aciAen- 
dos  iuvenes.  Man  hat  femer  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  deren 
Schreibweise  überhaupt  mit  der  Alcuins  übereinstimme^).  Man  hat 
weiter  auf  einen  Brief  Alcuins  an  Karl  den  Ghroßen  sich  bezogen,  in 
welchem  der  Briefsteller  sagt,  er  schicke  gleichzeitig  einige  Proben 
arithmetischen  Scharfsinnes  zur  Erheiterung^)  und  hat  vermutet  diese 
Proben    seien    eben  jene  Aufgaben,   insgesamt    oder   teilweise.     Dem 

*)  Werner,  Alcuin  S.  86.  *)  Lorenz  von  Stein,  Das  Bildungswesen 
jdes  Mittelalters,  II.  Auflage,  S.  66  (Stuttgart  1883).  ")  Bedae  Opera  (ed. 
Giles)  Bd.  VI.  Vorrede  S.  XIII.  *)  Werner,  Alcuin  S.  18.  *)  Giles  1.  c. 
^)  Mofiumenta  Alcuiniana,  Epistula  112,  pag.  459:  Misi  cUiqutiS  figuras  Arith- 
meticae  subtilitalis  laetitiae  causa. 


ElostergelehrBamkeit  bis  zum  Ausgange  des  X.  Jahrhunderts.  835 

gegenüber  hat  man  freilich  einzuwenden  gewußt^),  unter  Proben 
arithmetischen  Scharfsinnes  zur  Erheiterung  habe  Alcuin  ganz  anderes 
verstanden,  nämlich  Anwendung  zahlentheoretischer  Begriffe  auf 
Bibelerklämng,  wie  sie  in  einzelnen  seiner  Briefe  und  Schriften  vor- 
kommen. So  habe,  nach  ihm,  6ott,  der  alles  gut  schuf,  sechs  Wesen 
geschaffen,  weil  6  eine  vollkommene  Zahl  sei;  8  aber  ist  eine  maugel- 
hafbe  Zahl, 

l  +  2  +  4-7<8, 

und  „deswegen  geht  der  zweite  Ursprung  des  Menschengeschlechtes 
von  der  Zahl  8  aus.  Wir  lesen  nämlich,  daß  in  Noahs  Arche  acht 
Seelen  gewesen,  von  welchen  das  ganze  Menschengeschlecht  abstammt, 
um  zu  zeigen,  der  zweite  Ursprung  sei  unvollkommener  als  der  erste, 
welcher  nach  der  Sechszahl  geschaffen  wurde**').  Beispiele  solcher 
Zahlenmystik  könnten  gehäuft  werden.  Man  könnte  an  einen  Brief 
Alcuins  erinnern,  in  welchem  von  den  Zahlen  1  bis  10  gesagt  wird, 
welche  Beziehungen  zu  Gegenstönden  der  Heiligen  Schrift  sie  haben'). 
Man  könnte  bis  auf  Isidorus  zurück*)  merkwürdige  Gedankenver- 
knüpfungen verfolgen,  in  deren  Nachahmung  Alcuin  die  Zahl  153 
der  Fische,  welche  Petrus  auf  einen  Zug  fing^),  zu  erklären  weiß, 
ausgehend  von 

153  -  3  .  3  .  17  -  1  -h  2  -f  3  -f  .  •    +  17 

in  Verbindung  mit  51  =  50  -h  1  usw.  *).  Wir  lassen  es  dahingestellt, 
ob  diese  Verweisungen,  mögen  sie  selbst  dem,  was  Alcuin  an  Karl 
schickte,  einen  anderen  Inhalt  geben  können  als  nach  der  zuerst  aus- 
gesprochenen Vermutung,  in  Widerspruch  stehen  zu  der  Annahme, 
Alcuin  habe  die  Aufgaben  zur  Verstandesschärfong  zusammengestellt. 
Wir  geben  zu  bedenken,  daß,  wer  nach  der  einen  Richtung  mit 
Zahlenspielereien,  die  ihm  freilich  mehr  als  das,  die  ihm  heiliger 
Ernst  waren,  sich  beschäftigte,  auch  nach  der  anderen  Seite  Freude 
an  Zahlenbetrachtungen  haben  und  erregen  konnte. 

Wir  wenden  uns  zur  Erörterung  dessen,  was  die  Handschriften 
zur  Entscheidung  der  Frage,  von  wem  die  Aufgaben  der  Verstandes- 
schärfung  herrühren,  beizutragen  vermögen?  Rechenrätsel,  welche 
einander  insgesamt  ähnlich  sehen,  finden  sich  in  den  aller  verschieden* 
sten   Handschriften    vor^).     Wohl    die   älteste   solche  Handschrift  ist 


*)  Hankel  S.  310—311.  *)  Monumenta  Älcuiniana,  Epist,  269,  pag.  818 
bia  821.  »)  Ebenda  Epist  260,  pag.  821  —  824.  *)  Isidoruß,  Be  numeris 
cap.  27.  Auf  diese  Quelle  ist  zuerst  ati&nerksam  gemacht  bei  Werner,  Gerbert 
▼on  AuriUac.  Wien  1878,  S.  66,  Anmerkung  2.  ')  Evangelium  Johannes  XXI,  11. 
^  Werner,  Alcuin  S.  168.  ')  Herm.  Hagen,  Antike  und  mittelalterliche 
Rätselpoesie.    U.  Ausgabe.    Bern  I877      S.  29—34. 


836  38.  Kapitel. 

diejenige,  aus  welcher  die  uns  hier  beschäffcigeaden  Aufgaben  zum 
Abdrucke  gelangt  sind^).  Sie  gehört,  wenn  nicht  alle  Zeichen  der 
Schriftvergleichung  trügen,  dem  Ende  des  X.  oder  Anfange  des  XI.  S., 
in  runder  Zahl  dem  Jahre  1000  an,  und  stammt  aus  dem  Erlöster 
Reichenau,  welches  auf  einer  Rheininsel  am  Ausgange  des  Bodensees 
durch  den  Irländer  Pirmin  um  725  gegründet  worden  war  und  wie 
wir  uns  erinnern  (S.  577)  schon  821  im  Besitze  einer  schönen  ord- 
nungsgemäß aufgezeichneten  Büchersammlung  sich  befand.  Die  Hand- 
schrift ist  eine  Sammelhandschrift  und  beginnt  mit  Alcuins  Erläute- 
rungen zur  Genesis,  welche  durch  deü  in  einer  Widmungsformel  ent- 
haltenen Namen  ihren  Verfasser  selbst  yerraten.  Die  Erläuterungen 
schließen  mitten  auf  der  Vorderseite  eines  Blattes,  und  nun  folgen 
ohne  irgend  welche  Raumunterbrechung  enge  sich  anschließend  die 
Aufgaben  zur  Verstandesschärfung:  incipiunt  capüida  propositionum 
ad  acuendos  iuvenes  von  dem  gleichen  Schreiber  auf  das  Pergament 
gebracht.  Ein  Verfasser  ist  nicht  angegeben,  aber  eben  deshalb  hat 
man  gefolgert,  Alcuin  sei  es,  weil  die  Unmittelbarkeit  des  Anschlusses 
zu  dieser  Behauptung  aufmunterte,  welche  in  den  schon  angegebenen 
allgemeinen  Betrachtungen  Unterstützung  fand. 

Eines  kann  mit  Bestimmtheit  gesagt  werden:  die  Handschrift 
rührt  nicht  Ton  dem  sachverständigen  Sammler  der  Aufgaben  her, 
möge  er  Alcuin  oder  wie  immer  geheißen  haben,  sondern  von  einem 
Mönche,  der  als  Schreibkünstler  geschickter  war  denn  als  Rechner, 
sonst  würde  er  nicht  so  verhältnismäßig  häufige  Fehler  in  den 
Zahlen  sich  zuschulden  haben  kommen  lassen,  wie  sie  nur  einem 
Abschreiber,  nicht  einem,  der  selbst  rechnet,  vorkommen  können. 
Auch  dieser  Umstand  dient  dazu,  die  Entstehung  der  Sammlung  in 
eine  Zeit  hinaufzurücken,  die  älter  ist  als  das  Jahr  1000,  und  wir 
machen  darum  von  der  nun  einmal  durch  den  Herausgeber^)  von 
Alcuins  Werken  hergestellten  Überlieferung  Gebrauch,  jene  Aufgaben, 
die  in  einer  Geschichte  der  Mathematik  unter  allen  Umständen  be- 
sprochen werden  müssen,  unter  Alcuins  Namen  einzureihen.  Sollten 
spätere  Untersuchungen  je  einen  anderen  Verfasser  an  das  Licht 
ziehen,  so  werden  sie  den  Umstand  doch  sicherlich  nicht  zu  ent- 
kräften imstande  sein,  daß  er  vor  1000  gelebt  haben  muß,  daß 
also  die  Aufgaben  ein  Bild  klösterlicher  Gelehrsamkeit  vor  diesem 
Zeitpunkte    uns   bieten.     Glänzend  freilich   ist   das   Bild  nicht,   aber 


*)  Über  die  Handschrift  vgl.  Agrimenaoren  S.  139—143.  *)  Abt  FrobeniuB 
von  St.  Emmeran  in  Regensburg  1777.  Sein  weltlicher  Name  war  Frobenius 
Förster.  Er  lebte  1709—1791.  Vgl.  Allgemeine  deutsche  Biographie  VII,  163. 
Die  Propositümes  ad  acuendos  iuvenes  sind  abgedruckt  in  Alcuini  Opera  (ed. 
Frobenius)  11,  440—448. 


Klostergelehrsamkeit  bis  zum  Ausgange  des  X.  Jahrhunderts.  837 

doch  nicht  so  farblos  wie  nach  den  dürftigen  Nachrichten,  welche 
wir  über  das  mathematische  Wissen  eines  Isidorus,  eines  Beda  allein 
zn  geben  imstande  waren,  erwartet  werden  möchte.  Vielleicht  ist 
zum  Vergleiche  darauf  hinzuweisen,  daß  auch  in  einer  Veroneser 
Handschrift  des  IX.  Jahrhunderts  eine  poetisch  eingekleidete  arith- 
metische Aufgabe  gefunden  worden  ist^). 

Es  sind  algebraische  und  geometrische  Aufgaben,  welche  hier 
auftreten,  daneben  solche,  die  nicht  durch  Rechnung,  sondern  mehr 
durch  einen  witzigen  Einfall  gelöst  werden  können,  und  überall,  wo 
es  möglich  ist  von  einer  Geschichte  der  betreffenden  Aufgaben  zu 
reden,  d.  h.  ihr  früheres  Vorkommen  zu  bestätigen,  sind  es  immer 
römische  Quellen,  auf  welche  man  hinweisen  muß.  Von  diesen  Auf- 
gaben seien  einige  hier  erwähnt.  Die  6.  Aufgabe  ist  eine  von  denen 
mit  nicht  mathematischer  Auflösung.  Zwei  Männer  kauften  für  100 
solidi  Schweine,  je  5  Schweine  zu  2  solidi.  Die  Schweine  teilten 
sie,  verkauften  dann  wieder  5  für  2  solidi  und  machten  dabei  ein 
gutes  Geschäft,  wie  ging  das  zu?  Sie  hatten  die  250  Schweine, 
welche  sie  gemeinschaftlich  besaßen,  in  zwei  gleiche  Herden  von 
je  125  Schweinen  geteilt,  so  daß  der  eine  aUe  fetteren,  der  andere 
alle  weniger  fetten  Schweine  vor  sich  hertrieb.  Der  erste  verkaufte 
120  von  seiner  Herde,  indem  er  2  für  einen  solidus  gab,  der  zweite 
verkaufte  gleichfalls  120,  indem  er  3  für  einen  solidus  gab.  Tat- 
sächlich wurden  5  Schweine  für  2  solidi  hergegeben.  Der  Erlös  des 
ersten  betrug  60,  der  des  zweiten  40  solidi,  und  damit  war  die  Aus- 
lage gedeckt,  während  den  Händlern  noch  10  Schweine,  je  5  von 
jeder  Wertsorte,  übrig  blieben.  —  Die  8.  Aufgabe  ist  eine  Brunnen- 
aufgabe, wie  sie  so  häufig  seit  Heron  uns  begegneten.  —  Die  23. 
und  24.  Aufgabe  lehren  die  Fläche  eines  viereckigen  und  eines  drei- 
eckigen Feldes  nach  denselben  Näherungsregeln  messen,  deren  die 
gefälschte  Geometrie  des  Boethius  (S.  586)  und  die  Vorschrift  zur 
Juchartausmessung  (S.  591)  sich  bedienen:  das  Viereck  gilt  als  Pro- 
dukt der  halben  Summen  einander  gegenüberliegender  Seiten,  das 
Dreieck  als  Produkt  der  halben  Summe  zweier  Seiten  in  die  Hälfte 
der  dritten  Seite.  —  An  die  Juchartausmessung  erinnert  auch  die 
25.  Aufgabe  von  dem  runden  Felde,  dessen  Fläche  gefunden  wird, 
indem  der  Umfang  400  durch  4  geteilt  und  der  Quotient  quadriert, 
d.  h.  Ä  =  4  angenommen  wird.  —  Wir  könnten  noch  recht  vielerlei 
Aufgaben  vergleichen  und  meistens  Dinge  erkennen,  welche  den  römi- 
schen Ursprung  wahrscheinlich  machen.  Nur  drei  Aufgaben  heben 
wir  noch  hervor.     Die   26.  Aufgabe  führt  die  Überschrift  De  cursu 


»)  E.  Dümmler  in  der  Zeitschr.  f.  deutsch.  Altert.  XXIII,  261  flg.    (1879). 


838  38.  Kapitel. 

cbuks  bc  fugb  lepprks.  Nach  Yertauschimg  von  Eonsonanten  mit 
ihnen  im  Alphabete  unmittelbar  vorhergehenden  Vokalen,  wie  sie 
(S.  803)  auch  bei  Johannes  von  Sevilla  an  gewissen  Stellen  sich  als 
notwendig  erwies,  wird  daraus  De  cursu  canis  ac  fuga  leporis.  Es 
ist  die  allbekannte  Aufgabe  von  dem  Hunde,  welcher  dem  Hasen 
nachläuft,  während  der  Hase  150  Fuß  voraus  ist,  di^egen  nur  7  Fuß 
weite  Sprünge  macht,  der  Hund  aber  9  Fuß  weit  springt.  Zum 
Zwecke  der  Auflösung  wird  150  halbiert  und  daraus  mit  Recht  ge- 
folgert, daß  der  Hund  den  Hasen  in  75  Sprüngen  einholen  werde. 
—  Die  34.  Aufgabe  lautet  wie  folgt:  Wenn  100  Scheflfel  unter 
ebensoviele   Personen    verteilt    werden,    so    daß   ein   Mann   3,    eine 

Frau  2  und  ein  Kind  y  SchefiFel    erhält,    wieviele    Männer,    Frauen 

und  Kinder  waren  es?  Die  Antwort  ist  11  Männer,  15  Frauen, 
74  Kinder.  Das  ist  die  erste  unbestimmte  Aufgabe  in  lateinischer 
Sprache,  die  uns  vorkommt.  Es  ist  dabei  bemerkenswert,  daß  der 
Text  der  Aufgabe  die  Möglichkeit  nicht  ganzzahliger  Auflösungen 
ausschließt,  daß  von  den  ganzzahligen  Auflösungen  nur  eine  ange- 
geben ist,  daß  die  Art  wie  dieselbe  gefunden  worden  sei,  auch  nicht 
einmal  angedeutet  ist.  —  Noch  interessanter  ist  die  35.  Aufgabe. 
Ein  Sterbender  verordnet  letztwillig,  daß,  wenn  seine  im  schwangeren 

Zustande   zurückgelassene  Witwe   einen   Sohn   gebäre,   der  Sohn  ^^ 

13! 

3  3  < 

oder  — ,  die  Witwe  ^  oder  —  des  Vermögens  erben  solle;  gebäre 
sie   aber   eine   Tochter,   so   solle   diese      ,    die   Witwe  —   des   Ver- 

mögens  erben.  Das  ist  dem  Inhalte,  wenn  auch  nicht  den  bestimmten 
Zahlen  nach,  die  in  den  Pandekten  enthaltene  Teilungsfrage,  deren 
römische  Auflösung  wir  (S.  562)  kennen  gelernt  haben.  Der  Sammler 
der  Aufgaben  zur  Verstandesschärfung  hat  sich  in  der  von  ihm  ge- 
gebenen Auflösung  als  einen  Mann  erwiesen,  der  in  den  Sinn  letzt- 
williger Verfügungen  einzudringen  nicht  imstande  war,  als  einen 
Nachahmer  der  Römer,  der  unmöglich  selbst  Römer  gewesen  sein 
kann.  Er  löst  deshalb  auch  die  Aufgabe  so  verkehrt,  als  sie  über- 
haupt allenfalls  gelöst  werden  kann.  Er  sagt:  Um  Mutter  und  Sohn 
zu  befriedigen,  bedarf  es  12  Teile,  um  Mutter  und  Tochter  zu  be- 
friedigen, gleichfalls,  zusammen  also  24  Teile.  Davon  erhält  in 
erster  Linie  der  Sohn  9,  die  Mutter  3,  in  zweiter  Linie  die  Mutter  5, 
die  Tochter  7,   die  Teilung   vollzieht  sich  also  in  dem  Verhältnisse, 

daß  die  Mutter      JT    =      ,    der  Sohn    04  "^  T  ^   ^^®  Tochter  —   der 

Hinterlassenschaft  zu  beanspruchen  hat.  —  Wir  haben  unsere  Aus- 
wahl mit  einer  Scherzfrage  begonnen,  welche  durch  Rechnung  allein 


EloBtergelehrsamkeit  bis  zum  AiisRUiffe  des  X.  Jahrhunderts.  839 

nicht  zu  lösen  ist  Mit  der  Erwähnnng  ähnlicher  Aufgaben  wollen 
wir  schließen,  nachdem  wir  die  mathematisch  interessanteren  durch- 
gesprochen haben.  Da  dürfte  vor  allem  die  18.  Aufgabe  unsere 
meisten  Leser  wie  eine  Erinnerung  aus  der  Einderzeit  anheimeln. 
Es  ist  die  Aufgabe  von  dem  Wolfe,  der  Ziege  und  dem  Erautkopfe, 
welche  in  einem  Boote,  dessen  Fährmann  nur  einen  Reisenden  gleich- 
zeitig befördert,  über  einen  Fluß  gesetzt  werden  sollen,  so  daß  nie- 
mals Ziege  und  Erautkopf  oder  Ziege  und  Wolf,  also  niemals  zwei 
Feinde  allein  auf  einem  Ufer  sich  befinden  sollen,  während  der 
Führer  mit  dem  Boote  unterwegs  ist^).  Noch  ein  zweites  Rätsel, 
welches  mit  einigen  anderen  zusammen  unter  der  besonderen  Über- 
schrift: „Rätsel  zum  Lachen^'  am  Schlüsse  der  Handschrift  vereinigt 
ist,  hat  bis  auf  den  heutigen  Tag  sich  erhalten;  es  bezieht  sich  auf 
die  von  der  Sonne  yerzehrte  Schneeflocke,  welche  an  dem  im  Winter 
blattlosen  Baum  haftete'). 

So  bergen  die  Aufgaben  zur  Yerstandesschärfang  mannigfachen 
Stoff  in  sich,  der  unverwüstliche  Lebenskraft  in  Yolkskreisen  wie  in 
halbwegs  wissenschaftlichen  Schulbüchern  an  den  Tag  gelegt  hat. 
So  befinden  sich  unter  ihnen  Aufgaben,  welche  auch  nach  rückwärts 
eine  vei-folgbare  Geschichte  besitzen,  andere,  welche  zu  immer  erneuten 
Versuchen  auffordern,  die  jnoch  nicht  gelungene  Rück  Verfolgung  zu 
vollziehen.  Fragen  wir  uns,  welche  mathematische  Anforderungen 
die  Aufgaben  an  den,  welcher  der  Lösung  sich  befleißigte,  stellten, 
so  sehen  wir,  daß  er  geometrisch  nicht  mehr  zu  wissen  brauchte,  als 
einige  wenige  dem  praktischen  Feldmesser  gebräuchliche  Formeln, 
algebraisch  nicht  mehr  als  die  Behandlung  der  Gleichungen  vom 
ersten  Grade,  daß  Wurzelausziehungen  nicht  vorkommen,  sondern 
nur  die  vier  einfachen  Rechnungsarten  und  diese  fast  ausschließlich 
an  ganzen  Zahlen. 

Aber  wie  führte  jene  Zeit,  wie  führte  Alcuin,  wenn  wir  voraus- 
setzen dürfen,  die  Sammlung  rühre  von  ihm  her,  die  Rechnungen 
aus?  Wir  haben  (S.  829— -830)  bei  Beda  die  gleiche  Frage  mit  dem  Zeug- 
nisse des  Nichtwissens  abgelehnt,  wir  sind  bei  Alcuin  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  in  derselben  Lage,  aber  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Grade.  Zwei  Stellen  aus  Alcuins  Schriften  führen  nämlich  zur  Ver- 
mutung, er  habe  das  Eolumnenrechnen  und  die  Apices  gekannt, 
welche  wir  bei  Gelegenheit  der  gefälschten   Geometrie  des  Boethius 

^)  Wenn  Hagen  1.  c.  S.  31  und  Anmerkong  22  dieseB  Rätsel  als  in  den 
Annales  Stadenses  vorkommend  bezeugt,  so  ist  damit  für  dessen  Alter  gar  nichts 
gewonnen,  da  diese  Annalen  erst  um  1240  geschrieben  worden  sind.  *)  Vgl. 
Max  Curtze  in  einer  Rezension  unserer  Agrimensoren  in  der  Jenaer  Literatur- 
zeitnng  vom  12.  Februar  1876. 


840  38.  Kapitel. 

beschrieben  haben.    Beide  Stellen  finden  sich  in  Schriftstücken,  welolie 
wir  schon  angeführt  haben,  ohne  jedoch  diese  bestimmten  Sätze   imd 
deren  Bedeutung  hervortreten  zu  lassen.    Wir  haben  den  Unterrichts- 
plan,  welchen  Egbert  an  der  Yorker  Domschule  einhalten  ließ,    aus 
einem  Gedichte  Alcuins,  welches  zwischen  780  und  796,  .wahrschein- 
lich sogar  zwischen  780  und  782  entstand^),  angegeben.     Den  144r&. 
Yers  dieses  langatmigen  Gedichtes  haben  wir  nachholend  hier  nocli 
anzugeben:  Egbert  lehrte  „diversas  numeri  species  yariasque  figuras^ 
auseinandergehende  Arten  der  Zahl  und  deren  verschiedene  Gestalteo. 
Wir  möchten  so  übersetzen,   weil  wir  entschieden  glauben,   daß   der 
Genitiv   numeri   nicht   minder   zu  variasque  figuras   als   zu    diversas 
species  gehört,  und  ist  diese  Meinung  richtig,  so  kannte  nicht  bloß 
Alcuin   verschiedene   Gestalten   der  Zahlen,   so   waren  dieselben  ein 
regelmäßiger  ünterrichtsgegenstand  in  York,  mutmaßlich  wenn  nicht 
zuver^.ssig    auch    später    in   Tours.      Was    aber    konnten    jene   ver- 
schieden en   Gestalten   der  Zahlen   sein?    Wir   sehen  nur  zwei  Mög- 
lichkeiten der  Erklärung.    Entweder  sind  die  Apices  gemeint,  wie  sie 
in  der  gefälschten  Geometrie  des  Boethius  beschrieben  sind,  oder  und 
vielleicht  wahrscheinlicher  die  Dreiecke,  Vierecke,  Vielecke  der  Zahlen^ 
die  man  aus   der  Arithmetik  des  gleichen  Verfassers  kannte.    Beide 
Möglichkeiten  sind  vorhanden,  und  eine  endgültige  Entscheidung  wird 
wesentlich  von  der  Auffindung  neuen  Materials  abhängen. 

Die  zweite  Stelle  könnte  allerdings  die  Deutui^  auf  die  Apices 
begünstigen.  Wir  haben  eines  Briefes  gedacht^  in  welchem  Alcuin 
von  arithmetisch -mystischen  Erklärungen  zu  biblischen  Texten  Ge- 
brauch macht.  In  eben  diesem  Briefe  heißt  es^):  „Ebenso  sehen  wir 
die  Reihenfolge  der  Zahlen  in  Gelenken,  gleichsam  gewissen  Ein- 
heiten, durch  endliche  Gestaltungen  zum  unendlichen  wachsen.  Denn 
die  erste  Reihenfolge  der  Zahlen  ist  von  1  bis  zu  10,  die  zweite  von 
10  bis  zu  100,  die  dritte  von  der  Hundertzahl  bis  zur  Tausendzahl." 
Das  ist  die  älteste  bestimmt  nachweisbare  Anwendung  des  Wortes 
articulus,  Gelenk,  für  Zahlen,  und  zwar  für  Zahlen,  welche  die  Rolle 
von  Einheiten  gleichsam  spielen,  d.  h.  etwas  anders  ausgesprochen 
runde  Zahlen  sind.  Das  ist  zugleich  die  Hervorhebung  der  drei 
Hauptordnungen,  in  welche  die  Zahlen  von  1  bis  1000  zerfallen,  oder 
wieder   etwas   anders   ausgesprochen   der  römischen  Triaden.     Beide 


^)  Über  die  Datierung  vgl.  Wattenbach  in  den  Monumenta  Alcuiniafia 
S.  80.  *)  Monumenta  AJc^iiniana,  Epist.  269,  pag.  820.  Item  progressianem 
numerarum  articulis,  quasi  quibusdam  unüatibus,  ad  infinita  crescere  per  quasdam 
finiUM  fortneu  videmus.  Nam  prima  progresaio  numerorum  est  ab  uno  usque  ad 
decem.  Secunda  a  decem  usque  ad  centum.  Tertia  a  eentenario  numero  usque 
ad  millenarium. 


Elostergelehrsamkeit  bis  zum  Ansgange  des  X.  JahrhiindertB.  841 

Kenntnisse  sind  dadurch  bis  vor  das  Todesjahr  Alcuins  804;  in 
welchem  allerspätestens  jener  Brief  geschrieben  ist,  hinanfgerückt^ 
nnd  es  entstünde  wenigstens  die  Frage,  ob  das  Wort  articulns  ftir 
älter  als  die  Apices  zu  halten  ist? 

Sei  dem,  wie  da  wolle,  Eines  können  wir  fortfahrend  feststellen: 
eine  Stetigkeit  der  Lehren,  welche  von  dem  Kloster  St.  Martin  bei 
Tours  ausgingen  und  an  bestimmte  Persönlichkeiten  als  Trager  der- 
selben sich  anknüpften.  Sehen  wir,  auf  welche  Weise  dieselben  nach 
Deutschland  gelangten.  In  der  Mitte  des  VIII.  S.  war  in  Fulda  ein 
Kloster,  begleitet  von  einer  Klosterschule  entstanden.  Ratgar,  der 
dritte  Abt  dieses  Klosters  802—814  schickte,  um  die  Schule  auf  die 
Höhe  der  Zeit  zu  bringen,  drei  junge  Mönche  nach  St.  Martin  bei 
Tours,  daß  sie  dort  Alcuins  Unterricht  genössen  und  so  zu  toII- 
endeten  Lehrern  würden.  Einer  dieser  jungen  jedenfalls  unter  den 
begabtesten  IQosterzöglingen  ausgesuchten  Männer  war  Hrabanus 
Maurus^),  der  erste  Lehrer  Deutschlands,  primus  praeceptor  Ger- 
maniae,  wie  er  genannt  worden  ist.  Die  Verdienste  desselben  um 
die  deutsche  Sprache,  welche  er  zu  einem  lateinisch-deutschen  Bibel- 
glossar anwandte,  wie  die  meisten  seiner  zahlreichen  Schriften  liegen 
weit  außerhalb  des  Bereiches  unserer  Untersuchungen.  Wir  würden 
uns  nur  mit  den  Schriften  über  die  sieben  freien  Künste  zu  be- 
-«^haftigen  haben,  welche  er  in  mindestens  ebensovielen  Teilen  be- 
handelt hat,  wenn  dieselben  uns  erhalten  wären.  Leider  ist  dieses 
nicht  der  Fall.  Die  Arithmetik,  die  Musik,  die  Geometrie  sind  ver- 
loren gegangen.  Statt  einer  eigentlichen  Astronomie  ist  ein  in  Ge- 
sprächsform gehaltener  Computus  auf  uns  gekommen*),  welcher,  wie 
zahlreiche  Stellen  beweisen'),  im  Jahre  820  verfaßt  ist.  Dieser 
Computus  ist  ziemlich  genau  nach  Bedas  chronologischen  Arbeiten 
gebildet  und  enthält  kaum  etwas  für  die  Geschichte  der  Mathematik 
Wissenswertes,  so  daß  man  ihn  wohl  in  negativer  Weise  verwertet 
hat,  um  zu  schließen,  ein  Abacus  und  dergleichen  könnten  damals 
nicht  Lehrgegenstände  gewesen  sein,  weil  auch  gar  nicht  davon  die 
Rede  sei.  Wir  überlassen  es  unseren  Lesern,  wieviel  Gewicht  sie 
auf  das  Nichtvorhandensein  einer  Beschreibung  in  einer  Schrift  legen 
wollen,  welche  in  innigem  Zusammenhange  mit  anderen  Schriften 
stand,  die  sämtlich  verloren  gegangen  sind.  Zu  einer  Bemerkung 
nötigt  uns  die  Unparteilichkeit.  In  einem  Kapitel  des  Computus 
des  Hrabanus  erscheinen  in  auffallendem  Zusammenhange  die  Wörter 


^)  Werner,   Alcain  S.  101^ ^^qO.     Dümmler,   HrabanuBstadien  in  den 

Sitzungsberichten  der  Berliner  A^b  ^eini^  1B98 ,  S.  24  ^gg.        *)  Abgedruckt  in 
Baluze,  Miscellanea  I,  1—92.    P^^^    ^^78.      *)  Ebenda  pag.  43,  61  und  h&ufiger. 


842  38.  Kapitel 

digitus  nnd  articalns^).  Sie  betreffen  nicht^  wie  man  zunächst  rer- 
mnten  könnte^  Finger-  nnd  Gelenkzahlen^  sondern  eine  eigentümliche 
Gedächtnishilfe  an  den  Enochehi  der  Hand.  Von  älteren  Schriften 
sind  bei  Hrabanus  genannt:  die  Arithmetik  des  Boeihins'),  die 
Origines  des  Isidoms*),  die  Osterrechnnng  des  Anatolins^).  Zwei 
Jahre^  nachdem  Hrabanus  seinen  Gomputus  verfaßt  hatte,  wurde 
er  zum  Abte  seines  Klosters  gewählt  und  stand  ihm  20  Jahre  hin- 
durch bis  842  mit  wirksamem  Eifer  vor.  Dann  zog  er  sich  in  ein 
stilleres  Leben  zurück,  welches  er  jedoch  847  wieder  aufgeben  mußte, 
um  Erzbischof  ron  Mainz  zu  werden.     Als  solcher  starb  er  856. 

Männer  der  Fuldaer  Schule  trugen  ihrerseits  die  Wissenschaft 
weiter,  welche  Hrabanus  Maurus  und  seine  Genossen  aus  Tours  mit- 
gebracht hatten.  Walafried  Strabo,  806  in  Allemanien  geboren, 
wurde  842  Abt  zu  Reichenau.  Aus  den  Schriften  dieses  849  yer- 
storbenen  Mannes  und  anderen  gleichzeitigen  Werken  ist  1857  durch 
Pater  Martin  Marty  in  Einsiedeln  eine  Abhandlung  „Wie  man  Tor 
1000  Jahren  lehrte  und  lernte'^  zusammengestellt  worden,  worin  die 
Stelle  vorkommt:  „Im  Sommer  822  begann  ich  unter  Tattos  Leitung 
das  Studium  der  Arithmetik.  Zuerst  erklärte  er  uns  die  Bücher  des 
Konsuls  Manlius  Boethius  über  die  verschiedenen  Arten  und  Eintei- 
lungen, sowie  über  die  Bedeutung  der  Zahlen;  -dann  lernten  wir  das 
Rechnen  mit  den  Fingern  und  den  Gebrauch  des  Abacus  nach  den 
Büchern,  welche  Beda  und  Boethius  darüber  geschrieben  haben.^^ 
Leider  stammt  diese  Erzählung  nicht  aus  einem  wirklich  vorhandenen 
Tagebuch,  sondern  wurde  vom  Verfasser  als  seinen  persönlichen  ge- 
schichtlichen Ansichten  entsprechend  Strabo  in  den  Mund  gelegt^), 
so  daß  man  eine  Beweiskräftigkeit  dieser,  wenn  auf  Angaben  aus 
dem  IX.  S.  gestützten,  imwiderlegbaren  Erzählung  nicht  zu  behaupten 
vermag. 

Ein  anderer  Schüler  Hrabans  war  Heiric  von  Auxerre,  der  selbst 
wieder  in  Remigius  von  Auxerre*)  seinen  Nachfolger  sich  heran- 
bildete. Schon  vorher  hatte  Remigius  in  dem  Kloster  Perri&res  den 
Unterricht  von  Servatus  Lupus,  einem  Zöglinge  des  Klosters  St.  Martin 
bei  Tours,  genossen  und  so  aus  doppelter  Vermittlung  die  wissen- 
schaftlichen Anregungen  Alcuins  in  sich  aufgenommen.  Remigius 
muß  daher,  wenn  einer,  als  mittelbarer  Schüler  Alcuins  gelten,  imd 
er   selbst   trat   nach  877  an  die  Spitze  einer  Schule,   deren   spätere 

*)  Abgedruckt  in  Bai  uze,  Miscellanea  I,  pag.  70  —  71.  Be  reditu  et  com- 
puto  arHculari  utrarumque  epactarum  solis  et  lunae.  *)  Ebenda  pag.  7. 
■)  Ebenda  pag.  8.  *)  Ebenda  pag.  83.  ^)  Vgl.  einen  Brief  von  P.  Marty 
an  H.  Suter  in  Zeitschr.  Math.  Phjs.  XXIX.  Histor.-literar.  Abtlg.  ^  Werner, 
Alcnin  S.  110. 


KlostergelehrBamkeit  bis  zum  Auegange  des  X.  Jahrhunderts.  843 

große  Bedeutung  uns  nötigt^  ihres  Stifters  zu  gedenken.  Es  war 
eine  Schule  zu  Paris^  und  zwar  eine  Schule,  die  nur  als  solche,  nicht 
in  Verbindung  mit  einem  Kloster  eingerichtet  wurde.  Aus  ihr  ent- 
wickelte sich  später  die  Pariser  Universität.  Aber  vor  seiner 
Pariser  Lehrtätigkeit  machte  sich  Remigius  um  das  Schulwesen  einer 
Stadt  verdient,  welche  uns  im  nächsten  Kapitel  von  Wichtigkeit  sein 
wird,  um  das  Schulwesen  Ton  Rheims,  wohin  er  durch  den  Erzbischof 
Fulco  berufen  worden  war.     Remigius  starb  908. 

Führten  diese  Männer  die  Lehren  und  das  Lehrverfahren  der 
Schule  von  St.  Martin  bei  Tours  in  östlicher  und  nördlicher  Rich- 
tung weiter,  freilich  ohne  daß  ihre  Bemühungen  von  glänzendem 
Erfolge  begleitet  gewesen  wären,  indem  yielmehr  von  der  Mitte  des 
IX.  S.  an  die  Zahl  derer,  welche  realen  Lehrgegenständen  sich  zu- 
wandten, mehr  und  mehr  wieder  abnahm,  zuletzt  aus  einzelnen  Per- 
sönlichkeiten nur  bestehend,  so  knüpft  sich  an  einen  anderen  Zög- 
ling derselben  Mutteranstalt  eine  südlich  gewandte  Fortleitung,  an 
Odo  von  Cluny^).  Ein  Edelmann,  der  am  Hofe  Wilhelms  des 
Starken  des  Herzogs  von  Aquitanien  lebte,  hatte  lange  kinderlos 
seine  Nachkommenschaft,  wenn  ihm  solche  würde,  dem  Dienste  des 
heiligen  Martin  zugelobt,  und  so  war  über  die  Bestimmung  des 
jungen  Odo  schon  verfügt,  als  er  um  879  geboren  wurde.  Im  Knaben- 
alter in  das  Kloster  St.  Martin  aufgenommen,  genoß  er  den  Unter- 
richt des  Scholastikus,  d.  i.  des  Stiftslehrers  Odalric.  Nicht  ganz  im 
Einklang  mit  seinen  Lehrern,  welche  ihn  länger  bei  weltlichen  Lehr- 
gegenständen festhalten  wollten  als  es  ihm  behagte,  verließ  er  Tours 
und  begab  sich  zu  Remigius  nach  Paris.  Nach  einiger  Zeit  kehrte 
er  nach  Tours  zurück,  wo  aber  das  zügellose  Leben,  welches  unter 
den  dortigen  Mönchen  eingerissen  war,  ihn  mit  Widerwillen  erfüllte. 
Nun  zog  er  sich  in  die  Zisterzienser- Abtei  Baume  zurück,  welche 
mit  verschiedenen  anderen  Klöstern  im  engsten  Zusammenhange 
stand,  und  wurde  927,  als  der  gemeinsame  Abt  Bemo  dieser  Klöster 
starb,  auf  die  letztwillige  Verordnung  des  Verstorbenen  hin  zum 
Abte  von  Clunj  gewählt.  Mit  eiserner  Strenge  führte  er  dort  die 
Herrschaft,  so  daß  sein  IQoster  und  die  damit  verbundene  Schule 
bald  allgemein  als  Musteranstalten  an  Zucht  und  Ordnung  galten,  und 
er  selbst  bald  da  bald  dorthin  gerufen  wurde,  um  gleiche  Reformen 
«inzuführen  (wie  z.  B.  nach  dem  am  Anfange  des  X.  S.  in  der  Auvergne 
gegründeten  Kloster  AuriUac,  dessen  dritter  Abt  er  war,  wie  937 
nach  dem  Mutterkloster  des  Ordens  auf  Monte  Casino)^  oder  um 
mannigfache  Streitigkeiten  zu   schlichten.     Odo  starb  942  oder  943. 


»)  Math.  Beitr.  Kulturl.  8.  29^^30«.    Werner,  Alcuin  S.  112—114. 


844  S8.  Kapitel. 

Ein  wahrscheinlich  dem  Xu.  S.  angehörender  tmter  dem  Namen  des 
Anonymus  von  Melk  bekannter  Schriftsteller^  welcher  in  117  Kapiteln 
in  überaus  trockenem  aber  dadurch  nur  um  so  yertrauenswerterem 
Tone  einzelne  Mönche  nennt  und  deren  Werke  angibt,  hat  im 
75.  Kapitel  zwei  Schriften  Odos  gerühmt^):  ein  Werk  über  die  Be- 
schäftigungen von  höchster  Trefflichkeit  und  ein  ziemlich  brauchbares 
Zwiegespräch  über  die  Kunst  der  Musik.  Als  Datum  jener  Schrift 
gilt  926 y  also  die  Zeit,  welche  der  Erwählung  Odos  zum  Abte  vor- 
anging, was  die  Wahrscheinlichkeit  der  Richtigkeit  der  Angabe  nur 
erhöht.  Viele  mittelalterliche  Abhandlungen  über  Musik  haben  hand- 
schriftlich sich  erhalten,  nicht  gerade  wenige  davon  sind  auch  ge- 
druckt, und  daunter  sind  mehrere,  welche  Odo  von  Cluny  als  Ver- 
fasser beigelegt  werden.  Eine  solche  Abhandlung,  in  verschiedenen 
Abschriften  erhalten,  entspricht  der  von  dem  Anonymus  von  Melk 
gegebenen  Beschreibung  insofern,  als  sie  allein  von  allen  in  Gesprächs- 
form abgefaßt  und  wirklich  „ziemlich  brauchbar'^  ist.  Eine  Hand- 
schrift dieser  musikalischen  Abhandlung  stammt  aus  dem  XlII.  S. 
und  gehört  der  Wiener  Bibliothek  an. 

In  demselben  Bande,  in  welchem  das  Gespräch  über  Musik  zum 
Abdrucke  kam^),  ist  auch  eine  andere  Schrift  nach  demselben  dem 
XIII.  S.  entstammenden  Wiener  Kodex  2503,  welcher  jenes  Gespräch 
über  Musik  enthält,  veröffentlicht.  Diese  andere  Schrift  führt  den 
Titel:  „Regeln  des  Abacus  von  dem  Herrn  Oddo"  und  würde,  wenn 
sie  wirklich  mit  Recht  Odo  von  Cluny  beigelegt  werden  dürfte*)^ 
von  ungemeiner  geschichtlicher  Bedeutung  sein.  Leider  ist  eine  Ge* 
wißheit  dafür  so  wenig  vorhanden,  daß  die  meisten  Geschichts- 
forscher weit  mehr  der  Auffassung  sich  zuneigen,  die  Regeln  des 
Abacus  seien  nicht  so  gar  lange  vor  Entstehung  ihrer  Niederschrift 
aus  dem  XIH.  S.  von  irgend  einem  anderen  späteren  Oddo  oder  Odo 
nicht  vor  dem  XI.  oder  XII.  S.  zusammengestellt,  eine  Meinung,  für 
welche  man  allenfalls  auch  auf  den  Umstand  sich  beziehen  könnte,, 
daß  Odo  von  Cluny,  wie  wir  oben  sahen,  bei  seinem  eigenen  Bildungs- 
gange dem  Verweilen  bei  ähnlichen  Dingen  sich   widerwillig  zeigte» 


*)  Diälogum  satis  utilem  de  Musica  arte  composuit  Scripsit  praeterea  librum 
praestantissimum  miynachisgue  utüissimum,  Ubrum  videlicet  Occupationum.  AU 
Bandzahl  steht  danehen  926.  *)  Scriptores  eccksitistici  de  tntisica  herausgegeben 
durch  Abt  Martin  Gerbert  von  St.  Blasien.  St.  Blasien  1784.  I,  252  —  264 
der  Dialog  über  Mnsik^  ibid.  296 — 802  BegtUae  Domini  Oddonis  super  äbctcum. 
Ambr.  Sturm  in  der  Bibliotheca  Mathematica  3.  Folge  IIT,  189  (1902).  »)  Th. 
H.  Martin,  Origine  de  notre  Systeme  de  num^ation  icrite  in  der  BemAe  archeo- 
logique  von  1866,  S.  83  des  Sonderabzuges  hat  wohl  zuerst  diese  Autorschaft  ver- 
treten, eine  Ansicht,  der  wir  uns  in  den  Math.  Beitr.  Eulturl.  anschlössen. 


Klostergelehrsamkeit  bis  zum  Ausgange  des  X.  Jahrhunderts.  845 

Ohne  diese  Gründe  als  zwingend  anzuerkennen ,  da  man  gar  oft  als 
Schüler  andere  Ansichten  von  dem  zn  Erlernenden  oder  zu  Vernach- 
lässigenden hat  als  später  als  Lehrer^  können  wir  doch  ebenso  wenig 
eine  unbedingte  Widerlegung  führen.  Wir  wollen  daher  diese  Regeln 
erst  im  40.  Kapitel  unter  dem  XII.  S.  näher  beschreiben. 

Wir  wenden  uns  gegenwärtig  zn  einer  Schrift ,  welche  gesicher- 
terer Entstehung  eine  Anzahl  von  Jahren  vor  985  geschrieben  ist 
und  von  Abbo  von  Fleury  herrührt*).  Abbo  ist  in  Orleans  ge- 
boren^  hat  an  den  uns  bekannten  Schulen  von  Paris  und  Rheims, 
zuletzt  in  seiner  Vaterstadt  Orleans  studiert,  und  trat  darauf  in  das 
Benediktinerkloster  Fleury  ein.  Nachdem  er  ihm  eine  Anzahl  von 
Jahren  angehört  hatte,  trat  er  eine  zweijährige  Reise  nach  England 
an,  und  von  dort  zurückgekehrt  wurde  er  Abt  seines  Klosters.  Als 
solcher  scheint  er  zu  Gewaltmaßregeln,  die  sein  leicht  aufbrausender 
Zorn  ihm  eingab,  geneigt  gewesen  zu  sein,  und  er  starb  wirklich 
eines  gewaltsamen  Todes  auf  einer  Reise,  wie  die  einen  sagen  auf 
Anstiften  eines  seiner  Mönche  ermordet,  wie  die  anderen  sagen  in 
einem  auf  dem  Wege  entstandenen  Raufhandel.  Sein  Todesjahr  war 
1003  oder  1004.  Auch  die  Angaben  über  die  Reise  nach  England 
wechseln  von  den  Jahren  960 — 962  bis  zu  den  Jahren  985 — 987. 
In  England  hat  Abbo  grammatische  Untersuchungen  angestellt,  welche 
er  als  Quaestiones  grammaticales  niederschrieb.  Unter  die  gramma- 
tischen Untersuchungen  gerieten  auch  Betrachtungen  über  die  ge- 
heimnisvolle Bedeutung  der  einzelnen  Zahlen,  welche  aber  Abbo 
ziemlich  kurz  abtut,  weil  er,  wie  er  sagt,  ausführlich  darüber  in 
einem  Büchlein  gehandelt  habe,  welches  er  einst  durch  die  Bitten 
seiner  Klosterbrüder  bezwungen  zu  dem  Rechenbuche  des  Victorius 
über  Zahl,  Maß  und  Gewicht  herausgegeben  habe^).  Da  nun  ein 
Kommentar  zu  dem  Rechenknechte  des  Victorius  (S.  531)  sich  auf- 
gefunden hat,  welcher  zwar  namenlos  ist,  aber  in  den  ersten  Ein- 
leitungszeilen genau  dieselbe  Redewendung  von  den  nötigenden 
Bitten  der  Klosterbrüder,  dieselbe  Inhaltsangabe  über  Zahl,  Maß 
und  Gewichte  aufweist,  welcher  Zahlenmystik  bis  zum  Überdrusse 
breitschlägt,  welcher  handschriftlich  nicht  später  als  im  XI.  S.  ent- 
standen sein  kann,  welcher  aber  auch  nicht  früher  als  in  karolin- 
gischer  Zeit  verfaßt  sein  kann,  weil  darin  von  dem  Grammatiker 
Virgil  von  Toulouse  und  von  der  erst  unter  Pipin  eingeführten  Ein- 

^)  Chiist,  Ueber  das  Argumentum  calculandi  des  Victorias  und  dessen 
Commentar  (Sitzungsberichte  der  k.  bair.  Akademie  der  Wissenschaften  zu 
München,  1863,  I,  100—152).  Über  Abbos  PersönUchkeit  S.  118.  *)  In  lihel- 
lulo  quem  precilms  fratrum  cocmtus  de  numero  mensura  et  pondere  olim  edidi 
super  calculum  Victariu 


846  88.  Kapitel. 

teilung   des   Solidus   in    12   Denare   die   Rede  ist,  so   hat   man  aus 
allen   diesen   scharfsinnig   entdeckten  Merkmalen   die  Folgerung   ge- 
zogen,  daß  man  es  nur  mit  dem  Kommentare  des  Abbo  ron  Fleurj 
zu  ton  haben  könne,  von  welchem  dieser  spätestens  987  sagte ,  daß 
er  ihn   einst ,   olim,   also  gewiß  ziemlich  viele  Jahre  früher  verfaßt 
habe.     Man  konnte  mit  einigen  Erwartungen  an  diesen  Kommentar 
eines  Mannes   herantreten,   welchen   ein   Zeitgenosse,   Fulbert   von 
Chartres,    den    hochberühmten    Lehrer    des    ganzen   Frankenlandes 
genannt  hat^),  und  welcher  in  den  einleitenden  Worten  sich  seiner 
Eigenschaft    als    Rechenlehrer    gewissermaßen    rühmt.      Seit    seiner 
frühesten   Jugend   beklage   er,  daß   die  Kenntnis   der  freien  Künste 
schwinde  und  kaum  noch  auf  wenige  sich  beschränke,  die  habsüchtig 
ihrem  Wissen  einen  Preis  stellen.     Daraus,  nicht  aus  Stolz  noch  aus 
Neid  möge  man  es  ableiten,  wenn  er  auf  die  Gemüter  der  weniger 
Unterrichteten  durch  Rechenunterricht  wirke  ^.     Abbo  nennt  an  ver- 
schiedenen Stellen   die   älteren  Schriftsteller,   deren  Werke   ihm  ge- 
dient  haben.     Martianus   Capella   und   Boethius  werden   des  öfteren 
angeführt,    neben    ihnen   Chalkidius    und    Macrobius.     Er    war    mit 
Schriften  des  Priscian  bekannt,  in  welchen  von  den  Zahlen  die  Rede 
ist,  mit  Isidorus  und  Beda,  wohl  auch  noch  mit  anderen  Quellen,  die 
uns  nicht  mehr  erhalten  sind.     Leider  sind  nur  einzelne  Stellen  des 
umfassenden  Kommentars  abgedruckt,  und  in  diesen  ist  die  Ausbeute 
keineswegs    den    Erwartungen    entsprechend.      Man    kann    allenfalls 
einen  Abschnitt   über   Zahlenbezeichnung   an   und   mit   den   Fingern 
erwähnen,   in   welchem  der  sprachliche  Ausdruck  reiner  sei  als  bei 
Beda,  von   welchem  überdies   einzelne  Abweichungen  stattfinden;   es 
scheine,   daß  Abbo  hier  eine   ältere   Quelle   ausschrieb*).     Was   das 
Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  betrifft;,  so  hat  Abbo  dem  Multiplizieren, 
aber  nicht  dem  Dividieren  seine  Aufmerksamkeit  zugewandt.    Er  lehrt^) 
an  einem  gezeichneten  Abacus  mit  senkrechten  Kolumnen,  daß  Zehner 
mit  Zehnem  vervielfacht  Hunderter  geben,  deren  eigene  Gelenkzahlen 
(artiadt)  dann  Tausender  sind.     Er  lehrt  tabellarisch  geordnete  Viel- 
fache von  7,  von  59  kennen.    Wir  erfahren  femer,  daß  das  Hersagen 
des    Einmaleins    in   Wörtern    der   Yulgärsprache    untermengt   mit 
deutschen   Klängen  —  z.  B.    cean,   wohl   für    zehn  —  noch  immer 
in   den  Schulen    stattfand^),   eine    an   sich  ganz  wissens würdige   Be- 
merkung, welche  aber  für  die  Frage,  die  wir  schon  wiederholt  ge- 

')  Summae  philosophiae  AhhcLS  et  omni  divina  et  saeculari  auctarüate  iotius 
Franciae  magister  famosissimus,  *)  Christ  1.  c.  S.  121.  ^  £benda  S.  126—126. 
*)  Vgl.  einige  Brachstücke  ans  AbboB  Kommentar,  welche  von  Bubnov,  Gerherti 
Opera  mathematica  (Berlin  1899)  pag.  199—204  zum  Abdruck  gebracht  sind. 
*)  Christ  1.  c.  S.  108—109. 


Gerbert.  847 

stellt  haben ^  ohne  sie  jemals  sicher  beantworten  zu  können,  für  die 
Frage^  wie  die  Elosterschnle  jener  Zeit  mit  ganzen  Zahlen  rechnen 
lehrte^  kaum  einen  Beitrag  zu  einer  Beantwortung  liefert.  Das  Ein- 
maleins war  stets  und  ist  zu  einem  bequemen  Rechnen  notwendig,  es 
ist  seit  den  Griechen  immer  dabei  benutzt  worden,  aber  es  ist  nicht 
das  Rechnen  selbst.  Es  gibt  uns  nicht  einmal  Auskunft  darüber,  wie 
man  Zahlen  vervielfachte,  deren  eine  mindestens  größer  als  10  ist, 
geschweige  denn,  daß  es  von  den  anderen  Rechnungsverfahren  uns 
unterrichte. 

Über  dieses  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  erhalten  wir  erst  Aus- 
kunft, wenn  wir  zu  einem  Schriftsteller  uns  wenden,  der  viel  be- 
sprochen einen  geistigen  Mittelpunkt  seiner  Zeit  gebildet  hat,  und 
der  unsere  ganze  Aufmerksamkeit  nunmehr  in  Anspruch  nehmen 
soU:  Gerbert. 


39.  Kapitel. 
Gerbert 

So  interessant  das  Leben  Gerberts  ist^),  werden  wir  uns  mit 
einem  nur  sehr  kurzen  Überblicke  über  dasselbe  begnügen  müssen, 
und  würden  noch  kürzer  uns  fassen,  wenn  seine  Leistungen  nicht 
zum  Teil  nur  dann  verständlich  wären,  wenn  man  die  Kenntnis  der 
Verhältnisse,  unter  welchen  sie  entstanden  sind,  besitzt.  Gerbert 
muß  in  der  ersten  Hälfte  des  X.  S.  wahrscheinlich  von  armen  Eltern 
in  der  Auvergne  unweit  des  Klosters  Aurillac  geboren  sein.  Dort 
wuchs  er  dann  auf,  erzogen  durch  den  Scholastikus  Raimund,  der 
selbst  ein  Schüler  Odos  von  Cluny  war,  und  durch  den  nachmaligen 
Abt  Gerald.  Etwa  967  verließ  Gerbert  das  Kloster  mit  Einwilligung 
seiner  Obern,  um  den  Grafen  Borel  von  Barcelona,  den  eine  politische 
Reise  an  dem  Kloster  vorbeigeführt  hatte,  in  seine  Heimat  zu  be- 
gleiten, und  dort  in  der  spanischen  Mark  gewann  er  sich  in  Hatto, 
dem  Bischof  von  Vieh,  einen  väterlichen  Freund,  bei  welchem  er 
weitere  Studien  machte,  sich  auch  in  der  Mathematik  vielfach  mit 
Nutzen  beschäftigte*). 


*)  Math.  Beitr.  Kulturl.  Kapitel  XXI  und  XXH,  S.  808  —  829.  Olleris, 
Oeuvres  de  Gerbert,  Clermont-Fd.  et  Paria  1867.  XVII— CCV.  Karl  Werner, 
Gerbert  von  Aurillac,  die  Kirche  und  Wissenschaft  seiner  Zeit.  Wien  1878. 
Nicol.  Bubnov,  Gerberti  Opera  matkematica.  Berlin  1899.  *)  Eicherus, 
Histar.  m,  48  {Monument.  German.  S^fipt  ÜI,  617)  .  .  .  Hattoni  episcopo  instru- 
endum  cammisit    Äpud  quem  etiatn  {f^  ma&^si  plurimum  et  efficaciter  studuit 


848  39.  Kapitel. 

Das  ist  alles,  was  wir  über  den  Unterrichtsgang  Gerberts  aus 
dem  Munde  seines  Schülers  Richerus  wissen,  der,  so  wenig  zuver- 
lässig er  als  Oeschichtsschreiber  im  allgemeinen  sich  erweist,  doch 
in  dieser  Beziehung  unser  Vertrauen  verdient,  da  er  seinen  Lehrer 
aufs  höchste  verehrend  lieber  zu  viel  als  zu  wenig  gesagt  haben 
würde,  wenn  er  mehr  gewußt  hätte.  Er  hätte  uns  z.  B.  nicht 
verschwiegen,  wenn  Gerbert  sich  bei  Hatto  Kenntnisse  in  der 
arabischen  Sprache  erworben  hätte,  wenn  er  die  Gefahren  nicht 
scheuend,  welche  den  Christen  in  den  arabischen  Städten  bedrohten 
und  gerade  damals  unter  den  glaubenseifrigsten  Emiren  unvermeid- 
liche und  unübersteigliche  Hindernisse  bildeten  (S.  793),  unter  die 
Gelehrten  jenes  Volkes  sich  gemischt  hätte,  um  deren  Wissen  sich 
anzueignen. 

So  zerfällt  von  selbst  die  Notiz,  welche  einen  Zeitgenossen 
Gerberts,  den  Chronisten  Adhemar  von  Chabanois,  zum  Verfasser 
hat.  Dieser  erzählt  nämlich:  „Gerbert  war  aus  Aquitanien  von  niederer 
Geburt.  Er  war  seit  seiner  Kindheit  Mitglied  des  Klosters  des  heiligen 
Geraldus  von  Aurillac.  Er  durchwanderte  der  Weisheit  wegen  erst 
Frankreich,  dann  Cordova.  Er  wurde  dem  König  Hugo  bekannt  und 
mit  dem  Bistume  Rheims  beschenkt.  Dann  lernte  Kaiser  Otto  ihn 
kennen,  worauf  er  das  Bistum  Rheims  verließ  und  Erzbischof  von 
Ravenna  wurde.  Als  später  Papst  Gregor,  der  Bruder  des  Kaisers, 
starb,  wurde  derselbe  Gerbert  scheinbar  seiner  Weisheit  wegen  vom 
Kaiser  zum  römischen  Papste  erhöht.  Da  veränderte  er  seinen  Namen 
und  hieß  seit  der  Zeit  Sylvester"^).  In  dieser  fast  mehr  als  kurzen 
Lebensgeschichte  ist  Wahres  und  Falsches  in  buntem  Wechsel  ge- 
mengt, und  falsch  ist  offenbar  die  Durchwanderung  von  Cordova, 
welche  zu  der  Frankreichs  in  Gegensatz  gestellt  ist.  Man  hat  eine 
Erklärung  dazu  darin  gefunden*),  daß  für  Adhemar,  der,  ähnlich  wie 
68  auch  bei  Richer  der  Fall  ist,  in  Frankreich  erträglich,  außerhalb 
Frankreich  ganz  und  gar  nicht  Bescheid  wußte,  Cordova  das  ge- 
samte Land  jenseits  der  Pyrenäen  bezeichnete,  die  spanische  Mark 
mit  eingeschlossen,  in  welcher  Gerbert  tatsächlich  seinen  Aufenthalt 
nahm,  so  daß  also  ein  eigentlicher  Widerspruch  gegen  das  von  Richer 
uns  wahrheitsgetreu  Bezeugte  nicht  vorhanden  sei. 

Wohl  liegt  dagegen  ein  ausdrücklicher  Widerspruch  gegen  die 
Beschränkung  des  Aufenthaltes  Gerberts  auf  die  spanische  Mark  in 
den  Worten  eines  anderen  Chronisten:  Gerbert  habe  mit  Bestimmt- 
heit  den    Abacus    den    Sarazenen   geraubt   und   die   Regeln   gegeben, 


')  Monummt.  German,  VI,   180.        ■)Büdinger,  üeber  Gerberts  wisBen- 
schaftliche  nnd  politische  Stellang.    Marburg  1851,  S.  8. 


Gerbert.  849 

welclie  Ton  den  schwitzenden  Abacisten  kanm  rerstanden  werden^). 
Allein  dieser  Berichterstatter  ist  ans  mancherlei  Gründen  za  verwerfen. 
Wilhelm  von  Malmesbury  lebte  als  englischer  Chronist  aus  der  Mitte 
des  XII.  S.  nach  Zeit  imd  Ort  in  einer  Umgebung,  in  welcher  durch 
die  Übersetzungen  arabischer  Schriftsteller  z.  B.  des  Rechenbuchs 
des  Muhammed  ihn  Müsä  Alchwarizmi  die  Vermutung  nahe  gelegt 
wurde,  ein  irgendwie  vereinfachtes  Rechnen  könne  nirgend  anders 
als  bei  den  Arabern  entstanden  sein.  Femer  ist  seine  Glaubwürdig- 
keit, soweit  es  um  Gerbert  sich  handelt,  eine  so  geringe  als  nur 
irgend  möglich.  Er  verbrämt  die  Geschichte  von  dem  Raube  des 
Abacus  mit  den  tollsten  Zaubermärchen,  die  deshalb  nicht  wahrer 
sind,  weil  sie  später  da  und  dort  Glauben  fanden').  Er  verwechselt 
mitunter  sogar  Gerbert  mit  Papst  Johann  XY.  Kurz  er  ist  alles  eher 
als  ein  zuverlässiger  Zeuge,  wo  er  allein  und  gar  in  Widerspruch  zu 
den  zahlreichsten  sonstigen  Erwägungen  aussagt. 

Um  970  begleitete  Gerbert  den  Bischof  Hatte  und  den  Grafen 
Borel  nach  Rom,  wo  er  durch  den  Papst  Johann  XIII.  dem  deutschen 
Könige  Otto  I.  vorgestellt  wurde,  und  auf  dessen  Wunsch  ihn  als 
Lehrer  irgendwo  anzustellen  erwiderte,  er  wisse  zu  diesem  Zwecke  in 
der  Mathematik  zwar  genug,  aber  nicht  in  der  Dialektik.  Um  darin 
flieh  weiter  auszubilden  ging  nun  Gerbert  mit  Ottos  Einwilligung 
nach  Rheims,  wo  er  vermutlich  zehn  Jahre,  von  972  bis  982,  ver- 
weilte und  eine  anfangs  gemischte  Stellung  einnahm,  welche  bald 
vollständig  in  die  eines  Stiftslehrers  überging.  Zu  den  Männern, 
welche  ihn  damals  in  der  Dialektik,  vielleicht  auch  noch  in  der 
Grammatik  unterrichteten,  welchen  er  aber  dafür  schon  mathematischen 
Unterricht  erteilte,  gehörte  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  Constan- 
tinus,  der  von  einem  späteren  Aufenthaltsorte  den  Namen  Gonstan- 
tinus  von  Fleury  erhalten  hat. 

Wir  sind  wieder  durch  Richerus  in  die  Lage  versetzt,  den  Lehr- 
plan genau  schildern  zu  können,  welchen  Gerbert  als  Scholasticus 
in  Rheims  einzuhalten  pflegte ''^).  Zuerst  wurden  die  Schüler  an 
philosophische  Auffassung  gewöhnt.  Die  Hilfsmittel  waren  griechische 
Werke  in  lateinischer  Übersetzung,  zumeist  in  der  des  Konsul 
Manlius,  d.  h.  des  Boethius.  Darauf  folgte  die  Rhetorik  verbunden 
mit  dem  Lesen  lateinischer  Dichter,  und  nach  ihr  eigentlich  dialek- 
tische Übungen,  die  unter  der  Leitung  eines  besonders  dazu  an- 
gestellten Lehrers  stattfanden.    Von  dieser  Abteilung  der  Unterrichts- 

^)  Äbacum  certe  a  Saracenis  rapiens  regulas  dedit  qucLe  a  attdantibus  aha- 
cistia  vix  inteUiguntur.  *)  Doellinger,  Papstfabeln  dea  Mittelalters.  München 
1863.  »)  BicheruB,  Histor.  III,  46—54.  Das  letzte  dieser  Kapitel  handelt 
vom  Abacua  {Monument.  Gennan.  Script-  ^  ^^®)- 

Gastob,  Oeachiohte  der  Mathematik  ^         ^«ft.  54 


850  39.  Kapitel. 

gegenstäude  unterscheidet  Bicherus  alsdann  ganz  besonders  die 
mathematisclien  Fächer,  auf  welche  Gerbert  viele  Mühe  verwandte. 
Er  begann  mit  der  Arithmetik  als  dem  ersten  Teile,  ließ  darauf 
die  Lehre  vom  Monochorde  und  die  ganze  Musik  folgen,  ein  für 
Frankreich  fast  ganz  neues  Kapitel  der  Wissenschaften,  und  lehrte 
alsdann  die  Astronomie,  deren  schwer  verständlichen  Inhalt  er  durch 
mancherlei  Vorrichtungen  zu  erläutern  wußte.  Richerus  nennt  die 
wichtigsten  astronomischen  Apparate,  deren  Gerbert  sich  bediente. 
Sie  weisen  ebenso  wie  das  beim  Unterrichte  in  der  Musik  gebrauchte 
Monochord  ausschließlich  auf  griechisch-römische  Quellen  hin^). 
Die  dem  mathematischen  Unterricht  von  Gerbert  zugrunde  gelegten 
Bücher  nennt  Richerus  nicht. 

Sollen  wir  daraus  den  Schluß  ziehen,  es  seien  überhaupt  Bücher 
dabei  nicht  benutzt  worden?  Es  will  fast  so  scheinen.  Wenigstens 
wird  sonst  einigermaßen  unbegreiflich,  wie  in  späterer  Zeit  jener 
Constantinus,  den  wir  eben  genannt  haben,  an  Gerbert  die  Bitte  um 
schriftliehe  Mitteilung  des  früher  Gelehrten  richten  konnte.  Damit 
ist  freilich  keineswegs  ausgeschlossen,  daß  Gerbert  selbst,  als  Lehrer, 
sich  an  schon  vorhandene  Schriften  anlehnte,  Schriften  jedenfalls 
griechisch-römischen  Ursprunges  gleich  den  Kenntnissen,  welche  ihren 
Inhalt  bildeten.  Wir  müssen  annehmen,  es  sei  die  Arithmetik  des 
Boethius  darunter  gewesen,  nicht  aber  die  übrigen  Schriften  des 
gleichen  Verfassers,  sondern  nur  Auszüge  und  Bearbeitungen  derselben 
von  uns  freilich  nicht  näher  bekannten  Persönlichkeiten.  Diese  Meinung 
wird  wesentlich  unterstützt  in  ihrem  negativen  .Teile  durch  den  Um- 
stand, daß  Gerbert,  wie  wir  noch  sehen  werden,  erst  viel  später  mit 
der  Astronomie  und  vielleicht  mit  der  Geometrie  des  Boethius  be- 
kannt wurde,  in  ihrem  positiven  Teile  durch  das  letzte  Kapitel  von 
Richers  Erzählung,  in  welchem  von  der  Geometrie  und  von  dem 
Rechenunterrichte  die  Rede  ist. 

„Bei  der  Geometrie  wurde  nicht  geringere  Mühe  auf  den  Unter- 
richt verwandt.  Zur  Einleitung  in  dieselbe  ließ  Gerbert  durch  einen 
Schildmacher  einen  Abacus,  d.  h.  eine  durch  ihre  Abmessungen  ge- 
eignete Tafel  anfertigen.  Die  längere  Seite  war  in  27  Teile  ab- 
geteilt, und  darauf  ordnete  er  Zeichen,  9  an  der  Zahl,  die  jede  Zahl 
darstellen  konnten.  Ihnen  ähnlich  ließ  er  1000  Charaktere  von  Hom 
bilden,  welche  abwechselnd  auf  den  27  Abteilungen  des  Abacus  die 
Multiplikation  oder  Division  irgendwelcher  Zahlen  darstellen  sollten, 
indem  mit  deren  Hilfe  die  Division  oder  Multiplikation  so  kompen- 
diös  vonstatten  ging,  daß  sie  bei   der  großen  Menge  von  Beispielen 


*)  Büdinger  1.  c.  8.  88—42. 


Gerbert.  851 

viel  leichter  verstanden  als  durch  Worte  gezeigt  werden  konnte.  Wer 
die  Kenntnis  davon  sich  vollständig  erwerben  will,  der  lese  das  Buch, 
welches  Gerbert  an  C.  den  Grammatiker  schrieb.  Dort  findet  er  es 
zur  Genüge  und  darüber  hinaus  beschrieben." 

Fragen  wir  uns  sogleich,  bevor  wir  weitergehen,  ob  diese  Stelle 
in  Einklang  zu  bringen  wäre  mit  der  Annahme,  Wilhelm  von  Malmes- 
bury  hätte  mit  seiner  allein  dastehenden  Behauptung  von  dem  ara- 
bischen Ursprünge  des  Abacus  doch  recht.  Wir  müssen  mit  ent- 
schiedenstem Nein  antworten.  Das  Rechnen  als  Teil  der  Geometrie 
ist  nicht  arabisch.  Kolumnen  sind,  wenigstens  in  der  zweiten  Hälfte 
des  X.  S.  soweit  wir  irgend  wissen,  nicht  arabisch.  Der  Gebrauch 
von  nur  neunerlei  Zeichen,  also  ohne  die  Null,  ist  nicht  arabisch. 
Das  alles  stimmt  aber  vollkommen  zur  Geometrie  des  Boethius,  wenn 
dieselbe  echt  wäre,  stimmt  also  auch  vermutlich  selbst  in  der  Zu- 
gehörigkeit des  Rechnens  zur  Geometrie  mit  römischen  Traditionen, 
die  sich  in  den  Klöstern  erhalten  hatten,  und  deren  der  Fälscher  der 
Geometrie  des  Boethius  sich  nachmals  bediente,  um  seiner  unzweifelhaft 
geschickt  angelegten  Fälschung  den  Schein  der  Wahrheit  zu  verleihen. 

Läßt  sich  .doch  eine  ähnliche  Tradition  gerade  in  der  Zeit,  um 
welche  es  sich  gegenwärtig  handelt,  auch  an  einem  ganz  anderen 
Orte  nachweisen,  wo  Gerbert  nicht  lebte,  wohin  seine  Lehre,  die 
Lehre  eines  damals  noch  unbekannten  einflußlosen  Mönches,  so  rasch 
unmöglich  gedrungen  sein  kann.  Ein  Mönch  mit  Namen  Walther^) 
ist  gerade  damals  in  Speier  aufgewachsen,  von  wo  er  den  Beinamen 
Walther  von  Speier  erhielt.  Er  schrieb  daun  dort  als  Subdiakonus, 
und  zwar  im  Jahre  983,  ein  umfangreiches  Gedicht  über  das  Leben 
des  heiligen  Christoph*).  Im  ersten  Gesänge  schildert  er  den  Studien- 
gang, welchen  er  selbst  durchgemacht  hatte.  Die  Einrichtung  des- 
selben geht  auf  Bischof  Baldrich  zurück,  der  970 — 987  dem  Bistume 
vorstand  und,  von  St.  Gallen  dahingekommen,  die  ünterrichtsweise 
seines  früheren  Aufenthaltes  mitbrachte.  Was  also  Walther  von 
Speier  983  schildert,  ist  nichts  anderes  als  die  Art  und  Weise,  in 
welcher  vor  970,  mithin  zu  einer  Zeit,  während  welcher  Gerbert 
noch  in  der  spanischen  Mark  sich  aufhielt,  in  St.  Gallen 
unterrichtet  wurde.     Von  dort  gilt  also  folgendes: 

Et  postquam  planas  Umabant  rite  figuras 
IntervcUlorum  mensuris  et  spatiarum 
Ordine  compositis,  cuhicas  effingere  formas 
Nituntttr,  mediumque  vident  incurrere  triplum. 


')  Wattenbach,  Deutschland b  Geschichtsquellen  im  Mittelalter  (4.  Aus- 
gabe 1877)  I,  263.  *)  Abgedruckt  in  Beruh.  Pez,  Thesaurus  Anecdot,  II,  3, 
pag.  29—122.     Die  für  uns  wichtige  Stelle  pag.  42. 

54* 


852  39.  Kapitel. 

CollcUum  primi  distantia  coüigat  una, 
Älterius  numeros  proportio  continet  aequa, 
Bespuü  haec  ambo  mediatrix  clafisa  8ub  imo. 
Ordinibus  Mathesis  gaudebai  rite  paratis, 
Haec  tnissura  tibi  sölatia,  clare  Boeli. 

Inde  Abaci  nietM  defert  Geometrica  miras, 
Cumqtie  charcu^teribus  intens  eertamina  litsus 
Ocyua  oppositum  redigens  corpus  numerorum 
In  digitos  propere  disperserat  articitlosque. 

Inde  superficies  ponens  ex  ordine  plures 
Trigona  tetragonis  coniunxit  pentagonisque, 
Strenua  Pyramidum  speciem  ductura  sub  altum. 
Tum  laterum  miras  erexit  ut  ipsa  figuras, 
Arripiens  radium  semetretcts  fecit  agrorum, 
Quos  quodam  refluus  confudit  tempore  Nilus! 
Tradidit  et  varüis  in  secto  pulvere  metas. 

Die  ganze  Stelle  bezieht  sich,  wie  wir  um  jedes  Mißverständnis 
auszuschließen  von  vornherein  bemerken,  auf  das  Zahlenkampf  ge- 
nannte Spiel^  welches  Boethius  im  Gefängnisse  zu  seinem  Tröste  er- 
dacht habe  (S.  580).  Aber  wichtiger  als  der  wesentliche  Inhalt  der 
Stelle  sind  die  für  den  Verfasser  nebensächlichen  für  uns  das  Haupt- 
augenmerk bildenden  Anspielungen.  Wir  erlauben  uns^  die  in  ent- 
setzlichem Latein  verfaßte  dem  schwülstigen  Stile  des  Martianus 
Capella  augenscheinlich  nachgebildete  Schilderung  zunächst  zu  über- 
setzen: ^^achdem  sie  die  ebenen  Figuren  regelrecht  genau  auszuführen 
verstanden  mit  nach  der  Ordnung  zusammengesetzten  Maßen  der 
Zwischenräume  und  der  Strecken,  bestreben  sie  sich  kubische  Ge- 
staltimgen  zu  bilden,  und  sie  sehen,  daß  dieselben  auf  ein  dreifaches 
Mittel  hinauslaufen.  Eine  und  dieselbe  Entfernung  verbindet  das, 
was  durch  das  erste  Mittel  zusammengebracht  ist;  gleiches  Verhältnis 
hält  die  Zahlen  des  zweiten  zusammen;  diese  beiden  Dinge  verwirft 
die  Mittlerin,  welche  unter  dem  letzten  verschlossen  ist.  An  regel- 
recht bereiteten  Ordnungen  erfreute  sich  die  Mathematik,  Dir,  be- 
rühmter Boethius,  diesen  Trost  zuschickend.  Hierauf  bringt  die  Geo- 
metrie die  wundersamen  Linien  des  Abacus  herbei  und  mit  den 
Zeichen  die  Kämpfe  des  Spieles  beginnend  hatte  sie  schnell  Ordnung 
hineinbringend  die  gegenübergestellten  Körper  der  Zahlen  in  Finger- 
und in  Gelenkzahlen  zerstreut.  Hierauf  stellte  sie  mehrere  Ober- 
flächen ordnungsmäßig  hin,  verband  Dreiecke  mit  Vierecken  und  Fünf- 
ecken eifrig  die  Gestalt  der  Pyramide  zur  Spitze  zuzuführen.  Dann 
errichtete  sie  Figuren  der  Seiten  wundersam  wie  sie  selbst,  machte 
den  Maßstab  ergreifend  die  regellosen  Grenzen  der  Felder,  welche  zu 
einer  Zeit  zurückströmend  der  Nil  vermengt  hat,  und  sie  überlieferte 
die  verschiedenen  Linien  im  Staube  gezeichnet." 


Gerbert.  853 

Wir  sehen  hier  die  Eenntnis  der  drei  yerschiedenen  Mittelgrößen^ 
des  arithmetischen,  des  geometrischen  und  des  harmonischen  Mittels, 
letzteres  allerdings  nur  negativ  geschildert  als  weder  gleiche  Ent- 
fernung noch  gleiches  Verhältnis  zu  den  äußeren  Gliedern  aufweisend. 
Wir  hören  die  seit  Herodot  unendlich  oft  wiederholte  Erzählung  von 
der  Verwischung  der  Ackergrenzen  durch  den  aus  den  Ufern  ge- 
tretenen Nil  und  von  der  so  vermittelten  Erfindung  der  Geometrie. 
Wir  erkennen  in  der  letzten  Zeile  einen  Halbvers  des  römischen 
Satirendichters  ^),  der  sich  in  dieser  Umgebung  recht  verlassen  vor- 
kommen muß.  Wir  vernehmen^  daß  die  Geometrie  den  Abacus 
herbeibringt  und  die  Zahlen  in  Finger-  und  Gelenkzahlen  zer- 
streut. Das  sind  aber  gerade  dieselben  Begriffsobjekte,  welche  G^rbert 
vereinigt  benutzt  hat,  und  sie  weisen  mit  Notwendigkeit  darauf  hin, 
daß  damals  an  verschiedenen  Orten  die  Erinnerung  an  Lehren,  viel- 
leicht ein  Werk  vorhanden  gewesen  sein  muß,  welches  in  seiner  An- 
ordnung an  dasjenige  mahnt,  welches  nachmals  Geometrie  des  Boethius 
hieß,  und  daß  die  Quelle,  aus  welcher  diese  Erinnerung  geschöpft 
war,  eine  römische  gewesen  sein  muß.  Dabei  sehen  wir  sogar  von 
der  Anrufung  des  Boethius  selbst  in  unserer  Stelle  ab,  wiewohl  man 
in  ihr  eine  gewisse  Gedankenbeziehung  zu  einem  Ausspruche  der 
Chronik  von  Verdun^)  erkennen  möchte.  In  dieser  Chronik  ist  näm- 
lich Gerbert  ein  zweiter  Boethius  genannt,  wodurch,  wenn  nicht  die 
Quelle  alles  seines  Wissens  doch  jedenfalls  so  viel  gesichert  ist,  daß 
die  damalige  Zeit  gewohnt  war,  Boethius  als  den  allgemeinen  Lehrer 
insbesondere  für  mathematische  Gegenstände  zu  betrachten. 

Damit  sind  wir  wieder  zu  Gerbert  zurückgelangt,  dessen  Lehr- 
tätigkeit in  Rheims,  wie  wir  sagten,  bis  etwa  982  gedauert  hat. 
Etwa  ein  Jahr  vor  dem  Ende  dieser  Zeit,  um  Weihnachten  980,  war 
Gerbert  als  Begleiter  des  Bischofs  Adalbero  von  Rheims  in  Ravenna 
am  Hofe  Otto  II.,  den  er  gleich  seinem  Vater  für  sich  einzunehmen 
wußte.  Er  zeichnete  sich  in  einer  öffentlichen  Disputation  über 
philosophisch-mathematische  Gegenstände,  welche  er  gegen  einen  der 
ersten  Dialektiker  der  Zeit  bestand'),  und  aus  welcher  er  wenn  nicht 
als  Sieger  doch  unbesiegt  hervorging,  indem  der  Kaiser  am  späten 
Abend  wegen  Ermüdung  der  Zuhörer  den  noch  andauernden  Rede- 
kampf unterbrach,  rühmlichst  aus,  und  mutmaßlich  infolge  dieser 
zum  Kaiser  angeknüpften  Beziehungen  wurde  Gerbert  als  Abt  an  das 
Kloster  Bobbio  versetzt,  jenes  reiche  Kloster  an  der  Trebbia,  wo 
der  irische  Glaubensprediger  Columban  gestorben  ist,  wo  handschrift- 


^)  Persins  Satyr.  I,  182:  Nee  qui  ab<ieo  numeros  et  secto  inptUvere  metas 
seit,        *)  Monument.  German.  VI,  8.        *)  Werner,  Gerbert  S.  46—66. 


854  Sd-  Kapitel. 

liehe  Schätze  aller  Art  den  wissensdurstigen  Geist  empfingen^  wo 
insbesondere  damals  der  Codex  Areerianus  vorhanden  war,  die  Samm- 
lung römischer  Feldmesser,  von  welcher  früher  (S.  552)  die  Rede  war. 
Gerbert  hat,  das  werden  wir  noch  nachweisen,  diese  Sammlung  in 
Bobbio  studiert  und  in  Verbindung  mit  anderen  romischen  Schrift- 
stellern, deren  Persönlichkeit  sich  nicht  genau  feststellen  läßt,  zur 
Grundlage  einer  eigenen  Geometrie  gemacht,  welche  während  des 
Aufenthaltes  in  Bobbio  entstand. 

Dieser  Aufenthalt  währte  allerdings  nicht  lange.  Otto  II.  starb 
am  7.  Dezember  983.  Er  allein  war  Gerberts  Freund  gewesen,  wäh- 
rend Papst  Johann  XIV.  geradezu  als  dessen  persönlicher  Gegner 
aufgefaßt  werden  muß.  An  diesem  letzteren  hatte  mithin  Gerbert 
nichts  weniger  als  eine  Stütze  in  den  Kämpfen,  welche  er,  der  auf- 
gedrungene Fremdling,  als  Abt  von  Bobbio  zu  bestehen  hatte.  Wider- 
spenstigkeit der  untergebenen  Mönche,  Anfeindungen  umwohnender 
Großen,  welche  Güter  des  Klosters  an  sich  gerissen  hatten,  ver- 
einigten sich,  Gerbert  den  dortigen  Aufenthalt  zu  verleiden,  und  kurz 
nach  dem  Tode  Otto  II.  war  er  wieder  in  Rheims,  in  der  Umgebung 
seines  dort  lebenden  Freundes,  des  Bischofs  Adalbero.  Seine  äußeren 
Geschicke,  welche  mit  der  politischen  Geschichte  der  damaligen  Zeit 
im  engsten  Zusammenhange  stehen  und  namentlich  durch  das  freund- 
schaftliche Verhältnis,  welches  Gerbert  an  die  noch  lebenden  weib- 
lichen Persönlichkeiten  der  deutschen  Kaiserfamilie,  an  die  Mutter 
Theophania  und  an  die  Großmutter  Adelheid  des  jungen  Otto  III. 
fesselte,  beeinflußt  worden  sind,  sind  ungemein  wechselnd.  Wahr- 
scheinlich im  Sommer  983  schrieb  Gerbert  von  Bobbio  aus  an  Adal- 
bero über  wissenschaftliche  Funde,  welche  ihm  geglückt  seien  ^),  er 
möge  sich  nur  Hoffnung  machen  auf  acht  Bücher  des  Boethius  über 
Astronomie  und  ganz  Ausgezeichnetes  über  Figuren  der  Geometrie 
und  nicht  minder  Bewundernswertes,  was  er  allenfalls  noch  finden 
werde.  Das  ist  die  Stelle,  auf  welche  man  sich  zu  beziehen  pflegt, 
um  das  Vorhandensein  der  Geometrie  des  Boethius  in  jener  Zeit  zu 
begründen  (S.  576),  um  zugleich  zu  begründen,  daß  Gerbert  dieselbe 
in  der  frühen  Zeit  seines  ersten  Rheimser  Aufenthaltes  nicht  zur  Be- 
nutzung gehabt  haben  kann. 

Wahrscheinlich  990  im  Lager  Hugo  Capets,  welcher  damals 
Laon  belagerte,  schrieb  Gerbert  einen  anderen  dem  Mathematiker 
nicht  uninteressanten  Brief  an  Remigius  von  Trier^).    Es  ist  aller- 


*)  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  Olleris)  Epistola  76,  pag.  44:  et  quae  post  re- 
perimus  speretis:  id  est  VIII  Volumina  Boetii  de  astrologia  praeclarissima  quoque 
figurarum  geometrUie  aliaque  non  minus  admiranda  si  reperimus.        *)  Ebenda 


Geibert.  865 

dingB  nur  eine  im  Texte  reckt  sehr  verderbte  Antwort  auf  zwei  ver- 
loren gegangene  Anfragen  und  darum  nicht  mit  aller  Bestimmtheit 
herzustellen.  Die  wahrscheinlichste  Übersetzung  lautet:  ^^Das  in 
bezug  auf  die  erste  Zahl  hast  Du  richtig  verstanden,  daß  sie-  sich 
selbst  teilt,  weil  einmal  eins  eins  ist.  Aber  deshalb  ist  nicht  jede 
sich  selbst  gleiche  Zahl  als  ihr  Teiler  zu  betrachten;  z.  B.  einmal 
vier  ist  vier,  aber  deshalb  ist  nicht  vier  der  Teiler  von  vier,  sondern 
vielmehr  zwei,  denn  zwei  mal  zwei  sind  vier.  Femer  .das  Zeichen  1, 
welches  unter  der  Kop&ahl  X  steht,  bedeutet  X  Einheiten,  welche 
in  sechs  und  vier  zerlegt  das  anderthalbmalige  Verhältnis  gewähren. 
Dasselbe  ließe  sich  auch  an  zwei  und  drei  sehen,  deren  Unterschied 
die  Einheit  ist.'' 

Wieder  um  einige  Jahre  später  fällt,  wahrscheinlich  in  den  Spät- 
sommer 994,  ein  Brief  Otto  III.  an  Gerbert  ^),  der  inzwischen  991 
zum  Metropolitan  von  Rheims  gewählt  worden  war,  wozu  ihn  schon 
988  der  sterbende  Adalbero  bezeichnet  hatte,  der  aber  seiner  unter 
Widerwärtigkeiten  der  verschiedensten  Art  errungenen  Stellung  nicht 
froh  werden  konnte.  Gerbert  hatte  offenbar  an  Otto  geschrieben 
und  ihm  Verse  zugeschickt,  oder  gefragt,  ob  Otto  welche  zu  machen 
verstehe,  deim  nur  so  hat  der  Schluß  von  Ottos  Brief  einen  Sinn, 
worin  es  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  vorhergehendem  heißt^  daß 
er  bisher  keine  Verse  gemacht,  wenn  er  aber  diese  Kunst  mit  Erfolg 
erlernt  haben  werde,  wollte  er  so  viele  Verse  senden  als  Frankreich 
Männer  zähle.  Für  uns  hat  nur  eine  frühere  Stelle  des  Briefes  Be- 
deutung, in  welcher  Otto  die  dringende  Einladung  an  Gerbert  er- 
gehen läßt,  persönlich  zu  kommen,  in  ihm  der  Griechen  lebendigen 
Geist  zu  erwecken  und  ihm  das  Buch  der  Arithmetik  zu  erklären, 
damit  er,  vollkommen  durch  die  Beispiele  desselben  belehrt,  etwas 
von  der  Feinheit  der  Altvorderen  verstehe.  Mit  größter  Wahrschein- 
lichkeit ist  als  das  Buch  der  Arithmetik,  von  welchem  hier  die  Rede 
ist,  die  Arithmetik  des  Boethius  erkannt  worden,  und  die  Tatsache, 
daß  jenes  Werk  damals  am  Eaiserhofe  vorhanden  war,  ist  durch  das 
Auffinden  einer  etwa  gleichalterigen,  zwar  lückenhaften  aber  sehr 
richtigen  Handschrift  zur  Gewißheit  geworden*).     Otto   war  987   der 

Epistola  124,  pag.  68.  Wir  geben  die  Übersetzniig  aus  Math.  Beitr.  Kulturl. 
S.  318  nach  Friedleins  Yerbesaerangen  des  lateiniBcheu  Textes.  Friedleins  Über- 
setzong  dagegen  [Zeitschr.  Math.  Fhys.  X,  248,  Anmerkung  **]  halten  wir  am 
Anfange  für  ganz  falsch,  während  der  Schluß  nicht  nennenswert  von  dem  ons- 
rigen  abweicht. 

*)  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  OUeris)  Epistola  208,  pag.  141  —  142.  Vgl. 
Werner,  Gerbert  S.  93.  *)  Der  liber  fnathematicälis  des  heiligen  Bemward  im 
Dom  schätze  zu  Hildesheim,  eine  hla^risch-kiitische  Untersuchung  von  H.  Düker. 
Beilage  zum  Programm  des  Hild^^i^^iiner  Gymnasium  Josephinum  für  1876. 


836  89.  Kapitel. 

Schüler  Bernwards,  des  Bischofs  von  Hildesheim.  Der  Domschate 
dieser  alten  Stadt  bewahrt  aber  unter  dem  Namen  des  lü}er  maOie- 
niaticalis  des  heiligen  Bemward  eine  durch  diesen  yerbesserte  wenn 
nicht  gar  durchweg  mit  einer  älteren  Handschrift  verglichene  Ab- 
schrift der  Arithmetik  des  Boethius,  an  deren  damaligem  Vorhanden- 
sein demnach  nicht  der  leiseste  Zweifel  übrig  bleibt^).  Ob  Otto  be- 
reits durch  Bemward  mit  dem  Inhalte  des  Werkes  bekannt  gemacht 
Gerbert  noch  um  die  nähere  Erläuterung  zu  bitten  beabsichtigte^  ob 
er  das  Werk  nur  von  Hörensagen  oder  durch  ohne  Hilfe  unternommene 
und  deshalb  fruchtlos  gebliebene  eigene  Durchsicht  kannte,  das  sind 
Fragen  untergeordneten  Ranges,  auf  welche  eine  Antwort  schwerlich 
gefunden  werden  möchte.  Gerbert  nahm  die  Einladung  an  und  sagte 
dabei  anknüpfend  an  Ottos  eigene  Worte:  „Wahrlich  etwas  Göttliches 
liegt  darin,  daß  ein  Mann,  Grieche  von  Geburt,  Römer  an  Herrscher- 
macht, gleichkam  aus  erbschaftlichem  Rechte  nach  den  Schätzen  der 
Griechen-  und  R^merweisheit  sucht''*). 

Davon,  daß  auch  andere  Weisheit  möglich  sei,  daß  Araber  sich 
um  die  Mathematik  verdient  gemacht  hätten,  ist  hier,  wo  es  so  nahe 
lag,  den  künftigen  Lehren,  welche  Gerbert  dem  jungen  Fürsten  er- 
teilen sollte  und  wollte,  diesen  erhöhten  Reiz  fremdartigen  Ursprunges 
zum  voraus  zu  verleihen,  mit  keinem  Buchstaben  die  Rede,  so  wenig 
wie  an  irgend  einer  anderen  Stelle  der  von  Gerbert  herrührenden 
Briefe  oder  Werke.  Es  ist  wahr,  Gerbert  redet  um  984  während 
seines  zweiten  Rheimser  Aufenthaltes  zu  zwei  verschiedenen  Persön- 
lichkeiten^), zu  Bonafilius  dem  Bischöfe  von  Girona  und  zu  seinem 
alten  Lehrer  dem  Abte  Gerald  von  Aurillac,  von  einer  Schrift  des 
weisen  Josephus,  des  Spaniers  Josephus  über  Multiplikation 
und  Division  der  Zahlen,  welche  Adalbero  zu  besitzen  wünsche,  und 
welche  ersterer  oder  letzterer  zu  besorgen  gebeten  wird,  letzterer  mit 
Berufung  darauf,  daß  der  Abt  Guamerius  ein  Exemplar  in  Aurillac 
zurückgelassen  habe.  Man  hat  in  diesem  Weisen,  in  diesem  Spanier 
lüsuf  ihn  Harun  al  Kindi  vermutet'*),  weil  derselbe  um  970  in 
Gordova  lebte.  Allein  von  diesem  lüsuf  weiß  man  nicht,  daß  er  sich 
je  mit  mathematischen  Studien  beschäftigt  haben  sollte,  und  daß  der 

^)  Daß  in  der  ssweiten  Hälfte  des  X.  S.  die  Arithmetik  des  Boethius  in 
Deutschland  genau  bekannt  war,  ist  durch  eine  Stelle  des  Schauspiels  Hadrian 
der  Hrotsvitha  von  Gandersheim  gesichert,  welche  bei  Günther,  Ge- 
schichte des  mathematischen  Unterrichts  im  deutschen  Mittelalter  (Berlin  1887) 
S.  8S— 86  in  der  Note  abgedruckt  ist.  *)  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  OUeris) 
Epistola  209,  pag.  142.  ")  Ebenda  Epistola  66,  pag.  34  und  Epistola  63, 
pag.  88.  ^  Suter  in  den  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Mathematik  X, 
79  (1900). 


Gerbeit.  857 

^ySpanier  Josephns^  ein  Araber  gewesen  sei^  ist  aus  seinem  Namen 
ebensowenig  wie  aus  sonstigen  Gründen  zu  schließen.  Die  Sprache^ 
in  welcher  der  Betreffende  schrieb^  war  ohne  Zweifel  nicht  die  ara- 
bische^ sondern  die  lateinische,  denn  was  hätte  sonst  Adalbero  mit 
dem  Buche  anfangen  können,  weshalb  hätte  Gruamerius  es  in  Aurillac 
zurücklassen  sollen  zu  einer  Zeit,  in  welcher  gewiß  Kenntnis  der  ara- 
bischen Sprache  in  den  Klöstern  vergeblich  gesucht  worden  wäre? 
Wenn  nicht  alles  täuscht,  so  ist  hier  der  Angelpunkt,  um  welchen 
weitere  Forschungen  nach  dem  weisen  Josephus  sich  werden  drehen 
müssen,  nachdem  andere  Versuche^)  schlechterdings  zu  keinem  Er- 
gebnisse geführt  haben.  Man  wird  Handschriftenkataloge  insbesondere 
von  spanischen  und  südfranzösischen  Bibliotheken  nach  lateinisch  ge- 
schriebenen Stücken  mathematischen  Inhaltes  eines  Josephus  durch- 
mustern müssen.  Ein  solcher  Katalog  aus  dem  XYIII.  S.  gibt  z.  B. 
an*),  der  Codex  CXV  der  ehemaligen  (jetzt  in  Paris  befindlichen) 
Bibliothek  des  Erzbischofs  Charles  de  Montchal  von  Toulouse  ent- 
halte eine  vielleicht  von  Josephus  verfaßte  Geometrie.  Nur  freilich 
ist  gerade  diese  Spur  nicht  weiter  zu  verfolgen,  wie  an  Ort  und 
Stelle  vorgenommene  Untersuchungen  bewiesen  haben'). 

Auf  ein  arabisches  Werk  ist  wahrscheinlich  nur  ein  aus  wenigen 
Zeilen  bestehender  Brief  zu  beziehen*),  welcher  dem  gleichen  Zeit- 
räume wie  die  beiden  ebenerwähnten  Briefe  angehören  dürfte,  und 
in  welchem  Gerbert  von  einem  gewissen  Lupitus  von  Barcelona^ 
um  welchen  er  selbst  sich  keinerlei  Verdienst  erworben  habe,  ver- 
möge seines  hohen  Geistes  und  seiner  freundlichen  Sitten  das  von  ihm 
übersetzte  Buch  über  Sternkunde  erbittet  und  sich  zu  jeglichem 
Gegendienste  bereit  erklärt.  Jenes  Buch  kann  nicht  leicht  ein  anderes 
als  ein  arabisches  gewesen  sein.  Aber  auch  dieses  hat  Gerbert  wohl 
nie  früher  und  ebensowenig  auf  seinen  Brief  hin  zu  Gesicht  bekommen, 
wenn  man  diesen  Schluß  aus  dem  Umstände  ziehen  darf,  daß,  wie  in 
früherer  so  in  späterer  Zeit  mit  einer  einzigen  weiter  unten  zu  be- 
rührenden Ausnahme,  keinerlei  Spuren  arabischer  Sternkunde  bei 
Gerbert  erkennbar  sind.  Dergleichen  bedurfte  es  freilich  auch  nicht 
für  die  Dinge,  welche  Gerbert  vornahm,  und  welche  von  trigono- 
metrischen Rechnungen,  einem  Gegenstande,  bei  welchem  der  Gegen- 
satz  zwischen  griechisch-römischen  und   arabischen  Lehren   sich   be- 

^)  Zur  Geschichte  der  Eisfühmng  der  jetzigen  Ziffern  in  Europa  durch 
Gerbert.  Eine  Studie  von  Professor  Dr.  H.  Weißenborn,  Berlin  1892.  *)  Bern,  de 
Monfaucon,  Bibliotheca  hihliothtcarum  manuscriptarum  I,  902.  Wir  wurden 
durch  M.  Curtze  auf  diese  Angabe  aufinerksam  gemacht.  ')  Briefliche  Mit- 
teilung von  Tannery.  *)  Oeuvres  de  Grerhert  (ed.  Olleris)  Epistola  60, 
pag.  36. 


858  39.  Kapitel. 

sonders  gezeigt  haben  müBte^  yollkommen  frei  waren.  Solcher  be- 
durfte er  z.  B.  nicht  durchaus  bei  der  Herrichtung  einer  Sonnenuhr 
in  Magdeburg,  welche  er  zwischen  994  und  995  vollzog,  und  zu  deren 
Richtigstellung  er  Beobachtungen  des  Polarsternes  machte^). 

Das  Wanderleben  Gerberts  hatte  mit  der  Reise  nach  dem  Kaiser- 
hofe  keinen  Ruhepunkt  erreicht.  Bald  sehen  wir  ihn  nach  Frankreich 
zurückkehren,  um  auf  der  Synode  zu  Mouson  sein  Recht  auf  das 
Bistum  Rheims  persönlich  zu  yerteidigen,  bald  finden  wir  ihn  in 
Ottos  Heerlager  auf  einem  Feldzuge  gegen  slavische  Stämme  an  Elbe 
und  Oder,  bald  überschreitet  er  im  Gefolge  Otto  III.  die  Alpen,  um 
dem  wüsten  Regimente  ein  Ende  zu  machen,  welches  in  Rom  herrschte 
und  dem  deutschen  Könige  sowohl  Ärgernis  bereitete  als  die  er- 
wünschte Gelegenheit  zur  Einmischung  gab.  Am  9.  Mai  996  starb 
Papst  Johann  XV.,  unter  dem  Drucke  der  Nähe  des  deutschen  Heeres 
wurde  Bruno  aus  dem  sächsischen  Fürstenhause  als  Gregor  Y.  zum 
Papste  gewählt,  am  21.  Mai  krönte  der  neue  Papst  bereits  Otto  in 
Rom  zum  Kaiser.  Gerbert  blieb  auch  nach  des  Kaisers  Abreise  in 
Rom  als  Ratgeber  des  noch  jugendlichen  Papstes.  Er  erfüllte  diese 
Aufgabe  so  pfiichtgetreu,  daß  er  998  mit  dem  Bistume  Ravenna  be- 
lohnt wurde,  und  im  folgenden  Jahre  erfüllte  sich  der  Schicksals- 
spruch: 

Scandit  ab  B  Gerbertus  in  E,  post  Papa  vi-get  JB, 

der  ihm  in  dreifacher  Erhebung  ein  dreifaches  ü  verheißen  hatte, 
von  Rheims  nach  Ravenna,  von  Ravenna  nach  RomI  Gregor  V. 
starb  am  5.  Februar,  Gerbert  feierte  am  2.  April  999  seine  Inthro- 
nisation unter  dem  Namen  Sylvester  II.  Er  verwaltete  den  päpst- 
lichen Stuhl  fast  genau  vier  Jahre  lang  bis  zu  seinem  Tode,  der  am 
12.  Mai  1003  erfolgte. 

Die  letzten  sieben  Lebensjahre  Gerberts,  welche  er  demnach 
politisch  und  kirchlich  überaus  beschäftigt  in  Italien  zubrachte,  gaben 
ihm  daneben  Gelegenheit  zu  schriftstellerischer  Tätigkeit.  Er  ver- 
faßte eine  freilich  nur  aus  zwölf  Hexametern  bestehende  Inschrift  zu 
einem  Denkmale  des  Boethius,  mit  welchem  Otto  III.  zu  Pavia  auf 
seine  Veranlassung  das  Grab  des  in  den  Klosterschulen  beliebtesten 
Schriftstellers  schmückte^).  Er  schrieb  mutmaßlich  um  997  eine 
Abhandlung  über  das  Dividieren,  welche  dem  Gonstantinus  von  Fleury 
gewidmet  ist  und  als  jene  Schrift  betrachtet  wird,  von  der  Richer 


^)  In  Magddburgh  orologium  fecit,  iüttd  rede  constituens  considercUa  per 
fistulam  quadam  Stella  nautarum  duce  sagt  darüber  Thietmars  Chronik  L.  VI, 
cap.  61.  Thietmar  t  1019  als  Bischof  von  Merseburg.  Vgl.  Werner,  Gerbert 
S.  2S1.         *)  Ebenda  S.  328. 


Gerbert.  859 

spricht;  indem  er  diejenigen,  welche  die  Division  und  die  Multiplika- 
tion großer  Zahlen  erlernen  wollen,  auf  das  Buch  verweist,  welches 
Gerbert  an  C.  den  Grammatiker  schrieb.  Als  Papst  sogar  fand 
Gerbert  Zeit^  einen  astronomischen  Brief  an  Constantinus,  der  in- 
zwischen im  Jahre  995  Abt  von  Mici  geworden  war,  zu  schreiben^). 
Als  Papst  erhielt  er  einen  Brief  geometrischen  Inhaltes  von  Adal- 
boldus  über  die  Ausmessung  des  Kreises  und  der  Kugel  ^),  in  dessen 
Schreiber  man  wohl  berechtigt  ist,  Adelbold  von  Utrecht  zu  er- 
kennen, einen  Gelehrten,  der  in  vielen  Sätteln  gerecht,  Schriften  über 
Musik"),  aber  auch  ein  Geschichtswerk  hinterlassen  hat,  welches  an 
Thietmars  Chronik  sich  anlehnt^).  Vielleicht  in  die  gleiche  Zeit  fällt 
ein  Schreiben  Gerberts  an  denselben  Adalboldus  über  einen  geome- 
trischen Gegenstand,  von  dem  wir  noch  zu  reden  haben.  Gelegenheit 
bietet  uns  die  Gesamtbesprechung  der  mathematischen  Schriften 
Gerberts,  zu  welcher  wir  jetzt  übergehen,  und  bei  welcher  wir  erst 
die  geometrischen,  dann  die  arithmetischen  Dinge  behandeln. 

Die  Geometrie^)  Gerberts  ist  in  mehreren  lückenhaften,  sodann 
in  vollständigem  dem  XI.  S.  angehörendem  Texte  ^)  in  der  Münchener 
Handschrift  14836  und  auch  in  einer  bis  gegen  das  Ende  vollstän- 
digen dem  Stifte  St.  Peter  in  Salzburg  angehörenden  Handschrift  er- 
halten. Die  Entstehungszeit  der  Salzburger  Handschrift  dürfte  ziem- 
lich genau  bestimmbar  sein.  Im  Jahre  1127  wurde  das  Kloster 
St.  Peter  durch  einen  furchtbaren  Brand  zerstört.  Damals  konnten 
nur  wenige  Schriftstücke  gerettet  werden,  und  Codex  a.  V.  7,  welcher 
die  Gerbertsche  Geometrie  enthält,  befindet  sich  nicht  unter  den  als 
geborgen  bekannten.  Von  da  an  wurde  nur  um  so  emsiger  an  der 
WiederbeschafiEung  einer  Bibliothek  gearbeitet,  und  es  existierte  be- 
reits wieder  um  1160  ein  Katalog,  der  sich  erhalten  hat.  In  ihm 
kommt  aber  vor:  Hermannus  contracus  (sie!)  super  astrolabium, 
d.  i.  dasjenige  Werk,  mit  welchem  Codex  a.  V.  7  beginnt.  Da  nun 
eine  anderweitige  Abschrift  des  gleichen  Werkes,  die  mit  jenem  Kata- 
logeintrag gemeint  sein  könnte,  in  St.  Peter  nicht  vorhanden  ist, 
so  glauben  wir  ims  um  so  berechtigter,  eben  jenen  Codex  darunter 
zu  verstehen  und  anzunehmen,  er  sei  zwischen  1127  und  1160  ge- 
schrieben, als  alle  Zeichen  der  Schriftvergleichung  hiermit  in  Ein- 
klang stehen. 


*)  Oeuvres  de  Crerbert  (ed.  Olleris)  pag.  479:  Gerbertus  Comtantino  Mi- 
ciacensi  Abbati,  Über  ConatantinuB  vgl.  Bubnov  pag,  6,  Note  8.  •)  Oeuvres 
de  Gerbert  (ed.  Olleris)  pag.  471—475.  »)  Werner,  Gerbert  S.  69.  *)  Ebenda 
S.  222.  *)  Agrimensoren  S.  löOflgg.  «)  Cnrtze,  Die  HandBchrift  Nr.  14836 
der  Königl.  Hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München  in  den  Abhandlungen-  zur  Ge- 
schichte der  Mathematik  VII,  76—142  (1896). 


860  39.  Kapitel. 

Die  Glaubwürdigkeit  dieser  sauberen^  unserer  Auseinandersetzung 
zufolge  nicht  später  als  höchstens  1150  mithin  nicht  ganz  anderthalb 
Jahrhunderte  nach  Gerberts  Tode  entstandenen  Abschrift,  welche  in 
ihren  Anfangsworten  sich  selbst  als  Geometrie  des  Gerbert  benennt^ 
ist  mit  Bücksicht  auf  Einzelheiten  und  insbesondere  auf  die  ungemein 
yerschiedenartigen  Gegenstände,  welche  in  ihr  zur  Rede  kommen,  an- 
gezweifelt worden  und  auch  der  Münchener  Handschrift  hat  man  kein 
größeres  Vertrauen  entgegengebracht.  Die  Münchener  Handschrift 
trug  ursprünglich  keinen  Verfassemamen.  Erst  nachträglich,  aber 
immerhin  in  noch  recht  früher  Zeit^)  ist  der  Titel  Geometria  Gerberti 
dem  dem  Sammelbande  yorausgehenden  Inhaltsyerzeichnisse  eingefügt 
worden.  In  der  Salzburger  Handschrift  ist  die  Überschrift  Incipit 
Geometria  Gerberti  und  der  Text,  jene  in  roter,  dieser  in  schwarzer 
Tinte,  unzweifelhaft  yon  demselben  Schreiber  zu  Pergament  gebracht. 
Als  feststehend  ist  also  zu  betrachten,  daß  in  der  ersten  Hälfte  des 
XTT.  S.  als  einheitliches  Werk  Gerberts  galt  was  schon  100  Jahre 
früher,  wenig  mehr  als  50  Jahre  nach  Gerbert,  als  ein  einheitliches 
Werk  yorhanden  war.  Der  Geschichte  der  Mathematik  liegt  ganz 
gewiß  mehr  an  diesem  einheitlichen  Vorhandensein  als  daran,  ob  der 
Verfasser,  der  yor  1050  in  lateinischer  Sprache  schrieb,  Gerbert  hieß 
oder  irgend  einen  anderen  Namen  führte,  um  nicht  an  unseres  Er- 
achtens  ziemlich  müßigen  Streitfragen  zu  haften,  erklären  wir,  daß  wir 
Gerbertsche  Geometrie  nennen,  dessen  Verfasser  möglicherweise  einen 
anderen  Namen  führte.  Es  ist  nicht  zu  yerkennen,  daß  kleine  Wider- 
sprüche, Wiederholungen  und  dergleichen  den  Eindruck  hervor- 
bringen, es  sei  einzelnes  yom  Abschreiber  verfehlt  worden,  der  z.  B. 
ein  Kapitel,  das  im  Urtexte  zuerst  an  einer  Stelle  vorkam,  dann 
durch  den  Verfasser  anderswohin  gebracht  und  an  der  früheren  Stelle 
durchstrichen  wurde,  zweimal  abgeschrieben  haben  kann.  Dagegen 
sind  jene  großen  Verschiedenheiten  behandelter  Dinge  umgekehrt 
danach  angetan,  die  Echtheit  der  Gerbertschen  Geometrie  vollauf  zu 
beglaubigen.  Wir  haben  (S.  554)  uns  darüber  ausgesprochen,  was 
bei  römischen  Feldmessern  zu  finden  war.  Geometrische  Definitionen 
und  einfachste  Sätze  der  Geometrie  der  Ebene,  Maßvergleichungen 
und  feldmesserische  Vorschriften,  geometrische  Rechnungsaufgaben 
und  die  Lehre  von  den  figurierten  Zahlen,  das  alles  bildete,  meistens 
nachweislich  aus  Heron  übernommen,  den  Gegenstand  ihrer  unselbst- 
ständigen  Schriftstellerei.  Genau  dasselbe  finden  wir  in  Gerberts 
Geometrie,  müssen  wir  in  ihr  finden,  wenn  der  Verfasser  zu  sammeln 
und    durch   gleichmäßige    Schreibweise   zu  vereinigen  trachtete,   was 

»)  Curtze  1.  c.  S.  78  und  79. 


Gerbert.  861 

ihm  au8  römischen  Quellen  sei  es  in  Bobbio  durch  den  Codex  Arce- 
rianus;  sei  es  durch  andere  Quellenschriften ,  bekannt  geworden  war. 
l^amentlich  für  den  dritten  Teil  der  Gerbertscben  Geometrie  ist  der 
Nachweis  gefuhrt  worden  ^)y  daß  geradezu  nichts  in  demselben  steht, 
was  nicht  dem  Codex  Arcerianus  entnommen  sein  kann.  Am  schla- 
gendsten für  die  Benutzung  des  Codex  Arcerianus  ist  wohl  das  Auf- 
treten jenes  Schreibfehlers  aus  Nipsus  (S.  556),  wo  das  Wort  hypo- 
tenusae  hinter  podismus  ausgefallen  ist,  im  42.  Kapitel  der  Gerbert- 
schen  Geometrie.  Aber  der  Verfasser  war  kein  gewöhnlicher  Ab- 
schreiber. Er  bemerkte,  daß  hier  nicht  alles  in  Ordnung  war^ 
und  um  den  Sinn  der  Stelle  zu  retten,  legte  er  im  10.  Kapitel  die 
Definition  nieder,  die  schriLg  von  oben  nach  unten,  oder  yon  unten 
nach  oben  gezogene  Linie  heiße  Hypotenuse  oder  auch  Podismus'). 
Ja  er  freute  sich  dieser  Definition  so  sehr,  daß  er  im  12.  Kapitel 
yerschiedentlich  Podismus  sagte,  wo  Hypotenuse  gemeint  ist.  Es  war 
allerdings  ein  unfehlbares  Mittel,  die  Richtigkeit  einer  Nipsusstelle  zu 
wahren,  wenn  man  ihr  zuliebe  eine  neue  Worterklärung  schmiedete, 
wenn  man,  um  dieser  Eingang  zu  verschaffen,  das  neue  Wort  sofort 
in  Gebrauch  nahm. 

Wenn  sich  der  Verfasser  der  Gerbertschen  Geometrie  hier  nicht 
als  hervorragenden  Geometer  bewährte,  so  ist  dieses  ebensowenig  der 
Fall,  wenn  er  im  9.  Kapitel  den  inneren,  beziehungsweise  den  äußeren 
Winkel  für  gleichbedeutend  mit  einem  spitzen,  beziehungsweise  stumpfen 
Winkel  hält.  Er  faßt  den  rechten  Winkel  mit  einem  wagrechten, 
einem  zu  diesem  senkrechten  Schenkel  als  ursprünglich  gegeben  auf. 
Damit  ein  spitzer  Winkel  entstehe,  muß  der  zweite  Schenkel,  der  ihn 
mit  dem  wagrechten  Schenkel  bilden  soll,  im  Innern  des  rechten 
Winkels  liegen,  außerhalb  dagegen  wenn  ein  stumpfer  Winkel  ent- 
stehen soll.  Das  ermangelt  ja  nicht  eines  gewissen  Scharfsinnes,  nur 
zeugt  es  dafür,  daß  wer  so  schrieb  die  Euklidischen  Elemente  nicht 
kannte,  wo  im  16.  Satze  des  I.  Buches  innere  und  äußere  Winkel, 
d.  h.  innere  und  äußere  Dreieckswinkel,  unzweideutig  erklärt  sind. 

Wir  haben  die  unmittelbare  Quelle  wenigstens  einer  großen 
Abteilung  von  Gerberts  Geometrie  im  Codex  Arcerianus  erkannt. 
Andere  Quellen  gibt  der  Verfasser  selbst  an.  Er  nennt  wenigstens 
folgende  Schriftsteller:  Pythagoras  im  9.  und  11.  Kapitel,  Piatons 
Timaeus  im  13.  Kapitel,  des  Chalkidius  Kommentar  zu  dieser  letzteren 
Schrift  im  1.  Kapitel,  Eratosthenes  im  93.  Kapitel,  den  Kommentar 

*)  Agrimenaoren  S.  229,  Anmerkung  304.  *)  Oeuvres  de  Gerhert  (edit. 
Olleris)  pag.  417:  Bla  auUm  quae,  ohliqua  tusum  sive  susum  deducta,  hebetis 
vel  acuii  anguU  effectrix  videtur  hynot^'^^^^  ^^  ^^  ohliqua  sive  podismus 
nominatur. 


862  S9.  Kapitel. 

des  Boethius  zu  den  Kategorien  des  Aristoteles  im  8.  Kapitel  und 
endlich  die  Arithmetik  des  Boethius  in  der  Vorrede^  im  6.  imd  im 
13.  Kapitel.  Wir  können  es  dahingestellt  sein  lassen,  ob  alle  diese 
Zitate  des  Verfassers  eigener  Gelehrsamkeit  entstammen  oder  selbst 
wieder  zum  Teil  abgeschrieben  sind,  jedenfalls  wird  man  andere  Namen, 
Namen,  welche  nicht  nach  Griechenland  und  Rom  verweisen,  vergeblich 
suchen.  Der  mittlere  Teil  der  Gerbertschen  Geometrie,  Kapitel  16 
bis  40,  dem  Räume  nach  ein  starkes  Vierteil  des  Werkes,  enthält 
kein  Zitat  und  hat  bisher  noch  nicht  zurückgeführt  werden  können. 
Es  ist  die  praktische  Feldmessung,  welche  hier  gelehrt  wird,  in  Vor- 
schriften Höhen,  Tiefen  und  Entfernungen  zu  messen*). 

Da  begegnet  uns,  um  nur  einiges  zu  nennen,  im  Kapitel  16  eine 
Methode,  nach  welcher  der  Beobachter  stehend  und  durch  ein  unter 
45  Grad  geneigtes  Astrolabium  visierend  eine  Höhe  messen  soll.  Da 
lehren  die  Kapitel  21  und  22,  teilweise  auch  24,  Höhenmessungen 
aus  dem  Schatten.  Im  22.  Kapitel  ist  als  einzige  (S.  857)  angekün- 
digte Verwandtschaft  zu  Arabischem  das  auch  ausschließlich  in  der 
Salzburger  Handschrift  an  dieser  Stelle  vorkommende  Wort  haJhidada 
zu  bemerken,  welches  zweimal,  das  zweite  Mal  in  der  Form  alhidada, 
vorkommt*).  Wir  deuten  uns  diese  einzige  Ausnahme  als  eine  von 
den  (S.  860)  erwähnten  kleinen  Abschreibersünden.  Das  Wort  wird 
in  der  Vorige  Randbemerkung  gewesen  und  in  den  Text  herüber 
genommen  worden  sein,  ganz  ähnlich  wie  es  in  einer  Archimedhand- 
schrift  mit  dem  Worte  Ellipse  ging,  dessen  Archimed  sich  zuverlässig 
nicht  bedient  haben  kann.  Daß  unsere  Erklärung  das  Richtige  zu 
treffen  scheint,  geht  auch  daraus  hervor,  daß  die  Münchener  Hand- 
schrift, welche  gerade  den  feldmesserischen  Abschnitt  in  offenbar  viel 
zweckmäßigerer  und  klarerer  Anordnung  besitzt,  als  man  es  der 
Salzburger  Handschrift  nachrühmen  kann,  jenes  22.  Kapitel  überhaupt 
nicht  aufweist*). 

')  AgrimeüBoren  S.  162 — 166.  Bubnov  1.  c.  hält  diese  mittlere  und  die 
letzte  Abteilung  für  eingeschoben,  während  die  erste  Abteilung  seiner  Ansicht 
nach  von  Gerbert  hem'ihren  kann.  T anner y  {Une  correspondance  d'Eeoldtres 
du  XI  Siedle)  hält  die  beiden  ersten  Abteilungen  für  nicht-Gerbertisch  und 
schreibt  die  letzte  Abteilung  Gerbert  in  dem  Sinne  zu,  es  sei  ein  von  diesem 
herrührender  Auszug  aus  römischen  Feldmessern.  •)  Das  arabische  Wort 
al-^id&da  bedeutet  eigentlich  einen  Türpfosten,  dann  als  technischer  Ausdruck 
ein  Lineal.  Die  Engländer  gebrauchen  seit  Ende  des  XYI.  S.  das  Wort  in  der 
Verketzerung  athelida.  Weigand,  Deutsches  Wörterbuch,  2.  Auflage  1876,  ist- 
der  Meinung,  aus  diesem  athelida  sei  unter  Vereinigung  mit  dem  vorgesetzten 
Artikel  the  das  sonst  in  seiner  Ableitung  unerklärliche  Theodolit  entstanden. 
Vgl.  K.  Zöppritz  in  den  Annalen  der  Physik  und  Chemie,  Neue  Folge  XX, 
176—176  (1883).         »)  Curtze  1.  c.  S.  96. 


Qerbert.  863 

Im  24.  Kapitel  knüpft  sich  dann  wieder  ganz  in  römischer  Weise 
eine  Methode  an,  bei  der  von  der  Mißlichkeit  eines  Verfahrens  ge- 
sprochen wird,  welches  den  Beobachter  zwingt,  sein  Gesicht  glatt  an 
die  Erde  zu  drücken.  Da  erinnert  an  Epaphroditus  (S.  556)  und  an 
SeztuB  Julius  Africanus  (S.  440)  eine  im  Kapitel  31  gelehrte  Höhen- 
messung mit  Hilfe  eines  massiven  rechtwinkligen  Dreiecks  von  den 
Seitenlangen  3,  4  und  5.  Wieder  eine  den  Hilfsmitteln  nach  ver- 
schiedene Höhenmessung  ist  sodann  die  im  Kapitel  35,  welche  wir 
die  Messung  mittels  der  festen  Stange  nennen  wollen,  da  sie  darauf 
hinausläuft,  eine  Stange  von  bekannter  Höhe  in  den  Boden  zu  be- 
festigen' und  alsdann  rückwärts  gehend  den  Punkt  aufzusuchen,  von 
welchem  aus  die  Sehlinio  aus  dem  Auge  des  Beobachters  nach  der 
Stangenspitze  in  ihrer  Verlängerung  die  Spitze  des  zu  messenden 
Gegenstandes,  eines  Turmes  oder  dergleichen,  erreicht.  Kapitel  38 
und  39  messen  Flußbreiten,  die  Aufgabe  des  Nipsus  wie  vor  ihm  des 
Heron.  Kapitel  40  endlich  kennzeichnet  sich  selbst  als  militärische 
Methode  zur  Höhenmessung.  Zwei  Pfeile  werden,  ein  jeder  an  eine 
lange  Schnur  befestigt,  gegen  die  Mauer  abgeschossen,  auf  deren 
Höhenmessung  es  abgesehen  ist,  und  zwar  richtet  man  den  einen 
Schuß  nach  der  Spitze,  den  anderen  nach  dem  Fuße  der  Mauer.  Die 
beidemal  abgewickelten  Schnurlängen  geben  Hypotenuse  und  Grund- 
linie eines  rechtwinkligen  Dreiecks,  dessen  Höhe  zu  berechnen  nun- 
mehr keine  Schwierigkeit  mehr  hat. 

Solche  Methoden  werden  nicht  auf  einmal  erfunden.  Der  Ver- 
fasser dieser  Abteilung,  wer  es  auch  gewesen  sein  mag,  ob  Gerbert, 
ob  ein  anderer  Schriftsteller  im  oder  vor  dem  XI.  S.,  ob  ihm  die 
ganze  Gerbertsche  Geometrie,  ob  nur  deren  mittlere  Abteilung  an- 
gehört, erhebt  auch  keinerlei  Anspruch  darauf  als  Erfinder  angesehen 
zu  werden.  Er  sagt  stets  „die  Höhe  usw.  wird  gemessen^',  niemals 
„ich  messe"  auf  diese  oder  jene  Weise,  und  um  derartige  Worte  der 
Aneignung  war  das  Mittelalter  nie  verlegen,  selbst  wo  sie  nicht  voll- 
ständig der  Wahrheit  entsprachen.  Sagt  doch  der  Verfasser  der  ersten 
Abteilung,  bevor  er  im  13.  Kapitel  höchst  unbedeutende  Bemerkungen 
ausspricht  ,ylch  glaube  unter  keiner  Bedingung  schweigend  an  Aus- 
blicken vorbeigehen  zu  sollen,  welche,  während  ich  dies  schrieb,  die 
eigene  Natur  mir  eröflfhete'*^).  Ein  Weiteres  tritt  hinzu,  welches  erst 
im  folgenden  Bande  im  42.  Kapitel  zur  vollen  Geltung  kommen  kann. 
Am  Anfang  des  XTTT.  S.  finden  wir  einige  dieser  Messungsmethoden, 


*)  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  OUeris)  pag.  425:  8ed  nequaquam  silentio 
ptUo  transeundum  quod  interim  dmn  /laec  scriptitarem  ipsa  mihi  natura  obtulit 
apecülandum. 


864  39.  Kapitel. 

aber  nicht  alle  bei  einem  Schriftsteller  wieder^  von  welchem  kaum 
anzunehmen  ist,  er  habe  aus  der  Gerbertschen  Geometrie  geschöpft, 
80  daß  die  unmittelbare  weniger  wahrscheinlich  sein  dürfte,  als  eine 
beiden  gemeinsame  Abhängigkeit  von  einer  noch  älteren,  jedenfalls 
römischen  Quelle,  mag  deren  Urheber  Frontinus  oder  Baibus  geheißen, 
oder  einen  anderen  bekannten  oder  verschollenen  Namen  geführt 
haben.  Von  dieser  Annahme  aus  steigert  sich  die  Wichtigkeit  von 
öerberts  Geometrie  nach  zwei  Seiten  hin.  Sie  lehrt  uns  nicht  bloß, 
was  durch  Jahrhunderte  hindurch  von  Methoden  der  Feldmessung 
flieh  erhalten  hat,  sie  füllt  uns  auch  eine  empfindliche  Lücke  in  unserer 
Kenntnis  der  römischen  Yerfahrungs weisen  aus,  wenn  wir  nicht  gar 
in  Erinnerung  an  die  Erzählung  des  Polybius  (S.  362),  es  sei  mög- 
lich die  Höhe  einer  Mauer  von  weitem  zu  messen,  für  die  Entstehung 
mancher  Methoden  bis  in  das  griechische  Altertum  hinaufgreifen  müssen. 

Was  den  ersten  Teil  dieser  Geometrie  betrifft,  so  haben  wir 
schon  auf  die  Definition  von  podismus  aufmerksam  gemacht,  welche 
in  ihm  sich  befindet.  In  ihm  kommt  auch  das  Wort  carat^stus  für 
Scheitellinie  vor,  den  griechisch-römischen  Ursprung  bezeugend.  Andere 
Bemerkungen  lassen  sich  an  Definitionen  und  einfachste  Sätze  der 
Geometrie  kaum  knüpfen.  Sie  sind  uns  höchstens  als  Stilprobe  von 
Wert,  in  welcher  die  dem  Verfasser  eigene  behäbige  Breite  hervor- 
tritt, ein  Bestreben,  recht  klar  zu  sein,  welches  er  aber  niemals  da- 
durch betätigt,  daß  er  Sätze  kürzer  faßte  und  den  Sinn  Verwirrendes 
wegließe,  sondern  stets  so,  daß  er  von  dem  Seinigen  beifügt. 

Mit  dem  dritten  Teile  haben  wir  uns  oben  so  weit  beschäftigt, 
daß  wir  seine  Quellen  enthüllten.  Einige  wenige  Gegenstände  müssen 
wir  noch  aus  ihm  hervortreten  lassen.  Wir  haben  (S.  377)  die 
heronische  Konstruktion  des  regelmäßigen  Achtecks  ausgehend  von 
dem  Quadrate  besprochen;  wir  haben  (S.  560)  die  Figur,  an  welcher 
die  Richtigkeit  der  Konstruktion  sich  nachweisen  läßt,  bei  Epaphro- 
ditus  wiedergefunden;  wir  haben  sie  (S.  586)  bei  dem  Fälscher  des 
Boethius  auftreten  sehen.  Die  Gerbertsche  Geometrie  hat  die  Kon- 
struktion selbst  im  Kapitel  89  aufbewahrt,  die  Figur  dagegen  nicht 
abgebildet,  weder  bei  Gelegenheit  der  Konstruktion,  noch  bei  Gelegen- 
heit der  Achteckszahlen.  Überhaupt  fühlte  der  Verfasser  offenbar 
deutlicher  als  die  römischen  Schriftsteller,  die  ihm  als  Vorlage  dienten, 
daß  die  Lehre  von  den  figurierten  Zahlen  nur  gewohnheitsmäßig  in 
die  Geometrie  aufzunehmen  sei,  nicht  eigentlich  dort  ihren  richtigen 
Platz  habe;  der  ganze  Gegenstand  war  ihm  klarer.  Er  hat  nicht  eine 
einzige  Figur  in  seinen  arithmetischen  Kapiteln  benutzt.  Er  hat  für 
die  Fünfecks-  und  Sechseckszahlen  die  richtigen  Formeln  angegeben, 
wo  Epaphroditus  und  der  gefälschte  Boethius  sich  Rechenfehler  zu- 


Gerbert.  865 

schulden  kommen  ließen.  In  der  Gerbertschen  Geometrie  finden  wir 
in  Sjipitel  55  die  allgemeine  Formel,  um  aus  der  Seite  die  Polygonal- 
zahl, in  Kapitel  65  diejenige ,  um  aus  der  Poljgonalzahl  die  Seite  zu 
entnehmen,  in  ihr  zweimal  in  Kapitel  60  und  62  die  Formel,  welche 
die  Pjramidalzahl  aus  der  Seite  und  der  Polygonalzahl  entstehen  laßt. 
Die  Summierung  der  Reihe  der  Kubikzahlen  ist  dagegen  nicht  in 
Oerberts  Geometrie  übergegangen.  Es  kann  wohl  sein,  daß  der  Ver- 
fasser den  betreffenden  Paragraphen  des  Epaphroditus  nicht  verstand, 
wie  er  im  Codex  Arcerianus  auf  ihn  stieß,  und  wer  möchte  ihm  das 
yerübeln,  da  gerade  jener  Paragraph  dort  eine  so  verderbte  Gestalt 
angenommen  hat^),  daß  er  kaum  zu  verstehen  ist,  es  sei  denn,  man 
wisse  schon,  nach  welcher  Formel  Kubikzahlen  sich  summieren  und 
ermittle  rückwärts  aus  dieser  Kenntnis  die  richtige  Lesart. 

Man  hat  die  arithmetischen  Kapitel  von  Gerberts  Geometrie  als 
Zeugnis  für  die  ünechtheit  der  ganzen  Schrift  angerufen.  Wir  halten 
gerade  umgekehrt  diesen  dritten  Abschnitt  für  gesichertes  Eigentum 
Oerberts.  Gerbert,  das  haben  wir  in  dem  biographischen  Teile  dieser 
Erörterung  gesagt,  hat  auch  als  Papst  noch  einen  Brief  von  Adel- 
bold von  Utrecht  erhalten.  In  demselben  ist,  wie  oben  angedeutet, 
von  der  Ausmessung  des  Kreises  und  der  Kugel  die  Rede,  deren 
Körperinhalt,  oras^Uudo,  dadurch  gefunden  werde,  daß  von  dem  Kubus 

des  Durchmessers  _-  abgezogen,  beziehungsweise   -  genommen  werden. 

Ein  anderer  Brief  des  Adelbold  an  Gerbert  ist  verloren  gegangen,  da- 
gegen ist  Gerberts  Antwort  erhalten  und  z.  B.  in  der  Handschrift  des 
Salzburger  St.  Peterstiftes,  welche  die  Gerbertsche  Geometrie  enthält, 
hinter  der  Geometrie  und  in  unmittelbarem  Anschluß  an  jenen  Brief 
Adelbolds  über  den  Kugelinhalt  vorhanden.  Daraus  hat  sich  die  Ver- 
mutung gebildet,  hier  liege  wohl  die  Antwort  auf  ein  späteres  Schreiben 
Tor,  und  mit  Rücksicht  auf  die  Aufschrift  des  erhaltenen  Briefes  Adel- 
bolds „an  Gerbert  den  Papst"  mußte  man  sie  in  die  letzten  Lebens- 
jahre Gerberts  setzen.  Adelbold  hatte,  wie  wir  aus  Gerberts  Antwort 
ersehen,  Skrupel  darüber  bekommen,  daß  das  Dreieck  in  seiner 
Fläche  zweierlei  Ausmessung  besitzen  sollte.  Er  konnte  nicht  be- 
greifen, wie  das  gleichseitige  Dreieck,  dessen  Seite  die  Länge  7  be- 

(7  •  8\ 
=        j  als  auch  den  Flächen- 

(7  •  6\ 
=  -^j    besitze.     Gerbert   erläutert   ihm    die  Sache   ganz 

richtig.  Der  wirkliche  geometrische  Flächeninhalt,  sagt  er,  ist  21 
und  er  gibt  dabei  die  Regel:    die  Höhe  des  gleichseitigen  Dreiecks 


^)  Agrimensoren  S.  127 — 128. 
Gautor,  Oeschiohte  der  Mathematik  I.  ^   /Lafl.  56 


866  89.  Kapitel. 

sei  immer  um  ^  kleiner  als  dessen  Seite.  Die  andere  Zahl  28,  fahrt 
Gerbert  fort,  sei  nur  arithmetisch  als  Fläche  zu  nehmen  und  besage, 
man  könne  in  das  Dreieck  28  kleine  Quadrate  mit 
der  Längeneinheit  als  Seite  einzeichnen,  freilich  so, 
daß  Überschüsse  über  das  Dreieck  erscheinen,  wie 
der  Augenschein  (Fig.  114)  am  deutlichsten  lehre. 
Gerbert,  sagte  man  nun,  hat  also  hier  deutlich  für 
die  Geometrie  verworfen,  was  in  Gerberts  sogenannter 
Geometrie  gelehrt  ist,  mithin  ist  letztere  unecht. 
Dieser  Einwurf  ist  vollkommen  nichtig.  Wir  wollen  nicht  bloß 
darauf  hinweisen,  daß  es  eine  und  dieselbe  Handschrift  aus  der  Mitte 
des  XII.  S.  ist,  welche  beide  Schriftstücke  für  Gerbert  in  Anspruch 
nimmt,  noch  darauf,  daß  die  Geometrie,  wenn  sie  in  Bobbio  unter 
Benutzung  des  dort  befindlichen  Codex  Arcerianus  geschrieben  wurde, 
etwa  20  Jahre  älter  als  der  Brief  an  Adelbold  ist,  und  daß  in 
20  Jahren  Ansichten  auch  über  wissenschaftliche  Dinge  sich  klären 
und  ändern  können.  Wir  geben  vielmehr  namentlich  zu  bedenken, 
was  wir  oben  schon  auf  den  Inhalt  der  arithmetischen  Kapitel  selbst 
uns  stützend  gesagt  haben,  daß  Gerbert  diesen  Abschnitt  seiner 
Geometrie  als  das  erkannte,  was  er  war,  und  ihn  wohl  überhaupt 
nur  darum  auinahm,  weil  er  auch  in  seinen  Musterwerken  sich  an 
ähnlicher  Stelle  vorfand.  Ja  man  kann  umgekehrt  den  Brief  eine 
willkommene  Bestätigung  der  Geometrie  nennen,  wenn  Adelbold, 
dessen  Anfrage  ja  verloren  ist,  gerade  auf  Gerberts  Geometrie,  wie 
wir  vermuten,  sich  berief,  um  die  falsche  Zahl  28  neben  der  als 
richtig  bekannten  Zahl  21  durch  ein  Zeugnis  zu  stützen,  welches 
von  dem,  an  welchen  er  seine  Anfrage  richtete,  nicht  zurückgewiesen 
werden  konnte.  Zu  dieser  Vermutung  führen  nämlich  die  Anfangs- 
worte von  Gerberts  Brief  hin^):  „Unter  den  geometrischen  Figuren, 
welche  Du  von  uns  entnommen  hast,  war  ein  gleichseitiges 
Dreieck,  dessen  Seite  30  Fuß  lang  war,  die  Höhe  26  Fuß,  die 
Fläche  gemäß  der  Vergleichung  von  Seite  und  Höhe  390."  Diese 
Figur  nebst  den  genannten  Zahlenwerten  ist  nämlich  in  Gerberts 
Geometrie  der  Inhalt  von  Bjipitel  49. 

Zugleich  zeigt  sich  in  der  Tat  eine  Ansichtsänderung  Gerberts. 
Während  er  in  dem  aus  Epaphroditus  entnommenen  Kapitel  der  Geo- 
metrie  noch  yo  »  rechnete,  sagt  er  jetzt,  wie  wir  gesehen  haben, 
im   Verlaufe   des  Briefes,   die  Höhe   des   gleichseitigen  Dreiecks   sei 


^)  In  his  geometricis  figt^ris,  quas  a  nohis  mmpsisti,  erat  trigonus  quidam 
aequüaterus,  cuius  erat  latus  XXX  pedes,  cathetua  XXVI,  sectitidum  coüatiomm 
lateria  et  caiheti  area  CCCXC. 


Gezbert.  867 

immer  um  y  kleiner  als  dessen  Seite^  und  darin  steckt  der  Näherungs- 
wert y^  =-«  Y ,  dessen  Vorkommen  bei  irgend  einem  früheren  Schrift- 
steller wir  nicht  zu  bestätigen  imstande  sind,  während  er  (S.  22«>) 
Baumeistern  der  Perikleischen  Zeit  bekannt  gewesen  zu  sein  scheint, 
yielleicht  auch  in  den  Bauschulen  erhalten  blieb,  weil  er  bequemerer 
Rechnung    als    der   heronische   Näherungswert,    wenn   auch   weniger 

genau   als  jener  ist.     Der  Näherungswert  Y2  »  -^  findet  sich,   um 

dieses  gelegentlich  hervorzuheben,  gleichfalls  in  der  dritten  Abteilung 
Yon  Gerberts  Geometrie,  in  Kapitel  66. 

Diese  Schriften  Gerberts,  Ton  welchen  wir  bisher  gehandelt 
haben,  waren  geometrischen  Inhaltes.  Zwei  andere  beziehen  sich 
auf  Rechenkunst.  Zunächst  ist  aus  zwei  dem  XI.  und  dem  XII.  S. 
angehörenden  Handschriften  durch  den  letzten  Herausgeber  von  Ger- 
berts Werken  eine  Abhandlung:  Regel  der  Tafel  des  Rechnens, 
Regida  de  ahaco  comptäi  überschrieben  und  als  yon  Gerbert  her- 
rührend bezeichnet  zum  Drucke  befordert  worden*).  Der  Titel  dieser 
ausführlichen  Abhandlung  ist  nicht  ohne  Interesse  in  der  Richtung, 
daß  in  ihm  das  Wort  Computus  unzweifelhaft  nicht  als  Osterrech- 
nung, sondern  als  Rechnen  im  allgemeinen  zu  übersetzen  ist,  eine 
erweiterte  Bedeutung,  deren  Möglichkeit  wir  (S.  834)  betonten.  Er 
findet  seine  Beglaubigung,  wenn  eine  solche  nötig  erschiene,  in  einer 
Äußerung  eines  Schriftstellers  des  XL  S.,  der  im  folgenden  Kapitel 
von  uns  besprochen  werden  muß,  Bemelinus.  Dieser  redet  nämlich 
von  der  „Regel**  des  Papstes*).  Wir  werden  indessen  gleich  nachher 
ausfahrlicher  über  die  Verfasserfrage  zu  reden  haben,  wenn  wir  über 
den  Inhalt  der  Regel  im  klaren  sein  werden,  und  über  diesen  kommen 
wir  am  raschesten  hinaus,  wenn  wir  denselben  als  in  wesentlicher 
Übereinstimmung  mit  den  seinerzeit  im  27.  Kapitel  geschilderten 
rechnenden  Abschnitten  der  Geometrie  des  Boethius  anerkennen.  Die 
Multiplikationsregeln  sind  soweit  fortgesetzt,  daß  höchstens  27  Ko- 
lumnen des  Abacus  in  Anspruch  genommen  werden,  wodurch  eine 
Übereinstimmung  mit  Richers  Schilderung  des  Rechenbrettes,  welches 
Gerbert  in  Rheims  seinem  Unterrichte  zugrunde  legte,  hergestellt  ist. 
Allerdings  scheint  ein  nur  flüchtiger  Blick  auf  die  Regel  dieser  Be- 
merkung zu  widersprechen.  Wo  z.  B.  die  Multiplikation  von  Einern 
in  Zehner,  in  Hunderter  usf.  gelehrt  wird,  heißt  es  ausdrücklich,  es 


*)  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  Olleris)  pag.  811—848.  *)  Ebenda  pag.  357: 
Si  domini  papcte  regüla  de  hü  suhtHissiine  scripta  tantum  sapieniissimis  non  esset 
reservata,  friistra  me  ad  Äcw  ^owip^^we«  scribtndas. 


56  • 


868  39.  Kapitel. 

gebe  25  Fälle ^  und  ähnlich,  wenn  der  Multiplikator  und  ihm  ent- 
sprechend der  Multiplikandus  von  höherer  Ordnung  gedacht  sind.  Da 
könnte  man  auf  das  Vorhandensein  von  nur  26  Kolumnen  zu  schließen 
sich  versucht  fühlen ,  wenn  man  zu  erwägen  vergißt,  daß  die  zählen- 
den Ziffern  beider  Faktoren  för  sich  ein  zweiziffriges  Produkt  zu  liefern 
imstande  sind,  also  in  der  Tat  das  Vorhandensein  einer  bei  manchen 
Multiplikationen  freibleibenden,  bei  anderen  zu  benutzenden  27.  Ko- 
lumne voraussetzen.  Das  Dividieren  ist  das  komplementäre,  sofern 
der  Divisor  aus  Zehnem  und  Einem  besteht.  Besteht  derselbe  aus 
Hundertern  und  Einem,  so  wird  wieder,  wie  bei  Boethius,  eine  Einheit 
höchster  Ordnung  des  Dividenden  fürsorglich  beseitigt  und  dann  zu- 
nächst durch  die  Hunderter  des  Divisors  geteilt,  als  wären  sie  von 
Einern  gar  nicht  begleitet.  Das  Bruchrechnen  bildet  den  Schluß  und 
wendet  diejenigen  Brüche  an,  welche  wir  als  ursprünglich  römische 
Daodezimalbrüche  wiederholt  in  Frage  treten  sahen. 

Die  ganze  Schrift  ähnelt  in  ihrer  breitspurigen  Stilistik  der 
Geometrie  Gerberts.  Sie  trägt,  wie  wir  fast  überflüssigerweise  be- 
merken, in  jeder  Zeile  ein  durchweg  römisches  Gepräge.  Man  kann 
sogar  einiges  Erstaunen  darüber  an  den  Tag  legen,  daß  nur  die  ge- 
meinen römischen  Zahl-  und  Bruchzeichen  vorkommen,  daß  weder 
im  fortlaufenden  Texte,  noch  auf  den  Zeichnungen  des  Abacus,  welche 
in  der  Handschrift  jüngeren  Datums  sich  vorfinden,  jene  Apices  be- 
nutzt sind,  welche  doch  nach  Richers  nicht  mißzuverstehender 
Schilderung  Gerbert  in  Rheims  zu  benutzen  pflegte.  Das  läßt  einigen 
Zweifel  in  die  Meinung  setzen,  Gerbert  habe  gerade  während  seiner 
Rheimser  Lehrzeit  die  Regel  aufgeschrieben,  beziehungsweise  seinem 
dortigen  Unterrichte  zugrunde  gelegt,  eine  Meinung,  welche  in 
weiterem  Widerspruche  gegen  unsere  (S.  850)  begründete  Ansicht 
steht,  Gerbert  habe  dort  überhaupt  nicht  nach  einem  den  Schülern 
in  die  Hände  gegebenen  Buche  das  Rechnen  gelehrt,  in  Widerspruch 
auch  gegen  die  Worte  Richers,  man  solle  Gerberts  Buch  an  C.  den 
Grammatiker  zu  Rate  ziehen.  Konnte  Richer  so  schreiben,  wenn 
die  ausführliche  Regel  älteren  Datums  als  das  Buch  an  Constantinus 
war,  in  welchem  wir  sogleich  eine  wesentlich  kürzere  Darstellung 
kennen  lernen  werden?  Mußte  Richer  die  Regel,  wenn  sie  in  Rheims 
in  Gebrauch  war,  nicht  unbedingt  kennen,  während  seine  Worte  die 
Vermutung  erwecken,  er  wenigstens  habe  nur  von  einer  Schrift 
über  Rechenkunst  aus  Gerberts  Feder  gewußt?  Ahnliche  nur  noch 
stärkere  Bedenken  sind  einer  Berner  Handschrift  der  Regel  ent- 
nommen  worden^).      Die   Vermutung,  jene  Handschrift  gehöre  dem 

')  Gerbert  and  die  Bechenknnst  des  X.  Jahrhunderts  von  Dr.  Alfred  Nagl 


Gerbert.  869 

IX.  S.  aD;  sie  sei  also  längere  Zeit  vor  Gerberts  Geburt  geschrieben^ 
bat  sich  allerdings  als  irrig  erwiesen.  Die  Zeit  der  Niederschrift 
wird  nicht  über  das  X.  S.  hinaufznrücken  sein^)^  und  somit  könnte 
das  Original  allenfalls  um  970  entstanden  sein.  Aber  aus  dem  Berner 
Kodex  geht  deutlicher  als  aus  dem  dem  Drucke  der  Regel  zugrunde 
gelegten  hervor,  daß  man  überhaupt  nicht  eine  Abhandlung,  sondern 
deren  zwei  vor  sich  hat,  eine  über  das  Multiplizieren  und  Dividieren 
mit  ganzen  Zahlen,  eine  zweite  über  das  Bruchrechnen,  und  da  nur 
von  einer  Schrift  Gerberts  die  Rede  sein  könnte,  so  wäre  mindestens 
die  zweite  Abhandlung  einem  Verfasser  zuzuweisen,  der  spätestens 
als  Gerberts  Zeitgenosse  lebte,  der  durch  seine  Duodezimalbrüche 
sich  als  Schüler  römischer  Rechenkunst  zu  erkennen  gibt,  und  der 
mit  diesen  Brüchen  die  komplementäre  Division  ausübt!  Wieder  eine 
andere  AufÜEussung  ist  diejenige^),  welche  die  ganze  Schrift  Gerbert 
abspricht  und  sie  zwar  auch  als  aus  verschiedenen  Bestandteilen  zu- 
sammengesetzt erachtet,  aber  Heriger  von  Lobbes  für  den  Ver- 
fasser des  ersten  Hauptteiles  hält.  Heriger  habe  etwa  zu  gleicher 
Zeit  in  Lobbes  wie  Gerbert  in  Rheims  gelehrt,  so  daß  eine  Beein- 
flussung des  einen  durch  den  anderen,  Gerberts  durch  Heriger  wie 
Herigers  durch  Gerbert,  ausgeschlossen  erscheine.  Wir  verzichten 
darauf  eine  Entscheidung  zu  treffen,  wo  nirgend  strenge  Beweise  vor- 
liegen, vielmehr  nur  Vermutung  gegen  Vermutung  steht.  Uns  darf 
die  eine  Behauptung  genügen,  in  welcher,  soweit  wir  sehen,  alle  über- 
einstimmen, daß  die  Regel  zu  Gerberts  Lebzeiten  verfaßt  ist,  und 
daß  die  komplementäre  Division  aus  Rom  stammt 

Dagegen  wird  gegen  eine  andere  Schrift  Gerberts  kein  Zweifel 
erhoben.  Büchlein  über  das  Dividieren  der  Zahlen,  libeUtts  de 
numerorum  divisioney  ist  die  Überschrift  der  Abhandlung'),  welche 
durch  einen  Brief  an  Constantinus  eingeleitet,  kürzer  und  weniger 
klar,  als  die  Regel  es  tut,  den  genau  gleichen  Gegenstand  behandelt 
gleichfalls  ohne  der  Zahlzeichen  auch  nur  mit  einer  Silbe  zu  gedenken. 
Der  Einleitungsbrief  lautet  in  seinen  ersten  wichtigen  Sätzen  wie 
folgt*):  „Der  Stiftslehrer  Gerbert  seinem  Constantinus.  Die  Gewalt 
der  Freundschaft  macht  fast  unmögliches  möglich,  denn  wie  würde 
ich  versuchen,  die  Regeln  der  Zahlen  des  Abacus  zu  erklären,  wenn 
Du   nicht,   Constantinus,   mein   süßer  Trost   der  Mühen,   die  Veran- 


(Wien  ISSS,  Sonderabdnick  aus   Bd.  116  der  SitzuDgaberichte  der  phil.-histor. 
Klasse  der  Wiener  Akademie). 

^)  So  das  Ergebnis  genauer  Erw&gungen  von  Herrn  Delisle  in  Paris. 
•)  Bubnov  S.  206,  Note  1.  »)  Oeverea  de  Gerhert  (ed.  Olleris)  pag.  849—866. 
*)  Math.  Beitr.  Kulturl.  S.  820  verbessert  nach  dem  in  der  Ausgabe  von  Olleris 
abgedruckten  gereinigten  Texte. 


870  39.  Kapitel. 

lassimg  bötest?  So  will  ich  denn,  obwohl  etliche  Jahrfunfe  ver- 
gangen sind,  seit  ich  weder  das  Buch  in  Händen  hatte  noch  in  Übung 
war,  einiges  in  meinem  Gedächtnisse  zusammensuchen;  und  es  zum 
Teil  mit  denselben  Worten,  zum  Teil  demselben  Sinne  nach  vor- 
bringen/'  Es  geht  daraus  hervor,  daß  Gerbert  zu  Gonstantinus  auch 
wohl  früher  schon  in  dem  Verhältnisse  des  Lehrers  zum  Schüler  ge- 
standen haben  muß,  weil  er  sonst  nicht  den  Titel  Stiftslehrer  mit 
seinem  Namen  in  Verbindung  gebracht  hätte,  was  er  außerdem  nur 
dreimal  in  den  uns  bekannten  Briefen  tat^).  Wir  wissen  auch,  daß 
die  Bekanntschaft  beider  aus  den  Jahren  972  bis  982  herrührt,  aus 
der  Zeit,  in  welcher  Gerbert  wechselweise  lernend  und  lehrend  aus 
der  Stellung  des  Stiftsschülers  in  die  des  Stiftslehrers  übersprang,  um 
dann  wieder  für  einzelne  Stunden  in  die  erstere  zurückzukehren.  An 
jene  Zeit  erinnert  Gerbert  offenbar  mit  den  Worten,  es  seien  etliche 
Jahrfunfe,  aliquot  lustray  vergangen,  und  diese  Zeit  von  mindestens 
15  bis  20  Jahren  zu  der  des  Rheimser  Aufenthaltes  hinzugefügt 
liefert  etwa  das  Jahr  997,  in  welchem  (S.  858)  der  Brief  an  Gon- 
stantinus höchst  wahrscheinlich  geschrieben  ist.  Seit  einigen  Jahr- 
fünfen, sagt  Gerbert,  habe  er  weder  das  Buch  in  Händen  noch  irgend 
Übung  gehabt,  imd  der  letzte  Teil  dieses  Satzes  bezieht  sich  zu- 
verlässig nicht  auf  Übung  im  Rechnen,  sondern  im  Rechenunterrichte, 
denn  das  ist  es,  was  Gonstantinus  von  ihm  verlangte.  Ein  Buch  zum 
Rechenunterrichte  war  es  also  auch,  welches  als  seit  vielen  Jahren 
vermißt  bezeichnet  ist.  Damals,  als  Gerbert  noch  in  Rheims  lehrte, 
ja  da  hatte  er  das  Buch,  damals  ließ  er  auch  die  Vorschriften  sich 
aber-  und  abermals  von  den  Schülern  hersagen,  sagte  er  sie  ihnen 
vor,  stets  dieselben  Ausdrücke  gebrauchend,  und  nur  dadurch  wird 
es  ihm  möglieh,  auch  jetzt  noch  teils  mit  denselben  Worten  wie 
damals  teils  dem  Sinne  nach  das  Gleiche  aus  dem  Gedächtnisse  wieder 
herzustellen.  Und  so  sind  wir  nun  zu  der  letzten  Frage  gelangt: 
Was  für  ein  Buch  war  es  denn,  von  welchem  Gerbert  redet?  Man 
hat  vermutet,  die  „Regel^^  sei  damit  gemeint.  Wir  haben  die  Gegen- 
gründe entwickelt,  welche  uns  gegen  diese  Vermutung  einnehmen. 
Sollten  sie  als  entscheidend  angesehen  werden,  dann  muß  es  freilich 
ein  anderes  Buch  gewesen  sein,  überhaupt  kein  von  Gerbert  selbst 
verfaßtes,  für  welches  er  auch  wohl  eine  andere  Bezeichnung  gehabt 
hätte,  als  kurzweg  das  Buch,  lihrum.  Auch  das  Buch  des  weisen 
Josephs  des  Spaniers  kann  es  nicht  wohl  gewesen  sein,  da  dieses  im 

*)  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  Olleris)  Epistöla  11:  Gerbertus  quondam  scola- 
8ticu8  Ayrardo  suo  salutem  (pag.  7).  Upistola  17:  Hugoni  siu)  Gerbertus  quon- 
dam scolasticus  (pag.  10).  Epistöla  142 :  Gerbertus  Scolaris  abbas  Remigio  tnonaco 
Treverensi  (pag.  78). 


Geibert.  871 

Jahre  984,  wie  wir  sahen  (S.  856),  von  Rheims  aus  gesucht  wurde. 
Aber  über  diese  negative  Bestimmung,  welches  Buch  es  nicht  war, 
das  Gerbert  yermißte,  kommen  wir  freilich  nicht  hinaus.  Die  „Regel'' 
ist  sodann  von  Gerbert  als  Papst  —  wie  der  Ausspruch  des  Bemelinus 
gleichfalls  yerstanden  werden  kann  —  verfaßt  worden,  erst  nachdem 
das  Büchlein  für  Constantinus  aus  dem  Gedächtnisse  zusammen- 
geschrieben war.  Gerberty  nehmen  wir  an,  beabsichtigte,  nachdem  er 
den  Gegeustand  sich  wieder  vollständig  gegenwärtig  gebracht  hatte, 
ihn  endgültig  und  in  genügender  Klarheit  für  jeden  Leser  abzuschließen. 
Doch  gleichviel.  Diese  kleinen  Meinungsverschiedenheiten  sind  im 
Grunde  sehr  geringfügig  gegenüber  der  Aufgabe,  die  uns  bleibt:  zu 
zeigen,  welche  Bedeutung  Gerberts  Lehren  von  Anfang  an  besessen 
und  mehr  und  mehr  gewonnen  haben. 

Die  realistischen  Studien^)  waren  mehr  und  mehr  aus  den 
Klöstern  verschwunden,  in  welchen  sie  unter  Alcuins  unmittelbarem 
und  mittelbarem  Einflüsse  ein,  wie  es  schien,  ewiges  Bürgerrecht 
«ich  erworben  hatten.  Nur  ganz  vereinzelt  waren  noch  Mönche  zu 
finden,  welche  weltliches  Wissen  besaßen  oder  nach  solchem  strebten. 
Büchersammlungen  von  mehr  als  15  oder  20  Bänden  gab  es  nur  in 
den  wenigsten  Klöstern.  Die  Bücher  selbst  waren  ihrer  Seltenheit 
wegen  einzeln  an  Kettchen  befestigt.  Der  Abt  hatte  nicht  einmal 
das  Recht  sie  nach  auswärts  zu  verleihen,  außer  nach  bestimmten 
anderen  Klöstern,  welche  einen  Mitbesitz  an  den  Büchern  genossen. 
Nun  trat  Gerbert  auf.  Er  gab  dem  Unterrichte  zu  Rheims,  wo  die 
Erinnerung  an  Remigius,  der  einst  jene  Schule  zu  Ansehen  brachte, 
fast  verloren  gegangen  war,  ein  neues  Leben.  Er  lehrte  freilich  nicht 
wesentlich  Neues,  aber  er  lehrte  es  mit  neuem  Erfolge,  und  der  Er- 
folg wuchs  noch  mit  der  Zunahme  der  persönlichen  Bedeutung  des 
Lehrers.  Gerbert  hatte  allen  Anfeindungen  zum  Trotze  die  höchste 
Stufe  kirchlicher  Würden  erstiegen.  Er  war  ein  Papst  an  Sitten- 
reinheit einzig  dastehend  unter  den  Päpsten  seines  Jahrhunderts, 
welche  in  wüster  Sinnlichkeit  dem  heiligen  Charakter  ihrer  Stellung 
Hohn  boten,  so  daß  ihr  Regiment  mit  Recht  als  eine  Pomokratie 
hat  verunglimpft  werden  können.  Ganz  natürlich,  daß  jetzt  die 
Gerbertsche  Schule  an  Ansehen  gewann.  Der  Glanz  des  Lehrers 
strahlte  auf  seine  früheren  Zöglinge  zurück ,  gab  ihnen  selbst  eine 
höhere  Weihe.  So  würde  es  unzweifelhaft,  wenn  vielleicht  auch  nur 
mit  kurz  andauerndem  Erfolge,  gewesen  sein,  wenn  die  Lehren 
Gerberts  weniger  klar,  weniger  nützlich,  weniger  vortrefflich  gewesen 


»)  Oeuvres  de  GerheH  (ed.  üUerifl):    Vie  de  Gerhert  pag.  XXIV— XXXm 
ist  eine  sehr  hübsche  Übersicht  über  den  Geisteszustand  der  Zeit. 


872  89.  Kapitel. 

wären.  Um  wieviel  mächtiger  mußte  die  Wirkung  sein,  wo  der 
innere'  Wert  dem  äußeren  Bufe  gleich  kam,  wo  unter  päpstlicher 
Fahne  zur  Modesache  wurde,  was  verdiente  keiner  Mode  unterworfen 
zu  sein.  Jetzt  regte  es  sich  wie  auf  ein  gegebenes  Zeichen  aller  Orten. 
Die  Bibliotheken  wurden  wieder  zahlreicher.  Neue  Abschreiber  ver- 
vielffiltigten  die  selten  gewordenen  Schriften.  Der  Unterricht,  und 
was  für  uns  allein  in  Betracht  kommt,  auch  der  mathematische  Unter- 
richt nahm  an  Umfang  zu. 

Gerberts  Geometrie  scheint  freilich  trotz  oder  vielleicht  wegen 
ihrer  verhältnismäßig  höheren  wissenschaftlichen  Bedeutung  eine 
rechte  Wirkung  nicht  erzielt  zu  haben.  Die  geometrische  Unwissen- 
heit war,  wie  wir  mehrfach  hervorgehoben  haben,  bei  Römern  und 
folglich  auch  bei  Schülern  der  Römer  eine  noch  dichtere  als  die 
arithmetische.  Der  Boden  war  in  diesem  Gebiete  noch  weniger  zu- 
bereitet fruchtbaren  Samen  aufzunehmen.  Was  wir  wenigstens  von 
mönchischen  Versuchen  in  der  Geometrie  vor  Gerbert  kennen,  be- 
schränkt sich  auf  eine  Zeichnung^),  welche  ein  Schreiber  des  X.  oder 
XL  S.  einem  Auszuge  aus  der  Naturgeschichte  des  Plinius  beifügte^ 
und  in  welcher  man  eine  graphische  Darstellung  unter  Zugrunde- 
legung des  Eoordinatengedankens  erkannt  hat.  Wir  stellen  nicht  in 
Abrede,  daß  hier  der  Anfang  zu  einer  Betrachtungsweise  vorhanden 
ist,  die  am  Ende  des  XIV.  S.  an  Wichtigkeit  und  Verbreitung  ge- 
wann und  das  Wort  latitudines,  welches  Plinius  noch  als  Breite 
braucht,  mit  dem  Sinne  der  Abszissen  begabte,  aber  in  der  Zeit,  in 
welcher  jene  Figur  entstand,  fallt  es  uns  schwer  an  das  Bewußtsein 
ihrer  Tragweite  zu  glauben.  Auch  von  Nachfolgern  Gerberts  in  geo- 
metrischen  Untersuchungen  ist  so  wenig  bekannt,  daß  wir  es  fuglich 
hier  anschließen  können.  Da  ist  zunächst  von  Briefen  zu  reden,  deren 
Schreiber  teils  wenig  bekannt  teils  unbekannt  sind,  aber  alle  der 
ersten  Hälfte  des  XI.  S.  angehören.  Da  überdies  sämtliche  zehn  Briefe 
sich  handschriftlich  in  Paris  und  nur  in  Paris  erhalten  haben,  so  war 
es  durchaus  gerechtfertigt,  sie  gemeinschaftlich  dem  Drucke  zu  über- 
geben^. Zuerst  sind  8  zwischen  Radulf  von  Lüttich  und  Regim- 
bold  von  Cöln  gewechselte  Briefe  zum  Abdruck  gebracht.  Dann 
folgt  ein  weiterer  Brief  an  Regimbold,  dessen  Schreiber  sich  als 
Mönch  B.  bezeichnet,  eine  Bezeichnung  welche  vollständiger  Namen- 
losigkeit  gleichkommt     Das  letzte  Stück  der  Sammlung  führt  einzig 


')  S.  Günther,  Die  Anfänge  und  Entwicklnngsstadien  des  Coordinaten- 
principes  in  den  Abhandlangen  der  natnxf.  Geeellsch.  zu  Nürnberg  VI.  Separat- 
abdmck  S.  20  flgg.  und  48—49.  *)  üne  carrespcmdance  d'ecolätres  du  XL  Siicle 
publice  par  M.  Paul  Tannery  et  M.  Tabb^  Clerval  in  den  Notices  et  ex- 
traits  XXXVI,  487—648.    Paris  1900. 


Gerbert.  873 

den  Titel  De  QfAodratura  CirculL  Radulf  yon  Lüttich  wird  ge- 
meinsam mit  Regimbold  yon  Cöln  als  Mathematiker  aas  der  un- 
mittelbar auf  Gerbert  folgenden  Zeit  gerühmt*),  allein  diese  Erwäh- 
nung ist  durch  keinerlei  Beziehung  auf  ältere  Schriftsteller  gestützt 
und  darum  unyerwertbar.  Der  einzige  Zeuge,  welchen  man  anrufen 
konnte  ist  Adelmann,  der  in  seinen  Versen  auf  berühmte  Zeit- 
genossen Regimbold  yon  Cöln  nennt  und  yon  ihm  sagt,  er  habe  sich 
lange  in  Lüttich  aufgehalten^.  Alles,  was  wir  sonst  wissen,  stammt 
aus  dem  Briefwechsel  selbst.  Begimbold  hat  bei  yorübei^ehendem 
Besuche  in  Chartres  dort  mit  dem  berühmten  Bischof  Fulbert  yer- 
kehrt')  und  erwähnt  diesen  Besuch  mit  der  Bitte  Radulf  möge  bei 
Fulbert  eine  Erkundigung  einziehen.  Fulberts  Todestag  war  der 
10.  April  1028,  also  ist  der  Brief  yor  diesem  Tage  geschrieben.  Re- 
gimbold nennt  femer  den  Bischof  Adelbold  yon  Utrecht*),  und 
dieser  gelangte  1010  zu  der  ihm  beigelegten  Würde,  also  ist  der 
Brief  nach  1010  geschrieben.  Mehr  aber,  als  daß  der  Briefwechsel 
der  Zeit  zwischen  1010  und  1028  angehört,  läßt  sich  nicht  behaupten. 
Es  ist  ja  ganz  interessant,  daß  Regimbold  sagt,  er  lehre  seit  mehr  als 
20  Jahren^),  er  werde  nächstens  nach  Rom  reisen*),  daß  yon  Wazo 
in  einer  Weise  die  Rede  ist,  als  wäre  er  Regimbolds  Lehrer  ge- 
wesen^, aber  zur  genaueren  Datierung  der  Briefe  dienen  diese  Tat- 
sachen keineswegs.  Der  Briefwechsel  selbst  geht  dayon  aus,  Boethius 
habe  in  seinen  Erläuterungen  zu  den  Kategorien  des  Aristoteles  ge- 
sagt: scimus  triangulum  habere  ires  interiores  angtüos  equos  duobus 
redis^).  Diese  Behauptung  wird  nach  yerschiedenen  Richtungen  be- 
sprochen. Radulf  hält  den  Satz  yon  der  Winkelsumme  eines  Be- 
weises wert  und  sucht  ihn  ftlr  das  gleichschenklig  rechtwinklige 
Dreieck  zu  liefem,  indem  er  die  Diagonale  eines  Quadrates  zieht. 
Bei  dieser  Gelegenheit  bemerkt  er,  das  Quadrat  über  der  Diagonale 
sei    das  Doppelte   des  ursprünglichen  Quadrates   und    die   Diagonale 

7 
selbst  sei   -    der  Quadratseite*).     Regimbold  dagegen  entnimmt  dem 

17 

Geomäricum  des  Boethius  die  Diagonale  sei  -  der  Quadratseite ***). 
Der  Herausgeber   des   Briefwechsels   hat   mit   Recht   heryorgehoben, 

')  Karl  Werner,  Gerbert  von  Aorillac,  die  Kirche  nnd  WisBenschaft  seiner 
Zeit  S.  77  (Wien  1878).  *)  Correspandance  d'ecoldtres  pag.  522  lin.  14.  ')  Ebenda 
pag.  532  lin.  22—23.  *)  Ebenda  pag.  522  lin.  18  Trajectensem  Epücopum  Ädel- 
holdum.  ')  Ebenda  pag.  529  lin.  24.  ^  Ebenda  pag.  532  lin.  4.  ^)  Ebenda 
pag.  522  lin.  14  und  pag.  531  lin.  8.  ^)  Ebenda  pag.  518  lin.  12.  ®)  Ebenda 
pag.  515  lin.  24  superhipartiens  quintas.  ^^  Ebenda  pag.  525  lin.  2—4  In  Geo- 
metrico  dicü  Boethius:  Omne  diagonium  equilateri  quadrdti  habet  ipsum  latt^ 
in  ae  ei  eiua  quincuncem. 


874  39.  Kapitel. 

diese  Regel  oder  1/2  »  —  finde   sich  in  keiner  dem  Boethius  zage- 

schriebenen  Geometrie,  auch  nicht  in  der  gefälschten,  sie  sei  dagegen 
im  66.  Kapitel  von  Gerberts  Geometrie,  also  in  deren  dritten  Ab- 
teilung vorgetragen  (S.  867).  Es  leuchtet  ein,  daß  hieraus  nur  eine 
einzige  Folgerung  gezogen  werden  darf,  diejenige  daß  im  ersten 
Viertel  des  XI.  S.  in  Cöln  eine  Geometrie  des  Boethius  be- 
kannt war,  welche  nicht  mit  irgend  einer  von  den  Hand- 
schriften übereinstimmte,  die  heute  mit  Recht  oder  Un- 
recht Boethius  zugeschrieben  werden.  Regimbold  wendet  nun 
die  Regel,  daß  die  Hypotenuse  des  gleichschenklig  rechtwinkligen 
17         . 

Dreiecks  seiner  Kathete  sein  muß,  weiter  an,  um  aus  dem  ge- 
gebenen Umfange  die  einzelnen  Seiten  zu  finden.  Diese  Rechnung 
ist  dadurch  besonders  merkwürdig,  daß  Regimbold  sich  nicht,  wie 
Radulf  es  tut,  mit  den  römischen  Duodezimalbrüchen  begnügt  um 
die  Seitenlängen  annähernd  zu  berechnen,  sondern  daß  er  den  Bruch 
17 

rjg  anwendet*).     Einen  weiteren  Gegenstand  des  Briefwechsels  bilden 

die  Ausdrücke  pedes  reäi,  quadrati,  crassi,  deren  Bedeutung  Radulf 
entfallen  war,  bis  Regimbold  sie  ihm  als  Längen,  Flächen  und  Körper- 
maße in  Erinnerung  bringt.  Da  fällt  es  Radulf  ein,  daß  er  in 
Ghartres  die  Erklärung  aus  dem  Albinus  kennen  gelernt  habe,  und 
er  benutzt  die  Gelegenheit  um  Regimbold  dreist  zu  bitten,  ihm  den 
Albinus  oder,  wenn  der  nicht  vorhanden  sein  sollte,  den  sogenannten 
Podismus  zuzuschicken^).  Ob  Albinus  irgend  ein  Werk  Alcuins 
war,  ob  der  Podismus  einen  Auszug  aus  römischen  Feldmessern  be- 
zeichnete, wenn  nicht  Gerberts  Geometrie,  darüber  ist  nichts  bekannt, 
und  ebenso  verhält  es  sich  mit  einer  von  Regimbold  angerufenen 
Regel  der  Divisionen  und  der  Brüche,  welche  vorschreibe,  wenn  der 
Divisor  den  Dividendus  übersteige,  solle  man  den  Dividendus  als 
Rest  bezeichnen  oder  zur  intellektualen  Division  seine  Zuflucht 
nehmen*).     Der  letztere  Ausdruck   bedeutet   offenbar  einen  gewöhn- 

17 

liehen  Bruch  wie  das  vorerwähnte  rr^ .    Fast  noch  mehr  Interesse  als 

an  den  auf  Rechnung  bezüglichen  Fragen  hatten  aber  Radulf  sowohl 
als  Regimbold  daran,  was  Boethius  wohl  unter  inneren  und  unter 
äußeren  Dreieekswinkeln  verstanden  habe.  Wir  erinnern  uns,  daß 
im  9.  Kapitel  der  Gerbertschen  Geometrie  (S.  861)  die  gleiche  Frage 
dahin   beantwortet   wurde,   der   spitze    Winkel   sei   ein   innerer,   der 

')  Correspandance  d'ecoldtres  pag.  626  lin.  S  X  et  VII  ducentesinuMS  qua- 
dragesifMM  sextaa  siliquas,  *)  Ebenda  pag.  681  lin.  16—20.  ')  Ebenda  pag.  618 
lin.  21—24. 


Gerbert.  875 

stampfe  ein  äußerer,  bei  jenem  liege  der  mit  der  Grundlinie  den  spitzen 
Winkel  bildende  Schenkel  im  Inneren  eines  rechten  Winkels,  bei  diesem 
befinde  sich  der  den  stumpfen  Winkel  bildende  Schenkel  außerhalb 
des  rechten  Winkels.  Genau  die  gleiche  Meinung  besitzt  Regimbold^). 
Auch  Fulbert  setzte  den  inneren  und  spitzen,  den  äußeren  und  stumpfen 
Winkel  einander  gleich,  aber  mit  anderer  Begründung:  bei  dem  spitz- 
winkligen Dreiecke  falle  die  Senkrechte  von  der  Dreiecksspitze  auf 
die  Grundlinie  in  das  Innere  des  Dreiecks,  bei  dem  stumpfwinkligen 
Dreiecke  falle  sie  außerhalb'),  ßadulf  endlich  meint,  von  inneren 
Winkeln  rede  man  in  der  Ebene,  von  äußeren  im  Räume').  Im 
Laufe  des  Briefwechsels  erscheinen  noch  andere  Deutungsversuche, 
auf  welche  wir  einzugehen  yerzichten. 

Ob  der  Mönch  B.  yon  dem  Briefwechsel  zwischen  Regimbold 
und  Radulf  Kenntnis  hatte,  läßt  sich  weder  behaupten  noch  leugnen. 
Jedenfalls  beginnt  er  seinen  Brief  an  Regimbold  mit  der  Verdoppe- 
lung des  Quadrates,  yon  der  er  behauptet  sie  sei  durch  Messung 
möglich,   in  Zahlen  unmöglich^).     Man  solle  die  Diagonale  des 

17 

kleineren  Quadrates,  welche  yon  deren  Seite  sei,  als  Seite  des 
größeren  Quadrates  benutzen.  Wir  fassen  die  bei  uns  gesperrt  ge- 
druckte Behauptung  so  auf,  daß  B.  das  Bewußtsein  hatte  }/2  könne 
durch  Rechnung  niemals  genau,  sondern  nur  annähernd,  etwa  in  der 

17 

Größe  --  gefunden  werden,  während  die  Konstruktion  des  doppelten 
Quadrates  mittels  der  Diagonale  des  einfachen  Quadrates  yoUziehbar 
sei.  Als  zweite  Aufgabe  gilt  für  B.  die  Quadratur  des  Kreises. 
Auch  auf  sie  verweist  eine  Stelle  aus  den  Erläuterungen  des  Boethius 
zu  den  aristotelischen  Kategorien.  Aristoteles  hatte  die  Kreisquadratur 
•als  möglich  aber  als  unbekannt  bezeichnet.  Boetbius  hatte  dazu  be- 
merkt^), jene  Unbekanntschaft  gelte  nur  für  die  Zeit  des  Aristoteles, 
später   habe   man   den   Kreis   quadrieren   lernen.      Ob   Boethius   das 

22 

Archimedische  ä  =  -  für  genau  richtig  hielt,  ob  er,  wie  vermutet 
worden  ist*),  an  eine  Quadratur  mittels  eigens  dazu  erfundener  Kurven, 
wie  die  Quadratrix,  dachte,  ist  wohl  nicht  zu  entscheiden.  Jedenfalls 
rechnet  B.  mit  der  archimedischen  Zahl,  wenn  er  den  Durchmesser  7, 

7  22 

den  Kreisumfang  22  wählt  und  y  mal  -  als  Kreisfläche  findet;  das 
sei   die   alte  Regel   für  den  Kreis  in  den  geometrischen  Schriften^). 


0  Correspandance  d'ecoldtres  pag.  626  lin.  16—27.  ')  Ebenda  pag.  532 
lin.  27—28.  «)  Ebenda  pag.  520  lin.  14—15.  *)  Ebenda  pag.  533  lin.  13-14: 
et  hoc  in  mensura,  in  nameria  nunquam,  ")  Ebenda  pag.  534.  ^)  Ebenda 
pag.  508  in  der  Einleitung  TannerjB.  ^)  Ebenda  pag.  584  letzte  Zeile:  Haec 
in  Geometricis  vettuta  circuli  habetur  regula. 


876  89.  Kapitel. 

Welche  Schriften  B.  hier  meint,  ob  vielleicht  die  Geometrica  das 
gleiche  bedeuten,  was  bei  Regimbold  Geometricum  Boethii  heißt ^)^ 
darüber  kann  man  nicht  entscheiden,  nur  so  viel  scheint  aus  dem 
Wortlaute  hervorzugehen,  daß  B.  von  einer  ganz  bestimmten,  Regim- 
bold,  an   den   sein  Brief  gerichtet  ist,   wie   ihm   bekannten   älteren 

Schrift  redet.  Als  Seite  des  —  =  38,5  großen  Quadrates*)  bezeichnet 
B.  die  Länge.  6  +  .-  +  ^öö  "^  6,205.  Als  weniger  beschwerliche  Qua- 
dratur des  Kreises  könne  man  sich  damit  begnügen  ~  des  Durch- 
messers als  Diagonale  des  Quadrates  zu  benutzen').  Augenscheinlich 
entspricht  diese  Vorschrift  dem  Werte  ^  =  3^. 

Das  letzte  anonyme  Stück  der  im  Druck  vereinigten  Sammlung 
heißt  De  Quddratwra  Circuli^),  Diese  kleine  Schrift  lehrt  verschiedene 
Quadraturen  kennen,   unter   welchen  wir  nur  die  erste  hervorheben,. 

welche    -    des    Kreisdurchmessers    als    Quadratseite    wählt,     d.    h. 

n  ==  (y  J    setzt,   wie   es   im  Rechenbuche  des  Ahmes   der  Fall  war. 

Da  kein  einziges  Vorkommen  dieses  Wertes  in  den  fast  3000  Jahren^ 
um  welche  Ahmes  von  der  anonymen  Schrift  absteht,  bekannt  ist,  so 
dürfte  nach  unserem  heutigen  Wissen  eine  Abhängigkeit  ausgeschlossen 
sein,  man  wird  vielmehr  an  eine  selbständige  Nacherfindung  zu  denken 
haben^).  Der  Anonymus  spricht  nach  der  Quadratur  des  Kreises  auch 
noch  von  äußeren  und  inneren  Winkeln,  welche  er  wie  Regimbold 
als  stumpfe  und  spitze  Winkel  deutet,  und  von  der  Winkelsumme 
eines  gleichseitigen  Dreiecks,  welches  er  zu  einem  doppelt  so  großen 
Rechtecke  vervollständigt,  dadurch  an  Radulfs  Beweisführung  bei  dem 
gleichschenklig  rechtwinkligen  Dreiecke  erinnernd. 

Nächst  den  in  der  beschriebenen  Sammlung  vereinigten  Stücken 
haben  wir  ein  von  Franco  von  Lüttich  verfaßtes  Werk  in  6  Büchern 
über  die  Quadratur  des  Kreises*)  zu  nennen.  Eine  Chronik^) 
berichtet,   die  Schrift  über  die  Quadratur  des  Kreises  sei   dem  Erz- 

*)  Correspondance  d'icoldtres  pag.  626  lin.  2.  *)  Ebeuda  pag.  635  lin.  1 — 2. 
")  Ebenda  pag.  536  lin.  21—24.  *)  Ebenda  pag.  536—538.  ')  Ebenda  pag.  512 
lin.  6—11  in  Tannerys  Einleitung.  •)  Ang.  Mai,  Classici  autores  e  vaticanis 
codkibus  editi  III,  346—848.  Borna  1831,  veröffentlichte  Bruchstücke  davon. 
Dr.  Winterberg  gab  das  ganze  Werk  heraus.  Abhandlungen  zur  Geschichte 
der  Mathematik  IV,  137—188  (1882).  Im  Anschluß  ist  8.  183—190  noch  eine 
zweite  nicht  von  Franco  herrührende  kleinere  Schrift  über  die  Quadratur  des 
Kreises  zum  Abdrucke  gebracht.  Wir  zitieren  Franco  mit  der  betreffenden 
Seitenzahl.  ^  Sigebert  Gembl.  Chron.  ad  ann.  1047  bei  Pertz  Mon.  VIII,. 
369.    Vgl.  Prantl,  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande  IT,  68,  Anmerkung  278. 


Oezbert.  877 

bischof  Hermann  gewidmet^,  und  da  Hermann  TL,,  der  allein  in  Frage 
steht,  von  1036  bifl  1055  Erzbischof  von  Cöln  war,  so  wQrde  da- 
durch die  Entstehungszeit  jener  Schrift  in  sehr  enge  Grenzen  einge-' 
schlössen.  Die  in  Rom  erhaltene  Handschrift  nennt  den  Namen  des 
Erzbischofs,  dem  das  Werk  zugeeignet  ist,  nicht,  und  so  erscheint 
jene  Angabe  immerhin  zweifelhaft  In  der  Vorrede  sagt  Franco,  die 
Kenntnis  der  Ereisqnadratur  von  Aristoteles  ausgehend  habe  sich, 
wie  man  behaupte,  unzweifelbaft  bis  zu  Boethius  erhalten^),  dann  sei 
alles  so  sehr  verloren  gegangen,  daß  alle  Gelehrten  von  Italien,  von 
Frankreich  und  von  Deutschland  hierin  Fehler  machten.  Unter  denen, 
welche  sich  vergebliche  Mühe  gaben,  sei  Adelbold  gewesen,  dann 
Wazo,  der  größte  der  Gelehrten*)  und  Gerbert,  der  Wiederhersteller 
der  Wissenschaft,  An  anderen  Stellen  wird  auf  Gerbert,  auf  Re- 
gimbold  und  Racechin')  Bezug  genommen.  Auch  der  Arbeiten 
des  Boethius  über  Kreisquadratur  wird  wiederholt  gedacht^),  an  deren 
Vorhandensein  also  damals  kein  Zweifel  obwaltete.  Wir  wissen,  daß 
die  ErUuterungen  des  Boethius  zu  den  aristotelischen  Kategorien 
damit  gemeint  sind.  Franco  zeigt  sich  in  der  ganzen  Schrift  als  ge- 
wandten Rechner,  dem  namentlich  die  Anwendung  von  Brüchen  — 
die  durchweg  römische  Duodezimalbrüche  sind  —  keine  Schwierigkeit 
bereitet.  Sein  geometrisches  Wissen  dagegen  ist  so  gering,  daß  nicht 
einmal  die  Kenntnis  des  pythagoräischen  Lehrsatzes  bei  ihm  anzu- 
nehmen ist.  Die  geschichtliche  Ausbeute  ist  dem  entsprechend  eine 
hauptsächlich  arithmetische.    Wir  erfahren,  daß  Regimbold  1/2  durch 

17  ...  .  .  ^^r 

—  ersetzte*),  was  wir  aus  Regimbolds  Briefen  schon  wissen,  ein  Wert, 

den  (S.  436)  Theon  von  Smyrna  kannte,  den  (S.  640)  wahrscheinlich 
auch  Inder  benutzten.     Wir   hören*),   daß    die   Kreisfläche   bald   als 

Quadrat  von  —  des  Durchmessers,  bald  als  Quadrat  des  vierten  Teils 

der  Peripherie  betrachtet  wurde.     Beide  Verfahren  sind  uns  bekannt, 
jenes   aus   Indien   (S.   641),    dieses    aus    spätrömischen   Feldmessern 

Q 

(S.  591).     Femer  hält  Franco  selbst^)    -  des  Durchmessers   für   die 

Seite  des  dem  Kreise  flächengleichen  Quadrates,  rechnet  also  mit 

»-({)■  =3,24. 

Daß   die    Kreisfläche   des    Kreises    vom    Durchmesser    14    durch    die 
Zahl  154  dargestellt  werde,   zeigt  Franco®),  indem   er  den   Umfang, 

^)  Eiits  itaque  scietUiam  liaud  dubiwn  ferunt  tisque  ad  Boetium  perdurasse. 
Franco  148.  *)  Wazo  starb  1048  als  Bischof  von  Lüttich.  »;  Franco  158 
und  häufiger.  *)  Ebenda  166,  184.  *)  Ebenda  168.  «)  Ebenda  145. 
»)  Ebenda  187.        »)  Ebenda  162. 


878  89.  Kapitel. 

welcher  die  Länge  44  habe,  in  44  gleiche  Teile  zerlegt  und  jeden 
Endpunkt  eines  Teiles  mit  dem  Ereismittelpunkt  verbindet.  So 
entstehen  44  Dreiecke,  welche  paarweise  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung aneinander  gelegt  je  ein  Rechteck,  im  ganzen  deren  22  liefern 
mit  den  Seitenzahlen  1  and  7.  Auch  diese  Beweisführung  erinnert 
so  sehr  an  die  des  Inders  Gane^a  (S.  656),  daß  man  versucht  wird, 
nach  einer  beiden  gemeinschaftlichen  QaeUe  zu  fahnden.  Wir  wollen 
endlich  noch  bemerken,  daß  Franco  von  den  Streitigkeiten  über  die 
Bedeutung  eines  äußeren  und  eines  inneren  Winkels  weiß^)  und  sich 
dahin  entscheidet,  ein  äußerer  Winkel  sei  ein  solcher  der  außerhalb 
der  betreffenden  Figur  liege. 

Hier  ist  der  Ort  einzuschalten,  was  wir  von  der  gefälschten 
Geometrie  des  Boethius  wissen.  Es  ist  blutwenig.  Die  Erlanger 
Handschrift  gehört  dem  XH.  S.  an.  Damals  spätestens  ist  also  das 
ungemein  geschickt  gemachte  Schriftstück  verfaßt  worden.  Es  war 
dadurch  vorbereitet,  daß  ältere  Handschriften  zwar  keineswegs  gleichen 
Inhalts,  aber  fast  gleichen  Titels  vorhanden  waren,  deren  einige  bis 
auf  den  heutigen  Tag  erhalten  sind.  Damit  stehen  wir  am  Ende 
unseres  Wissens.  Wer  der  Fälscher  war,  und  —  eine  Fri^,  die 
sich  aufdrängen  muß  —  was  er  mit  seiner  Fälschung  beabsichtigte, 
das  hat  noch  niemand  erörtert,  noch  niemand  zu  erörtern  gesucht. 
Überlassen  wir  es  anderen  Forschem  hier  Vermutungen  aufeustellen. 
Wir  verlassen  die  Geometrie  der  Zeit  vor  dem  Schlüsse  des  XH.  S. 
und  kehren  zu  der  (S.  871)  unterbrochenen  Geschichte  der  Rechen- 
kunst zurück. 

Das  Eolumnenrechnen  fand  mit  Gerberts  wachsendem  Ansehen 
allgemeine  Verbreitung.  Wir  dürfen  uns  mit  der  so  allgemeinen 
Behauptung  nicht  begnügen,  wir  müssen  ihr  naher  treten.  Sie  wird 
uns  die  Gelegenheit  geben,  die  Männer  zu  nennen,  welche  aus  Ger- 
berts Schule  hervorgegangen  jene  Verbreitung  vollzogen,  wird  uns 
zugleich  Gelegenheit  geben,  zu  sehen,  wie  seit  1100  etwa,  seit  dem 
Beginn  der  Kreuzzüge,  wirklich  Arabisches  in  das  Abendland  ein- 
drang, wie  ein  eigentümlicher  Kampf  um  das  Dasein  zwischen  der 
alten  und  neuen  Rechenkunst  sich  entspann,  zwischen  dem  Kolunmen- 
rechnen  und  dem  Zifferrechnen,  deren  jedes  seine  Vertreter  besaß. 
Man  hat  sich  daran  gewöhnt,  diese  Vertreter  als  Abacisten  und 
Algorithmiker  zu  bezeichnen,  und  unter  diesen  Sammelnamen 
wollen  wir  sie  kennen  lernen. 


*)  Franco  US— 144. 


Abacisten  und  Algorithmiker.  879 

40.  Kapitel. 
Abaeisten  and  Algorltlimiker. 

Bei  den  Versuchen  den  Abacus  mit  den  eigentümlichen  Zeichen^ 
die  wir  Apices  nennen,  nach  aufwärts  zu  verfolgen^  ist  in  früheren 
Werken  stets  von  einer  rätselhaften  Handschrift  der  Kapitular- 
bibliothek  von  Ivrea  die  Rede  gewesen  ^)y  welche  nach  der  An- 
sicht eines  im  allgemeinen  zuverlässigen  Handschriftenkenners  von 
einer  Hand  des  X.  S.  herrührte  oder  gar,  wie  eine  nachgelassene 
Notiz  desselben  Gelehrten  meinte,  am  Hofe  Karls  des  Großen  ge- 
schrieben ward^.  Es  sei  eine  Anweisung  zum  Dividieren  in  arabi- 
schen Ziffern.  Alle  diese  Angaben  sind  nun  freilich  wesentlichen 
Abänderungen  zu  unterwerfen.  Genaue  wiederholte  Untersuchung 
der  Handschrift')  hat  ergeben,  daß  sie  erst  dem  XI.  S.  angehört, 
mithin  in  die  Zeit  ßUlt,  welche  wir  in  diesem  Kapitel^)  zu  besprechen 
haben,  in  die  Zeit  nach  Gerbert,  wenn  auch  vielleicht  nicht  viel  später 
als  er.     Der  Inhalt  ist  ein  eigentümlicher. 

Zuerst  ist  als  Aufgabe  gestellt,  1111111537  durch  809  zu  divi- 
dieren, wobei  der  Quotient  1373438  erscheint  und  195  übrig  bleibt. 
Aufgabe  und  Auflösung  sind  teils  in  Worten,  teils  in  römischen 
Zahlzeichen  geschrieben.  Dann  folgen  19  Hexameter,  welche  auf  das 
Rechnen  auf  dem  Abacus  sich  beziehen,  welche  aber  vollständig  zu 
verstehen  uns  nicht  gelungen  ist.  Hieran  schließt  sich  die  Wieder- 
holung der  Aufgabe  und  ihre  Auflösung  im  Kolumnensysteme  ge- 
schrieben, aber  ohne  daß  senkrechte  Striche  die  einzelnen  Rang- 
ordnungen trennten.  Zwölf  Kopfzahlen  genügen  den  Abacus  anzu- 
deuten. Über  ihnen  steht  der  Dividend,  unter  ihnen  der  Divisor, 
unter  diesem  der  Rest,  unter  diesem  wieder  der  Quotient,  sämtlich 
in  richtiger  Ordnung,  so  daß  also  bei  Niederschreibung  des  Divisors 
809  unter  der  Kopfzahl  der  Zehner  ein  freier  Raum  blieb.  Die 
Kopfzahlen  des  12  reihigen  Abacus  sind  durch  römische  Zahlzeichen 
angegeben,  die  sämtlichen  anderen  Zahlen  durch  Apices.  Endlich 
folgt   wieder   nur   in  Worten    und   ohne   durch   irgend    ein  Beispiel 

^)  Fiiedlein,  Gerbert,  die  Geometrie  des  Boetius  und  die  indischen 
Ziffern.  Erlangen  1861,  S.  41,  Anmerkung  20  hat  zuerst  die  Mathematiker  auf 
diese  Handschrift  aufmerksam  gemacht.  *)  Bethmann  im  Archiv  der  Gesell- 
schaft für  ältere  deutsche  Geschichtskunde,  herausgegeben  von  Pertz  IX,  623 
und  XII,  594.  ')  Reifferscheid  in  den  Sitzungsberichten  der  philosoph.-histor. 
Klasse  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften.  Wien  1871.  Bd.  68,  S.  687—589 
die  Beschreibung  des  Codex  LXXXIY,  die  dem  XI.  S.  angehöre.  Dann  „f  87. 
88  Allerlei  von  späteren  Händen*'.  *)  Unsere  Angaben  beruhen  auf  einem 
Faksimile,  welches  Fürst  Bald.  Boncompagni  die  große  Güte  hatte,  für  uns 
in  Ivrea  durchpausen  zu  lassen. 


«80  *0.  Kapitel. 

Unterstützung  zu  finden  die  Vorschrift^  wie  man  bei  der  Division 
durch  einen  aus  Hundertern,  Zehnem  und  Einem  bestehenden  un- 
unterbrochen dreiziflFrigen  Divisor  —  tres  sint  divisores  nuüo  inter- 
fiosiio  —  verfahren  solle  in  offenbarer  Anlehnung  an  die  „Regel* 
Gerberts.  Alles  zusammen  füllt  nur  eine  einzige  Seite  und  dürfte, 
wenn  auch  nicht  so  alt  wie  die  einen  hofften,  die  anderen  fürchteten, 
doch  einiges  Interesse  nicht  entbehren,  so  daß  ein  vollständiger  rich- 
tiger Abdruck  des  kurzen  Stückes  immerhin  wünschenswert  erscheint. 
Ein  Schüler  Gerberts  war  vielleicht  Bernelinus,  der  in  Paris  ein 
^urch  den  Druck  veröffentlichtes  Buch  über  den  Abacus  geschrieben 
hat^).  Bernelinus  bemft  sich  (S.  867)  auf  die  Regel  des  Papstes  Gerbert, 
die  freilich  nur  für  die  Weisesten  geschrieben  sei,  und  darauf,  daß 
sein  Freund  Amelius,  auf  dessen  Andrängen  er  sein  Werk  verfasse, 
es  verweigerte,  an  die  Lothringer  sich  zu  wenden,  bei  welchen  diese 
Lehren  in  höchster  Blüte  ständen.  Nur  diese  beiden  Erwägungen 
vereinigt  hätten  ihn  zum  Schriftsteller  gemacht.  Er  beginnt  sodann 
mit  der  Schilderung  des  Abacus  und  zeigt  darin  seine  Selbständig- 
keit, denn  Gerbert  selbst  hat  weder  in  der  Regel,  wenn  die  (S.  867) 
als  solche  bezeichnete  Schrift  wirklich  von  ihm  herrührt,  noch  in  der 
Abhandlung  für  Constantinus  eine  solche  Schilderung  an  die  Spitze 
zu  stellen  für  nötig  gehalten,  ein  Umstand,  welchen  wir  uns  nur  so 
erklären  können,  daß  Gerbert  den  Abacus  nicht  als  etwas  Neues 
oder  Schwieriges  betrachtete,  sondern  als  ein  alt-  und  allbekanntes 
Hilfsmittel,  während  die  Divisionsregeln  allerdings  wenig  bekannt 
gewesen  sein  müssen.  Der  Abacus  war,  nach  Bernelinus,  eine  vorher 
nach  allen  Seiten  sorgsam  geglättete  Tafel  und  pflegte  von  den  Geo- 
metem  mit  blauem  Sande  bestreut  zu  werden,  auf  welchen  sie  auch 
die  Figuren  der  Geometrie  zeichneten.  Bis  zur  Höhe  der  eigentlichen 
Geometrie  wolle  er  sich  aber  nicht  erheben,  er  bemerke  nur,  daß  zu 
rechnerischen  Zwecken  die  Tafel  in  30  Kolumnen  abgeteilt  werde, 
von  welchen  3  für  die  Brüche  aufzubewahren,  die  übrigen  27  nach 
Gruppen  von  je  3  zu  bezeichnen  seien.  Die  erste  Kolumne  wird 
nämlich  durch  einen  kleinen  Halbkreis  abgeschlossen,  die  zweite  und 
dritte  zusammen  durch  einen  größeren,  alle  drei  gemeinsam  durch 
einen  noch  größeren.  Bernelinus  sagt  zwar  nicht  Kolumnen,  sondern 
Linien,  lineas,  aber  er  meint  es  so,  wie  wir  es  ausgesprochen  haben, 
da  ja  ein  Abschluß  von  einer,  von  zwei,  von  drei  Linien  durch  an 
Größe  verschiedene  Halbkreise  nicht  gedacht  werden  kann,  sondern 
nur  von  Kolumnen.  In  jeder  Dreizahl  von  Kolumnen,  deren  es  un- 
endlich   viele   geben    kann,   ist   eine   Kolumne    der   Einer,    eine   der 

')  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.011eri8)pag.  357— 400  Liber  Ahaci.  Die  Anfange- 
-Worte  lauten :  Incipit  praefatio  lihri  abaci  quem  iwnior  Bernelinus  edidü  Parisiis» 


Abaciiten  und  Algoriihimker.  881 

Zehner  und  eine  der  Hunderter  zu  unterscheiden,  welche  der  Reihe 
nach  mit  S  und  My  mit  Dj  mit  C  bezeichnet  werden  sollen.  C  sei 
nämlich  Anfangsbuchstabe  von  eentum,  D  von  decem,  M  von  monas 

—  BemelinuB  schreibt  daf&r  fälschlich  manos  —  oder  von  mille, 
S  endlich  von  singularis.  In  den  Zahlzeichen  spiegele  die  Gruppierung 
nach  drei  Kolumnen  sich  gleichfalls  ab,  da  ein  Horizontalstrich,  tittdiAS, 
über  dem  I,  dem  X,  dem  C  dieselben  vertausendfache.  Der  Beschrei- 
bung der  Kopfzahlen,  welche  über  sämtliche  Kolumnen  sich  fort- 
setzen und  mit  den  Bezeichnungen  der  in  jeder  Dreizahl  unter- 
schiedenen Rangordnungen  nicht  zu  yer wechseln  sind,  läßt  sodann 
Bemeliims  die  Schilderung  und  Abbildung  der  neun  Zahlzeichen 
folgen.  Es  sind  die  Apices,  welche  hier  auftreten,  wenn  uns  dieses 
Wort  ein  f{ir  allemal  die  betreffenden  Zeichen  vertreten  soU,  von 
denen  schon  soviel  die  Rede  war.  Außerdem  könne  man  sich  auch 
griechischer  Buchstaben  bedienen,  und  hier  enthüllt  Bemelinus  wieder- 
holt, wie  vorher  durch  Anwendung  des  ungriechischen  monos,  eine 
mangelhafte  Kenntnis  dieser  Sprache.  Die  Zahl  6  läßt  er  nämlich 
durch  2  bezeichnen,  während  bekanntlich  g  das  richtige  Zeichen  wäre. 

—  Das  Einmaleins  schließt  sich  an,  bei  welchem  eine  zunächst  sehr 
auffallende  Lücke  sich  darbietet:  die  Produkte  gleicher  Faktoren, 
also  1  mal  1,  2  mal  2,  3  mal  3  bis  9  mal  9  fehlen,  warum?  ist 
nicht  gesagt.  Wir  können  nur  einen  Ghund  vermuten,  darin  be- 
stehend, daß  die  Quadrierung  einziffriger  Zahlen,  und  nur  um  diese 
handelt  es  sich,  in  dem  Grade  eine  Ausnahmerolle  spielte,  als  die  so- 
genannte regula  Nicomachi  (S.  433)  zur  Ausführung  derselben  all- 
gemeiner bekannt  war,  als  irgend  andere  Regeln.  Daß  freilich  jene 
Regel  besonders  erwähnt  werde,  muß  man  aus  unserer  fast  zaghaft 
ausgesprochenen  Meinung  nicht  schließen  wollen.  Bei  der  Multipli- 
kation der  einzelnen  Rangeinheiten  bedient  sich  Bemelinus  der  Wörter 
Finger-  und  Gelenkzahl.  Eine  Erklärung  würde  man  auch  hier  ver- 
gebens suchen,  doch  steht  dabei  die  Veranlassung  auf  festerem  Boden. 
Wir  wissen  durch  Beispiele  aus  den  verschiedensten  Zeiten,  daß  jene 
Wörter  so  bekannt  waren,  daß  jede  Erläuterung  überflüssig  erscheinen 
mußte.  Als  Ende  des  ersten  Abschnittes,  der  also  bis  zur  Multipli- 
kation einschließlich  sich  erstreckt,  ist  die  Ausrechnung  von  12*, 
von  12^  von  12*,  von  12*,  von 

12  +  12«  +  12»  -I-  12*  4-  12» 
zu  betrachten,    wobei    wir    vielleicht  in   Erinnerung  bringen    dürfen, 
daß  12  die  Grundzahl  des  römischen  Bruchsystems  ist. 

Der  zweite  Abschnitt  handelt  von  der  einfachen  Division, 
d.  h.  von  denjenigen  Teilungen,  bei  welchen  der  Divisor  ein  Einer 
oder  ein  einfacher  Zehner  ist.     Drei  Fälle  sind   dabei    unterschieden, 

Oavtor,  OMohiohto  der  M»theniatik  I.  S.  Aufl.  56 


882 


40.  Kapitel. 


der  erste;  wenn  der  Divisor  der  Reihe  nach  in  allen  Stellen  des  Divi- 
dendus  enthalten  ist  und  nar  bei  den  Einem  allenfalls  ein  Rest  bleibt, 
wie  z.  B.  668  geteilt  durch  6;  der  zweite^  wenn  Reste  auch  bei 
früheren  Stellen  bleiben,  beziehungsweise  wenn  der  Divisor  einen 
höheren  Wert  hat  als  einzelne  Stellen  des  Dividendus,  so  daB  zwei 
Stellen  des  Dividendus  zur  Vornahme  der  Teilung  gemeinsam  be- 
trachtet werden  müssen,  wie  z.  B.  888  geteilt  durch  5  oder  333  ge> 
teilt  durch  6;  endlich  der  letzte  Fall,  wenn  der  Divisor  ein  Zehner 
ist,  z.  B.  1098  geteilt  durch  20.  Die  Divisionen  können  dabei  mit 
oder  ohne  Differenz,  d.  h.  als  komplementäre  Division  oder  ge- 
wöhnlich vollzogen  werden.  Auf  dem  Abacus  werden  dabei  vier 
Horizontallinien  gezogen,  welche  von  oben  nach  unten  die  erste, 
zweite,  dritte,  vierte  Zeile  heißen  mögen.  Auf  die  erste  Zeile  schreibe 
man  den  Divisor,  beziehungsweise  bei  der  Division  mit  Differenz 
auch  seine  Er^nzung  zu  10,  oder  im  dritten  Falle  zu  100.  Die 
zweite  Zeile  enthält  den  Dividendus,  die  dritte  ebendenselben  noch 
einmal  geschrieben,  die  vierte  den  Quotienten.  Die  Zahl  der  zweiten 
Zeile  bleibt  im  ganzen  Beispiele  unverändert.  Die  Zahlen  der  da- 
runter folgenden  Zeilen  werden,  wie  es  der  Sand  des  Rechenbrettes 
leicht  gestattet,  fortwahrend  verändert.  Die  Division  668 : 6  sieht 
z.  B.,  wenn  das  Auslöschen  und  Ersetzen  von  Ziffern  durch  Durch- 
streichen derselben  bildlich  dargestellt  werden  darf,  folgendermaßen  aus: 


C 

^ 

6 
4 

C^ 

"d 

s 

6 

6 

6 

8 

6 

6 

8 

0 

« 

8 

» 

0 

8 

2 

k\k 

i      '2 

Division  668  : 6 

1 

8      9 

1 

1    1  1 

Division  668:6 

mit  Differenz 

1 

A      S 
2  1  2 

*  1  ■ 

6    ' 

ohne  Differenz 

2 

1 

2 

1 

6 

6 

2 

2 

ir 

2 

1 

1 

1 

Abadsten  und  Algorithmiker.  883 

Der  Wortlaut  der  Bechnung  ist  bei  der  Division  mit  Differenz 
folgender:  10  in  600  geht  GO  mal,  aber  4  mal  60  oder  240  sind 
wieder  beiznf&gen;  10  in  200  geht  20  mal,  aber  4  mal  20  oder  80 
sind  wieder  beizuf&gen,  und  nun  schreiben  wir  statt  00  +  40  +  ^0 
ihre  Summe  180  und  sagen  weiter  10  in  100  geht  10  mal  mit  einer 
nötigen  Er^nzung  4  mal  10  oder  40,  welche  mit  80  zusammen 
120  liefert.  Jetzt  ist  10  in  100  wieder  10  mal  enthalten,  und  die 
Er^lnzung  4  mal  10  oder  40  gibt  mit  20  zusammen  60.  Man  dividiert 
weiter  10  in  60  geht  6  mal,  die  Ergänzung  ist  4  mal  6  oder  24. 
Mithin  sagt  nian  geht  10  in  20  weitere  2  mal  mit  der  Ergänzung 
4  mal  2  oder  8.  In  der  einheitlichen  Kolumne  sind  jetzt  vorrätig 
8  +  4  +  8  oder  20.  Zehner  sind  wieder  hergestellt  und  10  in  20 
geht  2  mal.  Die  Er^nzung  2  mal  4  oder  8  ist  durch  10  nicht 
mehr  teilbar,  nur  noch  durch  6,  wobei  1  als  Quotient,  2  als  Rest 
erscheint.  Alle  Quotiententeile  vereinigt  geben  so  den  Gesamt- 
quotient 60  +  20  +  10  +  10  +  6  +  2  +  2  +  1  =  111  nebst  dem 
Reste  2.  Wir  wollen  nicht  versäumen,  hier  gelegentlich  auf  die 
nicht  unwichtige,  wenn  auch  nur  negative  Tatsache  hinzuweisen, 
daß  die  hier  beschriebene  Ordnung  des  Divisors,  des  zweimal  ange- 
schriebenen Dividenden,  des  Quotienten  bei  keinem  Araber  vor- 
kommt. 

Der  dritte  Abschnitt  ist  der  zusammengesetzten  Division 
gewidmet,  welche  auch  wieder  ohne  Differenz  oder  mit  Differenz  aus- 
geführt wird.  An  neuen  Gedanken  ist  hier  so  wenig  zu  gewinnen, 
als  an  neuen  Ausführungsmethoden,  es  ist  eben  nur  wieder  die 
Unterscheidung  in  viele  Fälle,  wie  sie  dem  Geübten,  insbesondere 
dem  mathematisch  denkenden  Geübten  sehr  überflüssig  erscheint,  wie 
sie  aber  dem  Schüler  eines  ersten  Rechenunterrichtes  wünschenswert, 
ja  unentbehrlich  sich  erweisen  mag. 

Ein  vierter  Abschnitt  lehrt  das  Rechnen  mit  Brüchen,  natürlich 
mit  Duodezimalbrüchen  der  uns  bekannten  Art.  „Lasse  uns  denn 
zu  der  Abhandlung  über  die  Gewichtsteile  und  ihre  Unterabteilungen 
kommen,  und  wundere  Dich  nicht,  wenn  darin  Richtiges  mir  entging, 
denn  die  Unbequemlichkeit  der  Weinlese  beschäftigt  meine  Seele 
mannigfaltig,  auch  habe  ich  als  Muster  kein  Werk  als  das  des 
Viktorius,  und  dieser  ist  bei  dem  Bestreben  kurz  zu  sein,  außer- 
ordentlich dunkel  geworden"*).  Wir  haben  diese  Stelle  ihrem  Wort- 
laute nach  eingeschaltet,  um  an  ihr  die  Richtigkeit  einer  Bemerkung 

^)  Nunc  itaque  cid  unciarum  minutiarumque  tractatum  veniamus,  in  quo  si 
quid  me  veritas  praeterierü  minime  mireris,  cum  et  vindemiarum  importuniUUe 
fneus  animus  per  diversa  quaeque  rapiatur,  et  nuüiua  praeter  Victorii  opus 
haheam  exemplar,  qui,  dum  hrevis  stttduit  fieri,  factus  est  obscurissimus. 


884  ^0.  Kapitel. 

über  den  Calculus  des  Viktorius  zu  erweisen.  Das  Vorhandensein 
jenes  Rechenknechtes  (S.  531)  kann  non  und  nimmermehr  als  Zeug- 
nis dafür  angerufen  werden,  daß  der  Zeit,  in  welcher  er  entstand, 
das  Rechnen  auf  dem  Abacus  fremd  gewesen  sei.  Wir  finden  hier 
in  Bemelinus  einen  Mann,  der  dieses  Rechnen  selbst  lehrt,  der  es 
mit  einer  Klarheit  lehrt,  welche  die  Darstellungen  Gerberts  über- 
trifft, und  derselbe  Bernelinus  sieht  in  dem  Calculus  des  Viktorius 
nichts  weniger  als  einen  überwundenen  Standpunkt.  Er  findet  ihn 
außerordentlich  dunkel,  also  schwierig  und  verkennt  nicht  die  Not- 
wendigkeit mehr  zu  tun  als  nur  hinzuschreiben,  daß  y  mal    -  sich 

zu    .    multiplizieren.     Er  erläutert  yielmehr,   man  müsse  den  einen 

Bruch  als  Einheit  betrachten,  von  welcher  so  viele  Teile  zu  nehmen 
seien,  als  der  andere  ausspreche*),  und  erörtert  dieses  an  ver- 
schiedenen Beispielen,  darunter  an  solchen,  bei  welchen  die  nur  be- 
grenzt vorhandenen  Duodezimalbrüche  nicht  gestatten  anders  als  nur 
mittels  eines  gesprochenen  Bruches  zu  verfahren,  wie  z.  B.  duella 
multipliziert  in  triens.    Unter  duella  versteht  man  8  scripulae,  deren 

24  auf  eine  uncia  oder  auf  —  des  as  als  Grundeinheit  gehen;  unter 
triens  versteht  man  4  Unzen.  Wir  würden  also  römische  Gedanken- 
folge so  viel  als  möglich  uns  aneignend  sagen:    -  sei  mit  y  zu  ver- 

1  11.  .1 

vielfachen  und  gebe  ^  oder         von  ^,   beziehungsweise  -     Unze. 

Weil   femer   die  Unze   24  Skrupeln   hat,   so   ist  ihr  -^  ^^  ^^®1  ^® 

Y  =  2y  Skrupeln.    Aber  zwei  Skrupeln  heißen  emisescla  und  so  ist 

das  Produkt  eine  emisescla  und  ihr  Drittel  Auch  Bemelinus  kommt 
zu  diesem  Ergebnisse.  Duella  in  trientem  ducta  fit  emisescla  et 
emisesclae  tertia  sagt  Bemelinus.    Die  Rechnung,  die  ihn  dahin  führt, 

mündet  darin,  es  sei  ^  ^^^  duella  zu  nehmen,  aber  gerade  diese  letzte 

Ausführung  unterschlägt  er.  Das  Bruchrechnen  war  in  der  Tat, 
wie  an  der  kurzen  Auseinandersetzung,  die  wir  hier  gaben,  erkannt 
werden  wird,  ein  schwieriges,  wäre  sogar  für  uns  noch  schwierig, 
wenn  wir  in  derselben  Gewohnheit  befangen  wären,  die  Brüche  nicht 
durch  Zähler  und  Nenner,  sondern  unter  Anwendung  von  Namen 
auszusprechen,  welche  zwar  dem  Geübten  beim  Hören  sogleich  ver- 


^)  Quadibet  unciarum  vel  minutiarum  in  quamcumqu^  unci(Mrum  vel  ntttiu- 
tiarum  fuerit  ducta  totam  partem  illius  in  qua  dudtur  quaerit,  quota  ipsa 
est  assis. 


Abftcisten  iind  Algoritlimiker.  885 

Btandlich  sind,  aber  zur  Rechnung  immer  erst  wieder  in  die  Begriffe 
yerwandelt  werden  müssen,  mit  welchen  sie  sich  decken. 

Ist  es,  fragen  wir,  denkbar,  daB  Gerbert  fOr  das  ganzzahlige 
Bechnen,  welches  solchen  erheblichen  Schwierigkeiten  nie  ausgesetzt 
war,  arabische  Methoden  sich  angeeignet  und  in  seiner  Schule  yer- 
breitet  hätte,  daß  er  d^egen  das  weit  anlockendere  Rechnen  mit 
Sexagesimalbrüchen  vernachlässigt  und  weder  selbst  angewandt  noch 
einem  einzigen  Schüler  mitgeteilt  hätte?  Wir  können  unseren  Un- 
glauben damit  begründen,  daß  die  ersten  Übersetzungen  aus  dem 
Arabischen  sich  sofort  der  Sexagesimalbrüche  bemächtigten  (S.  718)^ 
daß  die  ersten  nachweislichen  Bearbeitungen  (S.  801)  es  ebenso 
machten. 

Bemelinus  lehrt  in  Anschluß  an  die  Multiplikation  der  Brüche 
auch  noch  deren  Division,  welche  er  komplementär  ausführt,  indem 
er  den  Divisor  zur  nächsten  ganzen  Einheit  ergänzt,  und  sodann  den 
Quotienten  jedesmal  neu  verbessert,  nachdem  die  notwendige  Richtig- 
stellung der  Teilreste  eingetreten  ist. 

Wir  haben  nur  eines  noch  unserer  Darstellung  hinzuzufügen, 
beziehungsweise  zu  verhüten,  daß  man  ihr  etwas  entnehme.  Beme- 
linus, sagten  wir,  bilde  die  neun  Apices  ab.  Man  darf  daraus  nicht 
schließen  wollen,  daß  sie  im  weiteren  Verlaufe  der  Schrift  benutzt 
werden.  Nur  auf  dem  Abacus  konnte  ohne  Null  oder  —  wovon  wir 
später  auch  ein  Beispiel  kennen  lernen  werden  —  ohne  abwechselnde 
Verwendung  von  Apices  und  römischen  Zahlzeichen  ein  regelmäßiger 
Gebrauch  der  Apices  stattfinden.  Bemelinus  hat  aber  in  seinem 
Werke  nirgend  einen  Abacus  gezeichnet,  kann  sich  also  in  der  einzig 
in  Worte  gefaßten  Darstellung  der  Regeln  und  der  Beispiele  nur 
römischer  Zahlzeichen  bedienen.  Wenn  wir  oben  bei  der  Division 
den  Abacus  wirklich  abbildeten,  so  haben  wir  uns  damit  eine  Untreue 
der  Berichterstattung  zuschulden  kommen  lassen;  wir  haben  zur 
größeren  Deutlichkeit  gezeichnet,  was  Bemelinus  nur  erklärt,  dessen 
Nachahmung  er  seinen  Lesern  zumutet,  ohne  ihnen  ein  Muster  vor- 
zulegen. 

U.m  die  Zeit  des  Bemelinus  hat  auch  Guido  von  Arezzo  sich 
mit  dem  Abacus  beschäftigt,  der  um  1028  eine  Abhandlung  über  die 
Kunst   der  Rechnung  auf  der  mit  Sand  bedeckten  Tafel  verfaßte*). 

Erhalten  hat  sich  femer  die  Abhandlung  über  den  Abacus  von 
Hermannus    Contractus*).      Sie   ist   kurz   und   bündig,   lehrt  das 

^)  Nouveau  traite  de  Diplomatique  par  deux  religieux  de  Ja  congregatian  de 
S.  Maur  T.  IV,  priface,  pag.  VII.  Paria  1769.  •)  Aus  einem  KarlBroher  und 
einem  Münchener  Kodex  veröffenÜicht  durch  Treutlein  im  BuUettino  Boncom- 
pagni  X,  648—647  (1877). 


886  40.  Kapitel. 

Multiplizieren  und  Dividieren  auf  dem  Abacus,  dessen  vier  ws^echte 
Zeilen  unterschieden  werden^  wälirend  von  einer  gruppenweisen  Ver- 
einigung der  Kolumnen  zu  je  dreien  Abstand  genommen  ist^  auch 
eine  Beschrankung  der  Anzahl  dieser  Kolumnen  nicht  stattfindet^  von 
denen  vielmehr  gesagt  ist^  dafi  sie^  jede  die  vorhergehende  um  das 
Zehnfache  übersteigend^  in  das  Unendliche  sich  erstrecken^).  Das 
Dividieren  ist  einfach  oder  zusammengesetzt  und  kann  in  beiden  Fallen 
mit  oder  ohne  Differenz  vollzogen  werden.  Hermann  hat,  wie  wir 
von  Radulph  von  Laon,  einem  Schriftsteller  des  XII.  S.,  der  uns 
gleich  nachher  beschäftigen  wird,  erfahren,  lachst  Gerbert  am  meisten 
fQr  die  Verbreitung  des  Kolumnenrechnens  getan.  Es  hat  darum 
Interesse  hervorzuheben,  daß  von  anderen  Zahlzeichen  als  den  ge- 
wöhnlichen römischen  bei  ihm  mit  keiner  Silbe  die  Rede  ist. 

Hermannus  Gontractus  hat  noch  zwei  andere  Schriften  verfaßt, 
deren  wir  trotz  ihres  nicht  eigentlich  mathematischen  Inhaltes  kurz 
gedenken  möchten.  Er  hat  über  jenes  eigentümliche  Zahlenspiel, 
die  Rhytmomachie,  geschrieben.  In  der  Beschreibung  einer  dem  XI. 
bis  XII.  S.  entstammenden  Handschrift  dieser  Abhandlung  ist  der 
Anfang  derselben  abgedruckt'),  welcher  die  Erfindung  dem  Boethius 
zuweist,  in  Übereinstimmung,  wie  wir  uns  erinnern  (S.  862),  mit 
Walther  von  Speier.  Diese  Übereinstimmung  kann  uns  übrigens 
nicht  verwundem,  wenn  wir  uns  ins  Gedächtnis  zurückrufen,  dafi 
Speier  von  St.  Gallen  her  seinen  Studienplan  erhielt,  kurz  bevor 
Walther  dort  erzogen  wurde,  und  zugleich  berücksichtigen,  daß  auch 
in  Reichenau  ein  strenger  Abt  ebendaher  das  Regiment  führte  kurz 
bevor  Hermann  in  die  Schule  trat. 

Hermann  hat  femer  zwei  Bücher  über  den  Nutzen  des  Astro- 
labiums verfaßt,  welche  in  dem  Salzburger  Kodex  aus  der  Mitte  des 
XIL  S.,  welcher  eine  Haupthandschrift  von  Gerberts  Geometrie  uns 
darstellte  (S.  859),  den  Anfang  jenes  so  wichtigen  Sammelbandes 
bildet').  Die  Echtheit  der  Bezeichnung  könnte,  wenn  man  jenem 
Kodex  allein  Glauben  zu  schenken  Bedenken  trüge,  noch  besonders 
nachgewiesen  werden.  Das  2.,  3.  und  4.  Kapitel  des  H.  Buches^) 
beschäftigt  sich  nämlich  in  einer  mutmaßlich  von  Makrobius  ab- 
hängigen Fassung  mit  der  seinerzeit  durch  Eratosthenes  vollzogenen 
Messung  des  Erdumfanges.  Der  Verfasser  will  aus  dem  umfange 
den    Durchmesser    berechnen    und    sich    dabei    der    archimedischen 


')  Sicque  in  ceteris  unaquaqrie  linea  decuplum  aliam  superante  usque  in  in- 
finiium  progreditur.  *)  Catdlogue  of  the  extraardinary  coUection  of  splendid 
manuscripts  of  G.  Libri.  London  1869,  pag.  108,  Nr.  488.  Vgl.  auch  E.  Wapp- 
1er,  Bemerkungen  ssnr  Bhytmomachie  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVII,  Histor.- 
literar.  Abtlg.  S.  1—17  (1892).       •)  Agrimeneoren  S.  176.       *)  Ebenda  S.  177. 


Abaciflten  und  Algorithmiker.  887 

82  7 

Yerhaltniszahl     -   bedienen,   d.  h.    er   hat  —    des  Erdumfanges   von 

252000  Stadien  zu  ermitteln.  Dazu  ist  eine  mittelbare  Methode  an- 
gewandt^), welche  auch  im  56.  Kapitel  von  Oerberts  Geometrie,  wir 
wissen  freilich  nicht  aus  welcher  Quelle,   hat  nachgewiesen  werden 

21  1 

können*).     Es  wird  nämlich,  um        zu  erhalten,  zuerst  ^  des  Um- 

21 

fanges  abgezogen,  dann  Ton  jenen  -  der  dritte  Teil  genommen: 
^Gegeben  ist  der  Umkreis  252000.  Sein  ~  betragt  11454  y  und  —• 
Durch  Abziehen  bleibt  240544^   und  H,  deren  Drittel  mit  80181^ 

und  ^  -  den  Durchmesser   liefert/'     Das  waren  freilich   Brüche,  wie 

sie  Bemelinus  z.  B.  nie  geschrieben  hatte,  wie  sie  aber  auch  bei 
einem  griechischen  Schriftsteller,  der  Stammbrüche  zu  brauchen  ge- 
wohnt war,  nicht  vorgekommen  wären.  Es  waren  Brüche,  welche 
darauf  hinweisen,  daß,  wer  sie  schrieb,  das  Bewußtsein  hatte,  man 
könne  Bruchrechnungen  auch  anders  als  an  den  römischen  Minutien 
oder  zwölfteiligen  Brüchen  vollziehen,  ohne  jedoch  vollständig  in  das 
andere  Verfahren  eingedrungen  zu  sein.  Wir  haben  in  einem  Briefe 
Regimbolds  (S.  874)  ein  ähnliches  Beispiel  kennen  gelernt.  Um  so 
unverständlicher  mußte  das  so  Herausgerechnete  einem  Leser  er- 
scheinen, welcher  neben  ganzen  Zahlen  nur  römische  Minutien  kannte. 
Ein  solcher  Leser  war  aber  Meinzo  der  Stiftslehrer  von  Kon- 
stanz. In  einem  Briefe,  der,  wie  man  Grund  hat  anzunehmen, 
spätestens  im  Anfange  des  Jahres  1048  geschrieben  ist,  wandte  er 
sich  um  die  ihm  nötige  Erklärung  an  Hermann,  und  damit  ist  der 
Beweis  geliefert,  daß  Hermann  wirklich  der  Verfasser  jener  Kapitel, 
beziehungsweise  der  sie  enthaltenden  und  unter  seinem  Namen  auf 
uns  gekommenen  Schrift  über  den  Nutzen  des  Astrolabiums  ist.  Auf 
diesen  Nachweis  einiges  Gewicht  zu  legen  haben  wir  aber  einen  sehr 
triftigen  Grund,  indem  die  genannte  Schrift  unverkennbar  unter  ara- 
bischem Einflüsse  verfaßt  ist,  und  arabischer  Einfluß  durch  dieselben 
deutlichen  Anzeigen  auch  in  einem  anderen  Texte  der  Bücher  über 
das  Astrolabium  zu  Tage  tritt,  welcher  im  übrigen  an  Verschieden- 
heiten gegen  die  auch  im  Druck  bekannten  Texte  nicht  arm  ist'). 
Einigermaßen  verstümmelte,   aber  immer  noch  erkennbare  arabische 


^)  Ein  Schreiben  Meinzos  von  Eonstanz  an  Hermann  den  Lahmen^  heiaus- 
gegeben  von  E.  Dümmler  im  Neuen  Arohiv  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche 
Geschichtskunde  Y,  202—206.  *)  Omwes  de  Gerbert  (ed.  Olleris)  pag.  458. 
")  Cataiogtte  of  ^  extraordinary  coUeciion  of  splendid  mamwripts  of  G.  Libru 
London  1859,  pag.  108,  Nr.  488. 


888  40.  Kapitel. 

Wörter,  wie  walzachora,  alniachantarali,  almagrip,  almeri,  walzagene  usw. 
kommen  nämlich  an  den  verschiedensten  Stellen  jener  Bücher  vor^) 
und  fordern  die  Frage  heraus,  wie  Hermann  dazu  kam,  dieser  Wörter 
sich  zu  bedienen? 

Lassen  wir  Hermanns  Leben  rasch  an  uns  vorüber  gehen  ^). 
Dem  schwäbischen  trafen  Wolverad  wurde  1013  ein  Knabe  Hermann 
geboren,  welcher  mit  sieben  Jahren,  also  1020,  der  Schule,  wahr- 
scheinlich in  Reichenau,  übergeben  wurde,  wo  ein  Verwandter  von 
Hermanns  Mutter  mit  Namen  Rudpert  als  Mönch  lebte.  Hermann, 
selbst  wurde  im  Alter  von  dreißig  Jahren,  1043,  unter  die  Zahl  der 
Mönche  aufgenommen.  Er  lehrte  mit  herzgewinnender  Liebenswürdig- 
keit, welche  ihm  Schüler  von  den  verschiedensten  Orten  herbeizog. 
Er  starb  nur  41  Jahre  alt  am  24.  September  1054.  Von  sehr  früher 
Zeit  an  waren  seine  Gliedmaßen  schmerzhaft  zusammengezogen, 
vrovon  ihm  der  Name  Hermannus  Gontractus  geworden  ist.  Er 
saß  immer  in  einem  Tragstuhle,  er  konnte  ohne  Hilfe  nicht  einmal 
seine  Lage  ändern,  ja  er  konnte  nur  mit  Mühe  verständlich  sprechen. 

Es  ist  nicht  denkbar,  daß  Hermann  in  Gesundheitsverhältnissen, 
wie  wir  sie  schildern  mußten,  noch  vor  seinem  30.  Jahre  —  später 
ist  es  gar  nicht  möglich  —  Reisen  gemacht  haben  sollte,  von  welchen 
er  die  Kenntnis  der  arabischen  Sprache  mitgebracht  hätte.  Es  ist 
nicht  denkbar,  daß  von  solchen  Reisen  nirgend,  auch  nicht  andeutungs- 
weise die  Rede  wäre.  Er  müßte  also  das  Arabische,  wenn  er  dessen 
mächtig  war,  in  Reichenau  selbst  sich  angeeignet  haben.  Das  setzt 
voraus,  daß  es  dort  entweder  Persönlichkeiten  gab,  welche  Unterricht 
in  jener  Sprache  zu  erteilen  befähigt  waren  oder  aber  eine  geschrie- 
bene Sprachlehre  und  ein  desgleichen  Wörterbuch,  beides  Annahmen, 
welche  sich  nicht  wohl  verteidigen  lassen.  Dazu  kommt,  daß  von 
Kenntnissen  Hermanns  im  Arabischen  keiner  seiner  zahlreichen  älteren 
Lobredner  etwas  weiß,  daß  nur  seit  dem  XV.  S.  die  Behauptung  sich 
findet,  Hermann  habe  Schriften  des  Aristoteles  aus  dem  Arabischen 
ins  Lateinische  übersetzt,  eine  Behauptung,  die  nach  aller  Wahrschein- 
lichkeit auf  einer  Verwechslung  beruht^).  Ein  solcher  Übersetzer 
war  nämlich  ein  gewisser  Hermanus  Alemannus,  der  unmöglich  der- 
Belbe  sein  kann  wie  der  unsrige,  da  er  von  Persönlichkeiten  spricht, 
die  erst  dem  XIU.  S.  angehören.     In  der  Vorrede  zur  Übersetzung 


^)  Jourdain,  Eecherches  critiques  sur  Vage  et  Vorigine  des  trciductions  laUnes 
cVAristote.  2.  Edition.  Paris  1843,  pag.  146.  *)  Wattenbach,  Deutschlands 
GeschichtsqueUen  im  Mittelalter  (4.  Ausgabe  1877)  11 ,  86^40  npter  Benutzung 
von  Heinr.  Hansjakob,  Herimann  der  Lahmo.  Mainz  1875.  ^)  Jourdain 
L  c.  pag.  135  —  147.  Chapitre  111,  §  XI:  D* Hermann  sumomme  Gontractus  et 
d'Hernutnn  VAÜemand.    Erreurs  des  hiographes  ä  leur  egard. 


Abacüten  und  Algorithmiker.  889 

der  Poetik  des  Aristoteles  insbesondere  nennt  er  den  Bischof  Robert 
von  Lincoln  mit  dem  dicken  Kopfe,  Robertus  grossi  capitis  Lincol- 
niensis  episcopns,  welcher  1253  starb,  zwei  Jahrhunderte  später  als 
der  Mönch  von  Reichenau.  Alle  diese  Gründe  zusammengenommen 
lassen  die  gerechtesten  Zweifel  obwalten,  ob  Hermann  der  Lahme  der 
arabischen  Sprache  mächtig  war,  mächtig  gewesen  sein  kann,  und 
da  auf  der  anderen  Seite  kein  Zweifel  möglich  ist,  daß  arabische 
Ausdrücke  in  seinen  Büchern  über  das  Astrolabium  yorkommen,  so 
ist  nur  ein  Ausweg  aus  diesem  Dilenuna:  daß  Hermann  jene  Bücher 
unter  Benutzung  von  damals  bereits  vorhandenen  lateinischen  Über- 
setzungen arabischer  astronomischer  Schriften  anfertigte,  denen  er 
jene  verketzerten  Eunstausdrücke  entnahm^).  Daß  es  in  der  Tat 
solche  Übersetzungen  gab,  wenn  auch  vermutlich  nur  in  sehr  ge- 
ringer Anzahl,  wissen  wir.  Wir  wissen,  daß  Lupitus  von  Barce- 
lona ein  astronomisches  Werk  übersetzt,  daß  Gerbert  nach  dieser 
Übersetzung  Verlangen  getragen  hat  (S.  857),  und  dieses  oder  ein 
ähnliches  mag  Hermanns  Quelle  gewesen  sein. 

Dem  XI.  S.  gehören  noch  verschiedene  andere  Schriftsteller  an, 
welche  über  den  Abacus  und  verwandte  Gegenstände  schrieben,  oder 
in  ihren  Klöstern  schreiben  oder  abschreiben  ließen*).  Zu  denen, 
welche  Abschriften  aller  Art  anfertigen  ließen,  gehören  Werner  und 
Wilhelm  von  Straßburg,  sowie  Fulbert  von  Chartres,  und 
es  ist  gar  nicht  unmöglich,  daß  unter  des  letzteren  Einflüsse  jene 
Handschrift  des  Anonymus  von  Chartres  entstand,  der  wir  (S.  590) 
einige  Bemerkungen  gewidmet  haben.  Fulbert  von  Chartres  hat  selbst 
Verse  über  die  Duodezimalbrüche,  versus  de  uncia  et  partibus  eins, 
verfaßt^).  Als  große  Astronomen  werden  genannt  Engelbert  von 
Lüttich,  Gilbert  Maminot  von  Lisieux,  Odo  Stiftsherr  von 
Tournai.  Über  den  Abacus  schrieb  Heriger  von  Lobbes,  einem 
bei  Lüttich  gelegenen  vielgerühmten  Eloster^  von  dessen  hierher  ge- 
hörenden Schrift  bereits  (S.  869)  die  Rede  war.  Heriger  war  der 
Freund,  vielleicht  der  Lehrer  von  Adelbold  von  Utrecht,  der  jeden- 
falls seine  Erziehung  in  Lobbes  erhielt^).  Über  den  Abacus  schrieben 
auch  Heibert  von  St.  Hubertus  in  den  Ardennen,  Franco  von 
Lüttich,  den  wir  schon  (S.  876)  als  Geometer  kennen  lernten.  Auch 
Radulf    von    Lüttich     und     Regimbold    von    Cöln     (S.   872) 

^)  Jourdain  1.  c.  pag.  147:  /{  est  plus  natitrd  de  craire  qu'il  composa  ses 
deux  traites  d'apres  les  traductians  qui  avaient  caurs  alors,  mais  qu'il  ne  fit 
aucune  verston  de  Vardbe,  *)  Math.  Beitr.  EulturL  S.  3S2.  *)  Werner, 
Gerbert  S.  64,  Anmerkung  4.  *)  C.  Le  Paige,  Notes  pour  servir  ä  Vkistoire 
des  mathematigues  dans  Vancien  pays  de  Liege.  Vgl.  Bulktin  de  Vinstüut  archeo- 
hgique  lAegeois  XXI,  461. 


890  40.  Kapitel. 

worden  ans  der  unmittelbar  aaf  Gerbert  folgenden  Zeit  als  Mathe- 
matiker gerühmt^).  Yiele^  ja  die  meisten  Pflanzstätten  mathematischer 
Bildung^  von  welchen  die  hier  genannten  Persönlichkeiten  ihren  Namen, 
aus  welchen  sie  ihr  Wissen  erhielten,  liegen  in  ziemlich  engem  Kreise 
um  Lüttich  hemm,  damals  dem  geistigen  Mittelpunkte  von  Lothringen 
und  bestätigen  so  ein  Wort  des  Bernelinus:  bei  den  Lothringern 
blühe  die  Kunst  des  Abacus^. 

Wir  überspringen  nun  fast  ein  Jahrhundert,  um  von  einem 
Manne  zu  reden,  der  am  Anfange  des  XII.  S.  tätig  war,  und  dessen 
Schrift  über  den  Abacus  gegenwärtig  veröffentlicht  ist  und  uns  Ge- 
legenheit zu  vielfachen  Bemerkungen  gibt.  Wir  meinen  Radulph 
von  Laon,  der  1131  gestorben  ist^.  In  Laon  war  um  1100  eine 
hochberühmte  Klosterschule,  welche  ihre  Blüte  namentlich  Anselm 
verdankte,  der  Leuchte  Frankreichs,  wie  seine  Bewunderer  ihn  nannten, 
dem  Lehrer  des  fast  noch  bekannteren  Abelard.  Badulph  war 
Anselms  Bruder  und,  wie  er,  Lehrer  an  der  Klosterschule,  bevor  er 
zum  Bischöfe  eingesetzt  wurde.  Er  schrieb,  wie  gesagt,  über  den 
Abacus,  und  eine  Einleitungsstelle  beschäftigt  sich  mit  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  der  Rechenkunst  auf  dem  Abacus^):  „Jetzt  ist 
zu  besprechen,  welcher  Wissenschaft  diese  Vorrichtung  hauptsächlich 
dient.  Der  Abacus  erweist  sich  als  sehr  notwendig  zur  Untersuchung 
der  Verhältnisse  der  spekulativen  Arithmetik;  femer  bei  den  Zahlen, 
auf  denen  die  Tonweisen  der  Musik  beruhen;  desgleichen  für  die 
Dinge,  welche  durch  die  emsigen  Bemühungen  der  Astronomen  über 
den  verschiedenen  Lauf  der  Wandelsterne  gefunden  sind  und  über 
deren  gleiche  Umdrehung  dem  Weltall  gegenüber,  wenn  auch  ihre 
Jahre  je  nach  dem  Verhältnisse  der  ungleichen  Kreise  sehr  ver- 
schiedenes Ende  haben;  weiter  noch  bei  den  dem  Piaton  nach- 
gebildeten Gedanken  über  die  Weltseele  und  zum  Lesen  all  der  alten 
Schriftsteller,  welche  ihren  scharfsinnigen  Fleiß  den  Zahlen  zuwandten. 
Am  allermeisten  aber  zeigt  der  Gebrauch  dieser  Tafel  sich  bequem 
und  wird  von  den  Lehrern  der  Kunst  benutzt  bei  Auffindung  der 
Formeln  der  geometrischen  Disziplinen  und  bei  Anwendung  derselben 
auf  die  Ausmessung  der  Länder  und  Meere.  Allein  die  Wissenschaft, 
von  der  ich  eben  rede,  ist  fast  bei  allen  Bewohnern  des  Abendlandes 
in  Vergessenheit  geraten,  und  so  wurde  auch  diese  Kunst  des  Rechnens 
beim  Aufhören  der  Kunst,  als  deren  Hilfsmittel  sie  erfunden  worden 


")  Werner,  Gerbert  S.  77.  •)  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  Olleria)  pag.  867. 
■)  Histoire  litUraire  de  la  France  Vü,  89  sqq.,  143.  Der  arithmetlBche  Tractat 
▼on  Radulph  von  Laon,  herausgegeben  von  A.  Nagl,  Abhandlungen  zur  Ge- 
-«»»tchte  der  Mathematik  V,  86—134  (1890).       *)  Compt  Bmd.  XVI,  1413,  An- 

'^  1. 


Abacisten  nnd  Algoritluniker.  891 

war,  nicht  gar  grofi  beachtet;  ja  sie  kam  in  Mißkredit,  und  nur 
Gerbert,  genannt  der  Weise,  ein  Mann  Ton  höchster  Einsicht,  und 
der  Yortreffliche  Gelehrte  Hermann  und  deren  Schüler  pflanzten  einiges 
bis  zu  unseren  Zeiten  fort;  in  ihnen  zeigt  sich  noch  ein  schwacher 
Abfluß  jener  Quellen  der  genannten  Wissenschaft.^ 

Es  sind  hier,  der  zu  Radulphs  Zeit  vorhandenen  wissenschaftr 
liehen  Überzeugung  folgend,  Sätze  ausgesprochen,  welche  durchweg 
mit  den  Ansichten  in  Einklang  stehen,  welche  wir  schon  die  ganze 
Zeit  her  yertreten  haben:  Der  Abacus  ist  sehr  notwendig  zum  Ver- 
ständnis der  Platoniker;  die  Mathematiker  bedienten  sich  seiner 
hauptsächlich  bei  Berechnungen  aus  dem  Bereiche  der  Feldmeßkunst, 
und  als  diese  letztere  Kunst  schwand,  da  wurde  auch  der  Abacus 
fast  vergessen;  Gerbert  und  Hermann  und  ihre  Schulen  haben  nicht 
etwa  den  Abacus  neu  eingeführt  oder  gar  erfunden,  sie  haben  die 
halbwegs  vergessene  Kunst  nur  in  einiger  Erinnerung  erhalten.  Von 
Arabern,  bei  welchen  die  Kunst  geblüht  haben  könnte,  ist  auch  bei 
Radulph  mit  keinem  Worte  die  Rede.  Wir  schalten  hier  vorgreifend 
ein,  daß  auch  von  einem  anderen  Schriftsteller  ein  sehr  beredtes 
Schweigen  zu  melden  ist,  daß  auch  Atelhart  von  Bath,  welcher, 
sei  es  vor  sei  es  nach  Radulph,  jedenfalls  am  Anfange  des  XU.  S. 
über  den  Abacus  schrieb,  in  dieser  Abhandlung  den  Abacus  wohl  den 
Pythi^oräem  zuwies,  dagegen  der  Araber  keine  Erwähnung  tat,  er, 
der  vollkommen  Arabisch  konnte  und  Übersetzungen  aus  dem  Ara- 
bischen vollzogen  hat,  daß  er  zugleich  des  Zusammenhanges  des 
Abacus  mit  der  Geometrie  sich  wohl  bewußt  war^),  und  daß  er  von 
Brüchen  ausschließlich  die  römischen  Minutien  benutzte.  Endlich  ist 
hervorzuheben,  daß  sowohl  bei  Atelhart  als  bei  Radulph  von  einer 
divisio  aurea  und  einer  divisio  ferrea  die  Rede  ist*).  Ausdrücke,  auf 
welche  wir  etwas  weiter  unten  zurückkommen. 

Radulph  begnügt  sich  nicht,  der  Verbreitung,  des  Verschwindens, 
des  Auffrischens  des  Abacus  zu  gedenken;  er  spricht  auch  über 
dessen  Erfindung  und  Einrichtung,  und  dabei  bedient  er  sich  der 
Apices,  die  wir  nur  der  Bequemlichkeit  halber  in  unserer  Über- 
setzung durch  die  gewöhnlichen  Zahlzeichen  wiedergeben'):  „Bei  der 
Zeichnung  dieser  Tafel,  wie  wir  zu  sagen  angefangen  haben,  wird 
die  Menge  der  Zwischenräume  in  drei  mal  neun  eingeteilt,  d.  i.  nach 


*)  ChaaleB  in  den  Compt  Bend.  XVI,  1410  —  1411  und  XVH,  147.  Die 
ganze  Abhandlang  ist  veröffentlicht  im  Bulletiino  Bancompagni  JUV,  91—184 
(1881)  unter  Yorausschickung  gelehrter  biographischer  und  bibliographischer 
Untersuchungen  des  Fürsten  Bai  d.  Boncompagni,  ebenda  pag.  1 — 90.  *)  Darauf 
hat  H.  Eneström  {Biblioth.  Magern.  8.  Folge  VII,  83  —  84)  aufmerksam  ge- 
macht.      ")  Journal  Äsiatique  1868,  I.  Halbjahr^  pag.  48  —  49,  Anmerkung  8. 


892  40.  Kapitel. 

der  Gestalt  eines  Würfels,  welcher  die  Länge  drei  auch  nach  der 
Breite  und  Höhe  in  gleichen  Abmessungen  yermehrt.  Und  da  die 
Assyrer  für  die  Erfinder  dieses  Instrumentes  gehalten  werden,  welche 
der  chaldäischen  Sprache  und  Buchstaben  sich  bedienten,  und  beim 
Schreiben  rechts  anfingen  und  nach  links  fortfuhren,  so  beginnt  ge- 
mäß des  den  Erfindern  in  fortgesetzter  Verbreitung  schuldigen  An- 
sehens die  Zeichnung  dieser  Tafel  zur  Rechten  und  setzt  ihre  Länge 
nach  links  fort.  Die  Zwischenräume  selbst  sind  aber  so  unterschieden, 
daß,  während  jeder  einzelne  seinen  oberen  Abschluß  hat,  auch  je 
drei  von  dem  Anfange  bis  zum  Ende  der  Tafel  durch  obere  Ab- 
schlüsse endigen,  so  daß,  indem  je  drei  Zwischenräume  immer  durch 
einen  Halbkreis  geschlossen  sind,  auf  der  ganzen  Länge  der  Tafel  IX 
obere  Abschlüsse  gefunden  werden.  Der  erste  Abschluß  dreier 
Zwischenräume  ist  mit  dem  Zeichen  der  Einheit  überschrieben,  welche 
mit  chaldäischem  Namen  igin  heißt;  1  stellt  die  Gestalt  eines  latei- 
nischen Buchstaben  dar.  Man  erkennt,  daß  dieses  deshalb  geschieht^ 
damit  jene  drei  Zwischenräume,  welche  das  Zeichen  der  Einheit  Yor- 
bemerkt  haben,  bezeugen,  daß  sie  dadurch  den  ersten  Rang  erlangt 
haben.  Der  zweite  Abschluß  von  drei  Zwischenräumen  trägt  dieses 
Zeichen  der  zwei  2,  welches  bei  den  vorgenannten  Erfindern  andras 
heißt,  damit  durch  diese  Wendung  erklärt  werde,  jene  drei  Zwischen- 
räume, über  welchen  es  geschrieben  ist,  nehmen  den  zweiten  Rang 
für  sich  in  Anspruch.  Der  dritte  Abschluß  von  drei  Zwischenräumen 
lehrt,  daß  er  den  dritten  Rang  einnehme,  dadurch,  daß  er  mit 
folgender  Gestalt  der  drei  3  bezeichnet  ist,  welche  bei  den  Ghaldäern 
ormis  genannt  wird.  Ähnlich  bezeugt  auch  der  Abschluß  der 
vierten  Ordnung,  daß  er  den  vierten  Rang  behaupte,  indem  über  ihn 
dieses  Zeichen  4  der  vier  geschrieben  ist,  das  bei  den  Erfindern  als 
arbas  gilt.  Nicht  weniger  kündigt  die  fünfte  Ordnung  an,  sie  halte 
den  fünften  Rang  ein,  weil  sie  diese  Gestalt  5  der  fünf  trägt,  welche 
quimas  heißt.  Ebenso  gehabt  sich  die  sechste  Ordnung  als  sechste,, 
weil  sie  als  Aufschrift  das  Zeichen  6  oder  sechs  hat,  welches  caltis 
heißt.  Auch  die  siebente  ist  durch  folgende  Gestalt  7  der  sieben 
bezeichnet,  welche  zenis  heißt.  Die  achte  hat  folgende  Form  S 
der  acht,  welche  man  temeniam  nennt;  und  die  neunte  ist  mit  dieser 
Figur  9  der  neun  bezeichnet,  welche  bei  den  Erfindern  celentis 
genannt  wird.  Bei  der  letzten  Ordnung  wird  auch  die  sipos  ge- 
nannte Figur  ®  angeschrieben,  welche,  wiewohl  sie  keine  Zahl  bedeutet,, 
doch  zu  gewissen  anderen  Zwecken  dienlich  ist,  wie  im  folgenden  er- 
klärt  werden  wird." 

Wir  werden   Radulphs  Beispiel  folgend  auch  erst   nachher  von 
*^em  sipos  und  seiner  Benutzung  reden,  anderes  vorausschicken.     Es 


Abacisten  nnd  Algorithmiker.  893 

könnte  zunächst  auffallen,  daß  Radulph  wiederholt  von  der  Länge 
der  Tafel  redet,  wo  wir  die  Breite  genannt  erwarten.  Allein  wie 
Heron  im  Anschlüsse  an  ägyptische  Übun^  (S.  395)  Breite  die 
kleinere,  Höhe  die  größere  Abmessung  nannte,  ohne  auf  die  Lage 
selbst  zu  achten,  so  ist  für  Vitnivius  nur  derselbe  Gegensatz  bei  der 
Anwendung  der  Wörter  Breite  und  Länge  maßgebend^),  und  Radulph 
steht  mit  Beibehaltung  dieser  altertümlichen  Sitte  durchaus  auf 
römischem  Boden.  Der  mit  27  Kolumnen  ausgestattete  Abacus 
mußte  mehr  breit  als  lang  erscheinen,  die  Breite  deshalb  als  Länge 
benannt  werden. 

Eine  zweite  Bemerkung  bezieht  sich  auf  den  assyrischen  oder 
chaldäischen  Ursprung,  den  Radulph  für  den  Abacus,  für  die  Apices 
und  für  deren  Namen  in  Anspruch  nimmt.  Wir  pflichten  entschieden 
der  Meinung  bei,  welche  hierin  ein  Anlehnen  an  griechische  Er- 
innerungen findet'),  die  manche  astronomische  und  anderweitige 
Kenntnisse  von  den  Chaldäem  ableiteten.  Warum  sollte  Radulph 
statt  der  Assyrer  nicht  die  Araber  oder  die  von  diesen  stets  als  Er- 
finder der  Zahlzeichen  gerühmten  Inder  genannt  haben,  wenn  er  von 
ihnen  wußte?  Sein  Schweigen  ist  mithin  als  Beweis  anzusehen,  daß 
ihm  und  mit  ihm  gewiß  den  Zeitgenossen,  vor  welchen  er  durch 
Gelehrsamkeit  sich  auszeichnete,  ein  Vorkommen  des  Abacus  bei  den 
Arabern  gerade  so  unbekannt  war  wie  bei  uns. 

Drittens  müssen  wir  zu  jenen  rätselhaften  Wörtern  uns  wenden, 
die  uns  von  Radulph  als  desselben  chaldäischen  Ursprunges  wie  der 
Abacus  genannt  werden.  Wir  haben  (S.  584)  von  Wörtern  gesprochen, 
welche  nicht  im  Texte,  aber  auf  dem  Abacus  zwischen  dem  L  und 
n.  Buche  der  Geometrie  des  Boethius  vorkommen  und  dort  möglicher- 
weise erst  nachträglich  ihren  Platz  gefunden  haben.  Es  sind  dieselben, 
die  wir  hier  nach  Radulph  mitgeteilt  haben.  Dieselben  finden  sich  in 
zehn  Versen  eines  lateinischen  Pergamentkodex  des  Vatikan*): 

Ordine  primigeno  sibi  nameyi  possidet  Ig  in. 
Ändras  ecce  locum  previndicat  ipse  secundum. 
Ormis  post  numerus  non  compositus  sibi  primus. 
Denique  bis  binos  succedens  indicat  Ärbas. 
Signifkat  quinos  ficto  de  nomine  Quimas. 
Sexta  tenet  Calais  perfecta  munere  gaudens. 
Zenis  enim  dig^ie  septeno  fulget  honore. 
Octo  beatificos  Temenias  exprimit  unus. 
Terque  nofat  trinum  C dentis  nomine  rithmum. 
Hinc  sequitur  Sipos  est,  qui  rota  namqt^e  vocatur. 


*)  Agrimensoren  S.  67  und  196,  Anmerkung  129.  *)  Woepcke  im  Journal 
Asiatique  für  1868,  I.  Halbjahr,  pag.  49.  •)  Vat.  Univ.  5327,  wie  wir  freund- 
licher Mitteilung   von  Prof.  L.  Gegenbauer  entnehmen.    Die  gleichen  Verse 


894  40.  Kapitel. 

Der  Sinn  dieser  Yerse^  welche  yielleicht  nur  als  Gedachtnisyerse  zu 
betrachten  sind,  welche  die  Einprägung  jener  fremdartigen  Wörter 
erleichtem  sollen,  dürfte  aus  folgendem  Übersetzungsyersuche^)  sich 
ergeben: 

Igin  führet  das  Zeichen  in  erster  Stelle  zum  Namen. 

Auf  den  zweiten  der  Plätze  erhebet  Andreis  den  Anspruch. 

Dann  als  erste  einfache  Zahl  folgt  Ormis  auf  jene. 

Zweimal  zeiget  die  Zwei  das  jetzt  nachfolgende  Arbas. 

Quitn<u  bildet  die  Fünf  mit  ausersonnenem  Namen. 

Ihrer  YoUkommenheit  freut  sich  die  Cahis  an  sechseter  Stelle. 

Siebenfältiger  Ehre  erglänzet  am  würdigsten  Zenis. 

Und  die  glückselige  Acht  zeigt  nur  Tetnenias  einzig. 

Dreimal  schreibet  die  Drei  das  Zeichen  mit  Namen  Celentis. 

Ähnlich  gestaltet  dem  Bade  ist,  was  hier  Sipos  ich  nenne. 

Eben  dieselben  Wörter  finden  sich  bei  einem  etwas  jüngeren 
Zeitgenossen  Badulphs,  von  dem  wir  noch  zu  sprechen  haben,  Ger- 
land, und  bei  verschiedenen  Schriftstellern  bis  in  das  XIV.  S.  herab'). 
Meistens  fehlt  das  Wort  sipos.  Hat  nun  Radulph  recht,  wenn  er 
die  Wörter  aus  dem  Ghaldäischen  herstammen  läßt,  und  sind  sie  in 
der  Tat  ebenso  alt,  ebenso  lange  in  Gebrauch  als  der  Abacus,  oder 
wenigstens  als  die  Apices?  Würde  die  letzte  Frage  noch  weiter  ein- 
geschränkt auf  die  Zeit  der  Neubelebung  und  allgemeinen  Verbreitung 
des  Abacus-  oder  Kolumnenrechnens,  so  wäre  sie  entschieden  mit 
Nein  zu  beantworten.  Gerbert,  Bernelinus,  Hermann  der  Lahme  be- 
nutzten jene  Wörter  nie,  und  sie  sind  doch  als  die  hervorragendsten 
Lehrer  zu  betrachten.  Auch  aus  keinem  anderen  Schriftsteller  des 
XI.  S.  wird  das  Vorkommen  jener  Wörter  uns  berichtet,  und  erst  im 
XU.  S.  scheinen  sie  aufzutreten.  Allerdings  steht  diese  Tatsache  in 
Widerspruch  zu  den  Worten  Radulphs,  der  die  Entstehung  der  Wörter 
in  graue  Urzeit  zurückverlegt. 

Vielleicht  sind  die  Wörter  selbst  geeignet  den  Zweifel  zu  lösen? 
Ein  Assyriologe  will  fünf  derselben  als  assyrisch  erkannt  haben  ^); 
igin  sei  ischiin,  arhas  sei  arha,  quimas  sei  %amsa,  zenis  wohl  in  der 


nur  anter  Weglassnng  des  auf  celentis  bezüglichen  hat  Ghasle;»,  Apergu  hist. 
pag.  478,  deutsch  S.  640,  aus  dem  Kodex  von  Chartres  veröffentlicht,  in  welchem 
auch  die  Geometrie  des  Anonymus  von  Chartres  (S.  690)  steht. 

')  Math.  Beitr.  Kulturl.  S.  244.  «)  Oeuvres  de  Gerhert  (ed.  Olleris) 
pag.  678—679.  ■)  Lenormant,  La  legende  de  Semiramis,  premter  memoire  de 
mytholoffie  comparative  pag.  62  in  den  Memoires  de  VAcademie  Boyale  des  scienees 
et  belles-lettres  de  Belgique.  T.  XL  (Bmxelles  1873).  Frühere  Untersuchungen 
ygl.  bei  Vincent  in  Liouyille,  eTbumoZ  de  matkematiques  IV,  261  und  in  der 
Bemte  archdologique  U,  601;  Math.  Beitr.  Kulturl.  S.  246—246;  Woepcke  im 
Journal  Asiatique  für  1868,  I.  Halbjahr,  pag.  61;  Oeuvres  de  Gerbert  (ed.  Olleris) 
pag.  679—681. 


AbftdBten  und  Algorithmiker.  895 

gleichfalls  vorkommenden  Form  Jfebis  sei  schibU^  temenia  sei  schumunu. 
Es  gehört  immerhin  eine  gewisse  Phantasie  dazu^  um  diese  Verwandt- 
schaften als  offenkondig  anzuerkennen.  Arhas,  quimas,  temenias  sind 
allerdings  als  semitisch  wohl  Ton  allen  üntersuchem  anerkannt  worden, 
aber  ohne  daß  Einigkeit  darüber  stattfände,  ob  das  Arabische,  das 
Hebräische  oder  das  Aramäische  die  Omndformen  geliefert  habe, 
worauf  es  natürlich  nicht  wenig  ankommt,  wenn  das  Alter  und  die 
Überlieferungsweise  der  Wörter  geprüft  werden  wollen.  Mit  der 
semitischen  Drsprungserklarung  der  anderen  Wörter  geht  es  nicht  so 
leicht.  Man  hat  sie  freilich  ingesamt  arabisch  deuten  wollen,  aber 
fraget  nur  nicht  wie,  möchte  man  ausrufen.  Ccdtis,  6  und  zeniSy  7 
sollen  als  cadis  und  gd>is  aus  der  entsprechenden  arabischen  Kardinal-, 
igin,  1  aus  der  arabischen  Ordinalzahl  stammen;  ormis,  3  und  cden- 
iis,  9  sollen  ihren  Wert  vertauscht  haben,  alsdann  aber  wieder 
arabische  Klänge  geben,  und  andra,  2  soll  diesem  Ursprünge  gleich- 
falls nicht  widersprechen,  vorausgesetzt  daß  man  das  arabische  Wort 
schlecht  gelesen  habe.  Andere,  weniger  leicht  mit  Verstümmelungen 
und  Wertvertauschungen  zufrieden,  haben  zwar  igin  aus  dem  He- 
bräischen, dem  Persischen,  der  Berbersprache,  andras  aus  dem  He- 
bräischen, dem  Arabischen,  zenis  aus  dem  Hebräischen  abgeleitet, 
aber,  wie  wir  durch  die  Nebeneinanderstellung  der  beigezogenen 
Sprachen  andeuteten,  wieder  in  fast  unlösbarem  Widerspruche  zu- 
einander^ einig  nur  in  dem  Verzichte  auf  jegliche  Erklärung  für  ormiSy 
calcis,  cdentis.  Semitisch  also,  den  Schluß  können  wir  allenfalls 
ziehen,  sind  die  fremden  Zahlwörter  nicht  ausnahmslos.  Man  hat 
auch  versucht,  einige  der  Wörter,  welche  besondere  Schwierigkeiten 
bereiten,  armis  und  cdentis,  aus  dem  Magyarischen  herzuleiten*).  Eine 
andere  Richtung  schlugen  alsdann  Gelehrte  ein,  welche  den  hebräischen 
Ursprung  von  arbas,  g^imaSj  temenias  als  mit  der  alexandrinischen 
Heimat  der  sämtlichen  von  ihnen  als  neupythagoräisch  vermuteten 
Wörter  wohl  vereinbarlich  zugaben,  dagegen  die  anderen  aus  dem 
Griechischen  ableiteten,  und  zwar  aus  Wörtern,  welche  Begriffen  ent- 
sprachen, die  in  der  Tat  in  der  Zahlensymbolik  der  späten  Pytha- 
goräer  mit  den  betreffenden  Zahlen  im  Zusammenhang  stehen.  Jgin 
soll  aus  71  yw%  andras  aus  ivägi^f  ormis  aus  6q(ii^  entstanden  sein, 
weil  die  1  das  Weibliche,  die  2  das  Männliche,  die  3  die  Vereinigung 
beider  bedeute;  calcis,  welches  auch  in  den  Formen  caltis  und  chalcus 
vorkommt,  sei  nach  einer  Meinung  TcalöxTjg,  weil  die  6  dem  Begriffe 


^)  Fr.  Th.  Koppen,  Notizen  über  die  Zahlwörter  im  Abacus  des  Boethius 
(in  dem  VI.  Bande  der  Milanges  Greco-Bomains  tiris  du  Bulletin  de  VAcad, 
imper.  des  scienees  de  St.  Petershourg). 


896  40.  Kapitel. 

des  Yollkommenen  und  des  Schönen  entspreche^  während  die  andere 
Meinung  chalcuSy  laXxovg  damit  rechtfertigt,  dafi  xakxovg  und  (ybyyCa 
Synonyma  seien,  die  Alten  aber  nach  einer  Behauptung  des  Cassio- 
dorius  in  einem  Briefe  an  Boethius^)  für  6  auch  Unze  sagten.  Eine 
Ableitung  von  zenis  als  Tochter  des  Zeus  beruht  darauf,  daß  die  7 
bei  Theon  von  Smyma  Athene  genannt  wird^,  eine  dem  Sinne  nach 
ähnliche  von  cdentis  aus  6slrivri  darauf,  daß  9  die  Zahl  der  Jung- 
frau ist^),  die  Mondgöttin  aber  sich  vor  allen  der  Jungfräulichkeit 
erfreut.  Andere  dagegen  wollen  cdentis  von  OriXvvrög  weibisch,  oder 
vielmehr  unter  der  Annahme,  das  Anfangs-«  eines  Wortes  könne, 
auch  wenn  es  verneinende  Bedeutung  habe,  wegfallen,  von  aOrjXvvxög 
nicht  weibisch,  kräftig,  ableiten,  weil  die  9  den  Begriff  der  Kraft  in 
sich  schließe.  So  steht  eine  nicht  unbedingt  zu  verwerfende  Anzahl 
von  ErklSrungen  der  fremdklingenden  Zahlwörter  Radulphs  zu  Ge- 
bote. Weiter  aber  als  bis  zur  Ablehnung  der  unbedingten  Ver- 
werfring möchten  wir  unsere  Zustimmung  doch  nicht  erstrecken  und 
betrachten  das  Rätsel  als  immer  noch  nicht  mit  Gewißheit  aufgelöst, 
gern  bereit  eine  zuverlässigere  Deutung  jener  Wörter  freudig  zu  be- 
grüßen, welche  auch  die  Fr^e  nach  der  Zeit  der  Entstehung  end- 
gültig beantworten  würde. 

Wir  gehen  nunmehr  mit  Radulph  zu  dem  letzten  Zeichen  des 
sipos  über,  zu  dem  Kreise  mit  angedeutetem  Mittelpunkte,  jene  Figur 
^,welche,  wiewohl  sie  keine  Zahl  bedeutet,  doch  zu  gewissen  anderen 
Zwecken  dienlich  ist,  wie  im  folgenden  erklärt  werden  wird"  (S.  892) 
Radulph  erfüllt  das  gegebene  Versprechen  treulich*).  Der  vorsichtige 
Abacist  —  providus  abacista  —  wird,  sagt  er,  unter  den  anderen 
Zeichen  auch  ein  nach  Art  eines  Rädchens  —  in  modum  rotidae  — 
gestaltetes  sipos  sich  auf  Marken  —  in  calculis  —  anfertigen,  und 
nun  erläutert  er  deren  Gebrauch.  Wir  begnügen  uns,  ohne  wörtlich 
^u  übersetzen,  auf  den  Kernpunkt  hinzuweisen.  Wenn  die  Multipli- 
kation mehrziffriger  Zahlen  miteinander  vorgenommen  wird,  so 
kommt  es  darauf  an,  immer  zu  wissen,  wo  man  mit  dem  Vervielfältigen 
halte.  Ist  dieses  schon  notin^endig,  wofern  alle  Zwischenrechnungen 
stehen  bleiben,  so  ist  es  noch  weit  unerläßlicher,  wenn,  wie  wir  von 
Bemelinus  gelernt  haben,  Ziflferu  fortwährend  verändert  wurden.  Sei 
«8  daß  man  auf  dem  Sande  neue  Zeichen  schrieb,  sei  es  daß  man 
auf  dem  vom  Schildmacher  hergerichteten  Abacus  neue  Marken  auf- 


*)  Variae  I,  epist.  10:  Senarium  vero,  quem  non  immerito  perfectum  docta 
Antiquitcis  definuit,  unciae,  qui  mensurae  primus  grtidus  est,  appeüatione  signavit 
*)  Theon  SmyrnaeuB  (ed.  Hiller)  pag.  103,  lin.  1 — 6.  •)  Theologumena 
(ed.  Ast)  pag.  58,  lin.  12flgg.  *)  Woepcke  im  Journal  Asiatiqite  für  1863, 
I.  Halbjahr,  pag.  246—247,  Anmerkung  1. 


Abacisten  und  Algorithmiker.  897 

legte  ^  in  beiden  Fällen  war  dem   vor  Augen  befindlichen  Teilergeb- 
nisse  nicht   anzusehen  y   welchem  Augenblick   der  Rechnung  es  ent- 
stamme.    Da  trat  das  sipos  in  seine  Rechte.     Man  rückte  nämlich 
eine  solche  Marke  längs  den  Zi£fem  des  Multiplikators  von  der  Rechten 
2ur  Linken  fort,  um  anzugeben,  mit  welcher  Stelle   man  gerade  ver- 
vielfache;  um   aber  auch  zu  wissen,  welchen  Abschnitt  der  Verviel- 
fältigung jeder  Multiplikatorsziffer   mit   dem    ganzen  Multiplikandus 
man  schon  ausgeführt  habe,  lieB  man  gleichzeitig  eine  zweite  sipos- 
Marke  längs  des  Multiplikandus  fortrücken.     Man  sieht  somit:    das 
sipos  ist  keine  NuU^  ist,  wie  Radulph  ganz  richtig  bemerkt,  überhaupt 
kein   Zahlzeichen,    sondern    nur    ein   Rechnungsbehelf    ähnlich    dem 
Pünktchen,   dessen   auch   wohl   in   der   heutigen  Zeit  Rechner  beim 
Dividieren  sich  bedienen,  sowie  beim  Multiplizieren  vielziffriger  Zahlen 
miteinander,    vorausgesetzt,  daß   sie  diese   letztere  Rechnung  so  voll- 
ziehen, daß  alle  Zwischenrechnungen  bis   zum  Hinschreiben  der  ein- 
zelnen Ziffern  des  Gesamtproduktes  im  Kopfe  vorgenommen  werden. 
Daß   beim  sipos  ein  Kreis  das  Pünktchen  umschließt,    ist   vielleicht 
nur  die  Zeichnung  einer  runden  Marke  überhaupt  und  die  Ähnlich- 
keit mit   dem  Zeltchen   der  Null   eine   durchaus  zufällige.     Was  das 
Wort  sipos  betrifft,   so  ist  es  kaum  weniger  zweifelhafter  Bedeutung 
als  die  anderen  Wörter,    von  welchen  wir   oben   gesprochen   haben, 
denn  wenn  die  einen  es  mit  dem  as-sifr  (leer)   der  Araber,  andere 
es   mit  dem  saph  (Gefäß)   der  Hebräer  in  Verbindung  setzen,   leiten 
noch  andere,  offenbar  hier  weit  mehr  in  Übereinstimmung  mit  der 
Verwendung  des  sipos,   es    von  tlffiq>og  (Rechenmarke)   ab.     Man   ist 
sogar  so   weit  gegangen^)  zu  fragen,   ob  nicht  das  arabische  as-sifr 
selbst  als  Lehnwort  mit  dem  griechischen  ilfflq>og  in  Zusammenhang 
zu  bringen  sei. 

Wir  können  hier  einschaltend  auch  das  Wort  abacista  hervor- 
heben, durch  welches  Ra^lulph  den  auf  dem  Abacus  Rechnenden  be- 
nennt. Der  Name^)  geht  mindestens  bis  auf  Gerbert  zurück,  der 
sich  in  seiner  Geometrie  desselben  bedient,  und  seine  Nachfolger  ge- 
braueben bald  dieses  Hauptwort,  bald  ein  von  demselben  abgeleitetes 
Zeitwort  äbaci/sare^),  welches  Rechnen  auf  dem  Abacus  bedeutet. 
Die  Hochschätzung  Gerberts  als  desjenigen,  welcher  das  Rechnen 
mehr  als  jemals  früher  zum  Gemeingute  gemacht  hat,  spricht  sich 
in  dem  gleichfalls  einmal  aufgefundenen  Worte  gerhertista*)  für 
Rechner  aus. 


*)  Karl  Krumbacher,  Woher  stammt  das  Wort  Ziffer  (chiffire)?  in  den 
iüudes  de  philologie  niogrecque  puhliees  par  M.  Jean  Psichari.  Paria  1892. 
Dagegen  Derselbe,  Noch  einmal  das  Wort  Ziffer,  in  der  Byzantinischen  Zeitschrift 
Leipzig  1893.       *)  Math.  Beitr.  Kulturl.   S.  381.       »)  Franco   186.       *)  Oeuvres 

Cahtor,  Oeacbiohte  der  Mathematik  I.  S.  Aafl.  67 


898  40.  Kapitel. 

Jüngerer  Zeitgenosse  Radnlphs  war^  wie  wir  schon  sagten, 
Gerland^).  Er  war  Schüler  des  von  dem  Bistum  Be8an9on  ab- 
hängigen Benediktinerklosters  in  der  Stadt  gleichen  Namens.  Er 
wirkte  selbst  dort  als  Stiftslehrer,  dann  als  Prior  in  den  Jahren  1131 
und  1132.  Im  Jahre  1148  begleitete  er  nebst  Theodorich  von 
Chartres  den  Erzbischof  Adalbero  von  Trier  zu  einem  Reichstage 
nach  Frankfurt  und  führte  mit  seinem  Reisegefährten  während  der 
Rheinfahrt  ein  glänzendes  Wortgefecht.  Er  schrieb  unter  anderem 
einen  Komputus,  d.  h.  wie  wir  wissen,  eine  Anleitung  zur  Oster- 
rechnung;  und  eine  Abhandlung  über  den  Abacus,  die  in  einer  Karls- 
ruher Sammelhandschrifk  aus  dem  XU.  S.,  die  also  jeden&lis  kurz 
nach  der  Abfassung  der  Abhandlung  entstanden  sein  muß,  sich  er- 
halten hat^). 

Wir  heben  nur  weniges  als  bemerkenswert  aus  ihr  hervor. 
Gerland  benutzt  die  fremdartigen  Zahlwörter  beim  Rechnen  selbst: 
Igin  pone  iitxta  muiram,  setze  igin  neben  andras  usw.  Er  benutzt 
femer  fortwährend  einen  gezeichneten  Abacus,  dessen  einzelne  Ko- 
lumnen Bogen,  arcus,  heißen  und  einen  oberen  Abschluß  durch  einen 
Kreisbogen  finden.  An  einer  einzigen  Stelle  vereiÄgt  er,  wie  Beme- 
linus,  wie  Radulph  es  vorschrieben,  überdies  Gruppen  von  drei  Ko- 
lumnen unter  einem  größeren  Kreisbogen  und  von  diesen  dreien 
selbst  wieder  zwei  unter  einem  mittelgroßen  Bogen;  allein  dabei 
macht  sich  eine  Verschiedenheit  gegen  Bemelinus  geltend,  denn  Ber- 
nelinus  will  (S.  880)  den  mittelgroßen  Bogen  über  die  Zehner-  und 
Hunderterkolumne  gezeichnet  haben,  worin  ein  guter  Sinn  liegt,  der 
der .  Unterscheidung  von  Einem  und  Nichteinem  der  betreffenden 
Gmppe,  Gerland  dagegen  vereinigt,  man  weiß  nicht  wozu,  die  Einer- 
und Zehnerkolumne  unter  einem  mittelgroßen  Bogen.  Die  Zahl  der 
Kolumnen  ist  12,  also  auch  nicht  mit  jenen  Vorgängern  in  Überein- 
stimmung. Eine  andere  Hajidschrift  von  Gerlands  Abacusregeln  hat 
15  Kolumnen,  und  überhaupt  ist  der  Wechsel  in  diesen  Anzahlen  ein 
sehr  häufiger  und  nur  darin  beschränkt,  daß  die  Kolumnenzahl  stets 
durch  3  teilbar  die  Bildung  von  Triaden  gestattet^);  neben  27 
kommen  beispielsweise  auch  30  Kolumnen  vor,  mutmaßlich  so  zu 
erklären,  daß  neun  Gmppen  von  je  3  Kolumnen  mit  den  Wörtern 
igin  bis  celentis  überschrieben  waren  und  dann  noch  eine  zehnte 
Gruppe  hinzugenommen  wurde,   um   die  Überschrift  sipos  verwerten 

de    Gerbert    {ed^  OUeris)    pag.    XXXYII    aus    dem    Codex    von    Montpellier 
Nr.  491. 

*)  Boncompagni  im  Bullettino  Boncompagni  X,  658  —  666.  *)  Zum 
Drucke  befördert  durch  Treutlein  in  dem  Bullettino  Boncompagni  X,  696 — 607. 
>)  Compt  Bend.  X\%  1406. 


Abaciaten  und  Algorithmiker.  899 

Zu  können,  deren  Sinn  allmählich  verloren  ging,  als  man  mit  der 
wirklichen  Null  der  Araber  bekannt  wurde.  Beim  Dividieren  lehrt 
Gerland  nicht  das  komplementäre,  sondern  das  unmittelbare  Verfahren 
sowohl  an  dem  Beispiele  120:3  als  an  dem  Beispiele  100:11,  bei 
welchem  letzteren  das  übrig  bleibende  1  zur  Fortsetzung  der  Division 
in  Duodezimalbrüche  verwandelt  wird. 

Ghreifen  wir  jetzt  aus  der  zahlreichen  Menge  von  dem  Verfasser 
und  der  Abfassungszeit  nach  nicht  genau  bestimmbaren  Schriften 
über  den  Abacus  noch  einige  heraus,  die  uns  bemerkenswerter  er- 
scheinen und  möglicherweise  in  die  Zeit  gehören,  bis  zu  welcher  wir 
gelangt  sind.  Dem  XII.  S.  entstammen  nach  der  Ansicht  der  meisten 
Oddos  Regeln  des  Abacus*)  (S.  845),  Diese  Regeln  beginnen 
wieder  mit  einer  an  geschichtlichen  Erinnerungen  reichen  Einleitung: 
„Will  einer  Kenntnis  des  Abacus  haben,  so  muß  er  Betrachtungen 
über  die  Zahlen  sich  aneignen.  Diese  Kunst  wurde  nicht  von  den 
modernen  Schriftstellern  erfunden,  sondern  von  den  Alten,  und  wird 
deshalb  von  vielen  vernachlässigt,  weil  sie  durch  die  Verworrenheit 
der  Zahlen  sehr  verwickelt  ist,  wie  wir  aus  der  Erzählung  unserer 
Vorfahren  wissen.  Erfinder  dieser  Kunst  war  Pythagoras,  wie  uns 
mitgeteilt  wird.  Deren  Übung  ist  bei  einigen  Dingen  notwendig, 
weil  ohne  Kenntnis  derselben  kaum  irgend  jemand  es  in  der  Arith- 
metik zur  Vollkommenheit  bringen,  noch  die  Lehren  der  Kalkulation 
d.  h.  des  Komputus  verstehen  wird.  Hätten  doch  unsere  heiligen 
Weisen  niemals  die  für  die  heilige  Kirche  notwendigen  Regeln  auf 
das  Ansehen  jener  Heiden  gestützt,  wenn  sie  gefühlt  hätten,  es  sei 
eine  müßige  Kunst,  die  jene  lehrten.  Will  z.  B.  einer  die  Bücher 
Bedas  des  Ehrwürdigen  über  den  Komputus  lesen,  so  wird  er  ohne 
Besitz  dieser  Kunst  wenig  Nutzen  erzielen  können.  Eben  sie  ist  in 
dem  Quadrivium,  d.  h.  in  der  Musik,  Arithmetik,  Geometrie  und 
Astronomie  so  notwendig  und  nützlich,  daß  ohne  sie  fast  alle  Arbeit 
der  Studierenden  zwecklos  erscheint.  Wir  glauben,  daß  sie  vor  alters 
griechisch  geschrieben  und  von  Boethius  ins  Lateinische  übersetzt 
wurde.  Aber  das  Buch  über  diese  Kunst  ist  zu  schwer  für  den  Leser, 
und  so  haben  wir  einige  Regeln  hier  auseinandergesetzt.^' 

Wir  sehen  hier  in  den  geschichtlichen  Angaben  eine  ziemliche 
Übereinstimmung    mit   denen  Radulphs,  jedoch   so,   daß    keiner   der 

*)  Scriptores  ecelesiastici de mt^sica  (ed.  Mart.  Gerbert).  St.  Blasien  1784, 
I,  296—302:  Begulae  Domni  OcUlonis  suptr  ahacum.  Vgl.  Math.  Beitr.  Kulturl. 
8.  296—302.  Die  wichtigsten  Gründe,  welche  für  eine  späte  Lebenszeit  Oddos 
sprechen,  bei  B.  Peiper  auf  Ö.  216—220  des  Supplementheftes  zu  Zeitschr. 
Math.  Phys.  XXY  (1880)  und  bei  A.  Nagl,  Gerbert  und  die  Rechenkunst  des 
X.  Jahrhunderts  S.  33. 

57  ♦ 


900  40.  Kapitel 

beiden  Schriftsteller  eine  Abhängigkeit  von  dem  anderen  verrät^  die 
Allgemeinheit  der  tJberlieferung  also  durch  ihre  ähnlichen  Behaup- 
tungen nur  um  so  sicherer  bestätigt  wird.  Wenn  Badulph  die  Not- 
wendigkeit des  Abacus  zum  Verständnis  Piatons  betont^  führt  Oddo 
das  Rechnen  auf  demselben  auf  Pythagoras  zurück.  Wenn  Radulph 
ihn  der  Geometrie  dienen  läßt^  ist  er  bei  Oddo  dem  ganzen  Qua- 
drivium  ein  nützliches  Hilfsmittel.  Wenn  Radulph  die  Kunst  in 
Mißkredit,  fast  in  Vergessenheit  geraten  läßt,  bis  Gerbert  und  Her- 
mann sie  erneuerten,  spricht  Oddo  die  Meinung  aus,  Boethius  habe 
darüber  eine  Schrift  aus  dem  Griechischen  ins  Lateinische  übersetzt, 
aber  dieses  Buch  sei  zu  schwierig,  und  deshalb  setze  er  seine  Regeln 
auseinander.  Die  letztere  Bemerkung  Oddos  verdient  unsere  ganz 
besondere  Aufmerksamkeit,  da  es  schwer  fällt,  dieselbe  nicht  auf  die 
gefälschte  Geometrie  des  Boethius  zu  beziehen.  Dann  muß  aber  Oddo 
nach  der  Entstehung  dieser  Geometrie,  d.  h.  nicht  früher  als  im 
Xn.  S.  seine  Regeln  verfaßt  haben. 

Die  Benennung  der  Einer  und  Zehner  als  Finger-  und  Gelenk- 
zahlen, der  Kolumnen  als  Bögen,  die  Vereinigung  von  je  drei  Bögen 
zu  einer  mit  einem  größeren  Bogen  überspannten  Gruppe,  das  Auf- 
treten der  Apices,  das  sind  lauter  Dinge,  die  Oddo  mit  vielen  gemein 
hat.  Die  Zahlennamen  igln  usw.  kommen  bei  ihm  nicht  vor,  und 
das  könnte  Anlaß  geben,  ihn  für  einen  Zeil^enossen  eines  früheren 
als  des  XU.  S.  zu  halten.  Bei  der  Multiplikation  unterscheidet  er  die 
beiden  Faktoren  als  Summe,  summa,  und  Grundzahl,  fundamenium, 
wovon  jene  oben,  diese  weiter  unten  geschrieben  wird.  Das  Produkt 
kommt  zwischen  beide  Zeilen  zu  stehen^).  Dabei  findet  zwischen 
den  Faktoren  Gegenseitigkeit  statt:  ;;Mag  man  5  mal  7  oder  7  mal 
5  nehmen,  so  entsteht  XXXV.''  Der  Gegensatz  der  Schreibweise  in 
diesem  Satze,  die  Darstellung  einziffriger  Zahlenwerte  durch  Apices, 
mehrzijBfriger  durch  römische  Zahlzeichen,  ist  die  naturgemäße  Folge 
des  Nichtvorhandenseins  der  Null,  ohne  welche  die  Apices  die  längste 
Zeit  über  nur  dann  Stellenwert  erhielten,  wenn  sie  einem  Abacus  ein- 
gezeichnet waren. 

Ein  einziges  Beispiel  vom  Gegenteil  ist  bis  jetzt  bekannt  ge- 
worden^). In  einer  Handschrift  der  alexandrinischen  Bibliothek  zu 
Rom,  welche   um   das  Jahr  1200   herum   entstanden  ist,   findet  sich 


')  Summa  vocatur  qaod  in  summiUtte  arcuum;  fundamentum  autem  quid- 
quid  inferius  disponitur.  Et  quod  ex  utroque  numero  procedit  muUiplicato  inter 
ducis  lineas  ponitur.  *)  Enrico  Nardacci,  Intomo  ctd  un  manuscritto  della 
BihUoteca  Alessandrina  cantenente  gli  apici  di  Boezio  senz'  abaco  e  con  valore 
dt  posizione  in  den  Memarie  deW  Accademia  Reale  dei  lAncei,  Classe  di  scienze 
fisiche,  matematiche  e  natural.    Serie  8.     Vol.  1.    Seduta  delP  8.  aprile  1877. 


*  Abacisten  und  Algorithmiker.  901 

nämlicli  auf  zwei  eigentümlichen  kreisrunden  Figuren  eine  ziemliche 
Menge  von  Zahlen^  teils  einziffrige,  teils  zweiziffiige.  Sie  sind  mit 
geringfügigen  Ausnahmen  durch  Apices  geschrieben,  die  zu  diesem 
Zwecke  offenbar  Stellungswert  erhielten.  Daß  aber  dem  Schreiber 
die  Null  noch  nicht  bekannt  war,  oder,  was  auf  das  Gleiche  heraus- 
kommt, daß  er  sie  noch  nicht  zu  gebrauchen  wagte,  geht  mit  Be- 
stimmtheit daraus  hervor,  daß  mitten  zwischen  den  Apices  die 
römischen  Zeichen  für  X  und  XX  vorkommen. 

Doch  wir  kehren  zu  Oddo  zurück.  Nach  den  Multiplikations- 
regeln gelangt  er  zur  Division  und  unterscheidet,  wie  wir  es  schon 
wiederholt  und  auch  in  der  ge^schten  Geometrie  des  Boethius  ge- 
funden haben,  die  einfache,  die  zusammengesetzte  und  die  unter- 
brochene Division,  je  nachdem  der  Divisor  einstellig  ist,  mehrstellig 
in  aufeinander  folgenden  Kolumnen,  oder  mehrstellig,  aber  so,  daß 
dazwischen  eine  Kolumne  leer  bleibt.  Der  Dividend  steht  hier  in 
der  Mitte,  der  Divisor  oben,  der  Quotient  unten  ^),  und  es  ist  nicht 
zu  verkennen,  daß  hier  eine  völlig  gleichmäßige  Anordnung  wie  bei 
der  Multiplikation  gewählt  ist,  die  das  Produkt  zwischen  beide  Fak- 
toren stellt.  Allerdings  sind  wir  genötigt,  die  Stellung  aus  Oddos 
Worterklärungen  zu  entnehmen,  denn  die  Zeichnung  eines  Abacus 
kommt  bei  ihm  nicht  vor.  Er  vollzieht  die  Divisionen  unmittelbar, 
nicht  komplementär,  und  überhaupt  fiihlt  er  sich  bei  der  über- 
nommenen Aufgabe,  die  Division  in  ihren  drei  Fällen  schriftlich  er- 
klären zu  müssen,  nicht  wohl.  Schon  bei  der  zusammengesetzten 
Division  sagt  er:  „das  Alles  läßt  sich  viel  leichter  mit  einem  ein- 
zigen Worte  mündlich  als  schriftlich  abmachen"*).  Nach  der  Di- 
vision folgen  die  Brüche,  d.  h.  wie  immer  Duodezimalteile  des  as. 
Oddo  prunkt  dabei  mit  einer  gewissen  Gelehrsamkeit,  er  sagt  dragma 
sei  griechisch,  sichel  hebräisch  usw.,  eine  Gelehrsamkeit,  welche  er, 
wie  richtig  bemerkt  worden  ist*),  sich  leicht  in  dem  etymologischen 
Werke  des  Isidorus  von  Sevilla  verschaffen  konnte.  Er  dividiert  so- 
dann 1001  durch  1000  und  verwandelt  die  zunächst  übrig  bleibende 
Einheit  in  immer  kleinere  Bruchteile,  bis  deren  Anzahl  1000  über- 
steigt und  eine  Fortsetzung  der  Division  zuläßt.  Die  Verwandlung 
selbst,  aufeinander  folgende  Multiplikationen  erfordernd,  wird  auf  dem 
Abacus  ausgeführt.  Schließlich  kann  man  freilich  nicht  weiter  zu 
noch  niedrigeren  Einheiten  übergehen.  Da  hört  denn  auch  die  Di- 
vision auf,   und  man  könne  am  Ende  sich  nicht  wundern,  wenn  bei 

^)  Quidquid  dividendum  est  in  abaco  in  medio  ponitur;  divisores  praepo- 
nuntur;  denonünalianes  autem,  hoc  est  partes  divisae  supponuntur,  *)  QtMe 
omnia  magis  unicae  vocis  alloquio  quam  scripta  advertuntur,  *)  Friedlein  in 
der  Zeitschi.  Math.  Phye.  IX,  326. 


902  40.  Kapitel. 

den  Bruchteilen  etwas  übrig  bleibe^  da  auch  andere  Künste  in  vielen 
Punkten  wacklig  seien  ^). 

,,Nur  dei  die  Dinge  gemacht  und  bewahrt  mit  schützendem  Walten 
Ist  mit  jedwelcher  Macht  allein  für  vollkommen  zu  halten/* 
Berum  vero  pctrens,  qui  solus  cuncta  tuetur, 
Cum  Sit  cunctipotens,  perfecttis  solus  habetur. 

Eine  anonyme  Schrift  über  den  Abacus^),  einer  Münchener 
Handschrift  aus  der  Mitte  des  XIL  S.  entstammend  und  folglich 
spätestens  gleichzeitig  mit  Radnlphs  oder  mit  Gerlands  Arbeiten  eut- 
standen^  zieht  unsere  Aufmerksamkeit  dadurch  auf  sich^  daß  sie  einige 
Kunstausdrücke  enthält  und  deutlich  erklärt,  welchen  wir  (S.  891) 
bei  Atelhart  von  Bath  und  bei  Radulph  von  Laon  bereits  begegnet 
sind.  Sie  nennt  nämlich  das  unmittelbare  Divisionsverfahren  das 
der  goldenen  Division,  das  komplementäre  das  der  eisernen, 
jenes,  weil  es  leicht  zu  verstehen  und  über  die  Annehmlichkeit  des 
Goldes  hinaus  ergötzlich  ist,  dieses  dagegen  weil  es  allzuschwer  ist 
und  gewissermaßen  die  Härte  des  Eisens  überbietet^).  Die  Apices 
sind  einmal  gezeichnet  und  griechische  Buchstaben  als  mit  ihnen 
abwechselnd  auftretend  genannt,  ähnlich  wie  es  bei  Bemelinus  der 
Fall  war,  und  eine  andere  Ähnlichkeit  mit  diesem  Schriftsteller  be- 
steht darin,  daß  für  6  nicht  der  richtige  griechische  Buchstabe 
angegeben  ist,  allerdings  auch  nicht  2J,  sondern  ein  großes  latei- 
nisches S.  Weitere  Ähnlichkeiten  mit  Bemelinus  könnten  noch 
darin  gefunden  werden,  daß  im  ganzen  Verlaufe  der  Schrift  die 
Apices  nicht  weiter  benutzt  werden,  daß  kein  Abacus  gezeichnet  ist, 
daß  aber  die  Regeln  mit  imgemeiner  Klarheit  an  Beispielen  erläutert 
werden,  bei  welchen  durchgängig  nur  römische  Zahlzeichen  in  An- 
wendung kommen.  Die  Zahlenbeispiele  selbst  sind  nicht  die  gleichen 
bei  beiden.  In  dieser  Beziehung  sind  überhaupt  die  Abacisten  sehr 
unabhängig  voneinander. 

Es  ist  uns  nicht  erinnerlich,  daß  irgend  zwei  derselben  in  der 
Benutzung  des  gleichen  Zahlenbeispiels  zusammenträfen.  Dagegen 
ist  uns  ein  Beispiel  Gerlands  in  seiner  ganzen  Einkleidung  bei  einem 
Algorithmiker  begegnet,  welcher  spätestens  am  Ende  des  XH.  S. 
gelebt  hat. 

Unter  Algorithmikern  verstehen  wir  diejenigen  Schriftsteller, 


')  Nee  tnirandum  est  aliquid  de  minutii^  superesse,  cum  alias  artes  in  muUis 
videam  vadUare,  *)  Abgedruckt  im  Bullettino  Boncompagni  X,  607 — 626.  Über 
die  Handschrift  vgl.  Treu t lein  ebenda  pag.  691  unter  2.  *)  Ebenda  pag.  600: 
Dicuntur  aureae  divisiones  eo  quod  ad  intelligendum  faciles  et  super  auri  gratiam 
sint  delectabiles;  sicut  contra  ferreae  que  sunt  nitnis  graves  quasi  ferri  duriciam 
preponderantes. 


Abacisten  und  Algorithmiker.  903 

welche  ihre  unmittelbare  Abhängigkeit  Ton  arabischen  Vorbildern 
durch  Yorkommen  des  bald  mifiyerstandenen  Wortes  algorithmuS; 
durch  Anwendung  des  Stellenwertes  der  Ziffern  mit  Einschluß  der 
Null,  durch  Nichtanwendung  des  Abacus,  durch  den  beiden  letzten 
Eigentümlichkeiten  entsprechende  Bechnungsverfahren  an  den  Tag 
legen.  Wozu  indessen  in  allgemeinen  Sätzen  die  Erkennungszeichen 
.algorithmischer  Schriften  erörtern;  deren  beide  hervorragendsten  wir 
in  früheren  Kapiteln  einzeln  besprochen  haben,  die  lateinische 
Übersetzung  des  Rechenbuches  des  Muhammed  ihn  Müsä 
Alchwarizmi  (S,  714  flgg.)  und  die  an  dasselbe  Werk  sich 
anlehnende  ausführliche  Schrift  des  Johannes  von  Sevilla 
<S.  800  flg.)? 

Wir  müssen  einen  Blick  auf  die  allgemeinen  Verhältnisse  werfen, 
welche  die  Entstehung  dieser  Übersetzungen  begleiteten.  Gerbert  war 
für  uns  am  Ende  des  X.  S.  vor  allen  Dingen  der  glänzende  Lehrer 
gewesen,  der  den  Unterricht  in  den  mathematischen  Wissenschaften, 
flo  viel  öder  wenig  aus  römischen  Quellen  ihm  davon  zur  Kenntnis 
gelangt  war,  neu  belebte.  Auch  der  Geschichte  der  Philosophie  ge- 
hört der  Philosoph  auf  dem  Stuhle  St.  Peters  an^).  Nicht  hloß  das 
Rechneil  auf  dem  Abacus  wurde  von  seinen  Schülern,  als  sie  selbst 
zu  Lehrern  geworden  waren,  über  Frankreich,  Deutschland  und  Italien 
verbreitet,  von  wo  sie  einst  zu  den  Füßen  des  Bheimser  Stiftslehrers 
gepilgert  waren,  es  machte  überhaupt  um  die  Mitte  des  XI.  S.  ein 
neuer  Aufschwung  des  wissenschaftlichen  Denkens  sich  geltend.  Lan- 
frank,  am  Anfang  des  Jahrhunderts  in  Pavia  geboren,  in  Frankreich 
herangebildet,  führte  die  Dialektik  in  die  Theologie  ein  und  ließ  den 
Sinn  für  aristotelische  Schriften  erstarken.  Freilich  kannte  man  sie 
zunächst  nur  aus  Bearbeitungen  des  Boethius,  aber  da  und  dort  waren 
doch  immer  einzelne  Männer  zu  finden,  welchen  das  Griechische  ge- 
läufig genug  war,  ihnen  zu  gestatten,  die  Urquelle  aufzusuchen,  und 
so  entstanden  jetzt  schon  einige  wenige  neuere  Übersetzungen.  Die 
dadurch  genährte  und  wachsende  Neigung  mit  allem  bekannt  zu 
werden,  was  Aristoteles,  dessen  Name  mehr  und  mehr  den  Inbegriff 
aller  Wissenschaft  darstellte,  geschrieben  hatte,  trat  besonders  in  zwei 
Ländern  hervor:  in  England,  wohin  Lanfirank  als  Erzbischof  von 
Oanterbury  gekommen  war,  und  in  Italien,  wo  gleichfalls  eine  be- 
stimmte Persönlichkeit,  Anselm  der  Peripatetiker,  nicht  zu  ver- 
wechseln mit  dem  Bruder  Radulphs  'von  Laon,  den  geistigen  Mittel- 
punkt der  neuen  Bewegung  bildete.     Deutschland  beteiligte  sich  erst, 


*)  Herrn.  Reuter,  Geschichte  der  religiösen  Anfklilrung  im  Mittelalter  I, 
78  flgg.     Berlin  1876. 


904  40.  Kapitel. 

nachdem;  man  kann  fast  sagen^  Missionsreisende  für  die  dialektischen 
Studien  es  durchzogen  hatten^  wozu  eben  jener  Anselm  der  Peripate- 
tiker  gehörte. 

Aber  wie  sollte  man  die  Begierde  nach  der  Kenntnis  aristo- 
telischer Schriften  stillen?  Griechische  Texte  waren  nur  in  seltensten 
Handschriften  zugänglich.  Man  erfuhr^  daß  die  Araber  eifrige  Philo- 
sophen waren,  daß  auch  sie  keinen  der  Alten  höher  schätzten,  als^ 
Aristoteles,  daß  bei  ihnen  Übersetzungen  und  Erläuterungen  in  Menge- 
zu  finden  waren.  Arabisches  war  schon  früher,  jedenfalls  schon  am 
Ende  des  X.  S.  ins  Lateinische  übersetzt  worden.  Wir  erinnern  an 
die  Übersetzungen  astronomischer  Schriften,  welche  Lupitus  von  Bar- 
celona angefertigt,  Gerbert  zu  besitzen  gewünscht  hat,  wir  erinnern 
an  die  Vorlage  Hermann  des  Lahmen  für  seine  Bücher  über  das 
Astrolabium.  Wir  bemerken  bei  dieser  Gelegenheit,  daß  wir  somit 
es  keineswegs  an  sich  für  unmöglich  halten^  daß  Gerbert  bei  seinem 
Aufenthalt  in  der  spanischen  Mark  durch  Übersetzungen  auch  mit 
arabischer  Rechenkunst  hätte  bekannt  werden  können,  sondern  daß 
wir  nur  durch  den  allerdings  entscheidenden  Umstand  bewogen  sind, 
diese  Kenntnis  in  Abrede  zu  stellen,  daß  gar  nichts  zwischen  Gerbert 
und  den  Arabern  gemein  ist,  durchaus  gar  nichts  in  der  Anordnung 
wie  in  der  Ausfühinmg  der  Rechnungen  als  nur  neun  Zifiern  ohne 
das  zehnte  Zeichen  der  Null,  und  daß  diese  Gemeinschaft  sich  uns 
hinreichend  mittels  römischer  Erinnerungen  erklärt,  während  jeder 
andere  Erklärungsversuch  an  der  verhältnismäßigen  Geringfügigkeit 
des  Gemeinschaftlichen  neben  den  weit  überwiegenden  Verschieden- 
heiten scheitert. 

Jetzt  suchte  man,  etwa  vom  Jahre  1100  an,  noch  mehr  der 
arabischen  Bearbeitungen  griechischer  Schriftsteller  habhaft  zu  werden 
und  sie  in  das  Lateinische  zu  übertragen.  Dazu  kommt  ein  anderer 
Umstand,  der,  scheint  es  uns,  nicht  übersehen  werden  darf,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  ein  geistiges  Bild  jener  Zeit  zu  entwerfen  und 
die  mehr  und  mehr  sich  geltend  machende  Einwirkung  arabischer 
Wissenschaft  auf  das  Abendland  zu  schildern.  Mit  dem  Jahre  1100 
beginnen  die  Kreuzzüge.  Jeder  wissenschaftliche  Zweck  war  den- 
selben fremd,  aber  wissenschaftliche  Erfolge  haben  sie  gehabt.  Wir 
haben  (S.  778)  berührt,  daß  die  Kreuzfahrer  im  Oriente  auf  eine 
ihnen  überlegene  Bildung  stießen,  daß  zwei  Jahrhunderte  lang  der 
Verkehr  ein  meistens  feindlicher,  aber  in  längeren  Pausen  auch  ein 
nachbarlich  freundlicher  war.  Wie  ehedem  nestorianische  Christen 
die  Ärzte  der  Ghalifen  gewesen  waren  und  zur  Einführung  griechi- 
scher Wissenschaft  unter  die  Araber  das  meiste  beigetragen  haben, 
so  bildete  jetzt  wieder  medizinisches   und  astrologisches  Wissen  den 


Abacigten  und  Algozithmiker.  905 

Freipaß,  auf  welchen  hin  arabische  und  jüdische  in  arabischer  Schu- 
lung gebildete  Ärzte  und  Sterndeuter  an  den  christlichen  Höfen  er- 
schienen. Sie  kamen  von  Osten  her,  aber  auch  Spanien  stellte  seine 
Männer,  und  Sizilien  lieferte  für  ganz  ünteritalien  im  Xll.  und  mehr 
noch  im  XIU.  S.  den  belebenden  geistigen  Sauerstoff. 

Für  Italien  waren  die  Kreuzzüge  noch  in  mehreren  anderen  Be- 
ziehungen von  nicht  zu  unterschätzenden  Folgen^).  Die  Menschen- 
masse,  welche  in  den  Kreuzzügen  sich  nach  Osten  wälzte,  die  einen 
getrieben  von  heiligem  Glaubenseifer,  die  anderen  beseelt  von  dem 
Wunsche  die  äußeren  Vorteile  zu  genießen,  zu  welchen  die  Kreuz- 
nähme  berechtigte,  die  dritten  mit  fortgerissen  von  dem  allgemeinen 
Zug,  bezifferte  sich  auf  viele  Millionen.  Die  meisten  nahmen  ihren 
Weg  über  Italien;  nicht  wenige  kehrten  bis  dahin,  aber  auch  nur 
bis  dahin  zurück.  Der  kaufmännische  Geist  der  Italiener  wußte  aus 
dieser  Strömung  vielfach  Nutzen  zu  ziehen.  Italiener  —  Lombarden 
wie  man  sie  gewöhnlich  nannte  —  erschienen  in  den  Mittelpunkten, 
wo  Kreuzfahrer  sich  sammelten,  boten  gegen  wertvolles  Pfand  und 
hohen  Zins  ihre  Geldhilfe  an,  welche  gern  in  Anspruch  genommen 
ihnen  gestattete,  aus  dem  Gewinne  ganze  Straßen  zu  bauen,  die  bis 
auf  den  heutigen  Tag  sich  nach  ihnen  benennen.  Die  zurückkehren- 
den Kreuzfahrer  ließen  sich  nicht  minder  ausnutzen.  Sie  brachten 
Beutestücke  mit,  die  sie  in  Geld  umsetzten,  um  den  üppigeren  Nei- 
gungen zu  genügen,  welche  sie  insbesondere  in  bezug  auf  Speisen 
und  Kleidung  ajigenommen  hatten.  Und  wieder  waren  es  die  Italiener, 
die  vorzugsweise  es  auszubeuten  wußten,  daß  die  Gewürze,  die  Seide 
des  Orients  zu  Lebensbedürfnissen  geworden  waren.  An  der  Nord- 
küste Afrikas,  wie  in  Ägypten,  wie  an  dem  Strande  des  ehemaligen 
Tyrus  entstanden  italienische  Handelsplätze,  überall  in  nächster  Be- 
ziehung zu  arabischen  Kaufleuten  und,  wie  wir  (S.  817)  schon  an- 
gedeutet haben,  hier  nicht  ohne  Einfluß  auf  das  Wissen  derselben, 
andererseits  jedenfalls  auch  von  ihnen  Samen  erhaltend,  dessen  Keimen 
wir  im  nächsten  Bande  dieses  Werkes  verfolgen  müssen,  wenn  wir 
in  den  reichen  italienischen  Städten  uns  umsehen,  deren  Bürger  die 
Feder  nicht  bloß  zum  Eintrag  gewinnbringender  Handelsgeschäfte  in 
ihre  kaufmännisch  geführten  Bücher,  sondern  auch  zu  streng  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  zu  benutzen  wußten  und  sich  zu  Trägem  mathe- 
matischer Fortentwicklung  machten. 

Wir  haben  einen  der  ersten  Schriftsteller,  der  nachweislich  mit 
der  Übersetzung  mathematischer  Schriften  aus  dem  Arabischen  sich 


*)  De  Choiaeul-Daillecourt,  De  Vinfluence  des  croisades  sur  Vitat  des 
peupks  de  VEurope.    Paris  1809. 


906  40.  Kapitel. 

beschäftigte^  schon  einigemal  genannt:  Atelhart  Ton  Bath^).  Sein 
Hauptwerk  ,,Fragen  ans  der  Natur**  enthält  Bemerkungen,  welche 
yermöge  der  Persönlichkeiten,  auf  die  sie  sich  beziehen,  nur  in  den 
ersten  30  Jahren  des  XII.  S.  niedergeschrieben  sein  können,  und  so- 
mit zur  Feststellung  der  Lebenszeit  ihres  Verfassers  führten.  Atel- 
hart hat,  um  zur  Kenntnis  der  arabischen  Sprache  zu  gelangen,  weite 
Keisen  gemacht.  Er  ist  in  Kleinasien,  in  Ägypten,  in  Spanien  ge- 
wesen, überall  die  gleichen  wissenschaftlichen  Zwecke  verfolgend  und 
um  ihretwillen  tausend  Gefahren  trotzend.  Wir  wissen  schon,  daß 
Atelhart  die  astronomischen  Tafeln  des  Muhammed  ihn  Müsa  Alchwa- 
rizmi  übersetzt  hat,  daß  Ton  ihm  eine  lateinische  Bearbeitung  der 
euklidischen  Elemente*)  nach  dem  Arabischen  herrührt  (S.  713).  Ob 
Atelhart  es  war,  welcher  die  Übersetzung  des  Rechenbuches  Alchwa- 
rizmis  anfertigte,  konnte  nicht  mit  Bestimmtheit  festgestellt  werden. 
Merkwürdig  wäre  es  um  deswillen,  weil  Atelhart  auch  über  den 
Abacus  geschrieben  hat  (S.  891)  und  somit  Abacist  und  Algorithmiker 
in  einer  Person  wäre. 

Als  Schüler  Atelharts  bezeichnet  sich  selbst  Ocreat  der  Ver- 
fasser eines  Auszuges  aus  einer  arabischen  Schrift  über  Multiplikation 
und  Diyision  in  den  Einleitungswoften:  Prologus  H,  Ocreati  in  Hel- 
ceph  ad  Äddhardum  Baiotensem  magistrum  suum^).  Man  möchte  zu- 
nächst an  Atelhart  von  Bath  als  Lehrer  denken.  Dann  müßte  es  aber 
Adelhardum  Bathonensem  heißen.  Die  Form  Baiotensem  zwingt  einen 
im  übrigen  unbekannten  Atelhart  von  Bayeux  anzunehmen.  Ferner 
hat  man  in  Helceph  den  Namen  des  arabischen  Schriftstellers  erkennen 
wollen,  von  welchem  die  durch  Ocreatus  (der  Gestiefelte?)*)  aus- 
gezogene Abhandlung  herrührte.  Man  ist  jedoch  zu  der  nachträg- 
lichen sehr  anmutenden  Meinung  gekommen,  es  sei  Helceph  die  Ver- 
ketzerung von  Äl  häft,  die  genügende  Untersuchung,  und  Ocreatus* 
Vorlage  sei  ähnlich  betitelt  gewesen  wie  die  Schrift  Alkarchis,  von 
der  wir  unter  dem  Namen  AI  käfi  fil  hisäb  gehandelt  haben  (S.  762  flg.). 
Wir  erinnern  uns,  daß  wir  dem  Auszuge  Ocreatus'  (S.  433)  die  Be- 
merkung entnahmen,  Nikomachus  habe  das  Quadrat  a^  mittels  einer 

*)  Jourdain,  Reclierches  sur  les  anciennes  traductians  latines  d'Äristote 
(2ieme  Edition)  pag.  27,  97—99^  258 — 277.  *)  Vgl.  darüber  einen  Aufsatz  von 
Weißenborn  in  dem  Supplementhefte  zur  historisch-literarischen  Abteilung  der 
Zeitschr.  Math.  Phys.  Bd.  XXV  (1880).  «)  Jourdain  1.  c.  pag.  99,  Anmerkung  1 
hat  auf  diese  in  einer  Pariser  Handschrift  des  Xm.  S.  enthaltene  Abhandlung 
hingewiesen.  Zum  Abdrucke  gelangte  sie  im  Supplementhefte  der  histor.-literar. 
Abtlg.  Zeitschr.  Math.  Phys.  Bd.  XXV  (1880)  mit  einer  Einleitung  von  C.Henry, 
welcher  wir  die  von  L.  Rodet  herstammende  im  Texte  folgende  Vermutung 
über  Helceph  entnehmen.  *)  Auf  diese  mögliche  Bedeutung  des  Namens  hat 
uns  W.  Wattenbach  auftnerksam  gemacht. 


Abacisten  nnd  Algorithmiker.  907 

Art  komplementärer  Multiplikation  sich  zu  yerschaffen  gewußt.  Ob 
diese  Angabe  der  arabischen  Vorlage  entstammt^  ob  sie  durch  Ocrea- 
tue  etwa  einer  damals  noch  vorhandenen  Bearbeitung  des  Nikomachus 
von  Appuleius  entnommen  wurde,  ist  durchaus  nicht  zu  entscheiden. 
Ein  Johannes  Ocreatus  wird  in  dem  englischen  Handschriftenkataloge 
als  Euklidübersetzer  genannt.  Ob  dieses  auf  einem  Mißverständnisse 
beruht,  wäre  an  Ort  und  Stelle  zu  untersuchen*). 

Am  Anfange  des  XII.  S.  lebte  auch  Plato  von  Tivoli  oder  Plato 
Tiburtinus*),der  vermeintliche  Übersetzer  des  Albattani,  durchweichen, 
wie  man  früher  annahm,  das  Wort  Sinus  (S.  737)  in  die  Trigonometrie 
«ingeführt  worden  sei.  Wenn  nicht  Albattanis  Astronomie  hat  Plato  doch 
verschiedene  astrologische  Schriften  übersetzt.  Eine  derselben  unter  dem 
Titel:  Astrologische  Aphorismen  von  oder  an  Almansür  hat  Plato  in 
Barcelona  angefertigt  und  im  Jahre  530  der  Hidschra,  d.  h.  1136  n.  Chr. 
beendigt^).  Auch  die  aus  dem  Hebräischen  des  Abraham  Savasorda 
durch  Plato  übersetzte  praktische  Geometrie,  welche  in  mehrfachen 
Handschriften  vorhanden  ist,  trägt  ein  Datum  510  arabischer  Zeit- 
rechnung d.  h.  also  1116  und  ist  als  ältestes  Zeugnis  seiner  Wirk- 
samkeit aufgefaßt  worden.  Unter  den  mittelbar  aus  dem  Ghriechischen 
stammenden  Werken  ist  die  mathematisch  wichtigste  Schrift, 
welche  Plato  aus  dem  Arabischen  übersetzt  hat,  die  Sphärik  des 
Theodosius. 

Noch  ein  Übersetzer,  an  welchen  wir  uns  zu  erinnern  haben, 
ist  Gerhard  von  Cremona*).  Zufolge  einer  sehr  alten  biographi- 
schen Notiz  über  denselben  ist  Gerhard  1114  in  Cremona  geboren, 
wurde  frühzeitig  von  philosophischen  Studien  angezogen  und  fand 
insbesondere  an  der  Astronomie  seine  Freude.  Das  Bedauern,  der 
großen  Zusammenstellung  des  Ptolemäus  nicht  habhaft  werden  zu 
können,  vereinigt  mit  der,  wir  wissen  nicht  wie,  erlangten  Kenntnis, 
daß  dieses  Werk  in  arabischer  Sprache  vorhanden  sei,  führte  Gerhard 
nach  Toledo,  wo  er  1175  die  Übersetzung  des  Almagestes  aus  dem 
Arabischen  in  das  Lateinische  vollendete*^).  Aber  das  war,  wenn  auch 
die  Veranlassung,  doch  keineswegs  die  einzige  Frucht  seines  Toledoer 
Aufenthaltes.  Eine  fast  unglaublich  große  Menge  von  Schriften  aller 
Art  wird  uns  genannt,  welche  Gerhard   aus  dem  Arabischen  in  das 

»)  Catalog.  Mab.  Angl.  Tom.  U  pag.  247  Nr.  8689.  Wüstenfeld,  Die  Über- 
fletzungen  arabischer  Werke  in  das  LateiniBche  S.  23.  *)  B.  Boncompagni, 
Delle  verstoni  fatte  da  Piatone  Tiht*rHno  traduttore  del  secolo  duodecimo.  Roma 
1861.  »)  Vgl.  Steinschneider  in  der  Zeitschr.  Math.  Phjs.  Bd.  XII,  S.  26. 
*)  B.  Boncompagni,  Della  mta  e  delle  opere  di  Gherardo  Cremonese  traduttore 
del  secolo  duodecimo  e  di  Gherardo  da  Sahhionetta  astronomo  del  secolo  decimo- 
terzo.    Roma  1851.      *)  Ebenda  pag.  18. 


908  40.  Kapitel. 

Lateinische  überiarug^),  so  daß  wir  unter  Erwägung  des  Todesjahres 
Gerhards^  welches  auf  1187  fiel^  kaum  annehmen  dürfen,  daß  alle 
seine  Übersetzungen  erst  nach  der  des  Almagestes  angefertigt  worden 
sein  sollten.  Unter  den  mathematischen  Schriften,  welche  Gerhard 
bearbeitet  haben  soll,  sind  15  Bücher  des  Euklid  genannt,  jedenfalls 
seine  Elemente  und  die  beiden  Bücher,  welche  lange  als  14.  und 
15.  Buch  mitgeschleppt  wurden.  Von  der  Übersetzung  der  euklidischen 
Elemente  sind  teils  Bruchstücke  teils  vollständige  Handschriften  in 
Paris,  in  Boulogne  sur  mer,  in  Brügge  aufgefunden  worden*).  Deren 
Wortlaut  läßt  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  darauf  schließen,  daß 
zu  Gerhards  Zeiten  außer  den  arabischen  Übersetzungen  Euklids,  deren 
eine  ihm  als  Vorlage  diente,  auch  eine  ihm  bekannte  und  von  ihm 
mitbenutzte  lateinische  Übersetzung  aus  dem  Griechischen  yorhanden 
war,  eine  Tatsache,  die  uns  nicht  aUzusehr  in  Erstaunen  setzen  kann, 
wenn  wir  an  das  Palimpsest  von  Verona  (S.  665)  denken.  Von 
Gerhards  weiteren  Übersetzungen  werden  uns  genannt  Euklids  Buch 
der  gegebenen  Dinge,  die  Sphärik  des  Theodosius,  ein  Werk  des 
Menelaus.  Diese  zahlreichen  Übersetzungen  ursprünglich  griechischer 
Schriften  bilden  die  geschichtliche  Bedeutung  Piatos  und  Gerhards. 
Nur  was  sie  in  lateinischer  Sprache  boten,  konnte  zu  europäischem 
Besitze  werden  und  ist  es  geworden,  wie  wir  im  IL  Bande  uns  über- 
zeugen werden.  Gerhard  übersetzte  femer  auch  mit  gleichem  ge- 
schichtlichen Erfolge  geometrische  Schriften  von  arabischen  Ver- 
fassern, von  den  drei  Brüdern,  von  Täbit,  aber  auch  die  Algebra  des 
Alchwarizmi*).  Da  Gerhard,  wie  wir  wissen,  eine  Algebra  übersetzt 
hat  (S.  803),  welche  erhalten  ist  und  als  von  der  des  Muhammed  ihn 
Müsä  verschieden  sich  erwies,  so  ist  entweder  in  jener  alten  Notiz 
ein  kleiner  Irrtum  vorhanden,  oder  wir  müssen  annehmen,  Gerhard 
habe  neben  der  Algebra  des  Muhammed  ihn  Müsä  auch  jene  andere 
voUkommnere  übersetzt,  die  nur  in  dem  genannten  Verzeichnisse 
fehle,  eine  Annahme,  welche  darin  ihre  Stütze  findet,  daß  jenes  Ver- 
zeichnis auch  sonst  nicht  ganz  vollständig  ist  und  medizinische 
Schriften  des  Razi,  des  Ihn  Sina,  des  Albucasis  vermissen  läßt,  von 
deren  Übersetzung  durch  Gerhard  uns  anderweitig  berichtet  wird*). 
Vielleicht  darf  man  darauf  gestützt  auch  einen  Algorithmus  des 
Meistor  Gerhard,  der  handschriftlich  in  London  sich  befindet^), 
imserem  Gerhard  von  Gremona  überweisen.  Das  wäre  alsdann  der 
erste    Algorithmus    von   bekanntem    abendländischem    Verfasser,   den 

*)  B.  Boncompagni,  Oherardo  Crem.  pag.  4—7  und  12.  ^)  Björnba 
in  der  Biblioiheca  Mathematica  S.  Folge  VI,  242—248.  ';  B.  Boncompagni, 
Gherardo  Crem  pag.  6:  Liber  Mhoarismi  de  iebra  et  almueahula  tractatus  I. 
*)  Ebenda  pag.  12.       ^)  Ebenda  pag.  ö7. 


Abacisten  und  Algorithmiker.  909 

wir  zu  nennen  hatten.  Yielleicht  gibt  es  noch  eine  zweite  umfang- 
reichere Handschrift  desselben  Algorithmus  in  einem  Yatikankodex, 
der  den  Tradatus  magistri  Cremardi^)  enthalt.  Genauer  werden  wir 
auf  diesen  Algorithmus,  der  unter  dem  Namen  Algorithmus  de- 
monstratus  ohne  Bezeichnung  eines  Verfassers  1533  gedruckt  worden 
ist,  erst  im  IL  Bande  und  zwar  im  43.  Kapitel  eingehen. 

Auch  Rudolf  von  Brügge,  der  im  Jahre  1144  das  Plani- 
sphärium  des  Ptolemäus  nebst  den  Erläuterungen  eines  gewissen 
Maslama  al  Madjriti  dazu  bearbeitete'),  gehört  unter  die  Übersetzer 
des  XII.  S. 

Den  Algorithmus  des  Johannes  tou  Sevilla  müssen  wir 
wiederhoU  an  dieser  Stelle  in  Erinnerung  bringen,  um  nochmals 
einige  Einzelheiten  zu  betonen,  die,  wenn  auch  nicht  so  wesentlich 
wie  das  Vorkommen  des  Wortes  Algorithmus,  der  Null')  und  da- 
gegen das  NichtTorkommen  eines  Abacus,  doch  als  kennzeichnend 
genug  sich  erweisen,  um  sofort  die  Verschiedenheit  der  Quellen  für 
Abacisten  und  Algorithmiker  hervortreten  zu  lassen.  Der  Algorith- 
miker nennt  die  Inder,  der  Abacist  nicht.  Der  Algorithmiker  schildert 
Verdoppelung  und  Zweiteilung  als  besondere  Rechnungsverfahren, 
bevor  er  zur  Multiplikation  und  Division  übergeht,  der  Abacist  nicht. 
Der  Algorithmiker  lehrt  Wurzelausziehungen,  der  Abacist  nicht.  Der 
Algorithmiker  benutzt  Sexagesimalbrüche  nach  indischem,  der  Abacist 
Duodezimalbrüche  nach  römischem  Vorbilde.  Allen  diesen  Ver- 
schiedenheiten gegenüber,  zu  welchen  wir  noch  beifügen  können,  daß 
die  Zahlwörter  igin  usw.,  welche  bei  Abacisten  vorkommen,  bei 
Algorithmikem,  so  viel  wir  wissen,  nie  gefunden  worden  sind,  ist 
es  nur  die  Übersetzung  von  Einer  und  Zehner  durch  digitus  und 
articulus,  welche  Algorithmikem  und  Abacisten  gemeinsam  ist.  Aber 
wir  wiederholen  hier,  was  wir  früher  gesagt  haben  (S.  802),  der 
Algorithmiker  bediente  sich  dieser  Wörter,  weil  nur  sie  in  seiner 
Zeit  landläufige  waren.  Er  dachte  dabei  so  wenig  an  Übernahme 
von  Ausdrücken  aus  einem  ganz  anderen  Gedanken-  und  Bildungs- 
kreise, wie  da  wo  er  irgend  eines  Zahlwortes  sich  bediente.  Ihm 
hieß  digitus  Einer,  (Mrticulus  Zehner  genau  mit  der  gleichen  Unbe- 
fangenheit wie  Septem  sieben,  viginti  zwanzig.     Es  gab  ihm  in  latei- 


*)  Björnbo  in  den  Abhandlangen  zur  Geschichte  der  Mathematik  XIV, 
149—160  (1902).  P.  Duhem  in  der  Bibliotheca  Mathematica  3.  Folge  VI,  9—16 
(1905).  *)  Chasles,  Apergu  hist.  pag.  511,  deutsch  S.  696,  hat  den  Namen  un- 
richtig Molseni.  Der  richtige  Namen  wurde  von  Steinschneider  angegeben. 
Bibliotheca  Mathematica  3.  Folge  in,  76  (1902).  *)  Wie  langsam  übrigens  die 
Null  sich  einbürgerte  vgl.  Wattenbach,  Anleitung  zur  lateinischen  Palaeo- 
graphie.    4.  Auflage.     Leipzig  1886.     S.  104. 


910  40.  Kapitel. 

nischer  Sprache  keine  anderen  Wörter  für  diese  BegriflFe  als  die  ge- 
nannten^  und  er  fühlte  sich  weder  verpflichtet,  noch  berechtigt,  neue 
Wörter  einzuführen,  wo  es  nur  um  alte  Begriffe  sich  handelte.  Der 
Algorithmiker  steUt,  das  bleibt  unter  allen  Umständen  wahr,  eine 
spätere  Entwicklung  dar  als  der  Abacist,  und  hat,  wenn  Ähnlich- 
keiten auch  anderer  Art  auftreten,  sicherlich  aus  seinen  abendländi- 
schen Vorgängern  geschöpft. 

Ein  Beispiel  solcher  Art  scheint  ein  Algorithmus  zu  gewähren^ 
der  einer  nicht  später  als  1200  geschriebenen  früheren  Salemer,  jetzt 
Heidelberger  Handschrift  entstammt*).  Er  enthält  die  sämtlichen 
wesentlichen  Merkmale  der  Algorithmiker,  aber  darüber  hinaus  die 
komplementäre  Multiplikation*)  fast  in  derselben  Form,  wie 
wir  sie  früher  (S.  528)  hauptsächlich  der  Ähnlichkeit  des  Gedankens 
mit  der  komplementären  Division  wegen  als  römischen  Ursprunges 
vermutet  haben.  „Ziehe,  so  schreibt  der  Verfasser  vor,  die  Differenz 
des  einen  Faktors  von  dem  anderen  Faktor  ab,  der  Rest  gibt  die 
Zehner,  dann  multipliziere  die  Differenzen  beider  Faktoren  mitein- 
ander, und  Du  hast  die  Summe  der  ganzen  Zahl."  Wir  haben  frei- 
lich diese  komplementäre  Multiplikation,  die  der  Formel 
a  .  6  -  10(a  -  (10  -  &))  +  (10  -  a)  •  (10  -  6) 
gehorcht,  bei  keinem  älteren  Schriftsteller,  weder  bei  irgend  einem 
Abacisten  noch  bei  einem  Araber  gefunden,  nur  Ocreatus'  Regel  des 
Nikomachus  ist  ihr  einigermaßen  verwandt,  aber  um  so  gewisser 
scheint  es  uns,  daß  nur  ein  römisch  gebildeter  Rechner  sich  ihrer 
bedienen  konnte.  Darin  beirrt  uns  auch  der  Umstand  nicht,  daß 
die  komplementäre  Division  bei  unserem  Verfasser  nicht  Eingang 
gefunden  hat.  Wohl  fand  solchen,  wie  schon  (S.  902)  angekündigt, 
ein  Rechenbeispiel  Qerlands.  Qerland  stellt  die  Aufgabe:  unter  elf 
Krämer  die  Summe  von  100  Mark  zu  verteilen*)  und  findet  als 
Quotient  9  nebst  Bruchteilen,  die  in  den  bekannten  duodezimaleu 
Untereinheiten  ausgesprochen  werden.  Unser  Algorithmiker  hat  die 
Division  von  100  Librae  durch  11  vollzogen  und  jeder  Teilhaber 
ist  ihm  ein  Krämer,  institor^).  Die  eine  bei  der  Division  übrig 
bleibende  libra  verwandelt  er  nun  freilich  nicht  in  Zwölftel,  sondern 
er  setzt  sie  gleich  40  fiolidi.  Der  weitere  Rest  von  7  solidi  wird  in 
nummi  verwandelt,  deren  12  einen  solidua  ausmachen.  Wieder  bleiben 
bei  der  Division  7  nummi  übrig,  und  für  diese  solle  man  Eier  kaufen, 
deren  die  Krämer  bei  der  Mahlzeit  sich  erfreuen  werden.     Für  jeden 


')  Abgedruckt  in  der  Zeitßclir.  Math.  Phya.  X,  1  —  16.  *)  Ebenda  S.  5. 
*)  ßullettino  Boncampagni  X,  604:  Sint  XI  institorcs  et  dividantür  inter  eo8  C 
marcae.        *)  Zeitachr.  Math.  Phya    X,  7:  Exemplum  librarum  G. 


Abacisten  und  Algoiithmiker.  911 

nummus  erhält  man  13  Eier,  im  ganzen  also  91,  und  teilt  man 
auch  diese  wieder  durch  11,  so  bleibt  abermals  ein  Rest  von  3  Eiern. 
Die  soll  man  dem  zum  Lohne  geben,  der  die  Teilung  vollzogen  hat, 
oder  sie  gegen  Salz  umtauschen,  welches  vermutlich  zu  den  Eiern 
gegessen  werden  soll. 

Andere  Algorithmiker  aus  der  Zeit,  welche  wir  hier  besprechen, 
also  bis  etwa  zum  Jahre  1200,  sind  gewiß  noch  mannigfach  in  hand- 
schriftlichen Texten  vorhanden,  aber  im  Drucke  nicht  veröffentlicht 
worden.  Spätere  Schriften  der  gleichen  Natur  müssen  wir  zur  Be- 
handlimg  uns  aufbewahren,  wenn  wir  das  XTTT.  S.  zu  schildern  haben 
werden,  und  mit  noch  späteren  Perioden  fällt  erst  die  Erinnerung 
an  den  Ursprung  des  Abacus  zusammen,  die  z.  B.  in  Bildwerken  aus 
dem  Jahre  1500  etwa  nachzuweisen  wäre. 

Wir  schließen  hier  unsere  Darstellung  zunächst  ab.  Das  Jahr 
1200  ist  f[lr  die  Geschichte  der  europäischen  Mathematik  ein  allzu- 
wichtiges, um  nicht  durch  das  Ende  eines  Bandes  ihm  auch  äußer- 
lich die  Bedeutung  beizulegen,  welche  es  verdient.  Mit  dem  Jahre 
1200  ist  das  christliche  Abendland  im  Besitze  der  Rechenkunst  aus 
den  verschiedensten  Quellen,  im  Besitze  der  Null  und  des  durch  sie 
ermöglichten  vollen  Stellenwertes  der  Ziffern.  Die  Algebra  als  Lehre 
von  den  Gleichungen  ersten  und  zweiten  Grades  ist  durch  Gerhard 
von  Cremona  zugänglich  geworden.  Die  Geometrie  des  Euklid,  die 
Astronomie  des  Ptolemäus,  Schriften  des  Theodosius,  des  Menelaus 
sind  in  lateinischen  Übersetzungen  vorhanden.  Das  Bewußtsein,  wo 
weitere  griechische  Schriften  erhaltbar  sein  müssen,  die  zum  voraus 
begründete  Wertschätzung  derselben  macht  sich  mehr  und  mehr 
geltend.  In  diesem  Augenblicke  auftretende  mathematische  Geister 
trafen  in  eine  glückliche  Zeit.  Zum  ersten  Male  war  ihnen  wieder 
genügender  Stoff  gegeben,  mit  welchem  ihre  Erfindungsgabe  sich  be- 
schäftigen, von  welchem  aus  sie  wesentliche  Fortschritte  machen 
konnten.  Und  wie  das  im  Winde  fliegende  Samenkorn  meistens  ein 
Fleckchen  Erde  findet,  in  welchem  es  sich  entwickelt,  so  hat  die 
Schöpfungskraft  dafür  gesorgt,  daß  kaum  jemals  Gedanken  zugrunde 
gehen,  die  dem  geistigen  Luftzuge  einmal  angehören.  Es  finden  sich 
zur  rechten  Zeit  die  rechten  Männer.  Zwei  Namen  seien  hier  an- 
kündigend genannt,  welche  die  Träger  der  neu  sich  entfaltenden 
Wissenschaft  für  uns  werden:  Leonardo  der  Pisaner  und  Jor- 
danus  Nemorarius. 


Ergänzungen  und  Verbesserungen. 

Zu  S.  163 — 164.  Herr  Junge  macht  uns  brieflich*  darauf  aufmerk- 
sam, daß  die  (S.  164,  Anmerkung  l)  angegebenen  beiden  Erklärungs- 
yersuche  von  Martin  und  Hultsch  wesentlich  voneinander  abweichen. 
Ersterer  habe  die  Timäusstelle  erklärt  durch  die  Proportion:  Feuer  zu 
Luft  wie  Wasser  zu  Erde;  letzterer  dagegen  habe  zwei  aufeinanderfolgende 
stetige  Verhältnisse  angenommen:  Feuer  zu  Luft  wie  Luft  zu  Wasser 
wie  Wasser  zu  Erde,  und  in  der  Tat  schließe  diese  Übersetzung  sich  dem 
Texte  des  Timäus  besser  an.  Für  die  auf  S.  164  gegebene  Auseinander- 
setzung der  Begriffe  von  Flächen-  und  Körperzahlen  ist  es  allerdings  ziem- 
lich gleichgültig,  welcher  Verdeutschung  man  den  Vorzug  gibt. 

Zu  S.  502.  Herr  Eneström  (Bibliotheca  Mathematica,  3.  Folge 
VII,  203)  rückt  gestützt  auf  Untersuchungen  von  Tannery  und  von  Hei- 
berg die  Lebenszeit  des  Eutokius  um  etwa  50  Jahre  hinauf.  Dieser 
sei  etwa  480  geboren  und  nicht  Schüler  des  Isidorus,  sondern  des  Am- 
monius  (S.  500)  gewesen. 

Zu  S.  717.  Herr  Eneström  (Bibliotheca  Mathematica,  3.  Folge 
Vn,  204—205)  hält  die  Musterrechnung  von  46468  :  324  für  unrichtig 
und  schlägt  eine  andere  Anordnung  derselben  vor.  Das  Original  enthält 
keinerlei  Musterrechnung,  eine  solche  war  vielmehr  nach  dem  beigegebenen 
Texte  herzustellen,  und  da  scheint  in  der  Tat  die  Eneströmsche  Anordnung 
Vorzüge  vor  der  früher  angenommenen  zu  besitzen. 

S.  760—762.  Herr  Suter  hat  von  dem  Leidener  Ms.  556  (Warn.), 
in  welchem  Al-Nasawis  Befriedigender  Traktat  fol.  68^ — 79^  sich  be- 
findet, Einsicht  genommen  und  hat  darüber  (Bibliotheca  Mathematica, 
3.  Folge  VII,  113  — 119)  berichtet.  Wir  entnehmen  seinem  Berichte 
folgende  wichtige,  vorher  nicht  bekannte  Tatsachen.  Al-Nasawi  lehrt  die 
Division  von  Brüchen  dadurch  zu  vollziehen,  daß  er  Divisor  und  Dividend 
gleichnamig  macht.     Er  sagt  also  dem  Sinne  nach 

a  ^  c        ad  ^  he ad 

'h'~d^  hd'hd~hc' 

Er   gibt   aber   auch   die   Regel   von    der  Multiplikation  mit   umgekehrtem 
Divisor  oder 

ck  ^   c  a      d  ad 

h  '  d         h      c        bc 


Ergänzungen  und  VerbesBerangen.  913 

Die  Quadratwurzelausziehung  wird  zuerst  in  allgemeinen  wenig  deut- 
lichen oder  nur  lückenhaft  erhaltenen  Vorschriften  gelehrt,  dann  an  dem 
Beispiele:  Quadratwurzel  aus  57  342  erlftutert.  Das  Verfahren  ist  geradezu 
modern.  Die  Zahl  wird  von  der  Bechten  beginnend  in  zweistellige 
Oruppen  zerlegt  und  2'  ^^  4  als  der  5  nächstliegende  Quadratzahl  erkannt. 
Diese  4  zieht  Al-Nasawi  von  der  5  ab  und  dividiert  mit  dem  Doppelten 
von  2  oder  mit  4  in  17.  Der  Quotient  ist  3,  worauf  3  mal  43  oder  129 
von  173  abgezogen  den  Best  44  läßt.  Durch  2  X  23  =»  46  wird  nun 
in  444  dividiert,  wodurch  9  als  Quotient  erscheint.  Dann  ist  9  mal  469 
oder  4221  von  4442  abzuziehen  und  läßt  221   als  Rest.     Das  um  1  ver- 

221 
mehrte  Doppelte  von  234  ist  aber  469,  also  j^  noch  zu  239  als  Quadrat- 
wurzel hinzuzufügen.  Man  erkennt  in  dieser  Auseinandersetzung  die 
Formel  (a  -f  6)*  =«  a*  +  (2  a  -f  6)6  und  den  für  die  bruchweise  Annähe- 
rung gebrauchten  Wert  }/X*  ^"*''^^"^"2>44-i'  ^^®  Kubikwurzelaus- 
ziehung schließt  sich  an  und  wird  an  dem  Beispiele  der  Kubikwurzel  aus 
3652  296  erläutert.  Wir  gehen  hier  rascher  Über  unsere  Vorlage  hinweg 
und  bemerken  nur,  daß  sie  den  Gebrauch  der  Formel  (a  +  6)*  =  a* 
-h  [3a^-f  (3  a  +  6)6j6  zu  erkennen  gestattet.  Was  aber  die  weitergehende 
bmch weise  Annäherung  betrifft,   so   vermutet  zwar   unser  Berichterstatter, 

sie  habe  sich  nach  der  Formel  yÄ^  +  r  ~  -4  +  ^ki~A7vrA~4^i  ?®^^^^^ 
kann  jedoch  diese  Vermutung  nicht  durch  den  erhaltenen  Text  bestätigen. 
Dagegen  kommt  in  dem  4.  dem  Rechnen  mit  Sexagesimalbrüchen  gewid- 
meten Buche  deutlich  zu  erkennen,  daß  Al-Nasawi  gleich  dem  von 
Johannes  von  Sevilla  (S.  801)  übersetzten  Schriftsteller  den  Gebrauch 
von  Dezimalbrüchen  bei   der  Ausziehung  von   Quadratwurzeln  liebte.     Er 

setzt  z.  B.  yT7Ö  =  jj-  1/170000»  =  ^J^  •  412«  =  4»  7'  12". 

Zu  S.  805.  Wir  haben  leider  versäumt  in  unserem  Handexemplare 
seinerzeit  anzumerken,  daß  die  von  Ihn  Chaldün  erwähnte  Vorlage  des 
Ibn  Albannä  inzwischen  näher  bekannt  geworden  ist.  Wir  sehen  uns 
dadurch  genötigt,  noch  nachträglich  auf  Herrn  Suters  ausführlichen  Auf- 
satz „Dos  Rechenbuch  des  Abu  Zakarfjä  el  Haasar^*'  (Bibliotheca  Mathe- 
matica,  3.  Folge  11,  12 — 40)  hinzuweisen,  welcher  in  unseren  Text  hätte 
hineingearbeitet  werden  sollen.  Diese  Vorlage  scheint  dem  Xu.  S.  anzu- 
gehören. 


Gahtor,  Geschichte  der  Mathematik  I.  3.  Aufl.  58 


.Register. 


Äastichet  67. 

Äbacist  511.    849.    878.    879—902.    906. 

909.  910.  911. 
Abacista  514.  849.  896.  897. 
Ahacizare  897. 
Ahacus  41—42.   88—90.   130—134.  320. 

440.  629—531.  667.  588.  584.  586.  689. 

591.  592.  609.  670—671.  718.  785.  806. 

807.    817.    823.    839.    841.    846.     848. 

850—853.  867.  868.  869.  878.  879.  880. 

881.  882.  885.  886.  889.  890.  891.  892. 

898.  896.  897.  898.  899.  900.  902.  903. 

906.  909. 
AhacM  in  Graeco  320. 
Ab(iki*c  (für  eine  Persönlichkeit  gehalten) 

714. 
Abax  130—131. 

Äbhasiden  696.  697.  706.  741.  787. 
Abbo  van  Fleury  846—847. 
'Abd  Almelik  464.  696. 
'Abd  Arrahmdn  707.  792. 
'Abd  Arrahmdn  III  792,  793. 
Abdera  191. 
Abelard  890. 

Abmessung,  größere,  durch  ein  Kunst- 
wort  bezeichnet   98.    894.    422.    727. 

893. 
Abraham  bar  Chijja  ha  Nasi  s.  Abra- 
ham Savasorda. 
Abraham  der  Patriarch  32.  33.  44.  86. 
Abraham  Savasorda  797—800.  907. 
Abschnitt  389. 
Absonderung  387. 
Abu  Dschd*  far  Alchdzin  774. 
Abudsched  708. 
Abu  Qdlib  762.  763. 
Abu  Hanifa  761. 
Abu  Hasan  702. 

Abu  Jaküb  Ishäk  ibn  Hunein  703. 
Abun  'Abbds  696. 
Abü'l  'Abbds  ladt  ibn  Hdtim  701. 
Abul  Hschiid  759— 760.  774.  783.  787. 
Abulpharagius  260.   464.  608.  504.  701. 

730.  742. 
Abü'l  Wafä    704.    742—748.    754.    763. 

787.  788.  795. 


Abu  Müsd  Dschdbir  722. 

Abu  NafT  748. 

Abu  Sohl  ben  Tamim  603. 

Abu  Schudschd  'Büjeh  741. 

Abu  Zakarijd  el  Ha^^ar  918. 

Äbzügliche  Zahlen  471. 

Achmim  s.  Rechenbuch  von  Achmim, 

Achteck  877.  400.  401.  660.  686.  864. 

Achterprobe  808. 

AQoka  596.  603. 

Addla  =»  Gleichsein  816. 

Adalbero  von   Rheims    853.    864.    866. 

856.  898. 
Adalbero  von  Trier  898. 
Adam  222. 

Addition,  Alter  derselben  8. 
Additionsverfahren  671.  716.  811. 
Adelbold  von  Utrecht  869.  866.  866.  878. 

889. 
Adelheid  854. 
Adelmann  873. 
Adhemar  von  Chabanois  848. 
Adrastus  433. 
'Adud  ed  Daula  742. 
Adulitische  Inschrift  269. 
Aelbehrt  831.  832 
Aeschylus  190. 
Agana  31. 
Agaiharchus  190. 
Agenor  32. 

Agrargesetzgebung  652. 
Agrimensoren  566. 
Agrippa  541. 
Ahas  60 
Ahmed    ibn  'AbdaUd    Habasch   =»   AI 

Hdsib.  ' 
Ahmed  ibn  Jussuf  738. 
Ahmes,  der  König  68. 
Ähmes,    der  Verfasser  eines  mathemati- 
schen Handbuchs  68.   69.   60.   66.  68. 

73.  74.  76.  78.  79.  80.  86.  90.  91.  92. 

94    98.   100.  101.  109.    163.  271.  276. 

312.  394.  896.  425.  466.  480.  604.  615. 

618.  642.  646.  718.  876. 
AiguiUon  423. 
Akademie  212.  213.  215.  219.   284.   251. 

327.  428. 


Register. 


915 


Akropolis  228. 

AI  'AJbdeH  807. 

Alahdah  805. 

AI  'Antdki  761. 

AI  'Asiz  788. 

AI  Ba^a  696.  697.  738.  789. 

Albategnius  »  AJ  Battdni  736. 

AI  Battdni  786—738.  741.  747.  787.  796. 

Albinus  ^  Alcuin  881.  874. 

AI  Biruni  697.  624.  701.  710.  716.  767 

—709.  787. 
Albucasia  908. 
AI  Büni  741. 
AI  Busti  768. 

AI  Buzdschdni  «  ^Wi  Wafd  742. 
Alchaijdmi  s.  ^Otnar  Alchaijämi, 
Alc?Maristnu8  715. 
Alchodiarithmue  715. 
.41  Chodschandi  748.  762.  768.  787. 
J.{  Chtcarizmi  s.  Muhammed  ibn  Müsd 

al  Chicarizmi. 
Alcuin  831—841.  842.  871.  874. 
^/  dschebr  716.  719.  722.  769. 
Aleni  667. 
vlfe-xandw  8.  Ptolenmeus  XL 

—  Aphrodisiacus  202.  204.  408. 

—  der  GVo)8€  83.  88.  151.  246.  251.  252. 
258. 

—  Polyhistor  644. 

—  Severus  488.  562. 

^teandrta  110.  117.  119.  258—259.  296. 

827.  834.  361.  862.  364.  866.  381.  409. 

427.  428.  465—466.  491.  496.  500.  508. 

592.  600.  605.  676. 
Akxandrifiüche   Bibliotheken   259.    827. 

829.  427.  496.  508—504. 
Alexandrinische  Literaturperiode  259. 425. 
AI  fard  id  7-9. 
AI  Fazdri  697    698. 
Algebra  716.  719.  721.  794.  803. 
Algebraische  Auffassung  bei  den  Griechen 

168-169.  404.  406.  465.  466.  474.  485. 
Algebrista  722. 
Algoritmi  714. 

Algorithmiker  511.  878.  902—911. 
Algorithmus,      Ableitungsversuchc      des 

Wortes  714—716.  721. 
^  demonstratus  909. 

—  linealis  568. 

AI  Hakam  II  792.  793. 

AI  Hakim  788.  792. 

AI  Harrdni  =  Tdbit  ibn  Kurrah. 

AI  Hasan  ibn  as  Sabbd  775. 

AI  tidsib  701. 

Alh-win  =  Alcuin  831. 

Alhazen  =  Ibn  AJhaitam  789. 

Alhidada  862. 

Alischbili  794. 

AI  kdfi  fil  hisdb  708.  718.  762—767.  906. 

Alk'aim  774. 

AUcalasddi  810—816. 

Alkalsdwi  810. 

AUcalwaddni  761. 


Alkarchi  708.  760.  787.  798.  808.  906. 

AI  Karmdfd  738.  798. 

Alkauresmus  715. 

AI  Kindi  718.  761.  762—773. 

AJkinous  177. 

AI  Küht  742.  748—750.  769.  787. 

AüioU  49. 

Allman    107.    186.    141.    142.   144.   152. 

169.  185.  192.  590. 
AI  MadschHti  785.  788.  798. 
Almagest  89.   277.    318.    833.    412.   415 

—422.    438.   442.   447.   508.   599.  602. 

659.  702.  705.  742.  907.  908.  911. 
AJ  Mdhdni  774. 
AI  Mahdi  696.  707. 
AI  Mamün  694.  696.  698.  700.  702.  711. 

713.  730.  788.  788.  761. 
AI  Man^ür  696.  697.  698.  700. 
AI  Melik  ar  Bahtm  774. 
Almucabala  808.' 
AI  Mukdbala  716.  719.  722.  769. 
Almukaddasi  738. 
AI  Muktadir  695. 
AI  Musta'  ^m  llS. 
AI  Mu'tadid  704.  734.  736. 
AI  Mu'ta^im  761. 
AI  Nairizi  386.  387.  701.  786. 
AI  Nasawi  760—762.  765.  912—918. 
&Xoyov  182.  192.  269.  764. 
Alp  Arslan  774. 
Alphabetische  Reihenfolge  121—122.  605. 

708. 
AI  Sindschdri  =  As  Sidschzt  750. 
Altai  19 

AI  Tust  =  Nasir  Eddin  779. 
Amardja  600. 
Amasis  138. 
Amelius  880 
Amenenihat  I  106.  109.  885. 

—  III  57    59.  74    106.  109. 
Aniefiatus  146.' 
Amethistus  146. 
Ammonius  Sakkos  457.  500. 

—  von  Alexandria  500.  501.  575.  912. 
'Amr  ibn  '  Ubaid  697. 

Amthor  312. 

Amyklas  von  HeraJdea  243. 

Analemma  423    443.  660. 

Analogie  165.  238—289. 

^naZy«ifi  220—221.   230.   285.   241.  247. 

&va(poQi,%6g  des  Hypsikles  360 — 361. 

Anatolius  458.  464.  842. 

Awixagoras  von  Klazomenae  188  —190. 

194.  197.  202.  212.  271. 
Anaximander  von  Müet  50.  145 — 146. 
Anaximenes  60.  146.  189. 
Andras  898  flgg. 
Andronikos  II  Palaealogos  508.  510. 

—  III  510. 

Anfangsbuchstaben  als  Bezeichnung  die- 
nend   120.    205.    470.    471.   472.    524. 
604.  614.  620.  621.  709.  804.  814.  815. 
58* 


916 


Register. 


Angelsachsen  10. 

Anharmonisches  Verhältnis  414.  452. 
Annales  Stadenses  839. 
Anonymus  von  Byzanz  s.  Feldmesser  von 
Byzanz. 

—  vwi  Chartres  590    889.  894 

—  von  Melk  844. 

Anselm  der  Peripatetiker  908.  904. 

—  von  Laon  890. 

Ansse  de  ViUoUon  166.  188.  202.  459. 
Anthemius  von  Trolle  501.  502. 
Anthologie  461—462.  610. 
Antiphon  der  Historiker  160. 

—  der  Mathematiker  202—208.  204.  271. 
301.  303. 

AntotvinuH  415.  428.  562.  563. 
AfUoniits  427.  596. 

—  Diogenes  154. 
&6qicxov  1ö8.  470. 

Apagogischer  Beweis  182.  221—222.  247. 

268.  301.  305.  340. 
Äpastamba  636.  637.  639.  641   643.  644. 
Apepa  58. 
Apices  584.  585.  591.  604.  606.  609.  711. 

823.  839.  840.  841.  868.  879.  885.  898. 

900.  901.  902.  904. 

—  mit  Stelltmgswert  ohne  NtUl  901. 
ApoUodor  186. 

ApoUodorus  der  Rechenmeister  154.   180. 

320 
Apollodotus  180. 
ApoUonius  Epsilon  330.  333. 

—  von  Pergae  196.  227.  244.  245.  291. 
883.  384.  349.  350.  380.  426.  448.  454. 
502.  670.  704.  706    764. 

—  von  Pergaes  Kegelschnitte  196.  244. 
245.  288.  304.  334—343.  358.  444. 
448.  452.  489.  496.  502.  554.  704.  749. 
751. 

—  von  Pergaes  kleinere  Schriften  343 
—349.  859.  360.  364.  380.  445.  448. 
452.  453.  454.  455.  585.  790. 

—  von  Tyana  154. 
Apophis  58. 
Aporie  255. 
&noz9^v6{i*vai,  337. 

Apotome  (Bedeutung  als  Irrationalzahl) 

270.  348. 
icnoToiii^  (geometrische  Strecke)  389.  555. 
Appuleius  von  Madaura  428.  429.  563 

—564.  567.  570.  824.  907. 
Araber    173.    296.    307.    860.    377.    386. 

387.  414.  415.  433.  464.  503—504.  616. 

592.  597.  602.  607.  666.  668.  684.  686. 

693—817.    821.    822.    848.    849.    851. 

856.  857.  878.  885.  887.  888.  889.  893. 

896.  904.  905.  906.  907.  908.  909.  910. 
Arabische      Übersetzungen     griechischer 

Werke  287.  294.   298.   341.   344.  865. 

412.    414.    696.    702  —  706.    761.   780. 

787. 
Aratus  362.  409. 


Arbas  893  flgg 

agßriloe  298. 

Arcerius  551. 

ägxcci  320. 

Archimedes  von  Syrakus  195.  211.   260 

261.    266.    295—826.    334.    841.     846. 

349.  350.  356.  364.  367.  378.  379.  380. 

381.  387.  405.  418.  426.  465.  493.  496. 

502.  521    545.  570.  575.  667.  704.  705. 

764.  862 

—  Kreisrechnung  297.  300—303.  316 
—818.  350.  358.  372—374.  474.  646 
648.  654.  659.  767.  790.  799.  875. 
886. 

—  Kronenrechnmig  310—312.  325—326 
345.  462.  544. 

—  Kugel  und  Zylinder  226.  241.  261. 
266.  297.  308  —  309.  314.  380.  354. 
412.  708.  749.  774. 

—  Quadratur  der  Parabel  241.  297.  304 
—305    323—324.  379. 

—  Rinderproblem  312—818.  462. 

—  Sandeszahl  321—323.  612—613.  758. 

—  Schneckenlinien  195.  297.  306—807 
318—314.  558.  768. 

—  Siebeneck  807.  877. 

—  Wahlsätze  297.  298—300.  .S53.  414. 
Archimenides  =>  Archimed  705.  706. 
Architas  Latinus  224.  586.  589.  590. 
Archytas  von  Tarent  165.  166.  212.  216. 

226.    227—229.    280.     283.    235—236. 

239.  243.  254.  294.  330.  451.  689.  590. 
Arcufication  658. 
Arcus  898.   900. 
Ardhajid  658.  787. 
Arenarius  321. 
Argyrus  s.  Isaak  Argyrus. 
Arier  595. 
Aristaeus  der  Ältere  245.  249.  885.  448. 

—  der  Jüngere  246. 

Aristarchus  von  Samos  321.   419.    447. 

704. 
Aristonophos  Vase  178. 
Aristopfianes  180.  178.  514. 
Aristoteles  38.   117.  118.   188.   183.  198. 

208.    219.    251—257.    259.    381.    845. 

381.  422.  428.  455.  497.  501.  546.  574. 

575.  701.  797.  8»2.  888.  889.  908.  904. 

—  Analyt.  post.  252.  271.  272. 

—  Analyt.  prot.  182. 

—  Ethic.  201. 

—  KaUgor,  162.  575.  862.  878.  876.  877. 

—  Mechan.  Quaest.  254—256. 

—  Metaphys.  86.  102.  154.  158.  160. 
168.  169.  174.  215.  258. 

—  Physica  161.  162.  203.  204.  258.  409. 
455.  504. 

—  Problem.  247.  253. 

—  Sophist.  198. 

Aristoxenus  von    Tarent  158.   157.  257. 

544. 
Ariihmetica  (Göttin)  627.  567. 
Arithmetik  =  ZaMentheorie  156.  225. 252. 


Regiiter. 


917 


Arithmetik  des  Boethius  670.  676.  676. 

677.  678.  679.  680.  683.  687.  724.  799. 

842.  860.  866.  866.  862. 
&Qt&lirj;vi%d  des  Diophant  466. 
Arithmetica  speciosa  »  Buehstahenredi' 

nung  478. 
Arithmetik  (praktische  der  Araber)  704. 

716.  729—730. 

—  (spekulative   der  Araber)    704.  716. 
756. 

Arithmetisches  Dreieck  687. 

&(fid^lt4>l  axTlH€ctoyQa(p^ivtBs  431.  679. 

ägt^lUs  ^  unbekannte  Zahl   470.    620. 

723. 
Arjuna  612. 
Arkadius  496. 
Arneth  263.  291.  660.  657. 
aQxidtov  386. 

Arsamites  ==  Archimed  706. 
Arsanides  =  Archimed  705. 
Arsinoe  327. 
Artabasdes  513.  614. 
Artes  liberales  643.   669.   578.  823.  841. 
Artictdi   683    802.    804.    840.    841.   846. 

862.  863.  881     900.  909. 
ägtioi  169. 
Äryabhatta  598.  600.  601.  602.  606.  606. 

616.    617.    618—621.    623—624.    626. 

628.    630.    635.    645.    646.    649.     664. 

667.  786. 
Äryabhdttiyam  698.  605. 
As,  eine  Gewichtseinheit  626.  830. 
Aschbach  792. 

Asklepius  von  Trolles  215.  603. 
Aa  763. 

Ass  =  Stellenzeiger  812.  816. 
A?  Sdgdni  742.  760. 
Assassini  775. 
Asses  67. 

-45  Sidschzi  733.  735.  750—751    787. 
As§ifr  711.  897. 
Assurbaniptd  122. 
Assyrer,  Erfinder  des  Abacus  892.  893. 

894. 
Ast  429.  459. 

Astrolabien  760.  786.  862.  886. 
Astrologische  Aphorismen  Almamurs  907. 
Astronomie,  Erfindung  derselben  32 — 33. 

38.  86.  103. 

—  des  Boethius  676—676.  677.  682.  687. 
850.  854. 

Astronomische  Brüche  366. 

Asura  Maya  699.  600. 

Asychis  57. 

&aviLnsT(fov  269. 

Asymptoten  192.  230.  292.  310.  337.  338. 

351. 
AUtbeddin  =  Gydt  eddin  Alküschi  782. 
Atelhart  von  Bath  718.  891.  906. 

—  von  Bayeux  906 
Athbasch  122. 


Athen  tl9.  178—179.  188—189.201.213. 

238.  259.  366.  496.  667.  697.  702. 
Athenaeus  von  Kyzikus  247. 
Athefiaeus  326. 
AtHius  Fortunatianus  297. 
Atomistiker  174.  176.  198. 
Attalus  840.  841.  427. 
Attila  822. 

Aufgabe  des  Pappus  462. 
Aufsteigende  Kettenbräi^  71.  478.  818. 
Augur  686.  638. 
Augustinus  741.  831.  832. 
Augustus  467.  641.  643.  663.  696. 
Aurülac  843.  847.  866.  867. 
Ausmessung  der  Jueharte  691. 
Autolykus  293.  360.  447.  704. 
&vThg  f<pa  162. 
Avieenna  730.  766— 7&7.  w>8. 
^ttico/l  763. 
Axiome  222. 
Ayrardus  870. 
Azteken  9. 
Ägi/pter  20.    32.   33.   47.    .'>5--113.    120. 

121.    136.    139—140.     146.    169.    163. 

166    170.   178.  184.  186.  206.  216.  216. 

269.  271.  276.  310.  319.  328.  329.  381. 

394.  404.  407.  426.  465.  464.  604.  622. 

604.  616.  620.  635.  637.  643.  647.  661. 

717.  718.  723.  727.  728.  756.  788—792. 
.818.  876.  893. 
Ägyptischer  Aufenthalt  des  Anaxagoras 

189.    190,    des  JOemokritus   160.    191. 

192,  des  Eudoxus  150.  216.  238,  des 

Piaton  160.  215,  des  Pythagoras  148 

—151.  189.  644,  des  ThaUs  136.  138 

—141.  189. 
Ähnliche  Winkel  138.  140. 
—  Zahlen  185.  224.  267.  270. 
Ähnlidikeit  97.  99—101.  113.  214. 
Ähnlichkeitspunkte  462. 
Ärzteschulen  der  Nestorianer  696.  701. 
Äthiopen  12.  65. 


Babylonier  10.  11.  19—51.  120.  132. 133. 

146.  151.  169.  167.  178.  181.  186.  238. 

361.  404.  416.  432.  459.  526.  600.  603. 

608.  609.  613.  616.  634.  643.  646.  666. 

668.  676.  689.  697. 
Babylofiischer  Aufenthalt  des  Pythagoras 

151—152.  186.  238. 
Sachet  de  Meziriac  466.  472. 
Badie  =  Kubiktcurzel  (sumeriBch)  27. 
Baehr  640. 
Bagdad  697.  778. 
Baillet  504. 
Bailly  60. 
Baktrien  20. 

Baibus  (Feldmesser)  553.  656.  663.  864. 
—  (Oberwegemeister)  541.  553. 
BaldHch  851. 
Balsam  333. 


918 


Register. 


Baluze  841.  842. 

Banaor  826. 

Barhebraetu  »»  Äbulphanigius  504. 

Barlaam  609—610. 

Barocius  498.  506. 

Biuylides  von  Tyrus  359. 

Baudfidyana  636.  638.  639.  640.  642.  643. 

Baume  843. 

Bayley  (E.  aive)  181.  603. 

Beda  Venerahüia   527.    826—830.    831. 

832.  834.  839.  841.  842.  846.  899. 
Beer  (E.  E,  F.)  128. 
Befreundete  Zahlen  167.   225.  627.  735. 

739.  793.  805. 
Behd  Eddin  718.  784—786.  812. 
Beiger  502. 
Belisar  568. 
Btioo  88. 

Belzoni  108. 

Benary  9. 

Benecke  217. 

Benedict  von  Nursia  568.  569.  826. 

JJ«n/cy  696. 

Berenike  336. 

JJer^«"  328.  362. 

Bergh  487. 

Bemard  344. 

Bemdinus  867.  871.  880—886.  887.  890. 

894.  898.  902. 
Bemhardy  (G.)  327. 
JB«mo  843. 

Bemward  von  HüdesTieim  855. 
Berosus  42.  60.  145. 
5gf<tn  21.  40. 
Bertrand  (Jos,)  669. 
Beruhrungen   des  Apollonius   343.    345. 

448.  462.  453. 
Beschränkung  des  Zdhlenhegriffes  23. 126. 

183.  672. 
Besih&rn  736. 
JJeta  als  Beiname  329. 
JBet^mann  879. 
Bewegungsgeometrie  209.  227.  300.  330. 

346.  363.  370.  734.  761. 
Beweisführung  durch  Anschauung   113. 

140.  143.  656.  680.  744.  746.  754.  763. 
Bezold  (^C;  12.  19.  27.  28.  47. 
Bhaskara  Äcdrya   698.    599.    600.    608. 

616—619.  623.  625.  626.  627.  628.  630. 

631.  632.  633.  639.  653—665.  659—660. 

680.  725.  744.  745. 
Bhatta  Utpala  600. 
Bhaü  Daß  699. 

Biancani  =  Blancanus  252.  263. 
Bianchini  467. 
Biblisclie  Schriften   16.  23.  24.   34.    35. 

44.  48.  49.  60.  56.  122.  126.  824.  835. 
Bienayme  169. 
Bienenzellen  740. 
Biering  211. 
Biematzki  181.  664.  670.  671.  674.  679. 

083    684.  685.  687.  688. 


Bikelas  605. 

BiUeter  (Gustav)  561. 

Binarsystem  10.  676. 

Binomialkoeffizienten  687.  777. 

Binomiah  270.  348. 

Björnbo  {Axel  Anthan)   411.   412.   803. 

908.  909. 
Biot  (Ed.)  664.  665.  666.  673.  674.  677 

688. 

—  (J.)  39 

Birs  Nimrud  38. 
Biscop  827. 
Bissextiles  Jahr  540. 
Bloss  (F.)  194.  211.  216.  219.  295,  408. 
Blume  632.  664. 

Bobhio  675.  826.  863.  854.  861.  866. 
Boeckh  (A.)    128.    161.    166.    176.    184. 
248.  336.  408.  409. 

—  (L.)  285. 

Boeihius  165.   429.   526.   568.   664.  670. 

573-690.  692.  724.  823.  824.  825.  832. 

842.  846.  849.  852.  853.  858.  862.  873. 

875.  877.  886.  896.  899.  900.  908. 
Boethus  409. 
Bogenahschluß  von  Kolumnen  806.  880. 

892.  898.  900. 
Bogetilinien  212.  231.  243. 
Boissier  642. 
Boissonade  (J.  F.)  500. 
Bolaner  10. 
Boll  (Franz)  415. 

Bombelli  (Bocco)  622.  523.  627.  629. 
Bonafilius  856. 
Boncompagni  (Prinz  Baldas)  415.    588. 

711  und  häufiger.  794.  803.  804.  879. 

891.  898.  907.  908. 
Bongo  (Pietro)  4. 
Bonjour  408. 
Bopp  (Karl)  576. 
Borchardt  (Ludwig)  99.  101.  109. 
Bord  von  Barcelona  847.  849, 
Borghorst  (Gerha,rd)  468. 
Bosmans  (Henri)  682.  797. 
Brdhnanas  595.  797. 
Brahmanismus  696. 
Brähma-aphuta'Siddhdnta  698.  699. 
Brahmagupta  598.   600.    608.   616.   619. 

623.  626.  628.  630.  646—653.  699. 
Brandes  408. 
Brandis  (Ch.  A.)  254. 

—  (J.)  30.  42. 

Brandt  (Samuel)  573.  575.  576.  679. 
Braunmühl  (Adalbert  von)  362.  412.  419. 

423.  657.  713.  736.  738.  746.  761.  779. 

783.  796. 
Brennpunkte  339.  344.  452. 
Brennspiegel  326.  344.  354.  502. 
Bretschneider   135.    136.    145.    146.    174. 

178.  179.  185.  191.  194.  196.  197.  201. 

202.  203.  210.  227.  280.  231.  237.  240. 

246.  248.  360.  410. 
Brockhaus  603.  638. 
Brockmann  573. 


Register. 


919 


Bruchrechnungstahdk  586.  689. 
BruchzerleaungstabdU  62—70.  76. 
— ,  Entstenufig  derselben  66—67.  70. 
Bruchbrüche  813. 
Brüche  12.    23.   31.   43.   61.   68.  70.  84. 

86.  128.  166.  187.  395.  467.  626.  626. 

531.  686.  587.  613.  614.  718.  762.  813. 

830.  874.  912. 
— ,  aussprechbare  68.  718.  764. 
Brugsch  73.  74.  82.  98.  100.  104. 
Brunck  461. 

Brunnenaufgaben  391.  462.  619.  837. 
Brysan  v<yn  Berakiaea  203.  204.  271. 
Bubnov (Nicolaus)  846.  847. 859. 862. 869. 
Buchbinder  (Fr.)  282. 
Buchstaben  zur  Bezeichnung  unbekannter 

Größen  206.  253.   347.  456.  470.  620. 

804.  815. 
Buddha  612. 

Buddfiismufi  696.  603.  666.  668. 
Buchet  (C.)  477.  478. 
Büdtnger  848.  850. 
Bürk  (Albert)  636—639.  641. 
Bugia  807—808. 
Bujiden  741.  774. 
Bullialdus  434. 
Bungus  4. 
Bunte  296.  326. 
Buramaner  10. 
Burqess  599. 
Burja  254.  255. 
Burnell  604. 
Busiris  149.  150. 
Busse  (A.)  601. 
Buzengeiger  308. 
Byzanz  119.  201.  392. 


Cabasüas  609. 

CaecUius  Africanus  662. 

Caesar  426.  539—541.  642.  561. 

Calculi  529.  826. 

Calculus  des  Victorius  531.  566.  846. 

Caltis  893  figg. 

Camerer  i85. 

Canacci  (Rafaele)  722. 

Canarische  Inseln  422. 

Cappelle  (J,  P.  »an;  254.  256. 

Caraibische  Sprachen  9. 

Cardo  534.  538. 

(l'arra  de  Vaux  366. 

Co^n  713. 

Cassiodarius    366.    428.    548.    663.    664. 

568—672.    573.    575.    676.    578.    679. 

823.  825.  831.  896. 
Castelli  (Benedetto)  269. 
Caturveda  b.  Frithudaka, 
Caussin  514.  701.  789. 
Cavedoni  537. 
Cean  =  2;eÄn  846. 
Cedrenus  32. 
Celentis  893flgg. 


Celsus,  Ingenieur  663.  665.  668.  564. 

—  Jurist  B.  Juventius  Celsus. 
Census  731.  768.  804. 
Ceylon  603.  604.  606, 

jC«  =  Strick  (ägyptisch)  104. 

Chafra  56. 

Chaignet  148.   150.   159.   161.   162.  166. 

174.  176.  184.  236. 
Chaicis  51. 

Chaldaea  20.  21.  33.  39.  66.  86. 
Chaldäer  =  Sterndeuter  45.  632. 
(Jhalif=  Nachfolger  694. 
Chalkidius  846.  861. 
Chalkus  132.  133.  896. 
Chambers  (J.)  509. 
Chummuragas  31. 
ChumpoUian  82.  83. 
Chang- Dynastie  664. 
Charistion  424.  704. 
C/ia«2e$  (Michel)  278.  284.  288.  336.  348. 

420.  449.  460.  462.  490.  688.  690.  660. 

713.  789.  790.  891.  894.  909. 
Cheoü  ly  669. 
C^ott  stn  664. 
Cherbonneau  807. 
Cheroboskos  122. 
Chinesen  10.  16.  24.  41.  48.  88.  181.  456. 

634.  663—690.  693.  744.  783 
CJliin  tsong  666. 

Chioniades  von  Konstantinopel  509. 
Choiseul'Daillecourt  (de)  906. 
Chosrau  1  Amschnrwdn  603.  697.  702. 
Christ  531.  846.  846. 
Christensen  285. 
Christc^h  Columbus  794. 
(JJironik  von  Verdun  863. 
Chrysippus  256.  362. 
Chrysococces  609. 
Cäm/u  66. 
Cice70  120.  192.  216.  296.  308.  409.  465. 

639.  542.  561.  664.  578. 
Cfssoide  350.  354—856. 
Claudius  467.  696. 
Clausen  208. 
Clavius  181. 

Clemens  Alexandrinus  104.  191. 
CZerva/  872. 
Cod«r  ^rccrtanw«   661—560.    661.    664. 

861.  866.  866. 
Colebrooke  467.  699.  608.  611.  616—619. 

621—633. 636.  646—649.  661. 663—667. 

659.  698. 
Columban  826.  853. 
Cölumella  547—549. 

Commandinus  183.  287.   423.  444.  498. 
Computus  =  Rechnen  824.  834.  867. 

—  paschalis  s.  Osterrechnung. 
Condtoide  195.  196.  350.  446.  688. 
Concüium  von  Nicaea  672. 
CJonfudus  668.  664.  666. 
ConstantinuH  von  Fleury  (oder  von  Mici) 

849.  861.  858.  859.  868.  869—870.  871. 
880. 


920 


Register. 


Canzt  176. 

CoroBpradie  9. 

Carau9tu$  666.  864. 

Cordova  798.  848. 

Consen  624.  626. 

Cosinus  668.  796. 

Cossali  468.  728. 

Orassitudo  866. 

Oi&rtfm  882. 

Qridhara  600.  618.  624.  626. 

Oristini  686. 

CV(!?rkfrt  f  TT.;  888.  368. 

Cruma  687. 

()ü(2ra«  696. 

QulvasAtra  686—646.  766. 

Curtze  (Max)   872.  886   nnd   häufiger. 

468.  676.  648.  734.  786.  780.  798.  799. 

889.  867.  869.  860.  862. 
Cyrülus  496. 

D. 

JJaedala,  die  großen  36. 

Daedalus  151.  168.  862. 

Damen  9.  12. 

Dajacken  12. 

Bamascius  von  Bamcuikus  601.  602.  702. 

Damasias  187. 

Damaskus  464.  696.  697.  701. 

Daraga  181. 

Daten  des  Archimed  807. 

—  des  Euklid  282—286.  448.  489.  600. 

790.  908. 
Decantare  631. 
Dechales  (Miüiet)  146. 
Decimana  quintaria  684. 
Dedmanus  684.  635.  538. 
Decker  186. 
Decussatio  624. 
iad6ntva  282. 
Dw  ^/oī;  287. 
2>e5cc^•e  rTT;  624. 
Definitionen    219.    222.    277     298.    307. 

861.  366.  367.  382.  387.  388.  393.  664. 

666.  570.  660.  661.  727.  764.  766.  860. 

861.  864. 
De  Gelder  434. 
Degree  181. 
Delambre  789.  794. 
Ddisches  Problem  212.  232.  238. 
DelisU  869. 
Delitzsch  25.  31.  36. 
Demaratus  von  Korinih  528. 
Demetrius  von  Alexandria  414. 
Demme  222. 
Demokritus  von  Äbdera  104.  136.   160. 

151.    190.    191—193.    198.    244.    264. 

381.  385. 
Demotische  Schrift  81. 
Dendera  104. 
Descartes  452. 

Determination  s.  Diorismus. 
Detlefsen  178. 


Dezimalsystem,  Ursprung  desselben  7.  8. 

263. 
duelQBöig  287. 

Diameter  =  Diagonale  208.  218.  376. 
Diametralzahlen  486—437.  460.  476.  766. 
Dieb  186.  202. 
Dieterici  178    616.  788.  740. 
Differentia  685.  716.  802. 
Di>7i    9.   688.   802.   804.  842.  852.  853. 

881.  900.  909. 
Digits  583. 

D&aearchus  257.  293.  381 
Dinostratus    196.    197.    248.    246  —  247. 

301.  306. 
Diodor,  Gescfiichtssdtreiber   33.    38.    46. 

66.  67.  108.  151.   190.  191.  296.  326. 
Diodorus,  MaihemeUiker  443. 
Diogenes   Laertius    86.    118.    132.    186. 

137.  138.   141.  146.  161.  162.  153.  164. 

179.  180.  190.  191.  192.  193.  198.  213. 

214.  216.  220.  229.  238.  249.  320. 
Diokles    309.    350.   364—355.   356.    363. 

407.  426. 
Diokletian  441. 
Dionysius  von  Syrakus  216. 
— ,  bei  Heron  yorkommend  388. 
— ,  Freund  des  Diophant  469.  471. 
Dionysodorus  380.  411—412. 
Diophantus  von  Alexandria  361.  463 — 

488.  492.  493.  496.  507.  510.  557.  564. 

601.  620.  621.  622.  624.  626.  628.  696. 

704.  706.  728.  725.  726.  742,  752.  755. 

768.  770.  772.  773.  813.  815. 
Dioptra  257.   298.   366.   381.    382—383. 

537.  542.  544.  750. 
Diorismus  208.  209.  219.  237.  260.  266. 

309.    341.    402.    403.    749.    772  —  773. 

776. 
Dirham  720.  804. 
Dirichlet  687. 
Divisio   aurea  =  gewöhnliche   Division 

891.  902. 

—  ferrea  =■  komplementäre  Division  891. 
902. 

Division  zur  Bildung  von  Zahlwörtern 
benutzt  12. 

—  72.  289.  493—494.  612.  671.  717.  761 
—762.  812-813.  846.  868.  874.  879. 
881—883.  887.  899.  901.  902.  912. 

Diwdniziffern  709. 
Dodekaeder  174.  175.  176.  177.  237. 
DöHinger  849. 
Dominicus  Oondisalvi  797. 
Domitianus  550.  551. 
Domninos  von  Larissa  500. 
Doppelmayr  468. 
Dorer  119. 

Dorischer  Dialekt  296.  809. 
Dosiiheus  297. 
Dragma  804.  901. 
Drei  Brüder  738—734.  799.  908. 
Dreieck  46.  93.  111.  138.  141—144.  145. 
262.  307.  413. 


Register. 


921 


Dreieck,  gleicheehenkliges  93.  97.   111— 

112.  188.  148.  176.  871. 
— ,  gleichseitiges  148.  177.  649.  666.  686. 

866—866. 
Dreiedce,  aneinanderhängende  890.  899. 

662.  668. 
Dreieckszahl  169.  168.  169.  248.  249.  262. 

812.    482.    460.    486.    628.    688.    840. 

866—866. 
Dreiteilung  eines  Winkels  47.  196—197. 

800.  816.  868.  446.  786—786.  749—761. 

769.  778. 
Dreiteilungen  429—480. 
Dresler  211. 
Dridha  628. 
Draysen  668. 

Dschdbir  ihn  Äflah  722.  794—796. 
Dschadwal  812. 
Dscha'far  a?  Sädik  722. 
Dschahala  816. 
Dschaib  787. 

DschamscMd  s.  Gijdt  eddin  Alkdschi. 
Dschibrü  ibn  Braehtischü'  696. 
Dschidr  728.  724.  804—816. 
Dsckingizchdn  778.  821.  822. 
Dschundaisdbur  696.  701. 
Düker  866. 
Duella  680. 

Dümichen  104.  106.  110. 
DümnUer  881.  882.  887.  841.  887. 
Dürer  (Älbrecht)  641. 
Duhalde  88.  670. 
Duhamel  220. 

Duhem  (F.)  264.  294.  424.  704.  909. 
Duodezimalbrüche   626—628.    680.    661. 

666.  830.  868.  869.  874.  877.  881.  888. 

884.  887.  891.  899.  901.  909.  910. 
Duodezimalsystem  10.  11.  881. 
Dupuis  222. 
Dupuy  602. 

Durcüchnittspunkte  von  Kurven  840. 
Duris  186. 
a6vaiHg  207.  470.  723.  767. 

E. 

Ebene  Örter  248. 

Eberhard  616. 

Ebers  68. 

Edfu  110—112.  886.  894.  896.  646. 

Egbert  von  York  881.  840. 

iyyutta  810. 

Eglaos  827. 

ddog  »  Glied  478. 

^ectura  666. 

Einheit  keine  Zahl  168.   166.  486.   607. 

687.  716—716.  784. 
Einmaleinstabelle  29.  86.  481.  681.  679. 

766^846.  847.  881. 
Eisefddhr  (August)  28.  69.  82  s.  Papy- 

rus  Eisenlohr. 
EkbcUana  88. 
ixfXrfiMa  889.  666. 


ixslvoq  i<pa  162. 

Elam  81. 

Elementardreieck  176.  177.  184.  226. 

Elemente  der  Arithmetik  429. 

Elementensihreiber    aufler  Euklid    201. 

202.  210.  211.  287.  247.  260.  261.  274. 

881.  414. 
Elfeek  878. 
Elferprobe  766. 
Elieser  44. 
n»!  826. 
Eüatbau  81. 
misrer^  168. 
Ellipse  98.  171.  244.  288.  288.  290.  291. 

806.  809.  810.  886.  490.  600.  788.  862. 
ilißaSov  666. 
Embadum  666. 
Emir  Abü'l  Wafd  416. 
Empedökles  von  Agrigent  174. 
Endo  (Toshisada)  689. 
Eneström  (Gust.)  716.  787.  768.  891.  912. 
Engelbert  von  Lüttich  889. 
Engländer  16. 
Ennodius  678. 

Enzyklopädien  648.   666.  669.  676.  828. 
J^jMiitfe  672. 
Epanthem  des  Thymaridas  168.  286.  466. 

462.  624. 
Epaphroditus  662.   663.   666—660.  686. 

619.  768.  868.  864.  866.  866. 
ifpoiixov  879. 
iq>oäog  168. 
Epigonenzeit  849.  868. 
f^'^amme  algebraischen  Inhaltes   286. 

286.  812.  462.  463.  466.  510. 
ijttiiOQiov  166. 
Episemen  127. 
Eratosthenes  von  Kyrene  211—212.  213. 

226.    281.    232.    233.    234.    243.    245. 

267.    260.    293.    827-383.    849.   860. 

863.  360.  881.  409.  446.  448.  861.  886. 
ErbUilungen   662—663.    728—729.    799. 

838. 
Erde,  eirund  648. 

Etrusker  522.  623.  524.  532.  537.  548. 
Etymologien  lateinischer  Zahlwörter  824. 
Eudemus  von  Pergamum  834.  340. 

—  von  Ehodos  118.  185.  138.  144.  162. 
171.  193.  208.  204.  205.  226.  227.  229. 
257.  881.  848. 

Eudoxus  von  Knidos  151.  196.  212.  231. 

282.  288.  284.  288—248.  248.  260.  269. 

272.  275.  276.  277.  298.  830.  356.  862. 

407. 
Euklid  von  Megara  261.  590. 

—  110.  188.  144.  165.  180.  206.  246. 
260—294.  297.  801.  304.  305.  315.  316. 
380.  382.  333.  334.  335.  339.  341.  348. 
849.  358.  360.  880.  881.  882.  387.  406. 
407.  411.  413.  420.  429.  447.  448.  452. 
456.  462.  466.  489.  664.  567.  571.  681. 
586.  590.  697.  657.  696.  702.  704.  725. 
749.  770.  780.  790.  908. 


922  Register. 

Euklidische  Form  275—276.  896.  487.  Ferdinand  der  Katholische  794. 

—  Irrationalitäten  270.  348.  Fermat  (Peter  von)  466. 

Ff^ids  Elemente    141.    142.    161.    164.  Ferramentum  537. 

166.  168.  180.  181.  182.  188.  190.  192.  Ferri^es  842. 

220.    287.    241.   261  —  278.    306.    848.  Festa  166.  469. 

368.  869.  386.  887.  418.  438.  445.  446.  Feuertelegraphie  440. 

447.  448.  462.  461.  486.  487.  491.  665.  Figar  698.  699. 

667.  671.  676.  677.  680.  681.  688.  628.  Fi(fur  der  Braut  786. 

639.  661.  666.  667.  702.  706.  727.  786.  —der  Gesundheü  178.  206. 

746.  768.  764.  766.  770.  777.  780.  798.  Figura  alkata  786. 

798.  861.  906.  908.  911.  Figurenbezeichnung   98.    163.   206.   206. 
Euphranor  289.  647.  670.  721.  724—726.  727.  784. 
Euripides  188.  212.  688.  Figuren   der   geometrischen  Kunst    676. 
Eustathius  181.                                                   681-.  682. 

Euting  126.  Figurierte  Zählen  481.  679. 

Eutoktus   von   AskcUon    118.    143.    211.  FthHst    693.    701.    708.    704.    718.   736 

226.  227.  229.  231.  232.  234.  244.  293.        748.  796. 

296.  301.  809.  318.  330.  384.  346.  360.  Finalbuchstaben  126.  470. 

854.  368.  871.  372.  407.  412.  424.  443.  Fingerrechnen    6-7.    41.    86-87.    180. 

493.  602.  764.  912.  514—616.    627—628.    629.     667.    609 

Evolute  342.  71q    334.  826.  829.  830. 

Ewald  9.  Fingersprache  830. 

Examios  136  •  Fingerzahlen  8.  Digiti, 

k^xocxa  420.  Firmicus  Maternus  627.  826. 

Exhaustton  204.  221.  242.  247.  269.  272.  Fischer  45. 

306.  307.  810.  321.  Flächenanlegung    171.    174.    176.    262. 
Experiment,  mathematisches  Ib^.ilQ.  im.       266-267.  288.  289—291.  333. 

181.  187.  240.  Flächenberechnung  28.  92—98. 110—112. 
iv»vyga{kiux6g  158.  153.  271.  799. 

—  falsche  172—178.  649—660.  740. 

P.  Flächei\zdhl  168.  168.  267.  270.  482.  824. 

Faber  Stapulensis  676.  Flauti  280 

^"^t^"'^,^'"-  ''"•  ^^''-  '''•  '"'"•  *"•    Flügel  788:  789.  761. 
491.  iVi.  Flwkarten  642. 

Äi6r!67-778.  ^^^tr  "^  '''■  "'-*"•  '''• 

Fälschung  der   Geometne   des  Boethius  jp^„\:„J„  ^au:  ana 

224.  687.  688.  690.  766.  802.  828.  887.  ^Zi^lZ^i  fn 

839.  861.  864.  867.  868.  874.  878.  900.  ^^""'^^^^J^  ^^'   ^  ,         ^^     ^^     ^^     _ 

Fälschungeti  im  IL  S.  v.  Chr.  427.  ^"'^^Z^aT  ^'^'''''  ^^^   ^^'   ^^"®^- 

FaktorenzaJil  226.  -J  %      .  , 

Falscher  Ansatz,  doppelter  sn^SU.  SdS.  ^"""^'Z  ?^  ^^***^  876-878.  897. 

782—733.  808— ÄO.  Französische  Bauernregel  528. 

—  Ansatz,  einfacher  76.  78--79.  96-96.    ^?'11^?^**.?;  ü*  .^?®- 

480—481    616    618  Fnedlein  (Gottfried)  41.   107.    120.  186 

Falsche  Sätze  scherzweise  aufgestellt  310.       ?^f  \^Äf ;  ^^?-  ^^*-  -^^-  ^^^'  ^*®- 

—  Umkehruny  eines  Satzes  !ss.  ^^^-  ^^^-  ^^^'  ^^^'  ^^^-  ^^^-  ^^^'  ö22. 
Far'  763  ^23.  626.  631.  663.  677  und  häufiger. 

Favaro  (Antonio)  269.  636.  667.  ^^^-  ^^^    ®28.  866.  879.  901. 

Favorinus  146.  Friedrich  IL  778. 

JFWi/e»  allgemeiner  Methoden  849.  Frobenius  Förster  886. 

Feldereinteilung    28.   68.    92.    828  688     ^rontinus  560.  661.  662.  666.  686.  690. 

660.  864. 

Feldmesser  144—146.  883.  Fünfeck   49.    109.    177—179.    266.   273. 

—  von  Byzanz  144.  864.  606.  610.  376.  398. 

Feldmeßkunst  294.  381—886.   406.   488  Fünfeckszahl,  falsch  berechnet  667—668. 
—440.   606.   610.   682.   636—638.  642.        686. 

661.  664—666.  667.  676.  677.  688.  786.  Fu  h%  48.  663.  664.  676.  677. 

799.  860.  862.  863.  864.  Fujisawa  (B.)  689. 
Feldmeßwissenschaft  881.  406.  474.  610.  Fulbert  von  Chartres  846.  878.  889. 

642.  686.  687.  860.  Fulco  848. 

Fenchu  121.     ^  Fulda  841.  842. 


Register. 


923 


Gärtnerkanstruktion  der  Eüipse  783. 

Galen,  der  Arzt  214. 

Gaienus  =  Pedifisimus  510. 

Gcdüei  269. 

Gailier  176. 

GäUus  826. 

Ganega  600.  618.  635.  654.  878. 

Gangädhara  600. 

r7ar/;P  260.  702.  780, 

Gauhä  88.  668.  675.  680. 

Gaufi  156.  817.  687. 

Gazzera  537. 

ryeft«r  722.  794. 

Geherscher  Lehrsatz  796. 

Gedächtnisverse  808.  804. 

Gegtnhauer  (Leopold)  893. 

yt'yoi'C  =  er  &7äA^e  261. 

Geiger  (Lazanis)  5. 

GeUnkzahlen  s.  ar^tcu^t. 

Gellius  Auliis  542. 

Orftwi  297.  322.  828. 

Ö«/i5<r  187. 

Gematria  43—44.  125.  126.  462.  567. 

Geminus  von  Bhodos  118.  142.  144.  156. 

244.  245.   884.  885.  850.  856.  867.  406 

--411.  416.  425.  499. 
Genocchi  (Angelo)  786. 
Geodäsie    unterschieden    von    Geometrie 

252.  271.  298.  350.  881. 
Geographie  328.  422. 
Geographische   Länge   und   Breite   362. 

883.  422. 
Geometrie^  Erfindung  derselben  55.  57. 

59.  86.  102.  108.  135.  889.  858. 

—  des  Boethius  571.  576—590.  850.  854. 
873.  874.  876. 

GeomeUrische  Algebra  285. 

Geometrischer  OH  144.  221.  229.  248. 
249.  280.  281.  282.  831.  340. 

Geometrische  VersintUichung  von  Zahlen 
163. 

Gerade  Zahlen  von  ungeraden  unter- 
schieden 64.  159.  160.  161.  224.  480. 
507.  824. 

Gerad  und  unqerad,  ein  Spiel  159. 

Gerald  847.  856. 

Gerbert,  Abt  von  St.  Blasien  844.  899. 

—  (Papst  Sylvestern.)  576.  677.  582. 
847—878.  879.  880.  885.  886.  887. 
889.  891.  894.  897.  908.  904. 

Gerbertista  897. 

Gerbillon  667. 

Gerhard  von  Cremotia  415.  736.  737.  794. 

796.  800.  808.  805,  907—908. 
Gerhardt  (Carl  Immanuel)  218.  444.  445. 

460.  511.  514. 
Gerland  894.  898.  899.  902.  910. 
Gerling  198. 
Gernardus  909. 


Geschichte  der  Mathematik  61.  118.  185. 
249.  257.  889.  407.  890—891.  899—900. 

Gesellschaftsrechnungen  77.  810  —  812. 
619.  688.  684. 

Gesenius  707. 

Gesetz  der  Größenfolge  14.  21.  25.  86. 
44.  88.  84.  120.  128.  124.  126.  127. 
672. 

Geicichtezieher  869.  450. 

Ghana  616. 

Gijdt  eddin  AUcdschi  781—783.  788. 

Crübert  Maminot  von  Lisieux  889. 

GHes  825.  834. 

(}inzel  (F.)  87. 

(riordano  (Annibale)  449. 

Gizeh  82.       , 

Glaisher  453. 

Glaukos  211.  212.  688. 

Gleichgewicht  der  Ebenen  828. 

Gleichheitszeichen  75.  472.  816. 

Gleichungen  ersten  Grades  mit  einer  Un- 
bekannten 74.  396.  518.  623.  838. 

—  ersten  Grades  mit  mehreren  Unbe- 
kannten 168.  285—286.  624.  778. 

—  zweiten  Grades  mit  einer  Unbekannten 
263.  266.  285.  868.  405.  460.  473—477. 
617.  622.  624—626.  719—721.  768. 

—  zweiten  Grades  mit  zwei  Unbekannten 
95—96.  284. 

—  höherer  Grade,  die  auf  den  zweiten 
zurückführbar  sind  771.  778. 

—  dritten  und  höheren  Grades  809.  814 
—816.  364.  477—478.  627.  686.  687. 
749.  750.  778.  778   781—788.  787.  788. 

—  unbestimmte  ersten  Grades  812.  478. 
628—680.  685-887.  689.  887.  838. 

—  unbestimmte  zweiten  Grades  438.  478. 
479.  480.  615.  880—633.  724.  772 
—  778. 

—  unbestimmte  höheren  Grades  478.  752. 
785. 

—  unbestimmte  mit  mehr  als  zwei  Un- 
bekannten 680.  685—687.  689.  752. 

Gnomon  50.  145.  161-168. 190.  192.252. 

432.  494.  536.  544.  681.  639.  644.  721. 

764.  769. 
Görland  203.  252. 
Göthe  183. 
Goldner  SchniU  178—179.240-241.  263. 

265.  292. 
Goldne  Zahl  572. 
Golenischeff  59. 
Goodwin  89. 
Gordianus  457. 
Goten  11. 

Gow  125.  222.  229.  448. 
Grade  der  Kreisteilung  87.  47.  50.  181. 

860.  361.  866.  416.  681.  682. 
Gradmessung  828.  860.  718.  886. 
Graeko-Italer  521—528. 
Gram  675. 
Graphische  Methoden  862. 


924 


Register. 


Gregor  der  Große  666.  826. 

—   V.  848.  868. 

Gregoras  (Ntkephoroa)  608. 

Gregory  260.  262.  276.  287.  298. 

Griechen   11.  12.  16.  16.  38.  42.  44.  61. 

86.  89.  117—617.   621.  628.  628.  686. 

641—648.  644.  646.  664.  669.  670.  601. 

619.  620.  621.  622.  624.  627.  676.  690. 

701—706.     722—727.    729.    786.    749. 

764.  768.  770.  778.  776.  784.  821.  822. 

827.  860.  866.  886.  890.  891.  896.  896. 
Grifßh  (F.  LI)  69. 
Gröfienverhältnüse  menschlicher  Körper- 

teüe  214.  644.  740. 
Groma  686—687.  642. 
Gromatici  637.  ' 

Grundzüge  des  Ärchimed  320.  821. 
Ch-uppe  166.  286. 

Gruppierung  von  Zahlzeichen  21.  88. 
Grynaeus  498. 
Guamerius  866. 
Guhdrziffem  712.  811.  816. 
Günther  (Siegmund)  40.   179.   816.  897. 

468.  616.  638.  636.  669.  768.  866.  872. 
Guido  von  Arezzo  886. 
Guichart  181. 
Guignes  (de)  88.  676. 
Guidinsche  Begd  460. 
Gundermann  (Gotihold)  711. 
Gundobad  673. 
Gurke  786. 


H. 

Haas  697. 

Hahakuk  44. 

Hadrian  461.  489.  662. 

Hadschi  Chalfa  729.  776.  810. 

Hädschddsch  ibn  lüsuf  ibn  Matar  702. 

Haebler  38.  60. 

Hafy  ihn  'Äbdalldh  701. 

Hagen  886.  839. 

Hak  =  AbschniU  ägyptisch)  97.  111. 

HaJcimitische  Tafeln  788— 789i 

Halbieren  86.  819.  717.  761.  764. 

Bdlhidada  862. 

HaUey  843.  344.  412.  490. 

Halma    277.    396.    406.    414.    491    und 

häufiger. 
Hammer- Purgstdll  741. 
Handasa  =  Geometrie  809. 
Han- Dynastie  666.  686. 
HanM  (Herrmann)  4.   7.   10.   18.   128. 

126.  148.  188.  186.  194.  208.  208.  219. 

220.  284.  260.  277.  420.  468.  467.  479. 

634.  647.  660.  698   701.  722.  728.  782. 

786.  742.  748.  760.  769.  782.  786.  789. 

794.  836. 
Han^(d'ob  888. 
Harmonikaien  490. 
Harmonische  Proportion  166.  888. 
—  Teüung  388.  490.  491. 


Harpedonapten ,    agnsiovanrai  »»  Seil- 

wanner  104.  192.  881.  886.  637. 
Harun  ar-Raschid  696.  696.  700.  702. 
Hatto,  Bischof  von  Vieh  847.   848.  849. 
Hau  «  Haufen  (Sgyptisch)  74.  896.  466. 

466.  620.  728. 
HawdH  816. 

Hayashi  (Tsuruichi)  689. 
Heath  192.  299.  463.  470.  471. 
Hebelgesetz  266. 
Hebräer  20.  44.  122.  126—127.  146.  173. 

412.  427.  666.  668.  709.  728.  828. 
Heiberg  (J.  L.)  202.  248.  262.  264.  260 

und  häufiger.  278.  288.  292.  293.  296. 

296  und  häufiger.  299.  804.  807.  813. 

817.  881.  383  und  häufiger.  346.  864. 

866.  892.  411.  414.  448.  468.  489.  490. 

499.  602.  676.  679.  688.  786.  912. 
Heiric  von  Äuxerres  842. 
Hdbert  von  St.  Hubert  in  den  Ärdetmen 

889. 
Helceph  906. 
Helikon  232. 
Heilmund  19. 

Heng  ho  cha  »  Sand  des  Ganges  669. 
Henry  (C.)  492.  906. 
Heraklides  296.  384. 
Heriger  von  Lobbes  869.  889. 
Hermeias  600. 
Hermann  (Gottfried)  665. 

—  //.,  Erzbischof  von  Köln  877. 
Hermannus  Alemannus  888. 

—  Contractus  869.  886—889.  891.  894. 
900.  904. 

Hermotimus  von  Kolophon  248. 
Herodianische   Zeichen    120  —  121.    125. 

129.  133.  191. 
Herodianus  120. 
Herodorus  203. 
Herodot  36.   88.   39.  60.  55.  67.  88.  89. 

92.  102.  104.  130.  182.  136.  137.  145. 

160.  319.  863. 
Heronische  Frage  368—868. 
Heronas  868.  603. 
Her(m  der  Altere  ==  Heron  von  Alexan- 

dria  368. 

—  der  Jüngere  =  Feldmesser  von  By- 
zanz  367.  606. 

— ,  Lehrer  des  Proklus  368.  497. 

—  metricus  366.  541. 

—  von  Alexandria  102.  119.  162.  177. 
224  227.  231.  266.  297.  318.  862.  863 
-406.  408.  409.  411.  412.  423.  426. 
429.  440.  443.  460.  454.  466.  462  465. 
466.  474.  480.  496.  499.  510.  541.  546 
—547.  564—556.  561.  664.  667.  686. 
624.  637.  643.  646.  647.  648.  649.  652. 
668.  654.  657.  706.  726.  727.  784.  750. 
764.  785.  837.  868.  893. 

Herons  anderes  Buch  392—894.  404. 

—  Metrica  318.  862.  864.  870—882.  386. 
892.  898—894.  899.  548.  647.  788. 


Register. 


925 


Herons  Sammlungen  177.  224.  242.  297. 
856.  888—892.  898—894.  896—406. 
484.  488.  489.  618.  648.  647.  727.  887. 

—  Dreieeksformel  871.  874—876.  882. 
885.  889.  890.  897.  402.  556.  690.  646. 
649.  728.  784.  764.  799. 

Herackd  (Clemens)  661. 

Hertzherg  496.  497.  602. 

Herzog  122. 

Hesychius  86. 

Heteromeke  Zahl  160.  163.  188.  184. 

Hiao  wen  ti  665. 

Hidschra  695. 

Hieratische  Schrift  81.  88-85.  121. 

Hieroglyphen  81—88.  121. 

Hieron  295.  811.  326. 

Hieronymus  von  Bhodos  188. 

—  880. 

Hiksos  57.  58. 
HüfsKiiikd  789. 
Hügard  (Alfred)  122. 

Hiüer  (Eduard)  160  und  h&ufiger.  267. 

327.  880.  484. 
Häprecht  (H.  V.)  28—29. 
Himly  84. 
Himmelsglobus  326. 
Hineks  24.  26. 
Hindi  =  indisch  809. 
Hindukusch  20. 
Hin-lhjfiastie  664. 
Hinzuzufügende  Zahlen  471. 
Hipparchus  39.  256.  861—868.  364.  365. 

367.  377.  378.  383.  899.  407.  408.  411. 

412.  413.  414.  416.  422.  496.  748. 
Hippasus  175.  286.  239. 
Hippias  von  Elis   146.    193—197.    198. 

246.  306. 
Hippokrates,  der  Arzt  194.  597.  701. 

—  von  Chios  194.  200—218  214.  219. 
226.  242.  247.  269.  271.  272.  300.  652. 
790. 

Hippolytos  461. 

Hippopede  196.  242.  248.  358.  856. 

Hischdm  794. 

HiUig  44. 

Hoche  (Kichard)  158  und  häufiger.  495. 

496.  508.  686. 
Hochheim  (Adolf)  708  und  häufiger.  762.' 
Höhenmessung    267.   862.   883.  440.  556 

—557.    648.    868.    864.     s.    Schatten- 

messung. 
Hoeiti  665. 

Hoernle  (Budolf)  598.  614.  616. 
Hofmann  (G.)  187. 
Hohlfdd  (P.)  188. 
Homer  121.  180.  181.  151. 
Hoppe  (Edmund)  363.  866.  645—547. 
Horapollon  84.  110. 
Horatius  10.  286.  299.  561.  590. 
Hörn  (W.)  238. 
Horner  685. 
Horus  110.  157. 
Ho  tu  674.  675. 


HwAsel  886. 

Hrahanus  Mawrus  841—842. 

Hrotswitha  von  Gandersheim  856. 

Huaetberct  828. 

Huäng  ti  664.  669.  671.  674.  677. 

Hudy  ndn  ts^  664. 

Hugo,  bekannt  mit  Gerbert  870. 

—  ((rraf  Le<ypold)  175. 

—  Capet  848.  854. 
Hüldgü  778. 

Hultsch  (Fr.)    128.    129.   188.   164.  192. 

222.  223.  246.  298.  817.  826.  368  und 

häufiger.  411.  441.  442.  448.  444.  447. 

450.  460.  492.  498.  502.  505.  586.  545. 

553.  561.  724.  731.  767.  828.  912. 
Humboldt  (Alexander  von)  45.  328. 
Hunain  ibn  Ishdk  415.  702. 
Hunraih  317.  648. 

Hunu  =  Feldmesser  (ägyptisch)  104. 
Huruf  aidschummal  709.  757. 
Hydrostatisches  Prinzip  825. 
HyginuSy  Astronom*  hbZ. 
— ,  Feldmesser  535.  586.  563.  699.  601. 
— ,  MilitärschriftsteUer  558. 
Hypatia  491.  495—496. 
Hyperbel  171.  230—231.   244.  283.  288 

290.  305.  809.  385.  751.  759.  777. 
Hypotenuse,  das  Wort  184. 
Hypsikles  von  Alexandria  245.  260.  844. 

358—861.  863.  416.  482.  464.  487.  501. 

557.  565.  704.  761. 


1  bei  Figuren  vermieden  206.  228.  880. 

831.  439.  724—725.  726.  771. 
Ibdi  «  Quadratwurzel    (sumerisch)   26 

28 

Ibn  Aladami  698.  701. 

Ibn  Albannd  805—810.  918. 

Ibpi  Alhaitam  789—792. 

Ibn  Alhusain  753~755. 

Ibn  ÄlmunUm  805. 

Ibfi  Alsirddsch  772. 

Ibn  a§-Saffdr  798. 

Ibn  a^-Samh  793 

Ibn  Bauträb  708. 

Ibn  Chaldün  729.  735.  806.  806.  918. 

Ibn  Challikan  742. 

Ibn  Esra  730. 

Ibn  Mnus  788—789.  795. 

Ibn  Mukla  708. 

Ibn  Sina  =-  Avicenna  730. 

Ibrahim  780. 

—  ibn  Sindn  749. 

Ideler  238.  808.  416.  420.  689.  572. 

Igin  893flgg. 

Ilchänische  Tafeln  779. 

lila  «  außer  815.  816. 

Imaginäre  Zahlen  402—408.   478—474. 

626. 
Imbarur  778. 
Inkommensurables  268.  277. 


926 


Register. 


Inder    16.   89—40.   346.    427.   466.   467. 

610.    692.    696--660.     669.    677.    680. 

684.    687.    689.    698.    697—699.     710 

—712.  722—728.  782.  739—740.    744. 

746.  764.  767.  762.  768.  778.  784.  801. 

804.  877.  878.  893.  909. 
Indisch' Älexandrinische  Beziehungen  427. 

467.  466.  696.  699.  600.  606.  609.  621. 

622.  624.  688.  648.  646.  648.  649.  668. 

724.  740. 
Indus  19. 
Ine  Sin  28. 
Innenkreis   des   rechtwinkligen   Dreiecks 

666.  686.  689.  690. 
Interusurium  661. 
Involution  462. 
Iran  19. 

Iran  =  Heran  706. 
Irenaeus  127. 
Iron  366. 
Irrationales  29.   94.  147.  168.  164.  181. 

182.   188.  188.  192.  198.  198.  201.  218. 

223.    286—237.    247.    262.    269—270. 

286.    826.    848—849.    474—476.    602. 

644.  570.  621.  626—627.  768.  875. 
Isadk  Anfyrus  609. 
Ishta  karman  618.  782. 
Isidorus,  fälschlich  angenommeiier  Gatte 

der  Hypatia  496. 

—  von  Alexandria  600.  601.  912. 

—  von  Müet  281.  244.  601. 

—  von  Sevilla  429.  668.  822—826.  828. 

831.  886.  887.  842.  846.  901. 
Isis  167. 

Isisfest  407.  408. 
töoi  472.  622.  816. 
Isokrates  102.  104.  149-160. 
Isoperimetrie    179.    867.    868.   446—447. 

649.  706.  740. 
Isopsephie  461—462. 
i&toqia  ngos  IIv^ay6QOV  166. 
Italien  119.  147. 
Ivrea,  Handschrift  von  879—880. 

J. 

Jacobs  (Friedrich)  461.  462. 

—  (Hermann  von)  82. 
Jahjd  ibn  Chulid  702. 

Jahr    87.    77—78.    828—829.    608.    627. 

689—640.  670.  677.  681.  775. 
Ja'küh  Um  Tdrik  700. 
Jdküt  708. 
Jamblichus,  Philosoph  61.  118.  181.  166. 

158.  166.  167.  175.  188.  202.  218.  288. 

832.  482.  466.  468—461.  464.  476.  486. 
496.  624.  706.  786.  789. 

—  Romanschriftsteller  61. 

Jan  (C.  von)  166.  469.  609.  666. 
Janus  627.  640. 
Japaner  689—690. 
Java  607. 
Jehova  126.  666. 


Jid  668.  787. 
Jidrdha  668. 
Jiva  668.  787. 
Johann  XIII.  849. 

—  XIV.  864. 

—  XV.  849.  868. 

Johannes  von  Damaskus  464.   696.  702. 
726. 

—  Hispalensis  =  Johannes  von  Luna. 

—  Hispanenis  =  Johannes  wn  Luna. 

—  von  Jerusalem  468.  464.  487. 

—  vofi  Luna  800—803.   804.   888.   908. 
909.  918. 

—  Falaeologus  609. 

—  Phüoponus  8.  Philoponus. 

—  von  Sevilla  =  Johannes  von  Luna, 
Jomard  82. 

Jonier  119. 

Jonisches  Alphabet  121.  127. 

Jordanus  Nemorarius  911. 

Josephus,  Geschichtsschreiber  82.  86. 

— ,  der  Spanier  866.  870. 

— ,  der  M^eise  866. 

Jourdain  797.  888.  889.  890.  906. 

Jugerum  649. 

Julianus  s.  Salvianus  Julianus. 

—  Apostata  467.  464.  496.  696. 
Julien  (Stanislas)  668.  671. 
Julius  Paulus  662. 

Junge  808.  811.  912. 

Junier  653. 

Justinian  602.  603.  606. 

Jusuf  ibn  Harun  al  Kindi  866. 

Juvenalis  627. 

Juventius  Celsus  662.  668. 

Juxtaposition  22.  88.  128.  129. 

Jyotisham  89. 


K,  Zeichen  für  Cardo  584. 

Ka'b  767.  768.  816.  816. 

Kabbala  48. 

Kddizädeh  ar-Eümi  780.  781. 

Kaempf  84.  35. 

Kaestner  4.  507.  780. 

Kahun  s    Fragmente  von  Kahun. 

xdlafiog  886. 

Kalender  der  Römer  13.  626.  689—640. 

Kallimachus  827.  329. 

Kallisthenes  38. 

Kalpasütra  686. 

xa^LnvXai,  ygainial  8.  Bogenlinien. 

Kanghi  668.  688. 

Kanishka  696. 

Kanon  214. 

Kanopus,  Edikt  von  78.  259.  828—329. 

409. 
Karana  621.  689. 
Karaiheodory  779. 
Kardaga  698.  699.  787. 
Karl  der  Große  882.  883.  879. 
Karl  Martel  822. 


ßegiater. 


927 


Kartiak  82. 

Kaasi  81. 

Kcissüerdynastie  31. 

Kasteneinteüung  696. 

Kategorientafd  160.  188.  286. 

Kdtydyana  686.  643. 

KegelschniU  198. 196.244—246.  288—292. 
860.  490.  688.  761.  776.  777. 

Kegdsehnittzirkel  281.  244.  868.  761. 

Keü  664. 

Keüschrift  21.  24. 

Kelten  9. 

iTcwo/  Eddtn  778. 

jETevK^a  =  i^  ^x  xivtgov  699. 

iCeou  679. 

^e^rfcr  808. 

Kerbholz  88. 

xctfT«  488—440. 

Kettetibruchalgonthmus  267.  317.  318. 
437.  628.  630. 

Kewitsch  (G.)  32.  37. 

Khe  =  ungefähr  eine  Viertelstunde  (chi- 
nesisch) 39. 

JfTta  te6  670. 

Kieou  tschan  =  di«  neun  Abschnitte  670. 
674.  682.  690. 

KießUng  166.  469. 

^*eu  lang  669. 

Kikuchi  {DJ  689. 

Kimon  215. 

Äin^  yw  679. 

Kirchhoff  (A.)  127. 

iL«u  A^oni/  yen  666. 

Klammerauflösung  887. 

Klamroih  702. 

Kleiner  Astronom  447.  705. 

—  Sa«e/  806. 
Kleobuline  136. 
Kleopatra  427. 
Klosterbihliotheken   569.    677.   580    881. 

882.  836.  871—872. 
KlosterschtUen  825.   881.  882.   888.  834. 

840.  841.  848.  847.  849.  850.  861. 
Ä'/tf^f/  (Simon)  266.  461. 
Ä'/w^fC  501. 
ÄnewcÄtfr  34. 

Knoche  183.  237.  241.  242.  346.498.  499. 
xoxUa  826. 
Kodrus  214. 
Koehler  120. 
Koeppen  895. 

Körperliche  Örter  248—249.  448. 
Körperzahl  168.  267.  432.  824. 
iCoW  10. 
xodo/flbvioy  357. 
Kombinatorik  249—250.   256—257.  270. 

345.  :^62.  454.  601.  675.  619.  620. 
Kommentare  zu  Euklid   287.    241.    276. 

348.  881.  886.  887.  888.  424.  426.  443. 

497—499.  602.  609.  786.  780.  798. 

—  zu  Nikomaehus  868.  429.  469—460. 
603. 


KommefUare  zu  Ptolemaetis  277.  367. 
416.  442.  443.  491.  492.  612. 

Komplanation  eines  Teiles  der  Kugel- 
ober  fläche  461. 

Komplementäre  Division  628.  585.  612. 
718.  762.  766.  786.  812.  868.  869.  882. 
886.  902.  910. 

—  Multiplikation  438.  628—529.  586. 
612.  762.  765.  784.  785.  812.  907.  910. 

Konen  (H.)  682. 

Korunde   und   Sphäroide   des   Archimed 

297.  304.  306.  809—810.  835. 
Konon  von  Samos  297.  306.  307.  336. 
Konservative    Kraft    der     ünwisserüUit 

178.  550. 
Konstantin  der  Große  457.  458.  462.  468. 

596. 

—  Kephalas  461. 

Konstantinopel,    Eroberung    durch    das 

Kreuzheer  508,  durch  die  Osmanen  616. 

788. 
Koordinaten    108.    837.    388—384.    422, 

583—584.  872. 
Kopfrechnen  41.  531.  609.  610.  793.  816. 

829. 
Kopp  566. 
Koppe  737. 
Korea  690. 
xoQVörhg  ygai^ii^  656. 
nOQVfpi^  394.  655. 
Kos  50. 

Ko  schan  king  684. 
%6öxivov  382. 

Koswische  Körper  153.  174.  176. 
Kotangententafel  738. 
Kotijiä  668. 
Krähenindianer  13. 
Kranwjiä  669.  699.  737. 
Kranzrechnung  310. 
Krates  von  MdUus  409. 
Kreis  40.  47.  48.  97.  98.  138.  140.  141. 

142.  178.  179.  202—204.  210.  266.  889. 

556. 
Kreisabschnitt  206—207.  878—879.  389. 

549. 
Kreisberührung  807. 
Kreisbogen  196.  395—396. 
Kreisteilung  37.  47.  60. 
Kremer    (Ä.    von)    464.    667.    693—697. 

708.  713.  729. 
Kreuzzäge  608.  777—778.  786.  817.  822. 

878.  904.  905. 
Kroll  392. 

Kronenrechnung  810—312.  825.  462.  644. 
Krumbacher  (Karl)  508.  610.  615.  897. 
Krummbiegel  312. 

Krummlinige  Winkel  192.  264.  443—444. 
Krümmungsmittelpunkt  342. 
Kschattriyas  596. 
Ktesibius  864.  867. 
Kuas  88.  675. 
Kubatur    der   Konoide    und    Sphäroide 

809—310. 


«28 


Begiater. 


Kuhikwurzd  80.  286.  316.  848.  374.  880. 

406.  453.  480.  606.  616.  638.  684.  788. 

766.  762.  777.  918. 
Kubikzahl  26.  27.  46.  164.  167.  267.  482. 

470.  488.  569.  560.  580.  619.  756.  866. 
Kubische  Btste  632.  766. 
Kubitschek  188. 
Kufische  Schrift  708. 
Kugd  176.  176.  179.  237.  426.  646.  786. 

866. 
—  und  Zylinder  des  Archimed  226.  241. 

261.    266.    297.    808—809.    814.    880. 

412.  708.  749.  774. 
Kvgdoberfläche  808.  690. 
KugelschniU  808.  309.  314.  864.  881.  412. 

749.  774. 
Kuller  (Franz  Xaver)  81. 
Kujundschik  27. 
Künßherg  238. 
Kurieraufgabe  623. 
Kurven  doppelter  Kiiimmung  229.  411. 

460.  461.  780. 
Kusch  20. 
Kuschiten  20. 
Küschjär  761. 

Kustä  ibn  Lükd  366.  704.  761. 
Kuttaka  628—630.  687. 
Kuu  679.  680. 
xvßog  470.  767. 

KyroSy  Freund  des  Seretius  489. 
Kyrus,  Perserkönig  36.  186. 
Kyzikenus  von  AAen  247. 
Kyzikus  288. 


Lachmann  682.  668. 

Lacroix  260. 

Laertius  s.  Diogenes. 

Lakedaemon  146. 

Lalitavistara  612.  618. 

La  Louhhre  636. 

LandkaHen  423. 

Lanfrank  908. 

Längster  Tag  39.  41. 

Lad  ts^  666. 

Larfdd  (Wühdm)  126. 

Larsam  26. 

Lassen  89.  606.  686. 

Latitudines  872. 

Latus  rectum  837. 

iau/er  (Berthöld)  34. 

Lautere  Brüder  616.  788—741.  798. 

LaiitA  67.  59. 

Layard  47 

Leqendre  166. 

XeAmann  ("C^  87. 

Leibniz  10.  218. 

l«ri|)i(  471. 

iQftfta  241. 

Lemmen  des  Pappus  279. 

Xenormatt^  87.  48.  122.  894. 

Leodamas  von  Thasos  194.  220.  236.  237. 


Leon  237. 

Leonardo  von  Pisa  661.  911. 

Leona^  497. 

Leonidas  von  Alexandria  462. 

li«  Pof^e  (C.)  889. 

XepMW  26.   87.   39.   67.   78.  84.  87.  89. 

92.  110.  112.  828. 
Letronne  133. 
Levi  hen  Gerson  780. 
Levigild  822. 
Levy  (M.  A.)  123. 
Lex  Falcidia  661.  662. 
—  Genucia  561. 
I/ß  yay  jin  king  684. 
Liang  jin  676. 

Irt'der  augmenti  et  diminutionis  780 — 732. 
X*6er  Charastonis  704. 
X»6r»  (GuUlaume)    716.    719.    721.   730. 

782.  768.  802.  808. 
Lieou  hin  666.  666.  678. 
Lthn  687. 

IMävati  698.  617.  628.  654.  669. 
Limes  361.  764. 

Lindemann  (Ferdinand)  176.  176.  178. 
LtWoe  880.  886. 
Lineae  ordinatae  654. 
JUnca/  92.  94. 
Lineare  Örter  248. 
Liptd  =  ilc»T({t^  699. 
X»u  humy  684. 
I/trtus  296.  299.  522.  666. 
Loculus  Archimedius  297. 
Loftus  25. 
Logistik  ^  Bechenkunst    156.    252.   820. 

704. 
Lombarden  905. 
Xorf'a  ("G»rw;  67.  119. 
Lo  schu  674.  676. 
I44&na  792. 

Lucian  169.  178.  214.  428.  429.  664. 
Luftrechnen  =  Kopfrechnen  798.  816. 
Lunula  Hippocratis  206. 
Lupitus  von  Barcelona  857.  889.  904. 
Lu  pu  oei  678. 
Luxeuü  826. 
Lykurg  161. 
Lysanias  327. 


3fae^»nu/a  ^37. 

Macrobius  87.   627.  639.  566.  826.  828. 

846.  886. 
Madhyama  haranam  625. 
Madschd  Addauiah  761. 
JlfckiscAAtaj  816. 
Maerker  242.  346. 
Jfa/hi'  768. 

Magdeburger  Sonnenuhr  868. 
3fa^  46.  467. 
Magisches  Quadrat  488.  615—616.  686. 

676.  688.  740—741.  786.  801. 
Magnus  320. 


Register. 


929 


Magrib  708. 
Mahler  (Ed.)  187. 
Mahmud  der  Gaznaicide  757. 
Mai  (Aug.)  876. 

Majer  219.  266.  292.  888.  424.  498.  499. 
Mal  728.  767.  768.  816. 
Malaien  12. 
Malchus  467. 
Mamerkus  146.  198. 
Mamertinus  146. 
Mandschu  667. 

Mangelhafte  Zahlen  168.  430.  607.   836. 
Manüius  (Carl)  360.  862.  406.  410. 
Manuel  Moschopulos  616 — 616. 
Maruja  779. 
Marcdlus  296. 
Jtfarco  Po?o  667 
MarietU  122. 

Mnrinus    von  Neapolis   282.    489.    497. 
ÖOO. 

—  i'on  Tyr««  422. 
Marquart  629. 

-  r/.;  12. 

Marre  (Aristide)  710.  726.'806. 

Marryat  638. 

Martiamts  Capella  627.   666—568.   669. 

570.  828.  825.  846. 
Martin  (Thomas  Henri)   131.  164.  168. 

174.  222.  225.  358.  868.  866.  488.  488. 

491.  500.  606.  526.  678.  682.  844.  912. 
Marty  842. 

Maslama  al  Madjriti  909. 
Masoreten  126. 

Maspero  19.  20.  81.  46.  66.  56.  57.  77.  82. 
Massiver  rechter  Winkel  106    440.   556. 

863. 
Mas'  udi  602.  608.  701. 
Maßvergleichumfen  26.  68.  90—91.  889. 

391.  395.  554.  612.  823.  860. 
Ha^'/jfuxta  216. 
Mathematikerverzeichnis   186.   146.    147. 

174.   188.  198.  201.  213.  234.  285.  237. 

238.  240.  241.  248.  246.  247.  248.  257. 

260.  356.  407. 
Mathematische  Zeidien  14.  74—76.  205. 

471.  472.  620.  684.  686.  804.  813.  814. 

815.  816. 
Matthiessen  266.  284.  685.  686.  687.  810. 
Maximum  und  Minimum  266.  809.  341 

—342.   367.   358.   446—447.   449.   452 

—458.  490.  649. 
Maximus  Planwies  461.  467.  510—618. 

514.  516.  603    ÜIO.  717.  756.  762. 
May  OS  9. 
Mechanik  229.  233.  286.  254—266.  294. 

296.    297.    323  —  326.    869.    428.    4SU. 

449—460.  545—547.  704.  780. 

—  des  Boeihius  676. 
Mediallinie  270.  348. 
Medien  19.  45. 

Mehrfache   Lösung   einer    quad/ratischen 
Gleichung  476.  625—626.  720.  726.  770. 
Meier  (Rudolf)  363.  367. 


Meimo  von  Konstanz  887. 

Mei  wuh  gan  688. 

likfJKOS  896.  422. 

Melampus  151. 

Melikschdh  774.  776. 

Memphis  107. 

Mena  66.  77. 

Menaechmus    196.    212.    226.    229     231. 

238.  243—246.  292.  380.  863. 
Menant  22. 
Menelaus  von  Alexamdria  866.  867.  412 

-414.   420.   426.   447.   448.   491.   639. 

647.  649.  662.  706.  779.  908.  911 
Menephtah  I  89. 
Menes  66. 

Menge  (Heinrich)  260  und  häufiger. 
fiTjvitfxoff  206. 
Menkara  66. 
^Qioaog  289. 
Merit  «  Hafen  (ägyptisch)  98.  97.  206. 

394. 
Merx  (Adalb.)  49.  128.  124. 
Mesolahium  830. 
Mesotäten  165.  288—239.  446.  464.  862. 

853.  912. 
Messer  MUlione  667. 
Meßstange  638. 

Messwng  mittels  der  festen  Stange  H63. 
Metrodorus  462.  468. 
Mexiko  9. 
Michael  Palaeologos  608. 

jMXpOff   &6XQ0V0lLOV{/LBV0g  447.    706. 

Milet  60.  126.  187. 

Militärische  Höhenmessung  863. 

Milleius  =  Menelaus  706. 

Mülion  22.  23.  124.  126. 

Minaraja  638. 

Ming-Bytiastie  666.  684.  688. 

Minos  211.  638. 

Minuten  416.  682. 

Minutien  ^=  Duodezimaibrüche. 

Miram  TscheleM  781. 

Misdhdt  726—728. 

Mischungsrechnung  von  Eßwaren  619. 

Missionäre  667—668.  688. 

Mittlere  Bücher  705. 

Mizraim  66. 

Mnesarchus  147. 

Mode  in  der  Wissenschaft  269.  428.  605. 

516.  872. 
Modestus  368. 

Mönchsleben  568—569.  671.  871—872. 
Mohammed  Bagdcidinus  287. 
Mohnkonüänge  321. 
Molitiet  (Claude  du)  87.  629. 
Molliceide  (Karl  Brandau)  256.  817. 
Molsem  909. 
Mommsen  523.  625.  526.  663.  564.  673. 

826. 
Iiovdg  461.  470.  728. 
Monddien  207-210.  790. 
Mongolen  G66.  674.  684.  778.  828. 
Möng  tien  664. 


Gamtür,  Geschichte  der  Mathematik  X.    3.  Aufl. 


59 


930 


Register. 


Monochord  163.  167.  860. 

Montchai  (Charles  de)  867. 

MonU  Caaino  668.  848. 

MofUfaueon  (Bern,  de)  320.  867. 

Montferrier  (A.  8.  de)  766. 

Montuda  (Jean  EHenne)  48.  266.   326. 

888.  860.  407.  609. 
Moraapiel  90. 
Morgen  ah  Feldmaß  92. 
Mortet  (Victor)  662.  668.  670. 
Moses  Maimonides  794. 
Mmer  (Ottfried)  628. 
Muhamnied,  der  Prophet  698.  696. 

—  ihn  Kdsim  701. 

—  ihn  Müsd  Alchuarizmi  698.  700.  711. 
712—733.  741.  742.  763.  761.  768.  769. 
787.  800.  801.  802.  808.  849.  908.  906. 
908. 

—  ihn  Müsd  ihn  Schdkir  788. 

Muhwria  =»     -  Tc^  (indisch)  89. 

Mu'izz  Eddauia  741. 

Mukarrar  806.  807. 

Mukha  647. 

Müla  «=  Wurzel  (indisch)  616.  728—724. 

Multiplikation,  Alter  derselben  8. 

MtUttplikatiansverfahren  86.    818—319. 

846.  431.  438.  446.  464.  498.  684.  686. 

686.  610—611.  671.  688.  717.  761—762. 

764.  784.  786.  812.  846.  867—868.  881. 

884.  896.  900. 
Mu/nk  737.    . 

Murr  (Christian  von)  468. 
Müsd,  Fddherr  706. 

—  ihn  Schdkir  788. 
Musaeus  161. 

Museum  in  Alexandria  269. 
Musik  des  Boethius  166.  676.  677.  678. 
683. 

—  der  Welten  166.  166.  486. 
Musikalische  Proportion  166.  482. 

—  Schriften  aus  dem  Mittdalter  844. 

—  Zahlenlehre  163.  156.  184.  294.  423. 
644. 

—  Zeichen  828. 


N. 
Nadika  ^~  Tag  (indisch)  39. 

Näherungswerte  von  ]/2   181.   228.   317. 

377.  378.  898.  400.  436—487.  476.  640. 
641.  642.  643.  645. 

—  8.  y2  (Quadratwurzel  aus  2). 

—  von  yh  223.  316.  318.  872—374.  877. 

378.  893.  397.  898.  399.  648.  686.  648. 
728.  799. 

—  B,  ]/3  (Quadratwurzel  aus  3). 
Nagl  133.  868.  890. 

Namen  bei  den  Arabern  699 — 700. 

—  hei  den  Bömem  668. 


Namenverunstaltungen  706. 

Naramsin  81. 

Ndrdyana  636. 

Narducci  (Enrico)  789.  900. 

Na^ir  Eddin  779—780.  787.  796.  796. 

Navarro  286. 

Naxatra  39. 

Nehi  =  Holzpflock  (ägyptisch)  104. 

Nehka  66. 

Nehükadnezar  86.  88. 

Nectanabis  IL  288. 

Negative  Gleichungswurzeln  622. 626. 772. 

—  Zalilen  471.  620.  621.  622.  626.  686. 

808. 
Nen  ==  nidit  (ägyptisch)  112. 
Neokleides  287. 
Neptun  82. 
Ner  =  600  (sumerisch)  86.  87.  40.  42. 

133.  632. 
Nero  127.  462. 
Nerva  642.  660. 
Nes-ch%  Schrift  708. 
Nesselmann  61.  127.  181.  166.  288.  269. 

286.  312.  860.  407.  428.  480.  432.  488. 

436.  460.  461.  463.  466.  467.  470.  472. 

479.  483.  484    485.  498.  496.  719.  786. 
Nestorius  701. 

Netzmultiplikation  611.  786.  812. 
Neue  Akademie  428. 
Neuneck  im  Kreise  877.  769. 
Neunerprohe   461.    611.    717.    766.    768. 

766.  808. 
Neuplatoniker  466—461.  496.  607.  669. 

574.  684.  890. 
Neupythagoräer  428.  466.  607.  584.  712. 

716.  739.  896. 
Neuseeländer  10. 

Newbold  (Wm.  Bomaine)  161.  266. 
Niccheda  628. 
Niebuhr  664. 
Niederhretagner  10. 
Nietzsche  117. 
Nikephoros  Gregoras  508. 
Nikolaus  Rhahda  von  Smyma  613 — 616. 

627.  710.  829.  830. 
Nikomachus  von  Gerasa  168.   166.  166. 

169.  170.  225.  832.  363.  868.  428—433. 

434. 435. 455. 456. 469. 460. 464. 476. 616. 

528—629.  659.  663.  664.  567.  670.  676. 

579.  580.  581.  686.  686.  706.  716.  724. 

735.  755.  824.  881.  906.  910. 
Nikomedes  196.  196.  360—862.  866.  407. 

425.  445. 
Nikon  308. 

Nikoteles  von  Kyrene  836. 
Jüü,   Austreten   desgtlben  66.    102—108. 

135.  389.  791—792.  862.  868. 
Niloxenus  138. 
Ninian  826. 
Ninive  20.  122. 
Nippur  (Tafdn  von)  29. 
Nipsus  552.  558.  556.  664.  861.  863. 
Nirapavarta  628. 


Register. 


931 


Nissen  622.  632.  688.  684.  686. 

Nix  (L.)  266  und  häufiger.  363.  683. 

Nizdm  Almulk  774. 

Nieze  (Ernst)  296    und   häufiger.    806. 

336.  411.  490. 
Noah  36.  66. 
NoJck  (Ä.)  293.  366.  411. 
Nordamerikanische  Naturvölker  688. 
Nuü    30.    31.    112.    128.    170.   611.   692. 

608.  607.  608.  609.  616.  617.  678.  711 

—712.    762.   861.   886.   897.   899.   900. 

901.  904.  909. 
^  ala  Gletehungstvurzel  vermieden  772. 
Numa  626.  627.  639. 
Numei'i  fiffurati  679. 


Oü  wdng  43.  662.  676. 

Ovidim  362. 

OsMS  19. 

Orter  auf  der  Oberfläche  288.  448.   451. 

östliche  Hau-Dynagtie  678. 


Ä  «  2,26  896. 
«  =  ]/8  607. 
8  /11\» 

TT  =  8  48.  109.  379.  403.  404.  507.  541. 
643.  647.  681.  683. 


Obelisk  390.  402. 

Ocreatus  483.  906.  910. 

Odalric  843. 

Oddos  Hegeln  des  Abacus  844.  899—902. 

Odo  von  auny  848.  844.  847.  899. 

—  van  Toumay  889. 

Ofterdinger  (Ludteig  Felix)  220.  287. 
Oinopides,  der  Philosoph  36. 

—  von  Chias  151.  188.  190.  191.  194. 
Oktaden  des  Archimed  320—321.  846. 
Oktodezimalsystem  10. 

d)XVT6Boov  346. 

Okytokion  345.  346. 

Olleris  847.  854  und  häufiger.  871.  898. 

Omaijaden  696.  697.  701.  707.  741. 

'Omar  608.  604.  695. 

'Omar  Alchaijdmi  774—777.  787.  788. 

Omar-Cheian  =  'Omar  Alchaijdmi  IIb. 

Oppermann  317.  346. 

0^f)ert  (Jules)  19.  23.  28.  31.  35.  37.  41. 

48.  50. 
Oppositio  719. 
C^tik  293.  423.  447.  789. 
Opuntius  8.  Philippus  Opuntius. 
Cfrdinaten  654. 
Orestes  496. 
Orientierung  16.  67.  104—105.  636-537. 

699.  601.  636.  636.  637.  676.  677. 
d}Qi6ii4vov  158. 
Ormis  893  flgg. 
Orontes  41. 
8qos  361.  764. 
Orpheus  161. 

Oi-t  zu  3  oder  4  Geraden  339—340. 
OQ^la  337. 

Ortsiheorem  280.  281.  282.  790. 
Osiris  167. 
Osseten  10. 
Osterrechnung  531.   572—673.   826.  827. 

828.  831.  834.  841.  867.  898.  899. 
Oswin  8*27. 
Ottajano  449. 
OUo  I.  849. 

—  IT.  854. 

—  ///.  677.  864.  865.  856.  858. 


786. 


-(t)'- 


877. 


«  =  3  -  644.  642.  876. 

«=    -     684. 

60 
TT  »8,1416  346.  646.  664.  658.  728. 

5r  =  3-^J    422.  799. 
120 

n  =  -^  303.  378.  393.  403.  404.  422.  651. 
7 
690.  648.  664.  667.  684.  688.  728.  799. 
876.  877.  878.  887. 

n  =  (-^)     98.  99.  109.  404.  642.  876. 

n  =  yio  647.  648.  649.  728. 
jr  =  3,2  48.  99. 

"(-:)'"'■ 

»  =  4  691.  837.  877. 

Pachymeres  (Georgias)  508. 

Pada  616. 

Padmandbha  600.  626. 

Palaeologen  508—510. 

Palimpsest   von  Verona    664—565.   581. 

908. 
Palmyra  123. 
Pamir  19. 
Pamphile  136. 
Poo  tschang  schi  676. 
Pappus  von  Alexandria  118.   119.   196. 

197.  220.  225.  227.  245.  246.  248.  261. 

276.  278.  279.  281.  283.  288.  291.  298. 

307.  318.  330.  331.  334.  835.  340.  348. 

344.  345.  346.  347.  351.  353.  356.  357. 

364.  367.  370.  386.  410.  414.  423.  428. 

441—455.  465.  484.  41)1.  492.  499.  660. 

601.  706.  736.  740.  745.  764.  790.  791. 
Papyrus  Eisenlohr  67—81.   85.   91—94. 

96—100.  186. 
—  SaUier  89. 
Parabel    171.    229—231.   244.   288.   289. 

291.  304—306.  809.  323—324.  335.  344. 

602.  746—746.  759. 
Parabdzirkel  231.  244. 
Paraboloid  98. 

59  ♦ 


932 


Register. 


Tcagd^o^og  ygafiiii^  414. 

ParälkUimen  46.  60.  171—172.  262.  277. 

807.  888.  409.  424—426.  499.  664.  780. 
Parallelogramm  der  Kräfte  266. 
Paralleltrapez,   gleichschenkliges  96.   97. 

108.  876.  889.  394. 
—  mit  3  gleichen  Seiten  208.   661.   662. 

777. 

ParamddiQvara  600. 

Paravey  24. 

Parilienfest  686. 

Pariser  Gemme  529. 

Parmenides  600. 

Partsch  641. 

Pascal  (Blaise)  669. 

Passahfest  672. 

Pdtaliputra  598. 

Patriciits  678.  679.  681. 

Patrikios  868.  889.  488—489.  667. 

Pauli  (C.)  624. 

Pausanias  86. 

Pediasimus  510. 

P«»per  680.  899. 

PeitÄow  489. 

Pena  411. 

Pendlebury  468. 

Pento(/ramm  178,  206. 

Perigertes  61. 

Perikles  120.  178.  188.  218.  214.  269.  867. 

Peripatetiker    117.    163.    216.    261.   267. 

269.  640.  702. 
^sQKSöoi  169. 

Pemy  668.  664.  666.' 669.  670.  671.  674. 
Perseus  196.  856.  863.  407. 
Persius  863. 

Perspektive  108.  190.  810.  428. 
Pertz  876.  879. 
Peruaner  88. 

PcscÄ  r/.  G^.  van)  497.  499. 
PetoM  408. 
Petesuchet  bl. 
Petesuchis  hl. 
Petrie  59. 
Pez  851. 

Pfahlbauten  am  Pfäffikon-See  15. 
Pheidias,  KmisÜer  214. 

—  Fa^er  de«  Archimed  296. 
Philipp  von  Mazedonien  169.  218. 
Philippus  von  Mende  248. 

—  Opuntius  169.  248.  812.  487. 
PA«7o  öon  Alexandria  126. 

—  t'o»  Byzanz  864. 

—  von  Tyana  414. 

Philolaus  161.  166.  176.  184.  266. 
Phüoponus  201.  208.  282.  500.  603.  604. 
Philosophie  der  Mathematik  in  der  Aka- 
demie 219. 
Phäniker  20.  82.  38.  121—123.  136. 
Phönix  82. 
Photius  330. 
PÄy^m  121. 
Pic^t  528. 


Pietschmann  19.   20.  81.  46.  66.  66.  57. 

77.  82. 
Pthan  608. 
Ptl»n  845. 
Pipping  408. 

Piremus  (ägyptisch)  99—100. 
Pirmin  826.  886. 
PisteUi  168  und  häufiger.  469. 
Planisphaerium  423. 
PZato  row  T«wit  737.  798.  800.  907. 
Piaton  42.  151.  164.  166.  172.  184.  193. 
194.  212.  213—234.  286.  238.  240.  248. 
248.  249.  260.  261.  269.  260.  270.  816. 
829.  853.  361.  380.  389.  890.  428.  480. 
484.  575.   589.  890.  900. 
— ,  Briefe  215. 
— ,  Charmides  819. 
— ,  EuÜiydemus  167. 
— ,  Gesetze  102.  217.  226.  248. 
— ,  Gorgias  167. 
— ,  Eippias  maior  196. 
— ,  Hippias  minor  196. 
— ,  Lysis  169. 

— ,  Menon  171.  185.  217.  218.  219.  726. 
— ,  Nebenbuhler  188.  189.  190. 
— ,  Parmenides  219. 
— ,  Phaedon  166.  175.  226. 
— ,  Phaedrus  86.  102. 
— ,  Phüebus  184. 
— ,  Protagoras  196. 
— ,  Bepublik    167.    168.    180.    216.   222. 

223.  847. 
— ,  Sophist  600, 

— ,  Theaetet  182.  207.  213.  216.  286.  287. 
— ,  Timaeus    164.    164—166.    176.    226. 

286.  861. 
nXdxog  895.  422. 
Plautus  527.  682. 
Plectoidische  Oberfläche  461. 
nXsvgd  724. 

Plinius  38.    60.   67.   138.  146.  168.  173. 
866.  412.  527.  639.  540.  641.  648.  828, 
872. 
Plotinus  467.  539.  667. 
Plutarch  42.  43.  189.  162.  157.  168.  171. 
177.  180.  184,  193.  232.  283.  284.  249. 
256.  295.  460,  485. 
nodiaii6g  656. 

Podismus  656.  556.  861,  864.  874, 
Poggendorff  253.  667. 
Pol  eines  sphärischen  Bogens  420. 
—  der  Konchoide  361. 
Polardreieck  780. 
Politische  Arithmetik  614. 
Polos  60. 

Polybius  182.  178.  319.  862.  409.  864. 
Polyeder  s.  Vielflächner. 
Polygonalzahlen  169.  248.  249.  312.  861. 
432.  464.  485—487.  567.  579.  580.  686. 
690.  627—628.  840.  864.  866. 
— ,  Schrift  des  Diophant  über  361.  466. 

467.  485—487.  657.  558.  560. 
Polyklet  214. 


Register. 


933 


PolykraUs,  Redner  149. 

Pompeius  409. 

Porisma  278—281. 

Pwismen  des  Diophant  467.  483. 

—  des  Euklid  278.  281—282.  420.  448. 
452.  790. 

ForpKyrius   83.   38.   118.   161.  164.  166. 

188.  456.  457.  458.  601.  575.  706. 
Poselffer  264.  265. 
Posidonius  von  Alexandria  198.  365. 409. 

—  von  Rhodos  866.  888.  409. 
PoUntia  207. 

Potenzen  der  unbekannten' Zahl  470.  507. 

621.  767—768. 
Potemgrößen  207. 
Potone  249. 
PoU  4.  6.'  7.  8.  9.  10.  11.  12.  13.  84.  41. 

83.  88.  92. 
Poudra  423. 
Prdci  636. 
Praecisura  565. 
Prantl  876. 
Premare  668. 
Primzahlen  160.  267.  268.  382—838.  480. 

461.  507.  579. 
Prinzip    der  virtuellen    Geschwindigkeit 

253. 
Priscianus  311. 
Prüse  d'Ävennes  107. 
Primdaka  619.  651. 
Problem  275. 
Produkt   der  Summen  zweier    Quadrat- 

zahlen  482. 
Projektionsmethoden  423.  448. 
Proklus  Diadochus  107.   118.    135.    138. 

141.   144.  146.  152.  156.  161.  171.  172. 

173.   177.   180.   183.  185.  190.  193.  194. 

195.  196.  213.  219.  220.  223.  224.  237. 

241.  242.  245.  255.  260.  261.  264.  274. 

275.  278.  279.  280.  287.  292.  826.  344. 

348.  350.  351.  352.  356.  357.  367.  368. 

381.  386.  388.  407.  410.  414.  424.  443. 

457.  458.  489.  497—500.  567. 
Proportionenlehre  73.  108. 156. 165—166. 

225.  236.  238—240.  265.  272.  277.  331. 

431.  432.  434.  445.  454.  580.  738.  763. 
Proportionalteile  419—420. 
Propositiones   ad   acuendos  juvenes  834 

-839. 
Protagoras  195.  199. 
Protarch  359. 
'tl>amuT'rig  321. 

Psellus  (Michael)  464.  606—508. 
'tpfjffOS  897. 

ipTjqpoqpo^/a  xar   "Ivdovg  510. 
'ipEvddgia  *J78. 
Pseudoboethius  581. 
Ptolemaeus  Euergetes  211.  243.  259.  327. 

328.  383.  886.  640. 

—  Lagi  Soter  259. 

—  Philadelphus  125.  259. 

—  Philopator  380.  838. 

—  XL  110. 


Ptolemaeus  XIIL  366. 

—  Hephaestio  880. 

—  (Klaudius)  89.  119.  128.  318.  888. 
894.  412.  414—425.  433.  434.  447.  457. 
491.  495.  499.  509.  .671.  676.  597.  600. 
602.  669.  698.  702.  703.  704.  712.  787. 
764.  796.  796.  799.  907.  908.  911. 

Ptolemaeiseher  Lehrsatz  416.  764. 
Puini  (Carlo)  680. 
Punktierkunst  46.  779. 
Pyramidalzahlen  249. 487.  668—559.  628. 

688.  865. 
Pyramidenwinkel,  Konstanz  desselben  67. 
nvQBtov  344.  364. 
Pythagoras  85.  148—188.  189.  228.  224. 

238.  247.  270.  389.  390.  428.  429.  482. 

467.  469.  464.  521.  667.  570.  575.  588. 

639.  644.  646.  696.  725.  726.  736.  824. 

861.  899.  900. 
Pythagoräer  42.  107.  131.  147.  162—188. 

198.  196.  198.  200.  201.  202.  213.  216. 

216.  220.  285.  288.  252.  291.  835.  348. 

428.  460.  659.  624.  735. 
Py^Mgoräischer  Lehrsatz  152.  179.  180. 

181.  184.  185.  218.  263.  274.  371.  386. 

636.  638.  689.  640.  647.  665.  666.  679. 

680.  684.  726.  744.  877. 
Pyihagoräisches  Dreieck  49.  51.  96.  105. 

106.  170.  180.  187.  826.  871.  481.  644. 

644.  679.  680.  786.  863. 
Pythmen  347.  348.  461.  585. 


Qa  =  Höhe  (ägyptisch)  98.  394. 

Qet  =  Ähnlichkeit  (ägyptisch)  99. 

Quadrat  92.  177.  183. 

Quadratische  Reste   485.   632.   752.   766. 

763. 
Quadratrix  196—197.  246—247.  806.  853. 

354.  446.  450—461. 
Quadratur  der  Ellipse  806.  379.  799. 

—  des  Kreises  97.  189.  196.  197.  201. 
210.  247.  271.  845-846.  378—379. 
502.  507.  591.  641.  642.  643.  790.  837. 
875.  876.  877.  878. 

—  der  Parabel  241.  297.  304—305.  323 
—324.  379. 

Quadratwurzel  28—30.  94—96.  112.  182. 
223. 236. 802—308. 816—818. 371—374. 
393.  897.  406.  436—438.  458.  475.  480. 
492.  494—495.  502.  511—518.  614.  606. 
616.  621.  638.  640.  647.  648.  684.  733. 
755.  764.  766—767.  777.  786.  801.  814 
-816.  913. 

y2  =  -     228.   398.   400.   436.   437.  640. 

873. 
yi  =  -    377.   378.   436.   437.   640.  867. 

878.  874.  876.  877. 


934 


Register. 


1/3  =  4-   318.  377.  378.  397. 

26 
y3  =  —   818.   378.   893.   397.   398.  899. 

648.  549.  686.  643.  728.  799.  866. 

ys  =  y   228.  867, 

QuadratsaM  26.  27.  46. 160. 161. 162. 163. 
164.  167.  168.  169.  170.  202.  236.  267. 
812.  813—314.  432.  436.  460.  470.  479 
—480.  481.  486.  602.  529.  569.  619. 
756.  840. 

— ,  welche  um  eine  gegebene  Zahl  ver- 
größert oder  verkleinert  wieder  Q%M' 
drateakl  ist  482.  488.  762—756. 
druvium  678.  828. 
uordecimani  672. 
uimas  898flgg. 
uinarsystem  8.  9.  10.  32. 
uincke  (Georg)  16. 

Quintüian  173.  367.  627.  649—660.  666. 

^tjpu  88. 

B. 

Ra-ä'ti8  68. 
Baab  198. 
Raeeahin  877. 

Bad  des  Aristoteles  265—266. 
Badix  724.  804. 

Badulf  von  Laon  886.  890—897.  898. 
899.  900    902. 

—  von  Lüttieh  872.  878.  874.  876.  876. 
890. 

Ba-en-nuxt  68. 

Bätsdfragen  883.  884.  839. 

Baimundj  Stiftslehrer  von  Äf^rillac  847. 

—  Erzbischof  von  Toledo  796. 
Bama  Krishwa  601.  616. 
Baml  =»  Punktierkunst  46. 
Bamses  IL  92.  102.  108. 
Bandbemerkungen  dringen  in  einen  Text 

ein  276.  368.  862. 

Bangandtha  601. 

Bask  608. 

Batgar  841. 

Baiionale  Gleichungswurzeln  allein  ge- 
stattet 478-^476. 

—  rechtwinklige  Dreiecke  96—96.  184. 
186—186.  187.  224.  270.  889.  390.  481. 
484.  486.  666.  689.  628.  638.  646.  653. 
762—766. 

Bationalmachen  von  Brüchen  626—627. 

814. 
Baumkoordinaten  422. 
Baumschnitt  des   ÄpoTlonius   848.    846. 

864.  880. 
Bawlinson  26.  27. 
Bdzi  696.  908. 
Bechenhrett  s.  Äbacus. 
Bechenbuch  von  Achmim  59.  67.  604—606. 


Bechenbuch  von  BakhstdU  698.  613—616. 
618.  620.  621. 

Bechenknecht  291.681. 

Bechnen  mit  Marken  6.  41—42.  88—89^ 
610.  826. 

Bechnende  Geometrie  =  Feldmeßwissen- 
sdiaft  881. 

Bechnung  auf  der  Linie  668. 

BechUck  49.  92—93. 

BechUr  Winkel  47.  49.  61.  94.  106—106. 
138.  142.  161.  168.  190.  192.  871.  884. 
886.  636.  637. 

Bedewendungen,  mathematische,  der  Ägyp- 
ter 66.  67.  72.  76.  98—100.  276.  894,  der 
Araber  728.  816.  816,  der  Griechen  188. 

168.  159.  190.  276.  398.  394,  470.  487. 
655,  der  Inda-  611.  614.  016.  617.  620. 
621.  622,  der  Bömer  631.  666. 

Begddetri  606.  614.  618.  683.  726.  763. 

786.  816. 
Begimbertus  von  Beichenau  577. 
Begimbold  von  Köln  872.  878.  874.  876. 

876.  877.  889. 
Begiomofitanus  467.  468.  780. 
Begula  elchatayn  732. 

—  Nicomachi  488.  628—529.  586.  881. 
906.  910. 

—  quatuor  quantitatum  795. 

—  sermonis  782. 

—  sex  quantitatum  413.  420.  736.  779. 
796. 

Beichenau  577.  580.  886.  842.  888. 

Beifferscheid  664.  879. 

Beihen  169. 

Beihe,   arithmetische    25.    78—80.    118. 

169.  167.  187.  818.  314.  861.  890.  460. 
480.  507.  668.  559.  615.  619.  626. 

— ,  geometrische  25.  80—81.  159.  167. 
268.  805.  507.  619.  881. 

—  der  Biquadratzahlen  781. 

—  der  Kubikzahlen  432.  659.  619.  768. 
769.  781.  784.  808.  865. 

—  der  Quadratzahlen  818—314.  668.  619. 
768.  784.  808. 

Beimer  211.  212.  467. 

Beinaud   467.   695.   597.   602.   608.  714. 

716. 
Beisen  griechischer  Philosophen:  des  Ana- 

xagoras  189,  des  Demokritos  191,  des 

Eudoxus  288,  des  Oinopides  190,   des 

Platofi  215,  des  Pyihagoras  148—152. 

176,  644,  des  Thaies  186. 
Beisner  (G.)  11. 
Bektifikation   des  Kreises   48.    247.   800 

—303.  864. 
BeUgiöse    Gegensätze    bei   den   Arabern 

766.  776.  788. 
Bemigius  von  Auacerre  842.  848.  871. 

—  von  Trier  864.  870. 
Bemusat  (Abel)  672. 
Bepräsentation  661. 
Bes  802.  804. 
Bestauratio  719.  808. 


Register. 


935 


(f[t6v  182.  269.  764. 

Beuter  (Hermann)  908. 

Bevülout  (Eughne)  60.  94.  96.  101. 

Bhdbda  fl.  Näcolans  Ehdbda. 

Bheims   848.   848.    849.    868.   856.   866. 

858.  867.  868.  869.  870.  871. 
Shind  57. 

Shodos  362.  888.  409.  422.  426. 
Bicei  667. 
Biehardson  45. 

Bicherus  847.  848.  849.  850.  867.  868. 
Bichter  (Adolf)  128. 

—  (August)  844. 
Biese  (Alexander)  628. 
Binderprohlem  des  Archimed  812 — 813. 

462. 
il^n  724. 

Bobert  van  Lincoln  889. 
Bodet  (Leon)  68.   78.   76.   81.  472.  476. 

598.    606.    606.    616—625.    628.    630. 

645.  646.  648.  657.  677.  718.  822.  906. 
Boediger  514. 
Bömer   11.    12.    15.   45.    866.   409.    410. 

425.    426.    457.    504.    521  —  692.    596. 

619.  686.  671.  676.  728.  786.  887.  838. 

849.  850.  868.  854.  856.  868.  869.  872. 

877.  900.  902.  909.  910. 
Bötnische  Beichsvermessung   866.    540— 

641. 
Böih  146.  148.  185. 
Bohde  (Erwin)  61.  261. 
Bomaka  Pura  600. 
Bomulus  52H.  539. 
Böse  (Valentin)  544. 
Bösen  716  und  häufiger.  727.  802. 
Bossi  (de)  522. 

—  (Giovanni)  537. 

Boihlauf  216.   216.   217.   218.   219.  222. 

236. 
Bouge  (de)  89. 

Budio  (Ferdinand)  202.  205.  206. 
Budolf  vofi  Brügge  909. 
Budorff  682. 
Budpert  888. 
Büpa  614.  620.  684.  728. 
Buska  (Julius)  787. 

8. 

Saba  464.  696. 

Sachau  (Eduard)  Ibl, 

Sacy  (Sylvestre  de)  707.  709. 

Safech  104. 

Sahib  al  Schorta  798. 

SaHd  804. 

Salaminüche  Tafel   188—134.   319.  440. 

Salemer  Algorithmus  910—911. 

öaXivov  299. 

Saüier  89. 

Salmdn  702. 

Salvixinus  Julianus  662. 

Sdma  godhanam  =  &nh  öfioltov  8(iota  622. 

Samarkand  781. 


Sammelwörter  versdiieden  nach  der  Art 

des  Gezählten  6. 
ZaiiAp  (inovxaQr^s  608. 
SandbehtreuU  Tafel  131.  184.  566.  610. 

611.  712.  762.  882.  885. 
Sandrechnung   des   Archimed   821 — 828. 

612.  758. 
Sanskrit  696.  596.  605. 
Saph  897. 

Sar  =  3600  (sumerisch)  36.  42. 

Sargon  L  31.  38.  46. 

Saryuhin  31. 

Sasuchet  57. 

Sasyches  67. 

Satz  von  den  sechs  Größen  161.  266.  412. 
420—421.  786.  779.  795. 

Satze  des  Menelaus  418—414.  420—421. 

Savüius  276.  277.  509. 

Sayce  80.  81.  88.  46.  46. 

Schachbrettartige  Multiplikation  s.  Nets- 
multiplikation. 

Schachspiel  685.  758. 

Schock- Schackenburg  94.  95. 

Schaewen  (Paul  von)  480. 

Schdhmch  781. 

Schai  728. 

Scholl  667. 

Schalljahr  78.  328—329.  409.  640.  578. 
775. 

Schatns  Addin  al  Mau^ili  710. 

Schamsäldin  von  Bukhara  508. 

—  von  Samarkand  608. 
Schanis  ed  Daula  756. 
Schang  kao  677.  679.  680. 
Schapira  (Herrmann)  24. 
Scharaf  ed  Daula  742. 
Schasu  57. 

Schauen  =  Tangente  788.  748.  789. 
Schattenmessungen  zu  Höhebestimmungen 

188.  189.  144.  294.  890.  657.  648.  786. 

862. 
Schattenzeiger    50.    146.    685.   586.    676. 

677.  788.  748    868. 
Schaubach  188. 
Scheffel  als  Feldmaß  92. 
Scheil  (F.  V.).  28. 
Scheitellinie  98.  894.  647. 
Scheitelwinkel  188. 
Schenkel  (Daniel)  84. 
ÄcÄewW  ^JT.;  203. 
ÄcÄe^JS«  576.  677. 
Schiaparelli  238.  242.      , 
Schiefe  Ebene  449. 
Schlagintweit  89. 
Schlegel  669. 
Schmidt  (J.)  635. 

—  (^3faaj  C.  P.;  184.  244. 

—  rilf.;  346. 

—  (W.)  146.  155.  363.  364.  365.  366. 
412.  537.  683. 

Schnitt  des  rechtwinkligen  Kegels  244. 
384. 

—  des  spitzwinkligen  Kegels  244.  834. 


936 


Register. 


S(^nitt  des  stumpfwinkligen  Kegels  244. 

384. 
Schnitzler  780. 
Schm-Finder  504.  518. 
Schone  (H.)  868.  364.  587. 
ii%ohviov  385. 
^xotvog  385. 
Schraube  826. 
Schraübenfläche  451. 
Schraubenlinie  411.  450.  451. 
Schreibfehler  im  Codex  Arcerianus  556. 

860. 
Schrift,  Erfindung  derselben  13. 
Schröder  (L.  von)  686.  644. 
Schrumpf  6. 

ÄÄWif  rö.;  463.  466.  478.  482. 
Schun  tchi  667. 

Schwerpunkt  328.  324.  449.  450. 
Schwimmende  Körper  des  Archimed  325. 
Sciotherum  585. 
Scriverius  552. 
Scyüadum  568. 
Seythianus  457. 
Sechseck  47—48.  50.  109.  876.  393.  548. 

740. 
Sechseckszahl  falsch  berechnet   557—558. 

586.  864—865. 
ÄccÄÄ  Gleichungsfälle  719.  769. 
Sechsersystem  10.  32. 
Sechzig  als  unbestimmte  Vielheit  84—85. 
Sechzigste  81.  420. 
iSM^mlu«  von  ^t^n  834. 
Ä<fd»//o«  781.  789.  790. 
Sehet!  656.  744.  878. 
Sehnentafel  862.  367.  899.  412.  416.  419 

—420.  799. 
Seidel  327. 
Seilspannung  46.  48.  104—106.  113.  884 

—385.  687.  680. 
Sekunden  416. 
Seldschuk  774. 
Seldschuken  741. 
örnitta  ix  rfjs  nagaßolfis  889. 
jSfeiii€«  =  Schlägel  (Ägyptisch)  104. 
Semiten  20.  56. 
Semuncia  580. 

Senkereh,  Tafeln  von  25—30.  36.  755. 
S^her  Tezirah  43.  608. 
Seqem  =^  Vollendung  (ägyptisch)  71—73. 
Seqt  =  Ähnlichmachung  (ägyptisch)   99. 

139.  145.  425. 
Serenus  von  Antinoeia  489—491. 
Sergius  464.  69B. 
Servatus  Lupiis  842. 
Sesostris  92.  102. 
Seti  I.  108.  214.  884. 
Sexagesimdlbrüche  23.   31.  32.  866.  416. 

492—495.    510.    512.    526.     618.    634. 

718.  764.  801.  885.  909.  918. 
Sexagesimalsystem  10.  24.  27.  40.  41.  42. 

48.  861.  670.  677.  681.  757.  762. 
Sexcenti  =  unendlich  viele  532. 
Sextus  Empiricus  146. 


Sextus  Julius  Africanus  438—440.   863. 

S7Mdvidham='6  Rechnungsverfahren  616. 

Sicel  828.  901. 

Sicüien  119.  128.  147. 

Sidliquus  580. 

Sickd  881. 

Siclus  823. 

Siddhdnta  599.  602.  699. 

Siddhantagiromani  598. 

Sieb  des  Eratosthenes  332—883.  507. 

Sieben  als  unbestimmte  Vielheit  84. 

—  freie  Künste  s.  artes  liberales. 
Siebeneck  im  Kreise  807.  876—877.  745. 
Siebenerprobe  461.  611.  808. 

Sigebert  876. 

Signal  882. 

Süius  Italictis  295. 

Simon  (Max)  60.  94.  96. 

Simplidus  202.  204.  208.  209.  409.  422. 

500.  502.  540.  736. 
Sinän  ibn  Alfath  780. 

—  ibn  Idbit  749. 
Sind  ibn  'Ali  780. 

Sindhind  602.  697.  698.  699.  712. 
Sinus  428.  658.  787.  789.  796.  907. 

—  von  225'  659. 

Sinussatz  der  ebenen  Trigonometrie  779. 

—  der  sphärischen  Trigotiometrie  748. 
Sinustafeln  428.   659.  746—747.  789. 
Sinus  versus  658. 

Sipos  892flgg. 

Sita  824. 

Skandinaven  10. 

Smith  47. 

Smot  =  J.u«rec^nuny  (ägyptisch)  68. 

Smyma  119. 

Sodscha  ibn  Aslam  731. 

Sokrates  202.   214.    215.   216.   217.  218. 

219. 
So/on  120.  184.  151.  214. 
Sopater  458, 

Sophienkirche  in  Konstantinopel  501. 
Sophisten  193.  194—195.  208.  218.  256. 
Soranzo  820. 
Sosujenes  540. 
Sosikrates  186. 

iSo««  ^  ffO  (sumerisch)  86.  42. 
Spanische  Omaijaden  707.  792—798. 
Species  473. 
AVpewjfe/  fi.;  118.  204. 
Speusippus  216.  249.  487. 
iSi)Ä«r»X-  156.  293.  411.  412.  447.  745. 
Sphärische  Spirale  451. 

—  Trigonometrie    412  —  414.   420  —  421. 
658.  684.  738.  780.  789.  794—796. 

Spirale  (Maschine)  326. 

Spiralliniefi    195.    297.    306  —  307.    318. 

353.  446.  451. 
Spiren  196.  242.  356.  380.  412. 
Spirische  Schnitte  242—243.  356. 
Spitzenfigur  786. 
Sprenger  738.  739. 
S.  Q.  555. 


Itegister. 


937 


St.  Emmeran  in  Begensbitrg  886. 

St.  GaUen  861.  886. 

St.  Martin  bei  Tours  838. 840. 841 .  842. 843. 

St.  Peter  in  Salzburg  859.  866.  886. 

Stadtmauer  (Hugo)  462. 

Stammbrüthe   61.    62.   83.   84.    86.    126. 

128.  166.  319.  395.  604—606.  526.  645. 

718.  766.  764.  887. 
— ,  algebraische  470.  768. 
Stein  (Lorenz  von)  834. 
Steindorff  (G.)  56.  67.  89.  109. 
SteinhaH  (Karl)  196. 
Steinschneider  (Moritz)  45.  708.  704.  706. 

731.  736.  738.  748.  761.  793.  794.  797. 

806.  907.  909. 
SteUa  637. 
Stellungswert  der  Zahlzeichen  27.  30—81. 

126.  127.  128.  606.  607.  608.  609.  616. 

710.  785. 
Stereographische  Projektion  428. 
Stereometrie  98—101.  166.  225.  229.  241. 

271.  308.  350.  358.  390.  891.  401—403. 

536.  665.  646.  646.  649.  728.  786.  799. 
Stern  (Ludwig)  58. 

Stern  =  Winkelkreuz  381.  382.  637.  676. 
Sternvieleck  177—178.  588—589.  786. 
Stesichorus  146.  147. 
Stetigkeitsbegriff  200.  203—204. 
Stobaeus  36.  153.  169. 
Stoeber  552. 
Stoiker  198.  366. 
tfToi;^era  201.  261. 
—  navixd  303. 

Stoy  87.  129.  130.  134.  614.  829. 
Strabon  32.  36.  103.  160.  161.  216.  238. 

411. 
Studemund  206.  565. 
Sturm  (Ambros)  220.  231.  844. 
Su  8chu  kieou  tschang  674. 
Stibtraktion  zur  Bildung  von  Zahlwörtern 

11.  625. 
Subtraktionsverfahren  610.  671.  716.  811. 

816. 
Suchet  57. 
Suetonius  527. 
Suidas  36.   41.    60.    146.   237.   327.  441. 

442.  491.  496.  496. 
Sumerier  19.  20.  24.  30.  82. 
Sun  tse  686. 

Sung-Dynastie  666.  674.  678.  680. 
Sunya  614.  712. 
Surya  599.  712. 
Suryaddsa  600. 
Surya    Siddhdnta    699—600.    609.    686. 

657.  658. 
Susemihl  236.  238.  268. 
Sutek  =  Leiter  (ägyptisch)  80. 
Suter  (Heinrich)  363.  660.  693.  697.  701. 

703.  705.  710.  713.  718.  780.  781.  733. 

736.  788.  739.  742.  748.  749.  760.  752. 

763.  769.  761—763.  774.  775.  778—781. 

784.  78?.  790.  792—794.  805.  810.  842. 

866.  912.  913. 


Swd/n  fa  tong  tsang  670. 
Swän  pdn  669.  670.  671.  675. 
Sylvester  IL  =  Gerbert  858. 
Symmachus  578.  674.  578. 
SymboliscJie    Positionsarithmetik    607  — 

608. 
övvaymyij  444. 
Synesius  495. 
Synkellos  36. 

Synode  von  Mousson  868. 
Synthesis  220—221.  230. 
äyrakus  216.  296.  296.  308. 
^rer  124—126. 
Syrianus  497. 


T. 

Tdbi  768. 

^äbit  ibn  Kurrah    167.    703—704.    734 

"  —736.  741.  749.  750.  787.  908. 

Taeitus  523. 

^admor  123. 

Tae  684-686. 

Tageseinteilung  39. 

Takarrur  806.  807. 

Talchis  =  Auszug  (arabisch)  806. 

Talent  132.  133. 

Talmud  48.  173. 

Talus  163.  ^52. 

Tamerlan  780.  821. 

Tangoüte  (trigo^iometrische)  738.  748.  789. 

Tangentenproblem  265.  307.  749. 

Tannery  (Paul)  155.  158!  166.  198.  200. 
202.  222.  249.  257.  293.  299.  319.  346. 
372.  411.  414.  468.  461.  463.  464.  466 
und  häutiger.  490.  496.  504.  607.  610. 
514.  552.  555.  659.  581.  857.  862.  872 
und  häufiger.  873.  875.  876.  912. 

Tab  665. 

Tara  812. 

Taraha  812. 

Tarh  812. 

Tdrik  706. 

Tarquinius  Pri^cus  626. 

Ta  schi  666. 

Tatto  842. 

Ta  yen  686.  689. 

Taylor  624. 

Tdzy  666. 

Tchao  kun  hiang  678. 

Tcheou-Bynastie  664.  678.  682. 

Tcheou  ==  Kreis  (chinesisch)  677.  679. 

Tcheöu  konfj  664.  670.  677,  678.  681. 

—  lif  664.  i566.  666.  676.  677.  678. 

Tcheou  pei  677—679.  681.  682. 

Tchin  khang  tching  666. 

Tchin  t07ig  666. 

Tchintsoe  678. 

Tchu  hl  666. 

Teilerfremde  Zahlen  267.  430.  628.  629. 

Teilung  der  Figuren  Euklids  287—288. 
380. 

tÜeioi  168. 


38 


Register. 


emenias  893  figg. 
emnonides  289. 
emplwn  682.  683.  634.  540. 
ennuUits  158  und  häufiger.  469. 
ßpro  =  Mimd  (ägyptisch)  93. 
erentianus  Maurus  642. 
erminus  861.  764. 
erquem  (Olry)  383. 
essareskoidekasiten  672. 
eta  66. 

tayiiivotg  xartiyfiivai  331.  664. 
T^aycDi/t^ovcfa  1V)5. 
T^ayfovoff  207. 

i?^adw  d««  Äpollonius  346 — 847.  890. 
766. 

etraktys  42. 
5w/fci  643. 

hales  von  MiUt    136—147.    160.    171. 
189.  390.  557. 
hang- Dynastie  678.  686. 
heaetet  von  Athen  194.  236.  236—287. 
245.  248.  260.  275.  276.  348. 
hemistios  137.  141.  203. 
hen  wdng  664. 
heodoHt  382.  760.  862. 
heodor,  Bischof  von  Canterbury  827. 

-  Tschabuchen  von  Klazomenae  514. 
heodorich,    König    der   Ostgoten   568. 
669.  578.  574.  676.  • 

-  von  Chartres  898. 

heodorus  von  Kyrene  182.  20*1.  213. 
215.  226. 

-  Meliteniota  415.  509. 

-  von  Samos  163. 

heodosius  I.  441.  491.  496.  821. 

-  von  Tripolis  293.  411.  412.  447.  448. 
704.  908.  911. 

heodulf  von  Mainz  884. 
heon  von  Alexandria    128.    277—278. 
318.  367.-362.  416.  421.  433.  441.  442. 
468.  464.  487.  491—495.  499.  612.  582. 
689.  764. 

-  von  Smyma  32.  38. 118. 164. 166. 166. 
159.  160.  164.  168.  169.  186.  232.  233. 
267.  317.  331.  428.  433—438.  464.  466. 
460.  475.  491.  687.  640.  716.  755.  877. 
896. 

'heophanes  709. 
'heophania  854. 

'heophrastus  von  Lesbos  118.  193.  267. 
269. 

heorem  276. 
'hevenot  369.  870. 
'heydius  von  Magnesia  247.  248. 
hibaut  39.  600.  636—641.  648. 
'hietmar,  Bischof  von  Merseburg  858. 
'horbecke  (Attgust)  668.  569. 

-  (Heinrich)  693. 
'hot  77.  86. 

'hrasyllus  von  Mende  428.  488. 
'hukydides  172.  214. 
'hurot  326. 


Thymaridas    168—159.    286.    455.    462. 

470.  624. 
^vqiog  =  Schild  (als  Namen  der  Ellipse) 

292. 
Tiberius  261.  428.  438.  590. 
Tibet  607. 
Tille  (Armin)  714. 
Tim  =  Seil  (sumerisch)  46.  646. 
Timaeus  von  Lökri  154.   174.   179.  216. 
Tiinur  =  Tamerlan  780. 
Tittel  (Karl)  863.  406. 
Titultis  881. 
Titurel  714. 
Titus  651. 

T9na  =  10000  (altslavisch)  24. 
tfi^T^ftara  416. 
TogruJbeg  774. 
Toledo  796. 
Tonog  229. 
Tordli  296.  846. 
Tosorthros  56. 
Trojan  467.  461.  542.  561.  552.  653.  561. 

564.  696. 
Tretaiein  (Feter)  886.  902. 
TQtxoT6iua    ycovlag    =    Dreiteilung    des 

Winkels  197. 
Trigonometrie    99.    362.    399.    416—421. 

602.    657—660.    684.     738.    746—748. 

779—780.  794—796. 
Trinitätsbegriff  430. 

Trisektion=^ Dreiteilung  des  Winkels  197. 
tgiöndarog  826. 
Trivium  678.  828. 
Trugsddüsse  Euklids  278. 
Tsdng  kie  664. 
Tschang  tsang  682. 
Tschu  schi  kih  687. 
Tsin-Dynastie  678. 
Tsin  kiu  tschau  674.  682.  684.  687. 
Tsin  sehe  hudng  ty,  der  Bücherverbrenner 

665.  678. 
Tsing- Dynastie  667. 
Tsu  tschung  tsche  683. 
Türken  12. 
Tu  fang  schi  676. 
Tu  kuei  676. 
Tulyau  622. 

IV^nnu  =  Erhebung  (ägyptisch)  80. 
Turamaya  699. 
Turanier  19.  20. 
r^ef^es  216.  296.  296.  826. 
Tziphra  511. 

U. 

UchaUbt  =  Suchen  der  Fußsohle  (ägyp- 
tisch) 99.  205. 
Ufpian  561. 
ülug  Beg  781.  788. 
—  Begs  Tafelwerk  781. 
ümfera  748. 

Umkehrungsrechnung  617.  732. 
Unbestimmte  Vielheit  33—35. 


Register. 


939 


Undezimalsystem  11. 
Unendlich  groß  23—24.   199.   204.   262. 
821.  322.  632.  617. 

—  klein  199.  204.  262.  321. 
ünger  486. 

Universität  zu  Athen  496.  497.  600.  603. 

—  von  Paris  843. 

Unmöglichkeit  rationcUer  Losung  von 
a;8  4-  y»  =  Ä»  752.  785. 

Unreine  qiMdratische  Gleichungen  in  3 
Fällen  bOuindelt  285.  478.  625.  719. 
723.  803. 

Unze  630.  880.  884.  896. 

Ursprung  einzdner  Wissenszweige  zu  er- 
mitteln gesucht  117. 

U  schi  688. 

Usener  202.  442.  508.  668.  673.  674. 
577.  582. 

Usertesen  11.  69.  74. 

Use%  99. 

Ufhramaii^  6^7.  658. 

Überragung  889. 

Überschießende  Zahlen  168.  480.  507.  824. 

Übersetzungen  aus  dem  Arabischen  797. 

Übersichten:  Babylonische  Mathematik 
46.  50 — 51,  Ägyptische  Mathematik 
112—113,  Entwicklung  der  griechischen 
Mathematik  117—119,  Thaies  147, 
Pythagoräische  Maffiematik  186—188, 
Mathematik  der  Akademie  260—251, 
Mathematik  der  Epigonenzeit  863.  426 
—426,  Heron  406,  Pappus  und  Dio- 
phant  487—488,  Römische  Blütezeit 
660 — 661,  Verhältnis  der  griechischen 
zur  indischen  Mathematik  601—602, 
Ostaräbische  Mathematik  786  —  787, 
Westaraf'ische  Mathemat  k  816—817, 
Unterscheidungsmerkmale  zjvischen  Aba- 
cisten  und  Algorithmikern  909—910, 
Zustand  derWissenschaft  um  1200  911. 


Vacca  (Giovanni)  680. 

Vadana  647. 

Vaigyas  696. 

Vajrdbhyasa  611. 

Valeiius  Maximus  45.  261.  295. 

VaJkenarius  212. 

Van  Pesch  s.  Pesch. 

Varähamihira  600. 

Varga  =  Reihe,  ^wadra«  (indisch)  616.728. 

Variation  742. 

Varro  526.  632.  542--543.  549.  666.  570. 

Vasengemälde  41.  132.  178. 

Venturi  863.  382. 

Veränderliche  281.  282.  284.  289.  290. 

Verbiest  667.  682. 

Verdoppeln  86.  819.  717.  761.  764. 

Vergilius  665. 

Verglichen  abgenommene  Maße  28.  111. 

396.  397.  404.  489.  686.  691.  646.  728. 

837. 


VerluUtnisschnitt  des  ApoUonius  844.  448. 

462. 
Vermeidung  von  Zahlzeichen   708.   748. 

763.  766. 
Versfüße  267.  619. 
Vertex  565. 

Vertranius  Maurus  643. 
Vespasian  661. 

Vesiäheiligtum  kein  Temphim  633. 
Vettius  Valens  348.  426. 
Via  quintana  634. 
Victorinus  581.  882. 
Victorius  von  Aquitanien  681.  666.  672. 

828.  831.  832.  846.  888.  884. 
Vielecke,  einbeschriebene   202.    203.  278. 

358.  876—378.  387.  389.  891.  446.  449. 
— ,  umschriebene  203.  368. 

—  mit  einspringenden  Winkeln  367. 
Vieleckszahlen  s.  PolygonnlzaMen. 
Vielflächner,  halbregelmäßige  308. 

— ,  regelmäßige  163.  174—176.  226.  287. 

246.  260.  274.  807.  344.  868.  359.  880. 

446.  447.  745. 
Viereck  dem  Dreieck  vorausgehend  111. 

389.  391.  395.  506.  646.  680. 
Vierecke  von  5  Arten  651.  727. 
Vierecksformel    des    Brähmagupta    646. 

649—662. 
Vierzig  als  unbestimmte  Vielheit  84.  43. 
Vigesimal System  8.  9.  123. 
Vijaganita  698.  664. 
Vincent  89.  181.  812.  363.  882.  488.  440. 

506.  894. 
Vipsanius  8.  Agrippa. 
Virgilius  von  Toulouse  845. 
Vishnu  619. 
Vitalian  827. 
Vitruvtus  Pollio  50.  162.  174.  180.  190. 

311.  826.  330.  865.  867.  636.  643—647. 

699.  601.  687.  740.  893. 

—  Rufus  552.  663.  656—660. 
Vogt  (Heinrich)  636. 

Vokale   durch  Konsonanten   ersetzt  802 

—803.  888. 
Volkmann  268. 
Vollkommene  Zahlen  87.  167—168.  226. 

268.  480.  434.  460.  507.  627.  736.  789. 

784.  798.  824.  836. 
Volusius  Maecianus  526. 
Vorbedeutungsivissemchaft    38.    46.    46. 

467.  634.  735.  741.  786. 
Vorderasiatische  Enttoicklung  der  Arit^i- 

metik  466. 
VossiiS  184.  360.  463.  548. 
Vydghramuka  699. 

W. 

Wachsmuth  498.  502. 

Waeschke  511. 

Wafk  741. 

Wagner  606. 

Wagschalenmethode  782,  809—810. 


940 


Register. 


Wahlsätze  des  Ärchimed  297.  298—300. 

Wahrscheinliche  Lebensdauer  561. 

Walafried  Strabo  842. 

WalcKhische  Bauernregel  628. 

Wallis  (John)  780. 

Walther  von  Speier  851—853.  886. 

Wan  ly  688. 

Wang  myan  chi  666. 

—  ixihao  yu  666. 
Wappler  886. 
Wasserwage  382.  676. 

Wattenbach  882.  840.  851.  888.  906.  909. 
Wazo,  Bischof  von  LüUich  878.  877. 
Weber  (Älbrecht)  39.  596.  600.  609.  619. 
687. 

—  (Heinrich)  466. 
Wegmesser  544. 

Wegschaffung  des  mittleren  Gliedes  625. 

Weigand  862. 

Weil  (Gustav)   693.   696.  696.  701.  704. 

706.  707.  741.  765.  774.  778.  780.  794. 
Weißenbom  (Herrmann)  298.  676.   679. 

682.  587.  590.  650.  857.  906. 
Welcher  (F,  G.)  182. 
Welid  I.  701.  706.  709. 
WeUchen  10. 

Wenrich  354.  697.  702.  703.  704. 
Werner   825.    828.    881.   884.   835.   841. 

843.  847.  853.  855.  858.  859.  878.  889. 

—  van  Straßburg  889. 

Wertheim  (G.)  872.  466  und  häufiger. 
Westaraber   604.    706—707.   711.   792— 

817.  822. 
Westermann  169.  602. 
Wezir  =  Träger  (arabisch)  696. 
Whitney  89.  599. 
Wiedemann  (EHhard)  704. 
Wilhelm  von  Malmesbury  848—849.  861. 

—  von  Straßburg  889. 
Wilkins  45. 

Wilkinson  90.  105.  108. 
Wilson  457. 
Windisch  695. 

Winkel,  dessen  Name   in  verschiedenen 

Sprachen  15.  16. 
— ,  ähnlicher  138.  140. 
— ,  äußerer  ufid  innerer  861.  874—875. 

876.  878. 
— ,  einspringender  46. 
— ,  Iwmförmiger  192.  264. 
Winkelsumme    den   Breiecks    141  — 144. 

171-172.  262.  262.  606.  878.  876. 
Winterberg  876. 
Wisowa  509. 
Wissenschaftliche  Mode  s.  Mode  in  der 

Wissenschaft 
Woche  84.  38. 
Woepcke    167.   209.   287.    848.   868.  446. 

467.  604.  608.  618.  657.  698.  701.   709 

—712.   730.    783.    786.    737.   742—746. 

749—763.  766.  761.  762.  776.  781.  789. 

809.  810.  811.  816.  891.  898.  894.  896. 


Woisin  128.  184. 

Wolf  (Christian  von)  509. 

—  (Rudolf)  187.  821.  860.  861.  862. 
407.  409.  421.  447.  742.  775. 

Wolverad  888. 
Würfel,  etruskische  624. 
Würfelvetdoppelung  202.  211—218.  226 
—284.  298. 809.  840.  449.  458.  510.  688. 

—  des  Archytas  von  Tarent  228—229. 
830,  des  Diökles  864,  des  Eratosthenes 
880—331.  868.  445,  des  Eudoxus  281. 
248.  880,  des  Heron  869—870.  886. 
446,  des  Hippokrates  von  Chios  212 
—218,  des  Jlfcna€c/imu»  229 -281.  880, 
des  Nikomedes  861—362.  446,  des 
Pappus  446,  des  Piaton  227.  868. 

Wüstenfeld  «97.  699.  703.  704.  718.  715. 

722.  780.  789.  761.  789.   793.  907. 
Wurm  181.  282.  779. 
Wurzelzeichen  814—816. 
Wyttenhach  176. 


Xenokrates  118.  216.  249—250.  266.  320. 
Xenophon  216.  242. 
Xerxes  85. 
Xylander  610. 

Y. 

ir  hy  wy  666. 

Yavana  600. 

—  Pura  600. 

Yavanegvaräcdrya  600.  638. 

Yävattdvat  620.  684.  728. 

Yaxartes  19. 

Yih  hing  686. 

York  831.  832—888.  840. 

vnuQ^ig  471. 

vnsvavticc  239. 

VTCtgtsUioi  168. 

vytorvn(oCtg  146. 

Yrinius  =  Heron  705. 

Yron  866. 

Yu  678.  679. 

Yuen  684-686. 

Yuen-Bynastie  666. 

Yukat<in  9. 

Yün  16  td  tikn  669. 

Yuy\g  fang  678. 

Z. 

Zählen  definiert  4. 

Zahletibegriffder  Crriechen  170. 187—188. 

474—475.  628. 
Zahlenkampf  580.  852.  886. 
Zahlensymbolik  44.   157.   167.   488.  469. 

667.  669.  G74.  675.  680.  836.  840.  846. 

896-896. 
Zahlensysteme  7—11.  22.  32.  460.  676. 


Begister. 


941 


ZaMentheoretisdie  Aufgäben  in  geometri- 
scher Einkleidung  891.  464.  484.  486. 
613.  6S1.  724. 

—  8.  Bationale  rechtwinklige  Dreiecke. 
Zahlwörter  4—18.  21.  82.  120.  128.  626. 

684.  604.  607.  608.  612.  672.  678.  674. 

708.  789.  766.  824.  892—897.  898.  900. 
Zahlzeichen  12.  14.  21—22.  44.  82—86. 

120—129.  191.  611.  622—626.  628.  680. 

684.  692.  602.  608.  604.  606.  607.  672. 

674.  709.  710.  711—712. 
Zaid  ihn  Rifd'a  738.  789. 
Zangemeister  624.  629. 
ZeüSmvngen  mit  geometrischen  Anklängen 

46.  47.  108.  109.  401.  682. 
Zeising  179. 
Zdler  (Eduard)  61.  186.  148.  149.  168. 

167.  169.  160.  167.  174.  176.  188.  191. 

194.  198.  261.  466.  468.  469.  496.  497. 
Zenis  893  flgg. 
Zenodorus  866—868.  868.  446—447.  660. 

706.  740. 
Zenodotus  866. 
— ,  Bihlioihehsvorsteher    in    Alexandria 

829. 
Zenan  von  Elea  198—200.  264.  409.  410. 

—  von  Sidon  194. 


Zerlegung  von  Flächen  durch  Hilfslinien 

97.  110.  888.  889.  396.  646. 
Zerstäubung  :=  Kuttaka. 
Zeuthen  186.  286.  291.  840.  346.  428.  636. 

676. 
Zeuadppus  297.  820. 
Zimmern  (Heinrich)  37. 
Zins  661.  619. 
Zirkel  (geometrisches  Hiltamittel)  92. 362. 

—  461. 

—  und  Lineal,  Konstruktionen   mitteis 
derselben  197.  234.  270.  816.  474. 

Zirkulatur  des  Quadrates  641.  642. 

Zöppritz  862. 

Zonaras  296. 

Zuckermann  173. 

2kdukaffem  7. 

Zusamm,engesetztes  Verhältnis  161.   266. 

413. 
Zusammengesetzte  Zahlen  267.  480.  680. 

688.  766. 
ZyUen  672. 
Zyklische  Anordnung  616.  616. 

—  Methode  682—688. 

—  Quadratzahl  202. 
ZylinderschniU  263.  489.  490—491. 


Dmek  Ton  B.  O.  Tenbner  in  L«ipsig. 


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