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THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF CALIFORNIA
DAVIS
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VORLESUNGEN
ÜBER
GESCHICHTE DER MATHEMATIK
VON
MOBITZ CANTOR.
ERSTER BAND.
VON DEN ÄLTESTEN ZEITEN BIS ZUM JAHRK 1200 N. CHR.
MIT 114 FIOUREN IM TEXT UND 1 LITHOGR. TAFEL.
DRITTE AUPLAGB.
LEIPZIG,
DKUCK UND VERLAG VON B. G. TEÜBNER.
1907.
LIBRARY
UWIVEkSITY OF CAUFORNIA
iXAVJUI
ALLE RECHTE, BINSOHLIESSIiIGH DES ÜBKR9ETZÜNGSBECHTS, VOBBEECALTEN.
i
VorTv^ort.
Als ich im Dezember 1893 der zweiten Auflage dieses 1. Bandes
meiner Vorlesungen über Geschichte der Mathematik ein Vorwort zur
Begleitung gab, äußerte ich mich in einer Weise, die heute Wieder-
holung finden könnte. Abermals liegt ein Zwischenraum yon 13 Jahren
zwischen dem Erscheinen der vorigen und der neuen Auflage. Ab^-
mals habe ich gesucht^ die Ergebnisse zu verwerten, welche neue Be-
arbeiter des geschichtlichen Bodens, die sich yon Jahr zu Jahr mehren,
gewonnen haben oder gewonnen zu haben wähnen. Abermals spreche
ich die Überzeugung aus, daß jener Boden noch lange nicht erschöpft
ist, daß es immer noch offene Fragen gibt, über deren Beantwortung
man uneinig sein kann, und daß es die Pflicht des gewissenhaften
Geschichtschreibers ist, seine Leser auf die Streitpunkte aufmerksam
zu machen. Ich hoffe dieser Pflicht genügt zu haben.
Heidelberg, Dezember 1906.
Moritz Cantor.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung 1—16
I. Babylonier 17—62
1. Kapitel. Die Babylonier 19
n. Ägypter 68—114
2. Kapitel. Die Ägypter. Arithmetisches 66
3. Kapitel. Die Ägypter. Geometrisches 90
m. GriecheA 116—618
4. Kapitel. Zahlseichen. Fingerrechnen. Rechenbrett .... 117
6. Kapitel. Thaies und die älteste griechische Geometrie ... 134
6. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. . . .147
7. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie ... 170
8. Kapitel. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule 188
9. Kapitel. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule.
(Fortsetzung) Hippokrates von Chios 201
10. Kapitel. Piaton 213
11. Kapitel. Die Akademie. Aristoteles 234
12. Kapitel. Die Elemente des Euklid 268
13. Kapitel. Die übrigen Schriften des Euklid 278
14. Kapitel. Archimedes und seine geometrischen Leistungen . 296
16. Kapitel. Die übrigen Leistungen des Archimedes 310
16. Kapitel. Eratosthenes. Apollonius von Pergä 327
17. Kapitel. Die Epigonen der großen Mathematiker 349
18. Kapitel. Heron von Alexandria 368
19. Kapitel. Heron von Alexandria (Fortsetzung) 386
20. Kapitel. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus . . 406
21. Kapitel. Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon 426
22. Kapitel. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria . 488
23. Kapitel. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. . 466
24. Kapitel. Die griechische Mathematik in ihrer Entartung . . 488
IV. Römer 619—692
26. Kapitel. Älteste Rechenkunst und Feldmessung 621
26. Kapitel. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agri-
mensoren 638
27. Kapitel. Die spätere mathematische Literatur der Römer. . 661
V. Inder 698—660
28. Kapitel. Einleitendes. Elementare Rechenkunst 696
29. Kapitel. Höhere Rechenkunst. Algebra 613
80. Kapitel. Geometrie und Trigonometrie 686
VI InhalteverzeichnlB.
Seit«
VI. Chinesen 661— 690
81. Kapitel. Die Mathematik der Chinesen 66S
Vn. Araber 691—817
82. Kapitel. Einleitendes. Arabische Übersetzer 698
:^3. Kapitel. Arabische Zahlzeichen. Mahammed ihn Müb&
Alchwarizm! 707
34. Kapitel. Die Mathematiker nnter den Abbasiden. Die
Geometer unter den Bnjiden 738
35. Kapitel. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Alge-
braiker von 960 etwa bis 1100 761
36. Kapitel. Der Niedergang der ostarabischen Mathematik.
Ägyptische Mathematiker 777
37. Kapitel. Die Mathematik der Westaraber. 798
Yin. Klostergelehrsamkeit des Mittelalters 819—911
38. Kapitel. Klostergelehrsamkeit bis zum Aasgange des X.Jahr-
hunderts 821
39. Kapitel. Gerbert 847
40. Kapitel. Abacisten und Algorithmiker 879
Ergänzungen und Verbesserungen 912 — 918
Register 914—941
y
i
Einleitung.
"OB, 0«soliloht« der Mathematik L 3. Aufl.
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Cöl
^
Längst war der Erdball so weit erkaltet, daß auf der fesi^e-
wordenen Oberfläche Organismen sich entwickeln konnten. In Zeit-
räumen, deren jeder weitaus die Spanne übertrifft; welche wir mit
dem stolzen Namen der Geschichte belegen — als ob nur durch den
Manschen etwas geschehen könnte! — hatten neue und neue Arten
lebender Wesen sich abgelöst. Jetzt erschien der Mensch, ausge-
zeichnet durch Entwicklungsföhigkeit yor allen anderen Geschöpfen,
hilflos wie keines in das Leben tretend, mächtig wie keines auf dem
Gipfel seiner Ausbildung.
Der einzelne Mensch liefert nur das verkleinerte Bild des Menschen-
geschlechtes. Die Entwicklung des Menschengeistes hat in den, Völker
genannten, Gesamtheiten stattgefunden, und ihre aufeinanderfolgenden
Stufen zu vergleichen ist von spannender Anziehung.
Eines dürfen wir freilich bei Anerkennung der Ähnlichkeit der
Entwicklung des Einzelmenschen mit der des Menschengeschlechtes
nicht außer Augen lassen. Das Kind lernt vom Tage seiner Geburt
an durch Menschen. Das Menschengeschlecht begann damit, von
niedrigeren Geschöpfen lernen zu müssen. Werden doch wohl Tiere
sein Vorbild gewesen sein, aus deren Beispiel er entnahm, wie man
den Durst, den Hunger stille, wie man in Höhlen Schutz suche vor
der Unbill der Witterung, wie man zur Wehr sich setze gegen feind-
lichen Angriff. Aber der Mensch war schwächeren Körpers als seine
Lehrmeister. Ihm war nicht eine dichtere Behaarung während der
kälteren Jahreszeiten gegeben. Er konnte nicht mit Händen und
Zähnen des Bären oder der Hyäne Herr werden, denen er, die ihm
den Aufenthalt streitig machten. Und seine Schwäche wurde seine
Stärke. Er mußte denken! Er mußte erfinden, wenn er leben wollte.
Er mußte von der ihm äußerlich gebotenen Erfahrung weiter schreiten.
Das Tier führte ihn zum Baume der Erkenntnis, die Frucht des-
selben pflückte er selbst.
Mit dem Gedanken war das Bedürfiods der Mitteilung desselben
erwacht, die Sprache entstand. Der Mensch lernte den Menschen
verstehen, nicht nur in dem Sinne wie das Tier das Tier versteht,
nicht nur, wo es den Ausdruck besonders starker Empfindungen durch
Tonbildung galt, sondern wo bestimmte Ereignisse oder gar Begriffe
4 Einleitung.
zur Eenntnis des anderen gebracht werden sollten. Freilich begann
die Sprachbildung nicht erst, als die Begriffsbildong abgeschlossen
war. Ist doch erstere wie letztere bis auf den heutigen T^ noch
im Flusse. Die beiden Tätigkeiten gingen offenbar nebeneinander
einher, und selbst Begriffe, welche einer und derselben Gedanken-
reihe entstammen, sind mit ihrer lautlichen Versinnlichung als zu
yerschiedenen Zeiten entstanden zu denken. Für das Sprachliche an
dieser Behauptung ist es nicht schwer den Beweis zu fahren, auch
nur unter Zuziehung solcher Wörter, die dem Mathematiker von
ältester und hervorragendster Wichtigkeit sind; wir meinen die
Zahlwörter.
Zählen, insofern damit nur das bewußte Zusammenfassen be-
stimmter Einzelwesen gemeint ist, bildet, wie scharfsinnig hervor-
gehoben worden ist^), keine menschliche Eigentümlichkeit; auch die
Ente zählt ihre Jungen. Diesem niedersten Standpunkte ziemlich
nahe bleibt das, was von einem südafrikanischen Stamme berichtet
wird'), daß während wenige weiter zählen können als zehn, dessen-
ungeachtet ihre Vorstellung von der Größe einer Herde Vieh so
bestimmt ist, daß nicht ein Stück daran fehlen darf, ohne daß sie es
sogleich merkten. „Wenn Herden von 400 bis 500 Rindern zu Hause
getrieben werden, sieht der Besitzer sie hereinkommen und weiß be-
stimmt ob einige fehlen, wieviel und sogar welche. Wahrscheinlich
haben sie eine Art zu zählen, bei welcher sie keine Worte brauchen
und wovon sie nicht Rechenschaft zu geben wissen, oder ihr Gedächt-
nis erlangt fiir diesen einzelnen Gegenstand durch die Übung eine
so ungemeine Stärke.^ Ohne nach so fernen Gegenden unseren Blick
zu richten, können wir ähnliche Erfahrungen täglich an ganz kleinen
Kindern machen, welche sofort wissen, wenn von Dominosteinen etwa,
mit denen sie zu spielen gewohnt sind, ein einzelner fehlt, während
sie sich und anderen über die Anzahl ihrer Steine noch nicht Rechen-
schaft zu geben wissen. Sie kennen eben die Einzel-Individuen als
einzelne, nicht als Teile einer Gesamtheit, und ihr Gedächtnis ist
^) H. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Alterthum und Mittel-
alter. Leipzig 1874. S. 7. Wir zitieren dieses Buch künftig immer als Hankel.
Einen ganz ähnlichen Gedanken hat (nach Eaestner, Geschichte der Mathe-
matik I, 242) anch schon Pietro Bongo (oder Bangus) in seinem Werke
Numerarum tnysteria (1699, 11. Auflage 1618) ausgesprochen. ') Pott, Die
quinäre und vigesimale Zählmethode bei Völkern aller Welttheile, Halle 1847. S. 17.
Dieses Buch zitieren wir in der ganzen Einleitung als Pott I, während Pott U
die Schrift desselben Verfassers: Pott, Die Sprachverschiedenheit in Europa
an den Zahlwörtern nachgewiesen, sowie die quinäre und yigesimale Zähl-
methode. Halle 1868, bedeuten soll.
Einleitung. 5
für die £rinnerang au Angeschautes um so treuer, je weniger andere
Eindrücke es zu bewahren hat. In der Sprache drückt sich diese
Individualisierung nicht selten dadurch aus^ daß dieselbe Anzahl je nach
den gezählten Dingen einen anderen Namen führt, wie es bei manchen
ozeanischen Volkerstämmen, aber auch für Sammelwörter im Deutschen
vorkommt, wenn man von einem Koppel Hunde oder, wenn deren
mehrere sind, von einer Meute Hunde, von einer Herde Schafe, von
einem Rudel Hirsche, von einer Flucht Tauben, von einer Kette
Feldhühner, von einem Zug Schnepfen, von einem Schwärm Bienen
zu reden pflegt^).
Das eigentliche Zählen, das menschliche Zählen, wenn man so
sagen darf, setzt voraus, daß die Gegenstände als solche gleichgültig
geworden sind, daß nur das getrennte Vorhandensein unterschiedener
Dinge begrifflich erfaßt, dann sprachlich bezeichnet werden solL Es
liegt darin bereits eine keineswegs unbedeutende Äußerung der Fähig-
keit zu verallgemeinem, zugleich auch eine ihrer frühesten Äuße-
rungen, denn die Zahlwörter gehören zu den ältesten Teilen des
menschlichen Sprachschatzes. In ihnen lassen sich oft noch Ähnlich-
keiten, mithin Beweise alter Stammesgemeinschaft später getrennter
Völker auffinden, während kaum andere Wörter auf die gleiche Zeit
eines gemeinsamen Ursprunges zurückdeuten. Und was war nun der
ursprüngliche Sinn dieser ältesten, der Entstehungszeit wie dem Inhalte
nach ersten Zahlwörter? Die Annahme hat gewiß viel für sich, daß
sie anfänglich nicht Zahlen, sondern ganz bestimmte Gegenstände be-
deuteten, sei es nun, daß man von der eigenen, von der angeredeten,
von der besprochenen Persönlichkeit, also von den Wörtern: ich, du,
er ausging, um aus ihnen den Urklang für: eins, zwei, drei zu ge-
winnen^), sei es, daß man von Gliedmaßen seines Körpers deren
Anzahl entnahm'): „Es war dem Menschen ohne Zweifel ein eben
so interessantes Bewußtsein fünf Finger als zwei Hände oder zwei
Augen zu haben; und das Interesse an dieser Kenntnis, welche ein-
mal einer Entdeckung bedurfte, war ihm dft Schöpfung eines zu deren
Zählung eigens verwendbaren Ausdruckes wohl wert; von hier aus
mag der Gebrauch auf andere zu zählende Dinge übertragen worden
sein, zunächst auf solche, bei denen es auffallen mochte, daß sie in
ebenso großer Zahl vorhanden waren, als die Hand Finger hat." Wir
wiederholen es, solche Annahmen haben viel für sich, sie tragen ihre
beste Empfehlung in sich selbst, aber leider auch ihre einzige. Die
Sprachforschung hat nicht vermocht deren Bestätigung zu liefern^'
») Pott I, S. 126. -) Pott I, S. 119. ») L. Geiger, Ursprung und Ent-
Wickelung der menschlichen Sprache und Vernunft. 1868. Bd. 1, S. 319.
6 Einleitung.
oder vielmehr jeder, der mit der Deutung der Zahlwörter sich be-
faßte, hat aus ihnen diejenigen Zusammenhänge zu erkennen gewußt,
welche seiner Annahme entsprachen, lauter vollgelungene Beweise,
wenn man den einen hört, sich gegenseitig vernichtend, wenn man
bei mehreren sich Rat holt, und dieser mehreren sind obendrein
recht viele. Sind demnach die eigentlichen Fachmänner über Ursprung
der ältesten einfachen Zahlwörter im Hader, so müssen wir um so
mehr darauf verzichten, auf die noch keineswegs erledigten Fragen
hier einzugehen. Einige Sicherheit tritt erst bei Besprechung der
abgeleiteten, also jüngeren Zahlwörter hervor.
Es ist leicht begreiflich, daß auch die regste Einbildungskraft,
das stärkste Gedächtnis es nicht vermochten, ftir alle aufeinander
folgenden Zahlen immer neue Wörter zu bilden, zu behalten. Man
mußte mit Notwendigkeit sehr bald zu gewissen Zusammensetzungen
schreiten, welchen die Entstehungsweise einer Zahl aus anderen zu-
grunde liegt, welche uns aber damit auch schon einen unumstöß-
lichen Beweis für die hochwichtige Tatsache liefern: daß zur Zeit,
als die meisten Zahlwörter erfunden wurden, der Mensch von dem
einfachsten Zahlen bereits zum Rechnen vorgeschritten war.
Das älteste Rechnen dürfte durch ein gewisses Anordnen ver-
mittelt worden sein, sei es der Gegenstände selbst, denen zuliebe
man die Rechnung anstellte, sei es anderer leichter zu handhabender
Dinge. Kleine Steinchen, kleine Muscheln können die Vertretung
übernommen haben, wie sie es noch heute bei manchen Völkerschaften
tun, und diese Marken, diese Rechenpfennige würde man heute sagen,
werden in kleinere oder größere Häufchen gebracht, in Reihen ge-
legt das Zusammenzählen ebenso wie das Teilen einer gegebenen
Menge wesentlich erleichtert haben. So lange man es nur mit kleinen
Zahlen zu tun hatte, trug man sogar das leichteste Versinnlichungs-
mittel stets bei sich: die Finger der Hände, die Zehen der Füße.
Man reichte freilich unmittelbar damit nicht weit, und Völkerschaften
des südlichen Afrika zei^n uns gegenwärtig noch, wie genossen-
schaftliches Zusammenwirken die Schwierigkeit besiegt, mit nur zehn
Fingern größere Anzahlen sich zu versinnlichen ^) : „Beim Aufzählen,
wenn es über Hundert geht, müssen in der Regel immer drei Mann
zusammen diese schwere Arbeit verrichten. Einer zählt dann an den
Fingern, welche er einen nach dem andern aufhebt und damit den
zu zählenden Gegenstand andeutet oder womöglich berührt, die Ein-
heiten. Der zweite hebt seine Finger auf (immer mit dem kleinen
*) Schrumpf in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesell-
schaft XVI, 463.
Einleitung. 7
Finger der linken Hand beginnend und fortlaufend bis zum
kleinen Finger der Rechten) für die Zehner, so wie sie voll
werden. Der dritte figuriert für die Hunderte."
Die hierbei festgehaltene Ordnung der Finger mag man nun er-
klären wollen, wie es auch sei^), sie findet statt und wird uns im Ver-
laufe der Untersuchungen als Grundlage des sogen. Fingerrechnens
noch mehr als einmal begegnen. Sie wird sogar abwechselnd mit
der entgegengesetzten Ordnung benutzt, um einem einzelnen zu
ermöglichen beliebig viele Gegenstande abzuzählen. Ist nämlich mit
dem kleinen Finger der rechten Hand die Zehn erfüllt worden, so
beginnt mit eben demselben allein aufgehoben die nächste Zehnzahl,
um' dieses Mal nach links sich fortzusetzen, d. h. der kleine Finger
der linken Hand vollendet die Zwanzig und wird zugleich auch
wieder Anfang der nächsten Zehnzahl usf. Natürlich muß bei dieser
Zahlenangabe, wenn es nicht um ein allmähliches Entstehen, sondern
um ein einmaliges Ausdrücken einer Zahl sich handelt, besonders an-
gedeutet werden, daß und wie oft Zehn vollendet wurde, was etwa
so geschehen kann wie bei den Zulukaffem^), die in solchem Falle beide
Hände mit ausgestreckten Fingern wiederholt zusammenschlagen.
Es ist wohl zu beachten, daß diese letztere Methode der Ver-
sinnlichung einer Zahl, einfacher insoweit als sie nur die Hände
«ines einzigen beschäftigt, begrifflich weit unter jener anderen
Methode steht, die unmittelbar vorher gekennzeichnet wurde und drei
oder gar noch mehrere Darsteller einer Zahl erfordert. Der einzelne
kommt durch die Zehnzahl der menschlichen Finger allerdings dazu,
die Gruppe Zehn als eine besonders hervortretende zu erkennen, aber
wie oft diese Gruppe selbst auch erzeugt werde, jede Neuerzeugung
ist für ihn der anderen ebenbürtig. Ganz anders bei der Methode
stufenmäßiger Darstellung durch mehrere Personen. Wie der Erste
so hat der Zweite, der Dritte nur je zehn Finger, und so erscheint
die Gruppierung von zehn Einem zwar zunächst, aber in gleicher
Weise auch die von zehn Zehnem, von zehn Hundertern. Das schein-
bar umständlichere Verfahren führt zu dem einfacheren Gedanken,
zum Zahlensystem. Wenn von einem Schriftsteller*) darauf hin-
gewiesen worden ist, daß die Wiederholung der Zehnzahl bis zu
10 mal 10 sich bei Erfüllung der nächsten 10 ebensowohl zu
11 mal 10 als zu 10 mal 10 und 10, in Worten ebensowohl zu
«Ifzig als zu hundertzehn fortsetzen konnte, und daß es ein besonders
glücklicher Griff war, der fast allen Völkern der Erde gelang, soweit
>) Pott II, S. 46, aber auch S. 81 und 42. *) Pott II, S. 47. ') Hankel,
ä. 10—11.
8 Einleitung.
ihre Fassungskraft überhaupt bis zum Bewußtwerden bestimmter
höherer Zahlen ausreicht^ gerade die Wahl zu treffen, welche dem
Zahlensystem seine Grundlage gab, so ist diese feine Bemerkung
yielleicht dahin zu ergänzen, daß auf eine der hier erörterten nahe-
stehende Weise jene glückliche Wahl eingeleitet worden sein mag.
Über die Grundzahlen solcher Zahlensysteme werden wir so-
gleich noch reden. Fürs erste halten wir daran fest, daß Zahlen-
systeme eine allgemein menschliche Erfindung darstellen, in allen
bekannt gewordenen Sprachen zu einer Grundlage der Bildung von
bald mehr bald weniger Zahlwörtern benutzt, indem höhere Zahlen
durch Yerrielfältigung von niedrigeren zusammengesetzt werden und
bei Benennung der Zwischenzahlen auch Hinzufügungen noch not-
wendig erscheinen. Multiplikation und Addition sind also
zwei Rechnungsverfahren so alt wie die Bildung der Zahl-
wörter.
Das Zahlensystem, welches wir in seinem Entstehen uns zu ver-
gegenwärtigen suchten, wurde, sofern es auf der Grundzahl Zehn
fußte, zum Dezimalsystem, heute wie unserem Zifferrechnen so
auch in unseren Maßen, Gewichten, Münzen fast der ganzen gebil-
deten Erdbevölkerung unentbehrlich. Wir haben als wahrscheinlich
erkannt, daß es nach der Zahl der Finger sich bildete, aber eben
vermöge dieses Ursprunges war es nicht das allein mögliche. Wie
man sämtliche Finger durchzählen konnte, um eine Einheit höheren
Ranges zu gewinnen, so konnte man Halt machen nach den Fingern
nur einer Hand, man konnte neben den Fingern der Hände die Zehen
der Füße benutzen. In dem einen Falle blieb man beim Quinar-
Systeme, in dem anderen ging man zum Yigesimalsystem über.
Ein strenges Quinarsystem würde, wie leicht ersichtlich, 5 mal
5 oder 25, 5 mal 5 mal 5 oder 125 usw. als Einheiten höheren
Ranges nächst der 5 selbst besitzen müssen, welche durch einfach»
oder auch zusammengesetzte Namen bezeichnet mit den Namen der
Zahlen 1, 2, 3, 4 sich vereinigen, um so alle zwischenliegende Zahlen
zu benennen. Ein solches strenges Quinarsystem gibt es nicht ^).
Dagegen gibt es Quinarsysteme in beschränkterem Sinne des Wortes^
wenn zur Benutzung dieses Wortes schon der Umstand als genügend
erachtet wird, daß die Fünf bei allmählicher Zahlenbildung einen Ruhe-
punkt gewähre, von dem aus eine weitere Zählung wieder anhebt.
Was dementsprechend von einem strengen Vigesimalsysteme zu
verlangen ist, leuchtet gleichfalls ein: ein solches muß die Grund-
zahl 20 durchhören lassen, muß die Einheit höheren Ranges 20 mal
*) Pott II, S. 35 und 46 in den Anmerkungen.
Einleitung. 9
20 oder 400, vielleicht auch noch höhere Einheiten unter besonderen
Namen besitzen. Sprachen, in welchen dieses System maßgebend
ist^ hat man mehrfach gefunden. Die Mayas in Yukatan^) haben
eigene Wörter für 20, 400, 8000, 160000. Die Azteken in Mexiko«)
hatten wenigstens besondere Wörter für 20, 400, 8000 mit der Ur-
bedeutung: das Gezahlte, das Haar, der Beutel, wobei auffallend er-
scheinen mag, daß das Haar eine verhältnismäßig niedrige Zahlen-
bedeutung hat, während es in karaibischen Sprachen^) weit überein-
stimmender mit der Wirklichkeit eine sehr große Zahl auszudrücken
bestimmt ist. Noch andere Beispiele eines bemerkbaren mehr oder
minder durchgeführten Yigesimalsystems hat vornehmlich Pott, dem
wir hier fast durchweg folgen, in Fülle gesammelt. Wir erwähnen
davon nur als den meisten unserer Leser zweifellos bekannt die
Überreste eines keltischen Yigesimalsystems in der französischen
Sprache in Wörtern wie quatrevingtSy sixvingts^ quinjsevingts^). Von
dänischen Überresten eines Systems, in welchem Vielfache von 20
eine Rolle spielen, ist weiter unten in etwas anderem Zusammenhange
die Rede.
Den Ursprung der drei Systeme, deren Grundzahlen 5, 10, 20
heißen, haben wir oben in die Finger und Zehen des Menschen ver-
legt. Auch dafür sind sprachliche Anklänge vorhanden. Zwischen
den Wörtern für 5 und für Hand ist in manchen Sprachen völlige
Gleichheit, in anderen nahe Verwandtschaft^). Alsdann darf man
aber wohl annehmen, daß es früher wünschenswert war die Glieder
des eigenen Körpers zu benennen, als Zahlwörter zu bilden, daß also
5 von Hand abgeleitet wurde, nicht umgekehrt. Das Wort für 10
heißt in der Eorasprache ^) (einem amerikanischen Idiome) so viel
wie Darreichung der Hände, und daß ein und dasselbe Wort 20 und
Mensch bedeutet kommt mehrfach vor^). Ob freilich, wie manche
wollen, auch das deutsche zehn mit den Zehen, das lateinische decem
mit digiti in Verbindung gebracht werden darf, darüber gehen die
Meinungen weit auseinander, und Pott, unser Gewährsmann, steht
auf der Seite der Verneinenden. Jedenfalls ist aber schon durch die
erwähnten Beispiele ein innerer Zusammenhang der drei genannten
Systeme untereinander und mit den menschlichen Extremitäten hin-
länglich unterstützt. Gibt es nun Sprachen, in welchen auch andere
Grundzahlen als 5, 10 oder 20 sich nachweisen lassen?
») Pott I, S. 98. *) Pott I, S. 97—98. ») Pott U, S. 68. *) Pott I, S. 88.
^) Pottl, S. 27 fLgg. and S. 128 flgg. fuhrt Beispiele aus ozeanischen Spnvchen,
aus dem Sanskrit und dem Hebi&ischen an, wenn er auch den letzteren gegen-
über, die von Benary und Ewald herrühren, sich ziemlich skeptisch verhält.
«) Pott I, S. 90. ') Pott I, S. 92.
10 Einleitung.
Wenn man gesagt hat^)^ daß kein Volk auf der ganzen £rde
je von einer anderen Grundzahl, als einer der genannten ans, sein
Zahlensystem mit einiger Konsequenz ausgebildet habe, so ist dieser
Ausspruch entschieden allzu verneinend, selbst wenn man einen be-
sonderen Nachdruck auf das Wort Konsequenz legt, dem gegenüber
die Frage erhoben werden möchte, wo denn folgerichtige Anwendung
des Quinarsystems sich finde?
Allerdings hat man einige Gattungen von Zahlensystemen nur
mit Unrecht nachweisen zu können geglaubt. Falsch war es, wenn
Leibniz bei den Chinesen ein Binarsystem annahm*). Falsch scheint
Kohl den Osseten im Kaukasus ein Oktodezimalsystem zugeschrieben
zu haben ^). Dagegen sind andere Angaben doch zu wohl beglaubigt,
um sie ohne weiteres leugnen oder totschweigen zu dürfen. Die
Neuseeländer mit ihrem merkwüi'digen Undezimalsysteme*), welches
besondere Wörter filr 11, für 11 mal 11 oder 121, für 11 mal 11 mal
11 oder 1331 besitzt, welches 12 durch 11 mit 1, 13 durch 11 mit 2,
22 durch 2 mal 11, 33 durch 3 mal 11 usw. ausdrückt, lassen
sich nicht vornehm beiseite schieben. Ob der Zeitraum von 110
Jahren, nach welchen, wie Horaz im 21. und 22. Verse seines Carmen
saeculare berichtet, die römische Erinnerungsfeier wiederkehrte, der
man den Namen der saecularen beilegte, mit einer Vermengung dezi-
maler und undezimaler Zählweise zusammenhängt, bleibe dahingestellt.
Das Wort triouech oder 3 mal 6 für 18 in der Sprache der Nieder-
bretagner ist neben dem deunaw oder 2 mal 9 der Welschen^) für
eben dieselbe Zahl nun einmal vorhanden. Die Bolaner oder Bura-
maner an der Westküste Afrikas*) lassen, wenn sie 6 und 1 für 7,
wenn sie 2 mal 6 für 12, wenn sie 4 mal 6 für 24 sagen, die Grund-
zahl 6 gleichfalls durchhören. Einige assyrische Zahlwörter (7 und 8),
auf welche wir im 1. Kapitel zurückkommen werden, zeigen dieselbe
Abhängigkeit von 6. Und wenn der Altfriese 120 mit dem Worte
iolftich benannte^), so ist das sogar ein Hinweis darauf, daß auch
das vorhin als menschlichem Geiste im allgemeinen fremdverpönte
elfzig seine Analogien besitzt, ist es zugleich ein Beispiel für ein
eigentümlich gemischtes System mit Dezimal- und Duodezimalstufen
wie äkandinaven und Angelsachsen es teilweise besaßen*), wie eine
verhältnismäßig spätere Wissenschaft es in Babylon einbürgeiie,
von wo es als Sexagesimalsystem das astronomische Rechnen aller
*) Hankel, S. 19. *) M. Cantor, Mathematische Beiträge zum Kultur-
leben der Völker. Halle 1863. S. 48 flgg., auch S. 44. Wir zitieren dieses
Buch künftig immer als: Math. Beitr. Eulturl. ') Kohl, Reisen in Südrußland.
Bd. n, S. 216 und Pott I, S. 81. *) Pott I, S. 76 flgg. *) Pott II, S. 33,
«) Pott n, S. 30. ^ Pott n, S. 38. ») Math. Beitr. Kulturl. S. 147.
Einleitung. 1 1
Völker durch Jahrhunderte beherrscht. Die Vermengung dezimalen
und duodezimalen Zählens könnte auch als Stütze der Möglichkeit
dienen, welche oben für dezimale und undezimale Zahlen beansprucht
wurde.
Das Vorhandensein von Zahlensystemen, deren Grundzahl nicht
5 oder Vielfaches von 5 ist, dürfte damit nachgewiesen sein. Aber
allerdings bilden dieselben nur Ausnahmen von seltenem vereinzeltem
Vorkommen. Auch eine andere Gattung von Ausnahmen gegen
früher Erwähntes müssen wir kurz berühren. Wir haben hervor-
gehoben, daß die Zwischenzahlen zwischen den Einheiten aufein-
anderfolgenden Ranges multiplikativ und additiv gebildet werden-,
wir haben daraus auf das hohe Alter dieser ßechnungsverfahren
geschlossen. Es gibt nun Sprachen, welche die Bildung der Zahl-
wörter auf Subtraktionen und Divisionen stützen, wodurch das
hohe Alter auch dieser Rechnungsverfahren wenigstens bei den
Völkern, denen jene Sprachen angehören, gleichfalls zur Möglichkeit
gelangt.
Die Subtraktion wird am häufigsten bezüglich der Zahlwörter
eins und zwei geübt ^). Dieses entspricht z. B. in der lateinischen
Sprache durchweg dem Gebrauch bei den Zehnern. Man sagt duode-
vigintij d. h. 2 von 20 für 18, ebenso undecentum 1 von 100 für 99 usw.
Auch im Griechischen werden 1 und 2 bei den Zehnem zuweilen ab-
gezogen, wozu das Zeitwort dalv in seiner transitiven wie in seiner
intransitiven Bedeutung als bedürfen und als fehlen angewandt
wird. So drückt man 58 aus durch dvotv öiovzeg a^7}xovra = 60
welche 2 bedürfen, 49 durch ivbg deovrog ^Bvnf^xovza =» 50 woran
1 fehlt, und ein vereinzeltes Vorkommen von 9700 = 10000, welche
300 bedürfen xQvaxoömv änoHiovra ^vgia wird aus den Schriften des
Thukydides angeführt*). Auch im Gotischen findet subtraktive Bil-
dung von Zahlwörtern statt. In der gemeinsamen Stammsprache, im
Sanskrit, ist gleichfalls eine Subtraktion mittels des Wortes una
(vermindert, weniger) im Gebrauch. Sei es nun, daß das una selbst
allein einem Zahlwort vorgesetzt wird, und man im Gedanken eka
eins hinzuhören muß, z. B. unavingscUiy vermindertes 20 statt 19,
oder daß das eka wirklich ausgesprochen wird und sich dabei mit
ufia zu ekona zusammensetzt, z. B. ekonaschaschta, um 1 vermindertes
60 statt 59, oder daß andere Zahlen als 1 abgezogen werden, z. B.
pantschonangsoilamy um 5 vermindertes 100 statt 95. Ob die baby-
lonische Benutzung von lal = weniger hierher gehört^) oder als
eigentliche Subtraktion aufzufassen ist, sei dahingestellt.
») Math. Beifer. Kulturl. S. 157. *) Pott I, S. 181, Anmerkung. ») Reisner
in Berl, Akad. Her. 1896, S. 426—426 mit Berufung auf Tontafeln von ür.
12 Einleitang.
Am seltensten dient die Division zur sprachlichen Bildung der
Zahlwörter. Hier kommen neben den sofort verständlichen Teilungen:
ein viertel Hundert^ ein halbes Tausend usw.^ namentlich solche
Wörter in Betracht, welche eine nicht voll vorhandene Einheit zur
Teilung bringen. Anderthalb; dritthalb, sechsthalb besagen, daß das
Andere, d. h. Zweite, daß das Dritte, daß das Sechste halb zu
nehmen sei, die Existenz des Ersten, der 2, der 5 Vorhergehenden
als selbstverstanden vorausgesetzt. Verwandte Bildungen sind in latei-
nischer und in griechischer Sprache sesquidlter « ijcidsvreQog — V/^}
sesquitertius = kitCxQixog = IVs; sesquiodavus =» k3t6'y6oog = IVg usw.
Besonderer Hervorhebung scheint es wert, daß die dänische Sprache
in Europa und im fernen Süden und Osten die Sprache der Dajacken
und Malaien auf den nächsten Zwanziger beziehungsweise Zehner
übergreift, um ihn hälftig vorweg zu nehmen ^). Ein altes Vigesimal-
system in deutlichen Spuren verratend (S. 9) sagt die' dänische
Sprache nicht bloß tresindstyve oder 3 mal 20 für 60, firesindstyve
oder 4 mal 20 für 80, sondern auch halvtredsindstyve, halvfirdsindstfjve
für 50 und 70, d. h, der dritte, der vierte Zwanziger, welcher bei GO,
bei 80 voll vorhanden ist, kommt hier nur zur Hälfte in Rechnung.
Ja man hat sogar halvfeinsindstyve oder fünfthalb Zwanziger für 90,
während 100 nur durch hundredc und nie durch femsifidstyve aus-
gedrückt wird. Bei den Malaien heißt halb dreißig, halb sechzig es
solle von dem letzten, also hier von dem dritten, sechsten Zehner
nur die HäKte genommen werden, man meine also 25, 55. Im Alt-
türkischen wird das Vorgreifen auf den nächsten Zehner noch weiter
ausgedehnt*). „Vier dreißig^' bedeutet „vier von dem dritten Zehner''
also 24. Endlich im Äthiopischen findet sich ein merkwürdiger Aus-
nahmefall^). Die Athiopen besitzen besondere Zeichen für die Einer, die
Zehner, die Hunderter, mittels deren sie die Zwischenzahlen zusammen-
setzen. Sie schreiben also z. B. 59 durch die Zeichen „fiinfzig neun".
Einzig und allein. 99 wird anders geschrieben, nämlich nicht ,pieunzig
neun*', sondern „neunzig hundert", d. h. also etwa „ein Neunziger
nahe bei Hundert". Der Grund dieser Ausnahme ist unermittelt.
Alle diese Teilungen in sich schließende Ausdrücke sind gewiß
merkwürdig, eine genaue Einsicht in das Alter der Division ver-
glichen mit dem Alter der Sprachbildung geben sie uns deshalb doch
nicht. Es sind eben Wörter mit Zahlenbedeutung, aber es sind nicht
die Zahlwörter! Neben ihnen und statt ihrer sind auch andere mög-
*) Pottl, S. 103 und II, S. 88. *) J. Marquart, Die Chronologie der alt-
türkischen Inschriften. Leipzig 1898. ^ C. Bezold, Kebra Nagast. München
1906. S. XV, Note 3.
Einleitung. 13
licherweise viel ältere Ausdrücke in Gebrauch und lassen die Ent-
stehungszeit der jüngeren Benennung im dichtesten Dunkel. Nicht
anders verhält es sich mit den vorerwähnten subtraktiven Bildungen,
zu welchen als weiteres Beispiel bestimmter Grenzpunkte, auf welche
Vorhergehendes ebenso wie Folgendes bezogen wird, die Kalender-
bezeichnung der Römer mit ihren Calenden, Nonen und Iden treten
mag. Entscheidend dagegen sind die subtraktiven Zahlwörter einiger
Sprachen, z. B. der Krähenindianer in Nordamerika^). Bei ihnen
heißen 8 und 9 nie anders als nöpape, amätape, d. h. wörtlich 2 da-
von, 1 davon, und das Wort Zehn, d. h. die Anzahl, von welcher 2,
beziehungsweise 1 weggenommen werden sollen, ist als selbstverständ-
lich weggelassen. Hier kann ein Zweifel kaum walten: die Namen
der 8 und 9 sind erst entstanden, nachdem der Begriff der 10 sich
gebildet hatte, nachdem das Rechnungsverfahren der Subtraktion er-
fanden war. Mit dieser Bemerkung kehren wir zu unserer früheren
Behauptung zurück (8. 4), zu deren Begründung wir die ganze Er-
örterung über Zahlwörter und über die ersten Anfänge des Rechnens
gleich hier anknüpfen durften. Die Sprache hielt in ihrer Entstehung
nicht immer gleichen Schritt mit der Entstehung der Begriffe. Das
aufeinanderfolgende Zählen wurde unterbrochen durch das Bewußt-
sein notwendiger Zahlenverknüpfungen, Sprünge in der Erfindung der
Zahlwörter sind nahezu sicher.
Und wieder machte der menschliche Erfindungsgeist einen Schritt
vorwärts, einen Schritt, zu welchem er auch nicht die geringste An-
regung von außen erhielt, der ganz aus eigenem Antriebe erfolgend
mindestens ebenso sehr wie die künstliche Entfachung des Feuers als
wesentlich menschlich, als keinem anderen Geschöpfe möglich aner-
kannt werden muß: er erfand die Schrift. Bilderschrift, so nimmt
man gegenwärtig wohl ziemlich allgemein an, war die erste, welche
dem Spiegel der Rede (wie bei einem Negervolke das Geschriebene
heißt) *) den Ursprung gab. Aber mit Bildern allein kam man nicht
aus. Neben wirklichen Gegenständen mußten Tätigkeiten, Eigen-
schaften, Empfindungen dem künftigen Wissen aufbewahrt werden.
Die Notwendigkeit symbolischer oder willkürlich eingeführter Zeichen
für diese nicht gegenständlichen Begriffe zwang zur Abhilfe. So
müssen Begriffszeichen entstanden sein, gemeinsam mit den früheren
Bildern eine Wortschrift herstellend. Jetzt erst — aber wer weiß
in wie langer Zeit? — konnte man dahin gelangen in dem Ge-
sprochenen nicht nur den ganzen Klang, sondern die einzelnen Laute,
aus welchen er sich zusammensetzt, zu verstehen, und diese Einzel-
*) Pott II, S. 66. *) Pott I, S. 18.
14 Einleitung.
laute dem Auge zu versinnlichen. Die Silben- und Buchstabenschrift
entstand. Für die Zahlen behielt man allgemein das Verfahren bei^
welches in anderer Beziehung sich überlebt hatte. Inmitten dor
Silben-, der Buchstabenschrift, treten Zahlzeichen, d. h. Wort-
zeichen auf, und wer ein Freund philosophischen Grübelns ist, mag
darüber sinnen, warum gerade hier eine Ausnahme sich aufdrängte.
Warum hat gerade das mathematische Denken von jeher durch Wort-
zeichen, sei es durch Zahlzeichen, sei es durch andere sogenannte
mathematische Zeichen, Unterstützung, Erleichterung und Förderung
gefunden? Wir stellen die Frage, wir wagen nicht sie zu beant-
worten. Aber die Tatsache, an welche wir die Frage knüpften, steht
fest, ebenso wie es feststeht, daß ein Zahlenschreiben in älteste
Eulturzeiten hinaufreicht, wo dessen Zeichen inmitten geschichtlicher
Inschriften vorkommen.
Die Verschiedenheit der Zahlzeichen ist eine gewaltige. Wir
werden in mannigfachen Kapiteln dieses Bandes von solchen zu reden
haben und wünschen nicht vorzugreifen. Aber ein Prinzip der Zahlen-
schreibung hat sich fast überall Bahn gebrochen, dessen Entdeckung
dem Scharfsinne Hankels^) um so größere Ehre macht, als es trotz
seiner großen Einfachheit stets übersehen worden war. Es ist das
Gesetz der Größenfolge, wie wir, um eine kürzere Redeweise zu
besitzen, es künftig nennen wollen, und besteht darin, daß bei allen
additiv vereinigten Zahlen das Mehr stets dem Weniger
vorausgeht*). Natürlich ist die Richtung der Schrift bei Prüfung
dieses Gesetzes wohl zu beachten, und wenn bei der von links nach
rechts gehenden Schrift des Abendlandes der Hauptteil der Zahl links
auftreten muß, so ist die Stellung bei Zahlendarstellungen semitischen
Ursprunges entgegengesetzt, und wieder eine andere, wenn, wie bei
den Chinesen, die Schrift in von oben nach unten gerichteten Reihen
verläuft.
Die mathematischen Begriffe, bei denen wir in unserer flüchtigen
Betrachtung der Anfänge menschlicher Eulturentwicklung, Anfänge,
welche selbst Jahrtausende in Anspruch genommen haben mögen, zu
verweilen Gelegenheit nahmen, gehören sämtlich dem einen Zweige
der Größenlehre an, welcher über das Wieviel? der nebeneinander
auftretenden Dinge das Was? derselben vernachlässigt. Es ist aber
wohl keinem Zweifel unterworfen, daß neben Kenntnis und einfachster
Verbindung der Zahlen einfache astronomische wie geometrische Be-
griffe wach geworden sein müssen.
*) Hankel, S. 32. *) Über Abweichungen von diesem Gesetze vergl.
Kapitel 4.
Einleitung. 15
Wir werden der Geschichte der Astronomie grundsätzlich fem
bleiben, um nicht den schon so für uns fast unbezwingbar sich ge-
staltenden Gegenstand unserer Darstellung ohne Not zu vergröflem^
aber zwei Bemerkungen können wir hier nicht unterdrücken. Auf-
gang und Untergang der Sonne waren gewiß schon in den Zeiten
nomadischen Wandems die beiden Marksteine, die Zeit und Raum
in Grenzen schlössen. Morgen und Abend, Ost und West waren
Begriffepaare, deren Entstehung wohl nicht früh genug angenommen
werden können. Und als beim Ansässigwerden der Völker die Sonne
zwar immer noch ihre Uhr, aber nicht ihren täglichen Wegweiser
bildete, nach deren Stande sie sich zu richten pflegten, war das
Orientierungsgefühl doch noch geblieben, hatte womöglich an Genauig-
keit noch zugenommen. Am Südende des Pf äffiker-Sees in der Schweiz
sind Pfahlbauten beobachtet worden, welche genau nach den Himmels-
gegenden gerichtet sind ^), und jene Bauten reichen jenseits der soge-
nannten Bronzezeit in eine Periode hinauf, welche nach geologischer
Schätzung etwa 4000 Jahre vor Christi Geburt lag. Wir stellen in
keiner Weise in Abrede, daß man bei der Orientierung der Wohn-
häuser an praktische Rücksichten, an Besonnung, Wind und Wetter
dachte, aber man dachte doch, man übte nicht Zufälliges und Un-
beabsichtigtes. Von ähnlichen Orientierungen werden wir verschiedent-
lich zu reden haben. Die Richtung nach den Himmelsgegenden
selbst wird uns niemals als Beweis der Übertragung von Begriffen
von einem Volke zum andern gelten dürfen. Nur die Ermittlungs-
weise dieser Richtung wird zum genannten Zweck tauglich erscheinen.
Auch geometrische Begriffe, sagten wir, müssen frühzeitig ent-
standen sein. Körper und Figuren mit geradliniger, mit krummliniger
Begrenzung müssen dem Auge des Menschen aufgefallen sein, sobald
er anfing nicht bloß zu sehen, sondern um sich zu schauen. Die
Zahl der Ecken, in welchen jene Flächen, jene Linien aneinander-
stoßen, wird ihm der Bemerkung wert gewesen sein, wird ihn heraus-
gefordert haben jenen Gebilden Namen zu geben. Vielleicht ist auch
in ältesten Zeiten und in gegenseitiger Unabhängigkeit an vielen
Orten zugleich beachtet worden, daß der Arm beim Biegen am Ellen-
bogen, das Bern beim Biegen am Knie, daß die beiden Beine beim
Ausschreiten einen Winkel bilden, und der Name jeder von zwei
einen Winkel bildenden Linien als öxekog bei den Griechen, crus bei
den Römern, Schenkel bei den Deutschen, leg bei den Engländern^
Jambe bei den Franzosen, &äAu, d. h. Arm bei den Indem, kou, d. h.
^) Diese Beobachtung rührt von Professor Quincke her, der xms frexmd-
liehst gestattete, von dieser seiner mündlichen Mitteilung Gebrauch zu machen.
16 Einleitung.
Hüfte bei den Chinesen^ der Zusammenhang y&vog Winkel mit yöw
Knie, dieses und ähnliches braucht nicht in allen Fällen Übertragung
zu sein. Die genannten modernen Namen werden allerdings kaum
anders als durch Übersetzung aus dem Lateinischen^ wenn nicht aus
dem Griechischen entstanden sein, aber die antiken Wörter können
sehr wohl uraltes Ergebnis mehrfacher Selbstbeobachtung sein, uraltes
Wissen.
Ist nun uraltes Wissen auch uralte Wissenschaft? Muß eine
Geschichte der Mathematik so weit zurückgreifen, als sie noch hoffen
darf mathematischen Begriffen zu begegnen?
Wir haben unsere Auffassung, unsere Beantwortung dieser Fragen
darzulegen geglaubt, indem wir diese Einleitung vorausschickten.
Kein Erzähler hat das Recht das Brechen, das Zusammentragen der
ersten Bausteine, aus welchen Jahrhunderte dann ein stolzes Gebäude
aufgerichtet haben, ganz unbeachtet zu lassen; aber die Bausteine
sind noch nicht das Gebäude. Die Wissenschaft beginnt erzählbar
erst dann zu werden, wenn sie Wissenschaftslehre geworden ist. Erst
von diesem Zeitpunkte an kann man hoffen wirkliche Überreste von
Regeln und Vorschriften zu finden, welche es erlauben mit einiger
Sicherheit und nicht in allem und jedem dem eigenen Gedankenfluge
vertrauend Bericht zu erstatten. Mögen Schriftsteller früherer Jahr-
hunderte ihre eigentlichen historisch-mathematischen Untersuchungen
mit der Schöpfung begonnen haben den Worten der Schrift folgend:
Aber du hast alles geordnet mit Maß, Zahl und Gewicht^). Uns be-
ginnt eine wirkliche Geschichte der Mathematik mit dem ersten
Schriftdenkmal, welches auf Rechnung und Figurenvergleichung Be-
zug hat.
*) Weißheit SalomoB XI, 22.
I. Babylonier.
Caktob, Oeeehicht« der Mftthemfttik I. S. Aufl.
1. Kapitel.
Die Babylonier.
Es wird die älteste menschliche Erfahrang sein^ welche sich zur-
zeit an das vorderasiatische Zweistromland knüpft^ in welchem be-
stimmte Eönigsnamen bis auf eine Zeit zurückweisen , die fünfthalb-
tausend Jahre Yor dem Beginne der christlichen Zeitrechnung liegt ^).
Wenn wir auch von der politischen Geschichte der^ wie wir gleich
sehen werden^ sich dort ablösenden Reiche nicht genauer berichten
dürfen^ so ist uns die Oeschichte ihrer £ulturentwicklung um so
wichtiger, insoweit sie Mathematisches betrifft, und diese wieder nötigt
uns weniges von den mindestens zwei Volksstammen vorauszuschicken^
die dort in engste Verbindung traten und zu einem Mischvolke sich
vereinigten, dessen Bildung nur Wahrscheinlichkeitsschlüsse dafür ge-
stattet, welchem der Urstamme wir diesen oder jenen Bestandteil des
später gemeinsamen Wissens gutschreiben sollen.
Neuere Völkerkunde hat die Gegend der Hochebene Pamir*),
etwa unter dem 38. Ghrade nördlicher Breite und dem 90. Grade öst-
licher Länge gelegen, als das in Wirklichkeit freilich nichts weniger
als paradiesische Paradies der orientalischen Sagen erkannt. Vier
Gewässer fließen von ihr nach den vier Himmelsrichtungen ab, der
Indus, der Heimund, der Ozus, der Yaxartes. Von dort zunächst,
mutmaßlich noch weiter von Nordosten, von den Abhängen des
erzreichen Altaigebirges, drangen Skythenvölker turanischen Stammes,
ihrem Hauptbestandteile nach S um er i er"), herab, eine bereits ziem-
lich entwickelte mathematische Bildung mit sich bringend, wie wir
nachher sehen wollen. Sie setzten sich fest auf dem Hochlande von
Iran, besonders in dem nördlichsten Teile, der später Medien genannt
^) G. Maspero, Geschichte der morgenländischen Völker ita. Alterthmn
nach der 2. Auflage des OriginalB und nnter Mitwirkung des VezfaBserB über-
setzt von Dr. Rieh. Pietschmann. Leipzig 1877. C. Bezold, Niniteh und
Babylon. Bielefeld und Leipzig 1908. *) Maspero-Pietschmann S. 128.
^ Diesen Namen erkannt zu haben gehört zu den zahlreichen Verdiensten von
J. Oppert. Über die Wanderung der Sumerier vergl. Maspero-Pietsch-
mann S. 131.
9*
20 1- Kapitel.
wurde. Die Sumerier drangen dann weiter südlich bis nach Chaldäa
vor. Und ein zweites Volk kam ebendahin^). Es war, wie man
früher ann^ahm, aus dem Lande Kusch aufgebrochen, welches man
gleichfalls im Osten aber weiter südlich, etwa in Baktrien, suchte.
Yon seiner Heimat führte es den Namen der Kuschiten und hatte,
wie man glaubte, den eigenen Namen bei seiner Wanderung auf das
Gebirge des Hindukusch übertragen, welches das Hochland von Iran,
wo wir die Turanier Niederlassungen gründend fanden, von den Ebenen
der Bucharei trennt. Heute ist man bezüglich der Wanderrichtung
der Kuschiten der entgegengesetzten Meinung. Man nimmt an, sie
seien von Westen gekommen und hätten ihre Heimat in Afrika, ge-
nauer gesprochen in Ägypten, gehabt. Die Sumerier sprachen eine
jener sogenannten agglutinativen Sprachen, in welchen alle möglichen
Beziehungen vermittels neuer Bestandteile bezeichnet werden, die
sich mit den Wurzeln nie verschmelzen, also nie das hervorbringen,
was man Beugung zu nennen pflegt. Die Sprache der Kuschiten
dagegen war dem Hebräischen und Arabischen sehr nahe ver^^andt,
sie war eine semitische Sprache, und die meisten nehmen auch ge-
radezu an, Semiten und Kuschiten seien nur zwei zu verschiedenen
Zeiträumen zur Gesittung gelangte Teile ein und derselben Rasse.
Die erste Begegnung von Sumeriem und Kuschiten auf chaldäi-
schem Boden gehört in die vorgeschichtliche Zeit, ein Wort, dessen
Geltungsgebiet gegen früher weit zurückverlegt ist, seitdem die Ent-
zifferungskunde alter Denkmäler gestattet hat, selbst als mythisch
geltende Zustände und Ereignisse näher zu beleuchten. Aber so weit
man auch die Ziele der Geschichtswissenschaften stecken mag, sie
reichen nicht weiter als schriftliche Aufzeichnung, und solche sind
uns in Chaldäa nur aus der Zeit der erfolgten Vereinigung jener
Volkselemente erhalten, geben über die Vereinigung selbst keinen
Aufschluß. Dagegen wissen wir aus einheimischen und fremden
schriftlichen Denkmälern mancherlei über die Schicksale des Misch-
volkes. Sein staatlicher Verband blieb keineswegs unverändert, Haupt-
städte und Pürstengeschlechter wechselten. Auf Ninive folgte Ba-
bylon, auf dieses wieder Ninive als Herrschersitz. Das altassyrische,
das babylonische, das zweite assyrische Reich lösten einander in ge-
schichtlicher Bedeutung ab, in bald siegreichen, bald ungünstig ver-
laufenden Kämpfen untereinander und mit den Nachbarvölkern, den
Hebräern, den Phönikem, den Ägyptern, bis endlich das Perserreich
alles verschlang.
Wir haben einheimische Schriftdenkmäler erwähnt. Deren Schrift
*) Maspero-Pietschmann S. 141 flgg. Bezold S. 22—23.
Die Babylonier. 21
war^ wie man annimmt, ursprünglich eine Bilderschrifl;, welche aber
vermöge der gewählten Unterlage eine eigentümliche Umbildung er-
fuhr. Man ritzte die Schriftzüge mittels eines Griffels in eine gleich-
viel wie zur nachtraglichen Erhärtung gebrachte Tonmasse ein, und
dadurch entstanden in Winkeln aneinander stoßende Eindrücke, welche
man bei der Wiederauffindung nicht unglücklich als keilförmig be-
zeichnet hat; es entstand die Keilschrift. Die meisten Fach-
gelehrten glauben, die Keilschrift sei bereits den Sumeriem eigen-
tümlich gewesen, doch mag sie entstanden sein, wo sie wolle, darüber
ist kein Zweifel, daß sie in Chaldäa einer semitischen Sprache dienst-
bar wurde, die somit wundersam genug von links nach rechts, statt
wie in allen anderen Fällen von rechts nach links zu lesen ist, eine
Erscheinung, auf welche wir gleich jetzt bei Erörterung der Zahl-
zeichen der Keilschrift hinweisen müssen ^). Das Prinzip der Größen-
folge wird nämlich ihr entsprechend, wo es zur Geltung kommt, ver-
anlassen, daß wir die Zahlzeichen, welche den höheren Wert be-
sitzen, stets links von denen zu suchen haben, welche mit niedrigerem
Werte behaftet durch Addition mit jenen verbunden sind.
Unter den vielfältigen Vereinigungen, welche aus keilförmigen
Eindrücken sich bilden lassen, sind es vornehmlich drei, welche beim
Anschreiben ganzer Zahlen benutzt wurden, der Yertikalkeil y, der
Horizontalkeil »-, der aus zwei mit dem breiten Ende verschmolzenen^
die Spitzen nach rechts oben und unten neigenden Keilen zusammen-
gesetzte Winkelhaken ^. Der Yertikalkeil stellt die Einheit, der
Winkelhaken die Zehnzahl dar, and diese Elemente addierten sich
durch Nebeneinanderstellung. Teils aus Gründen der Raumersparung,
teils aus solchen der besseren Übersehbarkeit wurden oft mehrere
Keile oder Winkelhaken übereinander in zwei bis drei Reihen ab-
gebildet, stets höchstens drei Zeichen in einer Reihe. Blieb bei dieser
Art der Zerlegung ein einzelnes Element übrig, so wurde dasselbe
meistens in breiterer Form unter den übrigen beigefügt. Vielleicht
kam auch die Beifügung eines solchen einzelnen Zeichens rechts von
den übrigen vor, wie es durch das Gesetz der Größenfolge gestattet
war, während ein additives Einzelelement links neben anderen in
Reihen verbundenen gleichartigen Elementen jenem Gesetze wider-
*) Wir haben diesen Gegenstand ausführlich und mit Verweisung auf
Quellenschriften schon früher behandelt: Math. Beitr. Eulturl. S. 28flgg. Unsere
gegenwärtige teilweise wörtlich übereinstimmende Darstellung dürfte dem
heutigen etwas veränderten Standpunkte des Wissens über diese Dinge ent-
sprechen. Mit den assyrischen Zahlwörtern beschäftigt sich George Bertin^
The Assyrian Numerais, abgedruckt in den Transactions of the Society of
Biblical Archaeology Vol. VIT, pag. 370— 389.
22 1. Kapitel.
sprochen haben würde. Mit diesen Bemerkungen erledigt sich die
schrifUiche Wiedergabe sämtlicher ganzer Zahlen unter 100, aber
von dieser Zahl an, deren Zeichen ein Yertikalkeil mit rechts folgen-
dem Horizontalkeile J^ ist, tritt eine wesentliche Veränderung ein.
Zwar die Richtung der Zeichen im großen und ganzen, also der
Hunderter, Zehner, Einer, bleibt wie vorher von links nach rechts
abnehmend, aber neben der Juztaposition der Zahlteile Terschiedener
Ordnung erscheint plötzlich ein vervielfachendes Verfahren, indem
links vor das Zeichen von 100 die kleinere Zahl gesetzt wird, welche
andeutet, wie viele Hundert gemeint sind. Die Vermutung wird da-
durch sehr nahe gelegt, es sei infolge dieses multiplikativen Ge-
dankens, daß 1000 durch Vereinigung des Winkelhakens, des Ver-
tikal- und Horizontalkeils ^y^- als 10 mal 100 dargestellt werde.
Aber dieses 1000 wird dann selbst wieder als neue Einheit benutzt,
welche kleinere multiplizierende Koeffizienten links vor sich nimmt.
Gemäß der Deutung unserer Assyriologen kam sogar „ein mal tausend^
vor, d. h. multiplikatives Vorsetzen eines einzelnen Vertikalkeils
links von dem Zeichen für 1000, und jedenfalls erscheint 10 mal
1000 als die gesicherte Bedeutung von ^^y>^, welches man nicht
etwa 20 mal 100, d. i. 2000 lesen darf. Vielfache von 10000 werden
als Tausender bezeichnet, mithin 30000 als 30 mal 1000, 100000 als
100 mal 1000, indem 30, beziehungsweise 100 links von 1000 ge-
schrieben sind. Eine höchst bedeutsame Tatsache tritt dabei zutage,
diejenige nämlich, daß die Babylonier das Bewußtsein der Einheiten
verschiedener dekadischer Ordnungen in viel höherem Maße hatten,
als ihre Bezeichnungsweise der Zehntausender vermuten läßt. Wer be-
sondere Zeichen für 10000, für 100000 zur Verfügung hat, wird
natürlich 127000 in 100000 + 2 • 10000 + 7 • 1000 zerlegen, von
den Babyloniem dagegen, denen solche besondere Zeichen fehlten,
wäre mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Anschreiben in der Form
127 • 1000 zu erwarten. Nichtsdestoweniger bedienten sie sich jener
für sie viel umständlicheren, aber mathematisch durchsichtigeren
Schreibweise. Wenigstens ist 36000 in der Form 30 • 1000 + 6 • 1000
wahrscheinlich gemacht und 120000 in der Form 100 • 1000 + 20 • 1000
sichei^estellt. Bis zur Million scheint die Zahlenschreibung der
Keilschrift sich nicht erstreckt zu haben; zum mindesten sind keine
Beispiele davon bekannt^).
Von Brüchen ist eine Bezeichnung der verschiedenen Sechstel,
^) Man an t, Expose des eUments de la grammaire assyrienne. Paris 1868,
pag. 81: Les inscriptions ne naus ont pas donne, jusqu'id du moins, de nombre
superieur aux centaines de mille; le signe qui reprisente un mülum naits est
encore inconnu.
Die Babjlonier. 23
^^^ T' Y' Y^ T' T ^lÄchgewießen worden, deren Entstehung nicht
ersichtlich ist ^). Von den wichtigen Sexagesimalbrüchen müssen wir
nachher in anderem Zusammenhange reden.
Wir haben soeben gesagt, die Million sei bisher noch nicht auf-
gefunden worden. Müssen wir bei diesem Ausspruche das Wort „bis-
her'^ besonders betonen oder dürfen wir in der Tat eine solche Be-
schränkung des Zahlbegriffes annehmen? Für die große Menge
•der Bevölkerung scheint uns die letztere Annahme nicht bloß keine
Schwierigkeit zu haben, sondern allgemein verbreitete Notwendigkeit
zu sein. Bis auf den heutigen Tag, wo doch mit den Wörtern
Million und sogar Milliarde nicht gerade haushälterisch umgegangen
wird, ist der Begriff, wie viele Einheiten zu einer Million gehören,
keineswegs vielen Menschen geläufig. Mancherlei Verdeutlichungen
müssen diesen Begriff erst klarstellen. So hat z. B. am 13. Juni
1864 die Direktion des Londoner Eristallpalastes den 10jährigen Be-
stand jenes Gebäudes feierlich begangen. Damals wurde bekannt ge-
macht, daß in jenem ersten Jahrzehnt der Palast von 15266882
Menschen besucht worden war, und um eine Yeranschaulichung der
Massenhaftigkeit der Zahl zu gewähren, ließ man auf weißes Baum-
wollzeug eine Million schwarzer Punkte drucken. Jeder Punkt war
Q 1
TT Zoll breit und nur -^ Zoll von dem nächsten Punkte entfernt und
doch bedeckten jene Punkte einen Flächenraum von 225 Fuß Länge
auf 3 Fuß Breite, den Fuß zu 12 Zoll gerechnet. Daß in den jeden-
falls weit geringfügigeren Yerkehrsverhältnissen einer um Jahrtausende
isurückliegenden Zeit die Höhe der Zahlen noch viel früher zu einer
Yergleichungslosigkeit verschwimmen mußte, welche wir eine dunkle
Ahnung des mathematischen Unendlichgroßen nennen würden,
wenn wir nicht befürchteten dadurch die Meinung zu erwecken, als
«olle dadurch diesem Unendlichgroßen selbst ein solches Uralter ver-
schafft werden, ist nur selbstverständlich.
Vielfache Stellen biblischer Schriften, die nach dem Exile unter
•der Einwirkung babylonischer Kultur entstanden zu sein scheinen,
geben der Vermutung Raum, daß nur die beiden großen Zahlen
1000 und 10000, sowie deren Vervielfältigung zur Schätzung aller-
größter Vielheiten benutzt wurden. Saul hat Tausend geschlagen,
David aber Zehntausend ^), heißt es in bewußter Steigerung. Tausend
mal tausend dieneten ihm, und Zehntausend mal zehntausend standen
vor ihm'), heißt es an anderer Stelle, und noch auffallender bei dem
*) Oppert, Etalon des meaures asst^ennes. Pari« 1876, p. 35. •) I. Samuel
18, 7. «) Daniel 7, 10.
24 1. Kapitel.
Psalmisten: Der Wagen Gottes ist Zehntausend mal tausend^). Auch
steht nicht im Widerspruche, wenn der sterbende König David seine
Schätze aufzählend erklärt: Siehe ich habe in meiner Armut ver-
schafFt zum Hause des Herrn hunderttausend Zentner Goldes und
tausend mal tausend Zentner Silbers ^), denn die Unmöglichkeit diese
konkreten Zahlen buchstäblich zu nehmen, zwingt zur Auffassung,
nur das unfaßbar Große seines Reichtums sei gemeint. Sollte eine
noch größere Zahl bezeichnet werden, so mußten Vergleichungs-
wörter dienen. Ich will Deinen Samen machen wie den Staub auf
Erden; kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch
Deinen Samen zählen'). Oder: Wer kann zählen den Staub Jakobs?*)
Und unter Anwendung eines anderen Bildes: Siehe gen Himmel und
zähle die Sterne, kannst Du sie zählen? Also soll Dein Same
werden^). Ja es wird unter Anwendung desselben Gedankens die
Vollführung der unmöglichen Aufgabe nur dem Höchsten vorbehalten:
Er zählet die Sterne und nennet sie alle mit Namen*).
Auch anderswo finden wir, wenn wir Umfrage halten, außer-
gewöhnliche Vielheiten durch die dritte und vierte Einheit des deka-
dischen Zahlensystems angedeutet. In China wünscht das Volk, wenn
es einen Großen des Reiches leben läßt, ihm 1000 Jahre, während
der dem Kaiser allein zukommende Heilruf sich auf 10000 Jahre
erstreckt^. Das altslavische Wort tma bedeutete sowohl 10000 als
dunkel, während es im Russischen nur die letztere Bedeutung noch
beibehalten hat^).
Jedenfalls gehör^i Zahlzeichen, mag ihre Anwendung sich er-
strecken so weit oder so wenig weit als sie will, zu Zeichen, welche^
niemals ganz entbehrt werden konnten, welche sicherlich dem Volke
bekannt gewesen sein müssen, das die betreffende Schrift, hier die
Keilschrift, überhaupt erfand. War dieses, wie man annimmt, das
Volk der Sumerier, so mußte demnach ihm diejenige Bezeichnung
der Zahlen, von der wir gesprochen haben, und die, wie wir noch-
mals hervorheben, einen durchaus dezimalen Charakter trägt, bekannt
gewesen sein. Um so auffallender ist es, daß in sumerischen Schrift-
denkmälern, die von eigentlichen Mathematikern und Astronomen
herzurühren scheinen, mit der dezimalen Schreibweise eine andere
wechselt, beruhend auf dem Sexagesimalsysteme.
Es wurde von einem englischen Assyriologen Hincks entdeckt*).
^) Psalm 68, 18. *) I. Chronik 23, 14. «) I. Mose 13, 16. *) IV. Mose
28, 10. *) I. Mose 15, ö. «) Psalm 147, 4. "*) De Paravey, Essai sur Vorigine
unique et hieroglyphique des cht ff res et des lettres de tous les peuples. Paris 1826,.
pag. 111. ®) Mündliche Mitteilung von H. Schapira. ^ E. Hincks in den
Transactions of the B. Irish Academy. Polite Litterature XXII 6. pag. 406 flgg.
Die Babylonier. 25
In dem von ihm entzifferten Denkmale handelt es sich darum anzn-
geben, wieviele Mondteile an jedem der 15 Monatstage, die vom be-
ginnenden Mondscheine bis zum Vollmonde verlaufen^ beleuchtet seien.
Es seien^ heißt es, an diesen 15 Tagen der Reihe nach sichtbar:
5 10 20 40 1.20
1.36 1.52 2. 8 2.24 2.40
2.56 3.12 3.28 3.44 4
Hincks erläuterte die rätselhaften Zahlen mit Hilfe der Annahme,
die Mondscheibe sei als aus 240 Teilen bestehend gedacht worden,
es bedeuten die weiter nach links gerückten Zeichen fQr 1, 2, 3, 4
je 60 der Einheiten, denen die rechts davon stehenden Zahlen ange-
hören, und die Beleuchtungszunahme folge nach Angabe der Tabelle
an den fünf ersten Tagen einer geometrischen, an den folgenden
Tagen einer arithmetischen Reihe.
Daß diese Erklärung Licht über die betreffende Tabelle ver-
breitet, ist unzweifelhaft. Unzweifelhaft ist es auch, daß sie dem
Gesetze der Größenfolge Rechnung trägt, denn eine 60 bedeutende
1 kann links von 20, von 36, von 52 auftreten, während eine Eins
gleichen Ranges mit jenen Zahlen zu ihrer Linken nicht geschrieben
werden durfte. Gleichwohl bedurfte es zur vollen Bestätigung der
Auffindung neuer Denkmäler, und solche sind die Tafeln von
Senkereh. Ein Geologe W. E. Loftus fand 1854 bei Senkereh
am Euphrat, dem alten Larsam, zwei kleine auf beiden Seiten mit
Keilschriftzeichen bedeckte leider nicht ganz vollständige Täfelchen ^).
Solche Täfelchen sind, allerdings nicht entfernt vei^leichbaren In-
haltes, vielfach gesammelt worden. Die eine konkave Seite ist immer
als Vorderseite, die andere konvexe als Rückseite zu betrachten.
Läuft der Text auf beiden Seiten fort, so muß zum Weiterlesen ein
Umwenden über Kopf stattfinden. Die Täfelchen, aus Ton gebildet,
wie fast überflüssigerweise bemerkt sein soll, sind in der Mitte am
stärksten und verdünnen sich alsdann gleichmäßig gegen die Ecken.
Diese Eigenschaft, vereinigt mit dem Umstände, daß der Rand bei
der Zerbrechbarkeit des Stoffes nicht unter einen gewissen (Jrad von
Dünne abnehmen durfte, gestattet bei Bruchstücken von einiger Be-
trächtlichkeit, wie z. B. die erste der beiden Täfelchen von Senkereh
uns darstellt, Schlüsse auf die Größe des abgebrochenen und ver-
') Eine photographische Abbildung des einen Täfelchens ist der Abhand-
lung von R. Lepsin 8, Die babylonisch-assyrischen Längenmaße nach der Tafel
Yon Senkereh (Abhandlungen der Berliner Akademie für 1877) beigegeben. Li
eben dieser Abhandlung finden sich genaue Zitate der verschiedenen Gelehrten,
welche bei der Entzifferung beteiligt waren. Ebendort S. 111—112 Bemerkungen
von Fr. Delitzsch über Gestalt und Anordnung solcher Täfelchen.
26 1. Kapitel.
mntlich nicht wieder aufzufindenden Teiles zu ziehen ^ welche zur
Er^Lnzung des Inhaltes yon erheblichem Nutzen sein können. Das
eine Täfelchen, und zwar das zweite nach der Bezeichnung, welche
den Täfelchen bei der Veröffentlichung beigelegt wurde, enthielt auf
Vorder- und Rückseite zusammen 60 Zeilen, die ein fortlaufendes
Ganzes bilden. Jede einzelne Zeile enthält links und rechts Zahlen,
zwischen denselben sumerische Wörter, unter welchen eines ibdi zu
lesen ist. Rawlinson erkannte zuerst, daß hier die Tabelle der
ersten 60 Quadratzahlen vorliegt, und daß ibdi Quadrat bedeutet.
Die Anordnung ist eine solche, daß es zu Anfang heißt:
1 ist das Quadrat von 1
4 ist das Quadrat von 2
9 ist das Quadrat von 3
16 ist das Quadrat von 4
25 ist das Quadrat von 5
36 ist das Quadrat von 6
49 ist das Quadrat von 7.
Diese sieben Zeilen waren vermöge der schon früher erworbenen
Kenntnis der Zahlzeichen der Keilschrift verhältnismäßig leicht zu
lesen und aus ihnen der Inhalt der Tabelle zu entnehmen. Nun war
selbstverständlich als folgende Zeile zu erwarten:
64 ist das Quadrat von 8.
Aber so fand es sich nicht, sondern statt dessen
1-4 ist das Quadrat von 8
und dann setzten sich die weiteren Zeilen fort
1 • 21 ist das Quadrat von 9
1 • 40 ist das Quadrat von 10
58 • 1 ist das Quadrat von 59
1 ist das Quadrat von 1.
Diese ganze Fortsetzung konnte nur verstanden werden, wenn man
den vereinzelt links auftretenden Zahlen eine sexagesimale Wert-
steigerung beilegte, mithin 1-4 als 60 + 4, 1 • 21 als 60 + 21,
58 . 1 als 58 X 60 + 1 las und die letzte Zeile als 1 x 60* ist das
Quadrat von 1 X 60. So war die Vermutung von Hincks be-
stätigt. Zur vollen Gewißheit wurde sie bei Entzifferung des ersten
Täfelchens von Senkereh erhoben. Dessen Vorderseite ist für die
Geschichte der Metrologie von imschätzbarer Wichtigkeit, indem sie
eine freilich lückenhafte Vergleichung zweier Maßsysteme enthält,
deren eines jedenfalls vollständig nach dem Sexagesimalsysteme ein-
geteilt ist. Die Rückseite gibt uns in ihrem erhaltenen Teile die
Kubikzahlen der aufeinanderfolgenden Zahlen von 1 bis 32, und
Die Babylonier. 27
es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen,
daß auf dem seitlich fehlenden Stücke der Tafel auch die Kuben der
Zahlen 33 bis 60 gestanden haben werden. Die Anordnung ist durch-
aus der der Quadratzahlentabelle nachgebildet. Auch hier treten regel-
mäßig wiederkehrende Wörter in jeder Zeile auf, deren eines badie
gelesen und Kubus übersetzt worden ist. Auch hier stehen am linken
Anfang jeder Zeile höhere Werte als nach rechts zu, und zwar in
den drei ersten Zeilen 1, 8, 27 links neben 1, 2, 3 rechts, von yom-
herein die Vermutung erweckend, daß man es mit einer Kubik-
zahlentabelle zu tun habe. Auch hier ist die Schreibweise eine sexa-
gesimale, indem gleich die vierte Zeile 64 oder den Kubus von 4 durch
1 • 4 darstellt. Von der 16. Zeile an geht diese Tabelle noch über
die Sechziger hinaus. Ist doch 16« - 4096 = 1 X 60« + 8 X 60 + 16,
und so steht zu erwarten, daß in dieser Zeile 1 • 8 • 16 als Kubus
Ton 16 angegeben sein werde, eine Erwartung, die sich vollständig
erfüllt. Die weiteren Zeilen liefern die Kubikzahlen der folgenden
Zahlen bis dahin, wo es heißt: 7 • 30 ist der Kubus von 30, womit
gemeint ist: 7 x 60* + 30 X 60 — 30«. Dann stehen noch in zwei
aufeinanderfolgenden Zeilen rechts erhalten 31 und 32, während
deren links zu suchende Kuben und alles weitere fehlt. Oanz ähn-
liche Tafeln wurden in Kujundschik aufgefunden^). Die Schreiber
der Tafeln von Senkereh und Kujundschik waren demnach im Besitz
der an sich bedeutsamen Kenntnis von Quadrat- und Kubikzahlen,
waren zugleich im Besitz eines folgerichtig ausgebildeten Sexagesimal-
Systems mit wahrem Stellungswerte der einzelnen Rangordnungen,
da die Punkte, welche wir zur größeren Deutlichkeit zwischen Einem
und Sechzigern anbrachten, in der Urschrift; nicht vorhanden sind.
Welcher Stufe des Sexagesimalsystems die geschriebenen Zahlen an-
gehörten, wurde in den uns bekannt gewordenen Beispielen dem
Sinne entnommen. Dem Sinne nach verstand man offenbar, daß
1 ist das Quadrat von 1
gelesen werden wollte: 1x60^ ist das Quadrat von 1x60; dem
Sinne nach, daß
7 . 30 ist der Kubus von 30
heißen sollte: 7 x 60* + 30 X 60 ist der Kubus von 30 Einheiten.
Wir müssen hier einen Augenblick verweilen. Die Wörter ibdi
und badie bedeuten, sagten wir mit Rawlinson, Quadrat und Kubus.
Damit ist die Beziehung gemeint, welche zwischen den rechts und
links von diesen Wörtern stehenden Zahlen obwaltet. An und für
sich könnte also
81 ibdi 9
») Bezold S. 96.
28 1. Kapitel
ebenso wie
81 ist das Quadrat von 9
auch bedeuten
81 die Quadratwurzel davon ist 9^
und vielleicht wäre diese Übersetzung vorzuziehen. Die wörtliche
Bedeutung des Stammes di, welcher sowohl dem ibdi als dem badie
zugrunde liegt, ist unbekannt. Man weiß bis jetzt nur, daß di auf
anderen Tafeln in Verbindung mit der bei Tieropfem wichtigen Unter-
suchung der Leber des geschlachteten Tieres vorkommt^ dort also
einer mathematischen Bedeutung entbehrt ^). Dort kann nur von dem
die Bede sein, was in dem Tiere steckt, und erwägen wir, daß die
Quadratwurzel in der Zahl steckt, so wäre damit ein Vergleichungs-
punkt der beiden Arten des Vorkommens gefunden.
Eine fernere Frage ist die nach dem Zwecke, welchen die bereits
in zwei Exemplaren bekannten Zahlentafeln erfüllen sollten. Man hat
sie Hilfstafeln bei der Vermessung von Feldern und Grundstücken
genannt. Das mag ja zutreffen, aber in welchem Sinne? Quadrat-
zahlen und Kubikzahlen eine unmittelbare Brauchbarkeit bei Ver-
messungen zuzuweisen, fällt schwer. Felder in Gestalt von Quadraten
gab es nur in den seltensten Fällen. Nicht der menschliche Wille
allein gibt den Grundstücken ihre ümgrenzimg, die Bodenbeschaffen-
heit tut dazu das meiste. Wir können diese an sich schon einleuch-
tende Behauptung noch näher belegen. Pater Scheil hat einen
Felderplan veröffentlicht, welcher aus der Zeit des Königs Ine Sin
aus der zweiten Dynastie von ür etwa 2400 v. Chr. stammt. Kein
einziges von den dort gezeichneten Feldern ist quadratisch, und wenn
auch über die genaue Erklärung der auf dem Plane vorkommenden
Zahlenangaben eine ziemlich weitgehende Meinungsverschiedenheit ob-
waltet*), soviel ist doch gesichert, daß die Felder bald dreieckig,
bald unregelmäßig viereckig aussehen, daß man deren Flächeninhalt
durch Vervielfachimg von untereinander verschiedenen Zahlen zu er-
mitteln suchte.
Solche Vervielfachungen wurden ebenfalls um 2400 v. Chr. durch
damals vorhandene Tabellen unterstützt. Professor H. V. Hilprecht*)
hat bei den unter seiner Leitung vorgenommenen Ausgrabungen in
') Mündliche Mitteilung von Herrn Bezold. *) Aug. Eisenlohr, Ein
altbabyloniecher Felderplan nach Mitteilungen von F. V. Scheil. Leipzig 1896.
Jul. Oppert, L'administration des domaineB, les comptes exacts et lea faux au
cinquüme mülenium avant Vere chretienne. Paris 1899. Comptes Bendm des
seances de l'Academie des inscriptions et des helles-kttres. ") Die Ausgrabungen
der Universität von Pennsylvania im B^ltempel zu Nippur. Ein Vortrag von H.
V. Hilprecht. Leipzig 1903. Vergl. besonders S. 59—60.
Die Babjlonier. 29
Nippur außer dem Stufentempel des Bä (dem babylonischen Turm)
auch das damit verbundene Schulgebäude und die Bibliothek der
Priesterschule bloßgelegt, welche letztere viele Tau sende von Tafeln
enthielt In Beziehung auf diese heißt es: ^^Besondere Aufmerksam-
keit wandte man dem Gebiete der Arithmetik, Mathematik und Astro-
nomie zu. Zunächst wurde der Schüler im Gebrauche des Sexagesi-
malsystems eingedrillt. Da heißt es 60 + 7 x 10 =- 2 x 60 + 10,
60 + 8 X 10 — 2 X 60 + 20 usw. In geradezu phänomenaler Weise
wurde das Einmaleins geübt. Wir haben eine ganze Menge dieser
nach Serien eingeteilten Multiplikationstafeln, darunter mehrere Dupli-
kate. Eine Tafel enthält das Einmalsechs (bis 60), eine zweite das
Einmalneun. Ich habe derartige Tafeln bis 1 mal 1350 in den Händen
gehabt.^' Wenn solche umfassende Rechenknechte, wie wir unter
Benutzung eines unserer Gegenwart angehörenden Wortes uns aus-
drücken wollen, vorhanden waren, dann muß eine nur Quadratzahlen,
nur Kubikzahlen enthaltende gleichfalls in Duplikaten vorhandene
Tafel ganz besonderer Zwecke wegen hergestellt worden sein, und
als einen solchen Zweck glauben wir die Erkennung einer 21ahl als
Quadratzahl, als Eubikzahl uns denken zu dürfen.
Man hatte beispielsweise durch Vervielfachung 9 x 361 » 3249
gewonnen und fand nun in der Tafel von Senkereh, das Quadrat von
57 sei gleichfalls 3249. Damit wäre die vorhin von uns vorgeschlagene
3249 die Quadratwurzel davon ist 57
in zweckentsprechender Übereinstimmung.
Jene gewünschte Verwandlung einer anders beschaffenen Figur
in ein Quadrat, denn das ist doch am letzten Ende das hier vpraus-
gesetzte Verfahren, konnte möglicherweise darin begründet sein, daß
irgend eine Besteuerung von Feldern nicht nach Maßstab ihrer Flache,
sondern nach Maßstab der Seite des flächengleichen Quadrates vor-
genommen worden wäre, eine Vermutung, welche wir allerdings vor-
läufig nicht zu stützen imstande sind.
Hatten die Zahlentafeln von Senkereh den hier als denkbar ge-
schilderten arithmetischen Zweck, dann konnten sie auch zu einer
Interpolation dienen. Man sah, daß 3249 der Wurzelzahl 57, daß
3364 der Wurzelzahl 58 entsprach, also mußte z. B. der Feldinhalt
3300 einer Wurzelzahl entsprechen, welche zwischen 57 und 58
lag. Im Verlaufe von Jahrhunderten konnte sich dieses Wissen
zu immer genauerer Abschätzung irrationaler Quadratwurzeln ent-
wickeln.
Die andere Tafel von Senkereh stand aber, wir sind wohl oder
übel zu dieser unausweichlichen Folgerung gezwungen, in ahn-
30 1- Kapitel.
lieber Beziehung zu der Lehre Yon den Kubikwurzeln wie die erste
zu der von den Quadratwurzeln.
Wir kommen noch zu einer dritten Frage. Wir sagten oben^
man habe
7.30 badie 30
so gedeutet^ daß 7 x 60^ + 30 x 60^ als Kubus von 30 erscheine,
daß man dem Sinne nach verstand, daß so und nicht etwa
7 X 60^ + 30 = 30* zu lesen war. Grenügte der Sinn auch zum Ver-
ständnis, wenn Einheiten irgend einer Stufe zwischen den anzuschrei-
benden fehlten? Wurde z. B. 7248 = 2 x 60« -h 48 nur 2 • 48 ge-
schrieben und überließ man es dem Leser aus dem Sinne zu ent-
nehmen, daß in der Tat 7248 und nicht 168 » 2'X 60 + 48 gemeint
war? Die Tafeln beantworten uns diese Frage nicht, würden sie
auch nicht beantworten, wenn die ganze erste Tafel unzerbrochen
auf uns gekommen wäre, da unter sämtlichen Kubikzahlen bis zu
59« ■= 57 X 60* + 2 X 60 + 59 keine einzige vorkommt, welche sich
nur aus Einheiten der ersten und der dritten Stufe zusammensetzte.
Und doch leuchtet die hohe geschichtliche Wichtigkeit dieser Frage,
ob man das Fehlen von Einheiten einer mittleren Stufe besonders
andeutete, sofort ein, wenn man ihr die nur der Form nach ver-
schiedene Fassung gibt, ob, als die Tafeln von Senkereh entstanden,
die Babylonier eine Null besaßen? Eine Null, das ist ja ein
Symbol fehlender Einheiten! Ohne ein solches besaßen die Baby-
lonier eine immerhin interessante, aber vereinzelte systemlose Be*
nutzung des Stellenwertes. Mit einem solchen war von ihnen schon
eine ausgebildete Stellungsarithmetik erfunden. Yon dem einen zu
dem «ndem führt ein dem Anscheine nach kleiner, in Wahrheit un-
ermeßlicher Schritt. Schon der Wunsch auf diese eine Frage eine
Antwort zu erhalten, läßt die Veranstaltung weiterer Ausgrabungen
in Senkereh zu einem wissenschaftlichen Bedürfhisse heranwachsen.
Dort war allem Anscheine nach eine größere Bibliothek. Dort ver-
muten Assyriologen wie A. H. Sayce eine erhebliche Menge von
Tontafeln mathematischen Inhaltes ^). Dort würde die Geschichte der
Mathematik möglicherweise wertvolle Ausbeute gewinnen. Fast mit
Sicherheit läßt sich mindestens das Eine erwarten, daß Ausgrabungen
zu Senkereh Datierungen liefern würden, welche es möglich machten,
den Zeitpunkt, dem die Anfertigung jener Täfelchen entspricht, an-
nähernd zu bestimmen. Gegenwärtig ist nur aus den Wörtern für
Quadrat und fiir Kubus der Schluß zu ziehen, daß diese Werte, daß
auch das Sexagesimalsystem den Sumeriem bekannt gewesen sein
^) Briefliche Mitteilung des genannten Grelehrten.
Die Babylonier. 31
muß ^). Es ist dann weiter vielleicht die Folgerung erlaubt, daß jene
Täfelchen vor der Regierung des Königs Sargon I. entstanden, weil
damals das Sumerische bereits außer Übung geraten war. Sargon
selbst ist ,,Saryukin, der mächtige König von Agana^^ nach inschrift-
lich erhaltenem Titel *). Auf ihn folgte sein Sohn Naramsin, auf
diesen die Königin Ellatbau und diese wurde durch Ghammuragas,
König der Kassi im Lande Elam, entthront, von welchem die Kassiter-
dynastie gestiftet wurde. Hier gewinnt die Forschung soweit festeren
Boden, als es unter den Assyriologen sicher scheint, daß die Kassiter-
dynastie bis etwa zu dem Jahre 1700 y. Chr. zurückgeht Sayce
folgert auf diese Wahrscheinlichkeitsrechnung gestützt, daß die ISfel-
chen von Senkereh etwa zwischea 2S00 und 1600 v. Chr. entstanden
sein dürften*).
Für eine wesentlich spätere Zeit können wir die Frage, ob die
Babylonier eine Null in dem angegebenen Sinne, d. h. ein Mittel
zur Kenntlichmachung einer Lücke in einer sexagesimal geschriebenen
Zahl besaßen, allerdings bejahen. In astronomischen Schriften^
welche den drei letzten vorchristlichen Jahrhunderten entstammen,
und in welchen fast Zeile für Zeile sexagesimal mit Stellungswert
versehene Zahlenangaben vorkommen, findet man häufig Beispiele wie
10 ± iL i?_.
60 60» 60*
Mitunter wird die Tatsache, daß der Bruch, welcher 60* im Nenner
hätte, fehlt, dadurch angedeutet, daß, wie wir es in unserer Nachbildung
nachahmten, die Brüche ^r und -^ etwas weiter voneinander entfernt
abgebildet sind, als es der Fall wäre, wenn keine Lücke in den Sexa-
gesimalbrüchen anzudeuten gewesen wäre. Mitunter ist aber ein die
Lücke ausfüllendes aus zwei kleinen Winkelhaken bestehendes
Zeichen % vorhanden^), ein Zeichen, welches auch in nicht mathe-
matischen Texten vorkommt und dort mancherlei Zwecken dient,
z. B. andeutet, ein Wort, welches auf einer Zeile nicht vollständig
angeschrieben werden kann, setze sich auf der nachfolgenden Zeile fort
Die soeben erwähnten Beispiele bestätigen, daß, wie Oppert schon
früher gezeigt hat, das Sexagesimalsystem auch nach abwärts fOhrte,
daß es Sezagesimalbrüche eneugte, deren Nenner durch die nach
rechts vorrückende Stellung der allein geschriebenen Zähler erkenn-
^) Delitzsch, Sobs, Ner und Sar. ZeitBcbi. Ägypt. 1878. *) Maspero-
PietBchmann S. 194. *) Briefliche Mitteilung. *) Fr. Xav. Kugler, Die
Babylonische Mondrechnnng. Eeilinschriftliche Beüagen Tafel IV und öfter
(Freibnrg i. Br. 1900).
32 1. Kapitel.
bar sind. Dahin gehören die Unterabteilungen des sexagesimalen
Maßsystems auf der Vorderseite des ersten Täfelchens von Senkereh,
Yon welchem oben im Vorbeigehen die Bede war.
Solchen Tatsachen gegenüber gehörte ein gewisser Mut dazu,
die auf keinerlei urkundlicher Grundlage beruhende Meinung aus-
zusprechen^), die Sumerier hätten ursprünglich ein Siebenersystem
besessen und nachtraglich das Sechzigersystem hinzuerfunden, weil
60 vielfach teilbar, 7 dagegen teilerlos war. Weit anmutender ist die
Annahme^, es habe von den beiden großen Volksbestandteilen, welche
in dem Zweistromlande ihre schon weit entwickelte Oeistesbildung
yermischten, der eine ursprünglich ein Zehnersystem, der andere ein
Sechsersystem besessen, und bei dem Zusammenwachsen beider Stamme
habe sich das Sechzigersystem bilden können, welches ei^e Bezie-
hungen zu beiden Grundzahlen, zu 10 und zu 6, an den Tag lege. Manches
bleibt allerdings auch bei dieser Annahme recht rätselhaft, z. B. welchem
Volke man die Erfindung des Sechsersystems zuschreiben und wie
man diese Erfindung sich denken soll. Die von dem Urheber der
Vermischimgstheorie (60 — 10 X 6) vorgeschlagene Erklärung, man
habe an den Fingern gezählt und nach Erschöpfung der Finger einer
Hand diese Hand zum Zeichen eines Ruhepunktes im Zählen ge-
schlossen, führt unseres Ermessens zum Fünfersysteme (S. 8) und
nicht zum Sechsersyst^me.
Weitere Bestätigung durch die Überlieferung ist zwar nicht
erforderlich, wo bestimmte Inschriften so deutlich reden. Gleichwohl
lohnt es bei ihr Umfrage zu halten, was sie bezüglich babylonischen
Rechnens überhaupt, was sie über das babylonische Sexagesimalsystem
insbesondere uns zu sagen weiß.
Strabo läßt in Phönikien die Rechenkunst entstehen'); Josephus
hat deren Erfindusg den Chaldäern zugewiesen^), von welchen sie
durch Abraham den Weg nach Ägypten gefunden habe, und Cedrenus,
ein byzantinischer Geschichtsschreiber der Mitte des XI. S., nennt sogar
Phönix, den Sohn des Agenor, der selbst Sohn des Neptun war, als
Verfasser des ersten Buches über Philosophie der Zahlen (xegl tijv
iQid'iirjtix'^v q>iXo6oq)Cav) in phönikischer Sprache^). Theon von
Smyma im II. S. n. Chr. lebend sagt: bei Untersuchung der Planeten-
bewegung hätten sich die Ägypter konstruktiver Methoden bedient.
') H. von Jacobs, Das Volk der Siebener-Z&hler. Berlin 1896.
^6. Eewitsch, Zweifel an der astronomischen und geometrischen Grundlage
des 60 -Systems. Zeitschrift für Assyriologie XYIII, 73—96. Straßburg 1904.
«) Strabon XVI, 24 und XVII, 3 (ed. Meineke pag. 1066 und 1099).
^) Josephus, Antiquit. I cap. 8 § 2. ^) Cedrenus, Compendium Historiarum
(ed. Xylander). Paris 1647, pag. 19.
Die Babylonier. 33
hätten gezeichnet, während die Ghalc^ler zu rechnen vorzogen, und
Yon diesen beiden Völkern hätten die griechischen Astronomen die
Anfänge ihrer Kenntnisse geschöpft^). Porphyrius, selbst in Syrien
geboren und am Ende des III. S. schreibend, erzählt: von alters her
hätten die Ägypter mit Geometrie sich beschäftigt, die Phönikier
xQit Zahlen und Rechnungen, die Chaldäer mit den Lehrsätzen, die
sich auf den Himmel beziehen^).
Diese Überlieferungen bezeugen, daß man Ton einem hohen Alter
der Rechenkunst in Yorderasien die Erinnerung bewahrt hatte. Ein
Widerspruch gegen eine andere Sage, die neben der Geometrie auch
die Rechenkunst in Ägypten entstehen ließ, kann uns in der Bedeutung,
die wir solchen Überlieferungen beilegen, nicht irre machen. War
doch in der Tat auch dort eine Rechenkunst vielleicht gleich hohen
Alters zu Hause, und steht doch der Sage, Abraham habe Rechen-
kunst und Astronomie aus Chaldäa nach Ägypten gebracht, die andere
gegenüber, Belos, der Ahne eines lydischen Königsgeschlechtes, sei
Führer ägyptischer Einwanderer gewesen^). Beide Bildungen, die des
Nillandes, die des Enphratlandea, waren uralt; beide standen in ur-
alter Berührung; beide beeinflußten das spätere Griechentum sei es
unmittelbar, sei es mittelbar, und das Erfinderrecht, welches griechische
Schriftsteller, je weiter wir aufwärts gehen, um so ausschließlicher
den Ägyptern zuweisen, hängt wohl damit zusammen, daß Griechen
in größerer Zahl weit früher nach den Hauptstädten von Ägypten,
als nach denen von Yorderasien gelangten. Diese letztere Gegend
kann kaum vor dem Alexanderzuge als genügend bekannt betrachtet
werden.
Spuren des babylonischen Sexagesimalsjstems in den Überliefe-
rungen aufzufinden, wird uns gleichfalls gelingen, wenn wir nur richtig
suchen. Wir werden nämlich hier nicht auf Äußerungen ganz
bestimmter Natur fahnden dürfen, die Babylonier oder die Phönikier
oder dieses oder jenes dritte Nachbarvolk seien Erfinder eines Zahlen-
systems gewesen, welches nach der Grundzahl 60 fortschritt; wir
werden uns begnügen müssen, der Zahl 60 und ihren Yielfachen als
Zahlen unbestimmter Yielheit zu begegnen. Yon Sammelwörtem
zur Bezeichnung unbestimmter Yielheiten war in der Einleitung (S. 5),
Ton gewissen Zahlen als Yertretem einer unübersehbar großen Yiel-
heit in diesem Kapitel (S. 23 — 24) schon die Rede. Allein neben
den Ausdrücken unbestimmter Zusammenfassung, neben den Zahlen
*) Theo Smyrnaeus (ed. Ed. Hiller). Leipzig 1878, pag. 177. ') Por-
phyrius, De vüa Pythctgorica s. 6 (ed. Kiessliiig, pag. 12). ^ Diodor I,
28, 29.
Oahtob, Oetchichte der Mathematik I. 3. Aufl. 3
34 ^' Kapitel.
außergewöhnlicher Vielheit bilden kleinere ganz bestimmte Zahlen in
dem Sinne einer nicht genan abgezählten oder abzuzahlenden Menge
ein ganz regelmäßiges Vorkommen^).
Die Zahlen 5^ 10, 20 als in den menschlichen Gliedmaßen be-
gründet yertreten oftmals solche nnbestinmite Vielheiten. Die Zahl 3
ist unbestimmte Vielheit in tQLöd^liog sowie in ter fdix (dreifach
unglücklich, dreifach glücklich). Eben dahin gehört es, wenn der
Chinese „die vier Meere'' statt alle Meere sagt, wenn wir Ton „unseren
sieben Sachen^' statt von allen unseren Sachen reden, indem dort die
vier Weltgegenden den Vergleichungspunkt zeigten^ hier die weit
und breit besonders geachtete Zahl 7 mutmaßlich den 7 Tagen der
Schöpfungswoche, die selbst mit den 7 Wandelsternen der alten
Babylonier zusammenhängen dürften, ihre Heiligkeit und ihre häufige
Anwendung verdankt An diesen wenigen Beispielen erkennen wir
bereits, daß nicht jede beliebige Zahl als unbestimmte Vielheit gewählt
wird, sondern, daß Gründe, die freilich nicht immer am Ti^e liegen,
den Anlaß gaben, bald dieser bald jener Zahl die genannte Rolle
zuzuweisen. So bildet 40 die unbestimmte Vielheit sämtlicher Völker
ural-altaischer Abkunft^) bis auf den heutigen Tag. So waren es
40 Amazonen, von denen die skjthische Sage berichtet. So ist im
Märchen Ali Baba mit 40 Bäubem zusammengetroffen. So brachten
die Hebräer 40 Jahre in der Wüste, Mose 40 Tage und 40 Nächte
auf dem Berge Sinai zu. So dauerte der Regen, der die Sintflut ein-
leitete, 40 Tage und 40 Nächte, und so sind noch viele andere
biblische Stellen des alten wie des neuen Bundes, letztere wohl meistens
bewußte Nachahmungen der ersteren, durch die Annahme zu erklären^
die in ihnen vorkommende Zahl 40 sei eine unbestimmte Vielheit.
Wie aber 40 zu dieser Rolle kam, und zwar in ältester Zeit kam^
denn es sind gerade die ältesten Bibelstellen, welche ein unbestimmtes
40 benutzen, das ist heute nicht bekannt.
Ähnlicherweise kommt nun 60 mit seinen Vielfachen und einigen
in ihm enthaltenen kleineren Zahlen als unbestimmte Vielheit vor^
aber immer und ausschließlich in solchen Verhältnissen, wo eine
Beeinflussung von Babylon aus nachweisbar oder wenigstens möglich
ist. Wir haben vor wenigen Zeilen von ältesten Bibelstellen ge-
sprochen. Theologische Kritik hat nämlich aus Eigentümlichkeiten
^) Über solche unbestimmte Vielheiten vergl. Math. Beitr. Knltorl. 146—148
imd 861 — 362, wo anf verschiedene Quellen hingewiesen ist. Zu diesen kommt
noch: Pott I, 119; dann Himly, Einige rätselhafte Zahlwörter (Zeitschr. d.
morgenl. Gesellsch. XYIU, 292 und 381); Kaempf, Die runden Zahlen im
Hohenliede (ebenda XXIX, 629—632) imd der Artikel: Zahlen von Kneucker
in Schenkels Bibellexikon. *) Briefliche Mitteilung von Herrn Berth. Laufer.
Die Babylonier. 35
der Sprache^ der Glaubenssätze^ der Vorschriften usw. ein yerschie-
denes Alter der in den 5 Büchern Mose vereinigten Erzählungen
nachzuweisen gewußt. Sie hat beispielsweise festgestellt, daß der
Sintflutsbericht der Bibel ein doppelter ist. Der älteren Erzählung
gehört der Torerwähnte 40tägige Regen an. In dem jüngeren Berichte,
der erst nach 535, d. h. nach der Rückkehr aus der babylonischen
Oefangenschaft niedei^eschrieben sein soll, sind die Maße der Arche
angegeben, 300 Ellen sei die Länge, 50 Ellen die Weite und 30
Ellen die Höhe^). Die Länge und Weite der Arche in Berichten der
Keilschrift scheinen auf 600 und auf 60 zu lauten^). Das goldene Götter-
bild, welches König Nebukadnezar errichten ließ, war 60 Ellen hoch
und 6 Ellen breit'). Um das Bett Salomos her stehen 60 Starke aus
den Starken in Israel, und 60 ist die Zahl der Königinnen^). Ander-
weitige ParallelsteUen gewährt die außerbiblische hebräische und
chaldäische Literatur, von welchen wir nur der Reimzeile: „In des
einen Hause 60 Hochzeitbälle, in des andern Kreise 60 Sterbefälle^^^)
gedenken. Auch die griechische Literatur läßt uns keineswegs im
Stiche. Den ionischen Truppen wird Ton dem Perserkönige der Befehl
erteilt, an der Brücke über den Ister 60 Tage zu warten; Xerxes
läßt dem Hellesponte 300 Rutenstreiche geben; Kyrus läßt den Fluß
Gyndes, in welchem eines seiner heiligen Rosse ertrunken war, zur
Strafe in 360 Rinsel abgraben. So nach Herodot*). Entsprechend
berichtet Strabo: Man sagt, es gebe ein persisches Lied, in welchem
die 360 Nutzanwendungen der Palme besungen würden^. Stobäus
läßt durch Oinopides und Pythagoras ein großes Jahr von 60 Jahren
einrichten^), und wir werden später sehen, daß diese Philosophen als
Schüler morgenländischer Weisheit betrachtet wurden. Vielleicht ist
damit die freilich von unserem Berichterstatter, Pausanias, anders
begründete Sitte in Zusammenhang zu bringen, daß das Fest der
großen Dädala mit den Platäem auch von den übrigen Böotem alle
60 Jahre gefeiert wurde: denn so lange war nach der Sage das Fest
zur Zeit der Vertreibung der Platäer eingestellt*).
^) I. Mose 6, 5. *) Le po^me Chaldäen du däluge traduit de raBsjrien par
Jules Oppert (Paris 1885) pag. 8: Le navire que tu bätiras, xnesurera un ner
d'empans en longueur, un sass d'empans sera le compte de sa hauteur et de sa
largeur. Es ist nicht ohne Interesse, daß diese Angaben mit denen der Bibel
zusammentreffen, sobald man annimmt, die babylonische Einheit sei die Hälfte
der biblischen Elle gewesen. ') Daniel 8, 1. *) Hohes Lied 8, 7 und 6, 8.
') Dieses Beispiel und mehrere andere namentlich bei Kaempf in dem oben-
erwähnten Aufsatze Zeitschr. d. morgenl. Gesellsch. XXIX. ') Herodot lY, 98;
Vn, 86; I, 189 und 202. ') Strabo XVII, 1, 14. «) Stobaeus, Eclog. Phys. I,
9, 2. ^) Pausanias, IX, 8.
36 1- Kapitel.
Endlich gehört sicherlich eine Stelle des Hesjchios hierher, Saros
sei eine Zahl bei den Babyloniem ^). Mit dieser Stelle haben wir den
Bückweg zu den Schriftdenkmälern der Babylonier gewonnen, aus
welchen unser Oewährsmann unmittelbar oder mittelbar geschöpft haben
muß. Die Sprache der Babylonier enthielt nämlich nicht bloß das
Wort Sar mit einer Zahlenbedeutung, welche allseitig als 3600 y er-
standen wird, sondern auch noch Ner mit der Bedeutung 600 und
So SS mit der Bedeutung 60.
Wir si^en ausdrücklich Soss, Ner, Sar haben diese Zahlenbedeu-
tung, weil wir vermeiden wollen sie Zahlwörter zu nennen. Sie
gehören eben zu den Wortformen, deren es in anderen Sprachen auch
gibt, welche mit Zahlenwert yersehene Nennwörter sind, wie unser
Dutzend » eine Anzahl von 12, Mandel = eine Anzahl von 15,
Schock =» eine Anzahl von 60, aber beim eigentlichen Zählen, ins-
besondere beim Bilden größerer Zahlen, nicht anderen Zahlwörtern
gleich benutzt werden. Oanz in derselben Weise wie das wohl nur
zufällig lautverwandte Schock bezeichnet Soss eine Anzahl von 60
irgendwelcher als Einheit gewählter Gegenstände. Das Ner ist so
viel wie 10 Soss, der Sar so viel wie 60 Soss, aber immer unter
Voraussetzung konkreter Einheiten. So stellt ims der Soss, der Sar
die nächsthöheren Stufen des aufsteigenden Sexagesimalsystems vor,
welche auf die Einheiten folgen, und die Frage bleibt eine offene,
ob es noch Namen über diese hinausgab, ob es etwa ein Wort gab
für 60 Sar, d. h. für eine Anzahl von 216 000. Was über die den
Babyloniem in ihrer Allgemeinheit wohl anhaftende Beschrankung des
Zahlenbegriffes S. 23 gesagt wurde, genügt keineswegs diese Frage
beiseite zu schieben, denn wir stellen sie nicht mit Bezug auf
bürgerliche, sondern auf wissenschaftliche Rechenkunst. Der Soss
freilich, und wohl auch der Ner, sind zum gemeinsamen Volkseigen-
tume geworden.. Ersterer in mathematischen Schriften, wie z. B. in
den Tafeln von Senkereh, durch einen Einheitskeil bezeichnet, wel-
chem die Stellimg den Bang erteilte, scheint auch sonstigen Inschriften
in der Weise sich eingefügt zu haben, daß der Vertikalkeil links von
Winkelhaken stehend, zu welchen er dem Gesetze der Größenfolge
halber nicht einfach addiert werden konnte, und welche er als Einheit
vervielfachen zu sollen keine Veranlassung besaß, die Bedeutung von
') Auf diese Stelle hat J. Brandis in seinem yortreff liehen Werke: Das
Münz-, Maß- und Gewichtswesen in Yorderasien bis auf Alexander d. Großen,
Berlin 1866, aufmerksam gemacht. Für den Mathematiker von besonderem
Interesse sind S. 9, 15, 595. Parallelstellen zu Hesychios bei Suidas und Syn-
kellos vergl. in dem Aufsatze von Fr. Delitzsch, Soss, Ner, Sar. Zeitschr.
Ägypt. 1878, S. 56—70.
Die Babylonier. 37
SoBS, d. i. also von 60 gewann^ wie in mathematischen Schriften ond
80 sich addierte^). Freilich ist auch diese Behauptung, wie so manche
andere, die sich auf Entzifferung Ton Keilschrift bezieht, noch
bestritten, und der einzelne links ron Winkelhaken befindliche
Vertikalkeil wurde Ton Oppert und Lenormant als 50 gelesen, eine
Auffassung, an welcher aber Oppert jedenfalls nicht mehr hartnackig
festgehalten hat.
Wir haben oben (S. 32) uns der Ansicht angeschlossen, das
Sezagesimalsystem sei aus der Vermischung eines Sechsersjstems
mit einem Zehnersystem entstanden, welche beide dem Sechziger-
systeme sich ein- und unterordnen konnten. Damit fallt die Annahme,
der wir selbst früher huldigten, die Grundzahl 60 sei durch Sechs-
teilung der 360 Orade des Kreises entstanden, und diese hatten den
360 Tagen eines alten Sonnenjahres entsprochen. Man hat den sehr
richtigen Einwand erhoben'), man habe doch das Zählen und An-
schreiben der kleineren Zahlen gekannt und benutzt, bevor man zu
360 gelangte, man bilde kein Zahlensystem durch Verkleinerung,
sondern allenMls durch Vergrößerung einer rorhandenen Ghnmdzahl,
man könne also nicht den Gedankengang eingeschlagen haben, daß
man zuerst 360 und dann 60 als rechnerischen Buhepunkt benutzte.
Man hat den ferneren Einwand erhoben, die Mangelhaftigkeit einer
Sonnenbahn ron nur 360 Tagen müsse sehr frühzeitig erkannt worden
sein und müsse die Notwendigkeit von mindestens 5 Zusatztagen er-
zeugt haben; das Jahr yon 360 Ti^en sei nur ein Rechnungsjahr
gewesen, und zwar deshalb gewesen, weil man 6 X 10 » 60 als Grund-
zahl besaß, wodurch ebensowohl 6« X 10 = 360 als 6 x 10* = 600
in den Vordergrund arithmetischen Denkens treten mußten.
Damit fallen auch die anderen Versuche, welche gemacht worden
sind^) das Sexagesimalsystem astronomisch herzuleiten. Aber nicht
als hinfällig können wir betrachten, was wir ein Eindringen des
Sexagesimalsystems in die Astronomie und Geometrie der Babylonier
nennen möchten.
Das Sexagesimalsystem der Babylonier hängt, glauben wir, mit
astronomisch-geometrischen Dingen zusammen. So ungern wir ron
unserer Absicht der Geschichte der Astronomie in diesem Werke fem
zu bleiben abweichen, hier müssen wir eine kleine Ausnahme inso-
weit eintreten lassen, als wir von dem Altertum babylonischer Stem-
')LepBiu8, Babylonisch-assyrische Längeimiaße (Abhandl. Berlin. Akademie
1877) S. 142—148. *) Kewitsch in der Zeitechxift für Assyriologie Bd. XYm.
Strafibnrg 1904. ^ F. Ginzel, C. Lehmann, H. Zimmern haben solche
Versuche angestellt.
38 1. Kapitel.
künde wenigstens einiges berichten^). Mag man die Hunderttausende
Yon Jahren, durch welche hindurch Plinius anderen Berichterstattern
folgend babylonische Beobachtungen ai^estellt sein läßt^ belächeln;
mag man zunächst auch den 31000 Jahren ror Alexander dem Großen
mit ungläubigster Abwehr gegenüberstehen, aus welchen nach Por-
phyrius eine Beobachtungsreihe durch Eallisthenes an Aristoteles
gelangte; folgende Dinge stehen fest: Elaudius Ptolemäus, der Verfasser
des Almagesty wußte von einer babylonischen Liste von Mondfinster-
nissen seit 747. Die Sonnenfinsternis yom 15. Juni 763 ist in den
assyrischen Reichsarchiven angegeben. Für König Saigon, der etwa
3700 y. Chr. gelebt haben mag, ist ein astrologisches Werk yerfaßt,
welches der englische Assyriologe Sayce entziffert und übersetzt hat.
Für eine sehr bedeutende Anzahl yon Jahrestagen ist in diesem
Werke, welches wir am deutlichsten als Vorbedeutungskalender be-
zeichnen, erörtert, welche Folge eine gerade an diesem Tage eintretende
Verfinsterung haben werde. Man überlege nun, welches statistische
Material an Verfinsterungen und ihnen folgenden Ereignissen nötig
war, um ein solches Wahrscheinlichkeitsgesetz, welches man selbst-
yerständlich für unfehlbare Wahrheit hielt, herzustellen; selbst wenn
manche Ereignisse nicht der Erfahrung sondern der Einbildungskraft
des Verfassers des Kalenders entstammten, so wird man so yiel
zuzugeben geneigt sein, daß wahrscheinlich mehrere tausend Jahre
yor Alexander eine babylonische Astronomie bestand, daß es unter
allen Umständen zur Zeit yon König Sargon eine beobachtende Stern-
kunde der Babylonier gab, die damals das Kalenderjahr längst besaßen.
Babylonisch und zwar aus ähnlich alter Zeit dürfte auch die 7tägige
Woche sein, welche, wie wir schon gelegentlich bemerkt haben, in
der biblischen Schöpf ungswoche sich widerspiegelt, während sie der
Anzahl der bekannten Wandelsterne ihren eigentlichen Ursprung yer-
dankt. Auf die babylonische Heimat weisen die 7 Stufen yerschiedenen
Materials hin, welche den Tempel des Nebukadnezar bildeten, dessen
Trümmer in Birs Nimrud begraben wurden, und der, wie manche
glauben, der Sprachenturm der Bibel war. Ebendahin weisen uns die
7 Wälle yon Ekbatana^), und die Macht der Planetengötter über das
menschliche Geschlecht und dessen Schicksale bildete einen Teil der
babylonischen Vorbedeutungswissenschaft*). Babylonisch ist dann
weiter die Einteilung des Tages in Stunden. Hier freilich ist eine ganz
') Eine sehr übersichtliche Zusammenstellung aller Quellen bei A. H. Sayce,
21te (Mtranomy and astrology of the Babylonians witÄ translations of tlie tableis
relating to these suijeets in den Transactions of the society of biblical Ärchaeology,
VoL III, Part. 1. London 1874. Vergl. auch das Programm von A. Häbler,
Astrologie im Alterthum, 1879. *) Herodot I, 98. ») Diodor II, 80.
Die Babylonier. 39
bestimmte Kemituis des SachTerkaltes nicht yorhanden, deim wenn
Herodot uns ausdrücklich sagt^ die Babylonier hatten den Tag in
, zwölf Teile geteilt^), so sprechen andere Gründe für eine Teilung
des Tages in 60 Stunden, und man hat versucht sich damit zu hei-
fen, dafi man die 12 büi^rlichen Stunden, welche den Tag ohne die
Nacht ausfüllten, von einer wissenschaftlichen Einteilung zu astro-
nomischen Zwecken unterschied^). Die Vermutung, man habe in
Babylon den Tag in 60 Stunden geteilt, beruht yomehmlich auf zwei
Oründen. Erstlich wendet Ptolemäus bei der auf Hipparch und auf
die Ghaldäer Bezug nehmenden Berechnung der Mondumläufe die
Sechzigteüung des Tages an^), und zweitens teilten die Yedakalender
•der alten Inder gleichfalls den Tag in 30 muhürta, deren jeder aus
2 nddikä bestand, so daß 60 Teile gebildet wurden^). Indische
Astronomie weist aber vielfach mit zwingender Notwendigkeit auf
babylonische Beeinflussung zurück. Die Dauer des ^.ngsten Tages
-z. B. wurde in dem Yedakalender auf 18 muhüriaf d. h. also auf
18
ÖQ Tageslängen oder 14^24°^ angegeben. Ptolemäus in seiner Geographie
bezeichnet sie zu 14^25" für Babylon. In chinesischen Quellen er-
scheint dieselbe Dauer in Gestalt von 60 KliCy deren jeder 14" 24*
betragt^). Die Dauer des längsten Tages ist aber selbstverständlich
als von der Polhöhe abhängig nicht aller Orten gleich; femer waren
in so* weit zurückliegenden Zeiten die Beobachtungen wie die daran
.sich knüpfenden Rechnungen nicht so feiner Natur, daß fast identische
Ei^ebnisse an verschiedenen Orten zu erwarten wären. Die Wahr-
scheinlichkeit ist daher nicht zu unterschätzen, daß die Zahlenangabe
für den längsten Tag sich von einem der drei Pimkte nach den
beiden anderen verbreitet haben werde und zwar so, daß Babylon als
Verbreitungsmittelpunkt zu gelten hätte ^). In Indien haben übrigens
Zeitmesser, welche auf der Einteilung des Tages in 60 Teile beruhen,
bis auf die heutige Zeit sich erhalten, und der deutsche Reisende
Herm. Schlagintweit war in der Lage der Münchner Akademie
•eine solche Uhr vorzuzeigen. Sie besteht aus einem Abschnitte einer
Hohlkugel aus dünnem Kupferblech, welcher unten fein wie mit einem
*) Herodot U, 109. *) Lepsius, Chronologie der Ägypter S. 129, Note 1.
') Ptolem&ns, Almagestnm lY, 2. ^) Lassen, Indische Altertumskunde pag. 823.
A. Weber, Über den Yeda-Kalender genannt Jyotischam (Abhandl. Berlin. Akad.
1862), S. 106. ^) Biot, PrMa de Vastranomie Chinoise. Paris 1861, pag. 29.
*) A. Weber in den Monatsber. Berlin, Akad. 1862, S. 222 und in der vorzitier-
ten Abhandlung S. 14 — 16 und 29 — 30. Yergl. auch desselben Verfassers: Vedische
Kachrichten von den Nazatra ü. Teil (Abhandl. Berlin. Akad. 1862), S. 362.
Entgegengesetzter Meinung sind Whitney und G.«Thibaut. Yergl. des letz-
teren: Contr%buti(m8 to the explancUion of the Jyotisha-Veddnga, pag. 13.
40 1. Kapitel.
Nadelstich durchlöchert ist. Setzt man diese Vorrichtung auf Wasser,
80 füllt sich die Kugelschale allmählich an und sinkt nach bestimmter
Zeity-etwa nach anderthalb mühurta, unter hörbarem Zusammenklappen
des Wassers über ihr, unter ^).
Aus dieser ganzen Erörterung geht soviel henror, daß die
Astronomen Babylons die Zahl 60 mehrfach benutzten, und daß, wenn
ihnen eine Einteilung des Kreises in 360 Ghrade geläufig war, diese
Einteilung von Laien so gedeutet werden konnte, daß jeder Grad den
Weg zu TersinnHchen bestimmt war, welchen die Sonne bei ihrem
vermeintlichen Umlaufe um die Erde jeden Tag zurücklegte'). Wollte
man nun von dieser Kreisteilung, von diesen Graden, wieder größere
Mengen zusammenfassen, so lag es nahe, den Halbmesser auf dem
Kreisumfang herumzutrf^en. Man erkannte, wie wir fürs erste uns
zu glauben bitten, die Begründung uns bis zum Schlüsse des Kapitels
versparend, wo wir uns mit baylonischer Geometrie beschäftigen
müssen, daß ein sechsmaliges Herumtragen des Halbmessers als Sehne
den Kreis vollständig bespannte und zum Ausgangspunkte zurück-
führend dem regelmäßigen Sechsecke den Ursprung gab. Dann aber
enthielt jeder dieser größeren von einem Halbmesser bespannten
Bögen genau 60 Teile und faßte man sie besonders ins Auge, so war
damit wieder die Sechzigteilung, war zugleich die Sechsteilung ge-
wonnen. Letztere klingt in den Wörtern siba großes sechs = 7 und
samrna = 6 -f 2 -- 8 wieder") und könnte auch in den so häufig
wiederkehrenden Sechsteln (S. 23) sich erhalten haben. Der Ursprung
der Sechzigteilung kann dabei sehr leicht in Vergessenheit geraten
sein, so daß man beispielsweise in jener Mondbeleuchtungstheorie (S.25)
den vierten Teil der Mondscheibe in 60 Teile zerlegte, während man
den Graden entsprechend 90 solcher Teile im Quadranten ange-
nommen hätte, wenn nicht, wie wir sagten, der Ursprung der Sech-
zigteilung bereits vergesöen gewesen wäre.
Wir haben (S. 37) angedeutet, das Ner von 600 = 6 X 10^ habe
leicht in das Sexagesimalsystem der Babylonier Eingang finden können.
Wie mag man sich seiner bedient haben? Wollen wir unsere Ver-
mutung über diesen Gegenstand erörtern, so müssen wir über das
Rechne der Babylonier einiges vorausschicken. Daß sie rechneten,
viel und gut rechneten, wissen wir bereits. Daß die Ergebnisse ihres
») Sitzungsbericht der math. phys. Klasse d. bair. Akad. d. Wissenschaft,
in München für 1871, S. 128 ^gg, *) Diese Hypothese über den Ursprung der
Eieiseinteilung in 360 Grade ist zuerst von Formal eoni, Saggio suUa nantica
antica dei Veneziani (Venedig 1788) ausgesprochen worden, wie S. Günther»
Handbuch der mathematischen Geographie (Stuttgart 1890), S. 178, Note 1
berichtet. *) Bertin 1. c. p. S83.
Die Babylonier. 41
wissenschaftlichen Rechnens im Sexagesimalsysteme niedei^eschrieben
wurden, wissen wir gleichfalls. Aber wie gelangte man zu diesen
Ergebnissen? Nach dem, was wir in der Einleitung (S. 6) auseinan-
dergesetzt haben, werden unsere Leser sich nicht erstaunen, wenn wir
für die vorderasiatischen Völker der alten Zeiten ein Fingerrechnen
tmd ein instrumentales Rechnen in Anspruch nehmen, allerdings mehr
auf allgemeine Notwendigkeit als auf besondere Zeugnisse uns stützend.
Für das Fingerrechnen steht eine vereinzelte Notiz zu Gebote, der
Perser Orontes behaupte, der kleine Finger bedeute sowohl eine
Myriade als Eins^), sowie die Erwähnung dieses Verfahrens bei Schrift-
stellern, welche mit der Geschichte jüdischer Wissenschaft sich be-
schäftigt haben ^. Noch schlimmer vollends steht es mit der äußeren
Begründung des babylonischen Rechenbrettes, für welches nur
der einzige umstand geltend gemacht werden kann, daß bei den
Stämmen Mittelasiens bis nach China hinüber ein Rechenbrett mit
Schnüren zu allen Zeiten in Übung gewesen zu sein scheint, während
gerade in jener Gegend eine Veränderung der Sitten und Gebräuche
wenigstens in geschichtlich genauer bekannter Zeit so gut wie nicht
vorgekommen ist, während andererseits für babylonisch-chinesische
Beziehungen ältester Vergangenheit neben dem, was vorher von der
Dauer des längsten Tages gesagt wurde, noch eine andere bedeutungs-
volle Ähnlichkeit uns nachher bescl^ftigen wird. Gibt man uns auf
diese ziemlich unsichere Begründung, deren einzige Unterstützung wir
im 4. Kapitel in einem griechischen Vasengemälde erlangen werden,
zu, daß die Babylonier eines Rechenbrettes sich bedient haben müssen,
weil diese Annahme schließlich immer noch naturgemäßer ist, als
wenn man voraussetzen wollte, es seien alle Rechnungen von ihnen
ohne dergleichen Hilfsmittel vollzogen worden, so schließen wir
folgendermaßen weiter^). Das Rechenbrett, auf dessen Schilderung
wir im 2. Kapitel zurückkommen werden, muß naturgemäß dem
herrschenden Zahlensystem sich anschließen, und wo es zwei Zahlen-
systeme gibt, ein Dezimal- und ein Sexagesimalsystem, da müssen
auch zweierlei Bretter existiert haben, oder aber es muß die Möglich-
keit geboten worden sein auf demselben Brette bald so, bald so zu
rechnen. Die Veränderung bestand im letzteren Falle z. B. darin,
daß man bald mehrerer bald weniger Rechenmarken sich bediente.
So forderte das Rechenbrett des Dezimalsystems für jede Rangord-
nung höchstens 9 Marken, während dasjenige des Sexagesimalsystems
*) Pott n, 86 nach Suidaa. *) Friedlein in der Zeitßchr. Mathem. Phys.
IX, 329. ') Vergl. uuBere Rezension von Opperts Etaion des mesures assyriennes
in der Zeitschr. Math. Phys. XX, Histor. literar. Abtlg. 161.
42 1. Kapitel.
die Notwendigkeit in sich schloß bis zu 59 Einheiten jeder Rang-
ordnung anlegen zu können. Ebenso.yiele Marken auf dem Baume,
welcher für je eine Rangordnung bestimmt war, unmittelbar zur An-
schauung zu bringen ist geradezu unmöglich. Alle Übersichtlichkeit
und mit ihr die Brauchbarkeit des Rechenbrettes ging verloren, wenn
nicht auf ihm in diesem Falle innerhalb des Sexagesimalsjstems das
Dezimalsystem zu Hilfe gezogen wurde. Das aber hatte so wenig
Schwierigkeit, daß ähnliche Vorrichtungen, wie wir sie jetzt beschrei-
ben wollen, nur in etwas veränderter Anwendung uns wiederholt
begegnen werden. Wir denken uns in jeder Stufenabteilung des
Rechenbrettes zwei Unterabteilungen, eine obere und eine untere.
Jene etwa sei für die Einer, diese für die Zehner der betreffenden
Ordnung bestimmt. Jene bedarf zur Bezeichnung aller vorkommen-
den Zahlen 9, diese 5 Marken. Um nun die obere Abteilung der
ersten Stufe von der unteren in der Sprache zu unterscheiden, hatte
man die althergebrachten Namen Einer und Zehner. In der folgen-
den Stufe stand für die Marken der oberen Abteilung der Naipe Soss,
für die der unteren der Name Ner zur Verfügung, beziehungsweise
diese Namen wurden zum Zwecke der Benennung der Abteilungen
erfunden. In der dritten Stufe ist uns nur Sar als Name der oberen
Abteilung bekannt. Für die untere Abteilung, deren Einheit 10 Sar
oder 36000 betrug, müßte, wenn unsere Annahmen richtig sind,
gleichfalls ein Wort erfunden worden sein. Freilich ist ein solches
noch nicht bekannt geworden^ aber auch Rechnungen sind noch nicht
bekannt geworden, in welchen innerhalb des Rahmens des Sexagesi-
malsjstems Zahlen über 36 000 sich ergaben und schriftlich aufge-
zeichnet werden mußten; solche Rechnungen dürften überhaupt zu
den Seltenheiten gehöi*t haben. Eine Zeitdauer von 36000 Jahren
scheint Berosus allerdings den Babyloniern als besonders hervorge-
hobenen Zeitraum zuzuschreiben^).
Wir haben die Besprechung einer bedeutungsvollen Ähnlichkeit
zugesagt, welche auf babylonisch -chinesische Beziehungen deute.
Eigentlich ist es eine Ähnlichkeit zwischen Zahlenträumereien der
Griechen und der Chinesen. Bei Plutarch wird den Pythagoräem
nacherzählt, die sogenannte* Tetraktys oder 36 sei, wie ausgeplaudert
worden ist, ihr höchster Schwur gewesen; man habe dieselbe auch
das Weltall genannt als Vereinigung der vier ersten Geraden und
Ungeraden «), d. h. 36 « 2 -h 4 + 6 -|- 8 -f- 1 -f 3 -f 5 + 7. Diese
heilige Vierzahl läßt Plutarch an einer zweiten Stelle durch Piaton
^) Biandis, Das Münz-, Maß- und Gewichtssyetem in Yorderasien S. 11.
*) Plutarch, De Iside et Osiride. 75.
Die Babjlonier. 43
zu 40 er^Lnzt werden^). Gewiß ist dieses eine onfrachtbare und
darum nicht naturgemäß sich wiederholende Spielerei. TJm so auf-
fallender muß es erscheinen^ wenn in China das erstere System dem
Kaiser Fu hi, das zweite yoUkommenere dem Oü wang, dem Vater
des Kaisers Oü wäng^ der um 1200 y. Chr. regiert haben soll; als
Erfinder zugewiesen wird ^). Chinesische Bückdatiemngen sind zwar,
wie wir seinerzeit erörtern müssen, yon Zuyerlässigkeit weit ent-
fernt. Wir legen den Jahreszahlen als solchen deshalb hier keinen
sonderlichen Wert bei, aber um so mehr der Übereinstimmung sinn-
loser Traumereien in so weit entlegener Oegend. Selbst die nicht zu
yemachlässigende Tatsache, daß die vervollkommnete Tetraktjs mit
jener runden Zahl 40 übereinstimmt (S. 34), die den ältesten hebräi-
schen Si^en vorzugsweise anzugehören schien, kann uns in der Ver-
mutung nicht irre machen, daß wir es hier mit einem Stücke baby-
lonischer Zahlensymbolik zu tun haben, welches nach Westen
und nach Osten sich fortgepflanzt hat.
Babylonische Zahlensymbolik selbst ist über allen Zweifel ge-
sichert. Träumereien über den Wert der Zahlen nahmen unter den
religions- philosophischen Begriffen der Chaldäer einen bedeutsamen
Platz ein. Jeder Oott wurde durch eine der ganzen Zahlen
zwischen 1 und 60 bezeichnet, welche seinem Range in der
himmlischen Hierarchie entsprach. Eine Tafel aus der Bibliothek
von Ninive hat uns die Liste der hauptsächlichsten Götter nebst
ihren geheimnisvollen Zahlen aufbewahrt. Es scheint sogar, als sei
gegenüber dieser Stufenleiter ganzer Zahlen, die den Göttern beigelegt
wurden, eine andere von Brüchen vorhanden gewesen, welche sich
auf die Geister bezogen und gleichfalls ihrem jeweiligen Range ent-
sprachen *).
Als weitere Stütze mögen die zahlensymbolischen Träumereien
im VU. und VIII. Kapitel des Buches Daniel angeführt sein, eines
Buches, das unter dem ersichtlichen Einflüsse babylonischer Denk-
art geschrieben ist. Ähnliches erhielt sich auf dem Boden Palästinas
Jahrhunderte lang, wobei wir nur auf die Offenbarung Johannes
als Beispiel hinweisen wollen. Wir könnten aber auch auf die jüdische
Kabbala einen Fingerzeig uns gestatten, die, so spät auch das Buch
Jezirah und andere kabbalistische Schriften verfaßt sein mögen, der
Überlieferung nach bis in die Zeit des Exils hinaufzureichen scheint.
Kabbalistisch ist die sogenannte Gematria, wenn ein Wort durch
^) Plutarch, De animae procreatione in Timaeo Piatonis 14. •) Mon-
tucla, Hiataire des matfUmatiques I, 124, wo anch auf die Ähnlichkeit mit den
Stellen bei Plutarch aufinerksam gemacht ist. ') F. Lenormant, La magie
chez les ChaUeem. Paris 1874, pag. 24.
44 1. Kapitel.
das andere ersetzt wurde unter der Voraussetzung^ daß die Buchstaben
des einen Wortes als Zahlzeichen betrachtet dieselbe Summe gaben^
wie die des anderen Wortes. Über diese Zahlenbedeutung hebräischer
Buchstaben und ihr vermutliches Alter werden wir zwar erst im
vierten Kapitel im Zusammenhange mit ahnlichem Gebrauche der
Syrer, der Ghriechen handehi und können um einiger Beispiele willen
unseren Gang nicht unterbrechen; es sei trotzdem gestattet hier die
Kenntnis jener Bezeichnungsart fär einen Augenblick vorauszusetzen.
Gematrie ist es, wenn das jüdische Jahr 355 Tage zählte und damit
in Verbindung gebracht wurde, daß die Buchstaben des uralten ursprüng-
lich eine Wiederholung bedeutenden Wortes Jahr JiDID «= 5 + 50 + 300
genau 355 ausmachen. Gematrie macht sich in den Bibelkommen-
taren breit. Als nun Abram hörte, heißt es in der Heiligen Schrift^
daß sein Bruder gefangen war, wappnete er seine Knechte, 318 in
seinem Hause geboren und jagte ihnen nach bis gen Dan^). Die
Erklärer wollen, der Überlieferung folgend, 318 sei hier statt des
Namens Elieser gesetzt, der in der Tat ntr^bK «200+7 + 70+10
+ 30 + 1 = 318 gibt, wenn man von dem Gesetze der Größenfolge
Umgang nimmt und nur den Zahlenwert der einzelnen Buchstaben,
wie sie auch durcheinander gewürfelt erscheinen mögen, beachtet.
Im Propheten Jesaias verkündet der Löwe den Fall Babels*). Die
Erklärer haben wieder die Buchstaben des Wortes Löwe ST^I» =
5 + 10 + 200 + 1 = 216 addiert. Die gleiche Summe geben die
Buchstaben pipnn = 100 + 6 + 100 + 2 + 8 = 216 und somit sei
Habakuk mit diesem Löwen gemeint. Ja eine Spur solcher Gematrie
wiU man bereits in einer Stelle des Propheten Sacharja erkannt
haben '), und wäre die uns einigeimaßen gekünstelt vorkommende Er-
klärung richtig, so wäre damit schon im VH. vorchristlichen Jahr-
hundert ein arithmetisches Experimentieren, wäre zugleich, was viel-
leicht noch wichtiger ist, für eben jene Zeit die Benutzung der hebräi-
schen Buchstaben in Zahlenbedeutung nachgewiesen. Wir ziehen zu-
nächst nur den Schluß, um dessenwillen wir alle diese Dinge vereinigt
haben, daß die Babylonier in ältester Zeit Zahlenspielereien sich hinzu-
geben liebten, die bei ihnen einen allerdings ernsten mi^schen Cha-
rakter trugen, und daß von ihnen ähnliches zu anderen Völkern
übergegangen ist.
Es ist keineswegs unmöglich, daß aus den magischen Anfangen
sich die Beachtung von merkwürdigen Eigenschaften der Zahlen ent-
wickelte, daß eine Vorbedeutungsarithmetik bei ihnen sich zur Kennt-
») I. Mose 14, 14. *) Jesaias 21, 8. ») Vgl. Hitzig, Die zwölf kleinen
Propheten S. 378 flgg. zu Sacharja 12, 10.
Die Babylonier. 45
nis zahlentheoretißcher Gesetze erhob. Wissen wir doch, woran wir
hier zusammenfassend erinnern wollen, von dem Vorkommen eines
aasgebildeten Sexagesimalsystems, von der Benutzung arithmetischer
und geometrischer Reihen, Ton der Bekanntschaft mit Quadrat- und
Eubikzahlen in alt-babylonischer Zeit, und auch gewisse Teile der
Proportionenlehre sollen, wie wir yorgreifend erwähnen, griechischer
Überlieferung gemäß aus Babylon stammen.
Mit der Lehre Yon den Vorbedeutungen ist überhaupt die baby-
lonische Wissenschaft aufs engste rerknüpft gewesen. Vorbedeutungen
zu suchen war, wie wir an jenem zu König Sargons Zeiten ver-
fertigten Kalender gesehen haben, ein wesentlicher Zweck der Be-
obachtungen Yon HimmelsYoi^ngen. Neben dem Aufsuchen yon
Vorbedeutungen widmete sich die Priesterschaft des Landes dem Her-
Torbringen yon Ereignissen; sie trachtete das Böse abzuwenden und
teils durch Reinigungen, teils durch Opfer oder Zauberei zum Outen
zu verhelfen ^). Die Priesterschaft des medischen Nachbarvolkes be-
stand ebenfalls aus gewerbmäßigen Hexenmeistern, und sie, die
Magusch, vererbten ihren Namen auf die Mi^ie'), wie in Rom der
Name Chaldäer gleichbedeutend war mit Sterndeuter, Wahrsager, ge-
legentlich auch mit Giftmischer. Schon im Jahre 139 v. Chr. wurden
deshalb nach der genauen Angabe des Valerius Maximus die Chal-
däer aus Rom verwiesen'). Die Wahrsagung beschränkte sich keines-
wegs auf die Beobachtung der Gestirne, deren Einfluß auf das
menschliche Geschick man zu kennen wähnte. Die Punktierkunst^)
der persischen Zauberer, vielfach erwähnt in den Märchen der Tausend
und eine Nacht und darin bestehend^ daß auf ein mit Sand über-
decktes Brett Punkte und Striche gezeichnet wurden, deren Ver-
schiebungen und Veränderungen infolge eines Anstoßes an den Rand
des Brettes beobachtet wurden, diese Kunst, die sich erhalten hat in
dem Wahrsagen aus dem Kaffeesatze, die verwandt ist dem Bleigießen
in der Neujahrsnacht, welches da und dort noch heute geübt wird,
sie dürfte selbst bis in die babylonische Zeit hinaufragen. Wenig-
stens ist es sicher, daß es eine Vorbedeutungsgeometrie in Ba-
bylon gab. Wir besitzen die Übersetzung einer solchen^), und wenn
*) Diodor II, 29, 3. •) Maßpero-Pietschmann, S. 466. ■) Fischer,
Römische Zeittafeln (Altona 1846) S. 134 mit Beziehung auf Yalerius Maximas
lib. I, cap. 3, §2. ^) Alex, von Humboldt in seinem Aufsätze über Zahl-
zeichen nsw. (Crelles Journal lY, 216 Note) nennt diese Kunst raml und ver-
weist dafür auf Richardson und Wilkins, Dictum. Persian and Arahic 1806,
T. I, pag. 482. Vgl. über die Punktierkunst auch Steinschneider, Zeitschr. d.
morgen]. Gesellsch. XXV, 396 u. XXXI, 762 flgg. ^) Babylonüm augury hy meam
of geometricdl figurea by A. R. Sajce in den Transaetions ofthe soeiety of bibliccU
ar^haeology IV, 302—314.
46 1. Kapitel.
uns schon die Neigung bemerkenswert erscheint Vorbedeutungen
aus allem zu entnehmen^ was in irgendwie wechsehiden Verbindungen
auftritt^ so müssen wir andererseits auch die vorkommenden Figuren
prüfen, deren Kenntnis die Babylonier somit sicherlich besaßen, eine
Kenntnis, die als Anfang der Geometrie gelten darf, so wie wir bei
den Ägyptern zu ähnlichem Zwecke alte Wandzeichnungen durch-
mustern werden. In jener Vorbedeutungsgeometrie
sind insbesondere folgende Figuren hervorzuheben.
Fig. 1. Ein Paar Parallellinien (Fig. 1), welche als dop-
pelte Linien benannt werden; ein Quadrat (Fig. 2);
Fig. 2. Fig. 3. Fig. 4.
eine Figur mit einspringendem Winkel (Fig. 3); eine nicht ganz voll-
standig vorhandene Figur, welche der Übersetzer zu drei einander
umschließenden Dreiecken (Fig. 4) zu ergänzen vorschlägt ^). Ob
auch ein rechtwinkliges Dreieck vorkommt, ist nicht mit ganzer
Sicherheit zu erkennen, aber wahrscheinlich. Von Interesse ist im
verbindenden Texte das sumerische Wort tim, welches Linie, ursprüng-
lich aber Seil bedeutete, so daß es nicht zu dem Unmöglichkeiten gehört,
es habe eine Art von Seilspannung, vielleicht freilich nur ein Messen
mittels des Seiles, wofür Vermutungsgründe uns sogleich bekannt
werden sollen, in Babylon stattgefunden. Von hoher Wichtigkeit ist
femer ein in jenem Texte benutztes, aus drei sich symmetrisch durch-
kreuzenden Linien bestehendes Zeichen >|<, welches der Herausgeber
durch „Winkelgrad" übersetzt hat. Diese Übersetzung ist gerecht-
fertigt durch anderweitiges Vorkommen und gestattet selbst weit-
gehende Folgerungen.
Im britischen Museum befindet sich ein als K 162 bezeichnetes
Bruchstück, welches einem babylonischen Astrolabium oder ähn-
lichem angehört hat und welches in vier Fächern mit Inschriften in
Keilschrift bedeckt ist. Die Bedeutung dieser Inschriften kann nicht
anders lauten ^) als daß in zwei Monaten, deren Name angegeben ist,
der Ort von vier Sternen, zwei Sterne in dem einen, zwei in dem
anderen Monate, aufgezeichnet ist, und diese Örter heißen 140 Grad,
70 Grad, 120 Grad, 60 Grad nach Sayces Übersetzung. Der Grad
ist auch hier in allen vier Fällen durch das Zeichen der drei ein-
^) Privatmitteilung yon H. Sayce ebenso wie die nachfolgende Bemerkung
über das rechtwinklige Dreieck. •) Privatmitteilung von H. Sayce.
Die Babylonier. 47
ander schneidenden Linien ausgedrückt Nehmen wir aber diese Über-
setzung einmal als richtig an, so ist in ihr eine Bestätigung unserer
Meinung über geometrische Benutzung des Sexagesimalsjstems enthalten.
Bei der Zählung der Winkelgrade, deren 360 auf der Kreisperipherie
zu unterscheiden sind, faßte man, meinen wir, je 60 in eine neue
Bogeneinheit zusammen, welche m&n erhielt, indem man den Halb-
messer sechsmal auf dem Umkreise herumtrug. Für die erste Hälfiie
unserer Behauptung gibt es keine bessere Stütze als jenes Grad-
zeichen. Die drei symmetrisch gezeichneten Linien teilen ja d^n um
den gemeinsamen Schnittpunkt befindlichen Raum in sechs gleiche
Teile und lassen damit jeden dieser sechs Teile als besonders wichtig
hervortreten!
Auch an weiterer Bestätigung dafür, daß den Babyloniem die
Sechsteilung des Kreises bekannt war, fehlt es nicht. Wir werden
im 3. E^apitel sehen, daß auf ägyptischen Wandgemälden es gerade
asiatische Tributpflichtige sind, welche auf ihren überbrachten Ge-
fäßen Zeichnungen haben, bei welchen der Kreis durch sechs Durch-
messer in zwölf Teile geteilt ist. Übereinstimmend zeigen niniyi-
tische Denkmäler in ihren Abbildungen des Königswagens dessen
Bäder mit sechs Speichen versehen ^) (Fig. 5). Endlich ist damit in
Einklang die Dreiteilung eines rechten Winkels,
welche auf einer assyrischen Tontafel geometrischen
Inhaltes durch G. Smith entdeckt worden ist, bevor
er seine letzte Reise, von welcher er nicht mehr heim-
kehren sollte, nach den Euphratländem antrat; eine
Entdeckung, aus welcher weitere Folgerungen zu
ziehen nicht gestattet ist, bevor der ganze Text der ^^^' **
Öffentlichkeit übergeben ist. Darauf aber wird man, wie zu befürchten
steht, noch lange warten müssen, da die betreffende Tafel seit der
Abreise ihres Entdeckers nicht wieder gesehen worden ist, also ver-
mutlich durch ihn in irgend eine Ecke für künftiges Studium bei-
seite gestellt, eines Zufalles harret, der gerade auf sie unter den
zahllos vorhandenen Tafeln die Aufmerksamkeit lenkt.
Ist aber nunmehr die Sechsteilung des Kreises als bewußte geo-
metrische Arbeit der Babylonier außer Zweifel gesetzt, so wird man
auch unsere Behauptung, die Sechsteilung sei durch Herumtragen
des Halbmessers erfolgt, habe also die Kenntnis des Satzes von der
Seite des regelmäßigen Sechsecks mit eingeschlossen, in den Kauf
*) Niniveh and ite remayns hy A. H. Layard. London 1849. I, 387.
Weitere Abbildungen von sechsspeichigen Rädern bei Bezold, Ninive und Ba-
bylon Fig. 17, 46, 62, 98 anf Seite 22, Ö8, 66, 128.
48 1. Kapitel.
nehmen müssen. Es ist nun einmal, außer im Zusammenhang mit
diesem Satze^ ein Grund zur geometrischen Sechsteilung des Kreises
nicht vorhanden. Außerdem sind wir imstande eine Bestätigung aus
biblischer Nachahmung anzuführen. Wenn man, ohne mathematische
Kenntnisse zu besitzen, sah, daß der Halbmesser 6 mal auf dem
Kreisumfange als Sehne herumgetragen nach dem Ausgangspunkte
zurückftihrty so lag es sehr nahe Sehne und Bogen zu yerwechseln
und zur Annahme zu gelangen, der Kreisumfang selbst sei 6 mal der
Halbmesser, beziehungsweise 3 mal der Durchmesser. Das gab die
erste, freilich sehr ungenaue Rektifikation einer krummen Linie,
mit sr » 3.
Diese Formel findet sich nun angewandt bei der Schilderung des
großen Waschgefaßes, das unter dem Namen des ehernen Meeres
bekannt eine Zierde des Tempels bildete, welchen Salomo von 1014
bis 1007 erbauen ließ ^). Von diesem Gefäße heißt es: Und er
machte ein Meer, gegossen, 10 Ellen weit yon einem Rande zum
andern, rund umher, und 5 EUen hoch, imd eine Schnur 30 Ellen
lang war das Maß ringsum *). Dabei ist oflfenbar 30 = 3 x 10.
Mögen nun die Bücher der Könige erst um das Jahr 500 y. Chr. ab-
geschlossen worden sein, so ist doch unbestritten, daß in dieselben
ältere Erinnerungen, wohl auch ältere Aufzeichnungen Au&ahme
fanden, und so kann insbesondere die Erinnerung an eine Schnur, mit
deren Hilfe Längenmessungen vorgenommen wurden, kann die Erinne-
rung an die Maße des ehernen Meeres, ^n den Durchmesser 10 bei
einem Kreisumfange 30, eine sehr alte sein. Die letztere hat sich
auch nach abwärts durch yiele Jahrhunderte fortgeerbt, und der Tal-
mud wendet in der Mischna die Regel an: Was im Umfang 3 Hand-
breiten hat, ist 1 Hand breit *). Zugleich aber liefert die angeführte
Bibelstelle den Beweis, daß der Umfang von 30 Ellen wirklich aus
3 mal 10 berechnet und nicht etwa infolge ungenauer Messung
gefunden worden ist. Eine messende Schnur mußte jedenfalls um
den äußeren Rand des ehernen Meeres herumgelegt werden und wäre
etwa 31 Vj Ellen lang gewesen, wenn der Durchmesser von 10 Ellen
sich gleichfalls auf die Ausdehnung bis zur äußeren Randgrenze be-
zog. War aber, was bei tatsächlicher Messung fast wahrscheinlicher
ist, der innere Durchmesser 10 Ellen lang, so konnte eine Meßschnur
ringsherum leicht eine Länge von 32 Ellen und mehr erfordern.
') Die Datierung nach Oppert: Salomon et ses successeurs in den ÄnnaUs
de phäosophie chritienne T. XI u. XÜ 1876. *) I. Könige 7, 23 und ü. Chronik 4, 2.
■) Zuerst berücksichtigt in unserer Besprechung von Oppert, Etahn des mesurea
assyriennes in der Zeitschr. Math. Phys. XX, histor.-literar. Abtlg. 164.
Die Babylonier. 49
Es ist daher unmöglich, daß es dann 30 Ellen hieße, wie es der
FaU ist.
Nachdem wir för die geometrischen Kenntnisse der Babylonier auf
Schriftsteller zweiter Überlieferung einmal eingegangen sind, wollen
wir noch einige ähnlich yerwertbare Stellen auüsuchen. Eine solche
Stelle fQhren wir nur an, um sie sogleich zu rerwerfen. Bei der Be-
schreibung des Salomonischen Tempelbaues heißt es nach Luthers
Übersetzung: Und am Eingange des Chors machte er zwei Türen
Yon Ölbaumholz mit fünfeckigen Pfosten^). Danach wäre an
eine Kenntnis des Fünfecks, mutmaßlich des regelmäßigen Fünfecks
in Yorderasien in sehr alter Zeit zu denken. Da die Konstruktion
des regelmäßigen Fünfecks eine yerhältnismäßig bedeutende Summe
geometrischer Sätze als Vorbedingung enthält, so wäre diese Tatsache
um so überraschender, als nirgend auf asiatischen Denkmälern bei
eifrigstem Suchen in den betreffenden Kupferwerken ein Fünfeck yon
uns aufgefmiden worden ist. Die Stelle selbst ist aber von Luther
falsch übersetzt, und so dunkel ihr Sinn ist, die Bedeutung, daß yon
einem Fünfecke irgendwie die Bede sei, hat sie sicherlich nicht').
Um so häufiger ist yon yiereckigen Figuren in der Bibel die
Rede und zwar yon Quadraten sowie yon Rechtecken. Es ist yiel-
leicht zum Vergleiche mit noch zu erwartenden Entzifferungen baby-
lonischer Texte nützlich das Augenmerk auf die Maßzahlen dieser
biblischen Rechtecke *) zu richten. Das Verhältnis 3 zu 4 für zwei
senkrecht zueinander zu denkende Abmessungen, oder auch 10 mal 3
zu 4, 3 zu 5 mal 4 kommt wiederholt yor, und wenn wir nicht yer-
schweigen wollen noch dürfen, daß ein Rechteck yon 3 zu 5 ebenfalls
an häufigeren Stellen sich bemerklich macht, so ist doch nicht aus-
geschlossen, daß jene ersterwähnten Maßzahlen 3 zu 4 dazu dienten,
einen rechten Winkel mittels des Dreiecks yon den Seiten 3, 4, 5 zu
sichern. Wenigstens wird die Kenntnis dieses letzteren Dreiecks in
China yon uns nachgewiesen werden.
Dafür aber, daß die Babylonier den rechten Winkel kannten,
und zwar nicht bloß als in der Baukunst zur Anwendung kommend,
sondern als der Geometrie, der Astronomie dienstbar, sind Beweis-
gründe zur Genüge yorhanden. Wir erinnern an das wahrscheinlich
gemachte Vorkommen des rechten Winkels in jener yon Sayce über-
') I. Könige 6, 81. *) Wir berufen nns für diese Behauptung auf münd-
liche Mitteilungen von Prof. Dr. A. Merx. Allioli hat die Stelle übersetzt
,,mit Pfosten von fünf Ecken" und die Erklärung beigefügt, die Tüipfbsten bil-
deten dadurch fünf Ecken, dafl über der viereckigen Türe noch ein dreieckiger
Giebel angebracht war. ') U. Mose 86, 16 und 21; 37, 10; 39, 9—10. I. Könige
7, 27 und häufiger.
Gaktor, Geschichte der Mathematik I. S. Aufl. 4
50 1- Kapitel.
setzten Yorbedeutungsgeometrie. Wir erinnern an die den rechten
Winkel selbst voraussetzende Dreiteilung desselben. Wir haben
femer den ausdrücklichen Bericht Herodots, daß von Babylon her
die Hellenen mit dem Polos und dem Gnomon bekannt geworden
seien ^). Mag man auch nicht mit aller Sicherheit wissen, welcherlei
Vorrichtungen unter diesen Namen yerstanden wurden, soviel ist
gewiß, daß es bei ihnen um Zeiteinteilung mittels der Länge des
von der Sonne erzeugten Schattens sich handelte, daß also ein Stab
senkrecht zu einer Grundfläche aufgerichtet werden mußte. Der
Übergang des Gnomon zu den Griechen fand von Babylon aus statt,
wann, ist zweifelhaft. Ein Berichterstatter nennt Anaximander als
den, der um 550 den Gnomon einführte'); ein anderer nennt uns
dafür Anaximenes^); ein dritter nennt gar erst Berosus als Er-
finder der Sonnenuhr ^), womit nur jener Chaldäer gemeint sein kann,
welcher unter Alexander dem Großen geboren um 280 v. Chr. seine
Blütezeit hatte und als Historiker am bekanntesten ist, wenn auch
das Altertum ihn vorzüglich als Astrologen und um seiner auf der
Insel Kos gegenüber von Milet gegründeten und stark besuchten
Schule w^en rühmte^). Älterer Zeit als diese Angaben gehört der
biblische Bericht an, welcher von einer Sonnenuhr zu erzählen weiß.
Er geht hinauf bis auf König Ahas von Juda, dessen Regierung von
743 — 727 währte *). Wenn in jenem Berichte der Schatten am Zeiger
Ahas 10 Stufen (oder Gh*ade) hinter sich zurückging, die er war
niederwärts gegangen, so ist diese Beschreibung von größter Deut-
lichkeit, mag man über das beschriebene Ereignis selbst denken, wie
man will. Wir könnten auf eben diese Stelle zum Überflusse noch
hinweisen, um sie als Beleg altasiatischer Kreiseinteilung zu ];)enutzen,
wenn ein solcher Beleg noch irgend erwünscht scheinen soUte.
Fassen wir wieder zusammen, was auf geometrischem Gebiete
den Babyloniem bekannt gewesen ist, so haben wir Gewißheit für
die Teilimg des Kreises in 6 Teile, dann in 360 Grade, Gewißheit
für die Kenntnis von Parallellinien, von Dreiecken, Vierecken, Ge-
wißheit für die Herstellung rechter Winkel. Wahrscheinlich ist die
Kenntnis der Gleichheit zwischen Halbmesser und Seite des dem
Kreise eingeschriebenen regelmäßigen Sechsecks, wahrscheinlich die
') Herodot ü, 109. *) Suidas b. v. 'Avcc^ifiavdQog. ») PliniuB Historta
naturalia II, 76. *) Vitrnvius IX, 9. *) Die von Bailly, Histoire de Vastro-
namie ancienne. Paris 1775, Livre IV, § 35 und 36 ausgehende Meinung, als
seien zwei Berosus zu unterscheiden, der von Eos und der Historiker, ist von
neueren Fachgelehrten entschieden verworfen. Vgl. Häbler, Astrologie im
Alterthum (1879), S. 14—16. ^) Jesaia 38, 8 und II. Könige 20, 11. Die Datie-
rung nach Oppert, Salamon et aes succesaeurs.
Die Babylonier. 51
Benntzung des Näherangswertes ;r « 3 bei Bemessung des Kreis-
timfanges. Möglich endlich ist die Prüfung rechter Winkel durch
die Seitenlangen des ein für allemal bekannten Dreiecks 3^ 4, 5.
Die Hoffnung bleibt für Babylon wie für Ägypten nicht aus-
geschlossen, daB Aufündung und Entzifferung neuer Denkmäler es
noch gestatten werden, die kaum erst seit wenigen Jahrzehnten fester
gestützte Geschichte der Geistesbildung jener Länder umfassender zu
gestalten. Für die Geschichte der Mathematik in den Euphratländem
bergen, wie wir schon gesagt haben, yielleicht die Schutthügel von
Senkereh noch unschätzbares. Es muß wohl die Mathematik dort
eine erzählenswerte Geschichte erlebt haben, wenn wir auch nur
daraus schließen, daß sie alten Schriftstellern würdig däuchte sich
mit ihr zu beschäftigen. So wird berichtet, ein gewisser Perigenes
habe über die Mathematiker Ton Chaldäa geschrieben^), wenn diese
Lesart der an sich viel weniger wahrscheinlichen „über die Mathe-
matiker Ton Ghalcidien'^ Torzuziehen ist, und Mathematisches enthielt
jedenfalls auch das umfassende Werk des Jamblichus Ton Chalcis
über Chaldäisches, aus dessen 28. Buche eine Notiz sich erhalten
hat*). Nur um Mißyerständnissen vorzubeugen, welche auch bei
sonst zuverlässigen Schriftstellern sich Torfinden, sei hier bemerkt,
daß mit diesem wissenschaftlichen Werke des Jamblichus Ton Chalcis
über Chaldäisches, welches gegen Ende des lY. S. n. Chr. geschrieben
«ein muß, der Roman, welcher unter dem Titel „Babylonisches^' in
der zweiten Hälfte des II. S. n. Chr. auch Ton einem Jamblichus')
verfaßt worden ist, ja nicht verwechselt werden darf.
*) NesBelmann, Die Algebra der Griechen, S. 1—2. •) Zeller, Die Phi-
losophie der Oriechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, in. Teil, 2. Abtlg.
2. Anfl. Leipzig 1868, S. 616. ')Erw. Rohde, Der griechische Boman und
seine Vorläufer. Leipzig 1876, S. 364 figg.
4*
n. Ägypter.
2. Kapitel.
Die Ägypter. Arithmetisches.
Die älteste einigermaßen ausgiebige mathematische Literatur, über
welche man zurzeit verfügt, ist die ägyptische. Mag man die Tor-
handenen Schriften als Handbücher oder als Schülerhefte betrachten,
fQr den Nutzen, den sie uns gewähren, gilt das gleich. Sie sind ein-
mal vorhanden, und wir haben uns mit ihnen zu beschäftigen, haben
vorher weniges über ägyptische Kultur vorauszuschicken. Ägypten
sei ein GFeschenk des Nils, sagt Herodot ^), und derselbe Schriftsteller
leitet an einer anderen Stelle'), die uns noch beschäftigen wird, die
Erfindung der Geometrie aus der Notwendigkeit her, die infolge der
Nilüberschwemmungen verloren gegangenen Begrenzungen wieder her-
zustellen. Wirklich ist die Kultur des Landes, wie das Land selbst
ohne jenen Strom, der das Erdreich herabgeschwemmt hat aus den
Hochlanden des inneren Afrikas, nicht denkbar. Die alljährlich wieder-
kehrende Wasserfülle bringt in gleicher Regelmäßigkeit große Schlamm-
massen mit sich, die sie dort, wo der Absturz des Stromes an Steil-
heit abnimmt, wo das Bett der Überflutung offener ist, fallen läßt.
Die Wasser verlaufen sich, und die Sonne Afrikas hilrtet den neuen
Boden. Auf das mögliche Altertum des bewohnten und angebauten
Schwemmlandes wirft es ein gewisses Licht, daß man aus dem gegen-
wärtig noch wahrnehmbaren und meßbaren Schlammabsatze berechnet
haty daß unter gleichen Bedingungen weit über 70 Jahrtausende not-
wendig wären, um die Entstehung Ägyptens in seiner jetzigen Aus-
dehnung zu erklären^. Nehme man immerhin an, daß ehemals eine
viel schnellere Vergrößerung stattfand, es bleibt unter allen Um-
ständen eine Zahl übrig, welche nur mit der sagenmäßigen Ver-
gangenheit chaldäischer und chinesischer Astronomie in Vergleich zu
bringen ist.
Das so alte Land gewann seine Bevölkerui^ nach der durch
Diodor*) überlieferten Meinung von Süden her aus Äthiopien, wäh-
*) Herodot II, 5. *) Herodot H, 109. *) Maspero-PietBchmann S. 7.
*) Diodor m, 8—8.
56 2. Kapitel.
rend der biblische Berichterstatter Mizraim^) den Stammvater der
Ägypter y einen Enkel Noahs, aus Chaldäa einwandern läßt. Die
neuere Forschung ^), welche ihre wesentliche (Grundlage in ägyptischen
Denkmälern besitzt^ hat noch immer keine Entscheidung gebracht,
ob die eine oder die andere Sage mehr Glauben verdient. Sicher-
gestellt ist nur, daB in ältesten Zeiten in Ägypten ein Südland von
einem Nordlande sich unterschied. Vielleicht kam dann von Süden
her der erste Eonig, der die beiden Gebiete beherrschend die weiße
Krone des Südens mit der roten Erone des Nordens auf seinem Haupte
vereinigte. Bildung, Kunst und Wissenschaft dagegen sind jedenfalls
in nördsüdlicher Richtung vorgedrungen. Die ägyptische Sprache
hält man gegenwärtig für eine ältere Schwester der semitischen
Sprachen. Freilich muß die Trennung erfolgt sein, als beide in ihrer
Entwicklung noch sehr zurück waren, und der semitische Stamm muß
als der für Sprachbildung befähigtere angesehen werden.
Das ägyptische Reich wurde durch XXX aufeinanderfolgende
Dynastien beherrscht. Der Gründer der I. Dynastie Mena, Menes
der Griechen, wird auf das Jahr 4455 vor Christi Gteburt etwa ge-
setzt, wobei allerdings nicht unbemerkt bleiben darf, daß bei diesen
ältesten Datierungen eine Unsicherheit von 100, auch von 200 Jahren
als selbstverständlich gilt und als Abweichung in den Angaben der
verschiedenen Gelehrten, welche sich daran versucht haben, kenntlich
wird. Menas Sohn Teta wird schon als Gelehrter, als Verfasser ana-
tomischer Schriften*), genannt, und Nebka, griechisch Tosorthros,
der zweite Eönig der III. Dynastie um 3800, trat in Tetas Fußstapfen
und verfaßte medizinische Abhandlungen, welche vier Jahrtausende
nach seiner Regierung noch bekannt waren und ihn mit dem grie-
chischen Gotte der Heilkunst, mit Asklepios, in eine Persönlichkeit
vereinigen ließen *). Die Eönige der IV. Dynastie, seit 3686 am Ruder,
sind die bekannten Pyramidenbauer Chufu, Ghafrä, Menkarä.
Schon in ihrer Zeit muß es Baumeister gegeben haben, deren Aus-
bilduz^ nicht zu unterschätzen ist. Wie in den ältesten monumen-
talen Grabesräumen der Ägypter stets nach Osten zu eine Denksäule
steht ^), so sind insbesondere die Pyramiden so scharf orientiert, daß
man unter den mannigfachen Vermutungen, welche frühere und
spätere Schriftsteller über diese riesigen EönigsgnLber auszusprechen
sich bemüßigt fanden, auch derjenigen begegnet, die Pyramiden seien
in der Absicht erbaut worden mittels ihrer Grundlinien die Himmels-
^) I. Moses 10, 6. *) Maspero-Pietschmann S. 13 und 16. Stein-
dorff, Die Blüiezeit des Pharaonexireichs S. 7. •) Maspero-Pietschmann
S. 64. ") Ebenda S. 69. ^) Ebenda S. 60.
Die Ägypter. ArithmetiBches. 57
richtangen festzuhalten. Zufall ist es jedenfalls nicht gewesen, wenn
der Orientierungsgedanke damals bereits so genau zur Ausführung
gebracht wurde. Zufall mochten wir ebensowenig in dem Umstände
erkennen, daß in fast allen alten Pyramiden der Winkel, welchen
die Seitenwand der Pyramide mit der Grundfläche bildet^ wenig oder
gar nicht Ton 52^ abweicht^). Das setzt, wie gesagt, ausgebildete
Baumeister, das setzt mathematische Hilfswissenschaften der Baukunst
Toraus, sei es, daß die Regeln Ton Mund zu Mund sich fortpflanzten,
sei es sogar, daß man sie niederschrieb. Steht es doch fest, daß die
Aufbewahrung vererbten Wissens, daß das Sammeln von Bücherrollen
zu den Sitten der ältesten Dynastien gehört haben muß, wenn be-
reits am Anfange der VI. Dynastie eigene Beamten ernannt wurden,
deren Titel „Verwalter des Bücherhauses'' in ihren Grabschriften sich
erhalten hat '). Ein Jahrtausend etwa überspringend, nennen wir aus
der XII. Dynastie Amenemhat III., einen Fürsten, von 42jähriger
wohlbeglaubigter Regierung, wenn auch ihre Datierung weniger ge-
sichert ist als ihre Dauer*). Er war der Erbauer des großartigen
Tempelpalastes unweit vom Mörissee, aus dessen Namen Lope-ro-hunt
» Tempel am Eingang zum See das Wort Labyrinth entstand. Man
hat für Amenemhat IQ. verschiedene Beinamen in Anspruch ge-
nommen ^), nämlich Petesuchet = Qahe der Suchet, Aasuchet » Spröß-
ling der Suchet und Sasuchet = Sohn der Suchet. Wäre diese An-
nahme gesichert, so könnte man in ihm die Persönlichkeiten er-
kennen, welche unter verwandten Namen bei mehreren SchriftsteUem
auftretend bei anderen Agyptologen als unserem Gewährsmanne nicht
verschmolzen zu werden pflegten.- Amenemhat UI. wäre alsdann der
Gesetzgeber Asychis des Herodot*), der König Petesuchis, der
das Labyrinth erbaute, des Plinius •), endlich der durch Verstand her-
vorragende König Sasyches, der die Geometrie erfand, des Diodor^).
Bereits während der XIL Dynastie begannen von Osten über die
Landenge von Suez her die Einfälle plünderungssüchtiger Wüsten-
stämme, welche sich selbst als Shus, Shasu bezeichneten. Aber 200
Jahre und mehr waren nötig bis Asses, ein Hik-Shus, d. h. ein Fürst
*) Ein mathematisches Handbuch der alten Ägypter (Papyrus Bhind des
British Museum), übersetzt und erklärt von Aug. Eisen lohr. Leipzig 1877,
S. 187. Wir zitieren künftig diese Hauptquelle für Ägyptische Mathematik als
Eisenlohr, Papyrus. •) Maspero-Pietschmann S. 74. ') Nach Lepsius
regierte Amenemhat IE. yon 2221 bis 2179; nach Lauth dagegen (vgl. dessen
Aufsatz ,,Der geometrische Papyrus^^ in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung
vom 20. September 1877, Nr. 263) von 2425 bis 2388. Nach Steindorff fällte
die ganze XH. Dynastie die Zeit von 1996 bis 1788. *) Vgl. Lauth 1. c. Seine
Gründe hängen mit seinen chronologischen Annahmen aufs engste zusammen.
») Herodotn, 186. •) Plinius, Histor. natur. XXXVI, 18. ^ Diodor I, 94.
58 2. Kapitel.
jener Shus genannten Wüstensiämme, die XY. ägyptische Dynastie
stürzen und sich an deren Stelle setzen konnte. Die zwei folgenden
Dynastien gehören gewissermaßen den Hiksoskonigen an, wie man in
Nachbildung jenes eben erläuterten Titels zu sagen sich gewöhnt hat,
und erst mit Ahmes, dem Gründer der XVill. Dynastie um 1600,
gelang es einem Sohne uralter ägyptischer Abstammung die Ein-
dringlinge zu vertreiben, unter den Hiksoskonigen war es, daß das
mathematische Handbuch niedergeschrieben wurde, zu dessen ge-
nauer Inhaltsangabe wir uns nun wenden müssen.
Die Anfangsworte lauten^): „Yorschrifb zu gelangen zur Kenntnis
aller dunklen Dinge .... aller Geheimnisse, welche enthalten sind in
den Gegenständen. Verfaßt wurde dieses Buch im Jahre 33, Mesori
Tag . . unter dem König von Ober- und Unterilgypten Ra-ä-us Leben
gebend, nach dem Vorbild von alten Schriften, die verfertigt wurden
in den Zeiten des Königs [Ra-en-m]at' durch den Schreiber Ahmes
verfaßt diese Schrift."
Aus dieser Angabe, daß an einem ursprünglich angegebenen,
jetzt durch einen Riß verloren gegangenen Tage des Monats Mesori
des 33. Regierungsjahres Königs Ra-ä-us' der Schreiber Ahmes das
Buch verfaßt habe, ist eine so bestimmte Datierung möglich, als sie
überhaupt für so weit zurückliegende Zeiten tunlich ist. Ra-ä-us ist
nämlich, wie aus einem dem ägyptischen Süden, dem sogenannten
Fayum, entstammenden Holz&agmente des Berliner ägyptischen Mu-
seums erkannt worden ist^), niemand anders als der Hiksoskönig
Apepa, der Apophis der Griechen Alle Zweifel, welche an die Zeit
und Dauer der Hiksosherrschaft sich knüpfen, in Rechnung gebracht
irrt man gewiß nicht, wenn man Rarä-us zwischen die Jahre 2000
und 1700 V. Chr. setzt, und da überdies das Äußere des Papyrus,
die Schrift usw. dieser Zeit genau entspricht, so ist damit eine Ver-
mutung über dessen Alter gewonnen, in welcher die sonst nicht
immer übereinstimmenden Kenner ägyptischer Sprache sich sämtlich
begegnen. Wenn auch nicht ganz das Gleiche mit Bezug auf den
Namen jenes Königs stattfindet, unter welchem die alten als Vorbild
dienenden Schriften verfaßt worden waren, so ergänzt man doch
meistens diese Lücke durch Raenmat^), und das ist kein anderer
') Eisenlohr, Papyrus S. 27 — 29. *) Die Entdeckung stammt von Herrn
Dr. Ludwig Stern, dessen brieflichen Mitteilungen wir diese Tatsache ent-
nehmen. ') G. Ebers in einer Rezension von Eisenlohr, Papyrus im Lite-
rarischen Zentralblatt vom 12. Oktober 1878 halt diese Ergänzung für zweifel-
haft. Dagegen stimmt er durchaus damit überein, der Papyrus könne nach
allen äußeren Anzeichen nur in der Zeit zwischen der XVII. und der XVIII.
Dynastie geschrieben sein.
Die Ägypter. ArithmetiBcheB. 59
als Konig Amenemhat IH Ist diese Er^Lnzang richtige und hat
man in Amenemliat wirklich auch Sasjches zu erkennen, so könnte
Diodors Angabe über den Erfinder der Geometrie in Beziehung auf
unsem Papyrus gedeutet werden. Das Original zu der Bearbeitung
des Ahmes würde dann viele Jahrhunderte hindurch in der Über-
lieferung fortlebend sich mythisch mit der Erfindung der Geometrie
Tereinigt haben ^). Und wenn diese genaue Beziehung sich nicht fest-
halten ließe, so ist doch merkwürdigerweise die Zeit der XIT. Dy-
nastie auch durch ein anderes Schriftstück als Blütezeit ägyptischer
Rechenkunst bestätigt. In Eahun, südlich von der Pyramide von
Qlahun, die auf Usertesen U. aus der XU. Dynastie zurückgeht,
wurden 1889 und 1890 zwei mathematische Papyri aufgefunden^),
welche, ohne mit dem Papyrus des Ahmes übereinzustimmen, hoch-
bedeutsame Ähnlichkeiten mit demselben aufweisen. So ist dort eine
2 111
Anzahl Ton Bruchzerlegungen vorhanden, wie z. B. Tg — jö + yä + ttt
und ähnliche, von denen wir gleich zu reden haben werden. Auf
andere Bestandteile zurückzugreifen werden wir da und dort in der
Lage sein.
Ein weiterer mathematischer Papyrus, von dessen Inhalt leider
nicht einmal Andeutungen bekannt sind, gehört Herrn Wladimir
Oolenischefi an, Konservator der kaiserlichen Sammlung in der Eremi-
tage in Petersburg. Unbedeutende Papyrusteile mit Hau-Rechnungen
— wir werden bald sehen, was das ist — sind im Besitze des Agyj)-
tischen Museums in Berlin^).
Über einen in einem koptischen Orabe aufgefiindenen Papyrus
in griechischer Sprache berichten wir im 24. Kapitel. Von vollstän-
digen alten Schriften ist bisher nur das Rechenbuch des Ahmes
der Öffentlichkeit übergeben, und zu ihm kehren wir zurück.
„Vorschrift zu gelangen zur Kenntnis aller dimklen Dinge'', so
lauten die Anfangsworte des Papyrus. Später spricht Ahmes von
einer „Vorschrift der Ergänzung'', von einer „Vorschrift zu berechnen
ein rundes Pruchthaus", von einer „Vorschrift zu berechnen Felder",
von einer „Vorschrift zu machen einen Schmuck" und dergleichen
mehr. Wer aber aus diesen Überschriften den Schluß ziehen wollte,
es seien hier überall wirkliche Vorschriften gegeben, Regeln gelehrt,
*) Vgl. Lauth 1. c. «) W. M. Flinders Petrie, Illahun, Kahua and
Gnrob. London 1891, pag. 486. Die Herausgabe der Fragmente erfolgte 1897
in London durch F. LI. Griffith. Über einzelne Stellen vgl. Cantor, Die
xnathematiBchen Papyrusfragmente von Kahun in der Orientalischen Literatur-
zeitung 1898, Nr. 10. *) Alle Notizen über mathematische Papyri verdanken
wir Herrn Prof August Eisenlohr.
60 2. Kapitel.
wie man zu yerfahren habe^ der würde in einem gewaltigen Irrtume
befangen sein. Einzelne Vorschriften in unserem heutigen Sinne des
Wortes kommen allerdings Tor, aber weitaus in einer überwiegenden
Zahl von Fällen begnügt sich Ahmes damit mehrere Angaben gleicher
Gattung nacheinander zu behandebi. Eine Induktion aus diesen Auf-
gaben und ihrer Lösung auf allgemeine Regeln ist nicht gerade
schwierig^ allein Ahmes vollzieht sie nicht. Er überlaßt diese Folge-
rungen dem Leser oder dem mündlichen Unterrichte des Lehrers,
ohne welchen die Benutzung des Handbuches kaum gedacht werden
kann. Das häufige Auftreten des Wortes ^yVorschrifb'' entspricht nur
der ägyptischen Gewohnheit der Gedächtnisübung, wie sie geradezu
als Ghrundlage jeder Unterweisung beigeblieben ist^). Lassen sich
doch regelmäßig wiederkehrende Ausdrücke am leichtesten einprägen.
Gewiß entstammen noch andere gleichfalls unaufhörlich sich wieder-
holende Redensarten bei Ahmes derselben Rücksicht auf das Gedächt-
nis des Schülers. So heißt es bei ihm: ,,gesagt ist dir^', oder ,,wenn
dir sagt der Schreiber'*, oder „wenn dir gegeben ist*' und „mache,
wie geschieht*', oder „mache es also% wo ein Schriftsteller unserer
Zeit: Aufgabe und Auflösung sagen würde.
Wir haben den sogleich genauer zu besprechenden Papyrus das
Rechenbuch des Ahmes genannt. Andere') sind, wie wir in den
ersten Worten dieses Kapitels andeuteten, der Meinung, man dürfe
nicht von einem Rechenbuche reden, es sei nur das Heft eines
Schülers, und zwar eines sich mitunter recht ui^eschickt anstellenden
Schülers; welches sich erhalten habe. Für unsere Kenntnis der ägyp-
tischen Mathematik ist es gleichgültig, ob die eine, ob die andere
Bezeichnung für richtig gehalten wird, wir möchten jedoch auf die
seinerzeit Ton uns nach reiflicher Überlegung in Gemeinschaft mit dem
Übersetzer des Papyrus gewählte Bezeichnung nicht verzichten. Wir
geben zu, daß in den Rechnungen L-rtümer vorkommen, daß manch-
mal Verbesserungen angebracht sind, allein wir sehen nicht ein, daß
ein solches Vorkommen den Papyrus zu einem Schülerhefte stemple.
Irrtümer kommen vermutlich in jedem Manuskripte vor und gehen
nicht selten als Druckfehler in die vollendetsten Werke der berühm-
testen Verfasser über. Um so weniger kann man Anstoß daran
nehmen, wenn ein Abschreiber sich einen Irrtum zuschulden kommen
läßt. Zudem sind keineswegs alle Irrtümer verbessert, der Vorwurf
der Minderwertigkeit würde also von dem Schüler auf den Lehrer
*) Herodot 11, 77. *) Max Simon, ül)er die Mathematik der Ägypter
(Yerhimdlungen des III. internationalen MathematikerkongresBes in Heidelberg
1904, S. 626— 635) im Anschluß an eine früher von Eugäne Bevillout ausge-
sprochene Meinung.
Die Ägypter. Arithmetisches. 61
übergehen. Ferner sind die Anfangs worte des Papyrus , welche wir
S. 59 zum Abdruck gebracht haben^ weit ungezwungener auf ein sorg-
fältig oder nicht niedergeschriebenes oder abgeschriebenes Buch als
auf ein Schülerheffc zu deuten. Endlich berufen wir uns auf die Frag-
mente von Eahun^ welche mit dem^ was wir nicht aufhören das
Rechenbuch des Ahmes zu nennen^ in vielen Beziehungen so sehr
übereinstimmen, daB wir anzunehmen genötigt wären, auch jene seien
die Überreste eines um Jahrhunderte älteren Rechenheftes eines
Schülers, wozu wir uns nicht entschließen können.
Die Zahlen, mit welchen gerechnet wird, sind teils ganze Zahlen,
teils und zwar größtenteils Brüche, woraus sich von selbst ergibt^
daß der Leserkreis, für welchen Ahmes schrieb, als ein in der Rechen-
kunst schon Yoi^eschrittener gedacht werden muß. Ein Handbuch
für Anfiinger müßte und mußte zu allen Zeiten sich namentlich am
Anfange auf den Gebrauch ganzer Zahlen beschränken. Über die
Zeichen, deren Ahmes sich für ganze und für gebrochene Zahlen be-
dient, werden wir zwar noch in diesem Kapitel aber in einem anderen
Zusammenhange reden. Für jetzt muß eine Bemerkung über die Art
der vorkommenden Brüche und über deren Bezeichnung unter Voraus-
setzung gegebener Zeichen für ganze Zahlen genügen. Ahmes benutzt
nämlich nicht Brüche in dem allgemeinsten Sinne des Wortes, d. h.
angedeutete Teilungen, wobei der Zähler wie der Nenner von be-
liebiger Größe sein können, sondern nur Stammbrüche, d. h. solche,
die bei ganzzahligem Nenner die Einheit als Zähler haben und die
er dadurch anzeigte, daß er die Zahl des Nenners hinschrieb
und ein Pünktchen darüber setzte. Brüche mit anderem Zähler
konnte er wohl denken, wie aus dem ganzen Charakter seiner Auf-
gaben zur Genüge hervorgeht, er konnte sie aber nur dann schreiben,
wenn mehrere derselben mit gemeinsamem Nenner in Zwischenrech-
nungen auftraten. Er begnügte sich sonst jeden beliebigen Bruch
als Summe von Stammbrüchen anzuschreiben, z. B. ~ — statt — »
' o lo o '^
wenn das bloße Nebeneinandersetzen zweier Stammbrüche deren addi-
tive Zusammenfassung bezeichnen soIL Eine einzige Ausnahme bildet
2
von dem hier Ausgesprochenen der Bruch -^. Ahmes weiß gan^
genau, daß derselbe eigentlich y y ist und versteht diese Zerlegung
vortrefflich zu benutzen, aber daneben hat er ein eigenes Zeichen
ftir y , so daß auch dieser Bruch in seinen Rechnungen mitten unter
Stammbrüchen vielfältig vorkommt und uneigentlich zu denselben
gezählt werden m^.
62
2. Kapitel.
Nach dieser Bemerkung laßt sich sofort erkennen, daß es eine
Aufgabe gab, welche Ahmes unbedingt an die Spitze stellen mußte,
mit deren Lösung der Schüler vertraut sein mußte, bevor er an irgend
eine andere Rechnung ging, die Aufgabe: einen beliebigen Bruch
als Summe von Stammbrüchen darzustellen. Das scheint xms
denn auch die Bedeutung einer Tabelle zu sein, deren Entwicklung
die ersten Blätter des Papyrus füllt. Allerdings ist diese Bedeutung
nicht unmittelbar aus dem Wortlaute zu erkennen. Dieser heißt viel-
mehr zuerst^): „Teile 2 durch 3" dann „durch 5*', später wieder z. B.
„teile 2 durch 17'', kurzum es handelt sich um die Darstellung von
2
2n + l
(wo n der Reihe nach die ganzen Zahlen von 1 bis 49 bedeutet, als
Divisoren mithin alle ungeraden Zahlen von 3 bis 99 erscheinen), als
Summe von 2, 3 oder gar 4 Stammbrüchen. Tabellarisch geordnet
unter Weglassung aller Zwischenrechnungen gewinnt Ahmes folgende
Zerlegungen*):
2 2
2 1
1
1 1
8 "" 3
29 ™ 24
58
174 232
2 1
1
2 1
1
1
6 "" 3
16
31 ""20
124
156
2 1
1
2 1
1
7^4
28
33 22
66
2 1
1
2 _ 1
1
9 ■*" 6
18"
36 ""3Ö
42
2 1
1
2 1
1
1
11 "" 6
66
37"" 24
111
296
2 1
1
1
2 1
1
13 ■" 8
62
104
39 ""26
78
2 1
1
2 1
1
1
15 "" 10
:^0
41 ~24
246
328
2 1
1
1
2 1
1
1 1
17 12
61
68
43 ^ 42
86
129 801
2 1
1
1
2 1
1
19 "" 12
76
114
46 ~ 80
90
2 1
1
2 1
1
1
21 ~" 14
42
47 ""30
141
47Ö
2 1
1
2 1
1
23 ■" 12
276
49 ""28
r96
2 1
1
2 1
1
26 ^ 16
76
61 "34
102
2 1
1
2 _ 1
1
1
27 ^ 18
64
, PapyruB S. 36—4
63 ~ 3^ 318
6. •) Ebenda S. 4
795
^) Eisenlohi
t6— 48.
Die Ägypter. Arithmetischea.
63
2 1
55 30
1
330
2 1
79 60
1
287
1
316
1
790
2 1
67 38
1
114
2 _ 1
81 54
1
162
2 1
69 "" 36
1
236
1
531
2 _ 1
83 60
1
382
1
415
1
498
2 1
61 40
1
244
1
448
1
610
2 _ 1
85 51
1
255
2 1
63 ""42
1
126
2 1
87 "" 58
1
174
2 ^ 1
65 ^ 39
1
195
2 _ 1
89 ^ 60
1
856
1
534
1
890
2 1
67 40
1
335
1
586
2 1
91 ""tÖ
1
130
2 1
69 ""4^
1
138
2 _ 1
98 62
1
186
2 1
71 ^^40
1
568
1
710
2 1
95 60
1
380
1
570
2 1
73 60
1
219
1
292
1
365
2 _ 1
97 "" 56
1
679
1
776
2^1
76 '^ 50
1
150
2 1
99 ""66
1
198
2 1
1
77 44 808 I
Es ist einleuchtend^ daB unter wiederholter Anwendung dieser
Tabelle ein Bruch^ dessen Zähler auch die 2 übersteigt, wenn er nur
seinem Nenner nach in der Tabelle sich findet^ in Stammbrüche zer-
legt werden kann. Zeigen wir versuchsweise an ^, wie wir dieses
Verfahren uns denken. Zunächst ist 7 = 1+2 + 2 + 2,
^^^ 29 29 ''' \U 68 174 282/ "^ V24 68 174 282/ "^ \24 68 174 282/
1
1
1
1
1
+fö
2
2 2 \
174 232/
29
24
58
174
232
68
1
1
1
1
1
1
1
1 1
29
24
58
174
282
12
29
87 116
2
1
1
1
1
1
1
1
29
24
58
174
232
12
87
116
1
1
1
1
1
1
1
1111
24 58 174 232 24 58 174 232 12 87 116
A A _A A_ A A ^
24 68 174 232 12 87 116
1111111
12 29 87 116 12 87 116
2 2 2 1
'' 12 87 116 29
64 2- Kapitel.
1
1
1
1
6
68
174
58
29
2
1
1
58
T
174
29
1
1
1
29
T
174
29
2
1
29
T
174
1
1
1
1
1
24
68
174
282
6
174
2
1
1
1
1
174
24
58
232
6"
1
1
1
1
1
87 24 58 232 6
oder besser geordnet 39 ^ "e" 24 68 87 232 ' Niemand wird behaupten
wollen, diese Zerlegongsweise sei besonders elegant, oder sie führe
besonders schnell zum Ziele. Aber sie führt doch dazu, sie ist aus-
reichend, vorausgesetzt wenigstens, daß im Verlaufe der Rechnung
kein mit dem Zähler 2 versehener Bruch auftrete, dessen ungerader
Nenner die Zahl 100 überschreitet, widrigenfalls von einer größeren
Ausdehnung der Tabelle nicht abgesehen werden könnte.
Drei Bemerkungen drängen sich von selbst auf. Die eine geht
dahin, daß es nicht bloß eine Zerlegung eines Bruches gibt, sondern
daß man die Auswahl zwischen man kann fast sagen beliebig vielen
7 111
Zerlegungen hat. So ist z. B. auch 29 ^ y 29 145 ^®^®^ ^®^ ^^®^
erhaltenen Zerlegung. So ist I9 = Ä 4J5 = iWl2 iL ^®^^^ ^^"^ ^
der Tabelle angegebenen Werte usw. Daran knüpft sich die zweite
Bemerkung, daß für die komplizierteren FäUe allmählicher Zerlegung,
deren wir einen (^ behandelt haben, es sich als zweckdienlich er-
weist, wenn die Nenner der in der Tabelle als erste Zerlegungsergeb-
nisse vorhandenen Stammbrüche gerade Zahlen sind, weil dadurch
ein Aufheben durch 2 vielfach ermöglicht wird. Der ägyptische
Rechner war nämlich, und das ist unsere dritte Bemerkung, gewöhnt
wenn auch mutmaßlich nicht die Teilbarkeit einer Zahl durch irgend
eine andere, doch jedenfalls ihre Teilbarkeit durch 2 sofort zu
erkennen. Das geht ohne die Möglichkeit eines Zweifels aus der
212 1
Tabelle selbst hervor. Nur wenn die Verwandlungen ^«y, y^y?
= — usw. von vornherein klar waren, ist deren folgerichtige Aus-
0 4
Schließung aus der Tabelle erklärlich.
Die Ägypter. ArithmetischeB. 65
Aber auch eine Frage drangt sich auf: wie ist die Tabelle
entstanden*)? Wie wäre ihre Fortsetzung zu beschaffen, welche doch,
wie wir sahen, bei Zerlegung von Brüchen, deren Zähler die 2 über-
steigen, unter Umständen notwendig wird? Die Vermutung dürfte
eine nicht allzugewagte sein, daß die Tabelle, ein altes Erbstück
schon zur Zeit des Ahmes, wohl niemals auf einen Schlag gebildet
worden ist. Eine allmähliche Entstehung, so daß die Zerlegung bald
dieses bald jenes Bruches, bald dieser bald jener Ghruppe von Brüchen
gelang, daß die gewonnenen Erfahrungen aufbewahrt und gesammelt
wurden, dürfte der Wahrheit so nahe kommen, daß man sich berech-
tigt fühlen möchte, die Mathematik ihrem geschichtlichen Ursprünge
nach und ohne in die Streitfragen nach der philosophischen Begrün-
dung ihrer einfachsten Begriffe einzutreten eine Erfahrungswissen-
schaft zu nennen. Wie wir oben (S. 59) sagten, sind die Zerlegungen
des Ahmes schon in den Frs^pnenten Ton Eahun vorhanden, oder,
um uns deutlicher auszudrücken, wo in den Fragmenten von Kahun
richtige Zerlegungen vorkommen — einige wenige sind irrig oder
lückenhaft — stimmen sie Zahl für Zahl mit Ahmes überein. Jeden-
falls kann man auch mit Bezug auf die uns gegenwärtig beschäfti-
gende Tabelle nicht Vorsicht genug gegen die Versuchung üben,
allgemeine Methoden aus gegebenen Fällen herauszudeuten, damit man
sie nicht vielmehr hineindeute.
Eine allgemeine Methode weist allerdings der Text des Papyrus
selbst durch eine der seltenen Stellen, in welchen eine wirkliche
Vorschrift gegeben ist, auf Wir meinen die Aufgabe 61 nach der
Numerierung, mit welcher der Herausgeber des Papyrus die auf die
2
Tabelle folgenden Aufgaben versehen hat. Dort heißt es'): „— zu
. . 2 1
machen von einem Bruch. Wenn dir gesagt ist: was ist ^ ^^^ Y^
so mache du sein Doppeltes und sein Sechsfaches, das ist sein zwei
Drittel. Also ist es zu machen in gleicher Weise für jeden gebro-
chenen Teil, welcher vorkommt."
Um diese Vorschrift zu verstehen, müssen wir uns erinnern, daß
zum Anschreiben eines Stammbruches (S. 61) der mit einem Pünkt-
chen versehene Nenner genügte. „Sein Doppeltes" von einem Bruche
gesagt heißt demnach: der doppelte Nenner, selbst mit einem Punkte
darüber, und ist dem Werte nach nicht ein Doppeltes sondern ein
*)EiBeiilohr, Papyrus S. 30—34 hat sich eingehend mit dieser Frage
beschäftigt. Unsere Auseinandersetzung trifft in vielen Punkten nut der dort
gegebenen überein, weicht aber auch in einigen nicht ganz nebensächlichen
Dingen davon ab. *) Ebenda S. 150.
Caxtob, OMchicht« der Mathematik L 3. Aufl. ^ 5
66 2- Kapitel.
Halbes. Die erwähnte Yorschrift zeigt also erstlich, dafi, wie wir
2 11
früher vorgreifend gesagt haben, die" Zerlegung y^YT ^®^*""^*
war, wenn sie auch in der Tabelle nicht enthalten ist Sie zeigt
femer, daß man „für jeden gebrochenen Teil, welcher Torkommt^',
für jedes — in gleicher Weise ,r X - =• ö ä rechnete. Aber ein
2 1
anderes ist immerhin y Ton - - zu nehmen, ein anderes 2 durch 3 a
zu teilen! Wir sind nicht berechtigt ohne weiteres Torauszusetzen, daß
man gewußt habe, es sei -, X — =- 5—, also auch r- =• 5— x-. Die
® ' 8 a8a' 8a2a6a
Tabelle beweist uns das Vorhandensein dieser Kenntnis, denn sie
liefert ausnahmslos bei jedem durch 3 teilbaren Nenner gerade diese
„ . 2 112 112 11
Zerlegung y ----,-=- -, ^^ - ^-^ — usw.
Bezieht sich etwa das „also ist es zu machen für jeden ge-
brochenen Teil, welcher vorkommt'* wie auf den Bruch — so auch
2
auf -', oder mit anderen Worten ist auch, wenn p eine Ton 3 yer-
schiedene Primzahl bedeutet, in der Tabelle eine Verwertung der
2 2
Zerlegung von — bei der Zerlegung von — ersichtlich? Gibt es
2 2 11
femer eine Zerlegung von -- selbst, welche zur Zerlegung y =" y-g
eine geistige Verwandtschaft besitzt?
Die zweite dieser Fragen laßt sich sofort bejahend beantworten.
Wenn p eine Primzahl ist (und zwar selbstverständlich eine von 2
verschiedene Primzahl), so muß ^-y— eine ganze Zahl sein. Nun
21 1
ist ~ = ■ ^ + -"xi f ^^^ dieser Zerlegungsformel, deren ge-
^r- - 2 x^
Bchichtliche Berechtigung freilich erst im 41. Kapitel im folgenden
2 11
Bande dieses Werkes zur Sprache kommen kann, entspricht y = ~oy
Ihr folgen ebenso die Zerlegungen der Tabelle unter Annahme von
*if;7ii9Q-4.2 112 112 112 11
i> - O, (, ii, Zö mit y - -3 jg, y = y 28' iT = T 66' 23 "^ 12 276'
aber i> » 13, 17, 19, 29, 13, 37, 41, 43, 47, 53, 59, 61, 67, 71, 73, 79,
83, 89, 97, oder eine Mehrheit von neunzehn Primzahlen gegen fOnf
beweist, daß es irrig wäre anzunehmen, diese Zerlegungsart sei als
Gesetz vorhanden gewesen. Noch weniger fiigfc sich die Zerlegung
2 . 211 211
der Brüche — einem Gesetze. Wie o— = ^;— « , hätte maur— =»t— 7^-
pa 3a2a6a' 5a da 16a
ZU erwarten. Diese Erwartung erfüllt sich nur bei a = 5, 13, 17.
Die Ägypter. AritbmetiBcheB. 67
2 11
Die Zerlegang y- "" r" öö- fii^d«* ii^r »*»** bei a = 7, 11. Die
2 11
Zerlegung if "=■ ä~ äa~> sollte man vermuten, könne nur bei a>ll
eintreten, also die Ausdehnung der Tabelle überschreiten. Statt dessen
gilt sie für a » 5, so daß 55 als Vielfaches seines größeren Faktors
11, nicht seines kleineren Faktors 5 behandelt ist. Noch auffallender
2 11 2 11
ist die Ausnahmestellung, welche ^^ =• ^^ ^^ ^^^ 91 '"' 70 iäö ö""^^^™®^^
Die erstere Zerlegung kümmert sich, nach unserer bisherigen Auf-
fassung betrachtet, weder um den Faktor 5 noch um den Faktor 7
von 35, die letztere um keinen der Faktoren 7 oder 13 yon 91. Und
doch lassen sich diese Zerlegungen in unter sich gleicher Weise aus
jenen Faktoren herleiten. Wenn p und q zwei ungerade Zahlen sind,
^"T^ demnach ganzzahlig ausfallen muß, so ist = i —
^ 2
H -T— , und setzt man nun p = 7, g =- 5 beziehungsweise p =- 13,
^ 2
4 » 7, so erhält man obige Zerlegungen. Und dieses Zusammen-
treffen scheint kein Zufall zu sein. Wen^^stens läßt ^ich in byzan-
tinischer Zeit die hier ausgesprochene Entstehung mit aller Bestimmt-
heit nachweisen, wie im 24. Kapitel sich zeigen wird.
Aber gerade das Yorhandengein der beiden Zerlegungsformeln,
welche wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu ent-
hüllen imstande waren, nötigt uns die gleiche Folgerung wiederholt
auszusprechen, die Torgreifend an die Spitze gestellt ward. Nur eine
allmähliche Entstehung der Tabelle läßt sich denken! Es will nicht
in Abrede gestellt werden, daß an einem guten Teile der Zerlegungen
mehr oder weniger bewußt gewisse Regeln zur Ausübung gelangten,
aber gerade deren ebenmäßiges, gleichberechtigtes Vorhandensein
schließt wieder rückwärts jede Möglichkeit eines einheitlichen Grund-
gedankens aus, und sei es nur auch eines solchen wie der, daß wenn
tunlich Stammbrüche mit geradem Nenner erscheinen sollen^).
Wir schalten noch eine Bemerkung ein, deren Bedeutung erst im
33. Kapitel uns hervortreten wird. Die Aufgabe „teile 2 durch 3"
beziehungsweise durch 5, durch 17 usw. lautet ägjptsich nas 2 %eni 3,
^) Wenn Herr Gino Loria in der Bibliotheca mathematica 1892 pag. 97
bis 109 sich in scharfsinnigen Vermatangen ergeht, wie die ZerfäUnng in 2,
8, 4 Stammbrüche stattgefunden haben möge, so bleibt er doch jede Antwort
auf die Frage schuldig, an welcher wir auch gescheitert sind, und die wir für
die wichtigste halten: warum im Einzelfalle die Zerlegung gerade in diese An-
zahl yon Stammbruchen stattfand?
6*
68 2- Kapitel.
oder wie der Divisor heißen mag. Von den beiden Eunstwörtem ^)
nas und x^ bedeutet das letztere so viel wie in, unter, zwischen.
Das erstere nas mit dem Determinativ eines die Hand ausstreckenden
Mannes bedeutet anrufen, beten. Ahmes hat aber als Determinativ
einen den Finger an den Mund legenden Mann benutzt Dadurch
könnte die Bedeutung „aussprechbar machen^' gerechtfertigt werden
und es hieße nas 2 x^^ 1-^ soviel wie „mache 2 aussprechbar in 17^^
Damit wäre mittelbar behauptet, der Ägypter habe leicht aussprech-
bare Formen nur ftir Stammbrüche besessen, während ein Bruch wie
oder allgemeiner ihm Schwierigkeiten sogar grammatikalischer
Natur bereitete; eine Vermutung, welche noch ihrer Bestätigung
harret.
Wir haben die Anwendung der Tabelle zur Zerlegung von Brüchen,
deren Zähler größer als 2 sind, deutlich zu machen gesucht, haben
erkannt, daß diese Anwendung begrifflich leicht in der Ausführung
mißlich ist. Um so wünschenswerter mußte es sein, die Zerlegung
von Brüchen mit einem besonders oft vorkommenden Nenner ein für
allemal vorrätig zu haben. Ein solcher Nenner war die bei den
Fruchtmaßen und der Feldereinteilung der Ägypter sehr beliebte Zahl
10, und deshalb wohl ist der großen Tabelle eine zweite kleinere
angeschlossen gewesen, aus deren allerdings sehr lückenhaften Über-
resten^) man die Zerlegung der verschiedenen Zehntel in Stammbrüche
entziffert hat.
Wir kehren nochmals zur großen Tabelle zurück. Wenngleich
eine Anleitung zu ihrer Herstellung von uns vermißt wurde, so ist
doch ein Beweis der Richtigkeit der einzelnen angegebenen Zer-
legungen unter dem Namen Smot, Ausrechnung, geführt. Ist etwa
die Zerlegung von - - in die beiden Stammbrüche - angegeben, so
zeigt die Ausrechnung, daß —. Ä + - . Ä oder mit anderen Worten
der «ite und der Ogte Teil von Ä zusammen die 2 geben. Der Grund-
gedanke von dieser Ausführung besteht darin, daß zuerst allmählich
die immer kleineren aliquoten Teile von Ä ermittelt werden, und
daß ein kleiner Strich, im Drucke durch den Herausgeber übersicht-
licher durch ein Sternchen ersetzt, diejenigen Zahlen hervorhebt,
welche zusammen die 2 liefern sollen.
*) Die hier ausgesprochene Vermutung ist Eigentum des Herrn Läon
K 0 d e t , der sie uns brieflich unter dem 10. Juli 1879 mitteilte und deren
Benutzung in diesem Werke gütigst gestattet hat. *) Eisenlohr, Papyrus
S. 49—63.
J
Die Ägypter. Arithmetisches. 69
So heißt z. B. bei y "" "r 28 ^^® Ausrechnung^):
. 4 28 4- 4 28.
Der Sinn dieser Ausrechnung besteht darin^ daß man mit dem Um-
wege über die Erkenntnis, daß die EQUfte von sieben Sy betrat, zu
-j-x7=»1y-j- gelangt. Nicht als ob der Ägypter nicht imstande
gewesen wäre sofort den vierten Teil Ton 7 zu erkennen, aber
-die Absicht war offenbar in erster Linie zu zeigen, daß die Hälfte
von 7 mehr als 2 betragt, daß also der Stammbruch — bei
2
-der Zerlegung von y nicht vorkommen kann. Dagegen liefert
— X 7 nicht die ganzen 2, sondern nur 1 yv • Im Kopfe wird jetzt
die Subtraktion 2 — 1 g^- = ^ vollzogen und erwogen, daß dieser
Best durch 7 mal einem zweiten Stammbruche erzeugt werden muß,
dessen Nenner folglich 7 mal 4 oder 4 mal 7 sein muß. Das ist
die Bedeutung der an zweiter Stelle auftretenden Multiplikation
1x7 = 7, 2 X 7 == 14, 4 X 7 = 28.
Man könnte freilich, namentlich mit Beziehung auf die von uns
aLb im Kopfe ausgeführt behauptete Subtraktion 2 — ly .- zweifel-
haft sein, ob wir hier nicht Dinge hineinlesen, an welche Ahmes
2 2 2 2 2
nicht dachte, wenn nicht die Zerlegungen von j? > tö ; 37 > tt ' sä ^^
Bestätigungen unserer Darstellung erschienen. Dort wo die Zer-
legung der Tabelle drei Stammbn'iche gibt, enthält die Ausrechnung
ganz ähnliche Subtraktionen mit ausdrücklicher Erwähnung derselben.
M 2 111
überzeugen wir uns bei T7 = 12 01 68* ^^^ Ausrechnung hat folgende
Oestalt«):
1 17 1 ;,
A 11^ 2 '
3 ^^ 8 34
1-2 a 1 ^
T ^'3 * ^ 61 3
') Eisenlohr, Papyrus S. 86. ") Ebenda 8. 87.
70 2. Kapitel.
1 2-li- * 4 -i -1
6^28 68 4
* 12 h 6 ^^^* 3 4'
WO die Worte ^^Reet y ^" bedeuten, daß jö -^ ^^ ^^^ ^^^ Terlangten
2 abgezogen noch - - -j- zum Reste lassen.
Statt des so beseitigten Einwurfes droht uns ein zweiter, der
die Ausrechnung selbst, den auftretenden Rest, die durch denselben
erzwungenen ergänzenden Stammbrüche in Widerspruch setzen möchte
gegen, unsere Behauptung, eine Ableitungsmethode der Tabelle sei
nicht ersichtlich, und dennoch können wir diese Behauptung auf--
recht erhalten. Mag immerhin, wenn der erste Teilbruoh der Zer-
legung gegeben war, auf den oder die anderen Teilbrüche durch
eine Restrechnung geschlossen worden sein, die Wahl des ersten
Teilbruches selbst war davon unbeeinflußt, und auf sie kam alles an.
So gibt z. B. die Tabelle 43 =- 42 86 129 äöi * Wollte man zum ersten
Teilbruche nur einen solchen wählen, dessen 43faches unterhalb der
2, aber nahe bei ihr lag, so hinderte nichts folgende Rechnung an-
zustellen, der wir zum Vergleiche mit den übrigen eine ganz ägyp-
tische Anordnung geben:
1 43
3 ^^S
1 14^
6 6
1 .. J^ 1
12 ^ 2 12
* 24 1 2 T 24 ^^'* 6- 24
und man hätte -^3 = ^g -gls lÄl 8^^^^®°" ^®^ Rechner muß doch
irgend eine Veranlassung gehabt haben mit ^^ statt etwa, wie es hier
gezeigt wurde, mit ^- zu beginnen, und welches diese Veranlassung
war, wissen wir eben nicht. Das heißt wir kennen nicht die Ablei-
tung der Tabelle.
• Man fasse übrigens die Ausrechnung auf, wie immer man wolle,,
der umstand bleibt jedenfalls bemerkenswert, daß ein Rest bei ihr
1
43
2
86
3
129
6
258
12
516
24
1032
Die Ägypter. ArithmetischeB. 71
zur Rede kommt, daß also eine gegebene Zahl von einer ^ anderen
(hier von der Zahl 2) abgezogen wurde, daß man diesem Rest ent-
sprechend eine Erg^Lnzung durch Vervielfachung wieder einer gege-
benen Zahl (des Nenners des zu zerlegenden Bruches -^-j mit zu
suchenden Stammbrüchen zu beschaffen hatte. So sehen wir die
Möglichkeit, wenn nicht die Notwendigkeit einer eigentlichen Er-
ganzungs- oder Vollen dungsrechnung, und eine solche unter
dem ägyptischen Namen Seqem schlie^ßt sich mit 17 Beispielen un-
mittelbar an die große und die auf letztere folgende kleine Zer-
legungstabelle an^). Die Seqemrechnung hat es mit multiplikatiTen
und additiven Ergänzungen zu tun, d. h. es wird in den ersten Bei-
spielen gelehrt, womit eine bald aus Brüchen allein, bald aus mit
Brüchen verbundenen Ganzen bestehende gegebene Zahl vervielfacht
werden muß, es wird in späteren Beispielen gelehrt, wieviel zu einer
ähnlichen gegebenen Zahl hinzugefügt werden muß, um einen ge-
gebenen Wert hervorzubringen. Wir könnten kürzer sagen: es wird
mit einer gegebenen Zahl in eine andere dividiert, oder aber sie wird
von einer anderen subtrahiert, wenn nicht dadurch der Zweck wie
die Verfahrungsweise des Ägypters durchaus verwischt würde.
Das Verfahren besteht wesentlich in einer Zurückführung der
gegebenen Brüche auf einen gemeinsamen Nenner, die als
Hilfsrechnung durch andersfarbige (rote) Schriftzüge sich hervorhebt^
und wobei gewissermaßen über unsere moderne Anwendung von
Generalnennern hinausgegangen wird, indem man sich nicht versagt,
auch solche gemeinsame Nenner zu wählen, in welchen die Nenner
der gegebenen Stammbrüche nicht eine ganzzahlige Anzahl von Malen
enthalten sind. Maßgebend ist nur, daß jener Generalnenner zur
Aufgabe selbst oder zu der bis dahin geführten Rechnung in Be-
ziehung stehe, und nicht etwa Scheu vor zu großen Generalnennern
bestimmt die Wahl desselben. Eine solche Scheu kannte man tat-
sächlich nicht, wie Aufgabe No. 33 beweist, in welcher 6432 als
Generalnenner vorkommt*). Zwei von den Seqemrechnungen, No. 23.
und No. 13., mögen jene die additive, diese die multiplikative Er-
gänzung erkennen lassen.
In No. 23. soll t "s" iö 3Ö 46 '^^^*^^ ^^ ^ ergänzt werden. General-
nenner wird 45, allerdings ohne daß ein Wort davon verlautete. Es
werden eben nur die genannten Stammbrüche durch die Zahlen
11-j^, öyy; 4y, lg, 1 ersetzt, und damit ist fttr den Sachkundigen
») Eisenlohr, Papyrus S. 63—60.. *) Ebenda S. 73.
72 2. Kapitel.
hinlänglich erkUlrt^ daß Fünfundyierzigstel gemeint sind. Deren
8
111 9
Summe 23 y — -g- Fünfundvierzigstel bedarf zur Ergänzung auf
noch 45 "^ 45 45 =* y 40» ^^^ ^^^^ ^^^^ 3 y Diithin ist die ganze
Ergänzung -J-|i.
In No. 13. soll jg JJ2 multiplikatiT zu y ergänzt werden. Wohl
mit Rücksicht darauf^ dafi 112 = 7 x 16, wird ein gerades Vielfaches
von 7, nämlich 28, zum Generalnenner gewählt, also --^= oa^
IX 9 1 9LX.
— = ^ und deren Summe « ^ gesetzt. Diese soll zu y = .^* ge-
macht werden, und das geschieht, indem man die ^o selbst, deren
Hälfte g und die Hälfte dieser Hälfte ,jg vereinigt. Mit anderen
Worten -r tj^ wird durch Vervielfachung mit 1 ^ 4 zu y vollendet.
Unsere Darstellung des letzten Beispieles gibt uns nicht bloß
einen Einblick in eine Seqemaufgabe, sondern in das Dividieren der
Ägypter überhaupt, wie es im ganzen Papyrus an den verschieden-
sten Stellen wiederkehrt, stets den Weg mittelbarer Vervielfältigung
wählend, in verwickeiteren Fällen zunächst mit einem angenäherten
Ergebnisse sich begnügend, welches dann selbst noch nachträglich
eine Er^nzung notwendig macht.
Wenn es in No. 58. heißt ^): „Mache du vervielfältigen die Zahl
93y um zu finden 70. Vervielfältige die Zahl 93 J-, ihre Hälfte 46y,
ihr Viertel 234". Mache du l j ", so ist die Meinung keine andere,
als die, daß jene Hälfte mit 46 y und jenes Viertel mit 23 y zu-
sammen die verlangten 70 geben.
Wenn No. 32. verlangt 1 y . zu 2 zu machen*), so vervielfältigt
Ahmes die gegebene Zahl zunächst mit g- -3 ^ ^^ (wobei der Umweg
erst ^ und dann noch l der Zahl statt dieser selbst zu nehmen nur
8 3
durch den Wunsch erklart werden kann, bei der weiteren Arbeit
möglich Tiele Multiplikationaergebnisse von ly ^ zu kennen) und
bringt die Summe aller dieser Teüprodukte in die Form 1 ^ j^ X 1 J J
•) Eieenlohr, Papyru« S. 144. *) Ebenda S. 70.
Die Ägypter. ArithmetiBches. . 73
— — j. Er will aber 2 = tjj erhalten, zu deren Ergänzung noch
Sil
--_ B -- -- - erforderlich sind. Nun war bei der Gewinnung des an-
1 1 228
genäherten Produktes 1--- ^ in die Form — gebracht worden. Dar-
aus geht hervor, daß 228 ^ ^T T "" 144 ®®"^ ^^ ^^^ ni ^ ^T 4
= ^g. Der gesamte gesuchte Quotient ist daher —-^ = 1 g jg 114 228'
Wir sind fast unyerantworÜich ausführlich in der Darstellung
dieser Bechnungsverfahren und ihrer tabellarischen Hilfsmittel ge-
wesen. Möge es uns gelungen sein dem Leser die Denkweise eines
ägyptischen Rechners einigermaßen zu yergegenwärtigen. Das wäre
freilich unmöglich, wenn unsere Auffassung eine so durchaus irrige
wäre, als behauptet worden ist^). Zunächst soll in den Seqemrech-
nungen von einem gemeinschaftlichen Nenner keine Rede sein. Das
ist Yollständig wahr, wenn man den Nachdruck auf das Wort selbst
legt. Ahmes hat dem Nenner, auf welchen die yorkommenden
Brüche zurückgeführt werden, keinen Namen gegeben. Die Operation
der Zurückführung als solche ist auch nicht geschildert. Aber als
Mittel zur Hauptrechnung, welche Seqem heißt, wird sie fortwährend
geübt, wie wir an der Hand der Beispiele gezeigt haben.
Ferner soll auch der Zweck der Seqemrechnungen nicht der von
uns angegebene sein. Ahmes beweise vielmehr unter dem Namen
Seqem den Satz, daß wenn man verschiedene Zahlengrößen dem
gleichen Rechnungsverfahren unterwerfe, die Ergebnisse im gleichen
Verhältnisse sich ändern, wie die Zahlengrößen, von denen man
ausging. Indem wir unsere Leser auch mit dieser Auffassung be-
kannt machen, verschweigen wir allerdings nicht, daß unserer Mei-
nung nach hier Dinge in Ahmes hineingelesen werden, an die er nie
dachte. Ein Wort, welches mit Verhältnis übersetzt werden
könnte, kommt überhaupt nicht vor. Richtig ist nur das eine, und
das war übersehen worden, bis unser Herr Gegner darauf aufmerk-
sam machte, daß in den Seqemrechnungen die zu erreichende Zahl
meistens das Siebenviertelfache der Ausgangszahl ist, so daß diese
ganz, zur Hälfte und zum Viertel genommen und so vereinigt
werden muß.
Wir sind sogar in der Lage ähnliches aus weit älterer Zeit an-
zugeben. H. Brugsch hat 1891 im Museum von Gizeh zwei mit
^) Lee pr^tenduB problämes d'algebre du manuel da calculateur ägjptien
(Papjras Bhind) pai M. Läon Rodet im Journal Asiatique für 1882. Die
122 Seiten starke Abhandlong ist auch im Separatabdruck erschienen.
74 2. Kapitel.
Gips überzogene Tafeln entdeckt ^)y welche znm Rechnen benutzt
wurden und noch mit Zahlzeichen bedeckt sind. Schriftcharakter und
beigef>e Namen wie Amenemhat, üsertesen weisen auf die XII.^
wenn nicht auf die XI. Dynastie hin. Die vollzogenen Rechnungen
bestehen darin^ daß Zahlen angegeben werden, deren erste das 7 fache,
lOfache, 11 fache, 13 fache der zweiten sind. Das 7 fache ist beispiels-
weise durch die Zahlenreihe erläutert
7 1
1 1
4 28
2 14
1 • 40 5 1
320 820 640
USW., WO allerdings die letzte Angabe nur näherungsweise richtig ist,
1 . 91 . Ol-ä- 1
da Y nicht -^^ ist, sondern -J, also etwa ^^ mindestens fehlt.
Sei aber bei dem Umstände, daß Ahmes nur das Wort Seqem
gebraucht, ohne es irgend zu erklären, ein Zweifel über Sinn und
Absicht gestattet, sei darum die eine oder die andere Deutung vor-
zuziehen, oder gar eine dritte, deren Enthüllung die Zukunft bringen
könnte, die eine Wahrheit wird wohl sicherlich genügend zutage
getreten sein, daß Ahmes dieses Handbuch nicht für den ersten
besten, sondern nur fUr die ersten und besten der Rechnungsver-
ständigen seiner Zeit schrieb. Sein Werk setzt das gemeine Rech-
nen mit ganzen Zahlen durchaus voraus. Es schließt nicht aus,
daß die Zwischenrechnungen unter Anwendung von Hilfsmittehi aus-
geführt wurden, von welchen Ahmes nicht redet. Wenden wir
ans nunmehr zu den eigentlichen Aufgaben des Papyrus, welchen
wir gleichfalls den Stempel eines verhältnismäßig höheren Wissen»
aufgeprägt finden.
An der Spitze dieser Aufgaben stehen die JETaw-Rechnungen*),
die dem Inhalte nach nichts anderes sind, als was die heutige Algebra
Gleichungen ersten Grades mit einer Unbekannten nennt.
Die unbekannte Größe heißt Hau, der Haufen, und mit diesem
Worte wird nicht bloß bis zu einem gewissen Grade gerechnet, es-
kommen sogar mathematische Zeichen vor, welche von den gegen-
wärtig gebräuchlichen sich nur insoweit unterscheiden, als sie ohne
Anwendung von zugleich mit ihnen auftretenden Wörtern nicht aus-
reichen einen nicht mißzuverstehenden Sinn herzustellen. Als solche
') H. Brugsch-Pascha, Ans dem Morgenlande (Beclams Universal-
Bibliothek No. 3161 und 3162) S. 86—40. *) Bieenlohr, Papyrns 8. 60—88.
Die Ägypter. AxifhinetischeB. 75
mathematische Hieroglyphen dürfen wir ausschreitende Beine fQr
Addition und Subtraktion nennen. Die Addition wird durch dieselben
bezeichnet, wenn die Beine der Zeichnung der Füße gemäß eben
nach der Richtung gehen, wohin auch die Köpfe der Vogel, der
Menschen usw. in den dergleichen darstellenden Hieroglyphen schauen,
die Subtraktion im entgegengesetzten Falle. Wir nennen femer ein
aus drei horizontalen parallelen Pfeilen bestehendes Zeichen für
Differenz. Wir nennen endlich das Zeichen ^ in der Bedeutung „das
macht zusammen'^ oder „gleich'^ Stellen wir einige dieser Aufgaben
in ihrem Wortlaute zusammen, welchen wir die Schreibweise als
Gleichungen folgen lassen.
No. 24. Haufen, sein- Siebentel, sein Ganzes, es macht 19.
D. h. y + a; - 19.
No. 28. g- hinzu, y hinweg bleibt 10 übrig. D. h. (^ + y ^)
2 12
No. 29. -z- hinzu, -j hinzu, -- hinweg (?) bleibt 10 flbrig. D.h.
10.
No. 31. Haufen, sein y, sein , sein y, sein Ganzes, es be-
trägt 33. D. h. |a: + y + -7 +a:-33.
Das Wesen einer Gleichung besteht nun allerdings weit weniger
in dem Wortlaute als in der Auflösung, und so müssen wir, um die
Berechtigung unseres Vergleichs zu prüfen, zusehen, wie Ahmes seine
Haurechnungen vollzieht. Er geht dabei ganz methodisch zu Werke,
indem er die Glieder, welche, wie man heute sagen würde, links vom
Gleichheitszeichen stehen, zunächst in eins vereinigt. Freilich tut
er das in doppelter Weise, bald so, daß die Vereinigung im Neben-
einanderschreiben der betreffenden Stammbrüche bestehend nur eine
2 11
formelle ist, z. B. No. 31.: 1 ^ --Ya;=»33; bald so, daß durch
Zurückführung auf einen Generalnenner wirkliche Addition vorge-
nommen ist, z. B. No. 24: y x = 10; No. 28.: ^ x = 10; No. 29.:
20
X « 10. Im erstgenannten Falle wird sofort durch den Koeffi-
zienten der unbekannten Größe in die gegebene Zahl dividiert, wie
eben der Ägypter zu dividieren pflegt, d. h. bei No. 31. man verviel-
2 11
fältigt 1^ o w solange bis 33 herauskommen und findet so den
76 8. Kapitel.
freilich nichts weniger als übersichtlichem Wert des Haufens
^^4"^ öS 679 7^19-4 888' ^^^ welchem wir nur zu bemerken geben,
daß — — ^^g der aus der Tabelle herrührende Wert von ^^ ist. Der
zweite Fall eröffiiet wieder zwei Möglichkeiten. Entweder man löst
, a: = C indem die Division - yollzogen und deren Quotient mit b
vervielfacht wird; so in No. 24, wo zuerst 8 in 19 als 2 —mal
enthalten und dann 7 mal 2 - — als löy g gefunden wird. Oder aber
man dividiert mit i^ i^i 1 ^md vervielfacht diesen Quotienten mit C;
80 wahrscheinlich in den Aufgaben No. 28. und 29. In No. 28. wird
nämlich -r von 10 gesucht und von 10 abgezogen um den Haufen 9
19 1
ZU finden; wir fassen das so auf, es sei — = - = 1 — - - gewonnen
9
und dann 1 — £ö ^^^ ^^ ermittelt worden. Bei No. 29. wird ^ oder
27
27 11
-^ im Werte von 1 — .^ berechnet und dieses 10 mal genommen, so
daß 13^- ab der Haufen erscheint.
2
Auch hier sollen wir^) eine durchaus irrige Darstellung gegeben
haben. Nicht als Gleichungen seien die Haurechnungen au&ufassen,
sondern als Anwendungen der hier erstmalig auftretenden Methode
des falschen Ansatzes. Ahmes wähle, wenn eine Aufgabe von der
Form -^a: = (7 vorgelegt sei, für x zunächst den bequemen, wenn
auch falschen Wert 6. Durch ihn wird freilich -^x nicht C, son-
dern a, und der richtige Wert von x wird sodann gefunden, indem
man von b zu ihm dasselbe Verhältnis obwalten läßt, wie von a
zu C. Der Sache nach stimmt diese Methode des falschen Ansatzes
und die der Gleichungsauflösung offenbar überein, und bei fehlendem
Zwischentexte ist es beinahe Geschmackssache, ob man das eine, ob
man das andere erkennen will.
Daß die Vorstellung eines Hindurchgehens durch einen falschen
Ansatz den Ägyptern nicht fremd war, haben wir immer behauptet,
wie sich bei der Besprechung der Aufgabe No. 40. zeigen wird.
*) Kodet, Les pr^tenduB probl^mea d'algäbre du manuel du calculateur
£g7ptien.
Die Ägypter. Arithmetisches. 77
Dafi aber die Ägypter auch mit dem Gleichnngsbegriffe vertraut
waren ^ und daß ihnen also Fremdartiges nicht untei^eschoben wird^
wenn man^ wie wir es getan haben^ die Haurechnungen Gleichungs-
auflösungen nennt und als solche behandelt, das zeigen vorzugsweise
andere Aufgaben, welche im Papyrus raumlich Ton den Haurech-
nungen getreimt von No. 62. an auftreten ^). Diese Au%iben würden
in modernen Übimgsbüchem, in welchen sich regelmäßig verwandte
Dinge behandelt finden, unter dem Namen der Oesellschafts-
rechnungen erscheinen. Die deutlichste derselben, No. 63., hat
nach zweifellos richtig hergestelltem Text folgenden WorÜaut: „Yor-
2
Schrift zu verteilen 700 Brote unter vier Personen, - für einen,
— filr den zweiten, ~ fQr den dritten, — für den vierten**. Als
2 111
Gleichung geschrieben wäre hier Y^ + y^ + y^ + Y^"" '^^
oder 1 Y T ^ ■= '^^0. Nun wird zwar nicht in ägyptischer Weise
mit 1 Y T ^ ^ dividiert, aber doch das Ergebnis y — sofort hin-
geschrieben, ein Ergebnis, welches der Seqemaufgabe No. 9. ent-
nommen sein kann^), woraus «zugleich ein weiterer Nutzen dieser
Ergänzungsrechnui^en und damit eine weitere Begründung der Not-
wendigkeit ihrer besonderen frühzeitigen Einübung hervorgeht. Der
Wortlaut ist nämlich anknüpfend an den der Aufgabe: „Addiere du
- YYT' ^^ ^^* °^^ ^YT" ^^^^ ^^ 1 durch 1 ^ Y' ^**
gibt nun y jg • Mache du y jr ^on 700, das ist 400." Wie könnte
man bei dieser Rechnung von einem falschen Ansätze reden? Nein,
es ist vollständige Gleichungsauflösung. Von y a; — C ist weiter ge-
schlossen auf X =» (l : yj (7, genau so wie wir oben es auch für die
Aufgaben No. 28. und 29. wahrscheinlich zu machen versuchten.
Unter den Aufgaben der letzterwähnten Gruppe ist No. 66. nicht
ohne sachliches Interesse, wo aus dem Fettertrage eines Jahres der
tägliche Durchschnittsertrag mit Hilfe der Teilung durch 365 er-
mittelt wird. Die Länge des Jahres zu 365 Tagen führt in Ägypten
auf eine sagenhafte Urzeit noch vor König Mena zurück '). Der Gott
Thot soll der Mondgöttin im Brettspiele 5 Tage abgewonnen haben.
^) Eisenlohr, Papyrus S. 161 — 174; insbesondere S. 169 für die Aufgabe
No. 68. und S. 166—166 für die Aufgabe No. 66. *) Ebenda S. 66. ') Maspero-
Pietschmann S. 76 — 77.
78 2. Kapitel.
die er den bis dahin in der Zahl von 360 üblichen Tagen des Jahres
zulegte. Und wie die Ägypter mindestens als Mitbewerber zu anderen
ältesten Eulturrolkem um den Vorrang der Kenntnis der Jahres-
lange von 365 Tagen auftreten, so gebührt ihnen ganz gewiß das
Erstlingsrecht in der Einführung des Schaltjahres Ton 366 Tagen,
welches je nach drei gewöhnlichen Jahren eintretend eine Ausglei-
chung der Jahresdaten mit den wirklichen Jahreszeiten zum Zwecke
hat. Das Edikt von Eanopus vom 7. März 238 v. Chr. führte diese
Einrichtung ein, wenn sie auch bald wieder in Vergessenheit geriet^).
Dem Inhalte und der Art des Auftretens nach hochbedeutsam
sind die Aufgaben No. 40., 64., 79. des Papyrus. Ihr getrenntes Vor-
kommen scheint darauf hinzuweisen, daß der mathematische Zusammen-
hang derselben für Ahmes nicht deutlich, oder nicht erheblich genug
war um die Anordnung der Aufgaben zu beeinflussen. Ihr Gegen-
stand ist der Lehre Ton den arithmetischen und den geometri-
schen Reihen entnommen.
No. 40. „Brote 100 an Personen 5; y von 3 ersten das von
Personen 2 letzten. Was ist der Unterschied?^**) Ahmes will eine
arithmetische Reihe von 5 Gliedern gebildet haben, deren größtes
Anfangsglied a, deren negative Differenz — d sei, und welche der Be-
dingung entspricht, daß ?_+(a~d)^+(a-2(g) _ (,^ _ 3 ^^ ^ ^^ _ 4 ^^
oder 11 (a — 4d) = 2d, beziehungsweise rf =• 5 y x (a — 4d) sei. Mit
anderen Worten: der Unterschied der Glieder muß das 5 v^ fache
des niedersten Gliedes betragen, damit der einen ausgesprochenen
Bedingung genügt werde, und Ahmes kleidet dieses ohne jede Be-
gründung in die Worte: „Mache wie geschieht, der Unterschied 5--**,
worauf er die Reihe hinschreibt, welche die 1 als letztes Glied be-
sitzt: 23, 17 — , 12, 6. , 1. Allein die Summe 8 dieser Reihe ist
nur 60, während sie nach der anderen ausgesprochenen Bedingung
100 sein soll. Nun ist 100 das ly fache von 60, man braucht also
2
nur jedes Reihenglied l^mal zu nehmen um beiden Bedingungen
zugleich gerecht zu werden. Bei Ahmes heißt dieses wieder ohne
weitere Begründung „mache du vervielfältigen die Zahl 1— mal", wo-
^) Über das im April 1866 aufgefundene Edikt von Eanopus vgl. B. Lep-
siuB, Das bilingue Dekret von Eanopus. Berlin 1866. Bd. I. *) Eisenlohr^
Papyrus S. 90— 92.
Die Ägypter. Arithmetisches. 79
11 2 12
durch er zu der richtigen Reihe 38y , 29 g-, 20, lOy y, ly gelangt.
Hier hat Ahmes in der Tat zuerst einen falschen Ansatz versucht,
um ihn nachtraglich zu yerbesseni; und wir werden uns dieses Ver-
fahren ftir später zu merken haben.
No. 64. yyVorschrift des Abteilens Unterschiede. Wenn gesagt
dir Getreide Maß 10 an Personen 10. Der Unterschied von Person
jeder zu ihrer zweiten beträgt an Getreide Maß y, ist er.*'^) Hier
ist aus der Summe 8, der wieder negativ gewählten Differenz —,d
und der Gliederzahl n das Anfangsglied a der fallenden arithmeti-
schen Reihe zu suchen. Nim ist a + (a — d) H f- (» — (w — l)d) =
5 =- wa — Z' d und daraus a =» — + (w — 1) • ^ und genau nach
dieser Formel läßt Ahmes rechnen. Der Wortlaut mag diese Be-
hauptung begründen. Ahmes schreibt vor: ^^Ich teile in der Mitte
jd. h. ich bilde den mittleren Durchschnitt —1 d. i. 1 Maß. Ziehe
ab 1 von 10 Rest 9 [d. h. bilde n — 1]. Mache die Hälfte des
Unterschiedes fd. h. mache ^1 d. i. — . Nimm es mal 9 fd. i. nimm
Y X (n — 1)1, das gibt bei dir y ^g. Lege es hinzu zur Teilung
mittleren fd. h. vollziehe die Addition — + y X (n + 1)1 . Ziehe ab
du Maß g für Person jede um zu erreichen das Ende."
Eine höchst merkwürdige Parallelstelle findet sich in den Frag-
menten von Eahun, nämlich:
110
<
"I
10-^
12
»,;
4
^ Eisenlohr, Papyrns S. 169— 162.
80 2. Kapitel.
6|:
Die 10 letzten Zahlenangaben bilden eine fallende arithmetische Reihe
mit der Differenz -^ und der Summe 100. Mit der als Überschrift die-
nenden Zahl 110 ist nichts anzufangen, es sei denn daß man annähme,
zwischen dem Zeichen für 10 und dem für 100 sei beim Schreiben
irgend etwas yergessen worden. Man hätte alsdann als Überschrift
zu denken: 100 m 10 Glieder zu zerlegen, und nach dieser Über-
schrift fände sich die Auflösung der Aufgabe.
In den beiden Aufgaben No. 40. und No. 64. bedurfte es von uns der
Erläuterungen, um die betreffenden Auflösungsmethoden zu rechtfer-
tigen. Ahmes setzt kein Wort von dieser Art hinzu. Das beweist
doch mit aller Bestimmtheit, da£ die notwendigen Formeln aus einem
anderen Lehrbuche hergenommen sein mußten, oder aber, daß der
mündliche Unterricht für die nötige Erklärung bei solchen Schülern
sorgte, die zur Fri^^e: warum macht man das so? reif waren. Eeinen-
falls konnte der ägyptische Mathematiker, wenn die Anwendung dieses
Wortes gestattet ist, in seinem Wissen von arithmetischen Reihen
auf die unbewiesenen, ungerechtfertigten Formeln beschränkt gewesen
sein, von denen in No. 40. und 64. Gebrauch gemacht ist. Dafür
spricht noch weiter das Vorhandensein eines besonderen Ausdruckes
Tunnu, die Erhebung, für den Unterschied zweier aufeinander
folgender Glieder der Reihe.
Wir haben uns auch noch auf die Aufgabe No. 79. für Kennt-
nisse in der Lehre von den geometrischen Reihen bezogen. Wie
weit sich diese erstreckten, ist freilich viel zweifelhafter als bei den
arithmetischen Reihen. In der genannten Aufgabe^) ist von einer
Leiter, Sutek, die Rede, welche aus den Gliedern 7, 49, 343, 2401,
16807 bestehe. Neben diesen Zahlen, offenbar neben den 5 ersten
Potenzen von 7, stehen Wörter, die auf deutsch Bild, Katze, Maus,
Gerste, Maß heißen. Der Sinn dieser Aufgabe war durch die mehr-
erwähnte Eigentümlichkeit des Handbuches, nirgend verbindende oder
erklärende Worte zwischen die Zahlenangaben einzuschieben, unver-
ständlich und mußte es bleiben, bis es gelang bei einem Schriftsteller,
der fast 3000 Jahre nach Ahmes lebte, eine Aufgabe aufzufinden,
von welcher im 41. Kapitel im folgenden Bande die Rede sein wird.
') Eisenlohr, Papyrus S. 202— 204.
Die Ägypter. Aritbmetischeä. 81
und welche den Schlüssel lieferte^). Der fehlende Wortlaut der
Aufgabe No. 79. ist demnach folgendermaßen herzustellen: 7 Per-
sonen besitzen je 7 Katzen; jede Katze vertilgt 7 Mäuse; jede Maus
frißt 7 Ähren Gerste; aus jeder Ähre können 7 Maß Getreidekömer
entstehen; wie heißen die Glieder der nach diesen Angaben zu bil-
denden Zahlenreihe, und wie groß ist ihre Summe? Ahmes bildet
die Glieder wirklich. Er addiert sie zu 19607 und findet in einer
Nebenrechnung die gleiche Zahl 19607 als Produkt von 7 mal 2801.
Allerdings ist nicht gesagt, wie Ahmes gerade zu dem Faktor 2801
gelangte, aber andererseits ist auch nicht in Abrede zu stellen, daß
2801 = ~'7ZIT~' ^^^ ^^^ möglicherweise, vielleicht wahrscheinlicher-
weise hier die Kenntnis der Summierungsformel für die geometrische
Reihe a + a* -f- • • • + a"^ = -_^- X a durchschimmert, wenn auch
von einer Gewißheit keine Rede sein kann.
Das wäre etwa der Inhalt des Übungsbuches des Ahmes, soweit
er für die Rechenkunst von Wichtigkeit ist. Bevor wir den geome-
trischen Teil der Aufgaben zur Sprache bringen und des Metrolo-
gischen im Vorbeigehen gedenken, schalten wir hier Erörterungen
ein, die sich auf die schriftliche Bezeichnung der Zahlen bei den
Ägyptern und auf das Rechnen derselben beziehen.
Daß die Schrift der Ägypter ihren ursprünglichen Charakter als
Bilderschrift in den Zeichen, welche zur monumentalen Anwendung
kamen, am reinsten bewahrt hat, braucht gewiß kaum gesagt zu
werden. Die Hieroglyphen, eingehauen in die Obelisken und Ge-
denksteine, aufgemalt auf die Wände der Tempel und der Grabes-
kammem, lassen auf den ersten Blick sich als Zeichnungen von
Menschen, von Tieren, von Gliedmaßen, von Gegenständen des täg-
lichen Gebrauches erkennen, wenn sie auch allmählich mit Silben-
oder Buchstabenaussprache versehen wurden, welche mit dem dar-
gestellten Bilde oft nur lautlich zusammenhängen. Bei rascherem
Schreiben veränderten sich selbstverständlich die Zeichen. Absicht-
lich oder zufällig abgerundet verschwammen sie bis zur ünerkenn-
barkeit ihres Ursprunges in rasch hinzuwerfende Züge der hiera-
tischen Schrift. Endlich ist als letzte Erscheinungsweise dieses
Abhandenkommens der ersten Umrisse die demotische Schrift zu
erwähnen, heute noch die meisten Schwierigkeiten bereitend, bei
denen wir uns glücklicherweise nicht aufzuhalten brauchen, da die-
jenigen Schriftstücke, von denen allein die Rede sein muß, teils in
') Rodet, Les pr^tendos problämes d'algäbre du manael da calcalateur
ßgyptien pag. 111—113 der SonderauBgabe.
Caiitob, Geschichte der Methematik I. 9. Aafl. 6
82 2. Kapitel.
Hieroglyphen an verschiedenen noch zu nennenden Tempelwäaden,
teils in hieratischer Schrift — so besonders das bisher besprochene
Werk des Ahmes — erhalten sind.
Die Richtung der Schrift ist bei Hieroglyphen wechselnd.
Man pflegte nämlich auf die Richtung, in welcher der Lesende vor-
überschreitend gedacht war, Rücksicht zu nehmen, und so mufite bei
Inschriften auf zwei Parallelwänden notwendigerweise auf der Wand
zur Rechten des Hindurchgehenden die Schrift Ton rechts nach links
fortschreiten, auf der anderen Wand yon links nach rechts. Sämt-
liche Hieroglyphen kommen daher bald in einer Form Tor, bald in
der durch Spiegelimg aus jener entstehenden zweiten Form. Man
hat sich gewöhnt bei der Wiedergabe der Hieroglyphen im Drucke
stets die Form anzuwenden, welche dem Lesen von links nach rechts
entspricht. Die hieratische Schrift dagegen führt immer yon rechts
nach links ^).
Sollten in hieroglyphischen Inschriften Zahlen dargestellt werden,
so standen dazu verschiedene Mittel zu Gebote^). Bald wiederholte
man das zu Zählende, wie z. B. in einer Inschrift von Kamak, wo
„9 Götter" in der Weise geschrieben ist, daß das Zeichen für Gott
neunfach nebeneinander abgebildet ist. Bald schrieb man die Zahl-
wörter alphabetisch aus, ein höchst wichtiges Vorkommen, da hieraus
die Kenntnis des Wortlautes wenigstens in einigen Fällen zu ge-
winnen war, wozu alsdann Ergänzungen teils aus der Benutzung von
Zahlzeichen in Silbenbedeutung, teils aus der koptischen Sprache usw.
kamen, so daß man gegenwärtig über eine ziemliche Menge von
ägyptischen Zahlwörtern verfügt^). Bei weitem am häufigsten ge-
brauchten aber die Ägypter bestimmte Zahlzeichen, denen der
Franzose Jomard schon während der ägyptischen Expedition 1799
auf die Spur kam, und die er 1812 bekannt machte. Sie stammen
meistens aus dem sogenannten „Grabe der Zahlen'^, das Champollion
unweit der Pyramiden von Gizeh auffand, und in welchem dem reichen
Besitzer seine Herden mit Angabe der einzelnen Tiergattungen vor-
gezahlt werden, als 834 Ochsen, 220 Kühe, 3234 Ziegen, 760 Esel,
974 Schafe.
Die Zeichen sind ihrer Bedeutung nach 1 (I), 10 ( H )> ^^ (^)>
1000 C^V 10000 /'h; auch eio Zeichen für 100000 (^ ), für
Million ( Wy sogar ftlr 10 Million (Q) ist bekannt geworden*). Was
^) Maspero-PietBchmann S. 590. *) Mathem. Beitr. KulturL S. 16.
*) Eisenlohr, Papyrus S. 18—21. *) Hieroglyphißche Gtammatik von
H. Biugsch. Leipzig 1872, S. 33.
Die Ägypter. Arithmetisches. 83
die Speichen darstellen^ ist nicht bis zur vollen Sicherheit klar. Daß
1 durch einen senkrechten Stab^ 10000 durch einen deutenden Finger,
100000 durch eine Kaulquappe, Million durch einen sich yerwundem-
den Mann zu erklären sei, darin mögen wohl alle einig sein. Die
Tier übrigen Zeichen dagegen für 10, 100, 1000, 10 Million sind bald
so, bald so gedeutet worden. So hat man beispielsweise in dem
Zeichen für 100 bald einen Palmstengel, bald einen Priesterstab, in
dem für 1000 bald eine Lotusblume, bald eine Lampe erkennen
wollen. Wir sehen von dieser Einzeldeutung als uns nicht berührend
ab und schildern nur die Methode, nach welcher mittels dieser Zeichen
die Zahlen geschrieben wurden.
Sie ist eine rein additive durch Nebeneinanderstellung oder
Juxtaposition, indem das Zeichen der Einheit einer jeden Ordnung
so oft wiederholt wird als sie vorkommen sollte. Der leichteren
Übersicht wird dadurch Vorschub geleistet, daß Zeichen derselben
Art, wenn mehr als vier derselben auftreten sollten, in Gfruppen zer-
legt zu werden pflegten, so daß nicht mehr als höchstens vier Zeichen
derselben Art dicht nebeneinander geschrieben wurden. Eine der-
artige Gruppierung scheint übrigens fast allerorten sich frühzeitig
eingebürgert zu haben, selbst bei solchen Völkern, die in ihren mit
lauter einfachen Strichen versehenen Kerbhölzern zu der niedrigsten
Form eines schriftlichen Festhaltens einer Zahl allein sich aufzu-
schwingen vermochten^). Die Reihenfolge der Zeichen überhaupt
und, bei Zeichen derselben Art, der Gruppen gehorcht dem Gesetze
der Größenfolge, welches wir in der Einleitung erläutert haben. Bei
den von *links nach rechts verlaufenden Hieroglyphentexten steht
demnach das Zeichen, beziehungsweise die Gruppe höchster Zahlen-
bedeutung immer links von den anderen, und umgekehrt verhalt es
sich bei den Texten entgegengesetzten Verlaufs. Kamen neben den
Ganzen auch Brüche vor, so wurden diese selbstverständlich nach
den Ganzen geschrieben. Die Bezeichnung der Stammbrüche findet
so statt, daß der Nenner in gewöhnlicher Weise geschrieben wird,
darüber aber das Zeichen <=> Platz findet, welches ro ausgesprochen
wird. Nur statt y schreibt man / und statt des uneigentlichen
Stammbruches y "^ oder <ö> •
Die hieratischen Zahlzeichen wurden fast ebenso frühzeitig wie
die hieroglyphischen bekannt, indem ChampoUion zwischen 1824 und
1826 aus der überaus reichen ägyptischen Sammlung zu Turin und
den Papyrusrollen des Vatikan die Grundlage zu ihrer Entzifferung
») Pott I, 8.8—9; n, S.68.
84 2. Kapitel.
gewann. Daß auch hier das Gesetz der Größenfolge für ganze Zahlen
wie für Brüche maßgebend ist, daß der Richtung der hieratischen
Schrift entsprechend das Größere ausnahmslos rechts von dem Klei-
neren steht; braucht kaum gesagt zu werden. Zum Schreiben der
ganzen Zahlen benutzt die hieratische Schrift beträchtlich mehr
Zeichen als die hieroglyphische, weil sie von der Juxtaposition unter
sich gleicher Zeichen Abstand nimmt, vielmehr für die neun mög-
lichen Einer, für die ebensovielen Zehner, Hunderter, Tausender sich
lauter besonderer voneinander leicht unterscheidbarer Zeichen bedient.
Sie spart an Raum und stellt dafür höhere Anforderungen an das
Wissen des Schreibenden oder Lesenden. Nicht als ob jene Zeichen
insgesamt voneinander unabhängig wären. Ein Blick auf die Tafel
am Schlüsse dieses Bandes genügt, um zu erkennen, daß die Einer-
mit geringen Ausnahmen sich aus der Vereinigung der betreffenden
Anzahl von Punkten zu Strichen und aus der Verbindung solcher
Striche zusammengesetzt haben ^), daß die Hunderter und Tausender
aus den Zeichen für 100 und 1000 mit den sie vervielfachenden
Einem entstanden sind, daß jene Zeichen für 1000, für 100, auch für
10 den Hieroglyphen entstammen, unter Beachtung des Gegensatzes
zwischen einer rechtsläufigen und einer linksläufigen Schrift. Die
übrigen Zehner fordern jedoch den Scharfsinn des Erklärers so weit
heraus, daß wir darauf verzichten auch nur einen Versuch in dieser
Beziehung anzustellen.
Die Hieroglyphe für 10 hat sich, wie man bemerken wird, bei
der hieratischen Schrift oben zugespitzt, und so bestätigt sich der
Bericht eines wahrscheinlich in Ägypten geborenen griechiscfien Schrift-
stellers aus dem Anfange des V. Jahrhunderts n. Chr., Horapollon,
welcher mitteilt^), die 10 werde durch eine gerade Linie dargestellt,
an welche eine zweite sich anlehne. Derselbe Schriftsteller sagt
auch'), die 5 werde durch einen Stern dargestellt, wie gleichfalls
von der neueren Forschung bestätigt worden ist, wenn auch dieses
Zeichen weniger Zahlzeichen als eigentliche Worthieroglyphe gewesen
zu sein scheint.
Bei der hieratischen Schreibweise der Brüche hat das hierogly-
phische ro sich zu dem Punkte verdichtet, der, wie wir schon wissen,
über die ganze Zahl des Nenners gesetzt den Stammbruch erkennen
2 1
ließ. (S. 61.) Den Hieroglyphen von - und ~ entsprechen gleich-
falls aus ihnen abgeleitete Zeichen. Außerdem gibt es noch beson-
') R. Lepsius, Die altägyptische Elle nnd ihre Eintheilang (Abhandlungen
der Berliner Akademie 1866) S. 42. *) Horapollon, Hieroglyphica Lih. II,
cap. 30. *) Horapollon, Hieroglyphica Lib. I, cap. 13.
Die Ägypter. Arithmetisches. 8Ö
dere hieratische Zeichen für und , deren Ursprung nicht wohl
ersichtlich ist, es müßte denn bei dem Zeichen für - an die Vier-
teilung der Ebene durch zwei sich kreuzende Linien gedacht
worden sein?
Die hieratische Schreibweise der ganzen Zahlen insbesondere war
nicht systemlos. Sie konnte das Rechnen, namentlich das Multipli-
zieren bedeutend unterstützen, vorausgesetzt, daß man nur eine Kennt-
nis dessen besaß, was als Ergebnis der Vervielfachung der Einer
untereinander und der Einheiten verschiedener Ordnung erscheint.
Aber eine solche Einmaleinstabelle haben die Ägypter
mutmaßlich nie besessen. Der Beweis dafür liegt in der Tat-
sache, daß sie Multiplikationen so gut wie nie auf einen Schlag voll-
zogen und auch bei der Ermittlung der Teilprodukte den Multipli-
kator keineswegs nach dekadisch unterschiedenen Teilen zu zerlegen
pflegten. Wollte man z. B. das ISfache einer Zahl bilden, so suchte
man nicht etwa das 3 fache und 10 fache, sondern das 1 fache, 2 fache,
4 fache, 8 fache durch wiederholte Verdopplung und vereinigte dann
das 1 fache, 4 fache, 8 fache zum gewünschten Produkte. Der gleiche
Kunstgriff reichte aus, wenn Stammbrüche mit Stammbrüchen ver-
vielfacht werden sollten, da vermöge der Schreibart der Brüche hier
die Gleichartigkeit mit der Vervielfachung ganzer Zahlen untereinander
auf der Hand lag, so daß wir in dieser Bezeichnung der Brüche
selbst entweder eine geniale Erfindung oder einen glücklichen GriflF,
wahrscheinlich das letztere, zu rühmen haben.
Wir haben an den früher besprochenen Beispielen die Methoden
allmählicher Vervielfachung ganzer und gebrochener Zahlen sowohl
zum Zwecke eigentlicher Multiplikation, als indirekter Division zur
Genüge kennen gelernt. Wir haben (S. 74) hervorgehoben, daß das
Handbuch des Ahmes nur für Geübtere geschrieben sein kann, und
mögen auch seine Schlußworte^): „Fange Ungeziefer, Mäuse, Unkraut
frisches, Spinnen zahlreiche. Bitte Ra um Wärme, Wind, Wasser
hohes" sich an einen Landmann wenden, mögen die Aufgaben selbst
vielfach an die Beschäftigungen eines Landmannes erinnern, niemand
wird deshalb glauben wollen, daß ein gewöhnlicher Landmann Hau-
und Tunnurechnungen zu bewältigen imstande gewesen sei. Neben
dem höheren, dem wissenschaftlichen Rechnen kann daher und muß
vielleicht an ein Elementarrechnen gedacht werden, dessen Spuren
wir anderwärts als in dem Papyrus des Ahmes aufzusuchen haben.
Das meiste, was die Wissenschaft erfand, sickert im Laufe der Jahre,
^) Eisenlohr, Papyrus S. 223— 225.
86 2. Kapitel.
wenn nicht der Jahrhunderte durch die verschiedenen Yolksklassen
hindurch, allgemeine Verbreitung erst dann erlangend, wenn höhere
Bildung schon weit darüber hinaus gegangen ist, oder gar es als
falsch erkannt hat. So muß es auch mit dem Bechnen gegangen
sein in dem Lande, wo es vielleicht zuhause war.
Auf die ägyptische Herkunft der Rechenkunst weisen
Volkssagen hin, welche von griechischen Schriftstellern uns aufbewahrt
wurden. „Die Ägypter'^, so sagt uns der eine^), „erzählen, sie hätten
das Feldmessen, die Sternkunde und die Arithmetik erfunden.^^ Ein
anderer hat gehört*), der Gott Thot der Ägypter habe zuerst die
Zahl und das Rechnen und Geometrie und Astronomie erfunden. Ein
dritter ') führt die ganze Mathematik auf Ägypten zurück, denn dort,
meint er, war es dem Priesterstande vergönnt Muße zu haben. Und
wenn Josephus, sei es seinem Nationalstolze eine Genugtuung ver-
schaflfend, sei es zum Teil wenigstens der Wahrheit die Ehre gebend,
behauptet, die Ägypter hätten die Arithmetik von Abraham erlernt,
der sie gleich der Astronomie aus Chaldäa nach Ägypten mit-
brachte, so fügt er doch hinzu, die Ägypter seien die Lehrer der
Hellenen in dieser Wissenschaft gewesen*).
Die Frage ist nun, wie das älteste elementare Bechnen der Ägypter
beschaffen war, dasjenige, welches nach unserer Auffassung auch zur
Zeit des Ahmes und später noch das allgemein übliche war? Zur
Beantwortung dieser Frage stehen uns teils Vermutungen, teils eine
bestimmte Aussage eines zuverlässigen Berichterstatters zu Gebote,
und bald auf die einen, bald auf die andere uns stützend glauben
wir an ein Pingerrechnen, wissen wir von einem instrumentalen
Bechnen der Ägypter.
Das Bechnen an den Fingern, nicht nur so wie es unwill-
kürlich das Kind schon ausführt, welches zu addierende Zahlen durch
ebensoviele ausgestreckte Finger sich versinnlicht, um die Summe vor
Augen zu haben, sondern unter einigermaßen künstlicher Ausbildung
mit bestimmtem Werte der einzelnen Finger ist (S. 6 — 7) bei Völkern
nachgewiesen worden, für die wir kaum mehr als die ersten Anfänge
von Bildung in Anspruch nehmen dürfen. Wir wollen keinerlei Ge-
wicht darauf legen, daß die Völker, von denen an jener Stelle die
Bede war, dem Lineren und dem Süden Afrikas angehören, daß so-
mit bei der nordsüdlichen Bichtung, welche auf jenem Erdteile die
Bildung eingehalten zu haben scheint, bei der geringen geistigen Be-
gabung der Negerrassen hier ein solches Durchsickern altägyptischer
*) Diogenes Laertius prooem. s. 11. *) Piaton, Phaedros pag. 274ni.
') Aristoteles, Metaphys. I, 1 in fine. *) Josephos, Antiquit. I, cap. 8, §2.
Die Ägypter. AxithmetischeB. 87
Methoden^ wie wir es eben als naturgemäß schilderten^ so langsam
YonstatteD gegangen sein könnte, daß sie erst nach Jahrtausenden
in sehr yiel südlicheren Breiten ankamen. Derartige Vermutungen
auszusprechen, ist nicht ohne Beiz, sie können ein vereinzeltes Mal
glücken, aber sie haben darum noch keine Berechtigung. Dagegen
war in Ägypten selbst in der ersten Hälfte des V. nachchristlichen
Jahrhunderts die Überlieferung von einer Zahlenbedeutung des
Ringfingers noch yorhanden. Allein umgebogen, während alle
anderen Finger gestreckt blieben, habe er den Wert 6 dargestellt,
die erste vollkommene Zahl ^), sei darum auch selbst der Vollkommen-
heit teilhaftig worden und habe das Vorrecht erhalten, Ringe zu
tragen^). Zu dieser Sage kommen noch alterhaltene Denkmäler. In
einer Pariser Sammlung ägyptischer Altertümer^) findet sich eine
rechte Hand, an welcher die zwei letzten Finger umgelegt sind.
Das kann wenigstens eine Zahlenbedeutung gehabt haben. Über die
Möglichkeit hinaus bis beinahe zur Gewißheit fuhren aber Bezeich-
nungen alt ägyptischer Ellen ^), welche in mehreren Exemplaren
vorhanden sind. Die Zahlen von 1 bis 5 sind durch die fünf Finger
der linken Hand, welche allmählich vom kleinen Finger anfangend
ausgestreckt werden — wenigstens wird der Daumen zuletzt aus-
gestreckt — dargestellt. Zur Bezeichnung der Zahl 6 dient alsdann
die rechte Hand mit ausgestrecktem Daumen bei im übrigen ge-
schlossenen Fingern, allerdings eine fast überraschende Übereinstim-
mung mit der oben berührten Sitte jener von links nach rechts an
den Fingern zählenden Negerstämme. Dagegen dürfen wir nicht ver-
schweigen, daß nach diesen sechs Bildern, die an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig lassen, wieder an verschiedenen Exemplaren sich
bestätigend zwei weitere Bilder auftreten, jedes 4 ausgestreckte Finger .
ohne Daumen darstellend, welche unserer Deutung nicht ferner zu
Hilfe kommen, wenn sie derselben auch nicht geradezu widersprechen.
Dieser letzten Bilder wegen sahen wir uns zu dem behutsameren
„beinahe^^ veranlaßt, welches die Gewißheit des Fingerrechnens als
durch die Fingerzahlen auf den EUen bezeugt einschränken mußte.
Mit aller Gewißheit ist uns von dem instrumentalen Rechnen
der Ägypter Nachricht zugegangen. „Die Ägypter^^, so erzählt uns
^) Über den Begriff der vollkommenen Zahl vgl. im 6. Kapitel *) Macro-
bius, Convivia Saturnalia Lib. VII, cap. 18. ') Claude du Molinet, le
cabinet de Ja bibliotheque de St Genevteve. Pariß 1692. Tab. 9 p. 16. Auf diese
sehr interessante Andeutung hat Heinr. Stoy, Zur Geschichte des Bechenunter-
richtes 1, Teil, S. 40, Note 3 (Jenaer Habilitationsschrift von 1876) zuerst hin-
gewiesen. *) Die Abbildungen bei B. Lepsius, Die altägyptische Elle und ihre
Eintheilung (Abhandlungen der Berliner Akademie 1866).
88 2. Kapitel.
Herodot ^\ der Land und Leute aus eigener Anschauung genau kannte^
und der stets unterscheidet, wenn er nur ihm selbst Berichtetes und
nicht Erlebtes mitteilt, „schreiben Schriftzüge und rechnen mit Steinen,
indem sie die Hand Ton rechts nach links bringen, während die Hel-
lenen sie von links nach rechts führen." Diese Erzählung ist nicht
mißzuTerstehen. Als richtig von uns erkennbar, wo sie der hiera-
tischen Schriftfolge der Ägypter von rechts nach links gedenkt, ge-
währleistet sie ein Rechnen mit Steinen mutmaßlich auf einem Rechen-
brette etwa für das Jahr 460 v. Chr. Sie gewährleistet es, was wir
in einem späteren Kapitel in Erinnerung bringen werden, für die
Griechen mit derselben Sicherheit wie für die Ägypter.
Der Begriff des Rechenbrettes, auf welchem mit Steinen ge-
rechnet wird, ist, wenn auch unter bedeutsamen Veränderungen, ein
räumlich und zeitlich ungemein verbreiteter. Man kann das Gemein-
same desselben darin finden, daß auf irgend eine Weise unterschiedene
Räume hergestellt werden, welche euf irgend eine Weise bezeichnet
werden, worauf jedes Zeichen einen Erinnerungswert erhält, abhängig
sowohl von dem Zeichen selbst als von dem Orte, wo es sich findet.
Es ist, kann man sagen, ein mnemonisches Benutzen zweier Dimen-
sionen.
In dieser weitesten Bedeutung kann man schon die Quipu oder
Knotenschnüre der alten Peruaner^) dem Begriffe unterordnen. Die
Schnüre waren oft von verschiedener Farbe. Die rote Schnur be-
deutete alsdann Soldaten, die weiße Silber, die grüne Getreide usw.,
und die Knoten an den Schnüren bedeuteten, je nachdem sie einfach,
doppelt, oder noch mehrfach verschlungen waren, 10, 100, 1000 usw.
Mehrere Knoten nebeneinander auf derselben Schnur wurden addiert.
.Ähnlicher Knotenschnüre bedienten sich die Chinesen, und ihre durch
Zeichnung auf Papier übertragene Gestalt bildete die oft mißverstan-
denen Kua*s*). Sollen wir alten Einrichtungen, in welchen das ge-
nannte Prinzip zur Erscheinung kam, ganz neue an die Seite stellen,
so haben wohl manche unserer Leser eigentümlich zurechtgeschnittene
Kärtchen oder Holztäfelchen gesehen, deren man besonders in Frank-
reich sich bedient, um bei gewissen Spielen, die auf einem Zählen
beruhen und folglich voraussetzen, daß die bei jeder einzelnen Tour
erlangten Zahlen aufgeschrieben (markiert) werden, dieses Geschäft
1) Herodot II, 86. *) Pott II, S. 54. ») Duhalde, Ausföhrliche Be-
Bchreibnng des chinesischen Reiches und der großen Tartarei; übersetzt von
Mosheim. Rostock 1747 Bd. II, S. 338. Femer vgl. Le Chouking un des Hvres
sacres chinois traduit par le P. Gaubil revu et corrtge par M. d£ Chiign^s. Paris
1770, an sehr verschiedenen Stellen, die im Register s. v. Eoua zu entnehmen
sind; die Abbildung S. 352.
Die Ägypter. AhthmetischeB. 89
durch Umklappen betreffender Abteilungen zu besorgen ^). Wirkliche
Rechenbretter sind freilich jene Schnüre und Kartchen noch nicht.
Das Rechenbrett im engeren Sinne des Wortes setzt voraus^ daß
der Wert; welchen eine einheitliche Bezeichnung, sei es ein Strich
oder ein Steinchen oder was auch immer, an unterschiedenen leicht
erkennbaren Stellen erhält, sich nach den aufeinanderfolgenden Stufen
des zugrunde gelegten Zahlensystems verändert, daß also im Dezimal-
systeme bei wagrechter oder senkrechter Anordnung der Reihen, in
welchen die Steinchen gelegt werden, jedes solches Steinchen einer
Yerzehnfachung unterworfen wird, sofern es Ton einer Horizontalreihe,
beziehungsweise von einer Yertikalreihe, in die benachbarte Reihe
gleicher Art verschoben wird Nur bei Horizontalreihen kann ein
Hinauf- oder Herunterrücken, nur bei Vertikalreihen eine Verrückung
nach rechts oder nach links diese Wirkung üben, und diese auf der
Hand liegende Notwendigkeit lehrt uns der erwähnten Äußerung
Herodots den Beweis entnehmen, daß die Griechen wie die
Ägypter sich Rechenbretter mit senkrechten Reihen be-
dienten. Wie wir die Wertfolge dieser senkrechten Reihen uns zu
denken haben, ob in dem Ausspruche Herodots auch darüber nicht
mißzuverstehende Andeutungen enthalten sind oder nicht, das ist eine
Frage höchst untergeordneter Bedeutung gegenüber von der gegen
den Rechner senkrechten Gestalt der Reihen, die von geschichtlich
großer Tragweite sich erweisen wird. Es ist klar, daß bei einem
eigentlichen Rechenbrette auf dekadischer Grundlage in jeder Reihe
höchstens 9 Steinchen Platz finden können, da deren 10 durch
1 Steinchen in der folgenden Reihe ersetzt werden mußten. Danach
ist wohl nicht ganz mit Recht zur festeren Begründung der Tatsache,
daß die Ägypter eines Rechenbrettes sich bedienten, auf eine alte
Zeichnung Bezug genommen worden. Auf einem bekannten Papyrus
hat sich eine Rechnung aus der Zeit des Königs Menephtah I.')
erhalten, bei welcher die nachfolgende Fig. 6 abgebildet ist^). Der
erste Anblick scheint ja dafür zu sprechen, daß ein Rechenbrett mit
seinen Steinchen dargestellt werden sollte, wenn nicht der Umstand,
daß wiederholt 10 Pünktchen in einer Vertikalreihe (ebenso wie auch
^) Auf die Analogie solcher Zählkärtcben zu Rechenbrettern hat wohl zu-
erst Vincent in der Revue archeologique lU, 204 hingewiesen. *) Er gehörte
der XIX. Dynastie an und regierte Lepsius zufolge 1341 bis 1321. Nach Stein-
dorff umfaßte die ganze XIX. Dynastie die Zeit von 1350 bis 1200. ^ Die
Figur stammt von der Rückseite des Papyrus Sallier IV. Aufsätze über den
begleitenden Text von Goodwin (Zeitschrift für ägyptische Sprache und Alter-
thumskunde, Jahrgang 1867 S. 67 flgg.) und von De Rougä (ebenda Jahrgang
1868 S. 129 flgg.) enthalten kein Wort über die Figur.
90 3. Kapitel.
in einer Horizontalreihe) auftreten, die bedenklichsten Zweifel wach-
rufen müßte. Abbildungen Ton Rechnern finden sich unter den fast
unzähligen ägyptischen Wandgemälden unseres Wissens nicht. Man
stößt wiederholt auf Leute, die sich mit dem Moraspiele beschäf-
oo
qO OoOo ^O
tigen*) und zu diesem Zwecke Finger beider Hände in die Höhe
heben, aber weder das Fingerrechnen, noch das Tafelrechnen scheint
Teröffentlichende Wiedergabe gefunden zu haben, dürfte abo wohl
kaum auf bisher entdeckten Gemälden erkannt worden sein.
3. Kapitel.
Die Ägypter. Geometrisclies.
Wir kehren zu dem Papyrus des Ahmes zurück. Er hat sich
als unschätzbare Fundgrube nicht bloß für die Kenntnis des alge-
braischen Wissens der Ägypter bewährt, auch vieles andere hat aus
ihm geschöpft werden können, worüber hier, wenn auch nicht in
gleicher Ausführlichkeit aller Berichte, gesprochen werden muß. Nur
mit kurzen Worten können wir das Metrologische berühren. Die
vergleichende Untersuchung der Maßsysteme, welche den einzelnen
Völkern des Altertums gedient haben, ist gewiß ein Gegenstand von
hoher Wichtigkeit und auch dem Mathematiker bis zu einem gewissen
Grade sympathisch, allein wie wir Astronomisches von unserer Auf-
gabe ausgeschlossen haben, so auch verwahren wir uns gegen die
Verpflichtung Metrologisches aufzunehmen. Wir müssen* uns daran
genügen lassen im Vorübergehen zu bemerken, daß nicht bloß die
Rechnungsbeispiele vielfache Angaben enthalten, aus welchen das Ver-
*) Wilkinson, Manners and customs of tJie ancient Egyptians. London
1837. Vol. I pag. 44 fig. 3 und Vol. 11 pag. 417 fig. 292.
Die Ägypter. Geometrisches. 91
hältnis der ägyptischen Maße in nicht anzuzweifehider weil durch allzu
zahlreiche Beispiele zu prüfender Gewißheit sich ergeben hat, daß
sogar in zwei aufeinanderfolgenden Paragraphen, Nr. 80 und 81, die
Umrechnung von einem Maßsysteme in ein anderes geradezu gelehrt
wird^). Die späteren Nachahmer des Ahmes haben, wie wir sehen
werden, ähnliche Maßvergleichungen jederzeit in ihre Schriften auf-
genommen.
Unsere eingehendste Beachtung gebührt dagegen den geome-
trischen Aufgaben des Ahmes, deren Erörterung wir eine vielleicht
überflüssige, jedenfalls nicht unwichtige Bemerkung vorausschicken.
Übungsbücher der höheren Rechenkunst von der ältesten bis auf die
neueste Zeit herab enthalten fast ausnahmslos neben anderen mannig-
fachen Beispielen auch solche aus der Geometrie und Stereometrie.
Diese erheischen zu ihrer Berechnung gewisse Formeln, und diese
Formeln sind als gegeben zu betrachten. An eine Ableitung derselben
zu denken, oder gar weil die Ableitung nicht mitgeteilt ist zu arg-
wöhnen, es habe eine solche überhaupt nicht gegeben, als das Übungs-
buch verfaßt wurde, fällt niemand ein. Wir dürfen dem Handbuche
des Ahmes mit keiner Anforderung gegenübertreten, die wir sonst
xmbillig fänden. Wenn Ahmes sich geometrischer Regeln bedient,
so müssen wir auch zu ihm das Zutrauen haben, er werde sie irgend-
woher genommen haben, wo auch seine Schüler sich Rats erholen
konnten, wir werden also an ein anderes geometrisches Buch glauben,
das uns unmittelbar nicht bekannt ist, dessen einstmaliges Vorhanden-
sein aber gerade durch jene Formeln mittelbar erwiesen ist, gleichwie
die Formeln für Summierung arithmetischer und vielleicht geome-
trischer Reihen, deren Ahmes sich bedient, uns einen Rückschluß
auf in seinem Papyrus übergangene Ableitungsverfahren gestatteten.
Die geometrischen Beispiele des Ahmes lassen zunächst den
Flächenraum von Feldstücken finden, deren einschließende Seiten
gegeben sind. Solcher Aufgaben konnte man am ersten von einem
ägyptischen Schriftsteller sich versehen, da, wie wir weiter unten zu
zeigen haben, gerade die eigentliche Feldmessung in Ägypten zu-
hause gewesen sein soll. Damit ist aber freilich nicht gesagt, daß
jede Feldmessung von vornherein eine geometrische gewesen sein muß.
Mag die Notwendigkeit die Gleichwertigkeit oder Ungleichwertig-
keit von Feldstücken zu schätzen mit den ersten Streitigkeiten über
.das Mein und Dein des urbar gemachten Bodens, also mit der Ein-
führung individuellen Gnmdbesitzes sich ergeben haben, diese Wert-
vergleichimg konnte in mannigfacher Weise erfolgen. Man konnte
*) Eisenlohr, Papyrus S. 204—211.
92 3. Kapitel.
die Zeit messen, welche zur Bebauung eines Feldstückes nötig war,
das Getreide wägen, welches auf demselben wuchs oder zur Einsaat
in dasselbe zu verwenden war, und unsere deutschen Benennungen
Morgen^) und Scheffel') als Feldmaße sind Zeugnisse dafür, daß
man solche Methoden nicht immer verschmäht hat. Dem Wunsche
einer Feldervergleichung mag in anderen Gegenden die Sitte ent-
sprungen sein, den einzelnen Ackern stets die gleiche Form, die
gleiche Größe zu geben, und ein weiterer Schritt auf diesem Wege
der Geistesentwicklung war es, wenn man der Gestalt der Äcker ent-
sprechend Flächenmaße einführte, die, soviel uns bekannt ist, nirgend
eine andere Figur darstellten als die eines Vierecks mit vier rechten
Winkeln und in einem einfachen Zahlenverhältnisse zueinander stehen-
den, wenn auch nicht notwendig gleichen Seiten, wiewohl an sich
ein dreieckiges Maß z. B. ebensogut zu denken war. Auch aus
Ägypten wird uns allerdings aus der verhältnismäßig späten Zeit
von mindestens drei Jahrhunderten nach Ahmes ähnliches gemeldet.
Herodot erzählt*), der König Sesostris habe die Äcker verteilt und
jedem ein gleich großes Viereck überwiesen, auch danach die jähr-
liche Abgabe bestimmt. Sesostris ist niemand anders als König
Ramses II. aus der XIX. Dynastie, der etwa 1324 bis 1258 lebte.
Aber eine irgendwie gestaltete Bodenfläche als Raumgebilde zu
betrachten, sie unmittelbar aus ihren Grenzlinien messen zu wollen,
das setzte schon geradezu mathematische Gedanken voraus, das war
selbst eine mathematische Tat. In Ägypten hat man diese Tat voll-
zogen, wenn nicht zuerst vollzogen, und im Gefolge dieser Tat muß
notwendig eine mehr oder weniger entwickelte Kenntnis der Eigen-
schaften der verschiedenartigen Figuren, gewissermaßen eine theore-
tische Geometrie, entstanden sein, mag auch für lange Zeit nur die
praktische Feldmessung ihr eigentliches Endziel gewesen sein.
Die Feldstücke, welche Ahmes ausmessen läßt, sind geradlinig
oder kreisförmig begrenzt, und die ihrer Genauigkeit nach nicht ganz
aus freier Hand, sondern mit Benutzung eines Lineals aber
ohne Zirkel angefertigten Figuren lassen deutlich erkennen, daß an
geradlinigen Figuren nur gleichschenklige Dreiecke, Rechtecke und
gleichschenklige Paralleltrapeze in Betracht gezogen werden sollen.
Das Rechteck bietet in seiner Ausrechnung am wenigsten Aus-
beute. Es ist mehr als nur wahrscheinlich, daß, wie die Fläche des
Quadrates von 10 Einheiten im Beispiele No. 44. zu 100 Flächen-*
*) Pott I, S. 124. *) R. Lepsius, Ueber eine hieroglyphische Inschrift
am Tempel von Edfu (Abhandlungen der Berliner Akademie 1855) S. 77.
») Herodot 11, 109.
Die Ägypter. Geometrisches. 93
einheiten erkannt war^), auch bei ungleichen Seiten des Rechtecks
eine Vervielfältigung der beiden Ausmessungen stattfinden muBte^
aber das Beispiel No. 49., welches auf ein Rechteck von 10 Ruten zu
2 Ruten Bezug hat, läßt solches nicht erkennen, da wie es scheint
durch ein Versehen des Ahmes zu dieser Aufgabe die Auflösung einer
ganz anderen sich gesellt hat^).
Ein gleichschenkliges Dreieck von 10 Ruten an seinem
Merit, von 4 Ruten an seinem Tepro bildet den Gegenstand des
Beispiels No. 51. Die Hälfte von 4 oder 2 wird mit 10 vervielfältigt.
„Sein Flächeninhalt ist es^'^). Auffallend ist hier die Lage des bei-
gezeichneten gleichschenkligen Dreiecks, auffallend sind die gebrauchten
Eunstausdrücke, nicht am wenigsten auffallend ist die Rechnung.
Während wir die Gewohnheit haben die Figuren dem sie Anschauen-
den so symmetrisch als möglich vorzulegen, also bei einem gleich-
schenkligen Dreiecke die eine ungleiche Seite als Grundlinie unten,
die beiden gleichen Schenkel nach aufwärts gerichtet zu zeichnen,
hat Ahmes die Strecke 4 vertikal gezeichnet und von deren End-
punkten aus die beiden gleichen Schenkel in der Länge 10 gegen die
Richtung der Schriftzeilen, also mit der Spitze nach rechts, zu-
sammentreffen lassen. Die Seite von 4 Ruten heißt ihm, wie schon
angeführt, Tepro, die von 10 Ruten Merit. Tepro oder der Mund
für die Weite der Entfernung der Endpunkte zweier an der Feder
des Schreibenden vereinigten, von da aus sich ö&enden Geraden ist
einleuchtend. Ob aber der Name Merit oder der Hafen auf die
Gleichheit der beiden anderen Schenkel, ob er auf die durch die
Zeichnung gegebene Lage als obere Linie der Figur, als Scheitel-
linie sich beziehen soll, kann als ausgemacht hier wenigstens nicht
gelten, da weder die eine noch die andere Beziehung eine Erklärung
der Wahl gerade dieses Wortes liefert. Wir werden indessen später
sehen, daß vermutlich die Scheitellage mit Merit bezeichnet werden
soll. Rücksichtlich der Figur haben wir noch zu bemerken, daß in
No. 51. wie in anderen Aufgaben die Zahlen, welche die Längen der
auftretenden Strecken messen, an diese, der Inhalt mitunter in die
Figur geschrieben erscheint. Das Rechnungsverfahren besteht darin,
daß, wenn wir den Dreiecksinhalt A, die Dreiecksseiten a, a, b
nennen wollen, hier
A-Ixa
gesetzt ist. Das ist nun allerdings nicht richtig; es müßte vielmehr
A-|xl/.'-^-
i)EiBenlohr, PapjruB S. 110. *) Ebenda S. 122 bis 123. ') Ebenda S. 125.
94 3. Kapitel.
heißen; aber mehrere Dinge fordern unsere Überlegung heraus. Einmal
hat man unter der Annahme, die Figuren seien grundfalsch gezeichnet,
und die Dreiecke seien nicht als gleichschenklige, sondern als recht-
winklige aufzufassen^), die bei Ahmes geführte Rechnung in Schutz
genommen; der Flächeninhalt des rechtwinkligen Dreiecks sei in der
Tat das halbe Produkt der beiden Katheten. Kann man sich mit
uns nicht entschließen, die mit dem Lineal gezeichneten Figuren für
so falsch zu halten, so ist erstlich zu erwägen, daß die Ausziehung
einer Quadratwurzel bei Ahmes nirgend vorkommt; zweitens dann
auch, daß der Fehler, welcher begangen wird, sofern b gegen a nur
einigermaßen klein ist> kaum in Anschlag kommt. Im Beispiele No. 51.
ist die Dreiecksfläche mit 20 Quadratruten angesetzt. Der richtige
Wert ist fast genau 19,6 Quadratruten. Der Fehler beträgt nicht
mehr als 2 Prozent. Dieses dürfte, natürlich nicht dem Ahmes und
seiner Zeit, aber einer späteren Nachkommenschaft; wohl als genügende
Entschuldigung erschienen sein an einem Verfahren festzuhalten,
welches in der Rechnung so ungemein bequem und leicht, im Er-
gebnis kaum als falsch zu bezeichnen war. Wenn der ägyptische
Feldmesser, wie wir in diesem Kapitel noch sehen werden, selbst
anderthalb Jahrtausende nach Ahmes sich der altfiunkische Flächen-
formel fortwährend bediente, so konnte er der nicht ganz unbegrün-
deten Meinung sein sich ihrer bedienen zu dürfen.
Die Torhin ausgesprochene Behauptung, eine Quadratwurzel
komme bei Ahmes nicht vor, ist nicht in dem Sinne zu verstehen,
als sei der Begriff der Quadratwurzel den Ägyptern überhaupt
fremd gewesen. Höchstens kann man Zweifel darein setzen, ob die
Ägypter mit irrationalen Quadratwurzeln umzugehen wußten.
Die erste ägyptische Quadratwurzel ist in den in London befindlichen
Fragmenten von Kahun aufgefunden worden. Ihr Zeichen ist ein
rechter Winkel, dessen horizontaler Schenkel beträchtlich länger als
der links vertikal nach unten sich erstreckende Schenkel ist. Wie
das Zeichen auszusprechen ist, erscheint fraglich. Während einige
Ägyptologen die Aussprache im für richtig halten, entscheiden sich
andere für knb, beidemal unter Verzicht auf die Bestimmung der noch
einzuschaltenden Selbstlaute. Für knh spricht, daß dieses Wort durch
„Winkel^^ oder „Ecke" zu übersetzen ist, was mit der Gestalt des
Zeichens im Einklang steht'). Benutzen wir diese Lesung, so ist
die von der Zahl 40 ausgehende und ihrem mathematischen Zwecke
nach noch unverstandene Rechnung folgende: 3x40=120, 120:10=»12,
^) M. Simon, Über die Maibematik der Ägypter im Anschlnsse an £. Be-
villont. *) Briefliebe Mitteilung deg Grafen H. Schack-Scbackenburg.
Die Ägypter. GeometriBclies. 95
1 : - « 1 -, 12 X 1- =» 16; suche davon den knb, er ist 4. Man
4 3 «J
sieht deutlich, daß knb oder wie das Wort ausgesprochen worden sein
mag; nur Quadratwurzel bedeuten kann.
Eine willkommene Bestätigung lieferte der Papyrus 6619 des
Berliner Museums^), welcher gleichfalls in Eahun gefunden worden
ist und der Zeit nach dem mittleren Reiche entstammt, zu welchem
auch die Regierung der Amenemhate gehört. In ihm ist der knb von
1— als 1 , der knb von 6~ als 2 - angegeben, während 1/ ^ = -- ,
f Y =* Y ist. Die Berliner Fragmente haben vor den Londoner
Fragmenten den großen Vorzug, daß man in ihnen deutlich erkennt,
was der Sinn der angestellten Rechnung war. Eine gegebene Fläche,
etwa von- der Größe von 100 Flächeneinheiten, soll als Summe
zweier Quadrate dargestellt werden, deren Seiten sich wie 1 zu
-^ verhalten. In Buchstaben lautet also die Aufgabe:
X« + y« « 100
x:y ^ 1 : - oder y = — - a:.
Die Auflösung erfolgt nach der Methode des falschen Ansatzes
und bestätigt mithin was wir (S. 79) zu No. 40. des Handbuches des
Ahmes über die Bekanntschaft der Ägypter mit dieser Methode g&-
sagt haben. Versuchsweise wird 2; » 1, y = -r- gesetzt , wodurch
x^ + y^^^ entsteht, und ]/?^ = A. Aber ^100=- 10 und 10:^
» 8. Die nicht mehr zu entziffernde Fortsetzung wird vermutlich
gelautet haben: also ist richtig a;«=8xl — 8, y«-8x-^ = 6.
Eine andere Au%abe auf einem kleineren Fragmente des Ber-
liner Papyrus läßt mit Sicherheit die Gleichung y 6— « 2^ erkennen.
Aus anderen auf diesem kleinen Fragmente vorkommenden Zahlen hat
man geschlossen, hier sei die Aufgabe gestellt gewesen, 400 in zwei
Quadrate zu zerlegen, deren Seiten sich wie 2 zu 1-^ verhalten. In
Buchstaben lautet diese Aufgabe:
X» + y« = 400
x:y — 2:1^-
*) H. Schack-Sohackenbuig, Der Berliner Papyras 6619. ZeitBchrift
fOr ägyptische Sprache Bd XXXVm (1900) und XL (1902).
96 3. Kapitel.
Danach wird a;* : j/* « 4 : 2 , und mittels des versuchsweisen An-
satzes x^ = 4, y* = 2 J- entsteht a:« + y> = 6|. Aber ]/6 J = 2^
und yiOO =- 20 nebst 20 : 2y = 8 . Mithin ist x == 8 x 2 = 16,
y = 8 X 1 2 = 12 und 16« + 12« = 201
Sind alle diese Vermutungen richtig, worauf ihr geistiger Zu-
sammenhang schUeBen läßt, so enthüllen sich als den Ägyptern des
mittleren Reiches bekannt die beiden Gleichungspaare
12 + (iy_(l.J)' und 8« + 6« =10«
22 + (l V)' = (2y)' und 16« + 12« -- 20«.
Es ist unverkennbar, daß hier
4« + 3« = 5«
zugrunde liegt, wenn auch diese Gleichung selbst nicht vorkommt.
Es ist möglich, daß sie auf einem verlorengegangenen Papyrusfrag-
roente stand, es ist auch möglich, daß sie so allgemein bekannt war,
daß man sich damit begnügte, nur solche Fälle zur Rede zu bringen,
die aus der als selbstverständlich vorausgesetzten Grundformel sich
herleiteten. Wir möchten bitten diese ganze Untersuchung, welche
ihrem algebraischen Inhalte nach schon in das vorige Kapital ge-
hören könnte, nicht als hier an unrichtigem Platze stehend bemängeln
zu woUen. Sind doch die behandelten quadratischen Gleichungen aus
geometrischen Aufgaben entsprungen.
Die Dreiecksformel A = o- X a einmal vorausgesetzt ließ mit
mathematischer Strenge eine zweite Formel für die Fläche eines
gleichschenkligen Paralleltrapezes folgen, welche Figur aller-
dings von anderen als rechtwinkliges Paralleltrapez gedeutet wird.
Waren dessen beide unter sich gleiche nicht parallele Seiten je a,
die parallelen Seiten \ und 6j, so mußte die Fläche
sein, und dies ist die Formel, nach welcher in No. 52. die Rechnung
geführt ist^). Sie setzt nur voraus, daß das Trapez als abgeschnittenes
Dreieck beziehungsweise als Unterschied zweier Dreiecke entstanden
gedacht ist, und mit dieser Entstehungsweise stimmt die Zeichnung
wie die Benennung der einzelnen Strecken überein. Wieder liegt
») Eisenlohr, Papyrus 8. 127—128.
Die Ägypter. Geometrisches. 97
das Trapez so, daß ein a Scheitellinie ist und den Namen Merit
fQhrt; wieder heißt die größere links befindliche Parallele Tepro;
und die kleinere Parallele, welche r^hts vertikal die Figur abschließt,
führt den unsere Voraussetzung bestätigenden Namen Hak oder
Abschnitt.
Wir müssen, um nicht mißverstanden zu werden, hier eine kleine
Bemerkung einschalten. Wir sagten, die Formel für die Flache des
gleichschenkligen Paralleltrapezes folge mit mathematischer Strenge
aus A =» ^ X a. Wir meinen das nicht etwa so, daß wir Ahmes
das Bewußtsein dieser Folgerung zutrauten. Die alten Ägypter
werden wohl eine vollständige Lehre von der Ähnlichkeit der Figuren,
welche zur Führung des Beweises für den Zusammenhang der beiden
Inhaltsformeln unentbehrlich ist, kaum besessen haben. Ihnen war
vielleicht ein enger Zusammenhang der beiden Formeln, welche sie
selbständig für richtig hielten, nie in Gedanken gekommen. Nur
den späten Nachkommen soll mit jener Ableitbarkeit der Trapez-
formel aus der Dreiecksformel wieder eine Entschuldigung dafür ver-
schafft werden, daß sie im einen Falle so wenig als im anderen von
der Gewohnheit der Väter abwichen.
Die im Papyrus sich nun anschließenden Aufgaben^) No, 53., 54.,
55. beziehen sich auf die Teilung von Feldern, stimmen aber mit der
einzigen beigegebenen Figur so absolut nicht überein, daß wir ein
Erraten der eigentlichen Meinung des Verfassers für ein sehr schwie-
riges Problem halten, dessen Lösung noch nicht gelungen ist. Von
Interesse dürfte, falls die Enträtselung überhaupt möglich ist, die
Richtung des in der Figur gezeichneten Dreiecks sein, dessen Spitze
nach links hin steht, während sie in den früheren Beispielen rechts
war. Außerdem werden sicherlich die zwei vertikal gezogenen Paral-
lelen von Wichtigkeit sein, welche das ursprüngliche Dreieck in ein
Dreieck und zwei Paralleltrapeze zerlegen.
Die Ausmessung des Kreises wird schon in No. 50. vorge-
nommen'). Sie ist eine wirkliche Quadratur zu nennen, indem sie
• lehrt ein Quadrat zu finden, welches dem Kreise flächengleich sei,
und zwar wird als Seite des Quadrates der um - seiner Länge ver-
minderte Kreisdurchmesser gewählt. Wie man zu dieser Vorschrift
gekommen sein mag ist nicht entfernt zu erraten. Gesichert ist sie
durch wiederholtes Auftreten, gesichert ist auch ihre ziemlich gute
Anwendbarkeit, denn sie entspricht einem Werte
') Eisenlohr, PapyruB S. 130—133. *) Ebenda S. 124, vgl. aber auch
die Aufgaben No. 41., 42., vielleicht 48., endlich 4S. auf S. 100—109 und S. 117.
Ci^KTom, 0«ichichte der Mathematik I. 3. Aufl. 7
98 d. Kapitel.
^»(y) =3,1604....
fQr die Yerhältniszahl der Ereisperiplierie zum DurchmesBer, der
weitaus nicht der schlechteste ist, dessen Mathematiker sich bedient
haben.
Neben den geometrischen Aufgaben hat Ahmes seinen Lesern
auch stereometrische Torgelegt. Es handelt sich dabei um den Raum-
inhalt von Fruchtspeichern und deren Fassungsvermögen fiir
Getreide^). Diese Aufgaben stehen noch vor den eben besprochenen
geometrischen und geben dadurch deutlich zu erkennen, was wir ein-
leitend in diesem Kapitel berührt haben: daß das Geometrische im
Übungsbuche des Ahmes niemalä selbst Zweck der Darstellung,
sondern nur Einkleidungsform von Rechenaufgaben ist, denn sonst
würde unmöglich die Flächenausmessung des Kreises später erscheinen
als die Berechnung des Rauminhaltes eines runden Fruchthauses, bei
welcher jene bereits Anwendung findet. In diesen körperlichen In-
haltsaufgaben ist manches noch unklar. Die eigentliche Gestalt der
Fruchthäuser, welche der Berechnung unterworfen werden, ist nichts
weniger als genau bekannt, und wenn auch bienenkorbartige Zeich-
nungen von Fruchthäusem in ägyptischen Wandgemälden etwas zur
Verdeutlichung beitragen, sie genügen keineswegs, so lange eine geo-
metrische Interpretation jener Zeichnungen fehlt. Soll der Bienen-
korb als Halbkugel auf einen Zylinder aufgesetzt, soll er als eine
Art von Umdrehungsparaboloid gedacht sein? Ist seine Grundfläche
überhaupt kein Kreis sondern eine Ellipse? Das sind Fragen, deren
Beantwortung aus den genannten Abbildungen nicht entnommen
werden kann und doch auf die Rechnungs weise einen entscheidenden
Einfluß ausüben muß. Hier ist also wieder zukünftiger Forschung
noch manches Rätsel aufbewahrt, kaum zu lösen, wenn es nicht ge-
lingt, weiteres Material aufzufinden. Bis dahin besteht der Vorteil,
den wir aus diesen Beispielen zu ziehen vermögen, nur in den von
uns schon angerufenen BesiÄtigungen der gewonnenen Ansichten über
Inhaltsbestimmung des Rechteckes und des Kreises und in der
Kenntnisnahme von Wörtern, welche den Agyptologen auch sonst
mannigfach begegnet sind. Eine der Abmessungen, welche bei den
Fruchthäusem in Rechnung treten, heißt nämlich Qa, eigentlich die
Höhe, wofür auch die EUeroglyphe — ein den Arm hochstreckender
Mann — zeugt, dann aber in zweiter abgeleiteter Bedeutung die
Richtung größter Ausdehnung^); die Breite, beziehungsweise die
*) Eisenlohr, Papyrus S. 101— 116. *) Diese abgeleitete Bedeutung hat
•ßrugsch erkannt: Hieroglyphisch-demotisches Wörterbuch S. 1435 und deutlicher
Die Ägypter. Geometrisches. 99
kleinere Abmessung, heißt Use^. Nennen wir diese beiden Ab-
messnngen q und Uj so erfolgt in No. 43. die Berechnung des Inhaltes
nach der Regel, daß erst ein ö'i "= (l — y/S g6l>ildet wird und dann
(y ^i) "3 ^- A.uch hier ist wieder eine interessante Übereinstimmung
mit den Fragmenten von Eahun nachzuweisen. Dort ist nämlich
ausgehend von bestimmten Zahlen ^i(= 12) und ii(» 8) die Rechnung
(4gi)'-|«*=(5 •12)'.|.8-256.5j-«1365| vollzogen, und
letztere Zahl steht im Inneren einer gezeichneten Rundung, über
welcher die Zahlen 8 und 12 angebracht sind. Wenn man rersucht
hat^), in der Rechnung des Eahuner Fragmentes die Inhaltsberech-
nung einer Halbkugel Tom Durchmesser 8 zu erkennen und dabei
eine Anwendung des Wertes n = 3,2 fand, so kann schon diese
letztere Behauptung als Oegengrund gegen den jeder unmittelbaren
Stütze entbehrenden Versuch genügen. Bei der soeben nachgewiesenen
wenigstens teilweisen Übereinstimmung mit No. 43. des Ahmes müßte
auch von diesem einmal tc — 3,2 in Anwendung gebracht worden
sein, während alle anderen Beispiele % = l-~\ benutzen, und das er-
scheint durchaus unglaublich.
Endlich bietet der Papyrus noch eine Gruppe von 5 geometrischen
Aufgaben*), No. 56. bis 60., welche dem heutigen Leser am über-
raschendsten sein dürften, wenn er in ihnen die Yergleichung von
Liniengrößen erkennt, soweit sie zu einem und demselben Winkel
gehören, also eine Art von Ähnlichkeitslehre, wenn nicht ein
Kapitel aus der Trigonometrie. Es handelt sich um Pyramiden, aber
keineswegs um deren körperlichen Inhalt, sondern um den Quotienten
der Hälfte einer an der Pyramide vorgenommenen Abmessung geteilt
durch eine zweite, und dieser Quotient heißt Seqt, nach aller Wahr-
scheinlichkeit eine kausative Ableitung von Qet, Ähnlichkeit, also
wohl Ähnlichmachung. Was das aber fär Abmessungen an den Pyra-
miden waren, die so in Rechnung gezogen wurden, war von vorn-
herein aus den bloßen Namen Uchatebt, Suchen der Fußsohle, und
Piremus, Herausgehen aus der Säge, keineswegs klar. Der Ucha-
tebt mußte zwar offenbar irgendwo am Boden, der Piremus (dessen
Name augenscheinlich in dem Munde der Griechen zum Namen des
ganzen Körpers wurde)'), irgendwo ansteigend gesucht werden, aber
betont in der Zeitschrift för '^fCTV^- Sp- u. Alterth. (Jahrgang 1870) Bd. VIII, S. 160.
Vgl. auch Eieenlohr, Papyrus S. 280. ') L. Borchardt in der Zeitschr. für
ägypt. Sprache Bd. XXXV, S. 160 (1897). «) Eisenlohr, Papyrus S. 184—149.
•) Eigentlich sollte man daher die Orthographie „Piramide" der „Pyramide" vor-
7*
100 3. Kapitel.
dabei gab es noch immer eine gewisse Auswahl. Die richtige Wahl
zu treffen gelang dem Herausgeber des Papyrus, nachdem er den glück-
lichen Gedanken gefaßt hatte, den Umstand zu berücksichtigen, daB
die noch erhaltenen großen ägyptischen Pyramiden wesentlich gleiche
Winkel besitzen (S. 57), und daß Ahmes wohl auch ihnen ähnliche
Körper bei seinen Rechnungen gemeint haben muß. Der von Ahmes
errechnete Seqt muß also einem Winkel von etwa 52^ zwischen der
Seitenwand und der Orundfläche des Körpers entsprechen, und das
findet nur dann statt, wenn der Piremus die ICante der Pyramide, der
Uchatebt die Diagonale der quadratischen Grundfläche bedeutet, wenn
also der Seqt das war, was wir gegenwärtig den Kosinus des Winkels
nennen, den jene beiden Linien miteinander bUden. War die Größe
dieses Verhältnisses Seqt bekannt, so kannte man damit auch die
Winkel, welche an der Pyramide sich zeigen. Man kannte sie frei-
lich nur mittelbar, aber mittelbar ist auch jede andere Ausmessung
von Winkeln, ist auch die nach Graden und Minuten, welche zunächst
nicht dem Winkel selbst, sondern dem Kreisbogen gilt, der ihn als
Mittelpunktswinkel gedacht bespannt. Diese bisherige Auseinander-
setzung gilt allerdings nur für die 4 ersten Aufgaben der Gruppe.
In der 5. Aufgabe, No. 60., ist nicht von einer Pyramide, sondern von
einem Grabmale die Rede, welches viel steiler als die Pyramide, mit
der es die quadratische Gestalt der Grundfläche übrigens teilt, sich
zuspitzt. Die durcheinander zu teilenden Strecken heißen hier ganz
anders. Als Zähler ist Qaienharu, als Nenner die Hälfte des Senti
angegeben, und das müssen doch wohl andere Linien sein als die-
jenigen, welche die Namen Uchatebt und Piremus führten. Ins-
besondere die Verwandtschaft zwischen Qaienharu und dem (S. 98)
erwähnten Qa nötigt dazu, diesen Zähler als die senkrechte Höhe
der Pyramide zu deuten. Vielleicht ist folgender Erklärungsversuch
gestattet.
Man weiß, daß die ägyptischen Pyramiden zunächst staffelformig
mit parallelepipedischen, aufeinander ruhenden, sich verjüngenden
Stockwerken angelegt wurden, und daß dann erst die Ausfüllung der
Winkelräume bis zur Herstellung einer glatten Oberfläche erfolgte.
Dem Arbeiter machte die Herstellung dieser Ausfüllsteine zuverlässig
am meisten Schwierigkeit, und es wäre keineswegs unmöglich, daß
der Baumeister, um seinem Arbeiter die Aufgabe zu erleichtern, Mo-
ziehen, und wir bedienen uns in diesem Werke der landläufigen Schreibart nur
mit dem Bewußtsein ihrer Mangelhaftigkeit. Beiläufig sei bemerkt, daß Piremus
von anderen Ägyptologen, z. B. B rüg seh als Heraustreten aus der Breite über-
setzt worden ist. uns steht ein Urteil über die Richtigkeit der einen oder der
anderen Übersetzung nicht zu.
Die Ägypter. GeometriBches.
101
Fig. 7 a.
delle hätte anfertigen lassen. Deren brauchte man aber zwei, von
der in Fig. 7 a und 7 b gezeichneten Gestalt. Das einfachere Modell
(Fig. 7 a) diente zur AusfUlung der Breitseiten, das andere (Fig. 7 b),
an der Ebene DCF mit einem symmetrisch gleichen zusammen^
treffend, diente die Ecken zu bilden, beide Modelle paßten mit der Ebene
DCE aneinander. Das zweite Modell stellt sich als achter Teil einer
der großen Pyramide ähnlichen Modellpyramide dar; dabei ist DF
die Kante, DC die senkrecht von der Spitze auf die Grundfläche ge-
fällte Hohe, CF die halbe Diagonale der Grundfläche, EF und die
ihr gleiche GE [^ CEF^ 90^ ^ CFE^ 45^ also auch ^ ECF-^ 45»
und EF = CE] die halbe Seite der quadratischen Grundfläche. Bei
dem ersten Modell kommt es
wesentlich auf ^ DEC an,
bei dem zweiten auf eben
diesen und auf ^ DFG\ folg-
lich genügte auch das zweite
Modell allein, um beide
Arten von Ausfüllsteinen nach
ihm behauen zu können. Nennen wir nun die yier erwähnten Längen,
beziehungsweise ihre Verdoppelung, DF^pir em us, DC ^ qai en
haru, 2CF^u%a tebt, 2CE ^ senti, so treten alle vier an einem
Raumgebilde auf und müssen naturgemäß selbständige Namen
führen. Seqt aber „die Yerhältniszahl'^ ist in der einen Ebene
1 uva übt CF -p. ^^ . j , Tj,v qai en haru CD
^-A = Ti rt = COS DFC, in der anderen Ebene = - , — ^.— ^ ri^
ptremtis DF ' ^sentt CE
^ tng DEC. Allerdings würde diese Hypothese die zweite in sich
schließen, daß das gleichschenklig -rechtwinklige Dreieck CEF als
solches erkannt gewesen wäre.
Auch hier hat man eine andere
Erklärung vorgeschlagen^) und den
seqt als Eotangente des Böschungs-
winkels DEC (Fig. 7c), also als
j^vy aufgefaßt, indem die Höhe DC
bald pir em us bald qai en haru und
die Grundlinie AB ^-^ 2CE bald ucha
lebt bald senti genannt worden sei.
Haben wir nun die Geometrie der Ägypter, soweit sie aus den
Rechnungsbeispielen des Ahmes rückwärts erschlossen werden kann,
Fig. 7 c.
*) Bevillout in der Revue ^gypt. II, 808 flgg. und G. Borcliardt,*Wie
wurden die Böschungen der Pyramiden bestimmt? in der Zeitschr. f. ägypt.
Sprache XXXI, 9—17 (1893).
102 8. Kapitel.
erörtert, so beabsichtigen wir in ähnlicher Weise, wie es för die
Rechenkunst geschehen ist, zu sammeki, was die Überlieferang ins-
besondere griechischer Schriftsteller, was auch sonstige Denkmäler
zur Ergänzung uns bieten. Herodot erzählt^), wie schon oben teil-
weise verwertet worden ist, Sesostris (also Ramses IL) habe das Land
unter alle Ägypter so veiieilt, daß er jedem ein gleich großes Viereck
gegeben und von diesem seine Einkünfte bezogen habe, indem er
eine jährlich zu entrichtende Steuer auflegte. Wem aber der Fluß
Ton seinem Teile etwas wegriß, der mußte zu ihm kommen, und das
Geschehene anzeigen; er schickte dann die Aufseher, die auszumessen
hatten, um wieviel das Landstück kleiner geworden war, damit der
Lihaber von dem übrigen nach Verhältnis der angelegten Abgabe
steuere. Hieraus^ meint Herodot, scheint mir {doxdsi öd f&ot) die
Geometrie entstanden zu sein, die von da nach Hellas kam. Iso-
krates gibt an"), die Ägypter hätten die älteren unter ihren Priestern
über die wichtigsten Angelegenheiten gesetzt, die jüngeren dagegen
überredeten sie mit Hintansetzung des Vergnügens, sich mit Stern-
kunde, Rechenkunst und Geometrie zu beschäftigen. Piaton hat
häufig von der Mathematik der Ägypter gesprochen und einmal ') be-
sonders hervorgehoben, daß bei jenem Volke schon die £inder in
den Messungen unterrichtet würden zur Bestimmung von Länge,
Breite und Tiefe. Eine andere platonische Stelle^), in welcher gleich-
zeitig der Rechenkunst gedacht ist, und einen allgemein gehaltenen
Ausspruch des Aristoteles ^) haben wir im vorigen E^pitel unter den
Belegen fUr das hohe Alter ägyptischer Rechenkunst angefahrt. Heron
von Alezandria läßt, was Herodot als ihm eigentümliche Vermutung
äußert, vielleicht im Hinblick auf eben diesen damals schon seit etwa
vier Jahrhunderten verstorbenen Schriftsteller zur alten Überlieferung
werden®): Die früheste Geometrie beschäftigt sich, wie uns die alte
Überlieferung lehrt, mit der Messung und Verteilung der Ländereien,
woher sie Feldmessung genannt ward. Der Gedanke einer Messung
nämlich ward den Ägyptern an die Hand gegeben durch die Über-
schwemmung des Nil. Denn viele Grundstücke, die vor der Fluß-
schwelle offen dalagen, verschwanden beim Steigen des Flusses und
kamen erst nach dem Sinken desselben wieder zum Vorschein, und
es war nicht mehr möglich über das Eigentum eines jeden zu ent-
scheiden. Dadurch kamen die Ägypter auf den Gedanken der Mes-
sung des vom Nil bloßgelegten Landes. Diodor stimmt gleichfalls
*) Herodot 11, 109. ») Isokrates, Buairis cap. 9. ») Piaton, Gesetze
pag. 819. *) Piaton, Phaedros pag. 274. ^) Aristoteles, Metaphys. I, 1
in fine. *) Heron Alexandrinus (ed. Hultsch). Berlin 1864, pag. 138.
Die Ägypter. Geometrisches. 103
überein^). Die Ägypter, sagt er, behaupten, von ihnen sei die Erfindung
der Buchstabenschrift und die Beobachtung der Gestirne ausgegangen;
ebenso seien Ton ihnen die Theoreme der Geometrie und die meisten
Wissenschaften und Künste erfunden worden. An einer etwas späteren
ausführlicheren Stelle fährt er fort: Die Priester lehren ihre Söhne
zweierlei Schrift, die sogenannte heilige und die, welche man ge-
wöhnlich lemi Mit Geometrie und Arithmetik beschäftigen sie sich
eifrig. Denn indem der Fluß jährlich das Land vielfach verändert,
veranlaßt er viele und mannigfache Streitigkeiten über die Grenzen
zwischen den Nachbarn; diese können nun nicht leicht ausgeglichen
werden, wenn nicht ein Geometer den wahren Sachverhalt durch
direkte Messung ermittelt. Die Arithmetik dient ihnen in Haus-
haltungsangelegenheiten und bei den Lehrsätzen der Geometrie; auch
ist sie denen von nicht geringem Vorteile, die sich mit Sternkunde
beschäftigen. Denn wenn bei irgend einem Volke die Stellungen
und Bewegungen der Gestirne sorgfältig beobachtet worden sind, so
ist es bei den Ägyptern geschehen; sie verwahren Au£&eichnungen
der einzelnen Beobachtungen seit einer unglaublich langen Reihe von
Jahren, da bei ihnen von alten Zeiten her die größte Sorgfalt hierauf
verwendet worden ist. Die Bewegungen und Umlaufszeiten und Still-
stände der Planeten, auch den Einfluß eines jeden auf die Entstehung
lebender Wesen und alle ihre guten und schädlichen Einwirkungen
haben sie sehr sorgfältig beachtet. Die gleiche Überlieferung finden wir
bei Strabon^). Es bedurfte aber einer sorgfältigen und bis auf das
genaueste gehenden Einteilung der Ländereien wegen der beständigen
Verwischung der Grenzen, die der Nil bei seinen Überschwemmungen
veranlaßt, indem er Land wegnimmt und zusetzt und die Gestalt ver-
ändert und die anderen Zeichen unkenntlich macht, wodurch das
fremde und eigene Besitztum unterschieden wird. Man muß daher
immer und immer wieder messen. Hieraus soll die Geometrie ent-
standen sein.
Wir haben unsere Gewährsmänner, deren Lebenszeit etwa von
460 V. Chr. bis auf Christi Geburt sich erstreckt, chronologisch ge-
ordnet, woraus erschlossen werden kann, wieviel etwa die späteren
derselben von ihren Vorgängern entnommen haben mögen ohne aus
dem lebenden Quell fortdauernder volkstümlicher Sage zu schöpfen.
Anderen späteren Schriftstellern werden wir an anderer Stelle das
Wort geben, wo es um die Übertragung der Geometrie nach Griechen-
land sich handeln wird. Nur einen der frühesten griechischen Zeugen
für das Alter und für die Bedeutsamkeit ägyptischer Geometrie müssen
^) Diodor I, 69 und die Hauptstelle I, 81. *) Strabon Lib. XVn, cap. 8.
104 8. Kapitel.
wir jetzt nooh nachtrilglich hören^ den wir oben zwischen Herodot
und Isokrates^ wohin er seiner Lebenszeit nach gehörte, absichtlich
zurückstellten, weil seine Aussage von so hervorragender geschicht-
licher Wichtigkeit ist, daß sie einer besonderen Erörterung bedarf.
Demokrit sagt^) nämlich um das Jahr 420: „Im Konstruieren
Yon Linien nach Maßgabe der aus den Voraussetzungen zu ziehen-
den Schlüsse hat mich keiner je übertroffen, selbst nicht die soge-
nannten Harpedonapten der Ägypter/'
Daß Harpedonapten ein griechisches Wort mit der Bedeutung
Seilspanher oder wörtlicher übersetzt Seilknüpfer sei, ist merkwür-
digerweise Ton dem Verfasser des besten griechischen Wörterbuches
übersehen worden'). Allein auch die richtige Übersetzung reicht
zum Verstehen jenes Satzes nicht aus, wenn man nicht weiß, wer
jene Seilspanner waren, denen Demokrit in seinem ruhmredigen Ver-
gleiche ein hochehrendes Zeugnis geometrischer Gewandtheit ausstellt,
und worin ihre Obliegenheiten bestanden. Beides ist bis zu einem
gewissen Grade aus ägyptischen Tempelinschriften zu erkennen, welche
Ton geschätzten Ägyptologen veröffentlicht worden sind'). Die
Tempel mußten in gleicher Weise wie die Pyramiden orientiert werden,
und die Richtung nach Norden, deutlicher ausgedrückt nach dem
Eintrittspunkte des Siebengestimes um eine gegebene Zeit wurde be-
obachtungsweise festgestellt. „Ich habe gefaßt den Holzpflock '(nebi)
und den Stiel des Schlägels (semes), ich halte den Strick (xa) ge-
meinschaftlich mit der Göttin Safech. Mein Blick folgt dem Gange
der Gestirne. Wenn mein Auge an dem Stembilde des großen
Bären angekommen ist und erfüllt; ist der mir bestimmte Zeitabschnitt
*) Clemens Alexandrinus, Stromata ed. Potter I, 867: y^ccfifiimv evv-
mitflog iiexä ÄnoösL^iog o'bÖBlg %m (is nagi^lXa^Bv , O'bd* ol Alyvnxioiv %oi'k£6{LBVOi
'AQ%BSovdntai. *) C a n t o r , Gräkoindische Studien (Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXII .
Jahrgang 1877. Histor.-literar. Abteilung S. 18 und Note 68). ") Brugsch,
Ueber Bau und Maasse des Tempels, von Edfu (Zeitschr. f. ägypt. Spr. u. Alterth.
Bd. Vni) und hieroglyphisch-demotisches Wörterbuch S. 827 und 967. An letz-
terer Stelle ist übrigens nur bemerkt, daß das ägyptische hunu :» Feldmesser,
Greometer sei. Yon einem Seilspannen oder gar von einer Erinnerung an das
griechische agnsdovanxcLi ist dabei keine Bede. Femer vgl. Dümichen in der
Zeitschr. f. ägypt. Spr. u. Alterth. Bd. VIII und besonders dessen umfangreiche
Schrift: Baugeschichte des Denderatempels und Beschreibung der einzelnen Theile
des Bauwerkes nach den an seinen Mauern befindlichen Inschriften. Straßburg
1877. Endlich vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort (Berlin 1891), wo
ausdrücklich darauf hingewiesen ist, daß in allen bildlichen Darstellungen der
Grundsteinlegung eines Tempels die neben dem Könige auftretende Göttin stets
den Meßstrick halte und durch eingeschlagene Pflöcke die Endpunkte des Heilig-
tums festlege. Die Endpunkte Brugschs sind jedenfalls als die Eckpimkte zu
verstehen.
Die Ägypter. Geometrisches. 105
der Zahl der Uhr, so stelle ich auf die Eckpunkte Deines Gottes-
hauses/^ Das sind die Worte, unter denen der König auf den In-
schriften der Tempel die genannte Handlung ToUziehi Er schlägt
mit der in seiner rechten Hand befindlichen Keule einen langen Pflock
in den Erdboden und ein gleiches tut ihm gegenüber Sqfech, die
Bibliotheksgöttin, die Herrin der Grundsteinlegung. Es ist klar, daß
die diese beiden Pflöcke verbindende Gerade die Richtung nach
Norden, den Meridian des Tempels, bezeichnet, daß durch sie die ge-
wünschte Orientierung des Grundrisses zur Hälfte vollzogen ist. Aller-
dings nur zur Hälfte! Die Wandungen des Tempels sollen senkrecht
zueinander stehen^ und demgemäß ist es nicht weniger notwendig in
einer zweiten Handlung diese mehr geometrische als astronomische
Bestimmung zu treffen.
Man kann nun leicht mit der Antwort bereit sein, die ägypti-
schen Zimmerleute hätten gleich ihren heutigen Haudwerksgenossen
massive rechte Winkel besessen. Ein solcher ist z. B. auf einem
Wandgemälde eine Schreinerwerkstätte darstellend^) deutlich ^
abgebildet. Wohl. Aber die Richtigkeit dieses Werkzeuges ^
mußte doch selbst verbürgt, mußte ii^end einmal irgendwie ^9* ^•
geprüft sein, und das scheint immerhin in letzter Linie eine geome-
trische Konstruktion vorauszusetzen, die vermutlich bei so feierlichen
Gelegenheiten wie die Gründung eines Tempels stets aufs neue voll-
zogen wurde. Daß es so geschah liegt vielleicht in der Mehrzahl
„die Eckpunkte Deines Gotteshauses^ angedeutet, welche der König,
wie wir gehört haben, aufstellt. Die Art der Bestimmung freilich
verschweigt, soviel wir wissen, die Gründungsformel. Gerade dazu
diente nun, wenn uns ein Analogieschluß, dessen Ausführung wir
auf einige ziemlich späte Kapitel dieses Bandes verschieben müssen,
nicht irre leitet, das Seil, das um die Pflöcke gezogen war, das das
eigentliche Geschäft der Seilspänner bezeichnend ihnen den Namen
verlieh und an welches wir dachten, als wir im 1. Kapitel (S. 4&)
auf die Möglichkeit einer Seilspannung bei den Babyloniem hin-
wiesen.
Denken wir uns, gegenwärtig allerdings noch ohne jede Be-
gründung, den Ägyptern sei bekannt gewesen, daß die drei Seiten
von der Länge 3, 4, 5, deren grundlegende Eigenschaft 4* + 3* =» 5'
ihnen (S. 96) nicht entgangen war, zu einem Dreiecke verbunden ein
solches mit einem rechten Winkel zwischen den beiden kleineren
Seiten bilden, und denken wir uns die Pflöcke auf dem Meridian um
*) Wilkinson, Manners and custams of the ancient Egyptians. Vol. HI,
pag. 144.
106 8. Kapitel.
4 Längeneinheiten Toneinander entfernt. Denken wir uns femer das
Seil von der Länge 12 und durch Knoten in die entsprechenden Ab-
teilungen 3^ 4, 5 geteilt, so leuchtet ein (Fig. 9), daß das Seil an
dem einen Knoten gespannt, während die
beiden anderen an den Pflöcken anlagen, not-
wendigerweise einen genauen rechten Winkel
zum Meridiane an dem einen Pflocke hervor-
bringen mußte.
War dieses die Hauptaufgabe der Harpe-
donapten, zu deren Amtsgeheimnis es gehören
mochte, die Pflöcke wie die Knoten an den
richtigen Stellen anzubringen, wodurch wenigstens eine zweckdien-
liche Erklärung für das Stillschweigen der Inschriften über ihre Ver-
fahrungsweise gegeben wäre, so konnte in der Tat ihnen der Ruhm
„der Konstruktion Ton Linien'^ zugesprochen werden, so waren sie im
Besitz der Mysterien der Geometrie, die nicht jedem sich enthüllten,
so wird es begreiflich, wie ihre Handlungen in den Wandgemälden
dem Könige selbst in Verbindung mit einer Göttin beigelegt wurden.
Die Operation des Seilspannens ist eine ungemein alte. Man
hat deren Erwähnung auf einer auf Leder geschriebenen Urkunde
des Berliner Museums gefunden, wonach sie bereits unter Ame-
nemhat L stattfand^). Vielleicht ist es gestattet, hier nochmals
daran (S. 58) zu erinnern, daß Ahmes in den einleitenden Worten
seines Papyrus sich darauf beruft, er arbeite nach dem Muster älterer
Schriften, und daß es yieUeicht König Amenemhat lU. war, unter
dessen Regierung jene älteren Schriften verfaßt wurden. Ist diese
Annahme wirklich richtig, so würden wir wenigstens keinen Anstand
nehmen die Möglichkeit solcher Kenntnisse, wie wir sie soeben für
die Harpedonapten in Anspruch nahmen, schon in der XH. Dynastie,
welcher die Amenemhat angehörten, zuzugestehen. Einer Zeit, welche
die Winkellehre so weit ausgebildet hatte, daß sie den Seqt be-
rechnete, können wir auch die Kenntnis des rechtwinkligen Dreiecks
Ton den Seiten 3, 4, 5 zutrauen, die wesentlich erfahrungsmäßig
gewonnen worden sein wird, ohne daß irgendwie an einen strengen
geometrischen Beweis in unserem heutigen Sinne des Wortes gedacht
werden müßte.
Überhaupt zerfällt, wie wir meinen, gerade dem Seqt gegenüber
jeder Versuch, die Geometrie der Ägypter auf eine bloße Flächen-
abschätzung zurückzuführen, während Winkeleigenschaften oder Ver-
hältnisse Ton Strecken ihr fremd gewesen seien, von selbst, ohne daß
*) Dümichen, Denderatempel S. 33.
Die Ägypter. Oeometrisches. 107
es mehr nötig wäre^ gegen diese Zweifbi eines überwundenen Wissens-
standpunktes mit eingehender Widerlegung sich zu wenden. Dagegen
ist um so erklärlicher, was ein später griechischer Schriftsteller Ton
den Schülern des Pythagoras sagt^), was aber gewiß richtig auch auf
seine Lehrer^ die Ägypter gedeutet worden ist, daß sie die Winkel
als bestimmten Göttern geweiht ansahen, und daß der dreiartige Gott
die erste Ursache zur Reihe der geradlinigen Figuren in sich be-
greife.
Eine mindestens nicht ganz zu rerwerfende Beseitigung uralter
geometrischer Kenntnisse bei den Ägyptern können wir noch bei-
fügen'). Wenn aus den ältesten Zeiten auf WandgemäMen Figuren
von geometrischer Entstehung sich erhalten haben, so spricht deren
Vorhandensein gewiß daffir, daß man mit solchen Zeichnungen sich
damals beschäftigte. Ja man kann es wohl einleuchtend nennen,
daß ein wirklicher Mathematiker, welcher dieselben, yielleicht Jahr-
hunderte nach ihrer Anfertigung, häufig, töglich zu Gesicht bekam,
fast notwendig darauf hingewiesen werden mußte, über Eigenschaften
dieser Figuren, die ihm noch nicht bekannt waren, nachzudenken.
Glücklicherweise besitzen wir nun in einem mit Recht wegen seiner
Treue und Zuverlässigkeit berühmten Bilderwerke ") eine überreiche
Menge Ton Figuren der genannten Art, von denen nur einige wenige,
und zwar der leichteren Herstellung wegen ohne die bunten Farben
des Originals und in anderem Maßstabe, hier wiedergegeben werden
mögen. Schon zur Zeit der Y. Dynastie, der unmittelbaren Nach-
folger der Pyramidenkönige, wurde in der Totenstadt von Memphis
eine aus ineinander gezeichneten verschobenen Quadraten (Fig. 10)
gebildete Verzierung angewandt. Das Quadrat mit seinen zu Blättern
ergänzten Diagonalen (Fig. 11) findet sich von der XII. bis zur
XXVI. Dynastie vielfach. Das gleichschenklige Paralleltrapez kommt
in Varianten, welche auf die Zerlegung in anderweitige Figuren sich
') Proclus DiadochuB, Commentar zum I. Buche der euklidischen Ele-
mente ed. Friedlein. Leipzig 187S, pag. 180 und 156. Auf diese Stellen hat
allerdings in der Absicht sie gegen eiae wissenschaftliche Geometrie der
Ägypter zu verwerten Friedlein aufmerksam gemacht: Beiträge zur Geschichte
der Mathematik U. Hof 1872, S. 6. *) Zur Anstellung der hier folgenden
Untersuchung regten uns einige Bemerkungen von G. J. All man an: Gretk
Geometry from Thaies to JSuclid im V. Bd. der Hermathena. Dublin 1877,
pag. 169, Note 20 und pag. 186, Note 81. Diese Abhandlung ist mit anderen,
die gleichfalls ursprünglich in der Hermathena erschienen, 1889 zu einem Bande
vereinigt worden. Dort finden sich die betreffenden Stellen pag. 12, Note 16
und pag. 29, Note 47. «) Prisse d'Avennes, Histoire de Vart Egyptien d'apres
les monuments.
108
8. Kapitel.
beziehen (Fig. 12 und 13)^ als Zeicliniing von unteren Teilen eines Standers
für Waschgefäße und dergleichen fast zu allen Zeiten vor. Ein höchst
/
/
\
Fig. 12.
\
Fig. 1^
Fig. U.
Flg. 18.
>
merkwürdiges Gewebemuster (Fig. 14) kann als Ver-
einigung zweier sich symmetrisch durchsetzender
Quadrate definiert werden. Unterbrechen wir hier
die Angabe geometrischer Figuren aus ägyptischen
Wandgemälden und schalten wir zunächst den
' ^syy Bericht über eine für uns ungemein wertvolle
yjg 14 Entdeckung ein.
Die Ägypter pflegten die Wände, auf welchen
sie Beliefarbeiten anbringen wollten, in lauter einander gleiche
Quadrate zu zerlegen und mit deren Hilfe die Umrisse des Ein-
zuhauenden zu zeichnen. Eine unvollendet gebliebene Kammer in
dem sogenannten Orabe Belzoni, das ist in dem Gh-abe Seti I., des
Vaters Ramses IL aus der XIX. Dynastie, zeigt dieses ganz deutlich^).
Es wäre töricht hierin bewußte Anfänge eines Koordinatensystems
erkennen zu wollen, aber ebenso töricht wäre es zu verkennen, daß in
dieser ausgeprägten Gewohnheit eine geometrische Proportionen-
lehre so weit enthalten ist, daß wir den verkleinernden, unter Um-
ständen, wo es um Götterfiguren sich handelte, auch den vergrößern-
den Maßstab angewandt finden. Es kann fast auffallen, daß die
Ägypter nicht noch einen Schritt weitergingen und die Perspek-
tive erfanden. Bekanntlich ist von dieser bei ägyptischen Gemälden
keine Spur vorhanden, und mag man religiöse oder was immer sonst
für Gründe dafür in Anspruch nehmen, immer bleibt geometrisch aus-
gedrückt die Tatsache: die Ägypter übten nicht die Kunstfertigkeit
die zu bemalende Wand als zwischen dem sehenden Auge und dem
abzubildenden Gegenstande eingeschaltet zu denken und deren Durch-
schnittspunkte mit den Sehstrahlen nach jenem Gegenstande durch
Linien zu vereinigen.
') Wilkinson, Manners and customs III, pag. 318 und ebendesselben Thebes
and Egypt pag. 107.
Die Ägypter. Geometrisches. 109
Gehen wir in der Zeit tief herunter bis zur Regierung des Königs
Ptolemaeus IX. (um 150 y. Chr. Q,), so finden wir auf dem großen
Pylon vor dem auf der Insel Phylae von jenem Könige errichteten
Isistempel eine erhaltene in den Stein eingeritzte Zeichnung, welche
allerdings das Recht hat uns in Staunen zu versetzen, und welche
wir am besten an dieser Stelle erwähnen. Es ist^) der Grundriß
einer bei Erbauung des Isistempels zur Verwendung gelangten Säule,
und weitere Nachforschungen haben ergeben, daß die hier entgegen-
tretende Art des Einritzens Ton Zeichnungen in natürlicher Größe
dem ägyptischen Baumeister auf Phylae regelmäßige Gewohnheit war.
Er hat, wie die Ausgrabungen zeigen, vor dem Beginne des Baues
alle seine Grundrisse in Naturgröße auf dem Pflaster, da wo die
Mauer k;inkommen sollte, aufgerissen.
Wir kehren zu den Figuren geometrischer Art zurück, und zwar
zu solchen, bei welchen die Kreislinie yorkommt. Durch Durchmesser
in gleiche Kreisausschnitte geteilte Kreise kommen vielfach vor, und
zwar ist bei Zieraten die häufigste Teilung die durch 2 oder 4
Durchmesser in 4 oder 8 Teile, während, wie wir im 1. Kapitel
(S. 47) erwähnt haben, auf Gefäßen, welche von asiatischen Tribut-
pflichtigen Königen der XVIII. Dynastie, etwa den Zeitgenossen des
Schreibers Ahmes, überbracht werden, die Teilung des
Kreises durch 6 Durchmesser in 12 Teile (Fig. 15)
ausnahmslose Regel ist. Wagenräder haben insbeson- ^
dere seit Ramses 11. aus der XIX. Dynastie fast regel-
mäßig 6 Speichen, und Räder mit 4 Speichen kommen
ganz selten vor. Ergänzend ist zu erwähnen, daß den
Ägyptern des alten und des mittleren Reiches Wagen
und Pferde noch unbekannt waren. Beide wurden erst unter den
Hyksoskönigen von Syrien her eingeführt*). Damit ist aber zugleich
wahrscheinlich gemacht, daß den Ägyptern vor der Zeit der Hyksos-
könige z. B. unter den Amenemhats, unter welchen das Muster zum
Handbuche des Ahmes entstand, die mit den 6 speichigen Rädern und
dem regelmäßigen Sechsecke in enger Verbindung stehende Verhältnis-
zahl ;r =» 3 nicht bekannt wurde, und daß diese auch späterhin trotz
anhaltend enger Beziehungen zu Vorderasien sich nicht einbürgern
konnte, weil die Ägypter damals schon mit 7t « (- - j zu reebnen ge-
wohnt waren. Eine Teilung des Kreises in 10 gleiche Teile durch
5 Durchmesser oder in 5 Teile durch 5 vom Mittelpunkte ausgehende
Strahlen ist unserem danach suchenden Auge nicht begegnet. Der
^) L. Borchardt, Altägyptische Werkzeichnungen. Zeitschr. f. ägypt.
Spr. XXXIV, 69—76 (1896). *) Steindorff, Die Blütezeit der Pharaonen S.44.
110 3. Kapitel.
Ton Horapollon als Zeichen für 5 beschriebene fOnfstrahlige Stern
(S. 84) kann kaum als Gegenbeispiel aufgefaßt werd^n^ so auf&llend
er sein mag.
Wollen wir über wirklich geometrische Überbleibsel in ägypti-
scher Spruche, nicht über Zeichnungen, aus welchen mehr oder minder
gewagte Rückschlüsse auf geometrisches Wissen gezogen werden
müssen, berichten, so haben wir plötzlich ungemein tief in die Zeit-
folge hinabzugreifen bis zu den Inschriften des Tempels des
Horus zu Edfu in Oberägypten ^), in welchen der Grundbesitz der
Priesterschaft dieses Tempels vermessen und angegeben ist. Die
Pflocklegung dieses Tempels wurde nach altertümlicher Sitte am
23. August 237 v. Chr. vollzogen*). Die aufgezeichneten Grundstücke
und deren Schenkung beziehen sich auf König Ptolemäus XI., Ale-
xander L, dessen Regierung durch Gewalttätigkeiten an Bruder und
Mutter errungen und bewahrt von 107 bis 88 dauerte, in welch letz-
terem Jahre er selbst durch den mit Waffengewalt zurückkehrenden
Bruder zur Flucht genötigt wurde. Um das Jahr 100 v. Chr. wurden
also die betreffenden Messungen angestellt, nicht weniger als 200
Jahre nachdem in Alexandria auf ägyptischem Boden und unter dem
Schutze eines Königs von Ägypten Euklid gelebt und gelehrt hatte,
dessen Name jedem Gebildeten bis zu einem Grade bekannt ist, der
uns verstattet seiner als Maßstab für das mathematische Wissen
seiner Zeit auch in diesem Kapitel schon uns zu bedienen. Damals
gab es unzweifelhaft eine weit vorgeschrittene theoretische Geometrie,
aber die Praxis der Feldmessung ließ sich an den altherkömmlichen
Formeln genügen. Wir haben dieses Festhalten an gewohnten, be-
quemen, eine Wurzelausziehung vermeidenden Methoden schon früher
(S. 94) angekündigt. Wir haben es bis zu einem gewissen Grade
gerechtfertigt und die Unbedeutendheit des begangenen Fehlers in
Betracht gezogen. Es ist möglich gewesen aus den sich aneinander
anschließenden Maßen der Edfu-Inschrift eine sehr wahrscheinliche
Zeichnung der dort beschriebenen Ländereien anzufertigen*), und
dieser Plan läßt erkennen, wie wenig die durch Hilfslinien hergestellten
viereckigen Abteilungen von Rechtecken sich unterscheiden, bis zu
welchem Grade der Genauigkeit trotz Anwendung der alten Formeln
man gelangte. In der Häufung jener Hilfslinien, in der Zerlegung
des zu messenden Feldes in immer zahlreichere, immer kleinere Teile
lag die Verbesserung, welche ein Festhalten der Regeln der Urahnen
*) R. Lepeius, lieber eine hieroglyphische Inschrift am Tempel von Edfu
(Abhandlungen der Berliner Akademie 1855, S. 6ü— 114). *) Dümichen in der
Zeitschr. f Sgypt. Spr. u. Alterth. Bd. Vm, S. 7. ') R. Lepsius 1. c. Tafel VI.
Die Ägypter. Geometrisches. 111
gestattete, und diese Verbesserung war selbst keine Neuerung, sie
hatte ihr Vorbild schon in dem Werke des Ahmes. Wir können die
Ehrenrettung der Feldmesser zur Zeit von Ptolemäus XI. gewissermaßen
vollenden, indem wir an die Scheu vor Wurzelausziehungen erinnern,
welche heute noch untergeordneten Beamten des Eatasterwesens an-
zuhaften pflegt und sie wenigstens für vorläufige Flächenschätzung
die sogenannten verglichen abgenommenen Maße anwenden läßt,
d. i. eben das altägyptische Verfahren seinem Haupigedanken nach.
Wenn wir sagten, in den Edfu-Inschriften seien die Formeln an-
gewandt, welche uns aus dem Übungsbuche des Ahmes bereits be-
kannt sind, so müssen wir diese Aussage dahin ergänzen, daß eine
weitere theoretisch noch mißbräuchlichere Ausdehnung jener Formeln
hinzugekommen und eine nicht ganz unbedeutende Gedankenverschie-
bung bei ihnen eingetreten ist.
Die Formeln des Ahmes waren — X a und --—- * X a für die
Flächeninhalte des gleichschenkligen Dreiecks und des gleichschenk-
ligen Paralleltrapezes. Die erstere Formel blieb in Geltung, und
wenigstens in den im Drucke veröffentlichten Edfu-Inschriften sind
andere als gleichschenklige Dreiecke nicht genannt. Bei den Vier-
ecken aber ist die Bedingung, daß es gleichschenklige Paralleltrapeze
seien, deren Fläche man berechnen wolle, abhanden gekommen. Die
Anzahl so gestalteter Vierecke überwiegt allerdings auch in Edfn,
aber neben ihnen kommen ganz willkürliche Vierecke mit den Seiten
a^, Oj, fei, 62 ^^h wo dJ® beiden durch a und desgleichen die beiden
durch b benannten Seiten einander gegenüberliegen sollen, und deren
Fläche berechnet sich auf
2 ^ 2 *
So z. B. 16 zu 15 und 4 zu 3^ macht 58^ ; 45 ]-z\i 33 v ! und 17 zu
15 macht 632; 9^- zn lO^- und 244^-^- zu 22^ l macht 236^ usw.
Die angekündigte Gedankenverschiebung besteht aber in folgen-
dem. Ahmes, das suchten wir aus der mutmaßlichen Entstehung der
Formeln, aus dem beim Vierecke gebrauchten Namen Hak, Abschnitt,
für die eine Seite zu begründen, ging aus vom Dreiecke und ließ
das Trapez durch Abstumpfung jener ursprünglichen Figur entstehen.
Jetzt hat die Sache sich umgekehrt. Das Viereck ist die zugrunde
liegende Figur geworden, das Dreieck entsteht aus ihm als besonderer
Fall, indem eine Vierecksseite verschwindet. Nicht von Dreiecken
mit den Seiten 5, 17, 17 oder 2, 3, 3 ist in Edfu die Bede, sondern
von Figuren mit den Seiten 0 zu 5 und 17 zu 17, beziehungsweise
112 8. Kapitel
0 zu 2 und 3 zu 3, deren Flächen alsdann 42^ und 3 sind^). Das
Wort Null wird, wie wir wohl zum Überflusse bemerken, nicht etwa
durch ein besonderes Zahlzeichen, sondern durch eine aus zwei Bild-
chen sich zusammensetzende hieroglyphische Gruppe mit der Aus-
sprache Neu dargestellt, welche gewöhnlich verneinende Beziehungen
ausdrückt, hier die als Dingwort ausgesprochene Verneinung, das
Nichts. An eine Zahl Null ist in keiner Weise zu denken.
Passen wir in eine ganz kurze Übersicht den Hauptinhalt der
beiden von ägyptischer Mathematik handelnden Kapitel zusammen.
Die Ägypter besaßen, wie wir quellenmäßig belegen konnten, schon
im Jahre 1700 v. Chr., wahrscheinlich sogar bereits ein halbes Jahr-
tausend früher eine ausgebildete Rechenkunst mit ganzen Zahlen und
Brüchen, wobei letztere stets als Stammbrüche geschrieben wurden,
wenn auch der BegriflF gewöhnlicher Brüche, wie aus der Zurück-
führung auf Generalnenner herrorgeht, nicht fremd war. Die Auf-
gaben, welche so der Rechnung unterbreitet wurden, gehören dem
Gebiete der Gleichungen vom ersten Grade mit einer Unbekannten
an, wobei die Worteinkleidung eine yon einer Aufgabengruppe zur
anderen wechselnde ist. Als Gipfelpunkte erscheinen nach modemer
Auffassung Beispiele aus dem Gebiete der arithmetischen, vielleicht
der geometrischen Reihen. Beispiele aus der Geometrie und Stereo-
metrie gewählt lassen erkennen, daß in jener frühen Zeit die Ägypter
einen nicht ganz unglücklichen Versuch gemacht hatten den Kreis
in ein Quadrat za verwandeln, daß ihre Berechnung des Flächeninhalts
von gleichschenkligen Dreiecken und von als Abschnitte von ersteren
erhaltenen gleichschenkligen Paralleltrapezen von Näherungsformeln
Gebrauch machte, ohne daß wir freilich irgend eine Auskunft darüber
zu geben vermochten, ob man beim Kreise, ob man bei jenen gerad-
linig begrenzten Figuren sich bewußt war nur Angenähertes zu er-
halten, oder ob man an die genaue Richtigkeit der Ergebnisse glaubte,
und wie man zu denselben gelangt war. Zur weiteren Untersuchung
dieser hochwichtigen Frage wird es imentbehrlich sein die Tatsache
zu berücksichtigen, daß rationale Quadratwurzeln den Ägyptern in
sehr alter Zeit bekannt waren. Des weiteren haben wir gesehen, daß
man es liebte, wohl auch für notwendig hielt, gegebene Figuren zum
Zwecke der Ausmessung durch Hilfslinien in andere Figuren von ein-
facherer Begrenzung zu zerlegen, und diese Übung zu allen Zeiten
beibehielt, gleichwie es mit den alten Näherungsformeln für die
Flächen von Dreiecken und Vierecken der Fall war. Endlich ist
*) Die hier erwähnten Beiapiele vgl. bei Lepsius 1. c. S. 76, 79, 82. Auf
-letzterer Seite findet sich die Rechtfertigung der Null.
Die Ägypier. GeometriBchea. 113
festgestellt, daß in gleich granem Altertume, bis zu welchem aufwärts
wir die Plachenberechnung verfolgen können, auch eine Vergleichung
von Strecken zum Zwecke des Ahnlichmachens, d. L zur Wieder-
holung desselben Winkels an verschiedenen Raumgebilden stattfand.
Neben dieser quellenmäßig gesicherten Wissenschaft lernten wir die
Überlieferung kennen, welche Geometrie und Rechenkunst heimatlich
auf Ägypten zurückfährt, welche das bürgerliche Rechnen der Ägypter
uns mutmaßlich als Fingerrechnen, mit aller Bestimmtheit als Rechnen
mit Steinchen kennen lehrt. Auch aus Figuren des täglichen Ge-
brauches durften wir geometrische Schlüsse ziehen, Handlungen die
mit der Tempelerbauung verbunden waren, durften wir erörtern und
gelangten so zu der wahrscheinlichen Folgerung, daß neben jenen
geometrischen Vorschriften, welche den Rechnungen dienten, auch
solche bestanden, die auf Konstruktionen sich bezogen und nament-
lich die Zeichnung eines rechtwinkligen Dreiecks durch die gegebenen
Längen seiner drei Seiten ermöglichten. Eine deutliche Darlegung
dieser von uns vermuteten Vorschriften ist ebensowenig bekannt
wie die vorher vermißte Ableitung der Flächenformeln, ebensowenig
wie die Begründung der von Ahmes angewandten Formel für Auf-
findung des Anfangsgliedes einer arithmetischen Reihe aus ihrer
Summe, ihrer Gliederzahl und ihrer Differenz. So kommt man un-
abweislich zur Annahme eines noch nicht wieder aufgefundenen theo-
retischen Lehi'buches des Ägypter neben dem neuerdings bekannt ge-
wordenen tJbungsbuche. Nicht als ob wir an eine Theorie im mo-
dernen Sinne dächten. Beweise werden meistens induktiv, wohl auch
auf Grund sehr ungenügender Induktion geführt worden sein, wenn
man nicht gar den Augenschein für hinreichend hielt jeglichen Be-
weis zu ersetzen. Dagegen vermuten wir, wie hier vorgreifend be-
merkt werde, eine regelmäßig wiederkehrende Form des Lehrbuches,
unterschieden von der des Übungsbuches und nur darin mit letzterer
zusammentreffend, daß auch sie sich forterbte, gleichwie die Form
des Übungsbuches so gut wie ohne jede Veränderung in griechischer
Nachbildung sich erhielt. Wir werden in späteren Kapiteln auf diese
Meinung, auf diese Behauptung zurückkommen müssen, um die letz-
tere zu beweisen und dadurch der ersteren eine Stütze zu verleihen.
Gaxtor, OMohichte der Mathematik I. 3. Aufl.
m. Griechen.
8»
4. Kapitel.
Die Clrieehen. ZaUzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett.
Wir verlassen die linder ältester, aber bis vor kurzem und teilweise
bis auf den heutigen Tag weniger bekannter Kulturentwicklui^. Wir
gehen über zu dem Yolke^ von dessen Bildung wir selbst, der Schreiber
wie der Leser, bewußt oder unbewußt; unmittelbar oder mittelbar die
merkbarsten Spuren in uns tragen, dessen Schriftsteller uns schon
wiederholt als willkommene Ergänzungen dienten, wenn für andere
Lander die einheimischen Quellen allzu spärlich flössen, und wir sind
geneigt zu erwarten, hier werde geschichtliche Gewißheit uns ent-
gegentreten, jede bloße Vermutung überflüssig machend und darum
ersparend. Aber diese Erwartung wird getäuscht. Die Geschichte
der griechischen Mathematik, allerdings durch Schriften einzelner her-
vorragender griechischer Mathematiker selbst unserem Erkennen näher
gerückt, ist doch nichts weniger als durchsichtig, als vollständig.
Bald, und nicht bloß bei den ersten Anfängen, stehen wir an Lücken,
an unvermittelten Übergängen, welche uns nötigen, um nur einiger-
maßen Bescheid zu erhalten, Schriftsteller zu befragen, deren Glaub-
würdigkeit uns selbst nicht gegen jeden Zweifel geschützt ist, oder
gar zu eigenen Vermutungen unsere Zuflucht zu nehmen, welche die
gähnende Spalte uns überbrücken müssen. Wir glauben unter der
Bedingung, daß wir unseren Lesern sagen, was gewiß, was nur mög-
lich sei, eine solche hypothetische Darstellung nicht vermeiden zu
sollen, wo der Mangel an sicherer Überlieferung uns dazu nötigt.
Einst flössen die Quellen ergiebiger. Es war eine Eigentümlich-
keit der durch Aristoteles gegründeten peripatetischen Schule
einen Urheber für jeden Gedanken ausfindig machen zu wollen. Dieser
Hang verblieb auch den in Alexandria heimisch gewordenen, dort mit
fremdartigen Elementen sich mengenden Peripatetikern. Man suchte
allerdings von hier aus mit einer gewissen Vorliebe die Lehren grie-
chischer Philosophen auf einen nichtgriechischen Ursprung zurück-
zuführen ^), und mit dieser Neigung nimmt die Zuverlässigkeit solcher
*) NietzBche, De Laertii Biogenis fontibus im Rheinischen Museum XXIV,
205. Frankfurt a. M. 1869.
118 4. Kapitel.
Angaben wesentlicli ab, sofern nicht andere Gründe obwalten, den
Glauben an jene Aussagen wieder zu yerstärken. Wir rechnen dazu
Yomehmlich zweierlei. Erstens erhöht es für uns die Bedeutung eines
Ursprungszeugnisses aus fremdem Lande, wenn wir selbst dort Er-
zeugnissen begegnet sind, die dem, was als eingeführt bezeichnet
wird, wesentlich gleichen. Zweitens vertrauen wir mit rückhaltloserer
Hingebung den Aussprüchen eines Mannes, der als Sachverständiger,
als Fachmann redet; ja wir benutzen lieber einen der Zeit nach
späteren Mathematiker als Gewährsmann für fr^er Erdachtes als
einen dem Ursprünge gleichaltrigen Laien, der die Jahre, um welche
er den Ereignissen näher lebte, dadur<;h unwirksam macht, daß er
dem Lihalte derselben fem stand.
Mit vollstem Vertrauen würden wir daher die Geschichte der
Geometrie, der Sternkunde, der Arithmetik als Quelle benutzen,
welche Theophrastus von Lesbos, der Schüler des Aristoteles,
verfaßt haben soll^), wenn dieselben uns auch nur in Spuren erhalten
wären. Gern würden wir den gleichaltrigen Xenokrates in seinen
Büchern über die Geometer*) als Führer wählen — vorausgesetzt,
daß dieser Titel und nicht der „über Geometrisches^^ die richtige
Lesart bildet — wenn nicht auch sie durchaus verschollen wären.
Mit Freuden bedienen wir uns der Bruchstücke historischer Schriften
über (Geometrie und Astronomie, die ein dritter Schriftsteller aus der
Zeit der immittelbarsten aristotelischen Schule verfaßt hat: Eude-
mus von Rhodos^). Es sind, wie wir es ausgesprochen haben, nur
Bruchstücke dieser Bücher bekannt, welche von anderen Schriftstellern
abgeschrieben imd gelegentlich, teils mit Nennung des Verfassers,
teils mit bloßer Andeutung desselben, ihren Werken einverleibt
wurden, aber jedes einzelne Stückchen läßt den Wert des Verlorenen
ermessen, seinen Verlust bedauern.
Neben diesen eigentlichen Geschichtsschreibern der Mathematik
haben auch andere Fachmänner, Kompilatoren und Kommentatoren
mathematischer Schriften, uns manche wertvolle Bemerkung hinter-
lassen, die wir dankbarst benutzen werden. Geminus von Rhodos,
Theon von Smyrna, Porphyrius, Jamblichus,Pappus,Proklus,
Eutokius sind die Namen solcher Verfasser, von denen wir mehr
als nur einmal zu reden haben werden.
Die Überlieferungen nun in dem Siime und Umfange benutzt,
wie wir es vorausschickend erläutert haben, und unter fernerer Zu-
ziehung auch nichtmathematischer Schriftsteller, wenn keine andere
*) Diogenes Laertius V, 48—50. *) Diogenes Laertius 17, 13.
^ Eudemi Rhodii Peripatetici fragmenta quae supersunt ed. L. Spengel. Berlin
1870. Die mathematischen Bruchstücke S. 111—148.
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 119
Wahl uns bleibt, belehren uns darüber, daß in dem weiten Ländei>
gebiete, in welchem griechisch gesprochen und griechisch gedacht
wurde, und welches deshalb für die Kulturgeschichte Griechenland
heißt, wenn es auch keineswegs geographisch mit dem Königreiche
Griechenland unseres Jahrhunderts sich deckt, die Mathematik weder
gleichzeitig auftrat noch ebenmäßig sich entwickelte. Die kleinasia-
tische Küstengegend südlich von Smyma und die davor liegende
Inselwelt waren der Schauplatz der ältesten ionischen Entwicklung.
Süditalien und Sizilien mit ihrer dorischen Bevölkerung nahmen so-
dann in weit stärkerem Maßstabe an der Fortbildung Anteil. Jetzt
erst als dritter Boden, auf welchem eine dritte Stufe erreicht ward,
erscheint das eigentlich griechische Festland, erscheint namentlich
Athen in der Geschichte der Mathematik. Aber auch von dort ent-
fernt sich die Schule der vorzüglichsten Mathematiker. Auf ägypti-
schem Boden entsteht eine griechische Stadt, Alexandria, und dort
blühen oder lernen doch wenigstens die großen Geometer eines Jahr-
hunderts, welchem an Bedeutsamkeit für die Entwicklung der Mathe-
matik nur ein einziges an die Seite gestellt werden kann, sofern
unsere Gegenwart geschichtlicher Betrachtung sich noch entzieht:
das Jahrhundert von der Mitte des XVI. bis zur Mitte des XVIL S.,
das Jahrhundert der beginnenden Infinitesimalrechnung. Die großen
Geisteshelden des euklidischen Zeitalters hatten ihre Epigonen, die,
wenn sie teilweise auch an anderen Orten aufgesucht werden müssen,
noch immer in Alexandria wurzeln. Dort zeigt sich in verschiedenen
Jahrhunderten wiederholt eine Nachblüte unserer Wissenschaft, die
edle Früchte hervorzubringen imstande ist. Männer wie Heron, wie
Klaudius Ptolemäus, wie Pappus stehen keinem Mathematiker der
euklidischen Zeit an persönlicher Geistesgröße nach, nur die Dichtig-
keit ihres Auftretens in einander nahe liegenden Zeiträumen fehlt,
und damit das eigentlich kennzeichnende Merkmal der großen alexan-
drinischen Epoche. Endlich kehrt die griechische Mathematik matt
und absterbend nach Hellas zurück. Athen und die im ehemaligen
Thrakien entstandene Welthauptstadt Bjzanz sehen den Untergang
unserer Wissenschaft, den Untergang derselben für die dortige Gegend.
Weiter westlish wohnenden Völkern geht sie zur gleichen Zeit neu
und strahlend auf ^).
Wir haben mit wenigen Strichen den Rahmen uns entworfen, in
welchen wir das Bild der griechischen Mathematik einzuzeichnen ge-
denken. Wir müssen mit dieser Einzelarbeit beginnen. Wir sind
^) Eine sehr umfassende Zusammenstellnng gah 6. Loria, Le scienze esatte
neir antica Grecia. Modena 1893—1902.
120 4. Kapitel.
bei Babyloniem und Ägyptern von den niedrigBten Rechnungsver-
fahren und von der Bezeichnung der Zahlen ausgegangen als von
Dingen, welche kein Volk auch nur in den Anfängen seiner geistigen
Entwicklung entbehren kann, und welche die Vorstufe zu jedem
mathematischen Denken bilden. Ahnlich werden wir hier verfahren.
Wir werden das Zahlenschreiben, wir werden bis zu einem gewissen
Grade das Rechnen der Griechen vorwegnehmen müssen.
Ob wir es eine Zahlenbezeichnung^) zu nennen haben, wenn
in griechischen Inschriften die Zahlwörter ausgeschrieben gefunden
werden, dürfte dahingestellt sein. Ebenso kann die Auflösung einer
Zahl in lauter einzelne nebeneinander befindliche Striche, wie sie
z. B. für die Zahl sieben noch in einer Inschrift von Tralles in Earien
aus dem IV. vorchristlichen Jahrhunderte nachgewiesen ist, wie sie
aber naturgemäß für eine nur noch etwas größere Zahl gar nicht
denkbar ist, kaum als Zahlenbezeichnung gelten. Die älteste wirk-
•liehe Bezeichnung erfolgte durch Anfangsbuchstaben der Zahl-
wörter^. Ihre Spuren sollen hinaufrücken bis in die Zeit Solons,
also etwa bis zum Jahre 600, während als untere Grenze das peri-
kleische und nachperikleische Jahrhundert genannt wird, ja während
Spuren bis auf die Zeit Ciceros hinabführen. Die benutzten Buch-
staben sind folgende. Man schrieb Jota I für die Einheit, sei es
nun, daß an eine altertümliche Form des Wortes für eins gedacht
werden muß, sei es, daß nur ein gerader Strich gemacht wurde, der
zufällig auch als Jota gedeutet werden kann. Für fünf wurde ein
Pi n geschrieben wegen Ttsvrs, für zehn ein Delta ^ wegen dexa.
Hundert, ixazöv, bezeichnete man durch Eta H, welches ursprünglich
kein e-Laut, sondern wie später bei den Römern Aspirationszeichen
war. Tausend ;^tAta und zehntausend [ivQia endlich schrieb man mit
Chi X und My M. Außerdem waren ebendieselben Buchstaben in-
und aneinander geschrieben als Zusammensetzungen, durch welche
die Produkte von fünf in Einheiten verschiedenen Ranges dargestellt
werden sollten, in Gebrauch, und auch ein als „zehn mal tausend"
zusammengesetztes Zehntausend wird überliefert. Daß das Gesetz
der Größenfolge stets gewahrt blieb, sei der Vollständigkeit wegen
bemerkt. Wir bemerken ferner, daß diese Zeichen von Herodianus^),
einem byzantinischen Grammatiker, der etwa 200 n. Chr. lebte, ge-
*) Ausführliches über Zahlenbezeichnung der Griechen in den Math. Beitr.
Kulturl. 111 — 126. *) Außer den in den Math. Beitr. Kulturl. angeführten
Quellen vgl. Koehler in den Monatsberichten der Berliner Akademie für 1865,
S. 641 flgg. und Friedlein, Die Zahlzeichen und das elementare Rechnen der
Griechen und Romer und des christlichen Abendlandes vom 7. bis 18. Jahrhundert.
Erlangen 1869, S. 9. *) Math. Beitr. Kulturl. 113.
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 121
schildert wurden und daß sie deshalb nicht selten herodianische
Zeichen heißen.
Noch während der Jahrhunderte^ durch welche jene Bezeichnung
der Hauptsache nach verfolgt worden ist, bildeten sich zwei neue
Methoden aus, beide zuverlässig nicht vor der sogenannten ionischen
Schrift auftretend, deren sie sich bedienen, somit nicht vor 500.
Näheres bringen wir weiter unten. Die eine dieser Methoden benutzt
die 24 Buchstaben des ionischen Alphabets um die Zahlen
1 bis 24 dadurch auszudrücken. Nach ihr wurden die zehn Phjlai
der athenischen Richter mit fortlaufender Nummer versehen. Nach
ihr gaben später die Alexandriner den Gesängen des Homer ihre
Ordnungszahlen. Diese Methode so wenig wie die zweite Methode,
welche wir dahin kurz erklären können, daß den einzelnen Buch-
staben untereinander verschiedene aber in der natürlichen Zahlenreihe
nicht immer unmittelbar sondern sprungweise aufeinanderfolgende
Werte beigelegt werden, gehört den Griechen allein an. Wir müssen
ihre Spuren auch anderwärts verfolgen und zu diesem Zwecke ein-
schaltend von phönikischer, syrischer, hebräischer Zahlenbezeichnung
reden.
Das eigentliche Handelsvolk der alten Welt waren die Phönikier,
vielleicht die Fenchu ägyptischer Schriften. Sie durchfurchten als
kühne Seefahrer und Seeräuber von ihren dicht an der Küste ge-
gründeten Städten aus das Mittelmeer, welches ihnen Yerkehrsstraße
und Jagdgebiet war, überall Beziehungen unterhaltend , für welche
Zahlenbekanntschaft unentbehrlich war. Dieselben Phönikier werden
als Erfinder der eigentlichen reinen Buchstabenschrift gerühmt. Sie
gingen mit dieser Erfindung weit hinaus über die Silben darstellenden
Zeichen der Keilschrift wie auch über die Hieroglyphen, unter welchen
eine Einheit der Bedeutung nicht herrschte, da unter ihnen wirkliche
Buchstaben mit Silbenzeichen, mit Wortzeichen, ja mit solchen
Zeichen wechselten, die selbst gar nicht ausgesprochen wurden, son-
dern als sogenannte Determinative die Aussprache anderer daneben
geschriebener Zeichen regelten. Die phönikischen Buchstaben, 22 an
der Zahl, sind aus hieratischen Zeichen der Ägypter, also ursprüng-
lich aus Hieroglyphenbildern entstanden In dieser Annahme sind
alle Sachkundige einig, höchstens daß einer den Durchgang durch
hieratische Zeichen in Abrede stellend die phönikischen Buchstaben
unmittelbar aus Hieroglyphen ableiten möchte. War nun diese Be-
schränkung auf einfachste Lautelemente in so geringer Anzahl schon
ein ganz gewaltiger Schritt, so war es eine zweite wissenschaftliche
Tat, wie man wohl sagen darf, den Buchstaben eine bestimmte
Reihenfolge zu geben, aus ihnen ein Alphabet zu bilden. Die Ägypter
122 4. Kapitel.
scheinen allerdings auch hierin ein Vorbild gewesen zu sein^). Mariette
hat versucht aus Inschriftsanfängen eine Reihenfolge ägyptischer Buch-
staben herzustellen, aber wenn seinem Versuche mehr als bloße Ver-
mutung zugrunde liegt, so war diese ägyptische Anordnung sicherlich
eine andere als die der Phönikier und derjenigen Völker, die mit
ihnen ein Alphabet besaßen. Phönikische Buchstaben in der späteren
Ordnung scheinen bereits auf Tontafeln aus der Bibliothek des
Assurbanipal (668 — 625) in Ninive Yorzukommen. Bei den He-
bräern ist die Ordnung für die Zeiten, in welchen yerschiedene Psal-
men^) gedichtet wurden, festgesichert, denn wenn auch nur eine nach
unseren Begriffen zwecklose Spielerei mit Schwierigkeiten, Zufall
kann es doch nicht sein, daß die Verse dieser Lieder der Reihe nach
mit den Buchstaben des Alphabets beginnen, darin eine entfernte
Ähnlichkeit mit der ersten Verwendung des griechischen Alphabets
zur Numerierung der homerischen Gesänge bietend, auf welche wir
oben anspielten. Noch eine andere Sicherung der Reihenfolge des
hebräischen Alphabets gibt das sogenannte Athbasch, welches sicher-
lich der babylonischen Gefangenschaft angehört'). Es besteht darin,
daß die 22 Buchstaben in zwei Reihen geordnet übereinander stehen,
der letzte Buchstabe n über dem ersten S, der vorletzte TD über dem
zweiten 2 usw. Diese vier Buchstaben je zwei und zwei zusammen-
gelesen lauten eben Athbasch. Der Zweck dieser Anordnung war
eine Geheimschrift zu liefern, indem jedesmal statt eines eigentlich
anzuschreibenden Buchstabens der im Athbasch über beziehungsweise
unter ihm stehende gesetzt wurde. Jedenfalls mußte also damals
auch schon die gewöhnliche Ordnung der nämlichen Buchstaben er-
funden sein. Wir sagen „erfunden", denn bei der vollendeten Prinzip-
losigkeit der Anordnung ist von einem inneren Gesetze derselben,
welches nur entdeckt zu werden brauchte, gewiß keine Rede. Grie-
chische Grammatiker haben sich zwar abgequält, Gründe dafür bei-
zubringen, warum man die Buchstaben so, wie es geschah, und nicht
anders ordnete, aber nur einer, Cheroboskos, dürfte das Richtige ge-
troffen haben, wenn er sagt, niemand kenne den Grund der Anord-
nung*). War die Buchstabenfolge eine willkürliche, eine vielleicht
^) Für das Folgende vgl. insbesondere F. Lenormant, Essai sur la pro-
pagation de Vdlphahet phenicien. Paris 1872. I, 101 ügg. *) Psalm 111, 112,
119, auch die Klagelieder des Jeremias fangen in aufeinanderfolgenden Versen
Dut den aufeinanderfolgenden Buchstaben des Alphabets an. ") Herzogs
Bealenzjklopädie für protestantische Theologie und Kirche VII, 206 und XIV, 17.
*) Grammatici Graeci III (Scholia in Dionysii Thracis Artem Grammaticam ed.
Alfred Hilgard. Leipzig 1901) pag. 485, 2 sqq. 492, 10 sqq. 496, 17 sqq. Die
Stelle des Cheroboskos pag. 317, lö: Alxiav 9h xfis xd^sfos oidfv 6vde elg.
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 123
erst nachträglich eingeführte^ nachdem die Buchstaben als solche
bereits bestanden^ so ist yermutlich wieder ein besonderer Akt der
Erfindung notwendig gewesen^ um die geordneten Buchstaben mit
Zahlenwerten zu versehen. Zwei Tatsachen stimmen namentlich zu
dieser Vermutung. Die eine^ daß auf keiner der zahlreichen phöni-
kischen oder punischen Inschriften, auf keiner Papyrushandschrift sich
eine Spur einer alphabetischen Zifferrechnung gefunden hat^); die
andere^ das notwendige Seitenstück zur ersten bildend^ daß eine nicht-
alphabetische Zahlenbezeichnung der Phönikier bekannt ist.
Die Phönikier schrieben entweder die Zahlwörter aus, oder sie
bedienten sich gewisser Zeichen, die den Grundgedanken der Juxta-
position, vielleicht wechselnd mit dem der Multiplikation, zur An-
wendung brachten^). Eins bis neun wurde nämlich durch ebenso-
viele senkrechte Striche dargestellt. Zehn war meistens ein wagrechter
Strich, der aber auch in mehr oder weniger nach oben gekrümmter
oder einen Winkel bildender Form vorkommt. Die Zahlen 11 bis 19
wurden durch Juxtaposition eines Horizontalstriches mit Vertikal-
strichen geschrieben, von welchen gemäß der von rechts nach links
zu lesenden phönikischen Schrift dem Gesetze der Größenfolge ge-
horchend der Horizontalstrich am weitesten rechts sich befindet. Das
nun folgende 20 ist durch zwei Horizontalstriche darzustellen, die
aber nicht bloß parallel übereinander gezeichnet wurden, sondern
auch schrägliegend und verbunden *^, oder gar zu einer Gestalt N
oder A sich veränderten. Jedenfalls trat es jetzt als einfaches neues
Zeichen in Gebrauch, ein Vigesimalsystem in der Schrift einleitend.
Ein letztes neues Zeichen kam, soweit die Inschriften bis jetzt er-
geben haben, durch 100 hinzu i<| oder |}0|, was wohl als liegende
Zehn zwischen zwei Einem zu denken ist, die in dieser Vereinigung
eine verzehnfachende Wirkung üben, eine auffallende Erscheinung,
welche aber auch nicht ganz vereinzelt dasteht, vielmehr in der
römischen Zahlenbezeichnung ein Analogon besitzt.
Die phönikischen Inschriften, welchen diese Zeichen entnommen
sind, reichen bis auf viele Jahrhunderte vor Christi Geburt zurück.
Die Zeichen unterscheiden sich aber nicht sehr von anderen, welche
vom Jahre 2 an bis zur Mitte des HI. S. in Palmyra, dem heutigen
Tadmor mitten in der syrischen Wüste, in Gebrauch waren*). Die
*) Diese Tatsache ist für Mathematiker zuerst bei Hankel S. 34 hervor-
gehoben und damit ein iangezeit fortgeschleppter Irrtum beseitigt. *) Adalb.
Merx, Crrammatica Syriaca. Heft 1. Halle 1867. Tabelle zu pag. 17. *) Über
palmyrenische Zahlzeichen vgl. Math. Beitr. Eulturl. S. 254. Zu den dort ange-
gebenen Quellen tritt hinzu ein Aufsatz aus dem Nachlasse von E. F. F. Beer
mit Erläuterungen von M. A. Levy in der Zeitschr. d. morgenl. Gesellsch. XYIU,
66—117, besonders S. 116.
124 4. Kapitel.
Hauptverschiedeuheit, abgesehen von AbweichuDgen in den Formen
für 10 und 20, besteht darin, daß ein Zeichen für fünf in der Ge-
stalt Y hinzugekommen ist und daß bei den Hunderten das multi-
plikative Verfahren durchgeführt ist. Das Zeichen für 10 wird nämlich
hier zu 100, indem nur einseitig, und zwar rechts ein nach dem Ge-
setze der Größenfolge sonst unverständlicher Einheitsstrich ihm bei-
gegeben ist, und gleicherweise werden 200, 300 usw. geschrieben,
indem die Zeichen 2, 3 usw. sich rechts von dem für 10 befinden.
Das eben beschriebene Zeichen von 100 nebst links folgendem 10
heißt dann natürlich 110, wird aber zum Zeichen von 1000, wenn
noch ein horizontaler Deckstrich darüber kommt.
Wieder als Varianten der palmyrenischen Zeichen sind solche zu
betrachten, welche in syrischen Handschriften des VI. und VH. S.
aufgefunden worden sind '). Eine kleine Merkwürdigkeit bieten sie
insofern dar, als hier eine Abweichung vom Gesetze der Größen-
folge vorkommt. Während nämlich 1 durch einen Vertikalstrich,
2 durch zwei unten im Bogen zusammenhängende Vertikalstriche jn
dargestellt wird, sollte 3 von rechts nach links so geschrieben werden,
daß an die 2 eine 1 sich anfügte. Statt dessen steht rechts die 1
und links davon die 2, während im übrigen das oft genannte Gesetz
befolgt wird.
Der Regel nach benutzten die Syrer allerdings die (S. 121) kurz
erläuterte Buchstabenbezeichnung*). In einer freilich verhältnismäßig
späten, jedenfalls so späten Zeit, daß von Anfängen einer Bezeich-
nungsweise unter keiner Bedingung die Rede sein kann, bedienten
sie sich der 22 Buchstaben ihres Alphabetes, um der Reihe nach die
neun Einer (1 bis 9), die neun Zehner (10 bis 90) und die vier
ersten Hunderter (100 bis 400) zu bezeichnen. Die folgenden Hunderter
wurden durch Juxtaposition gewonnen: 500 = 400-1-100, 600 =
400-f 200, 700 == 400 -f 300, 800 = 400 -f 400, 900 = 400 -F 400 -f 100
oder durch die Buchstaben, welche vorher schon 50 bis 90 bezeichnet
hatten und über die man zur Verzehnfachung ein Pünktchen setzte.
Tausende schrieb man durch Einer mit unten rechts angefügtem
Komma. Zehntausendfachen Wert erteüte den Einem und Zehnern
ein kleiner darunter verlaufender Horizontalstrich. Vermillionfacht
endlich wurde der Wert eines Buchstaben durch doppeltes Komma,
d. h. also durch Vertausendfachung des schon Tausendfachen. Zur
größeren Deutlichkeit pflegte man von diesen beiden Komma das
eine von links nach rechts, das andere von rechts nach links zu
*) Auch diese Zeichen sind besprochen Math. Beitr. Kulturl. 256. *) Merx,
Grammatica Syriaca pag. 14 ügg.
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 125
neigen. Auch Brüche kommen bei dieser Bezeichnung vor und zwar,
wie es scheint, Stammbrüche, welche ahnlich wie bei den Ägyptern
nur durch die Zahl des Nenners geschrieben wurden, während ein
Yon links nach rechts geneigtes akzentartiges Strichelchen darüber
sie als Brüche kenntlich machte.
Der syrischen Buchstabenbezeichnung der Zahlen ist wieder die
der Hebräer sehr nahe verwandt. Wann dieselbe entstand, ist eine
noch ziemlich offene Frage. Auf hebräisch geprägten Münzen ist
nicht früher als 137 v. Chr. alphabetische Bezeichnung der Zahlen
nachweisbar^). Eine derartige Zahlendarstellung findet sich ebenso
wenig unmittelbar in den Büchern des Alten Testamentes. Nur ihre
Anwendung zur Gematria bezeugt ihr Vorhandensein, und wenn diese
wirklich bis zum VII. Jahrhundert hinaufreicht (S. 44), so ist das
hebräische Volk dasjenige, bei welchem die älteste Spur des Zahlen-
alphabetes vorkommt, während im entgegengesetzten Falle Griechen
auf die Priorität die gerechtesten Ansprüche haben und man alsdann
anzunehmen hätte, es sei von den Griechen wieder nach Osten die
Erfindung zurückgekehrt. So sehr diese Annahme der landläufigen
vielleicht aus dem Alter der biblischen Schriften entstandenen Mei-
nung widerspricht, wird man sich doch zu ihr bequemen müssen*).
An jene durch Gematria zu erklärende Stelle bei Sacharja zu glauben,
haben wir schon, als wir sie im 1. Kapitel erwähnten. Bedenken ge-
tragen. Gesicherte Spuren von Gematria finden sich nicht vor Philo
von Alexandrien im ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Das
Wort Gematria ist kaum anders zu erklären als durch Buchstaben-
verstellung aus ygafifiarsia, und damit wäre der griechische Ursprung
des Namens wenigstens gesichert. Benutzung des griechischen Zahlen-
alphabetes auf Münzen von Ptolemaeus II Philadelphus geht zurück
bis 266 V. Chr., ist also um 130 Jahre älter als das älteste hebrä-
ische Vorkommen. Diese Umstände vereinigt sprechen dafür, die
Erfindung des eigentlichen Zahlenalphabetes den Griechen
zuzuschreiben. In der Tat wird als Ort dieser Erfindung von
manchen Milet angenommen und als deren Zeitpunkt schon das
Vin. vorchristliche Jahrhundert, weil damals in Milet gewisse nach-
mals außer Übimg gekommene Buchstaben, deren später nur die Zahlen-
schreibung sich bediente (z. B. das Bau) in regelmäßigem Gebrauch
waren. Jedenfalls sind beide Schreibweisen von Zahlen, die alphabe-
tische und die herodianische, in einer Inschrift von Halikarnaß vor-
*) Nach einer Mitteilung von Dr. Euting an Hankel, die dieser S. 34
seines GescMclitswerkes angeführt hat. *) Gow, A short history of greek
mathematics. Cambridge 1884, pag. 43—48, hat die Beweisgründe zusammen-
gestellt.
126 4. Kapitel.
handen, welche um 450 entstanden sein soll, wenn man sich mit
diesem Zeitpunkt als ältest gesichertem befriedigt erklärt^). Das
hebräische Alphabet Yon 22 Buchstaben reichte gleich dem syrischen
bis zur Bezeichnung von 400. Für die höheren Hunderte half man
sich wieder durch Zusammensetzungen. Später kam man auf eine
andere Aushilfe. Fünf Buchstaben des hebräischen Alphabetes, die-
jenigen nämlich, welche den Zahlenwerten 20, 40, 50, 80, 90 ent-
sprechen, besitzen zweierlei Gestalt, je nachdem sie am Anfange be-
ziehungsweise in der Mitte eines Wortes auftreten, oder an dessen
Ende, eine Eigentümlichkeit, welche mehrere orientalische Schriftarten
mit der hebräischen teilen und woYon auch die sogenannte gotische
Schrift in f und $ ein Beispiel aufweist. Die fünf Finalbuchstaben
nun benutzte man, um die Hunderte yon 500 bis 900 darzustellen
und hatte nun die Möglichkeit der Darstellung sämtlicher Zahlen
bis zu 999. Bei einer Zahl, bei 15, benutzte man nicht die natur-
gemäße Bezeichnung 10 + 5, sondern schrieb statt ihrer 9 + 6. Der
Grund dayon war, daß die Buchstaben für 10 und 5 H"^ den Anfang
des heiligen Namen Jehoya bilden, der nicht entweiht werden darf
durch unnötiges Aussprechen oder Schreiben^. Um die Tausende zu
bezeichnen kehrte man wieder zum Anfange des Alphabetes zurück,
indem jeder Buchstabe durch zwei über ihn gesetzte Punkte den
tausendfachen Wert erhielt, und so war es möglich alle Zahlen unter-
halb einer Million zu schreiben, womit die Schreibart in Zeichen über-
haupt abschließen mochte, wie es unseren früheren Bemerkungen
(S. 23) entsprechend auch mit dem genauen Zahlenbegriff der Fall
war. Daß die Hebräer yon rechts nach links schrieben, daß ab-
gesehen yon dem Falle geheimnisyoll erscheinen wollender Gematria^
welche als Zahlenschreiben im eigentlichen Sinne des Wortes kaum
betrachtet werden kann, das Gesetz der Größenfolge eingehalten
wurde, braucht kaum gesagt zu werden. Eben dieses Gesetz ge-
stattete die yertausendfachenden Pünktchen oft wegzulassen, wenn die
Reihenfolge der Zahlen die Bedeutimg derselben schon außer Zweifel
stellte. Der Buchstabe für 1 K z. B. konnte dem f&r 5 n in regel-
mäßiger Zahlenbezeichnung nicht yorhergehen, wohl aber umgekehrt.
Deshalb schrieb man 5001 nur durch KT^, dagegen 1005 durch nä oder
durch HK. Da ferner ü =• 40, q «= 800 war, so konnte 5845 = JTaqn
geschrieben werden. Die letztere Zahl, die Anzahl der Verse im
ganzen Gesetze, wurde yon den Masoreten, deren Tätigkeit freilich
*) Handbuch der klaBsischen Altertums- Wissenschaft herausgeg. t. Iwan yon
Müller. Bandl: Griech. Epigraphik von Wilhelm Larfeld S. 641— 647 (München
1891). *) Ist in dieser Schreibart von 16 die Veranlassung zur Gematria bei
Alezandrinischen Juden, oder nur das einfachste Beispiel derselben eu erkennen?
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 127
erst im VIII. S. n. Chr. abschloß, sogar mann geschrieben*), indem
n, das Zeichen für 8, einen höheren Rang als das nachfolgende )2,
zugleich einen niedrigeren als das yorhorgehende dnrch die Stellung
selbst yertausendfachte n besitzen mußte und daher nur 800 bedeuten
konnte. Die Verwechslung von Zahlen mit Wörtern war in der
hebräischen Schrift, die fast regelmäßig die Vokale wegließ und deren
Er^Lnzung dem Leser übertrug, ungemein leicht. Sollte also eine
Zahl als solche sofort erscheinen, so war ein ünterscheidimgszeichen
notwendig. Dasselbe bestand darin, daß man über den letzten Zahl-
buchstaben zwei Häkchen machte, oder auch diese Häkchen zwischen
dem letzten und vorletzten Zahlbuchstaben anbrachte. Bei vier- oder
gar mehrstelligen Zahlen wurden die Häkchen öfter wiederholt.
Wir kehren nach diesen Einschaltungen nach Griechenland zurück,
bei dieser Rückkehr beiläufig erwähnend, daß die Gematria, die sym-
bolisierende BuchstabenTerbindung zu Wörtern mit Zahlenwert, sich
auch bei späteren Griechen einheimisch machte. Die Zahl 666 der
Apokalypse z. B., welche, wie jetzt wohl kein Fachmann mehr be-
zweifelt, aus dem Hebräischen stammt und noß "(ins (Nerun Kesar)
bedeutet, wurde von Irenäus, dem berühmten Eorchenlehrer des H. S.,
als AaxBivog gelesen und erklärt.
Die Zahlenwerte der griechischen Buchstaben hier genauer
zu erörtern, möchte so ziemlich allen unseren Lesern gegenüber über-
flüssig sein. Wir begnügen uns daran zu erinnern (S. 125), daß in
dem zur Zahlenschreibung dienenden Alphabet altertümliche Buch-
staben, die sogenannten Episemen, noch einen Platz einehmen, welche
unter den Buchstaben der Griechen als solchen abhanden gekommen
waren'). Die Buchstaben alpha bis sanpi genügten in ihrer Ver-
bindung zur Darstellung der Zahlen 1 bis 999, wobei ein darüber
befindlicher Horizontalstrich die Zahlen als solche kennzeichnete und
der Verwechslung mit Wörtern Yorbeugen sollte. Die Tausende schrieb
man mittels der 9 Einheitsbuchstaben, a bis ^, denen man zur Linken
einen in Kommagestalt geneigten Strich beifüg^. Mitunter wurde,
ähnlich wie der vertausendfachende Punkt der Hebräer, das den
gleichen Zweck erfüllende Komma der Griechen unter gleichen Voraus-
setzungen weggelassen, nämlich wenn die Stellung yor einem Buch-
staben, dem an und für sich ein höherer Zahlenwert eigentümlich
war, die Notwendigkeit ergab um des Gesetzes der Größenfolge willen
das betreffende Zahlzeichen tausendfach zu lesen. Allerdings ist auch
bei den Griechen ein Abweichen yon dem Gesetze der Größenfolge
') NeBselmann, Die Algebra der Griechen. Berlin 1842, S. 494. *) Vgl.
A. Eirchhoff, Studien zur Geschichte des griechischen Alphabete. 8. Aufl.
Berlin 1877.
128 4. Kapitel.
nachgewiesen worden*). Nicht bloß daß in Sizilien der Sprach-
gebrauch die kleinere Zahl der größeren yorausgehen ließ [z. B.
xiööaQa xBtQaxööva B^axiöxikia 3Cevraxi6^vQia rdXavta = 56404 Ta-
lente], daß bei asiatischen Griechen die gleiche Übung herrschte, daß
auf Münzen von Seleucidenkönigen der Berliner und Londoner Samm-
lungen, deren Prägung innerhalb 210 und 144 v. Chr. Geburt fallt,
die Jahreszahlen TP- 103, ^5?P= 161, BSP-- 162, Ö^P« 169
vorkommen*), man hat sogar Inschriften gefunden, bei welchen
Größenfolge nach beiden Richtungen miteinander wechselt'), z. B.
exovg Ivip vneQßsQBzaiov va = am 15. des Monats Hyperberetaion im
seleucidischen Jahre 557. Zehntausend wurde als Myriade durch Mv,
oder durch M bezeichnet. Bei Vielfachen von 10000 konnte der
vervielfachende Koeffizient eine dreifache Stellung einnehmen, links
vor, rechts nach oder über dem M Im ersten Falle wurde M. auch
wohl durch einen einfachen Punkt vertreten, welcher aber nicht weg-
gelassen werden durfte, weil die bloße Stellung, wie wir erst bemerkt
haben, nur vertausendfachte. Es bedeutete demnach ßola stets 2831,
ß,(oka dagegen 20831.
Man hat verschiedentlich die Behauptung aufzustellen versucht,
den Griechen sei, und zwar in alter Zeit, ein Zahlzeichen für Nichts,
mithin eine wirkliche NuU zu eigen gewesen. Man hat zu diesem
Zwecke auf astronomische Werke des Ptolemäus und des Theon von
Alexandria, man hat auf eine Steininschrift der Akropolis zu Athen,
man hat auf einen Palimpsest im Vatikan hingewiesen. Aber alle
diese Hinweise sind durchaus nichtig; von einer Null ist an
keiner dieser Stellen die Rede*).
Brüche kommen bei griechischen Schriftstellern, insbesondere
bei Mathematikern, häufig vor. Die Bezeichnung erfolgt im all-
gemeinen so, daß man zuerst die Zähler hinschrieb und dieselben
mit einem Akzente rechts oben versah, dann die Nenner, denen ein
doppelter Akzent beigefügt wurde und die zweimal geschrieben wurden.
17
Z. B. i^ %a' %a' = - . Hatte man es mit Stammbrüchen zu tun, so
blieb der Zähler a als selbstverständlich weg, und die einmalige
Schreibung des Nenners genügte. Ohne weitere Bemerkung neben-
einander geschriebene Stammbrüche sollten durch Addition vereinigt
*) J. Woisin, De Graecorum notis numeralibus (Leipziger Doktordisser-
tation in Kiel 1886) pag. 15— 16. *) Briefliche Mitteilung des Herrn Adolf
Richter in Riga. *) Corpus Inscriptionum Graecorum (ed. Boeckh) Vol. III.
(Berlin 1868) No. 4516. Vgl. auch No. 4503, 4518, 4519. *) Math. Beitr. Kulturl.
S. 121 flgg. Wichtige Ergänzungen zu unseren Angaben über den Palimpsest bei
Hultsch, Scriptores metrologici Graeci. Leipzig 1864. Vorrede pag. V— VL
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingeriechnen. Rechenbrett. 129
werden. Z. B. d" « ^ und £" x^" Qiß' öxd" — ^ + 28 "^ m "^ 224
4.3 1
= ^— . Zwei besondere Bezeichnungen sind bemerkenswert: ^ oder
Vifivöv wurde nicht durch ß" sondern durch das altertümliche
sigma c angedeutet und dieses vereinigt sich mit g" => y zu einem
112
neuen dem omega ähnlichen Zeichen uj" um y + ^ ^ 3 anzu-
schreiben *).
Die Frage^ wie man dazu kam an Stelle einer anderen schon
vorhandenen Bezeichnungsweise von Zahlen die neue alphabetische
Methode einzuführen, verdient wohl gestellt zu werden und ist auch,
wenngleich nicht häufig, gestellt worden'). So mächtig wirkt bei
den meisten Geschichtsschreibern die Gewohnheit das geschichtlich
nacheinander Auftretende als Fortschritt au&ufassen, daß man auch
hier einem Fortschritte gegenüberzustehen wähnte, und die Einfuhrung
eines solchen bedarf keiner besonderen Erklärung. Statt eines Port-
schrittes haben wir es aber hier mit einem entschiedenen Bück-
schritte zu tun, insbesondere was die Fortbildungsfähigkeit der
Ziffernschrift betrifft. Vergleichen wir die älteren herodianischen
Zahlzeichen mit den späteren, für welche wir schon wiederholt den
Namen alphabetischer Zahlzeichen gebraucht haben, so erkennen wir
bei letzteren zwei Übelstände, die den ersteren nicht anhaften. Es
mußten jetzt mehr Zeichen und deren Wert dem Gedächtnisse an-
vertraut werden, es mußte auch das Rechnen eine viel angespanntere
Gedächtnistätigkeit in Anspruch nehmen. Die Addition AA^ +
AAAA«riAA(30 + 40«70) konnte mit der HHH + HHHH =
51 HH (300 + 400 «700) in einen Gedächtnisakt zusammenschmelzen,
sofern drei und vier Einheiten derselben Art zu fünf und zwei Ein-
heiten gleicher Art sich vereinigten. Dagegen war mit X + |i =* o
noch keineswegs t -{- u =» ij; sofort mitgegeben! Nur einen einzigen
Vorzug bot die neue Schreibweise der alten gegenüber, der sich
zeigt, wenn man die schriftliche Darstellung nach ihrer Raumaus-
dehnung vergleicht. Man beachte z. B. 849, welches herodianisch
PHHHAAAAPIIII, alphabetisch uJ^e aussieht. Jenes ist durch-
sichtiger, gewährt beim Rechnen die wichtigsten Vorteile; dieses ist
unverhältnismäßig viel kürzer, und so werden wir auf diesem den
Vermutungen allein preisgegebenen dunkeln Gebiete wohl kaum einen
Fehlgriff tun, wenn wir die Meinung aussprechen, nicht Rechner,
>) tJhei Brüche vgl. Hultsch, L c, pag. 173—176. *) Heinr. Stoy,
Zur Geschichte des Bechenontemchtes I. Teil. Jenaer Inauguraldissertation 1876,
S. 25.
Gaktob, Gesohichte der Mathematik L 3. Aufl. 9
130 4. Kapitel.
sondern Schreiber haben die alte breite Zahlenbezeichnung um der
neuen willen im Stich gelassen, und weil es in der großen Menge
der Bevölkerung mehr Schreiber gab als Rechner, die zugleich auch
Schreiber waren, hat die neue alphabetische Methode so rasch und
allgemein sich Eingang verschafft.
Wir sind mit diesen Bemerkungen bereits über die Besprechung
des Zahlenschreibens bei den Griechen hinausgegangen und zu deren
Zahlenrechnen gelangt. Wieder begegnen uns hier die beiden
Rechnungs verfahren, denen wir allgemein menschliche Verbreitung
zuerkannt haben: das Fingerrechnen und das Rechnen auf einem
Rechenbrette.
Spuren des ersteren sind mancherlei vorhanden^). Es mag ja
zu weit gegangen sein für dasselbe auf eine Stelle des Herodot sich
zu beziehen, wo einer an den Fingern die Monate abrechnet*). Auch
daß in homerischer Sprache Rechnen Ttefixä^Biv, d. h. wörtlich „ab-
fünfen" heißt, mag von geringerer Tragweite erscheinen. Aber eine
Stelle der Wespen des Aristophanes') bezeugt, daß man Überschlags-
rechnungen an den Fingern auszuführen pflegte. Wie die Griechen
alter Zeit dabei verfuhren, ist nicht bekannt. Die Wahrscheinlichkeit
spricht dafür, daß ähnliche Grundsätze der Fingerbedeutung gegolten
haben mögen wie in späterer Zeit, aber eine Sicherheit liegt keines-
wegs vor. Wir wünschen daher nicht durch Vorgreifen den An-
schein einer solchen Sicherheit hervorzurufen, und versparen uns die
Darstellung spätgriechischer Fingerrechnung bis zum Schlüsse dieses
ganzen griechischen Abschnittes, wo eine erhaltene byzantinische
Schrift über den Gegenstand ims nötigende Veranlassung geben wird
darauf einzugehen.
Das Rechnen auf einem Rechenbrette in Griechenland bezeugt
uns Herodot durch dieselbe Stelle*), deren wir uns zum Beweise des
gleichen Verfahrens in Ägypten schon bedient haben (S. 88). Wir
hoben dort bereits hervor, daß die Kolumnen des Brettes gegen den
Rechner senkrecht gezogen sein mußten und werden dafür noch
anderweitige Gründe weiter unten angeben. Die auf dem Rechenbrette
Verwendung findenden Steinchen hießen ifYjq)ot. Sie wurden, wie aus
der Stelle in den Wespen des Aristophanes hervorgeht, auch in dessen
Zeit zum genauen Rechnen benutzt, und die Verbreitung dieses Ver-
fahrens wird ersichtlich aus dem Worte rlfrjq)£i£vVj mit Steinchen han-
tieren, welches allgemein für das Rechnen eintritt. Auch das Brett,
auf welchem gerechnet wurde, bekam einen besonderen Namen &ßal.
*) Stoy, 1. c, S. 86 Anmerkg. 4, S.44 Aninerkg. 8. *) Herodot VI, 68
und 66. *) Ariatophaniß Yespae 666. *) Herodot H, 86.
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 131
Allein gleich bei diesem Namen Abaz beginnen die Streitfragen,
welche sich mehr und mehr häufen, je weiter die Geschichte der
Entwicklung des Rechenbrettes fortschreitet. Man hat nämlich das
Wort &ßa^ bald dem semitischen p3fe( Staub yerglichen und Staub-
brett übersetzt, bald hat man den Stamm ßax mit verneinendem a zu
einem Worte yereinigt, dem die Bedeutung des Nichtgehenkönnens,
des FußloBseins innewohnt^). Die letztere Ableitung stützt sich
vorwiegend auf die nicht in Zweifel zu stellende Anwendung des
Wortes äßcci und ähnlich klingender Wörter in Bedeutungen, welche
an Staub in keiner Weise zu denken gestatten. So hieß eine Art
von Würfelbrett, ein rundes Körbchen ohne Untergestell, eine runde
Platte ßßal^ und dergleichen mehr. Noch eine dritte Ableitung läßt
&ßa^ durch verneinendes a von ßd^o (ich spreche) abstammen; es
sei ein Rechnen, bei welchem nicht gesprochen wird'). Die erste
Ableitung dagegen weiß nur einen Grund für sich anzugeben, der
durch ein Spiel sprachlichen Zufalles sich sehr wohl erklären läßt:
der griechische Abax als Rechenbrett war nämlich, wenigstens in
einer Form, ein wirkliches Staubbrett'). Wir wissen dieses aus einer
Stelle des Jamblichus, in welcher dieser späte Pyihagoiuer erzählt,
daß der Gründer ihrer Schule die Beweise der Arithmetik wie der
Geometrie auf dem Abaz geführt habe, was nur dann verständlich
ist, wenn auf dem Abax Zahlzeichen und Linien leicht gezeichnet,
leicht verwischt werden konnten; wir wissen es deutlicher aus einer
zweiten Stelle desselben Jamblichus, die uns ausdrücklich sagt, der
Abax der Pythagoräer sei ein mit Staub bedecktes Brett gewesen^).
Auch eine Stelle des Eustathius ist damit in Übereinstimmung, welche
den Abax als den Philosophen, die Figuren auf denselben zeichneten,
nützlich rühmt ^). Das letztere Zeugnis gehört freilich erst dem Ende
des XIL S. an, aber bei der berühmten Gelehrsamkeit des Bischofs
von Thessalonike, der sie niederschrieb und dem sicherlich noch Quellen
^) Für die erste Ableitung Nesselmann, Algebra der Griechen S. 107,
Anmerkg. 5 und Vincent in Liouyille's Journal des Mfxth^matiques IV, 275 Note
mit Berufung auf Etienne Guichart, Harmonie des lan^ues. Für die letztere
Th. H. Martin, Les siffnes numeraux et VarithmStique chez lea peitples de Vanti-
quiU et du moyen-ctge. Rome 1864, pag. S4 — 35 mit zahlreichen Quellenangaben.
*) E. Clive Bayley im Journal of the Royal Asiatic Society, new series, XIV,
869 (London 1882). *) Als Beispiel sprachlicher Zufälligkeiten erinnern wir an
das englische degree und das arabische daraga. Beide bedeuten Grad (Winkel-
einteilung), sind aber nicht entfernt verwandten Stammes trotz Gleichlautes und
Bedeutungsgleichheit. *) Jamblichus, De vita Pythagorica cap. V, § 22 und
desselben Exhortatio ad phtlosophiam Symbol. XXXI V. *) Eustathius in Odys-
seam zu Gesang I, vers. 107. Vgl. die römische Ausgabe dieses Kommentators
pag. 1897 lin. 50.
132 4. Kapitel.
zugänglich waren^ die wir nicht mehr kennen^ nehmen wir ebenso-
wenig Anstand dasselbe zu verwerten, wie die oft angerufenen Zeug-
nisse späterer Lexikographen.
Sollte auf dem Abax gerechnet werden, so mußten, wie wir
wissen, auf demselben Abteilungen gebildet werden, deren jede zwischen
zwei Strichen verlief, oder durch einen einzelnen Strich sich darstellte.
Die Abteilungen, Kolumnen nennt man sie gemeiniglich, und auch
wir werden uns dieses Ausdruckes von jetzt an ausschließlich be-
dienen, waren gegen den Rechner senkrecht gezeichnet. Das geht
nächst der Stelle bei Herodot, welche wir so deuteten, aus einem
Vasengemälde hervor, das aus griechischer Vorzeit auf uns gekommen
ist. Wir meinen diejenige Vase, welche den Altertumsfreunden als
die große Dariusvase in Neapel wohl bekannt ist^). Auf dieser
Vase ist ein Rechner gut erkennbar, der auf einer Tafel den Tribut
zu buchen scheint, welcher dem Darius dargebracht wird. Die Tafel
ist in zu dem Rechner senkrechte mit Überschriften versehene Ko-
lumnen eingeteilt, und die Überschriften bestehen aus herodianischen
Zahlzeichen. Eben dieses Vasengemälde ist es, welches einen zuver-
lässigen Beweis persischen, mithin mutmaßlich auch babylonischen
Kolumnenrechnens uns liefern würde, wenn wir der Gewißheit uns
hingeben dürften, daß der Künstler nicht aus freier Phantasie arbeitend
griechische Gewohnheiten ins Ausland übertrug, ohne sich darum zu
kümmern, ob er damit der Wahrheit widersprach.
Die Kolumnen hatten den Zweck, den zum Rechnen dienenden
Marken einen in verschiedenen Kolumnen verschiedenen Stellungswert
zu verleihen. Zwei Schriftsteller bezeugen uns dieses. Von Solon
wird uns der Vergleich mitgeteilt, wer bei Tyrannen Ansehen besitze,
sei wie der Stein bei der Rechnung; bald bedeute dieser mehr, bald
weniger, und so achte der Tyrann jenen bald hoch, bald gar nicht*).
Desselben Vergleiches bedient sich Polybios, der arkadische Geschichts-
schreiber, welcher 203 — 121 lebte, und gebraucht dabei einen nicht
unwichtigen Ausdruck. Er sagt nämlich, die Marken auf dem Abax
gelten nach dem Willen des Rechnenden bald einen Chalkus, bald
ein Talent»).
Die Bedeutsamkeit gerade dieser von Polybios genannten gegen-
sätzlichen Werte erkennen wir in ihrer Übereinstimmung mit den
End werten niedersten und höchsten Ranges, welche auf einem grie-
^) Vgl. eine Abhandlung von F. G. Welckerin dessen Alte Denkmäler V,
Z4t9 ügg. nebst Tafel XXIII. Der erste Abdruck in Gerhards Archäologischer
Zeitung 1867, 8. 49—55, Tafel 108. *) Diogenes Laertius I, 69. «) Poly-
bios V, 26, 13.
Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 133
chischen Denkmale, auf der Tafel yon Salamis angegeben waren.
Damit ist nämlich entweder eine annähernde Datierung jener ihrem
Alter nach bis jetzt ganz unbestimmbaren Marmortafel, welche sich
gegenwärtig im Nationalmuseum (Ethnikon) zu Athen befindet, er-
möglicht oder man hat die für langdauernde Übung Zeugnis ablegende
Erhaltung genau derselben Abteilungszahl yor sich. Die salaminische
Tafel ^) von Marmor 1,5 m lang, 0,75 m breit wurde zu Anfang des
Jahres 1846 auf der Insel, deren Namen sie führt, au^efanden. Sie
war der Größe ihrer Abmessungen, dem Gewichte des Materials, der
durch beide yereinigten Umstände erhöhten Unbeweglichkeit zufolge,
sicherlich keine gewöhnliche Rechentafel. Wir haben yielmehr ent-
weder an den Geschäftstisch eines öffentlichen Wechslers zu denken,
deren es in Griechenland bereits gab, oder an eine Art yon Spielbrett
mit zur Verrechnung yon Gewinn und Verlust vorgerichteten Kolumnen.
Die Einrichtung war nämlich allem Anscheine nach die, daß jedem
der beiden Spieler, beziehungsweise Rechner, fünf Hauptkolumnen, je
zwischen zwei Striche eingeschlossen, und yier Nebenkolumnen zur
Verfügung standen. Erstere dienten yon links nach rechts im Werte
abnehmend für Talente (6000 Drachmen), 1000, 100, 10 und 1 Drachmen,
letztere für die Bruchteile der Drachmen Obolus ( -Drachme], halber
Obolus, viertel Obolus und achtel Obolus oder Chalkus*). Jede der
Hauptkolumnen war durch einen durch alle Abteilungen gemeinschaftr
lieh durchlaufenden Querstrich in zwei Hälften geteilt, deren eine, sei
es die obere, sei es die untere, den eingelegten Marken den fünffachen
Wert gab wie die anderen. Es ist dies ein tatsächlich vorhandenes
Beispiel dessen, was wir (S. 42) bei den Babyloniern vermutungsweise
annahmen, um die Entstehung des Wortes Ner uns zu verdeutlichen.
Wir dürfen zugleich hervorheben, daß die 5 Hauptkolumnen ihrer
Anzahl nach mit den fünf einfachen Grundzahlwörtern der Griechen
von der Monas bis zur Myrias übereinstimmen, dürfen zugleich an das
früher über Beschränkung volkstümlicher Zahlenbegriffe Gesagte er-
innern. Daß unsere in allen wesentlichen Punkten von Letronne her-
stammende Erklärung der salaminischen Tafel richtig sein muß, be-
weisen insbesondere die auf der Tafel befindlichen selbst 13 mm hohen
Zahlzeichen. Sie sind herodianische Zeichen, und es ist eben so fein
^) Math Beitr. Ktdtarl. S. 182 und 186 flgg. die gSDaneren Quellenangaben.
Vgl. femer A. Nagl, Die Rechenmethoden auf dem griechischen Abakus in
Abhndlgen. z. Gesch. d. Math. IX, 837—367. Kubitschek, Die salaminische
Rechentafel in Numismatische Zeitschrift (Wien 1900) XXXI, 893—398. A. Nagl,
Der griechische Abakus in Numism. Zeitschr. (Wien 1908) XXXV, 131—143. *) Der
attische Obolus hatte 8 Chalkus. Vgl. Hultsch, Metrologie (2. Aufl.) S. 133.
134 5. Kapitel.
als richtig hervorgehoben worden, es sei kein Zufall, wenn diese Be-
zeichnung, welche neben den einzelnen Grundzahlen auch deren Fünf-
fache kürzer zu schreiben gestatte, auf einem nach demselben Gbdanken
abgeteilten Rechentische sich finde ^). Ein Bruchstück einer der sala-
minischen vielleicht ähnlichen Tafel ist dann später (1886) auch in
Akamanien aufgefunden worden^.
Dürfen wir vielleicht den Rückschluß ziehen, das Rechenbrett
ähnlicher Art müsse bei den Griechen mindestens so alt wie jene
Zeichen gewesen sein? Dürfen wir das in einer Quelle berichtete
Vorkommen herodianischer Zeichen in solonischer Zeit mit dem eben
angeführten Ausspruche Solons, der für das Vorhandensein eines
Rechenbrettes zwingend wäre, wenn er selbst als beglaubigt betrachtet
werden könnte, in Verbindung bringen? Dürfen wir beide als gegen-
seitige Stützen betrachten und somit um 600 ein schon ziemlich aus-
gebildetes Rechnen auf dem Rechenbrett in Griechenland annehmen?
Wir wollen uns nicht soweit in Vermutungen einlassen, daß wir
alle diese Möglichkeiten als Wahrheiten behaupteten. Nur eines sei
bemerkt, daß auf dem Sandbrette sehr leicht mittels eines Stiftes
Kolumnen bildende Linien gezogen werden konnten, daß somit durch-
aus kein Ghrund vorliegt einen Zweifel zu hegen, ob gleichzeitig mit
der Herstellung der salaminischen Tafel und ähnlicher Tische auch
die pythagoräische Benutzung des Sandbrettes zum Rechnen in Übung
gewesen sei. Das Rechnen selbst beschränkte sich anfangs gewiß auf
die einfachsten Grundverfahren des Zusammenzählens und Abziehens.
Ein mathematisches Rechnen kam erst in Frage, als eine wirkliche
Mathematik in Griechenland sich gebildet hatte, und wird erst in jener
Zeit von uns behandelt werden dürfen.
Das mathematische Denken war in Griechenland vorzugsweise ein
geometrisches. Der Geometrie gehören auch die Anfänge der Mathe-
matik an, zu welchen wir uns jetzt wenden.
5. Kapitel.
Thaies and die älteste griechische Cleometrie.
Ein gelehrter Philosoph des *^. S. Proklus Diadochus hat uns
ein ungemein wertvolles Bruchstück eines älteren Schriftstellers auf-
bewahrt, welches uns ein Bild der ältesten griechischen Mathematik
') Stoy, 1. c, S. 26. ") Wo i Bin, De Graecorum notia numeralibua
pag. 4 mit Berufang auf Bulletin de Correspondence Hell^nique, ann^e X (1886)
pag. 179.
Thaies und die älteste griechisohe Geometrie. 135
in lonien, in Unteritalien und in Athen den Umrissen nach erkennen
laßt. Es stammt nach Proklns' Anssage von denen her, ,,die die Ge-
schichte geschriehen habend nnd man ist allgemein darin einig hier
ein Fragment desEudemns, oder wenigstens einen Anszng aus dessen
historisch -geometrischen Schriften zu erkeimen^). Wir werden das-
selbe häufig zu nennen haben und ihm zu diesem Zwecke den seinem
Inhalte wohl am meisten entsprechenden Namen des alten Mathe-
matikeryerzeichnisses beilegen. Chronologisch teilt es uns näm-
lich nach kurzer Einleitung die Namen derjenigen Männer mit, die
nach der Meinung des Verfassers die Entwicklung der Mathematik
vorzugsweise gefordert haben. Chronologisch, wie wir sie brauchen,
werden wir die einzelnen Sätze abdrucken. Sie bilden gewissermaßen
die Überschrift einzelner Paragraphen, in welche wir unterzubringen
haben werden, was in bezug auf die einzelnen Persönlichkeiten aus
anderen Quellen bekannt geworden ist. Die einleitenden Worte lauten
folgendermaßen:
„Da es nun notwendig ist, auch die Auffinge der Künste und
Wissenschaften in der gegenwärtigen Periode zu betrachten, so be-
richten wir, daß zuerst von den Ägyptern der Angabe der meisten
zufolge die Geometrie erfanden ward, welche ihren Ursprung aus der
Vermessung der Ländereien nahm. Denn letztere war ihnen nötig
wegen der Überschwemmung des Nil, der die einem jeden zugehörigen
Ghrenzen yerwischte. Es hat aber nichts Wunderbares, daß die Er-
findung dieser sowie der anderen Wissenschaften Yom Bedürfnis aus-
gegangen ist, da doch alles im Entstehen Begriffene vom Unvoll-
kommenen zum Vollkommenen Torwärtsschreitet. Es findet von der
sinnlichen Wahrnehmung zur denkenden Betrachtung, yon dieser zur
yemünftigen Erkenntnis ein geziemender Übergang statt Sowie nun
bei den Phönikiem des Handels imd des Verkehrs halber eine genaue
Kenntnis der Zahlen ihren Anfang nahm, so ward bei den Ägyptern
aus dem erwähnten Grunde die Geometrie erfunden.^'
Wir begnügen uns unter Abdruck dieser Sätze darauf aufinerk-
sam zu machen, daß hier über die Erfindung der Geometrie dasselbe
behauptet wird, was wir früher (S. 102 — 103) nach anderen Quellen als
^) Diese Stelle ist abgedruckt in Prodi Dictdochi in primum Euclidis ele-
mentarum librutn commentarii (ed. Friedlein). Leipzig 1873, pag. 64 lin.
16 — 68 lin. 6. Der Urtext mit*gegenüberstehender deutscher Übersetzung bei
Bretschneider, Die Geometrie und die Geometer vor Euklides. Leipzig 1870,
S. 27—30. Wir zitieren dieses Werk künftig kurz als Bretschneider. Wir be-
dienen uns der Hauptsache nach der dort mitgeteilten Übersetzung, yon der
wir nur in wenigen Punkten, wo wir B*s Auffassung nicht teilen können, uns
entfernen.
136 ö. Kapitel.
die weoigsteDS in bezug auf den ägyptischen Ursprung wohlbegründete
Meinung des griechischen Altertums mitgeteilt haben. Die Geometrie
kam aus Ägypten nach Griechenland. Wie und durch wen, darüber
belehrt uns das Mathematikerverzeichnis, wenn es fortfahrt:
„Thaies, der nach Ägypten ging, brachte zuerst diese Wissen-
Bchafb nach Hellas hinüber und vieles entdeckte er selbst, von vielem
aber überlieferte er die Anfange seinem Nachfolger; das eine machte
er allgemeiner, das andere sinnlich faBbarer/'
Thaies von Milet^), Sohn des Ezamios und der Kleobuline,
aus einem ursprünglich phönikischen Geschlechte stammend, wurde
um das 1. Jahr der 39. Olympiade'), also um 624, geboren und lebte
noch im 1. Jahre der 58. Olympiade, d. h. 548. Er wurde also über
76 Jahre alt, eine Berechnung, welche in vollem Einklang mit anderen
Angaben ist, die ohne genaue Jahrgänge festzustellen ihn ein hohes
Alter erreichen lassen. Eine ganze Menge von mehr unterhaltenden
als wichtigen Geschichten knüpfen sich an seinen Namen. Aus den-
selben scheint hervorzugehen, daß Thaies Kaufmann war, bald einen
Salzhandel trieb, bald in Ölgeschafke sich einließ, und daß er vermut-
lich auf diese Weise nach Ägypten kam. Einen ägyptischen Aufent-
halt bezeugt femer die Bemerkung, niemand sei dem Thaies Lehrer
gewesen, nur während seines Verweilens in Ägypten habe er mit den
Priestern verkehrt'). Ein drittes Zeugnis ist das der Pamphile, einer
Geschichtsschreiberin zur Zeit Neros, welche weiß, daß Thaies in
Ägypten Geometrie erlernte*). Die Belege könnten noch weiter bis
zu fast beliebiger Anzahl vermehrt werden, so daß an der Tatsache,
Thaies sei in Ägypten gewesen, und dort mit Geometrie bekannt ge-
worden, nicht wohl zu zweifeln ist^), wenn auch zugegeben werden
') Bretachneider S. 86— ö6. AUman, Greek geometry from Thaies to
Euelid (1889) pag. 7—17. Eine Monographie von Decker, De Thalete Milesio,
Halle 1865, ist nnB nur dem Titel nach bekannt. Haaptquelle ist Diogenes
LaertiuB. Die Familie des Thaies I, 1 nach Herodot, Duris und Demokrit;
seine Lebenszeit I, 10 nach ApoUodor und Sosikrates und 1, 3, wo bezeugt ist,
daß Thaies beim Ausbruche des Yemichtungskampfes zwischen Krösus und
Eyrus (548) noch lebte. *) Vgl. Diels im Rheinischen Museum für Philologie,
Neue Folge XXXI, 16 (1876). ») Diogenes Laertius I, 27. *) Diogenes
Laertius I, 24. ^) Eine vortreffliche Zusammenstellung der Beweisstellen bei
Zell er, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung I, 169,
Anmerkung 1 (3. Auflage, Leipzig 1869). Wenn in diesem Werke — wir werden
es künftig nur als Zeller I zitieren — dessen scharfe, mitunter vielleicht allzu
skeptische Kritik mit Recht anerkannt ist, aus allen diesen Stellen die Über-
zeugung gewonnen wird, der ägyptische Aufenthalt des Thaies sei möglich, so-
gar wahrscheinlich, aber allerdings nicht vollständig erwiesen, so dürfen wir
diesen Ausspruch für unsere Meinung deuten.
Thaies und die älteste griechische Geometrie. 137
muß; daß keines der Zeugnisse älter als das Mathematikerrerzeiclinis
zu sein scheint, und dieses eine höher liegende Quelle außer für eine
einzige Angabe überhaupt nicht angibt. Nach seiner Heimat Milet
kehrte Thaies in vorgeschrittenen Jahren zurück. ^^Er befaßte sich
erst später und gegen das Ghreisenalter hin mit Naturkunde^ beobachtete
den Himmel; musterte die Sterne und sagte öffentlich allen Miletem
TOraus, daß am Tage Nacht eintreten , die Sonne sich yerbergen und
der Mond sich davor legen werde, so daß ihr Glanz und ihre Licht-
strahlen aufgefangen werden würden/' So der wörtliche Bericht eines
Schriftstellers, welcher in seiner Einfachheit sehr glaubwürdig er-
scheint^). Offenbar ist in ihm von derselben Sonnenfinsternis die
Rede, von der neben anderen auch Herodot weiß, daß Thaies sie den
loniem angesagt hatte mit Vorausbestimmung des Jahres, in welchem
die Umwandlung von Ti^ in Nacht erfolgen sollte*). Nur im Vor-
beigehen bemerken wir, auf die Aussage eines unverwerfbaren Fach-
gelehrten gestützt *), daß in so weiten Grenzen wie die eines Jahres
die Verkündigung einer Sonnenfinsternis unter aUen Umstanden mög-
lich war. Trat nun gar diese Finsternis zur Zeit einer Schlacht
zwischen Modem und Lydem — wie man jetzt ziemlich allgemein
annimmt am 28. Mai 585*) — ein und erhielt dadurch eine gewisse
erhöhte historische Bedeutung, so begreift man, wie damit zugleich
der Ruhm des Verkündigers unter seinen Landsleuten steigen mußte.
Um so glaublicher wird der von der Erzählung der Sonnenfinstemis-
voraussagung unabhängige Bericht, Thaies habe unter dem Archontat
des Damasias (zwischen 585 und 583) den Beinamen des „Weisen^'
erhalten^). Mit ihm zugleich erhielten denselben Beinamen bekannt-
lich noch 6 andere Männer, die uns aber insgesamt hier gleichgültig
sein können, weil nur eine politische Bedeutung der 7 Männer, eine
Staatsweisheit, durch jene ehrende Bezeichnung anerkannt wurde, worin
wir rückwärts eine Bestätigung dafür finden können, daß die Sonnen-
finsternis von 585 und deren Verkündigung erst nachträglich zur
Bedeutung wuchs, als die leichtgläubige Bevölkerung in ihr eine Vor-
bedeutung erkennen mochte. Wir übergehen Einmengungen in das
Staatsleben Milets, welche von Thaies berichtet werden. Wir über-
gehen die ihm zugeschriebenen Ansichten über das Weltall und über
vorzugsweise astronomische Dinge. Es muß uns genügen, Thaies als
^) Themistios Orat. XXVI, pag. 317. *) Herodot I, 74. «) Rud. Wolf,
Geschichte der Astronomie. München 1877, S. 10. *) Vgl. G. Hof mann, Die
Sonnenfinstemiss des Thaies vom 28. Mai 585 t. Chr. (Triest 1870). Geizer im
Rheinischen Mnseum fOr Philologie, Neue Folge XXX, 264 (1875). Ed. Mahl er
in Sita^ongsber. d. Wiener Akad. d. Wissensch. 4. Hl. 1886. Mathem.-natorw.
Klasse, H. Abtlg., Bd. XCHI, S. 455—469. ^) Diogenes Laertius I, 1.
138 6. Kapitel.
der Zeit nach ersten ionischen Natorphilosophen zu kennzeichnen.
Wir gelangen zu den mathematiscl^n Dingen, mit welchen der Name
des Thaies in Verbindung gebracht wird.
Proklns nennt Thaies^ abgesehen Yon jener dem Mathematiker-
Verzeichnisse angehörenden Stelle, viermal^). Dem alten Thaies ge-
bührt, so lautet die erste Stelle, wie für die Erfindung so vieles anderen,
so auch für die dieses Theorems Dank; er soll nämlich zuerst gewußt
und gesagt haben, daß die Winkel an der Basis eines gleich-
schenkligen Dreiecks gleich seien, die gleichen Winkel nach
altertümlicher Ausdrucksweise als ähnliche benennend
Die zweite Stelle besagt: Dieser Satz lehrt, daß, wenn zwei
Gerade sich schneiden, die am Scheitel liegenden Winkel gleich
sind. Erfunden ist dieses Theorem, wie Eudemus angibt, zuerst von
Thaies. Eines wissenschaftlichen Beweises aber achtete der Verfasser
der Elemente (Euklid) es wert.
Zum dritten sagt Proklus bei Erörterung des Bestimmtseins
eines Dreiecks durch eine Seite und die beiden ihr anliegen-
den Winkel: Eudemus führt in seiner Geschichte der Geometrie
diesen Lehrsatz auf Thaies zurück. Denn bei der Art, auf welche er
die Entfernung der Schiffe auf dem Meere gefanden haben soll, sagt
er, bedürfe er dieses Theorems ganz notwendig.
Die vierte Erwähnung ist die Angabe: daß die Kreisfläche
von dem Durchmesser halbiert wird, soll zuerst jener Thaies be-
wiesen haben.
Zu diesen vier Erwähnungen bei einem und demselben mathe-
matischen Schriftsteller kommen noch zwei andere. Pamphile erzählt,
daß als Thaies bei den Ägyptern Geometrie erlernte, er zuerst dem
Kreise das rechtwinklige Dreieck eingeschrieben und des-
halb einen Stier geopfert habe^). Endlich ist es die sogenaimte
Schattenmessung, welche auf Thaies zurückgeführt zu werden
pflegt. Hieronymus von Rhodos, ein Schüler des Aristoteles, erzählt,
Thaies habe die Pyramiden mittels des Schattens gemessen, indem er
zur Zeit, wenn der unsrige mit uns von gleicher Größe ist, beobachtete^).
Entsprechend berichtet auch Plinius: das Höhenmaß der Pyramiden
und aller ähnlichen Körper zu gewinnen erfand Thaies von Müet, in-
dem er den Schatten maß zur Stunde, wo er dem Körper gleich isi^).
Etwas darüber hinausgehend ist die Erzählung des Plutarch, der in
seinem Gastmahle Thaies mit anderen über den König Amasis von
*) Proklus (ed. Priedlein) 260, 299, 362, 167. *) Diogenes Lae^tius I,
i4— 26. 8) Diogenes Laertius I, 27. *) Plinius, Histona naturalis XXXVI,
12, 17.
Thaies und die älteste griechische Geometrie. 139
Ägypten sich unterhalten läßt. Nilozenus äußert sich bei dieser
Gelegenheit: Obschon er auch um anderer Dinge willen Dich be-
wundert^ so schätzt er doch über alles die Messung der Pyramiden,
daß Du nämlich ohne alle Mühe und ohne eines Instrumentes zu
bedürfen, sondern indem Du nur den Stock in den Endpunkt des
Schatten stellst, den die Pyramide wirft, aus den durch die Berührung
des Sonnenstrahls entstehenden zwei Dreiecken zeigest, daß der eine
Schatten zum andern dasselbe Verhältnis hat wie die Pyramide zum
Stock 1).
Aus diesen der Zahl und der unmittelbaren Bedeutung nach ge-
ringfügigen Angaben ein yollständiges Bild von dem, was Thaies aus
Ägypten mitbrachte, yon dem, was er selbst dazu erfunden hat, zu
gewinnen ist schwer, und war doppelt schwer, solange die ägyptische
Mathematik in tiefes Dunkel gehüllt war. So kam es, daß dem einen
bewiesen schien, die Ägypter hätten yon Winkeln nichts gewußt, und
Thaies sei der Erste gewesen, der eine Winkelgeometrie ersann; daß
ein zweiter ein Verdienst des Thaies darin fand, daß er eine Linien-
geometrie in dem Sinne schuf, daß er das Verluiltnis der Linien einer
Figur ins Auge faßte, während den Ägyptern nur die praktische
Geometrie der Flächenausmessung bekannt gewesen sei; daß ein dritter
nicht Anstand nahm Thaies und die älteren Griechen überhaupt fast
jeden Erfinderrechtes fQr yerlustig zu erklären und ihr ganzes geome-
trisches Wissen für Ägypten zurückzufordern; daß ein yierter an die
entgegengesetzte Grenze streifend es für gleichgültig hielt, ob Thaies
überhaupt Ägypten besucht habe oder nicht, weil er Geometrisches
in nennenswerter Menge yon dort nicht habe mitbringen können.
Diese eine weite Kluft zwischen den Streitenden offen lassenden Gegen-
sätze, welche wir hier erwähnen, welche aber nicht bei den Unter-
suchungen über Thaies allein sich zeigten, sondern überall, wo es um
durch bestimmte Persönlichkeiten yermittelte Übertragung orienta-
lischer Wissenschaft nach Griechenland sich handelte, müssen gegen-
wärtig sich einander wesentlich nähern, nachdem das Übungsbuch des
Ahmes uns zu^Lnglich gemacht ist. Man wird nicht mehr leugnen
wollen, daß yieles yon dem, was die Anfänge der griechischen Geometrie
bildet, ägyptischen Lehren yerdankt sein kann; man wird yon der
anderen Seite des gewaltigen Unterschiedes sich bewußt bleiben, der
zwischen ägyptischem und griechischem Denken auch bei Gleichheit
des Gegenstandes des Denkens obwaltete.
Wird z. B. irgendwer, der an das Seqt genannte Verhältnis, an
das Ähnlichmachen der Ägypter (S. 99) sich erinnert, der dieses selbe
') Plutarch Vol. 2, m, pag. 174 ed. Didot.
140 6. Kapitel.
Yerhäliiiiis mit Notwendigkeit in gleicher Größe entstehen sieht ^ ob
man von dem einen Endpunkte der Grundfläche^ ob yon dem ent-
gegengesetzten aus die betreffenden Messungen yomimmt^ wird ein
solcher zweifeln können, daß die Gleichheit der Winkel an der Grund-
linie des gleichschenkligen Dreiecks den Schülern des Ahmes bekannt
sein konnte, wenn nicht bekannt sein mußte? Thaies wußte und
sagte es zuerst, d. h. er zuerst sagte es seinen Landsleuten, und mutet
uns die altertümliche Ausdrucksweise „ähnliche Winker^ statt gleicher
Winkel, deren er sich dabei bediente, nicht an wie eine Übersetzung
von Seqt?
Wir fragen weiter: £ann nach Betrachtung der vielfach ge-
teilten Kreise auf ägyptischen Wandgemälden ein Zweifel daran ob-
walten, daß auch die Wahrheit, daß der Durchmesser die Kreisfläche
zu Hälften teile, in Ägypten gelernt werden konnte? Ja sogar einen
Beweis dieser Wahrheit, der, wie uns gerühmt wird, von Thaies zu-
erst geführt worden sei, möchten wir den Ägyptern nicht gerade ab-
sprechen, wenn auch die Art des Beweises dort eine andere gewesen
sein mag als in dem Munde von Thaies.
Wir stehen hier an dem Pimkte, von welchem aus die Ver-
schiedenheit ägyptischen und griechischen Denkens, welche wir oben
betonten, uns deutlicher bemerkbar wird. Das Mathematikerverzeichnis
sagt uns von Thaies, das eine habe er allgemeiner, das andere sinn-
lich faßbarer gemacht. Es will uns scheinen, als sei damit gerade die
griechische und zugleich ägyptisierende Form seiner Leistungen ge-
kennzeichnet. Als Grieche hat er verallgemeinert, als Schüler Ägyptens
sinnlich erfaßt, was er dann den Griechen wieder faßbar gemacht hat.
Es war eine griechische Stammeseigentümlichkeit den Dingen auf den
Grund zu gehen, vom praktischen Bedürfnisse zu spekulativen Er-
örterungen zu gelangen. Nicht so den Ägyptern. Wir glauben zwar
nicht, daß die Ägypter jegliche Theorie entbehrten, wir haben schon
früher (S. 113) das Gegenteil dieser Annahme ausgesprochen; aber wir
haben dort auch gesagt, wie wir ägyptische Theorie uns denken: als
wesentlich induktive, während die Geometrie der Griechen deduktiver
Natur ist. Der Ägypter könnte einen Beweis des Satzes, daß der
Durchmesser den Kreis halbiere durch die bloße Figur, oder vielleicht
durch Berechnung der Flächen beider Halbkreise nach derselben mög-
licherweise unverstandenen Vorschrift als vollständig geführt erachtet
haben. Der Grieche würde sich allenfalls mit der Figur begnügt
haben, wenn auch der Beweis des Thaies uns in keiner Andeutung
bekannt ist So zeigt sich, auch in den Beweisen, eine Abhängigkeit
der griechischen Geometrie von der ägyptischen, die sich lange erhielt.
Die griechische Deduktion war bei ihrem Beginne selbst induktiv. Sie
Thaies und die älteste griechische Geometrie. 141
war gewohnt von dem Vielen zum Einen, von der Unterscheidung zahl-
reicher Falle zum allgemein gültigen Satze überzugehen. Sie blieb
deduktiv, sofern sie nicht unterließ jeden Einzelfall aus sich heraus
zu gestalten, ihn nicht der Erfahrung, der sinnlichen Anschauung zu
entnehmen.
Fassen wir mit Bezug auf Thaies zusammen, was wir hier in
allgemeinerer Erörterung, deren nur persönliche Gültigkeit wir be-
haupten, die also Andersmeinenden eine eigentliche Beweiskraft kaum
besitzen dürften, zu begründen suchten, so gelangen wir dahin, die
wissenschaftliche Bedeutung des Thaies nicht in der Anzahl der Sätze
zu finden, welche er selbst entdeckte, sondern in dem Anstoß zu
geometrischen Studien, den er gab, nebst den Anfangen deduktiver
Behandlung, welche er lehrte. Daß wir übrigens von so wenigen
Sätzen nur wissen, deren Urheberschaft in mehr oder weniger be-
stimmter Weise auf Thaies zurückgeführt wird, kann auf zwei ver-
schiedenen Umständen beruhen. Einmal ist nur über das erste Buch
der euklidischen Elemente ein fortlaufender Kommentar des Proklus
auf uns gekommen. Wir können also nur erwarten durch denselben
über die Urheberschaft von Sätzen jenes ersten Buches mit Bestimmt-
heit aufgeklärt zu werden, während Thaies gar wohl Sätze der fol-
genden Bücher gekannt haben könnte, ohne daß wir berechtigt wären
Proklus das Stillschweigen darüber in dem auf uns gelangten Kom-
mentare zu verübeln. Zweitens aber msg in der Tat das, was Thaies
in Ägypten sich anzueignen imstande war, nicht alles umfaßt haben,
was die Ägypter selbst wußten, er, dem, wie die Berichte uns sagten^),
niemand Lehrer war, bevor er mit den ägyptischen Priestern verkehrte,
der sich erst später und gegen das Greisenalter hin mit Naturkunde
befaßte.
Man hat aus den Sätzen, welche als thaletisch überliefert sind,
Schlußfolgerungen auf solche, die Thaies bekannt gewesen sein müssen,
gezogen. Der letzte Forscher auf diesem Gebiete*) insbesondere hat
mit großem Aufwände von Scharfsinn entwickelt, die Summe der
Dreieckswinkel müsse dem Thaies bekannt gewesen sein. Wenn
nämlich Thaies den Satz von den Winkeln eines gleichschenkligen
Dreiecks und den vom rechtwinkligen Dreiecke im Kreise kannte,
wenn ihm, wie dieser selbe Satz und der von der Halbierung des
Kreises durch den Durchmesser bezeugen, die Definition des Kreises
bekannt war, so mußte ihm, meint AUman, etwa folgende Betrachtung
gelingen. Er werde von dem Kreismittelpunkt 0 aus (Fig. 16) eine
*) Diogenes Laertins I, 27 und Themistios, Orat. XXVI, pag. 317.
^ G. J. Allman, Greek geometry from Thaies to Euclid (1889) pag. 11.
142 5. Kapitel.
Linie OC nach der Spitze des rechten Winkele im Halbkreise ge-
zogen haben. Aus den beiden gleichschenkligen Dreiecken ÄCO und
BCO sei die Gleichheit der Winkel CäO^ ACO und CBO - BCO,
mithin auch der Summe CAO + CBO -^ ÄCO + BCO -^ ACB her-
vorgegangen; er habe aber gewußt^ daß ACB
ein rechter Winkel sei und demgemäß die
Summe der Winkel bei A, bei B und bei C
als zwei Rechten gleich gefanden. Wir haben
dem Scharfsinne des Wiederherstellers unsere
Anerkennung gezollt, wir sind auch geneigt
von seinen Schlüssen einige uns anzueignen,
allein wit möchten die umgekehrte Reihenfolge ftir richtiger halten.
Wir nehmen an und wollen nachher begründen, auf welche Über-
lieferung hin wir zu dieser Annahme uns bekennen, Thaies habe
gewußt, daß die Dreieckswinkel zusammen zwei Rechte betragen, er
habe auch gewußt, daß die Winkel an der Grrundlinie des gleich-
schenkligen Dreiecks einander gleich sind, dann mag ihn höchst wahr-
scheinlich eine Zeichnung wie Figur 16 zur Erkenntnis geführt haben,
daß der Winkel bei C so groß sein müsse als die Summe der Winkel
bei A und J3, mithin so groß als die halbe Winkelsumme des Dreiecks
ABCy oder gleich einem rechten Winkel.
unsere Beweggründe sind folgende. An und für sich sind beide
Sätze, der von der Winkelsumme des Dreiecks, der vom rechten Winkel
im Halbkreise, schon ziemlich künstlicher Natur, nicht auf den ersten
Anblick einleuchtend. Der eine wie der andere bedurfte einer wirk-
lichen Entdeckung und eines Beweises; wenn also eine gegenseitige
Abhängigkeit beider Sätze stattzufinden scheint, so ist es von vorn-
herein ebensogut möglich dem einen als dem andern das höhere Alter
zuzuschreiben. Nun findet sich aber ein Beweis des Satzes vom
rechten Winkel im Halbkreise bei Euklid Buch IH Satz 31 vor,
welcher dem von uns vermuteten sehr ähnlich ist. Eine Zusammen-
stellung wie die euklidischen Elemente ist aber, so genial, so ge-
dankenreich ihr Verfasser sein mag, durch ihren Inhalt selbst darauf
hingewiesen wesentlich kompilatorisch zu sein, und so ist es gar nicht
unmöglich, daß auch bei diesem Satze Euklid der altertümlichen Be-
weisführung treu blieb, ohne daß wir davon unterrichtet sind, weil
ein alter Kommentar zum IH. Buche nicht vorhanden ist. Dazu
kommt als weitere Tatsache, daß wir über die älteste Beweisführung
des Satzes von der Winkelsumme im Dreiecke Bescheid wissen, und
daß diese auch nicht entfernt den Schlußfolgerungen gleicht, welche
nach AUmans Meinung Thaies gezogen haben soU.
öeminus, ein Mathematiker des letzten Jahrhunderts vor Christus,
Thaies und die älteste griecliische Geometrie. 143
erzaMt in einem bei einem noch späteren Schriftsteller^ Eutokins von
Askalon^ erhaltenen Brachstücke^ daß „von den Alten für jede be-
sondere Form des Dreiecks das Theorem der zwei Rechten besonders
bewiesen ward, zuerst f&r das gleichseitige, sodann f&r das gleich-
schenklige, nnd endlich f£Lr das ungleichseitige, während die Späteren
das allgemeine Theorem bewiesen: die drei Innenwinkel jedes Dreiecks
sind zweien Bechten gleich''^).
Wir werden nun bald sehen/ daß die Späteren, von welchen
Geminus redet, nicht gar lange nach Thaies gelebt haben, daß also
die Alten im Gegensatze zu jenen auf die thaletische Zeit, wenn nicht
gar auf die ägyptischen Lehrer des Thaies gedeutet werden müssen.
Die' Andeutungen des Geminus über diesen ältesten Beweis haben
dem Scharfblicke Hankels die Möglichkeit gegeben, den älteren Beweis
wiederherzustellen*). Seine Gedanken darüber sind, nur wenig abge-
ändert, folgende. Den Figuren gemäß, welche wir bei den Ägyptern
fanden, war dort, vielleicht aus asiatischer Quelle, seit dem XVII. S.
y. Chr. die Zerlegung der Ej-eisfiäche in sechs gleiche Ausschnitte be-
kannt. An diese Figur dachten wir oben, als wir die Kenntnis des
Satzes, daß ein Durchmesser den Kreis halbiere, für die Ägypter in
Anspruch nahmen und die Figur selbst als Beweis dienen Ueßen.
Verband man die Endpunkte der Halbmesser miteinander, so entstand
das regelmäßige Sechseck, oder vielmehr sechs um den Mittelpunkt
geordnete gleichseitige Dreiecke, die den ebenen • Baum um jenen
Mittelpunkt herum vollständig ausfüllten. Drei dieser Winkel bildeten
vereinigt einen gestreckten Winkel, wie der Augenschein lehrte, und
vertraute man weiter dem Augenscheine für die Tatsache, daß jeder
Winkel des gleichseitigen Dreiecks dem anderen gleich
war, so hatte man jetzt den ersten Fall des Berichtes
von Geminus erledigt: die Winkel des gleichseitigen
Dreiecks betragen zusammen zwei Bechte. Demnächst
mochte man (Fig. 17) die Zerlegbarkeit des gleich-
schenkligen Dreiecks in zwei Hälften, welche zu einem ^^- ^^-
Bechtecke sich ergänzen, erkennen und wieder lehrte der Augen-
schein, daß bei einem derartigen Vereinigen der zwei Dreieckshälften
vier rechte Winkel erschienen, von welchen zwei aus den ursprüng-
lichen Winkeln des gleichschenkligen Dreiecks, von denen nur einer
in Gestalt zweier Hälften auftrat, sich zusammensetzten. Jetzt fehlte
nur noch der dritte und letzte Schritt. Ein beliebiges Dreieck wurde
(Fig. 18) als Summe der Hälften zweier Rechtecke gezeichnet, so
*) Apollonii Pergaei Conica (ed. Halley), Oxford 1710, pag. 9.
*) Hankel S. 96—96.
144 5. Kapitel.
erschienen drei den ursprünglichen Dreieckswinkeln gleiche Winkel
an der Spitze des Dreiecks zu einem gestreckten Winkel vereinigt.
Eine Spur dieses ältesten BeweisyerfahrenS; wie es Geminus uns
schildert, hat sich auf griechischem Boden bei einem sehr späten
Praktiker erhalten. Ein anonymer Feldmesser des X. S., der nachweis-
lich sein Buch aus ungefähr 1000 Jahre alten Musterwerken zusam-
menschrieby sagt ausdrücklich: Daß aber jedes durch Einbildung oder
Wahrnehmung zugängliche Dreieck die drei Winkel in der Größe
von zwei Rechten besitzt, ist daher offenbar, daß jedes Viereck
seine Winkel rier Rechten gleich besitzt und
durch die Diagonale in zwei Dreiecke mit
sechs Winkeln geschieden wird^).
Eigentliche Beweisführung wird man solche
^*" *^" Zeichnungen gewiß nicht nennen. Sie bewirkten
nichts, als daß der Augenschein induktiv wirkend eine Überzeugung
herbeiführte. War die Überzeugung gebildet, so begnügte sich damit
die ältere Zeit, die spätere suchte nach weiterer Begründung. Noch
für andere Sätze, welche in Verbindung mit dem Namen des Thaies
auftreten, möchten wir den Augenschein als damals einzigen Beweis
auffassen. Der Augenschein wird dem Satze von den Winkeln an
der Grundlinie des gleichschenkligen Dreiecks, wird dem von den
Scheitelwinkeln den Ursprung gegeben haben; und eine Unterstützung
dieser Behauptung dürfte in der Angabe des Eudemus liegen, daß
Thaies den Satz von den Scheitelwinkeln erkannt, Euklid ihn eines
Beweises wert geachtet habe*).
Wir gehen in der Durchsprechung der Dinge, welche aus den
Überlieferungen der thaletischen Geometrie zu folgern sind, weiter.
Man hat^) aus der Kenntnis des Satzes vom rechten Winkel im
Halbkreise auf das damals schon vorhandene Bewußtsein dessen, was
man später geometrischen Ort nannte, geschlossen. Wir begnügen
uns solches zu erwähnen, ohne es uns aneignen zu können. Wir
verbinden dagegen zu einem einheitlichen Gedanken die Schatten-
messung und die Bestimmung eines Dreiecks durch eine Seite
und die beiden anliegenden Winkel. Beides waren praktische
Ausführungen, sofern das Dreieck, wie uns gesagt ist, zur Bestimmung
von Schiffsentfemungen dient. Beide beruhten auf der Anwendung
eines rechtwinkligen Dreiecks. Das eine Mal wurden die Katheten
jenes Dreiecks gebildet durch den Stab und seinen Schatten, das
^ Notices et extraits des manuscrits de la hiblioth^ue Imp&idU de PariSj
Tom. XEX, Partie 2, pag. 868. *) Proklus (ed. Friedlein), pag. 299. ») AUman,
1. c, pag. 13->14.
Thaies und die älteste griechische Geometrie. 14Ö
andere Mal (Fig. 19) durch die Warte, von welcher aus die Beob-
achtung angestellt wurde, und die Entfernung des Schiffes ^). Trennend
ist zwischen beiden Aufgaben der Umstand, daß in dem einen Falle
die Schattenlänge selbst gemessen, in dem anderen die Schififsentfer-
nung aus dem beobachteten Winkel erschlossen werden mußte. Beide
Aufgaben waren einem Schüler ägyptischer Geometrie zugänglich. Sie
sind nahe verwandt dem Finden des Seqt aus gegebenen Seiten, dem
Finden der einen Seite aus der anderen mit Hilfe des Seqt.
Zu einer Früheres ergänzenden notwendigen Bemerkung gibt
übrigens die Schattenmessung des Thaies, welche ihm in zu wieder-
holter Beglaubigung zugeschrieben wird, als daR wir Zweifel in sie
setzen könnten, Anlaß. Mag
die Schattenmessung nach
der einfacheren oder nach
der dem Gedanken nach
zusammengesetzteren von
den beiden berichteten
Methoden erfolgt sein, mag
sie ein bloßes Messen der ^*« ^^•
der gesuchten Höhe gleichen Schattenlange oder das Berechnen eines
Verhältnisses gegebener Zahlen nötig gemacht haben, eines setzt sie
unter allen Umständen voraus: die Übung, den von einem senkrecht
aufgestellten Gegenstande geworfenen Schatten wirklich abzumessen.
Damit vervollständigen sich unsere früheren Mitteilungen (S. 50)
über den Gnomon, seine Erfindung und Übertragung. Wir haben da-
mals erwähnt, daß der eigentliche Gnomon nach Herodot in Babylon
zu Hause war, daß gleichfalls nach Osten der Name des Berosus hin-
weist, daß die Bekanntschaft der Hebräer mit dem Stundenzeiger alt
verbürgt ist. Neu tritt jetzt hinzu, daß auch in Ägypten Schatten
gemessen wurden, eine Überlieferung, welche mit jener ersteren keines-
wegs in Widerspruch steht. Wir haben mehrfach schon mathematische
Zeugnisse alter Verbindungen zwischen Nil- und Euphratländern an-
führen dürfen; hier ist vielleicht wieder ein solches, und überdies ist
es noch immer nicht das Gleiche, wenn an einem Orte der Schatten
zu geometrischen Zwecken gemessen wurde, am anderen zu Herstellung
einer Schattenuhr diente.
Wir haben auch schon den Mann genannt, der die Schattenuhr
den Griechen bekannt machte. Anaximander von Milet war es,
welcher Favorinus zufolge^ zuerst eine solche in Lakedämon auf-
stellte; während wohl durch ein Mißverstöndnis genau dasselbe durch
*) Bretschneider S. 43—46. *) Diogenes Laertius II, 1.
Cahtor, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 10
146 6- Kapitel. Thaies und die älteste griechische Geometrie.
Plinius^) dem Anazimenes, dem Schüler des Anaximander nachge-
rühmt wird. Anaximander war 611 geboren und wnrde Schüler des
Thaies, als dieser in der Heimat sich niederließ, wofür wir etwa das
Jahr 586 anzunehmen durch die vorausgesagte Sonnenfinsternis Ver-
anlassung haben. Anaximander starb kurz nachdem er 64 Jahre alt
geworden war, also etwa 545. Ein Lexikograph Suidas berichtet von
ihm, er habe nächst der Einführung des Gnomon vollständig eine
Hypotyposis der Geometrie gezeigt*). Wir begnügen uns mit
der Wiedergabe des griechischen Wortes, mit welchem wir bei dem
Fehlen jeder deutlicheren Angabe nichts anzufangen wissen. Es ist
ja richtig, daß Hypotyposis durch „bildliche Darstellung'' übersetzt
werden darf, ohne daß eine sprachliche Einrede erhoben würde; es
ist auch möglich, daß die Meinung sei, Anaximander habe eine „Reiß-
kunst'' geschrieben, d. h. eine Angabe geometrischer Konstruktionen
ohne Begründung derselben *); aber mehr als eine schwache Möglich-
keit liegt nicht vor. Am wahrscheinlichsten klingt die Übersetzung
Hypotyposis -=» Abriß, Grundzüge, in welcher Bedeutung das Wort
auch anderwärts vorkommt*).
Jedenfalls hat das alte Mathematikerverzeichnis von dieser geo-
metrischen Tätigkeit des zweiten ionischen Naturphilosophen nicht
Notiz genommen. Es fährt nämlich fort:
„Nach ihm (Thaies) wird Mamerkus, der Bruder des Dichters
Stesichorus, als ein eifriger Geometer erwähnt; auch berichtet Hippias
der Eleer von ihm, daß er sich als Geometer Ruhm erworben habe.'^
Diese Persönlichkeit ist ein so untrügliches Zeugnis für die Ver-
gänglichkeit irdischen Ruhmes, wie kaum eine zweite, denn wir kennen
heute von dem gerühmten Geometer nicht einmal mehr den Namen
mit einiger Sicherheit. Wir haben hier Mamerkus nach der Lesart
der gegenwärtig allgemein benutzten letzten Ausgabe des Proklus
geschrieben^). Andere nennen den Bruder des Stesichorus Mamer-
tinus, noch andere Ameristus. Ein wegen seiner Ungenauigkeit
berüchtigter mathematischer Historiker des XVH. S., Milliet Dechales,
macht sogar zwei berühmte Geometer aus ihm, einen Mamertinus
imd einen Amethistus. Wir begnügen uns mit dem Eingeständnisse
*) Plinius, Historia naturalis 11, 76. ") Suidas s. v. Anaximandros:
yvd}y,ovd X slai^Yocys xal oXqds ycm^rpiaff inotweaaiv iiti^ev. ') Bretschneider
S. 62 teilweise nach Roth, Geschichte der abendländischen Philosophie 11, 182.
Friedlein, Beiträge zur Geschichte der Mathematik II, Hof 1872, S. 16, über-
setzt : er gab eine bildliche Darstellung der ganzen Geometrie heraus. *) W. S c h m i d t
(Bericht über griechische Mathematiker und Mechaniker 1890—1901) yerweist dafür
auf Pro kl OS {vTtoxvnataig xoiv ccargovotiixätv ino^iffsoov = Abriß der astronomischen
Voraussetzungen) und auf SextusEmpiricus {IIvQQmvHoi (>norv7cmaeig = Grund-
züge des Pyrro). *) Proklus (ed. Friedlein) p. 65, lin. 12.
6. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 147
gar nichts von ihm zn wissen. Der Bruder Stesichorus ist eine be-
kanntere Persönlichkeit. Er starb um 560 im Alter von 85 Jahren
und stammte aus Himera in Sizilien. Jedenfalls weist also die geo-
metrische Tätigkeit des Bruders des Dichters uns darauf hin^ daß der
Oeschmack an Wissenschaft, an Geometrie insbesondere, seit Thaies
die Anfänge aus Ägypten mitgebracht hatte, weitere Verbreitung ge-
wann, daß die Zeit jetzt nahte, wo in Sizilien und in ünteritalien
eine schulmäßige Beschäftigung mit unserer Wissenschaft ihre gedeih-
liche Wirkung äußern konnte unter der Leitung eines Mannes, der
eben dort seine Studien machte, wo auch Thaies in die Geometrie
eingeweiht worden war.
Thaies hat also nebst seinen nächsten ionischen Nachfolgern für
uns die Bedeutung, daß man durch ihn in Erfahrung gebracht hatte,
wo Geometrie zu Hause sei; daß von ihm die ersten der Zahl nach
geringen, der Anwendung nach schon wertvollen Sätze der Geometrie
bekannt gemacht wurden; daß von ihm eine etwas strengere Beweis-
führung ausging; daß er endlich eine Schule gründete, die der Wissen-
schaft diente und nicht Staatsleben und Geldverdienst allein als die
Dinge ehrte, denen ein Mann seine Kräfte widmen konnte. In allen
diesen Richtungen können wir den Mann als seinen Nachfolger be-
trachten, dem wir jetzt uns zuwenden: Pythagoras von Samos.
6. Kapitel.
Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik.
„Nach diesen yerwandelte Pythagoras die Beschäftigung mit
diesem Wissenszweige in eine wirkliche Wissenschaft, indem er die
Grundlage derselben von höherem Gesichtspunkte aus betrachtete und
die Theoreme derselben immaterieller und intellektueller erforschte.
Er ist es auch, der die Theorie des Irrationalen und die Konstruktion
der kosmischen Körper erfand."
Pythagoras von Samos, über welchen wir soeben das alte
Mathematikerverzeichnis haben reden lassen, war Sohn des Mnesarchus.
Er gründete in den dorisch bevölkerten Städten von Süditalien, in
dem sogenannten Großgriechenland, eine Schule, die zahlreiche An-
hänger versammelte und so geschlossen auftrat, eine solche auch
politische Bedeutung gewann, daß sie die Feindschaft der außerhalb
der Schule Stehenden auf sich zog und gewaltsam zersprengt wurde.
Diese Tatsachen stehen nach den Aussprüchen säAtlicher alten
Berichterstatter allzu fest, als daß sie auch nur von einem einzigen
10*
148 6. Kapitel.
neueren Geschichtsschreiber angefochten würden. In jeder anderen
Beziehung aber herrschen über das Leben des Pythagoras, über seine
Lehre, über das was man ihm, was man seinen Schülern zuzuschreiben
habe, die allergrößten Meinungsverschiedenheiten. Greifen wir nur
einige gewiß wichtige Punkte heraus: das Geburtsjahr des Pytha-
goras, das Jahr seiner Ankunft in Italien, sein Todesjahr, die Zeit,
zu welcher die Schule zersprengt wurde, das alles liegt im Wider-
streite der Meinungen. Wenn ein Forscher*) Pythi^oras 569 ge-
boren, 510 in Italien aufgetreten, 470 bei dem gegen die Schule ent-
brannten Aufstande umgekommen sein läßt, sagt uns ein anderer
Forscher*), die Geburt habe um 580, die Ankunft in Italien um 540
stattgefunden, Pythagoras sei um 500 gestorben, die Schule erst ein
halbes Jahrhundert später zersprengt worden. Ahnliche Gegensätze
treten in allen Äußerungen derselben Gelehrten über Pythagoras und
die Pythagoräer hervor, und wir können diese Gegensätze so ziem-
lich auf einen einzigen grundsätzlichen zurückführen. Der erste Ge-
lehrte, dessen Datierungen wir angaben, ging von dem Bestreben aus,
die überreichen Mitteilungen, welche erst in nachchristlichen Jahr-
hunderten von griechischen Schriftstellern in Form spannender aber
romanartiger mit Wundergeschichten reichlich durchsetzter Bücher
zusammengestellt wurden, nach Ausscheidung dessen, was augenschein-
lich sagenhafte Erfindung war, zu benutzen. Der zweite verwirft
jene Romane ganz und gar, läßt höchstens die Benutzung einiger
weniger Stellen derselben zu, wo die Gewährsmänner ausdrücklich
genannt sind und ihre Nennung selbst Vertrauen verdient. Beide
gehen wohl in ihren polemisch erprobten und dadurch nur um so
stärker befestigten Meinungen zu weit, wenn wir auch heute gern
erklären, daß wir uns in den meisten Punkten den Ansichten des
Vertreters derjenigen Auffassung, die man als skeptische bezeichnen
könnte, nähern, wenn nicht anschließen. Für uns gibt es aber noch
einen Mittelweg, den wir vielfach an der Hand des letzten Bearbeiters*)
unseres Gegenstandes zu gehen lieben, so weit überhaupt die Ge-
schichte der Mathematik uns die Pflicht auferlegt über die Streit-
punkte ein Urteil auszusprechen.
Ein derartiger Streitpunkt ist der Aufenthalt des Pythagoras
in Ägypten, der von größter Bedeutung für die ganze Entwick-
lungsgeschichte der griechischen Mathematik ist, wenn man an ihn
glaubt, jene Geschichte noch rätselhafter macht, als sie vielfach be-
*) Roth, Geschichte der abendländischen Philosophie. Bd. 11. •) Zell er I.
•) A. Ed. Ghaignet, Pyihctgore et la phÜosophie Pythagoricienne contenant les
fragments de 4PhilolaiM et d*Archytas. Ouvrage cowronn4 par VinstütU. Paris
1878. Wir zitieren dieses Werk kurz als Chaignet.
Pythagorss und die Pythagoräer. Arithmetik. 149
reits erscheint, wenn man ihn verwirft. Der älteste Bericht über
diesen Aufenthalt, um dessen Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit
es sich begreiflicherweise in erster Linie handelt, stammt von dem
Redner Isokrates, dessen schriftstellerische Tätigkeit auf 393, also
höchstens etwa 100 Jahre nach dem Tode des Pythagoras und bevor
die Mythenbildung sich seiner Persönlichkeit bemächtigt hatte, fäUt.
Isokrates sagt von den ägyptischen Priestern^): Man könnte, wenn
man nicht eilen wollte, viel Bewunderungswürdiges von ihrer Heilig-
keit anführen, welche ich weder allein noch zuerst erkannt habe,
sondern viele der jetzt Lebenden und der Früheren, unter denen auch'
Pythagoras der Samier ist, der nach Ägypten kam und ihr Schüler
wurde und die fremde Philosophie zuerst zu den Griechen verpflanzte.
Dieser Stelle ist mit entschiedenem Zweifel begegnet worden*), der
auf den Inhalt der Rede des Isokrates sich gründet. Busiris war
eine ägyptische Stadt mitten im Nildelta, in der große Isisfeste ge-
feiert wurden. In Erinnerung an die frühere Abgeschlossenheit
Ägyptens Fremden gegenüber hatte die griechische Sage aber auch
einen König gleichen Namens mit der Stadt erdacht, der jeden
Fremden schlachten ließ. Zur Zeit der Sophisten liebten die griechi-
schen Rhetoren sich mit Redestückchen gegenseitig zu überbieten,
Lobreden auf Tadelnswerte, Anklagen gegen Vortreffliche zu verfassen.
So hatte Polykrates eine Apologie jenes Busiris geschrieben, und nun
wollte Isokrates dem Nebenbuhler zeigen, wie er sein Thema eigent-
lich hätte behandeln müssen. Polykrates, meint er, habe darin ge-
fehlt, daß er dem Busiris ganz unglaubliche Dinge zugeschrieben
habe, einerseits die Ableitung des Nils, andererseits das Auffressen
der Fremden; dergleichen werde man bei ihm nicht finden. Wir
lügen zwar beide, sagt er aufrichtig genug, aber ich mit Worten,
welche einem Lobenden, Du mit solchen, welche einem Scheltenden
geziemen. Aus diesem Geständnisse hat man die Folgerung gezogen,
daß Angäben, die sich selbst als rednerische Erfindung geben, nicht
den geringsten Wert haben. Diese Folgerung ist aber nur da richtig,
wo es um rednerische Erfindung sich überhaupt handeln kann. Hätte
also Busiris, dem Isokrates lobend nachlügt, er sei der Urheber der
ganzen ägyptischen Kultur gewesen, wirklich gelebt, wir würden doch
von jenem Lobe nichts halten. Sind wir deshalb berechtigt, auch
von der ägyptischen Kultur nichts zu halten, nichts von den ägyp-
tischen Priestern als Trägem dieser Kultur? Das wünscht wohl der
Zweifelsüchtigste nicht. Und wenn die allgemein anerkannte Tat-
*) Isokrates, Bueiris cap. 11. *) Die Zweifel sind hier teilweise wört-
lich aus Zell er I, 259 Note 1 entnommen.
150 6. Kapitel.
saehe ägyptischer hoher Bildung nur den unwahren Zwecken des
Isokrates mittelbar dienen soU^ so hat es für ihn auch nur mittelbare
Bedeutung^ wenn er jener Tatsache eine Stütze gibt^ wenn er sich
darauf beruft , Pjthagoras sei Schüler dieser hochgebildeten Priester
gewesen. Der falsche Satz: Busiris sei der Urheber aller Bildung^
wird dadurch in keiner Weise wahr, wenn die Bildung vorhanden
war, wenn sie auf fremde Persönlichkeiten sich übertrug. Überdies
bedurfte Isokrates zu diesem letzteren Erweise keiner Unwahrheit.
Er konnte auf die Reisen, auf die Berichte anderer Männer sich be-
ziehen, eines Thaies, eines Herodot, eines Demokritos. Wenn er es
vorzog, statt ihrer nur Pythagoras zu nennen, so wird man das da-
durch erklären müssen, daß das Ansehen, in welchem Pjthagoras
schon zur Zeit des Isokrates stand, doch ein anderes war, als das der
eben genannten wenn auch berühmten Persönlichkeiten. Isokrates,
wir können es nur immer stärker betonen, log nicht um zu lügen,
er log nur in den Lobsprüchen, die er seinem um jeden Preis zu er-
hebenden Helden zollte, und die erfundenen Verdienste des Busiris
konnten eine gewisse Scheinbarkeity auf deren Erlangung es bei dem
rednerischen Kunststücken allein ankam, nur dann gewinnen, wenn
alles Beiwerk der Wahrheit entsprach, wenn nicht auch nebensäch-
liche Dinge den Hörer sofort kopfecheu machten. Wir zweifeln daher
keinen Augenblick, daß der Aufenthalt des Pythagoras in Ägypten,
daß der Unterricht, welchen er bei den dortigen Priestern genoß, zu
den Dingen gehört, die landläufige Wahrheit waren, als Isokrates sie
aussprach, die niemand neu, niemand absonderlich oder gar unwahr-
scheinlich vorkamen \).
Der Aufenthalt des Pythagoras in Ägypten, den wir jetzt schon
für durchaus gesichert halten, wird weiter durch eine Menge anderer
SchrStsteller behauptet. Freilich sind es Schriftsteller, die insgesamt
später, teilweise viel später als Isokrates gelebt haben. Strabon
meldet uns in nüchternem, einfachem und dadurch um so glaub-
würdigerem Tone: Die Geschichtsschreiber teilen mit, Pythagoras sei
aus Liebe zur Wissenschaft nach Ägypten und Babylon gegangen^).
Antiphon, allerdings der Lebenszeit nach nicht genauer bestimmt, aber
von späteren Schriftstellern unter Namensnennung mit großer Zuver-
sicht benutzt, hat in seinen Lebensbeschreibungen von durch Tugend
sich auszeichnenden Männern Ausführliches über den ägyptischen
') Chaignet pag. 48 hält die ägyptische Beise auch für erwiesen, läßt
sich aber auf eine Verteidigung des Ausspruches des Isokrates, wie wir sie ge-
liefert haben, nicht ein. Dagegen sind bei ihm die Zitate anderer Schriftsteller,
welche über jene Reise berichten, in großer Vollständigkeit gesammelt
*) Strabo, XIV, 1, 16.
Pythagoras und die Pjtiiagoräer. Arithmetik. 151
Aufenthalt des Pythagoras erzählt^). Viel weniger Gewicht legen
wir — von anderen Zeugnissen zu schweigen — dem bei, was ägyp-
tische Priester ruhmredig dem Diodor erzählten und was er uns mit
folgenden Worten wiederholt: Die ägyptischen Priester nennen unter
den Fremden, welche nach den Verzeichnissen in den heiligen Büchern
vormals zu ihnen gekommen seien, den Orpheus, Musäus, Melampus
und Dädalus, nach diesen den Dichter Homer und den Spartaner
Lykurg, ingleichen den Athener Solon und den Philosophen Piaton.
Gekommen sei zu ihnen auch der Samier Pythagoras und der Mathe-
matiker Eudoxus, ingleichen Demokritos von Abdera und Oinopides
von Chios. Von allen diesen weisen sie noch Spuren auf*). Diese
altagyptischen Matrikellisten mitsamt den aufgewiesenen Spuren
sind an sich recht sehr verdächtig, doppelt verdächtig durch Namen
wie Orpheus und Homer, die dort eingetragen sein sollen. Wir haben
die Stelle überhaupt nur aus einem, wie uns scheint, erheblichen
Grrunde mitgeteilt. Sie beweist nämlich, daß zu Diodors Zeiten um
die dort genannten Männer ein ziemlich gleicher Strahlenkranz von
Berühmtheit sich gebildet hatte, der von ihnen auf die Lehrer, die sie
hatten oder gehabt haben sollten, zurückstrahlt.
. Die von uns angeführte Stelle des Strabon gibt auch Auskunft
über eine Studienreise des Pythagoras nach Babylon. OfiEen-
bar genoß diese zur Zeit von Christi Geburt, das ist zur Zeit Strabons,
einer hinreichend guten Beglaubigung, um als geschichtliche Tatsache
kurz erwähnt zu werden. Als sichergestellt erscheint uns damit so
viel, daß Pythagoras in Babylon hätte gewesen sein können. Drücken
wir uns deutlicher aus. Wir meinen, es müssen innerhalb der pytha-
gomschen Schule Lehren vorgetragen worden sein, welche über-
raschende Ähnlichkeit mit solchen Dingen besaßen, denen das Griechen-
tum seit dem Alexanderzuge an dem zweiten Mittelpunkte ältester
Kulturverbreitung neben Ägypten, in Babylon wiederbegegnete. Eine
gegenteilige Annahme würde das Entstehen des Glaubens an die Sage
von dem Aufenthalte bei den Chaldäem jeder Grundlage berauben.
Wir nennen den Aufenthalt eine Sage, weil auch uns jetzt ein erstes
Zeugnis Strabons ohne Kenntnis des Alters seiner Quellen zur vollen
geschichtlichen Wahrheit nicht ausreicht. Immerhin bleibt die Art^
wie babylonische Elemente, deren wir auf mathematischem Gebiete
einige erkennen werden, in die pythagoraische Lehre eindrangen, und
die Rolle, welche sie darin spielten, in hohem Grade rätselhaft, wenn
wir ganz verwerfen wollten, Pythagoras selbst oder einer seiner
') Als BrQchßtück erhalten bei Porphyrius, De vita Pythagorae cap. 7,
auch bei Diogenes Laertius VIII, 8. *) Diodor I, 96.
152 6. Kapitel.
nächsten Schüler sei unmittelbar an die Quelle geraten, aus welcher
dieselben zu schöpfen waren.
Mit dem Ausdrucke Pythagoras selbst oder einer seiner nächsten
Schüler haben wir eine unleugbare Schwierigkeit bezeichnet, einen
Gegenstand wissenschaftlichen Zweifels berührt, welcher hier im Wege
liegt und zu dessen Wegräumung uns keine Mittel gegeben sind.
Die pythagoräische Schule war, wie schon oben erwähnt wurde,
eine eng geschlossene. Mag es Wahrheit oder Übertreibung genannt
werden, daß unverbrüchliches Stillschweigen überhaupt den Pythago-
räem zur Pflicht gemacht war, daß ihnen unter allen Umständen
das verboten war, was wir sprichwörtlich aus der Schule schwatzen
nennen, sicher ist, daß über den oder die Urheber der meisten pytha-
goräischen Lehren kaum irgendwelche Gewißheit vorliegt. 'Exslvog
€q>a oder Airbg iq>a, ER, der Meister, hat's gesagt, war die viel-
benutzte Redensart, und welcher Zeit dieselbe auch angehört, sie läßt,
je später sie aufgekommen sein mag, um so deutlicher die ganz un-
gewöhnliche, durch viele Jahrhunderte in der Überliefenmg sich er-
haltende geistige Überlegenheit des Pythagoras, der alles, was von
Wert war, selbst gefunden und gelehrt haben sollte, läßt aber auch
die Unmöglichkeit erkennen scharf zu sondern, was wirklich von
Pythagoras selbst, was von seinen Schülern herrührte. Vielleicht ist
es dabei gestattet aus den erwähnten inneren Gründen anzunehmen,
daß, wo ein Pyths^oräer als Entdecker bestimmt genannt ist, die
Richtigkeit der Angabe nicht leicht zu bestreiten sei, daß dagegen,
wo Pythagoras selbst der Urheber gewesen sein soll, sehr wohl eine
Namensverschiebung stattgefunden haben könne.
Einige von den Dingen, welche ganz besonders der Geschichte
der Mathematik angehören, werden wir allerdings nicht verzichten
Pythagoras selbst zuzuschreiben. Dazu gehört der pythagoräische
Lehrsatz, den wir unter allen Umständen ihm erhalten wissen
wollen. Sei es darum, daß man den Zeugnissen des Vitruvius, des
Plutarch, des Diogenes Laertius, des Proklus, so bestimmt sie auch
lauten ^), wegen ihres späten Datums kein Gewicht beilegen dürfe.
Schwerer fallen doch die in die Wagschale, welche Proklus als seine
Gewährsmänner anführt: „Die welche Altertümliches erkunden wollen"*),
sei damit, wie man gewöhnlich annimmt, Eudemus gemeint oder
nicht. Am überzeugendsten vollends ist uns die mittelbare Bestäti-
*) Diese Zeugniese zusammengestellt bei A lim an 1. c. pag. 26. k.
*) Proklus ed. Friedlein 426 x&v ftfv IcxoqeIv za &g%aloi ßovXotiivtav. Das
Wort latoQBtv besitzt bei Proklus nirgend eine spöttische Nebenbedeutung, man
darf also nicht, wie es geschehen ist, übersetzen „die alte Geschichten erzählen
wollen".
PythagoraB'Und die Pythagoräer. Arithmetik. 153
gung in dem alten Mathematikerverzeicknisse. Pythagoras^ heißt es
dort ansdrücklich, erfand die Theorie des Irrationalen. Eine solche
Theorie war aber ganz unmöglich^ eine Beschäftigong mit dem Irra-
tionalen undenkbar^ wenn nicht der Satz von den Quadraten der drei
Seiten des rechtwinkligen Dreiecks vorher bekannt war, und man
würde, wollte man Pythagoras nicht als seinen Urheber gelten lassen,
in die noch schwierigere Lage versetzt, ihn älter als Pythagoras an-
nehmen zu müssen.
Auf Grundlage des Mathematikerverzeichnisses sehen wir femer
in Pythagoras selbst wirklich den Erfinder der Konstruktion der kos-
mischen Körper, d. h. der regelmäßigen Vielflächner in einem
Sinne, der nachher noch auseinandergesetzt werden soll.
Glaubwürdig ist uns auch, was der bekannte Musikschriftsteller
Aristoxenus, einer der zuverlässigsten Gelehrten der peripatetischen
Schule, berichtet, daß Pythagoras vor allen die Zahlenlehre^) in
Achtung gehabt und dadurch gefordert habe, daß er von dem Be-
dürfnisse des Handels weiter schritt alle Dinge den Zahlen vergleichend^).
Wir glauben an die Berechtigung der Verbindung des Namens des
Pythagoras mit der musikalischen Zahlenlehre, mag das Mono-
chord von ihm herrühren oder nicht, wir glauben, daß er hauptsäch-
lich um die arithmetische Unterabteilung der Geometrie sich
bemüht habe^).
Ja wir gehen noch weiter und schreiben dem Pythagoras den
Besitz einer mathematischen Erfindungsmethode zu, des mathemati-
schen Experimentes, wie wir dieses Verfahren anderwärts genannt
haben*), womit freilich ebensowenig gesi^t sein soll, daß das Be-
wußtsein ihm innewohnte darin eine wirkliche Methode zu besitzen,
als daß er ihr Erfinder war, die er aus den in Ägypten gewonnenen An-
schauungen jedenfalls leicht abstrahieren konnte, wenn er sie nicht
fertig von dort mitbrachte.
Auf die persönliche Zuweisung sonstiger Dinge verzichten wir
und werden im folgenden von der Mathematik der Pythagoräer,
nicht des Pythagoras reden. Freilich vergrößert sich dadurch der
Zeitraum, dessen wissenschaftliches Bild wir zu gewinnen trachten,
erheblich. Wenn auch nicht bis zu den letzten eigentlichen Pytha-
goräem, deren Tätigkeit auf 366 angesetzt wird*), so doch bis vor
Piaton, etwa bis zum Jahre 400 erstreckt sich unserer Meinung nach
die mathematische Tätigkeit des Pythagoräismus als solchem. Von
*) Diogenes Laertius VIII, 14. *) Stobaeus, Ecloga phye. I, 1, 6.
^ Diogenes Laertius VIII, 12: \uxXiaxct dl iS%oXdiSai xhv JTv^ayö^ttv nBgl tb
6LQi^\Lrixi%bv sldog aiftilg (sc. YBtonBXQiag) x6v xs xdvovtt xbv i% fu&g XOQd^g s^gstv,
*) Math. Beitr. Kulturl. 92. *) Zeller I, 288, Note 6.
154 6. Kapitel.
seinen meistens namenlosen^ mitunter an bestimmte Persönlichkeiten
geknüpften Leistungen wissen wir aus verschiedenen teilweise späten^
uns jedoch in den Dingen, fttr welche wir sie gebrauchen wollen, als
zuverlässig geltenden Quellen.
Als solche Quelle betrachten wir vor allen Dingen den „Timäus"
überschriebenen Dialog des Piaton. Timäus von Lokri war ein
echter Pythi^oräer, Piaton dessen Schüler. Soll man nun annehmen,
Piaton habe diesem seinem Lehrer wissenschaftliche Äußerungen in
den Mund gelegt, die er nicht ganz ähnlich von ihm gehört hatte,
er habe ihm insbesondere Mathematisches untergeschoben? Wir
können einem solchen Gedanken uns nicht hingeben, können es um
so weniger, als Platons eigene Abhängigkeit von den Pythagoräem
in vielen Dingen durch einen so unverdächtigen Zeugen wie Aristo-
teles bestätigt wird. Die Philosophie Platons, sagt er^), kam nach
der pythi^oräischen, in vielem ihr folgend, anderes eigentümlich be-
sitzend. Eine zweite wichtige Quelle liefert uns ein Werk des Theon
von Smyrna*). Dieser Schriftsteller lebte zwar erst um 130 n. Chr.,
also in einer Zeit, wo die Mythenbildung, die Pythagorsssage, wie
man einigermaßen schroff sich ausgedrückt hat, in dem Leben des
Pythagoras von Apollonius von Tyana, in den unglaublichen
Dingen jenseits Thule von Antonius Diogenes, schon romanhafte
Gestalt gewonnen hatte. Aber für die Dinge, für welche wir Theon
gebrauchen wollen, war in einem Roman blutwenig zu schöpfen.
Man lese doch das Leben des Pythagoras von Porphyrius, das
ähnliche teilweise daran sich anlehnende Buch von Jamblichus,
man lese was Diogenes Laertius von dem Leben des Pythagoras
aufgespeichert hat, und man wird zwar unterhaltende Geschichtchen
genug finden, Mathematisches aber nur insoweit als Laien mit mathe-
matischen Wörtern um sich zu werfen imstande sind, es sei denn,
daß ältere Fachleute wie der Musiker Aristoxenus, der Rechen-
meister Apollodorus als Gewährsmänner auftreten, zu welchen als
Fachmann Jamblichus selbst hinzutritt, der uns in dieser Gestalt im
23. Kapitel begegnen wird. Was also Theon von Smyma als pytha-
goräische mathematische Lehren hervorhebt, das muß aus ganz
anderen nicht mythischen Schriften geschöpft sein, von welchen Por-
phyrius, Jamblichus in ihren Biographien des Pythagoras wenigstens
in diesem Sinne keinen Gebrauch gemacht haben.
Wer freilich solche Schriften verfaßte, und wie sie hießen, das
dürfte ein unlösbares Rätsel bleiben, wenn man auch versucht hat
*) AriatotelBB Metaphys. I, 6. *) Theanis Smymaei phihsophi Platonid
expositio rerum mathematicarum ad legendum PlaUmem utilium. £did. £d. Hill er.
Leipzig 1878.
Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 155
die zweite Frage zu beantworten^). Bei Jamblichus findet sich fol-
gendes^): ^yDie Pythagoräer erzählen^ die Geometrie sei so in die
Öffentlichkeit gelangt. Einer von den Pythagoräern habe sein Ver-
mögen verloren, und da habe man ihm gestattet^ die Geometrie als
Erwerbszweig zu benutzen.'^ Daran schließt sich die fast unverständ-
liche Stelle: 'ExaXslro dh fi ysmiistgCa ngbg TIv^ayÖQOv lörogtOy
welche unser Gewährsmann übersetzt: ,^ie Geometrie wurde aber
Überlieferung von Pythagoras genannt So ansprechend die
Vermutung an sich klingt, wobei an dem fehlenden zu lötogCa ge-
hörenden Artikel kein Anstoß genommen zu werden braucht, da Plato
eine ganz ähnliche Wendung benutzt hat^), so ist doch vielleicht die
Übersetzung löxogCa » Forschung noch richtiger. Der Satz hieße
dann auf deutsch: ,,Es wurde aber die Geometrie Forschung von
Seiten des Pythagoras genaimt^'^).
Die Benutzbarkeit des Theon von Smyma gründet sich wesent-
lich auf dem ausgesprochenen Zwecke seines Werkes. Er will die
zum Verständnis Piatons und der Platoniker nötigen Vorkenntnisse
mitteilen. Er will dabei der Reihe nach die Arithmetik mit Inbegriff
der musikalischen Zahlenverhältnisse^ die Geometrie^ die Stereometrie,
die Astronomie, die Musik der Welten behandeln. Hier finden wir
also hauptsächlich dasjenige in der Sprache des II. nachchristlichen
Jahrhunderts vorgetri^en, was von mathematischen Kenntnissen ftlr
das Studium Piatons notwendig ist. Das können aber vermöge der
selbstverständlichen Tatsache, daß wissenschaftliche Anspielungen eines
früheren Jahrhunderts nicht mit Hilfe der Errungenschaften eines
späteren Jahrhunderts sich erklären, nur solche Kenntnisse sein, die
nach Theons bestem Wissen den platonischen Schriften selbst ge-
schichtlich vorausgingen, in ihnen zur Verwertung kommen konnten.
Da femer Theon von Piaton selbst sagt, er folge oft den Pythago-
räern^), so wird seine Brauchbarkeit für uns hier vollends erhöht.
Diese beiden Werke sind also unsere Hauptquellen. Wir werden zu
ihnen auch noch aus anderen SchriftsteUem da und dort einen ge-
ringen Zufluß erhalten, die sich, wie wir sehen wollen^ zu einem
ganz stattlichen Ganzen vereinigen.
' ^) La g^omätrie Grecque, comment son histoire nous est parvenne et ce
que nouB en savons. Essai critique par Paul Tannery (Paris 1887) pag. 81.
*) De pithagorica vita (ed. Eiessling) 89 und Ansse de Villoison, Anecdota
Graeca II, 216, lin. 22 — 26, sowie Jamblichus, De communi mathematica (ed.
Festa) 78, 1—6. ■) Pia ton, Ph&don 96» xfi9 ootplag ^v dt} tiocXovoi nsgl tp^ffemg
latogiav ohne Artikel. *) So die Meinimg von W. Schmidt, der auch auf die
Parallelstelle im Phädon hingewiesen hat. *) Theon Smyrnaeus (ed. Hill er),
pag. 12.
156 6. Kapitel.
Theon hat, sagten wir, zuerst die Arithmetik behandelt. Damit
ist uns Gelegenheit geboten, eine ungemein wichtige Zweispaltnng
der Lehre von den Zahlen ins Auge zu fassen. Die ganze Mathematik
zerfiel, nach Gerainus*), in zwei Hauptteile, deren Unterschied er
darin erkannte, daB der eine Teil sich mit dem geistig Wahrnehm-
baren, der andere sich mit dem sinnlich Wahrnehmbaren beschäftige.
Geistigen Ursprungs ist ihm Arithmetik und Geometrie, sinnlichen
Ursprungs dagegen Mechanik, Astronomie, Optik, Geodäsie, Musik,
Logistik. Von den übrigen Teilen und dem, was Geminus des
weiteren über sie bemerkt, sehen wir ab. Arithmetik und Logistik
erklärt er dahin, daB die erstere die Gestaltungen der Zahl an und
für sich betrachte, die letztere aber mit Bezug auf sinnliche Gegen-
stände. Arithmetik ist ihm also eine theoretische, Logistik eine
praktische Wissenschaft. Arithmetik ist ihm, um die heute gebräuch-
lichen Wörter anzuwenden, das was seit Gauß höhere Arithmetik, seit
Legendre Zahlentheorie genannt wird. Logistik ist ihm die eigent-
liche Rechenkunst.
Diese strenge Unterscheidung war allerdings in den Zeiten pytha-
goräischer Mathematik noch nicht zum Durchbruch gelangt. Die
Pythagoräer stellten die beiden Fragen: Wie viel? und Wie groß?*)
In der Beantwortung beider trennten sie aufs neue. Das eine Mal
wurde die Vielheit an sich in der Arithmetik, die Vielheit
bezogen auf anderes in der Musik behandelt. Das andere Mal
bildete die ruhende Größe den Gegenstand der Geometrie, die
bewegte Größe den Gegenstand der Sphärik.
Bei manchem Wechsel der sonstigen Systematik blieb die eigent-
liche Arithmetik vom VL bis zum L vorchristlichen Jahrhundert, von
den Pythagoräem bis zu Geminus fast mit gleichem Inhalte aus-
gestattet, und dieser gleichartige Inhalt wahrte sich weiter, solange
überhaupt in griechischer Sprache über diesen Teil der Mathematik
geschrieben wurde. Einiges kam natürlich im Laufe der zeitlichen
Entwicklung hinzu. In die griechische Arithmetik drang ein, was
wir jetzt Algebra oder Lehre von den Gleichungen nennen, soviel
davon bekannt war. Ihr gehörte die Lehre von den nach bestimmten
Gesetzen gebildeten Reihen und deren Summierung, ihr die Propor-
tionenlehre an, wie sie nach und nach in weiterem und weiterem
Umfang sich bildeten, aber niemals begriflF die Arithmetik das eigent-
liche Rechnen unter sich.
Wir werden uns wohl der Wahrheit nähern, wenn wir annehmen,
*) Proklus ed. Friedlein, pag. 88. Vgl. auch Nesselmann, Algebra
der Griechen, S. 40flgg. *) Proklus ed. Friedlein, pag. 35— 36.
Pythagoras nnd die Pythagoräer. Arithmetik. 157
die Logistik, die Rechenkunst, sei erst allmählich als Gegenstand
schriftlicher Unterweisung in Büchern behandelt worden. Sie ver-
dankte vorher ihre unentbehrliche Verbreitung vorwiegend dem münd-
lichen Unterricht. Sie war allgemeines Bedürfnis, nicht Wissenschaft,
und es mag lange gedauert haben, bevor es einem Rechenmeister ein-
fiel, über den Inhalt seines Unterrichts sich schriftlich auszusprechen.
Zu dieser Annahme gelangen wir von der Erwägung aus, daß eine
Logistik bestand und ims quellenmäßig gesichert ist, lange bevor wir
von Büchern über dieselbe hören. Ihr Name kommt schon in einem
platonischen Dialoge vor, wo die Logistik der Arithmetik gegenüber-
gestellt ist^), und in einem anderen Dialoge des gleichen Verfassers
ist von den Logistikem*) die Rede.
Wenn wir bei der Betrachtung der pythagoräischen Mathematik
von den arithmetischen Dingen ausgehen, so folgen wir nur der
Aussage, welche in dieses Gebiet die wesentlichsten Leistungen des
Pythagoras verlegt, und welche, selbst wenn ihr kein Gewährsmann
von der Bedeutung des Aristoxenus Gewicht verliehe, in dem allge-
meinen Bewußtsein, daß die der Arithmetik nächststehende Zahlen-
symbolik so recht eigentlich altpythagoräisch war, ihre Rechtfertigung
finden könnte. Wir haben ein Beispiel pythagoräischer Zahlenmystik
an früherer Stelle (S. 42) verwertet. Ein anderes mag hier Platz
finden, welches gleichfalls Plutarch ims aufbewahrt hat: Es haben
sich aber wohl die Ägypter die Natur des Weltalls zunächst unter
dem Bilde des schönsten Dreiecks gedacht; auch Piaton in der Schrift
vom Staate scheint das Bild gebraucht zu haben, da wo er ein Ge-
mälde des Ehestandes entwirft. Das Dreieck enthält eine senkrechte
Seite von 3, eine Basis von 4 und eine Hypotenuse von 5 Teilen,
deren Quadrat denen der Katheten gleich ist. Man kann nun die
Senkrechte mit dem Männlichen, die Basis mit dem Weiblichen, die
Hypotenuse mit dem aus beiden Geborenen vergleichen und somit
den Osiris als Ursprung, die Isis als Empfängnis und den Horus als
Erzeugnis denken^. Mit dem Vorbehalte auf diese nicht unwichtige
Stelle zurückzukommen, benutzen wir sie hier nur als freilich spätes
Beispiel pythagoräischer Zahlenspielerei, dem eine übergroße Menge
ähnlicher Dinge, Vergleichungen von Zahlen mit einzelnen Gottheiten
oder Vergleichungen von Zahlen mit gewissen sittlichen Eigenschaften
usw. aus älterer und ältester Zeit zur Seite gestellt werden könnte*),
wenn die Geschichte der Mathematik neben dem allgemeinen Ver-
gleiche mit babylonischen Gedankenfolgen einen besonderen unmittel-
*) Platon, Gorgias 461, B. •) Piaton, Euthydemus 290, B. ») Plu-
tarch, De Iside et Osiride 56. *) Eine reiche Sammlang von Stellen bei
Zeller I, 334 — 346, namentlich in den Anmerkungen.
158 6. Kapitel.
baren Nutzen daraus zu ziehen imstande wäre. Allenfalls könnte
dieses für einen Satz zutreflFen, welcher, wie sich zeigen wird, durch
Jahrhunderte sich forterbte, den Satz: daß die Einheit Ursprung
und Anfang aller Zahlen, aber nicht selbst Zahl sei^).
Wir werden bald sehen, daß die Pythagoräer es liebten auf
Gegensätze ihr Augenmerk zu richten, und ein solcher Gegensatz war
der zwischen Primzahlen und zusammengesetzten Zahlen. Ein
alter Pythagoräer, Thymaridas von Paros^ war es vermutlich,
der den Primzahlen den Namen der geradlinigen Zahlen, aQtd'fwl
eöd^yQafifiixol^ beilegte'), jedenfalls im Gegensatze zu Flächen-
zahlen, von welchen auch noch in diesem Kapitel die Rede sein
wird. Derselbe Thymaridas aber hat sich ein außerordentlich viel
größeres Verdienst dadurch erworben, daß er ein Verfahren zur Auf-
lösung gewisser Aufgaben erfand, welches von hoher Tragweite ist,
und welches wir nach Jamblichus auseinandersetzen^). Das Ver-
fahren muß sehr verbreitet gewesen sein. Dafür bürgt außer Gründen,
welche im 29. Kapitel auf indischem Boden sich ergeben werden, der
doppelte Umstand, daß Jamblichus es geradezu als eine Methode,
€q)odog^ bezeichnet und es mit einem bestimmten Namen nennt,
welcher demselben schon früher eigentümlich gewesen zu sein scheint.
Das Epanthem, d. h. die Nebenblüte des Thymaridas, besteht in
folgendem^): „Wenn gegebene {d)Qi0iiava) und unbekannte Größen
{aÖQiöta) sich in eine gegebene teilen und eine von ihnen mit jeder
anderen zu einer Summe verbunden wird, so wird die Summe aller
dieser Paare nach Subtraktion der ursprünglichen Summe bei drei
Zahlen der zu den übrigen addierten ganz zuerkannt, bei vier deren
Hälfte, bei fünf deren Drittel, bei sechs deren Viertel und so fort.'^
Damit ist gemeint, daß, wenn n Unbekannte o;^, x^, x^, - - -jX^ heißen,
und wenn außer ihrer Gesamtsumme x^ + x^ + x^ + - - * + x^ ^ 8
die Summe der ersten Unbekannten x^ mit jeder der folgenden Unbe-
kannten einzeln gegeben ist, also x^ + x^^ a^, Xy+x^^a^y • • • a?! -f x^
«» a^ ,, daß alsdann x. =»— *" * "^ "u^-i"^ gein muß. Das ist,
^) Vgl. Aristoteles, Metaph. XUI, 8, femer Nicomachus, Eisagoge
arithmet. II, 6, 8 (ed. Ho che pag. 84) und am deutlichsten bei Theon Smyr-
naeus (ed. Hiller) pag. 24: oi^e Sb ii \LOvag Agid^fibg, &Uä &qxV ^Qt^^y^^-
*) Paul Tanne ry, Pour Thistoire de la science Hellene (Paris 1887) pag. 382
bis 886 über die Persönlichkeit des Thymaridas. *) Jamblichus Chalciden-
sis in Nicomachi Geraseni arithmeticam introductionem (ed. Tennulius 1668)
pag. 86, (ed. Pistelli 1894) pag. 27, 4. *) Ebenda (ed. Tennulius) pag. 89,
(ed. Pistelli) pag. 62, 19. Diese verderbte und darum ungemein schwierige
SteUe hat zuerst Nesselmann, Algebra der Griechen S. 232 flgg. richtig erklärt.
^) Wir benutzen die Übersetzung Nesselmanns.
Pythagoras und die Pjthagoräei. Arithmetik. 159
wie man sieht^ YoUständig gesprochene Algebra, welcher nur Symbole
fehlen, um mit einer modernen Oleichungsauflösung durchaus über-
einzustimmen, und insbesondere ist mit Recht auf die beiden Eunst-
ausdrücke der' gegebenen und unbekannten Große aufmerksam
gemacht worden.
Genug die Pythagoräer, seit Gh-ündung der Schule, beachteten
die Zahlen und wußten yerschiedene Gattungen derselben, so nament-
lich die geraden und ungeraden Zahlen, erstere als agrioL^ letztere
als TtBQtööolf zu unterscheiden^). Diese Unterscheidung war so land-
läufig, daß zu Piatons Zeit das Spiel „Grad oder Ungrad" schon in
Übung war*). Wir erinnern uns, daß auch den Ägyptern dieser
Unterschied nicht entgangen war, wie wir aus der Einrichtung ihrer
Zerlegungstabelle für Brüche schließen durften (S. 64). Ob sie frei-
lich bestimmte Namen für das Gerade und für das Ungerade hatten,
was zum rollen Bewußtsein dieser Zahlengattungen gehört, das schwebt
so lange im Dimkel, als nicht ein ägyptisches theoretisches Werk
entdeckt ist, dessen Notwendigkeit zur Ergänzung des Übungsbuches
wir eingesehen haben. Letzteres enthält jedenfalls solche Namen
nicht.
Die Pythagoräer sahen überdies in den geraden und ungeraden
Zahlen Glieder von Reihen, nannten solche Reihen gl ieder Zqoi und
besaßen vermutlich in dem Worte ixd^söig auch einen Namen ftlr den
Begriff von Reihe selbst*). Auch diese Tatsache kann uns nicht in
Erstaunen setzen, nachdem die Kenntnis der arithmetischen wie der
geometrischen Reihe bei Ägyptern und Babyloniem, die Kenntnis
der Summenformel für arithmetische Reihen mit Gewißheit, für geo-
metrische Reihen als Möglichkeit bei den Ägyptern festgestellt werden
konnte.
Mit den Reihen der geraden und ungeraden Zahlen wurden bei
den Grriechen — wir behaupten bei den Pythagoräem — nach den
Zeugnissen des Theon von Smyma mannigfache Summierungen vor-
genommen. Man addierte die sämtlichen aufeinanderfolgenden
Zahlen der natürlichen Zahlenfolge von der 1 bis zu einem beliebig
gewählten Endgliede und fand l-t-2 + 3H hw = ** ^--^ die
Dreieckszahl^). Man addierte die ungeraden Zahlen für sich und
*) ^ ye nav Agi^fibg ix^i Svo iikv tSsa BÜ&ri nsgiCübv %al '&Qttov heißt es
in einem Fragmente des Philolans. Vgl. Zelle i 1, 299, Anmerkg. 1 und
Chaignet I, 228. *) Pl'aton, Lysis pag. 206. *) Vgl. Bienaym^ in einer
Notiz über zwei Stellen des Stobäus in den Camptes renalis der Pariser Aka-
demie der Wissenschaften vom 3. Oktober 1870. *) Theon Smyrnaeus (ed.
Hiller) 31.
160 6. Kapitel.
fand 1 + 3 + 5 H — • + (2w — 1) «- n* die Quadratzahl, zu deren
Erklärung man eben diese Entstehungsweise benutzte^). Man addierte
die geraden Zahlen für sich und fand 2 + 4 + 6 H h 2w = M(n + 1)
die heteromeke Zahl*), d. h. das Produkt zweier Faktoren, deren
einer um die Einheit größer ist als der andere, und welches eben
dieses Größersein der einen Zahl in seinen Namen aufnahm.
Wir haben hier arithmetische Erklärungen und Lehrsatze den
Pjthagoraem überwiesen, welche trotz ihres Vorkommens bei Theon
von Smyma, trotz der von uns Torausgeschickten allgemeinen Recht-
fertigung der Benutzbarkeit seines Werkes für diese weit zurückliegende
Zeit, einigermaßen stutzig machen könnten. Da wir in unseren Fol-
gerungen noch weiter zu gehen gedenken, so dürfte es nicht unzweck-
mäßig sein, andere Beweisgründe für die Richtigkeit unserer Annahme
hier einzuschalten, welche ein bedeutend älterer Schriftsteller von all-
seitig anerkannter Zuverlässigkeit, mit einem Worte, welche Aristo-
teles uns liefert. In dessen Metaphysik^) finden wir die sogenannte
pythagoräische Kategorientafel, in welcher zehn Paar ßrund-
gegensätze aufgezählt werden, die der pythagoräischen Schule angehört
haben. Diese heißen 1. Grenze und Unbegrenztes; 2. Ungerades und
Gerades; 3. Eines und Vieles; 4. Rechtes und Linkes; 5. Männliches
und Weibliches; 6. Ruhendes und Bewegtes; 7. Gerades und Krummes;
8. Licht und Finsternis; 9. Gutes und Böses; 10. Quadrat und Hetero-
mekie. Wir dürfen vielleicht annehmen, daß unter dem 3. Paare die
Primzahlen und zusammengesetzte Zahlen inbegriflFen sind. Wir er-
kennen in den beiden mit 2. und 10. bezeichneten Paaren die Zu-
sammengehörigkeit des Ungeraden mit dem Quadrat, des Geraden mit
der Heteromekie, und sollte diese Zusammengehörigkeit nicht in der
Entstehungsweise der Quadrate und der Heteromeken ihre vollgültige
B^ründung finden? Allerdings hat man, wie wir sehen werden, eine
andere Erklärung gesucht, weshalb das 10. Paar, dessen Vorhanden-
sein unter allen Umständen einer Rechtfertigung bedarf, weil seine Gegen-
sätze nicht so scharf und natürlich sind, wie die der neun anderen
Paare, Aufiiahme gefunden habe. Wir sind nicht gewiUt, jene andere
Erklärung schon jetzt geradezu zu verwerfen, aber noch weniger auf
die unsrige zu verzichten. Konnte es doch in der Tafel der Grund-
gegensätze, auf welche alle Erscheinungen zurückzuführen sind, nur
erwünscht sein, durch ein Paar sofort zwei wesentlich verschiedene
Beziehungen dargestellt zu wissen. Ist doch überdies mindestens die
Entstehung des Quadrats als Summe der mit der Einheit beginnen-
*) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) 28. *) Ebenda 27 und 31. *) Ari-
stoteles, Metaphys. I, 6, 6, vgl. Zeller, 5. Aufl. I, 854, Anmerkg. 8.
Pjthagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 161
den ungeraden Zahlen wieder durch Aristoteles als echt pythago-
raisch bezeugt^).
Aristoteles bedient sich dabei eines Wortes, welches für uns
von großer und vielfacher Wichtigkeit ist, des Wortes Gnomon.
Was ist ein Gnomon? Wörtlich genommen ein Erkenner^ und
zwar bedeutete es zunächst einen Erkenner der Zeit, dann der senk-
rechten Stellung, welche der Stab, um als Schattenwerfer und Stunden-
zeiger Anwendung finden zu können^ einnehmen mußte. So wurde
das Wort allmählich aus einem Kunstausdrucke der praktischen Astro-
nomie zu einem solchen der Geometrie, und man sagte „die nach dem
Gnomon gerichtete Linie*'*), wenn man von einer Senkrechten reden
wollte. Der Sinn des Wortes veränderte sich aber nun noch weiter.
Ein mechanisch herzustellender rechter Winkel
(Fig. 20) wurde so genannt oder geometrisch aus-
gedrückt: Gnomon war das, was von einem Qua-
drat übrig blieb, wenn aus dessen einer Ecke ein
kleineres Quadrat herausgeschnitten wurde. Diese
Bedeutung des Wortes war bei den Pythago-
nlem gang und gebe. Den untrüglichen Beweis
dafür liefert ein erhaltenes Bruchstück des Phi- ^*' ^*
lolaus^, eines Pythagoräers, dessen Lebenszeit so ziemlich gleich-
mäßig von den Grenzen des Jahrhunderts zwischen 500 und 400
abstehen möchte. Ebendemselben Philolaus dürfte auch der Be-
griff des zusammengesetzten Verhältnisses schon bekannt gewesen
sein, welcher uns im 12. Kapitel begegnen wird. In noch späterer Zeit
verschob sich die Bedeutung des Wortes Gnomon noch weiter. Euklid
stellte um 300 die Definition auf, in einem Parallelogramme heiße ein
jedes der um die Diagonale herumliegenden Parallelogramme mit den
beiden Ergänzungen zusammen ein Gnomon^). Der Sinn dieser im
Wortlaute nicht allzu deutlichen Erklärung ist folgender. Werden in
einem Parallelogramme durch einen und denselben Punkt der Diagonale
Parallellinien zu den beiden Seiten gezogen,
so entstehen (Fig. 21) zwei in unserer Figur
wagerecht schraffierte Parallelogramme, und
zwei in unserer Figur schräg schraffierte
Er^nzungsdreieckchen. Diese vier kleinen ng 21
^) Aristoteles, Physic. m, 4. Vgl. Zeller I, 800, Anmerkung und
Chaignet ü, 61—62. *) Proklus ed. Friedlein 283, 9. ') Philolans, des
Pythagoreers Lehren nebst den Bruchstücken seines Werkes von Aug. BOckh.
Berlin 1819, Fragment 18, S. 141. — Chaignet I, 240. — Wm. Romaine
Newbold, Philolaus. Archiv fOr Geschichte der Philosophie XTX, 176 — 217
(Berlin 1906). *) Euklid, Elemente II, Definition 2.
Oaittob, Oetohlohte der Mathematik L 8. Aufl. 11
162
6. Kapitel.
Figuren zasammeii bilden das euklidische Gnomon^ eine Verallgemeine-
rung des älteren Begriffes insofern^ als ein Stück aus einem Parallelo-
gramme statt aus einem Quadrate herausgeschnitten wird^ um es her-
vorzubringen. Noch etwas allgemeiner wird die Erklärung, welche
nachmals Her on ron Alexandria gab: Alles was zu einer Zahl oder
Figur hinzugefügt das Oanze dem ähnlich macht, zu welchem hinzugefügt
worden war, heißt Gnomon^). Doch auch diese letzte Verallgemei-
nerung knüpft wieder an alte Begriffe an, indem schon Aristoteles
sagt, wenn man ein Gnomon um ein Quadrat herumlege, werde zwar
die Größe, aber nicht die Art der Figur verändert^.
Nachdem wir erörtert haben, was ein Gnomon in der Geometrie
bedeute, ist der Zusatz wohl leicht yerständlich, daß in alten Zeiten
die ungerade Zahl auch wohl Gnomonzahl genannt wurde. Denken
wir uns nämlich ein Quadrat, dessen Seite n Längeneinheiten mißt,
und beabsichtigen wir dieses Quadrat zum nächstgrößeren mit der
Seite von n + 1 Längeneinheiten durch Hinzufügung eines Gnomon
zu ergänzen, so ist klar, daß dieses Gnomon bestehen wird aus einem
Quadratchen yon der Seite 1 und aus zwei Rechtecken von den Seiten 1
und n, daß es also 1 +2 xn Flächeneinheiten besitzen wird,
welche in der Tat die vorhandenen n^ Flächeneinheiten des früheren
Quadrates zu den (n + ly Flächeneinheiten des neuen Quadrates er-
gänzen. Das heißt in Zahlen: die Quadratzahl n^ wird zur imchsten
Quadratzahl (w + 1)*, wenn man ihr die Gnomonzahl 2n -f 1 bei-
fügt So sind wir zum Verständnis der vorher angedeuteten Stelle
der aristotelischen Physik gelangt^), einem Verständnis, in welchem
wir uns mit allen alten und neuen Erklärem zusammenfinden. Die
Pythagoräer, sagt dort Aristoteles, hätten die Quadratzahlen ge-
bildet, indem sie die Gnomonen allmäh-
lich zur Einheit hinzufügten. Das will
eben nichts anderes heißen als (Fig. 22)
die Pythagoräer haben die Summierung
1 -j- 3 -f- 5 + • • • + (2n-- 1) « w* vollzogen,
haben dieses Verfahren mit klarer Ein-
sicht in den dann zutage tretenden Ge-
danken ausgeübt.
Sehen wir einen Augenblick von der
arithmetischen Wichtigkeit des Satzes, der
uns beschäftigt hat^ ab, so ist er uns auch
für die älteste Geometrie ein später noch zu verwertendes Zeugnis.
^) Heron Alexandrinus (ed. Hultsch) Definit. 69, pag. 21. *) Aristo-
teles, Categor. XIV, 6 und XI, 4. Vgl. Chaignet 11, 62, Note 2. •) Aristo-
teles, Physic. m, 4.
Fig. 22.
Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 163
Er läßt uns erkennen^ daß die Pythagoräer den Zusammenliang,
welcher zwischen den Seiten eines Quadrates ^ eines Rechteckes und
deren Flächeninhalt stattfindet^ mehr als nnr ahnten^ was freilich bei
Schülern einer aus Ägypten eingewanderten Geometrie nicht ver-
wundern kann. Er läßt uns femer die Kenntnis der eigentümlichen
Figur des Gnomon beachten. Einen mechanisch herzustellenden
rechten Winkel nannten wir oben diese Figur^ und in der Tat ist
das Alter dieses Werkzeugs geradezu sagenhaft. In Ägypten sind
wir ihm (S. 105) auf der bildlichen Darstellung einer Schreinerwerk-
stätte begegnet; und bei Plinius hat sich die Überlieferung erhalten,
die Werkzeuge der Architekten, wie Axt, Säge, Bohrer, Setzwage
rührten von Dädalus xmd dessen Neffen Talus her, welche vor dem
trojanischen Kriege lebten, der rechte Winkel von Theodorus von
Samos, einem der Erbauer des Tempels von Ephesus um das Jahr
600 etwa^).
Und noch etwas lernen wir aus der pythagoräischen Begründimg
des Satzes von der Entstehung der Quadratzahlen: die Neigung
zur geometrischen Versinnlichung von Zahlengrößen und
deren Verknüpfungen, welche wir für griechische Eigentümlich-
keit halten, entsprechend dem viel und mit Recht gerühmten plasti-
schen Sinne der Hellenen. Der erste Anstoß könnte ja, wenn man
für aUes eine äußere Veranlassung suchen wollte, in der ägyptischen
uns aus dem Übimgsbuche des Ahmes bekannten Gewohnheit den
Figuren die Maßzahlen ihrer Längen, ihrer Flächen beizuschreiben
gefunden werden, aber immerhin läßt das griechische Verfahren sich
als einen Gegensatz zu diesem ägyptischen bezeichnen. Bei dem
einen handelt es sich um die Möglichkeit geometrische Gebilde in
Rechnung zu bringen, bei dem anderen um die Möglichkeit das Er-
gebnis rechnender Überlegung den Sinnen erfaßbar zu machen. Die
Gnomonzahlen waren unter den bis hierher besprochenen nicht die
einzigen, deren Versinnlichung die Pythagoräer sich angelegen sein
ließen. Die Quadratzahlen selbst bilden ein anderes Beispiel, ein
anderes die Heteromeken. Auf die Versinnlichung führen auch die
Namen Flächen- und Körperzahlen zurück, zu deren pythago-
räischem Vorkommen wir uns nunmehr wenden.
Im platonischen Timäus findet sich eine Stelle, welche etwa
folgendermaßen heißt: Um mit zwei Flächen eine geometrische Pro-
portion zu bilden, deren äußere Glieder sie sein sollen, genüge es eine
dritte Fläche als geometrisches Mittel anzusetzen; sollen aber zwei
Körper die äußeren Glieder einer geometrischen Proportion sein, so
^) Plinius, Histor. natural. VII, 66.
11*
164 6. Kapitel.
müsse man zwei Yoneinander yerschiedene innere Glieder annehmen,
weil ein geometrisches Mittel nicht vorhanden sei^).
Flächen und Körper können hier nur als Zahlen und zwar als Pro-
dukte von zwei beziehungsweise von drei Faktoren angesehen werden.
Das heißt man wußte damals , daß im allgemeinen das Maß einer
Flache, eines Körpers gefunden werde, indem man zwei, drei Ab-
messungen miteinander vervielfältigte. Die Erklärung von Flächen-
und Körperzahlen als solcher Produkte ist ausgesprochen bei Euklid*),
sie ist ausgesprochen bei Theon von Smyma*). Beide bedienen sich
der Namen aQtd'fiol hnlnsSoi ftlr die Flächen-, ägi^yLol öxbqboC för
die Körperzahlen, und der pythagoräische Ursprung derselben beweist
sich aus der eben hervorgehobenen Tatsache, daß nur mit ihrer
Hilfe die Timäusstelle zur Klarheit gelangt. Denken wir uns PiP^p^
QiQi^i ^ sechs Primzahlen und jedenfalls keine von den Primzahlen p
einer Primzahl q gleich. Nun ist p^p^ eine Flächenzahl, q^^q^ eine
zweite. Deren geometrisches Mittel läßt sich bilden, d. h. j/pift^ift
ist rational ausziehbar, sofern p^ =^ P% ^i^d zugleich q^ =&• Die
gefundene Proportion heißt unter Weglassung der in diesem Falle
unnötig gewordenen Indices p^ : pq ^ pq: 3* und es genügte wirk-
lich eine dritte Fläche als geometrisches Mittel anzusetzen, um mit
den angegebenen beiden Flächen eine geometrische Proportion zu
bilden, deren äußere Glieder sie sein sollten. Körperzahlen werden
femer sowohl Pi - p^ - P^ ^ 9i * & ' 9s- Deren geometrisches Mittel
VPiPiPiii^iQz IS* Ä^ör ^i® rational, wenn die Vorschrift; kein p einem
q gleich werden zu lassen eingeb alten wird, mögen die p und die q
je unter sich gleich oder verschieden sein. Durch zwei Mittelglieder
dagegen läßt sich die Proportion in mannigfaltiger Weise ergänzen
z.B. fti>,i)8 iPtP^qi = &28P8:9i92?8 odeTp^p^pj^:p^p^q^=q^q^p^:q^q^q^
usw. Im Timäus heißt das so: Sollten zwei Körper die äußeren Glieder
einer geometrischen Proportion sein, so mußte man zwei voneinander
verschiedene innere Glieder annehmen, weil ein geometrisches Mittel
nicht vorhanden ist Werden hier die p und die q wieder alle als
unter sich gleich betrachtet und läßt man deshalb die Indices wieder
weg, so entsteht p^ : p^q «= pq^ : q^ oder p' : pq^ = p^q : q\ Eine andere
Auswahl von Mittelgliedern gibt es in diesem besonderen Falle nicht.
Gerade er hat sich auch anderweitig erhalten. Euklid beweist, daß
zwischen zwei Quadratzahlen eine, zwischen zwei Kubikzahlen zwei
*) iJtudes sur U Timee de PkUan par Th. H. Martin I, 91 und 837—846
und Hnltsoh in Fleckeisen und Masius, Neue Jahrbücher für Philologie
und Pädagogik. Jahrgang 1878. Bd. 107, 498—601. •) Euklid VII, Defini-
tionen 16 und 17. *) Theon Smjrnaeus (ed. Hiller), pag. 36—37 und
häufiger.
Pythagoras und die Pythagorfter. Arithmetik. 165
mittlere Proportionalen fallen^) und Nikomachns nennt diese beiden
Sätze ausdrücklich platonisch')^ ohne Zweifel in Berücksichtigung
der damals allgemein bekannten Timäusstelle.
Eben diese Stelle hat bei der ausführlicheren Besprechung noch
erhöhte Bedeutsamkeit für uns gewonnen. Zwei wichtige Tatsachen
gelangten dadurch zu unserem Bewußtsein^ die eine daß der Begriff
des Irrationalen der Schule des Pythagoras angehörte, die andere daß
dieselbe Schule sich viel mit Verhältnissen beschäftigte. Auf den
ersteren Gegenstand kommen wir im nächsten E^apitel bei Gelegenheit
des pythagoräischen Lehrsatzes zu reden. Von den Verhältnissen
handeln wir sogleich.
Schon die Beziehung zwischen zwei Zahlen, welche wir heute als
einen Bruch bezeichnen, gehört hierher. Die Griechen hatten für
solche Beziehungen die yerschiedensten Namen. Jedes -r{ ^^^
z. B. ktifiÖQLOv, und Archytas hat schon den Satz ausgesprochen
und bewiesen*), daß wenn ein Epimorion ^ auf seine kleinste Be-
nennung gebracht werde, welche etwa — heiße, immer v — ^ + 1 sei^
müsse. Da nämlich a : /3 » fi : i/, so ist a^ y(i, ß '=' yv. Femer folgt
aus ^ : V =» n : (w + 1), daß v — ft + - und bei - «= d, daß fi ==« nd,
V = (n + l)d. Nun kann - = , ^ ., . nur dann als auf die kleinste
Benennung gebracht erscheinen, wenn d « 1, d. h. wenn /iA = n,v — n+1
oder V = ft + 1 ist. Satz und Beweis haben sich in musikalischen
Schriften von Euklid {Karatoiiij Tcavövog) und Boethius, von
welchen im 13. und im 27. Kapitel die Rede sein wird, erhalten, doch
ist dort der Beweis für heutige Leser vielleicht nicht ganz so durch-
sichtig wie in unserer Wiedergabe, weil er nach griechischer Gewohn-
heit an Strecken geführt ist, welche bald durch einen einfachen Buch-
staben, bald durch zwei Buchstaben (den Endpunkten der betreffenden
Strecken zugehörend) bezeichnet sind. Bei Boethius ist auch beach-
tenswert, daß er, dem die Einheit keine Zahl war, zwischen Zahl und
Einheit unterscheidet.
Wir sind nicht auf die Timäusstelle allein angewiesen, um die
Analogien und Mesotäten, das sind die griechischen Namen für
Verhältnisse und dabei auftretende Mittel, für die Pythagoräer in
') Enklid YIII, 11 und 12. *) Nicomachns, Eisagoge arithm. II, 24, 6
(ed. Hoche), pag. 129. ") P. Tannery in der Bibliotheca Mathematica 8. Folge,
Bd. VI, 225—229 unter Benxfang anf Musici Scriptores (ed. ▼. Jan pag. 162)
und Boethius, De institutione musica m, 11 (ed. Friedlein pag. 286).
166 6. Kapitel.
Ansprucli zu neHmen. Ein bei Nikomachus aufbewahrtes Bruchstück
des PhilolauB*) läßt den Würfel die geometrische Harmonie
genannt werden^ weil seine sämtlichen Abmessungen yöllig gleich unter-
einander und somit in vollständigem Einklänge seien. Dementsprechend
habe man den Namen harmonisches Verhältnis wegen der Ähn-
lichkeit mit der geometrischen Harmonie eingeführt. In der Tat
spiegle sich dieses Verhältnis in jedem Würfel mit seinen 12 Kanten,
8 Ecken und 6 Flächen ab. Wir haben kaum notwendig diese Stelle
noch zu erläutern und zu bemerken, daß 6, 8, 12 in stetigem harmo-
nischen Verhältnisse stehen, weil -z- "" v =" y"" 12*
Ein bei Porphyrius erhaltenes Bruchstück des soeben erwähnten
Pythagoräers Archytas^) spricht nicht nur von dem arithmetischen,
dem geometrischen und dem harmonischen Mittel, er definiert
sie geradezu, und zwar die beiden ersten in der heute noch gebräuch-
lichen Weise. Bei dem harmonischen Verhältnisse, fährt er fort, über-
tri£Pt das erste Glied das zweite um den gleichen Teil seiner selbst,
wie dieses mittlere Glied das dritte um den Teil des dritten. In
Buchstaben geschrieben heißt das: b ist harmonisches Mittel zwischen
a und c, wenn a ^ b -\ — - und zugleich 6 « c + — Wirklich
folgt aus diesen beiden Gleichungen , "^ = — und daraus ^
JL — JL
"6 a'
Jamblichus') führt die Kenntnis der drei stetigen Proportionen,
der arithmetischen, geometrischen und harmonischen, auf Pythagoras
und seine Schule zurück und läßt die musikalische Proportion,
welche aus zwei Zahlen, deren arithmetischem und harmonischem
Mittel sich bilde (a : ^^ = ^^ : 6, z. B. 6 : 9 - 8 : 12), durch
Pythagoras aus Babylon, wo sie erfunden worden sei, zu den Hellenen
bringen.
Es fallt nicht schwer das Auftreten der harmonischen Proportion
auch von ägyptischen Anfängen aus zu erklären. War doch in der
Bezeichnung der Stammbrüche durch ein Pünktchen über der den
Nenner bildenden Zahl die Zumutung, möchten wir sagen, mit ent-
halten, neben solchen Zahlen a, b, c, welche eine arithmetische Reihe
^) Nicomachus, Eisagoge arithm. II, 26, 2 (ed. Hoche), pag. 135. Vgl.
Boeckh, Philolaus fragm. 9, S. 87. Chaignet I, 238. *) Porphyrina ad
Ptolemaei Harmonica. Vgl. Gruppe, üeber die Fragmente des Arohytas und
der aiteien Pythagoreer. Berlin 1840, S. 94. Chaignet I, 282^283. ") Jam-
blichuB, Introductio in Nicomachi arithmeticam (ed. Tennulius), Am-
heim 1668, pag. 141—142 und 168 (ed. Pistelli) pag. 100 und 118.
Pjthagoras und die Pjtbagoräer. Arithmetik. 167
darstellen y auch eben dieselben punktiert zu betrachten, und dann
hatte man die harmonische Reihe, deren musikalische Bedeutung bei
der Entstehung der Töne auf dem Monochorde wohl erst in zweiter
Linie bemerkt worden sein mag. Allerdings ist andererseits nicht zu
rergessen, daß im alten Ägypten eine Froportionenlehre noch nicht
nachgewiesen hat werden können, daß arithmetische und geometrische
Reihen wie in Ägypten so auch in Babylon bekannt waren, daß nach
dem letzteren Orte Quadratzahlen und Eubikzahlen hinweisen. Wir
erinnern femer daran, daß Jamblichus sich genauer mit Ghaldäischem
beschäftigte (S. 51) und sind darum trotz der späten Zeit, in welche
seine schriftstellerische Tätigkeit fällt, sehr geneigt diesen seinen
Worten soweit Glauben zu schenken, als sie alte gräkobabylonische
Beziehungen betreffen. Auch mehr oder weniger auf Zahlenspielerei
herauskommende Zahlenyerknüpfungen, Yergleichung von Zahlen mit
einzelnen Götterfiguren, das sind lauter Dinge, die den Babyloniem, die
den Pythagoräem eigen sind. DafHr aber, daß wir alles in der pytha-
goräischen Schule von solchen Dingen Vorgetragene auch in ihr er-
funden lassen sein sollten — der einzige Ausweg, wenn jede Verbin-
dung mit Babylon verworfen wird — dafQr erscheinen uns dieselben
zu entwickelt. Solche arithmetische Kenntnisse setzen eine ganze
lange Vorgeschichte voraus. Die Überzeugung davon würde nun
ungemein befestigt, wenn es wahr sein sollte, daß auch die befreun-
deten und vollkommenen Zahlen bereits der pythagoräischen Schule
angehörten.
Befreundete Zahlen sind solche, wie 220 und 284, von welchen
jede gleich der Summe der aliquoten Teile der anderen ist: 220 » 1
+ 2 -f 4 -f 71 + 142 und 284 - 1 + 2 + 4 + 5 -f 10 + 11 + 20 + 22
+ 44 + 55 + 110. Jamblichus führt deren Kenntnis auf Pythagoras
selbst zurück^). Man habe ihn befragt, was ein Freund sei, und er
habe geantwortet: „Einer der ein anderes Ich ist, wie 220 und 284.^'
Wir möchten freilich auf diese Behauptung wenig Gewicht legen und
kein größeres darauf, daß im IX. S. ein arabischer Gelehrter Täbit
ihn Eurra ftlr die Kenntnis der befreundeten Zahlen auf die Pytha-
goräer verwies^. Letzterer kann sehr wohl seine Wissenschaft dieses
XJmstandes aus Jamblichus geschöpft haben, ersterem kann vorge-
schwebt haben, daß die Innigkeit der Freundschaften unter den Pytha-
gorilern von jeher als kennzeichnend fOr diese Schule galt').
Vollkommene Zahlen sind solche, welche wie 6, 28, 496 der
') Jamblichus in Nicomach, arithm. ed. Tennulias pag. 47 — 48 ed.
Pietelli pag. 86. *) Vgl. Woepke im JaumcU Aßiatique, lY. S^rie, T. 20 (Jahr-
gang 1862), pag.420. *) Vgl. Zeller I, 271, Anmerkung 8.
168 6. Kapitel.
Summe ihrer aliquoten Teile gleich sind: 6=«l + 2 + 3; 28 = 1
+ 2 + 4 + 7 + 14; 496 « 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 31 + 62 + 124
+ 248. Daneben unterscheidet man überschießende und mangel-
hafte Zahlen^ wenn die aliquoten Teile eine zu große beziehungs-
weise zu kleine Summe liefern, wie z. B. 12 < 1 + 2 + 3 + 4 + 6;
8 > 1 + 2 + 4. Euklid hat sich ausführlich mit den vollkommenen
Zahlen beschäftigt^). Theon yon Smyma bat den drei verschiedenen
Gattungen seine AufoLerksamkeit zugewandt und dieselben als ägid-fiol
relatoi^ ixsQtdkaiov^ iXhxstg benannt'). Man könnte demzufolge
geneigt sein diese Begriffe als vorplatonische anzuerkennen, wenn nicht
ein kaum zu beseitigender Gegengrund vorhanden wäre. Plato ver-
steht nämlich in einer berühmten Stelle seines Staates den Ausdruck
vollkommene Zahl ganz anders") und Aristoteles bezeichnet mutmaß-
lich aus pythagoräischer Quelle die Zehn als vollkommene Zahl^)
wiederum notwendig von einer ganz anderen Erklärung ausgehend.
Diese beiden Gegensiände arithmetischer Gh-übelei werden wir daher
am sichersten zwar Fythagoräem aber nicht solchen der alten
Schule zuschreiben, sondern solchen, die in viel späterer Zeit
den Namen und zum Teil auch die Forschungsweise derselben er-
neuerten.
Die Dreieckszahlen, sagten wir (S. 159) gestützt auf Theon
von Smyma, wurden von den Fythagoräem gebildet, indem sie ver-
suchsweise die aufeinanderfolgenden Zahlen der mit 1 beginnenden
natürlichen Zahlenreihe addierten. In diesem Namen Dreieckszahl
zeigt sich aufs neue der Hang zur figürlichen Yersinnlichung der
nach unserer heutigen Auffassung abstrakten Zahlenbegriffe. Die auf-
einanderfolgenden Zahlen nämlich durch gleich weit voneinander ent-
fernte Funkte reihenweise unteremander zur Darstellung gebracht
bildeten Dreiecke, und daß man diese Yersinnlichung wirklich vor-
nahm, mag man zu ihr gelangt sein wie man wolle, dafür bürgt eben
der Name Dreieckszahl, &QL&iibg tglytovog. Es ist vielleicht wün-
schenswert noch von anderer Seite her zu bestätigen, daß wir hier
wirklich Altertümliches vor uns haben, imd dazu sind wir in der
Lage. Wenig Gewicht freilich legen wir filr diese Rückdatierung auf
den an sich interessanten von Flutarch uns erhaltenen Lehrsatz, daß
die mit 8 vervielfachten und um 1 vermehrten Dreieckszahlen Quadrat-
zahlen gaben '^) d. h. daß 8 • !^^!^ii^ + 1 = (2n + 1)«. ErhebUcher
») Euklid IX, 86. •) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) 46. •) Plato
Bepnbl. YIU, pag. 546. Vgl. einen Aufsatz von Th. H. Martin in der Bevue
Jrehdologique T.XIU. *) AristoteleB, Metaphys. I, 5. ^ Plutarch, Plato-
nicae Quaestion. V, 2, 4.
Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 169
ist Bchon daB; was Lucian uns erzählt^). Pythagoras Habe einen
zahlen lassen. Dieser sagte: „1, 2, 3^ 4''^ worauf Pythagoras da-
zwischen fuhr: Siehst du? Was du für 4 hältst, das ist 10 und ein
Yollstandiges Dreieck und unser Eidschwur! Hierin ist die Kenntnis
der Dreieckszahl 10 mit echt pythagoräischen Dingen in Verbindung
gesetzt. Weit älter und dadurch noch überzeugender ist das Vor-
kommen des Begriffes wenn nicht des Wortes bei Aristoteles: Die
einen führen die Zahlen auf Figuren wie das Dreieck und Viereck
zurück^). Kommt nun endlich noch hinzu , daß einem Schüler des
Sokrates und des Platon^ dem Philippus Opuntius^ bereits eine
Schrift über vieleckige Zahlen zugeschrieben wird^ welche er nebst
einer anderen über Arithmetik bei Philipp von Mazedonien rerfaßt
haben soll^^ so scheint uns damit der Beweis geliefert , daß wie die
Quadratzahl und ihre Entstehung aus den ungeraden, wie die hetero-
meke Zahl und ihre Entstehung aus den geraden^ so auch die Dreiecks-
zahl und ihre Entstehung aus den unmittelbar aufeinander folgenden
Zahlen bereits pythagoräisch gewesen sein müsse.
Bei diesen drei Summierungen von nach einfachen Gesetzen fort-
schreitenden Zahlen blieb man aber, wie uns berichtet wird, nicht
stehen. Man schrieb die Reihe der Quadratzahlen, von der 1 an, man
schrieb darunter aber erst von der 3 anfangend die ungeraden Zahlen,
und wenn man nun jede solche ungerade Zahl der zugehörigen Quadrat-
zahl als Gfnomon zufügte, so entstanden wieder QuadratzaJilen^). Für
uns heute fällt freilich diese Entstehungsweise:
1 4 9....»«
3 5 7....2n+l
4 9 16....(n + l)«
mit der ersterlauterten Bildung der Quadratzahlen zusammen, aber
den Alten war sie besonderer Hervorhebung wert. Nikomachus,
ungefähr Zeitgenosse des Theon von Smyma, und ihm geistes-
verwandt, hat ein Beispiel ähnlichen Verfahrens bei Dreieckszahlen
uns bewahrt^). Jede Dreieckszahl, sagt er, mit der nächstfolgenden
Dreieckszahl vereinigt gibt eine Quadratzahl, und wirklich ist
^ ~Z — h g = n*. Hier wagen wir nun, gestützt auf alle diese
einander ähnlichen Verfahren, eine unmittelbar nicht auf Überlieferung
sich stützende Vermutung^). Wir nehmen an, es sei auch die Addi-
*) Lncian Bimv ytg&ais^ 4. Vgl. AUman, Greek Geometry from Thalea
to Euclid pag. 28r. *) Aristoteles, Metaphys. XIV, 4. ") Btoyi^tpoC, vitarum
»criptares Oraeci minores edit. West ermann. Biannschweig 1846, pag. 446.
*) Theon SmyrnaeuB (ed. Hiller) 82. ^) Nicomachus, Eisagog. ariüim. 11,12
(ed. Ho che), pag. 96. •) Math. Beitr. Kulturl. 106—107.
170 7. Kapitel.
tion von je zwei aufeinander folgenden Qnadratzahlen Yorgenommen
worden, um wie in den yorher erwähnten Beispielen einmal zuzu-
sehen, ob dabei etwas Bemerkenswertes sich enthülle. In der Tat
fand sich ein höchst auffallendes Ergebnis: Die Quadratzahlen 9
und 16 lieferten als Summe die nächste Quadratzahl 25, und
nur bei ihnen zeigte sich diese Erscheinung. Dem heutigen Mathe-
matiker ist solches freilich nicht auffallend. Wir erkennen sofort,
daß die Gleichung {x — ly + n?* = (a? + 1)* nur die Wurzeln a: = 4
und 5? «= 0 besitzt, daß also nur 3* + 4* — 5* auftreten kann, wenn
man (— 1)* + 0^ = 1* oder anders geschrieben 0 + 1 = 1 nicht be-
achten will. Aber der Grieche jener alten Zeit konnte diese Über-
legung nicht anstellen, konnte, wenn sie ihm möglich gewesen wäre,
die zweite Gleichung nicht denken. Wir kommen auf den Zahlen-
begriff der Griechen noch zurück. Gegenwärtig wissen wir nur, daß
die Null, für welche sie kein Zeichen hatten, ihnen auch keine Zahl
war. Wir sind darüber aufs deutlichste durch einen der schon ge-
nannten Arithmetiker unterrichtet. Nikomachus sagt uns, jede Zahl
sei die halbe Summe der zu beiden Seiten gleich weit von ihr ab-
stehenden Zahlen; nur die Einheit bilde eine Ausnahme, weil sie keine
zwei Nachbarzahlen besitze; sie sei darum die Hälfte der einen im-
mittelbar benachbarten Zahl^).
So mußten die Zahlen 9, 16, 25 und mit ihnen die Zahlen 3, 4,
5, deren Quadrate sie waren, welche ihre Ordnimgszahlen in der Reihe
der Quadratzahlen bildeten, der Aufinerksamkeit empfohlen sein, um
so dringender empfohlen sein, wenn dieselben Zahlen schon ander-
weitig als mit merkwürdigen Eigenschaften rersehen bekannt waren.
Daß dem so war, darüber müssen wir uns jetzt zu rergewissem
suchen, ohne zu rergessen, daß 3' -f 4^ » 5^ den Ägyptern bekannt war.
7. Kapitel.
Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie.
Wir sind an dem Punkte angelangt, wo wir die nur im Bilde
geometrische Arithmetik der Pythagoräer mit ihrer eigentlichen Geo-
metrie in Verbindung treten sehen. Wir haben demgemäß auch auf
diesem Gebiete abzusuchen, was unmittelbare oder mittelbare Über-
lieferung dem Pythagoras und seiner Schule zuweist.
Zunächst können wir eine ganze Gruppe von geometrischen
Kenntnissen zusammenfassen unter dem gemeinsamen Namen der An-
^) Nicomachus, Eisagog. arithm. I, 8 (ed. Hoche), pag. 14.
Pjthagoraa und die Pjthagoräer. Geometrie. 171
legung der Flächen. ^^Altertümlicli, so sagen die Schüler des
Eudemus, und Erfindungen der pythagoreischen Muse sind diese Sätze,
die Anlegung der Flächen, ihr Überschießen, ihr Zurückbleiben," ^' rs
^agaßoXii t&v xcagCmv xai ^ v^SQßoXii xal i^ iJiXsiil^ig^). So lautet
der erläuternde Bericht des Proklus zu der euklidischen Aufgabe an
einer gegebenen Geraden unter gegebenem Winkel ein Parallelogramm
zu entwerfen, welches einem gegebenen Dreieck gleich sei. Desselben
Wortes ikXsCxctv bei Anlegung von Flächen bedient sich Piaton in
seinem Menon^, und Plutarch läßt an einer Stelle das Anlegen Yon
Flächen, itaQaßdXkBiv tov xaglov^ von Pythagoras selbst herstammen'),
während er an einer anderen Stelle sich folgendermaßen ausdrückt:
„Eines der geometrischsten Theoreme oder vielmehr Probleme ist das,
zu zwei gegebenen Figuren eine dritte anzulegen — nagaßakksiv — ,
die der einen gleich und der anderen ähnlich ist. Pythagoras soU,
als er die Lösung gefunden, ein Opfer gebracht haben. Und wirk-
lich ist es auch feiner und wissenschaftlicher als das, daß das Quadrat
der Hypotenuse denen der beiden Katheten gleich isf^*). Über die
genauere Bedeutung der drei Wörter Parabel, Ellipse, Hyperbel
bei Flächenanlegungen werden wir bei Besprechung der euklidischen
Geometrie im 13. Kapitel zu reden haben. Fürs erste genügt die
allgemeine aus den angeführten Stellen leicht zu schöpfende Über-
zeugung, daß es um die Zeichnung von Figuren gegebener Art und
gegebener Größe sich handelt. Solche Zeichnung ist aber unmöglich,
wofern man nicht mit den Haupteigenschaften der Parallellinien
und ihrer Transversalen, mit den hauptsächlichen Winkelsätzen
der Planimetrie vertraut ist, wofern man nicht die Auffindung von
Flächeninhalten, deren Abhängigkeit von den die betreffende Figur
bildenden Seiten in richtiger Weise kennt.
In der ersteren Beziehung sind wir wieder in der günstigen Lage,
unsere Behauptung bestätigen zu können. Die Pythagoräer ver-
wandten die Parallellinien zum Beweise des Satzes von der
Winkelsumme des Dreiecks. Wir sahen (S. 143), daß die tha-
letische Zeit, vielleicht Thaies selbst, den Satz von der Winkelsumme
in dreifacher Abstufung an dem gleichseitigen, an dem gleichschenk-
ligen, an dem unregelmäßigen Dreiecke behandelte. Eudemus läßt
durch die Pythagoräer den Satz für jedes beliebige Dreieck so be-
wiesen werden, daß durch die Spitze des Dreiecks die Parallele zur
Grundlinie gezogen und daraus die Gleichheit der Winkel an der
») Proklus (ed. Friedlein) 419. *) Piaton, Menon pag. 87. ») Plu-
tarch, Non passe suavüer vivi secundum Epicur. cap. 11. *) Plutarch, Con-
vivium Vin, cap. 4.
172 7. Kapitel.
Grundlinie mit ihren an jener Parallelen hervortretenden Wechsel^
winkeln gefolgert wurde. Einer jener Wechselwinkel wurde sodann
mit dem ursprünglichen Dreieckswinkel an der Spitze zu einem ein-
zigen Winkel vereinigt, welcher selbst wieder den anderen Wechsel-
winkel als Nebenwinkel besaß und mit ihm zusammen zwei Rechte
ergab *).
Aus dieser Darstellung zeigt sich so recht deutlich an einem
besonders merkwürdigen, in der Stufenfolge der Beweisführungen uns
glücklich erhaltenen Beispiele, wie die Wissenschaft der Geometrie
sich entwickelte. Von dem Zerlegen des Satzes in drei Falle stieg
man auf zur Behandlung des allgemeinen Falls, aber in diesem Auf-
wärtsstreben hielt man wieder ein. Man erhob sich noch nicht zu
dem Ausspruche, die drei Winkel ah der früheren Dreiecksspitze be-
säßen als Winkel, die je einen Schenkel gemeinsam für zweie haben,
und die einfach auftretenden äußersten Schenkel zu eioar und der-
selben Geraden sich verlängern lassen, die Winkelsumme von zwei
Rechten. Man mußte vielmehr erst zwei Winkel zu einem neuen,
diesen alsdann mit dem dritten verbinden. Freilich ist der letzt-
erwähnte Fortschritt, den man noch nicht wagte, nach unserem Ge-
fühle, auch wohl nach dem Gefühle des Proklus, welcher wenigstens
von dessen Urheber uns nichts sagt, ein weit geringerer, als der,
den man wirklich vollzog, und wir erkennen hier bewundernd den
„höheren Gesichtspunkt, von welchem aus Pythagoras, dem Mathe-
matikerverzeichnisse (S. 147) zufolge, die Grundlage unserer Wissen-
schaft betrachtete'^.
Wir haben auch die Notwendigkeit betont, den Flächeninhalt
einer Figur aus den dieselbe bildenden Seiten in richtiger Weise
finden zu können. Unseren mathematischen Lesern dürfte diese Be-
tonung überflüssig erscheinen, aber sie ist es nicht so ganz. Bei
einem Volke von überwiegend geometrischer Begabung, wie es un-
streitig das griechische war, konnte noch um das Jahr 400 v. Chr.,
also zur Zeit Plsctons, einer der geistreichsten, tiefsten Geschichts-
schreiber aller Jahrhunderte, konnte noch ein Thukydides so wenig
Bescheid wissen, daß er Inhalt und Umfang als proportional dachte,
daß er infolgedessen die Fläche der Insel nach der zum Umfahren
nötigen Zeit abschätzte^. Diese Unkenntnis auch hochgebildeter
Laien in einem theoretisch so einfachen, praktisch so wichtigen
Kapitel der Planimetrie läßt sich dann weiter und weiter verfolgen.
Um 130 V. Chr. erzählt Polybius, daß es Leute gebe, die nicht be-
>) ProkluB (ed. Friedlein) 879. «) Thukydides VI, 1 (ed. Rothe),
pag. 96.
Pjthagoras und die Pjthagoräer. Geometrie. 173
greifen könnten, daß Lager bei gleicher Umwallungslänge yerschie-
denes Fassungsvermögen besitzen^). Qnintilian, der römische Schrift-
steller über Beredsamkeit in der zweiten Hälfte des ersten nach-
christlichen Jahrhunderts, gibt als dem Laien leicht aufzudrängenden
Trugschluß den an, daß gleicher Umfang auch gleichen Inhalt be-
weise*). Vielleicht hatte Quintilian bei diesem Vorwurfe seinen Zeit-
genossen Plinius im Auge^ welcher die Größenyerhältnisse der Erd-
teile durch Addieren ihrer Länge zu ihrer Breite verglich*). Proklus
erzählt mit offenbarer Beziehung auf Vorkommnisse seiner Zeit, also
des V. S., daß manche schon bei der Teilung von Flächen ihre Ge-
sellschafter übers Ohr gehauen haben, indem sie eine größere Fläche
mit Bezugnahme auf die Gleichheit des Umfanges ffir sich be-
anspruchten^). Steuerbeamte in Palästina ließen sich gleichfalls
um das V. S. in solcher Weise täuschen, indem sie einem Gemeinde-
vorsteher, welchem als Steuer der Ertrag einer mit Weizen zu be-
säenden Fläche von 40 Ellen im Quadrat auferlegt war, verwilligten,
er könne in zwei Abteilungen jedesmal eine F^rche von 20 Ellen im
Quadrat besäen, in der Meinung, dann sei er seiner Verpflichtung
nachgekommen^), und ganz Ahnliches wird von einem Araber des
X. S. erzählt^). Wir haben diese fehlerhafte Auffasstmg absichtlich
durch einen längeren Zeitraum und durch Völker hindurch verfolgt,
welche einer Stetigkeit der Geistesrichtung als Beispiel dienen können,
denn das mathematische, insonderheit das geometrische Denken der
Römer, der späteren Juden, der Araber war nicht anders als grie-
chisch. Wir haben sie verfolgt, um uns über einen allgemeinen ge-
schichtlichen Lehrsatz klar zu werden, dem wir eine nicht geringe
Tragweite besonders bei geschichtlich vergleichenden Forschungen
beilegen. Die Unwissenheit, so lautet unser Satz, und das noch
schlimmere falsche Wissen sind erblich, es gibt eine konservative
Kraft der Unwissenheit. Was an unrichtigen Ergebnissen einmal
gewonnen ist, das wird so leicht nicht zerstört, das wird mit um so
größerer Zähigkeit festgehalten, je mehr es unverstanden ist. Nur
die Menge der Unwissenden und Halbwissenden wechselt, und in
ihrer Beschränkung liegt das, was man Fortschritt der Durchschnitts-
bildung nennt.
>) Polybins IX, 21 (ed. Hnltscb), pag. 686. *) Quintilianus, Instüutio
oratoria I, 10, 89flgg. (ed. Halm) pag. 62. *) Detlefsen, Die Maasse der Erd-
theile nach Plinius. Programm des Glückstädter Gymnasinms fOx 1888, S. 6—7
mit Berufting anf Plinius, Histor. natnr. VI, 208. *) Proklns (ed. Fried-
lein), pag. 237. ^) Jerusalem. Talmud Sota 20a nach Zuckermann, Das
Mathematische im Talmud. Breslau 1878, S. 48, Note 68. *) Dieterici, Die
Propädeutik der Araber im X. Jahrhundert, S. 86.
174 7. Kapitel.
Der Flächenanlegung nahe verwandt und mit ihr den Pytha-
goiuem eigen ist die Lehre von den regelmäßigen Yielflächnern»
angedeutet in den Worten des Mathematikerverzeichnisses: „Pytha-
goras ist es auch, der die Konstruktion der kosmischen Körper er-
fand.^' Der Name der kosmischen Körper bedarf der Erklärung. Wie
Aristoteles uns berichtet, war Empedokles ron Agrigent in
Sizilien, ein Philosoph, der um 440, jedenfalls später als Pythagoras
lebte, der erste, der vier Elemente, Erde, Wasser, Luft und Feuer,
annahm, aus denen alles zusammengesetzt sei^). Vitruyius und andere
Gewährsmänner wollen, Pythagoras habe schon vorher das Gleiche
ausgesprochen'). Wir haben eine Wahl zwischen beiden Meinungen
hier nicht zu treffen. Jedenfalls übernahm Timäus von Lokri aus
der einen oder anderen Quelle die Lehre, wie der nach ihm benannte
platonische Dialog erkennen läßt. Timäus erläutert die Entstehung
der Welt, setzt das Vorhandensein der vier Grundstoffe auseinander,
gibt denselben besondere Gestalten'). Das Feuer trete als Tetraeder
auf, die Luft bestehe aus Oktaedern, das Wasser aus Ikosaedem, die
Erde aus Würfeln, und da noch eine fünfte Gestaltung möglich war,
so habe Gott diese, das Pentagondodekaeder benutzt, um als Umriß
des Weltganzen zu dienen*). Diese fünf Körper heißen dem ent-
sprechend kosmische Körper als zum Kosmos in notwendiger Be-
ziehung stehend.
Die Geschichte der Mathematik entnimmt den atomistischen Ver-
suchen jener ältesten Lehren dieser Art die wichtige Wahrheit, daß
Timäus die fünf regelmäßigen Körper kannte. Ob er ahnte, daß
es wirklich keinen sechsten regelmäßigen Körper gebe, ob er ohne
auch nur die Frage nach einem solchen zu erheben sich mit Ver-
wertung der nun einmal bekannten Körperformen begnügte, wissen
wir nicht. Wahrscheinlicher deucht uns das letztere, und nun gar
einen Beweis der Unmöglichkeit eines sechsten regelmäßigen Körpers
in so früher Zeit anzunehmen, würden wir aufs entschiedenste ab-
lehnen müssen. Dagegen hat es keine Schwierigkeit diejenigen Kennt-
nisse, welche wir als Timäus geläufig bezeichneten, d. h. die Gestalt
der fünf regelmäßigen Körper bis in jene Zeit, auch wohl darüber
hinaus zu verfolgen*).
Körper wie der Würfel, das Tetraeder, welches nichts anderes
*) Aristoteles, Metaphys. I, 4. ") Vgl. Chaignetn, 164flgg. »)Vgl.
Th. H. Martin, Etudes sur U Timee de Piaton I, llbügg. und U, 284—250.
^) Zellerl, 360, Anmerkung 1 nimmt an, das Dodekaeder sei nicht die Gestalt
des Weltganzen, sondern des Ätheratoms, d. h. des kleinsten Teiles der das
Weltganze umgebenden äußeren Schichten. ') Das hier Folgende wesentlich
nach Bretschneider S. 86 und 88.
PythagoraB und die Pythagoräer. Geometaie. 175
alB eine Pyramide mit dreieckiger Grundfläche, das Oktaeder, welches
eine Doppelpjramide mit quadratischer Grundfläche ist, müssen noch
weit über das Zeitalter des Pjthagoras zurück sich als den Ägyptern
bekannt vermuten lassen. Wer bei ihnen jahrelang verweilte, ja wer
nur kurze Zeit die Baudenkmäler ihres Landes in Augenschein nahm,
dem ist die Kenntnis auch jener Körper mit Notwendigkeit zuzu-
sprechen, und daß die Pythagoräer kein Bedenken trugen, was ihr
Lehrer wußte, als seine Erfindung zu verehren, wurde schon erwähnt.
Auch das Ikosaeder und nicht minder das Dodekaeder muß wohl
oder übel den Pythagoräem bekannt gewesen sein. Sonst konnte
nicht Philolaus schon von den fünf Körpern in der Kugel reden ^),
sonst würde nicht das alte Mathematikerverzeichnis nebst anderen
übereinstimmenden Berichten^ so deutlich sämtliche kosmische oder
regelmäßige Körper als pythagoräisch bezeichnen. Möglicherweise
haben wir den Verlauf der Entdeckung jener Körper so zu denken,
daß man zuerst nur von Würfel, Tetraeder, Oktaeder wußte, daß dann
das Ikosaeder, zuletzt erst, wenn auch jedenfalls noch vor Timäus,
das Dodekaeder hinzutrat. Mit dieser Annahme würde die Schwierig-
keit sich lösen, daß die ursprünglich jedenfalls in Yierzahl angenom-
menen Grundstoffe mit den fünf Körpern nur sehr künstlich in Ver-
bindung zu bringen sind. Es würden nämlich zunächst vier Körper
mit vier Elementen durch einen naturgemäßen Gedanken sich gepaart
haben, und zu dem nachträglich gefundenen fünften Körper würde
dann eine kosmische Bedeutung erst gesucht worden sein.
Mit dieser Annahme würde auch die Erzählung des Jamblichus')
sich decken, daß Hippasus, ein Pythagoräer, der das Pentagon-
dodekaeder der Kugel zuerst einschrieb und veröffentlichte, wegen
dieser Gottlosigkeit im Meer umgekommen sei. Er habe den Ruhm
der Entdeckung davongetragen, „aber es sei das Eigentum JENES,
so bezeichnen sie nämlich den Pythagoras und nennen ihn nicht bei
Namen*^
Man würde vielleicht eine größere Sicherheit in der Beantwortung
dieser Fragen erlangen, wenn man Alter und Herkunft eines noch
vorhandenen Bronzedodekaeders zu bestimmen imstande wäre^). Dabei
sind zahlreiche andere Dodekaeder zu vergleichen, welche auf kel-
tischem Boden ^), welche auch in Oberitalien ^ aufgefunden worden sind.
») Boeckh, PhilolauB fragm. 21, 8. 160. Chaignet I, 248. *) Vgl.
Wyttenbacli, Ausgabe von Platons Ph&don. Leiden 1810, pag. 804—807.
*) JamblichuB, Vita Fythagoriea 88. ^) Vgl. verschiedene Notizen von Graf
Leopold Hugo in den Comptea rendus der Pariser Akademie der Wissen-
schaften. Bd. LXXYU. ^) Gonze, Über ein Bronzegerät in Dodekaederform.
Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst (1892) XI, 204. ^) F. Linde-
176 7. Kapitel.
Man hat diese Funde für sehr alt nnd um Jahrhunderte über
Pythagoras hinausreichend erklärt, und, wenn diese Zeitbestimmung
richtig sein sollte, so dürfte auch gegen gewisnie Folgerungen aus
denselben^) wenig einzuwenden sein. Unter den Eisenerzen kommt
der Pyrit (Schwefelkies) auf Elba und in den südlichen nach dem
Piemont ausmündenden Alpentalem, sonst aber nirgend, in Kristallen
vor, welche von 20 Dreiecken, und in anderen, welche von 12 Fünf-
ecken begrenzt sind. Regelmäßige Ikosaeder und Dodekaeder sind
das nicht, ähneln denselben aber, und als in der anfangenden Eisen-
zeit jenes Metall an Wichtigkeit gewann, können jene EristaUformen
Verehrung und Nachbildung gefunden haben. Wenn nun*) berichtet
wird, Pythagoras habe auch von den Ghdliem gelernt, ein Bericht,
den wir, weil wir ihm nicht zu sehr trauen, bei unseren Angaben
über das Leben des Pythagoras übergingen, so könnte das auf das
Kennenlernen jener Körperformen von Norden her sich beziehen.
Pythagoras hätte dann in der Tat alle regelmäßigen Körper oder
denselben einigermaßen ähnelnde gekannt, und dem Hippasus blieb
als lohnende Aufgabe das mathematische Erkennen des vor ihm nur
erfahrungsmäßig Vorhandenen.
Mit den Angaben über die fünf Körper im engsten Zusammen-
hange stehen die über die Kugel, in welche jene beschrieben ge-
dacht sind, und welche demzufolge nebst einigen ihrer Eigenschaften
gleichfalls den Pythagoräem bekannt gewesen sein muß.
In demselben Zusammenhange erscheinen Angaben, welche sich
auf die Grenzflächen jener Körper, auf die regelmäßigen Viel-
ecke, als Dreiecke, Vierecke, Fünfecke beziehen, und denen wir uns
nunmehr zuzuwenden haben. Wir kehren damit zur Flächenanlegung
zurück, deren Verwandtschaft zur Lehre von den Vielfiächnem wir
oben zunächst unerwiesen behauptet haben. Piaton läßt seinen Timäus
über die Entstehung der regelmäßigen Dreiec|:e und Vier-
ecke sich aussprechen. Er sagt'), diese Figuren setzten ihre Fläche
immer aus rechtwinkligen Dreiecken zusammen, und zwar entweder
aus solchen, welche zugleich gleichschenklig sind, oder aus solchen,
deren spitze Winkel, der eine einem Dritteil, der andere zwei Dritt-
teilen des rechten Winkels gleich sind.
Das hat nun offenbar seine Richtigkeit,
indem das Quadrat in zwei oder vier
Dreiecke der ersten Art (Fig. 23), das
^8- *'• gleichseitige Dreieck in zwei oder sechs
mann, Zur GeBchichte der Polyeder und der Zahlzeichen. Sitzungsberichte der
mathem. physik. Blasse der k. bayer. Akad. der Wissensch. (1897) XXVI, 626—768.
^) Lindemann 1. c. *) Zeller I, 277. ") Pia ton, Timaens 64 Bund 64 D.
Pjthagoras nnd die Pythagoriler. Geometrie. 177
Dreiecke der zweiten Art (Fig. 24) zerlegt werden kann. Überein-
stimmend damit, aber sicherlich einer anderen Quelle als dem plato-
nischen Timäus^ über dessen Angaben er
hinausgeht; folgend sagt Proklus, es sei
ein pythagoräischer Lehrsatz ^ daß die
Ebene um einen Punkt herum durch
sechs gleichseitige Dreiecke, vier rtg. «4-
Quadrate oder drei regelmäßige Sechsecke vollständig er-
füllt werde, so daß nur diese Figurengattungen zur gänzlichen
Zerlegung einer Ebene in lauter identische Stücke Benutzung finden^).
Wir wollen daran anknüpfend nur erinnern, daß wir schon (S. 143)
die Kenntnis solcher um einen Punkt herumliegenden sechs gleich-
seitigen Dreiecke wahrscheinlich zu machen suchen mußten, und daß
folglich rückwärts die Angabe des Proklus unsere dortigen Behaup-
tungen zu stärken imstande ist.
Wie verhält es sich abei* gegenüber der Zerf ällung der Gfrenz-
flächen der vier ersten Körper mit der Grenzfläche des fünften und
letzten, mit dem regelmäßigen Fünfecke? Das Fünfeck ist, wie
leicht ersichtlich, mittels der beiden rechtwinkligen Dreieckchen, die
wir nach der Vorschrift des Timäus für die Herstellung von Dreieck
und Viereck benutzten, nicht zusammenzusetzen, eine Zerlegung in
eben solche kann mithin nie gelungen sein. Wohl aber dürfen wir
erwarten, Spuren verfehlter Versuche anzutreffen, und diese fehlen
nicht. Plutarch hat an zwei Stellen von der Zerleg^g der das
Dodekaeder begrenzenden Fläche in 30 Elementardreiecke gesprochen,
hat das eine Mal hervorgehoben, daß somit aUe 12 Flächen 360 Drei-
eckchen liefern, gleich an Zahl mit den Zeichen des Tierkreises'),
hat das andere Mal bemerkt, es solle, wie man sage, das Elementar-
dreieckchen des Dodekaeders von dem des Tetraeders, Oktaeders, Iko-
saeders verschieden sein'). Ein anderer Schriftsteller des 11. S., Alki-
nous, hat in seiner Einleitung zum Studium des Piaton gleichfalls von
den 360 Elementen gesprochen, welche
erzeugt werden, indem jedes Fünfeck in
5 gleichseitige Dreiecke, jedes von diesen
in 6 ungleichseitige zerfalle^). Nimmt
man nun diese Zerlegung wirklich vor
(Fig. 25), so tritt aus dem Gewirre der fi^ 25. Fig. w.
*) Proklns (ed. Priedlein) 804—306. Vgl. auch Heron (ed. Hnltsch)
pag. 32 Definitio 74. *) Plutarchus, Qnaeat. Piaton. V. «) Plutarchue,
De siUntio aracul, cap. 83. *) Alcinons, De docPrina Platanis (ed. Lambinua).
Paris 1667, cap. 11.
O^iTTOB, GMGhlohte der Mathematik L 8. Aufl. 12
178 7. Kapitel.
Linien am deutlichsten das Stemfünfeck heraus, welches demnach für
sich schon ein Zeugnis der versuchten Zerlegung des Fünfecks in Ele-
mentardreiecke ablegt. Das Stemfünfeck (Fig. 26) soU aber den Pythar
gonlem Erkennungszeichen gewesen sein. Lucian und der Scholiast
zu den Wolken des Aristophanes berichten darüber gleichmäßig*).
Briefe pflegten mit irgend einer ständigen Anfangsformel eingeleitet
zu werden. Die einen schrieben: Freue Dich, xaiQELV, die anderen
mit Piaton: Sei glücklich in Deinen Handlungen, ev ngdzTeiv, die
Pythagoräer: Sei gesund, iyiaCvsiv. Gesimdheit heißt auch bei ihnen
das dreifache Dreieck, das durch gegenseitige Yerschlingung das
Fünfeck erzeugt, das sogenannte Pentagramm, dessen sich die Glieder
des Bundes als Erkennungszeichen bedienen. Freilich kommt das
Pentagramm auf der sogenannten Aristonophosvase aus Caere, welche
dem 7. vorchristlichen Jahrhunderte angehören soll, kommen fünf-
eckige Ornamente in mykenischen Funden, kommen f&nfspeichige
Räder auf oberitalienischen Fundstücken vor*), und wieder unter der
Annahme richtiger Zeitbestimmung für die Entstehung hätten wir
alsdann das Fünfeck als vorpythagoräisch anzuerkennen, und nur die
mathematische Betrachtung desselben gehorte der Schule an.
Unt«r allen Umständen ist die seltsame Bedeutung, welche die
freilich auch seltsame Figur des StemfÜnfecks bei den Pythagoräem
besaß, eine Unterstützung der kaum mehr bestrittenen Vermutung,
daß das regelmäßige Fünfeck von den Pythagoräem der Beachtung
unterzogen, wenn nicht erfunden worden sei. Daß diejenigen, welche
dasselbe als Grenzfläche eines Körpers verwerteten, es gekannt haben
müssen, bedarf keines Beweises, aber woher sollten sie es entnommen
haben? Wir erinnern daran, daß wenigstens unter den Abbildungen
aus chaldäischer, wie aus ägyptischer Vorzeit, welche wir vergleichen
konnten, ein regelmäßiges Fünf- oder Zehneck, eine Zerlegung der
Kreisfläche in Ausschnitte nach irgend einer durch fünf teilbaren An-
zahl nicht vorkommt (S. 49 und 109). Wir machen femer darauf
aufmerksam"), daß die Einzeichnung des Fünfecks in den Kreis geo-
metrisch genau erst dann erfolgen konnte^ als der Satz von den Qusr
draten der Seiten des rechtwinkligen Dreiecks, als zugleich auch der
goldne Schnitt bekannt geworden war.
Der goldne Schnitt spielte in der griechischen Baukunst der
perikleischen Zeit eine nicht zu verkennende Bolle. Das ästhetisch
wirksamste Verhältnis, und das ist das stetige, ist in den athenischen
^) Beide Stellen sind vielfach abgedruckt, z. B. bei Bretschneider S. 86
bie 86. *) Lindemann 1. c. S. 780—783. ") Bretschneider S. 87 hat diese
gewiß richtige Bemerknng mutmaßlich znerst gemacht.
Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 179
Bauten aus den Jahren 450 — 430 aufs schönste verwertet^). Wir
können bei solcher Regehnäßigkeit des Auftretens nicht an ein in-
stinktives Zutreffen glauben, am wenigsten, wenn wir des eben be-
rührten geistigen Zusammenhangs zwischen goldnem Schnitte, regel-
mäßigem Fünfecke und pythagoräischem Lehrsatze gedenken.
Bevor wir zu diesem letzteren uns wenden, müssen wir*) noch
einem längere Zeit viel verbreiteten Irrtume begegnen. Diogenes
Laertius berichtet: „Unter den körperlichen Gebilden, sagen die Pytha-
goräer, sei die Kugel, unter den ebenen der Kreis am schönsten^'').
Man hat daraus entnehmen wollen, Pjthagoras oder doch seine Schule
hätten auch die Grundlage zu der Lehre von den isoperimetrischen
Raumgebilden gelegt. Man ist dabei gewiß von der richtigen Deutung
jenes Satzes abgewichen. Es sollte damit ein eigentlicher geome-
trischer Lehrsatz überhaupt nicht ausgesprochen werden. Nur die
gleichmäßige Rundung erhielt in den gemeldeten Worten das ge-
bührende Lob.
Den gemeinsamen, für Arithmetik und Geometrie gleichmäßig
bedeutsamen Schlußstein unserer Untersuchungen über Pythagoras
und seine Schule bildet nunmehr der nach dem Lehrer selbst be-
nannte Satz vom rechtwinkligen Dreiecke. Nicht als ob wir in ihm
auch den Schlußstein des von den Pjthagoräem aufgeführten mathe-
matischen Gebäudes vermuteten. Keineswegs. Wir haben vielmehr
schon gesehen und werden noch weiter sehen, daß unter den schon
besprochenen geometrischen Dingen einige nicht gut anders als in-
folge des Satzes vom rechtwinkligen Dreieck aufgetreten sein können.
Die Beziehung des regelmäßigen Fünfecks zu diesem Satze ist erst
erwähnt. Die ElementArdreieckchen des Timäus dienen als Beweis,
daß die Pythagoräer denjenigen sonderbaren rechtwinkligen Dreiecken
ihre Aufmerksamkeit zuwandten, welche in dieser physikalisch-geome-
trischen Eigenschaft Verwertung fanden. Das war einmal dasjenige
Dreieck, dessen beide Katheten je eine Längeneinheit als Maß be-
sitzen, das war zweitens dasjenige, dessen Hypotenuse doppelt so groß
ist, als die kleinere Kathete, so daß also 1 und 2 die Maße dieser
beiden Seiten bezeichnen.
Wir haben uns (S. 152) schon darüber ausgesprochen, daß wir
für den Satz vom rechtwinkligen Dreieck Pythagoras selbst als den
Entdecker betrachten, und uns wesentlich auf den Bericht bezogen,
^ Vgl. Zeisings verschiedene Schriften, über welche mit ftbr den mathe-
matischen Leser genügender AusfQhrlichkeit S. Günther in der Zeitschr. Math.
Phys. XXI, histor.-literax. AbÜg. S. 167—166 berichtet hat. >) Anch hier rührt
die richtige Ansicht von Bretschneider S. 89 — 90 her. ") Diogenes Laer-
tins Vm, 19.
12*
180 7. Kapitel,
diejenigen, welche Altertümliches erkunden wollten, führten den Satz
auf Pythagoras zurück^). Der in Euklids Elementen vorgetragene
Beweis dagegen, derselbe Beweis, der auch heute noch der bekannteste
ist, bei welchem die Quadrate über die drei Dreiecksseiten nach
außen hin gezeichnet werden und das Quadrat der Hypotenuse durch
eine von der Spitze des rechten Dreieckswinkels auf die Hypotenuse
gefällte gehörig verlängerte Senkrechte in zwei Rechtecke zerfällt,
von denen jedes dem ihm benachbarten Kathetenquadrate flächen-
gleich ist, dieser Beweis rührt nach Proklus' ausdrQcklicher Aussage
von Euklid selbst her. Dafi Plutarch^) den Satz vom rechtwink-
ligen Dreieck als Satz des Pythagoras kennt, wissen wir (S. 171).
Der Rechenmeister Apollodotus oder Apollodorus, wie Diogenes
Laertius denselben nennt*), erzählt in Versen von dem Stieropfer,
welches Pythagoras gebracht habe, als er den Satz von den Quadraten
der Hypotenuse und der Katheten entdeckt hatte. Nicht wenige
Schriftsteller sind in ihren Angaben bezüglich des Satzes in einer
wesentlichen Beziehung genauer, indem sie den Namen des Pytha-
goras mit demjenigen rechtwinkligen Dreiecke in Verbindung bringen,
dessen Seiten die Maßzahlen 3, 4, 5 besitzen. Am deutlichsten ist
in dieser Beziehung Vitruvius, in dessen im Jahre 14 n. Chr. ver-
faßter Architektur ausdrücklich berichtet wird, daß Pythagoras einen
rechten Winkel mit Hilfe der drei Längenmaße 3, 4, 5 zu kon-
struieren lehrte, und daß eben derselbe erkannte, daß die Quadrate
von 3 und von 4 dem von 5 gleich seien*). Eine Plutarchstelle, in
welcher dasselbe Dreieck besprochen wird*), ist uns (S. 157) schon
vorgekommen. Dasselbe Dreieck spielt in Piatons Staate eine Rolle.
Und wenn wir auf ganz späte Zeiten zu dem Zwecke herabgehen
dürfen, um mindestens zu zeigen, daß die Überlieferung der Über-
lieferung sich erhalten hat, so möchten wir als letzten Gewährsmann
einen Glossator vom Anfange des XII. S. nennen, der vom pythago-
räischen Dreiecke redend das mit den Seiten 3, 4, 5 unter diesem
Namen versteht*).
Wir glauben nun, daß die Wahrheit, welche jener Überlieferung
zugrunde liegt, darin besteht, daß Pythagoras an dem Dreiecke 3, 4, 5
seinen Satz kennen lernte. „Schwerlich leitete den Pythagoras das
nach ihm benannte geometrische Theorem auf seine arithmetischen
Sätze, sondern umgekehrt mögen ihn die Beispiele zweier Quadrat-
^) Proklufl (ed. Friedlein) 426. ') Plutarchua, Convivium YIII, 4.
») Diogenes LaertiuB VIÜ, 12. *) Vitruvius IX, 2. *) Pintarchus, De
Iside et Osiride 66. ') Gantor, Die römischen Agrimensoren und ihre Stellung
in der Geschichte der Feldmeßknnst. Leipzig 1876, S. 166 und Note 288. Wir
Terweisen künftig auf dieses Buch unter dem Titel „Agrimensoren^^
Pythagoras xind die Pythagoräer. Geometrie. 181
zahlen, deren Summe wieder eine Quadratzahl ist, auf die Relation
zwischen den Quadraten der Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks auf-
merksam gemacht haben^'^). So drückte sich ein deutscher Gelehrter
bereits 1833 aus, welcher aber keineswegs zuerst diese, wie wir
glauben, richtige Anschauung von dem Entwicklungsgange sich an-
eignete. Die gleiche Ansicht ist schon in der Euklidausgabe des
Clayias (1574) ausgesprochen mit dem Zusätze, es sei dieses die
Meinung verschiedener*). Pythagoras bemerkte, meinen wir, daß
Yon aufeinanderfolgenden Quadratzahlen ausschließlich 9 -f 16 » 25
(S. 170). Als er diese unter allen umständen interessante Bemerkung
machte, kannte er bereits, gleichviel aus welcher Quelle, die Er-
fahrungstatsache, daß ein rechter Winkel durch Annahme der Maß-
zahlen 3, 4, 5 für die Längen der beiden Schenkel und für die Ent-
fernung der Endpunkte derselben konstruiert werde. Wir haben
(S. 105) darauf hingewiesen, daß die Ägypter, (S. 49) daß die Baby-
lonier vielleicht die gleiche Kenntnis besaßen, daß die Chinesen ihrer
sicherlich teilhaftig waren. Ein chinesischer Schriftsteller hat näm-
lich gesagt: „Zerlegt man einen rechten Winkel in seine Bestandteile,
so ist eine die Endpunkte seiner Schenkel verbindende Linie 5, wenn
die Grundlinie 3 und die Höhe 4 ist"*). Die geometrische und die
arithmetische Wahrheit vereinigten sich nun in dem Bewußtsein des
Pythagoras zu einem gemeinschaftlichen Satze. Der Wunsch lag
nahe zu prüfen, ob auch bei anderen rechtwinkligen Dreiecken die
Maße der Seiten zu Quadratzahlen erhöht das gleiche Verhalten
bieten. Die einfachste Voraussetzung war die des gleichschenklig
rechtwinkligen Dreiecks, wo Höhe und Grundlinie gleich der Längen-
einheit waren. Die Hypotenuse wurde gemessen. Sie war größer
als eine, kleiner als zwei Längeneinheiten. Die mannigfaltigsten Ver-
suche mögen darauf angestellt, andere und andere Zahlenwerte für
die gleichen Katheten eingesetzt worden sein, um eine Zahl für die
Hypotenuse zu erhalten. Vergebens. Man erhielt wahrscheinlich
Zahlen, die dem gesuchten Maße der Hypotenuse nahe kamen, Nähe-
rungswerte von l/2 würden wir heute sagen, aber es war noch
ein Biesenschritt, von der Fruchtlosigkeit der angestellten Versuche
auf die aller Versuche überhaupt zu schließen, und diesen Schritt
vollzog Pythagoras.
Er fand, daß die Hypotenuse des gleichschenkligen rechtwinkligen
^) So Jul. Fr. Wurm schon 1833 in Jahns Jahrbüchern IX, 62. Meine
denselben Grundgedanken einzeln durchführende Darstellnng in den Math. Beitr.
Kultnrl. ist 1868 entstanden, ohne daß ich Wurms Aufsatz oder die Stelle bei
Clayius kannte. *) nt nonnalli volunt. ') Vgl. Biernatzki, Die Arithmetik
der Chinesen in Grelles Jonmal. Bd. 62.
182 7. Kapitel.
Dreiecks mit meßbaren Katheten selbst unmeßbar sei, daß sie durch
keine Zahl benennbar, durch keine aussprechbar sei^); er ent-
deckte das Irrationale, worauf das alte Mathematikerverzeichnis
ein so sehr berechtigtes Gewicht legt. Er entdeckte es gerade an der
Hypotenuse des gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks, wie aus
mehr als nur einem Umstände wahrscheinlich gemacht werden kann.
So erzählt uns Piaton, der Pythagoraer Theodorus von Kyrene,
der ihn selbst in der Mathematik unterrichtet hatte, habe bewiesen,
daß die Quadratwurzel aus 3, aus 5 und anderen Zahlen bis zu 17
irrational sei^). Von der Irrationalität der Quadratwurzel aus 2 ist
dabei keine Bede; diese muß also vorher bekannt gewesen sein.
Aristoteles weiß dagegen an vielen Stellen von der Irrationalität der
Diagonale des Quadrates von der Seite 1 zu reden, und sagt einmal
geradezu, der Grund dieser Irrationalität liege darin, weil sonst Ge-
rades und Ungerades gleich sein müßte*). Den Sinn dieser Worte er-
läutert aber Euklid. Er gibt nämlich folgenden Beweis, den wir nur
so weit abgeändert haben, daß wir Euklids Worte in moderne Zeichen-
sprache umsetzten*). Es sei AT zu JB (Fig. 27) kommensurabel
^ jg und verhalte sich in kleinsten Zahlen wie et zu /3;
folglich muß wegen Ar> AB auch a> ß und
sicherlich > 1 sein. Weiter folgt AT^: AB^ ^ a^iß-
und wegen ^F* « 2^ß* auch a« = 2ß\ folglich a*
und mit dieser Zahl zugleich auch a eine gerade
r Zahl. Die zu a teilerfremde ß muß daher ungerade
^* *^' sein. Die gerade a sei = 2y, so folgt a* «= 4y*. Es
war a* = 2/J*, mithin ist 2/3* = 4y*, /3* = 2y* gerad und auch ß ge-
rad, was mit dem eben bewiesenen Gegenteil einen Widerspruch
bildet, der zur Aufhebung der Annahme führt, als könne die Diago-
nale mit der Quadratseite in einem rationalen Zahlenverhältnisse stehen.
Man sieht, das muß der Beweis gewesen sein, an welchen Aristoteles
bei seiner Äußerung dachte. Es ist also ein Beweis, dessen Alter-
tum über Aristoteles hinaufreicht, imd der, nach der kurzen Weise, in
welcher dieser ihn andeutet, zu schließen, den Lesern des Aristoteles
zur Genüge bekannt sein mußte. Wir gehen deshalb vielleicht nicht
zu weit, wenn wir gerade diesen Beweis als einen hergebrachten an-
sehen, als denjenigen, der in der alten pythagoräischen Schule ge-
führt wurde, mag ihn Pythagoras selbst oder einer seiner unmittel-
baren Schüler und Nachfolger ersonnen haben.
^) fritSv und &koYOv Bind die griechiBchen Namen für Rational/ahl und
Irrationalzahl; äXoyov heißt sowohl ohne Verhältnis als ohne Wort d. h. nicht
aussprechhar. *) Piaton, Theaetet 147, D. ^ Aristoteles, Analytica
prot. I, 28, 11. *) Euklid X, 117.
Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 183
War in der Tat die Diagonale des Quadrates als irrational^
die Diagonale des Rechteckes mit den um eine Längeneinheit ver-
schiedenen Seiten 3 und 4 als rational ^ nämlich mit der Länge 5,
bekannt, dann war es möglich, daß man auch Quadrat und Hete-
romekie als diejenigen Gegensätze in die pythagoräische Kategorien-
tafel; welche uns durch Aristoteles bekannt geworden ist, au&ahm,
die den sonst dort fehlenden Gegensatz des Rationalen und Lrationalen
ersetzen sollten^). Wir haben eine solche von der unsrigen zunächst
abweichende Erklärung angekündigt (S. 160) und nicht ganz yon
der Hand gewiesen. Allein sie vollkommen uns anzueignen, auch in
der Verbindung mit unserer eigenen Vermutung, die wir dort als
notwendig betonten, vermögen wir trotz eines unterstützenden Grundes,
auf welchen wir im 11. Kapitel zu reden kommen, doch nicht. Es
könnte nämlich gerade das Fehlen des Gegensatzes des Rationalen und
des Irrationalen in der Kategorientafel als bezeichnend betrachtet
werden müssen.
Nach einem alten Scholion zum X. Buche der euklidischen Ele-
mente, welches man in neuerer Zeit dem Proklus zuzuschreiben
pflegt^), dürfte diese Annahme eine nicht ungerechtfertigte sein.
„Man sagt, daß derjenige, welcher zuerst die Betrachtung des Lra-
tionalen aus dem Verborgenen in die Öffentlichkeit brachte, durch
einen Schiffbruch umgekommen sei, und zwar weil das unaussprech-
liche und Bildlose immer verborgen werden sollte, und daß der,
welcher von ungefähr dieses Bild des Lebens berührte und aufdeckte,
an den Ort der Entstehung') versetzt und dort von ewigen Fluten
umspült wurde. Solche Ehrfurcht hatten diese Männer vor der
Theorie des Lrationalen."
Das Mystische dieser Erklärungen stimmt allerdings durchaus zu
den übrigen philosophischen Floskeln des Proklus und sie sind offen-
bar pythagoräischer Überlieferung entnommen. Mystisch war, das
ist wieder einer der allseitig anerkannten Punkte, der ganze Pytha-
goräismus, und wir dürfen vielleicht hier als an dem geeignetsten
Orte darauf hinweisen, daß Philolaus schon die Winkel von
*) So die Meinung Hankels S. 110, Anmerkung. *) Enoche, Unter-
suchungen über die neu aufgefundenen Scholien des Proklus Diadochus zu
Euklids Elementen. Herford 1865, 8. 17—28, besonders S. 23. ») Dr. P.
Hohlfeld machte uns brieflich aufmerksam, die griechische Stelle heiße £/;
tbv tfjg ysviafmg t6nov »> an den Ort der Entstehung, womit die Übersetzung
des CommandinuB in gener atUmis hoc est profundi locum übereinstimme; wenn
Haukel übersetze „in den Ort der Mütter*', so beruhe dieses wahrschein-
lich auf unbewußter Erinnerung an eine bekannte Stelle in Goethes Faust,
zweiter Teil.
184 7. Kapitel.
Figuren bestimmten Göttern weihte^); daß Piaton umgekehrt
die Gottheit immer geometrisch zu Werke gehen ließ*).
War einmal die Irrationalität als solche , und zwar an der Dia-
gonale des Quadrates erkannt, war man sich bewußt geworden, daß
die Diagonale des Rechtecks yon den Seiten 3 und 4 genau in 5
Einheiten sich darstellte, die des Rechtecks von gleichen Seiten
aber nicht angebbar war, welche Länge man auch den beiden Seiten
beilegte, so mußte man wohl auch andere Rechtecke' prüfen, z. B.
von der Voraussetzung ausgehen, daß die Diagonale zur einen Seite
im einfachsten Zahlenverhältnisse von 2 zu 1 stehe, und nun die
andere Rechtecksseite zu messen suchen. Wir sehen hier das zweite
Elementardreieckchen vor uns, dessen Benutzung neben dem gleich-
schenkligen rechtwinkligen Dreiecke zur Flächenbildung wir aus
Piatons Timäus kennen, und dessen somit nachgewiesener pytha-
goräischer Ursprung den hier ausgesprochenen Vermutungen eine
immer breitere Grundlage gewähren dürfte.
Wieder weiterschließend war die Untersuchung an einem Punkte
angelangt, wo der Weg sich spaltete. Man konnte, wo die Zahl ihren
Dienst versagte, geometrische Beweise für den Satz yon den Quadraten
über den Seiten rechtwinkliger Dreiecke suchen. Man konnte solche
Zahlen suchen, die als Seiten rechtwinkliger Dreiecke auftreten
konnten. Man schlug beide W^e ein. ^
Hier ist vielleicht der geeignete Ort, auf die Bedeutung des
Wortes Hypotenuse (imoxeCvovöa) einzugehen'). Man hai xogäily
die Saite, als zu ergänzendes Hauptwort vermutet, also die von unten
nach oben gespannte Saite. Die Meinung ist durch ägyptische Ab-
bildungen von Harfen dreieckiger Gestalt gestützt. Ob der der Hypo-
tenuse gegenüberliegende Winkel ein rechter ist oder nicht, darauf
kommt es nicht an. Musikalische Versuche werden Pythagoras ohne-
hin nacherzählt, und mit diesen in VerbinduDg könnte die Beachtung
der dreieckigen Harfe an Wahrscheinlichkeit gewinnen.
Wir haben oben gesagt, daß der heute gebräuchlichste Beweis des
pythagoräischen Lehrsatzes von Euklid herrühre. Der in der pytha-
goräischen Schule selbst geführte muß von diesem verschieden ge-
») Böckh, Phüolaus S. 165. Chaignet I, 246 — 247. «) Plutarchus,
Co n vi via VUi, 2 II&s IlXdrtov ilsye rbv ßebv &il y sankst gslv. Die Stelle bei
Piaton selbst ist nicht bekannt. Wenn Yossius in seiner Geschichte der Mathe-
matik dafnr auf den Dialog ,^hilebus^' verweist, so dürfte dieses Zitat auf einem
Irrtum beruhen; sagt doch schon Plutarch an der angegebenen Stelle ausdrück-
lich, jener Ausspruch finde sich nicht in Piatons Schriften, könne aber ganz
wohl platonisch sein. ') Max C. P. Schmidt, Philologische Beiträge, zweites
Heft. Terminologische Studien. ^TTtotBivovaa pag. 9 — 46 (Leipzig 1906).
Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 185
wesen sein. Er dürfte seiner Altertümlichkeit entsprechend viele
Unterfälle unterschieden haben und gerade vermöge dieser Weitläufig-
keit aufs gründlichste beseitigt worden sein, wie wir daraus schließen
dürfen, daß Proklus auch mit keiner Silbe des Ganges des voreukli-
dischen Beweises gedenkt. Waren Unterfälle unterschieden, so ist die
Wahrscheinlichkeit vorhanden, die Beweisführung
sei von dem gleichschenkligen rechtwinkligen Drei-
ecke ausgegangen^) und habe die Zerlegung des
Quadrates durch seine Diagonalen (Fig. 28) zur
Grundlage gehabt'), wenigstens hat sich in Piatons
Menon dieser Beweis des Sonderfalles erhalten.
Wie der weitere Fortschritt zum Beweise des all-
gemeinen Satzes vollzogen wurde, darüber ist man ^^' ^^'
in keiner Art unterrichtet. Die verschiedenen Wiederherstellungs-
versuche, so geistreich manche derselben sind, schweben alle so
ziemlich in der Luft^).
Die arithmetische Aufgabe Zahlen zu finden, welche als
Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks gezeichnet werden
können, löste Pythagoras gleichfalls, und hier sind wir in der
günstigen Lage, daß Proklus uns seine Auflösungsmethode aufbe-
wahrt hat*). Er sei von irgend einer ungeraden Zahl 2 a + 1 aus-
gegangen, welche er als kleinere Kathete betrachtete. Die Hälfte
des um 1 verminderten Quadrates derselben gab die größere Eiithete
2a* + 2a, diese wieder um 1 vermehrt die Hypotenuse 2a* -|- 2a + 1.
Wie kam Pythagoras zu dieser Auflösung? Ein möglicher Weg ist
folgender, welchen wir nur wenig gegen die Art, wie er zuerst ver-
mutungsweise geschildert worden ist^), verändert der Prüfung unter-
breiten. Ist a* =- 6* 4- c*, so ist c* = a* — 6* — (a -|- b) (a — b). Die
Aufgabe der erstgeschriebenen Gleichung zu genügen läßt sich also
erfüllen, wenn nur a + b und a — b beide gerad oder beide ungerad
und zudem solche Zahlen sind, welche miteinander vervielfacht eine
Quadratzahl liefern. Solche Zahlen kannte höchstwahrscheinlich be-
reits die vorplatonische Zeit, da sie unter dem Namen ähnlicher
Zahlen bei Theon von Smyma erklärt sind*). Die andere von uns
») Hankel S. 98. *) Allman 1. c. S. 29. ») Vgl. Camerers Euklid-
ansgabe I, 444 mit Bret8chneider82, sowie Zeuthen, Geschichte der Mathe-
matik in Altertum und Mittelalter (Kopenhagen 1896) S. 60, wo die Meinung
ausgesprochen ist, der alte Beweis sei mittels Ähnlichkeit von Dreiecken, also
unter Ziehung der Senkrechten von der Spitse des rechten Winkels auf die
Hypotenuse gefuhrt worden. *) Proklus (ed. Friedlein) 428. *) Roth, Ge-
schichte der abendländischen Philosophie U, 627. ^ Theon Smyrnaeus (ed.
Hiller) 36.
186 7. Kapitel.
heryorgehobene Bedingung beruht darauf, daß a und b ganzzahlig zu
erhalten nur dann möglich ist, wenn Summe und Differenz von
a -{-b und a — b beide gerad sind. Der einfachste Fall ähnlicher
Zahlen ist nun selbstverständlich der der Einheit und einer Quadratzahl
(^, und weil 1 ungerad ist, muß hier auch (^ und somit c selbst un-
gerad sein, etwa c =» 2a + 1. So kam die Formel des Pythagoras
darauf hinaus (2 a + 1)* =» (2a + 1)* . 1 zu setzen, und danach aus
{2a + ly^a + b und 1 - a - 6 die Werte b = (g«+^i)'-i ^^^
Q B= ^ " ' ^^ ~ 1- 1 ZU ermitteln, welche zusammen mit c =« 2a + 1
die gestellte Aufgabe lösen. Die Formen, in welchen b und a auf-
treten, entsprechen, wie man sofort erkennt, genau dem Wortlaute
der Angabe des Proklus, was immer ein günstiges Vorurteil für die
Richtigkeit eines Wiederherstellungsversuches gewährt, und da über-
dies in Ägypten, wie wir aus dem Übungsbuche des Ahmes wissen,
Aufgaben von algebraischer Natur zu lösen nicht ungebräuchlich war,
80 scheitert der Versuch auch nicht an der Frage, ob es für Pytha-
goras möglich gewesen sei, schon derartige Schlüsse zu ziehen, wie
sie hier verlangt wurden.
Fassen wir den Inhalt dieses und des zunächst vorhergehenden
Kapitels in Kürze zusammen. Pythagoras hat, so suchten wir zu
erweisen, sicherlich in Ägypten, vielleicht in den Euphratländem
mathematisches Wissen sich angeeignet. Ersteres geht wie aus den
ausdrücklichen Überlieferungen, so auch aus dem ägyptischen Gepräge
mancher geometrischer Entwicklungen, letzteres aus den babylonisch
anmutenden Zahlehdifteleien der Pythagoräer hervor. Die Summe
des geometrischen Wissens, welches von Pythagoras und seiner Schule
den Griechen vor dem Jahre 400 zugänglich gemacht wurde, ist eine
nicht ganz geringfügige. Sie umfaßte die Kenntnis von den Parallel-
linien und den durch dieselben beweisbaren Winkelsätzen, insbesondere
den Satz von der Summe der Dreieckswinkel, Sie umfaßte Kon-
gruenzsätze des Dreiecks und Sätze über Flächengleichheit, deren
Anwendung die sogenannte Anlegung von Flächen bildete. Sie ließ
umgekehrt Figuren als Summe anderer Figuren entstehen, wobei
vielleicht das Stemfünfeck entdeckt wurde, wenn wir auch für dieses
nicht mit gleicher Sicherheit wie für die anderen Dinge die alten
Pythagoräer als Urheber behaupten möchten. Sie umfaßte den pytha-
goräischen Lehrsatz und den goldnen Schnitt. Sie enthielt endlich
auch Anfänge einer Stereometrie, insbesondere die Kenntnis der fünf
regelmäßigen Körper und der Kugel, welche dieselben umfaßt. Die
Sätze waren mit Beweisen versehen. Allerdings ließen die Beweise
vermutlich nicht gleich die Strenge erkennen, welche man geradezu
Pjthagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 187
geometrische Strenge zu nennen pflegt^ und legten erst nach und
nach den Charakter eines Erfahrungsbeweises ab, nahmen noch später
jene allgemeineren Fassungen an^ welche in einheitlicher Betrachtung
die Notwendigkeit der Unterscheidung von Sonderfällen verbannt.
Noch unvergleichbar mehr leistete die pythagoräische Schule in der
Arithmetik^ gerade durch die Große der Leistungen die Wahrschein-
lichkeit fremden Ursprunges auch für diesen Zweig griechischer
Mathematik bezeugend. Arithmetische^ geometrische, harmonische
Verhältnisse und Reihen, unter den arithmetischen Reihen auch solche,
welche die Sprache heutiger Wissenschaft arithmetische Reihen
höherer Ordnung nennt, sind Dinge, die man am Anfange einer
Entwicklung nicht zu finden erwarten darf, noch weniger die freilich
auch weniger gut beglaubigten befreundeten und vollkommenen
Zahlen. Die Überlieferung läßt wirklich einige dieser Gegenstände
aus Babylon eingeführt sein. Fremdländisch war vielleicht auch die
Methode des mathematischen Experimentes d. h. der Zerlegung von
Figuren in andersgestaltete, der Vereinigung von Reihengliedem
derselben oder verschiedener Reihen zu Summen, zunächst nur in der
unbestimmten Absicht zu versuchen, ob dabei etwas geometrisch,
etwas arithmetisch Merkwürdiges sich offenbaren möchte. Für grie-
chisch dagegen hielten wir die eigentümliche Verquickung von Geo-
metrie und Arithmetik, die geometrische Versinnlichung der Zahlen-
lehre, wie sie ip der Ebenen- und Eörperzahl, in der Dreiecks- und
Quadratzahl, in der Vielecks- und Gnomonzahl zutage tritt. Pytha-
goräisch war nach unserer durch mannigfache Überlieferung gestützten
Darstellung die Erfindung des Satzes von den Quadraten der Seiten
des rechtwinkligen Dreiecks als eines arithmetischen ausgehend von
dem bestimmten Zahlenbeispiele 3^ + 4* = 5*. Pythagoräisch war
endlich eine Regel zur Ermittelung anderer Zahlen als 3, 4, 5, welche
als Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks dienen können, pythagoräisch
die Lehre vom Irrationalen. Vom Irrationalen sagen wir und müssen
wir sagen, nicht von der Irrationalzahl, denn das Irrationale war den
Griechen keine Zahl. War den Pythagoräem doch sogar die Einheit
noch keine Zahl, sondern erst eine Vielheit von Einheiten. Brüche
mögen dem Rechner vorgekommen sein, sei es als wirkliche Brüche
mit Zähler und Nenner, sei es als Unterabteilungen von Münzen,
von Gewichten, von Feldmaßen, jedenfalls immer als konkrete Brüche.
Der abstrakte Bruch war für den Arithmetiker nicht vorhanden.
Er kannte Brüche nur mittelbar als Verhältnis zweier Zahlen. Um
so weniger konnte ihm das Irrationale eine Zahl sein, welchem nicht
einmal ein aussprechbares Verhältnis den Eintritt in die Zahlenreihe
gestattete. Diese wichtige Beschränkung des Begriffes der Zahl er-
188 8. Kapitel.
hielt sich über die Zeit der Pythagoräer weit hinaus. Sie blieb, was
den Ausschluß der Irrationalen betrifiFt, so lange, als überhaupt von
griechischer Arithmetik die Rede ist.
8. Kapitel.
Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Sehale.
Die Mathematik nahm, wie wir weitläufig gesehen hahen, einen
mächtigen Aufschwung durch die pythagoräische Schule. Es war
wohl eng damit verbunden, sei es als Ursache, sei es als Folge, daß,
wie uns berichtet wird, die Mathematik den Pythagoräem als erstes
und wichtigstes Lehrelement diente^). Damit ist aber nicht aus-
geschlossen, daß auch andere Schriftsteller sich noch verdient machten.
Hören wir, wie das alte Mathematikerverzeichnis fortfahrt:
„Nach ihm (dem Pythagoras) lieferte der Elazomenier Anazagoras
vieles über Geometrie, ingleichen Oinopides von Chios, der etwas
jünger ist als Anaxagoras. Beider gedenkt Piaton in den Neben-
buhlern als berühmter Geometer."
Anaxagoras von Elazomene^) wurde vermutlich 500 geboren
und starb 72 Jahre alt 428. Er gehörte einem vornehmen und
reichen Hause an, achtete aber aus Liebe zur Wissenschaft weder auf
die Verwaltung seines Vermögens, noch auf eine ihm leicht en-ing-
bare politische Stellung. Seinen verwahrlosten Besitz soll er schließ-
lich seinen Angehörigen überlassen, die Nichteinmengung in staat-
liche Verhältnisse aber damit erklärt haben, daß ihm der Himmel
Vaterland und die Beobachtung der Gestirne seine Bestimmung sei.
Um 464 etwa dürfte er nach Athen gekommen sein, wenn anders
der Bericht der Wahrheit entspricht, daß sein dortiger Aufenthalt
30 Jahre gedauert habe. Er verließ nämlich diese Stadt um 434,
wenige Jahre vor dem Beginne des peloponnesischen Krieges. Anaxa-
goras lehrte in Athen als einer der ersten Philosophie, und unter
seinen Schülern waren zwei Männer von verschieden begründetem,
aber gleich hohem Ruhme: Euripides und Perikles. Perikles insbe-
sondere blieb zu seinem Lehrer in fortwährend freundschaftlichem
Verhältnisse, und als in der angegebenen Epoche, wenige Jahre vor
431, die Gegner des großen athenischen Staatsmannes ihrer Feind-
schaft gegen ihn in Gestalt von Verfolgung seiner Freunde Luft zu
machen begannen, war gerade Anaxagoras eine zur Eröffiiung des
^) Porphyrins, De vita Pffihagor. 47. Jamblichns, De philosophia
Pythagor. lib. HI, abgedrackt bei Ansse de Villoison, Anecdota Oraeca.
Venedig 1781, pag. 216. *) Schaubach, Fragmenta Änaxagorae. Leipzig 1827.
Zeller I, 788—791.
Mathematiker außerhalb der pythagorftischen Schale. 189
Angrifies geeignete Persönlichkeit. Lehren eines Philosophen zu ver-
dächtigen^ eines Denkers, welchen nicht jeder aus dem großen Haufen
versteht, ist hei einigem guten Willen niemals unmöglich, und das
mußte Anaxagoras erfahren. Er wurde ins Gefängnis gebracht und
entkam diesem, sowie der Stadt Athen, man weiß nicht genau wie.
Die einen berichten von Flucht aus dem Gefängnisse, die anderen
Ton Verbannung, die dritten von Freisprechung und darauf folgendem
nichterzwungenem Verlassen der ihm zuwider gewordenen Stadt
Sicher ist, daß Anaxagoras die letzte Zeit seines Lebens in Lampsa-
kus zubrachte. Wir haben über den eigenen Bildungsgang des
Anaxagoras nichts gesagt. Die Nachrichten aus dem Altertume
schweigen entweder über einen Lehrer, dem er gefolgt wäre, oder
sie nennen ihn Schüler des Anaximenes. Wieder andere wissen von
einer Studienreise nach Ägypten zu erzählen. Die erstere Angabe
läßt sich mit dem gemeiniglich auf 499 angesetzten Todesjahr des
Anaximenes nicht vereinigen. Die zweite ist an sich nicht unwahr-
scheinlich, da, wie wir bei Thaies und Pythagoras gezeigt haben, ein
Handelsverkehr zwischen den ionischen Städten und Ägypten statt-
fand und selbst Studienreisen wohl beglaubigt sind.
Von dem, was Anaxagoras als Mathematiker leistete, sind wir
80 ziemlich, davon, wie er es leistete, gar nicht unterrichtet. Daß es
etwas Hervorragendes gewesen sein muß, läßt sich zum voraus er-
warten. Da in den Nebenbuhlern, einem Gespräche in Piatons Art,
wenn auch nach heutiger Annahme nicht von Piaton verfaßt, ein
Streit über astronomische und mathematische Dinge kurzweg als Streit
über Anaxagoras oder über Oinopides bezeichnet wird^), so geht schon
aus dieser Redeweise hervor, daß zur Zeit, als jenes Gespräch ent-
stand, beide hochberühmt in ihrem Fache waren.
Plutarch erzählt, Anaxagoras habe im Gefängnisse, das wäre
also um 434, die Quadratur des Kreises gezeichnet^). So
fraglich dieser Bericht früher erscheinen mochte, jetzt ist er sehr
glaubwürdig geworden, nachdem wir wissen, daß die Ägypter mehr
als ein Jahrtausend vor Anaxagoras die Quadratur des Kreises zeich-
neten, d. h. eine Figur konstruierten, welche als Quadrat die Fläche
des Kreises mehr oder weniger genau darstellte. Daß Anaxagoras
der mangelnden Genauigkeit sich voll bewußt gewesen sein sollte, ist
nicht anzunehmen. Er wird wohl, wie viele nach ihm, die volle
Quadratur zu erreichen gesucht haben. Aber auch darin liegt ein
Verdienst, eine Aufgabe an die Tagesordnung gebracht zu haben,
welche später als fruchtbringend sich erwies.
") Piaton, Rivalea 132 A. «) Plutarchua, De exilio cap. 17 &XX' 'Avct-
190 8. Kapitel.
Ein anderes Verdienst schreibt Vitnivius dem Anaxagoras zn.
Als Aeschylus in Athen Dramen aufführen ließ^ also um etwa 470,
habe ein gewisser A^atharchus die Schaubühne hergerichtet und
eine Abhandlung darüber geschrieben. Daraus haben sodann Anaxa-
goras und Demokrit Veranlassung genommen den gleichen Gegen-
stand zu erörtern, wie man die gezogenen Linien den aus den Augen
kommenden Sehstrahlen bei Annahme eines bestimmten Mittelpunktes
entsprechend ziehe, so daß z. B. Gebäude auf Dekorationen dar-
gestellt werden konnten, und was in einer Ebene gezeichnet war bald
zurückzutreten, bald vorzurücken schien^). Das ist wenn auch in
ungenügender so doch in nicht mißzuverstehender Weise beschrieben
eine Perspektive. Deren Erfindung oder Ausbildung ist sicherlich
nicht ohne Bedeutung, namentlich wenn die Reise des Anaxagoras
nach Ägypten als wahr gelten darf, da er dort sein Auge nur an
unperspektivisch entworfene Gemälde zu gewöhnen imstande war, und
die gewohnte Darstellung ihn ebensowenig gehindert haben wird als
Tausende, die vor ihm, die nach ihm bewundernd die bemalten
Tempelwände anstaunten.
Der andere durch die erwähnte Stelle in den Nebenbuhlern als
allbekannt erwiesene Geometer war Oinopides von Chios. Er sei
etwas jünger als Anaxagoras, meldet das uns in jeder Beziehung
glaubwürdige Mathematikerverzeichnis. Eine annähernde Gleichaltrig-
keit beider bestätigt Diogenes Laertius^. Oinopides soll gleichfalls
in Ägypten gewesen sein. Gekommen sei zu ihnen ingleichen Demo-
kritos von Abdera und Oinopides von Chios'), meldet Diodor an
einer früher (S. 151) von uns angeführten Stelle. Geometrisches
wissen wir von Oinopides nur, was Proklus in seinem Kommentare
zum ersten Buche der euklidischen Elemente ihm zuschreibt^), daß
er nämlich die beiden Aufgaben gelöst habe^), von einem Punkte
außerhalb einer unbegrenzten Geraden ein Lot auf letztere zu
fällen und an einem in einer Geraden gegebenen Punkte einen
Winkel anzulegen, der einem gegebenen Winkel gleich seL Bei
ersterer Aufgabe bedient sich Oinopides des „altertümlichen^ Wortes
(S. 161) einer nach dem Gnomon gerichteten Linie. Aus dem un-
gemein elementaren Gegenstande der ihm zugeschriebenen Aufgaben
einen Schluß auf die Verdienste des Oinopides ziehen zu wollen,
hieße seinen griechischen Verehrern jede Urteilsfähigkeit absprechen.
Er muß noch Anderes und Bedeutenderes geleistet haben, was wir
*) Vitruvins VII, praefat. 11. •) Diogenes Laertius EX, 37 und 41.
<) Diodor I, 96. *) Proklus (ed. Friedlein) 888 und 838. «) Euklid I, 12
nnd 23.
Mathematiker außerhalb der pjthagoräischeu Schnle. 191
aber nicht kennen. Seine Beziehung zu den beiden Aufgaben des
Lotes und der Winkelanlegung ist gewiß dahin richtig gedeutet
worden^), Proklus wolle nur sagen, die bei Euklid gelehrten Auf-
lösungen rührten von Oinopides her^ während andere Auflösungen
derselben dem Praktiker auf Weg und Steg vorkommenden Aufgaben
längst vorher in Ägypten wie in Griechenland bekannt gewesen
sein müssen.
Im Zusammenhang mit beiden Geometem, mit Anax^oras wie
mit Oinopides^ haben wir einen dritten genannt: Demokritus. Ab-
dera^ jenes thrakische Krähwinkel des Altertums, von dessen Be-
wohnern die schnurrigsten Geschichten erzählt werden, war die Heimat
des Demokritus, dessen Ruhm, so bedeutend er war, nicht hinreichte,
das Abderitentum in Schutz zu nehmen. Nach eigener Aussage
40 Jahre jünger als Anaxagoras^) muß er um 460 geboren sein.
Nach Diodor sei er dagegen im 1. Jahre der 94. Olympiade, das ist
404 auf 403, im Alter von 90 Jahren gestorben*), was einen unlös-
baren Widerspruch herstellt. Beglaubigt ist, daß * Demokritus ein
hohes Alter von mindestens 90 Jahren erreichte; manche Berichte
lassen ihn sein Leben sogar auf 100, auf mehr als 100, auf 109 Jahre
bringen^). Vereinigen wir seine Geburtsangabe als mutmaßlich glaub-
würdigste mit dieser Lebensdauer, so wird der Irrtum keinesfalls sehr
groß sein, wenn man sein Leben etwa von 460 — 370 ansetzt, den
Mittelpunkt seiner Tätigkeit in die Jahre 420 — 400 verlegt. Demo-
kritus gehörte^ wie aus der Diodorstelle hervorgeht, zu den Fremden,
deren Namen in den Matrikellisten der ägyptischen Priester aufge-
führt wurden. Nach einem weiteren Berichte des Diodor verweilte
er fünf Jahre in Ägypten*), und wenn in einem bei Clemens von
Alexandria erhaltenen Bruchstücke des Demokrit selbst von 80jäh-
rigem Aufenthalte die Rede ist^), so dürfte die Erklärung stichhaltig
sein, hier habe einfach eine Verwechslung der älteren Zahlbezeich-
nung iJ « 5 mit der jüngeren n == 80 stattgefunden. Auch Vorder-
üsien und Persien bereiste Demokrit, wie allgemein berichtet und
geglaubt wird'). Wir glauben diesen Umstand betonen zu sollen,
' da er je nach den persönlichen Ansichten des einen oder des andern
entweder dazu führen kann ähnlichen Reisen, welche Pythagoras etwa
100 Jahre früher unternommen haben soll, einen gewissen Wahr-
scheinlichkeitshalt zu gewähren, oder eine Erklärung uns darbietet,
auf welche Weise ungefähr durch andere Reisende schon im Y. S.
^) Bretschneider S. 66. ') Diogenes Laertius IX, 41. ") Diodor
XIV, 11. *) Vgl. Zeller I, 686. ») Diodor I, 98. •) Clemena Alexandr.
Stromata I, 804 A. ^ Zeller I, 688.
192 8. Kapitel.
YorchrisÜicher Zeitrechnung babylonische Lehren in das fast Tollendete
Gebäude pythagoraischer Schulweisheit Eingang finden konnten.
In Erinnerung an seinen ägyptischen Aufenthalt gebrauchte
Demokrit das stolze Wort: ^Jm Konstruieren von Linien nach Maß-
gabe der aus den Voraussetzungen zu ziehenden Schlüsse hat mich
keiner je übertrofiPen^ selbst nicht die sogenannten Harpedonapten der
Ägypter*', dessen wir (S. 104) gedachten; als von jenen Seilspannern
die Rede war. Auch Cicero rühmt Demokrit als gelehrten, in der
Geometrie vollkommenen Mann^). Mathematische Schriften des Demo-
krit nennt uns Diogenes Laertius^), doch ist es leider nicht möglich,
aus diesen Büchertiteln mehr als nur allgemeinste Kenntnis ihres
Inhalts; und das nicht immer, zu gewinnen. Über aeometrie; Zahlen,
das sind Titel allgemeinster Art, und ob wir unter der Geometrie
etwa Feldmessung in unmittelbarer Beziehung zur Tätigkeit jener
Harpedonapten zu verstehen haben, wagen wir kaum in Gestalt einer
Frage zu äußern. Was mag aber der Titel xsqI diaq>0Q7}g yvAfiovog
7j yc€Ql ipavöiog xvxXov tucI 6(pccCQrig (wörtlich: über den unterschied
des Gnomon oder über die Berührung des Kreises und der Kugel)
bedeuten? Als mögliche Erklärung ist vorgeschlagen worden*), Demo-
krit habe einen rechten Winkel so mit dem Kreise beziehungsweise
der Kugel in Verbindung gesetzt, daß der eine Schenkel durch den
Mittelpunkt ging, die Spitze des Winkels auf die Ejreislinie (Kugel-
oberfläche) fiel, weil alsdann der andere Schenkel zur Berührungs-
linie wurde. Besser sagt uns die Erklärung zu^), welche auf ältere
Handschriften des Diogenes Laertius zurückgreifend den Titel tccqI
dtatpoQfjg yvAfirig x. r. X, liest, d. h. über einen Meinungsunterschied
oder über die Berührung des Kreises und der Kugel. Der Meinungs-
unterschied beziehe sich auf den Winkel, welchen die Berührungs-
linie mit dem Kreise bilde, einen Winkel, von welchem, wie wir im
12. Kapitel sehen werden, Euklid im HL Buche seiner Elemente
handelte, und bestehe in der Größenvergleichung dieses Winkels mit
geradlinigen Winkeln. Ein weiterer durch Diogenes Laertius über-
lieferter Titel ist: tcbqI iXöymv yQanfLGiv xa£ va(ft&v fi (zwei Bücher
von irrationalen Linien und den dichten Dingen)?^). Auch dafür ist
eine Erklärung versucht worden®). Der Titel sei nämlich verderbt
aus ytsql äköyov yQccfifi&v xhxtftcbv d. h. über irrationale gebrochene
^) Cicero, De finibus hanürum et malorum l, 6, 20. *) Diogenes Laer-
tius IX, 47. ') All man, Greek geometry from Thaies to £uclid, pag. 80.
*) Briefliche Mitteilung von T. L. Heath. ') Daß yffaniuxl äXoyat nicht Asymp-
toten bedeuten kann, wie in einer sonst brauchbaren Programmabhandlung ge-
sagt ist, versteht sich von selbst. *) Hultsch in den Neuen Jahrbüchern för
Philol. u. P&dagog. (1881) Bd. 128, S. 678—679.
Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schale. 193
Linien, und unter dieser Überschrift habe die Untersuchung sich
teils mit solchen Irrationalii»ten beschäftigen können, welche Summen
von rationalen und irrationalen Teilen waren, teils mit Zerbrechung,
d. h. Teilung yon irrationalen Linien nach gegebenen Verhältnissen.
Jedenfalls können wir, mag das letzte Wort des Titels geheißen
haben, wie es will, seinen ersten Worten die nicht unwichtige Tat-
sache entnehmen, daß Name und vermutlich auch BegrifiP des Irra-
tionalen trotz der mystischen Scheu der Pythagoräer yerhältnismäßig
frühzeitig außerhalb der Schule in Anwendung kam. Wichtig wäre
uns vielleicht noch ganz besonders eine Stelle hei Plutarch, Demokrit
habe den Kegel parallel zur Grundfläche geschnitten^), wenn über
Art und Zweck der Schnittführung nur irgend Genaues gesagt wäre.
Wir würden Einzelangaben etwa im Mathematikerverzeichnisse oder
bei Proklus mit Freuden begrüßen. Da wie dort kommt der Name
des Demokrit nicht einmal vor!
Das Schweigen des Proklus läßt allerdings als absichtliches sich
auffassen. Proklus gehörte zu den begeistertsten Spätplatonikem.
Piaton war Gegner des Demokritus, dessen Werke er vernichtet wissen
wollte, dessen Namen er in seinen zahlreichen Schriften niemals nennt ^.
Proklus mochte nach Piatons Beispiel handeln. Aber das Mathe-
matikerverzeichnis? Aristoteles, Theophrastus, Eudemus schätzten
Demokritus und beschäftigten sich eingehend mit ihm. Daß das
Mathematikerverzeichnis ihn, den vielgerühmten Geometer, nicht nennt,
kann nur in doppelter Weise erklärt werden. Entweder ließ Proklus
aus dem Verzeichnisse den ihm mißliebigen Namen weg, oder der
Verfasser des Verzeichnisses hat ihn mit Unrecht vergessen, eine
Vergeßlichkeit, welche uns einen der zahlreichen Belege für den Satz
liefert, daß aus dem zufälligen Schweigen eines Schriftstellers Schlüsse
nicht gezogen werden dürfen*).
Der Vollständigkeit entbehrt das Mathematikerverzeichnis auch
in einer anderen Beziehung, indem es über die Sophisten, welche
der Mathematik sich befleißigten, insbesondere über Hippias von
Elis in halbes Schweigen sich hüllt. Wir nennen es ein halbes
Schweigen, weil der Name dieses Mannes, wie wir uns erinnern
(S. 146), einmal bereits vorkam. Es handelte sich um den geometri-
schen Ruhm des Mamerkus, für weichen Hippias von Elis als Ge-
währsmann angerufen wurde, und diese Anrufung selbst genügt zum
Nachweise, daß Hippias nach der Meinung des Verfassers des Ver-
zeichnisses wohl fähig war über geometrische Tüchtigkeit ein Urteil
*) Platarchns, De commimibus notitiis adversus Stoicos cap. 39, § 3.
*) Diogenes Laertius IX, 40. ^ Vgl. Zeller I, 690.
Oaittoii, GMchiohte der Mathematik I. S. Aufl. 13
194 8. Kapitel.
zu fällen. Allein der eigentliche Ort, des Hippias von Elis und seiner
Verdienste um die Mathematik zu gedenken, würde doch erst neben
oder nach Anaxagoras und Oinopides gewesen sein, und hier ver-
missen wir seine Erwähnung.
Proklus spricht dafür von ihm an zwei anderen Stellen^). Man
bat freilich mehrfach Zweifel dagegen erhoben, daß der bei Proklus
genannte Hippias wirklich Hippias von Elis sei^, aber sicherlich mit
Unrecht. Proklus besitzt nämlich in seinem Kommentare eine Ge-
wohnheit, von der er nie abgeht. Er schildert einen Schriftsteller,
welchen er anführt, sofern Mißverständnisse möglich wären, mit
deutUcher Benennung, läßt aber später die Beinamen weg, wenn er
es unbeschadet der Deutlichkeit tun darf. So nennt er einen Zenon
von Sidon später nur Zenon den früher erwähnten oder kurzweg
Zenon; Leodamas heißt beim ersten Vorkommen von Thasos, später
nur Leodamas; Oinopides von Chios wird später zum einfachen Oino-
pides, Theätet von Athen zum Theätet usw. Hippokrates der Arzt
wird an einer Stelle, Hippokrates von Chios an einer späteren ge-
nannt, und wo noch später der letztere wieder auftritt, heißt er
wieder Hippokrates von Chios, weil eben vorher zwei des Namens
genannt waren, und damit zum Mißverständnisse Gelegenheit geboten
war. Wenn also Proklus uns einen Hippias schlechtweg nennt, so
muß das Hippias von Elis sein, der schon vorher einmal in dem-
selben Kommentare deutlich bezeichnet war. Aber sehen wir sogar
von dieser Gewohnheit des Proklus ab. Bei jedem Schriftsteller, ins-
besondere bei jedem, der den Werken Piatons ein eingehendes Studium
gewidmet hatte, konnte Hippias ohne jedwede andere Bezeichnung
nur Hippias von Elis sein, eine viele Jahrhunderte lang teils um
seiner Persönlichkeit willen, teils um seines mit zwei Dialogen ver-
knüpften Namens wegen weit und breit bekannte Figur. Hippias
von Elis war ein wegen seiner Eitelkeit, die selbst für einen Sophisten
etwas hochgradig gewesen zu sein scheint, berüchtigter älterer Zeit-
genosse des Sokrates. Seine Geburt dürfte auf 460 etwa anzusetzen
sein*). Die Geistesrichtung und die Tätigkeit der Sophisten ist
bekannt. Den eignen Vorteil über alles stellend lehrten sie *auch
andere gegen mitunter recht hohe Bezahlung ihres Vorteils wahr-
nehmen und durch Künste der Beredsamkeit, durch Schlüsse, welche
Trugschlüsse sein durften, wenn sie nur wirksam sich erwiesen, im
») Proklus (ed. Friedlein) 272 und 856. ^ F. Blaß in den Neuen Jahr-
büchern für Philologie und Pädagogik Bd. 106 in einem Referate über Bret-
Bchneiders Geometrie und Geometer vor Euklid. Hankel S. 161; aber auch
schon im Bulletino Boncompagni 1872, pag. 297. Friedlein, Beiträge III, S. 8
(Programm für 1878). «) Zeller 1,876.
Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schale. 195
Staatswesen und vor Gericht Einfluß und Geltung sich erwerben.
Sittlichkeit kann die berufsmäßigen Rechthaber nicht ausgezeichnet
haben y aber Scharfsinn , Schlagfertigkeit ^ umfassendes Wissen den
Sophisten im allgemeinen und dem Hippias als einem ihrer Haupt-
yertreter insbesondere abzusprechen ist man in keiner Weise befugt.
So darf es gewiß nicht als Ironie aufgefaßt werden , wenn der Ver-
fasser eines gleichviel ob mit Recht oder Unrecht Piaton zugeschrie-
benen Gespräches sich zu den Worten veranlaßt sieht: Was du am
besten verstehst, was die Sterne betri£Ft und was am Himmel sich
zuträgt? . . . Aber etwas über Geometrie hören sie gem^). Ironisch
klingt es auch nicht, wenn gesagt wird: Hippias sei des Rechnens
und der Rechenkunst kundig vor allen anderen und kundig auch
der Meßkunst ^). Am allerwenigsten vollends kann ein solcher Bei-
schmack in der Rede gefunden werden, welche Piaton dem Protagoras
in den Mund legt: Die anderen Sophisten beeinträchtigen die Jüng-
linge. Sie führen dieselben, die von den Künsten sich abwendeten,
den Künsten wider deren Willen zu, indem sie Rechenkunst und
Sternkunde und Meßkunst und Musik sie lehren — und dabei warf
er einen Blick auf Hippias — kommt er aber zu mir, wird er über
nichts anderes Etwas lernen, als weshalb er zu mir kam^). Nach
allen diesen Äußerungen glauben wir uns berechtigt anzunehmen,
daß Hippias von Elis als Lehrer der Mathematik mindestens in
gleichem Range wie als eigentlicher Sophist gestanden haben muß,
daß er in naturwissenschaftlichem, mathematischem und astrono-
mischem Wissen auf der Höhe der Bildung seiner Zeit sich befand^).
Damit stimmt nun vollkommen überein, was von Hippias als
Mathematiker uns mitgeteilt wird. Proklus spricht, wie erwähnt,
zweimal von ihm. Die erste Stelle heißt: Nikomedes hat jeden gerad-
linigen Winkel gedritteilt mittels der konchoidischen Linien, deren
eigentümlicher Natur Entdecker er ist, und von denen er Entstehung,
Konstruktion und Eigenschaften auseinandergesetzt hat. Andere haben
dieselbe Aufgabe mittels der Quadratricen des Hippias und Nikomedes
gelöst, indem sie sich der gemischten Kurvren bedienten, die eben den
Namen Quadratrix (rstQayioviiovöa) führten; wieder andere teilten
einen Winkel nach gegebenem Verhältnisse, indem sie von den Archi-
medischen Spirallinien ausgingen^). Die zweite Stelle lautet: Ganz
auf die nämliche Weise pflegen auch die übrigen Mathematiker die
Kurven zu behandeln, indem sie das jeder Eigentümliche ausein-
') Piaton, Hippias major 286. ■) Hippias minor 367—368. ■) Pia ton,
Protagoras 318. *) So Karl Steinhart in seiner Einleitung zum größeren
Hippias. *) Proklus (ed. Friedlein) 272.
13*
196 d. Kapitel.
andersetzen. So zeigt ApoUonius das Eigentümliche jedes Kegel-
schnittes, Nikomedes dasselbe für die Eonchoiden, Hippias für die
Quadratrix, Persens für die Spiren^). Eine dritte Stelle eines anderen
mathematischen Gewährsmannes allerersten Banges , des Pappus von
Alexandria, sagt nns dagegen: Zur Qnadrator des Kreises wurde von
DinostratuSy Nikomedes und einigen anderen Neueren eine Linie be-
nutzt, welche eben von dieser Eigenschaft den Namen erhielt. Sie
wird nämlich von ihnen Quadratrix genannt^).
Aus der Zusammenfassung dieser drei Stellen') dürfte kaum ein
anderer Sinn zu entnehmen sein, als der folgende. Hippias, und
zwar Hippias von Elis, hat um 420 etwa eine Eurye er-
funden, welche zu doppeltem Zwecke dienen konnte, zur
Dreiteilung eines Winkels und zur Quadratur des Kreises.
Von letzterer Anwendung erhielt sie ihren Namen, Quadratrix, wie er
in lateinischer Übersetzung zu lauten pflegt, aber dieser Name scheint
nicht über Dinostratus hinau&ureichen, dessen Zeitalter als Bruder
des Menächmus, eines Schülers des Eudoxus Yon Knidos, etwa
in die zweite Hälfte des lY. S. gesetzt werden muß. Ob die Kurve
früher einen anderen Namen führte, ob sie überhaupt mit Namen
genannt wurde, wissen wir nicht. Der erste ganz gesicherte Name
einer von der Kreislinie verschiedenen krummen Linie wird uns am
Anfang des zweiten Drittels des IV. S., annähernd 20 bis 30 Jahre
vor Dinostratus begegnen, wo Eudoxus seine Hippopede erfand. Ist
aber der Name Quadratrix erst nachträglich der Kurve des Hippias
beigelegt worden, so schwindet die Notwendigkeit anzunehmen, sie
sei zum Zwecke der Kreisquadratur erfunden worden, und man darf
ihren ursprünglichen Zweck in dem suchen, was nach Proklus durch
sie zu verwirklichen war, in der Dreiteilung des Winkels.
Daß diese Aufgabe selbst auftauchte, kann uns nicht in Ver-
wunderung setzen. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß die
Konstruktion regelmäßiger Vielecke eines der geometrischen Lieb-
lingsgebiete der Pythagoräer bildete. Die Teilung des ganzen Kreis-
umfanges in sechs, in vier, in fünf gleiche Teile wurde gelehrt, und
namentlich letztere als bedeutend schwieriger erkannt als die anderen
längst bekannten Teilungen. Eine überwundene Schwierigkeit reizt
zur Besiegung anderer, und so mag das Verlangen wach geworden
sein nicht mehr den ganzen Kreis, sondern einen beliebigen Kreis-
bogen in eine beliebige Anzahl gleicher Teile zu teilen. Schon bei
») ProkluB (ed. Fr i edlein) 866. «) Pappua, Collectio Lib. IV, cap. XXX
(ed. HultBch). Berlin 1876-1878, pag. 250. ') Vgl. Bretschneider 96 und
168—164.
Mathematiker außerhalb der pythagoreischen Schule. 197
der Dreiteilung traten unbesiegbare Schwierigkeiten auf. Versuche
diese Aufgaben mit Hilfe des Zirkels und des Lineals zu lösen
mögen angestellt worden sein. Es ist uns nichts von ihnen bekannt
geworden. Sie mußten erfolglos bleiben. Aber das zweite große
Problem der Geometrie des Altertums neben der Quadratur des
Kreises ; deren wir bei Anaxagoras gedenken mußten, war gestellt,
und wie in der Geschichte der Mathematik fast regelmäßig zu-
nächst unlösbaren Aufgaben zuliebe neue Methoden sich entwickelten
und kräftigten, so fQhrte die Dreiteilung des Winkels, rgi^xoröfiia
yorulag, die Trisektion, wie man gewöhnlich sagt, zur Erfindung
der ersten von der Kreislinie yerschiedenen, durch bestimmte Eigen-
schaften gekennzeichneten und in ihrer Entstehung verfolgbaren
krummen Linie.
Die Linie des Hippias entsteht durch Verbindung zweier Be-
wegungen, einer drehenden und einer fort- j^ y
schreitenden. „In ein Quadrat aß yd
(Fig. 29) ist um a als Mittelpunkt und mit
der Seite des Quadrats aß als Halbmesser
ein Kreisquadrant ßsd beschrieben. Die Ge-
rade aß bewegt sich dabei so, daß ihr einer
Endpunkt a fest bleibt, der andere ß längs
des Bogens ßsS fortschreitet. Andererseits
soll die ßy immer der ad parallel bleibend
mit dem Endpunkte ß auf der ßa fortrücken, und zwar sollen die
beiden selbst gleichmäßigen Bewegungen der Zeit nach so erfolgen,
daß sie zugleich beginnen und zugleich endigen, daß also a/S in
seiner Drehung, ßy m seinem Fortgleiten im selben Moment in der
Lage ad eintreffen. Die beiden bewegten Geraden werden in jedem
Augenblicke einen Durchschnittspunkt gemein haben, der selbst im
Fortrücken begriffen eine gegen ßsS hin gewölbte krumme Linie
ß%ri erzeugt, welche geeignet erscheint ein der gegebenen Kreisfläche
gleiches Quadrat finden zu lassen. Ihre beherrschende Eigenschaft
besteht jedoch darin, daß eine beliebige Gerade a^s bis zum Kreis-
quadranten gezogen das Verhältnis dieses Quadranten zum Bogen
bS gleich dem Verhältnisse der beiden Geraden ßa und ^6 zuein-
ander macht. Das ist nämlich klar aus der Entstehung der krummen
Linie.'' So Pappus, der hier getreuer Berichterstatter über die alte
Erfindung zu sein scheint. Die Kreisquadratur mit Hilfe der Quadratrix
schließt sich bei Pappus unmittelbar an. Wir werden diese Anwendung
erst in Verbindung mit dem Namen Dinostratus zur Rede bringen^).
^) Diese ganze Stelle schließt sich eng an Bretschneider 1. c. an.
198 8. Kapitel.
Noch von einer anderen Persönlichkeit müssen wir hier ein-
schaltend einiges sagen ^ von Zenon von Elea. Dieser Erfinder^)
der eigentlichen Dialektik dürfte noch um 20 Jahre älter als Demo-
kritns, um 30 bis 40 Jahre älter als Hippias gewesen sein und seine
geistige Blüte in der Zeit gefeiert haben^ als letzterer kaum geboren
war. Nach der als Stoa bezeichneten Halle ^ in welcher Zenon in
Athen seine Vorträge hielt, nannte man seine Schüler die Stoiker.
Zu diesen unmittelbaren Schülern gehörte Posidonius von Alexan-
dria. Würde Zenon als Mathematiker eine Bedeutung haben, so
könnte man uns mit Recht den Vorwurf machen, seiner hier an
unrichtiger Stelle zu gedenken, der weiter oben behandelt werden
mußte. Aber Zenon war nicht Mathematiker. Man wäre fast ver-
sucht, ihn das Gegenteil eines solchen zu nennen. Wenigstens ver-
suchte er mit philosophischem Scharfsinne die mathematischen Mei-
nungen zu stürzen statt sie zu stützen. Die Zeit brachte das so
mit sich. Die Atomistiker hatten die Teilbarkeit der Körperwelt in
Frage gestellt, indem sie unteilbar kleine Urteilchen annahmen. Noch
ungeheuerlicher war der Bruch mit dem Gewohnten als die Pytha-
goräer den Begriff des Irrationalen unter die Denker warfen. Beab-
sichtigt oder nicht, dieser Begriff drang, wie wir bei Demokritus
(S. 193) gesehen haben, in weitere und weitere Kreise. Das Unaus-
sprechliche war ausgesprochen, das Undenkbare in Worte gekleidet,
das UnenthüUbare den Augen preisgegeben. Und wer nüchternerer
Auffassung diese pythagoräische Scheu nicht teilte, dem war wenig-
stens eine ganz neue Schwierigkeit unterbreitet, welche strengen
Schlüssen nicht standhielt. Zahl und Raumgröße, bisher als zur
gegenseitigen Messung oder Versinnlichung als unbedingt tauglich
erachtet, zeigten plötzlich einen Widerspruch. Jeder Zahl entsprach
noch immer eine Länge, aber nicht jeder Länge entsprach eine Zahl.
Stetigkeit und Unstetigkeit waren damit entdeckt und den Philo-
sophen als neues Denkobjekt vorgelegt. Kann man sich wundem,
wenn letztere, um des Widerspruches, der in jenem Gegensatze ent-
halten ist, sich zu erwehren, zu weit gingen, wenn sie dabei zur
Leugnung der Vielheit, zur Leugnung der Bewegung gelangten?
Man kennt ja die eigentümlichen Schlüsse Zenons^). Jede Viel-
*) Diogenes Laertins XI, 26 q>rial d* 'AQLfftotilrig iv ta JSocpiöty evgeTriv
ai)tbv ysviod'cci du(XsyiTi%ijg. Ebenso derselbe VIII, 57. *) Vgl. Zell er I, 497
bis 607, woher wir unsere Anszüge meistens wörtlich entnehmen. Ferner G er-
lin g, Ueber Zeno des Eleaten Paradoxen über die Bewegung (Marburg 1846).
£. Raab, Die Zenonischen Beweise (Schweinfurt 1880) und P. Tannerj, Le
concept scientifique du continu: Zänon d'^ll^e et 6. Cantor, im Oktoberheft 1885
der Revue philosophique pag. 385—410.
Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. 199
heit ist eine Anzahl von Einheiten, eine wirkliche Einheit aber nur
da^s Unteilbare. Jedes von den vielen muß also selbst eine unteil-
bare Einheit sein, oder aus solchen Einheiten bestehen. Was aber
unteilbar ist, das kann keine Größe haben, denn alles, was eine Größe
hat, ist ins Unendliche teilbar. Die einzelnen Teile, aus denen das
Viele besteht, haben mithin keine Größe. Es wird also auch
nichts dadurch größer werden, daß sie zu ihm hinzutreten, und
nichts dadurch kleiner, daß sie von ihm hinweggenommen werden.
Was aber zu anderem hinzukommend dieses nicht vergrößert, und
von ihm weggenommen es nicht verkleinert, das ist nichts. Das
Viele ist mithin unendlich klein, denn jeder seiner Bestandteile ist so
klein, daß er nichts ist. Andererseits aber müssen diese Teile auch
unendlich groß sein. Denn da dasjenige, was keine Größe hat, nicht
ist, so müssen die Vielen, um zu sein, eine Größe haben, ihre Teile
müssen mithin voneinander entfernt sein, d. h. es müssen andere Teile
zwischen ihnen liegen. Von diesen gilt aber das Gleiche: auch sie
müssen eine Größe haben und durch weitere von den anderen ge-
trennt sein, und so fort ins Unendliche, so daß wir demnach unend-
lich viele Größen, oder eine unendliche Größe erhalten. Man kennt
den Ausspruch des Zenon gegen Protagoras, ein Scheffel Frucht könne
beim Ausschütten ein Geräusch nicht hervorbringen, wenn nicht jedes
einzelne Korn und jeder kleinste Teil eines Kornes ein Geräusch her-
vorbrächte. Man kennt seine Beweise für die Unmöglichkeit einer
Bewegung. Ehe der bewegte Körper am Ziele ankommen kann, muß
er erst in der Mitte des Weges angekommen sein, ehe er an dieser
ankommt in der Mitte seiner ersten Hälfte, ehe er dahin kommt in
der Mitte des ersten Viertels, und so fort ins Unendliche. Jeder
Körper müßte daher, um von einem Punkte zum anderen zu gelangen,
unendlich viele Räume durchlaufen. Es ist mithin unmöglich von einem
Punkte zu einem anderen zu gelangen, die Bewegung ist unmöglich.
Ebenso folgt die Unmöglichkeit, daß die Schildkröte, wenn sie nur einen
Vorsprung hat, durch den schnellen Achilleus eingeholt werden könne,
weil während Achilleus den ersten Vorsprung durchläuft, die Schildkröte
bereits einen zweiten Vorsprung gewonnen hat, und so fort ins Unendliche.
Der mathematisch sein sollenden Form wegen ist ein letzter Ein-
wurf Zenons gegen die Bewegungslehre erwähnenswert. Eine Reihe
von Gegenständen a^, Oj, «3, «^ ist räumlich mit zwei anderen
Reihen von Gegenständen ß^, ß^, ß^, ß^ tmd y^, y^, ^g, y^ in Be-
ziehung gesetzt, so daß sie nachfolgende gegenseitige Lage besitzen:
«1 «2 «8 «4
ßi A ßi ßi
200 8- Kapitel.
Die cc sind in Ruhe, die ß und die y sind in entgegengesetzter Be-
wegung, jene von links nach rechts, diese von rechts nach links.
Wenn ß^ bei a^ angelangt ist, ist y^ bei cc^ angelangt, und zu der-
selben Zeit ß^ bei c^, y^ bei cc^. Demgemäß ist ß^ sowohl an Og
und a^ als an yj, y,, y^, y^ vorbeigekommen, hat in einer und der-
selben Zeit an zwei und an yier Gegenständen von genau gleicher
Entfernung sich vorbeibewegen können und folglich zugleich eine
einfache und eine doppelte Geschwindigkeit besessen, was unmög-
lich ist.
Wir haben dem Zenon weiter oben die Eigenschaft; als Mathe-
matiker abgesprochen. Gerade dieser letzte Trugschluß rechtfertigt
uns, denn hier sind irrigerweise absolute und relative Bewegungs-
größen einander gleichgesetzt, was einem Mathematiker kaum be-
gegnet wäre. Anders dagegen verhält es sich mit den vorher her-
vorgehobenen Schlüssen und ihren sich widersprechenden Ergebnissen.
Zenon suchte darzutun, daß ein Körper nicht eine Summe von
Punkten, ein Zeitraum nicht eine Summe von Augenblicken, eine
Bewegung nicht eine Summe einfacher Überg^ge von einem Punkte
des Raumes zum anderen sei. Dieser ganze in geistreich erfundenen
Widersprüchen geführte Streit richtete sich gegen die Pythagoräer *),
welchen der Punkt eine fioväg ixovöa d'döiv, eine Einheit an be-
stimmtem Platze hieß. War diese Erklärung richtig, dann war der
Körper als Vielheit eine Summe von Einheiten, d. h. von Punkten,
und dagegen erhob Zenon seine Stimme. Er sah hier, was vor ihm
vielleicht noch nicht gesehen, jedenfalls nicht in gleich scharfer Be-
tonung bemerklich gemacht worden war: Schwierigkeiten, denen in
der Tat weder der Philosoph noch der Mathematiker in aller Strenge
gerecht werden kann, wenn auch der Mathematiker dazu gelangte
durch Einführung bestimmter Zeichen die Stetigkeit zu einer definier-
baren Eigenschaft zu machen, und mit den Grenzen zugleich den
Übergang zu den Grenzen der Untersuchung zu unterwerfen. Zwei
Jahrtausende und mehr haben an dieser zähen Speise gekaut, und
es wäre unbillig von den Griechen des fünften vorchristlichen Jahr-
hunderts zu verlangen, daß sie in Klarheit gewesen seien über Dinge,
welche, freilich anders ausgesprochen, noch Streitfragen unserer Gegen-
wart bilden.
*) Die Gegnerschaft Zenons gegen die Pythagoräer ist von Tannery 1. c.
hervorgehoben worden.
Maihem. außerhalb d. pjthagor. Schule. Hippokrates von Chios. 201
9. Kapitel.
Mathematiker anfierlialb der pythagorälsclien Sehnle.
Hippokrates Ton Chios.
Den Mathematikern scheint nächst dem Irrationalen bei Gelegen-
heit der Ereisquadratur der erste Anlaß geboten worden zu sein,
Fragen des stetigen Überganges zu behandeln, und dieses führt uns
zurück zu dem Mathematikerverzeichnisse, welches mit den Worten
fortfahrt:
,,Nach diesen wurde Hippokrates von Chios, der die Quadratur
des Mondes fand, und Theodorus von Kyrene in der Geometrie be-
rühmt, unter den hier Genannten hat zuerst Hippokrates Elemente
— ötoixela — geschrieben."
Von dem Leben des Hippokrates von Chios sind uns nur
wenige Züge bekannt^). Ursprünglich Kaufmann kam er durch einen
unglücklichen Zufall um sein Vermögen. Die einen erzählen, die
Zolleinnehmer von Byzanz, gegen welche er sich leichtgläubig er-
wies, hätten ihn darum geprellt, die anderen lassen ihn durch See-
räuber geplündert worden sein. Man hat beide Angaben so zu ver-
einigen gesucht, daß man mutmaßte, athenische Seeräuber hätten aus
Veranlassung eines Krieges gegen Byzanz das Schiff des Hippokrates
weggenommen. Jener Krieg sei der sogenannte Samische Krieg um
das Jahr 440 gewesen, an welchem tatsächlich die Byzantiner gegen
die Athener teilnahmen, und um diese Zeit sei also Hippokrates nach
Athen gekommen. Ohne die Möglichkeit in Abrede zu stellen, daß
es sich so verhalten haben könne, bedürfen wir jedoch dieser Ver-
mutung nicht, um die wichtigste Folgerung zu ziehen, welche sie für
uns enthält, nämlich den Aufenthalt des Hippokrates in Athen zu
begründen und zeitlich zu bestimmen. Die ungefähre Lebenszeit des
Hippokrates geht schon aus seiner Stellung innerhalb des Mathema-
tikerverzeichnisses hervor, sein Aufenthalt in Athen, der Stadt, welche
gerade damals mit Recht begann als erste Stadt Griechenlands zu
gelten, hat eine besondere Veranlassung nicht notwendig gehabt.
Jedenfalls war Hippokrates von Chios in der zweiten Hälfte des
V. S. in Athen und kam dort mit Pythagoräem, d. h. offenbar mit
versprengten Mitgliedern der italischen Schule zusammen, in deren
^) Die betreffenden Stellen des Aristoteles (Ethic. ad Eudem. YR, 14) und
des Johannes Philoponus {Comment in Äristotel phya. auscuU, f. 18) sind abge-
druckt bei Bretschneider 97, wo die im Texte dargestellte Vereinigung der
beiden Angaben versucht ist.
202 9. Kapitel.
Gesellscliaft er geometrisches Wissen sich aneignete. Es wird sogar
erzählt, er habe es sehr bald dahin gebracht, selbst Unterricht in der
Mathematik erteilen zu können und habe dafQr Bezahlung ange-
nommen. Von da an hätten die Pythagoräer ihn gemieden^).
Diese Geschichte erscheint, insbesondere was den durch Hippo-
krates gewohnheitsmäßig erteilten mathematischen Unterricht betrifft,
sehr glaubwürdig. Damit stimmt nämlich vortreflflich überein, was
das Mathematikerverzeichnis uns meldet, daß Hippokrates das
erste Elementarlehrbuch der Mathematik verfaßt habe.
Weit hervorragender aber sind die eigentlichen geometrischen Erfin-
dungen des Hippokrates, welche auf zwei Probleme sich beziehen:
auf die Quadratur des Kreises und auf die Verdoppelung des Würfels.
Die Quadratur des Kreises, von Anaxagoras zuerst versucht, hat
auch unter den Sophisten wenige Jahrzehnte vor Hippokrates wenn
nicht bis zu seiner Zeit herab Bearbeiter gefunden. Es ist kaum
wahrscheinlich, daß die Wortklauberei so alt sei, mit welcher man
nach einer Quadratzahl suchte, die zugleich zyklisch sei*), d. h. mit
derselben Endziffer schließe wie ihre Wurzel z. B. 25 = 5*, 36 = 61
Diese Spitzfindigkeit ist erst bei Alexander von Aphrodisias (um 200
nach Christus) nachweisbar'). Aber die Versuche von Antiphon und
Bryson sind sehr bemerkenswert.
Antiphon, ein Zeitgenosse des Sokrates, mit welchem er über
verschiedene Dinge in Hader lag*), schlug den Weg ein, daß er in
den Kreis ein regelmäßiges Vieleck, etwa ein Quadrat oder ein regel-
mäßiges Dreieck, einzeichnete*). Von diesem ging er zu dem Viel-
ecke doppelter Seitenzahl über. So soll man fortschreiten bis dem
Kreise ein Vieleck werde eingeschrieben werden, dessen Seiten ihrer
Kleinheit halber mit dem Kreise zusammenfallen würden. Nun könne
*) Jamblichus, De philosoph. Pythagor. lib. m, bei Ansse de Villoi-
Bon, Anecdota Graeca^ pag. 216. *) So berichtet Simplicius in einer unter
anderen bei Bretschn eider 106—107 abgedrackten Stelle. *) Vgl. über das
Alter der Stelle P. Tannery in der Bibliotheca Mathematica 1900 (3. Folge
1,266). *) Diogenes Laertius II, 46. '^) Der Bericht des Simplicius abgedruckt
bei Bretschneider, der das große Verdienst sich erworben hat, diese sämt-
lichen Untersuchungen zuerst für die Geschichte der Mathematik nutzbringend
gemacht zu haben. Bedeutend vertieft haben sich die Forschungen über das,
was Simplicius berichtet, seit der Ausgabe von Simplicii in Aristotelis phjsico-
mm libros quatuor priores durch Herm. Diels (Berlin 1882), in deren Vorrede
auch Arbeiten von üsener und P. Tannery verwertet sind. Noch neuer ist
Tannery, Le fragment d'Eud^me sur la quadrature des lunules (Mämoires de
la Sociät<§ de sciences physiques et naturelles de Bordeaux. 2* S^rie T. V und
Heiberg im Philologus XLin, :SS6— 344. Abschliefiend ist Ferd. Rudio, Der
Bericht des Simplicius über die Quadraturen des Antiphon und des Hippokrates
in der Bibliotheca Mathematica 1902 (3. Folge III, 7—62).
Mathem. außerhalb d. pytbagor. Schule. Hippokxates von Chioe. 208
man, wie man in den Elementen gelernt habe, za jedem Vielecke ein
gleichflächiges Quadrat zeichnen, folglich aach zu dem Kreise mittels
des Vielecks, welches an seine Stelle getreten sei. So der Bericht
des Simplicius, eines Erklärers des Aristoteles aus dem VI. S., in
seinem Kommentare zur Physik des Stagiriten als Einleitung in den
selbst aus Eudemus geschöpften Bericht über den Quadrierungsver-
such des Hippokrates, der uns nachher zu beschäftigen hat. Ein
anderer Kommentator des Aristoteles, Themistius (ungefähr 317 — 387),
weiß die Sache ganz ähnlich^). Die Übereinstimmung beider Berichte
spricht für eine gleiche Quelle, wahrscheinlich den Eudemus.
Ein anderer Geometer der gleichen Zeit etwa wie Antiphon war
der Sophist Bryson aus Herakläa, der Sohn des Herodorus. Er
wird auch wohl als Pythagoräer bezeichnet. Er ging in seinem Ver-
suche die Quadratur des Kreises zu finden, von welchem wir wieder
durch einen anderen Erklärer des Aristoteles, durch Johannes Philo-
ponus unterrichtet sind*), um einen sehr bedeutsamen Schritt über
Antiphon hinaus. Er begnügte sich nicht damit ein Kleineres als
den Kreis zu finden, welches sich nur wenig von ihm unterschied,
er verschaffte sich auch ein der gleichen Forderung genügendes
Größeres. Er zeichnete neben den eingeschriebenen Vielecken auch
umschriebene Vielecke von immer größerer Seitenzahl und beging
bei Ausführung dieses vollständig richtigen Gedankens nur einen da-
mals freilich verzeihlichen Fehler, indem er meinte, die Kreisfläche
sei das arithmetische Mittel zwischen einem eingeschriebenen und
einem umschriebenen Vielecke. Es ist nicht wahr, sagte später Pro-
klus diesen Versuch vornehm zurückweisend, daß die Stücke, um
welche jene Vielecke größer und kleiner als der Kreis sind, sich
gleichen. Aber auch welche Entwicklung der Geometrie zwischen
Bryson und Proklus! Wir glauben über das Irrige an Brysons
Folgerung hinweggehen zu dürfen, den Tadel irgend einen Mittelwert
mit dem arithmetischen Mittel verwechselt zu haben, ersticken zu
müssen unter dem Lobe in der Erkenntnis des Grenzbegriffes weiter
gekommen zu sein als alle Vorgänger.
So weit freilich wie Aristoteles, wenn wir dieses vorgreifend
hier erwähnen dürfen, ist auch Bryson nicht gegangen. Aristoteles
wußte und sagte *•) in Worten, deren wir heute uns noch vielfach
*) Themistii in Aristotelia physica paraphrasig (ed. H. Schenkl, Berlin
1900). *) Bretschneider 126. ») Aristoteles, Physic. III, 4. Die Zusammen-
stellung der auf den Grenzbegriff und auf das Unendliche bezüglichen Stellen
des Aristoteles usw. bildet eines der schönsten Kapitel bei Hankel 115 — 127.
Vgl. auch Görland, Aristoteles und die Mathematik (Marburg 1899) S. 162
bis 183.
204 9. Kapitel.
bedienen ; ohne das Bewußtsein zu haben seine Schüler zu sein:
„Stetig — 6vvB%iq — sei ein Ding^ wenn die Grenze eines jeden
zweier nächstfolgender Teile ^ mit der dieselben sich berühren^ eine
und die nämliche wird und, wie es auch das Wort bezeichnet, zu-
sammengehalten wird/' Aristoteles wußte, daß es ein anderes ist
unendlich vieles zu zählen, oder durch unendlich viele nicht vonein-
ander zu scheidende Punkte sich bewegen. Er löste das Paradoxon
der Durchlaufung dieser unendlich vielen Raumpunkte in endlicher
Zeit durch das neue Paradoxon, daß innerhalb der endlichen Zeit
unendlich viele Zeitteile von unendlich kleiner Dauer anzunehmen
seien. Es gibt für ihn kein reales Unendliches in zusammenhangloser
ünbeschränktheit des Begriffes, so daß Größeres oder Kleineres nicht
möglich ist, sondern nur Endliches von beliebiger Größe, von be-
liebiger Kleinheit. Das unendliche bleibt nicht, es wird.^) Aber
man vergesse nicht, daß Aristoteles schon um ein weiteres Jahr-
hundert nach der Zeit lebte, welche uns in diesem Augenblicke be-
schäftigt, und daß er Aristoteles war, einer jener Geister, die für alle
Zeiten lebend der eigenen Zeit meist unverstanden bleiben.
Bis zu einem gewissen Grade darf man letzteres vielleicht auch
für Antiphon und Bryson behaupten. Die Mitte des V. S. konnte
sich mit Schlußfolgerungen, wie diese beiden Männer sie zogen, nicht
befreunden. Sie konnte nicht über den Widerspruch hinaus, noch
um den Widerspruch herum kommen, der darin liegt, die krumme
Kreisfläche durch eine geradlinig begrenzte Yielecksfläche erschöpfen
zu lassen. Eine mathematische Begründung irgendwelcher Art, am
naturgemäßesten ein selbst auf einen Widerspruch gebauter Beweis
der Unmöglichkeit der entgegengesetzten Annahme, mußte vorausgehen
und das bilden, was man die geometrische Exhaustion nennt.
Aller Wahrscheinlichkeit nach versuchte Hippokrates von
Chi 08 zuerst oder als einer der Ersten eine solche Schlußfolgerung
um zu dem Satze zu gelangen, daß Kreisflächen den Quadraten
ihrer Durchmesser proportional seien, ein Satz, den er, wie
Eudemus ausdrücklich sagt'), bewiesen hat.
Die Wiederherstellung dessen, was in der Tat Hippokrates ange-
hört, ist allerdings schwierig. Der Bericht im ganzen stammt, wie
wir (S. 202) sagten, von Simplicius her. Manches hat dieser von
Alexander von Aphrodisias entnommen, anderes und zwar wörtlich
{xaxa Xiiiv) von Eudemus. Er selbst hat es an erUlutemden Be-
merkungen auch nicht fehlen lassen, deren Erkennungszeichen zum
>) Aristo telSB, Physic. III, 7 6v(i% iiivsi rj insigla ScXlcc ylyvetM, *) Eudemi
fragmenta (ed. Spengel) pag. 128, lin. 29.
Mathem. außerhalb d. pyÜiagor. Schule. Hippokrates von Chios. 205
Teil ein plötzlicher Übergang der Redeweise ans der dritten in die
erste Person bildet. Wie ist aus diesem Gemenge das herauszuschälen,
was Eudemns sagte, wie daraus wieder was in der Abhandlung des
Hippokrates stand? Wir folgen in unserer Darstellimg dem letzten
Bearbeiter der Frage ^) und Yerweisen für die nähere Begründung auf
dessen umfangreiche Studie.
Zunächst ist yon der Form zu reden. Es ist wohl nicht daran
zu zweifeln, daß Eudemus, daß yor ihm Hippokrates Figuren zeich-
nete und an die einzelnen Punkte derselben Buchstaben schrieb. Wir
haben früher gesehen, daß die Ägypter ihren Figuren teilweise die
Längenmaße beischrieben, welche den Linien derselben zukamen. Wir
haben darin yielleicht die Anregung gefunden, infolge deren Zahlen -
großen durch Linien zur Yersinnlichung gebracht wurden (S. 168).
Die Ägypter gingen über diese messende Bezeichnung hinaus. Eine
gewisse Allgemeinheit gab sich kund, wenn die Scheitellinie mit
merit, die Grundlinie der Pyramide mit uchtxkbt usw. bezeichnet wurde,
indem hierdurch die yon Figur zu Figur unyeränderliche Lage gegen
die jedesmal wechselnde Länge als das wichtigere in den Vordergrund
trat. Aber Punkte nun gar durch Buchstaben zu benennen, welche
nicht Zahlenwerte, nicht Abkürzungen yon Wörtern, welche etwa so
anfingen, sein sollten, sondern nur Buchstaben als solche, damit die
Möglichkeit zu geben eine Figur auch ziemlich yerwickelter Art nur
zu denken und doch mit dem Texte in yerständlichen Einklang zu
bringen: das ist eine Art yon allgemeiner Symbolik, ist die bei Geo-
metem erkennbare Vorläuferin der algebraischen Bezeichnung der
Unbekannten durch einen Buchstaben, oder wenigstens durch ein
Wori Und innerhalb dieser Symbolik selbst ist ein Fortschritt nach-
weisbar: die älteren Geometer, wie Eudemus, wie yor ihm yermutlich
Hippokrates, sprechen yon einer Linie, „an welcher AB (steht)'', yon
einem Punkte, „an welchem K (steht)'', während es bei den Späteren,
bei Euklid usw. kurzweg heißt „die Linie jiB^ oder „der Punkt iC".
Ob Hippokrates der erste war, welcher die geometrischen
Figuren mit zur Bezeichnung dienenden Buchstaben yersah,
das wissen wir nicht Wahrscheinlich ist es uns nicht, weil Eudemus
sonst yermutlich in seinem Berichte auf diese Neuerung hingewiesen
haben würde. Wir neigen weit eher der Meinung zu, Hippokrates
werde die geometrische Anwendung der Buchstaben yon den Pytha-
gorilem gelernt haben, denen er ja auch sein mathematisches Wissen
^) F. Rudio in der Bibliotheca mathematica 1902, 8. Folge III, 7—62 und
in der VierteljahrBchrift der Naturforachenden Gesellschaft in Zürich, Jahr-
gang L (1906).
206 d. Kapitel.
überhaupt verdankt haben soll. Dafür spricht, daß das StemfÜnfeck,
welches den Pythagoräem als Erkennungszeichen, auch wohl als Briet-
überschrift diente (S. 178), an seinen Ecken die Buchstaben gefQhrt
haben soll, welche das Wort Gesundheit bildeten. So wird wenig-
stens allgemein die Stelle aufgefaßt, daß jene Figur Gesundheit ge-
nannt worden sei.
Bei Hippokrates bestand dagegen eine Sitte noch nicht, welche
bei Euklid mit der Regelmäßigkeit eines Gesetzes herrschend geworden
ist: die Sitte nämlich unter die zur Bezeichnung von Figuren be-
nutzten Buchstaben niemals das I zu begreifen, sondern nach ® sofort
zu K überzugehen. Offenbar wollte man dadurch der leicht mög-
lichen Verwechslung des Buchstaben I mit einem einfachen Vertikal-
striche vorbeugen^). Der Bericht des Eudemus über Hippokrates,
also wahrscheinlich auch Hippokrates selbst, übersprang das I noch
nicht*), und auch bei der eben erwähnten pythagoräischen Bezeich-
nung der Ecken des Pentalpha spielt I eine Rolle.
Wir kommen nach diesen die Form betreffenden Vorbemerkungen
zu dem eigentlichen Inhalte der Abhandlung des Hippokrates, dessen
Verständnis wesentlich davon beeinflußt ist, wie man das in dem Be-
richte vorkommende Wort xfifiiia übersetzt, welches jedenfalls ein
durch Schneiden aus dem Kreise hervorgegangenes Flächenstück be-
deutet. Wie der erzeugende Schnitt beziehungsweise die erzeugenden
Schnitte geführt werden, ist nicht gesagt. An und für sich kann
also ebensogut das gemeint sein, was man nachmals einen Kreis-
abschnitt, Segment, als das, was man nachmals einen Kreisausschnitt,
Sektor, nannte. Der neueste Herausgeber^) ist der Ansicht^ man habe
in früher Zeit bald das eine, bald das andere zfirifia genannt, und
man müsse meistens Segment als Übersetzung gelten lassen, was aber
nicht ausschließe, daß in vereinzelten Fällen die Übersetzung Sektor
richtig sei. Ein anderes offenbar von Hippokrates eingeführtes Wort
(irjVLöxog Mondchen (lateinisch lunula) bedarf kaum einer besonderen
Erklärung; es ist eine Mondsichel gebildet durch zwei Kreisbögen,
welche verschiedenen Kreisen angehörend nach der gleichen Richtung
gekrümmt sind und mit ihren Endpunkten zusammentreffen.
Grundlage der ganzen Untersuchung ist der Satz, daß ähnliche
Segmente dasselbe Verhältnis zueinander haben wie die Grundlinien
in der Potenz. Ähnliche Sektoren sind nämlich solche, welche gleiche
UntervieKache der betreffenden Kreise sind, und wie die Kreise selbst
*) Nach Professor Studemund. Vgl. Zeitschr. Math. Phys. XXI, ffisto-
risch-literarische Abteilung S. 183. ') Rudio 1. c. S. 24. ») Rudio, Anmer-
kung 67 auf S. 41—46.
Uathem. anBerbalb d. pytliagor. Schule. Hippokratee von ChioB. 207
den Potenzen ihrer Durchmesser oder auch ihrer Halbmesser pro-
portional sind, so verhält es sich auch mit ähnlichen Sektoren der-
selben. Der Sektor besteht aber aus einem Dreiecke und einem Seg-
mente. Ähnlichen Sektoren entsprechen ähnliche Dreiecke, welche
ebensogut den Potenzen der Halbmesser als der Grundlinien propor-
tional sein müssen, und die ähnlichen Segmente werden wieder in dem
gleichen Verhältnisse stehen müssen. Ähnliche Segmente nehmen
gleiche Winkel auf, und zwar sind die aller Halbkreise Rechte
und die der größeren kleiner als Rechte und die der klei-
neren größer als Rechte.
Wir halten einen Augenblick ein, um festzustellen, daß demnach
Hippokrates mit der Gleichheit von auf demselben Bogen aufstehen-
den Peripheriewinkeln bekannt war.
Allein auch das von ihm benutzte Wort Svvayug^ Vermögen,
lateinisch potentia gibt zu Bemerkungen Anlaß. Daß aus der latei-
nischen Übersetzung nachmals unsere Potenzgrößen entstanden
sind, liegt auf der Hand. Ursprünglich war unter Svvafits nur die
zweite Potenz verstanden und das Vorkommen des Wortes als Kunst-
ausdruck bei Hippokrates, den Eudemus hier wörtlich ausgenutzt
haben dürfte, ist das erste nachweisbare. Später kommt das Wort
sowohl in mathematischem als in nichtmathematischem Sinne ungemein
häufig vor. Piaton hat es benutzt^), Aristoteles nicht minder an un-
zähligen Stellen, wo auch von dem dynamischen Auftreten dieser
oder jener Eigenschaft — wir sagen gewöhnlich in einer lateinischen
Wortform deren virtuelles Auftreten — die Rede ist, der Kunstaus-
druck der einen Wissenschaft zum Kunstausdrucke einer anderen
wurde. Es scheint fast, als läge in den Wörtern övvaiiig und rsTQci-
yopog ein ähnlicher Gegensatz wie in unseren Ausdrücken „zweite
Potenz" und „Quadrat". Das eine Wort bezieht sich auf die arithme-
tische Entstehung als Zahl, das andere auf die geometrische Deutung
als Fläche, und somit wäre bei Hippokrates von einer rechnenden
Vergleichung der Kreisflächen, wie sie aus ihi-en Durchmessern sich
ermitteln lassen, die Rede. Damit soll freilich, wie wir im 11. Ka-
pitel sehen werden, keineswegs gesagt sein, Hippokrates habe die
Proportionalität von Kreisfläche und zweiter Potenz des Durchmessers
rechnend erkannt.
Das Verfahren des Hippokrates wird nun in der Weise geschil-
dert, daß dessen erster Versuch dahin ging, die Quadratur eines
Mondchen zustande zu bringen, dessen äußerer Bogen ein Halbki'eis
wäre (Fig. 30). Zu diesem Zweck beschrieb er um ein sowohl recht-
») Piaton, Theaefcet pag. 147.
208 9. Kapitel.
winkliges als gleichschenkliges Dreieck einen Halbkreis und über der
Basis ein Kreissegment ähnlich denen^ die von den Seiten abge-
schnitten werden. Das Segment über der
Basis ist gleich den beiden über den ande-
ren Dreiecksseiten und so wird, wenn der
Teil des Dreiecks, der außerhalb des über
der Basis beschriebenen Segmentes liegt,
beiderseits hinzugefügt ist, das Mondchen
gleich dem Dreiecke sein.
Der zweite Versuch gilt einem Mondchen, dessen äußerer Bogen
größer als ein Halbkreis ist (Fig. 31). Hippokrates beschreibt in das
durch den erwähnten größeren
Bogen und dessen Sehne gebildete
Segment ein Paralleltrapez mit drei
gleichen Seiten; er bestimmt dabei,
daß das Quadrat der Gh-undlinie so
groß sein solle wie die Summe der
Quadrate der drei anderen Seiten ^).
Wird alsdann über der Grundlinie
Fig. 81.
ein Segment ähnlich den drei an-
deren gezeichnet, so ist das hierdurch entstehende Mondchen quadrier-
bar'). Daß der äußere Bogen des Mondchen größer als ein Halbkreis
sei, wird von Eudemus, vielleicht schon von Hippokrates, bewiesen
und zwar mit Hilfe des Satzes, daß der Winkel, welchen eine Seite
des Trapezes mit einer Diagonale desselben bildet, ein spitzer Winkel
sei. Diese Tatsache folgt ihm aber selbst wieder daraus, daß das
Quadrat der Grundlinie des Trapezes, dessen Beziehung zu den anderen
Seiten des Trapezes bekannt ist, kleiner als die Summe des Quadrates
einer kleinen Trapezseite und des Quadrates einer Trapezdiagonale ist,
welches selbst, weil die Diagonale einem von zwei kleinen Trapez-
seiten gebildeten stumpfen Winkel gegenüberliegt, größer als das
doppelte Quadrat einer kleinen Trapezseite ist.
Eine sprachliche und eine sachliche Bemerkung sei hier einge-
schaltet. Was hier als Diagonale übersetzt wurde, heißt bei Eudemus
und auch sonst häufig Diameter. In den beiden ersten Quadrierungs-
versnchen ist der wichtige Satz benutzt, daß das Quadrat einer
*) Das tritt ein, wenn die kleine Seite a = rV'a — ya. Vgl. über die
Mondchen des Hippokrates einen Aufsatz von C lausen (Grelles Journal XXI,
376) und Hankel 127. *) Das Mondchen ist, wie Simplicius beweist, gleich
dem Trapeze, welches entsteht, wenn von dem grofien Segmente die drei kleinen
Segmente abgezogen werden, während das Mondchen durch Abziehen jenes den
drei kleinen Segmenten ähnlichen Segmentes über der Grundlinie übrig bleibt.
Maihem. außerhalb i. pythagor. Schule, fiippokrates von Chios. 209
Xlg. 88.
Dreiecksseite gleich der Summe der Quadrate der beiden
anderen Dreiecksseiten, größer als diese Summe, kleiner
als diese Summe ist, je nachdem ihr ein rechter, ein stumpfer^
ein spitzer Winkel gegenüberliegt.
Der dritte Versuch beschäftigt sich mit einem Mondchen, dessen
äußerer Bogen kleiner als ein Halbkreis ist (Fig. 32). Hippokrates
verschafft sich dasselbe
folgendermaßen. UmüC
als Mittelpunkt und mit
AB als Durchmesser
wird ein Halbkreis ge-
zeichnet, femer die Ge-
rade rj, welche die
KB senkrecht halbiert
Von B aus wird die
BZE derartig gezeichnet, daß das Quadrat des zwischen der FjI und
der Kreisperipherie liegenden Stückes ZE anderthalbmal so groß
sei als das Quadrat von KA. Von E aus wird EH parallel zu AB
bis zum Durchschnitt mit der yerlängerten KZ gezogen. Mittels
der an Länge einander gleichen KE und BH entsteht das Trapez
EKBHy um welches ein fijreis beschrieben wird^), der seinen Mittel-
punkt in A besitzt. Auch um das Dreieck EZH wird ein Kreis be-
schrieben und nun ist das Mondchen gebildet, dessen innerer Bogen
EZHy dessen äußerer Bogen EKBH ist. Sein Flächeninhalt ist
gleich dem der Summe der drei Dreiecke BZH, BZK^ EKZ, sein
äußerer Bogen ist kleiner als der Halbkreis. Letzteres folgt aus der
Stumpfheit des Winkels EKH, der Flächeninhalt aus der Ähnlich-
keit der Kreisabschnitte über EZ, ZH, EK, KB, BH in Verbindung
mit der Proportion EZ^ : EK^ = 3 : 2«).
Wir möchten auf die Einzeichnung des Stückes ZE zwischen
die Glerade FA und die Kreisperipherie AEB in vorgeschnebener
Länge besonders hinweisen. Sie konnte nur empirisch erfolgen, in-
dem man um B eine Gerade BZE in Drehung versetzte und mit
dieser Drehung innehielt, sobald ZE die gewünschte Länge besaß.
Das ist das erste Beispiel einer Bewegungsgeometrie, die in
späteren Zeiten geradezu den Charakter einer Methode annahm^).
Wir gelangen zu einem vierten Versuche, bei welchem es auf
die Qiiadrierung eines Kreises zusammen mit einem Mondchen ankam
^) SimpliciuB hat die Gleichheit von KE mit BH bewiesen und ebenso
anch die Möglichkeit eines Umkreises um das Trapez EKBH. *) Auch hier
hat Simplicius die notwendigen Beweise geliefert. *) WOpcke, L'alg^bre
d'Omar Alkhayäm! (Paris 1861) pag. 120.
Gaktok, Oeichiehte der Mathematik I. 3. Aufl. 14
210
9. Kapitel.
(Fig. 33). Um K als Mittelpunkt sind zwei Kreise mit je einem
eingeschriebenen regelmäßigen Sechsecke gezeichnet, die als kleiner
und großer Kreis , als kleines und großes Sechseck unterschieden
werden mögen. Dabei sind die Halbmesser so gewählt, daß HK*^
6AK\ Augenscheinlich folgt daraus HI^ = dHK^'^2HK* + 6AK^,
indem HI Kathete eines rechtwinkligen Dreiecks ist, dessen andere
Kathete eine große Sechsecksseite und dessen Hypotenuse der große
Durchmesser ist. Wird über HI mittels eines neugezeichneten Kreis-
bogens ein kleineres Kreissegment hergestellt ähnlich sowohl dem über
H@ als dem über AB, so muß es dreimal so groß wie das über H&
sein, oder so groß wie das über if@, das über &I und die sechs
Segmentchen im kleinen
Kreise über den kleinen
Sechsecksseiten. Das Mond-
chen IG H ist aber gleich
dem Dreiecke H&I und
den Segmenten über H&
und @I weniger dem klei-
neren Kreissegment über
HI Es ist leicht einzu-
sehen, daß alsdann das
Mondchen nebst dem
kleinen Kreise dem Drei-
ecke H&I nebst dem
kleinen Sechsecke flächen-
gleich sind, wodurch die
Quadratur gegeben ist.
Dieses sind die vier von Hippokrates gemachten Versuche krumm-
linig begrenzte Figuren in ihnen flächengleiche Quadrate zu ver-
wandeln, so wie sie von Eudemus berichtet werden, aus welchem
dann später Simplicius seinen durch sachgemäße Erläuterungen er-
^nzten Auszug veranstaltete. Man muß sicherlich zugestehen, daß
Hippokrates bei der Auswahl der von ihm untersuchten Mondchen
eine weit mehr als gewöhnliche Erfindungsgabe an den Tag legte,
und daß er bereits über einen achtungswerten Vorrat an geometrischem
Wissen verfügte. Hat er, wie vermutet worden ist*), beim Nieder-
schreiben seiner ihrem Hauptinhalte nach sicherlich ganz neuen Ab-
handlung die Überzeugung gewonnen, es sei an der Zeit ein E lerne n-
tariehrbuch zusammenzustellen, auf welches man für notwendige
Hilfssätze sich berufen könne, oder aber hatte er, als er die Abband-
Fig. 83.
^) Bretschneider 131.
Mathem. außerhalb d. pythagor. Schale. Hippokratea von ChioB. 211
Inng schrieb, sein Elementarwerk (S. 201) schon veröffentlicht und
deswegen sich über manches weniger ausf&rlich verbreitet als es
späteren Lesern und Erklärem wünschenswert erschien, das ist eine
Frage, auf die wir keine endgültige Antwort zu geben vermögen.
Hippokrates beschäftigte sich, wie wir (S. 202) ankündigend be-
merkten, auch noch mit einem anderen mathematischen Probleme,
mit der Würfelverdoppelung. Das ist die letzte uns hier be-
gegnende von den drei großen Aufgaben der griechischen Mathe-
matiker, welche ihnen Gelegenheit gaben ihre Kräfte zu üben und
das zu erfinden, was man die höhere Mathematik jenes Zeitraumes
zu nennen berechtigt ist. Über die Geschichte der Würfelverdoppe-
lung sind wir durch namhafte Überbleibsel aus alter Zeit ziemlich
gut berichtet, und selbst der sagenhafte Anstrich des Ursprungs der
Aufgabe wird im 30. Kapitel sich als erheblich ausweisen. Ein
griechischer Mathematiker Eratosthenes im IIL S. schrieb an Pto-
lemäus Euergetes den ägyptischen König einen Brief über diesen
Gegenstand, der sich bei Eutokius von Askalon, einem späten Kom-
mentator des Archimed, erhalten hat und dessen Anfang wir hier
beifügen^). Trotzdem er ziemlich weit jenseits der gegenwärtig allein
zu behandelnden Zeit hinabführt, glaubten wir doch eine Trennung
des zusammengehörigen Textes nicht vornehmen zu sollen und werden
lieber später, wo es nötig ist, auf dieses Kapitel hier zurückverweisen.
„Dem Könige Ptolemäus wünscht Eratosthenes Glück und Wohl-
sein. Von den alten Tragödiendichtem, sagt man, habe einer den
Minos, wie er dem Glaukos ein Grabmal errichten ließ, und hörte,
daß es auf allen Seiten 100 Fuß haben werde, sagen lassen:
Zu klein entwarfst Du mir die königliche Gb-uft,
Verdopple sie; des Würfels doch verfehle nicht.
Man unter8ucht.e aber auch von Seiten der Geometer, auf welche Weise
man einen gegebenen Körper, ohne daß er seine Gestalt veränderte,
verdoppeln könnte, und nannte die Aufgabe der Art des Würfels Ver-
doppelung; denn einen Würfel zugrunde legend suchte man diesen
zu verdoppeln. Während nun langezeit hindurch alle ratlos waren,
entdeckte zuerst der Chier Hippokrates, daß, wenn man herausbrächte
*) Zur Geschichte der Würfelverdoppelung vgl. N. T. Reimer, Historia
probUmatis de eubi duplicatione. Göttingen 1798. J. H. Dresler, Eratosthenes
von der Verdoppelung des Würfels. Osterprogramm 1828 für die herzogl.
Nassauischen Pädagogien zu Dillenburg, Hadamar und Wiesbaden. Ch. H.
Biering, Historia prohltmatia cubi duplicandi, Kopenhagen 1844. Teilweise
Neues auch an Stellenmaterial in der Dissertation von C. Blass, De Flatone
maihematico. Bonn 1861, pag. 22—30. Unsere Übersetzung des Briefes des
Eratosthenes nach Dresler 1. c. S. 8 — 10.
14*
212 9. Kapitel.
za zwei gegebenen geraden Linien, wo die größere der kleineren
Doppelte wäre, zwei mittlere Proportionalen von stetigem Verhältnisse
zu ziehen, der Würfel verdoppelt werden könnte; wonach er dann
seine Ratlosigkeit in eine andere nicht geringere Ratlosigkeit ver-
wandelte. Nach der Zeit, erzählt man, wären die Deiier, weil sie von
einer Krankheit befallen waren, einem Orakel zufolge geheißen worden
einen ihrer Altäre zu verdoppeln und in dieselbe Verlegenheit ge-
raten. Sie hätten aber die bei Piaton in der Akademie gebildeten
Geometer beschickt und gewünscht, sie möchten ihnen das Verlangte
auffinden. Da sich nun diese mit Eifer der Sache unterzogen und zu
zwei Gegebenen zwei Mittlere suchten, soll sie der Tarentiner Archjtas
vermittelst der Halbzylinder aufgefunden haben, Eudoxus aber ver-
mittelst der sogenannten Bogenlinien. Es widerfuhr ihnen aber
insgesamt, daß sie zwar ihre Zeichnungen mit geometrischer Evidenz
nachgewiesen hatten, sie aber nicht leicht mit der Hand ausführen
und zur Anwendung bringen konnten, außer etwa einigermaßen die
des Menächmus, doch auch nur mühsam.'^
Der alte Tragiker, auf dessen Verse Eratosthenes sich beruft, ist
kein anderer als Euripides, in dessen verloren gegangenem Poleidos
sie vorkommen, wie sehr wahrscheinlich gemacht worden ist^). Da
nun Euripides 485—406 lebte, seine dichterische Wirksamkeit also
etwa in die gleiche Zeit fällt, in die wir die wissenschaftliche Tätig-
keit des Hippokrates verlegen, so geht hieraus hervor, daß eben da-
mals die Sage von dem Grabmale des Glaukos bekannt war. Ob
damals die Sage schon alt gewesen; ob Euripides ihrer gedachte,
weil die Gelehrten des Tages sich bereits mit Würfelverdoppelung
beschäftigten, die Anspielung also einen gewissen Eindruck auf die
feiner gebildeten Zuhörer machen mußte; ob man den entgegen-
gesetzten Tatbestand annehmen soll, daß die Volkstümlichkeit der
Verse des Euripides die Mathematiker auf die eigentümlich gestellte
Aufgabe aufmerksam machte; ob wir daran erinnern dürfen, daß
Euripides der Dichter selbst ein Gelehrter, daß er ein Schüler des
Anaxagoras war, das alles gehört in das Bereich gewagtester Ver-
mutung, oder wenigstens noch imerledigter Forschung. Als gesichert
ist gemäß dem Berichte des Eratosthenes nur so viel zu betrachten,
daß nach fruchtlosen Versuchen anderer über die Aufgabe der Würfel-
verdoppelung Herr zu werden, Hippokrates von Chios auf die Be-
merkung fiel, daß die Aufgabe auch in anderer Gestalt sich aus-
sprechen lasse. Findet die fortlaufende Proportion a:x==x:y^y:b
') Yalkenarins, Diatribe de fragm. Eurip. pag. 208. Vgl. Reimer, De
cubi duplicatione pag. 20.
Piaton. 213
statt, 80 ist x^ = ay, y* ^hx, mithin a^ = a*y* « a^bx und rc* «» a*6
oder, wenn 6 = 2a, wie es bei der Würfel Verdoppelung notwendig
erscheint, x^ «» 2a^. Die Seite des doppelten Würfels ist in der Tat
die erste von zwei mittleren Proportionalen, welche zwischen der ein-
fachen und der doppelten Seite des ursprünglichen Würfels einge-
schaltet werden. Diese Erkenntnis, welche auch Proklus*) dem Hippo-
krates nachrühmt, war ein Schritt weiter auf dem richtigen Wege,
aber allerdings ein Yerhältnismäßig kleiner Schritt. Hippokrates ver-
wandelte nur, wie Eratosthenes in fast scherzhaftem Tone sagt, seine
Ratlosigkeit in eine andere nicht geringere Ratlosigkeit. Wie sollten
jene beiden mittleren Proportionalen gefunden werden? Die Männer,
welche der Lösung dieser Aufgabe sich gewachsen fühlten, sind es,
die uns im folgenden entgegentreten werden.
Auf ihre Gemeinschaft führt auch das Mathematikerverzeichnis
uns hin, wenn es neben Hippokrates von Ghios noch Theodorus
von Kyrene in der Geometrie berühmt nennt. Von diesem wissen
wir an geometrischen Tatsachen nur, daß er die Irrationalität der
Quadratwurzeln von Zahlen zwischen 3 und 17 bewies^ (S. 182).
Wir wissen von ihm außerdem, daß er der Schule der Pythagoräer
angehörte'), und daß er Lehrer des Piaton in mathematischen
Dingen war*).
Piaton und die Akademie nehmen jetzt, wie in der Geschichte
der griechischen Philosophie, so in der Geschichte der griechischen
Mathematik, die leitende Stellung ein. Mit ihnen müssen wir uns
beschäftigen.
10. Kapitel.
Piaton.
Zwei Kriege von schwerwiegender Bedeutung für die Gestaltung
staatlicher Verhältnisse, wie für die Entwicklung der Wissenschaften
wurden auf griechischem Boden innerhalb eines Menschenlebens ge-
kämpft. Der peloponnesische Krieg, welcher die Macht Athens ver-
nichtete, welcher den Staat des Perikles von seiner geistigen, wissen-
schaftlichen wie künstlerischen Höhe herabstürzte, begann 431. Der
sogenannte heilige Krieg, in welchem die Thebaner durch ein kurzes
Übergewicht erschöpft^ König Philipp von Mazedonien zu Hilfe
riefen und ihm so den ersten willkommenen Anlaß gaben in grie-
chische Dinge sich einzumengen, endete 346. Dieselben Jahreszahlen
>) ProkluB (ed. Friedlein) 213. *) Piaton, Theaetet 147, D. ») Jam-
blichua, Vita Fythagor 267. *) Diogenes Laertius II, 103.
214 10. Kapitel.
begrenzen fast genau das Leben Piatons. Seine Geburt fallt in
das Jahr 429^ in das Schreckensjahr, in welchem die durch die
Schilderung des Thukjdides in gräßlicher Wahrheit bekannte Pest
Athen in Trauer hüllte, in welchem Perikles starb. Sein Tod er-
folgte 348 an demselben Tage, an welchem er 81 Jahre früher ge-
boren war.
In Piatons Lebenszeit fallen auch zwei Künstler, deren die Ge-
schichte der Mathematik Erwähnung tun darf: Pheidias und Poly-
klet, die Verfertiger des Olympischen Zeus, der Argi vischen Here.
Von Pheidias erzahlt Lucian in dem Dialoge über die philosophischen
Sekten^), er sei imstande gewesen aus der Klaue eines Löwen anzu-
geben, wie groß der gan^e Löwe war, woher die griechische Redens-
art ii övv%(av Xiovta^)y lateinisch ex ungue leonem stammt, welche
sich bis zu unseren Tagen erhalten hat. Von Polyklet meldet Galen*),
er habe in einer Schrift, die Kanon überschrieben war, die Lehre
Yon allen Verhältnissen des Körpers aufgestellt. Wer denkt dabei
nicht an die vorgezeichneten Quadrate im Grabmale Seti I (S. 108),
wer nicht an die Notwendigkeit einer in weite Kreise eingedrungenen
Lehre von der Ähnlichkeit der Figuren?
Piaton gehörte einer der angesehensten athenischen Familien an.
Bis auf König Kodrus führte der Stammbaum des Vaters, bis auf
Solon der der Mutter zurück^). Piatons erste Jugend fiel, wie wir
wissen, in eine für Athen trübe und bewegte Zeit, aber bald lächelte
das Glück der Stadt, welche es liebgewonnen, aufs neue. Die Knaben-
jahre Piatons fallen mit der Glanzzeit des Alkibiades zusammen, und
der Freund des Alkibiades, Sokrates, war Piatons Lehrer. Im Ver-
kehre mit den geistig bedeutendsten Männern seiner Vaterstadt ent-
wickelte der Knabe sich zum Manne. Bei Sokrates insbesondere wird
Piaton jene Methode erlernt haben, welche als eigentlich sokratische
gerühmt wird, und welche darin bestand, durch fortgesetztes Fragen
immer schärfer umgrenzte Definitionen, aber auch das Eingeständnis
VQU Widersprüchen infolge ungenügender Begriffsbestimmungen her-
Yorzalocken. Um das Jahr 400 etwa, nachdem Sokrates den Gift-
becher hatte leeren müssen, verließ Piaton die Heimat, in welcher es
für den nächsten Schüler des gleichviel ob gerechtem oder unge-
rechtem Volkshasse zum Opfer Gefallenen nicht mehr sicher war,
und verwandte eine längere Reihe von Jahren zu Reisen, welche
seine wissenschaftliche Ausbildung vollendeten. Nach Kjrene, wo an
der Nordküste Afrikas griechische Bildung schon eine Pflanzstätte
^) Luoian, *E(f{i6tiiLog ^ Ttsgl atgiüBov cap. 66 pag. 147 ed. Sommerbiodt.
*) Diogenes Laertius V, 16. ') Galen, Ilegl tav »a^* Vff^rox^arrjv %ccl
nXatmva. *) Diogenes Laertins III, 1.
Piaton. 215
geschaffen hatte, lockte es ihn. War doch dort die Heimat jenes
Theodorus, welcher, wie wir im Theatet erfahren, bei Lebzeiten des
Sokrates in Athen verweilte, nnd welchen wir am Schlosse des Torigen
Kapitels Piatons Lehrer in der Mathematik genannt haben. Ägypten
sah ihn jedenfalls zn längerem Aufenthalte, wenn auch Strabons Be-
richterstatter sehr übertrieben haben dürften. Bei der Beschreibung
der alten Priesterstadt Heliopolis in Ägypten sagt nämlich dieser
geographische Schriftsteller: Hier nun zeigt man die Häuser der
Priester und auch die Wohnungen des Piaton und Eudozus. Denn
letzterer kam mit Piaton hierher, und sie lebten daselbst mit den
Priestern dreizehn Jahre zusammen, wie einige angeben.^) Daxm
wird ein großes Gewicht auf einen Aufenthalt Piatons in Großgriechen-
land zu legen sein, wo er mit Archytas yon Tarent und mit
Timäus von Lokri im engsten Verkehre stand*). Weiter führte
ihn sein Weg nach Sizilien, wo er im 40. Lebensjahre, also im
Jahre 389 eintraf). Diese durch ihn selbst bezeugte Zeitangabe
nötigt uns auf alle Reisen bis nach Sizilien etwa 11 Jahre zu ver-
teilen und widerlegt somit die 13jährige Dauer des Aufenthalts in
Ägypten. Piatons Freimütigkeit scheint bei dem Gewaltherm von
Syrakus, bei Dionysius, Anstoß erregt zu haben, so daß dieser ihn
gefangen nehmen ließ und ihn als Athener dem lakedämonischen Ab-
gesandten auslieferte, welcher ihn als Sklaven nach Ägina verkaufte.
Ein Eyrenaiker zahlte das erforderliche Lösegeld, um Piaton wieder
frei zu machen, und nun kehrte dieser nach Athen zurück, wo er in
den schattigen Spaziergängen der durch Kimon einst verschönerten
Akademie nordwestlich vor der Stadt seine die Philosophie umge-
staltenden Vorträge hielt, deren Bedeutung auch für die Geschichte
der Mathematik nicht hoch genug angeschlagen werden kann^).
Eigentlich mathematische Schriften hat Piaton zwar nicht ver-
faßt, aber einiges wird doch auf ihn als Entdecker zurückgeführt,
und vielleicht noch wichtiger ist seine Vorliebe für die Mathematik
dadurch geworden, daß er auf fähige Schüler sie forterbte. Piaton
war ja ein Schüler der Pythagoräer in vielen Dingen, in so vielen, .
daß Aristoteles es ausdrücklich bezeugt hat ^), daß Asklepius zu dieser
Stelle der aristotelischen Metaphysik jedenfalls übertreibend hinzu-
fügte: nicht vieles, alles habe Piaton von den Pythagoräem ent-
») Strabo XVII, ed. Meinicke pag. 1124. *) Cicero, De ßntbusY, 19, 60.
Tusculan. I, 17, 39. De republica I, 10, 15. ") Platons Briefe: Episiola VII,
324, a. *) Über Piaton in seinen Beziehungen znr Mathematik vergl. C. Blass,
De Flatone mathemaUco. Bonn 1861, und B. Rothlanf, Die Mathematik zu
Platons Zeiten nnd seine Beziehungen zu ihr. München 1878. ^) Aristoteles,
Metaphys. I, 6.
216 10. Kapitel.
nommen. Wie nun die PythagoiiLer Mathematik als den ersten
Gegenstand eines wirklich wissenschaftlichen Unterrichts betrachteten,
wie die Ägypter ihre Kinder zugleich mit den Buchstaben in den
Anfangsgründen der Lehre Yon den Zahlen, von den auszumessenden
Räumen und von dem Umlaufe der Oestime unterrichteten, so wollte
auch Piaton yerfahren haben ^). Kein Unkundiger der Geometrie trete
unter mein Dach, fii^delg iysfofiir^ros slöircD (lov f^v tfr^yiyv, war
die Ank{indigung, mit welcher der angehende Akademiker empfangen
wurde ^), und Xenokrates, der nächst Speusippus als zweiter Nach-
folger Piatons die Akademie leitete'), blieb ganz in den Fußstapfen
seines Lehrers, wenn er einen Jüngling, der die verlangten geometri-
schen Vorkenntnisse noch nicht besaß, mit den Worten zurückwies:
Gehe, Du hast die Handhaben noch nicht zur Philosophie, ^oqsvov
Xaßäg yäQ oix ixBig ^iko6ofpCag*).
Piaton war in dieser Beziehung so sehr Pythagoiäer geworden,
daß er den Gegensatz nicht scheute, in welchen er seinen ältesten
und yerehrtesten Lehrer Sokrates scheinbar zu sich selbst setzte.
Sokrates, wie Xenophon in seinen Erinnerungen ihn schildert^),
wollte die Geometrie nur so weit getrieben wissen, bis man Land mit
dem Maßstabe in Besitz nehmen oder übergeben könne. Der So-
krates in Piatons Dialogen, dem dieser stets die Gesinnungen in den
Mund zu legen liebt, die ihn selbst erfüllen, erklärt dagegen®), daß
die ganze Wissenschaft doch nur der Erkenntnis wegen betrieben
werde. Es ist bekanntlich, sagt er auch, in bezug auf jedes Lernen,
um besser aufzufassen, ein himmelhoher Unterschied zwischen einem,
der sich mit Geometrie befaßt hat, und dem, der es nicht getan hat.
Wir verzichten darauf alle Stellen zu sammeln, an welchen Plato
ähnliche Gesinnungen über die Mathematik äußert, und zu welchen
auch der Ausspruch (S. 184) gehört, daß Gott allezeit geometrisch
verfahre, nur eine Bemerkung über das Wort Mathematik wollen
wir hier einschalten. Von einer Wissenschaft der Mathematik wußte
Piaton so wenig wie seine Zeitgenossen^). Wohl besaßen sie das
. Wort fiadilfiata (Lehrgegenstände), aber es umfaßte alles, was im
wissenschaftlichen Unterrichte vorkam. Erst bei den Peripatetikem
bekam das allgemeine Wort die besondere Bedeutung, welche wir
ihm gegenwärtig noch beilegen und umfaßte fortan Rechenkunst und
Arithmetik, Geometrie der Ebene und Stereometrie, Musik und Astro-
^) Die bezüglichen Stellen ans Platons Staat vergl. bei Rothlauf 1. c. S. 12.
*) Tzetzes, Chil. VUI, 972. ^ Diogenes LaertiuB I, 14. *) Diogenes
LaertiuB IV, 10. *) Xenophon, Memorabil. IV, 7 und ihm folgend Dio-
genes LaertiuB II, 32. ') Die Stellen aus Piatons Staat bei Bothlauf S. 2
und 7. ') Rothlauf S. 18—19.
Piaton.
217
nomie, i^Uurend zugleich auch der Name der Philosophie, welcher für
Piaton erst die wörtliche Bedeutung der Weisheitsliebe besaß ^ einer
besonderen Wissenschaft zuerteilt wurde.
Die Vorliebe Piatons für mathematische Dinge äußert sich neben
den schon berührten Vorschriften über Jugenderziehung in seinem
idealen Staatswesen , wo ein Schulzwang innerhalb der einfachsten
Lehrgegenstande obwalten, wo Lesen, Schreiben und Rechnen allen
Mädchen wie Sjiaben beigebracht werden soll^), auch darin, daß er
in vielen seiner in Gesprächsform geschriebenen Abhandlungen mathe-
matische Beispiele zur Verdeutlichung philosophischer Gedanken be-
nutzt. Meistens sind diese Beispiele für Laien berechnet und darum
laienhaft einfach, so daß dieselben kaum ein Recht haben in einer
Geschichte der Mathematik aufzutreten. Wir machen eine Ausnahme
zugunsten der früher geradezu berüchtigten Kapitel des Menon').
Nicht als ob es sich mit deren Inhalt anders verhielte, aber weil wir
früher (S. 185) auf diese Kapitel uns berufen haben. Sie blieben den
Erklärem platonischer Gespräche solange unverstanden, als man in
ihnen wunder welche tiefsinnige Dinge suchte. Sie wurden kinderleicht
und klar^ sobald der Wortlaut mit den Figuren in Zusammenhang
gebracht wurde, welche zwar in den Handschriften wie in den Druck-
ausgaben fehlen, von welchen man aber dem Texte gemäß annehmen
muß, daß sie im Laufe des Gespräches in den Sand gezeichnet worden
waren. Diese Figuren dürften zwei an der Zahl gewesen sein, ein
einfacher Kreis und eine einigermaßen zusammengesetzte Vereinigung
mehrerer geradliniger Figuren in eine einzige (Fig. 34), die wir uns
als nach und nach entstehend zu denken haben.
Den Kreis zeichnet Sokrates, um als Beispiel
des Runden zu dienen, welches eine Figur,
aber nicht die Figur überhaupt sei'). Im
weiteren Verlaufe des Gespräches^) zeichnet
Sokrates, die leitende Persönlichkeit der Ab-
handlung, ein Quadrat von der Seitenlänge 2
mit seinen Mittellinien, welche die Mittelpunkte
je gegenüberstehender Seiten verbinden. Er ^**- **•
erweitert die Figur zur vierfachen Größe, d. h. zum Quadrat mit
*) Piaton, Gesetze pag. 806. *) Vergl. Benecke, Ueber die geometrische
Hypothesis in Piatons Menon. Elbing 1867 und unsere Besprechung Zeitschr.
Math. Phys. XITT, Literatnrzeitung 9 — 13. Friedleins Programm von 1878:
Beiträge zur (beschichte der Mathematik m pflichtet im ganzen denselben An-
sichten bei. Rothlauf S. 64 huldigt, trotzdem er Beneckes Programm kennt,
einer künstlichen, wie wir überzeugt sind, falschen Meinung. *) Piaton,
Menon 78 £. *) Piaton, Menon 82 B bis 86 B.
218 10. Kapitel.
der Seitenlänge 4, und innerhalb dieses großen Quadrates zum
Quadrat mit der Seitenlänge 3, das aus neun Feldern bestellt;
endlich zeichnet er das Quadrat von der Fläche 8, dessen Seiten
die Diagonalen^ oder, wie die Sophisten und mit ihnen Piaton
immer sagten, die Diameter der vier kleineren Quadrate sind,
in welche das größte Quadrat von der Seitenlänge 4 zerfällt. Dieses
schrägliegende Quadrat von der Fläche 8 ist doppelt so groß, als
das ursprünglich gegebene Quadrat von der Fläche 4, und es kam
Piaton gerade darauf an zu zeigen, daß ein solches Quadrat von
doppelter Größe als ein gegebenes genau und leicht gezeichnet werden
könne. Es war, wie ganz richtig bemerkt worden ist^), der Beweis
des pjthagoräischen Lehrsatzes ftlr den Fall des gleichschenklig recht-
winkligen Dreiecks, der hier geliefert wurde, möglicherweise, wie wir
(S. 185) andeuteten, der älteste von Pythagoras selbst herrührende
Beweis dieses ersten und einfachsten Falles, vorausgesetzt daß wirk-
lich beim Beweise des pythagoräischen Lehrsatzes ursprünglich ver-
schiedene Fälle unterschieden wurden. Nachdem mit dieser ersten
und zweiten geometrischen Exemplifikation vollständig abgeschlossen
ist, kehrt Sokrates an einer späteren Stelle^) wieder zur Geometrie
zurück, um ihr ein passendes in die Siime fallendes Beispiel für die
eben zvnschen ihm und Menon erörterte Frage, ob Tugend lehrbar
sei oder nicht, zu entnehmen. Er will erörtern, daß das Tunliche
im allgemeinen sich selten behaupten lasse, daß es Fälle der Mög-
lichkeit wie der Unmöglichkeit gebe. Er will ein recht zutreffendes
Beispiel dafür wählen, und da bleibt sein ringsum suchendes Auge
an den im Sande noch erkennbaren Figuren haften. Ist es, fragt er,
möglich dieses Quadrat als gleichschenklig rechtwinkliges Dreieck in
diesen Kreis auf dem Durchmesser als Grundlinie genau einzuzeichnen?
Unter diesem Quadrate versteht er das von der Seitenlänge 2, dessen
Verwandlimg in ein gleichschenklig rechtwinkliges Dreieck aus der
Figur gleichfalls zu erkennen war, wo das gewünschte Dreieck als
Hälfte des schräggezeichneten Quadrates erscheint. Sokrates hat die
Frage gestellt, er gibt auch die Antwort. Sie lautet ja und nein!
Es wird möglich sein, das Verlangte zu tun, wenn die Seite des
Quadrates dem Ereishalbmesser gleich ist, oder, was dasselbe heißt,
wenn sie auf dem Durchmesser aufgetragen ein ihr gleiches Stück
übrig läßt, sonst nicht. Der Wortlaut ist freilich ein einigermaßen
^) Bothlauf S. 61. Es ist nicht ohne Interesse, daß auch Leibniz den
gleichen Beweis verwertet hat, um den algebraischen Zusammenhang zwischen
der Seite und der Diagonale eines Quadrates zu erörtern. Vgl. dessen Nova
cdgehrae promotio in der durch C. J. Gerhardt besorgten Ausgabe der mathe-
matischen Schriften von Leibniz Tu, 165 (Halle 1863). ') Piaton, Menon 86.
Piaton. 219
dunkler, aber auch seine philologische Übereinstimmung mit diesem
hier frei erläuterten Sinne hat nachgewiesen werden können.
Die Stelle des Menon ihrer einstigen Schwierigkeit entkleidet
enthält ireilich nicht mehr den Beweis , dafi Piaton mit dieser oder
jener feinen geometrischen Theorie bekannt war^ aber sie enthüllt
uns noch immer einen ungemein wichtigen methodischen Fortschritt ^)^
der um diese Zeit sich vollzog. Sokrates leitet die letzte Auseinander-
setzung durch die Worte ein: „Unter der Untersuchung von einer
Voraussetzung aus verstehe ich das Verfahren, welches die Geometer
oft im Auge haben; wenn sie jemand fragt, z. B. über eine Fläche,
ob in diesen Kreis die Fläche als Dreieck eingezeichnet werden
könne usw.^ Es war mithin damals schon oft von Geometem ge-
schehen, was, wie wir im vorigen Kapitel (S. 208) sahen, Hippokrates
von Ghios noch unterließ. Es war die Frage aufgeworfen worden,
ob eine Konstruktion möglich sei oder nicht.
In der Akademie unter Piatons Leitung wurden sicherlich diese
und ähnliche Fragen erörtert^). Die Philosophie der Mathe-
matik ist in der Akademie entstanden, wenn ihre Wurzeln auch
schon aus den Lehren des Sokrates Nahrung sogen. So führte nach
Berichten bei Aristoteles, aber auch nach bestimmt nachweisbaren
platonischen Stellen Piaton geometrische Definitionen ein, welche in
dem von ihm gebrauchten Wortlaut ein Alter von mehr als zwei
Jahrtausenden erreicht haben. Die Figur ist die Grenze des Körpers,
heißt es im Menon ^). Gerade ist doch, wessen Mitte dem beider-
seitigen Äußersten im Wege ist, heißt es im Parmenides ^), und ebenda
wird der Kreis definiert: rund ist doch wohl das, dessen äußerste
Teile nach allen Seiten hin gleichweit von der Mitte abstehen. Der
Punkt sei die Grenze der Linie, die Linie die Grrenze der Fläche, die
Fläche die Grenze des Körpers genannt worden, sagt uns Aristoteles ^
der Körper sei das, was drei Ausdehnungen besitze; die Linie sei
Länge ohne Breite. Daß auch Grundsätze, wie der häufig bei Aristo-
teles erwähnte, daß Gleiches von Gleichem abgezogen Gleiches übrig
lasse, schon der Akademie angehört haben werden, ist nicht in
Zweifel zu ziehen. Wohl aber dürfte es in ähnlicher Weise wie bei
*) Blas 8 in seiner Dissertation De Piatone maihetnatico pag. 20 scheint
zuerst die große methodische Bedeutung der Stelle Menon 86 erkannt zu haben.
*) Zusammenstellungen bei Friedlein, Beiträge zur Geschichte der Mathema-
tik m, 8. 9 flgg., bei Hankel S. 1S5— 136, bei Bothlauf 8. 61, von denen jede
irgend etwas eigentümlich hat, was in den anderen fehlt. ^ Piaton, Menon 76.
^ Piaton, Parmenides 137 E. Wie diese Stelle zu verstehen sei, kann man
bei Proklus (ed. Friedlein) pag. 109 lin. 21 bis pag. 110 lin. 4 nachlesen.
Vgl. Majers Programm des Kön. Gymnasiums in Stuttgart für 1880—81, S. 14.
220 10. Kapitel.
den Pythagoräem scliwer sein^ innerhalb der Akademie eine Sonde-
rung des geistigen Besitzes von Platon und seinen Schülern yorzu-
nehmen^ zu ermitteln, was von den Definitionen, Yon den Grundsätzen
dem einen, was den anderen angehört.
Auf dem Gebiete mathematischer Methodik ist es noch eine
einen gewaltigen Fortschritt eröffiiende Erfindung, welche Platon zu-
geschrieben wird: die Erfindung der analytischen Methode. Wir
haben darüber eine ganz kurze Notiz des Diogenes Laertius: Platon
führte zuerst die analytische Methode der Untersuchung für Leodamas
von Tasos ein^), und eine ausführlichere des Proklus: Es werden
auch Methoden angeführt, von denen die beste die analytische ist^
die das Gesuchte auf ein bereits zugestandenes Prinzip zurückfährt.
Diese soll Platon dem Leodamas mitgeteilt haben, der dadurch zu
yielen geometrischen Entdeckungen soll hingeleitet worden sein. Die
zweite Methode ist die trennende, die, indem sie den vorgelegten
Gegenstand in seine einzelnen Teile zerlegt, dem Beweise durch Ent-
fernung alles der Konstruktion der Aufgabe Fremdartigen einen festen
Ausgangspunkt gewährt; auch diese rühmte Platon sehr als eine für
alle Wissenschafben forderliche. Die dritte Methode ist die der Zu-
rückführung auf das Unmögliche, welche nicht das zu Findende selbst
beweist, sondern das Gegenteil desselben bestreitet und so die Wahr-
heit auf Seite des mit der Behauptung Übereinstimmenden findet^).
Endlich gehören hierher die beiden bei Euklid erhaltenen Defini-
tionen: Analysis ist die Annahme des Gesuchten als zugestanden
durch Folgerungen bis zu einem als wahr Zugestandenen. Synthesis
ist die Annahme des Zugestandenen durch Folgerungen bis zu dem
Erschließen und Wahrnehmen des Gesuchten'^) und die dem Sinne
nach damit übereinstimmenden im Wortlaute viel ausführlicheren Er-
örterungen des Pappus^).
Die Sache verhält sich folgendermaßen^). Soll die Wahrheit
eines Satzes D bewiesen oder widerlegt werden — beides kann man
verlangen — so sagt der Analytiker: Wenn D stattfindet ist C wahr;
wenn C stattfindet ist B wahr; wenn B stattfindet ist A wahr; aus
D folgt also endlich A] nun ist A wahr oder nicht wahr, also ist
') Diogenes Laertius HI, 24. *) Proklus (ed. Friedlein) pag. 211,
lin. 18 — pag. 212, lin. 4. A. Sturm in der Bibliotheca Mathematica 1903,
8. Folge II, 283. «) Euklid XIII, 1. Anmerkung. *) Pappus, VE Praefatio
(ed. Hultsch) pag. 634 flgg. ^) Hübsche Entwicklungen über die analytische
Methode der Alten bei Oft erdinger, Beiträge zur Geschichte der griechischen
Mathematik. Ulm 1860. Duhamel, Des mithodes dans les aciences de ratsonne-
ment. Paris 1866 — 1866. Besonders T. I, chap. 10. De Vatwhfse et de la Syn-
these chez les anciens. Hankel 137—160.
Platon. 221
auch D wahr oder ist es nicht. Der Synthetiker dagegen beginnt mit
der Behauptung der Wahrheit von Ay welche ihm auf irgend eine
Weise bekannt ist. Daran knüpft er die Folgerung, es werde B
stattfinden, folglich sei auch G wahr, und folglich sei D wahr -- oder
möglicherweise ein Satz, der das Gegenteil von B bezeichnet, und
den man deshalb Nicht-D zu nennen pflegt. £s ist einleuchtend,
daß der synthetische Beweis unter allen Umständen richtig
ist, der analytische aber nicht. Zur Richtigkeit desselben ge-
hört nämlich, daß die in dem analytischen Beweise aufgestellten
gleichzeitigen Wahrheiten auch in umgekehrter Reihenfolge sich
gegenseitig bedingen, mathematisch ausgedrückt, daß man lauter um-
kehrbare Sätze aussprach. Von der Notwendigkeit diese Umkehrbar-
keit selbst zu erweisen ist man nur in einem Falle befreit, wenn
nämlich das aus D geschlossene A nicht wahr ist. Dann freilich
kann D nun und nimmermehr stattfinden. Das heißt: die Beweisform
der Zurückführung auf das Unmögliche ist eine immer gestattete
Unterart des analytischen Beweises; der direkte analytische Beweis
dagegen erfordert stets eine Ergänzung, welche rückwärts gehend die
Sätze synthetisch auseinander ableitet, deren Behauptungen die vor-
ausgehende analytische Methode kennen lehrte. Aus diesen Betrach-
tungen gehen nun mehrere Folgerungen hervor.
Erstlich die, daß die analytische Methode, vermöge der Not-
wendigkeit ihr, falls sie direkt zu Werke ging, eine Synthese folgen
zu lassen, weniger für die Beweisführung von Sätzen, dagegen vor*
trefflich für die Auflösung von Aufgaben sich eignet, bei welchen
die analytisch gefundene Auflösung meistens die notwendige Vor-
aussetzung zur Entdeckung ihres synthetischen Beweises bUdet, und
in der Tat spielt die Analysis ihre Hauptrolle in dem sogenannten
aufgelösten Orte, d. h. bei Aufgaben, die einen geometrischen Ort
oder eine Aufeinanderfolge von Punkten betreffen, deren jeder sich
einer gewissen Eigenschaft erfreut, welche ihrerseits keinem anderen
Punkte außerhalb des Ortes zukommt.
Zweitens scheint die indirekte Methode der Zurückführung auf
das Unmögliche, die sogenannte apagogische Beweisführung^)
wegen ihrer unbedingten Gültigkeit vorzuziehen. In der Tat haben
die Alten sich derselben wenn auch nicht gerade überwiegend doch
viel häufiger als die modernen Geometer bedient. Namentlich bei
den Sätzen, in welchen eine sogenannte Exhaustion vorgenommen
wird, wo also der Grenzbegriff das unmittelbare Erreichen des Zieles
ausschließt und nur die synthetische Hypothese des Unendlichkleinen
') änayfoy^ slg &dvvaxoVy lateinisch reducHo ad absurdum oder demonstratio
e contrario.
222 10. Kapitel.
als Ersatz zu dienen vermag; wird man bei griechischen Schrift-
stellern stets Beweisen ans dem Gegenteil begegnen. Wir haben zu-
gleich angedeutet; daß in neuerer Zeit die indirekten Beweise nicht
beliebt sind. Der Grund liegt darin, daß bei aller zwingenden Strenge
für den Verstand der indirekte Beweis der Einbildungskraft keine
YoUständige Befriedigung zu gewähren pflegt. Ungezügelt umher-
schweifend sucht sie noch immer dritte Fälle ausfindig zu machen,
welche neben der Existenz Yon Nicht-D eine Koexistenz von B zu-
lassen, und nur schwer gibt sie sich gefangen, daß wirklich die Ein-
teilungsteile des Einteilungsganzen vollständig erschöpft wurden, daß
wirklich zwei sich ausschließende Tatsachen vorliegen, die nicht gleich-
zeitig gesetzt werden können.
Drittens liegt, wie wir gesehen haben, jedem Beweise, werde er
analytisch oder synthetisch, direkt oder indirekt geführt, die Wahr-
heit eines gewissen Satzes A zugrunde, deren man sich versichert
halten muß. In vielen Fällen wird dieses A Ergebnis früherer Lehr-
sätze und gehörigen Ortes streng erwiesen sein. Allein immer ist
dieses nicht der FaU und kann es nicht der Fall sein, da eine un-
endliche Kette von Rückschlüssen nicht denkbar ist. Irgend einmal
muß man stehen bleiben und eine Grundwahrheit als von selbst ein-
leuchtend oder erfahrungsmäßig gegeben zum Ausgangspunkte der
Beweisführung annehmen. Wer also wie Piaton auf das Wesen der
Beweisführung selbst einging, mußte auf dem Wege dieser Unter-
suchung das tun, was wir oben von Piaton berichtet haben. Er
mußte Definitionen geben, welche der unendlichen Spaltung der
Begriffe zugunsten einÜEU^her Begriffne ein Ziel setzten; er mußte auch
Axiome, Grundsätze und Annahmen, anerkennen, welche man nicht
weiter beweist, sei es daß sie als von unmittelbarer Gewißheit nicht
mehr bewiesen zu werden brauchen, oder daß sie nicht bewiesen
werden können.
Wir kehren von dieser das Wesen antiker geometrischer Beweis-
führung berührender Auseinandersetzung, zu welcher die mathema-
tischen Kapitel im Menon uns fast mehr Gelegenheit als Veran-
lassung boten zu einer anderen Schrift Platons und einer nicht
minder übelberüchtigten Stelle derselben zurück. Wir meinen den
Anfang des YIII. Buches Tom Staate^). Auch diese Stelle hat
eine ganze Literatur hervorgerufen^), welche jedoch unserem Gefühle
*) Piaton, Staat 546 B, C. *) Vgl. Th. Henri Martin, Le nombre nuptial
et le nombre parfaü de Platan im XUI. Bande der Revue archeologique und Roth-
lauf S. 29 ügg. Bei Martin insbesondere finden sich zahlreiche Verweisungen
auf ältere Abhandlungen. Seitdem sind noch zahlreiche Arbeiten von Adam,
Demme, Dupuis, Gow, Hultsch, Tannery veröffentlicht worden.
Piaton. 228
nach noch nicht vermochte, die Schwierigkeiten der sehr dunkeln
Anspielungen, in welchen Piaton sich hier gefallt, endgültig zu lösen.
Gehen doch die Ansichten so weit auseinander, daß nicht bloß über
den Sinn der sogen, platonischen Zahl, sondern über ihre Größe selbst
ein Einverständnis nicht herrscht. Nur ein wie beiläufig eingeschal-
teter kleiner Satz dieser Stelle gibt uns Anlaß zu einer, wie wir
glauben, geschichtlich wichtigen Bemerkung. Es ist unserer Meinung
nach von der Länge der Diagonale des Quadrates über der Seite 5
die Rede, welche rational ausfalle^ wenn 1 fehle, irrational wenn 2
fehlen^), und wir können das nicht anders verstehen, als daß jene
Diagonale oder y6Ö in den rationalen Wert 7 übergehe, wenn die
Zahl 50 um 1 verringert werde, dagegen irrational "j/äS bleibe, wenn
man 2 von den 50 abziehe. Wir haben, wo von der Entdeckung
des Irrationalen durch Pythagoras (S. 181) die Rede war, hervor-
gehoben, man werde wohl Versuche angestellt haben, die Diagonale
eines Quadrates dadurch aussprechbar, also rational, zu machen, daß
man andere und andere Seitenlängen wählte, man werde so zwar das
wirklich angestrebte Ziel natürlich nicht erreicht, aber doch Nähe-
rungswerte von y2 gefunden haben. Die eben angeführte platonische
Stelle bringt uns diesen Gegenstand ins Gedächtnis zurück — Wir
möchten einschalten, daß von Architekten bei Nachmessungen an den
Bauwerken der Akropolis das häufige Vorkommen der Verhältnisse
1 : 3 sowie 7 : 12 und 7* : 12* bemerkt worden ist *). Uns scheint
das letztere dem ersten als gleichwertig gedacht worden zu sein, so
12 /"'
daß einen Näherungswert von y3 darstellte, und Piaton, meinen
wir, hat auch gewußt, daß l/öO oder Sy^ nur wenig von 7 sich
unterscheidet. Ist er so weit gegangen in der Praxis des Rechnens
}/2 annähernd gleich -. zu setzen? Darüber fehlt uns die Sicher-
heit, aber das steht fest, daß jenes Bewußtsein bei Piatonikern und
deren Schülern sich fortwährend erhalten hat Proklus sagt uns aus-
drücklich, es gebe keine Quadratzahl, welche das Doppelte einer Qua-
dratzahl anders als nahezu sei; so sei das Quadrat von 7 das Doppelte
des Quadrates von 5, an welchem nur 1 fehle*). Es wird uns später
gelingen, den Näherungswert ]/2 = -- noch bestimmter nachzuweisen
und damit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, daß die Nutzbar-
machung jener bei Platon nachgewiesenen Kenntnis in der Tat statt-
^) äicb Sia^LixQfov qrix&v nsiiTtaöog, BBoyLivtov kvbg kxdctmv, &4(rjt€ov 8h dvtlv.
*) HultBch in FleckeiBen u. Masius, Neue Jahrbücher für Philologie und
P&dagogik Bd. 128, S. 586—687. ») Proklus (ed. Friedlein) pag. 427,
lin. 21—24.
224 10. Kapitel.
gefunden habe. Daß nämlich Piaton sich mit rationalen und mit
irrationalen Quadratwurzeln überhaupt beschäftigt hat, geht aus einer
anderen Nachricht hervor, von der jetzt die Rede sein soll.
Heron von Alexandria ^) und ebenso auch Proklus') teilen uns
eine Methode zur Auffindung rationaler rechtwinkliger Drei-
ecke mit, welche sie ausdrücklich als Erfindung des Piaton be-
zeichnen, und wenn auch eine unter dem gefälschten Namen des
BoethiuB umlaufende Geometrie von dieser Angabe abweichend einen
Architas als Erfinder nennt'), so tragen wir doch kein Bedenken,
dem älteren griechischen Berichterstatter den Vorzug der Glaubwür-
digkeit vor dem jüngeren Schriftsteller zu gewähren. Schon Pytha-
goras fand, wie wir uns erinuem (S. 185), rationale rechtwinklige
Dreiecke, indem er wohl davon ausging, den Unterschied zwischen
der Hypotenuse a und der größeren Kathete b der Einheit gleich zu
setzen, wodurch er genötigt war die Summe der Hypotenuse und der-
selben Kathete in Form einer sonst beliebigen ungeraden Quadratzahl
zu wählen. War solches in der Tat der Weg, auf welchem Pytha-
goras zu seinen Werten gelangte, so mußte ein nächster Versuch jene
DifiTerenz a — b-=2 setzen, und die ihr ähnliche Flächenzahl a + 6
mußte dann das Doppelte einer Quadratzahl oder 2 a* sein, beziehungs-
weise die Hälffce einer geraden Quadratzahl ^-y~' Dann wurde von
selbst c = 2a, 6 = «^ — 1, a = a* -t- 1, und genau so verfuhr Piaton.
Proklus sagt uns mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig
läßt: Piatons Methode geht von der geraden Zahl aus; man nimmt
nämlich eine gerade Zahl an und setzt sie gleich einer der beiden
Katheten; wird diese halbiert, die Hälfte quadriert und zu diesem
Quadrate die Einheit addiert, so ergibt sich die Hypotenuse; wird
aber die Einheit vom Quadrate subtrahiert, so erhält man die andere
Kathete.
So dienen beide Methoden, die des Pythagoras und die des
Piaton, einander zur Er^nzung und rechtfertigen gegenseitig die
Vermutungen, welche wir darüber aussprachen, wie man dieselben
gefunden haben mag. Piaton erscheint uns dabei nicht sowohl er-
findungsreich, als daß er vorher betretene Wege umsichtig zu gehen
wußte. Er muß jedenfalls auf der Höhe des mathematischen Wissens
seiner Zeit gestanden haben, mag ihn im mathematischen Können
dieser oder jener übertroflFen haben. Seine für die damalige Zeit
große mathematische Gelehrsamkeit wird durch alles, was wir von
ihm wissen, bestätigt. Wir erinnern uns des reichen für die Qe-
^) Heron (ed. Hultsch) Geometria pag. 67. *) Proklus (ed. Friedlein)
pag. 428. *) Boethins (ed. Friedlein) Geometria pag. 408.
Piaton. 225
schichte der Mathematik bei den Pythagoräem Ton uns ausgenutzten
Inhaltes des platonischen Timäus. Die Zusammensetzung regelmäßiger
ebener Figuren aus rechtwinkligen Dreiecken , die Bildung der fünf
regelmäßigen Körper waren ihm bekannt. Wenn auch Pappus diese
letzteren geradezu als solche bezeichnet, von denen bei Piaton die
Rede sei^), so wissen wir doch, daß Piaton keineswegs der Erfinder
war. Die eigentliche Stereometrie scheint übrigens, trotz der Kennt-
nis der regelmäßigen Körper, damals noch recht im argen gelegen
zu haben. ,,Hinsichtlich der Messungen von allem, was Länge, Breite
und Tiefe hat, legen die Griechen eine in allen Menschen von Natur
Yorhandene ebenso lächerliche als schmähliche Unwissenheit an den
Tag^', sagt Piaton ^) und fährt in wenig gewählter Ausdrucksweise
fort, es sei in dieser Beziehung bestellt „nicht wie es Menschen,
sondern wie es Schweinen geziemt, und ich schämte mich daher
nicht bloß über mich selbst, sondern für alle Griechen" Am wei-
testen entwickelt war die Arithmetik. Daß Piaton über die Propor-
tionenlehre, über die Begriffe von Flächenzahlen und Körperzahlen
Herr war, wissen wir aus dem Timäus. Wir erinnern uns auch, daß
(S. 165) ein besonderer Fall der pythagoräischen Sätze über geome-
trische Mittel zwischen Flächenzahlen und zwischen Körperzahlen als
platonisch genannt wird*). Wir können noch zwei andere Stellen
platonischer Schriften anführen, welche für seine Kenntnisse in der
Arithmetik von Wichtigkeit sind. Im Phädon sagt Piaton, die ganze
eine Hälfbe der Zahlen sei gerad, die andere sei ungerad^). In den
Gesetzen weiß er, daß die Zahl 5040 durch 59 verschiedene Zahlen
teilbar ist, unter welchen sämtliche Zahlen von 1 bis 10 sich be-
finden^). Das sind in der Tat ganz anständige Kenntnisse, wenn wir
auch natürlich annehmen, daß die Teiler von 5040 empirisch gefunden
und gezählt wurden. Vielleicht kann das Aufsuchen der Teiler doch
in Zusammenhang mit einer Bekanntschaft mit befreundeten und mit
Yollkommenen Zahlen gedeutet werden müssen, wenn wir auch (S. 168)
uns sträubten, diese in so frühe Zeit zu verlegen. Aber wie kam
man dazu, die Zahl 5040, das Produkt der aufeinander folgenden
Zahlen von 1 bis 7, zur Untersuchung zu wählen? Auf diese Frage
wissen wir keine Antwort.
Eine Erfindung Piatons wird uns berichtet, welche ihm als
Geometer alle Ehre macht, und welche somit den ersten Teil dessen,
was das Mathematikerverzeichnis von Piaton zu sagen weiß, ebenso
^) Pappus y, 19 (ed. Hultsch) pag. S52. ') Piaton, Gesetze pag. 805.
") Nicomachus, Eisagoge arithm. 11, 24, 6 (ed.^Hoche) pag. 129. *) Fla-
ton, Phaedon pag. 104. ^) Piaton, Gesetze pag. 737.
Oaxtob, Oesohloht« der Mathematik I. 3. Aufl. 15
226 10. Kapitel.
Yoll bestätigt, wie der zweite Teil jener Charakteristik in unserer
seitherigen Darstellung zur Geltung kam. Wir müssen nachholend
diese Schilderung hier einschalten.
„Piaton, der auf diese (Hippokrates und Theodorus) folgte, ver-
schaffte sowohl den anderen Wissenschafken als auch der Geometrie
einen sehr bedeutenden Zuwachs durch den großen Fleiß, den er
bekanntlich auf sie verwandte. Seine Schriften füllte er stark mit
mathematischen Betrachtungen und hob überall hervor, was von
der Geometrie sich in bemerkenswerter Weise an die Philosophie
anschließt."
Vielleicht ist unter dem bedeutenden Zuwachse, der durch Pia-
tons Fleiß der Geometrie verschafft wurde, seine Auflösung der Auf-
gabe von der Würfelverdoppelung verstanden, welcher wir uns
hiermit zuwenden. Freilich steht es schlimm mit derselben, wenn
die Meinung derer sich als richtig erweisen sollte, welche den ganzen
darüber uns zugekommenen Bericht anzweifeln. Wir wollen die
schwerwiegenden Bedenken derselben nachtraglich erörtern und fürs
erste dem Berichte selbst hier einen Platz einräumen.
Eutokius von Askalon hat im VI. S. einen Kommentar zu
des Archimed Schrift über Kugel und Zylinder verfaßt und in diesen
Kommentar sehr wichtige Mitteilungen über die Aufgabe der Würfel-
verdoppelung eingeflochten. Dorther kennen wir den Brief des Era-
tosthenes über jenes Problem (S. 211), dorther eine ganze Anzahl
von untereinander verschiedenen Auflösungen, darunter solche von
Piaton, von Menächmus, von Archytas. Die Auflösung des
Archytas hat Eutokius dem Eudemus entnommen, und bei der un-
bedingten Zuverlässigkeit dieses Gewährsmannes ist an der Genauig-
keit des Berichtes nie der leiseste Zweifel erhoben worden. Woher
stammen die übrigen Auflösungen? Eutokius sagt es uns nicht, aber
er leitet den ganzen Bericht damit ein, er wolle die Gedanken der
Männer, welche auf uns gekommen sind, ersichtlich machen. Sollte
in Zusammenhang mit dieser Erklärung sein Schweigen nicht beredt
genug sein? Sollte es nicht zu verstehen geben, daß, wo eine zweite
Quelle nicht genannt wurde, die Originalschriften selbst von Eutokius
benutzt wurden, oder doch solche, welche er für die Originalschriften
hielt? Sollte der Umstand, daß die Auflösungen als solche richtig
sind und somit die ünverletztheit des Gehaltes der Schriften, von
welchen Eutokius Gebrauch machte, verbürgen, nicht auch bei Prü-
fung der Richtigkeit der Namen, unter welchen die Auflösungen
mitgeteilt sind, von Gewicht sein? Unter den von Eutokius mit-
geteilten Auflösungen steht die Piatons an der Spitze, mutmaßlich
wegen der großen Berühmtheit des Verfassers. Jedenfalls ist eine
Piaton.
227
Zeitfolge der Auflösungen aus der Anordnung^ in welcher sie bei
Eutokius erscheinen, in keiner Weise zu entnehmen. Sie sind viel-
mehr bunt durcheinander gewürfelt, und um nur solche Männer zu
nennen, deren Zeitalter durch Jahrhunderte getrennt liegen, bei denen
also ein Zweifel unmöglich ist, kommt Heron vor ApoUonius, Pappus
vor Menächmus zu stehen.
Das Verfahren des Piaton ^) beruht auf einer Vorrichtung,
welche sich (Figur 35) als Rechteck A/IEZ mit zwei festen und
zwei in paralleler Lage verschiebbaren
Seiten EJ und A^ bezeichnen läßt.
Mittels gehöriger Verschiebung der be-
weglichen Seiten nebst entsprechender
Drehung der ganzen Vorrichtung soll
unter vorheriger Annahme der Länge
von zwei zueinander senkrechten Linien
AB = 6, BF — a folgendes bewirkt
werden: A soll in den Durchschnitt der
festen ZA mit der beweglichen A^, F
auf die zweite feste Seite ZE, zugleich
der Eckpunkt E des Rechtecks auf die
Verringerung von AB und endlich der zweite Durchschnittspunk
der beweglichen A^ mit der beweglichen E^ auf die Verlängerung
von FB fallen. Nennen wir nun BE = a;, BJ^y^ so ist im recht-
winkligen Dreiecke F^E die BE senkrecht aus der Spitze des rechten
Winkels auf die Hypotenuse gefallt, und die gleiche Rolle spielt die
JBz/ im rechtwinkligen Dreiecke A^E, Folglich ist a:x = x:y
und X :y = y :b. Mithin sind x und y die beiden mittleren Pro-
portionalen, welche zwischen a und b eingeschaltet werden mußten.
Fig. S6.
3 /T-
X = a • y — und unter der Voraussetzung 6 = 2a endlich x = a y2.
Wir bemerken*), daß dieses Verfahren, sofern es von Piaton her-
rührt, uns ein Zeugnis dafür ist, daß damals griechische Geometer
den Satz kannten, daß die Senkrechte aus der Spitze des rechten
Winkels auf die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks das geo-
metrische Mittel zwischen den Stücken ist, in welche sie die Hypo-
tenuse zerlegt. Wir bemerken femer, daß hier ein Beispiel einer
Bewegungsgeometrie vorliegt (S. 209).
Wir stellen neben dieses Verfahren sofort dasjenige, welches
Eutokius uns nach Eudemus von Archytas berichtet'). Es stimmt.
*) Archimedis Opera ed. Heiberg. Leipzig 1880—81. HI, 66 sqq.
*) Vgl. Bretschneider 142. ') Archimedes (ed. Heiberg) UI, 98 sqq.
16*
228
10. Kapitel.
Fig. S6.
wie wir sehen werden, yoUkommen zu den Worten im Briefe des
Eratosthenes: „Der Tarentiner Archytas soll sie vermittelst der Halb-
zylinder aufgefunden haben.'^ Es seien
(Fig. 36) A^-^h und ^5 - a die
beiden Geraden, zwischen welche zwei
mittlere Proportionalen einzuschalten
sind. Die größere A^ wird als
Durchmesser eines Halbkreises be-
nutzt, in welchen die kleinere AB
als Sehne eingezeichnet wird. Aber
auch senkrecht zu diesem ersten Halb-
kreise wird über A^ ein zweiter Halb-
kreis errichtet, der in A befestigt
über die Ebene ABA weggeschoben
werden kann. Er bildet dabei auf
dem über dem Halbkreis ABA errichteten Halbzjlinder eine krumme
Linie. Andererseits ist das Dreieck AAU gegeben durch die AA^ die
AB und die Berührungslinie All ^n den Halbkreis in A, Dieses
Dreieck liefert um AA als Achse in Drehung versetzt eine Kegelober-
fläche, welche gleichfalls den Halbzjlinder und die vorher auf ihm
erzeugte Kurve schneidet, letztere in einem Punkte K, der als dem
Halbzylinder angehörend senkrecht über einem Punkte J des Halb-
kreisbogens ABA liegen muß. Während Ali die Kegeloberfläche
beschreibt, beschreibt endlich auch das Stück AB dieser Geraden
eine Fläche gleicher Art, beziehungsweise der Punkt B einen Halb-
kreis BMZ, der senkrecht zur Horizontalebene ABAZ steht. Da
zu dieser Ebene auch AKA' senkrecht steht, so ist zu ihr auch M®
senkrecht, die Durchschnittsgerade der beiden genannten Ebenen, be-
ziehungsweise M&A.BZ als Durchschnittsgeraden der BMZ mit
der ABAZ, Daraus folgt mit Rücksicht auf die Eigenschaft von
BMZ als Halbkreis und von BZ als dessen Durchmesser, daß
M®^ = 50 X ®Z. Aber B®X&Z^AGx &I, weil BZ und AI
zwei in ® sich schneidende Sehnen desselben E[reises sind. Also
M®^ = A& X 0 J, also der Winkel AMI ein Rechter, d. h. ebenso
groß wie AKA\ welcher Winkel im Halbkreise ist, xmd folglich Ml
parallel zu KA', Damit ist die Ähnlichkeit des Dreiecks A'AK mit
lAM, aber auch mit KAI bewiesen, und damit die Proportion
AM lAl-^ AI: AK ^AK: ATA. Setzt man endlich AM =AB^a,
AfA =- AA = 6, AI = a;, AK = y, so ist wieder a:x = xiy '^yib,
wie es verlangt wurde. Aus diesem Verfahren geht, was wir zu
bemerken nicht versäumen wollen, die Kenntnis mehrerer wichtiger
Sätze von Seiten des Erfinders hervor. Nicht bloß die beiden plani-
Piaton. 229
metrischen Lelirsätze, daß die Berührungslinie an den Kreis senk-
recht zum Durchmesser steht und daß Kreissehnen einander in um-
gekehrt proportionalen Stücken schneiden, mußten ihm geläufig sein,
auch von der durch Piaton beklagten allgemeinen Unwissenheit auf
stereometrischem Gebiete bildete er eine rühmliche Ausnahme. Ar-
chytas wußte, daß die Durchschnittsgerade zweier zu einer dritten
Ebene senkrechten Ebenen gleichfalls senkrecht auf dieser und ins-
besondere senkrecht auf deren Durchschnittsgeraden mit einer der
senkrechten Ebenen steht. Er besaß, was wir noch weit höher an-
schlagen, über die Entstehung von Zylindern und Kegeln, über gegen-
seitige Durchdringung von Körpern und dabei auf ihrer Oberfläche
entstehenden Kurven vollständig klare Anschauungen. Sollte Archytas
ein Modell sich angefertigt haben, an welchem er sein Verfahren sich
ausbildete? Wir stellen die Frage, ohne eine Antwort darauf zu
wissen und finden eine solche auch nicht in den Worten des Diogenes
Laertius, der uns erzählt: „Archytas zuerst behandelte die Mechanik
methodisch, indem er sich dabei geometrischer Gnmdsätze bediente;
auch führte er zuerst die organische Bewegung in die Konstruktion
geometrischer Figuren ein, indem er durch den Schnitt des Halb-
zylinders zwei mittlere Proportionalen zur Verdoppelung des Würfels
zu erhalten suchte^^^). In dem durch Eutokius überlieferten Text
kommt auch das Wort röjcog vor*). Dieses Wort hat in späterer
Zeit den Sinn „geometrischer Ort^' angenommen. Hier bedeutet es
aber nur die Stelle'). Man kann also keinerlei Schlüsse aus dem
Auftreten des Wortes ziehen, mag es selbst in dem Urtexte des
Archytas schon vorgekommen sein, soviel derselbe sonst von Eude-
mus im übrigen verändert worden zu sein scheint. Selbstverständlich
nehmen wir aber nur an, Eudemus habe den Wortlaut des Archytas
einigermaßen frei behandelt. Den Sinn muß er getreu wiedergegeben
haben, und so bleiben die Folgerungen, welche wir auf stereometrische
Kenntnisse des Archytas gezogen haben, unberührt.
Wir lassen auch die Würfelverdoppelungen des Menächmus
gleich folgen. Eutokius teilt uns zwei voneinander verschiedene Ver-
fahren dieses Schriftstellers mit*). Das eine Mal wird die Auf-
gabe durch eine Parabel in Verbindung mit einer Hyperbel gelöst,
das andere Mal werden zwei Parabeln benutzt. Hier kann, wie wir
betonen müssen, ein wörtlicher Auszug aus Menächmus unter keiner
Bedingung vorliegen, da diese Namen Hyperbel und Parabel, wie wir
*) Diogenes Laertius VIII, 88. •) Archimedes (ed. Heiberg) DI, 100
lin. 10. •) Gow, A short history of Greek mathematies, pag. 187, Note 1.
*) Archimedes (ed. Heiberg) IQ, 92 sqq.
230
10. Kapitel.
noch sehen werden^ viel sp'äteren Ursprunges sind. Der Bericht des
Eutokius über die Würfelyerdoppelungen des Menächmus unter-
scheidet sich in wesentlicher Art yon dem über die Methode des
Archytas. Während bei Archytas nur die
Synthese mitgeteilt, die Analyse aber yer-
schwiegen ist^), ist bei Menächmus über Ana-
lyse und Synthese gleichmäßig berichtet und
uns dadurch ein vortreffliches Beispiel zur
Kenntnis jener beiden Schlußarten der Alten
in die Hand gegeben. Mögen a, x, y, b wieder
die Yorige Bedeutung haben, mithin
a: X = x:y ^ y :b
zu konstruieren sein. Weil a: x = x:y wird
(Fig. 37) ein Punkt ©, yon dem aus die
Senkrechte @Z-^x auf eine Gerade AH
gefällt ist, auf der von einem gegebenen Anfangspunkte A aus die
Länge AZ = y genannt wird, notwendig auf einer durch A hindurch-
gehenden Parabel liegen. Zieht man ferner ÄK+ @Z und ® JT + AZ,
so ist das Rechteck AK&Z gemessen durch xxy d.h. wegen
a:x ^y :b, gemessen durch a X 6, oder gegeben. Demzufolge liegt
0 auch auf einer Hyperbel, deren Asymptoten die AK und AZ sind.
Das ist die Analyse. Sie geht aus von der Annahme, der Pimkt @,
welcher durch die Linien x, y erst festgelegt werden soll, sei schon
vorhanden, und zieht daraus Folgerungen, welche für die Lage von &
anderweitige Merkmale liefern. Nun kommt die Synthese, d. h. hier
die Konstruktion der genannten Kur-
ven. In einem Punkte A läßt man
zwei Senkrechte zusammentreffen.
Dann zeichnet man eine Parabel mit
A als Scheitelpunkt, der einen der ge-
zogenen Geraden AH als Achse und
a als Parameter. Femer zeichnet man
zwischen die beiden Geraden A H und
AK als Asymptoten eine Hyperbel
unter der Bedingung, daß das Recht-
eck der mit KA, AH bis zum Durch-
schnitte mit diesen Geraden in umgekehrter Folge von jedem Hyperbel-
punkte gezogenen Parallelen dem Rechtecke aus a und 6 gleich sei.
Dann schneiden sich Parabel und Hyperbel in dem Punkte 0,
*) Bretschneider 152 bat versucht, die Analyse des Archytas zu erraten
und, wie uns scheint, mit ziemlichem Glück. Vgl. auch Flaut i, Geomeiria di sito.
Neapel 1821, pag. 173—174.
Piaton. 231
dessen senkrechter Abstand Ton AH das gesuchte x ist. Die zweite
Methode des Menächmus (Fig. 38) folgert wieder aus aix^xiyy
daß der gesuchte Punkt auf einer Parabel liege^ ebenso aber aus
x:y =^ y :b, daß er auf einer zweiten Parabel liege, deren beider-
seitigä Achsen sich in dem beiden Parabeln gemeinschaftlichen
Scheitelpunkte B senkrecht durchschneiden, was alsdann in der
Synthese benutzt wird. Eutokius schließt den Bericht über die Auf-
lösungen des Menächmus mit den Worten: ,,Die Parabel zeichnet man
mittels eines Ton dem Mechaniker Isidorus yon Milet, unserem
Lehrer, erfandenen Zirkels, der von ihm in seinem Kommentare zu
der Gewölblehre des Heron beschrieben worden ist." Daß die von
Eutokius angewandte Form nicht die des Menächmus selbst gewesen
sein kann, haben wir berührt. Auf die Glaubwürdigkeit des Inhalts
fällt dadurch kein Schatten. Menächmus muß also die Kurven ge-
kannt haben, welche eine spätere Zeit Parabel und Hyperbel genannt
hat; er muß die Asymptoten der Hyperbel gekannt haben, muß die-
jenigen Grundeigenschaften beider Kurven gekannt haben, welche die
analytische Geometrie durch die Gleichungen y* == ax und xy ^ c^
auszudrücken weiß.
Im Briefe des Eratosthenes ist, wie wir uns erinnern, auch von
einer Würfel Verdoppelung des Eudoxus mittels der sogenannten
Bogenlinien (S. 212) die Rede. Über diese berichtet Eutokius ab-
sichtlich gar nicht. Er setzt sich vielmehr in strengsten Gegensatz
gegen eine unter diesem Titel überlieferte Arbeit^). Er habe, sagt
er etwa, die dem Eudoxus zugeschriebene Abhandlung vernachlässigt,
weil sie erstlich die Bogenlinien, von deren Benutzung er in der
Einleitung rede, beim Beweise gar nicht anwende und zweitens eine
unstetige Proportion gleich einer stetigen verwerte, was von jenem
Schriftsteller nur zu denken nicht am Orte sei. Man hat hieraus,
wie wir glauben berechtigterweise, den Schluß gezogen*), es werde
dem Eutokius nur ein bis zur Unverständlichkeit verstümmelter Text
des Eudoxus vorgelegen haben, da weder dem Eudoxus so grobe
Fehler zuzutrauen seien, noch auch Eratosthenes eine durchaus ver-
fehlte Lösung der Erwähnung würdig gefunden haben würde, jeden-
falls nicht ohne auf das Irrige derselben hinzuweisen. Fügen wir
diesen Schlüssen noch hinzu, daß das Verfahren des Eutokius diesem
einen Schriftsteller gegenüber uns die Klarheit und Reinheit der
Quellen, welche ihm für die Würfelverdoppelungen der anderen dienten,
verbürgt.
») Archimedea (ed. Heiberg) m, 66 lin. 11— 17. *) Bretachneider 166
und beaondera Ambr. Stnrnif Daa Deliache Problem S. 33 Note 4 (Programm
dea k. k. Gymnsaiuma zu Seitenatetten 1896).
232 10. Kapitel.
Wir haben bei dieser Aufzählnng von Würfelverdoppelungen
nach Eutokius uns allzusehr von unserer Gewohnheit, die Schrift-
steller, mit denen wir uns gerade beschäftigen, auch ihrer Persön-
lichkeit nach wenigstens einigermaßen zu schildern, entfernt, um
nicht schon hierdurch zu zeigen, daß wir mit Piaton noch nicht ab-
geschlossen haben. Diese Einschaltungen — mögen wir auch später
uns auf dieselben zu beziehen haben — bezwecken an dieser Stelle
nur das Urteil bei Besprechung der Streitfrage zu leiten, ob das,
was Eutokius als platonische Würfelverdoppelung gibt, wirklich echt
sein kann. Stellen wir dazu die Einwendungen, welche man gemacht
hat, zusammen.
Wir haben aus dem Briefe des Eratosthenes ersehen, daß, nach-
dem jene Aufgabe schon geraume Zeit die Geometer vergeblich be-
schäftigt hatte, nachdem eine Ratlosigkeit an die Stelle einer anderen
getreten war, eine neue Veranlassung neue Bemühungen hervorrief,
indem die Delier, welche einem Orakelspruche folgend um einer
Seuche ein Ziel zu setzen einen Altar verdoppeln sollten, sich an
Piaton und seine Akademie um Rat wandten. Theon von Sm3rma
berichtet nach einer uns unbekannten Schrift des Eratosthenes, welche
den Titel „Der Platoniker" geführt zu haben scheint, ganz ähnlich^).
Piaton habe den Deliem, welche der Seuche halber den Altar ihres
Gottes verdoppeln sollten und die Ausführung zu betreiben ihn be-
fragten, die Antwort erteilt: Nicht die Verdoppelung des Altars
wünsche der Gott, er habe den Ausspruch nur als Tadel gegen die
Hellenen verstanden, welche um die Wissenschaften sich nicht küm-
merten und die Geometrie gering achteten. Plutarch ist ein dritter
Schriftsteller, der in seinen Werken sogar zweimal auf den Gegen-
stand zu reden kam^), ihn auch in einem Nebenumstande etwas ab-
weichend angibt. Er fügt nämlich der Antwort Piatons, die Gottheit
habe ihi'e Mißbilligung der allzu geringen Beschäftigung mit Geo-
metrie bezeugen wollen, noch bei: um einen Körper so zu verdoppeln,
daß er der ursprünglichen Gestalt durchaus ähnlich bleibe, bedürfe
man der Auffindung zweier geometrischer Mittel, und das werde ilmen
EudoxuB von Knidos oder Helikon der Kyzikener leisten, der
letztere ein Schüler des Eudoxus, der in der Geschichte der Astro-
nomie genannt zu werden pflegt. Johannes Philoponus endlich läßt
diese Verweisung auf andere in der Antwort des Piaton an die Delier
wieder weg, während er der Notwendigkeit zwei geometrische Mittel
*) Theon Smyrnaens (ed. Hill er) pag. 2 'Eeaxoa^ivrig fikv yag iv xm
iniYQatponivtp 'nXax(ovi%& x. r. X. *) PlutarchuB, De genio Socraiis csp. 7 und
De bI aptid Delphos cap. 6.
Piaton. 233
zu finden gedenkt^). Aus allen diesen Angaben folgt^ daß über die
Frage der Würfelverdoppelnng ein Meinungsaustausch zwischen De-
liem und Piaton stattgefunden hat, und daher rührt der Name der
deli sehen Aufgabe, unter welchem die der Würfelverdoppelung
vielfach vorkommt. Aber auch einen anderen Umstand kann man
mit einigem Erstaunen bemerken. Eratosthenes, der doch von den
erfolgreichen Bemühungen zur Auffindung der Seite des verdoppelten
Würfels besonders redet, erwähnt den Namen Piaton und erwähnt
nicht, daß er das Vertrauen, welches die Delier in seine Geschick-
lichkeit setzten, durch Lösung der Aufgabe rechtfertigte. Diesem
Schweigen schließt sich Theon von Smjrma an, der freilich aus Era-
tosthenes schöpfte, und Johannes Philoponus. Plutarch ergänzt es
nun gar dadurch, daß Piaton von vornherein die Erwartung, als könne
er die Frage lösen, unter Verweisung an andere Geometer von sich
abzulenken wußte. Man muß zugeben, daß dieses Schweigen, daß
dieser Zusatz sehr eigentümlich, sehr schwer zu verstehen sind, wenn
jene Schriftsteller das Verfahren Piatons kannten, daß es noch
staunenswerter wäre, wenn Piaton den Würfel verdoppelt hätte und
jene Schriftsteller von seiner Abhandlung, die doch zur Kenntnis des
Eutokius gelangt sein muß, nichts gewußt hätten. Es wäre danach
möglich, daß die Quelle des Eutokius eine jener gefälschten Abhand-
lungen gewesen wäre, wie sie zur Zeit des Neuplatonismus zu
Dutzenden erschienen und auf Rechnung alter Lehrer gesetzt wurden.
Dazu kommt eine ganz bedenkliche Notiz, welche Plutarch zwei-
mal mitgeteilt hat^). Piaton, sagt er, tadelte den Eudoxus und Ar-
chytas und Menächmus, welche die Verdoppelung des Körperraumes
auf instrumentale und mechanische Verfahrungsweisen zurückführen,
gleich als ob sie hierdurch zwei mittlere Proportionalen auf uner-
laubte Weise zu erhalten versuchten. Denn auf solche Art werde
der Vorzug der Geometrie aufgehoben und verdorben, sofern man sie
wieder auf den sinnlichen Standpunkt zurückführt, sie, die in die
Höhe gehoben werden und sich an ewige und körperlose Gedanken-
bilder halten sollte, wie dies bei Gott der Fall ist, der deshalb immer
Gott ist. So die eine Stelle Plutarchs. Wo er aber an einer zweiten
Stelle die gleiche Angabe wiederholt, verbindet er damit die Be-
merkung, infolge von Piatons Unwillen über die Würfelverdoppelung
durch Werkzeuge sei die Mechanik von der Geometrie vollständig ge-
trennt worden und dadurch auf lange Zeit zu einer bloßen Hilfs-
wissenschaft der Kriegskunst herabgesunken. Konnte, sagt man,
Piaton einen derartigen Tadel gegen Eudoxus, gegen Archytas, gegen
*) Johannes Philoponus ad Aristotelis Analyt. post. 1,7. ") Plu-
tarchus, Qu€t€8t. conviv. VIII, 92, 1 und Vita MarcelU 14, ö.
234 11. Kapitel.
Menächmus aussprechen, wenn er selbst ein mechanisches Verfahren
zur Würfelverdoppelung erdachte? Ist damit nicht der Beweis ge-
liefert, daß der Bericht des Eutokius soweit irrig sein muß, als ihm
Piaton für den Erfinder einer Vorrichtung gilt, die von irgend einem
anderen herrührte?
Wir gestehen zu, daß diese Einwürfe sehr gefährlicher Natur
sind, um so mehr als nicht zu bezweifeln ist, daß die Piaton durch
Plutarch beigelegte Meinung mit dem ganzen philosophischen Cha-
rakter dessen, der die Ideen einführte, im vollsten Einklänge steht.
Es ist femer nicht zu bezweifeln, daß langezeit, ob auf Piatons
Einfluß hin, wie behauptet worden ist^), lassen wir dahingestellt, nur
die Geometrie des Zirkels und Lineals als eigentliche Geometrie be-
trachtet worden ist. Die Nachricht in der Form, wie Plutarch sie
mitteilt, lautet überdies so bestimmt, daß es doch wohl allzu gewagt
wäre, ein Mißverständnis anzunehmen^). Es wird demnach nur die
Wahl zwischen folgenden Möglichkeiten bleiben. Entweder, und das
dürfte dem Vorwurfe der Eünstlichkeit ausgesetzt sein, wird man an-
nehmen, Piaton habe, indem er jenen Tadel gegen Eudoxus, Archytas,
Menächmus aussprach, zugleich beigefügt, es sei ja keine Kunst eine
Würfelverdoppelung mechanisch vorzunehmen, dazu genüge eine ein-
fache Vorrichtung, wie wir sie oben nach Eutokius geschildert haben,
aber das sei keine Geometrie, denn diese öolle und müsse an ewige
und körperlose Gedankenbilder sich halten. Oder aber, und das ist
entschieden das Bequemste, man hält sich nur an die Notiz des Plu-
tarch, an das Schweigen des Eratosthenes und schiebt die ganze Mit-
teilung des Eutokius, wie oben bemerkt, vornehm beiseite, soweit
sie wenigstens auf Piaton Bezug hat. Oder endlich, und das ist
wenigstens das Ehrlichste, wenn kein anderer Vorzug noch Vorwurf
an dieser Möglichkeit haftet, man gesteht zu, daß hier ein Wider-
spruch vorliege, den aus dem Wege zu räumen gegenwärtig keine ge-
nügenden Mittel zur Hand sind.
11. Kapitel.
Die Akademie. Aristoteles.
Wir folgen weiter dem Mathematikerverzeichnisse, welches im
nächsten Satze drei Namen vereinigt, indem es sagt:
') Hankel S. 156 apricht mit apodiktischer Gewißheit, aber durch kein
Zitat unterstützt den Satz aus: Wir verdanken Piaton die für die Geometrie so
wichtige Beschränkung der geometrischen Instrumente auf Zirkel und Lineal.
*) So haben wir selbst Zeitschr. Math. Phys XX, histor.-literar. Abteilung 183
den Widerspruch zu beseitigen gesucht.
Die Akademie. Aristoteles. 235
,,In diese Zeit gehört auch Leodamas von Thasos und Archytas
von Tarent und Theätet von Athen, durch welche die Theoreme ver-
mehrt wurden und zu einer strengen wissenschaftlichen Darstellung
gelangten.^' •
Von Leodamas von Thasos haben wir im vorigen Kapitel er-
zählt, was allein von ihm bekannt ist, nicht vieles aber ein Großes,
daß für ihn (S. 220) Piaton die analytische Methode ersann, be-
ziehungsweise sie ihm mitteilte. Nennt, wie man wohl annehmen
darf, das Mathematikerverzeichnis die darin vorkommenden Namen
ihrer Zeitfolge nach, so war Leodamas etwas älter als Archytas,
mithin auch als Piaton, was aber einer Beeinflussung durch jenen
keinen Abbruch tut^).
Archytas von Tarent') mag etwa 430 — 365 gelebt haben,
fast gleichzeitig mit Piaton geboren, an welchen ihn auch, wie wir
wissen, während dessen Aufenthalt in Großgriechenland (S. 215) ein
enges Freundschaftsverhältnis band. Archytas war seiner Heimat
wie seinem Bildungsgange nach Pythagoräer. Er war Staatsmann
und Feldherr und versah wiederholt die höchsten Amter in seiner
Vaterstadt. Seinen Tod fand er, wie wir durch Horaz wissen*),
durch Schiffbruch am Vorgebirge Matinum, vielleicht beim Antritt
einer Reise nach Griechenland. Das Mathematikerverzeichnis nennt
ihn, wie wir soeben gesagt haben, vermutlich aus Gründen der Zeit-
folge gerade hier und nicht schon einige Zeilen früher. Möglicher-
weise aber soll durch seine Stellung mitten unter Männern der Aka-
demie der mittelbare Einfluß bezeugt werden, den er durch seine
früheren nahen Beziehungen zu Piaton auf diese Schule ausübte.
Über die Echtheit oder Unechtheit von Bruchstücken philosophischen,
ethischen, musikalischen Inhaltes, welche unter dem Namen des Ar-
chytas auf uns gekommen sind, herrschen die entgegengesetztesten
uns glücklicherweise nicht kümmernden Meinungen. Während die
einen jene Bruchstücke anerkennen, gehen die andern so weit, sie
fast insgesamt für Fälschungen eines alexandrinischen Juden um
das Jahr 39 n. Chr. zu halten^). Fast insgesamt, die mathematischen
Bruchstücke nämlich bleiben vom Zweifel unbehelligt. Wir haben
') Susemihlin dem Rheinisclien Mnseum für Philologie. Neue Folge LIU,
626 Anmerkung 2 (1898). ') Jos. Nsvarro, Tentamen de Ärchytae Tarentini
vüa atque operibus (Kopenhagener Doktordissertation 1819). Gruppe, Ueber die
Fragmente des Archytas imd der älteren Pythagoräer (Preisschrifb der Berliner
Akademie 1840). L. Boeckh, Ueber den Zusammenhang der Schriften, welche
der Pythagoräer Archytas hinterlassen haben soll (Karlsruher Lyzeumsprogramm
1841). Chaignet I, 266—381. ») Horatius, Lib. I, Ode 28. *) So besonders
Gruppe, der diese These zuerst aufstellte.
236 11. Kapitel.
ihrer übrigens schon gedacht. Die Würfel Verdoppelung des Ar-
chjtas und die wichtigen Folgerungen, welche aus ihr für seine
stereometrischen Kenntnisse zu ziehen sind, haben uns im vorigen
Kapitel, die Leistungen des Archytas auf dem Gebiete der Propor-
tionenlehre schon früher (S. 166) beschäftigt, und auf letztere
kommen wir gleich nachher noch einmal bei Gelegenheit des Eudoxus
zu reden. Ein letztes, was, wiewohl oben (S. 229) gesagt, hier be-
sonders betont werden mag, ist, daß Archytas die Mechanik zuerst
methodisch behandelte, indem er sich dabei geometrischer Grundsätze
bediente.
Theätet von Athen, der Piaton nahe genug stand, daß dieser
ihn zur namengebenden Persönlichkeit eines auch mathematisch lesens-
werten Gespräches macht, ist seiner Lebenszeit nach nicht genauer
zu bestimmen, als es durch diese eine Angabe geschieht. Seine Ar-
beiten müssen der Lehre von dem Irrationalen gewidmet gewesen
sein. Er teilte sämtliche Zahlen in zwei Klassen, in die der Quadrat-
zahlen, welche durch Vervielfältigung einer Zahl mit einer ihr gleichen
entstehen, und in die Rechteckszahlen, bei welchen die zu verviel-
fältigenden Zahlen ungleich gewählt werden müssen^). Das ein-
teilende Unterscheidungsmerkmal ist hier demnach Rationalität, be-
ziehungsweise Irrationalität bei der Ausziehung der Quadratwurzel,
und man kann hier eine früher (S. 183) von uns angekündigte Be-
stätigung derjenigen Vermutung finden, welche Quadrat und Hete-
romekie in der pjthagoräischen Kategorientafel des Aristoteles ein-
fach als Ersatzwörter für Rationalität und Irrationalität erklärt. Wenn
Theätet sodann fortfährt „in betreff der festen Körper machten wir
es ähnlich", so ist der Sinn dieses Satzes verschiedener Deutung
fähig. Es kann hier auf irrationale Kubikwurzeln angespielt sein*),
möglicherweise auch auf die Ausziehbarkeit oder Nichtausziehbarkeit
von Quadratwurzeln aus Produkten aus je drei Faktoren. Letzteres
ist uns namentlich um deswillen wahrscheinlicher, als jede andere
Notiz darüber, daß der Begriff der Kubikwurzel damals schon be-
kannt gewesen sein sollte — die Aufgabe der Würfelverdoppelung
schließt ihn noch keineswegs ein — uns fehlt, während von der Ein-
schaltung eines oder zweier geometrischen Mittel zwischen Körper-
zahlen im platonischen Timäus (S. 163) die Rede war. Eine weitere
Bestätigung dieser imserer Ansicht liegt in einer mutmaßlich von
Proklus herrührenden Anmerkung zum X. Buche des Euklid. Der
9. Satz des X. Buches dieses Schriftstellers heißt; Quadrate kommen-
») Piaton, Theaetet pag. 147— 148. Vgl. Rothlauf S. 24flgg. «) So die
Meinung Both laufe 1. c.
Die Akademie. ArisioteleB. 237
surabler Linien verhalten sich wie Quadratzahlen, inkommensurabler
Linien nicht wie Quadratzahlen und umgekehrt. Dazu bemerkt nun
der Scholiast: ^^Dies Theorem ist eine Erfindung des Theatet, und
Piaton gedenkt desselben in dem Dialoge Theätet; nur wird es dort«
speziell auseinandergesetzt, hier aber allgemein''^). Noch eine letzte
Angabe über Theätet liefert uns Suidas, er habe zuerst über die
fünf Körper geschrieben^). Offenbar ist hier an ein zusammen-
hängendes Ganzes zu denken, was nicht ausschließt, daß schon vorher
EUppasos oder irgend ein anderer über das Dodekaeder besonders
geschrieben haben könnte. Ob auch diese Schrift des Theätet, wie
man behauptet hat^), den Untersuchungen über Lrationales verwandt
war, ob insbesondere über das Verhältnis der Kanten dieser Körper
zum Halbmesser der umschriebenen Kugel Betrachtungen von der
Art, wie sie im XIII. Buche des Euklid vorkommen, angestellt wurden,
überlassen wir einzelnem Ermessen. Bestimmtere Angaben gibt es
darüber nicht.
Unser Verzeichnis fährt fort: „Jünger als Leodamas ist Neo-
kleides und dessen Schüler Leon, welche zu dem, was vor ihnen ge-
leistet worden war^ vieles hinzufügten; es hat auch Leon Elemente
geschrieben, die in bezug auf Umfang und das Bedürfiiis der An-
wendung des Bewiesenen sorgfältiger verfaßt sind. Ebenso erfand
er den Diorismus, wann das vorgelegte Problem möglich ist und
wann unmöglich."
Diese Sätze ergänzen früher (S. 208 und 219) von uns Erwähntes.
In Piatons Akademie entstand die Frage, ob eine Aufgabe, welche
gestellt war, überhaupt möglich sei, ob man nicht zuverlässig ver-
gebliche blühe anwende, wenn man ihre Lösung versuche. Diese
Frage mußte gestellt werden, sobald die analytische Me-
thode entstand, die, wie wir gleichfalls sahen, nicht an sich zu
jedesmal richtigen Ergebnissen führte, sondern erst einer Bestätigung
durch die Synthesis bedurfte. Piaton hat im Menon eine derartige
Frage gestellt und beantwortet. Leon dürfte die Notwendigkeit der
Fragestellung' ein für allemal dargetan und vielleicht den Kunstaus-
druck Diorismus eingeführt haben, dessen lateinische Übersetzung
determinatio lautet. Über Neokleides wissen wir den Worten des
Mathematikerverzeichnisses nichts hinzuzufügen. Höchstens können
wir den Umstand als besonders bemerkenswert erachten, wonach er
Leons Lehrer gewesen sei, dieser also nicht als ausschließlicher Schüler
Piatons unmittelbar betrachtet werden darf.
*) E noch 6, Untersuchungen über die neu aufgefundenen Schollen des
Proklus DiadochuB zu Euklids Elementen. Herford 1865, S. 24—26. *) Suidas
8. ▼. Beai^ijtos- *) Bretschneider S. 148.
238 11. Kapitel.
^^Eudoxus von Enidos um wenig jünger als Leon und ein Ge-
nosse der Schule Piatons war der erste^ welcher die Menge der Lehr-
sätze überhaupt yermehrte und zu den drei Proportionen noch drei
hinzufügte; er führte auch weiter aus, was von Piaton über den
Schnitt begonnen worden war, wobei er sich der Analyse bediente/'
Eudoxus^) lebte um 390—337. Man weiß, daß er in Knidos
geboren ist, daß er Schüler des Archytas, in seinem 23. Lebensjahre
auch während zwei Monaten Schüler Piatons in Athen war. Zur
Zeit des EönigS' Nectanabis 11 um 358 oder 357 verweilte Eudoxus
ein Jahr und vier Monate in Ägypten, wo er mit Piaton verkehrte,
wie Strabon nach ägyptischer Überlieferung uns erzählt. Wenig
später stiftete Eudoxus selbst eine Schule in Kyzikus, dem heutigen
Panorma am Marmarameere, kam er mit zahlreichen Schülern nach
Athen, wo er wieder mit Piaton enge verkehrte. Dann aber kehrte
er nach Knidos zurück und starb dort im Alter von 53 Jahren.
Astronom, Geometer, Arzt, Gesetzgeber nennt ihn Diogenes Laertius,
dem die wesentlichsten biographischen Angaben^) über Eudoxus ent-
stammen. Wir haben es hier nur mit dem Geometer zu tun und
wollen zunächst von den zwei bestimmten Tatsachen reden, welche
das Mathematikerverzeichnis hervorhebt.
Eudoxus fügte zu den drei Proportionen drei weitere hinzu.
Wir haben (S. 165 — 166) die Analogien und Mesotäten für die Pytha-
goräer in Anspruch genommen, wir haben gesehen, daß der Ursprung
einer bestimmten Proportion nach Babylon verlegt wird, von wo
Pythagoras sie mitgebracht habe, woraus für uns mindestens das folgt,
daß man zur Zeit des Jamblichus wie in Griechenland, so in den
Euphratländem jener sogenannten musikalischen Proportion Beach-
tung schenkte. Wir wollen hier über den Unterschied von Ana-
logie und Mesotät einiges einschalten. Die Erk^rungen der grie-
chischen Schriftsteller gehen freilich einigermaßen auseinander, aber
faßt man die verschiedenen Stellen alle zusammen, so kommt man zu
folgender Auffassung'). Ursprünglich hieß die geometrische Pro-
') Über Eudoxus vgl. die bahnbrechende Abhandlung von Ludw. Ideler
in den Abhandlungen der»Berliner Akademie von 1828 (S. 189—212) und 1829
(S. 49 — 88). Dann hauptsächlich Schiaparelli, Ueber die homocentrischen
Sphären des Eudoxus, des Eallippus und des Aristoteles (Abhandig. des lombard.
Instituts von 1874, deutsch von W. Hörn in dem Supplementheft zu Zeitschr.
Math. Phys. Bd. XXII). Zwei Programmabhsndlungen der Realschule Dinkels-
buhl für 1888 und 1890 von Hans Eünssberg geben eine erschöpfende Über-
sicht Zuletzt beschäftigte sich mit Eudoxus Susemihl, Die Lebenszeit des
Eudoxos von Enidos (Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge Lm^
626—628. 1898). ») Diogenes Laertius VIII, 86—90. ») Nesselmann^
Algebra der Griechen Seite 210, Anmerkung 49.
Die Akademie. Aristoteles. 239
portion ävakoyCa, die Proportion im allgemeinen ^ nämlich die arith-
metische^ die geometrische, die harmonische und sämtliche noch dazu
kommende hießen fisö&trjxsg. Der spätere Sprachgebrauch dagegen
verwischte diesen Unterschied und ließ zuletzt unter Mesotät nur
irgend etwas verstehen, was zwischen gegebenen Äußersten lag.
Diese Darstellung schließt zugleich in sich, daß es ursprünglich nur
drei solcher Proportionen gab, für welche wir die von Archytas ge-
gebenen Definitionen kennen gelernt haben. Es war die arithmetische,
die geometrische, die entgegengesetzte Proportion, welche diesen ihren
Namen, vitevavtCa^ mit dem durch Archytas und Hippasos, wie wir
von Jamblichus erfahren, eingeführten Namen der harmonischen ver-
tauschte. Als selbstverständlich ist dabei zu bemerken, daß nur Pro-
portionen, die aus drei Zahlen gebildet wurden, in Betracht kamen
und mit jenen Namen belegt wurden, also nur stetige Propor-
tionen sind Mesotäten. Zu den drei alten Mesotäten kamen drei
neue. Das Mathematikerverzeichnis sagt uns Eudoxus habe dieselben
erfunden. Jamblichus berichtet, Archytas und Hippasos hätten
sie eingeführt, Eudoxus und seine Schüler nur die Namen verändert^).
Endlich traten noch vier Mesotäten hinzu und brachten die Gesamt-
zahl auf zehn, welche Nicomachus im IL S. n. Chr. gekannt hat.
Durch die Einführung der vier letzten machten sich, wieder Jambli-
chus zufolge, Temnonides und Euphranor verdient, Persönlich-
keiten, die wir nur aus diesem einzigen Zitate kennen. An bestimmten
Zahlenbeispielen können wir am deutlichsten mit dem Wesen der
zehn Proportionen uns bekannt machen. Es bilden die drei Zeilen
die 1.
Proport
ion a — ^ -= /5 — y
wenn a = 3/5 = 2y = 1
2.
a:ß = ß:Y
a = 4/5 = 2y = 1
3.
« : y = (a - /3) : (/5 - y)
a = 6/J = 4y = 3
4.
a : y -= (/J - y) : (c - ^)
«=.6/5 = 5y = 3
5.
ß:y^(ß-y):(a-ß)
a = 5/i = 4y = 2
6.
a:ß = {ß-Y):{a-ß)
a = 6j3 = 4y = l
7.
a:y~'(tt — y):(ß — y)
a = 9/3 = 8y=.6
8.
a ; y = (a — y) : (a — /3)
a = 9/S=7y = 6
9.
ß-y = i«-r)-iß — r)
a = 7/J = 6y = 4
10.
ß:Y = (a-y):(a-ß)
a = 8|3-5y = 3
Beim erstell Anblick Termißt man in dieser Liste, so umfang-
reich
sie ist,
zwei Proportionen, welche der
chtiB in Nicomachi Ariihmeticam ed
3. gegenüber eine ähn-
. Tennnlins pag. lilflgg..
']
Jambli
169, 168, ed. P
istelli pag. 101, 113, 116.
240 11. Kapitel.
liehe Berechtigung zu haben scheinen^ wie 5. und 6. neben 4.,
nämlich
3a. ß:y^(a-ß):(ß-Y)
3b. a:ß^{u-ß):(ß-r).
Bei näherem Zusehen ei^ibt sich aber, weshalb sie fortblieben. Sie
werden erfüllt, sofern ay = ß^, sind also in 2. bereits mit einge-
schlossen, beziehungsweise werden durch die gleichen Werte a^ ß, y
erfüllt, welche 2. befriedigen.
Andererseits erscheint es uns Neueren gar verwunderlich, daß
die Griechen alle diese Fälle unterschieden, mit deren sieben letzten
im großen und ganzen gar nichts geleistet ist, daß sie in der Er-
findung derselben etwas hinlänglich Bedeutendes erkennen, um die
Namen derer aufzubewahren, von welchen jene Leistung herrührt.
Wir werden in die griechische Stufenleiter der Wertschätzung uns
hineinfinden können, wenn wir zweierlei erwägen. Erstens, daß eine
große Zahlengewandtheit dazu gehörte sämtliche zehn Verhältnisse
ganzzahlig zu erfüllen, zweitens, daß die aus vier voneinander ver-
schiedenen Zahlen gebildete geometrische Proportion mit den aus ihr
abzuleitenden für die Griechen bis zu einem gewissen Grade die
Gleichungen und deren Umformung ersetzte. Die Folgerung von
a:ß^y:d auf (a + ß) : ß ^ (y + ä) : d
z. B. spielt bei den Griechen fortdauernd die allerbedeutsamste Rolle.
Stetige Proportionen hatten zur Kenntnis der arithmetischen, der geo-
metrischen Reihen, jene wieder zur Kenntnis der vieleckigen Zahlen
geführt. Was Wunder, daß man weiter experimentierte, daß man
immer neue Verbindungen gleicher Verhältnisse zwischen Zahlen
aufsuchte, welche selbst aus drei gegebenen Zahlen additiv oder sub-
traktiv zusammengesetzt waren? Solche neue Proportionen konnten
zu neuen wichtigen Entdeckungen Gelegenheit geben, und taten sie
es nicht, so boten sie nur ein Beispiel, wie es deren in der Geschichte
aller Wissenschaften gibt, daß Untersuchungen mit hochgespannten
Hoffnungen und Erwartungen begonnen sich allmählich als unfrucht-
bar erwiesen.
Eudoxus, sagt uns das Verzeichnis noch, führte weiter aus, was
von Piaton über den Schnitt begonnen worden war, wobei er sich
der analytischen Methode bediente. Der Schnitt, ^ ^ofii^', über
welchen Untersuchungen von Piaton begonnen worden waren, muß,
wie in richtigem Verständnis dieses lange für ttnerklärbar dunkel
gehaltenen Ausspruches erkannt worden ist^), ein ganz bestimmter
*) Bretschneider S. 167— 168.
Die Akademie. AristoteleB. 241
gewesen sein, ein solcher^ dem die damalige Zeit die größte Bedeu-
tung beilegte. Das aber war der Fall mit dem Schnitt der Geraden
nach stetiger Proportion, mit dem sogenannten goldenen Schnitt,
wie die spätere Zeit ihn genannt hat. Der goldene Schnitt tritt nun
gerade in Verbindung mit Anwendung der analytischen Methode in
den fünf ersten Sätzen des XIU. Buches der euklidischen Elemente
auf, nachdem er schon im 11. Buche als Satz 11. gelehrt worden war.
Die Annahme, jene fünf Sätze seien Eigentum des Eudoxus und von
Euklid in ihrem Zusammenhange pietätsroll erhalten, hat sonach eine
große Wahrscheinlichkeit fär sich. Es sei ergänzend nur hinzugefügt,
daß Eudoxus bei Untersuchungen über die Proportionenlehre fast mit
Notwendigkeit auch zu solchen Verhältnissen geführt werden mußte,
für welche Zahlenbeispiele nicht möglich waren, und deren Behand-
lung nur geometrisch gelang. Wir sagen, er mußte dahin geführt
werden, weil, wie wir (S. 163) im Vorbeigehen bemerkt haben, der
Grieche die Zahl vorzugsweise in räumlicher Versinnlichung zu be-
trachten pflegte, und hat Eudoxus sie ebenso betrachtet, dann yer-
stehen wir, warum das Mathematikerverzeichnis die Leistungen des
Eudoxus in der Proportionenlehre und um den goldenen Schnitt in
einem Atemzuge ausspricht. Auch das Letztgesagte läßt eine weitere
Beglaubigung zu. Eudoxus hat die Proportionenlehre geometrisch
betrachtet, denn ihm gehört nach der Behauptung eines yermutlich
Ton Proklus verfaßten Scholion das ganze V. Buch des Euklid, das
ist eben das der Proportionenlehre gewidmete, in allen seinen wesent-
lichen Teilen an^).
Eine ganz andere Gattung von Untersuchungen des Eudoxus,
welche nicht minder gut verbürgt sind, hatte stereometrische Aus-
messungen zum Gegenstande. Archimed sagt uns mit ausdrück-
licher Bestimmtheit ^), Eudoxus habe gefunden, daß jede Pyramide der
dritte Teil eines Prisma sei, welches mit ihr die gleiche Grundfläche
und Höhe habe, femer, daß jeder Kegel der dritte Teil eines Zylinders
von der Grundfläche und Höhe des Kegels sei. Archimed deutet
dabei den Weg an, welchen Eudoxus bei den Beweisen einschlug.
Die griechischen Philosophen nannten kfjfiiia, Einnahme, den Vorder-
satz, von welchem der Dialektiker bei seinen Schlüssen ausgeht. Das-
selbe Wort bedeutete dem Mathematiker einen zum Gebrauche für
das Nächstfolgende notwendigen, aber den Zusammenhang einiger-
maßen unterbrechenden Lehnsatz. Von einem Lemma, welches Eudoxus
^) Enoche, Untersuchungen über die neu aufgefundenen Scholien des
ProkluB Diadochus. Herford 1865, S. 10— 18. *) Archimedes (ed. Heiberg)
I, 4 lin. 11—14 und II, 296 lin. 9—20.
Gaxtob, Oescblehte der Mathematik I. 8. Aufl. 16
242 11. Kapitel.
hier anwandte^ sagt uns anch Archimed. Es lautet wie folgt: ,,Wenn
zwei Flächenräume ungleich sind^ so ist es möglich, den Unterschied,
um welchen der kleinere von, dem größeren übertroffen wird, so oft
zu sich selbst zu setzen, daß dadurch jeder gegebene endliche Flächen-
raum übertroffen wird." Archimed setzt hinzu, mit Hilfe des gleichen
Lemma hätten auch die Alten die Proportionalität des Kreises zum
Quadrat des Durchmessers bewiesen, so daß möglicherweise der Be-
weis des Hippokrates von Chios schon dieses Lemma voraussetzte.
Daran dachten wir (S. 207), als wir die Vermutung preisgaben, Hip-
pokrates könne von rechnenden Betrachtungen Gebrauch gemacht
haben, als er jene Proportionalität bewies. Jedenfalls war, wenn
auch die erste Kenntnis des Lemma als solchem dem Eudoxus ent-
rückt werden zu müssen scheint, seine Leistung eine sachlich wie
methodisch hervorragende, und wir haben ihn als einen der ersten
Bearbeiter des Exhaustionsverfahrens imter allen Umständen zu nennen.
Noch eine dritte Gruppe von geometrischen Untersuchungen des
Eudoxus darf nicht schweigend übergangen werden. Eudoxus ist Er-
finder einer Kurve, welche zwar in der Astronomie ihre wesentliche
Anwendung gefunden hat, aber darum nicht weniger der Geometrie
angehört^). Sie wurde von ihm selbst Hippopede, das heißt Pferde-
fessel, genannt, und Xenophon beschreibt sie in seinem Buche über
die Reitkunst als die Art des Laufes, welche beide Seiten des Pferdes
gleichmäßig ausbilde und jegliche Wendung zu machen gestatte.
Auch heutigen Tages sucht man durch das sogenannte Achterreiten
die gleiche Wirkung hervorzubringen, und so wird sehr wahrschein-
lich, daß es eine schleifenartige Kurve war, welche Eudoxus so be-
nannte. Damit stimmen Stellen des Proklus überein, welche die
Hippopede eine spirische Linie nennen, imd welche bezeugen,
daß sie einen Winkel bilde, indem sie sich selbst schneide^). Wir
werden von dem Erfinder der spirischen Linien noch später zu reden
haben. Jetzt dürfen wir aber schon bemerken, daß man unter Spire,
öTcelQa, einen sogenannten Wulst versteht, d. h. einen ringförmigen
Rotationskörper, welcher durch die Drehung eines Kreises um eine
in seiner Ebene liegende aber nicht durch den Mittelpunkt gehende
Gerade erzeugt wird'), einen Körper, dessen Hälfte in der Würfel-
*) Über diese Kurve vgl. den V. Abschnitt des vorher erwähnten Aufsatzes
TonSchiaparelli, deutsche Übersetzung S. 137 — 156 und KnocheundMaerker
{Ex Prodi successoris in Euclidis elementa commentariis definitionis quartae ex-
positionem quae de recta est linea et sectionilms spirids commenUUi sunt Knocke
et Maerker). Herford 1866. *) Proklus (ed. Friedlein) pag. 127, 128, 112.
") Proklus (ed. Friedlein) pag. 119. Heron Alexandrinus (ed. Hultsch)
pag. 27, Definit. 98.
Die Akademie. Aristoteles. 243
yerdoppelnng des Archytas (S. 228) yorkommt^ erzeugt durch die
Yerschiebung eines senkrechten Halbkreises über einem wagrechten.
Schneidet man diesen Wulst durch eine der Drehungsachse parallele
Ebene, so entsteht eine spirische Linie, deren Gestalt je nach der
Entfernung der Schnittebene von der Drehungsachse eine dreifache
sein kann (Fig. 39). Ist die schneidende
Ebene von der Drehungsachse weiter
entfernt als der Ereismittelpunkt, so
entsteht eine ovale in sich zurücklaufende
Linie, welche Proklus als in der Mitte
am breitesten und gegen die Enden sich
yerengemd schildert. Geht die Ebene
von der Achse aus gesehen diesseits des
Mittelpunktes des erzeugenden Kreises,
aber immer noch durch den ganzen
Wulst, so ist die Kurve nach den
Worten desselben Schriftstellers läng-
lich, in der Mitte eingedrückt und breiter ^* ^'
an den beiden Enden. Die Schleifenlinie entsteht, wenn die Schnitt-
ebene der Achse noch näher rückt, so daß sie den Wulst an einem
inneren Punkte berührt, welcher alsdann der Doppelpunkt der Kurve
ist. Die genaueren Eigenschaften der Hippopede des Eudoxus aus-
einanderzusetzen ist hier um so weniger der Ort, als dieselben in den
Quellen nicht angegeben sind, man also in vollständiger Ungewißheit
sich befindet, wie viel oder wie wenig von dem, was man ausein-
andersetzt, dem Eudoxus selbst bekannt gewesen sein kann.
Das letzte, worüber wir noch zu berichten hätten, wären die
Bogenlinien, xafinvkuL ygafiiialy mittels deren Eudoxus die Würfel-
verdoppelung vollzog. Eudoxus den Gottähnlichen nennt ihn Era-
tosthenes mit Rücksicht auf diese Leistung in einem Epigramm, welches
den Schluß seines Briefes an König Ptolemäus über die Würfel-
verdoppelung bildet. Es* muß also gewiß eine hervorragende Arbeit
gewesen sein. Welcher Art aber jene Bogenlinien gewesen sein
mögen, darüber fehlt auch die dürftigste Angabe, so daß wir keinerlei
Vermutung Ausdruck zu geben imstande sind.
Das Mathematikerverzeichnis vereinigt nun wieder drei Namen,
von welchen zwei uns schon bekannt geworden sind: „Amyklas von
Heraklea, einer von Piatons Gefährten, und Menächmus, der
Schüler des Eudoxus und auch mit Piaton zusammenlebend, und
sein Bruder Dinostratus machten die gesamte Geometrie noch voll-
kommener."
Über Amyklas und seine Verdienste wissen wir gar nichts.
16*
244 11- Kapitel.
Menächmus^) war jener Würfelverdoppler, welcher Parabel und
Hyperbel bei der Lösung seiner Aufgabe benutzte. Wir haben seine
Auflösungen durch £utokius kennen gelernt (S. 230) und uns aus
denselben klar zu machen gesucht, wieviel Kenntnisse aus der Lehre
Ton den Kegelschnitten Menächmus bereits besessen haben muß. Wir
erinnern uns aus demselben Berichte des Eutokius, daß Isidorus
von Milet einen Parabelzirkel erfunden hat. Nun kommt allerdings
in dem oft benutzten Briefe des Eratosthenes der Satz vor (S. 212),
die Zeichnungen der verschiedenen Würfelverdoppler hätten sich nicht
leicht mit der Hand ausführen und in Anwendung bringen lassen
y^außer etwa einigermaßen die des Menächmus, doch auch nur müh-
sam'^ Man hat daraus den Schluß gezogen, Menächmus habe bereits
gewisse Vorrichtungen zur Zeichnung seiner Kurven gekannt, und un-
möglich ist diese Deutung nicht. Einen eigentlichen Widerspruch
gegen die bei Eutokius vorkommende Bemerkung bildet sie gewiß
nicht, da erstens die Vorrichtungen des Menächmus keine Zirkel ge-
wesen zu sein brauchen und zweitens Eutokius nicht sagt, daß man
vor der Erfindung, die er seinem Lehrer nachrühmt, Parabel und
Hyperbel nicht mechanisch habe zeichnen können. Daß die Namen
Parabel und Hyperbel jüngeren Datums als Menächmus sind, haben
wir betont. Sie gehören dem ApoUonius von Pergä an. Die
Namen, welche vorher in Übung waren, gehen ebenso wie die Ent-
stehung jener Kurven aus einer durch Eutokius in seinem Kommen-
tare zu Apollonius uns erhaltenen Stelle des Geminus hervor*). Die
Alten kannten nur gerade Kreiskegel und definierten dieselben als
durch die Umdrehung eines rechtwinkligen Dreiecks um die eine
seiner Katheten entstanden. Sie unterschieden aber drei Gattungen
solcher Kegel, je nachdem die Umdrehungsachse mit der Hypotenuse
des den Kegel erzeugenden Dreiecks einen Winkel machte, der kleiner,
gleich oder größer als die Hälfte eines rechten Winkels war. Der
Winkel an der Spitze des Kegels wurde natürlich doppelt so groß,
also in den drei Fällen spitz, recht oder stumpf Nun schnitt man
jeden Kegel durch eine zur Kegelseite, d. h. zur Hypotenuse des er-
zeugenden Dreiecks senkrechte Ebene und erhielt so die dreierlei
Kurven, welche .ihrer Hervorbringung gemäß Schnitt des spitz-
winkligen, des rechtwinkligen und des stumpfwinkligen
Kegels genannt wurden. Schon Demokritus von Abdera (S. 193)
scheint Kegel durch dem Grundkreise parallele Ebenen durchschnitten
^) Max C. P. Schmidt, Die Fragmente des Mathematikers Menächmus in
der Zeitschrift „Philologus" (1882) Bd. 1, 2, S. 72—81. *) Apollonii Conica
(ed. Heiberg). Leipzig 1891—1893. II, 168.
Die Akademie. Aristoteles. 245
zu haben. Die bei sonstigen Schnitten auf der Kegeloberfläche her-
Tortretenden Kurven hat er indessen wohl kaum beobachtet^ da wieder
öeminus in einer anderen durch Proklus uns aufbewahrten Stelle
versichert, Menächmus habe die Kegelschnitte erfunden^). Eben das-
selbe geht auch aus einer Bemerkung des Eratosthenes hervor. In
jenem Epigramme nämlich, mit welchem er seinen Brief über die
Würfelverdoppelung beschließt, und in welchem er Eudoxus den
Göttlichen nennt, wie wir oben sagten, spricht er von den aus dem
Kegel geschnittenen Triaden des Menächmus.
Menächmus, der Entdecker der Kegelschnitte und einiger ihrer
Haupteigenschaften, scheint aber nicht im Zusammenhange von den-
selben gehandelt zu haben. Wenigstens sagt uns Pappus, daß ein
gewisser Aristäus der Ältere zuerst über die Elemente der Kegel-
schnitte fünf Bücher herausgab. An einer zweiten Stelle erzählt er
uns, daß Euklid dem Aristäus nachgerühmt habe, daß er sich durch
die Herausgabe der Kegelschnitte verdient gemacht habe. Eine dritte
Stelle des Pappus bestätigt endlich, was wir vorher nach Geminus
über die Namen sagten, indem es dort heißt, Aristäus und alle
anderen Mathematiker vor Apollonius nannten die drei Kegelschnitt-
linien den Schnitt des spitzwinkligen, rechtwinkligen und stumpf-
winkligen Kegels*). Demselben Aristäus rühmt Pappus an der gleichen
Stelle auch noch nach, daß er die bis jetzt einzig vorhandenen fünf
Bücher körperlicher Orter in Zusammenhang mit den Kegel-
schnitten verfaßt habe, und Hypsikles weiß im zweiten vorchrist-
lichen Jahrhundert, daß er eine Vergleichung der fünf regel-
mäßigen Körper verfaßte^). Das Zeitalter des Aristäus des Älteren
läßt sich aus diesen Angaben ziemlich genau ableiten. Er muß mit
seinem Werke über die regelmäßigen Körper später als Theaetet, der
zuerst über diesen Gegenstand schrieb, mit seinem Werke über die
Kegelschnitte später als Menächmus, der diese Kurven entdeckte,
früher als Euklid, der das Werk lobte, aufgetreten sein. Man wird
folglich keinenfaUs weit fehlgehen, wenn man die schriftstellerische
Tätigkeit des Aristäus auf die Jahrzehnte um 320 bestimmt. Das
Mathematikerverzeichnis schweigt auffallenderweise über diesen ohne
allen Zweifel hervorragenden Mann, und auch die anderen Quellen
lassen uns im Stiche, wenn wir die Frage aufwerfen, wer wohl der
Aristäus der Jüngere war, in Gegensatz zu welchem Pappus von dem
Älteren redet?
Menächmus muß, wie wir soeben begründet haben, vor Aristäus
») Proklus (ed. Friedlei n)pag. 111. »)Alle drei Stellen bei Pappus, VII,
Praefatio (ed. Hultsch) 672, 676 und wieder 672. ») Hypsikles, Buch von
den fClnf regelmäßigen Körpern, Satz 2.
246
11. Kapitel.
gesetzt werden. Der Zeit nach könnte er mithin leicht Mathematik-
lehrer Alexanders des Gfroßen gewesen sein, wie in einem allerdings
an sich wenig glaubwürdigen Geschichtchen erzählt wird^).
Dinostratas'), der Bruder des Menächmus, bediente sich Pappus
zufolge zur Quadrierung des Kreises jener krummen Linie, deren Er-
findung wir für Hippias von Elis in Anspruch nehmen mußten, und
welche mutmaßlich nur von ihrer neuen Anwendung den Namen der
Quadratrix erhielt (S. 197). Auch über das dabei eingeschlagene Ver-
fahren gibt Pappus uns erwünschte Auskunft'). Es wird nämlich
zunächst die Länge des Ereisquadranten gesucht imd alsdann
der Inhalt des Kreises als Hälfte des Rechtecks berechnet, welches
die Kreisperipherie, oder das. Vierfache des Quadranten, zur Grund-
linie und den Kreishalbmesser zur Höhe hat. Jene Länge des Qua-
dranten aber ist erstes Glied einer stetigen
geometrischen Proportion, deren Mittelglied
der Halbmesser und deren letztes Glied die
Entfernung des Kreismittelpunktes von dem
Endpunkte der Quadratrix ist (Fig. 40).
Wäre nicht, wie behauptet wird, BEdiFd
^ rj : r®, so wäre etwa BEJ : Fd
=-r^:rK und rK> TS. Man be-
schreibe mit r als Mittelpunkt und FK
als Halbmesser einen zweiten Quadranten
ZHKf welcher die Quadratrix in H schneidet. Da die Proportionalität
der Quadranten und ihrer Halbmesser BEJ : ZHK^ Fd : FK zur
Folge hat, so yerbindet sich dieses Verhältnis mit dem yorhergehen-
den zu ZHK ^ Fzf ^ BF, Wegen der Grundeigenschaft der Qua-
dratrix ist auch Bogen BE^ : Bogen JBz/ = BF: HA und, weil die
konzentrischen Quadranten BE^d, ZHK durch
den Halbmesser FHE geschnitten sind, ist femer
Bögen BEJ : Bogen EzJ = Bogen ZHK: Bogen
HK^BFiBogen HK Daraus folgt wieder
durch Verbindung zweier Verhältnisse Bogen
HK = HA, was unmöglich ist. Die Annahme,
daß der Punkt K zwischen F und G fiele, mit-
hin FK < F& wäre (Fig 41), führt gleichfaUs
zu Widersprechendem. Man beschreibt wieder
mit F als Mittelpunkt und FK als Halbmesser
einen Quadranten, so muß wieder B EA:Z MK^ B F: FK sich verhalten.
Voraussetzungsmäßig ist BEA :BF^ BF: FK, mithin ZMK^BF,
') Vgl. Bretachneider 162—163. *) Hultsch in Pauly-Wisowa, Ency-
klopädie IV, 2396-2898. ») Pappus IV, 26 (ed. Hnltßch) pag. 266.
Die Akademie. Arifitoteles. 247
Femer findet das Verhältnis statt Bogen ZMK: Bogen MK » Bogen
Bß^ : Bogen E^ nnd, weil BH0 Quadratrix ist, anch Bogen
^EJ: Bogen E^ ^ BT : HK, folglich Bogen Z MK : Bogen
MK^ BF: HK In dieser Proportion ist, wie oben gezeigt wurde,
das erste und dritte Glied übereinstimmend, also muß das Gleiche
fiir das zweite und vierte Glied stattfinden, d. h. es muß Bogen
MK =» HK sein, und das ist nicht möglich. Der Punkt JT, dessen
Entfernung vom Mittelpunkte F das Schlußglied der Proportion bildet,
deren Anfangsglied die Quadrantenlänge und deren Mittelglied der Halb-
messer ist, kann also weder rechts noch links von ® fallen und muß
deshalb & selbst sein. Warum arc MK = HK unmöglich sei, verrät
ims der Berichterstatter Pappus nicht. Er sagt nur otcsq atoxov.
Vielleicht ist der Beweis so zu denken, daß die Flächen des Ejreis-
ausschnittes FMK und des größeren Dreiecks FHK sich wie arc
MK : HK verhalten. Diese Beweisführung setzt freilich voraus, daß
Dinostratus die Ausmessung des Kreises in Gestalt eines Rechtecks,
welche, wie wir sagten, der Zielpunkt seiner Untersuchung war, schon
als bekannt annahm.
Dieser Beweis ist nächst dem (S. 182) angieführten auf Pytha-
goras zurückgehenden Beweis der Irrationalität von |/2 der erste in-
direkte Beweis, welchem wir begegnet sind, wenn wir auch keines-
wegs annehmen, hier sei wirklich zuerst die Zurückführung auf Wider-
sprüche vorgenommen worden. Die analytische Methode, das haben
wir ja gesehen, mußte den Beweis aus dem Gegenteil bevorzugen, als
denjenigen, der eine nachfolgende Synthese entbehrlich machte (S. 221),
und so wird auch wohl spätestens mit dieser Methode der apagogische
Beweis entstanden sein — spätestens, denn es ist keineswegs unmög-
lich, daß er zum Zwecke der dem Hippokrates schon nicht fremden
Exhaustion erfunden worden wäre. Zu dem bewiesenen Satze selbst
wollen wir noch besonders hervorheben, was wir oben gelegentlich
gesagt haben. Der Name der Quadratrix darf uns nicht irren, als ob
es hier wirklich um eine Quadratur sich handelte. Diese folgt erst
in zweiter Linie. Eine Rektifikation des Kreisquadranten ist viel-
mehr vorgenommen, und zwar dürfte es das erste Mal gewesen sein,
daß diese Aufgabe behandelt wurde, um welche von jetzt an die Zahl
der großen Probleme der Geometrie vermehrt ist.
„Theydius von Magnesia scheint sowohl in der Mathematik
als auch in der übrigen Philosophie bedeutend zu sein; er schrieb
auch sehr gute Elemente, wobei er vieles Spezielle verallgemeinerte.
Ganz ebenso war Kyzikenus von Athen oder Athenaeus von
Kyzikus, denn die griechische Form 6 KviiTtrivoq Hd^vaiog kann
beide Bedeutungen haben und ist bald so, bald so übersetzt
248 11. Kapitel.
worden ^), um die nämliche Zeit lebend^ sowohl in den anderen Wissen-
schaften als ganz besonders auch in der Geometrie berühmt. Alle
diese verkehrten in der Akademie miteinander^ indem sie ihre Unter-
suchungen gmneinschaftlich anstellten. Hermotimns von Kolo-
phon führte das früher von Eudoxus und Theaetet Gefundene weiter
aus, entdeckte vieles zu den Elementen Gehörige und schrieb einiges
über die Örter. Philippus von Mende, des Piaton Schüler und
von ihm den Wissenschafben zugeführt, stellte nach Piatons Anleitung
Untersuchungen an und nahm sich das zur Bearbeitung, wovon er
glaubte, daß es mit Piatons Philosophie zusammenhänge. Die nun
die Geschichte geschrieben haben, führten bis zu diesem Punkte die
Entwicklung der Wissenschaft fort."
So der Schluß des alten Mathematikerverzeichnisses. Von den
vier Männern, welche hier genannt sind, ist einer uns schon bekannt:
Philippus von Mende. Es ist kaum einem Zweifel unterworfen,
daß er derselbe ist, wie Philippus Opuntius (von Opus)*), daß
er ein bedeutender Astronom war, zuerst wahrscheinlich mit optischen
Untersuchungen sich beschäftigte und insbesondere den Regenbogen
als Brechungserscheinung erkannte. Von den Arbeiten über Vielecks-
zahlen war (S. 169) die Rede. Auch die Literaturgeschichte ist unserem
Philippus zu Dank verpflichtet, als demjenigen, fler die 12 Bücher
Gesetze des Piaton herausgab und ein 13. Buch, die sogenannte Epi-
nomis, als Anhang verfaßte. Von den drei übrigen Persönlichkeiten
dagegen wissen wir so gut wie nichts. Es ist freilich mit hoher
Wahrscheinlichkeit vermutet worden, die elementargeometrischen Sätze,
welche bei voreuklidischen Schriftstellern, z. B. bei Aristoteles, vor-
kommen, müßten dem Elementenwerke des Theydius entnommen sein*).
Von Hermotimus hieß es, er habe über die Örter geschrieben. Ein
geometrischer Ort im allgemeinen ist der Inbegriff von Punkten,
welche insgesamt gewisse Bedingungen erfüllen, die hinwiederum
durch keinen Punkt außerhalb des geometrischen Ortes erfüllt werden.
Pappus sagt uns weiter, daß man verschiedene Arten von Örtem
unterschied*). Ebene Örter, xotcoi. ItcCtcböoi, wurden die genannt,
welche gerade Linien oder Kreislinien sind; körperliche Örter, x6%oi
etSQSol, die, welche Kegelschnitte sind; lineare Örter, TÖ;ro( yQafLfiixol,
die weder gerade Linien, noch Kreislinien, noch Kegelschnitte sind.
^) Bretschneider hat die erste, Friedlein die zweite tJhersetzung an-
genommen. *) Aug. Böckh, lieber die vierjährigen Sonnenkreise der Alten
(Berlin 1868) S. 84—40. ') Heiberg in den Abhandinngen zur Geschichte der
Mathematik XVIÜ, 4 (Leipzig 1904). *) Pappns VII, Praefatio (ed.Hultsch)
pag. 662 und 672.
Die Akademie. Aristotelee. 249
Es muß dabei einigermaßen auffallen, daß nach einer Nachricht, die
wir ebendemselben Pappus yerdanken, Aristäus der Altere in zwei
Terschiedenen Schriften über Kegelschnitte und über körperliche Orter
geschrieben haben soll. Man muß wohl annehmen, daß das eine Mal
sein Zweck dahin giug, Eigenschaften der Kegelschnitte auseinander-
zusetzen, das andere Mal Aufgaben zu lösen, bei denen Kegelschnitte
als Mittel zur Auflösung dienten.
Wenn von allen zugleich behauptet wird, sie hätten in der Aka-
demie verkehrt, so kann dieser Verkehr auch stattgefunden haben,
nachdem der Stifter dieser Schule gestorben war. Piatons unmittel-
barer Nachfolger war Speusippus, Sohn der Potone, der Schwester
Piatons. Er schrieb über die pythagoräischen Zahlen, und ein Bruch-
stück dieses artigen Büchleins — ßißkCÖLOV ykaq>vQ6v — hat sich
nebst dieser lobenden Benennung bei einem späten Schriftsteller er-
halten^). Es ist darin von linearen Zahlen, von vieleckigen Zahlen,
von Dreiecken, von Pyramiden die Rede, so daß dadurch der alt-
pythagoräische Ursprung aller dieser arithmetischen Begriffe immer
unzweifelhafter wird. Zweiter Nachfolger Piatons war dann Xeno-
krates (geboren um 397, gestorben um 314), der wahrscheinlich 339
V. Chr. die Leitung der Akademie übernahm. Wir haben (S. 216)
dessen bekannten Ausspruch über die Mathematik als Handhabe der
Philosophie angeführt. Wir haben (S. 118) erwähnt, daß er mög-
licherweise eine historische Schrift über die Oeometer verfaßt hat,
welche, wie wir jetzt nach Diogenes Laertius ergänzen, aus fünf
Büchern bestand. Noch andere vielleicht mathematische Schriften
von ihm werden uns durch den gleichen Gewährsmann genannt^).
Leider sind es nur Überschriften, die auf uns gelangt sind, ohne
selbst die leiseste Andeutung über den Inhalt. Nur über eine Lei-
stung des Xenokrates ist uns eine kurze Notiz erhalten, welche be-
dauern läßt, daß sie so kurz ist. Er habe auch gezeigt, sagt Plu-
tarch, daß die Anzahl der aus allen Buchstaben zusammensetzbaren
Silben 1002000000000 betrage»). Die Frage ist eine wesentlich
kombinatorische. Kombinatorisch ist, wenn man will, bis zu einem
gewissen Grrade die Bemerkung Piatons von den 59 Teilern, welche
in 5040 enthalten seien (S. 225). Allein dort schien es notwendig
zuzugeben, daß eine empirische Zählung zu diesem Ergebnisse ge-
*) Theologumena Arithmeticae (ed. Ast)*. Leipzig 1817, pag. 61—62. Eine
mit Erläuterungen versehene Übersetzung der ganzen Stelle bei P. Tannery,
Pour rhistoire de la science Helläne, pag. 386—390. *) Diogenes Laertius
IV, 13. ■) Plutarchus, Quaest. Conviv. VIII, 9, 13: Ssvo^gdtrig dh tbv x&v
avXXaß&v ScQid'nbv hv roc otoix^ta luyvvfisva ngbg aXXriXa itagiiii \LVQiddaiv imi-
qnivsv Unoödnig xul iLVQid%ig uvgioav.
250 11. Kapitel.
führt haben werde. Bei der Aufgabe des Xenokxates schließt die
Oröße der Zahl jede Zählung, ihre Abweichung von einer runden
Zahl jede allgemein hingeworfene Abschätzung aus. Xenokxates muß
gerechnet; nach einer kombinatorischen Formel gerechnet haben, und
wenn dieselbe auch offenbar unrichtig gewesen sein muß, so wäre
es nicht weniger wissenswert, die Formel und ihre Ableitung zu
kennen. Eine Wiederherstellung derselben aus jener Zahl ist uns
nicht gelungen.
Suchen wir ganz kurz zusammenfassend unserem Gedächtnisse
einzuprägen, welcherlei Bedeutung Piaton, seine außerhalb des Pytha-
goräismus stehenden Yor^nger und seine eigenen Schüler für die
Entwicklung der Mathematik besaßen. Die Mathematik gewinnt in
dieser Zeit an Umfang in einem zweifachen Sinne dieses Ausdrucks.
Der Umfang nimmt zu durch neu entdeckte Sätze und Methoden.
Der Umfang nimmt zu durch die Zahl der Persönlichkeiten, die mit
Mathematik sich beschäftigen. Die letztere Zunahme begründet sich
durch die Notwendigkeit, durch die Mathematik hindurch zur Philo-
sophie zu gelangen. Die Neuentdeckungen gehören zu einem Teile
den Elementen an, welche seit Hippokrates in wiederholter Aus-
arbeitung durch Leon und durch Theydius sich wesentlich vervoll-
kommnen. Die philosophisch begründenden Kapitel der Mathematik
bilden sich. Definitionen werden ausgesprochen. Methoden werden
erfunden. Fragen nach der Möglichkeit des Geforderten, an die man
früher kaum dachte, bilden jetzt eine unbedingte Voraussetzung. Aber
diese Methoden, vornehmlich die Analyse und der Diorismus, äußern
ihre hauptsächliche Wichtigkeit in der Lehre von den Örtern, in der
höheren Mathematik des Altertums, welcher der andere Teil der Neu-
entdeckungen angehört. Es sind der Hauptsache nach drei Probleme,
durch welche die höhere Mathematik, der Zirkel und Lineal nicht
genügen, hervorgerufen wird: die Quadratur des Kreises, in der Form,
wie Dinostratus sie behandelt, die Rektifikation mit einschließend, die
Dreiteilung des Winkels, die Verdoppelung des Würfels. Die beiden
letzten Probleme führen zur Erfindung mannigfacher Kurven, unter
welchen die Kegelschnitte durch die später gewonnene Ausbildung
ihrer Lehre an Wichtigkeit hervorragen. An sich aber sind sie kaum
merkwürdiger als jene anderen krummen Linien, von denen eine,
durch Archytas zum Zwecke der Würfelverdoppelung ersonnen, sogar
eine Linie doppelter Krümmung ist. Die Kreisquadratur hat noch
eine besondere Seite, mittels deren die höhere Mathematik des Alter-
tums mit der der Neuzeit sich berührt. Sie erfordert Lifinitesimal-
betrachtungen. Das Unendlichgroße wie das Unendlichkleine sind
dem Altertume keineswegs iremd. Nur wagte man nicht — zunächst
Die AJcademie. Aristoteles. 251
yielleicht aus Scheu vor Angriffen^ wie die eleatische Schule sie ühte
— eine unmittelbare Benutzung des Unendlichen sich zu gestatten.
Die mittelbare Methode der Zurückführung auf das Unmögliche, später
f&r diese Gattung von Aufgaben unter dem Namen der Exhaustion
bekannt, diente zum Ersätze und zeigte sich als so wirksam, daß Yon
nun an ein anderes Beweisverfahren gar nicht mehr gestattet worden
wäre. So bleibt der Form nach die gesamte Mathematik einheitlich
gestaltet als Geometrie, ohne daß ein äußerer Unterschied der Be-
weisführung zwischen niederer und höherer Geometrie obwaltete. Auch
die Arithmetik fugt sich diesem einheitlichen Zusammenhange, sie
nimmt mehr und mehr ein geometrisches Gewand an, dessen sie auch
in dem nun folgenden Jahrhunderte, in der Glanzperiode griechischer
Mathematik, sich nicht entkleiden wird.
Mit diesem Überblicke könnten wir füglich dieses Kapitel schließen.
Wir sollten es vielleicht. Ganz äußerliche Gründe bestimmen uns
einen kurzen Anhang nachzuschicken und in demselben Dinge zur
Sprache zu bringen, die zur Bildung eines eigenen Kapitels stofflich
nicht ausreichend den einheitlichen Charakter des folgenden Kapitels
nur noch viel mehr entstellen würden, wenn wir vorzögen sie dort-
hin zu verweisen. Wir meinen die mathematische Bedeutung von
Aristoteles und seinen nächsten Schülern.
Aristoteles^) ist 384 geboren, 322 gestorben. Seine Vater-
stadt Stagira lag in der thrakischen, aber größtenteils von Griechen
bewohnten Landschaft Chalkidike; sein Vater war Leibarzt des Königs
Amyntas von Makedonien. Diese beiden Erbüberlieferungen beein-
flußten sein Leben. Ghriechenland hat ihn gebildet, durch Makedo-
niens Könige hat er einen wesentlichen Teil seiner großartigen Kul-
turmission ausgeübt. Aristoteles war im 18. Jahre seines Lebens in
die platonische Schule in Athen eingetreten, wo er Mitschüler des
Xenokrates war, und verließ diese Stadt, in welcher er übrigens auch
selbst eine Bednerschule im Gegensatze zur Akademie eröffnete, im
Jahre 347 nach Piatons Tode. Von 343 bis 340 etwa war er als
Erzieher Alexanders des Großen am makedonischen Hofe, verwandte
dann die nächsten Jahre zur Abfassung von für seinen Zögling be-
stimmten Schriften und eröffnete etwa 334 in Athen bei dem Tempel
des Apollo Lykeios seine Vorträge. Lustwandelnd in den Baum-
gängen des anstoßenden Gartens wurden die Peripatetiker die
zahlreichste Philosophenschule. Die Beziehungen des Aristoteles zu
Alexander blieben auch aus der Ferne die besten, bis 328 die Leiden-
schaftlichkeit des aufbrausenden Fürsten einen unheilvollen Riß her-
*) Vgl. Zeller, Die Philosophie der Griechen. Bd. II, 2, S. 1 ügg.
252 11. Kapitel.
vorbrachte. Das hindeiie freilich nicht ^ daß die nach Alezanders
Tode 322 sich aufraffenden Athener Aristoteles mit ihrem Hasse be-
drohten. Er floh nach Ghalkis nnd starb dort innerhalb Jahresfrist.
Wir haben Yon den Leistungen des großen Stagihten hier nur
einen kleinsten Bruchteil zu besprechen. Seine astronomischen, seine
physikalischen, seine naturbeschreibenden Schriften kümmern uns als
solche nicht. Seine eigentlich philosophischen Werke haben für uns
nur mittelbare Bedeutung. So haben wir dessen, was er in seiner
Physik über das Unendlichgroße und das ünendlichkleine sagt, schon
früher (S. 204) gedacht, und mit Bewunderung bei ihm eine Auf-
fassung erkannt, welche den Anschauungen unserer eigenen Zeit recht
nahe kommt.
Man könnte vielleicht erwarten, daß wir in den Schriften des
Aristoteles die zahlreichen Beispiele absuchten, welche der Geometrie
und der Arithmetik entnommen sind ^). Wir werden uns dieser Mühe
nicht unterziehen, denn nur verhältnismäßig wenige dieser Stellen
besitzen eine geschichtliche Bedeutsamkeit. Auf einiges durften wir
hinweisen, als wir mit der Mathematik der Pythagoräer uns beschäf-
tigten, so insbesondere auf die Erklärung des Gnomon (S. 162), auf
das Vorkommen des Wortes Dreieckszahl (S. 168), auf den Beweis
der Irrationalität von ]/2 (S. 182), welche uns wertvoll waren. Auf
anderes wollen wir jetzt die Aufmerksamkeit lenken, an den viel
häufigeren uns unwichtig scheinenden Stellen mit Schweigen vorüber-
gehend. Wir erwähnen als aristotelisch den Satz, daß die Außen-
winkel eines geradlinigen ebenen Vielecks die Winkelsumme von vier
Rechten besitzen, wo die Außenwinkel so gemeint sind, daß jede
Vielecksseite einseitig, und an jedem Eckpunkte nur eine Vielecks-
seite verlängert ist*). Aus diesem Satze geht zweifellos hervor, daß
über die Winkelsumme des Dreiecks hinaus jetzt auch die Winkel-
summe des nach außen konvexen Vielecks von n Seiten bekannt ge-
wesen sein muß. Wir erwähnen ferner, daß, während bei Piaton der
Gegensatz der Rechenkunst und der Zahlenlehre, Logistik und Arith-
metik, scharf und bestimmt vorhanden war, erst bei Aristoteles ein
ähnlicher Gegensatz zwischen der Feldmeßkunst und der wissenschaft-
lichen Raumlehre, Qeodäsie und Geometrie, nachweisbar ist*). Wir
*) Eine derartige wenn auch nicht yollständige ZnaammensteHung hat ein
bologneser, dem Jesuitenorden angehöriger Professor der Mathematik Bian-
cani (Blancanus) unter dem Titel Aristotelia loca mathematica 1616 veröfifent-
licht. Neuen Ursprungs sind Görland, Aristoteles und die Mathematik (Mar-
burg 1899), sowie Heiberg, Mathematisches zu Aristoteles (Leipzig 1904 in den
Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XVIII, 1 — 49). *) Aristoteles,
Analyt. post. y, 94, 8 und 9, 14, 9. Vgl. Blancanus 1. c. pag. 61—62. ') Ari-
Die Akademie. AristoteleB. 253
können anführen, daß Aristoteles weiß, daß eine zylindrische Rolle,
welche durch eine Ebene parallel oder geneigt zur Endfläche ge-
schnitten wird, im aufgerollten Zustande das eine Mal eine gerade
Linie, das andere Mal eine Kurve zeigt ^), daß ihm somit der Zylinder-
schnitt neben dem Kegelschnitte schon bis zu einem gewissen Grade
merkwürdig war. Wir müssen wohl eines eigentümlichen, vielleicht
aus dem Elementenwerke des Theydius (S. 247) stammenden Beweises
der Winkelgleichheii an der Ghrundlinie eines gleichschenkligen Drei-
ecks gedenken^). Aus der Spitze K des Dreiecks als Mittelpunkt
(Fig. 41a) wird der Kreis AB^'B' beschrieben, der AA und BR
als Durchmesser besitzt. Nun sind alle Winkel, welche ein Kreis-
durchmesser mit der Peripherie bildet, einander gleich, also L.KAE
« KBE, Femer sind die Winkel F, d (oder BAEy ABE) einander
gleich, welche eine Sehne mit dem von ihr bespannten Bogen bilden.
Zieht man diese beiden Gleichungen zwischen je zwei gemischtlinigen
Winkeln voneinander ab, so bleibt die
Gleichung zwischen den beiden geradlinigen
Winkeln A, B übrig. Wir» können hinweisen
auf Aristoteles als vermutlich den ersten, der
die so bedeutsame Frage sich vorlegte, warum
wohl nahezu alle Menschen nach der Grund-
zahl 10 zählen, und der in der Fingerzahl
unserer Hände den Grund erkannte*). Wir
finden auch bei Aristoteles den Keim zu
einem Gedanken, der der fruchtbarsten einer
für die ganze Mathematik geworden ist.
Aristoteles bezeichnete nämlich unbekannte Größen, und zwar nicht
bloß Längen, durch einfache Buchstaben des Alphabetes^). Eine
Stelle lautet z. B.: Wenn A das Bewegende, B das Bewegt werden de,
r aber die Länge, in welcher es bewegt worden ist, und J die Zeit
ist, in welcher es bewegt worden ist, so wird die gleiche Kraft wie
A in der gleichen Zeit auch die Hälfte des B doppelt so weit als F
bewegen, oder auch in der Hälfte der Zeit J gerade so weit als F.
Man hat in diesen und ähnlichen Sätzen der Physik des Aristoteles
die Ahnung des Prinzipes der virtuellen Geschwindigkeit
gefunden ^).
stoteles, Metaphys. II, 2 u^uc &h (ybSl to^to &Xri^ig, mg ij yBoadaioia xoiv
alad"rit&v icti iLsys^&v Kai (pd'agr&v.
*) Aristoteles Problem. XVI, 6. ") Blancanns 1. c. pag. 88. Hei-
berg 1. c. S. 26—26. *) Aristoteles Problem. XV. *) Aristoteles, Physic.
Vn und VIII passim z. B. Bd. I, pag. 240 bis 250 der Aristoteles-Ausgabe der Ber-
liner Akademie. *) Poggendorff, Geschichte der Physik. Leipzig 1879, S. 242.
254 11- Kapitel.
Andere mechanische Betrachtungen hat Aristoteles in einem be-
sonderen Werke ^) niedergelegt, bei welchem wir einen Augenblick
yerweilen müssen. Die Echtheit der Mechanik des Aristoteles ist
allerdings mehrfach geleugnet worden , und unter den Zweiflern be-
finden sich Männer, die, wenn auch dem Inhalte jenes Werkes gegen-
über Laien, jedenfalls mit der Ausdrucks weise des vermuteten Ver-
fassers aufs genaueste bekannt waren ^). Wir besitzen selbst die
sprachlichen Kenntnisse nicht in dem Maße, welches erforderlich
wäre um über die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Aus-
scheidung der Mechanik zu entscheiden. Soviel dürfte indessen zu
behaupten sein, daß die Mechanik im aristotelischen Qeiste verfaßt
ist, daß ein innerer Widerspruch gegen andere Schriften des großen
Gelehrten nicht nachgewiesen ist^). Behaupten darf man auch, daß
die Möglichkeit einer aristotelischen Mechanik ebensowenig geleugnet
werden kann als die geistige Bedeutsamkeit der unter diesem Titel
auf uns gekommenen* Schrift.
Eine Mechanik konnte Aristoteles schreiben. Es war zu seiner
Zeit schon eine solche von Archytas* von Tarent vorhanden
(S. 236), der sich bei dieser seiner methodischen Behandlung der
Mechanik geometrischer Grundsätze bediente*). Es waren auch von
der eleatischen Schule aus gegen die ganze Bewegungslehre An-
griffe erfolgt (S. 199), die es nicht unwahrscheinlich machen, daß
Aristoteles, der seine allgemeinen Abweisungen jener Zenonischen
Lehren in einer besonderen Schrift über unteilbare Linien weitläufiger
ausführte, ergänzend auf positive Weise zeigen wollte, wie die als
möglich und als wirklich behauptete Bewegung vor sich gehe. Dazu
kam aber ein anderer Zweck, welcher den mechanischen Problemen
des Aristoteles — so lautet der eigentliche Titel der Schrift — eine
besondere dialektische Bedeutung gibt und damit deren Echtheit
^) Äristotelis Quaestiones tnechanicae ed. J. P. van Cap pelle. Amster-
dam 1812. Vgl. auch eine Abhandlung von Burja, Sur les connaissances mathe-
matiques d^Aristote in den Memoires de Vacademie de Berlin für 1790 und 1791
und besonders Fr. Th Poselger: Ueber Aristoteles mechanische Probleme, eine
in der Berliner Akademie am 9. April 1829 gelesene Abhandlung (Berlin 1831).
*) Vgl. z. B. Brandis, Geschichte der Entwicklungen der griechischen Philo-
sophie tmd ihrer Nachwirkungen im römischen Reiche. Berlin 1862. I, 896.
•) Genau die gleiche Ansicht auch bei P. Duhem, Les origines de la statique I,
6—9 (Paris 1906). Heiberg 1. c. S. 81 flg. bezweifelt die Echtheit des aristo-
telischen Ursprunges aus sprachlichen Gründen, namentlich wegen des Vor-
kommens des Wortes zBXQanXBVQOv für Viereck, welches erst Euklid eingeführt
habe. Er gibt aber S. 32 selbst zu, daß diese S. 16 behauptete Einführung
durch Euklid „nur eine Vermutung, wenn auch eine sehr wahrscheinliche^^ sei.
*) Diogenes Laertius VIII, 83.
Die Akademie. Aristoteles. 255
gewährleistet. Es sollten Aporien aufgestellt werden, d. h. Fragen
der Mechanik gesammelt werden, welche Widersprüche zu enthalten
scheinen, und deren Behandlung erweisen sollte, wie solche schein-
bare Widersprüche sich lösen lassen^).
Die sogenannte Mechanik des Aristoteles würde, sagen wir,
seineö Namens nicht unwürdig sein. Ein Schriftsteller des XVHL S.
hat zwar darüber so ziemlich das entgegengesetzte Urteil gefällt*),
dürfte jedoch damit vermutlich allein stehen. Ein Werk, in welchem
die Zusammensetzung rechtwinklig zueinander wirkender Kräfte ge-
lehrt ist^), in welchem ausdrücklich die an dem Hebel anzubringenden
sich im Gleichgewicht haltenden Lasten den Längen der Hebelarme
umgekehrt proportional gefunden werden^), in welchem als Orund
dafür der größere Kreisbogen genannt ist, durch welchen die vom
Stützpunkte des Hebels weiter entfernte Last sich bewegen muß:
ein solches Werk ist wahrlich keines antiken Schriftstellers un-
würdig, mögen auch einige Fragen in demselben nicht richtig beant-
wortet sein.
Zu diesen nicht richtig beantworteten Fragen gehört eine, welche
schon überhaupt gestellt zu haben einen feinen mathematischen Oeist
verrät. Es seien (Fig. 42)
zwei konzentrische Kreise
eßrj und *yg. Rollt der
kleinere Kreis allein auf
der Geraden rjd, so wird
r^x seinem Quadranten
gleich; mithin, wenn ß
nach X gekommen ist,
wird die ßa senkrecht
auf rjd stehen. Rollt der
größere Kreis allein auf
der Geraden gt, so wird
^L seinem Quadranten gleich; mithin steht die ya senkrecht auf g^,
wenn y nach l gekommen ist. Nun seien die beiden konzentrischen
Kreise zu einem Rade verbunden. Jetzt stellen aß und ay eine
starre Linie vor, die nicht getrennt werden kann, und es muß folglich
t y "
*) Poselger 1. c. S. 6. *) Montucla, Histoire des tnathSmatiques (II. Edi-
tion) I, 187. *) Der Satz von dem Parallelogramm der Kräfte in der hier an-
gegebenen Beschränknng blieb bekannt. So führt ihn beispielsweise Proklus
(ed. Friedlein pag. 106 lin. 8—6) an. Vgl. Major, Programm des Stuttgarter
Gymnasiums für 1880—81, S. 13 und 24. *) Quaest, mechan. cap. IV, pag. 29.
Burja hat 1. c. diese Stelle mißverstanden, wie van Cappelle in seinen An-
merkungen S. 183 mit Recht bemerkte.
256 11. Kapitel.
beim Rollen des inneren Radkreises längs rjO schon, wenn ß in x
angekommen ist, y in k angekommen sein, also der Bogen gy
einmal der Strecke gt, einmal der Strecke gA gleich sein. Dieses Para-
doxon wußte allerdings Aristoteles nicht zu lösen, und er hatte darin
Nachfolger bis in das XVII. S. n. Chr. Erst rationelle Zerlegung
der zusammengesetzten Kreisbewegung konnte zur richtigen Erkennt-
nis führen, daß in der Tat das Wälzen einer Kurve auf einer Qeraden
nicht immer die Gleichheit des krummlinigen und des geradlinigen
Stückes zur Folge haben müsse, die nacheinander zur Deckung
kommen ^).
Bei Aristoteles sind wir auch wohl berechtigt Kenntnisse jenes Kapi-
tels der allgemeinen Wissenschaftslehre yorauszusetzen, von welchem
wir bei Xenokrates die ersten uns zur Kenntnis gekommenen Spuren
bemerkten. Wir meinen die Kombinatorik. Aristoteles hat die
Dialektik der Sophisten zur eigentlichen Syllogistik ausgebildet, und
die verschiedenen Arten von Schlüssen, welche er in Auseinander-
setzung dieser Lehre unterscheidet, erschöpfen in der Tat sämtliche
Möglichkeiten. Es ist somit hier tatsächlich eine Aufzählung der
Kombinationen gewisser Elemente in ihrer Vollständigkeit gegeben.
Später zählte man auch die Gebilde logisch möglicher Begriffszusam-
menstellungen. Der Stoiker Chrysippus, welcher 282 — 209 lebte,
hat die Zahl der aus 10 Grundannahmen möglichen Vereinigungen
auf über eine Million veranschlagt. Allerdings setzt Plutarch, der
uns die Sache erzählt, hinzu, die Arithmetiker seien mit Chrysippus
keineswegs einverstanden, und Hipparch, der zu den Arithmetiken!
gehöre, habe gezeigt, daß, wenn man die Axiome bejahend ausspreche
103049, wenn man sie verneinend benutze 310952 Verbindungen
entstehen^). Wir stehen der Bedeutung dieser Zahlen gerade so ver-
ständnislos gegenüber, wie früher bei Xenokrates seiner Zahl mög-
licher Silben. Wir ziehen aber aus den Zahlen selbst die gleiche
Folgerung, daß den Griechen kombinatorische Fragen nicht vollständig
fremdartig waren, und daß sie auf irgend eine Weise Formeln, mit
größter Wahrscheinlichkeit falsche Formeln, zu deren Beantwortung
benutzten.
Bei einem Schüler des Aristoteles begegnen wir gleichfalls prak-
tischer Kombinatorik in der Gestalt einer voUsiändigen Aufzählung
aller Möglichkeiten der Vereinigung gewisser Elemente. Wir denken
^) Über das Bad des Aristoteles vgl. anck Heron, Mechanik I, 7
(Opera II, 1 S. 16 ed. Nix). Femer s. Klügel, Mathematisches Wörterbuch
(fortgesetzt von Mollweide) Bd. IV, S. 171 — 174 unter: Rad, aristotelisches.
*) Plutarchus, Quaestton. Convivial. VIII, 9, 11 und 12 sowie auch De Stoi-
corum repugnantiia XXIX, 3 und 5.
Die Akademie. Aristoteles. 257
dabei an Aristoxenus Yon Tarent, den Erfinder der ans Längen
nnd Kürzen zusammengesetzten YersfOBe.
Ein anderer Schüler des Aristoteles, Dikaearchus, hat sich
möglicherweise schon der Dioptra bedient, einer feldmesserischen
Vorrichtung, von welcher im 18. Kapitel ausführlich die Rede sein
wird. Die Worte des Theon von Smyrna*): „Der Höhenunterschied
der höchsten Berge von den tiefsten Orten der Erde betragt nach
der Senkrechten 10 Stadien, wie Eratosthenes und Dikaearch ge-
funden zu haben behaupten, und so bedeutende Größen werden durch
Werkzeuge untersucht mit HiKe von Dioptern, welche aus den Ab-
ständen die Größen messen''^)^ lassen wenigstens die Deutung zu, als
ob die Bemerkung der zweiten Hälfte des Satzes auch schon auf die
Zeit der genannten Geodäten, und nicht erst auf die Gegenwart des
Schriftstellers sich bezöge.
Unter den anderen ältesten Peripatetikem nennen wir Theo-
phrastus von Lesbos und Eudemus von Rhodos, deren ersteren
Aristoteles selbst zu seinem Nachfolger ernannte. Beide haben, wie
im 4. Kapitel erzählt worden ist, historisch-mathematische Schrifken
angefertigt, deren Inhalt wir jetzt annähernd schätzen können, da er
gerade so weit reichen konnte, als wir in unseren bisherigen auf
Griechenland bezüglichen Auseinandersetzungen erörtert haben. Mit
der Schätzung dieses Inhaltes steigert sich das Bedauern über den
Verlust jener umfangreichen Schriften. Theophrast und Eudemus
waren für Jahrhunderte die Letzten, welche der Geschichte der
Mathematik eigene Werke zuwandten, oder es haben doch ihre Nach-
folger, wenn sie welche hatten, nicht gewagt weiter als sie in der
Zeit des Berichteten hinabzusteigen. Das liegt in den Worten, die
uns (S. 248) den Schluß des Mathematikerverzeichnisses bildeten:
„Die nun die Geschichte geschrieben haben, führten bis zu diesem
Punkte die Entwicklung der Wissenschaft fort." Mag dieser Aus-
spruch dem Verfasser jenes Verzeichnisses angehören, mag er ein
Zusatz des Proklus sein, jedenfalls nahm dieser ihn unverändert auf
und bezeugt damit die Tatsache selbst. Zugleich hat man aber in
jenen Worten einen Beweggrund gefunden das Mathematikerverzeich-
nis als von Eudemus herrührend anzusehen, eine Meinung, zu welcher
auch wir uns bekennen.
^) Theo SmjrnaenB (ed. Hiller, Leipzig 1879) pag. 124^26. Ob die
Zahlenangabe ,,10 Stadien'% welche auf einer Einfügung von Hiller beruht,
richtig ist oder nicht, ist fflr unsere Verwendung des Satzes unerheblich. *) nal
6Qyaviii&s dh taZg xa i^ Scnoüxrifidtoiv {uyi^ fietgovaaig didnxQaig xrili%avta
^eopsiTori. Auf diese Stelle und die in ihr vielleicht enthaltene frühe Datierung
der Dioptra hat P. Tannery aufmerksam gemacht.
GAKTom, Getohiohte der Matbematlk I. 8. Aufl. 17
258 12. KapiteL
12. Kapitel.
Alexandria. Die Elemente des Euklid.
Athen sank von seiner Höhe. Der junge makedonische Fürst,
der mit 18 Jahren in der Schlacht bei Chäronea den ersten Sieg
erfocht, der mit 33 Jahren aus dem Leben schied den Beinamen des
Großen hinterlassend, ein Bezwinger der damals bekannten Welt,
hatte auch die Wissenschaft genötigt seinen Befehlen zu gehorchen.
In der eigenen Heimat ihr einen Wohnsitz anzuweisen, daran dachte
er nicht. Er mochte empfinden, daß die rauhe Natur des Landes
und der Menschen nicht dazu angetan waren einen Bildungsmittel-
punkt abzugeben. Dafür erwuchs ein solcher in der jungen Stadt,
welche Alexander auf der Landzunge gründete, die zwischen dem
Mittelmeere und dem mareotischen See bis zum Nilkanal Yon Eano-
pus sich erstreckt. Als große ägyptische Hauptstadt sollte sie den
Besitz des eben unterworfenen Ägyptens sichern. In Form eines
ausgebreiteten makedonischen Beitermantels war der Plan der Stadt
entworfen. Den Namen führte sie nach dem, dessen Machtgebot sie
entstehen ließ, Alezandria^).
Hauptstadt Ägyptens hatte Alexandria alle Anlage das zu werden,
als was Alexander selbst sie vielleicht dachte, die Hauptstadt einer
Weltmonarchie von kulturbringendem Charakter, einer Monarchie,
welche die yerschiedenst gearteten Völker einander näher bringen,
ihre Gegensätze ausgleichen, ihnen allen den Schliff griechischer Fein-
heit gemeinsam machen sollte. Wir brauchen gewiß nicht ausein-
anderzusetzen, wieso gerade in Ägypten der geeignete Ort für die
Anlegung einer solchen Hauptstadt sich fand. Haben wir doch in
der Wissenschaft;, auf deren Geschichte es uns alleia ankommt,
Ägypten als ein Mutterland, wenn nicht als das Mutterland, er-
kennen dürfen. Gereift und gekräftigt kehrte die Mathematik nach
dem Lande ihres Entstehens zurück, und es war, als ob die Sage
Yon dem Riesen, der die Muttererde berührend aus ihre neue Sförke
zieht, zur Wahrheit werden sollte. Hier auf ägyptischem Boden er-
probten sich Kräfte, wie sie bisher der Mathematik noch nicht zu-
gewandt worden waren.
^) Über die alezandrinische Entwicklung vgl. die Abhandlung „Alexan-
driner^* von B. Volkmann in Pauljs Bealencjklop&die der klassischen Alter-
tumswissenschaft (TL Auflage) mit reichen Quellenangaben alter und neuer Lite-
ratur, und besonders Fr. Susemihl, Geschichte der griechischen Literatur in
der Alezandrinerzeit (Leipzig 1891 — 92).
Alezandria. Die Elemente des £aklid. 259
Eine in der Weltgescliichte melir als einmal sich wiederholende
Erfahmng lehrt^ daß es in der Wissenschaft eine Mode gibt. Sie
pflegt nicht ohne Grund aufzutreten, sie entstammt nicht gerade den
Launen eines unberechenbaren Geschmackes, aber sie ist Yorhanden,
und ihrem Gesetze beugen sich die hervorragendsten Geister in dem
Sinne, daß sie yorzugsweise der Modewissenschafb sich widmen. So
gibt es Zeiten, in welchen theologische Geisteskampfe die großen
Männer beschäftigen, und Zeiten, in welchen der Eriegsruhm nur die
Wissenschaft des Krieges des Denkers würdig macht; Zeiten, in
welchen vorzugsweise die Rechtsbildung gelingt, Zeiten, die zur Ent-
wicklung des Schönen dem Gedanken und der Ausführung nach
führen. Das war in dem Athen des Perikles der Fall gewesen, das
hatte in der Schule Piatons nachgelebt. Aristoteles und die Peripa-
tetiker verbreiteten ein vielfach gediegeneres, vielfach nüchterneres
Wissen, und Nüchternheit um nicht zu sagen Trockenheit ist der
Stempel, welcher der ganzen alexandrinischen Literaturperiode auf-
gedrückt ist, einer Zeit, welche man etwa von den Jahrzehnten nach
dem Tode Alezanders des Großen bis kurz vor die Einverleibung
Alexandrias in das römische Reich, etwa von 300 bis 50 v. Chr.,
durch volle 250 Jahre isu rechnen hat.
Ägypten war unter den Feldherren, die das Erbe des verstorbenen
Weltbeherrschers untereinander teilten, dem geistig hervorragendsten,
Ptolemäus, Sohn des Lagus, zugefallen, und er, der als Ptolemäus
Soter 305 den Königstitel annahm, wie seine beiden Nachfolger
Ptolemäus Philadelphus (285 — 247) und Ptolemäus Euergetes
(247 — 222), welcher letztere durch die adulitische Inschrift wie durch
das mit ihr in bestimmten Einzelheiten übereinstimmende Edikt von
Kanopus (S. 78) als mächtiger Eroberer ebenso wie als Freund der
Wissenschaften bezeugt wird, begründeten das Ptolemäerreich. Unter
ihnen wurde Alezandria vollends, wozu die Anlage schon gegeben
war, zum Sitze der exakten Wissenschaften und der Grammatik, zum
Aufbewahrungsorte der großen alexandrinischen Bibliothek, zum Mittel-
punkte, wohin alles strömte, wer nur in den Wissenschaften lernend
oder lehrend, sich oder andere fördern wollte. Fand er doch dazu in
Alexandria das sogenannte Museum, einen Verein gelehrter Männer,
denen aus königlichen Mitteln ein ehrenvoller Unterhalt gewährt
wurde. Die drei ersten Ptolemäer gaben, wie gesagt, den Anstoß zu
dieser wissenschaftlichen Entwicklung. Ptolemäus Euergetes insbe-
sondere vermehrte aufs bedeutsamste die Bibliothek, zu welcher er
den ganzen Bücherschatz beifligte, der einst Aristoteles und Theo-
phrastuB angehört hatte. Aber auch die späteren Ptolemäer ließen
nicht von der Unterstützung der Gelehrten, welche in ihrem Hause
17*
260 12- Kapitel.
ebenso herkömmlich geworden war, wie Unzucht und Verwandten-
mord.
Der erste der großen Mathematiker, welche uns in dem mit der
ilegierung des Ptolemäus Soter anhebenden Jahrhunderte begegnen,
und welche sämtlich in Alexandria blühten oder zu Alexandria in
Beziehung traten, war Euklid^). Proklus erzählt an das Mathe-
matikerverzeichnis anknüpfend sein Auftreten in der Wissenschaft:
„Nicht viel jünger aber als diese ist Euklides, der die Elemente
zusammenstellte, vieles von Eudoxus Herrührende zu einem Ghmzen
ordnete und vieles von Theaetet Begonnene zu Ende fdhrte, überdies
das von den Vorgängern nur leichthin Bewiesene auf unwiderlegliche
Beweise stützte. Es lebte aber dieser Mann unter dem ersten Ptole-
mäer. Archimed nämlich gedenkt beiläufig auch in seinem ersten
Buche des Euklid, und man sagt femer, Ptolemäus habe ihn einmal
gefragt, ob es nicht bei geometrischen Dingen einen abgekürzteren
Weg als durch die Elemente gebe; er aber erteilte den Bescheid,
zur Geometrie hin gebe es keinen geraden Pfad flir Könige. Er ist
somit jünger als die Schüler Piatons, älter als Eratosthenes und
Archimed; denn diese sind Zeitgenossen, wie Eratosthenes angibt.
Seiner wissenschaftlichen Stellung nach ist er Platoniker und dieser
Philosophie angehörig, daher er denn auch als Endziel seines ganzen
Elementarwerkes die Konstruktion der sogenannten platonischen
Körper hinstellte*).
Viel mehr, als in diesen Sätzen ausgesprochen ist, wissen wir
nicht über die Lebensumstände des Schriftstellers, dessen Elemente
unmittelbar oder mittelbar die Grundlage der gesamten Geometrie
bis auf unsere Zeit geworden sind. Nicht einmal das Vaterland des
Euklid steht fest, wenn wir nicht der Angabe eines syrischen Be-
richterstatters, des Abulpharagius , unbedingten Glauben schenken
wollten, welcher ihn einen Tyrer nennt; das wird aber niemand mehr
einfallen, seit nachgewiesen worden ist'), daß jene ganze Nachricht
aus einer mißverstandenen Stelle einer Schrift des Hypsikles stammt,
^) Über Euklid vgL David Gregorys Vorrede zu seiner großen Euklid-
ausgabe (Oxford 1702). Fabricius, Bibliotheca Graeca edit. Harless (Ham-
burg 1796) rV, 44—82. Gartz, De interpretibus et explanatoribus Euclidis
Arabicis (Halle 1823). Der von Lacroix verfaßte Artikel Eticlide in der Bio-
graphie universelle. M. Cantor, Euklid und sein Jahrhundert im Supplement-
heft zu Bd. XII der Zeitschr. Math. Phys. (Leipzig 1867). Hankel 381—404.
Heiberg, Literargeschichtliche Studien über Euklid (Leipzig 1882). Zur Ab-
kürzung zitieren wir die letztgenannte Schrift künftig als Heiberg, Euklid-
studien. Die letzte Ausgabe in sieben Bänden mit lateinischer Übersetzung von
J. L. Heiberg und H. Menge (Leipzig 1883—1896). *) Proklus (ed. Fried-
lein) 68. *) Heiberg, Euklidstudien S. 4.
Alexandria. Die Elemente des Euklid. 261
welche, wie im 17. Kapitel auseinandergesetzt werden wird, irriger-
weise Eaklid zugewiesen wurde. Andere wollen Euklid in Ägypten
geboren sein lassen. Noch andere, aber sicherlich mit unrecht, ver-
wechseln ihn mit Euklides von Megara, dem Zeitgenossen Ratons,
welcher rund 100 Jahre früher lebte. Auffallend genug findet sich
dieser Irrtum schon bei einem Schriftsteller aus dem Zeitalter des
Tiberius, bei Yalerius Maximus. Auch Geburts- und Todesjahr des
Euklid sind durchaus unbekannt, und nur die Blütezeit^) um 300
etwa wird durch den ersten Ptolemäer, unter welchen sie, wie wir
durch Proklus erfahren haben, gefallen sein soll, bezeugt. Von seinem
Charakter hat sich bei Pappus eine höchst liebenswürdige Schilderung
erhalten. Er sei sanft und bescheiden, voll Wohlwollen gegen jeden,
der die Mathematik ii^end zu fordern imstande war, gewesen und
habe absichtlich an früheren Leistungen so wenig als möglich ge-
ändert *). Pappus gibt auch ausdrücklich an, daß Euklid in Alexandria
gelebt habe.
Schriften des Euklid sind uns mehrfach erhalten. Das Haupt-
werk bilden die Elemente, 6xoi%Bla. Wir müssen annehmen, daß
es an Bedeutung allen früheren Elementenwerken weit überlegen war.
So schildert es uns Proklus und die Bestätigung des Urteils liegt
in der Tatsache, daß alle Bücher seiner Vorgänger in dem Kampfe
um das Dasein untergegangen sind, daß von Elementen, die durch
einen Griechen nach Euklid verfaßt worden wären, nirgends ein Wort
gesagt ist, daß vielmehr er ausschließlich gemeint zu sein scheint,
wo griechische Schriftsteller später von dem Elementenschreiber
schlechtweg reden, ohne einen Namen zu nennen').
Die in 13 Bücher gegliederten Elemente des Euklid zerfallen in
vier Hauptteile. Erstens behandeln sie Raumgebilde, welche auf
einer Ebene gezeichnet sind und das Verhältnis ihrer gegenseitigen
Größe, die teils gleich, teils ungleich ist. Im ersteren Falle genügt
der Nachweis der Identität, im letzteren verlangt man etwas mehr:
man will die Ungleichheit messen. Dazu aber dient die Zahl, das
Maß einer jeden Größe, und folglich wird es Bedürfnis, Unter-
suchungen über die Zahl anzustellen. Damit ist der zweite Haupt-
*) riyovB heißt es bei Proklns und dieses bedeutet hier sicherlich ,,blühte**
und nicht „ward geboren^\ Vgl. £. Roh de „nyops in den Biographica des
Snidas'' BheinischeB Museum für Philologie XXXITT neuer Folge, 161—220 (187S).
*) Pappus YH., prciefatio (ed. Hultsch) 676 ügg, •) So Archimed, De sphaera
et cylindro I, 6 (ed. Heiberg I, 24) wahrscheinlich mit Beziehung auf Euklid
Xn, 2. Diese Stelle dürfte Proklus im Auge gehabt haben, als er zum Beweis,
daß Archimed später als Euklid lebte, sagte, daß dieser jenen in seinem ersten
Buche erwähne.
262 12. Kapitel.
teil des Werkes erfüllt. Die vollstiLndig bestimmte Zahl reicht in-
dessen nicht aus, um alle Gbrößen zu messen, welche der geometrischen
Betrachtung unterworfen werden. Es gibt vielmehr Raumgebilde,
seien es nun Längen oder Flächen, welche mit der Größeneinheit
derselben Art kein genau angebbares gemeinsames Maß besitzen, ohne
daß sie deshalb aufhören selbst Größen zu sein. Man nennt sie nur
im Gegensatze zu dem genau Meßbaren mit der Einheit inkommen-
surabeL Die Betrachtung solcher Inkommensurabiliiäten ist somit
unerläßlich, sie bildet den dritten Hauptteil des Ganzen. Endlich
im vierten Teile verläßt die Betrachtung das bisher eingehaltene
Feld der Zeichnungsebene, die Verhältnisse des allgemeinen Raumes
werden untersucht, die gegenseitige Lage und Größe von Flächen und
Körpern werden besprochen. Das ist freilich nur der ganz allge-
meine Inhalt des Werkes ^), es dürfte sich empfehlen näher auf die
Einzelheiten desselben einzugehen.
Ln L Buche handelt Euklid von den Grundbestandteilen gerad-
liniger Figuren in der Ebene, von geraden Linien, welche sich ent-
weder schneiden und mit eiuer dritten Linie ein Dreieck bilden, über
dessen Bestimmtheit durch gewisse Stücke gesprochen wird — Kon-
gruenz der Dreiecke — oder welche sich nicht treffen, so weit
man sie verlängert — Parallel linieu. Der 32. Satz beweist mittels
Ziehung einer Parallellinie durch einen Dreieckseckpunkt zu der ihm
gegenüberliegenden Dreiecksseite die Gleichheit des Außenwinkels
eines Dreiecks mit der Summe der beiden gegenüberliegenden inneren
Winkel und läßt so die Summe der Dreieckswinkel erkennen. Von
der schon Aristoteles (S. 252) bekannten Weiterführung des Satzes
ist keine Rede. TJm mit Hilfe der Parallellinien eine Figur zu er-
zielen bedarf es zweier schneidenden Geraden, und so entsteht das
Viereck, insbesondere das Parallelogramm, sofern die Schneidenden
selbst unter sich parallel sind. Die Eigenschaften der Parallelo-
gramme vereinigt mit denen der Dreiecke führen zum Begriffe von
Figuren, welche aus an und für sich identischen Teilen bestehen,
aber nicht in identischer Weise zur gegenseitigen Deckung gebracht
werden können, Gleichheit von nicht kongruenten Flächen-
räumen. Bei solchen Flächen kommt es also darauf an die identi-
schen Teile abzusondern, in anderer Weise zusammenzufügen, und so
lehrt der 44. Satz an eine gegebene gerade Linie unter gegebenem
Winkel ein Parallelogramm anzulegen, naQaßdXXciVy welches einem
gegebenen Dreiecke gleich sei; es lehrt der 45. Satz die Verwandlung
^) In diesen klaren UmriBsen hat ihn z. B. Gregory in der Vorrede seiner
Enklidausgabe entworfen.
Alexandiia. Die Elemente des Euklid. 263
jeder geradlinigen Figur in ein Parallelogramm von gegebenen Winkeln,
bis im 47. und 48. Satze das Buch mit dem interessantesten Falle
einer derartigen Umwandlung , mit dem pjthagoraischen Lehrsatze
und dessen ümkehrung abschließt.
Das n. Buch ist gewissermaßen ein Zusatz zu dem pjthago-
raischen Lehrsatze. In ihm wird die Herstellung eines Quadrates
aus Quadraten und Rechtecken in den yerschiedensten Kombinationen ^
teils als Summe, teils als Differenz gelehrt, bis auch wieder eine
Zusammenfassung in der Aufgabe erfolgt, ein jeder gegebenen
geradlinigen Figur gleiches Quadrat zu zeichnen. Zugleich
laßt aber dieses Buch eine andere Auffassung zu, welche mit der
doppelten Bedeutung des pjthagoraischen Satzes in Verbindung steht.
Wir wissen, daß dieser Satz, sofern er der Arithmetik angehört^ be-
sagt, daß es zwei Zahlen bestimmter Art gebe, welche als Summe
eine dritte Zahl liefern von gleicher Art wie die beiden Posten. Als
Zusatz zu dem pythi^oraischen Lehrsatze in diesem Sinne lehrt das
IL Buch die Rechnung insbesondere die Multiplikation mit additiv
und subtraktiy zusammengesetzten Zahlen. In modemer Schreibweise
heißen die 10 ersten Sätze alsdann:
1) ab + ac + ad + ""-= a (b + c + d + •••) 2) ab + a(a — b) = a*
3) a6 =- 6 (a - 6) + 6* 4) a> - fe« + (a - 6)» + 26 (a - b)
6)(a-.6)6 + (|-6y=(|)^ 6)(a + 6)i + (|)'«(-;+6)^
7) a« + 6» = 2ab + (a - by 8) 4a6 + (a - 6)» - (a + 6)«
10) (a + 6)» + 6»»2(|)' + 2(|- + 6)*.
Als 11. Satz erscheint die Aufgabe des goldenen Schnittes. Ihre
geometrische Beziehung zur Konstruktion des regelmäßigen Fünfecks
haben wir früher (S. 178) besprochen. Arithmetisch, oder vielmehr
algebraisch aufgefaßt ist die Tragweite der Aufgabe „eine gegebene
Strecke so zu schneiden, daß das aus dem Ganzen und einem der
beiden Abschnitte gebildete Rechteck dem Quadrate des übrigen Ab-
schnittes gleich sei^^ dahin zu bestimmen, daß eine Auflosung der
Gleichung a(a — x) = a^, beziehungsweise der Gleichung x^ + ax^ a^
gesucht wird*). Euklid findet x = r ^' "I" (t) """ T ^^^ beweist
die Richtigkeit dieser Auflösung durch folgende Schlüsse, bei deren Dar-
^) Diese Auffassang der Aufgabe II, 11 dürfte zuerst bei Arneth, Ge-
Bohichte der reinen Mathematik (Stuttgart 1862) S. 102 zu finden sein.
264 12. Kapitel.
stellang wir uns die einzige Ändernng gestatten, daß wir die geo-
metrisch klingenden Wörter in algebraische Buchstaben und Zeichen nm-
setan. Wegen 6) ist (« + (}/«• + {})' - |)) (j/»' + (|)' - 1.)
+ (I)'- (I + (l^^)' - 1))'- {V^^^')'-"+ (!)■
Man zieht auf beiden Seiten (|-j ab, so bleibt ( a + (Va* + (— ) "~ f))
( Vö* + (y) ~" Y ) = ^^ ^^<1 zieht man weiter a ( 1/a* + (|^) — |)
auf beiden Seiten ab, so bleibt
(l/^r^ -?)'-.(»- (j^^TIiT - D).
Das III. Buch wendet sich zu der einzigen krummen Linie,
welche der Behandlung unterzogen wird, zum Kreise und zu den
Sätzen, welche auf Berührung zweier Kreise, oder eines Kreises
und einer Geraden sich beziehen. Alsdann folgen Betrachtungen über
die Größe von Winkeln und mit denselben irgendwie in Verbin-
dung stehenden Kreisabschnitten. Insbesondere der 16. Satz ist im
in. oder rV. S. schon Gegenstand beiläufiger Erörterung, in späteren
Zeiten Ausgangspunkt interessanter Streitigkeiten zwischen Gelehrten
des XYI. und XYU. S. geworden und dadurch, aber auch durch
seinen Inhalt bemerkenswert. Er behauptet nämlich, vielleicht in
Anschluß an Demokrit (S. 192), der Winkel, welchen der Kreisum-
fang mit einer Berührungslinie bildet, sei kleiner als irgend ein gerad-
liniger spitzer Winkel. Dieser gemischtlinige Winkel heißt bei
Proklus*) homformiger Winkel, ycovia xegaroeLÖiig, ein Name, der
bei Euklid noch nicht vorkommt. In den Definitionen, welche den
einzelnen Büchern vorausgeschickt werden, ist sogar von ihm keine
ausdrückliche Rede. Im ersten Buche heißen die 8. und 9. Defini-
tion: „Ein ebener Winkel ist die Neigung zweier Linien gegenein-
ander, wenn solche in einer Ebene zusammenlaufen ohne in einer
geraden Linie zu liegen. Sind die Linien, die den Winkel ein-
schließen, gerade, so heißt derselbe ein geradliniger Winkel.'^ Dazu
ergänzt die 7. Definition des III. Buches : „Der Winkel des Abschnittes
ist der vom Umkreise und der Grundlinie eingeschlossene Winkel^^,
aber den Winkel, wenn man von einem solchen reden darf, auf der
konvexen Bogenseite gegen die Berührungslinie hin erläutert der
Verfasser nicht. Endlich schließt das III. Buch mit den einzeln be-
trachteten Fällen zweier Geraden, die sich gegenseitig und
^) PiokluB (edit. Friedlein) pag. 104 und öfters.
Alexftndria. Die Elemente dee Euklid. 265
ebenso einen Kreis schneiden^ und aus deren Abschnitten ge-
wisse Rechtecke zusammengesetzt werden, welche Flächengleichheit
besitzen. Mit Rücksicht darauf , daß im 16. Satze des III. Buches
das erste Vorkommen des in späteren Zeiten so wichtigen Tangenten-
problems sich zeigt, möge Euklids Betrachtung erörtert werden. Ist
(Fig. 42 a) EA senkrecht zu BA, so liegt kein Punkt derselben inner-
halb des Kreises. Wäre es nicht so, so müßte diese zum Kreisdurch-
messer senkrechte Gerade einen zweiten Punkt F mit der Kreislinie
gemein haben und das Dreieck jiF^
gebildet werden können, in welchem
z/-^ — ^r, also auch die Winkel bei A
und r einander gleich sein müßten,
während ein Dreieck mit zwei rechten
Winkeln unmöglich ist. Femer ist eine
Gerade AZ zwischen AE und dem
Kreise unmöglich. Gäbe es eine solche
und z/H wäre senkrecht zu ihr, so
müßte im Dreiecke A^H der Winkel
bei H der größte sein und demnach
AJ^JS>/dH sein, was unmöglich
ist. Ein spitzer Winkel EAH<EA0 Fig. «•.
existiert also nicht.
Der Schüler wird nun im IV. Buche weiter mit den Figuren be-
kannt gemacht, welche entstehen, wenn mehr als zwei Gerade mit
dem Kreise in Verbindung treten. Er lernt die dem Kreise ein-
und umschriebenen Vielecke insbesondere die regelmäßigen Viel-
ecke kennen. Unter diesen ist das Fünfeck, und dessen Konstruktion
macht die erste Anwendung des im 11. Buche, wie wir entwickelten,
zu anderem Zwecke gelehrten goldenen Schnittes notwendig. Das
IV. Buch kommt an den äußersten mit den bisherigen Mitteln er-
reichbaren Zielpunkten an. Die Gleichheit von Strecken und Flächen-
numen ist nach allen Seiten erörtert.
Nun kommt die Ungleichheit in Betracht, insofern sie gemessen
werden kann, und zwar ist diese Messung eine zweifache, eine geo-
metrische und eine arithmetische. Beide beruhen auf der Lehre von
den Proportionen, welche deshalb in dem V. Buche an dem Sinn-
bilde gerader Linien in vollständiger Ausführlichkeit dargelegt wird.
Die im Verhältnisse aufgefaßten Größen sind als Linien gezeichnet,
damit nicht hier schon der Schwierigkeit zu begegnen sei, eine
Unterscheidung zu treffen, je nachdem Kommensurables oder Inkom-
mensurables auftritt. Die Linien sind aber nur nebeneinander ge-
zeichnet^ ohne Figuren zu bilden, damit man einsehe, wie es sich
266 12. Kapitel.
hier um allgemeineres handle als um die Vergleichung geometrischer
Gebilde.
Erst das VI. Buch zieht die geometrischen Folgerungen aus dem
im V.Buche Erlernten. Die Ähnlichkeit von Figuren geht aus
der Proportionenlehre hervor und dient selbst wieder dazu Propor-
tionen an geometrischen Figuren zur Anschauung zu bringen. Dabei
kommt der Begriff des zusammengesetzten Verhältnisses vor,
welcher vermutlich schon Philolaus (S. 161) bekannt war') und
welcher später (vgl. 20. Kapitel) von großer Bedeutung wurde. Im
23. Satze des VI. Buches ist von dem Verhältnisse je zweier gleich-
liegenden Seiten zweier Parallelogramme mit gleichen Winkeln die
Rede, und die Flächen der Parallelogramme, heißt es weiter, stehen
in einem Verhältnisse, welches aus dem der Seiten zusammengesetzt
ist^). Auch Archimed, wir wollen das gleich hier erwähnen, hat
mehrfach mit zusammengesetzten Verhältnissen zu tun, wenn auch in
von der euklidischen Redewendung etwas abweichendem Wortlaute').
Einen Satz und zwei Aufgaben dieses Buches, welche die Bezeichnung
als Satz 27., 28., 29. führen, müssen wir besonders erwähnen. Satz 27.
enthält das erste Maximum, welches in der Geschichte der Mathe-
matik nachgewiesen worden ist, und welches als Funktion geschrieben
besagen würde: a;(a — a:) erhalte seinen größten Wert durch rc=- y
In den beiden darauf folgenden Aufgaben hat man die Auflösungen
der beiden Gleichungen x(a — x) = b^ und x(a + x)='b* erkannt.
Der 27. Satz erscheint bei der unmittelbaren Aufeinanderfolge von
27. und 28. unzweifelhaft als der Diorismus des letzteren. Es darf
eben b^ nicht größer sein als ( yj , wenn die Au%abe lösbar sein
soll^). Geometrisch ausgesprochen haben die beiden Aufgaben in
Satz 28. und 29. gleichfalls einen, wie spätere Erörterungen uns
lehren sollen, hochwichtigen Inhalt. Es handelt sich um die An-
legung eines einem gegebenen Parallelogramme gleichwinkligen Paral-
lelogramms an eine gerade Linie, welches um so viel größer (kleiner)
an Fläche als eine gleichfalls gegebene Figur sei, daß wenn so viel
abgeschnitten (zugesetzt) wird, als nötig ist um Flächengleichheit zu
^) Newbold in dem Archiv für Geachiohte der Philosophie Bd. XIX Heft 2
(1905). ^ X6yos avyxBliuvog i% (r&v) z&v nUvQ&v {X&fmv). Ewilidis Elementa
(ed. Heiberg, Leipzig 1888—88) H, 146 lin. 14. *) 6 Uyog rfjg A 71q6s Tr}v B
6wf^(u %% ta toi), 8v ixti ij F nghg vriv d xcel ^ E nghg riiv Z. Archimedes
(ed. Heiberg) I, 212 lin. 19—21 und häufiger. ^) Diese Aufifaesung zuerst ver-
treten bei Matthiessen, Grundzüge der antiken und modernen Algebra der
litteralen Gleichungen. Leipzig 1878, S. 926—981.
Alexandria. Die Elemente des Euklid. 267
erzielen^ dieses Stück selbst dem erstgegebenen Parallelogramme ähn-
lich werde. Euklid drückt diese Forderung durch die Worte aus,
der Macheninhalt F solle an der Linie jdB etwas übrig lassen, iXXcinsi^
oder darüber hinausfallen, xmeQßdkXBi.
Das yU.y YIU. und IX. Buch beschäftigen sich mit der Lehre
Ton den Zahlen. Der nächste Zweck ist das arithmetische Messen
der Ungleichheit, also diejenigen Folgerungen aus der Proportionen-
lehre zu ziehen, welche an Zahlengrößen hervortreten. Allein damit
yerbindet Euklid, vielleicht weil nirgend eine passendere Gelegenheit
sich finden wird, eine Zusammenstellung aller ihm bekannten Eigen-
schaften der ganzen Zahlen. Rechnungsoperationen mit denselben
hat er, wie wir uns erinnern, schon im U. Buche ausfähren lassen.
Das Vn. Buch beginnt mit Definitionen, unter welchen wir die der
Primzahl, TtQ&rog ägid-fiögy und der zusammengesetzten Zahl,
övvd-STog igi^fiögy hervorheben wollen. Daran knüpft sich die Unter-
scheidung von teilerfremden Zahlen, xg&toi xgbg aXki^Jiovg, und
von solchen, welche ein gemeinsames Maß besitzen, övv^sroi
jtgbg iXki^Xovgy sowie die Auffindung dieses letzteren. Euklid findet
dasselbe voUständ^ in der heute noch üblichen Weise durch fort-
gesetzte Teilung des letztmaligen Divisors durch den erhaltenen Rest,
mithin, wenn wir es nicht scheuen auch moderne Namen zu ge-
brauchen, wo moderne Verfahren angewandt sind, durch einen Ketten-
bruchalgorithmus. Dann ist von Zahlen die Rede, welche dieselben
Teile anderer Zahlen sind, wie wieder andere von vierten, und damit
ist also die Zahlenproportion eingeführt. Abgesehen von den
vielen neuen Proportionen, welche in der mannigfaltigsten Weise aus
den erstgegebenen abgeleitet werden, führt der Satz von der Gleich-
heit der Produkte der inneren und der äußeren Glieder einer Pro-
portion auf die Teilbarkeit eines solchen Produktes durch einen der
Faktoren des anderen Produktes und zur Teilbarkeit überhaupt. Der
Rückweg zur Untersuchung teilerfremder Zahlen ist damit gewonnen,
und den Schluß des Buches bildet die Auffindung des kleinsten ge-
meinsamen Dividuums gegebener Zahlen.
Das YIU. Buch setzt die Lehre von den Proportionen fort, indem
es zu Gliedern der Proportion nur solche Zahlen wählt, welche selbst
Produkte sind, und zwar zum Teil Produkte aus gleichen Faktoren.
An die früheren geometrischen Lehren erinnern eben noch die Be-
nennungen, welche in diesem Buche zur Anwendung gelangen:
Flächenzahlen, ähnliche Flächenzahlen, Quadratzahlen, Eörperzahlen,
Kubikzahlen, lauter Wörter, deren Erklärung wir in früheren Kapiteln
zu geben Gelegenheit hatten. Vieleckszahlen anderer Art als die
Quadratzahlen kommen bei Euklid nicht vor.
268 12. Kapitel.
Das IX. Buch setzt gleichfalls denselben Gegenstand fort. Im
12. Satze findet sich, yermutlich zum ersten Male in der mathemati-
schen Literatur, eine besondere Abart der apagogischen Beweisführung
(S. 221). Aus der Annahme der Unwahrheit einer Tatsache
wird ihre Wahrheit gefolgert. Der Satz selbst spricht aus, daß
wenn 1, A, B, JT, z/ eine geometrische Reihe bilden und eine Prim-
zahl E m J enthalten ist, die gleiche Primzahl auch in A enthalten
sein muß. Ist E nicht in A enthalten, so muß, weil E Primzahl ist,
E gegen A teilerfremd sein. Nun ist J durch E teilbar, etwa
^ = E • Z, andererseits J ^ A • Fy mithin E- Z^ A - F und E : A
= JT: Z. Danach muß Z ein Vielfaches Ton A und F ein Yielfeu^hes
von E sein, etwa F« E- H. Daneben ist JT« A • JB, also E-H^AB
und E: A '^ B : H. Daraus folgt H als Vielfaches von A, B eis
Vielfaches von E, etwa B ^ E - &, Daneben ist B '^ A - A, abo
E& ^ A ' A und Ei A ^ 4\ &. Daraus ergibt sich & als Vielfaches
von A und A als Vielfaches von £. Etwas später geht das IX. Buch
dadurch zu anderweitigen Betrachtungen über, daß es besoudere Rück-
sicht auf etwa in einer Proportion vorkommende Primzahlen nimmt.
Bei dieser Gelegenheit wird nämlich ziemlich außer allem Zusammen-
hange als 20. Satz bewiesen, daß die Menge der Primzahlen
größer sei als jede gegebene Menge derselben, wofür wir
kürzer sagen, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. Noch weniger
Zusammenhang ist von dem 20. Satze zu den ihm nachfolgenden
Sätzen wahrnehmbar. Mancherlei Eigenschaften gerader und un-
gerader Zahlen, von deren Summen und deren Produkten werden er-
örtert, bis der 35. Satz die Summierung der geometrischen
Reihe lehrt und auf diejenige geometrische Reihe angewendet, welche
von der Einheit beginnend durch Verdoppelung der Glieder weiter-
schreitet, endlich im 36. Satze wieder zu den Primzahlen zurückführt
imd so das Bewußtsein erweckt, wie Euklid bei scheinbarem Ab-
springen von seinem Thema es immer unverrückt im Auge behält
Jener 36. Satz gibt nämlich an, die Summe der Reihe 1 + 2 -f 4 + 8 • • •
sei mitunter eine Primzahl. Dieses tritt z. B. ein, wenn die Reihe
aus 2, aus 3, aus 5 Gliedern besteht. Werde diese die Summe dar
stellende Primzahl mit dem letzten in Betracht gezogenen Gliede dei
Reihe vervielfacht, so entstehe eine vollkommene Zahl (eine Zahl,
welche der Summe aller ihrer Teiler gleich ist).
Im X. Buche ist der dritte Hauptteil des euklidischen Werkes
behandelt, die Lehre von den Inkommensurablen, und auf die
große Bedeutung, die dem Umstände beizumessen ist, daß diesem
G^enstande ein ganzes Buch gewidmet ist, kommen wir im folgen-
den Kapitel zurück. An der Spitze des Buches steht der Satz,
Alexandxia. Die Elemente des Euklid. 269
welcher bei Euklid die Grundlage der Exhaustionsmethode bildet^ der
Satz: ^ySind zwei ungleiche Größen gegeben, und nimmt man von der
größeren mehr als die Hälfte weg, von dem Reste wieder mehr als
die Hälfte und so immer fort, so kommt man irgend einmal zu
einem Reste, welcher kleiner ist als die gegebene kleinere Größe/'
Dieser Satz, wesentlich verschieden von dem, dessen sich (S. 242)
Eudoxus und vielleicht schon Hippokrates zu ähnlichen Zwecken b^
diente, ist in dieser Form vielleicht Euklids Eigentum, vielleicht auch
dessen, von welchem das X. Buch der Hauptsache nach herrührt.
Fürs erste freilich zieht Euklid keine Folgerung aus ihm, nicht ein-
mal die, welche man vor allen Dingen erwarten sollte, daß wenn
zwei Größen inkommensurabel sind, man immer ein der ersten Größe
Kommensurables bilden könne, welches von der zweiten Größe sich
um beliebig Weniges unterscheide. Statt dessen sind zwar geistvolle
aber doch nach unseren Begriffen maßlos weitläufige Untersuchungen^)
darüber angestellt, imter welchen Voraussetzungen Größen sich wie
gegebene Zahlen verhalten, also kommensurabel sind, und unter
welchen Voraussetzungen keine solche Zahlen sich finden lassen, die
Größen also inkommensurabel sind. Ein besonderes Gewicht legt
Euklid auf die Irrationalzahlen, deren er vielfältig unterschiedene
Formen aufzählt. Dabei ist zu beachten, daß das Inkommensurable,
a6vfiii€TQ0Vy des Euklid sich mit unserem Begriffe der Irrationalzahl
deckt, während sein Rationales, Qtixhv, und Irrationales, aXoyoVy von
dem, was wir unter diesen Wörtern verstehen, abweicht. Rational
ist ihm das an sich und das in der Potenz Meßbare, d. h. diejenigen
Linien sind rational, welche selbst durch die Längeneinheit oder
deren Quadratfläche durch die Flächeneinheit genau ausmeßbar sind,
also a sowohl als Yä, während das Wort irrational für jeglichen
mit Wurzelgrößen behafteten Ausdruck außer der einfachen Quadrat-
wurzel yä Anwendung findet. Demgemäß ist das Produkt a mal
Yb oder Yä mal Yb bei Euklid irrational, weil jedes dieser beiden
Produkte als Produkt schon eine Fläche bedeutet, also nicht mehr „in
der Potenz meßbar'' sein kann. Irrational ist um so mehr die Linie,
^) Vgl. Nesselmann, Die Algebra der Griechen S. 165—182. Diesem
Werke entnehmen wir auch die Übersetzungen der Namen der verschiedenen
Formen TOn Irrationalzahlen. Wie schwer auch geistreiche Mathematiker sich
oft in diesem X. Buche zurecht zu finden yermochten, dafür dient als Beispiel
ein durch A. Favaro (Gralileo Galilei e lo studio di Fadova U, 267) yerö£fent-
lichter Brief von Benedetto Castelli. Unter dem 1. April 1607 schrieb
dieser an Galilei, er sei bei dem 40. Satze des X. Buches stecken geblieben
suffocato daJla molHtudine de voc€tfjoU, profonditä deUe case e diffieoUä di demon-
stratianL
270 12. Kapitel.
welche a - Yb oder "j/ä • Yb als Quadrat besitzt, d. h. ya Yb und
Yab und diese Gattung von Irrationalitäten heißt iidörj, die Medial-
linie. Addition und Subtraktion zweier Längen, von denen minde-
stens eine inkommensurabel ist, gibt die Irrationalität von zwei Be-
nennungen, ii ix d'öo dvoiidtmv, und die durch Abschnitt Entstandene,
axotofiil, d. h. die Binomialen a + Y^ oder ]/a + ]/6^und die Apo-
tomen a — Y^ oder ya — b oder "j/a — ]/6. Wir würden allzu weit-
schweifig werden müssen, wenn wir alle Verbindungen zwischen diesen
Medialen, Binomialen und Apotomen erörtern wollten, welche in dem
X. Buche vorkommen. Statt dessen nur die Bemerkung, daß wir
hier wieder ein Beispiel praktischer Kombinatorik vor uns haben,
indem alle Verschiedenheiten berücksichtigt sind, die überhaupt ein-
treten können. Eines freilich ist vorausgesetzt, daß nämlich nur
Wiederholungen von Quadratwurzelausziehungen vorkommen, daß also
sämtliche im X. Buche behandelten Irrationalitäten der Konstruktion
mit Hilfe von Zirkel und Lineal unterworfen sind, und solche Irra-
tionalitäten sollen uns von nun an euklidische Irrationalitäten
heißen, wie sie tatsächlich in späterer Zeit genannt worden sind.
Wir heben zwei Sätze des X. Buches besonders hervor, das erste
Lemma, welches auf Satz 29. folgt, und welches zwei Quadratzahlen
bilden lehrt, deren Summe wieder Quadratzahl ist, und den letzten
Satz des Buches von der gegenseitigen Inkommensurabilität der Seite
und der Diagonale eines Quadrates. Letzteren Satz haben wir nebst
seinem mutmaßlich altpjthagoräischen Beweise daraus, daß sonst
Gerades und Ungerades einander gleich wären, schon (S. 182) be-
sprochen. Die Herstellung rationaler rechtwinkliger Dreiecke ist uns
auch kein neuer Gegenstand. Methoden des Pythagoras (S. 186) und
des Piaton (S. 224) sind uns bekannt geworden, jene von ungeraden,
diese von geraden Zahlen ausgehend. War nämlich aus a^^V-\-c^
die Folgerung c* = (a -f- b){a — b) gezogen, und daraus die weitere
Folgerung, daß a + b und a — b ähnliche Flächenzahlen sein müssen,
so nahmen wir an, daß jene Männer die besonders einfachen Ver-
suche angestellt hätten, einmal a~-b ^\ und einmal a — 6 «- 2 zu
setzen. Das Verfahren des Euklid kann als Bestätigung unserer Ver-
mutungen gelten. Nach der besonderen Annahme konnte und mußte
man dazu übergehen fär a + 2) und a — b irgend welche ähnliche
Flächenzahlen zu wählen, und dieses tat Euklid. Er läßt ähnliche
Flächenzahlen, d. h. solche, welche proportionierte Seiten haben (De-
finition 21. des VU. Buches), und deren Produkt eine Quadratzahl
geben muß (Satz 1. des IX. Buches), bilden, etwa a • /S* und a - y\
und verlangt dabei, . daß beide gerade oder beide ungerade seien,
damit ihr Unterschied halbierbar ausfalle. Unter dieser Voraussetzung
Alezandria. Die Elemente des Euklid. 271
wird sodann a/J* • ay^ + (" T^^ j "^ ("^"2 / ' ^i*^'^ ^^^^ ^^®
Seiten des rechtwinkligen Dreiecks a/Jy, " T "^ ; "^ T^"^ gefunden.
Wir haben noch den Inhalt des letzten Hauptteiles der eukli-
dischen Elemente anzugeben^ der in dem XL, XII. und XIII. Buche
enthaltenen Stereometrie. Im XI. Buche beginnt diese Lehre genau
in der Weise, wie sie auch heute noch behandelt zu werden pflegt,
mit den Sätzen, welche auf parallele und senkrechte gerade Linien
und Ebenen sich beziehen, woran Untersuchungen über Ecken sich
schließen. Alsdann wendet sich der Verfasser zu einem besonderen
Körper, dem Parallelepipedon und geht nur in dem letzten Satze
des Buches zu dem allgemeineren Begriffe des Prisma über.
Das XII. Buch enthält die Lehre von dem Maße des körper-
lichen Inhaltes der Pyramide, des Prima, des Kegels, des Zylin-
ders und endlich der Kugel. Eine wirkliche Berechnung findet sich
allerdings bei Euklid nie, weder wo von Flächeninhalten noch wo
Yon Körpermaßen die Rede ist, und namentlich bei solchen Raum-
gebilden, zu deren Erzeugung Kreise oder Kreisstücke beitragen, ist
nirgend angegeben, wie man eigentlich zu rechnen habe. Sollte die
Ausrechnung des Kreisinhaltes von den Ägyptern bis zu Euklid ver-
loren gegangen sein? Die Un Wahrscheinlichkeit dieser Annahme der
mehrfachen Beschäftigung mit der Quadratur des Kreises bei Anaxa-
goras, bei Antiphon, bei Bryson, bei Hippokrates gegenüber wird
vollends für einen in Alexandria lebenden Mathematiker zur Unmög-
lichkeit. Ägypten, welches das Althergebrachte mit Zähigkeit fest-
hielt, welches ein Exemplar des Rechenbuches des Ahmes noch mehr
als 2000 Jahre später als Euklid uns unversehrt überliefert hat, war
nicht das Land, in welchem so unbedingt Notwendiges wie die Kreis-
rechnung vergessen wurde, und ebensowenig läßt sich annehmen, daß
die ägyptische Geometrie den griechischen Gelehrten, welche unter
dem Schutze des ägyptischen Königs sich dort aufhielten, unbekannt
hätte bleiben können. Wir stehen vielmehr hier vor einer absicht-
lichen Weglassung, vor einem grundsätzlichen Widerstreite zwischen
Geometrie und Geodäsie. Letztere, deren Vorhandensein zur Zeit
de& Aristoteles wir (S. 252) hervorgehoben haben, war ihrem Wesen
nach eine rechnende Geometrie. In der eigentlichen oder theore-
tischen Geometrie war Rechnung als solche ausgeschlossen. Aristo-
teles hat ausdrücklich gesagt: „Man kann nicht etwas beweisen, indem
man von einem anderen Genus ausgeht^ z. B. nichts Geometrisches
durch Arithmetik . . . Wo die Gegenstände so verschieden sind, wie
Arithmetik und Geometrie, da kann man nicht die arithmetische Be-
weisart auf das, was den Größen überhaupt zukommt, anwenden,
272 12. Kapitel.
wenn nicht die Größen Zahlen sind, was nur in gewissen Fällen vor-
kommen kann^^). Der Ausdruck^ die Größen seien nnr in gewissen
Fällen Zahlen, bezieht sich vermutlich auf irrationale Strecken, welche
als Nichtzahlen galten, und dieser Ausnahme zuliebe dürfte das
y. Buch der Elemente entstanden sein. Was aber von den Beweisen
gesagt ist, scheint auch auf Rechnungsoperationen ausgedehnt worden
zu sein. So zeigt also Euklid in diesem XU. Buche nur, daß Kreise
wie die Quadrate ihrer Durchmesser sich verhalten, was Hippokrates
von Chios schon wußte; er zeigt, daß, wie die Pyramide der dritte
Teil des Prisma von gleicher Höhe und Grundfläche ist, ein ganz
gleichlautender Satz für Kegel und Zylinder stattfindet, was Eudoxus
von Knidos schon erkannt hatte; er schließt mit dem Satze, daß
Kugeln im dreifachen Verhältnisse ihrer Durchmesser stehen. Euklid
benutzt zum Beweise dieser Sätze den an der Spitze des X. Buches
stehenden Satz von der Möglichkeit durch fortgesetzte Halbierung
einen beliebigen Grad der Kleinheit zu erreichen. Geben wir als
Beispiel seines Verfahrens den Satz vom Kreise, wobei wir, wie
schon öfter, zur bequemeren Übersicht uns modemer Zeichen be-
dienen, im übrigen aber uns genau an Satz 2. des XIT. Buches an>
schließen. Vorausgeschickt ist der Satz, daß die Flächen ähnlicher
in zwei Kreise eingeschriebener Vielecke sich wie die Quadrate der
Durchmesser der betreffenden Kreise verhalten. Heißen nun K^ und
K^ die beiden Kreisflächen, deren Durchmesser d^ und S^ sind, so sei
angenommen, daß K^iK^ in kleinerem Verhältnisse stehen wie 8^^ : d,*.
Sicherlich gibt es eine Oberfläche H, welche dem Verhältnisse
üTj : a = *i* : dg* genügt, und weil K^ : K^<K^: Sl, so wird K^>Sl
sein müssen. Dann ist es aber unmöglich, daß dasselbe Verhältnis
dj* : d,* auch obwalte zwischen einer Fläche, die kleiner ist als Ä,
und einer anderen, die größer ist als £1, und gleichwohl läßt sich
das Vorhandensein eines solchen unmöglichen Verhältnisses unter
der gemachten Voraussetzung nachweisen und damit die Unzulässig-
keit der Voraussetzung selbst. Denn beschreibt man in K^ und JiT,
einander ähnliche Vielecke O^ und O^, so ist jedenfalls O^ : O, » d^* : ä^*
und zugleich O^ < K^, Es genügt also noch zu zeigen, daß es ein
0^ gibt, welches größer als £1 und kleiner als K^ ist, und dazu wird
die Exhaustion angewandt. Ein dem Kreis umschriebenes Quadrat
ist offenbar größer als der Kreis und zugleich genau doppelt so groß
als das dem Kreise eingeschriebene Quadrat. Mithin ist letzteres
größer als die halbe Kreisfläche, oder unterscheidet sich von der
Kreisfläche um weniger als deren Hälfte. Wird in jedem der vier
^) Aristoteles, Analyt. post 1, 7. 76, a.
Alexandria. Die Elemente dea Euklid. 273
diesen Unterschied bildenden Kreisabschnitte der Bog^ti halbiert und
mit dem Halbierongspunkte und den Endpunkten als Spitzen ein Drei-
eck gebildet, so ist dieses die Hälfte eines Rechtecks, innerhalb
welches der Kreisabschnitt eingeschlossen liegt, also größer als die
Hälfte des Abschnittes. Das entstandene Achteck unterscheidet sich
somit von dem Kreise um weniger als den vierten Teil desselben.
Ebenso wird zu zeigen sein, daß der Unterschied zwischen dem regel-
mäßigen Vielecke von 16 Seiten und seinem Umkreise geringer als
Y der Kreisfläche ist. Bei jedesmaliger Verdoppelung der Seitenzahl
des Vielecks wird der Flächenunterschied desselben gegen den Kreis
mehr als nur halbiert, und schon immerwährende Halbierung genügt
nach dem Satze der Exhaustion, um jede beliebige Grenze der Klein-
heit zu erreichen. Es ist also damit sichergestellt, daß endlich ein
Vieleck O^ erscheinen muß, dessen Fläche sich von der des Kreises
um weniger als z/ unterscheidet, wenn jd ^ K^ — Sl ist, und das ihm
ähnliche dem Kreise K^ eingeschriebene Vieleck ist jenes zugehörige
0j, welches den ersten Widerspruch liefert. Der Beweis, daß auch
nicht Äj : Äg > 6^ : 6^ sein kann, wird auf den früheren Fall zu-
rückgeführt. Jene Annahme setzt nämlich zugleich voraus, daß
ÜT, : Ülj < 8^ : Jj*, und die Unmöglichkeit dieser Voraussetzung zu
beweisen hat man bereits gelernt. Keine dieser beiden Annahmen
findet also statt, sondern nur die zwischen ihnen liegende K^ : K^
» 8^ : ^2^ Das ist der von Euklid eingeschlagene Weg, der in jedem
einzelnen Falle mit aller Strenge in ermüdender Einförmigkeit ein-
gehalten wird, ohne daß jemals eine Abkürzung des Verfahrens für
statthaft; angesehen würde.
Das Xni. Buch endlich kehrt zu einem Gegenstande zurück, dem
das IV. Buch teilweise gewidmet war. Es handelt von den regel-
mäßigen einem Kreise eingeschriebenen Vielecken, ins-
besondere von den Fünfecken und Dreiecken. Dann aber benutzt es
diese Figuren als Seitenflächen von Körpern, welche in eine Kugel
eingeschrieben werden und schließt mit der wichtigen Bemerkung,
daß es keine weiteren regelmäßigen Körper geben könne als
die fünf zuletzt erwähnten, nämlich das Tetraeder, das Oktaeder, das
Ikosaeder, die von Dreiecken begrenzt sind, der Würfel, dessen Seiten-
flächen Quadrate sind, das Dodekaeder, welches von Fünfecken ein-
geschlossen ist.
Wir haben von diesem merkwürdigen Werke einen weit aus-
führlicheren Auszug hier mii^eteUt als von den meisten der bisher
besprochenen. Die Wichtigkeit des Werkes rechtfertigt unser Ver-
fahren. Sie rechtfertigt zugleich die Frage nach dein Zwecke, welchen
Caxtob, Oesohlofate der MAtheraatik L 8. Aufl. IS
274 12. Kapitel.
Euklid bei der Niederschrift im Aage hatte. Proklus si^ uns, wie
wir oben (S. 260) erwähnten^ Euklid habe als Endzdel seines ganzen
Elementenwerkes die Konstruktion der sogenannten platonischen Körper
hingestellt^). Daß dieses unrichtig ist bedarf fQr den, der auch nur
unseren Auszug mit einiger Aufinerksamkeit gelesen hat, keiner Aus-
einandersetzung. Die künstlerisch vollendete Gliederung des Werkes
machte es möglich, daß es in dem einen Gipfelpunkte abschloß, aber
der Zweck des Werkes war nur durch dessen ganzen Verlauf gegeben
und erfüllt. Die 13 Bücher der Elemente sind sich selbst
Zweck. „Elemente werden die Dinge genannt, deren Theorie hin-
durchdringt zum Verstehen der anderen, und von welchen aus die
Lösung ihrer Schwierigkeiten uns gelingt^^^. So sagt derselbe Proklus
an einer anderen Stelle mit viel treuerer Wiedergabe dessen, was be-
absichtigt war. Euklid wollte, wie die übrigen Elementenschreiber
Tor ihm es schon versucht hatten, eine vollständige Übersicht aller
Teile der Mathematik geben, welche in den folgenden Teilen der
Wissenschaft zur Anwendung kommen, wollte zugleich die enzyklo-
pädisch zusammengestellten und geordneten Dinge auf strenge Be-
weise stützen, welche einen Zweifel nicht aufkommen lassen, sondern
vielmehr gestatten wie in eine Rüstkammer blindlings dorthin zu
greifen mit der Gewißheit stets eine tadellose Waffe zu erfassen.
Wieweit wir Euklid als selbständigen Verfasser seines Werkes
zu bezeichnen haben, ist kaum zu sagen. Jeder Verfasser eines
Handbuches irgend eines Teiles der Mathematik ist von seinen Vor-
^mgem abhängig, und man muß die Schriften der letzteren kennen,
um abzuschätzen, wieweit er von den vorgetretenen Bahnen sich ent-
fernte. Euklid war ohne allen Zweifel ein großer Mathematiker.
Dieses Urteil werden die übrigen Schriften, die er verfaßt hat, recht-
fertigen. Damit stimmt auch die Bewunderung, welche alle Zeiten
seinem vorzugsweise bekannt gewordenen Elementenwerkc entgegen-
brachten, überein, und der von uns schon hervorgehobene Umstand,
daß im Schatten dieses Riesenwerkes die früher vorhandenen ähn-
lichen Erzeugnisse verkümmerten und zugrunde gingen, spätere nicht
entstehen konnten. Auch die wenigen Beweise, deren Ursprung mit
Bestimmtheit auf Euklid sich zurückführt — wir erinnern an den
Schulbeweis des pythagoräischen Lehrsatzes — lassen in Euklid den
feinen geometrischen Kopf erkennen. Ein großer Mathematiker wird
auch da, wo er anderen folgt, seine Eigentümlichkeit nicht ganz
^) Proklus (ed. Friedlein) 68 tfjg övpLndörig croix^^otcsmg riXog nQOBC-
Ti^oato triv xSiv xcdoviiivmv IlXatovixtiv 6x;riitiit(OP 6v0taöip. *) Proklus (ed.
Friedlein) 72, 3—6.
Alexandria. Die Elemente des Euklid. 276
yerlengnen, und so war es sicherlich auch bei Euklid. Aber wo
haben wir dieso Eigentümlichkeit zu suchen? Das ist und bleibt wohl
eine unbeantwortbare Frage, um so unbeantwortbarer als Pappus^ wie
wir gleichfalls schon (S. 261) hervorgehaben haben^ den Euklid ge-
radezu wegen seiner pietätvollen Anlehnung an ältere Schriftsteller
lobt, und wenn Pappus dabei allerdings ein anderes Werk des Euklid
im Auge hat^ so dürfte sich diese Charaktereigenschaft auch in den
Elementen nicht yerleugnet haben.
Wir sind sogar tatsächlich imstande einige und nicht unwesent-
liche Stellen des großen Werkes anzugeben, in welchen, wie wir
schon früher sahen, Euklid nicht selbständig gearbeitet hat. Das
V. Buch gehört^ wie wir (S. 241) einem alten Scholiasten nacherzählt
haben, dem Eudoxus an. Von ebendemselben stammen nach aller
Wahrscheinlichkeit die fünf ersten Sätze des XTTT. Buches. Spuren
von Vorarbeiten des Theaetet sind (S. 237) im X. Buche nicht zu
verkennen. Das stimmt gleichfalls mit der Aussage des Proklus
überein, daß Euklid „vieles von Eudoxus Herrührende zu einem
Ganzen ordnete und vieles von Theaetet Begonnene zu Ende führte^^
(S. 260). Eben diese alten Spuren geben uns aber Veranlassung zur
Untersuchung einer anderen Frage.
•Die Form des V., des X., des XTTT. Buches ist von der der
anderen Bücher nicht im mindesten verschieden. Höchstens könnte
man betonen, daß, während sonst überall nur synthetisch verfahren
ist, die fünf ersten Sätze des XIII. Buches Analyse und Synthese
verbinden. Aber auch bei ihnen ist die Form, welche man eukli-
dische Form zu nehnen pflegt, gewahrt. Der Lehrsatz ist aus-
gesprochen, die Vorschrift was an der Figur vorgenommen werden
soll ist erteilt, der Beweis schließt sich an. Und in anderen Fällen
ist eine Aufgabe gestellt. Ihr folgt die Auflösung, dieser die zum
Beweise der Richtigkeit der Auflösung nötigen Vorbereitungen durch
Ziehen von Hilfslinien usw. und endlich der Beweis selbst. „Was zu
beweisen war'', onsg ^dei äsl^a^ (quod erat demonstrandum) ist die
Schlußformel des Lehrsatzes oder Theorems, bei welchem es sich
um den Nachweis, iitödsi^Lv, des Behaupteten handelt. Die Aufgabe,
das Problem, bei welchem es auf die Ausführung, xataöTUviiv^ des
Geforderten ankommt, hat eine ganz ähnliche Schlußformel: „Was zu
machen war,'' Sxsq sdei noifjöai (quod erat faciendum). Euklid habe
diese Schlußformeln benutzt^ sagt uns Proklus^), und der Augenschein
bestötigt es. Aber rühren diese Schlußworte, rührt die ganze Form
von Euklid her?
1) Proklus (ed. Friedlein) 81.
18*
276 12. Kapitel.
Wir bezweifeln es aufs allerhöchste. Wir haben in dem Übungs-
buche des Ahmes eine Sammlung von Beispielen kennen gelernt,
deren griechische Nachbildung in Inhalt und Form^ insbesondere in
letzterer^ uns auf alexandrinischem Boden begegnen wird, ^ache es
so" heißen die regelmäßig wiederkehrenden Worte jener Übungsbücher.
Wir haben (S. 80 und 113) davon gesprochen, daß ägyptische Lehr-
bücher neben den Übungsbüchern vorhanden gewesen sein müssen.
Werden sie weniger eine herkömmliche unabänderliche Form besessen
haben als alles andere in dem Lande der sich stets gleichbleibenden
Überlieferung«!? Und sind jene euklidischen Schlußworte für Lehr-
sätze und Aufgaben nicht von anheimelnder Ähnlichkeit zu dem
ägyptischen ,,Mache es so"? Ist es femer nicht in hohem Grade wahr-
scheinlich, daß EudoxuS; von dem, wie wir sagten, das Y. Buch, daß
Theaetet, von dem Teile des X. und des XIII. Buches teilweise wört-
lich übernommen wurden, der gleichen Form sich schon bedienten?
Ist endlich wohl anzunehmen, Euklid habe eine für den Unterricht,
soweit er Gedächtnissache ist, ungemein zweckmäßige Form neu er-
funden, und diese Form sei nur der Geometrie, keiner anderen Wissen-
schaft zugute gekommen? Diese Gründe werden zwar noch nicht Ge-
wißheit hervorbringen; noch immer wird von manchen behauptet
werden, der Name euklidische Form sei durchaus gerechtfertigt, denn
Euklid sei der selbständige Erfinder derselben; aber andere werden
ebenso sicher mit uns der Überzeugung gewonnen sein, die ägyptische
Form eines Lehrbuches der Geometrie, in Griechenland eingedrungen,
seit überhaupt Geometrie dort gelehrt wurde, in Alexandria durch
die neuerdings ermöglichte Kenntnisnahme ägyptischer Originalwerke
aufgefrischt, habe bei Euklid nur ihre vollendete Abrundung erlangt.
Eines haben wir bei Besprechung dieser Ursprungsfrage still-
schweigend vorausgesetzt: daß nämlich dasjenige, was uns hand-
schriftlich als die Elemente des Euklid überliefert wurde, in der Tat
jenes Werk ist, wie es unter dem Griffel des Verfassers entstand.
Zweifel daran wären, trotz der ungemeinen Verbreitung, deren die
euklidischen Elemente im Altertum sich erfreuten, oder vielleicht
eben wegen dieser Verbreitung nicht unmöglich, denn gerade häufig
abgeschriebene Schriftstücke verderben leicht durch sich forterbende
und durch bei jeder Abschrift neu hinzutretende Fehler, wenn nicht
gar durch allmähliche Einschaltung von Randglossen, welche nach
und nach in den Text eindrangen, dem sie als Fremdlinge nur ange-
hören. Euklids Elemente sind in antiken Schriften nicht gar oft er-
wähnt^), aber die Übereinstimmung der genannten Buchemummer mit
*) Untersuchungen darüber von Ssvilius abgedruckt in Gregorys Vor-
Alexftndria. Die Elemente des Enklid. 277
der Ziffer^ welche sie in den Handschriften führt, ist meistenteils vor-
handen. Uns wenigstens ist nur ein Beispiel des Gegenteils bekannt
welches auf römischem Boden im 27. Kapitel zu besprechen sein wird.
Fremde spätere Zusätze sind in dem, was man die Elemente des
Euklid nennt, allerdings vorhanden. Eines solchen machte Theon
von Alexandria in seiner Ausgabe, exSoöig, der euklidischen Ele-
mente am Ende des VI. Buches sich schuldig, wie er selbst in seinem
Kommentare zum I. Buche des ptolemäischen Almagestes erzählt^).
Aus dieser ungemein wichtigen Stelle im Zusammenhange mit dem
Umstände, daß jener Zusatz des Theon seinem Inhalte nach sich voll-
ständig mit dem Zusätze zu Satz 33. des VI. Buches deckt, geht so-
mit hervor, daß es eine theonische Textausgabe der euklidi-
schen Elemente ist, deren wir uns bedienen, und daß wenn auch
nicht gerade zahlreiche, doch einige Änderungen durch jenen Schrift-
steller vom Ende des lY. S. stattgefunden haben mögen.
Theon kann es vielleicht gewesen sein, welcher den berüchtigten
11. Grundsatz des I. Buches: „Zwei Gerade, die von einer dritten ge-
schnitten werden, so daß die beiden inneren an einerlei Seite liegen-
den Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte sind, treffen genugsam
verlängert an eben der Seite zusammen'^ an diese unpassende Stelle
brachte, während es gar kein Grundsatz, sondern die Umkehrung des
Satzes 17. des I. Buches ist^), und dort als Folgerung ohne Beweis
ausgesprochen immer noch frühzeitig genug stehen würde, um bei
Satz 29. des I. Buches benutzt zu werden, wie es der Fall ist.
Theon mag auch die Schuld einiger Definitionen des Y. und
VI. Buches treffen, welche häufig angegriffen worden sind^).
Eine Definition des V. Buches, nämlich die 5., hat freilich un-
schuldigerweise solche Angriffe erlitten, veranlaßt, wie im folgenden
Bande besprochen werden muß, durch Übersetzungsirrtümer zweier
Sprachen. Diese Definition geht offenbar ursprünglich auf Zeiten
zurück, die vor Euklid liegen. Sie will erklären, was es heiße,
wenn man von vier Größen sage, daß sie in Proportion stehen. Da
von Größen die Rede ist und nicht von Zahlen, so mußte die Defi-
nition so weit gefaßt werden, daß auch Inkommensurables hinein-
paßte, und dieses erreichte der Verfasser, sei es Endoxus oder wer
sonst gewesen, indem er außer den Ghrößen A, B, F, ^ noch
irgend zwei ganze Zahlen ft und v sich dachte und behauptete, es
rede zn Beinei EnklidauBgabe. Die gleichen ünteranchimgen mit einigen neuen
Zntaten bei Hankel 886—888.
^) Cammentaire de Theon mtr la eomposiUan maiMmatique de Ptolemee ^dit.
Halms I, 201. Paris 1821. *) Das erkannte schon Savilins. ') Ausfahrliches
hierüber bei Hankel 889—401.
278 13. Kapitel.
sei AiB ^ r-, d, wofern immer wemi fiA~ivB zugleich auch
fiF^v^. Der Wortlaut ist folgender: ,^ einerlei Verhältnis sind
Größen A, B, F, ^, die erste zur zweiten und die dritte zur vierten,
wenn von beliebigen Gleichvielfachen der ersten und dritten A, F
und beliebigen Gleichvielfachen der zweiten und vierten B, ^ die
Vielfachen der ersten und dritten zugleich entweder kleiner oder eben
so groß oder größer sind als die Vielfachen der zweiten und vierten
nach der Ordnung miteinander verglichen."
13. Kapitel.
Die ttbrigen Schriften des Euklid.
Euklid hat neben und außer den Elementen noch mehrfache
andere Schriften verfaßt, die uns leider nicht sämtlich vollständig
erhalten sind. So ist uns von einem Werke, welches gewiß höchst
interessant war, nur die fast mehr als notdürftige Schilderung übrig
geblieben, die Proklus davon mit folgenden Worten gibt: Auch über-
lieferte er Methoden des durchdringenden Verstandes mit deren Hilfe
wir den Anfänger in dieser Lehre in der Aufsuchung der Fehlschlüsse
üben und selbst unbetrogen bleiben können. Die Schrift, durch
welche er uns diese Ausrüstung verschafR;, betitelt er Trugschlüsse,
tlf^vädQia. Er zählt die verschiedenen Arten derselben der Reihe
nach auf und übt bezüglich jeder unseren Verstand in allerlei Lehr-
sätzen, indem er dem Falschen das Wahre gegenüberstellt und den
Beweis des Truges mit der Erfahrung zusammenhält^).
Verloren sind auch die drei Bücher der Porismen, welche
Euklid verfaßte, deren Inhalt jedoch aus Spuren in genügender Weise
erkannt werden konnte, um eine vermutlich in der Hauptsache
richtige Wiederherstellung zu gestatten^). Mit den genannten Spuren
hat es folgendes Bewandtnis. Pappus hat in seiner Mathematischen
Sammlung, von welcher schon wiederholt die Bede war, neben eigenen
Untersuchungen auch vielfach Auszüge aus fremden Schriften gegeben,
welche gleichzeitig bis zu einem gewissen Grade erläutert werden.
*) ProkluB (ed. Friedlein) 70. *) Les trois livres de Porismes d'Euclide
retablia pour Ja premüre fais d'apr^ Ja notiee et Jes Jemmes de Pappus et can-
formSment au sentiment de B, Simson sur Ja forme des enoncis de ces propositians
par M. ChasleB. Paris 1860. Heiberg, Euklidstndien S. 66—79 sacht aller-
dings die Behauptung zn begründen, die OhasleBsche Wiederherstellung der
Porismen sei noch keineswegs als endgültig anzusehen.
Die übrigen Schriften des Euklid. 279
Unter diesen fremden Schriften befinden sich denn auch die eukli-
dischen Porismen^ von welchen im YII. Buche der Sammlung die
Rede ist, und zu deren Verständnis Pappus eine Anzahl von Lemmen
mitteilt*). Freilich wäre der Gebrauch, welchen man von diesen Hilfs-
sätzen allein machen könnte, um aus ihnen den Inhalt des Werkes,
zu welchem sie erfunden sind, zu erschließen, kein unbedingter. Wir
besitzen nämlich auch noch Lemmen des Pappus zu Werken, deren
Urschrift nicht verloren gegangen ist, und an diesen zeigt sich, daß
der geometrische Scharfsinn des Verfassers ihn nicht selten weit ab-
seits führte, und daß er sich wohl gerade dadurch verleiten ließ etwas
verschwenderisch mit der Benennung Lemma umzugehen. Es kommen
Sätze bei Pappus vor, welche so gut wie in gar keiner Beziehung
zu den Schriften stehen, als deren Hilfssätze sie bezeichnet werden,
und wir haben zum voraus keinerlei Gewähr daf^Lr, daß es sich mit
den Hilfssätzen zu den euklidischen Porismen nicht ebenso verhalte.
Nachträglich scheint freilich die gelungene Wiederherstellung, von
der wir sprachen, und welche für das tiefe Eindringen ihres Ver-
fassers in den geometrischen Geist der Alten ein glänzendes Zeugnis
ablegt, jene Gewähr zu liefern. Es ist schwer an einen ZuSeJI zu
denken, wo die Ergebnisse vollste Übereinstimmung mit den 38 Lemmen
des Pappus, mit der Inhaltsangabe der drei Bücher Porismen, wie sie
bei ebendemselben sich findet, mit der Erklärung des Wortes Porisma
bei Pappus und mit einer solchen bei Proklus^) zutage fördert.
Der sprachliche Zusammenhang des Wortes Porisma, ytögi^öfiaj
mit nslQtOy mit Pore, mit parare, mit forschen, mit dem Sanskrit-
Worte pri TJ" läßt einen GrundbegriflF des Vorwärtsbringens wohl er-
kennen, doch ist damit nur die eine Bedeutung von Porisma als
Zusatz, corollarium, gegeben, welche gleichfalls durch das Vor-
kommen in geometrischen Schriften bestätigt wird. Porisma als
Eunstname einer besonderen für sich bestehenden Gkittung von Sätzen
wird dadurch um nichts klarer. Von diesen sind dagegen ausdrück-
liche Definitionen vorhanden. Pappus in der Einleitung zu seinem
VII. Buche sagt, Porisma sei ein Ausspruch, bei welchem es sich
um die Porismierung des Ausgesprochenen handle, und fügt dieser
Erklärung durch ein fast gleiches Wort die Er^uterung bei: „Diese
Definition des Porisma wurde von den Neueren verändert, welche
nicht alles finden können, sondern auf die Elemente gestützt nur
zeigen, daß das, was gesucht wird, vorhanden ist, nicht aber dieses
selbst finden. So schrieben sie, obschon durch die Definition selbst
und das Erlernte widerlegt, mit bezug auf einen Nebenumstand, ein
^) PappuB (ed. Hultflch) 648 sqq. ') Proklus (ed. Fiiedlein) 801 sqq.
280 18. Kapitel.
Porisma sei das, was zur Hypothese eines Ortstheorems fehle/' Eine
weitere Definition, sagten wir oben, gebe Proklus. Sie enthalt gleich-
falls zweierlei^ wenn auch nicht dieselben beiden Unterscheidungen
wie Pappus sie trennt. „Einmal nennt man es ein Porisma, wenn
ein Satz aus dem Beweise eines anderen Satzes mit erhalten wird, als
Fund oder gerade vorhandener Gewinn bei dem Gresuchten, zweitens
aber auch, wenn etwas zwar gesucht wird, aber um von der Er-
findung Gebrauch zu machen und nicht von der Entstehung oder der
einfachen Anschauung .... Man hat es nicht mit der Entstehung
des Gesuchten zu tun, sondern mit dessen Erfindung, und auch eine
bloße Anschauung genügt nicht. Man mu6 das Gesuchte in das Ge-
sichtsfeld bringen und vor den Augen ausfQhren. Von dieser Art
sind auch die Porismen, welche Euklid schrieb, als er seine Bücher
der Porismen verfaßte.'' Diese Erklärungen haben gewiß keinen An-
spruch auf den Ruhm unbedingter Deutlichkeit, aber eines lassen sie
erkennen: daß das Wort Porisma allmählich einen anderen Sinn an-
nahm, als es ursprünglich besaß. Man versteht diese Begriffsver-
schiebung jetzt gewöhnlich so, daß die verhältnismäßig jüngeren
Schriftsteller — jünger im Sinne des Pappus gesagt für diejenigen,
welche auftraten, seit es Elemente gab — dabei an einen Neben-
umstand sich hielten, der von den Alten nicht berücksichtigt wurde,
daß aber jedenfalls zu allen Zeiten das Merkmal untrüglich hervor-
trat, daß ein Porisma gewissermaßen eine Verbindung von Theorem
und Problem war, ein Theorem, welches ein Problem anregte
und einschloß. Ein sehr allgemeines Beispiel davon bildet auf
einem der Mathematik durchaus fremden Gebiete die ärztliche Dia-
gnose. Sie ist ein wahres Porisma. Sie erhärtet als Theorem den
gegenwärtigen Zustand des Ii[ranken, wobei sie ebensowohl die bei
allen Individuen gemeinsamen Erscheinungen der bestimmten Krank-
heitsform, als die von einem Menschen zum anderen veränderlichen
Naturkundgebungen berücksichtigt. Sie schließt aber auch ein Problem
in sich: die weitere Entwicklung des Krankheitsprozesses voraus-
zusehen und womöglich zu leiten. Sie zeigt sich als unvollständig,
so lange nicht eben dieses Problem seiner Lösung entgegengefahrt
wird. Übersetzen wir nun eben diese Gedankenfolge in die Sprache
der Mathematik, so können wir sagen: Ein Porisma ist jeder un-
vollständige Satz, welcher Zusammenhänge zwischen nach
bestimmten Gesetzen veränderlichen Dingen so ausspricht,
daß eine nähere Erörterung und Auffindung sich noch
daran knüpfen. Ein schon von Proklus angegebenes Beispiel liefert
etwa der Satz, daß, wenn ein Kreis gegeben ist, der Mittelpunkt des-
selben immer gefunden werden könne, denn an ihn knüpft sich die
Die übrigen Schriften des Euklid. 281
Aufgabe, die Konstruktion zu ermitteln , durcli welche man den
Mittelpunkt wirklich erhält, mit Notwendigkeit an. Oder um ein
zweites den Ghiechen noch durchaus unverständliches Beispiel zu
wählen, so ist es ein Porisma, wenn man sagt: Jede rationale ganze
algebraische Funktion einer Veränderlichen könne immer in einfachste
reelle Faktoren zerlegt werden, denn an diesen Satz knüpft sich un-
mittelbar die weitere Frage, von welchem Grade jene einfachsten
Faktoren sein werden, sowie die mit den Mitteln gegenwärtiger Al-
gebra nicht lösbare Aufgabe in jedem einzelnen FaUe die betreffen-
den einfachsten Faktoren selbst aufzufinden. Wenn durch diese Aus-
einandersetzung der Begriff des Porisma im älteren Sinne des Wortes
zu einiger Klarheit gelangt sein dürfte, so können wir jetzt auch die
spätere Bedeutung des Wortes ins Auge fassen.
Nachdem man nämlich bemerkt hatte, daß die Veränderlichkeit
mitunter in der Ortsveränderung von Punkten bestehe, so klammerte
man sich an diesen Nebenumstand fest und setzte als Regel, daß das
Veränderliche ausschließlich von der Art sein sollte, daß
man es mit einem mangelhaften Ortstheoreme zu tun habe.
Eines der berühmtesten Porismen in diesem Sinne, welches bei Pappus
sich erhalten hat^), lautet in der Sprache heutiger Geometrie etwa
so: Schneiden die Linien eines vollständigen Vierseits sich in sechs
Punkten, von denen drei in einer Geraden liegende gegeben sind,
und sind von den drei übrigen Punkten zwei der Bedingung unter-
worfen je auf einer gegebenen Geraden zu bleiben, so wird auch der
letzte Punkt eine Gerade zum geometrischen Orte haben, welche aus
den vorhandenen Angaben bestimmt werden kann. Man sieht augen-
blicklich, erstens daß es sich hier um einen geometrischen Ort
handelt, zweitens daß in der Hypothese die Lage der von zwei
Punkten beschriebenen Geraden nicht näher bezeichnet ist, daß also
an der Hypothese etwas fehlt, drittens daß demgemäß auch die Fol-
gerung an Bestimmtheit zu wünschen übrig läßt, daß aber viertens
die Folgerung zu vollständiger Bestimmtheit ergänzt werden kann,
indem man die Lage der dritten Geraden zu den gegebenen Raum-
gebilden in Beziehung setzt, sie als eine darzustellende Funktion der-
selben betrachtet. Mit anderen Worten: die Ortsveränderung eines
Punktes ist in Abhängigkeit gebracht zu den Ortsveränderungen
zweier Punkte, so daß sie der Art nach bestimmt ist^ der Lage nach
aber erst bestimmt wird, wenn jene Ortsveränderungen der beiden
anderen Punkte, sowie drei feste Punkte wirklich gegeben sind.
Dieses vollständiger als die übrigen erhaltene Porisma wurde,
') Pappus yn, piaefatio (ed. Hultsch) 662 sqq.
282 13. Kapitel.
wie wir gleichfalls durch Pappus wissen, in zehn einzelnen Fallen
behandelt, je nach der Verschiedenheit der Lage der einzelnen Punkte
und Geraden. Man erkennt an diesem einen Beispiele, welche ge-
waltige Ausdehnung eine Sammlung von Porismen gewinnen konnte,
wenn die teils als Bedingungen, teils als Ergebnisse in jedem Porisma
vorkommenden geometrischen Orter jeder beliebigen Gattung von
Raumgebilden angehören durften. Euklid legte sich die freiwillige
Beschrankung auf, nur solche Orter zu benutzen, deren Lehre aus
seinen Elementen zur Genüge bekannt war. In den beiden ersten
Büchern seiner Porismen treten nur Gerade auf, in dem dritten Buche
außer solchen auch Ereise. Trotz dieser engen Beschrankung waren
171 Sätze in dem Werke enthalten, welche Pappus je nach den Er-
gebnissen, also* abseits der Bedingungen, in 29 Gattungen abgeteilt
hat. Eine Gattung war es z. B., wenn sich herausstellte, daß ein
Punkt auf einer der Lage nach .bekannten Geraden liegen müsse; eine
zweite, wenn man erfuhr, daß eine gewisse Gerade in allen ihren
Lagen durch einen bestimmten Punkt gehen müsse; eine dritte, wenn
wieder eine bewegliche Gerade auf zwei gegebenen Geraden Abschnitte
von bestimmten Produkten bildete, während man bei der Aufstellung
jener Gattungen als solcher zunächst davon absah, welcherlei Be-
dingungen in jener ersten Gattung die Bewegung des Punktes, in den
beiden anderen die Bewegung der Geraden regeln. Von dieser Auf-
fassung ist wenigstens die von uns schon gerühmte Wiederherstellung
der euklidischen Porismen ausgegangen, auf welche fär die genauere
Kenntnis des Gegenstandes verwiesen werden muß. Er ist trotz des
Scharfsinnes, welchen der neue Bearbeiter als Geometer wie als Histo-
riker an den Tag legte, nicht so weit über allen und jeden Zweifel
erhaben, daß wir es verantworten könnten über die Ergebnisse der
Wiederherstellung unter dem Yerfassemamen des Euklid zu berichten.
Nur Eines entnehmen wir ihr noch: die Verwandtschaft, welche Euklids
Porismen nach zwei Seiten hin besaßen. Im Hinblicke auf ihren In-
halt, auf die Lehre von der veränderlichen Lage grenzten sie an die
sogenannten geometrischen Örter; in ihrer Form näherten sie sich
einem anderen euklidischen Werke, den Daten.
Die Daten^), dsdögiBvay des Euklid sind vollständig auf uns ge-
kommen, versehen mit einer Vorrede des Marinus von Neapolis
in Palästina, eines Schülers des Proklus, in ihrer Echtheit bestätigt
') Eine deatsche Übersetzung hat J. F.Wurm (Berlin 1826) herauBgegeben,
den griechischen Text der ersten 24 Sätze nach einem münchner Kodex
Fr. Buchbinder in dem Programm der Landesschule Pforta fOr 1866: Euklids
Porismen und Data. Die letzte Ausgabe ist die von H. Menge als 6. Band der
Euklidausgabe (1896).
Die übrigfen Schriften des Euklid. 283
durch eine Beschreibung des Pappus^ welche wenn auch nicht in
allen Punkten, doch der Hauptsache nach mit unserem Texte über-
einstimmt^). Was man unter einem Gegebenen, dsdöfievov, zu ver-
stehen habe, sagt Euklid in einer Reihe yon Definitionen, welche an
der Spitze dieser Schrift stehen. Der Grröße nach gegeben heißen
Räume, Linien und Winkel, wenn man solche, die ihnen gleich sind,
finden kann. Ein Verhältnis heißt gegeben, wenn man ein Verhältnis,
welches mit jenem einerlei ist, finden kann. Der Lage nach gegeben
heißen Punkt^ Linien und Winkel, wenn sie immer an demselben
Orte sind usw. Nach diesen Definitionen folgen 95 (Pappus zufolge
nur 90) Sätze, in welchen nachgewiesen wird, daß, wenn gewisse
Dinge gegeben sind, andere Dinge gleichzeitig mitgegeben sind. Zur
besseren Einsicht in den Gegenstand heben wir einige Sätze aus den
verschiedensten Teilen der Schrift hervor.
Satz 1. Gegebene Gh*ößen haben zueinander ein gegebenes Ver-
hältnis.
Satz 3. Wenn gegebene Ghrößen, wie viele ihrer sein mögen,
zusammengesetzt werden, so ist ihre Summe gegeben.
Satz 25. Wenn zwei der Lage nach gegebene Linien einander
schneiden, so ist ihr Durchschnittspunkt gegeben.
Satz 40. Wenn in einem Dreiecke jeder Winkel der Größe
nach gegeben ist, so ist das Dreieck der Art nach gegeben.
Satz 41. Wenn in einem Dreiecke ein Winkel gegeben ist und
die um diesen Winkel liegenden Seiten ein gegebenes Verhältnis zu-
einander haben, so ist das Dreieck der Art nach gegeben.
Satz 54. Wenn zwei der Art nach gegebene Figuren ein ge-
gebenes Verhältnis zueinander haben, so haben auch ihre Seiten zu-
einander ein gegebenes Verhältnis.
Satz 58 imd 59. Wenn ein gegebener Raum einer gegebenen
geraden Linie angefügt, aber um eine der Art nach gegebene Figur
zu klein, skkHütov (zu groß, imiQßakXov) ist, so sind die Seiten der
Ergänzung (des Überschusses) gegeben.
Satz 84 und 85. Wenn zwei Grerade einen gegebenen Raum
unter einem gegebenen Winkel einschließen und ihr Unterschied (ihre
Summe) gegeben ist, so ist jede derselben gegeben.
Satz 89. Wenn in einem der Größe nach gegebenen Kreise eine
der Ghröße nach gegebene Gerade gegeben ist, so begrenzt sie einen
Abschnitt, welcher einen gegebenen Winkel faßt.
Die Vergleichung dieser Proben mit dem, was über Porismen
gesagt wurde, läßt augenblicklich die angekündigte Formverwandt-
*) PappuB VII (ed. Hnltach) pag. 638—640.
284 13. Kapitel.
schaffc erkennen. Auch hier scUießt das Theorem, in dessen Grewande
die Sätze aufzutreten pflegen, ein künftiges Problem ein, und die
Beweisführung erfolgt fEUst regelmäßig so, daß jenes Problem gelöst
wird. So ist in dem oben angeführten Satz 3. die Aufgabe mit ein-
geschlossen, die Summe der gegebenen Grrößen auch wirklich zu
finden, und in der Tat wird der Satz dadurch als richtig erwiesen,
daß man zwar nicht die Summe selbst, denn dieses würde nicht in
dem Charakter des Buches der Gegebenen liegen, aber eine der Summe
gleiche Größe darstellt. Aber auch dafür ist umgekehrt gesorgt,
daß man nicht Daten und Porismen ganz verwechseln könne. Da-
gegen schützt der gewaltige Unterschied des Inhaltes, der sich kurz
dahin bezeichnen läßt, daß bei den Daten die Bedingung der ver-
änderlichen Größe wegfällt, welche zum eigentlichen Wesen des
Porisma gehört und dessen wissenschaftliche Stellung nach unseren
heutigen Begriffen zu einer weit höheren macht als die der Daten, deren
eigentliche Berechtigung uns fast zweifelhaft erscheint, weil in ihnen
im Gnmde nichts steht, was nicht schon in anderer Form und anderer
Reihenfolge in den Elementen steht oder wenigstens stehen könnte.
Die Data, kann man sagen, sind Übungssätze zur Wiederauf-
frischung der Elemente; die Porismen sind Anwendungen derselben
von selbständigem Werte. Der Stoff, welcher dem, der die Daten
auswendig weiß, zu Gebote steht, führt ihn doch nicht über die
Elemente hinaus; der Stoff, welcher in den Porismen dem Gedächt-
nisse sich einprägt, kommt in der Lehre von den Örtem, in der
höheren Mathematik der Griechen, zur Geltung. Daten kann es in
frühester Zeit gegeben haben, Porismen im euklidischen Sinne erst
seitdem der Ortsbegriff entstand.
Die nahen Beziehungen der Daten zu den Elementen lassen sich
auch auf jenem Gebiete verfolgen, welches ein gemischtes ist, insofern
dort Arithmetisches und Algebraisches geometrisch eingekleidet er-
scheinen. Vergleichen wir z. B. Satz 58. und 59. mit den Aufgaben
in Satz 28. und 29. des VI. Buches (S. 266), so liegt die Wechsel-
verbindung auf der Hand ^). Satz 84. und 85. lehren aus xy « b*
und x^ y ^ a die Wurzeln der beiden Gleichungen, oder, was auf
dasselbe hinausläuft, die Wurzel der quadratischen Gleichung x* T- 6*
» ax zu finden^). Wir erinnern dabei an den 11. Satz des IL Buches
^) Matthiessen, Gnindzüge der antiken nnd modernen Algebra der
litteralen Gleichungen S. 928—929 bat darauf hingewiesen. *) Darauf dürfte
Chasles, Apercu historique sur Vorigine et U developpement des mähodes en
g^ometrie, 2. Edition. Paris 1876, pag. 11, Note 2 oder deutf»che Übersetzung
von Sohncke. Halle 1839, S. 9, Anmerkung 11 zuerst aufmerksam gemacht
haben. Dieses Werk heißt bei uns künftig Ghasles, Apercu hist.
Die übrigen Schriften des Eaklid. 285
der Elemente (S. 263), in welchem die Gleichung x* + ax ^ a^ er-
kannt wurde, ein besonderer Fall der Gleichung x* + ax =» fc* des
29. Satzes des VI. Buches. Wir erinnern an die Gleichung x* + 6*
» ax des 28. Satzes des VI. Buches, und haben jetzt hier in den
Daten den einzigen noch übrigen Fall x' ^ ax + h^ der quadratischen
Oleichung mit lauter positiven Gliedern vor uns. Die Daten sind
hier die notwendige Ergänzung der Elemente. Der Schriftsteller, der
heide verfaßte, war im Besitz der Mittel eine Wurzel jeder quadrati-
schen Gleichung, welche überhaupt eine reelle Lösung zuläßt, zu
tinden. Darf aber das Bewußtsein hier eine große Gruppe von Pro-
blemen vor sich zu haben, deren Bedeutung nicht nur eine geometrische
ist, bei Euklid vorausgesetzt werden? Die geometrische Form, in
welcher jene Aufgaben bei Euklid erscheinen und welche man nicht
unpassend eine geometrische Algebra^) genannt hat, würde nicht
genügen, jedes algebraische Bewußtsein zu leugnen, denn jene Form
werden wir, als Überbleibsel alter Übung, bei Schriftstellern und in
Zeiten noch vorwalten sehen, denen man wohl eher umgekehrt das
geometrische Bewußtsein absprechen darf. Ist aber diese kleine
Schwierigkeit aus dem Wege geräumt, so nehmen wir keinen Anstand
die gestallte Frage voll zu bejahen. Euklid muß mit numerischen
<][uadratischen Gleichungen zu tun gehabt haben, denn nur daraus
läßt sich das Entstehen des X. Buches seiner Elemente erklären^),
und das ist die große Bedeutung, welche wir (S. 268) eben diesem
Buche zum voraus beigelegt haben.
Wie verhält es sich aber mit der Fähigkeit des Euklid auch
solche Gleichungen zu lösen, welche in durchaus anderem Gewände
erscheinen? In einer Sammlung griechischer Epigramme, von welcher
im 23. Kapitel die Rede sein wird, kommt als euklidisches Problem
«ines vor, welches in deutscher Übersetzung folgendermaßen lautet'):
Esel und Maultier schritten einher beladen mit Säcken.
Unter dem Drucke der Last schwer stöhnt* und seufzte der Esel.
Jenes bemerkt es und sprach zu dem kummerbeladnen Gefährten:
^, Alterchen, sprich, was weinst Du und jammerst schier wie ein Mägdlein?
Doppelt so viel als Du grad* trüg' ich, gäbst Du ein Maß mir;
Nähmst Du mir eines, so trügen wir dann erst beide dasselbe.''
Greometer, Du Kundiger, sprich, wieriel.sie getragen.
') Den Namen der geometrischen Algebra hat H. Zeuthei^ eingeführt.
^ Dieser feine und wichtige Gedanke ist zuerst ausgesprochen bei Zeuthen,
Die Lehre von den Kegelschnitten im Alterthume (deutsche Ausgabe von ß. von
Pischer-Benzon. Kopenhagen 1886), S. 24—26. S. A. Christensen, Ueber
Gleichungen vierten Grades im X. Buch der Elemente Euklids. Zeitschr. Math.
Phjs. XXXIV, Hi8t.-liter. Abtlg. S. 201—207 geht uns allerdings etwas zu weit.
-*) Tgl. Nesselmann, Algebra der Griechen S. 480.
286 13. Kapitel.
Wie verhält es sich mit der Berechtigung dieser Aufgabe^ den ihr
beigelegten Namen zu fuhren? Die meisten Schriftsteller leugnen
diese Berechtigung vollständig. Jedenfalls muß man zwei Dinge hier
unterscheiden, ob Euklid eine derartige Aufgabe lösen konnte und ob
er sie so, wie sie überliefert ist, löste oder gar stellte. An der Mög-
lichkeit der Lösung wird man nicht zweifeln. Schon Thymaridas
hatte (S. 158) Gleichungen ersten Grades mit mehreren Unbekannten
von einer gewissen Form lösen gelehrt, und Euklid dürfte, seiner
Gewohnheit nach alles an Linien versinnlichend, gesagt haben, wenn
man die Last des Maulesels durch eine Linie Ä darstellt, so wird,
wenn die Längeneinheit abgeschnitten ist, Ä— l als übrige Last der
bereits um die Einheit vergrößerten Last des Esels gleich sein; die
ursprüngliche Last des Esels war also A — 2, oder um 2 geringer
als die des Maultiers. Nimmt man zu A noch eine Längeneinheit
hinzu, so ist ^ + 1 doppelt so groß wie das um die Einheit ver-
minderte ^ — 2, oder wie -4 — 3, d. h. A+ l und 2-4 — 6 sind
gleiche Längen; daraus folgt A + 7 ^ A + A und A ^ 7 nebst
^ — 2 = 5. Solche Schlüsse, sagen wir, waren Euklid vollständig
angemessen, und die Durchführung von Satz 11. des U. Buches der
Elemente, die wir (S. 264) als Probe vorgenommen haben, dürfte
jedem Zweifel in dieser Beziehung begegnen. Ein ganz andres ist es,
ob die epigrammatische Form der Bätselfrage von Euklid herstamme.
Ähnliche Fragen werden uns wiederholt begegnen, teilweise auch auf
alte Quellen zurückgeführt. Jedenfalls dient die eine Aufgabe der
anderen zur Bestätigung, oder zur vernichtenden Kritik. Ist die eine
echt, dann kann auch die andere echt sein; ist die eine verhältnis-
mäßig späte Unterschiebung unter den Namen eines Verfassers, der
weniger als Verfasser, denn als Vertreter mathematischer Wissenschaft
gemeint ist, so daß euklidisches Problem nur heißen soll: Problem,
wie es Euklid zu lösen imstande war, dann dürfte das gleiche auch
für die andere Aufgabe gelten. Wir müssen uns enthalten eine Ent-
scheidung zu treffen, zu welcher dem Mathematiker so gut wie keine
bestimmenden Gründe vorliegen. Nur die vollständige Verschiedenheit
des Epigrammes von allen sonstigen euklidischen Schriften lassen wir
als Gegengrund gegen die Echtheit nicht gelten. Ein Gedichtchen
ist nun einmal keine Abhandlung. Beide müssen voneinander ab-
weichen, und daß es dem Ernste des Mathematikers nicht widerspricht,
auch einmal an die Scherzform der Poesie sich zu wagen, haben Bei-
spiele aller Zeiten bewiesen. Zudem würde dieser Gegengrund vollends
schwinden, wenn man zu der eben durch ein Wort angedeuteten Auf-
fassung sich bekennen wollte, Euklid habe die Aufgabe nicht gestellt,
sondern gelöst, und sie sei deshalb unter seinem Namen bekannt geblieben.
Die übrigen Schriften des Euklid. 287
Proklus berichtet*) noch von einer weiteren geometrischen Auf-
gabensammlung; welche Euklid yerfaßte und welche den Namen des
Buches von der Teilung der Figuren, tcbqI SiaiQBöearif ßcßkCov,
führte^). Bis in die zweite Hälfte des XVI. S. war diese Schrift,
abgesehen von den Auszügen aus derselben, von denen man nicht
wußte, daß sie daher stammten, für das Abendland verschollen. Da
fand John Dee um 1563 eine arabische Schrift gleichen Titels, welche
er, wiewohl Mohammed Bagdadinus (so lautet der Name in der
uns allein bekannten latinisierten Form) als Verfasser genannt war,
far euklidisch hielt, und deren lateinische Übersetzung er anfertigte,
die zuerst 1570 durch Dee in Gemeinschaft mit Commandino heraus-
gegeben wurde, und die alsdann in die Oregorysche Euklidausgabe
von 1702 Aufiiahme fand. Dees Vermutung hat an Wahrscheinlich-
keit gewonnen, seit Woepcke in Paris ein zweites arabisches Bruch-
stück auffand, welches mit dem Deeschen Manuskripte wenn auch
nicht wörtlich doch dem Wesen nach übereinstimmend, namentlich
eine Lücke jenes ersten Textes ergänzte. Proklus erwähnt nämlich
ausdrücklich Sätze über die Teilung des Kreises, und diese fehlten in
dem Deeschen, fanden sich in dem Woepckeschen Bruchstücke. Nimmt
man hinzu, daß in letzterem Euklid als Verfasser geradezu genannt
ist, so wird es fast zur Gewißheit, daß hier eine Bearbeitung des
euklidischen Textes vorliegt Eine wörtliche Übersetzung anzunehmen
hindern einige vorkommende mathematische Unrichtigkeiten, die einem
Euklid nicht wohl entstammen können'). Einige Beispiele der uns
erhaltenen Aufgaben sind folgende. Das Dreieck wie das Viereck
werden durch eine einer gegebenen Geraden parallele Linie nach ge-
gebenem Verhältnisse geteilt. Für das Fünfeck ist die Aufgabe nicht
ganz so allgemein gestellt, aber immerhin wird die Teilung desselben
nach gegebenem Verhältnisse verlangt, sei es von einem Punkte
einer Fünfecksseite aus, sei es durch eine zu einer Fünfecksseite unter
gewissen Voraussetzungen parallele Gerade. Endlich schließt die
pariser Handschrift, wie bemerkt, die Aufgaben ein, eine von einem
Kreisbogen und zwei einen Winkel bildenden Geraden gebildete Figur
durch eine Gerade in zwei gleiche Teile zu teilen, und von einem
gegebenen Kreise einen bestimmten Teil abzuschneiden, Aufgaben,
zu deren Lösung ein ziemlicher Grad geometrischer Gewandtheit
*) Proklus (ed. Friedlein) pag. 69 und 144. •) Vgl. Gregory in der
Vorrede zu Beinez Euklidauagabe. Woepcke im Journal Asiatique far Sep-
tember und Oktober 1851 und ganz besonders Ofterdinger, Beiträge zur Wie-
derherstellung der Schrift des Euklid über die Theilung der Figuren. Ulm 1868.
") Das bemerkte bereits Savilius, PraelecHones tresdeeim in principium EU-
mentorum Euclidis. Oxford 1621, pag. 17.
288 18- Kapitel.
erforderlich ist, wenn auch die Grundlage derselben durchaus ele-
mentarer Natur bleibt. Die Figur A B rd z. B. (Fig. 43) wird, wenn
E die Mitte der Sehne B-J be-
zeichnet, offenbar durch die ge-
brochene Linie AEF halbiert.
Wird alsdann j^Z parallel zxx AF
gezogen, so haben die Dreiecke
AZr und AET gleichen Inhalt,
und mithin halbiert auch die Ge-
rade rZ unsere Figur.
Einige andere Schriften des
Euklid können als die geistige Fort-
setzung seiner Porismen betrachtet
werden, indem sie sich zur höheren
Mathematik ihrer Zeit ordnen lassen: Vier Bücher über die Kegel-
schnitte und zwei Bücher über die Örter auf der Oberfläche.
Das letztgenannte Werk, die rönoi Ttgbg iiCKpdvetav, hat als Spur
außer seinem Titel nur vier Lemmen bei Pappus hinterlassen^). Wenn
man daher gemeint hat, Euklid habe in diesen Örtem auf der Ober-
fläche Umdrehungsflächen zweiten Ghrades behandelt *), so ist diese
Vermutung nur mit äußerster Vorsicht zu wiederholen. Größere
Wahrscheinlichkeit hat für uns die Auffassung'), jene Örter beträfen
Kurven auf Zylinderflächen, vielleicht auch auf Kegelflächen.
Das Werk über die Kegelschnitte ist gleichfalls bei Pappus er-
wähnt, welcher sogar behauptet, die vier ersten Bücher des ApoUonius
stützten sich wesentlich auf diese Vorarbeit des Euklid*). Man wird
dadurch leicht verleitet den Inhalt der Kegelschnitte des Euklid
einigermaßen zu überschätzen und insbesondere einen Zusammenhang
mit dem 44. Satze des I. Buches, dem 28. und 29. Satze des VI. Buches
der Elemente zu vermuten, der doch wohl nicht stattfindet. Wir
haben diese Sätze (S. 262 und 266) schon erwähnt, wir haben vorher
(S. 171) angekündigt, wir würden bei Gelegenheit der euklidischen
Geometrie auf die Wörter Parabel, Ellipse, Hyperbel und deren
Bedeutung eingehen, wir müssen jetzt diese Zusage einlösen. Wir
nehmen dabei zur größeren Einfachheit der Betrachtung an, daß die
Parallelogramme, von welchen in jenen drei Sätzen der Elemente die
Bede ist, immer Rechtecke seien; bei schiefwinkligen Parallelogrammen
wird die Behandlung jener Aufgaben langwieriger, aber keineswegs
wesentlich schwieriger.
') PappTiB YR propos. 286 sqq. (ed. Hultach) pag. 1004 sqq. *) Chasles,
Äpergu JUst, 278. (Deutsch: 272.) *) Heiberg, Euklidstadien S. 81—83.
^ PappaB VU Prooemium (ed. Hnltsch) pag. 672.
Die übrigen Schriften des Euklid.
289
rsy
\
^
^
B ^
Vig. 44.
Es sei (Fig. 44) AE^p eine gegebene Länge senkrecht zu AS
aufgetragen; ist nun femer AT gegeben, so gibt es immer einen ein-
zigen Punkt ^y welcher zur Bildung des RecljLteckB ABZ^ führt,
das einen bekannten Flächenraum, näm-
lich den des Quadrates über AT, oder
über der der AT gleichen ^E, besitzt.
Wählt man umgekehrt bei bekanntem
AB'^p auf der Geraden A S einen be-
liebigen Punkt ^, so gibt es senkrecht
über und unter ^ die Punkte E, E\
welche das Quadrat von z/£ {/^E')
dem Rechtecke aus p und Ad gleich
werden lassen. Werden verschiedene Punkte J gewählt, so nimmt
auch E verschiedene Lagen an, aber immer ist das an ^^ angelegte,
naQccßaXX6(i€vov , Rechteck dem Quadrate über ^fE genau gleich.
Nennen wir nach heutigem Brauche Ad ^ x, dE = y, so spricht
sich die letzte Bemerkung symbolisch y^=^px aus, d. h. der geome-
trische Ort von Ey wenn wir einen solchen durch das Fortrücken
von J auf AS erzeugt denken, ist eine Parabel. Da bei einer
solcheli Anlegung (Tcagafiokif) das Produkt zweier Faktoren dem zweier
anderer gleichgesetzt ist, so kann man dieselbe auch zur Division
(fiBQKJiiög) einer Zahl durch eine andere verwenden, und in der Tat
definiert sie ein alter Scholiast zum VI. Buche der Euklidischen
Elemente geradezu in dieser Weise ^).
Außer dem AB ^^p sei
(Fig. 46) auf der dazu senk- |
rechtend S ein Stück AA^a
bekannt, so ist ABKA ein
durchaus gegebenes Rechteck,
welchem jedes andere Recht-
eck ähnlich ist, dessen B gegen-
überliegende Winkelspitze H
auf der Diagonale BA des
erstgenannten Rechtecks sich
befindet. Ist nun wieder ein
Flächenraum — das Quadrat über AF oder JE — gegeben, so wird
es einen einzigen Punkt H der BA geben, mit dessen Hilfe das Recht-
eck AJH& gleich jenem Flächenraum wird, oder mit anderen
*) Heibergs Euklidsusgabe Bd. Y, 347 lin. 20 TeagaßoXi} nagä tolg na^ri-
luttmolg Xiyerai {> iiSQiaiiog' naQußaXstv yccQ ägid'nbv nagcc Scgi^iiov iaxi th
lugiöai xbv \Liilova hg xbv ilaxtova i]roi dd^ai, nocdnig 6 iXatTcav nsQiix^^^
vnb Tov luiiovog.
Cautob, Geftchichte Abt Mathematik I. 3. Aufl. 19
Flg. 4B.
290
13. Kapitel.
Worten, welcher es möglicli macht, daß das an AB angelegte Recht-
eck außer dem Teile A0 von AB^ welchen es mit dem dem Qua-
drate von AT gleichen Flächenraume in Anspruch nimmt, noch ein
Stückchen 0B übrig läßt, ikkslTCBi, über welchem das dem Rechtecke
ABKA ähnliche kleine Rechteck &BZH steht. Denken wir uns
auch hier die Aufgabe umgekehrt, so wird zu jedem Punkte A ein
Punkt E senkrecht über ihm, ein Punkt E' senkrecht unter ihm ge-
funden werden können, so daß das Quadrat von AE dem jetzt be-
kannten Rechtecke AAHQ, dessen Eckpunkt H auf der Diagonale
BA des vollständig gegebenen Rechtecks ABKA sich befindet, gleich
sei. Auch hier ist der symbolische Ausdruck übersichtlicher. Ist
nämlich 0B^ a - Py wo a eine Zahl bedeutet, so muß QH^a-a
sein, und die Fläche ®BZH ist
== a' • ap. Mit Hilfe von AA = x,
AE = y werden wir also schi-ei-
.ben y^ =- px — a^ ' ap, d. h. der
geometrische Ort von JS, wenn
wir einen solchen durch das
Wechseln der Lage von A er-
zeugt denken, ist eine Ellipse.
Entsprechen (Fig. 46) die
griechischen sowohl als die latei-
nischen Buchstaben denen des
vorigen Falles mit dem unter-
schiede, daß AA^a jetzt auf
der jenseitigen Verlängerung von
AS aufgetragen, im übrigen aber der Punkt H wieder so gewählt
wird, daß er auf der verlängerten Diagonale AB des Rechtecks ABKA
aus den Seiten a und p liegt, daß also die Rechtecke ABKA und
0BZH einander ähnlich sind, und das Rechteck AAH& denselben
Flächenraum besitzt, wie das Quadrat über AT oder AEy so ist dabei
die Forderung erfüllt, daß das vji AB angelegte Rechteck, um den
ihm zugewiesenen Flächenraum zu erlangen, über AB hinausreicht,
{)naQßikkeiy und zwar mit einem dem gegebenen Rechtecke ABKA
ähnlichen Rechtecke. Es ist fast überflüssig aufs neue hervorzuheben,
daß man auch diese Aufgabe so umzukehren imstande ist, daß nicht
mehr H sondern E, beziehungsweise £', gesucht werden und die
Gleichung y* =« jpa; -j- a* • ap sich erfüllen soll. Der geometrische Ort
von Ej wenn wir einen solchen durch Wechsel der Lage von A er-
zeugt denken, ist eine Hyperbel.
Die Dinge, welche wir hier auseinandergesetzt haben, lassen sich
in größter Kürze in die jetzt verständliche Ausdrucksweise zusammen-
^ ^[ ^ ^
r ^V^f
\ ^'
JT
Vig. 46.
Die übrigen Schriften des Euklid. 291
fassen, ,dafi es drei geometrische Aufgaben der Flächenanlegung gebe,
sämtlich pythagoräischen Ursprunges, sämtlich in Euklids Elementen
aufbewahrt, bei deren Ausspruch die drei Zeitworter Yorkommen,
welche den Kamen der Parabel, Ellipse, Hyperbel zugrunde liegen.
Bei ümkehrung dieser Aufgaben, eine ümkehrung aber, welche in
den euklidischen Elementen nicht vorkommt, würden als geometrische
Örter eben jene Kurven entstehen müssen.
Jetzt sind wir imstande die Fragen genauer zu stellen, um deren
Beantwortung willen wir gerade hier auf die Aufgaben pjthagoräischer
Flächenanlegung näher einzugehen veranlaßt waren. Hat Euklid, von
dem wir wissen, daß er über Kegelschnitte schrieb, die ümkehrung
jener Aufgaben, für die der Natur der in ihnen vorkommenden Kurven
nach in den Elementen kein Platz war, überhaupt gekannt? Haben
schon vor Euklid die Pythagoräer das Auftreten dieser Kurven und
ihre Eigenschaften bemerkt, die freilich nicht in Form der drei
Gleichungen, deren wir uns bedienten, um kürzer sein zu dürfen, aber
in einem geometrischen Wortlaute sehr wohl von einem Griechen ver-
standen werden konnten? Hat EukUd erkannt, daß diese in der
Ebene erzeugten Kurven dieselben seien, welche auf dem Mantel
geschnittener Kegel entstehen?
Man hat diese Fragen verschiedentlich beantwortet^). Uns
scheinen sie insgesamt verneint werden zu müssen. Um mit der
letzten anzufangen, so hat Euklid die Identifikation der Kurven von
den genannten Eigenschafben, die sich auf Flächenanlegung bezogen,
mit Kegelschnitten keinesfalls gekannt, weil nach des Pappus aus-
drücklichem Zeugnisse Apollonius erst diese doppelte Entstehungs-
weise entdeckte'). Die Bekanntschaft der Pjthagoiäer mit jenen
Kurven werden wir gleichfalls leugnen dürfen, wenn wir nur zu be-
gründen vermögen, daß auch die erste Frage nicht zu bejahen ist,
daß vielmehr Euklid, als er die Elemente schrieb, von jener Umkehr,
von den dabei entstehenden krummen Linien, ganz abgesehen von
ihrer Übereinstimmung mit Kegelschnitten, nichts wußte. Das scheint
uns daraus zu schließen gestattet, weil er sonst in den Elementen
die drei Aufgaben, welche schon um ihres gemeinsamen Ursprungs
bei den Pythagoräem willen bis zu einem gewissen Grade zusammen-
gehörten, wenn sie eine weitere Zusammengehörigkeit dadurch an den
Tag gelegt hätten, daß sie alle drei zu eigentümlichen Kurven führten,
mutmaßlich nicht getrennt hätte.
^) Ffir die Bejahung Arneth, Geschiclite der reinen Mathematik (Stutt-
gart 1852) S. 92—93, an dessen Darstellung wir uns hier vielfach anlehnten
ohne seine Folgerungen zu teilen und ganz besonders Zeuthen, Die Lehre von
den Kegelschnitten im Alterthum. *) Pappus', VII Prooemium (ed. Hultsch) 67i.
19*
292 18. Kapitel.
Es ist wohl richtig, daß die Sätze 28. und 29. des VI. Buches
erst behandelt werden konnten, wo der Begriff der Ähnlichkeit be-
kannt war; es ist eben so richtig, daB Satz 44. des I. Buches schon
vor dem VI. Buche Verwertung fand; aber Euklid war nicht der
Mann, dem eine kleine Umformung dieses 44. Satzes des I. Buches
sonderliche Mühe verursacht hätte, so daß er den Sinn desselben in
anderem Wortlaute im VI. Buche neuerdings neben den verwandten
Aufgaben wiederholen konnte, wie er es mit dem goldenen Schnitte
gemacht hat, von dem bei der Übersicht der Elemente die Rede war.
Euklid lehrte ihn als 11. Satz des IL Buches; er wandte ihn im
10. Satze des IV. Buches an; er brachte ihn um des Zusammen-
hanges willen im 1. Satze des XIII. Buches in anderer Form noch
einmal. Das Gleiche wäre für Satz 44. des I. Buches zu erwarten,
wenn der Verfasser der Elemente die Parabel, die Ellipse, die Hyperbel
als Kurven in der Ebene gekannt hätte. Daß sie als solche auch in
den euklidischen Büchern von den Kegelschnitten nicht vorkommen
konnten, ist durch den Titel jener Bücher festgestellt, und so scheint
unser nach allen Seiten verneinendes Urteil auf ziemlich sicheren
Füßen zu ruhen.
Wenn wir so ausgeschlossen haben, was in den vier BQchem der
Kegelschnitte nach unserem Dafürhalten nicht gestanden haben kann,
so wissen wir doch von mancherlei Dingen, die dort ihren Platz
finden mußten. Vor allem werden dort diejenigen Dinge gestanden
haben, welche Menächmus schon kannte, insbesondere werden die
Asymptoten vorgekommen sein, mit deren Eigenschaften Menächmus
vertraut war. Vorgekommen wird auch sein, was in einer Stelle
der Phaenomena wiederholt ist, daß der Schnitt, welcher einen Kegel
oder einen Zylinder nicht parallel zur Basis (/ti) staga tijv ßaöiv)
treffe, der Schnitt eines spitzwinkligen Kegels (vergl. S. 244) sei,
welcher einem länglichen Schilde, Thyreos gleiche. Offenbar ist
dieser Satz richtig für den Zylinderschnitt, nur bedingt richtig für
den des Kegels, wenn nämlich der Schnitt beide Kegelseitön triff!;.
Die Veimutung, Thyreos sei der älteste Name der Ellipse gewesen,
wiederholen wir mit allem Vorbehalte^). Dafür spricht allerdings die
wiederholte Anwendung des Namens bei Proklos ^). Ob Anwendungen
der Kegelschnitte auf die Verdoppelung des Würfels bei Euklid ge-
lehrt wurden, ist fraglich. Es wäre auffallend, wenn er an so wich-
*) Sie rührt von Heiberg her, welcher auch auf die wichtige Stelle der
Phaenomena zuerst aufmerksam machte. Vgl. Heiberg, Euklidstudien S. 88.
■) Proklus (ed. Friedlein) pag. 103 lin. 6, pag. 111 lin. 6 und besonders
pag. 126 lin. 19 sqq. Vgl. L. Majer, Proklos über die Definitionen bei Euklid.
Stuttgart 1881. S. 12, Note 1.
Die übrigen Schriften des Euklid. 293
tigen älteren Dingen vorübergegangen wäre; es wäre aufMlender, wenn
er sich dabei aufhielt nnd weder Eratosthenes noch Eutokius in ihrem
historischen Berichte über das delische Problem den Namen des Euklid
genannt hatten; von der auffallendsten Erscheinung zu schweigen, die
darin wieder bestände, wenn Euklid sich keiner einzigen der antiken
höheren Aufgaben zugewandt hätte, er der mitten in seiner Zeit lebend
wie kaum je ein anderer ihre Gesamtergebnisse in sich vereinigte.
Wir haben eine einzelne Stelle der Phaenomena^), einer astro-
nomischen Schrift Euklids, angeführt Wichtiger ist diese Schrift
noch dadurch, daß in ihr Sätze über die Eugellehre, die sogenannte
Sphärik, gesammelt sind, welche zeigen, welchen Grad der Ent-
wicklung dieser Teil der Stereometrie damals schon erreicht hatte.
Euklid weiß, daß jede Ebene die Kugel in einem Kreise schneidet.
Er weiß, was allerdings auch ein kurz vor ihm lebender Astronom,
Autolykus von Pitane'), schon ähnlich aussprach, daß Kugelkreise,
die sich halbieren, größte Kreise sind. Er kennt Eigenschaften von
Kreisen, welche durch die Pole von anderen hindurchgehen. Er
weiß, daß, wenn ein größter Kngelkreis zwei gleiche Parallelkreise
schief schneidet, die Abschnitte der letzteren in umgekehrter Ordnung
einander gleich sind usw. Die Frage ist von großem Belang, woher
diese Kenntnisse des Autolykus, des Euklid stammen mögen? Man
hat die Vermutung gewagt'), bedeutende Anfäil)ge einer Sphärik
gingen bis auf Eudoxus zurück. Wir wollen keinen Widerspruch
erheben, bemerken aber, daß eigentliche Beweisgründe ftir diese Ver-
mutung nicht vorhanden sind.
Von dem Gegensatze, welcher für die Griechen zwischen Geo-
metrie und Geodäsie obwaltet, war (S. 252 und 271) die Rede. In
Dikaearch haben wir (S. 257), mag er von der Dioptra Gebrauch
gemacht haben oder nicht, einen wirklichen Geodäten kennen gelernt.
Auch von Euklid ist uns Feldmesserisches in einer sogenannten
Optik*) erhalten, und über die vier Kapitel 19, 20, 21, 22, welche
') Die Phaenomena sind griechisch herausgegeben von Gregory in seiner
Euklidausgabe, deutsch von A. Nokk in einer Freiburger Programmbeilage von
1850. Über die Echtheit der Phaenomena vgl. insbesondere A. Nokk in seiner
Bruchsaler Programmbeilage von 1847 üeber die Sphärik des Theodosius S. 17 flg.
Neueste Untersuchungen in Heibergs Euklidstudien. *) Die erhaltenen Schriften
des Autolykus hat Fr. Hultsch herausgegeben. Leipzig 1886. ") Hultsch in
der Vorrede zu Autolykus pag. XII mit Berufung auf Heiberg und P. Tannery.
*) Der griechische Text abgedruckt in Heibergs Euklidstudien S. 100—102,
eine deutsche Überarbeitung bei H. Weissenborn, Gerbert. Berlin 1888. S. 96
bis 98. Eine vollständige Ausgabe mit alter lateinischer Übersetzung, die sicher-
lich schon im XIV. Jahrh. vorhanden war, hat Heiberg im 7. Bande von Euklids
Werken (Leipzig 1895) besorgt.
294
13. Kapitel.
dadurch von hohem Interesse geworden sind^ müssen wir berichten.
Im 19. Kapitel ist die Höhemessung mittels des Schattens gelehrt,
welche wir (S. 144) als die des Thaies beschrieben haben. Im
20. Kapitel wird (Fig. 47) zur Messung der Höhe -^5 ein Spiegel
z ö
Flg. 47.
Fig. 48.
Flg. 49.
jdZ benutzt, der auf der Erde liegt. Der Messende sieht, wenn F
sein Auge ist, den Höhepimkt -^ in JEf ; wird sodann ^JEf, 5JEf, ÖF
gemessen, so läBt AB vermöge der Ähnlichkeit der Dreiecke ABH
und FBH sich leicht berechnen. Ähnlichkeit von Dreiecken führt
im 21. Kapitel zur Messung einer Tiefe AA^ indem (Fig. 48) der
Messende so weit sich entfernt, daß sein Auge
E den Tiei^unkt A an dem Rande B des
Brunnens, oder was es nun sein mag, vorüber
erblickt Endlich wird wieder mittels Dreiecks-
ähnlichkeit im 22. Kapitel eine entfernte Länge
gemessen (Fig. 49). Die AE wird der zu
messenden AB parallel gezogen (vielleicht auch
vor die Augen gehalten?), so daß FAA und
FEB Sehstrahlen sind, welche in A und B eintreffen. Alsdann ist
FAiFA^AE: AB,
Damit sind die hier genauer zu behandelnden Schriften des
Euklid erschöpft. Ihm zugeschriebene Bücher über Musik nennen
wir nur im vorübergehen; wir haben S. 165 ein Bruchstück der-
selben erwähnt, welches von einem arithmetischen Satze des Archytas
handelte. Überdies sind verschiedene Bruchstücke mechanischen
Inhaltes^) teils in arabischer Sprache, teils in mittelalterlicher latei-
nischer Übersetzung erhalten, für deren Echtheit oder ünechtheit wir
uns nicht zu entscheiden brauchen, da sie dem Gegenstande unserer
Untersuchungen doch nur sehr entfernt verwandt sind. So viel scheint
gesichert, daß die Stücke in letzter Linie dem Griechischen ent-
stammen, und daß sie einen tüchtigen Geometer der klassischen Zeit
zum Verfasser hatten, der die Lehre vom Hebel beherrschte.
*) P. Dnhem, Las Origines de la Statique I, 62—79.
Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 295
14. Kapitel.
Arehimedes und dessen geometrische Leistungen.
Wir stehen an der Schilderang des Schriftstellers, welcher der
Zeit nach unmittelbar auf Euklid folgt, dem Gehalte nach dagegen
allen den Vorrang abgewann, die im Altertum mit Mathematik sich
beschäftigt haben. Wir brauchen nach dieser in wenigen Worten
enthaltenen Würdigung wohl kaum zu sagen, wen wir meinen. Archi-
med es ist einer der wenigen Mathematiker des Altertums, welchen
die Nachwelt zu allen Zeiten nach Gebühr ihre dankbare Erinnerung
zuwandte. Er hat sogar einen eigenen Biographen in Heraklides
gefunden, einem Schriftsteller Yon nicht näher zu bestimmender
Lebenszeit, als daB er jedenfalls vor das VI. S. zu setzen ist, da
Eutokios aus ihm geschöpft hat^), es sei denn, man wolle in Hera-
klides einen Freund des Archimedes wiedererkennen, der diesen Namen
führte, und von welchem in dem Buche über Schneckenlinien wieder-
holt die Rede ist*). Sei dem, wie es wolle; das vermutlich wichtige
Quellen werk über das Leben des Archimedes ist uns verloren, und
so muß, was über seine persönlichen Verhältnisse zu sagen ist, aus
den verschiedensten SchriftsteUem zusammengesucht werden*). Archi-
med wurde in Syrakus wahrscheinlich 287 v. Chr. geboren. Eine
Stelle aus einer Schrift des Archimedes Oeidia dh xov ' AxowtarQos%
der man keinen guten Sinn abgewinnen konnte, und die man deshalb
für verderbt hält, hat zur Vermutung*) geführt, es habe ursprünglich
06idLa tov &ILOV TcatQÖs geheißen, und der Name von Archimedes'
Vater sei demnach Pheidias gewesen, derselbe habe sich überdies
als Astronom verdient gemacht. Allerdings ist damit der Zweifel
nicht gehoben, ob Archimed, wie eine Nachricht meldet, dem Könige
Hieron verwandt, ob er, nach einer anderen Nachricht, von niederer
Geburt war. Sein nahes fast freundschaftliches Verhältnis zu dem
Könige steht jedenfalls außer Zweifel. Wer die Lehrer des Archimed
gewesen sind, ist nicht bekannt. So viel gibt Diodor an*), und ein
^) Archimedes (ed. Heiberg) 111, 266 zitiert Entokius: 'HgaxXddrig iv
TW 'Aqx'M^ovs ßl^. *) Archimedes (ed. Heiberg) ü, 2 und 6. ') Die Hanpt-
(juellen sind Plutarch (vita Marcelli), Livius XXV, Cicero (Tuscnlan.
und Verrin.), Diodor, Silius Italicus, Valerius Maximus, Tzetzes.
Die neuesten Zusammenstellungen in Bunte, Ueber Archimedes (Programm der
Realschule zu Leer, Ostern 1877) und in der Eopenhagner Doktordissertation
von 1879: J. L. Heiberg, Quaestiones Archimedeae. *) Archimedes
(ed. Heiberg) H, 248 lin. 8. '^) F. Blas s in den Astronomischen Nachrichten
CIV, 256. •) Diodor V, 87.
296 14. Kapitel.
unbekannter arabischer Schriftsteller bestätigt es, daß er in Ägypten
war, er wird daher jedenfalls zu den Alexandrinern in Beziehung ge-
treten sein. Auch von einem Aufenthalte Archimeds in Spanien wird
erzählt. Nach Syrakus zurückgekehrt lebte er dort der Wissenschaft,
deren praktische Anwendung er jedoch so wenig verschmähte, daß
gerade seine Leistungen in der Mechanik zu denen gehören, welche
ihn am berühmtesten gemacht haben. Vor allem waren die Dienste,
die er seiner Vaterstadt Syrakus im Kriege gegen Rom leistete, ge-
eignet, seinem Namen Glanz zu verleihen. Die Bemühungen des
Archimed waren es ganz allein, so erzählt Livius, welche die Angriffe
des Marcellus auf die belagerte Stadt durch zwei Jahre vereitelten.
Nur durch eine Überrumpelung von der Landseite aus gelang es
212 V. Chr. Syrakus zu nehmen, und bei dieser Gelegenheit starb
Archimed im Alter von 75 Jahren^), ein Opfer der Roheit eines
römischen Soldaten, welcher ihn niedermachte, während er des Tumultes
nicht achtend seine geometrischen Figuren in den Sand zeichnete.
Ob er dabei die Worte aussprach: stagä x€q)alav xal ^ij xagä yga^-
(läv, jener möge lieber den Kopf als die Linien ihm verletzen, oder
nur um Schonung seiner Figuren bat, axötJrrj^i, & ävd'QCDTCs^ rov
äiayQd^fucTÖg fiov, wie ein anderer Berichterstatter in jedenfalls un-
richtigem Dialekte ihn ausrufen läßt'), ist ziemlich gleichgültig. Mar-
cellus, der römische Feldherr, empfand große Trauer über den Tod
des berühmten Gegners und ließ ihm ein Grabmal setzen mit einer
mathematischen Figur als Inschrift, wie jener es einst selbst ange-
ordnet hatte. Das Grabmal scheint indessen von Archimeds Lands^
leuten schmählich vernachlässigt worden zu sein, da Cicero, der es bei
seinem Aufenthalte in Syrakus, wo er 75 v. Chr. als Quästor von
Sizilien verweilte, aufsuchte, es nur mit Mühe unter dem über-
wuchernden Gestrüppe entdeckte und an der Inschrift erkannte. Er
ließ es darauf aufs neue instand setzen.
Die Schriften Archimeds^) sind nur zum Teil auf uns gekommen
und zudem nicht alle im reinen unverderbten griechischen Grund-
texte. Die besterhalteneu tragen als besonderes Kennzeichen noch
an sich, daß sie im dorischen Dialekte abgefaßt sind, wodurch sie
auch sprachliche Wichtigkeit besitzen. Durch Vergleichung der
Persönlichkeiten, welche in den einzelnen Schriften des Archimed
^) Nach Tzetzes. Auf dieser Angabe beraht die Berechnung seines Ge-
burtsjahres. ^ Die erste Redensart nach Zonaras, die zweite nach Tzetzes.
") Die beste ältere Ausgabe des Textes und des Kommentars von Eutokius von
Askalon, so viel davon vorhanden ist, war die von Tor eil i. Oxford 1792. Sie
wurde weit überholt durch die Ausgabe von Heiberg in 8 Duodezbänden.
Leipzig 1880 — 81. Die beste deutsche Übersetzung von Nizze. Stralsund 1824.
Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 297
genannt sind^ nämlich des Eonon, des Zeuxippns, des Dositheus,
des Königs Gelon, durch fernere Yergleichung der nicht allznseltenen
Benutzung in späteren Schriften von Sätzen, welche in früheren be-
wiesen worden waren, ist es gelungen folgende wahrscheinlich zu-
treffende Anordnung der vorhandenen archimedischen Schriften nach
ihrer Entstehungszeit zu erhalten: 1. Zwei Bücher vom Gleichgewichte
der £benen, zwischen welche eine Abhandlung über die Quadratur
der Parabel mitten eingeschoben ist 2. Zwei Bücher von der Kugel
und Yon dem Zylinder. 3. Die Kreismessung. 4. Die Schnecken-
linien oder Spiralen. 5. Das Buch von den Konoiden oder Sphäroiden.
6. Die Sandeszahl. 7. Zwei Bücher von den schwimmenden Körpern.
8. Wahlsätze.
Es will nicht gut angehen wieder, wie wir es bei Euklid getan
haben, den Inhalt dieser Schriften einzeln und der Reihe nach durch-
zusprechen. Daß einer solchen Darstellung notwendigerweise die
Übersichtlichkeit abgeht, wird der Leser gerade in den Euklid ge-
widmeten Kapiteln bemerkt haben. Dort mußten wir aber diese
sonst wesentliche Bedingung opfern, weil es darauf ankam zu zeigen,
was alles unter dem Namen Elemente der Geometrie einbegriffen
wurde. Eine ähnliche Notwendigkeit wird uns im 18. und 19. Kapitel
noch zwingen, die für uns vielfach unzusammenhängenden Gegen-
stände, die Herons großes feldmesserisches Werk behandelte, einzeln
zu nennen. Archimed aber hat kein uns erhaltenes Sammelwerk ge-
schrieben. Er verfaßte vorwiegend einzelne Abhandlungen, in denen
er zumeist Neues, von ihm selbst Erdachtes mitteilte, und da wird es
für die Würdigung der Größe der Entdeckungen sich als zweck-
mäßiger empfehlen, die Gegenstände aus den einzelnen Abhandlungen
herauszureißen und nach ihrem Inhalte zu neuen Gruppen zu ver-
einigen. Wir werden zu reden haben von den Entdeckungen Archi-
meds in der Geometrie der Ebene und des Raumes, in der Algebra
und Arithmetik, endlich im Zahlenrechnen, wobei wir des griechischen
Zahlenrechnens überhaupt gedenken müssen, wir werden auch nicht
umhin können, seine mechanischen Leistungen ins Auge zu fassen.
Vielleicht beginnen wir am besten mit einem geometrischen
Spielwerke. Ein Metriker aus dem Jahre 500 etwa, Atilius Fortu-
natianus, erzählt^) von dem loculus Archimedius. Ein elfen-
beinernes Quadrat war in 14 Stücke von verschiedener vieleckiger
Gestalt zerschnitten, und es handelte sich darum aus diesen Stücken
das ursprüngliche Quadrat, aber auch sonst beliebige Figuren zu-
sammenzulegen. Es bleibe dahingestellt, ob Archimed wirklich selbst
*) Veteres Qrammatici (ed. PtitBcliius) pag. 2684.
298 14. Kapitel.
dieses Spiel erdachte^ oder ob man nur als archimedisch, d. h. als
sehr schwierig bezeichnen wollte, die einzelnen Gestaltungen her-
zustellen.
Als archimedisch wird auch häufig die Definition genannt, die
Gerade sei die kürzeste Entfernung zweier Punkte. Diese
Behauptung ist richtig und unrichtig, je nachdem man den Nach-
druck auf den Wortlaut des Satzes oder auf seine Eigenschaft als
Definition legt. Archimed benutzt den Satz allerdings in seinen
Büchern über Kugel und Zylinder, aber er beabsichtigt keineswegs
durch ihn die Gerade zu erklären. Er nehme an, sagt er vielmehr
ausdrücklich^), von den Linien, welche einerlei Endpunkte haben, sei
die gerade Linie die kürzeste; er nehme femer an, von Linien in
einer Ebene, die mit einerlei Endpunkten versehen nach einer Seite
hin hohl seien, müsse die umschlossene die kürzere sein.
Als geometrisch interessant bieten sich uns ferner einige Wahl-
sätze. Das unter diesem Titel bekannte, aus 15 Sätzen der ebenen
Geometrie bestehende Buch ist aus dem Arabischen ins Lateinische
übertragen worden*). Daß es in der Form, wie wir es besitzen,
keinenfalls von Archimed selbst herrühren kann, dessen Name im
4. und 14. Satze genannt ist, während in anderen Sätzen andere
Unzuträglichkeiten nicht zu verkennen sind, ist mit Recht bemerkt
worden'). Einige Sätze scheinen uns gleichwohl archimedischen Ur-
sprunges zu sein, unter welchen namentlich der 4., 5., 6., der 11.,
der 14., der 8. hier genannt seien. Satz 4. — 6. beschäftigen sich mit
dem Arbelos (Fig. 50), einer
in Gestalt eines Schusterkneifes
gekrümmten Figur, bestehend
aus einem Halbkreise, über dessen
Durchmesser in zwei aneinander-
stoßenden Abteilungen kleinere
Halbkreise in das Linere des
pj^ gQ umschließenden Halbkreises sich
erstrecken. Daß Archimed sich
mit dieöer Figur beschäftigt habe, ist einer Stelle des Pappus*) zu ent-
nehmen, in welcher wenigstens von alten Untersuchungen über sie die
Rede ist. Im 5. und im 6. Satze ist von dem gemeinsamen Durchschnitts-
punkte der drei Höhen eines Dreiecks die Rede^). Der 11. Satz besagt.
') Archimed (ed. Heiberg) I, 8—10, (ed. Nizze) 44. *) Liber assump-
torum. Archimed (ed. Heiberg) II, 428—446, (ed. Nizze) 254—^62. ») Hei-
berg, Quaestiones Archimedeae, 24. *) Pappus Buch IV, 19 (ed. Hultsch)
Bd. I, pag. 208. ^) Archimed (ed. Heiberg) II, 484 und 436.
Archimedea und dessen geometrische Leistongen.
299
daß wenn in einem Kreise zwei Sehnen sich senkrecht durchschneiden^
die Quadrate der vier so gebildeten Abschnitte zusammen dem Quadrate
des Durchmessers gleich sein müssen. Der 14. Satz lehrt den Flächen-
inhalt des Salinen messen, der Wogen-
gestalt, wie mau den ausdrücklich als von
Archimed herstammend bezeugten Namen
vielleicht übersetzen darf^). Diese Figur
entsteht (Fig. 51), wenn über und unter
derselben Geraden als Richtung des Durch-
messers Von demselben Mittelpunkte aus
aber mit verschiedenen in beliebigem
Verhältnisse zueinander stehenden Halb-
messern Halbkreise beschrieben werden,
zu welchen noch zwei Halbkreischen nach der Seite des großen Halb-
kreises hin gerichtet über dem durch den nach der Jenseite sich
wölbenden kleineren Halbkreis freigelassenen Stückchen des Durch-
messers treten. Wird durch den Mittelpunkt der beiden erstgezeich-
neten Halbkreise und senkrecht zu deren
Durchmesser die Strecke AB gezeichnet,
so ist der um dieselbe als Durchmesser
beschriebene Kreis dem Salinon flächen-
gleich. Der 8, Satz hat folgenden In-
halt. Wenn (Fig. 52) eine willkürliche
Sehne AB eines Kreises verlängert und
die Verlängerung BF dem Halbmesser
des Kreises gleich gemacht wird, wenn
hiemächst F mit dem Mittelpunkte z/ des Kreises verbunden und
diese Verbindungslinie bis zum abermaligen Durchschnitte des Kreises
nach E verlängert wird, so ist der Bogen AE das Dreifache des
*) Von adlog = das Schwanken des hohen Meeres? Heiberg in seiner
Archimedausgabe II, 448 gibt die Ableitung aiXivov =* Eppich, mit dessen Blatt
er in der Figur eine Ähnlichkeit erkennen will. Für diese Meinung fCLhrt
P. Tanneiy (Bibliotheca Mathematica ä Folge I, 266. 1900) an, daß auf den
Münzen von Selinunt Eppichblätter abgebildet seien, welche der archimedischen
Figur ähneln. T. L. Heath (The works of Archimedes. Cambridge 1897. In-
troduction pag. XXXIU) nimmt an, das Wort caXtvov sei erst in nacharchime-
discher Zeit entstanden, als durch die römische Herrschaft lateinische Wörter in
die Sprache Siziliens Eingang fanden, wie z. B. lihra zu XixQa wurde, mutuum zu
pLOttov, carcer zu xa^xorpoi', arvina zu &Qßivri, patina zu ntctdvi\. Entsprechend
sei cdUvov aus sdUnum^ das Salzfäßchen, entstanden. Silberne Salzfößchen waren
als Familienerbstück schon zur Zeit der römischen Republik in jedem Haushalt
Torhanden (Horaz Carmina ü, 16^ 18 und Livius XXYI, 86); die Salzfäßchen
hatten aber einen der archimedischen Figur ähnlichen Durchschnitt, wenn man
nach einem im British Museum Yorhandenen Exemplare urteilen darf.
Pig. 58.
300 14. Kapitel.
Bogens BZ. Man ziehe EH parallel zu AB und die Halbmesser
^B und JH, Der Parallelismus von AB und EH bringt <^ r= £
hervor; Gleichschenkligkeit von Dreiecken zeigt, daß ^ F^ BAT
und ^E^H Ferner <^ r^H- 2^; = 2r = 25^r und ^BJH
« 35-^ r, also arc. BH^AE^ 35 Z.
Die beiden letzterwähnten Sätze haben, wie uns scheint, eine be-
sondere Tragweite durch die Ziele, auf welche Archimed mit ihrer
Hilfe hinsteuerte. Bei dem 8. Satze, glauben wir, dachte er an die
zu vollziehende Dreiteilung des Bogens AE. Sie war vermöge
seines Satzes gelungen, sobald man eine Sehne AB versuchsweise
mittels Bewegungsgeometrie fand, deren Verlängerung bis zur Ver-
bindungsgeraden von E mit dem Kreismittelpunkte ^ die Länge des
Kreishalbmessers besaB. Die vorerwähnte Quadratur des Salinen im
14. Satze wird wohl nicht minder richtig dahin aufzufassen sein, daß
Archimed im Anschlüsse an die Arbeiten des Hippokrates von Chios
geometrisch versuchte, den Flächeninhalt des Ejreises mit dem anderer
Figuren in Gleichheit zu setzen. Nur war vielleicht die Absicht
beider die entgegengesetzte. Hippokrates wollte zuverlässig aus den
dem Kreise gleichen Figuren die Fläche des Kreises ermitteln. Ar-
chimed beabsichtigte möglicherweise anderweitige krummlinig be-
grenzte Figuren auf den als bekannt vorausgesetzten Kreis zurückzu-
führen.
Bekannt war ihm nämlich allerdings der Kreis durch seine
Kreismessung. Diese merkwürdige Abhandlung ist nach ihrem
geometrischen Gehalte wie mit Hinsicht auf die Geschichte des Zahlen-
rechnens der höchsten Beachtung wert. Wir haben es fürs erste nur
mit dem Geometrischen zu tun. Archimed geht davon aus, daß er
beweist, der Kreis sei einem rechtwinkligen Dreiecke gleich, dessen
eine Kathete die Länge des Halbmessers, die andere die des Kreis-
umfangs besitzt. Wäre dieses Dreieck kleiner als der Kreis, so müßte
irgend ein angebbarer Unterschied vorhanden sein, und es wäre mög-
lich durch £inzeichnung eines Quadrates in den Kreis und fortgesetzte
Halbierung der Bogen ein Vieleck zu erlangen, welches den Kreis
bis auf gewisse kleine Abschnitte erfüllte, deren Summe endlich
kleiner als jener Überschuß des Kreises über das Dreieck wäre.
Nennt man etwa -BT, F, D die Inhalte des Kreises, des Vielecks, des
Dreiecks, so wäre mithin Ä'>r>Z), zugleich aber U<P sofern
U den Umfang des Vielecks, P die Kreisperipherie bedeutet, und zwar
begründet sich diese letztere Ungleichung aus jener Annahme über
die Gerade als kürzeste Entfernung zweier Punkte, von der oben die
Rede war. Nun ist V gleich einem rechtwinkligen Dreiecke, welches
als größere Kathete [7, als kleinere die Senkrechte h besitzt, die vom
Arcliimedes und dessen geometrische Leistungen. 301
Ereismittelpnnkte aus auf irgend eise Seite des Vielecks gefällt war,
und die selbst kleiner als der Kreishalbmesser r sein muß. Mit
anderen Worten V'=~y~' -^ ™ ~2~ "^^ wegen V>D auch
U ' h> P • r, während jeder Faktor des größeren Produktes kleiner
ist als ein ihm entsprechender Faktor des kleineren Produktes, und
darin liegt ein Widerspruch. Zu einem ferneren Widerspruch fahrt
auch die Annahme £* < D. Ausgehend von dem dem Kreise um-
schriebenen Quadrate wird durch fortgesetzte Verdoppelung der
Seitenzahl ein umschriebenes Vieleck gefunden werden können, dessen
Inhalt V der Ungleichung JE" < F' < D genügen muß, während sein
Umfang U' > P ist, und die Senkrechte h' vom Kreismittelpunkte
auf die Seiten dieses Vielecks notwendig Ji ^ r sein muß. Trotzdem
müßte hier —^ - < — — sein oder U' <C P und doch auch U' > P.
r • P
Es bleibt also nur die Annahme K^D^ -— übrig. Freilich hat
man die an die Spitze gestellte Voraussetzung, es gebe eine Gerade
von der Länge P, welche als Seite eines rechtwinkligen Dreiecks
auftreten könne, bemängelt. Wir erinnern daran, daß Dinostratus die
gleiche Annahme schon sich gestattet hatte (S. 247). Auch Eutokius
nimmt Archimed gegen den angeführten Vorwui'f, welcher ihm damals
schon gemacht worden war, in Schutz. Er habe nichts Unziemliches
ausgesprochen. Die Kreislinie sei eine (xröße von bestimmter Ab-
messung, der irgend eine Gerade gleich sein müsse und es sei keines-
wegs unstatthaft; das Vorhandensein jener Geraden in einem Satze
vorweg zu benutzen, noch bevor man sie finden gelehrt habe. Aller-
dings ist nun diese Auffindung das nächste Problem und ihm geht
jetzt Archimed rechnend zuleibe, nach einer Methode also, welche
Euklid, wie wir (S. 271) besprochen haben, sich wahrscheinlich unter-
sagt hätte, nicht geometrisch, sondern geodätisch. Archimed sucht
zwei Grenzen, zwischen welche er das Verhältnis der Kreisperi-
pherie P zum Durchmesser d einschließen will und findet
P:d<3-J-:1 und P:rf>3}J:l.
Wir bemerken, daß Archimed bei seinem früheren Beweise
K =« —^ von den Quadraten ausging, welche dem Kreise ein- und
umgeschrieben werden können, wie es (S. 272) Euklid im 12. Buche
der Elemente getan hat um die Proportionalität von Kreisinhalt und
Durchmesserquadrat festzustellen, wie es (S. 202) schon viel früher
Antiphon getan hatte. Bei der Aufsuchung der Zahlengrenzen für
das Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser ging Archimed
302
14. Eftpitel.
dagegen von einem ganz anderen Versuche aus, welcher die gröBere
Grenze ihm verschaffen sollte. Er benutzte dasjenige gleichseitige
Dreieck; welches seine Spitze im Ereismittelpunkte besitzt, während
die dritte dieser Spitze gegenüberliegende Seite Berührungslinie an
den Kreis ist. Heißt die Seite dieses Dreiecks a, der Ereishalb-
messer r.
2r
so ist leicht ersichtlich a = -= und r
/3
•7
a
= 1/3:1. Ar-
chimed behauptet ohne weitere Begründung, es sei ^ ^ y > 265 : 153
und wirklich ist r
266\» 70225
266\»^
168/ "^
23409
= 3
2
^3409^
also 1/3 >|?^- Femer
Fig. 63.
ist a : -^ = 306 : 153. Die beiden Verhältnisse vereinigt geben folg-
lieh (r + a) : - > 571 : 153. Nun kommt eine kleine geometrische
Betrachtung. Wenn (Fig. 53) die j4^ den Winkel BAT halbiert,
so ist JBiAF'^BJi^r, {AB + AF): Ar
^ (BJ + ^r) : z/r oder {a + r):r^^i JF.
Aus dieser Proportion folgt weiter ri/JF^
(^ + ») : Y > 571 : 153. Dieses Ergebnis zu
nachheriger Benutzung aufsparend folgert Archi-
med weiter r«:-^r«> 571«: 153* und (f + AF^)
: AF^ > (57P + 163«) : 153» oder AA^:AF^>
349450 : 153« und AA:AF> 591 ^ : 153. Auch diese Zahlen sind
richtig gewählt, denn (591y)* = 349428JJ < 349450. Der Winkel
/lAF wird durch, die AE halbiert. Dadurch gewinnt man neue
Proportionen A J : AT =- J E : ET, dann {A^ + AF) : AT =■
(AE + Er) : Er und (AA + AF) : (AE + ET) = AT: ET, d. h.
(r + AA) : AT — r : ET. Nun erinnern wir uns an
r:^r> 571: 153
nebst
^zf:z/r> 591^:153.
Die Vereinigung beider Verhältnisse gibt (r + AA) : ^/r> 1162-g-: 158
oder auch
r:j;r>1162y:153.
Die gewonnenen Ergebnisse stellen wir übersichtlicher zusammen:
r:Br> 265: 153
r : Ar> 571 : 153
r : Er> 1162-^ : 153.
Archimedes und deasen geometriBche Leistungen. 303
BF ist die halbe Sechsecksseite, z/JT die halbe Zwölfecksseite, ET
die halbe Vierandzwanzigecksseite^ wenn immer die regelmäßigen dem
Kreise umschriebenen Vielecke gemeint sind. Die Umfange U^, U^^
U^^ dieser Vielecke sind
u;^i2Br, ü[^^2ABr, cr;^=485r
und somit
r:U^ > 265 : 1836
r : U;^ > 571 : 3672
r: tV4>1162|:7344.
Archimed setzt nun das Verfahren mit Winkelhalbierung, Verbindung
Yon Verhältnissen, Einsetzen von nahezu richtigen, aber immer etwas
zu kleinen Quadratwurzelwerten fort bis zu
r: [7,; > 4673^: 29376
und schließt daraus umgekehrt
U;^ : d < 14688 : 4673^ < 3 }- : 1,
da aber P< U^ ist, so muß um so sicherer
P:d<3~:r
sein.
Nun kommt die entgegengesetzte Aufgabe, eine untere Grenze
für das Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser zu finden an
die Reihe, und hierzu nimmt Archimed die dem Kreise eingeschriebenen
Vielecke zu Hilfe, indem er, wie Antiphon bei einem seiner Versuche,
das eingeschriebene gleichseitige Dreieck zum Ausgange wählt, dessen
Seite sich zum Halbmesser verhält wie 1/3:1, d. h. < 1351 : 780.
Winkelhalbierungen usw. fiihren hier zu
U;^ : d > 6336 : 2017^ > 3^5 : 1
und um so gewisser zu
P:rf>3^J:l.
Nächst dem Kreise beschäftigte sich Archimed bei seinen geo-
metrischen Untersuchungen mit den Kegelschnitten. Man hat wohl
angenommen, Archimed habe eine uns verloren gegangene Schrift
Elemente der Kegelschnitte, 6xoi%Bla xovtxa, verfaßt. Man hat
sich dabei auf zwei Stellen gestützt, die eine in der Abhandlung über
die Quadratur der Parabel Satz 3.*), die andere in dem Buch von
*) Archimed (ed. Heiberg) ü, 800, (ed. Nizze) IS.
304 U. Kapitel.
den Konoiden und Sphäroiden Satz 4.^), in welchen Archimed auf ein
solches Werk verweist, ohne einen Verfasser zu nennen. Das tat,
sagt man, Archimed nur, wo er auf eigene Arbeiten zurückgriff. So
richtig diese Behauptung im allgemeinen ist, so erinnern wir uns doch
einer Ausnahme. Archimed beruft sich, wie wir (S. 261) hervorge-
hoben haben, im 6. Satze des ersten Buches über Kugel und Zylinder^)
auf die Elemente und meint damit den Elementenschriftsteller, der
vorzugsweise diesen Namen geführt hat, Euklid. Möglich, daß er
denselben im Sinne hatte, als er von Elementen der Kegelschnitte
sprach, da Euklid bekanntlich auch über diesen Gegenstand ein Werk
verfaßt hat'). Vielleicht ist eine kleine Bestätigung dieser Vermutung
folgendem Umstände zu entnehmen. Pappus gibt nämlich an, die
vier ersten Bücher der Kegelschnitte des ApoUonius, mit wjbl^hen
wir uns bald zu beschäftigen haben, stützten sich wesentlich auf die
Vorarbeiten Euklids. Bei ApoUonius finden wir aber I, 20, 35, 46;
II, 5; III, 17, 18, die Lehrsätze, welche Archimed als in den Elementen
der Kegelschnitte enthalten benutzt.
Mag dem sein, wie da wolle, jedenfalls rühren wertvolle Einzel-
untersuchungen über Kegelschnitte von Archimed her. Wir legen
nicht gerade großes Gewicht darauf, daß Archimed dem früher er-
wähnten Satz von der Entstehung des Schnittes des spitzwinkligen
Kegels den dort fehlenden Zusatz gab*), die gleiche Kurve könne auf
dem Mantel eines jeden Kegels erzeugt werden, aber um so höher
steht seine Quadratur der Parabel. Wir haben schon gesagt, daß
diese Abhandlung zwischen die beiden Bücher vom Schwerpunkte
und dem Gleichgewichte der Ebene eingeschaltet erscheint. Die Me-
thode, deren Archimed sich bedient, um zu seinem Ziele zu gelangen,
ist ihren Hauptzügen nach folgende*). Wird ein Parabelabschnitt
durch eine durch die Mitte der denselben bildenden Sehne der Achse
parallel gezogene Gerade geschnitten, so ist die Berühruugslinie an
die Parabel in dem Schnittpunkte der Sehne selbst parallel. Somit
ist die Senkrechte aus diesem Schnittpimkte auf die Sehne die größte
Senkrechte, welche überhaupt aus einem Punkte innerhalb des ge-
gebenen Parabelbogens auf die Sehne gefällt werden kann, oder dieser
Punkt ist als höchster Punkt des Parabelabschnittes über seiner Sehne
zu bezeichnen. Daraus folgt weiter, daß der Parabelabschnitt durch-
') Archimed (ed. Heiberg) I, 802, (ed. Nizze) 168. *) Archimed (ed.
Heiberg) I, 24, (ed. Nizze) 48. *) Diese Ansicht ist auch durch Heiberg,
Die Kenntnisse des Archimedes über Kegelschnitte (Zeitschr Math. Phys. XXV,
Histor.-literar. Abtlg. S. 42) ausgesprochen und teilweise anders begmndet worden.
*) Archimed (ed. Heiberg) I, 288, (ed. Nizze) 164. *) Archimed (ed. Hei-
berg) IT, 294—858, (ed. Nizze) 22—26.
Aichimedes und dessen geometrische Leistungen. 305
ans eingesclilossen ist in dem Rechtecke, welches jene Senkrechte als
Höhe, die Sehne nebst der ihr parallelen Berühmngslinie als Grund-
linie besitzt. Bildet man nun das Dreieck, welches die Sehne zur
Grundlinie, den genannten Höhepunkt als Spitze besitzt, und welches
folglich Yon dem ersten Parabelabschnitte um zwei neue kleinere
Abschnitte sich unterscheidet, so muß dasselbe als Hälfte des Recht-
ecks und als eingeschrieben in den Parabelabschnitt größer sein als
die Hälfte des Abschnittes, kleiner als sein Ganzes. Man kann aber
auch die umgekehrte Folgerung ziehen und die Flache des Abschnittes
größer als das betreffende Dreieck, kleiner als das Doppelte desselben
nennen. In jeden der beiden neuen kleineren Abschnitte wird nach
ähnlicher Regel wieder ein Dreieck beschrieben, deren jedes mehr als
die Hälfte des ihn enthaltenden Abschnittes einnimmt und genau den
achten Teil des ersten Dreiecks als Flächeninhalt besitzt. Es ist das
ein Verfahren, bei welchem dasjenige als Muster gedient haben mag,
dessen Euklid sich bediente (S. 272), um zu beweisen, daß Kreis-
flächen sich wie die Quadrate ihrer Durchmesser verhalten. Der
Parabelabschnitt wird dadurch in zweiter Annäherung größer als 1 - ,
kleiner als 1 ^ des ersten Dreiecks, welches ihm eingezeichnet worden
war. Nun werden in die neuen immer kleineren Parabelabschnitte
wieder neue Dreiecke beschrieben und dem eben Behaupteten ähn-
liche Folgerungen gezogen. Nach heutiger Schreibweise kommt die
Reihenfolge der so zu gewinnenden Sätze auf die Summierung der
unendlichen Reihe 1 + 4 + ( r ) + ( 4 ) + ' ' ' hinaus, deren An-
fangsglied 1 den Flächeninhalt des ersten Dreiecks, deren Summe den
Flächeninhalt des ganzen Parabelabschnittes darstellt. Archimed, frei-
lich das Unendliche nur mittelbar in seine Betrachtungen einbegreifend,
begnügt sich mit der Summierung der endlichen geometrischen Reihe,
deren letztes Glied wir (A nennen wollen. Deren Summe sei, sagt
4
er, nur um den dritten Teil des niedersten Gliedes kleiner als -^ ,
d. h. also = — 3~ ' (4) * Daran schließt sich der apagogische Teil
des Beweises, welchen wir wiederholt als Ersatz für Unendlichkeits-
betrachtungen haben eintreten sehen. Aus der Möglichkeit den
Unterschied zwischen dem Parabelabschnitte und des ersteingezeich-
neten Dreiecks kleiner als irgend eine angegebene Größe werden zu
lassen, folgt die doppelte Unmöglichkeit, daß der eine oder der andere
Flächenraum der größere sei.
Was die beiden anderen Kegelschnitte, die Hyperbel und die
Gaktob, Geschichte der Mathematik L 3. Aufl. 20
306 14. Kapitel.
Ellipse betrifft^ so scheint Archimed der ersteren besondere Aufmerk-
samkeit nicht zugewandt zu haben. Dagegen hat er die Quadratur
der Ellipse gefunden und zwischen den Untersuchungen über Ko-
noide und Sphäroide als Satz 5. und 6. eingeschaltet^).
Die merkwürdigste uns erhaltene Schrift des Archimed über einen
Gegenstand der ebenen Geometrie ist das Buch von den Schnecken-
linie n, nsgl iXCxcjv. Die Schneckenlinie ist die erste krumme Linie,
welche durch eine doppelte Gattung ron Bewegungen und von be-
wegten Elementen zugleich erzengt worden ist. Die Quadratrix des
Hippias benutzte freilich auch eine drehende und eine fortschreitende
Bewegung zu ihrer Entstehung; aber die bewegten Elemente sind
doch zwei gerade Linien , deren Durchschnittspunkt die genannte
Kui-ve zum Orte hat. Wir halten es durchaus nicht für unmöglich,
daß Archimed, der bei seinen Studien mit der Quadratrix und deren
Anwendungen bekannt geworden sein muß, gerade durch die Ab-
handlungen des Hippias und des Dinostratus über ihre Kurve mehr-
fache Anregung gewann, die bei einem Archimed zu einem Fort-
schritte för die Wissenschaft werden mußte. Ein Fortschritt war es,
wenn Archimed nicht mehr wie Dinostratus einfach annahm, daß die
Kreisfläche einem rechtwinkligen Dreiecke von den Katheten r und P
gleich sei, sondern diese Gleichheit streng bewies. Eine nicht ge-
ringere Bereicherung der Wissenschaft war es, als er, anstatt die fort-
schreitende Bewegung einer Geraden mit der Drehung einer zweiten
Geraden zu verbinden, wie Hippias es getan hatte, darauf verfiel jene
fortschreitende Bewegung einem Punkte beizulegen. Die archime-
dische Definition sagt ausdrücklich*): „Wenn eine gerade Linie in
einer Ebene um einen ihrer Endpunkte, welcher unbeweglich bleibt,
mit gleichförmiger Geschwindigkeit sich bewegt, bis sie wieder dahin
gelangt, von wo die Bewegung ausging, und wenn zugleich in der
bewegten Linie ein Punkt mit gleichförmiger Geschwindigkeit von
dem unbewegten Endpunkte anfangend sich bewegt, so beschreibt
dieser Punkt eine Schneckenlinie in der Ebene.''
Gehort diese Schneckenlinie, die archimedische Spirale, wie man
sie gegenwärtig zu nennen pflegt^ wirklich Archimed als Erfinder
an? Man hat mit sich forterbendem Irrtume lange behauptet, nicht
Archimed, sondern sein Freund Konon habe die Spirale erfunden
und die sich auf dieselben beziehenden Sätze entdeckt. Letzteres ist
durchaus unrichtig^) und folglich ersteres nicht hinlänglich begründet.
>) Archimed (ed. Heiberg) I, 312-316, (ed. Nizza) 160—161. *) Ar-
chimed (ed. Heiberg) ü, 10, (ed. Nizze) 118. *) Das hat Nizze S. 281 in
seinen kritischen Anmerkungen nachgewiesen.
Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 307
Archimed hatte yielmehr jene Sätze an Eonon zum Beweise geschickt^
eine Sitte, welche in den aUerverschiedensten Jahrhunderten; aber
stets in Zeiten reger mathematischer Arbeit uns wieder begegnen
wird, und hatte, auch nach Eonons Tode noch viele Jahre gewartet
,,ohne daß irgend jemand sich mit einer dieser Aufgaben beschäftigt
hätte^^). Alsdann erst setzte er die Beweise in der Schrift über die
Schneckenlinien auseinander. Wir können die Oedrungenheit der Be-
weise in keinem wiederholt abkürzenden Berichte deutlich machen.
Wir verweisen auf die Abhandlung selbst, in welcher gerade der
moderne Leser, der gewohnt ist Eurven von der Natur der Spiral-
linien nur mit Hilfe der Infinitesimalrechnung zu untersuchen, wäh-
rend er in der Lehre von den Eegelschnitten noch heute häufiger
von synthetisch geometrischen Anscfaauungsbe weisen Gebrauch macht,
die beyirunderungswürdige Gewandtheit des Archimed in der Hand-
habung einfachster Hilfsmittel staunend erkennen wird. Einige wenige
leicht abzuleitende Proportionen und Ungleichheiten, letztere wieder
unerläßlich für das apagogische Verfahren der altertümlichen Ex-
haustion, die Zerlegung des Raumes der Schneckenlinie in Ausschnitte,
deren jeder kleiner als ein äußerer, größer als ein innerer Ereisaus-
schnitt ist, das ist der ganze wissenschaftliche Vorrat, mittels dessen
die Quadratur der Schneckenlinie gefunden, die Berührungslinie an
irgend einen Punkt derselben gezogen wird.
Manche andere Schriften des Archimed würden au dieser Stelle
noch zu besprechen sein, wenn sie nicht verloren gegangen wären.
Eaum daß die Überschriften uns durch arabische Berichterstatter er-
halten blieben^. Ihnen zufolge verfaßte Archimed ein Buch über
das Siebeneck im Ereise; ein anderes beschäftigte sich mit der
gegenseitigen Berührung von Ereisen; ein drittes war den
Parallellinien, ein viertes den Dreiecken gewidmet, letzteres
möglicherweise auch unter anderem Titel noch genannt. Auch Daten
und Definitionen soll Archimed in einem Buche vereinigt haben.
Unter dem, was der Verfasser für die Geometrie des Raumes
leistete, ist zunächst eine Untersuchung zu erwähnen, von der wir
nicht einmal wissen, bei welcher Gelegenheit und in welchem Zu-
sammenhange er sie angestellt hat. Die Untersuchung selbst da-
gegen ist von Pappus, dem einzigen Schriftsteller, der von ihr spricht,
mit genügender Deutlichkeit geschildert'), daß man nach ihm darüber
berichten kann. Euklid hatte die Lehre von den fünf einzigen regel-
mäßigen Eörpem erschöpfend behandelt. Archimed erfand zu ihnen
') Archimed (ed. Heiberg) II, 2, (ed. Nizze) 116. *) Heiberg, Quae-
stianes Arehimedeae 29—80. *) Pappus V (ed. Hui t ach) 860 sqq. '
20 •
308 14. Kapitel.
13 halbregel mäßige Körper^ welche durch regelmäßige Vielecke
von mehr als nur einer Gattung begrenzt werden. Der Anzahl nach
können 8, 14, 26, 32, 38, 62 oder 92 Grenzflächen vorhanden sein.
Der Art nach sind es Dreiecke, Vierecke, Fünfecke, Sechsecke, Acht-
ecke, Zehnecke und Zwölf ecke, welche auftreten. Bei zehn von den
archimedischen Körpern sind nur Flächen zweierlei Art, bei den drei
übrigen dreierlei Flächen vorhanden. Kein geringerer Mathematiker
als Kepler^) hat zuerst nach Archimed seine Aufmerksamkeit diesem
Gegenstande wieder zugewandt, worauf aufs neue eine zweihundert-
jährige Pause eintrat, bis seit Anfang des XIX. S. die halbregelmäßigen
Vielflächner Eigentum der elementaren Stereometrie geworden sind.
Archimed selbst stellte von allen seinen Entdeckungen diejenigen
am höchsten, welche er in den zwei Büchern von der Kugel und
dem Zylinder niedergelegt hat. Es handelt sich darin um den
Beweis von drei neuen Sätzen-): 1. daß die Oberfläche einer Kugel
dem Vierfachen ihres größten Kreises gleich sei; 2. daß die Ober-
fläche eines Kugelabschnittes (die Kugelkalotte) so groß sei als ein
Kreis, dessen Hallmiesser einer geraden Linie vom Scheitel des Ab-
schnittes bis an den Umfang des Grundkreises gleich sei; 3. daß der
Zylinder, welcher zur Grundfläche einen größten Kreis der Kugel
habe, zur Höhe aber den Durchmesser der Kugel, mit anderen Worten
der der Kugel umschriebene Zylinder, andertbalbmal so groß sei als
die Kugel, und daß auch seine Oberfläche das Anderthalbfache der
Kugeloberfläche sei. Ein gewisser Nikon hat in Pergamum eine
Inschrift, welche diesen Sätzen galt, in Stein hauen lassen*). Daß
Archimed gerade auf diese Sätze einen wohlberechtigten Stolz emp-
fand, geht daraus hervor, daß er die Kugel mit dem sie umgebenden
Zylinder auf seinen Grabstein eingemeißelt wünschte, und daß es ge-
rade diese Figur war, an welcher Cicero die Begräbnisstätte des großen
Mannes erkannte*).
Archimed hat in demselben Werke über Kugel und Zylinder, im
4. und 5. Satze des IL Buches^), noch zwei andere die Kugel be-
treffende Aufgaben gestellt, welche ihn geraume Zeit ^ beschäftigten.
Eine Kugel soll durch eine Ebene derart geschnitten
*) In der Harmonice mundi. *) Archimed (ed. Heiberg) I, 2—4, (ed.
Nizze) 42. ') Vgl. Ideler in v. Zache Monatlicher Correspondenz zur Be-
förderung der Erd- und Himmel skunde XXIII, 267 und Buzengeiger ebenda
XXIV, 672. *) Wir haben früher (wir wissen nicht mehr nach welchem Gewfthrs-
manne) hier eingeschaltet, die Figur habe sich auf Münzen der Stadt Syrakus
erhalten. H. Junge teilt uns mit, daß nach Erkundigungen, welche er im Münz-
kabinette des Berliner Museums einzog, solche Münzen nicht bekannt sind.
*) Archimed (ed. Heiberg) I, 210 sqq., (ed. Nizze) 91 flgg.
Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 309
werden^ daß Oberflächen und Eörperinhalte der beiden
so gebildeten Kugelabschnitte in gegebenem Verhältnisse
stehen. Die erstere Aufgabe hat^ sofern die Berechnung der Eugel-
kalotte vorher bekannt ist, wie es der Fall war, keine Schwierigkeit;
sie führt alsdann auf eine rein quadratische Gleichung. Anders ver-
hält es sich mit der zweiten Aufgabe. Sie ist nur dann lösbar,
wenn, wie Archimed ausdrücklich sagt, eine Länge gefunden werden
kann, welche in die Proportion sich einfügt, die in Buchstaben
(a — rc): 6 = e' : a;* lauten würde, wenn also eine Lösung der kubi-
schen Gleichung a? — nx^ + 'bc^ ^0 gefunden werden kann. Archi-
med geht nun noch einen großen Schritt weiter, er gibt den Dio-
rismus der Aufgabe. Sie sei, sagt er, nicht allgemein möglich,
sondern unter der Voraussetzung c = 2(a — c) nur bei Anwendung
eines a — c, welches selbst größer als 6 ist. Mit anderen Worten:
er nennt die Gleichung x^ — ax^ + - a^h « 0 lösbar, d. h. mit einer
positiven Wurzel versehen, so lange & < « • Beides, so fährt Archi-
med fort, d. h. die Notwendigkeit des Diorismus und zugleich die
Konstruktion der Aufgabe unter der Annahme, daß jene Bedingung
erfüllt sei, solle am Ende seine Analyse und Synthese finden. Es
ist undenkbar, daß Archimed eine so bestimmte Zusage gegeben
haben sollte, wenn er nicht -der gestellten Aufgabe in jeder Be-
ziehung Herr gewesen wäre. Aber wo sind die versprochenen Er-
gänzungen? Schon sehr bald nach Archimed zur Zeit des Diokles
waren sie verloren, wie wir im 17. Kapitel sehen werden. Ob eine
von Eutokius im VI S. aufgefundene alte Handschrift in dorischer
Mundart wirklieh, wie er vermutete, der Originalarbeit des Archimed
nachgebildet war, ist mit Bestimmtheit nicht zu behaupten noch zu
leugnen. An Wahrscheinlichkeit fehlt es übrigens der Vermutung des
Eutokius um so weniger, als jene Auflösung sich zur Konstruktion
nur einer Parabel und einer Hyperbel bedient, mithin Kurven be-
nutzt, welche zur Auflösung einer anderen räumlichen Aufgabe, der
Würfelverdoppelung, ziemlich lange vor Archimed, wie wir wissen,
bereits in Anwendung waren.
Mit der Geometrie des Raumes hat es femer das Buch von
den Konoiden und Sphäroiden zu tun. Archimed kennt unter
diesen Namen die Körper, welche durch die Umdrehung einer Parabel,
einer Ellipse, einer Hyperbel entstehen. Er teilt diese ümdrehungs-
körper durch einander parallele gleich weit voneinander entfernte ebene
Schnittflächen und erhält so zwischen je zwei Schnittebenen ein
Körperelement, das von einem Zylinder eingeschlossen einen anderen
Zylinder in sich enthält. Die Summierung sämtlicher größerer Zy-
310 16. Kapitel.
linder nebst der der sämtlichen kleineren Zylinder wird somit zwei
Grenzen bilden^ zwischen welchen der Eörperinhalt des gegebenen
ümdrehnngskörpers enthalten ist^ und welche bei gegenseitiger An-
näherung der Schnittflächen selbst beliebig wenig yoneinander unter-
schieden sind. Einige auf Widersprüche führende Yergleichungen
vollenden wieder die Exhaustion, und so wird die Kubatur der ge-
nannten Körper gefunden.
Gelegentlich zeigt dabei Archimed im 8., 9. und 10. Satze ^), wie
zu jeder Ellipse unendlich viele Kegel und Zylinder gefunden werden
können, auf deren Mantel sie sich befindet , offenbar ein Anfang
dessen, was man perspektivische Eigenschaften krummer Linien zu
nennen pflegt. Wir bemerken femer, daß, wo von den Asymptoten
der Hyperbel die Rede ist, diese den Namen der engstanschließenden
Geraden, &i Syyiöta evd-siai^ führen^).
Wir können die Entdeckungen Archimeds im Gebiete der Raum-
geometrie nicht verlassen ohne zweier falscher Sätze zu gedenken,
welche er absichtlich, wie er ausdrücklich sagt*), seinerzeit beweislos
in die Öffentlichkeit gab „um eben solche Leute, die da alles zu
finden behaupten, und doch nie einen Beweis vorbringen, zu über-
führen, daß sie auch einmal etwas Unmögliches zu finden verheißen
hätten'^ Es waren Sätze, die sich auf den Körperinhalt von Kugel-
abschnitten bezogen und damit unsere Bemerkung bestätigen, daß Ar-
chimed sich geraume Zeit mit Fragen, welche auf die Durchschneidung
einer Kugel durch eine Ebene sich bezogen, beschäftigte.
15. Kapitel.
Die übrigen Leistungen des Arehimedes.
Wir gehen zu Dingen über, welche einen algebraischen Charakter
tragen. In erster Linie haben wir einer Gesellschaftsrechnung zu
gedenken, welche Archimed anstellte, und welche nicht etwa der
Methode des Rechnens halber, die schon den alten Ägyptern (S. 77)
geläufig war, aber wegen des Verfahrens, durch welches Archimed
die zur Rechnung notwendigen Zahlen sich verschaffte, zu großer
Berühmtheit gelangt ist. Wir meinen die sogenannte Kronenrech-
nung. Richtiger wäre vielleicht die Übersetzung Kranzrechnung,
*) Archimed (ed. Heiberg) I, .S 18— 338 unter Bezeichnting der betreflFen-
den Sätze als 7. 8. 9., (ed. Nizze) 162—168. *) Archimed (ed. Heiberg) I,
278 lin. 1—2 und I, 436 lin. 1. ») Archimed (ed. Heiberg) H, 2—4, (ed.
Nizze) 116.
Die übrigen LeiBtungen dea Archimedes. 311
da Corona dem (Stdfpavog entspricht^ einem aus Zweigen gewundenen
Kranze, während die Fürstenkrone erst späteren Ursprunges ist^).
Yitrnyius, der Schriftsteller über Architektur im augusteischen Zeit-
alter, erzählt die Sache folgendermaßen^). König Hiero habe von
einem Goldarbeiter eine Krone aus Gold anfertigen lassen und die-
selbe alsdann dem Archimed übergeben, um zu ermitteln, ob nicht^
wie man zu vermuten Grund hatte, der Künstler nur Gold in Rech-
nung gebracht, in Wirklichkeit aber teilweise Silber zur Masse hinzu-
getan hatte. Zufällig sei nun Archimed in ein Badhaus getreten und
habe beim Einsteigen in eine mit Wasser ganz angefällte Wanne be-
merkt, daß ebensoviel Wasser auslief, als sein Körper verdrängte.
Nun schloß Archimed so: die Menge des verdrängten Wassers hängt
nur von der Ausdehnung, nicht von dem Gewichte des eingetauchten
Körpers ab, das Gewicht dagegen verändert sich bei gleicher Aus-
dehnung nach der Natur des Stoffes. Andere Stoffe werden bei
gleicher Ausdehnung verschiedenes Gewicht, bei gleichem Gewichte
verschiedene Ausdehnungen haben. Bildet man sonach eine reine
Goldmasse und eine reine Silbermasse, beide von genau gleichem Ge-
wichte mit der Krone, so wird das Silber am meisten Flüssigkeit aus
einem bis zum Rande gefüllten Gefäße verdrängen, nächstdem die aus
beiden Metallen gemischte Krone, das Gold endlich am wenigsten.
Die Schlüsse, wenn auch noch nicht in der hier ausgeführten Deut-
lichkeit, scheinen dem Geiste Archimeds sich plötzlich dargeboten zu
haben. Die drei Wassermengen 6, x, y, welche durch das Silber, die
Krone, das Gold verdrängt wurden, boten das Mittel die Mischungs-
verhältnisse der Krone zu berechnen. Wog nämlich die Krone k Ge-
wichtsteile, worunter s Gewichtsteile Silber und g Gewichtsteile Gold,
so mußte erstlich 5 -f ^ » i sein. Zweitens verdrängte aber das
Silber nur -^ X 6 Raumteile Wasser und das Gold ? Xy Raum teile
derselben Flüssigkeit, die ganze Krone also ^^X^^ Raumteile, oder
X Raumteile, demnach war auch S6 + gy ^ hx. Die beiden Angaben
führten dann vereint in Betracht gezogen zu s = * ^- X k. In der
Freude über diese Entdeckung sei Archimed unbekleidet ins Freie
und nach seiner Wohnung gelaufen mit dem Rufe: ich habe es ge-
funden, BVQrjxa svgrixa. Eine zweite Auffassung findet sich in einem
Lehrgedichte „Ueber die Gewichte und Maasse", welches man wohl
dem Grammatikei» Priscianus zuschrieb, eine Meinung, von welcher
man aber allgemein zurückgekommen ist, um die Entstehung des Ge-
*) Briefliche Mitteilung von H. Junge. ■)VitruviuBlX, 3.
312 15. Kapitel.
dichtes etwa auf das Jahr 500 zu yerlegen^). Dort ist nämlich die
Auffindung des spezifischen Gewichtes eines Stoffes^ auf welche allein
es ankommt, an eine doppelte Abwägung geknüpft. Wird die zu
prüfende Substanz einmal im Freien und das zweite Mal in Wasser
eingetaucht gewogen , so wird sie das zweite Mal so viel von ihrer
Gewichtswirkung auf den Wagebalken, an welchem sie hängt, ein-
büßen, als das Gewicht der durch sie verdrängten Flüssigkeitsmenge
beträgt. Man wird folglich in dem Verhältnisse des ursprünglichen
Gewichtes zu dem Gewichtsverluste das spezifische Gewicht des Stoffes
besitzen, und man findet s = . _ -, x Ä:, wenn s', k', g' die Gewichts-
verluste im Wasser der an Gewicht außerhalb des Wassers gleichen
Mengen Silber, Kronenmetall und Gold bedeuten. Welche von den
beiden Methoden also Archimed auch anwandte, und die Wahrschein-
lichkeit für die eine wie für die andere zu erörtern gehört der Ge-
schichte der Physik an, die Rechnung als solche war immer die
gleiche, war, wie wir zum voraus bemerkten, eine Gesellschaftsrech-
nung, dergleichen ähnliche wenn auch nicht völlig übereinstimmende
im Übungsbuche des Ahmes erledigt sind.
Dem Archimed wird femer eine unbestimmte Aufgabe zuge-
schrieben, welche in Distichen abgefaßt unter dem Namen des Rinder-
problems bekannt ist^). Es handelt sich um die Auffindung von vier
Unbekannten in ganzen Zahlen mittels dreier zwischen ihnen gegebenen
Gleichungen vom ersten Grade. Zu dieser ursprünglichen Form des
Problems sind alsdann in späterer Überarbeitung, wie es scheint, noch
anderweitige Zusätze getreten, welche zu ihrer Berücksichtigung
Kenntnisse in der Lehre von den Quadratzahlen und von den Drei>
eckszahlen voraussetzen, welche wir wohl berechtigt sind, einem Ar-
chimed als zugänglich anzunehmen, wenn schon Philippus Opuntius
(S. 169) über vieleckige Zahlen schreiben konnte. Bezüglich der
Echtheit dieses Problems sind die Ansichten geteilt. Der letzte
Schriftsteller, der in eingehender Weise mathematisch wie philologisch
mit Archimed sich beschäftigt hat, steht nicht an, das Gedicht, wie
*) Scriptores metrölogici Bomani (ed. Hultsch) pag. 88 sqq. Die auf die
Kronenrechnung beziigliche Stelle v. 124 — 208. Über die Datierung vgl.
Hultschs Proleg^mena § 118. *) Ältere Ansichten über das Rinderproblem bei
Nesselmann, Algebra der Griechen 8. 481 — 491 wissen einen nur halbwegs
erträglichen Sinn nicht herauszubringen. Dieses gelang Vincent in dem als
Anhang zu den Nouvelles annales de mathematiques T. XV (Paris 1856) erschie-
nenen Bulletin de bibliographie etc. I, 39 ügg. Einen anderen Sinn haben die
Verfasser der neuesten Abhandlung Krumbiegel und Amthor „das BröbUma
bovinum des Archimed" ermittelt. Vgl. Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXV. Histor.>
literar. Abteilung (1880).
Die übrigen Leistungen des Archimedes. 313
es erhalten ist, als arcliimediscli anzuerkennen^). Wir selbst ent-
halten uns eines bestimmten Urteils, wie wir (S. 286) uns entschieden,
die Frage nach der Echtheit des sogenannten euklidischen Problems
als eine offene zu betrachten. Zu einem Ergebnisse kommen wir
allerdings auch hier: daß nämlich ein Grund das Rinderproblem darum
für untergeschoben zu erklären, weil Archimed es nicht habe lösen
können, in keiner Weise vorliegt.
Eine Beschäftigung mit Quadratzahlen ist Archimed jedenfalls
nachzurühmen. Er hat jedenfalls in dem Buche von den Schnecken-
linien die Summierung der aufeinander folgenden Quadrat-
zahlen von 1 anfangend gelehrt und bewiesen. Er kleidet die
Summenformel in folgenden Satz: „Wenn man eine willkürliche An-
zahl von Linien annimmt, die nacheinander gleiche Unterschiede
haben, so daß die kleinste dem Unterschiede selbst gleich ist, und
wenn eine eben so große Anzahl anderer Linien angenommen wird,
welche einzeln der größten von jenen gleich sind, so wird die
Summe aller Quadrate von denen, welche der größten gleich sind,
nebst dem Quadrate der größten selbst und dem Rechtecke unter
der kleinsten und einer Linie, welche so groß ist als die Summe
aller um gleiche Unterschiede verschiedener, dreimal so viel betragen
als die Summe aller Quadrate der um gleiche Unterschiede verschie-
denen Linien*'*). In Zeichen geschrieben heißt das 3[a* + (2a)* +
(3a)* H h (wa)*] ^ (n + l)(na)* + a{a + 2a + 3a + - - + na).
Da Archimed, wie aus dem Beweise sich ergeben wird, die Summeu-
formel der arithmetischen Reihe anzuwenden wußte, so ist es
einigermaßen auffallend, daß er nicht a-f2o-f3a-f-+wa zu
-^-+ ^-^ vereinigte, um schließlich a* + (2ay -f (3a)* + • - • -f (nay
= - — ^^^— ^ — zu erhalten. Wir erkennen daraus, daß ein so
o
lautender Satz bei Archimed nicht vorkommt, wie sehr man sich
hüten muß den Schluß, dieser oder jener Schriftsteller konnte so
oder so schließen, hat es also getan, anzuwenden, wenn nicht be-
sondere anderweitige Gründe für jenen Schluß vorhanden sind. Noch
eine Bemerkung drangt sich auf. Wir sagten Archimed habe die
Summierung der Quadratzahlen vollzogen, und in dem Wortlaute
seines Satzes, wie seines Beweises, kommen nur Linien vor. Allein
es sind unzusammenhängende Linien, wie sie im V. Buche der eukli-
dischen Elemente zur Versinnlichung von Zahlen dienen, und haben
hier gleichfalls keine andere Bedeutung. Wir lassen nun den Be-
weis folgen, an welchem wir keine andere Veränderung vornehmen,
*) Heiberg, Quaestiones Ärchimedtae 26. *) Archimed (ed. Heiberg)
n, 84—40, (ed. Nizze) 126—128
314 15. Kapitel.
als daß wir Archimeds Worte in Zeichen übersetzen. Es ist
na^(n- l)a + lo = (n — 2)a + 2a « (n — 3)a + 3a ^ « la
-f (n — l)a. Quadriert man alle diese nnter sich gleichwertigen Formen
von nüj so erhält man ebenso viele verschiedene Formen von {nay,
nämL'ch {nay « ((n ~ l)a)» + (la)* + 2 • (w — l)a • la - «n - 2)a)»
+ (2a)« + 2 (n - 2)a . 2a « ((n - 3)a)» + (3a)« + 2 . (n - 3) a • 3a
(la)» + ((« - l)a)« + 2 . 1 a . (n — i) a. Jede solche Form
besteht aus zwei quadratischen Gliedern und einem doppelten Pro-
dukte. Addiert man die sämtlichen Formen nebst 2(na)« » (na)«
-f (nay und ordnet die quadratischen Glieder erst fallend dann steigend,
und die doppelten Produkte nach fallendem erstem Faktor^ so entsteht
(n + l){nay - (na)« + ((n- l)a)« + ((n~2)a)« + • - • + (la)«+ (la)«
+ . . . + ((w - 2)a)« + ((n- l)a)« + (wa)« + 2[(n - l)a • la + (n-2)a
• 2a + • • • + lö(w — l)a]. Addiert man femer auf beiden Seiten
a(a + 2a -I — • + na), so erhält man (w + l)(na)« + a(a + 2a H
+ na) = 2[a« + (2a)«+ ••• + (wa)«] + 2[(n - l)a • la + (n - 2)a.2a
H — • + 1» • (w — l)a] + a[a + 2a + - - - + na]. Damit der zu An-
fang ausgesprochene Satz bewiesen sei, bedarf es also nur noch Eines:
es muß gezeigt werden, daß a« + (2a)« H h (na)*^2[(n — l)a • la
+ (n — 2)a • 2a H + 1« • (n - l)a] + a[a + 2a + - -- + na] sei.
Die beiden Ausdrücke rechts vom Gleichheitszeichen sind aber a • A
und a ' B oder vereinigt a{A + B\ wobei
^ - 2(w - l)a + 4(w - 2)a + . • . + (2» -- 2) • la
J? = na + (« - l)a + (w - 2)a +' . • • + la
^ + J? « 1 . na + 3 . (n - l)a + o • (n - 2)a + • • • + (2n — 1) • 1 a
(^+-B)-a='a[l-wa+3.(n-l)a+5.(n-2)a+... + (2n— l).la] = jR.
Von den n Quadraten, als deren Summe R zu beweisen ist, wird nun
das höchste {nay umgeformt in a(l • na + (n — l)na). Aber die
arithmetische Reihe (n — l)a + (n — 2)a + ••• + !» hat als Summe
-^^' -^ , eine Formel, welche demnach, wie oben angekündigt,
von Archimed benutzt wird. Demnach ist (n — l)na = 2[(n — l)a
-h(n~2)a + -" + la] imd (na)«=»a[l •na + 2(n- l)a + 2(n-2)a
+ • • • + 2 • la]. Ziehen wir diesen Wert von B ab, so bleibt ein
Rest B^ ähnlicher Form wie U, nämlich a[l • (n — l)a + 3(n — 2)a
+ |-(2n — 3) • la] =» iZj. Nun könnte ((n — l)a)« umgeformt und
von B^ abgezogen werden, wodurch ein Rest B^ entstünde, dem
gegenüber das Verfahren fortzusetzen ist. Schließlich bleibt nichts
übrig, es ist also a« + (2 a)« + • • • + (wa)« = B, wie zu beweisen war.
Wir haben vorher bei der archimedischen Aufgabe von der durch
eine Ebene geschnittenen Kugel die kubische Gleichung x^ — ax^
+ - a«6 = 0 angeschrieben (S. 309), zu welcher diese Aufgabe führt.
Die übrigen LeiBtungen des Archimedes. 315
Wir haben dieses zur deutlicheren Einsicht in die Frage für unsere
an die Gleichungsform gewohnten Leser getan. Man muß sich
jedoch wohl hüten das, was wir dort taten, als den gleichen Ge-
sichtspunkten entsprechend zu betrachten, wie das, was uns bei
unserer letzten Darstellung der Summierung aufeinanderfolgender
Quadratzahlen leitete. Wir haben hier nur Zeichen statt der Worte
gesetzt, den archimedischen Gedanken in keiner Weise yerändemd.
Wir haben dort eine Gleichung aus einer -Proportion entwickelt.
Archimed hätte eine solche Entwicklung dem ganzen Zustande der
damaligen Wissenschaft gemäß, welche Körperzahlen kannte, vor-
nehmen können, aber er hat es nicht getan. Er blieb bei der
Proportion (a — a:) : 6 =» y a* : a;' stehen, und wir würden in ihn
hineinlesen, was er nicht gewußt zu haben scheint, wenn wir auch
nur annahmen, Archimed habe eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen
seiner Aufgabe und der Aufgabe der Würfelrerdoppelung, geschweige
denn zwischen ihr und der Aufgabe der Winkeldreiteilung bemerkt.
Die Würfelverdoppelung verlangte die Einschaltung zweier geome-
trischer Mittelglieder zwischen gegebenen Ghrößen; von einer der-
artigen Einschaltung ist bei der archimedischen Eugelteilung nicht
die Rede, mag man auch, um die Unbekannte nach innen zu bringen,
4a'
die Proportion in der Form 6 : (a — a;) = x* : -r- oder in der Form
ft : a;^ == (a — a;) : -g- schreiben.
Wir müssen hier vielleicht einem Vorwurfe begegnen, den man
uns darüber machen könnte, daß wir, als wir es mit Euklid und
dessen durch quadratische Gleichungen darstellbaren Aufgaben zu
tun hatten, nicht auch so streng an den Wortlaut des griechischen
Schriftstellers uns halten zu müssen glaubten. Wahr ist es, es wäre
vorsichtiger gewesen auch dort nicht als Gleichung zu schreiben,
was nur eine Proportion war, allein wir können doch einiges hervor-
heben, welches einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der eukli-
dischen und der archimedischen Aufgabe bedingt und dadurch auch
eine formelle Verschiedenheit der Darstellung gestattet, ganz abgesehen
davon, daß wir wenigstens nicht versäumt haben (S. 285), unsern
Zweifel darüber zu äußern, ob Euklid eine Ahnung von dem alge-
braischen Inhalte seiner Aufgaben gehabt habe. Quadratische und
kubische Aufgaben — man gestatte uns diese leicht verständ-
lichen, wenn auch sonst nicht gerade üblichen Benennungen — sind
geometrisch gewaltig verschieden. Die quadratische Aufgabe gehört
den Elementen in dem geometrischen Sinne des Wortes an. Sie
läßt sich, sofern Nichtbeachtung des Diorismus nicht Größen als ge-
316 16. Kapitel.
geben wählen ließ; welche jede reelle positive Lösung ausschließen^
jedesmal durch Zirkel und Lineal bewältigen. Die kubische Aufgabe
ist durch die Elemente nicht lösbar. Sie bedarf besonderer Kurren,
deren Eigenschaften in besonderen Schriften erörtert zur Zeit^ als
Archimed lebte^ überhaupt erst anfingen^ genau studiert zu werden
und die höhere Geometrie bildeten. Man darf daher wohl einen
Unterschied machen zwischen der Tiefe, bis zu welcher Euklid und
Archimed in das eigentliche Wesen quadratischer und kubischer Auf-
gaben einzudringen vermochten. Daneben ist auch für rechnendes
Verfahren ein nicht minder gewaltiger Unterschied zwischen quadra-
tischen und kubischen Aufgaben ; die einem Griechen gestellt waren.
Die Ausziehung der Kubikwurzel durch Umkehrung des Verfahrens,
welches zur Erhebung auf die dritte Potenz führt, also von der
Formel (a + ßY « «• + 3a^ß + 3a/J' + ß^ ausgehend, hat, wie wir
vorgreifend bemerken dürfen, kein griechischer Schriftsteller des Alter-
tums oder des Mittelalters jemals gelehrt; ob ein anderes Rechnungs-
verfahren zu dem gleichen Zwecke angewandt wurde, müssen wir
hier noch dahingestellt sein lassen. Eine Ausziehung von Quadrat-
wurzeln dagegen durch Rechnung, und zwar auch bei solchen Zahlen,
welche nur eine Annäherung an den wahren Wert gestatten, hat die
griechische Mathematik vielleicht, wie wir (S. 223) sahen, schon seit
Piaton besessen, jedenfalls hat Archimed in seiner Kreismessung den
Beweis geliefert, daß er im Besitze sehr vollkommener Methoden
zur Auffindung solcher Wurzelwerte gewesen sein muß. Damit ist
aber, wie zum Schlüsse dieser Ausführungen hingeworfen werden
mag, zugleich auch die (S. 285) schon begründete Behauptung
vollends gesichert, daß man in sehr früher Zeit bei den Griechen
quadratische Aufgaben rechnend löste, d. h. tatsächlich mit quadra-
tischen Gleichungen sich beschäftigte, denn wie wäre man sonst zu
Methoden der Quadratwurzelausziehung gelangt, die das leisteten, was
z. B. von Archimed, zu dessen Arbeiten wir so zurückkehren, geleistet
worden ist?
Archimed hat in seiner Kreismessung eine ganze Anzahl von
angenäherten Quadratwurzeln berechnen müssen. Er hat da-
bei erkannt, daß ^^g^o^ > V^ > ^ J^ , daß ]/34y450 > 591 g- , daß
]/l 373 943g J > 1172 g , daß ")/5472132^^ > 2339 J. Wie hat er
diese Zahlen gefunden? Die Frage ist vielfach aufgeworfen, ver-
schiedentlich beantwortet worden^). Man kann wohl sagen, daß
^) Zasammenstellungen der auf diesem Gebiete ansgesprochenen Meinungen
bei S. Günther, Antike Nähemngsmethoden im Lichte modemer Mathematik
Die übrigen Leistungen des Archimedes. 317
Bämtliche Versuche in einem Punkte zusammentreffen, nämlicli in dem
Bestreben, ein mehr oder weniger bewußtes Zusammentreffen der
Methode des Archimedes mit dem modernen Eettenbruchyerfahren
nachzuweisen, d. h. mit den Formeln
i/«*+^=« + Ä+6
2a +_5_
2a +
und
Yii^~b^a^ ^
2a — ft
2a — h^
2a —
Nun ist von vornherein zuzugeben, daß der Näherungswert
2 + 1
bei griechischen Schriftstellern mit aller Bestimmtheit auftritt, wie
wir bei der näheren Betrachtung des Werkes des Theon von Smyrna
im 21. Kapitel erkennen werden. Es ist ferner (S. 267) darauf hin-
gewiesen worden, daß die Art und Weise, in welcher Euklid den
größten gemeinschaftlichen Teiler zweier ganzer Zahlen aufsucht,
einen vollständigen Kettenbruchalgorithmus darstellt, und dennoch
können wir die Frage, wie eigentlich Archimed verfuhr, noch nicht
als vollständig beantwortet erachten. Die Werte, welche Archimed
als angenäherte Quadratwurzeln benutzt, andere Werte, die bei
späteren griechischen Schriftstellern auftreten, entstehen nämlich,
mit Ausnahme der von uns schon betonten }/2 und einer weiteren
Ausnahme, nicht aus den obigen Kettenbruchformeln, es sei denn,
daß man sie auf ein Prokrustesbett spannte, wie wir es nicht ver-
(in den Abhandlungen der k. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften
VI. Folge, 9. Band, Prag 1878) und bei Heiberg, Quaestiones Ärchimedeae 60
bis 66. Bei letzterem auch das bei dem ersteren fehlende Referat über Ab-
handlungen von Mollweide (1808) und Oppermann (1876). Über die Ab-
handlung Mollweides vgl. auch einen Bericht von Gauß in den Göttinger Ge-
lehrten Anzeigen vom 9. Januar 1808. Spätere Arbeiten von Hunrath, Die
Berechnung irrationaler Quadratwurzeln vor der Herrschaft der Dezimalbrüche
(Kiel 1884) unter anderen haben unserer Ansicht nach die Frage immer noch
nicht geklärt. Auch Hultsch, Über Archimeds Quadratwurzeln (Göttinger Ge-
lehrte Anzeigen 1893) und Ebenderselbe, Zur Kreismessung des Archimedes
(Zeitschrift für Mathematik und Physik XXXIX, Historisch-literarische Abteiig.
1894) lassen noch zu manchem Zweifel Raum.
318 16. Kapitel.
antworten zu können glauben. Die erwähnten archimedischen Werte
von )/3 z. B. entstehen nicht aus 1/4— 1 *" 2 — — __ , son-
dem die aufeinanderfolgenden Näherungsbrüche dieses Kettenbruches
. , ' 7 26 97 862 . , , -7 j 26 ,
Sind 2, -^ , -^, gg, -^Q • • •, unter welchen wir ~ und ^^ hervor-
heben als die weitere Ausnahm« , von welcher soeben die Rede war^
da diese Werte fUr YS in der Tat geschichtlich nachweisbar bei
Griechen vorkommen; wie das 18. und 19. Kapitel uns lehren werden.
Wir lassen also die Frage nach der Art und Weise, in welcher Ar-
chimed seine Quadratwurzeln fand, offen, soviel zugestehend, daB be-
stimmte Beispiele auf Anwendung von Kettenbruchformeln bei anderen
Schriftstellern hinweisen, die somit jener Formeln sich bedient haben
werden, wenn auch natürlich nicht als Kettenbrüche, an deren Vor-
handensein nicht zu denken ist, bevor eine Schreibweise der Brüche
durch räumlich unterscheidbare Zähler und Nenner sich verbreitet
hatte.
Es ist nur ein unglücklicher Zufall, daß wir über die Wurzel-
ausziehungsmethoden Archimeds im dunkeln tappen. Eutokins, der
einen Kommentar zur archimedischen Kreismessung geschrieben hat,
sagt, wo er an die Quadrat \\'urzelwerte kommt: „Wie man aber die
Quadratwurzel, die einer gegebenen Zahl sehr nahe kommt, finden
könne, ist von Heron in seinem metrischen Werke gezeigt worden,
ebenso von Pappus, Theon und mehreren anderen Exegeten der
großen Zusammenstellung des Klaudius Ptolemäus. Es ist daher
nicht nötig Untersuchungen über diesen Gegenstand anzustellen, da
Freunde der Mathematik bei jenen darüber nachlesen können''^).
Was wir diesen Schriftstellern, soweit sie erhalten sind, entnehmen,
müssen wir später im Zusammenhang mit ihren sonstigen Leistungen
besprechen.
Versagt uns der Kommentar des Eutokius den Dienst, wo wir
seiner am dringendsten bedürfen, so läßt er uns doch nicht ganz
ohne Ausbeute. Er vollzieht aufs ausführlichste mehrere Multi-
plikationen, und diese Stellen gehören zu den bedeutsamsten für
die Kenntnis griechischer Rechenkunst. Der Gebrauch der Stamm-
brüche (S. 128) beim wirklichen Rechnen geht daraus aufs unzwei-
deutigste hervor, dann aber auch, daß die Griechen bei ihren Multi-
plikationen im wesentlichen der gleichen Methode sich bedienten,
der wir noch heute folgen, nur daß sie bezüglich der Anordnung
>) Archimed (ed. Heiberg) IH, 270.
Die übngen LeiBtnngon des Archimedes 319
der Teilmultiplikationen den entgegengesetzten Weg einschlagen. Sie
fingen nämlich mit dem^ was wir die Ziffer höchsten Ranges im
Multiplikator neimen, an und stiegen dann zu den niedrigeren Stellen
herab y sie beobachteten die gleiche Reihenfolge innerhalb der Teile
des Multiplikandus. So wird z. B. 2016-^- folgendermaßen quadriert.
Es ist 2000.2000 = 4000000, 2000.10 = 20000, 2000.6 = 12000,
2000 y- 333 J-; 10-2000-20000, 10 • 10 = 100, 10
■6-60,
10 . -J =. 1* -J ; 6 • 2000 - 12000, 6-10-60, 6 •
6 - 36,
6.|-l;|.2000-333j-, ;.10-li|,;-.6-l,-J
1 1
6" °" 36
und alle diese Teilprodukte vereinigt geben 4064928 •
Man könnte bei diesem Fortschreiten von den größeren Teilen
der Zahlen zu immer kleineren an die mehrerwähnte Stelle des
Herodot^) denken, daß die Hellenen beim Rechnen die Hand von
links nach rechts bewegen. Links befand sich (S. 133) auf der
Rechentafel mit gegen den Rechner senkrechten Kolumnen die höchste
Rangstelle. Man dürfte auch die Vermutung aussprechen, die Ver-
einigung der Teilprodukte, welche als vollzogen gedacht wird, ohne
zu erklären, wie man dabei verfuhr, sei auf der Rechentafel erfolgt,
deren Gebrauch zur Zeit des Polybius, mithin nur ein halbes Jahr-
hundert nach Archimed (S. 132) wir uns ins Gedächtnis zurück-
rufen. Jedenfalls ist dieses griechische Rechnen innerhalb und mit
Benutzung des Zehnerzahlensystems ein ungeheurer Fortschritt gegen-
über dem ägyptischen Verfahren der Multiplikation und Division,
welches fast nur fortgesetzte Verdoppelungen und Halbierungen nebst
additiver Vereinigung so gewonnener Ergebnisse benutzte. In Griechen-
land selbst wurden übrigens nach Aussage eines Scholiasten zum
Charmides des Piaton beide Methoden gelehrt, denn anders sind
die Ausdrücke hellenische und ägyptische Methoden der Multiplikation
und Division nicht zu verstehen*). Ihr Nebeneinanderbestehen läßt
vermuten, daß bereits die Griechen die Erfahrung machten, die ägyp-
tische Methode lasse sich im Handelsverkehre leichter als die helle-
nische anwenden, eine Erfahrung, welche italienische Kaufleute um
Jahrhunderte später erneuerten.
Wir nannten die hier erwähnten Stellen des Eutokius als zu den
bedeutsamsten für die Kenntnis griechischer Rechenkunst gehörend.
Vieles ist leider verloren gegangen. Unter den Schriften des
') Herodot II, 86. *) P. Tannery, La g^om^trie grecque etc. pag. 49
hat zuerst auf diese wichtige Stelle hingewiesen.
320 16- Kapitel.
Xenokrates, welche wir nur dem Titel nach kennen^) (S. 249), soll
eine Logistik gewesen sein. Ein Rechenmeister Apollodorus wird
uns genannt (S. 180). Von der Logistik des Magnus erwähnt
Eutokius Rühmendes am Schlüsse seines Kommentars zur archi-
medischen Kreismessung*). Eine Schrift, welche in griechischer
Sprache von dem Rechnen auf dem Rechenbrette handelte, war im
XVIIL Jahrh. noch in der S. Marcusbibliothek in Venedig vorhanden,
ist aber inzwischen abhanden gekommen oder verlegt, so daß sie in
den Handschriftenverzeichnissen der genannten Bibliothek nicht mehr
vorkommt'). Aber was läßt mit so dürftigen Angaben sich machen?
Sogar die Lebenszeit dieser Schriftsteller mit Ausnahme des Xeno-
krates ist in tiefstes Dunkel gehüllt. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß Archimed selbst ein Buch verfaßt hat, welches mit der Rechen-
kunst sich beschäftigte. Zu dieser Vermutung geben wenigstens einige
Bruchstücke und deren Titel Veranlassung. Die Schrift hieß die
Grundzüge, &QxaCj und war dem Zeuxippus zugeeignet*). Archimed
lehrte darin unter anderen das dekadische Zahlensystem in übersicht-
licher Gliederung weit über die Grenzen derjenigen Zahlen aus-
dehnen, mit welchen man insgemein zu tun hat. Archimed faßt
nämlich acht aufeinander folgende Rangordnungen in eine Oktade
zusammen^). Die erste Oktade geht also von der Einheit bis zur
Myriade der Myriaden, d. h. bis zu 100000000, welche Zahl die Ein-
heit der zweiten Oktade bildet. Die Einheit der dritten Oktade ist
ihm folglich die Zahl, welche wir durch Eins mit 2 mal 8 oder mit 16
Nullen schreiben. Die Einheit der 26. Oktade ist in unserer Schreib-
weise 1 mit 25 mal 8, d. h. mit 200 Nullen. Diese Oktaden setzt
Archimed fort bis zur 10000 mal lOOOOsten und sämtliche Zahlen
bis zur höchsten dieser letzten Oktade bilden die erste Periode.
An sie schließt sich aber eine neue zweite Periode, deren Einheit
folglich nach unserer Zahlenschreibweise eine 1 mit 800 Millionen
Nullen ist! Es schwindelt einem bei dem Gedanken, auch mit dieser
zweiten Periode von 10000 mal 10000 Oktaden die Zahlenreihe nicht
abgeschlossen zu finden, sondern vielmehr die Möglichkeit zugeben
zu müssen, noch höhere Perioden oder gar höhere Gruppenordnungen
als die Perioden selbst zu bilden.
Für die Richtigkeit dieses Auszuges bürgt, daß er von Archimed
*) Diogenes Laertius VIII, 12. •) Archimed (ed. Heiberg) m, 302.
*) PrivatmitteiluDg des Grafen Soranzo in Venedig auf die Anfrage des Ver-
fassers nach dem Äbacus in Graeco^ von welchem Bern, de Montfaucon,
Bibliotheca bibliothecarom manuscriptarum I, 468 D spricht. *) Archimed
(ed. Heiberg) 11, 242, 246, (ed. Nizze) 209, 212. •) Archimed (ed. Heiberg)
n, 266 sqq., (ed. Nizze) 217.
Die übrigen Leistungen des Archimedes. 321
in eigener Person herrührt. Er gibt ihn uns in einer yoUständig
erhaltenen Abhandlung, der Sandrechniing, tl;afifLLti]g (lateinisch:
arenarius). In ihr ist die Aufgabe gestellt eine Zahl anzugeben,
welche größer sei als die Zahl der Sandkörner, die eine Kugel fassen
würde, deren Halbmesser die Entfernung des Erdmittelpunktes von
dem Fixsternhimmel wäre. Vorausgesetzt nun, daß 10000 Sandkörner
hinreichen ein Kömchen von der Größe eines Mohnkornes zu liefern,
und daß der Durchmesser eines Mohnkornes nicht kleiner als der
40. Teil einer Fingerbreite sei, vorausgesetzt ferner, daß der Welt-
durchmesser kleiner als 10000 Erddurchmesser, der Erddurchmesser
endlich kleiner als eine Million Stadien sei, findet Archimed eine
Zahl, welche die Sandkömerzahl einer der Weltkugel gleich ge-
dachten Sandkugel überschreitet in 1000 Einheiten der 7. Oktade
der 1. Periode. Ja Archimed geht noch weiter. Er nimmt nach
astronomischen Anschauungen des Aristarchus von Samos^) die
Weltkugel, die er alsdann Fixstemkugel nennt, noch größer an und
erkennt, daß Sandkörner 1000 Myriaden der 8. Oktade an Zahl
mehr als nur ausreichen würden, selbst diese Fixsternkugel zu
bilden^).
Was ist die Bedeutung dieser eigentümlichen Aufgabe? Mannig-
fache Vermutungen sind darüber ausgesprochen worden. Man hat
vielleicht nicht ganz unglücklich versucht den Zweck der Schrift in
jenem Bruchstücke der Grundzüge zu finden. Mit anderen Worten:
man hat es als einzigen Zweck der Sandrechnung bezeichnet, ein
Beispiel davon zu liefern, wie man die Aussprache der Zahlen von
einer gewissen Höhe an bedeutend vereinfachen und dabei eine Ein-
sicht in die Art ihres Wachstums gewähren könne. Neben diesem
Zwecke hat man einen anderen wichtigeren zu erkennen geglaubt,
die Sandrechnung sei dazu bestimmt, die arithmetische Ergänzung
der geometrischen Exhaustionsmethode zu bilden. Dem Unendlich-
kleinen gegenüber ist das ünendlichgroße der zweite Pol des Un-
endlichkeitsbegriffes, wenn wir so sagen dürfen; um beide dreht sich
die ganze Infinitesimalrechnung. Will man aber beide Gegensätze
deutlicher hervortreten lassen, so eignen sich geometrische Betrach-
tungen nahezu zusammenfallender Raumgebilde vorzugsweise dazu,
das Unendlichkleine zu versinnlichen, während das Unendlichgroße
unmöglich an Figuren zu begreifen ist, welche dem Auge innerhalb
des Raumes begrenzt erscheinen. Nur durch die Zahl wird es dem
Verständnisse näher gebracht. Man kann zeigen, daß jede noch so
*) Vgl. über diesen Wolf, Geschichte der Astronomie 36—37. *) Archi-
med (ed. Heiberg) II, 290, (ed. Nizze) 228.
C AKTOR, OescMchte der Mathematik L 3. Aufl. 21
322 16. Kapitel.
große, aber gegebene Zahl durch eine im übrigen nicht näher be-
stimmte Zahl überstiegen werden kann, man kann über jede noch so
ferne Grenze dabei als zu nahe gelegen hinausgehen. Das gerade hat
Archimed in seiner Sandrechnung geleistet.
Ist die Frage nach dem Zwecke der Sandrechnung schon eine
schwierige^ so ist die Frage nach ihrer Heimat womöglich noch
weniger sicher zu beantworten. Auf der einen Seite ist unzweifelhaft
die philosophische wie die mathematische Erkenntnis des Unend-
lichen ein Gegenstand griechischer Forschung schon in einer Zeit
gewesen, die um reichlich ein Jahrhundert vor Archimed liegt. Auf
der anderen Seite ist die griechische Denkart im ganzen so über-
trieben großer Zahlen nicht gewohnt. Nicht vor, nicht nach Archi-
med finden wir ähnliches in griechischer Sprache. Man könnte
erwidern, nicht vor, nicht nach Archimed finde man unter den grie-
chischen SchriftsteUem einen Archimed! Allein auch eine andere Aus-
kunft ist nicht unmöglich. Es könnte hier ein auswärtiges Problem
vorliegen, welches Archimed irgendwie, irgendwo einmal zu Ohren
gekommen wäre, welches er mit seinem allumfassenden Geiste auf-
nahm und im Sinne seiner Absicht, die vielleicht von der des ur-
sprünglichen Stellers der Aufgabe himmelweit verschieden war, be-
handelte. Man möchte fast für diese Auffassung auf die einleitenden
Sätze der Sandrechnung verweisen: „Manche Leute glauben, König
Gelon, die Zahl des Sandes sei von unbegrenzter Größe. Ich meine
nicht des um Syrakus und sonst noch in Sizilien befindlichen, son-
dern auch dessen auf dem ganzen festen Lande, dem bewohnten und
unbewohnten. Andere gibt es wieder, welche diese Zahl zwar nicht
für unbegrenzt annehmen; sondern nur daß noch keine so große
Zahl jemals genannt sei, welche seine Menge übertrifft. Wenn sich
nun eben diese einen so großen Sandhaufen dächten, wie die Masse
der ganzen Erde; dabei sämtliche Meere ausgefüllt und alle Ver-
tiefungen der Erde so hoch wie die höchsten Berge, so würden sie
gewiß um so mehr glauben, daß keine Zahl zur Hand sei, die Menge
derselben noch zu überbieten. Ich aber will mittels geometrischer
Beweise, denen Du beipflichten wirst, zu zeigen versuchen, daß unter
den von mir benannten Zahlen, welche sich in meiner Schrift an den
Zeuxippus befinden, einige nicht nur die Zahl eines Sandhaufens
übertreffen, dessen Größe der Erde gleichkommt, wenn sie nach meiner
Erklärung ausgefüllt ist, sondern auch die eines solchen, dessen Größe
dem Weltalle gleich ist.'' So der Anfang der Abhandlung, und man
wird zugeben müssen, daß Archimed in ihm die eigentümliche Grup-
pierung und Benennung der großen Zahlen für sich in Anspruch
nimmt, aber keineswegs den Gedanken eines der Erdkugel gleichen
Die übrigen Leistungen des Archimedes. 323
Sandhaufens selbst als einen neuen bezeichnet^ welchen noch niemand
vor ihm geäußert habe.
Wir haben (S. 297) zugesagt^ auch die Kenntnisse Archimeds
im Gebiete der Mechanik in das Bereich unserer Darstellung zu
begreifen. Bei Archimed war mehr als bei irgend früheren Schrift-
stellern die Mechanik der Geometrie eng verschwistert. Geometrische
Betrachtungen feinster Art standen ihm im Dienste der Mechanik,
mechanische Lehren wurden aber auch zur Beweisführung geome-
trischer Sätze Ton ihm angewandt. Wir haben wiederholt yon der
Stellung der Abhandlung über die Quadratur der Parabel mitten
zwischen den beiden Büchern yom Gleichgewicht der Ebenen
gesprochen, und diese Stellung ist kennzeichnend nach beiden Seiten
hin. Eine Stetigkeit des Inhaltes vom I. Buche zur Zwischenabhand-
lung, yon dieser zum IL Buche ist imyerkennbar, so unverkennbar,
daß es schwer wird zu sagen, welcher einzelne Satz für Archimed
mit der Geltung eines mechanischen, welcher mit der eines geome-
trischen Satzes versehen ist. Es handelt sich in der ganzen Schrift
um Schwerpunktsbestimmungen, welche auf Grund des Satzes^)
gefunden werden, daß der Schwerpunkt einer aus zwei gleich schweren
nicht denselben Schwerpunkt besitzenden Größen zusammengesetzten
Größe in der Mitte derjenigen geraden Linie liegen muß, welche die
Schwerpunkte der beiden Teile verbindet, zu welchem der andere
bereits in der aristotelischen Mechanik (S. 255) enthaltene Satz*)
kommt, daß kommensurable wie inkommensurable Größen im Gleich-
gewicht stehen, sobald sie ihren Entfernungen von dem Stützpunkte
des Hebels, an welchem sie wirkend ge-
dacht sind, umgekehrt proportioniert
sind. So findet Archimed den Schwer-
punkt eines Parallelogrammes , eines
Dreiecks, eines Paralleltrapezes und hat
damit das nötige Material, um nun end- _
lieh bis zum 17. Satze der Zwischen- ^-^
abhandlung mechanisch die Quadratur
der Parabel abzuleiten'^), von deren sich
alsdann noch anknüpfender geometri-
schen Begründung wir im vorigen Kapitel gesprochen haben. Der
Gang ist in aller Kürze folgender. Zuerst (Fig. 54) wird an dem
gleicharmigen in B gestützten Hebel ABT ein Dreieck F^H mit
*) Gleichgewicht der Ebenen Buch I, Satz 4 (ed. Heiberg) II, 146, (ed.
Nizze) 2. *) Gleichgewicht der Ebenen Buch I, Satz 6 und 7 (ed. Heiberg)
n, 162—160, (ed. Nizze) 8—6. ») Archimed (ed. Heiberg) H, 308—386, (ed.
Nizzej 12—22.
21'
324
16. Kapitel.
den Befestigungspunkten B und F an dem Wagbalken B F aufgehängt
gedacht. Es wird gezeigt, daß dieses Dreieck mit einer in ^ auf-
gehängten Figur Z in Gleichgewicht ist, wenn Z der dritte Teil des
Dreiecks F^H ist. Des weiteren
A s JE IT JT wird (Fig. 55) ein Paralleltrapez auf-
jrjx^ gehängt gedacht, dessen nicht parallele
/-^Z Seiten sich in F schneiden, während
/ / die parallelen Seiten senkrecht gegen
/ den Wagbalken sind. Für die diesem
/ Trapeze ^KPT bei A das Gleich-
gewicht haltende Figur' Z wird be-
wiesen, daß sie zwischen zwei Grenzen,
BH
Fig. 55.
dem -^-^.
und dem --fachen des
n L
Trapezes enthalten ist. Jetzt geht Archimed (Fig. 56) zur Aufhängung
eines Parabelabschnittes über. Er hat schon im Eingange der Ab-
handlung einige Eigenschaften dieser Kurve erwähnt. Er zeigt nun,
daß wenn die den Abschnitt bildende Sehne BF m beliebig viele
gleiche Teile geteilt wird, wenn aus jedem Teilpunkte eine Parallele
zu Äz/ und aus den Schnittpunkten
dieser Parallelen mit der Parabel Ver-
bindungslinien nach F gezogen werden,
welche man noch jenseits des Parabel-
punktes bis zur nächsten Parallelen
verlängert, der Parabelabschnitt als-
dann als zwischen zwei Summen von
trapezartigen Stücken enthalten sich
kundgibt. Durch Aufsuchen der jedem
Trapezchen in A das Gleichgewicht
haltenden Figur, sowie durch Ver-
bindung der beiden genannten Gleich-
gewichtssätze für das Dreieck und das
Trapez ergibt sich endlich der Parabel-
abschnitt als Drittel des großen Dreiecks BFJ. Andrerseits ist unter
der Voraussetzung, es sei EM& die der BF parallele Berührungs-
linie an die Parabel, M die Mitte von HA, H die Mitte von BF und
A die Mitte von FA, folglich HM^ ~, Daraus ergibt sich, daß
der Parabelabschnitt - - des kleinen Dreiecks BMF ist, wie erwiesen
werden sollte. Im IL Buche des Gleichgewichts der Ebenen geht
dann Archimed dazu über, den Schwerpunkt des parabolischen
Abschnittes zu finden.
Die übrigen Leistmigeii des Archimedes. 325
Noch gewaltiger förderte Archimed die Erkenntnis der Gesetze
gegenseitigen Druckes flüssiger und fester Körper. Er entdeckte das
nach ihm benannte hydrostatische Prinzip^), welches als Lehr>
satz gekleidet von ihm folgendermaßen ausgesprochen wurde: Jeder
feste Körper, welcher, leichter als eine Flüssigkeit, in diese eingetaucht
wird, sinkt so tief, daß die Masse der Flüssigkeit, welche so groß
ist als der eingesunkene Teil, ebensoviel wiegt, wie der ganze
Körper*). Daraus folgt ein weiterer Satz: Wenn ein Körper, leichter
als eine Flüssigkeit, in diese getaucht wird, so verhält sich sein Ge-
wicht zu dem einer gleich großen Masse Flüssigkeit, wie der einge-
sunkene Teil des Körpers zum ganzen Körper^). Dieser Satz bildet
selbst die wissenschaftliche Definition des spezifischen Gewichtes für
solche Stoße, die leichter als die zur Dichtigkeitseinheit gewählte
Flüssigkeit sind.
Das spezifische Gewicht dichterer Körper hatte Archimed,
wie wir (S. 310 — 312) besprochen haben, bei seiner Kronenrechnung
zu benutzen verstanden. Wir lehnten es dort ab, zu entscheiden,
welcher von den beiden berichteten Methoden Archimed sich tat-
sächlich bediente. Auch jetzt, wo der Zusammenhang mit den Büchern
von den schwimmenden Körpern uns nahe legen würde, von jener
unparteiischen Zwischenstellung uns zu entfernen, sprechen wir nur
mit besonderem Vorbehalte unsere persönliche Meinung über jene
Frage aus. Die Methode mehrfacher Abwägungen ließ jedenfalls ein
genaueres Ergebnis finden als die Methode der Abmessung der aus-
laufenden Flüssigkeit, und gerade deshalb scheint uns, da nun einmal
beide Methoden berichtet werden, beide also mindestens zur Zeit, als
der Berichterstatter lebte, wahrscheinlich aber viel früher, bekannt
gewesen sein müssen, die letztgenannte Methode die ersterfundene
gewesen zu sein*). Der Gedankengang ist doch wohl der natür-
lichere, daß dem Archimed zuerst unmittelbare Messung des ver-
drängten Wassers vorschwebte, und daß erst später, sei es durch ihn
selbst, sei es durch Nachfolger, das mittelbare Verfahren erfunden
wurde, nachdem die praktische ünausführbarkeit erkannt war, das
verdrängte Wasser vollständig und genau aufzufangen und zu messen.
Sei dem nun, wie da wolle, jedenfalls hat, wie wir schon andeuteten,
') Über das hydrostatische Prinzip vgl Ch. Thurot, Eecherches historiqu^s
8Ur 1e principe cVArvhimede in der Revue Ärcheolotjique 1H69. *) Archimed,
Von schwimmenden Körpern Buch 1, Satz 5 (etl. Heiberg) IV, 867, (ed. Nizze)
227. ^). Archimed, Von schwimmenden Körpern Buch II, Satz 1 (ed. Hei-
berg) II, 375, (ed. Nizze) 232. *) Montucla, Histoire des Mathematiques I,
229 vertritt die entgegengesetzte Ansicht und Thnrot scheint ihm zu t'oJgen,
wenn er sich auch nicht so bestimmt ausspricht.
326 16. Kapitel.
die Kronenreclinung frühzeitig ein verdientes und ungewöhnliches Auf-
sehen verursacht. Yitruvius nennt sie nehen der Inkommensurabilität
der Diagonale eines Quadrates und neben dem pythagoräischen Drei-
ecke aus den Seiten 3, 4, 5 in gleicher Linie. Sie stellen ihm ge-
meinschaftlich die drei größten mathematischen Entdeckungen dar^).
ProkluB erzählt, König Gelon habe im Hinblick auf die Kronen-
rechnung gesagt, er werde hinfort nichts bezweifeln, was Archimed
behaupte^).
Dasselbe geflügelte Wort, erzählt Proklus weiter, werde auch auf
König Hiero zurückgeführt, und knüpfe sich an eine andere mecha-
nische Leistung, welche dem Laien noch wunderbarer vorkommen
mußte, weil ihm selbst eine unbegreifliche Handlung ermöglicht
wurde. Archimed habe nämlich mit Hilfe von eigentümlich zusammen-
gesetzten Herrichtungen es fertig gebracht, daß König Hiero ganz allein
ein schweres Schifl' von Stapel lassen konnte. Ob die Herrichtung
der Hauptsache nach ein Flaschenzug ^), rQLöJcdörog, war, ob eine
Spirale^), skL^^ sie darstellte, ist ziemlich gleichgültig. Jedenfalls
ist der Name des Archimed für alle Zeiten mit dem einer dritten
Gattung von Vorrichtungen, mit der Schraube^), xoxUaj verbunden
geblieben, welche er als Wasserhebewerk benutzte, und das ihm inne-
wohnende Bewußtsein der großen Leistimgsfähigkeit seiner Maschinen
spiegelt sich in dem stolzen Worte: Gib mir wohin ich gehen kann,
und ich setze die ganze Erde in Bewegung*), sta ß& xal xa^iörtovi
räv yäv xlvii}6(o Ttäöav, oder gib mir wo ich stehe ^d ich bewege
die Erde^) dög fiol %ov öra xal xivcb ri^v yrjv.
Wir übergehen das, was von einem vielleicht durch eine Art
Gebläse oder durch Wasserkraft in Bewegung gesetzten Himmels-
globus^) des Archiqied erzählt wird, was sich auf ein fQr König
Hiero erbautes großes Schiff mit 20 Ruderbänken^), was sich auf die
Brennspiegel bezieht, mittels deren Archimed bei der Römer-
belagerung die feindlichen Schiffe in Brand gesetzt haben soll^°).
Das sind Gegensiände, die noch weniger als die zuletzt besprochenen
der Geschichte der Mathematik angehören, und die, mag an ihnen
wahr sein, was da wolle, die Verdienste Archimeds für unsere Zwecke
weder erhöhen, noch beeinträchtigen.
») Vitruvius IX, 1—8. *) Proklus (ed. Priedlein) 68. ^ Tzetzes II,
85. *) Athenaeus V, p. 217. ^) Diodor I, 34 und V, 37. •) Tzetzes II,
130. 0 Pappus Vm, 11 (ed. Hultsch) 1060. ») Bunte, Leerer Gymnasial-
programm von 1877, S. 15—18 und Hultsch, Ueber den Himmelsglobus des
Archimedes. Zeitschr. Math. Phys. XXII, Histor.-literar. Abteilung 106 (1877).
^ Athenaeus V, pag. 207. *^) Heiberg, Quaestionea Archimedeae 89—41.
Eratosthenes. Apollonins von Pergä. 327
16. Kapitel.
Eratosthenes. ÄpoUoBius yon Pergä.
Etwa 11 Jahre nach der Geburt des Archimedes^ im Jahre 276
oder 275 wurde in Kyrene, der therischen Kolonie an der Nordküste
Afrikas, Eratosthenes, Sohn des Eglaos geboren^). Er yerbrachte
den größten Teil seines Lebens in Alexandria. Dort ward er er-
zogen unter der Leitung seines Landsmannes Kallimachus, des
gelehrten Vorstehers der großen Bibliothek, sowie eines anderen sonst
unbekannten Philosophen Lysanias. Dann wandte er sieh nach Athen,
wo er der Schule der Platoniker sich näherte, so daß er selbst als
Platoniker bezeichnet wird, und wo er wahrscheinlich auch zuerst in
das Studium der Mathematik eindrang. Ptolemaeus Euergetes — der
dritte Ptolemäer, wie Suidas erzählt^ dem die Notizen für das Leben
des Eratosthenes fast ausschließlich zu verdanken sind — berief Era-
tosthenes wieder nach Alexandria zurück als Nachfolger seines Lehrers
KaUimachus in der Vorstandsstellung bei der Bibliothek, und von da
an scheint sein Verhältnis zu diesem Fürsten wie zur Fürstin Arsinoe
ein besonders freundschaftliches geworden zu sein. Es ist folglich
keinerlei Grund vorhanden anzunehmen, Eratosthenes sei in späteren
Jahren von der Bibliothek entfernt ins Elend geraten, wenn auch
andrerseits die Nachrichten aUzu übereinstimmend sind um sie zu
verwerfen, daß Eratosthenes augenleidend, vielleicht sogar erblindet,
seinem Leben ungefähr 194 v. Chr. durch freiwilligen Hungertod ein
Ende machte.
Die wissenschaftliche Bedeutung des Eratosthenes war eine
mannigfaltige. Das Hauptgewicht scheint er selbst auf seine litera-
rische und grammatische Tätigkeit gelegt zu haben, wenigstens gab
er sich den Beinamen des Philologen. Allein auch in den meisten
anderen Lehrgegenständen trat Eratosthenes als Schriftsteller auf, wie
die erhaltenen Überschriften seiner Werke bezeugen, und sicherlich
nicht mit Unrecht nannten ihn deshalb die Schüler des Museums
Pentathlon, den Kämpfer in allen fünf Fechtweisen, welche bei den
Kampfspielen in Gebrauch waren. Um diese Vielseitigkeit zu kenn-
zeichnen mag nur der Schrift über das Gute und Böse neben der
Erdmessung, des Werkes über die Komödie neben der Geo-
*) Vgl. FabriciuB, Bibliotheca Graeca (ed. Harless) IV, 120—127. Era-
tosthenis geographicorum fragmenta (ed. Seidel) Göttingen 1789. G. Bern-
hardy, Eratosthenica. Berlin 1822 und desselben Verfassers Artikel Eratos-
thenes in Ersch und Grubers Encyklopädie. Eratosihenis Carminum reltquiae
(ed. Hiller) Leipzig 1872.
328 16. Kapitel.
graphie, der Chronologie neben dem Buche über die Würfel-
verdoppelung gedacht sein.
In der Erdmessung, mit welcher eine besondere Schrift üagl
tfjg ävafiszQT^ascog rfig yfig sich beschäftigte, war zum ersten Male
von einem Griechen der Versuch gemacht die Größe der Erde genau
zu bestimmen. Er fand den Grad zu 126000 Meter, während die
wahre Länge des Breitengrades in Ägypten 110802,6 Meter beträgt,
so daß also Eratosthenes bei seiner Schätzung um fast 137^ Prozent
irrte, ein Irrtum, den man aber nicht so beträchtlich finden wird,
wenn man erwägt, daß dem Eratosthenes dabei höchstens bis zur
zweiten Katarakte wirkliche Landesvermessungsergebnisse zu Gebote
standen, während er für das obere Land bis zu den Nilkrümmungen
und nach Meroe von den ganz unbestimmten Angaben der wenigen
Reisenden abhängig war, welche die Hauptstationen und ihre Ent-
fernungen in Tagesmärschen aufgezeichnet hatten^).
Den erhaltenen Bruchstücken der Geographie hat man ent-
nommen, daß Eratosthenes nicht nur eine klare Beschreibung des
Vorhandenen lieferte, sondern auch allgemeine Betrachtungen über
das Werden und die Ursachen der Veränderungen der Erdoberfläche
mit Glftck gewagt hat*).
Für die Chronologie ist seit Auffindung des Ediktes von
Kanopus ein Inhalt bekannt geworden, an welchen niemand früher
dachte, niemand denken konnte. Wir haben gelegentlich (S. 78) von
dieser Verordnung gesprochen. Die in Kanopus, nur wenige Weg-
stunden von Alexandria entfernt, versammelte Priesterschaft verkündete
imter dem Datum des 19. Tybi des 9. Regierungsjahres Ptolemaeus III.,
Euergetes I. d. i. am 7. März 238 v. Chr. den BefehP), daß „damit
auch die Jahreszeiten fortwährend nach der jetzigen Ordnung der
Welt ihre Schuldigkeit tun und es nicht vorkomme, daß einige der
öflfentlichen Feste, welche im Winter gefeiert werden, einstens im
Sommer gefeiert werden, indem der Stern um einen Tag alle vier
Jahre weiterschreitet, andere aber, die im Sommer gefeiert werden,
in späterer Zeit im Winter gefeiert werden, wie das sowohl früher
geschah, als auch jetzt wieder geschehen würde, wenn die Zusammen-
setzung des Jahres aus den 360 Tagen und den 5 Tagen, welche
später noch hinzuzufügen gebräuchlich wurde, so fortdauert, von
^) Lepsius, Das Stadium und die Gradmessung des Eratostlienes auf
Grundlage der ägyptischen Maße (in der Zeitschr. f. ägypt. Sprache und Alter-
thumskunde lö77, 1. Heft). *) Alex. v. Humboldt, Kosmos H, 208 und zuge-
hörige Anmerkung S. 435. Berger, Die geographischen Fragmente des Eratos-
thenes neu gesammelt, geordnet und besprochen. Leipzig 1880. ^} Lepsius,
Das bilingue Dekret von Kanopus. Berlin 186G. Bd. J.
Eratoatheoes. ApoUonius von Perga. 329
jetzt an 1 Tag als Fest der Götter Euerget^u alle 4 Jahre gefeiert
werde hinter den 5 Epagomenen und vor dem Neuen Jahre, damit
jedermann wisse, daB das, was früher in bezug auf die Einrichtung
der Jahreszeiten und des Jahres und das hinsichtlich der ganzen
Himraelsordnung Augenommene fehlte, durch die Götter Euergeten
glücklich berichtigt und ergänzt worden ist." Ob Eratosthenes selbst
diese wichtige chronologische Neuerung veranlaßte, ist unsicher. Kalli-
machus soll nämlich um die CXXXV. oder CXXXVI. Olympiade ge-
storben sein. Der Anfang der ersteren war 240, der der zweiten 236.
Zwischen beide Anfänge fällt das Edikt von Kanopus. Da nun
Eratosthenes erst nach dem Tode des Kallimachus wieder nach
Alexandria zurückkehrte, so hängt es wesentlich von der genauen
Bestimmung dieses Todesjahres ab, ob Eratosthenes bei Erlaß des
Ediktes zur Stelle war oder nicht. Aber sei dem, wie da wolle,
irgend eine Beziehung zwischen der Schaltjahreinrichtung und der
Chronologie des Eratosthenes wird nicht wohl von der Hand zu
weisen sein. Wir machen zugleich darauf aufmerksam, daß von
dieser, merkwürdigen Tatsache des Vorhandenseins eines ägyptischen
Schaltjahres in der frühen Ptolemäerzeit der Altertumsforschung vor
Auffindung des Ediktes selbst nicht eine Silbe bekannt war. Nicht
die leiseste Anspielung auf diese jetzt durchaus feststehende bedeut-
same Reform kommt in uns erhaltenen alexandrinischen Schriften vor,
ein Wink, nicht gar ^u viel auf das negative Zeugnis fehlender Be-
lege für eine an sich wahrscheinliche Vermutung zu vertrauen.
Über alle diese Schriften müssen kurze Andeutungen hier ge-
nügen. Bevo? wir zum Briefe über die Würfelverdoppelung und
damit zur mathematischen Seite der Tätigkeit des Eratosthenes über-
gehen, wollen wir nur eines weiteren Beinamens noch gedenken,,
unter welchem er mitunter vorkommt. Man nannte ihn nämlich
Beta. Die Bedeutung dieses Beinamens ist sehr zweifelhaft. Die
einen wollen, er habe ihn deshalb erhalten, weil er der zweite Vor-
steher der großen Bibliothek gewesen sei. Allein dieses ist eines-
teils unrichtig, wenn, wie sonst angenommen wird, Zenodotus der
erste, Kallimachus der zweite, Eratosthenes also erst der dritte Vor-
steher war, andemteils ist nirgends eine Spur zu finden, daß Zeno-
dotus oder auch Kallimachus etwa Alpha, oder einer der Nachfolger
des Eratosthenes Gamma oder Delta genannt worden wäre. Wahr-
scheinlicher ist die andere Ableitung, wonach das Wort Beta ihn als
zweiten Piaton kennzeichnen sollte, oder allgemeiner als denjenigen^
der überall den zweiten Rang wenigstens sich zu erobern wußte,
wenn der erste Rang auch ehrfurchtsvoll den Altvordern eingeräumt
werden muß. Endlich kommt noch in Betracht, daß Buchstaben als
330
16. Kapitel.
Beinamen, und zwar unter den seltsamsten Begründungen^ auch ander-
weitig bei den Griechen um das Jahr 200 v. Chr. vorkommen. So
wird ein Astronom ApoUonius, der zur Zeit des Königs Ptolemaeus
Philopator sich mit Untersuchungen über den Mond beschäftigte und
dadurch sich weithin bekannt machte, als Epsilon bezeichnet; denn
der Buchstabe € sehe der Gestalt des Mondes gleich^).
Der Brief über die Würfelverdoppelung ist von uns be-
reits mehrfach benutzt worden. Dem Anfange desselben entnahmen
wir (S. 211) die Geschichte der Entstehung jenes Problems. Als
wir von Eudoxus und Menächmus und ihren Würfelverdoppelungen
redeten (S. 231 und 229), bezogen wir uns auf ein Epigramm^),
welches den Schluß des Briefes bildet. Der Hauptteil des Briefes
lehrt selbst eine Verdoppelung des Würfels unter Anwendung eines
eigens dazu erfundenen Apparates, des Mesolabium, wie es genannt
wurde, weil es dabei auf die Auffindung zweier geometrischer Mittel
zwischen zwei gegebenen Größen und zwar durch Bewegungsgeo-
metrie (S. 209) ankam ^). Das Mesolabium bestand aus drei einander
gleichen rechtwinkligen Täfelchen von Holz, Elfenbein oder Metall,
welche zwischen zwei mit je drei Rinnen versehenen Linealen ein-
geklemmt in diesen Rinnen übereinander weg verschoben werden
konnten. Die Anfangslage ist in
der Figur, welche Eutokius in seinem
Kommentare zu Archimeds Büchern
von der Kugel und dem Zylinder,
wo der ganze Brief des Eratosthenes
eingeschaltet sich finÄet, beigibt, mit
den Buchstaben (Fig. 57) AEZA,
AZHI, IH0^ versehen, wobei,
wie wir im vorübergehen bemerken, der Buchstabe I auffallen mag.
Auch in der in dem gleichen Kommentare erhaltenen Figur zur
Würfelverdoppelung des Archytas (S. 228 Fig. 36) kommt ein I vor,
während Euklid diesen Buchstaben grundsätzlich vermieden hat, viel-
*) Ptolemaeus Hephaestio bei Photius cod. CXC. *) Hiller in
seiner Ausgabe der poetischen Fragmente des Eratosthenes hält aus sprach-
lichen Gründen das Schlußepigramm sowie vielleicht den ganzen Brief für un-
echt. Die sprachliche Form geben wir deshalb preis, da wir uns nicht be-
rechtigt glauben auf diesem Gebiete zu widersprechen, den Inhalt aber halten
wir der wesentlichen Übereinstimmung wegen mit allem, was wir wissen, nach
wie vor für echt. *) Den Namen des M*esolabium kennen wir aus Vitruvius
IX, 3 und aus Pappus III, 4 (ed. Hultsch) 64. Die Beschreibung des Appa-
rates bei Pappus III, 5 (ed. Hultsch) 56 sq. weicht in Einzelheiten, aber nicht
in dem Hauptgedanken von dem eratosthenischen Briefe ab und bestätigt so
unsere in der vorigen Anmerkung ausgesprochene Meinung.
Eratosthenes. ApoUonius von Pergä. 331
mehr nach 6^ sofort zu K überging. Offenbar wollte man dadurch
der leicht möglichen VerwechBlung des Buchstaben I mit einem ein-
fachen Yertikalstriche vorbeugen. Aristoteles freilich und wohl aUe
ihm vorhergehenden Schriftsteller vermieden das I noch nicht bei
Figurenbezeichnungen ^). Wohl möglich, daß diese Sitte auch zur
Zeit des Eudemus, dessen Au&eichnungen Eutokius das Verfahren
des Archytas entnimmt; noch nicht aufgekommen war. Für das Vor-
kommen des I in einer Figur des Eratosthenes wissen wir keine
andere Erklärung, als daß an dem ursprünglichen Texte mancherlei,
wenn auch den Inhalt wenig berührende Änderungen vorgenommen
worden sein müssen, von denen unter anderen die Buchstaben der
einen Figur betroffen wurden. War nun AE die größere, J6 die
kleinere Linie, zwischen welche die
beiden mittleren Proportionalen ein-
zuschalten waren, so mußte man
(Fig. 58) die Rechteckchen so ver-
schieben, daß das erste einen Teil des
zweiten, dieses einen Teil des dritten
verbarg und zwar derart, daß die
von A nach A gezogene Grade durch
die Punkte B, F hindurchging, von welchen an die Diagonalen des
zweiten und dritten Rechteckchens sichtbar waren; die BZ und FH
sind alsdann, wie leicht zu beweisen ist, die beiden gesuchten mitt-
leren Proportionallinien. Eratosthenes schlug diese seine Erfindung
so hoch an, daß er zum ewigen Gedächtnisse derselben ein Exemplar
als Weihgeschenk in einem Tempel aufhängen ließ. Die von ihm
selbst entworfene Inschrift, welche die Gebrauchsanweisung enthielt,
soll das mehrgenannte Schlußepigramm des eratosthenischen Briefes sein.
Ob ein vonPappus an zwei Stellen*) erwähntes Werk des Eratos-
thenes über Mittelgrößen, Jisgl ^66ori]r(ov oder rÖTtot Ttgbg fiBöö-
xritagj sich gleichfalls auf die Würfelverdoppelung bezog, ist ungewiß.
Wäre dem so, so würde daselbst möglicherweise eine geometrische
Lösung gelehrt worden sein, da Pappus das eine Mal bemerkt, diese
Schrift stehe mit den linearen Örtern ihrer ganzen Voraussetzung
nach in Zusammenhang.
Noch geringfügiger sind die Spuren eines weiteren Werkes des
Eratosthenes, welche auf wenige unbedeutende Zitate bei Theon von
Smyma*) sich beschränken. Wenn auch der Schluß gerechtfertigt
^) Heibergin den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XYIU, 18.
*) PappuB VII, Prooemium (ed. Hultsch) 686 und 662. ») Theon Smyr-
naeus (ed. Hiller) 82, 107, 111.
332 16. Kapitel.
sein mag, in jenem Werke sei yon den Proportionen und sonstigen
arithmetischen Fragen die Rede gewesen, so schwebt doch die Be-
hauptung^) ganz in der Luft, sie habe den Titel Arithmetik geführt.
Vielleicht gehört ebendahin ein Bruchstück, welches bei Niko-
machus von Gerasa und in dem Kommentare zu dessen Arithmetik
von Jamblichus sich vorfindet^). Vielleicht aber bildet auch dieses
Bruchstück einen Teil einer besonderen Schrift, welche den Titel
des Siebes führte. Das Sieb, xööxivov (lateinisch: crihrum Eratos-
thenis) ist eine Methode zur Entdeckung sämtlicher Primzahlen. Man
schreibt, so lautet die Regel, alle ungeraden Zahlen von der 3 an der
Reihe nach auf. Man streicht nun jede dritte Zahl hinter der 3
durch, so sind die Vielfachen der 3 entfernt. Dann geht man zur
nächsten Zahl 5 über und streicht jede fünfte Zahl hinter ihr durch
ohne Rücksicht darauf, ob sie schon durch einen früheren Strich
vernichtet ist oder nicht, so sind die Vielfachen der 5 entfernt. Fährt
man weiter so fort, indem man beim Abzählen und Durchstreichen
die bereits durchstrichenen Zahlen den unberührten gleichachtet und
nur den Unterschied macht, daß man keine durchstrichene Zahl als
Ausgangspunkt einer neuen Aussiebung benutzt, so bleiben schließlich
nur die Primzahlen übrig. Sämtliche zusammengesetzte Zahlen da-
gegen sind vernichtet, und am Anfange fehlt auch noch die Prim-
zahl 2, welche Jamblichus, weil sie gerad sei, nicht unter die Prim-
zahlen gerechnet wissen will, trotzdem Euklid sie fehlerhafterweise
dorthin verwiesen habe*).
Die Siebmethode des Eratosthenes ist gerade keine solche, zu
deren Ersinnung ein übermäßiger Scharfsinn gehörte. Trotz dessen
glauben wir sie ihrer geschichtlichen Stellung wegen für einen ziem-
lich bedeutenden Fortschritt in der Zahlentheorie halten zu müssen.
Man erwäge nur, wie die Sache der Zeitfolge nach liegt. Zuerst
unterschied man Primzahlen von zusammengesetzten Zahlen und leitete
wohl manche Eigenschaften der letzteren aus den ersteren ab. Der
zweite Schritt war der, daß Euklid zeigte, wie die Anzahl der Prim-
zahlen unendlich sei, wie es folglich nicht möglich sei, alle Prim-
zahlen zu untersuchen. Jetzt erst gewinnt es als dritter Schritt
Bedeutung, wenn Eratosthenes zeigt, wie man wenigstens imstande
sei, die Primzahlen, soweit man in der Zahlenreihe gehen will, zu
entdecken, und somit der Unausführbarkeit der Darstellung sämtlicher
Primzahlen eine von der Willkür des Rechners abhängende untere
^) Fabricius, Bihliotheca graeca (ed. Harless) IV, 121. *) Nicomachus
(ed. Ho che) 29 ügg. Jamblichus in Nicomachi ariihmeticam (ed. Tennulius)
41, 42, (ed. Pia teil i) 29 sqq. *) Jamblichus in Nicomachi ariihmeticam (ed.
Tennulius) 42, (ed. Pistelli) 30, 31.
Eratosthenes. ApoUoniuB von Pergä. 333
Grenze zu setzen. An und für sich hätte die Erfindung des Eratos-
thenes ebensogut vor als nach Euklid gemacht werden können; nur,
meinen wir, wäre ihr wissenschaftlicher Wert geringfügiger gewesen,
wenn sie älter war. Damals hätte das Sieb ein yerunglückter Ver-
such sein können die genaue Anzahl der Primzahlen zu ermitteln.
Jetzt dagegen, nach Euklid, konnte es nur eine Methode sein, bei
deren Aussinnung man von Anfang an gerade das beabsichtigte, was
sie zu leisten imstande ist. Darin aber schon liegt ein Zeugnis höherer
Vollkommenheit, wenn Methoden zu bestimmten Zwecken gesucht und
auch wirklich gefunden werden.
Das Jahrhundert von 300 bis 200 v. Chr., welches, weil am
Anfang desselben Euklid blühte, das Jahrhundert des Euklid genannt
werden kann, schloß würdig ab mit ApoUonius von Pergä^). Den
Beinamen, der ihn von außerordentlich vielen bekannten Männern,
welche gleichfalls ApoUonius heißen, unterscheiden soll, führt er nach
seinem Heimatsorte, einer Stadt in Pamphilien. Ob er mit dem
früher erwähnten Astronomen, dem der Beiname Epsilon beigelegt
wurde, zusammenfällt oder nicht, steht in Zweifel. Die Lebenszeit
der beiden ist allerdings übereinstimmend. ApoUonius von Pergä
wurde während der Regierung des Ptolemaeus Euergetes geboren und
hatte seine Blütezeit, gleich jenem Astronomen, während der bis 205
dauernden Regierung des Ptolemaeus Philopator. Eine fernere Über-
einstimmung könnte man darin finden, daß auch von ApoUonius von
Pergä bekannt ist, daß er mit Sternkunde sich beschäftigte. Wenig-
stens geht die beste Lesart einer SteUe des 1. Kapitels des XIL Buches
des ptolemäischen Almagestes dahin, daß ApoUonius von Pergä über
den Stillstand und die rückläufige Bewegung der Planeten geschrieben
habe, und sie mit Hilfe der Epizyklen zu erklären suchte. Ein
freUich nur negativer Gegengrund liegt darin, daß Ptolemäus von
den Untersuchungen über den Mond gar nichts sagt, welche doch
gerade die vorzüglichste Leistimg des ApoUonius Epsilon gebildet
haben müssen.
^) Das Material für die Biographie des ApoUonius von Pergä ist zusammen-
gestellt in der Vorrede von Halleys Ausgabe der Kegelschnitte des ApoUonius
{Oxford 1710). Vgl auch Fabricius, Bihlioth. Graeca (ed. Harless) IV, 192
bis 203. Montucla, Histoire des mathematiques I, 246 — 253. Terquem, Kotice
bibliographique siir ApoUonius in den Nouvelles annales des mathematiques (1844)
in, 360-362 und 474—488, endlich die Vorrede von H. Balsam zu seiner
deutschen Bearbeitung (nicht Obersetzung) der Kegelschnitte des ApoUonius von
Pergä. Berlin 1861. Die neueste Ausgabe der vier ersten griechisch erhaltenen
Bücher der Kegelschnitte des ApoUonius nebst ihren Kommentatoren ist die von
Heiberg in 2 Duodezbänden. Leipzig 1891 — 93. W. Crönert (Sitzungsber. der
Berliner Akad. 1900, S. 942—950) gibt das Jahr 170 als Todesjahr des ApoUonius.
334 16. Kapitel.
Von den LebensyerhältnisBen des ApoUonins von Perga ist nichts
weiter bekannt, als daß er schon als Jüngling nach Alexandria kam,
wo er seine mathematische Bildung von den Nachfolgern des Euklid
erhielt. Ein bestimmter Lehrer wird nicht genannt. Später ist ein
Aufenthalt in Pergamum gesichert , wo ApoUonius einem gewissen
Eudemus befreundet war, welchem er mit Wachrufung der Erinne-
rung an jenes Zusammenleben sein Hauptwerk, die acht Bücher
der Kegelschnitte, xtovixä, widmete.
Zeitgenossen und Nachkommen bewunderten dieses Werk und
ehrten dessen Verfasser durch den Beinamen des großen Mathe-
matikers. So erzählt ausdrücklich Geminus, dessen Bericht Eutokius
in seinem Kommentare zu den vier ersten Büchern der Kegelschnitte
des ApoUonius uns aufbewahrt hat^). Eutokius will damit den Un-
grund des Vorwurfes darlegen, welchen Heraklides, der Biograph de»
Archimed (S. 295) gegen ApoUonius ausspricht, als habe derselbe
nur einen Uterarischen Raub an noch unyeröffentlicht gebliebenen
Schriften des Archimed' begangen. Mit gleichem Rechte läßt der
Bericht des Geminus sich gegen die früher (S. 288) erwähnte Be-
hauptung des Pappus verwerten, als stützten sich die vier ersten
Bücher des ApoUonius wesentlich auf die Kegelschnitte des Euklid^).
ApoUonius wird gewiß so wenig wie ein SchriftsteUer irgend einer
Zeit und irgend eines Volksstammes versäumt haben die Vorarbeiten
auf dem Gebiete, welches er zu behandeln wünschte, kennen zu lernen.
Er wird sicherUch von den Vorarbeiten, insbesondere wenn sie von
einem EukUd, einem Archimed heirührten, Vorteü gezogen haben;
er sagt auch nirgends in seinen Schriften, daß das Ganze seiner Kegel-
schnitte sein ausschließUches Eigentum sei. Aber von der Benutzung
fremder Vorarbeiten als Grundlage, als untere Voraussetzung eines
Werkes zu unrechtmäßiger Aneignung fremder Entdeckungen ist doch
eine unermeßUche Kluft, und es fäUt schwer einem Manne von der
sonst allseitig anerkannten Bedeutung des ApoUonius letztere Hand-
lung zuzutrauen. Zwei ganz grundlegende Neuerungen haben wir
überdies unter aUen Umständen dem ApoUonius zuzuschreiben.
Geminus sagt ausdrückUch, wie uns Eutokius an der oben er-
wähnten SteUe berichtet, die Alten hätten nur gerade Kegel ge-
schnitten und die Schnitte stets senkrecht zur Seite des Kegels
geführt, worauf sie je nach dem Winkel an der Spitze des Kegels
den Schnitt des spitzwinkUgen, des rechtwinkligen, des stumpfwink-
ligen Kegels unterschieden (S. 244). ApoUonius dagegen habe ge-
*) ApoUonius, Conica (ed. Heiberg) II, 170. •) Pappus, VU Pro-
oemium (ed. Hultscfa) 672.
Eratosthenes. Apollonias von Pergä. 335
zeigt, daß alle diese Schnitte an einem einzigen Kegel hervor-
gebracht werden können, und daß man zu diesem Schnitte ebenso
wie den geraden Kegel auch den schiefstehenden verwenden
könne. Wir sehen also, daß ApoUonius das vervollständigte, was
Euklid (S. 292), was Archimed (S. 304) nur von der Ellipse wußten^
daß sie auf jedem — jetzt nachdem wir den Bericht des Geminus
kennen, müssen wir mit einer weiteren Einschränkung sagen: auf
jedem geraden — Kegel herausgeschnitten werden kann. Gegen
Geminus anzunehmen, daß auch jene schon alle Kegelschnitte auf
jedem Kegel hervorzubringen imstande gewesen seien, ist eine Be-
hauptung, welche auf keinerlei alten Bericht sich stützt.
Von der anderen Neuerung wissen wir durch Pappus^), der
gleichzeitig auch das von Geminus Mitgeteilte bestätigt. ApoUonius
habe, wie er die Herstellbarkeit jedes Kegelschnittes auf der Ober-
fläche eines jeden Kegels erkannte, für dieselben neue Namen ein-
geführt, und zwar die Namen Ellipse, Parabel, Hyperbel mit
Rücksicht auf gewisse Eigenschaften der Flächenanlegung.
Wir haben auf diese mit äußerster Bestimmtheit ausgesprochene
Angabe uns gestützt, um (S. 291) Euklid die Kenntnis abzusprechen,,
daß die pythagoräischen Sätze von Flächenanlegungen zu Kegel-
schnitten als geometrischen Örtem führen konnten. Mit Rücksicht
auf die gleiche Stelle hat man gewiß mit Recht die Zuverlässigkeit
einiger archimedischen Handschriften in Zweifel gezogen'), in welchen
die Wörter Parabel und Ellipse statt des Schnittes des rechtwinkligen
und spitzwinkligen Kegels vorkommen. Der Name der Parabel ins-
besondere erscheint nur in der Überschrift der Abhandlung über die
Quadratur dieser Kurven, und auch wo der Name der Ellipse im
fortlaufenden Texte der Abhandlung von den Konoiden und Sphäroiden
dreimal sich vorfindet, dürfte eine späte Einschiebung durch Ab-
schreiber, welche den Wortlaut ganz unbeschadet des Sinnes abkürzen
zu dürfen meinten, anzunehmen sein.
Hat aber ApoUonius zuerst die Entstehung aller Kegelschnitte
an jedem Kegel, zuerst die Eigenschaften derselben erkannt, die wir
heutigentages aus den Scheitelgleichungen der drei Kegelschnitte
herauszulesen gewohnt sind, dann ist seine Bearbeitung der Kegel-
schnitte unzweifelhaft ein Originalwerk, mögen auch noch so viele
Lehrsätze in den vier ersten Büchern vorkommen, die von Euklid,,
wenn nicht schon von Menächmus und Aristäus dem Alteren ge-
*) Pappufl VU, Prooemium (ed. Hultsch) 674. ") Archimed (ed.
Nizze) 285. Die entgegengesetzte Meinung bei ChasleB, Apergu hisL 17 in.
der Anmerkung (Deutsch 16).
336 16. Kapitel.
kannt waren. Zwei andere Vorgänger nennt übrigens ApoUonins
selbst in der Vorrede zum IV. Buche ^): Konon von Samos und
Nikoteles von Kyrene, deren ersterer uns schon als geistreicher
Freund des Archimed bekannt geworden ist, wenn auch der Umstand,
daß seine Schriften uns sämtlich verloren sind, uns abhielt, ihm eine
besondere Stelle ausführlicher Beachtung zu gewähren. Hätten wir
doch nur berichten können, daß er in Samos geboren, in Alexandrien
lebte, aber auch in Italien und Sizilien astronomische Beobachtungen
anstellte, daß er um 246 das Haupthaar der Berenike, der Gemahlin
des Ptolemaeus Euergetes, unter die Sterne versetzte^.
Gehen wir nun mit raschen Schritten an dem Inhalte der Kegel-
schnitte des ApoUonius vorüber^). Im I. Buche wird nach der all-
gemeinen Definition des Kegels als der Oberfläche, die durch eine
Gerade sich erzeugt, welche um eine Kreisperipherie herumgeführt
wird, während sie zugleich durch einen festen, außerhalb der Ebene
der Kreisperipherie liegenden Punkt geht, die so erhaltene Fläche
durch Ebenen geschnitten. Jeder Schnitt durch den festen Punkt,
d. h. durch die Spitze des Kegels, erzeugt ein Dreieck, und liegt in
dieser Schnittebene auch die Achse des Kegels, die Verbindungsgerade
der Spitze zum Mittelpunkte des bei der Erzeugung des Kegels mit-
wirkenden Kreises, so entsteht das Achsendreieck. Nun wird vor-
geschrieben, neue Schnittebenen zu fahren, deren Spuren in der Grund-
fläche senkrecht auf der Spur des Achsendreiecks stehen, und Apol-
lonius zeigt, wie je nach der Richtung dieser Schnitte zur Seite des
Achsendreiecks die verschiedenen Kegelschnittskurven auf der Kegel-
oberfläche erscheinen. Die Durchschnittslinie der Schnittebene mit
dem Achsendreiecke ist jedesmal ein Durchmesser des Kegelschnittes,
d. h. sie halbiert alle Sehnen des Kegelschnittes, welche unter sich
und einer jedesmal bestimmten Geraden parallel gezogen werden. Der
Punkt, in welchem der Durchmesser die Oberfläche des Kegels triffl,
ist der Scheitel des Kegelschnittes. Durch diesen Scheitel wird nun
in der Schnittebene, also senkrecht zum Achsendreiecke und parallel
zu dem durch den Durchmesser halbierten Sehnensysteme eine Gerade
«rrichtet, deren Länge durch gewisse Methoden geometrisch bestimmt
wird, und welche jenes p darstellt, jene Länge, an welche nach unseren
früheren Auseinandersetzungen (S. 289) ein gewisser Flächenraum in
Gestalt eines Parallelogrammes angelegt werden soll. Diese Linie,
welche man in modemer Sprache den Parameter des Kegelschnittes
*) ApoUonius, Conica (ed. Heiberg) IT, 2. *) A. Böckh, üeber die
Yierj ährigen Sonnenkreise der Alten S. 28—29. *) Eine sehr hübsche Zusammen-
stellung von Housel in Liouvilles Journal des Maihematiqxies (1858) XXTIT,
153—192.
Eratosthenea. ApoUonius von Pergä. 337
nennt, heißt bei ApoUonius schlechtweg die Errichtete, öQ^ia^ ein
Name, der alsdann in den lateinischen Übersetzungen zum latus rectum
geworden ist. Man sieht leicht ein, daß ApoUonius mittels dieser
Vorschriften genau die gleichen Linien ziehen läßt, deren man noch
heute bei Anwendung der Methoden der analytischen Geometrie sich
bedient. Es ist ein formliches Koordinatensystem gezeichnet, dessen
Anfangspunkt auf dem Kegelschnitte selbst liegt, dessen Abszissen-
achse ein Durchmesser des Kegelschnittes, und dessen Ordinatenachse
die jenem Durchmesser konjugierte Berührungslinie im Koordinaten-
anfangspunkte ist. Die dabei gebrauchten Benennungen lauten TBxa-
y(iiv(og xarrjy^dvat d. h. geordnet gezogen^) und aTtote^vö^evai^
d. h. abgeschnitten*). Von wirklichen Koordinaten sind diese Ge-
raden dadurch wesentlich verschieden, daß sie nicht ein Liniensystem
für sich bilden, sondern nur gleich anderen geometrischen Hilfslinien
in Verbindung mit dem Kegelschnitte und hervorgerufen durch den
jeweil zu beweisenden Lehrsatz auftreten. Diese gegebenen Elemente
handhabt nun ApoUonius in griechischer Weise. Er rechnet natürlich
nicht mit Formeln und Gleichungen, wie wir es tun, aber er ver-
knüpft und verbindet Proportionen von Längen und von Flachen-
räumen, welche nur einen anderen Ausdruck des in den Gleichungen
der Kegelschnitte enthaltenen Gedankens darstellen, um zu den gleichen
Folgerungen zu gelangen. Läuft der Schnitt der Seite des Kegels
parallel, so kann nur von einem Scheitel der »Parabel die Bede sein.
Im entgegengesetzten Falle wird außer dem einen Schenkel des Achsen-
dreiecks auch der zweite entweder selbst oder in seiner Verlängerung
über die Spitze des Kegels hinaus durch den Schnitt getroffen, und
so entsteht ein zweiter Scheitel der Kurve bei der Ellipse, ein Scheitel
der Gegenkurve bei der Hyperbel. Die Entfernung der beiden Scheitel
1)egrenzt die Länge des Durchmessers. In der Mitte zwischen
beiden ist der Mittelpunkt der Kurve, d.h. ein Punkt, in welchem
aUe durch ihn gezogenen Sehnen halbiert sind. Mit dem Mittelpunkte
tritt auch der Begriff des dem ersten Durchmesser konjugierten Durch-
messers auf, der eine gleichfalls begrenzte Länge besitzt, wenn auch
bei der Hyperbel die Begrenzung nicht äußerlich sichtbar ist. Zwei
zueinander senkrechte konjugierte Durchmesser werden Achsen ge-
nannt. ApoUonius knüpft daran femer Betrachtungen über die Be-
rührungslinie an irgend einen Punkt eines Kegelschnittes und
über die Vielheit von Paaren konjugierter Durchmesser, welche mög-
lich sind.
In dem IL Buche sind zunächst Eigenschaften der Asymptoten
>) ApoUonius (ed. Heiberg) I, 70 lin. 15. *) Ebenda I, 72 lin. 10—11.
Cahtob, Oeschiclito der M»thematik L S. Aufl. 22
338 16. Kapitel.
der Hyperbel auseinandergesetzt, d. h. der Linien^ welche den
Hyperbelarmen sieb mehr und mehr nähern, ohne mit denselben zu-
sammenzutreffen. Die geometrische Definition ist folgende: Man ziehe
an einen Hyperbelpunkt eine Berührungslinie, trage auf derselben die
Länge des ihr parallelen Durchmessers auf und verbinde den so ge-
fundenen Punkt mit dem Mittelpunkt der Hyperbel geradlinig, diese
Gerade wird eine Asymptote sein^). Aus den übrigen Sätzen des
IL Buches mag noch hervorgehoben werden, daß die Gerade, welche
den Durchschnittspunkt zweier Berührungslinien mit der Mitte der
Berührungssehne verbindet, ein Durchmesser des Kegelschnittes ist,
sowie der andere, daß in jedem Kegelschnitte nur ein einziges senk-
rechtes Achsenpaar existiert.
In dem IIL Buche bilden die ersten 44 Sätze einen besonderen
Abschnitt, dessen Charakter schon in dem 1. Satze sich dahin aus-
weist, daß hier Verhältnisse von Produkten aus Tangenten
und Sekanten der Kegelschnitte auftreten. Jener erste Satz
heißt etwa folgendermaßen: Es seien M^ und M^ zwei Punkte eines
Kegelschnittes, dessen Mittelpunkt in 0 liegt (bei der Parabel wäre
0 unendlich entfernt, und somit die OM^ mit OM^ und mit der
Achse der Parabel parallel); die Berührungslinien in beiden Punkten
seien M^T^ und M^T^, indem T^ den Durchschnitt der Berührungs-
linie an M^ mit der OM^ bezeichnet, und eine ähnliche Definition
für Tg gilt; die M^T^ und die M^T^ schneiden einander in R. Als-
dann sind die Dreiecke M^T^R und M^T^R flächengleich. Die fol-
genden Sätze stützen sich auf diesen ersten, und lassen sich, in so
vielfältiger Teilung sie auch im Originale ausgesprochen sind, in zwei
Hauptsätze zusammenfassen. Der eine Satz, daß, wenn von einem
Punkte zwei Sekanten gezogen werden, das Produkt der Entfernungen
des Ausgangspunktes nach den beiden Schnittpunkten der einen
Sekante dividiert durch dasselbe Produkt in bezug auf die zweite
Sekante einen Quotienten gibt, der sich nicht verändert, wenn man
von irgend einem anderen Ausgangspunkte ein den ersten Sekanten
paralleles Sekantenpaar konstruiert. Der zweite Satz, daß eine Sekante^
aus deren einem Punkte man zwei Berührungslinien zieht, durch
diesen Ausgangspunkt, den Durchschnitt mit der Berührungssehne
und die beiden Durchschnittspunkte mit dem Kegelschnitte eine har-
monische Teilung darbietet*). Noch einige auf Flächen bezügliche
Wahrheiten schließen sich ziemlich naturgemäß an, wie z. B. daß die
Dreiecke, welche durch die Asymptoten und irgend eine Berühnmgs-
*) ApolloniuB (ed. Heiberg) I, 194 lin. 16 das erste Vorkommen des
Namens äev^Lnxtxixai. ^ ApoUonius benutzt dabei allerdings noch nicht das
Wort: harmonische Teilung, sondern schreibt den Satz als Proportion.
Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 339
linie der Hyperbel gebildet werden^ einen konstanten Flächeninbalt
haben, da derselbe Satz, anders aasgesprochen; dahin gehen würde,
daß jede Berührungslinie der Hyperbel auf den Asymptoten Stücke
von konstantem Produkte abschneide. Alsdann kommt der Verfasser
in dem 45. Satze zu den Punkten, welche er örifisla ix t'^g nagaßokf^g
nennt, eine Bezeichnung, welche schwierig zu verdeutschen ist, da
Punkte, die bei der Anlegung entstehen, kaum den Anspruch
erheben können, nur einigermaßen einen Begriff davon zu gewähren,
welche Punkte gemeint sind; es sind aber die Brennpunkte der Ellipse
und Hyperbel, während der Brennpunkt der Parabel in dieser Zeit-
periode noch nicht vorkommt. Die Definition der Brennpunkte bei
ApoUonius und die Eigenschaften, welche er besonders hervorhebt,
sind folgende: ein Brennpunkt ist ein Punkt, der die große Achse in
zwei Teile teilt, deren Rechteck einem Viertel der Figur gleich ist;
unter Figur aber ist das Rechteck des Parameters mit der großen
Achse zu verstehen, oder, was dem Werte nach gleichbedeutend ist,
das Quadrat der kleinen Achse. Wenn man das Stück einer Berüh-
rungslinie, welches zwischen den beiden Senkrechten zur großen Achse
in den Endpunkten derselben abgegrenzt ist, zum Durchmesser eines
Kreises nimmt, so schneidet dieser Kreis die große Achse in
den Brennpunkten. Die 4 Punkte, welche derart bestimmt sind,
nämlich 2 Brennpunkte und 2 Punkte einer Berührungslinie werden
paarweise verbunden, je ein Punkt der Berührungslinie mit dem
einen, der andere mit dem anderen Brennpunkte. Diese Verbindungs-
geraden nennt man konjugierte Linien. Sie schneiden einander
auf der Normallinie, d. h. auf der Senkrechten, welche zur Berüh-
rungslinie im Berührungspunkte errichtet ist. Nun folgt der Satz
über Winkelgleichheit für die Winkel, welche die Normallinie
mit den beiden Brennstrahlen des Berührungspunktes bildet; femer
der Satz, daß die Fußpunkte der Senkrechten von den Brennpunkten
auf Berührungslinien sämtlich in einer um die große Achse als Durch-
messer beschriebenen- Kreisperipherie liegen; endlich der Satz von der
konstanten Summe, beziehungsweise Differenz der Brenn-
strahlen. Alle diese Wahrheiten entwickelt ApoUonius der Reihe
nach in dem HI. Buche, welches dadurch fast für sich allein den
Charakter einer elementaren Kegelschnittslehre gewinnt. Man ist aller-
dings in der Wertschätzung dieses HI. Buches viel weiter gegangen,
als wir es taten. ApoUonius sagt in der Vorrede zum I. Buche seiner
Kegelschnitte, von Euklid sei die Synthesis des Ortes zu drei und
vier Geraden nicht gegeben, sondern nur ein Teil derselben, und dieser
überdies nicht glücklich; es sei auch nicht möglich gewesen, diese
Synthesis richtig zu vollenden ohne das, was er, ApoUonius, eben in
22»
340 16. Kapitel.
dem ni. Buche neu gefunden habe^). Pappuß tadelt diese Ruhm-
redigkeit, indem er gleichzeitig hervorhebt, daß ApoUonius seinen
Vorgängern hätte dankbar sein müssen, ohne deren Vorarbeiten es
ihm unmöglich gewesen wäre, das Neue hinzuzuentdecken. Der Ort
zu drei oder vier Geraden sei aber folgender: Sind drei (vier) Gerade
der Lage nach gegeben, und zieht man nach ihnen hin von einem
gegebenen Punkte aus Gerade unter gegebenen Winkeln, ist alsdann
das Verhältnis zwischen dem Rechtecke aus zwei der Verbindungs-
geraden zu dem Quadrate der dritten (dem Rechtecke aus den beiden
anderen) ein für allemal dasselbe, so liegt der Ausgangspunkt der
Verbindungsgeraden auf einem Kegelschnitte*). Das ist alles, was
aus alten Quellen bekannt ist. Wenn man nun versucht hat^), jenes
Ortsproblem unter Zugrundelegung des III. Buches des ApoUonius
vollständig zu erledigen, so kann man in diesem Wiederherstellungs-
versuche die ganze geometrische Begabung seines Verfassers bewun-
dern, aber ein geschichtliches Ergebnis ist es darum keineswegs.
Waren die drei ersten Bücher dem Eudemus gewidmet, so be-
ginnt das IV. Buch mit einem Sendschreiben an Attalus, in wel-
chem der Tod jenes Freundes beklagt, nebenbei aber auch der Inhalt
des beigefügten Buches kurz dahin bezeichnet wird, es beschäftige
sich mit der Frage, wieviele Punkte Kegelschnitte mit Kreis-
peripherien und mit anderen Kegelschnitten gemein haben
können, ohne ganz und gar zusammenzufallen. ApoUonius weiß
dabei sehr wohl eine Berührung von einer Durchschneidung zu unter-
scheiden. Er hebt z. B. hervor, daß 2 Kegelschnitte 4 Durchschnitts-
punkte haben können, oder 2 Durchschnittspunkte und 1 Berührungs-
punkt oder 2 Berührungspunkte; ferner daß 2 Parabeln nur 1 Be-
rührungspunkt haben können, ebenso Parabel und Hyperbel, wenn
die Parabel die äußere Kurve ist, ebenso Parabel und Ellipse, wenn
die EUipse die äußere Kurve ist usw.
Es ist einleuchtend, daß die Sätze dieses IV. Buches für die
Griechen eine viel höhere Bedeutung hatten als für neuere Mathe-
matiker. Waren es doch gerade die Durchschnittspunkte der Kurven,
deren zum Zwecke der Würfelverdoppelung notwendige Ermittelung
die Kurven selbst hatten untersuchen oder gar erfinden lassen. Die
Methode, nach welcher ApoUonius die Punkte bestimmt, welche zwei
Kurven gemeinsam sind, kommt auf eine apagogische Beweisführung
hinaus, die sich großenteils auf das Lemma des III. Buches bezüg-
*) ApoUonius (ed. Heiberg) I, 4 lin. 18—17. ") Pappus (ed. Hultßch)
n, 676 — 678. *) Zeuthen, Die Lehre von den Kegelschnitten im Alterthume,
siebenter und achter Abschnitt.
EratoBthenes. ApoUonius von Pergil. 341
licli der harmonischen Teilung stützt. So maßte das IV. Buch der
Form und dem ganzen Inhalte nach gleichmäßig Verbreitung mit
den 3 ersten Büchern gewinnen, deren Abschluß es gewissermaßen
für solche Mathematikstudierende bildete, welche von der damaligen
höheren Mathematik gerade das in sich aufnehmen wollten, was bis
zur Lösung der delischen Aufgabe, diese mit inbegriffen, notwendig
war. Ja diese innere Zusammengehörigkeit engerer Art der 4 ersten
Bücher bewährte sich geschichtlich auch dadurch, daß nur sie im
griechischen Texte sich erhielten, während das V., VI. und VII. Buch
erst in der Mitte des XVII. S. aus einer arabischen Übersetzung be-
kannt wurden, das VIII. Buch sogar als ganz verloren wird betrachtet
werden müssen.
Das V. Buch läßt die vorhergehenden weit hinter sich. ApoUo-
nius erhebt sich bewußtermaßen hoch über seine Zeit, indem er Sätze
über die längsten und kürzesten Linien, die von einem Punkte
an den Umfang eines Kegelschnittes gezogen werden können, hier
vereinigt. Es hätten, so erklärt ApoUonius in einleiteiiden an Attalus
gerichteten Worten, Mathematiker, welche vor ihm und zu seiner Zeit
lebten, die Lehre von den kürzesten Linien gleichfalls behandelt, aber
ihre Behandlungsweise muß nach Inhalt und Zweck eine andere als
die des V. Buches der Kegelschnitte gewesen sein. Dem Inhalte nach
begnügten sie sich mit einer geringeren Anzahl von Sätzen, und ihren
Zweck fanden sie in dem Diorismus zu gesteUten Aufgaben. Wir
haben bei Euklid, bei Archimed Beispiele solcher Maximal- und Mini-
malwerte auftreten sehen, und die geringste Überlegung führt zum
Bewußtsein, daß fast jeder Diorismus neben die Bedingung, unter
welcher eine Aufgabe gelöst werden kann, den Grenzwert stellen wird,
bis zu welchem eine in der Aufgabe vorkommende Größe wachsen
oder abnehmen idarf, ohne die Ausführbarkeit zu gefährden. Auf-
gaben größter und kleinster Werte mußten also vorkommen und
wurden gelöst, ohne daß man darüber sich klar gewesen wäre, daß
man hier eine eigenartige, auch außer ihrer zum Diorismus führenden
Wirkung bedeutsame Gattung von Fragen behandelte. ApoUonius
dagegen schließt jene Einleitung zum V. Buche mit den Worten:
„Das so Behandelte ist für die dieser Wissenschaft Beflissenen be-
sonders notwendig, sowohl zur Einteüung und zum Diorismus, als zur
Konstruktion der Aufgaben, abgesehen davon, daß dieser Gegen-
stand zu den Dingen gehört, welche würdig sind, um ihrer
selbst willen betrachtet zu werden." Die Art voUends, in
welcher ApoUonius Einzelfälle dieses Gebietes unterscheidet und durch
deren Zusammenfassung die Gesamtheit der Möglichkeiten erschöpft,
die merkwürdige Verschlungenheit, man kann fast sagen Unnatürlich-
342 16. Kapitel.
keit der Beweise sind bewnnderangswürdig nicht minder als wunder-
licli. Man kann kaum umhin zu argwohnen ^ was zu glauben man
doch nicht wagen darf; daß ApoUonius irgend geheime Methoden
besaß, um diejenigen Sätze zu entdecken, deren künstliche Beweise
er erst nachträglich aufsuchte. Was Apollonius aus der Lehre vom
Größten und Kleinsten kennt, das sind, wie gesagt, insbesondere die
längsten und kürzesten Linien, welche aus irgend einem Punkte der
Ebene nach einem Kegelschnitte gezogen werden können, Linien,
welche Apollonius zuerst für die Fälle bestimmt, in denen der ge-
gebene Punkt auf der Achse liegt, und die Konstruktion durch Ab-
schnitte erfolgen kann, die selbst auf der Achse des Kegelschnittes
auftreten. Dann folgt eine Reihe von Sätzen, die etwa mit dem
modernen Begriffe der Subnormalen sich beschäftigen. Die Konstanz
dieser Strecke bei der Parabel wird bewiesen. Später gelangt Apol-
lonius zu dem Nachweise, daß die am Anfange des Buches be-
sprochenen größten und kleinsten Linien Normallinien zum Kegel-
schnitte sind, daß also auch die Aufgabe im Früheren zur Lösung
vorbereitet ist: von irgend einem Punkte einer Ebene Normalen zu
einem in der Ebene befindlichen Kegelschnitte zu zeichnen. Er geht
an die Aufgabe selbst heran und findet eine Konstruktion, bei welcher
von Durchschnitten mit Hyperbeln Gebrauch gemacht ist. Indem er
nun sich bewußt wird, daß in der Zahl der Senkrechten, welche von
einem Punkte aus nach einem Kegelschnitte gezogen werden können,
keine Willkür herrscht, daß dieselbe vielmehr einesteils von der Art
des Kegelschnittes, andemteils von der Lage des gegebenen Aus-
gangspunktes abhängt, findet er, daß in dieser Beziehimg gewisse
Punkte eine Ausnahmestellung einnehmen. Diese Punkte, aus welchen
man nach dem gegenüberliegenden Teil des Kegelschnittes nur eine
Normale ziehen kann, sind die Krümmungsmittelpunkte, deren Vor-
handensein somit Apollonius bekannt war, so fremd ihm der Begriff
der Krümmung geblieben ist. Möglicherweise ist es sogar nicht zu
weit gegangen, wenn man annimmt, Apollonius habe die stetige Auf-
einanderfolge der Krümmungsmittelpunkte geahnt, d. h. jene Kurve
geahnt, wenn auch nicht untersucht,| welche wegen anderer Eigen-
schaften den Namen der Evolute erhalten hat.
Das VI Buch handelt von gleichen und ähnlichen Kegel-
schnitten, sofei*n dieselben auf geraden einander ähnlichen Kegeln
auftreten. Am Schlüsse wird sogar die Aufgabe behandelt, durch
einen gegebenen Kegel eine Schnittfläche zu legen, welche eine gleich- ,
falls gegebene Ellipse erzeugen soll.
Zwischen dem VII. und dem VIII. Buche scheint wieder ein
engerer Zusamntenhang stattgefunden zu haben, wie uns Apollonius
EratoBthenes. Apollonins von Pergä. 343
selbst versichert. In seiner Zuschrift sagt er, das VII. Buch be-
schäftige sich mit Sätzen, welche zu Bestimmungen führen, das
VIII. Buch enthalte wirklich bestimmte Aufgaben über Kegelschnitte.
Auch aus Pappus läßt sich eine solche Zusammengehörigkeit der
beiden Bücher folgern. Derselbe teilt nämlich eine ziemlich beträcht-
liche Zahl von Lemmen zu den Kegelschnitten des Apollonins mit.
Die Lemmen zu allen übrigen Büchern sind nach den Büchern ge-
sondert; nur die Lemmen zum VII. und VUI. Buche sind yereinigt^).
Auf diese Grundlage hin hat man sogar eine Wiederherstellung des
verlorenen VIII. Buches versucht^), welche indessen doch zu unsicher
scheint, um näher besprochen zu werden. Wir begnügen uns mit
der Bezeichnung einiger interessanten Theorien aus dem erhaltenen
VII. Buche. In ihm finden sich die Sätze über komplementäre
Sehnen, welche konjugierten Durchmessern parallel laufen, in ihm
die Sätze über die konstante Summe der Quadrate konjugierter
Durchmesser, in ihm die Entwicklung des Flächenraumes jener
Parallelogramme, deren zwei aneinanderstoßende Seiten die Hälften
zweier konjugierter Durchmesser sind. Auch diese Sätze, begreif-
licherweise geometrisch und nicht durch Rechnung abgeleitet, er-
fordern bei Apollonins die Unterscheidung zahlreicher Einzelfälle, bei
welcher er wiederholt die Gewandtheit an den Tag legt, welche man
schon in den früheren Büchern bewunderte.
Dieses in Kürze der Inhalt des merkwürdigen Werkes, wobei
wir uns gegen die verlockende Versuchung, noch mehr hineinzulesen
als Apollonins gesagt hat, zu wappnen gesucht haben. Auch der von
uns angegebene nackte Inhalt ist sehr wohl geeignet, unsere Neugier
anzuregen, inwieweit derselbe Mathematiker seinen erfinderischen Geist
auch noch anderen Gebieten unserer Wissenschaft zuwandte. Leider
können wir diese Neugier nicht vollauf befriedigen. Wir wissen von
solchen anderen Arbeiten nur eben genug, um die Vielseitigkeit des
Apollonins zu ahnen, aber bei weitem nicht so viel, um den Wert
der Untersuchungen abschätzen zu können, deren Titel nur bei Pappus *)
mehrenteils sich erhalten haben, und die Vermutung zu einer wahr-
scheinlichen machen, daß Anwendungen der Kegelschnitte auf be-
stimmte geometrische Aufgaben in denselben behandelt wurden. Die
Titel dieser verloren gegangenen Schriften sind: Berührungen, äc^I
ina(pa)v (de tactionibus)] ebene Örter, inCnsdoi tötcol (loci plani)'^
Neigungen, tcbqX vsvöecov (de indinationibus) -^ Raumschnitt, tcbqI
^) Pappus VII, 298—811, (ed. Hultsch) 990—1004. *) Halley S. 187
bis 169 der zweiten, mit dem Y. Buche anfangenden, Abteilang seiner Ausgabe
der Kegelschnitte. •) Pappus VII, Prooemium,
344 16. Kapitel.
XOQtov &n:oToiirig (sectio spatii)] bestimmter Schnitt, tcsqI dLmQig-
[idvrjg rofifjg (sectio determinata), Hypsikles führt außerdem, wie wir
im nächsten Kapitel zu besprechen haben, eine Schrift des Apollonius
über die in dieselbe Kugel eingeschriebenen Dodekaeder
und Ikosaeder an, Proklus eine %£qi rov xox^Cov^) von gänzlich
unbekanntem Inhalte und ein Schriftsteller, den wir im 24. Kapitel
als Verfasser einer Schrift über Brennspiegel kennen lernen werden,
nennt eine Abhandlung des Apollonius gleichen Titels^): Über
Brennspiegel, stegl xvqvcov. Die Bedeutung einer solchen Schrift
für die Geschichte der Geometrie ist nicht zu unterschätzen. Wir
sahen (S. 339), daß Apollonius nur von den Brennpunkten derjenigen
Kursen handelte, welche solche paarweise besitzen. Daß auch die
Parabel einen Brennpunkt habe, konnte nicht wohl früher bemerkt
werden, als bis man einer halben Ellipse, einer halben Hyperbel mit
ihrem Brennpunkte ein gewisses Interesse abgewonnen hatte, und das
war vielleicht bei Gelegenheit optischer Untersuchungen, d. h. eben
in Abhandlungen über Brennspiegel. Damit soll freilich weder aus-
gesprochen, noch schlechtweg geleugnet werden, daß Apollonius be-
reits diesen Fortschritt vollzog. Gewiß ist vielmehr fürs erste nur,
daß Pappus*) gegen Ende des III. nachchristlichen Jahrhunderts den
Brennpunkt der Parabel kannte.
Nur eine einzige Schrift, die zwei Bücher vom Verhältnis-
schnitt, x€qI Xöyov inoTOfiijg (de sedimie rationis) ist in arabischer
Sprache der Neuzeit überblieben und aus dieser übersetzt worden*).
Die Aufgabe des Verhältnisschnittes ist folgende: Es sind zwei un-
begrenzte Gerade in derselben Ebene der Lage nach gegeben, ent-
weder gegenseitig parallel oder einander schneidend, und in jeder
derselben ist ein Punkt gegeben, auch ist ein Verhältnis und über-
dies ein Punkt außerhalb der Linien gegeben; man soll durch den
gegebenen Punkt eine Gerade ziehen, welche von den der Lage nach
gegebenen Geraden Stücke abschneide, deren Verhältnis dem gegebenen
gleich sei. Man erkennt leicht, daß diese Aufgabe durch einen großen
Reichtum an Fällen sich auszeichnet, je nach der Lage des Punktes
außerhalb der beiden Geraden zu diesen Geraden selbst und zu der
») ProkluB (ed. Friedlein) 105. «) Vgl. die Zeitschrift Hermes, Bd. XVI,
S. 271—72. «) Pappus Vn, 818 (ed.Hultsch pag. 1012, lin. 24 sqq.). *) Edw.
Bernard fand die ziemlich verderbte Handschrift am Ende des XVII. S. und
begann dieselbe ins Lateinische zu übersetzen. Als er kaum den zehnten Teil
bewältigt hatte, gab er die Arbeit auf. Nun vollendete der des Arabischen
vorher unkundige Halley die Übersetzung, des von Bernard hinterlassenen
Bruchstückes als Grammatik und Wörterbuch sich bedienend. Halleys Aus-
gabe von 1706; eine deutsche Ausgabe von Aug. Richter. Elbing 1886.
Eratosthenes. ApoUonius von Pergä. 345
durch die beiden auf den Geraden gegebenen Punkten gezogenen
Transversalen, und femer je nach der Richtung, in welcher jene in
Verhältnis tretenden Stücke von den gegebenen Punkten aus liegen
sollen. Das ist dem geometrischen Charakter des ApoUonius so recht
angemessen.
Wir nannten oben eine ganze Reihe von Schriften als verloren,
ohne daß man erheblich mehr als deren Titel kenne. Bei dem Raum-
schnitte war die Aufgabe dahin gestellt, daß während eben dieselben
Geraden und derselbe Punkt wie beim Verhältnisschnitte gegeben
waren, die zu ziehende Gerade Stücke absehneiden mußte, welche ein
der Fläche nach gegebenes Rechteck bildeten^). Die allgemeinste
Aufgabe der Neigungen^), von welcher ApoUonius die leichteren
FäUe behandelte, bestand darin: zwischen zwei der Art und der Lage
nach gegebenen Linien eine gegebene Strecke so einzuzeichnen, daß
sie verlängert durch einen gegebenen Punkt ging. Eine geometrische
Auflösung dieser Aufgabe ist mittels Anwendung von Kegelschnitten
mögUch. Ihr Vorkommen bei Aristoteles, dem die Kegelschnittlehre
sicherlich noch fremd war, führt zur Vermutung, man habe die Auf-
gabe ursprünglich versuchsweise durch Bewegungsgeometrie gelöst").
Li den Berührungen war die sogenannte Berührungsaufgabe
des ApoUonius behandelt, d. h. die Aufgabe, einen Kreis zu zeichnen,
der drei Bedingungen genüge, deren jede darin bestehen kann, durch
einen gegebenen Punkt zu gehen, oder eine gegebene Gerade, oder
einen gegebenen Kreis zu berühren*). Aus der Schrift von den Be-
rührungen kennen wir ferner mögUcherweise eine Tatsache, welche
interessant genug ist, da sie das, was wir früher (S. 249 und 256)
von Spuren kombinatorischer Betrachtungen bei griechischen Schrift-
steUem anmerken durften, zu ergänzen geeignet ist. Bei der über
den eigentlichen Urheber herrschenden Unsicherheit ziehen wir in-
dessen vor, den Gegenstand im 22. Kapitel bei Pappus zur Rede zu
bringen.
Auch dem rechnenden Teile der Mathematik hat ApoUonius, wie
wir durch Eutokius wissen, seine Aufmerksamkeit zugewandt. Euto-
kius sagt uns nämlich in dem mehrfach bereits benutzten Kommen-
tare zur archimedischen Kreismessung: Soviel in meinen Kräften
stand, habe ich nun die von Archimedes angegebenen Zahlen einiger-
maßen erläutert. Wissenswert ist aber noch, daß auch ApoUonius
von Pergä in seinem Okytokion dasselbe durch andere Zahlen be-
») PappuB Vn ed. Hultsch p. 640. *) Ebenda p. 670. ») So die Bcharl-
sinnige Vermutang von Opperznann. Vgl. Zeathen, Die Lehre von den Kegel-
schnitten im Alterthum S. 262 Note 1 und Heiberg in den Abhandlungen zur
Geachichte der Mathematik XVIII, 16. *) Pappna VE ed. Hultsch p. 611.
346 16. Kapitel.
wiesen hat, wodurch er sich der Sache noch mehr näherte"*). Wir
haben hier die Lesart cjxvt^xlov aufgenommen, welche durch zwei
Pariser Handschriften verbürgt auffallend genug lange Zeit durch
das sprachlich ganz rätselhafte Wort axvrößoov verdrängt war. Voll-
ständigen Einblick in die Art, wie Apollonius seine Ereismessung
vollzog, die noch genauer als die des Archimed gewesen sein muß,
•erhalten wir freilich auch durch den Namen Okytokion keineswegs.
Dem Wortlaute nach übersetzt sich dieser Titel als Mittel zur
Schnellgeburt, es handelte sich also höchst wahrscheinlich um
raschere Rechnungsverfahren, aber wie dieselben zu dem oben ge--
nannten Ziele führten, darüber sind wir doch nicht besser aufgeklärt.
Die Mutmaßung*), Apollonius habe den Näherungswert sc « 3,1416
herausgerechnet, der, wie wir im 30. Kapitel sehen werden, in Indien
bekannt war, schwebt ziemlich in der Luft.
Eine dem gewöhnlichen griechischen Verfahren gegenüber ein-
fachere und dadurch abgekürzte Multiplikation des Apollonius,
welche daher möglicherweise einen Abschnitt des Okytokion bildete,
kennen wir aus Pappus. In dem auf uns gekommenen Bruchstücke
des zweiten Buches seiner Sammlung*) berichtet Pappus von zwei zu-
sammenhängenden, aber doch begrifflich zu trennenden Gegenständen.
Erstens entnehmen wir seinem Berichte, daß Apollonius in ähn-
licher Weise wie Archimed die Zahlen in Gruppen zu teilen wußte,
welche eine leichtere Aussprache und zugleich eine größere Über-
sichtlichkeit gewährten, als sie ohne Gruppierung zu erreichen ge-
wesen wäre. Es ist derselbe Gedanke, der beiden Schriftstellern
gleichmäßig vorschwebte, ja es ist eigentlich dieselbe Gruppierung,
welche wir von beiden gelehrt finden. Denn wenn auch Archimed
(S. 320) Oktaden bildete, während Apollonius sich mit Tetraden
begnügte, so ist doch die Gleichheit des Prinzips dadurch hergestellt,
daß zwei Tetraden des Apollonius nebeneinander geschrieben nach
moderner Bezeichnung der Zahlen einer Oktade des Archimed gleich-
kommen, daß Archimed also nur eine höhere Gruppeneinheit annahm
als Apollonius, aber eine Einheit, aus welcher die des Apollonius, als
in jener enthalten, sich leicht ableiten ließ, ebenso wie es denkbar
ist, daß beide Gruppierungen unabhängig voneinander aus dem
*) Archimedea (ed. Torelli) 216 und 452, die Varianten der Pariser
Handschriften. Torelli benutzte sie in seiner Übersetzung. Neuerdings wurde
dann durch Enoche und Maerker im Herforder Gyninasialprogramm für 1864
auf diese Lesart hingewiesen, sowie von M. Schmidt in Mützelid Zeitschrift
für die Gymnasialwissensch. 1865, S. 805. Vgl. auch Archimedes (ed. Hei-
berg) in, 300. *) Recherches sur Thistoire de Tastronomie ancienne par Paul*
Tannery. Paris 1893, pag. 67—68. «) Pappus II (ed. Hultsch) 2— 2U.
Eiatosthenes. Apollonins von Pergä. 347
griechischen Sprachgebrauche hervorgehen konnten, welchem die
Myriade das letzte unzusammengesetzte Zahlwort, die Myriade der
Myriaden das letzte einfach zusammengesetzte Zahlwort war. Die
Nameu, welche Apollonius für seine Tetraden benutzt, sind für die
«rste Tetrade, welche von 1 bis 9999 sich erstreckt, der Name der
Einheiten; dann folgt die Tetrade der Myriaden; auf diese die der
doppelten Myriaden, der dreifachen, vierfachen usw. Myriaden, bis zur
xten Myriade als allgemeine Bezeichnung einer beliebigen
Höhe^), wobei wir freilich dahingestellt sein lassen müssen, ob diese
an sich hochbedeutsame Allgemeinheit Apollonius oder dem Berichte
des Pappus eigentümlich ist.
Mit diesen Zahlen werden nun zweitens Multiplikationen aus-
geführt, und dabei ist die Vorschrift gegeben, die Multiplikation
irgend welcher Zahlen auf die ihrer Wurzelzahlen, Tcvd^fiavsg, zurück-
zuführen. Das Wort Pythmen findet sich in einer arithmetischen
Bedeutung schon bei Piaton'), ob aber genau in derselben wie bei
Apollonius, ist bei dem vielbestrittenen Sinne der platonischen Stelle
nicht zu erhärten. Bei Pappus*) bedeuten Pythmenes die kleinsten
Zahlen, in welchen ein Verhältnis angegeben ist. Apollonius ver-
stand unter der Wurzelzahl die Anzahl der Zehner oder der Hun-
derter, die in einer nur aus Zehnem, beziehungsweise nur aus Hun-
dertern bestehenden Zahl enthalten sind. So ist 5 der Pythmen von
ÖO wie von 500, 7 der Pythmen von 70 wie von 700 usw. Wurzel-
zahlen von Tausendern, Zelmtausendem usw. kommen wenigstens
unter den miteinander zu vervielfachenden Zahlen nicht vor. Der
Grund dafür, wie für das Hervorheben der anderen Pythmenes liegt
in der uns bekannten griechischen alphabetischen Bezeichnung der
Zahlen (S. 127). Die moderne Ziflfemschrift läßt sofort 3 als
die Wurzelzahl von 30, von 300, von 3000 erkennen. Ebenso war
dem Griechen ein leicht ersichtlicher Zusammenhang zwischen y und
^y, nicht aber zwischen y und X, zwischen y und t geboten, letzterer
mußte erst gezeigt werden. Vielleicht haben wir unseren Lesern
durch die Wahl des Wortes zeigen einen Hinweis gegeben, wie der
Gedanke an die Pythmenes bei einem Griechen entstehen konnte:
nicht wenn er die schriftliche Aufzeichnung der Zahlen vor sich sah,
wohl aber wenn er ihren Wortlaut hörte. Der Ahnlichklang von
TQsls, rQtäxovra, xQiaxoöioi sagte ihm, was an p^, A, t erst gezeigt
werden mußte, und so glauben wir nicht irre zu gehen, wenn wir
*) Pappus (ed. Hultsch) 4. 9inlf^ (ivglag; 6. tQinXfj pivgLccs; 20. ivvanXfj
(ivglag; 18. {ivgiddeg 6iiwvviloi tö> x, far die x fache (nicht die 20 fache) My-
riade oder für 10 000 auf die xte Potenz. •) Piaton, Staat Vm, 646 C &v ixi-
TpiTOff nvd'fi/i^v. •) PappuB lU (ed. Hui t ach) pag. 80.
348 16. Kapitel.
in den Pythmenes eine Frucht des mündliehen Rechenunterrichtes,
nicht schriftlicher Erörterung erblicken. Sei dem, wie da wolle,
jedenfalls vollzog Apollonius die Multiplikation nunmehr an den
Pythmenes, und die Ordnung des jedesmaligen Produktes wird aus
der Anzahl der Faktoren unter besonderer Berücksichtigung, wie viele
derselben Zehner, wie viele Hunderter waren, abgeleitet. Eine Unter-
scheidung ton zahlreichen Einzelfällen, die dabei vorkommen, kann
uns bei Apollonius am wenigsten überraschen; wir bemerken sie auch
nur mit der ausgesprochenen Absicht gelegentlich wieder daran zu
erinnern.
Endlich müssen wir noch einer Arbeit des Apollonius über
Irrationalgrößen gedenken, von welcher schwache Spuren in
einer arabischen Handschrift entdeckt worden sind*). Wir haben
(S. 268—270) über das X. Buch der euklidischen Elemente und
über die dort unterschiedenen Irrationalitäten, die Medialen, die
Binomialen und die Apotomen berichtet. Zu diesem X. Buche hat
ein griechischer Schriftsteller Erläuterungen geschrieben, deren Über-
setzung in das Arabische aufgefunden worden ist. Wer der Ver-
fasser war, darüber ist volle Bestimmtheit nicht vorhanden, wenn-
gleich die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, man habe es hier mit
dem überliefertermaßen gleich dieser Übersetzung aus zwei Büchern
bestehenden Kommentare zum X. Buche der Elemente von Vettius
Valens, einem byzantinischen Astronomen aus dem II. S. n. Chr.,
zu tun. Dieser Kommentator erzählt, die Irrationalgrößen hätten
ihren Ursprung in der Schule des Pythagoras gehabt. Theaetet habe,
nach den Mitteilungen des Eudemus, die Lehre vervollkommnet, in-
dem er Irrationalgrößen unterschied, die durch Multiplikation, durch
Addition und durch Subtraktion untereinander verbunden eine ver-
wickeitere Form besaßen. Euklid habe vollends Ordnung in den
Gegenstand gebracht durch genaue Bestimmung und Scheidung der
verschiedenen Gattungen der Irrationalitäten. Dieser Bericht stimmt
soweit durchaus mit unseren aus anderen Quellen geschöpften Mit-
teilungen überein und bestätigt dieselben, wie andererseits ihm selbst
dadurch eine um so größere Glaubwürdigkeit erwächst. Der Kommen-
tator fährt fort: „Apollonius war es, welcher neben den geordneten
{rerayusvos des Proklus) Irrationalgrößen das Vorhandensein der
ungeordneten (araxrog) nachwies und durch genaue Methoden
*) Woepcke, Essai d'une restüution de travaux perdus d'ApdUonius sur
les quantites irrationelles d'apris les indications tirees d'tm manuscrit arabe in
den Memoires presentes ä racademie des sciences XIV, 658 — 720. Paris 1866.
Vgl. auch den Bericht von Ghasles über diese Abhandlung in den Compt.
Rend. XXXVII, 653—568 (17. Oktober 1858).
Die Epigonen der großen Mathematiker. 349
eine große Anzahl derselben herstellte/* Jetzt folgt der eigentliche
Kommentar, dem freilich die Klarheit, welche man von einem der-
artigen Werke zu fordern berechtigt ist, gar sehr abgeht. Selbst der
Versuch aus ihm herauszulesen, worin die bedeutende Erweiterung
bestand, welche ApoUonius zu verdanken ist, mit anderen Worten,
was man unter ungeordneten Irrationalgrößen zu verstehen habe, ist
trotz allen aufgewandten Scharfsinnes nur Versuch geblieben und
hat eine bloße Vermutung zutage gefördert. Eine Erweiterung meint
man demgemäß, könne nach zwei Richtungen hin stattgefunden
haben; es könne statt der aus zwei Teilen bestehenden Binomialen
oder Apotomen eine additive, beziehungsweise subtraktive Verbindung
von mehr als zwei Quadratwurzeln in Untersuchung genommen
worden sein; es könne auch um Ausziehimg von Wurzeln mit höheren
Wurzelexponenten als 2 sich gehandelt haben, oder anders ausge-
sprochen, um die Einschaltung von 2, 3, ... n mittleren geometrischen
Proportionalen zwischen zwei gegebenen Größen, d. h. um Aufgaben,
von welchen das delische Problem den einfachsten Fall darstellt.
17. Kapitel.
Die Epigonen der großen Mathematiker.
In den fünf letzten Kapiteln haben wir uns mit den großen
Mathematikern, welche das Jahrhundert von 300 bis 200 etwa durch
ihre Tätigkeit erfüllten, bekannt zu machen gesucht. Zusammen-
fassende Übersichten, wie wir sie anderen Kapiteln wohl als Schluß
dienen ließen, waren hier nicht zu geben Haben wir doch überhaupt
auf das Notwendigste und Wichtigste uns beschränken müssen, so
daß unsere ganze Darstellung gewissermaßen als die vielleicht ver-
mißte Zusammenfassung zu gelten hat. Nur das sei noch besonders
hervorgehoben, daß Euklid, Archimed, Eratosthenes und Apol-
lonius die Mathematik auf eine Stufe förderten, von welcher aus
mit den alten Hilfsmitteln, insbesondere ohne Erweiterung der In-
finitesimalbetrachtungen zu einer allgemeinen Methode, was die Ex-
haustion nicht war, wenn sie es auch hätte sein können, ein Höher-
steigen nicht möglich war. Zur Infinitesimalmethode, wie zur mathe-
matischen Allgemeinheit überhaupt war der* griechische Geist mit
vereinzelten Ausnahmen, zu welchen vermutlich ApoUonius gerechnet
werden darf, nicht angetan. Das ist ein Erfahrungssatz, welcher
wesentlich auf dem Fehlen allgemeiner Methoden beruht. War aber
ohne sie ein weiteres Steigen nicht möglich, so war der erreichte
350 17. Kapitel.
Gipfel nach allen Richtungen hin gar bald durchforscht. Es blieb
nur ein Abwärtsgehen und bei dem Abwärtsgehen ein Anhalten d&
und dort; ein Umsichschauen nach Einzelheiten übrig, an welchen
man beim jähen Aufwärtsklimmen vorher vorübergeeilt war. Damit
ist die Zeit gekennzeichnet, zu deren Betrachtung wir in diesem
Kapitel übergehen.
Die Elemente der Planimetrie waren erschöpft. Sie blieben, was
Euklid aus ihnen gemacht hatte, abgesehen von Zutaten, die der
Lehre von den größten und kleinsten Werten entstammten. Auch
die Lehre von den Kegelschnitten konnte nach Apollonius eine wesent-
liche Ergänzung nicht finden. In der Stereometrie blieb dagegen nach
Euklid und selbst nach Archimed noch manches zu tun. Am meisten
war von theoretisch Neuem in der Lehre von den von Kegelschnitten
verschiedenen Kurven zu finden, einem Gebiete, zu dessen Bearbeitung
Archimeds Spiralen entschieden aneifem mußten. Und endlich war
die rechnende Geometrie ein Gegenstand, an welchem Archimeds
Kreisrechnung auch verwöhnten Geistern Geschmack beigebracht
haben mochte. Das sind die Felder, auf denen die Epigonen sich
tummelten, deren Bewegungen wir uns zu vergegenwärtigen haben.
Die meisten Schriftsteller freilich, die wir hier nennen werden^
sind ihrer Lebenszeit nach höchst unbestimmt. Von einigen ist es^
wie wir selbst erklären, zweifelhaft, ob sie mit Recht gerade in diesem
Kapitel zur Rede kommen. Am sichersten ist dieses wohl fiir Niko-
medes und Diokles anzunehmen, die Erfinder der Konchoide und
der Cissoide, mithin zweier Kurven, deren Namen Geminus um das
Jahr 70 v. Chr. kannte*), die also zu dieser Zeit jedenfalls vorhanden
waren, während andererseits Nikomedes nach dem Berichte des Euto-
kius*) sich im Vergleiche zu Eratosthenes mit seiner Erfindung
brüstete, also sicherlich auch nicht früher als um das Jahr 200 etwa
gelebt haben kann.
Die Konchoide oder Muschellinie des Nikomedes ist der
geometrische Ort eines Punktes, dessen geradlinige Verbindung mit
einem gegebenen Punkte durch eine gleichfalls gegebene Gerade so
geschnitten wird, daß das Stück zwischen der Schneidenden und dem
Orte eine gegebene Länge besitzt. Je nach dem Größenverhältnisse
des Abstandes des gegebenen Punktes von der gegebenen Geraden
und der Konchoide besitzt letztere drei verschiedene Formen, doch ist
kaum anzunehmen, daß die Griechen diese Formen kannten, deren
wesentlichste Verschiedenheit auf dem Zweige der Kurve beruht,
welcher von der festen Schneidenden aus gesehen auf derselben Seite
») ProkluB (ed. Friedlein) 177. *) Archimedes (ed. Heiberg) III, 114.
Die EpigODen der großen Mathematiker.
351
Fig. 69.
wie der feste Punkt liegt, und von diesem Zweige ist überhaupt nicht
die Rede. Allerdings wird, falls diese Meinung als richtig gilt^
vollends unverständlich, was Pappus in seinem IV. Buche die zweite,,
dritte und vierte Konchoide genannt haben mag, die zu anderen
Zwecken als die erste benutzt worden seien*). Nikomedes nannte^
wie wir durch Eutokius und Pappus
wissen, den festen Punkt Pol, 7t6kov.
Er erfand auch, wie beide Bericht-
erstatter uns melden, eine Vorrichtung
zur Zeichnung der Konchoide, die aus
der Figur sofort verständlich ist (Fig. 59).
Sie bestand aus drei miteinander ver-
bundenen Linealen. Zwei derselben
waren senkrecht zueinander fest ver-
einigt, und während das eine fast seiner
ganzen Länge nach durch eine Ritze
durchbrochen war, trug das andere ein kleines rundes Zäpfchen. Das
durchbrochene Lineal stellte die feste Gerade, das Zäpfchen auf dem
anderen stellte den Pol der Muschellinie vor. Das dritte Lineal trug
unweit des spitzen Endes ein Zäpfchen ähnlich dem Pole, etwas
weiter davon entfernt eine Ritze ähnlich der auf der festen Geraden^
die Entfernung des Zäpfchens von der Spitze stellte den gleichbleiben-
den Abstand vor. Offenbar mußte nun die Spitze dieses dritten
Lineals eine Muschellinie beschreiben, wenn das Lineal selbst alle
möglichen Lagen annahm, deren es fähig war, während sein Zäpf-
chen in der Ritze der festen Geraden sich befand und seine Ritze da&
als Pol dienende Zäpfchen einschloß.
Nikomedes hat gezeigt: 1. daß die Muschellinie der festen Ge-
raden sich mehr und mehr nähert *j; 2. daß jede zwischen der festen
Geraden und der Muschellinie gezogene Gerade die Muschellinie
schneiden muß; 3. daß mittels der Muschellinie die Aufgabe der Würfel-
verdoppelung gelöst werden kann.
Den Ideengang seiner Auflösung und seines Beweises lassen wir
hier folgen, wobei wir nur diejenigen geringfügigen Abänderungen,
vornehmen, welche notwendig sind, um statt eines Rechnens mit
Proportionen das uns geläufigere Rechnen mit Gleichungen einzuführen.
Aus den Strecken «A == 2a und ccß ^2b wird (Fig. 60) das Rechteck
aßyX gebildet und ßy um weitere 2a nach ri verlängert. Außerdem
wird in der Mitte € von ßy die cg genkrecht za ßy errichtet und
^) Pappus (ed. Hultsch) 244. x. pjo^^^® ^^^' ^i^iedlein) 177 ist
geradezu von der Asymptote der Eoncbo* - "QaAö.
'"H^ dve ^''-
352
17. Kapitel.
deren Endpunkt g durch yi=' ßd = b bestimmt. Somit ist auch rjt
gegeben, und ihr parallel wird durch y die yö gezogen Diese letztere
wird als feste Gerade, g als Pol, b als Abstand benutzt und die Muschel-
linie konstruiert, welche die Ver-
längerung von ßy inx schneidet,
d. h. welche öx ==» 6 werden läßt.
Verbindet man nun endlich x
mit l und verlängert xA bis zum
Durchschnitte ft mit der ver-
längerten aß, setzt man dabei
a^ «a?, yx = y,
so ist
2a:x ^ X :y ^y:2b,
und die Aufgabe, zwischen 2 a und
2b zwei mittlere Proportionalen
einzuschalten, ist gelöst. Aus den
Dreiecken a>L/i, yxX folgt näm-
Daraus erkennt man ^d^x und
Fig. 60.
lieh jr- = — uiid ^
2a
4a • 6 riy 0%
y y ^ 7^ '
folglich gx = a? + 6. Nun ist et, Kathete zweier rechtwinkliger Drei-
ecke y^B und x%B. Das erstere hat yl^b als Hypotenuse, y£ = a
als zweite Kathete. Das zweite hat xg»x-|-& als Hypotenuse,
xe^y + a als zweite Kathete. Mithin ist 6*— a* = (a? + by — (y + a)*
— = ^t Jt ' Man kennt ferner den-
y x + 2b
^ wegen der Ähnlichkeit der Drei-
oder x(x + 2b) =- y(y + 2a) und
selben Bruch ^^4? = p == ^ =
2b
ecke ßxfi und yxX. Man weiß also auch — = ^^; 2bX'-
Diese
Gleichung abgezogen von dem vorher gefundenen x(x + 2b) ^ y{y + 2a)
läßt x^ » 2ay zum Reste, und die Umstellung der beiden Glei-
chungen x^ « 2ay, y^ ^ 2bx in Proportionen liefert das verlangte
2a : X ^ X : y ^ y : 2b. Auflösung und Beweis sind gleichmäßige
Zeugnisse für den Scharfsinn des Erfinders, der schon um des oben
beschriebenen Konchoidenzeichners willen einen rühmlichen Platz in
der Geschichte der Mathematik verdient.
Der Zirkel, als Hilfsmittel geometrischen Zeichnens wurde von
den Alten auf den Neffen des Dädalus zurückgeführt^), wohl
denselben Talus, auf welchen schon (S. 163) für andere Erfindungen
verwiesen worden ist, d. h. auf einen mythischen Ursprung. Die
*) Ovid, Metam. Vni, 247— 49: Primuß et ex uno duo ferrea brachia nodo
Yinxit, ut, aeqnali epatio distantibus illis,
Altera pars staret, pars altera duceret orbem.
Die Epigonen der großen Mathematiker. 353
Vorrichtungen des Piaton und des Eratosthenes zur Würfelver-
doppelung beruhen auf Geschicklichkeit des Benutzers, der versuchs-
weise gewisse Lagenverhältnisse der Teile der Apparate hervorbringen
mußte. Etwaige Mittel die Kegelschnitte zu zeichnen sind, wenn
Menächmus wirklich dergleichen besaß (S. 244), nicht zu unserer
Kenntnis gelangt. Die Quadratrix, die Hippopede, die Spirale mecha-
nisch zu zeichnen gab es kein Mittel. So ist die MuscheUinie des
J^ikomedes neben der Geraden und dem Kreise die älteste Linie, von
deren mechanischer Konstruktion in einem fortlaufenden Zuge wir
genügenden Bericht besitzen.
- Dieselbe Muschellinie hat auch zur Auflösung einer anderen Auf-
gabe, nämlich zur Dreiteilung des Winkels Anwendung gefunden.
Soll man den Worten des Pappus Glauben schenken, so hätte dieser
sich jene Anwendung zuzuschreiben^). Dagegen sagt Proklus aus-
drücklich, Nikomedes habe mit Hilfe der Muschellinie jeden Winkel
in drei gleiche Teile zerlegt*), und so glauben wir es gerechtfertigt
hier von dieser Anwendung zu reden.
Wir wissen, daß Archimed (S. 300) die Dreiteilung des Winkels
auf die Zeichnung einer Geraden von einem gegebenen Punkte aus
zurückführte, welche einen Kreis und eine Gerade so schneiden sollte,
daß die zwischen beiden Schnittpunkten liegende Strecke einer ge-
gebenen gleich werde. Konnte man hier den Kreis durch noch eine
Gerade ersetzen, so war die Aufgabe nur noch: von einem Punkte
aus durch eine gegebene Gerade hindurch bis zum Durchschnitte mit
einer zweiten gegebenen Geraden eine Gerade zu zeichnen, welche
zwischen beiden Durchschnittspunkten einen bekannten Abstand zeige,
und das gelingt mit Hilfe der Muschellinie, deren Pol der gegebene
Punkt, deren feste Gerade die erste gegebene Gerade, deren gleich-
bleibender Abstand die
gegebene Strecke ist. C\ ^
Pappus hat uns eine der-
artige Umformung über-
liefert«). Essei(Fig61)
aßy der in drei gleiche
Teile zu teilende spitze Winkel. Von a aus wird ay senkrecht zu
ßy gezogen und das Rechteck ayß^ vollendet. Die ßs dritteilt nun
den gegebenen Winkel, wenn die Strecke äe zwischen ihren Durch-
schnitten mit der ay und der Verlängerung der ga doppelt so groß
ist wie aß. Weil nämlich aäa ein reehtwinkliges Dreieck, so wird.
Flg. 61.
^) Pappus IV, 27, (ed.HuItflch) 24^^ ^ yto^^^a (ed. ftiedlein) '2
«) Pappus IV, 38, (ed. Hultsch) 274. ^^ '
Caktob, 0«8chiohte der Mathematik I. S. Auq "IZ
272.
354 17. Kapitel.
wenn rj der Mittelpunkt der Hypotenuse Ss ist, =- diy = iy£ = lya
sein. Polglich sind zwei gleichschenklige Dreiecke aßrj und ccrjs in
der Figur vorhanden. Da überdies ^arjß Außenwinkel des Dreiecks
ai]s ist, und ßs als Transversale mit den Parallelen g«, ßy gleiche
Wechselwinkel bildet, so ist ^ccßs '^ ai]ß ^ rjea + rjas =^ 2r}ea
Ist die Annahme wirklich gerechtfertigt, daß diese Auflösung,
oder eine ihr alsdann jedenfalls sehr ähnliche, bereits dem Nikomedes
zuzuschreiben sei, so bietet es ein eigentümliches Interesse, daß hier
die Aufgabe der Würfelverdoppelung und die der Dreiteilung des
Winkels mit Hilfe derselben Kurve bewältigt werden, wie sie, modern
ausgedrückt, beide auf Gleichungen dritten Grades sich zurückführen
lassen. Sollte ein dunkles Gefühl der Zusammengehörigkeit beider
Probleme bei den griechischen Mathematikern nach Archimed zu den
Möglichkeiten gehören? Müssen wir doch auch eine ideeUe Zusammen-
gehörigkeit zwischen der allgemeinen Teilung des Kreisbogens und
seiner Rektifikation zugestehen, welche beide, wie wir wissen, mittels
der Quadratrix vollzogen wurden.
Der Zeit nach nur wenig von Nikomedes entfernt dürfen wir
Diokles setzen, den gleichfalls oben genannten Erfinder der Cissoide
oder Efeulinie. Er muß früher gelebt haben als Geminus, der
diese seine Kurve neben der Muschellinie nennt; er muß aber auch
später als Archimed angesetzt werden, mit dessen Aufgabe von der
Durchschneidung einer Kugel durch eine Ebene zu gegebenem Ver-
hältnisse der beiden Kugelabschnitte er sich beschäftigte in der An-
nahme, Archimed selbst habe sein auf diese Aufgabe bezügliches
Versprechen nicht eingelöst^) (S. 309). Er hat die Aufgabe mit Hilfe
zweier Kegelschnitte in seinem Werke ^sqI nvQBiiQv gelöst, aus
welchem Eutokius sie entnahm^) und aus demselben Werke teilt der
gleiche Berichterstatter die Definition der Cissoide und deren An-
wendung zur Würfel Verdoppelung uns mit^). Der Name jenes
Werkes läßt den Inhalt erkennen. Das Wort %vqiov bedeutet, wie
wir (S. 344) gesehen haben, Brennspiegel, und in einem Buche über
Brennspiegel konnte es auf die Größe sphärischer Abschnitte, sowie
auf deren Vergrößerung unter Beibehaltung der Gestalt ankommen.
Was über eine arabische Übersetzung des Werkes des Diokles in
einer Handschrift des Escorial angegeben ist*), dürfte auf den Bericht
des Eutokius sich beschränken*).
*) Archimed (ed. Heiberg) lU, 162. *) Ebenda III, 188. «) Ebenda
III, 78—80. *) W anrieh, De auctorum Gi'aecorum veisionihus et commentariis
Syriacis, Ärahicis, Amienicis, Fersicisque. Leipzig 1842, pag. 197. *) Heiberg
Die Epigonen der großen Mathematiker.
355
Diokles läßt seine Gissoide in durchaus anderer Weise entstehen,
als es gegenwärtig gebrauchlich ist. Man soll (Fig. 62) in einem
Kreise zwei zueinander senk-
rechte Durchmesser ccß und yS
ziehen. Werden symmetrisch zu
aß zwei Gerade r^t, xc senk-
recht auf yd errichtet und i
mit dem Endpunkte e der einen
Senkrechten verbunden, so liegt
der Durchschnittspunkt 0 dieser
Verbindungslinie mit der anderen
Senkrechten, gleichwie der ähn-
lich ermittelte Punkt o usw.
auf der Gissoide. Zugleich
findet die fortlaufende Propor-
tion statt yri : rji^ rj^irjd ^
rjd :r]d.
Der erste Teil dieser Proportion ist augenscheinlich richtig, weil
lyg als Senkrechte von einem Peripheriepunkt auf den Durchmesser
.das geometrische Mittel der Teile, in welche sie den Durchmesser
teilt, ist. Weil auch xe eine solche Senkrechte ist, muß ebenso
yxixs ^xe :xd sein. Femer sind die Dreiecke xsd, rjdS ähnlich
und darum xs : xd = rjO irjdf folglich auch yxixe ^ rid :rjd und
nicht minder xsixy ^ rjS : rjd. Berücksichtigt man endlich xe ^ rjtf
yx^'Tid, so nimmt die letztgeschriebene Proportion die Form
rj^irjS ^ rjd : Tjd an, und die zu Anfang behauptete fortlaufende Pro-
portion ist nachgewiesen, d. h. zwischen yiy und lyd, die in der Figur
senkrecht zueinander gezogen erscheinen, sind die rj^ und 97 d als die
beiden mittleren Proportionalen eingeschaltet.
Nun kann man auch zwischen irgend zwei Strecken a, b zwei
mittlere Proportionalen einschalten. Man zeichnet einen beliebigen
Kreis mit zugehöriger Gissoide. Man sucht auf dem vertikalen Durch-
messer aß den Punkt 7t nach Maßgabe der Proportion yl:Xn=^a:b
und zieht die y«, welche bis zum Durchschnitte 0 mit der Gissoide
verlängert wird. Sofort zeigt sich, daß auch yrj : rjO => a :b iBt Es
brauchen daher nur die Strecken rj^ und ijd, welche zwischen yiy,
lyö als mittlere Proportionalen bekannt geworden sind, in dem Ver-
hältnisse yrj : a verändert zu werden, um üe Lösung der Aufgabe zu
erhalten.
in Zeitschrift Math. Phya. XX Vm, Hi^*. , \iiwan8che Abteilung S. 128,
Note, '^>^V^^^
23*
^
356 17. Kapitel.
Ein dritter Geometer der gleichen Zeit etwa dürfte Perseus
gewesen sein. Wir werden ihn nicht leicht für älter als die alexan-
drinische Schule halten, weil Proklus, der seiner gedenkt, dieses wohl
irgend bemerkt haben würde, um die Lücke in dem alten Mathe-
matikerverzeichnisse, in welchem sein Name nicht vorkommt, aus-
zufüllen. Später als zwischen 200 und 100 kann er aber auch nicht
gelebt haben, wie wir aus folgendem Umstände entnehmen. Eine
Spire war, wie wir (S. 242) besprochen haben, eine wulstartige
Oberfläche. Heron von Alexandria definiert sie, wie wir damals sahen,
als Umdrehungsfläche erzeugt durch Drehung eines Kreises um eine
nicht durch seinen Mittelpunkt hindurchgehende Achse ^) und setzt
hinzu: „Aus den Schnitten derselben entstehen gewisse eigentümliche
Kurven." Daraus geht hervor, daß zu Herons Zeit Schnitte jener
Oberflächen bereits vorgenommen worden waren, und Geminus er-
gänzt diese Mitteilung zur Brauchbarkeit für unseren gegenwärtigen
Zweck durch die Angabe*), die spirischen Schnitte seien von
Perseus erdacht. Es ist bis zu einem gewissen Grade wahrschein-
lich, daß damit jene Schnitte gemeint sind, die wir an der oben an-
geführten Stelle im Zusammenhange mit der Hippopede des Eudoxus
beschrieben haben. Schnitte also, welche auf dem Wulste durch eine,
der Durchgangsachse parallele Ebene hervorgebracht wurden, wobei
die Entfernungen des Schnittes und des Mittelpunktes des die Spire
erzeugenden Kreises von der Drehungsachse die unterscheidenden
Merkmale für die einzelnen spirischen Kurven lieferten. Bemerken
wir noch, daß eine Untersuchung solcher Kurven der Zeit, in welche
wir Perseus setzen, angemessen erscheint, so ist damit das Wenige
erschöpft, was wir über diesen Schriftsteller sagen können, dessen
Heimat und sonstige persönliche Verhältnisse uns genau ebenso un-
bekannt sind, wie die des Nikomedes, des Diokles.
Ebenso verhält es sich mit Zenodorus'), dem Verfasser eines
höchst interessanten Buches über Figuren gleichen Umfanges.
Die Grenzen, in welche sein Leben eingeschlossen werden kann, sind
als feststehende obere Grenze die Zeit des Archimed, dessen Name
^) Heron, Definit. 98 (ed. Hultach) 27, bestätigt durch Proklus (ed.
Friedlein) 119. *) Proklus (ed. Friedlein) 111—112. ») Vgl. Nokk, Pro-
gramm des Freiburger Lyceums von 1860 und unsere Besprechung des 11. Bandes
des Pappus (ed. flultsch) in der Zeitschr. Math. Phya. XXII (lö77), Histor.-
literar. Abtlg. 173 — 174. Eine Verwechslung des Zenodorus mit einem bei
Proklus genannten Zenodotus, welche, so lange die Fr ie dl einsehe Proklus-
ausgabe noch nicht vorhanden war, zu entschuldigen gewesen sein dürfte, ver-
anlaßte uns früher zu gegenwärtig ganz unhaltbaren Zeitbestimmungen für
Zenodorus.
Die Epigonen der großen Mathematiker. 357
bei ihm vorkommt, als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit anzugebende untere Grenze die Zeit des Qpintilian, der von den
Dingen redet, welche in der Abhandlung des Zenodorus vorkommen,
wenn auch ohne ihn selbst zu nennen. QuintiUan, mit welchem wir
es im 26. Kapitel zu tun haben werden, lebte 35 — 95 n. Chr. Dem-
gemäß würde die Tätigkeit des Zenodorus etwa zwischen 200 v.* Chr.
und 90 n. Chr. fallen. Man hat aber wohl mit Recht darauf auf-
merksam gemacht, daß seine etwas breite Schreibart ihn als nicht
allzuweit nach Euklid lebend betrachten lasse ^), und demzufolge
nehmen wir keinen Anstand ihn hier zu behandeln. Die Abhandlung
des Zenodorus ist uns in mehrfacher Überlieferung erhalten. Ein-
mal finden sich die Sätze über Figuren gleichen Umfanges ohne An-
gabe ihres Erfinders bei Pappus im V. Buche seiner mathematischen
Sammlung*), zweitens stehen dieselben in dem Kommentare des Theon
von Alexandria ^ zum I. Buche des ptolemäischen Almagestes. Bei
Theon ist ausdrücklich Zenodorus als Verfasser der auszugsweise mit-
geteilten Abhandlung genannt, und Proklus bestätigt mittelbar diese
Namensnennung. Er sagt uns nämlich, das Viereck mit einspringen-
dem Winkel heiße hohlwinklig, xoikoyaviovy nach Zenodorus*), und
dieses Wort in der angegebenen Bedeutung kommt wirklich in Theons
Auszuge vor. Wir können drittens auf eine Abhandlung in grie-
chischer Sprache über die Figuren gleichen Umfanges hinweisen,
welche den Namen keines Verfassers als Überschrift trägt und in
wesentlicher Übereinstimmung mit, wahrscheinlich in einem Ab-
hängigkeitsverhältnisse zu Zenodorus steht ^), von Nachbildungen in
anderen Sprachen zu schweigen. Von den vierzehn Sätzen des Zeno-
dorus, welche fast gleichlautend bei Pappus und bei Theon sich er-
halten haben, mögen der 1., 2., 6., 7. und 14. hier einen Platz finden:
1. Unter regelmäßigen Vielecken von gleichem Umfange hat das-
jenige den größeren Inhalt, welches mehr Winkel hat. 2. Der Kreis
hat einen größeren Inhalt als jedes ihm isoperimetrische regelmäßige
Vieleck, 6. Zwei ähnliche gleichschenklige Dreiecke auf ungleichen
Grundlinien sind zusammen größer als zwei auf den nämlichen Grund-
linien gleichschenklige Dreiecke zusammen, welche unter sich unähn-
lich sind, aber mit jenen ähnlichen gleichen Gesamtumfang haben.
7. Unter den isoperimetrischen n- Ecken hat das regelmäßige den
größten Inhalt. 14. Unter den Kreisabschnitten, welche gleich große
*) Pappus (ed. Hultach) 1190. *) Pappus V, pars 1 (ed. Hultsch),
308 sqq. *) Theon d'Älexandrie (ed. Halma. PaiislöSl) 33 sqq. Zum besseren
Vergleich mit der Wiedergabe durch Pappxj^ ^^Yi abgedruckt bei Pappus (ed.
Hultsch) 1190—1211. *) Proklus (ecl. v, «edU^^^ ^^^' *) ^apP^a (ed.
Hultsch) 1188—1166. ^ ^^
358 17. Kapitel.
Bogen haben, ist der Halbkreis der größte. Im Räume hat die Kugel
bei gleicher Oberfläche den größten Inhalt. Die theoretische Bedeut-
samkeit dieser Sätze, welche einen durchaus neuen geometrischen
Gegenstand behandeln, der nach rückwärts nur an die Vielecke wach-
sender Seitenzahl in der Ereisrechnung des Archimed und an die
Lehre von den größten und kleinsten Werten bei ApoUonius an-
knüpft, liegt auf der Hand, und es ist nur um so mehr zu bedauern,
daß unser Wissen von ihrem Erfinder so dürftig ist.
Wir nennen weiter immer noch auf bloße Wahrscheinlichkeits-
gründe uns stützend im Jahrhunderte zwischen 200 und 100: Hy-
psikles von Alexandria^). Seine Leistungen liegen auf verschie-
denen Gebieten. Die Handschriften des Euklid enthalten mehrfach
nach den 13 Büchern der Elemente noch zwei Bücher stereometrischen
Inhaltes, welche als XIV. und XV. Buch der Elemente, oder als die
beiden Bücher des Hypsikles von den regelmäßigen Körpern be-
nannt zu werden pflegen. Neuere Untersuchungen^) haben einen
solchen Gegensatz im Wert und Inhalt der beiden Bücher aufgedeckt,
daß sie notwendig verschiedenen Verfassern überwiesen werden müssen,
und zwar das erste dem Hypsikles, das zweite einem mehrere
Jahrhunderte n. Chr. lebenden Schriftsteller. Wir haben es dem-
gemäß hier mit dem ersten Buch allein zu tun, welches aus folgen-
den sechs Sätzen über die regelmäßigen Körper^) besteht: 1. Die
vom Mittelpunkt eines Kreises auf die Seite des eingeschriebenen
regelmäßigen Fünfecks gefällte Senkrechte ist die halbe Summe
des Halbmessers und der Seite des eingeschriebenen regelmäßigen
Zehnecks. 2. Einerlei Kreis faßt des in einerlei Kugel beschrie-
benen Dodekaeders fünfseitige und Ikosaeders dreiseitige . Grenz-
fläche. 3. Die Oberfläche des Dodekaeders sowie des Ikosaeders sind
beide dem 30 fachen Rechtecke gleich, welches aus der Seite des
Körpers und der aus dem Mittelpunkte einer Grenzfläche auf die
Seite gefällten Senkrechten gebildet wird. 4. Die Oberfläche des
Dodekaeders verhält sich zur Oberfläche des Ikosaeders, wie die Seite
des Würfels zur Seite des Ikosaeders. 5. Die Seite des Würfels ver-
hält sich zur Seite des Ikosaeders, wie sich die Hypotenusen zweier
>) W. Crönert (Sitzungsber. der Berliner Akad. 1900 S. 942—950) setzt
die Lebenszeit des Hypsikles auf 150 bis 120. *) Der Erste, welcher die Ver-
schiedenheit beider Bücher erörternd sie zwei verschiedenen Autoren beilegte,
war Friedlein im Bulletino Boncompagni 1878, 493—629. Ihm folgte Th. H.
Martin ebenda 1874, 268 — 266. *) Gewöhnlich werden 7 Sätze angenommen,
aber der 7. Satz (Zwei nach stetiger Proportion geschnittene Gerade verhalten
sich wie ihre größeren Abschnitte) ist offenbar kein Satz für sich, sondern nur
Teil des Beweises des 6. Satzes.
Die Epigonen der großen Mathematiker. 359
rechtwinkligen Dreiecke verhalten, welche eine Kathete gemeinschaft-
lich und als andere Kathete den größeren beziehungsweise den
kleineren Abschnitt besitzen, der entsteht, indem die gemeinschaft-
liche Kathete nach stetiger Proportion geschnitten ist. 6. Der Körper
des Dodekaeders verhält sich zum Körper des Ikosaeders wie die
Seite des Würfels zur Seite des Ikosaeders. Diese Sätze, deren Wort-
laut wir bei dem 1., 3., 5. Satze etwas mundgerechter sm fassen uns
erlaubt haben als in den gewöhnlichen Übersetzungen, bilden ein ein-
heitliches Ganzes, welches seinem Verfasser wohl Ehre macht, und
lassen nicht zu, daß man jenes andere früher gleichfalls Hypsikles zu-
geschriebene Buch damit in Verbindung setze, welches aus sieben
Aufgaben besteht, die Konstruktion eines Tetraeders in einen Würfel,
eines Oktaeders in ein Tetraeder, eines Oktaeders in einen Würfel,
eines Würfels in ein Oktaeder, eines Dodekaeders in ein Ikosaeder
zu vollziehen, die Zahl der Ecken und der Seiten, endlich die gegen-
seitigen Neigungen der Grenzflächen in den fünf regelmäßigen Körpern
zu finden. Über den Verfasser des ersten Buches gibt dessen Ein-
leitung einige Auskunft. Ihr Wortlaut ist^):
Basylides von Tyrus, mein lieber Protarch, kam einst nach Ale-
xandria, war an meinen Vater wegen beider gemeinschaftlicher Liebe
zur Mathematik empfohlen, und brachte die meiste Zeit seines Auf-
enthaltes in dem Umgange mit ihm zu. Als sie eines Tages des
Apollonius Schrift über Vergleichung des in eiuerlei Kugel be-
schriebenen Dodekaeders und Ikosaeders und deren Verhältnisse zuein-
ander durchgingen, so schien ihnen der Vortrag des Apollonius nicht
ganz richtig zu sein, und sie schrieben, wie mir mein Vater gesagt
hat, ihre Verbesserungen nieder. Nach der Zeit fiel mir jedoch eine
andere von Apollonius herausgegebene Schrift in die Hände, welche
eine richtige Auflösung der erwähnten Aufgabe enthält, deren Unter-
suchung mir ein ausnehmendes Vergnügen gewährt hat. Das von
Apollonius herausgegebene Werk kann jeder selbst nachsehen, da es
überall zu haben ist, weil man es für eine sorgsame Arbeit hielt.
Dasjenige aber, was ich nachher aufgesetzt habe, glaube ich Dir
wegen Deiner vorzüglichen Einsicht in allen Wissenschaften, beson-
ders aber in der Geometrie, als einem kundigen Beurteiler meines
Voi*trags zuerst vorlegen zu müssen: in der gewissen Erwartung, daß
Du sowohl aus Freundschaft für meinen Vater, als aus Wohlwollen
gegen mich, geneigt sein wirst meinem Versuche Deine Aufmerksam-
keit zu schenken. Doch es ist Zeit, daß ich meine Vorrede schließe
und zur Sache sey)st komme.
') Vgl. z. B. Euklid« Elemente fünfzehn Bücher aus dem GriechiBchen über-
setzt von Jobann Friedrich Lorenz. Halle. S. 426 — 426.
360 17. Kapitel.
Es war oflFenbar eine Jugendarbeit, welche Hypsikles mit diesen
Worten dem noch lebenden Freunde seines Vaters widmete. Seine
Mitteilungen geben uns Auskunft über eine sonst unbekannte Schrift
des Apollonius und wurden in diesem Sinne von uns (S. 344) be-
nutzt. Araber haben, so lange das Buch noch als von Euklid her-
rührend betrachtet wurde, aus den Anfangsworten herausgelesen,
Euklid stamme aus Tyrus (S. 260). Man hat aber aus derselben Vor-
rede auch, wie uns scheint, richtige Folgerungen auf die Lebenszeit
des Hypsikles gezogen*). Der Vater des Hypsikles, welcher eine
Abhandlung des Apollonius noch nicht kannte, welche dem Sohne
nachher bekannt war und zu dessen Lebzeiten „überall zu haben^^
war, muß ein älterer Zeitgenosse des Apollonius gewesen und ge-
storben sein, bevor dessen verbesserte zweite Abhandlung zur Ver-
öffentlichung gelangte. Da nun Apollonius etwa 170 gestorben ist,
so mag Hypsikles nicht vor dieser Zeit seine Abhandlung geschrieben
haben, eine Zeitbestimmung, zu welcher uns gleich nachher noch eine
kleine Bestätigung zugut kommen wird.
Eine zweite Abhandlung des Hypsikles, welche sich erhalten hat^
ist das Buch von den Aufgängen der Gestirne, dvatpoQixög^).
Auf den astronomischen Inhalt dieses äußerst dürftigen Werkchens
von nur sechs Sätzen, auf dessen etwaige Verschlimmbesserung durch
einen Astrologen haben wir nicht einzugehen, es sei denn um zu be-
merken, daß die Methode desselben Berechtigung nur zu einer Zeit
hatte, zu welcher trigonometrische Betrachtungsweisen noch nicht er-
dacht waren, und daß andererseits als wichtige Neuerung in den
Aufgängen des Hypsikles die Einteilung des Kreisumfanges
in 360 Grade benutzt ist. Autolykus, ein astronomischer Schrift-
steller kurz vor Euklid (S. 293), hat diese Gradeinteilung noch
nicht. Ebensowenig scheint sie Eratosthenes gekannt zu haben,
wenn es richtig ist'), daß er sich eines so unbequemen Ausdruckes
wie „ des Kreisumfanges" bediente, während andererseits die Tat-
sache seiner vollzogenen Gradmessung (S. 328) uns wieder stutzig
machen kann. Starb nun Eratosthenes um 194 und ist seine Be-
nutzung jener unbequemen ^ richtig auf das Jahr 220 bestimmt,
*) Vossiuß, De scientiis mathematicis pag. 828 (Amsterdam 1660). Bret-
schneider 182. Falsche Ansichten hei Fahricins, Bibliotheca Graeca (edit.
Harless) IV, 20, bei Montucla, Histoire de math^matiqaes I, 315, bei Neseel-
mann, Algebra der Griechen 246 flgg. *) Des Hypsikles Schrift Anaphorikos
ist im Osterprogramm 1888 des Gymnasiums zum heiliges Kreuz in Dresden
von K. Manitius herausgegeben worden. *) Montucla, Histoire de mathe-
nuitiques I, 304. Wolf, Geschichte der Astronomie S. 130.
Die Epigonen der großen Mathematiker. 361
schrieb dann Hypsiklea um 170, so ist die Zeit der Einführung der
Gradeinteilung des Kreises^ also mutmaßlich auch des davon untrenn-
baren babylonischen Sexagesimalsjstems in Alexandria in sehr enge
Grenzen gebracht. Von den sechs Sätzen des Anaphorikos sind die
drei ersten arithmetischen Inhalts und rechtfertigen unser auch nur
beiläufiges Verweilen bei dem Schriftchen. In moderner Aussprache
sagen sie, daß in einer arithmetischen Reihe Ton gerader Glieder-
zahl die Summe der zweiten Hälfte der Glieder die der ersten Hälfte
um ein Vielfaches des Quadrates der halben Gliederzahl übertreffe*),
daß die Summe einer arithmetischen Reihe bei ungerader Gliederzahl
gleich dem Produkte der Gliederzahl in das mittlere Glied, bei ge-
rader Gliederzahl gleich dem Produkte der halben Gliederzahl in die
Summe der beiden mittleren Glieder sei.
Bei so elementaren Kenntnissen blieb aber Hypsikles nicht
stehen. Vielmehr war ihm die allgemeine Definition der Vielecks-
zahlen bekannt, welche er in die Worte kleidete: „Wenn beliebig
viele Zahlen von der Einheit an von gleichem Unterschiede sind, und
dieser Unterschied 1 ist, so ist die Summe eine dreieckige Zahl; ist
der Unterschied 2, so ist die Summe eine viereckige Zahl, für 3 eine
fünfeckige; die Anzahl ihrer Winkel ist um 2 größer als der Unter-
schied, und ihre Seiten sind der Anzahl der vorgelegten Zahlea
gleich." So berichtet Diophant im 8. Satze seiner Schrift über die
Polygonalzahlen, von welcher im 23. Kapitel die Rede sein wird.
Diophant nennt als seine Quelle: Hypsikles iv oQp. Die Übersetzer
dürften mit Recht diesen Ausdruck deutsch durch „in einer Definition'*
übertragen haben, da oQog neben der Bedeutung Grenze (lateinisch:
terminus oder limes) oder Reihenglied unzweifelhaft auch die Be-
deutung der Begrenzung eines Begriffes, d. h. einer Definition besitzt;
so bei Euklid z. B. und schon vor diesem bei Piaton heißen die Defini-
tionen regelmäßig oqol, wobei vielleicht, wie bemerkt, an eine „Be-
grenzung der Begriffe" zu denken ist. Bei welcher Gelegenheit
Hypsikles sich jener Definition der Vieleckszahlen bedient haben mag^
wissen wir durchaus nicht.
Wir schließen dieses Kapitel mit der Nennung des einzigen Schrift-
stellers, für dessen Leben etwas genauere Angaben bekannt sind.
Wir meinen Hipparch, der zwischen 161 und 126 v. Chr. astro-
nomische Beobachtungen anstellte*). Er ist in Nicäa in Bithynien
*) Ist a das erste Glied, d die Differenz, 2n die Gliederzahl, so sind die
beiden Summen na-^- — -- — und na -{- ~- - — , deren Unterschied
dn* ist. *) Wolf, Geschichte der Astronomie S. 45, Anmerkung 1. Das Werk
362 17. Kapitel.
geboren. Er beobachtete auf der losel Rhodos, vielleicht auch in
Alexandria. Seine hervorragendsten Verdienste rühmt die Geschichte
der Astronomie, welcher er al» Schöpfer einer wissenschaftlichen
Sternkunde gilt. Er war aber auch der Urheber eines Teiles der
Wissenschaft, welche das Grenzgebiet zwischen Astronomie und Geo-
metrie bildet, der Trigonometrie, und berechnete eine Sehnen-
tafel ^). Leider wissen wir von dieser Leistung nur durch Zitate des
Heron von Alexandria, in welchen das Werk tcsqI tav iv xihckm
E'öd'aL&i/j über die Geraden im Kreise, nicht aber dessen Verfasser ge-
nannt ist, und durch ein berichtigendes Wort eines späten Schrift-
stellers, des Theon von Alexandria, der um 365 schrieb, und können
also dieses Kapitel griechischer Mathematik nicht in seinen Ursprüngen
verfolgen. Wenn Hipparch in seinen erhaltenen Erläuterungen zu
den Stembeschreibungen des Eudoxus und Aratus erklärt, er habe
sich graphischer Methoden bedient — diä töv yQa^ii&v — so
bot dieser Ausdruck zwar Anlaß zu geistreichen Vermutungen über
die betrefiPenden Methoden^, welche aber gesicherter Stützen ent-
behrend später Vorhandenes zurückdatieren. Was dagegen Hipparch
mittels seiner Sehnentafel leistete, ist besser verbürgt, da uns von
einer Art von Triangulation berichtet wird, die er zur Berechnung
der Oberfläche der bewohnten Erde anwandte, und da Polybius (203
bis 121), ein Zeitgenosse des Hipparch, die Möglichkeit erwähnt, die
Höhe einer Mauer aus der Feme zu messen'). Jedenfalls stimmt
die Erfindung trigonometrischer Betrachtungen etwa 150 v. Chr. mit
der Notwendigkeit überein, zu welcher wir weiter oben aus anderen
Gründen gelangt waren, dem Anaphorikos des Hjpsikles kein späteres
Datum als das von 180 beilegen zu dürfen. Von Hipparchs Ver-
diensten um Einführung der geographischen Länge und Breite*)
reden wir im nächsten Kapitel^).
Wir sind einem Hipparch „der zu den Arithmetikern gehörte*'
begegnet (S. 256), von welchem kombinatorische Berechnungen
uns mitgeteilt wurden. Wir haben keinen Grund in diesem Schrift-
steller, der nach Chrysippus (282—209) lebte, einen anderen als den
Astronomen zu vermuten. Wir glauben ebenso auch an die Richtig-
keit arabischer Angaben, denen zufolge Hipparch als Schriftsteller
des Hipparch: In Arati Phaenomena Commentaria hat K. Manitius mit deut-
scher Übersetzung herausgegeben (Leipzig 1894).
*) Wolf, Geschichte der Astrononiiie S. 111. *) Ad. v. Braun mühl, Vor-
lesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 10—14 (1900). *) G. Berger,
Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen 8. Abteiig. S. 186 flgg.
und 4. Abteiig. S. 29—81. *) Wolf, Geschichte der Astronomie S. 168.
^) G. Berg er, Die geographischen Fragmente des Hipparch. Leipzig 1870.
Heron Ton Alezandria. 363
über quadratische Gleichungen aufgetreten wäre ^). Eine
Sehnentafel setzt zu ihrer Berechnung arithmetische wie algebraische
Gewandtheit geradezu voraus.
Wir haben dieses Kapitel mit Nennung der Gebiete begonnen^
auf welchen wir die Tätigkeit der Schriftsteller im Jahrhunderte von
200 bis 100 ungefähr entfaltet sehen würden. Unsere Darstellung
ist mit unserer Ankündigung in Einklang geblieben. Nikomedes,
DiokleS; Ferseus waren für uns die Männer, welche der Kurvenlehre
sich widmeten. Zenodorus widmete den planimotrischen Lehren vom
Größten und Kleinsten seine Kräfte. Hypsikles vervollkommnete
die Stereometrie und führte durch das, was wir aus der Arithmetik
von ihm wissen, den Beweis, daB auch dieser Teil der Mathematik
in dem Jahrhunderte, welches auf das des Euklid folgte, nicht ver-
nachlässigt wurde. Hipparch bestätigte uns in dieser letzten Über-
zeugung, ^er rechnende Astronom, welcher den naturgemäßen Über-
gang zu dem rechnenden Feldmesser bildet, der nunmehr unsere Auf-
merksamkeit auf sich zieht.
18. Kapitel.
Heron von Alexandria.
In das erste vorchristliche Jahrhundert setzen wir Heron von
Alexandria*). Die Form unserer Aussage läßt erkennen, daß wir
in ihr keine allgemein als wahr angenommene Tatsache behaupten.
*) Vgl. L'dlgibre d'Omar Älkhayydmi (ed. Woepcke)Pari8 1851, PrefaceXl
und Journal Asiatique serie 5, T. V, pag. 261 — 263. Suter in den Abhand-
lungen zur Geschichte der Mathematik VI, 64 (1892) und X, 71 und 213 An-
merkung 36 (1900) hält allerdings das Zitat für unrichtig und durch falsche
Lesung entstanden. •) Über Heron vgl. Venturi, Commentari sopra 1a storia
e le teoi'ie delV ottica, tomo I. Bologna 1814. Th. H. Martin, Eecherches sur
la vie et les ouvrages d* Heran d'Älexandrie etc. im IV. Bande der Memoires
presentes par divers savants ä VAcademie des inscriptions et helles -lettres.
S^rie I. Sujets divers d'eruditian. Paris 1854. W. Schmidt, Heron von Ale-
xandria (in den Neuen Jahrbüchern f. d. klass. Altertum, Geschichte und deutsche
Literatur. Leipzig 1899). K. Tittel, Heron und seine Fachgenossen (in Rhein.
Museum für Philologie. Bd. LVI S. 404—416). Edm. Hoppe, Ein Beitrag zur
Zeitbestimmung Herons von Alexandiien. Programmbeilage Nr. 816. Hamburg
1902. Rudolf Meier, De Heranis aetate, Leipzig 1906. Die geometrischen
griechischen Texte herausgegeben von Hultsch (Berlin 1864), teilweise auch von
Vincent in den Natices et extraits des mantiscrits de la Bibliothiqiie imperiale.
Tome XIX. Partie 2. (Paris 1868). Gesamtausgabe der Werke des Heron von
W. Schmidt, L. Nix, Herm. Schöne in der Bibliotheca Teubneriana seit
1899 mit deutschen Übersetzungen.
364 18. Kapitel.
Die Meinungen weichen vielmehr sehr erheblich voneinander ab, und
man müßte, um allen gerecht zu werden, sich damit begnügen als
mögliche Grenzen von Herons Wirksamkeit die Jahre 200 vor und
200 nach dem Beginne der christlichen Zeitrechnung anzugeben. Die
Heimat des berühmten Mathematikers und Physikers wird von nie-
mand angezweifelt. Sie geht aus der Überschrift mehrerer seiner xms
erhaltenen Abhandlungen hervor, wird auch durch Pappus und durch
einen Anonymus, der um das Jahr 938 in Byzanz lebte, bestätigt,,
welche beide von einem Heron von Alexandria zu reden wissen.
Herons Lehrer war nach dem Berichte jenes Anonymus von Byzanz
Ktesibius. Man hat eine Stütze dieses Berichtes darin gefunden,,
daB Proklus den Heron zugleich mit Ktesibius als Erfinder wunder-
barer auf Luftdruck beruhender Vorrichtungen rühmt und auch darin^
daß die beste Pariser Handschrift eines Buches des Heron die Über-
schrift führt „Über Anfertigung von Geschützen des HeroJ;^ des Kte-
sibius" ('HQtovog Kxrjötßt'ov BsloxoLVxd). Aber hier setzen schon
Zweifel ein, ob bei fehlendem Artikel rov vor Kxri6ißCov die Über-
setzung „Schüler des Ktesibius" berechtigt sei, ob der Vermutung,,
jenes rot) sei bei Herstellung der Handschrift weggefallen, nicht dag
Bedenken im Wege stehe, dann könne irgend ein anderes Wort
z. B. -^ = oder weggefallen sein, wofür man sich auf eine jüngere
Wiener Handschrift beruft, welche diesen Wortlaut aufzeigt. End-
lich behauptet man, selbst wenn man Heron Schüler des Ktesibius
nenne, sei damit nicht viel geholfen, weil das Zeitalter jenes Ktesi-
bius keineswegs feststehe. Mit Gewißheit steht nur fest, daß Heron
in einer seiner Schriften sich auf Philon von Byzanz beruft, wäh-
rend dieser Ktesibius nennt, so daß die Zeitfolge: Ktesibius, Philon,
Heron gesichert ist, ohne damit den Zeitraum festzulegen, der zwischen
den Trägem dieser Namen liegt ^). Man hat also andere bei Heron
auftretende Zitate zu suchen, welche seine Lebenszeit zu bestimmen
sich eignen, und wir glauben dazu vorzugsweise eine mathematische
Schrift „Die Vermessungslehre" {MexQiTia) benutzen zu sollen"). In
ihr kommt Archimed vor, in ihr der Verfasser des Raumschnittes, in
ihr der Verfasser der Geraden im Kreise, beide letztere ohne Namens-
nennung, mithin als durch diese Bezeichnung für den Leser hinläng-
lich deutlich gemacht. Der Raumschnitt rührt (S. 345) von Apollo-
nius her, die Geraden im Kreise (S. 362) von Hipparch; folglich
muß Heron nach der Mitte des H. vorchristlichen Jahrhunderts gelebt
*) Wilh. Schmidt in der Einleitung zum I. Bande der Gesamtausgabe
des Heron (Leipzig 1899). *) Herm. Schöne, Herons von Alezandria Yer-
messungslehre und Dioptra. HL Band der Gesamtausgabe (Leipzig 1903).
Heron von Alexandria. 365
haben. Nun werden wir aber im 20. Kapitel erfahren, daß auch
Menelaus von Alexandria um das Jahr 100 nachchristlicher Zeit
Bücher unter dem Titel die Geraden im Kreise verfaßt hat. Wäre
dieses vor Heron gewesen, so hätte die Nennung des Titels allein
Mißverständnis erzeugen können, und darauf gestützt halten wir zu-
nächst für erwiesen, daß Heron zwischen Hipparch und Menelaus
fällt. Zur näheren Einschränkung der Zeitgrenzen führt ein anderes
Werk des Heron, seine Mechanik, welche in arabischer Übersetzung
des Kustä ihn Lüka (um 900) auf uns gekommen ist'). In dieser
Mechanik kommt ein Posidonius vor, welchem eine physikalische
Definition entnommen ist. Derselbe gehöre der Stoa an. Es ist
nicht anzunehmen, daß Posidonius von Alexandria (S. 198) ein Werk
verfaßt habe, in welchem jene Definition vorkommen konnte, dagegen
ist dieses wohl möglich, wenn Heron den Stoiker Posidonius von
Hhodos meinte^ den Lehrer Ciceros, den Freund des Pompejus, der
frühestens um das Jahr 90 als Schriftsteller auftrat. Zu noch wei-
terer Einschränkung der Grenzen, welche jetzt 90 vor und 100 nach
€hristus heißen, hat man sich einer anderen Stelle der Mechanik be-
dient*). Gegen Schluß des dritten Buches der Mechanik steht die
Beschreibung einer kleinen einschraubigen Olivenpresse, und eben
diese soll nach Plinius seit dem Jahre 55 n. Chr. die früher ge-
bräuchlichen großen Pressen mit langen Hebeln verdrängt haben.
Damit im Einklänge stehe*), daß bei römischen Schriftstellern, ins-
besondere bei Vitruvius im Jahre 14 v. Chr., keine Einwirkung
Herons nachweisbar sei. Heron müßte demzufolge zwischen 50 und
100 nachchristlicher Zeitrechnung angesetzt werden. Das wäre nun
«ehr schön, wenn es sich so, wie angegeben, verhielte. Aber der
entgegengesetzte Nachweis ist geliefert worden*). Die von dem an
und für sich durch vielfach mangelnde Sachkenntnis unzuverlässigen
Plinius geschilderte kleine Olivenpresse ist keineswegs die von Heron
beschriebene, dagegen hat Vitruvius Heron benutzt, wie aus zwei
fehlerhaften Angaben hervorgeht, die jener von diesem, natürlich ohne
ihn zu nennen, entlehnt. Wir werden im 26. Kapitel hierauf zurück-
zukommen haben.
Jetzt sehen wir Heron, wie wir am Anfange des Kapitels sagten.
*) Curia de Vaux, Les mecaniques de Heron d'Älexandrie. Paris 1894
und L. Nix, Herons von Alexandxia Mechanik. 11. Band der Gesamtausgabe
(Leipzig lüOl). *) Wilh. Schmidt pag. XIX— XX der Einleitung zu Bd. I der
Gesamtausgabe (Leipzig 18U9). ') Wilh. Schmidt, Haben Vitruv und die
römischen Feldmesser aus Heron geschöpft? Bibliotheca Mathematica S.Folge,
I, 2y7-— 818 (1900). *) Edm. Hoppe, Ein Beitrag zur Zeitbestimmung Herons
Ton Alexandrien (Hamburg 1902).
366 18. Kapitel.
auf das erste yorchristliche Jahrhundert beschränkt^ und nun gewinnt
eine vereinzelt dastehende späte Angabe erhöhten Wert. Wir werden
im 26. Kapitel von einer Vermessung des Römischen Reiches er-
fahren^ welche wahrscheinlich in den Jahren 37 — 20 v. Chr. statt-
fand. Um das Jahr 500 n. Chr. erzählt Cassiodorius von dieser
Vermessung und sagt dabei ^), ein Schriftsteller Heron metricus
habe sich an ihrer Redaktion beteiligt. Nun ist allerdings richtige
daß die Handschriften nicht Heron, sondern Iron oder Yron über-
liefem, es ist auch richtig, daß Heron nirgend als metricus bezeichnet
wird, wenn er auch, wie wir oben (S. 364) sagten, ein Werk nsrgixd
verfaßt hat, aber auffallend und, was wir besonders zu bedenken
geben, zu der von uns vorher erschlossenen Lebenszeit Herons nicht
in Widerspruch stehend bleibt jene Stelle immerhin. Auf eine letzte
Stelle möchten wir noch hinweisen, welche zur Festlegung von Herons
Lebenszeit benutzt worden ist^). Sie steht in der Schrift über die
Dioptra'). Dort sind Beobachtungen an zwei weit voneinander ent-
legenen ihrer geographischen Länge nach sehr verschiedenen Stand-
orten zu einem geodätischen Beispiele vereinigt, und als diese Stand-
orte sind nicht etwa Alezandria und Athen, sondern Alexandria und
Rom gewählt. Nun war aber Ptolemaeus XHI. Neos Dionysius der
erste ägyptische König, welcher im Jahre 81 v. Chr. durch die Römer
eingesetzt wurde. Von da an waren alle Augen in Alexandria nach
Rom weit mehr als nach Athen gerichtet, und man darf die Ent-
stehung der Abhandlung auf später als das Jahr 81 ansetzen. Dann
werden auch die zahlreichen Latinismen erklärlich, welche das Grie-
chisch des Heron entstellen. Wir wiederholen also, wir setzen Heron
von Alexandria in das erste vorchristliche Jahrhundert, vielleicht
sogar, wenn die Stelle des Cassiodorius für beweiskräftig gehalten
werden sollte, in dessen letztes Drittel. Ein Grund läßt sich freilich
für eine frühere Lebenszeit Herons beibringen, daß er nämlich, wenn
von der Größe von Winkeln die Rede ist, sich niemals der Gradein-
teilung (S. 360) bedient, sondern stets ausschließlich von Bruchteilen
eines rechten Winkels spricht. Möglicherweise ist diesem Einwände
damit zu begegnen, daß die Sexagesimalbrüche bei den Griechen dem
gewöhnlichen Leben fremd blieben, daß sie von Anfang an waren,
als was man sie später noch benannte, astronomische Brüche,
daß überhaupt die Trigonometrie zunächst ein Kapitel der Astronomie
bildete und keineswegs dazu diente, auch auf der Erde Dreiecke oder
*) Wilh. Schmidt paj?. XVII— XVIII der Einleitung zu Bd. I der Gesamt-
ausgabe (Leipzig 1899). ^Martin, Becherches sur la vie etc. pag. 91. •) Herm.
Schöne, Herons von Alexandria Vermessungslehre und Dioptra. III. Band der
Gesamtausgabe (Leipzig 1903).
Heron von Alexandria. 367
aus Dreiecken zusammengesetzte Figuren einer Bereclinung zu unter-
werfen. Wir wollen schließlich nicht unterlassen zu bemerken, daß
der Verfasser der letzten über Herons Zeitalter geführten Untersuchung^)
nahezu zu der gleichen Zeitbestimmung des ersten vorchristlichen Jahr-
hunderts wie wir gelangt ist. Er teilt unsere Überzeugung, die in
den Metrica erwähnte Sehnentafel sei die des Hipparch, und die ähn-
liche Tafel des Menelaus sei damals noch nicht vorhanden gewesen.
Femer behauptet er Vürnvius habe später als Heron gelebt und
stützt diese Behauptung darauf, daß die von Yitruyius beschriebene
Wasserorgel wesentlich vollkommener als eine von Heron geschilderte
sei; den von uns betonten Stellen der Mechanik legt er dagegen kein
Gewicht bei. Ein weiter bei ihm verwerteter Umstand ist der, daß
eine bei Froklus vorkommende Stelle, in welcher Archimed, Ktesi-
bius, Heron als drei große Mechaniker genannt werden, für einen Aus-
zug aus Geminus gilt, der, wie wir im 20. E^apiiel sehen werden, etwa
im Jahre 70 vorchristlicher Zeitrechnung lebte. Beiläufig erwähnen
wir noch, daß die sogenannte Definitionen Heröns, von welchen weiter
unten die Rede sein wird, in der von uns hier erwähnten Abhandlung
für unecht gehalten werden^), ebenso wie zahlreiche andere Fragmente.
Dieser Heron war allem Anscheine nach der einzige seines
Namens, welcher in der Geschichte der Mathematik einen Platz ver-
dient Pappus, der an verschiedenen Stellen von Heron redet, nennt
ihn Heron schlechtweg oder Heron von Alexandria. Proklus, pedan-
tisch genau in Vermeidung der Verwechslungen von Schriftstellern,
wo dieselben möglich wären, wie wir (S. 194) gesehen haben, redet
zweimal von dem Mechaniker Heron, viermal vorher und nachher
von Heron schlechtweg, und unter diesen vier Stellen ist gerade die-
jenige, in welcher Heron mit Etesibius zusammen genannt ist, so
daß Heron ohne Beinamen bei Proklus jedenfalls derselbe ist wie
Heron der Mechaniker oder der dessen Leistungen sich mit Etesibius
begegnen. Eutokius in seinen Erläuterungen zur archimedischen
Ereismessung (S. 318) redet gleichfalls nur von Heron, als wenn
es eben nur einen solchen allbekannten mathematischen Schrift-
steller gäbe.
Dazu kommt die Unmöglichkeit einen anderweitigen Mathematiker
oder Mechaniker Heron irgendwie geschichtlich unterzubringen. Der
Schriftsteller, welchen man ehedem als Heron den Jüngeren zu
bezeichnen pflegte, ist der vorerwähnte Byzantiner des X. S., welcher
selbst Heron von Alexandria zitiert, und dem den gleichen Namen
*) Rudolf Meier, De Heronis aeiate. Leipzig 1906. *) Rud. Meier,
De PseudO'Heronianis, Rhein. Mus. f. Philol. Neue Folge LXI, 178—184.
368 18. Kapitel.
beizalegen aach nicht der geringste Grund vorliegt. Heron, der
Lehrer des Proklus, welcher in dem zweiten Viertel des V. S.
lebte, hat überhaupt keine bekannt gewordene mathematische Schrift
verfaßt; ihn hat Proklus insbesondere sicherlich bei keiner seiner
Anführungen im Sinne gehabt, sonst würde der überaus pietätvolle
Schüler für ihn eine andere Bezeichnung als das einfache Heron,
oder Heron der Mechaniker gewählt haben. Heronas, der, wie
Eutokius erzählt, einen Kommentar zu Nikomachus schrieb, mithin
zwischen den von ihm erläuterten Schriftsteller und den, der seiner
erwähnt, zwischen das 11. und VI. S., fällt, ist eine im übrigen
durchaus unbekannte Persönlichkeit, so daß es eine leichtfertige Ver-
mutung wäre in ihm den Verfasser solcher Schriften erkennen zu
wollen, welche als von Heron verfaßt bezeichnet sind.
So einfach sich demnach die sogenannte heronische Frage,
d. h. die Frage nach dem Verfasser der mathematischen und physi-
kalischen Schriften, welche einem Heron beigelegt werden, zu lösen
scheint, so sind doch noch Schwierigkeiten vorhanden, wie nicht
anders zu vermuten, da ja sonst wundernehmen dürfte, daß über-
haupt jemals eine heronische Fri^e entstand. Die Handschriften der
als heronisch bekannten Bücher sind ziemlich späten Ursprungs und
yerschiedenen Inhaltes. Kaum eine ist mit einer anderen zur vollen
Deckung zu bringen. Bald fehlt eine, bald eine andere Abhandlung,
und zum Ersätze findet sich wieder in der zweiten Handschrift, was
man in der ersten vergeblich suchte. Schon dadurch ist vollgültige
Gewißheit über die Echtheit aller Stücke erheblich erschwert. Dazu
kommt die sichere Unechtheit mancher Stücke. Ein alle Spuren des
Verfalles der Literatur an sich tragendes Griechisch, Maße eines
späten Zeitalters, Erwähnungen von Schriftstellern, die wie Modestus
und Patrikius am Ende des IV. S. n. Chr. gelebt haben, können
unmöglich dem Heron von Alexandria aus dem ersten yorchristlichen
Jahrhunderte angehören.
Wir möchten trotz mehrfachen Widerspruchs die Lösung der
Schwierigkeit darin finden, daß wir die Schriften des Heron im
großen und ganzen als echt in unserm Sinne, d. h. als dem früher
aogenannten älteren Heron aus dem ersten vorchristlichen Jahr-
hunderte angehörig erkennen, daß wir aber annehmen, diese Schriften
seien wesentlich verderbt worden. Sie seien, behaupten wir, unge-
mein verbreitet, in zahllosen Abschriften und Auszügen vorhanden
gewesen. Nun habe bald dieser, bald jener Anfertiger später Exem-
plare Randbemerkungen der mannigfachsten Art, wie sie seiner Lebens-
zeit angemessen schienen, beigefügt und noch spätere unwissende
Abschreiber haben bald solche Randbemerkungen in den Text her-
Heron yon Alexandria. 369
übergezogen, bald ihnen unverständlich gewordene Stellen weggelassen.
So sei die gegenwärtige Gestalt der Schriften Herons entstanden. Man
sei berechtigt alle als echt, wie alle als unecht zu bezeichnen, als
echt dem Ursprünge nach, als unecht yermöge ihrer keineswegs un-
bedeutenden Yerschlimmbesserungen.
Die Schriften Herons sind teils physikalischen, teils mathemati-
schen Inhaltes. Wenn wir uns auch bei Erörterung jener ersten
Gruppe, soweit nicht Mathematisches in ihnen zur Bede kommt,
hier grundsätzlich enthalten, so können wir doch nicht umhin auf
eine schriftstellerische Eigentümlichkeit Herons hinzuweisen, welche
in ihnen vorzüglich zutage tritt, und auch in den Schriften, welche
unsere Auseinandersetzung fordern, sich nicht verleugnet Heron be-
gnügt sich niemals mit bloß theoretischen Erörterungen. Er schreitet
von der wissenschaftlichen Grundlage aus zur Anwendung, und zwar
meistens zu einer doppelten Anwendung: neben dem Nutzen für die
menschliche Gesellschaft erscheint auch das Vergnügen des einzelnen
ihm wert die Fürsorge des Gelehrten in Anspruch zu nehmen.
An der Grenze zwischen Physik und Mathematik liegen die drei
mechanischen Bücher, welche Heron verfaßt hat, und welche, wie wir
(S. 365) sahen, in arabischer Übersetzung erhalten sind. Pappus
nennt in umfangreichen Auszügen, welche er davon gibt, jene Bücher
bald Mechanik, bald Gewichtezieher, doch kann jetzt kein Zweifel
mehr darüber herrschen, daß beide Namen nur das eine aus drei
Büchern bestehende Werk bezeichnen. Das erste Buch ist vorzugs-
weise allgemein mechanischen Lehren gewidmet, und in ihm findet sich
eine geometrische Aufgabe mit ihrer Lösung^). Ebendieselbe Auf-
gabe mit der gleichen Lösung hat aber Heron noch an einer anderen
Stelle mitgeteilt, in einem Buche über angewandte Mechanik, welches
den Titel führt: Von der Anfertigung von Geschützen*). Er
lehrt, daß, wenn eine dreifach stärkere Kraft erzielt werden will, die
den Geschossen ihre Bewegung erteilende Sehne dreifach stärkere
Spannung erleiden muß. Diese ihr zu verschaffen, während die ganze
Gestalt des Geschützes sich ähnlich bleibt, muß ein gewisser zylin-
drischer Teil desselben unter der gleichen geometrischen Bedingung,
die für das Ganze gilt, dreimal größer werden. Nun verhalten sich
ähnliche Zylinder wie die Kuben einer Abmessung, z. B. des Durch-
messers, also muß sich hier verhalten dj* : dj' =» 1 : 3 (allgemeiner wie
1 : w). Das ist die delische Aufgabe der Würfelverdoppelung in ver-
allgemeinerter Form. Heron löst deshalb hier in einem Buche prak-
^) L. Nix, Herons von Alexandria Mechanik im 11. Bande der Gesamtaus-
gabe S. 24. *) "Hgiovog KTfjßißiov ßsXoytouxot abgedruckt in dem von Thevenot
herausgegebenen Bande: Veteres mathematici. Paris 1693.
Caxtob, Geiohichie der Mathematik I. 8. Anfl. 24
370
18. Kapitel.
tischen Inhaltes die theoretische Aufgabe, zwischen zwei gegebene
Längen zwei mittlere geometrische Proportionalen einzuschalten. Seine
Auflösung ist eine ToUkommen gesicherte, indem sie ausdrücklich als
heronisch benannt und dessen Mechanik, wie wir jetzt wissen, ent-
nommen, auch von Pappus aufbewahrt worden ist und an beiden
Orten so genau zusammentrifft, daß sogar die Figur bei Pappus durch-
aus mit der in der heronischen Mechanik übereinstimmt, während
unsere Zeichnung (Fig. 63) der Anfertigung von Geschützen ent-
nommen ist^). Der einzige Unterschied besteht darin, daß bei Pappus
die Gerade di] fehlt und demzufolge der Punkt rj gar nicht und
Herons Punkt 0 durch i] als den im Alphabete auf i folgenden Buch-
staben bezeichnet ist. In der Mechanik
fehlt gleichfalls die Gerade Orj, nur
sind andere Buchstaben vorhanden,
vielleicht infolge des Durchgangs durch
eine arabische Übersetzung. Die zwei
mittleren geometrischen Proportionalen
sollen zwischen die beiden Strecken aß,
ßy eingeschaltet werden. Man bildet
aus den gegebenen Strecken das Becht-
eck ccßyä, dessen beide gleichen ein-
ander in 6 halbierenden Diagonalen
gezogen werden. Ein um die Ecke ß
sich drehendes Lineal wird alsdann
empirisch in die Lage gebracht, daß
seine Durchschnitte mit den Verlänge-
rungen von Sa und Sy, nämlich g und £,
gleichweit von 6 abstehen, so ist aß : a^^^ a^iye ^ ye :yß. Die
Zeichnung der Hilfslinien de, $i, dri (letztere senkrecht auf ad) läßt
erkennen ög« =- Öi?« + (i?a + aiy « Öiy« + ria^ + ag(2??a -j- ag) -= 6«»
+ ag • dg. Entsprechend dieser ersten Gleichung ög*«öa* + ag'dg
muß zweitens Ö6* = öy* + yß-d€ sein. Nun ist ög = öc vorausge-
setzt, es ist femer 6a — 6y, folglich muß auch ag • dg « y« • Sa sein
und a g : yß — da : dg. Nun ist weiter a/3 : ag =» da : dg und Ss : dg
— ys : ßy, also endlich a/S : ag = ag : y« = yeißy, was zu beweisen war.
Wir gehen zu den eigentlich mathematischen Schriften des Heron
über. An ihrer Spitze steht die Vermessungslehre, (istQixd, in
3 Büchern, welche Jahrhunderte lang verschollen waren, bis man eine
dem XI. Jahrhunderte entstammende sehr schöne Handschrift des
Fig. 68.
0 Vgl. Veteres mathematici pag. 142 mit Nix pag. 24 und mit Pappus
(ed. Hultsch) 63.
Heron von Alexandria. 371
Werkes in Konstantinopel entdeckte; und nach ihr den Abdruck voll-
zogt). An der wir mochten sagen fleckenlosen Reinheit der Über-
lieferung kann kein Zweifel sein. Die unendlich klare Ausdrucksweise
Herons, welche jeden Leser seiner physikalischen Schriften entzückt^
verleugnet sich keinen Augenblick^ und selbst die Überschrift^ (iBtQtTcd,
ist durch Eutokius') beglaubigt. Bei der großen Wichtigkeit der
Yermessungslehre fühlen wir uns gedrungen ^ deren Inhalt etwas ge-
nauer anzugeben.
Die Yermessungslehre gibt in ihrem 1. Buche Anweisungen^ wie
man ebene aber auch wie man gekrümmte Oberflächen ausmessen
solle. Das 2. Buch lehrt die Ausmessung von Eörpem^ das 3. Buch
Teilung von Flächen und Körpern. Das Maß der Fläche ist ein
Quadrat; dessen Seite die Längeneinheit ist; im gleichen Sinne ist
das Körpermaß ein Würfel, dessen Kante die Längeneinheit ist; mag
man als solche eine Elle oder einen Fuß wählen.
Zuerst wird im 1. Buche ein Rechteck ausgemesseu; dann ein
rechtwinkliges Dreieck als Hälfte eines RechteckS; und bei dieser
Gelegenheit wird der Pjthagoräische Lehrsatz an dem Zahlenbeispiele
3^ ^ 4s » 52 erläutert. Das gleichschenklige Dreieck mit den Seiten
10; 10; 12 wird gleichfalls als Hälfte eines Rechtecks behandelt; dessen
Höhe 8 aus 10^ — (yj = 8* gefolgert ist. Das sich anschließende
un gleichschenklige Dreieck gibt Gelegenheit den Satz zu benutzen,
daß ein Winkel bei j4 spitZ; recht oder stumpf sei; je nachdem
Bn^j4B^ + Ar* (S. 209); und nun folgt die Berechnung der Höhe
aus den Seiten bald unter Benutzung der Abschnitte, welche sie auf
der Grundlinie hervorbringt, bald unter Benutzung der Verlängerung;
welche die Grundlinie bis zum Eintreffen der Höhe erleidet. Aber
auch ohne die Höhe läßt die Dreiecksfläche sich unmittelbar aus den
Seiten herleiten; und nun folgt die heute als heronische Dreiecks-
formel bekannte Rechnung
y 0+6 + 0 ^« + 6_t_c _ „) p +1 +i _ j) (« + 6 + c _ ^y
Da hierbei Quadratwurzelausziehungen vorkommen; z. B. f[ir das Drei-
eck 7; 8, 9 die Quadratwurzel ]/l2 • 5 • 4 • 3 - 1/720- 26^, so lehrt
Heron einschaltungsweise die Ausziehung angenäherter Quadrat-
^) Herrn. Schöne, Herons von Alexandria YennesBangslehre und Dioptra.
Bd. III der GesamtauBgabe (Leipzig 1903). *) Archimed (ed. Heiberg) m,
270 lin. 2 — 3 : stgrivai ii^v ^Hgoavi tv tots futgixolg.
24 •
372 18. Kapitel.
wurzeln^); und das ist die Stelle, auf welche Eutokins (S. 318)
hingewiesen hat. Das durch Heron gelehrte Verfahren besteht in
folgendem. Sei a eine schon nahe Quadratwurzel der Zahl a' ± 6,
so ist näherungsweise
Man sieht sofort, daß dieser Wert der gleiche ist, welchen wir
schreiben, und daß, wenn a ± g- = Oj mithin a* ± 6 = a^* ± 6^ ge-
setzt wird, eine bessere Annäherung erzielt werden kann, was Heron
auch ausdrücklich sagt. In seinem Beispiele ist 720 = 27* — 9,
rf=» m- ~ i (27 + !J) - 1(27 + 26 1) - 26 i i mit (26 i i)'
» 720—, und will man, sagt Heron, daß der Unterschied noch kleiner
werde, so ersetze man das vorige 729 = 27* durch 720^ r — (262- -A .
Man erhielte alsdann, was Heron allerdings nicht ausrechnet:
y^-k{^^\^^Y^
1982
Wir bemerken beiläufig, daß die io Arcbimeds ExeismeBBong vor-
kommenden angenäherten Quadratwurzeln eni^gen dem, was Euto-
kins zu Tersteben gibt, nicht alle nach Herons Vorschrift gefunden
werden. Es gelingt z. B. nicht die Grenzwerte j-^ < )/3 < -^^ (S. 316)
zu finden. Da ist nun ein sehr geistreicher Versuch gemacht worden,
auf yS eine Methode anzuwenden, welche allerdings in viel späterer
Zeit den Namen der Methode des doppelten falschen Ansatzes
erhalten hat^). Wir werden im 33. E[apitel das Auftreten der Methode
bei solchen Aufgaben kennen lernen, welche zu Gleichungen ersten
Grades führen. Hier handelt es sich um eine quadratische Aufgabe,
und Zweifel daran, ob bereits Archimed dieses Verfahren ersonnen
haben kann, sind vollauf gerechtfertigt. Eine Stütze findet die Ver-
mutung lediglich in der Tatsache, daß nur mit ihrer Hilfe die archi-
medischen Näherungswerte für ^3 erhalten werden.
Sei ya = Xy und seien x^ und x^ zwei Näherungswerte von der
Art, daß x^<,x <, x^. Sei ferner x^ — x^ = d^, x^ — rc* — dg. Augen-
0 Heron lU, 18—20. Vgl. P. Tannery, Zeitschr. Math. Phys. XXXTX,
flist-liter. Abtlg. pag. 18—16 und Cnrtza, Zeitschr. Math. Phye. XLII, Hiat.-
liter. Abtlg. pag. 113—120. *) G. Wertheim in Zeitschr. Math. Phye. XLIV,
Hi8t.-liter. Abtlg. pag. 1—8.
Heron von Alexandria. 373
scheinlich ist (7^ + d^ =» a;,* — iCi* = (x^ — ^i)(^» + ^i) ^^^ d^a^
+ d^x^ =« x^oi^ — x^^x^ + x^x^^ -- x^x^ = (^ — ^i)(^* + ^i^j)- Daraus
folgt j* "V 1-— = ^-^^'— , ein Ausdruck, der sich wegen a;i*<a:*
< iFj* als > x^ und < a:, erweist, welcher also als neuer Näherungs-
wert für Y^ benutzt werden kann.
Beispielsweise ist bei a = 3 leicht ersichtlich aj^ =» 1, d^ = 2;
a^a = 2, dj =■ 1 und der daraus folgende neue Näherungswert: ^-^'ir ^*—
^ 2^2 + r^ ^ 6 Zweitens sei a^i = g-, d^ - -^5 a:, = 2, (^ = 1.
J-.2 + i.|
Der neue Näherungswert wird 0 « ^ . Drittens sei ^1 ™ ;7 ,
"9 +^
2 19
2 121 "^ 11
dj = r^; a;, « 2, (?, = !. Der neue Näherungswert ist
— 4-1
121^
71 71 2
= 41 • Viertens endlich führt ^1 ™ ^j > ^ — ^egj 5 ^s = 2, d, = 1 zu
2 71
—=-2+1.
dem archimedischen Näherungswerte 5 -= — •
— X
1681 '
Ist dagegen ]/a = x < a?! < a^, so kann unter der Annahme x^
* = dj, a?,* — 0? ^ i^ ein neuer Näherungswert für "[/a als ^ ^ j*^
«a "T^^ ^ ^ , ^ * d. h. < a:. < a;« ermittelt werden, von welchem
man auch noch behaupten kann, er sei > x. Es ist nämlich »"^i^
> a; insofern a^^a^ — {x<^ + x^x -f- a:* = (iFj — a:)(a:, — a;) > 0, wovon
die Wahrheit einleuchtet. Ist neuerdings a =» 3, a:, = 2, aber Xy^ = -^,
so berechnen sich die vier aufeinanderfolgenden Näherungswerte folgen-
dermaßen:
^x- iy ^i'^ie' ^2-2, d,-l;
26 j _ 1
^1-^16^ «1-226'
97 ^ 1
56' ^1 8136'
d,a?i-diÄ,
d.-di
-
^ ' 4 16 ' ^ 26
1__A lö
16
=
1.??_.J_.2
15 225 97
1 56
225
d,-d.
SS
1.^^ ^ .2
56 3186 862
1 209
3136
374 18. Kapitel.
862
^ ^^^1 d ^-!—'T -2 /i -1. ««laJi-e^o:, _209__43681_ 1861
^1 209'^l 43681' ^«~''^'"»~"^' "d,"^^ 1 """780
^ 48681
Der obere archimedische Näherungswert ist damit gleichfalls
gefunden.
Nun wird aber eine ähnliche Benutzung zweier falschen* Ansätze an-
gewandt; um eine angenäherte Kubikwurzel zu finden. Sei Yä ^ x
und seien x^ und x^ zwei Näherungswerte von der Eigenschaft x^
<x <x^. Hier nennen wir x^ — x^^ = d^, a:,* — a?' = dg. Alsdann
ist * ^T^^ ^ öiii neuer Näherungswert. Soll f^lOO ermittelt werden,
so ist a:i — 4, ;r, — 5, weil 64 < 100 < 125 und zugleich ist 100
- 64 = 36 - («i, 125 - 100 - 25 - rfj. Da hier ic, = a^i + 1 ange-
nommen ist, so wird der Näherungswert in die Gestalt x^ H ^^j/ a
gebracht werden können, in Zahlen also 4 + ^ ,^^ ' ^ ^^ ■= 4 + r^
»-' O • OD -|- 4 • 20 5soü
9
== 4 + -^ und das Merkwürdige ist nun, daß genau dieser Wert genau
nach der angegebenen Formel 4 + , auagerechnet im 3. Buche
der Metrika vorkommt^). Da kann kaum mehr gezweifelt werden,
Heron habe sich die gleichen Zahlen auch als Übersetzung der gleichen
Buchstabenformel, welche hier vermutet worden ist, verschafit.
Wir kehren nach dieser Zwischenbemerkung, welche dadurch
veranlaßt wurde, daß wir die Ausziehung der Kubikwurzel bei Heron
von der der Quadratwurzel nicht trennen wollten, zum 1. Buche der
Yermessungslehre, und zwar zur heronischen Dreiecksformel zurücL
Heron, sagten wir, wendet sie auf das Dreieck mit den Seiten 7, 8, 9
an. Er läßt dem Zahlenbeispiele den Beweis der Formel folgen').
Das Dreieck ccßy erweist sich (Fig. 64) bei Einbeschreibung des
Kreises mit dem Halbmesser rje als gleich dem Doppelten eines Drei-
ecks mit diesem Halbmesser als Höhe und dem halben Umfang von
aßy oder mit yO als Grundlinie (sofern ßO => aS genommen ist).
Nun wird die Hilfskonstruktion i^A senkrecht zu rjy, ßk senkrecht zu
ßy und yk von dem Durchschnittspunkte k jener beiden Senkrechten
nach y vollzogen, nebst den Halbmessern 17 d, fj«, i]l des eingeschrie-
benen Kreises und den Yerbindungsgeraden 170;, r^ßj r^y seines Mittel-
punktes mit den Endpunkten des Dreiecks. Weil <:yrik^yßk^90%
muß yk der Durchmesser des umschriebenen Kreises für die beiden
Dreiecke yrjk und yßk sein, d. h. yrjßk ist ein Sehnen viereck und
< rnß + Y^ß = 180«. Aber < ynß = yris + sriß = ^- + 'J- und
») Heron lU, 178. «) Ebenda m, 20—26.
Heron yon Alexandria.
375
addiert man dann noch arjd =« ^- und berücksichtigt ^tjs + erji
+ drii = 360^, so zeigt sich auch < yrjß + ar^d =- 180^, folglich
^ ylß = ai^d; ferner ist
folglich sind die Dreiecke
ßy^, dari ähnlich und ßy : ßX
^daidrj oder, was dasselbe
ist, ^ ßd :ij€, somit
ße i2<
Aus der leicht ersichtlichen
Ähnlichkeit der Dreiecke ßkx,
B7IX folgt auch
ßX
IJfi
*ß
mithin Jl =
7ß _xß
Durch Addition der Einheit
auf beiden Seiten des Qleich-
heitszeichens entsteht
ße
Fig. 64.
und daraus folgt ^ ^n =* ^^ oder — —
und
daraus (yO » tjey ^ ys - eß - ßO - yO, Nun war der Flächeninhalt des
Dreiecks aßy (als des Doppelten des Dreiecks yiyö) = 2 • ^ ^^^^ =» y ö • i^£,
und somit ist^ wenn man die Fläche des Dreiecks aßy durch ^ be-
zeichnet, ^ = ]/y« • £ß ' ßO • yö. Setzt man endlich aß = c, ay = 6,
ßy =^ a, so lassen die Faktoren unter dem Wurzelzeichen sich leicht
anders ordnen und schreiben, so daß
zf = |/l±|±£ (?-+!+-« -a)('
a + h + c
2
»)(-±-r--«)
entsteht, eben die Formel, die Herons Namen führt. Nach geliefertem
Beweise erprobt Heron die Formel nochmals an dem Dreiecke mit
den Seiten 13, 14, 15 und erhält ^ - ]/2lT8 • 7 • 6 =« 84 Noch
ein weiteres Dreieck ist das aus den Seiten 8, 10, 12. Um dessen
Fläche zu erhalten*) wird die Höhe auf die Seite /Jy = 10 von a aus
gezogen und der an die kleinere Seite a/3 » 8 angrenzende Abschnitt
ßd der Grundlinie dadurch gefanden, daß man von 2ßy* ßä = 20 aus-
geht. Es ist nämlich ay^ + 2ßy ßd ^ aß^ + ßy\ also 2ßy - ßÖ
« a/J* + /Jy« - ay> - 64 + 100 - 144 « 20, was allerdings nicht be-
sonders ausgerechnet ist. Vermöge /Jy = 10 zeigt sich ßd^l, /3d*== 1
^) Heron m, 26.
376 18. Kapitel.
und a*««a/3»-/3d«=»64-l-63, «d = -)/63 « 7y~Yi^7 ^as
offenbar mittels y64 — 1 = 8 — t^ gefunden ist. Die Fläche ist aber
^^-^- = 5 )/63 == 39y -g- jg , Wir können unseren Bericht unmöglich
in gleicher Ausführlichkeit fortsetzen. Nach dem Dreiecke kommt
das Viereck an die Reihe und zwar, da das Rechteck gleich am An-
fange des Buches besprochen war, das rechtwinklige Paralleltrapez,
dann das gleichschenklige, das spitzwinklige und das stumpfwinklige.
Unter den letzteren beiden Namen wird verstanden, daß, wenn eine
der beiden parallelen Seiten als Ghnindlinie dient, beide Winkel an
der Grundlinie spitz, oder einer spitz und einer stumpf sein sollen.
Als Rhombus wird das gleichseitige, als Rhomboid das ungleichseitige
Parallelogramm bezeichnet Zu ihrer Berechnung ist die Kenntnis der
Diagonale erforderlich, welche aber hier als Diameter benannt ist
(S. 218), während nur wenig später das Wort Diagonale gebraucht
ist^). Zuletzt erscheinen Vierecke, in welchen keine Seite einer anderen
parallel läuft. Der nächste Gegenstand der Untersuchung ist der
Flächeninhalt regelmäßiger Vielecke vom Dreieck bis zum Zwölfeck,
welches letztere sich dem Kreise nähert'). Heißt a^ die Seite, F^
die Fläche des regelmäßigen Vielecks und c^ eine von einem Vieleck
zum anderen sich ändernde Zahl, so findet Heron F^ » c^a^ und ins-
besondere:
Der Fünfecksinhalt stammt, wie Heron sagt, daher, daß
gesetzt wurde. Ein genauerer Wert sei auffindbar, wenn ein genauerer
Wert von "j/ö in Rechnung gezogen werde.
weil das Sechseck das Sechsfache eines über a^ beschriebenen gleich-
seitigen Dreiecks ist.
Zur Auffindung der Siebeneoksseite führt der ausgesprochene aber
unbewiesene Hilfssatz, sie sei nahezu gleich der Senkrechten vom Kreis-
mittelpunkt auf die Sechsecksseite. Das entspricht rechnungsmäßig
der Gleichung o^* = r* — ^ > ^ "^ T V^- ^*^ könnte auch r ys = Oj
*) Vgl. Heron EI, 86 lin. 12 mit 46 lin. 10. «) Heron HI, 46 hif^g 9h
ywvoVf iTtsi^i} toüTO evveyylSsi fi&llov t^ xoij nvxXov yttQupiQBi^.
Heron yon Alexandria. 377
benutzen und ^ » y ^s schreiben, eine, wie wir im 34. Kapitel sehen
werden, den Arabern geläufige Ausdrucksweise, deren sich Heron
jedoch nicht bedient. Da Heron die Naherungsformel Ö7 = y V^
nicht begründet, so muß sie vor ihm zur Oenüge bekannt gewesen
sein. Wir weisen nur mit einiger Schüchternheit auf Archimeds
Siebeneck im Kreise (S. 307) als mögliche Quelle hin. Rechnungs-
mäßig kleidet sich der Satz, die o^ sei die Senkrechte aus dem Kreis-
mittelpunkte auf ttg, wie wir schon sagten, in die Gleichung a^ « y^S«
Heron schreibt dafür anj ^^^r, und dieses entspricht der Annahme
)/3~2--|- =-~«]/|^. Dann wird weiter 1/207 = 14 J ange-
nommen und daraus schließlich gefolgert
^7 = 12^
Zur Auffindung von Fg bedient sich Heron der Fig. 64 a. £ ist
der Mittelpunkt des Umkreises, KA ist senkrecht zu /JE gezogen
und jdM büdet mit jdK einen Winkel von
der Gfröße -7- Rechter. Ebenso groß ist
A^^KA und mithin JLMAA = — Rechter
nebst Z.MJd'-'l Rechter, woraus L.dMA
- MdA und JA - AM, JM* - 2MA',
JM^MA y2 folgt, wofür g M^ ge-
setzt wird. Wegen der ßleichschenkligkeit
TT Tl/T
des Dreiecks ^MK hat man also ^rr-
MA
17 KM+MA KA _KA 17 + 12 29 . jr j 29 . . 29
" 12' MÄ ^ MA'~'Ja i2~~ " 12 ™^ -'^^ =" 12 ^^ '^ 24
VA . A _E 29
^E. Femer sieht man ^ = ~ z^£? als Fläche des Dreiecks
dEKy welches -~ ist Somit zeigt sich
Die Berechnung von Fg geht von der der Schrift über die Ge-
raden im Kreise, also EUpparch, entnommenen Formel aus, 3ag sei
annähernd der Durchmesser des Umkreises. Daraus folgt unter aber-
maliger Anwendung TOn y2 ~ -^, daB
i^» - -5- Oj».
378
18. Kapitel.
17
12
ist offenbar gewonnen, indem zuerst
~ ^ — rö gesetzt wurde.
Der Näherungswert y2
1/2-1+4, dann t/2 - ^ ^^
Ausgehend von bei Berechnung von F^ gewonnenen Werten ge-
langt Heron zu
TP ^*., «
Sei (Fig. 64b) ZH^a^^, ZS Durchmesser, NH Halbmesser des
Umkreises. Die Dreiecke ZHN, SHN haben bei gleichen Grund-
linien ZN, SN die gemeinschaftliche
Spitze in H, sind also einander gleich,
und ihre Summe ZHS ist das Doppelte
des Dreiecks ZiVif, welches selbst --*-
ist. Heron führt diesen Beweis nicht,
zieht nicht einmal die Hilfslinie NH^
sondern setzt sofort das Dreieck ZHS
=« jY -^11 ^^^ bemerkt, es sei rechtwink-
lig, weil jLZHS ein Winkel im Halb-
kreise sei. Nun entnimmt er wieder der
Schrift über die Geraden im Kreise
Fig. 64 b.
ÄZ^yOn- Ist dieses richtig, so ist ÄH=]/(yöru.) ^ cl^
/676 24
12
— ö" =» Y a^j und das Dreieck ZHS ist — a^^ sowie
•11
OD ,
y (hl-
Bei dem Nachweise von
2^« =
45
*n
ist wieder geometrisch verfahren ohne auf Hipparch zurückzugreifen.
Die dabei auftretende ys ist ebenso wie bei der Aufsuchung von F^
7
durch Y ^i^etzt. Wir erkennen also in dieser Gruppe von Sätzen
die wiederholte Anwendung von
Auf die geradlinig begrenzten Figuren folgen die mit gekrümmter
Begrenzung, bei welchen Heron ausdrücklich erklärt, er bediene sich
. . 22
von Archimed herrührender Sätze; insbesondere wird ä = -- fort-
während benutzt. Den Kreisabschnitt, welcher kleiner als ein Halb-
kreis ist, und welcher die Sehne s als Grundlinie und Höhe h besitzt.
Heron von Alexandria. 379
maßen die Alten ziemlich ungenau^); indem sie seinen Inhalt als "^ - s
angaben. Heron fägt hinzu, diese Formel sei richtig beim Halbkreise^
sofern n =«3, und davon hätten die Alten Grebrauch gemacht und die
Formel auch noch yerallgemeinert. In der Tat ist bei ^ » 3 die
Flache des Halbkreises — = — ~- - r, wahrend 2r ^ Sy r ^h ist.
Ein etwas genaueres Ergebnis fand man^ fährt Heron fort, mittels der
Formel ^— • « + jj (y) , ^uid diese passe auf den Halbkreis bei
z—r*
1 . . 7
jt = 3- . In der Tat ist dann die Fläche des Halbkreises -
« —Y— " ^ + 14 (y) • ^^ dritte genauere Methode lehrt Heron ein
der archimedischen Farabelquadratur (S. 304) nachgebildetes Ver-
fahren; welches dahin mündet ^ daß man dem Kreisabschnitte ein
gleichschenkliges Dreieck einzeichnet, welches sich dann zu dem Ab-
schnitte nahezu wie 3 : 4 verhält. Bei dieser Gelegenheit nennt Heron
die Abhandlung Archimeds unter dem sonst nicht überlieferten Namen
Ephodikon^. Ist der zu messende Kreisabschnitt größer als der
Halbkreis, so wird er zum ganzen Kreise durch einen anderen Kreis-
abschnitt ergänzt, der als kleiner als der Halbkreis nach dem soeben
gelehrten Verfahren berechnet wird; die ganze Kreisfläche kennt man
auch; man hat also das Gesuchte als Unterschied zweier bekannter
Größen. Heron lehrt weiter unter fortwährender Nennung des Archi-
med, als desjenigen, dem er folge, die Messung der Ellipse, der
Parabel, der Oberfläche des Zylinders, des Kegels, der Kugel, des
Kugelabschnittes. Er schließt das Buch mit der Vorschrift, eine un-
regelmäßig begrenzte ebene Figur durch eine nahezu ihr gleiche gerad-
linig begrenzte Figur zu ersetzen, deren Fläche man berechnen könne,
eine unregelmäßig gekrümmte Oberfläche aber, wie z. B. die einer
Statue, mit dünnem Papyrus zu belegen, welchen man loszulösen und
eben auszustrecken vermöge, worauf er als unregelmäßig begrenzte
ebene Figur gemessen werde.
Das 2. Buch wendet sich dem Rauminhalte der Körper zu. Die
in Anwendung tretenden Formeln sind zumeist als von Archimed
herrührend bezeichnet. Es handelt sich um gerade Zylinder, um
Kegel, um schiefe Zylinder, um parallelepipedische Körper, um Prismen,
um Pyramiden, um Pyramidenstumpfe, um Kegelstumpfe, um Kugeln,
^) Heron in, 72 %h 9h TufjfLa toD x6xXov to iXatrov inimvxXlov ol fikv
äi^Xaloi ä^UetBQOv iy^ixQovv. *) Heron lU, 80 lin. 12. Vgl. auch W. Schmidt,
Archimedes' Ephodikon in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge Bd. I, 13
bis li (1900).
380 IB. Kapitel.
nm Kugelabschnitte, um spirische Körper (S. 242), um Zylinderhufe,
um die fünf regelmäßigen Körper Flatons. Bei Gelegenheit der spi-
rischen Körper ist von einer Schrift des Dionysodor^) über die
Spiren die Rede. Dieser aber ist, wie wir vermuten, Herons Zeit-
genosse und wird uns im 20. Kapitel wieder begegnen. Den Schluß
des 2. Buches bildet die Ausmessung des Körperinhaltes unregelmäßig
begrenzter Gebilde nach einer Methode, welche, wie einige erzählen,
von Archimed herrühre*). Bewegliche Körper werden in ein bis zum
Rande mit Wasser gefülltes Gefäß geworfen, um Wasser zum Aus-
laufen zu bringen, dessen Menge man an dem Höhenunterschied der
nach Herausziehung des Körpers noch übrigen Flüssigkeit erkennt.
Unbewegliches wird durch einen Überzug von Wachs oder Lehm in
ausmeßbare parallelepipedische Gestalt gebracht, und ebenso verfährt
man mit dem abgekratzten Überzug, um den Unterschied zweier be-
kannter Körperinhalte als Antwort auf die gestellte Frage bilden zu
können.
Das 3. Buch ist das von den Teilungen. Wir wissen von einer
fast genau ebenso betitelten Schrift des Euklid (S. 287), von welcher
aber die Bearbeitung Herons wesentlich abweicht. Die Aufgaben
sind zwar vielfach die gleichen, z. B. ein gegebenes Dreieck durch
eine der Grundlinie parallele Gerade in einem gegebenen Verhältnisse
zu teilen, aber während Euklid sich mit allgemeinen Konstruktions-
vorschriften begnügte, ist Heron bestrebt, mit den zahlenmäßig ge-
gebenen Längen der einzelnen Dreiecksseiten zu rechnen. Er sucht
sogar wie weit von der Dreiecksspitze entfernt die gesuchten Durch-
schnittspunkte der verlangten Parallelen mit beiden Dreiecksseiten
sind, weil, wie er ausdrücklich hervorhebt^), es auf dem Felde wegen
der Unregelmäßigkeiten des Bodens schwierig sei eine Parallele zu
ziehen. Nur wo eine Rechnung anzustellen ihm nicht gelingt, begnügt
er sich mit der Angabe von Konstruktionen teilweise auf andere
Schriftsteller verweisend. In diesem Zusammenhange erscheint die
oben (S. 364) von uns erwähnte Berufung auf den Raumschnitt*).
Femer geht Heron auch in der Beziehung über Euklid hinaus, daß
er nach den Teilungen ebener Figuren auch solche von gekrümmten
Oberflächen und solche von Körpern behandelt. So soll z. B. eine
Pyramide durch eine der Grundfläche parallele Ebene geteilt werden,
so daß zwischen der an der Spitze losgetrennten kleineren Pyramide
und der ursprünglichen ein gegebenes Zahlenverhältnis obwalte. Diese
Aufgabe führt ^) zur näherungs weisen Ausziehung der >^100, von welcher
*) Heron m, 128 lin. 8. *) Ebenda IE, 138. ») Ebenda III, 144 lin. 16
bis 16. «) Ebenda m, 162 lin. 2 und 166 lin. 14. ^) Ebenda in, 178 lin. 8—16.
Heron von Alexandria. 381
wir oben (S. 374) geredet haben. Den Schluß des Baches bildet die
archimedische Aufgabe der Teilong einer Engel bei gegebenem Ver-
hältnisse der beiden durch den Schnitt gebildeten Kugelabschnitte.
Wollen wir nach dieser Inhaltsangabe der Vermessungslehre noch
in Kürze eine Kennzeichnung des Werkes geben^ so dürfen wir sagen^
es seien Elemente der rechnenden Geometrie dort gelehrt. Ver-
fasser der ersten derartigen Schrift war Heron wohl kaum, so wenig
als Euklid der Verfasser der ersten Elemente der konstruierenden
Geometrie war. Nur hat Euklid einen Proklus gefunden, welcher
uns über die Vorgeschichte seines Werkes belehrt, während wir von
einem Kommentare zu Heron nichts wissen. Dagegen sagt uns die
übereinstimmende Überlieferung aller Völker, daß die praktische Feld-
messung der eigentlichen wissenschaftlichen Geometrie, der theoreti-
schen Raumlehre, vorausging und diese erfinden ließ. Mag auch in
den griechischen Staaten im engeren Sinne des Wortes die Geometrie
häufiger ihrer theoretischen als ihrer praktischen Richtung nach be-
handelt worden sein, wie schon daraus hervorgeht, daß das Wort
Geodäsie überhaupt erst seit der Zeit des Aristoteles (S. 252) in der
griechischen Literatur nachgewiesen werden kann, Herons Tätigkeit
verweist nach Alexandria, auf ägyptischen Boden, wo seit Jahrtausenden
die Kunst der Feldmessung blühte, wo die Harpedonapten, Seil-
spanner, wie der alte Grieche sie nannte (S. 104), ihr Handwerk übten,
an welches wir uns bald erinnern müssen. Auch Euklids Aufenthalt
in Ägypten ist verbürgt, und eine Spur feldmesserischer Vorschriften
fanden wir in seiner Optik (S. 294). Die ägyptischen Feldmesser
müssen dem erhaltenden Wesen ägyptischer Bildung entsprechend
gewisse Vorschriften, wie man zu verfahren habe, mündlich oder
wahrscheinlicher schriftlich unter sich vererbt haben. Ihr Erbe muß
auf Heron gelangt sein. Ohne Zweifel hat er es verstanden dieses
Erbe wuchern zu lassen. Ihm, wenn er nicht in Dikaearch und Era-
tosthenes Vorgänger hatte (S. 257), ist vielleicht die Erfindung der
Dioptra zuzuschreiben, während man früher mit mangelhafteren Vor-
richtungen sich begnügte, aber Vorrichtungen hatte man, z. B. den
sogenannten Stern, und deren Gebrauch muß, wir wiederholen es, eine
ältere mündlich oder schriftlich überlieferte Feldmeßkunst gelehrt
haben. Der letzte geodätische Schriftsteller blieb Heron allerdings
für lange Zeit. Euklid und Heron waren nachgerade ihrer Persön-
lichkeit beinahe entkleidet worden. Sie waren Titel von Schulbüchern
geworden, welche auch zu Völkern drangen, die in anderen Sprachen
als in der griechischen dachten und redeten. Mochten in diesen „Euklid'^
der Theoretiker, in diesen „Heron'* der Praktiker Dinge eingedrungen sein,
an welche der lebende Euklid, der lebende Heron nie gedacht hatte,
382 18. Kapitel.
für die Nachkommen blieb es der „Euklid'', der „Heron". Ja, es ist
gar nicht unmöglich, daß bei derartigem nebeneinander hergehendem
Gebrauche aus dem „Euklid'' dieses oder jenes, z. B. Definitionen, in
den „Heron" überging; auch das Entgegengesetzte wäre möglich, wenn
es gleich an Beispielen dafür uns fehlt, aber die heronische Dreiecks-
formel etwa hätte samt ihrem Beweise ganz gut in eine Handschrift
des Euklid eindringen können.
Gehen wir nun zur Feldmeßkunst des Heron über, wie sie
in der Abhandlung über die Dioptra^) beschrieben ist, und beginnen
wir mit der Schilderung der Dioptra selbst. Sie bestand aus einem
4 Ellen langen Lineal, welches an beiden Enden Plättchen zum Hin-
durchvisieren, oder, wie man heute sagt, Dioptervorrichtungen trug.
Sie ruhte auf einer kreisrunden Scheibe, auf welcher sie in Drehung
versetzt werden konnte, und eine vertikale Drehung war mit der
Scheibe auf einem die ganze Vorrichtung tragenden Fuße ermöglicht.
Wir dürfen in der Dioptra den Keim des Theodoliths der neueren
Feldmeßkunst erkennen. Sie diente zum Abstecken von Geraden in
den mannigfachsten Richtungen, wenn auch eine Winkelmessung auf
dem Felde nicht stattfand. Um eine Senkrechte zu einer gegebenen
Richtung sich zu verschaffen, dienten senkrecht zueinander eingeritzte
Gerade auf der Dioptrascheibe, von deren ersten bis zur zweiten die
Dioptra gedreht werden mußte, um einen rechten Winkel zu
erhalten. Den oben erwähnten vorheronischen Stern bildeten zwei
in horizontaler Ebene sich rechtwinklig schneidende Lineale, also
eine Art von Winkelkreuz. Die Vorrichtung zum Hindurchvisieren
aber fehlte, und ebenso fehlten verschiedene Hilfsapparate, die mit
der Dioptra in Verbindung standen. Bei ihr war die vertikale Stellung
des Fußes verbürgt durch einen herabhängenden Bleisenkel, welcher
längs einer auf dem Fuße eingeritzten Geraden seinen Verlauf nehmen
mußte. Die Horizontalität der Scheibe entnahm man einer Wasser-
wage. Statt beider mußten bei dem Sterne Bleisenkel dienen, welche
an den 4 Enden des Winkelkreuzes hingen, welche aber, wie Heron
tadelnd hervorhebt, namentlich bei einigermaßen stark gehendem
Winde, nicht leicht zur Ruhe kamen und somit die Brauchbarkeit
des Apparates, welche von der gesicherten richtigen Aufstellung un-
trennbar ist, wesentlich verringerten. Mit Hilfe der Dioptra und ab-
geteilter selbst mit Bleisenkel versehener Signalstangen wurden
die wichtigsten Aufgaben auf dem Felde gelöst. Nivellierungen; Ab-
') "^Hgoivos UXs^dv^gsajg tcbqI ^tOTCtgag abgedruckt mit firanzÖBischer Über-
setzung von Vincent, mit den Anmerkungen von Venturi und Vincent in
den Notices et extraits des manuscrits de la hihHoth^ae imperiale XIX, 2 (Paris
1868) und mit deutscher Übersetzimg von Herm. Schöne in Heron III, 187 sqq.
Heron von Alexandria. 383
steckung einer Geraden zwischen zwei Punkten, deren keiner von dem
anderen aus gesehen werden kann; Bestimmung der Entfernung eines
sichtbaren aber unzugänglichen Punktes; Au£^dung der Breite eines
Flusses, ohne ihn zu überschreiten; Auffindung der Entfernung zweier
Punkte, die beide sichtbar, beide unzu^nglich sind; Absteckung einer
Senkrechten zu einer unzu^mglichen Geraden in einem unzugäng-
lichen Punkte derselben; Bestimmung der Höhe eines entfernten
Punktes über dem Standorte des Beobachters; Aufnahme eines Feldes;
Wiederherstellung der mit Ausnahme von 2 oder 3 durch Grenz-
steine gesicherten Punkten verloren gegangenen Umfriedigung eines
Feldstückes unter Anwendimg des vorhandenen Planes: das dürften
etwa die interessantesten Aufgaben sein, welche Heron in seiner
Schrift von der Dioptra behandelt hat, bei späteren Aufgaben stets
früher gelehrte Operationen benutzend, wodurch das Einheitliche dieser
Abhandlung sich erweist.
Es würde zu weit führen, wollten wir genau schildern, in welcher
Weise Heron jedesmal verfährt. Nur die beiden letztgenannten Auf-
gaben müssen aus besonderen Gründen hier zur Rede kommen. Die
Aufnahme eines Feldes erfolgt durch Absteckung eines Rechtecks,
welches 3 seiner Eckpunkte auf der Umgrenzung selbst besitzt. Die
Seiten dieses Rechtecks werden nun freilich mit den Grenzen des
Feldes nicht zusammentreffen, aber die zwischenliegenden Grenz-
strecken bestimmen sich durch die senkrechten Entfernungen ein-
zelner Punkte derselben von den Rechtecksseiten unter genauer Be-
merkung derjenigen Punkte der Rechtecksseiten, in welche jene meist
kleinen Senkrechten eintreffen. Der geschickte Feldmesser wird, nach
Herons ausdrücklicher Vorschrift, es so einzurichten wissen, daß die
Grenze zwischen zwei zur Bestimmung ihrer Endpunkte dienenden
Senkrechten leidlich geradlinig aussieht. Wenn wir noch so vorsichtig
ans davor hüten wollen, neue Gedanken in alte Methoden hineinzu-
lesen, hier müssen wir ein bewußtes Verfahren mit rechtwinkligen
Koordinaten erkennen. Nicht als ob wir behaupten wollten, Heron
habe nach einem gemeinsamen Gesetze gesucht, welchem die verti-
kalen und horizontalen Entfernungen zu bestimmender Punkte von
gegebenen Linien gehorchen, das tut nicht einmal die moderne Feld-
meßkunst, welche sehr wohl empirische Linien von geometrischen
Kurven zu unterscheiden weiß. Aber denken wir daran, daß Hipparch
(S. 362) die Erde mit Koordinaten überzog, welche die Lage jedes
Punktes derselben bestimmen sollten, daß dieser die Breite von dem
Äquator, die Länge von dem Meridiane von Rhodos, mithin von ganz
genau definierten Anfangslagen beginnen und messen ließ, so werden
wir in Herons Verfahren die Wiederholung auf kleinerem Felde finden
384 18, Kapitel.
von dem, was sein etwas alterer Zeitgenosse für die Erde in ihrer
Gesamtoberfläche gelehrt hat, beide yielleicht abhängig von uralten
Vorbildern, aber über jene hinausgehend. Wir erinnern daran, daß
um 1400 die ägyptischen Bildhauer unter König Seti I. die mit Bild-
werk zu versehenden Wände zunächst mit einem Netze kleiner Quadrate
überzogen (S. 108). Das waren auch Koordinaten. Aber ob und wie
Linien der beabsichtigten Figuren in diese Quadratchen hineinfielen,
dürfte an sich unerheblich gewesen sein. Vermutlich sollten nur bei
der Ausführung im großen dieselben Verhältnisse beibehalten werden,
welche der Künstler in seiner Handskizze dem Augenmaße oder der
Übung nach sich vorgezeichnet hatte. Jetzt entwarf Heron kleinere
rechtwinklige Figuren zu bestimmtem Zwecke und wählte Zahl und
Entfernung der Senkrechten in bewußter Beliebigkeit Früher war
es eine zufällige, jetzt eine absichtliche Bestimmung einzelner Punkte
mittels senkrecht zueinander gezeichneter Strecken.
Nicht minder lehrreich ist fär uns die Rückübertragung des
gezeichneten Planes auf das Feld, wenn nur einige Punkte desselben
gegeben sind. Erhalten seien (Fig. 65) die Grenzsteine a, /J, deren
Inschriften gestatten, sie auf dem Plane
zu identifizieren; gesucht werden die
beiden Hauptrichtungen auf dem Felde,
welche zueinander senkrecht dem ganzen
Plane als Grundlage dienen, so daß
wenn z. B. ay einer dieser Hauptlich-
tungen gleichlaufend und ßS zu ihr
senkrecht wäre, die Längen ad, ßd mit
den Inschriften der beiden Grenzsteine
in Einklang stehen. Jedenfalls kann man auf dem Felde aß ab-
stecken und auf dieser Strecke einen Punkt b ziemlich nahe bei a
sich genau bemerken. Nun ist auf dem Plane das Dreieck a/Sd be-
kannt und vermöge der erfolgten Abmessung von aß auch das Ver-
hältnis der Längen auf dem Plane zu denen auf dem Felde. Das
Dreieckchen ae^ muß dem aßd ähnlich sein, aus der gemessenen
Länge as folgen daher durch Rechnung die Längen von a^ und ^£,
welche auf einem Seile Q6r durch Strichelchen angemerkt werden.
Nun befestigt man dieses Seil mit q in a, mit r in £ und spannt es
in 6 an, so wird bei 6 ein rechter Winkel entstehen und f gefunden
sein und damit zugleich die Richtung a^dy. Das geschichtlich
Bedeutsame bei diesem Verfahren besteht darin, daß der rechte
Winkel durch Anspannung eines Seiles gewonnen wird, welches mit
zwei durch Striche oder Knoten bezeichneten Stellen an zwei Pfiöcken
im Boden befestigt wurde. Das ist ja nichts anderes als die ägjp-
^ t
Heron von Alezandria. 385
tische Seilspannnng (S. 104 — 106) bei der Qrandsteinlegung der
Tempel, ein Verfahren, welches, wie wir wissen, vielleicht schon zur
Zeit des Königs Amenemhat I. um das Jahr 2300 nicht wesentlich
anders geübt worden war ab 237 bei der Gründung des Tempels
von Edfu. Damit gewinnt aber auch die Vermutung einigen Halt:
im Jahre 237 werde man etwa so verfahren sein, wie im ersten vor-
christlichen Jahrhunderte, und das letztere uns genau bekannte Ver-
fahren sei mit einigen Abänderungen, wie wir früher auszusprechen
wagten, in ältester Zeit bereits zur Erlangung rechter Winkel benutzt
worden. Natürlich können die damals angenommenen Zahlen fßr die
gegenseitigen Entfernungen der drei Knoten hier, wo es sich um
Herstellung eines einem bestimmten rechtwinkligen Dreiecke ähnlichen
Dreiecks handelt, nicht zur Bestätigung kommen. Noch eine Ver-
änderung ergab sich, wie wir finden, im Laufe der Jahrhunderte.
Demokritus nannte die Seilspanner Harpedonapten, das Seil selbst
also Harpedon mit einem Worte, dessen Klang schon den ägypti-
schen Ursprung verrat. Zu Herons Zeit führte das aus Binsen ge-
flochtene Seil den griechischen Namen Schoinion und wurde, wie
es in einer Heron zugeschriebenen Schhfk heifit ^), abwechselnd mit
dem Rohre, Kalamos, zu Messungen benutzt. Wir bemerken hierzu
beiläufig, daß Tcdkafiog und das dem 6%oivCov nahe verwandte 6%olvog
neben der allgemeinen Bedeutung Meßstab und Mefischnur auch die
besonderer und zwar untereinander verschiedener Maße besitzen.
Wir haben noch bei einem Paragraphen der Schrift über die
Dioptra zu verweilen, der den Beweis für die sogenannte heronische
Dreiecksformel liefert und ganz genau mit der entsprechenden Stelle
der Vermessungslehre*) übereinstimmt. Wir stehen hier einer ganz
ähnlichen Erscheinung gegenüber wie bei der Einschaltung zweier
mittleren geometrischen Proportionalen zwischen zwei gegebene
Strecken. Heron hat sein Verfahren sowohl der Mechanik als der
Vorschrift zur Anfertigung von Geschützen einverleibt, und Pappus
hat uns sein Erfinderrecht ausdrücklich bestätigt. Für unser Gefiihl,
das betonen wir jetzt nachträglich, war jene Bestätigung überflüssig.
Man kann wohl einen wichtigen Satz in zwei verschiedenen Werken
zur Anwendung bringen, aber man verbindet nicht an beiden Stellen
mit dem Satze auch seinen Beweis, wenn nicht ein gewisses Selbst-
gefühl uns dazu treibt. Ebenso beurteilen wir, wo uns zufällig keine
Bestätigung durch einen Dritten vorliegt, die wiederholte Mitteilung
der Formel für den Dreiecksinhalt samt ihrem Beweise. Sie ist und
bleibt für uns die heronische Dreiecksformel, benannt nach ihrem
geistvollen Erfinder.
>) Heron (ed. Hultsch) n, 43. ") Vgl. Heron HI, 280 sqq. mit 20 sqq.
Cavtob, Gasohloht« der Mathematik L S. Aufl. 26
386 19. Kapitel.
19. Kapitel.
Heron von Alexandria. (Fortsetzang.)
Von der Abhandlung über die Dioptra wenden wir uns zu einem
raschen Überblick über anderes, was von Zeugen , deren Zuverlässig-
ieit unbestritten ist, unserem Heron zugeschrieben wird. Der erste
Zeuge ist Proklus, der in seinen Erläuterungen zu Euklids Ele-
menten zwei Beweise als von Heron stammend anführt^), einen Be-
weis des Satzes, daß in jedem Dreiecke die Summe zweier Seiten
größer als die dritte Seite ist und einen solchen des Satzes, daß wenn
zwei Dreiecke in zwei Seiten stückweise übereinstimmen, in der
dritten aber nicht, der der dritten Seite gegenüberliegende Winkel in
dem Dreiecke der größere sein wird, in welchem die genannte Seite
die größere ist. Der zweite Zeuge ist AI Nairizi^, der gleichfalls
Erläuterungen zu Euklids Elementen verfaßte und darin vielfach auf
Heron sich beruft. Diese Berufung findet allerdings für die beiden
durch Proklus tiberlieferten Beweise nicht statt*), deren ersten AI
Nairizi ohne Urhebemamen wiedergibt und den zweiten mit der Be-
merkung, er wisse nicht, von wem der Beweis herrühre, aber dadurch
verlieren die anderen Zitate nicht an Wert. Es geht aus dem Mangel
an Übereinstimmung, der sich vielfach auch darin äußert, daß Proklus
keinen Urheber nennt, wo der Araber sich auf Heron beruft, nur
hervor, daß beide nicht nach der gleichen Vorlage arbeiteten. Wir
heben nur weniges hervor. Nach dem Berichte des AI Nairizi*) er-
kannte Heron, daß bei dem Euklidischen Beweise des Pythagoräischen
Lehrsatzes die Senkrechte aus der Spitze des rechten Winkels auf die
Hypotenuse und die Verbindungsgeraden der beiden anderen Dreiecks-
spitzen mit den gegenüberliegenden Eckpunkten der über den beiden
Katheten nach außen gezeichneten Quadrate einen gemeinsamen
Durchschnittspunkt besitzen. Heron bewies^), daß von jedem außer-
halb eines Kreises gelegenen Punkte zwei gleiche Berührungslinien
an den Kreis gezogen werden können. Heron dehnte den Satz, daß
der Peripheriewinkel die Hälfte des Zentriwinkels auf gleichem Bogen
sei, auf stumpfe Peripherie winkel aus*) und bewies mit dessen Hilfe
den Satz, daß im Sehnenviereck je zwei einander gegenüberliegende
Winkel sich zu zwei Rechten ergänzen. Heron hat den Satz aus-
^) Proklus ed. Friedlein pag. 323 und 346. *) Anaritii in deeem libros
priores Elementorum Euclidis ed. Max Curtze. Leipzig 1899. ^ Anaritius
pag. 58 und 62. *) Ebenda pag. 78. ^) Ebenda pag. 130. *) Ebenda pag. 130
bis 188.
Heron von Aleza&dria. (Fortsetzung.) 387
gesprochen^); jedes regelmäßige Vieleck besitze einen von allen Eck-
punkten gleich weit entfernten Mittelpunkt^ der zugleich Mittelpunkt
des Umkreises und des Innenkreises des Vielecks sei. Heron be-
hauptet ^); die Halbierende eines Winkels eines regelmäßigen Vielecks
halbiere zugleich auch den gegenüberliegenden Winkel, und alle diese
Winkelhalbierenden schnitten sich im gleichen Punkte. Die damit
ausgesprochene Abpaarung der Winkel zeigt, daß Heron ausschließ-
lich Yom 2n-Eck redete, und diese Einschränkung bestätigt sich
mittelbar dadurch, daß gleich darauf) der Satz Euklids erwähnt ist,
im regelmäßigen 2n 4- 1 Eck^) ständen die Winkelhalbierenden auf
den gegenüberliegenden Seiten senkrecht, und auch diese Winkel-
halbierenden besäßen einen gemeinschaftlichen Durchschnittspunkt.
Wo freilich dieser Euklidische Satz sich vorfand ist heute unbekannt.
Ebensowenig weiß man, wo Euklid, wo Archimed eine Definition
von homogenen Größen gegeben haben mögen» welche Heron
dahin erläuterte^), homogene Größen seien Größen derselben Gattung,
von denen die eine durch Vervielfachung über die andere hinaus-
wachsen könne, während z. B. eine Strecke selbst ins Unendliche ver-
vielfacht niemals größer als eine Fläche werden könne. Ganz be-
sonders möchten wir aber hervorheben, daß Heron die Verfahren
kannte, welche in lateinischer Übersetzung dissolutio und compositio
heißen^), und welche wir Klammerauflösung und Absonderung
nennen, d. h. daß er wußte, man sei berechtigt 6(2 + 3-f 5) =« 6 • 10
= 60 und umgekehrt 10 • 10 = 10 • 3 + 10 • 7 = 30 + 70 zu setzen.
Nächst diesen Sätzen erwähnen wir Definitionen, welche ein
zusammenhängendes Ganzes darstellend als heronisch überliefert sind,
allerdings aber von manchen Schriftstellern^) für ganz unecht, von
anderen, darunter von uns selbst, für überarbeitet und mehrfach ent-
stellt gehalten werden. Deren Kern aber sehen wir keinen Grund
Heron als Sammler, wenn nicht als Urheber, abzusprechen.
Eine hochwichtige Frage geht nun dahin, ob ursprünglich die
hier erwähnten Sätze und Definitionen vereinigt oder getrennt vor-
handen waren, und wenn vereinigt, in welcher Gestalt? Es dürfte
wohl am meisten für sich haben die Vermutung auszusprechen,
Heron habe einen Kommentar zu Euklids Elementen verfaßt,
und in diesem seien auch diejenigen geometrischen Definitionen
enthalten gewesen, welche Heron statt der von Euklid gegebenen an
die Spitze der Geometrie gestellt wünschte. Wir wollen nicht ver-
hehlen, daß dieser Vermutung Bedenken im Wege stehen, daß man
') AnaritiuB pag. 162. *) Ebenda pag. 164. ») Ebenda pag. 166. *) Fi-
gurarum quarum laterum numerus impar. ^) Anaritius pag. 162. ^ Ebenda
pag. 89. ') Priedlein im Buüetino Boncompagni IV, 98—121 (1871).
2b*
388 19. Kapitel.
Zweifel hegen kann^ ob schon im ersten yorchristlichen Jahrhunderte,
an welchem wir, wie im vorigen Kapitel ausführlich begründet wurde,
als Herons Lebenszeit festhalten, eine kommentierende Tätigkeit unter
den Mathematikern Platz gegriffen hatte, daß man bei Proklus bei
Erklärung der euklidischen Definitionen nirgend einer Erwähnung
Herons begegnet, die doch, da sich Proklus für einige wenige Be-
weise auf unseren Schriftsteller bezieht, mit einiger Wahrscheinlich-
keit zu erwarten gewesen wäre, aber wir ziehen trotz dieser Schwierig-
keiten die ausgesprochene Vermutung einer anderen vor, zu welcher
der Keim in Herons Definitionen selbst enthalten liegt. In einer
Art von Widmung an Dionysius, welche der Verfasser der Defini-
tionen diesen vorausschickt, heißt es nämlich, er wolle eine wissen-
schaftliche Darstellung der geometrischen Elemente^) geben, und
später ist in ganz ähnlichen Worten von einer Einleitung in die
arithmetischen Elemente *) die Bede. Man wäre dadurch versucht,
an zwei mehr oder weniger selbständige Schriften mit diesen Titeln
zu denken. Allein diese Ausdrücke lassen sich auch auf Kommen-
tare zu den geometrischen und zu den arithmetischen Büchern Euklids
deuten, so daß wir diese letztere Auffassung der gebrauchten Worte
vorziehen.
Unter den Definitionen wollen wir eine besonders hervorheben,
die der Parallellinien^), in welcher es heißt, sie besäßen alle Senk-
rechten, welche von irgend einem Punkte der einen Parallelen auf
die andere gefällt werden, von gleicher Länge. Eben diese Definition
in die Worte gekleidet, Parallellinien hätten gleichen Abstand von-
einander, erscheint nämlich auch in einer als Geometrie Herons be-
zeichneten Schrift*), von der wir gleich zu reden haben werden, er-
scheint femer bei Proklus^), wo sie dem Posidonius, also jedenfalls
dem Posidonius von Rhodos, zugeschrieben wird, der ja auch in
Herons Mechanik vorkommt (S. 365), lauter Umstände, die einander
gegenseitig als Stütze zu dienen geeignet sind.
Wir gelangen weiter zu den Schriften, welche vor der Auffindung
der Vermessungslehre als Hauptquellen für die Kenntnis heronischer
Mathematik galten, und von welchen wir (S. 368) erörterten, in
welchem Sinne wir sie alle als echt, alle zugleich ab unecht be-
zeichnen möchten. Wir werden für sie mitunter den Ausdruck: hero-
nische Sammlungen gebrauchen.
') Heron (ed. Hultsch) pag. 7 lin. 1: r^g yBwiiBVQtxfjs etoixsuhaBas rsxvo-
Xo^lieva. ') Ebenda pag. 34 lin. 12—13 und pag. 38 lin 1—2: iv tolg tcqo ti)g
&QiS'ii8TL%^g öToix^uaasfog. ') Ebenda pag. 22 lin. 15 — 17. *) Ebenda pag. 44
lin. 12—14. ■) ProkluB ed. Friedlein pag. 176 lin. 6— 10. Vgl. auchL. Majer,
Proklos über die Petita und Axiomata bei Euklid S. 18 Note 3. Tübingen 1875.
Heron von Alezandria. (ForUetzang.) 389
Die erste ist das Buch der Geometrie. Geometrische Defini-
tionen, zwischen welche eine historische Notiz über den Ursprung
der Geometrie mit Hinblick auf den jährlichen Austritt des Nils ein-
geschaltet ist, und eine Maßtabelle eröffiien dasselbe. Nach diesen
kommt die Berechnung von Quadraten und Rechtecken, deren Fläche
und deren Diagonale gesucht wird. Das rechtwinklige Dreieck folgt,
auf dieses die aneinanderhängenden Dreiecke, das gleichseitige, das
gleichschenklige, das beliebige Dreieck. Beim rechtwinkligen Drei-
ecke werden die Methoden des Pythagoras und des Piaton zur Auf-
findung rationaler Seitenlängen gelehrt; beim beliebigen Dreiecke
wird die Senkrechte von der Spitze auf die Grundlinie gefällt und
unterschieden, ob diese Senkrechte die Basis selbst trifiPt und Ab-
schnitte auf ihr erzeugt, oder ob sie jenseits der Basis eintrefiPend
eine Überragung her v^or bringt; es wird aber auch die heronische
Formel unmittelbar angewandt, welche ohne Durchgang durch die
Berechnung des Abschnittes, beziehungsweise der Überragung und der
Höhe die Dreiecksfläche sofort aus den drei Seiten ableitet. Nun
folgt die Rückkehr zum Vierecke und zu den mannigfaltigsten Zer-
legungen einer Figur durch Hilfslinien. Quadrate in gleichschenklige
Dreiecke eingezeichnet, Rhomben oder verschobene Quadrate, Recht-
ecke, Parallelogramme, rechtwinklige Trapeze, gleichschenklige Tra-
peze, beliebige Vierecke werden so der Berechnung unterzogen. Nach
den geradlinig begrenzten Figuren wendet Heron sich zum Kreise
und zu dessen Teilen. Durchmesser, Umfang, Inhalt des Kreises
werden gegenseitig auseinander abgeleitet. Die Fläche eines Kreis-
abschnittes und die Länge seines Bogens werden aus der Sehne und
Höhe des Abschnittes ermittelt, und auch der Ring zwischen zwei
konzentrischen Kreisen wird berechnet. Vom Kreise kehrt der Ver-
fasser zu den regelmäßigen Vielecken zurück, indem er Formeln gibt,
welche die Flächen dieser Vielecke vom Fünfecke bis zum Zwölf ecke
aus der Seitenlänge finden lehren. Damit dürfte der richtige Text
im ganzen abschließen, indem das noch folgende Stück (fünf Seiten
der Druckausgabe füllend) ziemlich unzweifelhaft als unecht sich er-
weist. Dort ist nämlich eine dem Patrikius, also einem sehr späten
Schriftsteller, angehörende Vorschrift, dort die Wiederholung der
Vorschriften für die Vielecksberechnung, die Wiederholung der ge-
schichtlichen Bemerkung über den Ursprung der Geometrie mit kaum
erwähnenswerten Varianten, dort am Schlüsse wieder eine Maßtabelle
zu finden.
Eine andere Schrift heißt Geodäsie. Auch sie beginnt mit
Definitionen, mit einer historischen Notiz, mit Maßvergleichungen;
auch sie berechnet den Flächeninhalt von Quadraten und Rechtecken,
390 19. Kapitel.
bevor sie zum Dreiecke sich wendet, und zwar wieder zum recht-
winkligen Dreiecke, welches nach Pythagoras und Piaton aus ganz-
zahligen Seiten bestehen kann, zu den aneinanderhängenden Drei-
ecken, zu dem gleichseitigen, zu dem beliebigen Dreiecke, bei welchem
die heronische Formel den Schluß bildet.
Die sogenannte Stereometrie ist begreiflicherweise wesentlich
anderen Inhaltes. Hier sind es Rauminhalte von Körpern und Körper-
oberflächen, welche den Gegenstand der Berechnungen bilden. Die
Kugel, der Kegel, der abgestumpfte Kegel, der in langgestreckter
Form bald Obelisk, bald Säule heißt, der Zylinder geben Beispiele,
bevor zu den allseitig eben abgegrenzten Körpern: Würfel, Parallel-
epipedon, Keil übergegangen wird, als dessen nicht ganz deutlich be-
schriebene Sonderfälle wohl der Huf, der Mäuseschwanz, der Ziegel
zu betrachten sind. Fast eben diese, aber auch andere eben begrenzte
Körper erscheinen sofort noch einmal als Pyramiden mit quadra-
tischer, mit rechteckiger, gleichseitig dreieckiger, mit rechtwinklig
dreieckiger Grundfläche, jede derselben sowohl ganz als abgestumpft
der Untersuchung unterworfen. Dann kommen mancherlei der Praxis,
aber nicht der eigentlichen Stereometrie angehörige Körperformen
an die Reihe. Von dem Inhalt einer Muschel, einer Schale, von dem
Umfange eines Amphitheaters und von der Menschenmenge, welche
ein Zuschauerraum fassen kann unter der Annahme, daß die Bänke
sich nach dem Gesetz einer arithmetischen Reihe verjüngen, von
Speisesälen und Badezimmern, von Brunnen, von Kufen und Butten,
von TransportschiflFen ist die Rede, und wo man bei der Berechnung
über die aus den Namen nicht mit genügender Klarheit hervorgehende
Gestalt sich Rats erholen will, läßt jene uns meistenteils erst recht
im Stiche.
Eine zweite Sammlung mit der Überschrift als Stereometrie
und dem Yerfassernamen Herons gibt auch nur meist zweifelhafte
Ergebnisse, bald mit denen der ersten Sammlung übereinstimmend,
bald ihnen widersprechend. Die Reihenfolge ist dahin verändert, daß
hier rätselhafte Körperformen, die selbst nicht durchweg die gleichen
wie die der ersten Sammlung sind, die Reihe eröflFnen. Zwischen-
drein ist die Messung der Höhe einer Säule mittels ihres Schattens
angegeben, das erstmalige Auftreten dieser von Thaies (S. 138) her-
rührenden Methode in einem geometrischen Werke. Die Schatten
der Säule sowie eines seiner Länge nach bekannten Stabes werden
gemessen, und dann wird die Proportion Stabschatten : Säulenschatten
= Stab : Säule in Anwendung gebracht. Nun folgen erst Pyramiden,
und zwar solche auf rechtwinklig dreieckiger oder gleichseitig drei-
eckiger Grundlage und solche, deren Grundflächen regelmäßige Fünf-
Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 391
ecke^ Sechsecke und Achtecke sind. Nach einer unYerständlichen
StnfeDpyramide kommt der Satz^ daß jede Pyramide der dritte Teil
des Prisma von gleicher Grundfläche und Höhe ist^ worauf mit der
Berechnung einer abgestumpften Pyramide auf rechteckiger Grundfläche
unter dem Namen Altarstufe und mit der gegenseitigen Multipli-
kation von Langenmaßen zu Flächenmaßen diese Stereometrie ab-
schließt.
Ausmessungen haben wir den Titel (lergrlöBig einer weiteren
Schrift heronischen Namens übersetzt^ welche ungleich den vorigen,
denen doch annähernd gleichartige Probleme zum Gegenstande dienen,
bald Flächen, bald Körperinhalte durcheinander gewürfelt in zwei-
maliger Abwechslung darbietet. Zuerst erscheinen nämlich Körper,
dann Flächen, dann wieder Körper, zuletzt Flächen. Wir heben aus
der wirren Sammlung nur hervor, daß auch hier wieder Körper
eigener Art auftreten, zu deren Verständnis noch gar manches fehlt,
und daß zwischen die Inhaltsberechnungen auch Brunnenaufgaben ein-
geschaltet sind, d. h. Aufgaben, in welchen die Zeit gesucht wird,
binnen welcher eine Zisterne durch mehrere Röhren gefUlt werden
kann, wenn man weiß, wie lange die Füllung durch jede einzelne
Eöhre dauern würde.
Die letzte heronische Sammlung, das Buch des Landbaues,
yarjxovixbv ßißklov, geht aus von Definitionen. Ihnen folgen Flächen-
ausmessungen mancherlei Vierecke und Dreiecke, wobei die Vierecke
den Dreiecken vorangehen, sowie rechnende Auflösung von Aufgaben,
in welchen Kreise vorkommen. Nach Ausrechnung der Pyramiden
auf quadratischer Grundfläche kehrt die Sammlung zu ebenen Auf-
gaben, zu den Durchmessern der dem regelmäßigen Fünfecke und
Sechsecke umschriebenen Kreise zurück. Wieder erscheinen Auf-
gaben, welche, dem Gegenstande nach unerwartet, Einschaltungen
sein könnten, und die sich auf die Auffindung von Rechtecken be-
ziehen, deren Umfange sowie deren Inhalt in gegebenem Zahlenver-
hältnisse stehen sollen, Aufgaben, welche also eigentlich zahlen-
theoretischer Natur freilich in planimetrischer Einkleidung sind, so
daß die Unterbrechung des Gedankenganges nicht allzu auffällig und
die Rückkehr zu wirklich geometrischen Aufgaben vom Rhombus,
vom Rechtecke, von regelmäßigen Vielecken, von Kreisen eine leichte
ist. Nur einmal gegen das Ende der Sammlung kehren stereome-
trische Aufgaben wieder, welche aber auf Fässer und Fruchtmaße
eigentümlicher Gestalt bezüglich dem Buche des Landbaues nicht
ganz unangemessen erscheinen. Den Schluß bilden Vergleichungen
zwischen Kubikfußen und Fruchtmaßen.
Das ist in dürftiger, keineswegs erschöpfender, aber eben deshalb
392 19. Kapitel.
vielleicbt übersichtlicher Zusammenstellung die Reihenfolge der Gegen-
stände^ welche in den verschiedenen heronischen Sammlungen be-
handelt sind. Die Geometrie und die Geodäsie lehnen sich^ insbeson-
dere die Geometrie, eng an den Stoff des ersten Buches der Ver--
messungslehre, die beiden Bücher der Stereometrie an den von dessen
zweitem Buch^ die Ausmessungen und das Buch des Landbaues an
den der beiden ersten Bücher. Von dem dritten Buche der Ver-
messungslehre ist nirgend eine Spur zu finden. Wenn wir eine An-
lehnung an den Stoff der beiden ersten Bücher der Vermessungslehre
behaupten, so will dieses keineswegs sagen, nur das dort Gelehrte
und alles dort Gelehrte kehre wieder, vielmehr sind auch Dinge be-
handelt, deren wir in unserer bisherigen Darstellung keine Erwähnung
zu tun hatten weder als wir von der Vermessimgslehre, noch als wir
von der Abhandlung über die Dioptra sprachen.
Sollen wir aus diesen Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten die
Folgerung ziehen, sämtliche soeben unter besonderen Titeln genannten
Sammlungen seien nur späte byzantinische Überarbeitungen der Ver-
messungslehre ^)? Überarbeitungen müssen uns allerdings vorliegen,
denn die Ähnlichkeit mit dem Stoffe der Vermessungslehre ist zu
groß, um von ihr durchaus unabhängige Schriften anzunehmen, und
die Unähnlichkeit wieder zu groß, um an bei einer bloßen Abschrift
mögliche Veränderungen zu denken. Aber die folgerichtige Dar-
stellung, das ungezwungene Sicheinordnen des Neuen in das Alte
nötigen uns nach unsefem persönlichen Gefühle an einen älteren und
ebenbürtigeren Bearbeiter Herons zu denken als die byzantinische Zeit
erzeugt hat. Jedenfalls möchten wir aus der erwähnten Vollwertig-
keit der Einschaltungen den Schluß ziehen, der Bearbeiter habe Hero-
nisches in Heronisches eingeschaltet.
Woher dieses stammte? Wir wissen es vorläufig noch nicht.
Wir wissen nur, daß an zwei nicht allzuweit voneinander entfernten
Stellen der Geometrie*) von einem anderen Buche Herons — iv
äkkcD ßißUm "Hgcivog — die Bede ist, und dieses andere Buch, mög-
licherweise die Vermessungslehre, wird der Bearbeiter vor sich ge-
habt haben neben seiner Hauptvorlage, die vielleicht, wie wir schüch-
tern und zweifelnd hinzusetzen, aus einer neben der Vermessungs-
lehre zu gebrauchenden Aufgabensammlung bestand. Für die anderen
heronischen Sammlungen hat man wahrscheinlich andere Bearbeiter
anzunehmen von geringerer mathematischer Befähigung, denen aber
>} Heiberg, Mathematik, Mechanik und Astronomie (in Eroll, Die Alter-
tumswissenschaft) S. 131 unten. ') Heron (ed. Hui t seh) pag. 131 lin. 14 und
pag. 134 lin. 8 und 15.
Heron von Alexandria. (Fortsetzting.) 393
doch alte Vorlagen zu Gebote standen^ vielleicht noch solche^ welche
älter als Heron waren.
Wir müssen rechtfertigen^ warum wir in der Yermessungslehre
ifiöglicherweise das andere Buch Herons vermuten. Wir berufen uns
auf unseren Auszug aus der Yermessungslehre (S. 376). Dort sagten
wir, Heron lehre Fr^^-^a^ mit der Zusatzbemerktmg, dieser Wert
hänge von "j/ö = — ab; werde ein genauerer Wert von Yb in Rechnung
gezogen, so könne man auch einen genaueren Wert von JPg ermitteln.
Für JPg aber ist in der Vermessungslehre JPg = 6 • ^ a^* angegeben,
weil das Sechseck das Sechsfache des über a^ beschriebenen gleich-
seit^en Dreiecks sei. In der Geometrie wird in erster Linie F^ = - - a^
gesetzt, während das andere Buch JPg = -- a^^ vorschreibe, und für
13
das Sechseck lehrt die Geometrie jPg»-7-^6^' während das andere
-ö + tk) rechnen^). Dieser letztere
Wert ist ja an und für sich genau der gleiche wie der erste, aber
er läßt die Versechsfachung deutlich hervortreten, die im ersten Werte
verhüllt ist. Die andere Stelle, wo von dem anderen Buche Herons
die Rede ist^), ist weniger beweiskräftig, denn sie benutzt zur Kreis-
22
messung ^ = -=-, während der gleiche Wert auch an solchen Stellen
der Geometrie in Anwendung tritt, welche sich nicht auf das andere
Buch berufen.
Für beweiskräftig halten wir dagegen die Verschiedenheiten der
Geometrie von der Vermessungslehre. Die Geometrie beginnt mit
Definitionen, welche beiläufig bemerkt der Einführung in die Geo-
metrie') entnommen sein wollen und mit dem Buche der Definitionen,
von welchem am Anfange dieses Kapitels die Rede war, nicht überein-
stimmen. Daim folgen Maßtabellen*). Von beidem ist in der Ver-
messungslehre keine Spur zu finden. Die Vermessungslehre gibt Be-
weise für die anzuwendenden Formeln, die Geometrie begnügt sich
mit deutlich vollzogenen Rechnungen, aus welchen der Leser sich
erst die benutzte, aber nicht bewiesene Formel herausschälen muß.
Die Geometrie beginnt die Anweisung, wie man rechnen solle, mit
den Worten^): noCsi ovrag, mache es so, in der Vermessungslehre
^) Heron (ed. Hultsch) pag. 184. *) Ebenda pag. 131 ggog nv^Xov ivgs-
&bIs iv &lX<p ßißUß) ro'D '^JfpcDvoff. ') Ebenda pag. 44 slgaytoyal t&v yBtoitstQov^
tiivcDv. *) Ebenda pag. 47—49. ') Ebenda pag. 61 Un. 28—52 lin. 1 und an
vielen anderen Stellen.
394 Id. Kapitel.
sind für den gleichen Zweck zwei Redensarten in Gebrauch: fi dh
(isdodög iöXLV axrcq^ folgendes ist die Methode, und övvxeBif^östM
iaiokovdmg tf} ävalvöei omag, der Analyse gemäß wird so gerechnet,
uns will scheinen^ daß diese Verschiedenheiten ausreichen, um die
Behauptung zu begründen^ daß wer die Geometrie zusammenstellte;
die VermessuDgslehre unmöglich als Hauptvorlage^ sondern nur ge-
legentlich als ErgänzungSYorlage benutzt haben kann^ und das war
eben mit dem sogenannten ^^anderen Buche Herons^ der Fall, war der
Fall in besonders nachweisbaren Stellen^ und mithin glauben wir
jetzt den Beweis geradezu geliefert^ daß die Yermessungslehre das
andere Buch war.
Und die Hauptquelle der Geometrie? Wir werden jetzt wohl
etwas weniger schüchtern annehmen dürfen ^ ös sei eine Aufgaben-
sammlung gewesen^ werden jedenfalls behaupten können, die Haupt-
vorläge habe eine täuschende Ähnlichkeit mit dem Rechenbuche des
Ahm es besessen, das konservative Ägypten habe die alte Form auf-
bewahrt; wenn es derselben auch zum Teil einen neuen Inhalt gab.
Wir haben soeben das xout ovrcog der Geometrie erwähnt, Ahmes
sagte: mache wie geschieht (S. 60). Wir haben die dem Leser auf-
erlegte Pflicht die Rechnungsvorschrift den Rechnungen zu entnehmen
bei der Geometrie kennen gelernt, Ahmes nötigte seine Leser zu der
gleichen Gedankenarbeit.
Merit heißt bei Ahmes die obere Linie einer gezeichneten Figur
(S. 93); Scheitellinie, xogvfprly nennt sie Heron und definiert geradezu,
Scheitellinie sei die oberhalb der Grundlinie hingelegte Gerade^).
Das gleichschenklige Paralleltrapez war seit Ahmes bis zu den Edfu-
Inschriften eine von den Ägyptern bevorzugte Figur (S. 96 und 108);
Heron widmete derselben Figur in der Geometrie neun aufeinander-
folgende EapiteP). Ahmes zerlegte Figuren durch Hilfslinien in
Figuren einfacherer Natur, wie es scheint, wenn auch die genaue
Übersetzung der betreffenden Aufgaben noch nicht möglich ist; die
Tempelvorsteher von Edfu übten dieselbe Zerlegung bei Berechnung
ihrer Felder; Heron bedient sich der Zerlegung durch Hilfslinien zur
Messung von unregelmäßig begrenzten Grundstücken in der Abband-
lung von der Dioptra, löst gleicherweise verschiedentliche planimetrische
Aufgaben in der Geometrie. Bei den Ägyptern heißt das Wort Qa,
dessen Hieroglyphe ein die Arme in die Höhe streckendes Männchen
ist, sowohl Höhe als allgemeiner die größte Ausdehnung eines Raum-
') Heron, Oeometria 8 (ed. HnltBch) pag. 44 xoifvtpi} Si ictiv ij inl rfi
ßdiSH i7tixi»ByAv7i tiy^Bla, *) Heron, Geoineiria 72—80 (ed. Hultsch) pag. 103
bis 108.
Heron von Alexandria, (Fortsetzung.) 395
gebildes (8. 98); genau dasselbe gilt für das Wort lifjxog der Ale-
xandriner^); bei Heron steht sodann der größeren Höhenabmessung
die Breite, jcXdrogy als geringfügigere Ausdehnung gegenüber, wie be-
sonders deutlich aus einer Stelle seiner Geometrie hervorgeht, wo
nach Einzeichnung zerlegender Hilfslinien in eine Figur, ohne daß
eine Drehung vorgenommen wäre, plötzlich Höhe heißt, was in der
ungeteilten Figur Breite war^), oflFenbar nur deswegen, weil durch die
Teilung die wirkliche Höhe abnahm, so daß sie geringer als die un-
verändert gebliebene Breite wurde. Bei Ahmes war von Flächen zu-
erst das Quadrat, dann das Dreieck, dann das aus dem Dreiecke
durch Abstumpfung gewonnene Trapez zur Ausmessung gebracht
(S. 96); in den Edfuinschriften ergab sich eine Veränderung dahin,
daß das Dreieck als Trapez mit einer verschwindenden Seite aufgefaßt
wurde (S. 111); Heron bleibt dem Beispiele des Ahmes getreuer als
selbst die priesterlichen Landsleute: bei ihm geht, wie wir bei flüch-
tiger Schilderung der Reihenfolge der in seinen Schriften behandelten
Gegenstände wiederholt bemerken mußten, die Flächenausmessung des
Quadrats, denmächst auch des Rechteckes voraus; ihnen folgt das
Dreieck in seinen verschiedenen Formen, und nach diesem kehrt die
Betrachtung zum Trapeze und zu anderen Vierecken zurück, dieselben
zwar nicht als abgestumpfte Dreiecke untersuchend, aber Verwand-
lungen und Teilungen durch Hilfslinien mannigfach vornehmend, wie
wir schon betont haben. Ahmes hat, worauf wir wiederholt gleich-
falls aufmerksam machen, Maßvergleichungen (S. 90), Heron des-
gleichen. Ahmes bedient sich ausschließlich der Stammbrüche, zu
2
welchen auch y gezählt wird (S. 61); Heron verfährt vorzugsweise
ebenso, wenn er auch imstande ist, Brüche mit beliebigem Zähler
und Nenner in Rechnung zu bringen, ohne sie vorher in eine Summe
von Stammbrüchen zu zerlegen. Die Hauaufgabe Nr. 28. des Ahmes
2 1
(S. 75) hat den Wortlaut „y hinzu, - hinweg bleibt 10 übrig'*; wir
erklärten sie durch (x + y^) "~ "a (^ + y^) "^ 1^5 ^*^ vergleiche
damit etwa die Art, wie in den Ausmessungen ein Kreisbogen aus
Sehne imd Höhe desselben berechnet wird^): „Es sei ein Abschnitt,
und er habe die Grundlinie von 40 Fuß, die Höhe von 10 Fuß;
seinen umfang zu finden. Mache es so. Füge immer Durchmesser^)
') In der Geographie des Ptolemäus I, 6 (ed. Halma) pag. 17 heißt es
ausdrücklich xad'6Xov ^kv rf iitl^ovi r&v dirccatdesav Ttgoadntopbsv rh n^xog.
*) Heron, Geometria 47, 4S (ed. Hnltsch) pag. 8S. ') Heron, Mensimie 33
lidtgriö^s krigov ttiriiucTos (ed. Hultsch) pag. 199 — 200. *) Soll heißen:
Grandlinie.
396 Id. Kapitel.
und Höhe zusammen. Es entstehen 50 Faß. Nimm allgemein davon
~ weg. Es ist ISy. Rest STy. Zu diesen füge allgemein -j-
hinzu. Es ist 9-r--^. Setze zusammen. Es sind Fuße 46— -p-^.
So viel mißt der Umfang des Abschnittes. Wir haben aber ein
Viertel weggenommen und ein Viertel hinzugefügt, weil ein Viertel
der Teil ist der Höhe von der Grundlinie.^' Als Gleichung übersieht
sich diese Vorschrift noch deutlicher in ihrer Ähnlichkeit zu der
Ausdrucksweise des Ahmes. Sie lautet
JB=[(s + Ä)-A(s + Ä)] + A[(s + Ä)-A(s + A)],
wenn $ die Sehne, h die Höhe, B die Bogenlänge des betreffenden
Abschnittes bedeutet. An und für sich ist die Formel bis zur ün-
brauchbarkeit ungenau. Sie geht bei s = 2r, Ä = r in B^ ~ über,
welches, da der Halbkreis die Länge nr besitzt, die Annahme jc = 3,25
in sich schließt, aber es kam uns bei Hervorhebung dieser Stelle nur
darauf an, die Formverwandtschaft der heronischen Sammlungen, hier
der „Ausmessungen^^, mit dem Rechenbuche des Ahmes recht deut-
lich hervortreten zu lassen.
Alle diese Ähnlichkeiten vereinigt dürften jeglichen Zweifel an
einer unmittelbaren Abhängigkeit Herons von altägyptischen Form-
gewohnheiten vernichten. Was wir früher (S. 276) schon ankündigten,
hat sich bestätigt: die Form der arithmetisch-geometrischen Beispiels-
sammlung, eine in sich abgeschlossene von der anderer Werke sich
wesentlich unterscheidende Form ist durch und durch ungriechisch,
ist altägyptisch, und damit gewinnt die andere Vermutung erneuerte
Wahrscheinlichkeit, es dürfte mit der Form des theoretisch-geometri-
schen Lehrbuches, mit der Form der Elemente, sich ganz ebenso
verhalten.
Ein anderes freilich gilt für den Inhalt der heronischen Samm-
lungen, welcher näher in Erwägung gezogen neben mancher über-
raschenden Ähnlichkeit auch manche bei den Fortschritten, welche
die Geometrie gemacht hatte, ziemlich selbstverständliche Abweichungen
von dem ägyptischen Verfahren offenbart. Von überraschender Ähn-
lichkeit ist die Anwendung der beiden Formeln -*-J-^ X ^ ^^^
^'^•X^^^ (S. 111) zur Auffindung der Fläche eines Dreiecks
oder Vierecks, welche wir in den Ausmessungen und in dem Buche
des Landbaues wiederfinden^). Daß Heron sie gelehrt haben sollte,
*) Die Dreiecksformel . in den Metisurae (ed. Hultßch) pag. 207 lin. 1 — 6;
Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 397
war uns früher so unglaublich^ daß wir dieselben für Einschiebungen
eines Eompilators hielten. Man hat uns entgegnet ^)^ es sei für
Heron umgekehrt geradezu unmöglich gewesen , in Ägypten in einer
vollständigen Sammlung von geometrischen Bechnungsverfahren jene
Formeln wegzulassen, und wir gestehen zu^ daß diese Umkehrung
der geschichtlichen Wahrheit wohl näher kommen dürfte als unsere
erste Meinung. Wir neigen nunmehr selbst der Auffassung zu, auch
diese theoretisch zwar unhaltbaren, praktisch aber mitunter ganz er-
traglichen Naherungsverfahren habe Heron jieben den theoretisch
richtigen Formeln gelehrt, die meistens nicht unmittelbar zum Ziele,
d. h. zur Kenntnis der verlangten Flachenräume führten, sondern
vorher die Berechnung von Hilfsstrecken, als Höhen und dergleichen
nötig machten. Vielleicht mag sogar die vorzugsweise sogenannte
heronische Dreiecksformel ihre Entdeckung dem Bedürfhisse verdankt
haben aus den drei Dreiecksseiten unmittelbar, aber richtiger als
mittels ^ 1" * X - die Dreiecksfläche zu gewinnen.
Einen wesentlichen Nachteil besaß freilich in den Augen des
handwerksmäßigen Feldmessers die heronische Formel gegenüber
der der Ägypter: sie verlangte eine Wurzelausziehung. Die Aus-
führung dieser Operation überschritt, wie wir wissen, die Höhe des
gemeinen Rechnens. Schriftstellerische Arbeiten wurden ihr gewidmet,
von deren einstigem Vorhandensein wir Kenntnis erlangt haben,
wenn sie auch selbst uns verloren sind. Um eine solche vielen Miß-
behagen erzeugende Rechnungsaufgabe herumzukommen war fast Not-
wendigkeit, wenn Praktiker mit der Ausführung betraut gewesen
wären, und so blieben Näherungswerte für häufig auftretende ein
für allemal berechnete Quadratwurzeln in Gebrauch. Wir haben in
■j/2 = y ein Beispiel kennen gelernt, welches (S. 223) vielleicht schon
zu Piatons Zeit in Übung war, wir haben auch )/3 = -r- und
/ — 26
yS ^j= hervorgehoben, auf dessen Entstehung wir (S. 373) vielleicht
einiges Licht werfen durften, wenn wir auch jetzt andere Entstehungs-
weisen der Werte von >/3 wahrscheinlicher machen können. "j/S = .
ist mittels der heronischen Methode zu gewinnen als "(/S == 2 -j- -^
die Viereckflformel in dem Lxber Geeponicw (ed. Hultsch) pag. 212 lin. 15
bis 21.
') Agrimensoren 43 und dagegen S. Günther in der Beilage zur Allge-
meinen Zeitung Nr. 81, vom 21. März 1876.
398 19. Kapiiel.
= 2 — - = -T- und yo = ^^ mittels des doppelten falschen Ansatzes.
7 / 7 \^ 1
Wenn nämlich x^ « -r^f ^2 — ^7 ^^ i^* ^1 "^ ("4") ~" ^ ^ i6> ^ "^ (^)*
J. 1-2.1 !?
- 3 = 1 und 5L^t^:L^ = i 1! = -S- - S- AUe dieseNähe-
d^ — a, 1 16 16
"" 16 16
rangswerte hat Heron anzuwenden nicht verschmäht, er, der doch
unter die Schriftsteller zählt, die üher Ausziehung der Quadratwurzeln
schrieben.
Den Näherungswert 7/2 = - glauben wir im Buche des Land-
baues an zwei verschiedenen Stellen zu erkennen^). Die erstere Stelle
behandelt das rechtwinklige Dreieck von den Seiten 30, 40, 50, bei
welchem 50 «= l/30* + 40^ sei; aber, heißt es weiter, es ist auch
50 = (30 + 40) • 5 • Y' ^^ ™*^ diese Ausrechnung nicht für baren
Unsinn nehmen, so kann man ihre Entstehung nur folgendermaßen
erklären. Im gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecke von den Seiten
c, c, A ist Ä = c • "|/2 «— i=: = ^"J"^ = (c + c) •5'Y. Daraus wurde
5
nun weiter geschlossen, daß auch bei ungleichen Katheten q und c^
gerechnet werden dürfe Ä =» (c^ + Cg) • 5 • y 7 ®^ Schluß, der uns bei
Leuten, die gewohnt waren, in ungerechtfertigter Weise arithmetische
Mittel ungleicher Seiten einer Figur in Rechnung zu ziehen, nicht
sonderlich auffallen kann. Die andere Stelle werden wir weiter unten
besprechen.
Die Anwendung, welche Heron von )/3 — - macht, tritt bei den
auf das gleichseitige Dreieck bezüglichen Aufgaben hervor. Die Höhe
desselben ist offenbar gleich dem Produkte der Seite in ^V^ ^^^
dafür setzt Heron — , sei es nun, daß er dafür — — . sei es, daß
er 1 "~ TÄ ~" 8Ö ^^^^ schreibt. Die Höhe des gleichseitigen Drei-
ecks, sagt er ausdrücklich^), sei 1 — ^^ — äö™^ ^®^ Seite, und die
andere Wertform ist in der wiederholt auftretenden Angabe enthalten,
die Fläche des gleichseitigen Dreiecks, mithin das Produkt der Seite
*) Heron, lAber Geeponicus 60 und 162—153 (ed. Hultsch) pag. 212,
lin. 28—80 und pag. 226, lin. 9—16. *) Heron, Oeometria 16 (ed. Hultsch)
pag. 68, lin. 26—28.
Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 399
in die halbe Höhe, sei —--^ vom Quadrat der Seite ^). Namentlich
o lU
die Form der letzteren Vorschrift kehrt bei Nachahmern Herons fort-
während wieder.
Für spätere Vergleichungen müssen wir auch die bei Heron vor-
kommenden aneinanderhängenden rechtwinkligen Dreiecke'),
xQCyava 6Q0oy6via 'fiv(0(ieva^)y uns merken, worunter mutmaßlich
zwei rechtwinklige Dreiecke mit rationalen Seiten gemeint sind, welche
eine Kathete gleich haben, und an dieser zusammenstoßen, so daß
die beiden anderen Katheten als gegenseitige geradlinige Fortsetzungen
voneinander erscheinen.
Bei der Dreiecksberechnung finden der Abschnitt, ibroro/ii^,
und die Überragung, ixßXrjOslöay häufige Anwendung. Bedeuten
b die Grundlinie, a, c die beiden anderen Seiten des Dreiecks und
a, B den Abschnitt, die Überragung von der einen oder der anderen
J«_L flt ^1
Richtung her an a anstoßend, so rechnet Heron « « "2b '
'- 26
Die Formeln für den Flächeninhalt regelmäßiger Vielecke sind
der Vermessungslehre und den heronischen Sammlungen*) gemeinsam,
wie wir (S. 393) genauer zu erörtern genötigt waren, und wir wissen,
daß wenigstens für das Neuneck und das Elfeck das Buch von den
Geraden im Kreise benutzt wurde, daß wir die ältesten auf uns ge-
kommenen trigonometrischen Formeln vor uns haben.
Außer dem Flächeninhalt des regelmäßigen necks war unter
allen Umständen der Halbmesser r, der Durchmesser d des um-
schriebenen Kreises von Wichtigkeit. Offenbar lehrte die Sehnentafel
durch einfaches Nachschlagen a^ « -^ und so wird der heronische
Ursprung der im Buch des Landbaues sich vorfindenden^) Formeln
a^^'— und d = — ^- , noch dazu durch einen Mangel an Folge-
richtigkeit bei n = 8 entstellt, indem es a^ » — heißt, ungemein ver-
dächtig. Nur bei n =» 6 ist «e ^ ^ ^ "^ ? *^®^ ^^® Ausdehnung dieses
einen zufälligen Ergebnisses zur allgemeinen Formel kann Heron
*) Heron, Geametria 14 und Geodaesia 13 (ed. Hultsch) pag. 68 und 147.
*) Heron, Geometria 13, 4 und Geodaesia 12, 4 (ed. Hultsch) pag. 68 und 147.
>) Das selten yorkommende i^vaiiivov ist von iv6to abzuleiten, welches selbst von
iv (eins) abstammt und vereinigen heißt. *) Heron, Geometria 102, Mensurae
61—63, Liber Geeponicw 76^77 und 172—179 (ed. Hultsch) pag. 134, 206,
218, 229. ») Heron, Liber Geeponicus 146—164 (ed. Hultsch) pag. 226-228.
400 Id. Kapitel.
unmöglicli verschuldet haben. Wir können die Überzeugung dieser
Unmöglichkeit selbst durch Erinnerung an zwei andere Angaben
Herons über das regelmäßige Achteck stützen^ welche ohnehin der
Erörterung unterzogen werden müssen.
In demselben Buche des Landbaues^ in welchem die falschen
Formeln sich breit machen^ ist nur wenige Seiten später die Regel
gegeben ^)^ man solle zur Konstruktion eines regelmäßigen Achtecks
sich eines Quadrates mit seinen Diagonalen bedienen. Die Hälfte
der Diagonale von jedem Endpunkte des Quadrates aus auf den
beiden in ihm zusammentreffenden Seiten des Quadrates aufgetragen
liefere 8 Punkte, welche miteinander verbunden das regelmäßige
Achteck geben.
Eine zweite Angabe über das regelmäßige Achteck findet sich
in der zweiten stereometrischen Sammlung ^^ wo bei Gelegenheit der
Ausmessung des Eörperinhaltes der Pyramide auf achteckiger Grund-
fläche von der Formel (jj - (]/2 fj)' + ^)' + (^J Gebrauch
gemacht wird.
Bevor wir den Zusammenhang dieser beiden richtigen Behaup-
tungen nachweisen, wollen wir zeigen, daß die letztere mittels eines
Rechenfehlers zu der einen abweichenden Achtecksformel Og =» j- im
Buche des Landbaues Anlaß gab. Setzen wir nämlich ^ 2 » .- ,
^\^) "^ vT ^y ^^^ ^* dieser Wert das Quadrat von y sein
soll, so ist ag = - J. Daraus kann aber sehr leicht irrtümlich
ag^^jzd entstanden sein. Gibt man uns dieses zu, so ist hier die
zweite Anwendung von )/2 = — bei Heron nachgewiesen, welche wir
(S. 398) angekündigt hatten.
Man könnte freilich einen Einwand erheben, indem man sagte
d = — ttg führe zu -Fg« -ag*, während doch Heron Fg = ---ag^
rechne. Allein dieser Widerspruch scheint uns geduldet werden zu
müssen. Wir geben nämlich zu bedenken, daß weder d noch ^g
genau richtig, sondern nur angenähert berechnet sind, und daß die
^) Heron, lAber Geepanicua 199 lUtgriaig dxtaymvov (ed. Hultsch) pag. 231.
^ Heron, Stereometrica H, 87 ^vqaiUda inl 6xtaymvov ßdösrng ßsßrixvtav it^tQ^öai
(ed. Hultsch) pag. l84 lin. 10—17.
Heron von Alezandria. (Fortsetzung.) 401
Einsetzung eines Näherungswertes in eine zweite Näherungsformel
nicht immer zu den gleichen Ergebnissen führt ^ wenn sie in einem
früheren oder in einem späteren Augenblicke erfolgt. Jedenfalls
weicht (?8 = ^ = 4,833333 von dem wahren Werte Cg« 4,828427
24
weniger ab als Cg = y = 4,800000.
Die erwähnte Konstruktion des Achtecks läßt sich mit Hilfe
einer Figur rechtfertigen, welche ein Einwohner Ägyptens oft zu
sehen in der Lage war, und deren Anblick einen Mathematiker um-
gekehrt auf die Erfindung jener beiden Sätze bringen konnte. Die
Figur, welche wir meinen, ist die (Fig. 14) zweier einander symmetrisch
durchsetzender Quadrate, ein, wie wir uns erinnern
(S. 108), häufiges Gewebemuster. Daß die Schnitt-
punkte dieser Quadratseiten ein regelmäßiges Acht-
eck in der Figur erscheinen lassen, ist augen-
scheinlich. Eines Beweises bedarf (Fig. 66) nur
die Behauptung aß ^ ßy. Der Achteckwinkel bei
y ist 135®, dessen Hälfte ayß, mithin 67y®. Femer Fig. ee.
ist der Winkel aßy die Hälfte einös rechten Winkels oder 46®, und
demnach yaß - 180® - 67y® - 45® = 67^® - ayß, folglich aß = ßy.
Wir werden im 26. Kapitel noch deutlicher erkennen, daß in der
Tat ein dem hier gegebenen Beweise sehr ähnlicher von unserer
Figur ausgehender Gedankengang zu dem heronischen Satze vom Acht-
ecke geführt haben muß. Wenn wir heronischen Satz sagen, so
meinen wir begreiflicherweise einen solchen, der uns am frühesten
bei Heron begegnet, ohne Herons Erfindung für die möglicherweise
noch ältere Wahrheit ausdrücklich in Anspruch zu nehmen.
Haben wir hier eine, wie sich herausstellte, wichtige Zwischen-
bemerkung aus der zweiten stereometrischen Sammlung in Betracht <
ziehen dürfen, so liefern uns die eigentlich stereometrischen Angaben
als solche im allgemeinen wenig Ausbeute. Es mag ja immerhin
sein, daß eine Vorschrift, welche in der Vermessungslehre (S. 379),
welche aber auch in den Ausmessungen sich findet^), eine nicht
regelmäßige Oberfläche, etwa die einer Bildsäule zu messen, indem
man Leinwand oder Papier herumwickle, welches dann ausgebreitet
als Maß diene, uralten Ursprung verrate, viel wird mit diesem Be-
wußtsein nicht gewonnen sein. Daß wir aber den stereometrischen
Aufgaben so wenig abgewinnen können, hat einen zweifachen Grund.
Bald steht ungenügendes Verständnis, welche Körper eigentlich ge-
*) Heron, Mensurae 46 (ed. Hnltsch) pag. 204.
Casttob, Oetohichte der Mathematik I. S. Aufl. 26
402 Id. Kapitel.
meint seien^ hindernd im Weg, bald die Tatsache, daß recht viele
Bechnnngsergebnisse, auch wo sie verständlich sind, sich als falsch
erweisen. Der Diorismus, ob eine Aufgabe wie die gestellte über-
haupt möglich sei, ist nicht selten versäumt. So ist z. B. eine ab-
gestumpfte Pyramide mit rechteckiger Grundfläche zur Ausrechnung
vorgelegt^), deren untere Fläche aus den Seiten 14 und 20, die obere
aus den Seiten 2 und 4 gebildet wird, während dieser Körper bei
mangelnder Ähnlichkeit der beiden Flächen gar nicht als Pyramiden-
stumpf aufgefaßt werden kann; der Körper gehört vielmehr zu den-
jenigen, welche deutsche Stereometer Obelisken zu nennen pflegen.
Die räumliche Ausmessung der Obelisken findet allerdings nach der
gleichen Formel statt, als hätte man es mit einem Pyramidenstumpf
zu tun, doch glauben wir kaum, daß Heron dieses schon wußte und
die Worte TtVQafilg TcökovQog ehovv iuiireXiig (abgestumpfte oder halb-
fertige Pyramide) in der Meinung gebrauchte, es sei hier von zweierlei
die Rede. Wer so weit zu gehen geneigt wäre, müßte jene Worte
übersetzen: von Pyramidenstumpfen und ihnen nur verwandten Ge-
staltungen.
Unmittelbar vor dieser Stelle ist eine andere^), bei welcher der
mangelnde Diorismus zum erstmaligen Erscheinen einer Quadrat-
wurzel aus einer negativen Zahl geführt hat,' welches in der
Geschichte der Mathematik hat nachgewiesen werden können. Der
Körperinhalt / einer abgestumpften Pyramide von quadratischer Grund-
fläche wird gesucht. Nennt man nun a^ die Seite des unteren
größeren, o^ die Seite des oberen kleineren Quadrates, k die Kante
des Pyramidenstumpfes, H dessen senkrechte Höhe, h die Höhe einer
der parallelotrapezischen Seitenflächen, so ist ofiFenbar
oder auch
und endlich
Eine Ableitung dieser Formel findet so wenig statt wie die irgend
einer anderen (mit Ausnahme der in der Abhandlung über die Dioptra
bewiesenen heronischen Dreiecksformel), aber sie wird in einem ersten
Beispiele, in welchem a^ = 10, 0^ — 2, Je ^9 gewählt ist, mit gutem
Erfolge angewandt. Es erscheint nämlich
*) Heron, Stereometrica I, 36 (ed. Hultsch) pag. 163. *) Heron, Stereo-
metrica I, 33 und 34 (ed. Hultsch) pag. 162—163.
Heron Yon Alexandria. (Fortsetznng.) 405
JT= "I/9« - 1 (10 - 2)» - 7
nnd daraus
Der Ghmnd der Braachbarkeit liegt darin, daß, wie es aus der Formel
für H hervorgeht, Ä* > y (a^ — a,)* sein muß und bei den an-
gewandten Zahlenwerten auch ist. Geometrisch heißt das: ein
Pyramidenstumpf mit quadratischen Grundflächen existiert nur dann,
wenn bei senkrechter Projizierung der oberen Flache auf die untere
zwischen zwei benachbarten Eckpunkten der ursprünglich unteren
Fläche und der Projektion eine Entfernung obwaltet, die kleiner ist
als die Kante des verlangten Stumpfes. In einem zweiten Beispiele
mit a^ = 28, a, = 4, ifc = 15 findet dieses aber nicht statt; es ist
vielmehr 15^ < — (28 — 4)1 Der Rechner, der an der Formel, welche
^unmittelbar aus a^, c^,h liefert, diese Schwierigkeit bemerkt haben
mag und sich ihr nicht gewachssen fühlte, suchte sich durch einen
Umweg über h zu helfen. Er rechnete A = 1/ 15^ — i — ~ — j = 9 ,
worauf er JT- l/p^T^^ " '^* ^ ^^^ ^ ^ vreniger ^ setzte. Mit
anderen Worten: die von Rechtswegen negative Diflferenz 81 — 144
unter dem Quadratwurzelzeichen wird zur absoluten DiflTerenz der
beiden Zahlen 81 und 144; es wird Y — 1 = 1 gesetzt. Ob dieser
Rechner Heron war, ob damals die Stereometrie noch immer ein
weniger übliches Kapitel mathematischer Untersuchungen bildete und
insofern einem so hervorragenden Manne der Fehler den Diorismus
vernachlässigt zu haben begegnen konnte, oder ob hier Unwissenheit
der Abschreiber sündigte, dürfte nicht zur Entscheidung gebracht
werden können. Welche von beiden Annahmen aber auch der Wahr-
heit entsprechen mag, unter allen Umständen haben wir hier das
älteste Auftreten des sogenannten Imaginären vor uns.
Wenden wir uns zu den Beispielen, in welchen der Kreis vor-
kommt, 80 tritt die Yerhältniszahl ^, welche fast bei allen solchen
Kreisaufgaben eine Rolle spielt, in zweifachem Werte auf. Weitaus
22
am häufigsten ist ?r » y angenommen, aber im Buche der Aus-
messungen^) ist regelmäßig ;t = 3. Wir wissen aus unserem Auszuge
aus der Yermessungslehre, daß dort gesagt wird, die Alten') 6^ iQxaioi,
^) Heron, Mensurae (ed. Hultsch) pag. 188 sqq. *) Heron EI, pag. 72
lin. 29.
26 •
404 19. Kapitel.
hätten mit :r = 3 gerechnet. Wir haben (S. 48) den babylonischen
Ursprung dieses Wertes zu begründen gesucht, der aber bei dem
regen Verkehre zwischen Babylon und Ägypten auch in dieses letztere
Land eingedrungen sein mag. Und der ägyptische Wert^ kann man
fragen, ^^(y) ^ welchen Ahmes angewandt hat (S. 98), kommt er
nirgend vor? Nein, und wenn es auch insgemein mißlich ist, nega-
tive Erscheinungen erklären zu wollen, hier wären wir am wenigsten
in Verlegenheit, einen einleuchtenden Grund anzugeben. Die Neuerung
5t = - - statt % = ( -Q j war durch die größere Genauigkeit der Er-
gebnisse bedeutsam, aber was die Rechnungsausfuhrung betrifft, kaum
redenswert. Ob der Praktiker mit dieser oder mit jener gebrochenen
Zahl vervielfachte, das konnte ihm gleich sein. Er mußte aus Be-
quemlichkeit alte und neue angenäherte Dreiecks- und Vierecksformeln
ohne Wurzelausziehung festzuhalten suchen, um jener für ihn schwie-
rigen Rechnungsoperation zu entgehen. Er mußte ;r » 3 als ganz-
2fi6
zahligen Multiplikator vorziehen. Aber daß er nicht auf % = —
22
zugunsten von ä =» y verzichten sollte, dafür gab es gar keinen
Grund,
Eine Stelle, welche auf den Ereis sich bezieht, verdient aus
mehrfachen Gründen eine nähere Besprechung. Es ist dieselbe Stelle,
welcher wir (S. 393) im voraus unsere Aufmerksamkeit zusicherten,
als wir von dem anderen Buche Herons sprachen^). Es handelt sich
um Berechnung des Ereisdurchmessers d aus der Summe S der in
einer Zahl vereinigten Ereisfläche Kj Peripherie P und Durchmesser d
selbst. Die Tatsache der durch S angedeuteten Summenbildung ist
an sich eine höchst merkwürdige. Eine Flächengröße und zwei
Längenausdehnungen zu vereinigen widerspricht dem geometrischen
Bewußtsein und ist nur denkbar, wenn wir zugeben, daß Heron hier
auf durchaus algebraischem Boden stand, daß ihm die Zahlenwerte
als solche und ohne Rücksicht auf ihren geometrischen Ursprung
dienten. Unter dieser Voraussetzung gestattet aber Herons Rech-
nungsergebnis sein Verfahren rückwärts zu ergänzen. Er rechnet
rf _ V}^l±^^Lr:^ , Bekanntlich ist ÜT == -J d\ P ^ jtd, folglich
ist S ^ K + P + d ^^ - d^ + (st + l)d, und ersetzt man 7t hierin
22
7
22
durch - ; so ist die nach d quadratische Gleichung
*) Heron, Geometria 101, 7—9 (ed. Hultsch) pag. 133 lin. 10—28. Das
ganze Kapitel 101 trägt in der ältesten und besten Handschrift den Titel:
8Qog xvxZov S'bged'sig iv &Xlo} ßißXltp roü '^Hgcovog.
Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 405
der Auflösung unterbreitet Nun sind von vornherein zwei Wege zur
Auflösung vorhanden. Entweder man dividiert die Gleichung durch
— um eine neue Gleichung zu erhalten, in welcher das quadratische
Glied den Koeffizienten 1 besitzt, oder man vervielfacht die Gleichung
mit einer derartigen ganzen Zahl, daß im Produkte das quadratische
Glied einen ganzzahligen quadratischen Koeffizienten besitze, während
auch im übrigen nur ganzzahlige Koeffizienten auftreten. Den letz-
teren Weg wird vorziehen, wer das Rechnen mit Brüchen so lange
als möglich hinausschiebt. Befolgen wir ihn, so haben wir mit 14
mal 11 zu vervielfachen und erhalten 121 d* + 638 rf = 154S, daraus
femer 121d« + 638rf + 841 = 154S + 841 oder (lld + 29)^ « 154g
+ 841. Daraus entsteht der Reihe nach lld + 29 - yi54S + 841,
llrf = V154S + 841 ~ 29, endHch mit Heron d = Y^EE±^^:z^ .
Damit ist also der Beweis geliefert, daß jedenfalls Heron die un-
reine quadratische Gleichung ax^ + bx ^ c bereits als Rech-
nungsaufgabe betrachtete, wenn man Euklid (S. 285) und Ar-
chimed (S. 316) diese Kenntnis zuzugestehen sich nicht entschließen
wollte. Von Heron steht es jetzt fest, daß er die unreine quadra-
tische Gleichung ax^ + lx =^ c zu lösen verstand, und daß die Er-
^mzung zu einem vollständigen Quadrate auf beiden Seiten des Gleich-
heitszeichens so erfolgte, daß (ax + y) "" ^^ + ( o ) K®^®*^* wurde,
woraus
X^ }_^
a
gefolgert wurde, nachdem schon am Anfange, wenn nötig, solche
Multiplikationen vorgenommen waren, welche a, &, c zu ganzen Zahlen
zu machen sich eigneten.
Allerdings setzen diese Schlüsse, deren große Tragweite niemand
verkennen wird. Eines voraus: daß Heron wirklich der Urheber der
besprochenen Aufgabe samt ihrer Auflösung war. Wir sehen jedoch
keine Veranlassung dieser Voraussetzung zu widersprechen. Wir
haben zu zeigen gesucht, daß schon Euklid unreine quadratische
Gleichungen, allerdings in vollständig geometrischem Gewände, nicht
fremd waren. Die Aufgabe, an welche wir gegenwärtig unsere Folge-
rungen knüpften, steht in derjenigen Sammlung heronischer Schriften,
welche nächst der Vermessungslehre die verhältnismäßig größte Zu-
verlässigkeit besitzt. Sie steht mitten unter anderen Aufgaben voll-
406 20. Kapitel.
kommen heronischen Gepräges. Sie ist so gefaßt^ daB erst eine kleine
Überlegung die Überzeugung beibringen kann^ daß die Stelle über-
haupt richtig ist und auf einer quadratischen Gleichung beruht, ein
in unseren Augen sehr schwer wiegender Grund spätere Einschiebung
auszuschließen. Und zu allen diesen die bestimmte Aufgabe betreffen-
den Erwägungen kommt eine allgemeine Erscheinung hinzu, deren
wiederholter Erwähnung wir uns nicht enthalten können: die Ent-
wicklungen Herons sind in den verschiedensten Kapiteln so aneinander
gereiht, daß man sich dem Gedanken nicht verschließen kann, jener
Mathematiker habe eine Formel aus der anderen gleichungsmäßig
hergeleitet, nicht eine jede für sich geometrisch ermittelt, und diese
Überzeugung bricht sich insbesondere bei den Aufgaben Bahn, in
welchen der Ereis in Betracht kommt.
So haben wir mit steigender Achtung die Leistungen Herons
von Alexandria durchmustert, des Mannes, der es reichlich verdiente,
daß seine Schriften als Lehrgebäude der Geodäsie durch viele, viele
Jahrhunderte unmittelbar oder mittelbar ihre Wirksamkeit behielten.
Er ist und bleibt uns der vorzugsweise Vertreter antiker Feldmeß-
kunst und Feldmeß Wissenschaft, wenn ersteres Wort uns die
Lehre von den eigentlichen feldmesserischen Operationen, letzteres
die von den anzuwendenden Formeln bedeuten soll. Er ist uns aber
auch der Vertreter einer entwickelten Bechenkimst bis zur Aus-
ziehung von Quadratwurzeln und Kubikwurzeln, der Vertreter einer
eigentlichen Algebra, soweit von einer solchen ohne Anwendung sym-
bolischer Zeichen die Bede sein kann, bis zur Auflösung unreiner
quadratischen Gleichungen einschließlich.
20. Kapitel.
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus.
Kurze Zeit nach der Blüte des hervorragenden Geodäten, mit
welchem wir uns in zwei Kapiteln beschäftigt haben, lebte wahr-
scheinlich Geminus von Rhodos. Er schrieb eine Einleitung in
die Astronomie, elgaycayii elg rä (paLvöfisvay welche zwar erhalten
ist^), aber um ihres eigentlichen Inhaltes willen uns nicht weiter be-
') Dieses Werk ist mehrfach gedruckt, z. B. mit französischer Übersetzung
von Halma in dessen Ausgabe des Ptolemäus hinter dem Kanon desselben.
Paris 1819. Die letzte Ausgabe mit deutscher Übersetzung von Karl Manitius.
Leipzig 1898. Über das mathematische Werk des Geminus ist ziemlich ab-
schließend GarlTittel, De Gemini Stoici stndiis mathematicis. Leipzig 1895.
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 407
ßcliaftigen darf ^ als daß wir bemerken, daß darin eine gute Dar-
stellung der Sonnentheorie des Hipparch sich findet^), allerdings ohne
daß der Name ihres Urhebers dabei genannt wäre. Außerdem ver-
faßte er ein leider verlorenes mathematisches Werk von fast unbe-
kanntem Titel und Inhalte. Unser Bedauern über den Verlust gründet
sich auf etwa 16 Stellen, in welchen Proklus in seinem Kommentare
zu den euklidischen Elementen aus Geminus geschöpft hat, auf andere,
die bei Eutokius sich erhalten haben, und deren zum Teil geschicht-
lich wertvollen Inhalt wir verschiedentlich zu benutzen Gelegenheit
fanden. Ein eigentlich mathematisch -historisches Werk hat freilich
Geminus gewiß nicht geschrieben, wenn man auch früher dieser An-
nahme zuneigte'). Das ist aus dem Mathematikerverzeichnisse bei
Proklus gefolgert worden*). Wenn Proklus dort erklart, die Schrift-
steller über Geschichte der Mathematik hätten die Entwicklung bis
dahin, d. h. bis kurz vor Euklid geschildert, wenn er dann in dem-
selben Kommentare aus Geminus Auszüge gibt, welche für die Zeit-
bestimmung des Nikomedes, des Diokles, des Perseus verwertbar
waren, so ist eben das Werk des Geminus eine Geschichte nicht
gewesen. Auch die nähere Prüfung der Notizen aus Geminus selbst
würde zu der gleichen Schlußfolgerung führen. Sie sind gewiß
nicht von der Art, wie man sie in einem Geschichtswerke suchen
würde, sie haben ihre Bedeutsamkeit für historische Zwecke nur
dadurch erlangt, daß in ihnen Namen vorkommen, daß also die
Träger dieser Namen, beziehungsweise die Erfinder krummer Linien,
welche Geminus nennt, früher als er gelebt haben müssen, daß
seine genau ermittelte Lebenszeit daher eine untere Grenze für die
anderer bildet.
Um so notwendiger ist es in dieser Ermittlung jeden Zweifel
auszuschließen. Man hat die Zeit, zu welcher Geminus schrieb,
regelmäßig dem 6. Kapitel seiner Einleitung in die Astronomie ent-
nommen. Dort heißt es*): Die Griechen nehmen auf die Ägypter
und Eudoxus sich stützend an, das Isisfest treffe mit dem kürzesten
Tage überein. Das ist vor 120 Jahren einmal so gewesen, aber aUe
vier Jahre verschiebt sich die Übereinstimmung um einen Tag und
beträgt jetzt einen Monat.
Der Nutzen, welcher aus dieser Angabe zu ziehen sein kann, ist
augenscheinlich. Weiß man, wann das Fest der Isis nach ägyptischem
Kalender stattfand, weiß man ferner, wann das betreffende ägyptische
') Wolf, Geschichte der Afitronomie S. 201. *) Montucla, Histoire des
MaiMmatiques 1, 266. ^ NesBelmann, Algebra der Griechen 6. ^) Unsere
Übersetzung ist nicht wörtlich, kürzt vielmehr die Stelle wesentlich ohne jedoch
den Sinn zu verändern. Vgl. ed. Halma pag. 48.
408 20. Kapitel.
Datum genau auf das Wintersolstitium fiel; so hat man von dem so
gewonnenen Jahre nur 120 Jahre weiter zu zahlen, um zu der Zeit
zu gelangen, zu welcher Geminus seine Einleitung in die Astronomie
verfaßte. Diese Rechnung hat man angestellt und ist zu zwei sehr
voneinander abweichenden Ergebnissen gekommen. Ein gelehrter
Chronologe, Mitglied des Jesuitenordens am Anfange des XVII. S.,
Denis Petau^), hat in dem Isisfeste die Feier der Auffindung des
Osiris erkannt, welche in Ägypten vom 17. bis zum 20. Athyr be-
gangen wurde. Diese Feier, d. h. der 17. Athyr, fiel 197 auf das
Wintersolstitium und die Abfassung der Einleitung in die Astronomie
120 Jahre später auf 77 v. Chr. Dagegen hat am Ende des XVII. S.
ein anderer Gelehrter, Bonjour, folgende Ansicht begründet*). Nach
römischer Überlieferung ist ein Isisfest vom 1. bis zum 5. Athyr
gefeiert worden; der 1. Athyr fiel 257 auf das Wintersolstitium, und
somit geben 120 Jahre weiter die Jahreszahl 137, in welcher Geminus
geschrieben haben muß. Mit davon verschiedenen Gründen ist ein
späterer Forscher gleichfalls zu dem Jahre 140 gekommen, auf welches
die Blüte des Geminus zu setzen sei^). Zwischen diesen beiden
Möglichkeiten hat man sich zu entscheiden, und wir tragen Bedenken
Geminus, welcher nach Hipparch gelebt haben muß, um dessen
Sonnentheorie, wie wir zu Anfang bemerkten, deutlich darzustellen,
der auch Hipparch in seiner Einleitung iu die Astronomie einmal
mit Namen nennt*), wahrend die Beobachtungen Hipparchs von 161
bis 126 fallen, früher als 77 als Schriftsteller anzunehmen^). Das
zweite Datum, dem wir in unserer Anordnung des Stoflfes folgten,
indem wir sonst Geminus vor Heron hätten nennen müssen, steht
auch im Einklang mit anderen Umständen, die für sich allein nicht
entscheidend gewesen wären. Geminus nennt in seiner Einleitung in
') Petavius, De doctrina temporum (Paris 1627), Lib. II, cap. 6, § 4 und
desselben Verfassers üranologion sive systema variorum autorum qui de sphaera
ac sideribus eorum motibua graece commentati sunt (Paris 16S0) in den An-
merkungen zu der dort abgedruckten Schrift des Geminus an dem betreffenden
Orte. *) Bonjour, De nomine Josephi a Pharaone imposito. Rom 1696. Vgl.
eine Besprechung dieses Buches von Heinr. Pipping in den Acta Eruditorum
für 1697, pag. 6 sqq. ") H. Brandes, Ueber das Zeitalter des Astronomen
Geminus und des Geographen Eudoxus in den Jahnschen Jahrbüchern XIII,
Supplement S. 199—230, besonders 219. ^) Elgaytayri x. t. X. (ed. Halma)
pag. 19. ^ Auch Aug. Böckh, Ueber die vierjährigen Sonnenkreise der Alten.
Berlin 1863, S. 8 fLgg. und S. 200 flgg. hat sich in ausführlicher Begründung
für diese Meinung entschieden. Dagegen vermutet F. Blaß, Dissertatio de
Getnino et Posidonio (Kiel 1888) eine noch spätere Lebenszeit dea Geminus, nur
durch das II. nachchristliche Jahrhundert als terminus ad quem begrenzt, weil
Geminus bei Alexander Aphrodisiacus genannt ist.
Geometrie und Trigonometrie bis zu PtolemäuB. 409
die Astronomie Eratoßthenes^), der etwa 194 starb, den Geschichts-
schreiber Polybius*), dessen Universalgeschichte, tötogia xaOokix.%
bis 146 herabreicht, Erates den Grammatiker^), wahrscheinlich den-
jenigen dieses Namens, der aus Mallns 167 nach Rom kam, wo er
etwa 144 starb, den Philosophen Boethus, welcher einen Kommentar
zu Aratus geschrieben haben muß^), den man aber nicht bestimmt
zu identifizieren vermag; sie alle können im Jahre 137 ebenso gut
wie im Jahre 77 genannt worden sein. Auch darauf wird man kein
zu großes Gewicht legen dürfen, daß die Beobachtungen, von welchen
Geminus Gebrauch macht, auf Rhodos, Alexandria und Rom Bezug
nehmea Ein Alexandriner, das haben wir (S. 366) erörtert, würde
kaum schon 137 Rom seine Aufmerksamkeit in so hohem Grade
gewidmet haben, anders ein Rhodier, nachdem seine Landsleute die
Bundesgenossen der Römer seit dem syrischen Kriege im Jahre
190 V. Chr. waren. Aber folgendes gibt endgültig den Ausschlag.
Nach einer Angabe des Simplicius im Kommentare zum II. Buche
der aristotelischen Physik fertigte Geminus einen Kommentar zu den
yLBXBCiQol.oyLxd des Posidonius^). Nun gab es allerdings einen
Posidonius von Alexandria (S. 198), Schüler des 259 verstorbenen
Zenon, aber ihn würde Simplicius nicht ohne sonstige Bezeichnung
nur Posidonius genannt haben. Dazu mußte die Persönlichkeit eine
allgemein bekannte sein, und von einer solchoi haben wir Kenntnis:
Posidonius von Rhodos*), der Lehrer Ciceros, der Freund des Pom-
pejus, der auf der Insel Rhodos gestorben ist, auf welcher Geminus
allem Anscheine nach lebte. Dieser Posidonius, der wiederholt durch
Heron erwähnt worden ist, dem man eine Definition der Parallellinien
verdankt (S. 388), wird frühestens um das Jahr 90 als Schriftsteller
aufgetreten sein, und wer aus seinem Werke einen Auszug machte,
kann nur 77, nicht 137 eine Einleitung in die Astronomie verfaßt
haben. Damit stimmt aber endlich noch eine Tatsache überein. Die
120 Jahre rückwärts von Geminus fallen entweder auf 257 oder
auf 197. Nach der ersteren Annahme würde das Edikt von Kanopus
vom 7. März 238 die 120 Jahre unterbrochen und vermöge der in
ihm angeordneten Einrichtung des Schaltjahres, so lange oder so kurz
es in Gültigkeit war, die 30tägige Verschiebung des Isisfestes binnen
120 Jahren zu einer Unwahrheit gemacht haben. Rechnet man da-
gegen jene 120 Jahre von 197 an, so ist dem nicht so. Man hat
vielmehr alsdann eine Grenze gewonnen, wie lange das Edikt von
') Ed. Halma pag. 44. *) Ebenda pag. 67. ^ Ebenda pag. 30, 31, 32, 66.
*) Ebenda pag. 76. *) Aug. Böckh 1. c. S. 13. ^ Wolf, Geschichte, der Astro-
nomie S. 167.
410 20. Kapitel.
Eianopus, von welchem man ohnedies weiß^ daß es in Vergessenheit
geriet y wirksam gewesen sein kann: von 238 an höchstens dnrch
40 Jahre hindurch.
Eine Voraussetzung liegt allerdings unserer bisherigen Darstel-
lung zugrunde: daß es nur einen Geminus gab und nicht deren
zwei; einen Mathematiker und einen Astronomen^). Wer dieser
Meinung sich anschließt, verzichtet auf die Ausnutzung der Isagoge
zur Bestimmung der Lebenszeit des Mathematikers Geminus und kann
daher unseren Entwicklungen nicht den geringsten Wert beilegen.
Wir vermögen uns von dem erhobenen Zweifel nicht beirren zu
lassen und glauben nach wie vor an die Übereinstimmung des Mathe-
matikers mit dem Astronomen. Wer Geminus war^ ist nicht bekannt.
Der Name besitzt einen entschieden römischen Klang, und wenn auch
die Rechtschreibung rs^ilvog, deren Proklus wie Pappus sich bedient,
der römischen Aussprache widerspricht, so kann eine Ausgleichung
darin gefunden werden, daß Simplicius den Ton auf die erste Silbe,
re'iiLvog, legt. Man hat demzufolge in Geminus wohl den Freigelassenen
eines edlen Römers erkennen wollen.
Das mathematische Hauptwerk des Geminus kann vielleicht den
Titel: Über die gesetzmäßige Gliederung der Mathematik gefuhrt
haben ^. Von dessen Inhalt haben wir in negativer Weise behauptet,
er sei nicht wesentlich geschichtlich gewesen. Es war auch jeden-
falls kein eigentliches Lehrbuch der Mathematik. Geminus wollte
vielmehr nach aller Wahrscheinlichkeit die Anfeindungen, welche
Zenon von Elea und dessen Nachfolger gegen den logischen Aufbau
der Mathematik sich gestattet hatten, widerlegen. Man erkennt diesen
Zweck aus der Art, wie das Werk des Geminus benutzt worden ist.
Proklus entnimmt ihm gern die Entscheidung, wo es sich um Streit-
fragen mehr allgemein logischer als mathematischer Natur handelt,
um geometrische Erklärungen, Grundsätze und dergleichen. Eine
einzige geometrische Entdeckung des Geminus kennen wir aus Proklus,
wenn sie wirklich ihm zuzuschreiben ist, woran eine spätere Stelle
bei Proklus wieder zweifeln läßt. Dieser sagt iwmlich'): „Unter den
') Vgl. £. ManitiuB, Des Geminos Isagoge, Sonderabdruck aus den Com-
mentationes Fleckeisenianae (Leipzig 1890) mit der Besprechung der Abhand-
lung in Zeitschr. Math. Phys. XXXVI. Histor.-literar. Abtlg. S. 96—97. In
seiner Ausgabe der Isagoge von 1898 hat Manitius die 1890 ausgesprochenen
Ansichten wesentlich abgeändert und sieht seitdem in dem erhaltenen Texte
einen späten in Eonstantinopel angefertigten Auszug aus der ursprünglichen
Isagoge des Geminus von Rhodos. •) Pappus Vm, 3 (ed. Hultsch) 1026 heißt
es: Feitlvos 6 lucd'riiuctixog iv t& tcbqI tfjg t&v na&rnidtmv rd^Btog. ") Proklus
(ed. Friedlein) 112—113 und 251 lin. 2—11. Bretschneider 177.
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 411
auf Körpern konstrnierten Linien sind die einen in ihren Teilen gleich
und ähnlich wie die zylindrischen Schraubenlinien^ andere dagegen
nicht^ nämlich alle übrigen. Es ergibt sich nun aus diesen Unter-
schieden ^ daß es nur drei Linien gibt^ welche in allen ihren Teilen
gleich und ähnlich sind^ die Gerade^ der Kreis und die zylindrische
Schraubenlinie^ Yon denen zwei ganz in der Ebene liegende einfache
sind^ eine aber eine gemischte ist und auf einem Körper liegt. Auch
dies beweist ganz klar Geminus, nachdem er Yorher gezeigt hat^ daß
wenn an eine solche in allen Teilen gleich und ähnliche Linie Ton
einem Punkte aus zwei Gerade gezogen werden^ die mit ihr gleiche
Winkel bilden, diese Geraden einander gleich sind/'
Vielleicht darf als mit Geminus annähernd gleichaltrig Theo-
dos ins ^) genannt werden. Wenigstens kommt der Name dieses von
Ptolemäus benutzten Mathematikers und Astronomen bei Strabon und
YitruTius Tor, so daß er Tor Christi Geburt gelebt haben muß, und
dem Gegenstande seiner Untersuchungen nach etwa im letzten Jahr-
hunderte dieser Zeit. Als Heimat des Theodosius gilt alsdann Tripolis
an der phönikischen Küste. Seine Sphärik in drei Büchern ist eine
ziemlich ToUständige Geometrie der Kugeloberfläche mit Ausschluß
des messenden, also trigonometrischen Teiles. Er stützt sich, ohne
seine Vor^nger zu nennen, vielfach auf dieselben, wie es bei dem
Verfasser eines Lehrbuches Sitte war, auch wohl noch ist. Ins-
besondere hat die Abhängigkeit yon den Phaenomena Euklids (S. 293)
nachgewiesen werden können*). Wir bemerken, daß die Vermutung
gleichfalls ausgesprochen worden ist'), der Mathematiker Theodosius
sei von Theodosius von Tripolis verschieden. Er stamme vielmehr
aus Bithynien und sei Landsmann sowohl als Zeitgenosse des Hipparch
(S. 361) gewesen.
Dionysodorus wird von Heron (S. 380), von Strabon*) und
*) Vgl. Fabricius, Bibliotheca Graeca (ed. Harless) IV, 21. Die Sphärik
ist griechisch mit lateinischer Übersetzung von Pena (Paris 1558) herausgegeben.
Eine deutsche Übersetzung von Ernst Nizze, Stralsund 1826. Von ebendem-
selben eine griechische Textausgabe mit lateinischer Übersetzung, Berlin 1852.
Wertvolle Untersuchungen bei Nokk, Ueber die Sphärik des Theodosius, Pro-
gramm des Bruchsaler Gymnasiums 1847. Hultsch hat im X. Bande der Ab-
handlungen der philol.-hist. Klasse der Eönigl. Sachs. Gesellsch. d. Wissensch.
zu Leipzig (1887) Scholien zur Sphärik des Theodosius herausgegeben, welche
teils dem zehnten nachchristlichen Jahrhundert angehören, teils mindestens bis
zum dritten Jahrhundert zurückgehen. *) Nokk 1. c. und Heiberg, Euklid-
studien S. 43 — 46. *) JRecherches sur Vhistoire de Vastronomie ancienne par Paul
Tannery. Paris 1893, pag. 36 — 37 und Axel Anthon Björnbo in den Ab-
handlungen zur Geschichte der mathemat. Wissenschaften, XIY, S. 64 — 65.
Leipzig 1902. *) Strabo Xu, 3.
412 20. Kapitel.
von Plinius') genannt^ muß also Tor Christus gelebt haben. Strabon
berichtet, Amisus im Pontus am asiatischen Südufer des Schwarzen
Meeres sei seine Heimat gewesen. Plinius nennt ihn von Melos, so
daß möglicherweise zwei verschiedene Persönlichkeiten gemeint sein
können, und weiß eine Wundergeschichte zu erzählen, in welcher er
eine Rolle spielt. Dem Mathematiker dürfte außer der von Heron
erwähnten Schrift über die Spiren die Lösung der archimedischen
Aufgabe der Eugelteilung nach gegebenem Verhältnisse der Abschnitte
interessant sein, zu welcher Dionysodorus, nach den Mitteilungen des
Eutokius*), den Durchschnitt einer Parabel mit einer Hyperbel be-
nutzte. Man hat freilich Dionysodor auch weiter rückwärts zwischen
Archimed und Apollonius einzuschieben Veranlassung genommen,
wodurch die Lebenszeit des Perseus als Erfinder der Spiren ebenfalls
um einige Jahrzehnte zurückdatiert werden müßte').
Festen chronologischen Boden unter den Füßen gewinnen wir
mit Menelaus von Alexandria. Zwei in Rom angestellte Beob-
achtungen dieses Astronomen aus dem ersten Regierungsjahre Trajans,
d. h. aus dem Jahre 98 n. Chr., sind im Almageste erhalten^), und
so kann über die Zeit der wissenschaftlichen Tätigkeit des Menelaus
kein Zweifel stattfinden.
Er verfaßte sechs Bücher über die Berechnung der Sehnen,
welche aber gleich dem ähnlichen Werke seines Vor^ngers Hipparch
verloren gegangen sind. Seine drei Bücher der Sphärik sind im
griechischen Originaltexte gleichfalls nicht bekannt, doch sind ein-
ander gegenseitig bestätigende arabische und hebräische Übersetzungen
aufgefunden worden, nach welchen seit dem XIL Jahrhunderte weitere
lateinische Übersetzungen sich herstellen ließen, welche mehrfach her-
ausgegeben sind^). Die Sphärik des Menelaus ist im Gegensatze zu der
des Theodosius eine Art von sphärischer Trigonometrie. 'Wir meinen
damit, daß Menelaus der Erste war, welcher die Lehre vom sphäri-
schen Dreieck sowie die sphärische Trigonometrie aus der früheren
ganz stereometrisch gehaltenen Sphärik aber auch aus der Astronomie
ausgeschieden hat Sein L Buch ist dabei durchaus dem I. Buche
*) Plinins, Histoi-ia naturalis II, 109. *) Archimed (ed. Heiberg) HI,
180 sqq. ') Wilhelm Schmidt, Über den griechischen Mathematiker Dionyso-
dorus. Bibliotheca Mathemaiica 8. Folge, Bd. IV, 821—326 (1904). *) PtoJemaei
Almagestutn YII, 3 (ed. Halma) T. H, pag. 25 mid 27. ^) Die noch immer beste
Übersetzung von Halley. Oxford 1768. Die neuesten Untersuchungen über Me-
nelaus bei Ad. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I,
14 — 18 (1900) und besonders bei Axel Anthon Björnbo, Studien über Mene-
laos* Sphärik. Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften
XIV, 1 — 164 (1902), an welche wir uns wesentlich anschließen, mit Ausnahme
der Zurückdatierung des sogenannten Satzes des Menelaus bis auf Hipparch.
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 413
der Euklidischen Elemente nachgebildet^ dessen Dreieckssatze Menelaus
aus der Ebene auf die Kugel übertrug. Dazu bedurfte es einer Defi-
nition des sphärischen aus Bögen größter Kreise bestehenden Drei-
ecks^ und Menelaus gab sie, gab zugleich dem gebildeten Dreiecke
den Namen tgCnlevQov im Gegensatze zu xQiymvov als dem Namen
des ebenen Dreiecks. Dann finden wir die Sätze, daß im sphärischen
Dreiecke gleichen Seiten gleiche Winkel gegenüberliegen, daß der
größeren Seite der größere Winkel gegenüberliegt, nebst der Um-
kehrung der beiden Sätze. Die Summe zweier Seiten wird als größer
als die dritte Seite erkannt, die Summe der drei Winkel als größer
als 2 Rechte, während der die Winkelsumme nach oben begrenzende
Satz, sie sei kleiner als 6 Rechte, nicht vorkommt. Menelaus ver-
sucht niemals einen Deckungsbeweis für stückweise einander gleiche
Dreiecke zu führen, wird also vermutlich des Unterschiedes zwischen
Kongruenz und Symmetrie auf der Kugel bewußt gewesen sein. Das
IL Buch ist nur mittelbar der Sphärik gewidmet und hauptsächlich
astronomischen Inhaltes, so daß wir bei unserer Ausschaltung der
Astronomie berechtigt, wenn nicht verpfiichtet sind, darüber hinweg-
zugehen. Das ni. Buch enthält die eigentliche Trigonometrie und
gründet sie auf den ersten Satz des Buches d. i. auf den sogenannten
Satz des Menelaus, der zwar unmittelbar als sphärischer Satz aus-
gesprochen ist, bei dessen Beweis aber der planimetrische Satz des
Menelaus in Anwendung tritt. Der planimetrische Satz spricht sich
dahin aus, daß bei Durchschneidung der drei Seiten eines ebenen
geradlinigen Dreiecks durch eine Gerade Abschnitte erscheinen, welche
das gleiche Produkt aus je drei Abschnitten, die keinen Endpunkt
gemein haben, hervorbringen; der sphärische Satz verändert diesen
Ausspruch nur dahin, daß die Abschnitte der Bögen durch die Sehnen
der verdoppelten Abschnitte ersetzt werden. Menelaus selbst hat frei-
lich so wenig wie seine Nachfolger bis in das XVI. S. seine Sätze in
dieser Weise ausgesprochen. Es heißt niemals a^ • a^ • ag » 6^ • &2 • b^
oder das Parallelepipedon der betreffenden Abschnitte habe gleichen
Inhalt, sondern das Verhältnis a^ib^^^b^ -b^: a^- a^ ist gebildet und
so ausgesprochen, daß gesagt wird, a^ stehe zu b^ in dem zusammen-
gesetzten Verhältnisse von ft, zu Oj und von 63 zu a^ Der Name,
unter welchem der Satz bekannt blieb, ist der des Satzes von den
sechs Größen, regüla sex quantitatum. Das Vorkommen zusammen-
gesetzter Verhältnisse bei Euklid und Archimed ist uns (S. 266) be-
kannt geworden. Wenn der planimetrische Satz in der Sphärik nicht
bewiesen ist, so muß daraus gefolgert werden, er sei schon bekannt
gewesen, mag man, wozu wir uns nicht leicht entschließen können,
annehmen, Hipparch habe ihn bereits besessen und benutzt, oder mi^
414 20. Kapitel.
man der Ansicht sein^ Menelans habe auch eine Schrift über ebene
Dreiecke verfaßt^ in welcher der planimetrische Satz vorkam. Als
Stütze dieser letzteren Ansicht dient ein bei Proklus erhaltener Be-
weis des Menelans zn einem Dreieckssatze nnd die Tatsache, daß ein
Araber Menelans als Verfasser von Elementen der Geometrie genannt
hat. Von anderen im HI. Buche der Sphärik vorkommenden Sätzen
sei noch der 5. Satz erwähnt, der die Projektivität der Doppel-
verhältnisse enthält und zwar ohne jeden Beweis, mithin als alt*
bekannt, der 9. Satz, daß die drei Halbierongsbogen der Winkel, der
10. Satz, daß die drei Höhenbogen eines sphärischen Dreiecks je einen
gemeinsamen Dnrchschnittspunkt besitzen. Die entsprechenden plani-
metrischen Sätze waren längst, der zweite vermutlich seit Archimed
(S. 298) vorhanden.
Menelaus hat auch in der Eurvenlehre sich Verdienste erworben.
Er hat, wie Pappns ungemein kurz sich fassend und deshalb für uns
sehr fruchtlos erzählt^), einer krummen Linie, mit welcher vorher
zwei uns gänzlich unbekannte Geometer Demetrius von Alexan-
dria und Philo vonTjana sich beschäftigten, seine besondere Auf-
merksamkeit zugewandt und derselben den Namen der außergewöhn-
lichen oder seltsamen, Ttagädo^og ygafifiTJ, beigelegt.
Klaudius Ptolemäus führte zu Ende, was Hipparch und
Menelaus vor ihm begonnen hatten. Er schuf für den astronomischen
Gebrauch eine Trigonometrie von so vollendeter Form, daß sie weit
über ein Jahrtausend nicht überboten wurde und nicht weniger als
die unter dem Namen des ptolemäischen Weltsystems bekannte Lehre
von den Bewegungen der Gestirne aber mit besserem Erfolge die
Wissenschaft beherrschte. Beides, das astronomische und das trigono-
metrische Lehrgebäude, ist vereinigt in den 13 Büchern der großen
Zusammenstellung, (leydkri ötivtaiig^. Als dieses Werk später,
wie wir im 32. Kapitel zu schildern haben werden, aus dem Griechi-
schen ins Arabische, aus dieser Sprache noch später ins Lateinische
übersetzt wurde, erhielt es den durch Zusammenschweißung des
arabischen Artikels al mit dem griechischen Superlativ ^iyiözog
gebildeten Bastardnamen Almagest, unter welchem es meistens be-
kannt ist, und dessen auch wir uns bedienen, einigemal weiter oben
schon vorgreifend bedient haben.
*) PappuB IV, 30, (ed. Hultsch) pag. 270. *) Die bequemste AuBgabe ist
die von Halma unter Beigabe einer französischen Übersetzung in zwei Quart-
bänden veranstaltete. Paris 1813 — 16. Eine neue Textausgabe aber leider ohne
Übersetzung veranstaltete Heiberg 1899 — 1903. Wichtige Untersuchungen über
den Almagest namentlich nach seiner astronomischen Bedeutung in Bethert^ies
mr VhistoWe de rasPronomie par Paul Tannerj. Paris 1893.
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäng. 415
Im Almageste sind viele astronomische Beobachtungen verwertet,
teils dem Ptolemäus eigentümliche, teils von anderen herrührend. Die
späteste der so aufgenommenen Datierungen ist die einer Venus-
beobachtung aus dem 14. Regierungsjahre des Antoninus^), also aus
dem Jahre löl, und die Abfassung des Almagestes muß somit später
fallen. Andererseits ist die früheste eigene Beobachtung des Ptolemäus,
von der wir wissen, im Jahre 125 angestellt und damit erreichen wir
als engste Grenzen seiner Wirksamkeit die Jahre 125 bis 141 oder
151. Das ist aber neben einem Aufenthalte in Alexandria auch alles,
was wir von den persönlichen YerhältniBsen des Ptolemäus mit Ge-
wißheit aussagen können. Nach später aus arabischer Quelle ge-
flossener Angabe^) wäre Ptolemäus in Alexandria geboren und auf-
gewachsen; er sei, heißt es dort, 78 Jahre alt geworden; auch weiß
der Bericht von seiner hellen Farbe, seinen kleinen Füßen, einem
roten Muttermale an der rechten Kinnlade, dem schwarzen, dichten
Barte, seinen Lebensgewohnheiten und Charaktereigenschaften so viel
zu erzählen, daß man sehr in Zweifel gerät, soll man der Genauigkeit
trauen oder der Übergenauigkeit mißtrauen. Eine gründliche Unter-
suchung') des arabischen Berichtes hat ergeben, daß derselbe aus
einer 1053 geschriebenen Spruchsammlung eines Emir Abü'l Wafä
Mubaschschir ben Fatik stammt und auf ein ähnliches im IX. Jahr-
hundert entstandenes Werk des Hunain ibnishäk zurückgeht Der
78jährigen Lebensdauer des Ptolemäus, den man danach etwa yon
100 bis 178 anzusetzen hätte, dürfte am ersten zu trauen sein. Die
genaue Personalbeschreibung wird damit in Zusammenhang gebracht,
daß gerade im U. Jahrhundert physiogno mische Studien bei den
Griechen in Blüte standen, und wie man aus den Gesichtszügen gei-
stige Eigenschaften herauslas, mag man aus bekannten schriftstelle-
rischen Leistungen auf ihnen entsprechende Gesichtszüge geschlossen
haben. Daß Ptolemäus in Alexandria geboren sei, steht nicht bei
Emir Abül Wafä, sondern ist Zusatz des Gerhard von Cremona.
Glaubwürdiger ist eine Angabe des byzantinischen Gelehrten Theo-
dorus Meliteniota (um 1361), Ptolemäus stamme aus der Stadt
Ptolemais Hermeiu.
Wir haben es hier zunächst mit dem 9. Kapitel des L Buches
^ Da die anderen unter der Regierang des Antoninus gemachten Beobach-
tongen den allerersten Jahren jener Regierung angehören, so mutmaßt Franz
BoU, Studien über Elaudius Ftolemaeus (XXI. Supplementband von Fleckeisen
und MasiuB Jahrb. f. class. Fhilol.) jene letzte Beobachtung gehöre nicht dem
ft^s=14. sondern dem ^s=:4. Jahre an, sei also vom Jahre 141. *) B. Bon-
compagni, DeUa vita e deUe opere di Gherardo Crenumese etc, Roma 1851,
pag. 16—17. •) Boll 1. c. S.68— 68.
416 20. Kapitel.
des Almagestes zu tun, dem wir die Berechnung einer Sehnentafel
zu entnehmen haben ^). Ptolemäus teilt den Kreisumfang in 360 Teile,
Tftijftara, und jeden dieser Teile halbiert er zimächst nochmals. Femer
teilt er den Durchmesser des Kreises gleichfalls und zwar in 120 Teile,
tpitlfiura, setzt aber hier die Teilung sogleich sexagesimal fort. Die
Unterabteilungen bringen 60 erste, 60 zweite Teile hervor, welche in
den lateinischen Übersetzungen zu partes minutae primae und partes
minutae secundas wurden, woraus andere Sprachen ihre Minuten
und Sekunden hernahmen. Ein Neues hat Ptolemäus mit diesen
Teilungen gewiß nicht gegeben. Wie die Gradeinteilung des Kreises
über Geminus, über Hipparch bis auf Hypsikles in Alexandria ver-
folgbar nach Babylon als Mutterland hinweist, so dürfte ähnliches
für die Teilung des Kreishalbmessers nach sexagesimaler Grundzahl
gelten müssen, die jedenfalls seinen alexandrinischen Vorgängern be-
kannt gewesen sein wird. Das Verdienst des Ptolemäus liegt dagegen
in seiner Sehnenberechnung selbst Theon von Alexandria, der Kom-
mentator des Almagestes, sagt uns ausdrücklich^), Hipparch habe die
Lehre von den Sehnen in 12 Büchern und Menelaus in sechs Büchern
abgehandelt, man müsse aber erstaunen, wie bequem Ptolemäus mit
Hilfe weniger und leichter Sätze ihre Werte gefunden habe. - Den
Ausgangspunkt bildet der sogenannte ptolemäische Lehrsatz vom
Sehnenviereck^), daß das Produkt der Diagonalen der Summe der
Produkte je zweier einander gegenüberliegender Seiten gleich sei, und
neben diesem Satze die Kenntnis einiger ganz bestimmter Sehnen,
nämlich der Seiten der regelmäßigen dem Kreise eingeschriebenen
Dreiecke, Vierecke, Fünfecke, Sechsecke, Zehnecke als der Sehnen von
Bögen von 120, von 90, von 72, von 60, von 36 Bogengraden jedes-
mal in Teilen des Durchmessers, beziehungsweise des Halbmessers
des Kreises dargestellt.
Nun folgt aber aus den Sehnen zweier Bögen die Sehne ihres
Unterschiedes, aus der Sehne eines Bogens die Sehne des halb so
großen Bogens, aus den Sehnen zweier Bögen die Sehne ihrer
Summe.
Die Beweise der betrefiPenden Sätze bestehen dem Sinne nach in
folgendem. Aus (Fig. 67) aß und ay soll ßy gefunden werden.
Man zieht von a aus den Durchmesser ad, der also 120 Teile ent-
hält und vollendet das Sehnenviereck aßyS nebst seinen Diagonalen.
Nun ist y8 - yi20«^^^, ßö - 1/120^- aß^ , ay - ßS «^ a8 - ßy
*) Ein vortrefflicher Auszug von L. Ideler unter dem Titel: „üeber die
Trigonometrie der Alten'* in Zache Monatlicher Correspondenz zur Beförderung
der Erd- und Himmelskunde (Juli 1812). Bd. XXVI, 3—38. *) Theon Ale-
xandrinus (ed. Halma) I, pag. 110. ") Almagest (ed. Halma) I, pag. ^.
Groometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus.
417
Fig. 67.
+ a/J-y*oder ay V^l^O» - a/3«« 120./Jy + a/3 Vl20« -«V, woraus
ßy gefdnden werden kann.
Soll ferner (Fig. 68) aus ^y die Sehne yd des halb so großen
Bogens ermittelt werden, so zieht man den Durchmesser ay, außer-
dem aß, ad, ßd, schneidet auf dem Durch-
messer ay das Stück as ^ aß ab, zieht de
und endlich d^ senkrecht zum Durchmesser
ay. Die Dreiecke ßad, saS sind nun kon-
gruent, weil die beiden gleichen in a ihre
gemeinschaftliche Spitze besitzenden Winkel
von gleichen Seiten gebildet werden. Dem-
gemäß sind auch die dritten Seiten gleich
ßd =- 8b, und da überdies ßS'^Sy als
Sehnen gleicher Bögen, so ist das Dreieck
ÖBy gleichschenklig, und die Senkrechte
d% auf dessen Grundlinie halbiert dieselbe,
d.h. es ist^-,^-=— ^ ^ ^-' ^ ^^
« 60 — 2 1/V2O' — /3 j^. Ferner sind die ^*«- ««•
beiden rechtwinkligen, einen spitzen Winkel gemeinschaftlich enthalten-
den Dreiecke yöi, yaä ähnlich, also Iy:y8^y8:ay und yd^^ayly
= 120 [60 — y yi2ü»^^7*l woraus endlich yS sich ergibt.
Die letzte Aufgabe ist die, (Fig. 69) aus
den Sehnen aß und ßy die Sehne a^^ zu
finden. Zu diesem Zwecke werden die Durch-
messer ad und ßB, außerdem ß8, 8y, yB
und 8b gezogen, welche letztere wegen der
Kongruenz der Dreiecke a/3g, Sb^ der aß
gleich sein muß. Der auf das Sehnenviereck
ßy8B angewandte ptolemäische Lehrsatz
liefert nunmehr ßS - ys ^ ßy - 8b + ßB - y8
oder
1/120» - aß^ • /12Ö^ -Häy ^ßy^aß + 120 • ^120« - ay\
wodurch ay bestimmt ist.
Zu den als bekannt vorausgesetzten Sehnen zurückkehrend erhält
demnach Ptolemäus aus den Sehnen von 72® und von 60® die von
72® — 60® oder von 12®. Wiederholte Halbierung des Bogens lehrt
10 30
, von — kennen. Ptole-
Fig. 69.
alsdann die Sehne von 6®, von 3®, von 1
maus beabsichtigt aber die Sehnen der um je
Cantob, Oeichichte der MathemAtik L 8. Aufl.
Ghrad steigenden
27
418 20. Kapitel.
Bögen in eine Tabelle zu Tereinigen, er bedarf also dazu in erster
Linie der Kenntnis der Sehne von 1®, und dazu verhilft ihm ein Ver-
gleichungssatz von höchster Eleganz. Es seien (Fig. 70) zwei Bögen
aß, ßy desselben Kreises gegeben, deren letzterer größer als der
erstere^ und es seien die Sehnen der einzelnen Bögen sowie der Summe
der beiden gezogen, wobei wir zur Unterscheidung der Bögen und
Sehnen jene z. B. als arcus aßj diese als chorda aß oder als a/)
schlechtweg bezeichnen wollen. Der Winkel
bei ß werde durch die ^d halbiert; da und
dy werden gezogen, auch dg senkrecht zu ay,
und mit 8s d. h. mit der Entfernung des
Punktes d vom Durchschnitte der ßd mit der
a;^ als Halbmesser und mit ö als Mittelpunkt
wird ein Kreisbogen beschrieben, der einesteils
die da andemteils die dg, selbst oder in ihrer
Verlängerung, in rj und 0 schneidet. Nach
dem bekannten Satze von der Halbierung
eines Dreiecks winkeis ist aß : ßy ^ ae : sy, aber aß <ßy, also auch
as <^By d. h. ae ist weniger als die Hälfte von ay^ e fällt zwischen
a und t ^"id ©s ist demzufolge da> de > di, woraus weiter folgt,
daß fj auf 8a selbst, 0 auf der Verlängerung von dg liegen muB.
Dann ist aber der Kreissektor Sei] kleiner als das Dreieck dea, und
der Kreissektor dsO größer als das Dreieck dag. Aus diesen Ver-
gleichungen folgen die beiden anderen:
Preieck def Sektor deO , Dreieck dsj; Dreieck ^«f
Sektor dcij Sektor deij Sektor deij Dreieck dea'
aus deren Verbindung hervorgeht, daß
Dreieck de^ Sektor deß
Dreieck äsa Sektor deij
., Dreieck 9s^ ej; , Sektor d«Ö arcus b6 -p.. ,
Aber p, . . ^ — und ^ v^ — 5 — == Die gewonnene
Dreieck Ssa sa Sektor deri arcus bti ^
Ungleichung heißt also auch * < ^^5Li . V7ird beiderseits die
od Ba arcus sri
Einheit hinzugefügt und alsdann verdoppelt, so entsteht
ay 2 arcus riß
sa arcus bti
Nun vermindert man wieder beiderseits um die Einheit und gewinnt
damit ^^ < — ^?- —t?:^??? — 5. Da aber weiter ^ = '-^ und
ac arcus t^b üb aß
arcus öe + arcus 0rj __ <^ ßdy arcus ßy
arcus riB <^ßäa arcus aß^
so ist endlich
chorda ßy ^ arcus ßy
chorda aß arcus aß
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 419
d. h. der Quotient der größeren Sehne durch die kleinere
Sehne ist kleiner als der Quotient der von den Sehnen be-
spannten Bögen ^). Man hat erkannt ^)^ daS Aristarchus von
SamoS; ein Astronom^ welcher um das Jahr 270 lebte und von
Archimed erwähnt wird (S. 321), sich schon dieses Satzes bediente,
wenn auch ohne ihn zu beweisen. Aus diesem letzteren Grunde haben
wir darauf verzichtet, dort davon zu reden, wo es im 14. Kapitel der
Zeitfolge nach hätte geschehen können. Werden nun Sehne und
Bogen von 1® mit denen von ly und von verglichen, so er*
gibt sich
duttda 1* arcas 1* , chorda 1^* arcus 1\^
Chorda ~j« ^ arcas |« ^ chorda 1« "^ ATCufl^ '
«r arcus 1** 4 arcus 14* 3 , -i i . i .
-"- chorda 1— < chorda 1® < -3- chorda — •
9 2 O 4
Die beiden äußeren Werte heißen nun bis in den Sekunden überein-
stimmend 1 • 2' • 50", und somit wird mit einer Genauigkeit, welche
die Sekunden noch zuverlässig erscheinen läßt, auch der dazwischen
liegende Wert chorda 1® = 1 • 2' • 50" sein müssen. Jetzt ist die
Sehne von 1° und die von 1 - y folglich auch die Sehne von ^ be-
1 0
kannt, und die Sehnen aller um je ^ wachsenden Bögen von 0 bis
180® einschließlich können gefunden werden.
Sie alle hat Ptolemäus in seiner Sehnentafel vereinigt, größere
Bögen ausschließend. Er tut dieses nicht etwa, weil die Sehne, die
einen Bogen bespannt, der größer als der Halbkreis ist, zugleich auch
zu einem anderen kleineren Bogen gehört, der den ersten zu einem
ganzen Kreise ergänzt, sondern weil Bögen, die größer als der Halb-
kreis sind, bei ihm überhaupt nicht vorkommen. Wenigstens führt
er diesen letzten Grund ausdrücklich an^), während wir den erst-
genannten nicht bei ihm finden. Für die Auffindung der Sehnen
von Bögen, welche zwischen zwei in der Tabelle befindlichen ent-
halten sind, sorgt eine weitere Kolumne der Proportionalteile oder.
^) Dem GtedächtnisBe kann man diesen Satz des Ptolemäus besser in der
fast in die Sinne fallenden, bei Ptolemäus jedoch nicht vorkommenden Form
einprägen, daß der Quotient des größeren Bogens durch seine Sehne größer sei
als der Quotient des kleineren Bogens durch seine Sehne. *) y. Braunmühl,
Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 8, Note 1. ')AlmagestI,
11 (ed. Halma) 1, pag. 51: %al i«l t&v i|f}ff dh Xa[tßavo\Uvo>v 7iBgi(psQBi&v th
oitowv ^Ttaxoviö^m (sc. iXdööova slvtu iffiixvxUov).
27*
420 20. Kapitel.
wie Ptolemäus sagt, der Sechzigstel, iiipcoöT&v, indem angenommen
wird, daß die Veränderung der Seimen der Bögen innerhalb der
tabellarischen Angabe von y zu y oder von 30' zu 30' der Ver-
änderung der Bögen proportional sei. So steht beispielsweise neben
dem Bogen 20» O' die Chorde 20 . 50 . 16, neben dem Bogen 20« 30'
die Chorde 21 . 21 . 12. Der Zunahme des Bogens um 30' entspricht
eine Zunahme der Chorde um 0 . 30 . 56, und findet diese im Ver-
hältnisse der Bogenzunahme statt, so ist der mittlere Zuwachs der
Chorde 0 . 1 . 1 . 52 für jede Minute, um welche der Bogen zwischen
2(fi und 20« 30' zunimmt. Diese Zahl 0 . 1 . 1 . 52 steht denn auch
in der dritten Kolumne neben den Zahlen 20 . 0 der ersten, 20.50. 16
der zweiten Kolumne. Ein Beweis für diese angenommene Propor-
tionalität in engem Bereiche ist dagegen nicht vorhanden^).
War das 9. Kapitel der Entwerfung der Sehnentafel gewidmet,
80 ist im 11. K!apitel die Trigonometrie, und zwar hauptsächlich
die sphärische Trigonometrie enthalten, sich aufbauend auf den Sätzen
des Menelaus, die hier ohne Quellenangabe vorkommen^), so daß man
sie lange für Erfindungen des Ptolemäus hielt, bis im XVII. S. Pater
Mersenne sie ihrem Urheber zurückerstattete'). Der Hauptsatz der
ebenen Trigonometrie, daß im Dreiecke zwei Seiten sich ver-
halten wie die Sehnen der doppelten Bögen, welche die den Seiten
gegenüberliegenden Winkel messen, ist allerdings nicht deutlich aus-
gesprochen, sondern nur iu anderen Sätzen inhaltlich mit enthalten.
Vollständiger sind die Sätze der sphärischen Trigonometrie an-
gegeben. Dem Wortlaute, aber nicht dem Gedanken nach moderni-
siert lautet seine Darstellung etwa folgendermaßen*). Wenn Ptole-
21' ^ ^, maus (Fig. 71) das bei H rechtwinklige Drei-
eck AHB berechnen will, so konstruiert er
den Pol P von AH, dann den zu A als Pol
gehörigen Äquator PB'H\ der in B\ H' die
verlängerten Seiten yfjB, ^ H schneidet. Somit
wird B'H' =^ cc und alle in der Figur vor-
kommenden Bögen lassen sich durch a, h, h, a
und deren Komplemente ausdrücken. Nun
Fig. 71. kann der Satz des Menelaus viermal angewandt
\1 Ideler 1. c. 23 hat die Richtigkeit der ptolemäischen Zahlen geprüft
und hat gefunden, daß sie auf fünf Dezimalstellen genau sind. *) Almagest
(ed. Halma) I, pag. 50 der Satz für das ebene Dreieck, pag. 65 der Satz für
das sphärische Dreieck. ') Vgl. Chasles, A))erQu hist 298, Deutsch 289.
Chasles selbst ist geneigt, die Sätze auch dem Menelaus wieder abzusprechen
und hält Euklid für den Erfinder, in dessen Porismen sie vorgekommen seien.
^ Wir entnehmen diese Zusammenfassung fast wörtlich aus Hankel S. 286—286,
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 421
werden, nämlich auf die Dreiecke ^BH, PBB\ PHH\ AB'H\
Die zugehörigen Transversalen sind in gleicher Ordnung PB'H', AHH\
B'BA, PBHj und die Anwendung des Satzes von den sechs Größen
liefert die vier Gleichungen:
1. cos h = cos a ' cos b oder cos h « cos a • cos b
2. sin a = sin a • sin A oder sin a = sin h • sin a
3. cos a ' siab ' sina^ cos a • sin a oder tng a = sin 6 • tng a
4. sin 6 • cos A =» cos ft • cos'a • sin h oder tng ft =« cos « • tng A.
Die Beweise hat Ptolemäus nicht immer gegeben und die Kommen-
• tatoren haben nicht unterlassen, hier die sehr nötigen Ergänzungen
eintreten zu lassen^).
Die Trigonometrie als Kapitel des I. Buches des Almagestes be-
handelt, entspricht vollständig dem, was wir (S. 412) schon andeuteten.
Die Trigonometrie ist wesentlich zu astronomischen Zwecken ent-
standen, so daß die sphärische Trigonometrie notwendiger und dem-
zufolge auch früher ausgebildet war als die ebene Trigonometrie.
Eine ebene Trigonometrie im Dienste der theoretischen Planimetrie
ist dem Altertume ebenso fremd wie eine solche im Dienste feld-
messerischer Untersuchungen, wenn man von der einzigen Ausnahme
der Zahlenformeln Herons für den Flächeninhalt regelmäßiger Viel-
ecke absieht. Die Tatsache mag uns beim ersten Anblicke auffallen,
eine Erklärung derselben scheint nicht schwer zu sein. Trigono-
metrische Ausdrücke als Durchgangspunkte, von welchen man wieder
zu anderen Gh-ößengattungen gelangen will, sind nicht denkbar, so
lange noch keine ausgebildete Zeichensprache der Mathematik vor-
handen ist. Bis dahin liefern trigonometrische Ausdrücke mit Hilfe
von Sehnentafeln in Zahlen umgesetzt nur näherungsweise richtige
Ergebnisse. Der wissenschaftliche Geometer war aber abgeneigt, sich
mit einer bloßen Annähening, und sei sie noch so nahe, zufrieden
zu geben. Der unwissenschaftliche Feldmesser war abgeneigt, das
Wissen sich zu erwerben, welches zur Erlernung des trigonometrischen
Rechnens unerläßlich war. So überließen beide die mißachteten oder
gescheuten Verfahrungsweisen der Trigonometrie dem Astronomen,
der weniger heikel als der eine, weniger denkfaul als der andere der
guten Ergebnisse dieser Nährungsmethoden sich freute und bediente.
Gehören die übrigen Bücher des Almagestes der Geschichte der
Astronomie an*), und ist für uns höchstens noch ein Wert von
Anmerkung, da wir es kaum für möglich halten, eine bündigere und übersicht-
lichere Darstellung zu liefern.
*) Theon Alexandrinus (ed. Halma) I, pag. 248 sqq. *) Wolf, Geschichte
d. Astronomie S. 61—68, eine sehr hübsche Übersicht über den Inhalt des Almagestes.
422 w. Ki^iteL
3r«3.8.30Ah.- ^^ == 3^^^^ =- 3,141 666 ... bemerkenswert*),
80 liat die Entwicklungsgeschichte der Mathematik den Namen des
Ptolemäns noch wegen anderer Werke aufzubewahren, die teilweise
wieder fftr sie und f&r andere Disziplinen ein gemeinsames Interesse
besitzen, teilweise rein mathematisch sind.
Wir reden hier zuerst Ton der mathematischen Geographie
des Ptolemaus*). Wir erinnern uns, daß Hipparch (S. 362) die
Punkte der Erde durch Koordinaten der 'Länge und Breite bestimmte.
Er ging von dem Meridiane von Rhodos als Anfang frlr die Längen
aus. Marinus Ton Tyrus im ersten Jahrhundert n. Chr. dürfte
den Anfangsmeridian nach den kanarischen Inseln Terlegt haben, dem
damals äußersten nach Westen gelegenen bekannten Punkte'). Ptole-
mäns folgte auf Marinus und faßt in vielen Dingen auf dessen Unter-
suchungen, in andern ihn tadelnd und verbessernd. Auch ihm heißen
die Ausdehnungen von Ost nach West und von Nord nach Süd
lAnge, fifixogy und Breite, xJidrog, weil die Erde, wie jedermann zu-
gestehe, mehr Ausdehnung in der ersten als in der zweiten Abmessung
besitze, und Länge eben die größere Abmessung (S. 395) bezeichne^).
So hat sich also das Eoordinatenbewußtsein in seiner geographischen
Anwendung fortwährend erhalten.
Ptolemäus ging aber vielleicht in dem Bewußtsein, daß man auf
gewisse Gbiindrichtungen sich beziehen müsse, noch weiter. Wir
denken dabei an eine Notiz, welche wir Simplicius, dem bekannten
Erklärer des Aristoteles, schulden. In den Erläuterungen zum
I. Buche vom Himmel berichtet er, Ptolemäus habe Qber die Aus-
dehnungen, xsqI diaötdöemv, geschrieben und dort gezeigt, daß
nur drei Ausdehnungen eines Körpers möglich seien. Bei der Un*
bestimmtheit dieser Angabe müssen wir allerdings dahingestellt sein
lassen, ob man glauben will, es seien in jener Schrift Gedanken ent-
halten gewesen, welche dem Begriflfe von Raumkoordinaten nahe
kommen.
Wieder an Hipparch sich anlehnend, lehrt Ptolemäus in der
») Almageet VI, 7 (ed. Halma). Ptolemäus sagt ausdracklich, dieser
Wert liege nahezu in der Mitte — (uta^v icriv Ifyusta — zwischen 8 ^ und
8^ In der Tat ist sexagesimal ausgedrückt 8 =^ 8« 8' 34,28" und 8
71 •*
«80 8' 27,04", und deren arithmetisches Mittel ist 8<>8'80,66", wÄhrend 8^
wie in unserem Texte angegeben ist 8*8' 30" betragt. «) Troite de G^graphie
de Gatide FtoUmie d'Alexandrie (ed. Halma). P*ns 1828 ») Wolf, Geschichte
der Astronomie S. 168. *) PtoUmee, Giographte (ed. Halma) pag. 17.
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 423
Geographie die Anfertigung Ton Landkarten, und das 24. Kapitel
des I. Buches^) ist wohl das älteste erhaltene Schriftstück^ welches
in seiner Überschrift als der Abbildung der bewohnten Erde auf
einer Ebene gewidmet bezeichnet ist, so daß die Maße der Lagen-
Terhaltnisse auf der Kugel beibehalten werden sollen. Verschiedene
Projektionsmethoden werden hier gelehrt, mit welchen Ptolemäus sich
auch in einer anderen Schrift, dem Planisphaerium, beschäftigt
hat'). Ptolemäus benutzt yorzüglich die Projektion, bei welcher das
Auge als im Pole befindlich gedacht wird und die Äquatorialebene
die Zeichnungsebene bildet, die Projektion also, welcher Aiguillon
1613 den Namen der stereographischen beigelegt hat. Wieder
eine andere Abhandlung ist das Analemma, das griechisch in nicht
unbedeutenden Bruchstücken und lateinisch in einer im XITT. Jahr-
hunderte angefeitigten Übersetzung Tollstandig erhalten ist'). Es
handelt sich darum, den Ort der Sonne zu einer bestimmten Tages-
zeit zu ermitteln, und diese Aufgabe wird graphisch gelöst. Was
nun die praktische Benutzung der durch Zeichnung erhaltenen Figur
betrifft, so geht aus dem Wortlaute des Ptolemäus hervor, daß er die
beiden Möglichkeiten unmittelbarer und mittelbarer Winkelmessung
kannte und ausübte. Zu der ersten diente ein in 90 Grade geteilter
Kreisquadrant, zu der zweiten die Sehnentafel. Man hat darauf auf-
merksam gemacht, daß die Figur selbst die Hälfte der Sehne des
doppelten Winkels als meßbare Strecke darbot, daß also die Be-
nutzung der Sehnentafel erst eine Verdoppelung einer Strecke, dann
eine Halbierung eines Winkels verlangte, während diese Hilfsrech-
nungen inWegfall kamen, wenn man das kannte, was in späterer Zeit
und auf anderem Boden Sinustafeln genannt wurde.
Schriften des Ptolemäus über die Harmonielehre, d. h. über die
Verhältnisse, welche, wie man heute sagen würde, zwischen den
Schwingungszahlen der einzelnen Töne stattfinden, und über Optik ^)
begnügen wir uns zu nennen, da sie der Geschichte der Mathematik
nicht angehören. Von Arbeiten über Mechanik wissen wir nur über-
haupt, daß sie vorhanden waren; Pappus erwähnt ihrer in seinem
*) Ptoleniü, Geographie (ed. Halma) pag. 69. '; Diese Abhandlung hat
Oommandinns 1668 übersetzt und herausgegeben. *) Heiberg, Ptolemaetu
de anaiemmate in den Abhandlungen z. (^esch. d. Mathem. VU, 1—30 (1896)
hat die griechischen Bruchstücke und die alte Obersetzung herausgegeben. Über
den Inhalt vgl. A. v. Braunmühl, Vorlesungen über G^sch. der Trigonometrie I,
11 — 14 (1900) und die wenig spätere Abhandlung von Zeuthen, Note sur la
triganometrie de VantiquüS in der Bibliotheca Mathematica, S. Folge, I, 20—27
(1900). *) Vgl. Poudra, Histoire de la perspective, Paris 1864, pag. 28—32.
Eine firüher als Ptolemäus, Dt speeulis bezeichnete Eatoptrik ist nicht von
Ptolemäus, sondern von Heron. S. Agrimensoren 18 — 19.
424
20. Kapitel.
VIII. Buche y EntokiuB in seinen Erläuterungen zu der archimedi-
schen Schrift über das Gleichgewicht. Vielleicht hatte Ptolemäu»
auch einen Sohn, der ein mechanisches Werk verfaßte, in welchem
die ungleicharmige Wage mit Laufgewicht beschrieben war. Jener
Sohn, so vermutet man^), hieß Charistion und gab der von ihm
erläuterten Wage seinen Namen.
Dagegen hat uns Proklus Auszüge aus einem reingeometrischen
Buche des Ptolemäus überliefert'), welche verdienen, daß wir bei
ihnen verweilen. Aus diesen Auszügen geht hervor, daß Ptolemäus
jedenfalls der erste Mathematiker war, von welchem bekannt ge-
worden ist, daß er das sogenannte 11. Axiom des Euklid nicht
als selbstverständlich betrachtet wissen wollte, daß er die zahllose
Reihe derer eröffnet hat, welche durch Versuche die Parallelentheorie
zu beweisen vergeblich sich abmühten, bis im XIX. S. der imendlich
viel kühnere Versuch auftauchte, die Parallelentheorie als anfechtbar
zu erklären und eine Geometrie zu schaffen, welche von ihr absehend
als nicht- euklidische oder absolute Geometrie Geltung beansprucht.
Ptolemäus beweist zunächst, daß Gerade, welche durch eine Trans-
versale so geschnitten werden, daß die Winkel auf derselben Seite
der Transversalen und auf entgegengesetzten Seiten der Geschnittenen
sich zu zwei Rechten ergänzen, parallel sein müssen, d. h. sich nicht
treffen (Fig. 72). Gesetzt aß und yd schnitten sich in x, während
die Winkel ß^rj und drj^ sich zu
^^ zwei Rechten ergänzen. Wegen
, des Satzes über Nebenwinkel werden
— /^ auch die Winkel a^rj und yrj^
^< / ^^-^^ ®^^^ ^^ ^^^^ Rechten ergänzen,
"^ und folglich wird auch auf der
Seite, wo a und y steht, ein Durch-
schnitt der beiden Geraden in l
stattfinden. Die Geraden aß und
yd schneiden sich also zweimal
in X und A, ohne zusammenzufallen, d. h. sie schließen einen Raum
ein, was nicht möglich ist. So wenig gegen diesen Beweis sich
einwenden läßt, so wenig zutreffend ist der Beweis, den Ptolemäus
von dem umgekehrten Satze liefert, daß bei wirklich vorausgesetztem
Parallelismus die entsprechenden Winkel auf derselben Seite der
Transversalen sich zu zwei Rechten ergänzen müssen. Die beiden
Plg. 72.
^) P. Duhem, Les origines de la statique I, 86—87. *) Proklus (ed.
Friedlein) 362—368. Vgl. L. Majer, Proklos über die Petita und Axiomata
bei Euklid. Tübingen, Gjmnasialprogramm 1876.
Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus 425
a^ und yrj, sagt er nämlich, sind nicht weniger parallel als die ^ß
und i]d. Wäre also die Summe der Winkel /Sgiy und diyg mehr oder
weniger als zwei Rechte, so müßte genau das Gleiche für die Summe
der Winkel cc^rj und yrj^ gelten. Die vier Winkel zusammen müßten
also, sei es nun mehr, sei es weniger als Tier Rechte betragen,
während sie als zwei Paar Nebenwinkel genau vier Rechten gleich sind.
Wie Ptolemäus die euklidischen Elemente in der Theorie der
Parallellinien für er^nzungsbedürftig hielt, so scheint es damals auch
mit anderen Büchern des darum nicht minder bewunderten Werkes
gegangen zu sein. Wir bringen in Erinnerung (S. 348), daß im
U. S. der byzantinische Astronom Vettius Valens einen aus
2 Büchern bestehenden Kommentar zum X. Buche der euklidischen
Elemente verfaßte, dessen arabische Übersetzung sich möglicherweise
erhalten hat.
Die Schriftsteller, mit welchen wir in diesem Kapitel bekannt
geworden sind, zeigen uns eine gewisse Gleichartigkeit unter sich
und mit denjenigen, welche in dem 17. Kapitel besprochen wurden.
Wieder haben wir es mit Geometern zu tun, welche der Kurven-
lehre ihre Aufmerksamkeit zuwandten, welche die Stereometrie aus-
bildeten, von allen Körpern hauptsächlich die Kugel beachtend, welche
der rechnenden Geometrie die Vollendung zur Trigonometrie gaben,
indem sie gewisse Linien berechneten und tabellarisch zusammen-
stellten, welche zu gewissen Winkeln gehörten. Die Sehnentabelle
ist — wir können uns nicht versagen, unsere Augen so weit nach
rückwärts zu werfen — die für lange Zeit letzte Entwicklung eines
alten Keimes. Das Seqt genannte Verhältnis des Ahmes wuchs dazu
heran, und es scheint fast, als ob die ganze Entwicklung auf ägyp-
tischem Boden vor sich ging.
Ist aber eine Art von Gemeinsamkeit der Mathematiker von
Nikomedes und Diokles bis auf Menelaus und Ptolemäus, von 200
V. Chr. bis 150 n. Chr. nicht zu verkennen, so ist es nicht minder
notwendig, auf allgemeine kulturhistorische Veränderungen hinzu-
weisen, welche innerhalb dieser Zeit eintraten, und welche nunmehr
beginnen werden auf dem Gebiete, welches wir zu unserem Arbeits-
felde ausgewählt haben, sich deutlich bemerkbar zu machen. In der
Einleitung zum 12. Kapitel haben wir (S. 259) die alczandrinische
Literaturperiode ihrem allgemeinen Charakter nach kurz umrissen.
Wir haben als untere Grenze derselben die Einverleibung Alexandrias
in das römische Reich bezeichnet in der Mitte des ersten vorchrist-
lichen Jahrhunderts. Über diese Grenze hat uns das hier ab-
schließende Kapitel hinübergeführt und noch über eine andere von
weltgeschichtlich größter Bedeutung. Geminus 77 v. Chr., Ptolemäus-
426 21. Kapitel.
150 n. Chr. bilden An&ng and Schluß unseres Kapitels. Müssen
wir erst sagen, was zwischen beiden Jahreszahlen liegt? Und dennoch
war die Entstehung des Christentums für die Geschichte unserer
Wissenschaft ein zunächst fast nebensächliches Ereignis, weit gering-
fügiger in seinen unmittelbaren Einwirkungen als jene Machtrer-
schiebung, die wir schon andeuteten. Rom kommt in den feld-
messerischen Beispielen des Heron, in den astronomischen Beobach-
tungen des Geminus Tor. Auch Menelaus beobachtete in Rom.
Ptolemäus entnahm seine Datierungen den Regierungsjahren römischer
Kaiser. Daran erkennen wir äußerlich, daß neue staatliche Kombina-
tionen innerhalb des Lebens gerade der Männer sich gebildet haben,
welche wir in diesem Kapitel friedlich nacheinander betrachteten.
Solche weltgeschichtliche Tatsachen dürfen auch in der historischen
Darstellung einer Wissenschaft nicht mit Schweigen übei^ngen
werden. Die Entwicklung der Wissenschaft knüpfk sich an die Träger
der Wissenschaft; die Träger der Wissenschaft gehören als Menschen
ihrer Zeit an. Deutlicher oder in verwischteren Spuren wird die
Zeit auch in der Wissenschaft zu erkennen sein. Überblicken wir
darum in raschestem Fluge die allgemeinen Verhältnisse. Wir
gelangen damit zugleich zu denjenigen mathematischen Dingen, deren
Erörterung uns der Zeit nach etwas zurückgreifend nunmehr obliegt.
21. Kapitel.
Nenpythagoräische Arithmetiker. Nikomachns. Theon.
Rom hatte nach und nach in Italien das unbestrittene Über-
gewicht über die Mitbewohner des Landes südlich Ton den Alpen
errungen. Der Tod des Archimed knüpft sich für uns an die Er-
oberung von Syrakus, das Todesjahr des Apollonius war es ungefähr,
in welchem Rom mit Mazedonien handgemein wurde und den Sieg
bei Kynoskephalä erfocht. Zehn Jahre später und der syrische Krieg
gegen Antiochus den Großen war geschlagen. Die seegeübten Be-
wohner der Insel Rhodos wie die Krieger von Pergamum waren den
Römern zur Seite gestanden und fühlten von jetzt an den Einfluß
der mächtigen Weltbe&eier, wie man die Römer noch nannte. Deut-
licher wurde das Streben des die Stellung als Weltmacht sich er-
obernden Staates, als um 150 die Nebenbuhlerschaft Karthagos ver-
nichtet ward, und mehr und mehr drängte sich in dem nun folgenden
Jahrhunderte römischer Wille den orientalischen Ländern mit Ein-
schluß Ägyptens auf. Gegen Ägypten selbst ftlhrte Cäsar im Jahre 47
KeupythagorSigche Arithmetiker. Kikomachus. Theon. 427
seine Trappen zum aiexandrinischen Kriege, und der Erobeining
der Stadt leuchtete mit bildungsfeindlicher Flamme der Brand des
Brucheion.
Wir haben von dem großartigen Sammeleifer der ersten Ptole-
mäer gesprochen. Ihnen fast voraus war die Gier, mit welcher König
Attalus von Pergamum Bücher sich zu y erschaffen suchte, und diese
Wettbewerbung soll die Ursache nachweisbar Torgekommener KLl-
schungen gewesen sein. Im 11. vorchristlichen Jahrhunderte tauchten
plötzlich Schriften auf, von welchen der sein sollende alte Verfasser
nie eine Ahnung gehabt hatte, und welche wissenschaftlich nur so
weit Verwertung finden können, als sie den Beweis liefern, daß
man im II. S. mit den Dingen bekannt war, die den Inhalt derselben
bilden. Durch Ankäufe echter und unterschobener Schriften "Wuchs
die alexandrinische Bibliothek so, daß sie in einem Gebäude nicht
mehr Platz fand. Nachdem das Brucheion. in der Nabe des Hafens
angefüllt war, legte man eine zweite Sammlung im Tempel des
Serapis an. Jene erste Hauptsammlung war es, die der Feuersbrunst
zum Opfer fiel, die mit mehr als 400000 Bänden das vernichtende
Element nährte.
Das war ein harter Schlag f&r die Wissenschaft und deren
alexandrinische Vertreter. Bis zu einem gewissen Grade wurde zwar
Ersatz geboten. Der römerfreundliche König von Pergamum, Atta-
lus in., hatte sterbend im Jahre 133 v. Chr. den römischen Senat
zum Erben seiner Schätze eingesetzt, und Antonius überließ die per-
gamenische Büchersammlung der Stadt, welche durch die Reize Eüeo-
patras an ihm einen Gönner gewonnen hatte. So war aufs neue
eine großartige Bibliothek, jetzt im Serapeion, vereinigt. War die
grammatische Tätigkeit, welche wir bei unserem früheren Berühren
der aiexandrinischen Wissenschaft als im Museum vorzugsweise neben
und wohl vor der Mathematik gepflegt nannten, eine solche, die als
Stoff ihrer Untersuchung ältere Schriften verwerten mußte, so mag
jetzt, nachdem man gesehen, wie ein Unglücksfall unschätzbar vieles
zerstört hatte, mehr noch als zuvor eine Neigung erwacht sein, durch
Erläuterungen und Zusammenstellungen die alte Wissenschaft in
Sicherheit zu bringen. Andere Momente waren gleichfalls vorhanden,
anderen Beweggründen entstammend, aber für unsere Zwecke mit der
kommentierenden Tätigkeit zusammenfallend.
Alexandria war der Ort, wo Hellenen tum, wo Ägyptisches, wo
aber auch Asiatisches sich begegneten. Assjrer, Inder, Hebräer
trafen dort ein, ihre ältere oder jüngere Bildung mit sich bringend,
austauschend, ergänzend. Was bei einem solchen Zusammenströmen
Weitgereister einzutreffen pflegt, fehlte auch hier nicht. Der Wissens-
428 21. Kapitel.
durst schöpfte mit notw^endigem Eklektisdsmus bald da, bald dort;
das Wunderbarste übte die größte Anziehung; man fühlte sich Ter^*
sucht; selbst nach jenen Gegenden^ dem Schauplatze märchenhafter
Erzählungen ; aufzubrechen; man gewann aber auch neues Interesse
an solchen^ die ehedem gleiche Reisen ausgeführt hatten, denen man
zu den wirklich erlebten Abenteuern neue hinzudichtete. Die Phan-
tasie gewann das Übergewicht über den nüchtern denkenden Ver-
stand. Die Dialektik des Aristoteles entsprach den Neigungen nicht
mehr in dem Maße wie Piatons die Einbildungskraft anregende und
voraussetzende Schriften. Piaton als Schriftsteller, Pjthagoras als
Persönlichkeit zu verehren wurde allgemeiner und allgemeiner. Ein
gewisser mystischer Pythagoräismus, von Wissenschaft freilich weit
entfernt, war nie ^Inzlich verschollen. Er erholte sich zu neuem,
kräftigem Leben. Die neue Akademie bildete sich heran, die Neu-
pythagoräer entstanden. Sie studierten, sie erläuterten Piaton im
pythagoräischen Sinne, soweit derselbe zu ermitteln war.
So kamen selbstverständlich auch diejenigen mathematischen
Forschungen wieder in eifrigere Übung, welche schon vorher vor-
handen gegen die Geometrie zurückgetreten waren, wenn auch ein
Verschwinden derselben nicht behauptet werden kann. Die pytha-
goräische Arithmetik wurde jetzt Mode in dem Sinne, wie wir dieses
Wort schon einmal (S. 259) gebraucht haben. Männer wie Niko-
machus, wie Theon standen auf.
Nikomachus war in Gerasa zu Hause, einem Orte, der wahr-
scheinlich in Arabien zu suchen ist^). Er nennt in einer musika-
lischen Abhandlung Thrasyllus, womit jedenfalls der unter der
Regierung des Tiberius lebende Platoniker aus Mende gemeint ist,
er kann also nicht früher als etwa 30 n. Chr. geschrieben haben.
Ihn übersetzte Appuleius von Madaura unter den Antoninen ins
Lateinische^), und damit ist als untere Grenze das Jahr 150 etwa
gewonneo. Gemeiniglich setzt man Nikomachus von Gerasa auf
einen mittleren Zeitpunkt zwischen diese. Grenzen, um das Jahr
lOO n. Chr., denkt ihn also etwa als Zeitgenossen des Menelaus von
Alexandria.
Nikomachus war als Pythagoräer bekannt^), als Arithmetiker
berühmt. Neben der Tatsache einer Übersetzung so kurz nach dem
Erscheinen des Werkes, wie die des Appuleius, ist der Ausspruch des
Lucian dafür bemerkenswert, der um 160 etwa einen Rechner nicht
*) Die Stellen, welche diese Annahme unterstützen, Tgl. bei Nesselmaun,
Die Algebra der Griechen S. 189, Note 33. *) So berichtet Cassiodorius. Die
Übersetzung selbst ist verloren. ') Pappus 111,18 (ed. Hultsch) pag. 81 Nix6-
(laxog 6 nvd'ayoQix6g.
Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 429
besser zu kennzeichnen wußte als mit den Worten, er rechne wie Niko-
machus von 6erasa^), und auch von Kommentaren zu den Büchern
des Nikomachus, welche deren große Berühmtheit verbürgen, werden
wir weiter unten zu reden haben.
Die musikalischen Schriften des Nikomachus werden wir nicht
zu betrachten haben ^ so wenig wir andere Musiker in das Bereich
unserer Besprechung ziehen. Uns kümmert in erster Linie nur die
y^inleitung in die Arithmetik in zwei Büchern"*), eigayayii
äQiOfirjxixi^j eben jenes von Appuleius bald übersetzte Werk, dessen
geschichtliche Stellung wir zu erörtern haben. Ein Schriftsteller
aus dem Anfange des YU. S., Isidorus von Sevilla, hat behauptet,
Nikomachus habe weitläufiger auseinandergesetzt, was Pythagoras
über die Zahlenlehre schrieb*). Wir sind weit entfernt, an die über-
treibungslose Wahrheit dieser Aussage zu glauben, allein eben so ge-
wiß scheint uns, daß von dem Inhalte der Einleitung in die Arith-
metik vieles auf ältere und älteste Quellen zurückzuführen sein wird.
Nikomachus ist uns auf arithmetischem Gebiete das, was uns Euklid,
was uns Heron für die Elemente der theoretischen, der praktischen
Geometrie gewesen ist. Er ist der erste Schriftsteller, von dem wir
wissen, daß er die arithmetischen Lehren als solche zu einem Lehr-
körper zusammenstellte. Euklid hatte auch Arithmetisches behandelt,
aber als Einschaltung zwischen geometrische Untersuchungen und in
geometrischer Einkleidung. Was Herons Einleitung in die arithme-
tischen Elemente war, wissen wir nicht. Alle Zweifel schwinden bei
Nikomachus. Er hat die Zahlenlehre für sich behandelt, und wenn
er auch schon vorhandenen Stoff sicherlich nicht verschmähte, wenn
er ebenso auch die Gewohnheit griechischer Mathematiker nicht so
weit abzustreifen vermochte, daß er geometrische Begriffe gänzlich
aus seiner Darstellung verbannte, er hat doch nicht fortwährend mit
Linien oder höchstens beiläufig mit Zahlen zu tun. Er ist, wenn
wir so sagen dürfen, der Elementenschreiber griechischer Arithmetik.
Er hat eine Liebhaberei, von welcher wir unsere Leser in Kenntnis
setzen müssen. Er sucht so viel als möglich nach Dreiteilungen,
auch wo dieselben nur mit einem gewissen Zwange erlangt werden
können. Die an sich gerechte Bemängelung, die manchen seiner Ein-
*) &Qi9iJieBis «s Nix6itMxog 6 reQa6riv6g. *) Schon 1588 in Paris gedruckt,
ist sie 1817 zugleich mit dem anonymen Buche d'soXoyovfisva tfjs Segkd'iiTitixijg
durch Ast herausgegeben, dann 1866 durch Ho che. Wir zitieren nach letzterer
Ausgabe. *) Isidorus Hispaliensis, Origints III, 2: Numeri discipUnam apud
Graecos Pythagoram autumant conscripsisse ac deinde a Nieomacho diffueiuB
esse dispositam^ quam apud Latinos primus Appuleius deinde Boethius trans»
ttUerunt.
430 21. Kapitel.
teiluQgen geworden ist, mußte stets an diese Tatsache anknüpfen^),
eine Tatsache freilich, deren nähere Besprechung durchaus der Ge-
schichte der Philosophie und der Theologie angehört, welche mit dem
Ursprünge und der Entwicklung des Trinitätsbegriffes sich abzufinden
haben. Nach dieser Vorbemerkung berichten wir in aller Kürze über
die Einleitung in die Arithmetik^). Unsere Leser werden, auch ohne
daß wir sie besonders aufmerksam machen, ohne Zweifel vieles er-
kennen, was wir in früheren Kapiteln dem Werke des Nikomachus
entlehnten, um es für Pythagoras und seine Schule bis auf Piaton
und dessen nächste Nachfolger in Anspruch zu nehmen.
Die Zahlen sind nach Nikomachus gerade und ungerade, jede
selbst yon drei verschiedenen Gattungen. Die geraden Zahlen sind
nämlich 1. gerademalgerad, agriäxig ägrioL, d. h. führen durch fort-
währende Halbierung auf die Einheit zurück; oder sie sind 2. gerade-
ungerad, äQxi,o7taQLttoi,y d. h. führen durch einmalige Halbierung auf
eine ungerade Zahl; oder sie sind 3. ungeradegerad, XEgLöödgrioL, d. h.
führen durch mehrmals fortgesetzte Halbierung auf eine ungerade Zahl.
Die ungeraden Zahlen sind 1. unzusammengesetzte Primzahlen,
2. zusammengesetzte Sekundärzahlen, 3. unter sich teilerfremde Zahlen.
Unter den geraden Zahlen wird eine neue (Jruppierung in 1. voll-
kommene, 2. überschießende, 3. mangelhafte Zahlen vorgenommen.
Die vier ersten vollkommenen Zahlen sind 6, 28, 496, 8128, jedesmal eine
unter den Einem, Zehnem, Hundertern, Tausendern, abwechselnd mit
6 und 8 schließend"). Die euklidische Entstehung der vollkommenen
Zahlen wird dann erörtert, welche ins Unendliche fortgesetzt werden
könne^), oder soweit man mit den Ausrechnungen zu folgen imstande
sei^). Von zwei gemeinsam betrachteten Zahlen ist die größere
entweder ein Vielfaches der kleineren, die alsdann selbst Unterviel-
faches der größeren ist, oder nicht. Im letzteren Falle werden die
Namen angegeben, welche jedesmal der größeren, beziehungsweise
der kleineren gegenüber von der anderen beigelegt werden, Namen,
die jedes beliebige Verhältnis ausdrücken können, die aber ganz be-
sondere, später auch in die lateinische Sprache übergegangene Formen
erhalten, wenn das Verhältnis wie 1 zu n -{ r- - oder wie 1 zu
n -\ , — ist, wo n sowohl als m ganze Zahlen bedeuten, die min-
')So Nesselmann, Algebra der Griechen S. 196: , Nikomachus hätte
sicherlich diesen Fehler nicht begangen, wenn er nicht der Analogie wegen
durchaus drei Teile hätte herausbringen wollen.'* *) Ein ausführlicher Auszug
bei Nesselmann 1. c. S. 191 — 216. •) Nicomachi Introdtictio etc. (ed. Hoche)
pag. 40. *) Ebenda pag. 41 lin. 18 iiixQts äxelgov, ') Ebenda pag. 48 lin. 18
bis 19 &bI 8vtoDg, y^xQi'S ctv B^ftovfj tig TcaQintcQ'at,
Neupythagoräische Aritbrnetiker. Nikomachns. TheoD. 431
destens der Einheit gleich sind. Um die Sache recht klar zu machen,
bedient sich Nikomachns einer schachbrettartig ans 100 Feldern be-
stehenden TafeP). Die erste Horizontalzeile enthält einfach die
Zahlen 1 bis 10^ die zweite die Doppelten derselben, 2, 4 bis 20,
die dritte die Dreifachen, 3, 6 bis 30 und so fort; endlich die zehnte
Horizontalzeile enthält die Zehnfachen jener Zahlen oder 10, 20 bis 100.
Sieht man die Tafel als aus zehn Yertikalkolumnen bestehend an, so
gleicht jede Vertikalkolumne ganz genau und Zahl für Zahl der ent-
sprechend bezifferten Horizontalzeile, die erste der ersten, die zweite
der zweiten, die zehnte der zehnten. Wir halten uns bei dieser Be-
schreibung etwas länger auf, weil die Benutzbarkeit der Tafel als
Einmaleinstabelle einleuchtet. Das Produkt zweier einziffriger
Zahlen steht an der Kreuzungsstelle der durch die beiden Faktoren
bezifferten Zeile und Kolumne. Außerdem stehen zwei Zahlen der-
selben Kolumne je in dem gleichen Verhältnisse wie die ihre Zeile
eröffiienden Zahlen. Alle diese verschiedenen Verhältnisse lassen sich
aber aus einer Teme von Einheiten durch eine gewisse Reihenfolge
Ton Verbindungen hervorbringen, welche symbolisch geschrieben
darauf hinauslaufen, daß aus den drei Zahlen a, b, c die drei neuen
Zahlen a,a + b,a + 2b + c gebildet werden sollen, ein Bildungsgesetz,
welches der moderne Mathematiker mit einigem Staunen als das
gleiche erkennen wird, das anderthalb Jahrtausende später zu den
Größen x, x + ^Xj x + 2^x + /:l^x führte. Der Reihe nach er-
hält man:
1, 1, 1
1, 2, 4 oder die Verdoppelungen,
1, 3, 9 oder die Verdreifachungen,
1, 4, 16 oder die Vervierfachungen, usw.
Schreibt man eine dieser Reihen z. B. die der Verdoppelungen
rückläufig 4, 2, 1, d. h. benutzt man bei gleichem Bildungsgesetze
wie oben a « 4, 6 «= 2, c « 1, so entsteht als neue Reihe
4, 6, 9 oder die Veranderthalbfachungen usw.
Im zweiten Buche ist die Lehre von den figurierten Zahlen und
daran sich anschließend die von den Proportionen enthalten. Die
figurierten Zahlen erscheinen als vieleckige und als körperliche
Zahlen. Die vieleckigen Zahlen sind solche, welche durch einzelne
Punkte dargestellt ein regelmäßiges Vieleck zu bilden imstande
sind. Vielecke aufeinander gehäuft bilden einen Körper, und so
wird der Sinn der körperlichen Zahl erkennbar, die freilich zunächst
^) Nicomacbi Introdtictio etc. (ed. Ho che) pag. 61.
432 21. Kapitel.
nichts mit dem Produkte dreier Faktoren gemein hat, welches Piaton
als Korperzahl bezeichnet, wenn auch Nikomachus in zweiter Linie
auf diese Begriffsbestimmung zurückkommt. Ahnlich geht es schon
Yorher mit der Flächenzahl, welche für Nikomachus nicht wie für
Piaton ein Produkt zweier Faktoren bedeutet, während nachträglich
diese Bedeutung doch eingeführt wird. Jede vieleckige Zahl ist bei
Nikomachus, wie bei Hypsikles, Summe einer mit 1 beginnenden
arithmetischen Reihe, deren Differenz stets um 2 kleiner ist als die
Eckenzahl, und diese erzeugende arithmetische Reihe heißt auch die
Reihe der Gnomonen der betreffenden Vieleckszahlen, weil jede neu
hinzutretende GFnomonzahl die Yieleckszahl nur in die nächsthöhere
ähnlicher Art verwandelt. Eine beliebige neckszahl mit der an Rang
um 1 niedrigeren Dreieckszahl vereinigt gibt stets die n + 1 ecks-
zahl gleichen Ranges. So ist z. B. die vierte Sechseckszahl 28, die
dritte Dreieckszahl 6, deren Summe 28 + 6 = 34 wird die vierte
Siebeneckszahl sein. — Die Summe aufeinander folgender ungerader
Zahlen von der 1 an bildet, der vorher angegebenen Regel für Viel-
eckszahlen gemäß, eine Quadratzahl. Die Summe aufeinander fol-
gender gerader Zahlen von der 2 an bildet eine heteromeke Zahl. —
Die Kubikzahlen erscheinen als Summen aufeinander fol-
gender ungerader Zahlen^), und zwar ist die erste Eubikzahl der
ersten Ungeraden gleich: 1^=»1; die zweite Eubikzahl entsteht als
Summe der zwei folgenden Ungeraden: 2* =« 3 + 5; die dritte Kubik-
zahl als Summe der drei nachfolgenden Ungeraden: 3* = 7 + 9 + 11 usw.').
Dieser durch seine Verwendung zur Summierung der Kubikzahlen
selbst, wie wir im 26. Kapitel sehen werden, ungemeüi interessante
Satz dürfte wohl von Nikomachus herrühren*). — Die Proportionen-
lehre zählt alsdann als die drei wichtigsten Proportionen die arith-
metische, geometrische, harmonische auf, an welche die sieben andern
sich anschließen, über die wir (S. 239) uns verbreitet haben. Den
Schluß des Ganzen bildet die vollkommenste Medietät, iieöörrjg tsXeio-
rdrr^, die nichts anderes ist als die musikalische, welche Jamblichus
zufolge Pjthagoras aus Babylon mitbrachte (S. 166).
Außer der Einleitung in die Arithmetik muß Nikomachus auch
eine solche in die Geometrie geschrieben haben, von welcher uns
aber nur eine Erwähnung bei Nikomachus bekannt ist*). Vielleicht
*) Nicomachi Introductio etc. (ed. Hoche) pag. 119, lin. 12—18. *) Die
allgemeine Formel, welche Nikomachus nicht gekannt zu haben scheint, ist
n»=(n« — n+ 1) + (n* — n -1-3) H 1- (n* + n — 1). ») So nimmt auch
Nesselmann S. 210 an. *) Nicomachi Introductio etc. (ed. Hoche) pag. 83,
lin. 4: iv rfi yecoficrpix^ ^agadlöotai g/ffaywyj.
NeupythagorftiBche Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 433
ist eine Vermutung über deren Inhalt statthaft, zu welcher wir im
27. Kapitel gelangen werden.
Ein aus arabischen Quellen schöpfender Schriftsteller des XII. S.^
Ocreatus, spricht von einer regula Nicomachi, welche die Quadriemng
einziffriger Zahlen vollziehen lafit. Soll man a' finden, so zieht man
a 7on 10 und die -Bifferenz df — 10 — a wieder von a ab. Weil nun
Ca — d) • (a + rf) — a* — cP, so ist auch a* — (a — rf) • (a + rf) + <?
oder wegen a + d -* 10 in diesem Falle a* «- 10. (a — d) + rf* und
das ist die Regel des Nikomachus. Bei Nikomachus selbst ist sie
als sehr schöne und von den meisten übersehene Eigenschaft der
stetigen arithmetischen Proportion dahin ausgesprochen , das Quadrat
des Mitte^liedes werde, wenn man das Produkt der äußeren Glieder
davon abziehe, gleich dem Quadrate der konstanten Differenz^).
Nikomachus scheint femer eine Schrift über mystische Bedeutung
der Zahlen, über Zahlentheologie mag der Titel gewesen sein,
verfaßt zu haben, und sie dürfte auszugsweise oder erweitert einem
gleichnamigen Buche zugrunde liegen, welches im 23. Kapitel ge-
nannt werden wird; der Geschichte der Mathematik gehören diese
Dinge kaum an.
Theon von Smyrna ist nach aller Wahrscheinlichkeit der-
selbe, welchen Ptolemäus als den Mathematiker Theon bezeichnet'),
indem er vier durch denselben in den Jahren 128 und 132 vorge-
nommene Beobachtungen des Merkur und der Venus benutzt. Der Kom-
mentator des Almagestes, Theon von Alexandria, erklärt nämlich
jttien Mathematiker Theon als den alten Theon, rov naXaiov Siaiva^
als ob ein Mißverständnis nicht möglich wäre'). Unser Theon
selbst erwähnt als jüngsten Schriftsteller noch den ThrasyUus, der,
wie wir bei Bestimmung der Lebenszeit des Nikomachus bemerkten,
in die Regierung des Tiberius fällt, und den Adrastus, der wohl noch
etwas später gelebt hat^).
Wir haben (S. 155) schon zu schildern gehabt, welcherlei Inhalt
Theon von Smyrna seinem Werke ausgesprochenermaßen geben wollte.
Er beabsichtigte vorzutn^en, was von mathematischen Kenntnissen
^) Nicomachi Introdikdio etc. (ed. Hoche) pag. 125, lin. 18 — 21: Ui xh
yhttpvQinavov ^%al xoh^ noXXoh^ XBXrfi6g^ xh vnh xmv &xQmv yiv6\LBvov 6VY%iftv6'
fuvov tq> &nh roO iiiöov iXccvxov aifvoü Bbglaxerai x^ 'bnb x&v diatpoq&v, *) Al-
magest IX, 9; X, 1 und X, 2. ') Die betreffende Stelle ist abgedruckt bei
Nesselmann, Algebra der Griechen S. 224, Note 58. *) Vgl. Th. H. Martin
in der Abhandlung, welche seiner Ausgabe der astronomischen Abteilung von
Theons Werke (Paris 1849) als Einleitung dient pag. 6—12. Martin bezweifelt
die Identit&t des Theon von Smyrna mit dem von Ptolemäus genannten Mathe-
matiker, setzt ihn aber in die gleiche Zeit, worauf es uns schließlich allein an-
kommt.
Caxtob, 0«ichiohi« der MatheinAtlk L S. Aafl. 28
434 21. Kapitel.
für das Studium Piatons notwendig sei. Er ging dabei ans von der
Arithmetik mit Inbegriff der musikalischen Zahlenverhaltnisse, darauf
sollte die Behandlung der Geometrie, der Stereometrie, der Astro-
nomie, der Musik der Welten folgen. Man hat daraus lange Zeit
die Vermutung geschöpfb, es seien fünf Bücher ziemlich gleichen Um-
£Euiges gewesen, welche das Werk des Theon von Smyma bildeten,
und diese Vermutung fand eine Art Fon Begründung in dem Um-
stände, daß zwei verschiedene umfangreiche Bruchstücke sich vor-
fanden, das eine vorzugsweise arithmetischen, das andere vorzugsweise
astronomischen Inhaltes. Beide wurden getrennt herausgegeben*).
In dem einen glaubte man das erste, in dem zweiten das vierte Buch
zu erkennen. Man vermißte drei ganze Bücher von ähnlichem^ Cha-
rakter: der Geometrie, der Stereometrie, der Musik der Welten ge-
widmet. Wir sind nicht dieser Meinung und stehen in unserer
durchaus abweichenden Ansicht auch nicht vereinzelt*). Wir er-
kennen vielmehr in jenen beiden Fragmenten das ganze Werk Theons.
Nach einer philosophischen Einleitung erscheinen Einteilungen der
Zahlen in Gattungen ähnlicher Art, wie sie bei Nikomachus uns be-
kannt wurden. Da ist von der Entstehung der Quadratzahl als
Summe ungerader Zahlen, aber auch als Summe von je zwei Dreiecks-
zahlen, von Viereckszahlen und Pyramidalzahlen, von vollkommenen
Zahlen und Verwandtem die Rede, darunter von zwei Gegenständen,
denen wir nachher besondere Aufinerksamkeit schenken wollen. Daran
knüpfen sich Eapitel über die Tonzahlen untermischt mit weitläufig
ausgesponnenen zahlensymbolischen Tüfteleien, die auch schon in der
ersten Abteilung spukten, untermischt mit Erörterungen über die
verschiedenen Proportionen. In kurzen kaum mehr als einige Wort-
erklärungen bietenden Abschnitten ist von Geometrie und von Stereo-
metrie die Rede'). Weitaus am ausführlichsten ist alsdann die Astro-
nomie behandelt, vielleicht in diesem mangelnden Ebenmaße der An-
sicht förderlich, daß Theon von Smyma vorzugsweise Astronom,
mithin der von Ptolemäus genannte Beobachter war. Die Schluß-
worte heißen: „Das sind die notwendigsten Dinge und vorzugsweise
') Die sogenannte Arithmetik von Bullialdus. Paris 1644 und von De
Gelder. Leiden 1827, die sogenannte Astronomie von Martin. Paris 1849.
*) Prof. E. Hiller, welchem wir unsere Ansicht brieflich darlegten, teilte un»
mit, daß er die genau gleiche in seiner Bonner Habilitationsschrift (1869), welche
ungedruckt geblieben ist, ausgesprochen und begründet habe. Diese Auffassung
liegt auch der durch ihn besorgten Ausgabe des Theon yon Smyma (Leipzig
1878), nach welcher wir zitieren, zugrunde. •) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller)
pag. 111, lin. 14 bis pag. 118, lin. 8 und pag. 117, lin. 12 bis pag. 118, lin. 3.
Die erstere Stelle enthält planimetrische und stereometrische Definitionen, die
letztere die geometrische Konstruktion eines geometrischen Mittels.
Nenpythagor&ische Arithmeiiker. Nikomachus. Theon. 435
aus der Astronomie zur Eenntnisnahme platonischer Schriften. Da
wir aber sagten, die Musik und Harmonie sei teils an Instrumenten,
teils an Zahlen, teils am Weltall, und daß wir über die Musik der
Welten das Notwendige nach der Astronomie angeben würden — denn
auch Piaton sagt, sie sei die fünfte Wissenschaft nach Arithmetik,
Geometrie, Stereometrie, Astronomie — so ist auch darüber mitzu-
teilen, was hauptsächlich Thrasyllus zeigte zugleich mit dem, was wir
früher selbst ausgearbeitet haben.'^ Diese Sätze machen auf uns den
Eindruck, als wenn sie einem Werke, nicht bloß einem Abschnitte
als Schluß gedient hätten, als ob Theon die zuletzt yersprochene welt-
harmonische Erörterung sich vorbehalten hätte. Mag dem nun sein
wie da wolle, wesentliche Lücken zwischen dem Erhaltenen können
wir uns unter keinen Umständen entschließen anzunehmen; höchstens
könnten wir uns dazu yerstehen, an eine Umstellung mancher Kapitel
zu glauben, da es eigentümlich sich ausnimmt, wie Theon verschiedent-
lich auf früher Besprochenes zurückkommt, ohne daß eine künstle-
rische Anordnung des Werkes die Wiederholung erforderte. Viel-
leicht sind solche Mängel auch der geringeren Befähigung Theons an-
zurechnen. Theon war bei weitem kein Nikomachus! Seiner Zu-
sammenstellung fehlt nach Form und Inhalt die Folgerichtigkeit. Er-
wähnen wir ein Beispiel, welches geschichtlichen Wert besitzt.
„Die Einheit ist nicht Zahl, sondern Anfang der Zahl'', sagt
Theon ^), den pythagoräischen Gedanken deutlicher als irgend ein
anderer Grieche aussprechend; das hindert ihn aber nicht 1 neben
3, 5 . . . als ungerade Zahl^) oder mit nachfolgenden 2, 3, 4 ... in
der natürlichen Zahlenreihe auftreten zu lassen').
Es fällt uns nach dieser nicht sehr hohen Meinung, welche wir
von Theon besitzen, schwer in ihm den Erfinder bedeutsamer arith-
metischer Neuerungen zu sehen, und damit wächst umgekehrt die
historische Benutzbarkeit seiner Angaben für alte Zeiten. Älteren
Datums dürften daher auch die Dinge sein, auf welche zurückzukommen
wir oben zugesagt haben. Jede Quadratzahl, sagt uns Theon ^), ist
entweder selbst oder nach Verminderung um eine Einheit durch 3
wie auch durch 4 teilbar, und so entstehen vier i!rten von Quadrat-
zahlen durch Vereinigung jener beiden selbständigen je zwei Unter-
arten bedingenden Unterscheidungen. Es ist ziemlich gleichgültig,
wann man diesen Satz entdeckte, der freilich der Lehre von den
quadratischen Resten angehört, aber eine große praktische Bedeutung
nicht besitzt.
*) Theon (ed. Hiller) pag. 24, lin. 23. *) Theon pag. 28, 5 und 32, 11.
") Ebenda pag. 33, 4. *) Ebenda pag. 85, 17 etc.
28 •
436 2i- Kapitel.
Ganz anders yerhalt es sich mit den Seiten- und Diametral-
zahlen, nksvgA und didfiSTQogy mit welchen Theon sich beschäftigt^).
Die Entstehung dieser Zahlen ist folgende. Ausgehend von zwei
Einheiten bildet Theon neue Zahlen, indem er einmal die beiden ge-
gebenen Zahlen addiert 1 + 1^2 nnd das andere Mal das Doppelte
der einen Zahl zur anderen fügt 2 • 1 + 1 *" 3. Es soll hier nicht
Tersaumt werden, auf Ähnliches bei Nikomachus (S. 431) erinnernd
zurückzuverweisen. Von den beiden so gewonnenen Zahlen heißt
ihm die kleinere 2 die Seite, die größere 3 die Diametralzahl. Diese
Bildungsweise wird alsdann fortgesetzt, indem die Summe einer Seite
und ihrer Diametralzahl die folgende Seite, die Summe der doppelten
Seite und der Diametralzahl die folgende Diametralzahl liefert. Heißen
etwa alle Seiten a, alle Diametralzahlen 8 mit jedesmal beizufügen-
der Ordnungszahl, so ist das Bildungsgesetz a„«i + *„«i ■- «„ und
2a^_i + d^_i = d^. Das Quadrat einer jeden Diametralzahl, be-
hauptet nun Theon, imterscheidet sich von dem doppelten Quadrate
der zugehörigen Seite nur um eine Einheit, um welche bald die eine,
bald die andere Zahl abwechselnd größer ist. Einen Beweis für
diesen Lehrsatz:
wird man bei Theon vergeblich suchen, richtig aber ist er, wie die
Werte «1 = 1, di « 1; «i =- 2, d, — 3; «,«5, ds =- 7; «4-12,
ö^ » 17 usw. zeigen. Allgemein folgt aus den Definitionsgleichungen
fttr «^ und d^, daß
2<-9f. — (2«ii_i -*;_,)
und durch Fortsetzung der gleichen Schlußart:
2«; - d» - (- l)-»(2«f - d?) = (- l)->(2 - 1) - (- 1)-'
und
dj = 2«; + (- 1)«.
Jedenfalls kann man aus dem als wahr angenommeuen Satze die
Folgerung ziehen, daß — sich nur wenig von y 2 unterscheide, daß
n
1 4 ft 1 7
also i7> yy yi 7ö ^^^' aufeinander folgende Näherungswerte von
*) Theon pag. 43, 6 etc. Nesselmann, Algebra der Griechen S. 228—881
bat eine von unserer Auffassung yerschiedene Erklärung dieser Stelle. Mit uns
stimmt dagegen überein Unger in einem Erfurter G^jmnasialprogramm von 1848:
Euner Abriß der Geschichte der Zahlenlehre von Pythagoras bis auf Diophant
8. 17—19.
Neapythagoiäische Arithmetdker. Nikomachus. Theon. 437
y2 sein müssen. JedenMls deuten femer die Namen Seiten- und
Diametralzahl mit ihren Beziehungen zur Seite und Diagonale
eines Quadrates darauf hin, daß Theon sich dieser Anwendung be-
wußt war. Um so wahrscheinlicher wird die Vermutung^ man werde
bei Erfindung seines Satzes von einem wesentlich geometrischen Ge-
dankengange geleitet worden sein. Man hat an
folgende Entwicklung gedacht*). Es sei (Fig. 73)
^Br ein gleichschenklig rechtwinkliges Dreieck
mit den Seiten a^_i, a«_i; *«_!• Werden nun
die beiden Katheten jede um ^^.^ verlängert^
so entsteht das neue gleichschenklig rechtwink-
lige Dreieck AJE mit den Seiten «„, a^, 8^.
YorauBsetzungsmäßig ist «„ = a„_i + tf,_i, aber
aus der Figur sieht man dann sofort^ daß
tf^ = 2a^_i + tf^_i sein muß. Natürlich ist die hier gezeigte Kon-
struktion falsch^ indem die Diagonale des Quadrates von rationaler
Seitenlange irrational ist; aber um immer nähere Werte zu erhalten,
mußte man geometrisch yon der falschen Hypothese einer rationalen
7
Diagonale ausgehen. Wir haben - • mehrfach als mutmaßlich seit
Piaton bekannten Näherungswert von ^2 auftreten sehen. Der darauf
17 . .
folgende Bruch ^ ^ wird im 30. Kapitel uns erinnerlich werden müssen.
Dadurch wächst die Wahrscheinlichkeit, daß man der erwähnten Fol-
gerung von dem Zusammenhange zwischen }/2 und — " sich bewußt
war, wenn die Folgerung selbst bei Theon auch nicht gezogen ist.
Berücksichtigt man weiter, daß die Bildungsgesetze der Seiten- und
der Diametralzahlen genau dieselben sind, welche die Nenner und
Zähler der aufeinanderfolgenden Näherungsbrüche fQr den Kettenbruch
1+1
2 + 1
2>J_
2 + ...
entstehen lassen, so wird man wohl zu der (S. 317) ausgesprochenen
Behauptung genötigt, die Griechen seien natürlich nicht der Form
nach, aber der Sache nach mit der Kettenbruchentwicklung von y2
und mit dem Gesetze der Näherungsbrüche dieses Kettenbruches be-
kannt gewesen. Wir brauchen nun nicht mehr zu sagen, wie wichtig
es wäre, darüber unterrichtet zu sein, ob auch die Bildung der Seiten-
») P. Bergh in Zeitechr. Math. Phys. XXXI, HiBtor.-literar. Abtlg. S. 185.
438 22. Kapitel.
und der Diametralzahlen, wie sie bei Theon sich Torfindet, vorplato-
nischen Ursprunges war?
Eine Stelle^ auf welche wir noch aufinerksam zu machen haben^
ist diejenige^ wo erörtert wird, die Zahl 5 sei arithmetisches Mittel
zwischen l und 9, zwischen 2 und 8, zwischen 3 und 7. Diese Tat-
sache ist nämlich durch das Zahlenquadrat
1
4
7
2
5
8
8
6
9
erläutert^) und zeigt dadurch einen ersten Anfang wenn auch nur un-
vollkommener magischer Quadrate.
22. Kapitel.
Sextus Julius Africanus. Pappns von Alexandria.
Wir gelangen zum III. S. nach Christi Geburt. Um die Zeit
<ies Kaisers Alexander Severus, welcher 220 — 230 regierte, schrieb
Sextus Julius« Africanus seine Kesten. Der römische Name
des Schriftstellers würde ihm in einem anderen Kapitel seinen Platz
anweisen^ wenn nicht die griechische Sprache, deren er sich bediente,
uns yeranlaßte, seiner hier zu gedenken. Kesten bedeutet wörtlich
,,mit der Nadel Durchstochenes^' und als Titel eines Werkes soll das
wohl so yiel sagen als „Aneinandergeheftetes'^ Aneinandergeheftete
Bemerkungen der verschiedensten Art sind es auch, die Sextus Julius
Africanus dort vereinigt hat, und fast zufällig befinden sich darunter
auch zwei Stellen, von welchen die Geschichte der Mathematik Nutzen
2U ziehen hat.
Das XXXI. Kapitel der Kesten') beschäftigt sich mit praktischer
Kriegsgeometrie, insbesondere mit der Auffindung der Breite eines
Flusses, dessen jenseitiges Ufer vom Feinde besetzt ist, und mit
der Auffindung der Höhe der Mauern einer belagerten Stadt, um
<lanach im voraus die Größe der herzustellenden Kriegsmaschinen,
Türme usw. ermessen zu können. Grundlage des ganzen Verfahrens
ist ein geometrischer Satz, dessen Beweis, wie der Verfasser sagt,
nur von dem I. Buche der euklidischen Elemente abhängt, der Satz
nämlich, daß sämtliche Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks halbiert
^) Theon pag. 102. *) Notices et extraits de^ manuscrits de la ßibliotheque
imperiale. Tome XIX, Partie 2. Paris 1S58, pag. 407—415 ist der Text
nebst französischer Übersetzung von Vincent abgedruckt. Vgl. Agrimensoren
8. 110 figg.
Sextas Julias Africanu«. Pappns Yon Alezandria.
439
Flg. 74.
erBcheinen, wenn aus der Mitte einer Kathete parallel zur anderen
eine Oerade nach der Hypotenuse^ und aus deren Durchschnittspunkte
wieder eine neue Parallele zur ersten Kathete bis zum Durchschnitte
mit der zweiten gezogen wird (Fig. 74). Sei aß die erste Kathete
und außer den Torgeschriebenen
de, e^ noch die Hilfslinie 8^ ge-
zogen, aä «» äßf dß ==^ st als
Parallele zwischen Parallelen^ folg-
lich auch ad ^ s^, und somit
treten in der Figur zwei Parallelo-
gramme auf ysdt, dß^l, vermöge
deren df — yj -* /Jg und 81 == «y,
während (aus dem in dem Beweise
nicht genannten Parallelogramme
a^{;e folgend) auch dl=^aB ist.
Yon diesem Satze aus wird die Breite eines Flusses gemessen. Liegt
a am feindlichen Ufer (Fig. 75)^ während ££ die diesseitige üferlinie
bezeichnet^ so stellt man die Dioptra in i auf, weiter vom Flusse
entfernt als der Fluß breit ist und visiert sowohl (senkrecht zur Fluß-
linie BB, was aber nicht ausdrücklich gesagt, sondern nur aus der
Figur zu entnehmen ist) nach a, als rechtwinklig zu dieser ersten
Linie nach v, so daß dabei der Punkt x in der Mitte von ^t; ge-
wonnen wird. Steckt man nun von v aus die Richtung va, Ton x
aus xd it* la und endlich Bq 1t iv ab, so ist ai doppelt so groß, ap
genau gleich groß mit vq und läßt nach Abziehung yon qp(» die ge-
suchte afp übrig. Man kann als wesentlich bei dieser Methode
auffassen, daß die gesuchte Breite, beziehungsweise eine ihr gleiche
Breite, wirklich auf dem Felde dargestellt wird. Man kann bei dem
uns erhaltenen Berichte auf die von allen geometrischen Gewohn-
heiten abweichende Buchstabengebung für die einzelnen Punkte hin-
weisen. Nicht nur, daß i nicht yermieden ist, das hörte überhaupt
um die Zeit, in welcher wir uns befinden, auf, und noch spätere
Oeometer ersten Ranges benutzen unterschiedlos i wie andere Buch-
staben, es ist überhaupt kein System
zu erkennen, nach welchem a, £, %
0, ij X, p, v, q> als Buchstaben an
eine Figur gewählt worden sein
mögen. Das war anders in der yor-
hergehenden Figur, anders in der
folgenden (Fig. 76), an welcher un-
mittelbar anschließend eine yon Dreiecksähnlichkeiten ausgehende
Methode die Flußbreite zu messen gelehrt wird. Man soll längs
Flg. 76.
440 22. Kapitel.
dem Flusse in der gemessenen Linie ßy einhergehen und dabei einen
massiven rechten Winkel von augenscheinlich ziemlich bedeuten-
der Größe, der das Kennzeichnende des Verfahrens bildet, und uns
wiederholt begegnen wird, mitnehmen. Auf dem einen Schenkel
dieses rechten Winkels in £ ist überdies eine Signalstange senkrecht
zur Ebene des rechten Winkels befestigt. Wird nun y so gewählt,
dafi jene Signalstange bei s mit dem den Punkt a bezeichnenden
Gegenstande und dem Standpunkt y in einer Geraden liegt, so ist aus
der Ähnlichkeit der Dreiecke ßy :yd = aß : ed, mithin aß gefunden.
Dieselbe Figur, so beschließt der Verfasser dieses interessante Kapitel,
dient die Höhe einer Mauer von weitem zu messen. Die Dioptra wird
dazu in ^ als d£ aufgestellt und ihr Lineal in die Neigung ea ge-
bracht, wo a einen Punkt des oberen Mauerrandes bedeutet. Die
rückwärtsige Verlängerung dieser Richtung sa nach y lehrt yd neben
dem bekannten ds und neben dem nach der vorigen Aufgabe er-
mittelten yß finden und nun ist yd : de ^ yß: ßa. Der Schüler
Herons ist hier unverkennbar, und die Paragraphe von dessen Ab-
handlung über die Dioptra, an welche das angegebene Verfahren sich
anlehnt, haben nachgewiesen werden können, wenn auch der massive
rechte Winkel bei Heron nicht vorzukommen scheint.
Das LXXVL Kapitel der Kesten^) lehrt eine Art von Feuer-
telegraphie kennen. Die Römer hätten, so erzählt der Sammler,
an leicht sichtbaren Plätzen drei Signalstangen aufgerichtet, je eine
links, eine rechts, eine in der Mitte. An jeder Stange konnten bis
zu neun Fackeln befestigt werden, und zwar bedeuteten dieselben
Einer, wenn sie an der Stange links, Zehner, wenn sie an der mitt-
leren Stange, Hunderter, wenn sie an der Stange rechts befestigt
wurden. Sie sollten nämlich von weitem gesehen werden, und für
den gegenüberliegenden Beobachter kehrt sich natürlich rechts in
links, links in rechts, so daß die Ordnung der Zahlen werte ihm von
rechts nach links zunehmend erscheint, wie es z. B. auch bei der sala-
minischen Tafel (S. 133) der Fall war. Zahlen als solche sollten
freilich nicht mitgeteilt werden. Man machte von den Zahlen Ge-
brauch, um Buchstaben des griechischen Alphabetes zu erkennen zu
geben, deren jeder je einen der Werte 1 bis 9, 10 bis 90 oder 100
bis 900 besitzt, und so konnten an der richtigen Stange sichtbar
gemachte Fackeln die Buchstaben eines Wortes, eines Satzes nach
und nach dem entfernten Freunde bekannt machen.
') Vgl. Vincent in den Comptes Bendiis de Vacaddmie des seiences vom
S. Januar 1842, XIV, 48, nnd Friedlein im Bullettino Boncompagni 1868,
pag. 49—60.
SextuB JqIIqs AfricaniiB. Pappns von Alezandria. 441
Eine Sammlung ganz anderen wissenschaftlichen Wertes ist die
des Pappus von Alexandria, eines SchriftstelierSy der mutmaßlich
dem Ende des III. S. angehört hat^). Wir besitzen über seine Lebens-
zeit überhaupt nur zwei, beide aber bestimmt lautende und einander
geradezu widersprechende Angaben, beide selbst aus der gleichen Zeit,
nämlich aus dem X. S. Die Leidener Bibliothek besitzt eine in den
Jahren 913—920 angefertigte Handschrift der theonischen Handtafeln,
welche am Rande der Regentenliste yerschiedene literärgeschichtliche
Glossen aus der Zeit der ersten Niederschrift besitzt. So steht neben
der Regierung des Diokletian die Bemerkung: ixl toikov 6 Ilobtog
tyquifBVj unter diesem schrieb Pappus. Daß der Name hier nur mit
einem n geschrieben auftritt, kann uns nicht beirren. In der Mitte
des Namens bricht nämlich die Zeile ab und macht eine Spaltung
in nd und noq notwendig, wobei leicht ein n verloren gegangen sein
kann, für welches in der ersten Zeile etwa kein Platz mehr vor-
handen war. Außerdem ist, wenn der Mathematiker Pappus nicht
gemeint sein wollte, kein Schriftsteller gleichen oder nur wenig ab-
weichenden Namens aus der Zeit des Diokletian bekannt. Dieser
regierte 284 bis 305, folglich wäre Pappus in dieselbe Zeit zu setzen.
Dem gegenüber steht unvermittelt, was Suidas, der bekannte Lexiko-
graph, an zwei sachlich übereinstimmenden Stellen sagt, unter Theon
heißt es bei ihm, er sei Zeitgenosse des Pappus, der wie er in Alexan-
dria zu Hause gewesen sei, und beide hätten unter der Regierung
des älteren Theodosius gelebt, unter Pappus heißt es, er habe unter
der Regierung des älteren Theodosius gelebt, zur Zeit, als auch der
Philosoph Theon in seiner Blüte stand, welcher über den Kanon des
Ptolemäus schrieb. Die Werke des Pappus seien eine Erdbeschrei-
bung, ein Kommentar zu den vier Büchern der großen Zusammen-
stellung des Ptolemäus, femer über die libyschen Flüsse und über
Traumdeutung. Auch diese Angabe ist von bestimmtester Klarheit.
Theon hat, wie wir aus seinem chronologischen Werke selbst ent-
nehmen, jedenfalls 372 noch gelebt; Theodosius I. regierte 379 bis
395; diese Zahlen stimmen zueinander, und folglich wäre Pappus
wie Theon an das Ende des IV. S. zu setzen, was auch alle Oe-
Schichtswerke der Mathematik ohne Anstand getan haben. Wenn
wir gleichwohl der Meinung folgen, welche den älteren Zeitpunkt für
Pappus als zutreffend erachtet, so leitet uns folgender Gedanke. Bei
zwei einen Widerspruch enthaltenden gleichzeitigen Angaben müssen
») Vgl. Zeitflchr. Math. Phys. XXI, Hifltor.-liter. Abtlg. S. 70 flgg. (1876)
über die Lebenszeit und die HandBchriften des Pappus. In bezug auf letztere
diente die Einleitung zu Hultschs Pappusausgabe als Quelle.
442 22. Kapitel.
wir einesteils ans fragen, ob und wie ein Irrtum des einen, beziehungs-
weise des anderen Gewährsmannes Erklärung finden kann, müssen
wir andemteils Überlegen, ob innere Gründe die eine oder die andere
Meinung unterstützen. Die Behauptung des Schreibers des Leidener
Kodex ist nun, wenn falsch, auf keine Weise zu verstehen. Suidas
könnte dagegen dadurch zu seinem Irrtume gelangt sein^), daß in
seiner Quelle die beiden Schriftsteller Pappus und Theon Ton Alezan-
dria ihrer Heimat, ihrer verwandten literarischen Tätigkeit wegen un-
mittelbar hintereinander aufgeführt waren, oder aber dadurch, daß er
einen aus den Erläuterungen des Pappus und des Theon gemischt
zusammengesetzten Kommentar zum Almageste vor Augen hatte, eine
Möglichkeit, die im 24. Kapitel sich uns ergeben wird, und daß er
nun auf eine gar nicht angegebene, weil überhaupt nicht vorhandene
Gleichzeitigkeit der beiden Erklärer schloß. Als unterstützend dienen
folgende Gesichtspunkte. Suidas war mit des Pappus Werken nicht
aufs beste bekannt. Er nennt unter denselben gar nicht dasjenige,
welches allein in einiger Vollständigkeit sich erhalten hat, und welches
genügt, um unsere Bewunderung des Verfassers zu rechtfertigen. Der
andere Berichterstatter ist in seinem Schweigen entschuldigt, weil er
gar kein Werk des Pappus mit Namen anführt. Femer wäre es sehr
auffallend, wenn Pappus und Theon an dem gleichen Orte lebend zur
selben Zeit einen Kommentar zu demselben Werke, dem Alm^este
des Ptolemäus, geschrieben hätten. Weit wahrscheinlicher wird diese
Tatsache, wenn Pappus hundert Jahre vor Theon von Alexandria
schrieb. Fraglich erscheint dabei, ob Pappus den ganzen Abnagest
erklärt haben mag, oder nur vier Bücher. Die Vermutung, es habe
bei Suidas ursprünglich IT = 13 Bücher geheißen, der wirklichen
Bücherzahl des Almagestes entsprechend, und daraus sei ^ => 4 Bücher
verschrieben worden *), ist ausgesprochen worden und hat manche
Wahrscheinlichkeit, nachdem es sich erwiesen hat, daß Pappus jeden-
falls zum ersten, zum fünften und zum sechsten Buche des Almagestes
einen Kommentar verfaßte, daß der zum fünften und sechsten Buch
gehörende Teil sich noch erhalten hat'). Wahr ist es, daß Theon
seinen Vor^Lnger niemals genannt hat außer in Überschriften, deren
Ursprung ja immer zweifelhaft ist. Mc^ aber Theon 100 oder ein
paar Jahre nach Pappus gelebt haben, so ist dieses Schweigen gleich
auffallend, zu derselben Zeit auch gleich einfach damit zu erklären,
daß Theon den Pappus recht fleißig benutzte. Es bildet, wie uns
*) Diese Hypothese rührt von üsener her. Neues Rheinisches Museum
1878, Bd. XXYin, S. 408. *) So glaubt Hultsch pag. YUI, Anmerkung 3 der
Praefatio, welche den dritten Band seiner Pappusansgabe eröffnet. ") Hultsch
1. c. pag. xrv.
SeztuB Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 443
Ton philologischer Seite versichert wird, geradezu eine Eigentümlich-
keit der Kommentatoren des IV. S. etwa ein wahres Plündenings-
system an alteren Schriftstellern auszuüben ^ welche niemals genannt
werden^ so daß nur in einzelnen Fällen ein glückliches Ohngefahr es
möglich gemacht hat; diesen unrechtmäßigen Aneignungen auf die
Spur zu kommen. So nehmen wir also an^ Pappus habe an der
Schwelle vom III. zum lY. S. gelebt imd geschrieben.
Ob ein Zitat bei Proklus^) dahin zu deuten ist, daß Pappus
gleich Heron an der Spitze einer Schule stand, mag dahingestellt
bleiben. Nach griechischem Sprachgebrauche kann oC nsgl '^Hgawa
xal Ilcbtnov unzweifelhaft diese Bedeutung einschließen, die Worte
können aber auch Heron und Pappus allein bezeichnen sollen, und
letzteres wohl noch häufiger als ersteres. unter den Schriften, welche
Pappus verfaßte, fanden seine Bemerkungen zum Almageste mehr-
fache Erwähnung. Wir erinnern daran, daß (S. 318) Eutokius auch
sie unter den Schriften genannt hat, welche über die Ausziehung von
Quadratwurzeln zu Rate gezogen werden können. Pappus selbst
spricht von einem Kommentare, welchen er zu dem Analemma des
Diodorus angefertigt habe*). Von jenem Schriftsteller ist zwar auch
bei anderen wiederholt die Rede*), jedoch ohne daß dadurch sein Zeit-
alter oder der Inhalt seiner Schrift genauer bekannt würde; deren
Titel stimmt allerdings mit demjenigen eines Buches des Ptolemäus
überein, von welchem (S. 423) die Rede war. Eine weitere schrift-
stellerische Leistung des Pappus bildete ein Kommentar zu den eukli-
dischen Elementen, von welchem Bruchstücke, insbesondere eine von
Eutokius*) erwähnte Bemerkung, in einem Vatikankodex aufgefunden
worden sind*). Diesem Kommentare dürfte eine Anzahl von Be-
merkungen entnommen sein, welche bei Proklus sich erhalten haben,
und deren eine verdient, daß wir ihrer erwähnen.
Pappus habe, berichtet Proklus*), Ein-
spruch gegen den Satz erhoben, daß der
Winkel, der einem Rechten gleich sei, immer
selbst ein Rechter sein müsse. Er stellte näm-
lich (Fig. 77) zwei gleichlange Gerade aß, ßy
senkrecht zueinander und beschrieb über jede Fig. 77.
') Proklufl (ed. Friedlein) 429, 18. «) Pappus IV, 27 (ed. Hultsch)
pag. 246. *) Vgl. Hultschs Praefatio zum III. Bande seiner Pappusaus-
gabe IX— XI. *) Archimed (ed. Heiberg) III, 34 in dem Kommentare des
Eutokius heifit es: Btgritai xal Han'jtm Big tb 'b7e6iivriiia r&v isroix^loiv. *) Hei-
berg, Om seholieme tu Euklids Elementer in den Yidensk. Selsk. Skr. 6. Baekke,
historisk. og philosophisk. Afd. ü, 3. Kjöbnhavn 1888, pag. 297. •) Proklus
(ed. Friedlein) 190.
444 22. Kapitel.
derselben einen Halbkreis. Da diese Halbkreise sich decken^ müssen
die Winkel aßs^ yßi yoUkommen gleich sein. Wird sodann Ton
dem rechten Winkel aßy der eine jener identischen Winkel weg-
genommen^ der andere beigefügt , so muß also ein Etwas entstehen,
welches einem rechten Winkel wieder gleich ist, ohne daß man doch
sagen könnte, dieser Winkel £/9g sei ein rechter Winkel. Diese Be-
trachtung über nicht geradlinige Winkel ist das Vorbild späterer
Spitzfindigkeiten ähnlichen Inhaltes geworden (S. 264).
Das mathematische Werk des Pappus, welches auf uns gekommen
ist, und welches merkwürdigerweise durch keine bekannt gewordene Er-
wähnung von Seiten irgend eines Mathematikers oder sonstigen Schrift-
stellers in seinem Vorhandensein bestätigt wird, fahrte den Namen der
Sammlung, övvayayij, und bestand aus acht Büchern'). TiUA und
Einteilung verbürgt uns eine vatikanische Pappus-Handschrift aus dem
XU. S., welche selbst sämtlichen übrigen , keineswegs seltenen Ab-
schriften unmittelbar oder mittelbar zugrunde liegt. Der Charakter
dieser Sammlung besteht darin, daß Pappus den Inhalt von zu seiner
Zeit hochgeschätzten mathematischen Schriften kurz angibt und zu
denselben erklärende, aber auch erweiternde, oftmals nur den aller -
losesten Zusammenhang mit dem gerade in Rede Stehenden wahrende
Sätze hinzufügt. Diese Beziehung, oder fast besser diese Beziehungs-
losigkeit lassen uns die Sätze erkennen, von denen Pappus uns sagt,
daß sie zu Werken gehören, welche, wie die Kegelschnitte des Apol-
lonius von Pergä, auf uns gekommen sind und den Vergleich ge-
statten. Die Freiheit, welche Pappus sich demgemäß bei seinen Zu-
sätzen gestattet hat, die Genauigkeit, deren er daneben bei übersicht-
lichen Inhaltsangaben sich befleißigte, machen den doppelten Wert
seiner Sammlung aus. Jene Gewissenhaftigkeit, welche wir als zweite
Tugend des Pappus erwähnten, macht, daß seine Sammlung als Er-
satz für wertvolle im Urtexte verloren gegangene Abhandlungen dienen
kann, so daß wir nach dem Vorgange aller Schriftsteller über Ge-
schichte der Mathematik keinen Anstand nahmen, sie im Verlauf
dieses Bandes wiederholt zu solchem Zwecke zu benutzen. Jene
Selbständigkeit, die wir zuerst rühmend betonten, hat uns Dinge ge-
liefert, die, teils nicht anderweitig rückwärts verfolgbar, teils von
Pappus ausdrücklich für sich in Anspruch genommen, den zuver-
lässigen Beweis für die hohe Meisterschaft des Verfassers insbesondere
*) Eine lateinische Übersetzung durch Commandinus erschien 1688, dann
in mehrfachen neuen Abdrücken bis 1602. C. J. Gerhardt gab 1871 das YII.
und Vin. Buch im Urtexte mit nicht tadelloser deutscher Übersetzung heraus.
Eine vortreffliche Textausgabe mit lateinischer Übersetzung und reichhaltigen
Anmerkungen veranstaltete Fr. Hultsch in 3 Bänden. Berlin 1876, 1877, 1878.
Sextus Julius Africanua. Pappus von Alexandria. 445
in solchen geometrischen Untersuchnngen liefern^ welche unser Jahr-
hundert unter dem Namen der neueren oder der höheren synthetischen
Geometrie kennt.
Welchen G-ang Pappus bei Ausarbeitung seiner Sammlung ein-
schlug, ob er überhaupt einen bestimmten Gedanken planmäßiger
Reihenfolge zugrunde legte, ist mit Sicherheit nicht zu ermitteln,
weil das erste Buch und die mutmaßlich größere Hälfte des zweiten
Buches verloren gegangen ist, die Darstellung sich mithin auf die
übrigen Bücher beschränken muß. Dabei ist überdies vorausgesetzt,
daß alle vorhandenen Bücher Pappus angehören. Allerdings nimmt
man dieses gegenwärtig an, und ein vereinzelter Versuch^) nur das
ni. und lY. Buch, welche ursprünglich ein einziges gebildet hätten,
dann das VII, und das VIII. Buch Pappus zuzuschreiben, alles übrige
als unechte spätere Einschaltung auszuscheiden, ist, soviel wir wissen,
ohne jegliche Beistimmung geblieben.
Der vorhandene Überrest des II. Buches enthält die Multiplika-
tionsmethode des Apollonius von Per^.
Im III. Buche sind vier verschiedene Abhandlungen vereinigt.
Die erste beschäftigt sich mit der Aufgabe zwischen zwei gegebenen
Längen zwei mittlere geometrische Proportionalen einzuschalten nach
Methoden des Eratosthenes, des Nikomedes, des Heron, des Pappus
selbst. Die zweite Abhandlung lehrt die drei verschiedenen Mittel,
welche zwischen zwei Strecken bestehen, das arithmetische, das geo-
metrische und das harmonische Mittel, von welchen übrigens auch in
den einleitenden Kapiteln der ersten Abhandlung des lU. Buches
schon die Rede war, an einer und derselben Figur zur Erscheinung
bringen. Aber dieses geometrische Problem dient nur zum An-
knüpfungspunkte fßr eine ganz Lehre von den Medietäten, welche
mit einer Tabelle von ganzzahligen Beispielen für sämtliche zehn
Formen von Medietäten abschließt. Die dritte Abhandlung beschäftigt
sich wieder mit einer ganz anderen Untersuchung. Der 21. Satz des
L Buches der euklidischen Elemente behauptet, daß, wenn innerhalb
eines Dreiecks ein Punkt gewählt und mit den Endpunkten der
Grundlinie geradlinig verbunden wird, die Summe dieser Geraden
kleiner ausfalle als die Summe der sie umfassenden Dreiecksseiten.
Gknz anders, wenn die inneren Geraden nicht nach den Eckpunkten,
sondern nach zwischen denselben liegenden Punkten der Dreiecks-
grundlinie gezogen werden. Alsdann kann die Summe der inneren
') C. J. Gerhardt, Die Sammlung des Pappus von Alexandria. Programm
des Gymnasiums in Eisleben für 1876. Vgl. dazu die Besprechung in der
Zeitachr. Math. Phy«, XXI, Histor-literar. Abteilung 37—42 (1876).
446 22. Kapitel
Geraden unter Umstanden ebenso groß sein, sie kann auch melir be-
tragen als die der umfassenden Seiten und zwar in mannigfachen
Abstufungen, und diese sämtlichen Fälle werden ausführlich durch*
genommen. Die vierte Abhandlung geht zur Einbeschreibung der
fünf regelmäßigen Vielflächner in die Kugel über, bei welcher G»
legenheit die Sphärik des Theodosius yon Tripolis mehrfach benutzt
aber auch ergänzt wird. Es ist mit großem Rechte bemerkt worden^),
daß die Auffassung der Aufgabe eine wesentlich andere ist als die,
Ton welcher Euklid im XIII. Buche seiner Elemente ausgeht , und
daß dadurch die erneute Behandlung um so höheren Wert erhalte.
Euklid konunt es auf die metrischen Zusammenhänge zwischen Po-
lyederseite und Kugeldurchmesser an; er bildet sich zuerst die Polyeder
und beweist hinterdrein ihre Einbeschreibbarkeit. Pappus will die
Polyeder selbst erhalten-, er geht aus von der Kugel und verschafft
sich die Parallelkreise auf der Kugeloberfläche, welche je eine Polyeder-
fläche als eingeschriebenes Vieleck besitzen.
Das IV. Buch zerfällt gleichfalls in mehrere Abteilungen, wenn
schon die Sonderung derselben nicht auf den ersten Blick in die
Augen fällt. Es beginnt mit der Lehre von den Kreistransversalen,
an welche sich die Aufgabe knüpft, den drei einander äußerlich be-
rührende Kreise umschließenden Kreis zu konstruieren. Noch andere
Berührungsaufgaben vollenden das, was wir die erste Abhandlung des
rV. Buches nennen möchten. Auf sie folgen eine Anzahl von Sätzen
aus der Lehre von der archimedischen Spirale sowie von der niko-
medischen Konchoide und darauf eine ziemlich ausgedehnte Abhand-
lung über die Quadratrix, in welche verschiedene andere Unter-
suchungen sich ziemlich natui^emäß einfügen. Wir nennen die Rek-
tifikation des Kreises; wir nennen Beziehungen zwischen Quadratrix
und Spirale; wir nennen die Trisektion des Winkels und die allge-
meinere Aufgabe der Teilung des Kreises in beliebigem Verhältnisse
der Bögen mittels der Quadratrix, aber auch mittels der Spirale; wir
nennen endlich die Benutzung der Quadratrix zur Lösung der drei
Probleme: ein regelmäßiges Vieleck von beliebiger Seitenzahl in einen
Kreis zu beschreiben, zu einer gegebenen Sehne einen Kreisbogen zu
finden, welcher ein bestimmtes Längenverhältnis zur Sehne besitze,
zueinander inkommensurable Winkel zu zeichnen.
Das V. Buch beginnt mit dem Auszuge aus der Abhandlung des
Zenodorus über Figuren gleichen ümfanges, so weit ebene Figuren
in Frage stehen. Dann geht Pappus zu dem Räume über, lehrt die
*) Woepcke im Journal ÄncUique s^rie 6, T. V (F^vrier-Mare 1866)
pag. 288—240.
Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 447
archimedischen Körper keimen und zeigt, daß bei gleicher Oberfläche
Kegel sowohl als Zylinder kleineren Rauminhaltes als Kugeln sind.
Damit ist der Rückweg zur Abhandlung des Zenodorus, soweit sie
auf Raumkörper sich bezieht, gewonnen, imd der Beweis wird ihr
nachgebildet, daß von den fünf platonischen regelmäßigen Körpern
bei gleicher Oberfläche stets der mehreckige den größeren Inhalt
einschließe.
Das VI. Buch stellt sich in seiner Überschrift die Aufgabe Auf-
lösmngen zu den Schwierigkeiten zu finden, welche in dem söge-
nannten kleinen Astronomen, iivxQog aöt QovofiovfievoQj enthalten
sind. Der Gegenstand, der~ damit gemeint ist, ist uns keineswegs
neu, nur der Name begegnet uns hier zuerst, und deshalb haben wir
bis hierher es aufgespart uns desselben zu bedienen. Der kleine
Astronom ist nämlich eine Sammlung von Schriften, deren Studium
nach dem der Elemente des Euklid und vor dem des Almagestes des
PtolemäuB eingeschoben werden mußte, wenn letzteres vollen Erfolg
haben sollte. Ob der kleine Astronom eine endgültig begrenzte Samm-
lung war, ob nicht vielmehr der an sich lose Zusammenhang ge-
stattete, bald diese bald jene kleinere Schrift aufzunehmen oder aus-
zuschließen, dürfte zweifelhaft sein. Der Kommentar des Pappus
verbreitet sich über nachfolgende Bücher, welche demgemäß zum
kleinen Astronomen gehörten: Die Sphärik des Theodosius, die Ab-
handlung des Autolykus über die sich drehende Kugel, die des Theo-
dosius über Tag und Nacht, die des Aristarchus über Ghröße und
Entfernung von Sonne und Mond, die Optik des Euklid, die Phaeno-
mena desselben Verfassers. Ein Kommentar des Menelaus zu dem
letztgenannten Werke hatte zwar nach einer durch Pappus gegebenen
Zusage^) auch noch erläutert werden sollen, doch findet sich davon
in dem auf uns gekommenen Texte keine weitere Spur. Wir be-
merken, daß die beiden Astronomen Autolykus und besonder Ari-
starchus von Samos in der Geschichte ihrer Wissenschaft hoch-
bedeutsame Persönlichkeiten sind. Autolykus') lebte kurz vor Euklid
um 330 etwa, Aristarch"), wie wir schon (S. 419) bemerkten, ein
gutes halbes Jahrhundert später um 270. Wir bemerken femer, daß
die Erläuterungen des VI. Buches, aueh wo sie auf astronomische
Werke sich beziehen, ihrer größten Mehrzahl nach geometrischer
Natur sind. Wir bemerken endlich, daß Pappus durch seine Namens-
nennung selbst den Oeometem, welche er nur unter den Ersten des
Faches auswählt, ein hohes Lob erteilt, daß man also beispielsweise
') Pappaa (ed. Hultsoh) pag. 602, lin. 1. *) Halts ch in der Yoirede zu
seiner Ausgabe des Autolykus. Leipzig 1886. *) Wolf, Geschichte der Astro-
nomie. S. 85—37.
448 88. Kapitel.
aus diesem VI. Buche sich eine Meinung Ton dem Ansehen bilden
kann^ in welchem damals yerdientermaBen die Schrifken des Theodosius
und des Menelaos standen.
Wer die Elemente des Euklid inne hat und von ihnen aus der
Astronomie sich zuwenden will, bedarf, wie vorher bemerkt, des
Studiums des kleinen Astronomen, bei welchem das VI. Buch ihn zu
unterstützen bestimmt ist. Wer, mit den allgemeinen Elementen
vertraut, erlernen will, wie man durch Konstruktion mannigfacher
Linien die Auflösung gestellter Aufgaben vollende, bedarf dazu eines
anderweitigen eignen Übungsstoffes, der unter dem Namen Sammel-
werke analytischer Natur^) von Euklid, von ApoUonius von Peif^a,
von Aristäus dem Älteren behandelt worden ist. Die hierzu not-
wendigen Hilfssätze und Erläuterungen hat Pappus in seinem VII. Buche
vereinigt. G-leichwie im vorhergehenden Buche sind Unterabteilungen
gebildet, welchen die Namen der einzelnen Werke als Überschriften
dienen, welche Pappus zu empfehlen wQnscht. Er nennt die Daten
des Euklid, den Yerhältnisschnitt, den Raumschnitt, den bestimmten
Schnitt, die Berührungen des ApoUonius, die Porismen des Euklid,
dann wieder von ApoUonius die Neigungen, die ebenen Örter, die
Kegelschnitte, endUch die körperlichen Örter des Aristäus, die örter
auf der Oberfläche des Euklid, die Mittelgrößen des Eratosthenes.
Es sind dies, sagt Pappus, 33 Bücher, deren Inhalt bis zu den Kegel-
schnitten des ApoUonius ich Dir übersichtlich herausgesteUt habe^),
und in der Tat entspricht dieser Angabe eine Einleitung von ziem-
lichem Umfange. An sie knüpft sich eine große Anzahl von Hilfe-
Sätzen zu den Büchern des ApoUonius über den Yerlmltnisschnitt
und den Raumschnitt, über den bestimmten Schnitt, über die
Neigungen, über die Berührungen, über die ebenen Örter. Weitere
Hilfssätze zu den Porismen des Euklid folgen. Die zu den Kegel-
schnitten des ApoUonius und endlich zu Euklids Örtem auf der Ober-
filbhe bilden den Beschluß des Buches. Der 8. Satz zu dem Yer-
hältnisschnitt des ApoUonius^) würde unter Benutzung von Brüchen
statt der Yerhältnisse aussprechen, daß ^^ ^ immer zwischen ~ und
^ liege. In der Tat ist
ß + d^J^ ß + d \d ~ j)
ß + d d "^ ß + d\ß d)
^) So die richtige Übersetzung von x6no£ &vaXv6\uvoq, wie Gow, A shart
history of greek mathemaiics pag. 211 Note 1 gezeigt hat. *) Pappas (ed.
Hultsch) pag. 636, lin. 25. *) Ebenda pag. 688, lin. 81.
Sextns Julius Africanns. Pappns von Alexandria. 449
woraus die Verschiedenartigkeit der Vorzeichen beider Differenzen
einleuchtet. Der 22. Satz zu den Berührungen des Apollonius^) stellt
die Aufgabe, von drei auf einer gegebenen Geraden gegebenen Punkten
aus nach einem gleichfalls gegebenen Kreise Gerade zu ziehen, welche
ein diesem Kreise eingeschriebenes Dreieck bilden. Es ist das die
Aufgabe, welche im XVIIL S. die Erweiterung erfuhr, daß die drei
gegebenen Punkte beliebige Lage in der Kreisebene erhielten, und
welche unter anderen von Annibale Giordano aus Ottajano gelöst
wurde*).
Das VIII. Buch kündigt sich als solches an, welches verschiedene
interessante mechanische Aufgaben zur Sprache bringe. Ich habe
für gut gehalten, erklart Pappus, die mit Hilfe der Geometrie ge-
wonnenen, notwendigsten Theoreme über die Bewegung der schweren
Körper, die in den Schriften der Alten vorhanden und die von uns
selbst geschickt aufgefunden sind, kürzer und deutlicher niederzu-
schreiben und auf eine bessere Weise, als es früher geschehen, zu-
sammenzustellen^). Zu diesen geometrisch begründeten mechanischen
Lehren gehören die Theorie des Schwerpunktes, der schiefen Ebene,
gehört die Aufgabe mit Hilfe von Zahnrädern, die in gewissem gegen-
seitigen Verhältnisse der Durchmesser stehen, eine gegebene Last
durch gegebene Kraft zu bewegen. Hierher gehört aufs neue die
Angabe der Einschiebung zweier geometrischen Mittel, welche schon
im III. Buche in anderem Zusammenhange aufgetreten war, und
welche jetzt wiederkehrt, weil auf ihr die Vergrößerung eines durch
mechanische Vorrichtungen irgendwie in Bewegung zu bringenden
Körpers unter Festhaltung seiner Gestalt beruht Weiter läßt Pappus
die Aufgabe folgen den Kreisumfang eines geraden Zjlinders zu
finden, aus welchem überall Stücke herausgebrochen sind, so daß
eine unmittelbare Messung an keiner Stelle stattfinden kann. Ohne
bemerkbaren Zusammenhang, wie wir es bei Pappus nicht selten
gewohnt wurden, treffen wir alsdann auf Fragen, bei denen es sich
um Auffindung gewisser Punkte auf einer Kugel handelt, z. B. des
Punktes, der einer gegenüberliegenden Ebene am nächsten liegt, und
der Punkte, in welchen eine gegebene Gerade die Kugel durchdringt
Daran schließt sich die Einbeschreibung von sie.ben einander gleichen
regelmäßigen Sechsecken in einen gegebenen Kreis, so daß das eine
denselben Mittelpimkt mit dem Kreise hat, die übrigen sechs auf je
einer Seite des mittleren aufstehen und die dieser gegenüberliegende
*) Pappus (ed. Hultsch) pag. 848. *) Vgl. Chaales, Apergu hist 328
(deutsch 841) mit Zeitschr. Math. Phys. XXXVn, Histor.-literar. Abtlg. S. 216—217.
*) Pappus (ed. Hultsch) pag. 1028.
Oaktok, OMohiohte der Mathematik I. 3. Aufl. 29
450 28. Kapitel.
Seite jedesmal als Ereissehne besitzen. Diese Aufgabe dient zur Hef-
Stellung von Zahnrädern^ und nun bilden Auszüge aus dem Grewichte-
zieher und aus der Mechanik des Heron (S. 369) den Schluß; der
vielleicht von fremder Hand dem ursprünglichen VIIL Buche bei-
gefügt sein dürfte.
Mag man aus dieser schematischen Zeichnung des Gerippes der
Sammlung des Pappus, so wie dieselbe auf uns glommen ist^ den
Eindruck eines Ganzen oder lose und fast zufallig aneinander ge-
reihter Einzelheiten erhalten , mag ein leitender Gedanke dem einen
auffindbar, dem anderen unentdeckbar erscheinen, jedenfalls wird, trotz
stylistischer Schönheiten, die an manchen Stellen eine geradezu dich-
terische Yeranl^ung des Schreibers enthüllen^), die Achtung vor
Pappus dem Mathematiker eine höhere sein als die vor Pappus dem
Schriftsteller, und diese relative Wertschätzung wird noch festeren
Boden fassen, wenn wir Einzelheiten herausgreifen, deren Entdeckung
nicht wohl einem anderen als Pappus selbst anzugehören scheint.
An die Spitze stellen wir einen Satz des VU. Buches, der den
Körperinhalt eines Umdrehungskörpers als dem Produkte der ge-
drehten Figur in den Weg des Schwerpunktes proportional erkennt*),
einen Satz, der als Guldinsche Regel seit dem XVII. S. wieder in
der Geschichte auftritt.
Wir fügen aus dem YIU. Buche einen Satz bei dahin gehend^
daß der Schwerpunkt eines Dreiecks zugleich Schwerpunkt eines
zweiten sei, dessen Eckpunkte auf den drei Seiten des ersten Drei-
ecks so liegen, daß dadurch jene Seiten sämtlich in gleichem Ver-
hältnisse geteilt erscheinen').
Wir heben jenen Abschnitt des IV. Buches hervor, der mit der
Quadratrix sich beschäftigt^). Die Quadratrix wird diesem Abschnitte
zufolge außer nach dem Gesetze, welches wir bei der ersten Nennung
der Kurve schon kennen gelernt haben, auch noch durch zwei viel
verwickeitere Entstehungsarten erzeugt, welche man in folgende Worte
fassen kann: Es sei eine Schraubenlinie auf einem geraden Kreis-
zylinder beschrieben, dann bilden die Perpendikel, welche von den
einzelnen Punkten derselben auf die Achse des Zylinders gefällt
^ Z. B. die Einleitung in das V. Buch (ed. Hultsch) pag. 304, welche der
Heiausgebei mit Recht als kennzeichnend für die Schreibweise des Pappus er-
klärt hat. *) Pappus (ed. Hultsch) pag. 682. *) Ebenda pag. 1084 sqq.
*) Dieser Abschnitt (ed. Hultsch) pag. 268 — 264 hat in dem Eislebener Pro-
gramm von 1876 durch Gerhardt eine deutsche Übersetzung erhalten. Der
Text Gerhardts weicht indessen in wesentlichen Dingen von dem Hultschs
ab. Letzterer befindet sich in vollem Einklang mit Chasles, ÄperQu hüt. 31,
deutsch 28, dem wir hier vorzugsweise folgen.
Sextas Julius Africanns. Pappns von Alezandria. 451
werden ; eine Schranbenfläche. Legt man durch eines dieser Perpen-
dikel unter passender Neigung gegen die Grundfläche des Zylinders
eine Ebene, so schneidet diese Ebene die Schraubenfiache in einer
Kurve, deren senkrechte Projektion auf die Grundfläche des Zylinders
die Quadratrix ist. Und zweitens: wählt man eine archimedische
Spirale zur Basis eines geraden Zylinders und denkt man sich einen
Umdrehungskegel, dessen Achse diejenige Seitenlinie des Zylinders ist,
welche durch den Anfangspunkt der Spirale geht, so schneidet dieser
Kegel die Zylinderfläche in einer Kuire doppelter Krümmung. Die
Perpendikel, welche von den verschiedenen Punkten dieser Kurve auf
die erwähnte Seitenlinie des Zylinders gefällt werden, bilden die
Schraubenfläche, weiche Pappus an dieser Stelle plektoidische
Oberfläche nennt. Legt man nun durch eine dieser Linien unter
passender Neigung eine Ebene, so schneidet diese die Oberfläche in
einer Kurve, deren senkrechte Projektion auf die Ebene der Spirale
die verlangte Quadratrix sein wird. Welche tiefe Kenntnis krummer
Oberflächen mußte nicht vorausgehen, damit diese Erzeugungsarten
der Quadratrix erfunden werden konnten! Welchen Weg hat auch
in dieser Beziehung die griechische Geometrie von Archytas, der, wie
wir uns erinnern (S. 229), gekrümmte Oberflächen zur Würfelver-
doppelung benutzte, bis auf Pappus zurückgelegt I Um so bedauer-
licher ist es, daß uns die euklidischen Orter auf der Oberfläche fehlen,
aus denen wir ermessen könnten, in welcher Periode der größere
Teil jenes Weges zurückgelegt worden ist.
Pappus geht hier in seiner Betrachtung von Oberflächen und auf
denselben hervortretenden Kurven doppelter Krümmung noch weiter.
Er läßt eine sphärische Spirale entstehen, indem ein größter Kugel-
kreis um seinen Durchmesser mit gleichmäßiger Geschwindigkeit
sich dreht, während zugleich ein Punkt mit ebenfalls gleichmäßiger
Geschwindigkeit die Peripherie des gedrehten Kreises durchläuft^),
and er findet die Fläche eines durch diese sphärische Spirale be-
grenzten Stückes der Kugeloberfläche, eine Komplanation, welche
unsere Bewunderung um so lebhafter in Anspruch nimmt, wenn wir
daran denken, daß die gesamte Kugelfläche zwar seit Archimed
bekannt war, Stücke der Kugeloberfläche aber zu messen, wie z. B.
sphärische Dreiecke, damals und noch lange später eine ungelöste
Aufgabe darstellte.
Sätze aus der Geometrie der Ebene, welche bei Pappus den Leser
überraschen, finden sich namentlich in dem VII. Buche, dessen Inhalt
^) Pappus (ed. HultBch) pag. 264 sqq. Vgl. Elügels MatfaematischeB
Wörterbuch Bd. IV, S. 449 flgg.
29*
452 22. Kapitel.
von selbst einlade Erweiterung za jenen feinen Analysen Yorzunehmen,
die in den meisten verlorenen Schriften eines Euklid und ApoUonius
enthalten gewesen sein müssen^). Hier findet sich in den Lemmen
zum bestimmten Schnitte des ApoUonius die Lehre von der Invo-
lution von Punkten, in den Lemmen zu den Berührungen des Apol-
lonius die Aufgabe, durch drei in einer Geraden gelegenen Punkte
ebenso viele Gerade zu ziehen, welche ein Sehnendreieck in einem ge-
gebenen Kreise bilden (S. 448). Hier enthält ein Lemma zu den
Porismen des Euklid die Lehre von der Konstanz des anharmonischen
Verhältnisses und ein Lemma zu den Örtem auf der Oberfläche eben-
desselben den Satz, daß die Entfernungen eines jeden Punktes irgend
eines Kegelschnittes vom Brennpunkte und der zu demselben ge-
hörigen Leitlinie in konstantem Verhältnisse stehen, was ApoUonius
vieUeicht noch nicht gewußt zu haben scheint (S. 339). Hier ist in
den Lemmen zu den Berührungen des ApoUonius der Lehre von den
Ähnlichkeitspunkten zweier Kreise soweit vorgearbeitet, als wenigstens
bekannt ist, daß die Verbindungsgerade der entgegengesetzten End-
punkte paralleler Halbmesser zweier sich äußerUch berührender Kreise
durch den Berührungspunkt geht und auch der äußere Ähnlichkeits-
punkt einer Figur entnommen werden kann*).
Hier endlich spricht Pappus zu den Kegelschnitten des ApoUonius
die Aufgabe aus, welcher, seit Descartes die Aufmerksamkeit der
Mathematiker aufs neue auf sie gelenkt, der Name der Aufgabe
des Pappus vorzugsweise geblieben ist'). Wenn mehrere gerade
Linien der Lage nach in einer Ebene gegeben sind, den geometrischen
Ort eines solchen Punktes zu finden, daß, wenn man von ihm Per-
pendikel, oder aUgemein Linien unter gegebenen Winkeln, nach den
gegebenen Geraden zieht, das Produkt gewisser unter ihnen zu dem
Produkt aller übrigen in einem konstanten Verhältnisse stehe.
Aber nicht die Geschichte der Mechanik und der Geometrie aUein
kann aus der Sammlung des Pappus ihre merkwürdigen Ergebnisse
schöpfen. Auch anderen mathematischen Lehren ist sie eine wenn
auch nicht ganz ebenso ergiebige Fundgrube. Betrachten wir z. B.
eines der Lemmen zum Verhältnisschnitte und Raumschnitte des
ApoUonius*). Wir haben (S. 266) im 27. Satze des VI. Buches der
euklidischen Elemente die Wahrheit erkannt, das Produkt zweier Teile,
in welche man eine gegebene Größe teUe, werde ein Maximum, wenn
die Teüe einander gleich sind. So fest wir an dieser Auffassung des
betreffenden Satzes halten, so ist immerhin eine Auffassung dazu er-
*) Für das Folgende vgl. namentlich Chasles, Äpergu hist. 88—44, deutsch
31—41. *) Pappus (ed. Hultsch) pag. 840 und 862. ») Ebenda pag. 678.
^) Ebenda pag. 694.
SextuB Julias Africanus. Pappas von Alexandria. 453
forderlich. Der WorÜant des Satzes sagt nicht ausdrücklich, was wir
in demselben gefunden haben. Pappus dagegen spricht an der ge-
nannten Stelle jene Wahrheit klar und durchsichtig aus. Sein Beweis
lautet in Buchstaben übertragen folgendermaßen. Wird a in zwei
Teile zerlegt, so ist der eine x kleiner als -^ und zwar um y. Der
andere Teil ist, wie man erkennt, x + 2y und das Produkt x* + 2xy
stets kleiner als x^ + 2xy + y* — (rr + y)*, oder kleiner als ^ , so lange
y von Null verschieden ist.
Pappus, wissen wir, hat der Ausziehung der Quadratwurzeln seine
Aufmerksamkeit zugewandt. Er hat auch die Aufgabe der Ein-
schiebung zweier mittleren Proportionalen zwischen gegebene Großen,
die analytisch zur Eubikwurzelausziehung führt, aber von den Griechen
stets geometrisch bearbeitet wurde, an zwei verschiedenen Orten im
III. und im YIII. Buche verschiedenen Schriftstellern nachbehandelt.
Eine solche von ihm durchgesprochene Lösung ist besonders merk-
würdig, weil sie falsch ist, und Pappus den Irrtum durch Rechnung
nachweist, also den geometrischen Gang zugunsten einer arithmeti-
schen Prüfung unterbricht. Man hat gezeigt^), daß jene tatsächlich
unrichtige Methode, wenn fortgesetzt angewandt, eine wirkliche nähe-
rungsweise richtige Kubikwurzelausziehung liefert, und damit wäre
ein ungemein wichtiger Fortschritt griechischer Wissenschaft enthüllt,
wenn wahrscheinlich gemacht werden könnte, daß der Erfinder jenes
Verfahrens wirklich beabsichtigte, was nachträglich aus seinem Ver-
suche gemacht worden ist. Wir können für jetzt nicht daran
glauben, weil ein Mann wie Pappus, gelehrt und geometrisch gewandt
wie kein zweiter seiner griechischen Zeitgenossen, sonst wohl kaum
mit einer gewissen Geringschätzung von jenem Versuche gesprochen
haben würde.
Zu den Berührungen des ApoUonius macht Pappus zwei Be-
merkungen, von welchen wir (S. 345) andeutungsweise redeten, ihre
eigentliche Erwähnung bis hierher aufsparend, da es mindestens
zweifelhaft ist, ob wir hier dem Apollonius bereits Bekanntes, ob
einen Zusatz des Pappus vor uns haben. Pappus sagt nämlich, aus
drei Elementen, deren jedes beliebig oft gesetzt werden darf, lassen
') PappnB (ed. Hultsch) pag. 82 sqq. Vgl. Pendlebnry, On a method
of finding two mean proportionaU im Messetiger of the maihematica Ser. 8, Tom. II,
pag. 166 sqq., dann Glaisher in dem Jahrbuch über die Fortschritte der
Mathematik V, 244 und beide ergänzend S. Günther, Antike Nähemngs-
methoden im Lichte modemer Mathematik (aus den Abhandlangen der E. bOhm.
Gesellschaft der Wissenschaften VI. Folge, 9. Band. Prag 1S78) S. 82—41 des
Sonderabdruckes.
454 22. Kapitel.
sich zehn Temen und nur sechs Amben bilden^). Das sind wahre
kombinatorische Lehrsätze von einem Mathematiker verwertet. Neben
der Ursprungsfrage bleibt noch eine zweite zu stellen, die wir nicht
zu entscheiden wagen , ob die beiden Sätze als spezielle Fälle , ob
als in einer allgemeinen Hauptwahrheit enthalten bekannt waren.
Wir neigen der Meinung zu, es sei nur ersteres der Fall gewesen,
und Pappus, oder wer nun die Sätze fand, habe durch tatsächliches
Bilden der Kombinationsformen sich von ihrer Anzahl überzeugt.
Die drei hauptsächlichen Mittelgrößen sind schon mehrfach von
uns besprochen. Wir wissen, daß Nikomachus von Gerasa, daß
Theon von Smyma sich mit ihnen beschäftigte, aber keiner von
beiden leitete so, wie Pappus in seinem III. Buche es tut*), alle
drei durch eine gleichmäßige Erzeugungsweise ab. Zwischen a und c
ist Pappus zufolge eine dritte Größe h arithmetisches, geometrisches
oder harmonisches Mittel, je nachdem die beiden Differenzen a — b
und h — c in dem Verhältnisse a : a oder a : h oder a : c stehen.
Wir möchten femer die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die
dem in. Buche angehörige Aufgabe lenken: zu einem gegebenen
Parallelogramme ein zweites zu finden, so daß die Seiten des zweiten
zu denen des ersten in einem gegebenen Längenverhältnisse stehen^
während die Flächenräume in einem anderen gleichfalls gegebenen
Verhältnisse stehen sollen *). Die Aufgabe ist an sich leicht und
eine vollständig bestimmte, aber sie gewinnt an geschichtlicher Trag-
weite, wenn wir sie mit jener unbestimmten Aufgabe im Buche des
Landbaues vergleichen (S. 391): zwei Rechtecke zu finden, bei welchen
die Summe der Seiten in einem, die Flächeninhalte in einem anderen
gegebenen Verhältnisse stehen sollen, eine Aufgabe, welche uns noch
wiederholt begegnen wird, und deren Ursprung durch das bloße Vor-
kommen im heronischen Buche des Landbaues noch keineswegs ge-
sichert ist, da gerade dieses Buch spätere Einschiebungen mit großer
Wahrscheinlichkeit vermuten läßt.
Endlich kommen wir auf die Multiplikationsmethode des Apol-
lonius im U. Buche des Pappus zurück und auf eine Bemerkung,
welche wir bei unserer ersten Erörterung dieses Verfahrens (S. 346)
dazu machten. Jene Bemerkung bezog sich auf das Auftreten xter
Myriaden. Die Allgemeinheit der Darstellung beschränkt sich nicht
auf sie. Bei den Zahlenbeispielen, an welchen die Multiplikation
mit Hilfe der Wurzelzahlen gelehrt wird, kommen natürlich grie-
chischer Gewohnheit gemäß Buchstaben als Vertreter von Zahlen
*) PappuB (ed. HultBch) pag. 646 und 648. *) Ebenda pag. 70 und 72.
ATiHfi. nfl.Gr 19(i ann
^ Ebenda pag. 126 sqq
Sextas Julius Africanus. Pappus Yon Alexandria. 455
vor. Aber neben den zu diesem Zwecke verwandten Buchstaben des
Alphabetes erscheinen auch große Buchstaben in der Bedeutung
allgemeiner Zahlen. So ist a — 1, /J «= 2, y « 3, i =« 4, « « 5, und
von den entsprechenden großen Buchstaben wird angenommen, es
sei*) v^ « 20, J5 = 3, T- 4, ^^^5, E^6 und Z sei die Wurzel-
zahl von A oder 2. Offenbar ist hier ein ungemeiner Fortschritt
enthalten. Es ist nicht bloß von einer gesuchten Gh'öße, einem Hau
der Ägypter die Rede; es werden nicht bloß, wie in dem Epantheme
des Thymaridas, zwei Gattungen von Größen, gegebene und unbe-
kannte unterschieden; es liegt die Möglichkeit vor, so viele allgemeine
Größen als es nur große Buchstaben gibt zu unterscheiden, Opera-
tionen an ihnen anzudeuten und damit Regeln selbst in ihrer All-
gemeinheit auszusprechen, ohne den Leser zu nötigen die Regel erst
aus dem besonderen Beispiele zu abstrahieren. Es ist in der Tat
eine Buchstabenrechnung. Schon Aristoteles hat (S. 253) eine Kraft,
eine Zeit durch einen einfachen Buchstaben bezeichnet. Bezeichnungen
durch einfache Buchstaben hat man auch aus Ciceros Briefen nach-
zuweisen vermocht *). Aber eine so freie Bewegung mit den Symbolen
allgemeiner Größen wie im II. Buche des Pappus ist doch neu. Dem
Vorgange des Aristoteles gegenüber ist es nicht erlaubt ohne weiteres
zu leugnen, daß ApoUonius schon diesen gewaltigen Fortschritt voll-
zog. Es ist noch weniger gestattet solches geradezu zu behaupten
und anzunehmen weder ein Geometer noch ein Arithmetiker, kein
Heron, kein Nikomachus seien in die Fußtapfen des ApoUonius ge-
treten. Vielleicht ist der Fortschritt in zwei Bewegungen erfolgt,
wenn man uns diese Ausdrucks weise gestatten will. ApoUonius, das
wissen wir aus Pappus, hat sein Verfahren geometrisch dargestellt'),
d. h. er sprach offenbar, gleich Euklid an manchen Stellen der
Elemente, von Linien und Flächen, wo wir von Zahlen und ihren
Produkten zu reden gewohnt sind. Auch Euklid bezeichnete solche
Zahlenlinien regelmäßig durch einfache Buchstaben. Dieselbe Ge-
wohnheit, sollten wir meinen, habe ApoUonius gehabt; er habe seine
Zahlenlinien durchgängig mit je einem großen Buchstaben benannt.
Pappus, vermuten wir dann, habe die Buchstaben beibehalten, die
lineare Versinnlichnng faUen lassen. So war der Fortschritt vieUeicht
ein halb unbewußter, aber er war darum doch gemacht, und die Algebra
der Zeitgenossen wie der Nachkommen konnte Nutzen davon ziehen.
*) Pappus (ed. Hultsch) pag. 8. *) Epistolcte ad Atticum Lib. II epiatola 3.
Wenn dagegen römische Juristen vielfach die Gewohnheit hatten, statt einer un-
bestimmt gelassenen Zahl deeem (X) zu schreiben^ z. B. dabo X assea, so ist diese
Gewohnheit kaum als eine Spur allgemeiner GrOfienbezeichnung aufzufassen.
*) th ik YQaitiunhv 'bnh tov lAicolXmvlov diieintai, bei Pappus (ed. Hultsch) pag. 8.
456 2S. Kapitel.
23. Kapitel.
Die Nenplatoniker. Diophantas von Alexandria.
Wir sehen in diesem Kapitel Männer auftreten^ deren richtige
Würdigung kaum möglich ist, ohne daß wir ein Anlehen bei der
Geschichte der Philosophie uns gestatten^). Nicht als ob wir ge-
sonnen wären die Unterschiede deutlich zu machen, welche zwischen
dem Neupythagoräismus, von welchem wir in der Einleitung zum
21. Kapitel (S. 428) gesprochen haben, und dem Neuplatonismus,
zu welchem wir uns jetzt wenden, obwalten; so tief dürfen wir in
das uns fremde Gebiet nicht eindringen; aber die Persönlichkeiten
müssen wir wenigstens kennen lernen, welche im Neuplatonismus
tonangebend waren, und die vielleicht ein Recht in der Geschichte
der Mathematik mit Ehren genannt zu werden nur dadurch ein-
büßten, daß ihre mathematischen Schriften verloren gingen, Schriften,
deren arithmetischer Inhalt, sofern wir nach dem Erhaltenen auf das
Verlorene schließen dürfen, eine Fortsetzung dessen darstellen würde,
was die Neupjthagoräer Nikomachus und Theon uns zu entwickeln
nötigten. Noch in einem anderen Berührungspunkte treffen die Nen-
platoniker, von denen wir besondere mathematische Erinnerung be-
sitzen, mit den genannten neupythagoräischen Arithmetikem überein.
Wie Gerasa und Smyma, so gehört die Heimat des Porphyrius, des
Jamblichus dem asiatischen Weltteile an, und gehen wir von dem
Satze aus, daß sich häufende Zufälligkeiten wahrscheinlich ähnlichen
Gründen entstammen und damit aufhören Zufälligkeiten zu sein, so
werden wir die Tatsache uns zu bemerken haben, daß vorderasiatische
Philosophen, welche der Mathematik sich zuwandten, vorzugsweise
Arithmetiker wurden. Eine Begründung dieser Tatsache aber zu
geben reichen die heutigen Mittel nicht aus. Kaum anzudeuten wagen
wir, daß es heimatliche Einflüsse gewesen sein dürften, die diese be-
stimmte Geistesrichtung hervorbrachten, heimatliche Einflüsse, die aber
jedenfalls nach Zeit und Ort weiter verfolgbar sein müssen, in eine
vielleicht graue Vergangenheit, in weiter östlich liegende Gegenden.
Der Verkehr mit diesem Osten, selbst mit dem äußersten Osten,
war wenn auch kein lebhafter doch immer vorhanden. Alexandri-
nische Handels karawanen wagten sich nach Indien; aber auch indische
und chinesische Gesandtschaften erschienen bei römischen Kaisem.
*) Unsere Hauptqnelle : Zell er, Die PkiloBophie der Griechen in ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung m. Theil, 2. Abtheilnng (2. Auflage) 1868, zitieren
wir als Zell er III, 2.
Die Neaplatoniker. Diopbantus yon Alexandria. 467
Der Hof des Augustus, des Claudius^ des Trajan, des Constantin des
Großen, des f Julianns hat solche Botschafter fremdartigster Gestalt
gesehen^). Im II. S. n. Chr. soll Scythianus magische Schriften
aus Indien nach Alexandria gebracht haben, die dort gierig ver-
schlungen wurden. In das III. S. fällt die Gründung der neuplato-
nischen Schule in Alexandria durch Ammonius Sakkas. Ammonius
aber war von 232 — 242 der Lehrer des Plotinus, eines Ägypters,
in dem nunmehr die Neigung aus den orientalischen Quellen selbst
zu schöpfen so lebhaft erwachte, dafi er 39 Jahre alt dem Heere sich
anschloß, welches unter Gordian gegen die Perser zu Felde zog. Die
selbständige Wirksamkeit des Plotinus entMtete sich in Rom, wo er
etwa 244 als Lehrer auftrat und eines großen Zulaufs sich erfreute,
bis er 270 in Campanien einer lange dauernden Krankheit erlag.
Der Lieblingsschüler Plotins erhielt den Auffcn^ die Schriften
des Lehrers zu sammeln und herauszugeben. Es war der Tyrier
Malchus, der etwa 232^ auf asiatischem Boden geboren zuerst in
Athen unter einem Philosophen Longinus, der für uns kein weiteres
Interesse besitzt, studierte, dann nach Rom zu Plotinus gelangte und
dort den Namen Porphyrius erhielt, unter welchem er uns schon
wiederholt vorgekommen ist. Porphyrius erreichte jedenfalls ein
hohes Alter, da er selbst von einem Vorfalle aus seinem 68. Lebens-
jahre erzählt hat, und somit sicherlich erst nach 300 gestorben ist.
Er war außer in Rom, wohin er am Ende seiner Laufbahn nochmals
zurückkehrte, auch in Sizilien schriftstellerisch und als Lehrer tätig.
Von seinen Schriften haben wir das Leben des Pythagoras sowie den
Kommentar zu der Musik des Ptolemäus als Quelle mancher wert-
vollen geschichtlichen Angaben kennen gelernt. Die letztere Schrift
ihrem eigentlichen wissenschaftlichen Inhalte nach zu besprechen
haben wir keine Veranlassung. Wichtiger wären vielleicht für die
Geschichte der Sternkunde und ihrer Ausartungen die astrologischen
Anklänge, welche bei Porphyrius vorhanden sind, welche von da an
unter den Neuplatonikem nicht verhaUen, von welchen aber auch
schon Ptolemäus, der strenge Forscher, nicht frei war; ihrem Ur-
sprünge nachgehend könnte man möglicherweise zu auch anderwärts
verwertbaren Ergebnissen gelangen. Porphyrius verfaßte femer Ein-
leitungen zu aristotelischen Schriften. Von Geometrischem, was
Porphyrius geschrieben, ist uns nur weniges in des Proklus Kommen-
') Vgl. Bein au d, BeUxtions poliHques et commercuües de Vempire Bomain
avec VAste centrale im Journal Anatique, 6. sdrie, T. 1 (1863) und eine Notiz
Ton Woepoke in demselben Bande pag. 458 mit Berafong anf Wilson, Vishnu
Purana. London 1840 in 4^ pag. VIÜ und IX.
458 28. Kapitel.
tare zu dem ersten Buche der euklidischen Elemente erhalten') und
dieses Wenige ist nicht von solcher Bedeutung^ daß wir dabei zu ver-
weilen hätten.
Zwei Schüler des Porphjrius werden als bedeutendste genannt.
Der ältere, ein gewisser Anatolius, war seit 270 Bischof von
Laodicea. Von ihm haben sich mancherlei mystisch -arithmetische
Bruchstücke erhalten^. Sein Schüler und erst später Schüler des
ihnen somit gemeinsamen Lehrers Porphjrius war der zweite, den
wir zu nennen haben: Jamblichus.
Jamblichus ist aus reicher und angesehener Familie zu Chalcis
in Cölesyrien geboren, also Vorderasiate, wie wir oben bemerkten.
Er folgte wahrscheinlich in Rom dem Unterrichte des Anatolius und
des Porphyrius, als dieser aus Sizilien wieder zurückgekehrt war.
Später verlegte Jamblichus seinen Aufenthalt in seine syrische Heimat,
wo er selbst schulebildend auftrat. So sehr seine Anhänger ihn ver-
ehrten, — den Göttlichen nannte ihn die Schule — so sind doch
die Angaben über seine Lebenszeit von Widersprüchen behaftet*).
An und für sich könnte es ja richtig sein, daß er am Ende des
HL S. in Rom zu den Füßen des Porphyrius saß, daß er während
der Regierung Constantin des Großen (306 — 337) wirkte, daß noch
Kaiser Julianus Apostata (361 — 363) in Briefwechsel mit dem greisen
Philosophen stand. Wie aber will man dann begreiflich machen,
daß Kaiser Constantin den Sopater, einen Schüler des Jamblichus,
der erst nach des Lehrers Tode an den Kaiserhof kam, hinrichten
ließ, wie damit wieder in Einklang bringen, daß Kaiser Julianus in
einem seiner Briefe von Sopater als einem damals noch lebenden
Schüler des Jamblichus redet? Soll man wirklich den Tod des
Jamblichus etwa auf 330 setzen, die Briefe des Julian an Jamblichus
für untergeschoben erklären? Wir verzichten auf die Entscheidung
dieser Fragen, welche eine große Wichtigkeit für uns nicht besitzen.
Daß Jamblichus unzweifelhaft am Anfange des lY. S. lebte , genügt
uns. Wie lange Jamblichus im IV. S. seine Tätigkeit fortsetzte, ist
uns ziemlich gleichgültig.
^) Die betreffenden Stellen sind mit Hilfe des NamensverzeichnisBes der
Friedlein sehen Proklusansgabe leicht aufzufinden. *) In einer Münchener
Handschrift sind solche Stücke als von Anatolius herrührend gesammelt. Hei«^
borg hat sie in den Veröffentlichungen des Congrh d'Histoire des scienees
(Paris 1900) abdrucken lassen und P. Tanne ry hat eine französische Über-
setzung sowie Schlußbemerkungen folgen lassen, in welcher mit der älteren
Ansicht gebrochen ist, als wäre der Lehrer des Jamblichus gar nicht Christ ge-
wesen, also von dem Bischof Yon Laodicea zu unterscheiden. Vgl. auch Borg-
horst, De Änatolii fontibus (Berlin 1904). ") Zeller III, 2, 618, Anmerkung 2.
Die Neuplaioniker. Diophantus von Alexandria. 459
Von den Werken des Jamblichus^) kümmern uns vorzugsweise
einige Bücher^ welche zwar getrennt voneinander herausgegeben
worden sind, aber ursprünglich ein einziges Werk von zehn Büchern
bildeten und den Gesamttitel: Sammlung der pjthagoräischen
Lehren, övvaymy^ x0v nvdayoQix&v doyiuHrav^ führten. Das
I. Buch enthielt das Leben des Pythagoras, das U. eine Einleitung
in die Philosophie, das III. eine solche in die Mathematik, das
IV. Erläuterungen zu Nikomachus, das V. Physikalisches, das VI.
Ethisches, das VU. theologisch -arithmetische Auseinandersetzungen,
das VIII. eine Musik, das IX. eine Geometrie, das X. eine Sphärik.
Die kleinere Hälfte des Werkes, das L, II., III, IV. Buch haben sich
erhalten^), die andere Hälfbe ist verloren gegangen. Der wesentliche
Inhalt des VII. Buches mag allerdings von einem späteren unbe-
kannten Verfasser in die erhaltene Schrift Theologumena Arithmeticae
hineingearbeitet worden sein*). Verloren ist auch ein Werk über
Chaldäisches, aus dessen 28. Buche eine Notiz sich erhalten hat,
woraus auf den großen Umfang des Werkes ein Schluß gezogen
werden kann. An ihm dürfte die Geschichte der Wissenschaften
überhaupt, der Mathematik insbesondere, viel eingebüßt haben, und
jedenfalls reicht dessen einstmaliges Vorhandensein aus, die Glaub-
würdigkeit dessen, was Jamblichus, der sich somit erwiesenermaßen
mit den chaldäischen Überlieferungen beschäftigt hatte, über den
Ursprung mancher mathematischen Sätze in Babylon berichtet, wesent-
lich zu erhohen. Die sonstigen vielen Schriften, welche Jamblichus
mit Recht oder Unrecht beigelegt werden, welche teils ganz ver-
loren, teils in Bruchstücken vorhanden sind, haben für uns keine
weitere Bedeutung.
Von den zehn Büchern pythagoräischer Lehren haben wir das IV.,
welches schon mehrfach von uns ausgebeutet worden ist, dem wir
z. B. das Epanthem des Thymaridas entnahmen, noch nach der
Richtung hin zu prüfen, was wohl in den Erläuterungen zur Arith-
metik des Nikomachus, die übrigens nichts weniger sind als ein fort-
laufender Kommentar zum Texte des zu erklärenden Werkes, erwähnens-
wert sein möchte, und als älteren Schriftsteller nicht überweisbar
') Zeller III, 2, 616, Anmerkung 2. •) Buch I ist am besten von Kieß-
ling, Leipzig 1B16, Buch II Yon ebendemselben, Leipzig 1818, herausgegeben,
Buch in ist bei Ansse de Villoison, Aneedata Graeca Bd. II. Venedig 1781
abgedruckt, in unserer Zeit Ton Feata neu herausgegeben. Buch IV gab Ten-
nuliuB heraus. Amheim 1668, sowie Pistelli (Leipzig 1894). ^ SBoXayo^-
luva tfjg &QtBiirivixfjs ed. Fr. Ast. Leipzig 1817. C. Ton lan, Musici seriptores
Graeci pag. 212 (Leipzig 1895) neigt sich der Ansicht zu, die Theologumena
seien Ton Jamblichus zusammengestellt.
460 23. Kapitel.
dem Jamblichus angehören konnte. Da ist freilich das Auszu-
zeichnende ungemein dürftig. Der Satz, daß jede Dreieckszahl mit
8 vervielfacht und alsdann noch um die Einheit vermehrt zur Quadrat-
zahl werde, ist keinesfalls des Jamblichus Eigentum , da derselbe
mindestens schon bei Plutarch im I. S. n. jDhr. vorkommt (S. 168).
Auch was Jamblichus von Seiten- und Diametralzahlen weiß, kennen
wir schon von Theon von Smyma her. Ihm dagegen gehört viel-
leicht der Satz an, daß jede Zahl mit einer der beiden ihr zunächst
liegenden gleichartigen (d. h. gerade mit geraden, ungerade mit ungeraden)
vervielfacht unter HinzufQgung der Einheit zu dem Produkte ein
Quadrat gibt, und zwar ein gerades Quadrat wenn man von ungeraden,
ein ungerades wenn man von geraden Faktoren ausgingt), ein Satz, der
freilich keines weiteren Beweises bedarf, als der sich aus der Identität
a(a -f 2) -f 1 = (a -f 1)* ergibt. Über die vollkommenen Zahlen sagt
Jamblichus, nach den vier ersten 6, 28, 496, 8128 folgten auch in
der ersten imd zweiten Stufe der Myriaden je eine usw. ins unend-
liche immer abwechselnd mit 6 und 8 endigend.*)
Jamblichus darf sich wohl auch die Erfindung zuschreiben, welche
jede Quadratzahl in ihrer Entstehung als Summe zweier aufeinander
folgenden Dreieckszahlen mit dem Bilde einer Rennbahn vergleicht^).
Von der Einheit als Schranke durchläuft man alle Zahlen bis zu einem
Wendepunkte a, von wo aus auf der anderen Seite wieder durch
die sämtlichen Zahlen die Rückkehr zur Einheit als Ziel erfolgt; d. h.
l+2 + '- + (a-l) + a+(a~l)+-- + 2 + l-a*. Daneben
weiß Jamblichus auch, daß 1 + 2 + • • + (a - 1) -f a -f (a - 2) + • • -f 2
= (a — 1) • a eine heteromeke Zahl wird, und stellt auch diese Vor-
wärts- und Rückwärtssummierung, bei der freilich beim Zurückgehen
ein Sprung von a nach a — 2 erfolgt, und außerdem das Ziel bei 2
und nicht bei 1 ist, an dem Bilde einer Rennbahn dar. Ja er hetzt
das Bild einer Rennbahn zu Tode, indem er von l+2-f3-f--« + 9
+ 10 + 9-f-..-f-3-t-2 + l«100 durch Vervielfachung jeder Zahl
mit 10, mit 100 usw. zu 1000, zu 10000 usw. gelangt und die
Zahlen 1, 10, 100, 1000 die Einheiten des ersten, des zweiten, des
dritten, des vierten Ganges mit den Pythagoräern nennt, woraus
hervorgeht, daß den Pythagoräern ein genaues Bewußtsein des deka-
dischen Zahlensystems innewohnte, wie es auch aus dem Begriff der
1) Jamblichus in Nkomachum (ed. TeDDulius) pag. 127, (ed. Pistelli)
pag. 90. Vgl. NeBselmann, Algebra der Griechen S. 236, Anmerkung 70.
*) Jamblichus in Nicomachum (ed. Tennulius) pag. 46, (ed. Pistelli) pag. 38.
Vgl. Fr. Hultsch in den Nachrichten der k. Gesellschaft d. Wissensch. zu
Göttingen. 1895, Heft 8. ^ Für diese und die folgenden Bemerkungen zu
Jamblichus vgl. Nesselmann, Algebra der Griechen S. 237—242.
Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 461
Wurzelzahlen bei Apollonius deutlich hervorgeht. Die Wurzelzahlen
selbst, aber nicht Pythmenes, sondern Einheit, fiovdg^ genannt, spielen
in einem letzten Satze des Jamblichus eine Rolle. Addiert man drei
in der natürlichen Zahlenreihe unmittelbar aufeinander folgende Zahlen,
deren größte durch 3 teilbar ist, nimmt die Ziffemsumme der Summe
(d. h. bei Jamblichus die Summe der Monaden), von dieser Ziffem-
summe abermak die Ziffemsumme usf., so gelangt man endlich zu
der letzten Ziffemsumme 6. So erweist sich uns Jamblichus immer-
hin als erträglicher, wenn auch nicht als bedeutender Arithmetiker.
Bedürfte der negative Teil dieses Ausspruches einer Bestätigung, so
könnten wir sie in dem Tadel finden, den Jamblichus gegen Euklid
sich erlaubt, weil derselbe die Zahl 2 eine Primzahl nenne, während
es nach Nikomachus nur ungerade Primzahlen gebe.
Das Wort Pythmen, welches bei Jamblichus vermißt wird, findet
sich dagegen bei einem anderen christlichen Schriftsteller des III. Jahr-
hunderts, bei dem Heiligen Hippolytos*), der die Pythmenen zur
Neunerprobe und ebenso zur Siebenerprobe benutzt, d. h. die
Frage aufwirft, welcher Rest übrig bleibe, wenn man die Summe von
Pythmenen durch 9 oder auch durch 7 teile. Eine rechnerische Ver-
wertung dieses Verfahrens ist allerdings nicht beabsichtigt, sondern
es handelt sich um eine Art Vorbedeutungsarithmetik, die möglicher-
weise in Griechenland noch weit vor die Zeit des Hippolytos hinaufreicht.
Der Zeit des Jamblichus gehören möglicherweise die arith-
metischen Epigramme der griechischen Anthologie an').
Sammlungen kleiner griechischer Gedichte wurden seit dem letzten
Jahrhundert vor Christi Geburt vielfach zusammengestellt. Aber was
damals, was später während der Regierungen Trajans, Hadrians ge-
sammelt wurde, ist verloren gegangen. Nur die Erinnemng daran
ist geblieben, nur was teilweise mit Anlehnung an diese Vorgänger
am byzantinischen Hofe zuerst im X. S. von Constantin Kephalas,
dann wiederholt in den ersten Jahren des XIV. S. von Maximus
Planudes, einem Vielschreiber, welcher uns noch mehrmals als Ver-
fasser mathematischer Schriften begegnen wird, zu einer Blumenlese
vereinigt worden ist. Einige dieser Gedichte gehören der Geschichte
der Mathematik insofern an, als man in ihnen Isopsephien
^) F. Tannerj, Notice sur des fragments d'Onomatomancie arithmetique
(NoHces et extraits des Manuscrits de la Bibliotheqiie NaHancUe 1885, Tome XXXI,
8. Partie). *) Die besten Ausgaben der Anthologie von Fried r. Jacobs in
8 Bänden (Leipzig 1818 — 17) und von Brunck. Die 47 arithmetiscben Epi-
gramme bat Zirkel in einem Bonner Gjmnasialprogramme vom Herbst 1858
mit deutscher Übersetzung und einigen Erläuterungen herausgegeben. Vgl. auch
Nesselmann, Algebra der Griechen S. 477flgg.
462 23. Kapitel.
erkannt hat, d. h. sie bestehen aus zwei Distichen, nnd die Buch-
staben aller in je einem Distichon vorkommenden Wörter nach
ihrem Zahlen werte additiv vereinigt geben die gleiche Summe, eine
Spielerei, welche an die im ersten nachchristlichen Jahrhunderte
in Alexandria geübte öematrie (S. 125) täuschend erinnert. Wirk-
lich ist auch einer der Dichter, welche an Isopsephien sich versuchten,
ein gewisser Leonidas von Alexandria, der, wie mun aus in seinen
Gedichten vorkommenden Persönlichkeiten zu ermitteln gewußt hat,
in der Zeit von Kaiser Nero etwa gelebt haben muß ^). Dann finden sich
in der Anthologie auch eine große Anzahl algebraischer Rätselfragen.
Wir haben (S. 285) das sogenannte euklidische Epigramm von den
beladenen Tieren kennen gelernt; es steht in der Anthologie. Das
Rinderproblem des Archimed (S. 312) steht nicht ii^ derselben, gehört
aber seinem Inhalte wie der dichterischen Einkleidung nach gleich-
falls hierher, imd man wird vielleicht nicht irre gehen, wenn man
Inhalt und Form der Epigramme voneinander trennt, letztere erheb-
lich später als ersteren entstehen läßt. Für mehrere von den alge-
braischen Epigrammen gilt Metrodorus als Verfasser und da dieser
nach den einen unter Constantin dem Großen, nach anderen im
VI. Jahrhundert gelebt haben soU*), so wählten wir diese Stelle, um
von den Epigrammen zu reden. Wir wollen freilich nur zwei der-
selben hervorheben, welche eine gewisse Bedeutung zu besitzen scheinen.
Wir meinen erstens eine Brunnenaufgabe, wenn dieses Wort den
Sinn behalten soll, imter welchem wir es (S. 391) bei Besprechung
der Ausmessungen des Heron eingeführt haben:
Vier Springbrunnen es gibt. Die Zisterne anfallet der erste
Täglich; der andere brapcht zwei Tage dazu, und der dritte
Drei, und der vierte gar vier. Welche Zeit nun brauchen zugleich sie?
Wir meinen zweitens ein Epigramm, welches seinem Gegenstande
nach an die Kronenrechnung des Archimed erinnert, durch die Art
aber, wie die gegebenen Größen in ihm mit den Unbekannten
verbunden sind, die Anwendung des Epanthems des Thymaridas er-
heischt:
') H. Stadtmüller, Zur griechischen Anthologie in der Festschrift zur
Einweihung des neuen Gebäudes für das Großherz. Gymnasium in Heidelberg
1894 besonders S. 40— 4S. Für die Lebenszeit des Leonidas von Alexandria
standen uns mündliche Mitteilungen Stadtmüllers zu Gebote. *) Jacobs, Comment,
in Anthologiam Graecam T. Xm, pag. 917. Allerdings heruht nach Tannery
(Prolegomena zum U. Bd. seiner Diophantausgabe (1895) pag. XII — XIII) die
Angabe von Jacobs auf einer Verwechslung yon Persönlichkeiten gleichen
Namens, und der Zusammensteller der algebraischen Epigramme lebte erst im
VIS.
Die Neuplatoniker. Diopbantas von Alexandria. 463
Schmied' mir die Krone und menge das Grold mit dem Kupfer zusammen.
Füg' auch Zinn noch hinzu samt sorglich bereitetem Eisen.
Sechzig der Minen sie hab' an Gewicht. Zwei Drittel der Krone
Wiege das Gold mit dem Kupfer gemengt; drei Viertel dagegen
Gold mit dem Zinn im Gemisch; drei Fünftel betrage das Gold noch,
Wenn du es fügst zu dem Eisen. Wohlan! nun sage mir pünktlich,
Was du an Gold mußt nehmen und Kupfer, zu treffen die Mischung;
Wie yiel Minen an Zinn; auch nenne die Masse des Eisens,
Daß du zu schmieden vermagst von sechzig der Minen die Krone.
Mag nun Metrodorus unter Constantia dem Großen im ersten
Drittel des IV. S. oder erst im VI. S. gelebt haben, mag im ersteren
jetzt allerdings so gut wie ausgeschlossenen Falle ein Mann, dessen
Persönlichkeit einem sogleich von uns zu erwähnenden Epigramme
den Inhalt gab, vor Jamblichus gelebt haben, so konnte die strenge
Zeitfolge für unsere Darstellung nicht maßgebend sein. Jamblichus
ist Yon den Neuplatonikern nicht zu trennen. Er ist in seinen
Schriften durch die Leistungen Diophants — denn dieser ist der
Mann, den wir im Auge haben — nicht im geringsten beeinflußt.
Er konnte daher ohne Rücksicht auf die Lebenszeit des anderen
selbständig behandelt werden. In gleicher Weise ist umgekehrt eine
Einwirkung des Jamblichus auf Diophantus von Alexandria^)
nicht zu bemerken.
Der Name dieses Schriftstellers war selbst dem Zweifel unter-
worfen, so lange' man in griechischer Sprache nur die Genitivform
kannte, welche ebensowohl Yon einer Endung rjg als og sich herleiten
konnte. Man berief sich aber auf die arabische Form des Namens,
welche mit der hier benutzten übereinstimmt und fand alsdann volle
Bestätigung in einer Stelle des Kommentars Theons von Alexandria
zum ersten Buche des Almagestes, wo unzweideutig zft6q>avTog steht
und unser Algebraiker gemeint sein muß, weil es sich bei Theon^)
um einen Satz handelt, der bei Diophant wirklich in dem dort an-
gegebenen Wortlaute vorkommt. Der gleichen Form ^lötpavtog hat
sich auch Johannes von Jerusalem bedient^). Am Ende des Vül. S.
*) VJhei Diophant hat Cossali, Origine, trtisporto in ItcUia, primi pro-
gressi in essa delV cdgebra 1, 56—95. Parma 1797, gehandelt; dann Otto Schulz
in der Einleitung und den Anmerkungen zu seiner deutschen Übersetzung des
Diophant. Berlin 1822; Nesselmann, Algebra der Griechen S. 248 — 476.
Hankel 157—171. T. L. Heath, Diophantoa of Alexandria. Cambridge 1885.
P. Tannery in der Bibliotheca mathematica 1887 pag. 87—43, 81—88, 108—108
nnd 1888 pag. 3—6. *) Thion d'Alexandrie (ed. Halma) I, 111. ') Yossius,
De scientiis maihematieis (Amsterdam 1650) pag. 482 hat die betreffenden Worte
abgedruckt und zitiert dafür „pag. 688 edit. Basil.*' Tannery hat sie in seine
Diophantausgabe II, 86 in der Form aufgenommen, welche sich im Pariser
Kodex 1559 erhalten hat.
464 28. Kapitel.
lebte nämlich Johannes von Damaskus ^ der gleich seinem Vater
Sergius als Christ Schatzmeister des Kalifen ^AbdAlmelik war. Er
zog sich jedoch bald in das Kloster Saba zurück^ wo er, wie die
einen sagen, 780, nach anderer Meinung 7B0 gestorben ist^). Das
Leben dieses Johannes von Damaskus hat nun sein jerusalemitischer
Namensgenosse beschrieben und ihm dabei nachgerOhmt, er sei in
der Geometrie so bewandert gewesen wie Euklid, in der Arithmetik
wie Pythagoras und Diophantus.
Für das Leben des Diophantus sind uns zwei weit getrennte
Grenzen gegeben. Damit Theon seiner erwähnen konnte, müssen
seine Schriften spätestens um 370 vorhanden gewesen sein. Damit
er Hjpsikles nennen konnte, dessen Definition der Vieleckszahlen er
uns aufbewahrt hat (S. 361), muß er später als 180 v. Chr. gelebt
haben. So ist ein Zwischenraum von ganzen 550 Jahren gewonnen,
in welchem Diophant unterzubringen ist: Die Gründe, weshalb man
früher vermutete, Diophant müsse ganz am Ende der überhaupt mög-
lichen Zeit gelebt haben, sind teils negative, teils ein positiver.
Negativ ließ man sich dadurch bestimmen, daß weder bei Niko-
machus, noch bei Theon von Smyma, noch bei Jamblichus eine Er-
wähnung des Diophant oder seiner Lehren aufgefunden worden ist,
so nahe dieselbe gerade diesen Schriftstellern gelegen hätte, daß über-
haupt eine Einwirkung des Diophant auf griechische Arithmetik nicht
nachzuweisen ist, was nur dann begreiflich erscheine, wenn man an-
nehme, er habe erst nach den Männern gelebt, welche ihn einigermaßen,
wenn auch nicht vollkommen zu verstehen imstande waren. Dazu
kommt dann das positive Zeugnis des Abulpharagius, eines syrischen
Geschichtsschreibers aus dem XIU. S., Diophant sei Zeitgenosse des
Julianus Apostata gewesen, welcher 361 — 363 regierte. Der
einzige, aber für uns den Ausschlag gebende Gegengrund ist der,
daß Michael Psellus in einem Briefe sagt^), Anatolius habe eine
Schrift über das ägyptische Rechnen dem Diophant gewidmet, und
Anatolius war (S. 458) seit 270 Bischof von Laodicea. Diophant
würde danach etwa in die Mitte des III. S. zu setzen sein, und die
mangelnde Einwirkung auf Jamblichus wäre daraus zu erklären,
daß dieser, wenn er Diophants Schriften kannte, sie nicht ver-
stand.
Das mehrerwähnte Epigramm enthält alles, was wir von den
persönlichen Verhältnissen des Diophantus wissen.
') A. von Eremex, Kulturgeschichte des Orientes U, 402^408 (Wien
1877). *) Tanne rj 8 Diophantausgabe 11, 87—42, insbesondere pag. 88 lin. 22
bis 26.
Die Nenplatoniker. Diophantas von Alexandria. 465
Hier dies Grabmal deckt Diophantas. Schauet das Wunder!
Durch des Entschlafcinen Kunst lehret sein Alter der Stein.
Knabe zu sein gewährte ihm Gott ein Sechstel des Lebens;
Noch ein Zwölftel dazu, sproßt* auf der Wange der Bart;
Dazu ein Siebentel noch, da schloß er das Bündnis der Ehe,
Nach fanf Jahren entsprang aus der Verbindung ein Sohn.
Wehe das Kind, das vielgeliebte, die Hälfte der Jahre
Hatt' es des Vaters erreicht, als es dem Schicksal erlag.
Drauf vier Jahre hindurch durch der Größen Betrachtung den Kummer
Von sich scheuohend, auch er kam an das irdische Ziel.
Wnrde Diophant x Jahre alt und starb der Sohn, als er die
Hälfte der damaligen Jahre des Vaters erreicht hatte ^); so entspricht
das Epigramm det Gleichung: (|- + ^ + -J + 5) + (f + ^ + y + ö)
+ 4 = 3? oder Sx =- 196 mit a; — 65 ^ . Auf die Kindheit fielen als-
dann 10 - Jahre. Nach weiteren 5^ Jahren (mit 16 Jahren] sproßte
1 / '* \
der Bart. Nach weiteren 9y Jahren (mit 25" Jahren] folgte die
Verheiratung und 5 Jal^re später (mit 30^ Jahren] die Geburt des
Sohnes^ der selbst 30-^ Jahre alt war als er starb und der Vater mit
61 Y Jahren doppelt so alt war. Endlich überlebte der Vater den
Sohn um 4 Jahre und wurde 65y Jahre alt.
Wer aber Diophantus von Alexandria war, darüber sagt uns auch
das kleine niedlich erfundene Rätselgedicht nicht das mindeste. Es
fällt in das Gebiet der durchaus ungestützten Vermutungen, wenn man
hat behaupten wollen, Diophant von Alexandria habe in dieser Stadt
nur seinen Wohnsitz gehabt und sei selbst gar nicht Grieche gewesen,
so wenig wie seine Wissenschaffc griechischen Ursprunges sei. Die Mög-
lichkeit dieser Annahme ist nicht ausgeschlossen; man kann ihr bei-
pflichten ohne in bestimmter Weise Widerlegung zu finden ; aber sie ist
nicht notwendig. Erinnern wir uns der algebraischen Begriffe, welche
wachsend und an Gewicht zunehmend bei Euklid, bei Archimed, bei
Heron, bei den Neupjthagoräem, bei Pappus uns begegneten, und
wir haben nicht nötig die Brücke abzubrechen, welche auf dem Boden
*) So die Deutung, welche Heinrich Weber uns brieflich vorschlug, und
welche vor der früheren, nach welcher der Sohn halb so alt geworden sein
sollte als der Vater im ganzen war, wodurch man Diophants Alter auf 84 Jahre
ausrechnete, den Vorzug besitzt, daß die auftretenden Zahlen den gemeldeten
Ereignissen besser entsprechen, als wenn z. B. 14 Jahre auf die Kindheit fallen,
mit 26 Jahren erst der Bart sproßt usw.
Gartob, Q«tchichte der Mathematik I. 3. Aafl. 80
466 23. Kapitel.
Alexandrias^ den jedenfalls Euklid, Heron und Pappus bewohnten, in
fast unmerklicher Steigung, wenn man die Weite der Jahreskluft er-
wägt, von den Hauaufgaben des Ahmes zu den Gleichungen des
Diophantus hinaufführt. Uns ist Diophant mit seinem in Griechen-
land mehrfach vorkommenden Namen wirklicher Grieche, Schüler
griechischer Wissenschaft, wenn auch ein solcher, der weit über seine
Zeitgenossen hervorragt, Grieche in dem, was er leistet, wie in dem,
was er zu leisten nicht vermag. Eines wollen wir dabei keineswegs
ausgeschlossen haben, was wir übrigens zu AnfBLUg dieses Kapitels
anzudeuten schon Gelegenheit nahmen: daß nämlich die griechische
Wissenschaft, wie sie von Alexandria aus nach Westen und nach
Osten erobernd vordrang, wovon folgende Abschnitte unseres Bandes
Zeugnis ablegen, von den gleichen Eroberungszügen auch neuen Wert
an Ideen mit nach Hause brachte, daß die griechische Mathematik
als solche nie aufgehört hat sich anzueignen, was sie da oder dort
Aneignenswertes fand.
Diophant hat ein Werk unter dem Namen Arithmetisches^),
aQid^firjTLxd, verfaßt, über dessen Einteilung er sich in der Vorrede
folgendermaßen äußert: „Da aber bei der großen Masse der Zahlen
der Anfänger nur langsam fortschreitet, und überdies das Erlernte
leicht vergißt, so habe ich es für zweckmäßig gehalten, diejenigen
Aufgaben, welche sich zu einer näheren Entwicklung eignen und
vorzüglich die ersten Elementaraufgaben gehörig zu erklären und
dabei von den einfachsten zu den verwickeiteren fortzuschreiten. Denn
so wird es dem Anfänger faßlich werden, und das Verfahren wird
sich in seinem Gedächtnisse einprägen, da die ganze Behandlung der
Aufgaben 13 Bücher umfaßt"«).
Dreizehn Bücher waren es also, und nur von einem Werke des
Diophant ist bei zwei arabischen Schriftstellern, die seiner erwähnen,
die Rede'). Dem gegenüber enthalten die griechischen Handschriften,
welche sich erhalten haben^), nur sechs Bücher (eine einzige enthält
den gleichen Text in sieben Bücher abgeteilt), enthalten sie eine
besondere Schrift des Diophant .über Polygonalzahlen, verweisen
^) Die beste ältere Textausgabe ist die von Bachet de M^ziriac von
1521. Dagegen ist ihr Wiederabdruck mit den Anmerkungen von Fermat,
Toulouse 1670, vielfach durch Druckfehler entstellt. Eine neue kritische Text-
ausgabe hat P. Tanne ry besorgt, Leipzig 1893. Eine deutsche Obersetzung
von 0. Schulz erschien Berlin 1822, eine abermalige von 6. Wertheim,
Leipzig 1890. Wir zitieren nach den Ausgaben von Tannery und Wertheim.
*) Diophant (Tannerj) pag. 14, (Wertheim) S. 8. ^ Nesselmann, Algebra
der Grriechen S. 274, Note 37. *) Die Handschriften sind einzeln aufgezählt bei
Nesselmann S. 266, Note 28.
Die Neuplatoniker. Diopbantas von Alexandria. 467
sie an einzelnen Stellen auf eine Schrift des Diophant, welche den
Namen der Porismen geführt habe. Außerdem berichtet ein unbe-
kannter griechischer Scholiast^) in einer in Florenz befindlichen
Handschrift von einer Schrift Moriastica, d. h. Teilungsgrößen des
Diophant. Ob darunter eine Bruchrechnung verstanden sein soU^
oder was sonst damit gemeint ist^ ist nicht zu ermitteln.
.Man hat aus der stylistischen Verschiedenheit zwischen der
wesentlich synthetischen Abhandlung über die Polygonalzahlen imd
den wesentlich analytischen arithmetischen Büchern geschlossen, es
müssen hier zwei getrennte Werke vorliegen; man hat vermutlich
daraus, daß in den arithmetischen Büchern die Porismen ausdrücklich
genannt werden, gefolgert, auch sie müßten eine besondere Schrift
gebildet haben. Man hat von anderer Seite weniger auf die Ungleich-
artigkeit der Form, als auf den stets arithmetischen Inhalt Gewicht
gelegt, und vermutet, es seien die Polygonalzahlen wie die Porismen
ursprünglich Bestandteile der 13 Bücher des Diophant gewesen^).
Wir neigen uns der ersten Meinung zu, deren wirkliche Gründe nicht
vornehm beseitigt oder unberücksichtigt gelassen werden können.
Glücklicherweise stimmen die Vertreter beider sich schroff ausschließen-
den Ansichten in einer Meinung überein, der wir uns gleichfalls
durchaus anschließen, und welche weitaus Wichtigeres betrifft als die
Frage der Zusammengehörigkeit oder NichtZusammengehörigkeit der
genannten Stücke. Man hält nämlich allgemein dafür'): 1. daß uns
von Diophant viel weniger fehlt, als man gewöhnlich glaubt, wenn
man sich an das Zahlenverhältnis von 6 : 13 hält; 2. daß der Defekt
nicht am Ende, sondern in der Mitte des Werkes, und zwar haupt-
sächlich zwischen dem L und II. Buche zu suchen ist; endlich 3. daß
diese Verstümmelung des Werkes ziemlich frühe, gewiß aber vor dem
XIII. oder XTV. S. und bereits in Griechenland stattgefunden hat.
Der dritte Satz ist dadurch zur Gewißheit erhoben, daß die
älteste der vorhandenen Handschriften, ein Madrider Kodex vom
Xin. S., den gleichen Text wie die übrigen besitzt, daß ein Kommentar
zu den beiden ersten Büchern, welcher etwa um 1300 entstand, ebenfalls
für diese zwei Bücher wenigstens den heutigen Wortlaut bestätigt,
daß ein deutscher Astronom, der berühmte Regiomontanus, in einem
Briefe an seinen Fachgenossen Bianchini in Ferrara vom Monate
Februar 1464 erzählt, er habe in Venedig einen griechischen Arith-
*) Jamblichus in Nicomachum (ed. Pistelli) pag. 127 lin. 11 — 18.
*) Vertreter der ersten Meinung sind Reimer und Hankel, der zweiten Cole-
brooke und Nesselmann. *) Nesselmann 1. c. S. 266 hat die drei Thesen
am deutlichsten und zwar in dem Wortlaute ausgesprochen, den wir uns hier
aneignen.
30*
468 2S. Kapitel.
metiker Diophant entdeckt, der aber leider nur aus seclis Büchern
bestehe, während deren 13 in der Einleitung versprochen seien ^).
Die beiden anderen Sätze folgen allerdings nicht mit der gleichen
objektiven Gewißheit, sondern mehr für die Überzeugung dessen, der
sich genau mit dem Studium der vorhandenen Teile beschäftigt hat,
aus diesen selbst. Man gewinnt das Gefühl, Diophant sei über das,
was in den erhaltenen sechs Büchern steht, nicht hinausgekommen,
es seien nur gewisse der Zahl nach beschränkte Kunstgriffe gewesen,
über welche er verfügte, und mittels deren nicht viel mehr zu leisten
war, als wir tatsächlich geleistet sehen. Man kommt so zu der
Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen zu der Gewißheit, daß am
Schlüsse unmöglich so viel fehlen kann, daß man von einer Erhal-
tung nur der sechs oder sieben ersten Bücher zu reden berechtigt
wäre. Dazu kommt die vorher angegebene Verschiedenheit, daß eine
Handschrift in sieben Bücher teilt, was den anderen zufolge sechs
Bücher waren. Dazu kommt der gelungene Nachweis, daß innerhalb
der ersten drei Bücher Verschiebungen stattgefunden haben müssen,
daß insbesondere eine Ablösung der beiden letzten Aufgaben des
IL Buches von dem Vorhergehenden ebenso vrie eine Vereinigung
derselben mit den ersten Aufgaben des IIL Buches durch den Sinn
als notwendig erzwungen ist. Dazu kommt endlich eine unbedingt
vorhandene Lücke, über deren Ausfüllung ein Zweifel nicht besteben
kann. In der Einleitung ist nämlich, wie wir noch sehen werden,
die Auflösung der gemischten quadratischen Gleichung mit einer
Unbekannten zugesagt. In den späteren Büchern ist dieselbe als be-
kannt vorausgesetzt. Gelehrt muß sie also worden sein, aber die
Vorschrift dazu fehlt. Diese bildete jedenfalls einen Teil und einen
nicht unbeträchtlichen Teil des Verlorenen, da wir annehmen dürfen
und müssen, die Lösung der gemischten quadratischen Aufgaben sei
in drei Sonderfällen vorgetragen worden, deren jeder an zahlreichen
Beispielen erläutert vielleicht ein ganzes Buch füllen mochte. Der
Platz für diese Lösungen war am naturgemäßesten zwischen dem
I. und II. Buche, also dort, wo die große Lücke angenommen zu
werden pflegt.
Die Aufgaben, welche Diophant behandelt hat, sind von zwei
*) Ch. Th. V. Murr, Memorabilia Bibliothecarum pt^licarum Norimbergen-
sium et univeraitatis ÄUdorfinae I, 186 (Nürnberg 1786) ist der Wortlaut des
Briefes abgedruckt, die einzehie auf Diophant bezügliche Stelle schon bei
Doppelmayr, Historische Nachricht von den Nümbergischen Mathematicis und
Künstlern S. 5, Anmerkung y (Nürnberg 1730). Die letzte Ausgabe von Regio-
montans Briefen gab Curtze in 'den Abhandlungen zur Geschichte der Mathe-
matik XII; die betreffende Briefstelle s. S. 256—257. •
Die Neuplatoniker. Diophantas von Alexandria. 469
wesentlich yerschiedenen Gattungen. Es sind algebraisch bestimmte
und algebraisch unbestimmte Gleichungen^ mit denen er sich be-
schäftigte. Auf dem einen Gebiete besteht seine große Bedeutung
darin ^ daß er Bekanntes in |ieuer Form vortragend ein organisches
Ganzes schuf, wo früher, mindestens bei den Schriftstellern, die wir
besitzen, nur zersplitterte Teile vorlagen. Auf dem anderen Gebiete
stellt er uns den Pfadfinder vor, der abgesehen von einzelnen Vor-
gangem, die nur die Vorhalle des Gebäudes betraten, zuerst unter
den Griechen, soviel wir wissen, durch das Labyrinth der verwickeltsten
Zahlenbedingungen und Beziehungen sich hindurchzuwinden weiß, sei
es, daß er dabei nur dem eigenen Genius vertraute, sei es, daß ihm
hier wirklich aus der Fremde der Faden der Ariadne gereicht war,
der ihn vor Irrgängen sicherte.
Wir reden zuerst von Diophants Leistungen in der bestimmten
Algebra. Diophant selbst lehrt uns die Reihenfolge einhalten, da er
in der schon erwähnten Vorrede gerade über die bestimmten Auf-
gaben sich ausläßt und die unbestimmten Aufgaben kaum andeutet.
Diophant beginnt mit den Worten: „Ich sehe, mein teuerster Diony-
sius, mit welchem Eifer Du die Auflösung arithmetischer Aufgaben
zu erlernen wünschest; ich habe daher versucht, das Verfahren wissen-
schaftlich darzustellen, indem ich mit der eigentlichen Grundlage des-
selben anfange, nämlich mit einer Entwicklung der eigentümlichen
Natur und Beschaffenheit der Zahlen. Die Sache scheint vielleicht
etwas schwierig, da sie noch gar nicht bekannt ist, und Anfänger
haben immer wenig Hoffiiung eines glücklichen Fortganges; aber
Dein Eifer und meine Darstellung wird Dir alles recht faßlich machen,
denn man lernt schnell, wenn Eifer und Unterweisung zusammen-
kommt"^).
Die Worte „da sie noch gar nicht bekannt ist", ijtBidij
lii}XG) yvaQiiiöv iöxiy wurden mitunter so verstanden, als behaupte
Diophant damit, er trage ganz Neues, in Griechenland nicht Be-
kanntes vor. Die neueren Bearbeiter sind übereinstimmend der Mei-
nung, der Sinn sei gerade umgekehrt der, daß Diophant die Un-
bekanntschaft des Dionysius allein mit den Auflösungen der arith-
metischen Aufgaben betone. Ihm zuliebe will er das Verfahren
wissenschaftlich darstellen von den Anfängen zu dem Gipfel
aufsteigend.
Die Richtigkeit dieser Auffassung wird durch die weitere Ein-
leitung bestätigt, in welcher algebraische Begriffe der Reihe nach
entwickelt sind, welche uns einzeln genommen schon hier und dort
») Diophant (Tannery) pag. 2, (Wertheim) S. 1.
470 28- Kapitel.
bei griechischen Schriftstellern begegnet sind, und welche auch wohl
in ihrer Fortbildung zu Diophants Zeiten schon wesentliche Fort-
schritte gemacht haben müssen, sonst wäre die Kürze der Darstellung
bei ihrer Einführung unbegreiflich. Quadratzahlen und Kubikzahlen
z. B. mit ihren griechischen Namen dvvafiig und xvßog sind uns
längst bekannt. Diophant geht darüber hinaus und nennt Quadrato-
quadrat (Svvaiiod'öva^tg), Quadratokubus {dvva(i6xvßog) , Kubokubus
(xvßöxvßog) das was durch stets wiederholte Vervielfachung mit der
Grundzahl entsteht. Eigentlich versteht er unter diesen Namen auch
das nicht, was wir ihm folgend ausgesprochen haben. Nicht die
zweite bis zur sechsten Potenz irgend einer Zahl, sondern nur diese
Potenzen der unbekannten Zahl, um deren Auffindung es sich
in der betreffenden Aufgabe handelt, hat Diophant im Sinne. Für
sie gelten die abgekürzten Bezeichnungen, welche er weiter er-
örtert, und welche aus den Anfangsbuchstaben d und x bestehen,
denen noch rechts oben ein v, der zweite Buchstabe sowohl von
dvvafii^g als von xvßog, augehängt wird. Was also die moderne Al-
gebra durch x\ x^, ar*, ar^, x^ bezeichnet, schreibt Diophant:
*^ x^ dd% dx^, xx^
gewissermaßen unter Ersetzung der Potenzen durch ihre Exponenten
und dem entsprechend unter Addition der Exponenten, wo es sich
um die Multiplikation der Potenzen handelt. Die gesuchte Zahl
selbst, welche eine unbekannte Menge von Einheiten enthält, heifit
schlechtweg die Zahl, igid^fiög, Diophant bedient sich für sie des
Zeichens 5^), welches man früher für ein finales Sigma hielt; es ist
aber wahrscheinlicher gemacht worden"), daß man es mit einem auch
sonst vorkommenden sogenannten Kompendium für aQ, als Anfangs-
buchstaben von aQid-fiög zu tun hat. Dabei ist zu bemerken, daß die
unbekannte Einheitsmenge in Diophants Definition Ttkrid-og fiovccdtov
aÖQvörov heißt, also unter Anwendung des Wortes des Thymaridas*)
(S. 158). Endlich gibt es noch ein ständiges Zeichen fiir bestimmte
Zahlen, welche Einheit (lövag heißen und ^^' geschrieben werden.
Diophant begnügt sich nicht mit den bisher genannten Zahlen-
arten. Er bedarf zu seinen Aufgäben auch noch der Brüche, welche
jene Benennungen im Nenner führen, algebraische Stammbrüche, wie
man sie insgesamt nennen möchte, um nicht von Potenzen mit nega-
tiven Exponenten reden zu müssen. Diophant nennt den Stammbruch
der Zahl ägid'^oötövj den der zweiten Potenz dwafioöröv und so fort
bis zu dem Stammbruche der sechsten Potenz xvßoxvßo6x6v. Man
*) Diophant (Tannery) pag. 6 lin. 6. *) Heath 1. c. pag. 57—67.
') Nesselmann 1. c. S. 291, AnmerkuDg 64 hat die Stellen geBammelt.
Die Neaplatoniker. Diophantus von Alexandria. 471
hat diese Wörter ganz zweckmäßig mit einfachem Bruche, quadrati-
schem Bruche^ endlich kubokubischem Bruche übersetzt^). Diophant
lehrt hierauf die Multiplikation solcher Potenzen und algebraischer
Stammbrüche unter sich in den yielfachsten Veränderungen. Natürlich
gibt er dafür lauter einzelne Regeln, z. B. ein quadratoquadratischer
Bruch multipliziert mit der Eubokubikzahl gibt das Quadrat. Wir
würden schreiben ^4 * ^* ™ ^* ^^^ der Fall wird allgemein voraus-
geschickt, daß eine dieser Potenzgrößen mit dem gleichnamigen Stamm-
brache vervielfacht die bestimmte Zahl als Produkt liefere, d. h.
af — = 1, und daß, da bestimmte Zahlen bei allen Rechnungen
wieder bestimmte Zahlen geben, das Produkt einer bestimmten Zahl
und eines allgemeinen Ausdruckes wieder ein Aasdruck derselben Art
sein werde.
Diophant unterscheidet hinzuzufügende und abzügliche
Zahlen. Die Addition nennt er v^rap^tg, die Subtraktion iBH^iq
und besitzt für erstere zwar nicht, wohl aber für letztere ein eigenes
Abkürzungszeichen, nämlich, wie er selbst sagt, ein verstümmeltes
umgekehrtes ^ in der Gestalt ^. In den Handschriften sieht das
Zeichen meistens so aus: A? und ist dahin gedeutet worden^), es sei
ein aus A und I gebildetes Kompendium für den Anfang des Wortes
letifLs. Diophant rechnet dann mit Differenzen, vervielfacht sie und
spricht dabei ohne weiteres die Regel aus: Eine abzügliche Zahl mit
einer abzüglichen vervielfacht gibt eine hinzuzufügende, eine abzüg-
liche mal einer hinzuzufügenden gibt eine abzügliche ^). Daß dabei
von positiven und negativen Zahlen als Maße entgegengesetzter Größen
keine Rede ist, bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung. Nur mit
Differenzen weiß Diophant umzugehen, mit solchen Differenzen, die
einen wirklichen Zahlenwert besitzen, d. h. deren Subtrahend kleiner
ist als der Minuend. Mit solchen aber rechnet er in vollster Ge-
wandtheit und sehlägt seinem Dionysius vor sich die gleiche Gewandt-
heit zu erwerben: „Es ist aber sehr zweckmäßig, ehe man sich an
die Auflösung von Aufgaben macht, sich in der Addition, Subtraktion
und Multiplikation dieser Ausdrücke zu üben; besonders wie man eine
Reihe hinzuzufügender und abzüglicher Ausdrücke mit ungleichen
Zahlenfaktoren zu anderen allgemeinen Ausdrücken addiert, die ent-
weder bloß hinzuzufügende sind oder aus hinzuzufügenden und ab-
züglichen Gliedern bestehen; femer wie man von einer Reihe hinzu-
zufügender und abzüglicher Zahlen andere subtrahiert, die entweder
') Diophant (Tannery) pag. 6, (Wertheim) S. 3. *) Heath 1. c. pag. 71
bis 78. ") XslTjjig iitl Xslifjiv noXlccnXaaioca^elacc noist ynag^iv, Xstijjig dh int
472 23. Kapitel.
bloß hinzuzufügende sind^ oder auch aus hinzuzufügeuden und ab-
züglichen Gliedern bestehen''^). Die Subtraktion der größeren Zahl
Yon der kleineren ist aber für Diophant unmöglich, gibt ihm keine
Zahl, kann daher als Auflösung irgend einer Aufgabe nicht yor^
kommen. Dem entspricht die Tatsache , daß negative Gleichungs-
wurzeln bei Diophant nirgends erscheinen, wenn auch die hier er-
örterte Begründung nicht ausgesprochen ist.
Abgesehen Yon dem Nichtvorhandensein negativer Zahlen als
solcher ist es aber eine hoch entwickelte Buchstabenrechnung, welcher
wir uns bei Diophant gegenüber befinden. Es fehlt ihr nicht einmal
ein Gleichheitszeichen, indem der Buchstabe i als Abkürzung des
Wortes töoL (gleich) benutzt wird. Das hat sich aus erneuter Ver^
gleicbung der Pariser Handschrift, nach welcher Bachet de Meziriac
1621 einen Abdruck ausführen ließ, ergeben^). Nur in einer aller-
dings nicht unbedeutenden Verschiedenheit kann man einen gewissen
Gegensatz der diophantischen Schreibweise gegen diejenige, welche
seit dem XVI. S. sich allmählich einbürgerte, erkennen. Die moderne
Buchstabenrechnung hat es durchgehend mit Symbolen zu tun, welche
sich selbst zur Aussprache einer Wahrheit genügen. Diophant rechnet
und schreibt mit Abkürzungen, welche mit ausgeschriebenen Wörtern
abwechseln und gleich diesen grammatischer Beugung unterworfen
sind, wie sie auch unbedenklich durch Partikeln und dergleichen von-
einander getrennt werden. Man vergleiche z. B. 10a; -|- 30 = IIa; + 15
mit dem diophantischen SS'''^ &qcc l fi^ l töoi eCölv 55^*^ la (lovdöc ii
und man wird sich des Gegensatzes sofort bewußt werden').
Wie Gleichungen aufgelöst werden, ist in Diophants Einleitung
überaus klar und bestimmt gelehrt: „Wenn man nun bei einer Auf-
gabe auf eine Gleichung kommt, die zwar aus den nämlichen allge-
meinen Ausdrücken besteht, jedoch so daß die Koeffizienten an beiden
Seiten ungleich sind, so muß man Gleichartiges von Gleichartigem
abziehen, bis ein Glied einem Gliede gleich wird^). Wenn aber auf
einer oder auf beiden Seiten abzügliche Größen vorkommen, so muß
man diese abzüglichen Größen auf beiden Seiten hinzufügen, bis auf
beiden Seiten nur Hinzuzufügendes entsteht. Dann muß man wiederum
Gleichartiges von Gleichartigem abziehen, bis auf jeder Seite nur ein
Glied übrig bleibt.*'
Die Zurückbringung einer Gleichung durch Additionen und Sub-
traktionen auf die Form ax^ = baf*, wo m und n ganze vonein-
^) Diophant (Tannery) pag. 14, (Wertheim) S. 7. *) Vgl. Rodet im
Jow-nal Asiatique, lihme a^rie, T. XI (Janvier 1878) pag. 42. ») Vgl. Nessel-
mann 1. c. S. 300—301. *) img a tv tlSoe ivl efdei taov yivr(tat.
Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 473
ander yerschiedene Zahlen bedeuten^ deren eine anch Nnll sein kann,
ist damit in eine Regel gebracht, so unzweideutig; wie wir nur selten
im Altertum Regeln ausgesprochen finden Bemerkenswert ist das
Wort üläog fdr Glied, welches später in lateinischer Übersetzung durch
species wiedergegeben den Ursprung des Namens driihmeticcL speciosa
für Buchstabenrechnung gebildet hat.
„In der Folge", si^ Diophant noch weiter, „will ich Dir zeigen,
wie man die Aufgabe löset, wenn zuletzt ein zweigliedriger Ausdruck
einem eingliedrigen gleich wird."
Damit beabsichtigte Diophant aber sicherlich nicht in gleicher
Allgemeinheit wie bei dem yorigen Falle die Auflösung der Gleichung
ax^ + bx*^ = cx^ zu versprechen, sondern es kann sich nur um die
gemischten quadratischen Gleichungen handeln. Allerdings treten dabei
drei Möglichkeiten auf, indem nach Ausführung der Yorbereitenden
Operationen, die im obigen mitgeteilt wurden, entweder ax^ + bx ^ c
oder ftar + c = ax^ oder ax^ -{• c '==bx als Gleichheit eines zweiglied-
rigen Ausdruckes mit einem eingliedrigen erhalten wird, a, b, c selbst-
verständlich als positiv gedacht. Das ist die früher erwähnte Zusage
der Auflösung gemischtquadratischer Gleichungen, welche im vor-
handenen Texte nirgend erfüllt vielfach als erfüllt vorausgesetzt wird,
und daher den Beweis des Verlustes jener Auflösung liefert.
Über den von Diophant bei der Auflösung einer gemischten
quadratischen Gleichung eingeschlagenen Weg gibt die 24. Aufgabe
des VI. Buches^) wohl die deutlichste Auskunft. Die dort erhaltene
Gleichung heißt in modernen Zeichen geschrieben
\ + 196a;« - 336a: - ?* + 172 == 196a;« + \ •
Diophant sagt nun wörtlich wie folgt, wobei nur wieder moderne
Zeichen statt der griechischen Abkürzungen gebraucht sind: „Man
addiere auf beiden Seiten die abzüglichen Größen, ziehe Gleichartiges
von Gleichartigem ab und vervielfache alles mit a:, so erhält man
336 a;« + 24 « 172 a;. Diese Gleichung aber läßt sich nicht auflösen,
wenn nicht das Quadrat des halben Koeffizienten von x, nachdem
man das Produkt der 24 Einheiten in den Koeffizienten von a;« davon
abgezogen hat, ein Quadrat wird.''
Was uns zuerst auffallend erscheinen mag, ist die Abhängigkeit
der Auflösbarkeit der Gleichung von einer Bedingung, welche nicht
etwa besagt, es müsse die unter dem Quadratwurzelzeichen erschei-
nende Zahl ein Hinzuzufügendes sein, was gleich bei dieser Aufgabe,
in welcher x ^ ss« ^^^' nicht eintreffen würde, sondern welche,
^) Diophant (Tannery) pag. 444, (Wertheim) S. 288—290.
474 23. Kapitel.
wie einige Überlegimg uns zeigt^ darauf hinauslänfb, daß die Wurzel
der Gleichung rational werde. Ersetzen wir nämlich die bestimmten
Zahlen durch allgemeine Buchstaben^ so ist in der angefahrten Auf-
gabe von der dritten Gleichungsform ax* + c = hx die Rede und
als Kennzeichen der Auflösbarkeit ausgesprochen, es müsse ^ -j — ac
ein Quadrat sein. Wird aber die Gleichung mit dem Koeffizienten
a von x^ vervielfacht und durch beiderseitige Subtraktion von
abx + ac — (A in die Form a^x^ — abx + (^ j ^ (^j — ac oder
(ax ^ y) =» (y) — öc übergeführt, so entsteht
und Diophant knüpft, wie wir vorhin sagten, die Auflösbarkeit der
Gleichung an die Rationalität der Quadratwurzel. Jene andere Be-
dingung, deren wir gewärtig sein durften, daß nur Hinzuzufügendes
unter dem Wurzelzeichen nach vollzogener Zusammenziehung der dort
auftretenden Werte stehen dürfe — abzügliche Zahlen als solche sind,
wie wir oben sahen, bei Diophant überhaupt nicht gestattet, also
auch nicht unter einem Wurzelzeichen — steckt wohl in der diophan-
tischen Bedingung enthalten, aber letztere geht noch bedeutend weiter
und schränkt die Anzahl der auflösbaren Gleichungen beträchtlich
mehr ein. Woher diese Beschränkung stammt, ist, wenn man weiter
nachdenkt, unschwer zu erkennen. Die eigentliche Algebra sieht ab
von der geometrischen Bedeutung der vorkommenden Glieder. Sie
vereinigt z. B. wie in jener heronischen Aufgabe (S. 404) FEchen
und Längen, beide nur als Maßzahlen aufgefaßt, in eine Summe.
Dieser allgemeinere Standpunkt gestattet geometrisch undenkbare
Fragestellungen, schließt aber zugleich nur geometrisch denkbare
Antworten aus. Jede Quadratwurzel aus positiven Werten läßt mit
Zirkel und Lineal sich geometrisch herstellen, so gut wie die Diago-
nale des Quadrates eine geometrisch genau bestimmte Länge besitzt,
abei^ in Zahlen ist eine Quadratwurzel nur möglich, wenn sie rational
ist. Man halte uns nicht die heronische Aufgabe entgegen, auf welche
wir eben uns bezogen haben, nicht die geodätischen Beispiele Herons,
in welchen Näherungswerte von Quadratwurzeln vielfach benutzt sind,
nicht Archimeds Rechnungen in seiner Kreismessung. Heron blieb
Feldmesser, auch wo er der algebraischen Anschauung sich nähert,
und die Feldmeßwissenschaft begnügt sich mit dem Maße geometri-
scher Gebilde, so genau es in Zahlen hergestellt werden kann, während
die Gebilde selbst geometrische Größen sind und bleiben. Archimed
aber, gleichfalls von geodätischen Zwecken ausgehend, blieb noch
Die Neaplatoniker. Diophantus von Alexandria. 475
strenger den Gesetzen geometrischer Behandlung auch bei seinen
Zahlengrößen getreu: er bediente sich niemals angenäherter Gleichungen,
sondern sprach Ungleichungen aus, welche er nur immer naher an-
einander brachte. Die griechische Algebra, welche für Diophant einen
Teil der Arithmetik bildet, kennt dagegen nur Zahlen als solche,
Zahlen, die ausgesprochen werden können. Wir haben schon früher
(S. 187) hervorgehoben, daß die Beschränkung sogar auf positive
ganze Zahlen der griechischen Arithmetik lange eigentümlich war.
Nikomachus, Theon von Smyrna, Jamblichus haben uns keine Ver-
anlassung gegeben, diese Ansicht zu widerrufen. Brüche kommen
bei ihnen nur in der Gestalt von Verhältnissen ganzer Zahlen vor.
Auch die Seiten- und Diametralzahlen bei Theon (S. 436) waren
wesentlich ganze Zahlen, deren Verhältnis nur nach unserem Dafür-
halten statt des Verhältnisses 1 : '^2 näherungsweise eintreten konnte.
Diophant hielt sich an die Ganzzahligkeit nicht mehr ge-
bunden, und das ist ein zwar allmählich vorbereiteter, aber darum
nicht minder wichtiger Fortschritt. Dagegen ist ihm das Irrationale
immer noch keine Zahl.
Kehren wir mit diesem Bewußtsein zu dem diophantischen Ver-
fahren bei der Auflösung gemischter quadratbcher Gleichungen zurück,
so ist uns höchst bemerkenswert die Art, in welcher er die Auf-
lösung vorbereitet. Genau so, wie wir es bei Heron kennen gelernt
haben, vervielfacht er die Gleichung mit dem Koeffizienten des
Quadrates der Unbekannten, statt durch diesen Koeffizienten zu
dividieren. Darauf wies uns die bereits besprochene 24. Aufgabe des
VI. Buches. Eine Bestätigung besitzen wir in der 45. Aufgabe des
IV. Buches*): „Man findet, daß 2a;* größer als ^x -\- 18 sein muß.
Um nun hier eine Vergl&ichung anzustellen, so erhebe ich den halben
Koeffizienten von x ins Quadrat und erhalte 9. Nun multiplizieren
wir den Koeffizienten von x^ mit der bestimmten Zahl 18, gibt 36.
Dazu addieren wir 9, gibt 45, und davon ist die Wurzel nicht kleiner
als 7. Dazu addieren wir den halben Koeffizienten von x und dividieren
durch den Koeffizienten von x*, so finden wir, daß x nicht kleiner
sein darf als 5.'^
Hier ist freilich eine Ungleichung, keine Gleichung zu behandeln,
allein das verändert das anzuwendende Verfahren nur so weit, als
hier eine Grenze der betreffenden irrationalen Quadratwurzel ein-
gesetzt werden darf, weil unter Annahme der richtigen Zahl statt 18,
die Ungleichung 2a:» > 6a: + 18 in die Gleichung 2a:» = 6a: -f 18 + t
d. h. in eine Gleichung der zweiten Form übei^ehen würde, bei
>) Diophant (Tannery) pag 304, (Wertheim) S. 187.
476 23. Kapitel.
welcher z. 6. durch k =^ 2 die Irrationalität verschwände. Diophant
geht nun folgendermaßen zu Werke. Aus aa^ ^^bx + c + k erhält
oder endlich x>
a
Noch eine andere Eigentümlichkeit^ welche freilich bei der eben
betrachteten Ungleichung nicht zu Tage treten kann^ weil negative
Zahlen als solche für Diophant nicht existieren, besteht darin, daß
nirgends zwei Auflösungen einer quadratischen Gleichung
vorkommen, indem die Wurzelgröße sowohl hinzufügend als ab-
züglich mit einer anderen Zahl höheren Wertes verbunden ist. Man
hat allerdings die Bemerkung gemacht, unter den Beispielen, welche bei
Diophant sich vorfinden, sei kein solches, bei welchem eine zweifache
Möglichkeit positiver Wurzeln auftrete, weil immer noch gewisse
zahlentheoretische Nebenbedingungen zu erfüllen seien, welche sich
der Annahme der Wurzel mit negativer Quadratwurzel widersetzen,
es sei also ein Zufall, der diese Lücke schuf, und man sei nicht be-
rechtigt anzunehmen, Diophant habe wirklich nicht gewußt, daß es
Aufgaben mit zwei voneinander verschiedenen Auflösungen gebe^).
Es scheint indessen doch, daß man die Behauptung des Nichtwissens
rechtfertigen kann. Kommt auch außer der (S. 473) erwähnten nicht
auflösbaren Gleichung 336 a?^ + 24 = 112 x keine andere von der
Gestalt ax^ + c=^hx bei Diophant, so weit er uns erhalten ist,
vor, so trifft man doch bei ihm auf Ungleichungen von der Gestalt
ax^ + c <ibx und ax^ + c> &a;, welche je zwei positive Grenz-
werte für X liefern, mag man eine in ihnen auftretende Quadrat-
wurzel positiv oder negativ wählen. Im V. Buche begegnen wir den
doppelten Ungleichungen*) ^^ < ^r^n: ^12 ^^ ^^ < ^ 2^ " < ^2-
ßß ß7
Diophant folgert aus ihnen -_ <x < , beziehungsweise 19 < ic < 21.
Werte, welche der Möglichkeit der negativen neben der positiven
Quadratwurzel Rechnung trügen, wären »«±f ^ < «.< «'±^^""\
beziehungsweise 11 ± )/61 < a; < 12 ± ^84. Man erkennt an beiden
Beispielen die Wahrheit der Tatsache, daß Diophant die Lösungen
mit negativer Quadratwurzel nicht berücksichtigte, auch wo sie be-
*) So L. Rodet im Journal Äsiatiquet Tifeme s^rie, T. XI (Janvier 1878)
pag. 89—90. *) Diophant (Tannery) pag. 340 und 888, (Wertheim) S. 211
und 251.
Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 477
rücksichtigungsfähig waren, daß er sie also wahrscheinlich nicht
kannte ^).
In diesem Zusammenhange müssen wir auch von solchen quadra-
tischen Gleichungen reden , welche gewöhnlich mit Hilfe zweier Un-
bekannten gelöst bei Diophant nur das Aufsuchen einer einzigen
freilich mit besonderem Geschick ausgesuchten Größe yerlangen. Wenn
Diophant in der 30. Aufgabe des I. Buches*) zwei Zahlen aus ihrer
Summe und ihrem Produkte finden will, so nimmt er die halbe
Differenz der beiden Zahlen zur Unbekannten und erhält beide Zahlen
je nachdem er die Unbekannte zur halben Summe addiert oder von
ihr abzieht; das gegebene Produkt ist daher gleich dem Quadrat der
halben Summe verringert um das Quadrat der Unbekannten, die somit
durch einfache Quadratwurzelausziehung sich ergibt. Derselben Un-
bekannten bedient er sich in der 31. Aufgabe'), wenn zwei Zahlen aus
ihrer Summe und aus der Summe ihrer Quadrate gefunden werden
sollen. Wieder erhält er beide Zahlen, je nachdem er die Unbekannte
zur halben Summe addiert, oder Ton ihr abzieht, und die Summe der
Quadrate wird gleich dem Doppelten des Quadrates der halben Summe
und des Quadrates der Unbekannten, die wieder durch einfache
Quadratwurzelausziehung sich ergibt. Nicht anders werden in der
32. Aufgabe*) zwei Zahlen aus ihrer Summe und dem Unterschiede
ihrer Quadrate gewonnen, welche letztere sich als doppeltes Produkt
der Unbekannten in die gegebene Summe erweist, so daß einfache
Division hinreicht die Unbekannte zu finden. Sind in der 33. Auf-
gabe^) Differenz und Produkt zweier Zahlen gegeben, so wird die
halbe Summe als Unbekannte gewählt, welche die beiden Zahlen
in der Gestalt erscheinen läßt, daß die halbe Differenz zur Un-
bekannten addiert, beziehungsweise von ihr subtrahiert wird. Das
gegebene Produkt ist also das Quadrat der Unbekannten vermindert
um das Quadrat der halben Differenz, und die Unbekannte wird
wiederholt durch eine Quadratwurzelausziehung geftmden. Ahnlich
verfährt Diophant noch in anderen Fällen, die wir nicht alle einzeln
vorführen dürfen, um uns nicht zu lange bei dem Gegenstande zu
verweilen.
Eine kubische Gleichung kommt in der 19. Aufgabe des VI. Buches*)
vor, aus welcher aber keinerlei gesicherte Schlußfolgerung sich ziehen
^) Auf diese Ungleichungen und die ans ihnen zu ziehende Folgerung hat
uns Herr C. Büchel brieflich aufmerksam gemacht. *) Diophant (Tannery)
pag. 60—62, (Wertheim) S. 36. ») Ebenda (Tannery) pag. 62—64, (Wert-
heim) S. 86—87. *) Ebenda (Tannery) pag. 64, (Wertheim) S. 87. *) Ebenda
(Tannery) pag. 66, (Wertheim) S. 88. «) Ebenda (Tannery) pag. 434, (Wert-
heim) S. 282.
478 23. Kapitel.
läßt. Es heißt bei Diophant nur: „Es ist x^ — 3a:* + 3x — 1 « a:*
+ 2a; + 3, hieraus findet man x = 4" ohne die leiseste Andeutung,
wie „man^^ diesen Wurzelwert finde. Ob man die Gleichung zunächst
in die Form ä^ + a; = 4x* + 4 brachte und dann daraus durch Division
mit a;^ + 1 den Wert a; = 4 erhielt?^) Es ist wohl möglich, vielleicht
wahrscheinlich, denn an einer nur wenig späteren Stelle des VI. Buches*)
heißt es von dem Ausdrucke 4a?* + 6a? + 2, er sei zusammen-
gesetzt (6vvd'6T0s)y und zwar aus 4a; + 2 und a? + 1, und wenn man
ihn durch x + 1 teile, so entstehe 4a: + 2. Diophant mußte also
mit Zerlegungen in Faktoren vertraut sein und wissen, daß man
mittels Division einer Gleichung durch einen ihren beiden Gleichungs-
seiten gemeinschaftlichen Faktor deren Grad erniedrigen kann').
Bis hierhin haben wir mit Diophant in der ersten Bedeutung,
die wir ihm beilegten, uns beschäftigt. Wir wenden uns zu dem
Gebiete der unbestimmten Aufgaben, auf welchem wir Diophant als
Bahnbrecher, als Pfadfinder zu erkennen haben. Er setzt sich
dabei die gleichen Schranken, welche auch seiner be-
stimmten Algebra anhaften, keine anderen. Die Wurzelwerte,
welche er den vorgelegten Gleichungen zu geben sich bemüht, dürfen
keine abzüglichen, keine irrationalen sein, denn sonst wären es keine
Zahlen, aber weiter gehen seine Anforderungen nicht. Insbesondere
verlangt Diophant nicht ganzzahlige Auflösungen, und nur in ein-
zelnen Fällen, wo etwa das Weglassen eines denjenigen Zahlen, die
gemeinschaftlich die gestellte Aufgabe erfüllen, insgesamt anhaftenden
Nenners den Übergang zu ganzzahligen Auflösungen allzunahe legt^
gibt er solche an. In einer ganzen Anzahl von Aufgaben (11, 36.
m, 13. IV, 23, 43, 45. V, 12) kommen sogar Brüche mit gemischt-
zahligen Zählern vor, wie die Ägypter sie einst benutzten (S. 71).
Was also heute Diophantische Analytik genannt zu werden pflegt,
was man als Diophantische Gleichungen dem Schulunterrichte ein-
verleibt hat, das darf man bei Diophant nicht suchen. Diophant,
sagen wir, löst unbestimmte Aufgaben in rationalen Zahlen, und
daraus folgt, daß für ihn eine unbestimmte Aufgabe mit aufsuchungs-
bedürftigen Wurzeln nur dann vorhanden sein kann, wenn der Grad
sich auf den zweiten erhebt, ja in nicht wenigen Fällen weiß er noch
Aufgaben vom dritten und vierten Grade zu bewältigen.
Unsere Leser werden nun vielleicht nach den Methoden fragen,
deren Diophant sich bei Auflösung dieser unbestimmten Aufgaben
*) So meint Schulz S. 689 in seinen Anmerkungen zu der betreffenden
Aufgabe. *) Diophant (Tannery) pag. 438, (Wertheim) S. 286. «) Auf diese
Verwandtschaft hat uns Herr C. Büchel brieflich hingewiesen.
Die Nenplatoniker. Diophantna von Alexandiia. 479
bedient^ sie werden diese Frage um so sicherer stellen ^ wenn sie
wissen, daß der Geschichtsschreiber neuerer Zeit, der am eingehendsten
mit Diophant sich beschäftigt hat, einem umfangreichen Kapitel geradezu
die Überschrift „Diophants Auflösungsmethoden'' gegeben hat*). Aber
neben dem Umfange jenes Kapitels selbst sind dessen erste Worte
geeignet die durch die Überschrift geweckten Erwartungen zurück-
zudrängeo: ,,Diophants Methoden in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit
vollständig darstellen hieße nichts anderes, als sein Buch abschreiben.''
Darin liegt das Zugeständnis, daß Diophant keine einheitliche Me~
thode besaß, ja nicht einmal eine Anzahl von Methoden, deren jede
für sich zur Bewältigung einer umgrenzten Gruppe von Aufgaben
diente. „Diophant war", wie ein anderer genauer Kenner seiner
Werke sich sehr bezeichnend ausgedrückt hat*), „ein glänzender
Virtuos in der von ihm erfundenen Kunst der unbestimmten Ana-
lytik, die Wissenschaft hat jedoch, wenigstens unmittelbar, diesem
glänzenden Talente wenig Methoden zu verdanken, weil es ihm an
dem spekulativen Sinne fehlte, der in dem Wahren mehr als das
Richtige sieht." Seine Virtuosität zeigt er vornehmlich in der Wahl
der unbekannten Größe. Was wir oben bei Gelegenheit bestimmter
Aufgaben mit zwei Unbekannten, die er auf die Auffindung einer
einzigen Unbekannten zurückzuführen wußte, rühmen durften, gilt
auch für Diophants unbestimmte Aufgaben. Er greift die zu suchende
Größe so geschickt heraus, daß verhältnismäßig geringe Mühe noch
erforderlich ist, die Aufgabe vollends zu bewältigen, während andrer-
seits die Willkürlichkeit der Voraussetzungen, welche er sich gestattet,
in keiner Weise zu rechtfertigen gesucht wird, eine Rechtfertigung
auch nicht gestattet.
Wenn Diophant z. B. in der 7. Aufgabe des UL Buches^) drei
Zahlen von der Beschaffenheit sucht, daß sowohl die Summe von allen
dreien als die Summe von je zweien ein Quadrat sei, und die Ge-
samtsumme x^ + 2x + l setzt, so kann dagegen keinerlei Einwand
erhoben werden. Wer aber berechtigt ihn die Summe der ersten und
zweiten Zahl als x^ anzunehmen, so daß die dritte Zahl für sich
2:i; -I- 1 wird? Wer berechtigt ihn vollends die Summe der zweiten
und dritten Zahl als ic* — 2x -|- 1 zu setzen, wie er es tut? Unter
dieser Annahme wird allerdings eine Lösung gefunden. Die erste
Zahl allein muß nämlich erhalten werden, wenn die Summe der
zweiten und dritten von der Gesamtsumme, d. h. wenn a^ — 2x + 1
von a;* -h 2a: + 1 abgezogen wird, sie muß 4x sein, und die zweite
1) Nesselmann, Algebra der Griechen S. 866— 436. *) Hankel S. 166.
») Diophant (Tannery) pag. 146—148, (Wertheim) S. 89.
480 23. Kapitel.
Zahl allein ist die um die erste Zahl 4:X Yerringerte Summe x^ der
ersten und zweiten Zahl oder x* — 4x. Es bleibt jetzt nur noch zu
erfallen, daß die Summe der ersten 4x und der dritten 2x + 1, d. h.
daß 6x4-1 ein Quadrat werde, und dazu setzt Diophant 6j?+ 1 = 121,
mithin a: == 20 und die drei Zahlen sind 80, 320, 41. Diophant rer-
schweigt uns sogar, warum er 6rr + 1 "^ 121 setzt und nicht eine
kleinere Quadratzahl ähnlicher Form wählt, wenn auch der Grund
hiervon nachträglich zu erkennen ist. Die Annahme 6a? + 1 »» 25
gibt nämlich die drei Zahlen 16, 0, 9, unter welchen die 0 vorkommt,
die ihm keine Zahl ist; und die Annahme 6x+ 1=^49 gibt die
Zahlen 32, 32^ 17, welche er wohl deshalb vermeidet, weil die beiden
ersten unter sich gleich sind, also streng genommen keine drei Zahlen
darbieten.
Man hat in der 17. Aufgabe des IL Buches und in der 9. Auf-
gabe des III. Buches wirkliche Methoden zu erkennen geglaubt, die
auch bei anderen Aufgaben benutzt seien und auf den beiden Sätzen
beruhen, daß YAu^ + Bx + C rationale Zahl werden könne, wenn C
oder wenn A eine positive Quadratzahl sei*), allein wenn wir auch
unseren Lesern diese Vermutung nicht vorenthalten möchten, können
wir uns doch nicht entschließen dieselbe als berechtigt anzuerkennen
oder gar der Meinung beizustimmen, die erwähnteif beiden allgemeinen
Sätze seien von Diophant in seinen Porismen (S. 467) ausgesprochen,
wenn nicht bewiesen worden.
Virtuosität legt Diophant auch darin an den Tag, daß er die zu
lösende Aufgabe teilt, daß er gewisse Bedingungen derselben zunächst
willkürlich durch irgend Zahlenannahmen erftlllt, daß er dann diese
Annahmen als falsch erkennt und vermöge anderer Bedingungen der
Aufgabe in die richtige umwandelt, ein Weg, der uns unwillkürlich
an den falschen Ansatz erinnert, dessen Ahmes in seiner schwie-
rigsten Aufgabe von der arithmetischen Reihe (S. 78) sich bedient
hat, ein Weg, den vielleicht, wie wir im 18. Kapitel bei Besprechung
von Herons Vermessungslehre auseinandersetzten, die Griechen zur
Aufsuchung von Quadrat- und Kubikwurzeln in kunstvoller Weise
gangbar zu machen wußten, der künftig unseren forschenden Blicken
wiederholt erkennbar sein wird, von vielen Fußspuren durchkreuzt,
die den mannigfachsten Betretem angehören.
Als einfachste Aufgabe dieser Art wird die 22. des IV. Buches*)
') Paul von Schaewen, Zur Lösung der Gleichung £f«=y^a;* + Bx -f C *
Osterprogramm 1906 des Eyangelischen Gymnasiums zu Glogau [1906 Programm
Nr. 236]. Die genannten Aufgaben stehen (Tannerj) pag. 109 und 161, (Wert-
heim) S. 68 und 90. *) Diophant (Tannery) pag. 284—236, (Wertheim)
S. 146—147.
Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 481
genannt Drei proporidonale Zahlen von der Beschaffenheit zu suchen^
daß der Unterschied von je zweien ein Quadrat werde. Ist die erste
Zahl X, so setzt Diophant die zweite x + 4t, die dritte x + IS, damit
der Unterschied der ersten und zweiten^ sowie der zweiten und dritten
ein Quadrat werde. Die angegebenen Zahlen lassen aber den Unter-
schied der ersten und dritten nicht . zu einem Quadrat werden. Die
als Summe der Quadrate 4 + 9 entstandene Zahl 1 3 muß also so
umgewandelt werden, daß sie die selbst quadratische Summe zweier
Quadrate werde. Man wählt z. B. 25 » 9 + 16 und setzt x, x + 9,
^ + 25 für die drei Zahlen. Jetzt endlich ist die Hauptbedingung
x:(x + 9) ^{x + 9):{x + 25) oder x^ + 18a; + 81 =- a?* + 25a: zu
81 81 '
erfüllen, was durch x^ geschieht, und die drei Zahlen sind -,
-y , -• Es kann auffallen, daß Diophant hier versäumt sämtliche
Brüche mit 49 (dem Quadrate ihres Nenners) zu vervielfachen, um
die ganzzahlige Auflösung 567, 1008, 1792 sich zu verschaffen; viel-
leicht schienen diese Zahlen ihm zu groß. Noch mehr drangt sich
die Frage auf, warum gerade 9 und 25 als die Unterschiede der ersten
Zahl von der zweiten und dritten gewählt wurden, warum nicht min-
destens gesagt ist 9 -{- 16 = 25 sei die kleinste ganzzahlige Auf-
lösung der vorauszulösenden Gleichung a* -f 6' =» c*, so daß man
daraus entnähme, auch andere die gleiche Bedingung erfüllende Zahlen
hätten benutzt werden dürfen.
Auf alle solche Fragen, die wir zu stellen geneigt sind, läßt sich
stets nur dieselbe Antwort erteilen, die nämlich, daß für Diophant
diese Fragen nicht so nahe lagen, wie wir zu meinen geneigt sind.
Diophant suchte meistens eine Lösung, nicht die Lösung. Er be-
antwortete ßätselfragen, er hatte es nur in seltenen Ausnahmsfällen
mit folgerungsreichen Theorien zu tun. Er stand damit innerhalb
seiner Zeit, innerhalb seines Volkes. Seine Genialität in Erreichung
der vorgesteckten Ziele gehört ihm persönlich zu, die Beschränkung
dessen, was er zu erreichen suchte, verschuldet mit ihm die gesamte
griechische Arithmetik, wenn von einer Schuld gesprochen werden
kann, wo auch das entfernteste Bewußtsein fehlt, man hätte anders
handeln können.
Statt daher bei Diophant Methoden zur Auflösung unbestimmter
Gleichungen vom ersten oder von höherem Grade zu suchen, werden
wir uns begnügen müssen zuzusehen, ob ihm unterwegs bei seinen
künstlichen Windungen einzelne zahlentheoretische Wahrheiten be-
kannt geworden sind, welche der späteren Zeit zugute kamen.
Solche Wahrheiten finden wir nun z. B. in der 22. Aufgabe des
Oahtob, Oeiohiohte der Mathematik I. 3. Aufl. 31
482 23. KapiteL
111. Buches*), wo es zuerst heißt, daß in jedem rechtwinkligen Drei-
ecke das Quadrat der Hypotenuse auch dann noch ein Quadrat bleibt,
. wenn man das doppelte Produkt der Katheten davon abzieht oder
hinzufügt; und später daß die Zahl 65 sich von selbst auf zweierlei
Art in zwei Quadrate, nämlich zuerst in 16 und 49 und dann wieder
in 64 und 1 zerlegen lasse, welches seinen Grund darin habe, daß 65
aus der Multiplikation der Faktoren 5 und 13 entstanden sei, deren
jeder die Summe von zwei Quadraten sei. Das heißt erstlich, daß
a* + fe* ± 2ab ein Quadrat gebe und zweitens, daß (a* + 6*) (c* + (P)
auf zwei Arten als Summe zweier Quadrate dargestellt werden
könne. Wenn auch Diophant nicht sagt, daß ihm die Zerlegungen
selbst (ac - bdy + {ad + 6c)' und {ac + bd)^ + (ad — bcy bekannt
seien, so ist doch wohl nicht daran zu zweifeln, da andernfalls die
zweifache Möglichkeit der Zerlegung ihm nicht so einleuchtend hätte
sein können.
Daß jedes Quadrat auf beliebig viele Arten als Summe
zweier Quadrate aufgefaßt werden könne, lehrt Diophant in
der 8. und 9. Aufgabe des IL Buches') wie folgt. Ist a' die zu
zerlegende Quadratzahl, so denke man x^ als den einen, {mx — a)'
als den anderen Teil, wo m ganz beliebig gewählt werden kann.
Demnach muß a' -= j;' + m^x^ — 2amx + a', also x = -V-rv
und mx — a = ~^t~Ti ^^^ oder man hat a' = ( i 7 r ' ^)
+ ( « x^ • ö^) unter ganz willkürlicher Annahme von m. Das ist
einer von den seltenen Ausnahmefällen, in welchem Diophant sich
zur vollen Allgemeinheit erhebt und wie wir von dem m fachen, von
„irgend einem Vielfachen*^ und von „einem beliebigen Vielfechen"
spricht.
Wir nennen femer die Wahrheit, daß keine Zahl von der
Form 4n + 3 die Summe zweier Quadrate sein könne, welche
in der 12. Aufgabe des V. Buches^) gelegentlich ausgesprochen ist.
Ob Diophant auch wußte, daß jede Primzahl von der Form 4« + 1
als Summe zweier Quadrate aufgefaßt werden kann? Schwerlich! und
noch weniger wird man annehmen dürfen, falls er wirklich diese
oder eine ähnliche Umkehrung sich gestattet hätte, er habe einen
vollgültigen Beweis dafür besessen.
Diophant geht vielmehr in ümkehrungen nicht mit der nötigen
*) Diophant (Tannef y) pag. 182—184, (Wertheim) S. 110—111. «) Ebenda
(Tannery) pag. 90—92, (Wertheim) S. 51—63. «) Ebenda (Tannery) pag. 832
bis 834, (Wertheim) S. 206 und in der Übersetzung von Schulz die An-
merkung S. 618— 520.
Die Nenplatoniker. Diophantas von Alexandria. 483
Vorsicht zu Werke , wie aas einem seiner Porismen sich ergibt.
Wir haben (S. 467) gesagt^ daß Diophant an verschiedenen Stellen
anf seine Porismen yerweise. Drei Porismen sind ausdrücklich an-
geführt in der 3.^ 5. nnd 19. Aufgabe des Y. Buches.
Das erste derselben lautet^): „Wenn man zwei Zahlen hat und
nicht nur jede dieser Zahlen fdr sich^ sondern auch das Produkt ein
Quadrat wird^ wenn man die nämliche Torgeschriebene Zahl dazu
addiert^ so sind sie von zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Qua-
draten entstanden", d. h. wenn x + a ^ m% y + a = »^, xy + a ^ p^
sein soll, so müssen m, n aufeinanderfolgende ganze Zahlen sein.
Hier hat man zeigen können'), daß Diophant eine falsche Umkehrung
vornahm. Wenn m und n aufeinanderfolgende ganze Zahlen sind,
findet allerdings der ausgesprochene Satz statt, aber derselbe kann
auch stattfinden, ohne daß diese Bedingung erfüllt werde.
Das zweite Porisma lautet'), „daß wenn man zu zwei aufein-
anderfolgenden Quadratzahlen noch eine dritte Zahl suche, welche
um 2 größer ist als die doppelte Summe jener beiden, man dann
drei Zahlen von der Beschaffenheit habe, daß das Produkt von je
zweien, sowohl wenn die Summe der zwei multiplizierten, als auch
wenn die dritte Zahl dazu addiert wird, ein Quadrat werde". Die
drei Zahlen sind a', (a + 1)*, 4a* -f- 4a + 4 und daß diese in der
Tat die ausgesprochenen Eigenschaften besitzen, ist leicht erkennbar.
Endlich das dritte Porisma heißt^), „daß der unterschied zweier
Kubikzahlen auch allemal Summe von zwei Eubikzahlen sei". Der
Satz ist wahr, aber einen Beweis gibt Diophant an der Stelle, wo er
das Porisma anwendet, nicht. Das würde auch niemand erwarten
dürfen, denn Verweisungen haben ja gerade den Zweck Beweise zu
ersparen. Dagegen ist es allerdings einigermaßen auffallend, daß
auch die praktische Ausführung jenes als möglich Erklarten fehlt.
Der Satz selbst wird uns erst im XVII. S. wieder begegnen, wo er
den Ausgangspunkt interessanter Untersuchungen bildete.
Neben den drei besonders genannten Porismen hat man auch
wohl die vorher von uns hervorgehobenen Wahrheiten als Porismen
des Diophant aufgefaßt, was wenigstens mit dem Charakter der Sätze
nicht in Widerspruch steht.
Bei den erhaltenen sechs arithmetischen Büchern noch einen
Augenblick verweilend müssen wir eins betonen, welches von ge-
schichtlicher Bedeutung sein dürfte. Wir haben arithmetische Unter-
*) Diophant (Tannery) pag. 816, (Wertheim) S. 196. ■) Nessel-
mann, Algebra der Griechen S. 441—442. ^ Diophant (Tannery) pag. 820,
(Wertheim) S. 198. *) Ebenda (Tannery) pag. 868, (Wertheim) S. 226.
81*
L
484 83. Kapitel.
suchungen griechischer Schriftsteller durch Jahrhunderte verfolgen
können und haben deren enge Verbindung mit der Theorie des
rechtwinkligen Dreiecks in den yerschiedensten Perioden hervor-
treten sehen. Auch Diophant beschäftigt sich mit solchen Zahlen,
welche die Längenmaße der Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks
sind, und zwar treten diese Aufgaben, abgesehen von einigen wenigen^),
die wohl bei der Zerstörung, welche der ursprüngliche Text unter
allen Umständen erlitt, an eine unrechte Stelle gekommen sein mögen,
durchaus im VI. Buche auf. Man gewinnt dadurch die Empfindung,
es seien zuerst arithmetische, dann geometrisch-arithmetische Fri^en
behandelt worden. Wir haben uns (S. 467) der Meinung angeschlossen,
es sei nicht wahrscheinlich, daß am Ende der auf uns gekommenen
sechs Bücher vieles fehle. Wir sind nicht gewillt solches gegen-
wärtig zu widerrufen, aber wenn auch nicht vieles, so könnte ein
Gegenstand hier verloren gegangen sein, den wir nennen möchten.
Die geometrisch-arithmetischen Fragen des VI. Buches beziehen sich
insgesamt auf das rechtwinklige Dreieck. Die Möglichkeit geometrisch-
arithmetischer Fragen vom Rechtecke ist nicht ausgeschlossen.
Solche Aufgaben kennen wir bereits. Sie stehen in dem Buche des
Landbaues (S. 391), wir mußten bei Gelegenheit einer Stelle aus dem
in. Buche der Sammlung des Pappus (S. 454) daran erinnern. Die
Aufgaben verlangen: 1. zwei Rechtecke zu finden, deren Umfange
wie deren Flächeninhalte im Verhältnisse wie 1 : 3 stehen; 2. zwei
Rechtecke zu finden, deren Umfange einander gleich seien, deren
Flächen aber im Verhältnisse von 1 : 4 stehen. Die Auflösung der
ersten Aufgabe bilden die Rechtecke aus den Seiten 54, 53 und
318,3, die der zweiten die Rechtecke aus den Seiten 3,60 und 15,48.
Eine wenn auch nur geringe Familienähnlichkeit dazu besitzt die
achte Aufgabe des V. Buches*) bei Diophant: „Man soll drei recht-
winklige Dreiecke suchen, deren Flächen einander gleich sind.'^ Hat
Diophant, was wir nicht für unmöglich halten, Aufgaben behandelt,
welche näher mit denen im Buche des Landbaues übereinstimmen,
so wird er es schwerlich in dem gleichen Buche getan haben, in
welchem von den rechtwinkligen Dreiecken die Rede war. Jedes
rechtwinklige Dreieck ist zwar für die arithmetische Betrachtung
nicht minder wie für die geometrische die Hälfte eines Rechtecks,
d. h. die Katheten eines rationalen rechtwinkligen Dreiecks können
auch als Seiten eines rationalen Rechtecks betrachtet werden; aber
das gilt nicht umgekehrt. Die Seiten vieler Rechtecke z. B. alle
^) NeBselmann, Algebra der Griechen - S. 436 hat dieselben gesammelt.
*) Diophant (Tannery) pag. 324, (Wertheim) S. 200.
Die Nenplatoniker. Diophantos von Alexandria. 485
obigen Paare 54, 53 wie 318,3 wie 3,60 wie 15,48 können nicht als
Katheten eines rationalen rechtwinkligen Dreiecks benutzt werden«
Dieser Gegensatz erscheint auch in der Natur der gestellten Fragen
wieder. Jene Aufgaben Yon den Rechtecken verlangten sowohl den
Inhalt als den umfang gewissen Zahlenbedingnngen zu unterwerfen.
Die angeführte diophantische Aufgabe von Dreiecken schrieb nur für
den Inhalt eine Bedingung vor, weil die Rechtwinkligkeit der Drei-
ecke den Seitenlängen von selbst gewisse Bedingungen auferlegt, die
nicht erst ausgesprochen zu werden brauchen.
Wie es nun damit sei, ob Diophant in einem Schlußbuche seines
Werkes Aufgaben über Rechtecke behandelte oder nicht, unter allen
Umständen ist die Form der meisten geometrisch-arithmetischen Auf-
gaben des VI. Buches zu beachten, bei welchen, wie in jener Auf-
gabe Herons vom Kreise (S. 404), Flächen und Linien so sehr als
Zahlen behandelt werden, daß man Summen und Differenzen aus
ihnen bildet. Wir führen als einfaches Beispiel die neunte Aufgabe
des VI. Buches^) an: „Man soll ein rechtwinkliges Dreieck von der
Beschaffenheit suchen, daß die Fläche desselben einer gegebenen Zahl
gleich wird, wenn man die beiden Katheten davon abzieht'' oder in
Zeichen geschrieben ^^ — a: — y = c.
Wir wenden uns zu der kleinen 10 Sätze umfassenden Abhand-
lung über Poljgonalzahlen, welche in den Handschriften mit den
arithmetischen Büchern vereinigt ist. Um den Inhalt') der Abhand-
lung richtig zu verstehen müssen wir uns des Satzes von den Drei-
eckszahlen erinnern, die 8 fach genommen und um 1 vermehrt stets
zu Quadraten werden. Wir haben diesen Satz bei Plntarch, später
bei Jamblichus (S. 460) gefunden. Ihn verallgemeinert Diophant und
behauptet, jede Poljgonalzahl werde zu einem Quadrate, wenn man
sie mit einem Zahlenkoef&zienten vervielfache, der von der Anzahl
der Ecken der Polygonalzahl abhänge, und das Quadrat einer gleich-
falls aus dieser Eckenzahl sich ergebenden Zahl hinzuaddiere. Er
spricht ihn später dahin aus, daß wenn etwa p!^ das Symbol der r*®"
m- Eckszahl, und p^ allgemeiner das Symbol irgend einer m-Eckszahl
darstellt, stets 8(w — - 2)/?^ + (w — 4)' eine Quadratzahl werde. Er
findet sodann diese Quadratzahl, welche nicht bloß von m, sondern
auch von dem jedesmaligen r abhängt, als [(m — 2)(2r — 1) + 2]^
Damit ist zugleich eine Doppelformel gegeben, welche zeigt, wie die
r*" m- Eckszahl gefunden werden kann, sobald m und r bekannt sind,
*) Diophant (Tannery) pag. 409, (Wertheim) S. 266. •) Eine sehr klare
Übereicht bei Nessel mann, Algebra der Griechen 8. 463—469. Die Abhand-
lang selbst in Diophant (Tannery) pag. 450— 4S0, (Wertheim) S. 297—813.
486 ^3. Kapitel.
wie aber auch die Seite r einer bekannten m- Eckszahl p!;^ sich be-
rechnen läßt. Denn einmal ist
_ [(fit-2)(2r-l) + 2]«-^(m^4)«
^»» 8(»i — 2) '
was bei Diophant im 9. Satze folgendermaßen lautet: ^^Wir nehmen
die Seite (r) der Polygonalziähl doppelt, ziehen davon die Einheit ab;
den Rest vervielfältigen wir durch die um 2 verkürzte Zahl der
Ecken (m); zu dem Produkte wird 2 gezählt und die Summe qua-
driert; von dem Quadrate ziehen wir ab das Quadrat der um 4 ver-
kleinerten Anzahl der Ecken; den Rest teilen wir durch das 8 fache
der um 2 verkürzten Anzahl der Ecken, so werden wir die Poljgonal-
zahl finden/^ Zweitens' findet sich aus dieser Formel durch Rück-
wärtsentwicklung
i[
T/8(m-2)fi;. + (w-4)'-2 . j
tfi — 2
und Diophant fährt auch wirklich fort: „Ist diese (i. e. die Poljgonal-
zahl) gegeben, so finden wir deren Seite auf folgende Art. Wir ver-
vielfältigen sie durch das 8 fache der um 2 verkürzten Anzahl der
Ecken; zum Produkte zählen wir das Quadrat der um 4 verkürzten
Anzahl der Ecken, so werden wir eine Quadratzahl erhalten, wenn
die gegebene wirklich eine Polygoualzahl war. Von der Seite dieses
Quadrates ziehen wir 2 ab; den Rest teilen wir durch die um 2 ver-
kleinerte Anzahl der Winkel, setzen die Einheit hinzu und nehmen
von der Summe die Hälfte: so werden wir die Seite der gesuchten
Quadratzahl erhalten.^' Als Satz 10. schließt sich noch die Aufgabe
an, zu erforschen, auf wieviele Arten eine gegebene Zahl
Polygonalzahl sein könne? Der Sinn dieser Frage ist klar. Die
Zahl 36 z. B. ist die achte Dreieckszahl, die sechste Yiereckszahl,
die dritte Dreizehneckszahl und die zweite Sechsunddreißigeckszahl,
kann also auf vier Arten Polygonalzahl sein, und diese Anzahl 4
wird eben gesucht. Leider ist die Antwort auf diese Frage nicht so
verständlich wie die Frage selbst. Sie bricht in der Mitte ab, ohne
daß es bisher gelungen wäre, das Bruchstück dem Sinne entsprechend
zu ergänzen.
Wir haben schon früher (S. 467) bemerken müssen, daß die Ab-
handlung über die Polygonalzahlen ein ganz anderes Gepräge trage
als die arithmetischen Bücher. Die arithmetischen Bücher, sagten
wir, seien wesentlich analytisch, die Schrift über die Polygonalzahlen
wesentlich synthetisch. Letztere lehnt sich, wie wir jetzt ergänzend
sagen möchten, vornehmlich an die arithmetischen Bücher des Euklid
an. Wie dort sind die Sätze erst behauptungsweise ausgesprochen.
Die Neaplatonikei. Diophantas Ton Alexandria. 487
dann bewiesen. Wie dort schließt der Beweis häufig mit den Worten:
^^welches zu zeigen war'^ Wie dort sind die Beweise an Linien ge-
fuhrty welche aber nichts anderes sind noch sein wollen als Versinn-
lichangen. von Zahlen, und geometrische Vorkenntnisse werden nicht
beansprucht^). Das alles sind nur erschwerende Einzelheiten, ge-
eignet die Übersichtlichkeit der Sätze für den Leser, aber auch für
den Erfinder bedeutend zu yerringem. Man vergleiche doch die
beiden Hauptformeln mit der Einkleidung derselben in Worte bei
Diophant, welche wir ihnen zur Seite gestellt haben, und man wird
ein Gef&hl davon erhalten, wie schwer es bei solcher Fassung war
auch nur die zweite Formel aus der ersten herzuleiten.
Was in dieser Abhandlung über die Polygonalzahlen dem Dio-
phant eigentümlich ist, was er von Vorgängern entlehnte, ist zweifel-
haft. Fehlen uns auch die Schriften des Philippus Opuntius (S. 169),
des Speusippus (S. 249), des Hypsikles (S. 361) über diesen Gegen-
stand, so wissen wir doch, daB die ersteren die Namen der Vielecks-
zahlen überhaupt, letzterer eine sachgemäße Definition derselben
kannte, auf welche gerade Diophant, bei dem allein sie sich erhalten
hat, Rücksicht nimmt. Es ist also jedenfalls unrichtig, daB Diophant
zuerst von Vieleckszahlen im allgemeinen gehandelt habe, wie wohl
gesagt worden ist. Möglich ist es dagegen, daß die Doppelformel,
in welcher Diophants Abhandlung gipfelt, von ihm herrühre, möglich
auch, wie im 26. Kapitel verständlich werden wird, daß in dem ver-
loren gegangenen Schlüsse der Abhandlung noch Sätze über Pyra-
midalzahlen und deren Beziehung zu den Polygonalzahlen enthalten
waren. Ja es ist selbst nicht ausgeschlossen, daß Hypsikles bereits
sich mit Untersuchungen über diesen letzteren Gegenstand beschäftigte.
Lassen wir die weniger bedeutenden Schriftsteller, denen die zu-
fällige Zeit ihres Lebens einen Platz in. den beiden letzten Kapiteln
anwies, beiseite, so bleiben die beiden Alexandriner: Pappus, Dio-
phant us als reicher Inhalt. Beide hervorragende Geister, Mathe-
matiker, welche jedem Volke, jedem Jahrhunderte zur Zierde gereicht
hätten, welche aber da, wo ihnen zu wirken das Geschick verlieh,
einer unmittelbaren Wirkung entbehrten, entbehren mußten. Pappus
stand, wie wir gesehen haben, vielleicht an der Spitze einer Schule
(S. 443), und von seiner geometrischen Sammlung ist bei keinem
Griechen die Rede! Diophantus' Name war, wie wir aus den Äuße-
rungen von Theon von Alexandria, von Johannes von Jerusalem
(S. 464) wissen, von dem Strahlenglanze algebraischen Ruhmes um-
*) Ganz Yereinselt ist auch die Aa%abe V, 13 der arithmetischeii Bücher
an einer Linie yersinnlicht. Diophant (Tannery) pag. 336, (Wert heim) S. 209.
488 24. Kapitel.
sclilossen^ und doch ist kein griechischer Algebraiker nach ihm auf-
getreten^ der seine Geisteslichtung verfolgte! Vereinzelte Zutaten, Ein-
Schiebungen von nicht immer zweifellosem Werte in die Sammlung
des Pappus, dürftige Kommentare zu alten Arithmetikem; zu Dio-
phantus selbst, das war alles, wozu griechische Schriftsteller sich
noch zu erheben vermochten. Pappus und Diophantus muten uns
an, wie riesige erratische Blöcke in einer weiten Ebene. Sie bilden
weit sichtbare Punkte, an denen das Auge des Beschauers haften muß,
aber sie durchbrechen nur, sie verändern nicht die allgemeine Flach-
heit. Die Griechen am Ende des IV. S. waren ^ngst nicht mehr
das Volk, dem Leben gleichbedeutend war mit Fortschreiten in Kunst
imd Wissenschaft. Die kommentierende Tätigkeit, welche, wie wir
erörtert haben, eine Hauptbeschäftigung der philosophischen Sekten
jener Zeit bildete, schloß den Geist in die engeren Schranken des
bereits Vollendeten, statt ihm Flügel zum Ausschweifen in unent-
deckte Femen zu verleihen. Immer tiefer sinkt griechische Mathe-
matik herab, und gälte es nicht das Gebot der Vollständigkeit zu
erfüllen, wäre es nicht historisch notwendig zu sehen, wie eine
Wissenschaft abstirbt, man schlösse am liebsten mit Diophant die
Besprechung der in griechischer Sprache geschriebenen mathema-
tischen Werke.
24. Kapitel.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartang.
Wir haben in den Schlußsätzen des vorigen Kapitels wohl hin-
länglich entschuldigt, weshalb wir mit Diophant wenigstens ein Ka-
pitel abzuschließen für nötig fanden. Es widerstrebte uns auf ihn
noch Schriftsteller folgen zu lassen, die zwar auch noch dem lY. S.
angehören, deren einer sogar nicht unbedeutender Berühmtheit sich
erfreut, die aber doch einen gar zu grellen Abstich gegen Diophant
bieten würden.
Wir meinen zunächst Patrikius*), einen Schriftsteller, von
welchem nur in zwei heronische Bücher, in die Geometrie und in
die erste stereometrische Sammlung, unbedeutende Überreste sich
eingeschlichen haben. Die erste Stelle lehrt bei größerer Länge
eines Grundstückes dessen Breite an verschiedenen Stellen zu messen,
^) Th. H. Martin in dem IV. Bande der Mimoirea prSsenUs par divers
savants ä Vacadhnie des inscriptions et beUes-lettres. S4rie L Sujets divers
d'erudition (Paris 1854) pag. 220. AgrimenBoren S. 112.
Die griechische Mathemaidk in ihrei Entartung. 489
daraus eine Durchschnittsbreite zu berechnen und die Fläche als
Rechteck zwischen dieser Durchschnittsbrßite und der Länge zu be-
trachten*). Die zweite Stelle gibt eine ähnliche Vorschrift für Körper-
räume: eine nach oben sich yerjüngende kreisrunde Säule soll als
Zylinder von gleicher Höhe betrachtet werden, für dessen Grund-
fläche ein Mittelkreis gilt^ dessen Durchmesser die halbe Summe des
obersten und untersten Säulendurchmessers ist'). So Patrikius, wenn
die Sätze wirklich in der Einschiebung in heronische Schriften, aus
der wir sie kennen, auf den richtigen Urheber zurückgeführt sind,
da sie ihrem Charakter nach ebenso gut, ja fast noch besser, uralt
sein könnten. Wer aber dieser Patrikius selbst war, ist zweifelhaft.
Man kennt zwei Männer des Namens, einen der aus Lydien stammend
374 hingerichtet wurde, also in der Tat noch dem Ende des IV. S.
angehört, einen zweiten aus Lykien, der schon in das V. S. hinüber-
reicht und am bekanntesten ist durch seinen Sohn Proklus, von wel-
chem wir weiter unten zu reden haben.
Serenus hat sich einige Berühmtheit zu erwerben gewußt. Wann
er lebte, ist weder aus seinen uns bekannten Schriften noch aus Er-
wähnungen bei anderen Schriftstellern genau zu ermitteln. Er nennt
einen Kyros und einen Peithon als seine Freunde, die im übrigen
gänzlich unbekannt sind. Er sagt im 16. Satze seines Zylinder-
schnittes, er habe Erklärungen zu den Kegelschnitten des ApoUonius
verfaßt, was aber auch nicht weiterhilft, als daß Serenus später als
zu Anfang des IL yorchristlichen Jahrhunderts schrieb. Er selbst
wird in der Vorrede zu den euklidischen Daten von Marinus, dem
Herausgeber jenes Werkes, genannt^), und dieser Marinus war Nach-
folger des Proklus am Ende des V. oder Anfang des VI. nachchrist-
lichen Jahrhunderts. Das sind so weit voneinander abliegende Grenzen,
daß ilmen nichts zu entnehmen ist. Wir kommen dagegen weiter
durch die Kenntnis der Heimat des Serenus. In der ältesten Hand-
schrift seiner Werke, einem Vatikankodex des XH. bis XIU. Jahr-
hunderts, heißt er avttvöamg, welches man lange Zeit durch von An-
tissa übersetzte, so sehr dem Worte damit Gewalt angetan war.
Statt dessen wurde die sehr einfache Verbesserung ivtivoBos vor-
geschlagen^) und sofort allgemein angenommen. ÄnÜnoeia^ welches
danach die Heimat des Serenus wäre, ist im Jahre 122 durch Kaiser
Hadrian, der von 117 — 138 regierte, gegründet, und Serenus muß also
frühestens im IL nachchristlichen Jahrhunderte gelebt haben. Sprach-
^) Heron (ed. Hnltsch) pag. 136. Vgl. ebenda pag. 207, lin. 16—20.
*) Ebenda pag. 169. *) Euklid (ed. Gregory) pag. 467. *) Heiberg in der
Biblioiheca maihematica 1894 pag. 97.
490
24t. Kapitel.
liehe Ghiinde föhrteD^ nachdem Serenus jetzt zwischen das II. und
das VI. Jahrhundert eingeschlossen war, zu der Vermutung, er werde
etwa in der Mitte der überhaupt möglichen Zeit im IV. Jahrhundert,
nach Pappus (der Serenus nirgend erwähnt) und vor dem bald von
uns zu nennenden Theon von Alexandria gelebt haben ^).
Die beiden Abhandlungen des Serenus^) haben zum Inhalte den
Schnitt des Zylinders und den Schnitt des Kegels. Der Schnitt
des Kegels ist die unbedeutendere von beiden Schriften. Serenus
beschäftigt sich darin mit solchen Schnittebenen, welche durch die
Spitze des Kegels gelegt ein Dreieck auf dem Kegelmantel erzeugen,
weil keiner seiner Vorgänger sich um diese Dreiecke gekümmert habe.
Von einigem Interesse ist höchstens, daß dabei die Frage nach dem
größtmöglichen Inhalte der so entstehenden Dreiecke auftaucht. Der
Schnitt des Zylinders lehrt zunächst, daß die den Zylinder
schneidende Ebene auf dessen Mantel eine Ellipse hervorbringe und
löst alsdann Aufgaben, wie die in Satz 22. und 23. Zu einem ge-
gebenen Kegel (Zylinder) einen Zylinder (Kegel) zu finden und beide
durch eine und dieselbe Ebene so zu schneiden, daß der Schnitt ähn-
liche Ellipsen bilde. Von Sätzen, die bewiesen werden, heben wir
hervor: Satz 31. Gerade Linien, welche aus demselben Punkte aus-
gehend eine zylindrische Oberfläche berühren, haben sämtlich die Be-
rührungspunkte in den Seiten eines einzigen Parallelogramms, und
Satz 34. Alle Geraden, welche aus demselben Punkte als Berührungs-
linien an einen Kegelmantel gezogen werden, haben ihre Berührungs-
punkte in den
Seiten eines ein-
zigen Dreiecks.
Endlich sei be-
merkt, daß im
Satz 33. ganz
gelegentlich die
Grundlage zu dem
mitgeteilt ist, was
mit modernem Namen die Lehre von den Harmonikaien genannt
zu werden pflegt. Es wird nämlich behauptet, daß wenn (Fig. 78)
^) Heiberg in seiner Ausgabe des Serenns Ton Antinoeia mit lateinischer
Übersetzung. Leipzig 1896. Vorrede pag. XVII in Übereinstimmung mit Chasles,
Apergu hist. 47 (deutsch 44) und Tannery im BuUetin des sciences mathe-
matiques et astranomiques 1883. *) Der griechische Text ist als Anhting zur
Halley sehen Ausgabe der Kegelschnitte des Apollonius gedruckt. Deutsche
Übersetzungen hat E. Nizze als Prog^mmbeilagen des Stralsunder Gymnasiums
TerOffentlicht: üeber den Schnitt des Cylinders 1860. lieber den Schnitt des
Kegels 1861. Die neueste Ausgabe von Heiberg 1896.
Flg. 78.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 491
Yon d aus die dsri^ zum Schnitte eines Dreiecks aßy gezeichnet und
^ so auf ihr gewählt wird, daß d^idg — «lyrijg und die Gerade aij
gezogen wird, alsdann jede neue von d ausgehende Transyersale dxlfi
das entsprechende Verhältnis dx : d/i » xA : Xfi bieten werde. Eigen-
tum des Serenus ist der Satz keinenfalls, da er, wie wir (S. 414)
sahen, schon zur Zeit, als Menelaus das III. Buch seiner Sphärik
niederschrieb, bekannt gewesen sein muß.
Außer diesen beiden Abhandlungen hat Serenus noch Hilfssätze
verfaß^ aus welchen ein geometrischer Satz über Winkel im Kreise
mit exzentrischem Scheitelpunkte aber auf gleichen Bögen aufstehend
in einer Handschrift des astronomischen Teiles des Werkes Theons
Yon Smjrna aufgefunden worden ist^). Könnte man annehmen,
Theon habe selbst den Serenus benutzt, so würde durch die bekannte
Lebenszeit dieses Schriftstellers eine untere Zeitgrenze mit dem Jahre
130 etwa angegeben sein; doch wäre jene Annahme durchaus will-
kürlich. Man hat Tielmehr, wie bemerkt worden ist, wohl nur an
eine Vereinigung ähnlicher Dinge in einer Handschrift zu denken,
ohne daß festgestellt wäre, wer es gewesen sein mag, der von jenem
Satze aus den Lemmen des Serenus eine astronomische Anwendung
machte.
Der dritte Schriftsteller, an welchen wir vorher dachten, ist
Theon von Alexandria ^). Er lebte, wie wir schon bei Gelegenheit
der Zeitbestimmung des Pappus (S. 441) angeben mußten, während
der Regierung Theodosius des Großen und zwar in Alexandria, wo
er, nach der Angabe des Suidas, am Museum lehrte. Wir wissen
durch ihn selbst, daß er in Alexandria im Jahre 365 eine Sonnen-
finsternis beobachtete. Seine Bemerkungen zu den chronologischen
Handtafeln des Ptolemäus erstrecken sich bis auf das Jahr 372. Das
Todesjahr seiner nachher zu erwähnenden Tochter ist 415. Das sind
lauter zusammenstimmende Jahreszahlen, welche an seiner Lebenszeit
einen Zweifel nicht aufkommen lassen.
Den Mathematiker interessieren vorzugsweise zwei Reihen von
Arbeiten, welchen Theon sich unterzog. Zuerst gab er die Ele-
mente des Euklid heraus, wie wir bei Besprechung dieses Werkes
selbst (S. 277) anführten und vermehrte — bereicherte dürfen wir
kaum sagen — dieselben durch Zusätze von geringfügigem Werte.
Später verfaßte er einen Kommentar, zu dem ptole maischen
Almageste, in welchem von der Euklidausgabe die Rede ist'), wo-
*) Theonis Smyrnaei Über de astranomia ed. Th. H. Martin. Paris 1849,
pag. 840 und Martins Bemerkungen pag. 79—81. *) Fabricius, Btbliotheea
Graeca (ed. Harleß) IX, 176, 178—179. ') Cammentaire de Theon sur la com-
posiUon mathimatique de FtolenUe (ed. Halma, Paris 1821) I, 201.
492 24. Kapitel.
durch die Reihenfolge dieser Arbeiten sich feststellt. Der Kommentar
erstreckte sich, wenigstens soweit er im Drucke und auch hand-
schriftlich bekannt ist, nicht auf sämtliche 13 Bücher des Almagestes.
Der Kommentar zu einem Teile des V., zum XI. und XII. Buche
fehlt. Als Anfang der Erläuterungen zum V. Buche enthalten die
Handschriften ein Bruchstück des Pappusschen Kommen tars^ an diese
knüpft sich als Fortsetzung bezeichnet eine Ergänzung Theons^), daran
wieder ein Stück aus dem Kommentare des Pappus*). Man wird
darin eine Bestätigung unserer früher (S. 442) ausgesprochenen Mei-
nung, Theon habe Pappus fleißig benutzt, erblicken. Jedenfalls aber
muß als Ergebnis dieser Art der Vereinigung der beiden Kommentare
angesehen werden, daß Theon später als Pappus lebte, wie groß
oder wie klein auch der Zwischenraum zwischen beiden gewesen
sein mag.
Theons Kommentar zum I. Buche des Almagestes ist für
uns weitaus am wichtigsten. Nicht als ob Dinge darin enthalten
wären, geeignet unser ziemlich geringschätziges Urteil über den Ver-
fasser zu entkräften, aber weil er als Quelle mancher geschichtlicher
Angaben dient, die wir durch andere zu ersetzen nicht imstande sind.
Dort steht jenes Zitat des Diophantus, welches die untere Grenze
seiner Lebenszeit bildet, dort der Beweis dafür, daß Theon eine sxdoöcg,
eine Herausgabe, des Euklid vollzogen hatte, dort eine Darstellung
des Rechnens mit Sexagesimalbrüchen.
Über das sexagesimale Rechnen gibt es eine besondere Abhand-
lung, welclie durch die Handschriften, in welchen sie sich erhalten
hat, dem Pappus oder gar dem Diophantus zugeschrieben wird').
Wir beabsichtigen keineswegs die Möglichkeit anzuzweifeln, daß
namentlich Pappus bei der Kommentierung des I. Buches des Alma-
gestes, wo er über Quadratwurzelausziehungeu sich verbreitete, vom
Rechnen mit sechzigteiligen Brüchen überhaupt geschrieben haben
mag. Nur ist alsdann, falls die jetzt bekannte Abhandlung ein
Bruchstück jenes Kommentars bildete, der interessantere Teil immer
noch verloren, und wir glaubten der Wertschätzung, die man Pappus
und Diophantus schuldet, nur Rechnung zu tragen, wenn wir bei
Erörterung ihrer Werke jene elementaren Betrachtungen unberück-
*) ToÜ BifQvog sig rh UItcov toI) Ildxnov. ") Fabricius, Bibliotheca
Grraeca (ed. Harleß) IX, 176. ^ Vgl. Hnltsch in der Praefatio, welche er dem
in. Bande seiner Pappnaansgabe Torangeschickt hat, pag. XII und XVI. Dann
die durch C. Henry besorgte Ausgabe des OpusaUum de tnuUiplicatione et divi-
sione sexagesimalibus Diophanto vel Pappo attribuendum. Halle 1879, und die
kritischen Bemerkungen dazu von Hultschin der Zeitechr. Math. Phjs. XXIY.
Histor.-literar. Abtlg. S. 199—208.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 493
sichtigt ließen^ von wem dieselben aach herrühren mögen — ein
Löwe ist aus dieser Klaue keinesfalls zu erkennen^ und deshalb tragen
wir auch Scheu das Bruchstück zu den Moriastica des Diophantus
(S. 467) in Beziehung zu setzen.
Theons Darstellung ist um&ngreicher und vollständiger^). Die
Multiplikation beginnt mit dem größten Teile des Multiplikators,
genau so wie wir (S. 319) nach Eutokius das Verfahren des Archimed
bei nicht sexagesimal fortschreitenden Zahlen geschildert haben. Um
z. B. 37*^ 4^ 55^ mit sich selbst zu vervielfachen wird zuerst das
Produkt von 37<> in die vorgelegte Zahl als 1369® 148^ 2035" an-
geschrieben, wobei allerdings das Zeichen für Grad ebenso wie für
die kleineren Teile nur in dem Sinne von Einheiten und Brachteilen
der Einheit aufzufassen nötig ist, und nicht etwa an eine von Theon
nicht beabsichtigte Multiplikation beziehungsweise später an eine
Division oder Radizierung benannter Zahlen gedacht werden darf.
Dann folgt das durch 4^ hervorgebrachte Produkt 148^ 16" 220'"-,
endlich das Produkt mittels der 65" oder 2035" 220"^ 3025^^, indem
die Benennung der einzelnen Teilprodukte den Gesetzen diophantischer
Multiplikation allgemeiner Größen folgt. Bei dieser Gelegenheit er-
scheint eben das Zitat des Diophantus. Theon glaubt eine Unter-
stützung durch geometrische Beweisführung geben zu müssen, f&r
seine Landsleute und Zeitgenossen eine vermutlich nicht überflüssige
Zugabe, bei der wir uns jedoch nicht aufhalten wollen. Nun faßt
Theon erst sämtliche Teilprodukte zusammen und vollzieht dabei
durch wiederholte Teilung durch 60 die zur Übersichtlichkeit not-
wendigen Reduktionen: 3025^^ sind 50™ 25^^; nunmehr sind 490"^
vorhanden oder 8" 10™; ferner erscheinen 4094" oder 68^ 14"; des
weiteren 364^ oder 6^ 4^; und da endlich 1375® sich ergeben, so ist
das ganze Produkt 1375<> 4^ 14" 10™ 25^^, oder unter Vernach-
lässigung der beiden kleinsten Bruchgattungen nahezu 1375® 4^ 14".
Die Division läßt alle bei der Multiplikation getanen Schritte
rückwärts ausführen. So vollzieht Theon die Division von 25® 12^
10" in 1515® 20^ 15" folgendermaßen. Zunächst ist 25 in 1515
mehr als 60, weniger als 61 mal enthalten; der erste Teilquotient
ist demnach 60®. Zieht man 60 mal 25 von 1515 ab und verwandelt
den Best 15 in Minuten, mit welchen die vorhandenen 20^ vereinigt
werden müssen, so hat man deren 920. Von ibnen sind 60 mal 12^
*) CommerUaire de Thion (ed. Halma) I, 110—119 und 185—186. Durch
falsche Paginierung folgt auf pag. 120 nicht 121, sondern 181, der Zwischen-
raum zwischen beiden Stellen, an welchen von unserem Gegenstande die Rede
ist, beträgt also nur etwa fanf Seiten. Vgl. eine Übersicht bei Nesselmann,
Algebra der Griechen S. 188— 147.
494
24. Kapitel.
abzuziehen, wobei 200^ und, unter Berücksichtigung der vorhandenen
15°, im ganzen 200^ 15° als Rest bleiben. Davon ist wieder 60 mal
10° oder 10^ abzuziehen, und so entsteht 190^ 15^^ als Gesamtrest
nach Abziehung des vollen ersten Teilproduktes. Nun sucht Theon
den zweiten Teilquotienten mittels der Division von 25® in 190^ und
erhält ihn als 7^. Wieder wird 7^ mal 25 von 190^ 15° abgezogen;
von dem Reste 15^ 15° oder 915° werden 7^ mal 12^, von dem Reste
831° endlich 7^ mal 10° oder 1° 10°^ abgezogen, so daß als Ge-
sjimtrest 829° 50°^ übrig bleibt. Der letzte Teilquotient durch die
Division von 25*^ in 829° erhalten ist ungefähr 33°, und hier gibt
die Subtraktion der einzelnen Stücke des Teilproduktes zuerst den
Rest 4° 50^° oder 290°^, wovon das etwas zu große 396°^ abgezogen
werden mußte. Es ist also 1515» 20^ 15° geteilt durch 25« 12^ 10°
gleich 60*^ 7^ 33°. nahezu, eyytaxa.
Die Ausziehung der Quadratwurzel aus 4500 Einheiten
lehrt endlich Theon nach einer Methode, welche wir wohl genugsam
kennzeichnen, wenn wir sie der heute üblichen genau gleich nennen
abgesehen von dem Gebrauche von Sexagesimalbrüchen statt der
heute üblicheren Dezimalbrüche. Das nächste rationale Quadrat unter-
halb 4500 ist 4489, dessen Wurzel 67 heißt. Zieht man (Fig. 79)
4489 von 4500 ab, so bleiben die 11 Einheiten oder 660^ in Gestalt
eines Gnomon, welcher selbst zunächst
aus zwei Rechtecken und einem Quadrate
besteht, dessen Seite gesucht werden
muß. Man dividiert mit dem Doppelten
der 67 Einheiten oder mit 134 Ein-
heiten in 660^. Das gibt 4^ als Quo-
tient. Die beiden neuen Rechtecke
sind also jedes 67 mal 4^ oder 268^,
zusammen 536^, und das neue Quadrat
ist 4^ mal 41 d. h. 16°. Als Rest
bleibt zunächst 660^ - 536^ = 124^
= 7440°, dann 7440° - 16° = 7424°,
welches wieder in Gestalt eines Gnomon zu denken ist. Um die
neue Zerlegung in zwei Rechtecke und ein Quadrat zu finden, nimmt
man das Doppelte von 6V 4^ d. h. 134« 8^ und dividiert damit in
7424°, wodurch man den Quotienten 55° etwa erhält, dessen Quadi-at
alsdann außer den beiden Rechtecken noch wegzunehmen sein wird.
Die erste Subtraktion gibt als Rest 7424° - 134« 8^ X 55° - 46°
40°^, und dieses ist, sagt Theon, nahezu das Quadrat von 55°.
Tatsächlich würde als Rest 45° 49°^ 35^^ übrig bleiben, welcher
als Gnomon gedacht eine noch bessere Annäherung als diejenige
Fig. 79.
Die gpriechische Mathematik in ihrer Entartung. 495
y4500^ = 67® 4^ 55^ gestatten würde, mit welcher Ptolemäus sich
begnügte.
Die letztere Tatsache ist insofern von geschichtlicher Tragweite,
als sie beweist, daß auch Ptolemäus von dem durch Theon gelehrten
Näherungsverfahren Gebrauch machte gleichwie Heron es häufig
stufenweise anwandte. Es mag immerhin sein, daß je nach dem
Umstände, ob man mit Sexagesimalbrüchen rechnete oder nicht, mit-
unter ein Wechsel des Verfahrens eintrat, ein Wechsel, der seine
leichte Begründung darin findet, daß bei Sexagesimalbrüchen sofort
und ein für allemal eine Grenze — etwa die des zweiten Sechzigstels
— festgesetzt werden konnte, bis zu welcher man die Annäherung
treiben wollte, während in gewöhnlichen Brüchen eine solche Grenze
sich weder von selbst darbot, noch auch ihre Erreichung im Augen-
blicke bekannt werden konnte, mithin eine andere Methode leicht als
Yorzuziehende sich erwies.
Theons Tochter Hypatia^) war, wie Suidas angibt, selbst eine
Gelehrte von umfassendem Wissen. Die Angabe ebendesselben, sie
sei die Gattin des Philosophen Isidorus gewesen, ist vermutlich
irrtümliche Einschiebung eines späten Glossators. Hypatia war viel-
mehr stets unverheiratet. Richtig ist wieder die Zeitbestimmung des
Suidas, sie habe ihre Blütezeit unter der Regierung des Arkadius
gehabt. Ihr Tod erfolgte xmter des Arkadius Nachfolger im März 415
in tragischster Weise. Die Phüosophenschulen hatten sich, auch
nachdem das Christentum die Religion der römischen Kaiser geworden
war, der neuen Lehre keineswegs in dem Maße angeschlossen, wie
die sonstige Bevölkerung. Der Schutz, den Kaiser Julianus Apostata
insbesondere ihnen gewährt hatte, wirkte noch Jahrzehnte nach seinem
Tode fort und ließ die Heidin Hypatia in Ansehen selbst bei einem
christlichen Bischöfe von Ptolemais, wie Synesius, imd bei dem
kaiserlichen Präfekten Orestes in Alexandria stehen, ohne daß eine
besonders auffallende Erscheinung darin zu suchen wäre. Aber gerade
das Ansehen, in welchem sie bei Orestes stand, wurde ihr Verderben.
Der Präfekt wies hierarchische Ansprüche des Bischofs Cyrillus
zurück. Hypatias Einfluß wurde als Ursache verdächtigt, und der
fanatische Pöbel der Stadt zerriß die Unglückliche. War es doch
derselbe Pöbel, der 392 schon in dem Zerstörungstaumel religiöser
Wut ein Verbrechen begangen hatte, welches die Wissenschaft noch
heute schwer empfindet. Theodosius der Große erließ in dem genannten
Jahre den Befehl zur Vernichtung der heidnischen Tempel, und dieser
^) B. Ho che, Hypatia, die Tochter Theona, in der ZeitBchrift: Philologus
(1860) XV, 436—474.
496 24. Kapitel.
Befehl wurde von der planderungssüchtigeu Horde so genau aus-
geführt, daß auch der Serapistempel, die zweite alexandrinische Biblio-
thek, wie wir uns erinnern (S. 427), von Grund auf mit zerstört
wurde. Von da an gibt es eine Universalbibliothek des Altertums
nicht mehr. Von da an beginnt die Seltenheit alter Originalwerke
zur Unmöglichkeit solche zu beschaffen auszuarten.
Wenn wir der Hypatia hier zu gedenken hatten, so liegt der
Ghrund darin, daß ihr auch mathematische Schriften von Suidas nach-
gerühmt werden^), Werke freilich, deren Überschriften ebenso zweifel-
haft sind wie ihr Inhalt. Die einen machen daraus einen Kommentar
zum Diophant, eine astronomische Tafel, einen Kommentar zu den
Kegelschnitten des ApoUonius. Die anderen übersetzen^): „Sie schrieb
einen Kommentar zu der astronomischen Tafel des Diophant und
einen Kommentar' zu den Kegelschnitten des ApoUonius.'' Gesichert
ist keine der beiden Auffassungen. Gibt man der zweiten den Vor-
zug, so ist Zweifel darüber, ob Diophant, der Verfasser einer astro-
nomischen Tafel, und Diophant, der Algebraiker, ein und dieselbe
Persönlichkeit gewesen sein mögen. Das Beispiel Hipparchs zeigt
uns, daß die Möglichkeit der Verbindung beider schriftstellerischen
Richtungen mindestens nicht auszuschließen ist. Der letzte Heraus-
geber des Diophant ist wieder der Überzeugung^), Hypatia habe die
Arithmetik des Diophant erläutert und Teile dieser Erläuterung seien
als Schollen erhalten.
Hypatia war für geraume Zeit eine der letzten, wenn nicht die
letzte durch die Abfassung mathematischer Schriften bekannte Per-
sönlichkeit in Alexandria. Früher bildete die Lokalisation an diesem
Mittelpunkte mathematischer Bildung die wenn auch nicht ausnahms-
lose Begel. Von Archimed bis Jamblichus verband doch immer ein
oder der andere Faden geistiger Zusammengehörigkeit die Schrift-
steller, die nicht in Alexandria lebten, mit jenem Zentrum. Allmäh-
lich wurde umgekehrt die Lostrennung von jenem Boden, der den
Erzeugnissen schriftstellerischer Tätigkeit wie den SchriftsteUem als
gleich geföhrlich sich erwiesen hatte, zur Regel. Der Neupiatonis-
mus setzte sich fort, aber hauptsächlich an jenem Orte, wo die
Grundlegung der alten Schule stattgefunden hatte, in Athen, wo
eine Universität entstand, an Einrichtungen, Sitten und Unsitten, Ge-
bräuchen und Mißbrauchen deutschen Universitäten vergleichbar^).
^) iyQaipev {>7c6(iVTifuc slg Ji6(pavrov tov AötQovoiiLiKhv %av6va slg tä icoavticoc
'AnoXXmvlov {>n6iivrnia. *) Nesselmann, Algebra der Griechen S. 248, dessen
Auseinandersetzungen Ho che in seiner Abhandlung nicht gekannt zu haben scheint.
■) Tannery in seiner Diophantausgabe II, pag. VII— Vm und IX. *) Zeller III, 2,
675flgg. und Hertzberg, Gesch. Griechenlands unt. d. Bömem Bd. HL Halle 1876.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 497
Der Keim zur neuen atheniBchen Schule wurde vermutlich nicht
von Alexandria aus, sondern von dem syrischen Ableger der Alexan-
driner, von den Nachfolgern des Jamblichus gepflanzt. Mit der ört-
lichen Bückkehr aus dem Oriente nach Hellas streifte der Neuplato-
nismus einen Teil seiner Überschwenglichkeit, seiner Mystik ab. Das
Studium der aristotelischen Schriften und damit verbunden dialektische
Geistesübimgen kamen wieder zu ihrem Recht, und neben und nach
Erklären! platonischer Schriften wurden die Jünger der athenischen
Schule die emsigsten Scholiasten des Aristoteles. Für uns haben
indessen die ersten Schulvorstände in Athen und selbst der berühmte
Syrianus kaum soviel Bedeutung, daß wir 4eren Namen anführen
dürften.
Erst Proklus*), der Schüler Syrians, verlangt wieder unsere
Aufinerksamkeit. Als Sohn des byzantinischen Anwaltes Patrikius von
Lykien, den wir (S. 488 — 489) vielleicht als Urheber zweier geodäti-
scher Näherungsvorschriften kennen gelernt haben, ist Proklus 410
geboren. Sein Tod erfolgte am 17. April 485. Marinus, sein
Schüler und Nachfolger, der eine Biographie des Proklus verfaßt hat,
erzählt von ihm, er habe als Knabe in der Heimat seiner Eltern,
wohin er denselben bald nach seiner Geburt folgte, die Schule eines
Grammatikers besucht, worauf ihn ein Rhetor Leona^ mit sich nach
Alexandria nahm, wo er Grammatik und Rhetorik studierte. Nach
kurzer Heimkehr in seine Vaterstadt Byzanz lag er neuerdings in
Alexandria philosophischen und mathematischen Studien ob, letzteren
unter der Leitung eines gewissen Heron, von welchem aber ab-
gesehen von dieser einen Notiz durchaus nichts bekannt ist. Der
Unterricht der alexandrinischen Lehrer genügte bald dem strebsamen
Jünglinge nicht. Sein Wissensdurst führte ihn nach Athen, wo er
von Syrian an die eigentlichen Quellen menschlichen Denkens hin-
geleitet wurde. So ward Proklus der naturgemäße Erbe Syrians als
Schulvorstand in Athen und erhielt als solcher den Beinamen des
Nachfolgers, dcddoxos^ Diadochus, unter welchem er vielfach be-
kannt ist. Von den Schriften des Proklus Diadochus kümmern uns
weder die philosophischen Originalabhandlungen, noch die zahlreichen
Kommentare zu platonischen Schriften. Auch seine Sphärik, <sq)atQa^
ein bloßer Auszug aus dem astronomischen Werke des Geminus, ist
für uns ohne jede Bedeutung. Wir haben es nur mit dem Kommen-
tare des Proklus zu den euklidischen Elementen zu tun, welcher uns
im Verlaufe unserer bisherigen Untersuchungen so vielfach als Quelle
*) Zeller 1. c. 700flgg. Hertzberg 1. c. 5l6flgg. J. G. van Pesch, De
Prodi fontibus, Leiden 1900.
Cahtob, Geschichte der Mathematik L 3. Aufl. 32
498 24. Kapitel.
dienen mußte, daß die Besprechung sich als notwendig erweisen
würde, selbst wenn wir gar nichts mathematisch Neues daraus mit-
zuteilen hätten.
Der Kommentar des Proklus zum I. Buche der eukli-
dischen Elemente ist mehrfach herausgegeben^), und schon dem
Übersetzer desselben in der zweiten Hälfte des XVI. S. legte sich die
Frage vor, ob Proklus nur zum L Buche der Elemente einen
Kommentar verfaßt habe, verfassen wollte? Die letztere Frage war
sofort zu verneinen, da Proklus selbst am Ende des Kommentars zum
I. Buche einen solchen zu den gesamten Elementen in Aussicht
stellt') und auch an ..sonstigen Stellen vödäufig ankündigt, was er
in dem Kommentare zum 11., zum VI. Buche auseinandersetzen werde.
Ob aber dieser Plan in Erfüllung ging, ob nicht etwa Proklus vor-
hatte, was er nicht ausführte, darüber haben erst Entdeckungen
neuer Scholien in griechischen Handschriften Aufschluß gegeben,
welche mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit dem
Proklus zugeschrieben werden'). Proklus hat also wirklich zu allen
Büchern der euklidischen Elemente, wenige ausgenommen,
einen Kommentar verfaßt. Darüber freilich wird immer einiger
Zweifel übrig bleiben, ob auch zu den späteren Büchern ein so um-
fassender Kommentar des Proklus existiert haben müsse wie zu dem L,
ob die geringen Bruchstücke, welche uns davon erhalten sind, nur
Splitter eines großen Ganzen, ob sie etwa die Hauptsache des einst
Vorhandenen darstellen. Wie man sich zu dieser Frage stellt, hängt
wesentlich von der Meinung ab, welche man von dem Zwecke des
Proklus sich bildet. Wer da glaubt*), Proklus wollte nicht Geo-
metrie lehren, sondern die geometrische Genauigkeit für die philo-
sophische Dialektik nutzbar machen, und nur philosophisches Inter-
^) Den ersten griechischen Abdruck besorgte Grynaens in der Basler
Enklidausgabe von 1688. Eine lateinische Übersetzung gab Barocius 1560..
Auch Commandinus gab die Scholien zum I. Buche und zu den späteren
lateinisch in seiner Euklidausgabe von 1572. Friedleins Textausgabe der
Scholien zum I. Buche (Leipzig 1873) ist jetzt allgemein verbreitet. *) Proklua
(ed. Friedlein) 482, 9 sqq. ') Die Scholien des Proklus zu späteren Büchern
hat C. Wachsmuth entdeckt. Vgl. dessen Aufsatz: ^^Handschriftliche Notizen
über den Commentar des Proklus zu den Elementen des Euklides** im Rhein.
Museum für Philologie (1863). Neue Folge XYIU, 132—135. Ebenda (1864)
XIX, 462 einen Aufsatz von Hultsch. Programme von Knoche, Herford 1862
und 1865 und von L. Majer, Tubingen 1875. *) Dieser Meinung ist Enoche
in seinen beiden Programmen. Vgl. Untersuchungen über des Proklus Dia-
dochus Commentar zu Euklids Elementen 1862, S. 14 und 21. Untersuchungen
über die neu aufgefundenen Scholien des Proklus Diadochus zu Euklids Ele-
menten 1865, S. 36 und 45.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 499
esse habe seinem ganzen Kommentare als Richtschnur gedient, der
kommt natürlich zur Vermutung, das yomehmliche Interesse des
Proklus müsse erschöpft gewesen sein, als es sich in dem erläuterten
Werke um wirklich geometrische Sätze und nicht mehr um Er-
klärungen, um Forderungen, um Grundsätze und Grundwahrheiten
handelte. Wer dagegen^) Proklus als Mathematiker anerkennt^ dem
es auf einen Versuch der Verbesserung des großen Meisters ankam,
einen Versuch, zu welchem er Vorarbeiten älterer Exegeten und selbst-
ständiger Geometer, eines Heron, eines Geminus, eines Ptolemäus,
eines Pappus, eines Theon verwerten konnte, ohne darum die pietäts-
Yolle Bewunderung dessen aus den Augen zu verlieren, den er mit
dem ganzen Altertume vorzugsweise den Elementenschreiber nennt,
wer dieser Meinung huldigt, kann nicht anders als auch für die auf
das I. Buch folgenden Bücher einen gleich vollständigen Kommentar
anzunehmen, muß den Verlust schmerzlich bedauern, mit welchem
ihm zugleich die reichste Quelle für die Geschichte griechischer Mathe-
matik verloren ging. Nicht viel anders wird die Meinung dessen sein,
der in dem Werke des Proklus ein Stück des Vorlesungsheftes sieht,
nach welchem derselbe in engstem Anschlüsse an die von ihm aufs
höchste bewunderten Elemente des Euklid seinen Schülern Mathematik
vortrug*). Wir selbst möchten in dieser persönlichem Dafürhalten
weiten Spielraum lassenden Frage nicht Partei ergreifen, wenn wir
auch mit der als zweite dargelegten Meinung uns besser als mit der
ersten oder der letzten befreunden können. Wir besitzen aber neben
dem fortlaufenden Kommentare des Proklus zum I. Buche der Ele-
mente nur kürzere, teilweise allerdings geschichtlich wertvolle Scholien
zu einzelnen Sätzen späterer Bücher und müssen wohl oder Übel uns
damit begnügen.
Was von eigenen Leistungen des Proklus hervorgehoben werden
kann, ist teilweise ziemlich dürftig^), teilweise läßt sich nicht mit
Bestimmtheit ermessen, ob Proklus der Erfinder oder nur der Be-
richterstatter ist. Ersteres dürfte höchst wahrscheinlich für ver-
schiedene Einwürfe gegen die euklidische aber auch gegen die ptole-
mäische Parallelenlehre der Fall sein*), so wie für die Entstehung der
') So L. Majer, Ptoklus über die Fetita und Aziomata hei Euklid 1875,
S. 29. Heiberg, Euklidstadien S. 166 Anmerkung 1 spricht sich dahin aus,
daß Proklus, wenn er den Kommentar fortgesetzt hat, die übrigen
Bücher eben so ausführlich wie das erste erläutert haben muß. Über die in
dem Zwischensätze als fraglich hingestellte Tatsache äußert Heiberg keinerlei
bestimmte Meinung, neigt aber jedenfalls mehr der Ansicht zu, Proklus habe
den Kommentar nicht fortgesetzt Vgl. Heiberg 1. c. S. 166—167. •) 6. van
Posch, Be Prodi fontibus. ») Knoche, Programm von 1862, 8. 16 flgg. *) Vgl.
Majers Programm.
82»
500 24. Kapitel.,
Ellipse als geometrischer Ort eines bestimmten Punktes einer ge-
gebenen Strecke von beständiger Länge, welche alle Lagen annimmt^
bei denen die beiden Endpunkte die Schenkel eines rechten Winkels
durchlaufen^).
Zu den Zeitgenossen des Proklus gehörte Domninos aus Larissa,
ein Schriftsteller über Arithmetik, der ohne wesentlich Neues zu
bringen sich guter älterer Quellenschriften bediente^).
Nach dem Tode des Proklus ging es auch mit der Universität
Athen entschieden abwärts. Es ist nicht unsere Aufgabe diesen Satz
allgemein zu begründen; aber eine bloße Nennung der Namen derer^
die als Schulvorstände auf Proklus folgten , und der mathematischen
Leistungen, welche von ihnen berichtet werden, genügt, die Wahrheit
desselben für unsere Wissenschaft festzustellen. Da erscheint zuerst
Marinus von Neapolis, einer Stadt, die man sich wohl hüten muß
mit Neapel zu verwechseln. Die Heimat des Marinus war vielmehr
Flavia Neapolis iil Palästina, das alte Sichem. Von Marinus ist uns
als Mathematisches nur eine Vorrede zu den euklidischen Daten be-
kannt. Noch bei Lebzeiten des Marinus und auf dessen eigenen
Wunsch ließ Isidorus von Alexandria sich bestimmen an seine
SteUe zu treten. Isidorus erfreute sich allerdings verhältnismäßig
großer Berühmtheit. Ihm ward ein Beiname zuteil, welcher über-
haupt nur zweimal, und, soviel ' bekannt ist, nur von zwei Schrift-
stellern einem griechischen Philosophen beigelegt worden ist'), der
Beiname des Großen. Der Verfasser des Sophisten, sei es, daß dieser
Dialog von Piaton oder von einem anderen herrühre, spricht von
Parmenides dem Großen, und Damascius, von dem wir gleich noch
zu reden haben, gleichfalls von Parmenides dem Großen, aber auch
von Isidorus dem Großen. Den Grund oder Ungrund dieser Aus-
zeichnung zu prüfen haben vrir nicht Veranlassung. Mathematische
Schriften des Isidorus kennen wir nicht, wenn auch dem Geiste der
neuplatonischen Schule nach nicht zu zweifeln ist, daß er gleich allen
anderen Schulhäuptem solche von höherem oder vermutlich von ge-
ringerem Werte verfaßt haben wird.
Neben der Athener Schule bestand auch eine solche in Alexan-
dria. Zu ihren Lehrern gehörte Ammonius, Sohn des Hermeias
und der Andesia, und unter seinen Schülern befanden sich so hervor-
ragende Gelehrte wie Simplicius, wie Johannes Philoponus. Ammo-
nius (natürlich nicht mit Ammonius Sakkus zu verwechseln) übte
*) Proklus (ed. Friedlein) pag. 106 lin. 12—15. ") Die Schrift des
Domninos hat J. F. Boissonade herausgegeben. Anecdota Graeca lY, 418 bis
429. ') Th. H. Martin, Sur Vepoque et Vauieur du prdtendu XV. Hvre des
elementa d'Euclide im BtUkttino Boncampagni 1874, pag. 263—266.
Die griecluBche Mathematik in ihrer Entartung. 501
eine reiche schriftstellerische Tätigkeit aus. Er verfaßte z. B. einen
Kommentar^) zu der Einleitung des Porphyrius zu Aristoteles (S. 457).
In diesem ist der Satz ausgesprochen^ die Zahl der Kombinationen zu
je zweien aus beliebig vielen Elementen werde gefunden^ wenn man
die Hälfte des Produktes der Elementenzahl in ihre um 1 verminderte
Anzahl nehme.
Der Schüler und, wie wir schon sahen, der jedenfalls dankbar
begeisterte Schüler des Isidorus war Damascius von Damaskus,
der etwa um das Jahr 510 die Schulvorstandschaft in Athen über-
nahm, nachdem Isidorus, mißmutig und verstimmt darüber seine Kräfte
einer verlorenen Sache zu widmen, sich nach Alexandria zurück-
gezogen hatte. Damascius soll, nach einer scharfsinnigen Vermutung,
der Verfasser des sogenannten XV. Buches der euklidischen Elemente
sein, welches man sonst auch als II. Buch des Hypsikles über die
regelmäßigen Körper zu bezeichnen pflegte. Wir haben (S. 358)
dieses Buch mit dem I. Buche des Hypsikles verglichen und sind zu
dem Ergebnisse gekommen, das U. Buch sei viel unbedeutender als
das I., mit welchem es nicht zusammenhänge. Im 7. Satze dieses
Buches spricht nun der Verfasser von seinem großen Lehrer Isi-
dorus^ und dieser Ausdruck gab eben die Veranlassung, die ihrer
Sprache nach unbedingt ziemlich spät verfaßte Abhandlung dem
Damascius zuzuschreiben. Ein scharfer Beweis dürfte allerdings in
dem einen Worte nicht zu finden sein, und ^be es, wie es den An-
schein hat, Scholien zu diesem sogenannten XV. Buche des Euklid,
die den gleichen Ursprung mit den sonstigen Scholien zu Euklid ver-
raten, die also auch von Proklus herrühren müßten, so wäre umge-
kehrt der Gegenbeweis gegen das Verfasserrecht des Damascius ge-
liefert, und die Abhandlung müßte von dem Schüler irgend eines
anderen Isidorus herrühren, welcher zwischen dem IV. und VI. S.,
weder viel früher noch keinenfalls später, gelebt haben möchte. Der
Name Isidorus ist ohnedies nichts weniger als selten, und aus dem
VI. S. selbst ist ein Baumeister Isidorus von Milet berühmt, der
in Gemeinschaft mit Anthemius von Tralles im Auftrage des
Kaisers Justinian den Prachtbau der Sophienkirche in Konstantinopel
herstellte. Isidor von Milet wird von dem Verfasser*) der neuesten
Untersuchungen über das sogenannte XV. Buch des Euklid für den
im 7. Satze desselben genannten Lehrer gehalten. Das Buch selbst
will er mit schwerwiegenden, aus der Verschiedenheit der Sprache
^) Diesen Kommentar hat A. Busse herausgegeben. Comment. in Aristot.
Gr. IV, 1. Berlin 1861 und IV, 3. Berlin 1891. ») 'lalSrngog 6 iiiUtBQog lUyag
MdenaXog, *) G. Kluge, De Euclidis elementarum libris qui fenmtwr XIV
et XV. Leipzig 1891.
502 24. Kapitel.
und des Inhalts hergenommenen Gründen in drei Abteilungen (Satz
1 — 5, Satz 6, Satz 7) von ebenso vielen Verfassern gespaltet wissen.
Von Anthemius von Tralles ist ein Bruchstück erhalten*), welches
sich mit der Herstellung von Brennspiegeln beschäftigt, sowohl mit
solchen, die aus einem Systeme ebener Spiegel zusammengesetzt sind,
als mit parabolisch gekrümmten. Ein weiteres Fragment dieser
Schrift des Anthemius dürfte 1881 entdeckt worden sein*). Ihm
entstammt die Angabe (S. 344), daß ApoUonius bereits über Brenn-
spiegel geschrieben habe.
Schüler des Isidorus von Milet war Eutokius von Askalon,
der mithin etwa in der zweiten Hälfte des VI. S. die Kommentare
zu verschiedenen Schriften des Archimed und zu den Kegelschnitten
des Apollonius verfaßte, eine Fundgrube für den Geschichtsforscher,
aus der wir gleich unseren Vorgängern zahlreiche Aufschlüsse ge-
wonnen haben, aber mathematisch unbedeutend. Wir haben ins-
besondere (S. 318) von einer Stelle über die Methoden der Quadrat-
wurzelausziehung bei den ältesten Mathematikern Gebrauch gemacht.
Ihr hätten wir auch den Satz entnehmen können, daß das Quadrat
einer ganzen Zahl selbst ganzzahlig, das Quadrat eines Bruches selbst
ein Bruch sei, woraus die Irrationalität der Quadratwurzel aus jeder
ganzen Zahl folgt, die nicht Quadratzahl ist^).
Wir kehren zu Damascius von Damaskus zurück. In ihm war*)
„noch einmal ein Mann des schroffsten antiken Heidentuuis'^ an die
Spitze der Schule getreten. Die Rückwirkung blieb nicht aus. Ge-
sinnungsgenossen eilten noch einmal herbei, unter ihnen Simplicius,
der Erklärer aristotelischer Schriften sowie der euklidischen Elemente
(S. 409), der neben Damascius lehrte und ein keineswegs gering zu
schätzender Mathematiker war, wie insbesondere aus seinem mit wert-
vollen eigenen Bemerkungen durchsetzten Berichte über frühe
Quadraturversuche (S. 202) hervorgeht. Aber auch die Feindschaft des
gekrönten Theologen, der als Kaiser Justiuian 527 den Thron be-
*) Abgedruckt in den von Westeimann herausgegebenen naQaioi6yQa(fiOi
(Scriptores rerum mirdbüium Graeci), Braunscbweig 1889, pag. 149 — 168. Em
älterer Abdruck mit Erläuterungen und französischer Übersetzung von Dupuy
in HisUnre de VAcadimie des InscripHons et des Beües-lettres T. 42 pag. 892 bis
461 der Mimoirea und pag. 72—76 der Histoire. Paris 1786. *) Chr. Beiger
in der Zeitschrift Hermes Bd. XVI, S. 261—284. M. Cantor und C. Wachs-
muth ebenda S. 637—642. Heiberg in der Zeitschr. Math. Phys. XXVHI.
Histor.-literar. Abtlg. S. 121—129. ») Archimed (ed. Heiberg) HI, 268 lin.
22—26. Vgl. Hultsch in den Nachrichten von der königl. Gesellschaft der
Wissensch. und der Georg-Augusts-Üniversität zu Göttingen vom 28. Juni 1893.
S. 370 Note 1. *) Hertzberg, Die Geschichte Griechenlands unter der Herr-
schaft der Römer UI, 636—646 über die letzte Zeit der Universität Athen.
Die griecliisclie Mathematik in ihier Entartung. 503
stiegen hatte^ war mit den Lehrern der Schule erworben. Schärfere
nnd schärfere Verordnungen gegen die Bekenner jeder Gattung von
Irrlehren folgten einander. Im Jahre 529 erging endlich ein all-
gemeines Verbot dagegen^ daß in Athen noch irgend jemand Philo-
sophie lehrte. Noch einige Jahre fristeten die letzten Lehrer der
geschlossenen Hochschule auf dem Boden von Hellas ein kümmer-
liches Dasein^ dann vollzogen sie eine freiwillige Selbstverbannung
nach dem Hofe des Perserkönigs Chosrau Anöscharwän.
Der Ruhm des ,^gerechten^^ Sassaniden hatte freilich die Wahr-
heit übertroffen. Damascius und seine Freunde fanden eine weit ge-
ringere Bildung der Hof kreise^ gröbere Unsitte des Volkes als sie
Termutet hatten, und als Chosrau 533 mit Justinian einen Frieden
abschloß^ der vorangegangenem dreißigjährigem Kriege ein Ziel setzte,
und in den Vertrag die ungehinderte Bückkehr der athenischen Ge-
lehrten mit aufnahm^ war niemand froher als diese die Heimat wieder
zu sehen.
Die athenische Schule aber war und blieb dahin. Da und dort
tauchen noch Schüler derselben auf^ welche selbst neue Schüler
bilden, Philosophen und Mathematiker, in letzterer Beziehung von
herzlich geringer Bedeutung. Dahin gehört vielleicht der von Eutokius
erwähnte Heronas, welcher einen Kommentar zum Nikomachus ge-
schrieben haben soll (S. 368); dahin mit Kommentaren zu eben dem-
selben Schriftsteller die beiden alexandrinischen Gelehrten Asklepius
von Tralles und dessen als Gh*ammatiker vorzugsweise berühmter
Schüler Johannes Philoponus, der, wie wir wissen (S. 500), neben
Simplicius auch zu den Füßen des Ammonius von Alexandria ge-
sessen hatte. Der Kommentar des ersteren ist nur handschriftlich,
der des zweiten auch im Drucke vorhanden ^\ entMlt aber kaum irgend
bemerkenswerte Stellen.
Johannes Philoponus ist vielfach durch die von Abulpharagius
berichtete Geschichte bekannt, er sei es gewesen, der 640 bei der
Einnahme Alexandrias durch die Araber für den Bestand der dortigen
Bibliothek sich verwandt habe. 'Omar aber habe deren Vernichtung
befoI\^en, denn „entweder enthalten die Bücher das, was im Koran
steht, dann brauchen wir sie nicht zu lesen, oder sie enthalten das
Gegenteil dessen, was im Koran steht, dann dürfen wir sie nicht
lesen'^, und nun sei während sechs Monaten die Feuerung der Bäder
Alexandrias mit den Bücherrollen der Bibliothek vollzogen worden.
Die zweimalige Zerstörung der Bibliotheken im Brucheion und im
^) Joannes Philoponus in Nicomachi introducHonem arühm. (ed. B. Ho che)
Heft 1. Leipzig 1864. Heft 2. Berlin 1867.
604 24. Kapitel.
Serapistempel hat aber gewiß nicht eine dritte großartige Bibliothek
in Alexandria entstehen lassen , am wenigsten eine so umfangreichoy
wie Abnlpharagins in der von ihm behaupteten Verwendung der
Bücher bezeugt, und so wird der ganze Bericht dieses auch unter
dem Namen Barhebräus bekannten den Arabern keineswegs günstig
gesinnten syrischen Christen des XIII. S. einigermaßen yerdachtig,
wenn auch andererseits nicht verkannt werden soll, daß Antwort
und Handlungsweise mit dem Charakter des zweiten Nachfolgers
Mohammeds wohl vertraglich sind, der in der Tat nach Unterwerfung
der Hauptstadt der Sassaniden die dort vorhandenen Bücher in den
Tigris werfen ließ und auch sonst sich bildungsfeindlich erwies^). Die
Erwähnung des Johann Philoponus gleichzeitig mit 'Omar ist aber
jedenfalls irrig, indem jener im Jahre 517 einen Kommentar zur
Physik des Aristoteles verfaßte, mithin keinenfalls 640 noch am
Leben gewesen sein kann.
Hier ist wohl die passendste Stelle, von dem Rechenbuche
von Ach mim (S. 59) zu reden, einem in Achmim, in einem kop-
tischen Grabe, aufgefundenen griechischen Papyrus, welcher nach der
Meinung des Herausgebers^) innerhalb der Zeit zwischen dem VL
und IX. Jahrhunderte von einem Christen geschrieben wurde. Die
Angabe läßt möglicherweise die Ergänzung zu, der Schreiber be-
ziehungsweise Verfasser sei ein griechisch schreibender Römer ge-
wesen. Jedenfalls war er in altagyptischer Rechenkunst erfahren und
zerlegte Brüche in Summen von Stammbrüchen, wie Ahmes es dritt-
halbtausend Jahre früher getan hatte. Der wesentliche und nicht
hoch genug zu schätzende Unterschied besteht darin, daß der Ver-
fasser des Rechenbuches zu Achmim die Vorschriften angibt, nach
welchen jene Zerlegungen vorgenommen wurden. Darunter ist die
Methode der durch Summenteile multiplizierten Faktoren
des Nenners besonders bemerkenswert. Als Formel geschrieben
heißt sie — = , — | j — und geht bei £f = 2 in die Formel
^- -. P' z
2
des Ahmes — — ^ -\ V- über (S. 67). Bei der oft auf-
^2 ^2
tretenden Möglichkeit verschiedenai*tiger Zerlegung ließ man sich,
wie der Herausgeber des Papyrus erkannt hat, von dem Gesichts-
') Schöll-Pinder, Griechische Literaturgeschichte m, 8. *) J. Baillet
in den M^moires publies par les Membres de Ja misaion ardteologique fran^aise
au Caire T. EX, Fascicnle 1, pag. 1—88 und 8 Tafehi. Paris 1892. Vgl auch
Zeitechr. Math. Phys. XXXVm. ffistor.-literar. A.btlg. S. 81-87 und Tannery
in der Bevue des J^tudes Grecques.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartang. 505
punkte leiten, Stammbrüche mit solchen Nennern zu wählen, die
nicht durch gar zu große Unterschiede voneinander abwichen. Von
289
den verschiedenen möglichen Zerlegungen von -.- zog man z. B.
289 111
gjg^ "^ 85 "*" 96 "^ 68 *^^^ anderen vor, weil 68, 85, 95 ziemlich nahe
beieinander liegen. Die eigentlichen Rechenaufgaben, bei deren Auf-
lösung die Stammbrüche in Anwendung treten, gehören meistens der
Regeldetri an, welche uns hier erstmalig bei einem in griechischer
Sprache schreibenden Verfasser begegnet. Bruchteile sind häufig auf
den Nenner 6000 zurückgeführt, was unzweifelhaft von der Münzein-
teilung herrührt, welche ein Goldstück {v6iii6(ia) 6000 Kupfermünzen
{Ismo) gleichsetzte^). Dieselbe Zurückführung auf Sechstausendstel
hat auch bei einem spätestens dem X. Jahrhunderte angehörenden
byzantinischen Scholiasten nachgewiesen werden können« und neben
ihr eine gleichfalls auf Münzeinteilung sich gründende Benutzung von
Brüchen mit dem Nenner 288; der Goldsolidus zerfiel nämlich in
288 Billonmünzen mit dem Namev tpöXki^g^,
Nach Eonstantinopel, wie seit 330 das alte Byzanz hieß,
noch bevor es die Hauptstadt des besonderen Reiches wurde, welches
man nach dem älteren Namen des Kaisersitzes das byzantinische zu
nennen pflegt, hatte Justinian ganz besonders Rechtsgelehrte, der
Zahl wie der Bedeutung nach überwiegend, berufen, aus deren Ver-
einigung eine Rechtsschule als Mittelpunkt einer dort ansässigen Ge-
lehrsamkeit entstand. Auch Mathematiker werden uns hier begegnen,
welche aber nur den Eindruck zu verstärken geeignet sind, den wir
schon erhalten haben, daß es in immer rascheren Sprüngen bergab
ging mit der einstmals so hoch emporgedrungenen griechischen
Wissenschaft, daß dann später für die Mathematik wie für benach-
barte Kenntnisreihen eine Pause im Niedergange wieder eintrat, daß
aber auch für jene späte Zeit — es handelt sich um das XIV. S. —
den Byzantinern nicht mehr nachgerühmt werden kann, als ein neuerer
Verteidiger ihrer Bildung für sie in Anspruch nimmt'), nämlich eine
erhaltende Tätigkeit ausgeübt zu haben. Man möchte, insbesondere
für die Zeit vom IX. bis zum XI. S., meinen, es seien die geistig
bedeutenderen Leute gewesen, die in der Fremde ihre Kenntnis der
griechischen Sprache und anderer Idiome dazu benutzten, Über-
setzungen der großen griechischen Matheinatiker anzufertigen, die
man zu Hause nicht mehr studierte, jedenfalls in meist uniruchtbarer
Weise studierte.
*) HultBch, Metrologie S. 888 (Berlin 1882). *) Ebenda S. 346. ») Deme-
trins Bik^las, Die Griechen des Mittelalters und ihr Einflnss auf die enro-
ptlische Cultnr (deutsch von W. Wagner), Gütersloh 1878.
506 24. Kapitel.
Wir verweilen einen Augenblick bei einer geodätischen Abhand-
lung, welche, seit sie 1572 in lateinischer Übersetzung des Barocius
bekannt wurde, für das Werk eines Heron des Jüngeren galt, den
man wohl in das YII. auch in das VÜI. S. zu setzen liebte. Gegen-
wärtig ist der griechische Text nebst einer französischen Übersetzung
leicht zugänglich^), und über Ort und Zeit der Entstehung ist kaum
ein Zweifel geblieben*). Die Örtlichkeit, auf welche die in der Ab-
handlung vorgenommenen Messungen sich beziehen, ist als die Renn-
bahn von Eonstantinopel erkannt worden, jene berühmte Rennbahn,
welche so oftmals zu großen politischen Versammlungen diente, von
wo aus meuterische Yolkshaufen sich in die Straßen der Hauptstadt
ergossen, Umwälzungen einleitend und vollendend. Vorkommende
Beobachtungen von Stemdistanzen haben femer zur Zeitbestimmung
führen könnten und haben ergeben, daß jene Geodäsie in Eonstan-
tinopel ziemlich genau im Jahre 938 gescbrieben worden sein muß.
Wie aber der Verfasser hieß, ob Heron, wie man sonst zu sagen
pflegte, ob anders, darüber ist nicht das Geringste bekannt, und viel-
leicht befreundet man sich am ersten dai&it, ihn mit uns als den
ungenannten Feldmesser von Byzanz zu bezeichnen. Wir haben
seiner Abhandlung (S. 164) ganz im Vorübergehen gedenken dürfen,
als in welcher ein sehr spätes Zeugnis für den Beweis der Winkel-
summe des Dreiecks von der Winkelsumme des Vierecks aus vorlag.
Wir möchten jetzt an eben diesen Beweis in dem Sinne erinnern, als
er für das Musterwerk des ungenannten Verfassers zur Vermutung
führt, dasselbe habe die Betrachtung des Vierecks überhaupt der des
Dreiecks vorangehen lassen. Welches Musterwerk aber ihm diente,
ist auf den ersten Anblick klar: kein anderes als das feldmesserische
Werk des Heron von Alexandria, der übrigens selbst genannt ist'),
und dessen Abhandlung über die Dioptra insbesondere man in der
Nachbildung nicht verkennen kann. Damit ist zugleich gesagt, daß
die Schrift des Ungenannten nicht schlecht ist. Wer so wenig wie
er von einem trefflichen Muster sich entfernte, konnte Unbrauchbares
nicht liefern.
Das gelang viel besser einem Michael Psellus. Dessen letzte
Schrift ist von 1092 datiert, er lebte also bis zum Ende des XI. S.
Er hatte den Beinamen Erster der Philosophen, ein Beiname, der
ihn nicht zu schmücken vermag, sondern nur den Zeitgenossen zur
*) Giodesie de Heron de Byzanct ed. Vincent. Notices et ext/raiU des
manuscrits de la bibliotf^que imperiale. Paris 1868. T. XIX, 2. partie. *) Die
abBohließenden Untersiichungen von Th. H. Martin in seiner häufig angefahrten
Abhandlung: Bedierches sur la vie et les ouvragea d' Heron d* Alexandrie. •) Geo-
däsie de Heron de Byzance (ed. Vincent) pag. 868.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 507
Unehre gereicht. Eine auf des Psellus Namen im XVI. S. gedruckte
Schrift aber die vier mathematischen Disziplinen rührt keinen-
falls im ganzen von ihm her, da die Astronomie sich selbst vom
Jahre 1008 datiert^ in welchem Psellus, wenn geboren, jedenfalls im
zartesten Kindesalter stand ^). Ob die auch einzeln herausgegebene
Arithmetik*) wirklich von Psellus herstammt, bedürfte noch be-
sonderer Untersuchung, aber man kann nicht behaupten, daß diese
Mühe sich lohnte. Die Einheit ist keine Zahl, sondern Wurzel und
Quelle der Zahlen. Einmal eine Zahl ist von der Zahl nicht ver-
schieden, wohl aber zweimal und dreimal die ZahL Zwei mal zwei
ist mit zwei und zwei gleichwertig, was bei anderen Zahlen nicht
vorkommt. Die Zahlen sind bald gerad, bald ungerad, bald zusammen-
gesetzt, bald einfach. * Die Primzahlen können mittels einer Sieb-
methode erkannt werden. Es gibt vollkommene, mangelhafte und
überschießende Zahlen. Zwischen den Zahlen gibt es Verhältnisse.
Zehn Analogien sind zu unterscheiden. Es gibt vieleckige Zahlen
und körperliche Zahlen. Das ist die ganze arithmetische Weisheit
des Psellus oder wer der Verfasser gewesen sein mag. Er wird sie
aus irgend einem NeupythagoriLer oder Neuplatoniker geschöpft haben.
Vermehrt hat er sie keinesfalls, auch nicht um den Schatten eines
eigenen Gedankens.
In der geometrischen Abteilung, wenn diese echt sein sollte, sagt
uns Psellus'*), es gebe unterschiedene Meinungen, wie des Kreises In-
halt zu finden sei. Am meisten Beifall habe die Gleichsetzung des
Kreises mit dem geometrischen Mittel zwischen dem eingeschriebenen
und dem umschriebenen Quadrate, d. h. zwischen 2r* und 4r*, ge-
funden. Hier ist also n = ]/8 = 2,8284271 . . . gesetzt, und der Bei-
fall des Zustimmenden kennzeichnet seine Unwissenheit. Hätte er
wenigstens von dem arithmetischen Mittel jener beiden Quadrate ge-
sprochen, so wäre darin eine Erinnerung an das uralte ?r » 3 ent-
halten!
Von großer geschichtlicher Bedeutung, welche allerdings erst
in unserem II. Bande im 57. Kapitel hervortreten wird, ist ein Bruch-
stück des Psellus*), worin den Namen, deren sich Diophant (S. 470)
für die aufeinander folgenden Potenzen der Gleichungsunbekannten
bediente, andere gegenüber gestellt sind. In dieser zweiten Reihe
von Ausdrücken heißt die 5. und die 7. Potenz der unbekannten
Größe akoyoQ itQcbrog und äXoyog deiirsgog, irrational weil, wie aus-
/) Tannery in Zeitachr. Math. Phys. XXXVII, ffistor.-literar. Abtlg. S. 41.
") WiXXov x&v «€pi &Qi»^rtti%i^9 c^vn^ii- Paris 1538, 4^ lag uns vor. *) Kästner,
Geschichte der Mathematik I, 281—282. *) P. Tannery, Psellus sur Diophant^
in Zeitschr. Math. Phys. XXXVH. Histor.-literar. Abtlg. S. 41—46.
508 24. Kapitel.
drücklich hinzugesetzt ist, eine solche Potenz weder Quadrat noch
Kubus ist.
Es trat eine geistige Versumpfung ein, die als natürliche Be-
gleiterin der steten Palastrevolutionen zu betrachten ist, von welchen
die Geschichte des byzantinischen Reiches wimmelt. Auch die Kreuz-
Züge, um 1100 beginnend, brachten diesen inneren Unruhen keinen
Stillstand, brachten ebensowenig neue Bildungselemente, und als 1204
die Unordnung aufs höchste gestiegen war, rückte das lateinische
Kreuzheer, Franzosen und Venetianer, vor Konstantinopel, eroberte
am 12. April die Stadt und hauste fdrchterlich, mit Raub und Brand
ganze Viertel zerstörend. Es entstand unter Teilung des Reiches in
Konstautinopel ein lateinisches Kaisertum, welches bis 1261 dauerte.
Dann kehrte ein eingeborener Fürst Michael Palaeologos, mit genue-
sischer Hilfe zurück, bemächtigte sich der Herrschaft, und unter den
Palaeo logen kam im ersten Viertel des XIV. S. für unsere Wissen-
schaft eine neue Anregung zustande^).
Georgios Pachymeres (1242 bis um 1310) verfaßte ein Werk
über das Quadrivium, dessen zweites Buch (Musik) und Bruchstücke
des vierten Buches (Astronomie) veröffentlicht sind*).
Nikephoros Gregoras (1295 bis kurz nach 1359) besaß das
Vertrauen des Kaisers Andronikos II. Palaeologos (1282 — 1328), dem
er eine Kalenderreform vorschlug, die der Kaiser jedoch wegen der
Schwierigkeit, die anderen Völker zur Annahme zu bewegen, ablehnen
zu müssen glaubte.
Im Jahre 1322 wurde von unbekanntem Übersetzer eine grie-
chische Bearbeitung eines persischen astronomischen Werkes angefertigt,
als dessen Verfasser Zafiil; (lütovxaQrjg genannt ist, eine Verketzerung,
in welcher «man Schamsaldin von Bukhara wiedererkannt hat,
wahrscheinlich denselben Astronomen, der unter dem Namen
Schamsaldin von Samarkand vermutlich im Jahre 1276 ein
Büchlein über die Fixsterne in persischer Sprache geschrieben hat,
und der seinen Aufenthalt wechselnd in Samarkand und Bukhara
gehabt haben mag.
Nun folgten sich ziemlich rasch weitere byzantinische Bearbei-
tungen persischer Schriften, mittelbare Abflüsse des im griechischen
Texte nahezu vergessenen Almagestes, welcher selbst die vorzüg-
*) Vgl. üsener, Äd historiam astranomiae symhoJa, Bonner üniverBitÄts-
programm zur Geburtstagsfeier Kaiser Wilhelm I. am 22. MSxz 1876. Krum-
b ach er, Geschichte der Byzantinischen Litteraturgeschichte (2. Aufl., München
1897) S. 289, 294. •) Vincent in den Notices et extraits XVI« (Paris 1847).
Martin, Theonis Stnymaei Über de astronomia (Paris 1849).
Die griechiBche Mathematik in ihrer Entartung. 509
liebste Quelle persischer Gelehrsamkeit bildet. Chioniades tob
Konstantinopel, welcher jedenfalls vor 1346 lebte, Georg Chry-
sococces im Jahre 1346 selbst, Theodorus Meliteniota, wie es
scheint unter der Regierung des Kaisers Johannes Palaeologos 1361
lebend, der Mönch Isaak Argyrus vor 1368, das sind die Haupt-
vertreter persisch-griechischer Astronomie. Der letztgenannte schrieb^)
auch eine handschriftlich gebliebene Geodäsie und Scholien zu den
ersten sechs Büchern der euklidischen Elemente. Und nun tritt in
der zweiten Hälfte des XIY. S. ein neuer Umschlag ein. Mit Niko-
laus Cabasilas begiimt ein Geschlecht von Gelehrten, welche auf
Ptolemäns selbst zurückgreifen und so die Wiedergeburt klassischer
Wissenschaft in Europa vorbereiten. Während auf astronomischem
Gebiete die hier kurz geschilderte Bewegung sich vollzog, war es
kaum möglich, daß die Mathematik unberührt geblieben wäre, und
wirklich haben wir Isaak Argyrus als mathematischen Schriftsteller
nennen müssen. Neben ihm treten im XIY. S. noch andere auf, zu
welchen wir uns jetzt wenden. Der Hauptsache nach ist ihre Tätig-
keit fi'eilich als bloße Kompilation aufzufassen. Höchstens Einer
könnte eine Ausnahme bilden, für welchen die Urquelle seines Wissens
wenigstens nicht nachzuweisen ist. Ein Vorzug, der ümen insgesamt
zukommt, besteht darin, daß sie nicht mit breitgetretenen Stoffen
sich abmühen, wie es die früheren Byzantiner taten, sondern solche
Gegenstände wählten, die hier in griechischer Sprache zum ersten
Male erscheinen.
Barlaam"), ein in Calabrien geborener Mönch, der längere Zeit
als Abt in Konstantinopel lebte, dann als Bischof von Geraci im
neapolitanischen Gebiete nach Italien zurückkehrte und dort 1348
starb, ist hauptsächlich durch die wechselvolle Stellung bekannt, welche
er in dem Streite zwischen der abendländischen und der morgen-
ländischen Kirche einnahm. Von mathematischen Schriften verfaßte
er in griechischer Sprache arithmetische Erläuterungen zum zweiten
Buche des Euklid, welche mit lateinischer Übersetzung 1564 in Straß-
burg gedruckt sind, und 6 Bücher Logistik, denen zweimal, 1592 in
Straßburg und 1600 in Paris, die Ehre des Druckes widerfuhr. In
dieser Schrift wurde in mühseliger Weise die Rechenkunst an
') Nach Montucla, Histoire des mathimatiquea l, 845. ') Montucla,
Histoire des mathematiques I, 844 und v. Jan in Wisowas Enzyklopädie 8.
V. Barlaam. Nach Wolfs Mathematischem Lezicon (Auflage 1716 S. 177, Auf-
lage 1784 S. 1141) hat Jo. (?) Chambers auf Anraten des Savilius Barlaams
Logistik ins Lateinische übersetzt und 1609 mit Anmerkungen herausgegeben.
Unsere Bemerkung über den Inhalt der Logistik stammt aus Montucla. Uns ist
das Werk noch nie zu Augen gekommen.
510 24. Kapitel.
ganzen Zahlen, an gewöhnliclien Brüchen nnd an Sexagesimalhrüchen
gelehrt.
Johannes Pediasimus, auch Galenns, yaXrjvög = der Heitere,
genannt, war Siegelbewahrer des Patriarchen von Eonstantinopel wah-
rend der Begierungszeit von Andronikos III. Palaeologos 1328 — 1341.
Von ihm sollen handschriftlich, außer literär-kritischen Schriften,
Bemerkungen zu einigen dunkeln Stellen der Arithmetik und eine
Abhandlung über Würfelverdoppelung vorhanden sein. Seine Geo-
metrie ist im Druck erschienen^). Man kann das Urteil über die-
selbe kurz dahin fassen, daß Pediasimus sich ganz ähnlich wie jener
unbekannte Byzantiner des X. S. eng an Heron von Alexandria an-
schließt. Nur daß jener, wie wir gesagt haben, die praktisch-feld-
messerische Abhandlung über die Dioptra als Vorbild benutzte,
während Pediasimus sich an die rechnende Geometrie des Heron hält,
wie sie in den als Geometrie und als Geodäsie betitelten heronischen
Schriften vertreten ist. Die Anlehnung ist eine so enge, daß mit-
unter Pediasimus dazu dienen kann Stellen des Heron zu erläutern.
Maximus Planudes') gehört einer etwas früheren Zeit an. Er
lebte etwa 1260 — 1310, wurde jedenfalls ÖO Jahre alt. Ein aus Ni-
komedien stammender Mönch und besonders durch seine Kenntnisse
in lateinischer Sprache und Literatur berühmt, vertrat er 1296 den
Kaiser Andronikos H. als Gesandter in Venedig. Maximus Planudes
hat einen Kommentar zu den ersten Büchern des Diophant verfaßt,
der uns erhalten ist'), und als Beweis (S. 467) benutzt wurde, daß
die Gestalt, in welcher ihm diese Bücher vorlagen, in keiner Weise
von der heutigen Gestalt abwich. Maximus Planudes ist in diesem
Kommentar mit weiser Vorsicht allem aus dem Wege gegangen, was
der Erläuterung wirklich bedurft hätte, und hat sich nur bei Selbst-
verständlichem aufgehalten. Wir haben femer (S. 461) der griechi-
schen Anthologie gedacht, welche Maximus Planudes aus früheren
Sammlungen auszog, und in welcher auch algebraische Epigramme
sich vorfanden. Wir haben es jetzt mit einer Schrift zu tun, die den
widerspruchsvollen Namen Markenlegung nach Art der Inder,
jl>Yiq)otpoQCa xat^ ^Ivdovg^ führt und gemeiniglich das Rechenbuch
des Maximus Planudes*) genannt wird. Der Verfasser beginnt
') Die Geometrie des Pediasimus (griechischer Text) herausgegeben von
G. Fried lein als Herbstprogramm der Studienanstalt Ansbach fnr 1866. Die
allgemeinen Notizen über den Verfasser entnehmen wir der Friedleinschen Ein-
leitung, in welcher die wünschenswerten Verweisungen sich finden. *) Erum-
b ach er, Gesch. der Byzant. Litteraturgeschiohte S. 548 flg. ") Er ist lateinisch
abgedruckt in Xylanders gleichsprachiger Diophantübersetzung. Basel 1571,
griechisch in Tannerys Diophantausgabe II, 125 — 255. ^) Eine griechische
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 511
mit den Worten: ;,Da die Zahl das Unendliche umschließt, aber eine
Erkenntnis des Unendlichen nicht möglich ist, so haben hervorragende
Denker unter den Astronomen eine Methode gefunden, wie man Zahlen
beim Gebrauch übersichtlicher und genauer darstellen kann. Solcher
Zeichen gibt es nur neun und zwar folgende ^) 12345678 9.
Man fQgt auch ein andres Zeichen hinzu, was Tziphra genannt wird
und bei den Indem das Nichts darstellt. Auch jene' neun Zeichen
stammen yon den Indem. Die Tziphra wird folgendermaßen ge-
schrieben 0.'^ Hier ist also zum ersten Male im XIV. S. das indische
Zifferrechnen nach Byzanz gedrungen, wie wir später sehen werden
mindestens 200 Jahre nachdem es auf anderem Wege bereits zur
Kenntnis des westlichen Europas gekommen war, wo die sogenannten
Algorithmiker in Spanien, in England, in Deutschland, in Frankreich
mit den Abacisten ringen, um sie seit Anfang des XIIL S. siegreich
zu yerdnmgen. Wir könnten in der uns hier gegenübertretenden
fremdländischen Kunst eine Hindeutung finden, daß wir mit Unrecht
auch diese späte Zeit in dem der griechischen Mathematik gewid-
meten Abschnitte behandeln, wenn uns nicht umgekehrt gerade das
so späte Auftreten, welches wir soeben betonten, darin bestärkte, daß
wenigstens verhältnismäßige Abgeschlossenheit der griechisch schrei-
benden Mathematiker gegen im beginnenden Mittelalter allerwärts
sich verbreitende Einflüsse stattfand, und daß sie somit hinter ihrer
Zeit stehend und darum ohne Ei|iwirkung auf dieselbe nur als Ver-
treter einer selbst sich verspätenden Nationalität erscheinen. Der In-
halt des Rechenbuches des Maximus Planudes bedarf dagegen hier
keiner auf das eigentlich indische Verfahren eingehenden Erörterung.
Die Bemerkung muß uns genügen, daß Addieren und Subtrahieren,
Multiplizieren und Dividieren an ganzen Zahlen, dann an Sezagesimal-
brüchen gelehrt wird nach Methoden und unter Anwendung von
Proben, von welchen wir an anderem Orte zu reden Gelegenheit
nehmen. Es folgt alsdann noch die Quadratwurzelausziehung und
zwar auf folgende Weise: „Nimm die Quadratwurzel der nächst-
niedrigen wirklichen Quadratzahl und verdoppele dieselbe; dann
nimm von der Zahl, deren Wurzel du suchst, das gefundene nächst-
niedrige Quadrat weg, und dem Reste gib als Nenner die aus der
Textausgabe hat C. J. Gerhardt veranstaltet. Halle 1865. Eine deutsche Über-
setzung TOD H. Waescbke erschien Halle 1878. Die allgeineinen Notizen über
Maximus Planudes entnehmen wir der Gerhardtschen Einleitung. Die deutsche
Fassung einzelner Sätze ist bis auf geringe Änderungen, die wir für nötig hielten,
der Wae 8 chk eschen Übersetzung entlehnt.
^ Die von Maximus Planudes gebrauchten Zeichen vgl. auf der hinten an-
gehefteten Tafel.
512 24. Kapitel.
Verdoppelung der Wurzel gefundene Zahl. Z. B. wenn 8 das Doppelte
der Wurzel wäre, so nenne den Best Achtel, wenn 10 Zehntel usw.
Willst du z. B. 18 als Quadrat darstellen und die Wurzel suchen, so
nimm die Wurzel der nächstniedrigen Quadratzahl also von 16. Sie
ist 4. Verdopple dieselbe, ist 8. Nimm 16 Ton 18, bleibt 2. Diese
nenne (nach 8) Achtel und sage so: die Seite des Quadrates 18 ist 4
und 2 Achtel, 2 Achtel ist aber gleich einem Viertel, also ist die
Seite auch 4 und ein Viertel.'' Nun zeigt der Verfasser, daß
4-^ • 4y = ISjß ist, wobei, wie durch den Wortlaut unserer Über-
setzung angedeutet worden ist, Brüche nicht in Zeichen, sondern nur
mit Worten geschrieben werden. Die Methode sei daher nicht ganz
richtig. „Welche Methode aber die genauere und der Wahrheit
nähere fst, die ich zugleich als meine mit Gottes Hilfe gemachte Er-
findung in Anspruch nehme, das. wird in der Folge gesagt werden.*'
Die vorher gelehrte Methode muß jedenfalls nach des Verfassers
Meinung die indische sein, denn er spricht nachher von der indischen
Methode, wie von einer bereits vorgetragenen^), während nur diese
Auseinandersetzung und die geometrische Begründung ihrer nicht
genau zutreffenden Richtigkeit vorausgegangen ist, bevor er an die
eigene Methode gelangt, welche er nochmals mit wahren Posaunen-
stößen ankündigt: „Es ist nun an der Zeit, daß wir die Methode,
die wir selbst erfunden haben, und die nur weniges vom wahren
Werte abweicht, vorlegen." *
Worin besteht diese eigene Methode? Darin, daß die Zahl,
aus welcher die Wurzel gezogen werden soll, vorher durch Multipli-
kation mit 3600 in Sekunden verwandelt wird, worauf die Wurzel
in der Gestalt von Minuten sich zeigt! Damit brüstet sich ein Leser
von Theons Kommentar zum Almagest, der als solcher sich ausdrück*
lieh zu erkennen gibt, indem er zugesteht, seine Methode sei doch
umständlich, wenn es um recht große Zahlen sich handle, wie um
die Zahl 4500, aus welcher Theon die Wurzel zu ziehen habe. Als-
dann könne man aus der indischen Methode, aus der des Theon und
aus seiner eigenen folgende Mischmethode bilden. Zunächst sucht
er jetzt die nächste ganzzahlige Wurzel 67 und verschafft sich den
Rest 4500 — 67* =-11. Diese 11 Ganze werden als Minuten zu 660,
und durch 2 • 67 = 134 geteilt entstehen 4' als Quotient. Der neue
Rest 660 — 4 • 134 = 124' wird in Sekunden verwandelt und da-
durch zu 7440, wovon 16" d. h. das Quadrat von 4' abgezogen
wird. Der neue Rest besteht aus 7424". In ihn dividiert man mit
^) ^Etiga (id^odog (tiyiux olca tfjg tB 'Iväixfig xal tov Binvog xal tf^g i^ftc-
zigag (ed. Gerhardt) pag. 45 lin. 3.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 513
dem Doppelten von 67« 4' d. h. mit 60 • 134 + 2 • 4 = 8048', nach-
dem man ihn selbst in 60 • 7424 » 445 440'" verwandelt hat. So
erscheint der Quotient 55", und mit ihm ist die Wurzel zu 67® 4' 55"
ergänzt, und zwar, wie, der Vergleich mit dem (S. 494) von uns ge-
gebenen Auszuge aus Theon zeigt, genau in der von diesem gelehrten
Weise, nur mit dem Umwege über die Eselsbrücke eingeschalteter
Multiplikationen mit 60 vor Ausführung der die Teikiffem der
Wurzel liefernden Divisionen, die einzige Beimischung, deren Maximus
Planudes sich rühmen kann.
Sind aber das die großen Gedanken eines Schriftstellers, der
,,sich vorgenommen hat über das zu handeln, was zur astronomischen
Rechnung gehört'^ ^), so ist kaum anzunehmen, daß ebendemselben
zwei Aufgaben eigentümlich sein sollten, mit welchen unmittelbar
nach Auseinandersetzung der letzterwähnten Methode zur Quadrat-
wurzelausziehung das Rechenbuch abschließt. Die zweite Aufgabe
ist die uns schon bekannte, ein Rechteck zu finden, das einem anderen
Rechtecke am Umfange gleich, an Inhalt ein Vielfaches desselben
sei. Die Auflösung wird in Worten gelehrt, welche in eine Formel
umgesetzt w — 1 und v? — n als die Seiten des einen, v? — \ und
n^ — n^ ab die Seiten des nmal so großen Rechtecks bezeichnen.
Bei n = 4 entstehen die Seiten 3 und 60, beziehungsweise 15 und
48, welche wir auch im Buche des Landbaues (S. 484) fanden. Die
erste Aufgabe ist eine heute gleichfalls sehr bekannte, da sie in
ziemlich allen Aufgabensammlungen Platz gefunden hat. Eine Summe
Geldes soll dadurch in lauter gleiche Teile zerlegt werden, daß der
erste Teilhaber 1 Stück und den nten Teil des Restes, der zweite
alsdann 2 Stück und den nten Teil des Restes, der dritte hierauf
3 Stück und den nten Teil des Restes erhalte, und dieses Gesetz
der Bildung der Teile bis zum letzten festgehalten bleibe. Als
Auflösung wird (n — 1)' als die zu teilende Summe, w — 1 als die
Zahl der Teilhaber erklärt. Zunächst ist freilich n = 7 gesetzt,
doch ist ausdrücklich die Allgemeinheit der Auflösung hervorgehoben,
und als Andeutung wie die Auflösung gefunden werde, der Satz be-
merklich gemacht, daß immer a* — 1 = (a — 1) • (a + 1) sei. Es
würde wohl einer besonderen Untersuchung wert sein, Spuren auch
dieser Aufgabe zu verfolgen.
Später als Maximus Planudes lebte Nikolaus Rhabda von
Smyrna mit dem Beinamen Artabasdes*). Er schrieb 1341 (wie
man aus einer auf dieses Jahr sich beziehenden Osterrechnung zu
^} 'En%l dh mg iv eUdsi, ytsgl t&v 6viißocXlo(idvaiv slg tov äetigav i^T}qpov äuld-
ßofuv (ed. Gerhardt) pag. 29, letzte Zeile. *) Schöll-Pinder, Geschichte der
Caktob, G«8ohlohte der Mathemstik I. S. Aufl. 88
514 24. Kapitel.
entnehmen imstande ist) an einen Theodor Tschabuchen von
Klazomenä einen Brief über Arithmetik^), welcher aus einer Hand-
schrift der Pariser Bibliothek herausgegeben ist^. Fast das Be-
merkenswerteste an ihm besteht darin, daß an dessen Schlüsse eine
Sammlung yon Beispielen das erste uns bekannte Vorkommen der
Wortverbindung politische Arithmetik') bietet. Es sind Auf-
gaben, welche mittels Regeldetri gelöst sind. Außerdem kann noch
hervorgehoben werden, daß für die Ausziehung von Quadratwurzeln
die Näherungsregel )/a* + 6 = öt + - ausdrücklich ausgesprochen
ist. Wir haben es hier mit einer andern Schrift des Bhabda zu tun,
mit der mehrfach, zuletzt in Gemeinschaft mit dem eben erwähnten
Briefe gedruckten Abhandlung über das Fingerrechnen^), exfpQaöi^g
tov öaxtvkLxov iiivQov. Wir haben gesehen (S. 130), daß bei den
griechischen Zeitgenossen des Lustspieldichters Aristophaues etwa um
420 y. Chr. das Fingerrechnen in Übung war. Wir haben keinerlei
Grund anzunehmen, es sei jemals ganz in Vergessenheit geraten,
aber doch ist die Darstellung des Rhabda die einzige in griechischer
Sprache, in welcher formlich gelehrt wird, was meistens durch münd-
liche Überlieferung sich fortgesetzt haben mag. Bhabda schildert
aufs ausführlichste, wie man durch Beugung der Finger die einzelnen
Zahlen darstellen solle. Die Finger der linken Hand dienen zur Be-
zeichnung der Einer und Zehner, die der rechten zur Bezeichnung
der Hunderter und Tausender, und zwar ist die Aufeinanderfolge des
Stellenwertes, wenn wir so sagen dürfen, von links nach rechts der-
art festgehalten, daß der kleine Finger, der Ringfiuger und der
Mittelfinger der linken Hand für die Einer, Zeigefinger und Daumen
der Linken für die Zehner in Bewegung gesetzt werden, Daumen
und Zeigefinger der Rechten für die Hunderter, und endlich die drei
letzten Finger der Rechten für die Tausender. Wir brauchen viel-
griechischen Literatur lU, 845 stellt die ungeheuerliche Vermutung auf, Arta-
basdes sei vielleicht aus abcunsta entstanden.
^) Gerhardts Einleitung zu seiner Ausgabe des Kechenbuchs des Mazi-
mus Planudes S. XU, Anmerkung. *) Notice 8ur les deux lettres arMmSUques
de NicöUu Ehäbdas (texte grec et traductian) par M. Paul Tannery. Extrait
des Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothique nationdk etc. Tome
XXXII, 1» Partie. Paris 1886. ^ iti^odog TCoUtixAv XoyaQtaciiSbv. *) Ein
Abdruck z. B. in Nicolai Caussini de eloquentia Sitcra et humana libri XVI.
Lib. IX, cap. Vni, pag. 666 sq. Cöln 1681. Vgl. auch Rödiger, Ueber die
im Orient gebräuchliche Fingersprache für den Ausdruck der Zahlen, im Jahres-
bericht der deutsch, morgenländ. Gesellsch. für 1846—46 und H. Stoy, Zur
Geschichte des Rechenunterrichtes l. Theil (Jenaer Inaugural- Dissertation von
1876} S. 86 flgg.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 515
leicht nicht einmal hervorzuheben , wie sich in dieser Reihenfolge
eine Übereinstimmung mit früheren Bemerkungen unserer Einleitung
(S. 6 — 7) zu erkennen gibt. Es können also mittels beider Hände
sämtliche Zahlen von 1 bis 9999 bezeichnet werden, vollauf aus-
reichend für den gewöhnlichen Gebrauch und in Übereinstimmung
mit der Sprachgewohnheit der Griechen, für welche 10000 das
äußerste einfache Zahlwort darstellt.
Manuel Moschopulus ist wegen einer Anleitung zur Bil-
dung von Quadratzahlen^) zu nennen. Dieser ungemein vielseitig
gebildete Gelehrte war Schüler und Freund des Maximus Planudes
und stand in schriftlichem Verkehr mit Kaiser Andronikos 11. Palae-
ologos (1282 — 1328), wodurch seine Lebenszeit ziemlich genau be-
stimmt ist. Manuel Moschopulus hat, Bitten wir, die Bildung von
Quadratzahlen gelehrt, d. h. er hat gezeigt, wie man magische
Quadrate herstelle, wie man die Zahlen von 1 bis zu irgend einer
Quadratzahl n? in ebensoviele schachbrettartig geordnete Felder ver-
teile, so daß die Summe der Zahlen in jeder Längsreihe, wie in jeder
Querreihe und auch in den beiden Diagonalreihen stets dieselbe werde,
natürlich ^^-y— , da die Zahlen
1 + 2 + 3 + ...+«»== (nMil)n^
in n gleichsummige Reihen geordnet sind. Wenn wir sagten, Moscho-
pulus habe die Herstellung des magischen Quadrates für irgend eine
Quadratzahl n^ gelehrt, so müssen wir von dieser Behauptung einen
Teil wieder zurücknehmen. Nur zwei HauptiUlle sind erhalten, der
eines ungeraden n und der eines geradgeraden n, d. h. wenn n von der
Form Am ist. Der dritte noch übrige Fall eines geradungeraden n,
d. h. wenn n von der Form 4m + 2 ist, fehlt in der uns erhaltenen
Handschrift, es ist aber kaum zweifelhaft, daß Moschopulus auch ihn
in einer verlorenen Schlußbetrachtung behandelt haben wird, wie er
es zum voraus angekündigt hat»). Er hat dabei einen Gedanken und
ein Wort benutzt, welche in der modernen Mathematik eine bedeut-
same Rolle spielen, bei Moschopulus aber zuerst aufgefunden worden
sind. Wir meinen den Ausdruck „Herumzählung im Kreise"'),
^) S. Günther, Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathe-
matischen Wissenschaften. Leipzig 1876, Cap IV, Historische Studien über die
magischen Quadrate. Der Abdruck des griechischen Textes des Moschopulus
nach einer Münchener Handschrift des XV. S. findet sich S. 195—208, dessen
Diskussion S. 208—212. Vielfache kritische Bemerkungen zum Texte von
A. Eberhard in der Zeitschrift Hermes XI, 484 ^gg, Erumbacher S. 546—548.
•) Günther 1. c. pag. 197 lin.2— -5. •) Günther pag. 198, wo auch in einer
Note auf die Wichtigkeit der in diesem Ausdrucke enthaltenen Anschauung auf-
merksam gemacht ist.
38*
516 24. Kapitel.
&gjt€Q ivaxvxXovvrsg, wo ein Kreis eigentlich gar nicht vorhanden
ist, sondern an das gedacht werden maß, was man gegenwartig zyk-
lische Anordnung, zyklische Yertauschung und dergleichen zu nennen
pflegt. Es will uns recht zweifelhaft erscheinen, ob wirklich Moscho*
I^ulus selbst der Erfinder der Methoden zur Auflösung der nichts
weniger als leichten zahlentheoretischen Aufgabe war. Wenn er auf
Andringen des Rhabda die Niederschrift vollzog, so ist damit keines-
wegs gesagt, daß er Eigenes niederschrieb, und die Gesellschaft, in
welcher wir Moschopulus zu nennen hatten, gibt keinenfalls der Ver-
mutung Unterstützung, einen besonders geistreichen Erfinder mathe-
matischer Dinge hier anzutreffen. Dazu kommt, daß uns ein Anfang
fast magischer Quadrate bei Nikomachus (S. 438) begegnet ist, daß
jedenfalls im X. S. magische Quadrate eine geheimnisvolle Bolle
innerhalb der arabischen Philosophensekte der sogenannten laute-
ren Brüder spielten^), daß insbesondere die Quadrate mit 9, 16, 25,
36, 64 und 81 Feldern denselben bekannt waren, daß also sicherlich
damals schon eine Methode vorhanden gewesen sein muß solche zu
bilden.
Die Zeit griechischer Mathematik, wir wiederholen es zum
letzten Male, und man wird uns am Schlüsse dieses Kapitels gern
glauben, war vorbei. Wenn im XV. S. die vor dem Osmanentum
fliehenden letzten Byzantiner Handschriften altklassischen Wertes mit
sich fahrten, deren Kenntnis im Abendlande zündend auf die Geister
wirkte und jene glanzende Flamme entfachte, bei deren Scheine die
Meisterwerke der Renaissance entstanden, so haben die Byzantiner
selbst daran nicht mehr noch weniger teil als Insekten, welche wert-
vollen Blütenstaub mit sich führen, während sie an dem Orte der
Befruchtung sich verkriechen. Wie es aber kam, daß die Griechen
ihre durch Jahrhunderte bewährte mathematische Kraft verloren, das
ist eine Frage, zu deren Erörterung weitläufigere Auseinandersetzungen
nötig wären, als sie hier im Vorübergehen möglich und gestattet
sind. Eine Einwirkung politischer Verhältnisse wird ebensosehr an-
genommen werden müssen, wie eine weiter und weiter abseits
führende Verschiebung des wissenschaftlichen Interesses. Theologie
und Jurisprudenz hatten in den Zeiten des Verfalles unserer Wissen-
schaft sich vorgedrängt. Die letztere insbesondere war die bevorzugte
Wissenschaft der nüchtern Denkenden geworden, und daß dem so
war, dazu waren wieder politische Verhältnisse die Veranlassung.
Die philosophischen Griechen waren die Untertanen eines fremden
^) Dieterici, Die Propädeutik der Araber im X. Jahrhundert S. 42 flgg.
Berlin 1865 und Günther 1. c. S. 192 flgg.
Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 517
Reiches gewordeii, dessen Gepräge sich auch ihnen um so deutlicher
aufdrückte, je näher ihnen der Mittelpunkt des Reiches rückte. Die
geistige Aufgabe dieses Reiches war eine andere. Ihm war es be-
schieden; die Rechtswissenschaft zu begründen. Seine leitenden Ge-
danken gab aber ein anderes Volk als die Griechen an^ ein Volk,
welches der Mathematik gegenüber gerade den höchstens erhaltenden
Charakter an den Tag legte, den wir seit den Neuplatonikem
deutlicher und deutlicher sich offenbaren sahen: das Volk der Römer.
IV. Römer.
25. Kapitel.
Älteste Rechenkunst nnd Feldmessung.
Wenn wir die beschichte der Mathematik; wie sie auf italieni-
schem Boden geworden ist, zum Gegenstande unserer Untersuchung
machen; so müssen wir fast mehr als bei anderen Schauplätzen
menschlicher Gesittung uns hüten Verschiedenartiges durcheinander
zu mengen. Der Süden Italiens ist es gewesen, wo die hellenische
Bildung des Pythagoräismus ihre Blüte hatte. Das geographisch
von Italien nicht zu trennende Sizilien hat die mächtige Eüstenstadt
Sjrakus entstehen sehen^ und es ist ein halbwegs berechtigter Na-
tionalstolz italienischer Gelehrter^ wenn sie Pjthagoras und Archi-
medes ihre Landsleute nennen. Aber freilich mehr als nur halb-
berechtigt können wir diese Ansprüche auf den Ruhm der größten
Mathematiker des Altertums für die eigene Vergangenheit nicht
nennen^ weil unserer Auffassung gemäß das Volk und die Sprache
vor dem Lande die Zugehörigkeit bestimmt^ und deshalb waren uns
jene Männer Griechen. Zwischen den von Norden kommenden
Kriegern ; unter deren Streichen Archimedes verblutete , nachdem er
seine Vaterstadt gegen sie lange verteidigt hatte, und denen, die im
gleichen Dialekte mit Archimed sprachen und schrieben , muß die
Kulturgeschichte einen Gegensatz erkennen lassen. Wir denken diesen
Gegensatz recht laut zu betonen , wenn wir in diesem Abschnitte
unseres Bandes überhaupt nicht von italischer, sondern von römi-
scher Mathematik reden. Mag ja auf italischem Boden mancherlei
an mathematischem Wissen vorhanden gewesen sein noch bevor Rom
entstand. Wir leugnen es so wenig, daß wir den Spuren nachzugehen
bemüht sein werden. Immer aber soll, was wir finden, unter dem
römischen Sammelnamen vereinigt werden.
Über die älteste Geschichte der Bevölkerung des Landes von
Nordosten her sind die Akten noch keineswegs abgeschlossen, wenn
man auch gegenwärtig der Annahme zuneigt, eine altitalische Nation
habe sich gebildet in der Ebene des Po, nachdem sie vorher von
522 26. Kapitel.
den Hellenen^ dann von den Kelten sich getrennt hatte ^). Yon dort
ging der Zug nach Süden und trieb ältere Bewohner vor sich her,
vielleicht verwandt mit den Sikulem, den Einwohnern von Sizilien,
deren Name in alten ägyptischen Urkunden zu den bekanntesten ge-
hört. Wann diese Ereignisse stattfanden, ob mehr als 1000 Jahre
vor unserer Zeitrechnung, wie aus der Zusammenstellung mit Per-
sönlichkeiten des trojanischen Krieges, die vielleicht mehr als eine
Sage ist, hervorgehen könnte, darüber schwebt wieder tiefes Dunkel,
kaum erhellt seit Auffindung jener alten Totenstadt am Albaner-
see*), deren Gtrabumen unter einer Aschendecke vulkanischen Ur-
sprungs sich erhalten haben, über welche Jahrhunderte einen Pflanzen-
wuchs hervorriefen, der selbst wieder in einer einen halben Meter
mächtigen Peperinschicht eine zerstörende und zugleich schützende
Decke fand. Welche Rolle bei den Wanderungen und Niederlassungen
auf der apenninischen Halbinsel die Etrusker spielten, welchem
Völkerstamme überhaupt diese angehörten, ist ein weiterer Gegen-
stand wissenschaftlichen Zweifels, und dieser Zweifel erstreckt sich
so weit, daß man nicht einmal darüber einig ist, ob diejenigen
Sitten und Gebräuche tatsächlich als etruskisch gelten dürfen,
welche römisch -priesterliche Überlieferung uns als etruskisch be-
zeichnet hat.
Wir können und müssen uns genügen lassen, auf das Vorhanden-
sein dieser vielen Rätselfragen von ausgesuchter Schwierigkeit hin-
zuweisen, so wichtig deren Lösung gerade für die Geschichte der
Mathematik wäre. Den Etruskern nämlich gehören mutmaßlich die
Zeichen an, welche als Zahlzeichen den Römern dienten, ihnen
wird zugeschrieben, was als praktische Feldmessung der Römer
sich erhalten hat.
Wir wollen mit den Zahlzeichen unsere Erörterungen be-
ginnen. Zahlenbezeichnung, wenn auch nicht durch Zahlzeichen, war
es, wenn die Etrusker, wenn ihnen folgend die Römer in dem Heilig-
tume der Minerva alljährlich einen Nagel einschlugen, um die Zahl
der Jahre vorzustellen^). Zahlzeichen sind diejenigen Charaktere,
') H. Nissen, Das Templnm, antiquarische Untersuchungen. Berlin 1869.
Vgl. besonders Kapitel IV. Italische Stammsagen. *) De Rossi in den ÄnncU,
delV Instit. 1867, pag. 36 sqq. ») Livius VII, 8. Vgl. fttr andere Stellen
Friedlein, Die Zahlzeichen und das elementare Rechnen der Griechen und
Römer und des christlichen Abendlandes vom 7. bis 13. Jahrhundert. Erlangen
1869, S. 19. Noch andere Analoga wie z. B. einzelne Striche, farbige Steinchen
als Zahlenbezeichnung sind mit Beispielen belegt bei Rocco Bombelli, Sttidi
archeologicO'Crüici circa Vantica nutneraeione itaiica Parte L Roma 1876,
pag. 31.
Älteste BechenkunBt und Feldmessung. 523
welche allmählich zu Buchstabenform sich abändernd das bilden^ was
gegenwärtig als römische Zahlzeichen bekannt ist^). Wie die ganze
Schrift der Bomer und der Etrusker bei hervorragender Ähnlichkeit
es doch auch an wesentlichen Unterschieden nicht fehlen läßt^ die
eine unmittelbare Ableitung der einen aus der anderen zur Unmög-
lichkeit machen, ist seit einem halben Jahrhundert festgestellt. Schon
die linksläufige Schrift der Etrusker gegenüber von der rechtsläufigen
der Römer deutet darauf hin, daß der Ursprung jener in eine Zeit zu
setzen ist, während deren die Griechen noch nicht durch die Über-
gangsperiode einer in der Richtung von Zeile zu Zeile wechselnden
Schrift hindurchgegangen waren, wogegen die römische Schrift diese
Veränderung bereits voraussetzt. Die Annahme nicht T\nmittelbarer
Ableitung auseinander findet noch Bestätigung darin, daß im römi-
schen Alphabete das altgriechische Eoppa als Q erhalten ist, welches
die Etrusker nicht kennen, während umgekehrt manche Buchstaben
dem tuskischen Alphabet angehören, die dem römischen fehlen.
Wann das etruskische Alphabet, welches nach Tacitus^) durch den
Eorinther Demaratus nach Italien kam, daselbst zur Einführung ge*
langte, wissen wir ungefähr. Es wird zwischen 650 und 600 v. Chr.
gewesen sein*). Die Trennung des römischen Alphabetes von dem
gräkoitalischen Mutterstamme ist nicht zeitlich so bestimmt, doch
muß sie jedenfalls eingetreten sein, bevor die Benutzung der Buch-
staben als Zahlzeichen den Griechen bekannt war, also (S. 121) vor
500 V. Chr., denn bei den Römern sind niemals nach griechischem
Muster die aufeinanderfolgenden Buchstaben des Alphabetes als Zahl-
zeichen verwertet worden*). Und dennoch sehen die ältesten Zahl-
zeichen der Römer, sehen die der Etrusker Buchstaben ungemein
gleich und ähneln sich untereinander so sehr (vgl. die hinten an-
geheftete Tafel), daß die vorhandenen Übereinstimmungen unmöglich
als Zufälligkeiten erklärt werden können. Zufällig erscheint vielmehr
die Verwandtschaft mit den späteren römischen Zeichen I V X L C M,
welche aus der Ähnlichkeit mit Buchstaben durch Volksetymologie
sich in diese Buchstabenformen selbst verwandelten, noch ein Zeichen
D für 500 zwischen C und M und ein Zeichen q vielleicht aus VI
entstanden, für die 6 sich aneignend und C und M mit den Anfangs-
») Ottfried Müller, Die Etrusker Bd. H, S. S12— 320. Breslau 1828.
Th. Mommsen, Die unteritaliscben Dialekte (besonders S. 19 — 34). Leipzig
1850. Math. Beitr. Kulturl. S. 161 flgg. Friedlein 1. c. S. 27 flgg. R. Bom-
belli 1. c. pag. 33. '} Tacitus, Annales XI, 14. ^ A. Riese, Ein Beitrag
zur Geschichte der Etrusker. Rhein. Museum für Philologie (1865) XX, 295—298.
^ Ober andere Benutzung von Buchstaben als Zahlzeichen bei Römern in ver-
mutlich recht später Zeit vgl. Friedlein 1. c. S. 20—21.
524 25. Kapitel.
buchstaben der Wörter centum und mille vergleichend. Der Ursprung
der Zeichen für 5, 50^ 500 ist, wie ziemlich allgemein zugestanden
wird, in der Halbierung der Zeichen für 10, 100, 1000 zu finden,
und nur die Entstehung dieser letzteren bleibt strittig. Am glaub-
haftesten dürfte die mit Belegung durch reiches inschriftliches
Material wahrscheinlich gemachte Vermutung sein^), daß die Decussatio,
Yerzehnfachung, jeweils durch Hinzutreten einer neuen Kreuzung des
vorhandenen Zeichens mittels eines hinzutretenden geraden oder ge-
krümmten Striches hervorgebracht worden sei.
Neben der alphabetischen Reihenfolge ist auch die Benutzung
der Anfangsbuchstaben von Zahlwörtern als Zeichen für die Zahlen
begreiflich nächstliegend, und so erscheint die Frage nicht müßig,
ob vielleicht die Buchstabenähnlichkeit der tuskischen Zahlzeichen
so erklärt werden könne? Es ist bisher den Gelehrten, welche mit
etruskischen Studien sich beschäftigt haben, nicht möglich gewesen
diese Frage vollgültig zu beantworten, doch neigen sie zur Verneinung
derselben. Wie schwierig übrigens die Beantwortung ist, geht schon
daraus hervor, daß der Wortlaut der etruskischen Zahlwörter keines-
wegs feststeht. Man hat im Jahre 1848 alte etruskische Würfel ge-
funden, deren sechs Flächen mit Wörtern beschrieben sind, welche
mau mach, thu, zal, huth, ki, sa liest^). Man hat allseitig diese
Wörter für die Namen der sechs ersten Zahlen gehalten, aber man
ist uneinig darüber, welche Zahl jedes einzelne Wort bedeute*).
Sei nun der Ursprung der tuskisch- römischen Zeichen welcher
er wolle, eines tritt bei beiden Völkern hervor, was als hochbedeutsam
hervorgehoben werden muß: die subtraktive Bedeutung eines
Zeichens kleineren Wertes, sofern es vor einem Zeichen höheren
Wertes, also bei den Etruskem rechts, bei den Römern links von
demselben auftritt, wie IV « 4, IIX = 8, IX = 9, XL = 40, XC = 90,
CD = 400, wovon das Zeichen für 8 schon zu den Seltenheiten ge-
hört*). Die subtraktive Schreibung kann sehr wohl den Zweck der
*) Zangemeister in den Monatsberichten der Berliner Akademie vom
10. November 1887. *) Buüettino delV InstitiUo di correspondenza archeologica.
Roma 1848, pag. 60, 74. ») Vgl. Zeitschr. Mathem. Phys. XXII, Histor.-literar.
Abtlg. S. 55, wo die Ansichten von Isaac Taylor denen der italienischen Ge-
lehrten gegenübergestellt sind. Vgl. auch C. Pauli, Die etruskischen Zahl-
wörter in den Etruskischen Forschungen und Studien von Deecke und Pauli,
3. Heft (Stuttgart 1882), wo die zehn ersten Zahlwörter heißen: i =s sa, 2 s= zal,
3 = thu, 4 = huth, 5 = mach, 6 = ki, 7 == men, 8 = cezp, 9 = semp, 10 = nurth.
*) Die Bubtraktiyen Ziffern sollen bei den Etruskem häufiger als bei den Römern
zur Anwendung gekommen sein. Corssen, üeber die Sprachen der Etrusker I,
39—41 (Leipzig 1874) gibt XIIIXXr=27, ^111 = 47, auch das zweimal subtra-
hierende I XII = 50 — 10 — 2 = 88 als etruskisch an.
Älteste RechenkuiiBt und FeldmeBsung. 525
Kaumerspaniiig gehabt haben. Darum ist UX statt VIU möglich,
IHK statt YU unmöglich^). Ein sprachliches Subtrahieren haben
wir (S. 11) auch bei der Bildung der Zahlwörter anderer Völker in
Erwägung ziehen dürfen, nirgend aber als bei den Etruskem und
Römern findet sich die Subtraktion in den Zeichen versinnlicht, und
es gehört zu den weiteren Eigentümlichkeiten, dafi Zeichen und
Sprache bei den Römern sich nicht decken. Schriftlich ist die Sub-
traktion nur bis X, nicht bei den späteren Zehnern in Gebrauch, wie
sich auch leicht verstehen läßt^ weil z. B. IXXX dem Zweifel Raum
pLbe, ob 29 (XXX weniger I) oder 11 (XX weniger IX) gemeint sei.
Deutlichkeitsgründe waren es auch, welche dafür den Ausschlag gaben,
daß auf Schwertklingen Villi statt IX geschrieben wurde, weil dieses, je
nach der Seite, von welcher man die Klinge betrachtete, mit XI ver-
wechselt werden konnte*). Dagegen wird sprachlich die Eins wie
die Zwei nie von Zehn, sondern nur von den Zehnem: Zwanzig bis
100 abgezogen. Wir fügen hinzu, daß die Römer gleichfalls allein
unter allen Völkern subtraktiver Ausdrücke auch bei Datierungen
ihrer Monatstage sich bedienten.
Was die schriftliche Darstellung von Zahlen über Tausend be-
trifft, so ist zu verschiedenen Zeiten wahrscheinlich verschiedentlich
verfahren worden. Eine Übereinstimmung in der Auffassung der
einzelnen Stellen ist indessen nicht vorhanden^), nur die vertausend-
fachende Wirkung eines über Zahlzeichen hinweggezogenen Hori-
zontelstriches z.B. XXX =»30000, C = 100000, M-= 1000000
scheint außer Zweifel.
Wenden wir uns zu den Zahlen unterhalb der Einheit, zu den
Brüchen, so stehen wir hier vor einem ausgesprochenen Duo-
dezimalsystem. Wir haben es mit einem ähnlichen Gedanken zu
tun, wie bei dem Sexagesimalsystem der Babjlonier und der grie-
chischen Astronomen. Nur daß dort der jedesmalige Zähler seiner-
seits angeschrieben wurde, als wenn er als ganze Zahl vorhanden
wäre, und der Nenner durch Stellung oder durch ein eigentümliches
dem Zähler anhaftendes Zeichen, Strichelchen oder dergleichen sich
kund gab; bei den Römern sind dagegen für alle Zwölftel von -r bis
zu -g besondere Bruchzeichen und Bruchnamen vorhanden. Die
Ähnlichkeit beider Systeme zeigt sich beispielsweise in Ausdrücken
^) Th. Mommsen, Zahl- und Bruchzeichen. Hermes XXII, 596—614, ins-
besondere S. 603 — 606 über die subtraktive Bezeichnung. *) Th. Mommsen I.e.
") Math. Beitr. Eultarl. S. 162—165. Th. H. Martin in den Ännali dt mate-
matiea ^1868) V, 295—297. Friedlein 1. c. S. 28—81.
526 25. Kapitel
wie anderthalb Zwölftel. Unseren Begriffen nach ist das weit um-
ständlicher gesprochen y als wenn wir ein Achtel sagen; dem Römer
ist offenbar dieses Umständlichere das Einfachere und Faßlichere^
weil er eben ein Zeichen für -, sowie für die Hälfte von -.^ besitzt,
ein solches für g- dagegen nicht hat^). Auch der krieche würde
nur Yon sieben Sechzigsteln nnd von 30 zweiten Sechzigsteln reden,
wenn er nicht neben und vor den Sexagesimalbrüchen die Stamm-
brüche besäße, die dem Römer fehlen. Eine weitere Ähnlichkeit
zwischen den Sexagesimalbrüchen und den römischen Duodezimal-
brüchen dürfte darin gefunden werden, daß beide von einer ganz
bestimmten Teilung hergenommen sind, also ursprünglich benannte
Zahlen waren, bis allmählich der Bruchgedanke über den des kleinen
Bogenteiles der Babylonier, des kleinen Gewichtsteiles der Römer
die Oberhand gewann. Wie alt freilich die Bruchzeichen bei den
Römern gewesen sein mögen, ist nicht genau zu ermitteln. Etrus-
kische Inschriften^) von mutmaßlich hohem Alter enthalten das
Zeichen f) = -ö" * Andererseits läßt ein Ausspruch von Varro die
Deutung zu, als sei die kleinste Brucheinheit von ~ ^ As in der Zeit
vor den punischen Kriegen entstanden*). Die Frage, wie man zu
dem Systeme fortgesetzter Zwölfteilung gekommen sei, läßt sich,
gleich vielen ähnlichen Fragen, leichter stellen als beantworten.
Möglicherweise ist an die von der Natur gegebene, auf den gegen-
seit^en Stellungen von Sonne und Mond am EUmmel beruhende
Zwölfteilung des Jahres in Monate als Ursprung zu denken. Wenn
auch Romulus in erster Linie ein Jahr von zehn Monaten einsetzte,
so sind doch zwölf Monate von der Sagengeschichte mit dem Namen
des Königs Numa oder des älteren Tarquinius in Verbindung gebracht,
also vielleicht älter als die römischen Gewichte.
Es erscheint zweckmäßig hier anzuknüpfen, was man über
das gewöhnliche Rechnen der Römer weiß mit' Ausschluß eines
denselben vielleicht bekannten wissenschaftlichen Rechnens,
von welchem unter Boethiüs die Rede sein muß. Das gewöhnliche
Rechnen wird wohl auf dreierlei Art geübt worden sein: als Finger-
^) Anch noch Volusius Maecianus, der in der Mitte des U. S. n. Chr.
lebte (vgl. Mommsen in den Abhandlungen der Sächsischen Gesellschaft der
■ 4
Wissensch. HI, 281—285. 1868), setzt in seinen Zeichen -— = -.--. •) Vgl.
o 1a
Corssen 1. c. ') Varro, De re rustica I, 10: Hcibet iugerum scriptula
CCLXXXVIII quantum as antiquus noster ante hellum Punicum pendebat
Älteste Bechenkimst und FeldmesBung. . 527
rechnen, als Rechnen auf einem Rechenbrett, als Rechnen unter Be-
nutzung Torhandener Tabellen.
Das Fingerrechnen hat die älteste Überlieferung für sich,
indem nach Plinius^) schon König Numa Zahlendarstellung mittels
der Finger kannte. Er ließ nämlich ein Standbild des doppelt-
beantlitzten Janus errichten, dessen Finger die Zahl 355 als Zahl
der Jahrestage andeuteten. Ein spaterer romischer Schriftsteller,
Macrobius^), weiß von derselben Sitte den Janus mit gekrümmten
Fingern abzubilden, nur nennt er nicht König Numa als Urheber
und gibt die dargestellte Zahl der Jahrestage zu 365 an, offenbar
dem späteren römischen Jahre diese Zahl entnehmend, ohne daß ein
altes Bildwerk ihm vor Augen geweseu wäre. Martianus Capella')
läßt die als Göttin auftretende Arithmetik die Zahl 717 mittels der
Finger darstellen. Neben diesen Angaben ganz bestimmter durch
Fingerbeugung angedeuteter Zahlen kann man noch viele Stellen
römischer Schriftsteller aus den verschiedensten Zeiten anführen,
welche das Fingerrechnen im allgemeinen bestätigen. Die rechte
Hand, sagt Plautus^), bringt die Rechnung zusammen. Mit Wort
und Fingern läßt Suetonius^) die Goldstücke abzählen. Bei Quin-
tilian*) ist von einer Abweichung von der Rechnung durch unsichere
oder unschickliche Bewegung der Finger die Rede, Firmicus Mater-
nus^ erinnert daran, daß Anfänger im Rechnen die Finger zu Hilfe
nehmen und ähnlich bei anderen®). Wir führen nur eine Stelle noch
besonders an, weil sie die fortschreitende Reihenfolge von links nach
rechts bestätigt, welche wir zuletzt noch bei Nikolaus Rhabda (S. 514)
als Regel kennen gelernt haben. Juvenal^) läßt nämlich den mehr
als Hundertjährigen die Zahl seiner Jahre schon an der rechten Hand
zur Darstellung bringen. Eine ausführliche Beschreibung, wie man
Zahlen durch Fingerbewegongen kenntlich mache, von Beda Venera-
bilis, dem schottischen Mönche aus dem YH. und YHI. S., gehört
bereits der Literatur des Mittelalters an, und wird uns im 38. Kapitel
beschäftigen.
Vielleicht mit jener mittelalterlichen Verbreitung des Finger-
*) Plinins, Histor, natur. XXXIV, 16. •) MacrobiuB, Conviv. Saturn,
I, 9. *) Martianus Capella, Satura VII init. *) Plantns, Miles gloriostAS
Act. II sc. 3: Dextera digitis rationetn computat. ^) Suetonins, Claudius
XXI . . . ut obUxtos aureas voce digitisque numeraret. ^ Quintilian I: si digi-
torum solum incerto aut indecoro gestu a computcUüme dissentit. ^) Firmicus
Maternus I, 5, 14 Vides itt primos discentes computos digitos tarda agitatiane
deflectant? ^) Eine Zusammenstellung, bei welcher auch die Kirchenväter be-
rücksichtigt sind, bei Bocco Bombelli 1. c. pag. 101 — 107. ^ Jnvenalis,
Sat. X, y. 248 mos jam dextra computat annos.
528 26. Kapitel.
rechnens, vielleicht aber auch schon mit römischen (rewohnheiten
sind Sparen in Verbindung zu setzen^ welche bis auf den heutigen
Tag sich erhalten haben. In der Walachei^) bedient man sich der
Finger, um das Produkt zweier einziffriger Zahlen, die größer als
5 sind, zu finden. Die Finger jeder der beiden Hände erhalten vom
Daumen zum Eleinenfinger aufsteigend die Werte 6 bis 10. Hat
man nun zwei Zahlen, z. B. 8 mal 9 zu multiplizieren, so streckt man
den Achterfinger (Mittelfinger) der einen und den Neunerfinger
(Ringfinger) der anderen £[and vor. Die nach dem Eleinenfinger
hin übrigen Finger beider Hände (2 Finger und 1 Finger) multipli-
ziert man miteinander und hat damit die Einer (2 • 1 =» 2) des Pro-
duktes. Die von den Daumen aus vorhandenen Finger mit Ein-
schluß der ausgestreckten Finger (3 Finger und 4 Finger) addiert
man und hat damit die Zehner (3 + 4 = 7) des Produktes
(8 • 9 =» 72). Die Richtigkeit dieser komplementären Multipli-
kation ist einleuchtend. Heißen a und b die zu vervielfältigenden
Zahlen, so sind 10 — a und 10 — 6 die noch übrigen Finger zum
Eleinenfinger hin, a — 5 und b — 6 die Finger vom Daumen an.
Die Regel läßt also (10 - a) • (10 - 6) + 10 (a - 5 + 6 - 5)
« 100 - 10a — 106 + ab + 10a + 106 - 100 = ab büden. Der
Zweck, der erreicht wird, besteht darin, daß hauptsächlich nur der
Anfang des Einmaleins bis zu 4 mal 4 auswendig behalten werden
muß und die Erlernung der Abteilung, die mit 6 mal 6 beginnt,
erspart bleibt.
Wenn wir nun die Mutmaßung wagen, es sei hier römisches
Fingerrechnen zu verfolgen, so veranlassen uns dazu die eigentüm-
lichen Tatsachen, daß die römischen Zahlzeichen VI, VH, VIII,
oder nX, YJIJI oder IX sehr leicht zur Beachtung der Erpinzungs-
zahlen, die hier benutzt sind, führen konnten; daß ein ganz ahn*
liches Verfahren auch bei französischen Bauern gefunden worden
ist; daß wir im Mittelalter ähnlichen Regeln begegnen werden, die
im 40. Eapitel zu besprechen sind; daß auch ein komplementäres
Divisionsverfahren unsere Aufmerksamkeit mehrfach in Anspruch
nehmen wird, für welches ein anderer Ursprung als ein römischer
zunächst nicht zu Gebote steht. Wir sagen zunächst, denn es wäre
immerhin möglich, daß auch die komplementören Rechnungsverfahren
bis nach Grriechenland verfolgt werden müßten, wenn die nötigen
Voraussetzungen, wir meinen griechische Lehrbücher der Rechen-
kunst, vorhanden wären. Wir erinnern an jenes dem Nikomachus
^) D. Pick in Hofimanns Zeitechi. fOr math. and naturw. Unterricht Y,
67 (1874).
Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 529
zugeschriebene Verfahren die Quadrate von Zahlen zu finden
(S. 433)^ welches zwar mit der komplementären Multiplikation sich
nicht deckt; aber eine entschiedene Familienähnlichkeit zu derselben
nicht verkennen läßt.
Nächst dem Fingerrechnea war bei den Bömern das Rechnen
auf dem Rechenbrett üblich und bildete einen Gegenstand des
elementaren Unterrichtes. Auch dafür ist eine ganze Anzahl von
Stellen gesammelt worden^), welche meistens auf einen mit Staub
überdeckten Abacus Bezug nehmen, auf welchem man alsdann geo-
metrische Figuren aller Art entwerfen konnte, welche man aber auch
imstande war durch Ziehen gerader Striche in Kolumnen abzu-
teilen, welche mit Steinchen, calculi, belegt zum Rechnen dienten.
Die sogenannte Pariser Gemme, wahrscheinlich etruskische Arbeit,
zeigt einen Rechner, der in der Linken eine mit Zahlzeichen ko-
lumnenformig (allerdings ohne abteilenden Strich) bedeckte Tafel
hält^, während er mit der Rechten Steinchen auf einen Tisch legt.
Neben diesem somit far römische Übung gesicherten Kolumnen-
abacus gab es aber auch einen Abacus mit Einschnitten und in diesen
Einschnitten verschiebbaren Knöpfchen. Vier solcher Vorrichtungen *)
haben sich bis in die neuere Zeit erhalten, darunter wenigstens eine,
deren altertümlicher Ursprung von dem Beschreiber ganz besonders
hervorgehoben worden ist*).
Eine solche römische Rechentafel, eigens zum Rechnen, nicht
zu mehrfachem Gebrauche hergerichtet, war von Metall und hatte
acht längere und acht kürzere Einschnitte, je einen von jenen mit
einem von diesen in gerader Linie. Li den Einschnitten waren be-
wegliche Stifte mit Knöpfen, in einem der längeren fünf Stück, in
den übrigen vier, in den kürzeren je einer. Jeder längere Einschnitt
war oben, also nach der Seite, wo der kürzere Einschnitt ihn fort-
setzte, mit einer Überschrift versehen. Der Gebrauch der Rechen-
tafel ergibt sich von selbst. Sie wurde mit zu dem Rechner senk-
rechten Einschnitten auf eine beliebige Unterlage aufgestellt, zu
welchem Zwecke unten an der Tafel Füßchen angebracht waren.
Dem Rechner am nächsten waren, wie wir schon andeuteten, die
längeren Einschnitte; die kürzeren waren weiter von ihm entfernt.
Die Marken in den längeren Einschnitten bedeuteten einzelne Ein-
heiten ihrer Klasse; die in den kürzeren Einschnitten galten fünf
*) Rocco Bombelli 1. c. pag. 116 sqq. *) Zangemeiater, Monats-
berichte der Berliner Akademie vom 10. November 1887. Die Tafel ist auf
S. 11 des Sonderabzuges abgedruckt. ') Deren Beschreibung bei Becker-
Marquart, Handbuch der römischen Alterthümer V, 100. *) Claude du Mo-
linet, Le cctbinet de la biblioth^ue de Ste. Qtnevüve. Paris 1692, pag. 25.
Caittob, Oetohioht« der Mathematik I. S. Aufl. 34
530 25. Kapitel.
solcher Einheiten. Nur der erste kürzere Einschnitt von rechts
bildete dabei eine Ausnahme^ indem dessen einzelne Marke sechs Ein-
heiten bedeut.ete. Dieser äußerste Einschnitt (sofern man die beiden
Einschnitte, den längeren und den kürzeren, nur als Abteilungen
eines einzigen in der Mitte unterbrochenen Einschnittes betrachtet)
war nämlich mit 6 bezeichnet und enthielt die Unzen, deren 12 auf
eine Aß gingen. Die übrigen für die Asse bestimmten Einschnitte
trugen in nach links dekadisch aufsteigender Reihenfolge die Bezeich-
nungen I, X, C usf. bis zu IX I oder einer Million. Der erste
Einschnitt von rechts aus konnte danach zur Angabe von 11 Unzen
noch dienen, wenn man die ursprünglich so weit als möglich von-
einander getrennten Enöpfchen der beiden Abteilungen sämtlich
gegen die Mitte des Brettes vorschob, wo die schriftlichen Bezeich-
nungen standen, und so einander näherte. An diesem Orte erhielten
sie den Zählwert von fünf einzelnen Unzen und einer Sechsunzen-
marke. Kamen dann noch weitere Unzen hinzu, so ersetzte man ihrer
12 durch eine gegen die Mitte vorgeschobene Marke der nächsten Linie,
d. h. der Einheiten der Asse. In den folgenden sieben Einschnitten
konnte man durch ähnliches Verfahren bis zu je neun Einheiten in
jeder Klasse von den Einem bis zu Millionen von Assen darstellen.
So zeigten drei verschobene Knöpfe in einem längeren Einschnitte
und der einzelne in dem zugehörigen kürzeren Einschnitte gleichfalls
nach der Mitte des Abacus fortgerückt die Zahl 8 in der entsprechen-
den Klasse an. Neben den Einschnitten der Unzen waren noch drei
kleinere Einschnitte, die beiden oberen mit je einer Marke, die
unterste mit zwei Marken versehen. Die Bedeutung dieser Ein-
schnitte war den beigeschriebenen Zeichen zufolge von oben nach
unten die halbe Unze semuncia, die viertel Unze siciliquus, die drittel
Unze duella. Das alles ergibt sich aus der Betrachtung der Rechen-
tafel selbst mit Ausnahme dessen, was wir über die nötige Ver-
schiebung der Knöpf chen bemerkt haben, und wofür wir eine alter-
tümliche Quelle anzugeben allerdings nicht imstande sind. Es muß
eben der Natur der Sache nach so oder umgekehrt verfahren
worden sein, und da scheint uns, daß die Übersicht wesentlich er-
leichtert ist, wenn die wirklich zu zählenden Knöpfchen in der Mitte
des Brettes vereinigt waren, dicht bei den Zeichen, die den Wert
des einzelnen Knöpf chens angaben, daß also, wo die Nützlichkeit
den Ausschlag geben durfte, nicht leicht eine andere Wahl getroffen
worden sein wird, als die wir andeuteten.
Auf diesem Rechenbrette konnten, wie auf jedem ähnlichen
Apparate mit festen Marken, Additionen und Subtraktionen leicht
vollzogen werden. Wollte man multiplizieren oder dividieren, so war
Älteste RechenknuBt und Feldmesanng. 531
es nötig die Zahlen, an welchen jene Operationen yorgenommen
werden sollten, besonders, etwa schriftlich, anzumerken, nnd der Abacns
vermittelte nur die Vereinigung der Teilprodukte, beziehungsweise die
Subtraktionen der aus den Teüquotienten entstandenen Zahlen.
Dabei war ein Kopfrechnen mit Benutzung des Einmaleins
nicht zu umgehen, und bei diesem konnte vielleicht die beschriebene
Fingermultiplikation Anwendung finden. Wir wissen, daß römische
Knaben in ihren Schulen im Kopfrechnen geübt wurden, daB dem
Vorübergehenden die einförmigen Töne des 2 mal 2 sind 4, bis bina
quatuor, welches die Knaben gemeinsam herzusingen (decantare)
hatten, entgegenzudringen pflegten, daß damit noch andere Mißtöne
sich häufig genug vereinigten, das Klatschen der Rute oder der
Peitsche und das Heulen der in solcher Weise Unterrichteten.
Kamen freilich Multiplikationen hoher Zahlen, oder gar solche
von Brächen vor, so nutzte dem ungeübten Rechner nicht Rechen-
brett noch gewöhnliches Einmaleins, er mußte die Produkte von
einem tabellarisch geordneten Rechenknechte hernehmen, und
das ist es, was wir weiter oben ein Rechnen unter Benutzung vor-
handener Tabellen genannt haben. Ein solcher Rechenknecht hat
sich erhalten, dessen freilich sehr später Verfasser überdies nicht auf
italischem Boden lebte. Gleichwohl wird ein Zweifel darein nicht
gesetzt werden können, daß es Römisches und nur Römisches ist,
was hier vorliegt, mag auch darüber gestritten werden können, ob
ältere Musterwerke bloß benutzt oder geradezu abgeschrieben sind.
Wir meinen den Calculus des Victorius^), eines Schrift-
stellers, der mitunter aber wahrscheinlich unrichtig auch Victorinus
genannt wird. Seine Persönlichkeit bestimmt sich dahin, daß er aus
Aquitanien stammte und im Jahre 467 n. Chr. eine sogenannte Oster-
rechnung, d. h. eine Anleitung zur Auffindung des richtigen Oster-
datums verfaßte. Vor oder nach diesem canon paschalis, das eine
ist ebensogut möglich als das andere, richtete der als eifriger und
gewissenhafter Rechner von seinen Kommentatoren gerühmte Victorius
diese Tabellen her, aus welchen Vervielfältigungen sowohl ganzer als
gebrochener Zahlen in großer Ausdehnung entnommen werden können.
Mathematischer Wert ist den Tabellen selbstverständlich nicht bei-
zulegen. Wir müssen nur «bemerken, daß auf ihnen eigentümliche
Bruchzeichen sich befinden, verschieden von denen der älteren Schrifb-
steller, dagegen sich forterbend durch das ganze Mittelalter.
^) Vgl. Christ in den Sitzungsberichten der Münchener Akademie 1868,
S. 100—162. Dann Friedlein in der Zeitschr. Math. Phys. XVI, 42—79 (1871)
und im BülleUino Boncompagni 1871, pag. 443—468, wo der, wie es scheint, zu-
verlässigste Text aus einer Vatikanhandschriffc abgedruckt ist.
84»
532 25. Kapitel.
Bevor wir das Rechnen der Römer verlassen; fordert die eigen-
tümliche Anwendung eines gewissen Zahlwortes bei ihnen ein Wort
der Besprechung : sexcenti » sechshundert; welches in der Bedeutung
unendlich viele bei Schriftstellern fast jedes Zeitalters, soweit sie
sich erhalten haben^ erstmalig aber bei Plautus um 200 v. Chr. vor-
kommt. Wir nehmen keinen Anstand bei einer vor langer Zeit ge-
äuBerten Vermutung^) zu verharren, dieses sexcenti sei das chal-
däische ner. Wenn (S. 45) Chaldäer 139 v. Chr. aus Rom vertrieben
wurden, so darf man ihren damals erworbenen schädlichen Einfluß
für alt genug halten, daß etwa sechzig Jahre früher ein von ihnen
oftmals unbestimmt gebrauchtes Zahlwort sich in weiteren Kreisen
einbürgerte.
Wir leiteten diese Erörterungen, welche uns, wie man sieht,
chronologisch aber nicht mathematisch sehr weit geführt haben, mit
der Behauptung ein, wie die Zahlzeichen der Römer, so werde auch
deren praktische Feldmessung auf etruskische Ursprünge zurück-
geführt, sei nun die Überlieferung eine berechtigte oder nicht. Wir
wenden uns zu diesem zweiten Gegenstande, welcher ebenfalls eine
weitläufigere Erörterung fordert.
Der älteste uns bekannte römische Schriftsteller, welcher mit
nicht mißzu verstehenden Worten es ausspricht, die Art, wie die Be-
grenzungen festgestellt werden, rühre von den Etruskem her^), ist
Varro etwa 50 bis 80 Jahre vor dem Anfange der christlichen Zeit-
rechnung, und von ihm aus begegnen wir dieser Überlieferung durch
Jahrhunderte.
Die Begrenzungen, von denen die Rede ist, sind sehr allgemeiner
Natur. Demselben Grundgedanken gehorchend finden sie sich überall,
wo es um gesetzliche räumliche Absonderung sich handeln kann, bei
der Anlage der Stadt wie des Lagers, bei der Vermessung des an-
gebauten Landes, bei dem Giiindrisse des bürgerlichen Hauses wie des
Hauses, als dessen Eigentümer eine Gottheit gilt. Diese letztere, der
Tempel, führt sogar den Namen nach dem Abschneiden {rsfivsLv)
aus dem umgebenden Grund und Boden, und ein templum ist bis zu
einem gewissen Grade jedes Grundeigentum').. Wenn auch der Be-
griff des Templum in der römischen Religion und allen mit ihr zu-
sammenhängenden Verrichtungen eine maßgebende Rolle spielt, er
hat sich gleichwohl so wenig aus dem des Heiligen, Gottgeweihten
*) Mathem. Beiträge Kolturl. S. 362. *) Limitum prima origo, siaU Varro
deseripsit, a diseiplina Etrusca. Römische Feldmesser I, 27. [Unter dem Zitate
„Römische Feldmesser^* verstehen wir die Schriften der Römischen Feldmesser
herausgegeben und erläutert von F. Blume, E. Lachmann und A. Rudorff.
Berlin 1848 und 1852.] *) Nissen, Das Templum S. 7, 8, 10, 56 und häufiger.
Älteste BechenkuBBt und FeldmessHiig. 533
entwickelt, daß er sich mit diesem nicht einmal deckt. Eines der
höchsten Heiligtümer in Rom, das der Vesta, war sogar kein Tem-
plum. Die städtische Anlage dagegen gehört unter den genannten
Begriff. Die italische Stadt nämlich entsteht nicht gleich der mo-
dernen und mittelalterlichen im langsamen Verlaufe der Zeiten von
einzelnen Häusern zum Dorf, vom Dorfe zur Stadt anwachsend. Sie
wird auf einmal geschaffen durch eine einzige politisch-religiöse Hand-
lung. Sie weiß ihren Gründer, ihr Gründungsjahr, oftmals ihren
Gründungstag zu nennen, den man dann alljährlich als städtisches
Pest feiert.
Die Bedingung, welche nun solcher Absteckung von Grenzen
die Gesetzmäßigkeit verleiht, besteht darin*), daß der Gesichtskreis
durch zwei senkrecht zueinander stehende Gerade in vier Teile ge-
schnitten werde, und daß die Geraden ein für allemal die Richtungen
für die Seiten der rechteckigen Einzelgebilde abgeben, mögen Häuser
oder Feldstücke, Zimmer oder Tempelräume diese Einzelgebilde sein.
Die beiden Richtungen werden überdies nicht willkürlich angenommen,
sondern sollen mit den Verbindunglinien der einander gegenüber-
liegenden Haupthimmelsgegenden übereinstimmen.
Wir erinnern uns, daß eine derartige Orientierung religiösen
Zwecken dienender Baulichkeiten uns auch an anderen Orten be-
merklich wurde, daß wir (S. 15) zum voraus ankündigten, wir würden
in der häufig vorkommenden Tatsache selbst keinen Grund erkennen,
eine Übertragung von einem Volke zum anderen mit ^Notwendigkeit
annehmen zu müssen. Wir finden es angemessen zusätzlich hier zu
bemerken, daß eine solche Übertragung für die altitalischen Orien-
tierungen weniger als irgend sonstwo anzunehmen sein wird. Jeden-
falls hat hier und nur hier der Orientierungsgedanke eine Ent-
wicklung genommen wie sonst nirgend, hat er die Errichtung fast
jedes Gebäudes, fast jeder Verbindung von Gebäuden in so folge-
richtiger Weise, wie wir es schon andeuteten, beeinflußt. Nicht
bloß ein einzelner Tempel, die römischen Gesetzen unterworfene
Welt war nach einem einzigen rechtwinkligen Koordinatensysteme
geordnet*), und wir werden auf diesen Gedanken noch zurückzu-
greifen haben.
Die Abszissenachse des gemeinsamen Systems war die Ostwest-
linie, dessen Ordinatenachse die Südnordlinie oder Mittagslinie.
') Agrimensoien S. 6ö flgg. ') Nissen, Das Templtun S. 165: „Seit
Augustas war der Culturkreis des Mittelmeeres zu einem einzigen politischen
Ganzen geschlossen worden; das Templnm, welches einst auf den palatinischen
Hügel beschränkt gewesen war, hatte sich ausgedehnt in immer weiteren Kreisen
und anjetzt war das letzte und grösste Templnm constituirt worden/*
534 25. Kapitel.
Allerdings zeigen die Trümmer von Tempeln, von Stadteanlagen nnd
dergleichen, welche man genauer auf ihre Lage zu prüfen noch nicht
gar lange begonnen hat, nicht ganz unerhebliche Abweichungen von
der wahren astronomischen Mittagslinie. Es ist für unsere Zwecke
durchaus gleichgültig, ob diese Verschiedenheiten unabsichtlich, ob sie
absichtlich entstanden sind; ob sie, wie man früher annahm, aus einem
ungeschickten Verfahren derer hervorgingen, welche die Richtungen
bestimmten, oder ob, wie eine jedeufalls geistreiche und genaue
Prüfung verdienende Vermutung es will^), die Richtung nach dem
Punkte des Sonnenaufgangs am Gründungstage des betreffenden
Tempels in der Abszissenachse festgehalten werden sollte, einem Tage,
der selbst keineswegs willkürlich angenommen wurde, sondern der
jedesmalige Hauptfeiertag derjenigen Gottheit sein mußte, welcher
das Heiligtum geweiht werden sollte.
Wir haben für die Grundrichtungen uns der ganz modernen
Namen der Koordinatenachsen bedient. Den Römern hießen dieselben
Decimanus und Cardo, offenbar sehr altertümliche Namen, wie man
gewiß mit Recht schon daraus gefolgert hat, daß als Abkürzung für
Cardo stets ein E benutzt worden ist, ein Buchstabe, der der römischen
Schrift im übrigen schon frühzeitig abhanden kam. Die Bedeutung
von Decimanus dürfen wir heute wohl nur als unbekannt be-
zeichnen*). Wie die antike Ableitung des Wortes Decimanus von
einem selbst mehr als zweifelhaften duocere, zweiteilen, weil der
Raum überhaupt in zwei Abteilungen zerfällt worden sei, sprachlich
ganz und gar unhaltbar ist, so ruht eine moderne Ableitung, welche
Decimanus einfach aus decem entstanden wissen will, sachlich auf
gar schwachen Füßen. Die Italiker, sagt man, bedienten sich von
uralters her eines Dezimalsystems. Der Zehnte macht daher die
Reihe voll, und die Linie, welche eine Flächeneinheit begrenzt, er-
hielt passend von ihm den Namen, gerade wie diejenige, welche die
Flächeneinheit halbiert, die fünfte heißt. Wir vermögen diese
Schlüsse als genügend nicht anzuerkennen. Zuerst würde man uns
nachweisen müssen, daß die begrenzte Flächeneinheit wenigstens
nach einer Richtung die Seitenlänge 10 hatte, und dann müßte man
uns noch erklären, wie neben dem Worte via quintana für eine
Querstraße auch die Wortverbindung decimana quintaria entstehen
konnte, bevor wir jene Deutung als gesichert anerkennen. Um so
zweifelloser ist Cardo, die Angel, um welche das Weltall sich dreht,
die Weltachse.
^) Diese Theorie ist von Nissen in seinem mehrerwähnten Werke über
das Templum aufgestellt. *) Vgl. Agrimensoren S. 66 mit Nissen, Das Tem-
plum S 12 und 27.
Älteste Rechenknnst und Feldmessnng. 535
Jedenfalls zog bei irgend einer Gründung der Augur^) zuerst
einen Decimanus, dann senkrecht zu ihm einen Cardo^ und somit
sind es zwei praktische Tätigkeiten , welche er von Anfang an aus-
zuüben verpflichtet und folglich auch befähigt sein mußte: die Ost-
westlinie zu bestimmen und zu einer gegebenen Geraden auf dem
Felde eine Senkrechte zu ziehen.
Für die Bestimmung der Ostwestlinie sind drei verschiedene
Methoden durch Hjginus, einen Feldmesser etwa aus dem Jahre
100 n. Chr., beschrieben. Die erste Methode*) richtete ein zum Visieren
geeignetes Instrument, von welchem wir noch zu reden haben, nach
dem Punkte des Horizontes, wo wirklich die Sonne aufging. Diese
Richtung wurde als Ostwestlinie, die zu ihr senkrechte als Gardo
bestimmt, und, fügte der Beschreiber im stolzen Gefühle seiner Über-
legenheit hinzu, um Mittag stimmte diese Mittagslinie nicht mit der
Wirklichkeit überein. Die zweite Methode*) befestigte auf geebneter
Grundlage einen senkrechten Stifb als Schattennehmer, sciotherum,
und beschrieb um denselben als Mittelpunkt einen Kreis, dessen
Halbmesser kleiner als die größte Schattenlänge des Stiftes gewählt
werden mußte. Sowohl des Morgens als des Nachmittags mußte der
Schatten einmal so lang werden, daß sein Endpunkt genau in diesen
Ereisumfang eintraf, und die beiden Punkte, in welchen solches statt-
fand, hatte man zu beobachten und anzumerken, endlich zu verbinden.
Die Yerbindungsgerade war der gewünschte Decimanus. Die dritte
Methode*) machte von drei ungleichen Schattenlängen Gebrauch,
welche in kurz aufeinander folgenden Zeitpunkten, aber sämtlich
vormittags, auf der Grundebene des Sciotherums verzeichnet worden
waren.
Die letzte Methode^ unter deren Vorzügen wir nur den einen
hervorheben wollen, daß sie unabhängig davon war, ob die Sonne
in einem gewissen Momente unbewölkt am Himmel stand und die
vorausbestimmte Schattenlänge wirklich liefern konnte oder nicht,
setzt Kenntnisse der Stereometrie in einem Maße voraus, daß wir
ihre Entstehung nur bei einem Schriftsteller vermuten dürfen, dessen
*) Der Name Augur wird (nach Nissen 1. c. S. 5, Anmerkung 1) von
J. Schmidt mit aio, auctar, autumari, e^xeö^ai in Verbindung gebracht.
*) Hygini gromatici de Umitibus constituendis in Römische Feldmesser I, 170.
») Hyginus, Römische Feldmesser I, 188—189. *) Ebenda 189—191. Vgl.
Agrimensoren S. 68 — 69. Über diese Methode hat schon Cristini geschrieben,
von welchem 1605 in Turin ein Druckwerk herauskam: Methadus inveniendae
mertdianae lineae ex trihtu umbris, simul cum paraphrasi in simtlem methodum
conseriptum ab Hygino Äugusto Liberto. Vgl. Carteggio itiedito dt Ticone Brake,
Giovanni Keplero etc. con Oiavanni Antonio Magini pubbVcato ed ülustrato da
Antonio Favaro. Bologna 1886, pag. 296, 802 und 304, Note 1.
536 25. Kapitel.
wisseDSchaftliche Bildung eine weit höhere war^ als Römer sie unserer
persönlichen Überzeugung nach je besaßen. Wir meinen, es mQsse
eine griechische Methode aus der Zeit entwickelter Stereometrie sein,
welm es auch nicht möglich gewesen ist, sie bei irgend einem der
uns erhaltenen griechischen Astronomen aufzufinden«
Die von uns als zweite bezeichnete Methode dürfte, wenn auch
nicht der ältesten Zeit, doch einem erheblich früheren Zeitalter als
dem des Hyginus angehören. Ebendieselbe beschreibt nämlich auch
Vitruvius^) um das Jahr 15 v. Chr. Andererseits kann sie in Rom
nicht früher als frühestens 250 v. Chr. etwa bekannt gewesen sein,
wie daraus hervorgeht, daß sie den Gebrauch einer Art von Sonnen-
uhr als bekannt annimmt, während eine solche nach einer Angabe
im Jahre 293, nach einer anderen gar erst 263 erstmalig in Rom
aufgerichtet wurde*).
So bleibt uns als ältestes italisches Verfahren kein anderes übrig
als jenes dem Gedanken nach einfachste Hinschauen nach der Gegend,
wo die Sonne zuerst sichtbar wurde, ein Verfahren welches bei aller
UnZuverlässigkeit doch eine erträgliche Orientierung Uefem kann,
wenn es zu einer Jahreszeit vorgenommen wurde, welche nicht gar
zu entfernt von der Tagundnachtgleiche lag').
Ihm war nur ein Apparat unentbehrlich, der womöglich zwei
Zwecken zu dienen hatte: eine Richtung einzu visieren, eine andere
Richtung senkrecht zur ersteren auf dem Felde zu bestimmen; von
einem solchen altitalischen Instrumente sprechen uns aber die Be-
richterstatter unter dem Namen Groma. Auch dieses Wort ist nach
Ursprung und Bedeutung keineswegs über jeden Zweifel erhaben^).
Die alte Annahme, groma komme von dem griechischen yvfhficDV her,
ist unhaltbar, weil nicht bloß die beiden unter diesen Namen be-
kannten Dinge verschieden sind, sondern auch der griechische
Gnomon, die Sonnenuhr, mit dem Namen in römische Schriftsteller
Eingang fand. Dagegen ist nicht ausgeschlossen, daß beiden Wörtern
ein und dasselbe Stammwort zugrunde liege, ein Stammwort, welches
italisch geschrieben vielleicht gnorma hieß, und ein Senkrechtes im
allgemeinen bedeutet haben mag, wie früher yvtbiiov. Diese gnorma
konnte sowohl in normä als in groma übergehen. Als aber die
Römer viel später den Gnomon der Griechen herübemahmen, mochte
die Ableitung der Groma längst aus dem Bewußtsein geschwunden ge-
wesen sein, so daß es möglich wurde, daß beide Bezeichnungen,
*) Vitruviua Lib. I, Kap. 6, § 6. *) Agrimensoren S. 71. «) Roms Ge-
burtstag wurde durch das Parilienfest am 21. April begangen. Nissen, Das
Templum S. 166. *) Vgl. Agrimensoren S. 72flgg. mit Hultschs Rezension in
Fleckeisen und Maeius, Jahrbücher der Philol.
Älteste Rechenkunst and Feldmessung.
537
ursprünglich verwandt; jetzt unbedenklich zur Benennung zweier ver-
schiedener Vorrichtungen gebraucht wurden^ nachdem der Heimats-
schein des älteren Wortes, wenn wir so sagen dürfen, verloren ge-
gangen war. Gegen diese im allgemeinen sehr annehmbare Auf-
fassung läßt sich, soviel wir sehen, nur der eine nicht unbedenkliche
Einwand erheben, daß alsdann der Name, welchen die Groma (oder
auch cruma, wie es sich wohl findet) bei den Etruskern, welche eines
gleichen Instrumentes sich bedienten, besaß, besessen haben muß, spurlos
verloren gegangen wäre, ein etwas mißlicher Umstand gegenüber von
den verschiedenen älteren und jüngeren Namen, die sich erhalten haben.
Solche jüngere Namen sind machinula und Stella, und wenn von
groma der Name der Feldmesser, gromatici, sich hergeleitet hat,
eine Art amtlicher Personen, die in ältester wie in jüngster Zeit eine
festgegliederte Genossenschaft, fast eine Zunft, bildeten, wenn Groma
selbst auch den Platz in der Mitte der Hauptstraße * eines Lagers
oder einer Stadt bezeichnete, wo bei der Gründung das Instrument
aufgestellt worden war, so läßt die Variante Stella uns erkennen,
welcherlei Gestalt jenes Instrument gehabt
haben muß. Es war der Stern, welcher zu
Herons Zeiten bereits durch die Dioptra über-
holt noch immer bei einzelnen in Gebrauch
war (S. 382). Was aber aus diesem Namen
geschlossen werden konnte, erhielt zuerst
Bestätigung in der Abbildung einer Groma
(Fig. 80), die bei Ivrea auf dem Grabsteine eines
römischen Feldmessers aufgefunden worden
ist *), und wurde vollends sichergestellt, als eine
wirkliche Groma an den Tag kam *). Die Groma
war ein Winkelkreuz, gebildet durch zwei in
horizontaler Ebene sich schneidende Lineale
und aufgestellt auf einem mit Eisen beschlagenen Fußgestelle, dem
ferramentum. An den Enden der Lineale herabhängende Bleisenkel, vier
an der Zahl, wenn auch die Abbildung auf dem Grabsteine nur noch
deren zwei erkennen läßt, verbürgten die wagrechte Aufstellung.
1) Gazzera hat die betreffende Grabschrift 1854 mit 38 anderen im
XIV. Bande der 11. Serie der Abhandlungen der Turiner Akademie veröffent-
licht. Cavedoni lenkte dann im BüUettino archeologico napoktano, nuova 9eria,
anno 1^, die Aufinerksamkeit auf den 11. Stein mit der Abbildung der Groma.
Vgl. Giov. Rossi, Chrama e sqtMdro 1877, pag. 48 und Figwra 3. ») Eine
Lichtdruckabbildung der bei Limesgrabungen in Bayern ans Licht gebrachten Groma
findet sich in einem Aufsatze von H. Schöne (Jahrbuch des archäolog. Listituts
XVI, 1901) und daraus abgedruckt bei Wilh. Schmidt, Über die Gestalt der Groma
der römischen Feldmesser. Bibliotheca Mathematica 3. Folge IV, 234—237 (1908).
538 26. Kapitel.
Mittels dieses Kreuzes ließen in der Tat die beiden Handlangen
sich vollziehen, die wir den Auguren bei Absteckung des Templum
zuweisen mußten: es ließ sich das eine Lineal in die Richtung nach
. dem Aufgange der Sonne bringen, und das andere Lineal zeigte dann
Yon selbst die dazu senkrechte Richtung an. Decimanus und Cardo
konnten abgesteckt werden. Noch eine weitere feldmesserische Ver-
richtung haben wir uns als uralt auf italischem Boden zu denken: die
Abmessung von bestimmten Strecken in gegebener Richtung, denn
die Ländereien waren in lauter gleiche Rechtecke abgeteilt, deren
Seiten ursprünglich wohl von gleicher Länge gewesen sein werden,
in späterer Zeit im Verhältnisse von 1 zu 2 standen^).
Die Vereinigung der Groma mit der Meßstange genügte als-
dann bereits zur Auflösung praktisch nicht unwichtiger Aufgaben,
z. B. der Aufgabe: die Breite eines Flusses von einem Ufer
aus zu messen ohne den Fluß zu überschreiten, eine Aufgabe, für
welche ein bestimmter Name, fluminis varatio, bekannt ist. Bei
einem allerdings vermutlich ziemlich späten Schriftsteller hat sich
eine Methode zur Lösung dieser Aufgabe erhalten*), die wohl mit
Recht eine altitalische genannt und in Vergleich zu ganz ähnlichen
Verfahrungsweisen gebracht worden ist, zu welchen nordamerika-
nische Naturvölker unbeeinflußt von eui-opäischer Wissenschaft sich
aufzuschwingen vermocht haben. Das Verfahren ist nämlich, wenn
auch zutreffend, über die Maßen schwerföUig. Es zeichnet die nicht
unmittelbar zugängliche Länge selbst auf das Feld mittels kon-
gruenter Dreiecke und läßt sie in dieser getreuen Wiederholung
messen, statt daß Berechnung einträte aus Verhältnissen von Seiten
ähnlicher Dreiecke.
Mit diesen Bemerkungen haben wir aber keinenfalls zu wenig
der altitalischen Geometrie zugewiesen, welche somit als eine nur
dem täglischen Bedür&isse gewidmete eines wissenschaftlichen An-
striches entbehrende sich kennzeichnet.
26. Kapitel.
Die Blfite^eit der rfimisehen Geometrie. Die Agrimensoren.
Was ist bei den Römern im Laufe der Jahrhunderte aus alt-
italischer Rechenkunst, aus altitalischer Feldmessung geworden? Er-
*) Stellen dafür vgl. Agrimensoren Anmerkung 260. •) Römische Feld-
messer I, 285—286. Vgl. Agrimensoren S. 108, Günthers Rezension dieses
Buches in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 21. März 1876 und Karrative
of the travels and adventures of Monsieur Violet etc. by Capt. Marryat.
Cbapter IX (Tauchnitz-Edition, pag. 64—65).
Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 539
scheint es doch unmöglich^ daß eine Stadt, die als weltbeherrschender
Mittelpunkt bedeutende Männer aus allen Provinzen des großen
Reiches anzuziehen wußte, nicht auch von solchen zum Wohnort
gewählt worden sein soll, welche der Mathematik sich befleißigten.
Wenn wir nur in Erinnerung bringen, was uns beiläufig begeguete:
in Rom hat im Jahre 98 n. Chr. Menelaus Beobachtungen angestellt
(S. 412), in Rom hat um 244 Plotinus seine vielbesuchte Schule er-
öffiiet (S. 457), in welcher gewiß auch nach damaligem Geschmacke
modernisierte altgriechische Arithmetik einen Gegenstand der Lehre
bildete. So mögen zu verschiedenen Zeitpunkten in Rom Persönlich-
keiten gelebt und gewirkt haben, die um Mathematik sich kümmerten
— Spuren davon werden sich deutlich erkennen lassen — aber sie
waren beinahe verstohlenerweise Mathematiker. Was wir (S. 517)
schoD angedeutet haben, ist jetzt nur stärker zu betonen. Die ganze
geistige Anlage des römischen Volkes war nach anderen Gebieten
gerichtet als der Mathematik, und das Wort Ciceros, die Geometrie
sei bei den Griechen in höchsten Ehren gestanden, deshalb sei nichts
glänzender als ihre Mathematiker, bei den Römern aber sei das Maß
jener Kunst durch den Nutzen des Rechnens und Ausmessens be-
grenzt^), hat fast für alle Zeiten Gültigkeit. Nur eine kurze Spanne
bildet vielleicht eine Ausnahme und gab Anlaß zu Anfängen einer
eigenen mathematischen Literatur, die aber bald ausartete, so daß
nur Übersetzungen oder handwerksmäßige Vorschriften neben bei-
läufigen Andeutungen das Material liefern, aus welchem wir Be-
lehrung ziehen.
Jene Ausnahmsperiode eröfihete sich, während ein Mann an der
Spitze des römischen Staates sich befand, der selbst mathematischen
Sinn besaß und als Schriftsteller in unserem Fache aufgetreten ist:
Julius Cäsar. Er hat ein Buch de astris verfaßt*), welches in der
Mitte des I. S. n. Chr. dem älteren Plinius vielfach als Quelle für
das XVIII. Buch seiner Naturgeschichte gedient hat, und welchem um
das Jahr 400 Macrobius das Beiwort eines nicht ohne Gelehrsamkeit
verfaßten Werkes beilegte. Dasselbe hängt, wie man anzunehmen
berechtigt ist, mit einer Aufgabe zusammen, welche Cäsar sich als
seiner würdig gestellt hatte, mit der Aufgabe der Kalenderver-
besserung.
Das römische Jahr'), der Sage nach von König Romulus zu
304 Tagen angenommen, wurde durch Numa auf 355 Tage verlängert.
*) Cicero, Tu8cul Quaest. Lib. I, Cap. 2, § 6. *) AgrimenBoren S. 78 flgg.
*) Ludw. Ideler, Handbuch der mathematiflchen und technischen Chronologie.
Berlin 1826, Bd. IT, S. 67 ügg., 119—124 und 130—132.
540 2Ö. Kapitel.
womit jenes Janusdenkmal zusammenhängt^ dessen gekrümmte Finger
eben diese Zahl darstellten. Der noch immer mangelhaften Jahres-
länge wurde im Jahre 304 der Stadt durch die Decemvirn, wie es
scheint, mittels eines Schaltmonates nachgeholfen^ der alle zwei Jahre
abwechselnd mit 22 und mit 23 Tagen eingeschoben wurde. Jetzt
war das Jahr wieder zu lang; und zwar nahezu um einen Tag, denn
4 • 355 + 22 + 23 = 1465 = 4 • 366-^ • Es mußte also von Zeit zu
Zeit ein Schaltmonat weggelassen werden, erst regellos, dann im
24jährigen Schaltzyklus. So trat allmählich eine heillose Unordnung
ein, so zwar, daß die Chronologie hinter dem wirklichen Jahre um
volle 85 Tage zurückblieb. Cäsar war eben siegreich aus dem alexan-
drinischen Feldzuge zurückgekehrt, welcher die Jabre 48 und 47 in
Anspruch nahm, als er beraten von Sosigenes die chronologische
Frage ins reine brachte, so daß die Vermutung nahe liegt, Sosi-
genes, der von Simplicius ein Ägypter, von Plinius ein Peripatetiker
genannt wird^), sei selbst Alexandriner gewesen, und habe noch aus
den Schätzen der alexandrinischen Gelehrsamkeit schöpfend von der
Kalenderverbesserung aus dem Jahre 238 unter König Ptolemäus
Euergetes I. gewußt, deren wir (S. 329) gedacht haben. Jedenfalls
war Cäsars Einrichtung die gleiche, welche damals in Alexandria
getroflfen worden war. Das Jahr 46 war das letzte Jahr der Kon-
fusion, ein Name, welcher- ihm geblieben ist. Die 85 fehlenden Tage
wurden in ihm eingeschaltet, und nun sollte jedes Jahr aus 365 Tagen
bestehen, und zur Ergänzung alle vier Jahre zwischen dem 23. und
24. Februar oder römisch gesprochen zwischen dem dies septimus
und sextus ante Calendas Martis ein Tag als bissextus eingeschaltet
werden, woraus der Name des bissextilen Jahres für das Schaltjahr
entstand.
Noch ein zweiter großer Gedanke war in Cäsars Geiste erwacht
oder erweckt worden, der einer Vermessung des ganzen römi-
schen Reiches, wie sie unserer früheren Bemerkung (S. 533) ge-
mäß schon insofern nötig war, als das ganze Reich ein Templum sein
mußte, ein wohlorientiertes Eigentum mit gleichmäßig gerichteten,
gleichmäßig abgesteckten Grenzen. Auch für diesen Gedanken war
Cäsar schriftstellerisch tätig, wenn man einer Aussage trauen darf,
welche den Ursprung römischer Feldmeßkunst mit einem Briefe
Cäsars in Verbindung setzt*). Doch leider ist von diesem Briefe so
wenig wie von der astronomischen Schrift ein eigentlicher Überrest
*) Üj>er Sosigenes vgl. den von Baehr verfaßten Artikel in Paolys Real-
enzyklopädie. *) Nunc ad epistolam JuUi Caesaris veniamas quod ad huiua artis
originem pertin^t. Römische Feldmesser I, 395.
Die Blütezeit der rOmii»cben Greometrie. Die Agrimensoren. 541
auf uns gekoTDmen. War der Gedanke der Reichsvermessung durch
andere in Cäsar angeregt worden, so müssen offenbar auch hier
Alexandriner mit im Spiele gewesen sein. Wenigstens waren es
Männer mit durchaus griechisch klingenden Namen, welchen ver-
schiedenen Quellen nach Cäsar die Ausführung seines Gedankens an-
zuvertrauen gedachte oder schon übertragen hatte, als er am 15. März
44 V. Chr. unter Mörderhand verblutete.
August US ließ das Werk nicht unerfüllt^). Keinen Geringeren
als M. Vipsanius Agrippa betraute er mit der Leitung des ganzen
Unternehmens, und unter diesem scheint ein Oberwegemeister Baibus
tätig gewesen zu sein, der eine wie der andere vielleicht nur mit
ihrem Namen bei der Angelegenheit beteiligt, um dem Unternehmen
wenigstens einen römischen Anstrich zu verleihen, wenn es von
Römern nicht ins Werk gesetzt werden konnte. Fühlte man auch,
daß Griechen allein fähig waren das Gewünschte zu leisten, so trug
man doch wohl eine gewisse Scheu sie den Ruhm ihrer Leistung
davontragen zu lassen, und so ist von der Reichsvermessung bald des
Augustus, bald des Agrippa, bald des Baibus die Rede, welche die
Zeit von 37 bis 20 v. Chr. im ganzen in Anspruch genommen haben
dürfte. Gehörte, wie wir (S. 366) sahen, ein Heron Metricus zu
den tatsächlich an der Arbeit Beschäftigten, was nicht ganz zweifel-
los ist, und haben wir, was ebensowenig zweifellos ist, in Heron
Metricus unseren fieron von Alexandria zu erkennen, so muß
man zugestehen, daß der richtige Mann an den richtigen Platz ge-
stellt war. Ergebnis der Reichsvermessung war die verbürgtermaßen
einst vorhandene große Landkarte, welche den Namen des Agrippa
führte, und welche in einer besonders dazu aufgebauten Säulenhalle
„der Welt die Welt als Schauspiel darbot*^*); Ergebnis die geographi-
schen Kommentarien des Agrippa, auf welche ganze Bücher aus der
Naturgeschichte des Plinius sich stützen.
Die gleiche Zeit ungefähr dürfen wir zuversichtlich als diejenige
betrachten, während welcher die mathematischen Schriften den
Römern einigermaßen bekannt wurden, deren die griechischen Feld-
messer sich bei ihren Arbeiten bedienten, und deren Wert auch für
den Nichtsachverständigen aus der Trefflichkeit dieser Arbeiten sich
erschließen ließ. Was das aber fär Schriften waren, ist keinem
Zweifel unterworfen. Es war vor allen der „Heron", das feldraesse-
') Die letzte Schrift über die große BeichsyermeBBung ist die Breslauer
HabilitationsBchriffc von J. Partsch, Die Darstellang EuropaB in dem geogra-
phischen Werke des Agrippa, 1875. Ältere Literatur vgl. Agrimensoren
S. 82—84. ") PliniuB, Histor. natural. lH, 2: Orbem terrarum orhi apectandum
proposüimM erat
542 26. Kapitel.
rische Handbach des Alexandriners^ welches so auf italischem Boden
Eingang fand. Es war ans ihm ebensowohl die Feldmeßknnst als
die Feldmeß Wissenschaft zu erlernen^ wenn wir diese beiden unter-
scheideiylen Namen weiter gebrauchen , um durch den ersteren die
eigentlichen praktischen Arbeiten auf dem Felde, durch den zweiten
die daran anknüpfenden Rechnungen zu bezeichnen , welche letztere
wir auch wohl rechnende Geometrie nennen (S. 406). Jetzt ver-
drängte die vollkommenere Dioptra die altertümliche Groma, jetzt
bürgerten sich Regeln zur Ausrechnung der Felder ein, während man
bisher vielleicht jede derartige Regel entbehrte, ohne sie zu vermissen,
weil das ausgemessene Land in gleichmäßigen Rechtecken von be-
kannter Größe bestehend einer Flächenberechnung nicht bedurfte, nicht
ausgemessenes Land aber seinen Besitzer nicht leicht änderte; wenig-
stens wurden nur über Besitzstücke mit geradlinigen, zueinander senk-
rechten Grrenzen Flurkarten öffentlichen Glaubens angefertigt.
Um die Zeit, zu welcher unter dem Einflüsse des Machthabers
die Veränderung römischen Gbschmackes stattfand, welche nur zu
wenig nachhaltig sich erwies, als daß sie der Mathematik zu Fort-
schritten hätte verhelfen können, schrieb Marcus Terentius Varro,
der Freund des Cicero, des Pompejus, in späterer Zeit des Cäsar,
dessen Leben nach der wahrscheinlichsten Annahme die Jahre 116
bis 27 V. Chr. erfüllte. In politischen Kreisen spielte er trotz seiner
Beziehungen eine nur selten und wenig hervorragende Rolle. Desto
bedeutender war die literarische Tätigkeit, der er sich hingab. Er
gebot über fast unerschöpfliches Arbeitsmaterial, da er nicht nur Be-
sitzer der großartigsten Privatbibliothek war, sondern auch von Cäsar
einer öffentlichen Büchersammlung vorgesetzt wurde. Wie er aber
dieses Material zu benutzen verstand, beweist seine eigene Äußerung \),
nach welcher er am Ende seiner siebziger Jahre 490 Bücher ge-
schrieben hatte, und so kann man wohl dem Urteile des Terentianus
Maurus, eines Grammatikers aus den Zeiten der Kaiser Nerva und
Trajan, beistimmen, der Varro den Gelehrtesten aller Gegenden nannte.
Die erhaltenen Schriften des Varro beziehen sich auf Landwirtschaft
und auf Grammatik und nehmen unter den Arbeiten auf diesen
beiden Gebieten einen ehrenvollen Rang ein. Um so mehr bedauern
wir den Verlust gerade der Werke, welche ims wichtig sein würden^.
*) Aul. GelliuB, Noctes Atticae III, 10, 17: M. Varro ibi (in primo libro-
rum qni insoribuntur Hebdomades vel De imaginibus) addit se qiAoque jam duo-
decimam annorum hebdomadem ingressum esse et ad eum diem septuaginta hebdo-
madas Ubrorum conscripsisse. ^ Gast. Boissier, iJtude sur la vie et Us
ouvrages de M. T. Varron, Paris 1861. Über die wissenschaftlichen Schriften,
welche zu dem letzten zu gehören scheinen, was Varro schrieb, vgl. pag. 827
Die Blütezeit der römiflchen Geometrie. Die Agrimensoren. 543
Verloren ist eine Schrift über Vermessangen, mensuralia; verloren
ist ein Buch Geometrie, in welchem, nach dem Bericht des Gassiodor,
die Gestalt der Erde als eirund angegeben war, ein insoweit ver-
dienstlicher Gedanke, als damit in origineller Weise unter Beibehal-
tung der runden Körpergestalt der Erde ihre Abweichung von der
Eugelform gemutmaßt wurde; verloren ist allem Anscheine nach ein
arithmetisches Werk Varros, Atticus sive de numeris, welches Ver-
tranius Maurus, der eine Biographie des Yarro geschrieben hat, noch
im Jahre 1564 in Rom gesehen haben wiU^); verloren ist auch ein
Werk aus neun Büchern bestehend, de disciplinis, in welchem, wie
man annimmt, enzyklopädisch über die einzelnen Wissenschaften ge-
handelt war, und welches somit das Urbild für viele ähnliche Sammel-
werke abgab, die uns noch begegnen werden, aber selten mehr liefern
als einzelne fast nur zufällig verwertbare Notizen. Die Reihenfolge
der neun Wissenschaften bei Yarro war: 1. Grammatik, 2. Dialektik,
3. Rhetorik, 4. Geometrie, 5. Arithmetik, 6. Astrologie, 7. Musik,
8. Medizin, 9. Architektur, und es ist zweifelhaft, ob nicht die oben
erwähnte Geometrie als das hier genannte 4. Buch zu betrachten ist.
Würde sich eine bei Plinius vorkommende Notiz*) auf das 8. Buch
beziehen, so hätte Yarro dieses Werk in seinem 83. Lebensjahre ver-
faßt. Als ganz originell ist übrigens auch bei ihm die Zusammen-
stellung nicht anzusehen, da die griechische Wissenschaft schon den
Begriff der freien Künste ausgebildet hatte, der jetzt in wechselnder
Zahl (meistens 7 artes liberales anführend) und in wechselnder Wahl
der Gegenstände die ganze Folgezeit bis durch das Mittelalter hin-
durch beherrscht. Ob freilich Yarro, der römisch gesinnte Römer,
seine Abhängigkeit von griechischen Mustern nicht teilweise zu ver-
bergen suchte, wird schwerlich mehr zu ermitteln sein. Wir kamen
zu dem Gedanken an diese Möglichkeit von der Erwägung ausgehend,
daß es Yarro vorzugsweise ist, der die Feldmeßkunde der Rönjer auf
etruskische Anfänge zurückgeführt hat.
Der nächste römische Schriftsteller, welchem tiefer gehende mathe-
matische Kenntnisse nicht bloß in allgemeiner Weise zuzutrauen sind,
sondern aus dessen Schriften wir Belege dafür zu schöpfen vermögen,
ist Yitruvius, der Verfasser von 10 Büchern über Architektur, die
vermutlich im Jahre 14 v. Chr. vollendet wurden und dem Augustus
zugeeignet sind. Das ist alles, was über die Persönlichkeit des Yitru-
vius mit Sicherheit gesagt werden kann. Sogar sein Beiname Yitru-
bifl 881. Siehe auch Teuf fei, Geschichte der römischen Literatur (III. Auf-
lage) S. 288.
^) YossiuB, De scientiis matheniaticis pag. 39 (Amsterdam 1650). *) Plinius^
Histar. natwral XXIX, 18, 65.
544 26. Kapitel.
vius Pollio schwebt einigermaßen in der Luft, indem der Verfasser
eines Auszuges aus der vitruvischen Architektur, welcher uns den-
selben überliefert hat, eine selbst rätselhafte Persönlichkeit von ganz
unbekanntem Zeitalter ist, der nur aus sprachlichen Gründen meistens
für dem Zeitalter des Vitrurius ziemlich nahestehend und dem ent-
sprechend glaubwürdig gehalten wird. In den Schriften des Yitru-
yius, sagten wir, stecken mancherlei Belege jenes mathematischen
Wissens. In einem Werke über Architektur findet sich an und fQr
sich an den verschiedensten Stellen Veranlassung ein solches Wissen
an den Tag zu legen, um wieviel mehr bei Vitruvius, dessen schrift-
stellerische Eigentümlichkeit es genannt werden kann, daß er mit
fast possierlicher Geschwätzigkeit Bemerkungen beizufügen und Ge-
schieh tchen zu erzählen liebt, die zu dem behandelten Gegenstande
nur in entferntester Beziehung stehen, oft aber uns erwünschte Mit-
teilungen enthalten. Überall verrät sich dabei Yitruvius als das, als was
wir ihn zu finden erwarten mußten, als Schüler der Griechen, wenn
auch als einen solchen, der es mitunter wagt von der Ansicht des
Lehrers sich zu entfernen. Wir nennen als der Mathematik an-
gehörig ^) eine Auseinandersetzung über die Größenverhältnisse der
einzelnen Körperteile des Menschen; einen Abriß der arithmetischen
Harmonielehre nach Aristoxenus; eine Schilderung dessen, was nach
Yitruvs Geschmack die drei größten mathematischen Entdeckungen
waren: die Irrationalität der Diagonale eines Quadrates, das pythago-
raische Dreieck aus den Seiten 3, 4, 5 und die archimedische Eronen-
rechnung. Wir nennen Beschreibungen von feldmesserischen Appa-
raten verschiedener Art und Anweisungen sich derselben zu bedienen.
Da ist der Gnomon mit der Bestimmung der Mittagslinie aus zwei
Beobachtungen gleicher Schattenlängen am Vor- und Nachmittage.
Da sind Nivellierungen mittels der Dioptra und ein Wegemesser. Bei
der Beschreibung des letzteren ist gelegentlich der Umfang eines
Rades von 4— Fuß Durchmesser zu 12 - Fuß angegeben, was ein
Verhältnis der Peripherie zum Durchmesser von 3 : 1 bezeugt*). Wir
nennen Berechnungen des Kalibers von Wurfmaschinen aus dem Ge-
wichte der Massen, welche sie zu schleudern bestimmt waren, wobei
>) Vitruvius lU, 1; V, 4; VIII, 6; IX, 1, 2, 3, 8; X, 14, 16, 17, 21. Vgl.
Agrimensoren S. 157 und 86^89. *) In älteren Ausgaben des Vitnivius war der
Durchmesser des Rades zu 4 Fuß angegeben, was einem »»= 12 - :4a:8-^
entspräche. Die letzte von V. Böse veranstaltete Ausgabe hat die in unserem
Texte angegebene Zahl 4-— als beglaubigte Lesart.
6
Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die AgrimenBoren. 545
Brüche in Menge vorkommen, allerdings nur ziemlich angenäherte
Werte hervorbringend, so daß von der Rechenkunst des Vitruvius
auch hierdurch uns keine übermäßig hohe Meinung erweckt wird^).
Wir haben endlich zu dem (S. 367) zugesagten Nachweise der Ab-
hängigkeit des Vitruvius von Heron überzugehen, eine Abhängigkeit,
welche auch die Nivellierungsmethoden in hohem Grade wahrschein-
lich machten. Wir glauben es dem Auffinder der betreffenden Be-
weisstellen schuldig zu sein, seine Schlußfolgerungen im Wortlaute^)
zu wiederholen, indem wir nur zur Bequemlichkeit unserer Leser die
Steilen aus Vitruvius in deutscher Übersetzung geben und voraus-
schicken, daß Vitruvius sich meistens nur auf die Griechen, Crraeci,
als seine Gewährsmänner bezieht, ohne Aristoteles und Archimedes
bestimmt zu nennen, wo sie sicherlich als Quelle dienten:
„Vitruv*) schreibt: Ist das kurze Ende (linffida) eines eisernen
Hebels unter eine Last gebracht, und drückt man dessen langes Ende
{captd) nicht nach abwärts, sondern hebt es vielmehr aufwärts, so be-
sitzt das auf den Boden der Erde sich stützende kurze Ende diese
als Last, die Ecke der Last aber dient dem Drucke. So wird zwar
nicht so leicht wie beim Abwärtsdrücken, sondern ihm entgegen-
gesetzt immerhin das Gewicht der Last in die Höhe geschafft.
Die entsprechende Stelle bei Heron ^) lautet: Nehmen wir zuerst
an, er (der Hebel) sei dem Erdboden parallel. Der Hebel sei die
Linie aß imd die durch ihn zu bewegende Last, nämlich y, bei dem
Punkte a, die bewegende Kraft
bei dem Punkte ß (Fig. 81) . . .
Wenn wir nun das bei ß befind-
liche Hebelende heben..., dann
beschreibt der Punkt ß einen ^ ^^^
Kreis um den Mittelpunkt Ö Fig. 8i.
(d ist die Kante des Körpers y,
gegen welche der Hebel drückt^)), und der Punkt a um denselben
Mittelpunkt einen kleinen Kreis. Wenn sich nun die Linie ßd zxx äa
verhält wie die Last y zur Kraft bei ß, so hält die Last y der
Kraft ß das Gleichgewicht. Ist das Verhältnis ßd :da größer als
das der Last zur Kraft, so hat die Kraft das Übergewicht über die
Last, weil zwei Kreise um denselben Mittelpunkt vorhanden sind und
^) Hultsch, Die Brachzeichen des Vitra vius in Fleckeisen und Masius,
Jahrbücher der Philol. *) Edm. Hoppe, Ein Beitrag zur Zeitbestimmung Herons
von Alexandria S. 4—5 (Hamburg 1902). ') Vitruvius (ed. V. Rose) X, 8, 3
pag. 260. *) Heron (ed. L. Nix) II, 114 Z. 80 flgg. *) Bei Hoppe steht irriger-
weise s statt d; übrigens ist der ganze eingeklammerte Satz eine Erläuterung
Hoppes und bei Heron nicht vorhanden.
Caktob, Oesohichte der Mathematik I. 8. Aufl. 35
546 26. Kapitel.
die Last sich am Bogen des kleineren Kreises und die bewegende
Kraft sich am Bogen des größeren Kreises befindet usw.
Zunächst ist zu bemerken ^ daß beide denselben Fehler machen^
nämlich diesen einarmigen Hebel als zweiarmigen zu behandeln. Sollte
die Heronsche Darstellung richtig werden^ müssen die Radien der
beiden Kreise aß und ad sein^ a der gemeinsame Mittelpunkt. Wäh-
rend man aber bei Heron sehr wohl den Grund des Fehlers einsieht,
ist bei Vitruv gar nicht abzusehen, wie er auf die Verwechslung ge-
kommen sein sollte, wenn er sie nicht eben aus den auch an dieser
Stelle angerufenen ,,Graeci^', d. h. Heron, abgeschrieben hat. Heron
hat nämlich vorher die Wellräder beschrieben und da die Gesetze
mit Hilfe der Kreisbogen abgeleitet, so führt er auch beim Hebel die
Erklärung auf die Welle zurück. Nun hat er die Beobachtung ge-
macht, daß, wenn unter dem zu hebenden Steine y das Erdreich
weich ist, das Ende a unter dem Steine in dem sandigen Erdboden
einen Kreisbogen zu beschreiben scheint, während an der Kante d
scheinbar der Ruhepunkt ist. Diese Beobachtung ist irrig, denn der
Stein y wird nur gehoben, wenn das Ende a schließlich in dem Erd-
reich doch einen Stützpunkt findet; bis dies geschieht, ist in der Tat
das Zusammendrücken der Erde durch a die Wirkung eines zwei-
armigen Hebels, dagegen sobald die Last y gehoben wird, arbeitet
der Hebel als ein einarmiger. Der Fehler bei Heron ist also yer-
ständlich, der bei Vitruv ist unerklärlich.
Noch an einer anderen Stelle^) drückt sich Vitruv sehr zwei-
deutig aus, so daß es mir zweifelhaft ist, ob er Heron verstanden
hat. Vitruv beschreibt nach Heron den Windebaum, vergißt zu er-
wähnen, was bei Heron*) ausführlich beschrieben ist, daß der Baum
in seinem Unterstützungslager drehbar sein muß, dann sagt er am
Schlüsse: eine einzige Aufstellung des Windebaums gewährt den
Nutzen, daß er durch Neigung die Last soweit man will nach vom
oder nach rechts oder links zur Seite niederlassen kann. Wenn diese
„Neigung'' (proclinare) erfolgt, ehe die Last an den Kopf des Winde-
baums gezogen ist, so ist die Vitruvsche Vorrichtung unmöglich,
denn beim Heben der Last würde diese sofort nach der Seite hin-
pendeln, wohin der Balken geneigt ist, und gegen die Mauer oder
den Wagen, auf welchen sie gehoben werden soll, schlagen. Heron
hat das natürlich gewußt, er schreibt*): Hierauf ziehen wir die Seile
(der Winden) an, entweder mit den Händen, oder mit sonst einem
Werkzeug, und die Last hebt sich alsdann. Wenn man nun einen
*) Vitruvius (ed. V. Rose) X, 2 pag. 246. ») Heron (ed. L. Nix) II, 202.
«) Ebenda II, 204.
Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 547
Stein auf eine Mauer oder an einen beliebigen Ort bringen will^ so
löst man das Seil^) an einem der festen Stützpunkte^ welche den
Stützbalken^ an dem die Rollen befestigt sind^ halten und zwar auf
der entgegengesetzten Seite als die^ nach welcher man den Stein
bringen will, und der Balken neigt sich nach jener Seite^ dann laßt
man das Seil mit der Rolle langsam herab bis zu dem Orte, wo
man den Stein einsetzen will. Wenn man aber den Stützbalken^ an
welchem die Rolle befestigt ist, nicht soviel neigen kann^ um die
gehobene Last an den beabsichtigten Ort gelangen zu lassen , so
bringen wir Walzen darunter an, auf denen wir sie laufen lassen^
oder treiben sie mittels Hebels so weit, bis wir sie an die beabsich-
tigte Stelle bringen.
Ich habe die Heronsche Beschreibung so ausführlich hier ange-
geben, damit sich jeder überzeugen kann, daß wir es mit der Arbeit
eines jJErfinders" oder doch jemandes, der die Werkzeuge genau be-
obachtet hat, zu tun haben. Es mag sein, daß Vitruy auch meint,
man solle erst die Last heben und dann den Balken neigen, gesagt
hat er es aber nicht, und seine Leser konnten sehr wohl die umge-
kehrte Ordnung herauslesen. Die ungenaue Beschreibung macht den
Eindruck, als ob Yitruv die Maschine nicht gesehen hätte, sondern
nach einer literarischen (unverstandenen) Vorlage gearbeitet habe.
Das ist typisch für das Verhältnis Vitruvs zu den von ihm genannten
Graeci, d. h. Heron. Und es kann meiner Meinung nach kein Zweifel
bestehen, wie das Abhängigkeitsverhältnis zu denken ist/^
Wir wissen dieser Auseinandersetzung nichts hinzuzufügen. Höch-
stens möchten wir deren letzte Worte dahin ergänzen, daß wer die
Verwandtschaft zwischen Vitruvius und Herons Mechanik zugibt, nur
annehmen kann, Vitruvius habe die Mechanik benutzt und deren An-
gaben abgekürzt. Daß Heron die undeutliche Schilderung des Vitru-
vius zu jener klaren Darstellung in der Mechanik erweitert haben
könnte, ist uns wenigstens undenkbar, und somit scheint uns die zeit-
liche Reihenfolge: Heron früher als Vitruvius gesichert. Wer da-
gegen die erwähnte Verwandtschaft leugnet oder auf gemeinsame
Abhängigkeit von einem unbekannten älteren Schriftsteller deutet,
wird zunächst als untere Lebensgrenze Herons festzuhalten haben,
daß er vor Menelaus von Alexandria gesetzt werden muß.
L. Junius Moderatus Columella*) aus Gades (Cadix) war
Militärtribun der VI. gepanzerten Legion und lebte als solcher längere
Zeit in Syrien. Von dort heimgekehrt widmete er sich mit begeisterter
^) Der Windebaum wurde durch drei oder vier Seile aufrechtgestellt.
•) Agrimensoren S. 89—98.
35*
548 26. Kapitel.
Anhänglichkeit der Landwirtschaft^ welche er in zwei Werken nach-
einander verherrlichte. Von der ersteren kürzeren Ausarbeitung ist
nur ein Bruchstück erhalten, die zweite ausführliche Schrift ist da-
gegen vollständig auf uns gekommen. Die XII Bücher De re rustica,
wahrscheinlich 62 n. Chr. geschrieben, sind eine fast unerschöpfliche
Fundgrube reichster Art für alle Gebiete, welche zur Landwirtschaft
irgendwie in Beziehung gesetzt werden können, da der begabte und
gelehrte Verfasser seinen Gegenstand in weitestem Umfange behan-
delt. Freilich ist damit für ihn die Unbequemlichkeit entstanden,
daß man, wie er selbst klagt, über alle möglichen Dinge Auskunft
von ihm begehre. Er hilft sich so gut er kann. Er zieht be-
freundete Fachmänner verschiedener Gattung zu Rate, und so gesteht
er auch zu, daß das 2. Kapitel des V. Buches, in welchem er Feld-
messung lehrt, kein Erzeugnis seines eigenen Geistes sei^). Für Voll-
ständigkeit oder UnVollständigkeit, sowie für die Richtigkeit der ge-
gebenen Vorschriften sind diejenigen verantwortlich, welche ihm hier
mit ihrer Erfahrung beigestanden haben.
Zuerst macht Columella seinen Leser mit den unentbehrlichsten
Ackermaßen bekannt, dann löst er neun geometrische Aufgaben je
an einem bestimmten Zahlenbeispiele. Allgemeine Vorschriften, wie
bei anderen Zahlenangaben zu verfahren sei, gibt er nicht; diese soll
der Leser sich selbst aus der Musterrechnung entnehmen^). Schon
an dieser Eigentümlichkeit wird man den Schüler des Heron von
Alexandria vermuten, und die Vermutung wird zur Gewißheit, wenn
man die Aufgaben des ColumeUa selbst ansieht. Es sind sämtlich
Aufgaben, welche mit solchen in Herons Vermessungslehre oder
in den Heronischen Sammlungen oder in beiden übereinstimmen,
wenn wir von der einzigen Verschiedenheit absehen, daß Columellas
Zahlenwerte für die Länge einzelner Strecken dort nicht auftreten.
Wir erinnern uns, daß Heron in der Sammlung, welche die Über-
schrift Geometrie fährt, die Fläche des Sechsecks nach zwei Methoden
berechnet. Zuerst läßt er das Quadrat der Sechsecksseite 13 mal
nehmen und dann durch 5 teilen; anders, heißt es hierauf, in einem
anderen Buche, wo die Vorschrift gegeben sei „- und ^ des Seiten-
quadrats 6 fach anzusetzen; als Beispiel dient das Sechseck von der
Seite 30. Vergleichen wir damit Columellas 9. Aufgabe, so erkennen
wir in der Rechnung der Fläche des Sechsecks von der Seite 30
durch die Zahlen 900, 300, 90 und der Summe 390 dieser beiden
^) Ne dubites id opus geometrorum magis esse quam rusticorum, desque
veniam, st quid in eo fuerit erratum, cuius scientiam mihi non vindioo. *) Cuius-
que generis species subiciemus, quibus qtuisi formulis utemur.
Die Blütezeit dei lömischen Geometrie. Die Agrimensoren. 549
letzten hindurch zum 6 fachen derselben Summe mit 2340 genau den
Gang und die Zahlen Herons. Heronische Formfeln bieten nun auch
die anderen Aufgaben Columellas, so' die 4. Aufgabe, welche das
gleichseitige Dreieck als ^ und -^ des Seitenquadrats berechnet, die
8. Aufgabe, welche die fißche eines Kreisabschnittes, der kleiner ist
als der Halbkreis, aus der Sehne s und der Höhe h des Abschnittes
il)'
nach der Formel ^"T -h + - ^ . - findet usw. Auch die von uns al»
nicht anzuzweifelnd gegebene Zeitbestimmung, Heron müsse vor
Menelaus gesetzt werden, erleidet höchstens eine Verschiebung um
wenige Jahrzehnte, wenn wir Heron gegenwärtig vor das Jahr
62 n. Chr. hinaufzurücken Veranlassung finden.
Etwa gleichaltrig mit ColumeUa war M. Fabius Quintilianus,
dessen Lebenszeit ungefähr von 35 — 95 angesetzt wird. Er ver-
faßte XII Bücher Vorschriften für Redner, und es ist ein glücklicher
Zufall zu nennen, daß im I. Buche dieses Werkes eine Stelle von
mathematischer Wichtigkeit sich vorfindet, welche wir um ihrer nach
verschiedenen Seiten wirkenden Bedeutung willen in wörtlicher
Übersetzung folgen lassen^): „Wer wird einem Rechner nicht ver-
trauen, wenn er vorbringt, der Raum, der innerhalb gewisser Linien
enthalten sei, müsse der gleiche sein, sofern jene Umfassungslinien
dasselbe Maß besitzen? Doch ist dieses falsch, denn es kommt
sehr viel darauf an, von welcher Gestalt jene Umfassung ist, und
von den Geometern ist Tadel gegen solche Geschichtsschreiber er-
hoben worden, welche da glaubten, die Größe von Inseln werde zur
Genüge durch die Dauer der Umschiffung gekennzeichnet. Je voll-
kommener eine Gestalt ist, um so mehr Raum schließt sie ein.
Stellt daher jene ümfassungslinie einen Kreis dar, welches die voll-
kommenste der Gestalten der Ebene ist, so schließt sie mehr Raum
ein, als wenn sie bei gleicher Küstenstrecke ein Quadrat bildete.
Das Quadrat hinwiederum schließt mehr Raum ein als das Dreieck,
das gleichseitige Dreieck mehr als das ungleichseitige. Doch dieses
andere mag vielleicht zu dunkel sich erweisen; verfolgen wir dagegen
einen auch dem Ungeübten sehr leichten Versuch. Es wird nicht
wohl irgend jemandem unbekannt sein, daß das Maß des Jucharts^)
240 Fuß in die Länge beträgt, während es nach der Breite um die
Hälfte sich öffnet; was also der Umfang ist, und wieviel Feld er
in sich schließt ist bequem zusammenzubringen. Aber 180 Fuß an
*) Qnintilianns, Institutianea oratoriae (ed. Halm, Leipzig 1868) I, 10,
39 — 45 (pag. 62). *) jugerum ist das römische Doppelfeldmaß, welches z. B.
Varro definiert hat: Jugerwm dictum iunctis duobus octt&K« quadraiis.
550 26. Kapitel.
jeder Seite bilden dieselbe Ausdehnung der Grenzen, dagegen weit
mehr von den vier Linien eingeschlossenen Flächenraum. Wer wider-
willig ist das auszurechnen, kann dasselbe an kleineren Zahlen lernen.
Je 10 Fuß ins Quadrat sind 40 Fuß ringsum, inwendig 100 Fuß.
Sind je 15 Fuß seitlich, je 5 in der Fronte, so wird man bei gleichem
Umfange von dem, was eingeschlossen ist, den vierten Teil ab-
ziehen müssen. Wenn aber 19füßige Seiten nur um je 1 Fuß von-
einander abstehen, so werden sie nicht mehr Quadratfuße in sich
fassen, als die Zahl, nach welcher die Länge wird gezogen worden
sein. Die ümfassimgslinie aber wird von derselben Ausdehnung sein
wie die, welche 100 Quadratfuß enthält. Was man also von der
Quadratgestalt abzieht, das geht auch von der Menge zugrunde. Es
kann folglich auch das erreicht werden, daß mit einem größeren
Umfange eine geringere Menge Feldes eingeschlossen sei. So in der
Ebene, denn daß bei Hügeln und Tälern die Bodenfläche eine
größere ist als die der darüber befindlichen Himmelsdecke, liegt auch
für den Unerfahrenen zutage." Wir haben diese Stelle wiederholt
früher beigezogen. Wir haben (S. 173) mit ihr belegt, daß irrige
Meinungen fast zäher festgehalten werden als richtige. Wir möchten
beinahe entschuldigend er^nzen, daß Römer, deren Felder, wie wir
gesehen haben, tatsächlich gleiche Gestalten besaßen, leichter dem
gerügten Irrglauben verfallen konnten. Durfken sie doch beinahe
dem Beispiele, durch welches Quintilian sie eines Besseren belehren
wollte, entgegenhalten, solche Felder von 180 Fuß ins Quadrat kämen
nicht vor. Zweitens ist, wie uns scheint, durch die Sätze über den
Flächenraum der verschiedenen, weniger vollkommnen und voU-
kommneren, Figuren der Beweis geliefert (S. 357), daß Zenodorus,
welchen man für den Erfinder jener Sätze hält, vor Quintilian gelebt
haben muß, wodurch mindestens eine untere Lebensgrenze für den-
selben gewonnen wird, die weit höher hinaufreicht als das Zeitalter
des Pappus. Drittens endlich ist uns Quintilian ein Beispiel fast
heimlicher Beschäftigung mit mathematischen Dingen, wie wir sie
oben (S. 539) angekündigt haben, er weiß, daß er von seinen Lesern
nicht verstanden werden wird, daß er mit seinem Wissen vereinzelt
dasteht, aber er kann es doch nicht unterlassen wenigstens nebenbei
Sätze zu erwähnen, die für ihn Interesse besitzen.
Dem Geburts- wie dem Todesjahre nach wieder nahe bei Quin-
tilian wird Sextus Julius Frontinus*) von 40 — 103 angesetzt.
Er gehörte dem Staatsdienste an, während Yespasianus, Titus, Do-
mitianus, Nerva und Trajanus als Kaiser aufeinander folgten. Unter
^) Agrimensoren S. 93 flgg.
Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoxen. 551
Domitianns' Regierung scheint er mit YorBchnften über die Feld-
meßknnst erstmalig als Schriftsteller aufgetreten zu sein. Eüriegs-
wissensehaftliche Schriften folgten rasch. Ein uns einzig vollständig
und unverfälscht durch fremde Zutaten erhaltenes Werk in zwei
Büchern über Wasserleitungen^), unter Nerva begonnen, unter Trajan
etwa im Jahre 98 beendigt, bildet den Schluß seiner schriftstelle-
riseheu Tätigkeit. Für die Geschichte der Mathematik bietet es
kaum etwas mit Ausnahme von ziemlich zahlreichen Berechnungen
von Umfangen von Wasserleitungsröhren aus ihren Durchmessern,
bei welchen die Yerhältniszahl tt = 3y benutzt ist, soweit die
römischen Duodezimalbrüche, mit denen allein operiert ist, es gestatten
die Verhältniszahl zu erkennen. Wenn Frontinus in der Vorrede
zu dieser Schrift sagt: nachdem Kaiser Nerva ihn dem sämtlichen
Wasserwesen vorgesetzt habe, schreibe er dies Büchlein um sich
selbst über seine Pflichten klar zu werden, es könne dann möglicher-
weise auch seinen Nachfolgern im Amte sich nützlich erweisen; was
er dagegen früher geschrieben, habe sich stets auf Dinge bezogen,
mit welchen er durch lange Übung vei-traut war, und sei daher der
Hauptsache nach mit Rücksicht auf die Belehrung seiner Nachfolger
entstanden, so sind diese Bemerkungen reichlich dazu angetan uns
den Verlust des feldmesserischen Werkes bedauern zu lassen. Wir
wissen nur aus einer Randbemerkung*) eines Schreibers vermutlich
zu Anfang des XII. S., daß dieser ein Buch des Frontinus gekannt
hat, in welchem Flächeninhalte von Vierecken berechnet wurden.
Wir wissen femer von einzelnen Stellen aus jenem feldmesserischen
Werke und von der fast wörtlichen Wiederkehr solcher Stellen in
einem berühmten Buche aus dem Anfange des XIU. S.'), welche die
Vermutung erweckt, gewisse dort beschriebene und, wie der Ver-
fasser sich ausdrückt, alten Weisen zu verdankende feldmesserische
Operationen möchten, wiewohl in den Fragmenten des Frontinus selbst
fehlend, ursprünglich von ihm beschrieben worden sein.
Die uns erhaltenen Bruchstücke des Frontinus finden sich ver-
einigt mit anderen für die Geschichte der Mathematik hochwichtigen
Fragmenten in einer Sammelhandschrift, welche von 1566 — 1604 im
Besitze von Johannes Arcerius in Groningen war und deshalb von
*) Vgl. über dieses Werk eine kleine Druckschrift des New Yorker Wasser-
bauingenieurs Clemens Herschel, Frontinus and his two booka on the water
supply of the city of Borne, die den Inhalt einer von ihrem Verfasser am 2. Fe-
bniar 1894 in der Comell-Üniversitat gehaltenen Vorlesung wiedergibt. *) Agri-
mensoren S. 94 und Anmerkung 186. ') Agrimensoren S. 179 9Lgg. über Frontinus
und Leonardo von Pisa.
552 26. Kapitel.
dem nachfolgenden Eigentümer Petrus Scriverius in einer Beschrei-
bnng aus dem Jahre 1607 den Namen der arcerianischen Hand-
schrift erhielt, als welche sie heute noch bekannt ist^). Sie ist
eine der ältesten größeren Handschriften, welche man überhaupt
besitzt, und nach dem urteile der Fachgelehrten nicht später als
im Vn., vielleicht schon im VI. S. niedergeschrieben. Alan nimmt
an, es seien um das Jahr 450 aus alteren Schriften, sämtlich auf
Gebietseinteilung, Agrargesetzgebung imd dergleichen bezüglich, amt-
liche Auszüge veranstaltet worden als rechtswissenschafüich-statisti-
sches Nachschlagebuch für Yerwaltungsbeamte des römischen Kaiser-
reichs, und eine wieder um ein oder anderthalb Jahrhundert jüngere
Abschrift dieser Sammlung sei als Codex Arcerianus auf uns ge-
kommen, die sauber und schön geschriebene Arbeit eines vielleicht als
Beamter sehr brauchbaren Mannes, der aber von Feldmessung wenig
oder gar nichts verstand und daher zu den Fehlem, welche bereits
in seiner Vorlage vorhanden gewesen sein mögen, noch weitere nicht
seltene eigene Versehen und Schreibfehler hinzufügte. Man sieht, daß
es insofern keine sehr reine Quelle ist, aus welcher wir genötigt sind
unser Wissen zu schöpfen. Es steht keineswegs fest, daß die ver-
schiedenen Bruchstücke gerade von den Schriftstellern herrühren,
welchen sie zugeschrieben sind; es steht keineswegs fest^ wie die
Namen, welche mitunter in mehrfachen Schreibformen vorkommen,
wirklich gelautet haben; es steht keineswegs fest, wann die Träger
dieser Namen gelebt haben, ob, wie man aus ihrer Vereinigimg und
aus manchen anderen Umständen schließen möchte, sie alle etwa der
Zeit von 50 bis 150 angehören, d. h. dem Jahrhunderte, in dessen
Mitte Kaiser Trajan lebte, imter welchem, wie wir uns wiederholt
erinnern wollen, Menelaus von Alexandria in Rom seinen Aufenthalt
aufgeschlagen hatte, oder ob man für sie zum Teil wesentlich späterer
Datierungen bis um das Jahr 400 sich bedienen muß.
Inmitten dieser Zweifel begnügen wir uns die Namen der Feld-
messer Frontinus, Hyginus, Baibus, Nipsus, Epaphroditus,
Vitruvius Rufus, die als Verfasser kleinerer oder größerer Bruch-
stücke*) genannt sind, anzugeben, femer kurz zu berichten, was man
*) Über den Codex Arcerianus der Wolfenbüttler Bibliothek vgl. Agrimen-
Boien S. 95. *) Die Bruchstücke des Epaphroditus und YitruviuB Bufus vgl.
Agrimensoren und Un nouveau texte des traitis d'arpentage et de giomärie d'EpcL-
phroditxts et de Vitruvius Bufus publie d'apris le Ms. Latin 13084 de la Biblio-
theque Boyale de Munich par Victor Mortet avec une introduction de Paul
Tannery. Notices et Extraits etc. T. XXXV, 2« Partie (Paris 1896); alle übrigen
B. Römische Feldmesser I. Übersetzungen wichtiger Teile bei E. Stoeber,
Die römischen Grund Vermessungen. München 1877.
Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 553
von den Persönlichkeiten des Hyginus und des Baibus weiß^ und
schließlich ein Gesamtbild der in jenen Bruchstücken enthaltenen
mathematischen Kenntnisse zu geben, ohne eine genauere Zeitbestim-
mung daran zu knüpfen als diejenige, daß alles yorhanden war, als
der Schreiber des Codex Arcerianus es zu Papier brachte.
Der Name Hyginus tritt mehrfach in der römischen Literatur
auf. Hyginus, ein Zeitgenosse des Augustus, hat ein astronomisches
Werk verfaßt. Ein Militarschriftsteller Hyginus hat über die Anlage
von Lagern mutmaßlich zwischen 240 und 267 gehandelt^). Von
beiden verschieden ist der Feldmesser Hyginus, der unter Trajan
lebte und ein größeres feldmesserisches Werk wahrscheinlich im
Jahre 103, im Zwischenräume zwischen den beiden dacischen Kriegen
verfaßte*).
Auch der Name Baibus tritt mehrfach auf. Wir haben einen
Oberwegemeister Baibus aus der Zeit des Augustus zu nennen ge-
habt, dem die Aufsicht über die große Beichsvermessung übertragen
war. Der Baibus, von welchem uns Bruchstücke überliefert sind, ge-
hört der trajanischen Zeit an'). Er begleitete den Kaiser auf seinem
dacischen Feldzuge, und nach errungenem Siege, mithin 103 oder
wenn der zweite Feldzug gemeint war spätestens 117, nach Hause
zurückkehrend, richtete er eine feldmesserische Schrift an einen
Celsus, welcher nicht genau bekannt ist, aber den Worten des
Baibus gemäß eine erste Autorität des Ligenieurfaches gewesen
sein muß.
Die anderen Namen Marcus Junius Nipsus, Epaphroditus,
Vitruvius Rufus sind außer in Verbindung mit den ihnen zuge-
schriebenen Bruchstücken nicht näher bekannt Den erstgenannten,
wahrscheinlich einen griechischen Freigelassenen eines Römers aus
dem Hause der Junier, hat man gewichtige Gründe nicht später als
in das H. S. zu setzen. Um jene Zeit dürfte nämlich das Geschlecht
der Junier erloschen sein, um jene Zeit wurde es auch Sitte vier,
fünf, sogar sechs Namen nacheinander zu führen, während Marcus
Junius Nipsus wie in guter alter Zeit nur Pränomen, Nomen und
Cognomen erkennen läßt.
Fassen wir sämtliche Schriftsteller des Codex Arcerianus zu-
sammen, so läßt sich unschwer bestätigen, was wir schon vorher
behaupten durften: auch diese Feldmesser sind als Schiller des Heron
von Alexandria anzusehen, daneben vielleicht noch anderer grie-
^) H. Droysen im Rhein. Museum für PhiJoIogie (1875) XXX, 469.
*) Lachmann in Römische Feldmesser 11, 139 nnd Hultsch, Scriptares metro-
logici n, JP^olegomena pag. 6. *) Römische Feldmesser I, 91, 98 und II, 146flgg.
(Mommsen).
554 26. Kapitel.
chischer Schriftsteller; auch sie bedienten sich des andern Buches
von Herons Geometrie, sei es im Originale, sei es in einer latei-
nischen Übersetzung, deren Vorhandensein freilich nur daraus er-
schlossen ist, daß es unwahrscheinlich gefunden wird, daß Feldmesser
untergeordneten Geistes imstande gewesen sein sollten den Urtext zu
verstehen. Andrerseits könnte freilich die Art, wie der Text dieser
Feldmesser mit dem Herons in Übereinstimmung tritt, eine Überein-
stimmung, die mitunter einem Gegensatz ähnelt, zur Vermutung
führen, sie hätten ein in fremder Sprache geschriebenes Buch miß-
verstanden, oder aber, wenn sie selbst griechischen Stammes waren,
sie hätten sich in der ihnen fremden lateinischen Sprache nur mangel-
haft auszudrücken gewußt.
Es lassen sich bei ihnen allen ähnlich wie bei Heron gewisse
Hauptabschnitte erkennen, von welchen freilich bei dem einen Schrift-
steller der eine, bei dem anderen der andere bevorzugt wird: sie
werden gebildet durch Maßbestimmungen, durch geometrische De-
finitionen, durch praktisch feldmesserische Vorschriften, durch rech-
nende Geometrie, wozu noch bei Epaphroditus und Vitruvius Rufus,
für welche gemeinschaftlich ein größeres Bruchstück durch den
Schreiber des Codex Arcerianus beansprucht ist, ein Abschnitt über
Vieleckszahlen und Pyramidalzahlen kommt, wohl einen anderen Ur-
sprung verratend als Heron, in dessen Schriften, wenigstens soweit
die uns erhaltenen Sammlungen Aufschluß geben, derartiges nicht
vorkam.
Maßbestimmungen und Definitionen waren für jeden notwendig,
der ohne Geometer zu sein Geometrisches lesen wollte oder mußte.
Sie hier zu treffen kann uns daher nicht in Erstaunen setzen, und
wir bemerken nur, weil gerade die Gelegenheit sich bietet, daß Pa-
rallellinien durch lineae ordinatae übersetzt sind^), das Wort, welches
viele Jahrhunderte später für die einer bestimmten Richtung parallelen
Geraden (Ordinaten) in Anwendung blieb und uns als einem schon
bei den Griechen insbesondere bei Apollonius (S. 337) vorkommenden
Ausdrucke nachgebildet erscheint. Dem Charakter des Verwaltimgs-
handbuches gemäß, welchem es nicht auf die Auffindung von Ent-
fernungen, nicht einmal auf die Ausmessung von Grundstücken,
sondern auf die Rechtsverhältnisse schon ausgemessener Felder und
etwa auf die Berechnung ihres Rauminhaltes aus gegebenen Aus-
dehnungen zum Zwecke von Versteuerung und dergleichen ankam,
sind die Stücke über das, was wir Feldmeßkunst nennen, am kärg-
lichsten vertreten, und wir wissen aus dem Vorhandenen kaum mehr,
*) AgrimensorSD S. 98.
Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die AgrimeDsoien. 555
als daB Entsprechendes aus der Feder eines Frontinus, eines BalbuS;
eines Celsus einstmals vorhanden gewesen sein muß. Schon um
dieser wichtigen Gemeinsamkeit des Inhaltes willen und wegen des *
vereinigten Vorkommens der Bruchstücke in dem mehrgenannten
Codex Arcerianus wollen wir für die Verfasser derselben uns eines
häufig benutzten Sammelnamens bedienen und sie die Agriinen-
soren nennen.
Die Schüler des Heron erkennen wir in ihnen ferner an einer
ziemlichen Anzahl von Wörtern, die als genaue Übersetzungen er-
scheinen^). Die Scheitellinie insbesondere heißt, wie wir uns erinnern,
bei Heron xoQvq)fly bei den Agrimensoren* Vertex oder coraustus, letz-
teres eine o£fenbare Verstümmelung von xogvörbg (sc. yQa[i(nil)^).
Wird in einem Dreiecke eine Senkrechte aus der Spitze auf die
Grundlinie gefällt, und trifft sie dieselbe zwischen ihren Endpunkten,
so bildet sie einen Abschnitt, der bei Heron anoro[i7], bei den Agri-
mensoren praecisura heißt. Trifft die Senkrechte jenseits des End-
punktes auf die Grundlinie, so entsteht eine Überragung, bei Heron
ixßkrjOetöa, bei den Agrimensoren eiectura. Wenn die Aufgabe ge-
stellt ist, leitet Heron die Auflösung mitunter durch die Worte noict
ovTog, die Agrimensoren durch sie quaeres ein, häufig abgekürzt in
S. Q., wiewohl man auch versucht hat S. Q. als Abkürzung von se-
quitur zu deuten^ und sich darauf stützt, daß in einem dem IX. oder
X. S. angehörenden Münchner Manuskripte dieses Wort an Stelle des
S. Q. mannigfach abgekürzt erscheint. Wenn Heron das rechtwinklige
Dreieck öQ0oy6vvov, die dem rechten Winkel gegenüberliegende Seite
iyKoxBlvovöa, einen Schenkel des rechten Winkels xdOerogj den Flächen-
inhalt ifißadovy die Ausmessung nach Fußen ^oÖLöfiög nennt, so schreibt
ein Agrimensor fast die gleichen Wörter nur mit lateinischen Buch-
staben, so daß sie bei ihm hortogojtium, hypotenusa, chatefus, embadum,
podismus lauten.
Gleichwie bei Heron findet sich die Berechnung der Fläche des
Dreiecks aus seinen drei Seiten. Aufgaben über Dreiecke, in welchen
eine Höhe gezogen ist, sind geradezu wörtlich aus Herons Geometrie
übersetzt. Wie bei Heron sind rationale rechtwinklige Dreiecke an-
gegeben, ausgehend von ungeraden sowie von geraden Zahlen. Die
heronische Berechnung des gleichseitigen Dreiecks findet sich zwar
, nicht vollständig, aber doch ist dessen Einwirkung unverkennbar.
') Genauere Beweisführung des hier Behaupteten in unseren „Agrimen-
soren". *) Diese Ableitung wurde 1840 durch Gottfried Hermann gegeben.
Vgl. Zeitechr. Math. Phys. XX. Histor.-liter. Abtlg S. 68. ») Tannery in einer
Fußnote zu Un nauveau texte d*arpenUige etc. Notices et extraits XXXV, 2« Partie,
pag. 632 (pag. 26 des Sonderabdrucks).
556 26. Kapitel.
Das gleichseitige Dreieck von der Seite 30 habe, heißt es nämlich^
als Quadrat der Seite 900 , als Quadrat der halben Seite 225^ als
'Höhe 26 und darin liegt eingeschlossen^ daß nach der Ansicht des
Verfassers 26 - 1/900^^25 = ]/675 = 15 YS sei, also ]/3 = J?
wie bei Heron. Wir bedürfen wohl nicht einer noch genaueren Be-
weisführung für die Abhängigkeit der Agrimensoren von Heron von
Alexandria und wollen vielmehr auf einige Dinge aufmerksam machen^
welche in unserem Heron nicht ermittelbar, doch ohne Zweifel griechi-
schen Ursprungs gewesen sein müssen.
Unter dem Namen Nipsus ist die Aufgabe überliefert, aus der
Fläche A und der Hypotenuse h eines rechtwinkligen Dreiecks die
Katheten c^ und c^ zu finden. Die Auflösung wendet die Formeln
^1+^2= VA* + 4 A , Ci — Cg = Yh^ — 4A an. Dabei ist dem
Schreiber das Versehen begegnet bei dem Satze „der Podismus der
Hypotenuse beträgt 25 Fuß" das wichtigere Wort Hypotenuse zu ver-
gessen und nur zu schreiben „der Podismus beträgt 25 Fuß". Wir
werden uns diesen interessanten Schreibfehler zu merken haben, welcher
uns im 39. Kapitel dienen wird, im Codex Arcerianus die Quelle eines
Werkes aus dem X. S. zu erkenneip.
In dem als von Epaphroditus und Vitruvius Rufus herrührend
bezeichneten Bruchstücke ist der Durchmesser des in ein recht-
winkliges Dreieck beschriebenen Kreises als der Rest berechnet,
welcher bei Abziehung der Hypotenuse von der Summe der beiden
Katheten übrig bleibt.
Ebenda wird die Oberfläche von Bergen nach einer Näherungs-
methode berechnet, welche derjenigen nahe verwandt ist, von der
(S. 489) imter dem Namen des Patrikius die Rede war, welche aber,
da sie, wie wir dort bemerkten, fast wahrscheinlicher uralt ist, zur
Datierung des Epaphroditus nichts beitragen kann, auch wenn wir
genau wüßten, welcher Patrikius in der betreffenden Stelle gemeint
ist. Die Berechnung erfolgt, indem das arithmetische Mittel von drei,
ein andermal von zwei Kreisperipherien als durchschnittlicher Umfang
des Berges das eine Mal mit dessen Höhe, das andere Mal mit der
halben Summe zweier an Abhängen von verschiedener Steilheit zu
messenden Höhen vervielfacht wird.
Wieder in einer anderen Aufgabe ist mit Hilfe eines massiven
gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks, längs dessen Hypotenuse
man bei horizontaler Lage der einen Kathete den Gipfel eines Baumes
einvisiert, eine der vertikalen Höhe des Baumes gleiche Entfernung
von seinem Fuße bestimmt, die alsdann abgemessen werden kann
Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 557
und somit eine HöhenmesBung liefert^), welche von der Benutzung
des Schattens absieht; eine Methode ^ welche sowohl an sich be-
merkenswert ist, als auch dadurch , daß sie durch die in einem
Zwischensatze hervorgehobene Ausschließung der Schattenbeobachtung
bestätigt, daß die Höhenmessung aus dem Schatten, das Verfahren
also, welches man bis auf Thaies zurückzufahren liebt, die Regel
bildete.
Am merkwürdigsten sind einige Paragraphe des gleichen Frag-
mentes, welche mit arithmetischen Sätzen sich beschäftigen, und zwar
merkwürdig nach zwei Richtungen: erstlich dadurch, daß sie er-
kennen lassen, was einzelne in Rom aus offenbar griechischer Quelle
einmal gewußt haben, zweitens dadurch, daß sie bezeugen, wie
spätesteas zur Zeit der Abfassung der Sammlung, welche uns als
Quelle dient, die Dinge bereits mißverstanden wurden. Wir haben
(S. 361) bei Hypsikles um 180 v. Chr. die Definition der rten wecks-
zahl kennen gelernt als j)^, == 1 + (w — 1) + (2 m — 3) + • • •
+ (1 + (r — 1) (m — 2)). Wir haben (S. 486) bei Diophant um
300 n. Chr. vielleicht allerdings aus früherer Quelle die beiden
Gleichungen auftreten sehen p^„^ = U^ — "". _ g. — (w — ;
1 rVs (»n — 2) pI^ + {m - 4)» — 1> 1
und r « 2 I m"—2 '" ^J* I^i^s® beiden Formeln
nun, welche bei bekannter Ordnung m einmal die Vieleckszahl aus
ihrem oberen Index r, das andere Mal jenen Index r aus der rten
Vieleckszahl ableitet, kommen in unserem Fragmente vor, zwar nicht
wie bei Diophant als in Worte gekleidete allgemeine Formeln, aber
in ihrer Anwendung auf die Vieleckszahlen aufeinanderfolgender
Ordnung von der Dreieckszahl bis zur Zwölfeckszahl, mit zwei
Rechenfehlem, wo es um Fünf- und Sechseckszahlen sich handelt.
Dort wäre nämlich richtig pl = — — , pl = — « — > während die
irrigerweise statt der Subtraktionen in den betreffenden Zählern
vorgenommenen Additionen die falschen Formeln pl «= -^2~~f
jjg = ^- — hervorbrachten, nach welchen gerechnet ist. Es ist
gewiß berechtigt, daraus den Schluß zu ziehen^), daß dabei die
allgemeinen Wortformeln den Ausgangspunkt bildeten, denn es ist
unendlich viel wahrscheinlicher, daß zwei Fehler mangelhafter Sub-
stitution vorkommen, als daß bei der Einzelbetrachtung der aufein-
ander folgenden Vieleckszahlen zwei in Rechenfehler ausartende
*) ut sine umbras solis et lunae tnensuris (Agrimensoren S. 215, lin. 8—9).
*) Agrimensoren S. 126.
558 26. Kapitel.
Schreibfehler just bei niedrigem Werte von m sich hätten ein-
schleichen sollen. In der Tat sind in der Münchner Handschrift die
richtigen Formeln an dieser Stelle benutzt.^)
Auch eine merkwürdige Formel für Pyramidalzahlen läßt aus
den Einzelfällen sich erkennen^ deren Ableitung freilich nirgend ge-
geben ist 9 aber nachträglich sich leicht erraten läßt, ohne irgend
Kenntnisse in Anspruch zu nehmen, welche nicht bei den Griechen
sich nachweisen ließen. Nennt man die Summe der r ersten tnecks-
zahlen die rte m eckige Pyramidalzahl und schreibt dafür F^, so ist
die Definitionsgleichung P^ = jp,« +pl^ + - - - + Pm- Nun nehmen
wir an, es sei ausgehend Yon dem bekannten Satze
a'-ß»^(a + ß).{a-ß)
die Umformung vorgenommen worden:
[(,H^_ 2) (2r — l)_+_2] • — (m — 4)«
8'(wt— 2)
[{m — 2) (2r — 1) + 2 + (m — 4)] - [{m — 2) (2r — 1) + 2 — (»t -- 4)]
8 (w — 2)
(w — 2) 2r[(i» — 2) 2r + 8 — 2m] _ w —
r' — — ^ — • r .
8 (w — 2) 2 2
Setzt man die entsprechenden Werte in alle Yieleckszahlen von p]n
bis pm ein, so erhält man
pr„ = « - 2 (1« + 2« + . . + O - '^ (1 + 2 + . . + r) .
Aber spätestens zu Archimeds Zeiten (S. 313 — 314) war bekannt
1 + 2 + -- + r-='--(r + ^) und 1^ + 2»+ •• + r» = '-('- + Y'"^'->
wenn auch letzteres noch nicht in der kurzen Form, deren wir uns
bedienen. Diese Werte liefern
pr ^m-J^ r{r + 1) (2jJ-_l) _ m-4 rjr + 1)
"* 2 * 6 2*2
beziehungsweise
^r + lr2(w — 2) . 2(m-4) , »» - 2 m — * 1
6L2 ^ 2 ■'^■^"•2 2'^J
und dieser letzteren Formel bedient sich der römische Schriftsteller.
Ja er kennt sogar die Summierung der r ersten Kubik-
*) Un nouveau texte d'arpentage etc. Notices et Extraits XXXV, 2« Partie,
pag. 640 — 541 (pag. 34 — 85 des Sonderabdrucks).
Die Blütezeit der lömiBchen Geometrie. Die Agrimensoren. 559
zahlen: 1» + 2» + • • + r» = f"^''^ -^^)'. Auch hier ist die Auf-
findung des Weges, auf welchem ein Grieche zu dieser Formel ge-
langen konnte, mag er nun geheißen und gelebt haben wie imd wann
er wolle, nicht allzuschwierig. Nikomachus, sagten wir (S. 432), habe
um 100 n. Chr. die Beziehung zwischen den Kubikzahlen und auf-
einanderfolgenden ungeraden Zahlen erkannt, welche dahin sich aus-
spricht, die erste Eubikzahl sei gleich der ersten ungeraden Zahl,
die zweite gleich der Summe der zwei darauf folgenden ungeraden
Zahlen, die dritte gleich der Summe der darauf wieder folgenden
drei ungeraden Zahlen usw. Über sämtliche r erste Kubikzahlen
ausgedehnt liefert das als deren Gesamtsumme die Summe der
1 + 2 -f • • 4- r d. h. der ^^J" aufeinanderfolgenden ungeraden
Zahlen von der 1 anfangend. Die alten Pythagoräer wußten aber
schon (S. 160), daß diese das Quadrat ihrer Anzahl bilden. Die
Gesamtsumme ist mithin 1* -f 2* + • • -f r^ = ( J" J , und genau
so rechnet unser Schriftsteller^).
Diese arithmetischen Kenntnisse: eine Darstellung der Vielecks-
zahl aus ihrer Seite, der Seite aus der Vieleckszahl, der Pyramidal-
zahl aus Vieleckszahl und Seite, eijdlich die Summierung der aufein-
anderfolgenden Kubikzahlen einem griechischen Schriftsteller auch
ohne Beweis entnommen zu haben, würde schon ein gewisses mathe-
matisches Verdienst der Männer voraussetzen, welche es yerständnis-
YoU unternahmen die interessanten Formeln aufzubewahren. Ob wir
aber dem Epaphroditus und Vitruvius Rufus das Beiwort des Ver-
ständnisses zuerkennen dürfen? Eine Figur, welche in den Text hinein-
geraten ist, läßt daran gerechte Zweifel entstehen.
Figuren finden sich auch bei griechischen Arithmetikern, wie
wir wissen, zur Versinnlichung der Vieleckszahlen, ja diese Zahlen
selbst haben von Anfang an ihre Namen von dieser Versinnlichung
her bekommen, und so wird die Quelle unserer Römer mit an Ge-
wißheit streifender Wahrscheinlichkeit die Figuren des regelmäßigen
Fünfecks, Sechsecks, . . . Zwölfecks enthalten haben, welche neben
den Formeln übernommen werden durften, wenn nicht mußten. Aber
bei der Ausrechnung der Achteckszahl ist nicht bloß das regel-
*) Herr P. Tannery hat bemerkt, daß diese Formel, von der es lange-
zeit unbeachtet geblieben war, dafi sie den Alten bekannt gewesen, doch im
XVn. S. der Aufmerksamkeit Pasc als nicht entging, sonst könnte er zu Anfang
seines Aufsatzes PoUstatum numericarum summa nicht gesagt haben: Datis ab
unitate quotcumque numeris continuis invenire summam quadratorum eorum tra-
diderunt veteres; imo etiam et summam cuboriim eommdem. Oeuvres de Pascal.
Paris 1872. Vol. UI, pag. 303.
560 26. Kapitel.
mäßige Achteck, es ist auch in einen Kreis eingezeichnet die Figur
zweier sich symmetrisch durchsetzender Quadrate vorhanden, die wir
früher um einige vom Kreismittelpunkte gezogene Hilfslinien ver-
mehrt und mit einer Buchstabenbezeichnung einiger Punkte ver-
sehen kennen gelernt haben (Fig. 66). Diese Figur ist unter keinen
Umstanden arithmetischen Charakters. Sie kann sich nur auf die
geometrische Entstehimg des regelmäßigen Achtecks aus dem Qua-
drate beziehen, und ihr Vorkomüien bei Epaphroditus gewährt unseren
früher (S. 401) ausgesprochenen Vermutungen über die Anwendung
jener Figur eine nicht geringfügige Unterstützung. Wer aber die
beiden Figuren, das arithmetische und das geometrische Achteck,
wenn wir so sagen dürfen, um unsere Meinung in recht scharfe
sprachliche Gegensätze zu kleiden, nebeneinander abbildete, der be-
wies damit, daß er die arithmetische Figur nicht verstand, daß er
glaubt« beidemal mit geometrischen Dingen zu tun zu haben. Wir
fürchten, es waren jene Römer, welche dem Mißverständnisse unter-
lagen, und sollten Epaphroditus und Vitruvius, oder wenigstens einer
derselben, an der Vermengung dieser Dinge unschuldig sein — die Ver-
mutung liegt ja nahe, daß von jenen beiden Männern der eine eine
geometrische, der andere eine arithmetische Schrift verfaßte, aus
welchen nur ein Auszug vorliegt, dessen Blätter einigermaßen durch-
einandergekommen sind — so hat jedenfalls der Schreiber des
Codex Arcerianus unter dem Banne der vermengenden Verwechslung
gestanden. Läßt sich doch schon zum voraus, und ohne des uns
triftig erscheinenden Beweisgrundes der beiden Achtecke sich zu be-
dienen, die Behauptung aussprechen. Arithmetisches als solches habe
in der Sammlung eines Verwaltungsbeamten keinen Platz gefunden.
Es konnte sich dort überhaupt nur einschleichen, wenn man wähnte,
es handle sich um Geometrisches, also nicht um Vieleckszahlen,
sondern um den Flächeninhalt regelmäßiger Vielecke, und bei den
Pyramidalzahlen, bei den Kubikzahlen, welche dort vorkommen, mag
der Schreiber sich wohl gar nichts gedacht haben. Diese Behaup-
tungen finden auch ihre Bestätigung in den vielen bei den arithme-
tischen Sätzen auftretenden Schreibfehlern.
Fassen wir also das bisher Gewonnene zusammen, so wird das
Ergebnis sich gestalten wie folgt: Die Römer sind, wenn sie auch eine
uralte Feldmeßkunst besaßen und des Rechnens zum täglichen Ge-
brauche nicht entbehren konnten, zur Mathematik schlecht genug
veranlagt gewesen. Ein bis anderthalb Jahrhunderte lang, von Cäsar
bis nach Trajan etwa, war eine verhältnismäßige Blütezeit römischer
Geometrie und vielleicht auch römischer Arithmetik, beide auf grie-
chische Quellen zurückgehend, unter welchen sich jedenfalls Schriften
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 561
des Heron von Alexandria befanden. Allmählich jedoch verschwand
sogar das Yerständnis des damals ins Lateinische Übersetzten.
27. Kapitel.
Die spätere mathematisehe Literatur der Römer.
Die Behauptung, daß die Römer in den Zeiten Cäsars bis Tra-
jans auch arithmetischer und damit bei den Griechen schon enge ver-
bundener algebraischer Leistungen bis zu einem gewissen Grade fähig
waren, ist außer aus dem Bruchstücke des Codex Arcerianus, welches
wir zu diesem Zwecke verwandt haben, auch aus den Rechtsquellen
zu bestätigen.
Zinszahlungen, also auch Zinsberechnungen sind bei den
Römern ungemein alt'), so daß von anderen Erleichterungen über-
bürdeter Schuldner abgesehen schon im Jahre 342 v. Chr. die freilich
nicht eingehaltene Lex Genucia gegen jede Zinsverleihung Gesetzes-
kraft gewann. Noch zu Ciceros Zeit war 48 Prozent nichts un-
erhörtes, wenn auch eigentlich nicht gestattet Li der Kaiserzeit galt
ein Zinsfuß von 12, später von 6 Prozent als gesetzlich. Dichter-
steilen, besonders bei Horaz, beweisen, daß das Zinsrechnen zu den
täglich notwendigen und darum immer geübten Kenntnissen gehörte').
Auch eine entsprechende Verminderung für vorzeitigen Genuß eines
erst später zu erlangenden Besitzes, das sogenannte Interusurium
oder die Repräsentation, wie der Römer ssLgte, ist alt, wenn auch
die Größe der Verminderung und die Regeln, nach welchen sie ab-
geschätzt wurde, weit entfernt davon sind, im klaren zu sein.
Ulpian, der am Ende des ü. und Anfang des lU. S. n. Chr. lebte,
stellte bereits Berechnungen ähnlicher Art unter Voraussetzung
einer wahrscheinlichen Lebensdauer an'), allerdings wieder ohne daß
wir eine Ahnung haben, wie jene wahrscheinliche Lebensdauer ge-
wonnen wurde.
Zu anderen Rechnungsaufgaben gab das Erbrecht der Römer,
gaben die vielfach ungemein verzwickten letztwilligen Verfügungen
Anlaß, die geradezu Regel bei ihnen waren. Im Jahre 40 v. Chr.
stellte die Lex Falcidia fest, daß dem eigentlichen Erben mindestens
ein Viertel des hinterlassenen Vermögens verbleiben mußte. Waren
also Vermächtnisse im Gesamtbetrage von mehr als Dreiviertel des
') Gastav Billeter, Geschichte des Zinsfnfies im griechisch-römischen
Altertom bis auf Justinian. Leipzig 1898. *) Hnltsch im Jahrbuch för klas-
sische Philologie 1889. S. 886^843. *) Äd kgem Fdlcidiam XXXV, 2, 68
Cavtob, OeMhloht« der Mathmnatlk I. S. Aufl. 86
662 27. Kapitel
Yermögeiis testamentariscli verheißen , so maßten diese mittels einer
Gesellschaftsrechnong herabgemindert werden, so daß die sogenannte
falcidische Quart nicht angegriffen wurde.
Ein für die. Geschichte der Mathematik in seiner Eigentümlich-
keit, welche eine Übertragung von einem Werke zum andern sichert,
höchst bedeutsamer Fall ist der eines Erblassers, der seine Witwe
in schwangerem Zustande hinterläßt und Bestimmungen für die beiden
Möglichkeiten getroffen hat, daß sie einem Knaben oder einem Mäd-
chen das Leben schenkt, während der tatsächlich eintretende Fall,
daß Zwillinge, und zwar Zwillinge von verschiedenem Geschlechte,
geboren werden, nicht vorgesehen war. Ein daran sich knüpfender
Rechtsstreit ist durch Salvianus Julianua^), einen Juristen, der
unter den Kaisern Hadrian und Antoninus Pius wirkte, berichtet; ein
zweiter verwandter Fall kommt bei Cäcilius 'Africanus'), ein
dritter bei Julius Paulus'), einem glänzenden Juristen des lU. S.,
vor, der unter Kaiser Alexander Severus der römischen Rechtswissen-
schaft zur Zierde gereichte. Die älteste Entscheidung des Julianus
lautet folgendermaßen: „Wenn der Erblasser so schrieb: Wenn mir
ein Sohn geboren wird, so soll dieser auf -x- meines Vermögens,
meine Frau aber auf die übrigen Teile Erbe sein; wird mir aber
eine Tochter geboren werden, so soll diese auf y, auf das Übrige
aber meine Frau Erbe sein, und ihm nun ein Sohn und eine Tochter
geboren wurden, so muß man das Ganze in 7 Teile teilen, so daß
von diesen der Sohn 4, die Frau 2 und die Tochter 1 Teil erhält.
Denn auf diese Weise wird nach dem Willen des Erblassers der
Sohn noch einmal soviel erhalten als die Frau, und die Frau noch
einmal soviel als die Tochter. Denn obgleich nach den Bestim-
mungen des Rechtes ein solches Testament umgestoßen werden
sollte ; so verfiel man doch aus rein vernünftigen Gründen auf die
genannte Entscheidung, da ja nach dem Willen des Erblassers immer
die Frau etwas erhalten soll^), mag ihm ein Sohn oder eine Tochter
geboren werden. Auch Juventius Celsus stimmt hiermit vollkommen
überein.'' Dieser letztere Jurist, auf welchen Julianus sich bezieht,
der die Aufgabe also jedenfalls kannte, lebte unter Trajan um das
Jahr 100 n. Chr., war also sicherlich ein Zeitgenosse jenes Celsus,
>) Lex 13 principio. Digestorum lib. XXVm, tit. 2. «) Lex 47, § 1.
Digestarum lib. XXVIII, tit. 6. •) Lex 81 principio. Digestorum lib. XXVIII,
tit. 6. *) W&re nämlich das Testament umgestoßen und somit als nicht vor-
handen zu betrachten, so würden nach römischem Rechte die Kinder allein ge-
erbt haben, die Witwe aber leer ausgegangen sein.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 563
an welchen, wie wir uns erinnern^ Baibus sein feldmesserisches Werk
gerichtet hatte, unmöglich erscheint es daher nicht, daß diese beiden
Persönlichkeiten mit Namen Celsus in eine yerschwimmen müßten,
daß der gelehrte Jurist Celsus auch Ingenieur gewesen, auch in der
Geometrie als Schriftsteller aufgetreten wäre, daß von ihm auch jene
Erbteilungsaufgabe herrührte, welche ebensogut in einem mathe-
matischen Buche als in einer Sammlung von Rechtsfällen einen Platz
einnehmen konnte.
Zeitgenosse des Julianus um die Mitte des 11. S. war ein Schrift-
steller, der uns gleichfalls für das unter den Antoninen noch yor-
hi^dene Literesse an arithmetischen Dingen Bürge ist. Appuleius,
geboren zu Madaura, einer blühenden Kolonie an der Grenze Numi-
diens gegen Gätulien hin, machte seine Studien vornehmlich zu
Athen, begab sich aber alsdann zu weiterer Ausbildung auf größere
Reisen. Von schönschriftstellerischer Seite ist er als Verfasser eines
witzigen Romans bekannt. Aber auch als mathematischer Schrift-
steller ist er aufgetreten. Cassiodor*) im zweiten Drittel des VL,
Isidor Yon Sevilla^) am Anfang des VIL S. bezeugen ausdrücklich,
die Arithmetik des Nikomachus sei erstmalig durch Appuleius, dann
zum zweiten Male durch Boethius ins Lateinische übertragen worden.
Unmittelbare Überreste der Bearbeitung durch Appuleius sind nicht
erhalten, so daß ein Urteil darüber nicht gefällt werden kann, in-
wieweit die Behauptung, Appuleius habe auch Rechenbeispiele in
größerer Anzahl gelehrt, nur auf einem Mißverständnisse beruht,
indem die betreffenden Gewährsmänner seine Arithmetik gleichfedls
nur vom Hörensagen kannten und aus dem Titel ihre falschen
Schlüsse zogen, oder aber Wahrheit ist. Im XV. und XVI. S. wurde
mit Sicherheit an die Wahrheit geglaubt. Ein Rechenbuch, algo-
rithmus linealis genannt, aus jener Zeit, der Erlanger Universitäts-
bibliothek angehörig, beginnt ausdrücklich mit den Worten: „Um die
vielen Irrtümer der Eaufleute und die Schwierigkeiten des andern
Teiles der Arithmetik zu vermeiden, ist bei Appuleius, dem in allen
Wissenschaften hocherfahrenen Manne, eine andere Anschauung dieser
Kunst erfunden, welche ebenso viel berühmter als leichter und den
Geisteskräften eines jeden angepaßter ist als die erste; bei uns heißt
sie Rechnung auf den Linien"'). Ein 1540 in Paris anonym er-
schienenes Rechenlehrbuch sagt: „Die ganze Ej*aft dieser Disziplin
ruht in den Beispielen der Addition und Subtraktion-, wer das ganze
*) CasBiodor, Opera (ed. Garet). Venedig 1729, Bd. II, pag. 666, col. 2,
lin. 14 ▼. n. ") Isidor Hispalensis, Origines Lib. HI, Cap. 2. •) Fried-
lein, Zahlzeichen und elementares Rechnen usw. S. 48.
86 •
564 27. Kapitel.
Kapitel vollauf keimen lernen will, der lese den Appuleius^ welcher
zuerst den Römern diese Dinge beleuchtete''^). Es hält so be-
stimmten Äußerungen gegenüber schwer, des Glaubens sich zu er-
wehren^ daß, wer so sprach, die Schrift des Appuleius selbst yor
Augen gehabt habe. Nicht minder schwer freilich fällt die Annahme^
Appuleius habe die Arithmetik des Nikomachus, die wir im Originale
wie in der Bearbeitung des Boethius zur Genüge kennen, so selbst-
ständig oder unter Zuziehung anderer Quellenschriften behandelt, daß
er Rechenbeispiele einfügen konnte. Oder sollen wir annehmen,
Nikomachus habe neben der Arithmetik ein ganz verschollenes
Rechenbuch verfaßt? Auf dieses beziehe sich der Ausspruch Lucia^s:
Du rechnest wie Nikomachus? Dieses habe Appuleius übersetzt, und
das Mißverständnis rühre von Cassiodor und dem ihn ausschreiben-
den Isidor her, welche die Übersetzungen zweier verschiedener Werke
des Nikomachus ins Lateinische vermengten? Wir fühlen wohl, wie
viele Gründe sich auch dieser Annahme entgegentürmen, wollten aber
keinesfalls versäumen, jede der verschiedenen Möglichkeiten jene
Äußerungen später Zeit zu erklären anzuführen. Unterstützend für
unsere Annahme ist jene Berufung des Nikomachus auf eine von ihm
verfaßte Einleitung in die Geometrie (S. 432). Es ist uns wenig-
stens gar nicht undenkbar, daß diese einen wesentlich rechnenden
Charakter hatte. War doch seit Herons rechnender Geometrie gerade
eine diese Vorkenntnisse umfassende Einleitung Bedürfnis geworden,
während zu einer wahrhaft geometrischen Einleitung in die Geometrie
Anlaß kaum vorhanden war.
Auch auf geometrischem Gebiete ist die wenn nicht selbst-
schöpferische doch an Übertragungen griechischer Schriftsteller sich
übende Tätigkeit der Römer keineswegs mit den Zeiten Trajans ab-
geschlossen. Neben den im Codex Arcerianus vereinigten, wie wir
sahen, um die Mitte des Y. S. schon zusammengestellten vielleicht
zum Teil später als Trajan, sogar später als Diophant zu datierenden
Stücken ist uns ein sehr bedeutsames Fragment aus dem lY. S. er-
halten, welches zeigt, daß nicht bloß der „Heron" der Praktiker,
sondern auch der „Euklid** der Theoretiker der römischen Sprache
mächtige Liebhaber besaß. Dieses Fragment^, auf welches zuerst
1820 hingewiesen worden ist, und welches seitdem unausgesetzt die
») Math. Beitr. Kulturl. Anmerkung 361. *) Vgl. die von Niebuhr 1820
in Rom herausgegebenen Bruchstücke der Beden Ciceros für Fonteius und Ba-
birius pag. 20. Blume, Iter Itaiicum I, 263. Keil auf pag. XI der Vorrede zu
seiner Ausgabe des Probus. Beifferscheid, Sitzungsber. d. philol. Abtlg. der
Wiener Akademie XLIX, 69. Mommsen, Abhdlg. der Berliner Akademie 1868,
S. 168, 166, 168.
Die spätere mathematische Literatur der Bömer. . 565
Aufmerksamkeit philologischer Forscher in Spannung erhielt, gehört
der unteren Schrift eines Palimpsestes an, der in der Eapitelbibliothek
zu Verona früher unter der Nummer 38, jetzt unter der Nummer 40
aufbewahrt wird. Die jüngere dem IX. S. angehörende Schrift enthält
einen Teil der „Moralischen Betrachtungen zum Buch Hiob*' vom
Papst Ghregor dem Großen (f 604). Die darunter erkennbare ältere
Schrift stammt nach dem Dafürhalten aller neueren Sachkundigen
unter Beachtung aller Merkmale der Schrift wie der Sprache, welche
zur Entscheidung beitragen können^ aus dem lY. S. Kaum mit
bloßem Auge erkennbar, gab sie mühevollster Entzifferung ihren
Inhalt kund. Es sind Bruchstücke des Yergilius, des Livius und
Geometrisches, welche im IX. S. würdig schienen theologisch-mora-
lischen Betrachtungen den Platz zu räumen. Da» geometrische Frag-
ment^) gibt sich selbst als dem XIV. und XY. Buche des Euklid
entstammend an. Seine Numerierung ist aber keineswegs mit der
gebräuchlichen gleichlaufend. Als XIY. , als XY. Buch der eukli-
dischen Elemente bezeichnet man bekanntlich (S. 358 und 501) jene
von mindestens zwei verschiedenen Schriftstellern herrührenden stereo-
metrischen Abhandlungen, welche, man weiß nicht recht wie und
wann, an die dreizehn Bücher der Elemente angehängt worden sind.
Diesen Abhandlungen gleicht das lateinische Bruchstück nicht im
geringsten. Ohne Satz für Satz und Figur für Figur mit dem grie-
chischen Euklidtexte zur Deckung gebracht werden zu können, ist
es doch unter allen umständen den echt euklidischen mit Stereo-
metrie sich beschäftigenden Büchern, dem Xü. und XIII. Buche
unserer griechischen Texte entnommen. Es ist entweder Auszug,
oder Übersetzung eines Auszuges, jedenfalls Arbeitsexemplar des Un-
bekannten, von welchem es herrührt, wie der Entzifferer mit großem
Scharfsinne aus der Tatsache geschlossen hat, daß einzelne Wörter
durchstrichen und durch anders lautende Synonyma ersetzt sind. Das
kann selbstversi^dUch nur auf den Schriftsteller, beziehungsweise
den Übersetzer selbst zurückgeführt werden, und zwar in einer Zeit,
in welcher seine Arbeit noch in Yorbereitung, noch nicht abge-
schlossen war.
Die andere Seite unserer zum Schlüsse des vorigen Kapitels aus-
gesprochenen Behauptung, daß das Yerständnis der aus Griechenland
überkommenen mathematischen Kenntnisse der Römer mehr und
^) Der Entzifferer, Prof. W. Studemnnd, hat längst eine Herausgabe zu-
gesagt. Er ist leider gestorben, ohne seine Zusage erfallt zn haben. Unser
Bericht entstammt den mündlichen Mitteilungen, welche er so freundlich war,
unter Vorzeigung seines vorbereiteten Materials uns zu machen, und deren Ver-
öffentlichung er uns gestattet hat.
566 27. Kapitel.
mehr schwand, findet gleichfalls Bestätigung^ wenn wir die Magerkeit
uns betrachten, zu welcher im Laufe der Jahrhunderte die römische
Mathematik zusammenschrumpfte.
Theodosius Macrobius, ein yielleicht aus Afrika stammender
Schriftsteller, von welchem uns Kommentare erhalten sind*), die um
400 entstanden sein dürften, und in welchen hier und da zerstreut
auch einige mathematische Erläuterungen vorkommen, ist noch bei
weitem der dürftigste nicht. Wir denken auch nicht an den kurz
vor oder nach 457 entstandenen Calculus des Victorius, dessen
Notwendigkeit wir oben (S. 531) eingesehen haben, begründet in der
Schwierigkeit mit den römischen Duodeziraalbrüchen Rechnungen
auszuführen. Wir denken zunächst an Martianus Mineus Felix
Capella. Er war in der ersten Hälfte des Y. S. in Karthago ge-
boren und stieg bis zur Würde eines römischen Prokonsuls empor.
Er hat uns ein aus neun Büchern bestehendes enzyklopädisches Werk,
welches den Gesamtnamen Satira führt, hinterlassen^, dessen Ent-
stehung etwa auf das Jahr 470 fällt. Die beiden ersten Bücher
führen den besonderen Titel der Yermählungsfeier der Philologie mit
Merkur und stellen ein kleines Ganzes dar, eine Art von philoso-
phischem und allegorischem Romane, der als Einleitung dient. Zur
Vermählung erscheinen alsdaun die sieben Jungfrauen, welche Merkur
zu Gesellschafterinnen seiner jungen Frau bestimmt, nämlich die
sieben Wissenschaften, welche, um den Ausspruch Quintilianus' zu
benutzen, den Kreis der freien Lehre ausmachen'). Es sind dieselben
freien Künste, in derselben Reihenfolge, wie wir sie durch Varros
Werk kennen, dessen Einteilung uns wenigstens erhalten blieb (S. 543).
Jede Wissenschaft bringt ihr Symbol mit: Nach der Grammatik, der
Dialektik und der Rhetorik tritt die Geometrie auf. Sie hat den mit
blauem Sande bestreuten Abacus in Händen^), auf welchen also dies-
mal die Figuren gezeichnet werden sollen, mit welchen die Geometrie
sich abgibt. Freilich eine sonderbare Geometrie, deren räumlicher
Hauptbestandteil in geographischen Begriffen, in einer Aufzählung
historisch interessanter Orte, deren Gründer zugleich genannt werden,
aufgeht. Dann kommen Definitionen von Linien, Figuren, Körpern,
dann die notwendigsten Forderungen, alles nach Euklid und unter
Benutzung der griechischen Benennungen. Sind aber die Vorberei-
tungen erst soweit getroffen, daß die Göttin auf dem Abacus eine
gerade Linie zieht und die Frage stellt: Wie läßt sich über einer ge-
*) Macrobius, Opera (ed. y. Jan), Quedlinburg and Leipzig 1848 — 62.
■) MarHani Capdlae De nuptiis philologicte et Mercurii de Septem aHibus lihera-
Ubu8 Itbri IX (ed. Ulr. Kopp). Frankfdrt a. M. 1886. ") Quintilianns I,
10, 1. *) Hyalini pulveris respersione coloratam mennUam.
Die spätere mathematiBche Literatar der Römer. 567
gebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck errichten^ da erkennen
sofort die in dichtem Haufen sie umstehenden Philosophen, sie wolle
den ersten Satz der euklidischen Elemente bilden, brechen in lautes
Klatschen und Hochrufen auf Euklid aus . . .^) und das VI. Buch
und mit ihm die Geometrie ist zu Ende. Yod Feldmessung, Yon
rechnender Geometrie, mit einem Worte von Heronischem ist in
keiner Weise die Rede. Im YU. Buche macht die Arithmetik ihre
Aufwartung mit ihren Fingern die Zahl 717 darstellend, durch welche
sie den Gott der Götter begrüßt. Wir haben dieses Zeugnis für die
auch damals bekannte Fingerrechnung (S. 527) anrufen dürfen. Wir
fügen hinzu, daß Pallas auf die Frage der Philosophie, was jene Zahl
zu bedeuten habe? erwidert: die Arithmetik grüße Jupiter mit seinem
eigenen Namen. Diese Stelle ist jedenfalls richtig dahin erklärt
worden, Jupiter sei der Anfang der Dinge und ^ uqxu stelle durch
den Zahlen wert der Buchstaben 8 + 1 + 100 + 600 + 8 die Zahl 717
vor. Auch Pjthagoras ist bei den der Vermählung wegen ver-
sammelten Gästen und tritt nun näher hinzu, er, der bisher bei den
Zeichnungen auf dem Abacus als Zuschauer gestanden hatte. Der
kundige Leser ist durch die symbolische Begrüßung, durch das per-
sönliche Auftreten des Pjthagoras zur Genüge auf das vorbereitet,
was er im YII. Buche nun entwickelt finden wird: eine wesentlich
pythagoräische Arithmetik nach dem Muster des Nikomachus, wie
sie den Römern, wenn nicht schon seit Appuleius, jedenfalls seit
Plotinus unter ihnen gelebt hatte, geläufiger geworden war, wie sie
jetzt in einer Zeit, während welcher mancher von den tonangebenden
vornehmsten Römern zu den Füßen des Proklus in den Yorlesungs-
räumen von Athen gesessen hatte, gewiß auf Yerständnis zählen
durfte. Wir sind mit der Bemerkung, daß diese Erwartung nicht
getäuscht wird, einer genaueren Berichterstattung über das YH. Buch
überhoben. Wir machen nur auf die negativ eigentümliche Er-
scheinung aufmerksam, daß der vieleckigen Zahlen, die bei Niko-
machus eine so wichtige Rolle spielen, kaum gedacht ist. Wohl
heißt es, die £<bene habe verschiedene Gestaltungen, nach welchen
die Zahlen geordnet werden können'), aber nach einer arithmetisch
vernünftigen Ausführung dieses Gedankens fahndet man vergeblich.
Es kann unsere Aufgabe nicht sein zu erörtern, wie viel oder wie
wenig im YIU. Buche der Astronomie, im IX. Buche der Musik in
den Mund gelegrt wird. Wir sind von der Mühe befreit die Geschichte
') Quo dicto cum plures phihsophi, qui undiqueseeus constipaio tigmine can-
sistebant, primum Euelidia theorema formare tarn veüe cognascerent , conftstim
acclamare EucUdi plaudereque coeperunt *) Ipsa autem planities varias formas
hdbei, numeris ad simüitudinem figurarum ordituUü.
568 27. Kapitel.
aucli dieser Wissenschaften zu verfolgen ^ and ohne irgendwelchen
Zwang der Durchforschung wird man die schwülstigen und zugleich
langweiligen Auseinandersetzungen des Mai*tianus Capella sich lieber
schenken.
In die Blütezeit des eben besprochenen Schriftstellers etwa auf
475 fällt die Geburt eines anderen Mannes, zu welchem wir uns nun
zu wenden haben, Magnus Aurelius Cassiodorius Senator^).
Er war im südlichen Italien in Bruttien geboren, unweit von Scyl-
lacium, an einer von Naturschönheiten so reich erfüllten Stelle, daß
er sie später von allen aussuchte, sein Leben dort zu beschließen.
Noch in sehr jugendlichem Alter von kaum 20 Jahren trat er in
den Staatsdienst, frühestens im Herbst 500^), zu einer Zeit, wo Theo-
dorich eben den gotischen Staat in Italien gegründet hatte, und zu
diesem Fürsten trat Cassiodorius in die Stellung eines Qeheim-
schreibers, äußerlich genommen Theodorichs Dolmetscher, in Wirk-
lichkeit sein einflußreicher Ratgeber. Die vielseitigen, wenn auch
nicht überall tiefen Kenntnisse des Ministers — als solchen dürfen
wir ihn vielleicht bezeichnen — machten ihn dem Könige unent-
behrlich, sowohl in den Geschäften der Regierung, als in den ver>
schiedensten Privatbeziehungen, und erst der Tod Theodorichs 526
löste das Band, welches Gewohnheit und gegenseitige Zuneigung um
beide Männer geschlungen hatte. Auch unter den Nachfolgern Theo-
dorichs blieb Cassiodorius, so verhaßt ihm Persönlichkeiten und
einzelne Handlungen oft sein mochten, der gotischen Sache getreu,
um von dem Staatsbaue seines königlichen Freundes zu retten, was
noch zu retten war. Man besitzt Staatsschriften von 538, die Cassio-
dorius unterzeichnet hat. Am Hofe erlebte er noch den Ausbruch
des Krieges gegen die Byzantiner, und erst 540 etwa, nachdem Ra-
venna schon in Belisars Händen war, zog Cassiodorius sich in das
von ihm selbst gestiftete Kloster in seiner Heimat zurück, dort eine
reiche literarische Tätigkeit zu entfalten. Cassiodorius war einer
der ersten, welche dem Beispiele folgend, das Benedikt von Nursia
in seinem 529 zu Monte Casino bei Neapel gestifteten Kloster so
^) A. Thorbecke, Ccissiodorus Senator, (Heidelberger Lyceumsprogramm
von 1867.) y. M ortet, Notes sur le texte des Institutiones de Cassiodore in der
Bernde de Philologie, de LitUrature et d'Histoire andenne XXIV (1900) pag. 103
bia 118 und 272 — 281, XXVIl (1903) pag. 67 — 78 und 139 — 160. Die Lesart
CaasiodoriuB hat Usener, Änecdoton Holden (Festschrift zur 82. Philologen-
versammlung. Wiesbaden 1877), S. 16, wie wir glauben, sichergestellt. *) Nach
Usener 1. c. S. 70 datiert sich der erste bekannte Brief des Cassiodorius von
601. Dafür, daß Cassiodorius damals noch am Anfange der zwanziger Jahre ge-
standen haben muß, vgl. Thorbeck e S. 7 — 10, Usener S. 4.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 569
segensreich aufstellte , dem klösterlichen Leben einen anderen Inhalt
als den der bloßen Zurückgezogenheit und Beschaulichkeit gaben.
Eine Bibliothek entstand, lernende und forschende Tätigkeit entfaltete
sich. Ein stärkerer Gegensatz als der gegen die Eulturentwicklung
im byzantinischen Reiche ist kaum denkbar. Dort befinden Religion
und Wissenschaft sich in fast fortwährendem Kampfe, bei welchem
die weltliche Macht meist auf Seite der Kirche steht (S. 503). Hier
ist das Kloster, also eine Gründung religiösen, wenn nicht kirch-
lichen Ursprunges, Stätte der Wissenschaft und bleibt es, so lange
die Regel des heüigen Benedikt allein die Ordensbrüder beherrscht.
Das Theologische stand naturgemäß obenan, aber auch die weltlichen
Wissenschaften, als nützliche Vorbereitungsschule zu Höherem, wurden
keineswegs yemachlässigrt. Tag und Nacht wurden von emsigen
Händen in schönen Zügen Schriften von mitunter zweifelhaftem mit-
unter wirklichem Werte zu Pergament gebracht Preist doch Cas-
siodor im 30. Kapitel seines Buches De institutione dimnarum Uterarum
das Bücherabschreiben als die yerdienstlichste körperliche Arbeit in
begeisterten Worten, hat er doch Lampen eigener Art für die Nacht-
arbeit erfunden, Sonnen- und Wasseruhren aufgestellt, um Zeit und
Tätigkeit zu ordnen. Daß er aber im Fleiße sich von keinem seiner
Untergeordneten übertreffen ließ, beweist neben anderen Schriften
eine Abhandlung über Orthographie, welche er bereits 93 Jahre alt
noch verfaßt hat. Es ist anzunehmen, daß dies seine letzte Arbeit
war und daß er um 570 gestorben ist. Cassiodorius hat 12 Bücher
Briefe^) hinterlassen, aus welchen auch för die Geschichte der Mathe-
matik unterschiedliche Notizen gewonnen worden sind. Teils sind
es unveränderte Abschriften früherer staatlicher oder privater
Schreiben, welche Cassiodor für Theodorich zu fertigen hatte, teils
neue Redaktionen solcher Schreiben, in wenig angenehmer Weise
durch Schwulst und Überladung ausgezeichnet, welche dem VI. S. im
allgemeinen, welche aber vorzugsweise unserem Schriftsteller eigen-
tümlich sind.
Von seinen übrigen Werken nennen wir eine kurzgefaßte Enzy-
klopädie, De artibus ac disciplinis liberalium Uterarum, welche in ähn-
lichen 7 Abteilungen, wie wir sie bei Martianus Capella teilweise
zu schildern hatten, die Wissenschaften behandelt. Die Einteilung
in 7 Wissenschaften war für Cassiodorius geradezu verführerisch.
Er besaß eine im letzten Grunde mutmaßlich den Ausläufern des
Neuplatonismus entstammende Verehrung fQr heilige Zahlen'). Er
hatte die Zwölfzahl der Bücher seiner Briefe nur um der zahlreichen
*) Variarum (epistolarum) Ubri XIL *) Thorbecke 1. c. S. 62.
570 27. Kapitel.
Vergleichspuukte willen gewählt; er witterte, wie sein Psalmenkom-
mentar beweist, hinter der Ordnungszahl eines jeden Psalmen tiefere
Beziehungen; so war ihm die Zahl der 7 Wissenschaften Symbol
der Ewigkeit. Die Reihenfolge hat Cassiodorius gegen Yarro und
Martianus Gapella geändert. Ihm folgen jetzt Gh'ammatik, Rhetorik,
Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie aufeinander.
Ein weiterer einigermaßen wesentlicher Unterschied gegen Martianus
Capella besteht darin, daß bei diesem die griechischen Wortformen
teilweise sogar in griechischen Schriftzügen vorherrschen, während
Cassiodorius hier mit mitunter recht ungeschickten Übersetzungen als
lateinischer Sprachreiniger auftritt. Er beabsichtigt nicht das Aus-
führliche dieser Wissenschaften zu lehren. Er will vielmehr die
Schriftsteller der Griechen und Römer bezeichnen, bei welchen man
sich mit den einleitenden Kenntnissen versehen ausführlicher unter-
richten könne ^). So ist es gewissermaßen entschuldigt, wenn Arith-
metik und Geometrie, auf die wir wieder allein unser Augenmerk
richten, noch mehr zu einer bloßen Sammlung von Definitionen ge-
worden sind. Eine solche Definition wollen wir besonders hervor-
heben: Magnitudines rationales et irrationales sunt, rationales quarum
mensuram scire possumus; irrationales verOy quarum mensurae quanUias
cognita non habetur, d. h. Größen sind rational oder irrational, rational
wenn ihr Maß erkannt werden kann, irrational wenn ihre Messungs-
größe nicht erkannt werden kann. Es will scheinen, als ob hier zum
ersten Male die Kunstausdrücke rational und irrational im Gegen-
sätze zueinander gebraucht worden wären, deren Erfinder mithin
Cassiodorius gewesen sein dürfte*). Seinem Versprechen getreu emp-
fiehlt er« Pythagoras, Nikomachus und die Übersetzer des letzteren
Appuleius und Boethius, aus deren Schriften, wie man sage — ut
aiu7tt — man sich mit den klarsten Anschauungen durchdringen
könne, eine Ausdrucksweise, welche in Zweifel setzt, ob er selbst
diese Schriften kannte und somit dem, was wir über eine mögliche
Vermengung verschiedener durch Appuleius und Boethius übersetzten
Schriften (S. 564) andeuteten, nicht im Wege steht. Dem Abschnitte
über Geometrie fügt er bei, in dieser Wissenschaft seien bei den
Griechen Euklid, Apollonius, Archimed und andere annehmbare Schrift-
steller aufgetreten, von welchen Euklid durch denselben großartigen
Mann Boethius in die römische Sprache übertragen worden sei, ex
quibus Euclidem translatum in Romanam linguam idem vir magnißcus
^ Nee illud quoque tacebimus quibus auctaribus tarn Graecis quam Laiinia,
quM dicimus, exposita claruenmt: ut qui studiose legere voluerit, quibusdam com-
pendiis introductus, lucidius Majorum dicta perdpiat, *) V. Mortet in der
Bevue de Philologie etc. XXIV, 280.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 571
Boethius dedit Allerdings haben einige gute Handschriften nicht
translatum sondern ddlaiumj wonach Boethius weniger eine Über-
setzung als eine Bearbeitung des Euklid geliefert haben würde, aber
dem steht wieder gegenüber, daß in einem Briefe^) an Boethius die
Worte vorkommen: Translationibus tuis — geometricus Euclides audi-
ufUur AusaniiSf dem steht besonders der in der Enzyklopädie un-
mittelbar nachfolgende Schlußsatz des Gassiodorius gegenüber: Qui si
diligenii cura relegatur etc., d. h. man solle die Euklidübersetzung
wieder und wieder lesen. Für die Musik wird auf die Griechen
Euklid, Ptolemäus und so weiter, in lateinischer Sprache auf Appu-
leius von Madaura yerwiesen. Aus dem astronomischen Abschnitt
endlich erwähnen wir der Empfehlung der Schriften von Ptolemäus.
Der Name des Boethius kommt in diesen beiden letzten Abschnitten
nicht vor, einer lateinischen Übersetzung des Ptolemäus ist überhaupt
nicht gedacht.
Wir verweilen etwas länger, als der Gegenstand und die enzy-
klopädische Behandlung desselben es eigentlich verdienen, bei Gassio-
dorius und seiner Wissenschaftslehre, um zugleich ein Bild mönchi-
schen gelehrten Treibens zu entwerfen, wie es von diesem Zeitpunkte
an uns jeden Augenblick wieder begegnen wird. Diesem Bilde würde
ein nicht unwesentlicher Strich fehlen, und uns zugleich die Gelegen-
heit entgehen, hier schon eines regelmäßigen Arbeitsstoffes mittel-
alterlicher Gelehrten zu gedenken, wenn wir nicht noch über einen
ganz kurzen Aufsatz redeten, der unter den Werken des Gassiodorius
abgedruckt worden ist. Wir meinen einen Computus paschaiis vom
Jahre 562.
Man hat Einsprache dagegen erhoben, daß diese Osterrechnung
von Gassiodor herrühren könne. In der Vorrede zur Abhandlung
über Orthographie, welche Gassiodorius, wie wir schon sagten, mit
93 Jahren schrieb, sind die Schriften desselben aufgezählt, und unter
diesen ist kein Computus enthalten. Sollte derselbe daher später
geschrieben sein, etwa im 94. Lebensjahre, so müßte durch Rück-
wärtsrechnung Gassiodor im Jahre 500 bei seiner ersten Anstellung
mindestens 32 Jahre alt gewesen sein im Widerspruch gegen die
früher angeführte wohlbegründete Annahme, er habe damals am An-
fange der zwanziger Jahre gestanden. Diesen Widerspruch zu heben
und zugleich den Gomputus für Gassiodor zu retten hat man die
Vermutung ausgesprochen, dieses Schriftstück sei bereits mehrere
Jahre vor der Abhandlung über Orthographie entstanden und um
seiner geringfügigen Ausdehnung willen in dem genannten Verzeich-
^) CaBsiodoriuB, Varia I, 45.
572 27. Kapitel.
nisse eigener Schriften ausgelassen worden. Sei dem nun^ wie da
wolle, sicher ist, daß im Jahre 562 ein Computus paschalis mög-
licherweise durch Cassiodor verfaßt wurde, wie wir auch schon (S. 531)
gelegentlich gesehen haben, daß Yictorius von Aquitanien 457 eine
solche Anleitung zur Auffindung des richtigen Ostertages schrieb^).
Solche theologisch -chronologische Abhandlungen waren wesent-
lich durch das auf dem Concilium von Nicäa, 325, ergangene
Verbot der mit den Juden gleichzeitigen f'eier des Osterfestes her-
vorgerufen worden. Das Passahfest, d. h. das Fest der Verschonung,
womit die Verschonung von den Plagen in Ägypten gemeint war,
fand bei den Juden stets vom 14. bis zum 21. des Monats Nisan
statt, und zwar wurde dieser Monat dem Mondjahre der jüdischen
Zeitrechnung gemäß immer so durch periodisch eingeschobene Schalt-
monate bestimmt, daß der 14. auf die Frühlingstagundnachtgleiche
fieL Das christliche Osterfest mit seiner ganz anderen Bedeutung
war zunächst auf dem althergebrachten Datum des 14. Nisan ver-
blieben. Erst das nicäanische Konzil faßte, wie gesagt, diese Zeit-
bestimmung als ketzerisch auf, und man verfolgte die, welche bei
den alten Ostertagen blieben, als Quatuordecimani oder Tessareskai-
dekasiten. Ostern solle von den strenggläubigen Bekennern der christ-
lichen Religion stets am Sonntage nach dem ersten Vollmonde seit
der Frühlingstagundnachtgleiche gefeiert werden, niemals an diesem
Tage selbst, auch nicht wenn der Vollmond auf die Frühlingstag-
undnachtgleiche und diese auf einen Sonntag fiel; dann mußte der
folgende Sonntag als Ostersonntag gewählt werden, damit das Zu-
sammentreffen mit dem Passahfest unter allen umständen vermieden
blieb. Es kam also darauf an, den Tag der Frühlingstagundnacht-
gleiche im Sonnenjahre, den des nächsten Vollmondes im Mondjahre
genau zu kennen, beziehungsweise eine Ausgleichung zwischen dem
Sonnen- und Mondjahre zu treffen, welche auf gewissen Zyklen be-
ruhte, in welchen beide Jahresgattungen genau enthalten waren. Das
nicäanische Konzil nahm an: 19 Sonnenjahre seien genau 235 Monds-
monate. Damit war ein Irrtum verbunden, da nach strenger Rech-
nung zu den 235 Mondsmonaten noch etwa 1— Stunden hinzuzufügen
sind. Die Notwendigkeit anderer genauerer Zyklen wurde eingesehen,
und nach Auffindung solcher Gleichungen zwischen Sonnen- und
Mondzeit die Berechnung des Ostertages für jedes Jahr vorzunehmen,
die sogenannte goldene Zahl, die Epakte zu finden^), zu finden ob
^) Über den Campuiue des Yictorius vgl. L. Ideler, Handbuch der mathe-
matischen und technischen Chronologie II, 275—284. *) Ebenda U, 289 und
Die spätere mathemAtische Literatur der Bömer. 573
das Jahr Schaltjahr sei oder nicht und dergleichen^ das ist der alge-
braisch ziemlich dürftige Inhalt derjenigen Schriften, welche sämtlich
den gleichen Titel des Comptäus paschcUis führen.
Unter den von Gassiodorins zum genaueren Studium empfohlenen
Schriftstellern ist uns wiederholt der Name des Boethius erschienen.
Anicius Manlius Severinus Boethius^) stammte aus einer der
reichsten und berühmtesten Patrizierfamilien Roms^ deren Mitglieder
langst gewohnt waren, hohe Staatsstellen zu bekleiden, aber auch
den Wechsel der Schicksale durch fürstliche Ungnade zu empfinden.
Er war zwischen 480 und 482 etwa geboren*) und verlor kurz da-
rauf seinen Vater, so daß seine Erziehung von Fremden geleitet
werden mußte. Wahrscheinlich und zum Glück für die geistige
Ausbildung des begabten Jünglings wurde er der Sorge des Patriziers
Symmachus*) anvertraut, der vollständig geeignet war Vaterstelle
an ihm zu vertreten. Später wurden aus den Beziehungen beider
enge Familienbande, indem Boethius die Tochter des Symmachus
heiratete. Boethius war schon Lehrer in dem Alter, wo andere zu
lernen pflegen*). König Theodorich forderte in einem selbstverständ-
lich durch Gassiodor geschriebenen und in dessen Briefsammlung uns
aufbewahrten Briefe ihn auf, auch für den Burgunderkönig Gundobad
eine Wasser- und Sonnenuhr zu besorgen. Im Jahre 507 entbrannte
Krieg zwischen Theodorich und Gnndobad. Jener ein freundliches
Verhältnis beider voraussetzende Brief kann demnach nur vor oder kurz
nach diesem Kriege geschrieben sein^), vor 507 oder etwa um 510,
wahrscheinlicher in der zuletzt genannten Zeit. Wir werden aus
jenem Briefe, den wir schon (S. 571) anführten, nachher noch ent-
nehmen, welche schriftstellerische Tätigkeit als Übersetzer aus dem
Griechischen Boethius damals schon entfaltet hatte. Fürs erste ist
er uns ein Zeugnis für das Ansehen, in welchem Boethius bei dem
Könige stand, und dieses ebenso wie das des Symmachus wuchs be-
ständig. Allein mit der steigenden Bedeutung des Boethius stieg
auch sein eifriges Bemühen die Freiheit und das Ansehen des römischen
Senates wieder herzustellen, wodurch er den Höflingen, die schon
häufiger. F. J. Brockmann, System der Chronologie (Stuttgart 1883), Kap. lY.
Die christliche Osterrechnung.
^) Usener, Änecdoton Holderi pag. 87 — 66. Ältere Quellen sind benutzt
in Math. Beitr. Kultuil. S. 176->230. Samuel Brandt, Entstehungszeit und
zeitliche Folge der Werke von Boethius im Fhilologus LXII, 141 — 154 und 234
bis 276. ") üsener pag. 40. •) Über Symmachus vgl. Usener pag. 17—87.
^ Ennodins sagt von ihm: Boethius pcOricitts, in quo vix discendi annos respicis
et inteüigis peritiam sufficere iam docendi. ^) Usener pag. 89. Brandt 1. c.
146 — 147 mit Berufung auf Mommsens Ausgabe des Gassiodor.
574 27. Kapitel.
lange neidisch auf ilin waren ^ Gelegenheit gab ihn beim Könige zu
verdächtigen. Untergeschobene Briefe mnßten die Ansicht begründen
helfen, als habe Boethius ans Ehrgeiz sich znm Verrate verleiten
lassen. Schuldig befunden, weil man ihn schuldig wollte, wurde er
seines Vermögens beraubt, seiner Würden entsetzt und wahrschein-
lich nach Pavia, dem damaligen Ticinum, verwiesen. Dort wurde er
wenigstens nach längerer Gefangenschaft enthauptet, vermutlich 524,
der Eirchensage nach am 23. Oktober, welcher zu Pavia, Brescia und
an anderen Orten wohl schon seit .dem VIIL S. als Tag des heiligen
Boethius gefeiert wurde. Symmachus konnte seinem Schmerze über
den gewaltsamen Tod seines Schwiegersohnes nicht gebieten. Seine
Äußerungen darüber, denen es an berechtigter Schärfe nicht gefehlt
haben mag, wurden dem Könige hinterbracht, der sie ebenso ahndete
wie das angenommene Verbrechen dessen, dem die Klagen des Sym-
machus galten. Symmachus wurde in Fesseln nach Ravenna gebracht
und im Gefängnisse getötet. Auch dafür gibt die Sage einen be-
stimmten Tag, den 8. Mai. Theodorich folgte seinen Opfern, deren
Geister sein zerrüttetes Nervensystem ihm unaufhörlich vor die Augen
zauberte, noch 526 nach. Wie viel theologische Streitigkeiten zwischen
dem formell rechtgläubigen Boethius und dem arianischen Hofe Theo-
dorichs zu der Entwicklung beigetragen haben mögen, ist unklar.
Daß Boethius die ihm eine Zeitlang abgesprochenen theologischen
Schriften wirklich verfaßt hat, dürfte nach Auffindung eines Zeug-
nisses des Cassiodor nicht länger zweifelhaft erscheinen^). Ein Wider-
spruch gegen das Werk „über die Tröstungen der Philosophie", welches
Boethius im Gefängnisse zu seiner eigenen Geistesberuhigung ver-
faßte, ist nur scheinbar, keinesfalls so groß, um Boethius nicht als
möglichen Verfasser auch der theologischen Abhandlungen erkennen
zu lassen. Die Geistesrichtung des Boethius, der an * griechischen
Schriftstellern sich durchweg gebildet hatte, war, trotz formaler
Strenggläubigkeit im Christentum, eine dem Heidnischen nicht ab-
geneigte, und überdies lehnt sich jenes Werk der Tröstungen an
griechische Vorbilder an, an Schriften von Aristoteles verquickt mit
spätplatonischen Kommentatoren. War doch fast die ganze schrift-
stellerische Tätigkeit des Boethius gerade diesen Männern gewidmet.
Sind es doch wesentlich Übersetzungen von und Erläuterungen zu
aristotelischen Schriften und deren Kommentatoren, welche Boethius
zum großen Manne machten, während daneben auch seine Lebens-
^) Usener pag. 48 — 69 über die theologischen Schriften des Boeihins,
namentlich auch über deren scheinbaren Widerspruch gegen die Bücher De
cansolatiane.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 575
Schicksale ihm den Strahlenkranz des unschuldig Verfolgten yer-
liehen. Man muß sich ganz im allgemeinen wohl davor hüten bei
Boethius viele eigene Gedanken zu suchen^ oder aus der Hochschätzung
der Zeitgenossen und der Nachkommen eine zu große Meinung von
der Bedeutung des Mannes sich zu machen, dessen Ubersetzungs-
arbeiten selbst nicht auf die Höhe ihrer Aufgabe gelanget sind, und
der darum noch lange kein Riese war^ wenn er Zwerge überragte.
Die Regel der Kombinationen zu je zweien aus beliebig vielen Ele-
menten, man soll die Hälfte des Produktes der Elementenzahl in
ihre um 1 verminderte Anzahl nehmen, wird Boethius vermutlich,
wie vieles sonst, aus Ammonius (S. 501) entlehnt haben. Er hat sie
im fünften Buche seiner Commentaria in Porphyrium sowie in seinem
Eategorienkommentare ausgesprochen ^).
Uns interessieren namentlich diejenigen Übersetzungen, welche
Boethius, wie wir gesehen haben, in seinem 28. Lebensjahre etwa
schon vollendet haben muß. In jenem Briefe des Theodorich an
Boethius^) heißt es: „In Deinen Übertragungen wird die Musik des
Pythagoras, die Astronomie des Ptolemäus lateinisch gelesen. Niko-
machus der Arithmetiker, der Geometer Euklid werden von den Auso-
niem gehört. Plato der Forscher göttlicher Dinge, Aristoteles der
Logiker streiten in der Sprache des Quirinals. Auch Archimed den
Mechaniker hast Du lateinisch den Sikulem zurückgegeben, und
welche Wissenschaften und Künste auch das fruchtbare Griechenland
durch ii^endwelche Männer erzeugte, Rom empfing sie in vater-
ländischer Sprache durch Deine einzige Vermittlung.** Vorzugsweise
Wichtigkeit besitzen für uns von diesen Übersetzungen die der Arith-
metik und Geometrie; daneben kann die der Musik, der Astronomie,
der Mechanik uns gelegentliche Notizen liefern, die sich vielleicht
wertvoll erweisen. .
Der Musik haben wir uns (S. 165) als Quelle bedienen dürfen.
Von den mechanischen Schriften nach Archimed ist uns freilich
außerhalb der hier angeführten Briefstelle keinerlei Erwähnung be-
kannt.
Was die Astronomie und Musik betrifft, die Boethius lateinisch
schrieb, so erinnern wir daran, daß von ihnen in der Enzyklopädie
des Cassiodorius keine Rede ist. Doch ist für die Astronomie wenig-
stens mehr als ein späteres Zeugnis vorhanden. Wir werden später
sehen, daß Gerbert in einem vermutlich im Sommer 983 in Bobbio
») fleiberg im Philologua XLIU, 476—476. Brandt 1. c. 148 und pri-
vate Mitteilungen über die Benutzung des Ammonius durch Boethius. Die Stelle
findet sich in der Baseler Folioausgabe der Werke des Boethius von 1670 auf
pag. 104 und 106. *) Cassiodorius, Varia I, 46.
576 27. Kapitel.
geschriebenen Briefe seine Freude darüber kundgibt, daß er acbt
Bücher gefunden habe: Boethius über Astronomie, über Geometrie
und anderes nicht weniger Bewundernswertes*). In mittelalterlichen
Handschriftenverzeichnissen wird gleichfalls die Astronomie des Boethius
genannt'), und noch 1515 war die Astronomie nach aller Wahr-
scheinlichkeit vorhanden, wenigstens beruft sich ein in jenem Jahre
zu Augsburg gedrucktes Buch auf deren Benutzung^. Möglicher-
weise ist bei jener Berufung ein 1503 in Paris gedruckter von Faber
Stapulensis herausgegebener Band gemeint, der den ausführlichen Titel ^)
fährt: „Boetius Sev. Epitome compendiosaque introductio in libros
arithmeticos Sev. Boetij: adjecto familiari commentaria dilucidata.
Praxis numerandi. Introductio in Geometriam. Liber de quadratura
circuli. Liber de cubicatione sphere. Perspectiva introductio. In-
super Astronomicon." Wenn dem aber so wäre, so stünde die Mei-
nung auch das Astronomicon müsse von Boethius verfaßt gewesen
sein, freilich auf recht schwachen Füßen.
Dafür daß Boethius eine Arithmetik und eine Geometrie schrieb,
ist das unabwendbarste Zeichen vor allen Diagen die Enzyklopädie
des Cassiodorius. Dieser konnte m'cht auf beide Werke und am be-
stimmtesten auf die Geometrie verweisen, wenn sie nicht vorhanden
waren. Die Ausflucht, mit welcher man wohl gegen die ältere Brief-
stelle Mißtrauen zu erregen gesucht hat, Cassiodorius habe Schriften,
die schon verfaßt waren, aber auch solche genannt, welche noch zu
erwarten waren, hat keine Wirksamkeit für die Zeit, als Cassiodorius
ins Kloster zurückgezogen seine Enzyklopädie schrieb. Boethius war
damals längst tot. Von ihm ließ sich nichts mehr erwarten. Von
einem „vermeintlichen" Faktum^) kann aber bei so ausdrücklicher
Verweisung desjenigen, der sich genauer unterrichten wollte, auf die
genannten Bücher unmöglich die Rede sein. Ein gewissenhafter,
pünktlicher Lehrer — und pünktlich war Cassiodorius durchaus —
verweist nicht auf Schriften, die er nur von Hörensagen kennt, ge-
schweige denn von deren Vorhandensein er kaum weiß, ohne ein-
schränkende Bemerkung. Wir würden daher allenfalls begreifen
können, wenn man nach den Worten Cassiodors bezweifeln wollte,
daß Boethius wirklich die Arithmetik des Nikomachus übersetzt habe;
^) Beperimus octo volumina Boethii de astrologia praedarissima quoque
figurarum geometriae aliaqut non minus cUlmiranda. *) Brandt 1. c. 236 Note 8
unter Berufiing auf Schepss (Festschrift für W. v. Christ S. 118). ") M. Curtze
in dem Builettino Boncompagni 1868, pag. 140. *) Wir verdanken die Kenntnis
des Titels H. Karl Bopp, welcher ihn einem antiquarischen Kataloge entnahm.
*) Weißenborn, Die Boetiusfrage im Snpplementheft zur Histor.-literar. Abtlg.
der Zeitschr. Math. Phys. XXIY, S. 190.
Die spätere mathematiache Literatur der Römer. 577
an das Vorhandensein der Übersetzung der euklidischen Geometrie
ist ihm gegenüber jeder Zweifel anstatthaft. Andere Zeugnisse
kommen dazu. Für die Arithmetik gilt als sicherstes Zeugnis, daß
nach Briefen, welche zwischen Gerbert und Otto III. gegen 994 ge-
wechselt wurden, ersterer dem letzteren ein Exemplar der Arithmetik
des Boethius zugeschickt hat. Für die Geometrie wird der vor-
erwähnte Brief Gerberts von 983 angerufen, während andere die Be-
rechtigung in Abrede stellen, den Namen des Boethius, der als Ver-
fasser der Astronomie bezeichnet ist, auch auf die Geometrie zu be-
ziehen. Femer beruft man sich auch für beide Werke noch auf ein
der Zeit nach früheres Zeugnis. Der Bibliothekar Regimbertus auf
Reichenau hat nämlich 821 einen Katalog der damals unter seiner
Obhut Torhandenen Handschriften hinterlassen, und darin ist von
Boethius die Arithmetik in zwei Büchern, die Geometrie in drei
Büchern genannt^), wogegen freilich abermals der Einwand erhoben
worden ist, nur für die Arithmetik sei Boethius als Verfasser gemeint,
nicht auch für die Geometrie. Man findet endlich in einem um 1025
geschriebenen Briefe die Worte'): Boethius sagt in seinem geome-
trischen Werke, in Geometrico dicit Boethius, um welche man sich
nicht herumdeuten kann.
Zu diesen verschiedenen mittelbaren Zeugnissen kommt noch,
daß eine ganze Anzahl von Handschriften sich bis auf den heutigen
Tag erhalten hat, in welchen den Titeln nach die Arithmetik, die
Musik, die Geometrie des Boethius aufgezeichnet sind. Die älteste
Handschrift der Arithmetik soll dem IX. bis X. S. entstammen'), die
älteste Handschrift der Musik dem IX. S.^), endlich die älteste Hand-
schrift der Geometrie dem IX. S.^).
Diese Tatsachen fassen sich also dahin zusammen, daß jedenfalls
Boethius über die vier genannten Wissensgebiete nach griechischen
Mustern sich verbreitet hat, und daß noch erhaltene Handschriften
der drei ersten Werke mit Ausschluß der den Schluß bildenden
^) Agrimensoren, Anmerknng 246. *) Une Correspondance d'ecoldires du
XI. Siicle in den Notices et Extraits XXXVI, 626 lin. 2 (pag. 43 des Sonder-
abdmcks). ") Boetius (ed. Friedlein) Leipzig 1867, pag. 2: codex r.
*) Boetius (ed. Friedlein) pag. 176: codex g. *) Q. Schepss, Zu Boethius
(in den CommervUitiones Woelfflinianae. Leipzig 1891) pag. 279 nennt drei Pariser
(3odices, deren ältester dem IX. S. angehört, während die beiden anderen im
X. S. entstanden sein müssen. In ihnen wird ansdrücklich das Ganze als Eigen-
tum des Boethius in Ansprach genommen. Dem XI. 8. entstammt die Erlanger
Handschrift. Boetias (ed. Friedlein) pag. 872: codex e. Friedlein gibt
femer dem codex n ss cod. Vatican. 3 123 ein höheres Alter, indem er ihn in das
X. 8. setzt, aber üsener (pag. 47) rückt nach eigener Anschauung diesen Kodex
herunter in das XL— XII. 8.
Cahtob, Oetohiohte der M»theniMik I. S. Aufl. 87
578 27. Kapitel.
Astronomie um das Jahr 900 vorhanden gewesen sind nnd damals
für Ton Boethins verfaßt galten.
In der Einleitung zur Arithmetik bestätigt Boethius gleichfalls^
was wir aus anderen Quellen erfahren haben ^ daß er über die vier
verwandten Gegenstande schreiben wolle. Er bezieht sich in dem
Widmungsschreiben an Sjmmachus darauf, daß er von den vier
mathematischen Wissenschaften die Arithmetik, welche die erste sei,
vollendet habe*), und wenn auch die Stelle, in welcher die Reihen-
folge, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie angedeutet ist, weil
die Menge an und für sich betrachtet in der Arithmetik, die Menge
bezogen auf andere in der Musik, die unbewegte Größe in der Geo-
metrie, die bewegte in der Astronomie behandelt werde, sowie eine
andere, in welcher noch naher erklärt wird, weshalb von der Arith-
metik ausgegangen werden solle, nur freie Übersetzungen aus dem
Nikomachus sind^), so kann auch darauf für die Absicht des Boethius
Bezug genommen werden. Er hätte jene Stellen der Einleitung,
wenn sie nicht seine eigenen Pläne ausdrückten, unzweifelhaft bei-
seite gelassen, denn gerade hier hat sich Boethius mit größter Un-
abhängigkeit seines Stoffes bedient. Bei dieser Gelegenheit findet
sich z. B. zum ersten Male das Wort quadruvium benutzt, um den
Kreuzweg der viergeteilten mathematischen Wissenschaften zu be-
zeichnen, welche von Cassiodorius mit anderem Bilde die vier Pforten
der Wissenschaft genannt wurden*). Wir bemerken, daß das von
Boethius gewählte Wort als Gemeingut sich forterbte, daß dem
Quadruvium noch das Trivium zugesellt wurde, um die Gesamt-
heit der sieben freien Künste in ihren beiden großen Gruppen zu
benennen. In der Musik hat alsdann Boethius den einmal einge-
schlagenen Weg weiter für den richtigen erklärt. Er gibt nämlich
wiederholt den Unterschied der vier Wissenschaften und ihre Reihen-
folge in gleicher Weise an, wie er es nach Nikomachus getan
hatte*). Eine Widmung ist der Musik nicht vorausgeschickt. Die
Geometrie dagegen beginnt mit der Anrede „mein Patricius'% mi
Patrici, was ohne jede Schwierigkeit auf den Rhetor Patricius ge-
deutet werden kann, welchem Boethius auch ein anderes Werk, seinen
Kommentar zu Giceros Topik, mit derselben am Anfang des zweiten
^) Cum igitur quattuor matheseos discipUnarum de arithmetica, quae est
prima, perseriberem, tu tantum dignus eo munere videhare. *) Darauf hat Th. H.
Martin aufmerksam gemacht: Les signea numeraux et Variihmdtique ckex les
peuples de Vantiquite et du moyen-age. Annali de mcUematiche Y. Roma 1864,
Cap. XIII, pag. 44 der Separatausgabe. ') Cassiodorius, Varia I, 45: Tu
artem praedictam ex disciplinis nobüibus ncUam per quadrifarias Mathesis ianuas
introisti. *) Boetius (ed. Friedlein) Musica Lib. II, Cap. 8, pag. 228—229.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 579
Buches vorkommenden Anrede mi Pa4rici gewidmet hat*). In der
Geometrie ist sodann von der Arithmetik des gleichen Verfassers
die Rede^. Wieder in der Geometrie ist von der Arithmetik und
der Musik gesagt, daß dort gewisse Dinge zur Genüge besprochen
seien.*). Auf die Arithmetik wird für den Satz verwiesen, daß die
Einheit keine Zahl sei, sondern Quelle und Ursprung der Zahlen.^)
Das sind lauter Kennzeichen, daß die Geometrie von Boethius her-
rührt, oder daß wer sie verfaßte für Boethius gehalten sein wollta
Dieser Satz mag mit Recht dem Leser auffallen. Wir bemerken
deshalb einschaltend, auch um die Tragweite der folgenden Unter-
suchusg zum voraus erkennen zu lassen, daß gegen die Echtheit der
Arithmetik und Musik, wie sie uns handschriftlich als von Boethius
herrührend überliefert sind, ein Zweifel nie erhoben worden ist, daß
dagegen die Geometrie, deren Echtheit oder Unechtheit eine geschicht-
liche Bedeutung ersten Ranges besitzt, von weitaus den meisten für
untergeschoben gehalten wird^).
Wir müssen nun den Inhalt sowohl der Arithmetik als der Geo-
metrie prüfen, welcher uns erst die Berechtigung geben soll, die Frage
zu einigem Abschlüsse zu bringen. Die Arithmetik ist das, was
sie nach der Erklärung des Cassiodorius, was sie aber auch nach den
eigenen Worten des Boethius^) sein soll, eine Bearbeitung der Arith-
metik des Nikomachus, wobei bald Weitläufigeres zusammengezogen,
bald Dinge, die rascher durchlaufen dem Verständnis einen allzuengen
Zugang boten, einigermaßen erweitert wurden. Man wird daher bei
Boethius die auffälligsten Dinge wiederfinden, welche aus dem
griechischen Texte uns schon bekannt sind, Sätze dagegen, die
mathematisch von Wichtigkeit sind, nicht selten vermissen. Die
Einmaleinstabelle fehlt so wenig '^, wie die figurierten Zahlen, deren
hier ausgesprochener Name numeri figurati^), die wörtliche Über-
setzung von aQLd'^ol öxrjiiatoyQaffd'evregy seit Boethius immer allge-
meiner in Gebrauch gekommen ist. Wir bemerken fast überflüssiger-
weise, daß sich Boethius auch der Ausdrücke numeri pnmi und
*) Diese Lösung der früher vorhandenen Schwierigkeit, die Widmung der
Geometrie zu verstehen, rührt von S. Brandt 1. c. 234 Note 1 her. *) Boe-
tiuB (ed. Friedlein) pag. 890, 3—6. *) Ebenda pag. 896, 8—6. *) Ebenda
pag. 397, 20 — 898, 1. •) So namentlich von Friedlein, von Weißenborn:
Die Boetiusfrage in dem Supplementheft zur Histor.-literar. Abtlg. der Zeitachr.
Math. Phys. XXIV (1879) and: Zur Boetiusfrage, Osterprogramm 1880 des
Eisenacher Realgymnasiums. Am kräftigsten und vollständigsten hatHeiberg
die Gründe gegen die Echtheit der Geometrie zusammengestellt in der Zeit-
schrift Philologus XLIII, 507—619. «) Boetius (ed. Friedlein) pag. 4, 80
bis 5, 4. ^ Ebenda pag. 58. ^ Ebenda pag. 101 in der Überschrift von Arüh^
metica 11, 17.
87»
580 27. Kapitel.
numeri compositi bedient. Die Proportionenlehre ist ausführlich ge-
lehrt, und damit ist vielleicht die Sage in Verbindung zu bringen,
welche übrigens wohl auch auf Wahrheit beruhen kann, Boethius
habe im Gefängnisse zu seiner Unterhaltung ein Zahlenkampf ge>
nanntes Spiel ausgedacht, welches wesentlich auf Anwendung von
Zahlenverhältnissen beruht^). Bemerkenswert erscheint dem gegen-
über, daß unter den weggebliebenen Dingen jener Satz des Niko-
machus enthalten ist, der von der Entstehung der Eubikzahlen aus
der Summe ungerader Zahlen handelt, und ebenso der Satz, daß die
neckszahl von der Seite r und die Dreieckszahl von der Seite r— 1
zusammen die n + leckszahl von der Seite r bilden (S. 432). Wir
sehen an solchen Dingen bewahrheitet, was wir ankündigten, sehen
bestätigt, was wir weiter oben (S. 575) behauptet hatten. Es ist
kein ebenbürtiger Bearbeiter, der sich an den griechischen Zahlen-
theoretiker gewagt hat. Gerade den feinsten arithmetischen Dingen
ist er aus dem Wege gegangen. Sein Griechisch reichte aus zur
Übersetzung, seine Mathematik nicht, und wenn den Namen Boethius
bis in das späte Mittelalter hin ein gewisser Nimbus umgibt, so ist
dieser Glanz zum Teil der allgemeinen Dunkelheit zuzuschreiben, zum
Teil Wiederstrahl der Märtyrerkrone, mit welcher, wie wir schon
sahen, die Kirche ihn bedacht hat.
Wir wenden uns zur Geometrie des Boethius, wie sie von den
Handschriften uns überliefert ist. Zwar sind und waren die Hand-
schriften weder in bezug auf die Anzahl der Bücher noch auf den
Text durchweg übereinstimmend. Es gibt und gab Geometrien des
Boethius in fünf Büchern*), in vier Büchern'), in drei Büchern*), in
zwei Büchern.
Indessen sind diese verschiedenen Gestaltungen wesentlich auf
deren zwei zurückzuführen, von denen sich eine aus 5^ eine aus
2 Büchern zusammensetzt. Jene längere wird kaum von irgend jemand
fdr die echte Geometrie des Boethius gehalten werden können. Ihre
beiden ersten Bücher sind zwar in alte Druckausgaben des Boethius
zu einem Buche vereinigt als Geometrie aufgenommen, aber sie ent-
halten ein buntes Allerlei, worunter nicht zum wenigsten Auszüge aus
der Arithmetik des Boethius, die noch obendrein in Unordnung ge-
raten sind; Die beiden folgenden Bücher enthalten eine Boethius zu-
geschriebene Übersetzung aus den 4 ersten Büchern des Euklid. Im
fünften Buche, welches im Drucke noch nicht herausgegeben ist, zeigt
^) B. Peiper in den Abhandlangen zur Geschichte der Mathematik m,
167—227 (1880). *) Math. Beitr. Kulturl., Anmerkung 899. ») Friedleins
Münchner Kodex m aus dem XI. — XII. S. ^) Z. B. das alte Exemplar, welches
im Reichenauer Bibliothekskatalog von 821 beschrieben ist.
Die Bpätere mathematiache Literatur der Römer. 581
sich neuerdings ein Allerlei, aus welchem sich ein sehr interessantes,
den Begleitstücken in keiner Weise ähnelndes Fragment Altercatio
duorum geometricomm hervorhebt, ein katechetisches Zwiegespräch,
dessen Ursprung in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Das Ganze — wir
meinen die f&nf hier geschilderten Bücher — hat die Benennung als
Pseudoboethius*) erhalten, um sie von den zwei Büchern zu
unterscheiden, und von dieser Geometrie in zwei Büchern allein ist
die Bede, wenn Untersuchungen über Echtheit oder Gefälschtsein der
Geometrie des Boethius angestellt werden. Die älteste Handschrift
dieser Geometrie ist die Erlanger aus dem XL S.
Wir wollen jetzt an die Schilderung dieser Geometrie herantreten
und in die Schilderung verweben, was für die Echtheit angeführt
worden ist, damit unseren Lesern die Möglichkeit einer Meinungs-
verschiedenheit begreiflich werde. Die zwei Bücher der Geometrie
leiden nun allerdings auch an einer Buntheit, welche auffallen muß,
und welche keineswegs mit dem übereinstimmt, was ein modemer
Bearbeiter des Euklid liefern würde. Sind wir aber berechtigt, dem
Ähnliches zu erwarten? Wir glauben nicht. Griechische Arithmetik
war, wie wir gesehen haben, den Römern nicht gerade neu. Griechi-
scher Geometrie in irgend gegliederter Aufeinanderfolge, euklidischer
Strenge der Beweise sind wir noch nicht begegnet. Auch jene Be-
arbeitung der Stereometrie in dem Veroneser Palimpseste (S. 565)
schließt sich vermutlich nur an ein Exzerpt des Euklid, nicht an
den wirklichen Euklid an, und ein Exzerpt muß Boethius vor sich
gehabt haben, denn wie wollte er sonst die gesamten Elemente in
zwei, drei, vier, fünf Bücher fassen, wenn wir die Gliederung zulassen
wollen, welche die meisten Bücher der Geometrie des Boethius an-
gibt? Es kann also die Geometrie des Boethius zu der des Euklid
gewiß nicht in dem gleichen Verhältnisse gestanden haben, wie die
Arithmetik desselben zu der des Nikomachus. Auch Boethius selbst
in der Einleitung zur Geometrie gestattet uns keineswegs solche
Ansprüche zu erheben: „Da ich, mein Patricius, auf Dein Ansuchen,
da Du von den Geometem wohl die meiste Übung besitzest, auf
mich genommen habe, das, was von Euklid über die Figuren der
geometrischen Kunst dunkel vorgetragen wurde, auseinanderzusetzen
und für einen leichteren Eingang zuzubereiten, so glaube ich zuerst
den Begriff des Messens erläutern zu müssen^^). Die Figuren geo-
metrischer Kunst, das ist es, was Boethius auseinandersetzen will,
*) Tannery, Notes 8ur la F!setuU>-Geomdtrie de Bo^ in der Bibliotheca
Mathematica. 8. Folge I, 39^50 (1900). ^ Boetius (ed. Friedlein) pag. 373,
21—24.
582 27. Kapitel.
und über die Figuren der Geometrie handelte, was Öerbert ge-
meinschaftlich mit der Astronomie des Boethius in Bobbio fand
(S. 575), und was gerade durch diese Benennung die Urheberschaft
des Boethius näher legt. Wenn dann Gassiodorius, der noch weniger
Mathematiker war als Boethius, daraus entnimmt, es sei eine Über-
setzung des Euklid gewesen, die jener verfaßte, wenn ein Abschreiber
in der Überschrift sagt: „Es beginnt die Geometrie des Euklid von
Boethius einleuchtender ins Lateinische übersetzt*'*), eine Überschrift,
die schon ihrem Wortlaute nach nicht von Boethius herrührt, wie
überhaupt auf eine Überschrift niemals ein größeres Gewicht zu
legen ist als nach der Richtung, daß sie die Ansicht der Zeit der
Abschrift uns kundgibt; so ist Boethius uns an beidem unschuldig.
Er wollte nur die Figuren geometrischer Kunst auseinandersetzen.
Er tat es, indem er nach Definitionen den Inhalt des I. Buches der
Elemente und weniges aus dem III. und IV. Buche aussprach*), ohne
daß der geringste Beweis die Wahrheit des Ausgesprochenen be-
stätigte. Dann sagt er^), er wolle das bisher wörtlich aus Euklid
Übersetzte teilweise wiederholen, um in der Beleuchtung einzelner
Beispiele dem Leser Freude zu bereiten. Wesentlich aus dieser Stelle
ist der Schluß gezogen worden^), die Vorlage des Boethius sei selbst
schon ein recht dürftiger griechischer Auszug aus den Elementen ge-
wesen, und dieser Meinung schließen wir uns an. Was alsdann
Boethius als seine Zusätze liefert, ist freilich eigentümlicher Art.
Es ist die Auflösung der drei Aufgaben: über einer gegebenen Strecke
ein gleichseitiges Dreieck zu beschreiben; von einem gegebenen
Punkte aus eine Gerade von gegebener Länge zu ziehen; von einer
größeren Strecke eine kleinere abzuschneiden. Das sind die drei
ersten Sätze des « I. Buches der Elemente, und der Text stimmt fast
wörtlich mit dem Euklidischen überein. Welcher wirklichen Euklid-
ausgabe Boethius diese Stücke entnahm, das können wir nicht ent-
scheiden. Die Annahme^), es sei die Theonsche Ausgabe gewesen,
und Boethius habe den Euklid nur für den Erfinder der Sätze,
Theon dagegen für den der Beweise gehalten, die um so unbedenk-
licher zu entnehmen seien, hat jedoch viel für sich. Jedenfalls hat
er ohne weiteres sein genannt, was nur aus einer anderen Quelle
stammte, als das unmittelbar vorher Übersetzte, eine Unbefangenheit,
welche bei Boethius fast als schriftstellerische Eigentümlichkeit
gelten kann, wie sein Werk über die Tröstungen beweist^). An
') Incipit geometria Euclidis a Boetio in latinum lucidius transkUa (ed.
Friedlein, pag. 378). *) Eine genauere Yergleichung bei Weißenborn 1. c.
S. 196 und 204. ») BoetiuB (ed. Friedlein) pag. 389, 18 — 23. *) Von
H. Th. Martin. •) Weißenborn 1. c. S. 206flgg. •) ÜBener 1. c. pag. 61—62.
Die spätere mathematigche Literatur der Römer. 583
die drei Aufgaben schließt sich nun die merkwürdige Stelle an^):
^,Doch es ist Zeit zur Mitteilung der geometrischen Tafel über-
zugehen^ welche von Architas^ einem nicht gemeinen Schriftsteller
dieser Wissenschaft für Latium zurecht gemacht wurde, wenn ich
zuerst wieviele Gattungen von Winkeln und Linien es gebe voraus-
geschickt und weniges über Flächen und Grenzen gesagt haben
werde." Er erfüllt letzteres Versprechen wieder durch einige De-
finitionen und kommt dann zu der berühmt gewordenen Stelle vom
Abacus.
Fingerzahlen, digiti, wurden nach ihm von den Alten alle
Zahlen unterhalb der ersten Grenze, limes, d. h. bis 9 genannt').
Gelenkzahlen, articuli, heißen die Zahlen, welche in der Ordnung
der Zehner und so fort ins Unendliche sich befinden. Zusammen-
gesetzte Zahlen sind alle zwischen der ersten Grenzzahl 10 und
der zweiten Grenzzahl 20 gelegenen und die übrigen der Reihe nach
mit Ausnahme der Grenzzahlen selbst. Diese nebst den Fingerzahlen
heißen nichtzusammengesetzt, incompositi^).
Er fahrt dann fort: „Männer von alter Einsicht, welche der
pythagoräischen Schule angehören, und als Forscher über platonische
Weisheit mit merkwürdigen Spekulationen sich beschäftigen, haben
den Gipfelpunkt der ganzen Philosophie in die Eigenschaften der
Zahlen gesetzt. In der Tat, wer wird die Masse des musikalischen
Einklangs verstehen, wenn er glaubt, sie hingen nicht mit Zahlen
zusammen? Wer wird unbekannt mit der Natur der Zahlen die aus
Sternen zusammengesetzten Sternbilder der Himmelsfeste erkennen
oder den Aufgang und Untergang der Thierzeichen erfassen? Was
endlich soll ich von der Arithmetik und Geometrie sagen, die selbst
nicht in nichtnennenswerter Gestalt erscheinen, so wie die Eigen-
schaften der Zahlen verloren gehen? Doch davon ist in der Arith-
methik und in der Musik zur Genüge die Bede gewesen, kehren wir
daher zu dem zurück, was jetzt zur Sprache kommen soll. Die
Pythagoräer haben sich, um bei Multiplikationen, Divisionen und
Messungen nicht in Irrtümer zu verfallen (wie sie in allen Dingen
voller Feinheiten und Einfälle waren) einer gewissen gezeichneten
Figur bedient, welche sie ihrem Lehrer zu Ehren die pythagoräische
Tafel, mensa Pythagorea, nannten, weil die ersten Lehren in den so
dargestellten Dingen von jenem Meister ausgegangen waren. Von
den Späteren warde die Figur Abacus genannt. Sie beabsichtigten
*) Boetius (ed. Friedlein) pag. 393, 6—10. *) Die Engländer nennen
in ihren Lehrbüchern der Rechenkunst heute noch die Einer digits. ') Boetius
(ed. Friedlein) pag. 395, 3—16.
584 27. Kapitel.
damit das, was tiefsinnig erdacht worden war^ leichter znr all-
gemeinen Kenntnis zu bringen, wenn man es gewissermaßen vor
Augen sähe und gaben der Figur die hier folgende merkwürdige
Gestalt"!).
Wir haben diese ganze Stelle wörtlich aufgenommeu, um jeden
Zweifel verschwinden zu lassen, wie Boethius, der sich hier wieder-
holt auf seine früheren Schriften bezieht, über den Ursprung der
von ihm gezeichneten Figur denkt: es ist eine pythagoraische Erfin-
dung, aber freilich keine altpythagoräische, denn sonst würde nicht
der Forschungen über platonische Weisheit jener Angehörigen der
pythagoräischen Schule gedacht sein können. Also Neuplatoniker
oder vielleicht Neupythagoraer haben nach der Ansicht unseres
Schriftstellers die Figur gebildet, welche zuerst Tafel des Pythagoras,
dann Abacus genaimt wurde. Sie wurde Abacus genannt, unter-
schied sich mithin von dem früher als solcher vorhandenen Rechen-
brette, und der Unterschied liegt in der Art der Benutzung.
Kolumnen, feste oder gezeichnete, hatten zwar auch die alten
und ältesten Rechenbretter, aber deren Ausfüllung beim Rechnen
erfolgte mittels Marken, deren jede die Einheit der betreflFenden der
Kolumne oder der Kolumnenabteilung angehörenden Rangordnung
bezeichnete. Jetzt war eine wesentliche Änderung eingetreten.
„Man hatte Apices (Kegelchen?) oder Charaktere von verschiedener
Gestalt"«).
Jede dieser Marken war mit einer Bezeichnung versehen, welche
ihr den Wert einer der neun Fingerzahlen beilegte, und diese Be-
zeichnung wird nun im fortlaufenden Texte genau so abgebildet wie
es auf dem vorher gezeichneten Abacus der Fall war. Damit ist
also widerspruchslos bewiesen, daß die Zeichen gleichen Alters und
gleichen Ursprunges wie der sie umgebende Text sind, und nicht
erst nachträglich auf die vorher von derartigen Zeichen freigewesene
Tafel eingeschmuggelt werden konnten. Wohl aber wäre es mög-
lich, daß es sich so mit gewissen eigentümlichen Wörtern ver-
hielte, die nicht im Texte, sondern einzig und allein auf der Figur
sich finden.
Wir würden der ganzen Untersuchung einen selbst für die
Wichtigkeit, welche ihr innewohnt, unverhältnismäßig großen Raum
widmen müssen, wenn wir fortführen wörtlich zu übersetzen oder
gar zu erläutern. Wir wollen nur kurz berichten, daß Regeln der
Multiplikation und der Division nachfolgen, jene breiter und deut-
*) Boetiufl (ed. Friedlein) pag. 396, 26—896, 16. *) Ebenda pag. 897,
2 — 3.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 585
lieber angelegt, diese dankler, wie der Verfasser selbst fablt, wenn
er sagt: ,,Ist es irgendwie dunkel gebalten, so müssen wir dem
fleißigen Leser die Einübung überlassen^' ^). Bei der Multiplikation
kommen die Einzelfalle zur Spracbe, welcbes Produkt also entstebe,
wenn Zebner mit Hunderten, mit Tausenden usw. vervielfacbt werden.
Bei der Division erscbeint die komplementäre Divisionsmetbode,
von der ankündigend (S. 528) die Rede war. Das Komplement, die
Differentia des Boetbius, ist die Zabl, um welcbe ein Divisor
kleiner ist als die näcbste nicbtzusammengesetzte Zabl, letzteres Wort
in dem oben definierten Sinne genommen. Der Divisor 16 z. B. bat
bis zu 20 die DiflFerenz 4, der Divisor 78 bis zu 80 die Diflferenz 2,
der Divisor 623 bätte bis zur näcbsten nicbtzusammengesetzten Zabl
700 die Differenz 77. Nun wird mit dem vergrößerten Divisor divi-
diert, und jedesmal dem Reste das Produkt des Quotienten in die
Differenz ergänzend wieder beigefügt, bis man fertig ist. Man wird
leicbt erkennen, daß diese Metbode, wenn aucb mebr Teildivisionen
als die gewöbnlicbe erfordernd, weit zuverlässiger ist, weil bier, wo
mit einer einfacben Zabl die Teildivision vorgenommen wird, niemals
der Fall eintreten kann, daß irrtümlicb ein zu großer Quotient an-
gesetzt würde. Eine etwas abgeänderte Anordnung der komplemen-
tären Division tritt ein, wenn der Divisor aus Hundertern und
Einern bestebt. Man soll alsdann die Einer des Divisors zunäcbst
unberücksicbtigt lassen, dagegen aucb vom Dividenden eine Einbeit
böcbster Ordnung beiseite lassen, damit nacbtzüglicb das Produkt des
Quotienten in die Einer des Divisors bis zu jener Einbeit ergänzt
und die Ergänzung dem erstgewonnenen Divisionsreste beigefügt
werde.
Fragen wir nun wiederbolt, wober diese Dinge stammen mögen,
so sollte man vermuten, wir würden in erster Linie die auf den
Apices befindlicben Zablzeicben über ibren Ursprung befragen. Wir
werden diese Frage jedocb erst im 33. Kapitel stellen. Jetzt be-
merken wir, daß die Apices selbst ungemein an die Pytbmenes oder
Stammzablen des ApoUonius erinnern, und das Multiplizieren der ver-
scbiedenen Rangordnungen an die von jenem gegebenen Einzelvor-
Bcbriften (S. 347 — 348). Ein Fortscbritt ist ja in der Benutzung der
Apices unbedingt entbalten, aber docb ein solcber, den wir späteren
Alexandrinern zutrauen dürfen. Ob das Divisionsverfabren Erfindung
eines Römers war? Wir wissen es nicbt, wenn aucb unser ßefübl
sieb dagegen sträubt, einen römiscben Geist als so erfinderiscb in
matbematiscben Dingen annebmen zu sollen. Wir können nur wieder-
*) Boetius (ed. Friedlein) pag. 400, 28—30.
586 27. Kapitel.
holt auf die Dinge hinweisen, welche wir zur komplementären Multi-
plikation (S. 528) in Beziehung gesetzt haben, daß subtraktive
Zeichen entschieden römisch sind, daß von Nikomachus mutmaßlicli
RechnungSYorteüe gelehrt wurden, welche dem komplementären Ver-
fahren ähneln. Boethius selbst, beziehungsweise der unter dem Namen
des Boethius Schreibende, scheint alles einer und derselben Vorlage
entnommen zu haben, einem lateinisch schreibenden Architas.
Auch von diesem soll erst weiter unten die Rede sein, wenn wir die
Geometrie des Boethius zu Ende besprochen haben.
Jetzt nämlich, nachdem das Rechnen d. h. Multiplizieren und
Dividieren gelehrt worden, kommt der Verfasser zum zweiten Buche
und in ihm zur rechnenden Geometrie, zu welcher der Abschnitt
vom Abacus eine Einleitung bildete, vielleicht nach dem entfernten
Muster des Nikomachus (S. 564). Wir finden uns auf völlig be-
kanntem Boden. Wir haben die Geometrie der römischen Feld-
messer vor uns, in einigen Dingen wieder etwas tiefer gesunken und
von den wenigst genauen heronischen Vorschriften Gebrauch machend.
So z. B. finden wir die Flächenberechnung des gleichseitigen Drei-
17
ecks^) durch die nicht verstandene Formel öt* — äö^*- ^^^ finden
Gebrauch gemacht von der schlechten Annäherung zur Fläche eines
unregelmäßigen Vierecks^) durch Bildung des Produktes der arith-
metischen Mittel von je zwei einander gegenüberliegenden Seiten.
Auch die Vieleckszahlen als Vielecksfiächenräume kommen hier vor.
Bei dem Achtecke ist nur die aus zwei Quadraten verschränkte
Figur gezeichnet. Bei dem Fünfeck und Sechseck sind falsche
Formeln angewandt. Dagegen ist hier die deutliche Spur der all-
gemeinen Formel für die rte weckszahl vorhanden, welche wir bei
Epaphroditus (S. 557) nur mutmaßten •). Die Vorlage für dieses
zweite Buch scheint im allgemeinen Frontinus verfaßt zu haben*).
Als Ausnahme wohl ist der Satz vom Durchmesser des Innenkreises
des rechtwinkligen Dreiecks (S. 556) dem Architas zugeschrieben,
nachdem er vorher durch Euklid hiazuerfunden worden sei^).
Auf eben diesen Architas bezieht sich Boethius noch einmal
zum Schlüsse des zweiten Buches, um nach den Regeln der rechnen-
den Geometrie die Bruchrechnung zu erörtern. Die ganze Stelle
gehört samt der Tabelle, welche ihr beigefügt ist, noch immer zu
dem Dunkelsten, was man besitzt. Nur eins ist einleuchtend: warum
nämlich gerade am Schlüsse der Geometrie diese Lehre vorgetragen
») BoetiuB (ed. Friedlein) pag. 404, 14—405, 10. «) Ebenda pag. 417,
16—28. ") Ebenda pag. 428, 1—7. *) Ebenda pag. 402, 27—403, 2 und 428,
16—19. «) Ebenda pag. 412, 20—413, 9.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 587
wird*). Das geschieht und muß geschehen, weil nunmehr die Astro-
nomie folgte, in welcher Bruchrechnungen in größter Menge not-
wendig wurden. Wie der Abacus zwischen den beiden Büchern der
Geometrie den Übergang von der eigentlichen theoretischen Geo-
metrie zur Feldmeß Wissenschaft bildete, so bildet jetzt die Bruch-
rechnung den weiteren Übergang zu den uns verloren gegangenen
Büchern der Astronomie. Es zeigt sich somit, daß die Geometrie
des Boethius nach vorwärts und rückwärts Beziehungen zu den drei
anderen mathematischen Schriften desselben Verfassers darbietet.
Es ist daher nur eine einzige Wahl gestellt: entweder die ganze
Geometrie des Boethius mit dem Inhalte, über welchen wir berichtet
haben, ist echt oder aber sie ist das Werk eines Fälschers, der
mit vollbewußter Absicht den Anschein sich gab, als sei er
Boethius. Man hat diese letztere Meinung zu verteidigen gewußt^
und sich dabei auf Einzelheiten gestützt. Man hat nämlich zu zeigen
gesucht, daß die Redeweise der Arithmetik zu der der Geometrie
in Widerspruch stehe, daß somit wenn erstere von Boethius herrühre,
letztere nur untergeschoben sein könne. Solche Widersprüche sind,
wir geben es zu, vorhanden, aber sie sind ganz von der gleichen
Natur wie derjenige, welchen wir (S. 435) bei Theon von Smyma
nachzuweisen imstande waren, der sich in einem und demselben
Werke nicht scheut die Einheit keine Zahl zu nennen und als Zahl
zu benutzen. Will man Boethius dessen t^r unfähig halten, so muß
man seine geistige Bedeutung zu einer Höhe hinaufschrauben, auf
welche er nach unserer wiederholt ausgesprochenen Überzeugung
nie gelangte. Wir geben femer zu bedenken, daß man zur Möglich-
keit einer Fälschung, die spätestens im XL S. vollzogen worden sein
mußte — denn aus dieser Zeit rühren unsere ältesten Handschriften,
welche die Stelle vom Abacus enthalten, her — anzimehmen ge-
zwungen ist, daß damals bereits die echte Geometrie des Boethius
verloren gegangen war, trotz der übertriebenen Wertschätzung, die
man dem Manne zu zollen nie aufgehört hatte, oder daß man falls
solches nicht stattfand Wahrscheinlichkeitsgründe dafür geltend zu
machen hätte, warum nur Abschriften der gefälschten Geometrie und
daneben keine der echten sich erhielten.
Wir denken nicht daran, femer unserer früher lange festgehal-
tenen Meinung von der Echtheit der Geometrie des Boethius anzu-
haften, nachdem die gewiegtesten Kenner des Mittelalters, die am
') Math. Beitr. Kultorl. S. 228—229. *) Zuletzt und am scharfsinnigsten
Weifienborn in der schon wiederholt angeführten Abhandlung „Die Boetius-
frage'\
588 27. Kapitel.
meisten damit vertraut sein müssen^ was man jener Zeit an
Fälschungen zumuten darf, die entgegengesetzte Meinung als einzig
mögliche hingestellt haben ^)y aber eines dürfen wir betonen: das
Schlußergebnis ist und bleibt, daß der Verfasser der sogenannten
Geometrie des Boethius, der Fälscher, wie man ihn unter dieser
Voraussetzung zu nennen hat, wesentlich feldmesserische Quellen be-
nutzt haben muß, daß er auf dem Boden griechischer Bildung steht,
und somit, wenn auch unter Herabrückung der Zeit, in welcher seine
Schrift entstanden ist, für die Geschichte späterer römischer Mathe-
matik Verwendung finden darf.
Gehen wir nach dieser Zwischenbemerkung noch einmal und mit
vermehrter Sicherheit zum I. Buche der Geometrie des Boethius
zurück, und zwar zu der Stelle, wo die Übersetzung des Auszuges
aus den Elementen des Euklid aufhört. Die letzten Sätze, die aus-
gesprochen sind, lauten*): „Um einen gegebenen Kreis ein gleich-
seitiges und gleichwinkliges Fünfeck zu zeichnen lehren die Geo-
meter. In einen gegebenen Kreis ein Fünfeck zu zeichnen, welches
gleichseitig und gleichwinklig sei, ist nicht unpassend." Die Fort-
setzung wagen wir nicht zu übersetzen. Sie begründet die unmittel-
bar hervorgehende Behauptung mittels gewisser auf das Verhältnis
von Zahlen herauskommenden Rücksichten, aus denen wir einen
guten Sinn nicht mit Sicherheit zu entnehmen vermögen. Gleichwohl
ist an der Echtheit der floskelhaften Begründung nicht zu zweifeln,
da sie sich wortgetreu in 28 darauf hin untersuchten Handschriften,
die in anderen Punkten Unterschiede gegeneinander zeigen, wieder-
findet'). Dagegen hat keine dieser Handschriften eine Figur damit
verbunden, während die älteren Druckausgaben der Geometrie des
Boethius, wir wissen nicht aus welcher Quelle*), ein in den Kreis
eingezeichnetes regelmäßiges Fünfeck mit seinen sämtlichen fünf
Diagonalen beigegeben haben. Zumeist aus dieser nichts weniger
als authentischen Figur hat man einen Sinn jener dunkeln Worte
abgeleitet, als wenn neben dem gewöhnlichen Fünfeck das Stern-
fünfeck beschrieben werden sollte*), welches Boethius danach ge-
*) Wir Yerweisen für ihre Begründung wiederholt auf Heiberg im Phüo-
logus XLIU, 607— ;619. *) BoetiuB (ed. Friedlein) pag. 389, 8—16: Circum
datum drculum quinquangulum aequilaterum et aequiangulum designare geometres
praecipitmt Intra datum drculum quinquangulum, quod est aequilaterum atque
aequiangulum designare non disconvenit. Nam omnia, quaecunque ennt, nume-
rorum ratione sua constant et proportianahUiter alii ex aliis constituuntur circum-
ferentiae aequalitate muüiplicationibus suis quidem excedentes atque altematim
poriionibus suis terminum facientes, ') Boncompagni im BuÜettino Boncom-
pagni 1873, 841 — 856. *) Etwa aus einem griechischen Euklid lY, 11?
*) ChasleB, Apergu hist. 477, deutsch 645—646.
Die spätere mathematische Literatur der Römer. 589
kannt haben würde. Wir sind gegenwärtig nicht geneigt diese Mei-
nung aufrecht zu halten. Nicht als ob es uns unmöglich schiene^ daß
Boethius das schon alte Stemfünfeck gekannt hätte^ aber wir trauen
ihm so wenig Geometrie zu, daß er wohl nicht aus eigenen Gedanken
das Pentagramm mit dem regelmäßigen Sehnenfönfeck in Verbindung
brachte und bei Euklid konnte er entschieden keine Anregung dazu
erhalten, weder in dem Auszuge noch in dem vermeintlichen Kom-
mentare des Theon. Dort fand er höchstens, daß die Winkel eines
aus zwei Diagonalen und einer Fünfecksseite gebildeten Dreiecks sich
wie 1:2:2 rerhalten, und das soll möglicherweise in den dunkeln
Worten ausgesprochen sein.
Wir kommen ferner auf ein Anderes zurück, wovon erst an-
deutungsweise die Rede war. Architas, ein nicht gemeiner Schrift-
steller dieser Wissenschaft, hat nach dem sogenannten Boethius die
geometrische Tafel, d. h. den Kolumnenabacus mit seinen Kegelchen,
für Latium zurecht gemacht. Wer war dieser Architas, welcher in
dem Zwischenstücke zwischen dem I. und IT. Buche und in dem
IL Buche der Geometrie, im ganzen an fünf Stellen^) genannt ist:
füt die geometrische Tafel und für die Bruchrechnung; für den Satz
vom Durchmesser des Innenkreises des rechtwinkligen Dreiecks und
für die Bildung rationaler Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks von
der geraden Zahl ausgehend, also für die Methode, welche sonst
Haton zugeschrieben wird; endlich für eine falsche Berechnung der
Fläche eines Dreiecks als doppeltes Quadrat seiner Höhe? Auch hier
stehen zwei Meinungen einander gegenüber. Die einen halten Archi-
tas für den alten tarentiner Pythagoräer, auf welchen die Überliefe-
rung gar vieles mit Recht und mit Unrecht zurückgeführt habe, und
welcher auch in der Arithmetik und in der Musik des Boethius mehr-
fach vorkam, so daß Boethius oder der sein wollende Boethius ihn
anzuführen Gründe hatte. Die anderen meinen Architas, der lateinisch
schrieb, der nach der Stelle vom Kreisdurchmesser später als Euklid
gelebt habe, könne nicht der Tarentiner sein. Es sei vielmehr ein
römischer Schriftsteller, ein Feldmesser oder dergleichen gewesen, der
alsdann sicherlich vor Verfassung der Geometrie, in welcher er ge-
nannt ist, aber unbestimmt wann gelebt haben muß. Mit dieser
Annahme ist die Geschichte der Mathematik bei den Römern um
einen Namen reicher, um den Architas Latinus, aber die Schriften
des Mannes bleiben auch denen, die an ihn glauben, unbekannt.
Wir selbst zählten früher zu den letzteren, sind aber durch eine
neuere Entdeckung zur entgegengesetzten Meinung bekehrt worden.
1) BoetinB (ed. Friedlein) pag.393,7; 408,14; 412, 20; 413,22; 425,23.
590 27. Kapitel.
Man hat nämlich bemerkt ^)^ daß der so auffallende Ausdrack non
sordidus auctor, der von Architas gebraucht wird, von Horatius in
seiner Ode auf Archytas von Tarent angewandt wurde*), daß mithin
nur eine Erinnerung an diesen bekannten Vers in jenem Ausdrucke
zu finden ist, und diese ist undenkbar, wenn nicht die Persönlichkeit^
von der die Bede ist, die gleiche wäre. Die Schwierigkeit, daß Architas
nach Euklid gesetzt wird, löst sich durch die seit der Zeit des
Kaisers Tiberius (S. 261) übliche Verwechslung des Mathematikers
Euklid mit Euklides von Megara, der ein älterer Zeitgenosse des
Archytas von Tarent wirklich war. Ob endlich die platonische Formel
für rationale rechtwinklige Dreiecke nicht wirklich ursprünglich dem
Archytas angehörte, ist eine Frage, deren Verneinung nicht durch
zwingende Gründe gefordert wird. Wenn wir also gegenwärtig an-
nehmen, ein Architas Latinus als Persönlichkeit sei aus der Geschichte
zu streichen, wenn die Meinung, Boethius habe lateinisch zugestutzte
Schriften des Tarentiners vor sich gehabt, als er die Worte Lotio
accommodaiam^) gebrauchte, daran strandet, daß nie und nirgend die
leiseste Spur einer solchen Bearbeitung nachzuweisen ist, so bleibt
die fortgesetzte Berufung auf Architas für uns diejenige Klippe, von
der aus wir am leichtesten zur Fälschungstheorie gelangen.
Wir haben nun von einigen bekannten Schriften völlig unbe-
kannter Verfasser zu reden. Der älteste von ihnen wird vermutlich
derjenige sein, den vrir anderwärts den Anonymus yon Chartres
genannt haben ^), den man auch wohl für Julius Frontinus gehalten
hat. Bei ihm tritt die Dreiecksberechnung aus den drei Seiten nach
der sogenannten heronischen Formel auf, bei ihm die Formel für
rationale Seiten rechtwinkliger Dreiecke, bei ihm der Satz vom Innen-
kreise des rechtwinkligen Dreiecks, bei ihm die Berechnung der
Kugeloberfläche gleich der vierfachen Fläche des größten Kreises, bei
ihm das Verhältnis 22 : 7 des Kreisumfangs zum Durchmesser, kurzum
richtige Dinge, welche den Verfasser wohl noch mehr als die bei
ihm gerühmte Latinität in die Blütezeit römischer Feldmeßwissen-
schaft hinaufrücken, während der Römer an den als Flächenformeln
benutzten Formeln für Vieleckszahlen mitten zwischen geometrischen
Betrachtungen kenntlich bleibt.
Ein anderes Stück, in demselben Sammelbande in Chartres ent-
halten, aber wohl nicht von dem Anonymus verfaßt*), hat eine
*) AUman, Greek Geometry from Thaies to Euclid pag. 110. •) Horatius»
Lib. I, Ode 28: iudice te non sordidus auctor naturae verique. *) Boetius
(ed. Friedlein) pag. 393, 8, *) Agrimensoren 8. 132. Vgl. Chasles, Äpergu
hist. 457 — 469, deutsch 617 ügg. *) Das hat Weißenborn 1. c. S. 223 gegen uns»
mit Berufung auf Chasles, den wir hierin mißverstanden hatten, mit Recht betont.
Die spätere mathematiBche Literatur der Römer. 591
Abhandlung über das Abacnsrecbnen zum Inhalte, welche der des
Boethius sehr ähnlich ist, aber noch weniger als die Geometrie des
Anonymus sich datierungsfähig erweist.
Eine andere geometrische des Namens ihres Verfassers ent-
behrende Schrift ist diejenige, welche die Überschrift führt: Von der
Ausmessung der Jucharte, de iugeribus metiundis. Sie ist in
der sogenannten Qudianischen Handschrift der Wolfenbüttler Biblio-
thek enthalten, mithin im IX. bis X. S. jedenfalls vorhanden ge-
wesen^). Mehr wissen wir nicht zu sagen. Der Verfasser, zu seiner
Zeit vielleicht als großer Mathematiker anerkannt, hat unverstandene
Bruchstücke aus den verschiedensten Vorlagen vereinigt, alte Mängel
getreu übernehmend, neue hinzufügend. Wir haben nicht nötig auf
dieses bunte Allerlei einzugehen, nur das wollen wir uns bemerken,
daß die Vierecksfläche als Produkt der arithmetischen Mittel gegen-
überstehender Seiten erhalten wird, daß sogar der Ereis quadratisch
gedacht ist, indem dessen Fläche sich aus der Vervielfältigung des
vierten Teiles des Umfanges mit sich selbst bildet. Es ist ja nicht
schwer, in den laienhaften Gedanken sich zurückzuversetzen, welcher
den Kreis als krummliniges Viereck mit den vier Quadranten als
Seiten auffaßte und weiter annahm, die Fläche verändere sich nicht,
wenn nur die Seitenlängen dieselben bleiben (S. 549), man habe also
nur eben jene Kreisquadranten als Gerade rechtwinklig aneinander
zu setzen, um die Quadratur des Kreises zu vollziehen. Mathematisch
gesprochen lief dieses Verfahren vermöge \—t-) =• ^r* auf ;r = 4
hinaus, oder darauf den Kreisdurchmesser dem vierten Teile des Kreis-
umfanges gleich zu setzen. Gerade dieses so «ungenaue Verhältnis
zwischen Kreisumfang und Durchmesser wird uns nötigen der das-
selbe enthaltenden Schrift noch einmal zu gedenken, wenn wir mit
den mittelalterlichen Schriftstellern uns beschäftigen, zu welchen dieser
weise Anonymus jedenfalls hinüberführt, vielleicht gehört.
Für jetzt verlassen wir den europäischen Boden. Wir müssen
unter allen Umständen zusehen, was in der Heimat älterer Kultur,
in Asien, aus der Mathematik geworden ist, und daß wir gerade diesen
Augenblick dazu wählen, jene Umschau zu halten, hat seinen voll-
wichtigen Grund. Wir haben in diesem Kapitel immer deutlicher
den Untergang geometrischen Verständnisses bei römischen Schrift-
stellern verfolgt. Wir haben zu unserem Erstaunen daneben die
Überbleibsel einer entwickelteren Rechenkunst erscheinen sehen, ver-
bunden mit Zahlzeichen, aus welchen, wie wir jetzt verraten wollen,
die gegenwärtig in Europa gebräuchlichen als bloße Umformungen
^) AgrimenBoren S. 136—138.
592 27. Kapitel.
sich herleiten lassen. Wir haben die Vermutung durchblicken lassen,
jene Rechnungsweisen könnten yielleicht griechischen Ursprunges sein.
Nach Griechenland, nach dem geistigen Mittelpunkte griechischer
Mathematik in Alexandria würden wir daher versuchen müssen auch
jene Zeichen rückwärts zu verfolgen, wenn nicht laute Einsprache zu
gewärtigen wäre.
Die Anfechter der Echtheit der Geometrie des Boethius sind zu
diesem von beiden Seiten hartnäckig, geführten Streite eigentlich nur
durch die Abacusstelle vermocht. Sie können und wollen, von ihrer
Fälschungstheorie aus, derselben kein höheres Alter als etwa bis in
das X., frühestens IX. 8. verstatten. Sie leiten alsdann die Zahlzeichen
und deren Benutzung auf dem Eolumnenabacus aus dem Oriente her:
von den Indem erdacht, durch Araber verbreitet sollen die Zeichen
in Europa sich eingebürgert haben.
Dieser Möglichkeit gegenüber müssen wir die Heimat der Null,
durch deren Vorhandensein das Ziffemrechnen sich wesentlich vom
Eolumnenrechnen, auch von dem mit Apices, unterscheidet, aufsuchen.
Wir begeben uns zu diesem Zwecke nach Indien.
V. Inder.
Caittob, Oeiohichte der Mathematik I. 8. Aufl. 88
28. Kapitel.
Einleitendes. Elementare Reehenknnst.
Zu einer selbst möglicherweise aus zweierlei Völkern, deren
eines die krausen Haare der Australneger besaß, gemischten Urein-
wohnerschaft des heutigen Dekkans wanderte vielleicht 1400 Jahre
V. Chr. der Stamm der Arier ein, die niedriger stehenden Besitzer
des Landes teils yertreibend, teils unterjochend^). In der späteren
Easteneinteilung des indischen Volkes sind die Nachkommen der
alten Besiegten als die dienende, verachtete Kaste der ^üdras übrig
geblieben, deren Berührung schon befleckte, und die streng ausge-
schlossen waren von den Segnungen einer Bildung, deren Träger
freilich zumeist in den beiden oberen Kasten der Brahmanas und
Kshattriyas, der Priester und Krieger, zu suchen sind, während sie
kaum noch auf die Vai9yas, den bürgerlichen Kern des Volkes sich
erstreckte. Die Sprache der Arier, der TrefiFlichen nach der späteren
Bedeutung des Namens, ist dieselbe, welche man Sanskrit zu nennen
pflegt. Sie wurde die herrschende Sprache von ganz Vorderindien,
vermochte aber in dieser Ausdehnung sich nicht zu erhalten. Das
Sanskrit verblieb nur als Gelehrtensprache in den Priesterschulen der
Brahmanen, während es als Volkssprache ausstarb, beziehungsweise
durch Töchtersprachen verdrängt wurde.
Zwei Momente mögen bei dieser Verdrängung wirksam gewesen
sein. Einmal die Seltenheit schriftlicher Überlieferung, welche soweit
ging, daß Fremde, welche nur kurze Zeit im Lande verweilten, an
den Mangel jeder schriftlichen Aufzeichnung glauben durften, zweitens
die jene Seltenheit selbst wohl verschuldende mehr und mehr hervor-
tretende Zentralisation der Gelehrsamkeit bei den Brahmanen.
^) Für die allgemeinen Verhältnisse waren unsere Quellen der Artikel
„Indien" von Benfey in Ersch und Grubers Encjklopädie 1840. Reinaud,
Memoire sur VInde in den Memoires de VAcademie des Inscriptions et Beiles-
lettres XVIII, 2. Paris 1849. Albr. Weber, Vorlesungen über indische Lite-
raturgeschichte. 2. Auflage. Berlin 1876. Herr E. Wind isch unterstützte uns
bei der Drucklegung der ersten Auflage wesentlich . durch Ratschläge f^ die
Rechtschreibung indischer Namen und Wörter.
38*
596 28. Kapitel.
Das Volk lebte unter einem heftigen Drucke, welchem die Ein-
führung einer neuen Religion entsprang, des Buddhismus, etwa
seit der Mitte des VI. S. y. Chr. Rasch um sich greifend nach müh-
seligen Anfängen wurde der Buddhismus durch den König Afoka
am Beginn des III. S. zur Staatsreligion erhoben, und diese herr-
schende Stellung besaß er auch noch zur Zeit des Königs Kanishka
um 50 V. Chr., eines zweiten indischen Fürsten von in der Erinne-
rung der Nachkommen sich fast sagenhaft mehrendem Ruhme. Um
die Zeit yon Christi Geburt etwa gelang es dem Brahmanismus in
den Ländern westlich vom Ganges wieder die Oberhand zu gewinnen,
während der Buddhismus weiter nach Osten siegreich fortschritt, be-
ziehungsweise sich dort erhielt.
Der Buddhismus war ebenso schreibselig wie der alte Brahmanis-
mus der schriftlichen Arbeit abgeneigt. Eine reiche buddhistische
Literatur hatte sich erzeugt, aber der neu erwachende Brahmanismus
vertilgte schonungslos, wessen er nur habhaft werden konnte, und
das bot eine neue Veranlassung, die Sanskritsprache in Indien selbst
zur Unverständlichkeit zu bringen. Sie behielt nur noch das Wesen
und den Charakter einer heiligen Sprache, als solche allen höheren
Zwecken dienstbar. Religion und Wissenschaft waren an sie geknüpft,
und auch was wir von der Mathematik der Inder wissen, ist wesent-
lich aus Sanskrittexten geschöpft, wenn nicht aus Schriftstellern
anderer Volker erschlossen.
Ein Verkehr Indiens mit dem Westen wie mit dem Osten ist
nämlich für fast alle Zeiten von den ältesten an gesichert. Sind es
insbesondere sprachliche Gründe, welche für die aUerilltesten Zeiten
den Ausschlag geben müssen, so treten bestimmte Überlieferungen
seit dem IV. S. v. Chr. bestätigend hinzu. Nach dem Alezanderzuge
entstanden dicht an den Grenzen Indiens griechische Königreiche,
welche Verbindungen mit dem Mutterlande ununterbrochen aufrecht
erhielten, und mittels deren herüber und hinüber auch Wissenschaft
und wissenschaftliche Berufstätigkeit in Austausch treten mußten.
Kanishka, den wir vorher erwähnten, schloß ein Bündnis mit dem
Triumvim Marcus Antonius, und von seinen Truppen befanden sich
unter den Geschlagenen bei Aktium. Indische Gesandtschaften er-
schienen, wie wir in dem griechischer Entwicklung gewidmeten Ab-
schnitte (S. 456) zu erwägen gaben, an dem Kaiserhofe in Rom wie
später in Bjzanz. Augustus, Claudius und Trajan, Constantinus und
Julian durften die aas dem fernen Osten kommenden Botschafter
begrüßen. Und keineswegs weniger gesichert ist der Verkehr zwischen
Indien und der Ostküste Ägyptens über das indische Meer hin. In
den beiden Jahrhunderten, welche zwischen der Regierung Trajans
EinleitendeB. Elementare Rechenknnst. 597
und dem Jahre 300 liegen^ scheint insbesondere der Handel auf dieser
dnrch Passatwinde begünstigten Wasserstraße stetig an Ausdehnung
gewonnen zu haben , so daß eine Schwierigkeit die Art und Weise
der Übertragung zu erklaren keineswegs besteht für den Fall, daß
indische Bildungselemente in griechischen, griechische in indischen
Werken sich nachweisen ließen. Beides ist aber der Fall.
Philosophie und Theologie der alexandrinischen Neuplatoniker
und Gnostiker haben indische Gedanken sich angeeignet. Daß auch
umgekehrt indiscbe Literatur vielfach von griechischen Quellen zeuge^
ist eine Tatsache, welche gegenwärtig wohl von keinem Sanskrito-
logen mehr in schroffe Abrede gestellt wird. Nur über den Grad
der Beeinflussung, stellenweise über die Richtung derselben findet
ein Zwiespalt statt, da ja an und für sich betrachtet Dinge, die an
zwei Orten gefunden werden, falls man an ein selbständiges doppeltes
Auftreten aus diesem oder jenem Grunde zu glauben nicht geneigt
ist, eben so leicht von dem östlichen Fundorte nach dem westlichen
gelangt sein können als umgekehrt.
Wir werden nunmehr prüfen müssen, welcherlei mathematisches
Wissen bei den Indern sich nachweisen laßt, und wie sich dasselbe
zur griechischen Wissenschaft verhält.
Eins schicken wir voraus: die Form indischer Wissenschaft darf
uns, wenn sie von der griechischen noch soweit abweicht, nicht als
Beweis der Selbständigkeit derer gelten, die sich ihrer bedienten. Ein
arabischer Schriftsteller, Albirüni, hat am Anfange des XI. S. die
Erfahrung gemacht, daß Auszüge aus Euklid und Ptolemäus, welche
er indischen Gelehrten mitteilte, von diesen sofort in Verse so dunkeln
Verständnisses umgesetzt wurden, daß er kaum mehr wiedererkannte,
was er selbst sie gelehrt hatte ^). Nicht viel anders scheint das Ver-
hältnis der indischen Heilkünstler des Mittelalters zu Hippokrates
aufzufassen^).
Wir haben von dunkeln Versen gesprochen. Es ist das eine
besondere Eigentümlichkeit indischer Gelehrten, daß sie wissenschaft-
liche Werke in Versen zu verfassen liebten. Es hängt das offenbar
mit der brahmanischen Neigung zusammen dem Gedächtnisse zu ver-
trauen und Aufzeichnungen zu vermeiden. Nicht unwichtige Folgen
ergeben sich aber daraus. Einmal ist die indische Prosodie eine auf
sehr feste Regeln gegründete, so daß Irrtümer in einem alten Texte
unter Umständen außer aus dem Sinne auch aus holperndem Vers-
maße erkannt werden können. Zweitens aber hat, wie wir schon
') Rein and, Mimoire swr VInde pag. 834, Amnerkxing 2. *) E. Haas in
der Zeit sehr, der dentschen morgenländischen GesellBch. XXXI, 647 — 666.
598 2B. Kapitel.
sagten, die Versform häufig Dunkelheit erzeugt und so die Nötigung
zu ausföhrlichen Erklärungen der für die Schüler fast unverständ-
lichen Schriften mit sich getragen, Erklärungen, die selbst dazu dienen
den älteren Text in unzweifelhafter Reinheit zu bewahren, weil sie
fortlaufende Kommentare bilden, Wort für Wort des Textes wieder-
holen, zur Sache selbst aber meistens recht wenig bieten, indem sie
sich mit bloßen Umschreibungen zu begnügen pflegen.
Die indische Prosodie, sagten wir, sei auf sehr feste Regeln ge-
gründet. In der Tat besitzt sie Versmaße sehr verschiedener Natur,
von denen wir zwei nennen müssen, das Sloka- und das Arja-
Metrum. Letzteres diente den Mathematikern seit Aryabhatia, dessen
Zeitalter wir gleich angeben werden, ausschließlich. Früher soll man
des Sloka-Metrums sich bedient haben, und dieser Umstand ist zur
Datieinmg eines arithmetischen Bruchstückes benutzt worden, welches
im Mai 1881 in Bakhshäli, in dem nordwestlichsten Indien, in der
Erde vergraben aufgefunden worden ist. Es wird angenommen, das
Rechenbuch von Bakhshäli^), wie wir es nennen wollen, sei im
dritten oder vierten nachchristlichen Jahrhundert verfaßt, wenn auch
die aufgefundene Niederschrift auf Birkenrinde erst zwischen den
Jahren 700 und 900 entstanden sein dürfte. Von dem Inhalte des
Rechenbuches von Bakhshäli reden wir am Anfange des 29. Kapitels.
Eigentlich mathematische Schriftsteller scheint es nach der gegen-
wärtigen Kenntnis, die wir von der Sanskritliteratur besitzen, in Indien
nicht gegeben zu haben. Astronomie und Astrologie fanden dagegen
ihre berufsmäßigen Vertreter, und da diese genötigt waren mathe-
matische Vorkenntnisse vorauszusetzen, so entwickelten sie das, was
ihnen unentbehrlich war, in Einleitungskapiteln oder in gelegentlichen
Abschweifungen. So hielten es wenigstens die drei vorwiegend mathe-
matischen Astronomen, deren Werke wir besitzen.
Aryabhatta geboren 476 n. Chr. in Pätaliputra am oberen
Gangeslaufe schrieb ein Werk Arjabhättiyam betitelt, dessen dritter
Abschnitt der Mathematik gewidmet ist*).
Brahmagupta geboren 598 schrieb „das verbesserte System
des Brahma'*, Brahma- sphuta-siddhänta, aus welchem das 12. und
18. Kapitel der Mathematik angehören.
Bhäskara Acärya, d. h. Bhäskara der Gelehrte, schrieb
„die Krönung des Systems'* Siddhäntagiromani, dessen zwei für uns
wichtige Kapitel mit besonderer Überschrift LilävaU (die Reizende)
^) The Bakshali Manuscript von Rudolf Hoernle im Indian Änttqwiry
XVII, 83—48 und 276-279 (Bombay 1888). *) Eine Übersetzung von L. Rodet
im Journal Asiatiqu^ von 1879. (S^rie 7, T. XIII.)
Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 599
und Vijaganita (Wurzelrechnung) genannt sind^). Bhäskara ist 1114
geboren.
Die Geburtsdaten dieser drei Schriftsteller sind vollständig sicher,
da sie aus eigenen Angaben der betreffenden Männer, welche in ihren
Werken aufgefunden worden sind, beigestellt werden konnten'). Wir
fügen dem hinzu, daß andere Astronomen oder Mathematiker, welche
wir noch nennen werden, insgesamt viel jüngeren Datums als Ary-
abhatta sind, daß ein astronomisches Werk, von dem wir sogleich
reden wollen, auch nicht älter als frühestens aus dem lY. oder Y. S.
nachchristlicher Zeitrechnung ist.
Wir meinen den Sürya Siddhänta oder das Wissen der
Sonne"), indem Sürya (die Sonne) ihre Siddhänta (Erkenntnis,
Wissenschaft, System) dem Asura Maya d. h. dem Dämon Maya
offenbart, der es niederschreibt. Wer dieser dämonische Schriftsteller
selbst sei, wann er gelebt hat, ist nur durch eine ziemlich kühne
Yermutung erschließbar. In dem Werke selbst kommen nämlich
unzweifelhaft griechische Ausdrücke vor, welche in der indischen Yer-
kleidung leicht erkannt worden sind. Wenn Kendra die Entfernung
eines Planeten von einem Störungsmittelpunkte bedeutet, so ist das
eben das griechische r^ ix xivxQov^ wenn liptä oder lipüM die Winkel-
minute heißt, so ist das keottöv das Geschabte, der Bruchteil, Ab-
leitungen, die trotz der Stammverwandtschaft indischer und griechi-
scher Sprache angenommen werden müssen, indem für iendra und
liptä eine unmittelbar indische Herkunft nicht zu ermitteln ist. Dazu
kommt, daß einzelne Lehren des Sürya Siddhänta griechisches Ge-
präge tragen. Die Ostwestlinie fUr einen Punkt wird mittels der
zwei Schattenbeobachtungen gleicher Länge am Yormittage und am
Nachmittage gewonnen, welche wir bei Yitruvius und Hyginus
(S. 535 — 536) kennzeichnen mußten. Anderes scheint auf den ptole-
mäischen Abnagest hinzuweisen. Gerade diese Annahme vereinigt sich
sodann mit einer höchst merkwürdigen Tatsache: daß nämlich ägyptische
Könige aus der Ptolemäerfamilie in indischen Inschriften als Tura-
maya vorkommen mit eigentümlicher Yerketzerung des Namens. Man
^) Die mathematischen Kapitel von Brahmagupta und von Bhäskara sind
in einer englischen Übersetzung vorhanden, welche wir als Colebrooke zitieren:
Algebra with arithtnetic and mensuration from ihe Sanscrit of Brahmegupta and
Bhaseara translated hy H. Th. Colebrooke. London 1817. *) Bhaü Dajf,
On ihe age and authenticity of the works of Vardfiamihira, Brahmegupta, Bhat-
totpala and Bhaskardchdrya in dem Journal of tfie Äsiatic society 1866 (New
SerieB I, pag. 292 — 418). ") Herausgegeben mit englischer Übersetzung von
Burg es 8 und Anmerkungen von Whitney in dem Journal of the American
Orienial Society Vol. VI (New Haven 1860).
600 2B. Kapitel.
hat deshalb verinutet^), auch der Astronom Ptolemäus sei zu eiBem
Turamaya geworden^ der volkstümlich sich weiter in einen Asura
Maya verketzerte. Zu einer solchen sagenhaften Personenveränderung
bedarf es einiger Zeit und so kann der Sürya Siddhänta nicht allzu-
rasch nach Ptolemäus' Leben d. h. nach dem IL S. n. Chr. verÜEißt
sein. Andererseits hat Varähamihira von dem Sürya Siddhänta
Gebrauch gemacht und dessen Blütezeit fallt nach der Aussage eines
noch späteren Astronomen Bhatta Utpala nach 505^ dessen Tod
einem anderen Berichterstatter Amaräja zufolge auf 587. Beide
Daten vereint lassen uns im Varähamihira einen jüngeren Zeitgenossen
von Aryabhatta finden^ und der Sürya Siddhänta muß dem entsprechend
zwischen Ptolemäus und Varahamihiras Lebzeiten d. i. etwa im IV.
oder V. S. entstanden sein.
Varähamihira^) gibt übrigens den Ursprung mancher seiner
Kenntnisse mit ehrlicherer Gewissenhaftigkeit an, als es sonst bei
Indem der Fall zu sein pflegt Er bezieht sich für die Namen der
Sternbilder, welche er benutzt, geradezu auf den Yavane^varäcärya,
d. h. auf den ionischen oder griechischen Meister, indem die Yavana
sicherlich Griechen bedeuten. Bei ihm und anderen Astronomen und
Astrologen ist sodann von Romaka Pura, d. h. von Rom und von
Tavana Pura, d. h. der Stadt der lonier nämlich von Alexandria
die Rede, lauter Momente, welche den alexandrinisch-indischen Be-
ziehungen entstammen und die Abhängigkeit indischer Astronomie
auch von alexandrinischem Wissen besiÄtigen, wie andemteiU ein Zu-
sammenhang ältester indischer Sternkunde mit Babylon (S. 39) nicht
abzuweisen sein dürfte.
Wir haben außerordentlich wenig für uns Brauchbares dem
Sürya Siddhänta entnehmen können, eigentlich nichts weiter, als daß
ein griechischer Einfluß auf indische Wissenschaft damals schon,
mithin vor Aryabhatta feststeht. Wir haben daneben einige weitere
Namen indischer Astronomen kennen gelernt. Wir lassen hier andere
folgen. Von einiger Bedeutung dürften Qridhara und Padmanäbha
gewesen sein. Beide sind bei Bhaskara erwähnt, bei Brahmagupta
noch nicht, haben daher vermutlich in der Zwischenzeit zwischen
diesen beiden gelebt. Es kommt dazu Paramädi^vara, der Kom-
mentator Aryabhattas, welcher später als Bhaskara gelebt hat, welchen
er kennt. Ferner kommen Bhäskaras Kommentatoren hinzu, wie
Gangädhara, der 1420 lebte, Süryadäsa um 1540, Gane9a um
') Alb r. Weber, Zur Geschichte der indischen Astrologie in den Indischen
Studien 11, 248. *) The Panchasiddhdntikd of Vardha MMra ed. by G. Thi-
baut and Mahämahop&dhyäja Sudhäkara Dvived!. Benares 1889.
EinleitendeB. Elementare Rechenkunst. 601
1545, Ranganätha um lß40, Räma Erishna vielleicht um dieselbe
Zeit, jedenfalls nicht yiel älter, und andere. Sie alle lassen uns rat-
los in der wichtigsten Frage, welche wir ihnen so gern vorlegen
würden, in der Frage: Und was war vor Aryabhatta?
Sollen die Inder mit mathematischen Kenntnissen erst zu einer
Zeit vertraut geworden sein, welche spater liegt als diejenige, in
welcher die Nachbltfte alexandrinischer Wissenschaft unter Pappus
und Diophant bereits zu Ghrabe getragen war? Es genügt, die ge-
stellte Frage von der Höhe der allgemeinen Bildungsstufe aus, welche
das Volk der Inder erreicht hat, sich wiederholt zu vergegenwärtigen,
um zur Verneinung zu gelangen. Aber worin die älteren Kenntnisse
bestanden haben, davon wissen wir ungemein wenig. Sogar wo uns
in nicht-mathematischen Schriften Aufgaben berichtet werden, deren
Altertum kaum bezweifelbar ist, zwingt die Jugend des Berichtes
zum Eingeständnis, daß die Methoden der Auflösung jener Aufgaben
möglicherweise um viele Jahrhunderte später entstanden oder ein-
geführt sein können als die Aufgaben selbst. Wir haben in Rom
es gesehen, daß die Festlegung der Ostwestlinie, eine altertümliche
Aufgabe, ein geradezu priesterliches Oeschäft, bald so, bald so vor-
genommen wurde; wir haben durch einen günstigen Zufall, das Be-
streben eines Schriftstellers Hyginus nach Vollständigkeit, von drei
Methoden offenbar aus verschiedenen Zeiten stammend Kenntnis ge-
wonnen; wir haben eine Datierung der drei Methoden versucht, ver-
suchen können. Wie aber, wenn Hjginus uns nur das jüngste Ver-
fahren mitgeteilt hätte, wenn Vitruvius ganz darüber schwiege,
würden wir die berichtete Methode als die der ältesten Zeiten aner-
kennen müssen? Vergegenwärtigen wir uns nun noch die schon be-
rührte Fähigkeit der Inder, Fremdländisches rasch in die einheimische
Form zu gießen, so kommen wir notgedrungen zu der Überzeugung,
es werde in vielen Fällen nur spät Eingeführtes oder mindestens
durch Einführungen wesentlich Verändertes sein, wovon uns berichtet
wird, soweit wir auch in Aufsuchung mathematischen Stoffes zu
greifen geneigt sind.
Daraus folgt aber die Unmöglichkeit eine chronologische Über-
sicht der indischen Mathematik zu geben, und wir werden in jeder
Beziehung uns besser stehen, wenn wir versuchen eine Gruppenein-
teilung des indischen mathematischen Wissens nach dem Inhalte vor-
zunehmen. Es wird dabei in ein helleres Licht treten, was als Leit-
faden durch diesen ganzen Abschnitt benutzt werden kann: ein ge-
wisser Gegensatz zwischen griechischer und indischer Denkungsart
und schöpferischer Kraft.
Die Griechen waren das vorzugsweise geometrische Volk,
602 28. Kapitel.
sie waren es in solchem Maße^ daß wir den einengenden Zusatz: des
Altertums uns füglich erlassen dürfen. An den Indern werden wir
die vorzugsweise rechnerische Begabung zu bewundem haben. Bei
ihnen ist dem entsprechend mutmaßlich die Heimat einer staunen-
erregenden Entwicklung der Rechenkunst zu suchen. Und umge-
kehrt tritt uns mit der einzigen Ausnahme einer selbst auf Rechnung
gegründeten Trigonometrie wenige vorläufig rätselhafte indische Geo-
metrie gegenüber, deren Spuren wir nicht mit Leichtigkeit nach
Alezandria zurückverfolgen könnten. Mit der Algebra endlich wird
sich uns ein Gebiet eröffnen , das beiden Begabungen zugänglich
war. Die Griechen gingen von einer geometrisch eingekleideten
Algebra aus^ welche sie bis zur Auflösung unreiner quadratischer
Gleichungen fortführten, nur allmählich des geometrischen Gewandes
sich entäußernd. Spuren griechischer Algebra müssen mit griechi-
scher Geometrie nach Indien gedrungen sein und werden sich dort
nachweisen lassen. Aber entweder stieß die griechische Algebra in
Indien auf eine einheimische oder vielleicht aus Babylon frühzeitig
eingedrungene Schwesterwissenschaft, mit der sie sich vereinigte, oder
sie entwickelte sich dort rechnerisch, also recht eigentlich algebraisch
bis zu einer Höhe, die sie in Griechenland niemals zu erreichen
vermocht hat.
Bei der nunmehr zu beginnenden Besprechung indischer Rechen-
kunst tritt uns vor allem das Zifferrechnen gegenüber, welches
nach vielfach verbreiteter Überlieferung indischen Ursprungs ist. Ein
arabischer Schriftsteller des X. S., Mas'üdi, erzählt^), unter Brahmas,
des ersten indischen Königs, Regierung habe die Wissenschaft ihre
größten Fortschritte gemacht. Man habe damals in den Tempeln
Himmelskugeln abgebildet; die Regeln der Astrologie, des Einflusses
der Sterne auf Menschen und Tiere seien festgestellt worden; die
vereinigten Gelehrten verfaßten den Sindhind (d. h. den Siddhänta),
das Buch der Zeit der Zeiten; astronomische Tafeln wurden zusammen-
gestellt; endlich erfand man die neun Zeichen, mit welchen die Inder
rechnen. In diesem Berichte spukt offenbar indischer Nationalstolz,
welcher den Sürya Siddhänta wie alles was mit Sternkunde in engerer
oder weiterer Verbindung steht als einheimisch betrachtet wissen und
darum in ein graues Altertum hinaufrücken will. Noch deutlicher
zeigt sich die gleiche Eigenschaft in der Fortsetzung des Berichtes,
der Massud! von indischer Seite zugetragen wurde, so daß er nur
als Sprachrohr uns erscheint. Die Inder, heißt es nämlich weiter,
hätten nach Aryabhatta einen Almagest verfaßt, aus welchem Ptole-
') Rein and, Memoire sur VInde pag. 324.
Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 603
maus sein Werk gleichen Titels entnommen habe, eine Umkehning
der Tatsachen, die ihresgleichen sucht. Gegenwärtig haben wir es
indessen mit den Ziffern zu tun, und da scheint gegen das, was man
Mas^üdi erzählt hat, kein Widerspruch sich zu erheben. Ähnlich
lauten auch andere Berichte. So heißt es in einer um 950 an der
Nordküste von Afrika entstandenen rabbinischen Abhandlung^): die
Inder haben neun Zeichen erfanden um die Einheiten anzuschreiben.
Weitere Bestätigung finden wir bei dem Byzantiner Maximus Pla-
nudes, dessen bezügliche Äußerungen (S. 511) mitgeteilt worden sind,
in welchen auch der Erfindung der Null besonders gedacht ist.
Ob freilich die Null gleichen Alters ist mit den anderen Zahl-
zeichen, diese Frage möchte eher zu verneinen als zu bejahen sein.
Es scheint fast nachweisbar, daß die ältere indische Zahlenschreibung
der Null noch entbehrte, welche erst später hinzuerfunden wurde.
Das erste bekannte Vorkommen der Null in einer Urkunde ist erst
aus dem Jahre 738 bekannt*). Wir wollen nicht versäumen hier in
Erinnerung zu bringen, daß in Babylon ein Stellungswert von Zahl-
zeichen bestand, und daß in einer verhältnismäßig späten Zeit (S. 31),
welche aber immer noch ein Jahrtausend vor der urkundlich nach-
gewiesenen indischen Null liegt, dort ein Zeichen vorhanden war,
welches eine Lücke ausfüllen sollte.
Die Insel Ceylon hat ihre Kultur von Indien her erhalten, sei
es schon im V. S. v. Chr., sei es im III. S., als König Ayoka den
Buddhismus auch dorthin über das Meer trug. Auf Ceylon wurde
aber im Gegensatze zum Festlande, wo ein Fortschritt wenigstens
in manchen Jahrhunderten mit größter Deutlichkeit hervortritt, die
Bildung vollständig stationär, und eine am Anfange des XIX. Jahr-
hunderts noch auf Ceylon bei den Gelehi'ten übliche Zahlenschreibart
kann sehr wohl ältesten indischen Ursprungs sein *). Während das
Volk sich der gewöhnlichen europäischen Ziffern bedient, welche mit
den Kolonisten der letzten Jahrhunderte eingewandert in der ver-
änderten Gestalt, welche sie durch diese erhalten hatten, sich unweit
der alten Heimat wie fremd neu einbürgerten, haben die Gelehrten
*) Es ist ein Kommentar von Abu Sahl ben Tamim in hebräischer
Sprache zu der bekannten kabbalistischen Schrift Sepher Tecira und handschrift-
lich in Paris vorhanden. Bein au d, Memoire sur VInde pag. 566. *) £. Clive
Baylej, On the geneälogy of modern numerals in dem Journal of the royal
asiatic society. New series XIV, 835—376 (1882) und XV, 1—72 (1883). Über
die Urkunde von 738 vgl. XV, 27. *) Die Untersuchungen des dänischen Ge-
lehrten Bask über diesen Gegenstand stammen aus dem Jahre 1821. Vgl.
Brockhaus, Zur Geschichte des indischen Zahlensystems in der Zeitschrift für
die Kunde des Morgenlandes IV, 74—83.
604 23. Kapitel.
folgendes Yerfabren aufbewahrt. Sie besitzen neun Zeichen für die
verschiedenen Einer, ebensoviele für die Zehner, ein Zeichen für
Hundert, eins für Tausend und schreiben mittels dieser 20 Zeichen
sämtliche Zahlen von 1 bis 9999, indem die Hunderter und Tausender
dadurch ausgedrückt werden, daß man die Anzahl derselben rerriel-
fachend den Zeichen für 100 und 1000 vorsetzt So schreibt man
z. B. 7248 mit sechs Zeichen, nämlich 7, 1000, 2, 100, 40, 8. * Vier
Zeichen nämlich 7000, 200, 40, 8 würden genügen, wenn man auch
für die einzelnen Hunderter und für die einzelnen Tausender wie für
die Zehner besondere Zeichen, im ganzen demnach 36 Zeichen be-
säße, und das wird auch den allergelehrtesten Einwohnern nach-
gerühmt. Das ist freilich ein Verfahren, welches dem, was man
indische Rechenkunst zu nennen pflegt, weit weniger gleicht, als
z. B. altägyptischer hieratischer Zahlenbezeichnung.
Eine Ähnlichkeit gibt sich nur darin zu erkennen, daß jene sin-
ghalesischen Zeichen nichts anderes sein sollen als abgekürzte Zahl-
wörter. Auch die alten indischen Ziffern, d. h. die Zeichen von eins
bis neim, wie sie ursprünglich aussahen und nicht wie sie in der
späteren indischen Schrift sich verändert haben, sollen nichts anderes
gewesen sein als die Anfangsbuchstaben der betreffenden neun Zahl-
wörter, wobei wohl zu beachten ist, daß im Sanskrit eine Ver-
schiedenheit der neun Anfänge obwaltet, wie sie in anderen indo-
germanischen Sprachen nicht stattfindet, so daß in diesen ein einfacher
Anfangsbuchstabe nicht genügen würde, das Zahlwort unzweideutig
zu bestimmen. Man denke nur an die deutschen Zahlwörter sechs
und sieben; an die lateinischen sex und Septem, aber auch an quaiuar
und quinque'j an die griechischen £| und iTttä. Allerdings wechselten
im Laufe der Jahrhunderte auch die Buchstaben ihre Formen, und
es scheint^), als ob Buchstaben des H. S. n. Chr. vorzüglich zur
Ziffembildung gedient hätten. Aus ihnen leiten sich am unge-
zwungensten die Zeichen ab, welche far uns (S. 584) Apices heißen^
welche auch bei den Westarabem uns noch begegnen werden. (Siehe
die lithographierte Tafel am Ende des Bandes.) Freilich ist diese
Meinung nicht die allgemeine, und wir dürfen nicht verschweigen^
daß andere Forscher von hoher Glaubwürdigkeit^) nicht viel von jener
Buchstabenableitung halten. Die Apices seien allerdings indischen
Ursprungs, stammten aber von nichtalphabetischen Zahlzeichen aus
Höhleninschriften des U. S. n. Chr. Für uns geht mithin als ge-
^) So hat Woepcke im Journal Asiatique von 1863, pag. 76 bemerkt.
*) Burnell, Elements of SotUh-Indian Pälaeography, Mangalore 1874, pag. 47
bis 48.
Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 605
sichert hervor^ was beiden widersprechenden Annahmen gemein-
schaftlich ist: daß im ü. S. Zahlzeichen, gleichviel welcher ursprüng-
lichen Entstehung, in Indien vorhanden waren, und von da nach
Alexandria gekommen sein können, welche zur Ableitung der Apices
vollkommen genügeu.
Die Inder bedienten sich sehr verschiedener Bezeichnungsarten
der Zahlen, von denen wir reden müssen. Eine solche wird von
Aryabhatta berichtet, der sich ihrer im ersten Kapitel, und nur im
ersten Kapitel des Aryabhattiyam bediente^). Zu deren Verständnis,
wie überhaupt für das Folgende sind wir genötigt, weniges über das
Alphabet der Sanskritgrammatik einzuschalten.
Es besteht aus 25 Konsonanten in fünf Abteilungen, deren jede
als ein Yarga bezeichnet zu werden pflegt. Es sind das die Kehl-
laute, die Gaumenlaute, die Zungenlaute, die Zahnlaute, die Lippen-
laute. Die fünf Buchstaben, aus welchen jeder Yarga besteht, sind
der harte und der weiche, jeder von beiden ohne und mit Aspiration
sich unmittelbar folgend, imd der Nasenlaut, Unterschiede, die dem
europäischen Ohre fast unmerklich sind, insbesondere was die Nasen-
laute betrifft, da wir den Lippennasenlaut allerdings als m zu unter-
scheiden wissen, die Nasenlaute der vier ersten Yargas dagegen samt-
lich als n hören. Nach den 25 Konsonanten kommen vier Halb-
vokale y, r, l, V, Als 30. bis 32. Buchstabe erscheinen drei Zischlaute,
das Gaumen-^, das Zungen-^A, das Zahn-5. Als 33. Buchstabe wird
das h gezahlt. Dazu treten 14 Yokale und Diphthongen gleichfalls
von unseren europäischen Gewohnheiten weit abweichend. Yokale
sind nämlich a, i, u, ri, liy ein jeder in kurzer und in gedehnter Aus-
sprache vorhanden. Diphthonge sind e, ai, o, au, Yon diesen Buch-
staben werden die Yokale und Diphthongen nur dann durch den
anderen Lauten gleichberechtigte Zeichen geschrieben, wenn sie für
sich allein eine Silbe ausmachen, also in der Regel nur am Anfange
eines Wortes oder gar einer Zeile. Folgt hingegen der Yokal auf
einen Konsonanten, so wird er durch kleinere Nebenzeichen aus-
gedrückt, welche über oder unter dem Konsonanten angebracht werden,
etwa wie in den semitischen Sprachen. Das kurze a bedarf jedoch
keines Zeichens, indem es ein für allemal inhäriert, d. h. indem jeder
der Buchstaben von h bis h, wenn kein anderer Yokal ihm folgt, er
aber der letzte Konsonant einer Silbe ist, als mit kurzem a behaftet
ausgesprochen wird. Stehen zwischen zwei Yokalen, die einem oder
auch zwei Wörtern angehören können, mehrere Konsonanten, so werden
0 Lassen in der Zeits^hr. f. d. Kunde des Morgenlandes U, 419—427.
Rodet, Legons de calcul d'Aryabhatta (Journal Asiatique 1879) pag. 8.
606 2B. Kapitel.
diese in zusammengesetzter Form geschrieben, indem Teile eines jeden
einzelnen Konsonanten zu einem oft sehr fremdartig aussehenden
Buchstaben vereinigt werden.
Aryabhatta gibt nun den Konsonanten durch ihre fünf Yargas
hindurch die Zahlenwerte 1 bis 25. Ihm ist also k-=^l, kh ^ 2,
^ » 3, m^ 25, Die Halbvokale, die Zischlaute und das h
bedeuten die hier sich anschließenden Zehner, also y = 30, r = 40,
. . . A = 100. Diese Bedeutungen finden statt, wenn der betreffende
Buchstabe mit nachfolgendem kurzen oder langen a verbunden aus-
gesprochen wird. Die weiteren Vokale des Alphabets, ohne Rücksicht
auf Länge und Kürze, und dann noch die viel- Diphthonge verviel-
fachen den Konsonanten, welchem sie angehängt sind, mit aufeinander-
folgenden Potenzen von 100. So ist also ^a =« 3, gi ^ 300,
gu = 30000, ge ist eine 3 mit 10 Nullen, gati eine 3 mit 16 Nullen.
Zwei verbundene Konsonanten sind als mit demselben Vokale begabt
anzusehen, und ihr Wert ist zu addieren. So ist kvi z. B. aufzulösen
in ki + vi =^1' 100 4- 60 • 100 = 6100.
Die Ähnlichkeit mit dem Systeme der singhalesischen Gelehrten
ist nicht zu verkennen. Die Vokale und Diphthonge stellen hier die
Zeichen für Einheiten höheren Ranges vor, welche durch voraus-
gehende Konsonanten gewissermaßen als Koeffizienten vervielfacht
werden. Positionsarithmetik dagegen ist diese Bezeichnung nicht,
und wenn wir bei unserer Schilderung von Nullen sprachen, so ge-
schah dieses, um uns unseren Lesern in kürzester Form verständlich
zu machen, nicht aber weil die Methode selbst es verlangte. Es wäre
übrigens falsch, wenn man die Folgerung ziehen wollte, Aryabhatta
habe überhaupt die Positionsarithmetik nicht gekannt. Das Gegenteil
geht vielmehr, wie wir sehen werden, aus seinen im zweiten Kapitel
des Aryabhattiyam enthaltenen Vorschriften für die Ausziehung der
Quadrat- und Kubikwurzeln hervor^).
Positionsarithmetik ist auch die Grundlage zweier anderer Systeme.
Das eine soll den Mathematikern des südlichen Indiens an-
gehören, ein Erfinder wird jedoch nicht angegeben*). Die einzelnen
Ziffern werden hier durch Buchstaben ausgedrückt, und zwar jede
einzelne nach Belieben durch verschiedene Buchstaben. Die Ziffern
1 bis 9 entsprechen nämlich der Reihe nach erstens den neun ersten
Konsonanten, also dem Varga der Kehllaute und den vier ersten
Gaumenlauten; zweitens dem 11. bis 19. Konsonanten, also dem Varga
der Zungenlaute und den vier ersten Zahnlauten; drittens den vier
Halbvokalen, den drei Zischlauten, dem h und einem in Südindien
*) Rodet 1. c. pag. 19. *) Math. Beitr. Kulturl. S. 6S.
Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 607
noch vorkommenden konsonantischen Ir, Der Varga der Lippenlaute
bedeutet die Ziffern 1 bis 5. Endlich die noch übrigen Buchstaben^
nämlich der Nasenton der Gaumenlaute und der Zahnlaute, sowie
alle initiale Vokale und Diphthonge sind Nullen. Völlig bedeutungs-
los dagegen sind durch Nebenzeichen geschriebene oder inhärierende
Vokale und Diphthonge, ebenso wie die zuerst auszusprechenden
Teile zusammengesetzter Konsonanten, deren letzter allein als wert-
gebend in Geltung tritt. Die so geschriebenen Zahlen werden alsdann
gemäß der hier wirklich vorkommenden Nullen nach den Regeln des
Stellungswertes gelesen. Die Möglichkeit, eine und dieselbe Zahl nach
dieser Methode auf verschiedene Weise darzustellen, ist eine fast un-
begrenzte und gewährt durch den Sinn der jedesmal gewählten Worte
nicht bloß eine wahre Gedächtnishilfe, sondern auch die Benutzbar*
keit im fortlaufenden Versmaß unter Einhaltung der strengen Regeln
indischer Prosodie.
Noch geeigneter zu solcher Benutzung in Versen erscheint die
zweite hier zu erwähnende Methode einer symbolischen Positions-
arithmetik^), die ziemlich weite Verbreitung erlangt hat, da sie
bei den Indern, wie in Tibet, wie bei den Eingeborenen der Insel
Java vorkommt. Es werden dabei für die Einer und auch für manche
zweiziffirige Zahlen gewisse symbolische Wörter gewählt, welche als*
dann mit Positionswert zusammengesetzt werden. Die Reihenfolge
ist die der Sprache in den Zahlen unter Hundert, nicht die der Schrift.
Das Zahlenschreiben befolgt, wie wir wissen, das Gesetz der Größen-
folge. Die Sprache ist nicht immer so folgerichtig, und so läßt sie
im Sanskrit wie im Deutschen, wie im Arabischen, in dem Gebiete
unterhalb von Hundert das kleinere Element dem größeren voraus«
gehen z. B. dreiundsiebzig, trisaptati. Ebenso macht es diese sym-
bolische Bezeichnung, welche wir um dieser Eigentümlichkeit willen
lieber eine Aussprache der Zahlen mit Stellungswert, als eine Schreib-
weise nennen möchten. So heißt abdhi (der Ozean, deren es vier
gibt) die Zahl 4, sürya (die Sonne mit ihren zwölf Wohnungen) die
Zahl 12, agvin (die beiden Söhne des Sürya) die Zahl 2 und
abdhisüryägvinas in seiner Zusammensetzung 2124. Da mehr als ein
Wort für jede einzelne Zahl zur VerfQgung steht, für 4 z. B. auch
krita (die erste der vier Weltperioden), außerdem die mehrziffrigen
Zahlen auch nach verschiedenen Gruppen geteilt werden können
(z. B. 2124 = 2 . 12 . 4 - 2 . 1 . 24 « 2 . 1 . 2 . 4) so ist hier die
Kombinationsfahigkeit eine gleichfalls außerordentliche, und die Ein-
^) Nouveau Journal Asicstique XVI, 12, 26 und 84—40, sowie Journal
Asiatique 6. särie, I, 284—290 und 446.
608 28. Kapitel.
ffigung in das Yersmaß ist damit so erleichtert^ daß man es begreif-
lich findet^ daß Astronomen wie Brahmagapta mit Vorliebe gerade
der symbolischen Zahlenbenennnng in ihren didaktischen Gedichten
sich bedienten.
Ein derartiges bewußtes Spielen mit den Begriffen der Stellnngs*
arithmetik mit Einschluß der Null erklart sich am leichtesten in der
Heimat dieser Begriffe, für welche uns Indien gilt und gelten darf,
selbst wenn es sich um eine zweite Heimat handelt, wir meinen,
wenn beide Begriffe, was große Wahrscheinlichkeit besitzt, in Babylon
geboren waren und noch wenig ausgebildet nach Indien einwanderten.
Als mit der Stellungsarithmetik in offenbarem Zusammenhange stoßen
wir in Indien auf eine Reihe eigentümlicher Zahlennamen, wie keine
andere Sprache der Erde sie besitzt, die westlicher als Indien sich
entwickelte. Bei den Griechen waren Namen für 1, 10, 100, 1000,
10000 vorhanden, aus denen die der höheren Einheiten sich zu*
sammensetzten. Bei den Römern war die Anzahl selbständiger Namen
noch beschrankter, da 10000 bereits zur Zusammensetzung nötigte.
Das Gleiche findet, wie wir vorausschickend bemerken, im Arabischen
statt. Das Sanskrit besitzt dagegen von 100 Millionen an die Ge-
wohnheit durch Beifügung des Wortes mahd (groß) eine Verzehn-
fachung vorzunehmen, z. B. arhuda » 100 Millionen, mfüiärhvida
= 1000 Millionen; padma = 10000 Millionen, mahdpadma «100000
Millionen usw., aber sonstige wirkliche multiplikative Zusammen-
setzungen wie decem müUay axatovTaxig^vQioi kommen nicht vor,
und die eigentümlich gebildeten Wörter erstrecken sich^) bis zur
Bezeichnung der 1 mit 20 Nullen akshatihim und der 1 mit 21 Nullen
mahaksfiauhiiiL Es ist mit Recht bemerkt worden, daß diese Aus-
sprechbarkeit jeder einzelnen Rangordnung deren Gleichberechtigung
ganz anders zu Bewußtsein bringe, als die griechischen und römi-
schen Zusammenfassungen in Tetraden und Triaden es gestatten, daß
hier eine Wurzel der Stellungsarithmetik zutage trete ^). Aber freilich
müßte man, um ein vollgültiges Urteil föUen zu können, genau wissen,
wie alt jene Sanskritwörter sind, wie alt dann wiederum die Kenntnis
der Null, und beides wissen wir nicht. Was die Wörter betrifft, so
erstreckt sich Zweifel über ihre Anzahl wie über ihren Klang, da
Bhäskara z. B. in der Lilävati ganz andere Zahlwörter als die obigen
angibt, die sich bis zur 1 mit 17 Nullen erstrecken, und auch andere
Formen noch berichtet werden"). Noch zweifelhafter stehen wir der
*) Pihan, Exposd des eignes de numeration usites ch^z lespeuples orientaux
anciens et modernes. Paris 1860, pag. 69. *) Woepcke im Journal Asiatique
fOr 1863, pag. 443, Anmerkung 1. ^ Colebrooke pag. 4, Note 4 und Albr.
Einleitendes. Elementare Bechenkunst. 609
zweiten Frage gegenüber ^ wann die Null erfanden worden sei. In
Indien selbst haben wir keinen Beleg für das Vorhandensein der Null,
der höher hinaufreichte als der Sürya Siddhanta. Fremde Quellen
reichen gleichüedls nicht sehr viel hoher hinauf^ da eine babylonische
Null nicht vor dem dritten yorchrisüichen Jahrhundert bekannt ist
(S. 31) und die Zeit ihres Eindringens in Indien^ Torausgesetzt daß
wir nicht an selbständige Nacherfindung zu denken hätten, nun gar
in tiefstem Dunkel lieg^. Eine negative Erscheinung läßt* uns an
viel älterem Yorkommen überhaupt zweifeln. Wenn die indischen
Zahlzeichen es waren, wie wir annehmen, die um das 11. S. n. Chr.
durch indisch -alexandrinischen Verkehr nach Westen drangen, um
dort zu Apices zu werden, so ist undenkbar, daß die Null und mit
ihr die Positionsarithmetik nicht auch zugleich herübergekommen
wären, falls sie vorhanden waren. Das Eolumnenrechnen mit den
Apices setzt alsdann notwendig voraus, daß in Indien selbst die Null
erst nach dem U. S. landläufiger Besitz war. Ist aber dieser Schluß
richtig, dann ist es auch wahr, daß die der frühesten religiösen
Literatur, den sogenannten vedischen Schriften bereits angehörenden
hohen Zahlwörter älter als Null und Stellungswert sind und vielleicht
wenn nicht zu deren Erfindung so doch zu deren leichter Einbürge-
rung hinüberleiteten. Gesichert freilich, und damit schließen wir diese
Bemerkungen, ist nur das Vorkommen der Null etwa seit 400 n. Chr.
Eine äthiopische Inschrift aus dem 11. oder III. S. n. Chr., in welcher
man die Zahlen 6383 und 11103 erkannt haben will^), ist zu un-
deutlich, um als sicheres Beweismittel für ein so altes Vorkommen
der Null gelten zu können.
Wie die Inder rechneten, bevor das Stellensystem
ihnen bekannt war, würde in mancher Beziehung sich als von
geschichtlicher Bedeutung erweisen können. Leider befinden wir uns
hier im dichtesten Dunkel. Nicht die leiseste Andeutung ist zu
unserer Kenntnis gelangt, daß bei den Indem vor Zeiten ein Finger*
rechnen oder ein instrumentales Rechnen stattgefunden hätte. Sollen
wir daraus den Schluß ziehen, daß ähnliche Hilfsmittel dem Inder
fremd waren? daß die Inder vielmehr, unterstützt durch die bequemen
Zahlennamen, und ihrer Natur nach zu in sich gekehrtem, von der
Außenwelt abgewandtem Grübeln geneigt, wesentlich Kopfrechnen
übten, welches naturgemäß sich nicht zu verändern brauchte, als die
dem gesprochenen Worte abgelauschte Positionsarithmetik erfanden
Weber, Yedische Angaben über Zeittheilnng und hohe Zahlen in der Zeitschr.
der deutsch, morgenländ. GesellBch. XV, ia2— 140.
^) Chrpm Inscriptionum Gtaecarum III, 6108.
Caxtob, OeMhlcht« der Mathematik L S. Aufl. 89
610 28. Kapitel.
ward? Das ist nicht unmöglich nnd findet yieUeicht Unterstützung
in gewissen Verfahren, von welchen wir noch zu reden haben, und
welche an das Zahlengedächtnis ziemlich hohe Anforderungen stellen.
Es ist aber auch ein Anderes möglich, worauf wir weiter oben be-
reits einmal hingewiesen haben. Unyollkommeneres kann bis zur
Vergessenheit durch Vollkommeneres verdrängt werden, und bei den
Indem fand vielleicht diese Verdrängung bezüglich der Rechnungs-
verfahren statt, so zähe die Überlieferung auch die Aufgaben fest-
gehalten haben mag, deren Ausführung verlangt wurde.
Das Rechnen der Inder seit Einführung des Stellen-
wertes ist teils aus indischen Werken selbst bekannt, teils und zwar
hauptsachlich aus dem Rechenbuche des Maximus Planudes, welches
ausdrücklicher Angabe des Verfassers gemäß nach indischen Quellen
bearbeitet ist. Wir kommen jetzt auf die Dinge zu reden, an welchen
wir bei unserer ersten Besprechung jenes Werkes (S. 511) rascher
vorübergehen durften. Wir heben in erster Linie die Ausführung
der Subtraktion hervor, welche unter der Voraussetzung, daß eine
Stelle des Subtrahenden einen höheren Wert als die entsprechende
Stelle des Minuenden besitzt, nach zwei Regeln gelehrt wird. Man
borgt entweder die zur Er^nzung des Minuenden notwendigen
10 Einheiten des betreffenden Ranges von der nächsthöheren Stelle,
oder man gleicht die Vergrößerung des Minuenden dadurch aus, daß
man auch den Subtrahenden, und zwar in der nächsthöheren Stelle
um 1 vergrößert. Um also 821 — 348 zu finden sagt man entweder:
8 von 11 läßt 3, 4 von 11 läßt 7, 3 von 7 läßt 4, also Rest 473
oder aber: '8 von 11 läßt 3, 5 von 12 läßt 7, 4 von 8 läßt 4 mit
demselben Ergebnis wie vorher.
Die Multiplikation wird in sehr unterschiedenen Verfahren
gelehrt. Wir erwähnen nur beiläufig der Zerlegimg des Multipli-
kators in Faktoren, mit welchen nacheinander multipliziert wird, der
Auffassung des Multiplikators als Summe aber auch als Differenz
von Zahlen, die eine im Verhältnisse leichtere Vervielfältigung zu-
lassen, Methoden also, welche dem Kopfrechnen vorzugsweise dienen.
Beim schriftlichen Rechnen ist darauf Rücksicht genommen, daß der
Inder vielfach mit einem (Jriffel auf einer mit Sand bestreuten Tafel
rechnete und rechnet, daß also das Weglöschen einer Zahl und ihr
Ersetzen durch eine andere nicht dem ganzen Exempel ein unrein-
liches, häßliches Aussehen verschafft. Die einzelnen Teilprodukte
können demzufolge beginnend mit der höchsten Stelle des Multipli-
kandus, über welche das erste und hauptsächlichste Teilprodukt ge-
schrieben wird, gebildet werden. Jedes hinzutretende folgende Teil-
produkt vereinigt sich mit dem schon dastehenden Ergebnis zu einem
Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 611
neuen^ dessen Ziffern an die Stelle der rasch yerwischten früheren
Ziffern treten^ bis schließlich das Produkt über dem Multiplikandus^
oder gar statt dessen erscheint^ da man auch wohl so weit geht^ die
Ziffern des Multiplikandus selbst wegzulöschen^ sobald jede derselben
so weit in Betracht gezogen wurde^ als es für das Gesamtergebnis
notwendig ist. Eine die nachträgliche Kontrolle nicht zur Unmög-
lichkeit machende Multiplikation wurde wahrscheinlich gerade so
ausgeführt, wie wir noch heute in Europa verfahren. Meistens jedoch
wurden dabei alle Zwischenoperationen dem Gedächtnisse überlassen.
Das gab dasjenige Verfahren , welches Tat st ha (es bleibt stehen)
oder Vajräbhyäsa (blitzbildend d. h. zickzackformig) genannt wurde*).
An einem Beispiele mit allgemeinen Buchstabensymbolen erläutert
sich dieses Verfahren wie folgt. Es ist
(ao + 10 . öi + 100 • a, . ■) X (^ + 10 • *! + 100 . 6, + • • •)
« «0*0 + 10(^0^ + «i^o) + 100(0062 + a,h, + aM + • • ..
Nach dem so zutage tretenden Gesetze verschaffte man sich jede
Rangziffer sogleich vollständig genau und mit Zurechnung dessen,
was von früheren Ziffern hinzutreten mußte, also ohne irgend weitere
Verbesserung nötig zu machen. Eine andere Methode möchten wir
das gerade Gegenteil der eben geschilderten nennen, insofern sie dem
Gedächtnisse auch gar nichts außer dem gewöhnlichen Einmaleins
zumutet. Die Vorbereitung besteht in der Herstellung einer schach-
brettartigen Figur*), deren einzelne Felder durch gleichlaufende von
rechts oben nach links unten geneigte Diagonalen nochmals in je
zwei Dreiecke abgeteilt sind, in welche dann die Einer beziehungs-
weise Zehner jedes Einzelproduktes zu stehen kommen. Die Addi-
tionen erfolgen nach den durch jene Diagonalen gebildeten schräg-
liegenden Kolumnen. Die Multiplikation 12 X 735 == 8820 sieht mit-
hin folgendermaßen aus:
7
8
6
1
X
/
/8
A
2
1/' /
A 1/6
1
/O
8 8 2 0
Bei der Addition, der Subtraktion und der Multiplikation findet
die sogenannte Neunerprobe statt, welche in dem zahlentheore-
tischen Satze begründet ist, daß die Ziffernsumme einer Zahl durch
9 geteilt den gleichen Rest wie die Zahl selbst liefert. Wir sind
ihr neben der Siebenerprobe bei einem Griechen des III. S. be-
*) Colebrooke pag. 6, Note 1 und pag. 171, Kote 5. •) Ebenda pag. 7,
Note 1.
39*
612 28. Kapitel.
gegnei (S. 461), wir kommen im 35. und im 37. Kapitel aaf beide
zurück.
Die Division ist wenigstens in den uns überkommenen Quellen
sehr stiefmütterlich behandelt. Bei dem Abziehen der den einzelnen
Qnotientenziffem entsprechenden Teilprodukte wird yom Wegwischen
vorhandener Ziffern, vom Ersetzen derselben durch andere Gebrauch
gemacht. Am wichtigsten erscheint die freilich nur negative also
nicht unzweifelhaft feststehende durch neue Entdeckungen mSglichei^
weise umzuwerfende Tatsache, daß noch keine Spur eines Ver&hrens
angetroffen worden ist, welches den komplementären Operationen der
Römer zu vergleichen wäre.
Ist schon an und für sich zu vermuten, daß das Rechnen mit
ganzen Zahlen historisch weit hinaufreiche, so ist es sagenmäBig,
und zwar an sehr großen Zahlen geübt, bis in die Jugendzeit des
Reformators der indischen Religion zurückzuverfolgen. Der Lalita-
vistara, dessen Abfassungszeit freilich durchaus unbekannt ist, be-
schäftigt sich mit der Jugend des Bodhisattva. Er bewirbt sich bei
Dandapäni um dessen Tochter Gopä, deren Hand ihm aber nur unter
der Bedingung zugesagt wird, daß er einer Prüfung in den wich-
tigsten Künsten sich unterziehe. Die Schrift, der Ringkampf, das
Bogenschießen, der Sprung, die Schwimmkunst, der Wettlauf, vor
allem aber die Rechenkunst liefert den Inhalt dieser von dem Jüng-
linge mit glänzendem Erfolge bestandenen Prüfung. In der Arith-
metik erweist er sich sogar geschickter als der weise Arjuna und
gibt Zahlennamen an bis zu tallakshana d. i. eine 1 mit 53 Nullen.
Das sei aber nur ein System, und über dieses System gehen noch
fünf oder sechs andere hinaus, deren Namen er gleichfalls angibt.
Jetzt fragt man ihn, ob er die Zahl der ersten Elementar-
teilchen berechnen könne, welche aneinandergelegt die Länge
eines Yöjana erfüllen, und er berechnet die Zahl mittels folgender
Verhältniszahlen: 7 Elementarteilchen geben ein sehr feines Stäub-
chen, 7 davon ein feines Stäubchen, 7 davon ein vom Winde auf-
gewirbeltes Stäubchen, 7 davon ein Stäubchen von der Fußspur des
Hasen, 7 davon ein Stäubchen von der Fußspur des Widders,
7 davon ein Stäubchen von der Fußspur des Stieres, deren 7 auf
einen Mohnsamen gehen; 7 Mohnsamen geben einen Senfsamen,
7 Senfsamen ein Gerstenkorn, 7 Gerstenkörner ein Fingergelenk;
12 von diesen bilden eine Spanne, 2 Spannen eine EUe, 4 Ellen
einen Bogen, 1000 Bögen einen Ero^a, deren endlich 4 auf einen
Yöjana gehen. Letzterer besteht also in unserer modernen
Schreibweise aus 7^® • 32 • 12000 Elementarteilchen, d. h. aus
108470495616000 solchen Teilchen. Wenn nun auch die im Laiita-
Höhere Rechenkunst. Algebra. 613
vistara angegebene Zahl Yon dieser richtigen abweicht^ so hat doch
nachgewiesen werden können ^)^ daß eine Entstehung der falschen
Zahl aus der richtigen wahrscheinlich sei; und es ist auch die stoff-
liche Verwandtschaft der Aufgabe zur Sandrechnung des Archimed
gebührend hervorgehoben worden. Wäre also gesichert, was freilich
nicht der Fall ist, daß der Lalitavistara vor 300 y. Chr. entstand^
so bekäme damit die (S. 322) angedeutete weitere Annahme Wahr-
scheinlichkeit; Archimed sei mit seiner Aufgabe als einer schon
älteren bekannt geworden , die er dann aber immerhin nicht un-
wesentlich veränderte.
Nächst den ganzen Zahlen kommen Brüche in den Rechnungen
vor. Wir begegnen bei den Indem Brüchen mit beliebigen ganz-
zahligen Zählern und Nennern. Die Schreibweise besteht darin, daß
der Zähler über dem Nenner steht; ohne daß sich ein horizontaler
Bruchstrich dazwischen befände. Bei dem Rechnen mit Brüchen
kommt es hauptsächlich auf die Einführung eines gemeinsamen Nenners
an; bei dessen Auffindung mancherlei Vorteile zur Übung kommen.
Natürlich f äUt die Notwendigkeit der Zurückführung auf gemeinsamen
Nenner bei den Sexagesimalbrüchen weg, welche vorzugsweise den
indischen Astronomen gedient haben und ihnen wohl nicht minder
als den Griechen unmittelbar aus der babylonischen Heimat zugeflossen
sein dürften, so daß ein gräko-indischer Einfluß hier nicht notwendig
anzunehmen ist.
29. Kapitel.
HShere Reehenknnst Algebra.
Wir haben im vorigen Kapitel uns mit dem Inhalte des gewöhn-
lichsten; allgemeinst bekannten Rechnens der Inder beschäftigt. Wenn
wir zu ihren höheren Kenntnissen uns wenden, haben wir zuerst das
(S. 598) gegebene Versprechen einzulösen und von dem Rechen-
buche von Bakhshäli zu reden. Leider ist es in jeder Beziehung
Bruchstück. Es fehlen, man weiß nicht wieviele; aber vermutlich
zahlreiche Rindentafeln am Anfang wie am EndC; auch einige solche
in der Mitte; und die vorhandenen Tafeln sind auch nichts weniger
als wohlerhalten ; so daß nur Mangelhaftes mitzuteilen ist; ein so
glänzendes Zeugnis es auch für den Ordner des Fundes bildet, daß
es ihm überhaupt gelang, einen gewissen Zusammenhang herzu-
stellen. Der Name des Verfassers fehlt. Die Aufgaben sind Text-
') Woepcke im Journal Äsiatique für 1868, pag. 260—266.
614 2d. Kapitel.
aufgaben. Das Zahlenrechnen ist bei ihrer Behandlung als bekannt
vorausgesetzt. Brüche werden so geschrieben, daß der Zahler über
dem Nenner ohne trennenden Bruchstrich steht, wie es auch bei
anderen, späteren Schriftstellern (s. oben) der Fall blieb. Ganze
Zahlen werden als Brüche mit dem Nenner 1 geschrieben. Bei ge-
mischten Zahlen tritt die ganze Zahl als solche über den Bruch, also
i^ly. Die Zahlen, welche zu einer Operation vereinigt werden^
3
sind meistens durch gerade Linien eingerahmt ; dann folgt das unserem
Gleichheitszeichen entsprechende Wort phalain oder abgekürzt pha
und dann das Ergebnis.
Beim Addieren steht yutay abgekürzt yu^ hinter den Summanden
z.B.
1 i^^
pha 12 heißt Y + y- 12,
Beim Subtrahieren steht das Subtraktionszeichen hinter dem
Subtrahenden, und zwar in Gestalt eines Kreuzes + . Es ist als alte
Form von ka gedeutet worden, der Abkürzung von kanita =• ver-
mindert.
Multiplikation wird nicht bezeichnet. Das Nebeneinanderstehen
von Zahlen zeigt an, daß ihr Produkt gemeint ist; z. B.
5 32
8 1
pha 20 heißt 3 X Y = 20,
1
1
1
1
1
1
3+
3 +
» +
1 2
Ferner heißt i i i , die Zahl 1 — y oder - solle dreimal
als Faktor auftreten und — hervorbringen.
Die Division fordert das dem Divisor nachgesetzte Wort hhdga
= Teil abgekürzt hM.
Die Einheit heißt immer rüpa, die unbekannte Zahl sunya, und
letztere wird durch einen ziemlich starken Punkt • bezeichnet. Das
gehört zum Merkwürdigsten im ganzen Rechenbuche. Sunya bedeutet
nämlich wörtlich leer und wird auch für die gleichfalls durch einen
Punkt dargestellte Null gesagt. Der der doppelten Anwendung von
Wort und Zeichen zugrunde liegende Gedanke ist offenbar richtig in
folgendem erkannt worden^): Eine Stelle muß ein für allemal leer
bleiben, wenn ihre Ausfüllung nicht vorhanden ist; sie muß also
auch zunächst leer bleiben, wenn und so lange ihre Ausfüllung noch
unbekannt ist, so lange es sich noch um eine Lücke handelt. Wir
*) Ho er nie im Indian ÄntiqtMry XVTI, pag. 35.
Höhere Rechenkunst. Algebra. 615
gebrauchen dieses Wort absichtlich um auch hier an die Lücken-
zeiger der Babylonier zu erinnern.
Die Auflösungen der gestellten Aufgaben erfolgen mitunter durch
Zurückführung auf die Einheit. Wir führen ein Beispiel an^).
B gibt 2 mal so viel dia A, C S mal so viel als By D 4 mal so
viel als C; sie geben zusammen 132; was gab Ä? Man setze 1
(rüpa) für die Unbekannte (sunya). Nun ist -4 = 1, 5=- 2, C— 6,
D = 24, ihre Summe » 33. Durch diese angenommene Summe 33
wird die wirkliche Summe 132 dividiert; der Quotient 4 läßt er-
kennen, was Ä gab. Man könnte die Behandlung auch als durch
falschen Ansatz vermittelt bezeichnen, ebenso den falschen Ansatz
im Rechenbuche des Ahmes (S. 79) eine Zurückführung auf die
Einheit nennen. Ein Einfluß altagjptischer Methoden ist in Indien
nicht viel weniger möglich als der babylonische, wenn er auch nicht
mit gleicher Sicherheit behauptet werden will.
Arithmetische Reihen und deren Summierung sind bekannt. Ein
Reisender ') legt am ersten Tage 2 Wegeinheiten zurück, jeden folgen-
den Tag 3 mehr. Ein zweiter Reisender legt am ersten Tage 3 Weg-
einheiten zurück, jeden folgenden Tag 2 mehr. Wann treffen sie zu-
gleich an einem Punkte ein? Seien a^, d, für den ersten, a,, d^ für
den zweiten Reisenden Anfangsgeschwindigkeit und tägliche Vermeh-
rung derselben, x die Zahl der Tage bis zur Begegnung. Die Forde-
rung der Aufgabe lautet:
«1 + («1 + dl) -h • • • -I- (% +(a:~ DdJ
« a, -I- (a^ + rfg) H h (a, + {x— Dd^)
oder
[2a, + (X - l)dj J - [2a, + ix-l)d,]^,
woraus sofort x == ^ pZ-d "^ ^ f^^8*> ^^^ so scheint auch die ohne
vorhergegangene Herleitung ausgesprochene Regel des Rechenbuches
es vorzuschreiben.
Neben bestimmten Aufgaben sind unbestimmte vorhanden.
Wir führen wieder ein Beispiel an"). Man sucht eine Zahl, welche
um 5 vermehrt oder um 7 vermindert jeweils ein Quadrat gebe.
Aus X + 0 ^y^ und x—l^z^ folgt 12 = y* — ^r* = (y — z)(y + z).
Für y — z und y + z werden nun irgend zwei Faktoren des Pro-
12
duktes 12 gesetzt, z. B. y — jer == 2 und y + ^ =* « =- 6- Daraus
folgt y = 4, z -^2j a:=ll, wie es im Rechenbuche unter Andeutung
del" vollzogenen Rechnung auch herauskommt.
^)Hoernle im Indian Äntiquary XVU, pag. 45. ') Ebenda pag. 42.
*) Ebenda pag. 44.
616 29. Kapitel.
Wir wenden uns nnü zu dem höheren arithmetischen Wissen
derjenigen Schriftsteller^ deren Namen und Zeitalter wir genau zu
bestimmen imstande waren. Etwas höher steht schon das Erheben
einer Zahl zur zweiten und dritten Potenz, sowie die Ausziehung von
Quadrat- und Kubikwurzeln. Den Indem gehörte freilich Potenz-
erhebung und Wurzelausziehung noch zu den elementaren Opera-
tionen, deren sie demzufolge 6 zahlten, shadvidham die sechs Rech-
nungsverfiahren*). Die zugrunde liegenden Formeln waren, wie nicht
anders zu erwarten steht, die der Binomialentwicklungen
(a + by = a« + 2ab + 6«, (a + 6)» = a» + Sa'b + 3a6* + 6»,
Aryabhatta weiß schon von den zwei-, beziehungsweise dreistelligen
Abschnitten zu reden, in welche man die Zahlen zum Zwecke der
beiden Wurzelausziehungen zu teilen habe^, was uAs gestattete zu
behaupten (S. 606), er müsse die eigentliche Stellungsarithmetik ge-
kannt haben. Wurzel überhaupt, auch in der Bedeutung der Wurzel
einer l^flanze, heißt müla oder pada^ varga bedeutet eine Reihe
gleicher Gegenstande, dann ein Quadrat im geometrischen wie im
arithmetischen Sinne des Wortes; ghana ist ein Körper; und durch
Zusammensetzung dieser Ausdrücke gewann man die Namen Quadrat-
wurzel, varga müla, und Kubikwurzel, ghafia müla^).
Ist nach unserem Dafürhalten die Erfindung der Null eine baby-
lonische, die Vertiefung des Begriffes eine indische, so ist das
Rechnen mit der Null schon zu Brahmaguptas Zeit Gegenstand
besonderer Vorschriften gewesen*). Null geteilt durch Null ist nichts.
Zahlen geteilt durch Null geben Brüche mit Null als Nenner. Das
sind freilich dürftige Bestimmungen, mit welchen nicht viel zu
machen ist. Ghmz anders weiß Bhaskara Bescheid, wenn er sagt:
Diese Größe, nämlich der Bruch, dessen Nenner Null ist, läßt keine
Änderung zu, mag auch vieles hinzugesetzt oder weggenommen werden.
Findet doch gleichermaßen in der unendlichen und unveränderlichen
Gottheit kein Wechsel statt zur Zeit wo Welten zerstört oder ge-
schaffen werden, wenn auch zahlreiche Ordnungen von Wesen auf-
genommen oder hervorgebracht werden^). Der Kommentator Bjrishna
erläutert den Gegenstand mit den Worten: Je mehr der Divisor ver-
mindert wird, um so mehr wird der Quotient vergrößert. Wird der
Divisor aufs äußerste vermindert, so vergrößert sich der Quotient
*) Vgl. L. Rodet in der Abhandlung: L'algebre d'Äl'Ehdriemi et Jes
meihodes tndienne et grhcque, Journal Asiatique. lihme s^rie XI, 21 (1878).
*) L. Bodet, Legona de calcul d'Aryabhaia pag. 9 und 18 flgg. *} Cole-
brooke pag. 9, Note 3 und pag. 12, Note 1. *) Ebenda pag. 339—840.
^) Ebenda pag. 188.
Höhere Rechenkunst. Algebra. 617
aufis äußerste. Aber so lange er noch angegeben werden kann, er
sei so und so groß^ ist er nicht aufs äußerste vergrößert; denn man
kann alsdann eine noch größere Zahl angeben. Der Quotient ist
also von unbestimmbarer Größe und wird mit Recht unendlich ge-
nannt^). Ss ist auffallend genug, daß bei so verständiger Auffassung
Bhaskara an anderer Stelle^ das Rechnen mit der Null in haar-
sträubender Weise mißbraucht und daß auch seine Erklärer nichts
dabei zu erinnern wissen. Eine Zahl soll nämlich aus folgenden An-
gaben gefunden werden: Ihr Quotient durch Null vermehrt um die
Zahl selbst und vermindert um 9 wird zum Quadrat erhoben, alsdann
die Wurzel dieses Quadrates hinzugefclgt und die Summe mit Null
vervielfacht, so soll 90 herauskommen. Die Rechnung ist folgende:
«c . sc SC^ X
'^ + X — 9 ist immer noch — , das Quadrat . Dazu y addiert
gibt ^ + Y "^^ ^^ch Vervielfältigung mit der Null x^ + x =^90,
woraus j; = 9 folgt!
Wir sind mit diesem Beispiele schon zur Algebra der Inder
übergegangen, welche trotz des wenig bestechenden Einganges, den
wir gewählt haben, sich uns in überraschender Entfaltung vorstellen
wird. Doch bevor wir uns mit ihr beschäftigen, haben wir zu be-
merken, daß die Inder Rechnungsaufgaben mitunter auch in nicht
algebraischer Weise lösten, und daß für einzelne Regeln besondere
Namen üblich waren, teils auf das Verfahren, teils aber auch weit
weniger folgerichtig auf den Inhalt der Aufgaben sich beziehend.
Unter den ersteren nennen wir die Umkehrung, viloma kriyä,
bei welcher die Reihenfolge der Operationen, welche vorzunehmen
waren um zur gegebenen Zahl zu gelangen, geradezu umgekehrt wird.
Aryabhatta gibt in der 28. Strophe seines mathematischen Kapitels')
die Regel in seiner lakonischen Weise: „Multiplikationen werden
Divisionen, Divisionen werden Multiplikationen; was Gewinn war
wird Verlust, was Verlust Gewinn; Umkehrung.*' Um dieser Kürze
die poetisch anmutende Form gegenüberzustellen, welche Bhaskara
namentlich in dem Lilavati überschriebenen Kapitel anzuwenden liebt,
lassen wir ein Beispiel aus diesem Kapitel folgen*): „Schönes Mäd-
chen mit den glitzernden Augen sage mir, so du die richtige Methode
der Umkehrung verstehst, welches ist die Zahl, die mit 3 ver-
vielfacht, sodann um -j- des Produktes vermehrt, durch 7 geteilt, um
- des Quotienten vermindert, mit sich selbst vervielfacht, um 52 ver-
*) Colebrooke pag. 137, Note 2. *) Ebenda pag. 213. ») L. Rodet,
LeQons de aücül d'Aryahhaia pag. 14 und 87—88. *) Colebrooke pag. 21.
618 29. Eftpitel.
mindert; darch Aasziehung der Quadratwurzel, Addition von 8 und
Dirision durch 10 die Zahl 2 hervorhringt/' Die Rechnung nimmt
hier den Gang
(2 . 10 ~ 8)« + 52 « 196, yi96 « 14 und 14 • ly • 7 • y : 3 « 28
als Anfangszahl.
Eine zweite Regel ist das Verfahren mit der angenommenen
Zahl, ishia karman-^ es ist genau dasselbe Verfahren, welches wir
(S. 76 und 79) als Methode des falschen Ansatzes bei den Ägyptern
kennen gelernt haben, mit dem einzigen Unterschiede, daß jetzt als
bewußte Methode auftritt, was ehedem fast instinktiv geübt wurde.
So sollen^) 68 erhalten werden, indem man eine Zahl verftinffacht,
Y des Produktes abzieht, den Rest durch 10 dividiert und y, — und
— der ursprünglichen Zahl addiert. Im Rechenbuche von Bakhshäli
wäre versuchsweise 1 für die ursprüngliche Zahl gesetzt worden,
Bhäskara wählt versuchsweise 3 und erhält so 15, 10, 1 und
^^3^2^4 4
17 .
Man muß also mit — in 68 dividieren und den Quotient 16 mit 3
4
multiplizieren um die Zahl 48 zu finden. Der Kommentator Ganefa
bemerkt dazu ganz richtig, daß bei dieser Methode nur Multiplika-
tionen, Divisionen und Additionen oder Subtraktionen von Bruch-
teilen der Ergebnisse vorkommen dürfen.
Die Regeldetri kommt bei Aryabhatta vor^), dann in mehreren
Regeln direkten und indirekten Ansatzes zerspaltet und zur Regel
mit mehreren Verhältnissen erweitert bei Brahmagupta, bei ^i'idhara,
bei Bhäskara. Wir geben wieder einige Beispiele. „Eine weiße
Ameise bewegt sich in einem Tage um die Länge von 8 Gersten-
körnern weniger - - eines solchen vorwärts; sie kriecht in 3 Tagen
um .^ Finger zurück; in welcher Zeit wird sie unter diesen Ver-
hältnissen ein Yojana weit vorrücken"*)? Die Verhältniszahlen sind
8 Gerstenkörner = 1 Finger, 24 Finger = 1 Elle, 4 Ellen = 1 Stab,
8000 Stab « 1 Yojana und so findet man 98042553 Tage. Die
Aufgabe: „Eine 16jährige Sklavin kostet 32 Nishkas, was wird eine
20jährige kosten"*)? wird nach umgekehrter Proportion behandelt,
weil „der Wert lebender Geschöpfe (Sklaven und Vieh) sich nach
deren Alter regelt". Das ältere ist das billigere.
^ Colebrooke pag. 23. *) L. Bodet, Legons de calcul d*Aryabhata
pag. 14 und 37. ^ Colebrooke pag. 283, Note 2. ^) Ebenda pag. 84.
Höhere Rechenkunst. Algebra. 619
Von den Regeln , deren Name an die bebandelten Gegenstände
erinnert, nennen wir die Zinsrechnung, bei welcher ebensowohl
die Anrechnung von Zinseszinsen ^) als der Zinsfaß von 5 Prozent
monatlich^) auffallen mag.
Wir nennen femer die Mischungsrechnung von Eßwaren'),
wo um eine gegebene Summe etwa Reis und Bohnen im Verhältnisse
von 2 zu 1 Maßteilen gekauft werden will, während der Preis dieser
Gegenstände einzeln bekannt ist. Dem Gedanken nach können wir
eben dazu auch die Aufgaben rechnen, welche wir Brunnenauf-
gaben genannt haben (S. 391), die aber bei den Indem keinen ähn-
lichen Namen führen*).
Hierher sind auch die Aufgaben über Reihen zu zählen^).
Aryabhatta, Brahmagupta und Bhäskara lehren die Summiemng der
arithmetischen Reihe sowie auch der von 1 an aufeinander folgenden
Quadratzahlen und Eubikzahlen. Mit geometrischen Progressionen
hat Bhäskara, hat auch Prithüdaka, ein Erklärer des Brahmagupta,
sich beschäftigt®). Die Ergebnisse gehen in keiner Beziehung über
diejenigen hinaus, welche wir bei den Ghriechen teils genau nach-
weisen konnten, teils voraussetzen mußten, weil wir sie bei Epa-
phroditus in offenbar erst nachgeahmter Form wiederfanden, während
kein Zweifel obwalten kann, daß schon Epaphroditus mehr als ein
Jahrhundert früher als Aryabhatta gelebt haben muß.
Eine besondere Gmppe von Aufgaben bilden endlich die Ver-
i9etzungen. Wenn man nicht als älteste Spur derselben bei den
Indern die 24 Namen gelten lassen will, welche den Abbildungen des
Visehnu je nach der Ordnung, gemäß welcher er in seinen vier Händen
die Keule, die Scheibe, die Lotosblume und die Muschel hält, bei-
gelegt wurden^), so muß man jedenfalls jene Kapitel der indischen
Prosodie hierher rechnen®), in welchen die verschiedenen Möglich-
keiten gezählt werden, welche bei Versen von gegebener Silbenmenge
in bezug auf Länge und E,ürze der einzelnen Silben auftreten, eine
Aufgabe, welche auf Versetzungen teilweise untereinander gleicher
Elemente führt. Formeln der Kombinatorik ohne Beweise zusammen-
gestellt finden eich bei Bhäskara^). Dort ist die Zahl der Kombi-
nationen ohne Wiederholung zu bestimmter Erlasse angegeben, dort
*) L. Rodet, Legons de calcul d'Äryabhata pag. 14 und 36— S7. *) Cole-
brooke pag. 89. *) Ebenda pag. 43. ^) Ebenda pag. 42 und 282, Note 1.
*) L. Rodet, LeQons de calcul d'Äryabhata pag. 12—13 und 82—36. Cole-
brooke pag. 290 flgg. und 61 flgg. •) Ebenda pag. 66 und 291, Note.
') Ebenda pag. 124, Note 1. •) Albr. Weber, Ueber die Metrik der Inder.
Indische Studien VIII, besonders S. 826—328 und 426 flgg. ^ Colebrooke
pag. 49 und 123—127.
620 29. Kapitel.
die Zahl der Permutationen mit lauter ungleichen oder teilweise
gleichen Elementen^ dort die Summe ^ welche entsteht, wenn man
alle Permutationsformen als dekadisch geschriebene Zahlen betrachtet
und zueinander addiert, lauter Dinge, welche in dieser Yollkommen-'
heit gewiß keinem Griechen jemals bekannt waren, wenn auch, wie
wir gezeigt haben, die Meinung aufzugeben ist, als sei den Griechen
die Kombinatorik überhaupt durchaus fremd gewesen.
Gehen wir nun zu der eigentlichen Algebra der Inder über, so
haben wir erstens yon ihren Bezeichnungen und Benennungen, zwei-
tens von ihrer Auflösung bestimmter Gleichungen, drittens von ihren
zahlentheoretischen Kenntnissen zu reden.
In den Bezeichnungen und Benennungen ist bei den Indern
selbst ein Fortschritt zu erkennen, welcher sie von unvollkommenen
Anfängen zu einer Höhe führt, welche die Entwicklung, zu welcher
Diophant diese Dinge brachte, ziemlich tief unter sich laßt. Aryab-
hatta^) nennt die unbekannte Größe einer Aufgabe: Kügelchen, gtdäcd^
die bekannte Größe: mit Zeichen versehene Münzen, rupdkä. Das
letztere Wort ist ohne die Anhängsilbe M, welche im Sanskrit sehr
häufig wiederkehrt, als rüpa geblieben, das gleiche Wort, welches im
Rechenbuche von Bakhshali die Einheit bedeutete; für die Unbekannte
tritt bei Brahmagupta schon das allgemeinere Wort: so viel als
{quatUum tantum), yävaUävat ein. Einen Vergleich mit dem ägyp-
tischen hau, dem Diophantischen igidpiög unterlassen wir, als zu un-
bestimmter Natur. Die Inder besaßen für beide Gattungen von
Größen, für die bekannte wie für die unbekannte, Zeichen, die in
den Anfangssilben jener Wörter ru und yä bestanden, mithin erst
eingeführt worden sein dürften, als gulikä zugunsten von yävaMävai
ab^ngig geworden war. Sollten derartige Größen addiert werden,
so wurden die zu vereinigenden Ausdrücke ohne weiteres einander
nachgesetzt, wie es von Diophant auch geschah. Bei der Subtraktion
ist ein Unterschied zwischen der griechischen und der indischen
Bezeichnung, welcher zugunsten der letzteren ausschl^en möchte.
Wir wissen, daß Diophant das Subtraktionszeichen (fi dem Abzu-
ziehenden vorsetzte, daß bei ihm nur von Differenzen, von abzüg-
lichen aber keineswegs von negativen Größen die Rede war (S. 471).
Anders die Inder. Bei der Subtraktion wird über den Zahlenkoeffi-
zient des Abzuziehenden, seien es ru oder yä um die es sich handelt,
ein Pünktchen gemacht. Das ist ein so wesentlicher Fortschritt
gegen das Kreuz der Subtraktion, von welchem (S. 614) die Rede
war, daß er nicht genug hervorgehoben werden kann. Das jüngere
') L. Rodet, Legons de cälcid d'Aryabhata pag. 15 und 39 — 40.
Höhere Rechenkunst. Algebia. 621
Pünktchen ist kein Zeichen der Operation^ sondern der Eahlenart.
Es verwandelt die Subtraktion in eine Addition anders gearteter,
entgegengesetzter Ghrößen. Es sind wirklich positive und negative
Zahlen, mit denen man operiert. Die positiven Zahlen heißen dhana
oder svUy die negativen rina oder kshaya, erstere mit der Bedeutung
Vermögen, letztere Schulden bedeutend^). Ja die Erläuterung
des Gegensatzes positiver und negativer Zahlen durch den Gegen-
satz der Richtung einer Strecke ist dem Inder nicht fremd^j.
Diophant blieb bei der Bezeichnung der ersten Potenz der Unbe-
kannten nicht stehen. Ebensowenig tut es der Inder. Allein auch
hier ist eine sehr wesentliche Verschiedenheit zwischen beiden Be-
zeichnungen. Diophant addiert (S. 470) seine Exponenten; die Inder
multiplizieren sie, wenn nicht das Wort ghafd besonders anzeigt,
daß eine Addition vorgenommen werden soll. Die zweite Potenz
wird durch varga abgekürzt in va, die dritte durch gJuma abgekürzt
zu gha bezeichnet, Wörter, die uns oben bei der Wurzelausziehung
schon bekannt geworden sind. Dann heißt der angedeuteten Regel
gemäß va va, va gha, va va va, gha gha die 2 • 2 « 4te, 2 • 3 = 6te.
2. 2-2 = 8 te, 3-3=«9te Potenz, und die zwischenliegenden 5. und
7. Potenz der Unbekannten führen die Namen und Zeichen va gha
ghaia, va va gha ghata. Über diese Potenzbezeichnung hinaus hat
sich aber der Inder auch noch zu einer Bezeichnung der irratio-
nalen Quadratwurzel einer Zahl mit Hilfe des Wortes karana,
geschrieben Äa, emporzuschwingen gewußt. Die Bedeutung dieses
Wortes, welches mit dem Zeitwort machen in Verbindung steht,
deutet allerdings darauf hin, daß hier das indische Zeichen einem
griechischen Begriffe nachgebildet sei, daß man die Länge sucht,
welche eine gewisse Oberfläche als ihr Quadrat macht; denn wenn
der Grieche hier auch können zu sagen liebt, so steht dem doch
der Ausdruck 6 inb r^g aß d. h. das von der Strecke aß gemachte
Quadrat zur Seite*). Der Inder hat femer ein Zeichen der Multipli-
kation in dem den Faktoren nachzusetzenden Worte hhävita, das Her-
vorgebrachte, geschrieben hhä. Dieselbe Silbe war (S. 614), als An-
fang eines anderen Wortes, Divisionszeichen. Er hat endlich eine
unterscheidende Bezeichnung för mehrere Unbekannte, indem nur die
erste, häufig alleinige Unbekannte yävattdvat heißt, während die
übrigen nach Farben unterschieden werden*): die schwarze Mlaka,
die blaue ntlaka, die gelbe pttaka, die rote hhitaka, die grüne hari-
taka regelmäßig durch die Anfangssilbe bezeichnet, eine Bezeichnungs-
^) Colebrooke pag. 181, Note 1. *) Ebenda pag. 71, § 166. ") L. Rodet,
Legons de calcul d'Äryabhata pag. 31. ^) Colebrooke pag. 139 und 348flgg.
622 29. Kapitel.
weise^ deren ganz allgemeine Übung zu dem Rückschlüsse geführt
hat, es müßten auch die indischen Zahlzeichen ursprünglich Anfangs-
silben der betreffenden Zahlwörter gewesen sein. Als Beispiel der
eben erwähnten mehrere unbekannte, umfassenden Schreibweise mag
yä Ted bhd gelten d. h. die Unbekannte mit der Schwarzen in Ver-
yielfachung oder a; mal t/. Die Gleichsetzung zweier Zahlen vollzog
Diophant durch das Wort töot, mitunter zu l abgekürzt. Auch dem
Inder fehlt nicht ein Wort dieser Bedeutung; in Gleichgewicht,
tulyau, heißen die beiden Glieder, pakshau^), aber sie bedürfen dessen
beim Schreiben nicht. Sie setzen die einander gleichen Ausdrücke
unmittelbar untereinander ohne jedes vermittelnde Wort, allerdings
auch ohne Gleichheitszeichen. Sie scheuen es dabei nicht eine nega-
tive Zahl allein die eine Seite einer Gleichung bilden zu sehen, wenn
sie auch freilich rein sinnlich genommen dieselbe selten allein sehen,
indem meistens die nicht vorkommenden Glieder mit dem Koeffi-
zienten 0 behaftet angeschrieben werden. Soll also bei Brahmagupta
aus 10a? — 8 = a:* + 1 die Folgerung — 9 ==* a:* — 10a? gezogen
werden*), so schreibt er Oa;* -f lOa? — 8=«la:* + 0a?+l und dann
erst — 9 =« a:* ■— 10 a: oder in indischer Weise
yä va 0 yä 10 rü 8 und dann rü 9
yä va 1 yä 0 rü 1 yä va 1 yä 10.
Negative Wurzeln einer Gleichung waren, wenn auch nicht
streng verpönt, doch auch nicht gestattet; man darf vielleicht sagen,
sie wurden mit Bewußtsein ihres Vorkommens beseitigt: „Absolute
negative Zahlen werden von den Leuten nicht gebilligt'*').
Damit sind wir aber schon bei der Auflösung bestimmter
Gleichungen angelangt. Die Inder behandelten solche von ver-
schiedenen Graden. Eine Grundoperation ging immer voraus. Nach-
dem nämlich der Ansatz vollzogen war, zog man entsprechende Teile
voneinander ab; Vielfache des Quadrats der Unbekannten, Vielfache
der Unbekannten, Bekanntes wurden bei der dafür ungemein be-
quemen indischen Anordnung voneinander subtrahiert, und man
nannte dieses säma gödhanam d. h. Abziehung des Ahnlichen. Mit
Fug und Recht hat man diesen Ausdruck neben das diophantische
„Gleichartiges von Gleichartigem" (S. 472) gestellt*). Es ist gewiß
nicht zu weit gegangen, wenn man behauptet von den Wörtern sänia
gödhanam und äxb b^oCwv o/iota sei das eine die Übersetzung des
andern, und warum wir geneigt sind Diophant als selbständigen
*) L. Rodet, L'alghhre d' Al-Khdrizmi pag. 17. *) Colebrooke pag. 346
bis 847, § 49. ») Ebenda pag. 217, § 140. *) L. Rodet, L'alghbre d'Al'Khdnzmi
pag. 49.
Höhere Bechenkimst. Algebra. 623
Schriftsteller zu betrachten, haben wir früher (S. 465) erörtert. Hier
wäre somit schon eine Ton den verheißenen Spuren griechischer
Algebra auf indischem Boden^ hier eine Spur indischen Fortsehrittes
in Gestalt ihrer Anordnung. Aryabhatta hat in seiner 31. Strophe
ein merkwürdiges Beispiel aufgestellt^): „Teile bei entgegengesetzter
Bewegung die Entfernung durch die Summe der Geschwindigkeiten,
bei übereinstimmender Bewegung teile die Entfernung durch die
Differenz der Geschwindigkeiten; die zwei Quotienten sind die Be-
gegnungszeiten der beiden in der Vergangenheit oder Zukunft'', das
ist die allgemein gestellte Aufgabe der beiden Kuriere, wie
richtig erkannt worden ist. Hat aber Aryabhatta diese Aufgabe
gleichungsweise gelöst in der Weise, wie wir soeben zu erörtern an-
gefangen haben, oder hat er nur eine von auswärts erhaltene Regel
wiederholt? Eine bestimmte Antwort läßt sich noch nicht geben.
Jedenfalls ist bei Brahmagupta die Gleichung als solche vorhanden.
Viermal der zwölfte Teil einer um 1 vermehrten Zahl wird
um 8 vergrößert, um die um 1 vermehrte Zahl zu finden^). Die
Zahl yä wird um 1 vermehrt zu yä 1 rü 1, Dann teilt man
durch 12 und vervielfacht mit 4 zu ^^ J^ , vermehrt um 8 zu
« . Das soll aber dem yä 1 rü 1 gleich sein, mithin ist:
yä 1 rti 25
yä 3 n^ 3.
Der Ansatz ist soweit vollendet und nun heißt es weiter: Der Unter-
schied der Unbekannten ist yä 2; hierdurch der Unterschied der be-
kannten Zahlen nämlich 22 geteilt gibt die Zahl 11. Bhäskara hat
mit Vorliebe Textaufgaben behandelt, deren Form dem poetischen
Gewände, in welchem das Ganze erscheint, sich trefflich anpaßt. Wie
er das Kapitel der Rechenkunst Lilävati, die Reizende, genannt hat,
und von den glitzernden Augen der Schönen (S. 617) im Zusammen-
hang mit dem Umkehrungsverfahren zu reden wußte, so stellt er
auch folgende auf eine Gleichung ersten Grades führende Frage'):
„Von einem Schwärm Bienen läßt -l sich auf einer Kadambablüte,
Y auf der Silindhablume nieder. Der dreifache Unterschied der
beiden Zahlen flog nach den Blüten eines Kutaja, eine Biene blieb
übrig, welche in der Luft hin und herschwebte gleichzeitig angezogen
durch den lieblichen Duft einer Jasmine und eines Pandamus. Sage
^) L. Bodet, Legons de calcul d'Aryahhata pag. 16 und 41 — 42. *) Cole-
brooke pag. 344, § 45. ') Ebenda pag. 24^25, § 64.
624 29. Kapitel.
mir, reizendes Weib, die Anzahl der Bienen." Er ahmt übrigens
selbst nur Qridhara darin nach, auf welchen folgende Aufgabe
ihrer wesentlichen Form nach zurückzufahren ist*): „Bei ver-
liebtem Ringen brach eine Perlenschnur; -^ der Perlen fiel zu Boden,
Y blieb auf dem Lager liegen, y rettete die Dirne, -^ nahm der
Buhle an sich, 6 Perlen blieben aufgereiht; sage, wie Viele Perlen hat
die Schnur enthalten?"
Bisher trat nur eine Unbekannte auf Eine Aufgabe, welche
mehrere Unbekannte bestimmt wissen will, ist diejenige, welche
Aryabhatta in seiner 29. Strophe uns erhalten hat^): „Die Summe
einer gewissen Anzahl von Größen je um eine derselben vermindert,
alle vereinigt, man teilt durch die um 1 verringerte Anzahl der
Großen, man hat die Summe." Wir fürchten keinen Widerspruch,
wenn wir in dieser Aufgabe und in dem Epantheme des Thjmaridas
(S. 158) so nahe Verwandte erkennen, daß an einen Zufall nicht zu
denken ist. Vollkommen ist zwar die Übereinstimmung nicht.
Nennen wir s wieder die Summe der n Unbekannten x^, x^, '*x^
und die Differenzen s — Xi^^d^, s — x^^d^, -'-s — x^^d^y so
behauptet Aryabhatta, es sei s «= ^ ' * _ . " und fügt hinzu,
daß durch einzigweise Subtraktion von J^, {^^^ ' ' ' ^n ^^^ ^^™ ^^
gefundenen s die Unbekannten Xi, x^y • • • x^ erhalten werden können;
aber nur um so wahrscheinlicher wird dadurch, was auch durch die
selbst nur mangelhaft bekannte, jedenfalls aber sehr frühe (S. 158)
anzusetzende Lebenszeit des Thjmaridas an die Hand gegeben wird,
daß dieser Pythagoräer der Erfinder war, als welchen Jamblichus
ihn ausdrücklich nannte, daß Aryabhatta in echt indischer Weise,
genau so wie Albirüni es uns schildert (S. 597), das Erlernte un-
kenntlich zu machen wußte. Ist aber diese Folgerung gerecht-
fertigt, so ist eine neue Spur griechischer Algebra in Indien auf-
gedeckt, und damit immer größere Sicherheit gewonnen, daß wirk-
lich auf diesem Gebiete die Inder von den Griechen lernten, keines-
wegs aber umgekehrt, und daß die Inder alsdann nur, wie wir
wiederholt erklären, in dem ihrer Geistesrichtung besonders zusagen-
den Gedankenkreise überraschende Fortschritte auf eigenen Füßen
machten.
So glauben wir auch deutlich die griechische Auflösung der
quadratischen Gleichung, wie Heron (S. 405), wie Diophant
^) Colebrooke pag. 25, Note ö. *) L. Rodet, Legons de cdl^:ul d'AryaJh
hata pag. 14—16 und 38—39.
Höhere Bechenkunst. Algebra. 625
(S. 474) sie übte, in der mit ihr nicht bloß zufallig übereinstimmen-
den Regel des Brahmagupta zu erkennen^): ^^Zu der mit dem Koeffi-
zienten des Quadrates vervielfachten absoluten Zahl füge das Quadrat
des halben Koeffizienten der Unbekannten. Die Quadratwurzel dieser
Summe weniger dem halben Koeffizienten der Unbekannten ge-
teilt durch den Koeffizienten des Quadrates ist die Unbekannte.^
D. h. aus
ox» + bx = e folgt X = - ^ -■
*
Bei Aryabhatta ist die gleiche Auflösungsmethode wenigstens
vorausgesetzt^)^ da die in seiner 20. Strophe gelehrte Auffindung der
Gliederzahl einer arithmetischen Reihe aus Summe, Differenz und An-
fangsglied die vorhergehende Möglichkeit eine unreine quadratische
Gleichung auflösen zu können in sich schließt.
Qridhara hat Brahmaguptas Regel verbessert'), indem er die ge-
gebene Gleichung statt mit a sogleich mit 4 a vervielfachen laßt, wo-
durch die Möglichkeit Brüche unter dem Wurzelzeichen zu erhalten
verschwindet; aus ax^ + bx ^ c erhält er nämlich
4a^x^ + 4alx = 4ac oder (2axy + 26 • (2ax) « 4ac,
also auch (2ax + by = 4ac + 6» und a; = V^^<^+J^'-b jj.^ ^^
gänzung des quadratischen Teiles, welche in Wirklichkeit dahin führt
statt eines quadratischen Gliedes und eines Gliedes mit der ersten
Potenz der Unbekannten nur das Quadrat eines Binoms ersten Grades
als unbekannt aber bestimmungsfähig zu erhalten, wird seit Brahma-
gupta „Wegschaffung des mittleren Gliedes", madhyama harch
mm, genannt*).
Der wichtigste Fortschritt, welchen die Lehre von den unreinen
quadratischen Gleichungen schon bei Brahmagupta vollzogen hat, be-
steht aber darin, daß die drei verschiedenen Formen (S. 473)
ax^ + bx =- Cy bx + c^ ax^, aa? + c^bx
verschwimden sind, wie es vermöge der Gewohnheit mit negativen
Zahlen zu rechnen gestattet war.
Nun ist Bhäskara noch wesentlich über Brahmagupta hinaus-
gegangen. Er kennt die bei den Quadratwurzeln sich ergebenden
Doppelsinnigkeiten und Unmöglichkeiten. Er faßt sie in die
RegeP): „Das Quadrat einer positiven wie einer negativen Zahl ist
*) Colebrooke pag. 346, § 48. *) L. Rodet, Le^ons de calcul d'Ärya-
hhaia pag. 13 und 33. ') L. Rodet, L'algibre d^Al-EJidriemi pag. 71. *) Ebenda
pag. 76. *) Colebrooke pag. 135.
Cavtob, Geschichte der Mathematik I. 8. Aufl. 40
626 29. Ki4»iftd.
pontiy, und die Quadratwurzel aus einer positiven Zahl ist zwie&cli,
positiv und negativ. Es gibt keine Quadratwurzel aus einer negativen
Zahl, denn diese ist kein Quadrat^ Dementsprechend kennt er die
paarweise auftretenden Wurzeln einer quadratischen Gleichung, gibt
sie aber aus dem oben angegebenen Grund, dafi „absolute negative
Zahlen von den Leuten nicht gebilligt werden^ nur dann an, wenn
beide Wurzelwerte positiv aus&Ueil iind keinen Durchgang durch
ein Negatives voraussetzen; er folge dabei PadmanälSha^). Folgende
Beispiele mögen die Meinung der einschränkenden Elaasel erläutern*).
„Der 8. Teil einer Herde Affen ins Quadrat erhoben hüpfte in einem
Haine herum und erfreute sich an dem Spiele, die 12 übrigen sah
man auf einem Hügel miteinander schwatzen Wie stark war die
Herde ?^ Hier gibt es zwei Auflösungen: 48 und 16. „Das Quadrat
des um 3 verminderten 5. Teiles einer Herde Affen war in einer
Crrotte verborgen, 1 Affe war sichtbar, der auf einen Baum geklettert
war. Wieviele waren es im ganzen?'' Bhaskara sagt ÖO oder 5,
aber der zweite Wurzelwert dürfe nicht genommen werden. Ein
Kommentar erklart uns, wie das gemeint sei. Man könne den
5. Teil von 5, oder 1, nicht um 3 vermindern, ohne daß, wenn
auch nur vorübergehenderweise, die absolute negative Zahl — 2
auftrete.
Bhaskara hat auch an anderer SteUe^ gezeigt, wie mit Hilfe
der Formel
Quadratwurzeln aus Summen rationaler und irrationaler Zahlen ge-
zogen werden können, und hat die Wurzelausziehung auf noch ver-
wickelter zusammengesetzte Größen wie
VlO + }/24 -1-^40 + yeO « }/2 + V3 + 1/5
ausgedehnt. Er erklart diese Darstellung ausdrücklich för seine Er-
findung, welche aber einer sehr behutsamen Benutzung bedürfe,
widrigenfalls man zu falschen Ergebnissen geführt werde; die Ei^
zielung eines solchen beweise alsdann, daß eine Wurzelausziehung
eben nicht gelinge, und alsdann müsse man sich damit begnügen
statt der einzelnen vorkommenden Irrationalitäten deren Näherungs-
werte in Rechnung zu haben.
Das Rechnen mit Irrationalgrößeu führt Bhaskara femer zu der
Aufgabe, Brüche rational zu machen^). Man soll Zähler und Nenner
>) Coleb rooke pag. 218, § 142. *) Ebenda pag. 216—217. *) Ebenda
pag. 149—166. Die Bemeikong über falsclie ErgebniBse pag. 165, § 61. *) Ebenda
pag. 147, § 34—36.
Höhere Bechenkunst. Algebra. 627
mit einem dem Nenner ähnlichen Ansdrucke vervielfachen, bei welchem
nur das Vorzeichen einer Irrationalzahl entgegengesetzt gewählt wird,
und soll dieses Verfahren so lange fortsetzen, bis man wirklich im-
stande sei die noch geforderte Division zu vollziehen.
Endlich ist bei Bhäskara noch ein letzter großer Fortschritt vor-
handen. Er hat auch Gleichungen von höherem als dem zweiten
Grade in AngriflF genommen^). So z. B. af* + 12a; = 6o(? + 35. Er
zieht 6a;^ + 8 auf beiden Seiten ab und gewinnt so
a:«- 6a:« -M2a;~ 8 = 27,
wo beiderseits vollständige dritte Potenzen erscheinen, nämlich
{x — 2)^ = 3'. Die Kubikwurzelausziehung gibt ihm a: — 2 = 3,
woraus endlich a; = 5 folgt. Ähnlich behandelt er
a^-2(a;« + 200a;) = 9999.
Er addiert auf beiden Seiten 4 a;* + 400a; -\- 1 und gewinnt dadurch
nach vollzogener Umformung (a;* + 1)« = (2 a; -{- 100)*. Quadrat-
wurzelausziehung führt zu der selbst noch quadratischen Gleichung
a;* + 1 = 2a; + 100, aus welcher a; = 11 folgt. „In diesem Falle
bedarf es des Scharfsinnes'^ sagt Bhäskara, und man kann ihm diese
kleine Ruhmredigkeit nicht verargen. Es ist nicht unmöglich, daß
Diophant^ welcher gleichfalls eine kubische Aufgabe gelöst hat
(S. 478), den Anstoß auch zu diesen Untersuchungen gab, aber
wieder ist ein ungeheures Mehr auf seiten Bhäskaras zu verzeichnen.
Er hat einen Kunstgriff erdacht, den er uns ausdrücklich kennen
lehrt, und der richtig gehandhabt zu einer Methode der Gleichungs-
auflösung werden konnte.
So ist wohl nach beiden Seiten hin gerechtfertigt, was wir über
die Algebra bestimmter Gleichungen angekündigt haben: daß manches
davon griechischer Herkunft zu sein scheint, daß die Inder mit dem
ihnen fremd Zugetragenen staunenswerte eigene Leistungen zu ver-
binden wußten.
Noch bedeutender ist es, was die Inder in der Zahlentheorie
leisteten, in welcher sie uns zum ersten Male Gelegenheit geben
werden, wirkliche allgemeine Methoden kennen zu lernen. Zwei Be-
merkungen müssen wir vorausschicken. In den indischen Schriften,
welche uns bekannt sind, kommen die altpythagoräischen Zahlen-
betrachtungen nicht vor. Den vermutlich späteren Begriff vollkom-
mener oder befreundeter Zahlen aufzustellen, ist, soviel wir wissen,
keinem Inder in den Sinn gekommen. Auch figurierte Zahlen kommen
*) Colebrooke pag. 214—215.
40*
628 89. Kapitel.
sla solche kaum vor^ jedenfalls nicht in der Ausdehnung, in welcher
Diophant sich mit ihnen beschäftigte. Nur die Summierung
1 + 3 + 6 + . . . + '*^''+^^ « n(ft + l)(n + 2) ^ (n + l)»-(n + l)
2 6 6
als Anzahl der Kugeln in einem dreieckigen Haufen ist seit Arja-
bhattas 21. Strophe^) bekannt, aber von Fünfeckszahlen oder gar
meckszahlen ist nirgend die Rede. Einen Griechen und Indem ge-
meinschaftlichen Gegenstand der Untersuchung bildet nur die Auf-
findung rationaler rechtwinkliger Dreiecke^. Das ist das eine, was
wir uns merken wollten. Zweitens aber ist ein noch viel grundsätz-
licherer Widerstreit zwischen indischer und griechischer Zahlentheorie
vorhanden. Für die unbestimmte Analytik ist nämlich die Bedingung
ganzzahliger Auflösungen maßgebend, eine Forderung, welche
Diophant (S. 478) niemals stellt und nur ausnahmsweise erftQlt.
Das sind so wesentliche Gegensätze, daß wir auf diesem Gebiete
fast nur selbständige Leistimgen im Westen wie im Osten zu erwarten
haben.
Gehen wir jetzt darauf aus, einen Überblick über die indischen
Leistungen in der unbestimmten Analytik zu gewinnen, und beginnen
wir mit den unbestimmten Gleichungen ersten Grades. Schon
Äryabhatta hat sich in der 32. und 33. Strophe seines mathema-
tischen Kapitels mit solchen Gleichungen beschäftigt') und dabei
eine Methode in Anwendung gebracht, der Brahmagupta wahrschein-
lich den Namen Zerstäubung, kuttfakay beigelegt hat, unter welchem
sie sich auch bei Bhäskara auseinandergesetzt findet^). Bhäskara
beginnt ihre Darstellung mit der Aufgabe, das gemeinschaftliche Maß
zweier Zahlen zu finden. Diese löst er, wie sie eben gelöst werden
muß, wie Euklid verfuhr, wie auch Bhäskara sehr wohl selbständig
erdacht haben oder von selbständigen indischen Vormännem über-
nommen haben kann. Er vollzieht fortlaufende Divisionen des früheren
Divisors durch den bei Teilung mittels desselben verbliebenen Rest,
und der letzte dieser Reste ist der gesuchte größte gemeinsame
Divisor der beiden gegebenen Zahlen. Durch ihn verkleinert werden
sie feste Zahlen, dridha^ oder teilerfremd, ein Begriff, den Brahma-
gupta durch die Namen niccheda oder nirapc^varta dem deutschen
Worte entsprechender bezeichnet*). SoU nun eine Zerstäubungsauf-
gabe gelöst werden, so muß vor allen Dingen Dividend, Divisor
*) L. Rodet, LeQons de calcul d'Aryabhata pag. 13 und 36. ') Cole-
brooke pag. 806, § 35 und pag. 340, § 38. *) L. Rodet, Legam de calcul
d'Aryabhata pag. 15 und 42—46. *) Colebrooke pag. 112figg. ") Ebenda
pag. 330, Note 3.
Höhere Bechenkunst. Algebra. 629
and Additive durch dieselbe Zahl yerkleinert werden können. ^^Mißt
die Zahl, welche für Dividend und Divisor das Maß ist, die Additive
nicht^ so ist die Aufgabe schlecht gestellt/^ Die Meinung dieses
Satzes, von welchem übrigens so wenig wie von der eigentlichen
Methode ein Beweis gegeben ist, besteht darin, daß wenn ax + l=^Cff
in ganzen Zahlen lösbar sein soll, jeder Teiler des Dividenden a und
des Divisors c auch in der Additiven b enthalten sein muß, daß es
also möglich sein muß, durch Verkleinerung der voi^elegten Glei-
chung mittels des größten gemeinsamen Teilers von a und c diese
beiden Koeffizienten teilerfremd zu machen. Denkt man sich diese
Vorbereitung getroffen, so muß bei der nunmehr erfolgenden Auf-
suchung des größten gemeinsamen Teilers der neuen a und c nach
dem euklidischen Eettenbruchverfahren schließlich der Rest 1 auf-
treten. Die einzelnen Quotienten der aufeinanderfolgenden Divisionen
seien g^, q^, • - -Qnf ^® entsprechenden Reste r^, r,, . . . ^„, wo also
r^ » 1 sein muß. Man schreibt die Quotienten in ihrer Reihenfolge
in eine Zeile und fügt am Schlüsse noch die Additive b und eine
Null bei, so daß diese letztere eingeschlossen n + 2 Zahlengrößen in
einer Zeile nebeneinander stehen. Nun vervielfacht man das dritt-
letzte Glied mit dem vorletzten und addiert das letzte, streicht das
letzte ganz und ersetzt das dritÜetzte durch die eben gefundene
Zahl Man hat mithin jetzt eine Zeile von n -f 1 Zahlengrößen
vor sich, an welcher man das eben erläuterte Verfahren, welches
die Anzahl wieder um eins verringert, wiederholt. Das setzt
man so fort bis schließlich nur zwei Zahlen in der Zeile sich be-
finden, und nun hat man zwei Falle zu unterscheiden. War n
gerad, so ist von beiden Zahlen die erste y, die zweite x. War
n ungerad, so muß man die erhaltenen Werte von a und von c
abzählen, um die richtigen y und x zu finden. Eine Verminderung
des gefundenen y um den Betrag eines Vielfachen von a, während
von X das Gleichvielfache von c abgezogen wird, ist in beiden Fällen
gestattet.
Ein Beispiel, welches zu einem geraden n führt, ist^)
IOOä: -f- 90 = 63y.
Die Division 100 : 63 gibt den Quotienten g'i = 1 und den Rest
rj = 37. Die folgenden Quotienten und Reste sind q^ = 1, r, = 26;
ff8""l. ^8-^11; «4 =-2, r4«4; tfß = 2, rg = 3; q^^l, r^ - 1,
mithin n =- Q, Die zu bildenden Zahlenreihen sind:
^) Colebrooke pag. 115, § 265.
630
29. Kapitel.
1, 2, 2, 1,90,0.
1- 90+ 0- 90
1, 2, 2, 90, 90.
2- 90+90-270
1, 2, 270, 90.
2. 270+ 90- 630
1, 630, 270.
1- 630 + 270- 900
900, 630.
1- 900 + 630-1530
1, 1530,
900.
1 • 1530 + 900 - 2430
0, 1530.
X = 1530 V - 2430.
■16+ 0- 16
16 + 16= 32
■32 + 16= 48
■ 48 + 32= 80
80 + 48 = 368
Nun zieht man 24 • 100 yon y^ 24 • 63 von x ab und erhält die
kleineren Werte a: — 18, y =» 30.
Zu einem ungeraden n führt ^): 60a;+16 = 13y. Hier ist
nämlich ^i = 4, r^ = 8; ft = 1, r, = 5; ft =" 1> ^j = 3; ?4-l,
r^ « 2; & « 1, ^5 « 1 und n = 5. Die Rechnung stellt sich daher
folgendermaßen :
4, 1, 1, 1, 1, 16, 0.
4, 1, 1, 1, 16,16.
4, 1, 1, 32, 16.
4, 1, 48, 32.
4, 80, 48.
368, 80. 13 - 80 « - 67 - a; 60 - 368 ^ 308 = y
Diesmal addiert man 6 • 60 zu j^, 6 • 13 zu :r und erhält die Werte
x^ 11, y = 52.
Die Zerstäubungsmethode stimmt, wie vielfach bemerkt worden
ist, in ihrem ganzen Gange mit der Methode der Auflösung unbe-
stimmter Gleichungen ersten Grades durch Eettenbrüche überein,
wie sie in jedem Lehrbuche der Zahlentheorie erörtert ist; wir können
den Nachweis ihrer Richtigkeit füglich übergehen. Wir übergehen
auch die unbestimmten Gleichungen ersten Grades mit mehr als zwei
Unbekannten, welche Aryabhatta wie Brahmagupta schon kannten^)
und in wesentlich der gleichen Art behandelten, wie die Zerstäubungs-
methode es für zwei Unbekannte vorschreibt
Wir gehen zu den unbestimmten Gleichungen zweiten
Grades über. Brahmagupta behandelt hier zuerst solche Gleichungen,
welche nur das Produkt der beiden Unbekannten unter sich als qua-
dratisches Glied enthalten und dann erst solche, in welchen die
Quadrate der Unbekannten vorkommen'). Bhäskara schlägt den ent-
*) Colebrooke pag.' 116, § 257. *) L. Rodet, Legons de ccdcul d'Asrya-
bhata pag. 15 und 48. Colebrooke pag. 348—360: Equutian of severäl cohurs.
") Ebenda pag. 361—362 : Equation involving a factum und 363—872 : Square
affected hy coefficient
I
Höhere Rechenkunst. Algebra. 631
gegengeBetzten Weg ein, indem er zuerst mit Aufgaben von der
Form ao? + 6 = cy*, dann erst mit solchen wie a-y « aa; + 6y + c
sich beschäftigt^). Bei der Auflösung dieser letzteren bedient er sich
entweder des Verfahrens die eine Unbekannte, etwa y, ganz willkür-
lich anzunehmen und alsdann x = ^-^— zu setzen, wobei freilich
ganzzahlige Lösungen nur infolge gün- jf
stigen Zufalles auftreten, oder aber er -
geht von einer auffälligen Verbindung
geometrischer und algebraischer An-
schauungen aus, die zugleich Methode _ ^
und Beweis derselben enthalten (Fig. 81). ^
In dem Rechtecke ABCD sei die
Basis AB^Xj die Höhe BC^^y^ so ist die Fläche xy. Ist nun
DE^a, AG - 6, so ist CDEF^ax, AG HD - by und ax + by
= Gnomon CFIGADC + DEIH, oder da DEIH^ab, so ist
Gnomon CFIGADC '^ ax + by — ab. Zieht man diesen Gnomon
von dem ursprünglichen Rechtecke ABCD « xy ab, so bleibt das
Rechteck BFIG =^ xy — ax — by + ab, welches als aus den Seiten
x — b und y — a bestehend auch die Fläche (a? — 6) • (y — a) besitzt.
Nach dem Wortlaute der Aufgabe ist aber xy — ax — by + ab '^ c
-h aby mithin ist auch (x — b) • (y — a\^ c + ab. Man hat also nur
nötig c + ab in zwei Faktoren, etwa m und ^ *"/* zu zerlegen und
den einen mit a: — 6, den anderen mit y — a zu identifizieren. So
entsteht entweder a; ■— 6 = ' ^ , y — a == m oder y ^a ^ ?-±-fL
X — b = m'^ beziehungsweise entweder x = ~'^ — ^^-i^y ^ y ^ a + m
oder
X ^b + m, y = -1- \ -r j
und die Lösungen werden ganzzahlig, wenn m ein ganzzahliger Faktor
von c + ab ist
Wir haben bei dieser Auseinandersetzung des griechischen Wortes
Gnomon uns bedient. Bei Bhäskara entspricht demselben kein eigen-
tümlicher indischer Ausdruck. Er spricht vielmehr nur von dem
Unterschiede der Rechtecke ABCD und BFIG. Wir haben die
nicht unbedeutende Abweichung von dem Urtexte uns gestattet, um
damit unsere Auffassung kund zu geben, daß wir nicht umhin können,
*) Colebrooke pag. 170—184: Affected Square, 245—267: Vaneties of
quadratics, 268 — 274 : Equatian involving a factum of unknaton quantities.
632 2d. Kapitel.
in diesem nichts weniger als indischen Verfahren griechische Erinne-
rungen zu vermuten.
Die indische Auflösung der Gleichungen von der Form
ax^ + 6 = cy* hier ausführlich mitzuteilen, würde uns viel zu weit
führen. Wir begnügen uns mit wenigen Andeutungen. Bhäskara
kennt das, was wir quadratische Reste^) und das, was wir ku-
bische Reste*) nennen, insofern als er weiß, daß es Zahlen von
gewissen Formen gibt, die Quadrate und Euben sein können, und
andere, bei welchen das Entgegengesetzte stattfindet. Er lehrt in
der zyklischen Methode'), wie die Gleichung arc* + 1 = y' ge-
löst werde, ausgehend von einer beliebigen empirisch gegebenen
Gleichung a J.* + B « C*, welche nur so gewählt worden ist, daß
die keinen quadratischen Faktor enthaltende Zahl jß so klein als
möglich ausfällt, ein Verlangen, zu dessen Erfüllung es genügte V^
G
näherungsweise in Bruchgestalt etwa als -j zu suchen, und Zähler
und Nenner dieses Bruches in der versuchsweise aufzustellenden Glei-
chung ihren Platz anzuweisen. Aus der für B ausgesprochenen Be-
dingung folgt von selbst ihre Teilerfremdheit gegen A, Besäßen
nämlich A und 3 einen gemeinsamen Teiler d, so müßte derselbe
wegen aA^ -{- JB = C auch in G enthalten sein. In A} wäre d*,
ebendasselbe auch in G^ und^ schließlich auch in B enthalten. Nun
setzt man — —^ - = A^^ wobei durch Zerstäubung z^ nebst A^ ganz-
zahlig gefunden werden, und zwar wählt man von den unendlich
vielen möglichen Werten von z^ einen solchen, der z^ — a kleinst-
möglich macht. Setzt man hierauf *-g — ^ B^, so ist B^ eine
ganze Zahl. Der indische Schriftsteller gibt allerdings dafür so
wenig wie für die vorhergehende Teilerfremdheit zwischen A und B
A z \ C
einen Beweis, aber die Sache ist richtig. Aus — ^-~ - ^ A^ folgt
nämlich
_ B^A\ — 2.BC^t + B /BAI — 2C^^i + 1\ t>
T' ^l A'' ~)'^'
Nun ist ZI — a eine ganze Zahl, also muß das Gleiche für den zu-
letzt erhaltenen Ausdruck gelten, und das kann, weil, wie wir sahen,
*) Colebrooke pag. 262—263, § 202—204. «) Ebenda pag. 265, § 206.
•) Ebenda pag. 176 flgg. H. Konen, Geschichte der Gleichung *•-— 2)tt' = l
(Leipzig 1901).
Höhere BechenknnBi Algebia. 633
JB gegen A teilerfremd ist^ nur dann der Fall sein, wenn A* in
JSAl — 2CAi + 1 ganzzahlig enthalten ist. D. h.
gf — g ^ _ BAl'-2CÄi + 1
ist eine, ganze Zahl. Ersetzt man rechts B wieder durch C — aA*^
80 zeigt sich
B, = ^'-^f-^^'^f-^^A + i _ /cA-iy _ ^^j
oder
Auch Ci = — ^^ — muß als rationale Quadratwurzel der ganzen
Zahl aA] + B^ selbst ganzzahlig sein. Somit ist aus der lauter
ganze Zahlen enthaltenden Gleichung a^* + JB =- (7 eine neue Glei-
chung a^J + -Bi = CJ hervorgegangen ; in der wieder nur ganze
Zahlen vorkommen. Man kann nun in gleicher Weise andere und
andere ähnlich geformte Gleichungen ableiten^ man kann aber auch
gewonnene Gleichungen nach einem anderen Satz vereinigen. Dieser
Satz lautet*), daß au\ + 6, = v* und aul + ftg = v| die Folge-
rung auf + 63 = tTj gestatten, wo u^ =^ u^v^ + ^^u &« = ^hf
Vj = au^u^ + v^^i- Durch solche Veranderungen und Divisionen,
wo immer sie möglich sind, kann man bis auf eine Gleichung
ax^ + 1 = y* geführt werden und hat alsdann die Aufgabe gelöst.
Allerdings wird dieses indische Verfahren nicht stets zum Ziele
fähren, namentlich nicht nach ganz vorschriftsmäßigen Regeln die
Wurzeln der Gleichung ax^ + 1 « y* finden lassen. Vieles bleibt
dem Takte des Auflösenden überlassen. Mit Recht sagt auch Bhäs-
kara an einer anderen Stelle*): „Die Regeldetri ist Arithmetik, die
Algebra aber ist makelloser Verstand. Was wäre dem Scharfsinnigen
unbekannt?" Wird übrigens bei der Gleichung ax^ + 1 =» y* kein
Gewicht auf die Ganzzahligkeit der Lösungen gelegt, so kann immer
ohne weiteres ein genügendes Wurzelpaar angeschrieben werden').
Aus aA^ + B= CP in Verbindung mit der noch einmal gesetzten
unveränderten Gleichung ergibt sich nämlich nach der erwähnten
Vereinigungsregel: a - {2ACy + B^ === (aA^ + CPy und daraus
Überblicken wir alle diese Untersuchungen, welche natürlich, so
algebraisch begabt wir die Inder uns denken mögen, die Kraft der
bedeutendsten Geister in um Jahrhunderte weit auseinander liegenden
*) Colebrooke pag. 171, § 77—78. ») Ebenda pag. 276. ») Ebenda
pag. 172, § 80—81.
634 29. Kapitel.
Zeiten in Anspruch genommen haben können, so ist ein nicht un-
bedeutendes Interesse mit der Frage yerknüpft, wo denn die Wurzel
aller zahlentheoretischen Untersuchungen für die Inder lag^)? Die
unbestimmten Gleichungen zweiten uud höheren Grades sind wohl
nichts weiteres gewesen als siegreiche Erfolge einer Spekulation,
welche wachgerufen war durch Aufgaben, die nur auf unbestimmte
Gleichungen vom ersten Grade geführt hatten. Diese aber waren
vermutlich astrologisch -chronologischer Natur.
Die Astronomen, welche, wie wir uns erinnern, alle diese Gegen-
stände in eingeschalteten Kapiteln ihrer Astronomien zu behandeln
pflegten, haben wenigstens, je weiter wir im Datum zurückgehen
können, um so ausschließlicher die Zerstaubungsrechnung auf um-
gekehrte Kalenderaufgaben angewandt, auf die Frage, wann gewisse
Konstellationen am Himmel eintreten, wann also bedeutungsvolle
Übereinstimmung verschiedener Zyklen erreicht wird? Das sind, wie
man leicht einsieht, Fragen, bei denen es darauf ankommt, aus ge-
gebenen Besten, welche eine unbekannte ganze Zahl bei Division
durch bekannte ganze Zahlen gibt, jene Zahl selbst zu erkennen.
Ist aber diese ganze Klasse von Aufgaben indisch? Wir können
die Frage weder bejahen noch verneinen. Zu beidem fehlt die nötige
Reichhaltigkeit gesicherter altertümlicher Quellen. Wir können nur
darauf hinweisen, daß die Beantwortung dieser Frage nicht früher
wird gegeben werden können, als bis man entschieden haben wird,
ob die altindische Sternkunde lange bevor griechische Einflüsse sich
geltend machen konnten landesursprünglich oder fremden Ursprunges,
ob' sie, wenn letzteres der Wahrheit entsprechen sollte, chinesischer
oder babylonischer Herkunft war. Wir fühlen uns nicht befugt in
dieser hochwichtigen Streitfrage das ürteilsrecht uns anzumaßen.
Nur auf einige wenige Punkte sei aufmerksam gemacht, die unter
den Entscheidungsgründen keinenfalls fehlen dürfen. Fehlen darf nicht
die Berücksichtigung der Sexagesimalbrüche, welche mit Wahr-
scheinlichkeit unmittelbar aus Babylon nach Indien herüberkamen
(S. 613). Verschwiegen darf nicht werden, daß astrologische Deu-
tungen, daß Amulette und Talismane gerade in Babylon zu Hause
waren, daß andererseits Zahlenspielereien den Babylon iem ebenso an-
gehörten. Und dieser letzte Gedanke wird auch nicht in den Hinter-
grund gedrangt werden dürfen, wenn wir anknüpfend an diese Be-
merkungen jetzt noch einige Worte über eine Spielerei zu sagen ge-
denken, welcher immerhin einiger mathematische Wert innewohnt.
^) Mit dieser Frage hat sich Hankel S. 197 beschäftigt, wenn auch nicht
unter Ziehung aller Folgerungen, die sich ergeben können.
Geometrie und Trigonometrie. 635
Wir meinen die magischen Quadrate, bhadra ganita. Über
diesen Gegenstand^) schrieb Närajana, ein von Oane^a zitierter
Schriftsteller; Grane^a selbst yerfaßte 1545 seinen Kommentar zu
Bhäskara. Das sind freilich recht späte Daten, aus welchen auch
nur Vermutungen auf eine ältere Zeit sich nicht stützen lassen.
Solchen liegt nur die Tatsache zugrunde, daß in Indien das Schach-
spiel erfunden worden ist^), während die Zerlegung in schachbrett-
artige Felder der Bildung magischer Quadrate, deren Wesen wir
(S. 515) erörtert haben, notwendig vorausgehen mußte. Die einzige
ausführliche Mitteilung ist um anderthalb Jahrhunderte jünger als
selbst Ganefa. Sie findet sich in einem 1691 gedruckten Berichte
über das Königreich Siam'). Allerdings ist sie in ihrer Ausführlich-
keit von großer Zuverlässigkeit, indem sie die Methode kennen lehrt,
nach welcher die Inder ein magisches Quadrat von ungerader Felder-
zahl anzufertigen wußten. Daß sie auch mimische Quadrate von ge-
rader Zellenzahl zu bilden verstanden, behauptet Laloub^re, der Ver-
fasser jenes Reiseberichtes, ebenfalls, gibt aber die betreffende Methode
nicht an^). Bei der mathematisch nicht gar hoch anzuschlagenden
Tragweite des Gegenstandes verzichten wir, wie schon früher, auf
nähere Darlegung.
30. Kapitel.
Geometrie nnd Trigonometrie.
Als Quellen für indische Geometrie dienen nicht bloß die wieder-
holt von uns benutzten Zwischenkapitel der astronomischen Schriften
des Aryabhatta, des Brahmagupta und Bhäskara, sondern auch Schriften
von geometrisch -theologischem Charakter, wie sie, abgesehen von
einigen ägyptischen Inschriften, in keiner Literatur sich wiederfinden.
Wir meinen die ^^l^asütras. Der indische Gottesdienst, peinlich
genauen Vorschriften folgend, kann der geometrischen Regeln nicht
entbehren. Wenn der Altar nicht genau in der anbefohlenen Gestalt
erbaut ist, wenn eine Kante nicht rechtwinklig zur anderen steht,
wenn in der Orientierung nach den Himmelsgegenden ein Fehler statt-
fand, so nimmt die Gottheit das ihr dargebrachte Opfer nicht an,
ein dem Inder schrecklicher Gedanke, da für ihn jedes Opfer ein
^) Colebrooke pag. 113, Note *. *) Lassen, Indische Alterthumskunde
IV, 906. Bonn 1862. ») La Lonbfere, Du royaume de Siam, Tom. 11, pag. 237,
266 sqq., 273. Amsterdam 1691. ^ S. Günther, Vermischte Untersuchungen
z. Geschichte d. mathemat. Wissenschafben Kap. IV, S. 188 — 191. Leipzig 1876.
636 30. Kapitel
förmlicher Vertr^ mit der betreffenden Gottheit, eine Art von
Tauschgeschäft ist, und er somit auf Erfüllung seines bei dem Opfer
gehegten Wunsches sich nicht die geringste Rechnung machen kann,
sofern seine Gabe verschmäht würde. Die rituellen Vorschriften,
soweit sie auf die Opfer überhaupt sich beziehen, sind in den soge-
nannten Ealpasütras enthalten, und zu jedem Elalpasütra scheint als
Unterabteilung ein ^^^^^^^ gehört zu haben, welches eben jene
geometrischen Vorschriften lehrte, imd deren zwei in auszugs weiser,
eines in vollständiger Übersetzung zugänglich gemacht sind^).
Die Verfasser derselben heißen Baudhäyana, Apastamba und
Eätyäyana. Leider ist deren Lebenszeit noch ziemlich im Dunkein.
Es scheint zwar, daß die Reihenfolge, in welcher wir sie nannten,
der Zeitfolge ihres Lebens entspricht, aber ob z. B. Baudhäyana zwei
Jahrhunderte früher als Apastamba zu setzen ist, ob die Zeit-
bestimmung des IV. oder V. S. v. Chr. auf Apastamba zu deuten
ist oder auf die Niederschrift des ältesten ^ulvasütra, darüber suchen
wir vergebens nach einer unzweideutig ausgesprochenen Meinung.
Nur einer bestimmten Behauptung^) begegnen wir: daß der Satz
vom Quadrate der Hypotenuse spätestens im VIII. S. vor Chr.
in Indien bekannt gewesen sein müsse, eine Behauptung, welche die-
jenigen zu vertreten haben, die sich berufsmäßig mit indischer Sprache
und Geschichte beschäftigen , und welche wir zum Ausgangspunkte
unserer weiteren Untersuchungen machen müssen.
Unter den auf die Errichtung von Altären bezüglichen Aufgaben
handelt es sich, wie wir schon andeuteten, zunächst um deren Orien-
tierung und deren genau rechtwinklige Herstellung. Die ostwestliche
Linie, welche dabei abgesteckt werden muß*), führt den Namen
präct, und wir haben (S. 599) schon berührt, daß deren Richtung
im Sürya Siddhänta^) genau nach der Methode gefanden wird, welche
wohl aus griechischer Quelle zu Vitruvius imd zu den römischen
*) The Siulvasüiras by G. Thibaut BeprinUd from the Journal of the
Äsiatic Society of Bengal, Part I for 1875. Calcutta 1876. Außer auf diese
(als Thibaut zu zitierende Schrift) verweisen wir auf unsere daran anknüpfende
Abhandlung: Gräkoindische Studien, Zeitschr. Math. Phys. XXII, Histor.-literar.
Abteilung (1877). Femer vgl. L. v. Schroeder, Pythagoras und die Inder
(Leipzig 1884), Albert Bürk, Das Apastamba — Sulba — Sütra herausgegeben^
übersetzt und mit einer Einleitung versehen. Zeitschr. d. Deutsch. Morgenl.
Gesellsch. LV, 548—591 (Einleitung und Urtext) und LVI, 327—391 (deutsche
Übersetzung 1901), unsere Abhandlung: Über die älteste indische Mathematik.
Archiv d. Math. u. Phys. 3. Reihe, VIII, 68—72 (1904), Zeuthen, TlUorhme de
Pythagore, Comptes Bendus du II. Congrks intemat de Philosophie ä Genhve,
Septemhre 1904, pag. 833—854 (1905). H. Vogt, Biblioth. Maihem. 3. Folge YII,
6—28(1906). «)Bürkl.c.LV,ö56. ») Thibaut S. 9— 10. *) Sürya Siddh&ntaS. 239.
Geometrie und Trigonometrie. 637
Feldmessern gelangte. Selbstverständlich ist diese späte Angabe ohne
jede überzeugende Kraft für die Zeit der ersten Vorschriften zur
Herstellung richtig orientierter Altäre. Wie damals die Praci abge^
steckt wurde ist uns unbekannt Die ^^Ivasütras schweigen darüber.
Ist die Praci gefunden, so werden rechte Winkel abgesteckt, und
zwar mit Hilfe eines Seiles. Die Länge dieser ostwestlich gezogenen
Strecke sei 36 Padas. An ihren beiden Endpunkten wird je ein
Pflock in den Boden eingeschlagen^). An diese Pflöcke befestigt man
die Enden eines Seiles von 54 Padas Länge, in welches zuvor,
15 Padas von einem Ende entfernt, ein Knoten geschlungen wurde.
Spannt man nun (Fig. 82) das Seil auf
dem Erdboden, indem man den Knoten
festhält, so entsteht ein rechter Winkel
am Ende der Praci. Daß das Verfahren
richtig ist, und auf dem rechtwinkligen
Dreiecke von den Seiten 15, 36, 39, y. g,
oder in kleinsten Zahlen ausgedrückt
5, 12, 13 beruht, ist einleuchtend. Einleuchtend ist aber auch,
daß es in der Kenntnis des pythagoräischen Lehrsatzes wurzelt, daß
es die Seilspannung genau in der gleichen Weise anwendet, wie Heron
dieselbe benutzte (S. 384 Fig. 64), wie wahrscheinlich die altägyptischen
Harpedonapten bei Lösimg der gleichen Aufgaben verfuhren (S. 106).
Nächst der richtigen Orientierung und Scharfkantigkeit des Altars
hat seine Gestalt eine hohe Wichtigkeit. Sie hat allerdii^ im Laufe
der Zeiten gewechselt. Formen annehmend, welche für jeden nicht-
indischen Oeist an das Lächerliche streifen. Welcher Europäer kann
sich hineindenken, einen Altar in der Figur eines Falken oder irgend
eines anderen Vogels, eines Wagenrades usw. zu errichten? Dabei
treten jedoch zwei mathematische Gesetze auf'), jedes eine besondere
Gruppe von Aufgaben erzeugend.
Wird ein Altar von gegebener Gestalt vergrößert, so muß die
Gestalt selbst in allen ihren Verhältnissen dieselbe bleiben. Man
muß also erstens verstehen eine geometrische Figur zu bilden,
einer gegebenen ähnlich und zu derselben in gegebenem Größen-
Verhältnisse stehend.
Die Fläche des Altars von normaler Größe ist femer ohne Bück-
sicht auf seine Gestalt stets dieselbe. Man muß also zweitens ver-
stehen eine geometrische Figur in eine andere ihr flächengleiche zu
verwandeln.
>) Albr. Weber, Indische Studien X, 864 und Xm, 288 flgg. und Apa-
stamba Kap. I, 82, vgl. Bürk 1. c. LVI, 327. «) Thibaut S. 5.
638 80. Kapitel.
Gleich das erste Gesetz mahnt uns mit Entschiedenheit an die
Würfelgestalt, welche das Grabmal für Glaukos besitzen sollte, wäh-
rend es auf Geheiß des Königs Minos in doppelter Größe aufzuführen
war (S. 211). Euripides hat, wie wir uns erinnern, das vielleicht
sagenhafte Geheiß in einer Tragödie verwertet, und Euripides lebte
485 — 406, mehr als 70 Jahre bevor der Alexanderzug geregeltere
indisch -griechische Beziehungen hervorrief. Wir fügen hinzu, daß
eine indische astronomische Handschrift den Ursprung ihrer Wissen-
schaft nicht bloß auf einen ionischen Meister Yavanejvaracärya zu-
rückführt (S. 600), sondern neben diesem eine Persönlichkeit des
Namens Minaräja anführt^) ein Name, der täuschend an den EöDig
Minos zu erinnern geeignet ist.
Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings zwischen der
Aufgabe, welche König Minos seinem Architekten stellte, und der
Aufgabe, welche bei der Inhaltsveränderung indischer Altare vor-
kommt. Jener sollte den Kubikraum verdoppeln, hier kommt es nur
auf die Oberfläche an, soweit die ^^^^^^^^ ^^^ Auskunft geben.
Es galt also nur eine Vervielfachung einer ebenen Figur zu voll-
ziehen, oder mit anderen Worten eine Quadratwurzel zu finden, was
bei Griechen wie bei Indem ebensowohl geometrisch als arithmetisch
geschah. Die Würfelvervielfältigung hätten die Inder arithmetisch
gleichfalls vollziehen können, da, wie wir gesehen haben, Aryabhatta
Kubikwurzeln auszuziehen wußte; geometrisch dagegen überstieg diese
Aufgabe indische Kräfte bei weitem, indem die Kurven, mittels welcher
die Würfelvervielfachung geleistet werden kann, die Kegelschnitte, die
Konchoide und wie sie alle heißen, den Indem durchaus unbekannt
geblieben zu sein scheinen.
Für die geometrische Ausziehung der Quadratwurzel gibt Baudh-
äjana folgende Regeln^): Das Seil, quer über das gleichseitige Recht*
eck gespannt, bringt ein Quadrat von doppelter Fläche hervor. Das
Seil, quer über ein längliches Rechteck gespannt, bringt beide Flächen
hervor, welche die Seile längs der größeren und kleineren Seite ge-
spannt hervorbringen. Diesen zweiten Fall erkenne man an den
Rechtecken, deren Seiten aus 3 und 4, aus 12 und 5, aus 15 und 8,
aus 7 und 24, aus 12 und 35, aus 15 und 36 Längeneinheiten be-
stehen.
Das ist nun offenbar der pythagoräische Lehrsatz, erläutert an
Zahlenbeispielen. Das zuletzt genannte Dreieck mit den Katheten 15
und 36 ist vorher schon einmal in den kleineren Zahlen 12 und 5
^) BrockbauB in den Verhandlungen der königl. sächs. Gesellschaft der
Wissenschaften zu Leipzig. Philolog.-histor. Klasse IV, 18—19 (18ö2). '; Thi-
baut S. 7, 8, 9. Bürk LVI, 340—841.
Geometrie und Trigonometde. 639
genannt, offenbar ohne daß Baudhäyana dieser Wiederholung sich
bewnßt war, ein Zeugnis dafür, daß er den Gegenstand seiner Dar-
stellung nicht durchaus beherrschte, sondern mindestens teilweise Her-
gebrachtes vortrug, welches er nicht yerstand. Der pjthagoräische
Lehrsatz ist aber nicht als einheitlicher Satz vorgetragen, sondern in
zwei ünterfallen, je nachdem die beiden Katheten gleicher Länge sind
oder nicht Es ist wahrscheinlich (S. 185), daß Pythagoras bei dem
Beweise seines Satzes ebenso verfuhr.
Die Anwendung dieser Sätze in den Qulvasütras ist der doppelten
Gattung von Aufgaben entsprechend, welche bei Herstellung eines
Altars sich darbieten, eine doppelte. Es kann eine Strecke verändert
werden sollen, so daß ihr Quadrat sich im Verhältnisse 1 : n ver-
größert, es kann auch eine Figur in eine andere gleichen Inhaltes
umgewandelt werden sollen. Die Auffindung der Seite eines 2, 3,
10, 40 mal so großen Quadrates, als ein gegebenes ist, geschieht
durch allmähliche, sich wiederholende Anwendung des pjthagoräischen
Lehrsatzes, indem von dem gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecke
ausgegangen und die Hypotenuse eines Dreiecks immer als die eine
Kathete eines folgenden Dreiecks benutzt wird, dessen andere Kathete
der des zuerst betrachteten Dreiecks gleich ist. Dabei erscheinen
Namen für )/2, yS usw., gebildet durch Zusammensetzung der
Zahlwörter mit dem von uns früher (S. 621) erörterten Worte
Jcarana^\ also dvikaram^y2, tril'orani ^YS, dagaJcaram ^ YlÖ ^
catvarin^atJcarani == y4iO usw.
Bei den Verwandlungen von Figuren ineinander ist die Auf-
findung des einem Rechtecke gleichen Quadrates^ sehr interessant,
weil sie nur des pythagoräischen Lehrsatzes sich bedient, dagegen
von Anwendung des Hilfsmittels, welches im 14. Satze
des U. Buches der euklidischen Elemente geboten
ist, d. h. von der Fällung einer Senkrechten aus
einem Punkte einer Kreisperipherie auf den Durch- ^[ |^ ^
messer, absieht (Fig. 83). Von dem Rechtecke
äBCD wird zunächst vermittels ÄE ^ AD ein
Quadrat ADFE abgeschnitten. Der Rest EFCB
wird durch GH halbiert und die obere Hälfte
GHCB unten rechts als DFIK angesetzt. So ist ^ ^
ABÜD in einen Gnomon AGEFIKA verwandelt, ^* ^'•
oder, wie Baudhäyana sagt, der des Wortes Gnomon sich so wenig
bedient wie Bhäskara, bei welchem wir (S. 631J die gleiche Figur
C
F
') Thibaut S. 16. *) Ebenda S. 19. Apastamba Kap. II, § 7, vgl.
Bürk LVI, 833.
640 80. Kapitel.
nachwiesen^ in den Unterschied der beiden Quadrate AKLG und
FILH, und dieser Unterschied ist mit Hilfe des pythagowlischen
Lehrsatzes leicht in die Gestalt eines Quadrates zu bringen.
Die Quadratwurzelausziehung, welche geometrisch genau erfolgt,
muß arithmetisch sich mit einer Annäherung begnügen, und zwar
wird, wenn die Quadratwurzel zum Zwecke praktischer Ausmessungen
gezogen worden ist, eine solche Annäherung genügen, welche auf
dem Felde keinen bemerklichen Unterschied gegen die strenge Wahr-
heit mehr hervorbringt. So benutzten Baudhäyana und Apastamba
y2 «= 1 + - + ö — j — Q j, oÄ • Erinnern *wir uns hier an die bei
Theon Ton Smyma (S. 436) angegebenen Näherungswerte für ^2.
13 7 17 — ^^
Sie heißen der Reihe nach , y> ~k' 12' ^^^ dieser letztere Wert
kommt uns hier in der Form 1 + o + z — 7 ^^^ durch eine Summe
o 9*4
Ton Stammbrüchen dargestellt wieder zu Gesicht. Wir sagten damals,
er habe auf außergriechischem Boden eine Rolle gespielt, und wir
erkennen diese Rolle nunmehr darin, daß er Veranlassung gab, eine
Yon ihm als Voraussetzung ausgehende größere Annäherung zu er-
(17\^ 1 17
12) "^ ^üi ^^^ nämlich erkennen, daß r-
zu groß ist. Soll aber das Quadrat um — kleiner werden, so muß
1 17
~ das doppelte Produkt des gefundenen Teiles .^ der Quadrat-
wurzel aus 2 in die negative Er^nzung sein, falls man von dem
Quadrate jener Ergänzung absehen zu können glaubt, und nun ist -rjT
17 1
geteilt durch 2 mal — nichts anderes als ^r~öÄ} welches Baudh-
äyana wirklich abzieht, so daß hiermit die Entstehung des Wertes
]/2 « 1 + 3+3^-37^34 hinlänglich erklärt sein dürfte^).
Arithmetisch und zugleich geometrisch interessant sind die Auf-
lösungsversuche der Qulvasütras für die Aufgabe, Flächengleichheit
zwischen quadratischen und kreisrunden Figuren hervorzubringen*),
eine Aufgabe^ die noch mehr als andere geeignet erscheint, geschicht-
liche Zusammenhänge nachweisen zu lassen, weil eben hier vermöge
der Natur der Aufgabe von vornherein auf volle Genauigkeit ver-
zichtet werden muß, und bei bloßen Annäherungen — mögen die Er-
^) Dem Gmndgedanken nach stimmt diese Darstellung ziemlich genau
mit der von Thibaut zuerst versuchten Wiederherstellung überein. Thibaut
S. 13—16. «) Ebenda S. 26—28.
Geometrie und Trigonometrie.
641
Fig. 84.
finder sie als Annäherangen oder als genau richtige Werte betrachtet
haben — eine Notwendigkeit gerade dieses oder jenes bestimmte Er-
gebnis zu erhalten nicht Torhanden ist. In den ^^vas^tras ist eben-
sowohl die Quadratur des Kreises gelehrt als auch unmittelbar vorher
umgekehrt die Aufgabe gestellt, ein gegebenes Quadrat in einen Kreis
zu verwandeln, eine Aufgabe, welche
man füglich Zirkulatur des Qua-
drates wird nennen können. Die Lösung
ist folgende^) (Fig. 84). Die Diagonalen
AC, BD des Quadrates AB CD werden
gezogen und durch ihren Durchschnitts-
punkt E die Gerade KI parallel zu
den Seiten AD und BC des Quadrates.
Von E als Mittelpunkt aus wird mit der
halben Diagonale EA als Halbmesser
ein Bogen beschrieben, der die über I
hinaus verlängerte KI in F schneidet.
Nun wird das Stück IF in G und H
in )irei gleiche Teile zerlegt und EH als Halbmesser des gesuchten
Kreises betrachtet. Es lohnt sich zuzusehen, ob es nicht möglich
wäre, diese Konstruktion in ein Rechnungsresultat umzusetzen.
Wir gehen davon aus, daß, indem FI in drei gleiche Teile zer-
legt wird, dadurch die Wahrscheinlichkeit entsteht, es sei FI^^
angenommen worden, oder es sei EA = EI -f- 3 gesetzt, d. h.
JB/.y2 = i;i + 3 und daraus EP-QEI=Q, iJ/ = 3 -f- )/l8.
Das ist annähernd EI = 7 und EA « 10 oder l/2 =■ ^ , ein in
der Tat gar nicht übler Wert, wenn es auch noch nicht gelungen
ist, ihn bei irgend einer anderen Gelegenheit, sei es bei Indem, sei
es bei Griechen, nachweisen oder auch nur mutmaßen zu können.
Ist aber diese Meinung richtig, dann ist die Seite des Quadrates 14,
seine Diagonale 20, der Durchmesser des gleichfiächigen Kreises 16,
und die Kreisfläche demnach 14* = (16 — 2)* =» (16 — -A . Darin
ist aber eine doppelte Regel enthalten. Erstens: Die Zirkulatur
Q
des Quadrates benutzt als EJreisdurchmesser .^ der Diagonale des
Quadrates*). Zweitens: Die Quadratur des EJreises benutzt als
7
Quadratseite —
o
des Kreisdurchmessers. Freilich stehen diese aus der
*) Thibant S. 26—28. Apastamba Kap. III, § 2 und 8 vgl. Bürk
LVI, 335. ') Genau diese Regel wird uns bei Alb recht Dürer wieder be-
gegnen.
Caxtob, Geschichte der Mathematik I. S. Aufl 41
642 90. Kapitel
Zirkulatur des Quadrates hergeleiteten Werte, wie wir uns sehr bald
überzeugen werden, nicht im Einklang mit dem, was bezüglich der
Quadratur des Kreises gelehrt wird, doch zunächst verweilen wir noch
einen Augenblick bei unseren gegenwärtigen Folgerungen. Deren erste
8 2
heißt zur Ausrechnung von st benutzt: ^^ ^ ^q Diagonale, ^ = -r
Diagonale, r* « - v Diagonalenquadrat « - Quadrat, Quadrat ^ -g^'
mithin :r= 3^-. Die zweite heißt: Kreis "^ (-0^) ™(tw '^ie'^'
mithin ^r^S^g, also im Widerspruch zu der eben gezogenen ersten
Folgerung, ein Widerspruch, der darauf beruht, daß wir bei unserer
Rechnung vermeiden konnten, mit dem nur mlherungsweise bekannten
y2 uns abfinden zu müssen.
Wir erinnern daran, daß schon das altägyptische Handbuch des
Ahm es eine ähnliche Vorschrift, allerdings, was man gewiß nicht
außer Augen lassen darf, mit anderen Zahlen enthält, indem dort
8
als Seite des dem Kreise flächengleichen Quadrates — des Kreisdurch*
messers gilt. Wir erinnern uns um so mehr daran, als der Versuch
nahe liegt durch andere Annahme des Näherungswertes für )/2 die
indische Konstruktion mit der ägyptischen Zahl in Einklang zu
bringen. Diese Übereinstimmung läßt sich aber nur mittels
y2 « Y erzielen, eine uns sehr unwahrscheinliche Annahme. Unsere
Hypothese, die Quadratseite sei bei den Indern -^ ^^ Kreisdurch-
messers gewesen, gewinnt aber selbst eine Bestätigung in einer arith-
metischen Kreisquadratur, welche Baudhäyana lehrt, allerdings mit
der Zahl -g- sich nicht begnügend, sondern ihr eine Korrektur bei-
fügend.
Baudhäyana schreibt nämlich vor, den Kreisdurchmesser mit
y + 8729^^^:6 + 8-2^:^ ^u vervielfachen, um die Seite des
dem Kreise gleichflächigen Quadrates zu erhalten. Die Korrektur
8^29 ""8. 29 -6 + 8. 29 -68 ^**°^™* daher, daß Baudhäyana offenbar
nicht von i/2«y==1-|-— + «tj + 3 . „ seinen Ausgangspunkt
zur Umsetzung der Konstruktion in eine Formel nahm, sondern von
dem oben erörterten Werte VS « 1 + y + ^^ - — ^^^-g = ^^^ •
Es war EÄ^EI'Y2, FI^EI (y2^1), HI ^ EI -^^7'^,
Geometrie und Trigonometrie. 643
EH^EI+IH==EI'^^, EI^—^' EH, und für die
doppelten Strecken d. h. Qnadratseite und Ereisdurcfamesser gilt der-
selbe Zahlenfaktor — . Mit Hilfe von 1/2 = -^^ ffeht derselbe
aber über in
1224 7.1 ^ 4. ^ *^
I (
1393 8 '^829 8- 29- 6^8- 29 -6. 8 8- 29 -6. 8- 1398 '
dessen letzter Teil als nahezu - des ihm vorangehenden selbst schon
sehr kleinen Bruches vernachlässigt ist^).
Eine andere Zahlenregel für die Quadratur des Kreises findet
sich übereinstimmend bei Baudhäyana, Apastamba und Eätyäjana:
^yTeile [den Durchmesser] in 15 Teile und nimm 2 weg, das [was
übrig bleibt] ist ungefähr die Seite des Quadrates''^ oder mit Apastamba
zu reden „ist genau die Seite des Quadrates^'. Setzen wir diese Vor-
schrift in Zahlen um. Sei wieder d der Ereisdurchmesser, r der
Kreishalbraesser, so ist i^dj = (j^n ^^226^* ^^® Quadratur deg
Kreises. Darin liegt die Annahme tc = 3-—, welche nahezu mit tu = 3
übereinstimmt und genau damit übereinstimmen würde, wenn — « "j/S
gesetzt werden müßte. Beide hier hervorgehobenen Werte sind uns
aber keineswegs unbekannt. l/3 » - ist uns auf griechischem und
auf römischem Boden begegnet, tt = 3 ist in Indien selbst aus sehr
altertümlichen Schriften bestätigt worden*), gehört überdies allen von
uns der Besprechung unterzogenen Kulturstätten an mit Ausnahme
des alten Ägypten, wo wir ihm nicht begegnet sind. Wir haben
wahrscheinlich zu machen gesucht, n ^ 3 habe ursprünglich den
Babyloniem angehört.
Mit diesen Werten haben wir eine neue Frage angeschnitten, die
Frage nach dem Ursprünge der in den ^^^^^^^^^tis aufbewahrten
ältesten indischen Geometrie. Die Meinimg, welche wir selbst ehedem
für die wahrscheinlichste hielten, Heronisches sei seit dem ersten vor-
christlichen Jahrhunderte den oftbetretenen Pfaden des Handels-
verkehrs folgend von Alexandria aus nach Indien vorgedrungen, ist
natürlich von dem Augenblicke an unhaltbar geworden, in welchem
das einstimmige Urteil der Indologen den ^^^^^''^^^ ^^^ ^^
^) Der Gedanke, die Eonstruktionsregel mit der Zahlenformel in Einklang
zu bringen, rührt von Thibant her. *) Thibant, On the S'uryaprajtlapti.
Journal of the Asiatic Society of Bengale Vol. XLIX, Part. I, pag. 120 Note •
(1880).
41*
644 30. Kapitel.
hohes Alter beilegte als wir (S. 636) berichtet haben. Nicht halt-
barer scheint nns, beiläufig bemerkt, die Meinung Pythagoras sei
Schüler altindischer Weisheit, und insbesondere der Satz Tom Quadrate
der Hypotenuse, die Lehre von den rationalen rechtwinkligen Drei-
ecken, die Lehre vom Irrationalen usw. sei ihm aus Indien bekannt
geworden. Es ist wahr, daß manche Bestandteile der pythagoraischen
Lehren, die Seelenwanderung, das Verbot des Bohnenessens, sich nach
der Aussage von Indologen leicht aus indischen, schwer oder gar
nicht aus ägyptischen Einflüssen erklären lassen. Es ist nicht minder
wahr, daß ein Bericht^) über die Wanderungen des Pythagoras zu
erzählen weiß, er habe von den Brahmanen gelernt, ein Bericht,
welchen wir im 6. Kapitel gleich demjenigen, der Pythagoras zu den
Galliem führte (S. 176) vernachlässigten, weil wir seiner zum Nach-
weis eines einheitlichen Ursprunges des mathematischen Wissens des
Pythagoras — und zu einem Urteile über seine sonstigen Lehren
fehlt uns jede persönliche Berechtigung — nicht bedurften noch be-
dürfen. Der Aufenthalt des Pythagoras in Ägypten kann keinem
Zweifel unterworfen sein, und er genügt, um die Entstehung der
pythagoraischen Mathematik zu verstehen, deren Grundbestandteile
(wir erinnern nur an das Dreieck aus den Seiten 3, 4, 5) sich in
Ägypten um viele Jahrhunderte früher nachweisen lassen als die Zeit
ist, welche als weitest entlegene Ursprungszeit der in den ^^l^^ütras
vorgetragenen Lehren in Anspruch genommen wird. Aber verhalte
es sich mit dem indischen Einflüsse auf Pythagoras wie es wolle, so
lohnt es sich an und für sich über die Kenntnisse der ^ulvasütras
von rationalen rechtwinkligen Dreiecken zu berichten.
Äpastamba sagt^): „Es folgt nun eine allgemeine Regel für die
Vergrößerung eines gegebenen Quadrates. Man fügt das, welches
man mit der jedesmaligen Verlängerung umzieht, an zwei Seiten hinzu
und an der Ecke das Quadrat, welches durch die betreffende Ver-
längerung hervorgebracht wird". Unter Beiziehung von späten Kom-
mentaren ist es gelungen, die an und für sich recht dunkle Vorschrift
zu verstehen. Sie will ein Quadrat a* zu einem größeren Quadrate
(a -|- by werden lassen, indem man an zwei aneinanderstoßenden
Quadratseiten je ein Rechteck ab und an der Ecke das Quadrat b*
hinzufügt, wieder ein Gnomon, wie es (S. 639 Fig. 83) schon aufge-
treten war.
Es ist nun ganz richtig, daß, wenn 2ab + b^ ^^ c^ eine Quadrat-
zahl ist, die Gleichung a* -|- c* = (a + 6)* entsteht und zur AuJ^dung
^) Alexander Polyhistor in seiner Schrift über die Pythagoraeischen
Symbole. Vgl. L. v. Schroeder, Pythagoras und die Inder S. 24 Note 1.
«) Äpastamba Kap. III, 39. Bürk LVI, 336.
Geometrie nnd Trigonometxie. 645
der Seiten eines rationalen rechtwinkligen Dreiecks führen kann. Man
könnte mit modernem Denken aas 2oft + 6*= c* zu a « — -. ge-
langen, von da zn (— J^ ) +c*=^y ^bJ ' ^^^^ ^^ dachten, so
rechneten weder die uralten Inder noch Pythagoras, wenn auch von
dem letzteren ebenso wie von Plato Formeln für ganzzahlige recht-
winklige Dreiecke berichtet werden, die uns (S. 186 und 224) be-
kannt geworden sind, und an die wir noch in diesem S^pitel zu er-
innern haben werden.
Aber wenn man sogar, was wir nicht mittun, zugibt, Pythagoras
sei Schüler der Inder, wessen Schüler waren die Inder? Haben sie
alles selbst erdacht? Wir hegen daran den größten Zweifel. Er-
innern wir uns, wie vieles an Babylon mahnt! Babylon als mutmaB-
liche Heimat der Null, als mutmaßliche Heimat der Quadrat- und
Kubikwurzeln aus Zahlen, welche zwischen ganzen Quadrat- und
Kubikzahlen liegen, als bekannt mit dem zu Messungszwecken be-
nutzten Seil tim, als Ort, an welchem der längste Tag die Dauer
wirklich besaß, welche die Inder ihm zuschrieben, als wahrscheinliche
Heimat von ;r =^ 3, das alles drängt dazu mit doppelter Wachsam-
keit auf künftige Entdeckungen zu warten, welche das Zweistromland
uns noch bieten kann. Einige Punkte möchten wir überdies noch
hervortreten lassen. Qulva bedeutet Seil, kommt aber in den (^ul-
vasütras nicht vor. Dort ist für das Seil ein anderes Wort im Ge-
brauch rajju^ gleichsam als wenn in einer Seilvorschrift nur von
einem Strick die Rede wäre. Das mutet fast an, als wenn Titel und
Text nicht gleichzeitig entstanden wären, als wenn der Text eine
spätere Umarbeitung erlitten hätte. Femer kommen in den Vor-
schriften für rechnerische Ausziehung von y2 und für die Kreis-
quadratur Stammbrüche vor, wie sie in anderen indischen Schriften
allerdings wesentlich jüngeren Ursprunges uns nicht bekannt ge-
worden sind. Endlich zeugt die spätere indische Geometrie, mit Aus-
nahme der Trigonometrie, keineswegs für besondere geometrische Be-
gabung.
Sehen wir uns doch Aryabhattas geometrisches Wissen an. Der
Körper mit sechs Kanten, d. h. die dreieckige Pyramide, ist bei ihm
das halbe Produkt aus der Grundfläche in die Höhe*). Wir vermuten
als Ursprung dieser grundfalschen Formel, der Verfasser habe das
arithmetische Mittel zwischen der Grundfläche und der als Nulldreieck
betrachteten Spitze als ein Mitteldreieck betrachtet, über welchem
ein Prisma gleicher Höhe mit der Pyramide gebildet den gewünschten
') L. Rodet, Leifons de calcul d'Aryahhata pag. 10 und 20.
646 30. Kapitel.
Eorperinhalt darstellte^ eine Anschauung, welche der ägyptischen
Dreiecksflächenberechnung ähnelt. Der Eugelinhalt ist bei ihm Pro-
dukt der Fläche des größten Kreises in die Quadratwurzel derselben^),
wieder ein Unsinn, welcher in der kaum halbgeometrischen Auffassung
wurzelt, der Würfel derselben Seite, welche als Quadrat die Kreis-
Säche darstellt, müsse den Inhalt der körperlichen gleichmäßigen
lElundung, das ist eben der Engel liefern. Daneben weiß aber
Aryabhatta, daß 62832:20000 das Verhältnis des Ereisumfanges
zum Durchmesser ist'), oder er kennt tt » 3,1416. Ist es denkbar,
daß derartige Anschauungen mit einem Näherungswerte, der den
archimedischen an Genauigkeit übertrifft, zugleich yorkommen "nind
sämtlich einheimisch sein sollen? Die Berechnung des Parallel-
trapezes wird gelehrt, dessen parallele Seiten genau so wie im Hand-
buche des Ahmes (S. 97) zur Rechten und Linken, nicht oben und
unten gezeichnet sind^), und unmittelbar anschließend wird in aller-
dings etwas dunklem von dem indischen Eommentator mißyerstan-
denem*) Wortlaute verlangt, jede auszumessende Figur der Ebene
solle in Trapeze zerlegt werden, ein Verfahren, welches Ahmes,
welches die Tempelpriester von Edfu übten (S. 110). Wir denken,
das sind wieder einige Bausteine zur Herstellung dessen, was von aus-
wärtiger Geometrie nach Indien gelangt war, Bausteine, deuen ihr
ürsprung deutlich anzusehen ist.
Wir kommen zur weit umfangreicheren Geometrie Brahmaguptas*).
Sie ist eine rechnende Geometrie, eine Sammlung von Vorschriften,
Raumgebilde zu berechnen wie bei Heron von Alexandria. Zu Anfang
heißt es, die Fläche des Dreiecks und Vierecks werde in rohem
Überschlag gewonnen als Produkt der Hälften von je zwei Gegen-
seiten. Das ist die alte ägyptisch-heronische Formel, ist zugleich die
Auffassung des Dreiecks als Viereck mit einer verschwundenen Seite
und geht nur in einer allerdings wesentlichen Beziehung weiter
darin, daß die üngenauigkeit des Verfahrens ausdrücklich betont
wird, welche Heron ohne allen Zweifel auch erkannte, aber in dem
uns erhaltenen Texte nicht hervorgehoben hat. Damit man ja an
dem Ursprung nicht zweifle, gibt der gleiche Paragraph die genaue
Fläche des Dreiecks aus den drei Seiten nach der heronischen Formel.
Als genau gilt auch die Formel für das Viereck, wenn von den Fak-
toren imter dem Wurzelzeichen jeder die um eine Seite verminderte
halbe Seitensumme darstellt, wenn also "[/(s — a) • (s — 6) • (s — c) • (5 — d)
*) L. Rodet, Legons de calcul d'Äryabhata pag. 10 und 20—21. •) Ebenda
pag. 11 und 28. ») Ebenda pag. 10 und 21. *) Ebenda pag. 22. *) Cole-
brooke pag. 296—818.
Geometrie and Trigonometrie, 647
gebildet wird, wo s = —- — 7"^ bedeutet und o, 6, c, d die Vier-
ecksseiten sind. Im folgenden Paragraphen lehrt Brahmagupta ans
den Seiten eines Dreiecks die Abschnitte finden, welche eine ge-
zogene Höhe auf der Gruudlinie bildet. Genau so lehrt Heron das-
selbe. Wir können unmöglich so fortfahrend alle einzelnen Para-
graphe der Reihe nach durchgehen. Wir begnügen uns mit einzelnen
Bemerkungen.
. Eine Bechtecksseite wird Seite, die andere Aufrechtstehende ge-
nannt, die Diagonale vollendet mit beiden ein rechtwinkliges Dreieck,
auf welches der pythagoräische Lehrsatz Anwendung findet; das ist
heronisch. Die obere Seite eines Vierecks wird ei» Scheitellinie mit
besonderem Namen belegt^); das ist wieder ägyptisch-heronisch. Der
Name selbst mukha oder vadana bedeutet Öflfhung, Mund. Der
Durchmesser des Umkreises eines Dreiecks ist der Quotient des Pro-
duktes zweier Seiten geteilt durch die auf der dritten Seite errichtete
Höhe; das stimmt wieder mit Heron ^. Die Figuren sind nicht an
den Ecken mit Buchstaben bezeichnet, sondern mit den die Längen
angebenden Zahlen an den Seiten selbst. Ahnliches finden wir zwar
nicht in Herons Vermessungslehre, aber in den sogenannten Hero-
nischen Sammlungen im Gegensatze zu allen anderen griechischen
Geometrien. Der Kreisdurchmesser beziehungsweise das Quadrat des
Halbmessers mit 3 yervielfacht sind für die Praxis Umfang und In-
halt des Kreises; die genauen Werte werden durch die Quadratwurzel
aus den 10 fachen zweiten Potenzen jener Zahlen gefunden *). Das
will sagen, in roher Weise ist ;r =» 3 und genau st =* YlÖ .
Den ersteren Wert haben wir oben (S. 643) besprochen. Der
zweite kommt uns hier zum ersten Male yor. Es ist der Versuch
gemacht worden, zu ermitteln, wie man auf diesen Näherungswert
gekommen sein mag^). Die Seite des regelmäßigen Sechsecks in
dem Kreise von dem Durchmesser 10 war von alters her als 5, der
ganze Umfang somit als 80 bekannt. Nun wird behauptet, der Um-
fang des demselben Kreise einbeschriebenen Zwölfecks sei als 1/905,
der des 24ecks als VOSl, der des 48-, des 96ecks als "/ÖSÖ, als
y987 gefunden worden, und so habe man sich veranlaßt gefühlt, die
Grenze ^1000 = 10 • yiO als nach unendlich oft wiederholter Ver-
doppelung der Seitenzahl erreichbar anzusehen. Diese Wiederher-
stellung wäre eine ungemein glückliche zu nennen, wenn es gelänge
ebenso, wie in den Kommentaren zu Brahmagupta an dieser Stelle
^) Colebrooke pag. 72, Note 4 und pag. 307, § 86. *) Ebenda pag. 229,
§ 27 =s Heron Liber Geopanicus cap. 6S (ed. Haltach) pag. 214. *) Ebenda
pag. 308, § 40. *) Hankel S. 216—217.
648 so. Kapitel.
der Kreisdurchmesser mehrfacli als 10 angenommen ist; auch jene
Wurzelgrößen, von denen behauptet wird, sie seien für die Umfange
der Vielecke von immer verdoppelter Seitenzahl gesetzt worden, in
indischen Schriften nachzuweisen. Solange aber dieses nicht ge-
schieht, bleibt jener Wert % = j^lO so rätselhaft wie er allen Ge-
schichtsforschern zu erscheinen pflegte, und wir teilen zur Bestäti-
gung dieser Behauptung noch drei Erklärungsversuche mit. Da ist
behauptet worden^), entsprechend dem Näherungswerte
j/ä* +"ft - o + 2^i sei yiO = 3| ,
bei Archimed aber sei ä =- 3— , und so sei n = |/iÖ zustande ge-
kommen. Das heißt doch: man ersetzte 3 - durch l/IÖ, einen ratio-
nalen Wert durch einen irrationalen, und das kommt in der ganzen
Geschichte der Mathematik nii^ends vor. Die zweite Erklärung*)
geht davon aus, daß Brahmagupta wußte*), daß der Pfeil Ä„, welcher
zwischen der Seite s^ und dem Kreisumfang sich befindet, durch
die Formel Ä^ = rd— Vd*— 5|1 gegeben ist. Im Sechsecke ins-
besondere ist
und hätte man das Recht, — als Näherungswort für l/3 anzunehmen,
so wäre '^e^^Tö- ^* f®"^®*" allgemein 5|„ == AJ -{- . 5j, so wäre
auch 5jg = Ä| + { 5| = -\^* und {I2s^;f = \OcP, Aber \2s^^ = u^^
ist der Umfang des Sehnenzwölfecks, und so hätte man erhalten
i^j = d]/lÖ, d. h. jr = yiO bedeutet, man habe den Kreis als mit
dem Sehnenzwölfeck zusammenfallend angesehen. Sehr sinnreich,
wenn nur l/3 =^ -^ irgendwo Beglaubigung fände. Die dritte Ver-
mutung ist folgende*). Bei Heron kommt der Näherungswert
]/54 » - vor. Da nun bei Archimed ä = - , so kann
3 22 8 /;r7 t/
486
49
*) L. Rodet, Sur les mÜhodea d'approximation chez les anciens in dem
Bulletin de la Societe maüiematique de France T. VE (1879). *) Hunrath, Über
das Ausziehen der Quadratwurzel bei Griechen und Indem. Hadersleben 1883,
S. 26. «) Colebrooke pag. 810, § 42. *) Briefliche Mitteilung von Max
Curtze.
Geometrie und Trigonometrie. 649
486
gesetzt worden sein und, weil - nur wenig von 10 abweicht, auch
n=^yiO. Diese Vermutung ähnelt in ihrem Grundgedanken der Er-
setzung eines rationalen Wertes durch eine Irrationalzahl der ersten
der drei hier geschilderten Vermutungen, dürfte also von der gleichen
Einwendung wie jene bedroht sein.
Heronisch ist es wieder, wenn unter Anwendung von Propor-
tionen Höhen mit Hilfe von Schattenlängen gemessen werden^). Von
Interesse ist uns dann noch die stereometrische Aufgabe, den Raum-
inhalt einer abgestumpften quadratischen Pyramide zu finden, für
welche Brahmagupta drei Lösungen angibt, eine für Praktiker, eine
für annähernde, eine für genaue Rechnung'). Der Praktiker begnüge
sich mit dem Produkte der Höhe in das Quadrat des Mittels zwischen
den Seiten an der unteren und oberen Fläche des Stumpfes. An-
nähernd richtig, fährt Brahmagupta fort, sei das Produkt der Höhe
in das Mittel der Grundflächen. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn
wir darin eine Bestätigung unserer oben ausgesprochenen Vermutung
über die Entstehung der falschen Formel für den Rauminhalt der
dreieckigen Pyramide bei Aryabhatta erkennen. Richtig sei, wenn
man den Inhalt des Praktikers um den dritten Teil des Unter-
schiedes der Inhalte des Praktikers und des annähernd Rechnenden
vergrößere. Dieser letzte Ausspruch ist vollkommen wahr. Heißen
a^ und a, die Seiten der beiden quadratischen Grundflächen und
ist h die Höhe des Pyramidenstumpfes, so ist richtig dessen In-
halt = h • ^* ' "' ^ »" ^g . Der Praktiker rechnet aber nach Brahma-
gupta h • (-- ~^ M ; annähernd richtig sei h - —-^—^ und nun ist
,, . f!+ A«». +«! = Ä . {^^y + 1 [h . ^+^^ - h . (^^Yl •
Wir sind oben mit sehr kurzen Worten über die Flächenformel
Brahmaguptas für das Viereck hinweggegangen, welche als beson-
deren Fall die heronische Dreiecksformel einschließt. Daß die Vier-
ecksformel als eine allgemeiue nicht gelten kann, ist ersichtlich.
Gleichwohl hat Brahmagupta in jenem ersten Paragraphen seiner
geometrischen Lehren in keiner Weise ausgesprochen, daß er der
Formel nur bedingte Zulässigkeit für gewisse Vierecke, caiura^ay
zuschreibe. Man hat in verschiedener Weise sich dieser Schwierig-
keit gegenüber einen Ausweg zu bahnen gesucht. Man hat ange-
nommen, Brahmagupta, ein hervorragend geometrischer Geist, habe
*) Colebrooke pag. 817. Section IX, Measure hy ahadow. *) Ebenda
pag. 312—318, § 46—46.
650 80. Kapitel
eigentlich nar vom SehnenTiereck reden wollen; anf dieses bezögen
sich auch einige andere Sätze^ deren wir hier Erwähnung zu tun
unterlassen, und Brahmagupta sei nur aus Kürze dunkel geblieben^).
Man hat im schroffen Gegensatze dazu und an dem Wortlaute der
Regel bei Brahmagupta festhaltend ihn beschuldigt, er habe die
Regel, die er an einem besonderen Vierecke entdeckt habe, wirklich
auf aUe bezogen^). Man hat dagegen wieder von anderer Seite in
Brahmaguptas Text alles finden wollen, was zum Verständnis nötig
sei. Im 26. Paragraphen lehre nämlich Brahmagupta die Berechnung
des Durchmessers des Umkreises, und darin liege ausgesprochen,
daß die gemeinten Vierecke einen Umkreis besäßen; im 38. Para-
graphen definiere er „die Aufgerichteten und die Seiten zweier recht-
winkliger Dreiecke wechselweise mit der Diagonale vervielfacht sind
vier unähnliche Seiten eines Trapezes; die größte ist die Grundlinie,
die kleinste die Scheitellinie, die beiden anderen sind die Seiten^, und
diese Definition, der man trotz ihrer Dunkelheit einen guten Sinn
abzugewinnen wußte, bilde einen zweiten Kern der ganzen Unter-
suchung, welche aber nur für Vierecke von den Gattungen stichhaltig
sei, wie sie hier näher bestimmt wurden^. Auch dieser Meinung
ist man entgegengetreten: Brahmagupta werde doch nicht in § 38
erst definieren, was er seit § 21 benutze; er werde den Gang seiner
Untersuchung doch nicht so eingerichtet haben, daß man besser
daran tue, sie von hinten nach vom als in der Folge zu lesen, wie
er sie niederschrieb; er werde doch endlich nicht als Formel für das
Tetragon, das Viereck also, aussprechen, was er vom Trapeze meinte;
und nach diesen freilich nicht ungewichtigen Einwürfen hat man ver-
sucht zu zeigen, wie Brahmagupta rechnend und durch Induktion von
der ihm bekannten Dreiecksformel aus zu der entsprechenden Vier-
ecksformel gelangte, deren bedingte Gültigkeit ihm nur nach und
nach klar wurde ^). Diese sehr verschiedenen Auffassungen können
uns nur bestimmen, die Dunkelheit des ganzen Kapitels bei Brahma-
gupta von § 21 bis § 38 als eine bisher noch nicht vollständig ver-
nichtete zu erklären. Wir glauben dabei noch immer an die Richtig-
keit einiger aus der Formel von § 26 und der Definition von § 38
gezogenen Schlüsse, möchten aber doch nicht so zuverlässig be-
haupten, jede Schwierigkeit sei damit verschwunden.
Wir meinen freilich, ein Teil der Schwierigkeiten sei durch un-
glückliche Übersetzung entstanden, welche das Wort Trapez anwandte,
*) Chaeles, Apergu hist. pag. 420 sqq., deutsch 466flgg. *) Arneth,
Gfescfaichte der reinen Mathematik 8. 146 ügg. (Stuttgart 1852). *) Hankel
3. 210—216. *) Weißenborn, Daa Trapez bei Euklid, Heron und Brahmagupta
in Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik U, 169-~184 (1879).
Geometrie nnd Trigonometrie. 651
wo es nach dem Sinne^ welchen man diesem Worte beizulegen ge*
wohnt ist, nicht angewandt werden durfte. Caturveda Prithüdakas-
yämin, ein Scholiast des Brahmagupta^ der selbst vor Bhäskara lebte,
der ihn anfährt^), gibt zu dem die Flächenformel enthaltenden § 21
eine wichtige zu wenig berücksichtigte Erläuterung*): Dreierlei Drei-
seite gebe es, fünferlei Vierecke und als neunte ebene Figur den
Kreis; die Dreiseite seien gleichseitig, gleich für zwei Seiten und
ungleichseitig; die Vierecke seien gleiche, paarweis gleiche, mit zweien
gleiche, mit dreien gleiche und ungleiche Vierecke. Man sieht wohl:
von Parallelismus, von Trapez und dergleichen ist dabei ausdrück-
lich wenigstens nicht die Bede, und wenn man die fünf (Gattungen
von Vierecken aus den Beispielen, die derselbe Prithüdakasyämin
beifügt, zu bestimmen sucht, so findet man, daß das gleiche Viereck
das Quadrat, das paarweise gleiche das Rechteck ist; daß unter dem
mit zweien gleichen und mit dreien gleichen gleichschenklige Parallel-
trapeze zu verstehen sind, deren kleinere Parallelseite in dem zweiten
Falle auch noch den beiden gleichen Schenkeln gleich sein soll. Die
fOnfte Gattung von Vierecken, nämlich die unter gewissen anderen
zu erfüllenden Bedingungen ungleichen Vierecke sind im § 38 definiert.
Nun sieht man, welche heillose Verwirrung entstehen mußte, sobald
man die Vierecke letzter Gattung Trapeze nannte, statt irgend ein
anderes Wort, z. B. unser ungleiches Viereck zu wählen. Man sieht
aber noch mehr. Man sieht, daß die fünf Gattungen von Vierecken
keineswegs richtig gewählt sind. Sie erschöpfen den Begriff des
Vierecks durchaus nicht. Aber darin sehen wir nur einen weiteren
Beweis für den ausländischen Ursprung der indischen Geometrie. Die
Fünfzahl der Vierecke ist yielleicht selbst auf griechische Erinnerung
zurückzuführen, da Euklid in der 30. bis 34. Definition des I. Buches
seiner Elemente ebensoviele Gattungen unterscheidet: Quadrat, Recht-
eck, Rhombus und Rhomboid, unregelmäßiges Viereck, in seinen
Gattungen freiUch jeder Möglichkeit einen Platz zuweisend. Nun
waren den Indern nur Sätze über die fünf unberechtigten Vierecks-
arten, welche Prithüdakasyämin uns nennt, bekannt geworden; nur
mit ihnen also hatte man sich zu beschäftigen. Es waren
das in den vier ersten Gattungen gerade die Vierecke, welche Heron
mit Vorliebe behandelt hat, das Quadrat und das Rechteck und das
gleichschenklige Trapez, die Lieblingsfigur schon der alten Ägypter.
Was die Zerfällung der Trapeze in solche mit zwei imd mit drei
gleichen Seiten betrifft, so kann man verschiedener Meinung sein.
Man kann meinen, da bei Heron yerschiedene Gattungen von Parallel-
*) Colebrooke pag. 245, § 174 und Note 6. *) Ebenda pag. 295, Note 1.
652
so. Kapitel.
trapezen gefuDden worden waren^ deren ünterscheidungsgrundU^e
man nicht verstand^ so habe man auf eigene Faust neue Gruppen ge-
bildet; man kann aber auch an einen griechischen Ursprung denken,
da beispielsweise Hippokrates von Chios (S. 208) sich mit Parallel-
trapezen mit drei gleichen Seiten vielfach abquälte und es daher
wohl möglich ist, daß Spätere auch noch um diese Figur sich küm-
merten, ohne daß wir unmittelbar davon wissen. Kehren wir jetzt
zu § 26 Brahmaguptas zurück. Wenn darin von dem Halbmesser
des Umkreises zuerst jedes Vierecks mit ausdrücklicher Aus-
nahme des ungleichen Vierecks die Rede ist, so sind eben nur
die vier ersten Gattungen gemeint, und diese vier sind zweifellos
Sehnen Vierecke, und wenn in demselben Paragraphen fortfahrend auch
die Berechnung des Halbmessers des Umkreises der fünften
Vierecksgattung gelehrt wird, so ist wieder zweifellos auch für
diese Gattung die Eigenschaft als Sehnenviereck damit in Anspruch
genommen.
Jene ungleichen Vierecke der fünften Gattung entstehen aber
gemäß § 38 auf folgende Weise. Man denke (Fig. 85) zwei rationale
rechtwinklige Dreiecke aus den Seiten c^, c^, h und 6\, C^, H ge-
bildet Man vervielfache die Seiten des
ersteren zuerst mit C^, dann mit C,, so
sind auch CjC^, c^Cj, hC^ und qQ, r^Cg,
hC^ Seiten zweier rechtwinkliger Dreiecke.
Diese beiden setzt man mit den rechten
Winkeln als Scheitelwinkeln aneinander,
so daß c^Oj als Fortsetzung von c^C^ und
CjCg als Fortsetzung von c^C^ erscheint,
beziehungsweise daß c^ Cj + Cj C^ und
q Cj + Cg Cj zwei sich senkrecht durch-
kreuzende Gerade bilden, welche als Diago-
nalen eines leicht zu vollendenden Vierecks auftreten. Gegenseiten
dieses Vierecks sind, wie wir schon wissen, hC^ und AQ; das andere
Paar Gegenseiten heißt leicht ersichtlich Hc^ und Hc^, Alle vier
Vierecksseiten sind voneinander verschieden, sind ungleich; das Vier-
eck ist aber aus vier rationalen rechtwinkligen Dreiecken zusammen-
gesetzt, und je zwei Scheiteldreiecke sind einander ähnlich. Diese
ungleichen Vierecke sind unter denen der fünften Gattung verstanden,
und die Gleichheit der Summe je zwei gegenüberstehender Winkel
kennzeichnet sie als Sehnenvierecke. Zu ihrer Bildung sind also Zu-
sammensetzungen rechtwinkliger Dreiecke notwendig, welche Heron
gekannt hat (S. 399), und für welche er in seiner Geometrie des
eigenen Kunstausdruckes zusammenhängender rechtwinkliger Dreiecke,
f^y^^
M
h
X ^
M
l
^\
r
Fig. 85.
Geometrie und Trigonometrie. 653
TQiyava dQOoymvia iivfondva^ sich- bediente. Durch ähnliche Zusammen-
setzung ist aus den beiden rechtwinkligen Dreiecken 5, 12, 13 und
9, 12, lö an der Kathete 12 das in allen Beziehungen rationale be-
rühmte Dreieck 13, 14, 15 entstanden, welches Heron kannte, welches
auch den Indem vielfach als Beispiel diente.
Vor der Zusammensetzung rationaler rechtwinkliger Dreiecke
müssen wir aber auch die Kenntnis rationaler rechtwinkliger Drei-
ecke selbst als vorausgehend vertreten finden. Heron hat sich mit
solchen beschäftigt; auch bei Brahmagupta fehlen sie nicht, der, wie
wir schon (S. 628) andeuteten, zweimal darauf zurückkommt, zuerst
in seinem geometrischen Kapitel und dann eingeschaltet zwischen
dem Rechnen mit irrationalen Quadratwurzeln, wo die Regel am
deutlichsten ausgesprochen ist^). Man solle c, 0(5""^) ^°^
- (y + *) ^^ Seiten wählen, wobei c und b ganz beliebige Werte
haben. Diese Formel, welche die unter dem Namen des Pythagoras
und des Piaton bekannten Sonderfälle durch & » 1 und 6 » 2 in
sich schließt, ist genau so bei keinem Griechen uns begegnet, stimmt
aber zu der (S. 645) erörterten Entstehungsweise rationaler recht-
winkliger Dreiecke. Dieser Umstand ebenso wie die Stelle, wo die
Regel sich ausgesprochen findet, geben ihr ein, wenn auch nicht alt-
indisches, immerhin indisches Gepräge, aber die Aufgabe, welche
durch sie ihre Lösung fand, dürfte griechisch sein, dürfte, wenn man
den Ausdruck gestatten will, in Indien nur noch mehr algebraisiert
worden sein, als sie es schon war.
Wir denken nicht, daß alle diese kleineren und größeren Über-
einstimmungen zwischen Heron und Brahmagupta der Aimahme unseres
Grundgedankens entgegenwirken können, und fragen nun, was aus
einer so aus der Fremde eingeführten Lehre im Lauf der Zeiten
werden mußte? Wesentliche Fortschritte dürfen und können wir bei
einem nicht geometrisch angelegten Volksgeiste nicht erwarten. Im
Gegenteil, manches anfänglich Verstandene muß verloren gegangen
sein. Nur Aufgaben einer algebraischen Geometrie werden den indi-
schen Geist ansprechend weitere Pflege erfahren und sich vielleicht
in einem Umfange erhalten haben, der das bei Brahmagupta Vor-
handene überragt. Die Geometrie des Bhäskara^) erfüllt diese unsere
Erwartung.
Bis zu Bhäskara ist vor allen Dingen der Rest des Verständ-
nisses der Formel für die Vierecksfläche verloren gegangen. In einem
Vierecke mit denselben Seiten, sagt er, gibt es verschiedene Diago-
*) Colebrooke pag. 340, § 38. «) Ebenda pag. 68—111.
654 80. Kapitel.
naien. ^yWie kann jemand, der weder eine Senkrechte noch eine der
Diagonalen angibt , nach dem Übrigen fragen? oder wie kann er
nach der bestimmten Fläche fragen , wenn jene unbestimmt sind?
Ein solcher Fn^esteller ist ein tölpelhafter böser Geist. Noch mehr
Mst es aber der, welcher die Frage beantwortet, denn er berücksichtigt
nicht die unbestimmte Natur der Linien in einer vierseitigen Figur*' ^).
22
Hinzugekommen ist die Ereisverhältniszahl sr = y, welche als für
3927
Praktiker genügend erklärt wird, während der feinere Umfang j^ mal
dem Durchmesser sei'). Hier ist- allerdings etwas rätselhaft. Das
erste Verhältnis ist das archimedische, das zweite das von Aryabhatta
62 832
in der Form ^qqqq benutzte, während diesem die archimedische Zahl
nicht bekannt oder, was noch aufifallender wäre, nicht mitteilens-
wert gewesen zu sein scheint, und doch soll es die Methode Archi-
meds gewesen sein, welche zu dem genaueren Werte geführt hat.
Archimed, erinnern wir uns, ließ vom Sechsecke ausgehend die
Seitenzahl des eingeschriebenen Vielecks sich immer verdoppeln, bis
er zum 96 eck gelangte (S. 303). 6ane9a, der Kommentator Bhäskaras,
berichtet uns, man sei vom Sechsecke durch stete Verdoppelung der
3927
Seitenzahl bis zum 384eck vorgeschritten und habe so sr == j— ^
gefunden. Bhäskara bedient sich übrigens auch noch einer anderen
Annäherung •''), nämlich ^ =^ itrn'^ 3,141666 . . . Hinzugekommen sind
femer einige Aufgaben über rechtwinklige Dreiecke, welche unsere
Aufmerksamkeit verdienen. Sie finden sich nicht, wie die bisher
angeführten Dinge, in der Lilävati, sondern in dem Vija Ganita ge-
nannten algebraischen Kapitel. Es wird verlangt, die Seiten eines
rechtwinkligen Dreiecks zu finden, wenn neben der Summe derselben
erstens das Produkt der beiden Katheten oder zweitens das Produkt
der drei Seiten gegeben ist^). Die erstere Aufgabe ähnelt nämlich
ebensowohl der heronischen Aufgabe vom Kreise, bei welcher Summen
von Stücken verschiedener Dimensionen gegeben sind (S. 404), als
der des Nipsus aus Hypotenuse und Fläche, d. h. also halbem Pro-
dukte der Katheten die Dreiecksseiten selbst zu finden (S. 556).
Bhäskara löst die erste Aufgabe wie folgt. Ist c^c^ ^p, so ist
2p=2ciC,«(ci+C8)*-(cf+c|)=»(Ci+e^)«~Ä*-(q+Cg+/0(Ci + (^-/^
Da nun c^ + c^ + ä = s gegeben ist, so folgt q + c^ — A = - - und
*)
*) Colebrooke pag. 78. *) Ebenda pag. 87. «) Ebeada pag. 96, § 214.
Ebenda pag. 225—226, § 151—152.
Geometrie und Trigonometrie. 655
Die Katheten findet man noch einzeln, indem von (q + c^y = i 2 )
der Wert ACiC^== 4tp abgezogen wird; so entsteht nämlich
und daraus Cj — c,, welches in Gemeinschaft mit c^ + Cg die Katheten
liefert. In der zweiten Aufgabe ist c^ - c^'h =^p und q + c^ + ä = s
gegeben. Aus s — h = 0^ + c^ erhält man
s» - 2sÄ + Ä^ = cj + c| + 2c^c^ « A« + ^,
mithin ist s* — 2sh = -^ und 2sh^ — s^h ^ — 2p. Daraus findet
man h, daraus s — ä = q + ^ ^uid -^ =- 4ciCj, und nun ist es wieder
leicht c^ — c^ und endlich die Katheten zu finden. Das sind Methoden,
welche der von Nipsus angewandten entschieden ähneln, so wenig in
Abrede gestellt werden soll, daß Bhäskaras Aufgaben die bei weitem
verwickelteren sind. Hinzugekommen sind endlich einige Beweise
geometrischer Sätze durch Rechnung, und einige auf Anschauung
beruhende, wenn man letztere als Beweise gelten lassen darf. Ein
Beispiel beider Auffassungen bildet der Beweis des pythagoräischen
Lehrsatzes, der sich in dem Vija Gaaita vor-
findet^). Das eine Mal wählt man die Hypo-
tenuse zur Grimdlinie, auf welche (Fig. 86)
von der Spitze des rechten Winkels aus eine
Senkrechte gefällt wird, und weist auf die ^^ ^
Eigenschaft der zwei so entstehenden recht-
winkligen Dreiecke hin, mit dem ursprünglichen Proportionalitäten
zu bilden. So kommen, wenn \ und A, die Stücke der Hypotenuse
h heiBen, die je an q und c^ anstoßen, die Verhältnisse heraus
c, Ä,
und %=?5*^
h C.
Ä e^
und daraus folgt
Ä(A, + Ä,) = A«-c2 + c|,
Bei Euklid (VI, 8 der Elemente) findet sich zwar nicht dieser
rechnende Beweis selbst, aber doch dessen Grundlage, daß die Senk-
rechte aus der Spitze des rechten Winkels auf die Hypotenuse zwei
dem ganzen Dreiecke ähnliche Teildreiecke hervorbringt.
*) Colebrooke pag. 220—222, § 146.
656
30. Kapitel.
Der andere Beweis , welcher^ wie im 34. Kapitel sich zeigen
wird, mehr als 200 Jahre vor Bhäskara schon bekannt war^ kon-
struiert (Fig. 87) über jede Seite des Quadrates der Hypotenuse nach
innen zu das rechtwinklige Dreieck. „Sehet!" Da-
mit begnügt sich Bhäskara und erwähnt nicht ein-
mal^ daß die Anschauung
A«.
4x^ + (.,
c,Y = cj + 4
«g. 87.
liefere. Ganz ähnlicher Natur sind Beweise, welche
der Kommentator 6ane9a zu Sätzen Bhaskaras
beigebracht hat^). Die Dreiecksfläche wird er-
halten als Rechteck der halben Höhe und der Gh-undlinie (Fig. 88).
Sehet! Die Kreisfläche wird erhalten als Rechteck des halben
Durchmessers in den halben Kreisumfang (Fig. 89). Sehet!
Pig. 88.
Diese Beweisform^ welche bei Brahmagupta nirgend auftritt, muß
wohl als indisch betrachtet werden. Sie ist mit der algebraischen
Beweisform verbunden ungemein charakteristisch für die Darstellungs-
weise jener Oeometer. Rechnen in nahezu imbegrenzter Möglichkeit
oder Anschauen, darüber kommen sie nicht hinaus. Das eine wie
das andere ist zum Beweise schon bekannter Sätze gleich gut anzu-
wenden, die Rechnung ist strenger, die Berufung auf unmittelbare
Anschauung vielfach überzeugender. Aber kann letztere zur Erfindung
neuer Sätze führen? Kann es erstere, wenn nicht eine gewisse
Summe geometrischer Sätze als Ausgangspunkt vorhanden ist, unter
welchen der pythagoreische Lehrsatz einer der wichtigsten ist? Kann
der pythagoreische Lehreatz gefunden worden sein von einem Beweise
ausgehend, wie die beiden durch Bhäskara uns überlieferten? Wir
wissen, daß diese Fragen bald verneinend bald bejahend beantwortet
worden sind, daß man gerade den auf Fig. 87 beruhenden Beweis
des Satzes von dem Quadrete der Hypotenuse bis zu einem gewissen
Grade für die Entstehung des Satzes in Anspruch genommen hat
Wir persönlich können diese Ansicht nicht teilen. Wir kommen,
wie wir es in unserer seitherigen Schilderung indischer Geometrie
^) Colebrooke pag. 70, Note 4 und pag 88, Note 3.
Geometrie und Trigonometrie. 657
überall haben darchklingeB lassen, immer wieder zur Überzeugung,
es sei für die Inder nach einer frühen Periode geometrischer Beein-
flussung von Norden her eine solche eingetreten, in welcher von Süd-
westen her Fremdes eindrang, Fremdes, welches der indischen Denk-
weise entsprach, also weniger der „Euklid" mit seinen streng geome-
trischen Folgerungen, als der „Heron" mit seinen Rechnungen. Eine
solche tFbertragung schließt keineswegs aus, daß indische Mathematiker
des überkommenen Stoffes sich in ihrer Weise bemächtigten, ihn
mißhandelten oder behandelten, wie sie es eben verstanden, bald einen
Rückgang, bald einen Fortschritt zuwege bringend.
Am unzweifelhaftesten sind die Fortschritte, welche der der
Rechnung am meisten bedürftige Teil der alten Geometrie bei den
Indem gemacht hat, die Trigonometrie^). Hier ist zwar von
Griechenland aus sicherlich die archimedische Yerhältniszahl — der
Kreisperipherie zum Durchmesser nach Indien gedrungen (S. 654).
Vielleicht mag auch griechischen Ursprunges
sein, wie die Höhe h eines Kreisabschnittes, sein
utkramajyd nach indischem Sprach gebrauche,
mit der Sehne s und dem Kreishalbmesser r in
Verbindung steht, wir meinen (Fig. 90) die
leicht abzuleitende Gleichung
2hr - A* - ^l oder s « 2 VT(2r - 77) .
Aber ihre ganze weitere Rechnungsweise be- "Fi^TgoT
ginnend von dem Maße der Linien im Kreise
ist so ungriechisch wie möglich, also vermutlich indischen Ursprunges.
Allerdings zerlegt der Inder, wie wir schon früher betont haben,
gleich dem Griechen und wahrscheinlich babylonischer Sitte folgend
den ganzen Kreisumfang in 360 Grade oder in 21600 Minuten, da
jeder Grad gleich 60 Minuten ist; aber wenn dann der Grieche den
Halbmesser gleichfalls in 60 Teile mit sexagesimal fortschreitenden
Unterabteilungen zerlegt, so fragt der Inder, wie groß der Kreis-
bogen in Minuten sei, zu welchem der Halbmesser sich zusammen-
biegen läßt. Er vollzieht eine Arkufikation der geraden Linie und
muß dazu des schon bei Aryabhatta vorkommenden Wertes n = 3,1416
sich bedient haben, denn nur dann folgt aus 2 »r = 21600 Minuten,
^) Vgl. außer Golebrooke den Sürya Siddhanta und das von Rodet
übersetzte Kapitel des Aryabhatta. Femer Asiatic researcfies (Calcutta) II, 225;
daraus Arneth, Geschichte der reinen Mathematik S. 171 — 174. Woepcke,
Sur le nwt kardaga et mr une methode indienne pour caiculer Us sinus in den
N. ann. maih, (1864) Xm, 386—394. A. v. ßraunmühl, Vorlesungen über Ge-
schichte der Trigonometrie I, 31 — 42.
Cantob, Gesoldchte der Mathematik I. 3. Aufl. 42
658
30. Kapitel.
21 600
r = g gggg »= 3437,7 ... in ganzen Zahlen am nächsten r »= 3438 Mi-
nuten, wie der Inder rechnet. Es ist nicht unmöglich, daß der Ge-
danke der Arkufikation darin wurzelt, daß die Trigonometrie der
Inder wie der Griechen in astronomischen Aufgaben ihren Ursprung
hat, also zunächst eine sphärische Trigonometrie war, in welcher nur
Bogen vorkommen, wenn auch im übrigen, wie wir noch bemerken
werden, von sphärisch-trigonometrischen Aufgaben keine Rede ist.
Von r =^ 3438 Minuten als erster Tatsache ausgehend wurde nun
die ähnlicherweise in Minuten umgebogene Länge anderer Geraden
im Kreise gesucht. Die Sehne, welche einen Bogen bespannt, wurde
jyä oder ßva genannt, welche Wörter auch die Sehne eines zum
Schießen bestimmten Bogens bezeichnen. Die halbe Sehne hieß dann
jyärdha oder ardhajyä und wurde unter letzterem Xamen auch zum
halben Bogen in Beziehung. gesetzt. Sie war nichts anderes als was
die spätere Trigonometrie den Sinus jenes Bogens genannt hat.
Auch den Sinus versus unterschied man, wie schon bemerkt, als
iUkramajyd, sowie den Kosinus als kotijyä. Man wußte zugleich aus
dem aus Sinus, Kosinus und Halbmesser bestehenden rechtwinkligen
Dreiecke, daß (sin a)» -f (cos «)« = r* = (3438)«. Da
nun die Sehne von 60® dem Halbmesser oder 3438
Minuten gleich ist, so mußte ihre Hälfte oder in
modemer Schreibweise sin 30® = - = 1719 Minuten
sein. Man war nun imstande, aus dem Sinus eines
Bogens den des halb so großen Bogens zu finden,
da (Fig. 91) 2 sin y ^^ Hypotenuse eines recht-
winkligen Dreiecks bildet, dessen beide Katheten
sin tt und sin vers a sind. Folglich mußte
(2 sin 2 ) ^ (^^ ^y + (^^ ^^^ ^y
sein. Aber sin vers a = r — cos a und sin a* -f cos a* = r* in Be-
rücksichtigung gezogen, wird auch ^2 sin yj => 2r* — 2r • cos a und
sin I = ]/^(^ - cos a) = 1/1719(3438^^^^"^ .
So verschaflfte man sich vielleicht die Zahlen, welche im, Sürya
Siddhänta unter anderen angegeben sind : sin 15^ = 890 Minuten,
sin 7« 30' = 449 Minuten, sin 3« 45' = 225 Minuten. Aber 3^ 45' sind
selbst 225 Minuten, also bei soweit fortgesetzter Bogenhalbierung
fiel der Sinus mit dem Bogen zusammen, war ihm an Länge
gleich, sofern man es bei der Genauigkeit von einer Minute bewenden
ließ, und um so mehr mußte diese Gleichheit für noch kleinere
Fig. »1.
Geometrie und Trigonometrie. 659
Bögen und deren Sinns stattfinden d. li. es mnßte sin a » a sein;,
wofern a ^ 225' war. Damit war dem Bogen von 225' oder, wie
wir anch sagen können, dem 96. Teile des Ereisumfanges eine be-
sondere Wichtigkeit beigelegt, welche ihn würdig machte dnrch einen
besonderen Namen ausgezeichnet zu werden. Man nannte seinen Sinus
und ihn selbst den geraden Sinus, kramajyä,
Weim wir uns ausdrückten, man habe yielleicht von sin 30^ aus-
gehend durch Bogenhalbierung sin 225'^ 225' gefunden, so gebrauchten
wir dieses einschränkende Wort, weil möglicherweise auch der vm-
gekehrte Weg eingeschlagen wurde. Die archimedische Verhaltnis-
22
zahl Y ^^^ gefanden worden, indem man das 96 eck als mit dem
umschriebenen Kreise nahezu zusammenfallend sich dachte; daraus
könnte man Veranlassung genommen haben, auch sin -^ = -gg- zu
setzen imd zum voraus diese Annäherung als genügend zu be-
trachten.
Sei dem nun, wie da woUe, jedenfalls spielte von nun an der
Bogen von 225' wie dessen Vielfache und die Sinus derselben in der
indischen Trigonometrie eine Rolle, deren Wichtigkeit zur Genüge
hervortreten wird, wenn wir sagen, dieser Bogen bildete die Bogen-
einheit einer Sinustabelle, die sich von 3® 45' bis 90® in 24
Werten erstreckte. Die Auffindung der Sinusse der durch Zusammen-
setzung von Bögen gebildeten größeren Bögen erfolgte nach ähnlichen
Methoden, wie Ptolemäus sie im Almageste gelehrt hat. Nachdem
die Tabelle gebildet war, erkannte man vermutlich empirisch das
Zahlengesetz, daß
sin ((n + 1) 225') - sin (n • 225') =- sin (n • 225') - sin ((n ~ 1) 225')
__ Bin (n- 2260
226
war, und benutzte nunmehr diese Interpolationsformel, um die Tabelle
selbst jeden Augenblick herstellen zu können. Bhäskara ist sogar
bei dieser Tabelle nicht stehen geblieben. Er hat die Sinusse und
Kosinusse in Bruchteilen des Halbmessers des Kreises angegeben:
• oo-' löö c^o-' 466 . ^0 10 -0 6668
sin 220 = j^^g , cos 22o = ^ ; sm 1 <> = -3 , cos 1 » = ^-^- ,
WO jedesmal die betreflFenden Teile des Halbmessers gemeint sind;
er hat die Berechnung einer Sinustabelle gelehrt, deren Bögen von
Grad zu Grad fortschreiten. Damit steht vielleicht eine in der Lilä-
vaü^) mitgeteilte Formel in Verbindung, welche die Sehne s aus
*) Colebrooke pag. 94, § 213.
42*
660 30. Kapitel.
dem Ereisumfange F, dem Durchmesser d und dem Bogen B finden
lehrt: s « — — , eine Formel, deren Ableitung noch nicht
4
enträtselt ist^ welche aber eine ziemlich genügende Annäherung
liefert 1).
Trigonometrie als Berechnung von Dreiecksstücken eines be-
liebigen Dreiecks mit Hilfe von Winkelfunktionen scheinen die Inder
nicht gekannt zu haben. Sie führen yielmehr fast alle Aufgaben auf
ebene und zwar auf rechtwinklige Dreiecke zurück und konnten so
mit ihren planimetrischen Kenntnissen ausreichend die verschiedenen
vorkommenden Fragen beantworten.
Als wesentlicher Fortschritt^ den die Trigonometrie in Indien
machte, bleibt danach das übrig, was wir oben besprachen: die
Sinustabelle. Die Sehnen waren verdrangt durch ihre Hälfben. Was
im Analemma des Ptolemaeus angedeutet war (S. 423), aber bei dem
Griechen nicht seine in Zahlen umgesetzte Ausbildung fand, dessen
Wichtigkeit ahnte wenigstens der rechnungsgeübte Inder. In dem
Sürya Siddhänta findet sich bereits eine Sinustabelle. Die ganze
Tragweite der damit vollzogenen Abänderung ergab sich allerdings
auch den Indem noch nicht, sondern erst ihren Nachfolgern, den
Arabern.
^ Ein HerleituDgBTerBuch der Foimel von Suter in den Yeihandlungen
des m. internationalen Mathematikerkongresses in Heidelberg 1904 S. 566 — 658
scheint uns zu kühn, um ihn aufzunehmen.
VI. Chinesen.
31. Kapitel.
Die Mathematik der Chinesen.
,y Wissen^ daß man es weiß, von dem was man weiß, und
wissen , daß man es nicht weiß, von dem was man nicht weiß,
das ist wahre Wissenschaft/^ So soll Confacius, der chinesische
Weise, dessen Lebensdauer von 551 bis 479 angesetzt wird, zu seinen
Schülern gesagt haben ^). Von China selbst dürfte nach dieser
Definition kaum eine Wissenschaft möglich sein, denn weder was
wir über dieses Reich wissen, noch was wir nicht wissen, ist von
Zweifel befreit.
Europäischer Nachforschung hat man mit geringen Ausnahmen,
welche sich auf Männer bezogen, die keineswegs mit der kritischen
Vorbereitung eines Gelehrten von Fach ausgerüstet waren, zu allen
Zeiten Hindemisse in den Weg zu legen gewußt. Was uns über
Chinas Vergangenheit erzählt wird, stanlmt ausschließlich von der
Benutzung chinesischer Quellen durch Chinesen her. Der Chinese
aber liebt das Alte. Seine Anhänglichkeit an dasselbe geht so weit,
daß er Neuerungen, wo möglich, als Rückkehr zu Altem und
Ältestem darstellt, und wenn ein anderer Ausspruch des Confucius,
er habe neue Schriften nicht verfaßt, er habe nur die alten geliebt,
erläutert und verbreitet*), vielleicht der persönlichen Bescheidenheit
des Redners entstammt, so ist jedenfalls von anderen diese Auf-
fassung dahin überboten worden, daß sie für alt ausgaben, was
durchaus neuen und neuesten Datums war.
So gibt es kaum eine Erfindung, welche nicht mit dankbarer,
vielleicht häufig ganz unbegründeter Erinnerung an bestimmte Per-
sönlichkeiten eines längst entschwundenen Altertums geknüpft wird.
Die Schrift, nach der Ansicht einer Gelehrtenschule in namenlose
Vorzeit hinaufreichend, soll nach der Ansicht einer zweiten Schule
von Kaiser Pu hi um 2852 v. Chr. herrühren, und ein fürstlicher
*) Paul Perny, Gramtnaire de la langtie chinoise orale et ecrite. Paris.
T. I, 1873. T. II. 1876. Der hier zitierte Ausspruch II, 248, Note I. *) Perny
II, 26S.
664 31. Kapitel.
Gelehrter Prinz Huäy nän tsfe gibt (189 v. Chr.) gar an, die Schrift
sei durch Tsäng kig, den Minister des Kaisers Huäng ü 2637 v. Chr.
auf Befehl des Kaisers erfunden worden^). Auf Fü hi wird auch
das dekadische Zahlensystem zurückgeführt^), welches er abgebildet
auf dem Rücken eines aus den Fluten des Gelben Stromes auf-
tauchenden Drachenpferdes sah und dessen Bedeutung erkannt«. Die
chinesische Tusche soll unter Kaiser Oü wäng 1120 v. Chr. schon
bereitet worden sein*). Confiicius soll sich zum Schreiben damit
eines Pinsels aus Antilopenhaar bedient haben, während Pinsel aus
Hasenhaar durch Mong tien 246 v. Chr. erfonden wurden, einen
General, welcher auch eine Art von Papierbereitung lehrte und zu-
gleich die Aufsicht über die Erbauung der chinesischen Mauer führte,
eine Vereinigung von Tatsachen, in welcher wir fast eine Ironie
der Geschichte zu erkennen geneigt sind. Wir würden noch anderen
eben so glaubhaften oder unglaubwürdigen Nachrichten begegnen,
wenn wir weiter griflfen. Wir wollen lieber an der Hand chinesischer
Quellen einen Blick auf die Geschichte des Reiches der Mitte werfen*).
Wilde Jäger waren die Ureinwohner Chinas. Zu ihnen wanderte
zwischen dem XXX. und XXVH. S. von Nordwesten her das „Volk
mit schwarzen Haaren" ein, Hirten, die sich bald dem Landbau wid-
meten und eine gewisse Kultur schon mit sich brachten, Sie hatten
ein Wahlkaisertum, welches bis um 2200 währte. Nun folgten in
meistens lang am Ruder bleibenden Erbfolgen verschiedene Dynastien.
Die Dynastie Hin regierte 500 Jahre. Sie wurde von der Dynastie
Chang gestürzt, diese um 1122 durch die Dynastie der alten Tcheou
entthront. Die Tcheou waren ein Stamm, der unter den Chang von
der alten Gemeinschaft sich trennte und westlich sich ansiedelte.
Dort erstarkten sie so weit, daß seit 1200 Kämpfe zwischen ihnen
und den Untertanen der Chang begannen, die in dem genannten
Jahre 1122 mit der Ersetzung des letzten Chang-Kaisers Cheou sin
durch Oü wäng endigten. So wurde dieser letztere Kaiser aller
wieder vereinigten Stämme und gab ihnen ein neues Gesetzbuch, den
Tcheou ly, welchen sein Bruder Tcheou kong verfaßt haben soll,
während eine andere Sage den Tcheou ly wenige Jahre später (1109)
im sechsten Regierungsjahre von Then wäng entstanden sein läßt*).
Die Dynastie der Tcheou blieb im Besitze der kaiserlichen Macht
bis 221 also voUe 900 Jahre.
*) Perny II, 2—4, 7, 9. •) Biernatzki, Die Arithmetik der Chinesen
in Grelles Jonmal für reine nnd angewandte Mathematik (1856). LII, 69 — 94.
Die hier angezogene Stelle anf S. 92. ') Perny II, 92. *) Unsere Quelle war
namentlich die Einleitung des zweibändigen Werkes: Le Tcheou IJf ou rites de
Tcheou iraduit par Ed. Biot. Paris 1861. *) Perny 11, 803.
Die Mathematik der Chinesen. 665
In diese lange Periode fallt eine Einwanderung von vielleicht
hochwichtigem Einflüsse auf die chinesische Kultur. Eine jüdische
Kolonie ließ sich jedenfalls im VI. S. in China nieder^); also etwa
zur Zeit, die kurz vor die Geburt des Confucius fallt^ die etwa die
Blütezeit eines andern chinesischen Weisen Lao tse war, welcher
604 — 523 gelebt hat. Bei Lao tse, von welchem übrigens auch weite
Reisen nach Westen, vielleicht bis Assyrien, erzählt werden, findet
sich mutmaßlich eine Spur der Berührung mit diesen Einwanderern
in dem dreieinigen Namen Y hy wy, welche er dem Taö, d. h. dem
höchsten Wesen, beilegt und in welchem man Jehova, den der war,
ist und sein wird, hat erkennen wollen.
Auf die Tcheöu folgt Tsin sehe huang ty,, der sich durch eine
Anordnung aus dem Jahre 213 v. Chr. den Beinamen des Bücher-
verbrenners verdiente*). Ob er nur eine neue Schrift allgemein
einführen wollte, um der wachsenden Verwirrung ein Ende zu machen,
die darin ihren Ursprung hatte, daß allmählich die allerverschiedensten
Verschnörkelungen der Schriftzeichen Eingang gewonnen hatten, ob
er, was dem, der der Gründer eines neuen Herrschergeschlechtes zu
werden beabsichtigt, weit ähnlicher sieht, alles vernichtet wissen
wollte, was auf die frühere Greschichte sich bezog, damit nicht der
Geschmack der Alten über die neueren Einrichtungen ein Yerdam-
mungsurteil spreche oder gar die Staatskunst des Kaisers tadle, jeden-
falls wurde der Befehl des Kaisers vollzogen, so genau es möglich
war, und Stöße von zusammengehefteten Bambusbrettchen mit einge-
ritzten Sehriftzeichen, die Bücher der alten Chinesen, wurden den
Flammen überantwortet.
Der Kaiser starb 211. Seinem Geschlecht verblieb die Regierung
nicht. Die Dynastie der Han folgte 197, und der ihr angehörige
Hoei ti hob 191 das Verbrennungsedikt wieder auf. Ja unter einem
der nächsten Regenten dieses Hauses Hiao wen ti 170 — 156 suchte
man nach Werken, welche der Vernichtung entgangen waren, und
fand solche in ziemlicher Menge. Bruchstücke des Tcheöu ly sollen
damals entdeckt und der kaiserlichen Büchersammlung einverleibt
worden sein, welche sodann zwischen 32 und 6 v. Chr. durch den
gelehrten Minister Lieou hin noch interpoliert wurden, um, wie es
heißt, gewissen damals zu treffenden Einrichtungen den Stempel
hohen Alters aufzudrücken. Die Dynastie der Han ging 223 n. Chr.
zu Ende.
Wieder haben wir ein für chinesische Kulturverhältni'sse ungemein
>) Perny II, 266, 806, 312. ») Vgl. Tcheöu ly I, pag. XIII flgg. mit
Perny 11, 84—36.
666 31. Kapitel.
bedeutsames Ereignis aus dieser Zeit zu erwähnen. Im Jahre 61
n. Chr. fand der in Indien verfolgte Buddhismus in China Eingangs
wo er insbesondere unter der niederen Bevölkerung sich unaufhalt-
sam und mit so dauemdepi Erfolge verbreitete ^ daß noch jetzt die
große Masse der etwa 500 Millionen Menschen , welche chinesisch
reden^ ihm anhängt.
Es kann unsere Aufgabe nicht sein auch nur skizzenhaft der
nun folgenden Dynastien zu gedenken. Höchstens, daß wir erwähnen
wollen, wie unter den Sung im Jahre 1070 ein politisch-literarischer
Streit an eine Auslegung sich knüpfte; welche Wang ngan chi, der
Minister des Kaisers Chin tsong, einigen Stellen des Tcheou ly gab.
Damals ging man so weit die ITrsprünglichkeit jenes Werkes völlig
zu leugnen und es für eine Fälschung des Lieou hin, also etwa aus
den drei letzten Jahrzehnten vor dem Beginne der christlichen Zeit-
rechnung; zu erklären. Daß man nicht einen noch späteren Zeit-
punkt für das unterschobene Werk annahm, war wohl vorzugsweise
in der Lebenszeit der Kommentatoren des Tcheöu ly begründet Man
kannte damals hauptsächlich drei solcher Kommentatoren: Tching tong
dem I. S. n. Chr., Tchin khang tching dem IL S., Kiu kong yen dem
VIII. S. angehörig, von welchen insbesondere der zweite zur Siche-
rung des Originals seit seinem Leben dienen konnte, weil sein Kom-
mentar über das ganze Werk fortläuft und stete Vergleichungen mit
den Sitten und Regeln, mit den Würden und Obliegenheiten seiner
Zeit anstellt^). Hundert Jahre nach jenem Streite trat ein vierter
Kommentator Wang tchao yu hinzu, und nun am Ende des XII. S.
verfocht auch der gelehrte Tchu hi wieder die volle Echtheit des
Tcheöu ly.
Auf die Sung folgte ein fremdes Herrschergeschlecht. Mongolen
drangen in China ein und gaben dem Reiche eine Dynastie, welche
1275 — 1368 den Kaiserthron besetzt hielt, bis sie, die sogenannte
Dynastie Yuen, verdrängt wurde durch die einheimische Dynastie
Ming 1368 — 1644. Im Gefolge der Mongolen kamen, wie mit Be-
stimmtheit bekannt ist, arabische Gelehrte an den Kaiserhof von
China, ihre wieder ganz anders geartete Wissenschaft mit sich führend,
freilich nicht die ersten Araber, welche in China erschienen, denn
schon 615 n. Chr., 713, 726, 756, 798 waren ai-abische Gesandt-
schaften dorthin gelangt, das heißt Handeltreibende, deren Anführer,
um mehr beachtet und geachtet zu sein, sich als Abgeordnete des
Herrschers der Araber aufspielten. Der Name, unter welchem die
Araber erwähnt werden, ist Ta schi, das ist Täzy, der persische Name
*) Tcheöu Ij I, pag. LX— LXI.
Die Mathematik der ChineseiL 667
derselben^). In die Mongolenzeit fallen auch die Reisen des Yene-
tianers Marco Polo^ dessen Berichte bei der 1295 erfolgten Heim-
kehr auf unverdienten Unglauben stießen. Erst unter der Ming-
dynastie suchten andere Europäer dem Beispiele des Wundermannes^
der Ton seinem XJmsichwerfen mit großen Zahlen oder ron seinen
Beichtümem den Beinamen Messer Millione erhalten hatte, zu folgen
und in das schwer zu^ngliche Reich einzudringen.
Dem Jesuitenmissionar Matthias Ricci gelang es 1583 zuerst
Zugang zu finden und in seinem Unternehmen^ das Christentum zu
predigen, nennenswerte Erfolge zu erreichen. Er machte sich zu-
gleich auch als tüchtiger Astronom am Eaiserhofe geltend, so daß
ihm, bis er 1620 China wieder yerließ, die Leitung des Kalender-
Wesens übertragen wurde, eine früher in China erbliche Würde, und
Ton nun an blieb China ein der katholischen Mission geöffiietes Land,
so daß dieselbe mehr und mehr erstarkte, so daß Missionsprediger
Kenntnisse genug von Land und Leuten, von Sprache und Schrift
sich erwarben, um in umfangreichen Werken davon handeln zu können,
um auch ihrerseits den Chinesen europäische Wissenschaft mitzu-
teilen. Wissen wir doch, daß Julius Aleni, der von 1613 bis
zu seinem 1649 eintretenden Tode in China verweilte, in der Landes-
sprache einen Auszug aus den Elementen des Euklid und eine prak-
tische Geometrie verfaßte'). Jean Fran^ois Grerbillon löste ihn
ab 1686 — 1707, in welchem Jahre er in Peking starb. Es verfaßte
eine Geometrie nach Euklid und Archimed in chinesischer und in
tartarischer Sprache^). Das änderte sich auch nicht als die Mandschu,
erst mit den Chinesen in Krieg verwickelt und zurückgeschlagen,
von einer der in China nicht seltenen Gegenregierungen, die in China
gegen den Kaiser sich erhob, zu Hilfe gerufen wurden, und ein
Mandschu Schun tchi nach mehrjährigen Kämpfen 1647 die noch
jetzt vorhandene Dynastie der Tsing gründete. Unter dieser Dynastie,
insbesondere unter Kaiser Kang hi, wurde vielmehr das Verhältnis
zwischen dem Kaiserhofe und den Missionären ein immer engeres.
Schon unter Kang hi*s Vorgänger war Adam Schaal aus Köln,
gleich Ricci, Aleni und Gerbillon* Mitglied des Jesuitenordens, gleich
ihnen Astronom und Missionär, in China ansässig geworden. Nun
folgte ein fünfter Jesuit, der Holländer Ferdinand Verbiest, den
') Bretschneider, On the knowledge possessed hy the Chinese of Üie Ärabs
and Ardbian Colonies. London 1871, und A. v. Krem er, Colturgeschichte des
Orients U, 280. Wien 1877. *) Carteggio inedito dt Ticone Brake, Giovanni
Keplero etc. con Giovanni Antonio Magini pubblicato ed illustrato da Antonio
Favaro. Bologna 1886, pag. 108 Note 4. *) Poggendorff, Biographisch-
literarischea Handwörterbnch zur Geschichte der exacten Wissenschaften I, 877.
668 ^1- Kapitel.
Kang bi zum Präsidenten des Kollegiums für Astronomie ernannte^
derselbe Kang hi, der in mannigfachster Weise seine Liebe für Wissen-
schaft betätigte und z. B. ein Wörterbuch der damals vorhandenen
Schriftzeichen anfertigen ließ, welches in 32 Bänden 42000 Zeichen
enthält^). Es folgten im XVIIL S. Männer wie Pater Premare^
Pater Gaubil, deren Werke für die Kenntnis Chinas unentbehrlich
geworden sind, wenn ihnen auch anhaftet, was wir zu Anfang dieses
Kapitels angedeutet haben, daß sie den Erzählungen chinesischer Be-
richterstatter und chinesischer Bücher ein allzubereites Ohr zu leihen
liebten. Am Anfange des XIX. S. erfolgte ein Umschlag, als 1805
die katholische Mission eine Landkarte einer chinesischen Provinz
nach Rom zu schicken wagte. Das alte Mißtrauen, die alte Feind-
schaft gegen die Fremden erwachte, welche kaum durch die Waffen
Europas um die Wende des XIX. zum XX. Jahrhundert gebändigt^
sicherlich nicht vernichtet worden ist.
Der Überblick, welchen wir, selbstverständlich auf Qu eilen werke
zweiter Hand allein uns stützend, hier gegeben haben, soll uns mehr-
fache Zwecke erfüllen. Er soll uns gestatten im Verlaufe dieses
Kapitels der Dynastien als Zeitbestimmungen uns zu bedienen. Er
soll zweitens in ein helles Licht setzen, daß die Kultur des Reiches,
mit welchem wir uns zu beschäftigen haben, doch nicht so sehr
gegen auswärtige Einflüsse abgeschlossen war, als man in gebildeten
Kreisen Europas zu wähnen pflegt, daß vielmehr in dem Zeitraum^
welcher mit dem VL vorchristlichen Jahrhundert beginnt, der Reihe
nach jüdisch-babylonische, dann indische, dann arabische, dann euro-
päische Wissenschaft die Gelegenheit hatte in China einzudringen,
eine Gelegenheit, welche kaum jemals unbenutzt verlaufen sein mag.
Er soll drittens uns bemerklich machen, daß den chinesischen Zeit-
angaben für schriftstellerische Überreste nicht immer Glaube beizu-
messen ist, daß es häufig absichtliche Rückverlegungen sind, von
Chinesen selbst wenigstens im Eifer gelehrter Streitigkeiten als solche
verunglimpft und ihres Ansehens für unwürdig erklärt.
Steht es doch um die Glaubwürdigkeit chinesischer Berichte
überhaupt nicht sonderlich, und t>Ime auf Gründe psychologischer
Art uns einzulassen, die man weder behaupten noch verwerfen sollte,
ohne sich auf eigne Kenntnis des betreffenden Volkscharakters stützen
zu können, wollen wir nur ein Moment hervorheben: das ist die
buddhistische Neigung zur Anwendung großer Zahlen, welche in
China ihren Gipfelpunkt erreichte imd in dem Namen Sand des
^) Stanisl. Julien in dem Journal Äsiatique vom Mai 1841. Sieme s^rie
XI, 402.
Die Mathematik der Chinesen. 669
Oanges, heng ho cha, welclier dem 10^* beigelegt wurde^), ihren
Ursprung deutlich an den Tag legt.
Man könnte femer aus dem Umfange vorhandener chinesischer
Enzyklopädien den Rückschluß ziehen, daß viel Unwahres in den-
selben mit in Kauf genommen werden muß. Wenn uns gesagt wird,
daß eine solche Enzyklopädie, welche den Namen Yün lö ta tien
führt, aus beinahe 15000 Bänden bestehe^), so kann uns das schon
ein Eopfschütteln entlocken. Wenn nun aber gar eine neue Enzy-
klopädie, zu deren Herstellung Kaiser E[ieu long den Befehl gab, auf
160000 Bände veranschlagt worden ist, von welchen über 100000
bereits vollendet seien'), so ru£fc diese Mitteilung in uns persönlich
keineswegs das Gefühl demütiger Bewunderung hervor, welches den
Berichterstatter offenbar durchdringt. Wir kommen vielmehr selbst
unter Beschränkung der Stärke der Bände auf das Geringfügigste
und unter Ausdehnung der durch Blumenreichtum der Sprache trotz
der ungemein raumsparenden Wortschrift erzielten Raumverschwen-
<lung auf das Unerträglichste nur zu dem einen Gedanken: Wie viel
muß in einer solchen Enzyklopädie unwahr seiu, da für ein Volk,
welches seinen Stolz darein setzt um das Ausland sich nicht zu
kümmern, so viel Wahres gar nicht vorhanden sein kann.
Wir werden freilich, trotz dieser Bekenntnis unserer ungläubigen
Voreingenommenheit, getreulich wieder berichten, was aus ver-
schiedenen chinesischen Werken für die Geschichte der Mathematik
bei jenem Volke ermittelt worden ist, überall soweit als möglich
der Zeitangabe folgend, welche die Chinesen selbst liefern, aber wir
verargen es keinem unserer Leser, wenn ihn die erheblichsten Zweifel
an unsere Gewährsmänner erfüllen sollten. Man wird es um so be-
greiflicher finden, daß wir europäischer Übertreibungen, die chine-
sischer als die Chinesen selbst der Sternkunde jenes Volkes ein Alter
von 18500 Jahren beilegen woUen, nur mit diesem einen Worte
gedenken'').
Einem Minister des Kaisers Huäng ti, welcher 2637 v. Chr. re-
gierte, wurde, wie wir (S. 664) gesehen haben, nach einem Berichte
die Erfindung der Schrift beigelegt. Ein anderer Minister desselben
Kaisers, Cheöu ly, wird als Erfinder des Rechenbrettes, swdn pän,
*) Ed. Biot, Table generale d'un ouvrage chinois intitule Souan-fa-tang-tson
ou Collection des regles du calcul im Journal Äsiatique vom März 1839. Sifeme
i^rie, Vn, 196. «) Perny I, 10. ») Ebenda II, 7. *) G. Schlegel, Urano-
graphie ehinoise. Wir selbst kennen das Werk nur aus den 'dessen Tendenz
ablehnenden Rezensionen von Jos. Bertrand {Journal des Savans 1875) und
von S. Günther (Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft, Xu. Jahr-
gang, Heft 1).
670 31. Kapitel.
genannt^), und unter ebendemselben eoU das erste arithmetische Werk^
die neun arithmetischen Abschnitte, Kieoti tscha/ng, verfaßt
worden sein^), welches in fast allen nachfolgenden arithmetischen
Werken als die erste Grundlage der Wissenschaft des Rechnens ge-
nannt wird, und welches schon Tcheöu kong, von welchem noch
nachher die Rede sein wird, um 1100 v. Chr. im Auge gehabt haben
soll bei einer Vorschritt*): die Söhne der Fürsten und des hohen
Adels in den sechs Künsten zu unterweisen, nämlich in den fünf
Klassen gottesdienstlicher Gebräuche, in den sechs verschiedenen Arten
der Musik, in den fünf Regeln für Bogenschützen, in den fünf Vor-
schriften für Wagenlenker, in den sechs Anweisungen zum Schreiben
und endlich den neun Methoden mit Zahlen zu rechnen. Wieder
Huäng tl ist es, dem die Einführung eines 60jährigen Zyklus nach-
gerühmt wird*).
Zum besseren Verständnis dieser Berichte müssen wir einiges
hier einschalten. Die Chinesen teilen ihre Zeit nach den Grund-
zahlen 12 und 10 ein. Zwölf Stunden bilden ihnen den Tag, und
der Zehn bedienen sie sich zur höheren Zeiteinteilung^), nachdem
eine in den heiligen Schriften vorkommende siebentägige Zeitgruppe
wieder verloren gegangen ist*). Aus den beiden Grundzahlen 12 und
10 vereinigt soll nun die Zahl 60 jener Jahreszyklen entstanden sein.
Jedes der 60 Jahre hat seinen besonderen Nameu, das erste kiä, das
zweite tse usw., weshalb der ganze Zyklus kiä tse genannt wird. Die
aufeinander folgenden Namen dieser Jahre weiß jeder Chinese aus-
wendig, und er sagt daher über sein Alter befragt ohne weiteres: ich
bin in dem so und so genannten Jahre des gegenwärtigen oder des
vergangenen, des vorvergangenen Zyklus geboren. Eine anderweitige
Anwendung dieser Namen bietet die Geometrie, indem die einzelnen
Punkte einer Figur durch sie unterschieden werden, in derselben
Weise wie Griechen und Römer es durch die Buchstaben ihres Alpha-
betes zu erreichen wußten.
Wir haben femer vom Rechenbrette swän pän gesprochen^.
Von demselben handelt der swän fa töng tsöng in 6 Bänden von je
2 Büchern. Der Swän pän besteht aus in einen Rahmen einge-
spannten Drähten, welche insgesamt durch einen Querdraht in zwei
Abteilungen zerfallen, deren kleinere 2, deren größere 5 Kugeln trägt,
also abgesehen von einer sehr überflüssigen Kugel in jeder einzelnen
1) Perny I, 108. *) Biernatzki 1. c. S. 62. ') Ebenda S. 67. *) Ebenda
S. 62. *) Perfty I, 104. *) Ebenda I, 107. 0 Abbildungen deaselben bei
Duhalde, Ausführliche Beschreibung des chinesischen Reiches und der großen
Tartarei, übersetzt von Moshe im. Rostock 1747, Bd. III, S. 850, und bei
Perny I, 108.
Die Mathematik der Chinesen. 671
Abteilung genau in der Weise hergerichtet sind, wie wir den Abacus
der Römer (S. 529) beschrieben haben. Die meisten Swän paus be-
sitzen 10 Drahte. Es soll auch solche von 15 und mehr Drähten
geben. Einem Zeichnungsfehler dürfen wir es vielleicht zuschreiben,
wenn eine Abbildung nur 9 Drähte aufweist^), während wir aller-
dings selbst der Ausnahmsbildung eines echt chinesischen Swan pän
mit 11 Drähten begegnet sind'). Wie ausnahmslos die Chinesen sich
ihres Swän pän bedienten, ist schon daraus zu entnehmen, daß in
den Lehrbüchern der eigentlichen Rechenkunst über Addition und
Subtraktion gar keine Vorschriften gegeben sind^), doch wohl nur,
weil man diese Rechnungsarten mit der Hand und nicht im Kopfe
auszuführen gewohnt war. Für das Multiplizieren und Dividieren
sind dagegen Regeln vorhanden. Ersteres beginnt bei der Verviel-
fachung der größten Zahlenteile, letztere wird durch wiederholte Sub-
traktion ausgeführt.
Da auch unter Huäng ti die Anwendung der Schrift auf arith-
metische Dinge uns erwähnt wird, so müssen wir hier von der
Zahlenschreibung bei den Chinesen reden. Wir dürfen dabei
wohl zweierlei als bekannt voraussetzen: erstens daß die chinesische
Sprache der Beugungsformen durchaus entbehrt, so daß alle syn-
taktischen Beziehungen der Wörter eines Satzes zueinander nur
durch die gegenseitige Stellung sowie durch eigens dazu vorhandene
Partikeln ausgedrückt werden müssen, zweitens daß die Schrift der
Chinesen keine Lautschrift oder Silbenschrift, sondern eine ursprüng-
lich bildliche Begriffsschrift ist, deren Zeichen kursiv geworden und
ihrer ursprünglichen Gestalt entfremdet nunmehr aus 214 Schlüsseln*)
durch das reichhaltigste Verbindungsverfahren hergestellt werden
können. So wuchs die Anzahl chinesischer Zeichen bis auf die
42000 des Wörterbuches Kaisers Kang hi, während freilich die vier
sogenannten klassischen Bücher der Chinesen nicht mehr als die
Kenntnis von 2400 Zeichen von ihrem Leser verlangen*). Das sind
immer noch viel mehr als eigentliche chinesische Stammwörter vor-
handen sind, deren man neuerdings 304 zählt, welche sich durch
verschiedenartige Betonung auf 1289 erheben^), aber naturgemäß
weitaus nicht hinreichen jedem Begriffe ein eigenes Wort zuzuwenden,
so daß 20, ja 30 chinesische Schriftzeichen durch dasselbe Wort aus-
gesprochen werden, beziehungsweise daß man dasselbe Wort, weil es
*) Perny I, 109 und 110. *) Das 11 drähtige Exemplar gehört der ethno-
graphischen Sammlung des Missionshauses in Basel an. *) Biernatzki S. 72.
*) Perny 11, 108. *) Stanisl. Julien im Joiumal Asiatique vom Mai 1841,
pag. 402. «) Perny I, 34—86.
672 31. Kapitel.
20 bis 30 Bedeutungen besitzt ^ bald so bald so zu schreiben über-
eingekommen ist.
Diese Armut der Sprache nötigte nun bei den Zahlwörtern Ver-
bindungen weniger Elemente eintreten zu lassen ^ und die Elemente
wurden nicht anders als wie bei den übrigen Völkern gewählt, denen
wir bisher unsere Aufmerksamkeit zuwandten: das Zehnersystem der
Zahlbildung ist auf das folgerichtigste festgehalten. Der Mangel an
jeglicher Beugung ließ ja nicht einmal Wortverschmelzungen wie
z. B. unser dreißig zu; die Wortelemente drei und zehn mußten
unverändert sich zusammensetzen. Eben dieselben Wortelemente
mußten zu der Bildung des Zahlwortes dreizehn ausreichen, und so
ergab sich für die Chinesen als sprachnotwendig, was überall sonst
mehr oder weniger Willkür war: man mußte je nachdem der Name
einer kleineren Zahl dem einer größeren voranging oder folgte bald
multiplikativ bald additiv verfahren, und vermöge des Gesetzes der
Grrößenfolge, welches dem des Zehnersystems im allgemeinen noch
vorgeht, ei^ab sich die Regel von selbst aus sän » 3 und che » 10
additiv che sän = 10 + 3 = 13, multiplikativ sän chS =- 3 x 10 « 30
zu bilden. Die Schrift hat nun bei den Chinesen dieselbe Methode
festgehalten. Sie unterscheidet sich freilich von der dem Europäer
geläufigen Reihenfolge insofern als der Chinese seine Wörter von
oben nach unten zu Zeilen, die Zeilen von rechts nach links zu Seiten
vereinigt^), aber diese Anordnung als bekannt vorausgesetzt schreiben
sich die Zahlwörter in der Tat so, wie es eben angedeutet wurde
(die Zahlzeichen und Beispiele vergleiche auf der am Schlüsse des
Bandes beigefügten Tafel). Es gibt allerdings Wörter und Zeichen,
welche noch weit über 10000, ja über das multiplikativ herstellbare
10000 mal 10000 sich erheben — wir haben vorher in 10^* ein
überzeugendes Beispiel davon kennen gelernt — aber eben jenes Bei-
spiel mit seinem Ursprungszeugnisse an der Stirn läßt vermuten, was
berichtet wird, daß die altchinesische Gewohnheit nicht über 10000
als höchste einfache Rangordnung sich erhob. Eine Bestätigung
liefert die früher von uns (S. 24) erwähnte Unterdcheidung des Heil-
rufes, der einem Großen des Reiches noch 1000, dem Kaiser noch
10000 Jahre wünscht.
Außer den Zahlzeichen, von deren Benutzung wir bisher ge-
sprochen haben, und welche die altchinesischen heißen mögen,
gibt es merkwürdigerweise noch mehrere andere Schreibarten. Wir
meinen nicht eine offizielle verschnörkelte Form, welche zur Ver-
hinderung von Fälschungen in öfi^entlichen Aktenstücken mit Vorliebe
^) Abel Remueat, Eleniens de la grammaire chinoise (Paris 1822) pag. 28.
Die Mathematik der Chinesen. 673
angewandt wird^ noch eine kursive flüchtigere Form^ in welcher die
Gestaltung der einzelnen Zeichen sich mehr und mehr verwischt hat;
diese Zeichen sind beide nur als das aufzufassen^ als was wir sie be-
nannten^ als Formverschiedenheiten. Wir meinen dagegen Zahlen-
anschreibungen^ welche einem ganz anderen Grrundgedanken folgen,
und zwar unter Benutzung von selbst zweierlei Zeichen, welche wir
Kauf mannszif fern und wissenschaftliche Ziffern nennen wollen,
und deren Form gleichfalls auf der Tafel am Schlüsse des Bandes
zu vergleichen ist. Die Eaufmannsziffem wie die wissenschaftlichen
Ziffern werden horizontal nebeneinander geschrieben in derselben
Richtung wie die indischen Ziffern, also so daß die höchste Ordnung
am weitesten links erscheint. Die Eaufmannsziffem an Form den
altchinesischen nahe verwandt sollen nie gedruckt erscheinen^), son-
dern nur im taglichen Gebrauche des Lebens ihre Anwendung finden.
Die multiplikative Ziffer, welche also angibt, wieviele Zehner, wie-
viele Hunderter usw. gemeint sind, tritt nur äußerst selten links von
dem Zeichen der betreffenden Einheit auf, dann nämlich wenn keine
Einheiten von anderer Ordnung vorkommen, also z. B. wenn 3000
oder 400 geschrieben werden soll. Sonst werden die Rangziffem
und Wertziffern in zwei Zeilen übereinander geschrieben, jene in der
unteren, diese in der oberen Zeile, bis auf die Einer, welche wegen
nicht vorhandenen Bangzeichens in die untere Zeile hinabrücken.
Eine zweite und noch wichtigere Eigentümlichkeit dieser Eauf-
mannsziffem besteht in dem Zeichen der Null, für welche ein
kleiner Ereis in Anwendung tritt um anzudeuten, daß Einheiten
einer gewissen Ordnung, welche aber selbst nicht weiter ange-
deutet wird, sondern aus den Nachbarziffern einleuchtet, nicht vor-
handen sind.
Gewichtige Gründe sprechen dafür, daß hier erst spät von aus-
wärts Eingeführtes, nicht ursprünglich Vorhandenes vorliegt. Das
geht eben aus dem gegenseitigen Verhältnisse von Sprache und Schrift
bei den Chinesen hervor. Die Schrift konnte verschiedene Zeichen
für gleichlautende Wörter besitzen um den verschiedenen Sinn der-
selben zu erkennen zu geben, aber sie fügte kein durch die Nachbar-
werte überflüssiges Null hinzu.
Noch weniger kann in China eine vollständige Stellungsarith-
metik erfunden worden sein. Wenn die Zahl 36 z. B. chinesisch
durch die drei Wörter drei-zehn-sechs ausgesprochen wurde, so konnte
der Chinese von sich aus unmöglich auf den Gedanken kommen, beim
^) Ed. Biot, Swr la connaissance que les Chinois ont eu de la väUur de
Position des chiffres im Journal Asiatique vom Dezember 1889, pag. 497 — 602.
Caittob, Gesohiehta der Mathematik I. 8. Aufl. 43
674 31. Kapitel.
Schreiben das Wort zehn aus der Mitte heraus fortzulassen ^ welches
er noch immer lesen sollte. Er konnte nicht auf diesen Gedanken
kommen^ weil bei ihm nicht; wie bei anderen Völkern, das An-
schreiben der Zahlen ohnedies ein aus dem Rahmen der gewöhn-
lichen Lautschrift heraustretendes war, weil alle Schrift vielmehr^
wie wir schon sagten, ftir ihn Begriffsschrift war, mochten es Wörter
einer oder einer anderen Bedeutung sein, die aufgezeichnet werden
sollten.
Nichtsdestoweniger hat, wie die Zeichen, welche wir wissen-
schaftliche Ziffern nennen, beweisen, die Stellungsarithmetik mit
einem eigenen System ron Zeichen, welches yiel durchsichtiger ist
als die bisher besprochenen, in China Eingang gefunden. Man be-
zeichnet nämlich die Eins durch einen senkrechten oder wagrechten,
die Fünf entsprechend durch einen wagrechten oder senkrechten
Strich und verbindet diese beiden Elemente zur Bezeichnung Ton
6 bis 9, während 1 bis 5 durch Wiederholung der Eins, Null durch
einen kleinen Kreis geschrieben werden. Wenn wir zum voraus schon
diese Bezeichnungsweise als eine jedenfalls spät eingeführte schildern
durften, so entspricht dem die Tatsache, daß dieselbe nicht früher
als in einem Werke des Jahres 1240 etwa erscheint^), in dem Su
schu kieou tschang (neun Abschnitte der Zahlenkunst) des Tsin kiu
tschau, der unter der Djrnastie Sung gegen Ausgang derselben lebte.
Andere Beispiele gehören gar der Zeit der Mongolen (1275 — ^^1368)
erst an^), so daß wir von den neun Abschnitten der Rechenkunst
unter der Sungdynastie bis zu dem Werke gleichen Namens des
Huäng iä den weiten Weg von fast 4000 Jahren zuräckverfolgen
müssen, um uns wieder an der Stelle zu befinden, von welcher aus
wir diese Abschweifung begannen.
Und selbst jener Ausgangspunkt war ein zu später, denn noch
vor Erfindung des Bechenbrettes, vor Verfassuiig des ersten arith-
metischen Lehrbuches muß ja ein Rechnen, muß der Begriff der
Zahlen festgestanden haben. Die chinesische Überlieferung läßt uns
auch für jene allerältesten Zeiten nicht im Stich. Mit Knötchen
versehene Schnüre in Verschlingungen gezeichnet bilden die beiden
Tafeln ho tu und lö schu*). Auf der ersteren (Fig. 92) sind durch
die je einer Schnur angehörigen Knoten die Zahlen 1 bis 10, auf der
zweiten (Fig. 93) die 1 bis 9 dargestellt. Weiß sind die ungeraden
Zahlen gezeichnet, denn das Ungerade ist das Vollkommene wie der
Tag, die Hitze, die Sonne, das Feuer. Die geraden Zahlen dagegen
*) Biernatzki S. 72 und 69. *) Ed. Biot im Journal Äsiatique für D^
zember 1839. ») Perny II, 6—7.
Die Mathematik der ChineBen.
675
sind schwarz, denn das Gerade ist das Unvollkommene^ wie die Nacht,
die Kälte, das Wasser, die Erde. Man hat neuester Zeit darauf auf-
merksam gemacht^), daß die Anordnung der Zahlen 1 bis 9 auf
o O (
p J
> 0 i
Pig. »2.
Flg. 98.
Fig. 93 das magische Quadrat ebenderselben Zahlen darstelle. Diese
Tafeln sollen nun — wie? ist uns wenigstens ganz unersichtlich —
in der Urzeit Chinas dazu gedient haben in der Verwaltung der
öffentlichen Angelegenheiten benutzt zu werden, und Kaiser Fü hi
um 2852 soll sie erst durch seine 8 aufgehängten Zeichen pä kuä
ersetzt haben, gewöhnlich kurzweg die Kuas genannt. Sie bestehen
aus bald ganzen, bald gebrochenen Linien, jene das Vollkommene
diese das Unvollkommene bezeichnend, in dieser Bezeichnung also,
mit dem ho tu und lö schu übereinstimmend, wie auch darin mit
ihnen übereinstimmend, daß wir uns unter Zuhilfenahme der vor-
handenen Berichte auch nicht die geringste Anschauung von der
Anwendungsart der Kuas zu bilden vermögen*). Nur schwach ver-
mutend möchten wir darauf hinweisen, daß der Swan pän aus den
Knotenschnüren vielleicht seine Entstehimg genommen oder zu der
einen Ursprung suchenden Bückerfindung jener Urbilder geführt
haben kann, daß femer in den gezeichneten Tafeln ho tu und lö
schu wie in den kuä eine Art von Zahlensymbolik auftritt, welche
uns daran erinnert, daß wir schon früher (S. 43) auf Überein-
stimmungen zahlenträumerischer Gedankenverbindungen zwischen
^) Dr. Gram hat dieses bemerkt. Vgl. Zenthen, Forelaesning over mathe-
matikens Historie. Oldtid og Middelalder. Kopenhagen 1893. S. 274. *) Über
die Kuas vgl. Le Ckou hing un des livres sacrSs chinois traduit par le P. Ganbil
revu et corrigi par M. de Guignes. Paris 1770, an sehr verschiedenen Stellen^
die im Begister s. v. hma zu entnehmen sind. Daß man in den Kuas einmal
ein chinesisches Binärsystem erkannt haben wollte, führen wir beiläufig an. Vgl.
Math. Beitr. Eoltorl. S. 48—49.
48*
676 31. Kapitel.
chinesischen und pjthagoräischen Lehren aufmerksam machen mußten^
welche wohl einen geistigen wie örtlichen Mittelpunkt ihres Daseins
in Babylon besaßen.
Wir gehen weiter zum Tcheöu ly über, jenem Gesetzbuche,
welches auf Oü wang oder dessen nächste Nachfolger zwischen 1122
und 1109 zurückgeführt wird. In ihm sind alle jene zahlreichen
Würdenträger des chinesischen Hofstaates mit ihren Obliegenheiten
genannt, welche sicherlich in späterer Zeit vorhanden waren, wenn
auch vielleicht nicht in früher, da, wie wir uns erinnern, der Tcheöu
1^ von Chinesen selbst als eine Fälschung aus den letzten 30 Jahren
V. Chr. angesehen worden ist. Unter diesen Würdenträgern er-
scheinen mehrere^), welche in der Geschichte der Mathematik Er-
wähnung finden müssen. Da sind erbliche Würden eines Hofastro-
nomen, fong siang schi, und Hofastrologen, pao tschang schi. Da
ist ein Obermesser, liang jin, betraut mit der Tracierung der Mauern
der Paläste wie der Städte. Da ist ein eigener Beamter des Meß-
apparates, tu fang schi, der mit dem tu kuei' genannten Instrumente,
das ist mit einem Schattenzeiger, den Schatten der Sonne und der-
gleichen bestimmen muß. Die bedeutsamste Stelle, welche wir des-
halb der französischen Übersetzung entnehmen, lautet: „Wird eine
Hauptstadt angelegt, so ebnen die Erbauer, tsiang jin, den Boden
nach dem Wasser, indem sie sich des hängenden Seils bedienen. Sie
stellen den Pfosten mit dem hängenden Seile auf. Sie beobachten
mit Hilfe des Schattens. Sie machen einen Ejreis und beobachten
den Schatten der aufgehenden Sonne und den Schatten der unter-
gehenden Sonne.'^ Das hängende Seil aber wird uns dahin erläutert,
es befänden sich 8 Seilstücke am oberen Teile des Pfahles befestigt,
4 längs der Kanten, 4 in der Mitte der Seitenflächen, und wenn diese
8 Seilstücke sämtlich dicht am Pfahle herunterhängen, so sei seine
senkrechte Aufstellung • gewährleistet.
Für jeden Leser dieses Bandes muß hier mancherlei auffallen:
die Nivellierung nach der Wasserfläche, die Bestätigung des Senkrecht-
stehens eines Pfahles durch hängende Seilstücke, die Benutzung eines
Schattenzeigers, die Beobachtung des Schattens der auf- und der unter-
gehenden Sonne zur Orientierung nach den Himmelsgegenden, das sind
alles Dinge, die uns in Alexandria oder aus Alexandria stammend in Rom
begegnet sind, die mindestens im ersten vorchristlichen Jahrhunderte im
Westen bekannt waren und uns nun im fernsten Osten zu Gesicht
») Tcheöu 1^ Buch XXVI, Nr. 16 und 18; Buch XXX, Nr. 6 — 10;
Buch XXXIU, Nr. 60; Buch XLIII, Nr. 19 flgg. Letztere Stelle T. U, pag. 563
der ÜbersetzuDg.
Die Mathematik der Chinesen. 677
kommen. Es dürfte kaum einen anderen Ausweg geben^ als entweder
mit den heißspomigsten Sinologen anzunehmen , die ganze Mathe-
matik imd Astronomie sei altchinesische Erfindung und sei von dort
zu den Völkern des Westens gelangt, oder aber mit den Zweiflern
unter den Chinesen selbst die Entstehung des TcheOu ly in eine Zeit
kurz vor Christi Geburt herabzulegen und zu schließen, es müsse
damals schon aus Alexandria über Indien, wo wir auch ein sehr ein-
faches Wassernivellement hätten nachweisen können^), oder wieder
aus Babylon, dessen mathematische Vergangenheit uns von Abschnitt
zu Abschnitt merkwürdiger und erforschungsbedürftiger wird, der-
gleichen nach China gedrungen sein. Diese Zwangswahl wird unseren
Lesern noch mehr als einmal im Laufe dieses Kapitels sich auf-
drängen, auch wenn wir nicht darauf aufmerksam machen, hat sich
ihnen vielleicht schon geboten, als wir vom 60 jährigen Zyklus des
Huäng ti sprachen. Wir haben in der letztangefiihrten Stelle des
Tcheöu ly: „Sie machen einen Kreis und beobachten den Schatten
der aufgehenden Sonne und den Schatten der untergehenden Sonne"
das uns wohlbekannte Orientierungsverfahren erkannt Daß wir in
dem vielleicht auch anderer Deutung fähigen Wortlaut nicht mehr
hinein als heraus lesen, beweist eine Stelle eines mathematischen
Werkes, mit welchem wir uns jetzt beschäftigen müssen.
„Wenn die Sonne zu erscheinen beginnt, errichte eine Beobach-
tungsstange und beobachte den Schatten. Beobachte den Schatten
aufs neue, weiln die Sonne untergeht. Die beiden Hauptschatten-
punkte, welche sich entsprechen, bezeichnen Ost und West. Teile
dereu Entfernung hälftig und ziehe eine Linie nach der Beobachtungs-
stange hin, so wirst Du Süd und Nord bestimmt haben." So un-
zweideutig spricht sich der Tcheou pei aus*).
Der Tcheou pei oder tcheou pei swan king, d. h. heiliges Buch
(king) der Rechnung (swan), welches genannt ist Beobachtungsstange
(pei) im Kreise (tcheou), besteht aus zwei Teilen, welche sich scharf
unterscheiden lassen. Im ersten wie im zweiten Teile wird zwischen
zwei Männern, von denen der eine den Lehrer, der andere den Schüler
darstellt, ein wissenschaftliches Gespräch geführt, welches auf den
Schattenzeiger sich bezieht. Aber die beiden Redner wechseln. Im
ersten Teile sind es Tcheöu kong und der Gelehrte Schang kao,
und sie beziehen sich auf die Kenntnisse, welche Kaiser Fü hl und
*) L. Rodet, Legons de calcul d'Aryabhata pag. 27—28. *) Ed. Biot,
Traductian et examen d'un aneien ouvrage chinois intitule Tcheou pei, litterale'
ment: Style au aignal dang une circonference im Journal Asiaii^ie vom Juni 1841,
pag. 69S — 689. Die hier angeführte Stelle der künftig als Tcheou pei zu
zitierenden Übentetzung auf pag. 624.
678 81. Kapitel.
der nicht minder sagenberühmte Kaiser Yu besessen haben. Im
zweiten Teile wird ein Yung fang von einem Tchin tsoe unter-
richtet. Die Redner des I. Teils sind Persönlichkeiten ans dem
Anfange der Tcheöu-Dynastie, welche um 1100 v. Chr. gelebt haben
sollen. Die Eedner des IL Teils kennt man nicht^ doch ist hier
ein Zitat aus lu schi tschun tsieou des Lu pu oei vorhanden^),
welcher letztere bekannt ist als Minister des Kaisers Tsin sch^ huäng
ty des Bücherverbrenners, also um 213 v. Chr. lebte. Drei ältere
Kommentatoren werden für beide Teile genannt, deren ältester Tchao
Iran hiang von den einen in die Dynastie der östlichen Han etwa
auf 200 n. Chr., von den anderen erst in die Dynastie der Tsin im
lY. S. gesetzt wird. Was man von den Kommentatoren und von
dem auf die Tcheöu- Dynastie zurückgeführten Alter des I. Teiles
weiß — von dem IL Teile wird ohne genau bestimmte Zeitangabe
nur gesagt, er sei jünger als der I. — stammt aus einer Vorrede,
welche 1213 n. Chr. unter der Dynastie Sung verfaßt worden ist. In
einem anderen Werke wird ferner noch berichtet*), der Tcheöu pei
sei unter der Dynastie Thang, dann wieder unter der Dynastie Sung
„einer Durchsicht" unterworfen worden. Was man aber unter Durch-
sicht zu verstehen habe, geht daraus hervor, daß zugestanden wird,
man habe bei der letzten 120 Zeichen, mithin Wörter, verändert und
60 weggelassen.
Fassen wir diese Angaben zusammen, so steht freilich die heutige
Gestalt des Werkes nur in einem Alter von noch nicht sieben Jahr-
hunderten fest. Nimmt man an, es seien damals und früher unter
den Thang wirklich nur unwesentliche Verbesserungen getroffen
worden und die Kommentatoren seien richtig datiert, so kommt man
auf die Zeit zwischen 213 v. Chr. und etwa 300 n. Chr., innerhalb
welcher der IL Teil entstanden sein müßte, ohne daß ii^end eine
Nötigung vorläge, sich der früheren Grenze mehr zu nähern als der
späteren. Man könnte also z. B. eine Gleichzeitigkeit des IL Teiles
mit jenem Lieou hin annehmen, welcher den Tcheöu ly gefälscht
haben soll. Was endlich den I. Teil betrifft, so müssen wir es unseren
Lesern überlassen, ob sie der Überlieferung, welche ihn von Tcheöu
kong selbst herrühren läßt, Glauben schenken wollen. Uns scheint
ein Beweis, gestützt darauf, daß Tcheöu kong redend eingeführt ist,
gestützt femer auf eine Vorrede, die mehr als zwei Jahrtausende
nach Tcheöu kong geschrieben ist, nicht unumstößlich festzustehen,
und man gestattet uns vielleicht trotz unserer vollständigen Unbe-
kanntschaft mit der chinesischen Sprache den Hinweis, daß bei der
*) Tcheöu pei pag. 616. *) Ebenda pag.
697.
Die Mathematik der Chinesen. 679
eigentümlichen Doppelbedeutung von tcheou als Kreis und als Name
einer Dynastie es nicht so gar weit entfernt lag, ein Werk von der
Beobachtungsstange im Kreise dem Tcheöu zuzuschreiben. Dann
freilich rückt auch das Datum des I. Teiles so weit herab, daß er
nur Yor der Lebenszeit des ersten Kommentators entstanden sein
muß, möglicherweise auch nicht weit von der Zeit um Christi Geburt
entstand.
Der I. Teil ist kurz genug, um die wichtigsten Lehren des
Schang kao in Übersetzung hier anzufügen. Schang kao spricht:
„Die Wissenschaft der Zahlen stammt vom Kreise und vom
rechtwinkligen Vierecke.
Der Kreis stammt von. dem rechtwinkligen Viereck, und das
rechtwinklige Viereck stammt vom Kreise.
Der kuu d. h. das Winkellineal stammt von 9 mal 9, welches
81 gibt.
Teile den kuu.
Mache die Breite keou d. h. den gekrümmten Haken gleich 3.
Mache die Länge kou d. h. die Hälfte gleich 4.
Der king yu d. h. der Weg, der die Winkel vereinigt, die Dia-
gonale, ist 5.
Nimm die Hälfte des rechtwinkligen Vierecks außen herum, es
wird ein kuu sein.
Vereinige sie und behandle sie gemeinschaftlich mit dem Rechen-
brette, so wirst Du genau 3, 4, 5 erhalten.
Die zwei kuu bilden zusammen die Größe 25. Das ist was man
die Vereinigung der kuu nennt.
Die Wissenschaft, deren Yu sich einst bediente, um was unter
dem Himmel sich befindet zu regeln, beruht auf diesen Zahlen.'^
Hier folgen im Originale drei Figuren, welche in der Über-
setzung, deren wir uns bedienen, nicht abgebildet, sondern nur be-
schrieben sind^). Sie sollen die Theorie des rechtwinkligen Dreiecks
klar machen. Die erste Figur heißt „Figur des Seiles" und wird
folgendermaßen geschildert. In einem in 49 Teile geteilten großen
Quadrate befindet sich eingezeichnet ein aus 25 Teilen bestehendes
zweites Quadrat. Dieses zweite Quadrat ist selbst in vier recht-
winklige Dreiecke und ein inneres Quadrat zerlegt. Man kann nicht
sagen, daß die Klarheit dieser Schilderung nichts zu wünschen übrig
lasse. Wir entnehmen ihr, die Figur des Seiles habe so ausgesehen:
^) Tcheou pei pag. 601, Note 1. Biernatzki S. 64 — 66 hat eine deutsche
Übenetzung nach englischer Vorlage, von welcher die unsrige sehr abweicht.
Von den hier erwähnten Figuren sagt er kein Wort.
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680 81. Kapitel.
(Fig. 94). Da die Richtigkeit dieser Auffassung durch einen 1682
gedruckten chinesischen Kommentar zum Tcheou pei, in welchem die
Erläuterungen stets den neuerdings abgedruckten Textesworten folgen,
nachträgliche volle Bestätigung gefunden hat^), so
stellt das zweite Quadrat mit seiner Zerlegung die
Figur dar (Fig. 87), deren Bhäskara um 1150 sich
bediente (S. 656), etwa 60 Jahre vor der Durchsicht
des Tcheou pei in der Simg-Dynastie.
pj g^ Da wir den Lauf unserer wörtlichen Wiedergabe
doch einmal unterbrochen haben, so sei auf einiges
aus dem bisherigen Texte hingewiesen: auf den pythagoräischen Lehr-
satz an dem Dreiecke von den Seiten 3, 4, 5; auf den Namen der
Diagonale für die Hypotenuse, welcher zeigt, daß der Satz am Recht-
ecke und nicht am Dreiecke bekannt geworden war; auf den
weiteren Namen Seil für Hypotenuse, welcher täuschend an die Seil-
spannung der Inder erinnert, wenn wir keine andere Verwandtschaft
suchen wollen.
Nach jenen Figuren folgen nun weitere Lehren, wie man den
kuu, also das Winkellineal, benutzen soll. Eben hingelegt diene es
zum Gradmachen, umgekehrt zur Höhenmessung, verkehrt zur Tiefen-
messung, ruhend zur Messung der Entfernung. Der hau für den
Kreis, d. h. der Zirkel, diene zur HersteUung des Kreises, der Doppel-
kuu zur Herstellung rechtwinkliger Vierecke. Die rechtwinklige
Figur entspreche der Erde, die runde dem Himmel. Der Himmel sei
der Kreis, die Erde sei das Quadrat.
Dieser letztere Satz bedarf gar sehr der Erläuterung. Vielleicht
ist es richtig, was ein Missionär, welcher lange in China war, zur
Erklärung gesagt hat*), Himmel und Erde seien symbolisch für die
Zahlen 3 und 4; andererseits gehöre die Zahl 3 zum Kreise, dessen
Umfang als dreifacher Durchmesser galt, 4 naturgemäß zum Quadrate,
und SP sei die weitere Vergleichung des Himmels mit dem Kreise,
der Erde mit dem Quadrate zustande gekommen.
Es folgen noch einige philosophische uns unverständliche Redens-
arten, und nun schließt Schang kao: „Das Wissen stammt vom ge-
krümmten Haken, der gekrümmte Haken vom Winkellineal, das
^) Giov. Vacca, Sulla MaUmatica degli antichi Oinesi in dem BoUettino
di hibliografia e storia deUe acienze matetnatiche (Oktober, November und Dezem-
ber 1906). Da H. Vacca zurzeit (Winter 1905—1906) unter der Leitung von
H. Carlo Puini in Florenz chinesiBchen Studien obliegt, so dürfte in Bälde
Genaueres über chinesische Mathematik bekannt werden. *) Tcheou pei
pag. 602, Note 1 mit Beziehung auf eine Bemerkung des Pater Gaubil.
Die Mathematik dei Chinesen. 681
Winkellineal mit Zahlen vereinigt regelt und leitet alle Dinge."
Tcheöu kong sprach: „Das ist wundervoll!"
Hiermit schließt der I. und, wie man behaupten will, ältere
Teil des Tcheou pei. Es folgt der ü. viel ausführlichere Teil.
Wir brauchen ihm eine weit weniger eingehende Aufmerksamkeit zu-
zuwenden, teils wegen des allgemein anerkannten verhältnismäßig
späten Datums seiner Entstehung, teils weil es sich in ihn mehr
um astronomische Verwertung der Qeobachtungsstange handelt. Nur
zwei Bemerkungen scheinen uns von Wichtigkeit.
Erstlich, daß die Yerhältniszahl des Ereisumfangs zum Durch-
messer stets als 3 gerechnet wird^). Das bestätigt jene Bemerkung,
warum 3 die Zahl des Kreises sei, erinnert zugleich an die nach
unserer Vermutung altbabylonische Umfangsformel. Aus den Durch-
messern 238000, 317333y, 357000, 3966663, 436333 J, 476000,
810000 sind die Umfange 714000, 9520(X), 1071000, 1190000, 1309000,
1428000, 2430000 gefolgert, und in einem Beispiele heißt es aus-
drücklich: ,yNimm einen Durchmesser von 121t^ Fußen, verviel-
fache mit 3, Du erhältst 365 [ Fuß."
Dieses letztere Beispiel') führt uns zu unserer zweiten Bemer-
kong. Der Kreisumfang wird bei den Chinesen nicht in^360 Grade,
sondern in 365— Grade eingeteilt, und die Chinesen kennen die
Jahreslänge des Sonnenjahres von 365- Tagen. „Unter 4 Jahren
sind, wie man weiß, drei von 365 Tagen und eines von 366 Tagen;
daraus weiß man, daß das Jahr im Mittel aus 365 -j- Tagen besteht"
Eine deutlichere Bestätigung unserer Ansicht, daß die Kreiseinteilung
in 360 Grade niclits anderes bezwecke als die von der Sonne am
Himmel scheinbar durchlaufenen Wege sichtbar zu machen (S. 40),
dürfte sich kaum finden lassen. Wenn die Chinesen diese Bedeutung
der Gradeinteilung überliefert bekamen und nachträglich die mit der
Wahrheit besser übereinstimmende Jahreslänge von 365— Tagen er-
fuhren oder erkannten, dann, aber auch nur dann, konnten sie dem
allem Zahlengefühle Hohn sprechenden Gedanken verfallen, den Kreis
^) Tcheon pei pag. 613, 614, 626. Auf pag. 614 ist zwar zu dem Durch-
2
messei 267666—- der Umfang 888000 statt 803000 angegeben, doch dürfte diese
o
einzige Ausnahme auf einem Druckfehler im Journal Äsiatique beruhen.
*) Ebenda pag. 625. Vgl. auch pag. 688—639.
682 31. Kapitel.
nunmehr selbst in 365-j- Grade zu zerlegen, damit wieder jeder Grad
einen Tagesweg darstelle. Außerdem sprechen mittelbare Spuren
dafür, daß den Chinesen die Ereisteilung in 360 Grade gleichfalls
einmal bekannt war, denn nur von ihr aus erklärt sich die Anwen-
dung der Zahl 60 in dem sechzigjährigen Zyklus, nur von ihr aus
die 30 Speichen in dem Rade des Kaiserwagens in der Tcheou-Dy-
nastie, wie eine Abbildung sie zeigt ^). Bei den Unterabteilungen des
Grades bedienten sich dagegen cQe Chinesen nach einem Berichte des
Paters Yerbiest seit undenklichen Zeiten der Zerlegung in 100 Teile,
welche man Minuten nennen könnte^).
Leider ist der Tcheou pei die einzige mathematische Abhand-
lung der Chinesen, welche durchaus übersetzt uns vorliegt. Für alle
übrigen Schriften sind wir gezwungen, uns auf notdürftige Auszüge
zu beziehen, von welchen nur einer eine halbwegs genügende Inhalts-
anzeige des Werkes liefert, aus welchem er stammt und zugleich das
Alter dieses Werkes zweifellos angibt. Die anderen Berichte leiden
meistens an Unklarheit und lassen es selbst fraglich erscheinen,
welches Werk von verschiedenen, die den gleichen Namen führen,
eigentlich gemeint sei?
Kieoja tschang oder die neun Abschnitte war (S. 670) der
Titel des ältesten arithmetischen Werkes. Kieou tschang swan su
d. h. Arithmetische Regeln zu den neun Abschnitten schrieb alsdann
etwa ein Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung ein gewisser
Tschang tsang. Dieses Werk behauptet „die von den kaiserlichen
Hofmeistern unter der Dynastie Tcheou befolgten arithmetischen
Grundsätze zu enthalten. Jedoch gibt es sich nicht für ein neues
Original werk aus, sondern nur für eine revidierte und verbesserte
Auflage eines viel älteren Buches, dessen Verfasser unbekannt ist.
Das Werk hat bis heute mehrere neue Auf lagen . erlebt, ist jedoch
jetzt sehr selten geworden; es hat aber viele Kommentatoren uüter
namhaften chinesischen Gelehrten gefunden^' ^). Gegen Ende der
Dynastie Sung um 1240 schrieb Tsin kiu tschau, welchen wir
(S. 674) als den Schriftsteller nannten, bei welchem die sogenannten
wissenschaftlichen Ziffern zuerst erwähnt werden, sein su schu kieou
tschang oder die neun Abschnitte der Zahlenkunst. Werke ähn-
lichen Titels von noch anderen Verfassern folgten vielfach. Wenn
wir uns nun der chinesischen Rückverlegungen erinnern, welche dem
^) Tcheou If II, 488. *) Henii Bosmans S. J. in den Ännales de la
socieU scientifique de Bruxelks. T. XXVU Nr. 8 (April 1908). ») Wörtlich aus
Biernatzki S. 67.
Die Mathematik der Chinesen. 683
Götzen des nationalen Eigendünkels mit persönlicher Bescheidenheit
das Opfer der eigenen Erfinderfreude zu bringen verlangten und in
diesem Verlangen offenbar nirgend auf Widerstand stießen; wenn
uns dann ein Auszug aus den neun Abschnitten gegeben ^)^ aber mit
keiner Silbe gesagt wird, welches von den vielen Werken, die diese
Überschrift tragen, zugrunde gelegt sei, welchen geschichtlichen
Wert kann das für uns haben? Doch wohl keinen anderen, als daß
wir dem Auszuge das alte vielleicht auf Tschang tsang, vielleicht
noch weiter hinauf zurückzuverfolgende Vorhandensein von neun
Abschnitten glauben, ohne jedoch annehmen zu dürfen, diese Ab-
schnitte hätten von jeher dieselben 246 Aufgaben enthalten, oder es
sei auch nur sicher, daß die Namen der Abschnitte sich nicht ver-
ändert hätten.
Die Namen der Abschnitte*): 1. Viereckige Felder, 2. Reis und
Geld, 3. Verschiedene Teilungen, 4. Eng und weit, 5. Körpermessung
(wörtlich: überlegen und beendigen), 6. Gerechte Verteilung, 7. Über-
schuß und Mangel, 8. Vergleichen und recht machen (d. h. Gleichungen),
9. Dreieckslehre erinnern ungemein an Namen indischer Abschnitte,
gebildet nach irgend einer Hauptaufgabe, an welche die anderen an-
knüpfen, wenn auch nicht immer im Inhalt ihr gleichend. Gleich
im ersten Abschnitte findet sich die Regel für die Dreiecksfläche als
Produkt der Grundlinie in die halbe Höhe. Die Kreisfläche zu be-
rechnen wird nach sechs der Form nach verschiedenen Arten ge-
lehrt: „Man multipliziere den halben Durchmesser mit dem Radius,
oder nehme ein Dritteil vom Quadrat des halben Umkreises, oder
ein Zwölftel vom Quadrate des Umkreises, oder ein Viertel vom drei-
fachen Quadrate des Durchmessers, oder ein Viertel vom Produkte
aus Durchmesser und Umkreis, oder endlich das dreifache Quadrat
des Radius." Man sieht sofort, daß die fünf letzten Regeln sämt-
lich auf ;r = 3 herauskommen. Die erste allein ist mit 7t = l
gleichbedeutend und höchst auffallend dadurch, daß sie in einem
Atem von dem halben Durchmesser und dem Radius spricht. Wir
möchten daher hier einen Druck- oder Übersetzungsfehler annehmen
und lesen „man multipliziere den halben Umkreis mit dem Radius",
eine Vorschrift, welche sonst fehlen würde, und welche nicht mit
;r = 3 in Widerspruch steht.
Das genauere Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser
war einem Schriftsteller Tsu tschung tsche, der dem Ende des
*) Biernatzki S. 73—76. •) Die drei ersten Namen nach Biernatzki,
die sechs folgenden nach L. Nix. Vgl. W. Schmidt im Bericht über grie-
chische Mathematiker nnd Mechaniker 1890—1901 S. 63.
684 31. Kapitel.
22
VI. S. angehören soll, als ä = ^ bekannt und Liu hwuy*) be-
. , 167
nutzte 3r = -TTT .
Der 9. der neun Abschnitte beschäftigt sich mit 24 geometri-
schen Aufgaben, welche mittels des rechtwinkligen Dreiecks gelöst
werden. Über die Methode läßt uns der Auszug im unklaren, doch
dürfte wohl der pythagoräische Lehrsatz angewandt sein, der im Tcheou
pei uns gleichfalls begegnet ist. Yon den Körpermessungen im 5. Ab-
schnitte ist uns nur ganz allgemein berichtet, die angewandten
Formeln scheinen mithin zu besonderen Anmerkungen eine dringende
Veranlassung nicht geboten zu haben. Aus den übrigen Abschnitten
erwähnen wir Gesellschafts- und Vermischungsrechnungen im 3. und
6. Abschnitte, Ausziehung von Quadrat- und Kubikwurzeln im 5. Ab-
schnitte, Gleichungen im 8. Abschnitte.
Die Geometrie dürfte wohl den schwächsten Teil chinesischer
Mathematik gebildet haben, kaum über die niedrigsten Anwendungen
des Satzes vom rechtwinkligen Dreiecke sich erhebend* denn wenn
Ko schau king um 1300 unter den Mongolen die sphärische
Trigonometrie erfunden haben soll, welche in einem Werke aus
der Dynastie Ming wiederholt dargestellt sei^), so klingt das doch
sehr nach arabischen ins Chinesische nur übersetzten Schriften.
In der Lehre von den Gleichungen dagegen müssen wir den
Chinesen selbsttätiges Vorgehen nachrühmen, denn hier finden wir in
der Tat Fortschritte, welche weder auf indischem Boden uns bekannt
geworden sind, noch überhaupt anderswo so frühzeitig gemacht
wurden. Hauptquelle für die Lehre von den bestimmten wie von
den unbestimmten Gleichungen sind Schriften desselben Tsin kiu
tschau aus der Mitte des XIII. S., welchen wir auch unter den
Verfassern von Neun Abschnitten der Rechenkunst nannten. Die
Lehre von den bestimmten Gleichungen findet sich in dessen Auf-
stellung der himmlischen Monade, leih tien yueti yih^\ und ist erläutert
durch Le yay jin king, welcher während der Mongolenzeit gelebt
hat*). Die Monade, yuen, ist das durch ein besonderes Schriftzeichen
dargestellte Symbol der ersten Potenz der unbekannten Größe, also
das yävattävat der Inder. Auch die Zahl, welche als ein Gegebenes
in der Gleichung auftritt, die rüpa der Inder, hat einen Namen täe.
Die Zeichen für yuen und täe werden rechts von den betrefiFenden
^) DesBen Lebenszeit anzugeben sind wir nicht imstande. Bieinatzki
sagt nämlich S. 63—64, er habe früher als Tsu tachung tsche gelebt, und S. 68,
er habe im YU. S. gelebt, und sein Werk sei im YIU. S. neu aufgelegt
worden! *) Biernatzki S. 70. ») Ebenda S. 84flgg. *) Ebenda S. 70
und 84.
Die Mathematik der Chinesen. 685
Zahlenkoeffizienten geschrieben. Die Gleichungen sind vor dem An-
schreiben geordnet und zwar so, daß die unbekannten Dinge den
bekannten gleich gesetzt sind. Ein Gleichheitszeichen tritt dabei
nicht auf, ist vielmehr aus der bloßen Stellung ersichtlich. Die
unterste Reihe mit rechts stehendem tae enthält die bekannte Zahl,
die darüber befindliche mit rechts stehendem juen die Unbekannte,
die nächsthöhere ohne weiteren Zusatz enthält die zweite Potenz der
Unbekannten usf. Eine fehlende Potenz der Unbekannten muß, da
die Höhe der Potenzen nach dem Stellungswerte zu entnehmen ist,
durch Null angedeutet werden. Von den beiden Wörtern täe und
juen kann eines, beliebig welches fehlen, da die Verständlichkeit
dadurch noch nicht aufgehoben ist. Positive und negative Zahlen
werden durch die Farbe des Druckes unterschieden. Erstere druckt
man rot, letztere schwarz. So heißt z. B. unser 14a:* — 27x« 17
auf chinesisch, wenn wir die Benutzung imserer Ziffern beibehalten
und die Farben durch die links beigesetzten Anfangsbuchstaben ^ (rot)
und , (schwarz) unterscheiden:
M ,14 ,14
,00 ,00 ,00
oder oder
,27 yuen ,27 ,27 yuen
,17 täe ,17 täe ,17
Es scheint dabei eine Annäherungsmethode für Gleichungen höherer
Grade bestanden zu haben, in welcher man eine Ähnlichkeit mit der
sogenannten Homerschen Näherungsmethode entdecken will^), die
aber wenigstens in unserer Vorlage zu dürftig behandelt ist, als daß
wir es wagten, diese Meinung zu stützen oder zu widerlegen.
Die Lehre von den unbestimmten Gleichungen scheint unter dem
Namen große Erweiterung, Ta yen, zuerst von Sun tse in
dunkeln Versen beschrieben worden zu sein^), und dieser Verfasser
wird gegenwärtig in die Dynastie Han im III. S. n. Chr. gesetzt. Be-
sondere Anwendung fand die Regel Ta yen durch Yih hing, einen
Geistlichen unter der Dynastie« Thang, welcher 717 das Werk Ta yen
lei schu darüber verfaßte, und dieses Werk hat wieder unser Tsin
kiu tschau neu bearbeitet. Das Hauptbeispiel heißt in wörtlicher
^) MatthicBsen, Qnmdzüge der antiken und modernen Algebra der
litteralen Gleichungen. Leipzig 1878, S. 964—966. *) Biernatzki S. 77flgg.
Vgl. besonders L. Matthiessen, Yergleichiing der indischen Cuttaca- nnd der
chinesischen Ta yen-Regel in der Zeitschr. f. math. und naturw. Unterricht (1876)
VU, 78—81. Ebenderselbe hatte schon 1874 in der Zeitschr. Math. Phys. XIX,
270 — 271 die Ta jen-Regel erklärt, dl^ yor ihm nie verstanden worden war.
686 81. Kapitel.
Übersetzung: „Dividiert durch 3 gibt Rest 2; schreibe 140. Dividiert
durch 5 gibt Rest 3; schreibe 63. Dividiert durch 7 gibt Rest 2;
schreibe 30. Diese Zahlen addiert geben 233, davon subtrahiert 210
gibt 23 die gesuchte Zahl. Für 1 durch 3 gewonnen setze 70. Für
1 duirch 5 gewonnen setze 21. Für 1 durch 7 gewonnen setze 15.
Ist die Summe 106 oder mehr, subtrahiere hiervon 105 und der Rest
ist die gesuchte Zahl.''
Man hat nun vollständig zutreffend darauf aufmerksam ge-
macht^), daß dieselben Divisoren 3, 5, 7 und dieselben gewonnenen
Zahlen 70, 21, 15 mit deren Anwendung zur Auffindung von 23 auch
in einor griechischen Aufgabe vorkommen, deren Text in einer Hand-
schrift aus dem Ende des XIV. oder Anfang des XV. S. sich erhalten
hat, während ein Verfasser nicht genannt ist. Es ist nicht unmöglich,
daß die chinesische Aufgabe und ihre Auflösung etwa durch arabische
Vermittlung irgend einem Byzantiner bekannt geworden sein kann,
der sie sich aufnotierte. Ein umgekehrter Gang, daß also hier wie
so vielfach im Westen Bekanntes nach China drang, ist kaum anzu-
nehmen, weil nur im chinesischen Texte die Begründung des Ver-
fahrens angedeutet ist, freilich schwer zu verstehen, aber doch zu
verstehen, wie die Erfahrung gezeigt hat.
Der Sinn ist nämlich folgender. Soll eine Zahl x gefunden
werden, welche durch m^, Wg, m^ geteilt die Reste r^, r,, r, liefere,
so sucht man drei Hilfszahlen Tc^, i,, ig, welche Multiplikatoren,
tsching su^ genannt werden, und deren jede vervielfacht mit ihrer
Erweiterungszahl, yen suy d. h. mit dem Produkte derjenigen w,
welche einen andern Index als das betreffende k führen, und dann
geteilt durch ihre bestimmte Stammzahl, ting mu, d.* h. das dritte
m den Rest 1 liefern. So gibt unsere Aufgabe unter Anwendung
von Kongruenzen: 5 • 7 • J^ ^ 1 (niod 3); 3 • 7 • Ä j = 1 (mod 5);
3 • 5 • ÄTj = 1 (mod 7). Daraus werden nun gewonnen: aus 3 die
Zahl *! = 2 oder 5 • 7 • 2 = 70; aus 5 die Zahl Ä«, = 1 oder 3-71
= 21; aus 7 die Zahl k^ = 1 oder 3 • 5 • 1 =15. Wie diese Zahlen
gewonnen wurden, ist auch nicht andeutungsweise gesagt, die Ver-
mutung liegt daher am nächsten, man werde sich durch Probieren
geholfen haben. Nun wird jede der gewonnenen Zahlen m^m^ki = 70,
m^m^k^^ 21, WiWgÄ-j = 15 mit dem entsprechenden Reste r^ = 2,
rj = 3, r j = 2 vervielfacht und ihre Summe 140 + 63 + 30 = 233
gebildet, von welcher man die Stammerweiterung, yen mu, d. h.
') Matthiessen in der Zeitschr. f. math. und natnrw. Unterricht. Vgl.
NikomachuB (ed. Hoche) pag. 162—153 und Friedleina Anzeige dieser Aus-
gabe in der Zeitschr. Math. Phys. (1866) Bd. XI, Literaturzeitnng S. 71
Die Mathematik der Chinesen. 387
das Produkt der drei m, 3 • 5 • 7 =» 105, so oft als möglich abzieht
und hat damit
gefanden, wie z. B.
a; = 2 . 70 + 3 . 21 + 2 . 15 - 2 . 105 = 23.
Es steht ebenso fest, daß dieses Verfahren von der indischen Zer-
stäubung, mit welchem man es zu vergleichen liebte, bevor man es
verstand, durchaus verschieden ist, als daß es eine wahre Methode
genannt zu werden verdient, deren Erfinder mit dem glücklichsten
Scharfsinne ihrer Aufgabe zu Leibe zu gehen wußten^).
Etwas später als Tsin kiu tschau lebte Tschu schi kih, welcher
1303 den kostbaren Spiegel der vier Elemente, See yuen yuh kihn,
veröffentlichte. Hier finden sich die lihn bei Berechnung Ton Zahlen
bis zur achten Potenz als eine alte Methode. In unseren Ziffern
sehen dieselben folgendermaßen aus:
1
1 1
1 2 1
13 3 1
14 6 4 1
1 5 10 10 5 1
l 6 15 20 15 6 1
1 7 21 35 35 21 7 1
1 8 28 56 70 56 28 8 1
Es sind^ die den Arabern freilich seit dem Ende des XL S.
bekannten Binomialkoeffizienten zu der ßestalt geordnet, welche
man in Europa seit dem Ende des XVII. S. das arithmetische
Dreieck genannt hat. Das hier auftretende Wort lihn wird auch
bei der früher erwähnten Annäherungsmethode zur Auflösung von
Gleichungen höherer Grade mehrfach benutzt und hat dadurch
Anlaß zu dem gleichfalls erwähnten Deutungsversuche dieser Methode
gegeben.
Das arithmetische Dreieck ist auch in einem letzten Werke
wiedergefunden worden, von welchem wir einigermaßen eingehender
unterrichtet sind, da wenigstens die Inhaltsangabe desselben in
^) Matthiessen hat 1. c. mit Recht hervorgehoben, daß die Methode ta
yen mit derjenigen, welche Gauß in den Disquisüianes artthmeticae § 32 — 86-
gelehrt hat, übereinstimme. Vgl. Biriehlet, Zahlentheorie § 26 (III. Auflage.
1879, S. 66—67). *) Biernatzki S. 87-^89.
688 Sl. Kapitel.
Übersetzung vorhanden iet^). Wir meinen die Grundlagen der
Rechenkunst, swan fa tong tsong, welche unter Wan ly aus der
Dynastie Ming 1593 dem Drucke übergeben worden sind. Es heißt
in demselben, jene Zahlenanordnung finde sich schon in einem älteren
Werke des U schi, aber unser europäischer Gewährsmann fQgt aus-
drücklich hinzu, dieser Name sei ein so gewöhnlicher, daß Folge-
rungen aus demselben nicht zu ziehen seien, und so wissen wir nicht
einmal, ob dieser U schi früher oder später als Tschu schi kih ge-
lebt hat. Im Sto<m fa Umg tsong werden noch mancherlei andere
22
Dinge gerühmt, so die Anwendung der Yerhältniszahl sr » - , das
Vorkommen von Dreieckszahlen und Pyramidalzahlen, magische Qua-
drate, Multiplikationen unter Anwendung von dreieckigen Feldern,
also vielleicht so, wie wir sie (S. 611) bei den Indem in Übung
fanden. Wir berichten genauer nur über eine Messungsaufgabe,
welche Verwandtschaft mit in Europa vorkommenden Verfahren
(S. 556) an den Tag legt. Die Höhe eines zu^nglichen Baumes wird
zu kennen verlangt^). Man entfernt sich von dessen Fuße um eine
gemessene Strecke, stellt eine Signalstange auf und entfernt sich
dann noch weiter, bis man mittels eines hohlen Rohres die Spitze
der Stange und «des Baumes in einer geraden Linie sieht. Die Höhe
des Auges über dem Boden wird nun zu 4 Fuß geschätzt und als-
dann die Höhe des Baumes mit Hilfe ähnlicher rechtwinkliger Drei-
ecke berechnet.
Wir sind der Zeit schon sehr nahe, in welcher die europäischen
Missionäre an dem Hofe des den Wissenschaften ergebenen Kaisers
Eang hi freundliche Au&ahme fanden. Er schätzte in ihnen die
höhere Bildung, welche er, sich darin als kein Nationalchinese ver-
ratend, wohl anerkannte. Aber einen chinesischen Gelehrten Mei
wuh gan, einen Anhänger der verjagten Ming-Dynastie und trotz-
dem wegen seines Wissens bei dem fremden Kaiser wohlgelitten,
wurmte das Übergewicht dieser Europäer. Er behauptete'), von den
durch sie eingeführten Theorien sei die bei weitem größte Mehrzahl
den Chinesen schon Jahrhunderte früher bekannt gewesen, und dieses
nur aus ünkunde mit der heimischen Literatur übersehen worden.
Ja aus China stamme alle Wissenschaft, übersetzt sei sie zu den Be-
wohnei-n anderer Länder gedrungen und habe dort weiter gelebt,
während sie in China selbst seit der großen Bücherverbrennung auf-
>) Ed. Biot im Jawmal des Savanta 1839 pag. 270—273 und besonders im
Journal Asiatique für März 1889 png. 193^217. Die Bemerkung über U schi
pag. 194. ^.Journal Asiatique f&r März 1839, pag. 212. ^ Biernatzki
8. 60—62.
Die Mathematik der Chinesen. 689
gehört habe sich zu entwickeln, wie sie begonnen hatte. Jetzt suchte
man wieder eifriger und allgemeiner nach den alten Schriften und
fand sie.
Wieviele deren echt, wieviele unecht waren, wer könnte diese
Frage ohne die eingehendsten Kenntnisse der verschiedensten Art
beantworten? Für die mathematischen Schriften muß notwendiger-
weise neben den sprachlichen Merkmalen höheren oder niedrigeren
Alters, vielleicht noch vor diesen der Inhalt zur Beantwortung bei-
tragen, und diesem Inhalte, soviel uns davon bekannt geworden ist,
entnehmen wir die gleiche Folgerung, welche (S. 669) als vor-
läufige Ansicht schon von uns geltend gemacht worden ist, als wir
die Ursprungs- und Echtheitsfrage zuerst aussprachen. Wir glauben
nicht an eine hohe Entwicklung der ursprünglichen chinesischen
Mathematik. Wir glauben vielmehr, daß das meiste aus verschiedenen
Quellen, unter welchen die babylonische wohl nicht die mindest er-
giebige gewesen ist, dorthin zusammenfloß. Wir gehen aber anderer-
seits auch nicht so weit, daß wir den Chinesen jede einzelne Leistung
auf mathematischem Gebiete absprechen. Die Algebra scheint wie
den Indem so auch den Chinesen das ihrem Geiste angemessene
Arbeitsfeld geboten zu haben, und auf diesem Felde wuchsen Früchte,
denen wir bis auf weiteres die chinesische Heimat abzuerkennen in
keiner Weise gerechtfertigt sind. Die Methode der großen Erweite-
rung zur Auflösung gleichzeitig bestehender unbestimmter Gleichungen
ersten Grades dürfte die edelste dieser Früchte sein.
Für die verhältnismäßig geringe Meinung, welche wir von der
altchinesischen Mathematik hegen, können wir eine mittelbare Be-
stätigung in den entsprechend geringen Kenntnissen finden, die fast
zweifellos von China aus weiter nach Osten vordrangen. Wir be-
rufen uns in diesem Sinne auf die Mathematik der Japaner.
Was wir von derselben wissen, stammt unmittelbar oder mittel-
bar aus neueren geschichtlichen Untersuchungen dort einheimischer
Gelehrten, welche das Ergebnis ihrer Forschungen teils in japanischer
teils in englischer Sprache zum Drucke gegeben haben. Insbesondere
sind es die Herren Endo, Eikuchi, Fujisawa, Hayashi, welche
sich um den Gegenstand verdient gemacht haben. Sie unterscheiden
eine Anzahl von ZeitnLumen in der Geschichte der japanischen Mathe-
matik und zwar:
1. Die Zeit bis 553 nachchristlicher Zeitrechnung, in welcher sie
eine von außen unbeeinflußte Bildung vermuten, welche aber nicht
über das Zählen und das elementarste Rechnen hinausging. Von der
Art, wie das letztere geübt wurde, ist nicht der geringste Bericht
vorhanden. Beim Zählen scheixxen Gruppen von je 10^ Einheiten
Cavtor, Gesohlchte der Mathematik ^ 3. a ^ ^
690 31. Kapitel.
eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Wir erkennen darin die
griechischen Myriaden wieder, natürlich ohne ans dieser Ähnlichkeit
eine Beeinflussung Japans von Griechenland oder gar Griechenlands
von Japan folgern zu wollen. Sprachliche Gründe — wir meinen
das Vorhandensein eines einÜEichen Wortes für den Begriff zehn-
tausend — können an mehreren Orten zugleich und unabhängig von-
einander solche Gruppierungen zur Folge gehabt haben. An diese
älteste Zeit schloß sich
2. die Zeit von 554 — 1591, während welcher chinesische Mathe-
matik, zuerst auf dem Umwege über Korea, dann bei sich steigern-
dem Verkehre unmittelbar, in Japan eindrang. So kam das Kieou
tschang^ die neun Abschnitte (S. 670), nach Japan, ohne jedoch dort
weiter ausgebildet zu werden. Im Gegenteil geriet das anfänglich
freudig aufgenommene fremde Wissen allmählich in Mißachtung und
Vergessenheit.
Erst in dem als weitere Periode unterschiedenen Zeiträume von
1592 an scheint sich, zum Teil unter hoUändischem Einflüsse, eine
japanische Mathematik gebildet zu haben, welche wirklich er-
zählenswert ist, und von ihr soll im III. Bande dieses Werkes im
110. Kapitel die Rede sein, wo die Ähnlichkeiten und Unähnlich-
keiten, welche zwischen europäischer und japanischer Mathematik her-
vorzuheben sind, deutlicher betont werden können.
Hier kam es uns ja nur darauf an, den nach unserer Meinung
geringen Wert altchinesischen mathematischen Wissens durch dessen
geringe Einwirkung auf ein Volk zu belegen, dessen Begabung in
späterer Zeit einen Zweifel nicht aufkommen läßt.
VII. Araber.
44«
32. Kapitel.
Einleitendes. Arabiselie Übersetzer.
Wenn in den beiden vorigen Abschnitten der Ursprung der
Kenntnisse, welche bei den Indem und Chinesen nachweislich waren,
nnsere Kritik herausforderte und uns die Hofihung kaum gestattet
ist, daß bei den einander schnurstracks entgegenstehenden Schul-
meinungen in dieser Beziehung unsere Auffassung von allen Lesern
geteilt des Charakters einer wenn auch durch Gründe gestützten doch
wesentlich persönlichen Meinung entkleidet werde, so verhält es sich
ganz anders mit der arabischen Mathematik^).
Daß ein Volk Jahrhunderte lang jedem Kultureinflusse von
Seiten seiner Nachbarvölker unzugänglich war, daß es selbst in jener
ganzen Zeit keinen Einfluß üben konnte, daß es dann plötzlich seinen
Glauben, seine Gesetze und mit diesen seine Sprache weiten Ländern
aufzwang, welche an Ausdehnung kaum von dem Machtbereiche
anderer Eroberer erreicht worden sind, ist für sich eine so regel-
widrige Erscheinung, daß es wohl der Mühe lohnt, ihren Ursachen
nachzuforschen, daß aber zugleich mit ihr die Gewißheit gegeben ist,
die plötzlich auftretende anderen Entwicklungen ebenbürtige Geistes-
reife könne aus sich selbst unmöglich zustande gekommen sein.
') Wir folgen in diesem Abachnitte in der Anordnung des Stoffes wesent-
lich Hankela arabischen Kapiteln S. 223—293. Von Büchern allgemeinen In-
haltes, deren wir nns außer den auch von Hankel benutzten bedient haben,
seien besonders erwähnt: G. Weil, Geschichte der islamitischen Völker von
Mohammed bis zur Zeit des Sultan Selim übersichtlich dargestellt. Stattgart
1866, und Alfr. v. Krem er, Kulturgeschichte des Oriente unter den Chalifen.
Wien 1877. Suter, Das Mathematikerverzeichnis im Fihrist des Ibn Abt
Ja*küb an-Nad!m. Übersetzung mit Anmerkungen in Abhandlungen zur Ge-
schichte der Mathematik VI, 1—87, 1892. Suter, Die Mathematiker und Astro-
nomen der Araber und ihre Werke in Abhandlungen zur Geschichte der Mathe-
matik X, 1 — 278, 1900 nebst Nachtr&gen in Abhandlungen zur Geschichte der
Mathematik XIY, 166 — 186, 1902. Wir zitieren diese Werke als Kremer,
Weil, Fihrist, Suter, die Nachtrage an den wenigen Stellen, wo wir uns
ihrer bedienen, in ausführlicher Bezeichnung. Bei der ersten Auflage hat uns
auch ein inzwischen allzufrühe aus dem Leben geschiedener Orientalist, Hein-
rich Thorbecke, in ausgiebigster \VeiBe unterstützt.
694 82. Kapitel.
Mnhammed floh im September 622 aus Mekka. £r starb im
Juni 632. Zehn Jahre hatten ausgereicht^ ihn auf der Flucht aus
seiner Vaterstadt, ihn kämpfend mit wechselndem Erfolge, ihn endlich
auf dem Gipfel seiner Macht zu sehen, und, was nur wenigen gleich
ihm beschieden war, er starb auf einem Höhepunkt angelangt. Seine
Nachfolger — Chalifen — setzten das von ihm begonnene Werk fort,
die Glaubenssätze, welche Muhammed als ihm offenbart verkündigt
hatte, mit dem Schwerte in der Hand zu verbreiten. Nicht eigent-
liche Eroberung war der nächste Zweck der Kriege. Die Annahme
der neuen Religion durch die Bekriegten genügte den Siegern in
erster Linie, und auch wo der Glaubensfeldzug mit Ländererwerb
endigte, blieb der erste Beweggrund an manchen Erscheinungen
sichtbar. Der Fremde war nicht länger der Unterworfene, als er
selbst wollte. Mit dem Übertritte zum Islam erlangte er das Bürger-
recht, trat er in die Rechte der herrschenden Nation ein^), nur
Eines fehlte ihm: Stammesgemeinschaft, da der Muselmann auf die
alte Nationalität verzichten mußte, der neuen nicht von selbst an-
gehörte. Aber auch diesem Mangel konnte er abhelfen. Er trat
meistens zu dem herrschenden Stamme, zu dessen Anführer oder zur
regierenden Dynastie in das Elientelverhältnis. In der nächsten
Generation waren seine Nachkommen schon vollständig den neu ge-
wonnenen Freunden gleichartig und galten bald als echte Araber,
denen sie in Sprache und Sitte so schnell als möglich sich anzu-
schließen bedacht waren. Diesen durch den Übertritt zu erwerbenden
Vorteilen vereinigt mit der geschichtlichen Tatsache, daß in vielen
Ländern, gegen welche die ersten Züge der Mohammedaner sich
wandten, religiöse Gleichgültigkeit, in anderen Verkommenheit und
Widerstandslosigkeit ihnen gegenübertrat, vereinigt mit der weiteren
Tatsache, daß nationalarabische Volksteile an den verschiedensten
Orten des Ostens längst vor dem Auftreten des Propheten verbreitet
waren, welche auch den Stammesgegensatz zwischen Siegern und Be-
siegten zu lindem sich eigneten, mag eine wesentliche Rolle bei der
raschen Ausbreitung des Islam zugefallen sein. Eben diese Art der
Ausbreitung erklärt es aber, daß die arabische Sprache in fast un-
glaublich kurzer Zeit als herrschende Sprache sich aufdrängen, daß
z. B. noch nicht volle 200 Jahre nach Muhammed unter dem Cha-
lifen Almamün, welcher uns noch ofk beschäftigen wird, ein Statt-
halter in Persien seinen Wohnsitz haben konnte, der nicht ein Wort
persisch verstand*).
Den geistig kräftigeren Elementen, welche an der Religion ihrer
') Krem er ü, 147. *) Ebenda 160, Anmerkung 1.
Einleitondea. Arabische Übersetzer. 695
Väter hingen und nicht zum Übertritte zu bewegen waren, sondern
das blieben als was sie erzogen worden waren, meistens nestorianische
Christen und Juden, wurde freilich dem Wortlaut des Gesetzes nach
mit Bedrückung mannigfacher Art gedroht. Schon Ghalife Omar
634 — 644, derselbe, welcher das Jahr 622 der Flucht Muhammeds
als Hidschra zum Anfang einer neuen Zeitrechnung schuf, erließ
das Verbot, daß kein Jude oder Christ in Staatskanzleien angestellt
werde ^). Härün Arraschid 786 — 809 befahl, alle Kirchen in dem
Grenzgebiete niederzureißen und verordnete, daß die Nicht -Musel-
männer sich einer besonderen Kleidung zu bedienen hätten'). Aber
viele dieser Gesetze standen nur auf dem Papiere und wurden massen-
haft umgangen. Wenn wir hören, daß Härün Arraschid selbst einen
nestorianischen Christen Dschibril ihn Bachtischtf zum Leibarzt
hatte, der sich bei ihm jährlich auf 280000 Dirham (das sind über
M. 200000) stand»), wenn Chalife Almuktadir 869—870 da4i Verbot
Andersgläubige anzustellen mit der Klausel versah: es sei denn als
Arzte oder Geldwechsler, so wird uns der Grund nicht lange ver-
borgen bleiben, warum mau so schonend in mancher Beziehung
verfuhr.
unter den echten Arabern war die Schreibkunst noch wenig
verbreite! Es ist zweifelhaft, ob Muhammed selbst in späteren
Jahren sie sich aneignete^). Gewandtheit mit dem Schreibrohre um-
zugehen besaßen noch lange Zeit nur Christen und Juden, und so
mußte man wohl oder übel sich ihrer bedienen. Namentlich die
nestorianischen Christen waren es, die das staatliche Rechnungswesen
fast allein besorgten und ebenso als Ärzte unentbehrlich waren.
Auch Juden, Perser, Inder betrieben die praktische Medizin, aber
das christliche Element war entschieden vorherrschend. Erst der
große Räzi, dessen Todesjahr auf 932 fällt, eröfiEnet den Reigen der
mohammedanischen Ärzte **). Dagegen war schon unter den persi-
schen Sassanidenkönigen im V. S. ungefähr in der Stadt Dschundai-
säbür in der Provinz Chuzistan eine von Nestorianem geleitete und
besuchte medizinische Schule gegründet worden. Diese Schule wurde
durch die Eroberung in ihrer Blüte keineswegs gehemmt, aus ihr
gingen die besten und berühmtesten Ärzte ihrer Zeit hervor, aus
ihr insbesondere die Leibärzte der Chalifen, und wir haben an einem
Beispiele gesehen, wie dieselben bezahlt wurden. Die ungeheuren
Geldsummen, welche rasch ihren Besitzer zu wechseln pflegten, bilden
überhaupt ein kennzeichnendes Merkmal der damaligen Verhältnisse,
») Weil S. 20. *) Kremer II, 167. ^ Ebenda 179. *) Weil S. 3.
*) Kremer II, 183.
696 32. Kapitel
and man hat gewiß mit Recht auf diesen Umstand hingewiesen^),
am die Baschheit der Entwicklang, die eben so große Jähe des
Verfalls der orientalisch -arabischen Bildang za erklaren. Wo nicht
bloß der Beherrscher der Gläubigen über angezahlte Schätze yer-
fOgte, wo nnr als ein Beispiel anter vielen von einem Kanfmanne in
Al-Basra anter AI-Mahd! 775 — 785 uns berichteii wird, der ein täg-
liches Einkommen von 100000 Dirham (beinahe 30 Millionen Mark
jährlich!) besaß , so begreifen wir, welche Treibhaustemperatar durch
solche Mittel den Fleiß anzufeuern geschaffen wurde.
Eine ungemein fruchtbare übersetzende Tätigkeit begann,
sobald das Arabische die allgemeine Literatursprache geworden war').
Aus dem Syrischen, aus dem Persischen, aus dem Griechischen, aus
dem Indischen wurden durch eingeborene Andersgläubige wertrolle
Werke in das Arabische übertragen. Die Regierungen der Chalifen
Almansür 754—775, Härün Arraschid 786 — 809, Almamün
813 — 833 sind für solche Tätigkeit ganz besonders günstig gewesen,
und hier beginnt auch die Geschichte der Mathematik bei den Arabern.
Vielleicht sollte man zugunsten einer Persönlichkeit noch um
einige Ghalifate weiter hinaufgreifen bis zu dem Omaijaden ^Abd
Almelik 684 — 705, während die drei obengenannten dem Geschlechte
der Abbasiden angehörten. Unter *Abd Almelik, welcher gleich den
anderen Omaijaden in Damaskus residierte, war ein Christ von echt-
griechischer Herkunft, Sergius, Schatzmeister, und dessen Sohn Jo-
hannes von Damaskus folgte in noch jugendlichem Alter wahr-
scheinlich dem Vater bei dessen Tode in dieser Stellung nach. Bald
aber zog er sich nach dem Kloster Saba zurück, wo er nach den
einen 760, nach den andern gar erst 780 starb'). Wir haben
früher (S. 464) gesehen, daß ihm, dessen schriftstellerische Tätig-
keit allerdings auf theologischem Gebiete liegt, nachgerühmt wird,
er sei in der Geometrie so bewandert gewesen wie Euklid, in der
Arithmetik wie Pythagoras und Diophantus, aber das ist auch alles,
was wir von ihm als Mathematiker wissen.
Die Abbasiden folgten im Chalifate auf die Omaijaden im
Jahre 750 in der Person des grausamen, undankbaren, rachsüchtigen
und meineidigen Abül ^Abbäs, dessen blutgetränkte Regierung nur
yier Jahre dauerte^). Wir erwähnen aus dieser Zeit nur eine Neuerung.
Die Heiligkeit des Nachfolgers des Propheten gestattete nicht mehr
einen unmittelbaren Verkehr zwischen ihm und dem Volke. Ein Träger
seiner Befehle mußte die Vermittelung hinfort übernehmen, und ein
solcher Träger, arabisch Wezir, wurde demgemäß ernannt. Wir
») Kremer TI, 190. «) Ebenda 169. ») Ebenda 402. *) Weil S. 181.
Einleitendea. Arabische Übersetzer. 697
stehen jetzt wieder an dem Regierungsantritt Almanfjürs, der nach
den verschiedensten Richtungen eine neue Zeit einleitete und wie
zum äußeren Zeichen derselben seinen Wohnsitz von Damaskus nach
Bagdad an den Tigris verlegte ^ an die Stelle , wo im Umkreise nur
weniger Meilen einst Babylon und Ktesiphon mächtigen Königen
zum Mittelpunkt ihrer Herrschaft gedient hatten. Der Handel be-
lebte sich sichtlich. Die Schiffahrt im persischen Meerbusen und
darüber hinaus brachte den Kaufleuten namentlich von Al-Ba^ra an
der Mündung des mit dem Euphrat vereinigten Tigris jene Reich-
tümer^ von denen vorübergehend die Rede war, brachte ihnen
Menschenkenntnis und Welterfahrung und Wissen der mannig-
fachsten Art.
Al-Basra wurde jetzt der Ort, von wo auch geistige Güter der
Reichshauptstadt zugeführt wurden^). *Amr ihn ^übaid lebte in
Al-Basra, ein Philosoph von sittlicher Reinheit und geistiger Ghröße,
der sich tief erbittert über die schmachvolle Regierungsweise der
letzten Omaijaden lebhaft mit politischen Umtrieben beschäftigte und
für Reinen Teil an dem Sturze wenigstens eines Tyrannen aus jenem
Oepchlechte emsig mitwirkte. Als die Dynastie vollends beseitigt
war^ trat er zu dem Abbasiden Almansür in nahe Beziehungen, und
dieser verehrte ihn wie einen väterlichen Freund. Wahrscheinlicher-
weise waren es die Lehren des *Amr ihn *Ubaid, welche die kultur-
freundlichen Anwandlungen Almansürs in Taten überführten. Auf
Almansürs Befehl entstanden Übersetzungen, von denen wir an-
deutungsweise gesprochen haben. Aus dem Griechischen, vielleicht
freilich erst mittelbar aus syrischen Bearbeitungen, übertrug man
medizinische Schriften'); aus dem Pehlewl die ursprünglich indischen
Tierfabeln des Bidpai, welche in der zweiten Hälfte des VI. S. der
Leibarzt des persischen Königs Chosrau Anoscharwän, desselben, der
den flüchtigen Lehrern der Athener Hochschule eine Heimat geboten
hatte (S. 503), in jene Sprache übersetzt hatte ^); aus dem Sanskrit
lernte man den Sindhind kennen, welchen Al-Fazäri arabisch
herausgab^), und sobald einmal, sagt der arabische Geschichtsschreiber,
der uns dieses erzählt, diese Werke in die Öffentlichkeit gedrungen
waren, las man sie und studierte mit Eifer die darin behandelten
Gegenstände.
*) Kremer II, 410—412. *) Wen rieh, De auetorum Graecorum ver-
sionibiis et commentariis Syriacis, Ärabicia, Armeniacia Persicisque. Leipzig 1842,
pag. 13 — 14. ^ WüBtenfeld, Geschichte der arabischen Aerzte und Natur-
forscher. Göttingen 1840, S. 6, Nr. 7 uud S. 11, Nr. 21. *) Kiemer 11, 442.
Suter 4—6, Nr. 6.
32. Kapitel.
Wir sind namentlich über das, was den Sindhind betrifft ^)y aufs
beste unterrichtet durch eine in der Einleitung zu einem astrono-
mischen Werke enthaltene Erzählung. Aus dieser berichtet nämlicli
ein anderer Araber wie folgt: ^^Alhusain ihn Muhammed ihn Hamid,
bekannt unter dem Namen Ibn Aladami, erzählt in seinem Tafel-
werke; bekannt unter dem Namen der Perlenschnur'), daß im
156. Jahre der Hidschra vor dem Chalifen Almansür ein Mann aus
Indien erschien, welcher in der unter dem Namen Sindhind bekannten
Rechnungs weise, die sich auf die Bewegungen der Sterne bezieht,
sehr geübt war, und zur Auflösung der Gleichungen Methoden, die
sich auf die ron einem halben Grade zu einem halben Grade be-
rechneten Kardagas stützten, und außerdem mannigfache astronomische
Verfahren zur Bestimmung der Sonnen- und Mondfinstemisse, der
Eoaszendenten der Zeichen der Ekliptik und anderer ähnlicher Dinge,
insgesamt in einem aus einer gewissen Zahl von Kapiteln bestehen-
den Buche besaß. Das Buch wollte er ausgezogen haben aus den
Kardagas, welche den Namen eines indischen Königs Figar tragen,
und welche auf eine Minute genau berechnet waren. Almansür
ordnete an, daß man dieses Buch ins Arabische übersetze und da-
nach ein Werk verfasse, welches die Araber den Planetenbewegungen
zugrunde legen könnten. Diese Arbeit wurde dem Muhammed ibn
Ibrahim Alfazäri anvertraut, welcher danach ein Werk verfaßte,
das bei den Astronomen der große Sindhind heißt. Das Wort
Sindhind bedeutet nämlich in der Sprache der Inder ewige Dauer.
Insbesondere die Gelehrten jener Zeit bis zur Regierung des Chalifen
Almamün richteten sich danach. Für diese wurde ein Auszug davon
durch Abu Dscha'far Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi angefertigt,
welcher sich dessen auch zur Herstellung seiner in den Ländern des
Islam berühmten Tabellen bediente. In diesen Tafeln stützte er sich
für die mittleren Bewegungen auf den Sindhind und wich für die
Gleichungen und Deklinationen davon ab. Er stellte seine Gleichungen
nach der Methode der Perser und die Deklinationen der Sonne nach
der Weise des Ptolemäus auf. Er schlug auch in diesem Werke
schöne von ihm erfundene Näherungsmethoden vor, welche aber
wegen gewisser augenscheinlicher Irrtümer, die das Werk enthält,
und die des Verfassers Schwäche in der Geometrie zeigen, unzuläng-
') Vgl. Woepcke im Journal Äsiatique vom 1. Halbjahr 1868, pag. 474 flgg.
Auch die von une nachher zu gebenden Erläuterungen finden sich bei Woepcke,
welcher sich hier zum Teil auf Colebrooke stützt. *) Ibn Aladam! lebte
um 900. Sein Tafelwerk wurde 920 nach seinem Tode von einem Schüler
herausgegeben. Notices et extraits de manitscrits de la bibUoth, YII, 126, An-
merkung 3. Suter 44, Nr. 82.
Einleitendes. Arabische Übersetzer. 699
lieh sind. Diejenigen Astronomen der genannten Zeit, welche der
Methoden des Sindhind sich bedienten, schätzten das Werk sehr and
verbreiteten es rasch weiter. Noch heute ist es sehr gesucht von
denjenigen, welche sich mit der Berechnung der Grleichnngen der
Planeten beschäftigen.^
Wir müssen diesem Berichte mannigfache ErUluterungen bei-
fügen. Der Name Sindhind ist nichts anderes als eine offenkundige
Verketzerung von Siddhänta, und es ist also nur die Frage, welches
von den diesen Namen führenden astronomischen Werken der Inder
gemeint sei. Da es im Jahre 156 der Hidschra, welches mit dem
Jahre 773 n. Chr. übereinstimmt, nach Bagdad gekommen ist, so
stehen später verfaßte Siddhäntas natürlich außer Frage. Genauere
Antwort gestattet sodann die Nennung des Königs Figar. Es ist
sehr wahrscheinlich, daß Figar aus Yyäghra entstand, daß aber
Vyäghra selbst eine Abkürzung aus Vyäghramuka ist,, dem Namen
des Königs, während dessen Regierungszeit Brahmagupta 628 seinen
Brahma -sphuta-siddhänta (S. 598) verfaßte. Berücksichtigt man end-
lich die gleichfalls allgemein zugestandene Verketzerung Kardaga
aus kramajyä, so dürfte folgende Vermutung zur fest sicheren
Tatsache sich gestalten: Im Jahre 773 kam durch einen Inder ein
Auszug aus dem astronomischen Lehrgebäude des Brahmagupta nach
Bagdad, und dieser Inder nannte seine Quelle nicht mit dem wahren
Named des Verfassers, sondern nach dem Könige, unter welchem das
Werk verfaßt war, darin vielleicht nur die Fragen des Chalifen be-
antwortend, welcher die fürstliche Macht so verstand, daß alles nach
dem benannt werden müsse, unter dem es geleistet wurde.
Die arabischen Personennamen, welche in dem Berichte
und auch sonst uns bereits vorgekommen sind, erheischen gleichfalls
eine erläuternde Bemerkung*). Die Araber bedienten sich verhältnis-
mäßig sehr wenig zahlreicher Namen. Um so sicherer trat es ein,
daß viele gleichnamig waren, und zur Unterscheidung wurde alsdann,
verbunden durch das Wort ihn « Sohn, auch der Vatersname genannt,
Muhammed ihn ^Abdallah (der Sohn des 'Abdallah) war ein anderer
als Muhammed ihn *Omar (der Sohn des 'Omar). Waren auch die
Väter gleichnamig, so konnte wiederholt durch ihn eingeführt auf
den Vater des Vaters zurückgegangen werden usw. War eine Ver-
wechslung nicht möglich, so ließ man nicht selten dem Namen des
Vaters gegenüber den des Sohnes weg und sprach nur von dem
Sohne 'OmiEirs oder von dem Sohne 'Abdallahs. Auch umgekehrt
*) Wüstenfeld, Geschichte der arabiBchen Aerzte und Naturforscher,
s. X— xni.
700 32. Kapitel.
hat man durch den Sohn auch wohl den Vater näher bezeichnet, der
nun abü =» Vater des nachfolgend Genannten hieB. Ein Muhammed
also, der einen 'Omar zum Vater^ einen 'Abdallah zum Sohne hatte,
vereinigte die Namen beider Blutsverwandten mit dem eignen und
hieß dementsprechend Abü 'Abdallah Muhammed ihn 'Omar. Man
findet dabei die eigentümlichsten Verbindungen und Weglassungen.
So konnte von dem Vater eines bekannten Mannes, von dem Sohne
des Vatera eines Dritten die Bede sein, ohne daß der Name des
eigentlich Gemeinten überhaupt ausgesprochen wurde. Abü Marwan
war Marwäns Vater, gleichgültig wie er hieß; Ihn Abü Marwan war
der Sohn von Marwans Vater, d. h. Marwäns Bruder. Der Araber
hat nun femer die Gewohnheit auch Eigennamen den Artikel al vor-
zusetzen, welcher mit Abü sich zu Abü'l vereinigt und auch andere
Veränderungen erleidet, z. B. vor einem anfangenden R sich in ar
verwandelt. . Daß dieser Artikel um so weniger bei Beinamen fehlen
durfte ist einleuchtend. Wir erinnern als Beispiele an die Chalifen-
namen al Mansür = der Siegreiche, ar Raschid » der auf richtigen
Weg Geleitete, al Mamün « der durch Vertrauen Beglückte. Die
Beinamen, vielfach zur genaueren Bestimmung der gemeinten Persön-
lichkeit beitragend, sind verschiedener Gattung. Sie können sich auf
geistige oder körperliche Vorzüge oder Mängel dessen beziehen, dem
sie beigelegt wurden; sie können von dem Geburtsorte oder Wohn-
orte des Betreffenden herrühren; sie können eine religiöse Sekte be-
zeichnen, welcher er angehörte; sie können den Stand oder die Be-
schäftigungsweise der Persönlichkeit selbst oder des Vaters angeben.
Wir werden durch diese Erläuterung darauf vorbereitet, arabische
Schriftsteller mit einem für unsere Gewohnheiten übermäßig langen
Namen auftreten zu sehen, aber auch darauf, daß man, um die
Länge zu vermeiden, sich gern nur der Beinamen bediente. So ist
in obigem Bruchstücke schon von Alhusain ihn Muhammed ihn Ha-
mid die Rede und dabei erwähnt, man nenne ihn gemeiniglich Ibn
Aladami. So kommt ebendort Abü Dscha'far Muhammed ibn Müsa
Alchwarizmi vor, d. h. Muhammed, der Vater des Dscha'far, der Sohn
des Müsä aus der Provinz Chwarizm, und wir werden sehen, daß
Alchwarizmi der Name blieb, imter welchem dieser Schriftsteller in
weiteren Kreisen bekannt wurde.
Wir kehren nach dieser Abschweifung zu der unmittelbar vor-
her ausgesprochenen Behauptung zurück, daß 773 ein Auszug aus
dem uns bekannten Werke des Brahmagupta nach Bagdad kam. Die
arabische Überarbeitung durch Alchwarizmi muß um 820 etwa
stattgefunden haben. Aber schon vorher wurde jener Auszug von
Arabern benutzt. Ja'küb ibn Tärik schrieb schon 777 Tafeln ge-
Einleitendes. Arabische Übersetzer. 701
zogen ans dem Sindhind^). Ähnliche Tafeln fertigte Hafs ihn
'Abdallah aus Bagdad, und Ahmed ihn ^Abdallah Habasch
genannt al Häsib =» der Rechner ans Merw stellte nm 830 drei ver-
schiedene astronomische Tafeln her, eine nach arabischen Beobachtungen,
eine nach den Lehren der Perser, eine nach den Methoden der Inder*).
Auf ein noch späteres Datum weisen nach indischer Methode berechnete
Tafeln des Abü'l 'Abbäs Fadl ihn Hätim aus Nairiz in Persien')
um 900 und die Perlenschnur des Ihn Aladami aus der gleichen
Zeit. Ob jedoch alle diese Anwendungen indischer Methoden auf
der einmaligen Einführung im Jahre 773 beruhten, ob spätere Ver-
bindungen zwischen arabischen und indischen Gelehrten vorhanden
waren, wenn wir von den Reisen absehen, welche Massud! (f 966)
und Albirüni (f 1038) in Indien machten und ausführlich beschrieben
haben, ob schon vor 773, damals als Muhammed ihn Easim unter
dem Omaijaden Welid L, 705 bis 715, bis an den Indus vordrang*),
indische Wissenschaft in mündlicher Übertragung zu den Arabern
gelangt war, das sind Fragen, zu deren Bejahung wir freilich keinen
überlieferten Anhaltspunkt haben, deren vollständige Verneinung aber
uns fast noch kühner erscheinen möchte.
Ungleich gesicherter ist jedenfalls die Art und Weise, in welcher
griechische Wissenschaft in sich wiederholenden Wellen den arabischen
Boden durchtränkte. Ganz Syrien in den gebildeten vorzugsweise
christlichen Kreisen ist fast als griechische Kolonie zu denken. Aus
der Schule von Antiochia ging jener Nestorius hervor, welcher 428
bis 431 Patriarch von Konstantinopel war, und dessen Anhänger seine
Heimatsgenossen waren und bis auf den heutigen Tag geblieben
sind. In Emesa und Edessa waren nestorianische Schulen, in welchen
man nicht aufgehört hatte, Hippokrates und Aristoteles zu studieren.
Als dann bei der Amtsentsetzung des Nestorius wegen seiner als
ketzerisch verurteilten Ansichten diese Anstalten in eine Art von
Verruf kamen und die zu Edessa 489 ganz aufhörte, da verschwand
das Studium griechischer Medizin nicht etwa ganz, es zog sich nur
weiter zurück nach Dschundaisäbür in der Provinz Ghuzistan, wie
wir (S. 695) gelegentlich gesagt haben. Die spätere Omaijadenresidenz
selbst, Damaskus, besaß unter ihren Einwohnern Männer von grie-
») Hankel S. 280—281. Fihrist 38. Suter 4, Nr. 4. •) Abulpha-
ragiuB, Historia dynast. ed. Pococke. Oxford 1663, pag. 161 der lateiniBchen
Übersetzung. Vgl. auch Gauss in in den Anmerkungen zu den H&kimitiBchen
Tafeln des Ihn Junis. Notices et extraits de manttscrits de la BtbliaÜUque
nationale VII, 98, Anmerkung 2. «) Notices et extraits etc. VII, 118, An-
merkung 2. Suter 45, Nr. 88. *) 'Weil S. 97. Woepcke im Journal Asia-
tique vom 1. Halbjahr 1863, pag. 472.
702 32. Kapitel.
ohischer Herkunft und griechischer Bildung. Damascius von Damaskus
(S. 501) stand um 510 an der Spitze der athenischen Hochschule,
entsprechend wie Johannes von Damaskus in der zweiten Hälfte
des VIIL S. Vertreter griechischer Denkungsart in der Heimat war.
Auch in Persien fehlte es keineswegs neben alten an. neueren Be-
ziehungen zu Griechenland. Der Hof jenes Sasaniden, Ghosrau I.
Anöscharwän war, woran wir eben (S. 697) erinnert haben, von 531
bis 533 etwa die Zufluchtsstätte der ans Athen vertriebenen letzten
Peripatetiker gewesen, und wenn dieselben auch der Heimat sich
wieder zuwandten, sobald der Friedensvertrag von 533 es ihnen ge-
stattete, die Samen, welche sie einmal ausgestreut hatten, gingen
doch nicht alle in der fremden Erde zugrunde. So war also, als
djarch Verhältnisse, auf die wir aufmerksam gemacht haben, eine
Neigung der Chalifen erwachte, Schriftsteller anderer Völker in
arabischer Sprache kennen zu lernen, an Männern kein Mangel,
welche Griechisches aus schon vorhandenen syrischen und persischen
Übersetzungen, aber auch aus der Ursprache zu übertragen im-
stande waren.
Die ersten griechischen Mathematiker, welche den Arabern mund-
gerecht gemacht wurden, waren Ptolemäus und Euklid^).
Für beide werden wir auf die Regierungszeit Arraschids ver-
wiesen, dessen Wezir Jahjä ihn Ghälid der Barmekide die große Zu-
sammenstellung übersetzen ließ. Der erste Versuch scheint jedoch
nicht von sonderlichem Erfolge begleitet gewesen zu sein. Vielleicht
entstammt ihm die sprachwidrige Verbindung des arabischen Artikels
al mit dem griechischen Superlativ fieyiörrj, welche in dem Worte
Al-Midschisti (A Image st) ein höchst ungerechtfertigtes, aber durch
die lange Dauer des Besitzes unantastbar gewordenes Bürgerrecht
erlangte. Erneuerte Durchsicht und Verbesserung dieser Übersetzung
erfolgte noch unter desselben Chalifen Regierung durch Abu Hasan
und Salmän, dann durch Haddschädsch ihn Jüsuf ibn Matar,
welcher letztere auch als erster Übersetzer der euklidischen Elemente
genannt wird. Euklid scheint er sogar zweimal, zuerst unter Arra-
schid, dann unter Almamün, vorgenommen zu haben, da von den
beiden Bearbeitungen unter dem Namen jener Chalifen die Rede ist
als von einer harünischen und einer mamünischen').
Wir stellen uns keineswegs die Aufgabe, alle arabischen Über-
^) Gartz, De interpretibua et explanatoribus Eftdidis arabida. Halle 1823,
pag. 7, und Wenrich, De auctarum Graecorum versionibua etc. pag. 177 und 227.
*) Über diese und andere Euklidübersetzungen vgl. Klamroth, Ueber den ara-
bischen Euklid (Zeitschr. der morgenländ. GeseUschaft XXXV, 271—326, Leipzig
1881). Über Haddsch&dsch s. Suter 9, Nr. 16.
Einleitendes. Arabische Übersetzer. 703
Setzer za nennen^ oder die griechischen Schriftsteller über Mathematik
sämtlich anzugeben , welche von jenen übersetzt worden sind. Die
einen wie die anderen dürften nicht einmal alle bekannt sein, selbst
für solche, welche mit dem gediegensten Einzelwissen an die Unter-
suchung dieses Gegenstandes herangetreten sind. Die Anzahl der
noch nicht katalogisierten oder ungenügend beschriebenen, jedenfalls
von Mathematikern von Fach noch nicht durchgesehenen arabischen
Handschriften, welche auf unsere Wissenschaft sich beziehen, in
Bibliotheken des Ostens wie des Westens — wir nennen insbesondere
die reichhaltigen spanischen Sammlui^en — ist eine ungemein große
und verbietet dadurch jedes abschließende Wort, mag es um Über-
setzer oder um Originalschriffcsteller sich handeln. Nur einige wenige
Übersetzer sind unter allen Umständen zu erwähnen.
Hunain ihn Ishäk mit dem ausführlichen Namen Abu Zaid
Hunain ihn Ishäk ihn Sulaimän al 'Jbädi^) gehörte dem christlichen
arabischen Stamme der 'Jbäd an. Er kam schon mit guter Vorbildung
nach Bagdad, machte dann Reisen in die griechischen Städte, wo er
deren Sprache sich aneignete und kehrte über Al-Basra, wo er sich
noch im Arabischen vervollkommnete, nach Bagdad zurück. Jetzt
begab er sich an die Übersetzung einer ganzen Reihe griechischer
Naturforscher und Philosophen, auch des Ptolemäus, dessen Almagest
er bearbeitete. Andere Schriftsteller, wie die meisten Werke des
Euklid, die Schrift des Archimed von der Kugel und dem Zylinder,
den Autolykus ließ er unter seiner Aufsicht durch seinen Sohn Abu
Ja^küb Ishäk ihn Hunain^ übersetzen. Der Vater starb, durch
den Bischof Theodosius wegen Gotteslästerung aus der Gemeinde
ausgestoßen, 873, der Sohn 910 oder 911. Beiden fehlten bei aller
philologischen Gewandtheit, deren sie sich rühmen durften, die sach-
lichen Kenntnisse, ohne welche es nun einmal nicht möglich ist, ein
mathematisches Buch zu übersetzen, und so bedurften ihre Arbeiten
gar sehr der fachkundigen Verbesserung.
Diese wurde ihnen durch Täbit ihn Kurrah'). Abül Hasan
Täbit ihn KuiTah ihn Marwän al Harrani wurde 836 zu Harran in
Mesopotamien geboren. Er war zuerst Geldwechsler, wandte sich
aber dann der Wissenschaft zu und erwarb sich in Bagdad ausge-
^) Wüsten feld, Geschichte der arabischen Aeizte und Naturforscher S. 26,
Nr. 69. Suter 21—28, Nr. 44. Wenrich 1. c. pag. 228 glaubte fälschlich die
Almagestübersetzung dem hier gleich folgenden Ishäk ibn Hunain zuschreiben
zu müssen. Vgl. Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. X, 469, An-
merkung 2. *) Wüsten feld, Geschichte der arabischen Aerzte und Natur-
forscher S. 29, Nr. 71. ») Ebenda 1. c. S. 84, Nr. 81. Fihrist 2ö— 26. Suter
34—38, Nr. 66.
704 32. Kapitel.
zeichnete Kenntnisse, sowohl als Mathematiker und Astronom, als
auch in der griechischen Sprache , welcher er wie der syrischen und
arabischen mächtig war. Ein erneuerter Aufenthalt in seiner Vater-
stadt war für Täbit mit Mißhelligkeiten verknüpft. Er gehörte
nämlich der Sekte der Sabier an, teilte aber deren Ansichten nicht
in der geforderten Strenge und wurde deshalb ausgestoßen. Nun
kehrte er abermals nach Bagdad zurück ^ welches er nicht wieder
verließ. Dort starb er 901 in höchstem Ansehen bei dem Chalifen
AlmuHadid^), 892 — 902, der ihn seines nächsten Umganges würdigte.
Wir werden es im 34. Kapitel mit Täbit als Originalschriftsteller zu
tun haben. Unter seinen Übersetzungen nennen wir Schriften des
Apollonius von Pergä, des Archimed, des Euklid, des Ptolemäus, des
Theodosius. Den Übersetzungen können wir auch als nahe verwandten
Inhaltes einen Kommentar Täbits') zu dem (S. 424) von uns er-
wähnten Buche des Gharistion über die Wage anschließen. Es ist in
einer viel verbreiteten alten lateinischen Übersetzung erhalten und
den Forschem über die Geschichte der Mechanik als Liber Charastonis
bekannt.
Etwa gleichzeitig mit Täbit zwischen 864 und 923 ist Kusta
ihn Lükä zu nennen'), ein christlicher Philosoph und Arzt, der von
seinen Reisen durch die griechischen Städte eine Menge Bücher mit
nach Hause brachte ^ deren Übersetzung er sich angelegen sein ließ.
In seinen eigenen Schriften soll Reichtum an (redanken neben Kürze
der Ausdrucksweise zu bewundem sein. Er übersetzte die Sphärik
des Theodosius y astronomisch -geometrische Schriften des Aristarch
von Samos, des Autolykus, des Hypsikles^ den Gewichtezieher des
Heron von Alexandria ^ mit großer Wahrscheinlichkeit auch den
Diophant.
Die ganze zweite Hälfte des X. S. erfüllt Abü'l Wafä Muhammed
ihn Muhammed Al-Büzdschäni 940—998 aus Büzdschän^), der als
Übersetzer des Diophant zu nennen ist. Er verließ schon mit
20 Jahren seine Heimat^ um nach 'Irak überzusiedeln , wo er speku-
lative und praktische Arithmetik vermutlich bei zwei Oheimen, Geo-
metrie bei zwei anderen Lehrern studierte. Unter der spekulativen
Arithmetik ist das zu verstehen, was die Griechen Arithmetik
nannten, also Zahlentheorie und Algebra, unter der praktischen
Arithmetik die eigentliche Rechenkunst, die Logistik der Griechen,
') Weil S. 194—198. •) P. Duhem, Les angines de la statique I, 79—98.
•) Wüetenfeld 1. c. S. 49, Nr. 100. Wenrich 1. c. S. 178. Steinschneider
in der Zeitschr. Math. Phya. X, 499. Suter 40—42, Nr. 77. *) Bilhard
Wiedemann, Zur Geschichte Abal Wefas. Zeitschr. Math. Phys. XXIV, histor.-
literar. Abtlg. S. 121—122 (1879). Pihrist 39—40.
Einleitendes. Arabische Übersetzer. 705
wobei jedoch keineswegs jetzt schon mit Bestimmtheit ausgesprochen
werden will, daß er beide nach griechischen Mustern erlernt habe.
Die griechischen Schriftsteller, deren Werke wir als von Arabern
übersetzt namhaft zu machen hatten, sind neben den großen Meistern
Euklid, Archimed, ApoUonius, Heron, Diophant hauptsächlich solche,
welche den sogenannten kleinen Astronomen (S. 447) der Ghiechen
ausmachten. Die Araber hatten für diese Schriften, deren Studium
zwischen die Elemente des Euklid und den Almagest einzuschalten
ist, gleichfalls einen besonderen Sammelnamen, sie nannten sie die
mittleren Bücher*).
Man muß nicht glauben, daß damit die Reihe griechischer
Mathematiker, von denen man weiß, daß ihre Schriften arabische
Übersetzer fanden, abgeschlossen sei, und ebensowenig, daß es eine
einfache Sache sei, aus arabischen Zitaten klug zu werden. Wenn es
natürlich ist, daß Eigennamen, bei welchen man sich, auch wenn
man die Sprache des Volkes, dem ihre Träger angehörten, kennt, gar
häufig nichts denken kann oder Falsches sich zu denken versucht ist,
beim Übergang in fremde Literaturen verdorben werden, so haben
arabische Abschreiber, welche sogenannte diakritische Punkte bald
wegließen, bald unzutreffend hinschrieben, ein besonderes Geschick an
den Tag gelegt, Namen unkenntlich zu machen. Sind nun vollends
die arabischen Schriften nicht im Urtexte bekannt, sondern selbst
wieder in Gestalt von Übersetzungen ins Lateinische, welche seit dem
XU. S. angefertigt wurden imd zum Teil von Männern angefertigt
wurden, denen die wirklichen griechischen Eigennamen unbekannt
waren, so ist das Unmögliche an Verketzerui^en fast das Gewöhn-
liche. Aus Heron ist Iran und Yrinius geworden^, aus Menelaus
Milleius, aus Archimed bald Arsamites, bald Arsanides, bald
Archimenides usw.').
Einen Vorteil bilden diese Umgestaltungen, sobald sie einmal
erkannt sind; sie geben die Möglichkeit, lateinischen Übersetzungen
oder Bearbeitungen griechischer Schriftsteller, welche dieselben ent-
halten, auf den ersten Blick anzusehen, daß nicht der griechische
Grundtext, sondern die Zwischenbehandlung eines Arabers die Vor-
lage des letzten Übersetzers bildete, daß also notwendigerweise der
betreffende griechische Schriftsteller als einer von denen betrachtet
werden muß, deren Werke auf arabische Mathematik Einfluß üben
^) Steinschneider, Die mittleren Bücher der Araber und ihre Bearbeiter.
Zeitschr. Math. Phys. X, 466—498 (1866). *) Zeitschr. Math. Phys. X, 489, An-
merknng 60. Suter in der Bibliotheca MathemaHca, 3. Folge II, 408—409 (1902).
*) Steinschneider in der Hebi^ischen Bibliographie Juli-August 1864 (Bd. VH,
Nr. 40) S. 92—93, Anmerkung 20.
Cahtob, GMohlohte der Mathematik I. S. Aafl. 46
706 32. Kapitel.
konnten. So müssen beispielsweise die Arbeiten des Zenodorus
den Arabern bekannt gewesen sein, weil in einer lateinischen Ab-
handlung über die isoperimetrische Aufgabe, welche handschriftlich
in Basel vorhanden ist^), der Name Archimenides vorkommt.
Von anderen Schriftstellern, welche den Arabern bekannt waren,
nennen wir neben Jamblichus und Porphyrius, deren Studium bei
den Syrern niemals aufgehört hat, insbesondere Nikomachus*), dessen
arabische Quellen selbst gedenken. Ebenso dürfen wir eine Bekannt-
schaft mit Pappus vermuten, da Pappus der Rumäer doch wohl nur
irrtümlich statt der Alexandriner gesagt ist.
Die Übersetzungstätigkeit war auch von einer vielfach kommen-
tierenden begleitet, auf die wir aber, da sie immerhin einige An-
sprüche an das Selbstdenken des Kommentators erhebt, bei den
Originalarbeiten zu reden kommen. Wir haben, bevor wir diesen uns
zuwenden, nur eine Bemerkung noch zu machen.
Die Schriftsteller, von welchen als Übersetzern seither die Rede
war, gehörten sämtlich dem Morgenlande an. Das Morgenland war
es aber nicht allein, welches der Islam sich unterwarf, in welchem
arabisch gesprochen und arabisch gelehrt wurde, und wenn wir gelten
lassen, was für die früheren Abschnitte unsere Richtschnur bildete,
daß es wesentlich auf die Sprache ankommt, nicht auf das örtliche
Beisammen wohnen, um die Zugehörigkeit zu einem Kulturverbande
zustande zu bringen, so werden wir neben den Ostarabern auch
Westaraber berücksichtigen müssen, welcher letztere Name für die
arabisch redenden Bewohner der afrikanischen NordküstQ, Spaniens
und Siziliens in Anspruch genommen wird.
Längs der afrikanischen Küste*) verbreitete sich der Islam unter
der Regierung Welid I., 705 — 717, vornehmlich durch die Tapferkeit
zweier Feldherren, des Müsä und des Tärik. Letzterer war es auch,
der sein Waffenglück über das Mittelmeer hinübertrug und im Mai
711 auf spanischem Boden jene steile Höhe besetzte, die nach ihm
Täriks Höhe, Dschebel Tärik, Gibraltar genannt ist. Von diesem
festen Punkte aus wurde Spanien bald zum größten Teile unter-
worfen. Aber die große Entfernung von der Chalifenhauptstadt gab
dem Emir, d. h. dem Befehlshaber von Spanien, die Gelegenheit sich
selbständiger zu gehaben, als Statthalter der näher gelegenen Pro-
vinzen es wagen durften. Nachdem die Abbasiden zur Macht gelangt
waren, kam es zur vollständigen staatlichen Trennung, indem Emir
^) In dem Sammelbande F. 11, 38 der Baslei Stadtbibliothek. *) Zeitschr.
Math. Phys. X, 463, Anmerkung 24 über Nikomacbus und auf derselben Seite
im Texte: Pappufl der Rumäer. ») Weil S. 97 flgg.
Arabische Zahlzeichen. Mnhammed ihn Müb& Alchwarizmi. "707
*Abd Arrahmän ein Omaijade 747 eine eigene spanische Omaijaden-
dynastie gründete^), welche Versuche des Chalifen Al-Mahdi 776 — 777
Spanien wieder zn unterwerfen, mit Glück zurückwies'). Auch das
afrikanische Küstengebiet trennte sich vom Mutterlande. Seit dem
Anfang des IX. S. entstand *) dort ein Reich mit der Hauptstadt Fez,
und dieses war, kaum gegründet, kraftig genug selbst wieder erfolg-
reiche Kolonisten nach Sizilien auszusenden/ wo auch wieder eine
selbständige moslimische Dynastie ihren Herrschersitz aufschlug.
Wir haben zum Glück uns nicht mit den Kämpfen und Feindselig-
keiten zu beschäftigen, welche zwischen den einzelnen Dynastien
herrschten. Gift und Dolch ebenso wie offene Empörungen ließen
bald einzelne Persönlichkeiten, bald ganze Geschlechter in der Herr-
schaft wechseln und auch den Sitz der Herrschaft mehrfach verlegen.
Uns genügt die Tatsache der fast unaufhörlichen Kämpfe zur
Stütze der weiteren Tatsache, daß auch wissenschaftlicher Neid
zwischen den Arabern des Ostens und des Westens eine Scheidewand
errichtete, welche es verhinderte, daß manches, welches den einen
eigentümlich geworden war, iu derselben Form von den anderen über-
nommen wurde, und was wir .damit meinen, wird wohl klar, wenn
wir die Jahreszahl 773, welche das Auftreten indischer Astronomie
in Bagdad bezeichnet, mit der Zahl 715 der Eroberung des West-
reiches, oder auch nur mit der 747 des Beginnes des spanischen
Omaijadenreiches vergleichen. Wir werden sofort an diese Datenver-
gleichung erinnern müssen, wenn wir nunmehr an die Ausbreitung
des Zahlenrechnens als ersten Teil arabisch-mathematischen Original-
schriftsteUertums gelangen und dabei wieder zuerst von den Zahl-
zeichen der Araber reden.
33. Kapitel.
Arabische Zahlzeichen. Mnhammed ibn Mftsä Alchwarizmi.
Die Schreibkunst der Araber^) in der Zeit, zu welcher sie für
die Geschichte der Mathematik unsere Aufmerksamkeit beanspruchen
dürfen, war nicht weit her (S. 695). Von einer alten Schrift mit
groben starken geradaufstehenden Zeichen, welche von späteren ara-
^) Weil S. 140flgg. *) Ebenda S. 150 *) Ebenda S. 297—336 die mos-
limischen Dynastien in Afrika und Sicilien. *) Vgl. Silvestre de Sacy,
Grammair e aräbe. Paris 1810 und die von Gesenius verfaßten Artikel Ara-
bische Schrift S. 68 — 66 und Arabische Literatur S. 66—69 im V. Bande von
Ersch und Grubers Enzyklopädie.
45 •
708 88. Kapitel.
bischen Gelehrten selbst diesem Aussehen nach den Namen einer ge-
stützten säulenartigen Schrift erhalten hat^ sind nur geringe Über-
reste vorhanden. Ob Zahlzeichen darunter vorkommen^ ist uns nicht
bekannt. Eine neue Schrift, welche zunächst dazu angewandt wurde,
den Koran zu schreiben , entwickelte sich um die Mitte des YIL S.
Die Schreibkunst gelangte bei diesem heiligen Zwecke bald zu
höherem Range, geweft-bsmäBige Abschreiber bildeten sich aus, und
da diese besonders zahlreich und geschickt in dem 639 am Euphrat
erbauten Al-Küfa auftraten, so erhielt die Schrift den Namen der
ku fischen. Am Anfange des X. S. veränderte sich diese doch immer
noch grobe und rohe Schrift, welche man mit einem Stifte oder einer
ungespaltenen Röhre zu schreiben pflegte, besonders unter dem Ein-
flüsse des 940 verstorbenen Wezirs Ibn Mukla zu jener flüchtigen,
abgerundeten Kurrentschrift, welche heute noch im Oriente dient und
in Druckwerken nachgeahmt wird. Sie fuhrt den Namen Nes-chi-
Schrift oder Schrift der Abschreiber, und wurde, seit man sich ge-
spaltener Rohrfedem zu ihrer Darstellung bediente, immer feiner und
eleganter. Schreibkünstler wie Ibn Bauwäb (f 1032), wie der be-
rühmte Jäküt (f 1221) glänzten. Spanien bewahrte seinen eigenen
Schriftzug, der sich bis jetzt in Westafrika, in dem sogenannten
Magrib, erhalten hat; er ist von einer altertümlichen Steifheit und
üngefälligkeit^).
Die Buchstaben des arabischen Alphabetes waren ursprünglich
nach Reihenfolge und Aussprache wohl übereinstimmend mit den
22 Lauten, welche auch anderen semitischen Alphabeten angehören,
und diese ältere Anordnung führt den Namen Abudsched durch
Verbindung der drei ersten Laute, wie man Abece und Alphabet sagt
Als die Nes-chicharaktere sich bildeten, verließ man die alte Reihen-
folge, um die Buchstaben nach ihrem Aussehen zu ordnen, d. h. so,
daß die einander ähnlichen Schrifbzeichen nebeneinander gestellt
wurden.
Daß die Schreibart der Zahlen bei den vielfachen Verände-
rungen der ganzen Schrift sich nicht gleich bleiben konnte, ist nicht
mehr als natürlich. Vor allem liebten es die Araber, die Zahlwörter
selbst vollständig zu schreiben, eine Methode, wenn man das Methode
nennen darf, welche selbst in einem Lehrbuche der Rechenkunst
noch beibehalten ist, das zwischen 1010 und 1016 in Bagdad verfaßt
wurde *).
Aus ihr wohl entstanden die einem arabisch-persischen Wörter-
^) Kremer n, 814. *) Käf! fil His&b des Abu Bekr Mohammed ben
AlhuBein Alkarkh!, deutsch von Ad. Hochheim. Halle 1878.
Arabische Zahlzeichen. Mnhammed ihn Mügft Alchwarizmi. 709
buche entnommenen sogenannten Diwaniziffern; welche nur abge-
kürzte Zahlwörter sein sollen^). Am klarsten stelle sich dieses durch
den umstand heraus, daß in Zahlen, die aus Hundertern, Zehnem und
Einem bestehen , die Einer zwischen den Hundertern und Zehnem
ihren Platz finden, wie es in der Aussprache auch sei (S. 607).
Außerdem bedienten sich die Araber ihrer in der Reihenfolge
Abudsched geordneten Buchstaben in derselben Weise wie die
übrigen Semiten, um die Zahlen von 1 bis 400 darzustellen. Freilich
ist die genannte Reihenfolge nicht allerorten ganz streng festgehalten
worden. Der gleiche Buchstabe , der in Bagdad 90 bedeutete, hatte
im nordlichen Afrika den Wert 60, 300 wechselte an eben diesen
Orten mit 1000 usw.^), und man hat daraus den Schluß gezogen,
diese von den Arabern als wesentlich arabisch bezeichnete Darstel-
lungsweise der hurüf aldschummal, d. h. der Zahlenwerte der Buch-
staben nach ihrer alten Reihenfolge, könne erst entstanden sein,
nachdem Afrika islamisiert war, also nach 715. Damit stimmt auch
eine Notiz überein*), welche dem Ghalifen Welid L, unter dessen
Regierung jene Ausbreitung nach Westen erfolgte, das Verbot nach-
erzählt, in die öffentlichen, wie wir uns erinnern meist von Christen
geführten Bücher griechische Eintrage zu machen mit Ausnahme der
Zahlen, weil arabisch eins, oder zwei, oder drei, oder achteinhalb
nicht geschrieben werden könne. Eine Ausnahme, welche natürlich
nur so gedeutet werden kann, daß damals um 700 die Bezeichnung
der Zahlen in abgekürzter Buchstabennotation anders als mit grie-
chischen Buchstaben noch nicht stattfand. Die Schwierigkeit Hunderte
von 500 an zu bezeichnen, scheint man anfänglich ähnlich über-
wunden zu haben, wie zum Teil bei den Hebräern (S. 126) durch
gleichzeitige additive Benutzung von zwei oder gar drei Buchstaben.
Später, vielleicht erst vom XL S. an*), ersann man ein neues Mittel.
Wie nämlich im Hebräischen gewisse Buchstaben existieren, welche
in zweierlei Aussprache mit und ohne Aspiration vorhanden sind, so
gibt es auch im Arabischen sechs Charaktere von doppelter Laut-
bedeutung. Mau unterscheidet dieselbe durch Punkte, welche des-
halb diakritische Punkte genannt werden. Diese sechs neuen punk-
tierten arabischen Buchstaben wurden nun den 22 schon vorhandenen
beigefügt und lieferten in dieser Weise * nicht nur Zeichen fOr die
Hunderte 500 bis 900, sondern, da jetzt ein Zeichen überschüssig
war, auch noch für 1000. Die Vereinigung mehrerer Buchstaben zu
>)8ilv. de Sacy, Grammaire arahe I, 76, Note a und Tabelle VIII.
*) Woepcke im Journal Äsiatique vom 1. Halbjahr 1863 pag. 468, Note 1
und 464. *) Theophanes, Chranographia (ed. Franc. Combefis). PariB 1666,
pag. 314. ^ Silv. de Sacy, Grammaire ardbe I, 74, Note b.
710 88. Kapitel.
Zahlen geschah nach dem Gesetze der Reihenfolge linksläufig; wie es
die Schrift morgenländischer Völker mit sich brachte.
So war für das Volksbedür&is, fftr das Schreiben und Lesen
von Zahlen im fortlaufenden Texte ausreichend gesorgt, insbesondere
da den Arabern bei ihrer allmählichen Ausbreitung auch noch eine
Möglichkeit offen stand, die Möglichkeit sich der in dem eroberten
Lande schon vorhandenen, dort volkstümlich gewordenen 2iahlzeichen
zu bedienen, von der sie wirklich da und dort Gebrauch machten^).
Das Rechnen, dessen Kenntnis am langsamsten unter den eigent-
lichen Arabern sich entwickelte, stellt andere Anforderungen. Teils
war es ein schwieriges nur Geübten mögliches Kopfrechnen, bei
welchem vielleicht die Darstellung der Zahlen an Fingern als Hilfs-
mittel diente. Sind wir auch über die Zeit durchaus im unklaren,
wann ein solches Fingerrechnen stattfand, so wissen wir aus einem
kleinen Lehrgedichte eines Yerwaltungsbeamten Schams addin al
Mausili'), daB es bei Arabern in Übung war. Genau nach der
gleichen Folge, wie Nikolaus Rhabda es seine Landsleute lehrte
(S. 514 — 515), wurden die Einer und Zehner an der linken, die
Hunderter und Tausender an der rechten Hand dargestellt.
Teils aber lernten die Araber beim Rechnen den indischen
Stellungswert der Ziffern kennen. Darüber kann bei der über-
einstimmenden Aussage aller arabischen Quellen Zweifel nicht be-
stehen. Am deutlichsten spricht sich Albirüni darüber aus. Dieser
Schriftsteller^) ist in Iran geboren. Er brachte lange Jahre in Indien'
zu, 'studierte im Sanskrit geschriebene Werke, stellte astronomisch-
geographische Beobachtungen an, denen namentlich auffallend genaue
Breitenangaben für die von ihm bestimmten Orte verdankt werden,
und schrieb ein großes Werk über Indien, welches in jeder Beziehung
zu den bedeutendsten Erscheinungen der arabischen Literatur ge-
hört. Albirüni starb im Jahre 1038 oder 1039. Er sagt uns^), die
Inder hätten nicht die Gewohnheit ihren Buchstaben eine Bedeu-
tung für das Rechnungswesen zu geben, wie die Araber es täten,
welche ihre Buchstaben nach dem Zahlenwerte anordneten. Die
Inder bedienten sich vielmehr gewisser Zahlzeichen, die aber ver-
schiedener Art seien, wie denn auch die Gestalt der Buchstaben bei
den Indem von einer Landesgegend zur andern wechsle. Die von
') Woepcke im Journal AMatique vom 1. Halbjahr 1868 pag. 286—287.
") Überaetzt von Aristide Marre im Bullettino Bancompagni (1868) I, 810—812.
Suier in den Abhandlangen znr Geschichte der Mathematik XTV, 181 (1902).
*) Snter 98—100 Nr. 218 and in der BibUotheca Maiktmatiea 8. Folge ÜI, 128,
Note 2 (1903). *) Woepcke im Journal Asiatique vom 1. Halbjahr 1868
pag. 276 flgg.
Arabische Zahlzeichen. Mahammed ibn Müsä Alchwarizmt. 711
den Arabern angewandten Zahlzeichen seien eine Auswahl der ge-
eignetsten bei den Indem vorhandenen. Auf die Form komme es
nicht an, wenn man nur die innenwohnende Bedeutung kenne. Femer
sagt uns Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi^), derselbe, welcher für
Almamün die indische Astronomie bearbeitet hat (S. 698) und dessen
schriftstellerische Leistungen uns noch in diesem Kapitel ausführlich
beschäftigen müssen, es herrsche in bezug auf die Zeichen Ver-
schiedenheit unter den Menschen, eine Verschiedenheit, welche zumal
bei der 5, der 6, der 7 und der 8 hervortrete, doch liege darin kein
Hindernis.
Sieht man sich so vorbereitet die arabischen Handschriften an,
so findet man wesentliche Abweichungen zwischen den Zahlzeichen
der Ostaraber und der Westaraber. Der Vergleich der auf
der Tafel am Ende unseres Bandes ausgeführten Zeichen lehrt, daß
die hauptsächlichsten Abweichungen in den Zeichen für 5, 6, 7 und
8 stattfinden, während 1, 4, 9 ziemlich gleich aussehen, 2 und 3 nur
aus horizontaler Lage in vertikale übergingen. Das kann uns nicht
gerade überraschen. Wohl aber überrascht es uns, daß die arabischen
Zahlzeichen so ungemein abweichen von den Devanagariziffem und
daß sie viel eher den Vergleich aushalten mit den Apices, beziehungs-
weise mit indischen Zeichen des H. bis lU. S. Das gibt zu denken!
Als immer wahrscheinlicher drängt sich die Vermutung auf, es
könne der ganze historisch so dunkle als merkwürdige Vorgang
folgender gewesen sein^):
Um das H. S. n. Chr. kamen indische Zahlzeichen nach Alexan-
dria, von wo sie sich in ihrer Anwendung bei^ Kolumnenrechnen
vielleicht nach Rom, jedenfalls aber nach dem Westen Afrikas ver-
breiteten. Die Erinnemng an die indische Herkunft mag wach ge-
blieben sein. Im VIII. S. lernten die Araber des Ostens die indischen
Zahlzeichen in bereits wesentlich veränderter Gestalt mit der inzwischen
dazugetretenen Null kennen. Die Null nannten sie a^-^ifr, das Leere,
*) Trattati d'aritmetica pubblicati da Bald. Boncompagni I, pag. 1 — 2.
') Diese Theorie rührt von Woepcke her. Journal Asiatique vom 1. Halbjahr
1863 pag. 69—79 und 514—629. Gundermann, Die Zahlzeichen (Gießen 1899),
hat dagegen folgende Theorie zu begründen gesucht: Ein älteres einfaches
System, die Zahlen durch Striche zu bezeichnen, ist allmählich aber nie ganz
durch ein neues System, das von allen Kulturvölkern der antiken Welt ange-
nommen wurde, zurückgedrängt worden. Die Buchstaben eines Alphabetes
fanden in ihm ihrer Reihenfolge nach Verwendung. Aus diesem Systeme ent-
wickelte sich schrittweise ein neues, das nur einzelne Grundzeichen festhielt,
die übrigen abstieß. Das vollständige System lebte aber verborgen weiter und
kam nochmals zu großer Blüte. Endlich wurden durch das Ziffern System, den
Abkömmling eines vollständigen Systems, alle früheren Systeme verdrängt.
712 88. Kapitel
als Übersetzung von sunya, wie die Null bei den Indem heißt (S. 614).
Im Westen nahm man zwar die Null auf^ blieb aber, und wäre es
nur im bewußten Gegensatze zu den Ostarabem, den alten Zeichen
treuy deren indischen Ursprungs man sich ebensowohl als ihres
alezandrinischen Stempels noch lange erinnerte*^ und die man jetzt
Gubärziffern nannte, d. h. StaubzifiFem^) im Gedächtnisse der
indischen TV eise auf mit Staub bedeckten Tafeln zu rechnen.
Wenn wir behaupten dürfen, jene doppelte Erinnerung sei lange
nicht verloren gegangen, so beziehen wir uns dafür auf drei Stellen
ziemlich später arabischer Rechenbücher^. In allen dreien ist die
Form der Gubärziffern neben der der ostarabischen, welche letztere
den Namen der indischen führen, aufgezeichnet; in zweien sind die
Gubärziffern beschrieben, d. h. ihre Ähnlichkeit mit arabischen Buch-
staben und Buchstabenyereinigungen ist herrorgehoben, so daß man
sie deutlich erkennen kann; in allen dreien sind dann auch die Gu-
bärziffern als indische Formen bezeichnet. Das eine Rechenbuch er-
zählt in dieser Beziehung: „Ihr Ursprung bestand darin, daß ein
Mann aus dem Volke der Inder feinen Staub nahm, welchen er auf
eine Tafel von Holz oder anderem Stoff oder auf irgend eine ebene
Fläche ausbreitete, und daß er darauf yerzeichnete was ihm beliebte
an Multiplikationen, Divisionen oder sonstigen Operationen, und hatte
er die Aufgabe vollendet, so schloß er die Tafel wieder fort bis
zum Gebrauche.'' Eben dieses Rechenbuch leitet aber, und das ist
beweisend auch für die andere Erinnerung, die ganze Erörterung
durch die Bemerkung ein, die Pythagoräer seien die Männer der
Zahlen gewesen.
Mögen die Vermutungen, mit deren Hilfe hier ein einheitlicher
Überblick zu gewinnen gesucht wurde, richtig sein oder nicht, das
Vorhandensein der ostarabischen wie der Gubärziffern wird dadurch
nicht beeinträchtigt, und wir müssen nun Schriftsteller verschiedener
Zeiten und verschiedener Heimat kennen lernen und von ihnen
erfahren, was sie in der Mathematik geleistet haben, auch wie sie
rechneten.
Der erste arabische Schriftsteller, mit welchem wir es zu tun
haben, ist Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. Er hat, wie
wir wissen, im ersten Viertel des IX. S. gelebt. Er war einer der
Gelehrten, welche der Chab'f Almamün so sachgemäß zu beschäftigen
wußte, indem er einen Auszug aus dem sogenannten Sindhind an-
fertigen, eine Revision der Tafeln des Ptolemaeus vornehmen, Beob-
') Journal Äsiatique vom 1. Halbjahr 1863 pag. 243. *) Ebenda pag. 68
big 68.
Arabische Zahlzeichen. Mnhammed ihn Mü8& Alchwarizmi. 713
achtungen zn diesem Zwecke in Bagdad und in Damaskus anstellen^
endlich die Messung eines Grades des Erdmeridians ausf&hren ließ^).
Die astronomischen Tafehi Alchwarizmis gehen uns nicht weiter an^
als daß wir faervorhebei> müssen^ daß sie von Atelhart von Bath^
einem englischen Mönche^ welcher um 1120 die erste Übersetzung
des Euklid aus dem Arabischen in das Lateinische anfertigte (yergL
Kapitel 40) , gleichfalls in lateinischer Sprache bearbeitet worden
sind^), und daß sich in ihnen zweifellos eine Sinustafel befand').
Eingehend müssen wir uns dagegen mit zwei Schriften Alchwarizmis
beschäftigen, in welchen er zuerst die Algebra^ dann die Rechen-
kunst behandelt hat, deren Reihenfolge wir in unserer Besprechung
aber umkehren.
Beide wurden hoch geschätzt und, wie wir sehen werden, nicht
ohne Grund. Beide sind, oder waren in verhältnismäßig neuer Zeit
im arabischen Texte Torhanden. Die Algebra freilich ist allein in
diesem Urtexte yeröffentlicht, während für die Rechenkunst man lange
auf das Nachsprechen eines selbst arabischer Quelle entstammenden
Lobes beschränkt war: das Buch übertreffe alle anderen an Kürze
und Leichtigkeit und beweise den Geist und Scharfsinn der Inder in
den herrlichsten Erfindungen^). Ein lateinisches Manuskript, 1857
in der Bibliothek zu Cambridge entdeckt und im Drucke heraus-
gegeben^), erwies sich aber als Übersetzung des vermißten Werkes,
und der Umstand, daß trotz nachträglichen eifrigen Suchens kein
zweites Exemplar dieser Übersetzung außer dem Kodex von Cam-
bridge hat aufgefunden werden können, vereinigt mit der Tatsache
der Übersetzung der astronomischen Tafeln desselben Verfassers
durch Atelhart von Bath, haben die Vermutung entstehen lassen*),
der gleiche Übersetzer habe auch die Arithmetik lateinisch be-
arbeitet, eine Vermutung, welche wenigstens soweit große Wahr-
scheinlichkeit für sich hat, als man auf einen Landsmann und Zeit-
genossen des Atelhart, wenn nicht auf ihn selbst als Übersetzer
wird schließen dürfen.
•) Kremer II, 442—448. Suter 10—11, Nr. 19, aber auch Abhandlungen
zur Geschichte der Mathematik XIY, 158—160 (1902). *) Math. Beitr. Kulturl.
S. 268—269. Wüsten feld, Die Uebersetzungen arabischer Werke in das Latei-
nische. Abhandlungen der königl. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen.
Bd. yyn (1877) S. 20—28. ^ A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte
der Trigonometrie I, 49 Note 1 und 2. *) Casiri, Btbliotheca arabico-hispana
Escurialensis I, 427 (Madrid 1760). *) Die Schrift bildet das I. Heft der von
dem Fürsten Bald. Boncompagni herausgegebenen Trattati d'aritmetica.
') Vgl. einen Aufsatz von Chasles in den Gompies Bendus dt Vacad^mie des
Sciences XLYIII, 1058 vom 6. Juni 1859.
714 33. Kapitel.
Die Schrift beginnt mit den Worten: ^^Oesprochen bat Algo-
.ritmi. Laßt uns Gott verdientes Lob sagen, unserem Führer und
Verteidiger." Der Name des Verfassers Alchwarizmi ist also hier
in Algoritmi übergegangen , und fast in dieser letzteren Form nur
noch etwas weniger der Urform gleichend, nämlich als Algorithmus
hat das Wort Jahrhunderte überdauert^) und bezeichnet jetzt jedes
wiederkehrende zur Regel gewordene Rechnungsverfahren. Das Be-
wußtsein der eigentlichen Bedeutung des Wortes ist in diesem
modernen Algorithmus gänzlich verloren gegangen, aber das Oleiche
gilt bereits für das XIII. S., wo man schon durch allerlei sprachliche
Taschenspielerkünste sich bemühte ein Verständnis des Wortes zu
gewinnen^). Da sagt einer, das Wort kommt von aUeos fremd und
goros Betrachtung, weil es eine fremde Betrachtungsweise ist. Nein,
sagt der zweite, es kommt von argis griechisch und mos Sitte, es
ist eine griechische Sitte. Der dritte kommt zu ares die Kraft und
riimos die Zahl. Ein vierter sieht in algos ein griechisches Wort,
welches weißen Sand bedeute, und daher der Name, denn die Rech-
nung rUtnos wurde auf weißem Sande geführt. Wieder ein anderer
legt sich das Wort auseinander in algos die Kunst und rodos die
Zahl. Manchen war durch Überlieferung vielleicht das Bewußtsein
geblieben, es handle sich um den Namen eines Mannes, aber dieser
hieß ihnen bald Algorus von Indien, bald König Algor von Kastilien,
bald Algus der Philosoph. Allerdings ist auch ein Zeugnis dafür
vorhanden, daß man in Deutschland im letzten Drittel des XIIL S.
Algorismus als Namen eines Mannes kannte. Im jüngeren Titurel
findet sich eine Strophe^:
Nu ist auch hi gesundert
Lot Yuxste von Norwege
lehn weyz, mit we vil hundert,
Ob Algorismus noch lebens plege
Unde Abaknc de geometrien künde,
De heten vil tzo scaffen
Solten se ir aller tzal da haben fanden.
Am auffallendsten erscheint, daß hier nicht bloß ÄlgorisrntiSf
sondern auch AhaJouc als eine Persönlichkeit vorkommt. Neuere Ge-
lehrsamkeit hat sich, ehe die richtige Ableitung bekannt war, mit
^) In dem Algorithmus den Namen Alchwarizmi erkannt zu haben,
ist das große Verdienst von Bein au d {Memoire sur VInde pag. SOSsq.), der
schon 1845 diesen Gedanken aussprach, also lange bevor die Entdeckung des
Cambridger Kodex die Vermutung in Gewißheit verwandelte. *} Math. Beitr.
Eulturl. 267. *) Wir verdanken die Kenntnis dieser Strophe Herrn Armin
Tille. Vgl. Zeitschr. für deutsche Philologie Bd. XXX. Ein Xantener Bruch-
stück des jOngeren Titurel (insbesondere S. 175 die obige Strophe 2009).
Arabische Zahlzeichen. Mahammed ibn Mü8& Alchwarizmi. 715
scheinbarem Rechte &8t am weitesten von der Wahrheit entfernt,
indem sie in ähnlicher Weise wie bei Almagest eine Zusammensetzung
des arabischen Artikels al mit dem griechischen aQiO^ioqy die Zahl, ver-
mutete und das dazwischengetretene g als sprachliche Absonderlichkeit
betrachtete, die einer Erklärung nicht fähig sei, auch nicht bedürfe,
da man bei dem Übei^ange aus dem Griechischen durch das Arabische
in das Lateinische auf alles gefaßt sein müsse. Es können einen
solche Yerirrungen nicht erstaunen, wenn [man berücksichtigt, daß
durch neckischen Zufall alle anderen Formen des Namens unseres arabi-
schen Gelehrten, die bekannt geworden sind, dem Algorithmus lange
nicht so verwandt klingen wie das zuletzt veröffentlichte Algorümi,
Als solche Formen erwähnen wir Alchoarismus^), Alkauresmus, ja
sogar Alchocharithmus^),
Eine Frage könnte noch erhoben werden dahin gehend, welche
den Namen Alchwarizmi führende Persönlichkeit den Urtext zu jener
lateinischen Übersetzung geliefert habe? Wir nahmen an, es sei
Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi gewesen, aber eine zweite Per-
sönlichkeit konnte gleichfalls als Verfasser gelten. Albirüni, nach
unserer früheren Darstellung (S. 710) dem Nordwesten Indiens ent-
stammend, hatte nach anderer Meinung seine Heimat in einem
kleinen Orte Birün der Landschaft Chwarizm, und diese Meinung,
wenn auch mutmaßlich irrig, war verbreitet genug ihm den Namen
Alchwarizmi bei manchen zuzuziehen'). Außerdem weiß man von
ihm, daß er ein Rechenbuch verfaßt hat^), einiger Zweifel konnte
daher entstehen, ob der erste, ob der zweite Alchwarizmi sich in
jener Schrift redend einführe. Die Sicherung in dem Sinne beruht
auf dem Umstände, daß nur von dem ersten, nicht von dem zweiten
Alchwarizmi eine Algebra geschrieben worden ist, und daß der Ver-
fasser des Rechenbuches nach jenem Anrufen und Preisen des Lenkers
der Dinge, welches er echt arabisch noch weiter fortsetzt als wir es
oben mitteilten, nach Erörterung der Verschiedenheit der Zahl-
zeichen unter den Menschen, auf welche wir ebenfalls (S. 711) xms
schon bezogen haben, fortfährt wie folgt ^): „Und ich habe schon in
dem Buche Aldschebr und Almukabala, d. h. der Wiederherstellung
und Gegenüberstellung eröffnet, daß jede Zahl zusammengesetzt sei,
und daß jede Zahl sich über eins zusammensetze. Die Einheit also
wird in jeder Zahl gefunden, und das ist es, was in einem anderen
Buche der Arithmetik ausgesprochen ist Weil die Einheit Wurzel
') Libri, Histoire des sciencea maihematiquea en Italic 1, 298. *) Reinaud,
Memoire aur VInde pag. 376. ') Wüsten feld, Geschichte der arabischen
Aeizte und Naturforscher S. 76, Nr. 129. *) Reinaud, Mimoire 8wr VInde
pag. .308. *) Trattati d'ariimetica I, 2.
716 88. Kapitel.
jeder Zahl und außerhalb der Zahl ist/' Der Anfang dieses Satzes
bis zu der „einem anderen Buche der Arithmetik*', in cdio libro ariffi-
metico, entnommenen Bemerkung über die Ausnahmestellung der Ein-
heit findet sich aber nahezu wörtlich in der Algebra des Muhammed
ihn Müsä^). Wir sind also in der Tat berechtigt, hier unter dem
Namen des Muhammed ibn Müsä Alchwarizm! über jenes Rechen-
buch weiter zu berichten, für ihn in Anspruch zu nehmen, was aus
dem letzten Teile der hier mitgeteilten Stelle unzweifelhaft her-
vorgeht, daß wer so schrieb, in der Zahlenlehre der Neupythagoräer
wohl geschult sein mußte, welche er nicht aus indischen Quellen
kennen lernen konnte, daß unter jenem anderen Buche der Arith-
metik die spätere sogenannte spekulative Arithmetik im Gegensätze
zur praktischen Arithmetik (S. 704) gemeint ist, daß dem Verfasser
darüber Kenntnisse zu Gebote standen, welche unmittelbar oder
mittelbar auf Nikomachus, vielleicht auch auf Theon von Smyrna,
der am deutlichsten betont hat, die Einheit sei keine Zahl (S. 435),
zurückgehen.
Nun wird das eigentliche Rechnen gelehrt, das Zahlenschreiben,
das Addieren, bei welchem ein besonderes Gewicht auf den Fall ge-
legt ist, daß die Summe der Ziffern an einer Stelle 9 übersteigt; die
Zehner sollen alsdann der folgenden Stelle zugerechnet und an der
ursprünglichen Stelle nur das geschrieben werden, was unterhalb 10
noch übrig bleibt. „Bleibt nichts übrig, so setze den Kreis, damit
die Stelle nicht leer sei; sondern der Kreis muß sie einnehmen, da-
mit nicht durch ihre Leerheit die Stellen vermindert werden und die
zweite für die erste gehalten wird*'*). Bei 'der Subtraktion wie bei
der Addition soll man bei der höchsten Stelle, also links anfangen,
dann zur nächstfolgenden übergehen, weil dadurch die Arbeit, so
Gott will, nützlicher und leichter werde. Die eigentliche Schwierig-
keit der Subtraktion für Anfanger, die Behandlung des Falles, daß
eine Stelle des Subtrahenden durch eine höhere Zahl als die ent-
sprechende Stelle des Minuenden erfüllt ist, wird zwar erwähnt'),
aber ohne daß ein Beispiel dafür angegeben wäre, trotzdem vorher
tres modi d. h. drei Beispiele in Aussicht gestellt sind. Da zwei der-
selben (nämlich 3211 von 6422 und 144 von 1144) angegeben sind,
') The algehra of Mohammed ben Musa (ed. Rosen). London 183t, pag. 5,
§ 8 : / also observed that every number is composed of units and that any nuttiber
may be divided into units. *) Si nifiil remanaerü pones circulum, ut non sU
differeniia vacua: sed sit in ea circulus qui occupet eam, ne forte cum vacxia fuerit,
minuantur differentiae, et putetur secunda esse prima. Trattati d'aritmetiea I, 8.
*) Hierauf hat H. Eneström in der Bibliotheca Maihemutica 3. Folge, Bd. VI,
307 hingewiesen.
Arabische Zahlzeichen. Mohammed ihn Müsfi. Alchwarizmi. 717
80 entsteht die Frage, ob hier an einen Mangel des arabischen Originals
oder an eine durch den Übersetzer verschuldete Auslassung zu denken
sei. Die dritte Operation ist das Halbieren, welches in der um-
gekehrten Ordnung bei der niedersten Stelle zu beginnen hat. Das
Verdoppeln hingegen, die vierte Operation, beginnt wieder von oben.
Die Hervorhebung von Halbierung und Verdoppelung als be-
sonderen Rechnungsarten ist sehr bemerkenswert. Indisch ist sie
nicht, wenigstens finden wir sie weder bei indischen Originalschrift-
steilem, noch bei dem nach indischem Muster arbeitenden Maximus
Planudes. Nach dem heutigen Stande des Wissens können wir nur
an unmittelbaren oder durch Griechen vermittelten ägyptischen Ein-
fluß denken. Die Multiplikation wird nach der Weise ausgeführt,
welche wir (S. 610 — 611) bei den Indern kennen gelernt haben; das
Produkt wird jeweil über die betreffende Ziffer des Multiplikandus ge-
schrieben und verbessert, wenn eine nach rückwärts folgende Stelle
des Multiplikandus mit der Multiplikatorziffer vervielfacht eine Ver-
besserang nötig macht. Von der Richtigkeit der genannten Ope-
rationen überzeugt man sich durch die Neunerprobe. Die Division
wird nach dem gleichen Gedanken wie die Multiplikation ausgefdhrt,
nur natürlich in umgekehrtem Gange. Die Schreibweise ist die, daß
der Dividend unter sich den Divisor, über sich den Quotienten erhält
und erst über dem Quotienten die aufeinanderfolgenden Veränderungen
erscheinen, welche mit dem Dividenden durch Abziehung der Teil-
produkte vorgenommen werden. Der Divisor bleibt übrigens an
seiner Stelle unter dem Dividenden nicht stehen, sondern rückt
fortwährend von links nach rechts zurück. So liefert die Division
46468:324 den Quotient 143 und den Best 136. Faßt man die
umständliche Beschreibung^) in eine kurze, vielleicht durch den Ver-
fasser, vielleicht durch den Übersetzer weggelassene Musterrechnung
zusammen, so würde sie folgendermaßen ausgesehen haben:
136
24
110
22
140
143
46468
324
324
324.
») TraUaÜ d'antmetica I, 14—16.
718 33. Kapitel.
Von einer komplementären Division ist keine Spur zu finden. Im
Anschlüsse an die Division kommt der Verfasser zu den Brüchen
und bemerkt^ die Inder hätten sich der Beteiligen Brüche bedient,
welche er dann schließlich ausführlich erklärt und das Rechnen an
und mit denselben erläutert.
Wir schalten hier eine Bemerkung über arabische Brüche ein,
von welcher wir zwar nicht die volle Überzeugux^ besitzen, daß
sie bereits für die Zeit des Muhammed ihn Müsä Geltung habe, aber
auch für das Gegenteil keinerlei Gründe kennen, indem es mehr um
etwas Sprachliches als der Rechenkunst Angehöriges sich handelt.
Die Araber unterschieden nämlich stumme Brüche von aus-
sprechbaren^). Aussprechbar sind die Brüche mit den Nennern
2 bis 9 oder anders gesagt: es gibt arabische Wörter für Halbe,
Drittel, . . , Neuntel. Stumm sind Brüche mit Nennern, welche
nicht 2 bis 9 sind oder aus diesen multiplikativ zusammengesetzt
werden können, wie etwa Sechstel des Fünftels statt Dreißigstel.
Ein stummer Bruch ist also z. B. ^^ ^^^ ^^^ umschreibend durch
ein Teil von 13 Teilen ausgedrückt werden. Man hat die Ähn-
lichkeit mit dem Aussprechbarmachen der Brüche durch Verwandlung
in eine Summe von Stammbrüchen bei den Ägyptern (S. 68) her-
vorgehoben^), imd wenn wir uns kein bestimmtes Urteil über die
Triftigkeit dieser unter allen Umständen höchst scharfsinnigen Ver^
gleichung zutrauen, so unterlassen wir doch nicht sie zu wiederholen
und im voraus darauf aufmerksam zu machen, daß uns noch eine
weitere Vergleichung, möglicherweise eine ägyptische Erinnerung
durch mündliche Überlieferung von Jahrtausenden in diesem Kapitel
aufstoßen wird.
Von einem Rechenbrette oder etwas, was demselben irgendwie
gleicht, ist bei Alchwarizmi keine Rede, und ebenso erfolglos wird
unser Suchen danach bei älteren arabischen Schriftstellern bleiben.
Von Alkindi, der seinä wissenschaftliche Tätigkeit um 850 ent-
faltete, wird zwar eine Schrift erwähnt, deren Titel in richtiger
Übersetzung über die Linien und das Multiplizieren mit der Zahl
der Gerstenkörner') lautet, aber daraus ein Rechnen auf Linien oder
zwischen Linien mit Hilfe von Gerstenkörnern entnehmen zu wollen,
dürfte allzukühn sein.
Die zweite Schrift des Alchwarizmi, welcher wir uns jetzt zu-
wenden, ist die, wie wir schon gesagt haben, vor der Arithmetik des-
^) Käfi fil Hisäb (deutsch von Hochheim) Heft I, S. 11, Anmerkung 4,
und Behaeddins Essenz der Rechenkunst (deutsch von Nesselmann) S. 4.
*) Herr L. Rodet in einem Privatbriefe. ») Fihrist 11. Suter 28—26, Nr. 46.
Arabische Zahlzeichen. Mohammed ibn Müsä Alchwarizmi. 719
selben Verfassers entstandene Algebra ^)y das erste Werk, soviel man
weiß, in welchem dieses Wort selbst als Titel erscheint. Ja, wenn
man arabischen Notizen, die teils in einem Werke des XII. S.,
teils in Randbemerkungen zu einer Handschrift von Alchwarizmis
Algebra niedergelegt sind^), Glauben beimessen darf, so ist es das
erste Werk, in welchem jenes Wort vorkommen kann, denn vor
Alchwarizmi habe keüi Araber je über den dadurch bezeichneten
Gegenstand geschrieben. Wir müssen demnach sicherlich an dieser
Stelle von dem Worte Algebra reden').
Eigentlich sind es zwei Wörter Aldschebr walmukäbala,
welche Alchwarizmi vereint als Titel benutzt hat. Dschebr ist re-
stauratio, die Wiederherstellung, mukäbala ist oppositio, die Gegen-
überstellung. Allein mit diesen Wortübersetzungen ist gewiß für
niemand, der den Sinn der Wörter in der Mathematik noch nicht
gekannt hat, etwas verdeutlicht. Trotzdem fand es Alchwarizmi
nicht für notwendig, die Wörter, die ihm als Überschrift dienten,
zu erklären, und, was noch mehr sagen will, in dem eigentlich theo-
retischen Teile seines Buches kommen diejenigen Operationen, welche
dschebr und mukäbala genannt werden, gar nicht vor. Wir werden
noch Folgerungen aus diesem höchst merkwürdigen Tatbestande
ziehen. Einstweilen erläutern wir auf die Erklärungen späterer ara-
bischer Schriftsteller uns stützend die Meinung unseres Verfassers.
Wiederherstellung ist genannt, wenn eine Gleichung derart
geordnet wird, daß auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens nur
positive Glieder sich finden; Gegenüberstellung sodann, wenn Glieder
gleicher Natur auf beiden Seiten weggelassen werden, so daß
Glieder dieser Art nach vollzogener Gegenüberstellung nur noch auf
der einen Seite vorkommen, wo sie eben im Überschusse vor-
handen waren.
Alchwarizmi nimmt, wie gesagt, in seinem theoretischen Teile,
wo er zuerst die Auflösung der Gleichungen lehrt, stillschweigend
an, die betreffenden beiden Vorbereitungsoperationen seien bereits
vollzogen, und er unterscheidet danach 6 Arten von Gleichungen,
welche wir schreiben würden:
ax^ «= hx, as? = c, bx ^ Cy x^ + bx => c, x^ + c = bx,
x^ = bx + c.
^) Eine alte lateinische Übersetzung ist abgedruckt bei Libri, Histoire
des sciences maOiematiques en Italie I, 263 — 297. Wir verstehen anter Mohammed
ben Musa, Algebra immer die von Fried r. Rosen besorgte mit englischer
Übersetzung begleitete Ausgabe. London 1831. *) Mohammed ben Musa,
Algebra pag. YII. ") Ebenda pag. 177 — 188 und Nessel mann, Die Algebra
der Griechen S. 46—63.
720 33. Kapitel.
Er gibt sodann für jede dieser Gleichungen Regeln, welche er zu-
gleich an Zahlenbeispielen erläutert.
Wir wollen die Auflösung von x^ + c = bx hier beispielsweise
übersetzen, weil sie in mehreren Beziehungen die wichtigste ist^).
,,Quadrate und Zahlen sind gleich Wurzeln; z. B. 1 Quadrat und
21 an Zahlen sind gleich 10 Wurzeln desselben Quadrates, d. h. was
muß der Betn^ eines Quadrates sein, welches nach Addition von
21 Dirham gleichwertig wird mit 10 Wurzeln jenes Quadrates?
Auflösung: Halbiere die Zahl der Wurzeln; ihre Hälfte ist 5. Ver-
vielfache dieses mit sich selbst; das Produkt ist 25. Ziehe davon
die mit dem Quadrate vereinigten 21 ab; der Best ist 4. Ziehe
die Wurzel; sie ist 2. Ziehe dieselbe von der halben Anzahl der
Wurzeln, welche 5 war, ab; der Rest ist 3. Das ist die Wurzel des
gesuchten Quadrates und das Quadrat selbst ist 9. Oder Du kannst
jene Wurzel zu der halben Anzahl der Wurzeln addieren; die Summe
ist 7. Das ist die Wurzel des gesuchten Quadrates, und das Quadrat
selbst ist 49. Wenn Du auf ein Beispiel dieses Falles stoßest, ver-
suche die Lösung durch Addition, und wenn diese nicht den Zweck
erfüllt, dann wird Subtraktion es sicherlich tun. Denn in diesem
Falle können beide — Addition und Subtraktion — angewandt
werden, was in keinem anderen der drei Fälle, in welchen die Anzahl
der Wurzeln halbiert werden muß, gestattet ist. Wisse auch, daß,
wenn in einer Aufgabe dieses Falles das Produkt der Vervielfachung
der halben Anzahl der Wurzeln in sich selbst kleiner ausfällt als
die Zahl der Dirham, welche mit dem Quadrate verbunden ist, die
Aufgabe unmöglich ist; ist aber jenes Produkt den Dirham selbst
gleich, dann ist die Wurzel des Quadrates gleich der Hälfte der An-
zahl der Wurzeln allein ohne jede Addition oder Subtraktion.'^ In
Zeichen würden wir das so schreiben, daß aus x^ + c^bx sich
ergebe, also mit zwei möglichen Werten, vorausgesetzt, daß (yj >c;
bei c > fyj sei die Aufgabe unmöglich; bei c = (~\ gebe es nur
einen Wert ^ = y •
Nachdem die verschiedenen Gleichungsformen aufgelöst sind,
wendet sich Alchwarizmi zum geometrischen Nachweise der Richtig-
keit des betreffenden Verfahrens. Auch hier wollen wir nur einen
Fall, etwa a^ + bx ^ c hervorheben*), um zu zeigen, wie die Sache
*) Mohammed ben Musa, Algebra pag. 11—18. *) Ebenda pag. 13— 16.
Arabische Zahlzeichen. Moliammed ihn Müb& Alchwarizmi.
721
gemeint sei. Das Zahlenbeispiel lautet x^ + 10:r » 39. Man zeichne
(Fig. 95) ein Quadrat aß und an jede Seite desselben ein Rechteck,
so entsteht, wenn man noch 4 kleine Quadratchen an den Ecken
beifÖgt, ein größeres Quadrat ds. Soll die erste ^
Figur aß das Quadrat x\ sollen die 4 Rechtecke
y, fl, X, 6 die 10a; vorstellen, so ist die Breite
jedes solchen Rechteckes -r- = y
quadratchen betragen zusammen 4 • fyj = 25.
Das größere Quadrat de ist also x* + 10;r + 25
oder 64, weil x^ + 10a; =» 39 ist. Die Seite des
größeren Quadrates ist mithin yöi = 8. Eben diese Seite ist aber
auch X + ~, folglich a; == 8 — 5 = 3 oder als Formel geschrieben
und die 4 Eck-
V
y
a
ß
X
6
Ifig. 96.
r
V
i
Fig. 96.
X = 1/4 • \-~\ + c — Y , beziehungsweise ^ = 1/(2) +^""Y'
Alchwarizmi erklärt dann ebendenselben Fall mit Hilfe eines Gno-
mons. Er legt nämlich (Fig. 96) an aß = x^ das 10a; in Gestalt
nur zweier Rechtecke y, d sn 2 Seiten an, so daß
ein aus aß, y und i bestehender Gnomon gebildet
ist, welchem zur Vollendung des Quadrates et, nur
ein Eckquadrat von der Seite y = 5, mithin von
der Fläche 25 fehlt. Das größere Quadrat ist nun-
mehr wieder x^ + 10a? + 25 - 39 + 25 = 64 und
seine Seite |/64 =» 8. Ebendiese ist aber auch a; + 5
und 80 wieder a; = 8 — 5 = 3.
Wir bleiben in unserem Berichte hier zuvörderst stehen, um an
das Bisherige die erforderlichen Bemerkungen zu knüpfen. Wir
haben gesehen, daß Alchwarizmi seine Schrift Aldschebr walmukä-
bala nannte. Als im Mittelalter lateinische Übersetzungen ange-
fertigt wurden, übernahm man erst einfach die beiden Wörter, welche
man nur mit lateinischen Buchstaben schrieb^), imd welchen man
allenfalls die Übersetzung restauratio et oppositio beifügte, die dabei
mitunter in der Reihenfolge wechselten, so daß sie oppositio et re-
Stattratio hießen. Allmählich ging von den beiden arabischen Wörtern
das zweite verloren, das erste blieb allein in der Form aigebra übrig,
imd nun geschah das Entgegengesetzte wie bei algorühmus. Dort
vergaß man, daß es ein Mann war, der so hieß, und suchte das
Wort zu übersetzen, hier vergaß man, daß es ein übersetzungs-
^) Libri, Histoire des sciences mathem<Uique8 en Itälie l, 258.
Cantob, Oetehichte der Mathematik I. 3. Aufl. ^^
722 38. Kapitel.
föhigee Wort war, welches man vor sich hatte und hielt algd>ra f&r
den Namen eines Mannes. Von einem Araher Geber sollte die
Kunst herrühren, behauptete im XIV. S. ein Florentiner, Rafaele
Ganacci^), und andere schrieben das glaubig ab, nicht selten den
Erfinder in jenem Astronomen Dschäbir ihn Aflah aus Sevilla ver-
mutend, der gemeiniglich Geber genannt wird und mehrere Jahr-
hunderte nach Alchwarizmi erst lebte ^). Im Spanischen ist die Be-
deutung und das Wort selbst annähernd erhalten in Algd>rista, der
Chirurg").
Wir haben femer gesehen, daß Alchwarizmi jene Wörter dschebr
und muMbala zwar in der Überschrift gebraucht aber nirgend er-
klärt hat, wiewohl der bloße Wortlaut ganz gewiß nicht ausreicht,
um die technische Bedeutung zu verstehen. Die Folgerung ist da-
durch geradezu aufgezwungen, daß Alchwarizmi, mag er auch der
erste arabische Schriftsteller über seinen Gegenstand gewesen sein,
doch keinesfalls einen für seine Landsleute neuen Gegenstand be-
handelte, daß vielmehr durch mündliche Lehre, entnommen aus per-
sönlichen Übertragungen fremdländischen Wissens oder aus Schriften,
die in nicht-arabischer Sprache verfaßt waren, schon bekannt gewesen
sein muß, was Herstellung und was Gegenüberstellung sei.
So sind wir zu der Frage gelangt, aus welcher Sprache die ara-
bische Lehre von den Gleichungen sich abgeleitet hat und wann
diese Ableitung erfolgte. Die letztere Frage zu beantworten reicht
das bekannte Quellenmaterial nicht aus. Wir können nur behaupten,
die Einführung der Algebra müsse hinlänglich lange Zeit vor Alchwa-
rizmi stattgefunden haben, um die Möglichkeit zu gewähren, daß
jene Begriffe und die für dieselben erfundenen Kunstausdrücke unter
den Fachleuten — denn für solche schrieb Alchwarizmi — schon
landläufig geworden sein konnten. Aber woher war damals die
Algebra gekommen? Zwei Quellen stehen uns, soweit wir sehen, zu
Gebot. Was Alchwarizmi gibt kann griechischen, kann indischen
Urspi-ungs sein, kann vielleicht einer aus beiden Quellen gemischten
Strömung sein Dasein verdanken, wie wir ja auch in seinem Rechen-
^) Co 8 Bali, Origine, trasporto in Italia, primi progressi in essa deW algebra,
Parma 1797. I, 36. *) Hanke l S. 248, Note **. Dieser Geber darf ja nicht
verwechselt werden mit dem Alchimisten Abu Müsä Dschäbir, der gleichfalls
als Geber in der Literargeschichte genannt wird und ein Schüler des Dscha*far
as S&dik (699 — 766) war, mithin vor Muhammed ihn Müsä Alchwarizmi gelebt
hat. Vgl. Wüsten feld, Geschichte der arabischen Aerzte und Naturforscher
S. 12, Nr. 25. ') LUgäron ä un pueblo, donde ftU Ventura haUär ä un Algehrista
con quiin se curö el Sanson desgrciciado. Don Quixote, Parte III, L. V, c. 16
am Ende. Hier ist augenscheinlich Algehrista der Chirurg, der Zerbrochenes
wieder einrichtet.
Arabische Zahlzeichen. Muhammed ihn Müb& Alchwarizmi. 723
buche überwiegend Indisches und daneben einzehie griechische Spuren
vorfanden. Wir wollen zu zeigen yersuchen, daß^ wenn die Algebra
überhaupt als eine Mischung zu betrachten ist, jedenfalls griechische
Elemente in ihr weitaus vorherrschen.
Schon die beiden Verfahren der Herstellung und Gegenüber-
stellung, welche voraussetzen , daß auf beiden Seiten der Gleichung
nur Positives stehe, wenn der Ansatz vollendet ist, können nicht
indisch sein,, weil die Inder von dieser Bedingung nichts wissen. Es
kann hier nur auf Griechisches gemutmaßt werden, und vergleichen
wir unsere Auszüge aus Diophant (S. 472), so finden wir ganz
genau die Vorschrift der Herstellung uad Gegenüberstellung, in
welcher nur keine Namen für jenes Verfahren angegeben sind, Namen
die mithin jünger und mutmaßlich arabischer Herkunft sein werden.
Bei Diophant finden wir ferner gerade die drei Formen unreiner
quadratischer Gleichungen, welche unser Araber kennen lehrt, wieder
mit einem kleinen unterschied, auf den wir noch zu reden kommen.
Vergleichen wir weiter.
Alchwarizmi hat für die in den Gleichungen auftretenden Größen
verschiedene Namen. Die Unbekannte heißt schai, die Sache, oder
dschidr, die Wurzel. Das Quadrat der Unbekannten heißt mal, Ver-
mögen, Besitz. Die bekannte Größe wird als die Zahl benannt. Der
Name des Quadrats kann nun sehr wohl aus dem griechischen
dvvufiig, Möglichkeit, Vermögen übersetzt sein, während es aus dem
indischen varga, die Reihe, unter keinen Umständen abgeleitet werden
kann^). Das Wort schai für die Unbekannte entspricht weder dem
indischen yavattävat, noch dem iQiOnög des Diophant. Letzteres war
freilich nicht mehr zu verwenden, wenn man ihm schon eine andere
Bedeutung gegeben hatte, wenn man ganz zweckmäßig die bekannte
Größe der Gleichung, die fiovdg des Diophant, die rüpa der Inder
Zahl genannt hatte. Der Name schai, Sache, für die Unbekannte er-
innert, wenn man ihn nicht als in der Natur der Fragen begründet
einheimisch entstanden lassen sein will, nur an das ägyptische hau,
welches gleichfalls Sache heißt und für die Unbekannte gebraucht
wird, eine Ähnlichkeit, auf welche wir oben (S. 718) vorbereitet
haben*). Nun bleibt noch dschidr, die Wurzel, für die Unbekannte
erklärungsbedürftig. Man hat darin eine Übersetzung des indischen
müla erkannt. Das ist ganz gewiß richtig für die Bedeutung von
*) tJber alle diese Namen vgl. Hankel S. 264, Note *, wo freilich weder
alles angegeben int, was wir hier mitteilen, noch die gleichen Folgerungen ge-
zogen sind. *) Die Vergleichung zwischen* schai und hau haben wir in dem
Aufsatze: „Wie man vor vierthalbtausend Jahren rechnete" in der Beilage zur
Allgemeinen Zeitung vom 6. September 1877 ausgesprochen.
46*
724 33. Kapitel.
dschidr als Quadratwurzel einer Zahl, welche bei den Griechen stets
nXevQoi, die Seite, hieß. Aber ob nicht zugleich an das ^CJ^y^ des Ni-
komachus, welches in der Arithmetik des Boethius sich mit er-
weiterter Bedeutung als radix wiederfindet^), erinnert werden darf,
ist eine doch wohl aufzuwerfende Frage. Es könnte ^lJ^t] selbst eine
Übersetzung von müla sein, wenn wir an die indische Beeinflussung
Alexandrias im 11. S. uns erinnern; es könnte müla aus gC^ri über-
setzt worden sein, wenn wir an die alexandrinische Beeinflussung
Indiens denken; es könnte dschidr dem einen wie dem andern Worte
sein Dasein verdanken ! Soviel scheint daraus hervorzugehen, in
diesen Wortvergleichungen werden wir den Schlüssel zu dem uns be-
schäftigenden Geheimnisse nicht finden.
Täuschen wir uns nicht, so liegt dieser Schlüssel in den Figuren^
welche Alchwarizmi zur Begründung seiner Auflösungen der xmreinen
quadratischen Gleichungen gezeichnet hat, oder vielmehr in den
Buchstaben, welche er zur Bezeichnung dieser Figuren verwendet*).
Alchwarizmi beweist Algebraisches geometrisch; das ist von vorn-
herein griechisch, nicht indisch, da dem Inder gerade das entgegen-
gesetzte Verfahren Gewohnheit ist. Geometrisches algebraisch zu be-
handeln, und nur eine unbestimmte quadratische Gleichung
xy = ax + by + c
(S. 631) geometrische Erörterung fand, welche uns an einen griechi-
schen Ursprung gerade dieser Gleichungsauflösung denken ließ. Alch-
warizmi bezeichnet femer seine Figuren mit Buchstaben; das ist
wieder griechisch, nicht indisch. (Jnd nun vollends mit welchen
Buchstaben bezeichnet er sie? Allerdings mit arabischen Buchstaben,
aber mit solchen, welche eine bunte Reihenfolge in dem späteren
arabischen Alphabete darstellen und auch durch die Reihenfolge
Abudsched nicht ganz erklärt sind, während sie durch griechische
Buchstaben nach dem Gesetze gleichen Zahlwertes, sofern man die
Buchstaben als Zahlen betrachtet, ausgedrückt die vollständig richtige
griechische Reihenfolge zeigen, und auch darin griechisch sich geben,
daß sie das g und ^ ausschließen. Welchen Grund könnte ein
Araber gehabt haben, seinen beiden Zeichen, welche die Zahlenbedeu-
*) Bctdices autem proportionum voco numeros in superiore disposüione descrip-
to8, quasi quibus omnis summa supradictae comparationis innitatur (BoetiuB
ed. Friedlein pag. 60 1. 1 — 3). •) Der den Charakter einer Methode an sich
tragende Gedanke auf die Buchstaben einer Figur und deren Reihenfolge zu
achten, um die Herstammung einer Lehre zn erkennen, rührt von Hultsch her,
der ihn in seiner Abhandlung über den heronischen Lehrsatz, Zeitechr. Math.
Phys. IX, 247 zuerst in Anwendung gebracht hat.
Arabische Zahlzeichen. Muhammed ihn Müaä Alchwarizm!. 725
tung 6 und 10 haben nnd so den als ausgeschlossen von uns ge-
nannten entsprechen, also den ii;-Laut und den ^'-Laut, nicht zu be-
nutzen? Keinen, so viel wir sehen. Der Grieche hatte solche Gründe.
Das ^ war ihm im Gewöhnlichen überhaupt kein Buchstabe mehr,
und das Vy wie wir uns erinnern, dem einfachen Striche allzuähnlich.
Der ein griechisches Muster benutzende Araber folgte ihm, aber auch
nur dieser.
Wir behaupten auf diese Begründung gestützt: Zum mindesten
die geometrischen Nachweisungen für die Auflosimg unreiner qua-
dratischer Gleichungen bei Muhammed ihn Müsä Alchwarizm! sind
griechisch, und damit gewinnen auch frühere Behauptungen erneute,
für manchen Leser vielleicht erhöhte Wahrscheinlichkeit, die Be-
hauptung jene Auflösung der Gleichung xy ^ ax + hy + c bei
Bhäskara sei griechischen Ursprungs, die Behauptung, die griechische
Algebra habe von Euklid zu Heron, vielleicht zu Diophant in voll-
kommen selbständiger Entwicklung sich ausgebildet.
Wie Alchwarizmi zu griechischer Algebra gekommen sein kann,
darüber vollends ist nach der allgemeinen kulturgeschichtlichen Über-
sicht, welche wir im vorigen Kapitel zu geben uns gedrungen fühlten,
kein Zweifel. Die griechischen Gelehrten, die am persischen Hofe
erschienen waren, gehörten einer Zeit an, welche wohl anderthalb
Jahrhunderte nach Diophant fällt, und durch sie kann und wird
manches aus Diophant, beziehungsweise aus Kenntnissen, wie sie in
griechischer Sprache ans nur bei Diophant erhalten sind, mitgeführt
worden sein. Wir erinnern femer daran, daß Johannes von Da-
maskus im YIII. S. zum arabischen Hofe in Beziehung stand, jener
Mann (S. 696), der mit Pythagoras und Diophant verglichen worden
ist, vielleicht doch mehr als eine Floskel seines Lobredners, vielleicht
ein Hinweis darauf, daß die Gegenstände pythagoräischer wie dio-
phantischer Arithmetik und Algebra ihm geläufig waren.
Es fehlt freilich bei Alchwarizm! neben Dingen, in welchen er
als Schüler griechischer Algebraisten sich erweist, auch nicht an
Dingen, in welchen er sich wie von den Indem, so auch von ihnen
zu unterscheiden scheint, nicht an solchen, in welchen er über sie
hinausgeht. Die Griechen, und wie die Griechen so auch die Inder
(S. 625), bereiteten eine unreine quadratische Gleichung, etwa
aa? + hx = c)
zur Auflösung dadurch vor, daß sie dieselbe mit dem Koeffizienten a
des quadratischen Gliedes, unter Umständen auch mit dem Vierfachen
desselben 4 a vervielfachten. Alchwarizmi schlägt den entgegen-
gesetzten Weg ein, er läßt seine Gleichimg durch jenen Koeffi-
726
83. Kapitel.
zienten dividieren^) und bringt sie so in die in seinen Lösungen vor-
gesehene Form x^ + h^x = c^. Wir erinnern uns femer, daß es min-
destens sehr wahrscheinlich gemacht werden konnte, Diophant habe
nicht gewußt, daß manche unreine quadratische (rleichuugen zwei von-
einander verschiedene positive Wurzelwerte besitzen (S. 476). Alch-
warizmi spricht ausdrücklich von den beiden Wurzeln der Gleichungen
x^ + c^bx (S. 720). Das dürfte doch wohl auf indischen Einfluß
zurückzuführen sein, so daß damit das Wort Mischung, dessen
Möglichkeit [wir für die arabische Algebra in sehr einschränkende
Klauseln einschlössen, sich filr dieses eine indische Element recht-
fertigen könnte.
Indisch ist auch wohl die nur uneigentlich der Algebra zuge-
teilte Regeldetri, welche in der Portsetzung von Alchwarizmis
Werke auftritt^) und ähnlich bei griechischen Schriftstellern uns
nicht bekannt ist.
Gehen wir in unserem Berichte weiter, so kommen wir zu einem
unzweifelhaft wieder griechischen Quellen entstammenden Kapitel mit
der Überschrift die Messungen, misdliät^). Einzelheiten mögen
unsere Behauptungen bestätigen. Alchwa-
rizmi spricht den pythagoräischen Lehrsatz
aus und will ihn beweisen. Zum Beweise
dient ihm (Fig. 97) das in acht gleichschenk-
/iX [^ \| lige rechtwinklige Dreiecke zerlegte Qua-
drat, die Figur, deren wir als Fig. 34 zum
Verständnis der berüchtigten platonischen
Menonstelle (S. 217) bedurften, welche auch
von Pjthagoras mutmaßlich zum Beweise
seines Satzes in dem ersten Falle, daß das
vorgelegte rechtwinklige Dreieck die Hälfte
eines Quadrates war, benutzt wurde, eine Mutmaßung, die selbst
wieder zu gesteigerter Wahrscheinlichkeit gelangt, wenn wir die dazu
dienende Figur als eine griechische wirklich nachweisen können. Das
können wir aber trotz des arabischen Fundortes wieder mit Hilfe der
Fig. 97.
*) TÄ« soltUion is the same tchen two Squares or three, or more or less he
specified; you reduce them to one Single sqtMre and m tJie same proportion yau
redace also the roots and simple numbers, which are connected iherewith (Mo-
hammed ben Muaa, Algebra pag. 9). *) Mohammed ben Musa, Algebra
pag. 68—70. ") Ebenda pag. 70—86. Eine franzÖBische Übersetzung dieses
einen Kapitels hat Aristide Marre nach Rosens englischer Übersetzung in
den N. ann. math. Y, 557 — 670 gegeben. Später hat er sie nach dem arabischen
Gnmdtexte verbessert zum erneuerten Abdruck bringen lassen in Änndli di
matematica pura ed applicata T. YII. Boma 1866.
Arabieche Zahlzeichen. Muhammed ihn Müsä Alchwarizmi. 727
Buchstaben. Unter den 12 Figaren, welche überhaupt in dem Kapitel
der Messungen yorkommen^ ist eine (ein durch einen vertikalen Durch-
messer geteilter Bj-eis) ohne jede Bezeichnung. Zehn Figuren sind
durch an die Seiten beigeschriebene Längenmaße bezeichnet. Die
einzige zum pythagoiilischen Lehrsatze gehörige Figur trägt Buch-
staben an den Ecken und zwar solche^ die nach unserer vorerwähnten
Methode ins Griechische übertragen eine richtige Reihenfolge der ge-
wählten Buchstaben geben ^). Vierecke, heißt es alsdann weiter, sind
von fünf Arten: Quadrate, Rechtecke, Rhomben, Rhomboide, un-
regelmäßige Vierecke. Das sind ganz genau die fünf euklidischen
Vierecke im Gegensätze zu den indischen (S. 651). Alchwarizmi
unterscheidet dabei Länge und Breite der Figuren, unter ersterer die
größere, unter letzterer die kleinere Abmessung verstehend. Das ist
wieder alexandrinisch und von ägyptischer Zeit her in Gebrauch (S.394).
Die Aufgabe wird gestellt: in ein gleichschenkliges Dreieck, dessen
beide gleiche Schenkel 10 und dessen Grundlinie 12 zur Länge hat,
ein Quadrat einzuzeichnen. Die Höhe des Dreiecks ergibt sich ihm
als 8, die Quadratseite als 4y. Genau dieselbe Aufgabe mit den-
selben Maßzahlen findet sich bei Heron^), denn darin wird man doch
wohl eine Verschiedenheit nicht erkennen wollen, daß Heron von
seinem gleichschenkligen Dreiecke nur die Grundlinie mit 12, die Höhe
mit 8 bekannt gibt, woraus man die beiden gleichen Seiten mit je 10
berechnen könnte, wenn Heron es auch unterläßt. Eine gewisse Ver-
schiedenheit bietet nur die Art der Berechnung der Quadratseite, die
in dem arabischen Texte deutlicher ist als in unserem griechischen
Wortlaute. Heron nämlich verschafft sich ohne weitere Begründung
die Quadratseite, indem er das Produkt von Höhe und Grundlinie durch
die Summe von Höhe und Grundlinie dividiert; Alchwarizmi dagegen
rechnet — ob nach griechischer Vorlage lassen wir dahingestellt —
dieselbe Formel erst algebraisch aus, indem er die Quadratseite als
Unbekannte wählt und die vier Stücke, in welche die Einzeichnung
des Quadrates das ursprüngliche Dreieck zerlegt, ihrer Fläche nach
einzeln berechnet, welche alsdann zusammen der bekannten Gesamt-
iiäche gleich gesetzt werden. Allerdings fehlen auch in dem Kapitel
der Messungen gewisse Dinge, welche wir sonst bei Schriftstellern,
die unmittelbar an Heron sich anlehnen, zu finden gewohnt sind.
Die näherungsweise Berechnung des gleichseitigen Dreiecks unter
^) Rosen hat zwar R wo wir ^ haben, doch ist dieses offenbar Wirkung
eines Schreibfehlers, indem die beiden entsprechenden arabischen Bachstaben
sich nur durch 'ein kleines Pünktchen unterscheiden. *) Heron (ed. Hultsch)
pag. 74—76.
728 38. Kapitel.
26
Benutzung von )/3 = tv , die heronische Dreiecksformel aus den drei
Seiten^ jene altagyptischen Annäherungswerte ftir Yierecksfiächen
als Produkte der arithmetischen Mittel von je zwei Gegenseiten lehrt
Alchwanzmi nicht Yon Stereometrischem hat nur der Inhalt einer
abgestumpften quadratischen Pyramide, deren Ghnndfläche die Seite 4,
die Abstumpfungsfiäche die Seite 2 besitzt, während die Höhe 10 ist,
Beachtung gefunden. Die Berechnung selbst kann nach griechischem
Muster geführt sein, wiewohl gerade diese Zahlen in keinem der be-
kannten heronischen Beispiele vorkommen. Auch ein indisches Ele-
ment ist übrigens mit Bestimmtheit in diesem Kapitel nachzuweisen.
Die Yerhältniszahl n wird nämlich in dreierlei Größen angegeben.
22
Davon werde -- „im praktischen Leben angewandt, wiewohl es nicht
ganz genau sei; die Geometer besitzen zwei andere Methoden'', und
62882
diese sind die indischen tc = ylO und « = ööqöö '
Nun kommt ein letzter wieder ganz verschieden gearteter Ab-
schnitt, an Länge ziemlich genau die Hälfte des ganzen Buches aus-
machend^) und dadurch den Beweis liefernd, daß in den Augen des
Verfassers hier wohl der Schwerpunkt seiner Aufgabe liegen mochte.
Es handelt sich um die ungemein verwickelten, um nicht zu sagen
verworrenen Bestimmungen über Erbrecht, über Freimachung von
Sklaven und dergleichen, welche in dem Koran, dem bürgerlichen
nicht minder als religiösen Gesetzbuche der Araber, enthalten waren,
und welche mit ihren sich oft widersprechenden Forderungen nicht
selten eine Entscheidung nötig machten, die von dem Rechte und
der Rechnung gleichmäßig abwich, weil es untunlich schien, nur
das eine zugunsten des anderen zu verletzen. Aufgaben wie jene
römische Erbschaftsfrage von der Witwe, die nach dem Tode des
Mannes Zwillinge zur Welt bringt, sind in diesem Abschnitte nicht
enthalten, was ja zum voraus keineswegs sicher war, da möglicher-
weise auch diese Doktor&age einem arabischen Rechenkünstler hätte
bekannt werden können und dann gewiß seine Sammlung kitzlicher
Fälle zu bereichem beigetragen haben würde. Aber wenn auch
Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit dem römischen Rechte
bei den Arabern nachzuweisen sind, ableitbar aus der langen Geltung
römischen Rechtes in Palästina und Syrien, im Erbrecht finden sich
keine Yergleichungspunkte. Es ist ganz unabhängig von fremden
Einflüssen auf ausschließlich semitischem Boden entstanden, und nur
die hebräische Gesetzgebung, die ebenso wie die arabische auf eine
^) Mohammed ben Muea, Algebra pag. 86—174.
Arabische Zahlzeichen. Mnhammed ihn Mügä Alchwarizm!. 729
altsemitische gemeinsame Bechtsauffassnng zurückreicht; hat hierbei
mitgewirkt;^). Dieser Abschnitt der Algebra ist also arabisch durch
und durch und ist als Grundlage zahlreicher späterer besonderer
Schriften zu betrachten, welche geradezu von den Erbteilnngen
und den dabei vorkommenden Rechnungen ausschließlich
handeln. Ihn Chaldün, ein arabischer Gelehrter, der von 1332 bis
1406 im Okzidente lebte, hat diesen Teil der mathematischen Wissen-
schaften unter dem Namen al farä'id, d. h. gesetzlich festgestellte
Bedingung, ausführlich geschildert und Schriftsteller genannt, welche
sich mit demselben besonders beschäftigten^). Gleiches findet sich
bei Hadschi Chalfa'), einem Bibliographen des XVII. S.
Wir haben die beiden Lehrbücher Alchwarizmis, sein Lehrbuch
der Rechenkunst und das der Zeit nach ältere der Algebra, verhält-
nismäßig sehr ausführlich besprochen. Die ganz außergewöhnliche
Wichtigkeit, welche beide Schriften für die Entwicklung der abend-
ländischen Mathematik gewonnen haben, wird noch nachträglich
dieses längere Verweilen rechtfertigen. Schon jetzt dürfte aber unsere
Rechtfertigung von dem Gesichtspunkte aus geliefert sein, daß uns
nunmehr die Grundlage genau bekannt ist, welche durch den ersten
arabischen Schriftsteller über Mathematik natürlich aus fremdem
Sto£Fe geschaffen war, eine Grundlage, auf welcher seine Landsleute
nun fortbauen konnten und mußten, mochten sie gleich ihm die schon
zubehauenen Steine den Trümmern einer &emdländischen Bildung ent-
nehmen, oder mochten sie selbst ganz Neues schaffend ihre Be-
fähigung mehr als bloße Aufbewahrer angeeigneten Gutes zu sein
glänzend bewähren.
Was das Verhältnis betrifft, in welchem gemischt Griechisches
und Indisches von Alchwarizmi aufgenommen und verarbeitet wurde,
so läßt sich dasselbe kurz dahin angeben, daß als indisch vornehm-
lich die Rechenkunst, als griechisch dagegen, wenn auch nicht unter
Ausschließung jeglicher aus Indien stammender Veränderung, die
Algebra sowie die Geometrie, mit anderen Worten die eigentliche
wissenschaftliche Mathematik sich erweist.
Diese fast gegensätzliche Scheidung der beiden Richtungen,
welche bei Muhammed ihn Müsa Alchwarizmi sich . einigermaßen
verwischte, scheint auch fast zwei Jahrhunderte nach ihm im all-
gemeinen noch bemerklich gewesen zu sein. Erzählt doch der be-
*) Eremer I, 627 — 632. •) Ibn Ehaldonn, PröUgomines in den Notices
et extraits des manuserita de la Bibliothique imperiale T. XXI, Partie 1, pag. 21
bis 26 und 188—140. Über Ibn Khaldoun aelbfit vgl. Suter 169—170, Nr. 420.
•) H&^gi Halifa, Bd. IV, S. 893flgg.
730 83. Kapitel.
rühmteste unter allen arabischen Ärzten Abu *Ali Husain ibn
^Abdallah ibn Husain ibn ^Ali as-Schaich ar-Ra'is Ibn Sinä oder
Avicenna^ wie man ihn gewöhnlich .nennt ^ er habe^) in seinem
zehnten Lebensjahre — das war zwischen 990 und 995 n. Chr. — in
Buchära von einem Lehrer Unterricht im Lesen des Koran und in
den Wissenschaften erhalten und habe bald den Gegenstand allgemeiner
Bewunderung gebildet; dann habe der Vater ihn zu einem Manne
geschickt; der mit Kohl handelte^ und der in der indischen Rechen-
kunst wohl erfahren war, damit er von fiesem lerne.
Selbst Muhammed ibn Müsa hat neben seiner Algebra noch eine
Schrift verfaßt, in welcher er nach höchster Wahrscheinlichkeit
Gegenstände sehr ähnlicher Natur nach einer weniger wissenschaft-
lichen als praktischen Methode, die auch bei den Indem, wenn auch
etwas abweichend (S. 618) uns begegnet ist, behandelte*). Wir kenneu
freilich nur die Überschrift des uns verlorenen Buches Über die
Vermehrung und Verminderung, fil dscham^ wattafrik, und aus
diesem Titel selbst ließe sich gar nichts entnehmen, wenn er nicht
häufiger vorkäme, eitamal begleitet von der Abhandlung, der er als
Überschrift dient, und aus deren Inhalt man auf den der gleich-
betitelten aber nicht mehr vorhandenen Arbeiten schließen zu dürfen
glaubt. So er^nzt man sich die Schrift über die Vermehrung und
Verminderung des Alchwarizmi, so die des Sind ibn ^Ali, des Sinän
ibn Alfath. Von diesen beiden war der erstere einer der Astro-
nomen, welche Chalif Almamün zugleich mit Alchwarizmi in Diensten
hatte, und ebenso wie von diesem, ebenso wie von dem vielleicht
nicht viel späteren Sinän ibn Alfath ist auch von ihm eine Schrift
über indische Rechenkunst ausgegangen"). Die zur Ergänzung dienende
Schrift ist in einem dem Mittelalter entstammenden lateinischen Texte
vorhanden*) und ist betitelt: Liber augmenti dimimäionis vocatus
numeratio divinationis ex eo quod sapientes Indi postierunt, quen%
Abraham compilavit et secundum librum qui Indorum dictus est com-
posuit Ob dieser Abraham, wie man vermutet hat, der sonst unter
dem Namen Ibn Esra bekannte gelehrte Jude ist, der 1093 bis
1168 lebte, ob ein Araber Ibrahim sich darunter verbirgt, wie man
früher als einzige Möglichkeiten in Wahl stellte, ist keineswegs aus-
gemacht. Gewichtige Gründe werden vielmehr dafür beigebracht, der
*) Wüstenfeld, Axabißche Aerzte und Naturforscher S. 64—76, Nr. 128
Abul Fharagius Eistoria Dynast, (ed. Pocock) pag. 229 der lateinischen Über-
setzung. Suter 86 — 90, Nr. 198. *) Woepcke in dem Journal Asiatique
1. Halbjahr 1868, pag. 614. *) Ebenda 490. *) Libri, Histoire des sciences
maihSmatiques en Italie I, 804—871. Über einige dunkle Stellen vgl. Schnitzler,
Zeitschr. Math. Phys. IV, 383—889.
Arabische Zahlzeichen. Muhammed ihn Mü8& Alchwarizint. 731
rätselhafbe Verfasser sei ein gelehrter Ägypter Sodscha ihn Aslam^)
gewesen; von dem man weiß, daß er ein Buch über die Vermehrung
und über die Verminderung geschrieben hat. Die Namensverschieden-
heit soll dabei kaum ins Gewicht fallen^ da der ohnedies sehr, seltene
Name Aslam in arabischen Schriftzügen verhältnismäßig leicht mit
Ibrahim verwechselt werden könne*). Unzweifelhaft dagegen ist es,
daß das gelehrte Verfahren den Indern zugeschriehen ist, da ihrer
nicht bloß in der Überschrift gedacht wird, sondern auch im Texte,
wo der Verfasser wiederholt, er habe dieses Buch nach denjenigen
Erfindungen zusammengestellt, welche die Weisen der Inder über die
Rechnung der Annahme gemacht haben; es sei nützlich für den,
welcher es beachte und sich bemühe und beharre und dessen
Meinung verstehe.
Die eigentliche Methode zu erläutern, wollen wir die erste Auf-
gabe hier mitteilen: „Ein gewisser Besitz (census), von welchem man
dessen Drittel und dessen Viertel weggenommen hat, ließ 8 als Rest.
Wie groß war der Besitz? Die Methode der Rechnung desselben ist,
daß Du aus 12 eine Wagschale (lancem) bildest. Der dritte und
der vierte Teil entstehen daraus. Du nimmst den dritten und vierten
Teil weg, welche 7 betragen und 5 bleibt übrig. Stelle 8 gegenüber,
nämlich den Rest des Besitzes, und es wird klar, daß Du um 3 in
der Verminderung geirrt hast. Diese bewahre. Sodann nimm Dir
eine zweite Wagschale, welche durch die erste teilbar sei, etwa 24;
nimm ihren dritten und vierten Teil, also 14 weg, 10 bleibt übrig.
Stelle 8 gegenüber, den Rest des Besitzes. Es wird klar, daß Du
um 2 in der Vermehrung geirrt hast. Vervielfache jetzt den Irr-
tum 2 der zweiten Wagschale • mit der ersten Wagschale 12 zu 24,
sodann vervielfache den Irrtum 3 der ersten Wagschale mit der
zweiten Wagschale 24 zu 72. Addiere nun 24 und 72, weil der eine
Irrtum in der Verminderung, der andere in der Vermehrung war;
wären dagegen beide in der Verminderung oder in der Vermehrung
gewesen, so müßtest Du die kleinere Zahl von der größeren abziehen.
Nachdem Du die 24 und 72 addiert hast, deren Summe 96 ist, addiere
auch die zwei Fehler 2 und 3; sie geben 5. Nun teile 96 durch 5,
um zu erfahren, welche Zahl es sei, aus welcher die Aufgabe
stammt, und es kommt 10 - heraus.^'
6
^) Suter 43, Nr. 81 und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XTV,
164 zu Nr. 81. ») Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. Xu, 42 und
Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik UI, 118—123 (1880). Suter in
der Bibliotheca Mathematica 3. Folge lU, 350 — 864 (1902) und zuletzt in den
Verhandlungen des 3. internationalen Mathematiker-Kongresses 1904 in Heidel-
berg. S. 568—661.
732 88. Kapitel
Unmittelbar anschließend fährt der Verfasser fort als Regel,
offenbar aber im Gegensatze zn dem erst gelehrten Verfahren, Tor-
zoschreiben: ,,Man nehme 12 als die unbekannte Zahl, ans welcher
die Wegnahme des dritten und vierten Teiles 5 hervorbringt und
frage nun, womit wird 5 vervielfacht, um 12 hervorzubringen? Das
2 2 . 1
gibt 2 : vervielfache also die 2 -r mit 8 und es entsteht 19 "
Das ist genau die ishta karman der Inder, das Verfahren mit der
angenommenen Zahl (ä. 618), Von welchem die Hauptregel als eine
Abart sich erweist, auf welche wir gleich zurückkommen.
Die Methode der Vermehrung und Verminderung wird noch an
vielen anderen Beispielen gelehrt und das Ergebnis häufig mittels
noch anderer Rechnungsweisen gefunden. Darunter ist auch das
Umkehrungsverfahren ^) unter dem sonderbaren Namen der Wort-
rechnung, regtUa sermonis. Auch dieses haben wir bei den Indem
kennen gelernt, und es kann uns als Bestätigung dienen, daß Abraham
mit Recht auch die Methode der Vermehrung und Verminderung eben-
denselben zuschreibt.
Die Abweichung der letzteren von dem Verfahren mit der an-
genommenen Zahl besteht, wie wir sahen, darin, daß dort nur ein
einmaliger Versuch genügt, während hier zwei falsche Ansätze ge-
bildet werden, wodurch sich auch der Name reguia dchatayn, Regel
der zwei Fehler, rechtfertigt^, welchen die Methode bei späteren
abendländischen Schriftstellern führt. Daß sie auch Methode der
Wagschalen heißt und in eigentümlicher Schreibweise auftritt,
werden wir noch im 37. Kapitel zu besprechen haben. Ihre alge-
braische Begründung ist sehr einfach. Es sei ax » &, folglich
a; = — • Nun setzt man einmal a: = w^ , das andremal x = n^ und
erhält ani = 6 — c^, awg = 6 -f c^, wo e^ und c^ die beiden Fehler
sind, der erstere in der Verminderung, der zweite in der Vermehrung.
Jetzt soll X == *^-*-T *--* ßein, und das ist auch der Fall, indem
ist. Der Fall, daß beide Fehler in der Verminderung, oder beide in
der Vermehrung ausfallen, kann entsprechend bewahrheitet werden.
Wir dürfen allerdings, wenn wir den doppelten falschen Ansatz als
indisch beanspruchen, nicht außer Augen lassen, daß wir (S. 372) in
*) Libri 1. c. 813. *) Diese richtige Übersetzung bei Hankel S. 2ö9,
Anmerkung.
Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bnjiden. 733
einem doppelten falschen Ansätze das Rechnungsverfahren vermuteten,
welches Heron in seiner Yermessungslehre anwandte, nm zu dort vor-
kommenden angenäherten Quadrat- und Kubikwurzeln zu gelangen.
Hier liegt unter allen Umständen eine geschichtliche Schwierigkeit vor,
auf die wir uns verpflichtet fühlen hinzuweisen, wenn wir sie auch
nicht zu lösen imstande sind. Jedenfalls gehört auch diese Methode
zu dem Grundstocke mathematischer Wahrheiten, welcher in der Zeit
des Muhammed ihn Müsä Alchwanzmi, also im ersten Drittel des
IX. S., Eigentum der Araber war. Wir werden nun bei einzelnen
Schriftstellern, von denen wir zu reden haben, sehen, welche Ver-
mehrungen teils als neuerdings erworbenes fremdes Wissen, teils als
eigene Erfindung hinzutreten.
34. Kapitel.
Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer anter
den Bnjiden.
Als der Zeit nach Nächste fordern die sogenannten drei Brüder
unsere Aufmerksamkeit^). Müsä ibn Schäkir soll in seiner Jugend
Räuber gewesen sein, d. h. hatte wohl zu einer der räuberischen
Horden gehört, welche damals wie noch jetzt Unsicherheit der Wüsten-
gegend hervorbrachten, ohne daß die persönliche Ehrenhaftigkeit der
einzelnen Mitglieder in arabischer Auffassung dadurch beeinträchtigt
erschiene. Dementsprechend nahm Müsä später am Hofe des Ghalifen
Almamün eine hohe Stellung ein und erwarb sich die Gunst des
Herrschers in solchem Maße, daß dieser nach Müsas Tode sich die
Erziehung der drei hinterlassenen Söhne Muhammed, Ahmed und
Alhasan angelegen sein ließ. Deren Wohlhabenheit wird dadurch
bezeugt, daß sie drei Übersetzer aus dem Griechischen, darunter
Täbit ibn Kurrah (S. 703) mit je 500 Dinaren monatlich unterstützten*).
Der Name des ältesten: Muhammed ibn Müsä ibn Schäkir kanu, wenn
der Vatersname nicht von dem des Großvaters begleitet ist, leicht
zur Verwechslung mit Alchwarizmi führen, um so leichter, als alle
drei Brüder tüchtige Astronomen und Mathematiker wurden. Von
ihnen stammt die sogenannte Gärtnerkonstruktion der Ellipse mittels
eines an zwei Punkten festgehaltenen und durch einen Stift gespannten
Fadens gemäß dem Berichte eines Arabers Alsidschzi, welcher zu
Ende des X. S. lebte und, selbst Mathematiker von Bedeutung, am
^) Vgl. Mohammed ben Mnaa Algebra. Vorrede pag. XI, Anmerkung.
Fihrist 24—26. Suter 20—21, Kr. 48. *) Suter 22.
734 S4. Kapitel.
Schlüsse dieses Kapitels uns beschäftigen wird. Eine geometrische
Schrift ist in mittelalterlicher lateinischer Übersetzung auf uns ge-
kommen^). Sie führt den Titel Liber trium fratrum de geometria und
beginnt mit den Worten: „Verba filiorum Moysi, filii Schiae, id est
Mahumeti Hameti et Hason'^ oder nach anderer Lesart in einem zweiten
Kodex „Verba filiorum Moysi, filii Schaker, Mahumeti Hameti Hasen''
und danach ist die Bezeichnung der drei Brüder, beziehungsweise
der drei Söhne des Müsä ihn Schäkir geworden, unter welcher die
Verfasser genannt zu werden pflegen. Manches Interessante findet
sich dort, wenn auch wenig Neues, da fast alles, um nicht zu sagen
alles, auf griechische Vorlagen zurückgeführt werden kann. Auch
eine durch Bewegungsgeometrie erzielte Dreiteilung des Winkels
dürfte griechischen Ursprungs sein. Vorzugsweise die heronische
Formel für die Dreiecksfläche aus den drei Seiten hat die Aufmerksam-
keit eines Forschers auf sich gezogen, der den Beweis obwohl einiger-
maßen von dem heronischen verschieden doch als abhängig von dem-
selben erkannte und insbesondere aus den Buchstaben, mit welchen
die Eckpunkte der Figur bezeichnet sind, den Nachweis führte, daß
diese Figur einem griechischen Muster nachgebildet sein müsse, so
eine vielfach mit Erfolg anwendbare (S. 724) neue kritische Methode
zur Ermittelung des Ursprungs mathematischer Untersuchungen er-
findend. Vielleicht war es Muhammed, der älteste der drei Brüder,
welcher die Kenntnis des heronischen Satzes nach Bagdad brachte,
während allerdings andere heronische Schriften schon zu Alchwarizmis
Zeiten, wie wir aus manchen bei diesem auftretenden Dingen schließen
durften, bekannt gewesen sein mögen. Jedenfalls weiß man von
einer Reise nach den griechischen Gebieten, welche jener machte,
und daß es auf der Rückkehr von dieser Reise war, daß er Täbit
ihn Kurrah kennen lernte, welchen er aufforderte ihn nach Bagdad
tu begleiten, und so kam auch dieser letztere an den Chalifenhof,
und wurde in das Astronomenkollegium Almu'tadids aufgenommen.
Von dem Leben (826 — 901) und der reichen Übersetzungstätigkeit
des gelehrten Täbit ihn Kurrah haben wir (S. 703 — 704) gesprochen.
Wir haben es jetzt mit ihm als Originalschriftsteller zu tun, und
da finden wir eine Abhandlung von ihm, welche unsere Aufmerksam-
keit zu fesseln ein entschiedenes Anrecht besitzt^). Der Gegenstand
ist ein zahlentheoretischer und zwar ein solcher, der nur der grie-
») Vgl. Hultsch in der Zeitschr. Math. Phys. IX, 241—242 und 247 in
dem Aufsätze ,,Der heronische Lehrsatz über die Fläche des Dreiecks als Funk-
tion der drei Seiten'^ und Jahresbericht über Mathematik im Alterthum für
1878—79 Yon Max Curtze. Ein von ebendiesem besorgter Abdruck des Buches
in den Nova Acta der Leop.-Car. Akademie. Halle 1886. *) Notice sur une
Die Mathematiker unter den Abbaaiden. Die Geometer unter den Bigiden. 735
einsehen, nieht ebenso der indischen Zahlentheorie angehört. Täbit
sagt auch in den Einleitungssätzen, daß es Betrachtungen seien,
welche der pythagoraischen Lehre angehörten, daß einiges über das
zu Behandelnde bei Nikomachus und Euklid sich finde; er geht
endlich, wieder nach seinen eigenen Worten, über diese beiden hinaus
und liefert somit für uns das erste Beispiel einer wirklich arabischen
Leistung auf mathematischem Boden. Es handelt sich um yi»llkommene
und um befreundete Zahlen. Für die Bildung der ersteren hat Euklid
die Regel angegeben (S. 268), Nikomachus sie wiederholt. Die
zweiten hat nach Jamblichus schon Pjthagoras gekannt und die
Zahlen 220 und 284 ab Beispiele aufgestellt, wie Freunde sein
sollen, ein jeder dem andern ein zweites Ich (S. 167). Aber wie man
solche befreundete Zahlen finde, darüber äußert sich auch Jam-
blichus nicht. Täbit ihn Kurrah hat eine solche Vorschrift gegeben,
welche mit der Euklids zur Bildung der vollkommenen Zahlen in
Zusammenhang steht und dadurch sich als den Kern der Aufgabe
enthüllend kennzeichnet. Sind
^==3.2«-l, g-3.2"-i-l, r^9' 2««- ^ - 1
insgesamt Primzahlen, so sind Ä==2" -p - q und j? = 2" • r be-
freundete Zahlen. Bei n = 2 ist p -^ 11, } = 5, r = 71 und A = 220,
JB=284.
Die befreundeten Zahlen haben übrigens von da an nicht auf-
gehört den Arabern bekannt zu sein. In einer mystischen Schrift
über die Zwecke des Weisen hat El Madschriti, der Madrider
(t 1007), die Vorschrift, man solle die Zahlen 220 und 284 auf-
schreiben und die kleinere wem man will zu essen geben und selbst
die größere essen; der Verfasser habe die erotische Wirkung davon
in eigener Person erprobt^), und Ibn Chaldün weiß gleichfalls von
den wunderbaren Kräften eben dieser Zahlen, als Talismane gebraucht,
zu erzählen*).
Alsidschzi berichtet auch kurz über eine Dreiteilung des Winkels
durch Täbit ibn Kurrah. Figur und Wortlaut stimmen so nahe mit
einem Satze aus dem IV. Buche des Pappus überein*), daß an einer
genauen Benutzung dieses Schriftstellers nicht zu zweifeln ist, auch
scheint Täbit kein Hehl daraus gemacht zu haben, daß er nicht der
theorie ajoutee par Thdbit ben Korrah ä Varithmetique speculative des Grecs von
Woepcke im Journal Asiatique fOr Oktober und Novembei 1862 pag. 420 — 429.
^) Steinschneider, Zur pseudoepigraphischen Literatur insbesondere der
geheimen Wissenschaften des Mittelalteis S. 87 (Berlin 1862). *) Notices et
extraits des manuscrits de la biblioiMqiAe imperiale T. XXI, Partie 1, pag. 178—17»
(Paris 186ö). ^ Pappus IV, 32. Die Figur vgl. (ed. Hultsch) pag. 276.
736 34. Kapitel.
Erfinder sei; da Alsidsclizi ausdrücklich sagt, er wolle in seinem
Berichte über Winkeldreiteilung von den Sätzen der Alten - aus-
gehen, worunter sehr wohl die Griechen verstanden sein können^).
Wir haben des weiteren auf eine Schrift Täbits über den Satz
des Menelaus hinzuweisen, welche Gerhard von Gremona (1114 — 1187)
unter dem Titel Liber thebit de figura alkata tradaius I ins Lateinische
übersetzte ^nd so das Wort cdkaia (» sector d. h. die Transversale)
mit lateinischem Bürgerrechte versah. Ob Täbit aus der Figur alle
trigonometrischen Folgerungen zog, deren sie fähig ist, bleibt so lange
ungewiß, als seine Abhandlung nur bruchstückweise bekannt ist').
Wieder zu Almu^tadid stand ein uns als Verfertiger astronomischer
Tafeln (S.701) schon bekannter geometrischer Schriftsteller Alnairizi')
in Beziehung, den wir also hier zu nennen haben. Er verfaßte einen
Kommentar zu den euklidischen Elementen, als dessen größtes Ver-
dienst zu loben ist, daß dort wertvolle Bruchstücke der in der Ur-
sprache verlorenen Erläuterungen von Heron und Simplicus (S. 386)
erhalten sind*).
Die Zeitfolge führt uns zu einem Manne, welcher in ganz anderer
Richtung arbeitete, und dessen Name untrennbar verbunden ist mit
der Geschichte der Einführung der trigonometrischen Funktionen im
Abendlande, zuAlbategnius, wie die Übersetzer ihn genannt haben ^).
Muhammed ibn Dschabir ihn Sinän Abu ^Abdallah al Battani führt
seinen Beinamen nach Battan in Syrien, wo er geboren ist, und
welchem er zur Berühmtheit verholfen hat. Er stellte 878 — 918 in
Ar-Rakka astronomische Beobachtungen an, welche von seinen Lands-
leuten als die genauesten gefeiert worden sind, die irgend jemand ge-
lungen seien, der unter dem Islam gelebt hatte, und mit nicht ge-
ringerem Lobe haben sie seine Schrift über die Bewegung der Sterne
bedacht, welche im XII. S. durch einen Übersetzer Plato von Ti-
voli, der uns seinerzeit noch beschäftigen wird, unter der Über-
schrift De motu oder De scientia stellarum in lateinischer Sprache
bearbeitet wurde. Aus dieser Übersetzung soll das Wort sinus als
Name einer trigonometrischen Funktion in die Mathematik aller
*) L'aigebre d*Omar Älkhayami (ed. Woepcke), Paris 1861, pag. 118. Die
Übereinstimmung Täbits mit Pappus hat Woepcke hervorgehoben ibid.
pag. 117, Anmerkung **. *) A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte
der Trigonometrie I, 46—47. «) Fihrist 36. Suter 46, Nr. 88. *) Alnai-
rizis Kommentar wurde 1898 — 1906 von Besthorn und Heiberg herausgegeben.
Über die Eukliderklärungen von Heron und von Simplicius vgl. auch Fihrist
22 und 21. Die von Gerhard von Cremona herrührende lateinische Übersetzung
des Kommentars des Alnairtzi hat Curtze als Supplementband zu den Werken
Euklids (Leipzig 1899) herausgegeben. ') Hankel S. 241 und 281. Suter 46
bis 47, Nr. 89.
Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 737
Völker eingedrungen sein. Der Ursprung des Wortes wäre dann
nach aller Wahrscheinlichkeit folgender^). Die Benennung der Sehne
war im Sanskrit jya oder jiya; die der halben Sehne ardhajya (S. 658).
Allmählich wurde, da man nur die halbe Sehne trigonometrisch ver-
wertete, das kürzere jiya auch f&r diese benutzt und drang so zu
den Arabern, welche es in seinem Wortlaute, wie sie ihn verstanden,
übernahmen und dschiba schriebexL Genau dieselben Konsonanten,
welche arabisch dschiba zu lesen sind, lassen aber auch die Lesung
dschaib zu, welches ein wirkliches arabisches Wort ist und den Ein-
schnitt oder Busen bedeutet. Nun wird angenommen, die Überlieferung,
daß man, für den Araber sinnlos, dschiba lesen müsse, sei verhältnis-
mäßig frühzeitig abhanden gekommen, und die Lesart dschaib sei dafür
die regelmäßige geworden. Jedenfalls übersetzte zwar nicht Plato von
Tivoli, wie man früher fälschlich annahm, aber Gerhard von Gremona bei
der Bearbeitung anderer arabischer Astronomen das arabische dschaib
durch das ganz richtige Wort sinus, welches von nun an sich fort-
erbte'). Daß übrigens die Araber das indische kramajyä in der Form
kardaga übernommen haben, welches ihnen den 96. Teil des Kreis-
umfanges bedeutete, ist schon (S. 699) erwähnt worden. Bei anderen
arabischen Mathematikern, insbesondere bei solchen, deren Schriften
im christlichen Mittelalter übersetzt wurden, bedeutet kardaga den
24. Teil des Kreisumfanges. Wieder bei anderen scheint kardaga zur
Benennung des Sinus eines gewissen Bogens gedient zu haben').
Den Sinus wendet nun Albattani im IIL Kapitel seiner Stern-
kunde, welches eine Trigonometrie enthält, regelmäßig an und zwar,
was einen nicht hoch genug anzuerkennenden Fortschritt gegen die
Lider bezeichnet, im Yollbewußtsein des Gegensatzes gegen die im
Almageste benutzten ganzen Sehnen mit dem ausdrücklichen Zu-
sätze, daß man so in der Rechnung das fortwährende Verdoppeln
erspare.
In einer anderen Beziehung ist aber Albattani noch immer
Schüler des Ptolemaeus und ebenso Schüler der Inder. Er weiß noch
nichts von trigonometrischen Gleichungen, nichts von deren algebrai-
^) Die hier folgende Hypothese stammt von dem Pariser Orientalisten
Munk her. Vgl. Woepcke in dem JottmcU ÄsiatiqiM 1863 , 1. Halbjahr,
pag. 478, Anmerkung. *) Max Koppe, Die Behandlung der Logarithmen und
der Sinus im Unterricht. Osterprogramm 1893 des Andreas-Bealgymnasiams zu
Berlin. S. 32 — 34, hat nachgewiesen, daß bei Plato von Tivoli die sinngetreuere
Übersetzung chorda vorkonmit. Über die dem Wortlaut nach richtige Über-
setzung Sintis bei Gerhard von Gremona vgl. Jul. Euska in der Zeitschr. Math.
Phys. XL, Histor.-liter. Abtlg. 128—128. ») Eneström in der BibUoikeca
Maihematica 8. Folge IV, 284.
Gamtob, Oeichlohte der BCathematUc I. 3. Aufl. 47
738 S4. Kapitel.
sehen Umformung; er kennt nur an Figuren zu beweisende geo-
metrische Sätze ^). In diesem Sinne spricht er von dem Schatten
und versteht darunter die Schattenlänge ly welche ein von der Sonne
unter dem Winkel q> beschienener Schattenmesser h wirft. Je nachdem
der Schattenmesser auf einer Horizontalebene oder auf einer Yer-
tikalebene aufsteht, ist . die Eotangente oder die Tangente des
Winkels (p. Albattani hat eine kleine von Grad zu Grad fort-
schreitende Eotangententafel hergestellt. Femer kennt er Be-
ziehungen zwischen einem Winkel und den drei Seiten eines sphäri-
schen Dreiecks^ welche auf
cos a = cos h • cos c + sin 6 • sin c • cos A
hinauslaufen, aber diese Gleichung selbst darf man bei ihm nicht
suchen.
Dem Anfange des X. S. gehört Ahmed ihn Jussuf^) an, der
in Ägypten lebte. Unter seinen zahlreichen Schriften hat diejenige,
welche über die Verhältnisse handelt, einen geschichtlichen Einfluß
geübt, von welchem im 41. Kapitel im folgenden Bande die Rede
sein wird.
Von Al-Basra war, wie wir uns erinnern (S. 697), der Anstoft
ausgegangen, der den Chalifen Almamün zu einem Beförderer der
Philosophie und der Mathematik machte. In derselben an Bildungs-
elementen der verschiedensten Länder reichen Handelsstadt scheint
in der zweiten Hälfte des X. S. eine Art von wissenschaftlichem Ge-
heimbund entstanden zu sein'), dessen Mitglieder in Gemeinschaft
arbeiteten, wenigstens in Gemeinschaft veröffentlichten, was sie für
notwendig zur Bildung des Geistes und des Charakters hielten.
Diese Abhandlungen der lauteren Brüder müssen wir bis zu
einem gewissen Grade der Besprechung unterziehen. Von den, wie
gesagt, anonymen Verfassern ist es doch gelungen, einige zii ent-
rätseln^), und unter diesen dürfte Almukaddasi der bekannteste
sein, ein anderer hieß Zaid ihn Rifä^a. Die Abhandlungen selbst
verbreiteten sich rasch sehr weit, ja sogar bis zu den Westarabem
Spaniens drangen sie durch El Madschriti oder durch dessen
Schüler El Karmäni, von welchem letzteren, der 1066 über 90 Jahre
^) A. V. Brannmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I^
50—64. *) Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. X, 492 (1866) und
Bibliotheca mnthematica 1888, 111—112. Suter 42— 4S, Nr. 78. ») Vgl. Die-
terici, Die Propädeutik der Araber im X. Jahrhundert. Berlin 1866. Flügel,
Ueber die Abhandlungen der aufrichtigen Brüder und treuen Freunde in der
Zeitschr. der morgenl. Gesellschaft XIII, 1 — 38 (Leipzig 1869), Sprenger
ebenda XXX, 330—386 (Leipzig 1876). *) Flügel 1. c. S. 21.
Die Mathematiker unter den Abbagiden. Die Geometer nnter den Bnjiden. 739
alt in Cordova starb ^ eine Studienreise nach dem Oriente bekannt
ist^^. Und trotz dieser Tatsache^ welche eine packende Bedeutung
der Schriften zu erweisen scheint, hat die arabische Kritik selbst
wenig Gutes ihnen nachzurühmen gewußt. Zaid sei ein unwissender
Schwindler, sagte ein Zeitgenosse*), und das urteil eines gelehrten
Schaich, der die Abhandlungen einer genauen Durchsicht unterworfen
hatte, lautet: Sie ermüden, aber be&iedigen nicht; sie schweifen herum,
aber gelangen nicht an; sie singen, aber sie erheitern nicht; sie weben,
aber in dünnen Fäden; sie kämmen, aber machen kraus; sie wähnen
was nicht ist und nicht sein kann').
Was den mathematischen Inhalt der Abhandlungen betrifft, so
können wir dieses harte Urteil kaum ein allzustrenges nennen, und
wenn wir trotz dieses geringen Wertes ihrer erwähnen, so geschieht
dieses, weil in dem Mancherlei, in den zusammengestoppelten und
gekoppelten Dingen, wie ein anderer Araber rügend sagt, doch ge-
schichtlich verwertbare Kömer haben aufgefunden werden können.
Von den voUkoramenen Zahlen heißt es*), sie kämen in jeder Zahlen-
stufe nur einmal vor, 6 unter den Einern, 28 unter den Zehnem,
496 unter den Hundertern und 8128 unter den Tausendern. Das
stimmt genau mit einer Bemerkung des Jamblichus überein ^) und
stellt zusammengehalten mit dem, was wir aus der Einleitung zu
Täbits Abhandlung über befreundete Zahlen beibrachten, außer
Zweifel, daß die Schriften des Jamblichus, welche in Syrien «nie auf-
gehört hatten gelesen zu werden (S. 706), um 900 auch den Arabern
überhaupt gut bekannt waren. Um so auffallender ist eine Bemer-
kung, welche durch keine andere Überlieferung gestützt ist: die
meisten Völker hätten nur 4 Zahlstufen, aber die Pythagoräer, die
Männer der Zahlen, kannten 16 Stufen derselben tausend tausend
tausend tausend tausend^). Wir können das nur dahin verstehen,
daß während im Arabischen die selbständigen Zahlwörter sich nicht
auf andere Rangeinheiten als auf 1, 10, 100, 1000 erstrecken, die
Pythagoräer solche Namen bis 10^^ besaßen. Wenn diese Auffassung
richtig und die Aussage wahrheitsgetreu, so ist der Zusammenhang
zwischen Indem und Neupythagoräern in Dingen, die auf das Zahlen-
system Bezug haben, um einen neuen Beleg reicher und die Hypothese
*) Flügel 1. c. S. 26. Wüßtenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher
S. 81, Nr. 122 und S. 80, Nr. 137. Suter 105, Nr. 288. *) Sprenger L c.
S. 333. ») Flügel 1. c. S. 26. *) Propädeutik der Araber S. 12. Daß dort
statt 8128 fälschlich 7128 steht, ist wohl nur Druckfehler? *) Jamblichus
in Nikomachum (ed. Tennulius) pag. 46, (ed. Pistelli) pag. 38. ^ Propä-
deutik der Araber S. 6.
47*
740 34. Kapitel.
des Eindringens indischer ZaMzeichen in jene griechische Schule wird
immer wahrscheinlicher.
Wir haben (S. 706) gesehen, daß die Araber jedenfalls mit den
Arbeiten des Zenodorus bekannt waren. Auch dafür haben wir hier
eine Bestätigung in der Bemerkung, die Ereisfigur habe eine weitere
Umfassung als alle vielwinkligen Figuren mit gleich langer ümfassungs-
linie^), und wir können jetzt noch einen Schritt weiter gehend ver-
muten, aus Pappus habe man die Kenntnis gerade dieser Unter-
suchungen geschöpft. Im Y. Buche des Pappus hat, wie wir uns
erinnern (S. 446), die Abhandlung des Zenodorus Platz gefunden, und
an die Einleitung eben des Y. Buches erinnern aufs lebhafteste fol-
gende Sätze*): „Yiele Tiere schaflFen von Natur schon Werke. Das
ist ihnen ohne Unterricht eingegeben. So die Bienen, die sich Häuser
schaffen. Sie bauen Häuser in Stockwerken von runder Gestalt wie
Schilde, eins über das andere. Die Öfihungen der Häuser machen sie
alle mit sechs Seiten und Winkeln. Dies tun sie mit sicherer Weis-
heit, denn es ist die Eigentümlichkeit dieser Figur, daß sie weiter
ist als das Yiereck und das Fünfeck.'^
Eine Stelle, welche auf falsche Flächenberechnung sich bezieht,
haben wir schon früher (S. 173) erwähnt. Sie heißt folgendermaßen'):
„In einem jeden Gewerk erfaßt den Zweifel, der dasselbe ohne
Mathematik zu verstehen unternimmt, oder nur mangelhafte Kenntnisse
davon hat und sich darum nicht kümmert. Man erzählt, jemand hätte
von einem Manne ein Stück Landes für 1000 Dirham gekauft, das
100 Ellen lang und ebensoviel breit sei. Darauf sprach der Yerkäufer:
Nimm statt dessen zwei Stück, ein jedes 50 Ellen lang und breit,
und meinte, damit geschehe jenem sein Recht. Sie stritten nun vor
einem Richter, der nicht Mathematik verstand, und dieser war irriger-
weise derselben Ansieht, dann aber stritten sie vor einem anderen
Richter, der der Mathematik kundig war, und der entschied, daß diea
nur die Hälfte seines Anrechts wäre.'^ Wir machen mit wenigen
Worten auf einen verhältnismäßig weitläufig behandelten Gegenstand*)
auftnerksam, auf Yerhältnisse der Abmessungen, welche zwischen den
einzelnen Strichen stattfinden sollen, aus welchen die Buchstaben-
zeichen gebildet werden, und derjenigen, welche die Natur bei den
einzelnen Teilen des menschlichen Körpers uns zum sinnlichen Be-
wußtsein bringt, letzteres ein Gegenstand, mit welchem auch Yitru-
vius (S. 544) sich beschäftigt hat. Wir erwähnen endlich noch eines,
welches nicht ohne Interesse ist, magische Quadrate^). Die magischen
1) Propädeutik der Araber S. 42. *) Ebenda S. 32. ^ Ebenda S. 84—86.
*) Ebenda S. 133—187. ») Ebenda S. 43—44.
Die Mathematiker unter den Abbaaiden. Die Geometer unter den Bcgiden. 741
Quadrate aus 9, 16, 25, 36 sind hergestellt; daB es auch Quadrate
Yon 49, 64, 81 gebe, wird gesagt; das Quadrat 9, heifit es, erleichtere
die Nativitat (?). Wir können hier so wenig als es uns früher (S. 635)
gelang, dem Ursprünge dieser eigentümlichen Amulette auf die Spur
kommen. Wir bemerken nur, daß sie bei den Arabern unter dem
Namen tvafk in der Zauber- und Vorbedeutungskunde eine nicht un-
bedeutende Rolle gespielt haben ^), und daß unserem Gewährsmanne
zufolge jeder der sieben Planeten einen ihm eigentümlichen wafk be-
saß, vielleicht eben jece sieben den lauteren Brüdern bekannte Qua-
drate von 9 bis 81? Am ausführlichsten soll darüber der unier dem
Namen El Büni^) berühmte arabische Mystiker geschrieben haben,
welcher in Bona geboren dieser Stadt unter den Arabern die gleiche
Verherrlichung gab, welche sie als Heimat des heiligen Augustinus
bei den Christen besaß. El Büni starb 1228.
Die Schriftsteller Alchwarizmi, die drei Brüder, Täbit ihn Eurrah,
AI Battäni waren an dem Hofe der Abbasiden ihren gelehrten Be-
schäftigungen nachgegangen, unter demselben Chalifengescblechte
war die Verbindung der lauteren Brüder entstanden. Aber wenn auch
Abbasiden fortfuhren, die Chalifen zu heißen, von einer Regierung
derselben, ja auch nur von einem Einflüsse auf die Wissenschaft durch
Gelehrte, in deren Kreise sie weilten, die Zügel des Reiches den
stärkeren Händen ihrer Heerführer, der sogenannten Emir Alumara
überlassend, war nachgerade keine Rede mehr*). Und die Emire
selbst schienen allmählich die Schlaffheit ihrer Drahtpuppen, welche
Gebieter hießen und Sklaven waren, ererbt zu haben. Das Chalifat
schrumpfte nach und nach bis auf das Weichbild von Bagdad zu-
sammen. Eine kriegerische Horde unter dem Befehle eines Bujiden
d. h. eines Nachkommen von Abu Schudschä^ Büjeh, welcher selbst
seine Abstammung von den alten Perserkönigen herleitete, zog gegen
Bagdad heran und bemächtigte sich der Stadt. Der Chalif mußte
945 dem Bujiden MuUzz Eddaula den Sultanstitel verleihen und ihm
alle weltliche Macht abtreten. Dieses neue Geschlecht wußte zunächst
mit neuer Kraft die Herrschaft wieder aufzurichten und auszudehnen,
doch dauerte es nicht lange, so entbrannten unter den Bujiden Fami-
lienkämpfe um die Gewalt, wie sie unter den Omaijaden, wie sie unter
den Abbasiden stattgefunden hatten, und nach einem Jahrhimderte,
im Jahre 1050, hatten die Bujiden ihrer Unfähigkeit den Sturz zu
verdanken. Die Seldschukensultane lösten sie ab.
0 Notices et extraiU des manuscrits de la hibliotheque imperiale T. XXI,
1. Partie, pag. 180, Note 4 (Paris 1868). *) Hammer-Purgstall, Literatar-
geßchichte der Araber 2. Abteilung, Bd. VII, S. 402, Nr. 7944. «) Weil S. 219—226
742 34. Kapitel.
Die Wissenschaft ist in diesem Jahrhundert, von der Mitte des
X. bis zur Mitte des XL S.^ keineswegs zurückgegangen. Im Oegen-
teil sind es einige der hervorragendsten Mathematiker^ welche wir in
jener Zeit aufzuzeichnen haben. Der Bujide *Adud ed Daula 978—983
rühmte sich selbst astronomische Studien gemacht zu haben. Sein
Sohn Scharaf ed Daula, derselbe, unter welchem die Familienzwistig-
keiten zuerst entbrannten, errichtete in dem Oarten seines Palastes
zu Bagdad eine neue Sternwarte und berief dorthin um 988 eine
ganze Vereinigung von Fachmännern*). Unter ihnen ware;i Abü'l
Wafä, Alkühi und As-Sägäni.
Abü'l Wafä Muhammed ibn Muhammed ihn Jahjä ibn Isma^il
ihn Al-^Abbäs Albüzdschäni^) wurde, wie wir (S. 704) schon
sagten, 940 in Büzdschän, einem kleinen Orte des persischen Gebirgs-
landes Chorasan, geboren, derselben Oegend, welche so viele arabische
Mathematiker hervorgebracht hat. Er erfreute sich, bald Abü'l
Wafä, bald Albüzdschäni genannt, unter den Arabern des größten
Ruhmes und drei Jahrhunderte später sagt von ihm Ibn Challikän,
der über berühmte Männer im allgemeinen, nicht bloß über berühmte
Gelehrte schrieb, er sei ein weitbekannter Rechner, eine der glänzenden
Leuchten der Geometrie gewesen, es seien ihm in dieser Wissenschaft
wunderbare Entdeckungen gelungen. Er starb 998. Seine Schriften
sind ungemein zahlreich. Eine, welcher er den Titel Alme^est bei-
legte, dadurch selbst kundgebend, nach wessen Muster er gearbeitet
habe, enthält die in der Geschichte der Astronomie berühmt gewordene
Stelle, über welche bis auf den heutigen Tag die Meinungen gespalten
sind, ob darin die Entdeckung der sogenannten Variation enthalten
sei oder nicht*). Uns kümmert nur der Mathematiker, und auch als
solcher hat Abül Wafä große Verdienste. Er war einer der letzten
arabischen Übersetzer und Kommentatoren griechischer Schriftsteller,
und wir müssen aufs lebhafteste bedauern, daß gerade von dieser
Tätigkeit gar keine immittelbare Spur sich erhalten hat. Der Ge-
lehrte, welcher mit Diophant sich so eingehend beschäftigte, daß er
nicht bloß ihn übersetzte, ibn erläuterte, sondern ein besonderes
Schriftchen mit den Beweisen der bei Diophant und in seinen Er-
läuterungen zu demselben enthaltenen Lehrsätze füllte, muß viel
Wissenswertes für uns auf diesem Gebiete vereinigt haben. Sein
Kommentar zur Algebra des Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi würde
uns wohl der Mühe überhoben haben, vermutungsweise dem Ur-
*) Hankel S. 242 nach Ahulpliaragius Histor. dynast. (ed. Pocock) pag. 216
der Übersetzung. *) Woepcke in dem Journal AMatigue für Februar und März
1866 pag. 243 flgg. Suter 71 — 72, Nr. 167 und 213 Note 36. ») R. Wolf,
Oesohichte der Astronomie S. 63 und 204.
Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 743
Sprunge der dort enthaltenen Lehren nachzuspüren. Sein Kommentar
zur Algebra des Hipparch^ vorausgesetzt daß der Name richtig über-
liefert ist, ist ein eben so gerechter Gegenstand unserer Neugier, da
wir hier ja nicht einmal die unzweifelhaft wichtige Abhandlung
kennen, zu «reicher er gehört. Aber leider sind yon diesen algebrai-
schen Kommentaren nur die Überschriften uns bewahrt. Eine Zu-
sammenstellung dessen, was Rechnungsbeamten notwendig ist, hat
sich wenigstens teilweise erhalten, ist aber nur in einem dürftigen
Auszuge bekannt gemacht^), was Bedauern erregen kann, da aus-
drücklich bemerkt ist, in jenem ganzen Werke seien wesentliche
Unterschiede gegen andere arabische Rechenbücher auffallend, es sei
z. B. nicht eine einzige Ziffer darin angewandt.
Dagegen ist ein genügend ausführlicher Bericht über geometrische
Leistungen veröffentlicht^), zu welchem wir uns jetzt wenden. Von
Abül Wafä selbst rührt das aus zwölf Kapiteln bestehende Buch
der geometrischen Konstruktionen freilich nicht her. Es ist
yielmehr die persische Übersetzung eines Vorlesungsheftes, welches,
wie es scheint, auf Grund von öffentlichen Vortragen Abül Wafas
durch einen begabten aber doch nicht alles verstehenden Schüler an-
gefertigt worden ist, und somit kann Abül Wafä unmöglich für die
Mängel verantwortlich gemacht werden, welche bei der mehrfachen
Überarbeitung nur allzuleicht sich einschleichen konnten. Man hat
mit Recht drei Gruppen von Aufgaben aus diesem Buche hervor-
gehoben. Welche geschichtlich und sachlich unsere Aufmerksamkeit
verdienen. Eine erste Gruppe beschäftigt sich mit der Auflösung
von Aufgaben unter Anwendung nur einer Zirkelöfl&iung. Abü'l
Wafä hat die Bedingung teils aussprechend, teils sie stillschweigend
verstehend nicht weniger als 18 Paragraphe mit solchen Aufgaben
gefüllt^). In einer zweiten Gruppe handelt es sich um Zusammen-
legung von Quadraten zu einem neuen Quadrate, so daß die Methode
auch Praktiker befriedigen könne, welche die geometrische Anschau-
ung der Rechnung vorziehen. Man wird aus einigen wenigen Bei-
spielen am deutlichsten erkenneu, wie das gemeint ist. Ein Quadrat
soll gezeichnet werden von der dreifachen Größe eines gegebenen
Quadrates^). Man findet die Seite als Hypotenuse eines rechtwinkligen
Dreiecks, welches die Seite und die Diagonale des gegebenen Qua-
drates als Katheten besitzt. Dagegen lehnen sich aber die Praktiker
auf; mit einer solchen Auflösung, welche ihre Sinne nicht überzeuge.
*) Woepcke in dem Joumcd Asiatique für Februar und März 1865
pag. 246—261. *) Ebeuda pag. 318—359. ') Ebenda pag. 226. ^ Ebenda
pag. 349—350.
744
34. Kapitel.
Fig. 98.
könnten sie nichts anfangen. Abül Wafä befriedigt sie nunmehr
durch folgende Konstruktion (Fig. 98). Er zeichnet die drei ein-
ander gleichen Quadrate hin und halbiert zwei davon durch Diago-
nalen. Die vier so entstehenden gleichschenklig rechtwinkligen Drei-
ecke legt er nun um das dritte Quadrat herum^ so daß die Hypote-
nusen Verlängerungen der vier Quadratseiten in der Art bilden, daß
an jeder Ecke eine und nur
eine Seite verlängert ist.
Endlich verbindet er die
rechtwinkligen Spitzen die-
ser Dreiecke untereinander
und hat so das gewünschte
Quadrat fertig. Man möchte
fast erwarten, als Beweis
jene Aufforderung „Sieh!"
zu lesen, welche indische
Geometer ähnlichen Konstruktionen nachzuschicken für genügend
hielten. Ja, eine Konstruktion, welche wir (S. 656) als in Bhäs-
karas Schriften vorhanden erörtert haben, welche mit gleicher
Sicherheit (S. 680) in China aufgefunden worden ist, kommt bei
Abü'l Wafa vor*). Zwei Quadrate sollen zu einem dritten vereinigt
werden. Man zeichnet sie (Fig. 99) aufeinander, so daß eine Ecke
und die Richtung zweier Seiten beiden gemeinsam ist.
Verlängert man darauf die beiden freiliegenden Seiten
des kleinen Quadrates bis zum Durchschnitte mit den
Seiten des größeren Quadrates, so ist die Summe der
gegebenen Quadrate zerlegt in ein Quadratchen, dessen
Seiten gleich dem unterschiede der Seiten der ur-
sprünglich gegebenen Quadrate sind, und in zwei
Rechtecke, auf der Figur einander zum Teil überdeckend, deren jedea
durch eine Diagonale in zwei rechtwinklige Dreiecke zerfällt. Die
vier rechtwinkligen Dreiecke um das Quadratchen herumgelegt bilden
(Fig. 87) das verlangte große Quadrat. Es ist unmöglich, bei so>
übereinstimmenden Figuren so eigenartigen Gedankens nicht einen
tatsächlichen Zusammenhang anzunehmen. Wir stehen nicht an, der
Meinung uns anzuschließen^), daß wiewohl Abül Wafä fast zwei
Jahrhunderte vor Bhäskara lehrte, und wiewohl es leicht möglich
war, daß Arabisches von den islamisierten Indusländem aus sich
weiter verbreiten konnte, dennoch hier nicht daran zu denken ist^
Plg. 99.
^) Woepcke in dem Journal Asiatique fÜi Februar und März 1866
pag. 346 und 860—361. *) Ebenda pag. 236—238.
Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 74&
Bhaskara habe die Konstruktion ans arabischer Quelle. Nur da&
persönliche Anrecht Bhäskaras an die Figur und ihre Benutzung
geht verloren, wie wir von vornherein bemerklich machten, aber ihr
indischer Stempel dürfte ihr erhalten bleiben, erhalten mit so viel
alterer Datierung, daß sie schon den Praktikern, d. h. mutmaßlich
indischen Handwerkern, Baumeistern, mit welchen Abül Wafä ver-
kehrte, bekannt war. Die dritte Gruppe von Aufgaben hat die Be-
schreibung regelmäßiger Vielflächner zum Zwecke. Wir wissen, daß-
Euklid (S. 273) und Pappus (S. 447) jeder in seiner Weise sich eben-
falls damit beschäftigt haben. Abül Wafa schließt sich so ziemlich an
Pappus an*), und bestrebt sich nur auf der Kugeloberfläche die Eck-
punkte des gedachten nicht formlich einbeschriebenen Yi^^^^^^o^s
zu bestimmen. Mit anderen Worten: er teilt die Eugeloberfläche in
regelmäßige, einander gleiche sphärische Vielecke. Diese drei Haupt-
gruppen von Aufgaben erschöpfen indessen nicht sämtliche zwölf
Kapitel. Das Ende des 6., das ganze 7., der Anfang des 8. Kapitels
sind verloren, und der erhaltene Rest schließt außer dem von uns
bisher Hervorgehobenen noch manche wissenswürdige Einzelheit ein.
Wir erwähnen nur zwei Sätze. Im 2. E^apitel im 6. Paragraphen und
wiederkehrend im 3. Kapitel im 13. Paragraphen ist die Aufgabe, ein
regelmäßiges Siebeneck zu konstruieren*), näherungsweise so gelöst^
daß die Hälfte der Seite des einem Kreise einbescbriebenen gleich-
seitigen Dreiecks als Seite des demselben Kreise einbeschriebenen
regelmäßigen Siebenecks gilt, ein Verfahren, welches durch Jahr-
hunderte durch sich fortgeerbt hat. Im 1. Kapitel im 21. und 22. Pa-
ragraphen sind punktweise Konstruktionen der Parabel gelehrt'), denen
wir uns nicht erinnern bei früheren Schriftstellern begegnet zu sein.
Von einem Punkte C der Parabelachse aus (Fig. 100), der um die
')Woepcke in dem Jofwmal Äsiatique für Februar nnd März 1866
pag. 241 und S62— 368. *) Ebenda pag. S29 und 332. ") Ebenda pag. 326.
746 84. Kapitel.
doppelte Brennweite 2AF=« AC vom Scheitelpunkte entfernt ist, als
Mittelpunkt und mit der CA als Halbmesser wird ein Kreis be-
schrieben und in einem Punkte P der Achse die Senkrechte PL er-
richtet. Auf ihr nimmt man PM=^AL ab, so ist M ein Punkt
der Parabel. In der zweiten Konstruktion verlängert man (Fig. 101)
die Parabelachse über den Scheitel hinaus um den Parameter 4c^AG,
Mit der Entfernung von G bis zu einem beliebigen Punkte P der
Achse als Durchmesser beschreibt man einen Kreis, an P dessen Be-
rührungslinie und ihr parallel durch A die L^L^. Senkrechte von
L^ und Lg auf jene Berührungslinie treffen sie in den Parabelpunkten
M^ und Jfj.
Andere Verdienste hat sich Abü'l Wafä in der Trigonometrie
erworben^). Er kennt Formeln, welche unseren Gleichungen
2(sm - I = 1 — cos a, sin a = 2 sm • cos -^
entsprechen. Er weiß sin (a + ß) herzustellen und schreibt dafür
• / , a\ 1 / • 9 Bin «• ■ Bin ß* , -1 /T~ ^« sin a' • sin ß*
sm{a±ß)^ |/sma* ^,- -^ ± [/sm/J* ^ — ^-,
wo die Nenner r* daher stammen, daß die Sinusse wirkliche Strecken
bedeuten. Er leitet mittels geometrischer Konstruktionen, welche wir
durch Rechnung an B'ormeln ersetzen, eine Methode zur Berechnung
von Sinustafeln her^), welche den Sinus des Winkels von y örad
mit einer Genauigkeit liefert, welche sich bis zur Einheit der 9. Dezi-
male erstreckt. Er geht aus von der Vergleichung
sin (a + /3) — sin a < sin a — sin (a — /3).
Er beweist dieselbe nicht, aber es ist einleuchtend, daß sie Gültig-
keit hat, sofern die Winkel a — /J, a, a + ß sämtlich dem ersten
Kreisquadranten angehören, weil, sofern
0 < cos /3 < 1 aus sin (a -f- /3) -I- sin (a — /J) = 2 • sin a • cos ß
sofort sin {a + ß) + sin (a — /3) < 2 sin ä und daraus jene Vergleichung
hervorgeht. Setzt man die Vergleichung nach rechts wie nach links
fort, so erhält man:
sin(a + 3/3) — sin(a + 2/3) < sin(a + 2/3) - sin(a -|- ß)
< 8in(a-f /3) — sina<sina — sin(a — /3) < 8in(a — /3) — sin(a — 2/3)
< sin (a - 2/3) - sin (a - 3/3)
*) A. V. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I,
56 — 69. *)Woepcke in dem Journal AsioHque für April und Mai 1860
pasr 298—299.
Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 747
und daraus:
sin(a + 3/3) — 8iii(a + 2/3) < 8iii(a + /3) — sin« < eina — sin(a — /3)
sin(a + 2/3) - 8in(a + ß) < Bin(a+ ß) -sina<Bin(a-/3)-8in(a - 2/3)
8in(a + /3) —sin« =sin(a+/3)— 8ina<8in(a — 2/3j — sin(a— 3/3).
Addiert man die drei Formeln^ so entsteht:
sin {cc + 3/3) — sin a < 3[sin (« + /<) — sin «] < sin a — sin (a — 3/3)
oder endlich
--[sin(a + 3/3) — 8ina]<8in(a-f /3) — 8ina< ^ [sin« — sin (a — 3/3)].
Nun kann man sin 36^ und sin 60" durch Quadratwurzelausziehuug in
heliebiger Genauigkeit finden und durch Quadratwurzelausziehung^
die weiter jeden beliebigen Grad von Genauigkeit gestattet, auch zu
den Sinussen der stets halbierten Winkel gelangen. So kommt man
zu den Smussen von -^ und von j^g oder zu sm-^- und sm g^-f
zwischen denen sin . - => sin 30' enthalten sein muß. Nun setzt man
^ = --j /3 = --^ 80 ninjmt die letzterhaltene Vergleichung die Ge-
stalt an:
1 r . 18® . 16®-] ^ . QA' . 16® 1 r . 16® . 12®!
-3-L''''T2^ - sm— J<8in30 - sm-^ <y[8m-3- - Bin^J.
12®
Außer sin 30' ist darin nur noch sin-— unbekannt, welches aber
auch mit beliebiger Genauigkeit berechnet werden kann vermöge
— == 4 • (gg "" 32/ ^^^ somit ist eine neue fortlaufende Ungleichung
. 16® , 1 r . 18® . iö®n ^ . QA'
'"^ 32- + Y l^''' 82" " '^^ -32 ] < «^° ^Ö
^ . 16® , 1 r . 16® . 12®!
herstellbar, in welcher der größere wie der kleinere Wert bekannt
ist, in welcher außerdem beide nicht weit voneinander abweichen,
also auch beide dem zwischenliegenden Werte nahezu gleich sind.
Um so genauer wird daher dieser Zwischenwert als arithmetisches Mittel
der beiden äußeren Werte gelten dürfen, und diese Annahme macht
-dem entsprechend Abül Wafä, d. h. er setzt
. QA' • lö® , 1 r . 18® . 12®-]
sm 30 == sm -32- + y [sm 3-^ - sm -^ J •
Noch wichtiger in ihren Folgen war eine Neuerung, welche
Abü'l Wafa in die Gnomonik einführte. Wir haben bei AI Battani
(S. 738) das Auftreten der Schatten auf Horizontalebenen (Eotangenten)
oder Vertikalebenen (Tangenten) erwähnt. Abül Wafa widmete be-
748 34. Kapitel.
sonders den letzteren seine Anfinerksamkeit. Er nahm h zu 60 Teilen
an und berechnete die Schatten, umbra versa in den lateinischen
Bearbeitungen, d. h. also die trigonometrischen Tangenten der Winkel
9?, welche er in einer Tafel vereinigte; von welcher er auch bei
anderen Aufgaben als der gnomonischen, bei der sie entstanden war,.
Gebranch machte. Denn ihm ist nachträglich^) ,,die umbra einea
Bogens eine Linie, welche von dem Anfangspunkte des Bogena
parallel dem Sinus geführt wird in dem Intervalle zwischen diesem
Anfange des Bogens und einer von dem Mittelpunkte des Kreises
nach dem Ende des Bogens gezogenen Linie ... So ist die umbra
die Hälfte der Tangente des doppelten Bogens, welche enthalten ist
zwischen den zwei Geraden, welche vom Mittelpunkte des Ej-eises
nach den Endpunkten des doppelten Bogens geführt werden''. Da
ist, wie wir sehen, der allgemeine Begriff der Tangente ganz fertige
da ist der Name dieser Funktion vorbereitet. Und Abü*l Wafa geht
noch einen groBen Schritt weiter. Er erfindet die Sekanten und
Kosekanten unter dem Namen der Durchmesser des ersten und
des zweiten Schattens. Er kennt bereits die Proportionen und
Gleichungen:
tg a : r = sin a : cos a
cotg a : r == cos a : sin a
tg a : sec a = sin a : r
tg a : r = r : cotg a
sec a = Yr* + ig «*
cosec a = Vr* + cotg a*.
Er wagt es endlich r = 1 zu setzen, indem er sagt: Also ist es klar,,
daß, wenn man den Radius gleich 1 setzt, das Verhältnis des Sinus
eines Bogens zu dem Sinus seines Komplementes der erste Schatten
imd das Verhältnis des Sinus des Komplementes zu dem Sinus des
Bogens der zweite Schatten ist.
Endlich berichtet ein Schriftsteller des XIII. S., Nasir Eddin,,
der uns im 36. Kapitel begegnen wird, über verschiedene Beweise des
Sinussatzes im sphärischen Dreieck, welche von Abü'l Wafä,
von Abu Nasr*) und von AI Chodschandi herrühren. Wem der
drei ziemlich gleichzeitigen Gelehrten die Erfindung des Satzes an-
gehört, ist unbekannt.
Der zweite Astronom, den wir, als an die Sternwarte im Palast-
garten des Bujiden berufen, genannt haben, war Alkühi®). Waid-
») Hankel S. 284—286. •) Suter 81, Nr. 186. ») M. Steinachneider^
Lettere intorno ad alcuni matematici del media evo a D. Bald. Bancompagni,
Rom 1868, pag. 81 sqq. Pihrißt 40. Suter 76—76, Nr. 176.
Die Mathematiker unter den Abbanden. Die Geometer unter den Bujiden. 749
schan ibn Rustam Abu Sahl Alkühi fiihrt den Beinamen^ unter
welchem er vorzugsweise bekannt ist, nach dem Bergland Al-Küh
in Tabaristan. Von ihm rühren astronomische Beobachtungen des
Jahres 988 her, welche er aber in ziemlich hohem Alter angestellt
haben muß. Eine Jugendschrift Alkühis hat nämlich auf seinen
Wunsch der Sohn des Täbit ibn Kurrah durchgesehen und verbessert
und dieser, welcher den Namen Sinän*) führte, auch selbst für einen
in der Wissenschaft des Euklid sehr bewanderten Gelehrten galt,
starb schon 943, mithin 45 Jahre vor jenen Bagdader Beobachtungen.
Beiläufig sei hier bemerkt, daß auch Sinäns Sohn Ibrahim ibn
Sinan ibn Tabit ibn Kurrah*) (908—946) ein geschickter Mathe-
matiker war und einen Kommentar zum I. Buche der Kegelschnitte
'Sowie selbständige Abhandlungen über Berührungsaufgaben schrieb.
Alkühis wichtigste geometrische Leistungen, welche bekannt sind,
liegen auf einem Gebiete, welches durch Griechen, besonders durch
Archimed und durch ApoUonius von Pergä bereits urbar gemacht,
•doch erst von den Arabern gründlich imd erfolgreich bebaut worden
ist: auf dem Gebiete der Lösung solcher geometrischen Aufgaben,
ciie analytisch behandelt zu Gleichungen von höherem als dem
zweiten Grade führen.
So kennen wir von Alkühi einen Satz, der sich auf die Drei-
teilung des Winkels bezieht^). So kennen wir von ihm eine Auf
lösung dreier zusammengehöriger Aufgaben*): 1. einen Kugelabschnitt
zu finden, der einem gegebenen Kugelabschnitte inhaltsgleich, einem
anderen ähnlich sei; 2. einen Kugelabschnitt zu finden, der mit einem
gegebenen Kugelabschnitte gleiche gekrümmte Oberfläche besitze und
einem anderen gegebenen Kugelabschnitte ähnlich sei; 3. einen Kugel-
abschnitt zu finden, der zu zwei gegebenen Kugelabschnitten in dem
Zusammenhang stehe, daß er denselben Inhalt wie der eine, eine
gleich große gekrümmte Oberfläche wie der andere besitze. Von
diesen Aufgaben kommen die beiden ersten im IL Buche von Archi-
meds Schrift über Kugel und Zylinder im Satze 6 und 7 vor, wäh-
rend die dritte und schwierigste von Alkühis eigener Erfindung ist.
Er löst sie mit Hilfe einer gleichseitigen Hyperbel und einer Parabel,
deren Durchschnittspunkte die Unbekannte ausmessen lassen. Er
fügt auch eine strenge Eröi*terung der Bedingungen bei, unter welchen
allein die Aufgabe lösbar ist, also das, was die Griechen den Dioris-
mos nannten, und was die Nachahmer der Griechen im allgemeinen
— die Araber nicht ausgeschlossen — keineswegs mit gleicher Regel-
*) Suter 61—62, Nr. 108. *) Ebenda 53—54, Nr. 118. ») L'alg^bre
d'Omar AWiayami (ed. Woepcke) pag. 118. *) Ebenda pag. 103—114.
750 34. Kapitel
mäßigkeit zu beachten pflegten. Diesen Leistungen Alkühis gegen-
über wissen wir endlich^), daß es ihm nicht gelang eine Aufgabe zu
bewältigen^ welche auf die Gleichung
führte.
Der dritte Name, welchen wir nannten, war As-Sägäni, der
aus Sägän in Chorasan Herstammende'). Ahmed ihn Muhammed
As-Sägäni Abu Hamid al Usturlabi d. h. auch der Verfertiger von
Astrolabien genannt, starb 990. Er war, wie der zweite Beiname
zu folgern gestattet, besonders geschickt in der Anfertigung jener
astronomischen Winkelmessungsvorrichtungen, welche den Übergang
von der Dioptra des Heron zu dem modernen Theodolit bilden. Von
mathematischen Leistungen ist uns nur ein Satz über Kreissegmente
bekannt"), welcher mit der Dreiteilung des Winkels in einigem Zu-
sammenhange steht.
Die Sätze des Täbit ihn Kurrah, des Alkühi, des As-Sägäni,
welche auf Winkeldreiteilung sich beziehen, stehen insgesamt in einer
größeren Abhandlung über den gleichen Gegenstand^), welche Abu
Sa*id Ahmed ibn Muhammed ihn *Abd Al-Dschälib As-Sidschzi ver-
faßt hat, ein Schriftsteller, der gewöhnlich unter seinem . Heimats-
namen Alsidschzi, mitunter aber auch statt dessen als Aisin-
dschäri genannt zu werden pflegt*), und welcher etwa 30 Jahre
vor der Abfassung jener Abhandlung in Schiräs eine mathematische
Handschrift niederschrieb, die das Datum 972 tragend der Pariser
Bibliothek angehört. Die Aufgabe der
Winkeldreiteilung wird durch Alsidschzi
zunächst auf einen Satz zurückgeführt,
der mit den anderen, welche er der Reihe
nach unter den Namen ihrer Erfinder
herzählt, zwar nicht übereinstimmt, aber
doch zu ihrer aller Beweisen ausreicht.
Der Peripheriewinkel M (Fig. 102) sei
nämlich der dritte Teil des Zentriwinkels
^■^J^T^ DCK, wenn DExEC + EC^^ CD\
Weil nämlich CD = CA, so sei CD^
^Cä*=CE^+äExEK^CE^+DExEM, Nun war E so
gewählt, daß CD^^CE^ + DExEC, folglich muß EM^EC
sein. In dem gleichschenkligen Dreiecke CEM sind demnach je
*) L'alg^hre d'Omar ÄVchayami (ed. Woepcke) pag. 54. «) Hankel
8. 248. Suter 65, Nr. 148. ») L'alghhre d'Omar Alkhayami pag. 119. *) Ebenda
pag. 117— 125. *) Hankel S. 246, Anmerkung *•. Suter 80—81, Nr. 186.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometnsche Algebiaiker Ton 960 etwa bis 1100. 7Ö1
zwei Winkel = a, und der Außenwinkel DEC dieses Dreiecks ist
»=2«. Der Winkel bei D ist wegen der Gleichschenkligkeit von
DCM wieder «a und der Winkel DCK^^a als Außenwinkel
des Dreiecks CDE. Die erste Aufgabe der Winkeldreiteilung ist
daher auf die zweite zurückgeführt, einen Punkt E von der ge-
wünschten Eigenschaft zu finden. Die Alten, sagt Alsidschzi, lösten
diese mittels Bewegungsgeometrie ^); er selbst tut es, indem er mit
dem der Figur schon angehörenden Kreis eine gleichseitige Hyperbel
in Verbindung setzt, welche dui'ch C hindurchgeht und den Kreis-
halbmesser als Halbachse besitzt. Er beruft sich dabei ausdrücklich
auf eiuen Satz (den öSsten) des I. Buches der Kegelschnitte des
Apollonius. Eine in Leiden befindliche Handschrift enthält femer
eine Abhandlung Alsidschzis, welche mit der Zeichnung Yon Kegel-
schnitten sich beschäftigt *). Andere geometrische Abhandlungen
Alsidschzis beziehen sich endlich der Hauptsache nach auf Durch-
schnitte Yon Kreisen mit Kegelschnitten'), welche letztere demnach
ein Lieblingsgegenstand der Untersuchungen des Verfassers gewesen
sein müssen.
35. Kapitel.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker
von 950 etwa bis 1100.
Ganz anderer Richtung gehören die Arbeiten eiuiger Gelehrten
der gleichen, wohl auch noch etwas früherer Zeit an, von welchen
wir jetzt reden wollen. An deren Spitze steht der anonyme Ver-
fasser einer Abhandlung, welche, wie wir am Schlüsse des vorigen
Kapitels gesagt haben, Alsidschzi 972 abschrieb. Die Abhandlung
ist durchaus zahlentheoretischen Inhaltes und hat es hauptsächlich
mit der Bildung rationaler rechtwinkliger Dreiecke zu tun*).
Primitive Dreiecke, deren Seiten teilerfremd zueinander sind, werden
*) L'algibre d'Omar ÄUchayami pag. 120. Aus dieser Stelle stammt die
Kenntnis des Wortes Bewegungsgeometrie. *) Journal Asiatique für Februai
und März 1855 pag. 222. Woepcke hat diese Abhandlung Alsidschzis, sowie
z^~ mdere ähnlichen Inhalts, d. h. gleichfalls über Kegelschnittzirkel, von Al-
kühi und von Muhammed ihn Hosein in den yotices et extraiU des manuscritg
de la Biblioihkque nationale XYIL zur Veröffentlichung gebracht. Vgl. A. von
Braun mühl, Historische Studie über die organische Erzeugung ebener Curven
in dem Katalog der Mathematischen Ausstellung zu Nürnberg 1892. •) Notices
et extraits des manuscrits de la BibUoiMque du roi XTTT, 136—146. *) Woepcke,
Becherehes sur plusieurs ouvrages de Leonard de Pise in den Atti deW Äccademia
Pontificia de mwvi Lincei 1861, T. XTV, pag. 211—227 und 241—269.
752 86. Kapitel.
^abei von abgeleiteten unterschieden. Im primitiven Dreiecke müsse,
80 wird behauptet, die Hypotenuse immer ungerad und Summe zweier
Quadrate sein. Die Ungeradheit wird noch näher dahin bezeichnet,
-daß die Hypotenuse stets von der Form 12m + 1 oder 12i» + 5 sei.
Die Formen, denen Quadratzahlen und Summen von Quadratzahlen
angehören können, mit anderen Worten ein Teil der Lehre von den
quadratischen Resten, werden erörtert. Die Aufgabe, welche von
nun an der Greschichte der Arithmetik erhalten bleibt: ein Quadrat
zu finden, welches um eine gegebene Zahl vergrößert oder
Terkleinert wieder Quadratzahlen gibt, wird gestellt und gelöst.
Das dürften die wichtigsten Sätze dieses Bruchstückes sein, dessen
Anfang leider verloren gegangen ist und mit ihm der Name des
tkrabischen Verfassers. Ein Araber war er unzweifelhaft, wie aus
einer Stelle hervorgeht, in welcher er sich selbst als den Erfinder
preist, aber nicht ohne hinzuzufügen: der Ruhm davon gehört Gott
allein, ein geradezu kennzeichnender Ausdruck, dessen nur Araber sich
zu bedienen pflegten. Vielleicht kann man, wenn auch nicht mit
gleicher Bestimmtheit behaupten, der Verfasser habe am Studium
des Diophant sich gebildet. Bei diesem Schriftsteller nämlich ist,
wie mit Recht betont worden ist^), die erste Quelle jener Aufgabe
von den drei in arithmetischer Progression stehenden Quadratzahlen,
ist zugleich eine Auflösung mit Hilfe rationaler rechtwinkliger Drei-
ecke zu finden').
Abu Mahmud Alchodschandi aus der Stadt Cbodschanda
in Chorasan, der uns (S. 748) als Trigonometer bekannt geworden ist,
war im Jahre 992 noch am Leben, da uns eine von ihm herrührende
astronomische Beobachtung aus diesem Jahre bekannt ist^). Von ihm
rührt ein Beweis des merkwürdigen zahlentheoretischen Satzes her,
daß die Summe zweier Würfelzahlen nicht wieder eine Würfelzahl
sein könne, daß x* + y' == e^ rational unlösbar sei. Leider kennen
wir den Beweis nicht. Es wird uns nur gesagt, daß derselbe mangel-
haft gewesen sei, ebenso wie Untersuchungen des gleichen Verfassers
über rationale rechtwinklige Dreiecke.
Der Berichterstatter ist der Schaich Abu Dscha^far Muhammed
ihn Alhusain, welcher nach dem Tode Alchodschandis — denn es
ist von ihm mit dem Zusätze „Gott sei ihm barmherzig" die Rede —
«eine eigene Abhandlung über rationale rechtwinklige Dreiecke ver-
») Woepcke 1. c. S. 262. *) Diophaot (Tannery) III, 19, S. 182 und
V, 8, S. 3.S0. 5) Woepake, Beeherches sur plusieurs ouvragea de Leonard de
JPise in den Atti delV Accademia Pantifida de nuovi lAncei 1861, XIV, 801—302.
Suter 74, Nr. 178.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 960 etwa bi« 1100. 753
öffentliclit hat^); in welcher er übrigens nicht sehr weit über den
anonymen Arithmetiker, mit welchem wir es eben erst zu ton hatten^
hinausgeht, in mancher Beziehung sogar hinter ihm zurückbleibt
Auch diese Abhandlung ist vermutlich von Asidschzis Hand abge-
schrieben^), doch müßte ; wenn die verschiedenen Jahreszahlen , die
uns berichtet sind, namentlich die der astronomischen Beobachtung
Alchodschandis, welche doch seinem Tode beziehungsweise der Ab-
fassung der erst nach seinem Tode vollendeten Abhandlung des Ibn
Alhusain vorangegangen sein müßte , auf Richtigkeit Ansprach er-
heben, ein weiter Zwischenraum von mehr als 20 Jahren die in
einem Bande vereinigten Abschriften aus derselben Feder trennen,
deren eine 972 datiert ist, die andere erst später als 992 entstanden
sein könnte. Wenn wir sagten, daß Ibn Alhusain nicht selten hinter
dem Anonymus zurückbleibt, so bezieht sich dieses auf einige offen-
kundige Fehler, die bemerkt worden sind, wo er höchst wahrschein-
lich eine Vorlage, nach welcher er arbeitete, nicht verstanden hatte').
Sollte, fügen wir fragend bei, diese Vorlage die uns unbekannte
Schrift Alchodschandis über rationale rechtwinklige Dreiecke gewesen
sein, an welcher das nach Ihn Alhusains Meinung Mangelhafte eben
darin zu suchen wäre, daß der Tadler es nicht richtig auffaßte?
Sollte gerade die Schrift des Alchodschandi nach Verlust der Anfangs-
paragraphe als anonymer Traktat übrig geblieben sein? Mehr als
diese Fragen können wir nicht äußern, doch scheinen sie nicht
schlechterdings verneint werden zu können. Ibn Alhusain unter-
scheidet, wie der Anonymus, primitive und abgeleitete Dreiecke, be-
nutzt aber andere Wörter, um diese Unterscheidung auszusprechen.
Bei dem Anonymus heißt das primitive Dreieck asl, bei Ibn Alhusain
awwali; das abgeleitete Dreieck heißt dort far^ oder mafrü', hier
tabi'*). Ibn Alhusain gibt ausdrücklich als Zweck der ganzen Unter-
suchung die Lösung der Aufgabe an: ein Quadrat zu finden, welches
um die gegebene Zahl vergrößert oder verkleinert wieder ein Quadrat
werde ^). Es ist bemerkenswert, daß eine geometrische Erläuterung
der gegebenen Auflösung von ähnlichen Grundgedanken Gebrauch
macht, wie wir sie bei Mohammed ibn Müsa Alchwarizmi verfolgen
konnten, da wo es um die Auflösung der unreinen quadratischen
Gleichung mit einer Unbekannten sich handelte. Es ist weiter be-
merkenswert, daß Ibn Alhusain bei dieser Auseinandersetzung sich
ausdrücklich auf den 7. Satz des II. Buches der euklidischen Ele-
*) Woepcke 1. c. 301—824 und 343—866. Suter 80, Nr. 183 und Ab-
handlungen zur Geschichte der Mathematik XIV, 168. •) Woepcke 1. c. 324.
*) Woepckes Bemerkungen pag. 307, 817, 823. *) Woepcke, Becherches etc.
pag. 320. '^) Ebenda pag. 350 flgg.
Caivtor, Geschichte der Mathematik L 3. Aufl. 48
754
35. Kapitel.
M
-^D
mente bezieht. Bei der den Arabern am Schlüsse des X. S. ganz
allgemeinen Verehrung des Werkes ist freilich mit einer gelegent*
liehen Anführung desselben nichts weniger als ein Ursprungszeugnis
für dasjenige; um dessenwillen Euklid beigezogen ist, verbunden; aber
wenn wir die Beweisführung selbst ansehen, so kann die mehrfach
benutzte Figur des Gnomon uns mindestens zweifelhaft lassen, ob wir
für den Ursprung nach Indien, ob wir nach Griechenland zurück-
schauen, ob wir an Abü'l Wafas dem Augenschein genügende Kon-
struktionen denken soUen, um so mehr als, wie wir schon bemerkten,
ähnliche Aufgaben bei Diophant, bisher aber nicht in indischen
Schriften aufgefunden worden sind und Abu'l Wafä (S. 742) der
Erläuterung der diophantischen Schriften seine beste Kraft zugewandt
zu haben scheint. Die Katheten
AB^c^ und BC = c^ eines rationalen
rechtwinkligen Dreiecks (Fig. 103),
dessen Hypotenuse h heißen soll,
werden aneinander gesetzt und über
ihrer Summe, aber auch über der
größeren (\ wird ein Quadrat be-
schrieben. Die beiden freiliegenden
Seiten BEy DE des letzteren Qua-
drates werden bis zum Durchschnitte
mit den Seiten des Quadrates über
der Summe AC ^ c^-\- c^ verlängert.
Aus dieser Konstruktion geht die
Zerfällung des großen Quadrates in folgende 4 Teile hervor: AE
(das Quadrat von c^^ EH (das Quadrat von c^ und CE sowie ZE
(die beiden Rechtecke zwischen q und c^. Ist nun 2c^c^=^ k, so folgt
wegen c^^ + Ci' == A*, daß (c^ + c^Y = h^ + Jo sei. Aber auch Ä' — k
ist ein Quadrat. Schneidet man nämlich von B gegen A hin und
von D ebenfalls gegen A hin Stücke BT = DK= c^ ab, so ist das
Quadrat AE zerlegt in das Quadrat KT und die beiden Rechtecke
DMy BL, von welchen das Quadrat LM abzuziehen ist. Mit
anderen Worten, es zeigt sich
AE + LM-2BL
JT
B y
Plg. 108.
KT
oder
oder
c^^-c^ — 2c^c^ = (Cj -« Ca)'
(q - c,)^ = (q* + c^) - 2c,c, ^h^-k
und man findet also Zahlen, welche die verlangte Eigenschaft be-
sitzen in den Quadraten der Summe der beiden Katheten, der Hypo-
tenuse und der DiflTerenz der beiden Katheten eines rechtwinkligen
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 755
Dreiecks, während das doppelte Produkt der beiden Katheten die
Zahl ist, um welche das erstere Quadrat größer, das letztere kleiner
als das mittlere ist. Entsprechend heißt es bei Diophant: „In jedem
rechtwinkligen Dreieck bleibt aber das Quadrat der Hypotenuse auch
dann noch ein Quadrat, wenn man das doppelte Produkt der Katheten
davon abzieht oder dazu addiert'^ ^). Nun gibt es Methoden aus zwei
beliebigen Zahlen a und b ein rationales rechtwinkliges Dreieck ent-
stehen zu lassen, und solche Methoden werden in der anonymen Ab-
handlung, werden von Ibn Alhusain gelehrt; z. B.
Setzt man diese Werte ein, so wird h = 2c.c^ = ^_" '_^"_ xmA
\ 2 ^a-b) l2(a - 6)J ^ a — b
oder indem alle Seiten mit 2{a — b) veryielfacht werden
c, = a^-b^, c^^2ab, A = a« + 6*
und die beiden ganzzahligen Endgleichungen
(a» _ 6« + 2aby = (a^ + b^Y + iab{a^ - 6«)
nebst
(a2 ^ ft« - 2aby = (a^ + by - 4ab{a^ - 6^.
Beide Abhandlungen stimmen noch in einer weiteren Beziehung über-
ein. Sie enthalten Zahlentabellen, gebildet infolge von Versuchen
— freilich von auf eine theoretische Betrachtung gestützten Ver-
suchen — welche der zunächst in Behandlung tretenden Aufgabe
rationale rechtwinklige Dreiecke zu finden genügen. In keinem der
.bisherigen Abschnitte dieses Bandes haben wir das Vorhandensein
genau solcher Tabellen erwähnen können, wenn wir auch auf manche
eine Vergleichung gestattende Dinge stießen. Vergleichen läßt sich
schon die altägyptische Zerlegungstabelle der Brüche mit ungeradem
Nenner und dem Zähler 2 als Summe von Stammbrüchen; vergleichen
lassen sich die Tabellen der Quadrat- und Kubikwurzeln in Senkereh,
vergleichen die Einmaleinstafel bei Nikomachus, die kleine Liste
der Diametralzahlen bei Theon von Smyrna; und auch bei den Indern
fehlt es nicht an nächstverwandten Vergleichungsstücken, denn die
den ^iilvasütras entlehnten Beispiele rechtwinkliger Dreiecke (S. 638)
sind vielleicht ein Auszug aus einer solchen Tabelle, von deren Vor-
handensein wir sonst nichts wissen. Das sind Anhaltspunkte, welche
^) Diophant (Tannery) pag. 182, (Wertheim) 8. 110 und fast gleich-
lautend (Tannery) pag. 326, (Wertheim) 8. 203.
48*
756 35. Kapitel.
man^ wenn es einst gelingen soll auf Grundlage reichhaltiger Quellen*
künde die Frage nach dem ersten Ursprünge dieser arabischen Unter-
suchungen zur Entscheidung zu bringen, nicht wird übersehen dürfen.
Endlich gehört ebendahin das^ was wir eine Art von Kenntnis qua-
dratischer Reste genannt haben^ und was uns (S. 632) bei Indem
schon bekannt geworden ist, was von einem Araber ausdrücklich als
indisch benannt worden ist.
Wir meinen den berühmten Arzt und Naturforscher Ihn Sina,
gewöhnlicher in abendländischer Umformung Avicenna genannt.
Wir haben (S. 730) über die Erziehung dieses merkwürdigen Mannes
gesprochen und über den Rechenunterricht, welchen er zwischen 990
und 995 von einem Gemüsehändler erhielt. Unter den zahllosen
bändereichen Schriften, welche Avicenna trotz seines häufig wechseln-
den Aufenthaltes, trotz der Staatsgeschäfbe, welche er als Wezir des
Emirs Scbams ed Daula zu Hamadän auszuüben hatte, trotz seiner
großartigen ärztlichen Tätigkeit verfaßt hat, befindet sich eine hand-
schriftlich in Leiden aufbewahrte spekulative Arithmetik^), d. h. also
nach unserer früheren Erläuterung dieses Wortes eine Art Zahlen-
theorie nach griechischem Muster. Zwei Stellen derselben sind allein
in Übersetzung veröffentlicht, beide dem lU. Buche angehörend.
„Will man nach der indischen Methode^', besagt die eine Stelle,
„Quadratzahlen auf ihre Richtigkeit untersuchen, so ist unvermeidlich
1, 4, 7 oder 9. Dem 1 entspricht 1 oder 8; dem 4 entspricht 2
oder 7; dem 7 entspricht 4 oder 5; dem 9 entspricht 3, 6 oder 9.'
Die andere Stelle fügt dann hinzu: „Eine Eigenschaft der Kubik-
zahlen besteht darin, daß ihre Untersuchung nach der indischen
Rechenkunst, ich meine die Probe, von welcher diese Rechenkunst
Gebrauch macht, immer 1, 8 oder 9 ist. Ist sie 1, so sind die Ein- .
heiten der zum Kubus erhobenen Zahl 1, 4 oder 7; ist sie 8, so sind
sie 8, 2 oder 5; ist sie 9, so sind sie 3, 6 oder 9.'^ Beide an sich
nicht ganz leicht verständliche Stellen sind gewiß richtig dahin er-
klärt worden, es handle sich in ihnen um die Neunerprobe bei
Potenzerhebungen, und man hat sie dementsprechend verwertet,
um in Übereinstimmung mit der Aussage des Maximus Planudes
(S. 611) aber ohne unmittelbare Bestätigung durch einen der indi-
fichen Schriftsteller, welche uns bekannt sind, eben diese Probe als
^) Woepcke im JoumcU Äsiatique für 1868, 1. Halbjahr pag. 601—604.
H. Eneström {Bihlioih, Mathem. 3. Folge YII, 81) macht daranf aufmerkBam,
daß Avicenna auch als Verfasser eines zweiten arithmetischen Traktates be-
zeichnet wird, dessen Anfang in französischer Sprache im Dictlonnaire des
Sciences matheniatigues von A. S. de Montferrier I, 141 — 143 (Paris 1836) ab-
gedmckt ist.
Zahlentheoretiker, Reebner, geometrische Algebraiker yon 960 etwa bis 1100. 757
indisch zu erweisen. Man kann auch anf eben diese Stellen sich be-
ziehen^ um die Kenntnis quadratischer und kubischer Reste bei den
Indem zu bestätigen. Offenbar sagt nämlich Avicenna zuerst nichts
anderes, als was wir in modernen Zeichen
(9n± 1)^-^1, (9n±2)«^4,
(9w±3)« = (9n + 9)« = 9, (9n±4)« = 7
immer fOr den Modulus 9 schreiben würden; und in der zweiten
Stelle sind nach dem gleichen Modulus 9 die Kongruenzen enthalten
(9n + 1)» = (9« + 4)» = (9n + 7)» - 1,
(9n + 8)» = (9n + 2)» - (9n + 5)' = 8,
(9n + 3)» - (9w + 6)» = (9n + 9)» = 9.
Zurückverweisung nach Indien wird uns auch bei Albirüni ge-
wiß nicht in Erstaunen setzen^ der ein Zeitgenosse des Avicenna
lange Reisen in Indien, wie wir wissen (S. 710), gemacht hat.
Albirüni nimmt gegen die bisher besprochenen Persönlichkeiten ins-
gesamt eine Ausnahmestellung ein. Er gehörte nämlich nicht zu
den gelehrten Hofkreisen von Bagdad, sondern ruhte in Gazna von
seinen Reisen, am Hofe des kunstsinnigen Fürsten Mahmud des
Gaznawiden, der an Machtfülle wie an Fürsorge für die Wissenschaften
mit den Herrschern von Bagdad wetteiferte. Albirüni hat in seiner
Chronologie ganz gelegentlich die Summe der geometrischen Schach-
felderprogression, die mit 1 beginnend auf jedem folgenden Felde
Verdopplung vorschreibt, angegeben^) als Beispiel, wie man eine und
dieselbe Zahl, um jeden Irrtum unmöglich zu machen, in drei ver-
schiedenen Arten niederschreiben könne: mit indischen Ziffern, um-
gerechnet in das Sexagesimalsystem und durch die hurüf aldschum-
mal oder (S. 709) Buchstaben mit Zahlenwert. Jene Zahl sei
(((16^^)V - 1 iMid betr^e 18 446 744 073 709 551 619. Man
finde sie nach folgenden beiden Regeln. Erstens: Das Quadrat der
Zahl eines von den 64 Feldern ist gleich der Zahl des Feldes,
welches von dem vorgenannten eben so weit entfernt ist als jenes
von dem ersten. Ist also 16 die Zahl des 5. Feldes, so muß
16^ = 256 die Zahl des 9. Feldes sein wegen 9 — 5 = 5 — 1.
Zweitens: Die um 1 verringerte Zahl eines Feldes ist die Summe
der Zahlen der vorhergehenden Felder. Wenn 32 die Zahl des
. 6. Feldes ist, so muß 31 die Summe der Zahlen der 5 früheren
Felder sein, oder 31 = 1 + 2 + 4 + 8 + 16. In einem anderen
') Ed. Sachaa, Algebraisches über das Schach bei Birani. Zeitschr. der
deutsch, morgenl. üesellBch. (1876) XXIX, 148—156.
758 35. Kapitel.
Werke, dem Buche der Ziffern, kommt Albirüni auf den gleichen
Oegenstand zu reden und lehrt die Berechnung nach einem Kunst-
griffe, der sich an die obigen beiden Regeln anschließt, welche auf
den Fall des ganzen Schachbrettes angewandt nichts anderes besagen
als man solle die Zahl eines gedachten 65. Feldes berechnen und
von ihr 1 abziehen. Wenn Glieder einer geometrischen Reihe a, ae,
ae*, . . . ae" vorliegen, so kann die Gliederzahl gerad oder ungerad
sein, je nachdem n ungerad oder gerad ist. Im ersteren Falle ist das
Produkt der äußersten Glieder axae*"*"*"^ gleich dem Produkte
zweier mittleren Glieder ae^xae"*"^^; im zweiten Falle ist jenes
Produkt der äußersten Glieder axae^"^ gleich dem Produkte eines
Mittelgliedes in sich selbst (ae'^y. Nennen wir nun die Zahlen,
welche jedem Schachbrettfelde entsprechen, durch die das Feld be-
zeichnende in römischen Ziffern dargestellte Zahl, so liefern uns die
Felderzahlen I, II, III, . . . LXV eine Reihe von ungerader Gliederzahl
und demgemäß I X LXV = (XXXIII)*. Aber die Zahl I ist 1, ver-
vielfacht also nicht, und somit ist LXV = (XXXIIIj* und XXXIII
heißt das erste Mittel. Ebenso findet man XXXIII = (XVII)* und
XVII heißt das zweite Mittel. Femer ist XVH « (IX)^ IX = (Vy
und IX und V heißen drittes und viertes Mittel. Auch ein fünftes
Mittel III, ein sechstes II wird durch V = (III)^ III « (liy gefunden
und nun gerechnet. Das sechste Mittel U ist 2, das fünfte III ist
2^ = 4; das vierte V wird 4^ = 16, das dritte IX demnach 16* = 256;
weiter wird das zweite Mittel XVII notwendig 256* = 65 536 und
XXXm oder das erste Mittel 65 536* = 4 294 967 296. Diese Zahl
endlich quadriert gibt LXV, wovon 1 abgezogen die früher erwähnte
Summe liefert. Ohne diesem Kunstgriff jeden Wert absprechen zu
wollen, sind wir doch nicht imstande Folgerungen daraus zu ziehen,
denn eine genaue Bekanntschaft mit den Gesetzen der geometrischen
Reihe wird niemand den Griechen so wenig wie den Indem ab-
sprechen können^). Ob das Buch der Ziffern, in welchem Albirüni
den Kunstgriff gelehrt hat, jenes Lehrbuch der Rechenkunst ist,
welches wir als von ihm yerfiißt gelegentlich (S. 715) erwähnten,
können wir nur vermutungsweise aussprechen.
Auch in der Geometrie war Albirüni tätig und zwar auf dem
Gebiete, welches, wie wir an mehreren Beispielen schon gesehen
haben, die Araber um das Jahr 1000 so vielfach beschäftigt hat,
auf dem ebensowohl algebraisch als geometrisch zu nennenden Ge-*
*) S. Günther, Zeitschr. Math. Phys. XXI. Historigch-literar. Abteilung
S. 67—61 findet in der Analogie zwischen Albirünis Knnstgriflf und dem Ver-
fahren in Archimeds Sandrechnung eine bedeutsame Hinweisung.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 960 etwa bis 1100. 759
biete der Auflösung solcher Aufgaben, für welche der Kreis und die
Gerade nicht ausreichen, mit Hilfe von Kegelschnitten. Ob freilich
Albirüni die Auflösungen der durch ihn gestellten Aufgaben selbst
kannte, ist uns unmittelbar nicht berichtet; die Tatsache der Auf-
gabenstellung aber, eine Sitte, welche jedem Leser des Archimed,
der sie auch ausübte, wohl bekannt sein mußte, läßt darauf
schließen. Albirünis Aufgaben haben die Dreiteilung des Winkels
zum Gegenstände^).
Abü*l Dschüd, mit seinem ganzen Namen Abü'l Dschüd
Muhammed ihn Allait, ein tüchtiger Geometer aus derselben Zeit,
hat sich erfolgreich mit der Auflösung der Albirünischen Auf-
gaben beschäftigt. Durch den Durchschnitt einer Parabel mit einer
gleichseitigen Hyperbel hat er die Aufgabe gelöst^) von einem
Punkte A außerhalb einer Strecke BG eine Verbindungslinie AD
nach einem derartigen Punkte D dieser Strecke zu ziehen, daß
AB X BC + Biy^ = jB(7 werde. Ein anderes Mal löste er die Auf-
gabe^, an welcher Alkühi (S. 750) sich vergebens versucht hatte,
und welche als Gleichung geschrieben a^ -\- \^—x -{- b =^ 10 a?
heißt. Wieder eine andere Leistung Abü'l Dschüds bezieht sich auf
die Einzeichnung des regelmäßigen
Neunecks in einen Kreis*). Albi-
rüni hatte im 7. Satze des 7. Ka-
pitels des IV. Buches seiner Geo-
metrie, wie uns berichtet wird, den
Satz ausgesprochen, die Konstruk-
tion des Neunecks beruhe auf einer
Gleichung zwischen einer Unbe-
kannten einerseits und deren Würfel
und einer Zahl andrerseits und hatte
den Nachweis dieses Satzes verlangt.
Abü'l Dschüd lieferte denselben wie
folgt. Es sei (Fig. 104) AB die
gesuchte Neunecksseite und das
Dreieck gleichschenklig über ihr mit der Spitze auf dem Kreisumfang
beschrieben. Dann sei AB « AD =? DE = EZ aufgetragen und
SAH '^
AT ±BC, ZKJLAC gezogen. Der Winkel bei C ist ^JjJ =20%
die Winkel bei B und A je = 80®. Daraus folgt
<^ DAE = 80« - 20« = 60«,
^) L'algihre d'Omar Alkhayami pag. tl4 und 119. *) Ebenda pag. 114—116.
Snter 97, Nr. 215. ») Ebenda pag. 64—57. *) Ebenda pag. 126—126.
760 35. Kapitel.
^DEA ebenso groß, also auch ^ ADE ^60^ und das Dreieck
ADE ist gleichseitig. In dem ferneren gleichschenkligen Dreiecke
DEZ ist ^ EDZ - 180« - 60« - 80« - 40«, ^ EZD ebenso groß
und ^ Di?Z = 180« - 2 • 40« = 100«. Folglich
^ZEC = 180« - 100« - 60« = 20« = <^ ZCE,
und somit auch Dreieck CZE gleichschenklig, d. h.
CZ^ZE^ED^ DA ^AB^ AE.
Aus der Ähnlichkeit der Dreiecke CZK und CAT folgt
CZ:CK=CA:CT,
daraus CZ:2CK^CA: 2CT oder ABiCE^CA: (CD + CB)
und auch AB : (AB +CE)^CA: [^CA +CD + CB) oder
AB rAC ^ AC : (CD + 2 AC).
Nun setzt Abül Dschüd AC = BC als Einheit, AB als Unbekannte,
wofür wir x schreiben und somit folgt aus dem letztgeschriebenen
Verhältnisse 1 = ir(2 + CD). Aus der Ähnlichkeit der Dreiecke
ABC und BDA weiß man aber ferner ACiAB^AB.BD oder
BD^x\ Folglich ist CD ^ BC - BD ^ 1 - x^, und die Glei-
chung, aus welcher x zu ermitteln bleibt, nimmt die Gestalt
1 =a;(3-rc^
beziehungsweise schließlich x^ + 1 ^ Sx an, wie Albirüni behauptet
hatte. Diese Gewandtheit eine geometrische Aufgabe in eine Glei-
chung umzusetzen verleiht endlich einer Angabe volle Glaubwürdig-
keit, es habe Abü'l Dschüd „eine besondere Abhandlung über die
Aufzählung von Gleichungsformen verfaßt und über die Art
und Weise die meisten derselben auf Kegelschnitte zurückzuführen,
freilich ohne vollständige Erörterung ihrer Fälle und ohne Scheidung
der möglichen Aufgaben von den unmöglichen, sondern nur so, daß
er die Entwicklungen gab, zu welchen er durch Betrachtung be-
sonderer zu jenen Formen gehörender Aufgaben geführt wurde" ^).
Wir werden sehen, wie es einem Nachfolger Abül Dschüds um
1080 gelang das Kapitel einer geometrischen Algebra zum Abschlüsse
zu bringen, müssen aber vorher wieder zum Beginne des XI. S. zu-
rückkehren, um zweier Schriftsteller zu gedenken, welche dem
rechnenden und dem rein algebraischen Teile der Mathematik vor-
zugsweise ihre Aufmerksamkeit zuwandten, Alnasawi und Al-
karchi.
Abül Hasan *Ali ihn Ahmed Alnasawi war aus Nasa in der
Landschaft Chorasan. Wir sind in die Lage versetzt seine Lebens-
') L'algibre d'Oma/r Älkhayami pag. 82.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 960 etwa bis 1100. 761
%eit ziemlich genau angeben zu können, indem wir wissen^), daß er
fiir die Finanzbeamten des Bujiden Madschd Addaulab, welcher
997 — 1029 regierte, ein Rechenbuch in persischer Sprache heraus-
gab, und daß er auf Wunsch von dessen Nachfolger, also wohl kurz
nach 1030, eine zweite neue Bearbeitung in arabischer Sprache voll-
endete, welche letztere er mutmaßlich aus dem Grunde, weil er den
Fürsten damit zufrieden stellen wollte, den befriedigenden Trak-
tat nannte. Wir erinnern uns, daß um 820 das erste arabische
Lehrbuch der Rechenkunst, von welchem wir Kenntnis haben, durch
Muhammed ihn Müsä Alchwarizmi verfaßt worden ist, daß dasselbe
sich ungemein folgewichtig erwies. Andere Schriften ähnlicher Natur
werden uns da und dort genannt, zum Teil auch in Alnasawis Vorrede.
Alkindi*), der philosophischste Kopf seiner Zeit, gleich be-
rühmt als Mediziner wie als Astronom und Mathematiker, ein Günst-
ling der Chalifen Almamün und Almü^tasim, der bis in das letzte
Viertel des IX. S. gelebt haben muß, weil er eine Übersetzung des
Kusta ihn Lükä aus dem Griechischen des Hypsikles zu verbessern
den Auftrag hatte, hat, wie Alnasawi uns erzählt, ein Rechenbuch
verfaßt, welches diesem jedoch einen konfusen und übermäßig breiten
Eindruck machte. Dasselbe urteil fällt er über ein Rechenbuch
Alantäkis^), des Antiochiers, welcher 987 gestorben ist. Alkal-
wadäni*) am Ende des X. S. wird als zu schwierig bezeichnet; er
gebe Regeln, welche nur für solche Personen notwendig seien, welche
mit den feinsten Aufgaben sich beschäftigen, und aus der gleichen
Zeit nennt Alnasawi noch verschiedene andere Verfasser von Lehr-
büchern der Rechenkunst, einen Abu Hanifa*), einen Küschjär*),
welchen er bei allem Lobe doch diesen oder jenen kleinen Tadel
nicht erspart. Die Schriften dieser Vorgänger sind, wenn überhaupt
noch vorhanden, jedenfalls nicht in Übersetzungen veröffentlicht, und
nur den befriedigenden Traktat Alnasawis kennen wir aus einem kurzen
Auszuge, der kaum mehr als Überschriften der einzelnen Kapitel enthält^).
Wir entnehmen ihm, daß Verdoppelung und Halbierung als be-
sondere Rechnungsarten gelehrt wurden. Wir entnehmen ihm die
Multiplikation und Division „nach indischer Weise", worunter die
') Woepcke im Journal Äsiatique für 1863, I.Halbjahr, pag. 492. Suter
96—97, Nr. 214. ■) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher S. 21
bis 22, Nr. 67, und Flügel in den Abhandlungen for die Kunde des Morgen-
landes Bd. I, Abhandlung 2. Leipzig 1859. Suter 23—26, Nr. 45. ^ Suter
68—64, Nr. 140. *) Ebenda 74, Nr. 171. ») Ebenda 31-32, Nr. 60. «) Ebenda
83 — 84, Nr. 192 und Steinschneider in Abhandlungen zur Greschichte der
Mathematik UI, 109. ') Woepcke im Journal Äsiatique für 1863, 1. Halbjahr,
pag. 496—500.
762 86. Kapitel.
Methoden yerstanden sind, die wir aucli durch Maximus Planudes als
indische kennen. Der Multiplikator, beziehungsweise der Divisor
rückt unter dem Multiplikandus oder dem Dividendus weg von der
Linken zur Rechten. Beide Operationen beginnen dort, d. h. an der
höchsten Stelle, die Teilprodukte werden nach und nach addiert oder
subtrahiert und die nötigen Verbesserungen und Veränderungen ent-
sprechend angebracht, beim wirklichen Rechnen vermutlich so, daB
man die unrichtige Zahl wegwischte und die richtige dafür hinschrieb,
in den Beispielen des Lehrbuches so, daß die richtigen Zahlen über
die unrichtigen gesetzt sind, welche dadurch selbst für vernichtet
gelten. Die Zahlzeichen sind die ostarabischen. Auf diese, sagt
Alnasawi, hätten die meisten Personen, welche mit der Rechenkunst
sich beschäftigten, sich geeinigt, doch sei volle Übereinstimmung
nicht vorhanden. Mit Bruchteilen verbundene Zahlen werden in drei
Zeilen untereinander geschrieben; in der obersten Zeile stehen die
Ganzen, in der zweiten der Zähler, in der dritten der Nenner des
Bruches; sind keine Ganzen vorhanden, so wird, um Mißverständ-
nissen vorzubeugen, eine Null in die oberste Zeile gesetzt. So
heißt also
0 j o j r 1 lo 7
Die Rechnungsaufgaben erstrecken sich in den drei ersten Büchern
bis zur Ausziehung der Kubikwurzeln aus mit Brüchen vereinigten
ganzen Zahlen. Das vierte Buch ist dem Rechnen im Sexa-
gesimalsysteme gewidmet. Von komplementären Rechnungsverfahren
keine Spur!
Abu Bekr Muhammed ihn Alhusain Alkarchi^) ist ein Schrift-
steller ganz anderen Charakters. Von ihm besitzt man zwei Schriften,
welche einander fortsetzen, nämlich als ersten Teil ein Rechenbuch:
Al-Käfi fil hisäb. Das Genügende über das Rechnen, und als zweiten
Teil eine Algebra: Al-Fachri*). Der Name dieses zweiten Teils ist
mutmaßlich dem einer Persönlichkeit nachgebildet, zu welcher Alkarchi
in naher Beziehung gestanden zu haben scheint. Abu Gälib war es,
welcher den Beinamen Fachr al mulk, Ruhm des Reiches, führt und
welcher Wezir der Wezire gewesen sein muß zur Zeit als die beiden
Schriften verfaßt wurden, die zweite nach ihm den Titel Al-Fachri
^) Suter 84—85, Nr. 193. *) Der Käfi fil hisäb des Alkarchi ist deutlich
von Ad. Hochheim (Halle 1878—80) herausgegeben, der Pachri auszugsweise
französisch von Woepcke (Paris 1853). Unsere biographischen Notizen gründen
eich vorzugsweise auf Hochheims einleitende Notizen zum I. Heft des Eftfi
f!l his&b.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 960 etwa bis 1100/ 763
erhielt. Dadurch ist aber die Zeit, in welcher Alkarchi schrieb, ganz
genau bestimmt. Abu Gälib nahm als Statthalter von Bagdad, wo
Alkarchi lebte, die höchste Rangstufe seit 1010 oder 1011 ein. Eben-
derselbe wurde, ein Beispiel orientalischen Schicksalswechsels, 1015
oder 1016 auf Befehl des Sultans hingerichtet. So bleiben nur die
fünf dazwischenliegenden Jahre, in welchen Alkarchi ihm Schriften
als Wezir der Wezire zugeeignet haben kann. Das hervorragend
Wichtige an den Werken Alkarchis besteht darin, daß er teils einge-
standenermaßen, teils mittelbar aus dem Inhalte zu erschließen der
Hauptsache nach auch in der Rechenkunst nicht aus indischen, son-
dern aus griechischen Quellen geschöpft hat, so einen Gegensatz bil-
dend gegen die Alnasawi usw., welche indische Rechenkunst lehrten
nnd lehren wollten. Wir müssen um so mehr hier einen be-
wußten Gegensatz zweier Schulen, nicht bloß ein Abweichen
des vereinzelten Alkarchi von der allgemeinen Gewohnheit erkennen,
als, wie wir uns erinnern (S. 743), Abü*l Wafä in der zweiten Hälfte
des X, S. ein Rechenbuch verfaßt hat, in welchem die indischen Ziffern
keine Anwendung fanden und Alkarchi selbst sich Scbüler des uns
im übrigen unbekannten Albusti nennt ^). Freilich ist die von uns
ausgesprochene Behauptung selbst nicht in aller Schärfe, sondeni nur
in der Beschränkung anzunehmen, welche wir ihr gegeben haben.
Abül Wafä, den wir zur griechischen Richtung beizuzählen die
mannigfachsten Gründe haben, war, wie wir annahmen, in seiner An-
schauungsgeometrie durch und durch indisch. Muhammed ihn Müsä
Alchwarizmi rechnete nach indischen Vorschriften, und in seinem
Lehrbuche der Rechenkunst vernahmen wir griechische Anklänge
(S. 717). Vollständig den gegenseitigen Einfluß auszuschließen, ge-
lang es weder der einen noch der anderen Schule, wenn *sie es über-
haupt beabsichtigte. So wird uns trotz der vorwiegend griechischen
Schulung Alkarchis Indisches in seinen Schriften nicht in Erstaunen
setzen dürfen, vorausgesetzt, daß es in homöopathisch kleinen Mengen
auftritt, und diese Voraussetzung trifft ein. Indisch müssen wir
vielleicht die Neunerprobe nennen*), indisch das was von quadratischen
Resten, wir meinen von den Endziffern, welche eine Quadratzahl be-
sitzen kann, gesagt; ist^), indisch ist uns die Lehre von der Regel-
<letri*). Aber damit schließt die Summe nachweisbaren indischen Ein-
>) Käfi ff] hia&b Heft I, S. 4. Suter 57, Nr. 122 nennt zwar einen be-
deutenden Gebrten Muhammed ibn Ahmed ibn Hibbän Abu H^ltim Albnsti. Da
•aber dieser 965 starb und Alkarchi vor 1015 seinen Al-Fachri verfaßte, so lägen
•etwa 50 Jahre zwischen Alkarchis Lehrzeit nnd seiner schriffcstelleriBchen Tätig-
keit; möglicherweise war also sein Lehrer ein anderer Albusti. ") Käfi fil
his&b I, 8. ») Ebenda II, 18. *) Ebenda U, 16.
764 »5. Kapitel.
flusses ab, wenn wir nicht etwa den Ursprung von Multiplikations-
methoden^), welche auf Zerlegung eines Faktors in Unterfaktoren oder
auf Betrachtung derselben als Summe oder Differenz von Zahlen^
welche eine leichte Multiplikation zulassen, hinauslaufen und welche
allerdings bei den indischen Schriftstellern uns ebenso begegneten,
aber einem Griechen nicht minder einfallen konnten, ausschließlich
nach Indien verlegen wollen. So bedeutsam diese Dinge sind, so stellen
sie doch nur einen geringfügigen Teil des Inhaltes des Käfi M hisäb
uns dar, geringfügig namentlich gegen das, was mit größter Zuver-
sicht auf griechische Quellen zurückgeführt werden muß. Da finden
wir Multiplikationsmethoden, welche an die des Apollonius, des Ar-
chimed, wie sie von Pappus, von Eutokius uns berichtet werden^
welche an die des Heron vielfach erinnern*). Da finden wir die De-
finition der Multiplikation selbst fast wörtlich wie bei Euklid'). Da
finden wir wieder genau nach Euklid die Aufsuchung des größten
gemeinschaftlichen Divisors*), genau nach ihm eine ausführliche Pro-
portionenlehre ^), welche gewissermaßen als theoretische Grundlage der
nachher vom Standpunkte praktischen Geschäftsbedürfnisses erörterten
Regeldetri vorausgeschickt ist. Da finden wir Stammbrüche und
Brüche von Brüchen, wie sie bei Heron nicht zu den Seltenheiten
gehören^), und wobei, beiläufig bemerkt, zwischen jenen stummen
und aussprechbaren Brüchen unterschieden wird, deren Bedeutung wir
bereits (S. 718) erörtert haben. Da ist die Rechnung mit Sexa-
gesimalbrüchen, insbesondere die Ausziehung von Quadratwurzeln
aus solchen, wie sie bei Ptolemäus und bei Theon von Alexandria
in Übung war'). Da finden wir in dem geometrischen Kapitel auf
Schritt und Tritt griechische Definitionen und Sätze ^), den ptolemäi-
schen Satz vom Sehnenviereck ^), die heronische Dreiecksformel aus
den drei Seiten^®) usw. Da finden wir einzelne Wörter, welche geradezu
Übersetzungen griechischer Ausdrücke sind, wie die aussprechbaren
und nicht- aussprechbaren Quadratwurzeln (firjtöv und äAoyov)^^), wie
die Grenze {ögog, lateinisch limes, auch terminusy^) um bei Sexa-
gesimalbrüchen die Ordnung zu bezeichnen, oder sagen wir vielleicht
entsprechender um das Reihenglied anzugeben, bei welchem man
stehen zu bleiben wünscht.
In diesem Lehrbuche nun, dessen Reichhaltigkeit aus unseren
nur besonders für den Ursprung zeugende Dinge berücksichtigenden
Notizen zur Genüge erhellt, ist von Verdoppelung xmd Halbierung
1) Käfi fil hißäb I, 6 flgg. *) Ebenda I, 6, 6; ü, 7. ») Ebenda I, 4.
*) Ebenda I, 10—11. *) Ebenda II, 15—16. ^ Ebenda I, 7, 14 und hanfiger.
») Ebenda U, 10 und 16. ») Ebenda H, 18 figg. «) Ebenda II, 26. >^) Ebenda.
II, 23. ") Ebenda II, 12. ") Ebenda U, 4.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 960 etwa bis 1100. 765
als besonderen Rechnungsarten nirgend die Rede nnd wird^ was noch
weit merkwürdiger ist^ nicht ein einziges I^Ial von Ziffern irgend-
welcher Art gesprochen. Alle und jede Zahlen, welche in dem Texte
vorkommen, sind vielmehr in ganzen ausgeschriebenen Worten ange-
geben. Selbst die umständlichsten Rechnungen führt Alkarchi nur
in dieser Weise aus, so daß eine rasche Übersicht ganz und gar
nicht möglich ist, man sich vielmehr immer in die Lage eines durch
das Ohr allein Lernenden versetzt fühlt. Die Frage, wie Alkarchi,
ein Mann von glänzendem Scharfsinne, wie uns insbesondere sein
zweites Werk beweisen wird, die indischen Rechenmethoden, deren
Unkenntnis bei ihm, dem Zeitgenossen und Ortsgenossen des Alna-
sawi, zur Unmöglichkeit sich gestaltet, so sehr unterschätzen konnte,
daß er nicht mit einem Worte ihrer erwähnte, enthält eine so
schwere Anklage, daß uns eben die Notwendigkeit ihr zu begegnen,
auf die oben ausgesprochene Vermutung führte. Wir glauben nicht
Unkenntnis oder Unterschätzung der indischen Methoden bei einem
Alkarchi annehmen zu dürfen. Wir sehen hier bewußten, grund-
sätzlichen Schulgegensatz, der aus Verbissenheit •selbst das Vortreff-
lichste sich entgehen läßt, wenn es seinen Ursprungsstempel so
deutlich auf der Stime trägt, wie dieses bei den indischen Zahl-
zeichen der Fall war.
Ist es die Heimatszugehörigkeit gewesen, welche den einen in
diese, den anderen in jene Schulrichtung bannte? Wir wissen es
nicht. Vielleicht müssen wir an eine unerwartete Rückwirkung theo-
logischer Streitigkeiten denken, an den Gegensatz von Sunniten und
Schiften, von Orthodoxen und MuHazeliten, der die ganze arabische
Geschichte beeinflußt hat und zwischen 1020 und 1030 öffentliche
Disputationen veranlaßte, die so regelmäßig in große Raufereien
ausarteten, daß sie gänzlich verboten wurden^).
Wir würden uns nicht übermäßig erstaunen dürfen und es keines-
wegs als Beweis gegen den von uns vermuteten alexandrinisch-
römischen Ursprung gelten lassen, wenn die komplementären Rech-
nungsverfahren der Multiplikation und der Division Alkarchi bekannt
geworden wären in einer Zeit, zu welcher, wie wir sehen werden,
diese Methoden auch im christlichen 'Abendlande an Verbreitung ge-
wannen. Dem ist indessen nicht so, und nur zwei leise Spuren,
welche zwar nicht an jene Verfahren selbst, aber an den W^eg, der
zu ihnen führt, etwas erinnern, sind uns aufgestoßen. Wir führen
die Stellen, weil Gegner unserer Meinungen sie vielleicht in ihrem
Sinne verwerten möchten, wörtlich an.
0 Weil S. 226.
766 3ö. Kapitel.
,, Wisse nun^ daß man die Zahlen in zwei Klassen teilt; nämlich,
in einfache und zusammengesetzte. Die einfachen Zahlen sind solche,
die nur einer Ordnung angehören, und die zusammengesetzten solche,
die zwei oder mehreren Ordnungen angehören"*).
Das klingt ungemein nach dem Fälscher der Geometrie des
Boethius und ganz und gar nicht nach der 13. und 14. Definition
des VII. Buches der Euklidischen Elemente, wo die Primzahlen ein-
fach heißen, und zusammengesetzt solche Zahlen, die in Faktoren sich
zerlegen lassen. Die zweite Stelle ist um ein Blatt früher in der
Handschrift des Käfi fil hisäb zu finden. Dort heißt es:
„Was die Ordnungen anlangt, so sind diese drei: Einer, Zehner
und Handerter. Das aber, was über diese hinausgeht, ist auf sie
aufgebaut wie die Eintausender, die Zehntaijsender, die Hundert-
tausender, [die Eintausendtausender], die Zehntausend tausender, die
Hunderttausendtausender. AUe diese ruhen auf dem Fundamente der
drei ersten, indem mit der Eins der Ausdruck Tausend entweder ein-
mal oder zweimal oder dreimal verbunden ist, indem dann zweitens mit
der Zehn der Ausdruck Tausend entweder einmal oder zweimal oder
mehrmal verbunden ist. Und so ist jede Zahl, welche einer anderen
als diesen drei Ordnungen angehört, wenn Du den Ausdruck Tausend
von ihr wegnimmst, entweder ein Einer, Zehner oder Hunderter*^*).
Das sind ofiTenbar Triaden, wie der Bömer sie besaß, wie das
christliche Abendland sie nachahmen wird, und nicht griechische
Tetraden. Man darf aber nicht vergessen, daß diese zweite Ähn-
lichkeit auf sprachlichem Boden beruht, daß die Araber gleich dem
Kömer, gleich dem Deutschen Zehntausend zusammensetzen mußten,
während die Griechen noch ihre einfache Myrias gebrauchten, und
daß so Triaden gar wohl an den verschiedenen Orten und unab-
hängig voneinander sich ausbilden konnten, Tetraden nur in
Ghiechenland.
Alkarchi hat auch mancherlei, was bei ihm zuerst unseren Blicken
sich darbietet und vielleicht seiner eigenen Erfindung angehört. Er
benutzt neben der Neunerprobe eine Elferprobe*). Er nimmt als
angenäherte Quadratwurzel für j/ö^ + ^j wo der Rest r übrig bleibt,
nachdem die nächste Quadratzahl abgezogen wurde, mithin jeden-
falls r<2a + l ist, den Wert a -{- - — j—- Er hat unter den
geometrischen Rechenbeispielen Formeln*), welche zwar an heronische
Beispiele etwas erinnern, aber doch nicht mit denselben zur Deckung
zu bringen sind, oder sich aus ihnen ableiten lassen^). Der Grund
») Käfi fil hisäb I, ö. *) Ebenda I, A. ^ Ebenda I, 9. *) Ebenda II, 14.
^) Ebenda IT, 24, 25, 26, 28 die Formeln für Kreissegmente, für Kreisbögen, für
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 767
der Nähenmgsformel ]/a* + r = a + - j-j dürfte, wie allerdings
erst im 41. Kapitel im nächsten Bande genauer ery^iesen werden
kann, folgender sein. Wenn a und die nächste ganze Zahl a + 1
beide quadriert werden, so ist die Differenz der Quadrate
(a + 1)* ~ a^ = 2a + 1.
Wächst also die Quadratzahl um 2a + 1, so wächst die Wurzel um
1, und Anwendung einer Proportion läßt weiter folgern, daß einem
Wachstum der Quadratzahl um r ein Wachstum der Wurzel um
2 , entsprechen müsse. Neueste Forschungen*) haben es in
hohem Grrade wahrscheinlich gemacht, daß schon Archimed von geo-
metrischer Grundlage ans den Näherungswert a + ©""jri ebensowohl
als den a + ,, kannte, ja daß er sogar der fortlaufenden Ungleichung
sich bediente, um die in der Ereismessung vorkommenden Qoadrat-
wurzelwerte zu erhalten.
Die ganze Bedeutsamkeit des Mannes, mit welchem wir uns be-
schäftigen, tritt in seinem zweiten Werke, im Al-Fachr£, hervor, in
welchem er andrerseits auch wieder als unbedingten bewundernden
Schüler der Griechen, insbesondere des Diophant sich erweist, welch
letzterer an häufigen Stellen mit Namen erwähnt ist. Al-Fachri
besteht selbst aus zwei Abteilungen, einer ersten, welche die Theorie,
wenn man so sagen darf, enthält, nämlich die Lehre vom algebraischen
Rechnen und die Auflösungen sowohl bestimmter als unbestimmter
Gleichungen, und einer zweiten, welche eine Aufgabensammlung dar-
stellt. In beiden Abteilungen finden wir, wie gesagt, Diophant in
umfassendster Weise benutzt, aber in beiden Abteilungen auch
Dinge, welche über Diophant hinausgehen. Indische Methoden zur
Auflösung der unbestimmten Gleichungen ersten wie zweiten Grades
wird man dagegen vergebens suchen.
Diophant hat z. B. Namen der 2. bis zur 6. Potenz der Unbe-
kannten additiv aus dvvafiLg und xiißag zusammengesetzt. Ganz
ähnlich verfährt Alkarchi, dem mal das Quadrat der Unbekannten —
mitunter auch allerdings irgend eine Größe*) — bezeichnet, ka^b den
die Dorchmeaser des Um- und des Innenkreises regelmäßiger Vielecke, för den
Körperinhalt der Kugel.
^) Hultsch^ Die Näherungsweithe irrationaler Quadratwurzeln bei Arcbi-
medes. Nachrichten von der königl. Gesellsch. der Wissensch. und der Georg-
AuguBts-üniver8itö,t zu Göttingen vom 28. Juni 1893, besonders S. 899. *) F ak h r i 48.
768 35. Kapitel.
Würfel und dann weiter durch sich regelmäßig wiederholende Addition
mal mal, mal ka% ka'b Jca% mal mal ka% mal Jca^b Jca'b, ka^b ka% ka^b
usw. ins unendliche die folgenden Potenzen der Unbekannten.
Wir bemerken hier beiläufig, daß wenn in arabischen Schriften
mal bald das Quadrat der unbekannten Oröße, bald eine erste Potenz
bezeichnet, diese Zweideutigkeit auch dem lateinischen Worte census
in mittelalterlichen Übersetzungen aus dem Arabischen beigeblieben ist^).
Alkarchi lehrt das Rechnen mit solchen allgemeinen Größen, zu
welchen genau so wie bei Diophant auch die Brüche mit der 2., 3., usw.
Potenz der unbekannten als Nenner treten, in ausführlicher und klarster
Weise. Diophant hat solches Rechnen mehr vorausgesetzt als gelehrt
Alkarchi behandelt nach den Rechnirngsverfahren an den Potenzen
der Unbekannten oder den ihnen inversen Ausdrücken auch Irratio-
nalitäten'). Freilich bleibt er hier bei den einfachsten Fällen stehen
und nähert sich nicht von weitem den von den Indem auf diesem
Felde erzielten Ergebnissen, so daß man nicht nötig hat, an einen
fremden Einfluß zu denken, um das Vorkommen von Gleichungen
wie >/8 + yr8-y5Ö oder Vöi - ^2 = 1/16 zu erklären. Ein
weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit Reihensummierungen'). Die
hier auftretenden Sätze sind Alkarchi ofl^enbar von anderer Seite zu-
gegangen, und er hat nur für manche derselben Beweise geliefert,
sei es algebraische, sei es geometrische, für manche künftige Beweise
Tersprochen, ein Versprechen, welches er in einem Kommentare zum
Al-Fachri zu lösen gedachte, den er selbst zu schreiben beabsichtigte*).
Der fremde Ursprung der Summenformeln geht z. B. unzweifelhaft
AUS der Summierung der Quadratzahlen
1« + 2' + 3» + • • • + r« = (1 + 2 + 3 + • • • + r)(| r + J)
hervor, welche Alkarchi mitteilt, aber nicht beweisen zu können ein-
gesteht. Als Anhaltspunkt zur Beantwortung der Frage nach der
Heimat dieser Formel weisen wir darauf hin, daß es genügt,
1 + 2 -f 3 + • • • + r = ?^^
ZU setzen, um sofort
1» + 2« + 3» + . • . + r« = (;- + |)(r + l)r
ZU erhalten, eine Form, welche Archimed nicht, wohl aber Epaphro-
ditus benutzt hat^). Für die Summierung der Kubikzahlen
13 + 2» + 3» + . . • + r« = (1 + 2 + 3 + • . . + r)«
*) Vgl. solche Übersetzungen bei Libri, Histoire des mathematiques en
JRaliel, 276—277 und I, 306. *) Fakhri 57—59. ») Ebenda 59—62. *) Ebenda
6—7. *) Agrimensoren S. 128.
Zahlentheoretikei, Rechner, geometrische Algebraiker von 960 etwa bis 1100. 769
gibt Alkarchi einen geometrischen Beweis, dessen Gedankengang
folgender ist^). Im Quairate ÄC (Fig. 105) sei die Seite
^5=1 + 2 + 3 + . .• + r,
und nun schneidet man von diesem Quadrate einen Gnomen
BBCDD'CB ab, dessen Breite BB « r ist. Die Fläche desselben
ist offenbar
2r'AB-r^^2r *öi) ^^^ r\r + 1 - 1) - r».
Es ist einleuchtend, daß, wenn BB'^r — 1
gewählt wird, ein zweiter Gnomon losgetrennt
werden kann, dessen Fläche (r — 1)' sein muß,
und daß in dem ganzen Quadrate r — 1 der- ^[^
c
c
^
Fig. lOA.
artige immer kleiner werdende Gnomone
entstehen, deren letzter von der Fläche 2'
ist, und weggenommen noch ein Quadrat-
chen 1* übrig läßt. Da aber 1* =« 1*, so ist
auch
1» + 2» + 3» -h • • • + r» « (1 + 2 -h 3 H- . . . -h r)».
Jetzt kommt Alkarchi zu den sechs Gleichungsformen, welche wir
(S. 719) bei Muhammed ihn Müsä Alchwarizmi besprechen mußten,
und setzt bei dieser Gelegenheit auseinander, was dschebr und mukä-
hala sei*). Er versteht dabei das Wegheben gleichartiger Größen auf
beiden Seiten der Gleichung, welches wir im Einverständnisse mit
späteren Schriftstellern mukäbala genannt haben, bereits unter dschebr.
Ihm ist mukäbala vielmehr nur die endgültig zur Auflösung vorbe-
reitete Gleichung in einer der sechs Formen. Unter den Beispielen,
welche Alkarchi behandelt, ist auch a?* + lOa? = 39 und a?* + 21 = 10a;,
deren beider, wie wir uns erinnern, Alchwarizmi sich bedient hat.
Alkarchi hat für sie eine doppelte Auflösung, die eine geometrisch,
die andere nach Diophant, wie er sich ausdrückt, und diese letztere
besteht in der Ergänzung zum Quadrate. Die Gleichung a?* -f- 10a? == 39
wird also aufgelöst durch die Umwandlung in
a;« + 10a? + 5« = 39 + 5«, oder (a; + 5)« - 8S
woraus a?-f5 = 8, a?=»3 gefolgert wird. Bei der Gleichung
^* + 21 == 10a; ist das Verfahren folgendes:
a;« + 21 + (a;« - 10a; + 25) - 10a; + {x^ - 10a; + 25),
(a:« - 10a; + 25) - 10a; + (a;« - 10a; + 25) —{f + 21) - 4 = 2«.
^) Fakhri 61. Vgl. Hankel S. 192 Anmerkung, der in dem Beweise ein
durchaus indisches Gepräge erkennen will. *) Ebenda 68 — 64.
Caktor, Oesohiohte der Mathematik L 3. Aufl. 49
770 35. Kapitel.
Aber a:^ — 10 + 25 ist ebensowohl {x — 5)* als (5 — xfy also ist
a; — 5 = 2 tmd 5 ^ o? = 2 eine Auflösung und entsprechend x = 7
und a: = 3.
Das Auffallende bei der Behandlung dieser letzteren Gleichung
ist, daß Alkarchi auch von ihr des Ausdrucks „nach Diophants Art^'
sich bedient. Wenn wir (S. 476) wahrscheinlich machen, um nicht
zu sagen zur Gewißheit erheben konnten, daß Diophant nicht wußte,
daß die Gleichung ax^ + c^^bx zwei voneinander verschiedene Wurzel-
werte besitzt, so ist jener Ausdruck ganz unverständlich. Nicht
griechisch war unter allen Umständen die eine geometrische Dar-
stellung Alkarchis für die Auflösung der Gleichung x^ + lOo; = 39.
Alkarchi gibt zwei geometrische Darstellungen unmittelbar ein-'
ander folgend. Zuerst läßt er (Fig. 106) die Strecken x und 10 ge-
^ radlinig aneinander setzen und den
^ ^ ^ Mittelpunkt der letzteren Strecke an-
Fig. 106. geben. Unter Berufung auf einen „be-
kannten Satz des Euklid"^), worunter
der 6. Satz des IL Buches der Elemente verstanden ist (S. 263),
folgert er sodann
Nun sei aber (10 -j- a:)fl? «= 39, also
" 64 = (y -H a:)*, 8 = 5 + 3;, x^3.
Diese Beweisführung kann sehr wohl alter griechischer Überlieferung
sein, kann bis auf Euklids nächste Nachfolger, wenn nicht auf ihn
selbst, zurückgehen. Nun
läßt aber Alkarchi eine
zweite geometrische Dar-
stellung folgen. Die
Strecken (Fig. 107)
":? 1^ i CD = x^, DE - lOrc,
deren Summe 39 sein
muß, werden geradlinig aneinander gesetzt. Über DE wird das
Quadrat ABED errichtet, dessen Fläche folglich 100a;* ist. Nun
bildet man über CD ein Rechteck CDTZ^ 100a?*, d.h. man macht
CZ« 100, das Rechteck CZIE ist folglich
100(a:« + lOx) = 100 • 39 = 3900
und ebenso groß ist das Rechteck ABIT, Ist jetzt 8 die Mitte von
lEy so ist ähnlich wie im vorigen Beweise
*) Fakhri 65.
Z. .C
T ^
Zaiileniheoretiker, Bfechner, geomeiriache Algebraiker von 960 etwa bis 1100. 771
IBxEB + ES'^BS' oder 3900 + 50« = (lOrc + 50)^
woraus
10a: + 50 = 80, lOa; - 30, a:« = 39 - 10a; - 9
folgt. Dieser Beweis, das können wir zuyersichtlicli aussprechen,
rührt von keinem Gh-iechen her. Niemals hätte ein solcher eine
Strecke als a:', eine andere als 10 a; bezeichnet und aneinander gesetzt,
niemals die weiteren Folgerungen gezogen. Auch die Buchstaben der
Figur, wenn wir die Transkription, in welcher sie allein uns be-
kannt geworden sind, für zuverlässig halten dürfen, bestätigen durch
das unter ihnen vorkommende 2, daß sie mindestens von keinem
Griechen aus der klassischen Zeit ihrer Geometrie herrühren können.
Hier ist uns vermutlich arabische Zutat gehoten, wahrscheinlich eine
Erfindung von Alkarchi selbst Die Gleichung x* + ax = b kann
aber auch so behandelt werden, daß x^ unmittelbar hervortritt, ohne
durch Quadrierung des zunächst 'gesuchten x gefunden zu werden^).
Nachdem
x^ + ax + ~=-b + ^ und a; + -|- = yb +
gefolgert sind, sieht man sofort, daß
a*
«^+v-«i/&+^'=l/«''*+(';T
2
Andererseits ist
o^ + ax + ~=^b + ^,
und zieht man davon den Wert von ax + ab, so bleibt
Alkarchi gehört ferner wohl die Auflösung der dreigliedrigen
Gleichungen von den Formen
ax^^ + b3^ ^ Cj ax^^ + c^bx^ y bx^ + c-^ax^^,
welche als auf quadratische Gleichungen zurückführbar dargestellt
werden, an^). Die theoretische Abteilung schließt sodann mit noch
zwei Aufgaben. Deren erste bildet der istikra, d. h. wörtlich das
Weitergehen von Stelle zu Stelle. Gewöhnlich versteht der Araber
darunter ein auf Kenntnis aller besonderen Fälle beruhendes induk-
tives Urteil^), hier aber ist etwas anderes gemeint: die Aufgabe ein
Monom, Binom oder Trinom, welches formell keine Quadratzahl ist.
*) Pakhri 66. •) Ebenda 71 — 72. ») L'dLg^hre d'Otnar ÄWiayami
pag. 10, Anmerkung.
49*
772 36. Kapitel.
durch Annahme eines beetimmten Wertes der Unbekannten zum Qua-
drate zu machen, also die unbestimmte Gleichung
ma? + nx + p ^ ^
zu lösen. Alkarchi setzt als Bedingung Yoraus, es müsse m oder p
eine Quadratzahl sein, dann wählt er y als Binom, dessen einer Teil
entweder Ymö^ oder y p ist, so daß die ausgeführte Quadriemng
Yon y gestattet, ein Glied auf beiden Seiten zu streichen, entweder
das nach x quadratische oder das konstante. Die zweite der beiden
Schlußaufgaben des theoretischen Teiles fordert die Auf&ndung eines
Faktors, welcher mit a + ^6 vervielfacht die Einheit hervorbringe.
Die Aufgabensammlung, welche in fünf Abschnitte zerfallend die
zweite praktische Abteilung bildet, ist nach der Schwierigkeit der
Aufgaben als einzigem Einteilungsgrunde geordnet. Man trifft also
in ihr in bunter Mannigfaltigkeit bestimmte und unbestimmte Auf-
gaben von den verschiedensten Gra'den. Alkarchi benutzt, wie sich
erwarten läßt, bei seinen Auflösungen nur positive Zahlen. Nega-
tive Gleichungswurzeln sind ihm ein Beweis der Unmöglichkeit der
betreffenden Aufgaben, und, was einigermaßen auffallen darf, auch
der Wurzelwert 0 wird von ihm ausgeschlossen^). Die bestimmten
Aufgaben höherer Gb'ade gehören sämtlich jenen dreigliedrigen auf
quadratische Gleichungen zurückführbaren Formen an. Die unbe-
stimmten Aufgaben sind teilweise dem Diophant entlehnt, und ein
Kommentator Ibn Alsirädsch hat am Schlüsse des 4. Abschnittes
der Aufgaben ausdrücklich bemerkt: ,Jch sage, die Aufgaben dieses
Abschnittes und ein Teil derer des vorhergehenden Abschnittes sind
ihrer Reihenfolge nach den Büchern Diophants entnommen. So ge-
schrieben durch Ahmed ibn Abu Bekr ibn 'AK ibn Alsirädsch
Alkalänisi. Schluß'^'). Andere Aufgaben rühren dagegen, wie es
scheint, von Alkarchi selbst her, und unter diesen mögen späterer
Rückbeziehungen wegen zwei besonders angeführt werden, die in
modemer Schreibart ic* + 5 =« y* und ar* — 10 =« y* heißen^). Zur
Auflösung der ersteren setzt Alkarchi y = x + 1, zur Auflösung
der zweiten y ^ x —1 und erhält so für jene a?' =« 4, y* = 9, für
diese a:* = 30— , y* =» 20 . Man sieht, daß Alkarchi die ge-
brochenen Auflösungen unbestimmter Aufgaben keineswegs scheut,
sondern gleich Diophant nur irrationale Werte verpönt. An sich
interessant ist es, daß Alkarchi die Auflösbarkeit von
±_ (ax — b) — x^ = y^
1) Fakhri pag. 78 und 11. *) Ebenda 22—28. *) Ebenda 84 (Auf-
gaben n, 22 und 23).
Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 773
behandelt und ihre Bedingung in der Zerlegbarkeit von (|j =F 6
in die Summe zweier Quadrate erkannt hat^). Die Auflösung von
± {ax — 6) — rc* = y'
nach X liefert nämlich
WO die oberen^ beziehungsweise die unteren Vorzeichen in der Auf-
gabe und in der Auflösung zusammengehören. Kann man nun
-^ =f & in zwei Quadrate zerlegen^ so setze man diese y^ + e^ und
bekommt dadurch
In zwei Aufgaben bedient sich Alkarchi zweier Unbekannten, welchen
er besondere Namen beilegt^. Das eine Mal heißt ihm die erste
Unbekannte Sache^ die zweite Maß; das andere Mal benutzt er
neben Sache noch Teil. Ganz Ahnliches findet sich auch in einem
anonymen mutmaßlich gleichfalls dem XI. S. entstammenden arabi-
schen Aufsatze über Winkeldreiteilung ^). Daß hierin ein Hinaus-
gehen über Diophant enthalten ist^ leuchtet ein, da dieser, wenn er
auch unter Umständen Hilfsimbekannte eingeführt hat, für dieselben
stets nur die gleiche Benennung und Bezeichnung wählte wie für die
Hauptunbekannte und durch den verbindenden Text dafür sorgte, daß
eine Verwechslung nicht eintrete. Den Buchstaben gegenüber, welche
die Inder für voneinander zu imterscheidende Unbekannte in fast be-
liebiger Anzahl zu setzen gewohnt waren^ ist Alkarchis Verfahren ein
untergeordnetes.
Ob auch hier ein absichtliches Vernachlässigen dessen, was die
Inder über die Ghiechen hinaus geleistet haben, ob ein wirkliches
Nichtwissen anztmehmen sei, dürfte schwerlich ermittelt werden können.
Wahrscheinlicher ist uns jedoch das letztere, weil auch in solchen
arabischen Schriften, die ausgesprochenermaßen indischen Schriften
nachgebildet sind, die Methoden der Inder, Gleichimgen mit mehreren
Unbekannten aufzulösen, mag es um bestimmte oder um unbestimmte
Aufgaben sich handeln, regelmäßig fehlen.
Wir haben gesagt, daß die bestimmten Gleichimgen, welche
Alkarchi löst, sofern sie den 2. Grad übersteigen, stets solche sind^
welche auf Gleichungen des 2. Grades sich zurückführen lassen.
Bestimmte kubische Gleichungen hat er nicht behandelt, und eben-
^) Fakhri HS (Aufgabe lY, 82). *) Ebenda 189—143 (Aufgaben HI, 5
und 6). ^ Journal Äsiatique für Oktober und November 1864 pag. 881—388.
774 36. Kapitel.
sowenig läßt sich eine Spur finden^ daß irgend ein anderer Araber dieser
Zeit sich in algebraischer Weise erfolgreich mit denselben beschäftigt
hätte. Nnr geometrisch treten sie mit Glück an diese Aufgabe heran.
Wir haben an der Wende des X. zum XI. S. Männer wie Abül
Dschüd mit kubischen Gleichungen sich abarbeiten sehen^ bald in
einzelnen Fällen ein Ergebnis erzielend^ bald der Schwierigkeiten, die
sich ihnen entgegenstellten, nicht Meister werdend. Auch andere
etwas frühere Schriftsteller wie Almähani^) am Ende des IX. S. und
Abu Dscha'far Alchäzin^) am Ende des X. S. haben sich im
Chalifenreiche ähnliche Aufgaben gestellt und wurden für ihre Be-
mühungen von einem, wie wir gleich sehen wollen, sehr befugten
Berichterstatter gelobt. Ersterer versuchte yergebens die archimedische
Aufgabe, eine Kugel in Abschnitte von gegebenem gegenseitigem Raum-
Verhältnisse zu teilen, welche er in eine Kuben, Quadrate und Zahlen
enthaltende Gleichung umgesetzt hatte, durch Auffindung der Gleichungs-
wurzeln zu lösen ^). Letzterer fand, daß Kegelschnitte genügten das
zu zeichnen, was zu errechnen nachgerade als Unmöglichkeit galt*).
Unser Berichterstatter ist Alchaijämi d. h. der Nachkomme des
Zeltenverfertigers, und er wußte endlich die Lehre zum Abschlüsse
zu bringen. Er gehört schon einer Zeit an, die jenseits der Periode
liegt, bis zu welcher wir (S. 741) der Schicksale des Chalifates in
flüchtigen Umrissen gedacht haben.
Die Dynastie der Abbasiden dauerte unter dem Namen und dem
Scheine des Chalifates noch fort, aber die Bujiden, die eigentlichen
Machthaber, waren seit der Mitte des XI. S. gestürzt, und an ihre
Stelle traten Männer aus dem Geschlechte Seldschuks, die aus der
Steppe der Kirgisen gekommen neue frische Kräfte mitbrachten, noch
unverbraucht in der Verfeinerung und Verweichlichung städtischen
und höfischen Lebens*). Togrulbeg der Enkel Seldschuks zog 1050
halb gerufen von dem Chalifen Alkä^m und achtlos des Widerspruchs
des Bujidensultans Al-Melik Ar-Kahim in Bagdad ein. Mehrjährige
Kämpfe endeten zu seinem Gunsten, und der ihm verliehene Ehren-
titel „König des Ostens und des Westens" gewann wenigstens für die
Umgegend der Hauptstadt einige Wahrheit. Auf Togrulbeg folgte
1063 sein kriegerischer NeflFe Alp Arslan, auf diesen 1073 — 1092
dessen Sohn Melikschah. Den beiden letztgenannten Sultanen stand
als Wezir Nizäm Almulk zur Seite, und dieser war der Jugendfreund
unseres Omar Alchaijämi •). Noch ein dritter Jüngling, AI-Hasan ihn
As-Sabbäh, war mit beiden zusammen aufgewachsen.
*) Suter 26—27, Nr. 47. «) Ebenda 58, Nr. 124. ») Ualghhre d'Omar
Alkhayami pag. 2. *) Ebenda pag. 3. ^) Weil S. 226 fLgg. ^) Ualgkhre
d'Omar Alkhayami Pr/face pag. IV— VI.
Zahlentheoretiker, Rechner, geometriache Algebraiker yon 960 etwa bis 1100. 775
Die jungen Männer hatten sich gegenseitige Unterstützang zu-
geschworen, wenn einer von ihnen zu Ehren und Ansehen käme.
Nizäm Almulk war in der Lage^ sein Versprechen einzulösen, und es
lag nicht an ihm, wenn es anders kam, als die Phantasie der Freunde
es sich ausgemalt hatte. AI-Hasan ihn Af-Sabbäh, der eine Stelle
als Kämmerer erhalten hatte, suchte seinen beginnenden Einfluß zum
Schaden Nizam Almulks selbst zu yerwenden, wurde durch diesen
wieder yom Hofe yerdnlngt, begab sich nach Ägypten und kehrte
Yon dort später als schi^itischer Parteiführer nach Persien zurück,
woher er stammte. In der Burg Alamüt, deren er sich 1090 be-
mächtigte, gründete er den Orden der Haschischesser (Haschischin),
welche unter dem berückenden Einflüsse jenes gefahrlichen Reizmittels
zu allen Verbrechen bereit waren, die ihr Führer ihnen anbefahl, den
Märtyrern ewige paradiesische Genüsse versprechend, und welche so
den Namen ihres Ordens gleichbedeutend mit Meuchelmördern machte,
eine Bedeutung, die der abendländischen Verketzerung ihres Namens
Assassini beigeblieben ist.
Alchaijämis^) Leben war weniger stürmisch. Eine eigentliche
Hofstellung scheint er ausgeschlagen zu haben und nur als Astronom
für Melikschäh tätig gewesen zu sein, in welcher Eigenschaft er 1079
eine Eidenderreform zuwege brachte. Sie bestand darin, daß man
zum persischen Sonnenjahre yon 365 Tagen zurückkehrte und alle
yier Jahre ein Schaltjahr von 366 Tagen eintreten ließ, zum 8. Schalt-
jahre aber nicht das 4., sondern das 5. Jahr nach dem letzten
Schaltjahre wählte. So bekam man für 33 Jahre die Dauer yon
25 X 365 + 8 X 366 Tagen und mithin 1 Jahr = 365** 5* 49"» 5', 45
in einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, welche größer ist als
bei allen sonstigen Kalendereinrichtungen ^). Auch Alchaijämi scheint
in die religiösen Zwiespalte zwischen Schiften und Sunniten etwas
yerwickelt gewesen zu sein. Wenigstens berichtet eine ihm freilich
nicht freundliche Feder, er habe, nicht aus Frömmigkeit, sondern durch
ein fast zufälliges Zusammentreffen, die jedem Moslim gebotene große
Pilgerfahrt gemacht, sich aber bei der Wiederkehr nach Bagdad gegen
allen wissenschaftlichen Verkehr abgeschlossen und habe dann in die
Heimat nach Chorasan sich zurückgezogen.
Sein Ruhm als großer Mathematiker blieb unbeeintiilchtigt, und
noch in der Mitte des XVU. S. hat Hadschi Chalfa, welcher sich sonst
begnügt, den Titel der Bücher nur anzugeben, welche er in seinem
*) Suter 112 — 118, Nr. 266. «) R. Wolf, Geschichte der Astronomie
S. 831, wo der Name AlchaijfimiB als Omar-Cheian angegeben ist, eine ältere
Lesart, deren wir uns in Anschluß an Woepcke nicht bedienen.
776 S6. Kapitel.
umfassenden bibliographischen Werke aufzählt^ ein nicht unbedeuten-
des Stück der Algebra Alchaijämis zum Abdrucke gebracht.
'Omar Alchaijämi rechtfertigt durch seine Algebra yollständig
den Ruhm, welcher bei seinen Laudsleuten ihm nachblieb. Er war
der erste, welcher die Unterscheidung der Fälle, die dadurch,
daß nur positive Glieder in den Gleichungen yorkommen dürfen, sich
ergeben, auch für die kubische Gleichung durchführte, und sodann,
nicht, wie es die Griechen schon mehrfach getan hatten, diese oder
jene geometrische Aufgabe löste, sondern mit diesen Gleichungen
als solchen sich yollbewußt beschäftigte. Es ist wahr, er blieb
hinter dem Erreichbaren in manchen Beziehungen zurück. Er sah
nicht, daß es kubische Gleichungen yon der Form x^ + bx ^ aoi? + c
gibt, welche durch drei positive Wurzeln erfüllt, eine Ähnlichkeit mit
jenem Falle aa? -{- c^hx der quadratischen Gleichung an den Tag
legen, welcher zwei positiye Wurzeln zulaßt*). Er glaubte, die kubi-
schen Gleichungen könnten überhaupt nicht durch Rechnung gelöst
werden, sondern man müsse mit der Konstruktion yon einander durch-
schneidenden Kegelschnitten sich begnügen^). Ihm entgingen manche
Wurzelwerte, welche durch Zeichnung sich eigentlich hätten kund-
geben müssen, dadurch, daß er von den Kegelschnitten, die er zur
Konstruktion verwandte, immer nur einen Arm zu zeichnen pflegte^).
Er nahm es auch nicht sehr genau mit dem Diorismus der einzelnen
Fälle ^), d. h. mit der Untersuchung der Zahlenwerte, welche die ein-
zelnen in den Gleichungen yorkommenden Koeffizienten annehmen
müssen, um die Möglichkeit einer Konstruktion, wir würden sagen
um eine positive Gleichimgswurzel hervorzubringen. Er hielt bi-
quadratische Gleichungen auf geometrischem Wege für unlösbar^).
Aber diese Mängel sind doch nur geringfügige gegen den ungemein
großen Fortschritt, überhaupt Gleichungen von höherem als dem
zweiten Grade systematisch bearbeitet und in Gruppen zerlegt zu
haben. Fragen wir, welcher Mathematiker irgend eines Volkes noch
vor dem Jahre 1100 trinome kubische Gleichungen von quadrinomen
unterschied, unter jeden wieder zwei Gruppen bildend, je nachdem
dort das Glied 2. oder 1. Grades fehlte, hier die Summe von drei
Gliedern einem, oder die Summe von zwei Gliedern der der beiden
anderen gleichgesetzt war, so wird man uns sicherlich nur den
einzigen Namen *Omar Alchaijämi als Antwort zu nennen wissen,
und das genügt, dem Manne seine hervorragende Stellung in der Ge-
schichte der Algebra zuzuweisen.
^) L'alghhre d'Omar ÄWiayami XVI nnd 66, Anmerkung. *) Ebenda
pag. 11 tmd 12. ») Ebenda pag. 68. *) Ebenda XVII—XVm. ») Ebenda pag. 79.
Dei Niedergang der oBtarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 777
Es scheint, als sei noch ein anderes Verdienst ihm zuzuschreiben,
die Kenntnis der Binomialentwicklnng fQr den Fall ganzzahliger
positiver Exponenten. Er sagt nämlich: „Ich habe gelehrt^ die Seiten
des Quadratoquadratsy des Quadratokubus, des Euboknbus etc. bis zu
beliebiger Ausdehnung zu finden^ was man vorher noch nie getan
hatte. Die Beweise, welche ich bei dieser Gelegenheit gab, sind
einzig arithmetischer Natur und gründen sich auf die arithmetischen
Abschnitte der euklidischen Elemente^' ^). Diese Behauptung kann
kaum anders verstanden werden, als daß die Ausziehung der Quadrat-
wurzel sich stütze auf die Entwicklung von (a + 6)*, die der Kubik-
wurzel auf die Entwicklung von (a + 6)*, die der mten Wurzel auf
die Entwicklung von (a + hj^y eine Auffassung, zu deren Bestätigung
es dienen kann, daß Alchaijämi unmittelbar vor der angeführten
Stelle von den Methoden der Inder die Quadrat- und Kubikwurzel
zu finden geredet hat und nur deren Art vermehrt zu haben sich
rühmt.
Wir reihen diesen Bemerkungen noch eine geometrische Aufgabe
an, welche von einem Ungenannten bearbeitet worden ist, der nach
der ganzen Behandlungsweise jedenfaUs der Zeit und der Schule an-
gehört, deren Hauptvertreter wir soeben kennen gelernt haben. Es
handelt sich um die Konstruktion^ eines Paralleltrapezes von drei ein-
ander gleichen gegebenen Seiten und von zugleich gegebenem Flächen-
inhalte. Diese an griechische wie an indische Vorbilder (S. 651 — 652)
erinnernde Aufgabe führt zu einer Gleichung des 4. Grades von der
Form ar* -f ftrc = ax^ + c und wird mittels des Durchschnittes eines
Kreises und einer Hyperbel gelöst.
36. Kapitel,
Der Niedergang der ostarabischen Mathematik.
Ägyptische Mathematiker.
Wieder verlangen die politischen Ereignisse, daß wir einen
Augenblick bei ihnen verweilen. Wir stehen an dem Zeitpunkte,
von welchem an durch zwei Jahrhunderte, in runden Zahlen von
1100 bis 1300, jene Kämpfe wüteten, welche in ihrer Gesamtheit
die Kreuzzüge genannt worden sind, welche aber mehr als einmal
durch Zeiten unterbrochen waren, in welchen friedlichster Verkehr
zwischen den Feinden stattfand. Das waren die Zeiten, in welchen
^) L'algebre d'Omar Älkhayami pag. 13. *) Ebenda pag. 115.
778 36. Kapitel.
die europäische Christenheit in dauernde unmittelbare Beziehung zur
ostarabischen Bildung trat^ eine Beziehung, welche ?on größter
Wichtigkeit werden mußte. Nicht fär die Kultur der Araber tritt
uns die ganze Bedeutung der Kreuzzüge hervor. Wenigstens in den
Wissenschaften, um deren Geschichte wir uns zu kümmern haben,
sind die Araber von 1100 den Gelehrtesten des christlichen Abend-
landes so ungemein überlegen, daß sie nichts, wir würden noch
scharfer betonen gar nichts, von jenen lernen konnten, wenn nicht
vielleicht eine an sich unbedeutende E[leinigkeit uns nachher noch
die Vermutung erwecken dürfte, es habe auch hier sich bewährt, daß
keine Wirkung ohne GFegenwirkung zu denken ist. Jedenfalls aber
werden wir an den Einfluß der Kreuzzüge vorwiegend in Europa zu
erinnern haben.
Die Kriege gegen die Andersgläubigen, vornehmlich in Palästina
und Ägypten ausgefochten, waren nicht die einzigen, welche das
arabische Ostreich in diesem Zeiträume beschäftigten. Daneben
dauerten wie unter allen Dynastien unaufhörliche Kämpfe gegen die
Provinzen fort, die unter kühnen Feldherren und Gegenfürsten bald
sich losrissen, bald zu Paaren getrieben wurden. Daneben hatte man
des Andranges der Mongolen sich zu erwehren^), die im ersten Viertel
des Xm. S. unter Dschingiz-chan die östlichen Grenzen des Reiches
überfluteten. Wieder war es der Hilferuf eines ohnmächtigen Chalifen,
der dem Eroberer den kaum mehr notwendigen Vorwand gab, sich
in dieser Richtung weiter auszudehnen. Schon 1220 wurde Ghorasan^
jene Geburtsstätte zahlreicher Mathematiker, von den Mongolen be-
setzt. Wieder 36 Jahre später, 1256 drangen die Mongolen unter
Hülagü abermals weiter vor, und 1258 fiel Bagdad. Der Chalife
Almusta'sim wurde mit vielen Prinzen seines Hauses getötet, das
Ghalifat hörte auch dem Namen nach auf, wie es seit lange schon
der Tat nach so gut wie nicht bestand.
In diesen Zeitraum fällt Kemäl Eddin'), einer der größten Ge-
lehrten tmter den Arabern. Er ist 1156 in Mosul geboren und hat
ebenda das nach ihm benannte Kemälische Kollegium gegründet. Er
war es, der nach einem arabischen Berichterstatter die mathemati-
schen Fragen zu beantworten wußte, um deren Erledigung willen
der Frankenkönig Imbarür — eine Verketzerung von Imperator,
unter welcher Friedrich IL verborgen ist — eine besondere Gesandt-
schaft nach Mosul geschickt hatte.
Unter Hülagüs Begleitern war ein Mann, der einst vom Chalifen
schwer beleidigt vielleicht zu den Anstiftern jenes Kriegszuges ge-
') Weil S. 249— 266. •) Suter 140, Nr. 364.
Der Niedergang der osiarabiachen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 779
hörte, jedenfaÜB anter die Qünstlinge des mongolischen Führers zählte
und auch für uns Yon hervorragender Bedeutung ist: Na^ir Eddin^).
Der Name Nasir Eddin d. h. Verteidiger der Religion ist nur Bei-
name. Eigentlich hiefi er Abu Dscha^far Muhammed ihn Hasan al
Tüsi aus Tüs, wo er 1201 geboren wurde. Er starb 1274. Seine
Oelehrsamkeit umfaßt die aller?erschiedensten Gegenstande. Philo-
sophie und Arzneikunde^ Naturgeschichte und Geographie haben ihm
Sto£f zu Abhandlungen gegeben^ neben welchen ein Gesetzbuch der
Perser sich kaum sonderbarer ausnimmt als ein Werk über die
Punktierkunst. Die Ilchänischen Tafeln, welche den Titel yon den
Fürsten erhalten haben, unter welchen Nasir Eddin die 12jährigen
in den Tafeln verwerteten Beobachtungen anstellte, von den soge-
nannten Großchänen, sind das Werk, um dessen willen Nasir Eddin
in seiner Heimat den größten Ruhm genoß. Die Beobachtungen sind
auf der Sternwarte in Maraga angestellt, deren Gründung 1259 un-
mittelbar nach der Einnahme von Bagdad auf Nasir Eddins Rat voll-
zogen wurde. Die dort erbeuteten Schätze des letzten Chalifen fanden
zum Teil ihre Verwendung bei der Erbauung der großartigen Anstalt,
deren Kostspieligkeit nahezu imstande gewesen wäre, noch im letzten
Augenblick die Inangriffnahme zu verhindern, wenn nicht Nasir Eddin
es verstanden hätte, Hülägü zu bereden. Nach Fertigstellung der
Sternwarte diente sie als Sammelplatz zahlreicher Astronomen, welche
Hülägü herbeirief, und soll mit einer Bibliothek von über 400000
Bänden ausgerüstet gewesen sein, Beutestücke aus Ründerungen in
Bagdad, Syrien und Mesopotamien. Von mathematischen Schriften
Nasir Eddios werden solche über Algebra, über Arithmetik und über
Oeometrie genannt. Yon großer Bedeutung ist die Abhandlung Nasir
Eddins über die Figur der Schneidenden'), d. h. über den
Satz des Menelaos. Er hat auf denselben eine ganz vollständige ebene
und sphärische Trigonometrie aufgebaut, welche hier zum ersten Male
als Teile der reinen Geometrie erscheinen, d. h. nicht mehr
bloß als Einleitung zur Astronomie dienen. In der ebenen Trigono-
metrie kennt er den Sinussatz, in der sphärischen sind ihm die sechs
Hauptformeln des rechtwinkligen Dreiecks vertraut, er löst aber auch
') Über Nasii Eddfn vgl. einen Aufsatz von Wnrm in v. Zach 8 Monat-
licher Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde (1811)
Bd. XXm, S. 64 — 78 und 841 — 861. Suter 146-153, Nr. 368. ") Naair
Eddins Schakl al kattd, wie der arabische Name lautet, ist 1892 durch Ale-
xander Pascha Earatheodorj herausgegeben worden. Suter gab einBfeferat
in der Bibliotheca maihemcUica 1893, 1 — 8, an welches wir uns teilweise wörtlich
anschließen. Vgl. ganz besonders A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Ge-
schichte der Trigonometrie I, 66—71.
780 36. Kapitel.
alle sechs Falle des schiefwinkligen Dreiecks , sofern man nicht ge-
schmeidige Formeln verlangt, sondern sich damit zufrieden gibt, daß
gezeigt wird, man könne, wenn diese oder jene Stücke gegeben sind^
diese oder jene' andere Stücke finden. In diesem Sinne führt Nasir
Eddin auch den Fall der drei Winkel auf den der drei Seiten zurück.
Er bildet nämlich zu dem gegebenen Dreiecke dasjenige neue Dreieck^
welches erst drei Jahrhunderte später in Europa einer abermaligen
Erfindung bedurfte, um von da an als Polardreieck ein geschätztes
Hilfsmittel der sphärischen Trigonometrie zu bleiben. Über die
wichtige Frage, welche Verbreitung diese Trigonometrie fimd, und
ob sie im Oriente den ganzen Einfluß übte, den sie zu üben im-
stande war, fehlen noch Untersuchungen. Sicher ist, daß etwa ein
Jahrhundert uach Nasir Eddin Levi ben Gerson als Fortsetzer
seiner Lehren auftrat, der selbst wieder abermals ein Jahrhundert
später einen neuen Fortsetzer in Regiomontanus fand. Zu den
grundsätzlich weniger wichtigen aber immerhin der Erwähnung wür-
digen Stellen bei Nasir Eddin gehört diejenige, an welcher er be-
weisty daß wenn ein Kreis einen anderen Yon doppelt so großem
Halbmesser innerlich berührt, und wenn beiden Kreisen drehende be-
ziehungsweise rollende Bewegung erteilt wird, die entgegengesetzt ge-
richtet und für den kleinen Kreis doppelt so groß als für den großen
Kreis ist, der anfangliche Berührungspimkt alsdann eine gerade Linie^
imd zwar den Durchmesser des großen Kreises beschreibt*). Weit
bekannter als Nasir Eddins Trigonometrie war jedenfalls seine Be-
arbeitung der Euklidischen Elemente. Er hat an seiner Vorlage
mancherlei zu ändern gewagt, und insbesondere findet sich bei ihm
ein Versuch, die Parallelentheorie yon den ihr innewohnenden
Schwächen zu befreien*).
Erläuterungen zu Euklid wurden dagegen auch später noch ge-
schrieben, und als Verfasser von solchen wird der Perser K&diza-
deh Ar-Rümi genannt^), der auch den Namen Mauläna Salaheddin
Müsä ibn Muhammed führte, und von welchem ein Leben des Euklid
nach griechischen Quellen herrührt, welches handschriftlich noch vor-
handen sein soll. Kadizadeh Ar-Rümi starb 1412 oder 1413. Er ge-
hörte zu den Astronomen, welche wieder ein neuerer Eroberer an
einen neuen Mittelpunkt zusammenrief.
Timür^j, gewöhnlich Tamerlan genannt, ein Häuptling des Tar-
tarenstammes Berlas, schuf sich am Schlüsse des XIV. S. ein neues
^) Curtze in der Bibliotheca Maihematica 1896, S. 33—34. *) Wallis,
Opeia U, 669—678. Kästner, Geschichte der Mathematik I, 374—381. *) Gartz,
De interpretibus et explanataribus Euelidis Artibicia etc. pag. 30—81. Suter
174—176, Nr. 430. *) Weil S. 421 Ügg,
Der Niedergang der ostaiabischen Mathematik. Ägyptiacbe Mathematiker. 781
Beich. Wenn er auch 1393 in Bagdad einzog, seine Hauptstadt hatte
er in Samarkand, welche rasch emporblühte und Sammelplatz filr
Handel und Gewerbe, fQr Künste und Wissenschaften wurde. Timür
selbst, noch mehr sein Sohn Schähruch bemühten sich, dieses Er-
gebnis herrorzubringen, und nun gar der Enkel Muhammed ihn
Schähruch ülüg Beg, geboren 1393, ermordet 1449, war selbst ein
heryorn^ender Astronom und verfertigte in Gemeinschaft mit anderen
astronomische Tafeln von hohem Werte ^). Zu seinen Hilfsarbeitern
gehörte vorzugsweise Ar-Bümi, der auch als Lehrer des Ulüg Beg
angeführt wird. Der Enkel Ar-Bümis Mahmud ihn Muhammed ihn
Eadizadeh Ar-Rümi genannt Miram Tschelebi schrieb 1498 Er-
läuterungen zu jenen Tafeln').
Zu dem Ulüg-Begschen Gelehrtenkreise ist auch Dschamschid ibn
Massud ibn Mahmud der Arzt mit dem Beinamen Gijät eddin Al-
Käschi zu zählen, welcher eine Abhandlung „Schlüssel der Rechen-
kunst^ verfertigte, welche handschriftlich vorhanden ist, und deren
Vorrede auch übersetzt worden ist'). Der Verfasser kündigt in der
Vorrede einige der Sätze an, welche er mitteilen wird. Dazu gehört
die Summenformel der aufeinander folgenden Kubikzahlen von 1 an,
wie sie unter den Arabern uns bei Alkarchi bekannt geworden ist
(S. 769), aber auch die Summenformel für die mit der 1 beginnenden
aufeinander folgenden Biquadratzahlen, welche hier überhaupt zum
ersten Male auftreten dürfte. Gijät eddin Al-Eäschi setzt
lH2*+3*+... + /^-p— 'tl+?-t_l-.L+.'')
X[l" + 2« + 3« + ... + r»],
eine allerdings sehr umständliche Form, deren Zurückführung in die
einfachere Gestalt
30
er nicht zu vollziehen imstande gewesen zu sein scheint, jedenfedls
nicht vollzogen hat. In jener Vorrede rühmt sich der Verfasser auch
eine Methode erfunden zu haben, um die Sehne, die zu dem Bogen
von 1® gehört, in beliebiger Annäherung zu erhalten, weil es doch
nicht möglich sei, in genauer Weise die Sehne eines Bogens aus der
Sehne des dreifachen Bogens abzuleiten. Die Unmöglichkeit der
algebraischen Auflösung kubischer Gleichungen galt also
damals auch bei den Arabern noch für ausgemacht.
^) Sädillot hat 1863 die Einleitung zu diesen Tafeln in französischer
Übersetzung herausgegeben. *) Journal Asiatiqae für 1868, s^rie 5, T. ü, 833
bis 856. Suter 188, Nr. 457. «) Woepcke, Paasages relatifs ä des somnuUions
de series de cubes. Roma 1864, pag. 22—25.
782 36. Kapitel.
Die Näherungsmethode Al-Käschis ist uns höchst wahrscheinlich
bekannt; denn sein Name dürfte in der wohl durch falsche Stellung*
der sogenannten diakritischen Punkte veränderten Lesart Atabeddin
Dschamschid zu erkennen sein^ Yon welchem Miram Tschelebi in
dem obengenannten Kommentare zu den Ulüg Begschen Tafeln uns
eine solche Methode mitteilt^). In modernen Zeichen stellt die Me-
thode sich etwa folgendermaßen dar. Es sei x^ -\- Q ^ Px au&u-
lösen, wo P und Q positive Zahlen und P gegen Q sehr groß sein
soll; woraus alsdann folgt, daß x entsprechend klein, also auch a^
gegen Q sehr klein gewählt, die Gleichung zu erfüllen vermag. Dem
entsprechend wird, indem wir das Ahnlichkeitszeichen oo benutzen,
um angenäherte Gleichheit auszudrücken, neben
X == -p— auch xLn^
sein. Liefert jene Division einen Quotienten a und den Rest i2, so
ist Q^ a- P + B. Der genaue Wert von x wird jedenfalls >a
sein, etwa = a + j3. Alsdann ist
Die Division — ^^- möge den Quotienten 6, den Rest S liefern, so daß
ü = 6P + S — a". Weiter setzen wir x ^ a + b + y. Daraus folgt
Die letztere Division - J±]^T ~~ — ^jj-d ß^u abermals vollzogen.
Sie liefere den Quotienten c mit dem Reste T oder
T^S + {a + by-a^-cP,
Ein weiterer Annäherungsversuch x = a-\-b + c + ö führt dem-
nach zu
^) Journal Äsiatique voq 1853, a^rie 5, T. 11, pag. 347. Die Veimutung
Atabeddin» Grijät Eddin hat gestützt anf die Ansicht mehrerer Orienta-
listen Hankel S. 292, Anmerkung * ausgesprochen. Die Näherungsmethode
selbst hat er S. 291 an einem Beispiele durchgeführt. Suter 173—174, Nr. 429.
Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptiscbe Mathematiker. 783
Die Brauchbarkeit dieser Methode, hei welcher es nur auf Divi-
sionen durch einen und denselben Divisor P und auf Berechnung der
dritten Potenzen von a, von a + b, von a -\-b + c usw., also von
den aufeinander folgenden Näherungswerten von x, ankommt , ist
eine ziemlich bedeutende und hat nur, wie man, um allzuhoch-
gespannten Meinungen entgegenzutreten, hervorheben muß, den einen
Mangel, daß ein einzig auf die gegebene Oleichungsform unter der
Bedingung eines gegen Q sehr großen P beschränktes Verfahren
damit gelehrt ist. Ist letztere Bedingung nicht erfüllt, oder ist die
Form der Gleichung nicht x^ + Q ^ Px, so läßt die Methode sich
nicht anwenden. Es muß vielmehr alsdann wesentlich anders ver-
fahren werden, und ob ein Araber, der, wie wir wissen, nur mit posi-
tiven Zahlen rechnete und deshalb so viele verschiedene Gleichungs-
formen unterscheiden mußte, auch in jenen abweichenden Fällen
sich zu helfen wußte, ist uns im höchsten Grade unwahrscheinlich,
da nicht einmal andeutungsweise von solchen anderen Fällen die
Rede ist. Der Ursprung der hier behandelten besonderen Gleichung
dritten Grades war, wie wir (S. 781) gesagt haben, ein trigonome-
trischer. Man sollte aus dem bekannten Sinus von 3® den von P
ermitteln. Hieß letzterer x und der Kreishalbmesser r, so fand sich
an einer Figur
x^ + - smZ^ = —X
und das war die zu lösende Gleichung. Man hat nun die Meinung
ausgesprochen^), die Herstellung dieser Gleichtmg werde schon Abül
Dschüd gelungen sein, welcher ähnliche Aufgaben behandelte (S. 759).
Alsdann habe es sich um die Auflösung einer einmal bekannten Glei-
chung gehandelt, die vermutlich nicht so lange auf sich habe warten
lassen. Man habe also nur einen späten Bericht über eine wahr-
scheinlich ältere Leistung. Das ist eine vollkommen in der Luft
schwebende rein persönliche Meinung, der wir uns um so weniger
anschließen können, als ja AI Käschi sich ausdrücklich der Erfindung
der Methode rühmt.
So tief wir schon herabgerückt sind, bis zu einer Zeit, welche
schon später als die Einnahme von Byzanz durch die Türken liegt
und eigentlich erst im folgenden Bande dieses Werkes besprochen
werden dürfte, so wollen wir doch in ähnlicher Weise, wie wir dieses
fQr die Mathematik der Chinesen uns gestattet haben, lieber jetzt
eine zeitliche als später eine räumliche Abweichung von einem ein-
*) A, V. Braunmühl, Yorlesimgen über Geschichte der Trigonometrie I, 72,
Note 2.
784 36. Kapitel.
heitlich angelegten Plane uns gestatten. Man muß nun einmal die
Entwicklung der Mathematik auf asiatischem Boden unter die zu
betrachtenden Dinge vollwertig einrechnen^ wird aber entschieden
besser daran tun, sie ein für allemal yon Anfang bis zu Ende zu
Yerfolgen, als sie der Entwicklung auf europäischem Boden je und je
einzureihen.
Jahrhunderte hindurch haben die Araber des Ostens einen
mächtigen Vorsprung Yor den Europäern, die teilweise bei ihnen in
die Schule gehen. Mit den Männern, welche wir zuletzt genannt
haben, hört jeder Fortschritt bei den einen auf, während er bei den
anderen zu immer rascherer Gangart sich gestaltet. Und auch die
Empfänglichkeit der Araber auf mathematischem Gebiete war dahin.
Das zeigt uns der letzte orientalische Schriftsteller, von dem wir
nunmehr zu reden haben, Behä Eddin^). Dieser Mathematiker lebte,
wie ein in arabischer Sprache yerfaßtes biographisches Wörterbuch
berichtet, 1547 — 1622. Er war, was %U8 einzelnen Stellen seines
Rechenbuches mit Bestimmtheit heryorgeht, Schi'ite und demnach
wahrscheinlich geborener Perser oder doch in Persien ansässig, was
mit der Angabe, er sei in Ispahan gestorben, im Einklang steht. Der
Titel des von ihm herrührenden Werkes lautet Essenz der Rechen-
kunst, Chuläsat al hisäb, weil es die Essenz der Bücher älterer Schrift-
steller sei, die er vereinigt habe. Den Inhalt büdet ein Gemenge
Yon arithmetischen, algebraischen, geometrischen Dingen in bunter
Reihenfolge, und nicht minder bunt ist das (Gemenge, wenn wir die
einzelnen Dinge auf ihren Ursprung uns ansehen und Griechisch-
abendländisches mit Indischem, mit Arabischem regellos wechselnd
erkennen. Nur eines muß man nicht erwarten: daß Behä Eddins
Sammelgeist es verstanden hätte, jeder Heimat die edelste Frucht zu
entnehmen, welche sie zeitigte. Griechisch erscheint die Behauptung,
•die Einheit sei keine Zahl, erscheint das ganze Kapitel der Messungen
mit einer Ausnahme. Griechisch ist die Auffindung der vollkommenen
Zahlen, der Summe von Quadrat- und Kubikzahlen. Ebendahin weist
uns wohl die komplementäre Multiplikationsmethode (S. 528), welche
Beha Eddin kennt und folgendermaßen lehrt: „Addiere die beiden
Faktoren und nimm den Überschuß über 10 zehnfach und dazu das
Produkt der Überschüsse der 10 über jeden Faktor*^*). Er dehnt die
Regel, welche, wie er ausdrücklich hervorhebt, nur für zwei Faktoren
zwischen 5 und 10 Geltung hat, auch mit einigen geringfügigen Ab-
*) Beha Eddins Ebbciiz der Rechenkunst, arahisch und deutsch heraus-
gegeben von Nesselmann. Berlin 1843. Biographisches in den Anmerkungen
Auf S. 74—76. Suter 194, Nr. 480. •) Beha Eddin S. 9.
Der Niedergang der OBtarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 785
ändernngen auf andere Faktoren aas. Die komplementäre Diyision
ist dagegen aach in Behä Eddins Essenz nicht eingedrungen^ und an
abendlandische Zatat erinnert bei der Division nur das Ziehen von
Yertikallinien, welches freilich zur Vermeidung von Irrtümern jeder-
mann erfinden konnte^ welches aber auch ein Überbleibsel von
Kolumnen sein kann^ welche in Europa benutzt wurden. An Heron
werden wir in dieser spät entstandenen Sammlung durch Höhen-
messungen aus Schattenlängen und mit Hilfe von Beobachtungsvor-
richtungen ^) erinnert, an ihn durch die Au%abe die Breite eines
Flusses zu messen. Die Ausführung dieser Messung selbst erfolgt
in einer uns noch unbekannten Art: ,,Stelle Dich an das Ufer des
Flusses und beobachte sein anderes Ufer durch das Diopterlineal;
dann kehre Dich um, so daß Du durch dasselbe eine Stelle des
Bodens siehst, während das Astrolabium an seinem Platze bleibt;
nun ist der Abstand zwischen Deinem Standpunkte und jener Stelle
gleich der Breite des Flusses"*). An Indien erinnert uns das Zifi^er-
rechnen, die Neunerprobe, die Regeldetri, die Rechnung des doppelten
falschen Ansatzes, die Rechnung durch Umkehrung der Reihenfolge
und Ausführung der zu vollziehenden Operationen, die Netzmulti-
plikation'), welche letztere besonders deutlich gelehrt wird, während
zwei andere Multiplikationsmethoden nur genannt, aber nicht erläutert
werden, so daß der Sinn, der mit der Multiplikation des Umgürtens
und des Gegenübersteilens zu verbinden ist, ratselhaft bleibt.
Wenn wir diese Dinge griechisch -abendländisch, beziehungsweise
indisch nannten, so ist unsere Meinung keineswegs die, als habe
Behä Eddin aus jenen entfernten Quellen selbst geschöpft. Er hat
zuver^ssig nur Schriften seiner Heimat benutzt. Aber in jene sind
früher oder später die Einschiebungen schon erfolgt und zwar, wie
es uns wenigstens vorkommt, die der Kolumnenüberbleibsel, mög-
licherweise der komplementären Multiplikation, vielleicht auch der
praktisch-feldmesserischen Aufgaben erst nach den Ereuzzügen. Ara-
bische Originalquellen lieferten daneben die Unmöglichkeit, der Glei-
chung a;* + y* = ^ zu genügen*) oder eine Quadratzahl zu finden,
welche um 10 vermehrt oder vermindert wieder eine Quadratzahl
liefere. Einheimisch war, soweit wir wissen,
*) Beha Eddin S. 36—86. «) Ebenda S. 86 — 37. «) Ebenda S. 12.
^) Ebenda S. 56, Nr. 4. Diese Nummer bezieht sich auf sieben von Beh&
Eddin in seinen Schlußworten' S. 65— 66 zusammengestellte Aufgaben, welche
ei als solche bezeichnet, die „seit alter Zeit als unauflösbar übrig blieben, sich
empörend gegen alle Genies bis zu dieser Frist^^ Mit der Beleuchtung jener
Gaktob, OMohiohte der Mathematik I. 8. Aufl. 50
786 36. 'Kapitel.
Einheimiscli kann auch die Vorschrift sein^ den Ereisumfang^
durch einen Faden zu messen ^)^ sowie wir die falsche Regel den
Raum einer Engel vom Durchmesser d durch
■'l('-Ä)-ä(i-a-n[('-ä)-i('-Ä)]|
zu berechnen^ einheimischem Mißverständnisse später Zeit zur Last
legen möchten. Augenscheinlich ist nämlich der für den Eugelinhalt
angegebene Ausdruck gleichbedeutend mit [jgdj = (— j d. h. mit
dem Eubus des vierten Teils des Ereisumfanges^ und bei aller Ver-
wandtschaft mit der falschen Berechnung des EugeUnhaltes durch
Arjabhatta (S. 646) ist doch die Verschiedenheit wieder zu bedeutend^
um ein Abhängigkeitsverhältnis anzunehmen. Weit eher möchten
wir an die spätrömische Ereisflächenausmessung (S. 591) uns erinnert
fühlen. Einige geometrische Namen sind sowohl nach Bedeutung als
Ursprung zweifelhaft^ einige wenigstens in letzterer Beziehung. Einer
Art von Trapez, welche Gurke genannt wird, stehen wir ebenso rat-
los gegenüber wie der Eommentator, der da sagt: ,^Eine Beschreibung
dieser Art von Trapezen ist in keinem Buche zu finden, die es er-
läuterte; vielleicht wird Gott nach dieser Zeit es lehren"*). Woher
stammt die Spitzenfigur, das ist ein Stemzehneck, dessen Seiten
nur bis zu ihrem gegenseitigen Durchschnitt, nicht darüber hinaus
gezeichnet sind, so daß das Innere der Figur leer bleibt? Hängt
der Name Figur der Braut, welcher dem pythagoräischen Dreiecke
beigelegt wird^), etwa mit talismanischer Verwendung desselben zu-
sammen, ähnlich wie wir solche von magischen Quadraten berichtet
bekommen? Das sind Fragen, die ihrer Beantwortung noch harren.
Im ganzen aber dürften unsere Leser von Behä Eddins Essenz der
Rechenkunst den Eindruck erhalten haben, daß hier ein Rückschritt,,
oder jedenfalls mindestens ein Stehenbleiben der Wissenschaft zu be-
merken ist, welche vorher ruckweise vorgeschritten war.
Man hat mit Fug und Recht als ein kennzeichnendes Merkmal
der arabischen Mathematik den Umstand hervortreten lassen^), daß
sie durchaus von Fürstengunst abhängig war, daß es einzelne
Herrscher waren, die zur Astronomie eine Vorliebe an den Ti^
legten, und daß unter ihnen Astronomen und Mathematiker erstanden^
sonst nicht. Es ist vielleicht nicht minder kennzeichnend, daß keine
einzige Herrscherfamilie ohne solche der Wissenschaft huldigende
Aufgaben bat sieb gelegentlich Genocchi besobäftigt in Tortolini, Ännali
di scienze matematiche e fisiche VI, 297—304 (1866).
>) Beba Eddin S. 31. *) Ebenda S. 33« ') Ebenda S. 29 und 66, An^
merkung 17. ^ Ebenda S. 71, Anmerkung 88. ^) Hankel S. 252.
Der Niedergang der OBtarabischen Mathematik. Igyptisclie Mathematiker. 787
and dienende Vertreter war. Die ersten Abbasiden wie die Bnjiden,
seldschokische wie mongolisclie Fürsten^ wie endlich jenen Enkel
Tamerlans haben wir rühmend zn nennen gehabt. Es war, als wenn
der auch nur Yorübergehende Besitz von Bagdad die Geister mit
Wissensdrang erfüllte und Bagdad so wirklich die Stadt des Heils
war^ als welche ihr Name sie bezeichnete. Und in anderer Beziehung
war es^ als wenn derselbe Besitz, jenem Kleinode der nordischen
Sage vergleichbar, für den, der sich desselben bemächtigte, den Keim
des Unheils in sich getragen hätte, so rasch yerfielen die aufeinander
folgenden HerrscherfEunilien dem Fluche der Zwietracht und des Yer-
wändtenmordes.
Folgende Zeitpunkte traten uns in unserer ausführlichen Dar-
stellung vor Augen, deren wir nur noch einmal unter Erwähnung
der wichtigsten Namen uns erinnern wollen. Unter den Abbasiden
in dem etwa 150 Jahre dauernden Zeitraum vom letzten Viertel des
VIII. bis zum ersten Viertel des X. S. ist es der Hauptsache nach
Aneignung indischer und mehr noch griechischer Mathematik, letztere
in zahlreichen Übersetzungsarbeiten sich äußernd, welche wir einem
Muhammed ihn Müsä Alchwarizmi, einem Täbit ibn Kurrah, einem
Albattani nachzurühmen haben. Bei ihnen beginnt daneben eine
zahlentheoretische und eine trigonometrische SelbsttÄtigkeit, welche
indessen gegen den Übersetzungseifer zurücktritt. Ihm sind wir zu
besonderem, zu um so größerem Danke verpflichtet, als, wie wir
noch sehen werden, die griechische Mathematik höherer Natur dem
Abendlande wesentlich durch arabische Kanäle zugeführt wurde, jeden-
falls von da aus weit früher bekannt wurde, als die Neuentdeckung
der Originaltexte es ermöglichte. Ja in einzelnen Fällen sehen wir
uns heute noch auf arabische Übersetzungen zum alleinigen Ersätze
für die verloren gegangenen Originalien angewiesen. Um das Jahr
1000 herum gruppieren sich sodann unter bujidischem Schutze die
großen Schriftsteller, welche wieder durch zahlentheoretische, aber
auch durch geometrische und vorzugsweise durch algebraisch -geo-
metrische Forschungen die Wissenschaft vermehrten, ein Abül Wafä,
welcher daneben noch eine gewisse Stetigkeit nach rückwärts her-
stellend zu den Übersetzern gehört, ein Alkühi, ein Assidschzi, ein.
Alchodschandi, ein Abül Dschüd, ein Alkarchi. Ihnen gleichzeitig
vertrat Albirüni uns die Blüte des gaznawidischen Hofes. Im letzten
Viertel des XI. S. begünstigen seldschukische Sultane 'Omar Alchai-
jämi, den systematischen Algebraiker, dem zuerst mit vollem Bewußt-
sein die Schwierigkeit der kubischen Gleichung entgegentrat^ und dem
die Geometrie nur dienendes Werkzeug für seine Zwecke wurde. Die
Schule Nasir Eddins knüpfte in der Mitte des XIII. S. an die von
50*
788 36. Kapitel.
mongolischen Fürsten errichtete Sternwarte zu Maraga ihr Bestehen,
nnd eine Schule des XV. S. hatte zu Samarkand in dem tartarischen
Fürsten Ulüg Beg Gönner und Mitglied zugleich. Die beiden letzten
Schulen gehörten mehr der Geschichte der Astronomie als der der
Mathematik an, und nur Gijät eddin Al-Eäschi verdiente für uns be-
sondere Berücksichtigung wegen einer sinnreichen Näherungsrech-
nung zur Auflösung kubischer Gleichungen von einer gewissen ge-
gebenen Form.
Der Höhepunkt der Mathematik war für die Araber des Ostens
etwa auf 1050 zwischen die Namen Alkarchi^ Alchaijämi anzusetzen.
Von da an ging es bergab, erst mit teilweise neuen kleinen Er-
hebungen^ dann in trostlose Öde sich verflachend, als deren Sohn
allein Behä Eddin am Ende des XVI. und Anfang des XVII. S. uns
noch beschäftigen durfte.
Die äußersten Grenzen des ostarabischen und des westarabischen
Eulturbereiches sind durch ungeheure Entfernungen voneinander ge-
schieden und gewähren dadurch und durch die politische Trennung,
mitunter verstärkt durch religiöse Gegensätze, die Möglichkeit und
die Notwendigkeit gesonderter Betrachtung der beiderseitigen Ent-
wicklungen. Minder streng läßt sich aber die Sonderung für die an-
einander stoßenden Bezirke beider Reiche durchführen^ und insbe-
sondere hätte von den beiden Persönlichkeiten, welche jetzt noch die
ägyptische Mathematik uns vertreten sollen^ mindestens die zweite
als im Osten geboren und herangebildet mit gleichem Rechte wie
hier im vorigen Kapitel behandelt werden können. Das macht, daß
die ägyptischen Fürsten Schielten waren und darum den sunnitischen
Abbasiden viel schroffer, den gleichfalls schi^itischen Bujiden dagegen
kaum feindlich gegenüberstanden, so daß imter diesen allmählich Be-
ziehungen vorkommen^ welche noch unter den ersten Bujiden zu den
Unmöglichkeiten gehören.
Ibn Jünus von Kairo, seinem ausführlichen Namen nach Abü*l
Hasan *Ali ibn Abi Sa'id ^Abderrahmän, starb 1008, war also in der
Blütezeit seines Wirkens Zeitgenosse des Abü'l Wafö, ähnelte in
seinen astronomisch- trigonometrischen Leistungen ebendemselben und
scheint doch von dessen Arbeiten in keiner Weise Notiz genommen
zu haben, sei es, daß er sie wirklich nicht kannte ^ sei es^ daß er
sie nicht kennen wollte. Die ägyptischen Herrscher Al-*Am,
975—996, und Al-Häkim, 996—1021, waren für Ibn Jünus frei-
gebige Gönner. Sie sorgten für seine wissenschaftlichen Bedürfnisse
durch Erbauung und Ausstattung einer Sternwarte, durch Anlage
einer Büchersammlung usw. Er arbeitete auf ihr Geheiß seine
astronomischen Tafeln aus, welche Al-Hakim zu Ehren die hakimi-
Der Niedergang der ostarabiBchen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 789
tischen Tafeln genannt worden^) und in der Geschichte der Astro-
nomie eine rühmliche Stellong einnehmen. Für die Geschichte der
Mathematik ist weniger darans zu entnehmen, höchstens die Auf-
lösung einiger Aufgaben der spMrischen Trigonometrie unter Ein-
führung Yon gewissen Hilfswinkeln und die unbewiesene Näherungs-
formel
. .0 1 ö • /ö\® , 2 16 . /16\0
8ml»=3-.-.8m(-g-) +-3-.-Bmy .
Die erstere Neuerung hätte wichtig werden können^ fand aber keine
Nachahmung. Ob Ibn Jünus bei Benutzung des Wortes Schatten
um den Quotienten des Sinus eines Winkels durch den Kosinus des-
selben Winkels zu benennen wirklich vollständig unab)iängig yon
Abü'l Wa£l verfuhr; mag dahingestellt sein. Gewiß ist^ daß er in-
sofern unter jenem blieb; als er seine Schattentafel nie zur Berechnung
anderer Winkel als wirklicher Sonnenhöhen verwertete, während Abü'l
WafI; dessen Tod fast 10 Jahre früher als die letzte von Ibn Jünus
angestellte Beobachtung eintrat; die Yeral^emeinerung des Schatten-
begriffeS; wie wir wissen (S. 748), vollzogen hat.
Der zweite Schriftsteller; welchen wir hier der Besprechung
unterziehen; ist in Al-Basra geboren und nur im Mannesalter in
Ägypten eingewandert. Sein vollständiger Name lautet Abu *Ali al
Hasan ibn al Hasan ibn Alhaitam; kürzer als Ibn Alhaitam be-
zeichnet; mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit derselbe
große Gelehrte; dessen Optik von lateinischen Übersetzern mit dem
Yei-fassemamen Alhazen überschrieben ist^). Dürfen wir diese
Identität festhalten; so bleibt allerdings aus der Optik; so bedeutend
ihr Wert für die Geschichte der angewandten Mathematik ist; für
uns nur eine Aufgabe merkwürdig; nämlich die den Spiegelungs-
punkt eines kugelförmig gekrümmten Spiegels zu finden; von welchem
aus das Bild eines an einem gegebenen Orte befindlichen Gegen-
standes in ein gleichfalls an einem gegebenen Orte befindliches Auge
geworfen wird; eine Aufgabe; welche analytisch behandelt zu einer
Gleichung des 4. Grades führt ^). Den aus Al-Basra gebürtigen Ibn
*) Der Anfang ist von Gaues in übersetzt und erläutert in den Noticea et
eodraiU de la hibltothique nationale T. VIT, pag. 16 — 240. Die ungedruckte
Übersetzung der späteren Kapitel durch S^dillot hat Delambre für seine
Histoire de rastronomie du nxoyen-dge benutzt. Vgl. Hankel S. 244, 282, 2B8.
Suter 77—78, Nr. 178. *) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher
S. 76—77, Nr. 180. L'alg^bre d'Omar Alkayami pag. 73—76, Anmerkung ***,
und Narducci, Intorno ad una traduzione italiana fatta nel secolo decimo^
qiMrto del trattato d'ottica d'Älhaeen, matemaiico del secolo undecimo ed ad aUri
lavori di questo sciemiato im Büllettino Boncotnpagni lY, 1—48 (1871). Suter
91 — 95, Nr. 204. ») Chasles, Äpergu hist, pag. 498, deutsch S. 576.
790 36. KapiteL
Alhaitam haben wir jeden&llBy und zwar noch zur Zeit als er im
Osten lebte, als Verfasser einer in einem Vatikankodex noch vor-
handenen Abhandlung über die Quadratur des Kreises anzuer-
kennen^). Sie ist allerdings herzlich unbedeutend und zeigt nur die
Quadratur der gewöhnlichen Mondchen des Hippokrates, in deren
eines ein kleiner Kreis einbeschrieben ist, welcher zu dem Mondchen,
also auch zu dem ihm flächengleichen Dreiecke, in einem gewissen
Verhältnis stehe. Ein Hinausgehen über Archimed in dem Sinne,
daß eine nähere Bestimmung- der Zahl n versucht ^re, ist nicht
vorhanden.
Ebenderselbe Ibn Alhaitam hat auch ungemein zahlreiche
sonstige 'Sohrifben zustande gebracht, von welchen wenigstens eine
geometrische zur Übersetzung gelangt ist, die zwei Bücher der
gegebenen Dinge'). Der Verfasser sagt darüber in der Ein-
leitung: „Das L Buch enthält vollkommen neue Dinge, deren Gattung
nicht einmal von den alten Geometem gekannt war, und das 11.
enthält eine Reihe von Sätzen, welche denen ähneln, die in dem
I. Buche von den gegebenen Dingen des Euklid zu finden sind, ohne
jedoch selbst in jenem Werke vorzukommen.^^ Was hier von dem
n. Buche gerühmt ist, entspricht allerdings der Wahrheit, nicht so
was Ibn Alhaitam als den Wert des L Buches ausmachend schildert.
Allerdings sind solche Sätze, wie sie im I. Buche enthalten sind, und
welche kurzweg als Ortstheoreme, wenn nicht gar als Porismen im
euklidischen Sinne des Wortes bezeichnet werden müssen, den Alten,
d. h. den Griechen bekannt gewesen. Die euklidischen Porismen
sind aber den Arabern bekannt gewesen, wenn sie auch von ihnen
für unecht, d. h. nicht von Euklid verfaßt, gehalten wurden*). Wir
wissen nicht, ob das Gleiche von den kleineren Schriften des Apol-
lonius von Per^ gilt, welche sonst auch der Ruhmredigkeit Ibn
Alhaitams ihr Verbot entgegenzustellen berechtigt gewesen wären,
jedenfalls aber ist seine Überhebung keine minder unerlaubte an-
gesichts der Sammlung des Pappus, von der wir wiederholt gesehen
haben, daß sie Arabern des X. S. bekannt war. Wir müssen daher,
wollen wir einen so tüchtigen Gelehrten, wie Ibn Alhaitam es jeden-
falls war, nicht der absichtlichen Unwahrheit verbunden mit großer
') Buüettino Boncompagni IV, 41 sqq. Sater hat die Abhandlung in der
ZeitBchr. Math. Phys. XLIV, Hiator.-literar. Abtlg. S. 83—47 (1899) im Urtext
mit deutscher Übersetzung herausgegeben. *) Nouveau Journal AsicUique XITT,
435 flgg. (1834). Sedillot, Materiaux paur servir ä Vhistoire comparee des seiences
maihematiqxiea ehez les Grecs et les Orientaux pag. 879—400. Chasles, Äper^
hist. pag. 498 — 601, deutsch S. 677 — 681. ") Fihrist 17 unter Yergleichung
von Snters Anmerkung 49 (Fihrist 49).
Der Niedergang der oatarabiBchen Mathematik. Igyptische Mathematiker. 791
XTnvorsichtigkeit bezichtigen, zu der Annahme uns bequemen, die
Sammlung des Pappus sei för die große Mehrzahl auch der arabi-
schen Gelehrten doch zu hoch gewesen und sei darum wenig bekannt
geworden, beziehungsweise bald wieder in Vergessenheit geraten.
Die Örter, von welchen Ihn Alhaitam handelt, sind übrigens aus-
schließlich Kreise und gerade Linien, gehören mithin zu den ein-
fachsten, welche überhaupt vorkommen. Wir nennen einige von den
Sätzen des I. Buches: 6. Zieht man von zwei gegebenen Punkten
aus Gerade, die beim Durchschnitte einen gegebenen Winkel bilden,
80 liegt der Durchschnittspunkt auf einer gegebenen Sjreislinie. —
7. Zieht man von zwei gegebenen Punkten aus Gerade, die bei ihrem
Durchschnitt einen gegebenen Winkel bilden, verlängert man darauf
die eine Gerade so, daß das Verhältnis der Strecke vom Anfangs-
punkte bis zum Durchschnitte zu ihrer Verlängerung ein gegebenes
sei, so liegt der Endpunkt auf einer der Lage nach- gegebenen Kreis-
linie. — 8. Zieht man von zwei gegebenen Punkten gleichlange
sich in ihrem Endpunkte treffende Strecken, so liegt äer Durch-
schnittspunkt auf einer der Lage nach gegebenen Geraden. — 9. Zieht
man von zwei gegebenen Punkten aus Gerade, deren Längen bis zum
Durchschnittspunkte in gegebenem Verhältnisse stehen, so befindet
sich der Durchschnittspunkt auf einer der Lage nach gegebenen
Kreislinie. — 19. Zieht man an einen Punkt der kleineren von zwei
sich innerlich berührenden Kreislinien eine Berührungslinie bis zum
Durchschnitt mit der umgebenden Kreislinie und verbindet man
diesen Durchschnittspunkt geradlinig mit dem Berührungspunkte der
beiden Kreise, so ist das Verhältnis der beiden Strecken gegeben.
Mit dem IL Buche mögen folgende Muster uns bekannt machen:
2. Die Gerade, welche von einem gegebenen Punkte aus gezogen von
einem gegebenen Kreise ein der Größe nach gegebenes Stück ab-
schneidet, ist der Lage nach gegeben. — 5. Zieht man von einem
gegebenen Punkte eine Gerade zum Durchschnitt mit einer gegebenen
Strecke, so daß das begrenzte Stück der Geraden mit dem einen Ab-
schnitte der Strecke eine gegebene Summe bilde, so ist die Gerade
der Lage nach gegeben. — 12. Zieht man an einen gegebenen Kreis
eine Berührungslinie bis zum Durchschnitte mit einer gegebenen
Geraden, und ist die so begrenzte Berühnmgslinie der Länge nach
gegeben, so ist sie es auch der Lage nach.
Ibn Alhaitam wurde nicht wegen seiner theoretisch- wissenschaft-
lichen Leistungen, sondern um praktischer Dinge willen nach Kairo
berufen. Er hatte sich nämlich geäußert, er halte es für leicht, am
Nil solche Einrichtungen zu treffen, daß der Fluß jedes Jahr gleich-
mäßig austrete, ohne daß Witterungsverhältnisse einen Einfluß üben
792 S7. Kapitel.
könnten. Diese Zusage zu erfüllen, ließ Al-Häkim ihn kommen, ging
ihm bis zur Vorstadt von Kairo entgegen und empfing ihn überhaupt
mit den größten Ehren. Ihn Alhaitam zog hierauf guten Mutes mit
zahlreichen Gefährten nilaufwärts, bis er zu den ersten Nilfällen bei
Sjene gelangte, wo er erkannte, daß er zu voreilig Sicherheit an den
Tag gelegt hatte, und daß die Verwirklichung seines Planes unmöglich
war. So mußte er sich zu entschuldigen suchen, so gut es eben ging,,
und als er, nunmehr in anderen Staatsarbeiten beschäftigt, sich auch
hier Fehler zuschulden kommen ließ, mußte er sich verbergen, um
Al-Häkims Zorne zu entgehen. Erst nach dessen Tode kam er
wieder zum Vorschein und führte ein wesentlich schriftstellerisches
Leben. Er starb 1038.
Das sind die beiden Männer, welche die ägyptische Mathematik
für uns kennzeichnen sollten. Wir gehen zu der Entwicklung unserer
Wissenschaft in Spanien und in dem gegenüberliegenden westUchen
Teile der ajGrikanischen Nordküste, in Marokko, über.
37. Kapitel.
Die Mathematik der Westaraber.
Von der Entstehung eines selbständigen arabischen Reiches in
Spanien im Jahre 747 unter dem Omaijaden ^Abd Arrahmän haben
wir gelegentlich (S. 707) gesprochen. In unaufhörlichen Kämpfen
gegen die westgotischen Christen sowie gegen afrikanische Araber
erhob sich seine Dynastie bei SOOjährigem Bestände zu unsterblichem
Ruhme, rieb sich aber auch vollständig auf ^). In die Zeit der Omai-
jaden fällt die Entstehung aller jener glänzenden Überreste maurischer
Baukunst, die noch heute den Anschauer mit Bewunderung erfüllen
soUen, und die nach den Berichten solcher Schriftsteller, welche sie
in ihrer ganzen Pracht sahen, die Wundermärchen der Tausend und
eine Nacht zur Wahrheit stempelten. Besonders ^Abd Arrahmän HI.
und sein Sohn Al-Hakam II., welche von 912 bis 976 regierten^
spielten eine glänzende Rolle in der Geschichte der Entwicklung west-
arabischer Kultur. Von allgemein kulturgeschichtlichem Interesse ist
es vielleicht, daß der letztgenannte Herrscher eine Oeheimschreiberin
Lubnä^) beschäftigte, welche als sehr bewandert in Grammatik,
Metrik, Dichtkunst und Rechenkunst gerühmt wird und eine sehr
schöne Schrift hatte. Eine Bibliothek von 600000 Bänden entsteht
^) Aschbach, GeBchichte der Omaijaden in Spanien Bd. IL Frankfurt a. M.
1830. «) Snter 61, Nr. 186.
Die Mathematik der Westaraber. 793
in dem Palaste in Cordova. Ein Bibliotheksyerzeichnis in 44 Bänden
unterstützt die Benutzung. Gelehrte sammeln sich^ aber, wie wir
niclit für überflüssig halten, besonders zu betonen, ausschließlich
Moslims, denn *Abd Arrahmän, der Verteidiger des Glaubens, wie er
sich nennen ließ, würde so wenig wie sein Sohn fremde christliche
Schüler geduldet haben. Dieselben beiden Fürsten fanden ihre Freude
in der Herstellung baulicher Denkmale ihres Glanzes und der hohen
Vollkommenheit, bis zu welcher arabische Kunstfertigkeit gelangt war
Mag manches nach früheren praktisch gewordenen und ihres geo-
metrischen Grundes verlustig gegangenen Regeln hergestellt worden
sein, so ist doch schlechterdings nicht möglich, daß eine solche
Architektur sich nur empirisch entwickelte. Die Baumeister, und
wenn nicht sie selbst, so doch diejenigen, bei welchen sie sich in. ge-
gebenen Fällen Rats erholten, mußten Mathematiker sein.
Freilich steht uns mehr als dieser zwii^ende Schluß nicht zu
Gebote. Von westarabischen mathematischen Schriften bis zum XI. S.
ist nichts veröffentlicht. Von Namen sogar steht uns kein älterer
als Abü'l Easim Maslama ihn Ahmed Almadschriti^) zu Gebote,
der uns schon zweimal gelegentlich vorgekommen ist. Er wollte
(S. 73Ö) die befreundeten Zahlen in ihrer Wirkung kennen gelernt
haben. Er oder sein Schüler Alkarmäni, von welchem letzteren
Reisen in den Orient bekannt sind, sollen die Abhandlungen der
lauteren Brüder in Spanien eingeführt haben (S. 738). Alkarmäni
war übrigens vorzugsweise Chirurg. Die mathematische Lehrtätigkeit
Almadschritis in Cordova, der Residenz der Emire, fällt in die Re-
gierung Al-Hakam IL und dessen Nachfolgers. Er starb 1007. Von
seinen Schülern haben Ibn as-Saffär und Ibn as Samh el Muhandis
Al-Garnäti, der erste in Cordova dann in Dänia, der zweite in
Granada eigene Schulen eröffnet, in welchen Mathematiker und Astro-
nomen gebildet wurden^). Der Geometer von Granada starb 1035
in einem Alter von 56 Jahren, hatte aber schon vieles geschrieben,
worunter eine Einleitung in die Geometrie zur Erklärung Euklids,
das große Buch über die Geometrie, die er nach geradlinigen und nach
krummlinigen Gebilden einteilte, ein Buch über das Geschäftsrechnen,
ein solches über das Luftrechnen d. h. Kopfrechnen lobend erwähnt
werden.
Die Tatsache, daß die letztgenannten außerhalb Cordova sich
niederließen, beruht gewiß zum Teil auf den Unruhen, welche seit
*) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher S. 61, Nr. 122. Stein-
schneider, Pseudoepigraphische Literatur usw. S. 28 flgg. und 7 8 flgg. S u t e r
76—77, Nr. 176. *) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher S. 62,
Nr. 123 und S. 64, Nr. 127. Suter 86, Nr. 194 und 86, Nr. 196.
794 37. Kapitel.
1008 in Gordova an der Tagesordnung waren und mit wechselndem
Glücke der Parteien bis 1036 dauerten^ um mit dem Tode Hischams
des letzten Omaijaden zu endigen. Ein einheitliches spanisch-ara-
bisches Reich hat es seit dieser Zeit nicht mehr gegeben^). Kleine
Gebiete, teils als Freisfödte, teils unter besonderen Fürsten, bildeten
sich und gingen zugrunde, sich gegenseitig befehdend und dabei
die christlichen Nachbarn wechselweise zu Hilfe rufend, welche bei
solcher Gelegenheit nicht ermangelten, eine Stadt, eine Provinz nach
der anderen den Moslimen abzunehmen und für sich zu behalten.
Seit der Mitte des Xm. S. war nur noch das Königreich Granada
dem Islam unterworfen. Später als um diese Zeit wird uns aber auch
kein westarabischer Mathematiker in Spanien begegnen. Nur von Be-
wohnern der afrikanischen Küstengegenden werden wir in jener späten
Zeit zu reden haben und brauchen uns deshalb um die langjährigen
Kämpfe nicht zu kümmern, welche erst kurz vor dem Jahre 1500 mit dem
gänzlichen Sturze arabischer Herrschaft auf spanischem Boden, mit
der Einnahme von Granada am 2. Januar 1492 durch Ferdinand den
Katholischen endigten, denselben Fürsten, für welchen Christoph
Columbus Amerika entdeckte. An diesem Tage entstand, wenn man
so sagen darf, das Sultanat von Marokko als Ersatz für das west-
arabisch-spanische Reich.
Der erste Schriftsteller, von welchem wir seit dem Beginne der
Zersplitterung zu reden haben, lebte im XI. S. in Sevilla. Es war
Abu Muhammed Dschäbir ihn Aflah^), gewöhnlich Geber genannt,
von dessen Namen man, wie wir uns .erinnern (S. 722), eine Zeitlang
das Wort Algebra herzuleiten sich gewöhnt hatte. Die Araber
nannten ihn auch wohl Alischbili d. h. den von Sevilla. Er gehörte
zu den hervorragendsten Astronomen seiner Zeit, verfaßte aber, wie
80 viele seiner Zeitgenossen, auch mystische Schriften, an deren In-
halt er nicht minder fest glaubte als seine Leser. Seine Lebenszeit
ist dadurch festgestellt, daß sein Sohn in Spanien mit dem berühmten
Moses Maimonides persönlich verkehrte, was nur um das Jahr 1100
herum möglich war. Ibn Aflah selbst muß also in der zweiten Hälfte
des XL S. am Leben gewesen sein. Sein Hauptwerk, eine Astronomie
in 9 Büchern, wurde im XH. S. durch Gerhard von Cremona ins
Lateinische übertragen ''^), und diese lateinische Bearbeitung erschien
1534 im Drucke. Das erste Buch^) enthält eine vollständige Tri-
gonometrie, welche mit Vorbedacht an die Spitze gestellt wird, um
^) Weil S. 284—296. *) Steinschneider, Psendoepigraphischc Lite-
ratur uaw. S. 16 flgg. und TOflgg. Suter 119—120, Nr. 284. ^) B. Boncom-
pagni, DeUa vita e delle opere dt Gherardo Cremonese, Borna 1861, pag. 13.
^) Delambre, Histaire de Veutranomie du müyen-dge pag. 179—186. Hankel
Die Mathematik der Westaraber. 795
Wiederholungen zu vermeiden. Der Verfasser^ der fast 200 Jahre
vor Nasir Eddin (S. 779) lebend yon ihm nicht beeinflußt gewesen
sein kann; aber auch aus (S. 788) angeführten Gründen ohne Einfluß
auf diesen blieb^ legte eine Probe geistiger Selbständigkeit ab, indem
«r es wagte, in dieser Trigonometrie von dem althergebrachten Gai^e
4es Ptolemäus, von der Regel der 6 Größen (S. 413 und 420) ab-
zuweichen und sogar polemisch gegen den alten Meister der Stern-
kunde an den verschiedensten Stellen vorzugehen, . was die Albattani,
die Abü'l Wafä, die Ibn Jünus, welche in ihrer Lebenszeit Ibn Aflah
vorangehen, niemals auch nur versuchten. Ibn Aflah stützt sich bei
seinen Beweisen — und daß er solche gibt, ist eine weitere rühm-
liche Eigentümlichkeit, durch welche er von den übrigen arabischen
Astronomen sich unterscheidet — auf eine Regel der vier Größen,
welche in folgendem Satze besteht und von welcher eine Vorahnung
sich in der Schrift des Täbit ibn Eurrah über den Satz des Menelaus
{S. 736) vorfand. Diese arabische Schrift dürfte aber Ibn Aflah ge-
kannt haben, wie daraus geschlossen worden ist, daß hebräische Über-
49etzimgen des Täbit imd des Ibn Aflah in einer und derselben Hand-
schrift vereinigt vorkommen. Es seien (Fig. 108) PiP» sowie QiQ^
zwei Bögen größter Kreise, welche in Ä sich schneiden. Von P^
und Pj werden die Bögen größter Kreise PiQi und P^Q^ senkrecht
3U Ä Qi Q^ gezogen, so verhält sich sin Ä P^ : sin P^ Q^ «= sin A P, : sin P, Q^ .
Nun sei (Fig. 109) das bei BT rechtwinklige sphärische Dreieck ABH
voi^elegt, in welchem -^BAH^ a^ BH^a, AB^h heiße. Man
verlängert AB und AH bis zur Länge von 90® nach C und -B, so
ist A der Pol von C-E, also der Bogen CE das Maß des Winkels a
nnd der Bogen AE senkrecht auf EC, Die Regel der vier Größen
liefert jetzt als 13. Satz das Verhältnis sin^(7 : sin C-B=' sin JB
: sin BH oder sin 90® : sin a = sin A : sin a, mithin sin a = sin Ä • sin «.
An einer anderen Figur (Fig. 110), bei welcher wieder ABH ein bei
S. 286 — 287. A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigono-
metrie I, 81—83.
796 d7. Kapitel.
H rechtwinkliges sphärisches Dreieck darstellt und AH ^ h und
-^ ABH^ ß genannt ist, werden BA und BH bis nach E und F
verlängert, so daß
BE^ BF ^90^, EF^ß und ^BFE^BEF^^QP
werden. FE und HA trefiFen sich verlängert in D, so ist wegen
^ BHD = BFD « 90«
jener Punkt D der Pol von FH, also DH=9QP. Die Regel der
vier Größen liefert, weil jetzt AE und HF senkrecht zu EF sind,,
das Verhältnis: sin DJ. : Hin AE = sinD-BT: sin HF oder
sin (90« - 6) : sin (90« - Ä) = sin 90<> : sin (90<^ - a),
also cos h^ eosa ' cos b der Inhalt des 15. Satzes. In derselben
Figur ist aber das Dreieck DEA bei E rechtwinklig, die Anwendung
des 13. Satzes ergibt deshalb sin 2) -E = sin DJ. • sin DJ. JE? d. h.
sin (90® — /8) = sin (90® — 6) • sin a oder cos ß « cos 6 • sin a
als Inhalt des 14. Satzes. Letzterer Satz ist weder bei Ptolemäu»
noch bei einem arabischen Vorgänger des Ibn Aflah zu finden und
wird deshalb häufig unter Anwendung des Namens, unter welchem
dieser Gelehrte, wie wir sagten, bekannt zu sein pflegt, der Geber-
sehe Lehrsatz genannt. Daß wir vorzogen, hier regelmäßig von
Ibn Aflah zu reden, hat seinen Grund darin, daß es mehrere nach
Zeit, Ort und wissenschaftlicher Tätigkeit ungemein verschiedene
Persönlichkeiten gegeben hat oder gegeben haben soll, welche alle
Geber genannt werden, so daß Verwechslungen sehr leicht sind. Es
ist mit großem Rechte als überraschend bezeichnet worden, daß Ibn
Aflah, in der sphärischen Trigonometrie ein geradezu kühner Neuerer^
in der ebenen Trigonometrie um keinen Schritt weiter gegangen ist
als Ptolemäus, daß er sogar Sinus und Kosinus anzuwenden hier ver-
meidet und noch in griechischer Weise mit den Sehnen der doppelten
Winkel sich begnügt. So war noch für Ibn Aflah offenbar die
sphärische Trigonometrie weitaus die Hauptsache und eine eigentliche
ebene Trigonometrie nur zur Vollständigkeit der Betrachtungen vor-
handen, aber nicht der wichtige Teil der Mathematik, zu welchem
sie erst durch Nasir Eddin werden sollte.
Wir haben gesagt, daß Gerhard von Cremona die Astronomie*
des Ibn Aflah etwa in der zweiten Hälfte des XU S. übersetzte. Er
hat die dazu nötigen Kenntnisse in dem den Arabern bereits ab-
gerungenen Toledo sich erworben, wo um jene Zeit eine wahre Über-
setzungsschule vorhanden war. Raimund, Erzbischof von Toledo
zwischen 1130 und 1150, stand geistig an ihrer Spitze. Nicht als
Die Mathematik der Westaraber. 797
ob er selbst dabei tatig gewesen wäre^ aber er veranlaBte Dominicus
Gondisalvi in Gemeinschaft mit einem jüdischen Schriftgelehrten^
Johannes von Lnna oder Johannes von Sevilla (Johannes His-
palensis) genannt^); arabische Bücher nnd zwar hauptsächlich solche,
die sich anf aristotelische Philosophie bezogen, zu bearbeiten. Die
Bearbeitung erfolgte auf einem Umwege, der nicht ohne Folgen blieb.
Man mußte den arabischen Text durch einen der kastilianischen wie
der arabischen Sprache kundigen Mittelsmann verdolmetschen lassen,
bevor ein anderer oder auch mehrere dem Gelehrtenstande angehörende
Männer nun wieder einen lateinischen Wortlaut herstellten, der nach-
mals irgend einem unter den Mitwirkenden zugeschrieben wurde').
Überlegt man nun, daß der arabische Text durch nicht über alle
Zweifel erhabene Übersetzungskxmst dem Griechischen entnommen
war, so läßt sich denken, welcherlei aristotelische Philosophie aus
solchen dreifacher Yerpfuschung ausgesetzt gewesenen lateinischen
Darstellungen dem Mittelalter zur Kenntnis kam. Weniger schlimm
waren die VeiSnderungen, welche solche Schriften erlitten, die wenig-
stens von Ursprung her arabisch waren und ihrem Inhalte nach nicht
so dunkel wie philosophische Gegenstände, selbst in der Sprache eines
Aristoteles, es einem Laien gegenüber immer sein mußten. Gar keinen
sinnentstellenden Veränderungen waren solche Schriften unterworfen,
bei deren Übertragung in die lateinische Sprache der Verfasser selbst
mitwirken konnte.
Wie unsere Leser sofort bemerken, haben wir bei dem zuletzt
Ausgesprochenen ein ganz bestimmtes Werk eines bestimmten Ver-
fassers im Auge. Abraham bar Chijja ha Nasi'), d. h. Abraham
Sohn des Chijja der Fürst, war ein gelehrter Jude in Barcelona, von
wo er zu gelegentlichem Aufenthalte wohl auch nach der Provence
kam. Er stand bei Königen und Fürsten in hohem Ansehen, welches
«r vermutlich astrologischer Tätigkeit verdankte. Er unterstützte
einen Übersetzer Plato von Tivoli bei dessen Übersetzungen aus
dem Arabischen, und da ebenderselbe auch ein Werk Abrahams über-
setzte, so ist es mindestens wahrscheinlich, daß auch hierbei der Ver-
*) Nouvelle Biographie universelle XXVI, 666 (Paris 1858). Jourdain,
Becherches critiques sur Vage et Vorigine des traductions latines d'Äristote.
2. (Edition. Paris 1848, pag. 115 flgg. hält den Namen Johannes Hispalensis für
entstellt aus Johannes Hispanensis de Luna d. h. Johannes der Spanier aus
Lnna. Ebenda pag. 117, Anmerkung 1 ist eine Stelle aus einer Widmung des
Johannes an Raimund abgedruckt, durch welche seine Lebenszeit gesichert ist.
*) Darin hat man den Grund erkannt, warum die gleiche in mehreren Hand-
«chriften erhaltene Übersetzung bald einem, bald einem anderen Übersetzer zu-
geschrieben ist. YgL H. Bosmans, Revite des Qtiesiions scientifiques, Octobre
1904. *) Steinschneider in der Biblioiheea Maihematica 1896, S. 84—88.
798 37. Kapitel.
fasser Dienste geleistet haben wird. Abraham bar Ghijja ist übrigens
bekannter unter dem Namen Abraham Savasorda^ und darunter
verbirgt sich der Ehrentitel Sa^hib al Scharta d. h. Oberst der Leib-
wache. Das von Plato von Tivoli übersetzte ursprünglich in hebräi-
scher Sprache verfaßte Werk führte die Überschrift Chibburta Me-
schika we ha Tischboret und ist übersetzt als Liber embadorum a
Savasorda in hebraico compositus et a Plabme Tiburtino in latinum
sermonem translaius anno Arabum DX mense saphar, wodurch die
Datierung auf Juni 1116 gesichert erscheint. Das ^^Werk der Baum-
ausmessungen", wie man den Titel etwa verdeutschen könnte, besteht
aus vier Kapiteln^).
Das 1. Kapitel enthält die Erklärungen, Forderungen und Gh-und-
Sätze Euklids, soweit sie geometrischer Natur sind, aber auch die in
Euklids arithmetischen Büchern vorkommenden Erklärungen der ver-
schiedenen Zahlenarten bis zu den vollkommenen Zahlen, diese mit
eingeschlossen, sind aufgenommen. Femer enthält das 1. Kapitel
einige der geometrischen Lehrsätze Euklids über Gleichflächigkeit von
Dreiecken und Parallelogrammen und die Erklärung der Ähnlichkeit
zweier Dreiecke. Das 2. Kapitel zerfällt in fünf Teile, deren erster
in geometrischem Gewände und mit Anwendung von Sätzen aus dem
zweiten Buche Euklids, der ausdrücklich genannt ist, die drei ver-
schiedenen Formen der unreinen quadratischen Gleichung behandelt.
Hier ist gezeigt, daß a^ + b >= ax zwei Wurzelwerte besitzt, und
Piatos Übersetzung von 1116 ist demnach das älteste lateinisch
geschriebene Buch, von welchem wir Kenntnis haben, aus
welchem das Abendland die Lösung der quadratischen
Gleichungen mit Einschluß des doppeldeutigen Falles zu
erlernen imstande war. Fragen wir aber rückwärts woher Sava-
sordas Wissen stammte, so verweist uns eine Aufgabe'), bei deren
Behandlung die Summe von vier Strecken als Rechteck gezeichnet
wird, auf AI Karchi, welcher (S. 770) einer ähnlichen ganz un-
griechischen Yersinnlichung sich bediente. AI Karchi lebte aber
etwa ein Jahrhundert vor Savasorda, so daß inzwischen trotz des
Gegensatzes zwischen Ost und West seine Lehren irgendwie bis nach
Spanien gedrungen sein können; werden doch die spanischen Biblio-
theken nicht alles ausgeschlossen haben, was im Osten entstand, wo-
für die in Spanien entstandenen Übersetzungen ostarabischer Werke
') Das lAher embcidorum ist durch Curtze mit deutschei Übersetzong und
unter Vorausschickung einer Einleitung, deren wir uns zum Teile wörtlich be-
dienen, in den Abhandlungen zur Geschichte der mathematisohen Wissenschaften
mit Einschluß ihrer Anwendungen XII, S — 1S3 (Leipzig 1902) herausgegeben.
Wir zitieren Savasorda. *) Savasorda pag. 40.
Die Mathematik der Westaraber. 799
ein deutliches Zeugnis ablegen. Der zweite Teil des 2. Kapitels be*
handelt die Ausmessung der Dreiecke. Wir machen hier nur auf
|/3 = Yg aufmerksam, welches bei der Fläche des gleichseitigen Drei-
ecks benutzt wird^), und auf die Formel zur Auffindung der Drei-
ecksfläche aus den drei Seiten, für welche kein Urheber genannt ist,
und von deren Beweis gesagt ist*), er sei sehr verwickelt und könne
deshalb nicht leicht auseinandergesetzt werden. Hier kann das Buch
der drei Brüder (S. 734) Savasordas Quelle gewesen sein. Der dritte
Teil des 2. Kapitels ist den verschiedenen Vierecken, der vierte Teil
dem Kreise gewidmet. In diesem TeUe ist bald mit ^»3^, bald
17
mit n: « 3 -— gerechnet, die Gewährsmänner Archimed und Ptolemaeus
finden keine Erwähnung. Die Ellipsenfläche wird als Kreis, dessen
Durchmesser das arithmetische Mittel der beiden Achsen ist, berechnet').
Außerdem findet sich hier eine Sehnentafel von gerii^er Ausdehnung^),
die älteste, welche in einem lateinisch geschriebenen Buche
hat nachgewiesen werden können. Der fünfte Teil des 2. Ka-
pitels mißt Vielecke, welche zu diesem Zwecke in Dreiecke zerlegt
werden, und dann noch Felder, welche an Bergabhängen gelegen sind,
wobei mittels einer Nivellierungs-Vorrichtung die senkrechte Höhe
des Berges gemessen wird^). Im 3. Kapitel, der Darlegung der Felder-
teilung, sehen wir die geometrische Abteilung der oft erwähnten
arabischen Erbteilungsaufgaben vor uns, welche in dem euklidischen
Buche von der Teilung der Figuren ihr Vorbild besitzt. Das 4. Ka-
pitel endlich ist überschrieben als Ausmessung der Körper nach Länge,
Breite und Höhe. Unter den dort befindlichen Sätzen heben wir den
hervor*), der die Diagonale eines rechtwinkligen Parallelepipedon von
den Abmessungen a, &, c als ]/a* + 6* + c^ finden lehrt. Den Schluß
bilden einige sehr einfache Aufgaben praktischer Feldmessung.
Der hier gegebene Überblick über das Werk der Raumaus-
messungen zeigt uns Savasorda als einen nicht gerade gelehrten, aber
gewandten Lehrer, der ohne eigne Zutaten aus den ihm in arabischen
Übersetzungen bekannt gewordenen Schriften des Euklid, des Archimed^
des Ptolemaeus, aber auch aus arabischen Originalwerken Wissens-
wertes auszuziehen verstand. Um so auiTallender erscheint es, daß
an einer Stelle^ eine Berufung auf die Arithmetik des Boethius sich
vorfindet. Man hat, wie uns scheint mit Recht, die Vermutung aus-
gesprochen, diese Stelle habe gar nicht im hebräischen Urtexte ge-
*) Savasorda pag. 62. *) Ebenda pag. 74. *} Ebenda pag. 108. *) Ebenda
pag. 108. ^ Ebenda pag. 122. ^) Ebenda pag. 162. ^ Ebenda pag. 16, letzte
Zeile und Curtzes Anmerkang 1 auf pag. 18.
800 87. Kapitel
Btanden, sondern sei die einzige Zutat Piatos von Tivoli, der sein
Licht auch einmal leuchten lassen wollte. Eine sichere Entscheidung
wäre allerdings nur dann möglich; wenn es gelänge den Urtext Sava-
sordas aufzufinden. Die geschichtliche Bedeutung des Werkes der
Raumausmessungen kann erst in unserem IL Bande im 42. Kapitel
erkannt werden, wo es sich zeigen wird, wie sehr Savasorda einem
viel höher stehenden Nachfolger als Vorlage gedient hat.
Oehört Savasorda und seine in hebräischer Sprache verfaßte
Raumausmessungslehre nur uneigentlich in dieses der Mathematik
der Westaraber gewidmete Kapitel, so verhält es sich nur wenig
anders mit einigen Schriften, welche durch Johannes von Sevilla,
welche etwas später durch Gerhard von Cremona aus dem Arabi-
schen in das Lateinische übertri^en wurden.
Von wem die Originalien herrühren, wissen wir nicht. Wo sie
verfaßt wurden, ob im Westen ob im Osten, ist uns gleichfalls un-
bekannt. Ebensowenig wissen wir, ob wir gut daran txm gerade in
diesem Zeitpunkte, also gegen die Mitte des XIL S., von ihnen zu
reden. Unsere Berechtigung entnehmen wir einzig dem Umstände,
daß sie damals in Toledo vorhanden gewesen sein müssen und jeden-
falls zu den geschätzten Schriften gehörten, weil sonst doch wohl
Glicht sie übersetzt worden wären, wenn eine Auswahl auch berühm-
terer Werke zu Gebote gestanden hätte. Die übersetzten Schriften
«ind ein Lehrbuch der Rechenkunst und eine Algebra.
Jenes wird in scheinbarem Widerspruche zu unseren eben ge-
äußerten Bemerkungen von dem Übersetzer Johannes von Sevilla
dem Alchwarizmi zugewiesen. Incipit prohgus in libro alghoarismi
de practica arismeirice a magistro JoJuinne yspalensi lautet der Anfangt).
Ist aber, woran wir zu zweifeln keinen Grund haben, die Schrift,
welche wir früher als Rechenbuch des Muhammed ihn Müsa Alch-
warizmi geschildert haben, echt, so kann es diese nicht sein. Der
gleiche Schluß gilt freilich auch in umgekehrter Reihenfolge, allein
wir glauben jene schon besprochene als die ältere, die von Johannes
von Sevilla bearbeitete als die jüngere betrachten zu müssen, weil
jene einfacher und kürzer, diese mehr als dreimal umfangreicher,
weitschweifiger, ausführlicher ist, und somit eher den Charakter einer
späteren Bearbeitung einer älteren Vorlage aufweist, während jene
nicht wohl als Auszug aus dem größeren Buche gedacht werden kann,
weil sie einzelne die unmittelbare Abhängigkeit ausschließende Ab-
weichungen von demselben wahrnehmen läßt. So heißt es z. B. in
^) Trattati d'aritmetica pubblicati da Bald. Boncompagni U (und letztes
Heft) pag. 26 (der durch beide Hefte durchlaufenden Pftgination).
Die Mathematik dei: Westaraber. 801
der kürzeren Fassung die Zahlzeichen für 5, 6, 1, 8 würden ver-
schiedentlich gebildet; in der längeren wird dasselbe yon 7 und 4
behauptet. In der kürzeren Fassung ist die Algebra des Verfassers
erwähnt; und dieses Zitat, auf welches wir uns (S. 715) stützen
durften, um die Persönlichkeit des Verfassers festzustellen, fehlt in
der längeren Fassung usw. Das Bechenbuch des Johannes Ton Se-
villa, wie wir es von jetzt an mit' dem Namen des Übersetzers be-
nennen wollen, da der eigentliche Verfasser nicht zu ermitteln zu
sein scheint, enthält nun sehr mannigfache interessante Dinge, teils
solche, welche schon gegenwärtig für uns von Interesse sind, teils
solche, welche ihre Bedeutung für uns erst gewinnen, wenn es sich
um die Entwicklung der Wissenschaft im christlichen Abendlande
handelt. Wir werden alsdann, im 40. Kapitel, auf die Schrift des
Johann von Sevilla zurückverweisen, schildern sie aber gegenwärtig
schon, um nicht eine Zersplitterung eintreten zu lassen.
Der Verfasser lehnt sich durchweg so viel als möglich an die
Inder an, welchen er z. B. die Erfindung der Sexagesimalbrüche zu-
schreibt^). Von ihnen hat er wohl auch die näherungs weise Aus-
ziehung der Quadratwurzel mit Hilfe von Dezimalbrüchen'), natürlich
nicht in einer Schreibart, wie sie den modernen Dezimalbrüchen zur
erhöhten Bequemlichkeit ihres Gebrauches anhaftet, aber dem Ge-
danken nach damit übereinstimmend. Es werden der Zahl, aus
welcher die Wurzel gezogen werden soll, 2n Nullen angehängt^ und
die sodann gefundene Wurzel gilt als Zähler eines Bruches, dessen
Nenner aus einer mit n Nullen versehenen Einheit besteht. Die
Auflösung quadratischer Gleichungen') wird an drei Beispielen ge-
lehrt, den drei bekannten Fällen entsprechend. Das erste Beispiel
ist wieder das althergebrachte x^ + 10a? «= 39. Für den zweiten Fall
ist dagegen ^' -f- 9 » 6a; als Beispiel aufgestellt, eine merkwürdige
Wahl insofern als bei dieser Gleichung wegen
9==0
(t)'
nur eine einzige Wurzel a: =« 3 auftritt, so daß man wohl fragen
möchte, ob die Wahl eine absichtliche, ob eine durch eigentümlichen
Zufall dieses Ergebnis liefernde war? Am Schlüsse der Schrift*) ist
das magische Quadrat
4-9-2
I \ / I
3-5-7
I / \ I
8^1-6
^) Trattati d'aritmetica pubhlicati da Bald. Boncompagni U, pag. 49.
*) Ebenda pag. 87—90. ») Ebenda pag- ^^^- *) Ebenda pag. 136.
C^HTOB, Gesohiohto der MMhemfttilr X. ^ ^uft. ^^
802 87-. Kapitel.
mit die einzelnen Zahlen in Beziehung zueinander setzenden Strichen
hergestellt, aber ohne jeden erklärenden Text. Negativ heben wir
hervor, daß komplementäre Rechnnngsverfahren, wie wir sie schon
mehrfach vergeblich gesucht haben, nicht vorkommen. Einige latei-
nische Ausdrücke scheinen zwar an jene Bechnungsverfahren zu er-
innern, aber es ist nur Schein.
Da kommt das Wort differenüa mehrfach vor, auch bei der
Division, aber es bedeutet nur die Stelle, bis zu welcher man vor-
beziehungsweise zurückrückt. Das gleiche Wort im gleichen Sinne
hat auch der Übersetzer der kleinen Abhandlung, welche wir als
die des Alchwarizmi selbst anerkennen, angewandt. Da braucht
Johannes von Sevilla die Wörter digüus und articulus, Finger- und
Gelenkzahl, genau in dem gleichen Sinne, in welchem diese Wörter
in der gefälschten Geometrie des Boethius zur Anwendung kamen
(S. 583). Wir könnten als Ergänzung darauf hinweisen, daß auch
in einer mittelalterlichen Übersetzung der Algebra Alchwarizmis das
Wort articultis für Gelenkzahl im antiken Sinne, aber ohne das Wort
digitus vorkommt^). Aber es wären Trugschlüsse, aus diesen Über-
setzungen, von deren Entstehungsweise wir gesprochen haben, den
Wortlaut des Urtextes wiederherstellen zu wollen und dabei an jeden
einzelnen Ausdruck sich festzuklammern. Jene Übersetzer des XTT. S.^
die anderen so gut wie Johannes von Sevilla, benutzten eben die
Wörter, welche in ihrer Zeit die weiteste Verbreitung hatten, sofern
sie mit dem Sinne des Arabischen, hier z. B. mit Einem und Zehnern^
sich deckten. Sie wollten ja nicht historische Untersuchungen an-
stellen und darum den Wortlaut des Gegebenen so genau als möglich
festhalten. Sie beabsichtigten vielmehr den verbreitungswerten Inhalt
zur Kenntnis ihrer des Arabischen nicht mächtigen Landsleute zu
bringen und mußten darum danach streben, bereits bekannter leicht
verstandener Ausdrücke sich zu bedienen. Nur wo etwas dem Be-
griffe nach ganz Neues vorkam, wurde mit mehr oder weniger Geschick
dem Wortlaute nach übersetzt. So nennt Johannes von Sevilla bei
den quadratischen Gleichungen das Quadrat der Unbekannten res, die
Unbekannte selbst radix^), ersteres eine schlechte Übersetzung von
maly letzteres eine gute von dschidr.
Wir könnten schließlich noch rätselhafter Buchstabenfolgen ge-
denken, welche nur dadurch zu lesbaren Wörtern werden, daß man
annimmt, es sei jeder Vokal durch den ihm nachfolgenden Eonso-
*) Libri, Histoire des sciences maih^matiques en Itdlie I, 266. Die Stelle
eutepricht in Rosens englischer Übersetzung pag. 21. ') Trattati d'arümeHca U.^
pag. 112.
Die Mathematik der Westaraber. 803
nanten ersetzt worden, und man müsse die entsprechende Bück-
verwandlong z. B. von xnxm in unum, von dxp in dtio vor-
nehmen ^).
Gerhard von Cremona hat sicherlich die Algebra des Alch-
warizmi übersetzt, allein es ist fast mehr als wahrscheinlich, daß die
Bearbeitnng, welche als jene Übersetzung gedruckt worden ist^, nicht
von Gerhard herrührt und nicht die Algebra des Alchwarizmi ist*),
daß man dagegen als die genannte Übersetzung jene anzuerkennen
hat, welche als anonyme Übersetzung^) zur Veröffentlichung gelangte
(vgl. S. 719 Anmerkung 1), und welche auch in einer Madrider Hand-
schrift als von Gerhard von Cremona herrührend bezeichnet ist.
Die andere nach dieser Auffassung nicht von Gerhard von Cre-
mona sondern von irgend einem uns Unbekannten übersetzte Ab-
handlung kündigt sich selbst an als das Buch, welches nach dem
Gebrauche der Araber algtbra und aimucabala und „bei uns'' (apud
nos) Buch der Wiederherstellung (liber resianracionis) genannt wird,
zu Toledo aus dem Arabischen in das Lateinische übersetzt durch
Magister Gerhard von Cremona. Das Original muß als eine andere
Bearbeitung des von Alchwarizmi in seiner ähnlich betitelten Schrift
behandelten Stoffes angesehen werden. Die Beispiele
a?« + 10a; - 39, x^ + 21 ^ lOrc,
letzteres mit seinen beiden Wurzelwerten a: = 7 und a; « 3 treten
auf. Geometrische Beweise der drei Fälle der quadratischen Glei-
chungen fehlen nicht. Sonstige bedeutsame Verschiedenheiten nötigen
aber an einen anderen Verfasser des arabischen Textes als an Alch-
warizmi zu denken. Sehr wichtig erscheint z. B. der umstand, daß
die Auflösungen der drei Formen quadratischer Gleichungen in Ge-
stalt von Gedächtnisversen gelehrt sind^). Das ist durchaus indische
Sitte, während sie den Arabern, so viele uns deren bisher zur Rede
kamen, fremd ist. Und doch können gerade diese Verse nicht aus
indischen Mustern übersetzt sein, denn die Inder — wir wiederholen
hier früher Gesagtes — wußten gar nichts von drei Formen quadrati-
scher Gleichungen, weil sie vermöge ihrer Fähigkeit mit negativen
Zahlen zu rechnen nur eine quadratische Gleichung
ax^ + bx ^ c
mit bald positiven, bald n^ativen Koeffizienten in Behandlung
*) Trattati d'aritmetica U, pag. 126. *) B. Boncompagni, DeUa vita e
deUe opere di Gherardo Cremoneae pag- ^^ — ^1- ') Axel Anthon BjOrnbo
in der Bibliotheca Maihematica 3. J^Q^ge, "VI, 239—241. *) Libri, Histoire des
sciences matMma^iques en ItaHe J^ ^-ü— 297. *) B. Boncompagni, DeUa vita
e delle opere di Gherardo Cremo^u, aJl Ä^» ^^^ ^^•
804 37. Kapitel.
nahmeD. Dieser Widerspruch scheint za der Annahme zu nötigen,
der Verfasser des hier übersetzten Buches sei ein Gelehrter gewesen,
welcher selbständig vorgehend die indische Sitte auf arabische, um
nicht geradezu zu sagen auf griechisch -arabische Oegenstände an-
wandte. Er muß mit indischen Werken bekannt gewesen sein, muß
ihnen das entnommen haben, was er fQr besonders brauchbar hielt,
während er gleichzeitig Ton den unter den Arabern längst einge-
bürgerten drei Fällen nicht ließ, sei es, daß er sie wirklich für not-
wendig hielt, sei es, daß er als echter Araber anhängend an dem
durch Alter der Überlieferung Geheiligten doch nicht allzu große
Neuerungen wagte. Waren es doch neben den Gedächtnisversen noch
andere ungemein überraschende Dinge, welche er seinen Landsleuten
bot: eine algebraische Schrift durch Abkürzungen und übereinkomm-
liche Zeichen, wie die Inder sie benutzten.
Fast ganz indisch ist die Bezeichnung abzuziehender Größen
durch einen unter die Benennung angebrachten Punkt ^), indisch da-
rum wahrscheinlich auch die Darstellung der Benennung selbst durch
den Anfangsbuchstaben des Benannten, sei es, daß es um die Un-
bekannte, oder um ihr Quadrat, oder um die absolute Zahl der Auf-
gabe sich handelte^). Welcher Buchstaben das Original sich bediente,
ist nicht mit voller Sicherheit zu behaupten, indem der Übersetzer
einen Beweis scharfsinnigen Verständnisses ablegend, oder aber irgend-
wie und irgendwo über den abkürzenden Ursprung der im Urtexte
gebrauchten Buchstaben richtig belehrt, die Anfangsbuchstaben der
lateinischen Wörter gewählt hat, deren er selbst sich bedient, der
Wörter: radix für die Unbekannte, census für das Quadrat der-
selben, dragma für die absolute Zahl, doch ist die Wahrscheinlich-
keit eine bedeutende, es seien diese Wörter die Übersetzungen von
dschidr, mal, dirham, deren Abkürzungen uns noch im Laufe
dieses Kapitels in westarabischen Werken begegnen werden« In dem
Gebrauche von census für mal hat der Übersetzer richtiger über-
setzt als Johannes von Sevilla, welcher res dafür sagte, während
eine Übereinstimmung beider in den Wörtern digitus und articulus
herrscht*).
Wer der arabische Gelehrte war, welcher Gedächtm'sverse, welcher
Abkürzungen und fast algebraische Zeichen zuerst anwandte, ist uns,
wir wiederholen es, nicht bekannt, denn die Vermutung, er habe
Sa'id geheißen*), steht auf nicht so festen Füßen, daß wir ihr Ver-
trauen schenken möchten. Dagegen kennen wir die Namen west-
^) B. Boncompagni, BeUa vita e deUe opere di Gherardo Cremonese
pag. 38—89. *) Ebenda pag. 86 sqq. ") Ebenda pag. 88. *) Ebenda pag. 56.
Die Mathematik der Westaraber. ^ 805
arabischer Schriftsteller, welche vor dem Ende des XIII. S. — ob
vor oder nach dem Aufenthalte Gerhards von Cremona in Toledo
wissen wir nicht — lebten und welche ähnlich verfuhren. Der Be-
richterstatter über die Namen ist Ibn Chaldün, jener Schriftsteller
des XIV. S., von dem wir eine Stelle über befreundete Zahlen schon
(S. 735) benutzt haben. Er erwähnt*) ein algebraisches Werk,
welches unter dem Titel: Der kleine Sattel im Magrib, also im
ajErikanischen Nordwesten geschrieben worden sei, und aus welchem
Ibn Albannä einen Auszug verfertigte habe. Yon diesem Auszuge
von der Hand des in der zweiten Hälfte des XIH. S. wirkenden Ge-
lehrten haben wir nachher zu reden. YorJ&ufig bleiben wir bei dem
Berichte Ibn Chaldüns, welcher fortfahrend erzählt, Ibn Albannä habe
auch einen Kommentar: Die Aufhebung des Schleiers zu dem
kleinen Sattel geschrieben. Dieses Werk sei ungemein wertvoll,
aber schwierig für Anfänger. Ibn Albannä habe sich dabei an zwei
Vorgänger angelehnt: an „die Wissenschaft des Rechnens" von Ibn
Almun^im und an „den Vollkommenen^' von Alahdab. Er habe
die Beweisführungen dieser beiden Werke zusammengefaßt und noch
anderes, nämlich die technische Anwendung von Symbolen bei diesen
Beweisen, welche zu gleicher Zeit einen doppelten Zweck erfüllen,
die abstrakte Schlußfolge und die sichtbare Darstellung, worin eben
das Geheimnis und die Wahrheit der Erklärung von Lehrsätzen der
Rechenkunst durch Zeichen bestehe. Es kann nicht wohl ein Zweifel
obwalten, daß diese an sich etwas dunklen Worte richtig auf Dinge
bezogen worden sind, wie sie etwa in der Vorlage des Gerhard von
Cremona vorkamen, und daß diese in mindestens mittelbarer Ab-
hängigkeit von Ibn Almim^im oder Alahdab stehen müßte, wenn der
Beweis erbracht werden köimte, daß diese Schriftsteller bis auf
das XU. S. also bis reichlich hundert Jahre vor Ibn Albannä zu-
rückgreifen.
Ibn Albannä, d. h. der Sohn des Baumeisters^), ist 1252 oder
1257 in Marokko geboren. Der Vater stammte, wie es scheint, aus
Granada. Der vollständige Name unseres Gelehrten war Abül Abbäs
Ahmed ibn Muhammed ibn ^Otmän Al-Azdi Al-Marräkuschi ibn
Albannä Algamäti. Er hat eine große Zahl von mathematischen und
anderen Schriften verfaßt, welche in seiner Lebensbeschreibung auf-
gezeichnet sind. Auffallenderweise fehlt in diesem von einem Lands-
*) Journal Asiatique för Oktober und November 1854, pag. 371—372.
*) Aristide Marre, Biographie d'lhn Albannä in den Atti delVÄccademia pon-
tificia de' Nwmi Lincei unter ^^^^ Datum des 3. Dezember 1865 (Bd. XIX).
Steinschneider, Bectification ^ tiel^ues erreurs etc. Bullettino Boncompagni X,
813—314 (1877). Suter 162-^x^ 'jjj. 399.
806
87. Kapitel.
manne Ibn Albannäs herrührenden Verzeichnisse die darch Ihn Ghaldün
80 hoch gestellte Aufhebung des Schleiers^ fehlt in ihm auch der
Auszug aus dem kleinen Sattel. Gerade dieser letztere Auszug, talchis
nennt ihn Ibn Chaldün, dürfte uns aber erhalten sein. Ein arith-
metisch-algebraisches Werk unter dem Titel ^^Talchis des Ibn Albanna^
ist nämlich in der Bodlejanischen Bibliothek aufgefunden und in
jEranzösischer Übersetzung des arabischen Textes dem Drucke über-
geben worden^). Da Name und Inhalt mit der Ton Ibn Ghaldün er-
wähnten Schrift in vollem Einklänge stehen, so ist an der tatsäch-
lichen Übereinstimmung kaum zu zweifeln, eine Zweifellosigkeit, welche
sich nur noch steigert, wenn dem Leser von Zeile zu Zeile zwingen-
der die Notwendigkeit erläuternder Zusätze sich aufdrängt, so daß
er begreift, daß Ibn Albannä selbst die Aufhebung des Schleiers
unternahm.
Spätere Gelehrte folgten seinem Beispiele, erläuterten aber nicht
das ursprüngliche Hauptwerk des kleinen Sattels, sondern den Aus-
zug, den Talchis, wie wir von nun an mit dem jetzt gebräuchlich
gewordenen Fremdnamen sagen wollen. Es gibt mehrere Kommen-
tare zum Talchis, es gibt auch Werke, welche ohne sich als Kom-
mentare zu geben als solche benutzt werden können, weil sie dessen
Auseinandersetzungen weiter ausführen, und von diesen ist eines,
dem XY. S. angehörend, durch eine gedruckte Übersetzung zugäng-
lich. Wir werden über manches Dunkle im Talchis besser ans jenem
späten Werke uns unterrichten, vorher aber wenigstens einige Stellen
des Talchis selbst reden lassen.
Ibn Albannä unterscheidet Rangordnungen der Zahlen unter dem
Namen mukarrar und takarrur'). Der Sinn ist der, daß Gruppen,
von je 3 Ziffern von rechts nach links abgeteilt werden, die Gruppe
der Einlieiten, der Tausender, der Tausendtausender usw. Bildet man
lauter einzelne Kolumnen für jede Ziffemordnung und begrenzt die-
selben oben durch einen kleinen Bogen
Ti
U
H
naai
Ad
Ti
H
Id
H
Ein
^
*) Le Idüchya d'lbn Älbannd publik et traduit par Äristide Marre.
1866. •) Talkhys pag. 8 und 9.
Rome
Die Mathematik dei Weataraber. 807
(ein kleines Gewölbe oder Dach), so sind größere Dächer über drei
Kolamnen za spannen und damit jene Gruppeneinteilung yersinnlicht.
Jede vollständige Gruppe Ton drei Kolumnen bildet einen takarrur;
mukarrar dagegen ist die Gesamtzahl der Kolumnen , in welche eine
gegebene Zahl sich einträgt. Der mukarrar ist der dreifache takarrur
«iner Zahl nebst der Zahl der links überschießenden Kolumnen, welche
nur 2, 1 oder 0 betragen kann. So ist der mukarrar von 5000000,
welches 2 takarrur und noch 1 Kolumne braucht =3x2 + 1 = 7.
Der mukarrar von 30000 ist =3x1 + 2 = 5, der mukarrar von
400000000 ist 3 X 3 + 0 = 9.
Wir sehen hier aufs deutlichste Kolumnenrechnen und Ziffer-
rechnen vereint, aber wir sehen es erst hier gegen Ende des
XTTL S., und es ist uns persönlich kaum fraglich, daß wir statt von
«iner Vereinigung der beiden Verfahren von einem Übergreifen des
Kolumnenrechnens in das Zifferrechnen zu reden haben, daß hier
abendländischer Einfluß erhärtet ist, der gerade an der afrikanischen
Küste unabweisbar war. Hatten doch z. B. in Bugia die großen
italienischen Kaufleute schon vor dem Jahre 1200 eigene Handels-
komptoire, eigene Zollbeamte, und war doch damit die Anwesenheit
von im Rechnungswesen geübten Persönlichkeiten mit Notwendigkeit
verbunden. Was aber dasselbe Bugia den Arabern war, schildert ein
«panischer Araber aus Valencia, welcher 1289 jene Gegend bereiste,
mit beredten Worten^): „Bugia ist ein großer Seehafen und eine be-
festigte Stadt, deren Name in der Geschichte berühmt ist. Sie ist
auf steilen Höhen und in einer Schlucht angelegt, die Mauern ziehen
«ich bis ans Meer.. Die Festigkeit der Häuser kommt der Zierlich-
keit ihrer Formen gleich. Vorwerke schützen sie, so daß der Feind
vergebens einen Angriff versuchen würde. Die Wut der kriegerischen
Horden würde an diesen Mauern zerschellen. In Bugia steht eine
Moschee, deren Pracht alle bekannten Gotteshäuser übertrifft, und
deren Minaret sowohl von dem Meere als von dem Land aus gesehen
wird. Gleichsam Mittelpunkt der Stadt erfreut dieses entzückend
schöne Bauwerk ebensosehr den Blick, wie es die Seele mit einem
Gefühle unsäglicher Glückseligkeit erfüllt. Die Einwohner versäumen
nie ihren fünf durch das Gesetz vorgeschriebenen Gebeten dort zu
genügen, und sie unterhalten die Moschee mit größter Sorgfalt, weil
sie ihnen gewissermaßen als Versammlungsort dient, und selbst gleich
einem belebten Wesen den Menschen Gesellschaft leistet. Bugia ist
^) Einen Auszug ans dem Beiaebericbt des AI' A.bderl hat Cherbonnean
in dem Journal Asiatique for 1854, Q. Halbjabr, pag. 144 — 176 herausgegeben.
Die Beschreibung von Bugia S. 15^,
808 37. Kapitel.
eine der ältesten Hauptstädte des Islams und ist bevölkert mit be-
rühmten Gelehrten."
Wir kehren zum Talchis zurück. Bei Gelegenheit der Addition
werden die Summenformeln für die Reihen der Quadrat- und der
Eubikzahlen angegeben^). Bei Gelegenheit der Subtraktion kommt
der Rest zur Rede, welcher entsteht ^ wenn Ton irgend einer Zahl 9^
8 oder 7 so oft als möglich abgezogen wird*). Die Auffindung dieser
Reste, welche alsdann als Proben bei Rechnungen angewandt werden,
wie wir es von der Neunerprobe schon wissen, beruht bei der 9 auf
dem Satze 10" = 1 (mod. 9), bei der 8 auf den drei Sätzen 10^ = 2,
10^ = 4, 10^ = 0 (mod. 8). Somit ist der Rest einer Zahl nach 9
ihrer Ziffemsumme gleich, der Riest nach 8 der Einerzififer nebst dem
Doppelten der ZehnerzifiFer noch vermehrt durch das Vierfache der
HunderterziflFer. Umständlicher ist das Verfahren den Rest nach 7
zu finden. Ibn Albannä begründet es mit den Sätzeu, welche nach
modemer Schreibweise
10^ = 3, 10» = 2, 10» = 6, 10* = 4, 10* = 5, 10« = 1 (mod. 7)
heißen und setzt hinzu „von da an beginnt die Reihenfolge aufs
neue^. Man hat also von der Rechten zur Linken fortschreitend
unter die einzelnen Ziffern der zu prüfenden Zahl der Reihe nach
1, 3, 2y 6, 4, 5 sich stets wiederholend niederzuschreiben, die be-
treffenden Ziffern mit diesen Werten zu multiplizieren und die Summe
dieser Produkte zu bilden, welche dann selbst wieder nach 7 zu prüfen
ist. Die Zahlen 1, 3, 2, 6, 4, 5 besser zu behalten ersetzt man sie
durch die gleichwertigen Buchstaben des älteren arabischen Alphabetes,
welche durch Einschiebung von Vokalen zu zwei nicht ganz richtig
geschriebenen Wörtern sich verbinden lassen, deren Bedeutung etwa
die eines ein Aufzubewahrendes bergenden Grabens ist.
Bei der Quadratwurzelausziehung unterscheidet Ibn Albannä zwei
Fälle®), ob nämlich, nachdem ]/a* + r c/o a gefunden ist, der Rest
sich als kleiner beziehungsweise als gleich, oder aber als größer als
der schon gefundene Wurzelteil erweist. Ist r ^a so soll man
Ya^ ^ f ^ a + z- f dagegen bei r> a lieber
setzen. Wir erinnern daran, daß Alkarchi (S. 766) der letzteren Formel
sich bedient hat, ohne auf das Größen Verhältnis zwischen a und r
Rücksicht zu nehmen. Die Methode des doppelten falschen Ansatzes
lehrt Ibn Albannä als das Verfahren mit Hilfe der Wagschalen
») Talkhys pag. 5—6. *) Ebenda pag. 9. ») Ebenda pag. 68.
Die Mathematik der Westaraber. 809
und sagt, es beruhe auf Geometrie^). Er zeichnet eine Figur (Fig. 111),
welche bei einem Kommentator die etwas abweichende Gestalt Fig. 112
besitzt, und welche die eigentümliche Schreibweise gestattet, auf welche
wir (S. 732) .zum voraus hingewiesen haben. Seine Vorschrift ist,
wenn wir uns unserer früheren Buchstaben bedienen, folgende. Die
Zahl &, welche der Gleichung ax^h
zufolge herauskommen muß, schreibt
man in die obere Einbiegung. Die
Zahlen n^ und n^, welche die ^" ^^^'
beiden Ansätze für die Unbekannte i
sind, schreibt man zwischen die I ^
Parallelen rechts und links, oder, T^e
Ihn Albannä sagt, man legt sie
X
auf die beiden Wagschalen. Die , ^
Fehler e^ und e^ werden auf derselben ^^ ^^2
Seite, wo schon n^, beziehungsweise
n^ steht, über oder unter die beiden die Wagschale darstellenden
Parallelen geschrieben, je nachdem sie positiv oder negativ sind.
Dann wird der Fehler rechts mit der Annahme links, die Annahme
rechts mit dem Fehler links vervielfacht und beide Produkte addiert,
wenn die Fehler von entgegengesetzter Natur waren, das kleinere
vom größeren subtrahiert, wenn die Fehler gleichartig waren. Wie
man mit den Produkten verfuhr, verfährt man femer mit den Fehlem,
man addiert ungleichartige, man bildet die Differenz von gleichartigen.
Man dividiert endlich die aus Fehlern und Annahmen gebildete Zahl
durch die aus den Fehlem allein erhaltene, so ist der Quotient die
Unbekannte. Der Ausspruch, daß die Methode des doppelten falschen
Ansatzes auf Geometrie beruhe, ist einigermaßen auffallend. Man
hat versucht, denselben zu erklären und hat zwei sehr voneinander
abweichende Auswege ermittelt. Entweder erklärt man die Sache mit
der Klangverwandtschaft des Wortes handasay welches Geometrie heißt,
und hindi indisch ^j; beide hießen ursprünglich „indische EunsV', wie
denn auch in der Tat die Methode des doppelten falschen Ansatzes
indischen Ursprunges sei. Oder aber man scheut den gewichtigen
Einwurf, daß sodann übrig bleibe die unleugbar vorhandene Bedeutung
von Geometrie für handasa zu rechtfertigen, und zwar aus derselben
Elangverwandtschaft zu rechtfertigen, während die arabische Geometrie
nichts weniger als indischen Ursprunges ist, und man gerät alsdann
auf den Versuch, die Methode graphisch, also geometrisch zu ver-
*) Talkhys pag. 26—27. i) Woepcke in dem Jowrnal A^iaUqw für
1863, I. Halbjahr, pag. 505 flgg.
810
37. Kapitel.
Flg. 118.
ainnlichen*). Von A aus trage man (Fig. 113) nach Pj und nach
P, die falschen Annahmen AP^^n^ und AP^^^n^ auf. Ist nnn
der Sinn der heiden Fehler e^ und e^ derselbe, so errichtet man
P^Q^ =- Ci und Pjft — c^ senkrecht zu AP^P^ nach derselben Seite;
sind e^ und e^ ungleichartig, so zieht man jene Senkrechten nach
entgegengesetzten Seiten der Geraden
AP^P^, Jedenfalls verbindet man
QiQ^ geradlinig und bestimmt den
Durchschnittspunkt B mit der AP^ P,.
Alsdann ist AB der richtige Wert
der Unbekannten. Das ist gewiß
ungemein scharfsinnig und im Er-
gebnisse auch richtig, auch in eine
Formel umgesetzt übereinstimmend
mit der gegebenen Vorschrift. Ob
aber in der Figur wirklich eine zwin-
gende Ähnlichkeit mit der von Ibn
Albanna gezeichneten Wi^e zu finden ist, ob, wenn Ibn Albanna oder
einem seiner Vorganger eine solche geometrische Begründung zu eigen
gewesen wäre, sie sich nicht bei einem Kommentator hatte erhalten
müssen, das sind Fragen, deren erste ebensowenig unbedingt bejaht,
wie die zweite unbedingt verneint werden dürfte. Wir selbst sehen
daher keinen der beiden Auswege als den richtigen und begnügen
uns mit dem Eingeständnisse, keine Erklärung für Ibn Albannäs Aus-
spruch, das Verfahren mit Hilfe der Wagschalen beruhe auf Geometrie,
zu wissen.
Es ist kennzeichnend für den Talchis, dafi für alle in ihm ent-
haltene Regeln keinerlei Zahlenbeispiele gegeben sind, daß vielmehr
nur in ganz allgemeinen Worten die Vorschriften ausgesprochen
werden, ein wissenschaftlicher Vorzug dieses Werkes, welchen in
solcher Ausschließlichkeit kein anderes von denen, welche uns bisher
zur Kenntnis- gekommen sind, teilt. Um so nötiger aber, wir wieder-
holen es jetzt, war für die gleichzeitigen Leser, und noch für Leser
späterer Jahrhunderte ein Kommentar zum Talchis oder eine schein-
bar selbständige weitere Ausführung des gleichen Gegenstandes.
Zu einer solchen gehen wir jetzt über. Sie ist verfekßt von
Alkalasädi^), geboren in Baza, ansässig in Granada, von wo er aus-
wanderte, als die Ghristengefahr immer drohender herannahte. Fem
') Matthiessen, (rrandzüge der antiken und modernen Algebra der lit-
teralen Gleichungen S. 924—926. *) Woepcke im Journal Asiatique for Ok-
tober und November 1864 pag. 868 — 360. H&dsch! Chalfa nennt ihn überall
Alkaleftwi. Suter 180—182, Nr. 144.
i
Die Mathematik der Westaraber. 811
von der Heimat starb er 1486. Ebenderselbe hat anch einen Kom-
mentar zum Talcids verfaßt, ans welchem aber nur eine Stelle ver-
öffentlicht ist^), auf welche wir uns (S. 712) bezogen haben, um zu
beweisen^ daß bei Arabern die Erinnerung stets wach blieb, daß die
Pythagoräer die Männer der Zahl gewesen seien. Der Titel des
Werkes, mit welchem wir es gegenwärtig zu tun haben, ist in ver-
schiedenen Angaben bekannt. In der einen Handschrift heißt es
,,Aufhebung der Schleier der Wissenschaft des Gubar'', in einer
anderen „Enthüllung der Geheimnisse der Anwendung der Zeichen
des öubär*', in einem Verzeichnisse von Handschriften „Enthüllung
der Geheimnisse der Wissenschaft von den Zeichen des Ghibar^^
Gubär, ursprünglich Staub, wie wir uns eriimem (S. 712), heißt hier
so viel wie Tafelrechnen mit Ziffern im Gegensatze zum Kopfrechnen.
Ob dabei die Gubarziffem des Westens oder ob die ostarabischen
Ziffern in Anwendung kommen, ist sehr gleichgültig, wenigstens gibt
es in der Pariser Bibliothek eine Abschrift des Alkalasädi, in welcher
nur ostarabische Ziffern vorkommen, und die gleichwohl das Wort
Oubär in ihrem Titel an der Spitze trägt. Das Werk, oder vielmehr
der Auszug aus dem Werke von Alkalasädi selbst angefertigt, welchen
wir allein besitzen, besteht aus vier Büchern, deren erstes die Arith-
metik der ganzen Zahlen enthält, das zweite die Brüche, das dritte
die Wurzeln, das vierte die Auffindung der Unbekannten. Es ist in
französischer Übersetzung gedruckt*).
Gleich das erste Buch ist ungemein lehrreich fElr jeden, welcher
«ich mit der Form des arabischen Rechnens bekannt machen will,
die vielfach von dem heute gebräuchlichen abweicht, z. B. darin,
daß die Rechnungsergebnisse bei der Addition, der Subtraktion und
der Multiplikation nach oben angeschrieben werden, der neueren
Gewohnheit geradezu entgegengesetzt und ein unbefangenes Weiter-
Bchreiben an einem Blatte, wenn der Text durch eine Rechnung
unterbrochen wird, verhindernd, weil der Araber vor Beginn der
Rechnung erst im Kopfe überschlagen muß, wieviel Raum er etwa
gebrauchen werde, wie weit unten auf der Seite also er die Rechnung
werde beginnen müssen. Folgende Beispiele dürften nunmehr leicht
verstanden werden, wenn wir noch bemerken, daß bei der Addition
das Überschießende unter die Ziffer nächsthöheren Ranges ange-
schrieben, nicht im Kopf behalten wird, und daß ähnlicherweise bei
der Subtraktion ein ftir den Minuenden zu borgendes 10 dem Sub-
') Woepcke im Journal Asiatiqu^ für 1863, I. Halbjahr, pag. 68—62.
*)Woepcke, Traductian du traitS ^'Q^fiihmäique d'AbtU Hasan Ali ben Moham-
med Alkdlsadi in den Ätti deW 4^^g^niu» ixmtt/icta cfc' Nwm Lineei 1869,
Bd. Xn, pag. 230—276 und 399-^n
812 87. Kapitel.
trahendeu als Einheit der nächsten Ordnung wieder zugesetzt wird^)
(S. 610).
Die Addition 48 + 97 = 145 schreibt sich demnach:
145
48
97
1
Die Subtraktion 725 — 386 = 339 schreibt sich:
339
725
386
11
Die Subtraktion heißt tarh, einem von taraha « wegwerfen abge-
leiteten Stammwortes also gleichen Stammes mit Tara, welches aU
Verpackung, die bei der Berechnung des Wertes oder des zu ver-
zollenden Gewichtes einer Ware usw. nicht mit eingerechnet, sondern
abgezogen wird, in Gebrauch geblieben ist. Die Multiplikation
73 X 52—3796 erfolgt „in geneigter Weise*', wenn zunächst 70x50
+ 3 X 50 dann unter Weiterrückung des Multiplikators 73 auch
70 X 2 + 3 X 2 gebildet imd alles addiert wird. Das Exempel sieht
dann so aus:
3796
"6
14
15
35^
52
' 73
73
Es werden noch mancherlei andere Multiplikationsverfahren ge-
lehrt. Ohne auf alle eingehen zu wollen, erwähnen wir nur, daß die
sogenannte netzförmige Multiplikation als Multiplikation dschadwal
vorkommt^ und daß bei einem Verfahren der Stellenzeiger der mit-
einander zu vervielfachenden Einzelziffem, ihr ass oder Exponent
berücksichtigt wird'). Die komplementäre Multiplikation, welche wir
bei Behä Eddin nachweisen konnten, findet sich dagegen bei Alkalasädi
nicht. Ebensowenig findet sich bei ihm die komplementäre Division.
Die Division ist überhaupt gegen die Multiplikation etwas dürftig
behandelt und nur nach der einen uns von früher bekannten Weise
') Additionen vgl. 1. c. pag. 288, Subtraktionen pag. 235, Multiplikationen
pag. 287. *) Alkalasädi pag. 244. ") Ebenda pag. 289.
Die Mathematik der Westaraber. 813
gelehrt^), daß der fortrückende Divisor unter, die Teilreste über den
Dividend geschrieben werden, der Quotient wieder unter den Divisor,
nachdem ein Strich, dazwischen gezogen wurde. Das Beispiel 924 : 6
«= 154 sieht also so aus:
32
924
666
154
Ob man dabei den Divisor auf einmal oder in Faktoren nachein-
ander berücksichtigt, ob man also gleich durch 15 dividiert, oder erst
durch 5 und dann nochmals durch 3, übt auf das eigentliche Ver-
fahren eine Wirkung nicht aus.
Aus dem DL Buche von den Brüchen sind die voneinander
abhängigen Brüche besonders bemerkenswert, eine Art von Zahlen-
verbindung, welche die neuere Mathematik aufsteigende Eettenbrüche
zu nennen pflegt. Auch frühere Schriftsteller haben dieselben Formen^
aber Alkalasädi setzt ihre Entstehung durch wiederholte Division mit
Hilfe der Faktoren eines Divisors am deutlichsten auseinander^.
258
Soll etwa öÖQ iii eine solche abhängige Bruchform gebracht werden,
80 zerlegt man zunächst 280 in 5 X 7 x 8 und dividiert mit 8 in 253.
Das geht 31 mal und läßt 5 als Rest. Man schreibt den Rest als
Zähler, den Divisor 8 als Nenner. In den fi-üheren Quotient 31 wird
wiederholt mit 7 dividiert und der Quotient 4 nebst dem Reste 3 er-
halten. Dieser neue Rest nebst dem eben gebrauchten Divisor kommen
über und unter dem schon gezogenen Bruchstriche rechts, aber durch
einen kleinen Zwischenraum getrennt neben die von vorhin vorhan-
denen Zahlen zu stehen. Nun dividiert man mit 5 in den Quotient 4,
das geht Omal und 4 bleibt Rest, worauf man mit diesem Reste
und dem Divisor 5 nach der schon einmal befolgten Regel verfährt.
Es ist also — = g — = — - oder, wie man gegenwärtig schreibt,
, 3 + g-
6
Vermutlich dürfen wir hier, wie bei den Brüchen des Diophant mit
gemischtzahligen Zählern (S. 478) eine späte Nachwirkung altägypti-
scher Gewohnheit (S. 71) erkennen. Bruchbrüche') sind solche
wie y von y von y, desBen Wert ^ ist und welcher g yy
geschrieben wird.
*) Alkalasädi pag. 249--^^ i\ Ebenda pag. ^66 De la dinomination
und pag. 266 Fraetians relatives H?. vjet^da pag 266 Practton divisie en partiea.
0^
814 37. Kapitel.
Im ni. Buclie von den WurzelauBziehangen begegnen wir inter-
essanten Nähemngsyerfaliren^). Auch Alkalasädi unterscheidet, ob bei
Ausziehung der Quadratwurzel |/a* + r der erste Rest r ^a oder
r> a. Im ersteren Falle setzt auch er wie Ibn Albanna (S. 808)
aber im zweiten Falle nicht wie jener
sondern
V«' + '- = « + ^'
Als noch genaueren Näherungswert gibt er^ ohne Fälle zu unter-
scheiden^
y-c^rr^a + f--^—
an. Alkalasädi weiß auch, daß p + Yq mit p — Yq sich zu einem
rationalen Produkte vervielfacht und benutzt diese Kenntnis zur Um-
wandlung*) von
_^ ^ n^(p — VD
p + Vi ^^^
Weitaus das Wichtigste in diesem Buche ist aber für uns das Auf-
treten eines Wurzelzeichens, insbesondere wenn man es mit den
Zeichen des lY. Buches zusammenhält, und an die früher begründete
Annahme denkt, daß diese symbolischen Bezeichnungen bis jenseits
Ibn Albannä hinaufreichen. Wurzel, insbesoudere Quadratwurzel heißt
bei den Arabern dschidr (S. 723) und dieses Wort wurde vor den
betreffenden Zahlen, aus welchen die Quadratwurzel zu ziehen war,
ausgeschrieben. Jetzt tritt statt des ganzen Wortes der Anfangsbuch-
stabe dschim desselben auf, Das würde freilich allein eine eigent-
liche Zeichenschrift nicht begründen, sondern eine Abkürzung sein
können. Aber der Buchstabe -^ steht nicht vor — d. h. also, da wir
es mit arabischen Texten, zu tun haben, zur Rechten — der be-
treffenden Zahl, sondern über derselben und durch einen Horizontal-
strich von derselben getrennt'). Die Horizontalstriche fehlen auch
mitunter, wenn nicht in der Mehrzahl der Fälle, und insbesondere
die beiden Beispiele y204 und 3)/ 6 entbehren denselben im Origi-
nale. Ein die Wurzelgröße allenfalls vervielfachender Zahlenkoeffizient
>) Alkalasädi pag.402— 406. *) Ebenda pag. 418. ") Ebenda pag. 407
bis 414 und J<mmal Asiatique für Oktober und November 1864, pag. 362^364.
Die Mathematik der Westaraber. 815
steht noch über dem Wurzelzeichen. Mit Anwendung unserer Ziffern
sieht also ein derartiger Ausdruck so ans:
3
^ _ "^ _ •=^
1/48 = 48 T/204 = y 20 3>/6 - 6 .
Symbole finden sich, sagten wir, noch häufiger im lY. Buche^
welches dem Aufsuchen der unbekannten gewidmet ist Schon bei
der Begeldetri^) werden drei ein Dreieckchen bildende Punkte .*.
zwischen je zwei Zahlen der Proportion gesetzt und die unbekannte
Größe durch ein dschim bezeichnet. Man vermutet, es sei dieses
dschim nicht als Anfangsbuchstabe von dschidr gedacht, sondern als
Anfangsbuchstabe des Zeitwortes dschahala = nicht kennen, des
Stammwortes für madschhül, welches gewöhnlich in dem Sinne „un-
bekannte Grröße'' gebraucht wird. So ist 7 : 12 == 84 : x geschrieben:
^ /. 84 .-. 12 /. 7 .
In der eigentlichen Algebra kommen folgende Symbole vor*): Die
Unbekannte selbst, schai oder dschidr genannt, wird durch ein schin gd,
das Quadrat der Unbekannten mal durch ein mim ^, der Kubus der
Unbekannten ka'b durch ein käf S geschrieben, welche über den
zugehörigen Zahlenkoeffizienten stehen. Ein Zeichen der Addition
ist nicht vorhanden, unvermittelte Aufeinanderfolge genügt, um die
additive Vereinigung der so geschriebenen Glieder zu veranlassen.
Die Subtraktion bedient sich des Wortes iUä (außer) ^y links von
welchem der Richtung der Schrift gemäß das Abzuziehende ge-
schrieben wird. Das Merkwürdigste endlich ist ein Gleichheitszeichen.
Wir erinnern uns, daß in manchen Handschriften des Diophant der
Anfangsbuchstabe i von l6oi gleich hieß (S. 472). Gleichsein heißt
auf Arabisch ^adala, wird aber nicht etwa durch seinen Anfangs-
buchstaben, sondern durch ein finales läm J, mit welchem das Wort
abschließt, ersetzt, eine Bezeichnung, welche noch mehr als die
übrigen das Wesen bloßer Abkürzung abgestreift und das eines Sym-
bols angenommen hat. So schreibt also Alkalasädi Zo? == 12a; + 63
in folgender Weise:
6 3 JA (-•
12'^3
und -^x^ -\- x^l— in folgender Weise :
A
2**' IT'
>) AlkalftBadi pag. 416. J^w-^1 Jisiotf^He 1. c. pag. 864. •) Ebenda
pag. 420 — 189. Jowtnal AxwlHqyi^ V^ pg^. 866—867.
816 37. Kapitel.
endlich den Ausdruck 2x + 80^ ^(5 + 6x^) durch
6b^8 2
In einzelnen Handschriften ist auch das illa (außer) ähnlich wie das
^adala (gleich sein) durch eine auffallende Abkürzung; durch die End-
silbe lä ^ ersetzt, wodurch das algebraische Aussehen der Formeln
noch erhöht wird. Wir haben schon des Stellenzeigers oder des
Exponenten ass erwähnt; der bei Alkalasädi vielfach yorkommt. Er
tritt auch bei der Multiplikation von Potenzen der Unbekannten in
Gebrauch; und zwar immer in der Einzahl des Wortes, nicht in der
Mehrzahl isäs. Es heißt also nicht ;;der ka^b hat 3 isäs^^, sondern
„der ass des kä*b ist 3'* und ähnlich auch bei höheren Potenzen.
Einer nicht genau bestimmbaren Zeit gehört noch ein kleines
Rechenbuch an, dessen Übersetzung ebenfalls veröffentlicht ist^).
Jedenfalls ist es später als die Lebenszeit des darin zitierten^ Ibn
Albannä entstanden, und vor Ende des XYI. S., da die Handschrift,
aus welcher es übersetzt ist, am 26. Januar 1573 vollendet wurde').
Das Schriftchen heißt Einleitung zum Staub- (gubäri) und Luft-
(hawä'i) Rechnen. Letzterer Ausdruck ist uns früher (S. 793) schon
begegnet und als Kopfrechnen im Gegensatze zum Zifferrechnen ver-
fltanden worden, wenn auch sonderliche Eopfrechnungsmethoden nicht
beschrieben werden. Abgesehen von der sehr geringfügigen Abände-
rung, daß bei der Addition wie bei der Multiplikation nicht nur ein
Horizontalstrich über den untereinandergestellten Zahlen sich findet,
sondern auch ein zweiter Horizontalstrich unter jenen Zahlen, während
das Rechnungsergebnis doch wieder oben hingeschrieben wird, ist nur
eine kleine Neuerung bei der Subtraktion zu bemerken*). Soll nämlich
eine Ziffer höheren Wertes g im Subtrahenden von der im Range ent-
sprechenden Ziffer niedrigeren Wertes k im Minuenden abgezogen werden,
wo man also 10 borgen muß, so sei es gleichgültig, ob man g von
10 4- * abziehe, oder aber k von g und den Rest von 10. Mit anderen
Worten der Verfasser weiß, daß
(lO + k)^g^lO-{g-k).
Fassen wir wieder in Kürze zusammen, was wir von westarabi-
scher Mathematik kennen gelernt haben, so ist ein Unterschied gegen
die ostärabische Mathematik namentlich in dreifacher Beziehung wahr-
nehmbar. Sie ist erstens einseitiger. Sie hat zweitens erst in späterer
^) Introduction au calcul gobdri et hawdi traduit par F. Woepcke. Ätti
4eW Äccademia pantificia de' Nwm lAncei (1866) XIX. ■) pag. 6 des Sonder-
abzugs. ^ pag. 18 des Sonderabzugs. *) pag. 3 des Sonderabzngs.
Die Mathematik der Westaraber. 817
Zeit Schriftstücke geliefert, welche auf uns gekommen sind. Sie
wurde drittens mindestens seit dem XII. S. dem christlichen Europa
durch in Spanien angefertigte Übersetzungen bekannt. Ihre einseitige
arithmetisch -algebraische Entwicklung, welche hauptsächlich unser
Augenmerk fesselte, ließ sie auf diesem Gebiete Fortschritte machen,
von welchen bei den Ostarabem nichts zu bemerken ist. Es bildete
sich allmählich eine förmliche algebraische Schreibweise aus, welche
auch den Übersetzungen in die lateinische Sprache sich mitteilte,
und welche somit den Europäern gestattete, schon im XII. S. die
Lehre von den Gleichungen in größerer Vollkommenheit kennen zu
lernen, als wenn sie deren Entwicklung einzig im Oriente bei dem
durch die Ereuzzüge hervorgerufenen Zusammentreffen mit arabischer
Kultur verfolgt hätten. Was die Rechenkunst, den elementareren
aber weitest verbreiteten Teil der Mathematik betrifft, so sehen wir,
wie sie im Westen immerhin einige äußere Verschiedenheiten von
Zeit zu Zeit sich aneignete, wie wahrscheinlich durch italienische
Kaufleute Elemente nichtarabischer Methoden, Spuren des Kolumnen-
rechnens oder mit anderen Worten eines gezeichneten Abacus, sich
eingemischt zu haben scheinen, Spuren, welche wir aber freilich erst
vom XIII. S. an bemerken konnten. Eines nur finden wir in keiner
Weise, und dieses negative Ergebnis ist zu wichtig, um nicht fort
und fort darauf aufmerksam zu machen: wir finden kein komple-
mentäres Rechnen, nicht die komplementäre Division, nicht einmal
die komplementäre Multiplikation, während doch gerade die Multipli-
kation emsig gepflegt und nach verschiedenartigeren Verfahrungsweisen
gelehrt wurde, als sie es eigentlich verdient.
<3AiiTOBf 0««ohiohte der MAthem^. ' . x,Qfi. 62
Vni. Klostergelehrsamkeit des
Mittelalters.
68*
X
38. Kapitel.
Klostergelelirsamkeit bis zum Ansgange des X. Jahrhunderts.
Wir müssen den Faden wieder anknüpfen da, wo wir ihn abge-
brochen haben, um aus Europa hinüberzuschweifen nach dem Osten
und die Summe zu ziehen aus dem, was asiatische Völkerschaften im
Laufe der Jahrhunderte aus dem mathematischen Wissen zu machen
wußten, von welchem ihnen, wie wir in yerschiedenen Kapiteln nach-
zuweisen gesucht haben, wenigstens was die geometrischen Teile
und nicht unwesentliche Bruchstücke der algebraischen Teile be-
trifft, mancherlei von Griechenland aus überkam. Die Araber, das
haben wir insbesondere gesehen, mit ihrer frischen Wüstenkraft, sie^
die sich, zum Unheile ihres Reiches, zum Heile für die Wissenschaft^
in den verschiedensten Zeiträumen mit nicht minder empfänglichen^
nicht minder geistig unverbrauchten Elementen vermischten und
ihnen sich unterwerfen mußten, waren die treuesten Erben. Sie
haben das ihnen anvertraute Gut nicht nur zu bewahren, auch
zu vermehren gewußt. Wohin die Araber, solange ihr Reich im
Wachsen begriff'en war, der Eroberungspfad führte, dahin nahmen
sie ihre Wissenschaft mit, Kjieger und Lehrer zugleich. Wo die
Araber sich eindringenden Herrschern beugten, gaben sie diesen als
ersten Tribut ihre Bildung. Wo die Araber aber nicht unterjocht^
sondern verdrängt wurden, da nahmen sie auf der Flucht ihre Kennt-
nisse wieder mit fort, welche rasch sich anzueignen die Sieger noch
nicht fähig waren. Das deutlichste Beispiel zeigt uns Spanien, wo
mathematische Wissenschaft verkümmerte, nachdem die letzten Araber
vom spanischen Boden verdrängt waren.
Jenen mittelasiatischen Steppenvölkem, die dem Dschingizchän
und Tamerlan gehorchten, fehlte es an Bildungsfähigkeit keineswegs,
und die Möglichkeit war einmal vorhanden, daß Stamm- oder Sitten-
verwandte derselben verhältnismäßig frühe in Griechenland selbst mit
altgriechischer Bildung bekannt geworden wären. Eine andere Mög-
lichkeit war die, daß der fränkische Stamm von griechisch-arabischer
Bildung durchdrungen worden wäre. Beide Möglichkeiten haben sich
nicht erfüllt. Theodosius (Jer Große wehrte am Schlüsse des IV. S.
822 38. Kapitel.
den Strom der Völkerwanderung von den Balkanlandern ab, so daß
er erst bei der apenninisclien Halbinsel den westlichen Lauf in äineu
südlichen yerwandeln konnte. Die Scharen Attilas^ Dschingizch&ns
Mongolen am nächsten verwandt^ blieben gleichfalls nördlich in ihrer
Überflutung Europas^ die im Y. S. kurz aber gefahrdrohend sich ergoß.
Und als 732 ein westarabisches Heer die Pyrenäen überschritten hatte
und eine Schlacht darüber zu entscheiden hatte, ob Christentum ob
Islam siegen sollte, da gelang es Karl Martel bei Poitiers seine Fahnen
aufrecht zu erhalten.
Wir haben keineswegs die zwecklose Absicht, Yermutungs-
geschichte zu schreiben und darüber in Ausführungen uns zu er-
gehen, welche Wendung die Entwicklung der Wissenschaften, in
erster Linie der Mathematik, genommen hätte, wenn nur eines jener
Ereignisse anders ausgefallen wäre, genug, es war so, wie wir sagten.
Griechischer Einfluß, immittelbarer wie durch Araber vermittelter,
blieb den in Europa außerhalb Griechenland und Italien angesiedelten
Stämmen fremd, wenn wir von Spanien absehen, dessen Ausnahme-
stellung wir oben einige Worte gewidmet haben. Nur was durch
römische Zwischenträger eingeführt werden konnte, kam der nordi-
schen Mathematik, um uns dieses wenn auch im einzelnen nicht
immer zutreffenden Sammelnamens zu bedienen, zugut. Wir wissen
aus den Kapiteln, in welchen wir mit den Römern uns besonders be-
schäfkigten, wie blutwenig das war, wenn auch immerhin mehr, als
man lange Zeit meinte. Wir müssen jetzt verfolgen, wie jenes Wenige
in fast noch absteigender Reihenfolge da und dort zu erkennen ist,
bis seit den Ereuzzügen, also seit dem XH. S., die europäische Wiß-
begier sich hungrig ab wandte von den stets leereren Säcken römisch-
klösterlicher Speisekammern, um an den vollen Speichern arabischer
Gelehrten sich so zu sättigen, daß die Überladung merklich wird, daß
nicht alles verdaut werden konnte.
Vorläufig befinden wir uns noch in der Zeit, welche an unseren
römischen Abschnitt sich anschließt, am Ende des VI. S. Damals
wurde 570 in Carthagena Isidorus geboren^). Seine Mutter war
die Tochter eines gotischen Königs, eine seiner Schwestern soll den
Thron des Königs Levigild geteilt haben. Seine übrigen Geschwister
waren sämtlich hohe kirchliche Würdenträger. Bei solchen Ver-
bindungen kann es nicht Wunder nehmen, daß Isidorus schon nach
kaum zurückgelegtem 30. Lebensjahre im Jahre 601 Bischof von
Sevilla wurde, eine Stellung, die er bis zu seinem Tode 636 bekleidete.
Aber Isidorus Hispalensis, wie er von seinem Wohnsitze heißt, recht-
») Math. Beitr. Kultnrl. 8. 277—279.
Klostergelehisamkeit bis zum Aasgange des X. JahrhunderiB. 823
fertigte nachträglich die Wahl; die ihn getroffen hatte. Seine Bered-
samkeit machte, nm das Wort eines Schülers über ihn zu gebrauchen,
seine Zuhörer erstarren. Beinamen wie ,^ierde der katholischen
Kirche", wie „der hervorragende Gelehrte'* wurden ihm beigelegt,
und zweimal 619 und 633 wurde ihm die Ehre zuteil^ bei einem
Konzil den Vorsitz zu führen. Seine Schriften waren zahlreich, doch
haben wir es nur mit einem Werke zu tun, einer Art von Enzyklo-
pädie in 20 Büchern, welche er verfaßte, und in welcher er sich
wenn nicht der Form so doch dem Inhalte nach streng an die schon
vorhandenen römischen Enzyklopädien eines Martianus Capella, eines
Oassiodorius Senator anschloß, welche er von nun an ersetzte, fast
verdrangte.
Die Ursprünge, Origines, oder auch die Etymologien ist der
Titel des Werkes. Isidorus liebt es nämlich, die Erklärung des Sinnes
«ines Ausdruckes aus dessen sprachlichem Ursprünge zu entnehmen,
und so bilden Wortableitungen einen großen Teil des umfassenden
Werkes. Gleich zu Anfang ist die Wissenschaft als aus 7 Teilen
bestehend angegeben. Es sind dieselben Teile, dieselbe Reihenfolge,
welche wir bereits kennen. Es ist das Trivium: Grammatik, Rhe-
torik, Dialektik und das Quadrivium der mathematischen Wissen-
schaften: Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie. Die Kapitel 21
bis 24 des I. Buches handeln von den Abkürzungszeichen der Alten,
doch würde man fehl gehen, wenn man hier die Apices suchen
wollte. Sie sind ebensowenig behandelt wie gewisse musikalische
Zeichen, deren die Römer sich doch unzweifelhaft bedienten. Nur
im XV. Buche, Kapitel 15 und 16 von den Ackermaßen und von
den Reisemärschen und im XVI. Buche, Kapitel 24, 25, 26 von den
Gewichten, von den Maßen, von den Zeichen der Gewichte*; finden
sich Maßvergleichungen und in dem letztgenannten Zeichen von
Oewichtsteilen. Es sind das dieselben von den altrömischen sich
unterscheidenden Namen und Zeichen, deren auch Victorius sich be-
dient hatte (S. 531), die auf dem Abacus in der gefälschten Geo-
metrie des Boethius vorkommen, dem man also um dieser besonderen
Zeichen wegen nicht ein späteres Datum als die Lebenszeit des Isi-
dorus zuschreiben müßte ^), sondern nur als die des Victorius, eine
Notwendigkeit, welche durch die Lebenszeit des Boethius selbst
reichlich erfüllt wäre. Jene vorerwähnten Kapitel des L Buches der
Origines enthalten dagegen Erklärungen von mancherlei grammati-
') Diese 6 Kapitel sind abgedruckt bei Hu lisch, Metrologicorum Scripta-
rtm Beliquiae II, 106 - 123. Auf pag. 114 lin. 6—12 findet sich eine Ableitung
von siclus aus dem hebräischen sic^l, ^) ^i^ie<llein, Zahlzeichen und elemen-
tares Rechnen usw. S. 69.
824 S8. Kapitel.
sehen Zeichen, von Sternchen, Ton besonderen Anführungszeichen fär
biblische Stellen und dergleichen mehr. Das III. Buch handelt von
den vier mathematischen Wissenschaften, unter welchen, wie Isidorus
sagt, die weltlichen Schriftsteller alle mit Recht die Arithmetik vor-
angestellt haben; denn sie bedürfe zu ihrer Darlegung keiner ander-
weitigen Vorkenntnisse, wie es bei der Musik, der Geometrie, der
Astronomie der FaU sei. Diesem Beispiele folgend schickt auch Isi-
dorus die Arithmetik voraus, deren Ursprung und Übergang zu den
Römern er in den vielfach angeführten Worten schildert: „Man hält
dafür, daß Pythagoras bei den Griechen die Wissenschaft der Zahl
zuerst aufgeschrieben habe, daß sie alsdann von Nikomachus weit-
läufiger behandelt wurde; den Römern wurde sie durch Appuleius
und Boethius bekannt.^' Im 3. Kapitel erklärt Isidorus die lateinischen
Zahlennamen in einer Weise, welche dem Leser mitunter als Spott
erscheinen müßte, könnte man nicht die feste Überzeugung von dem
ernstesten wissenschaftlichen Streben des Isidorus haben. Da soll
decem, zehn, von dem griechischen dsöfieveiv^ zusammenbinden, her-
kommen, weil die Zehn alle niedrigeren Zahlen erst vereinige. Da^
stammt centum, hundert, von xavOög, das Rad, warum, wird nicht
gesagt. Da wird mille, tausend, aus multitudo, die Menge, erklärt.
Glücklicherweise wird der undankbare Gegenstand bald wieder ver-
lassen, und die folgenden Kapitel bringen die bekannten Unterschei-
dungen der Zahlen in gerade und ungerade, in vollkommene und
überschießende, in nach gegebenen Verhältnissen proportionale, in
lineare Zahlen, Flächenzahlen und Körperzahlen usw. Die Zahl hat
für Isidorus eine solche Würde, daß er einem anderen kirchlichen
Schriftsteller folgend in die Worte ausbricht*), welche von ihm aus
sich durch die verschiedensten Schriftsteller weiter vererbt haben:
„Nimm die Zahl aus allen Dingen weg, und aUes geht zugrunde.
Raube dem Jahrhundert die Rechnung und die Gesamtheit wird von
blinder Unwissenheit ergriffen, und nicht kann von den übrigen
Tieren unterschieden werden, wer die Verfahren des Kalküls nicht
kennt." Wir haben hier computm mit Rechnung übersetzt. Sollte
es nötig sein zu beweisen, daß das Wort diese allgemeine Bedeutung
besitzt, so könnten wir auf den Astrologen Julius Firmicus Ma-
ter nus verweisen, wenn er sagt: Siehst Du, wie die welche die ersten
Rechnungsverfahren (computos) lernen in langsamer Bewegung ihre
Finger biegen*)?
^) Origines Lib. m, cap. 4, § 4: Tolle numerum rebus omnibus et omnia
pereunt. Adime seculo computum et cuncta ignorantia caeca campleetitur, nee
differri potest a ceteris animalibus gut calculi nescit rationem. *) FirmicuB
Maternns, Mathesis Liber I, cap. Y, § 14 (ed. Sittl, Leipzig 1894, pag. IS
EloBtergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 825
Aber wie hat man denn gerechnet? wird im stillen jeder Leser
fragen. Darüber gibt Isidoras keinerlei Auskunft. Nur an einer
Stelle sagt er uns, wie uns scheint, wie zu seiner Zeit nicht mehr
gerechnet wurde. Im X. Buche, welches nicht weiter in Kapitel ab-
geteilt bestimmt ist, Wörter zu erklären, welche selbst in ziemlich
alphabetischer Ordnung aufeinander folgen, heißt es in der 43. Nummer
unter ccUctdator: a ccHculis i, e. lapillis mimäis, quos antiqui in manu
ienentes componebant numerum, also Rechnen von Rechenpfennigen
d. h. kleinen Steinchen, welche die Alten in der Hand zu halten
und die Zahlen daraus zusammenzulegen pflegten.
Was in dem III. Buche yon Geometrie, Musik und Astronomie
vorkommt, ist noch dürftiger als das Arithmetische, auch in dieser
Beziehung an die Vorgänger des Isidoras erinnernd. Die große
Menge, auch der berühmten Gelehrten, wußte von diesen Teilen
der Mathematik wenig mehr als einige Wort- und Sacherklärungen
und mußte es dabei bewenden lassen. Auch Isidorus macht hierin
keinerlei Ausnahme.
Das war, wie wir schon gesagt haben, das Werk, welches für
lange Zeit die eine Hauptquelle des Dissens bildete, aus welcher die
Nachkommen schöpften, während die Werke des Martianus Capella,
des Cassiodorius Senator in den Hintergrund traten und nur Macro-
bius und Boethius einer Gunst sich erfreuten, welche dem einen für
seine größere Selbständigkeit, dem anderen für seine größere Aus-
führlichkeit in der Tat gebührte.
Mehr vielleicht als durch seine Schriften machte sich Isidorus
durch seine Fürsorge für den Unterricht verdient. Die Regel des
heiligen Benedikt von Nursia hatte die Au&ahme von Kindern als
Klosterzöglingen vorgesehen und Klosterschulen zum Bedürfnisse ge-
macht. Isidorus stiftete seit seiner Erhebung zum Bischöfe gleich-
falls eine Art von Schule, in welcher die notwendigsten Lehrgegen-
stände eingeübt wurden.
Etwa ein Jahrhundert nach der Geburt von Isidorus von Sevilla
erblickte der Mann das Licht der Welt, zu welchem wir uns jetzt zu
wenden haben, und der uns nach dem fernsten Norden von Europa
führen wird: Beda, genannt der Ehrwürdige, venerabilis*). Die Ge-
lin. 30 — 31) Vides ut primos discentes computos digitos tarda agitatione deflectant?
Die Mathesis ist, wie Mommsen (Hermes XXIX, 468—472. Berlin 1894) ge-
zeigt hat, zwischen dem 80. Dezemher 335 und dem 22. Mai 387 verfaßt.
*) Karl Werner, Beda der Ehrwürdige und seine Zeit. Wien 1875. Vgl.
daneben auch die Vorreden von Giles zu dem I. und VI. Bande seiner Ausgabe
von Bedas Werken : Venerabüis Bedae opera quae supersuTU omnia. London 1843.
12 Bände 8^
826 88. Kapitel.
schichte dieses Mannes und seiner folgereichen Leistungen ist so un-
trennbar mit der Geschichte der Bekehrung der britischen Insebi ver-
bunden^ daß wir notwendig etwas weiter ausholen und bei dieser
einen Augenblick verweilen müssen.
Irland war schon in der ersten Hälfte des Y. S. von Gallien aus
bekehrt worden. Klöster entstanden dort, in welchen, getreu den
Überlieferungen des heiligen Benedikt und des Cassiodorius (S. 569),
geistliche und weltliche Schriftsteller, lateinische sowohl als grie-
chische, zum Gegenstande des Studiums gemacht wurden. Dazu ge-
hörte besonders das Kloster Bangor, von welchem in der zweiten
Hälfte des VI. S. der heilige Kolumban auszog, neue Klöster an ver-
schiedenen Orten gründend, so das Kloster Luxeuil in Burgund, so
Bobbio in Oberitalien, wo er selbst 615 starb. Andere irische Mönche
zogen dieselbe Heerstraße des Glaubens durch Jahrhunderte hindurch.
Die Klöster, welche von Kolumban, von seinen Landsleuten Gallus,
Pirmin und anderen in Deutschland, in der Schweiz, in Norditalien
eingerichtet worden waren, erhielten so immer frischen Zuzug, und
in zierlichen irischen Buchstaben entstanden an den verschiedensten
Orten saubere Abschriften des gemischtesten Inhaltes. Die Klöster
irischen Ursprungs wetteiferten so in ihren bildungsfreundlichen Be-
strebungen mit denen der Benediktiner, da und dort mit ihnen ver-
schmolzen.
Gleichfalls von Irland aus ging ein früher Zug von Missionären
hinüber nach der nahe gelegenen größeren Insel, nach Schottland
und England. Allerdings war ihr Wirken dort nicht von nachhaltigem
Erfolge. Nachdem am Anfange des Y. S. bereits Ninian im südlichen
Schottland das Christentum verbreitet hatte, wurde es nach der
erobernden Einwanderung der Angeln und Sachsen um 450 teils
wieder vernichtet, teils in die Gebirge zurückgedrängt. Unter Papst
Gregor dem Großen begann von Rom aus 596 der wiederholte Ver-
such, jene Lande zu bekehren, und bald war Canterburj der Sitz
eines Erzbischofs, und der König von Kent nahm den neuen Glauben
an. So gab es auf der britischen Hauptinsel zwei Kirchen, die
ältere und die jüngere, örtlich voneinander getrennt, in Gewohnheiten
und Emrichtungen mehrfach voneinander abweichend, namentlich in
einem Punkte, der von Wichtigkeit wurde, so geringfügig der Streit-
punkt an sich uns erscheinen mag.
Die südliche, römische Festordnung verlangte, daß die Feier des
Osterfestes als des Festes der Auferstehung frühestens am Abend des
14. Nisan, spätestens am Abend des 20. Nisan jüdischer Rechnung
beginne. Die nordische, britische Ordnung wollte das Fest zwischen
^ einen Tag früher gelegenen äußersten Grenzen feiern.
Elostergelehrsamkeit bis zum Auggange des X. JahrhiindertB. 827
Es kam im Jahre 664 zu einer öffentlichen Disputation über
diesen Gegenstand unter dem Vorsitze Königs Oswin, und dieser ent-
schied zugunsten der römischen Auffassung. Es läßt sich denken,
daß solche Yor^nge ein reges Interesse für den Gegenstand erwecken
mußten, über den man öffentlich gestritten hatte, ein Interesse, das
in letzter Linie dem Rechner und seiner Kunst zugute kommen
mußte. Der nun geeinigten Kirche festeren Zusammenhalt zu geben
schickte Papst Yitalian, nachdem der Bischofssitz in Canterbury 669
erledigt war, zwei neue hochbegabte Männer, Theodor als Bischof,
Hadrian als seinen Ratgeber. Theodors persönliche wissenschaftliche
Neigungen begegneten sich mit dem eben hervorgehobenen Interesse,
sei es, daß wir darin eine Gunst des Zufalles zu erblicken haben,
sei es, daß bei seiner Wahl Rücksicht darauf genommen worden
war. Er achtete streng darauf, daß für den ihm untergebenen angel-
sächsischen Klerus neben der heiligen Schrift und den mit dem Stu-
dium derselben zusammenhängenden sachlichen und sprachlichen Unter-
weisungen auch Metrik, Astronomie und kirchliche Festrechnung
Gegenstände des klösterlichen Unterrichts wurden. Sprachstudien
waren nicht weniger gefordert. Es gab zu Bedas Zeiten, also wenige
Jahrzehnte nach Theodors um 690 erfolgtem Tode, Männer in Eng-
land, welche des Griechischen und Lateinischen eben so gut wie
ihrer eigenen Muttersprache kundig waren. Leider waren die grie-
chischen Werke, welche sie lasen, nicht solche, wie wir sie zum
Besten der mathematischen Wissenschaften wünschen müßten.
Wie wir früher gesagt haben, alles, auch das Griechische, kam
von Rom, und griechische Mathematik war in Originalwerken darunter
offenbar gar nicht vertreten. Es war schon verhältnismäßig sehr
viel, daß überhaupt eine gewisse Neigung zur Erledigung kirchlich-
mathematischer Fragen anders als auf von auswärts eingetroffene
Anordnung hin in den damals an der schottisch -englischen Grenze
gegründeten Klöstern großgezogen wurde, eine Neigung, die von da
AUS, wie wir sehen werden, durch Schüler jener Klöster über Frank-
reich und Deutschland sich fortsetzte, während in den älteren irischen
Klöstern z. B. an solche Fragen kaum gedacht wurde.
Um jene Zeit 674 und 682 war es, daß durch Biscop, einen
«dein Than, der als Mönch und Abt den Namen Benedikt erhielt,
dicht an der Grenze Schottlands, wo Tyne und Were unweit von-
einander in das Meer sich ergießen, zwei Klöster erbaut und
St. Peter und Paul geweiht wurden. Der Einrichtung der Klöster
war durch Biscop, der vielfach Reisen nach Rom machte und stets
neue Bücherschätze, Reliquien, Gemälde zur Ausschmückung der Kirche
von dort mitbrachte, die Regel des Benediktinerordens zugrunde ge-
828 38. Kapitel.
legt. In dieser Gegend ist Beda 672 geboren, in diesen Klöstern
wnrde er erzogen, hier verbrachte er den Verlauf seines ganzen
Lebens in ruhiger Emsigkeit, hier starb er am 26. Mai 735, am Feste
Christi Himmelfahrt.
Beda hat als ein Hauptwerk eine Eirchengeschichte hinterlassen^
welche bis zum Jahre 731 hinabreicht, und an deren Ende er das
Verzeichnis derjenigen Schriften gibt, welche er bis dahin — bis zu
seinem 59. Lebensjahre, wie er sagt — verfaßt hat. Dadurch ist einer-
seits die Zeit seiner Geburt genau bestimmbar geworden^), anderer-
seits auch möglich geworden, viele ihm früher wohl beigelegte und
unter seine Werke aufgenommene Schriften als unecht wieder zu ent-
fernen, da er unmöglich neben den Pflichten eines Messepriesters, die
er zu erflillen hatte, neben dem Unterrichte der zahlreichen Schüler,
welche er heranbildete, in den vier Jahren, um welche er nur die
Anfertigung jenes Verzeichnisses überlebte, vieles schriftstellerisch
geleistet haben kann. Zwei Werke sind in dem Verzeichnisse als
von Beda herrührend anerkannt, die in einem gewissen geistigen Zu-
sammenhange stehen. Das eine, eine physische Weltbeschreibung,
führt den Namen De natura rerum, über die Natur der Dinge. Es
ist nach Plinius bearbeitet, wie Beda selbst an einzelnen Stellen er-
klärt. An die Weltkunde schließt sich sodann die Zeitkunde an,,
der die Abhandlung De temporibus, über die Zeiten, gewidmet ist.
Diese Schrift gibt im 14. Kapitel selbst ihr Datum an, sie ist 703
verfaßt.
Eine ausführlichere Bearbeitung führt den Titel: De temporum
roitione, über Zeitrechnung. Sie ist mindestens 14 Jahre später als
die kürzere Fassung vollendet, da sie dem Abte Huaetberct zugeeignet
ist, welcher erst 716 in diese Stellung eintrat. In der Vorrede beruft
sich Beda ausdrücklich auf die beiden genannten Schriften von der
Natur der Dinge und von den Zeiten. Sie seien nach dem Urteile
derjenigen, welche sie zu benutzen Gelegenheit hatten, allzugedrängter
Schreibweise gewesen, als daß sie den Nutzen hätten stiften können,,
den er beabsichtigte. Namentlich die Osterrechnung scheine einer
weitläufigeren Auseinandersetzung zu bedürfen, und so habe er sich
denn entschlossen, ein derartiges Lehrbuch der Zeitrechnung seinen
Schülern zu übergeben. Als Quellen, welche Beda dabei benutzte,,
hat man Macrobius und Isidorus nachweisen können^). Für anderes
sind uns seine Quellen unbekannt, wo er der älteste Schriftsteller ist,,
von welchem eine ausführlichere Darstellung des Gegenstandes sich
erhalten hat. Wir meinen damit gleich das 1. Kapitel der Zeitrech-
*) Werner, Beda S. 81. *) Ebenda S. 122 und 126.
EloBtergelehisamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhnnderta. 829
Bung, von welchem wir schon (S. 527) ankündigend gesprochen haben.
Es galt sonst auch wohl für eine selbständige Abhandlung unter dem
Titel „Über die Fingerrechnung", bis es auf Grund einiger Hand-
schriften des britischen Museums an diesen seinen rechtmäßigen
Platz gebracht wurde. Das gleiche Schicksal teilte das 4 Kapitel,
welches für eine Abhandlung „Über die Rechnung mit Unzen" galt*).
Das erste Kapitel beziehungsweise die ganze Schrift über Zeitrechnung
leitet Beda mit den Worten ein: „Wir hielten es für nötig, erst in
Kürze die überaus nützliche und stets bereite Geschicklichkeit der
Fingerbeugungen zu zeigen, um dadurch eine möglich größte Leichtig-
keit des Rechnens zu geben; dann, wenn der Geist des Lesers vor-
bereitet ist, woUen wir zur Untersuchung und Aufhellung der Reihe
der Zeiten mittels Rechnung kommen." Und einige Seiten später
heißt es: „Bezüglich der oben bemerkten Rechnung kann auch eine
gewisse Fingersprache gebildet werden teils zur Übung des Geistes,
teils als Spieleroi " Man sieht hier einen scharfen Gegensatz^). Die
Fingersprache ist, wenn auch Geistesübung mit ihr verbunden ist,
nicht mehr und nicht weniger wie Spielerei. Das Fingerrechnen ist
«ine Notwendigkeit. Man hat gewiß mit Recht mehrfach aus diesen
Stellen gefolgert, daß zu Bedas Zeiten ein Fingerrechnen, man würde
wohl besser sagen ein Kopfrechnen mit Unterstützung durch die zur
besseren Erinnerung an die allmählich sich ergebenden und im Gedächt-
nisse festzuhaltenden Zahlen vorgenommenen Fingerbeugungen, all-
gemein in Übung war. Beda lehrt in ausführlicherer Darstellung,
wie man von der linken Hand beginnend und zur Rechten fort-
schreitend die einzelnen Zahlen darstellen solle. Er lehrt es im
großen und ganzen in Übereinstimmung mit Nikolaus von Smyfna
(S. 514 — 515), in Einzelheiten von ihm abweichend, so daß eine un-
mittelbare Abhängigkeit dieses letzteren Schriftstellers von Beda, an
und für sich nicht recht wahrscheinlich, nur um so weniger anzunehmen
sein dürfte'). Allein wenn nun der Schüler so vorbereitet ist, wenn
er seinem Gedächtnisse überall, wo er geht und steht, mit den
Fingern zu Hilfe kommen kann — denn das ist ja die Bedeutung der
solertia promptissima, der stets bereiten Geschicklichkeit — wie ver-
fuhr man dann eigentlich?
Wir sind nicht imstande, aus Bedas Schriften diese gewiß
*) Beda (ed. Giles) VI, 139—342 das Werk De temporum ratüme. Dessen
€aput 1. De. computo vel loquela digitorum pag. 141 — 144 und Caput 4. De
ratione tmciarum pag. 147—149. *) Stoy, Zur Geschichte des Bechenunter-
richtes I, 38 (Jena 1878) hat wohl zuerst durch Nebeneinanderstellung der beiden
Ausdrucke darauf aufmerksam gemacht. ^) Auch diese Bemerkung hat Stoy
1. c. S.^6— 87 gemacht.
830 38. Kapitel.
wichtigste Frage zu beantworteiL Beda sagt nicht eine Silbe über
die Rechnungsverfahren selbst. Nur zweierlei können wir als Schluß-
folgerung ziehen. Erstens ^ daß Beda bei seinem Schweigen nur an
die Terhältnismäßig sehr einfachen Rechnungen (hauptsächlich Addi-
tionen, Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen durch 4) dachte,
welche bei der kirchlichen Zeit- und Festrechnung vorkamen, und
welche in der Tat leicht im Kopfe auszuführen waren. Zweitens
können wir ihm unmittelbar entnehmen, daß es eine weitverbreitete
Sitte war, die er schilderte. Er sagt nämlich, der heilige Hieronymus
müsse schon das Verfahren des Fingerrechnens gekannt haben, da
gewisse Anspielungen desselben nicht anders zu verstehen seien.
Beda hat demgemäß bei Hieronymus das Fingerrechnen wieder-
erkannt, mit welchem er vertraut war und seine Schüler vertraut zu
machen beabsichtigte. Eine Quelle muß also vor dem Tode des
Hieronymus d. h. vor 420 vorhanden und wahrscheinlich in latei-
nischer Sprache vorhanden gewesen sein. Eine anderer Frage ist die,
ob die Lehren sich an eine geschriebene Quelle anknüpften. Uns
scheint es fast natürlicher, an eine durch Jahrhunderte sich fort-
setzende mündliche Überlieferung der Fingerbeugungen zu glauben,
wie das Rechnen unter Anwendung der Finger sich unzweifelhaft nur
durch mündliche Lehre fortpflanzte. Diese unsere letztere Behauptung
ist in der Natur der Dinge begründet, hat aber außerdem eine
wesentliche Unterstützung in der Tatsache, daß wie Beda und Nikolaus
von Smyrna so auch jener Araber, der in Versen die Fingerstellungen
lehrte (S. 710), über das wirkliche Rechnen keine Silbe verliert.
Ist diese Lücke schon für das Rechnen mit ganzen Zahlen vor-
handen, so kann man zum voraus versichert sein, daß ein umfassendes
Bruchrechnen erst recht nicht gelehrt wird. In der Tat findet sich
in dem 4. Kapitel über die Rechnung mit Unzen kaum mehr als die
Einteilung des aus 12 Unzen bestehenden Asses und der Unze selbst,
ein Beleg, wenn ein solcher verlangt würde, für den unmittelbar
römischen Ursprung des Ganzen. Beda bemerkt, der Begriff als Ge-
wicht habe den Ausgangspunkt gebildet, dann aber sei abgeleitet
davon nur der Begriff des Ganzen und seiner Teile übrig geblieben.
Wenn man von einem Ganzen sein Sechstel wegnehme, so neune
man den Rest dextans usw. Auch die Zeichen für die Brüche fehlen
nicht. Solche waren, wie wir wiederholt zu bemerken hatten, seit Jahr-
hunderten in Gebrauch. Es hat wohl die Bedeutung des einen oder
des anderen Bruchnamens sich verändert; es haben neue Namen sich
eingeschoben; die Zeichen haben sich abgerundet, sind neuen Namen
entsprechend neu hinzugetreten, aber begrifflich Neues tritt uns
nicht entgegen.
EloBtergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 831
Die Osterrechnung, der eigentliche Mittelpunkt der Zeitreclinniig,
gründet sich bei Beda wie bei CassiodoriuS; wie bei anderen (S. 573)
anf die 19 jährige Wiederkehr des Zusammenfallens von Sonnen- und
Mondzeiten und stellt, wie wir oben andeuteten, an die Rechenkunst
des Schülers, der nur diese Aufgabe zu lösen beabsichtigte, keine
übermäßige Anforderung, so daß die Erfüllung der auf einem Aus-
spruche des heiligen Augustinus beruhenden Vorschrift^), es müsse in
jedem Mönchs- und Nonnenkloster wenigstens eine Person vorhanden
sein, welche es verstehe, die Ordnung der kirchlichen Feste und
damit den Kalender für das laufende Jahr festzustellen, nicht gerade
schwer war.
Dasselbe Jahr 735, in welchem Beda starb, war das Geburtsjahr
Alcuins^. Er war ein vornehmer Angelsachse und hieß mit
heimatlichem Namen Alh-win, d. h. Freund des Tempels, woraus
eben Alcuin entstanden ist. Fast noch häufiger nannte er sich selbst
Albin US. Sein Lehrer war Egbert von York, ein naher Freund
Bedas, wie aus einem vertrauten Briefe Bedas an ihn über kirchliche
Verhältnisse hervorgeht. Egbei-t legte an der mit einer reichen Bi-
bliothek ausgestatteten Schule seines Bischofssitzes das neue Testa-
ment aus, die übrigen Fächer waren seinem Verwandten Aelbehrt
anvertraut, zu welchem Alcuin in enge Beziehungen trat. Er be-
gleitete ihn noch als Jüngling auf einer wissenschaftlichen Reise
nach Rom, dem Hauptmarkte für die Erwerbung von Handschriften,
er wurde sein Nachfolger in der Leitung der Yorker Schule, als Ael-
behrt 766 nach Egberts Tode den erzbischöflichen Stuhl bestieg.
Alcuin erzählt uns selbst, worin der Unterricht an der Schule
bestand. Die Geheimnisse der heiligen Schrift wurden erläutert.
Daneben wurden Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Musik und Poesie
gelehrt. Auch die exakten Wissenschaften kamen nicht zu kurz.
Astronomie und eigentliche Naturgeschichte, die Osterrechnung bil-
deten besondere Lehrgegenstände, die in gleichem Inhalte uns auch
bei Beda begegnet sind, und die von Alcuin mutmaßlich nicht viel
anders gelehrt wurden als es bei seinen Vorgängern aufwärts bis zu
Isidorus, zu Cassiodorius, zu Victorius der Fall gewesen war.
Er wurde durch die gleichen Werke römischer Gelehrsamkeit
unterstützt, welche in der Büchersammlung von York sämtlich vor-
') Histoire UtUraWe de Ja France par des religieux Benedictina VT, 70, und
Sickel, Die Lunarbuchstaben in den Kaiendarien des Mittelalters. Sitznngsber.
d. Wiener Akademie. Philoßoph.-histor. Klasse XXXVIII, 168 (1876). ") Karl
Werner, Alcuin und sein Jahrhundert. Paderborn 1876. Kurz, aber übersicht-
lich istDümmlers Artikel „Alkuin^^ \^ dei Allgemeinen deutschen Biographie I,
843—348 (1876).
832 S8. Kapitel.
nltig waren. Hat doch Alcuin in dem Gedichte^), in welchem er
der Unterrichtszweige gedenkt, auch ein Verzeichnis von solchen
Schriften gegeben, die in York zu finden waren:
Finden wirst dort du die Spur der alten Väter der Kirche,
Finden was für sich der Römer im Erdkreis besessen
und was Griechenlands Weisheit lateinischen Völkern gesandt hat.
Auch was das Volk der Hebräer aus himmlischem Regen getrunken,
Oder was Afrika hat hellfließenden Lichtes verbreitet.
Natürlich ist bei dem letzten Verse vorwiegend an Augustinus zu
denken; bei dem auf Griechenland bezüglichen an ihn selbst den
scharfsinnigen Aristoteles — ipse acer Aristoteles — welche beide im
weiteren Verlaufe ausdrücklich genannt sind. Kaum festzustellen
dürfte freilich sein, ob aristotelische Originalschriften, ob, worauf
die Bemerkung Griechenlands Weisheit sei den Lateinern zugesandt
eher zu deuten scheint, nur die lateinischen Bearbeitungen durch
Boethius vorhanden waren. Von römischen Schriftstellern waren
nach Alcuins Aussage unter vielen anderen Victorinus, wahrscheinlich
der Grammatiker dieses Namens aus dem IV. S., vielleicht aber auch
der Schriftsteller, den wir als Victorius kennen gelernt haben,
Boethius, Plinius vertreten. Beda wird neben diesen als ebenbürtiger
Schriftsteller genannt.
Erzbischof Aelbehrt starb 780, und nun wurde Alcuin nach Rom
gesandt, um für dessen Nachfolger die päpstliche Bestätigung einzu-
holen. Auf dieser Reise traf er in Parma mit Karl dem Großen
zusammen, welcher ihn schon vorher sei es persönlich, sei es durch
den Ruf der Gelehrsamkeit, der um den Yorker Schulvorsteher sich
weiter und weiter verbreitete, kennen gelernt hatte. Karl wüuschte
ihn bei sich zu haben, um den Stand des Wissens in Deutschland
auf eine bessere Stufe zu bringen, und nach Einholung der Erlaub-
nis seiner Vorgesetzten folgte Alcuin der kaiserlichen Einladung 782.
Nach achtjährigem Aufenthalte an dem Kaiserhofe, der übrigens nicht
an einem und demselben Orte sich aufhielt, sondern bald da, bald
dort seinen Sitz hatte, kehrte Alcuin nach der Heimat zurück, dann
wieder zu Karl, der ihn nicht missen woUte, und als Alcuin ge-
brechlich und von häufigen Krankheiten heimgesucht das beschwer-
liche Leben eines wandernden Hofstaates nicht länger mitmachen
konnte, wurde ihm die ersehnte Zurückgezogenheit in einer Art, wie
') Poema de Pontificibus et Sanctis eccUaiae Ehoracensis (d. h. von York)
in den Monumenta Alcuiniana (ed. Wattenbach et Dümmler). Berlin 1873
als VI. Band der Biblioiheca rerutn Germanicarum. Der Studienplan ist ge-
schildert V. V. 1431 sqq. (S. 124 — 125), das Bücherverzeichnis v. v. 1634 sqq.
<S. 128).
ElostergelehrBamkeit bis zum AuBgange des X. Jahrhunderts. 833
«r sich dieselbe keineswegs gedacht hatte. Karl der Gbroße schickte
ihn 796 als Abt nach dem Kloster St. Martin in Tours , dessen
Mönche einer strengeren Zucht als unter dem gerade verstorbenen
Abte in hohem Grade bedürftig waren. Alcuin bat hier eine be-
rühmte Elosterschule gegründet^ aus welcher zahlreiche Lehrer her-
Torgingen^ die alsdann in gleichem Sinne, wie sie erzogen und
unterrichtet worden waren, an anderen Orten wirkten. Alcuin hat
auch die großartige Büchersammlung in Tours ins Leben gerufen.
So waren seine letzten Lebensjahre reich erfüllt. Er starb den
19. Mai 804.
Die Bedeutung, welche Alcuin für die Geschichte der Mathematik
besitzt, liegt auf zweifachem Gebiete. Sie ist zu suchen in seinen
Verdiensten um das ünterrichtswesen und in seiner schriftstellerischen
Tätigkeit.
Wir haben Alcuin am Morgen seines Lebens als Lehrer in York
wirken sehen. Wir haben von den nachhaltigen Erfolgen andeutungs-
weise gesprochen, die seine Lehrtätigkeit in Tours am Abende seines
Lebens gehabt hat. Lehrer war er auch am Hofe Karls des Großen.
War doch der Kaiser selbst, der an Wissenslust es allen zuvortat,
kaum des Schreibens kundig, und so der Schule nur dem Alter nach
entwachsen. Die Roheit der Zeit brachte das nun einmal mit sich,
und ihr müssen wir es auch zuschreiben, wenn wir dem Gelehrtesten
der Gelehrten, wenn wir Alcuin selbst fast nichts nachrühmen können
als eine Aneignung fremden Stoffes. Der Verkehr Alcuins mit den
hochgestellten Schülern und Schülerinnen mußte selbstverständlich
ein anderer sein als er in der Klosterschule gebräuchlich war, ein
anderer auch als er zwischen denselben Persönlichkeiten und sonstigen
Hofbeamten herrschte. Damit größere Zwanglosigkeit gestattet war,
legte Alcuin allen Mitgliedern der Schule, den Kaiser und sich selbst
nicht ausgenommen, Beinamen bei, die der Bibel oder dem Alter-
tum entnommen waren. Der Kaiser war König David oder König
Salomo, Alcuin war Flaccus, die geistreiche Guntrada, Karls Ge-
schwisterkind, war Eulalia genannt usw. Damit aber der mitunter
trockene Lehrgegenstand den Schülern nicht zuwider würde, kleidete
der Lehrer die an sich ernsthaft gemeinten Fragen nicht selten in
das Gewand scherzhafter Rätsel, mitunter sogar dem derben, unfeinen
Ton huldigend, welcher am Karolingerhofe zu Hause war. Der von
Alcuin auf solche Weise erteUte Unterricht fand begeisterten Anklang.
Um so dringender wurde Karls Wunsch ähnlich gebildete Lehrer
seinem Volke zu geben. Ein Kapitulare von 789 aus Aachen datiert
bestimmt, die Domstifte und Klöster sollen öffentliche Knabenschulen
unterhalten, in welchen der Unterricht in den Psalmen, in Noten, im
GA.NTOB, Geschichte der Mathematik I. 3 ja 68
834 38. Kapitel.
Gesang, im Computus, in der Grammatik erteilt werden solle ^). Wir
haben absichtlich das Fremdwort Computus hier beibehalten, um es
zweifelhaft zu lassen, ob nur der vorzugsweise so genannte camputuSy
d. h. die von uns mehrfach besprochene Osterrechnung gemeint sein
mag, oder, wie es uns viel wahrscheinlicher däucht, da von einem
Lehrgegenstande fQr irgend welche Ejiaben, nicht für angehende
Mönche die Bede ist, das Rechnen überhaupt. Wenige Jahre später
beruft Karl Theodulf als Bischof von Mainz (794) aus Italien, ihn
an die Spitze einer Domschule zu stellen. Für den Unterricht darf
nichts genommen werden, als was von den Eltern freiwillig gegeben
wird. Daß die Kinder aber zur Schule geschickt werden, bleibt
nicht dem freien Willen der Eltern überlassen. Mit Strafen werden
diese zur Erfüllung ihrer Pflicht angehalten. Mit der Volksschule
tritt der Schulzwang ins Leben*).
Wir haben von Alcuins schriftstellerischer Tätigkeit zu reden
und bringen unter diesem Titel Aufgaben zur Sprache, von denen es
allerdings nicht sicher ist, ob sie Alcuin angehören. Daß sie ein
altes Gepräge tragen, mag schon daraus entnommen werden, daß sie
früher in den Druckausgaben nicht bloß von Alcuins, sondern auch
von Bedas Werken Aufnahme fanden, während sie diesem letzt-
genannten wohl unter keinen Umständen angehören*). Die Zuweisung
an Alcuin beruht auf mehreren Gründen, deren jeder einzeln für sich
nicht sonderlich schwerwiegend ist, die jedoch in ihrer Gesamtheit
vielleicht genügen, den Ausschlag zu geben. Wir haben erst davon
gesprochen, daß Alcuin es liebte, bei seinem Unterrichte eine gefällige,
oft scherzhafte Form der Fragestellung oder der Beantwortung zu
wählen, letztere Form insbesondere nach griechischem Muster des
Atheners Secundus aus dem I. und U. S. n. Chr., von welchem einige
Alcuinische Fragen und Antworten ethischer und kosmographischer
Art wörtlich entlehnt erscheinen*). Die Rätselform ist aber auch die
der Aufgaben zur Verstandesschärfung, propos^itiones ad aciAen-
dos iuvenes. Man hat femer darauf aufmerksam gemacht, daß deren
Schreibweise überhaupt mit der Alcuins übereinstimme^). Man hat
weiter auf einen Brief Alcuins an Karl den Ghroßen sich bezogen, in
welchem der Briefsteller sagt, er schicke gleichzeitig einige Proben
arithmetischen Scharfsinnes zur Erheiterung^) und hat vermutet diese
Proben seien eben jene Aufgaben, insgesamt oder teilweise. Dem
*) Werner, Alcuin S. 86. *) Lorenz von Stein, Das Bildungswesen
jdes Mittelalters, II. Auflage, S. 66 (Stuttgart 1883). ") Bedae Opera (ed.
Giles) Bd. VI. Vorrede S. XIII. *) Werner, Alcuin S. 18. *) Giles 1. c.
^) Mofiumenta Alcuiniana, Epistula 112, pag. 459: Misi cUiqutiS figuras Arith-
meticae subtilitalis laetitiae causa.
ElostergelehrBamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 835
gegenüber hat man freilich einzuwenden gewußt^), unter Proben
arithmetischen Scharfsinnes zur Erheiterung habe Alcuin ganz anderes
verstanden, nämlich Anwendung zahlentheoretischer Begriffe auf
Bibelerklämng, wie sie in einzelnen seiner Briefe und Schriften vor-
kommen. So habe, nach ihm, 6ott, der alles gut schuf, sechs Wesen
geschaffen, weil 6 eine vollkommene Zahl sei; 8 aber ist eine maugel-
hafbe Zahl,
l + 2 + 4-7<8,
und „deswegen geht der zweite Ursprung des Menschengeschlechtes
von der Zahl 8 aus. Wir lesen nämlich, daß in Noahs Arche acht
Seelen gewesen, von welchen das ganze Menschengeschlecht abstammt,
um zu zeigen, der zweite Ursprung sei unvollkommener als der erste,
welcher nach der Sechszahl geschaffen wurde**'). Beispiele solcher
Zahlenmystik könnten gehäuft werden. Man könnte an einen Brief
Alcuins erinnern, in welchem von den Zahlen 1 bis 10 gesagt wird,
welche Beziehungen zu Gegenstönden der Heiligen Schrift sie haben').
Man könnte bis auf Isidorus zurück*) merkwürdige Gedankenver-
knüpfungen verfolgen, in deren Nachahmung Alcuin die Zahl 153
der Fische, welche Petrus auf einen Zug fing^), zu erklären weiß,
ausgehend von
153 - 3 . 3 . 17 - 1 -h 2 -f 3 -f . • + 17
in Verbindung mit 51 = 50 -h 1 usw. *). Wir lassen es dahingestellt,
ob diese Verweisungen, mögen sie selbst dem, was Alcuin an Karl
schickte, einen anderen Inhalt geben können als nach der zuerst aus-
gesprochenen Vermutung, in Widerspruch stehen zu der Annahme,
Alcuin habe die Aufgaben zur Verstandesschärfong zusammengestellt.
Wir geben zu bedenken, daß, wer nach der einen Richtung mit
Zahlenspielereien, die ihm freilich mehr als das, die ihm heiliger
Ernst waren, sich beschäftigte, auch nach der anderen Seite Freude
an Zahlenbetrachtungen haben und erregen konnte.
Wir wenden uns zur Erörterung dessen, was die Handschriften
zur Entscheidung der Frage, von wem die Aufgaben der Verstandes-
schärfung herrühren, beizutragen vermögen? Rechenrätsel, welche
einander insgesamt ähnlich sehen, finden sich in den aller verschieden*
sten Handschriften vor^). Wohl die älteste solche Handschrift ist
*) Hankel S. 310—311. *) Monumenta Älcuiniana, Epist, 269, pag. 818
bia 821. ») Ebenda Epist 260, pag. 821 — 824. *) Isidoruß, Be numeris
cap. 27. Auf diese Quelle ist zuerst ati&nerksam gemacht bei Werner, Gerbert
▼on AuriUac. Wien 1878, S. 66, Anmerkung 2. ') Evangelium Johannes XXI, 11.
^ Werner, Alcuin S. 168. ') Herm. Hagen, Antike und mittelalterliche
Rätselpoesie. U. Ausgabe. Bern I877 S. 29—34.
836 38. Kapitel.
diejenige, aus welcher die uns hier beschäffcigeaden Aufgaben zum
Abdrucke gelangt sind^). Sie gehört, wenn nicht alle Zeichen der
Schriftvergleichung trügen, dem Ende des X. oder Anfange des XI. S.,
in runder Zahl dem Jahre 1000 an, und stammt aus dem Erlöster
Reichenau, welches auf einer Rheininsel am Ausgange des Bodensees
durch den Irländer Pirmin um 725 gegründet worden war und wie
wir uns erinnern (S. 577) schon 821 im Besitze einer schönen ord-
nungsgemäß aufgezeichneten Büchersammlung sich befand. Die Hand-
schrift ist eine Sammelhandschrift und beginnt mit Alcuins Erläute-
rungen zur Genesis, welche durch deü in einer Widmungsformel ent-
haltenen Namen ihren Verfasser selbst yerraten. Die Erläuterungen
schließen mitten auf der Vorderseite eines Blattes, und nun folgen
ohne irgend welche Raumunterbrechung enge sich anschließend die
Aufgaben zur Verstandesschärfung: incipiunt capüida propositionum
ad acuendos iuvenes von dem gleichen Schreiber auf das Pergament
gebracht. Ein Verfasser ist nicht angegeben, aber eben deshalb hat
man gefolgert, Alcuin sei es, weil die Unmittelbarkeit des Anschlusses
zu dieser Behauptung aufmunterte, welche in den schon angegebenen
allgemeinen Betrachtungen Unterstützung fand.
Eines kann mit Bestimmtheit gesagt werden: die Handschrift
rührt nicht Ton dem sachverständigen Sammler der Aufgaben her,
möge er Alcuin oder wie immer geheißen haben, sondern von einem
Mönche, der als Schreibkünstler geschickter war denn als Rechner,
sonst würde er nicht so verhältnismäßig häufige Fehler in den
Zahlen sich zuschulden haben kommen lassen, wie sie nur einem
Abschreiber, nicht einem, der selbst rechnet, vorkommen können.
Auch dieser Umstand dient dazu, die Entstehung der Sammlung in
eine Zeit hinaufzurücken, die älter ist als das Jahr 1000, und wir
machen darum von der nun einmal durch den Herausgeber^) von
Alcuins Werken hergestellten Überlieferung Gebrauch, jene Aufgaben,
die in einer Geschichte der Mathematik unter allen Umständen be-
sprochen werden müssen, unter Alcuins Namen einzureihen. Sollten
spätere Untersuchungen je einen anderen Verfasser an das Licht
ziehen, so werden sie den Umstand doch sicherlich nicht zu ent-
kräften imstande sein, daß er vor 1000 gelebt haben muß, daß
also die Aufgaben ein Bild klösterlicher Gelehrsamkeit vor diesem
Zeitpunkte uns bieten. Glänzend freilich ist das Bild nicht, aber
*) Über die Handschrift vgl. Agrimenaoren S. 139—143. *) Abt FrobeniuB
von St. Emmeran in Regensburg 1777. Sein weltlicher Name war Frobenius
Förster. Er lebte 1709—1791. Vgl. Allgemeine deutsche Biographie VII, 163.
Die Propositümes ad acuendos iuvenes sind abgedruckt in Alcuini Opera (ed.
Frobenius) 11, 440—448.
Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 837
doch nicht so farblos wie nach den dürftigen Nachrichten, welche
wir über das mathematische Wissen eines Isidorus, eines Beda allein
zn geben imstande waren, erwartet werden möchte. Vielleicht ist
zum Vergleiche darauf hinzuweisen, daß auch in einer Veroneser
Handschrift des IX. Jahrhunderts eine poetisch eingekleidete arith-
metische Aufgabe gefunden worden ist^).
Es sind algebraische und geometrische Aufgaben, welche hier
auftreten, daneben solche, die nicht durch Rechnung, sondern mehr
durch einen witzigen Einfall gelöst werden können, und überall, wo
es möglich ist von einer Geschichte der betreffenden Aufgaben zu
reden, d. h. ihr früheres Vorkommen zu bestätigen, sind es immer
römische Quellen, auf welche man hinweisen muß. Von diesen Auf-
gaben seien einige hier erwähnt. Die 6. Aufgabe ist eine von denen
mit nicht mathematischer Auflösung. Zwei Männer kauften für 100
solidi Schweine, je 5 Schweine zu 2 solidi. Die Schweine teilten
sie, verkauften dann wieder 5 für 2 solidi und machten dabei ein
gutes Geschäft, wie ging das zu? Sie hatten die 250 Schweine,
welche sie gemeinschaftlich besaßen, in zwei gleiche Herden von
je 125 Schweinen geteilt, so daß der eine aUe fetteren, der andere
alle weniger fetten Schweine vor sich hertrieb. Der erste verkaufte
120 von seiner Herde, indem er 2 für einen solidus gab, der zweite
verkaufte gleichfalls 120, indem er 3 für einen solidus gab. Tat-
sächlich wurden 5 Schweine für 2 solidi hergegeben. Der Erlös des
ersten betrug 60, der des zweiten 40 solidi, und damit war die Aus-
lage gedeckt, während den Händlern noch 10 Schweine, je 5 von
jeder Wertsorte, übrig blieben. — Die 8. Aufgabe ist eine Brunnen-
aufgabe, wie sie so häufig seit Heron uns begegneten. — Die 23.
und 24. Aufgabe lehren die Fläche eines viereckigen und eines drei-
eckigen Feldes nach denselben Näherungsregeln messen, deren die
gefälschte Geometrie des Boethius (S. 586) und die Vorschrift zur
Juchartausmessung (S. 591) sich bedienen: das Viereck gilt als Pro-
dukt der halben Summen einander gegenüberliegender Seiten, das
Dreieck als Produkt der halben Summe zweier Seiten in die Hälfte
der dritten Seite. — An die Juchartausmessung erinnert auch die
25. Aufgabe von dem runden Felde, dessen Fläche gefunden wird,
indem der Umfang 400 durch 4 geteilt und der Quotient quadriert,
d. h. Ä = 4 angenommen wird. — Wir könnten noch recht vielerlei
Aufgaben vergleichen und meistens Dinge erkennen, welche den römi-
schen Ursprung wahrscheinlich machen. Nur drei Aufgaben heben
wir noch hervor. Die 26. Aufgabe führt die Überschrift De cursu
») E. Dümmler in der Zeitschr. f. deutsch. Altert. XXIII, 261 flg. (1879).
838 38. Kapitel.
cbuks bc fugb lepprks. Nach Yertauschimg von Eonsonanten mit
ihnen im Alphabete unmittelbar vorhergehenden Vokalen, wie sie
(S. 803) auch bei Johannes von Sevilla an gewissen Stellen sich als
notwendig erwies, wird daraus De cursu canis ac fuga leporis. Es
ist die allbekannte Aufgabe von dem Hunde, welcher dem Hasen
nachläuft, während der Hase 150 Fuß voraus ist, di^egen nur 7 Fuß
weite Sprünge macht, der Hund aber 9 Fuß weit springt. Zum
Zwecke der Auflösung wird 150 halbiert und daraus mit Recht ge-
folgert, daß der Hund den Hasen in 75 Sprüngen einholen werde.
— Die 34. Aufgabe lautet wie folgt: Wenn 100 Scheflfel unter
ebensoviele Personen verteilt werden, so daß ein Mann 3, eine
Frau 2 und ein Kind y SchefiFel erhält, wieviele Männer, Frauen
und Kinder waren es? Die Antwort ist 11 Männer, 15 Frauen,
74 Kinder. Das ist die erste unbestimmte Aufgabe in lateinischer
Sprache, die uns vorkommt. Es ist dabei bemerkenswert, daß der
Text der Aufgabe die Möglichkeit nicht ganzzahliger Auflösungen
ausschließt, daß von den ganzzahligen Auflösungen nur eine ange-
geben ist, daß die Art wie dieselbe gefunden worden sei, auch nicht
einmal angedeutet ist. — Noch interessanter ist die 35. Aufgabe.
Ein Sterbender verordnet letztwillig, daß, wenn seine im schwangeren
Zustande zurückgelassene Witwe einen Sohn gebäre, der Sohn ^^
13!
3 3 <
oder — , die Witwe ^ oder — des Vermögens erben solle; gebäre
sie aber eine Tochter, so solle diese , die Witwe — des Ver-
mögens erben. Das ist dem Inhalte, wenn auch nicht den bestimmten
Zahlen nach, die in den Pandekten enthaltene Teilungsfrage, deren
römische Auflösung wir (S. 562) kennen gelernt haben. Der Sammler
der Aufgaben zur Verstandesschärfung hat sich in der von ihm ge-
gebenen Auflösung als einen Mann erwiesen, der in den Sinn letzt-
williger Verfügungen einzudringen nicht imstande war, als einen
Nachahmer der Römer, der unmöglich selbst Römer gewesen sein
kann. Er löst deshalb auch die Aufgabe so verkehrt, als sie über-
haupt allenfalls gelöst werden kann. Er sagt: Um Mutter und Sohn
zu befriedigen, bedarf es 12 Teile, um Mutter und Tochter zu be-
friedigen, gleichfalls, zusammen also 24 Teile. Davon erhält in
erster Linie der Sohn 9, die Mutter 3, in zweiter Linie die Mutter 5,
die Tochter 7, die Teilung vollzieht sich also in dem Verhältnisse,
daß die Mutter JT = , der Sohn 04 "^ T ^ ^^® Tochter — der
Hinterlassenschaft zu beanspruchen hat. — Wir haben unsere Aus-
wahl mit einer Scherzfrage begonnen, welche durch Rechnung allein
EloBtergelehrsamkeit bis zum AiisRUiffe des X. Jahrhunderts. 839
nicht zu lösen ist Mit der Erwähnnng ähnlicher Aufgaben wollen
wir schließen, nachdem wir die mathematisch interessanteren durch-
gesprochen haben. Da dürfte vor allem die 18. Aufgabe unsere
meisten Leser wie eine Erinnerung aus der Einderzeit anheimeln.
Es ist die Aufgabe von dem Wolfe, der Ziege und dem Erautkopfe,
welche in einem Boote, dessen Fährmann nur einen Reisenden gleich-
zeitig befördert, über einen Fluß gesetzt werden sollen, so daß nie-
mals Ziege und Erautkopf oder Ziege und Wolf, also niemals zwei
Feinde allein auf einem Ufer sich befinden sollen, während der
Führer mit dem Boote unterwegs ist^). Noch ein zweites Rätsel,
welches mit einigen anderen zusammen unter der besonderen Über-
schrift: „Rätsel zum Lachen^' am Schlüsse der Handschrift vereinigt
ist, hat bis auf den heutigen Tag sich erhalten; es bezieht sich auf
die von der Sonne yerzehrte Schneeflocke, welche an dem im Winter
blattlosen Baum haftete').
So bergen die Aufgaben zur Yerstandesschärfang mannigfachen
Stoff in sich, der unverwüstliche Lebenskraft in Yolkskreisen wie in
halbwegs wissenschaftlichen Schulbüchern an den Tag gelegt hat.
So befinden sich unter ihnen Aufgaben, welche auch nach rückwärts
eine vei-folgbare Geschichte besitzen, andere, welche zu immer erneuten
Versuchen auffordern, die jnoch nicht gelungene Rück Verfolgung zu
vollziehen. Fragen wir uns, welche mathematische Anforderungen
die Aufgaben an den, welcher der Lösung sich befleißigte, stellten,
so sehen wir, daß er geometrisch nicht mehr zu wissen brauchte, als
einige wenige dem praktischen Feldmesser gebräuchliche Formeln,
algebraisch nicht mehr als die Behandlung der Gleichungen vom
ersten Grade, daß Wurzelausziehungen nicht vorkommen, sondern
nur die vier einfachen Rechnungsarten und diese fast ausschließlich
an ganzen Zahlen.
Aber wie führte jene Zeit, wie führte Alcuin, wenn wir voraus-
setzen dürfen, die Sammlung rühre von ihm her, die Rechnungen
aus? Wir haben (S. 829— -830) bei Beda die gleiche Frage mit dem Zeug-
nisse des Nichtwissens abgelehnt, wir sind bei Alcuin bis zu einem
gewissen Grade in derselben Lage, aber nur bis zu einem gewissen
Grade. Zwei Stellen aus Alcuins Schriften führen nämlich zur Ver-
mutung, er habe das Eolumnenrechnen und die Apices gekannt,
welche wir bei Gelegenheit der gefälschten Geometrie des Boethius
^) Wenn Hagen 1. c. S. 31 und Anmerkong 22 dieseB Rätsel als in den
Annales Stadenses vorkommend bezeugt, so ist damit für dessen Alter gar nichts
gewonnen, da diese Annalen erst um 1240 geschrieben worden sind. *) Vgl.
Max Curtze in einer Rezension unserer Agrimensoren in der Jenaer Literatur-
zeitnng vom 12. Februar 1876.
840 38. Kapitel.
beschrieben haben. Beide Stellen finden sich in Schriftstücken, welolie
wir schon angeführt haben, ohne jedoch diese bestimmten Sätze imd
deren Bedeutung hervortreten zu lassen. Wir haben den Unterrichts-
plan, welchen Egbert an der Yorker Domschule einhalten ließ, aus
einem Gedichte Alcuins, welches zwischen 780 und 796, .wahrschein-
lich sogar zwischen 780 und 782 entstand^), angegeben. Den 144r&.
Yers dieses langatmigen Gedichtes haben wir nachholend hier nocli
anzugeben: Egbert lehrte „diversas numeri species yariasque figuras^
auseinandergehende Arten der Zahl und deren verschiedene Gestalteo.
Wir möchten so übersetzen, weil wir entschieden glauben, daß der
Genitiv numeri nicht minder zu variasque figuras als zu diversas
species gehört, und ist diese Meinung richtig, so kannte nicht bloß
Alcuin verschiedene Gestalten der Zahlen, so waren dieselben ein
regelmäßiger ünterrichtsgegenstand in York, mutmaßlich wenn nicht
zuver^.ssig auch später in Tours. Was aber konnten jene ver-
schieden en Gestalten der Zahlen sein? Wir sehen nur zwei Mög-
lichkeiten der Erklärung. Entweder sind die Apices gemeint, wie sie
in der gefälschten Geometrie des Boethius beschrieben sind, oder und
vielleicht wahrscheinlicher die Dreiecke, Vierecke, Vielecke der Zahlen^
die man aus der Arithmetik des gleichen Verfassers kannte. Beide
Möglichkeiten sind vorhanden, und eine endgültige Entscheidung wird
wesentlich von der Auffindung neuen Materials abhängen.
Die zweite Stelle könnte allerdings die Deutui^ auf die Apices
begünstigen. Wir haben eines Briefes gedacht^ in welchem Alcuin
von arithmetisch -mystischen Erklärungen zu biblischen Texten Ge-
brauch macht. In eben diesem Briefe heißt es^): „Ebenso sehen wir
die Reihenfolge der Zahlen in Gelenken, gleichsam gewissen Ein-
heiten, durch endliche Gestaltungen zum unendlichen wachsen. Denn
die erste Reihenfolge der Zahlen ist von 1 bis zu 10, die zweite von
10 bis zu 100, die dritte von der Hundertzahl bis zur Tausendzahl."
Das ist die älteste bestimmt nachweisbare Anwendung des Wortes
articulus, Gelenk, für Zahlen, und zwar für Zahlen, welche die Rolle
von Einheiten gleichsam spielen, d. h. etwas anders ausgesprochen
runde Zahlen sind. Das ist zugleich die Hervorhebung der drei
Hauptordnungen, in welche die Zahlen von 1 bis 1000 zerfallen, oder
wieder etwas anders ausgesprochen der römischen Triaden. Beide
^) Über die Datierung vgl. Wattenbach in den Monumenta Alcuiniafia
S. 80. *) Monumenta AJc^iiniana, Epist. 269, pag. 820. Item progressianem
numerarum articulis, quasi quibusdam unüatibus, ad infinita crescere per quasdam
finiUM fortneu videmus. Nam prima progresaio numerorum est ab uno usque ad
decem. Secunda a decem usque ad centum. Tertia a eentenario numero usque
ad millenarium.
Elostergelehrsamkeit bis zum Ansgange des X. JahrhiindertB. 841
Kenntnisse sind dadurch bis vor das Todesjahr Alcuins 804; in
welchem allerspätestens jener Brief geschrieben ist, hinanfgerückt^
nnd es entstünde wenigstens die Frage, ob das Wort articulns ftir
älter als die Apices zu halten ist?
Sei dem, wie da wolle, Eines können wir fortfahrend feststellen:
eine Stetigkeit der Lehren, welche von dem Kloster St. Martin bei
Tours ausgingen und an bestimmte Persönlichkeiten als Trager der-
selben sich anknüpften. Sehen wir, auf welche Weise dieselben nach
Deutschland gelangten. In der Mitte des VIII. S. war in Fulda ein
Kloster, begleitet von einer Klosterschule entstanden. Ratgar, der
dritte Abt dieses Klosters 802—814 schickte, um die Schule auf die
Höhe der Zeit zu bringen, drei junge Mönche nach St. Martin bei
Tours, daß sie dort Alcuins Unterricht genössen und so zu toII-
endeten Lehrern würden. Einer dieser jungen jedenfalls unter den
begabtesten IQosterzöglingen ausgesuchten Männer war Hrabanus
Maurus^), der erste Lehrer Deutschlands, primus praeceptor Ger-
maniae, wie er genannt worden ist. Die Verdienste desselben um
die deutsche Sprache, welche er zu einem lateinisch-deutschen Bibel-
glossar anwandte, wie die meisten seiner zahlreichen Schriften liegen
weit außerhalb des Bereiches unserer Untersuchungen. Wir würden
uns nur mit den Schriften über die sieben freien Künste zu be-
-«^haftigen haben, welche er in mindestens ebensovielen Teilen be-
handelt hat, wenn dieselben uns erhalten wären. Leider ist dieses
nicht der Fall. Die Arithmetik, die Musik, die Geometrie sind ver-
loren gegangen. Statt einer eigentlichen Astronomie ist ein in Ge-
sprächsform gehaltener Computus auf uns gekommen*), welcher, wie
zahlreiche Stellen beweisen'), im Jahre 820 verfaßt ist. Dieser
Computus ist ziemlich genau nach Bedas chronologischen Arbeiten
gebildet und enthält kaum etwas für die Geschichte der Mathematik
Wissenswertes, so daß man ihn wohl in negativer Weise verwertet
hat, um zu schließen, ein Abacus und dergleichen könnten damals
nicht Lehrgegenstände gewesen sein, weil auch gar nicht davon die
Rede sei. Wir überlassen es unseren Lesern, wieviel Gewicht sie
auf das Nichtvorhandensein einer Beschreibung in einer Schrift legen
wollen, welche in innigem Zusammenhange mit anderen Schriften
stand, die sämtlich verloren gegangen sind. Zu einer Bemerkung
nötigt uns die Unparteilichkeit. In einem Kapitel des Computus
des Hrabanus erscheinen in auffallendem Zusammenhange die Wörter
^) Werner, Alcain S. 101^ ^^qO. Dümmler, HrabanuBstadien in den
Sitzungsberichten der Berliner A^b ^eini^ 1B98 , S. 24 ^gg. *) Abgedruckt in
Baluze, Miscellanea I, 1—92. P^^^ ^^78. *) Ebenda pag. 43, 61 und h&ufiger.
842 38. Kapitel
digitus nnd articalns^). Sie betreffen nicht^ wie man zunächst rer-
mnten könnte^ Finger- nnd Gelenkzahlen^ sondern eine eigentümliche
Gedächtnishilfe an den Enochehi der Hand. Von älteren Schriften
sind bei Hrabanus genannt: die Arithmetik des Boeihins'), die
Origines des Isidoms*), die Osterrechnnng des Anatolins^). Zwei
Jahre^ nachdem Hrabanus seinen Gomputus verfaßt hatte, wurde
er zum Abte seines Klosters gewählt und stand ihm 20 Jahre hin-
durch bis 842 mit wirksamem Eifer vor. Dann zog er sich in ein
stilleres Leben zurück, welches er jedoch 847 wieder aufgeben mußte,
um Erzbischof ron Mainz zu werden. Als solcher starb er 856.
Männer der Fuldaer Schule trugen ihrerseits die Wissenschaft
weiter, welche Hrabanus Maurus und seine Genossen aus Tours mit-
gebracht hatten. Walafried Strabo, 806 in Allemanien geboren,
wurde 842 Abt zu Reichenau. Aus den Schriften dieses 849 yer-
storbenen Mannes und anderen gleichzeitigen Werken ist 1857 durch
Pater Martin Marty in Einsiedeln eine Abhandlung „Wie man Tor
1000 Jahren lehrte und lernte'^ zusammengestellt worden, worin die
Stelle vorkommt: „Im Sommer 822 begann ich unter Tattos Leitung
das Studium der Arithmetik. Zuerst erklärte er uns die Bücher des
Konsuls Manlius Boethius über die verschiedenen Arten und Eintei-
lungen, sowie über die Bedeutung der Zahlen; -dann lernten wir das
Rechnen mit den Fingern und den Gebrauch des Abacus nach den
Büchern, welche Beda und Boethius darüber geschrieben haben.^^
Leider stammt diese Erzählung nicht aus einem wirklich vorhandenen
Tagebuch, sondern wurde vom Verfasser als seinen persönlichen ge-
schichtlichen Ansichten entsprechend Strabo in den Mund gelegt^),
so daß man eine Beweiskräftigkeit dieser, wenn auf Angaben aus
dem IX. S. gestützten, imwiderlegbaren Erzählung nicht zu behaupten
vermag.
Ein anderer Schüler Hrabans war Heiric von Auxerre, der selbst
wieder in Remigius von Auxerre*) seinen Nachfolger sich heran-
bildete. Schon vorher hatte Remigius in dem Kloster Perri&res den
Unterricht von Servatus Lupus, einem Zöglinge des Klosters St. Martin
bei Tours, genossen und so aus doppelter Vermittlung die wissen-
schaftlichen Anregungen Alcuins in sich aufgenommen. Remigius
muß daher, wenn einer, als mittelbarer Schüler Alcuins gelten, imd
er selbst trat nach 877 an die Spitze einer Schule, deren spätere
*) Abgedruckt in Bai uze, Miscellanea I, pag. 70 — 71. Be reditu et com-
puto arHculari utrarumque epactarum solis et lunae. *) Ebenda pag. 7.
■) Ebenda pag. 8. *) Ebenda pag. 83. ^) Vgl. einen Brief von P. Marty
an H. Suter in Zeitschr. Math. Phjs. XXIX. Histor.-literar. Abtlg. ^ Werner,
Alcnin S. 110.
KlostergelehrBamkeit bis zum Auegange des X. Jahrhunderts. 843
große Bedeutung uns nötigt^ ihres Stifters zu gedenken. Es war
eine Schule zu Paris^ und zwar eine Schule, die nur als solche, nicht
in Verbindung mit einem Kloster eingerichtet wurde. Aus ihr ent-
wickelte sich später die Pariser Universität. Aber vor seiner
Pariser Lehrtätigkeit machte sich Remigius um das Schulwesen einer
Stadt verdient, welche uns im nächsten Kapitel von Wichtigkeit sein
wird, um das Schulwesen Ton Rheims, wohin er durch den Erzbischof
Fulco berufen worden war. Remigius starb 908.
Führten diese Männer die Lehren und das Lehrverfahren der
Schule von St. Martin bei Tours in östlicher und nördlicher Rich-
tung weiter, freilich ohne daß ihre Bemühungen von glänzendem
Erfolge begleitet gewesen wären, indem yielmehr von der Mitte des
IX. S. an die Zahl derer, welche realen Lehrgegenständen sich zu-
wandten, mehr und mehr wieder abnahm, zuletzt aus einzelnen Per-
sönlichkeiten nur bestehend, so knüpft sich an einen anderen Zög-
ling derselben Mutteranstalt eine südlich gewandte Fortleitung, an
Odo von Cluny^). Ein Edelmann, der am Hofe Wilhelms des
Starken des Herzogs von Aquitanien lebte, hatte lange kinderlos
seine Nachkommenschaft, wenn ihm solche würde, dem Dienste des
heiligen Martin zugelobt, und so war über die Bestimmung des
jungen Odo schon verfügt, als er um 879 geboren wurde. Im Knaben-
alter in das Kloster St. Martin aufgenommen, genoß er den Unter-
richt des Scholastikus, d. i. des Stiftslehrers Odalric. Nicht ganz im
Einklang mit seinen Lehrern, welche ihn länger bei weltlichen Lehr-
gegenständen festhalten wollten als es ihm behagte, verließ er Tours
und begab sich zu Remigius nach Paris. Nach einiger Zeit kehrte
er nach Tours zurück, wo aber das zügellose Leben, welches unter
den dortigen Mönchen eingerissen war, ihn mit Widerwillen erfüllte.
Nun zog er sich in die Zisterzienser- Abtei Baume zurück, welche
mit verschiedenen anderen Klöstern im engsten Zusammenhange
stand, und wurde 927, als der gemeinsame Abt Bemo dieser Klöster
starb, auf die letztwillige Verordnung des Verstorbenen hin zum
Abte von Clunj gewählt. Mit eiserner Strenge führte er dort die
Herrschaft, so daß sein IQoster und die damit verbundene Schule
bald allgemein als Musteranstalten an Zucht und Ordnung galten, und
er selbst bald da bald dorthin gerufen wurde, um gleiche Reformen
«inzuführen (wie z. B. nach dem am Anfange des X. S. in der Auvergne
gegründeten Kloster AuriUac, dessen dritter Abt er war, wie 937
nach dem Mutterkloster des Ordens auf Monte Casino)^ oder um
mannigfache Streitigkeiten zu schlichten. Odo starb 942 oder 943.
») Math. Beitr. Kulturl. 8. 29^^30«. Werner, Alcuin S. 112—114.
844 S8. Kapitel.
Ein wahrscheinlich dem Xu. S. angehörender tmter dem Namen des
Anonymus von Melk bekannter Schriftsteller^ welcher in 117 Kapiteln
in überaus trockenem aber dadurch nur um so yertrauenswerterem
Tone einzelne Mönche nennt und deren Werke angibt, hat im
75. Kapitel zwei Schriften Odos gerühmt^): ein Werk über die Be-
schäftigungen von höchster Trefflichkeit und ein ziemlich brauchbares
Zwiegespräch über die Kunst der Musik. Als Datum jener Schrift
gilt 926 y also die Zeit, welche der Erwählung Odos zum Abte vor-
anging, was die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der Angabe nur
erhöht. Viele mittelalterliche Abhandlungen über Musik haben hand-
schriftlich sich erhalten, nicht gerade wenige davon sind auch ge-
druckt, und daunter sind mehrere, welche Odo von Cluny als Ver-
fasser beigelegt werden. Eine solche Abhandlung, in verschiedenen
Abschriften erhalten, entspricht der von dem Anonymus von Melk
gegebenen Beschreibung insofern, als sie allein von allen in Gesprächs-
form abgefaßt und wirklich „ziemlich brauchbar'^ ist. Eine Hand-
schrift dieser musikalischen Abhandlung stammt aus dem XlII. S.
und gehört der Wiener Bibliothek an.
In demselben Bande, in welchem das Gespräch über Musik zum
Abdrucke kam^), ist auch eine andere Schrift nach demselben dem
XIII. S. entstammenden Wiener Kodex 2503, welcher jenes Gespräch
über Musik enthält, veröffentlicht. Diese andere Schrift führt den
Titel: „Regeln des Abacus von dem Herrn Oddo" und würde, wenn
sie wirklich mit Recht Odo von Cluny beigelegt werden dürfte*)^
von ungemeiner geschichtlicher Bedeutung sein. Leider ist eine Ge*
wißheit dafür so wenig vorhanden, daß die meisten Geschichts-
forscher weit mehr der Auffassung sich zuneigen, die Regeln des
Abacus seien nicht so gar lange vor Entstehung ihrer Niederschrift
aus dem XIH. S. von irgend einem anderen späteren Oddo oder Odo
nicht vor dem XI. oder XII. S. zusammengestellt, eine Meinung, für
welche man allenfalls auch auf den Umstand sich beziehen könnte,,
daß Odo von Cluny, wie wir oben sahen, bei seinem eigenen Bildungs-
gange dem Verweilen bei ähnlichen Dingen sich widerwillig zeigte»
*) Diälogum satis utilem de Musica arte composuit Scripsit praeterea librum
praestantissimum miynachisgue utüissimum, Ubrum videlicet Occupationum. AU
Bandzahl steht danehen 926. *) Scriptores eccksitistici de tntisica herausgegeben
durch Abt Martin Gerbert von St. Blasien. St. Blasien 1784. I, 252 — 264
der Dialog über Mnsik^ ibid. 296 — 802 BegtUae Domini Oddonis super äbctcum.
Ambr. Sturm in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge IIT, 189 (1902). ») Th.
H. Martin, Origine de notre Systeme de num^ation icrite in der BemAe archeo-
logique von 1866, S. 83 des Sonderabzuges hat wohl zuerst diese Autorschaft ver-
treten, eine Ansicht, der wir uns in den Math. Beitr. Eulturl. anschlössen.
Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 845
Ohne diese Gründe als zwingend anzuerkennen , da man gar oft als
Schüler andere Ansichten von dem zn Erlernenden oder zu Vernach-
lässigenden hat als später als Lehrer^ können wir doch ebenso wenig
eine unbedingte Widerlegung führen. Wir wollen daher diese Regeln
erst im 40. Kapitel unter dem XII. S. näher beschreiben.
Wir wenden uns gegenwärtig zn einer Schrift , welche gesicher-
terer Entstehung eine Anzahl von Jahren vor 985 geschrieben ist
und von Abbo von Fleury herrührt*). Abbo ist in Orleans ge-
boren^ hat an den uns bekannten Schulen von Paris und Rheims,
zuletzt in seiner Vaterstadt Orleans studiert, und trat darauf in das
Benediktinerkloster Fleury ein. Nachdem er ihm eine Anzahl von
Jahren angehört hatte, trat er eine zweijährige Reise nach England
an, und von dort zurückgekehrt wurde er Abt seines Klosters. Als
solcher scheint er zu Gewaltmaßregeln, die sein leicht aufbrausender
Zorn ihm eingab, geneigt gewesen zu sein, und er starb wirklich
eines gewaltsamen Todes auf einer Reise, wie die einen sagen auf
Anstiften eines seiner Mönche ermordet, wie die anderen sagen in
einem auf dem Wege entstandenen Raufhandel. Sein Todesjahr war
1003 oder 1004. Auch die Angaben über die Reise nach England
wechseln von den Jahren 960 — 962 bis zu den Jahren 985 — 987.
In England hat Abbo grammatische Untersuchungen angestellt, welche
er als Quaestiones grammaticales niederschrieb. Unter die gramma-
tischen Untersuchungen gerieten auch Betrachtungen über die ge-
heimnisvolle Bedeutung der einzelnen Zahlen, welche aber Abbo
ziemlich kurz abtut, weil er, wie er sagt, ausführlich darüber in
einem Büchlein gehandelt habe, welches er einst durch die Bitten
seiner Klosterbrüder bezwungen zu dem Rechenbuche des Victorius
über Zahl, Maß und Gewicht herausgegeben habe^). Da nun ein
Kommentar zu dem Rechenknechte des Victorius (S. 531) sich auf-
gefunden hat, welcher zwar namenlos ist, aber in den ersten Ein-
leitungszeilen genau dieselbe Redewendung von den nötigenden
Bitten der Klosterbrüder, dieselbe Inhaltsangabe über Zahl, Maß
und Gewichte aufweist, welcher Zahlenmystik bis zum Überdrusse
breitschlägt, welcher handschriftlich nicht später als im XI. S. ent-
standen sein kann, welcher aber auch nicht früher als in karolin-
gischer Zeit verfaßt sein kann, weil darin von dem Grammatiker
Virgil von Toulouse und von der erst unter Pipin eingeführten Ein-
^) Chiist, Ueber das Argumentum calculandi des Victorias und dessen
Commentar (Sitzungsberichte der k. bair. Akademie der Wissenschaften zu
München, 1863, I, 100—152). Über Abbos PersönUchkeit S. 118. *) In lihel-
lulo quem precilms fratrum cocmtus de numero mensura et pondere olim edidi
super calculum Victariu
846 88. Kapitel.
teilung des Solidus in 12 Denare die Rede ist, so hat man aus
allen diesen scharfsinnig entdeckten Merkmalen die Folgerung ge-
zogen, daß man es nur mit dem Kommentare des Abbo ron Fleurj
zu ton haben könne, von welchem dieser spätestens 987 sagte , daß
er ihn einst , olim, also gewiß ziemlich viele Jahre früher verfaßt
habe. Man konnte mit einigen Erwartungen an diesen Kommentar
eines Mannes herantreten, welchen ein Zeitgenosse, Fulbert von
Chartres, den hochberühmten Lehrer des ganzen Frankenlandes
genannt hat^), und welcher in den einleitenden Worten sich seiner
Eigenschaft als Rechenlehrer gewissermaßen rühmt. Seit seiner
frühesten Jugend beklage er, daß die Kenntnis der freien Künste
schwinde und kaum noch auf wenige sich beschränke, die habsüchtig
ihrem Wissen einen Preis stellen. Daraus, nicht aus Stolz noch aus
Neid möge man es ableiten, wenn er auf die Gemüter der weniger
Unterrichteten durch Rechenunterricht wirke ^. Abbo nennt an ver-
schiedenen Stellen die älteren Schriftsteller, deren Werke ihm ge-
dient haben. Martianus Capella und Boethius werden des öfteren
angeführt, neben ihnen Chalkidius und Macrobius. Er war mit
Schriften des Priscian bekannt, in welchen von den Zahlen die Rede
ist, mit Isidorus und Beda, wohl auch noch mit anderen Quellen, die
uns nicht mehr erhalten sind. Leider sind nur einzelne Stellen des
umfassenden Kommentars abgedruckt, und in diesen ist die Ausbeute
keineswegs den Erwartungen entsprechend. Man kann allenfalls
einen Abschnitt über Zahlenbezeichnung an und mit den Fingern
erwähnen, in welchem der sprachliche Ausdruck reiner sei als bei
Beda, von welchem überdies einzelne Abweichungen stattfinden; es
scheine, daß Abbo hier eine ältere Quelle ausschrieb*). Was das
Rechnen mit ganzen Zahlen betrifft;, so hat Abbo dem Multiplizieren,
aber nicht dem Dividieren seine Aufmerksamkeit zugewandt. Er lehrt^)
an einem gezeichneten Abacus mit senkrechten Kolumnen, daß Zehner
mit Zehnem vervielfacht Hunderter geben, deren eigene Gelenkzahlen
(artiadt) dann Tausender sind. Er lehrt tabellarisch geordnete Viel-
fache von 7, von 59 kennen. Wir erfahren femer, daß das Hersagen
des Einmaleins in Wörtern der Yulgärsprache untermengt mit
deutschen Klängen — z. B. cean, wohl für zehn — noch immer
in den Schulen stattfand^), eine an sich ganz wissens würdige Be-
merkung, welche aber für die Frage, die wir schon wiederholt ge-
') Summae philosophiae AhhcLS et omni divina et saeculari auctarüate iotius
Franciae magister famosissimus, *) Christ 1. c. S. 121. ^ £benda S. 126—126.
*) Vgl. einige Brachstücke ans AbboB Kommentar, welche von Bubnov, Gerherti
Opera mathematica (Berlin 1899) pag. 199—204 zum Abdruck gebracht sind.
*) Christ 1. c. S. 108—109.
Gerbert. 847
stellt haben ^ ohne sie jemals sicher beantworten zu können, für die
Frage^ wie die Elosterschnle jener Zeit mit ganzen Zahlen rechnen
lehrte^ kaum einen Beitrag zu einer Beantwortung liefert. Das Ein-
maleins war stets und ist zu einem bequemen Rechnen notwendig, es
ist seit den Griechen immer dabei benutzt worden, aber es ist nicht
das Rechnen selbst. Es gibt uns nicht einmal Auskunft darüber, wie
man Zahlen vervielfachte, deren eine mindestens größer als 10 ist,
geschweige denn, daß es von den anderen Rechnungsverfahren uns
unterrichte.
Über dieses Rechnen mit ganzen Zahlen erhalten wir erst Aus-
kunft, wenn wir zu einem Schriftsteller uns wenden, der viel be-
sprochen einen geistigen Mittelpunkt seiner Zeit gebildet hat, und
der unsere ganze Aufmerksamkeit nunmehr in Anspruch nehmen
soU: Gerbert.
39. Kapitel.
Gerbert
So interessant das Leben Gerberts ist^), werden wir uns mit
einem nur sehr kurzen Überblicke über dasselbe begnügen müssen,
und würden noch kürzer uns fassen, wenn seine Leistungen nicht
zum Teil nur dann verständlich wären, wenn man die Kenntnis der
Verhältnisse, unter welchen sie entstanden sind, besitzt. Gerbert
muß in der ersten Hälfte des X. S. wahrscheinlich von armen Eltern
in der Auvergne unweit des Klosters Aurillac geboren sein. Dort
wuchs er dann auf, erzogen durch den Scholastikus Raimund, der
selbst ein Schüler Odos von Cluny war, und durch den nachmaligen
Abt Gerald. Etwa 967 verließ Gerbert das Kloster mit Einwilligung
seiner Obern, um den Grafen Borel von Barcelona, den eine politische
Reise an dem Kloster vorbeigeführt hatte, in seine Heimat zu be-
gleiten, und dort in der spanischen Mark gewann er sich in Hatto,
dem Bischof von Vieh, einen väterlichen Freund, bei welchem er
weitere Studien machte, sich auch in der Mathematik vielfach mit
Nutzen beschäftigte*).
*) Math. Beitr. Kulturl. Kapitel XXI und XXH, S. 808 — 829. Olleris,
Oeuvres de Gerbert, Clermont-Fd. et Paria 1867. XVII— CCV. Karl Werner,
Gerbert von Aurillac, die Kirche und Wissenschaft seiner Zeit. Wien 1878.
Nicol. Bubnov, Gerberti Opera matkematica. Berlin 1899. *) Eicherus,
Histar. m, 48 {Monument. German. S^fipt ÜI, 617) . . . Hattoni episcopo instru-
endum cammisit Äpud quem etiatn {f^ ma&^si plurimum et efficaciter studuit
848 39. Kapitel.
Das ist alles, was wir über den Unterrichtsgang Gerberts aus
dem Munde seines Schülers Richerus wissen, der, so wenig zuver-
lässig er als Oeschichtsschreiber im allgemeinen sich erweist, doch
in dieser Beziehung unser Vertrauen verdient, da er seinen Lehrer
aufs höchste verehrend lieber zu viel als zu wenig gesagt haben
würde, wenn er mehr gewußt hätte. Er hätte uns z. B. nicht
verschwiegen, wenn Gerbert sich bei Hatto Kenntnisse in der
arabischen Sprache erworben hätte, wenn er die Gefahren nicht
scheuend, welche den Christen in den arabischen Städten bedrohten
und gerade damals unter den glaubenseifrigsten Emiren unvermeid-
liche und unübersteigliche Hindernisse bildeten (S. 793), unter die
Gelehrten jenes Volkes sich gemischt hätte, um deren Wissen sich
anzueignen.
So zerfällt von selbst die Notiz, welche einen Zeitgenossen
Gerberts, den Chronisten Adhemar von Chabanois, zum Verfasser
hat. Dieser erzählt nämlich: „Gerbert war aus Aquitanien von niederer
Geburt. Er war seit seiner Kindheit Mitglied des Klosters des heiligen
Geraldus von Aurillac. Er durchwanderte der Weisheit wegen erst
Frankreich, dann Cordova. Er wurde dem König Hugo bekannt und
mit dem Bistume Rheims beschenkt. Dann lernte Kaiser Otto ihn
kennen, worauf er das Bistum Rheims verließ und Erzbischof von
Ravenna wurde. Als später Papst Gregor, der Bruder des Kaisers,
starb, wurde derselbe Gerbert scheinbar seiner Weisheit wegen vom
Kaiser zum römischen Papste erhöht. Da veränderte er seinen Namen
und hieß seit der Zeit Sylvester"^). In dieser fast mehr als kurzen
Lebensgeschichte ist Wahres und Falsches in buntem Wechsel ge-
mengt, und falsch ist offenbar die Durchwanderung von Cordova,
welche zu der Frankreichs in Gegensatz gestellt ist. Man hat eine
Erklärung dazu darin gefunden*), daß für Adhemar, der, ähnlich wie
68 auch bei Richer der Fall ist, in Frankreich erträglich, außerhalb
Frankreich ganz und gar nicht Bescheid wußte, Cordova das ge-
samte Land jenseits der Pyrenäen bezeichnete, die spanische Mark
mit eingeschlossen, in welcher Gerbert tatsächlich seinen Aufenthalt
nahm, so daß also ein eigentlicher Widerspruch gegen das von Richer
uns wahrheitsgetreu Bezeugte nicht vorhanden sei.
Wohl liegt dagegen ein ausdrücklicher Widerspruch gegen die
Beschränkung des Aufenthaltes Gerberts auf die spanische Mark in
den Worten eines anderen Chronisten: Gerbert habe mit Bestimmt-
heit den Abacus den Sarazenen geraubt und die Regeln gegeben,
') Monummt. German, VI, 180. ■)Büdinger, üeber Gerberts wisBen-
schaftliche nnd politische Stellang. Marburg 1851, S. 8.
Gerbert. 849
welclie Ton den schwitzenden Abacisten kanm rerstanden werden^).
Allein dieser Berichterstatter ist ans mancherlei Gründen za verwerfen.
Wilhelm von Malmesbury lebte als englischer Chronist aus der Mitte
des XII. S. nach Zeit imd Ort in einer Umgebung, in welcher durch
die Übersetzungen arabischer Schriftsteller z. B. des Rechenbuchs
des Muhammed ihn Müsä Alchwarizmi die Vermutung nahe gelegt
wurde, ein irgendwie vereinfachtes Rechnen könne nirgend anders
als bei den Arabern entstanden sein. Femer ist seine Glaubwürdig-
keit, soweit es um Gerbert sich handelt, eine so geringe als nur
irgend möglich. Er verbrämt die Geschichte von dem Raube des
Abacus mit den tollsten Zaubermärchen, die deshalb nicht wahrer
sind, weil sie später da und dort Glauben fanden'). Er verwechselt
mitunter sogar Gerbert mit Papst Johann XY. Kurz er ist alles eher
als ein zuverlässiger Zeuge, wo er allein und gar in Widerspruch zu
den zahlreichsten sonstigen Erwägungen aussagt.
Um 970 begleitete Gerbert den Bischof Hatte und den Grafen
Borel nach Rom, wo er durch den Papst Johann XIII. dem deutschen
Könige Otto I. vorgestellt wurde, und auf dessen Wunsch ihn als
Lehrer irgendwo anzustellen erwiderte, er wisse zu diesem Zwecke in
der Mathematik zwar genug, aber nicht in der Dialektik. Um darin
flieh weiter auszubilden ging nun Gerbert mit Ottos Einwilligung
nach Rheims, wo er vermutlich zehn Jahre, von 972 bis 982, ver-
weilte und eine anfangs gemischte Stellung einnahm, welche bald
vollständig in die eines Stiftslehrers überging. Zu den Männern,
welche ihn damals in der Dialektik, vielleicht auch noch in der
Grammatik unterrichteten, welchen er aber dafür schon mathematischen
Unterricht erteilte, gehörte nach aller Wahrscheinlichkeit Constan-
tinus, der von einem späteren Aufenthaltsorte den Namen Gonstan-
tinus von Fleury erhalten hat.
Wir sind wieder durch Richerus in die Lage versetzt, den Lehr-
plan genau schildern zu können, welchen Gerbert als Scholasticus
in Rheims einzuhalten pflegte ''^). Zuerst wurden die Schüler an
philosophische Auffassung gewöhnt. Die Hilfsmittel waren griechische
Werke in lateinischer Übersetzung, zumeist in der des Konsul
Manlius, d. h. des Boethius. Darauf folgte die Rhetorik verbunden
mit dem Lesen lateinischer Dichter, und nach ihr eigentlich dialek-
tische Übungen, die unter der Leitung eines besonders dazu an-
gestellten Lehrers stattfanden. Von dieser Abteilung der Unterrichts-
^) Äbacum certe a Saracenis rapiens regulas dedit qucLe a attdantibus aha-
cistia vix inteUiguntur. *) Doellinger, Papstfabeln dea Mittelalters. München
1863. ») BicheruB, Histor. III, 46—54. Das letzte dieser Kapitel handelt
vom Abacua {Monument. Gennan. Script- ^ ^^®)-
Gastob, Oeachiohte der Mathematik ^ ^«ft. 54
850 39. Kapitel.
gegenstäude unterscheidet Bicherus alsdann ganz besonders die
mathematisclien Fächer, auf welche Gerbert viele Mühe verwandte.
Er begann mit der Arithmetik als dem ersten Teile, ließ darauf
die Lehre vom Monochorde und die ganze Musik folgen, ein für
Frankreich fast ganz neues Kapitel der Wissenschaften, und lehrte
alsdann die Astronomie, deren schwer verständlichen Inhalt er durch
mancherlei Vorrichtungen zu erläutern wußte. Richerus nennt die
wichtigsten astronomischen Apparate, deren Gerbert sich bediente.
Sie weisen ebenso wie das beim Unterrichte in der Musik gebrauchte
Monochord ausschließlich auf griechisch-römische Quellen hin^).
Die dem mathematischen Unterricht von Gerbert zugrunde gelegten
Bücher nennt Richerus nicht.
Sollen wir daraus den Schluß ziehen, es seien überhaupt Bücher
dabei nicht benutzt worden? Es will fast so scheinen. Wenigstens
wird sonst einigermaßen unbegreiflich, wie in späterer Zeit jener
Constantinus, den wir eben genannt haben, an Gerbert die Bitte um
schriftliehe Mitteilung des früher Gelehrten richten konnte. Damit
ist freilich keineswegs ausgeschlossen, daß Gerbert selbst, als Lehrer,
sich an schon vorhandene Schriften anlehnte, Schriften jedenfalls
griechisch-römischen Ursprunges gleich den Kenntnissen, welche ihren
Inhalt bildeten. Wir müssen annehmen, es sei die Arithmetik des
Boethius darunter gewesen, nicht aber die übrigen Schriften des
gleichen Verfassers, sondern nur Auszüge und Bearbeitungen derselben
von uns freilich nicht näher bekannten Persönlichkeiten. Diese Meinung
wird wesentlich unterstützt in ihrem negativen .Teile durch den Um-
stand, daß Gerbert, wie wir noch sehen werden, erst viel später mit
der Astronomie und vielleicht mit der Geometrie des Boethius be-
kannt wurde, in ihrem positiven Teile durch das letzte Kapitel von
Richers Erzählung, in welchem von der Geometrie und von dem
Rechenunterrichte die Rede ist.
„Bei der Geometrie wurde nicht geringere Mühe auf den Unter-
richt verwandt. Zur Einleitung in dieselbe ließ Gerbert durch einen
Schildmacher einen Abacus, d. h. eine durch ihre Abmessungen ge-
eignete Tafel anfertigen. Die längere Seite war in 27 Teile ab-
geteilt, und darauf ordnete er Zeichen, 9 an der Zahl, die jede Zahl
darstellen konnten. Ihnen ähnlich ließ er 1000 Charaktere von Hom
bilden, welche abwechselnd auf den 27 Abteilungen des Abacus die
Multiplikation oder Division irgendwelcher Zahlen darstellen sollten,
indem mit deren Hilfe die Division oder Multiplikation so kompen-
diös vonstatten ging, daß sie bei der großen Menge von Beispielen
*) Büdinger 1. c. 8. 88—42.
Gerbert. 851
viel leichter verstanden als durch Worte gezeigt werden konnte. Wer
die Kenntnis davon sich vollständig erwerben will, der lese das Buch,
welches Gerbert an C. den Grammatiker schrieb. Dort findet er es
zur Genüge und darüber hinaus beschrieben."
Fragen wir uns sogleich, bevor wir weitergehen, ob diese Stelle
in Einklang zu bringen wäre mit der Annahme, Wilhelm von Malmes-
bury hätte mit seiner allein dastehenden Behauptung von dem ara-
bischen Ursprünge des Abacus doch recht. Wir müssen mit ent-
schiedenstem Nein antworten. Das Rechnen als Teil der Geometrie
ist nicht arabisch. Kolumnen sind, wenigstens in der zweiten Hälfte
des X. S. soweit wir irgend wissen, nicht arabisch. Der Gebrauch
von nur neunerlei Zeichen, also ohne die Null, ist nicht arabisch.
Das alles stimmt aber vollkommen zur Geometrie des Boethius, wenn
dieselbe echt wäre, stimmt also auch vermutlich selbst in der Zu-
gehörigkeit des Rechnens zur Geometrie mit römischen Traditionen,
die sich in den Klöstern erhalten hatten, und deren der Fälscher der
Geometrie des Boethius sich nachmals bediente, um seiner unzweifelhaft
geschickt angelegten Fälschung den Schein der Wahrheit zu verleihen.
Läßt sich .doch eine ähnliche Tradition gerade in der Zeit, um
welche es sich gegenwärtig handelt, auch an einem ganz anderen
Orte nachweisen, wo Gerbert nicht lebte, wohin seine Lehre, die
Lehre eines damals noch unbekannten einflußlosen Mönches, so rasch
unmöglich gedrungen sein kann. Ein Mönch mit Namen Walther^)
ist gerade damals in Speier aufgewachsen, von wo er den Beinamen
Walther von Speier erhielt. Er schrieb daun dort als Subdiakonus,
und zwar im Jahre 983, ein umfangreiches Gedicht über das Leben
des heiligen Christoph*). Im ersten Gesänge schildert er den Studien-
gang, welchen er selbst durchgemacht hatte. Die Einrichtung des-
selben geht auf Bischof Baldrich zurück, der 970 — 987 dem Bistume
vorstand und, von St. Gallen dahingekommen, die ünterrichtsweise
seines früheren Aufenthaltes mitbrachte. Was also Walther von
Speier 983 schildert, ist nichts anderes als die Art und Weise, in
welcher vor 970, mithin zu einer Zeit, während welcher Gerbert
noch in der spanischen Mark sich aufhielt, in St. Gallen
unterrichtet wurde. Von dort gilt also folgendes:
Et postquam planas Umabant rite figuras
IntervcUlorum mensuris et spatiarum
Ordine compositis, cuhicas effingere formas
Nituntttr, mediumque vident incurrere triplum.
') Wattenbach, Deutschland b Geschichtsquellen im Mittelalter (4. Aus-
gabe 1877) I, 263. *) Abgedruckt in Beruh. Pez, Thesaurus Anecdot, II, 3,
pag. 29—122. Die für uns wichtige Stelle pag. 42.
54*
852 39. Kapitel.
CollcUum primi distantia coüigat una,
Älterius numeros proportio continet aequa,
Bespuü haec ambo mediatrix clafisa 8ub imo.
Ordinibus Mathesis gaudebai rite paratis,
Haec tnissura tibi sölatia, clare Boeli.
Inde Abaci nietM defert Geometrica miras,
Cumqtie charcu^teribus intens eertamina litsus
Ocyua oppositum redigens corpus numerorum
In digitos propere disperserat articitlosque.
Inde superficies ponens ex ordine plures
Trigona tetragonis coniunxit pentagonisque,
Strenua Pyramidum speciem ductura sub altum.
Tum laterum miras erexit ut ipsa figuras,
Arripiens radium semetretcts fecit agrorum,
Quos quodam refluus confudit tempore Nilus!
Tradidit et varüis in secto pulvere metas.
Die ganze Stelle bezieht sich, wie wir um jedes Mißverständnis
auszuschließen von vornherein bemerken, auf das Zahlenkampf ge-
nannte Spiel^ welches Boethius im Gefängnisse zu seinem Tröste er-
dacht habe (S. 580). Aber wichtiger als der wesentliche Inhalt der
Stelle sind die für den Verfasser nebensächlichen für uns das Haupt-
augenmerk bildenden Anspielungen. Wir erlauben uns^ die in ent-
setzlichem Latein verfaßte dem schwülstigen Stile des Martianus
Capella augenscheinlich nachgebildete Schilderung zunächst zu über-
setzen: ^^achdem sie die ebenen Figuren regelrecht genau auszuführen
verstanden mit nach der Ordnung zusammengesetzten Maßen der
Zwischenräume und der Strecken, bestreben sie sich kubische Ge-
staltimgen zu bilden, und sie sehen, daß dieselben auf ein dreifaches
Mittel hinauslaufen. Eine und dieselbe Entfernung verbindet das,
was durch das erste Mittel zusammengebracht ist; gleiches Verhältnis
hält die Zahlen des zweiten zusammen; diese beiden Dinge verwirft
die Mittlerin, welche unter dem letzten verschlossen ist. An regel-
recht bereiteten Ordnungen erfreute sich die Mathematik, Dir, be-
rühmter Boethius, diesen Trost zuschickend. Hierauf bringt die Geo-
metrie die wundersamen Linien des Abacus herbei und mit den
Zeichen die Kämpfe des Spieles beginnend hatte sie schnell Ordnung
hineinbringend die gegenübergestellten Körper der Zahlen in Finger-
und in Gelenkzahlen zerstreut. Hierauf stellte sie mehrere Ober-
flächen ordnungsmäßig hin, verband Dreiecke mit Vierecken und Fünf-
ecken eifrig die Gestalt der Pyramide zur Spitze zuzuführen. Dann
errichtete sie Figuren der Seiten wundersam wie sie selbst, machte
den Maßstab ergreifend die regellosen Grenzen der Felder, welche zu
einer Zeit zurückströmend der Nil vermengt hat, und sie überlieferte
die verschiedenen Linien im Staube gezeichnet."
Gerbert. 853
Wir sehen hier die Eenntnis der drei yerschiedenen Mittelgrößen^
des arithmetischen, des geometrischen und des harmonischen Mittels,
letzteres allerdings nur negativ geschildert als weder gleiche Ent-
fernung noch gleiches Verhältnis zu den äußeren Gliedern aufweisend.
Wir hören die seit Herodot unendlich oft wiederholte Erzählung von
der Verwischung der Ackergrenzen durch den aus den Ufern ge-
tretenen Nil und von der so vermittelten Erfindung der Geometrie.
Wir erkennen in der letzten Zeile einen Halbvers des römischen
Satirendichters ^), der sich in dieser Umgebung recht verlassen vor-
kommen muß. Wir vernehmen^ daß die Geometrie den Abacus
herbeibringt und die Zahlen in Finger- und Gelenkzahlen zer-
streut. Das sind aber gerade dieselben Begriffsobjekte, welche G^rbert
vereinigt benutzt hat, und sie weisen mit Notwendigkeit darauf hin,
daß damals an verschiedenen Orten die Erinnerung an Lehren, viel-
leicht ein Werk vorhanden gewesen sein muß, welches in seiner An-
ordnung an dasjenige mahnt, welches nachmals Geometrie des Boethius
hieß, und daß die Quelle, aus welcher diese Erinnerung geschöpft
war, eine römische gewesen sein muß. Dabei sehen wir sogar von
der Anrufung des Boethius selbst in unserer Stelle ab, wiewohl man
in ihr eine gewisse Gedankenbeziehung zu einem Ausspruche der
Chronik von Verdun^) erkennen möchte. In dieser Chronik ist näm-
lich Gerbert ein zweiter Boethius genannt, wodurch, wenn nicht die
Quelle alles seines Wissens doch jedenfalls so viel gesichert ist, daß
die damalige Zeit gewohnt war, Boethius als den allgemeinen Lehrer
insbesondere für mathematische Gegenstände zu betrachten.
Damit sind wir wieder zu Gerbert zurückgelangt, dessen Lehr-
tätigkeit in Rheims, wie wir sagten, bis etwa 982 gedauert hat.
Etwa ein Jahr vor dem Ende dieser Zeit, um Weihnachten 980, war
Gerbert als Begleiter des Bischofs Adalbero von Rheims in Ravenna
am Hofe Otto II., den er gleich seinem Vater für sich einzunehmen
wußte. Er zeichnete sich in einer öffentlichen Disputation über
philosophisch-mathematische Gegenstände, welche er gegen einen der
ersten Dialektiker der Zeit bestand'), und aus welcher er wenn nicht
als Sieger doch unbesiegt hervorging, indem der Kaiser am späten
Abend wegen Ermüdung der Zuhörer den noch andauernden Rede-
kampf unterbrach, rühmlichst aus, und mutmaßlich infolge dieser
zum Kaiser angeknüpften Beziehungen wurde Gerbert als Abt an das
Kloster Bobbio versetzt, jenes reiche Kloster an der Trebbia, wo
der irische Glaubensprediger Columban gestorben ist, wo handschrift-
^) Persins Satyr. I, 182: Nee qui ab<ieo numeros et secto inptUvere metas
seit, *) Monument. German. VI, 8. *) Werner, Gerbert S. 46—66.
854 Sd- Kapitel.
liehe Schätze aller Art den wissensdurstigen Geist empfingen^ wo
insbesondere damals der Codex Areerianus vorhanden war, die Samm-
lung römischer Feldmesser, von welcher früher (S. 552) die Rede war.
Gerbert hat, das werden wir noch nachweisen, diese Sammlung in
Bobbio studiert und in Verbindung mit anderen romischen Schrift-
stellern, deren Persönlichkeit sich nicht genau feststellen läßt, zur
Grundlage einer eigenen Geometrie gemacht, welche während des
Aufenthaltes in Bobbio entstand.
Dieser Aufenthalt währte allerdings nicht lange. Otto II. starb
am 7. Dezember 983. Er allein war Gerberts Freund gewesen, wäh-
rend Papst Johann XIV. geradezu als dessen persönlicher Gegner
aufgefaßt werden muß. An diesem letzteren hatte mithin Gerbert
nichts weniger als eine Stütze in den Kämpfen, welche er, der auf-
gedrungene Fremdling, als Abt von Bobbio zu bestehen hatte. Wider-
spenstigkeit der untergebenen Mönche, Anfeindungen umwohnender
Großen, welche Güter des Klosters an sich gerissen hatten, ver-
einigten sich, Gerbert den dortigen Aufenthalt zu verleiden, und kurz
nach dem Tode Otto II. war er wieder in Rheims, in der Umgebung
seines dort lebenden Freundes, des Bischofs Adalbero. Seine äußeren
Geschicke, welche mit der politischen Geschichte der damaligen Zeit
im engsten Zusammenhange stehen und namentlich durch das freund-
schaftliche Verhältnis, welches Gerbert an die noch lebenden weib-
lichen Persönlichkeiten der deutschen Kaiserfamilie, an die Mutter
Theophania und an die Großmutter Adelheid des jungen Otto III.
fesselte, beeinflußt worden sind, sind ungemein wechselnd. Wahr-
scheinlich im Sommer 983 schrieb Gerbert von Bobbio aus an Adal-
bero über wissenschaftliche Funde, welche ihm geglückt seien ^), er
möge sich nur Hoffnung machen auf acht Bücher des Boethius über
Astronomie und ganz Ausgezeichnetes über Figuren der Geometrie
und nicht minder Bewundernswertes, was er allenfalls noch finden
werde. Das ist die Stelle, auf welche man sich zu beziehen pflegt,
um das Vorhandensein der Geometrie des Boethius in jener Zeit zu
begründen (S. 576), um zugleich zu begründen, daß Gerbert dieselbe
in der frühen Zeit seines ersten Rheimser Aufenthaltes nicht zur Be-
nutzung gehabt haben kann.
Wahrscheinlich 990 im Lager Hugo Capets, welcher damals
Laon belagerte, schrieb Gerbert einen anderen dem Mathematiker
nicht uninteressanten Brief an Remigius von Trier^). Es ist aller-
*) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) Epistola 76, pag. 44: et quae post re-
perimus speretis: id est VIII Volumina Boetii de astrologia praeclarissima quoque
figurarum geometrUie aliaque non minus admiranda si reperimus. *) Ebenda
Geibert. 865
dingB nur eine im Texte reckt sehr verderbte Antwort auf zwei ver-
loren gegangene Anfragen und darum nicht mit aller Bestimmtheit
herzustellen. Die wahrscheinlichste Übersetzung lautet: ^^Das in
bezug auf die erste Zahl hast Du richtig verstanden, daß sie- sich
selbst teilt, weil einmal eins eins ist. Aber deshalb ist nicht jede
sich selbst gleiche Zahl als ihr Teiler zu betrachten; z. B. einmal
vier ist vier, aber deshalb ist nicht vier der Teiler von vier, sondern
vielmehr zwei, denn zwei mal zwei sind vier. Femer .das Zeichen 1,
welches unter der Kop&ahl X steht, bedeutet X Einheiten, welche
in sechs und vier zerlegt das anderthalbmalige Verhältnis gewähren.
Dasselbe ließe sich auch an zwei und drei sehen, deren Unterschied
die Einheit ist.''
Wieder um einige Jahre später fällt, wahrscheinlich in den Spät-
sommer 994, ein Brief Otto III. an Gerbert ^), der inzwischen 991
zum Metropolitan von Rheims gewählt worden war, wozu ihn schon
988 der sterbende Adalbero bezeichnet hatte, der aber seiner unter
Widerwärtigkeiten der verschiedensten Art errungenen Stellung nicht
froh werden konnte. Gerbert hatte offenbar an Otto geschrieben
und ihm Verse zugeschickt, oder gefragt, ob Otto welche zu machen
verstehe, deim nur so hat der Schluß von Ottos Brief einen Sinn,
worin es ohne jeden Zusammenhang mit vorhergehendem heißt^ daß
er bisher keine Verse gemacht, wenn er aber diese Kunst mit Erfolg
erlernt haben werde, wollte er so viele Verse senden als Frankreich
Männer zähle. Für uns hat nur eine frühere Stelle des Briefes Be-
deutung, in welcher Otto die dringende Einladung an Gerbert er-
gehen läßt, persönlich zu kommen, in ihm der Griechen lebendigen
Geist zu erwecken und ihm das Buch der Arithmetik zu erklären,
damit er, vollkommen durch die Beispiele desselben belehrt, etwas
von der Feinheit der Altvorderen verstehe. Mit größter Wahrschein-
lichkeit ist als das Buch der Arithmetik, von welchem hier die Rede
ist, die Arithmetik des Boethius erkannt worden, und die Tatsache,
daß jenes Werk damals am Eaiserhofe vorhanden war, ist durch das
Auffinden einer etwa gleichalterigen, zwar lückenhaften aber sehr
richtigen Handschrift zur Gewißheit geworden*). Otto war 987 der
Epistola 124, pag. 68. Wir geben die Übersetzniig aus Math. Beitr. Kulturl.
S. 318 nach Friedleins Yerbesaerangen des lateiniBcheu Textes. Friedleins Über-
setzong dagegen [Zeitschr. Math. Fhys. X, 248, Anmerkung **] halten wir am
Anfange für ganz falsch, während der Schluß nicht nennenswert von dem ons-
rigen abweicht.
*) Oeuvres de Gerbert (ed. OUeris) Epistola 208, pag. 141 — 142. Vgl.
Werner, Gerbert S. 93. *) Der liber fnathematicälis des heiligen Bemward im
Dom schätze zu Hildesheim, eine hla^risch-kiitische Untersuchung von H. Düker.
Beilage zum Programm des Hild^^i^^iiner Gymnasium Josephinum für 1876.
836 89. Kapitel.
Schüler Bernwards, des Bischofs von Hildesheim. Der Domschate
dieser alten Stadt bewahrt aber unter dem Namen des lü}er maOie-
niaticalis des heiligen Bemward eine durch diesen yerbesserte wenn
nicht gar durchweg mit einer älteren Handschrift verglichene Ab-
schrift der Arithmetik des Boethius, an deren damaligem Vorhanden-
sein demnach nicht der leiseste Zweifel übrig bleibt^). Ob Otto be-
reits durch Bemward mit dem Inhalte des Werkes bekannt gemacht
Gerbert noch um die nähere Erläuterung zu bitten beabsichtigte^ ob
er das Werk nur von Hörensagen oder durch ohne Hilfe unternommene
und deshalb fruchtlos gebliebene eigene Durchsicht kannte, das sind
Fragen untergeordneten Ranges, auf welche eine Antwort schwerlich
gefunden werden möchte. Gerbert nahm die Einladung an und sagte
dabei anknüpfend an Ottos eigene Worte: „Wahrlich etwas Göttliches
liegt darin, daß ein Mann, Grieche von Geburt, Römer an Herrscher-
macht, gleichkam aus erbschaftlichem Rechte nach den Schätzen der
Griechen- und R^merweisheit sucht''*).
Davon, daß auch andere Weisheit möglich sei, daß Araber sich
um die Mathematik verdient gemacht hätten, ist hier, wo es so nahe
lag, den künftigen Lehren, welche Gerbert dem jungen Fürsten er-
teilen sollte und wollte, diesen erhöhten Reiz fremdartigen Ursprunges
zum voraus zu verleihen, mit keinem Buchstaben die Rede, so wenig
wie an irgend einer anderen Stelle der von Gerbert herrührenden
Briefe oder Werke. Es ist wahr, Gerbert redet um 984 während
seines zweiten Rheimser Aufenthaltes zu zwei verschiedenen Persön-
lichkeiten^), zu Bonafilius dem Bischöfe von Girona und zu seinem
alten Lehrer dem Abte Gerald von Aurillac, von einer Schrift des
weisen Josephus, des Spaniers Josephus über Multiplikation
und Division der Zahlen, welche Adalbero zu besitzen wünsche, und
welche ersterer oder letzterer zu besorgen gebeten wird, letzterer mit
Berufung darauf, daß der Abt Guamerius ein Exemplar in Aurillac
zurückgelassen habe. Man hat in diesem Weisen, in diesem Spanier
lüsuf ihn Harun al Kindi vermutet'*), weil derselbe um 970 in
Gordova lebte. Allein von diesem lüsuf weiß man nicht, daß er sich
je mit mathematischen Studien beschäftigt haben sollte, und daß der
^) Daß in der ssweiten Hälfte des X. S. die Arithmetik des Boethius in
Deutschland genau bekannt war, ist durch eine Stelle des Schauspiels Hadrian
der Hrotsvitha von Gandersheim gesichert, welche bei Günther, Ge-
schichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter (Berlin 1887)
S. 8S— 86 in der Note abgedruckt ist. *) Oeuvres de Gerbert (ed. OUeris)
Epistola 209, pag. 142. ") Ebenda Epistola 66, pag. 34 und Epistola 63,
pag. 88. ^ Suter in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik X,
79 (1900).
Gerbeit. 857
^ySpanier Josephns^ ein Araber gewesen sei^ ist aus seinem Namen
ebensowenig wie aus sonstigen Gründen zu schließen. Die Sprache^
in welcher der Betreffende schrieb^ war ohne Zweifel nicht die ara-
bische^ sondern die lateinische, denn was hätte sonst Adalbero mit
dem Buche anfangen können, weshalb hätte Gruamerius es in Aurillac
zurücklassen sollen zu einer Zeit, in welcher gewiß Kenntnis der ara-
bischen Sprache in den Klöstern vergeblich gesucht worden wäre?
Wenn nicht alles täuscht, so ist hier der Angelpunkt, um welchen
weitere Forschungen nach dem weisen Josephus sich werden drehen
müssen, nachdem andere Versuche^) schlechterdings zu keinem Er-
gebnisse geführt haben. Man wird Handschriftenkataloge insbesondere
von spanischen und südfranzösischen Bibliotheken nach lateinisch ge-
schriebenen Stücken mathematischen Inhaltes eines Josephus durch-
mustern müssen. Ein solcher Katalog aus dem XYIII. S. gibt z. B.
an*), der Codex CXV der ehemaligen (jetzt in Paris befindlichen)
Bibliothek des Erzbischofs Charles de Montchal von Toulouse ent-
halte eine vielleicht von Josephus verfaßte Geometrie. Nur freilich
ist gerade diese Spur nicht weiter zu verfolgen, wie an Ort und
Stelle vorgenommene Untersuchungen bewiesen haben').
Auf ein arabisches Werk ist wahrscheinlich nur ein aus wenigen
Zeilen bestehender Brief zu beziehen*), welcher dem gleichen Zeit-
räume wie die beiden ebenerwähnten Briefe angehören dürfte, und
in welchem Gerbert von einem gewissen Lupitus von Barcelona^
um welchen er selbst sich keinerlei Verdienst erworben habe, ver-
möge seines hohen Geistes und seiner freundlichen Sitten das von ihm
übersetzte Buch über Sternkunde erbittet und sich zu jeglichem
Gegendienste bereit erklärt. Jenes Buch kann nicht leicht ein anderes
als ein arabisches gewesen sein. Aber auch dieses hat Gerbert wohl
nie früher und ebensowenig auf seinen Brief hin zu Gesicht bekommen,
wenn man diesen Schluß aus dem Umstände ziehen darf, daß, wie in
früherer so in späterer Zeit mit einer einzigen weiter unten zu be-
rührenden Ausnahme, keinerlei Spuren arabischer Sternkunde bei
Gerbert erkennbar sind. Dergleichen bedurfte es freilich auch nicht
für die Dinge, welche Gerbert vornahm, und welche von trigono-
metrischen Rechnungen, einem Gegenstande, bei welchem der Gegen-
satz zwischen griechisch-römischen und arabischen Lehren sich be-
^) Zur Geschichte der Eisfühmng der jetzigen Ziffern in Europa durch
Gerbert. Eine Studie von Professor Dr. H. Weißenborn, Berlin 1892. *) Bern, de
Monfaucon, Bibliotheca hihliothtcarum manuscriptarum I, 902. Wir wurden
durch M. Curtze auf diese Angabe aufinerksam gemacht. ') Briefliche Mit-
teilung von Tannery. *) Oeuvres de Grerhert (ed. Olleris) Epistola 60,
pag. 36.
858 39. Kapitel.
sonders gezeigt haben müBte^ yollkommen frei waren. Solcher be-
durfte er z. B. nicht durchaus bei der Herrichtung einer Sonnenuhr
in Magdeburg, welche er zwischen 994 und 995 vollzog, und zu deren
Richtigstellung er Beobachtungen des Polarsternes machte^).
Das Wanderleben Gerberts hatte mit der Reise nach dem Kaiser-
hofe keinen Ruhepunkt erreicht. Bald sehen wir ihn nach Frankreich
zurückkehren, um auf der Synode zu Mouson sein Recht auf das
Bistum Rheims persönlich zu yerteidigen, bald finden wir ihn in
Ottos Heerlager auf einem Feldzuge gegen slavische Stämme an Elbe
und Oder, bald überschreitet er im Gefolge Otto III. die Alpen, um
dem wüsten Regimente ein Ende zu machen, welches in Rom herrschte
und dem deutschen Könige sowohl Ärgernis bereitete als die er-
wünschte Gelegenheit zur Einmischung gab. Am 9. Mai 996 starb
Papst Johann XV., unter dem Drucke der Nähe des deutschen Heeres
wurde Bruno aus dem sächsischen Fürstenhause als Gregor Y. zum
Papste gewählt, am 21. Mai krönte der neue Papst bereits Otto in
Rom zum Kaiser. Gerbert blieb auch nach des Kaisers Abreise in
Rom als Ratgeber des noch jugendlichen Papstes. Er erfüllte diese
Aufgabe so pfiichtgetreu, daß er 998 mit dem Bistume Ravenna be-
lohnt wurde, und im folgenden Jahre erfüllte sich der Schicksals-
spruch:
Scandit ab B Gerbertus in E, post Papa vi-get JB,
der ihm in dreifacher Erhebung ein dreifaches ü verheißen hatte,
von Rheims nach Ravenna, von Ravenna nach RomI Gregor V.
starb am 5. Februar, Gerbert feierte am 2. April 999 seine Inthro-
nisation unter dem Namen Sylvester II. Er verwaltete den päpst-
lichen Stuhl fast genau vier Jahre lang bis zu seinem Tode, der am
12. Mai 1003 erfolgte.
Die letzten sieben Lebensjahre Gerberts, welche er demnach
politisch und kirchlich überaus beschäftigt in Italien zubrachte, gaben
ihm daneben Gelegenheit zu schriftstellerischer Tätigkeit. Er ver-
faßte eine freilich nur aus zwölf Hexametern bestehende Inschrift zu
einem Denkmale des Boethius, mit welchem Otto III. zu Pavia auf
seine Veranlassung das Grab des in den Klosterschulen beliebtesten
Schriftstellers schmückte^). Er schrieb mutmaßlich um 997 eine
Abhandlung über das Dividieren, welche dem Gonstantinus von Fleury
gewidmet ist und als jene Schrift betrachtet wird, von der Richer
^) In Magddburgh orologium fecit, iüttd rede constituens considercUa per
fistulam quadam Stella nautarum duce sagt darüber Thietmars Chronik L. VI,
cap. 61. Thietmar t 1019 als Bischof von Merseburg. Vgl. Werner, Gerbert
S. 2S1. *) Ebenda S. 328.
Gerbert. 859
spricht; indem er diejenigen, welche die Division und die Multiplika-
tion großer Zahlen erlernen wollen, auf das Buch verweist, welches
Gerbert an C. den Grammatiker schrieb. Als Papst sogar fand
Gerbert Zeit^ einen astronomischen Brief an Constantinus, der in-
zwischen im Jahre 995 Abt von Mici geworden war, zu schreiben^).
Als Papst erhielt er einen Brief geometrischen Inhaltes von Adal-
boldus über die Ausmessung des Kreises und der Kugel ^), in dessen
Schreiber man wohl berechtigt ist, Adelbold von Utrecht zu er-
kennen, einen Gelehrten, der in vielen Sätteln gerecht, Schriften über
Musik"), aber auch ein Geschichtswerk hinterlassen hat, welches an
Thietmars Chronik sich anlehnt^). Vielleicht in die gleiche Zeit fällt
ein Schreiben Gerberts an denselben Adalboldus über einen geome-
trischen Gegenstand, von dem wir noch zu reden haben. Gelegenheit
bietet uns die Gesamtbesprechung der mathematischen Schriften
Gerberts, zu welcher wir jetzt übergehen, und bei welcher wir erst
die geometrischen, dann die arithmetischen Dinge behandeln.
Die Geometrie^) Gerberts ist in mehreren lückenhaften, sodann
in vollständigem dem XI. S. angehörendem Texte ^) in der Münchener
Handschrift 14836 und auch in einer bis gegen das Ende vollstän-
digen dem Stifte St. Peter in Salzburg angehörenden Handschrift er-
halten. Die Entstehungszeit der Salzburger Handschrift dürfte ziem-
lich genau bestimmbar sein. Im Jahre 1127 wurde das Kloster
St. Peter durch einen furchtbaren Brand zerstört. Damals konnten
nur wenige Schriftstücke gerettet werden, und Codex a. V. 7, welcher
die Gerbertsche Geometrie enthält, befindet sich nicht unter den als
geborgen bekannten. Von da an wurde nur um so emsiger an der
WiederbeschafiEung einer Bibliothek gearbeitet, und es existierte be-
reits wieder um 1160 ein Katalog, der sich erhalten hat. In ihm
kommt aber vor: Hermannus contracus (sie!) super astrolabium,
d. i. dasjenige Werk, mit welchem Codex a. V. 7 beginnt. Da nun
eine anderweitige Abschrift des gleichen Werkes, die mit jenem Kata-
logeintrag gemeint sein könnte, in St. Peter nicht vorhanden ist,
so glauben wir ims um so berechtigter, eben jenen Codex darunter
zu verstehen und anzunehmen, er sei zwischen 1127 und 1160 ge-
schrieben, als alle Zeichen der Schriftvergleichung hiermit in Ein-
klang stehen.
*) Oeuvres de Crerbert (ed. Olleris) pag. 479: Gerbertus Comtantino Mi-
ciacensi Abbati, Über ConatantinuB vgl. Bubnov pag, 6, Note 8. •) Oeuvres
de Gerbert (ed. Olleris) pag. 471—475. ») Werner, Gerbert S. 69. *) Ebenda
S. 222. *) Agrimensoren S. löOflgg. «) Cnrtze, Die HandBchrift Nr. 14836
der Königl. Hof- und Staatsbibliothek zu München in den Abhandlungen- zur Ge-
schichte der Mathematik VII, 76—142 (1896).
860 39. Kapitel.
Die Glaubwürdigkeit dieser sauberen^ unserer Auseinandersetzung
zufolge nicht später als höchstens 1150 mithin nicht ganz anderthalb
Jahrhunderte nach Gerberts Tode entstandenen Abschrift, welche in
ihren Anfangsworten sich selbst als Geometrie des Gerbert benennt^
ist mit Bücksicht auf Einzelheiten und insbesondere auf die ungemein
yerschiedenartigen Gegenstände, welche in ihr zur Rede kommen, an-
gezweifelt worden und auch der Münchener Handschrift hat man kein
größeres Vertrauen entgegengebracht. Die Münchener Handschrift
trug ursprünglich keinen Verfassemamen. Erst nachträglich, aber
immerhin in noch recht früher Zeit^) ist der Titel Geometria Gerberti
dem dem Sammelbande yorausgehenden Inhaltsyerzeichnisse eingefügt
worden. In der Salzburger Handschrift ist die Überschrift Incipit
Geometria Gerberti und der Text, jene in roter, dieser in schwarzer
Tinte, unzweifelhaft yon demselben Schreiber zu Pergament gebracht.
Als feststehend ist also zu betrachten, daß in der ersten Hälfte des
XTT. S. als einheitliches Werk Gerberts galt was schon 100 Jahre
früher, wenig mehr als 50 Jahre nach Gerbert, als ein einheitliches
Werk yorhanden war. Der Geschichte der Mathematik liegt ganz
gewiß mehr an diesem einheitlichen Vorhandensein als daran, ob der
Verfasser, der yor 1050 in lateinischer Sprache schrieb, Gerbert hieß
oder irgend einen anderen Namen führte, um nicht an unseres Er-
achtens ziemlich müßigen Streitfragen zu haften, erklären wir, daß wir
Gerbertsche Geometrie nennen, dessen Verfasser möglicherweise einen
anderen Namen führte. Es ist nicht zu yerkennen, daß kleine Wider-
sprüche, Wiederholungen und dergleichen den Eindruck hervor-
bringen, es sei einzelnes yom Abschreiber verfehlt worden, der z. B.
ein Kapitel, das im Urtexte zuerst an einer Stelle vorkam, dann
durch den Verfasser anderswohin gebracht und an der früheren Stelle
durchstrichen wurde, zweimal abgeschrieben haben kann. Dagegen
sind jene großen Verschiedenheiten behandelter Dinge umgekehrt
danach angetan, die Echtheit der Gerbertschen Geometrie vollauf zu
beglaubigen. Wir haben (S. 554) uns darüber ausgesprochen, was
bei römischen Feldmessern zu finden war. Geometrische Definitionen
und einfachste Sätze der Geometrie der Ebene, Maßvergleichungen
und feldmesserische Vorschriften, geometrische Rechnungsaufgaben
und die Lehre von den figurierten Zahlen, das alles bildete, meistens
nachweislich aus Heron übernommen, den Gegenstand ihrer unselbst-
ständigen Schriftstellerei. Genau dasselbe finden wir in Gerberts
Geometrie, müssen wir in ihr finden, wenn der Verfasser zu sammeln
und durch gleichmäßige Schreibweise zu vereinigen trachtete, was
») Curtze 1. c. S. 78 und 79.
Gerbert. 861
ihm au8 römischen Quellen sei es in Bobbio durch den Codex Arce-
rianus; sei es durch andere Quellenschriften , bekannt geworden war.
l^amentlich für den dritten Teil der Gerbertscben Geometrie ist der
Nachweis gefuhrt worden ^)y daß geradezu nichts in demselben steht,
was nicht dem Codex Arcerianus entnommen sein kann. Am schla-
gendsten für die Benutzung des Codex Arcerianus ist wohl das Auf-
treten jenes Schreibfehlers aus Nipsus (S. 556), wo das Wort hypo-
tenusae hinter podismus ausgefallen ist, im 42. Kapitel der Gerbert-
schen Geometrie. Aber der Verfasser war kein gewöhnlicher Ab-
schreiber. Er bemerkte, daß hier nicht alles in Ordnung war^
und um den Sinn der Stelle zu retten, legte er im 10. Kapitel die
Definition nieder, die schriLg von oben nach unten, oder yon unten
nach oben gezogene Linie heiße Hypotenuse oder auch Podismus').
Ja er freute sich dieser Definition so sehr, daß er im 12. Kapitel
yerschiedentlich Podismus sagte, wo Hypotenuse gemeint ist. Es war
allerdings ein unfehlbares Mittel, die Richtigkeit einer Nipsusstelle zu
wahren, wenn man ihr zuliebe eine neue Worterklärung schmiedete,
wenn man, um dieser Eingang zu verschaffen, das neue Wort sofort
in Gebrauch nahm.
Wenn sich der Verfasser der Gerbertschen Geometrie hier nicht
als hervorragenden Geometer bewährte, so ist dieses ebensowenig der
Fall, wenn er im 9. Kapitel den inneren, beziehungsweise den äußeren
Winkel für gleichbedeutend mit einem spitzen, beziehungsweise stumpfen
Winkel hält. Er faßt den rechten Winkel mit einem wagrechten,
einem zu diesem senkrechten Schenkel als ursprünglich gegeben auf.
Damit ein spitzer Winkel entstehe, muß der zweite Schenkel, der ihn
mit dem wagrechten Schenkel bilden soll, im Innern des rechten
Winkels liegen, außerhalb dagegen wenn ein stumpfer Winkel ent-
stehen soll. Das ermangelt ja nicht eines gewissen Scharfsinnes, nur
zeugt es dafür, daß wer so schrieb die Euklidischen Elemente nicht
kannte, wo im 16. Satze des I. Buches innere und äußere Winkel,
d. h. innere und äußere Dreieckswinkel, unzweideutig erklärt sind.
Wir haben die unmittelbare Quelle wenigstens einer großen
Abteilung von Gerberts Geometrie im Codex Arcerianus erkannt.
Andere Quellen gibt der Verfasser selbst an. Er nennt wenigstens
folgende Schriftsteller: Pythagoras im 9. und 11. Kapitel, Piatons
Timaeus im 13. Kapitel, des Chalkidius Kommentar zu dieser letzteren
Schrift im 1. Kapitel, Eratosthenes im 93. Kapitel, den Kommentar
*) Agrimenaoren S. 229, Anmerkung 304. *) Oeuvres de Gerhert (edit.
Olleris) pag. 417: Bla auUm quae, ohliqua tusum sive susum deducta, hebetis
vel acuii anguU effectrix videtur hynot^'^^^^ ^^ ^^ ohliqua sive podismus
nominatur.
862 S9. Kapitel.
des Boethius zu den Kategorien des Aristoteles im 8. Kapitel und
endlich die Arithmetik des Boethius in der Vorrede^ im 6. imd im
13. Kapitel. Wir können es dahingestellt sein lassen, ob alle diese
Zitate des Verfassers eigener Gelehrsamkeit entstammen oder selbst
wieder zum Teil abgeschrieben sind, jedenfalls wird man andere Namen,
Namen, welche nicht nach Griechenland und Rom verweisen, vergeblich
suchen. Der mittlere Teil der Gerbertschen Geometrie, Kapitel 16
bis 40, dem Räume nach ein starkes Vierteil des Werkes, enthält
kein Zitat und hat bisher noch nicht zurückgeführt werden können.
Es ist die praktische Feldmessung, welche hier gelehrt wird, in Vor-
schriften Höhen, Tiefen und Entfernungen zu messen*).
Da begegnet uns, um nur einiges zu nennen, im Kapitel 16 eine
Methode, nach welcher der Beobachter stehend und durch ein unter
45 Grad geneigtes Astrolabium visierend eine Höhe messen soll. Da
lehren die Kapitel 21 und 22, teilweise auch 24, Höhenmessungen
aus dem Schatten. Im 22. Kapitel ist als einzige (S. 857) angekün-
digte Verwandtschaft zu Arabischem das auch ausschließlich in der
Salzburger Handschrift an dieser Stelle vorkommende Wort haJhidada
zu bemerken, welches zweimal, das zweite Mal in der Form alhidada,
vorkommt*). Wir deuten uns diese einzige Ausnahme als eine von
den (S. 860) erwähnten kleinen Abschreibersünden. Das Wort wird
in der Vorige Randbemerkung gewesen und in den Text herüber
genommen worden sein, ganz ähnlich wie es in einer Archimedhand-
schrift mit dem Worte Ellipse ging, dessen Archimed sich zuverlässig
nicht bedient haben kann. Daß unsere Erklärung das Richtige zu
treffen scheint, geht auch daraus hervor, daß die Münchener Hand-
schrift, welche gerade den feldmesserischen Abschnitt in offenbar viel
zweckmäßigerer und klarerer Anordnung besitzt, als man es der
Salzburger Handschrift nachrühmen kann, jenes 22. Kapitel überhaupt
nicht aufweist*).
') AgrimeüBoren S. 162 — 166. Bubnov 1. c. hält diese mittlere und die
letzte Abteilung für eingeschoben, während die erste Abteilung seiner Ansicht
nach von Gerbert hem'ihren kann. T anner y {Une correspondance d'Eeoldtres
du XI Siedle) hält die beiden ersten Abteilungen für nicht-Gerbertisch und
schreibt die letzte Abteilung Gerbert in dem Sinne zu, es sei ein von diesem
herrührender Auszug aus römischen Feldmessern. •) Das arabische Wort
al-^id&da bedeutet eigentlich einen Türpfosten, dann als technischer Ausdruck
ein Lineal. Die Engländer gebrauchen seit Ende des XYI. S. das Wort in der
Verketzerung athelida. Weigand, Deutsches Wörterbuch, 2. Auflage 1876, ist-
der Meinung, aus diesem athelida sei unter Vereinigung mit dem vorgesetzten
Artikel the das sonst in seiner Ableitung unerklärliche Theodolit entstanden.
Vgl. K. Zöppritz in den Annalen der Physik und Chemie, Neue Folge XX,
176—176 (1883). ») Curtze 1. c. S. 96.
Qerbert. 863
Im 24. Kapitel knüpft sich dann wieder ganz in römischer Weise
eine Methode an, bei der von der Mißlichkeit eines Verfahrens ge-
sprochen wird, welches den Beobachter zwingt, sein Gesicht glatt an
die Erde zu drücken. Da erinnert an Epaphroditus (S. 556) und an
SeztuB Julius Africanus (S. 440) eine im Kapitel 31 gelehrte Höhen-
messung mit Hilfe eines massiven rechtwinkligen Dreiecks von den
Seitenlangen 3, 4 und 5. Wieder eine den Hilfsmitteln nach ver-
schiedene Höhenmessung ist sodann die im Kapitel 35, welche wir
die Messung mittels der festen Stange nennen wollen, da sie darauf
hinausläuft, eine Stange von bekannter Höhe in den Boden zu be-
festigen' und alsdann rückwärts gehend den Punkt aufzusuchen, von
welchem aus die Sehlinio aus dem Auge des Beobachters nach der
Stangenspitze in ihrer Verlängerung die Spitze des zu messenden
Gegenstandes, eines Turmes oder dergleichen, erreicht. Kapitel 38
und 39 messen Flußbreiten, die Aufgabe des Nipsus wie vor ihm des
Heron. Kapitel 40 endlich kennzeichnet sich selbst als militärische
Methode zur Höhenmessung. Zwei Pfeile werden, ein jeder an eine
lange Schnur befestigt, gegen die Mauer abgeschossen, auf deren
Höhenmessung es abgesehen ist, und zwar richtet man den einen
Schuß nach der Spitze, den anderen nach dem Fuße der Mauer. Die
beidemal abgewickelten Schnurlängen geben Hypotenuse und Grund-
linie eines rechtwinkligen Dreiecks, dessen Höhe zu berechnen nun-
mehr keine Schwierigkeit mehr hat.
Solche Methoden werden nicht auf einmal erfunden. Der Ver-
fasser dieser Abteilung, wer es auch gewesen sein mag, ob Gerbert,
ob ein anderer Schriftsteller im oder vor dem XI. S., ob ihm die
ganze Gerbertsche Geometrie, ob nur deren mittlere Abteilung an-
gehört, erhebt auch keinerlei Anspruch darauf als Erfinder angesehen
zu werden. Er sagt stets „die Höhe usw. wird gemessen^', niemals
„ich messe" auf diese oder jene Weise, und um derartige Worte der
Aneignung war das Mittelalter nie verlegen, selbst wo sie nicht voll-
ständig der Wahrheit entsprachen. Sagt doch der Verfasser der ersten
Abteilung, bevor er im 13. Kapitel höchst unbedeutende Bemerkungen
ausspricht ,ylch glaube unter keiner Bedingung schweigend an Aus-
blicken vorbeigehen zu sollen, welche, während ich dies schrieb, die
eigene Natur mir eröflfhete'*^). Ein Weiteres tritt hinzu, welches erst
im folgenden Bande im 42. Kapitel zur vollen Geltung kommen kann.
Am Anfang des XTTT. S. finden wir einige dieser Messungsmethoden,
*) Oeuvres de Gerbert (ed. OUeris) pag. 425: 8ed nequaquam silentio
ptUo transeundum quod interim dmn /laec scriptitarem ipsa mihi natura obtulit
apecülandum.
864 39. Kapitel.
aber nicht alle bei einem Schriftsteller wieder^ von welchem kaum
anzunehmen ist, er habe aus der Gerbertschen Geometrie geschöpft,
80 daß die unmittelbare weniger wahrscheinlich sein dürfte, als eine
beiden gemeinsame Abhängigkeit von einer noch älteren, jedenfalls
römischen Quelle, mag deren Urheber Frontinus oder Baibus geheißen,
oder einen anderen bekannten oder verschollenen Namen geführt
haben. Von dieser Annahme aus steigert sich die Wichtigkeit von
öerberts Geometrie nach zwei Seiten hin. Sie lehrt uns nicht bloß,
was durch Jahrhunderte hindurch von Methoden der Feldmessung
flieh erhalten hat, sie füllt uns auch eine empfindliche Lücke in unserer
Kenntnis der römischen Yerfahrungs weisen aus, wenn wir nicht gar
in Erinnerung an die Erzählung des Polybius (S. 362), es sei mög-
lich die Höhe einer Mauer von weitem zu messen, für die Entstehung
mancher Methoden bis in das griechische Altertum hinaufgreifen müssen.
Was den ersten Teil dieser Geometrie betrifft, so haben wir
schon auf die Definition von podismus aufmerksam gemacht, welche
in ihm sich befindet. In ihm kommt auch das Wort carat^stus für
Scheitellinie vor, den griechisch-römischen Ursprung bezeugend. Andere
Bemerkungen lassen sich an Definitionen und einfachste Sätze der
Geometrie kaum knüpfen. Sie sind uns höchstens als Stilprobe von
Wert, in welcher die dem Verfasser eigene behäbige Breite hervor-
tritt, ein Bestreben, recht klar zu sein, welches er aber niemals da-
durch betätigt, daß er Sätze kürzer faßte und den Sinn Verwirrendes
wegließe, sondern stets so, daß er von dem Seinigen beifügt.
Mit dem dritten Teile haben wir uns oben so weit beschäftigt,
daß wir seine Quellen enthüllten. Einige wenige Gegenstände müssen
wir noch aus ihm hervortreten lassen. Wir haben (S. 377) die
heronische Konstruktion des regelmäßigen Achtecks ausgehend von
dem Quadrate besprochen; wir haben (S. 560) die Figur, an welcher
die Richtigkeit der Konstruktion sich nachweisen läßt, bei Epaphro-
ditus wiedergefunden; wir haben sie (S. 586) bei dem Fälscher des
Boethius auftreten sehen. Die Gerbertsche Geometrie hat die Kon-
struktion selbst im Kapitel 89 aufbewahrt, die Figur dagegen nicht
abgebildet, weder bei Gelegenheit der Konstruktion, noch bei Gelegen-
heit der Achteckszahlen. Überhaupt fühlte der Verfasser offenbar
deutlicher als die römischen Schriftsteller, die ihm als Vorlage dienten,
daß die Lehre von den figurierten Zahlen nur gewohnheitsmäßig in
die Geometrie aufzunehmen sei, nicht eigentlich dort ihren richtigen
Platz habe; der ganze Gegenstand war ihm klarer. Er hat nicht eine
einzige Figur in seinen arithmetischen Kapiteln benutzt. Er hat für
die Fünfecks- und Sechseckszahlen die richtigen Formeln angegeben,
wo Epaphroditus und der gefälschte Boethius sich Rechenfehler zu-
Gerbert. 865
schulden kommen ließen. In der Gerbertschen Geometrie finden wir
in Sjipitel 55 die allgemeine Formel, um aus der Seite die Polygonal-
zahl, in Kapitel 65 diejenige , um aus der Poljgonalzahl die Seite zu
entnehmen, in ihr zweimal in Kapitel 60 und 62 die Formel, welche
die Pjramidalzahl aus der Seite und der Polygonalzahl entstehen laßt.
Die Summierung der Reihe der Kubikzahlen ist dagegen nicht in
Oerberts Geometrie übergegangen. Es kann wohl sein, daß der Ver-
fasser den betreffenden Paragraphen des Epaphroditus nicht verstand,
wie er im Codex Arcerianus auf ihn stieß, und wer möchte ihm das
yerübeln, da gerade jener Paragraph dort eine so verderbte Gestalt
angenommen hat^), daß er kaum zu verstehen ist, es sei denn, man
wisse schon, nach welcher Formel Kubikzahlen sich summieren und
ermittle rückwärts aus dieser Kenntnis die richtige Lesart.
Man hat die arithmetischen Kapitel von Gerberts Geometrie als
Zeugnis für die ünechtheit der ganzen Schrift angerufen. Wir halten
gerade umgekehrt diesen dritten Abschnitt für gesichertes Eigentum
Oerberts. Gerbert, das haben wir in dem biographischen Teile dieser
Erörterung gesagt, hat auch als Papst noch einen Brief von Adel-
bold von Utrecht erhalten. In demselben ist, wie oben angedeutet,
von der Ausmessung des Kreises und der Kugel die Rede, deren
Körperinhalt, oras^Uudo, dadurch gefunden werde, daß von dem Kubus
des Durchmessers _- abgezogen, beziehungsweise - genommen werden.
Ein anderer Brief des Adelbold an Gerbert ist verloren gegangen, da-
gegen ist Gerberts Antwort erhalten und z. B. in der Handschrift des
Salzburger St. Peterstiftes, welche die Gerbertsche Geometrie enthält,
hinter der Geometrie und in unmittelbarem Anschluß an jenen Brief
Adelbolds über den Kugelinhalt vorhanden. Daraus hat sich die Ver-
mutung gebildet, hier liege wohl die Antwort auf ein späteres Schreiben
Tor, und mit Rücksicht auf die Aufschrift des erhaltenen Briefes Adel-
bolds „an Gerbert den Papst" mußte man sie in die letzten Lebens-
jahre Gerberts setzen. Adelbold hatte, wie wir aus Gerberts Antwort
ersehen, Skrupel darüber bekommen, daß das Dreieck in seiner
Fläche zweierlei Ausmessung besitzen sollte. Er konnte nicht be-
greifen, wie das gleichseitige Dreieck, dessen Seite die Länge 7 be-
(7 • 8\
= j als auch den Flächen-
(7 • 6\
= -^j besitze. Gerbert erläutert ihm die Sache ganz
richtig. Der wirkliche geometrische Flächeninhalt, sagt er, ist 21
und er gibt dabei die Regel: die Höhe des gleichseitigen Dreiecks
^) Agrimensoren S. 127 — 128.
Gautor, Oeschiohte der Mathematik I. ^ /Lafl. 56
866 89. Kapitel.
sei immer um ^ kleiner als dessen Seite. Die andere Zahl 28, fahrt
Gerbert fort, sei nur arithmetisch als Fläche zu nehmen und besage,
man könne in das Dreieck 28 kleine Quadrate mit
der Längeneinheit als Seite einzeichnen, freilich so,
daß Überschüsse über das Dreieck erscheinen, wie
der Augenschein (Fig. 114) am deutlichsten lehre.
Gerbert, sagte man nun, hat also hier deutlich für
die Geometrie verworfen, was in Gerberts sogenannter
Geometrie gelehrt ist, mithin ist letztere unecht.
Dieser Einwurf ist vollkommen nichtig. Wir wollen nicht bloß
darauf hinweisen, daß es eine und dieselbe Handschrift aus der Mitte
des XII. S. ist, welche beide Schriftstücke für Gerbert in Anspruch
nimmt, noch darauf, daß die Geometrie, wenn sie in Bobbio unter
Benutzung des dort befindlichen Codex Arcerianus geschrieben wurde,
etwa 20 Jahre älter als der Brief an Adelbold ist, und daß in
20 Jahren Ansichten auch über wissenschaftliche Dinge sich klären
und ändern können. Wir geben vielmehr namentlich zu bedenken,
was wir oben schon auf den Inhalt der arithmetischen Kapitel selbst
uns stützend gesagt haben, daß Gerbert diesen Abschnitt seiner
Geometrie als das erkannte, was er war, und ihn wohl überhaupt
nur darum auinahm, weil er auch in seinen Musterwerken sich an
ähnlicher Stelle vorfand. Ja man kann umgekehrt den Brief eine
willkommene Bestätigung der Geometrie nennen, wenn Adelbold,
dessen Anfrage ja verloren ist, gerade auf Gerberts Geometrie, wie
wir vermuten, sich berief, um die falsche Zahl 28 neben der als
richtig bekannten Zahl 21 durch ein Zeugnis zu stützen, welches
von dem, an welchen er seine Anfrage richtete, nicht zurückgewiesen
werden konnte. Zu dieser Vermutung führen nämlich die Anfangs-
worte von Gerberts Brief hin^): „Unter den geometrischen Figuren,
welche Du von uns entnommen hast, war ein gleichseitiges
Dreieck, dessen Seite 30 Fuß lang war, die Höhe 26 Fuß, die
Fläche gemäß der Vergleichung von Seite und Höhe 390." Diese
Figur nebst den genannten Zahlenwerten ist nämlich in Gerberts
Geometrie der Inhalt von Bjipitel 49.
Zugleich zeigt sich in der Tat eine Ansichtsänderung Gerberts.
Während er in dem aus Epaphroditus entnommenen Kapitel der Geo-
metrie noch yo » rechnete, sagt er jetzt, wie wir gesehen haben,
im Verlaufe des Briefes, die Höhe des gleichseitigen Dreiecks sei
^) In his geometricis figt^ris, quas a nohis mmpsisti, erat trigonus quidam
aequüaterus, cuius erat latus XXX pedes, cathetua XXVI, sectitidum coüatiomm
lateria et caiheti area CCCXC.
Gezbert. 867
immer um y kleiner als dessen Seite^ und darin steckt der Näherungs-
wert y^ =-« Y , dessen Vorkommen bei irgend einem früheren Schrift-
steller wir nicht zu bestätigen imstande sind, während er (S. 22«>)
Baumeistern der Perikleischen Zeit bekannt gewesen zu sein scheint,
yielleicht auch in den Bauschulen erhalten blieb, weil er bequemerer
Rechnung als der heronische Näherungswert, wenn auch weniger
genau als jener ist. Der Näherungswert Y2 » -^ findet sich, um
dieses gelegentlich hervorzuheben, gleichfalls in der dritten Abteilung
Yon Gerberts Geometrie, in Kapitel 66.
Diese Schriften Gerberts, Ton welchen wir bisher gehandelt
haben, waren geometrischen Inhaltes. Zwei andere beziehen sich
auf Rechenkunst. Zunächst ist aus zwei dem XI. und dem XII. S.
angehörenden Handschriften durch den letzten Herausgeber von Ger-
berts Werken eine Abhandlung: Regel der Tafel des Rechnens,
Regida de ahaco comptäi überschrieben und als yon Gerbert her-
rührend bezeichnet zum Drucke befordert worden*). Der Titel dieser
ausführlichen Abhandlung ist nicht ohne Interesse in der Richtung,
daß in ihm das Wort Computus unzweifelhaft nicht als Osterrech-
nung, sondern als Rechnen im allgemeinen zu übersetzen ist, eine
erweiterte Bedeutung, deren Möglichkeit wir (S. 834) betonten. Er
findet seine Beglaubigung, wenn eine solche nötig erschiene, in einer
Äußerung eines Schriftstellers des XL S., der im folgenden Kapitel
von uns besprochen werden muß, Bemelinus. Dieser redet nämlich
von der „Regel** des Papstes*). Wir werden indessen gleich nachher
ausfahrlicher über die Verfasserfrage zu reden haben, wenn wir über
den Inhalt der Regel im klaren sein werden, und über diesen kommen
wir am raschesten hinaus, wenn wir denselben als in wesentlicher
Übereinstimmung mit den seinerzeit im 27. Kapitel geschilderten
rechnenden Abschnitten der Geometrie des Boethius anerkennen. Die
Multiplikationsregeln sind soweit fortgesetzt, daß höchstens 27 Ko-
lumnen des Abacus in Anspruch genommen werden, wodurch eine
Übereinstimmung mit Richers Schilderung des Rechenbrettes, welches
Gerbert in Rheims seinem Unterrichte zugrunde legte, hergestellt ist.
Allerdings scheint ein nur flüchtiger Blick auf die Regel dieser Be-
merkung zu widersprechen. Wo z. B. die Multiplikation von Einern
in Zehner, in Hunderter usf. gelehrt wird, heißt es ausdrücklich, es
*) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 811—848. *) Ebenda pag. 357:
Si domini papcte regüla de hü suhtHissiine scripta tantum sapieniissimis non esset
reservata, friistra me ad Äcw ^owip^^we« scribtndas.
56 •
868 39. Kapitel.
gebe 25 Fälle ^ und ähnlich, wenn der Multiplikator und ihm ent-
sprechend der Multiplikandus von höherer Ordnung gedacht sind. Da
könnte man auf das Vorhandensein von nur 26 Kolumnen zu schließen
sich versucht fühlen , wenn man zu erwägen vergißt, daß die zählen-
den Ziffern beider Faktoren för sich ein zweiziffriges Produkt zu liefern
imstande sind, also in der Tat das Vorhandensein einer bei manchen
Multiplikationen freibleibenden, bei anderen zu benutzenden 27. Ko-
lumne voraussetzen. Das Dividieren ist das komplementäre, sofern
der Divisor aus Zehnem und Einem besteht. Besteht derselbe aus
Hundertern und Einem, so wird wieder, wie bei Boethius, eine Einheit
höchster Ordnung des Dividenden fürsorglich beseitigt und dann zu-
nächst durch die Hunderter des Divisors geteilt, als wären sie von
Einern gar nicht begleitet. Das Bruchrechnen bildet den Schluß und
wendet diejenigen Brüche an, welche wir als ursprünglich römische
Daodezimalbrüche wiederholt in Frage treten sahen.
Die ganze Schrift ähnelt in ihrer breitspurigen Stilistik der
Geometrie Gerberts. Sie trägt, wie wir fast überflüssigerweise be-
merken, in jeder Zeile ein durchweg römisches Gepräge. Man kann
sogar einiges Erstaunen darüber an den Tag legen, daß nur die ge-
meinen römischen Zahl- und Bruchzeichen vorkommen, daß weder
im fortlaufenden Texte, noch auf den Zeichnungen des Abacus, welche
in der Handschrift jüngeren Datums sich vorfinden, jene Apices be-
nutzt sind, welche doch nach Richers nicht mißzuverstehender
Schilderung Gerbert in Rheims zu benutzen pflegte. Das läßt einigen
Zweifel in die Meinung setzen, Gerbert habe gerade während seiner
Rheimser Lehrzeit die Regel aufgeschrieben, beziehungsweise seinem
dortigen Unterrichte zugrunde gelegt, eine Meinung, welche in
weiterem Widerspruche gegen unsere (S. 850) begründete Ansicht
steht, Gerbert habe dort überhaupt nicht nach einem den Schülern
in die Hände gegebenen Buche das Rechnen gelehrt, in Widerspruch
auch gegen die Worte Richers, man solle Gerberts Buch an C. den
Grammatiker zu Rate ziehen. Konnte Richer so schreiben, wenn
die ausführliche Regel älteren Datums als das Buch an Constantinus
war, in welchem wir sogleich eine wesentlich kürzere Darstellung
kennen lernen werden? Mußte Richer die Regel, wenn sie in Rheims
in Gebrauch war, nicht unbedingt kennen, während seine Worte die
Vermutung erwecken, er wenigstens habe nur von einer Schrift
über Rechenkunst aus Gerberts Feder gewußt? Ahnliche nur noch
stärkere Bedenken sind einer Berner Handschrift der Regel ent-
nommen worden^). Die Vermutung, jene Handschrift gehöre dem
') Gerbert and die Bechenknnst des X. Jahrhunderts von Dr. Alfred Nagl
Gerbert. 869
IX. S. aD; sie sei also längere Zeit vor Gerberts Geburt geschrieben^
bat sich allerdings als irrig erwiesen. Die Zeit der Niederschrift
wird nicht über das X. S. hinaufznrücken sein^)^ und somit könnte
das Original allenfalls um 970 entstanden sein. Aber aus dem Berner
Kodex geht deutlicher als aus dem dem Drucke der Regel zugrunde
gelegten hervor, daß man überhaupt nicht eine Abhandlung, sondern
deren zwei vor sich hat, eine über das Multiplizieren und Dividieren
mit ganzen Zahlen, eine zweite über das Bruchrechnen, und da nur
von einer Schrift Gerberts die Rede sein könnte, so wäre mindestens
die zweite Abhandlung einem Verfasser zuzuweisen, der spätestens
als Gerberts Zeitgenosse lebte, der durch seine Duodezimalbrüche
sich als Schüler römischer Rechenkunst zu erkennen gibt, und der
mit diesen Brüchen die komplementäre Division ausübt! Wieder eine
andere AufÜEussung ist diejenige^), welche die ganze Schrift Gerbert
abspricht und sie zwar auch als aus verschiedenen Bestandteilen zu-
sammengesetzt erachtet, aber Heriger von Lobbes für den Ver-
fasser des ersten Hauptteiles hält. Heriger habe etwa zu gleicher
Zeit in Lobbes wie Gerbert in Rheims gelehrt, so daß eine Beein-
flussung des einen durch den anderen, Gerberts durch Heriger wie
Herigers durch Gerbert, ausgeschlossen erscheine. Wir verzichten
darauf eine Entscheidung zu treffen, wo nirgend strenge Beweise vor-
liegen, vielmehr nur Vermutung gegen Vermutung steht. Uns darf
die eine Behauptung genügen, in welcher, soweit wir sehen, alle über-
einstimmen, daß die Regel zu Gerberts Lebzeiten verfaßt ist, und
daß die komplementäre Division aus Rom stammt
Dagegen wird gegen eine andere Schrift Gerberts kein Zweifel
erhoben. Büchlein über das Dividieren der Zahlen, libeUtts de
numerorum divisioney ist die Überschrift der Abhandlung'), welche
durch einen Brief an Constantinus eingeleitet, kürzer und weniger
klar, als die Regel es tut, den genau gleichen Gegenstand behandelt
gleichfalls ohne der Zahlzeichen auch nur mit einer Silbe zu gedenken.
Der Einleitungsbrief lautet in seinen ersten wichtigen Sätzen wie
folgt*): „Der Stiftslehrer Gerbert seinem Constantinus. Die Gewalt
der Freundschaft macht fast unmögliches möglich, denn wie würde
ich versuchen, die Regeln der Zahlen des Abacus zu erklären, wenn
Du nicht, Constantinus, mein süßer Trost der Mühen, die Veran-
(Wien ISSS, Sonderabdnick aus Bd. 116 der SitzuDgaberichte der phil.-histor.
Klasse der Wiener Akademie).
^) So das Ergebnis genauer Erw&gungen von Herrn Delisle in Paris.
•) Bubnov S. 206, Note 1. ») Oeverea de Gerhert (ed. Olleris) pag. 849—866.
*) Math. Beitr. Kulturl. S. 820 verbessert nach dem in der Ausgabe von Olleris
abgedruckten gereinigten Texte.
870 39. Kapitel.
lassimg bötest? So will ich denn, obwohl etliche Jahrfunfe ver-
gangen sind, seit ich weder das Buch in Händen hatte noch in Übung
war, einiges in meinem Gedächtnisse zusammensuchen; und es zum
Teil mit denselben Worten, zum Teil demselben Sinne nach vor-
bringen/' Es geht daraus hervor, daß Gerbert zu Gonstantinus auch
wohl früher schon in dem Verhältnisse des Lehrers zum Schüler ge-
standen haben muß, weil er sonst nicht den Titel Stiftslehrer mit
seinem Namen in Verbindung gebracht hätte, was er außerdem nur
dreimal in den uns bekannten Briefen tat^). Wir wissen auch, daß
die Bekanntschaft beider aus den Jahren 972 bis 982 herrührt, aus
der Zeit, in welcher Gerbert wechselweise lernend und lehrend aus
der Stellung des Stiftsschülers in die des Stiftslehrers übersprang, um
dann wieder für einzelne Stunden in die erstere zurückzukehren. An
jene Zeit erinnert Gerbert offenbar mit den Worten, es seien etliche
Jahrfunfe, aliquot lustray vergangen, und diese Zeit von mindestens
15 bis 20 Jahren zu der des Rheimser Aufenthaltes hinzugefügt
liefert etwa das Jahr 997, in welchem (S. 858) der Brief an Gon-
stantinus höchst wahrscheinlich geschrieben ist. Seit einigen Jahr-
fünfen, sagt Gerbert, habe er weder das Buch in Händen noch irgend
Übung gehabt, imd der letzte Teil dieses Satzes bezieht sich zu-
verlässig nicht auf Übung im Rechnen, sondern im Rechenunterrichte,
denn das ist es, was Gonstantinus von ihm verlangte. Ein Buch zum
Rechenunterrichte war es also auch, welches als seit vielen Jahren
vermißt bezeichnet ist. Damals, als Gerbert noch in Rheims lehrte,
ja da hatte er das Buch, damals ließ er auch die Vorschriften sich
aber- und abermals von den Schülern hersagen, sagte er sie ihnen
vor, stets dieselben Ausdrücke gebrauchend, und nur dadurch wird
es ihm möglieh, auch jetzt noch teils mit denselben Worten wie
damals teils dem Sinne nach das Gleiche aus dem Gedächtnisse wieder
herzustellen. Und so sind wir nun zu der letzten Frage gelangt:
Was für ein Buch war es denn, von welchem Gerbert redet? Man
hat vermutet, die „Regel^^ sei damit gemeint. Wir haben die Gegen-
gründe entwickelt, welche uns gegen diese Vermutung einnehmen.
Sollten sie als entscheidend angesehen werden, dann muß es freilich
ein anderes Buch gewesen sein, überhaupt kein von Gerbert selbst
verfaßtes, für welches er auch wohl eine andere Bezeichnung gehabt
hätte, als kurzweg das Buch, lihrum. Auch das Buch des weisen
Josephs des Spaniers kann es nicht wohl gewesen sein, da dieses im
*) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) Epistöla 11: Gerbertus quondam scola-
8ticu8 Ayrardo suo salutem (pag. 7). Upistola 17: Hugoni siu) Gerbertus quon-
dam scolasticus (pag. 10). Epistöla 142 : Gerbertus Scolaris abbas Remigio tnonaco
Treverensi (pag. 78).
Geibert. 871
Jahre 984, wie wir sahen (S. 856), von Rheims aus gesucht wurde.
Aber über diese negative Bestimmung, welches Buch es nicht war,
das Gerbert yermißte, kommen wir freilich nicht hinaus. Die „Regel''
ist sodann von Gerbert als Papst — wie der Ausspruch des Bemelinus
gleichfalls yerstanden werden kann — verfaßt worden, erst nachdem
das Büchlein für Constantinus aus dem Gedächtnisse zusammen-
geschrieben war. Gerberty nehmen wir an, beabsichtigte, nachdem er
den Gegeustand sich wieder vollständig gegenwärtig gebracht hatte,
ihn endgültig und in genügender Klarheit für jeden Leser abzuschließen.
Doch gleichviel. Diese kleinen Meinungsverschiedenheiten sind im
Grunde sehr geringfügig gegenüber der Aufgabe, die uns bleibt: zu
zeigen, welche Bedeutung Gerberts Lehren von Anfang an besessen
und mehr und mehr gewonnen haben.
Die realistischen Studien^) waren mehr und mehr aus den
Klöstern verschwunden, in welchen sie unter Alcuins unmittelbarem
und mittelbarem Einflüsse ein, wie es schien, ewiges Bürgerrecht
«ich erworben hatten. Nur ganz vereinzelt waren noch Mönche zu
finden, welche weltliches Wissen besaßen oder nach solchem strebten.
Büchersammlungen von mehr als 15 oder 20 Bänden gab es nur in
den wenigsten Klöstern. Die Bücher selbst waren ihrer Seltenheit
wegen einzeln an Kettchen befestigt. Der Abt hatte nicht einmal
das Recht sie nach auswärts zu verleihen, außer nach bestimmten
anderen Klöstern, welche einen Mitbesitz an den Büchern genossen.
Nun trat Gerbert auf. Er gab dem Unterrichte zu Rheims, wo die
Erinnerung an Remigius, der einst jene Schule zu Ansehen brachte,
fast verloren gegangen war, ein neues Leben. Er lehrte freilich nicht
wesentlich Neues, aber er lehrte es mit neuem Erfolge, und der Er-
folg wuchs noch mit der Zunahme der persönlichen Bedeutung des
Lehrers. Gerbert hatte allen Anfeindungen zum Trotze die höchste
Stufe kirchlicher Würden erstiegen. Er war ein Papst an Sitten-
reinheit einzig dastehend unter den Päpsten seines Jahrhunderts,
welche in wüster Sinnlichkeit dem heiligen Charakter ihrer Stellung
Hohn boten, so daß ihr Regiment mit Recht als eine Pomokratie
hat verunglimpft werden können. Ganz natürlich, daß jetzt die
Gerbertsche Schule an Ansehen gewann. Der Glanz des Lehrers
strahlte auf seine früheren Zöglinge zurück , gab ihnen selbst eine
höhere Weihe. So würde es unzweifelhaft, wenn vielleicht auch nur
mit kurz andauerndem Erfolge, gewesen sein, wenn die Lehren
Gerberts weniger klar, weniger nützlich, weniger vortrefflich gewesen
») Oeuvres de GerheH (ed. üUerifl): Vie de Gerhert pag. XXIV— XXXm
ist eine sehr hübsche Übersicht über den Geisteszustand der Zeit.
872 89. Kapitel.
wären. Um wieviel mächtiger mußte die Wirkung sein, wo der
innere' Wert dem äußeren Bufe gleich kam, wo unter päpstlicher
Fahne zur Modesache wurde, was verdiente keiner Mode unterworfen
zu sein. Jetzt regte es sich wie auf ein gegebenes Zeichen aller Orten.
Die Bibliotheken wurden wieder zahlreicher. Neue Abschreiber ver-
vielffiltigten die selten gewordenen Schriften. Der Unterricht, und
was für uns allein in Betracht kommt, auch der mathematische Unter-
richt nahm an Umfang zu.
Gerberts Geometrie scheint freilich trotz oder vielleicht wegen
ihrer verhältnismäßig höheren wissenschaftlichen Bedeutung eine
rechte Wirkung nicht erzielt zu haben. Die geometrische Unwissen-
heit war, wie wir mehrfach hervorgehoben haben, bei Römern und
folglich auch bei Schülern der Römer eine noch dichtere als die
arithmetische. Der Boden war in diesem Gebiete noch weniger zu-
bereitet fruchtbaren Samen aufzunehmen. Was wir wenigstens von
mönchischen Versuchen in der Geometrie vor Gerbert kennen, be-
schränkt sich auf eine Zeichnung^), welche ein Schreiber des X. oder
XL S. einem Auszuge aus der Naturgeschichte des Plinius beifügte^
und in welcher man eine graphische Darstellung unter Zugrunde-
legung des Eoordinatengedankens erkannt hat. Wir stellen nicht in
Abrede, daß hier der Anfang zu einer Betrachtungsweise vorhanden
ist, die am Ende des XIV. S. an Wichtigkeit und Verbreitung ge-
wann und das Wort latitudines, welches Plinius noch als Breite
braucht, mit dem Sinne der Abszissen begabte, aber in der Zeit, in
welcher jene Figur entstand, fallt es uns schwer an das Bewußtsein
ihrer Tragweite zu glauben. Auch von Nachfolgern Gerberts in geo-
metrischen Untersuchungen ist so wenig bekannt, daß wir es fuglich
hier anschließen können. Da ist zunächst von Briefen zu reden, deren
Schreiber teils wenig bekannt teils unbekannt sind, aber alle der
ersten Hälfte des XI. S. angehören. Da überdies sämtliche zehn Briefe
sich handschriftlich in Paris und nur in Paris erhalten haben, so war
es durchaus gerechtfertigt, sie gemeinschaftlich dem Drucke zu über-
geben^. Zuerst sind 8 zwischen Radulf von Lüttich und Regim-
bold von Cöln gewechselte Briefe zum Abdruck gebracht. Dann
folgt ein weiterer Brief an Regimbold, dessen Schreiber sich als
Mönch B. bezeichnet, eine Bezeichnung welche vollständiger Namen-
losigkeit gleichkommt Das letzte Stück der Sammlung führt einzig
') S. Günther, Die Anfänge und Entwicklnngsstadien des Coordinaten-
principes in den Abhandlangen der natnxf. Geeellsch. zu Nürnberg VI. Separat-
abdmck S. 20 flgg. und 48—49. *) üne carrespcmdance d'ecolätres du XL Siicle
publice par M. Paul Tannery et M. Tabb^ Clerval in den Notices et ex-
traits XXXVI, 487—648. Paris 1900.
Gerbert. 873
den Titel De QfAodratura CirculL Radulf yon Lüttich wird ge-
meinsam mit Regimbold yon Cöln als Mathematiker aas der un-
mittelbar auf Gerbert folgenden Zeit gerühmt*), allein diese Erwäh-
nung ist durch keinerlei Beziehung auf ältere Schriftsteller gestützt
und darum unyerwertbar. Der einzige Zeuge, welchen man anrufen
konnte ist Adelmann, der in seinen Versen auf berühmte Zeit-
genossen Regimbold yon Cöln nennt und yon ihm sagt, er habe sich
lange in Lüttich aufgehalten^. Alles, was wir sonst wissen, stammt
aus dem Briefwechsel selbst. Begimbold hat bei yorübei^ehendem
Besuche in Chartres dort mit dem berühmten Bischof Fulbert yer-
kehrt') und erwähnt diesen Besuch mit der Bitte Radulf möge bei
Fulbert eine Erkundigung einziehen. Fulberts Todestag war der
10. April 1028, also ist der Brief yor diesem Tage geschrieben. Re-
gimbold nennt femer den Bischof Adelbold yon Utrecht*), und
dieser gelangte 1010 zu der ihm beigelegten Würde, also ist der
Brief nach 1010 geschrieben. Mehr aber, als daß der Briefwechsel
der Zeit zwischen 1010 und 1028 angehört, läßt sich nicht behaupten.
Es ist ja ganz interessant, daß Regimbold sagt, er lehre seit mehr als
20 Jahren^), er werde nächstens nach Rom reisen*), daß yon Wazo
in einer Weise die Rede ist, als wäre er Regimbolds Lehrer ge-
wesen^, aber zur genaueren Datierung der Briefe dienen diese Tat-
sachen keineswegs. Der Briefwechsel selbst geht dayon aus, Boethius
habe in seinen Erläuterungen zu den Kategorien des Aristoteles ge-
sagt: scimus triangulum habere ires interiores angtüos equos duobus
redis^). Diese Behauptung wird nach yerschiedenen Richtungen be-
sprochen. Radulf hält den Satz yon der Winkelsumme eines Be-
weises wert und sucht ihn ftlr das gleichschenklig rechtwinklige
Dreieck zu liefem, indem er die Diagonale eines Quadrates zieht.
Bei dieser Gelegenheit bemerkt er, das Quadrat über der Diagonale
sei das Doppelte des ursprünglichen Quadrates und die Diagonale
7
selbst sei - der Quadratseite*). Regimbold dagegen entnimmt dem
17
Geomäricum des Boethius die Diagonale sei - der Quadratseite ***).
Der Herausgeber des Briefwechsels hat mit Recht heryorgehoben,
') Karl Werner, Gerbert von Aorillac, die Kirche nnd WisBenschaft seiner
Zeit S. 77 (Wien 1878). *) Correspandance d'ecoldtres pag. 522 lin. 14. ') Ebenda
pag. 532 lin. 22—23. *) Ebenda pag. 522 lin. 18 Trajectensem Epücopum Ädel-
holdum. ') Ebenda pag. 529 lin. 24. ^ Ebenda pag. 532 lin. 4. ^) Ebenda
pag. 522 lin. 14 und pag. 531 lin. 8. ^) Ebenda pag. 518 lin. 12. ®) Ebenda
pag. 515 lin. 24 superhipartiens quintas. ^^ Ebenda pag. 525 lin. 2—4 In Geo-
metrico dicü Boethius: Omne diagonium equilateri quadrdti habet ipsum latt^
in ae ei eiua quincuncem.
874 39. Kapitel.
diese Regel oder 1/2 » — finde sich in keiner dem Boethius zage-
schriebenen Geometrie, auch nicht in der gefälschten, sie sei dagegen
im 66. Kapitel von Gerberts Geometrie, also in deren dritten Ab-
teilung vorgetragen (S. 867). Es leuchtet ein, daß hieraus nur eine
einzige Folgerung gezogen werden darf, diejenige daß im ersten
Viertel des XI. S. in Cöln eine Geometrie des Boethius be-
kannt war, welche nicht mit irgend einer von den Hand-
schriften übereinstimmte, die heute mit Recht oder Un-
recht Boethius zugeschrieben werden. Regimbold wendet nun
die Regel, daß die Hypotenuse des gleichschenklig rechtwinkligen
17 .
Dreiecks seiner Kathete sein muß, weiter an, um aus dem ge-
gebenen Umfange die einzelnen Seiten zu finden. Diese Rechnung
ist dadurch besonders merkwürdig, daß Regimbold sich nicht, wie
Radulf es tut, mit den römischen Duodezimalbrüchen begnügt um
die Seitenlängen annähernd zu berechnen, sondern daß er den Bruch
17
rjg anwendet*). Einen weiteren Gegenstand des Briefwechsels bilden
die Ausdrücke pedes reäi, quadrati, crassi, deren Bedeutung Radulf
entfallen war, bis Regimbold sie ihm als Längen, Flächen und Körper-
maße in Erinnerung bringt. Da fällt es Radulf ein, daß er in
Ghartres die Erklärung aus dem Albinus kennen gelernt habe, und
er benutzt die Gelegenheit um Regimbold dreist zu bitten, ihm den
Albinus oder, wenn der nicht vorhanden sein sollte, den sogenannten
Podismus zuzuschicken^). Ob Albinus irgend ein Werk Alcuins
war, ob der Podismus einen Auszug aus römischen Feldmessern be-
zeichnete, wenn nicht Gerberts Geometrie, darüber ist nichts bekannt,
und ebenso verhält es sich mit einer von Regimbold angerufenen
Regel der Divisionen und der Brüche, welche vorschreibe, wenn der
Divisor den Dividendus übersteige, solle man den Dividendus als
Rest bezeichnen oder zur intellektualen Division seine Zuflucht
nehmen*). Der letztere Ausdruck bedeutet offenbar einen gewöhn-
17
liehen Bruch wie das vorerwähnte rr^ . Fast noch mehr Interesse als
an den auf Rechnung bezüglichen Fragen hatten aber Radulf sowohl
als Regimbold daran, was Boethius wohl unter inneren und unter
äußeren Dreieekswinkeln verstanden habe. Wir erinnern uns, daß
im 9. Kapitel der Gerbertschen Geometrie (S. 861) die gleiche Frage
dahin beantwortet wurde, der spitze Winkel sei ein innerer, der
') Correspandance d'ecoldtres pag. 626 lin. S X et VII ducentesinuMS qua-
dragesifMM sextaa siliquas, *) Ebenda pag. 681 lin. 16—20. ') Ebenda pag. 618
lin. 21—24.
Gerbert. 875
stampfe ein äußerer, bei jenem liege der mit der Grundlinie den spitzen
Winkel bildende Schenkel im Inneren eines rechten Winkels, bei diesem
befinde sich der den stumpfen Winkel bildende Schenkel außerhalb
des rechten Winkels. Genau die gleiche Meinung besitzt Regimbold^).
Auch Fulbert setzte den inneren und spitzen, den äußeren und stumpfen
Winkel einander gleich, aber mit anderer Begründung: bei dem spitz-
winkligen Dreiecke falle die Senkrechte von der Dreiecksspitze auf
die Grundlinie in das Innere des Dreiecks, bei dem stumpfwinkligen
Dreiecke falle sie außerhalb'), ßadulf endlich meint, von inneren
Winkeln rede man in der Ebene, von äußeren im Räume'). Im
Laufe des Briefwechsels erscheinen noch andere Deutungsversuche,
auf welche wir einzugehen yerzichten.
Ob der Mönch B. yon dem Briefwechsel zwischen Regimbold
und Radulf Kenntnis hatte, läßt sich weder behaupten noch leugnen.
Jedenfalls beginnt er seinen Brief an Regimbold mit der Verdoppe-
lung des Quadrates, yon der er behauptet sie sei durch Messung
möglich, in Zahlen unmöglich^). Man solle die Diagonale des
17
kleineren Quadrates, welche yon deren Seite sei, als Seite des
größeren Quadrates benutzen. Wir fassen die bei uns gesperrt ge-
druckte Behauptung so auf, daß B. das Bewußtsein hatte }/2 könne
durch Rechnung niemals genau, sondern nur annähernd, etwa in der
17
Größe -- gefunden werden, während die Konstruktion des doppelten
Quadrates mittels der Diagonale des einfachen Quadrates yoUziehbar
sei. Als zweite Aufgabe gilt für B. die Quadratur des Kreises.
Auch auf sie verweist eine Stelle aus den Erläuterungen des Boethius
zu den aristotelischen Kategorien. Aristoteles hatte die Kreisquadratur
•als möglich aber als unbekannt bezeichnet. Boetbius hatte dazu be-
merkt^), jene Unbekanntschaft gelte nur für die Zeit des Aristoteles,
später habe man den Kreis quadrieren lernen. Ob Boethius das
22
Archimedische ä = - für genau richtig hielt, ob er, wie vermutet
worden ist*), an eine Quadratur mittels eigens dazu erfundener Kurven,
wie die Quadratrix, dachte, ist wohl nicht zu entscheiden. Jedenfalls
rechnet B. mit der archimedischen Zahl, wenn er den Durchmesser 7,
7 22
den Kreisumfang 22 wählt und y mal - als Kreisfläche findet; das
sei die alte Regel für den Kreis in den geometrischen Schriften^).
0 Correspandance d'ecoldtres pag. 626 lin. 16—27. ') Ebenda pag. 532
lin. 27—28. «) Ebenda pag. 520 lin. 14—15. *) Ebenda pag. 533 lin. 13-14:
et hoc in mensura, in nameria nunquam, ") Ebenda pag. 534. ^) Ebenda
pag. 508 in der Einleitung TannerjB. ^) Ebenda pag. 584 letzte Zeile: Haec
in Geometricis vettuta circuli habetur regula.
876 89. Kapitel.
Welche Schriften B. hier meint, ob vielleicht die Geometrica das
gleiche bedeuten, was bei Regimbold Geometricum Boethii heißt ^)^
darüber kann man nicht entscheiden, nur so viel scheint aus dem
Wortlaute hervorzugehen, daß B. von einer ganz bestimmten, Regim-
bold, an den sein Brief gerichtet ist, wie ihm bekannten älteren
Schrift redet. Als Seite des — = 38,5 großen Quadrates*) bezeichnet
B. die Länge. 6 + .- + ^öö "^ 6,205. Als weniger beschwerliche Qua-
dratur des Kreises könne man sich damit begnügen ~ des Durch-
messers als Diagonale des Quadrates zu benutzen'). Augenscheinlich
entspricht diese Vorschrift dem Werte ^ = 3^.
Das letzte anonyme Stück der im Druck vereinigten Sammlung
heißt De Quddratwra Circuli^), Diese kleine Schrift lehrt verschiedene
Quadraturen kennen, unter welchen wir nur die erste hervorheben,.
welche - des Kreisdurchmessers als Quadratseite wählt, d. h.
n == (y J setzt, wie es im Rechenbuche des Ahmes der Fall war.
Da kein einziges Vorkommen dieses Wertes in den fast 3000 Jahren^
um welche Ahmes von der anonymen Schrift absteht, bekannt ist, so
dürfte nach unserem heutigen Wissen eine Abhängigkeit ausgeschlossen
sein, man wird vielmehr an eine selbständige Nacherfindung zu denken
haben^). Der Anonymus spricht nach der Quadratur des Kreises auch
noch von äußeren und inneren Winkeln, welche er wie Regimbold
als stumpfe und spitze Winkel deutet, und von der Winkelsumme
eines gleichseitigen Dreiecks, welches er zu einem doppelt so großen
Rechtecke vervollständigt, dadurch an Radulfs Beweisführung bei dem
gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecke erinnernd.
Nächst den in der beschriebenen Sammlung vereinigten Stücken
haben wir ein von Franco von Lüttich verfaßtes Werk in 6 Büchern
über die Quadratur des Kreises*) zu nennen. Eine Chronik^)
berichtet, die Schrift über die Quadratur des Kreises sei dem Erz-
*) Correspondance d'icoldtres pag. 626 lin. 2. *) Ebeuda pag. 635 lin. 1 — 2.
") Ebenda pag. 536 lin. 21—24. *) Ebenda pag. 536—538. ') Ebenda pag. 512
lin. 6—11 in Tannerys Einleitung. •) Ang. Mai, Classici autores e vaticanis
codkibus editi III, 346—848. Borna 1831, veröffentlichte Bruchstücke davon.
Dr. Winterberg gab das ganze Werk heraus. Abhandlungen zur Geschichte
der Mathematik IV, 137—188 (1882). Im Anschluß ist 8. 183—190 noch eine
zweite nicht von Franco herrührende kleinere Schrift über die Quadratur des
Kreises zum Abdrucke gebracht. Wir zitieren Franco mit der betreffenden
Seitenzahl. ^ Sigebert Gembl. Chron. ad ann. 1047 bei Pertz Mon. VIII,.
369. Vgl. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande IT, 68, Anmerkung 278.
Oezbert. 877
bischof Hermann gewidmet^, und da Hermann TL,, der allein in Frage
steht, von 1036 bifl 1055 Erzbischof von Cöln war, so wQrde da-
durch die Entstehungszeit jener Schrift in sehr enge Grenzen einge-'
schlössen. Die in Rom erhaltene Handschrift nennt den Namen des
Erzbischofs, dem das Werk zugeeignet ist, nicht, und so erscheint
jene Angabe immerhin zweifelhaft In der Vorrede sagt Franco, die
Kenntnis der Ereisqnadratur von Aristoteles ausgehend habe sich,
wie man behaupte, unzweifelbaft bis zu Boethius erhalten^), dann sei
alles so sehr verloren gegangen, daß alle Gelehrten von Italien, von
Frankreich und von Deutschland hierin Fehler machten. Unter denen,
welche sich vergebliche Mühe gaben, sei Adelbold gewesen, dann
Wazo, der größte der Gelehrten*) und Gerbert, der Wiederhersteller
der Wissenschaft, An anderen Stellen wird auf Gerbert, auf Re-
gimbold und Racechin') Bezug genommen. Auch der Arbeiten
des Boethius über Kreisquadratur wird wiederholt gedacht^), an deren
Vorhandensein also damals kein Zweifel obwaltete. Wir wissen, daß
die ErUuterungen des Boethius zu den aristotelischen Kategorien
damit gemeint sind. Franco zeigt sich in der ganzen Schrift als ge-
wandten Rechner, dem namentlich die Anwendung von Brüchen —
die durchweg römische Duodezimalbrüche sind — keine Schwierigkeit
bereitet. Sein geometrisches Wissen dagegen ist so gering, daß nicht
einmal die Kenntnis des pythagoräischen Lehrsatzes bei ihm anzu-
nehmen ist. Die geschichtliche Ausbeute ist dem entsprechend eine
hauptsächlich arithmetische. Wir erfahren, daß Regimbold 1/2 durch
17 ... . . ^^r
— ersetzte*), was wir aus Regimbolds Briefen schon wissen, ein Wert,
den (S. 436) Theon von Smyrna kannte, den (S. 640) wahrscheinlich
auch Inder benutzten. Wir hören*), daß die Kreisfläche bald als
Quadrat von — des Durchmessers, bald als Quadrat des vierten Teils
der Peripherie betrachtet wurde. Beide Verfahren sind uns bekannt,
jenes aus Indien (S. 641), dieses aus spätrömischen Feldmessern
Q
(S. 591). Femer hält Franco selbst^) - des Durchmessers für die
Seite des dem Kreise flächengleichen Quadrates, rechnet also mit
»-({)■ =3,24.
Daß die Kreisfläche des Kreises vom Durchmesser 14 durch die
Zahl 154 dargestellt werde, zeigt Franco®), indem er den Umfang,
^) Eiits itaque scietUiam liaud dubiwn ferunt tisque ad Boetium perdurasse.
Franco 148. *) Wazo starb 1048 als Bischof von Lüttich. »; Franco 158
und häufiger. *) Ebenda 166, 184. *) Ebenda 168. «) Ebenda 145.
») Ebenda 187. ») Ebenda 162.
878 89. Kapitel.
welcher die Länge 44 habe, in 44 gleiche Teile zerlegt und jeden
Endpunkt eines Teiles mit dem Ereismittelpunkt verbindet. So
entstehen 44 Dreiecke, welche paarweise in entgegengesetzter Rich-
tung aneinander gelegt je ein Rechteck, im ganzen deren 22 liefern
mit den Seitenzahlen 1 and 7. Auch diese Beweisführung erinnert
so sehr an die des Inders Gane^a (S. 656), daß man versucht wird,
nach einer beiden gemeinschaftlichen QaeUe zu fahnden. Wir wollen
endlich noch bemerken, daß Franco von den Streitigkeiten über die
Bedeutung eines äußeren und eines inneren Winkels weiß^) und sich
dahin entscheidet, ein äußerer Winkel sei ein solcher der außerhalb
der betreffenden Figur liege.
Hier ist der Ort einzuschalten, was wir von der gefälschten
Geometrie des Boethius wissen. Es ist blutwenig. Die Erlanger
Handschrift gehört dem XH. S. an. Damals spätestens ist also das
ungemein geschickt gemachte Schriftstück verfaßt worden. Es war
dadurch vorbereitet, daß ältere Handschriften zwar keineswegs gleichen
Inhalts, aber fast gleichen Titels vorhanden waren, deren einige bis
auf den heutigen Tag erhalten sind. Damit stehen wir am Ende
unseres Wissens. Wer der Fälscher war, und — eine Fri^, die
sich aufdrängen muß — was er mit seiner Fälschung beabsichtigte,
das hat noch niemand erörtert, noch niemand zu erörtern gesucht.
Überlassen wir es anderen Forschem hier Vermutungen aufeustellen.
Wir verlassen die Geometrie der Zeit vor dem Schlüsse des XH. S.
und kehren zu der (S. 871) unterbrochenen Geschichte der Rechen-
kunst zurück.
Das Eolumnenrechnen fand mit Gerberts wachsendem Ansehen
allgemeine Verbreitung. Wir dürfen uns mit der so allgemeinen
Behauptung nicht begnügen, wir müssen ihr naher treten. Sie wird
uns die Gelegenheit geben, die Männer zu nennen, welche aus Ger-
berts Schule hervorgegangen jene Verbreitung vollzogen, wird uns
zugleich Gelegenheit geben, zu sehen, wie seit 1100 etwa, seit dem
Beginn der Kreuzzüge, wirklich Arabisches in das Abendland ein-
drang, wie ein eigentümlicher Kampf um das Dasein zwischen der
alten und neuen Rechenkunst sich entspann, zwischen dem Kolunmen-
rechnen und dem Zifferrechnen, deren jedes seine Vertreter besaß.
Man hat sich daran gewöhnt, diese Vertreter als Abacisten und
Algorithmiker zu bezeichnen, und unter diesen Sammelnamen
wollen wir sie kennen lernen.
*) Franco US— 144.
Abacisten und Algorithmiker. 879
40. Kapitel.
Abaeisten and Algorltlimiker.
Bei den Versuchen den Abacus mit den eigentümlichen Zeichen^
die wir Apices nennen, nach aufwärts zu verfolgen^ ist in früheren
Werken stets von einer rätselhaften Handschrift der Kapitular-
bibliothek von Ivrea die Rede gewesen ^)y welche nach der An-
sicht eines im allgemeinen zuverlässigen Handschriftenkenners von
einer Hand des X. S. herrührte oder gar, wie eine nachgelassene
Notiz desselben Gelehrten meinte, am Hofe Karls des Großen ge-
schrieben ward^. Es sei eine Anweisung zum Dividieren in arabi-
schen Ziffern. Alle diese Angaben sind nun freilich wesentlichen
Abänderungen zu unterwerfen. Genaue wiederholte Untersuchung
der Handschrift') hat ergeben, daß sie erst dem XI. S. angehört,
mithin in die Zeit ßUlt, welche wir in diesem Kapitel^) zu besprechen
haben, in die Zeit nach Gerbert, wenn auch vielleicht nicht viel später
als er. Der Inhalt ist ein eigentümlicher.
Zuerst ist als Aufgabe gestellt, 1111111537 durch 809 zu divi-
dieren, wobei der Quotient 1373438 erscheint und 195 übrig bleibt.
Aufgabe und Auflösung sind teils in Worten, teils in römischen
Zahlzeichen geschrieben. Dann folgen 19 Hexameter, welche auf das
Rechnen auf dem Abacus sich beziehen, welche aber vollständig zu
verstehen uns nicht gelungen ist. Hieran schließt sich die Wieder-
holung der Aufgabe und ihre Auflösung im Kolumnensysteme ge-
schrieben, aber ohne daß senkrechte Striche die einzelnen Rang-
ordnungen trennten. Zwölf Kopfzahlen genügen den Abacus anzu-
deuten. Über ihnen steht der Dividend, unter ihnen der Divisor,
unter diesem der Rest, unter diesem wieder der Quotient, sämtlich
in richtiger Ordnung, so daß also bei Niederschreibung des Divisors
809 unter der Kopfzahl der Zehner ein freier Raum blieb. Die
Kopfzahlen des 12 reihigen Abacus sind durch römische Zahlzeichen
angegeben, die sämtlichen anderen Zahlen durch Apices. Endlich
folgt wieder nur in Worten und ohne durch irgend ein Beispiel
^) Fiiedlein, Gerbert, die Geometrie des Boetius und die indischen
Ziffern. Erlangen 1861, S. 41, Anmerkung 20 hat zuerst die Mathematiker auf
diese Handschrift aufmerksam gemacht. *) Bethmann im Archiv der Gesell-
schaft für ältere deutsche Geschichtskunde, herausgegeben von Pertz IX, 623
und XII, 594. ') Reifferscheid in den Sitzungsberichten der philosoph.-histor.
Klasse der k. Akademie der Wissenschaften. Wien 1871. Bd. 68, S. 687—589
die Beschreibung des Codex LXXXIY, die dem XI. S. angehöre. Dann „f 87.
88 Allerlei von späteren Händen*'. *) Unsere Angaben beruhen auf einem
Faksimile, welches Fürst Bald. Boncompagni die große Güte hatte, für uns
in Ivrea durchpausen zu lassen.
«80 *0. Kapitel.
Unterstützung zu finden die Vorschrift^ wie man bei der Division
durch einen aus Hundertern, Zehnem und Einem bestehenden un-
unterbrochen dreiziflFrigen Divisor — tres sint divisores nuüo inter-
fiosiio — verfahren solle in offenbarer Anlehnung an die „Regel*
Gerberts. Alles zusammen füllt nur eine einzige Seite und dürfte,
wenn auch nicht so alt wie die einen hofften, die anderen fürchteten,
doch einiges Interesse nicht entbehren, so daß ein vollständiger rich-
tiger Abdruck des kurzen Stückes immerhin wünschenswert erscheint.
Ein Schüler Gerberts war vielleicht Bernelinus, der in Paris ein
^urch den Druck veröffentlichtes Buch über den Abacus geschrieben
hat^). Bernelinus bemft sich (S. 867) auf die Regel des Papstes Gerbert,
die freilich nur für die Weisesten geschrieben sei, und darauf, daß
sein Freund Amelius, auf dessen Andrängen er sein Werk verfasse,
es verweigerte, an die Lothringer sich zu wenden, bei welchen diese
Lehren in höchster Blüte ständen. Nur diese beiden Erwägungen
vereinigt hätten ihn zum Schriftsteller gemacht. Er beginnt sodann
mit der Schilderung des Abacus und zeigt darin seine Selbständig-
keit, denn Gerbert selbst hat weder in der Regel, wenn die (S. 867)
als solche bezeichnete Schrift wirklich von ihm herrührt, noch in der
Abhandlung für Constantinus eine solche Schilderung an die Spitze
zu stellen für nötig gehalten, ein Umstand, welchen wir uns nur so
erklären können, daß Gerbert den Abacus nicht als etwas Neues
oder Schwieriges betrachtete, sondern als ein alt- und allbekanntes
Hilfsmittel, während die Divisionsregeln allerdings wenig bekannt
gewesen sein müssen. Der Abacus war, nach Bernelinus, eine vorher
nach allen Seiten sorgsam geglättete Tafel und pflegte von den Geo-
metem mit blauem Sande bestreut zu werden, auf welchen sie auch
die Figuren der Geometrie zeichneten. Bis zur Höhe der eigentlichen
Geometrie wolle er sich aber nicht erheben, er bemerke nur, daß zu
rechnerischen Zwecken die Tafel in 30 Kolumnen abgeteilt werde,
von welchen 3 für die Brüche aufzubewahren, die übrigen 27 nach
Gruppen von je 3 zu bezeichnen seien. Die erste Kolumne wird
nämlich durch einen kleinen Halbkreis abgeschlossen, die zweite und
dritte zusammen durch einen größeren, alle drei gemeinsam durch
einen noch größeren. Bernelinus sagt zwar nicht Kolumnen, sondern
Linien, lineas, aber er meint es so, wie wir es ausgesprochen haben,
da ja ein Abschluß von einer, von zwei, von drei Linien durch an
Größe verschiedene Halbkreise nicht gedacht werden kann, sondern
nur von Kolumnen. In jeder Dreizahl von Kolumnen, deren es un-
endlich viele geben kann, ist eine Kolumne der Einer, eine der
') Oeuvres de Gerbert (ed.011eri8)pag. 357— 400 Liber Ahaci. Die Anfange-
-Worte lauten : Incipit praefatio lihri abaci quem iwnior Bernelinus edidü Parisiis»
Abaciiten und Algoriihimker. 881
Zehner und eine der Hunderter zu unterscheiden, welche der Reihe
nach mit S und My mit Dj mit C bezeichnet werden sollen. C sei
nämlich Anfangsbuchstabe von eentum, D von decem, M von monas
— BemelinuB schreibt daf&r fälschlich manos — oder von mille,
S endlich von singularis. In den Zahlzeichen spiegele die Gruppierung
nach drei Kolumnen sich gleichfalls ab, da ein Horizontalstrich, tittdiAS,
über dem I, dem X, dem C dieselben vertausendfache. Der Beschrei-
bung der Kopfzahlen, welche über sämtliche Kolumnen sich fort-
setzen und mit den Bezeichnungen der in jeder Dreizahl unter-
schiedenen Rangordnungen nicht zu yer wechseln sind, läßt sodann
Bemeliims die Schilderung und Abbildung der neun Zahlzeichen
folgen. Es sind die Apices, welche hier auftreten, wenn uns dieses
Wort ein f{ir allemal die betreffenden Zeichen vertreten soU, von
denen schon soviel die Rede war. Außerdem könne man sich auch
griechischer Buchstaben bedienen, und hier enthüllt Bemelinus wieder-
holt, wie vorher durch Anwendung des ungriechischen monos, eine
mangelhafte Kenntnis dieser Sprache. Die Zahl 6 läßt er nämlich
durch 2 bezeichnen, während bekanntlich g das richtige Zeichen wäre.
— Das Einmaleins schließt sich an, bei welchem eine zunächst sehr
auffallende Lücke sich darbietet: die Produkte gleicher Faktoren,
also 1 mal 1, 2 mal 2, 3 mal 3 bis 9 mal 9 fehlen, warum? ist
nicht gesagt. Wir können nur einen Ghund vermuten, darin be-
stehend, daß die Quadrierung einziffriger Zahlen, und nur um diese
handelt es sich, in dem Grade eine Ausnahmerolle spielte, als die so-
genannte regula Nicomachi (S. 433) zur Ausführung derselben all-
gemeiner bekannt war, als irgend andere Regeln. Daß freilich jene
Regel besonders erwähnt werde, muß man aus unserer fast zaghaft
ausgesprochenen Meinung nicht schließen wollen. Bei der Multipli-
kation der einzelnen Rangeinheiten bedient sich Bemelinus der Wörter
Finger- und Gelenkzahl. Eine Erklärung würde man auch hier ver-
gebens suchen, doch steht dabei die Veranlassung auf festerem Boden.
Wir wissen durch Beispiele aus den verschiedensten Zeiten, daß jene
Wörter so bekannt waren, daß jede Erläuterung überflüssig erscheinen
mußte. Als Ende des ersten Abschnittes, der also bis zur Multipli-
kation einschließlich sich erstreckt, ist die Ausrechnung von 12*,
von 12^ von 12*, von 12*, von
12 + 12« + 12» -I- 12* 4- 12»
zu betrachten, wobei wir vielleicht in Erinnerung bringen dürfen,
daß 12 die Grundzahl des römischen Bruchsystems ist.
Der zweite Abschnitt handelt von der einfachen Division,
d. h. von denjenigen Teilungen, bei welchen der Divisor ein Einer
oder ein einfacher Zehner ist. Drei Fälle sind dabei unterschieden,
Oavtor, OMohiohto der M»theniatik I. S. Aufl. 56
882
40. Kapitel.
der erste; wenn der Divisor der Reihe nach in allen Stellen des Divi-
dendus enthalten ist und nar bei den Einem allenfalls ein Rest bleibt,
wie z. B. 668 geteilt durch 6; der zweite^ wenn Reste auch bei
früheren Stellen bleiben, beziehungsweise wenn der Divisor einen
höheren Wert hat als einzelne Stellen des Dividendus, so daB zwei
Stellen des Dividendus zur Vornahme der Teilung gemeinsam be-
trachtet werden müssen, wie z. B. 888 geteilt durch 5 oder 333 ge>
teilt durch 6; endlich der letzte Fall, wenn der Divisor ein Zehner
ist, z. B. 1098 geteilt durch 20. Die Divisionen können dabei mit
oder ohne Differenz, d. h. als komplementäre Division oder ge-
wöhnlich vollzogen werden. Auf dem Abacus werden dabei vier
Horizontallinien gezogen, welche von oben nach unten die erste,
zweite, dritte, vierte Zeile heißen mögen. Auf die erste Zeile schreibe
man den Divisor, beziehungsweise bei der Division mit Differenz
auch seine Er^nzung zu 10, oder im dritten Falle zu 100. Die
zweite Zeile enthält den Dividendus, die dritte ebendenselben noch
einmal geschrieben, die vierte den Quotienten. Die Zahl der zweiten
Zeile bleibt im ganzen Beispiele unverändert. Die Zahlen der da-
runter folgenden Zeilen werden, wie es der Sand des Rechenbrettes
leicht gestattet, fortwahrend verändert. Die Division 668 : 6 sieht
z. B., wenn das Auslöschen und Ersetzen von Ziffern durch Durch-
streichen derselben bildlich dargestellt werden darf, folgendermaßen aus:
C
^
6
4
C^
"d
s
6
6
6
8
6
6
8
0
«
8
»
0
8
2
k\k
i '2
Division 668 : 6
1
8 9
1
1 1 1
Division 668:6
mit Differenz
1
A S
2 1 2
* 1 ■
6 '
ohne Differenz
2
1
2
1
6
6
2
2
ir
2
1
1
1
Abadsten und Algorithmiker. 883
Der Wortlaut der Bechnung ist bei der Division mit Differenz
folgender: 10 in 600 geht GO mal, aber 4 mal 60 oder 240 sind
wieder beiznf&gen; 10 in 200 geht 20 mal, aber 4 mal 20 oder 80
sind wieder beizuf&gen, und nun schreiben wir statt 00 + 40 + ^0
ihre Summe 180 und sagen weiter 10 in 100 geht 10 mal mit einer
nötigen Er^nzung 4 mal 10 oder 40, welche mit 80 zusammen
120 liefert. Jetzt ist 10 in 100 wieder 10 mal enthalten, und die
Er^lnzung 4 mal 10 oder 40 gibt mit 20 zusammen 60. Man dividiert
weiter 10 in 60 geht 6 mal, die Ergänzung ist 4 mal 6 oder 24.
Mithin sagt nian geht 10 in 20 weitere 2 mal mit der Ergänzung
4 mal 2 oder 8. In der einheitlichen Kolumne sind jetzt vorrätig
8 + 4 + 8 oder 20. Zehner sind wieder hergestellt und 10 in 20
geht 2 mal. Die Er^nzung 2 mal 4 oder 8 ist durch 10 nicht
mehr teilbar, nur noch durch 6, wobei 1 als Quotient, 2 als Rest
erscheint. Alle Quotiententeile vereinigt geben so den Gesamt-
quotient 60 + 20 + 10 + 10 + 6 + 2 + 2 + 1 = 111 nebst dem
Reste 2. Wir wollen nicht versäumen, hier gelegentlich auf die
nicht unwichtige, wenn auch nur negative Tatsache hinzuweisen,
daß die hier beschriebene Ordnung des Divisors, des zweimal ange-
schriebenen Dividenden, des Quotienten bei keinem Araber vor-
kommt.
Der dritte Abschnitt ist der zusammengesetzten Division
gewidmet, welche auch wieder ohne Differenz oder mit Differenz aus-
geführt wird. An neuen Gedanken ist hier so wenig zu gewinnen,
als an neuen Ausführungsmethoden, es ist eben nur wieder die
Unterscheidung in viele Fälle, wie sie dem Geübten, insbesondere
dem mathematisch denkenden Geübten sehr überflüssig erscheint, wie
sie aber dem Schüler eines ersten Rechenunterrichtes wünschenswert,
ja unentbehrlich sich erweisen mag.
Ein vierter Abschnitt lehrt das Rechnen mit Brüchen, natürlich
mit Duodezimalbrüchen der uns bekannten Art. „Lasse uns denn
zu der Abhandlung über die Gewichtsteile und ihre Unterabteilungen
kommen, und wundere Dich nicht, wenn darin Richtiges mir entging,
denn die Unbequemlichkeit der Weinlese beschäftigt meine Seele
mannigfaltig, auch habe ich als Muster kein Werk als das des
Viktorius, und dieser ist bei dem Bestreben kurz zu sein, außer-
ordentlich dunkel geworden"*). Wir haben diese Stelle ihrem Wort-
laute nach eingeschaltet, um an ihr die Richtigkeit einer Bemerkung
^) Nunc itaque cid unciarum minutiarumque tractatum veniamus, in quo si
quid me veritas praeterierü minime mireris, cum et vindemiarum importuniUUe
fneus animus per diversa quaeque rapiatur, et nuüiua praeter Victorii opus
haheam exemplar, qui, dum hrevis stttduit fieri, factus est obscurissimus.
884 ^0. Kapitel.
über den Calculus des Viktorius zu erweisen. Das Vorhandensein
jenes Rechenknechtes (S. 531) kann non und nimmermehr als Zeug-
nis dafür angerufen werden, daß der Zeit, in welcher er entstand,
das Rechnen auf dem Abacus fremd gewesen sei. Wir finden hier
in Bemelinus einen Mann, der dieses Rechnen selbst lehrt, der es
mit einer Klarheit lehrt, welche die Darstellungen Gerberts über-
trifft, und derselbe Bernelinus sieht in dem Calculus des Viktorius
nichts weniger als einen überwundenen Standpunkt. Er findet ihn
außerordentlich dunkel, also schwierig und verkennt nicht die Not-
wendigkeit mehr zu tun als nur hinzuschreiben, daß y mal - sich
zu . multiplizieren. Er erläutert yielmehr, man müsse den einen
Bruch als Einheit betrachten, von welcher so viele Teile zu nehmen
seien, als der andere ausspreche*), und erörtert dieses an ver-
schiedenen Beispielen, darunter an solchen, bei welchen die nur be-
grenzt vorhandenen Duodezimalbrüche nicht gestatten anders als nur
mittels eines gesprochenen Bruches zu verfahren, wie z. B. duella
multipliziert in triens. Unter duella versteht man 8 scripulae, deren
24 auf eine uncia oder auf — des as als Grundeinheit gehen; unter
triens versteht man 4 Unzen. Wir würden also römische Gedanken-
folge so viel als möglich uns aneignend sagen: - sei mit y zu ver-
1 11. .1
vielfachen und gebe ^ oder von ^, beziehungsweise - Unze.
Weil femer die Unze 24 Skrupeln hat, so ist ihr -^ ^^ ^^®1 ^®
Y = 2y Skrupeln. Aber zwei Skrupeln heißen emisescla und so ist
das Produkt eine emisescla und ihr Drittel Auch Bemelinus kommt
zu diesem Ergebnisse. Duella in trientem ducta fit emisescla et
emisesclae tertia sagt Bemelinus. Die Rechnung, die ihn dahin führt,
mündet darin, es sei ^ ^^^ duella zu nehmen, aber gerade diese letzte
Ausführung unterschlägt er. Das Bruchrechnen war in der Tat,
wie an der kurzen Auseinandersetzung, die wir hier gaben, erkannt
werden wird, ein schwieriges, wäre sogar für uns noch schwierig,
wenn wir in derselben Gewohnheit befangen wären, die Brüche nicht
durch Zähler und Nenner, sondern unter Anwendung von Namen
auszusprechen, welche zwar dem Geübten beim Hören sogleich ver-
^) Quadibet unciarum vel minutiarum in quamcumqu^ unci(Mrum vel ntttiu-
tiarum fuerit ducta totam partem illius in qua dudtur quaerit, quota ipsa
est assis.
Abftcisten iind Algoritlimiker. 885
Btandlich sind, aber zur Rechnung immer erst wieder in die Begriffe
yerwandelt werden müssen, mit welchen sie sich decken.
Ist es, fragen wir, denkbar, daB Gerbert fOr das ganzzahlige
Bechnen, welches solchen erheblichen Schwierigkeiten nie ausgesetzt
war, arabische Methoden sich angeeignet und in seiner Schule yer-
breitet hätte, daß er d^egen das weit anlockendere Rechnen mit
Sexagesimalbrüchen vernachlässigt und weder selbst angewandt noch
einem einzigen Schüler mitgeteilt hätte? Wir können unseren Un-
glauben damit begründen, daß die ersten Übersetzungen aus dem
Arabischen sich sofort der Sexagesimalbrüche bemächtigten (S. 718)^
daß die ersten nachweislichen Bearbeitungen (S. 801) es ebenso
machten.
Bemelinus lehrt in Anschluß an die Multiplikation der Brüche
auch noch deren Division, welche er komplementär ausführt, indem
er den Divisor zur nächsten ganzen Einheit ergänzt, und sodann den
Quotienten jedesmal neu verbessert, nachdem die notwendige Richtig-
stellung der Teilreste eingetreten ist.
Wir haben nur eines noch unserer Darstellung hinzuzufügen,
beziehungsweise zu verhüten, daß man ihr etwas entnehme. Beme-
linus, sagten wir, bilde die neun Apices ab. Man darf daraus nicht
schließen wollen, daß sie im weiteren Verlaufe der Schrift benutzt
werden. Nur auf dem Abacus konnte ohne Null oder — wovon wir
später auch ein Beispiel kennen lernen werden — ohne abwechselnde
Verwendung von Apices und römischen Zahlzeichen ein regelmäßiger
Gebrauch der Apices stattfinden. Bemelinus hat aber in seinem
Werke nirgend einen Abacus gezeichnet, kann sich also in der einzig
in Worte gefaßten Darstellung der Regeln und der Beispiele nur
römischer Zahlzeichen bedienen. Wenn wir oben bei der Division
den Abacus wirklich abbildeten, so haben wir uns damit eine Untreue
der Berichterstattung zuschulden kommen lassen; wir haben zur
größeren Deutlichkeit gezeichnet, was Bemelinus nur erklärt, dessen
Nachahmung er seinen Lesern zumutet, ohne ihnen ein Muster vor-
zulegen.
U.m die Zeit des Bemelinus hat auch Guido von Arezzo sich
mit dem Abacus beschäftigt, der um 1028 eine Abhandlung über die
Kunst der Rechnung auf der mit Sand bedeckten Tafel verfaßte*).
Erhalten hat sich femer die Abhandlung über den Abacus von
Hermannus Contractus*). Sie ist kurz und bündig, lehrt das
^) Nouveau traite de Diplomatique par deux religieux de Ja congregatian de
S. Maur T. IV, priface, pag. VII. Paria 1769. •) Aus einem KarlBroher und
einem Münchener Kodex veröffenÜicht durch Treutlein im BuUettino Boncom-
pagni X, 648—647 (1877).
886 40. Kapitel.
Multiplizieren und Dividieren auf dem Abacus, dessen vier ws^echte
Zeilen unterschieden werden^ wälirend von einer gruppenweisen Ver-
einigung der Kolumnen zu je dreien Abstand genommen ist^ auch
eine Beschrankung der Anzahl dieser Kolumnen nicht stattfindet^ von
denen vielmehr gesagt ist^ dafi sie^ jede die vorhergehende um das
Zehnfache übersteigend^ in das Unendliche sich erstrecken^). Das
Dividieren ist einfach oder zusammengesetzt und kann in beiden Fallen
mit oder ohne Differenz vollzogen werden. Hermann hat, wie wir
von Radulph von Laon, einem Schriftsteller des XII. S., der uns
gleich nachher beschäftigen wird, erfahren, lachst Gerbert am meisten
fQr die Verbreitung des Kolumnenrechnens getan. Es hat darum
Interesse hervorzuheben, daß von anderen Zahlzeichen als den ge-
wöhnlichen römischen bei ihm mit keiner Silbe die Rede ist.
Hermannus Gontractus hat noch zwei andere Schriften verfaßt,
deren wir trotz ihres nicht eigentlich mathematischen Inhaltes kurz
gedenken möchten. Er hat über jenes eigentümliche Zahlenspiel,
die Rhytmomachie, geschrieben. In der Beschreibung einer dem XI.
bis XII. S. entstammenden Handschrift dieser Abhandlung ist der
Anfang derselben abgedruckt'), welcher die Erfindung dem Boethius
zuweist, in Übereinstimmung, wie wir uns erinnern (S. 862), mit
Walther von Speier. Diese Übereinstimmung kann uns übrigens
nicht verwundem, wenn wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, dafi
Speier von St. Gallen her seinen Studienplan erhielt, kurz bevor
Walther dort erzogen wurde, und zugleich berücksichtigen, daß auch
in Reichenau ein strenger Abt ebendaher das Regiment führte kurz
bevor Hermann in die Schule trat.
Hermann hat femer zwei Bücher über den Nutzen des Astro-
labiums verfaßt, welche in dem Salzburger Kodex aus der Mitte des
XIL S., welcher eine Haupthandschrift von Gerberts Geometrie uns
darstellte (S. 859), den Anfang jenes so wichtigen Sammelbandes
bildet'). Die Echtheit der Bezeichnung könnte, wenn man jenem
Kodex allein Glauben zu schenken Bedenken trüge, noch besonders
nachgewiesen werden. Das 2., 3. und 4. Kapitel des H. Buches^)
beschäftigt sich nämlich in einer mutmaßlich von Makrobius ab-
hängigen Fassung mit der seinerzeit durch Eratosthenes vollzogenen
Messung des Erdumfanges. Der Verfasser will aus dem umfange
den Durchmesser berechnen und sich dabei der archimedischen
') Sicque in ceteris unaquaqrie linea decuplum aliam superante usque in in-
finiium progreditur. *) Catdlogue of the extraardinary coUection of splendid
manuscripts of G. Libri. London 1869, pag. 108, Nr. 488. Vgl. auch E. Wapp-
1er, Bemerkungen ssnr Bhytmomachie in Zeitschr. Math. Phys. XXXVII, Histor.-
literar. Abtlg. S. 1—17 (1892). •) Agrimeneoren S. 176. *) Ebenda S. 177.
Abaciflten und Algorithmiker. 887
82 7
Yerhaltniszahl - bedienen, d. h. er hat — des Erdumfanges von
252000 Stadien zu ermitteln. Dazu ist eine mittelbare Methode an-
gewandt^), welche auch im 56. Kapitel von Oerberts Geometrie, wir
wissen freilich nicht aus welcher Quelle, hat nachgewiesen werden
21 1
können*). Es wird nämlich, um zu erhalten, zuerst ^ des Um-
21
fanges abgezogen, dann Ton jenen - der dritte Teil genommen:
^Gegeben ist der Umkreis 252000. Sein ~ betragt 11454 y und —•
Durch Abziehen bleibt 240544^ und H, deren Drittel mit 80181^
und ^ - den Durchmesser liefert/' Das waren freilich Brüche, wie
sie Bemelinus z. B. nie geschrieben hatte, wie sie aber auch bei
einem griechischen Schriftsteller, der Stammbrüche zu brauchen ge-
wohnt war, nicht vorgekommen wären. Es waren Brüche, welche
darauf hinweisen, daß, wer sie schrieb, das Bewußtsein hatte, man
könne Bruchrechnungen auch anders als an den römischen Minutien
oder zwölfteiligen Brüchen vollziehen, ohne jedoch vollständig in das
andere Verfahren eingedrungen zu sein. Wir haben in einem Briefe
Regimbolds (S. 874) ein ähnliches Beispiel kennen gelernt. Um so
unverständlicher mußte das so Herausgerechnete einem Leser er-
scheinen, welcher neben ganzen Zahlen nur römische Minutien kannte.
Ein solcher Leser war aber Meinzo der Stiftslehrer von Kon-
stanz. In einem Briefe, der, wie man Grund hat anzunehmen,
spätestens im Anfange des Jahres 1048 geschrieben ist, wandte er
sich um die ihm nötige Erklärung an Hermann, und damit ist der
Beweis geliefert, daß Hermann wirklich der Verfasser jener Kapitel,
beziehungsweise der sie enthaltenden und unter seinem Namen auf
uns gekommenen Schrift über den Nutzen des Astrolabiums ist. Auf
diesen Nachweis einiges Gewicht zu legen haben wir aber einen sehr
triftigen Grund, indem die genannte Schrift unverkennbar unter ara-
bischem Einflüsse verfaßt ist, und arabischer Einfluß durch dieselben
deutlichen Anzeigen auch in einem anderen Texte der Bücher über
das Astrolabium zu Tage tritt, welcher im übrigen an Verschieden-
heiten gegen die auch im Druck bekannten Texte nicht arm ist').
Einigermaßen verstümmelte, aber immer noch erkennbare arabische
^) Ein Schreiben Meinzos von Eonstanz an Hermann den Lahmen^ heiaus-
gegeben von E. Dümmler im Neuen Arohiv der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde Y, 202—206. *) Omwes de Gerbert (ed. Olleris) pag. 458.
") Cataiogtte of ^ extraordinary coUeciion of splendid mamwripts of G. Libru
London 1859, pag. 108, Nr. 488.
888 40. Kapitel.
Wörter, wie walzachora, alniachantarali, almagrip, almeri, walzagene usw.
kommen nämlich an den verschiedensten Stellen jener Bücher vor^)
und fordern die Frage heraus, wie Hermann dazu kam, dieser Wörter
sich zu bedienen?
Lassen wir Hermanns Leben rasch an uns vorüber gehen ^).
Dem schwäbischen trafen Wolverad wurde 1013 ein Knabe Hermann
geboren, welcher mit sieben Jahren, also 1020, der Schule, wahr-
scheinlich in Reichenau, übergeben wurde, wo ein Verwandter von
Hermanns Mutter mit Namen Rudpert als Mönch lebte. Hermann,
selbst wurde im Alter von dreißig Jahren, 1043, unter die Zahl der
Mönche aufgenommen. Er lehrte mit herzgewinnender Liebenswürdig-
keit, welche ihm Schüler von den verschiedensten Orten herbeizog.
Er starb nur 41 Jahre alt am 24. September 1054. Von sehr früher
Zeit an waren seine Gliedmaßen schmerzhaft zusammengezogen,
vrovon ihm der Name Hermannus Gontractus geworden ist. Er
saß immer in einem Tragstuhle, er konnte ohne Hilfe nicht einmal
seine Lage ändern, ja er konnte nur mit Mühe verständlich sprechen.
Es ist nicht denkbar, daß Hermann in Gesundheitsverhältnissen,
wie wir sie schildern mußten, noch vor seinem 30. Jahre — später
ist es gar nicht möglich — Reisen gemacht haben sollte, von welchen
er die Kenntnis der arabischen Sprache mitgebracht hätte. Es ist
nicht denkbar, daß von solchen Reisen nirgend, auch nicht andeutungs-
weise die Rede wäre. Er müßte also das Arabische, wenn er dessen
mächtig war, in Reichenau selbst sich angeeignet haben. Das setzt
voraus, daß es dort entweder Persönlichkeiten gab, welche Unterricht
in jener Sprache zu erteilen befähigt waren oder aber eine geschrie-
bene Sprachlehre und ein desgleichen Wörterbuch, beides Annahmen,
welche sich nicht wohl verteidigen lassen. Dazu kommt, daß von
Kenntnissen Hermanns im Arabischen keiner seiner zahlreichen älteren
Lobredner etwas weiß, daß nur seit dem XV. S. die Behauptung sich
findet, Hermann habe Schriften des Aristoteles aus dem Arabischen
ins Lateinische übersetzt, eine Behauptung, die nach aller Wahrschein-
lichkeit auf einer Verwechslung beruht^). Ein solcher Übersetzer
war nämlich ein gewisser Hermanus Alemannus, der unmöglich der-
Belbe sein kann wie der unsrige, da er von Persönlichkeiten spricht,
die erst dem XIU. S. angehören. In der Vorrede zur Übersetzung
^) Jourdain, Eecherches critiques sur Vage et Vorigine des trciductions laUnes
cVAristote. 2. Edition. Paris 1843, pag. 146. *) Wattenbach, Deutschlands
GeschichtsqueUen im Mittelalter (4. Ausgabe 1877) 11 , 86^40 npter Benutzung
von Heinr. Hansjakob, Herimann der Lahmo. Mainz 1875. ^) Jourdain
L c. pag. 135 — 147. Chapitre 111, § XI: D* Hermann sumomme Gontractus et
d'Hernutnn VAÜemand. Erreurs des hiographes ä leur egard.
Abacüten und Algorithmiker. 889
der Poetik des Aristoteles insbesondere nennt er den Bischof Robert
von Lincoln mit dem dicken Kopfe, Robertus grossi capitis Lincol-
niensis episcopns, welcher 1253 starb, zwei Jahrhunderte später als
der Mönch von Reichenau. Alle diese Gründe zusammengenommen
lassen die gerechtesten Zweifel obwalten, ob Hermann der Lahme der
arabischen Sprache mächtig war, mächtig gewesen sein kann, und
da auf der anderen Seite kein Zweifel möglich ist, daß arabische
Ausdrücke in seinen Büchern über das Astrolabium yorkommen, so
ist nur ein Ausweg aus diesem Dilenuna: daß Hermann jene Bücher
unter Benutzung von damals bereits vorhandenen lateinischen Über-
setzungen arabischer astronomischer Schriften anfertigte, denen er
jene verketzerten Eunstausdrücke entnahm^). Daß es in der Tat
solche Übersetzungen gab, wenn auch vermutlich nur in sehr ge-
ringer Anzahl, wissen wir. Wir wissen, daß Lupitus von Barce-
lona ein astronomisches Werk übersetzt, daß Gerbert nach dieser
Übersetzung Verlangen getragen hat (S. 857), und dieses oder ein
ähnliches mag Hermanns Quelle gewesen sein.
Dem XI. S. gehören noch verschiedene andere Schriftsteller an,
welche über den Abacus und verwandte Gegenstände schrieben, oder
in ihren Klöstern schreiben oder abschreiben ließen*). Zu denen,
welche Abschriften aller Art anfertigen ließen, gehören Werner und
Wilhelm von Straßburg, sowie Fulbert von Chartres, und
es ist gar nicht unmöglich, daß unter des letzteren Einflüsse jene
Handschrift des Anonymus von Chartres entstand, der wir (S. 590)
einige Bemerkungen gewidmet haben. Fulbert von Chartres hat selbst
Verse über die Duodezimalbrüche, versus de uncia et partibus eins,
verfaßt^). Als große Astronomen werden genannt Engelbert von
Lüttich, Gilbert Maminot von Lisieux, Odo Stiftsherr von
Tournai. Über den Abacus schrieb Heriger von Lobbes, einem
bei Lüttich gelegenen vielgerühmten Eloster^ von dessen hierher ge-
hörenden Schrift bereits (S. 869) die Rede war. Heriger war der
Freund, vielleicht der Lehrer von Adelbold von Utrecht, der jeden-
falls seine Erziehung in Lobbes erhielt^). Über den Abacus schrieben
auch Heibert von St. Hubertus in den Ardennen, Franco von
Lüttich, den wir schon (S. 876) als Geometer kennen lernten. Auch
Radulf von Lüttich und Regimbold von Cöln (S. 872)
^) Jourdain 1. c. pag. 147: /{ est plus natitrd de craire qu'il composa ses
deux traites d'apres les traductians qui avaient caurs alors, mais qu'il ne fit
aucune verston de Vardbe, *) Math. Beitr. EulturL S. 3S2. *) Werner,
Gerbert S. 64, Anmerkung 4. *) C. Le Paige, Notes pour servir ä Vkistoire
des mathematigues dans Vancien pays de Liege. Vgl. Bulktin de Vinstüut archeo-
hgique lAegeois XXI, 461.
890 40. Kapitel.
worden ans der unmittelbar aaf Gerbert folgenden Zeit als Mathe-
matiker gerühmt^). Yiele^ ja die meisten Pflanzstätten mathematischer
Bildung^ von welchen die hier genannten Persönlichkeiten ihren Namen,
aus welchen sie ihr Wissen erhielten, liegen in ziemlich engem Kreise
um Lüttich hemm, damals dem geistigen Mittelpunkte von Lothringen
und bestätigen so ein Wort des Bernelinus: bei den Lothringern
blühe die Kunst des Abacus^.
Wir überspringen nun fast ein Jahrhundert, um von einem
Manne zu reden, der am Anfange des XII. S. tätig war, und dessen
Schrift über den Abacus gegenwärtig veröffentlicht ist und uns Ge-
legenheit zu vielfachen Bemerkungen gibt. Wir meinen Radulph
von Laon, der 1131 gestorben ist^. In Laon war um 1100 eine
hochberühmte Klosterschule, welche ihre Blüte namentlich Anselm
verdankte, der Leuchte Frankreichs, wie seine Bewunderer ihn nannten,
dem Lehrer des fast noch bekannteren Abelard. Badulph war
Anselms Bruder und, wie er, Lehrer an der Klosterschule, bevor er
zum Bischöfe eingesetzt wurde. Er schrieb, wie gesagt, über den
Abacus, und eine Einleitungsstelle beschäftigt sich mit der geschicht-
lichen Entwicklung der Rechenkunst auf dem Abacus^): „Jetzt ist
zu besprechen, welcher Wissenschaft diese Vorrichtung hauptsächlich
dient. Der Abacus erweist sich als sehr notwendig zur Untersuchung
der Verhältnisse der spekulativen Arithmetik; femer bei den Zahlen,
auf denen die Tonweisen der Musik beruhen; desgleichen für die
Dinge, welche durch die emsigen Bemühungen der Astronomen über
den verschiedenen Lauf der Wandelsterne gefunden sind und über
deren gleiche Umdrehung dem Weltall gegenüber, wenn auch ihre
Jahre je nach dem Verhältnisse der ungleichen Kreise sehr ver-
schiedenes Ende haben; weiter noch bei den dem Piaton nach-
gebildeten Gedanken über die Weltseele und zum Lesen all der alten
Schriftsteller, welche ihren scharfsinnigen Fleiß den Zahlen zuwandten.
Am allermeisten aber zeigt der Gebrauch dieser Tafel sich bequem
und wird von den Lehrern der Kunst benutzt bei Auffindung der
Formeln der geometrischen Disziplinen und bei Anwendung derselben
auf die Ausmessung der Länder und Meere. Allein die Wissenschaft,
von der ich eben rede, ist fast bei allen Bewohnern des Abendlandes
in Vergessenheit geraten, und so wurde auch diese Kunst des Rechnens
beim Aufhören der Kunst, als deren Hilfsmittel sie erfunden worden
") Werner, Gerbert S. 77. •) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleria) pag. 867.
■) Histoire litUraire de la France Vü, 89 sqq., 143. Der arithmetlBche Tractat
▼on Radulph von Laon, herausgegeben von A. Nagl, Abhandlungen zur Ge-
-«»»tchte der Mathematik V, 86—134 (1890). *) Compt Bmd. XVI, 1413, An-
'^ 1.
Abacisten nnd Algoritluniker. 891
war, nicht gar grofi beachtet; ja sie kam in Mißkredit, und nur
Gerbert, genannt der Weise, ein Mann Ton höchster Einsicht, und
der Yortreffliche Gelehrte Hermann und deren Schüler pflanzten einiges
bis zu unseren Zeiten fort; in ihnen zeigt sich noch ein schwacher
Abfluß jener Quellen der genannten Wissenschaft.^
Es sind hier, der zu Radulphs Zeit vorhandenen wissenschaftr
liehen Überzeugung folgend, Sätze ausgesprochen, welche durchweg
mit den Ansichten in Einklang stehen, welche wir schon die ganze
Zeit her yertreten haben: Der Abacus ist sehr notwendig zum Ver-
ständnis der Platoniker; die Mathematiker bedienten sich seiner
hauptsächlich bei Berechnungen aus dem Bereiche der Feldmeßkunst,
und als diese letztere Kunst schwand, da wurde auch der Abacus
fast vergessen; Gerbert und Hermann und ihre Schulen haben nicht
etwa den Abacus neu eingeführt oder gar erfunden, sie haben die
halbwegs vergessene Kunst nur in einiger Erinnerung erhalten. Von
Arabern, bei welchen die Kunst geblüht haben könnte, ist auch bei
Radulph mit keinem Worte die Rede. Wir schalten hier vorgreifend
ein, daß auch von einem anderen Schriftsteller ein sehr beredtes
Schweigen zu melden ist, daß auch Atelhart von Bath, welcher,
sei es vor sei es nach Radulph, jedenfalls am Anfange des XU. S.
über den Abacus schrieb, in dieser Abhandlung den Abacus wohl den
Pythi^oräem zuwies, dagegen der Araber keine Erwähnung tat, er,
der vollkommen Arabisch konnte und Übersetzungen aus dem Ara-
bischen vollzogen hat, daß er zugleich des Zusammenhanges des
Abacus mit der Geometrie sich wohl bewußt war^), und daß er von
Brüchen ausschließlich die römischen Minutien benutzte. Endlich ist
hervorzuheben, daß sowohl bei Atelhart als bei Radulph von einer
divisio aurea und einer divisio ferrea die Rede ist*). Ausdrücke, auf
welche wir etwas weiter unten zurückkommen.
Radulph begnügt sich nicht, der Verbreitung, des Verschwindens,
des Auffrischens des Abacus zu gedenken; er spricht auch über
dessen Erfindung und Einrichtung, und dabei bedient er sich der
Apices, die wir nur der Bequemlichkeit halber in unserer Über-
setzung durch die gewöhnlichen Zahlzeichen wiedergeben'): „Bei der
Zeichnung dieser Tafel, wie wir zu sagen angefangen haben, wird
die Menge der Zwischenräume in drei mal neun eingeteilt, d. i. nach
*) ChaaleB in den Compt Bend. XVI, 1410 — 1411 und XVH, 147. Die
ganze Abhandlang ist veröffentlicht im Bulletiino Bancompagni JUV, 91—184
(1881) unter Yorausschickung gelehrter biographischer und bibliographischer
Untersuchungen des Fürsten Bai d. Boncompagni, ebenda pag. 1 — 90. *) Darauf
hat H. Eneström {Biblioth. Magern. 8. Folge VII, 83 — 84) aufmerksam ge-
macht. ") Journal Äsiatique 1868, I. Halbjahr^ pag. 48 — 49, Anmerkung 8.
892 40. Kapitel.
der Gestalt eines Würfels, welcher die Länge drei auch nach der
Breite und Höhe in gleichen Abmessungen yermehrt. Und da die
Assyrer für die Erfinder dieses Instrumentes gehalten werden, welche
der chaldäischen Sprache und Buchstaben sich bedienten, und beim
Schreiben rechts anfingen und nach links fortfuhren, so beginnt ge-
mäß des den Erfindern in fortgesetzter Verbreitung schuldigen An-
sehens die Zeichnung dieser Tafel zur Rechten und setzt ihre Länge
nach links fort. Die Zwischenräume selbst sind aber so unterschieden,
daß, während jeder einzelne seinen oberen Abschluß hat, auch je
drei von dem Anfange bis zum Ende der Tafel durch obere Ab-
schlüsse endigen, so daß, indem je drei Zwischenräume immer durch
einen Halbkreis geschlossen sind, auf der ganzen Länge der Tafel IX
obere Abschlüsse gefunden werden. Der erste Abschluß dreier
Zwischenräume ist mit dem Zeichen der Einheit überschrieben, welche
mit chaldäischem Namen igin heißt; 1 stellt die Gestalt eines latei-
nischen Buchstaben dar. Man erkennt, daß dieses deshalb geschieht^
damit jene drei Zwischenräume, welche das Zeichen der Einheit Yor-
bemerkt haben, bezeugen, daß sie dadurch den ersten Rang erlangt
haben. Der zweite Abschluß von drei Zwischenräumen trägt dieses
Zeichen der zwei 2, welches bei den vorgenannten Erfindern andras
heißt, damit durch diese Wendung erklärt werde, jene drei Zwischen-
räume, über welchen es geschrieben ist, nehmen den zweiten Rang
für sich in Anspruch. Der dritte Abschluß von drei Zwischenräumen
lehrt, daß er den dritten Rang einnehme, dadurch, daß er mit
folgender Gestalt der drei 3 bezeichnet ist, welche bei den Ghaldäern
ormis genannt wird. Ähnlich bezeugt auch der Abschluß der
vierten Ordnung, daß er den vierten Rang behaupte, indem über ihn
dieses Zeichen 4 der vier geschrieben ist, das bei den Erfindern als
arbas gilt. Nicht weniger kündigt die fünfte Ordnung an, sie halte
den fünften Rang ein, weil sie diese Gestalt 5 der fünf trägt, welche
quimas heißt. Ebenso gehabt sich die sechste Ordnung als sechste,,
weil sie als Aufschrift das Zeichen 6 oder sechs hat, welches caltis
heißt. Auch die siebente ist durch folgende Gestalt 7 der sieben
bezeichnet, welche zenis heißt. Die achte hat folgende Form S
der acht, welche man temeniam nennt; und die neunte ist mit dieser
Figur 9 der neun bezeichnet, welche bei den Erfindern celentis
genannt wird. Bei der letzten Ordnung wird auch die sipos ge-
nannte Figur ® angeschrieben, welche, wiewohl sie keine Zahl bedeutet,,
doch zu gewissen anderen Zwecken dienlich ist, wie im folgenden er-
klärt werden wird."
Wir werden Radulphs Beispiel folgend auch erst nachher von
*^em sipos und seiner Benutzung reden, anderes vorausschicken. Es
Abacisten nnd Algorithmiker. 893
könnte zunächst auffallen, daß Radulph wiederholt von der Länge
der Tafel redet, wo wir die Breite genannt erwarten. Allein wie
Heron im Anschlüsse an ägyptische Übun^ (S. 395) Breite die
kleinere, Höhe die größere Abmessung nannte, ohne auf die Lage
selbst zu achten, so ist für Vitnivius nur derselbe Gegensatz bei der
Anwendung der Wörter Breite und Länge maßgebend^), und Radulph
steht mit Beibehaltung dieser altertümlichen Sitte durchaus auf
römischem Boden. Der mit 27 Kolumnen ausgestattete Abacus
mußte mehr breit als lang erscheinen, die Breite deshalb als Länge
benannt werden.
Eine zweite Bemerkung bezieht sich auf den assyrischen oder
chaldäischen Ursprung, den Radulph für den Abacus, für die Apices
und für deren Namen in Anspruch nimmt. Wir pflichten entschieden
der Meinung bei, welche hierin ein Anlehnen an griechische Er-
innerungen findet'), die manche astronomische und anderweitige
Kenntnisse von den Chaldäem ableiteten. Warum sollte Radulph
statt der Assyrer nicht die Araber oder die von diesen stets als Er-
finder der Zahlzeichen gerühmten Inder genannt haben, wenn er von
ihnen wußte? Sein Schweigen ist mithin als Beweis anzusehen, daß
ihm und mit ihm gewiß den Zeitgenossen, vor welchen er durch
Gelehrsamkeit sich auszeichnete, ein Vorkommen des Abacus bei den
Arabern gerade so unbekannt war wie bei uns.
Drittens müssen wir zu jenen rätselhaften Wörtern uns wenden,
die uns von Radulph als desselben chaldäischen Ursprunges wie der
Abacus genannt werden. Wir haben (S. 584) von Wörtern gesprochen,
welche nicht im Texte, aber auf dem Abacus zwischen dem L und
n. Buche der Geometrie des Boethius vorkommen und dort möglicher-
weise erst nachträglich ihren Platz gefunden haben. Es sind dieselben,
die wir hier nach Radulph mitgeteilt haben. Dieselben finden sich in
zehn Versen eines lateinischen Pergamentkodex des Vatikan*):
Ordine primigeno sibi nameyi possidet Ig in.
Ändras ecce locum previndicat ipse secundum.
Ormis post numerus non compositus sibi primus.
Denique bis binos succedens indicat Ärbas.
Signifkat quinos ficto de nomine Quimas.
Sexta tenet Calais perfecta munere gaudens.
Zenis enim dig^ie septeno fulget honore.
Octo beatificos Temenias exprimit unus.
Terque nofat trinum C dentis nomine rithmum.
Hinc sequitur Sipos est, qui rota namqt^e vocatur.
*) Agrimensoren S. 67 und 196, Anmerkung 129. *) Woepcke im Journal
Asiatique für 1868, I. Halbjahr, pag. 49. •) Vat. Univ. 5327, wie wir freund-
licher Mitteilung von Prof. L. Gegenbauer entnehmen. Die gleichen Verse
894 40. Kapitel.
Der Sinn dieser Yerse^ welche yielleicht nur als Gedachtnisyerse zu
betrachten sind, welche die Einprägung jener fremdartigen Wörter
erleichtem sollen, dürfte aus folgendem Übersetzungsyersuche^) sich
ergeben:
Igin führet das Zeichen in erster Stelle zum Namen.
Auf den zweiten der Plätze erhebet Andreis den Anspruch.
Dann als erste einfache Zahl folgt Ormis auf jene.
Zweimal zeiget die Zwei das jetzt nachfolgende Arbas.
Quitn<u bildet die Fünf mit ausersonnenem Namen.
Ihrer YoUkommenheit freut sich die Cahis an sechseter Stelle.
Siebenfältiger Ehre erglänzet am würdigsten Zenis.
Und die glückselige Acht zeigt nur Tetnenias einzig.
Dreimal schreibet die Drei das Zeichen mit Namen Celentis.
Ähnlich gestaltet dem Bade ist, was hier Sipos ich nenne.
Eben dieselben Wörter finden sich bei einem etwas jüngeren
Zeitgenossen Badulphs, von dem wir noch zu sprechen haben, Ger-
land, und bei verschiedenen Schriftstellern bis in das XIV. S. herab').
Meistens fehlt das Wort sipos. Hat nun Radulph recht, wenn er
die Wörter aus dem Ghaldäischen herstammen läßt, und sind sie in
der Tat ebenso alt, ebenso lange in Gebrauch als der Abacus, oder
wenigstens als die Apices? Würde die letzte Frage noch weiter ein-
geschränkt auf die Zeit der Neubelebung und allgemeinen Verbreitung
des Abacus- oder Kolumnenrechnens, so wäre sie entschieden mit
Nein zu beantworten. Gerbert, Bernelinus, Hermann der Lahme be-
nutzten jene Wörter nie, und sie sind doch als die hervorragendsten
Lehrer zu betrachten. Auch aus keinem anderen Schriftsteller des
XI. S. wird das Vorkommen jener Wörter uns berichtet, und erst im
XU. S. scheinen sie aufzutreten. Allerdings steht diese Tatsache in
Widerspruch zu den Worten Radulphs, der die Entstehung der Wörter
in graue Urzeit zurückverlegt.
Vielleicht sind die Wörter selbst geeignet den Zweifel zu lösen?
Ein Assyriologe will fünf derselben als assyrisch erkannt haben ^);
igin sei ischiin, arhas sei arha, quimas sei %amsa, zenis wohl in der
nur anter Weglassnng des auf celentis bezüglichen hat Ghasle;», Apergu hist.
pag. 478, deutsch S. 640, aus dem Kodex von Chartres veröffentlicht, in welchem
auch die Geometrie des Anonymus von Chartres (S. 690) steht.
') Math. Beitr. Kulturl. S. 244. «) Oeuvres de Gerhert (ed. Olleris)
pag. 678—679. ■) Lenormant, La legende de Semiramis, premter memoire de
mytholoffie comparative pag. 62 in den Memoires de VAcademie Boyale des scienees
et belles-lettres de Belgique. T. XL (Bmxelles 1873). Frühere Untersuchungen
ygl. bei Vincent in Liouyille, eTbumoZ de matkematiques IV, 261 und in der
Bemte archdologique U, 601; Math. Beitr. Kulturl. S. 246—246; Woepcke im
Journal Asiatique für 1868, I. Halbjahr, pag. 61; Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris)
pag. 679—681.
AbftdBten und Algorithmiker. 895
gleichfalls vorkommenden Form Jfebis sei schibU^ temenia sei schumunu.
Es gehört immerhin eine gewisse Phantasie dazu^ um diese Verwandt-
schaften als offenkondig anzuerkennen. Arhas, quimas, temenias sind
allerdings als semitisch wohl Ton allen üntersuchem anerkannt worden,
aber ohne daß Einigkeit darüber stattfände, ob das Arabische, das
Hebräische oder das Aramäische die Omndformen geliefert habe,
worauf es natürlich nicht wenig ankommt, wenn das Alter und die
Überlieferungsweise der Wörter geprüft werden wollen. Mit der
semitischen Drsprungserklarung der anderen Wörter geht es nicht so
leicht. Man hat sie freilich ingesamt arabisch deuten wollen, aber
fraget nur nicht wie, möchte man ausrufen. Ccdtis, 6 und zeniSy 7
sollen als cadis und gd>is aus der entsprechenden arabischen Kardinal-,
igin, 1 aus der arabischen Ordinalzahl stammen; ormis, 3 und cden-
iis, 9 sollen ihren Wert vertauscht haben, alsdann aber wieder
arabische Klänge geben, und andra, 2 soll diesem Ursprünge gleich-
falls nicht widersprechen, vorausgesetzt daß man das arabische Wort
schlecht gelesen habe. Andere, weniger leicht mit Verstümmelungen
und Wertvertauschungen zufrieden, haben zwar igin aus dem He-
bräischen, dem Persischen, der Berbersprache, andras aus dem He-
bräischen, dem Arabischen, zenis aus dem Hebräischen abgeleitet,
aber, wie wir durch die Nebeneinanderstellung der beigezogenen
Sprachen andeuteten, wieder in fast unlösbarem Widerspruche zu-
einander^ einig nur in dem Verzichte auf jegliche Erklärung für ormiSy
calcis, cdentis. Semitisch also, den Schluß können wir allenfalls
ziehen, sind die fremden Zahlwörter nicht ausnahmslos. Man hat
auch versucht, einige der Wörter, welche besondere Schwierigkeiten
bereiten, armis und cdentis, aus dem Magyarischen herzuleiten*). Eine
andere Richtung schlugen alsdann Gelehrte ein, welche den hebräischen
Ursprung von arbas, g^imaSj temenias als mit der alexandrinischen
Heimat der sämtlichen von ihnen als neupythagoräisch vermuteten
Wörter wohl vereinbarlich zugaben, dagegen die anderen aus dem
Griechischen ableiteten, und zwar aus Wörtern, welche Begriffen ent-
sprachen, die in der Tat in der Zahlensymbolik der späten Pytha-
goräer mit den betreffenden Zahlen im Zusammenhang stehen. Jgin
soll aus 71 yw% andras aus ivägi^f ormis aus 6q(ii^ entstanden sein,
weil die 1 das Weibliche, die 2 das Männliche, die 3 die Vereinigung
beider bedeute; calcis, welches auch in den Formen caltis und chalcus
vorkommt, sei nach einer Meinung TcalöxTjg, weil die 6 dem Begriffe
^) Fr. Th. Koppen, Notizen über die Zahlwörter im Abacus des Boethius
(in dem VI. Bande der Milanges Greco-Bomains tiris du Bulletin de VAcad,
imper. des scienees de St. Petershourg).
896 40. Kapitel.
des Yollkommenen und des Schönen entspreche^ während die andere
Meinung chalcuSy laXxovg damit rechtfertigt, dafi xakxovg und (ybyyCa
Synonyma seien, die Alten aber nach einer Behauptung des Cassio-
dorius in einem Briefe an Boethius^) für 6 auch Unze sagten. Eine
Ableitung von zenis als Tochter des Zeus beruht darauf, daß die 7
bei Theon von Smyma Athene genannt wird^, eine dem Sinne nach
ähnliche von cdentis aus 6slrivri darauf, daß 9 die Zahl der Jung-
frau ist^), die Mondgöttin aber sich vor allen der Jungfräulichkeit
erfreut. Andere dagegen wollen cdentis von OriXvvrög weibisch, oder
vielmehr unter der Annahme, das Anfangs-« eines Wortes könne,
auch wenn es verneinende Bedeutung habe, wegfallen, von aOrjXvvxög
nicht weibisch, kräftig, ableiten, weil die 9 den Begriff der Kraft in
sich schließe. So steht eine nicht unbedingt zu verwerfende Anzahl
von ErklSrungen der fremdklingenden Zahlwörter Radulphs zu Ge-
bote. Weiter aber als bis zur Ablehnung der unbedingten Ver-
werfring möchten wir unsere Zustimmung doch nicht erstrecken und
betrachten das Rätsel als immer noch nicht mit Gewißheit aufgelöst,
gern bereit eine zuverlässigere Deutung jener Wörter freudig zu be-
grüßen, welche auch die Fr^e nach der Zeit der Entstehung end-
gültig beantworten würde.
Wir gehen nunmehr mit Radulph zu dem letzten Zeichen des
sipos über, zu dem Kreise mit angedeutetem Mittelpunkte, jene Figur
^,welche, wiewohl sie keine Zahl bedeutet, doch zu gewissen anderen
Zwecken dienlich ist, wie im folgenden erklärt werden wird" (S. 892)
Radulph erfüllt das gegebene Versprechen treulich*). Der vorsichtige
Abacist — providus abacista — wird, sagt er, unter den anderen
Zeichen auch ein nach Art eines Rädchens — in modum rotidae —
gestaltetes sipos sich auf Marken — in calculis — anfertigen, und
nun erläutert er deren Gebrauch. Wir begnügen uns, ohne wörtlich
^u übersetzen, auf den Kernpunkt hinzuweisen. Wenn die Multipli-
kation mehrziffriger Zahlen miteinander vorgenommen wird, so
kommt es darauf an, immer zu wissen, wo man mit dem Vervielfältigen
halte. Ist dieses schon notin^endig, wofern alle Zwischenrechnungen
stehen bleiben, so ist es noch weit unerläßlicher, wenn, wie wir von
Bemelinus gelernt haben, Ziflferu fortwährend verändert wurden. Sei
«8 daß man auf dem Sande neue Zeichen schrieb, sei es daß man
auf dem vom Schildmacher hergerichteten Abacus neue Marken auf-
*) Variae I, epist. 10: Senarium vero, quem non immerito perfectum docta
Antiquitcis definuit, unciae, qui mensurae primus grtidus est, appeüatione signavit
*) Theon SmyrnaeuB (ed. Hiller) pag. 103, lin. 1 — 6. •) Theologumena
(ed. Ast) pag. 58, lin. 12flgg. *) Woepcke im Journal Asiatiqite für 1863,
I. Halbjahr, pag. 246—247, Anmerkung 1.
Abacisten und Algorithmiker. 897
legte ^ in beiden Fällen war dem vor Augen befindlichen Teilergeb-
nisse nicht anzusehen y welchem Augenblick der Rechnung es ent-
stamme. Da trat das sipos in seine Rechte. Man rückte nämlich
eine solche Marke längs den Zi£fem des Multiplikators von der Rechten
2ur Linken fort, um anzugeben, mit welcher Stelle man gerade ver-
vielfache; um aber auch zu wissen, welchen Abschnitt der Verviel-
fältigung jeder Multiplikatorsziffer mit dem ganzen Multiplikandus
man schon ausgeführt habe, lieB man gleichzeitig eine zweite sipos-
Marke längs des Multiplikandus fortrücken. Man sieht somit: das
sipos ist keine NuU^ ist, wie Radulph ganz richtig bemerkt, überhaupt
kein Zahlzeichen, sondern nur ein Rechnungsbehelf ähnlich dem
Pünktchen, dessen auch wohl in der heutigen Zeit Rechner beim
Dividieren sich bedienen, sowie beim Multiplizieren vielziffriger Zahlen
miteinander, vorausgesetzt, daß sie diese letztere Rechnung so voll-
ziehen, daß alle Zwischenrechnungen bis zum Hinschreiben der ein-
zelnen Ziffern des Gesamtproduktes im Kopfe vorgenommen werden.
Daß beim sipos ein Kreis das Pünktchen umschließt, ist vielleicht
nur die Zeichnung einer runden Marke überhaupt und die Ähnlich-
keit mit dem Zeltchen der Null eine durchaus zufällige. Was das
Wort sipos betrifft, so ist es kaum weniger zweifelhafter Bedeutung
als die anderen Wörter, von welchen wir oben gesprochen haben,
denn wenn die einen es mit dem as-sifr (leer) der Araber, andere
es mit dem saph (Gefäß) der Hebräer in Verbindung setzen, leiten
noch andere, offenbar hier weit mehr in Übereinstimmung mit der
Verwendung des sipos, es von tlffiq>og (Rechenmarke) ab. Man ist
sogar so weit gegangen^) zu fragen, ob nicht das arabische as-sifr
selbst als Lehnwort mit dem griechischen ilfflq>og in Zusammenhang
zu bringen sei.
Wir können hier einschaltend auch das Wort abacista hervor-
heben, durch welches Ra^lulph den auf dem Abacus Rechnenden be-
nennt. Der Name^) geht mindestens bis auf Gerbert zurück, der
sich in seiner Geometrie desselben bedient, und seine Nachfolger ge-
braueben bald dieses Hauptwort, bald ein von demselben abgeleitetes
Zeitwort äbaci/sare^), welches Rechnen auf dem Abacus bedeutet.
Die Hochschätzung Gerberts als desjenigen, welcher das Rechnen
mehr als jemals früher zum Gemeingute gemacht hat, spricht sich
in dem gleichfalls einmal aufgefundenen Worte gerhertista*) für
Rechner aus.
*) Karl Krumbacher, Woher stammt das Wort Ziffer (chiffire)? in den
iüudes de philologie niogrecque puhliees par M. Jean Psichari. Paria 1892.
Dagegen Derselbe, Noch einmal das Wort Ziffer, in der Byzantinischen Zeitschrift
Leipzig 1893. *) Math. Beitr. Kulturl. S. 381. ») Franco 186. *) Oeuvres
Cahtor, Oeacbiohte der Mathematik I. S. Aafl. 67
898 40. Kapitel.
Jüngerer Zeitgenosse Radnlphs war^ wie wir schon sagten,
Gerland^). Er war Schüler des von dem Bistum Be8an9on ab-
hängigen Benediktinerklosters in der Stadt gleichen Namens. Er
wirkte selbst dort als Stiftslehrer, dann als Prior in den Jahren 1131
und 1132. Im Jahre 1148 begleitete er nebst Theodorich von
Chartres den Erzbischof Adalbero von Trier zu einem Reichstage
nach Frankfurt und führte mit seinem Reisegefährten während der
Rheinfahrt ein glänzendes Wortgefecht. Er schrieb unter anderem
einen Komputus, d. h. wie wir wissen, eine Anleitung zur Oster-
rechnung; und eine Abhandlung über den Abacus, die in einer Karls-
ruher Sammelhandschrifk aus dem XU. S., die also jeden&lis kurz
nach der Abfassung der Abhandlung entstanden sein muß, sich er-
halten hat^).
Wir heben nur weniges als bemerkenswert aus ihr hervor.
Gerland benutzt die fremdartigen Zahlwörter beim Rechnen selbst:
Igin pone iitxta muiram, setze igin neben andras usw. Er benutzt
femer fortwährend einen gezeichneten Abacus, dessen einzelne Ko-
lumnen Bogen, arcus, heißen und einen oberen Abschluß durch einen
Kreisbogen finden. An einer einzigen Stelle vereiÄgt er, wie Beme-
linus, wie Radulph es vorschrieben, überdies Gruppen von drei Ko-
lumnen unter einem größeren Kreisbogen und von diesen dreien
selbst wieder zwei unter einem mittelgroßen Bogen; allein dabei
macht sich eine Verschiedenheit gegen Bemelinus geltend, denn Ber-
nelinus will (S. 880) den mittelgroßen Bogen über die Zehner- und
Hunderterkolumne gezeichnet haben, worin ein guter Sinn liegt, der
der . Unterscheidung von Einem und Nichteinem der betreffenden
Gmppe, Gerland dagegen vereinigt, man weiß nicht wozu, die Einer-
und Zehnerkolumne unter einem mittelgroßen Bogen. Die Zahl der
Kolumnen ist 12, also auch nicht mit jenen Vorgängern in Überein-
stimmung. Eine andere Hajidschrift von Gerlands Abacusregeln hat
15 Kolumnen, und überhaupt ist der Wechsel in diesen Anzahlen ein
sehr häufiger und nur darin beschränkt, daß die Kolumnenzahl stets
durch 3 teilbar die Bildung von Triaden gestattet^); neben 27
kommen beispielsweise auch 30 Kolumnen vor, mutmaßlich so zu
erklären, daß neun Gmppen von je 3 Kolumnen mit den Wörtern
igin bis celentis überschrieben waren und dann noch eine zehnte
Gruppe hinzugenommen wurde, um die Überschrift sipos verwerten
de Gerbert {ed^ OUeris) pag. XXXYII aus dem Codex von Montpellier
Nr. 491.
*) Boncompagni im Bullettino Boncompagni X, 658 — 666. *) Zum
Drucke befördert durch Treutlein in dem Bullettino Boncompagni X, 696 — 607.
>) Compt Bend. X\% 1406.
Abaciaten und Algorithmiker. 899
Zu können, deren Sinn allmählich verloren ging, als man mit der
wirklichen Null der Araber bekannt wurde. Beim Dividieren lehrt
Gerland nicht das komplementäre, sondern das unmittelbare Verfahren
sowohl an dem Beispiele 120:3 als an dem Beispiele 100:11, bei
welchem letzteren das übrig bleibende 1 zur Fortsetzung der Division
in Duodezimalbrüche verwandelt wird.
Ghreifen wir jetzt aus der zahlreichen Menge von dem Verfasser
und der Abfassungszeit nach nicht genau bestimmbaren Schriften
über den Abacus noch einige heraus, die uns bemerkenswerter er-
scheinen und möglicherweise in die Zeit gehören, bis zu welcher wir
gelangt sind. Dem XII. S. entstammen nach der Ansicht der meisten
Oddos Regeln des Abacus*) (S. 845), Diese Regeln beginnen
wieder mit einer an geschichtlichen Erinnerungen reichen Einleitung:
„Will einer Kenntnis des Abacus haben, so muß er Betrachtungen
über die Zahlen sich aneignen. Diese Kunst wurde nicht von den
modernen Schriftstellern erfunden, sondern von den Alten, und wird
deshalb von vielen vernachlässigt, weil sie durch die Verworrenheit
der Zahlen sehr verwickelt ist, wie wir aus der Erzählung unserer
Vorfahren wissen. Erfinder dieser Kunst war Pythagoras, wie uns
mitgeteilt wird. Deren Übung ist bei einigen Dingen notwendig,
weil ohne Kenntnis derselben kaum irgend jemand es in der Arith-
metik zur Vollkommenheit bringen, noch die Lehren der Kalkulation
d. h. des Komputus verstehen wird. Hätten doch unsere heiligen
Weisen niemals die für die heilige Kirche notwendigen Regeln auf
das Ansehen jener Heiden gestützt, wenn sie gefühlt hätten, es sei
eine müßige Kunst, die jene lehrten. Will z. B. einer die Bücher
Bedas des Ehrwürdigen über den Komputus lesen, so wird er ohne
Besitz dieser Kunst wenig Nutzen erzielen können. Eben sie ist in
dem Quadrivium, d. h. in der Musik, Arithmetik, Geometrie und
Astronomie so notwendig und nützlich, daß ohne sie fast alle Arbeit
der Studierenden zwecklos erscheint. Wir glauben, daß sie vor alters
griechisch geschrieben und von Boethius ins Lateinische übersetzt
wurde. Aber das Buch über diese Kunst ist zu schwer für den Leser,
und so haben wir einige Regeln hier auseinandergesetzt.^'
Wir sehen hier in den geschichtlichen Angaben eine ziemliche
Übereinstimmung mit denen Radulphs, jedoch so, daß keiner der
*) Scriptores ecelesiastici de mt^sica (ed. Mart. Gerbert). St. Blasien 1784,
I, 296—302: Begulae Domni OcUlonis suptr ahacum. Vgl. Math. Beitr. Kulturl.
8. 296—302. Die wichtigsten Gründe, welche für eine späte Lebenszeit Oddos
sprechen, bei B. Peiper auf Ö. 216—220 des Supplementheftes zu Zeitschr.
Math. Phys. XXY (1880) und bei A. Nagl, Gerbert und die Rechenkunst des
X. Jahrhunderts S. 33.
57 ♦
900 40. Kapitel
beiden Schriftsteller eine Abhängigkeit von dem anderen verrät^ die
Allgemeinheit der tJberlieferung also durch ihre ähnlichen Behaup-
tungen nur um so sicherer bestätigt wird. Wenn Badulph die Not-
wendigkeit des Abacus zum Verständnis Piatons betont^ führt Oddo
das Rechnen auf demselben auf Pythagoras zurück. Wenn Radulph
ihn der Geometrie dienen läßt^ ist er bei Oddo dem ganzen Qua-
drivium ein nützliches Hilfsmittel. Wenn Radulph die Kunst in
Mißkredit, fast in Vergessenheit geraten läßt, bis Gerbert und Her-
mann sie erneuerten, spricht Oddo die Meinung aus, Boethius habe
darüber eine Schrift aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt,
aber dieses Buch sei zu schwierig, und deshalb setze er seine Regeln
auseinander. Die letztere Bemerkung Oddos verdient unsere ganz
besondere Aufmerksamkeit, da es schwer fällt, dieselbe nicht auf die
gefälschte Geometrie des Boethius zu beziehen. Dann muß aber Oddo
nach der Entstehung dieser Geometrie, d. h. nicht früher als im
Xn. S. seine Regeln verfaßt haben.
Die Benennung der Einer und Zehner als Finger- und Gelenk-
zahlen, der Kolumnen als Bögen, die Vereinigung von je drei Bögen
zu einer mit einem größeren Bogen überspannten Gruppe, das Auf-
treten der Apices, das sind lauter Dinge, die Oddo mit vielen gemein
hat. Die Zahlennamen igln usw. kommen bei ihm nicht vor, und
das könnte Anlaß geben, ihn für einen Zeil^enossen eines früheren
als des XU. S. zu halten. Bei der Multiplikation unterscheidet er die
beiden Faktoren als Summe, summa, und Grundzahl, fundamenium,
wovon jene oben, diese weiter unten geschrieben wird. Das Produkt
kommt zwischen beide Zeilen zu stehen^). Dabei findet zwischen
den Faktoren Gegenseitigkeit statt: ;;Mag man 5 mal 7 oder 7 mal
5 nehmen, so entsteht XXXV.'' Der Gegensatz der Schreibweise in
diesem Satze, die Darstellung einziffriger Zahlenwerte durch Apices,
mehrzijBfriger durch römische Zahlzeichen, ist die naturgemäße Folge
des Nichtvorhandenseins der Null, ohne welche die Apices die längste
Zeit über nur dann Stellenwert erhielten, wenn sie einem Abacus ein-
gezeichnet waren.
Ein einziges Beispiel vom Gegenteil ist bis jetzt bekannt ge-
worden^). In einer Handschrift der alexandrinischen Bibliothek zu
Rom, welche um das Jahr 1200 herum entstanden ist, findet sich
') Summa vocatur qaod in summiUtte arcuum; fundamentum autem quid-
quid inferius disponitur. Et quod ex utroque numero procedit muUiplicato inter
ducis lineas ponitur. *) Enrico Nardacci, Intomo ctd un manuscritto della
BihUoteca Alessandrina cantenente gli apici di Boezio senz' abaco e con valore
dt posizione in den Memarie deW Accademia Reale dei lAncei, Classe di scienze
fisiche, matematiche e natural. Serie 8. Vol. 1. Seduta delP 8. aprile 1877.
* Abacisten und Algorithmiker. 901
nämlicli auf zwei eigentümlichen kreisrunden Figuren eine ziemliche
Menge von Zahlen^ teils einziffrige, teils zweiziffiige. Sie sind mit
geringfügigen Ausnahmen durch Apices geschrieben, die zu diesem
Zwecke offenbar Stellungswert erhielten. Daß aber dem Schreiber
die Null noch nicht bekannt war, oder, was auf das Gleiche heraus-
kommt, daß er sie noch nicht zu gebrauchen wagte, geht mit Be-
stimmtheit daraus hervor, daß mitten zwischen den Apices die
römischen Zeichen für X und XX vorkommen.
Doch wir kehren zu Oddo zurück. Nach den Multiplikations-
regeln gelangt er zur Division und unterscheidet, wie wir es schon
wiederholt und auch in der ge^schten Geometrie des Boethius ge-
funden haben, die einfache, die zusammengesetzte und die unter-
brochene Division, je nachdem der Divisor einstellig ist, mehrstellig
in aufeinander folgenden Kolumnen, oder mehrstellig, aber so, daß
dazwischen eine Kolumne leer bleibt. Der Dividend steht hier in
der Mitte, der Divisor oben, der Quotient unten ^), und es ist nicht
zu verkennen, daß hier eine völlig gleichmäßige Anordnung wie bei
der Multiplikation gewählt ist, die das Produkt zwischen beide Fak-
toren stellt. Allerdings sind wir genötigt, die Stellung aus Oddos
Worterklärungen zu entnehmen, denn die Zeichnung eines Abacus
kommt bei ihm nicht vor. Er vollzieht die Divisionen unmittelbar,
nicht komplementär, und überhaupt fiihlt er sich bei der über-
nommenen Aufgabe, die Division in ihren drei Fällen schriftlich er-
klären zu müssen, nicht wohl. Schon bei der zusammengesetzten
Division sagt er: „das Alles läßt sich viel leichter mit einem ein-
zigen Worte mündlich als schriftlich abmachen"*). Nach der Di-
vision folgen die Brüche, d. h. wie immer Duodezimalteile des as.
Oddo prunkt dabei mit einer gewissen Gelehrsamkeit, er sagt dragma
sei griechisch, sichel hebräisch usw., eine Gelehrsamkeit, welche er,
wie richtig bemerkt worden ist*), sich leicht in dem etymologischen
Werke des Isidorus von Sevilla verschaffen konnte. Er dividiert so-
dann 1001 durch 1000 und verwandelt die zunächst übrig bleibende
Einheit in immer kleinere Bruchteile, bis deren Anzahl 1000 über-
steigt und eine Fortsetzung der Division zuläßt. Die Verwandlung
selbst, aufeinander folgende Multiplikationen erfordernd, wird auf dem
Abacus ausgeführt. Schließlich kann man freilich nicht weiter zu
noch niedrigeren Einheiten übergehen. Da hört denn auch die Di-
vision auf, und man könne am Ende sich nicht wundern, wenn bei
^) Quidquid dividendum est in abaco in medio ponitur; divisores praepo-
nuntur; denonünalianes autem, hoc est partes divisae supponuntur, *) QtMe
omnia magis unicae vocis alloquio quam scripta advertuntur, *) Friedlein in
der Zeitschi. Math. Phye. IX, 326.
902 40. Kapitel.
den Bruchteilen etwas übrig bleibe^ da auch andere Künste in vielen
Punkten wacklig seien ^).
,,Nur dei die Dinge gemacht und bewahrt mit schützendem Walten
Ist mit jedwelcher Macht allein für vollkommen zu halten/*
Berum vero pctrens, qui solus cuncta tuetur,
Cum Sit cunctipotens, perfecttis solus habetur.
Eine anonyme Schrift über den Abacus^), einer Münchener
Handschrift aus der Mitte des XIL S. entstammend und folglich
spätestens gleichzeitig mit Radnlphs oder mit Gerlands Arbeiten eut-
standen^ zieht unsere Aufmerksamkeit dadurch auf sich^ daß sie einige
Kunstausdrücke enthält und deutlich erklärt, welchen wir (S. 891)
bei Atelhart von Bath und bei Radulph von Laon bereits begegnet
sind. Sie nennt nämlich das unmittelbare Divisionsverfahren das
der goldenen Division, das komplementäre das der eisernen,
jenes, weil es leicht zu verstehen und über die Annehmlichkeit des
Goldes hinaus ergötzlich ist, dieses dagegen weil es allzuschwer ist
und gewissermaßen die Härte des Eisens überbietet^). Die Apices
sind einmal gezeichnet und griechische Buchstaben als mit ihnen
abwechselnd auftretend genannt, ähnlich wie es bei Bemelinus der
Fall war, und eine andere Ähnlichkeit mit diesem Schriftsteller be-
steht darin, daß für 6 nicht der richtige griechische Buchstabe
angegeben ist, allerdings auch nicht 2J, sondern ein großes latei-
nisches S. Weitere Ähnlichkeiten mit Bemelinus könnten noch
darin gefunden werden, daß im ganzen Verlaufe der Schrift die
Apices nicht weiter benutzt werden, daß kein Abacus gezeichnet ist,
daß aber die Regeln mit imgemeiner Klarheit an Beispielen erläutert
werden, bei welchen durchgängig nur römische Zahlzeichen in An-
wendung kommen. Die Zahlenbeispiele selbst sind nicht die gleichen
bei beiden. In dieser Beziehung sind überhaupt die Abacisten sehr
unabhängig voneinander.
Es ist uns nicht erinnerlich, daß irgend zwei derselben in der
Benutzung des gleichen Zahlenbeispiels zusammenträfen. Dagegen
ist uns ein Beispiel Gerlands in seiner ganzen Einkleidung bei einem
Algorithmiker begegnet, welcher spätestens am Ende des XH. S.
gelebt hat.
Unter Algorithmikern verstehen wir diejenigen Schriftsteller,
') Nee tnirandum est aliquid de minutii^ superesse, cum alias artes in muUis
videam vadUare, *) Abgedruckt im Bullettino Boncompagni X, 607 — 626. Über
die Handschrift vgl. Treu t lein ebenda pag. 691 unter 2. *) Ebenda pag. 600:
Dicuntur aureae divisiones eo quod ad intelligendum faciles et super auri gratiam
sint delectabiles; sicut contra ferreae que sunt nitnis graves quasi ferri duriciam
preponderantes.
Abacisten und Algorithmiker. 903
welche ihre unmittelbare Abhängigkeit Ton arabischen Vorbildern
durch Yorkommen des bald mifiyerstandenen Wortes algorithmuS;
durch Anwendung des Stellenwertes der Ziffern mit Einschluß der
Null, durch Nichtanwendung des Abacus, durch den beiden letzten
Eigentümlichkeiten entsprechende Bechnungsverfahren an den Tag
legen. Wozu indessen in allgemeinen Sätzen die Erkennungszeichen
.algorithmischer Schriften erörtern; deren beide hervorragendsten wir
in früheren Kapiteln einzeln besprochen haben, die lateinische
Übersetzung des Rechenbuches des Muhammed ihn Müsä
Alchwarizmi (S, 714 flgg.) und die an dasselbe Werk sich
anlehnende ausführliche Schrift des Johannes von Sevilla
<S. 800 flg.)?
Wir müssen einen Blick auf die allgemeinen Verhältnisse werfen,
welche die Entstehung dieser Übersetzungen begleiteten. Gerbert war
für uns am Ende des X. S. vor allen Dingen der glänzende Lehrer
gewesen, der den Unterricht in den mathematischen Wissenschaften,
flo viel öder wenig aus römischen Quellen ihm davon zur Kenntnis
gelangt war, neu belebte. Auch der Geschichte der Philosophie ge-
hört der Philosoph auf dem Stuhle St. Peters an^). Nicht hloß das
Rechneil auf dem Abacus wurde von seinen Schülern, als sie selbst
zu Lehrern geworden waren, über Frankreich, Deutschland und Italien
verbreitet, von wo sie einst zu den Füßen des Bheimser Stiftslehrers
gepilgert waren, es machte überhaupt um die Mitte des XI. S. ein
neuer Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens sich geltend. Lan-
frank, am Anfang des Jahrhunderts in Pavia geboren, in Frankreich
herangebildet, führte die Dialektik in die Theologie ein und ließ den
Sinn für aristotelische Schriften erstarken. Freilich kannte man sie
zunächst nur aus Bearbeitungen des Boethius, aber da und dort waren
doch immer einzelne Männer zu finden, welchen das Griechische ge-
läufig genug war, ihnen zu gestatten, die Urquelle aufzusuchen, und
so entstanden jetzt schon einige wenige neuere Übersetzungen. Die
dadurch genährte und wachsende Neigung mit allem bekannt zu
werden, was Aristoteles, dessen Name mehr und mehr den Inbegriff
aller Wissenschaft darstellte, geschrieben hatte, trat besonders in zwei
Ländern hervor: in England, wohin Lanfirank als Erzbischof von
Oanterbury gekommen war, und in Italien, wo gleichfalls eine be-
stimmte Persönlichkeit, Anselm der Peripatetiker, nicht zu ver-
wechseln mit dem Bruder Radulphs 'von Laon, den geistigen Mittel-
punkt der neuen Bewegung bildete. Deutschland beteiligte sich erst,
*) Herrn. Reuter, Geschichte der religiösen Anfklilrung im Mittelalter I,
78 flgg. Berlin 1876.
904 40. Kapitel.
nachdem; man kann fast sagen^ Missionsreisende für die dialektischen
Studien es durchzogen hatten^ wozu eben jener Anselm der Peripate-
tiker gehörte.
Aber wie sollte man die Begierde nach der Kenntnis aristo-
telischer Schriften stillen? Griechische Texte waren nur in seltensten
Handschriften zugänglich. Man erfuhr^ daß die Araber eifrige Philo-
sophen waren, daß auch sie keinen der Alten höher schätzten, als^
Aristoteles, daß bei ihnen Übersetzungen und Erläuterungen in Menge-
zu finden waren. Arabisches war schon früher, jedenfalls schon am
Ende des X. S. ins Lateinische übersetzt worden. Wir erinnern an
die Übersetzungen astronomischer Schriften, welche Lupitus von Bar-
celona angefertigt, Gerbert zu besitzen gewünscht hat, wir erinnern
an die Vorlage Hermann des Lahmen für seine Bücher über das
Astrolabium. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß wir somit
es keineswegs an sich für unmöglich halten^ daß Gerbert bei seinem
Aufenthalt in der spanischen Mark durch Übersetzungen auch mit
arabischer Rechenkunst hätte bekannt werden können, sondern daß
wir nur durch den allerdings entscheidenden Umstand bewogen sind,
diese Kenntnis in Abrede zu stellen, daß gar nichts zwischen Gerbert
und den Arabern gemein ist, durchaus gar nichts in der Anordnung
wie in der Ausfühinmg der Rechnungen als nur neun Zifiern ohne
das zehnte Zeichen der Null, und daß diese Gemeinschaft sich uns
hinreichend mittels römischer Erinnerungen erklärt, während jeder
andere Erklärungsversuch an der verhältnismäßigen Geringfügigkeit
des Gemeinschaftlichen neben den weit überwiegenden Verschieden-
heiten scheitert.
Jetzt suchte man, etwa vom Jahre 1100 an, noch mehr der
arabischen Bearbeitungen griechischer Schriftsteller habhaft zu werden
und sie in das Lateinische zu übertragen. Dazu kommt ein anderer
Umstand, der, scheint es uns, nicht übersehen werden darf, wenn es
sich darum handelt, ein geistiges Bild jener Zeit zu entwerfen und
die mehr und mehr sich geltend machende Einwirkung arabischer
Wissenschaft auf das Abendland zu schildern. Mit dem Jahre 1100
beginnen die Kreuzzüge. Jeder wissenschaftliche Zweck war den-
selben fremd, aber wissenschaftliche Erfolge haben sie gehabt. Wir
haben (S. 778) berührt, daß die Kreuzfahrer im Oriente auf eine
ihnen überlegene Bildung stießen, daß zwei Jahrhunderte lang der
Verkehr ein meistens feindlicher, aber in längeren Pausen auch ein
nachbarlich freundlicher war. Wie ehedem nestorianische Christen
die Ärzte der Ghalifen gewesen waren und zur Einführung griechi-
scher Wissenschaft unter die Araber das meiste beigetragen haben,
so bildete jetzt wieder medizinisches und astrologisches Wissen den
Abacigten und Algozithmiker. 905
Freipaß, auf welchen hin arabische und jüdische in arabischer Schu-
lung gebildete Ärzte und Sterndeuter an den christlichen Höfen er-
schienen. Sie kamen von Osten her, aber auch Spanien stellte seine
Männer, und Sizilien lieferte für ganz ünteritalien im Xll. und mehr
noch im XIU. S. den belebenden geistigen Sauerstoff.
Für Italien waren die Kreuzzüge noch in mehreren anderen Be-
ziehungen von nicht zu unterschätzenden Folgen^). Die Menschen-
masse, welche in den Kreuzzügen sich nach Osten wälzte, die einen
getrieben von heiligem Glaubenseifer, die anderen beseelt von dem
Wunsche die äußeren Vorteile zu genießen, zu welchen die Kreuz-
nähme berechtigte, die dritten mit fortgerissen von dem allgemeinen
Zug, bezifferte sich auf viele Millionen. Die meisten nahmen ihren
Weg über Italien; nicht wenige kehrten bis dahin, aber auch nur
bis dahin zurück. Der kaufmännische Geist der Italiener wußte aus
dieser Strömung vielfach Nutzen zu ziehen. Italiener — Lombarden
wie man sie gewöhnlich nannte — erschienen in den Mittelpunkten,
wo Kreuzfahrer sich sammelten, boten gegen wertvolles Pfand und
hohen Zins ihre Geldhilfe an, welche gern in Anspruch genommen
ihnen gestattete, aus dem Gewinne ganze Straßen zu bauen, die bis
auf den heutigen Tag sich nach ihnen benennen. Die zurückkehren-
den Kreuzfahrer ließen sich nicht minder ausnutzen. Sie brachten
Beutestücke mit, die sie in Geld umsetzten, um den üppigeren Nei-
gungen zu genügen, welche sie insbesondere in bezug auf Speisen
und Kleidung ajigenommen hatten. Und wieder waren es die Italiener,
die vorzugsweise es auszubeuten wußten, daß die Gewürze, die Seide
des Orients zu Lebensbedürfnissen geworden waren. An der Nord-
küste Afrikas, wie in Ägypten, wie an dem Strande des ehemaligen
Tyrus entstanden italienische Handelsplätze, überall in nächster Be-
ziehung zu arabischen Kaufleuten und, wie wir (S. 817) schon an-
gedeutet haben, hier nicht ohne Einfluß auf das Wissen derselben,
andererseits jedenfalls auch von ihnen Samen erhaltend, dessen Keimen
wir im nächsten Bande dieses Werkes verfolgen müssen, wenn wir
in den reichen italienischen Städten uns umsehen, deren Bürger die
Feder nicht bloß zum Eintrag gewinnbringender Handelsgeschäfte in
ihre kaufmännisch geführten Bücher, sondern auch zu streng wissen-
schaftlichen Arbeiten zu benutzen wußten und sich zu Trägem mathe-
matischer Fortentwicklung machten.
Wir haben einen der ersten Schriftsteller, der nachweislich mit
der Übersetzung mathematischer Schriften aus dem Arabischen sich
*) De Choiaeul-Daillecourt, De Vinfluence des croisades sur Vitat des
peupks de VEurope. Paris 1809.
906 40. Kapitel.
beschäftigte^ schon einigemal genannt: Atelhart Ton Bath^). Sein
Hauptwerk ,,Fragen ans der Natur** enthält Bemerkungen, welche
yermöge der Persönlichkeiten, auf die sie sich beziehen, nur in den
ersten 30 Jahren des XII. S. niedergeschrieben sein können, und so-
mit zur Feststellung der Lebenszeit ihres Verfassers führten. Atel-
hart hat, um zur Kenntnis der arabischen Sprache zu gelangen, weite
Keisen gemacht. Er ist in Kleinasien, in Ägypten, in Spanien ge-
wesen, überall die gleichen wissenschaftlichen Zwecke verfolgend und
um ihretwillen tausend Gefahren trotzend. Wir wissen schon, daß
Atelhart die astronomischen Tafeln des Muhammed ihn Müsa Alchwa-
rizmi übersetzt hat, daß Ton ihm eine lateinische Bearbeitung der
euklidischen Elemente*) nach dem Arabischen herrührt (S. 713). Ob
Atelhart es war, welcher die Übersetzung des Rechenbuches Alchwa-
rizmis anfertigte, konnte nicht mit Bestimmtheit festgestellt werden.
Merkwürdig wäre es um deswillen, weil Atelhart auch über den
Abacus geschrieben hat (S. 891) und somit Abacist und Algorithmiker
in einer Person wäre.
Als Schüler Atelharts bezeichnet sich selbst Ocreat der Ver-
fasser eines Auszuges aus einer arabischen Schrift über Multiplikation
und Diyision in den Einleitungswoften: Prologus H, Ocreati in Hel-
ceph ad Äddhardum Baiotensem magistrum suum^). Man möchte zu-
nächst an Atelhart von Bath als Lehrer denken. Dann müßte es aber
Adelhardum Bathonensem heißen. Die Form Baiotensem zwingt einen
im übrigen unbekannten Atelhart von Bayeux anzunehmen. Ferner
hat man in Helceph den Namen des arabischen Schriftstellers erkennen
wollen, von welchem die durch Ocreatus (der Gestiefelte?)*) aus-
gezogene Abhandlung herrührte. Man ist jedoch zu der nachträg-
lichen sehr anmutenden Meinung gekommen, es sei Helceph die Ver-
ketzerung von Äl häft, die genügende Untersuchung, und Ocreatus*
Vorlage sei ähnlich betitelt gewesen wie die Schrift Alkarchis, von
der wir unter dem Namen AI käfi fil hisäb gehandelt haben (S. 762 flg.).
Wir erinnern uns, daß wir dem Auszuge Ocreatus' (S. 433) die Be-
merkung entnahmen, Nikomachus habe das Quadrat a^ mittels einer
*) Jourdain, Reclierches sur les anciennes traductians latines d'Äristote
(2ieme Edition) pag. 27, 97—99^ 258 — 277. *) Vgl. darüber einen Aufsatz von
Weißenborn in dem Supplementhefte zur historisch-literarischen Abteilung der
Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXV (1880). «) Jourdain 1. c. pag. 99, Anmerkung 1
hat auf diese in einer Pariser Handschrift des Xm. S. enthaltene Abhandlung
hingewiesen. Zum Abdrucke gelangte sie im Supplementhefte der histor.-literar.
Abtlg. Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXV (1880) mit einer Einleitung von C.Henry,
welcher wir die von L. Rodet herstammende im Texte folgende Vermutung
über Helceph entnehmen. *) Auf diese mögliche Bedeutung des Namens hat
uns W. Wattenbach auftnerksam gemacht.
Abacisten nnd Algorithmiker. 907
Art komplementärer Multiplikation sich zu yerschaffen gewußt. Ob
diese Angabe der arabischen Vorlage entstammt^ ob sie durch Ocrea-
tue etwa einer damals noch vorhandenen Bearbeitung des Nikomachus
von Appuleius entnommen wurde, ist durchaus nicht zu entscheiden.
Ein Johannes Ocreatus wird in dem englischen Handschriftenkataloge
als Euklidübersetzer genannt. Ob dieses auf einem Mißverständnisse
beruht, wäre an Ort und Stelle zu untersuchen*).
Am Anfange des XII. S. lebte auch Plato von Tivoli oder Plato
Tiburtinus*),der vermeintliche Übersetzer des Albattani, durchweichen,
wie man früher annahm, das Wort Sinus (S. 737) in die Trigonometrie
«ingeführt worden sei. Wenn nicht Albattanis Astronomie hat Plato doch
verschiedene astrologische Schriften übersetzt. Eine derselben unter dem
Titel: Astrologische Aphorismen von oder an Almansür hat Plato in
Barcelona angefertigt und im Jahre 530 der Hidschra, d. h. 1136 n. Chr.
beendigt^). Auch die aus dem Hebräischen des Abraham Savasorda
durch Plato übersetzte praktische Geometrie, welche in mehrfachen
Handschriften vorhanden ist, trägt ein Datum 510 arabischer Zeit-
rechnung d. h. also 1116 und ist als ältestes Zeugnis seiner Wirk-
samkeit aufgefaßt worden. Unter den mittelbar aus dem Ghriechischen
stammenden Werken ist die mathematisch wichtigste Schrift,
welche Plato aus dem Arabischen übersetzt hat, die Sphärik des
Theodosius.
Noch ein Übersetzer, an welchen wir uns zu erinnern haben,
ist Gerhard von Cremona*). Zufolge einer sehr alten biographi-
schen Notiz über denselben ist Gerhard 1114 in Cremona geboren,
wurde frühzeitig von philosophischen Studien angezogen und fand
insbesondere an der Astronomie seine Freude. Das Bedauern, der
großen Zusammenstellung des Ptolemäus nicht habhaft werden zu
können, vereinigt mit der, wir wissen nicht wie, erlangten Kenntnis,
daß dieses Werk in arabischer Sprache vorhanden sei, führte Gerhard
nach Toledo, wo er 1175 die Übersetzung des Almagestes aus dem
Arabischen in das Lateinische vollendete*^). Aber das war, wenn auch
die Veranlassung, doch keineswegs die einzige Frucht seines Toledoer
Aufenthaltes. Eine fast unglaublich große Menge von Schriften aller
Art wird uns genannt, welche Gerhard aus dem Arabischen in das
») Catalog. Mab. Angl. Tom. U pag. 247 Nr. 8689. Wüstenfeld, Die Über-
fletzungen arabischer Werke in das LateiniBche S. 23. *) B. Boncompagni,
Delle verstoni fatte da Piatone Tiht*rHno traduttore del secolo duodecimo. Roma
1861. ») Vgl. Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phjs. Bd. XII, S. 26.
*) B. Boncompagni, Della mta e delle opere di Gherardo Cremonese traduttore
del secolo duodecimo e di Gherardo da Sahhionetta astronomo del secolo decimo-
terzo. Roma 1851. *) Ebenda pag. 18.
908 40. Kapitel.
Lateinische überiarug^), so daß wir unter Erwägung des Todesjahres
Gerhards^ welches auf 1187 fiel^ kaum annehmen dürfen, daß alle
seine Übersetzungen erst nach der des Almagestes angefertigt worden
sein sollten. Unter den mathematischen Schriften, welche Gerhard
bearbeitet haben soll, sind 15 Bücher des Euklid genannt, jedenfalls
seine Elemente und die beiden Bücher, welche lange als 14. und
15. Buch mitgeschleppt wurden. Von der Übersetzung der euklidischen
Elemente sind teils Bruchstücke teils vollständige Handschriften in
Paris, in Boulogne sur mer, in Brügge aufgefunden worden*). Deren
Wortlaut läßt mit höchster Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß
zu Gerhards Zeiten außer den arabischen Übersetzungen Euklids, deren
eine ihm als Vorlage diente, auch eine ihm bekannte und von ihm
mitbenutzte lateinische Übersetzung aus dem Griechischen yorhanden
war, eine Tatsache, die uns nicht aUzusehr in Erstaunen setzen kann,
wenn wir an das Palimpsest von Verona (S. 665) denken. Von
Gerhards weiteren Übersetzungen werden uns genannt Euklids Buch
der gegebenen Dinge, die Sphärik des Theodosius, ein Werk des
Menelaus. Diese zahlreichen Übersetzungen ursprünglich griechischer
Schriften bilden die geschichtliche Bedeutung Piatos und Gerhards.
Nur was sie in lateinischer Sprache boten, konnte zu europäischem
Besitze werden und ist es geworden, wie wir im IL Bande uns über-
zeugen werden. Gerhard übersetzte femer auch mit gleichem ge-
schichtlichen Erfolge geometrische Schriften von arabischen Ver-
fassern, von den drei Brüdern, von Täbit, aber auch die Algebra des
Alchwarizmi*). Da Gerhard, wie wir wissen, eine Algebra übersetzt
hat (S. 803), welche erhalten ist und als von der des Muhammed ihn
Müsä verschieden sich erwies, so ist entweder in jener alten Notiz
ein kleiner Irrtum vorhanden, oder wir müssen annehmen, Gerhard
habe neben der Algebra des Muhammed ihn Müsä auch jene andere
voUkommnere übersetzt, die nur in dem genannten Verzeichnisse
fehle, eine Annahme, welche darin ihre Stütze findet, daß jenes Ver-
zeichnis auch sonst nicht ganz vollständig ist und medizinische
Schriften des Razi, des Ihn Sina, des Albucasis vermissen läßt, von
deren Übersetzung durch Gerhard uns anderweitig berichtet wird*).
Vielleicht darf man darauf gestützt auch einen Algorithmus des
Meistor Gerhard, der handschriftlich in London sich befindet^),
imserem Gerhard von Gremona überweisen. Das wäre alsdann der
erste Algorithmus von bekanntem abendländischem Verfasser, den
*) B. Boncompagni, Oherardo Crem. pag. 4—7 und 12. ^) Björnba
in der Biblioiheca Mathematica S. Folge VI, 242—248. '; B. Boncompagni,
Gherardo Crem pag. 6: Liber Mhoarismi de iebra et almueahula tractatus I.
*) Ebenda pag. 12. ^) Ebenda pag. ö7.
Abacisten und Algorithmiker. 909
wir zu nennen hatten. Yielleicht gibt es noch eine zweite umfang-
reichere Handschrift desselben Algorithmus in einem Yatikankodex,
der den Tradatus magistri Cremardi^) enthalt. Genauer werden wir
auf diesen Algorithmus, der unter dem Namen Algorithmus de-
monstratus ohne Bezeichnung eines Verfassers 1533 gedruckt worden
ist, erst im IL Bande und zwar im 43. Kapitel eingehen.
Auch Rudolf von Brügge, der im Jahre 1144 das Plani-
sphärium des Ptolemäus nebst den Erläuterungen eines gewissen
Maslama al Madjriti dazu bearbeitete'), gehört unter die Übersetzer
des XII. S.
Den Algorithmus des Johannes tou Sevilla müssen wir
wiederhoU an dieser Stelle in Erinnerung bringen, um nochmals
einige Einzelheiten zu betonen, die, wenn auch nicht so wesentlich
wie das Vorkommen des Wortes Algorithmus, der Null') und da-
gegen das NichtTorkommen eines Abacus, doch als kennzeichnend
genug sich erweisen, um sofort die Verschiedenheit der Quellen für
Abacisten und Algorithmiker hervortreten zu lassen. Der Algorith-
miker nennt die Inder, der Abacist nicht. Der Algorithmiker schildert
Verdoppelung und Zweiteilung als besondere Rechnungsverfahren,
bevor er zur Multiplikation und Division übergeht, der Abacist nicht.
Der Algorithmiker lehrt Wurzelausziehungen, der Abacist nicht. Der
Algorithmiker benutzt Sexagesimalbrüche nach indischem, der Abacist
Duodezimalbrüche nach römischem Vorbilde. Allen diesen Ver-
schiedenheiten gegenüber, zu welchen wir noch beifügen können, daß
die Zahlwörter igin usw., welche bei Abacisten vorkommen, bei
Algorithmikem, so viel wir wissen, nie gefunden worden sind, ist
es nur die Übersetzung von Einer und Zehner durch digitus und
articulus, welche Algorithmikem und Abacisten gemeinsam ist. Aber
wir wiederholen hier, was wir früher gesagt haben (S. 802), der
Algorithmiker bediente sich dieser Wörter, weil nur sie in seiner
Zeit landläufige waren. Er dachte dabei so wenig an Übernahme
von Ausdrücken aus einem ganz anderen Gedanken- und Bildungs-
kreise, wie da wo er irgend eines Zahlwortes sich bediente. Ihm
hieß digitus Einer, (Mrticulus Zehner genau mit der gleichen Unbe-
fangenheit wie Septem sieben, viginti zwanzig. Es gab ihm in latei-
*) Björnbo in den Abhandlangen zur Geschichte der Mathematik XIV,
149—160 (1902). P. Duhem in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge VI, 9—16
(1905). *) Chasles, Apergu hist. pag. 511, deutsch S. 696, hat den Namen un-
richtig Molseni. Der richtige Namen wurde von Steinschneider angegeben.
Bibliotheca Mathematica 3. Folge in, 76 (1902). *) Wie langsam übrigens die
Null sich einbürgerte vgl. Wattenbach, Anleitung zur lateinischen Palaeo-
graphie. 4. Auflage. Leipzig 1886. S. 104.
910 40. Kapitel.
nischer Sprache keine anderen Wörter für diese BegriflFe als die ge-
nannten^ und er fühlte sich weder verpflichtet, noch berechtigt, neue
Wörter einzuführen, wo es nur um alte Begriffe sich handelte. Der
Algorithmiker steUt, das bleibt unter allen Umständen wahr, eine
spätere Entwicklung dar als der Abacist, und hat, wenn Ähnlich-
keiten auch anderer Art auftreten, sicherlich aus seinen abendländi-
schen Vorgängern geschöpft.
Ein Beispiel solcher Art scheint ein Algorithmus zu gewähren^
der einer nicht später als 1200 geschriebenen früheren Salemer, jetzt
Heidelberger Handschrift entstammt*). Er enthält die sämtlichen
wesentlichen Merkmale der Algorithmiker, aber darüber hinaus die
komplementäre Multiplikation*) fast in derselben Form, wie
wir sie früher (S. 528) hauptsächlich der Ähnlichkeit des Gedankens
mit der komplementären Division wegen als römischen Ursprunges
vermutet haben. „Ziehe, so schreibt der Verfasser vor, die Differenz
des einen Faktors von dem anderen Faktor ab, der Rest gibt die
Zehner, dann multipliziere die Differenzen beider Faktoren mitein-
ander, und Du hast die Summe der ganzen Zahl." Wir haben frei-
lich diese komplementäre Multiplikation, die der Formel
a . 6 - 10(a - (10 - &)) + (10 - a) • (10 - 6)
gehorcht, bei keinem älteren Schriftsteller, weder bei irgend einem
Abacisten noch bei einem Araber gefunden, nur Ocreatus' Regel des
Nikomachus ist ihr einigermaßen verwandt, aber um so gewisser
scheint es uns, daß nur ein römisch gebildeter Rechner sich ihrer
bedienen konnte. Darin beirrt uns auch der Umstand nicht, daß
die komplementäre Division bei unserem Verfasser nicht Eingang
gefunden hat. Wohl fand solchen, wie schon (S. 902) angekündigt,
ein Rechenbeispiel Qerlands. Qerland stellt die Aufgabe: unter elf
Krämer die Summe von 100 Mark zu verteilen*) und findet als
Quotient 9 nebst Bruchteilen, die in den bekannten duodezimaleu
Untereinheiten ausgesprochen werden. Unser Algorithmiker hat die
Division von 100 Librae durch 11 vollzogen und jeder Teilhaber
ist ihm ein Krämer, institor^). Die eine bei der Division übrig
bleibende libra verwandelt er nun freilich nicht in Zwölftel, sondern
er setzt sie gleich 40 fiolidi. Der weitere Rest von 7 solidi wird in
nummi verwandelt, deren 12 einen solidua ausmachen. Wieder bleiben
bei der Division 7 nummi übrig, und für diese solle man Eier kaufen,
deren die Krämer bei der Mahlzeit sich erfreuen werden. Für jeden
') Abgedruckt in der Zeitßclir. Math. Phya. X, 1 — 16. *) Ebenda S. 5.
*) ßullettino Boncampagni X, 604: Sint XI institorcs et dividantür inter eo8 C
marcae. *) Zeitachr. Math. Phya X, 7: Exemplum librarum G.
Abacisten und Algoiithmiker. 911
nummus erhält man 13 Eier, im ganzen also 91, und teilt man
auch diese wieder durch 11, so bleibt abermals ein Rest von 3 Eiern.
Die soll man dem zum Lohne geben, der die Teilung vollzogen hat,
oder sie gegen Salz umtauschen, welches vermutlich zu den Eiern
gegessen werden soll.
Andere Algorithmiker aus der Zeit, welche wir hier besprechen,
also bis etwa zum Jahre 1200, sind gewiß noch mannigfach in hand-
schriftlichen Texten vorhanden, aber im Drucke nicht veröffentlicht
worden. Spätere Schriften der gleichen Natur müssen wir zur Be-
handlimg uns aufbewahren, wenn wir das XTTT. S. zu schildern haben
werden, und mit noch späteren Perioden fällt erst die Erinnerung
an den Ursprung des Abacus zusammen, die z. B. in Bildwerken aus
dem Jahre 1500 etwa nachzuweisen wäre.
Wir schließen hier unsere Darstellung zunächst ab. Das Jahr
1200 ist f[lr die Geschichte der europäischen Mathematik ein allzu-
wichtiges, um nicht durch das Ende eines Bandes ihm auch äußer-
lich die Bedeutung beizulegen, welche es verdient. Mit dem Jahre
1200 ist das christliche Abendland im Besitze der Rechenkunst aus
den verschiedensten Quellen, im Besitze der Null und des durch sie
ermöglichten vollen Stellenwertes der Ziffern. Die Algebra als Lehre
von den Gleichungen ersten und zweiten Grades ist durch Gerhard
von Cremona zugänglich geworden. Die Geometrie des Euklid, die
Astronomie des Ptolemäus, Schriften des Theodosius, des Menelaus
sind in lateinischen Übersetzungen vorhanden. Das Bewußtsein, wo
weitere griechische Schriften erhaltbar sein müssen, die zum voraus
begründete Wertschätzung derselben macht sich mehr und mehr
geltend. In diesem Augenblicke auftretende mathematische Geister
trafen in eine glückliche Zeit. Zum ersten Male war ihnen wieder
genügender Stoff gegeben, mit welchem ihre Erfindungsgabe sich be-
schäftigen, von welchem aus sie wesentliche Fortschritte machen
konnten. Und wie das im Winde fliegende Samenkorn meistens ein
Fleckchen Erde findet, in welchem es sich entwickelt, so hat die
Schöpfungskraft dafür gesorgt, daß kaum jemals Gedanken zugrunde
gehen, die dem geistigen Luftzuge einmal angehören. Es finden sich
zur rechten Zeit die rechten Männer. Zwei Namen seien hier an-
kündigend genannt, welche die Träger der neu sich entfaltenden
Wissenschaft für uns werden: Leonardo der Pisaner und Jor-
danus Nemorarius.
Ergänzungen und Verbesserungen.
Zu S. 163 — 164. Herr Junge macht uns brieflich* darauf aufmerk-
sam, daß die (S. 164, Anmerkung l) angegebenen beiden Erklärungs-
yersuche von Martin und Hultsch wesentlich voneinander abweichen.
Ersterer habe die Timäusstelle erklärt durch die Proportion: Feuer zu
Luft wie Wasser zu Erde; letzterer dagegen habe zwei aufeinanderfolgende
stetige Verhältnisse angenommen: Feuer zu Luft wie Luft zu Wasser
wie Wasser zu Erde, und in der Tat schließe diese Übersetzung sich dem
Texte des Timäus besser an. Für die auf S. 164 gegebene Auseinander-
setzung der Begriffe von Flächen- und Körperzahlen ist es allerdings ziem-
lich gleichgültig, welcher Verdeutschung man den Vorzug gibt.
Zu S. 502. Herr Eneström (Bibliotheca Mathematica, 3. Folge
VII, 203) rückt gestützt auf Untersuchungen von Tannery und von Hei-
berg die Lebenszeit des Eutokius um etwa 50 Jahre hinauf. Dieser
sei etwa 480 geboren und nicht Schüler des Isidorus, sondern des Am-
monius (S. 500) gewesen.
Zu S. 717. Herr Eneström (Bibliotheca Mathematica, 3. Folge
Vn, 204—205) hält die Musterrechnung von 46468 : 324 für unrichtig
und schlägt eine andere Anordnung derselben vor. Das Original enthält
keinerlei Musterrechnung, eine solche war vielmehr nach dem beigegebenen
Texte herzustellen, und da scheint in der Tat die Eneströmsche Anordnung
Vorzüge vor der früher angenommenen zu besitzen.
S. 760—762. Herr Suter hat von dem Leidener Ms. 556 (Warn.),
in welchem Al-Nasawis Befriedigender Traktat fol. 68^ — 79^ sich be-
findet, Einsicht genommen und hat darüber (Bibliotheca Mathematica,
3. Folge VII, 113 — 119) berichtet. Wir entnehmen seinem Berichte
folgende wichtige, vorher nicht bekannte Tatsachen. Al-Nasawi lehrt die
Division von Brüchen dadurch zu vollziehen, daß er Divisor und Dividend
gleichnamig macht. Er sagt also dem Sinne nach
a ^ c ad ^ he ad
'h'~d^ hd'hd~hc'
Er gibt aber auch die Regel von der Multiplikation mit umgekehrtem
Divisor oder
ck ^ c a d ad
h ' d h c bc
Ergänzungen und VerbesBerangen. 913
Die Quadratwurzelausziehung wird zuerst in allgemeinen wenig deut-
lichen oder nur lückenhaft erhaltenen Vorschriften gelehrt, dann an dem
Beispiele: Quadratwurzel aus 57 342 erlftutert. Das Verfahren ist geradezu
modern. Die Zahl wird von der Bechten beginnend in zweistellige
Oruppen zerlegt und 2' ^^ 4 als der 5 nächstliegende Quadratzahl erkannt.
Diese 4 zieht Al-Nasawi von der 5 ab und dividiert mit dem Doppelten
von 2 oder mit 4 in 17. Der Quotient ist 3, worauf 3 mal 43 oder 129
von 173 abgezogen den Best 44 läßt. Durch 2 X 23 =» 46 wird nun
in 444 dividiert, wodurch 9 als Quotient erscheint. Dann ist 9 mal 469
oder 4221 von 4442 abzuziehen und läßt 221 als Rest. Das um 1 ver-
221
mehrte Doppelte von 234 ist aber 469, also j^ noch zu 239 als Quadrat-
wurzel hinzuzufügen. Man erkennt in dieser Auseinandersetzung die
Formel (a -f 6)* =« a* + (2 a -f 6)6 und den für die bruchweise Annähe-
rung gebrauchten Wert }/X* ^"*''^^"^"2>44-i' ^^® Kubikwurzelaus-
ziehung schließt sich an und wird an dem Beispiele der Kubikwurzel aus
3652 296 erläutert. Wir gehen hier rascher Über unsere Vorlage hinweg
und bemerken nur, daß sie den Gebrauch der Formel (a + 6)* = a*
-h [3a^-f (3 a + 6)6j6 zu erkennen gestattet. Was aber die weitergehende
bmch weise Annäherung betrifft, so vermutet zwar unser Berichterstatter,
sie habe sich nach der Formel yÄ^ + r ~ -4 + ^ki~A7vrA~4^i ?®^^^^^
kann jedoch diese Vermutung nicht durch den erhaltenen Text bestätigen.
Dagegen kommt in dem 4. dem Rechnen mit Sexagesimalbrüchen gewid-
meten Buche deutlich zu erkennen, daß Al-Nasawi gleich dem von
Johannes von Sevilla (S. 801) übersetzten Schriftsteller den Gebrauch
von Dezimalbrüchen bei der Ausziehung von Quadratwurzeln liebte. Er
setzt z. B. yT7Ö = jj- 1/170000» = ^J^ • 412« = 4» 7' 12".
Zu S. 805. Wir haben leider versäumt in unserem Handexemplare
seinerzeit anzumerken, daß die von Ihn Chaldün erwähnte Vorlage des
Ibn Albannä inzwischen näher bekannt geworden ist. Wir sehen uns
dadurch genötigt, noch nachträglich auf Herrn Suters ausführlichen Auf-
satz „Dos Rechenbuch des Abu Zakarfjä el Haasar^*' (Bibliotheca Mathe-
matica, 3. Folge 11, 12 — 40) hinzuweisen, welcher in unseren Text hätte
hineingearbeitet werden sollen. Diese Vorlage scheint dem Xu. S. anzu-
gehören.
Gahtor, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 58
.Register.
Äastichet 67.
Äbacist 511. 849. 878. 879—902. 906.
909. 910. 911.
Abacista 514. 849. 896. 897.
Ahacizare 897.
Ahacus 41—42. 88—90. 130—134. 320.
440. 629—531. 667. 588. 584. 586. 689.
591. 592. 609. 670—671. 718. 785. 806.
807. 817. 823. 839. 841. 846. 848.
850—853. 867. 868. 869. 878. 879. 880.
881. 882. 885. 886. 889. 890. 891. 892.
898. 896. 897. 898. 899. 900. 902. 903.
906. 909.
AhacM in Graeco 320.
Ab(iki*c (für eine Persönlichkeit gehalten)
714.
Abax 130—131.
Äbhasiden 696. 697. 706. 741. 787.
Abbo van Fleury 846—847.
'Abd Almelik 464. 696.
'Abd Arrahmdn 707. 792.
'Abd Arrahmdn III 792, 793.
Abdera 191.
Abelard 890.
Abmessung, größere, durch ein Kunst-
wort bezeichnet 98. 894. 422. 727.
893.
Abraham bar Chijja ha Nasi s. Abra-
ham Savasorda.
Abraham der Patriarch 32. 33. 44. 86.
Abraham Savasorda 797—800. 907.
Abschnitt 389.
Absonderung 387.
Abu Dschd* far Alchdzin 774.
Abudsched 708.
Abu Qdlib 762. 763.
Abu Hanifa 761.
Abu Hasan 702.
Abu Jaküb Ishäk ibn Hunein 703.
Abun 'Abbds 696.
Abü'l 'Abbds ladt ibn Hdtim 701.
Abul Hschiid 759— 760. 774. 783. 787.
Abulpharagius 260. 464. 608. 504. 701.
730. 742.
Abü'l Wafä 704. 742—748. 754. 763.
787. 788. 795.
Abu Müsd Dschdbir 722.
Abu NafT 748.
Abu Sohl ben Tamim 603.
Abu Schudschd 'Büjeh 741.
Abu Zakarijd el Ha^^ar 918.
Äbzügliche Zahlen 471.
Achmim s. Rechenbuch von Achmim,
Achteck 877. 400. 401. 660. 686. 864.
Achterprobe 808.
AQoka 596. 603.
Addla =» Gleichsein 816.
Adalbero von Rheims 853. 864. 866.
856. 898.
Adalbero von Trier 898.
Adam 222.
Addition, Alter derselben 8.
Additionsverfahren 671. 716. 811.
Adelbold von Utrecht 869. 866. 866. 878.
889.
Adelheid 854.
Adelmann 873.
Adhemar von Chabanois 848.
Adrastus 433.
'Adud ed Daula 742.
Adulitische Inschrift 269.
Aelbehrt 831. 832
Aeschylus 190.
Agana 31.
Agaiharchus 190.
Agenor 32.
Agrargesetzgebung 652.
Agrimensoren 566.
Agrippa 541.
Ahas 60
Ahmed ibn 'AbdaUd Habasch =» AI
Hdsib. '
Ahmed ibn Jussuf 738.
Ahmes, der König 68.
Ähmes, der Verfasser eines mathemati-
schen Handbuchs 68. 69. 60. 66. 68.
73. 74. 76. 78. 79. 80. 86. 90. 91. 92.
94 98. 100. 101. 109. 163. 271. 276.
312. 394. 896. 425. 466. 480. 604. 615.
618. 642. 646. 718. 876.
AiguiUon 423.
Akademie 212. 213. 215. 219. 284. 251.
327. 428.
Register.
915
Akropolis 228.
AI 'AJbdeH 807.
Alahdah 805.
AI 'Antdki 761.
AI 'Asiz 788.
AI Ba^a 696. 697. 738. 789.
Albategnius » AJ Battdni 736.
AI Battdni 786—738. 741. 747. 787. 796.
Albinus ^ Alcuin 881. 874.
AI Biruni 697. 624. 701. 710. 716. 767
—709. 787.
Albucasia 908.
AI Büni 741.
AI Busti 768.
AI Buzdschdni « ^Wi Wafd 742.
Alchaijdmi s. ^Otnar Alchaijämi,
Alc?Maristnu8 715.
Alchodiarithmue 715.
.41 Chodschandi 748. 762. 768. 787.
J.{ Chtcarizmi s. Muhammed ibn Müsd
al Chicarizmi.
Alcuin 831—841. 842. 871. 874.
^/ dschebr 716. 719. 722. 769.
Aleni 667.
vlfe-xandw 8. Ptolenmeus XL
— Aphrodisiacus 202. 204. 408.
— der GVo)8€ 83. 88. 151. 246. 251. 252.
258.
— Polyhistor 644.
— Severus 488. 562.
^teandrta 110. 117. 119. 258—259. 296.
827. 834. 361. 862. 364. 866. 381. 409.
427. 428. 465—466. 491. 496. 500. 508.
592. 600. 605. 676.
Akxandrifiüche Bibliotheken 259. 827.
829. 427. 496. 508—504.
Alexandrinische Literaturperiode 259. 425.
AI fard id 7-9.
AI Fazdri 697 698.
Algebra 716. 719. 721. 794. 803.
Algebraische Auffassung bei den Griechen
168-169. 404. 406. 465. 466. 474. 485.
Algebrista 722.
Algoritmi 714.
Algorithmiker 511. 878. 902—911.
Algorithmus, Ableitungsversuchc des
Wortes 714—716. 721.
^ demonstratus 909.
— linealis 568.
AI Hakam II 792. 793.
AI Hakim 788. 792.
AI Harrdni = Tdbit ibn Kurrah.
AI Hasan ibn as Sabbd 775.
AI tidsib 701.
Alh-win = Alcuin 831.
Alhazen = Ibn AJhaitam 789.
Alhidada 862.
Alischbili 794.
AI kdfi fil hisdb 708. 718. 762—767. 906.
Alk'aim 774.
AUcalasddi 810—816.
Alkalsdwi 810.
AUcalwaddni 761.
Alkarchi 708. 760. 787. 798. 808. 906.
AI Karmdfd 738. 798.
Alkauresmus 715.
AI Kindi 718. 761. 762—773.
AJkinous 177.
AI Küht 742. 748—750. 769. 787.
AüioU 49.
Allman 107. 186. 141. 142. 144. 152.
169. 185. 192. 590.
AI MadschHti 785. 788. 798.
Almagest 89. 277. 318. 833. 412. 415
—422. 438. 442. 447. 508. 599. 602.
659. 702. 705. 742. 907. 908. 911.
AJ Mdhdni 774.
AI Mahdi 696. 707.
AI Mamün 694. 696. 698. 700. 702. 711.
713. 730. 788. 788. 761.
AI Man^ür 696. 697. 698. 700.
AI Melik ar Bahtm 774.
Almucabala 808.'
AI Mukdbala 716. 719. 722. 769.
Almukaddasi 738.
AI Muktadir 695.
AI Musta' ^m llS.
AI Mu'tadid 704. 734. 736.
AI Mu'ta^im 761.
AI Nairizi 386. 387. 701. 786.
AI Nasawi 760—762. 765. 912—918.
&Xoyov 182. 192. 269. 764.
Alp Arslan 774.
Alphabetische Reihenfolge 121—122. 605.
708.
AI Sindschdri = As Sidschzt 750.
Altai 19
AI Tust = Nasir Eddin 779.
Amardja 600.
Amasis 138.
Amelius 880
Amenenihat I 106. 109. 885.
— III 57 59. 74 106. 109.
Aniefiatus 146.'
Amethistus 146.
Ammonius Sakkos 457. 500.
— von Alexandria 500. 501. 575. 912.
'Amr ibn ' Ubaid 697.
Amthor 312.
Amyklas von HeraJdea 243.
Analemma 423 443. 660.
Analogie 165. 238—289.
^naZy«ifi 220—221. 230. 285. 241. 247.
&va(poQi,%6g des Hypsikles 360 — 361.
Anatolius 458. 464. 842.
Awixagoras von Klazomenae 188 —190.
194. 197. 202. 212. 271.
Anaximander von Müet 50. 145 — 146.
Anaximenes 60. 146. 189.
Andras 898 flgg.
Andronikos II Palaealogos 508. 510.
— III 510.
Anfangsbuchstaben als Bezeichnung die-
nend 120. 205. 470. 471. 472. 524.
604. 614. 620. 621. 709. 804. 814. 815.
58*
916
Register.
Angelsachsen 10.
Anharmonisches Verhältnis 414. 452.
Annales Stadenses 839.
Anonymus von Byzanz s. Feldmesser von
Byzanz.
— vwi Chartres 590 889. 894
— von Melk 844.
Anselm der Peripatetiker 908. 904.
— von Laon 890.
Ansse de ViUoUon 166. 188. 202. 459.
Anthemius von Trolle 501. 502.
Anthologie 461—462. 610.
Antiphon der Historiker 160.
— der Mathematiker 202—208. 204. 271.
301. 303.
AntotvinuH 415. 428. 562. 563.
AfUoniits 427. 596.
— Diogenes 154.
&6qicxov 1ö8. 470.
Apagogischer Beweis 182. 221—222. 247.
268. 301. 305. 340.
Äpastamba 636. 637. 639. 641 643. 644.
Apepa 58.
Apices 584. 585. 591. 604. 606. 609. 711.
823. 839. 840. 841. 868. 879. 885. 898.
900. 901. 902. 904.
— mit Stelltmgswert ohne NtUl 901.
ApoUodor 186.
ApoUodorus der Rechenmeister 154. 180.
320
Apollodotus 180.
ApoUonius Epsilon 330. 333.
— von Pergae 196. 227. 244. 245. 291.
883. 384. 349. 350. 380. 426. 448. 454.
502. 670. 704. 706 764.
— von Pergaes Kegelschnitte 196. 244.
245. 288. 304. 334—343. 358. 444.
448. 452. 489. 496. 502. 554. 704. 749.
751.
— von Pergaes kleinere Schriften 343
—349. 859. 360. 364. 380. 445. 448.
452. 453. 454. 455. 585. 790.
— von Tyana 154.
Apophis 58.
Aporie 255.
&noz9^v6{i*vai, 337.
Apotome (Bedeutung als Irrationalzahl)
270. 348.
icnoToiii^ (geometrische Strecke) 389. 555.
Appuleius von Madaura 428. 429. 563
—564. 567. 570. 824. 907.
Araber 173. 296. 307. 860. 377. 386.
387. 414. 415. 433. 464. 503—504. 616.
592. 597. 602. 607. 666. 668. 684. 686.
693—817. 821. 822. 848. 849. 851.
856. 857. 878. 885. 887. 888. 889. 893.
896. 904. 905. 906. 907. 908. 909. 910.
Arabische Übersetzungen griechischer
Werke 287. 294. 298. 341. 344. 865.
412. 414. 696. 702 — 706. 761. 780.
787.
Aratus 362. 409.
Arbas 893 flgg
agßriloe 298.
Arcerius 551.
ägxcci 320.
Archimedes von Syrakus 195. 211. 260
261. 266. 295—826. 334. 841. 846.
349. 350. 356. 364. 367. 378. 379. 380.
381. 387. 405. 418. 426. 465. 493. 496.
502. 521 545. 570. 575. 667. 704. 705.
764. 862
— Kreisrechnung 297. 300—303. 316
—818. 350. 358. 372—374. 474. 646
648. 654. 659. 767. 790. 799. 875.
886.
— Kronenrechnmig 310—312. 325—326
345. 462. 544.
— Kugel und Zylinder 226. 241. 261.
266. 297. 308 — 309. 314. 380. 354.
412. 708. 749. 774.
— Quadratur der Parabel 241. 297. 304
—305 323—324. 379.
— Rinderproblem 312—818. 462.
— Sandeszahl 321—323. 612—613. 758.
— Schneckenlinien 195. 297. 306—807
318—314. 558. 768.
— Siebeneck 807. 877.
— Wahlsätze 297. 298—300. .S53. 414.
Archimenides => Archimed 705. 706.
Architas Latinus 224. 586. 589. 590.
Archytas von Tarent 165. 166. 212. 216.
226. 227—229. 280. 283. 235—236.
239. 243. 254. 294. 330. 451. 689. 590.
Arcufication 658.
Arcus 898. 900.
Ardhajid 658. 787.
Arenarius 321.
Argyrus s. Isaak Argyrus.
Arier 595.
Aristaeus der Ältere 245. 249. 885. 448.
— der Jüngere 246.
Aristarchus von Samos 321. 419. 447.
704.
Aristonophos Vase 178.
Aristopfianes 180. 178. 514.
Aristoteles 38. 117. 118. 188. 183. 198.
208. 219. 251—257. 259. 381. 845.
381. 422. 428. 455. 497. 501. 546. 574.
575. 701. 797. 8»2. 888. 889. 908. 904.
— Analyt. post. 252. 271. 272.
— Analyt. prot. 182.
— Ethic. 201.
— KaUgor, 162. 575. 862. 878. 876. 877.
— Mechan. Quaest. 254—256.
— Metaphys. 86. 102. 154. 158. 160.
168. 169. 174. 215. 258.
— Physica 161. 162. 203. 204. 258. 409.
455. 504.
— Problem. 247. 253.
— Sophist. 198.
Aristoxenus von Tarent 158. 157. 257.
544.
Ariihmetica (Göttin) 627. 567.
Arithmetik = ZaMentheorie 156. 225. 252.
Regiiter.
917
Arithmetik des Boethius 670. 676. 676.
677. 678. 679. 680. 683. 687. 724. 799.
842. 860. 866. 866. 862.
&Qt&lirj;vi%d des Diophant 466.
Arithmetica speciosa » Buehstahenredi'
nung 478.
Arithmetik (praktische der Araber) 704.
716. 729—730.
— (spekulative der Araber) 704. 716.
756.
Arithmetisches Dreieck 687.
&(fid^lt4>l axTlH€ctoyQa(p^ivtBs 431. 679.
ägt^lUs ^ unbekannte Zahl 470. 620.
723.
Arjuna 612.
Arkadius 496.
Arneth 263. 291. 660. 657.
aQxidtov 386.
Arsamites == Archimed 706.
Arsanides = Archimed 705.
Arsinoe 327.
Artabasdes 513. 614.
Artes liberales 643. 669. 578. 823. 841.
Artictdi 683 802. 804. 840. 841. 846.
862. 863. 881 900. 909.
ägtioi 169.
Äryabhatta 598. 600. 601. 602. 606. 606.
616. 617. 618—621. 623—624. 626.
628. 630. 635. 645. 646. 649. 664.
667. 786.
Äryabhdttiyam 698. 605.
As, eine Gewichtseinheit 626. 830.
Aschbach 792.
Asklepius von Trolles 215. 603.
Aa 763.
Ass = Stellenzeiger 812. 816.
A? Sdgdni 742. 760.
Assassini 775.
Asses 67.
-45 Sidschzi 733. 735. 750—751 787.
As§ifr 711. 897.
Assurbaniptd 122.
Assyrer, Erfinder des Abacus 892. 893.
894.
Ast 429. 459.
Astrolabien 760. 786. 862. 886.
Astrologische Aphorismen Almamurs 907.
Astronomie, Erfindung derselben 32 — 33.
38. 86. 103.
— des Boethius 676—676. 677. 682. 687.
850. 854.
Astronomische Brüche 366.
Asura Maya 699. 600.
Asychis 57.
&aviLnsT(fov 269.
Asymptoten 192. 230. 292. 310. 337. 338.
351.
AUtbeddin = Gydt eddin Alküschi 782.
Atelhart von Bath 718. 891. 906.
— von Bayeux 906
Athbasch 122.
Athen tl9. 178—179. 188—189.201.213.
238. 259. 366. 496. 667. 697. 702.
Athenaeus von Kyzikus 247.
Athefiaeus 326.
AtHius Fortunatianus 297.
Atomistiker 174. 176. 198.
Attalus 840. 841. 427.
Attila 822.
Aufgabe des Pappus 462.
Aufsteigende Kettenbräi^ 71. 478. 818.
Augur 686. 638.
Augustinus 741. 831. 832.
Augustus 467. 641. 643. 663. 696.
Aurülac 843. 847. 866. 867.
Ausmessung der Jueharte 691.
Autolykus 293. 360. 447. 704.
&vThg f<pa 162.
Avieenna 730. 766— 7&7. w>8.
^ttico/l 763.
Axiome 222.
Ayrardus 870.
Azteken 9.
Ägi/pter 20. 32. 33. 47. .'>5--113. 120.
121. 136. 139—140. 146. 169. 163.
166 170. 178. 184. 186. 206. 216. 216.
269. 271. 276. 310. 319. 328. 329. 381.
394. 404. 407. 426. 465. 464. 604. 622.
604. 616. 620. 635. 637. 643. 647. 661.
717. 718. 723. 727. 728. 756. 788—792.
.818. 876. 893.
Ägyptischer Aufenthalt des Anaxagoras
189. 190, des JOemokritus 160. 191.
192, des Eudoxus 150. 216. 238, des
Piaton 160. 215, des Pythagoras 148
—151. 189. 644, des ThaUs 136. 138
—141. 189.
Ähnliche Winkel 138. 140.
— Zahlen 185. 224. 267. 270.
Ähnlidikeit 97. 99—101. 113. 214.
Ähnlichkeitspunkte 462.
Ärzteschulen der Nestorianer 696. 701.
Äthiopen 12. 65.
Babylonier 10. 11. 19—51. 120. 132. 133.
146. 151. 169. 167. 178. 181. 186. 238.
361. 404. 416. 432. 459. 526. 600. 603.
608. 609. 613. 616. 634. 643. 646. 666.
668. 676. 689. 697.
Babylofiischer Aufenthalt des Pythagoras
151—152. 186. 238.
Sachet de Meziriac 466. 472.
Badie = Kubiktcurzel (sumeriBch) 27.
Baehr 640.
Bagdad 697. 778.
Baillet 504.
Bailly 60.
Baktrien 20.
Baibus (Feldmesser) 553. 656. 663. 864.
— (Oberwegemeister) 541. 553.
BaldHch 851.
Balsam 333.
918
Register.
Baluze 841. 842.
Banaor 826.
Barhebraetu »» Äbulphanigius 504.
Barlaam 609—610.
Barocius 498. 506.
Biuylides von Tyrus 359.
Baudfidyana 636. 638. 639. 640. 642. 643.
Baume 843.
Bayley (E. aive) 181. 603.
Beda Venerahüia 527. 826—830. 831.
832. 834. 839. 841. 842. 846. 899.
Beer (E. E, F.) 128.
Befreundete Zahlen 167. 225. 627. 735.
739. 793. 805.
Behd Eddin 718. 784—786. 812.
Beiger 502.
Belisar 568.
Btioo 88.
Belzoni 108.
Benary 9.
Benecke 217.
Benedict von Nursia 568. 569. 826.
JJ«n/cy 696.
Berenike 336.
JJer^«" 328. 362.
Bergh 487.
Bemard 344.
Bemdinus 867. 871. 880—886. 887. 890.
894. 898. 902.
Bemhardy (G.) 327.
JB«mo 843.
Bemward von HüdesTieim 855.
Berosus 42. 60. 145.
5gf<tn 21. 40.
Bertrand (Jos,) 669.
Beruhrungen des Apollonius 343. 345.
448. 462. 453.
Beschränkung des Zdhlenhegriffes 23. 126.
183. 672.
Besih&rn 736.
JJeta als Beiname 329.
JBet^mann 879.
Bewegungsgeometrie 209. 227. 300. 330.
346. 363. 370. 734. 761.
Beweisführung durch Anschauung 113.
140. 143. 656. 680. 744. 746. 754. 763.
Bezold (^C; 12. 19. 27. 28. 47.
Bhaskara Äcdrya 698. 599. 600. 608.
616—619. 623. 625. 626. 627. 628. 630.
631. 632. 633. 639. 653—665. 659—660.
680. 725. 744. 745.
Bhatta Utpala 600.
Bhaü Daß 699.
Biancani = Blancanus 252. 263.
Bianchini 467.
Biblisclie Schriften 16. 23. 24. 34. 35.
44. 48. 49. 60. 56. 122. 126. 824. 835.
Bienayme 169.
Bienenzellen 740.
Biering 211.
Biematzki 181. 664. 670. 671. 674. 679.
083 684. 685. 687. 688.
Bikelas 605.
BiUeter (Gustav) 561.
Binarsystem 10. 676.
Binomialkoeffizienten 687. 777.
Binomiah 270. 348.
Björnbo {Axel Anthan) 411. 412. 803.
908. 909.
Biot (Ed.) 664. 665. 666. 673. 674. 677
688.
— (J.) 39
Birs Nimrud 38.
Biscop 827.
Bissextiles Jahr 540.
Bloss (F.) 194. 211. 216. 219. 295, 408.
Blume 632. 664.
Bobhio 675. 826. 863. 854. 861. 866.
Boeckh (A.) 128. 161. 166. 176. 184.
248. 336. 408. 409.
— (L.) 285.
Boeihius 165. 429. 526. 568. 664. 670.
573-690. 692. 724. 823. 824. 825. 832.
842. 846. 849. 852. 853. 858. 862. 873.
875. 877. 886. 896. 899. 900. 908.
Boethus 409.
Bogenahschluß von Kolumnen 806. 880.
892. 898. 900.
Bogetilinien 212. 231. 243.
Boissier 642.
Boissonade (J. F.) 500.
Bolaner 10.
Boll (Franz) 415.
Bombelli (Bocco) 622. 523. 627. 629.
Bonafilius 856.
Boncompagni (Prinz Baldas) 415. 588.
711 und häufiger. 794. 803. 804. 879.
891. 898. 907. 908.
Bongo (Pietro) 4.
Bonjour 408.
Bopp (Karl) 576.
Borchardt (Ludwig) 99. 101. 109.
Bord von Barcelona 847. 849,
Borghorst (Gerha,rd) 468.
Bosmans (Henri) 682. 797.
Brdhnanas 595. 797.
Brahmanismus 696.
Brähma-aphuta'Siddhdnta 698. 699.
Brahmagupta 598. 600. 608. 616. 619.
623. 626. 628. 630. 646—653. 699.
Brandes 408.
Brandis (Ch. A.) 254.
— (J.) 30. 42.
Brandt (Samuel) 573. 575. 576. 679.
Braunmühl (Adalbert von) 362. 412. 419.
423. 657. 713. 736. 738. 746. 761. 779.
783. 796.
Brennpunkte 339. 344. 452.
Brennspiegel 326. 344. 354. 502.
Bretschneider 135. 136. 145. 146. 174.
178. 179. 185. 191. 194. 196. 197. 201.
202. 203. 210. 227. 280. 231. 237. 240.
246. 248. 360. 410.
Brockhaus 603. 638.
Brockmann 573.
Register.
919
Bruchrechnungstahdk 586. 689.
BruchzerleaungstabdU 62—70. 76.
— , Entstenufig derselben 66—67. 70.
Bruchbrüche 813.
Brüche 12. 23. 31. 43. 61. 68. 70. 84.
86. 128. 166. 187. 395. 467. 626. 626.
531. 686. 587. 613. 614. 718. 762. 813.
830. 874. 912.
— , aussprechbare 68. 718. 764.
Brugsch 73. 74. 82. 98. 100. 104.
Brunck 461.
Brunnenaufgaben 391. 462. 619. 837.
Brysan v<yn Berakiaea 203. 204. 271.
Bubnov (Nicolaus) 846. 847. 859. 862. 869.
Buchbinder (Fr.) 282.
Buchstaben zur Bezeichnung unbekannter
Größen 206. 253. 347. 456. 470. 620.
804. 815.
Buddha 612.
Buddfiismufi 696. 603. 666. 668.
Buchet (C.) 477. 478.
Büdtnger 848. 850.
Bürk (Albert) 636—639. 641.
Bugia 807—808.
Bujiden 741. 774.
Bullialdus 434.
Bungus 4.
Bunte 296. 326.
Buramaner 10.
Burqess 599.
Burja 254. 255.
Burnell 604.
Busiris 149. 150.
Busse (A.) 601.
Buzengeiger 308.
Byzanz 119. 201. 392.
Cabasüas 609.
CaecUius Africanus 662.
Caesar 426. 539—541. 642. 561.
Calculi 529. 826.
Calculus des Victorius 531. 566. 846.
Caltis 893 figg.
Camerer i85.
Canacci (Rafaele) 722.
Canarische Inseln 422.
Cappelle (J, P. »an; 254. 256.
Caraibische Sprachen 9.
Cardo 534. 538.
(l'arra de Vaux 366.
Co^n 713.
Cassiodarius 366. 428. 548. 663. 664.
568—672. 573. 575. 676. 578. 679.
823. 825. 831. 896.
Castelli (Benedetto) 269.
Caturveda b. Frithudaka,
Caussin 514. 701. 789.
Cavedoni 537.
Cean = 2;eÄn 846.
Cedrenus 32.
Celentis 893flgg.
Celsus, Ingenieur 663. 665. 668. 564.
— Jurist B. Juventius Celsus.
Census 731. 768. 804.
Ceylon 603. 604. 606,
jC« = Strick (ägyptisch) 104.
Chafra 56.
Chaignet 148. 150. 159. 161. 162. 166.
174. 176. 184. 236.
Chaicis 51.
Chaldaea 20. 21. 33. 39. 66. 86.
Chaldäer = Sterndeuter 45. 632.
(Jhalif= Nachfolger 694.
Chalkidius 846. 861.
Chalkus 132. 133. 896.
Chambers (J.) 509.
Chummuragas 31.
ChumpoUian 82. 83.
Chang- Dynastie 664.
Charistion 424. 704.
C/ia«2e$ (Michel) 278. 284. 288. 336. 348.
420. 449. 460. 462. 490. 688. 690. 660.
713. 789. 790. 891. 894. 909.
Cheoü ly 669.
C^ott stn 664.
Cherbonneau 807.
Cheroboskos 122.
Chinesen 10. 16. 24. 41. 48. 88. 181. 456.
634. 663—690. 693. 744. 783
CJliin tsong 666.
Chioniades von Konstantinopel 509.
Choiseul'Daillecourt (de) 906.
Chosrau 1 Amschnrwdn 603. 697. 702.
Christ 531. 846. 846.
Christensen 285.
Christc^h Columbus 794.
(JJironik von Verdun 863.
Chrysippus 256. 362.
Chrysococces 609.
Cäm/u 66.
Cice70 120. 192. 216. 296. 308. 409. 465.
639. 542. 561. 664. 578.
Cfssoide 350. 354—856.
Claudius 467. 696.
Clausen 208.
Clavius 181.
Clemens Alexandrinus 104. 191.
CZerva/ 872.
Cod«r ^rccrtanw« 661—560. 661. 664.
861. 866. 866.
Colebrooke 467. 699. 608. 611. 616—619.
621—633. 636. 646—649. 661. 663—667.
659. 698.
Columban 826. 853.
Cölumella 547—549.
Commandinus 183. 287. 423. 444. 498.
Computus = Rechnen 824. 834. 867.
— paschalis s. Osterrechnung.
Condtoide 195. 196. 350. 446. 688.
Concüium von Nicaea 672.
CJonfudus 668. 664. 666.
ConstantinuH von Fleury (oder von Mici)
849. 861. 858. 859. 868. 869—870. 871.
880.
920
Register.
Canzt 176.
CoroBpradie 9.
Carau9tu$ 666. 864.
Cordova 798. 848.
Consen 624. 626.
Cosinus 668. 796.
Cossali 468. 728.
Orassitudo 866.
Oi&rtfm 882.
Qridhara 600. 618. 624. 626.
Oristini 686.
CV(!?rkfrt f TT.; 888. 368.
Cruma 687.
()ü(2ra« 696.
QulvasAtra 686—646. 766.
Curtze (Max) 872. 886 nnd häufiger.
468. 676. 648. 734. 786. 780. 798. 799.
889. 867. 869. 860. 862.
Cyrülus 496.
D.
JJaedala, die großen 36.
Daedalus 151. 168. 862.
Damen 9. 12.
Dajacken 12.
Bamascius von Bamcuikus 601. 602. 702.
Damasias 187.
Damaskus 464. 696. 697. 701.
Daraga 181.
Daten des Archimed 807.
— des Euklid 282—286. 448. 489. 600.
790. 908.
Decantare 631.
Dechales (Miüiet) 146.
Decimana quintaria 684.
Dedmanus 684. 635. 538.
Decker 186.
Decussatio 624.
iad6ntva 282.
Dw ^/oī; 287.
2>e5cc^•e rTT; 624.
Definitionen 219. 222. 277 298. 307.
861. 366. 367. 382. 387. 388. 393. 664.
666. 570. 660. 661. 727. 764. 766. 860.
861. 864.
De Gelder 434.
Degree 181.
Delambre 789. 794.
Ddisches Problem 212. 232. 238.
DelisU 869.
Delitzsch 25. 31. 36.
Demaratus von Korinih 528.
Demetrius von Alexandria 414.
Demme 222.
Demokritus von Äbdera 104. 136. 160.
151. 190. 191—193. 198. 244. 264.
381. 385.
Demotische Schrift 81.
Dendera 104.
Descartes 452.
Determination s. Diorismus.
Detlefsen 178.
Dezimalsystem, Ursprung desselben 7. 8.
263.
duelQBöig 287.
Diameter = Diagonale 208. 218. 376.
Diametralzahlen 486—437. 460. 476. 766.
Dieb 186. 202.
Dieterici 178 616. 788. 740.
Differentia 685. 716. 802.
Di>7i 9. 688. 802. 804. 842. 852. 853.
881. 900. 909.
Digits 583.
D&aearchus 257. 293. 381
Dinostratus 196. 197. 248. 246 — 247.
301. 306.
Diodor, Gescfiichtssdtreiber 33. 38. 46.
66. 67. 108. 151. 190. 191. 296. 326.
Diodorus, MaihemeUiker 443.
Diogenes Laertius 86. 118. 132. 186.
137. 138. 141. 146. 161. 162. 153. 164.
179. 180. 190. 191. 192. 193. 198. 213.
214. 216. 220. 229. 238. 249. 320.
Diokles 309. 350. 364—355. 356. 363.
407. 426.
Diokletian 441.
Dionysius von Syrakus 216.
— , bei Heron yorkommend 388.
— , Freund des Diophant 469. 471.
Dionysodorus 380. 411—412.
Diophantus von Alexandria 361. 463 —
488. 492. 493. 496. 507. 510. 557. 564.
601. 620. 621. 622. 624. 626. 628. 696.
704. 706. 728. 725. 726. 742, 752. 755.
768. 770. 772. 773. 813. 815.
Dioptra 257. 298. 366. 381. 382—383.
537. 542. 544. 750.
Diorismus 208. 209. 219. 237. 260. 266.
309. 341. 402. 403. 749. 772 — 773.
776.
Dirham 720. 804.
Dirichlet 687.
Divisio aurea = gewöhnliche Division
891. 902.
— ferrea =■ komplementäre Division 891.
902.
Division zur Bildung von Zahlwörtern
benutzt 12.
— 72. 289. 493—494. 612. 671. 717. 761
—762. 812-813. 846. 868. 874. 879.
881—883. 887. 899. 901. 902. 912.
Diwdniziffern 709.
Dodekaeder 174. 175. 176. 177. 237.
DöHinger 849.
Dominicus Oondisalvi 797.
Domitianus 550. 551.
Domninos von Larissa 500.
Doppelmayr 468.
Dorer 119.
Dorischer Dialekt 296. 809.
Dosiiheus 297.
Dragma 804. 901.
Drei Brüder 738—734. 799. 908.
Dreieck 46. 93. 111. 138. 141—144. 145.
262. 307. 413.
Register.
921
Dreieck, gleicheehenkliges 93. 97. 111—
112. 188. 148. 176. 871.
— , gleichseitiges 148. 177. 649. 666. 686.
866—866.
Dreiedce, aneinanderhängende 890. 899.
662. 668.
Dreieckszahl 169. 168. 169. 248. 249. 262.
812. 482. 460. 486. 628. 688. 840.
866—866.
Dreiteilung eines Winkels 47. 196—197.
800. 816. 868. 446. 786—786. 749—761.
769. 778.
Dreiteilungen 429—480.
Dresler 211.
Dridha 628.
Draysen 668.
Dschdbir ihn Äflah 722. 794—796.
Dschadwal 812.
Dscha'far a? Sädik 722.
Dschahala 816.
Dschaib 787.
DschamscMd s. Gijdt eddin Alkdschi.
Dschibrü ibn Braehtischü' 696.
Dschidr 728. 724. 804—816.
Dsckingizchdn 778. 821. 822.
Dschundaisdbur 696. 701.
Düker 866.
Duella 680.
Dümichen 104. 106. 110.
DümnUer 881. 882. 887. 841. 887.
Dürer (Älbrecht) 641.
Duhalde 88. 670.
Duhamel 220.
Duhem (F.) 264. 294. 424. 704. 909.
Duodezimalbrüche 626—628. 680. 661.
666. 830. 868. 869. 874. 877. 881. 888.
884. 887. 891. 899. 901. 909. 910.
Duodezimalsystem 10. 11. 881.
Dupuis 222.
Dupuy 602.
Durcüchnittspunkte von Kurven 840.
Duris 186.
a6vaiHg 207. 470. 723. 767.
E.
Ebene Örter 248.
Eberhard 616.
Ebers 68.
Edfu 110—112. 886. 894. 896. 646.
Egbert von York 881. 840.
iyyutta 810.
Eglaos 827.
ddog » Glied 478.
^ectura 666.
Einheit keine Zahl 168. 166. 486. 607.
687. 716—716. 784.
Einmaleinstabelle 29. 86. 481. 681. 679.
766^846. 847. 881.
Eisefddhr (August) 28. 69. 82 s. Papy-
rus Eisenlohr.
EkbcUana 88.
ixfXrfiMa 889. 666.
ixslvoq i<pa 162.
Elam 81.
Elementardreieck 176. 177. 184. 226.
Elemente der Arithmetik 429.
Elementensihreiber aufler Euklid 201.
202. 210. 211. 287. 247. 260. 261. 274.
881. 414.
Elfeek 878.
Elferprobe 766.
Elieser 44.
n»! 826.
Eüatbau 81.
misrer^ 168.
Ellipse 98. 171. 244. 288. 288. 290. 291.
806. 809. 810. 886. 490. 600. 788. 862.
ilißaSov 666.
Embadum 666.
Emir Abü'l Wafd 416.
Empedökles von Agrigent 174.
Endo (Toshisada) 689.
Eneström (Gust.) 716. 787. 768. 891. 912.
Engelbert von Lüttich 889.
Engländer 16.
Ennodius 678.
Enzyklopädien 648. 666. 669. 676. 828.
J^jMiitfe 672.
Epanthem des Thymaridas 168. 286. 466.
462. 624.
Epaphroditus 662. 663. 666—660. 686.
619. 768. 868. 864. 866. 866.
ifpoiixov 879.
iq>oäog 168.
Epigonenzeit 849. 868.
f^'^amme algebraischen Inhaltes 286.
286. 812. 462. 463. 466. 510.
ijttiiOQiov 166.
Episemen 127.
Eratosthenes von Kyrene 211—212. 213.
226. 281. 232. 233. 234. 243. 245.
267. 260. 293. 827-383. 849. 860.
863. 360. 881. 409. 446. 448. 861. 886.
ErbUilungen 662—663. 728—729. 799.
838.
Erde, eirund 648.
Etrusker 522. 623. 524. 532. 537. 548.
Etymologien lateinischer Zahlwörter 824.
Eudemus von Pergamum 834. 340.
— von Ehodos 118. 185. 138. 144. 162.
171. 193. 208. 204. 205. 226. 227. 229.
257. 881. 848.
Eudoxus von Knidos 151. 196. 212. 231.
282. 288. 284. 288—248. 248. 260. 269.
272. 275. 276. 277. 298. 830. 356. 862.
407.
Euklid von Megara 261. 590.
— 110. 188. 144. 165. 180. 206. 246.
260—294. 297. 801. 304. 305. 315. 316.
380. 382. 333. 334. 335. 339. 341. 348.
849. 358. 360. 880. 881. 882. 387. 406.
407. 411. 413. 420. 429. 447. 448. 452.
456. 462. 466. 489. 664. 567. 571. 681.
586. 590. 697. 657. 696. 702. 704. 725.
749. 770. 780. 790. 908.
922 Register.
Euklidische Form 275—276. 896. 487. Ferdinand der Katholische 794.
— Irrationalitäten 270. 348. Fermat (Peter von) 466.
Ff^ids Elemente 141. 142. 161. 164. Ferramentum 537.
166. 168. 180. 181. 182. 188. 190. 192. Ferri^es 842.
220. 287. 241. 261 — 278. 306. 848. Festa 166. 469.
368. 869. 386. 887. 418. 438. 445. 446. Feuertelegraphie 440.
447. 448. 462. 461. 486. 487. 491. 665. Figar 698. 699.
667. 671. 676. 677. 680. 681. 688. 628. Fi(fur der Braut 786.
639. 661. 666. 667. 702. 706. 727. 786. —der Gesundheü 178. 206.
746. 768. 764. 766. 770. 777. 780. 798. Figura alkata 786.
798. 861. 906. 908. 911. Figurenbezeichnung 98. 163. 206. 206.
Euphranor 289. 647. 670. 721. 724—726. 727. 784.
Euripides 188. 212. 688. Figuren der geometrischen Kunst 676.
Eustathius 181. 681-. 682.
Euting 126. Figurierte Zählen 481. 679.
Eutoktus von AskcUon 118. 143. 211. FthHst 693. 701. 708. 704. 718. 736
226. 227. 229. 231. 232. 234. 244. 293. 748. 796.
296. 301. 809. 318. 330. 384. 346. 360. Finalbuchstaben 126. 470.
854. 368. 871. 372. 407. 412. 424. 443. Fingerrechnen 6-7. 41. 86-87. 180.
493. 602. 764. 912. 514—616. 627—628. 629. 667. 609
Evolute 342. 71q 334. 826. 829. 830.
Ewald 9. Fingersprache 830.
Examios 136 • Fingerzahlen 8. Digiti,
k^xocxa 420. Firmicus Maternus 627. 826.
Exhaustton 204. 221. 242. 247. 269. 272. Fischer 45.
306. 307. 810. 321. Flächenanlegung 171. 174. 176. 262.
Experiment, mathematisches Ib^.ilQ. im. 266-267. 288. 289—291. 333.
181. 187. 240. Flächenberechnung 28. 92—98. 110—112.
iv»vyga{kiux6g 158. 153. 271. 799.
— falsche 172—178. 649—660. 740.
P. Flächei\zdhl 168. 168. 267. 270. 482. 824.
Faber Stapulensis 676. Flauti 280
^"^t^"'^,^'"- ''"• ^^''- '''• '"'"• *"• Flügel 788: 789. 761.
491. iVi. Flwkarten 642.
Äi6r!67-778. ^^^tr "^ '''■ "'-*"• '''•
Fälschung der Geometne des Boethius jp^„\:„J„ ^au: ana
224. 687. 688. 690. 766. 802. 828. 887. ^Zi^lZ^i fn
839. 861. 864. 867. 868. 874. 878. 900. ^^""'^^^^J^ ^^' ^ , ^^ ^^ ^^ _
Fälschungeti im IL S. v. Chr. 427. ^"'^^Z^aT ^'^''''' ^^^ ^^' ^^"®^-
FaktorenzaJil 226. -J % . ,
Falscher Ansatz, doppelter sn^SU. SdS. ^"""^'Z ?^ ^^***^ 876-878. 897.
782—733. 808— ÄO. Französische Bauernregel 528.
— Ansatz, einfacher 76. 78--79. 96-96. ^?'11^?^**.?; ü* .^?®-
480—481 616 618 Fnedlein (Gottfried) 41. 107. 120. 186
Falsche Sätze scherzweise aufgestellt 310. ?^f \^Äf ; ^^?- ^^*- -^^- ^^^' ^*®-
— Umkehruny eines Satzes !ss. ^^^- ^^^- ^^^' ^^^' ^^^- ^^^- ^^^' ö22.
Far' 763 ^23. 626. 631. 663. 677 und häufiger.
Favaro (Antonio) 269. 636. 667. ^^^- ^^^ ®28. 866. 879. 901.
Favorinus 146. Friedrich IL 778.
JFWi/e» allgemeiner Methoden 849. Frobenius Förster 886.
Feldereinteilung 28. 68. 92. 828 688 ^rontinus 560. 661. 662. 666. 686. 690.
660. 864.
Feldmesser 144—146. 883. Fünfeck 49. 109. 177—179. 266. 273.
— von Byzanz 144. 864. 606. 610. 376. 398.
Feldmeßkunst 294. 381—886. 406. 488 Fünfeckszahl, falsch berechnet 667—668.
—440. 606. 610. 682. 636—638. 642. 686.
661. 664—666. 667. 676. 677. 688. 786. Fu h% 48. 663. 664. 676. 677.
799. 860. 862. 863. 864. Fujisawa (B.) 689.
Feldmeßwissenschaft 881. 406. 474. 610. Fulbert von Chartres 846. 878. 889.
642. 686. 687. 860. Fulco 848.
Fenchu 121. ^ Fulda 841. 842.
Register.
923
Gärtnerkanstruktion der Eüipse 783.
Galen, der Arzt 214.
Gaienus = Pedifisimus 510.
Gcdüei 269.
Gailier 176.
GäUus 826.
Ganega 600. 618. 635. 654. 878.
Gangädhara 600.
r7ar/;P 260. 702. 780,
Gauhä 88. 668. 675. 680.
Gaufi 156. 817. 687.
Gazzera 537.
ryeft«r 722. 794.
Geherscher Lehrsatz 796.
Gedächtnisverse 808. 804.
Gegtnhauer (Leopold) 893.
yt'yoi'C = er &7äA^e 261.
Geiger (Lazanis) 5.
GeUnkzahlen s. ar^tcu^t.
Gellius Auliis 542.
Orftwi 297. 322. 828.
Ö«/i5<r 187.
Gematria 43—44. 125. 126. 462. 567.
Geminus von Bhodos 118. 142. 144. 156.
244. 245. 884. 885. 850. 856. 867. 406
--411. 416. 425. 499.
Genocchi (Angelo) 786.
Geodäsie unterschieden von Geometrie
252. 271. 298. 350. 881.
Geographie 328. 422.
Geographische Länge und Breite 362.
883. 422.
Geometrie^ Erfindung derselben 55. 57.
59. 86. 102. 108. 135. 889. 858.
— des Boethius 571. 576—590. 850. 854.
873. 874. 876.
GeomeUrische Algebra 285.
Geometrischer OH 144. 221. 229. 248.
249. 280. 281. 282. 831. 340.
Geometrische VersintUichung von Zahlen
163.
Gerade Zahlen von ungeraden unter-
schieden 64. 159. 160. 161. 224. 480.
507. 824.
Gerad und unqerad, ein Spiel 159.
Gerald 847. 856.
Gerbert, Abt von St. Blasien 844. 899.
— (Papst Sylvestern.) 576. 677. 582.
847—878. 879. 880. 885. 886. 887.
889. 891. 894. 897. 908. 904.
Gerbertista 897.
Gerbillon 667.
Gerhard von Cremotia 415. 736. 737. 794.
796. 800. 808. 805, 907—908.
Gerhardt (Carl Immanuel) 218. 444. 445.
460. 511. 514.
Gerland 894. 898. 899. 902. 910.
Gerling 198.
Gernardus 909.
Geschichte der Mathematik 61. 118. 185.
249. 257. 889. 407. 890—891. 899—900.
Gesellschaftsrechnungen 77. 810 — 812.
619. 688. 684.
Gesenius 707.
Gesetz der Größenfolge 14. 21. 25. 86.
44. 88. 84. 120. 128. 124. 126. 127.
672.
Geicichtezieher 869. 450.
Ghana 616.
Gijdt eddin AUcdschi 781—783. 788.
Crübert Maminot von Lisieux 889.
GHes 825. 834.
(}inzel (F.) 87.
(riordano (Annibale) 449.
Gizeh 82. ,
Glaisher 453.
Glaukos 211. 212. 688.
Gleichgewicht der Ebenen 828.
Gleichheitszeichen 75. 472. 816.
Gleichungen ersten Grades mit einer Un-
bekannten 74. 396. 518. 623. 838.
— ersten Grades mit mehreren Unbe-
kannten 168. 285—286. 624. 778.
— zweiten Grades mit einer Unbekannten
263. 266. 285. 868. 405. 460. 473—477.
617. 622. 624—626. 719—721. 768.
— zweiten Grades mit zwei Unbekannten
95—96. 284.
— höherer Grade, die auf den zweiten
zurückführbar sind 771. 778.
— dritten und höheren Grades 809. 814
—816. 364. 477—478. 627. 686. 687.
749. 750. 778. 778 781—788. 787. 788.
— unbestimmte ersten Grades 812. 478.
628—680. 685-887. 689. 887. 838.
— unbestimmte zweiten Grades 438. 478.
479. 480. 615. 880—633. 724. 772
— 778.
— unbestimmte höheren Grades 478. 752.
785.
— unbestimmte mit mehr als zwei Un-
bekannten 680. 685—687. 689. 752.
Gnomon 50. 145. 161-168. 190. 192.252.
432. 494. 536. 544. 681. 639. 644. 721.
764. 769.
Görland 203. 252.
Göthe 183.
Goldner SchniU 178—179.240-241. 263.
265. 292.
Goldne Zahl 572.
Golenischeff 59.
Goodwin 89.
Gordianus 457.
Goten 11.
Gow 125. 222. 229. 448.
Grade der Kreisteilung 87. 47. 50. 181.
860. 361. 866. 416. 681. 682.
Gradmessung 828. 860. 718. 886.
Graeko-Italer 521—528.
Gram 675.
Graphische Methoden 862.
924
Register.
Gregor der Große 666. 826.
— V. 848. 868.
Gregoras (Ntkephoroa) 608.
Gregory 260. 262. 276. 287. 298.
Griechen 11. 12. 16. 16. 38. 42. 44. 61.
86. 89. 117—617. 621. 628. 628. 686.
641—648. 644. 646. 664. 669. 670. 601.
619. 620. 621. 622. 624. 627. 676. 690.
701—706. 722—727. 729. 786. 749.
764. 768. 770. 778. 776. 784. 821. 822.
827. 860. 866. 886. 890. 891. 896. 896.
Grifßh (F. LI) 69.
Gröfienverhältnüse menschlicher Körper-
teüe 214. 644. 740.
Groma 686—687. 642.
Gromatici 637. '
Grundzüge des Ärchimed 320. 821.
Ch-uppe 166. 286.
Gruppierung von Zahlzeichen 21. 88.
Grynaeus 498.
Guamerius 866.
Guhdrziffem 712. 811. 816.
Günther (Siegmund) 40. 179. 816. 897.
468. 616. 638. 636. 669. 768. 866. 872.
Guido von Arezzo 886.
Guichart 181.
Guignes (de) 88. 676.
Guidinsche Begd 460.
Gundermann (Gotihold) 711.
Gundobad 673.
Gurke 786.
H.
Haas 697.
Hahakuk 44.
Hadrian 461. 489. 662.
Hadschi Chalfa 729. 776. 810.
Hädschddsch ibn lüsuf ibn Matar 702.
Haebler 38. 60.
Hafy ihn 'Äbdalldh 701.
Hagen 886. 839.
Hak = AbschniU ägyptisch) 97. 111.
HaJcimitische Tafeln 788— 789i
Halbieren 86. 819. 717. 761. 764.
Bdlhidada 862.
HaUey 843. 344. 412. 490.
Halma 277. 396. 406. 414. 491 und
häufiger.
Hammer- Purgstdll 741.
Handasa = Geometrie 809.
Han- Dynastie 666. 686.
HanM (Herrmann) 4. 7. 10. 18. 128.
126. 148. 188. 186. 194. 208. 208. 219.
220. 284. 260. 277. 420. 468. 467. 479.
634. 647. 660. 698 701. 722. 728. 782.
786. 742. 748. 760. 769. 782. 786. 789.
794. 836.
Han^(d'ob 888.
Harmonikaien 490.
Harmonische Proportion 166. 888.
— Teüung 388. 490. 491.
Harpedonapten , agnsiovanrai »» Seil-
wanner 104. 192. 881. 886. 637.
Harun ar-Raschid 696. 696. 700. 702.
Hatto, Bischof von Vieh 847. 848. 849.
Hau « Haufen (Sgyptisch) 74. 896. 466.
466. 620. 728.
HawdH 816.
Hayashi (Tsuruichi) 689.
Heath 192. 299. 463. 470. 471.
Hebelgesetz 266.
Hebräer 20. 44. 122. 126—127. 146. 173.
412. 427. 666. 668. 709. 728. 828.
Heiberg (J. L.) 202. 248. 262. 264. 260
und häufiger. 278. 288. 292. 293. 296.
296 und häufiger. 299. 804. 807. 813.
817. 881. 383 und häufiger. 346. 864.
866. 892. 411. 414. 448. 468. 489. 490.
499. 602. 676. 679. 688. 786. 912.
Heiric von Äuxerres 842.
Hdbert von St. Hubert in den Ärdetmen
889.
Helceph 906.
Helikon 232.
Heilmund 19.
Heng ho cha » Sand des Ganges 669.
Henry (C.) 492. 906.
Heraklides 296. 384.
Heriger von Lobbes 869. 889.
Hermeias 600.
Hermann (Gottfried) 665.
— //., Erzbischof von Köln 877.
Hermannus Alemannus 888.
— Contractus 869. 886—889. 891. 894.
900. 904.
Hermotimus von Kolophon 248.
Herodianische Zeichen 120 — 121. 125.
129. 133. 191.
Herodianus 120.
Herodorus 203.
Herodot 36. 88. 39. 60. 55. 67. 88. 89.
92. 102. 104. 130. 182. 136. 137. 145.
160. 319. 863.
Heronische Frage 368—868.
Heronas 868. 603.
Her(m der Altere == Heron von Alexan-
dria 368.
— der Jüngere = Feldmesser von By-
zanz 367. 606.
— , Lehrer des Proklus 368. 497.
— metricus 366. 541.
— von Alexandria 102. 119. 162. 177.
224 227. 231. 266. 297. 318. 862. 863
-406. 408. 409. 411. 412. 423. 426.
429. 440. 443. 460. 454. 466. 462 465.
466. 474. 480. 496. 499. 510. 541. 546
—547. 564—556. 561. 664. 667. 686.
624. 637. 643. 646. 647. 648. 649. 652.
668. 654. 657. 706. 726. 727. 784. 750.
764. 785. 837. 868. 893.
Herons anderes Buch 392—894. 404.
— Metrica 318. 862. 864. 870—882. 386.
892. 898—894. 899. 548. 647. 788.
Register.
925
Herons Sammlungen 177. 224. 242. 297.
856. 888—892. 898—894. 896—406.
484. 488. 489. 618. 648. 647. 727. 887.
— Dreieeksformel 871. 874—876. 882.
885. 889. 890. 897. 402. 556. 690. 646.
649. 728. 784. 764. 799.
Herackd (Clemens) 661.
Hertzherg 496. 497. 602.
Herzog 122.
Hesychius 86.
Heteromeke Zahl 160. 163. 188. 184.
Hiao wen ti 665.
Hidschra 695.
Hieratische Schrift 81. 88-85. 121.
Hieroglyphen 81—88. 121.
Hieron 295. 811. 326.
Hieronymus von Bhodos 188.
— 880.
Hiksos 57. 58.
HüfsKiiikd 789.
Hügard (Alfred) 122.
Hiüer (Eduard) 160 und h&ufiger. 267.
327. 880. 484.
Häprecht (H. V.) 28—29.
Himly 84.
Himmelsglobus 326.
Hineks 24. 26.
Hindi = indisch 809.
Hindukusch 20.
Hin-lhjfiastie 664.
Hinzuzufügende Zahlen 471.
Hipparchus 39. 256. 861—868. 364. 365.
367. 377. 378. 383. 899. 407. 408. 411.
412. 413. 414. 416. 422. 496. 748.
Hippasus 175. 286. 239.
Hippias von Elis 146. 193—197. 198.
246. 306.
Hippokrates, der Arzt 194. 597. 701.
— von Chios 194. 200—218 214. 219.
226. 242. 247. 269. 271. 272. 300. 652.
790.
Hippolytos 461.
Hippopede 196. 242. 248. 358. 856.
Hischdm 794.
HiUig 44.
Hoche (Kichard) 158 und häufiger. 495.
496. 508. 686.
Hochheim (Adolf) 708 und häufiger. 762.'
Höhenmessung 267. 862. 883. 440. 556
—557. 648. 868. 864. s. Schatten-
messung.
Hoeiti 665.
Hoernle (Budolf) 598. 614. 616.
Hofmann (G.) 187.
Hohlfdd (P.) 188.
Homer 121. 180. 181. 151.
Hoppe (Edmund) 363. 866. 645—547.
Horapollon 84. 110.
Horatius 10. 286. 299. 561. 590.
Hörn (W.) 238.
Horner 685.
Horus 110. 157.
Ho tu 674. 675.
HwAsel 886.
Hrahanus Mawrus 841—842.
Hrotswitha von Gandersheim 856.
Huaetberct 828.
Huäng ti 664. 669. 671. 674. 677.
Hudy ndn ts^ 664.
Hugo, bekannt mit Gerbert 870.
— ((rraf Le<ypold) 175.
— Capet 848. 854.
Hüldgü 778.
Hultsch (Fr.) 128. 129. 188. 164. 192.
222. 223. 246. 298. 817. 826. 368 und
häufiger. 411. 441. 442. 448. 444. 447.
450. 460. 492. 498. 502. 505. 586. 545.
553. 561. 724. 731. 767. 828. 912.
Humboldt (Alexander von) 45. 328.
Hunain ibn Ishdk 415. 702.
Hunraih 317. 648.
Hunu = Feldmesser (ägyptisch) 104.
Huruf aidschummal 709. 757.
Hydrostatisches Prinzip 825.
HyginuSy Astronom* hbZ.
— , Feldmesser 535. 586. 563. 699. 601.
— , MilitärschriftsteUer 558.
Hypatia 491. 495—496.
Hyperbel 171. 230—231. 244. 283. 288
290. 305. 809. 385. 751. 759. 777.
Hypotenuse, das Wort 184.
Hypsikles von Alexandria 245. 260. 844.
358—861. 863. 416. 482. 464. 487. 501.
557. 565. 704. 761.
1 bei Figuren vermieden 206. 228. 880.
831. 439. 724—725. 726. 771.
Ibdi « Quadratwurzel (sumerisch) 26
28
Ibn Aladami 698. 701.
Ibn Albannd 805—810. 918.
Ibpi Alhaitam 789—792.
Ibn Alhusain 753~755.
Ibn ÄlmunUm 805.
Ibfi Alsirddsch 772.
Ibn a§-Saffdr 798.
Ibn a^-Samh 793
Ibn Bauträb 708.
Ibn Chaldün 729. 735. 806. 806. 918.
Ibn Challikan 742.
Ibn Esra 730.
Ibn Mnus 788—789. 795.
Ibn Mukla 708.
Ibn Sina =- Avicenna 730.
Ibrahim 780.
— ibn Sindn 749.
Ideler 238. 808. 416. 420. 689. 572.
Igin 893flgg.
Ilchänische Tafeln 779.
lila « außer 815. 816.
Imaginäre Zahlen 402—408. 478—474.
626.
Imbarur 778.
Inkommensurables 268. 277.
926
Register.
Inder 16. 89—40. 346. 427. 466. 467.
610. 692. 696--660. 669. 677. 680.
684. 687. 689. 698. 697—699. 710
—712. 722—728. 782. 739—740. 744.
746. 764. 767. 762. 768. 778. 784. 801.
804. 877. 878. 893. 909.
Indisch' Älexandrinische Beziehungen 427.
467. 466. 696. 699. 600. 606. 609. 621.
622. 624. 688. 648. 646. 648. 649. 668.
724. 740.
Indus 19.
Ine Sin 28.
Innenkreis des rechtwinkligen Dreiecks
666. 686. 689. 690.
Interusurium 661.
Involution 462.
Iran 19.
Iran = Heran 706.
Irenaeus 127.
Iron 366.
Irrationales 29. 94. 147. 168. 164. 181.
182. 188. 188. 192. 198. 198. 201. 218.
223. 286—237. 247. 262. 269—270.
286. 826. 848—849. 474—476. 602.
644. 570. 621. 626—627. 768. 875.
Isadk Anfyrus 609.
Ishta karman 618. 782.
Isidorus, fälschlich angenommeiier Gatte
der Hypatia 496.
— von Alexandria 600. 601. 912.
— von Müet 281. 244. 601.
— von Sevilla 429. 668. 822—826. 828.
831. 886. 887. 842. 846. 901.
Isis 167.
Isisfest 407. 408.
töoi 472. 622. 816.
Isokrates 102. 104. 149-160.
Isoperimetrie 179. 867. 868. 446—447.
649. 706. 740.
Isopsephie 461—462.
i&toqia ngos IIv^ay6QOV 166.
Italien 119. 147.
Ivrea, Handschrift von 879—880.
J.
Jacobs (Friedrich) 461. 462.
— (Hermann von) 82.
Jahjd ibn Chulid 702.
Jahr 87. 77—78. 828—829. 608. 627.
689—640. 670. 677. 681. 775.
Ja'küh Um Tdrik 700.
Jdküt 708.
Jamblichus, Philosoph 61. 118. 181. 166.
158. 166. 167. 175. 188. 202. 218. 288.
832. 482. 466. 468—461. 464. 476. 486.
496. 624. 706. 786. 789.
— Romanschriftsteller 61.
Jan (C. von) 166. 469. 609. 666.
Janus 627. 640.
Japaner 689—690.
Java 607.
Jehova 126. 666.
Jid 668. 787.
Jidrdha 668.
Jiva 668. 787.
Johann XIII. 849.
— XIV. 864.
— XV. 849. 868.
Johannes von Damaskus 464. 696. 702.
726.
— Hispalensis = Johannes von Luna.
— Hispanenis = Johannes wn Luna.
— von Jerusalem 468. 464. 487.
— vofi Luna 800—803. 804. 888. 908.
909. 918.
— Falaeologus 609.
— Phüoponus 8. Philoponus.
— von Sevilla = Johannes von Luna,
Jomard 82.
Jonier 119.
Jonisches Alphabet 121. 127.
Jordanus Nemorarius 911.
Josephus, Geschichtsschreiber 82. 86.
— , der Spanier 866. 870.
— , der M^eise 866.
Jourdain 797. 888. 889. 890. 906.
Jugerum 649.
Julianus s. Salvianus Julianus.
— Apostata 467. 464. 496. 696.
Julien (Stanislas) 668. 671.
Julius Paulus 662.
Junge 808. 811. 912.
Junier 653.
Justinian 602. 603. 606.
Jusuf ibn Harun al Kindi 866.
Juvenalis 627.
Juventius Celsus 662. 668.
Juxtaposition 22. 88. 128. 129.
Jyotisham 89.
K, Zeichen für Cardo 584.
Ka'b 767. 768. 816. 816.
Kabbala 48.
Kddizädeh ar-Eümi 780. 781.
Kaempf 84. 35.
Kaestner 4. 507. 780.
Kahun s Fragmente von Kahun.
xdlafiog 886.
Kalender der Römer 13. 626. 689—640.
Kallimachus 827. 329.
Kallisthenes 38.
Kalpasütra 686.
xa^LnvXai, ygainial 8. Bogenlinien.
Kanghi 668. 688.
Kanishka 696.
Kanon 214.
Kanopus, Edikt von 78. 259. 828—329.
409.
Karana 621. 689.
Karaiheodory 779.
Kardaga 698. 699. 787.
Karl der Große 882. 883. 879.
Karl Martel 822.
ßegiater.
927
Kartiak 82.
Kaasi 81.
Kcissüerdynastie 31.
Kasteneinteüung 696.
Kategorientafd 160. 188. 286.
Kdtydyana 686. 643.
KegelschniU 198. 196.244—246. 288—292.
860. 490. 688. 761. 776. 777.
Kegdsehnittzirkel 281. 244. 868. 761.
Keü 664.
Keüschrift 21. 24.
Kelten 9.
iTcwo/ Eddtn 778.
jETevK^a = i^ ^x xivtgov 699.
iCeou 679.
^e^rfcr 808.
Kerbholz 88.
xctfT« 488—440.
Kettetibruchalgonthmus 267. 317. 318.
437. 628. 630.
Kewitsch (G.) 32. 37.
Khe = ungefähr eine Viertelstunde (chi-
nesisch) 39.
JfTta te6 670.
Kieou tschan = di« neun Abschnitte 670.
674. 682. 690.
KießUng 166. 469.
^*eu lang 669.
Kikuchi {DJ 689.
Kimon 215.
Äin^ yw 679.
Kirchhoff (A.) 127.
iL«u A^oni/ yen 666.
Klammerauflösung 887.
Klamroih 702.
Kleiner Astronom 447. 705.
— Sa«e/ 806.
Kleobuline 136.
Kleopatra 427.
Klosterbihliotheken 569. 677. 580 881.
882. 836. 871—872.
KlosterschtUen 825. 881. 882. 888. 834.
840. 841. 848. 847. 849. 850. 861.
Ä'/tf^f/ (Simon) 266. 461.
Ä'/w^fC 501.
ÄnewcÄtfr 34.
Knoche 183. 237. 241. 242. 346.498. 499.
xoxUa 826.
Kodrus 214.
Koehler 120.
Koeppen 895.
Körperliche Örter 248—249. 448.
Körperzahl 168. 267. 432. 824.
iCoW 10.
xodo/flbvioy 357.
Kombinatorik 249—250. 256—257. 270.
345. :^62. 454. 601. 675. 619. 620.
Kommentare zu Euklid 287. 241. 276.
348. 881. 886. 887. 888. 424. 426. 443.
497—499. 602. 609. 786. 780. 798.
— zu Nikomaehus 868. 429. 469—460.
603.
KommefUare zu Ptolemaetis 277. 367.
416. 442. 443. 491. 492. 612.
Komplanation eines Teiles der Kugel-
ober fläche 461.
Komplementäre Division 628. 585. 612.
718. 762. 766. 786. 812. 868. 869. 882.
886. 902. 910.
— Multiplikation 438. 628—529. 586.
612. 762. 765. 784. 785. 812. 907. 910.
Konen (H.) 682.
Korunde und Sphäroide des Archimed
297. 304. 306. 809—810. 835.
Konon von Samos 297. 306. 307. 336.
Konservative Kraft der ünwisserüUit
178. 550.
Konstantin der Große 457. 458. 462. 468.
596.
— Kephalas 461.
Konstantinopel, Eroberung durch das
Kreuzheer 508, durch die Osmanen 616.
788.
Koordinaten 108. 837. 388—384. 422,
583—584. 872.
Kopfrechnen 41. 531. 609. 610. 793. 816.
829.
Kopp 566.
Koppe 737.
Korea 690.
xoQVörhg ygai^ii^ 656.
nOQVfpi^ 394. 655.
Kos 50.
Ko schan king 684.
%6öxivov 382.
Koswische Körper 153. 174. 176.
Kotangententafel 738.
Kotijiä 668.
Krähenindianer 13.
Kranwjiä 669. 699. 737.
Kranzrechnung 310.
Krates von MdUus 409.
Kreis 40. 47. 48. 97. 98. 138. 140. 141.
142. 178. 179. 202—204. 210. 266. 889.
556.
Kreisabschnitt 206—207. 878—879. 389.
549.
Kreisberührung 807.
Kreisbogen 196. 395—396.
Kreisteilung 37. 47. 60.
Kremer (Ä. von) 464. 667. 693—697.
708. 713. 729.
Kreuzzäge 608. 777—778. 786. 817. 822.
878. 904. 905.
Kroll 392.
Kronenrechnung 810—312. 825. 462. 644.
Krumbacher (Karl) 508. 610. 615. 897.
Krummbiegel 312.
Krummlinige Winkel 192. 264. 443—444.
Krümmungsmittelpunkt 342.
Kschattriyas 596.
Ktesibius 864. 867.
Kuas 88. 675.
Kubatur der Konoide und Sphäroide
809—310.
«28
Begiater.
Kuhikwurzd 80. 286. 316. 848. 374. 880.
406. 453. 480. 606. 616. 638. 684. 788.
766. 762. 777. 918.
Kubikzahl 26. 27. 46. 164. 167. 267. 482.
470. 488. 569. 560. 580. 619. 756. 866.
Kubische Btste 632. 766.
Kubitschek 188.
Kufische Schrift 708.
Kugd 176. 176. 179. 237. 426. 646. 786.
866.
— und Zylinder des Archimed 226. 241.
261. 266. 297. 808—809. 814. 880.
412. 708. 749. 774.
Kvgdoberfläche 808. 690.
KugelschniU 808. 309. 314. 864. 881. 412.
749. 774.
Kuller (Franz Xaver) 81.
Kujundschik 27.
Künßherg 238.
Kurieraufgabe 623.
Kurven doppelter Kiiimmung 229. 411.
460. 461. 780.
Kusch 20.
Kuschiten 20.
Küschjär 761.
Kustä ibn Lükd 366. 704. 761.
Kuttaka 628—630. 687.
Kuu 679. 680.
xvßog 470. 767.
KyroSy Freund des Seretius 489.
Kyrus, Perserkönig 36. 186.
Kyzikenus von AAen 247.
Kyzikus 288.
Lachmann 682. 668.
Lacroix 260.
Laertius s. Diogenes.
Lakedaemon 146.
Lalitavistara 612. 618.
La Louhhre 636.
LandkaHen 423.
Lanfrank 908.
Längster Tag 39. 41.
Lad ts^ 666.
Larfdd (Wühdm) 126.
Larsam 26.
Lassen 89. 606. 686.
Latitudines 872.
Latus rectum 837.
iau/er (Berthöld) 34.
Lautere Brüder 616. 788—741. 798.
LaiitA 67. 59.
Layard 47
Leqendre 166.
XeAmann ("C^ 87.
Leibniz 10. 218.
l«ri|)i( 471.
iQftfta 241.
Lemmen des Pappus 279.
Xenormatt^ 87. 48. 122. 894.
Leodamas von Thasos 194. 220. 236. 237.
Leon 237.
Leonardo von Pisa 661. 911.
Leona^ 497.
Leonidas von Alexandria 462.
li« Pof^e (C.) 889.
XepMW 26. 87. 39. 67. 78. 84. 87. 89.
92. 110. 112. 828.
Letronne 133.
Levi hen Gerson 780.
Levigild 822.
Levy (M. A.) 123.
Lex Falcidia 661. 662.
— Genucia 561.
I/ß yay jin king 684.
Liang jin 676.
Irt'der augmenti et diminutionis 780 — 732.
X*6er Charastonis 704.
X»6r» (GuUlaume) 716. 719. 721. 730.
782. 768. 802. 808.
Lieou hin 666. 666. 678.
Lthn 687.
IMävati 698. 617. 628. 654. 669.
Limes 361. 764.
Lindemann (Ferdinand) 176. 176. 178.
LtWoe 880. 886.
Lineae ordinatae 654.
JUnca/ 92. 94.
Lineare Örter 248.
Liptd = ilc»T({t^ 699.
X»u humy 684.
I/trtus 296. 299. 522. 666.
Loculus Archimedius 297.
Loftus 25.
Logistik ^ Bechenkunst 156. 252. 820.
704.
Lombarden 905.
Xorf'a ("G»rw; 67. 119.
Lo schu 674. 676.
I44&na 792.
Lucian 169. 178. 214. 428. 429. 664.
Luftrechnen = Kopfrechnen 798. 816.
Lunula Hippocratis 206.
Lupitus von Barcelona 857. 889. 904.
Lu pu oei 678.
Luxeuü 826.
Lykurg 161.
Lysanias 327.
3fae^»nu/a ^37.
Macrobius 87. 627. 639. 566. 826. 828.
846. 886.
Madhyama haranam 625.
Madschd Addauiah 761.
JlfckiscAAtaj 816.
Maerker 242. 346.
Jfa/hi' 768.
Magdeburger Sonnenuhr 868.
3fa^ 46. 467.
Magisches Quadrat 488. 615—616. 686.
676. 688. 740—741. 786. 801.
Magnus 320.
Register.
929
Magrib 708.
Mahler (Ed.) 187.
Mahmud der Gaznaicide 757.
Mai (Aug.) 876.
Majer 219. 266. 292. 888. 424. 498. 499.
Mal 728. 767. 768. 816.
Malaien 12.
Malchus 467.
Mamerkus 146. 198.
Mamertinus 146.
Mandschu 667.
Mangelhafte Zahlen 168. 430. 607. 836.
Manüius (Carl) 360. 862. 406. 410.
Manuel Moschopulos 616 — 616.
Maruja 779.
Marcdlus 296.
Jtfarco Po?o 667
MarietU 122.
Mnrinus von Neapolis 282. 489. 497.
ÖOO.
— i'on Tyr«« 422.
Marquart 629.
- r/.; 12.
Marre (Aristide) 710. 726.'806.
Marryat 638.
Martiamts Capella 627. 666—568. 669.
570. 828. 825. 846.
Martin (Thomas Henri) 131. 164. 168.
174. 222. 225. 358. 868. 866. 488. 488.
491. 500. 606. 526. 678. 682. 844. 912.
Marty 842.
Maslama al Madjriti 909.
Masoreten 126.
Maspero 19. 20. 81. 46. 66. 56. 57. 77. 82.
Massiver rechter Winkel 106 440. 556.
863.
Mas' udi 602. 608. 701.
Maßvergleichumfen 26. 68. 90—91. 889.
391. 395. 554. 612. 823. 860.
Ha^'/jfuxta 216.
Mathematikerverzeichnis 186. 146. 147.
174. 188. 198. 201. 213. 234. 285. 237.
238. 240. 241. 248. 246. 247. 248. 257.
260. 356. 407.
Mathematische Zeidien 14. 74—76. 205.
471. 472. 620. 684. 686. 804. 813. 814.
815. 816.
Matthiessen 266. 284. 685. 686. 687. 810.
Maximum und Minimum 266. 809. 341
—342. 367. 358. 446—447. 449. 452
—458. 490. 649.
Maximus Planwies 461. 467. 510—618.
514. 516. 603 ÜIO. 717. 756. 762.
May OS 9.
Mechanik 229. 233. 286. 254—266. 294.
296. 297. 323 — 326. 869. 428. 4SU.
449—460. 545—547. 704. 780.
— des Boeihius 676.
Mediallinie 270. 348.
Medien 19. 45.
Mehrfache Lösung einer quad/ratischen
Gleichung 476. 625—626. 720. 726. 770.
Meier (Rudolf) 363. 367.
Meimo von Konstanz 887.
Mei wuh gan 688.
likfJKOS 896. 422.
Melampus 151.
Melikschdh 774. 776.
Memphis 107.
Mena 66. 77.
Menaechmus 196. 212. 226. 229 231.
238. 243—246. 292. 380. 863.
Menant 22.
Menelaus von Alexamdria 866. 867. 412
-414. 420. 426. 447. 448. 491. 639.
647. 649. 662. 706. 779. 908. 911
Menephtah I 89.
Menes 66.
Menge (Heinrich) 260 und häufiger.
fiTjvitfxoff 206.
Menkara 66.
^Qioaog 289.
Merit « Hafen (ägyptisch) 98. 97. 206.
394.
Merx (Adalb.) 49. 128. 124.
Mesolahium 830.
Mesotäten 165. 288—239. 446. 464. 862.
853. 912.
Messer MUlione 667.
Meßstange 638.
Messwng mittels der festen Stange H63.
Metrodorus 462. 468.
Mexiko 9.
Michael Palaeologos 608.
jMXpOff &6XQ0V0lLOV{/LBV0g 447. 706.
Milet 60. 126. 187.
Militärische Höhenmessung 863.
Milleius = Menelaus 706.
Mülion 22. 23. 124. 126.
Minaraja 638.
Ming-Bytiastie 666. 684. 688.
Minos 211. 638.
Minuten 416. 682.
Minutien ^= Duodezimaibrüche.
Miram TscheleM 781.
Misdhdt 726—728.
Mischungsrechnung von Eßwaren 619.
Missionäre 667—668. 688.
Mittlere Bücher 705.
Mizraim 66.
Mnesarchus 147.
Mode in der Wissenschaft 269. 428. 605.
516. 872.
Modestus 368.
Mönchsleben 568—569. 671. 871—872.
Mohammed Bagdcidinus 287.
Mohnkonüänge 321.
Molitiet (Claude du) 87. 629.
Molliceide (Karl Brandau) 256. 817.
Molsem 909.
Mommsen 523. 625. 526. 663. 564. 673.
826.
Iiovdg 461. 470. 728.
Monddien 207-210. 790.
Mongolen G66. 674. 684. 778. 828.
Möng tien 664.
Gamtür, Geschichte der Mathematik X. 3. Aufl.
59
930
Register.
Monochord 163. 167. 860.
Montchai (Charles de) 867.
MonU Caaino 668. 848.
MofUfaueon (Bern, de) 320. 867.
Montferrier (A. 8. de) 766.
Montuda (Jean EHenne) 48. 266. 326.
888. 860. 407. 609.
Moraapiel 90.
Morgen ah Feldmaß 92.
Mortet (Victor) 662. 668. 670.
Moses Maimonides 794.
Mmer (Ottfried) 628.
Muhamnied, der Prophet 698. 696.
— ihn Kdsim 701.
— ihn Müsd Alchuarizmi 698. 700. 711.
712—733. 741. 742. 763. 761. 768. 769.
787. 800. 801. 802. 808. 849. 908. 906.
908.
— ihn Müsd ihn Schdkir 788.
Muhwria =» - Tc^ (indisch) 89.
Mu'izz Eddauia 741.
Mukarrar 806. 807.
Mukha 647.
Müla «= Wurzel (indisch) 616. 728—724.
Multiplikation, Alter derselben 8.
MtUttplikatiansverfahren 86. 818—319.
846. 431. 438. 446. 464. 498. 684. 686.
686. 610—611. 671. 688. 717. 761—762.
764. 784. 786. 812. 846. 867—868. 881.
884. 896. 900.
Mu/nk 737. .
Murr (Christian von) 468.
Müsd, Fddherr 706.
— ihn Schdkir 788.
Musaeus 161.
Museum in Alexandria 269.
Musik des Boethius 166. 676. 677. 678.
683.
— der Welten 166. 166. 486.
Musikalische Proportion 166. 482.
— Schriften aus dem Mittdalter 844.
— Zahlenlehre 163. 156. 184. 294. 423.
644.
— Zeichen 828.
N.
Nadika ^~ Tag (indisch) 39.
Näherungswerte von ]/2 181. 228. 317.
377. 378. 898. 400. 436—487. 476. 640.
641. 642. 643. 645.
— 8. y2 (Quadratwurzel aus 2).
— von yh 223. 316. 318. 872—374. 877.
378. 893. 397. 898. 399. 648. 686. 648.
728. 799.
— B, ]/3 (Quadratwurzel aus 3).
Nagl 133. 868. 890.
Namen bei den Arabern 699 — 700.
— hei den Bömem 668.
Namenverunstaltungen 706.
Naramsin 81.
Ndrdyana 636.
Narducci (Enrico) 789. 900.
Na^ir Eddin 779—780. 787. 796. 796.
Navarro 286.
Naxatra 39.
Nehi = Holzpflock (ägyptisch) 104.
Nehka 66.
Nehükadnezar 86. 88.
Nectanabis IL 288.
Negative Gleichungswurzeln 622. 626. 772.
— Zalilen 471. 620. 621. 622. 626. 686.
808.
Nen == nidit (ägyptisch) 112.
Neokleides 287.
Neptun 82.
Ner = 600 (sumerisch) 86. 87. 40. 42.
133. 632.
Nero 127. 462.
Nerva 642. 660.
Nes-ch% Schrift 708.
Nesselmann 61. 127. 181. 166. 288. 269.
286. 312. 860. 407. 428. 480. 432. 488.
436. 460. 461. 463. 466. 467. 470. 472.
479. 483. 484 485. 498. 496. 719. 786.
Nestorius 701.
Netzmultiplikation 611. 786. 812.
Neue Akademie 428.
Neuneck im Kreise 877. 769.
Neunerprohe 461. 611. 717. 766. 768.
766. 808.
Neuplatoniker 466—461. 496. 607. 669.
574. 684. 890.
Neupythagoräer 428. 466. 607. 584. 712.
716. 739. 896.
Neuseeländer 10.
Newbold (Wm. Bomaine) 161. 266.
Niccheda 628.
Niebuhr 664.
Niederhretagner 10.
Nietzsche 117.
Nikephoros Gregoras 508.
Nikolaus Rhahda von Smyma 613 — 616.
627. 710. 829. 830.
Nikomachus von Gerasa 168. 166. 166.
169. 170. 225. 832. 363. 868. 428—433.
434. 435. 455. 456. 469. 460. 464. 476. 616.
528—629. 659. 663. 664. 567. 670. 676.
579. 580. 581. 686. 686. 706. 716. 724.
735. 755. 824. 881. 906. 910.
Nikomedes 196. 196. 360—862. 866. 407.
425. 445.
Nikon 308.
Nikoteles von Kyrene 836.
Jüü, Austreten desgtlben 66. 102—108.
135. 389. 791—792. 862. 868.
Niloxenus 138.
Ninian 826.
Ninive 20. 122.
Nippur (Tafdn von) 29.
Nipsus 552. 558. 556. 664. 861. 863.
Nirapavarta 628.
Register.
931
Nissen 622. 632. 688. 684. 686.
Nix (L.) 266 und häufiger. 363. 683.
Nizdm Almulk 774.
Nieze (Ernst) 296 und häufiger. 806.
336. 411. 490.
Noah 36. 66.
NoJck (Ä.) 293. 366. 411.
Nordamerikanische Naturvölker 688.
Nuü 30. 31. 112. 128. 170. 611. 692.
608. 607. 608. 609. 616. 617. 678. 711
—712. 762. 861. 886. 897. 899. 900.
901. 904. 909.
^ ala Gletehungstvurzel vermieden 772.
Numa 626. 627. 639.
Numei'i fiffurati 679.
Oü wdng 43. 662. 676.
Ovidim 362.
OsMS 19.
Orter auf der Oberfläche 288. 448. 451.
östliche Hau-Dynagtie 678.
Ä « 2,26 896.
« = ]/8 607.
8 /11\»
TT = 8 48. 109. 379. 403. 404. 507. 541.
643. 647. 681. 683.
Obelisk 390. 402.
Ocreatus 483. 906. 910.
Odalric 843.
Oddos Hegeln des Abacus 844. 899—902.
Odo von auny 848. 844. 847. 899.
— van Toumay 889.
Ofterdinger (Ludteig Felix) 220. 287.
Oinopides, der Philosoph 36.
— von Chias 151. 188. 190. 191. 194.
Oktaden des Archimed 320—321. 846.
Oktodezimalsystem 10.
d)XVT6Boov 346.
Okytokion 345. 346.
Olleris 847. 854 und häufiger. 871. 898.
Omaijaden 696. 697. 701. 707. 741.
'Omar 608. 604. 695.
'Omar Alchaijdmi 774—777. 787. 788.
Omar-Cheian = 'Omar Alchaijdmi IIb.
Oppermann 317. 346.
0^f)ert (Jules) 19. 23. 28. 31. 35. 37. 41.
48. 50.
Oppositio 719.
C^tik 293. 423. 447. 789.
Opuntius 8. Philippus Opuntius.
Cfrdinaten 654.
Orestes 496.
Orientierung 16. 67. 104—105. 636-537.
699. 601. 636. 636. 637. 676. 677.
d}Qi6ii4vov 158.
Ormis 893 flgg.
Orontes 41.
8qos 361. 764.
Orpheus 161.
Oi-t zu 3 oder 4 Geraden 339—340.
OQ^la 337.
Ortsiheorem 280. 281. 282. 790.
Osiris 167.
Osseten 10.
Osterrechnung 531. 572—673. 826. 827.
828. 831. 834. 841. 867. 898. 899.
Oswin 8*27.
Ottajano 449.
OUo I. 849.
— IT. 854.
— ///. 677. 864. 865. 856. 858.
786.
-(t)'-
877.
« = 3 - 644. 642. 876.
«= - 684.
60
TT »8,1416 346. 646. 664. 658. 728.
5r = 3-^J 422. 799.
120
n = -^ 303. 378. 393. 403. 404. 422. 651.
7
690. 648. 664. 667. 684. 688. 728. 799.
876. 877. 878. 887.
n = (-^) 98. 99. 109. 404. 642. 876.
n = yio 647. 648. 649. 728.
jr = 3,2 48. 99.
"(-:)'"'■
» = 4 691. 837. 877.
Pachymeres (Georgias) 508.
Pada 616.
Padmandbha 600. 626.
Palaeologen 508—510.
Palimpsest von Verona 664—565. 581.
908.
Palmyra 123.
Pamir 19.
Pamphile 136.
Poo tschang schi 676.
Pappus von Alexandria 118. 119. 196.
197. 220. 225. 227. 245. 246. 248. 261.
276. 278. 279. 281. 283. 288. 291. 298.
307. 318. 330. 331. 334. 835. 340. 348.
344. 345. 346. 347. 351. 353. 356. 357.
364. 367. 370. 386. 410. 414. 423. 428.
441—455. 465. 484. 41)1. 492. 499. 660.
601. 706. 736. 740. 745. 764. 790. 791.
Papyrus Eisenlohr 67—81. 85. 91—94.
96—100. 186.
— SaUier 89.
Parabel 171. 229—231. 244. 288. 289.
291. 304—306. 809. 323—324. 335. 344.
602. 746—746. 759.
Parabdzirkel 231. 244.
Paraboloid 98.
59 ♦
932
Register.
Tcagd^o^og ygafiiii^ 414.
ParälkUimen 46. 60. 171—172. 262. 277.
807. 888. 409. 424—426. 499. 664. 780.
Parallelogramm der Kräfte 266.
Paralleltrapez, gleichschenkliges 96. 97.
108. 876. 889. 394.
— mit 3 gleichen Seiten 208. 661. 662.
777.
ParamddiQvara 600.
Paravey 24.
Parilienfest 686.
Pariser Gemme 529.
Parmenides 600.
Partsch 641.
Pascal (Blaise) 669.
Passahfest 672.
Pdtaliputra 598.
Patriciits 678. 679. 681.
Patrikios 868. 889. 488—489. 667.
Pauli (C.) 624.
Pausanias 86.
Pediasimus 510.
P«»per 680. 899.
PeitÄow 489.
Pena 411.
Pendlebury 468.
Pento(/ramm 178, 206.
Perigertes 61.
Perikles 120. 178. 188. 218. 214. 269. 867.
Peripatetiker 117. 163. 216. 261. 267.
269. 640. 702.
^sQKSöoi 169.
Pemy 668. 664. 666.' 669. 670. 671. 674.
Perseus 196. 856. 863. 407.
Persius 863.
Perspektive 108. 190. 810. 428.
Pertz 876. 879.
Peruaner 88.
PcscÄ r/. G^. van) 497. 499.
PetoM 408.
Petesuchet bl.
Petesuchis hl.
Petrie 59.
Pez 851.
Pfahlbauten am Pfäffikon-See 15.
Pheidias, KmisÜer 214.
— Fa^er de« Archimed 296.
Philipp von Mazedonien 169. 218.
Philippus von Mende 248.
— Opuntius 169. 248. 812. 487.
PA«7o öon Alexandria 126.
— t'o» Byzanz 864.
— von Tyana 414.
Philolaus 161. 166. 176. 184. 266.
Phüoponus 201. 208. 282. 500. 603. 604.
Philosophie der Mathematik in der Aka-
demie 219.
Phäniker 20. 82. 38. 121—123. 136.
Phönix 82.
Photius 330.
PÄy^m 121.
Pic^t 528.
Pietschmann 19. 20. 81. 46. 66. 66. 57.
77. 82.
Pthan 608.
Ptl»n 845.
Pipping 408.
Piremus (ägyptisch) 99—100.
Pirmin 826. 886.
PisteUi 168 und häufiger. 469.
Planisphaerium 423.
PZato row T«wit 737. 798. 800. 907.
Piaton 42. 151. 164. 166. 172. 184. 193.
194. 212. 213—234. 286. 238. 240. 248.
248. 249. 260. 261. 269. 260. 270. 816.
829. 853. 361. 380. 389. 890. 428. 480.
484. 575. 589. 890. 900.
— , Briefe 215.
— , Charmides 819.
— , EuÜiydemus 167.
— , Gesetze 102. 217. 226. 248.
— , Gorgias 167.
— , Eippias maior 196.
— , Hippias minor 196.
— , Lysis 169.
— , Menon 171. 185. 217. 218. 219. 726.
— , Nebenbuhler 188. 189. 190.
— , Parmenides 219.
— , Phaedon 166. 175. 226.
— , Phaedrus 86. 102.
— , Phüebus 184.
— , Protagoras 196.
— , Bepublik 167. 168. 180. 216. 222.
223. 847.
— , Sophist 600,
— , Theaetet 182. 207. 213. 216. 286. 287.
— , Timaeus 164. 164—166. 176. 226.
286. 861.
nXdxog 895. 422.
Plautus 527. 682.
Plectoidische Oberfläche 461.
nXsvgd 724.
Plinius 38. 60. 67. 138. 146. 168. 173.
866. 412. 527. 639. 540. 641. 648. 828,
872.
Plotinus 467. 539. 667.
Plutarch 42. 43. 189. 162. 157. 168. 171.
177. 180. 184, 193. 232. 283. 284. 249.
256. 295. 460, 485.
nodiaii6g 656.
Podismus 656. 556. 861, 864. 874,
Poggendorff 253. 667.
Pol eines sphärischen Bogens 420.
— der Konchoide 361.
Polardreieck 780.
Politische Arithmetik 614.
Polos 60.
Polybius 182. 178. 319. 862. 409. 864.
Polyeder s. Vielflächner.
Polygonalzahlen 169. 248. 249. 312. 861.
432. 464. 485—487. 567. 579. 580. 686.
690. 627—628. 840. 864. 866.
— , Schrift des Diophant über 361. 466.
467. 485—487. 657. 558. 560.
Polyklet 214.
Register.
933
PolykraUs, Redner 149.
Pompeius 409.
Porisma 278—281.
Pwismen des Diophant 467. 483.
— des Euklid 278. 281—282. 420. 448.
452. 790.
ForpKyrius 83. 38. 118. 161. 164. 166.
188. 456. 457. 458. 601. 575. 706.
Poselffer 264. 265.
Posidonius von Alexandria 198. 365. 409.
— von Rhodos 866. 888. 409.
PoUntia 207.
Potenzen der unbekannten' Zahl 470. 507.
621. 767—768.
Potemgrößen 207.
Potone 249.
PoU 4. 6.' 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 84. 41.
83. 88. 92.
Poudra 423.
Prdci 636.
Praecisura 565.
Prantl 876.
Premare 668.
Primzahlen 160. 267. 268. 382—838. 480.
461. 507. 579.
Prinzip der virtuellen Geschwindigkeit
253.
Priscianus 311.
Prüse d'Ävennes 107.
Primdaka 619. 651.
Problem 275.
Produkt der Summen zweier Quadrat-
zahlen 482.
Projektionsmethoden 423. 448.
Proklus Diadochus 107. 118. 135. 138.
141. 144. 146. 152. 156. 161. 171. 172.
173. 177. 180. 183. 185. 190. 193. 194.
195. 196. 213. 219. 220. 223. 224. 237.
241. 242. 245. 255. 260. 261. 264. 274.
275. 278. 279. 280. 287. 292. 826. 344.
348. 350. 351. 352. 356. 357. 367. 368.
381. 386. 388. 407. 410. 414. 424. 443.
457. 458. 489. 497—500. 567.
Proportionenlehre 73. 108. 156. 165—166.
225. 236. 238—240. 265. 272. 277. 331.
431. 432. 434. 445. 454. 580. 738. 763.
Proportionalteile 419—420.
Propositiones ad acuendos juvenes 834
-839.
Protagoras 195. 199.
Protarch 359.
'tl>amuT'rig 321.
Psellus (Michael) 464. 606—508.
'tpfjffOS 897.
ipTjqpoqpo^/a xar "Ivdovg 510.
'ipEvddgia *J78.
Pseudoboethius 581.
Ptolemaeus Euergetes 211. 243. 259. 327.
328. 383. 886. 640.
— Lagi Soter 259.
— Philadelphus 125. 259.
— Philopator 380. 838.
— XL 110.
Ptolemaeus XIIL 366.
— Hephaestio 880.
— (Klaudius) 89. 119. 128. 318. 888.
894. 412. 414—425. 433. 434. 447. 457.
491. 495. 499. 509. .671. 676. 597. 600.
602. 669. 698. 702. 703. 704. 712. 787.
764. 796. 796. 799. 907. 908. 911.
Ptolemaeiseher Lehrsatz 416. 764.
Puini (Carlo) 680.
Punktierkunst 46. 779.
Pyramidalzahlen 249. 487. 668—559. 628.
688. 865.
Pyramidenwinkel, Konstanz desselben 67.
nvQBtov 344. 364.
Pythagoras 85. 148—188. 189. 228. 224.
238. 247. 270. 389. 390. 428. 429. 482.
467. 469. 464. 521. 667. 570. 575. 588.
639. 644. 646. 696. 725. 726. 736. 824.
861. 899. 900.
Pythagoräer 42. 107. 131. 147. 162—188.
198. 196. 198. 200. 201. 202. 213. 216.
216. 220. 285. 288. 252. 291. 835. 348.
428. 460. 659. 624. 735.
Py^Mgoräischer Lehrsatz 152. 179. 180.
181. 184. 185. 218. 263. 274. 371. 386.
636. 638. 689. 640. 647. 665. 666. 679.
680. 684. 726. 744. 877.
Pyihagoräisches Dreieck 49. 51. 96. 105.
106. 170. 180. 187. 826. 871. 481. 644.
644. 679. 680. 786. 863.
Pythmen 347. 348. 461. 585.
Qa = Höhe (ägyptisch) 98. 394.
Qet = Ähnlichkeit (ägyptisch) 99.
Quadrat 92. 177. 183.
Quadratische Reste 485. 632. 752. 766.
763.
Quadratrix 196—197. 246—247. 806. 853.
354. 446. 450—461.
Quadratur der Ellipse 806. 379. 799.
— des Kreises 97. 189. 196. 197. 201.
210. 247. 271. 845-846. 378—379.
502. 507. 591. 641. 642. 643. 790. 837.
875. 876. 877. 878.
— der Parabel 241. 297. 304—305. 323
—324. 379.
Quadratwurzel 28—30. 94—96. 112. 182.
223. 236. 802—308. 816—818. 371—374.
393. 897. 406. 436—438. 458. 475. 480.
492. 494—495. 502. 511—518. 614. 606.
616. 621. 638. 640. 647. 648. 684. 733.
755. 764. 766—767. 777. 786. 801. 814
-816. 913.
y2 = - 228. 398. 400. 436. 437. 640.
873.
yi = - 377. 378. 436. 437. 640. 867.
878. 874. 876. 877.
934
Register.
1/3 = 4- 318. 377. 378. 397.
26
y3 = — 818. 378. 893. 397. 398. 899.
648. 549. 686. 643. 728. 799. 866.
ys = y 228. 867,
QuadratsaM 26. 27. 46. 160. 161. 162. 163.
164. 167. 168. 169. 170. 202. 236. 267.
812. 813—314. 432. 436. 460. 470. 479
—480. 481. 486. 602. 529. 569. 619.
756. 840.
— , welche um eine gegebene Zahl ver-
größert oder verkleinert wieder Q%M'
drateakl ist 482. 488. 762—756.
druvium 678. 828.
uordecimani 672.
uimas 898flgg.
uinarsystem 8. 9. 10. 32.
uincke (Georg) 16.
Quintüian 173. 367. 627. 649—660. 666.
^tjpu 88.
B.
Ra-ä'ti8 68.
Baab 198.
Raeeahin 877.
Bad des Aristoteles 265—266.
Badix 724. 804.
Badulf von Laon 886. 890—897. 898.
899. 900 902.
— von Lüttieh 872. 878. 874. 876. 876.
890.
Ba-en-nuxt 68.
Bätsdfragen 883. 884. 839.
Baimundj Stiftslehrer von Äf^rillac 847.
— Erzbischof von Toledo 796.
Bama Krishwa 601. 616.
Baml =» Punktierkunst 46.
Bamses IL 92. 102. 108.
Bandbemerkungen dringen in einen Text
ein 276. 368. 862.
Bangandtha 601.
Bask 608.
Batgar 841.
Baiionale Gleichungswurzeln allein ge-
stattet 478-^476.
— rechtwinklige Dreiecke 96—96. 184.
186—186. 187. 224. 270. 889. 390. 481.
484. 486. 666. 689. 628. 638. 646. 653.
762—766.
Bationalmachen von Brüchen 626—627.
814.
Baumkoordinaten 422.
Baumschnitt des ÄpoTlonius 848. 846.
864. 880.
Bawlinson 26. 27.
Bdzi 696. 908.
Bechenhrett s. Äbacus.
Bechenbuch von Achmim 59. 67. 604—606.
Bechenbuch von BakhstdU 698. 613—616.
618. 620. 621.
Bechenknecht 291.681.
Bechnen mit Marken 6. 41—42. 88—89^
610. 826.
Bechnende Geometrie = Feldmeßwissen-
sdiaft 881.
Bechnung auf der Linie 668.
BechUck 49. 92—93.
BechUr Winkel 47. 49. 61. 94. 106—106.
138. 142. 161. 168. 190. 192. 871. 884.
886. 636. 637.
Bedewendungen, mathematische, der Ägyp-
ter 66. 67. 72. 76. 98—100. 276. 894, der
Araber 728. 816. 816, der Griechen 188.
168. 159. 190. 276. 398. 394, 470. 487.
655, der Inda- 611. 614. 016. 617. 620.
621. 622, der Bömer 631. 666.
Begddetri 606. 614. 618. 683. 726. 763.
786. 816.
Begimbertus von Beichenau 577.
Begimbold von Köln 872. 878. 874. 876.
876. 877. 889.
Begiomofitanus 467. 468. 780.
Begula elchatayn 732.
— Nicomachi 488. 628—529. 586. 881.
906. 910.
— quatuor quantitatum 795.
— sermonis 782.
— sex quantitatum 413. 420. 736. 779.
796.
Beichenau 577. 580. 886. 842. 888.
Beifferscheid 664. 879.
Beihen 169.
Beihe, arithmetische 25. 78—80. 118.
169. 167. 187. 818. 314. 861. 890. 460.
480. 507. 668. 559. 615. 619. 626.
— , geometrische 25. 80—81. 159. 167.
268. 805. 507. 619. 881.
— der Biquadratzahlen 781.
— der Kubikzahlen 432. 659. 619. 768.
769. 781. 784. 808. 865.
— der Quadratzahlen 818—314. 668. 619.
768. 784. 808.
Beimer 211. 212. 467.
Beinaud 467. 695. 597. 602. 608. 714.
716.
Beisen griechischer Philosophen: des Ana-
xagoras 189, des Demokritos 191, des
Eudoxus 288, des Oinopides 190, des
Platofi 215, des Pyihagoras 148—152.
176, 644, des Thaies 186.
Beisner (G.) 11.
Bektifikation des Kreises 48. 247. 800
—303. 864.
BeUgiöse Gegensätze bei den Arabern
766. 776. 788.
Bemigius von Auacerre 842. 848. 871.
— von Trier 864. 870.
Bemusat (Abel) 672.
Bepräsentation 661.
Bes 802. 804.
Bestauratio 719. 808.
Register.
935
(f[t6v 182. 269. 764.
Beuter (Hermann) 908.
Bevülout (Eughne) 60. 94. 96. 101.
Bhdbda fl. Näcolans Ehdbda.
Bheims 848. 848. 849. 868. 856. 866.
858. 867. 868. 869. 870. 871.
Shind 57.
Shodos 362. 888. 409. 422. 426.
Bicei 667.
Biehardson 45.
Bicherus 847. 848. 849. 850. 867. 868.
Bichter (Adolf) 128.
— (August) 844.
Biese (Alexander) 628.
Binderprohlem des Archimed 812 — 813.
462.
il^n 724.
Bobert van Lincoln 889.
Bodet (Leon) 68. 78. 76. 81. 472. 476.
598. 606. 606. 616—625. 628. 630.
645. 646. 648. 657. 677. 718. 822. 906.
Boediger 514.
Bömer 11. 12. 15. 45. 866. 409. 410.
425. 426. 457. 504. 521 — 692. 596.
619. 686. 671. 676. 728. 786. 887. 838.
849. 850. 868. 854. 856. 868. 869. 872.
877. 900. 902. 909. 910.
Bötnische Beichsvermessung 866. 540—
641.
Böih 146. 148. 185.
Bohde (Erwin) 61. 261.
Bomaka Pura 600.
Bomulus 52H. 539.
Böse (Valentin) 544.
Bösen 716 und häufiger. 727. 802.
Bossi (de) 522.
— (Giovanni) 537.
Boihlauf 216. 216. 217. 218. 219. 222.
236.
Bouge (de) 89.
Budio (Ferdinand) 202. 205. 206.
Budolf vofi Brügge 909.
Budorff 682.
Budpert 888.
Büpa 614. 620. 684. 728.
Buska (Julius) 787.
8.
Saba 464. 696.
Sachau (Eduard) Ibl,
Sacy (Sylvestre de) 707. 709.
Safech 104.
Sahib al Schorta 798.
SaHd 804.
Salaminüche Tafel 188—134. 319. 440.
Salemer Algorithmus 910—911.
öaXivov 299.
Saüier 89.
Salmdn 702.
Salvixinus Julianus 662.
Sdma godhanam = &nh öfioltov 8(iota 622.
Samarkand 781.
Sammelwörter versdiieden nach der Art
des Gezählten 6.
ZaiiAp (inovxaQr^s 608.
SandbehtreuU Tafel 131. 184. 566. 610.
611. 712. 762. 882. 885.
Sandrechnung des Archimed 821 — 828.
612. 758.
Sanskrit 696. 596. 605.
Saph 897.
Sar = 3600 (sumerisch) 36. 42.
Sargon L 31. 38. 46.
Saryuhin 31.
Sasuchet 57.
Sasyches 67.
Satz von den sechs Größen 161. 266. 412.
420—421. 786. 779. 795.
Satze des Menelaus 418—414. 420—421.
Savüius 276. 277. 509.
Sayce 80. 81. 88. 46. 46.
Schachbrettartige Multiplikation s. Nets-
multiplikation.
Schachspiel 685. 758.
Schock- Schackenburg 94. 95.
Schaewen (Paul von) 480.
Schdhmch 781.
Schai 728.
Scholl 667.
Schalljahr 78. 328—329. 409. 640. 578.
775.
Schatns Addin al Mau^ili 710.
Schamsäldin von Bukhara 508.
— von Samarkand 608.
Schanis ed Daula 756.
Schang kao 677. 679. 680.
Schapira (Herrmann) 24.
Scharaf ed Daula 742.
Schasu 57.
Schauen = Tangente 788. 748. 789.
Schattenmessungen zu Höhebestimmungen
188. 189. 144. 294. 890. 657. 648. 786.
862.
Schattenzeiger 50. 146. 685. 586. 676.
677. 788. 748 868.
Schaubach 188.
Scheffel als Feldmaß 92.
Scheil (F. V.). 28.
Scheitellinie 98. 894. 647.
Scheitelwinkel 188.
Schenkel (Daniel) 84.
ÄcÄewW ^JT.; 203.
ÄcÄe^JS« 576. 677.
Schiaparelli 238. 242. ,
Schiefe Ebene 449.
Schlagintweit 89.
Schlegel 669.
Schmidt (J.) 635.
— (^3faaj C. P.; 184. 244.
— rilf.; 346.
— (W.) 146. 155. 363. 364. 365. 366.
412. 537. 683.
Schnitt des rechtwinkligen Kegels 244.
384.
— des spitzwinkligen Kegels 244. 834.
936
Register.
S(^nitt des stumpfwinkligen Kegels 244.
384.
Schnitzler 780.
Schm-Finder 504. 518.
Schone (H.) 868. 364. 587.
ii%ohviov 385.
^xotvog 385.
Schraube 826.
Schraübenfläche 451.
Schraubenlinie 411. 450. 451.
Schreibfehler im Codex Arcerianus 556.
860.
Schrift, Erfindung derselben 13.
Schröder (L. von) 686. 644.
Schrumpf 6.
ÄÄWif rö.; 463. 466. 478. 482.
Schun tchi 667.
Schwerpunkt 328. 324. 449. 450.
Schwimmende Körper des Archimed 325.
Sciotherum 585.
Scriverius 552.
Scyüadum 568.
Seythianus 457.
Sechseck 47—48. 50. 109. 876. 393. 548.
740.
Sechseckszahl falsch berechnet 557—558.
586. 864—865.
ÄccÄÄ Gleichungsfälle 719. 769.
Sechsersystem 10. 32.
Sechzig als unbestimmte Vielheit 84—85.
Sechzigste 81. 420.
iSM^mlu« von ^t^n 834.
Ä<fd»//o« 781. 789. 790.
Sehet! 656. 744. 878.
Sehnentafel 862. 367. 899. 412. 416. 419
—420. 799.
Seidel 327.
Seilspannung 46. 48. 104—106. 113. 884
—385. 687. 680.
Sekunden 416.
Seldschuk 774.
Seldschuken 741.
örnitta ix rfjs nagaßolfis 889.
jSfeiii€« = Schlägel (Ägyptisch) 104.
Semiten 20. 56.
Semuncia 580.
Senkereh, Tafeln von 25—30. 36. 755.
S^her Tezirah 43. 608.
Seqem =^ Vollendung (ägyptisch) 71—73.
Seqt = Ähnlichmachung (ägyptisch) 99.
139. 145. 425.
Serenus von Antinoeia 489—491.
Sergius 464. 69B.
Servatus Lupiis 842.
Sesostris 92. 102.
Seti I. 108. 214. 884.
Sexagesimdlbrüche 23. 31. 32. 866. 416.
492—495. 510. 512. 526. 618. 634.
718. 764. 801. 885. 909. 918.
Sexagesimalsystem 10. 24. 27. 40. 41. 42.
48. 861. 670. 677. 681. 757. 762.
Sexcenti = unendlich viele 532.
Sextus Empiricus 146.
Sextus Julius Africanus 438—440. 863.
S7Mdvidham='6 Rechnungsverfahren 616.
Sicel 828. 901.
Sicüien 119. 128. 147.
Sidliquus 580.
Sickd 881.
Siclus 823.
Siddhdnta 599. 602. 699.
Siddhantagiromani 598.
Sieb des Eratosthenes 332—883. 507.
Sieben als unbestimmte Vielheit 84.
— freie Künste s. artes liberales.
Siebeneck im Kreise 807. 876—877. 745.
Siebenerprobe 461. 611. 808.
Sigebert 876.
Signal 882.
Süius Italictis 295.
Simon (Max) 60. 94. 96.
Simplidus 202. 204. 208. 209. 409. 422.
500. 502. 540. 736.
Sinän ibn Alfath 780.
— ibn Idbit 749.
Sind ibn 'Ali 780.
Sindhind 602. 697. 698. 699. 712.
Sinus 428. 658. 787. 789. 796. 907.
— von 225' 659.
Sinussatz der ebenen Trigonometrie 779.
— der sphärischen Trigotiometrie 748.
Sinustafeln 428. 659. 746—747. 789.
Sinus versus 658.
Sipos 892flgg.
Sita 824.
Skandinaven 10.
Smith 47.
Smot = J.u«rec^nuny (ägyptisch) 68.
Smyma 119.
Sodscha ibn Aslam 731.
Sokrates 202. 214. 215. 216. 217. 218.
219.
So/on 120. 184. 151. 214.
Sopater 458,
Sophienkirche in Konstantinopel 501.
Sophisten 193. 194—195. 208. 218. 256.
Soranzo 820.
Sosujenes 540.
Sosikrates 186.
iSo«« ^ ffO (sumerisch) 86. 42.
Spanische Omaijaden 707. 792—798.
Species 473.
AVpewjfe/ fi.; 118. 204.
Speusippus 216. 249. 487.
iSi)Ä«r»X- 156. 293. 411. 412. 447. 745.
Sphärische Spirale 451.
— Trigonometrie 412 — 414. 420 — 421.
658. 684. 738. 780. 789. 794—796.
Spirale (Maschine) 326.
Spiralliniefi 195. 297. 306 — 307. 318.
353. 446. 451.
Spiren 196. 242. 356. 380. 412.
Spirische Schnitte 242—243. 356.
Spitzenfigur 786.
Sprenger 738. 739.
S. Q. 555.
Itegister.
937
St. Emmeran in Begensbitrg 886.
St. GaUen 861. 886.
St. Martin bei Tours 838. 840. 841 . 842. 843.
St. Peter in Salzburg 859. 866. 886.
Stadtmauer (Hugo) 462.
Stammbrüthe 61. 62. 83. 84. 86. 126.
128. 166. 319. 395. 604—606. 526. 645.
718. 766. 764. 887.
— , algebraische 470. 768.
Stein (Lorenz von) 834.
Steindorff (G.) 56. 67. 89. 109.
SteinhaH (Karl) 196.
Steinschneider (Moritz) 45. 708. 704. 706.
731. 736. 738. 748. 761. 793. 794. 797.
806. 907. 909.
SteUa 637.
Stellungswert der Zahlzeichen 27. 30—81.
126. 127. 128. 606. 607. 608. 609. 616.
710. 785.
Stereographische Projektion 428.
Stereometrie 98—101. 166. 225. 229. 241.
271. 308. 350. 358. 390. 891. 401—403.
536. 665. 646. 646. 649. 728. 786. 799.
Stern (Ludwig) 58.
Stern = Winkelkreuz 381. 382. 637. 676.
Sternvieleck 177—178. 588—589. 786.
Stesichorus 146. 147.
Stetigkeitsbegriff 200. 203—204.
Stobaeus 36. 153. 169.
Stoeber 552.
Stoiker 198. 366.
tfToi;^era 201. 261.
— navixd 303.
Stoy 87. 129. 130. 134. 614. 829.
Strabon 32. 36. 103. 160. 161. 216. 238.
411.
Studemund 206. 565.
Sturm (Ambros) 220. 231. 844.
Su 8chu kieou tschang 674.
Stibtraktion zur Bildung von Zahlwörtern
11. 625.
Subtraktionsverfahren 610. 671. 716. 811.
816.
Suchet 57.
Suetonius 527.
Suidas 36. 41. 60. 146. 237. 327. 441.
442. 491. 496. 496.
Sumerier 19. 20. 24. 30. 82.
Sun tse 686.
Sung-Dynastie 666. 674. 678. 680.
Sunya 614. 712.
Surya 599. 712.
Suryaddsa 600.
Surya Siddhdnta 699—600. 609. 686.
657. 658.
Susemihl 236. 238. 268.
Sutek = Leiter (ägyptisch) 80.
Suter (Heinrich) 363. 660. 693. 697. 701.
703. 705. 710. 713. 718. 780. 781. 733.
736. 788. 739. 742. 748. 749. 760. 752.
763. 769. 761—763. 774. 775. 778—781.
784. 78?. 790. 792—794. 805. 810. 842.
866. 912. 913.
Swd/n fa tong tsang 670.
Swän pdn 669. 670. 671. 675.
Sylvester IL = Gerbert 858.
Symmachus 578. 674. 578.
SymboliscJie Positionsarithmetik 607 —
608.
övvaymyij 444.
Synesius 495.
Synkellos 36.
Synode von Mousson 868.
Synthesis 220—221. 230.
äyrakus 216. 296. 296. 308.
^rer 124—126.
Syrianus 497.
T.
Tdbi 768.
^äbit ibn Kurrah 167. 703—704. 734
" —736. 741. 749. 750. 787. 908.
Taeitus 523.
^admor 123.
Tae 684-686.
Tageseinteilung 39.
Takarrur 806. 807.
Talchis = Auszug (arabisch) 806.
Talent 132. 133.
Talmud 48. 173.
Talus 163. ^52.
Tamerlan 780. 821.
Tangoüte (trigo^iometrische) 738. 748. 789.
Tangentenproblem 265. 307. 749.
Tannery (Paul) 155. 158! 166. 198. 200.
202. 222. 249. 257. 293. 299. 319. 346.
372. 411. 414. 468. 461. 463. 464. 466
und häutiger. 490. 496. 504. 607. 610.
514. 552. 555. 659. 581. 857. 862. 872
und häufiger. 873. 875. 876. 912.
Tab 665.
Tara 812.
Taraha 812.
Tarh 812.
Tdrik 706.
Tarquinius Pri^cus 626.
Ta schi 666.
Tatto 842.
Ta yen 686. 689.
Taylor 624.
Tdzy 666.
Tchao kun hiang 678.
Tcheou-Bynastie 664. 678. 682.
Tcheou == Kreis (chinesisch) 677. 679.
Tcheöu konfj 664. 670. 677, 678. 681.
— lif 664. i566. 666. 676. 677. 678.
Tcheou pei 677—679. 681. 682.
Tchin khang tching 666.
Tchin t07ig 666.
Tchintsoe 678.
Tchu hl 666.
Teilerfremde Zahlen 267. 430. 628. 629.
Teilung der Figuren Euklids 287—288.
380.
tÜeioi 168.
38
Register.
emenias 893 figg.
emnonides 289.
emplwn 682. 683. 634. 540.
ennuUits 158 und häufiger. 469.
ßpro = Mimd (ägyptisch) 93.
erentianus Maurus 642.
erminus 861. 764.
erquem (Olry) 383.
essareskoidekasiten 672.
eta 66.
tayiiivotg xartiyfiivai 331. 664.
T^aycDi/t^ovcfa 1V)5.
T^ayfovoff 207.
i?^adw d«« Äpollonius 346 — 847. 890.
766.
etraktys 42.
5w/fci 643.
hales von MiUt 136—147. 160. 171.
189. 390. 557.
hang- Dynastie 678. 686.
heaetet von Athen 194. 236. 236—287.
245. 248. 260. 275. 276. 348.
hemistios 137. 141. 203.
hen wdng 664.
heodoHt 382. 760. 862.
heodor, Bischof von Canterbury 827.
- Tschabuchen von Klazomenae 514.
heodorich, König der Ostgoten 568.
669. 578. 574. 676. •
- von Chartres 898.
heodorus von Kyrene 182. 20*1. 213.
215. 226.
- Meliteniota 415. 509.
- von Samos 163.
heodosius I. 441. 491. 496. 821.
- von Tripolis 293. 411. 412. 447. 448.
704. 908. 911.
heodulf von Mainz 884.
heon von Alexandria 128. 277—278.
318. 367.-362. 416. 421. 433. 441. 442.
468. 464. 487. 491—495. 499. 612. 582.
689. 764.
- von Smyma 32. 38. 118. 164. 166. 166.
159. 160. 164. 168. 169. 186. 232. 233.
267. 317. 331. 428. 433—438. 464. 466.
460. 475. 491. 687. 640. 716. 755. 877.
896.
'heophanes 709.
'heophania 854.
'heophrastus von Lesbos 118. 193. 267.
269.
heorem 276.
'hevenot 369. 870.
'heydius von Magnesia 247. 248.
hibaut 39. 600. 636—641. 648.
'hietmar, Bischof von Merseburg 858.
'horbecke (Attgust) 668. 569.
- (Heinrich) 693.
'hot 77. 86.
'hrasyllus von Mende 428. 488.
'hukydides 172. 214.
'hurot 326.
Thymaridas 168—159. 286. 455. 462.
470. 624.
^vqiog = Schild (als Namen der Ellipse)
292.
Tiberius 261. 428. 438. 590.
Tibet 607.
Tille (Armin) 714.
Tim = Seil (sumerisch) 46. 646.
Timaeus von Lökri 154. 174. 179. 216.
Tiinur = Tamerlan 780.
Tittel (Karl) 863. 406.
Titultis 881.
Titurel 714.
Titus 651.
T9na = 10000 (altslavisch) 24.
tfi^T^ftara 416.
TogruJbeg 774.
Toledo 796.
Tonog 229.
Tordli 296. 846.
Tosorthros 56.
Trojan 467. 461. 542. 561. 552. 653. 561.
564. 696.
Tretaiein (Feter) 886. 902.
TQtxoT6iua ycovlag = Dreiteilung des
Winkels 197.
Trigonometrie 99. 362. 399. 416—421.
602. 657—660. 684. 738. 746—748.
779—780. 794—796.
Trinitätsbegriff 430.
Trisektion=^ Dreiteilung des Winkels 197.
tgiöndarog 826.
Trivium 678. 828.
Trugsddüsse Euklids 278.
Tsdng kie 664.
Tschang tsang 682.
Tschu schi kih 687.
Tsin-Dynastie 678.
Tsin kiu tschau 674. 682. 684. 687.
Tsin sehe hudng ty, der Bücherverbrenner
665. 678.
Tsing- Dynastie 667.
Tsu tschung tsche 683.
Türken 12.
Tu fang schi 676.
Tu kuei 676.
Tulyau 622.
IV^nnu = Erhebung (ägyptisch) 80.
Turamaya 699.
Turanier 19. 20.
r^ef^es 216. 296. 296. 826.
Tziphra 511.
U.
UchaUbt = Suchen der Fußsohle (ägyp-
tisch) 99. 205.
Ufpian 561.
ülug Beg 781. 788.
— Begs Tafelwerk 781.
ümfera 748.
Umkehrungsrechnung 617. 732.
Unbestimmte Vielheit 33—35.
Register.
939
Undezimalsystem 11.
Unendlich groß 23—24. 199. 204. 262.
821. 322. 632. 617.
— klein 199. 204. 262. 321.
ünger 486.
Universität zu Athen 496. 497. 600. 603.
— von Paris 843.
Unmöglichkeit rationcUer Losung von
a;8 4- y» = Ä» 752. 785.
Unreine qiMdratische Gleichungen in 3
Fällen bOuindelt 285. 478. 625. 719.
723. 803.
Unze 630. 880. 884. 896.
Ursprung einzdner Wissenszweige zu er-
mitteln gesucht 117.
U schi 688.
Usener 202. 442. 508. 668. 673. 674.
577. 582.
Usertesen 11. 69. 74.
Use% 99.
Ufhramaii^ 6^7. 658.
Überragung 889.
Überschießende Zahlen 168. 480. 507. 824.
Übersetzungen aus dem Arabischen 797.
Übersichten: Babylonische Mathematik
46. 50 — 51, Ägyptische Mathematik
112—113, Entwicklung der griechischen
Mathematik 117—119, Thaies 147,
Pythagoräische Maffiematik 186—188,
Mathematik der Akademie 260—251,
Mathematik der Epigonenzeit 863. 426
—426, Heron 406, Pappus und Dio-
phant 487—488, Römische Blütezeit
660 — 661, Verhältnis der griechischen
zur indischen Mathematik 601—602,
Ostaräbische Mathematik 786 — 787,
Westaraf'ische Mathemat k 816—817,
Unterscheidungsmerkmale zjvischen Aba-
cisten und Algorithmikern 909—910,
Zustand derWissenschaft um 1200 911.
Vacca (Giovanni) 680.
Vadana 647.
Vaigyas 696.
Vajrdbhyasa 611.
Valeiius Maximus 45. 261. 295.
VaJkenarius 212.
Van Pesch s. Pesch.
Varähamihira 600.
Varga = Reihe, ^wadra« (indisch) 616.728.
Variation 742.
Varro 526. 632. 542--543. 549. 666. 570.
Vasengemälde 41. 132. 178.
Venturi 863. 382.
Veränderliche 281. 282. 284. 289. 290.
Verbiest 667. 682.
Verdoppeln 86. 819. 717. 761. 764.
Vergilius 665.
Verglichen abgenommene Maße 28. 111.
396. 397. 404. 489. 686. 691. 646. 728.
837.
VerluUtnisschnitt des ApoUonius 844. 448.
462.
Vermeidung von Zahlzeichen 708. 748.
763. 766.
Versfüße 267. 619.
Vertex 565.
Vertranius Maurus 643.
Vespasian 661.
Vesiäheiligtum kein Temphim 633.
Vettius Valens 348. 426.
Via quintana 634.
Victorinus 581. 882.
Victorius von Aquitanien 681. 666. 672.
828. 831. 832. 846. 888. 884.
Vielecke, einbeschriebene 202. 203. 278.
358. 876—378. 387. 389. 891. 446. 449.
— , umschriebene 203. 368.
— mit einspringenden Winkeln 367.
Vieleckszahlen s. PolygonnlzaMen.
Vielflächner, halbregelmäßige 308.
— , regelmäßige 163. 174—176. 226. 287.
246. 260. 274. 807. 344. 868. 359. 880.
446. 447. 745.
Viereck dem Dreieck vorausgehend 111.
389. 391. 395. 506. 646. 680.
Vierecke von 5 Arten 651. 727.
Vierecksformel des Brähmagupta 646.
649—662.
Vierzig als unbestimmte Vielheit 84. 43.
Vigesimal System 8. 9. 123.
Vijaganita 698. 664.
Vincent 89. 181. 812. 363. 882. 488. 440.
506. 894.
Vipsanius 8. Agrippa.
Virgilius von Toulouse 845.
Vishnu 619.
Vitalian 827.
Vitruvtus Pollio 50. 162. 174. 180. 190.
311. 826. 330. 865. 867. 636. 643—647.
699. 601. 687. 740. 893.
— Rufus 552. 663. 656—660.
Vogt (Heinrich) 636.
Vokale durch Konsonanten ersetzt 802
—803. 888.
Volkmann 268.
Vollkommene Zahlen 87. 167—168. 226.
268. 480. 434. 460. 507. 627. 736. 789.
784. 798. 824. 836.
Volusius Maecianus 526.
Vorbedeutungsivissemchaft 38. 46. 46.
467. 634. 735. 741. 786.
Vorderasiatische Enttoicklung der Arit^i-
metik 466.
VossiiS 184. 360. 463. 548.
Vydghramuka 699.
W.
Wachsmuth 498. 502.
Waeschke 511.
Wafk 741.
Wagner 606.
Wagschalenmethode 782, 809—810.
940
Register.
Wahlsätze des Ärchimed 297. 298—300.
Wahrscheinliche Lebensdauer 561.
Walafried Strabo 842.
WalcKhische Bauernregel 628.
Wallis (John) 780.
Walther von Speier 851—853. 886.
Wan ly 688.
Wang myan chi 666.
— ixihao yu 666.
Wappler 886.
Wasserwage 382. 676.
Wattenbach 882. 840. 851. 888. 906. 909.
Wazo, Bischof von LüUich 878. 877.
Weber (Älbrecht) 39. 596. 600. 609. 619.
687.
— (Heinrich) 466.
Wegmesser 544.
Wegschaffung des mittleren Gliedes 625.
Weigand 862.
Weil (Gustav) 693. 696. 696. 701. 704.
706. 707. 741. 765. 774. 778. 780. 794.
Weißenbom (Herrmann) 298. 676. 679.
682. 587. 590. 650. 857. 906.
Welcher (F, G.) 182.
Welid I. 701. 706. 709.
WeUchen 10.
Wenrich 354. 697. 702. 703. 704.
Werner 825. 828. 881. 884. 835. 841.
843. 847. 853. 855. 858. 859. 878. 889.
— van Straßburg 889.
Wertheim (G.) 872. 466 und häufiger.
Westaraber 604. 706—707. 711. 792—
817. 822.
Westermann 169. 602.
Wezir = Träger (arabisch) 696.
Whitney 89. 599.
Wiedemann (EHhard) 704.
Wilhelm von Malmesbury 848—849. 861.
— von Straßburg 889.
Wilkins 45.
Wilkinson 90. 105. 108.
Wilson 457.
Windisch 695.
Winkel, dessen Name in verschiedenen
Sprachen 15. 16.
— , ähnlicher 138. 140.
— , äußerer ufid innerer 861. 874—875.
876. 878.
— , einspringender 46.
— , Iwmförmiger 192. 264.
Winkelsumme den Breiecks 141 — 144.
171-172. 262. 262. 606. 878. 876.
Winterberg 876.
Wisowa 509.
Wissenschaftliche Mode s. Mode in der
Wissenschaft
Woche 84. 38.
Woepcke 167. 209. 287. 848. 868. 446.
467. 604. 608. 618. 657. 698. 701. 709
—712. 730. 783. 786. 737. 742—746.
749—763. 766. 761. 762. 776. 781. 789.
809. 810. 811. 816. 891. 898. 894. 896.
Woisin 128. 184.
Wolf (Christian von) 509.
— (Rudolf) 187. 821. 860. 861. 862.
407. 409. 421. 447. 742. 775.
Wolverad 888.
Würfel, etruskische 624.
Würfelvetdoppelung 202. 211—218. 226
—284. 298. 809. 840. 449. 458. 510. 688.
— des Archytas von Tarent 228—229.
830, des Diökles 864, des Eratosthenes
880—331. 868. 445, des Eudoxus 281.
248. 880, des Heron 869—870. 886.
446, des Hippokrates von Chios 212
—218, des Jlfcna€c/imu» 229 -281. 880,
des Nikomedes 861—362. 446, des
Pappus 446, des Piaton 227. 868.
Wüstenfeld «97. 699. 703. 704. 718. 715.
722. 780. 789. 761. 789. 793. 907.
Wurm 181. 282. 779.
Wurzelzeichen 814—816.
Wyttenhach 176.
Xenokrates 118. 216. 249—250. 266. 320.
Xenophon 216. 242.
Xerxes 85.
Xylander 610.
Y.
ir hy wy 666.
Yavana 600.
— Pura 600.
Yavanegvaräcdrya 600. 638.
Yävattdvat 620. 684. 728.
Yaxartes 19.
Yih hing 686.
York 831. 832—888. 840.
vnuQ^ig 471.
vnsvavticc 239.
VTCtgtsUioi 168.
vytorvn(oCtg 146.
Yrinius = Heron 705.
Yron 866.
Yu 678. 679.
Yuen 684-686.
Yuen-Bynastie 666.
Yukat<in 9.
Yün 16 td tikn 669.
Yuy\g fang 678.
Z.
Zählen definiert 4.
Zahletibegriffder Crriechen 170. 187—188.
474—475. 628.
Zahlenkampf 580. 852. 886.
Zahlensymbolik 44. 157. 167. 488. 469.
667. 669. G74. 675. 680. 836. 840. 846.
896-896.
Zahlensysteme 7—11. 22. 32. 460. 676.
Begister.
941
ZaMentheoretisdie Aufgäben in geometri-
scher Einkleidung 891. 464. 484. 486.
613. 6S1. 724.
— 8. Bationale rechtwinklige Dreiecke.
Zahlwörter 4—18. 21. 82. 120. 128. 626.
684. 604. 607. 608. 612. 672. 678. 674.
708. 789. 766. 824. 892—897. 898. 900.
Zahlzeichen 12. 14. 21—22. 44. 82—86.
120—129. 191. 611. 622—626. 628. 680.
684. 692. 602. 608. 604. 606. 607. 672.
674. 709. 710. 711—712.
Zaid ihn Rifd'a 738. 789.
Zangemeister 624. 629.
ZeüSmvngen mit geometrischen Anklängen
46. 47. 108. 109. 401. 682.
Zeising 179.
Zdler (Eduard) 61. 186. 148. 149. 168.
167. 169. 160. 167. 174. 176. 188. 191.
194. 198. 261. 466. 468. 469. 496. 497.
Zenis 893 flgg.
Zenodorus 866—868. 868. 446—447. 660.
706. 740.
Zenodotus 866.
— , Bihlioihehsvorsteher in Alexandria
829.
Zenan von Elea 198—200. 264. 409. 410.
— von Sidon 194.
Zerlegung von Flächen durch Hilfslinien
97. 110. 888. 889. 396. 646.
Zerstäubung := Kuttaka.
Zeuthen 186. 286. 291. 840. 346. 428. 636.
676.
Zeuadppus 297. 820.
Zimmern (Heinrich) 37.
Zins 661. 619.
Zirkel (geometrisches Hiltamittel) 92. 362.
— 461.
— und Lineal, Konstruktionen mitteis
derselben 197. 234. 270. 816. 474.
Zirkulatur des Quadrates 641. 642.
Zöppritz 862.
Zonaras 296.
Zuckermann 173.
2kdukaffem 7.
Zusamm,engesetztes Verhältnis 161. 266.
413.
Zusammengesetzte Zahlen 267. 480. 680.
688. 766.
ZyUen 672.
Zyklische Anordnung 616. 616.
— Methode 682—688.
— Quadratzahl 202.
ZylinderschniU 263. 489. 490—491.
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